Encyclopadische Jahrbücher
dergesammten Heilkunde
IL^yjajEj
»B
Zbe Society of tbe Hew J?orh Ibospital,
flDarcb, 1898.
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REAL-ENCYCLOPÄDIE
DER
GESAMMTEN HEILKUNDE.
ACHTUNDZWANZIGSTER BAND.
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REAL-ENCYCLOPÄDIE
DER
GESAMMTEN HEILKUNDE
MEDICINISCH-CHIRURGISCHES
HANDWÖRTERBUCH
FÜR PRAKTISCHE ÄRZTE.
HERAUSGEGEBEN
»on
PROF. DR- ALBERT EÜLENBURG
in BERLIN.
Mit zahlreictien Illustrationen ln Holzschnitt.
Zweite, umgearheitete und vermehrte A u finge.
ACHTUNDZWANZIGSTER BAND.
WIEN und LEIPZIG.
Urban & Schwarzenberg.
185*6
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H |-
ENCYCLOPÄDISCHE JAHRBÜCHER
DF.n
GESÄUMTEN HEILKUNDE
UNTER MITWIRKUNG DER HERREN
Hofrath Prof. ALBERT. Wien - San -R Em. AUFRECHT, Magdehnrg - Prof. A. BAGIN8KY.
Berlin — Doc. B. BAGINSKY. Berlin - Prof. Einll BALLO WITZ. Greifswald - Prof K. von BARDE-
LEBEN. Jena — Doc. G. BEHRKXD. Berlin — Geh. Med. -Rath Prof. BEHRING, Marburg — D*\
B. BENDIX. Berlin - Prof BENEDIKT, Wien - Prof. BINSWANGER, Jena - Geh. Med.-R.
Prof. BIRCH-H IRSCH FELD. Leipzig — Dr. Max. BRESGEX, Frankfurt a. M. -- Dr. Ludwig BRUNS,
Hannover — Dr. A. BUM, Wien — Med. u phil. Dr V. G. RUSCH AN, Stettin — Doc. L. CASPF.R,
Berlin — Prof. E. v. DÜRING, Conatantinopel — Prof. EICHHORST, Zürich — Prof. ENGLISCH,
Wien — Prof. EWALD, Berlin — Dr. Edmund FRIEDRICH, Dresden — Med -Rath Prof. FÜR-
BRINGER, Berlin - Prof. GA D. Prag - Prof. A ÜOLPSCHKIDER. Berlin - Doc. C. GÜNTHER,
Berlin — Dr H. GUTZMANN. Berlin — Prof. Tb. HUSKMANN, Güttingen - Prof. v. JAKSCH,
Prag - San Rath JASTROWITZ, Berlin - Doc. H. KIONKA, Breslau Dr. KTRCHHOFF, Berlin -
Dr. A. KIRSTE1N, Berlin - Med. Rath Prof KISCH. Marienbad-Prae — Prof. KLEINWACHTKR,
Czernowitz — Doc. A. KNORR, Marburg — Staatamth Prof R ROBERT. Dorpat — Prof. KOCHS,
Bonn — O.-St.-A. Prof. A. KÖHLER, Berlin — San. Rath W. KÖRTE, Berlin — Stabsarzt KOHLSTOCK.
Berlin - Prof. J KRATTER. Graz - Dr. A. KUTTNER. Berlin - Dr. K. LANDAU Franken-
berg i. S. - Geh. Med.-R. Prof. G. LEWIN, Berlin - Geh Med.-R. Prof. LIEBREICH. Berlin — Prof.
LITTEN, Berlin - Prof. JXEBISCH, Innebruck - Prof. LORENZ. Wien - Prof. A. MARTIN, Berlin -
Doc. M MENDELSOHN Berlin - Doc. v. METNITZ, Wien — Dr. G. MEYER, Berlin — Prof. Im.
MUNK. Berlin - Doc. NF.UBER, Kiel - Dr V. NEUBURGER, Wien - Prof. POSNRR, Berlin -
Hofr. Prof. PRF.YKR . Wiesbaden - Dr. REHFISCH, Berlin — Prof. v. REUSS. Wien - Prof.
RIBKKRT, Zürich - San. R Prof. L. RIKSS , Berlin - Prof. ROSENBACH, Berlin - Doc. Th.
ROSENHEIM, Berlin - Dr. ROSIN, Berlin - Prof Wilh. ROUX, Halle - Prof SaMUKL,
Königsberg - Prof. Fr. SCH AUTA. Wien - Dr S H SCHEIBER, Bodapeat — Dr. H. SCHÖNHEIMEK.
Berlin - Dr. Freiherr v SCHEKNCK-NOTZIXG. München - Dr Jul. SCHWALBE, Berlin - Prof.
SKELIGMÜLLER. Halle a. d. S. - Prof SONNENBURG, Berlin - Oberstabsarzt SPERLING,
Berlin Doc. STEINER Freih v. PFUNGEN. Wien — Dr. UNNA, Hamburg - Mod.-Rath Prof.
K. UN VERRICHT, Sodenburg-Magdebnrg — Prof. J. VEIT, Leiden — Dr A. WASSERMANN,
Berlin — Director WERNER. Dwitiak (Posen) - Well Reg - und Med Rath WKRNICH. Berlin —
Kai« Rath. Prof WINTERNITZ, Wien - Prof. Jul. WOLFF. Berlin - Slahearzt a. D. WOLZKN-
DORFF, Wiesbaden - Doc. M. v. ZEISSL, Wien - Prof. ZIEHEN, Jena
V * ' ‘itERAflSGECPBBE* ‘
VON
PROF. DR ALBERT EULENBURG
IN BERLIN, W., LICHTEN STEIN -ALLEE -t
Sechster Jahrf/ang
Mit zahlreichen Illustrationen In Holzschnitt und einer Farbendrucktafel
WIEN und LEIPZIG
Urban & Schwarzenberg
1896.
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Nachdruck der in diesem Werke enthaltenen Artikel, sowie Uebersetsung
derselben in fremde Sprachen ist nur mit Bewilligung der Verleger
gestattet.
Notiz für den Buchbinder,
Die Farbendrucktafel zum Artikel „ Inijutii/n * ist zwischen Seite 27'2 und
273 dieses Bandes einzuschalten.
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Abdominaltyphus. Was wir in unserem vierten Nachtrags (Real-
Encyklopädie, 2. Aufi., XXVII, pag. 1 — 7, beziehungsweise Encyklopädische Jahr-
bücher, 5. Jahrgang) über die Fortschritte der Pathologie und Therapie des
Typhus geurtheilt, gilt in den wesentlichsten Punkten auch von den neuesten
Darbietungen der einschlägigen Literatur. Insbesondere ist von einer neuen Aera
der Therapie nach berühmten Mustern noch keine Rede.
Wir beschränken uns in nachfolgender Darstellung der Hauptsache nach
auf das, was das ln- und Ausland den Interessen des Praktikers geboten, und
künnen uns somit kurz fassen.
Aetiologie. Dem in neuerer Zeit immer mehr in's Publicum getragenen
Argwohn, der Genuss von Austern vermittle in nicht wenigen Fällen die
Uebertragnng der Krankheit, ist man endlich durch bakteriologische Prüfung
der vielgenossenen Delicatesse näher getreten. Es gelang dem Späher, Footk,
indessen niemals, den Typhusbacillus im Safte frischer Austern zu finden. Aengst-
liche Gemüt her dürften von dieser Thatsache immerhin, trotz der durch die
„positiven“ Fälle BRUAnnF.NT’s erregten Bedenken, einige Beruhigung davon-
tragen. Dass übrigens der Schutz, welchen die Salzsäure des Mageninhaltes vor
dem Eindringen des Typhusbacillus gewähren kann, ein ziemlich unsicherer ist,
hat Stkkx durch neueste bakteriologische Versuche über das Verhalten des
Krankheitskeimes zum Magensaft plausibel gemacht. Derselbe Autor findet bei
»einen Untersuchungen Uber die Fortpfianzungsbedingungen der Typhusbacillen
bei erhöhten Temperaturen, dass zur Abtödtung nicht einmal ein langer Auf-
enthalt in einer Temperatur von 42° genügt. Das spricht gegen die Annahme,
dass die Fieberhitze als solche eine zweckmässige Vertheidigung des Organismus
gegenüber dem Typhuspilz darstellt.
Aus den Untersuchungen Franklaxd’s über das Verhalten des Typlius-
barillus und des Bacterium coli commune heben wir heraus, dass beide
Bacillenarten, welche sich im Therasewasser 25 , beziehungsweise 40 Tage lang
nach der Impfung lebensfähig erhielten, bei der Filtration durch poröses Porzellan
bereits nach 12 Tagen nicht mehr nachweisbar waren. Eine eigenartige Bezie-
hung zu gewissen , den Nährböden zugefUgten Farbstoffen legt MarpmaNN
seiner Unterscheidung der genannten Bakterienarten zu Grunde. Wurde durch
Natriumbisulfit entfärbtes Fuchsin oder Malachitgrün benutzt , so wuchs der
Typhusbacillus in Folge von Aldehydbildung roth oder grün , während der
Bacillu e coli farblos blieb. Mittheilungen Uber die praktische Verwendbarkeit
dieser immerhin nicht mühelosen Diffcrenzirung liegen wohl noch nicht vor. Hin-
gegen scheint es, als ob die bakteriologische Schnelldiagnose von Elsxer, die
auch Bhif.gkr und Lazarus bewährt fanden, bei einem nicht kleinen Contingent
iy jyHicher. VI. 1
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ABDOMINALTYPHUS.
von Aerzten, zumal von Krankenhäusern, sich einbürgern dürfte. Zusatz von
Jodkalinm zu saurer Kartoffelgelatine bewirkt nämlich, dass das elective Wachs-
thum der beiden Mikroorganismen, mögen sie sich in Entleerungen oder sonstigen
Bakteriengemischen finden, sich recht verschieden gestaltet: im Gegensatz
zum Bacterium coli bleiben die Typhuskeime derart zurück , dass sie nach
24 Stunden noch kaum sichtbar sind, während das erstere bereits ausgewachsene
Colonien gebildet hat. Nach 48 Stunden erscheinen diese gross, grob granulirt,
braun, die Typhuscolonien klein und hellglänzend, wie Wassertröpfchen, äusserst
fein granulirt. Es ist dringend zu wünschen, dass diese vielversprechende Diffe-
rentialdiagnose zunächst in Hospitälern auf ihre Leistungsfähigkeit in praktischer
Hinsicht weiter eingehend geprüft werde. Bis zur Zeit liegen 16 positive Fälle
vor. Wir glauben an dieser Stelle I törichten zu sollen, dass noch in neuester
Zeit Wathelet bei seinen Untersuchungen über den Antagonismus der Coli-
bakterien und Typhusbacillen ein derartiges Ueberwuchern der letzteren eon-
statirte, dass die Colonien auch bei ursprünglich weit überwiegender Zahl gar
nicht mehr nachzuweisen waren. Ferner wuchs der Typhuspilz nicht auf Bouillon
von Coliculturen , während das Bacterium coli in filtrirter Typhusbouillon ver-
impft gut anging. Desgleichen schützte nach Untersuchungen von Fi nck das
Serum der gegen Typhusbacillen immunisirten Tliiere nicht gegen die Infection
von Bacterium coli und umgekehrt das Serum der gegen das letztere gefestigten
Thiere nicht gegen die Typhusinfection.
An Stelle des Typhnsstuhles benutzte Thiemich in der K.vsT'schen Klinik
das Blut zur Züchtung der Typhusbacillen und fand sie bei vier unter sieben
Typhuskranken. W right und 8EMPLE hinwiederum weisen auf die praktische
Bedeutung der Fahndung auf die Krankheitskeime im Harne hin. Unter 7 Fällen
fanden sie hier sechsmal die Typhusbacillen , zum Theil in überreicher Menge.
Der Befund von Typhusbacillen in Eiterherden, welche sich im
Verlauf der Krankheit entwickeln, ist wiederholt erhoben worden, u. A. von
Martin und Robertson in einem Handgelenksabscess, von Janowski bei einer
eomplicireuden Parotitis. Freund und Levy vermochten die Krankheitspilze in
der Milz und dem Blute einer von der typhösen Mutter ansgestossenen Frncht
bei intactem Darm, desgleichen in der Placenta zu finden.
Die specielle Klinik unserer Krankheit betreffend, erwähnen wir einen
von Roth beobachteten Fall von „Nephrotyphus“, der mit pvelitischen Sym-
ptomen begann und die nephritischcn Erscheinungen in den Vordergrund stellte.
Indem wir die Beobachtungen von Noma mit Ausgang in Heilung
(Bkwley), von Stimmbandlähmung (Boulay und Mendel), von plötzlichem Exitus
mit dem Sectionsbefnnde einer Myokardfragmentation (Hobbs), von Gallenblasen-
empyem mit Heilung auf operativem Wege (Monier-Williams und Sheild) nur
kurz anführen, glauben wir der Kundgebung von zwei Fällen typhöser Extremi-
tätengangrän näher gedenken zu sollen. Dieselben stammen von Quervain und
DUCHKSNK. Der erstgenannte Autor constatirte den Beginn der Gangrän des
rechten Beines eines 25jährigen Typhösen in der vierten Woche der Krankheit.
Kein Anhaltspunkt für Endokarditis. Arterien von der Knieschlagader an pulslos.
Zwei Wochen später Amputation im Oberschenkel. Die Arteria poplitea erwies
sich durch einen ziemlich festen , aber etwas locker sitzenden , rothen , kaum
geschichteten Thrombus ausgefüllt, der tief herab in die Unterschenkeläste
reichte. In der Umgebung lediglich Typhusbacillen. Also nach des Verfassers
Meinung keine Mischinfection , auch keine marantische oder toxische Thrombose,
sondern eine direct infectiöse, d. i. durch eine Metastase des Typhusbacillus
bedingte. Im DucHESXE’schen Falle entwickelte sich die Gangrän bei einem Mäd-
chen mit sehr ausgeprägter typhöser Herzschwäche im Bereiche beider Fflsse und
stieg schnell aufwärts in die Unterschenkel. Im Gegensatz zu Quervain führt
Mettler in einer mehr allgemeinen Abhandlung über typhöse Spontangangrän
die Verstopfung der Arterien durch thrombotisches Material in der Mehrzahl der
ABDOMINALTYPHUS.
3
Fälle auf eine Arterienentzündung durch das im Körper, beziehungsweise Blut
kreisende gelöste Typhusgift zurück, ohne mechanische Faetoren zu leugnen.
An die Erfahrungen verschiedener Autoren, dass nicht selten Typhcn,
welche aus dem gleichen Hause stammen, eine auffallende Identität des Verlaufes
zeigen, knüpft Nauxyn entsprechende Bemerkungen über den „Gruppentyphus“.
Es bedingen insbesondere Häufigkeit und Seltenheit der Recidire, der Charakter des
Pneumo-, des Kephrotyphus , der häufige und seltene Mangel der Roseola die
Verschiedenheit des Krankheitsbildes je nach Zeit und Gegend. Der Autor hat
u. A. in Strassburg während seiner siebenjährigen Thätigkeit in keinem Typhus-
falle die Roseola bestimmt vermisst. Dem gegenüber müssen wir für Berlin den
Mangel dieses Symptomes als etwas recht Gewöhnliches ansprechen. Szokolow
fand gar die Roseola in 581 Krankengeschichten des Elisabeth-Kinderkranken-
hauses in Petersburg nur in 10% aller Fälle angegeben.
Eine Fülle von Beobachtungen und Betrachtungen, welche insbesondere
die Symptomatologie betreffen, aber an dieser Stelle unmöglich Platz finden können,
bergen die in den letzten John Hopkins Hospital Reports niedergelegtcn Studien
von Osler, Bi.umer, Flkxxkr , Rekd und Parsons. Sie betreffen u. A. die
typhöse Pyämie, die sogenannten lymphoiden Knötchen in der Leber, die Neuritis,
die posttyphösen Knochenerkrankungen und die Schüttelfröste im Verlaufe der
Krankheit.
Rucksichtlich der Therapie des Typhus ist leider von den sehr bc-
merkenswerthen Bestrebungen verschiedener Autoren, der Welt ein antityphöses
Heilserum zu bieten, vorderhand ein annehmbarer praktischer Erfolg nicht zu
verzeichnen. Trotzdem es Klkmferek und Levy glückte, ein Hundeblutserum
durch Einführung von Bakterienculturen zu gewinnen , das andere Thiere gegen
die typhöse Infection schützte und selbst nach derselben heilte, war bei typhus-
kranken Menschen ein besonderer Einfluss auf den Krank heitsverlauf nicht zu
erkennen. Auch das antitoxische Hammelserum von Bkumkk und Peiper, welches
Mäuse vor der letalen Typhusdose schützte und Meerschweinchen in hohem Masse
festigte , vermochte auf der MosLER'schen Klinik annehmbare Resultate nicht
zu erzielen. In 12 Fällen beobachtete Börger Hmal keinen, 4mal einen möglichen
Einfluss. Dieses Ergebniss schliesst zwar nach der Meinung des Vcrsuchsanstellers
eine Weiterverfolgung der Typhusserumfrage nicht aus, lässt es aber stark ver-
fehlt und von unberechenbaren Folgen für die gute Sache der specifischen Be-
händ! ungsweisc erscheinen, wenn schon jetzt das Typhussorum Allen zugänglich
gemacht würde. Auch die FuxcK’schen Resultate (s. oben) haben zu praktischen
Consequenzen noch nicht geführt. Endlich vermochte auch v. Jaksch von der
Einverleibung von Blutserum , das er Typhusconvalescenten entnommen , einen
deutlichen Einfluss nicht zu sehen, jedenfalls keinen therapeutischen Effect. Stern
kommt auf Grund seiner eigenen Beobachtungen zu dem Schlüsse, dass die Im-
munität der vom Typhus geheilten Menschen nicht auf die schützende Wirkung
ihres Serums zu beziehen ist, vielmehr auf Veränderungen der Körperzellen selbst,
beziehungsweise ihrer Functionen beruht.
Die von uns bereits wiederholt erwähnte RuMPF’sche Typhusbehandlung
mit abgetödteten Culturen des Bacillus pyocyaneus eignet sich trotz der
nicht ungünstigen Ergebnisse, zu denen Lambert mit ihr gelangte, nach des
Entdeckers eigenem Ausspruch einstweilen kaum zu einer allgemeinen Anwendung.
Die Fortsetzung seiner klinischen Versuche führte zur Annahme einer nicht speci-
fiseben Beeinflussung, sondern einer reizenden Wirkung der Bakterienproducte
mit Anstieg der Menge der Leukocyten.
Für die methodische Bäderbehandlung sprechen sich warm Vooel
und Zinn aus. Ersterer imputirt ihr das günstige Resultat einer Mortalität von
7%, Letzterer spricht sie in seinem Bericht über 190 Typhusfälle des Nürn-
berger Krankenhauses in ihrer gemässigten Form als die zur Zeit beste uud
relativ leistungsfähigste Methode an. Calomel wurde regelmässig im Beginn der
1 *
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ABDOMINALTYPHUS.
Krankheit und bei Recidiven , aber ohne besonderen directen Nutzen gereicht.
Auch Dclles zieht nach 20jähriger Erfahrung kühlende Abwaschungen allen
medicamentßseu Antipyreticis vor. In der Cl'RSCHMAN'x’schen Klinik findet nach
den Berichten von Bkkd in den letzten 8 Jahren eine Behandlung der Typhus-
kranken mit lauwarmen Bildern , beziehungsweise kühlen Uebergiessungen statt,
aber nur bei ansgebreiteteren Lnngenaffectionen oder stärkeren Trübungen des
Bewusstseins. Dabei starben von 1826 Typhösen 243, also nahezu 13%, in den
einzelnen Jahrgängen 7 — 18%. Die Mortalität stieg mit dem Lebensalter und
war um so niedriger, je früher die Aufnahme erfolgte.
Wir schlie«8cn mit der Charakterisirung des Wcrthes der „inneren Anti-
sepsis“, beziehungsweise Danndesinfection nicht durch die Empfehlungen von
Ouajacol und Chinin (Mc Cormick, King) , sondern durch die sehr beherzigena-
werthen Untersuchungen Stkrx’S. Er führte einen Sapropbyten von charakteristi-
schem Wachsthum und bekannter Resistenz gegen Antiseptica, den Bacillus pro-
digiosus, in den Darmcanal ein und prüfte sein Verhalten unter der Einwirkung
von innerlich dargereichtem Calomel, Naphthalin, Naphthol und Kampfer.
Resultat: Die entleerten Fäces enthielten stets zahlreiche lebende Prodigiosuskeime!
Die mechanische Entfernung der im Darmcanal vorhandenen Infectionserreger,
schliesst Stkrn , durch Abführmittel und hohe Eingiessungen ist sicherer und
gefahrloser als der problematische und bei Anwendung hoher Dosen nicht un-
bedenkliche Versuch, die Bakterien im Darm durch Antiseptica abzutödten. Wir
verweisen auf unsere klinisch-bakteriologischen Untersuchungen zur Würdigung
der Naphthalin- und Calomeltherapie deB Typhus ans dem Jahre 1887 unter
Zugrundelegung eines grösseren Krankcnhausinateriales (vergl. dieses Jahrbuch,
Jahrgang 1888, pag. Stil ff.). Auch Albu, welcher die Eiweisszersetzung im
Darmcanal unter der Darreichung von Naphthalin, Benzonaphthnl und Phenolet'n
stndirte, fand, dass dasselbe Resultat mit Abführmitteln allein ohne diese Auti-
septica erreicht wurde, also die Desinfection des Darmcanals nur von der Häufig-
keit der Darmentleernng abhängig zu sein schien.
Mit der „Antisepsis intestinale “ Bot'CHAKU’ä, gegen welche wir uns
seit 10 Jahren rUcksichtlich der Typhustherapie mit Nachdruck gewandt, scheint
es also ein- für allemal Nichts zu sein.
Literatur (kleinere easuistische Beiträge nicht erwähnt): Albu, Berliner klin.
Wochenschr. 1895, Nr. *14. — Berg, 1). Arch. f. klin. Med. 1895, LIV, pag. IG 1 - — Beutner
und Peiper, Zeitsohr. f. klin. Med. 1895. XXVIII, pag. 328. — Blumer, John Hopkin’s
Hosp. Reports. V. Baltimore 1895- — Börger, Deutsche med. Wochenschr. 1896» Nr. 9. —
Brieger, Berliner klin. Wochenschr. 1895, Nr. 50. — Broadbent. Brit. med. Journ. Januar
1895. — Duchenne, M6d. moderne. 1895. Nr. 8. — Dolles, Med. News. December 1894.
Elsner, Zeit sehr. f. Hygiene und Infectionskh. 1895, XXI. pag. 28. — Flexner, John
Hopkin’s Hosp. Reports. V. Baltimore 1895. — Foote, Med. New'«. März 1895. — Frank-
land, Zeitschr. f. Hygiene und Infectionskh. 1895, XIX. — Freund und Levy, Berliner
klin. Wochenschr. 1895, Nr. 25. — Funck, Journ. de la soc. royale des Sciences med. et nat.
December 1894, Nr. 48. — v. Jaksch, Verhandl. de« 13. Congr. f. innere Med. Wiesbaden
1895, pag. 537. — Klemperer und Levy, Berliner klin. Wochenschr. 1895, Nr. 28. —
Lambert. New York med. Journ. April 1895. — Lazarus, Berliner klin. Wochenschr.
1895, Nr. 49. — Marpmann, Centralbl. f. Bakteriol. u. Parasitenkunde. XVI, Heft 20. —
Mettler, New York med. Journ. März 1895. — Naunyn, Deutsche med. Wochenschr.
1895, Vercinsbeilage, pag. 136. — Osler, John Hopkin's Hosp. Reports. Baltimoro 1895, V.
— Parsons, Ibidem. — Peiper, Verhandl. d. 13. Congresses f. innere Med. Wiesbaden
1895, pag. 475. — Quervain, Centralbl f. innere Med. 1895, Nr. 33. — Reed, John
Hopkin’s Hosp. Rep. V. Baltimore 1695. — Roth, Münchener med. Wochenschr. 1895, Nr. 11.
— Rumpf, Verhandl. d. 13. Congr. f. innere Med. Wiesbaden 1895, pag. 448. — Ssoko-
low, Bolnj. Gosetes Botkina. 1894, Nr. 39 — 49. — Stern, Elin. -bakteriol. Beiträge zur
Path. u. Tlierap. des Ahdominaltyphus. Leipzig 1895 und Samml. klin. Vortr. Nr. 138 —
Thi ein ich, Deutsche med. Wochenschr. 1895, Nr. 34. — Vogel, Münchener med. Wochen-
schrift. 1895. Nr. 12. — Wathelet, Annal. de Pinstit. Pasteur. 1895, Nr. 4. — Wright
und Semple, Lancet. Juli 1895: — Zinn, Münchener med. Wochenschr. 1895, Nr. 21 n. 22.
Für b ringer.
ABLESEN.
5
Ablesen des Gesprochenen vom Gesicht. Diese Kaust g-iebt für
den Taubstummen bekanntlich die Möglichkeit, im Verkehr mit seinen vollsinni-
gen Mitmenschen die Sprache zu verstehen. Die seit Uber 100 Jahren in
Deutschland geübte Methode des Taubstummenunterrichtes, durch welche dem
Taubstummen die Lautsprache verliehen wird, ermöglicht es, dass der unter-
richtete Taubstumme seine Wünsche, Fragen, Berichte in einer verständlichen
Sprache seinen vollsinnigen Mitmenschen überliefern kann. Bei dem Taubstummen-
unterricht geht -Abselienlernen und Sprechenlernen naturgemäss Hand in Hand. Der
Taubstumme lernt keinen neuen Laut sprechen , ohne ihn nicht auch zugleich
absehen zu lernen. Allerdings gründet sich dies Absehen der Taubstummen viel
mehr auf eine sorgfältige Inspection der Lippen, Zähne und Zunge als auf eine
allgemeine Betrachtung des Gesichtes. Die Folge davon ist, dass der Taubstumme
viel zu sehr an den Lippen des Sprechenden „klebt“ und oft recht schlecht ab-
sieht. Deshalb war man von früh auf darauf bedacht, auch die äusserlich
sichtbaren Kennzeichen «ler einzelnen Sprechlaute besonders zu be-
schreiben und losgelöst von der i m Munde stattfindenden, weniger oder überhaupt
nicht sichtbaren Sprarhlauthildung für sich einzuüben.
Den ersten Versuch machte in dieser Richtung GKASKR im Jahre 1829
in seinem Werke : „Der durrh Gesicht- und Tonsprache der Menschheit wieder-
gegebene Taubstumme.“ Itn ersten Hauptstüeke des ersten Theiles spricht er:
„Von den Bedingungen des Sprechensehens.“ Die Hauptsätze, zn denen er in
seiner Betrachtung gelangt , und die , wie wir sehen werden , zum Theil noch
unserer jetzigen Anschauung und Erfahrung entsprechen, sind folgende: 1. der
sprechende Mund macht bei dem Sprechen eines Wortes ebenso viele Bewegungen,
als articulirte Töne dem Ohre des Hörenden vernehmbar werden; 2. die Bewegungen
des sprechenden Mundes müssen dem Mund, ja selbst dem ganzen Gesicht
auch eine eigenthümliche Form geben und die cigenthümliche Form eines jeden
gesprochenen Buchstabens muss von dem Anschaucnden gesehen, unterschieden
und aufgefasst werden können ; 3. angenommen, dass alle Buchstaben am Munde
ihre eigenthümliche Form in der Bewegung annehmen, so ergiebt sich am sprechen-
den Munde ebenso ein sichtbares Alphabet, als im Ohre ein tönendes vernommen
wird: 4. wenn die sichtbaren Veränderungen am Munde zu ihren eigenthüm-
lichen Formen aufgefasst werden können, so muss es dem Sehenden, der
darauf geübt ist, gleichviel sein, ob er das Wort sprechet! hört oder
nur sprechen sieht.
Diese völlig logischen Schlussfolgerungen illustrirt der Verf. durch die
Abbildung und sorgfältige Beschreibung aller Gesichtsverftnderungen bei den ein-
zelnen Sprachlauten. Freilich sind die Beschreibungen zum Theil falsch , weil
eine grosse Anzahl von zufälligen Erscheinungen als eonstaute aufgefasst sind,
weil ferner der Verf. zum Theil falsche sprachphysiologische Vorstellungen hat.
So hält er z. B. das n für einen Nasallaut, nicht aber das m, von der geson-
derten Existenz des Lautes sch weiss er nichts, vom x und z behauptet er, es
seien einfache Laute u. A. m. Jedenfalls dürfen wir ihm diese Fehler nicht so
übel aufnehmen, da in den Sprachphysiologien der damaligen Zeit , die fast nur
von Grammatikern, nicht aber von Physiologen herrührten, noch weit mehr Fal-
sches enthalten ist. Sein Bestreben und die Erkennung des Wertbes der soge-
nannten „Gesichtssprache“ verdienen volle Anerkennung.
Fast alle übrigen pädagogischen Schriftsteller auf dem Gebiete des
Taubstummcnbildnngsw'esens übergehen den Absehunterricht entweder völlig,
oder sie besprechen ihn so nebensächlich, dass es sich nicht verlohnt, näher
darauf einzugehen. Nur Hiuth weist öfter auf die grosse Bedeutung eines guten
Absehunterricbtes hin und auch darauf, dass der Taubstumme nicht nur von den
Lippen ablesen solle, sondern auch vom Gesicht, so besonders auch von
der Seite.
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ABLESEN'.
Die Fälligkeit der Taubstummen im Absehen lässt sich auch ohne
grössere Schwierigkeit von Schwerhörigen und Ertaubten erwerben und
kann hier das verminderte oder verloren gegangene Gehör ersetzen. Gleich hier
möchte ich auf einen Einwand eingehen , der häufig , and zwar besonders von
Ohrenärzten gemacht wird, dass nämlich die Schwerhörigen durch die Erlernung
des Ablesens ihren Hörrest nicht mehr gebrauchen und schliesslich durch Inaetivitäts-
atrophic verlieren , so dass also die Hörfiihigkeit durch den Ableseunterricht
geschädigt würde. Zahlreiche Beobachtungen an Schwerhörigen, die das Ab-
lesen erlernten, haben mir das Gegentheil bewiesen. Der Hörrest wurde durch
die Ablesefähigkeit weit besser verwendet, von Vielen wurde geradezu behauptet,
ihr Gehör habe sich gebessert. Wenn nun auch diese Behauptung wohl nur
auf einer Selbsttäuschung beruht, bo ist es doch klar, dass die als unverstandenes
Geräusch an das Ohr des Schwerhörigen schlagenden Sprachlautwellen durch das
Ablesen viel besser auch in ihrem akustischen Eindruck gedeutet werden können.
Ein vielcitirtes Experiment beweist ja, dass das Ablesen in einem gewissen Grade
auch bei den meisten hörenden Menschen, wenn auch nur gleichsam latent, vor-
handen ist und von ihnen bei der Unterhaltung offenbar fortwährend benutzt
wird: wir verstehen einen Redner besser, wenn wir seinen Mund sehen, wir
können uns die Worte eines Sängers, die uns wegen der überwiegenden Vocalisa
tion beim Singen so oft unverständlich werden, leicht verständlich machen, wenn
wir uns sein Gesicht durch das Opernglas nähern. Wir sehen dabei also die
Articulation und unterstützen so durch das Gesicht das Gehör. Ich möchte daher
das Absehenlernen bei Schwerhörigen nicht nur auf die Fälle beschränkt
wissen, wo das Gesprochene auch mittels Hörrohres nicht mehr verstanden wird,
wie Hartmans es will. Für die Ertaubten wird es allgemein als wichtiger
Ersatz des Gehörs empfohlen.
Aus rein äusseren Gründen dürfte besonders bei jüngeren Personen die
Erlernung des Ablesens auch bei weniger grosser Schwerhörigkeit der Anwendung
eines Hörrohres vorzuziehen sein.
Dass auch bei der sensorischen Aphasie das Alllesen der Worte vom
Gesicht das erschwerte oder gänzlich gestörte Percipiren der Worte durch das
Ohr ersetzen kann, habe ich vor einigen Jahren im Verein für innere Medicin
ausführlich vorgetrageu und auch in diesen Jahrbüchern berichtet. (S. Artikel
Sprachstörungen im vorigen Jahre und Näheres in meiner Arbeit im Archiv
für Psychiatrie, Heft II, 1896.)
Der Erste, der die Bedeutung des Ablesens für Schwerhörige und Er-
taubte in vollem Umfange erkanute und praktisch verwendete, war der auf dem
Gebiete des Taubstummeuwesens rühmlichst bekannte Medicinalrath E. Schmalz,
Ohrenarzt in Dresden, nicht zu verwechseln mit dem ebenfalls auf dem Gebiete
des Taubstummenwesens literarisch thätigen Ohrenarzt Heinrich Schmai.tz in
Dresden. E. Schmalz schrieb im Jahre 1841 ein kleines Büchlein: „l'eber das
Absehen des Gesprochenen als Mittel bei Schwerhörigen und Tauben, das Gehör
möglichst zu ersetzen.“
Da dies kleine Büchlein schon vieles enthält, was mit dem von mir
durch objective Versuche (Photographie) Gewonnenen Ubereinstimmt , so möchte
ich auf einzelne Abschnitte näher eingehen.
Ueber die Möglichkeit des Ablesens heisst es pag. 10: „Das Ableseu des
Gesprochenen ist deshalb möglich, weil die meisten einzelnen Laute eine ihnen
eigenthttmliche Stellung und Bewegung der Sprechwerkzeuge und zum Theil der
Gesichtszüge hervorbringen. Indem nun der Schwerhörige oder Taube dieselben
sorgfältig mit den Augen beobachtet, setzt er die einzelnen Mundstellungen in
ganze Worte zusammen, so wie man bei dem Aussprechen und Lesen die Buch-
staben zusammeusetzt. Daher ist diese Fertigkeit in der That nichts Anderes als
ein Lesen von den Lippen. Der Schwerhörige kann es in dem Absehen des Ge-
sprochenen nach und nach zu einer grossen Fertigkeit bringen, besonders wenn
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3gle
ABLESEN.
er so weit gekommen ist, dass er nicht mehr jede Mundstellung ftir sich
auffassen muss, sondern aus einzelnen Stellungen, welche er ab-
gesehen hat, auf das ganze Wort und aus einzelnen Worten auf
den ganzen Satz schliessen kann.“
Wie man sieht, stellt Schmalz hier eine viel weitere Aufgabe als Graser
(s. oben). In der That muss der Absehende das erreichen, was in dem letzten
Satze ausgedrückt ist, wenn die Kunst des Ablesens ihm überhaupt etwas
nützen soll. Schmalz macht auch auf die beschränkenden Bedingungen und
natürlichen Schwierigkeiten des Absehunterrichtes aufmerksam : „Das Absehen
des Gesprochenen ist nämlich nur am Tage oder bei sehr heller Abendbcleuch-
tung möglich. Ferner ist es nothwendig, dass die sprechende Person mit dem
Angesichte dem Schwerhörigen zugekehrt ist und sich in der Nähe desselben
befindet.“ Hier muss eingewendet werden , dass auch im Profil gut oder fast
noch besser abgesehen werden kann als en face. Richtig aber ist die Aehnlieh-
keit einer ganzen Anzahl von Lauten hervorgehoben, die das Absehen natur-
gemäss sehr erschwert. Wenn auch meiner Erfahrung nach zwischen u und U.
o und ö, e und i noch recht gut unterschieden werden kann, sind doch die
von Schmalz als fast gleich betrachteten Stellungen n, d, t und ng, nk, g, k,
ferner b, p, m (das w, was Schmalz auch hinzurechnet, ist dag in SUddeutsch-
land gesprochene labiolabiale w , während unser norddeutsches labiodentales w
dem f gleichsieht) u. A. m. ganz richtig zusammengestellt. Falsch ist seine Auffas-
sung, da^s man die Laute, welche tief im Inneren des Mundes gebildet werden,
nicht ablesen könne, jedenfalls ein Rückschritt gegenüber der GttASER’schen
Auffassung (s. oben). Sehr richtig dagegen führt er an, dass sich beim schnellen
Sprechen die Laute so aneinanderschlicssen, als ob sie ein einziges Wort bildeten.
„Hierdurch wird das Auffassen ebensowohl für das Ohr als für das Auge
erschwert.“ Daran schlicsst er folgende Ausführung, die ich aus Rücksicht auf
ihre grosse Wichtigkeit wörtlich folgen lasse:
„Die angeführten Schwierigkeiten sind übrigens bei den Schwerhörigen
bei weitem nicht so gross als bei den völlig Tauben. Denn abgesehen davon,
dass der letztere, wenn er völlig taub geboren oder im frühen Alter so geworden
ist (der Taubstumme), meist gar keinen Begriff von dem Sprechen mit Worten
hat , während der Schwerhörige die Sprache in der Kegel schon in gewissem
Grade erlernt haben wird , so hat auch der ersterc ja nicht nöthig , die ganze
Sprache abzusehen, sondern nur dasjenige, was er nicht gehört hat. Meist wird
er die Vocale in den Worten und oft selbst die betonten und scharflautenden
Consonanten, z. B. I, m, n, r, s, sch, noch mehr oder weniger deutlich mit dem
Gehör auffassen können. Ist der Schwerhörige nicht verstandesschwach, so wird
er bald lprnen , von einzelnen Mnndstellungen auf das ganze Wort, von ein-
zelnen Worten auf den ganzen Satz zu schliessen.“
Sodann geht Schmalz auf die Methode des Absehuntcrrichtes selbst
ein, auf die physiologische Lautbildung, die Sichtbarkeit der Laute n. s. w., dabei
laufen einige lrrthümer mit unter, im Allgemeinen aber ist seine Anleitung recht
gut und in mancher Beziehung noch heute mustergiltig.
In neuerer Zeit hat ein früherer Taubstummeulchrer Julius Müller in
deutlicher Anlehnung an Schmalz, den er übrigens nicht erwähnt, „das Ab-
sehen der Schwerhörigen“ einer besonderen Bearbeitung unterzogen, zum
Theil hat er dabei eine Anzahl von neuen Auffassungen eiugefügt, die nicht
immer genügend begründet erscheinen. Soglaubeich nicht, dass sich der Taub-
stumme mit einer geringeren Absehfertigkeit genügen lassen müsse als der
Schwerhörige oder Ertaubte, auch der Taubstumme soll dahin kommen, dass er
den ungesucht und natürlich tliessenden Satzperioden folgen kann , an die die
Hörenden gewöhnt sind. Ich selbst keime eine grosse Anzahl von erwachsenen
Taubstummen, die dies ohne Schwierigkeit könueu, die dem Redeflüsse der Unter-
haltung so zu folgen vermögen , dass es z. B. bei einer juDgeu Dame vorkam.
8
ABLESEN.
dass Niemand in der Gesellschaft merkte, dass sie tanh war, sondern
dass nur ihre eigentümliche, etwas schrill klingende Sprechweise aufticl.
Die Beschreibung der äusserlich sichtbaren Zeichen der Laute ist bei
MCllkk durchaus nicht genügend, von den gesammten Kieferbewegungen kennt
er nur die nach oben und nach unten. Dagegen ist seine Einübung praktisch
wohl brauchbar, wenn auch etwas schwerfällig und für Viele recht ermüdend.
Ich zweifie demnach nicht daran , dass er gute Resultate damit erreicht hat. Be-
sonders werthvoll ist sein Hinweis auf die Notwendigkeit des Absehens von
der Seite des sprechenden Gesichtes, ein Hinweis, der bereits von Hirth
(8. oben) ausgesprochen wurde. Mit der MÜLLKR’schen Methode wird es daher
wohl möglich, das Absehen zu erlernen, allein es dürfte der dort angegebene
Weg recht häufig auch die Patienten abschrecken, da er eine Ubcrgrosse Geduld-
probe für sie ist. Der Hauptfehler besteht darin , dass die äussere Sichtbarkeit
der einzelnen Laute und Bewegungen nicht genau genug charakterisirt wird,
sondern die Aneignung dieser Kenntniss mehr aus praktischer Uebuug heraus
erwartet wird. Gerade beim Schwerhörigen sollte der methodische Weg umgekehrt
sein. Iu dem ScHMALZ’schen Büchlein ist dies weit richtiger erfasst worden.
Meine eigenen l'nteisuehungen gehen auf das Jahr 1886 zurück. Unter
Taubstummen gross geworden, habe ich von früh auf Uebnng gehabt, mit ihnen
umzugehen und dadurch Gelegenheit, praktische Erfahrungen zu sammeln. Bei
Gelegenheit eines damals von mir ertheilten Absehnnterrichtes kam ich auf den
Gedanken, die äusserlich sichtbaren Zeichen der Laute und der Lautbewegungen
möglichst genau an solchen Personen zu studiren , die von dem Zwecke meiner
Beobachtungen nichts wussten. Ich machte schon damals nämlich die Bemerkung,
die ja auch von vielen Anderen gemacht worden ist, dass derjenige, der seine
Spraehbewegungen von Anderen beobachtet weiss, unwillkürlich fehlerhafte Be-
wegungen einflicht und so die Bewegung unabsichtlich und unbewusst fälscht.
Jahrelanges sorgfältiges Sammeln führte dann dazu, dass ich im Jahre 1892
einen grösseren Aufsatz über das Ablesen des Gesprochenen vom Gesicht ver-
öffentlichen konnte fs. Monatsschr. f. Sprachheilkunde, 1892, Heft 3). Darin wies
ich nach, dass die einzelnen Laute sowohl wie Silben und Worte nicht nur von
vorn und von der Seite, sondern auch bei verdecktem Munde, allein an den
verschiedenartigen Bewegungen des Unterkiefers, der Wangenhaut und des Mund-
bodens abgelesen werden konnten. Im I,aufe der Beobachtung und weiteren Er-
fahrung zeigte es sich denn, dass meine damals niedergelegte Beschreibung im
Wesentlichen richtig war und nur in Einzelheiten einer Berichtigung bedurfte.
Die Hauptbestätigung erfuhr aber diese Arbeit durch die Photographie.
Von Anfang an lag es nahe, die Photographie zur Fixirung der fluch-
tigen Spraehbewcgungen zu benützen und besonders seit der Zeit, wo die Moment-
photographie eine so grosse Bedeutung in der Erforschung der Bewegungslehre
gespielt hatte. Daher finden wir auch schon im Jahre 1885 in einem Aufsatze
von Felix Hkmext: „Le« propres rdeents dnns V enaeignement des Sourd-muet« “
("La Nature, 1885, pag. 188j eine Anzahl von Momentphotographien des sprechen-
den Mundes. Im Jahre 1892 gelang es dann zuerst MARKT, einen gesprochenen
Satz in Serienphotographien so anfzunehmen, dass die Bilder, wenn man sie in
einem stroboskopischen Apparat vereinigte, die Bewegung des sprechenden Mundes
genau Wiedergaben. Taubstumme vermochten die Worte wieder zu erkennen. Die
grossen Hoffnungen, die man an diesen Versuch Makey’s für die Taubstummeu-
liildung sowohl, wie für das Absehen des Gesprochenen im Allgemeinen knüpfte,
haben sich, wie vorauszuschen war, nicht erfüllt, ln der That hätte Märet
von Hunderten von Worten und Sätzen derartige Aufnahmen machen müssen,
um eine praktische Verwerthung zu ermöglichen.
Ich kam daher auf den Gedanken, ob es nicht möglich sei, eine gewisse
Anzahl von Typen herzustellen, die bei sonst absolut gleicher Grösse
und Stellung stets die einzelne Abweichung der Theile von der Indifferenzlage
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ABLESEN.
9
angeben. Mittelst solcher Typen konnte es dann ebenfalls gelingen, ein Wort im
stroboskopischen Apparate in seiner natürlichen Bewegung zu zeigen. Es
handelt sich nur darum, mittelst geeigneter Versuche diese Typen heraus zu
bekommen. Dazu sollten mir Serienaufnaltmen dienen. Diese nahm ich von der
Seite auf, und zwar so, dass der Kopf fixirt war, so dass sich die Abweichungen
bei den verschiedenen Momentstel-
lungen deutlich zeigten. Die fol-
genden Figuren zeigen derartige
Aufnahmen. Auf Fig. 1. zeigt sich
derOberkiefer ruhig, dagegen zeigt
der Unterkiefer zwei Contouren.
Der vorderste Contour entspricht
der Indifferenzstellung des Unter-
kiefers bei ruhigem, geschlossenen
Munde, der hintere Contour da-
gegen der Unterkieferstellung bei
f. Es zeigt sich also daraus deut-
lich , dass der Unterkiefer bei f
nach hinten geht.
Die nächste Figur zeigt die
verschiedenen Unterkieferstellun-
gen bei der Silbe ais. Die Belich-
tung der Platte fand hier dreimal
statt, das erste Mal bei a, das
zweite Mal bei i und das dritte Mal bei s. Die tiefste Linie des Unterkiefers
entspricht dem a, die höchste dem i, die am weitesten vorgeschobene dem s.
Auf der Wange ist mit chinesischem Weise ein nach vorn gerichteter Winkel
gezeichnet, der die gleichzeitige Bewegung der Wangenschleimhaut wiedergiebt. *)
In der Fig. 3 sind die zwei
Endstellungen der Silbe da ab-
gebildct. Bei d die Hebung des
Unterkiefers, bei a die Senkung.
In der nächsten Figur zeigt
Hieb die Silbe schau in ihren drei
charakteristischen Stellungen. Der
weisse Winkel auf der Wangen-
haut*) ist bei a ruhig, bei sch
und bei u aber vorgeschoben, und
zwar genau gleich weit. Die
Lippenumgrenzung zeigt auch bei
beiden Lauten (sch und u) keine
grosse Differenz, dagegen rückt
beim sch der Unterkiefer scharf
nach vorn. Beim a stellt er am
tiefsten. Man sieht aus den Figuren
deutlich, dass man nicht mehr als
drei, höchstens vier Stellungen auf
einer Platte zur Serie vereinigen kann, wenn nicht die Linien so durcheinander
laufen sollen, dass man sieh in dem Gewirr nicht mehr zurechtfinden kann.
*) beider sind die liier gegebenen Drucke nicht so scharf, dass alles das heraus-
kommt, was man bei Photographien deutlich sehen kann. So ist in dieser und der übernächsten
Figur vom weissen Winkel auf der Wange nicht viel zu sehen , weil der feine Strich durch
das Xeuvcrfnhrcn verwischt wird. Bei der fünften Figur ist der Doppelcontour am Halse, der
bei dem in der medicinischen Gesellschaft zu Berlin demonstrirten Diapositiv mit Leichtigkeit
zu sehen war, fast spurlos verschwunden.
Fig. z.
Fig. t.
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lu
ABLESEN.
Diese Art der Scricnaufnahmen bietet aber gegenüber der jetzt allgemein
üblichen den grossen Vortheil, dass man hier die Unterschiede direct vergleichen
kann. Die Aufnahmen des gehenden und laufenden Mannes von Makey, die ja in
jedem Lehrbuche der Physiologie gefunden werden, sind nach demselben Principe
angefertigt worden.
Zum Schluss gebe ich noch die Bewegung des Mundbodens wieder, die
sich beim k zeigt , wenn man es
spricht, ohne sonstige Theile des
Gesichtes zu verändern. Die feine
Linie am Halswinkel , die am
tiefsten steht, entspricht der Ruhe-
stellung, die etwas höher liegende
der höchsten Steigung beim k. *)
Es würde zu weit führen,
wollte ich hier alle die Bewe-
gungen , die ich serienphotogra-
phisch zerlegte, näher schildern.
Es genügt wohl, wenn ich darauf
hinweisc, dass sich die äusseren
Bewegungen der Sprachlaute au
drei Stellen charakteristisch
nachweisen lassen: 1. am Unter-
kiefer, 2. an der Wangenhaut und
3. am Mundboden , den zwischen
den beiden Unterkieferschenkeln liegenden Weichtheilen.
Betrachten wir nun die einzelnen auf die geschilderte Weise constatirten
Bewegungen näher, so sehen wir folgendes Resultat der Untersuchung :
1. Bewegungen am Unterkiefer: a) Der Unterkiefer bewegt
sich nach unten bei dem Yocal a. Diese Bewegung ist so charakteristisch für
diesen Vocal, weil keinerlei andere
Bewegungen, weder an den Lippen,
noch an den Wangen , noch am
Mundboden damit verknüpft sind ;
b) DerUntcrkiefer be-
wegt sich nach oben. Diese
Bewegung kann natürlich nur von
einer gewissen Indiflerenzlage des
Unterkiefers aus gerechnet werden
oder von irgend einer anderen
Stellung aus. Die Bewegung
findet in starkem Grade statt
bei d, t und n. Bekanntlich legen
wir zur Bildung dieser drei Laute
die Zungenspitze hinter die obere
Zahnreihe. Zur Erleichterung der
Zungenbewegung heben wir stets
den Unterkiefer, obgleich man es
bei einiger l'cbung auch dahin bringen kann, den Unterkiefer in Oeffhnngsstellung
zu halten, während man die Zunge in ihre Lage bringt. Die gleiche Bewegung
des Unterkiefers findet sich in schwächerem Grade bei g und k. Wenn
man die Hand flach unter das Kinn legt und abwechselnd da und ga spricht, so
scheint es, als ob der Unterkiefer beim g mehr gehoben würde. Dies ist aber
ein Irrthum, der dadurch veranlasst wird, dass die oben in Fig. 5 geschilderte
*1 Siehe die Fujsnote pag. <1.
Fig. 4.
Fig. 3.
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ABLESEN.
11
Hebung des hinteren Theiles des Mundbodeus zur Uuterkieferhebuug hinzutritt.
Veranlasst wird diese Hebung durch die Bildung des k und g selbst. Wir legen
dabei den ZungenrUcken an den Gaumen. Dadurch werden die mit dem Zungen-
grunde zusammenhängenden Weichtheile ganz naturgemäss mit in die Höhe ge-
hoben. Das Gleiche findet sich bei den Nasallauten ng und nk. sowie, wenn auch
in geringerem Grade, beim hinteren ch, das wir in den Worten: „Ach, Bach,
Buch, Bauch“ hören;
c) Der Unterkiefer geht nach vorn. Diese Bewegung ist deutlich
sichtbar auf den Fig. 1 und 4. In der Fig. 1 entspricht sie der Unterkiefer-
Stellung lieim s, in der Fig. 4 der beim sch. Wenn wir die Conturen des Kinns
in den beiden Figuren vergleichen, so sehen wir, dass sie in der That bei beiden
Lauten gleich sind, nicht aber so die Weichtheile. Beim s zieht die Wangen-
hant deutlich nach hinten-ohen (sichtbar an dem kleinen mit chinesischem Weiss
gezeichneten Winkel), beim sch sehen wir die entgegengesetzte Bewegung der
Wangenhaut nach vorn. Die Differenz zwischen beiden Lauten wird also mittelst
dieser combinirten Wirkung deutlich erklärt;
d) Der Unterkiefer geht nach hinten. Bei f und w (dem nord-
deutschen labiodentalen) stellt sich die obere Zahnreihe auf die Unterlippe, oder
besser gesagt, zieht Bich die Unter-
lippe nach hinten unter die ol>erc
Zahnreihe. Diese Bewegung wird
stets von einer kleinen Bewegung
des Unterkiefers nach hinten
begleitet (s. Fig. 1 ).
2. Bewegungen an der
Wangenhaut: a) Bewegung
der Wangenhaut nach vorn.
Diese Bewegung findet sich in
ausgesprochener Weise bei o und
u , wo sie der wohlbekannten
Lippenbewegung folgt. Bei u ist
sie jedoch viel stärker als bei o.
Da sich die gleiche Bewegung auch
beim sch fand, so ist bei letzterem
darauf zu aehteu , dass hier der
Unterkiefer stark nach vorn
geht, was bei u nicht der Fall ist.
b) Bewegungen der Wangen haut nach hinten. Bei ä in geringem
Grade, bei e in stärkerem vorhanden , zeigt sich bei i gleichzeitig auch eine
Bewegung schräg nach hinten oben, die gleiche wie beim s, nur dass hier
noch die starke Vorwärtsbewegung des Unterkiefers als unterscheidendes Merk-
mal hiuzukommt. Die Aehnlichkeiten und Verschiedenheiten zwischen u und sch
einerseits und i und s andererseits prägt man sich am besten in folgender
Tabelle ein:
Fig. 5.
Sprechlaut
Unterkiefer
Wangenhaut
u
ruhig
nach vorn
3 Cll
nach vorn
nach vorn
i
ruhig
nach hinten oben
s
nach vom
nach hinten oben
Natürlich ist die Kühe des Unterkiefers beim u und i immer nur eine
relative. Variirt werden die Bewegungen der Wangenhant nach vorn bei den
Lauten ö und U, die deutlich unterscheidbar sind.
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Die Bilder zeigen den Ucbergang von a nach n tieim Sprechen des Doppel vocul
ABLESEN.
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S1-«
ABLESEN.
IS
8. Bewegungen des Mundbudens: a) Bewegung des Mundbudeus
im vorderen Theile nach unten. Wenn inan die Hand flach unter das Kinn
legt und Afters la la la spricht, so fühlt man deutlich, wie der vorderste Tlieil
des Mnndbodens (gleich hinter dem knöchernen Kinn) jedesmal, wenn das 1 ge-
sprochen wird, sich nach unten vorwölht. Macht man Serienaufnahmen, so
sieht man diese Vorwölbung genauer. Sie entsteht dadurch, dass sich die Znngen-
Fi*. 14. Fi*. IS.
bie tarnte F and W (labiodental).
spitze keim 1 gegen die obere Zahnreihe anstemmt und nnr die unter ihr ge-
legenen Weichtheile nach unten drangt.
b) Bewegung des Mundbodens im hinteren Theile nach oben.
Diese Bewegung haben wir schon bei der Fig. 5 bei k, g besprochen.
Es kann nun in diesem Referate wohl nicht meine Aufgabe sein, siimmt-
liche ansseren Kennzeichen der- Sprachlaute der Reihe nach durchzunehmen;
aus dem Vorstehenden wird man deutlich entnehmen können, wie sich eine
' Fi*. iS.
Der Laut S.
gewisse Anzahl von nusserlich sichtbaren Bewegungen in der That zur Erkennung
der Laute verwerthen lasst.
Man wird dabei aber auch bemerkt haben, dass flir mehrere Laute öfter
nur eine besondere Bewegung vermerkt wurde, und dabei an die früher schon
von Schmalz b. oben) erörterten Schwierigkeiten des Absehens erinnert
werden. Nun ist es aber damit nicht so schlimm, wie es auf den ersten Augen-
blick scheint. Wenn wir uns durch das Telephon unterhalten, so verstehen wir
Fif. 17.
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14
ABLESEN.
die Worte und Redewendungen der gewöhnlichen Sprechweise sehr leicht, so
wie es sich aber um Eigennamen oder eine besondere Bezeichnung handelt, von
der jeder einzelne Laut vernommen werden muss, versagt das Telephon oft seinen
Dienst und man muss zu Hilfsmitteln greifen, um das Verständnis zu vermitteln.
Im Telephonbuch heisst es daher: „Kann bei Uebermittelung von Eigennamen,
einzelner Buchstaben etc. durch den Fernsprecher genügende Sicherheit be-
Flf. 18. Fig. 1».
Der Laut Feh.
züglich der genauen l'ebereinstimmung der aufgenommenen mit den abgegebenen
Ausdrücken auch durch gewöhnliches Buchstabiren nicht erreicht werden
u. s. w., u. s. w.u In diesem Falle hilft man sich bekanntlich durch Zahlen. Ich
habe Telcphonversuche gemacht, die ergaben, dass eine grosse Reihe von Lauten
nicht dilferenzirt werden kann, z. B. die Explosivlaute. Mau hört die Explosion,
kann sie aber als p, t, k deuten. Ebenso wird f, s, sch, ch vertauscht u. A. m.
Fig. 20. Fig. 2U
Der Laut L.
Trotzdem verstehen wir die gewöhnliche Unterhaltung vortrefflich, offenbar nur,
weil wir mittelst der vorzüglich übertragenen Vocale die Worte combiniren.
Ganz ähnlich ist es bei dem Ahseh„kün stier1, der die Ablesefähigkeit in
vollem Umfange beherrscht. Er belauscht Gespräche auf Entfernungen, wo der
Hörende nichts mehr versteht, selbst das Flüstern schützt nicht vor Indiscretion.
Ich habe mehr als einen Patienten sogar dahin gebracht, dass er ohne besondere
Mühe einer Theatervorstellung folgen konnte. Damit ist eben praktisch bewiesen,
k
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ABLESEN.
15
dass eg durchaus nicht nöthig ist, jeden einzelnen Laut gesondert zu erkennen.
Uebrigens lassen sich ans der Schnelligkeit, der besonderen Form etc. der Be-
wegung auch noch kleine Unterschiede heraus erkennen.
Aus den sämmtliehen von mir angestellten photographischen Serienunter-
suchungen geht nun hervor, dass es ungefähr 18 Typen giebt, die insgesammt
die äusserlich sichtbaren Stellungen und Bewegungen der Sprache wiedergeben.
Als ich nun die gedachten 18 Stellungen einzeln mittelst Momentphotographie
so aufnahm, dass der Kopf unverrückbar festgehalten wurde, so konnte ich mit
den 18 Typen in einem stroboskopischen Apparate jedes beliebige Wort in
seiner natürlichen Bewegung darstellen. Taubstumme und Schwerhörige, die das
Absehen gut konnten , vermochten die im Stroboskop eingestellten Worte leicht
zu erkennen. Mit einem solchen Apparat, der mit auswechselbaren Typen (sowohl
en face wie im Profil) versehen ist, wäre wohl jeder Schwerhörige oder Ertaubte
im Stande, wenigstens die erste Grundlage für die Kunst des Ablesens zu legen.
Damit ich hier nun wenigstens eine Vorstellung von diesen gewonnenen
auswechselbaren Typen gebe, stelle ich in den folgenden Figuren den Uebergang
von a nach n en face wie im Profil dar. Die nächsten Figuren zeigen einzelne
andere Lautstellungen, die besonders charakteristisch im Sprechen auftauchen.
ln kurzen Worten möchte ich noch auf die Methodik des Abseh-
unterrichtes eingehen. Sie zerfällt in verschiedene Abschnitte. Das, was dem
Patienten zuerst beigebracht werden muss, ist die Kenntniss der äusserlich sicht-
baren Bewegungen und Stellungen jedes einzelnen Lautes. Der Beginn geschieht
mit den Vocalen, und zwar aus folgenden Gründen. Die Vocale sind zunächst
sehr leicht abzulesen ; die Yocalbewegungen sind expressive und langdauernde ;
sie geben einem Worte seinen Charakter für das Auge sowohl wie für das Ohr.
Jedes volltönende Wort besitzt grosse Vocalbe wegungen. Natürlich hat man dem
zu Unterrichtenden die Kennzeichen in möglichst einfacher Form zu geben. An
einem Beispiele will ich zeigen, wie dies geschieht:
Beispiel zur Uebung einzelner Laute.
vorn und J Unterkiefer nach unten
seitwärts: | Mund ruhig
u.
I Unterkiefer nach vorn
seitwärts : Mund nach vorn wie ein Rüssel
I Rackenhaut nach vorn verzogen
| Mundöflnung ganz klein
vorn: . Lippen gewulstet
I Mundwinkel an einander sehr genähert
o.
1 Unterkiefer nach unten und vorn
seitwärts: Mund nach vorn (weniger als bei u)
| Backenhaut nach vorn (weniger als bei u)
vorn: I Mundöflhung oval
I Mundwinkel näher aneinander als beim a
seitwärts :
Unterkiefer schräg nach hinten oben
Mund zurück
Mundwinkel schräg nach hinten oben
Haut der Backe schräg nach hinten oben (Ricbtungspunkt : Joch-
bein)
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16
ABLESEN'.
I Zähne aneinander genähert
vorn : . Mundwinkel weit auseinander (etwas nach oben;
| Mundöflhiing nicht mehr oval, sondern schlitzförmig
e.
I Unterkiefer nach ölten
seitwärts: Lippen etwas zurück
| Hautzug direct nach hinten (Richtungspunkt Ohrläppchen
I Zahnreihen näher als beim a, weiter als beim i
Mundwinkel weiter von einander als beim a
Mundöflnung spaltförmig
Fragen :
Sagen Sie mir, was Sie beim a sehen !
« r> n n n n u ti
n n tt « jt n 0 n
n n n n »1 n e n
11 n n n 11 v 1 n
In ganz ähnlicher Weise werden auch die Kennzeichen der einzelnen
Consonanten kurz markirt, ich verweise als Beispiel auf das oben von i, u, s
und sch Gesagte.
Nach sorgfältiger Einübung der Kenntniss der einzelnen Lautbilder —
es ist möglichste Sorgfalt gerade auf diesem ersten Theil des Ableseunterrichtes
zu verwenden, da die einzelnen Lautbilder die Grundlage bilden für die weitere
Kenntnisserwerbung — gelangen wir zu der Einübung der Silbenbilder. Beson-
ders sind hier diejenigen Silben einzuüben , die in der Grammatik als Vor- und
Nachsilben bezeichnet zu werden pflegen, z. B. : be-, ge-, ent-, er- u. s. f., ferner:
-thum, -heit, -keit. -nis, -ung, -en, -er u. s. f. Alle diese Silben, deren es eine
grosse Anzahl giebt und die natürlich sammtlich durchgenommen werden müssen,
besitzen bestimmte, nur für sie charakteristische Bewegungen. Von Silben-
bildern kommt man dann zu Wortbildern: den zahlreichen Hilfszeitwörtern,
die stets wiederkehren, den Umstandswörtern u. v. A. Endlich ist es gut, dass
die häufig vorkommenden Redewend ungeu als Satzbilder besonders eingeüht
werden. So kommt der Patient allmälig zur Fertigkeit , der Unterhaltung ohne
Anstrengung zu folgen, und zwar sowohl der Unterhaltung mit Einem wie auch
mit Mehreren. Wenn nämlich das Absehen von der Seite — das, wie schon
HiiiTii mit Becht hervorhebt, fast leichter ist als das von vorn — gut geht, so
kommt es bei der Unterhaltung nicht darauf an, ob man den ganzen Mund sieht
oder nicht.
Für die fernere Cebung sind besonders moderne Theaterstücke eine gute
Grundlage, sofern sie sich dem gebräuchlichen Dialog gut anschliessen.
Mit den gleichen Grundlagen, wie ich sie hier bezeichnet habe, können
auch fremde Sprachen gut abgelcscn werden. Bis jetzt hatte ich mehrfach
Gelegenheit, die Methode auf das Französische und Englische zu übertragen,
leb möchte nach den dabei gemachten Erfahrungen fast behaupten , dass diese
Sprachen etwas leichter abgesehen werden als das Deutsche, und zwar beson-
ders deswegen , weil in ihnen nicht annähernd so viele Consonantenhäufnngen
Vorkommen, wenigstens werden sie nicht gesprochen.
Literatur: E. Schmalz, Leber das Absehen des Gesprochenen als Mittel, bei
Schwerhörigen nnd Tauben das Gehör möglichst zn ersetzen. Dresden 18t 1. Davon sind weiter
noch die 2 nnd 3. Auflage erschienen, letztere 18.'>3. — Julius Möller, Das Absehen der
Schwerhörigen. Hamburg (ohne Jahreszahl). — H. Gutzmanu, Das Ablesen des Gesprochenen
vom Gesiebt. Monatsschr. f Sprachheilkunde. 18‘J'J, Heft 3 — H. Gutzmanu, Die Photo-
graphie der Sprache und ihre praktische Verwerthung. Vortrag, gehalten im Deeemlwr 1885
in der Berliner med. Gesellsch. (s. Berliner klin Wochenscbr.). — H. Gutzmunn. Leier
die Photographie der Sprache. Internat, photogr. Monatsschr. f Med. u. Naturwissensch.
Mönchen lSlHi. H. Guts mann (Berlin).
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ACETYLEN. — AKROMEGALIE
17
Acetylen. Als Lenchtmaterial der Zukunft wird gegenwärtig das Acetylen
bezeichnet, das man bisher schon als einen der mit leuchtender Flamme brennen-
den Bestandteil des Leuehtgases kannte, fUr sich aber bisher nicht zu technischen
Zwecken darzustellen vermochte, bis man in dem Zusammenschmelzen von Kohlen-
pulver und Kalk in der Hitze des elektrischen Bogenlichtes ein billiges Verfahren
zur Darstellung von Carbocalcium oder Calciumcarbid erhielt, das in Be-
rohrung mit Wasser Acetylen entwickelt.
Das Acetylen. C, H, oder CH CH, ist ein farbloses, widrig riechendes Gas, das
bei -f- P und einem Druck von 48 Atmosphären, bei Uu sogar unter Druck von 21 Atmosphären
riu -mit wird. Es wird vom Wasser stark abftörbirt und brennt mit leuchtender, stark rossender
Flamme. Es lasst sich direct aus seinen Elementen hersteilen, wenn der elektrische Funke
zwischen Kohlenspitzen in eine Wasserstoffatmosphäre Überschläge Es entsteht auch beim
l'eherleiten von Grubengas , Alkohol . Aether u. s. w. über glühende Röhren , sowie beim Ver-
brennen von Aether oder Benzol mit ungenügenden Mengen Sauerstoff. Die Entstehung beim
Contacte von Calciumcarbid mit Wasser wurde von Wühler entdeckt. Das Calciumcarbid, C,Ca,
wie es in Kenhausen (Schweiz) fabriksmässig hergestellt wird, bildet äusserst feste graue
Massen , die an der Luft durch Wasscranziehnng zu einem weissen , grauen Pulver zerfallen,
wobei sich der an Phosphorwasserstotf erinnernde Geruch des Acetylens geltend macht. Beim
Uebergiessen mit Wasser kommt es zu stürmischer Gasentwicklnng. Mit Kupfer und Silber
verbindet sich Acetylen zn einer im trockenen Zustande explosiven Verbindung, weshalb Be-
fasse aus Metall zur Herstellung zu vermeiden sind. Man empfiehlt es zu Beleuchtungszwecken
nnd zn Gasmotoren, zum ersten Zwecke entweder zu directer Verbrennung mit Luft oder zur
Verbesserung (Carhuration) gewöhnlichen Leuchtgases
In Bezug auf die Wirkung des Acetylens stellt nach den übereinstimmen-
den Versuchen von Ludimar Hermann und E. Walker >), von Ooiek und Bko-
ctNF.it und R. Rosemann 3) fest, dass es kein Blutgift ist uud weder bei langem
Durchleben durch Blut, noch bei tödtlicli mit Acetylen vergifteten Thieren Ver-
änderungen des Oxybämoglobinspectrums bewirkt. In seiner Giftigkeit steht cs
ausserordentlich weit hinter der des Leuchtgases zurück und nur sehr grosse
Mengen können bei Inhalation im Laufe von 5 — 7 Stunden letale Intnxication
herheiführeu. Nach Grehant sind 40 — 7U°/o >n ^er Atmosphäre nöthig, um den
Tod herbeizuführen. *) Die Vergiftungserscbeinnngen bei Thieren bestehen anfangs
in Benommenheit und Schlafneigung, und erst im Laufe von 2 — 3 Stunden kommt
es bei fortgesetzter Zufuhr des Gases zu tiefem Schlafe mit starker Athem-
verlangsamung, der anfangs auf kurze Zeit von Erbrechen, später durch wieder-
holte Anfälle von Dyspnoe und Angst unterbrochen wird, bis schliesslich Irregu-
larität der Athmung und Lähmung des Atlimungscentrums erfolgt.
Üli etwaige Verunreinigungen , wie sie in dem aus Calciumcarbid ent-
wickelten Gase Vorkommen, namentlich Schwefelwasserstoff oder Phosphorwasser-
stoff, unter Umständen die Giftwirkung verstärken können, steht dahin ; jedenfalls
giebt auch das daraus dargestellte nicht ganz reine Gas keine Abweichungen von
der Giftwirknng reinen Acetylens.
Literatur: ') Hermann. Lehrbuch der experimentellen Pathologie. Berlin 1874,
pag. 114. — ’) Ggier, Sur In toxiciti ile l’acetylene. Annal. d'hvgüne publ. 1887, XVIII,
pag. 427. — 3) Rudolf Rosemann, Ueber die Giftigkeit des Acetylens. Arch. f. experim.
Path. XXX VI, pag. 178 — *) Grehant, Sur ln toricitr de l'aceti/lrne. Compt. rend. CXXI,
Nr. 17, pag. 167. Husemann.
Akromegalie (vergl. Jahrbücher, V, pag. 8). In den letzten Jahren
hat die Casuistik der Krankheit wieder eine beträchtliche Vermehrung erfahren
durch Mittheilungen von Fratnich1), Pershing*), Parsons*), Kalindeho4),
Ricardo Ioroe 6), Campbell «). Murray ’), Catos 8), Max Hoffmann »), Pinkles 10),
Bruns11) und Mendel ’*). Wohl nicht hierhergehörig sind die Fälle von Marie lä>
(Pseudoakromegalie hei Syringomyelie; Einseitigkeit der Verdickung und Defor-
mation , die auf eiuzeine Metacarpalknochen und Finger der rechten Hand und
den linken Fugs beschränkt blieb) und von Allen Starr u) (progressive Vcr-
gri’isserung des Kopfes und Nackens, vom Autor als „Megalokephalie“ bezeichnet,
wohl mit der von VlRCHOW an Schädeln beschriebenen hochgradigen ditfusen
Hypertrophie, der „Leontiasin ossea“ , identisch). Die übrigen nnzweifel-
Ency dop. Jahrbücher. VI. 2
18
AKROMEGALIE. — ALLOXAN.
haften Fälle liieten in syraptomatologisch-kliniseher Hinsicht kaum etwas Neues und
Besonderes. Erwähnenswerth ist der von einzelnen Beobachtern (PARSONS *),
Catox *) und Bruns *•) conBtatirte Einfluss der Schilddrüsen flttterung, der jedoch
nur in Besserung der snbjectivcn Beschwerden bestanden zu haben scheint,
ohne merkliche objective Befundänderung. MENDEL11), der von den Thyreoid-
tabletten einen Erfolg nicht wahrnehmen konnte, versuchte es darauf in seinem
(durch Hemianopsie und Fehlen der PatellarrcHexe bemerkenswert hen) Falle mit
der aus theoretischen Gründen — vergl. den vorjährigen Bericht — gerecht-
fertigten und von Pershing bereits vorgeschlagenen Hypophysisfütterung (Dar-
reichung der Hypophysis von frisch geschlachteten Kindern , täglich 1 Grm.}. Was
den Erfolg betrifft, so heisst es „abwarten“.
Eine grössere zusammenfassende Arbeit erschien von M. Sterxbehg. !i)
Literatur: *) Ernst Fratnich, Weitere Mittheilungen übereinen Fall von Akro-
megalie. Al lg. Wiener med. Ztg. 1893; Communicazioni ulteriori sopra un cuso (Vacromeyaliu.
Venezia 1893. — *) Ho well T. Hers hing. A case of acromegaly irith remarks on the
patholoyy of the disease. Journ. of nervoux and mental diseases. 1894, pag. 693. — *) R. L,
Parsons, Report on a case of acromegahj. Ibid., pag. 717. — 4) Kalindero, Sur l'acro-
mtyalie. Roumanie med. 1894, Nr. 3. — s)RicardoJorge, ('ontrikution ä l’ctude de Vacrtf
mt'ynlic. Areh. di psich. 1894, XV. — •) Henry Campbell, Acromegahj. Brit. med. Journ.
17. November 1894, pag. 1110. — 7) Murray, Clinical remarks on rases of acromegaly and
osteopathy. Ibid. 9. Juli 1895, pag. 293. — *) Ca ton, Acromegaly. Ibid., pag. 307. — Max
Hoffmann, Bemerkungen zu einem Falle von Akromegalie. Deutsche med. Woehenschr. 1895,
Nr. 24. — 10) Pineies, Wiener med. Club vom 2ü. März 1895; Wiener med. Presse. 1895.
Nr. 16. — n) Bruns, Ein Fall von Akromegalie und seine Behandlung mit Schilddrüsen -
oxtraet. Neurol. Centralbl. 1895, pag. 1173. — ,#) Mendel, Berlinor med Gesell sch. Sitzung
vom 13. November 1895; Deutsche med. Woehenschr. 19. December 1895, Vereinsbeilage,
pag. 204. — 1J) Marie, Un cos de Syringomyelie a forme pseitdo-acromcyaligue (chico-
Mi'yalic, defonnation (Fun pied>. Bull, et mem. de la 8oc. med. des hop. de Paris. 6 April 1894 —
*♦> Allen Starr, Meyalocephalic, or leontiasis ossea. Amer. Journ. of the raed. Sciences. Dec.
1894. — 1Ä) M. Sternberg, Beitrage zur Kenntnis* der Akromegalie. Zeitschr. f. klin.
Med. XXVII. A. Eulenburg.
Aktinomyces in den Thränenröhrchen. Die wiederholt in den
Thränenröhrchen beobachteten Pilzeoncretionen, von denen man anfänglich meinte,
dass sie aus Leptothrix buccnlis bestünden, bis es sich herausstellte, dass sie einer
< 'ladothrixart (htreptothrix Forsten, F. Cohx) angehören, haben neuerliche Unter-
suchungen erfahren. Da es sieh zeigte, dass genannte Streptothrix identisch sei
mit Aktinomyces, so sind wohl auch alle früher beschriebenen Fälle als zu letz-
terem Pilze gehörig zu betrachten, Naebgewiesen wurde dies für neun Fälle von
Th. v. Schröder und Ei.schmg.
Literatur: v. Schröder. Aktinomyces im unteren Thränenröhrchen Klin.
Monatsbl. f. Augenbk. April 169 1. — Elschnig, Aktinomyces im Thränenröhrchen. Ebenda.
Juni 1895. Rcnss.
Alloxan. u eher die Giftigkeit des wegen seiner Beziehungen zum Harn-
stoff und zur Harnsäure interessanten Körpers waren bisher Untersuchungen niciit
vorhanden. Nach Lustxi besitzen sowohl Alloxan , als das aus diesem durch
Vereinigung von Alloxan mit Dialursiiure entstehende Alloxantin als die bei
stärkerer Einwirkung von Salpetersäure auf Harnsäure durch Oxydation des hei
schwächerer Einwirkung resultirenden Alloxaus entstehende Parabansäure giftige
Wirkung ; doch ist das Alloxan die giftigste, die Parabansäurc die am wenigsten
giftige dieser drei Verbindungen. Alloxan und Alloxantin haben auch eine stark
irritirende Action auf die Haut und andere Körpergewebe, die mit ihnen in Be-
rührung kommen ; der Parabansäure geht diese ab. Die entfernte Wirkung ist
vorwaltend auf das Centralnervensystem gerichtet und ist anfangs erregend,
später lähmend. Die erregende Action, die sich in tetanischen Krämpfen äussert, ist
besonders stark bei Fröschen ; nach Alloxantin kommt es bei Kaninchen nur zu
Steigerung der Reflexe und Schmcrzcmpflndung. Alle drei Substanzen haben bei
Vergiftungen diastolischen Herzstillstand zur Folge, der bei Alloxan am raschesten
ALLOXAN. — AMANITA.
19
anftritt. Auf periphere Xerven und Muskeln wirkt Alloxan und in geringerem
Masse Alloxantin erregend , Parabansäure verniclitet in kurzer Frist die Muskel-
contraetilität nnd Xervenirritabilität. Die exeitirende Wirkung auf das Xerven-
NH
System erscheint von der Ureidgruppe COvv|I und nicht von der in den Verbin-
dungen angenommenen
Imidgruppe XH
CO
CO
abhängig ,
da wirkliche Imide ,
wie
Succinimid und Chlornlimid, Krämpfe nicht hervorrufeu. Alle drei Verbindungen
werden im Organismus total verändert; nach Einführung von Alloxan finden sich
im Harn geringe Spuren von Alloxantin und Parabansäure, nach Alloxantin ganz
unbedeutende Spuren Alloxantin, ausserdem winzige Mengen Dialursäure, Paraban-
saure und Murexid, nach Parabansilnre äusserst kleine Mengen der eingeführten
Verbindung.
Literatur: Lnsini, Still1 asione bioloyiea delle meide in ntjtporto alla luro
eoetituzione chimirtt. Altoenano, Alton an nt inu c Acido parabnnieo. Annal. di Chim. e Farmacol.
Fase. 4, 6, 8, U, pag. 145, 241, 337, 3*5. Husemann.
Amanita phalloides Fr. Agnrieu » phalloide» Phoeb. s.
Agaricus bulbosus li., Knollenblätterschwamm, ist ohne Frage der ge-
fährlichste aller Giftpilze Europas. Während der Fliegenschwamm durch sein
charakteristisches Aeussere für Jedermann leicht kenntlich ist und zu Verwechs-
lungen nur selten Anlass gegeben hat, sieht der Knollcnblätterschwamm, welcher
•eine weissliche Färbung hat, sehr unverdächtig und dem Feldchampignon, sowie
dem echten Mousseron ähnlich aus und ist daher schon sehr oft irrthümlich statt
essbarer Pilze gesammelt nnd zu Speisen zugesetzt worden. Aber selbst Pilz-
sammler, welche das Aussehen des in Rede stehenden Pilzes zu kennen glauben,
werden gelegentlich durch ihn getäuscht, da er die Eigenthilmlichkcit besitzt,
Varietäten zu bilden, welche statt der weisslichen Farbe eine gelbe, grüne, rothe
oder braune aufweisen. In manchen Gegenden Russlands bezeichnet man ihn
als weissen Fliegenschwamm, weil er die weissen Flecken, welche den Hut
des Fliegenschwammes charakterisiren , ebenfalls hat ; allerdings heben sie sich
von dem weisslichen Grunde viel weniger ab als beim Fliegenschwamm vom
rothen Grunde. Leider können auch diese Flecken ganz fehlen, namentlich in
den gefärbten Varietäten. Der Xame Knollenblätterpilz erklärt sich aus der lamel-
lösen Structur des Hutes und der am unteren Ende des Pilzes nie fehlenden
Knolle. Der Pilz findet sich im Spätsommer und Herbst in schattigen Waldungen
Nord- und Suddeutschlands, Russlands, Frankreichs, Englands, Schwedens, Däne-
marks, Italiens etc. Sein Geruch und Geschmack ist weder im frischen Zustande,
noch nach dem Kochen unangenehm ; selbst Feinschmecker erkennen ihn, wenn
er in einzelnen Exemplaren unter ein Gericht essbarer Pilze gcrathen ist, nicht
heraus. Alle für die Erkennung giftiger Pilze im Volke üblichen Mittel (Schwär-
zung eines silbernen Löffels etc.) lassen bei ihm völlig im Stich. Die ältere
Literatur Uber die Vergiftuugscasuistik dieses Pilzes findet sich bei E. Bocdier,
neuere bei Studer, Sahli und Schareb. Xach einer Zusammenstellung von H.
Koppel in Dorpat S'nd binnen 10 Jahren etwa 48 schwere Erkrankungen mit
zum Tlieil tödtliehem Ausgang durch diesen Pilz in der Literatur beschrieben
worden. Xach F. A. Falck sterben 7 f> °/0 der Erkrankten, ln Russland bleibt die
Hauptmenge der Vergiftungen durch diesen Pilz unbemerkt , weil es an Aerztcn
fehlt, welche die richtige Diagnose zu stellen im Staude sind.
Man hat schon seit Jahrzehnten sich bemüht, die die Vergiftung bedin-
gende Substanz aus dem Pilze darzustellen und hat sie als Uulbosin (Böhmer),
sowie als Phalloidin (OrE) bezeichnet. Seit vier Jahren beschäftigen sich Kobekt
und E. Jürgens eingehend wieder mit dieser Frage. Zur Untersuchung gelangten
Pilzexemplare aus dem Harz, aus der sächsischen Schweiz, aus der Gegend von
Freiburg in Baden, von München, aus Livland und Finnland. Dabei ergab sich,
2*
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20
AMANITA.
dass die frühere Vcrmuthung, wonach nur ein Alkaloid die Giftigkeit bedingt, falsch
ist. Es handelt sieh vielmehr um ein Toxalbumin, Phalli n genannt, neben welchem
auch ein Alkaloid vorhanden ist , aber bei der Vergiftung in praxi weniger Be-
deutung hat als das Phallin , weil vorsichtige Köchinnen den ersten Absud aller
zum Essen bestimmten Pilze , in welchem sich natürlich dieses Alkaloid befindet,
wegzuwerfen pflegen. Eine Reindarstellung des Alkaloides konnte, da es nur in
geringer Menge vorhanden ist , bisher nicht vorgenommen werden ; es wurde
jedoch constatirt, dass es kein Blutgift, sondern ein reines Nervengift ist. Das
Phallin wurde zuerst von Robert dargestellt und dann von ihm und Jürgens
genauer untersucht. Es besitzt ungemein starke Giftwirkuug für die
rothen Blutkörperchen, welche ähnlich wie durch die sogenannten Saponin-
substanzen aufgelöst werden. Das aufgelöste Hämoglobin kann im Harn als Hämo-
globin oder Methämoglobin in Lösung anftreten ; es kann aber auch bei der von
Bostrokm zuerst pathologisch-anatomisch untersuchten Lorchelvergiftung (durch
Helvella rsculenta ) in Form von „Tröpfchen“ erstarren, so dass der Harn nach
dem Absetzeu gelb aussieht, aber einen braunrothen oder braunschwarzen Boden-
satz besitzt. Endlich braucht es unter Umständen überhaupt nicht zu sichtbaren
Veränderungen des Harnes zu kommen, da einerseits das aufgelöste Hämoglobin
von der Leber, Milz etc. aufgefangen werden kann , und da andererseits das
Phallin auch durch schwere cerebrale Störungen tödten kann. Hier soll nur die
Thatsachc betont werden, dass beim Versuche im Reagenzglas mit Blut beliebiger
Thicre der mit physiologischer Kochsalzlösung hergestellte neutrale Auszug aus
allen überhaupt zur Untersuchung gelangten frischen oder vorsichtig getrockneten
Exemplaren von Am. phallaiJes in sehr hohem Grade blutkörperehennuflösend
und giftig wirkte. Die Exemplare wurden zum Theil vorher mit Alkohol uud
dann noch mit Aether erschöpft, ohne dass dies auf die Wirkung des Kochsalz-
auszuges auf Blut wesentlichen Einfluss gehabt hätte. Robert glaubte anfangs,
dass dass Trocknen oder Kochen der Pilze insofern entgiftend wirkt , dass bei
innerlicher Darreichung dann keine Wirkung mehr eintritt. Leider hat sich jetzt
herausgcstellt , dass weder das Trocknen noch das massige Kochen das
Phallin unwirksam macht; dass das Alkaloid bei diesen Proceduren unver-
ändert bleibt, ist selbstverständlich. Für den Arzt ist es von Wichtigkeit zu wissen,
dass nach Genuss kleiner Mengen unseres Giftpilzes der Mensch sich 10 Stunden
lang ganz wohl helinden kann, da das beim Kochen gewonnene Phallin aus den
dickwandigen Zellen des Pilzgewebes nur sehr langsam durch die Verdauungs-
fermente in Lösung geht und im Darmcanal zur Resorption kommt. Die Diagnose
wird dadurch sehr erschwert. Die Therapie kann nur in Brechmitteln und Ab-
führmitteln bestehen, welche oft noch am zweiten Tage unverdaute Pilzstücke zu
Tage fördern. Bei der Section der der Vergiftung nach 8 — 10 Tagen erliegenden
Patienten findet sich häufig ein Befund, welcher an Phosphorvergiftung
oder an acute gelbe Leberatrophie erinnert, ja welcher wohl geradezu
damit gelegentlich verwechselt worden ist. Genaueres darüber siehe bei Kobf.rt
und JÜRGENS, ln Würzburg ist vor Kurzem die Giftigkeit der Ämanita phalloides
und ihre Wirkung auf's Blut auf Grund einiger FUtterungsversuehe an Mäusen
bestritten worden. Im Interesse des Wohles von Tausenden von pilzessenden
Menschen sieht sich Unterzeichneter leider geuöthigt, aufs Ernsteste davor zu
warnen, den Würzburger Untersueh ungen Glauben zu schenken.
Literatur: E. Boudier, Die Pilze in ökonomischer, chemischer und toxikolo-
gischer Hinsicht. Deutsche IJebersetzung von Th. Huscmann. 1867. — E. Boudier. Bull,
de l'acad. de med. 1882, Nr. 15, pag. 372. — B. Studer, H. Sahli und E. Schärer,
Mittheilunpen der Naturforschergesellschaft zu Bern. 1885. 1- Heft. — Ort, Bull, de l'acad.
de med. 1877. pag. 350 und 877. — Kobert, Sitzungsbericht der Dorpater Natnrforscher-
gcscllschaft. 1891. IX, pag. 535. — Kobert, Lehrbuch der Intoxicationen. 1893, pag. 157- —
Erwin Jürgens, Diese Pulilicatinn wird in den Arbeiten des pharmakologischen Institutes zu
Dorpat erscheinen nnd von Abbildungen begleitet sein. Kobert
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AMYGDOPHENIN. — ANTINUSIN.
21
Amygdophenin, Aethylamygdophenin, 0„ H , ^NH.CO CH(OH).C,Hs
ist , wie das Phenacetin , ein Derivat des Paramidnphenols, bei welchem jedoch
in der NH2- Gruppe an Stelle des Essigsäurerestes ein Mandelsäurerest ein-
gefügt ist und das Wasserstoffatom der Hydroxylgruppe durch Aethylcarlionat
vertreten wird, wurde von R. StÜvk auf der Abtheilung v. Noordkn’s (Frank-
furt a. M.) therapeutisch versucht. Das Mittel, ein grauweisses krystallinisches
Pulver, das sich im Wasser sehr schwer löst, zeigte sich namentlich als Anti-
rheumaticum sowohl bei GelenksrheumatismuB mit fieberhaftem, als nicht fieber-
haftem Verlauf wirksam. Als A ntipyreticum waren die Resultate weniger sicher,
als A n tinenralgicum zeigte es häutig Erfolg.
Es wurde in Gaben von l'O ein- oder mehrmals täglich bis zu Tages-
mengen von 5 — 6 Grm. verordnet. Ueble Nebenwirkungen soll das Mittel keine haben.
Lit eratn r: R. S t tt v r, Amygdophenin, ein neues Antirheumatirum. (Ans der Ahth.
des Prof. v. Noorden.) Centralbl. f. teuere Med. 18115, Nr. 4ti. Loebiscb.
Anagyrinum hydrobromicum crystallisatum. c„ his n, o, . HBr.
Das bromwasserstoffsaure Salz des aus dem Samen von Anagyris foetida von
Haudy und Pallois zuerst dargcstellten Alkaloides Anagyrin bildet weisse
Schüppchen, löslich in Wasser und in Weingeist, die bei 265° schmelzen. Nach
neueren Untersuchungen von A. Coutekst wirkt das Anagyrin toxisch auf die
Muskel, das Herz und die Respiration. Die absolute Arbeitsleistung des Herzens
wird gleichzeitig mit einer Beschleunigung der Herzschläge vermindert ; der
arterielle Druck wird erhöht. Diese Erscheinungen treten sowohl an intacten als
auch curarisirten Thieren und an solchen, bei denen das verlängerte Mark rese-
cirt oder zerstört worden , auf. Das Aufhören der Anagvrinwirkung nach Ein-
führung von Chloralhydrat gestattet die Annahme, dass dieses Alkaloid auf die
peripheren Nervcnganglien und nicht auf das centrale Nervensystem einwirkt.
Geber die praktische Verwendbarkeit des Anagyrin liegen noch nicht genügende
Erfahrungen vor; möglich, dass es bei Herzaffectionen, bei denen das Organ ge-
reizt und der arterielle Druck erhöht werden soll, sich wirksam erweist.
Literatur: Hardy und Gallois, Soc. de Biol. 13. Juni 1885 nnd Journ. de
Pharm, et Chim. 1889, I, pag. 10. — A. Contrest, These de la Faculte de Med. de Paris.
1892, Nr. 321. — E. Merck's Bericht über das Jahr 1895. Loebiscb.
Anarcotin. Das von Wm. Roberts neuerdings empfohlene Auarcotin
ist identisch mit dem längst bekannten Opiumalkaloid Narcotin C,, H13 NOj,
welchem er, da es keine narkotischen Eigenschaften besitzt, den neuen Namen
gab. Es bildet farblose, durchsichtige Prismen oder platte Nadeln , unlöslich in
Wasser, schwer löslich in Weingeist und Aether. Schmelzpunkt 176°C. Das salz-
saure Salz ist in Wasser leicht, das saure schwefelsaure Salz schwer löslich.
Nach Beobachtungen englischer Aerzte in Indien steht das Anarcotin bei Malaria-
fieber dem Chinin wenig nach. Ja es giebt Fälle von Malaria , die nur nach
Gebrauch des Anarcotins weichen , was in der Verschiedenheit der Organismen,
die je einen bestimmten Fiebertypus erzeugen, seine Erklärung findet.
Dosirung: Anarcotin zu 0,1 — 0,2 mehrmals täglich; .die Tagesdosis
ist bei Intermittens 1,0 — 1,5. Ro.vrs giebt es in verdünnten Säuren nach fol-
gender Formel: Anarcotini puri 2,0, Add. sulfuric. dilut. 8,0, Ar/, dest. 180.
M.D.S. : 2st(lndlich 1 Esslöffel voll zu nehmen, oder man verordnet eines der leichter
löslichen Salze zu 2 Grm. auf 180 Wasser und 10 Grm. Spiritus ineiU/t. piperit.
Alle 2 Stunden 1 Esslöffel voll zu nehmen.
Literatur: W m. Roberte, Brit. med. Journ. 1895, II, pag. 405: E. Merck's
Bericht über da» Jahr 1895. Loebiscb.
Antinosin. Das Natriumsalz des Nosopheus, s. Nosophen.
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22
APOCODEINl'M. — APOLVSIN.
Apocodeinum hydrochforicum, C,8H19N0j.HCl, ein amorphes,
gelblichgraues, in Wasser leicht lösliches Pulver, wurde von W. Ml'RRKl. 1891
als kräftiges Expeetorans bei chronischer Uronehitis zur innerlichen oder subcutanen
Anwendung empfohlen. Guikahd kam später durch physiologische Versuche am
Hunde zum Schluss, dass das Apocodein keineswegs in Analogie mit dem Apo-
morphin als Vomitivnm wirkt, es erzeugt vermehrte Speichelsecrction und be-
schleunigte Darmperistaltik, sei aber hauptsäcldich ein Sedativum, welches
leichten und vorübergehenden Schlaf erzeugt ; im Vergleich mit Codein ist es
weniger secretionsbefördernd und weniger krampferregend und im Allgemeinen
mehr beruhigend, er empfahl es daher als Beruhigungsmittel in der Kinderpraxis
statt dieses. Während nun G. Meder sich der Ansicht Murrei.’s anschliesst und
es praktisch nur als Kxpectorans anwendbar hält, berichtet Tot wieder von der
beruhigenden Wirkung des Mittels, welches selbst bei nianiakaliscben Zuständen
mehrere Stunden Schlaf herbeiführt. Sowohl per os als auch subcutan augewendet,
bewirkt es 1 — 3 Stühle, jedoch niemals Erbrechen.
Dosirnng. Als Sedativum bei innerem und subcutanem Gebrauch 0,02
bis 0,06 Grm. Intern: Apocodein i hydrochlo rici 0,5, Aq.deat, 100, Syrupi 25,0,
'/( — 1 Esslöffel voll zu nehmen. Subcntan: Apocodeini hydrochlorici 0,2, Aq.
dett. 10,0. Eine PliAVAZ-Spritze voll zu injieiren.
Literatur: \V. Murret, Brit. med. .Inurn. 1891, pag. 457. — L. Guinard,
Contribut. ö l'etuile phi/tiolog'i/uc de Vapocodeine. Lyon 1893 und Lyon med. 1893, Nr. 21
u. 23. — G. Meder, Inaug.-Dissert. Dorpat 1895. • — Toy, Semaine med. 1895, pag. 341»;
E. Merck’s Bericht für das .tahr 1895. Loebisch
Apolysin, Monophenetidin citron ensiiure,
f, „ / 0CjH5 OH
1 ‘ NH.COCH, — C CHj.t'OOH.
't'ÜOH
Dieses von L. v. Nkxcki und J. v. Ja wokski empfohlene Antipvreticum und Anti-
neuralgicum ist in seiner chemischen Constitution mit dem Phenacetin verwandt.
Während letzteres durch die Substitution eines Atoms Wasserstoff der XII, -Gruppe
durch den Essigsäurerest im para-Phenetidin entsteht, enthält das Apolysin an der-
selben Stelle den Best der Oitronensäure, Es stellt ein weissgelbliches krystallinisches
Pulver von schwach säuerlichem Geschinacke dar, welches sich in kaltem Wasser
1:55 löst; in heissem Wasser in allen Verhältnissen. Es schmilzt bei 72° C. In
Alkohol und ebenso in Glycerin ist es leicht löslich. Bei einer grossen Anzahl
acuter fieberhafter Krankheiten (eroupösc Pneumonie, Anginn follic., Scarlatina)
bewirkte das Apolysin eine Temperaturvermiuderung von 1 — 1'8° C. mit gleich-
zeitiger Linderung der Schmerzen. Bei Neuralgien (Xeuralg. supraorbit. und
cervico-occipit., Ischias, Hemicranie) wurden die schmerzhaften Anfälle in ihrer
Dauer abgekürzt, häufig auch zum Schwinden gebracht. Bei leerem Magen und
Dyspepnia acida ist die Anwendung des Mittels, welches de norma erst im Darm
in seine Componenten gespalten werden soll, contraindicirt. l'nangenehme Neben-
wirkungen wurden bis jetzt nicht beobachtet. Das Mittel wurde bisher in Pulver-
form gegeben, einigemal auch in Verbindung mit Bromideu, auch mit Salzen des
Coffeins. Die antipyretische Dosis beträgt 3 Grm. pro die in stündlichen Gaben
von 1 Grm. Bei Kindern dreimal täglich 0,2 — 0,4 Grm. Die Unschädlichkeit
des Mittels gestattete dasselbe bei Puerperalfieber bis zu 6 Grm. pro die zu
geben. Bei Neuralgien während des Anfalles 0,5, 1,0 — 1,5. ln seiner toxischen
Wirkung stellt das Apolysin dem Phenacetin nach, ln Bezug auf die Verschieden-
heiten in der Zusammensetzung des Apolysins und des Citrophens (s. d.) sei an
dieser Stelle nur bemerkt, dass sieh die beiden Verbindungen zu einander ver-
halten wie Phenacetin zum essigsanren p-Phenetidin. Die engere Bindung, in
welcher das Phenetidin im Apolysin sich findet, bewirkt nach II. Hii.dkbuaxdt,
dass das Phenetidin in alkalischen Flüssigkeiten nur schwer zerlegt wird, daher
die Unschädlichkeit grosser Dosen Apolysin bei subcutaner Injection; anderseits
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APOLYSIN. — ARGON.
23
ist das Apolysin im sauren Magensaft leichter spaltbar, wie das Phenacetin, wo-
durch es im Nachtheil gegen letzteres ist. Demgemäss haben die ersten Empfehler
des Apolysins den Gebrauch bei nüchternem Magen und bei Hvpersecretion für
contraindicirt erachtet. Diese Contraindication fällt jedoch weg, sobald man statt
des stark sauren Apolysinpulvers die aus 1 Theil Natrium bicarbonic. und
2 Theile Apolysin hergestellten Apolysin-Tabletten verwendet, deren Lösung
schwach alkalisch schmeckt.
Literatnr: Drs. v. Nencki und Jnworski, Untersuchungen Uber Apolysin. Gaz.
lekarska. Mai 1895 und Allg. med. Central-Ztg. 1895. Nr. GO — 62. — Dr. H. H i I de brandt-
Elberfeld, l'eber Apolysin und Cilroplien nebst Bemerkungen über die praktische Verwendbar-
keit von Phenetidinderivaten. Centralbl. f. innere Med. 1895, November. Loebisch.
Arecolin, c, Hfi NOj, eines der in der Areennuss (Areca catechu) ent-
haltenen Alkaloide, während das andere Arecain nach Marme physiologisch un-
wirksam ist, nach Mocqokt aber dem Muscarin ähnlich wirkt. FröHNEK fand
zuerst, dass Arecolinbromhydrat an sialagoger Wirkung das Pilocarpin übertrifft
und als Laxans dem Eserin nahe steht. Er empfahl es in der Thierheilkunde
als Laxans und als Derivativum an Stelle der combinirten Inject innen von Ese-
rin u m su/furicum und Pilocnrpinum nitricum. G. Lavagxa entdeckte die myo-
tische Wirkung des Arecolins; ein einziger Tropfen einer l° 0igen Lösung von
Arecolinbromhydrat in das Auge gebracht bewirkt zunächst ein Gefühl von
Wärme im Auge, Lidspasmus, Hyperämie und leichte oberflächliche Injection der
Hornhaut. Die Reizungserscheinungen verschwinden nach einigen Minuten, es
tritt Myosis ein, die in 5 Minuten deutlich ausgeprägt ist, ihr Maximum in
10 Minuten erreicht und bis zur 30. Minute bleibt. Von da an beginnt die Rück-
kehr zur Norm, die in 70 Minuten erreicht ist. In dieser Dosis erzeugt das
Alkaloid selbst bei mehrmaliger Application innerhalb eines Tages niemals Kopf-
schmerz. Nur ein ganz leises Gefühl von Asthenopie, bedingt durch die Ueberau-
strengung des MuscuIuji ciliaris , macht sich kurze Zeit geltend. Battistini und
Scofone sahen bei Fröschen zunächst Reflexsteigerung und Krämpfe, dann Läh-
mung; bei Warmblütern Myose, Salivation, Diarrhoe, Lähmung des Herzens
und der Respiration. Movqcet berichtet, dass das Arecolinum hydrobroinician
bei Pferden in einer Dosis von 0,02 sofort starken Speichelfluss und Stuhlent-
leerung ohne Diarrhoe hervorruft. Bardet empfiehlt es als Taenifugum an
Stelle der Arccanuss. Port; kt wendet dagegen ein, dass die bei Thieren beob-
achtete unangenehme Herzwirkung des Arecolins dessen Verwendung am Men-
schen beeinträchtigen könnte.
Literatur: G. Lavagna. Experimentelle Notizen über die physiologische Wir-
kung eines neuen myotischen Alkaloids (Arecolin). Tlierap. Monatsh. 1895. pag. 3 Ü4. —
Frühner, Monatsh f. praktische Thierheilkunde. 1894, V, pag. 353. — Battistini und
Scofone. Therap. Wochcnschr 1895. pag. 771- — Monquet. Bardet, Pouget, Su r lt
hromhydrate d’Aritolin et tes «ot'x il' Areequa. La semaine med. 1S95, Nr 53
Locbisch.
Argon A. Am 31. Januar 1894 legten Lord RaLEIGE und Professor
W. RamsaY der Royal Chemical Society den Bericht Uber die Auffindung eines
neuen gasförmigen Elementes in der Atmosphäre vor, welches einen normalen
Bestandtheil derselben bildet, und dem sie den Namen Argon A. gegeben haben.
Der Name, aus dv und iiyov gebildet, soll die Unfähigkeit des neuen Elementes,
chemische Verbindungen einzugeben, auzeigen: diese Eigenschaft giebt auch den
Grund dafür, dass sich das Argon so lauge der Entdeckung entzog. Seit
Scheele 1775 die Luft als ein Gemenge von Sauerstoff und Stickstoff' kennen
lehrte, fand man nur noch Wasserdampf, Kohlendioxyd, Ammoniak, salpetrige
Säure und Ozon als accidentelle Bestandtheile darin. Zur Annahme des Vor-
kommens eines neuen Elementes in der atmosphärischen Luft lag anscheinend
kein Grumt vor. Doch ist es von historischem Interesse, dass H. Cavkxdish 1785
in der phlogistisirten Luft — als solche wurde zu jener Zeit der Stickstoff'
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ARGON. — ARGONIN.
24
bezeichnet — einen Theil beobachtete, der »ich nicht in salpetrige Säure ver-
wandeln lies», und über dessen Menge er »ich dahin ausspricht, dass er nicht
mehr als ’/no des Ganzen betragen könne. Die Anregung zur Suche auf einen
neuen Bestandteil der Luft ergab der Umstand, dass die Dichte des Stickstoffs,
welcher aus der Luft nach der Absorption von Sauerstoff, Kohlensäure, Wasser-
dampf (ihrig blieb, höher war als die Dichte des aus verschiedenen chemischen
Verbindungen isolirten Stickstoffs. Diu Dichten der letzteren waren untereinander
gleich, und zwar waren dieselben um 0,5% geringer als die Dichte des atmo-
sphärischen Stickstoffs, das Verhalten des letzteren konnte nur von einer fremden
Beimengung herrühren. DieB wurde durch folgcndeu Versuch erwiesen: Leitet
man atmosphärischen Stickstoff durch eine zum Glühen erhitzte Röhre, welche
Magnesiumdraht enthält, so wird hiedurch sämmtlicher Stickstoff vollständig ge-
bunden, indem er in eine feste Verbindung Mg3 Na — Magnesiumnitrid — ilber-
gefiihrt wird; dabei bleibt aber circa 1 % der ursprünglichen Menge des atmo-
sphärischen Stickstoffs unabsorbirt und lässt sich aufsammeln. Dieses durch
Magnesium nicht gebundene Gas ist das Argon. Die Treunung des Argons
vom atmosphärischen Stickstoff gelingt auch durch Lithium, welches sich schon
bei einer die Rothgluth kaum erreichenden Temperatur mit Stickstoff verbindet.
Das Argon ist im Wasser etwas leichter löslich als Stickstoff, so dass Luft, die
vorher in Wasser gelöst war und aus diesem austritt, relativ argonreicher ist
als die gewöhnliche atmosphärische Luft. R. OLSZKWsKt fand für das Argon
folgende physikalische Constantcn: Kritische Temperatur — 121, 0°; kritischer
Druck 50,6 Atmosphären; Siedepunkt unter Atmosphärendruck — 187,0°; Gefrier-
punkt — 189,G; Gasdichte 19,9; Dichte der Flüssigkeit beim Siedepunkt cirra
1,5; Farbe der Flüssigkeit farblos. Es erstarrt zu einer eisäbnliehen, krystal-
linischen Masse, dio bei weiterer Temperaturerniedrigung weiss nnd opak wird.
Nach W. Crookes ist das Spectrum des Argons ein ganz eigenthümliches. Dass
es hei den bisherigen Speetraluntersuchungen der Luft nicht hat beobachtet
werden können, beruht auf der geringen, in der Atmosphäre vorhandenen Con-
centration. Besonders charakteristisch sind zwei rotlie Linien von der Wellen-
länge 696,56, beziehungsweise 705,64 : 10 — 6 Mm. Im Ganzen sind in dem
einen (dem blauen) Spectrum 119 und im anderen (dem rothen) Spectrum
80 Linien aufgefunden worden. Die Dichte des Argons wurde von den Ent-
deckern desselben gleich 20 gefunden, daher dessen Atomgewicht gleich 40 ist.
Das Argon lässt sich in das von Mendelejeff und Lothar Mayer aufgestellte
periodische System der Elemente nicht einreihen.
Das Argon verbindet sich nach Berthelot unter dem Einflüsse der
stillen elektrischen Entladung mit Benzol und mit Schwefelkohlenstoff. Im ersteren
Falle treten eigcnthümliche Fluoreseenzerscheinungeu auf. Das Vorkommen von
Argon wurde von Ramsay in dem Gase, welches sich in einem Meteoriten von
Augusta County, Virginia, eingeschlossen fand, nachgewiesen; ebendaselbst war
auch das neue Elemeut Helium vorhanden. Er fand ferner beide im Clevett,
einer Abart des Uranitits, eines cerithältigen Minerals. Loebisch.
Argonin, Argentumcasein. Diese von Röhmaxn und Liebrecht aus
Silber nnd Casein (Höchster Farbwerke) dargestellte Metalleiweissverbindung
wird als lösliches Silberpräparat (4,28% Silber enthaltend) empfohlen , welches
weder mit Kochsalz, noch mit Ei weiss, noch in beides enthaltende Flüssigkeiten
Niederschläge erzeugt und überdies, wie R. Mkyek's Versuche ergeben, gegen-
über Bakterien, speeiell Gonokokken, eine bedeutende Desinfectionskraft äussert.
Wohl hat es in wässeriger Lösung eine geringere desinticirende Kraft wie
Argentum nttricum und Argentamin. In eiweisshältigen Flüssigkeiten nimmt die
desinticirende Wirkung aller drei Mittel ab, jedoch relativ am geringsten beim
Argouin, so dass die baktcricide Kraft des Argonins sich der des Argentamins
nähert. Einen Vorzug des Argonins bildet, dass es keine Aetzwirkungen besitzt,
ARUONIN. — ARS EN WASSERSTUFF.
25
also die Schleimhaut im Gegensatz zu den beiden oben genannten Silberpräparaten
nicht reizt. Das Argonin ist ein weisses Pulver, leicht in heissem, schwer in
kaltem Wasser lüslich ; die Lösung ist schwach opalescirend, reagirt neutral und
soll in dunklen Gefässeu aufbewahrt werden. Durch Zusatz von Alkalien wird
die Lösung aufgehellt. Das Silber lässt sich im Argonin durch die gewöhnlichen
Silberreagentien nicht nachweisen. Jadassohx empfiehlt das Mittel in 1,5 — 2%iger
Lösung, vorzugsweise bei Behandlung acuter Gonorrhoe, der Urethra anterior
und posterior des Mannes, der Urethra und des Uterus der Frau ; adstringirende
Eigenschaften scheinen dem Mittel zu fehlen ; es eignet sich daher keineswegs
zur antikatarrhalischen Behandlung.
Literatur: Arthur Liebrecht. Leber A. Ein Beitrag zar Kenntniss der Silber*
eiueissverbindungen. Therap. Monatsh. 1895, 301). — R. Meyer, Zeitsehr. I*. Hygiene. 1895,
XX, pag. Iu9. — J. Jadassohn, Areh. f. Dermat. ti. Syph. 1895. Loebisch.
Arsenwasserstoff. Dass die Arsenwasserstoffvergiftung einen von der
Vergiftung durch arsenige Säure abweichenden und vorwaltend durch die Destruc-
tion der Blutkörperchen und die daraus hervorgehende Hämoglobinurie und Gelb-
sucht gekennzeichneten Symptomencomplex besitzt , ist ein jetzt allgemein aner-
kanntes Factum. Unter den 45 Fällen dieser Art der Intoxication , welche in
der Literatur bisher veröffentlicht sind, ist bei 36 Hämoglobinurie oder Hämaturie
als vorhanden angegeben, und da in mehreren der übrigen II der Beschaffenheit
des Harnes nicht gedacht wird, ist es nicht unmöglich, dass auch unter diesen
noch einige Fälle mit Hämoglobin im Harne sich verbergen, ln 37 Fällen war
Icterus vorhanden; in 38 Fällen Frostschauder oder Schüttelfröste, wie sie ja so
häutig als Symptom von Hämoglobiuurieanfällen auftreten. Dass es in schweren
Fällen zu Annric kommt, ist eine Thatsachc: doch ist dies nach Massgabe der
vorliegenden Literatur nicht eben häutig , da Anurie nur in 8 Fällen erwähnt
wird , von denen 5 tödtlich verliefen , während von den übrigen 4 1 Vergifteten
13 starben und 28 mit dem Leben davon kamen. Schmerzen in der Nicren-
gegend werden nur in 18 Fällen angemerkt; dagegen waren in 25 Fällen Kopf-
weh und Schwindel und in 34 Würgen und Erbrechen, wobei das Erbrochene
vereinzelt Blut und Galle enthält, vorhanden. Man wird nach den bisherigen
Ermittlungen in allen Fällen , wo durch Kinathmung eines Gases Erscheinungen
von starkem Kräfteverfall und Icterus eintreten , die Untersuchung des Harnes
auf abnorme Blutbestandtheile und des Blutes auf die Zahl der Blutkörperchen
und den Hämoglobingehalt vorzunehmen haben. Wie bedeutend die Destruetion
der Blutkörperchen durch Kinathmung von arsenwasserstoffhaltigem Gase sein kann,
lehren zwei in jüngster Zeit von Dixon Mann und C'LEOO ’) beschriebene, günstig
verlaufene Fälle, in denen die Zahl der Erythrocyten das eine Mal auf 1,800.000,
das zweite Mal auf 2,700.000 im Cubikmillimeter Blut, somit auf nahezu und
über die Hälfte der Norm gesunken war. Mit der Verminderung der Blutkörperchen-
zahl geht aber ausserdem Abnahme des in ihnen vorhandenen Hämoglobins ein-
her. In Bezug auf das Verhalten des Harnes muss im Auge behalten werden,
dass der Blutfarbstoff nicht blos als Hämoglobin, sondern auch als Methämoglobin
und als Hämatin in jenem vorhanden sein kann, ln einem der Fälle von Mann
und Clego war der am dritten Tage der Erkrankung gelassene Urin hämoglobiu-,
der Ham vom sechsten Tage methämoglobinhaltig ; das erste Mal war auch Ei-
weiss vorhanden, beide Male Nierenepithelien , Schläuche, rothe Blutkörperchen
und viel körniges Fett. In einem Falle, wo Hämatin im Harn spectroskopisch
uachgewieaen wurde, war der Harn stark sauer. Bei Thieren fehlt Hämoglobin-
urie nur, wenn die Vergiftung ganz rapide, entweder unmittelbar oder in wenigen
Stunden tödtlich verläuft,3) ln einem Kopenhageuer Falle, in welchem das aus
einem Bisse eines Ballon coptif ansströmende Gas schwere Vergiftung herbei-
geführt hatte, waren in den ersten Tagen auch blutig gefärbte Ejaenlationcn
vorhanden. a)
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26 AK.SENWASSEBSTOFF.
Die von Makn und CLEGG constatirte Thatsache, dass sich im Harn
mit Arsenwasserstoff vergifteter Menschen nicht blos Gallenfarbstoff, sondern auch
Gallensflnrcn finden können, und zwar beide zugleich oder auch isolirt, harmonirt
nicht ganz mit den von StadelmaN'N *) an Thieren angestellten Versuchen, wonach
der Harn hei diesen zwar reichlich Gallenfarbstoff, aber Gallensauren nur in ganz
geringer Menge enthalten soll. Man kann darin eine Stütze für die Ansicht
finden, wonach das Hämoglobin der aufgelösten Blutkörperchen die Muttersubstanz
nicht allein des Gallen farhstoffes, sondern auch der Gallensiiuren ist. Denn nicht
als dirccte Wirkung des Arsenwasserstoffes auf die Leber, sondern auf die
Wirkung des Hämoglobins der aufgelösten Blutkörperchen ist die von Stadel-
masx 4) nachgewiesene Pleiochroraie der Galle zurückzuführen, in welcher bei
nicht statthahender Vermehrung der Quantität der Galle selbst die 20fache Menge
von Bilirubin auftritt. Die abnorm dicke Consistenz der an Gallensäure armen
Galle führt zur Stagnation dieser in dcu Gallengängen und veranlasst auf diese
Weise Icterus, den man gegenwärtig nicht mehr, wie dies meist früher geschah,
als einen hämatogenen anzusehen berechtigt ist. Vergiftet man Gänse und Enten,
denen die Leber ausgeschnitten ist, mit Arsenwasserstoff, so tritt zwar reichliche
Hämoglobinurie ein , aber cs kommt nicht zum Auftreten von Gallenpigment im
Harn, und auch im Blute ist solches nicht nachweisbar.
Mit der rapiden und eopiösen Dcstrnction der Blutkörperchen sind auch
die bei der Section zu constatirenden fettigen Degenerationen in Verbindung zu
setzen, die man in verschiedenen Organen findet. Mann' und Clkeg fanden sie
in zwei Fällen tödtlicher Vergiftung an den Nierenepithelicn , aber auch herd-
weise in der Leber und in der Milz, ln beiden Fällen fand sich starkes Lungen-
ödem als unmittelbare Todesursache; ausserdem bestand starke hämorrhagische
Entzündung und gelatinöse Erweichung der Schleimhaut im Magen und dem oberen
und unteren Theile des Dünndarms. Eisenniederschläge konnten im Leberparen-
chym nicht naehgewiesen werden. Chemisch wurde Arsen in einem Falle in Leber,
Niere, Galle, Harn, Blut, Perikardial- und Pleuralflüssigkeit, in einem anderen in
Leber, Nieren und Milz, dagegen nicht im Blute und Serum constatirt; die in
der Leber vorhandene Menge entsprach in einem Falle 2, in dem zweiten 1,6 Mgrm.
arseniger Säure.
Die Vergiftung mit Arsenikwasserstoff kommt nur in wenigen Fällen
durch die Einwirkung absichtlich dargestellten Arsenwasserstoft's zu Stande, meistens
durch Einathmung anderen Gasen beigemengten Arsenwasserstoffs. In 8 Fällen,
von denen 1 tödtlieh verlief, gab Wasserstoffgas, das zu dem Zwecke, die Ein-
wirkung dieses Gases auf das Timbre der Stimme zu zeigen , geathmet wurde.
Anlass zur Vergiftung; in 10 Fällen geschah die Inhalation in chemischen Labo-
ratorien (davon 4mal durch absichtlich dargestelltes AsH„), in 31 Fällen fand sie
in Fabriken statt überwiegend in Folge der Verwendung grosser Mengen von
unreinem Material zur Entwicklung von Wasserstoff. Besonders ist es die Salz-
säure. deren Arsengehalt die Intoxicationen dieser Art verschuldet und die bei
der neuesten englischen Vergiftung von 5 Personen mit 2 Todesfällen 0,'!09° 0
As enthielt.
Zur Verhütung solcher l'nglücksfälle , die häufig mehrere Personen zu-
gleich betreffen, reicht es aus, wenn man die üble Gewohnheit aufgäbc, da,
wo grosse Mengen Zink mit Salzsäure oder Schwefelsäure behandelt werden
müssen, die Einwirkung in offenen Gefüssen an freier Luft vor sich gehen zu
lassen. Bei Anwendung geschlossener Gefässe und Eutweiehenlassen der Dämpfe
durch ein Rohr in den Kamin würde jede Gefahr beseitigt. Die Verwendung
reiner Säure kann nicht wohl gefordert werden, da dadurch wesentliche Erhöhung
der Kosten resultiren würde.
Literatur: !) Dixon Mann und GrayClegp. 0$i tht toxic uction of or*e-
H etted hyrfroflon, illiixtrateft bi / tirc rase*. Reprint trom the Med. Ohmn. Manchester 1895. —
*J Jo ly und Xahias, Sär Vaction phyciolopiquc de Vhyilroyint arucnic. Couipt. rend. 1890,
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ARSENWASSEBSTOFF. — AUGENHEILMITTEL. 27
X. pa*. 6üG. — *) Storch, Ucber einen Fall von Humoglobinnrie nach Ei nat Innung; von
arsenwa.sserttniTkaltigem Wasserstoff. Verhandl. d. 1 1. Congr. f. innere Med. 1892. pag. 276. —
*) Stadel mann, Die Ar^enwas^erHtofl’vergiftung, ein weiterer Beitrag nur Lehre vom Icterus.
Arch. f. experim. Path. 1882. XVI, pag. 22 1 ; Der Icterus« und seine Formen. Stuttgart 1892.
Huscmann.
Augenheilmittel. Das von VAI.CDE (s. Encyel. Jahrb. IV) eingeführte
Formaldehyd (Formol , Formalin) hat Gkpxer >) als Augeuwasser verwendet
bei allen acuten Bindehauterkrankungen und als Spül- und Waschwasser vor und
hei Äugcnoperationen, und zwar in einer Lösung von 1 : 2000, höchstens 1 : 1000.
Die Bindehautsecretion wird dadurch mauchmal in erstaunlicher Weise verringert.
Gi'aita *) gebraucht es gleichfalls hei Operationen (1:2000), aber auch hei
Hornhautgeschwüren, die er mit einer l%igcn Lösung betupft und dann mit der
schwachen Lösung nachspült. Bakabaschkw *) hält es für das beste Antisepticum
in der Augenheilkunde und meint, dass schwache Lösungen, 1:4000 — 1:2000,
welche unbedeutende Beizungen machen, vollkommen wirksam seien. Er hat es hei
Trachomen, Bindehautblennorrhocn, infectiöscn Keratitiden mit Erfolg angewendet.
Auch zur Desinfection der Instrumente ist es sehr tauglich. Ebenso lobend spricht
sich Lavagxa *) Uber das Mittel aus (1:2000) und war namentlich bei Thränen-
sackblennorrhoe mit Injectionen desselben sehr zufrieden. Ich habe es hei Horn-
hautgeschwüren wiederholt mit vorzüglichem Erfolge angewendet, doch benützte
ich stärkere Lösungen (1:200 und 1:100) und cocainisirte vorher; doch trat
der Erfolg nicht in allen Fällen ein. Auch die Abnahme der Bindehautsecretion
habe ich mehrere Male beobachtet.
Das Dermatol hat Rosklu*'4) statt des Calomel bei scrophulöser Con-
junctivitis angewendet und hält es dem ersteren Mittel für überlegen. Auch kann
es neben internem Jodgebrauch eingestaubt werden. Auch bei einfacher und paren-
chymatöser Keratitis und bei Ulcus corneae war es wirksam, dagegen nicht liei
Blepharitis und Trachom.
Gleichfalls als Streupulver wurde das Thioform verwendet. Es ist das
dreiwerthige Wismuthsalz des Dithions, eines Derivates der Dithiosalicylsäure. Es
wurde mit Erfolg eingestaubt bei Conjunctivalkatarrhen und bei scrophulösen
Augcnentzünduugen. Fromm "•) lobt es besonders seiner austrocknenden Wirkung
wegen bei der Conjunctivitis, welche durch das Tragen künstlicher Angen ent-
steht. Auch Rogmaxx , Jeckmaxx, Schmidt haben gute Erfolge gesehen, und
zwar bei Hornhautgeschwüren ; nach Tkapf.sxikOW 8) übt es eine anästhesirende
Wirkung auf die Hornhaut aus und hat sich in allen Fällen von Lichtscheu bei
Keratitis bewährt.
Die subconjunctivalen Injectionen von Mcdicamenten , besonders
des Sublimat, welche von Darier in die Augenpraxis cingeführt wurden (s. den
IV. Jahrgang dieser Jahrbücher), haben eine ungemeine Menge von Publicationen
hervorgerufen, in welchen die widersprechendsten Ansichten zu Tage treten. Wäh-
rend Viele über staunenerregende Resultate berichten, sprechen Andere den Iu-
jectionen , wenn sie dieselben nicht aus theoretischen Gründen direct ablehnten,
wie Michel14), Cohx14), Sameesohx >*), Laxdolt14), Paxas'*), jeden Werth
für die Praxis ab.
Im Allgemeinen stimmen diejenigen, welche Lobredner der Injectionen
sind, darin überein, dieselben seien indicirt bei allen infectiösen Processen am
Auge, möge nun die Infection direct an demselben erfolgt sein oder aus dem
Innern des Körpers heraus stattgefunden haben. Vor Allem werden sie bei infec-
tiöscn Processen an der Hornhaut gerühmt, also bei l'lcus corneae überhaupt
und der sogenannten Ilypopyonkcratitis insbesondere; andererseits bei solchen
Infectionen , welche nach Traumen eintraten , in erster Reihe bei ungünstigen
Zufällen nach Staaroperationen. Manche haben bei Cornealproccssen keine
Erfolge gesehen, sind aber entzückt Uber die günstigen Erfolge bei Chorioiditis
und Chorioretinitis, bei welchen Viele die Injectionen ganz ohne Erfolg machten.
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AUGEN HEILMITTEL.
28
.Sehr gute Erfolge sahen Eiuzclne bei Iritis und Iridocyclitis , nur Wenige bei
Keratiti 's pa ren chy matosa , bei Skleritis, bei Chorioiditis macularis ex Myopia,
kurz, wenige Angenkrankbeiten giebt es, die nicht in das Medicationsbereiek der
Suhlimatinjectionen aufgenommen wurden.
Auffallend ist es nun, dass wieder Andere trotz zahlreicher Versuche
bei den verschiedensten Krankheiten entweder absolut negative Resultate erhielten
oder zweifelhafte Erfolge erzielten, die, wenn eine andere Therapie nebenbei nicht
versäumt wurde, ebenso gut dieser zugeschrieben werden konnten.
Zu den Anhängern der Therapie gehören ausser Dahier »), Sgrosso und
Scalixci 1 *), Ahadie '*), Vexxemaxx >*), Gagarix ll), Grandclemext »*;, Dufour **),
Zossenheim '*), Df.utschmaxx*®), Gepxer 1S), Gosetti >*), Coppez >*), PflGgkr “),
Meli. inger“) u. A., unter diejenigen, welche keine Erfolge sahen, Massei.ox’4)
(v. Wecker), Laqueck**), Dexeffe1*), Diaxoux14), Haab'4), Ficku), Bocchi**),
Gctmaxx **) u. A. Auch ich muss mich bisher zu den letzteren zahlen.
Was die eingespritzten Flüssigkeiten betrifft , so war es vor Allem das
Sublimat , seltener das Queeksilberoxycyanid , das Jodtrichlorid. MellixGER hat
Injection einer 0,75®/Oigen und 2%igen Kochsalzlösung vorgeschlagen und hat
damit ebenso gute Resultate erhalten ; für Glaskörpertrübungen empfiehlt er eine
4%ige. Die Wirknng wurde von den Meisten auf die desinficirende Wirkung
des Sublimats bezogen. Es wurde aber bestritten , dass dieses überhaupt oder in
ausreichender Menge in das Augeninnerc gelange. Mutehmilch*’), Stuelp17) und
MklLIXGKR15’ *°) haben die Meinung ausgesprochen, dass es sich um eine durch
die eingespritzten Salze hervorgerufene Beschleunigung des l.ymphstromes handle,
welche die beobachteten günstigen Wirkungen verursache; in jüngster Zeit**)
hat Mkllixgek dies auch experimentell nachgewiesen. Die Sublimatinjectionen
rufen sehr starke langdauerndc Schmerzen hervor und führen häufig zu Ver-
klebungen zwischen Conjunotiva bulbi und Sklera, worauf von manchen Gegnern
grosses Gewicht gelegt wird. Ich habe die letzteren wohl beobachtet, aber für belang-
los gehalten. Den Iujectionen von Chlornatrium haften alle diese Uebelstände nicht au.
Jedenfalls ist die ganze Frage als eine noch offene zu betrachten.
Das Gallicin, ein Methyläther der Gallussäure, ein weisses Pulver,
wird wie Calomel eingestaubt und soll nach Mei.lixger19) bei Katarrhen, die
mit chronischer Schwellung der Schleimhäute , geringer oder zäher, schmieriger
Secretion verlaufen und sich mit Ekzemen der Lider compliciren, bei phlyctänu-
lärer Entzündung mit Secretion und Keratitis superficialis wirksam sein. Auch
von Sl'KER *°) wird es gelobt. Nach meinen Erfahrungen wirkt es günstig bei den
mit starker Secretion einhergehenden und mit phlyetänulärer Conjunctivitis eom-
plicirten Katarrhen der Kinder, jedoch nicht mehr als Acidum tannicum, das
ich schon jahrelang hei solchen Fällen einstaube.
Das Scopolamin, als bromwasserstoffsaures Salz benützt, hat sich bewährt
und dürfte wegen seiner intensiveren Wirknng und geringeren Giftigkeit das
Atropin zum Theile verdrängen. Ich wende, es statt dieses Mittels ausnahmslos
in 0,l“/0iger Lösung an. Die Beobachtungen Rählmanx's ’*) werden bestätigt
von Bei.larmixoff '*), Martki.i.i “) (Axgei.ccoi), Vikhi.ixg **j, Sakti5*), Bock**),
Gutmaxx •*), SchOrmaier*7), Olk Bull.*«) Nach Walter*1) ist es jedoch bei
Glaukom ebenso eontraindicirt wie Atropin.
Da 8 schon im III. .lahrgange der Jahrbücher erwähnte Alkaloid der Areca-
nuss (Arecolinuin hydrobromatumi macht nach Lavagxa**) in l«/0iger Lösung
in einer Minute eine Miose von 6'/, auf 2 Mm., welche 20 Minuten dauert und
in 30 Minuten verschwindet, um einer leichten Mvdriasis Platz zu machen. Auch
Spasmus des Ciliarmuskels tritt in der 8. Minute ein und schwindet nach weiteren
10 Minuten. Auch ein Tropfen einer Lösung von 1 : 10.000 macht noch durch
10 Minuten dauernde Myosis.
Kazacrow**) hat auf Maki.akow’s Vorschlag die „elektrische Feder“
von Edison zur Massage des Auges angewendet. Die Kugel wird direct auf
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AUGENHEILMITTEL.
29
den Bulbus applicirt und leicht vertragen. Es entsteht Injection , Miosis und
Accommodationskrampf und wird im gesunden wie im kranken Auge der intrn-
oculare Druck herabgesetzt. Angewendet wurde sie mit Erfolg bei Glaukom-
prodromen, bei traumatischer Linsentrübung zur Beschleunigung der Resorption,
bei parenchymatöser Keratitis. Bei chronischer Episkleritis soll die Heilung schon
nach 2 — 3 Stunden eintreten!
RKUSS hat bei der Naturforschcrversainmlung in Wien 1894 über die
Resultate der Behandlung von Skleritis und verwandten Erkrankungen durch
den galvanischen Strom berichtet. Er applicirt die eine Elektrode (Platin platte)
direct auf den episkleritischen Herd des cocainisirten Auges (1 — 3 Milliamperes
durch eine Minute). Der Verlauf wird dadurch bedeutend abgekürzt und eventuelle
Schmerzen rasch zum Schwinden gebracht. Er meint, dass durch die entstehende locale
IlyperÄmie die Resorption der Entzündungsproducte beschleunigt werde. Seltener
wurde der faradische Strom auf die geschlossenen Lider applicirt (elektrische Hand).
Sii.kx44) stellte Untersuchungen über den Einfluss kalter und
warmer Umschläge auf die Temperatur im Conjuncti valsacke an. Es
ergab sich, dass durch kalte Umschläge die Temperatur erhöht und durch warme
vermindert werde; Giesk46) erhielt jedoch das entgegengesetzte Resultat.
Holth4*) meint, dass die Zersetzung unserer gewöhnlichen Augen*
salben, speciell der gelben Salbe, nicht durch das Ranzigwerdeu der Fette,
sondern unter dem Einflüsse des Lichtes erfolge, das durch die gebräuchlichen
Porzellan- und Steingutgefässe und deren Holzdeckel eindringe. Nimmt man Ge-
wisse, die für Licht undurchlässig sind, so kann die Salbe zwar ranzig werden,
aber die Salze zersetzen sich nicht.
Literatur: f)Gepnert Formaldehyd als Augen wasser. Ccntralld. f. prakt. Augenhk.
Januar 1?94. — *)Gnaita, II formolo in oftalmojatria. Annali di ottalm. 1894, XXIII. —
*) Barabaschew. Ueber Formaldeliyd. Wjest. ophtalm. 1895, Nr 2. Ref. in Arcb f. Augen-
heilkunde. 1895, XXXI. — 4) Lavagna, Süll ’ tmpitgo ilrlla formaldetde nella terapia
delle malatti oculari e sptcialimenie nelle affezioni del sacro lacrimale. Bull, d'ocul. 1895,
XVII. — *) Roselli, II derma tolo in oftalmo-iatria. Boll. d. R. Aec. med. di Roma. 1893.
— *) Roselli, Dermatol nella pratica oculistica. Gazz. degli ospcdali. 1894. — *) Fromm,
Ueber Thioform. Deutsche Medicinalzeitung. 1894, Nr. 40. — ft) Trapesniko w in Wojenuo-
Medicinski Shurnal. Beilage zur Petersburger Ztg. i895, Nr. 9 u. 1(J (Ref. in Die Therapie
der Gegenwart. Februar 1896). — *) Darier, Behandlung und Prophylaxis der infectiösen
Procease nach Staaroperationen. Sitzungsber. d. ophtbalm. Gesellsch. Heidelberg 1893 (Dis-
cnssion : Sattler, Laquenr, Dufour). — ,#) Darier, Encore lex injection s souscon-
jonctivales. Annal. d'Oculiatique. 1894, CXII. — u) Ga gar in. Zur Frage über die suhcon-
junctivalen Subiimatinjectionen. Inaug.-Dissert. (Russisch.) Petersburg 1889. — '*) Grand-
c lern ent. Die Indicatinnen für die subconjunctivalen Sublimateinspritzungen. Lyon med.
April 1893. — **) Sgrosso e Scalinci, Le iniezione sottocongiuntivali e intratenoniani
di subhmato corrosivo nella cura di alcune affezioni oculari . uiornale med. d. r. esercito.
Rom 1893. — *4) Valude, Des injection# sous-con juncti vale« en therapeutique oculaire.
Annal. d'Oculistiquc. 1893. (Darin die Antworten vieler Augenärzte auf die vom Verf. ae-
schehene Umfrage.) — ,6) de Schweinitz, Intra-ocular injections of Solutions of various
antiseptic. substances ; an experimental inquirg. Journ. of the Amor. ined. association. Chicago
1893, XXI ; Subconjunctical injections of corrosive Sublimate. Ibid. — **) G a 1 1 em ae rt s,
Du traittment des affections oculaircs par les injections sous<on jonctivales. Bull, de l'Acad.
Roy. de mW. de Belg. Brux. 1893, VII. — n) La grau ge, Des injections sou+conjonc-
tirules de sublime au */,000 dans le traitement des inßammations oculaircs. Mein, et bull.
Soc. de med. et chir. de Bordeaux. 1892. — !t) Gepner, Ueber subconjunctivale Sublimat-
einspritzungen. Centralbl. f. prakt. Angenhk. Januar 1894. — ,#) Zossen heim . Ueber die
subconjunctivalen Injectionen von Sublimat. Doutschmann's Beitr. z. Augenhk. 1894. —
**) Deutsch mann, Ueber Behandlung von acut infectiösen Processen des Auges durch sub-
conjunctivale Subiimatinjectionen nebst Schlussbemerkungeu über diese Behandlungsmethode
überhaupt. Ibid. — **) Mutermilcb, Quelques remarques critiques au sujet des injections
sous-con jonctivales de sublimi. Annal. d’Oculiatique. 1894, CXIJ. — **) Bocchi, Sulla
cura delle iniezioni sottocongionctivali di sublimato corrosivo. Gaz. med. cremonese. 1894,
XIV. — **) Gntmann, Ueber subconjunctivale Injectionen. Arch. f. Augenhk. 1894, XXIX.
— **) Mellinger. Klinische und experimentelle Untersuchungen über subconjunctivale In-
jectionen und ihre therapeutische Bedeutung. Ibid. — ,s) Mellinger, Experimentelle Unter-
suchungen über die Wirkung subeonjunetival injicirter Kochsalzlösungen auf die Resorption
aus der vorderen Kammer und den Glaskörper. Ibid. IS96, XXXII. — *•) Mellinger und
30
AUGENHEILMITTEL. — AUTOSKOPIE DER LUFTWEGE.
Bossalino, Experimentelle Studie über die Ausbreitung subconjunctival injicirter Flüssig-
keiten. Ibid. 1805, XXXI. — *:) Stuelp, Wird nach subconjunctivalen Sublimatinjectionen
Quecksilber in's Angeninnere resorbirt? Experimentelle Untersuchungen etc. Ibid. 1895.
XXXI. — 3*| Bull, Die Krage der Wirksamkeit subconjunctivaler Jnjeetionen von Sublimat
bei Augenleiden. New York med. Jotim. Januar 1895. — -*) Mellinger, Gallicin, ein neues
Präparat der Gallussäure und seine Anwendung in der Augenheilkunde. Uorrcspondenzbl f.
Schweizer Aerzte. 1895, Nr. 8. — ao) Suker, Gallicin, ein adstringirendes und ableitendes
Mittel und sein Gebrauch bei der Behandlung von Augenkrankheiten. Aunal. of Ophtbnlm.
and Otologv. Juli 1895. — **) Kartell!, Sulla zcopolamimt. Arch. di OttalD. 1893, 1. —
**) Bellarm in off, O drjstwti Skopolamin a na glas. Wratsch. 1893, XIV. — M) Vierling.
Ueber die Wirkung des Scopolaminum h ydrobromicum. Deutschmann's Beitr. z. Augenhk.
1894, XIII. — M) Rah 1 mann, Ueber die Anwendung eines neuen Mvdriaticunis, des
Scopolamins, in der ophthalmologisi hon Praxis. Wiener med. Wochenschr. 1894. Nr. 2'; das-
selbe in Annal. d'Oculistique. 1894, CXI. — ls) Gutmann. Beitrag zur Kenntniss des
Sropolaminum h ydrobromicum. Therap. Monatsh. März 1894. — 36) Sarti, Sulla scopolamina.
Boll. delle scienze med. di Bologna. 1893, IV. — ,T) Schtirmaier, Scopolanunum hydro-
bromicum, ein neues Mitte) zur Erweiterung der Pupille und Lähmung der Accommodation.
Med. Neuigkeiten. München 1894 — M) Scopolamine, its calue in Ophthalmie pratice. New
York med. Joura. 1894. — 81) Bock, Scopolaminum h ydrobromicum. Allg. Wiener med
Ztg 1894. — 4l) Oie Bull, Therapeutiske Notitser. N' or.sk Mag. f. Laegevid. Christiania
1895, Nr. 9. — 4I) Walter, Zur Aetiologie und Therapie des Claukoms. Klin. Monatsbl. f.
Augenhk. Januar 1895. — 4I) La vag na, Appunti sperimentali sull’ azione ßsioloyica d'un
nuoro olcaloide miotizzante ( Varecolina j. Boll. di ocul. 1895, XVII. Ref. in Arch. f. Augen-
heilkunde. XXXI. — 4S) Kazaurow, Die Anwendung des Edison 'gehen Elektromotors zur
Massage des Auges nach der Methode des verstorbenen Prof. Maklakow. Wratsch. 1895.
Nr. 22. Ref. ebendaselbst. — 44) Silex, Zur Temperaturtopographie des Auges und ütier
kalte und warme Umschläge. Arch. f. Augenhk. 1893, XXVI. — 4i) Giese, Temperatur*
Messungen im Conjunctivalsack des Menschen. Arch. f. Augenhk. 1894, XXVIII. — 4*t Hol th.
Das Licht, unsere gelbe Salbe und die gewöhnlichen Salbenkruken. Arch. f. Augenhk. 1895, XXX.
R e u s s.
Autoskopie der Luftwege. Das Innere des Kehlkopfes und
der Luftröhre ist bei vielen Menschen der directen Besichtigung
zugänglich, manche Operationen an diesen Theilcn können unter
direeter (durch keinen Spiegel, kein Prisma vermittelter) Controle
des Auges ausgeführt werden. Dieser Satz, Ende April lS'.lf» von mir in
der Allg. med. Central-Ztg. (Xr. 34) pnblieirt, schuf das Problem einer Laryngo-
traeheotcopia directa (Autoskopie der Luftwege), ein Problem, dessen vollständige
Losung bereits vier Monate später (Ende August 1805) erreicht war, indem ich
die Technik des Untersuchen» uud Operirens ausgehildet, die Leistungsfähigkeit
der Methode erprobt, ihre natürlichen Grenzen ermittelt, ijire theoretischen Grund-
lagen klargestellt hatte.*)
Die Autoskopie der Luftwege bedeutet nicht etwa blos eine Bereicherung
unseres methodologischen Wissens, sondern sie ist zu umfangreichen praktischen
Leistungen befähigt. Von vornherein wird kaum bezweifelt werden, dass es eine
nützliche Errungenschaft ist, wenn man im Innern des Kehlkopfes und der Luft-
röhre in derselben directen, natürlichen, unkünstliehen Weise operative Eingriffe
vollziehen kann wie an anderen Körpertheilen ; ebensowenig ist zu bestreiten,
dass die direete Betrachtung eines Organes, wenn sie flink, bequem und ohne
zu grosse Belästigung des Patienten erlangt werden kann, den Vorzug verdient
vor der Betrachtung des blossen Spiegelbildes dieses Organes. In der That, wer
sein Auge erst an den nunmehr erschlossenen autoskopischen Anblick des Kchl-
*) Längst bekannt ist die direete Larvngoakopirharkeit mancher Thiere. Erfischen
braucht man nur das Maul zu öffnen, um hinter der Zunge den Larynxeingang als einen sagittaleu
Spalt zu erblicken, der hei jedem Inspirium auseinanderklafft. Hem t.etfügel öffnet man die Mund-
höhle und drückt den Kehlknpf von aussen in die Höhe; auf diese Weise kann man bequem
das Innere des Kehlkopfes und seihst noch einen Theil der Luftröhre besichtigen Bei kurz-
srhnauzigen Hunden und bei Katzen kann man nach Oeffnung der Mundhöhle, Fixirung der
Kiefer und Niederdrücken oder Vorziehen der Zange den TTehergang des Schlnndkopfes in den
Kehlkopf, den Kehldeckel und den Eingang in die Kehikopfhöhfe ziemlich gut besichtigen. Bei
langschnauzigen Hunden , desgleichen bei Schafen nnd Ziegen , sowie Kälbern ist dies schon
schwieriger. Pferden kann man einen geraden Tubus durch den unteren Nasengang in den
Kehlkopf einfübren. (Theilweise nach Friedberger und Frfihner.)
3gle
Digitizec
AUTOSKOPIE DER LUFTWEGE.
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kopfes und der Luftröhre gewöhnt hat, an die ungeschwächte Körperlichkeit der
Formen, au den Reiehthurn und die Lebhaftigkeit der farbigen Nuancen, an die
auffallend günstige Perspective der tiefen Theile — dem erscheint im Vergleiche
dazu das Spiegelbild fortan matt, kalt, unplastisch: das Spiegelbild sinkt
in optischer Beziehung zum Range eines Surrogates herab. Aber trotz
dieser unantastbaren , im Wesen der Sache liegenden Superiorität der directen
Laryngoskopie kann sie in der Praxis, ans Griinden anderer Art, neben der in-
directen Methode nur eine zweite Rolle spielen. Es fehlt ihr nämlich die die
Spiegelmethode auszeichnende Universalität: nur bei einem Theile der Menschen
ist der Kehlkopf und die Luftröhre in voller Ausdehnung direct sichtbar zu machen,
bei den anderen zeigt sich blos ein mehr oder weniger grosser Abschnitt der
Luftwege, und besonders die vorderste Partie des Larynxinnern bleibt bei der
Mehrzahl der Menschen unsichtbar; es giebt sogar Individuen, bei denen man
sich mit dem directen Anblick der tiefen Rachentheile begnügen muss, indem vom
Kehlkopf nichts zu sehen ist als höchstens ein Stück der Epiglottis. Somit hat
meine Erfindung nicht die Kraft, au der dominirendeu Stellung der Spiegcl-
methode zu rütteln, sie macht keine einzige der überlieferten larvngologischen
Manipulationen entbehrlich, aber sie gewinnt der Diagnostik UDd Therapie neue
mächtige Hilfsmittel zu den alten bewährten hinzu, sie führt in den durch Gakcia,
TCkck und Czkrmak vor vier Decennien entfesselten Strom zum ersten Male
einen starken Nebenfluss. Die Erfahrung lehrt, dass die Autoskopie uns in zahl-
reichen Fällen eine genauere Kenntniss der Zustände im Respirationstractus ver-
schafft als der Spiegel (dies gilt in allererster Reihe für die sehr häufig sich
riaehenhaft priisentirende llinterwand der Kehlkopfhöhle, ferner für die Luftröhre
und die Bifurcation, schliesslich noch ganz besonders hei der Untersuchung von
Kindern), und dass sie eine Reihe von Operationen leichter und exacter zu voll-
ziehen gestattet als die Spiegelmethode. Man beginne (das ist mein Rath) eine
jede Kehlkopfuntersuchung regulär mit dem Universalinstrument, dem Spiegel; wer
<lie Autoskopie erlernt hat und beherrscht, der weiss gewiss die Fälle herauszu-
tinden , in deren Beurtheilung oder Behandlung ihn dann meine Methode noch
weiter zu fördern vermag. Das wird bei dem einen Arzte häufig, bei dem anderen
selten geschehen, denn es liegt in der menschlichen Natur, dass die Vortheile
einer Neuerung, auf deren Benutzung wir nur in wenigen Fallen mit zwingender
Noth wendigkeit angewiesen sind, von verschiedenen Beurtheilcru verschieden
hoch geschätzt werden, und dass da, wo zwei gangbare Wege zum Ziele führen (wie
bei gewissen Operationen;, einer diesen, ein anderer jenen Weg lieber wandelt.
Aufgabe der folgenden Zeilen sei es, die von mir entdeckten That-
saehen und in Congruenz damit erfundenen Hilfsmittel zu beschreiben und
zu erklären, nicht aber Iudicationsfragen zu erörtern, Uber welche man (wie
eben angedeutet) verschiedener Meinung sein kann, ist, und wohl auch bleiben wird.
Als „Autoskopie*) der Luftwege“ bezeichne ich die gerad-
linige Besichtigung der tiefen Rachentheile, des Kehlkopfes, der
Luftröhre und der Bronchialcingänge von der Mundöffnung aus. Die
Bedingungen einer solchen vollständigen geradlinigen Besichtigung kann man sich
leicht a priori construiren :
1. Es muss dem Körper eine Haltung gegeben werden, bei der das
Lumen des tracheolaryngealen Rohres in seiner geradlinig gedachten Verlängerung
nach oben hin in den Bereich der Mundöffhung fallen würde.
2. Es müssen die in die gedachte Verlängerung des tracheolaryngealen
Lumens hineinragenden Körpcrtheile (Kehldeckel und Zungengrund) aus dem Wege
geräumt werden.
*) Pas Wort Autoskopie soll ungefähr dasselbe bedeuten wie das Wort Autopsie:
authentische, möglichst unvermittelte Besichtigung unter günstigen Bedingungen. Eine andere
passende Benennung wäre Eil t h y ftcup ia Utrt/nyitt = Lari/nt/oxcopiu directa, von rjüdf —
dircclus, geradlinig.
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ACTOSKOPIE DER IA'FT WEGE.
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Ad 1. Hei militärischer Haltung würde die Verlängerung der Luftröhre
ungefähr die Nasenwurzel treffen , bei Rtlekneigung des Kopfes (wie wenn inan
in die Höhe schaut) ungefähr das Kinn ; das kann man sich an jedem aufrecht
stehenden Menschen durch äussere Betrachtung verdeutlichen, wenn man nur daran
denkt, dass die Luftröhre, deren oberes Ende am Halse ganz vorne liegt, im
Thorax schräg nach hinten verläuft, parallel zur Wirbelsäule, so dass sie mit
dem Brustbein einen beträchtlichen Winkel bildet. Die Autoskopirhaltung muss
somit zwischen der erst- und zweiterwähnten Haltung liegen und durch ein ganz
bequemes Anheben des Kopfes zu erzielen sein , bis die Blickrichtung mit der
Rumpfachse einen Winkel von fünfviertel bis anderthalb Rechten bildet — eine
Ueberlegung, die durch die Erfahrung vollkommen bestätigt wird. Die Bewegung
des Kopfes, um die es sich handelt, vollzieht sich im Atlantooceipitalgelenk. Dass
ein kleiner Winkel in diesem Gelenk einen hinreichend grossen Ausschlag am
Oberkiefer ergiebt, liegt an der Länge des Radius der Kreisbewegung (circa 12 Cm. ).
Fig. 28.
Ad 2. Der Zungengrund kann aus dem Bereiche des verlängerten Tra-
chcalrohrcs naturgemäss nur in der Richtung nach vorn und unten hin ausweiehen :
zur Herbeiführung der erforderlichen Lage der Zunge bedarf man eines für den
Zungendruek geeigneten Instrumentes, also eines Spatels, der aber nicht, wie bei
der traditionellen Pharyngoskopie, vor den Pupillae cireumvallatne bleiben darf,
sondern gerade den dahinter liegenden Zungentheil anpacken muss. Zur Aufrich-
tung des Kehldeckels haben wir, wie längst bekannt, zwei Möglichkeiten : das
directe Anheben durch ein Uber die Epiglottis greifendes Instrument, oder das
indireete Anhebeu nach dein von Reichert 1879 beschriebenen Princip, welches
lautet : Druck auf den Zungengrund und das Ligamentum glosao-epiglotticum
medium veranlagst die mit der Zunge eng verbundene Epiglottis sich aufzurichten.
Da das erstere Verfahren Cocainisirung erfordert, so ist cb für Ausnahmefälle zu
reserviren ; die Autoskopie hat im Allgemeinen mit dem RElCHEltT’schen Princip
zu rechnen, welches durch die ohnehin nothwendige instrnmcntclle Dislocation des
Zungengrundes sich von selber erfüllt.
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AUTOSKOPIE DER LUFTWEGE.
33
Zur Ausübung der Autoskopie des Kehlkopfes und der Luftröhre nach
den hier dargelegten Principien genügt in ganz günstigen Füllen irgend ein ge-
wöhnlicher knieförmiger Zungenspatel. Meistens jedoch ist es erforderlich , sich
eines besonderen Instrumentariums zu bedienen , welches ich jetzt beschreiben
werde. *)
Das vollständige sogenannte „Autoskop“ besteht aus 3 Theilen : dem
Autoskopspatel, dem Aufsatzkasten, dem Handgriff.
Fig. *3.
Gefrierscbnitt zur Demonstration der topographisch-anatomischen Ver-
hältnisse bei der vollständigen Autoskopio der Luftwege.
Das Präparat stammt von einem ansgetragenen, am 11. Tage nach der Geburt gestorbenen
Kinde, ueaaeo Leiche mir von Herrn Geheimrath Olshausen gütigst tiberlassen wurde. Zur
Herbeiführung und Fixirung der während vollständiger Autoskopie des Kehlkopfes und der
Luftröhre bestehenden Lage der Tbeile wurde ein ganz dünner Holzstab vom Munde aus in
den Kehlkopf eingeführt und tief in die Luftröhre geschoben. Die Leiche kam in eine
Mischung von Bis und Salz und wurde nach 48 Stunden durchsägt, wobei sie sich als
völlig durchgefroren erwies. Das Holz wurde entfernt, das Präparat in Alkohol gehärtet. Der
Schnitt zerlegt den Kopf und den Hals in der Medianebene, weicht dann nach unten hin
allmälig nach links ab und eröffnet den Anfangstheil des linken Bronchus.
Der Autoskopspatel ist eine flache Kinne, welche geradlinig verläuft;
nur am Ende, da wo er die Convexität der Zunge bereits überschritten hat, be-
kommt der gewöhnliche (prälaryngeale) Autoskopspatel eine abwärts gerichtete
•) Simmtliche Instrumente zur Autoskopie verfertigt nach meiner Angabe Herr
W A. Hirachmann, Berlin N., Johanniaatr. 14 15.
Enoyelop. Jahrbücher. VI. 3
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AUTOSKOPIE DER LUFTWEGE.
Krümmung, um den zur Aufrichtung der Epiglottis erforderlichen Druck auf die
Zungenwurzel und das Ligamentum glosso-epiglotticum medium, eventuell auch
den Zungenbeinkörper auszullben. Das genannte Ligament erfordert eine Delle am
Spatelende, welches im Uebrigen verdickt sein und sehr sorgsam abgerundete
Ränder haben muss, um Verletzungen der Schleimhaut zu vermeiden. Dir Länge
des Spatels für Erwachsene beträgt 14 Cm., die Breite am Endstücke circa 2,
im Uebrigen circa 1,6 Cm. Der
Spatel besteht aus vernickeltem
Ncusilber, ist äusserst leicht zu
reinigen und in kochendem Wasser
zu desinficiren. Das Endstück ist
bei dem meist benutzten Spatel
(Nr. 2, sogenanntem Normal-
spatel) derartig gekrümmt, dass
der freie Rand circa 1 Cm. tief
unter der Ebene des Rinnenbodens
steht, doch ist der Besitz eines
stärker (Nr. 3) und namentlich
eines schwächer (Nr. 1) gekrümm-
ten Spatels für gewisse Fälle
wttnschenswertli. Die Spatel für
Kinder sind kürzer und schmäler.
Bei cocainisirten Patienten (zu
operativen Eingriffen) kann man
den intralaryngealen Autoskop-
spatel (Nr. 0) anwenden, der hinter
dem Kehldeckel cingeführt wird,
diesen an die Zunge andrückt und Normal'|,ato1 a^e^t°AX«kX^i,yngeÄl",*telt
dabei verdeckt. Er besteht aus
einer vollständig geraden Rinne, die vorne mit dünnem, convexem Rande endet.
Der Aufsatzkasten, ebenfalls aus vernickeltem Metall, dient dazu, dem
Einfall des Lichtes, dem Einblicke des Arztes, sowie etwa erforderlichen Ope-
rationsinstrumenten die Bahn freizuhalten, die sonst durch dichtes Aufliegen der
oberen Zähne, der Oberlippe, eventuell des Schnurrbarts versperrt werden würde.
Manchmal ist der Aufsatzkasten entbehrlich.
Als Handgriff benutzen wir häutig einen Apparat,
welcher gleichzeitig die Beleuchtung des Gesichtsfeldes besorgt,
nämlich ein sogenanntes ElektroBkop (nach dem CASPER’scben
System i; das ist eine elektrische Ilandlampe , deren durch eine
Linse gesammeltes Licht durch ein Prisma um 90° abgelenkt wird.
An dieses Elektroskop wird der Autoskopspatel rechtwinklig fest
angeschraubt; das Licht streicht dann immer über den Spatel
hinweg und an ihm entlang. Der Einblick erfolgt unmittelbar über
die Kante des Prismas hinweg, so dass der ganze durch die
divergirenden Lichtstrahlen erhellte Bezirk vollkommen übersehen
werden kann.
Eine andere Art zu autoskopiren besteht darin , dass man
den Autoskopspatel an einen einfachen Handgriff steckt und
zur Beleuchtung , je nach der vorhandenen Lichtquelle , ent- Einfacher
weder (für Sonnenlicht, Petroleum, Gas, Gasglühlicht) den ge- H*u<lgri,r'
wöhnlichcn Stirnspiegel, oder die von mir constmirte elektrische Stirn-
lampc für reflectirtcs Licht benutzt (die übrigens nicht nur für die Auto-
skopie brauchbar ist, Bondern bei 6äinmtlichon Untersuchungsmethoden des
Halses , der Nase und des Ohres vorzügliche Dienste leistet). Das Licht einer
kleinen Glühlampe wird durch eine Convexlinse gesammelt und sofort beim
Fi*. s<.
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AUTOSKOPIE DER LUFTWEGE.
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Austritt aus der Linse durch einen unter 45° fest angebrachten kleinen Plan-
spiegel rechtwinklig abgelenkt. Der Spiegel ist zum Durchsehen in der Mitte
schräg durchbohrt. lTm die Winkelstellung des Spiegels hat man sich beim Ge-
brauch gar nicht zu kümmern , sondern man richtet Rieh bei der Einstellung
des Instrumentes lediglich nach einer hinter dem Spiegel (vor dem Auge des
Untersuchers) angebrachten, vertical stehenden länglichen Blechscheibe , welche
ebenfalls ein Loch hat. Sieht man durch die beiden Löcher hindurch, so befindet
sich die Sehachse ohne weiteres im Centrum des Lichtbündels — ein optisch ideal
günstiges Verhältniss. Durch Veränderung des Abstandes der Convexlinse von
der Glühlampe lässt sich der Lichtkreis vergrössern oder verkleinern; man er-
mittele durch Probircn den Abstand , bei welchem die betreffende Lampe den
günstigsten Beleucbtungscffect giebt, und belasse diese Einstellung permanent (für
die BJiinosropia anterior benutze man den obersten Abschnitt des Lichtkreises).
Die Verbindung der Lampe mit dem Stirnschilde ist durch zwei unter Spiralfeder-
druck stehende Gelenke derart hergestellt, dass jede beliebige Bewegung in
weitester Excursion mit geringster Kraft vollzogen werden kann und dass die
Lampe in jeder Stellung sofort automatisch fixirt ist. Um die Stellung der Lampe
zu verändern, benutzt man den unteren Band der durchbohrten Blechscbeibe als
Handhabe. Der obere Theil der Lampe darf nicht der Stirne sehr genähert
werden. An dem Kabel ist ein
Fis 26 - Stromunterbrecher angebracht.
Statt am Stirnbande (wie in der
Fig. 26) kann die Lampe auch
an einem Stahlbügel getragen
werden.
Wir wenden uns nun
zur Anwendung des Antoskopes
hei dem Patienten, zur Auto-
skopie. Die Autoskopie ist
eine Kunst — das vorweg.
JtX Wer glaubt, er braucht nur
Z'|J zum Autoskop zu greifen, um
Elektrische Stirulampe für redcctirtea Licht. autoskopiren ZU können - der
wird eine Enttäuschung erleben.
Wir haben gesehen , dass die Blickrichtung des Patienten im Allgemeinen einen
stumpferen Winkel zur Itumpfachse bilden soll als bei der militärischen Haltung.
Licssen wir nun zu diesem Zwecke den ganz gerade aufrecht sitzenden Patienten
den Kopf etwas zurückneigen , so würde die Verlängerung seiner Luftröhre,
wenn sie auch zur Verlicalcn schon beträchtlich geneigt ist, doch noch so
steil in die Luft ragen, dass die Untersuchung für den Arzt unbequem wäre.
Wir geben deswegen gewöhnlich dem ganzen Oberkörper des Patienten eine
leichte Neigung nach vorne (vergl. Fig. 27). Zur Untersuchung bleibt der Patient
in voller Bekleidung , höchstens das Halstuch oder ein allzu enger Kragen
wird gelockert. Künstliche Gebisse werden hcrausgenommen. Der Arzt steht vor
dem sitzenden Patienten. Das Autoskop wird in die volle Faust genommen und
nnter Leitung des Auges eingeführt. Arbeitet man mit einem der elektrischen
Belenchtungswerkzeuge , so schliesst man vor der Einführung den Contact. Man
bringt nun den Spatel in den Mund, so dass sein umgebogenes Ende in die
Grube zwischen Zunge und Kehldeckel einhakt , hebt den Griff, bis der Aufsatz-
kasteu die obereu Zähne berührt, giebt Acht, dass die Oberlippe nicht eingeklemmt
wird, und zieht gleichzeitig den Zungengrund nach vorn und unten , soweit als
es ohne Forcirung gelingt : bei alledem schaut man durch den Aufsatzkasten hin-
durch. Empfehlenswerth ist es, zwischen die Zähne (respective den Kiefer) und
den Aufsatzkasten eine nichtmetalliscbc Schicht eiuzuschalten ; dazu eignen sich sehr
dünne Plättchen von Holz oder ähnlichem Material , am besten aber ein ganz
3*
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AUTOSKOPJE DER LUFTWEGE
■V>
klein*-« Binse heben Watte. Jiothwendig ist eine solche Watteauflage , wenn
ein zahnloser, aber mit schlechten Wurzeln bepflanzter, entzündlich geschwollener
Kieferrand die Be rüh rung-i fliehe bildet. Sitzt das Antoskop richtig, so kann man
sieh jetzt meistens sehr viel Zeit lassen ond Alles in Ruhe besichtigen, während
der Patient ganz ungestört athmet . phonirt n. s. w. Lässt man den Kopf des
Unterpachten allmilig sich nach vorne (zur Brust i neigen, so verbessert sich in
vielen Fillen der Ueberblick Ober die Hinterwand des Larynz: durch die ent-
gegengesetzte Bewegung gelangt man zur Einstellung der Stimmbandcommissur
(falls dieselbe bei dem Individuum Überhaupt erreichbar sein sollte i. Will man
das Antoskop entfernen, so muss man natürlich das hakenförmige Ende erst durch
Senken des Griffes in die Höhe bringen und nicht etwa versuchen, die angehakte
Zunge ans dem Rachen herauszureissen.
Die richtige Handhabung des Autoskopes erfordert, wie bereits an-
gedentet . eine grosse L'ebung; nur derjenige wird die Methode vollkommen zu
bewältigen lernen, der für jegliche
L'nzuträgliehkeit bei der Einfüh- Fig si.
rung des Instrumentes die Schuld
io erster Linie bei sich selber
sucht. Das Kennzeichen eines guten
Autoskopikers ist folgendes: Er
erzeugt bei den Patienten selten
Reflexbewegungen (Würgereiz)
und sehr selten Schmerz. Um
dieses Ziel zu erreichen, manipu-
lire man schnell und sicher, aber
nicht brüsk, sondern vorsichtig,
rücksichtsvoll, mit feinfühliger und
geschmeidiger Hand. Ich pflege
zu sagen: „Das Autoskop ist ein
Instrument , mit welchem man
jedem Patienten Schmerzen machen
kann und keinem Schmerzen
machen darf.“ Auch bei voll-
endeter Technik lässt sich nicht
vermeiden , dass die . meisten
Patienten bei der Autoskopie (be-
sonders bei der erstmaligen) eine
unangenehme Empfindung
haben, aber diese Empfindung ist
nicht schmerzhaft ; sie beruht darauf, dass der innige Contaet mit einem harten,
glatten , kühlen Instrument , sowie die Dislocation durch eine vis n tergo für
die Zungenwurzel etwas sehr Ungewohntes, ihrer natürlichen Bestimmung Wider-
strebendes ist. Unangenehm für die Patienten sind ja wohl die meisten ärzt-
lichen Untersurhungsmethoden , in praxi kommt es nur darauf an, ob das
Mass der Belästigung leicht oder schwer erträglich ist. Die Untersuchung mit
dem Autoskop ist nun bei eleganter Handhabung der Regel nach ganz leicht
erträglich, wenn auch etwas lästiger als die Spiegelung (welcher sie jedoch
von einigen Kranken vorgezogen wird). Dass Personen mit abnorm gesteigerter
Sclimerzempfmdlichkeit (Hyperalgesie) eine Ausnahme von der Regel bilden
können , indem auch ein sanfter Druck ihnen einen wirklichen Schmerz be-
reitet , ist selbstverständlich. Da wird man sieh nüthigenfalls mit Cocain be-
helfen. Irritative Processe an der Zungenwurzel oder in der Fossa glosno-epi-
glottica können unter Umständen eine Contraindication gegen die Autoskopie
abgeben; das ist einer dor Gründe, weshalb ich es für rathsam halte, sich vorher
mit dem Spiegel zu orientiren.
Autonkopiache Operation.
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AUTOSKOPIE I)EK LUFTWEGE.
37
Die Technik der Antoskopie weicht von dem gewöhnlichen Typus ab,
wenn Chloroformnarkose angewandt wird, wie cs öfters in der Kinderpraxis
erforderlich ist. Ich lasse das Kind auf einem recht hohen Tisch chloroformiren,
ziehe den Kopf über den Tischrand und gebe ihn in die Hand eines Assistenten.
Das Autoskop nehme ieh verkehrt (den Spatel nach unten) in die linke Faust
und hake über den Zungengrund ; den Kopf lasse ich nun allmälig soweit heben
oder senken, bis die richtige Einstellung erlangt ist. In derselben Haltung (welche
keineswegs identisch ist mit dem sogenannten „hängenden Kopf“) pflege ieh,
auch ohne Narkose , zu autoskopiren , wenn es sich um ganz kleine Kinder
(z. B. Säuglinge) handelt, oder wenn der Widerstand strampelnder Schreihälse
durch energisches Festhalten gebändigt werden soll. (Nach meiner Anschauung
ist die Chlorofomnarkose bei der Autoskopie blos ein Mittel der l'eberwältigung,
dürfte also bei Erwachsenen kaum in Frage kommen.)
Das Autoskop hemmt den Larynx etwas in seiner natürlichen Beweg-
lichkeit; dies ist der Grund dafür, dass es zur Diagnose feinerer Motilitäts-
störungen wenig taugt. Bringt die neue Methode demnach keinen Fortschritt für
die Neurologie des Kehlkopfes, so ist sie andererseits eine echt chirurgische
Methode; sie legt mit einer Art Speculum den Larynx in der Kachentiefe frei,
ungefähr so wie man die Pt>rt!o vaginalis uttri durch Entfaltung der Scheide
freilegt. Habe ich eine Geschwulst im Autoskop eingestellt, so brauche ich nur
einfach zuzagreifen, geradenwegs, mit Zange, Messer, Curette, Schlinge, oder wie
es am bequemsten geht. Dabei dirigire ich das Autoskop mit der linken Hand
und führe mit der rechten das Operationsinstrument innerhalb der rechten Hälfte
des Aufsatzkasteus durch das Autoskop hindurch. Der knieförmig abgebogene Griff
des Operationsinstrumentes kann nach Bedürfniss parallel oder unter irgend einem
Winkel zum Autoskopgriff gehalten werden.
Kt*, »s.
Die Instrumente zu autoskopischen Operationen haben die Form der
Naseuinstrumente ; sie messen vom Knie bis zur Spitze 20 Cm., für die Luftröhre
entsprechend mehr. Neue Instrumente brauchen wir kaum zu erfinden, wir über
setzen einfach unser gebräuchliches Instrumentarium in’s Autoskopische, indem
wir die laryngologischen Modelle gestreckt und geknickt, oder die rhinologischen
Modelle verlängert ansführen lassen. Für zerlegbare Instrumente, z. B. Doppel-
curctten , lässt man am besten zwei Zwischenstücke (Lcitungsröbrcn) arbeiten,
eines nach der alten und eines nach der neuen Fat.on, so dass man mit den-
selben Curetten und demselben Handgriff sowohl »ntoekopisch wie unter Spiegel-
leitung zu operiren vermag. Für manche Zwecke erweisen sich kleine Ab-
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AUTOSKOPIE DER LUFTWEGE.
spielender Leichtigkeit.*) Nach
erfolgter Cocainisiruug wurde der
intralaryngeale Autoskopspntel am
Blektroskop befestigt, hinter die
Epiglottis eingeflihrt und mit der
linken Hand dirigirt. Die Ge-
schwulst wurde mit einer feinen
Zange gefasst und entfernt. Die
Patientin war von der wenige
Secunden dauernden Operation
ausserordentlich befriedigt. In der
Tliat stellt ja eine autoskopisehe Operation, vermöge der Cocainauilsthesie , an
die Willenskraft der Patienten nicht im mindesten eine grössere Anforderung als
wie eine Operation unter Spiegelbildung.
biegungen (schräg oder bajonettförmig) am laryngealen Ende der Instrumente
nützlich ; doch fällt das schon so sehr in das Gebiet der individuellen Ansprüche
und Gewohnheiten des Operateurs, dass ich eine genauere Erörterung solcher
Einzelheiten lieber unterlasse.
Als ausreichender Beweis für die Leistungsfähigkeit der autoskopischen
Operationsmethode diene die Abbildung (Fig. 29) des Kehlkopfes einer 39jährigen
Frau, welcher ich das vorne am liuken Stimmband sitzende hirsekorngrosse Fibrom
autoskopisch entfernt habe. (Die Frau litt ausserdem an Lähmung des rechten
Recurrens in Folge tuberculöser
Infiltration der rechten Lungen- Fis S,K
spitze.) Der Fall ist wohl hin-
reichend bemerkenswert)), da hier
zum allerersten Male die Her-
ausnahme einer im Innern
des Kehlkopfes festliegendcu
Neubildung vom Mund aus
ohne Spiegel, aber unter ge-
nauer Leitung des Auges ge-
lungen ist — und zwar mit
Fig as
*) In der vorlaryngoskopischen Zeit (1845) hat Horace Green (Oh the sargical
treatmrnt af potyyi of the larynx aml ordema af glntlis. New- York 185Z) bei einem 1 1 jährigen
Mädchen einen Kehlkopfpolypen operirt unter Beihilfe des Gesichtssinnes. Diese Leistung ist
gewiss denkwürdig, aber sie ist kein Hinderniss meines oben detinirten Anspruches, denn soweit
die Operation Green's unter Leitung des Auges geschalt, vollzog sie sich gar nicht im Larynx,
sondern im Bereiche der eommunen Sichtbarkeit, im Mundrachen. Der grosse, lang gestielte
Polyp flog bei HustenstOssen aus dem Kehlkopf heraus in die Hohe und war bei einfach (in
altühlicher Weise) platt heruntergedrückter Zunge momentan zu sehen , wurde auch in einem
solcheu Momente glücklich unter Leitung des Auges mit einem Doppelbaken gefasst; dann
wurde ein geknöpftes Messer in den Kehlkopfeingang hinuntergeführt und der Stiel durchtrennt.
Die hier ölten aus dem Werke Green’s reproducirtc Abbildung (Fig. 30) zeigt „a very corrert
rirw “ der Situation des Polypen wahrend eines Hnstenstosses , sowie daneben die durch die
Operation gewonnene Geschwulst.
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AUTOSKOPIE 1)EK LUFTWEGE.
39
Manchmal gelingt es, cocainisirten Patienten einen kleinen sogenannten
Subglottisspiegel an langem Stiele durch das Autoskop hindurch in den Larynx
einzufahren, zur Betrachtung der Unterfläche der Stimmbänder.
Aerzte , welche auf Brillenbenutzung angewiesen sind , leiden bisweilen
darunter, dass ihnen beim Autoskopiren (mit dem Elektroskop) der nahe An-
bauch des Patienten das Brillenglas beschlägt. Dieser Uebelstand wird vermieden,
wenn man vor das autoskopirende Auge zum Schutz ein durchbohrtes Diaphragma
bringt, wozu jeder Stirnspiegel taugt, der nicht allzu dicht vor der Brille steht.
(Der vom Verfasser angegebene Stirnspiegel ist sehr verstellbar , vermöge der
doppelten Federgelenke, die auch die elektrische Stimlampe (Fig. 26) tragen.)
Der Wasserdampf schlägt sich grösstentheils auf dem Stirnspiegel nieder, welcher
sich ausserdem durch das Abfangen ausgehustetcr Secrettheilchen nützlich macht.
ln der Einleitung haben wir die sonderbare, praktisch Überaus wichtige
Thatsache hervorgehoben, dass die Autoskopie bei den verschiedenen Patienten
verschieden günstige Resultate ergiebt, indem sie die grossen Luftwege bei manchen
Menschen vollständig freilegt, bei auderen zu einem grossen Theile , bei noch
Fig- si.
Fig. ss.
anderen zn einem kleinen Theile: besonders die vorderste Partie des Larynx*
innern bleibt bei der Mehrzahl der Menschen unsichtbar. Indem wir gezwungen
sind, uns bei diesem eigenartigen Verhältnisse zu beruhigen uud unsere weiter-
gehenden Wünsche zu unterdrücken, haben wir die Aufgabe, uns Uber die Gründe
jeDer empirisch gefundenen individuell verschiedenen A utoskopi rbarkeit
Klarheit zu verschaffen. Diese Gründe sind bei der Anatomie zu suchen. Denken
wir uns die vordere Tangentialebene des trachcolaryngealen Lumens, so müssen
wir doch, um vollständig autoskopiren zu können, den Oberkiefer dorsalwärts, die
Zunge (mit dem Kehldeckel) ventralwärts über diese Ebene hinaus versetzen. Nun
geliugt ersteres wohl bei allen Menschen, die nieht etwa ein steifes Genick haben,
ohne Umstände durch leichtes Anheben des Kopfes. Die Erklärung der Differenzen
ist daher bei dem zweiten Factor zu suchen, bei der Dislocationsfähigkeit der Zunge.
Indem das erleuchtete Autoskop die Zunge vor sich herschiebt, bestreicht das Licht
nach Art eines Radius vector die hintere Rachenwand von oben nach unten, geht
dann über die Aryknorpel hinweg und zieht suceessive die Luftwege bis in die
Nische des vorderen Glottiswinkels hinein in seinen Bereich. Bei dieser Bewe-
gung überwindet der Autoskopspatci den elastischen Widerstand der Zunge, wobei
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'ABTOSKOPIE OEB LUFTWEGE.
er nach einander einen doppelten Angriffspunkt gewinnt , erst einen dorsalen
(d. h. am Böcken der Zunge, zwischen den Arcus palatoglossi) , dann einen
basalen (am Zungenbeinkörper oder in dessen Nachbarschaft). Demnach hängt es
hauptsächlich von der Dicke und Consistcnz der Zunge und der Straffheit ihrer
seitlichen Fixation, nebenbei von der Beweglichkeit des Zungenbeines ab, wie
weit wir mit dem Autoskop ungehemmt vorwärtskommen. Fernerhin ist es klar,
dass bei verschiedenen Kopf- und Iialsformen die Dislocationsfähigkcit der Zunge
verschieden stark in Anspruch genommen wird. Denken wir uns den Patienten
im Moment vor dem Beginn des Zuogendruckes , also den Kopf in Autoskopir-
stellung, die Zunge in der Ruhelage: verbinden wir jetzt den dorsalen Angriffs-
punkt der Zungo (Z) , die Mitte des freien Überkieferrandes (0) und die Com-
missur der Stimmbänder (C) untereinander durch gerade Linien, so ergiebt sich
aus der Form und Grösse des Dreieckes ZOC das Mass der für die Autoskopie
des betreffenden Individuums erforderlichen Zungendislocation; bei vollständiger
Autoskopirbarkeit müsste sich der Radius vector um die Winkelgrösse ZOC (J)
vorwärts bewegen lassen; gestattet nun die Zungenbeschaffenheit des Patienten
nur eine kleinere Winkeldrehung (§), so ist die Autoskopirbarkeit des Indivi-
duums = ~j-. Vorausgesetzt ist bei dieser Erörterung, dass der Patient weder
durch willkürliche, noch durch unwillkürliche Muskelaction das Untersuchungs-
resultat beeinträchtigt. Gelegentlich kann das autoskopische Gesichtsfeld verdeckt
werden durch eine stark verbogene und starre oder zu schlaff an der Zunge be-
festigte Epiglottis, deren Aufrichtung nur mangelhaft gelingt. Auch ein stark
vorspringender Petinlus epiglottidis kann stören. *)
Die enormeVariationsbreitc in der Autoskopirbarkeit des Menschengeschlechtes
bringt es mit sich, dass man über praktische Verwendungen der Autoskopie fast
gar nichts aussugen darf ohne den ausdrücklichen oder stillschweigenden Vorbehalt:
„insofern das bei dem Patienten erreichbare Mass der Autoskopie für den in
Hede stehenden Zweck genügt“ — eine Voraussetzung, die fast nie von der
Art der Krankheit, sondern von dem soeben discutirten trigonometrischen Ver-
hältnisse der Kopf- und Halsthcile abhängt, also nicht von transitorischen , son-
dern von individuell constanten Bedingungen, ln welchem Umfange die Luftwege
einer bestimmten Person autoskopirbar sind , lässt sich in der Regel nur durch
den Versuch mit dem Autoskop selbst sicher entscheiden. Die äusserliche Üon-
figuration des Halses bietet gar keine genügenden Anhaltspunkte. Wohl aber ist
der Geübte meist im Stande , bei der einer jeden Kehlkopfuntersuchung selbst-
verständlich vorangehenden Besichtigung der Rachenhöhle unter Anwendung eines
Zungenspatels eine annähernd richtige Prognose der Autoskopie zu stellen —
freilich nicht bei dem traditionellen Herunterdrucken des hochgewölbten Mittel-
theiles der Zunge (womit man ja ganz zweckmässig die Untersuchung cinleitet),
sondern erst bei der durch Einsetzen des Spatels in die Fossa glosso-epiglottica zu
erzielenden Freilegung des tiefen, hinter dem Zungengrnnd verborgenen Rachen-
abschnittes, dessen directe Besichtigung (ohne Würgen!) in den meisten Fällen
ausführbar ist und einen integrirenden Bestandtheil meiner Methode bildet (Auto-
skopie des tiefen Pharynx.**) Die derart gesteigerten Anforderungen in der
*) Um Verwirrungen zu vermeiden, benutze ich die Worte „autoskopirbar, Autoskopir-
5
barkeit“ (ohne erläuternden Zusatz) ausschliesslich in Bezug auf die Proportion ^ , ohne Rücksicht
auf ausserwesentliche Hindernisse des Einblickes, wie abnorme Reizbarkeit des Patienten, un-
günstige Kehldeckelform oder dergleichen. Die Autoskopirbarkeit ist im Allgemeinen bei Kindern
günstiger als bei Erwachsenen.
**) Voltolini hat bereits vor 30 Jahren angegeben, dass man ohne Spiegel bei fast
allen Menschen, mit seltenen Ausnahmen, den Pharynx bis zum Oesophagus und den Kehl-
deckel besichtigen, manchmal selbst die Giesskannenknorpel zur Ansicht bringen kann, beson-
ders leicht bei Kindern (Berliner klin. Wochenschr. 1868, Nr. 23). Das liest sich jetzt so, als
ob es dasselbe wäre wie meine „Autoskopie des tiefen Pharynx“, aber cs ist nicht dasselbe.
AUTOSKOPIE DER LUFTWEGE.
41
Fi*. M.
pharyngoskopiscben Technik machen es wünschenswert!) , die Überlieferten, dem
Zangendrucke dienenden Instrumente durch meinen Zungenspatel zu ersetzen.
welcher in seinem vordersten Abschnitt den Autoskop-
spatein ähnelt (Verdickung, Abrundung, Delle), aber
eine viel sanfter abfallende KrUmmnng hat; auch
ist der Querschnitt nicht rinnenförmig, sondern platt.
Die Breite beträgt circa 14 — 17 Mm., die Länge vom
vorderen Ende bis zur rechtwinkligen Abbiegung 11 Cm.
Diesen Spatel kann man, je nach BcdUrfniss, beliebig
weit vorne oder hinten an die Zunge ansetzen.*)
Wer alle hier berührten Verhältnisse
znsammenfasst und erwägt, der wird erken-
nen, dass von der gewöhnlichen Art, die Mund-
höhle und den Pharynx zu besichtigen, all-
mälige Uebergänge zur Autoskopie des Kehl-
kopfes und der Luftröhre hinführen, ja dass
meine ganze Erfindung nichts Anderes ist als
die Fortentwicklung und der natürliche Ab-
schluss der alten ärztlichen Kunst, bei nieder-
gedrückter Zunge in den Hals zu sehen.
Sieben Hauptsätze zur Autoskopie der Luftwege, aufgcstellt im No-
vember 1895.
1. Kehlkopf und Luftröhre des Menschen sind autoskopirbar , d. h. der
directen Besichtigung zugänglich ; das Mittel hierzu ist Druck auf die Zunge.
2. Der Grad der Autoskopirbarkeit schwankt bei den einzelnen Menschen
in den weitesten Grenzen ; die Gründe hierfür sind anatomische.
3. Die Untersuchung mit dem Kehlkopfspiegel ist zwar nicht mehr, wie
bisher, die einzige Methode zur Besichtigung der Luftwege, aber sie bleibt die
normale und in erster Linie zu benutzende Inspectionsmcthode behufs Stellung
der Diagnose.
4. Die autoskopische Untersuchung bildet eiue wichtige Ergänzung des
Spiegelbcfundes, ganz besonders für die hintere Larynxwand und die Luftröhre.
5. Für die Untersuchung von Kindern ist die Autoskopie in vielen
Fällen unentbehrlich ; besonders gut gelingt sie in der Chloroformnarkose.
Voltolini konnte (von leichtesten, günstigsten Fällen abgesehen) die genannten Theile nur
in einem Moment besichtigen, and zwar in einem nnphysiologischeu Moment, während ich sie
in aller Rahe unter physiologischen Bedingungen der Betrachtung freilege. Der wesentlichste
Bestandtheil der Voltolini’schen Technik ist: absichtliche Hcrvorrufung von Würgebewe-
gnngen durch mechanische Reizung des Zongengrundes ; dazu kommt: Anlieben des Kehlkopfes
von anssen und (Tür die Aryknorpcl) Aufheben der Epiglottis mit dem Kehldeckelstäbchen.
Bei meiner Technik ist gerade die Vermeidung von Würgehewegungen das Hauptbestreben.
*) Um die „spiegellose Mnnd-Rachenbcsicktigung“ hier gleich möglichst zu erledigen,
weise ich darauf hin, dass die Zungenwurzcl einer ausreichenden Inspection ohne Spiegel kaum
zugänglich ist, und mache fernerhin auf einige vielleicht nicht ganz allgemein bekannte
Punkte aufmerksam , ohne ihnen einen erheblichen Werth beizumessen. Die orale Fläche des
Alveolarfortsatzes und der Zähne am Oberkiefer ist meist sehr gut zu übersehen, wenn der
Patient, am besten im Stehen, den Kopf stark nach hinten beugt und den Mund weit öffnet;
am Unterkiefer gelingt dieselbe Procedur, jedoch etwas weniger gut, wenn der Patient sitzt
nnd den Kopf bei weit geöffnetem Munde zur Brust neigt, der Arzt aber steht. Itic Ktgio
tonsillari * kann man flächenhaft übersehen, wenn man die Wange der anderen Seite mit einem
in den Mundwinkel eingesetzten stumpfen, nicht ganz schmalen Haken (allenfalls mit dem
Finger) kräftig zum Ohre zieht, über die Backenzähne hinweg den Spatel auf die Zunge setzt
und nun vom Kieferwinkel her in den Rachen schaut. Den stumpfen Haken kann der Patient
selber halten.
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42
AUTOSKOPIE DER LUFTWEGE,
6. In der endolaryngealen und endotrachealen Chirurgie wird sich die
Autoskopie den Rang der Normalmethode erobern , innerhalb der anatomischen
Autoskopirbarkeitsgrenzen. *)
7. Die Technik der Spiegeloperationen ist nach wie vor unentbehrlich,
für die ungenügend autoskopirbaren Patienten.
Die Entdeckung der Autoskopie (1895) ist nicht auf dem Wege erfolgt, den mau
jetzt, hinterher, als den rationellen construiren könnte. Ich ging von der vorgefassten Mei-
nung aus, dass eine directe Laryngoskopie möglich sein müsse ; ohne eine richtige Vorstellung
von den erforderlichen Voraussetzungen zu haben , verlegte ich mich aufs Probiren , begann
mit einer verkehrten Versuchsanordnung, tastete mich schnell zum praktischen Ziele hindurch
und legte darnach unschwer die theoretische Einsicht klar, von der aus die Entdeckung
ohne Umweg zu haben gewesen wäre.
Die Autoskopie hat keine Vorgeschichte. Zwar mag die Idee, einen
directen Einblick in den Kehlkopf des unverletzten lebenden Menschen anzustreben, ganz selten
schon früher hie und da aufgetaucht sein (bis zu Hoffnungen auf die Luftröhre oder gar die
grossen Bronchien hat sich gewiss noch Niemand verstiegen), aber das Problem ist wohl nir-
gends über das Stadium des Wunsches hinansgediehen Eine einzige Person , eine anonyme
Dame (ehemalige Sängerin) erkenne ich in gewissem Sinne als Vorläuferin an . da sie eine
reelle autoskopische Leistung vollbracht hat (1864). Sie entdeckte (oder entwickelte) an sich
selber die Fähigkeit, das Innere ihres Kehlkopfes theil weise der directen Besichtigung darzu-
bieten, wobei sie den Kopf zurücklegte und ihre sehr dünne Zunge nach vorn hin gegen die
untere Reihe der Schneidezähne drängte. (Das Factum bezeugt To bold , Lehrbuch der Laryngo-
skopie. Berlin 1869, 2. Aufl., pag. 43.) Diese Person dürfte sich, trotz meiner Entdeckung,
auch heute noch, so gut wie vor HO Jahren, als Sehenswürdigkeit produciren , da sie durch
blosse Willenskraft , ohne Instrument, eine ausreichende Dislocation ihres Zungengrundes zu
Wege brachte.
Literatur: Berliner klin. Wochenschr. 1895, Nr. 22. — Arch. f. Laryng. und
Rhinol. III. Bd.. Heft 1 und 2- — Therap. Monatsh. Juli 1895. (Diese ersten drei Aufsatze sind
in Text und Abbildungen jetzt total veraltet.) — Deutsche ined. Wochenschr. 1895, Nr. 38. —
Allg. med. Central-Ztg. 1895, Nr. 89 und 90. — Eine zusammen fassende Darstellung gab die
Ende November 1895 erschienene Brochüre: Die Autoskopie des Kehlkopfes und der Luftröhre
(Besichtigung ohne Spiegel). Berlin 1896, Verlag von Oscar Coblentz. — Die vorliegende Ab-
handlung wurde im Januar 1896 verfasst; ein im Wesentlichen identischer Aufsatz erschien in
den Annalen den maladien de Voreilte et du larynx, März 1896.
Nachträge: 1. Der Schild knorpcldrnck. „Drückt man mit dem Daumen
auf die Mitte des Schild knorpels, so vergrössert sich das autoskopische Gesichtsfeld nach vorne
hin in vielen Fällen um ein Beträchtliches, insbesondere bei jugendlichen Personen. Mit Hilfe
dieses äusseren Handgriffes, der bei Operationen einem Assistenten überlassen werden kann,
gelingt relativ häutig die Einstellung der Stimmbandcommissur. Der Handgriff ist den meisten
Patienten leicht erträglich.“ (Allg. med. Central-Ztg. 1896, Nr. 25, 25. März.)
2. Aus „Autoskopie und Spateltechnik“ (Allg. med. Central-Ztg. 1896,
Nr. Hl , 15. April). „Ich führe jetzt sammtliche autoskopische Untersuchungen mit ganz ein-
fachen , glatten, schmalen Zungenspateln aus, deren ich zwei besitze (für Erwachsene), und
beleuchte in der gewöhnlichen Weise vom Kopfe aus, allermeist mit meiner bekannten, re-
flectirtes elektrisches Licht gebenden Stirnlampe. Das sogenannte „Autoskop“ verbleibt regulär
nur noch für die (gegenüber der Gcsammtzahl der Untersuchungen doch immerhin seltenen)
Fälle, wo die zweite Hand frei bleiben muss (vor Allem also zu operativen Eingriffen), sowie
für die Demonstration des autoskopischen Bildes. Jeder Arzt kann die Autoskopie erlernen
und ausgiebig betreiben ohne Autoskop.
Ich unterscheide einen (relativ) flachen und einen krummen Zungenspatel. Das
Antoskop , ebenfalls in zwei Formen vorhanden , entspricht ganz genau den beiden Zungen-
spateln , ist nur hinten soweit verbreitert , dass ein sogenannter Aufsatzkasten (als stummer
Assistent) hernbergeschoben werden kann. Die Rinnenform ist endgiltig beseitigt.“
H. Vergleiche: „Voltolini und die Autoskopie der Luftwege.“ Monatsschr. f.
Ohrenhk. April 1^96. Alfred Ki rat ein.
*) Diese These sagt gar nichts aus über den der Autoskopie zukommenden Antheil
an der Gesammtheit der endolaryngealen Operationen; sie nimmt eine Snperiorität des
directen Verfahrens gegenüber dem indirecten an in denjenigen Fällen, in welchen beide
Methoden concurriren. Für solche Falle, in denen das Operationsgebiet nicht in die ana-
tomischen Autosknpirbarkeitsgrenzen des Individuums fällt, ist die directe Methode nicht
inferior, sondern „nicht vorhanden“.
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B.
Bacillus pyocyaneus, abgetödtete Culturen bei Typhus, s. Abdo-
minaltyphus, pag. 3.
Bacterium coli, Verhalten bei Typhus, s. Abdominaltyphus, pag. 1.
Bäder. Id jüngster Zeit hat man dem physikalisch-chemischen
Verhalten der Mineralwässer im Vergleiche zu dem gewöhnlichen Wassers be-
sondere Aufmerksamkeit geschenkt, um daraus Schlüsse auf die Wirkung der
Mineralbädcr und Heilquellen zu ziehen. Nachdem schon früher für das Gasteiner
Thermalwasser nacbgewiesen worden, dass dasselbe eine ohngefähr 6 mal grössere
elektrische Leitfähigkeit besitzt als destillirtes Wasser, hat jetzt Treadwell
in exacter Weise die Leitfähigkeit des Wassers der Pfaeferser Therme unter-
sucht. Während (in dem Apparate von Kohlraüsch) destillirtes Wasser einen
Widerstand von 337,7 Siemens zeigte, ergab das Thermalwasser folgende Zahlen:
Verdünnung
Widerstand
Verdünnung
Widerstand
i
. . . 2,017 Siemens
128 ... .
. . 143,500 Siemens
2
. . . 3,901
256 ....
. . . 220,700
•1
. . . 7,077
512 ... .
. . . 247.900
8
. . . 14,720
102-1 ....
. . . 284.500
lti
. . . 17,360
2048 ....
. . . 319.700
32 ... .
. . . 50.350
4096 ....
. . . 332,700 „
64
. . . 87.800
l
1
Es geht hieraus hervor, dass erst bei einer mehr als 4000fachen Ver-
dünnung des Pfaeferser Wassers der Widerstand dem des destillirten Wassers
gleiehkam, seine elektrische Leitfähigkeit also um mehr als l&Ofach grösser ist
als diejenige des destillirten Wasser». Es ist bekannt, dass die Fähigkeit, Elek-
trirität zu leiten , hauptsächlich sehr verdünnteu Lösungen von Salzen , Säuren
uml Basen zukommt und dass diese Fähigkeit eine um so grössere wird, je mehr
diese Substanzen in der Lösung dissociirt, d. h. in ihre Jouen gespalten sind,
indem die letzteren die Träger der Elektricität bilden. Andererseits giebt uns die
Bestimmung der elektrischen Leitfähigkeit wiederum ein Mittel zur Erkennung
des Zustandes der gelösten salzartigen Stoffe, denn die Menge der Elektricität,
welche von einer elektrolytischen Flüssigkeit bei gegebenen Kräften und Abmes-
sungen geleitet wird, ist unter sonst gleichen Umständen der zur Leitung be-
fähigten, d. h. gespaltenen Molecüle proportional. Es ist also dargethan, dass das
Pfaeferser Wasser keine nicht dissociirten Salze enthält, ln praktischer Beziehung
glaubt Bally auf die RENz’sche Thermosentheorie zurtlckgeheud (Renz himmt
für Wildbad an, dass ein Wasser, welches unter so hohem Atmosphärendruck
der Glühhitze des Erdinneren ausgesetzt gewesen, eine andere Lagerung seiner
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44
BÄDEB.
Moleclile und damit andere Wärmeschwingungeu annchmen müsse als gewöhnliches,
künstlich erwiirmtes Wasser), sich den Schluss erlauben zu dürfen, dass die
Wärmeempfindung unserer Hautnerven bei gleicher Temperatur und in demselben
Medium doch eine verschiedene sei je nach der Wärmequelle, und dass ein Wasser,
dessen elektrische Leitfähigkeit, chemische Affinität und Reactionsfähigkeit eine
ganz besondere ist , auch physiologisch anders wirken müsse als gewöhnliches
oder dcstillirtes Wasser.
üeber die wärmebindende Kraft des Warmbrunner Thermalwassers
hat Scholz Beobachtungen angestellt, bei denen er Vergleichungen mit künstlich
erwärmtem Thermalwasser und erhitztem Brunnenwasser vornahm. Als Resultat
giebt er an : 1. Das Thermalwasser hat eine erheblich grössere Kraft die Wärme
zu binden als das künstlich erwärmte Wasser. 2. Der Wärmeverlust ist bei allen
drei Wässern in den ersten Stunden am stärksten, ater bei den Thermalwässern
immer viel geringer als bei dem künstlich erwärmten Wasser. Scholz nimmt auch
als Hypothese zur Erklärung an, dass die Erdwärme das Wasser inniger dureh-
dringe, sieh inniger mit ihm verbinde als die künstlich erzeugte Wärme; er sieht
ein Analogon im Verhalten der Kohlensäure bei natürlichen, kohlcnsauren Wässern
gegenüber den künstlichen, indem aus letzteren die Kohlensäure ebenfalls viel
schneller entweicht als aus den natürlichen Säuerlingen.
Auf die physikalisch chemischen Eigenschaften der Mineralwässer recurrirt
auch 0. Liebreich, indem er die natürlichen Heilquellen und ihre künstlichen
Nachbildungen vergleicht. Die grossen Entdeckungen der physikalischen Chemiker
haben gezeigt, dass eine Lösung nicht mehr der Vorstellung entspricht, welche
die Chemie ehedem sich davon gemacht batte , d. h. dass die Lösungen die un-
zersetzten Salze wirklich enthalten. Wir sind jetzt berechtigt, anzunehmen, dass
sowohl in künstlichen, wie in natürlichen Lösungen eine mehr weniger weit-
gehende Dissociation der Salze in die elektrisch geladenen Theilmolekel, die so-
genannten Jonen, zerfalle. War es schon früher nicht ohne Willkür möglich, die
Vertheilung der durch die Analyse direct gefundenen Säureu- und Basenmengen
zu bewerkstelligen, so ist diese Aufgabe heute angesichts der complicirten Gleich-
gewichtsverhältnisse doppelt so schwierig, denn das Gleichgewichtsverhältniss zwi-
schen den nicht dissociirten und den in ihre Jonen zerfallenen Salzmolekeln kann
durch die geringsten Aenderungen der Concentration wesentlich verschoben werden,
so dass die Herstellung einer mit der natürlichen vollständig identischen Salz-
lösung nur mit den grössten Schwierigkeiten ausführbar sein dürfte. Auch hin-
sichtlich der Qualität der Lösung ist zu bedenken , dass in den natürlichen
Mineralwässern eine Anzahl von Stoffen in kleinen Mengen nachgewiesen worden
ist , wie Flusssäure , Ameisensäure u. A. , von denen man ja gerade nicht mit
Sicherheit annehmen kann , dass sie in diesen Mengen eine besondere physio-
logische Wirkung ausüben, die aber bei der systematischen und lange Zeit durch-
geführten Anwendung recht wohl eine Bedeutung erlangen können. Auch ist in
Betracht zu ziehen, dass mehrere ähnlich wirkende Substanzen, wenn sie gleich-
zeitig in kleinen Mengen zur Anwendung kommen, eine grössere Wirkung er-
zielen als jede einzelne Substanz für sich selbst in grösserer Dosis. Wir sind,
wie Liebreich betont, noch nicht so weit, dass wir die natürlichen Mineral-
wässer mit einer mathematischen Sicherheit künstlich herstcllen können und darum
ist ihre Anwendung nicht identisch. Er erinnert z. B. an die Wildbäder, deren
(iehalt an nachweisbaren Substanzen so gering ist, dass Manche Bie für nichts
mehr als destillirtes Wasser halten, deren physiologischer Effect auf den mensch-
lichen Organismus aber unbestimmbar ist.
Ueber den Einfluss heisser Bäder auf den Stoffwechsel hat
Hornstein Versuche angcstellt. Bekanntlich sind die bisher vorgenommenen Ex-
perimente diesbezüglich in ihren Resultaten sehr schwankend. So fanden in letzter
Zeit Formanek, Schleich, Bartels und Godlewsky, Topp nach Anwendung
von Bädern, welche die Körperwärme mehr oder weniger übersteigen, Luft-,
BADER.
45
Dampf- und Wasserbädern, eine erhöhte Ktickstoffausscheidung, während Kaupp,
Dapper, Baelz , Simanovsky eine Verminderung, respective Gleichbleihen der
Stiekstoffausfuhr angeben. Frey und Heimgenthai., eine Verminderung in den
Badelagen und nachherige Vermehrung constatiren. Die vorliegenden Versuche
Bornstein’s gelangen zu den Schlössen : Bei einem normalen Menschen mit guter
Verdauung und Ernährung, die den Bedarf vollkommen bedeckt, tritt bei An-
wendung heisser Bäder eine Verringerung der N-AusBcheidung durch Harn
und Koth ein. Was wir hier an N weniger linden, ist durch die vermehrte
Schweisssccretion während des Bades und nach dem Bade ausgeschieden
worden. Das subjective Allgemeinbefinden wird bei Anwendung heisser Bäder
in keiner Weise altcrirt, objectiv tritt keine Störung im Haushalte des Körpers
ein; die N-Ausscheidung ist nicht auf Kosten des Vorhandenen gestört, die Ver-
dauung wird in keiner Weise beeinträchtigt.
Deber die physiologischen Wirkungen verschieden warmer Bäder
und über das Verhalten der Eigenwärme im Allgemeinen liegen eingehende Unter-
suchungen von L. W ick vor. Die von ihm in Gastein und Baden, sowie in Bädern
mit Temperatur unter dem Indifferenzpuukte Angestellten Versuche ergaben ihm,
dass im Bade eine Wärmestauung nach Innen stattfindet, Hautoberfläche und
Muskelschichte abgekflhlt werden, dass die Wärmeabgabe eine vermehrte ist und
nicht durch eine Vergrösserung der Wärmeprodnction compensirt wird. In Bädern
über dem Indifferenzpunkte zeigte sich , dass die Eigenwärme parallel mit der
Badetemperatur anstieg; in den grossen Bassins der Thermalbäder, in denen die
Temperatur des Wassers eine gleichbieibende, verursachten selbst Zehntelgrade
Steigerung der Badewärme einen merklichen Aufschlag der Eigenwärme. Nach
heissen wie nach warmen Bädern erfuhr nach Verlassen des Bades die Körper-
temperatur eine Steigerung. Durch Trinken kalten Wassers während des Bades
wurde Abkühlung der Körpertemperatur bewirkt. Die letztere wurde auch durch
die Art des Badegebrauches, durch verschieden tiefes Eintauchen des Körpers in
das Wasser verschieden modificirt. Die Erhöhung der Eigenwärme durch warme
und heisse Bäder sei nicht constant und es ergebe sieh mit der grössten Wahr-
scheinlichkeit, dass die Eigenwärme auch durch Badecnrcn nicht abgeändert,
sondern in fast absoluter "eise constant erhalten werde, vorausgesetzt, dass es
sich um einen normalen Organismus handelt. Was den Stoffwechsel beim Ge-
brauche der heissen Thermalbäder betrifft, so fand Verfasser, dass das Körper-
gewicht regelmässig um 500 — 850 Grm. (durch Wasserverarmung des Organismus)
sank, sich dann während der Badecur, wenn der Wassergehalt der Gewebe bis
zu einer gewissen, dann gleichbleibenden Grösse gesunken war , wieder zumeist
hob, letzteres stets noch mehr nach der Cur. Die Harnstoffmenge wurde durch
heisse Bäder nicht gesteigert, die Harnsäureansscheidung schien eher vermindert
als vermehrt. Der Puls blieb nach Bädern unter dem Indifferenzpunkte noch
durch 3 — 4 Stunden verlangsamt, um sich dann im Laufe des Tages zu erhöhen,
nach warmen und heissen Bädern war in den ersten 3 Stunden die Pulsfreiiuenz
höher , kehrte später zur Norm zurück, um selbst uuter diese zu sinken. Der
Hämoglobingehalt des Blutes war während der Badecur etwas vermehrt. Die
Athmung wurde bei Bädern von 39° an verlangsamt, in Bädern von 42 — 44°
trat dabei das Gefühl der Erregung auf ; constant wurde in heissen , zuweilen
auch in geringen Tempcraturbäderu, aber dann wieder stark, eine Einziehung des
Unterleibes beobachtet , welche Verfasser nicht nur auf den Druck der Wasser-
masse bezieht, sondern auch als Reflexerseheinung deutet. In der täglichen Wieder-
holung der heissen Bäder und der damit gegebenen Wiederholung der Reizwir-
kungen auf den Organismus liege ein Moment der Accommodation und l'ebung,
welches die Badezeit überdauere und als Nachwirkung bezeichnet werden könne.
Ueber das Verhalten des Stoffwechsels bei hydriatischer Therapie
(kühle und kalte Badeprocedureu) hat A. Stkasser Versuche angestellt. Es zeigte
sich eine ausgiebige Steigerung der Stickstoffausseheidung , welche Strasse« als
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BÄDER. — BARLOW’SCHE KRANKHEIT.
active Erhöhung des N- Um satzes von Seite des Organismus im Sinne einer
besseren Ausnützung der Nahrung deutet, darauf weist auch der Umstand hin,
dass der Koth-N gleichzeitig mit der Steigerung des Harn-N herabgeht, ein Ver-
halten , welches in beiden Versuchsreihen vollständig übereinstimmend constatirt
wurde. Die rasche Rückkehr zur guten N-Bilanz , d. b. zu einem Zustande , wo
kein Verlust an Körpereiweiss stattfand — zeigt nach Strasser , dass mit der
Dauer der Reize durch hydriatische Proceduren die N-Zersetzuug nicht in gleicher
Weise gesteigert wird, sondern nach einer dem Anfang (am ersten oder zweiten
Tag) der Reize entsprechenden Exacerbation auf einem Standpunkt stehen bleibt,
wo ein höherer Eiweisszerfall stattfindet als normaler Weise der Fall ist, doch
ein Verlust an Körpereiweiss bei genügender Ernährung nothwendiger Weise in
keinem Falle eintreten mnss. Was die Einzelheiten betrifft, so macht der Harn-
stoff die groben Schwankungen der N-Ausschcidung mit und steigen die absoluten
Mengen des Harnstoffes an den Tagen der hohen N-Quantitüten auch wesentlich
höher. Auch die absoluten Mengen der ausgeschiedenen Harnsäure sind gesteigert,
ebenso findet eine starke absolute und relative (gegenüber dem ausgeschiedenen
Gesammt-N) Vermehrung der Phosphorsäure statt, sowie eine sehr grosse absolute
Vermehrung der Ammoniakausscheidnng. Der Rest für Extractivstofle sank während
der Badeperiode und noch in der Nachperiode sehr bedeutend. Es ist also weitaus
der grösste Thcil des Stickstoffs zur Bildung normaler Endproduete des Stoff-
wechsels verwendet worden, so zwar, dass für Extractivstofle nur mehr ein sehr
geringer Antheil übrig blieb. Kurz fasst Strasser die Wirkung hydriatischer
Proceduren auf den Stoffwechsel darin zusammen, dass unter ihrem Einflüsse der
Stoffwechsel quantitativ und qualitativ im Sinne einer vorwiegenden normalen
Thätigkeit des lebendigen Organismus gesteigert wird.
Literatur: Bally. Mittheilungen über die neuesten chemischen und physikali-
schen Untersuchungen der indifferenten Thermen Ragaz-Pfaefers. Veröffentlichungen derHufe-
land'schen Gesellschaft in Berlin. Sechzehnte öffentliche Versammlung der Balneologischen
Gesellschaft. Berlin 1895. — Scholz. Beobachtungen über die wärmobindende Kraft des
Warmbrunner Thermal wassers. — L. Wiek, Ueber die physiologischen Wirkungen verschieden
warmer Bader und über das Verhalten der Warme im Allgemeinen. Beiträge zur klinischen
Medicin und Chirurgie. Wien 1894, 6. Heft. — Der dreiundzwanzigste schlesische Bäder-
tag und seine Verhandlungen. Reinerz 1895. — 0. Liebreich, Einige Bemerkungen über
künstliche Mineralwässer und Salzmischungen. Separatabdruck aus den Verhandlungen der
Balneologischen Gesellschaft. Berlin 1895. — Bornstein, Ueber den Einfluss heisser Bäder
auf den Stoffwechsel. Verhandlungen der Balneologischen Gesellschaft. Berlin 1895. — A.
Strasser, Das Verhalten des Stoffwechsels bei hydriatischer Therapie. Wien 1895.
Kisch.
Barlow’sche Krankheit Unter BARLOw’scher oder besser Möllkr-
BARLOw’seher **) Krankheit, um nicht blos dem bedeutendsten Autor, sondern
noch den Verdiensten des Entdeckers der Krankheit gerecht zu werden, verstehen
wir heute eine ganz bestimmte, auf hämorrhagischer Diatbese beruheade Knoehen-
crkrnnknng (hämorrhagische Periostitis der zwei ersten Lebensjahre) , die mit
Schwellung und unter grosser Schmerzhaftigkeit einhergeht. Dabei ist eine aus-
gesprochene Kachexie vorhanden ; und nicht selten gesellt sich dazu eine scorbut-
art ige Zali nfleischerkra n kn ng.
Die früher als „acute Rachitis“ aufgefasste Erkrankung der Säuglinge
ist eine ziemlich schwere constitutionelle Erkrankung, die unter den Erscheinungen
schwerer Anämie und Kachexie tödtlich verlaufen kann, aber in den meisten
Fällen durch ein passendes diätetisch-hygienisches Regime zur Heilung gelangt.
Während früher die Zahl der Beobachtungen recht gering war, hat sich
in den letzten 10 — 12 Jahren dieselbe wesentlich vermehrt, seitdem die Kinder-
ärzte mit einem nicht unbedeutenden Interesse mehr auf das Krankheitsbild achten
und dasselbe richtig zu deuten gelernt haben.
Während Barlow1*) im Jahre 1883 über eine Zusammenstellung von
31 Fällen und Hkubnkk *9) im Jahre 1892 Uber 50 Fälle verfügte, ist die Statistik
durch die Bemühungen des Holländers DK BrUIN5®) im Jahre 1893 schon anf
Digitized
gle
BARLO W'SCHE KRANKHEIT.
47
1 66 Fälle angewacbsen , die in den letzten beiden Jahren durch neue Hinzu-
fttgungen von CosrrzER, Fürst, Hirschsprüng, v. Starck, E. Mbyer bedeutend
Überschritten worden ist.
Symptomatologie. Dag klinische Bild dieser Krankheit stellt sich nach
den Beobachtungen Barlow’s in England und nach denen der deutschen Autoren
Rehn, Hkubner, Pott, denen die meiste Erfahrung darüber zusteht, folgender-
massen : Es handelt sich gewöhnlich um Kinder von 4 — 18 Monaten; bei jüngeren
ist die Krankheit nicht beobachtet und nur ausnahmsweise bei solchen, die das
zweite Lebensjahr überschritten haben. Die Kinder sind meist Flaschenkinder, die
bisweilen auch kurze Zeit von der Mutter genährt worden sind ; zur Zeit der
Erkrankung befand sich jedoch, so weit ich die Literatur übersehe , keines der
Kinder an der Mutterbrust. In fast allen Beobachtungen leben die Kinder unter
günstigen hygienischen Bedingungen — nur Hihschsprung llj erwähnt, dass „die
häuslichen Verhältnisse meist sehr bescheiden seien“ — , unter ausreichender, wenn
auch nicht immer sehr zweckmässiger Ernährung, da häufig condensirte Milch,
Albuminosenmllch oder Kindermehlc als Nahrung verabreicht wurden. Bisweilen
sind die Zeichen leichter Rachitis vorhanden, häufig fehlt aber auch jede Spur
derselben.
Der Ausbruch der Krankheit findet am häufigsten in der kälteren Jahres-
zeit, meist im Spätwinter oder im Frühling bei nasskalter Witterung statt, bei
wärmerer Jahreszeit wird das Leiden fast nie beobachtet.
Die Art des Auftretens ist häufig eine ziemlich plötzliche.
Wird der Arzt zu dem Kinde gerufen , das sich bis zum Beginn der
Erkrankung angeblich wohl befunden hat, so erzählen die Eltern gewöhnlich von
„rheumatischen“ Schmerzen, die sich bei dem Kinde mit grosser Heftigkeit einge-
stellt hätten und keinem Mittel weichen wollten. Meist sind die Schmerzen in
der unteren Extremität viel stärker ausgeprägt als in der oberen. Die Eltern
berichten, dass das Kind, welches schon Steh- und Gehversuche gemacht, jetzt
die Lust zum Stehen und Gehen wieder verloren habe und jede nicht unbedingt
nothwendige Bewegung des Körpers ängstlich vermeide.
Das Kind liege mit flectirten Gelenken im Bett, oder halte beide Beine
steif und gestreckt. Es wimmere, auch ohne dass man es berühre, und sei schlaflos.
Der Appetit sei schlecht.
Bei der Untersuchung findet der Arzt die Aussagen der Eltern bestätigt.
Er sieht ein den Umständen nach noch gut entwickeltes Kind vor sich, an dem
aber schon eine erhebliche Blässe, bisweilen wachsbleiche Färbung der Haut auf-
fällt. Die Musculatur fühlt sich schlaff und weich an. Am Schädel uud an den
Rippen finden sich die Zeichen einer mässig entwickelten Rachitis, die indessen
auch fehlen können.
Das Kind ist verdriesBlich, jammert und weint bei jeder Berührung, ja
wehklagt schon bei Annäherung von Personen, von denen es weiss, dass sie es
berühren wollen. In seltenen Fällen ist Aphonie vorhanden.
Die Temperatur ist gar nicht oder nur gering erhöht, nur in einigen
vereinzelten Fällen ist dieselbe erheblich gesteigert. In 1 Fällen Rehn’s *7) ging sie
bis zu 39° und 40° C. hinauf uud war mehrere. Wochen hindurch erhöht, ohne
einen bestimmten Typus einzuhalten. Der Puls ist klein, weich und frequent. Es sind
starke Schweisse, besonders profus am Kopfe vorhanden. Neben der Anämie und
Hinfälligkeit, die auf ein Ergriffensensein des ganzen Körpers hindeuten, fallen vor
Allem bei den acut einsetzenden Fällen sofort, und bei den subacuten nach einigen
Tagen die Veränderungen an den Knochen auf. Dieselben sind angeschwollcn
und erscheinen im weiteren Verlauf der Krankheit verdickt, und zwar mehr an der
Diaphyse als an den Epiphysen ; die Geschwulst nimmt nach den Gelenkenden
zn ab. Darüber ist häufig die Haut prall geschwollen, sicht glänzend und meist
blass ans, sie kann aber auch eine röthlich oder röthlichblaue Farbe annchmen.
Der Fingerdruck hintcrlässt bisweilen eine leichte Vertiefung. Bei Ergriffensein
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BARLOW’SCHE KRANKHEIT.
der Tibia werden stärkere Fussödeme ziemlich eonstant gefunden. Tastet man
den Knochen ab, so kann man entweder eine Spindel- oder cylinderförmige Auf-
treibung desselben, respeetive seiner nächsten Umgebung oder eine mehr diffuse
Anschwellung constatiren. Häutig beginnt die Erkrankung mit der Intumescenz
des Femur und der Tibia und geht dann auf die obere Extremität über — der
Process scheint zu wandern — , noch häufiger ist auch nur Ober- und Unter-
schenkel ergriffen ; der Process kann auf eine Seite beschränkt bleiben oder
beiderseitig werden. Nur ausnahmsweise werden andere als die langen Röhren-
knochen ergriffen, selten finden sich harte umschriebene Schwellungen am Schädel,
an der Scapula, an den Rippen, am Os ilei, an der Fusswurzel. Bisweilen zeigt
sich auch eine Auftreibung des Ober- und Unterkiefers , dann stets in ihreu
Alveolarfortsätzen.
Epiphysenlösungen , bald mit Crepitation , bald ohne dieselbe , gehören
nicht zu den Seltenheiten. Die Gelenke bleiben in allen Fällen intact.
Die Schmerzempfindlichkeit ist auf der Höhe der Affection enorm, so
dass man die Abtastung des ganzen Skelettheils nur mit der grössten Vorsicht
und Sanftheit ausführen kann. Die Empfindlichkeit gegen Berührung und die
Scheu vor activer Bewegung kann sich bis zur völligen Bewegungslosigkeit —
Pseudoparalyse — steigern. Die untere Extremität, um die es sich meistentheils
handelt, hängt dann schlaff herab oder sie ist stark flectirt , seltener gestreckt
und nach aussen rotirt.
Bei genauer Palpation coustatirt man, dass die Geschwulst nicht eigentlich
von dem Knochen selbst ausgeht, sondern anscheinend in den Weichtheilen sitzt;
und zwar befindet sich der Sitz der Geschwulst zwischen dem Knochen und dem
von ihm abgehobenen Periost. Diese Thatsache ist durch Sectionsbefunde (Bah-
Low *8), Fürst **) genügend festgestellt und lässt sieh auch mit Leichtigkeit durch
eine am lebenden Kinde unter aseptischen C'autelen ausgeführte Punction oder
Incision (Rehn, Pott'*) nachweisen. Die I’robepunction hat einen grossen dia-
gnostischen Werth, weil wir durch die Entleerung von Blut aus der in der Tiefe
leicht fluctuirenden Geschwulst die Fehldiagnose eines Eiterherdes (Osteomyelitis/
vermeiden, und zugleich die rachitische Knochenanschwellung hierdurch Aus-
scheiden. Bei Freilegung des Herdes durch Einschnitt gelangt man durch Muskeln,
Faseien und Periost direct auf das subperiostale , schwärzlich-lackartige Blut-
gerinnsel, das den weissbläulichen Knochen umgiebt (FÜRST*1). In dem auf diese
Weise gewonnenen Blute fand sich häufig eine Verminderung der Leukoeyten
und Poikilocyten (Fürst). Die von Rehn mit derartigem Blute augesetzten Cul-
turen ergaben ein negatives Resultat, ebenso wenig ergaben v. Starck's1*) Unter-
suchungen des Blutes am hängenden Tropfen etwas Positives.
Noch charakteristischer und der Diagnose zugänglicher wird das Kratik-
heitsbild, wenn zu der Kachexie und der typischen Knochenerkrankung, den
Cardinalsymptomen dieses eigenthümliehen Processes, wie es nicht gar zu selten
vorkommt , hämorrhagische Erkrankungen der Haut , der Schleimhäute oder der
inneren Organe hinzukommen.
Obenan an Häufigkeit steht die scorbntartige Schwellung nnd Blutung des
Zahnfleisches. Bei Besichtigung des Mundes findet sich der bemerkenswerthe Be-
fund , dass diejenigen Partien des Zahnfleisches , wo die wenigen vorhandenen
Zähne durchgebrocben sind, oder wo der Durchbruch sich vorbereitet, hochgradig
geschwollen, von schwammiger Consistenz und dtinkclblauroth gefärbt sind, und
bei der Berührung, oft auch schon beim Oeffncn des Mundes, zu bluten anfangen.
Die übrige Mund- und Rachenschleimhaut erscheint normal (Heibneb).
Die Intensität der Erkrankung des Zahnfleisches hängt wesentlich ab
von der Zahl der Zähne ; sind gar keine Zähne vorhanden , so sieht das Zahn-
fleisch ganz normal aus oder zeigt höchstens ganz kleine bläuliche Flecke , die
da ihren Sitz haben, wo der Durchbruch des Zahnes später zu erwarten ist. Nur
sehr selten kommt es zu einer ausgesprochenen Stomatitis mit Ulecrationen und
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BARLOW’SCHE KRANKHEIT.
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Foetor ex ore. Die Mitbetheiligung des Zahnfleisches erschwert bisweilen die
Nahrungsznfuhr.
Schon Möller ') (1862; hat diese scorbutartige Mundaffection bei Barlow-
scher Krankheit gesehen und beschrieben: später (1868) hat sie Förster*) eben-
falls beobachtet, und seitdem wird sie als ein mehr oder weniger häufig auf-
tretendes Symptom der BARLOw’schen Krankheit angeführt.
Es scheint überhaupt eine Disposition zu Blutaustritten vorhanden zu
sein. Blutungen in die Haut (Petechien, Sugillationen) sind von Möller, Barlow,
Gee, Rk.h.n , Pott u. A. beobachtet; Blutungen der Schleimhäute, so aus der
Nase, treten vereinzelt auf; bluthaltige Stühle werden von Rehn ,4) und Pott1")
mitgetheilt. Gelegentlich kann es auch zu einer ödematös hämorrhagischen An-
schwellung eines oder beider Augenlider kommen , wodurch letztere zu prallen,
blutrothen, unförmlichen und das Gesicht entstellenden Säcken umgewandelt werden,
die zu der Blässe des Gesichtes stark contrastiren. Derartige subconjunctivale
Blutungen sind von Shoppee und Gom.EE (citirt von Barlow) gesehen worden.
Hämaturie findet sich bei GßE , Shoppee, de Broix, Coxitzer, Albuminurie bei
Cheadle, Helbner, Coxitzer verzeichnet. Der Urin enthielt in einzelnen Fällen
nur geringe Mengen von Eiweiss, in anderen jedoch Nierenepithelien und granu-
lirte Cylinder; im Uebrigcn weist der Harn nichts Abnormes auf, er ist stets
zuckerfrei. Die Mitbetheiligung der Nieren und speciell die Nierenblutung scheint
ein sehr seltenes Vorkommen zu sein.
Diarrhoen werden häufiger beobachtet, ebenso schleimhaltige Stühle; ein
Fall Pott’s zeigte eine während des ganzen Verlaufes der Krankheit anhaltende
Stuhlverstopfung.
Die Untersuchung der Lungen, des Herzens und der Leber ergiebt,
wenn keine Complicationen vorliegen, keine pathologischen Veränderungen. Milz-
vergrösserung, bisweilen um das Doppelte, ist öfters vorhanden.
Der Verlauf der Krankheit ist fast regelmässig ein chronischer,
sich gewöhnlich auf 2 — 3 Monate, meist sogar auf 3 — 4 Monate erstreckender;
seltener genesen Kinder schon nach 2 — 3 Wochen ; Barlow hat in einem
Falle schon nach dreitägiger Behandlung mittelst rationeller Diät Besserung
gesehen.
Ein grosser Theil der Fälle heilt bei richtiger frühzeitiger Behandlung,
einzelne sogar spontan, zmnal bei Eintritt warmer Witterung. Die starke Schwel-
lung der Extremitäten geht zurück , die gespannte Haut wird wieder weich
und faltig, die Contouren der Knochen treten wieder hervor, der Schmerz lässt
nach und verschwindet bald vollkommen. Die normale Function der Bewegungen
stellt sich wieder ein, das Kind macht Aufrichtungs-, Geh- und Sehversuche. Die
Blutungen schwinden. Anstatt der Blässe tritt wieder normale Hautfarbe ein und
bei beginnendem Appetit, der sich mehr und mehr steigert, beginnen die kachekti-
schen Erscheinungen zu weichen, kurz das Kind ist auf dem Wege der Recon-
valcseenz und Heilung.
Nicht ausgeschlossen sind im Verlauf der Krankheit Störungen von Seiten
des Darms und der Luftwege, die dem schon durch die Blutungen geschwächten
Kinde leicht verhängnisvoll werden können.
Erwähnenswerth scheint mir noch, dass die IiARLOW’sche Krankheit
gerade unter den niederen , sehr armen Bevölkerungsschichten sehr selten vor-
kommt, so dass man ihnen in den zahlreichen Kinderpolikliuiken fast kaum be-
gegnet ; v. Starck und Kassowitz haben unter den Tausenden von Kindern, die
jährlich in ihre Poliklinik kommen, keinen einzigen Fall von BARLOw’scher Krank-
heit beobachtet. Ich selbst habe im Verlaufe der letzten 6 Jahre bei Beobachtung
von circa 2000 Krankheitsfällen im Jahre in der Kinderpoliklinik des Herrn
Sanitätsraths Dr. Ehrexhacs nie einen Fall von Murbus Barloirii gesehen ;
leider scheint sie, wie aus den sich häufenden Mittheilungen der letzten Jahre
hervorgeht, im Znnehmen begritl'en zu sein.
Encyclop. Jahrbücher. VI. 4
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BARLOW’SCHE KRANKHEIT.
Die Diagnose ist für gewöhnlich für einen aufmerksamen Beobachter
nicht gar zu schwer. Es kann überhaupt kein Zweifel walten, sobald der gesammtc
Symptomencouiplex, das bekannte Knochenlciden, die Kachexie und die seorbut-
artige Gingivitis vereint auftreten. Aber auch in den Fällen, wo die Kuochen-
erkrankung die einzige Erscheinung bleibt, wird man kaum eine Fehldiagnose
stellen, da das Knochenleiden in seinem ganzen Verhalten, in seinem Anwachsen,
einem kurzen Verweilen auf der Höhe, begleitet von der grössten Schmerzhaftig-
keit und schwerer Functionsstörung, in seinem langsamen Rückgang ohne die
geringste Neigung zur Suppuration etwas so Charakteristisches ist, dass es sich
kaum mit einer anderen Krankheit verwechseln lässt. Steigen trotzdem Bedenken
auf, so ist mau durch Probeincision oder Punction im Stande, den Beweis zu
liefern, dass es sich um eiterige Processe nicht handelt, bei denen auch meistens
das Fieber höher, bisweilen sogar initiale Sehüttelfrösste vorhanden sind. Gegen
Rachitis, die differentialdiagnostisch in Betracht kommen könnte, spricht die fast
gänzlich auf die Diaphyse beschränkte Schwellung und die Ubergrosse Scbmerz-
emptindlichkeit. Congenitale Lucs schliesst sich durch die Anamnese, durch das
Alter, durch den langsameren Verlauf, durch geringere Schmerzhaftigkeit und
durch die charakteristischen Haut- und Schlcimhautsyniptome aus.
Acute Gelenkentzündungen, Gelenkrheumatismus spielen sich an den
Gelenken ab und verschonen die Diaphysen. Die Gelenke sind bei B.ARLOw'scher
Krankheit stets frei.
Die Prognose der Krankheit bietet im Allgemeinen günstige Chancen,
vorausgesetzt — HEU UN ER betont dies mit Recht ganz besonders — , dass das
Leiden rechtzeitig genug erkannt und zweckmässig behandelt wird. Die BAKLOW’scbe
Krankheit ist eine Affection, die Neigung hat spontan zu heilen ; immerhin sind
eine Reihe von Todesfällen besonders in England und in letzter Zeit auch in
Deutschland häutiger beobachtet worden. Aus Russland und Frankreich ist über-
haupt noch kein Fall von BARLOw'scher Krankheit veröffentlicht worden, ln Fällen,
die mit ausgedehnter Stomatitis einhergehen oder mit Blutungen der inneren
Organe wird die Prognose nicht unwesentlich getrübt , und gleichfalls wird sie
verschlechtert, wenn Complicationen von hochgradiger Rachitis, von Seiten der
Atlunungs- oder Verdauungswege auftreten.
Ceber die Therapie herrscht unter den einzelnen Autoren, von welchem
Gesichtspunkt sie auch sonst die Krankheit auffassen mögen, kaum eine Meinungs-
verschiedenheit. Im Vordergrund steht bei allen die Hygiene und die Regelung
der Diät. Grosse , luftige , trockene Wohnräume für das Kind , wenn möglich
häufiger Aufenthalt im Freien bei gutem, nicht feuchtem Wetter, genügende
Hautpflege durch warme Bäder etc. machen einen Hauptfactor der Behandlung
aus. Dazu kommt die Sorge für die richtige Ernährung des Kindes. Vor Allem
sind Mehlpräparate und die künstlichen Milchpräparate (Conserven, Albuminoscn-
mileh ; gänzlich aus der Kost zu entfernen. Dafür tritt die frische, abgekochte
und in den heissen Monaten die einfach sterilisirte Milch in ihre Rechte , falls
es nieht noch möglich ist, dem Kind die Mutterbrust oder Frauenmilch zu ver-
schaffen. Man beschränke sich indessen nicht allein auf frische Milch, sondern
verabreiche daneben täglich einige Kinderlöffel frischen ausgepressten Fleisch-
saftes (in Verbindung mit geringen Mengen von Malaga oder llngarwein). Chkad-
i.e’s Vorschrift hierfür ist folgende : 1 Theil fein gehacktes Rindfleisch wird mit
4 Thcilen Wasser gut verrührt, dann bei gewöhnlicher Temperatur ’/, Stunde
sich selbst überlassen , hierauf durch feine Gaze geseiht und ausgepresst. Auch
rohes Schabefleisch ist empfehlcnswerth. Da die frische vegetabilische Nahrung
ihrer „antiscorbutischen" Eigenschaften wegen gerühmt wird, so erscheint es nicht
unangebracht zu sein, Mittags neben einer Kalbsbrühe oder Hühnersuppe einige
Kaffeelöffel frischen und durch das Sieb geschlagenen breiförmigen Gemüses
(Kartoffelmus, Spinat, Mohrrüben etc.) zu verabreichen (llEUBNEK). Caxtani rühmt
Kastanien, Artischokeu, Kresse, Coch/earia o#s. etc. Ferner giebt man mit Er-
BARLOW'SCHE KRANKHEIT.
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folg , besonders bet jungen Kindern , täglich 2 — 3raal 1 Kaffeelöffel Fruchtsaft
(Citronen- oder Apfclsinensaft) entsprechend versllsst; auch Apfelmus gentlgt.
Nordrnskjöld ’•) sah von dem Saft der Multbeero (Rubus chamaemorus), eine
unserer Maulbeere ähnliche Frucht, in Verbindung mit Rum gute Erfolge. Bar-
LOW empfiehlt einen Esslöffel Orangen- oder Traubensaft mit Wasser zu verdünnen
und in einzelnen Portionen zu geben. Henoch ,a) (Lehrbuch 1895) und Bagi.vsky *')
(Lehrbuch 1892) empfehlen 5 — Gmal täglich 1 Theelöffel frischer Bierhefe. Letz-
terer empfiehlt auch Pinselungen mit Citronensaft zur Bekämpfung der Mund-
affection.
Medicamente kann man sich ersparen: indessen will ich der Vollständig-
keit wegen erwähnen, dass von Einigen tonisirende und roborirende Mittel wie
Chinadecocte , leicht verdauliche Eisenpräparate, Phosphor in Verbindung mit
Leberthran oder Lipanin angewendet werden.
Von einer Localbehandlung der geschwollenen Extremitäten mit Eis-
eompressen ist besser abzuseben , da nach den Versuchen verschiedener Autoren
häufig die Schmerzhaftigkeit danach erhöht wird ; wohl aber ist es angezeigt,
znr Linderung der Schmerzen Priessnitz’sche Umschläge anzuwenden (Heubnkr)
und falls in schwereren Fällen die Befürchtung einer Epiphysenlösung oder einer
Fractur vorliegt, erscheint es angebracht, feuchte Verbände anzuwenden. Porr
hat auch einmal zur Gradstellung der am meisten afficirten linken unteren
Extremität eine Extensionsschiene (nach Volkmanx) für nöthig erachtet.
Legt man den Schwerpunkt der Behandlung, die möglichst frühzeitig
eingeleitet werden muss, auf die Diät, so hat man die Genugthnung, baldige und
fortschreitende Besserung eintreten zu sehen.
Giebt uns nun die Section einen Aufschluss und eine Erklärung der
Symptome, welche wir intra vitam am Krankenbette beobachtet haben?
Pathologische Anatomie. Genauere Kenntniss von den pathologischen
Vorgängen , wie sie sich bei der BARLOw’schen Krankheit abspielen , verdanken
wir den Sectionsbcfunden Baklow’s, der im Jahre 1883 zttm ersten Male Ge-
legenheit hatte, einen derartigen Fall zu seciren. Der typische Befund Barlow’s
ist später von verschiedenen Beobachtern ergänzt und bestätigt worden.
Die hauptsächlichsten Veränderungen finden natürlich, dem klinischen
Bilde entsprechend, an den Knochen statt, und zwar sind hauptsächlich die Röhren-
knochen und von diesen wieder die Knochen der unteren Extremität am häufig-
sten betroffen. Schneiden wir durch die Haut und Muskel auf die Knochen ein,
so finden sieh bisweilen Hämorrhagicn schon in den Fascien und in dem Unter-
hautzellgewebe. Die oberflächliche Musculatur erhält eine massige Qualität blass-
gelber, seröser Flüssigkeit, in den tieferen Schichten linden sich zahlreiche Blut-
gerinnsel.
Die Röhrenknochen zeigen im Verlauf der ganzen Iliaphyse und an einem
kleinen Theil der Epiphyse eine Schicht von Blutgerinnscln, die zwischen Periost
und Knochen liegen ; das Blutgerinnsel ist zuweilen in eine ehocoladenfarhige
Detritusmasse umgewandelt Die Blutungen brauchen nicht nur subperiostal zu sein,
sondern können auch endostcale sein (Mac EXZIE). Durch die Hümorrhagic zwi-
schen Periost und Knochen wird das Periost stellenweise vom Knochen abge-
hoben, bisweilen ist er desselben vollkommen entkleidet. Das Periost selbst ist
gefässreich und verdickt. Der Knochen dagegen ist bisweilen auf eine dünne
Schicht reducirt; bei vereinzelten Fällen hat das vom Knochen abgehobene
Periost eine neue dilnue Schicht knöchernen Materials abgesetzt (Scapula, Schädel).
Fracturcn an der unteren Extremität und an den unteren Rippen kommen
seltener vor, dagegen sind Epiphysenlösungen eine häufige Erscheinung. Zwischen
Diaphyse und Epiphyse gewahrt mau entweder nur abnorm starke Hyperämie
oder hämorrhagische Infiltration oder selbst Bluterguss.
Was die histologischen Verhältnisse des Knochens betrifft, so fand Fürst'1)
wenig Osteoblasten nahe der Corticalzone. Die Knochenbalken waren normal, die
4*
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BARLOW’SCHE KRANKHEIT.
HowSHlP’schen Lakunen wenig ausgebildet. Nach der Markhöhle sah man reich-
liche lymphoide Zellen; ausgewanderte Blutzcllen Hessen sich nicht constatiren.
Das Mark findet sich stark vaseularisirt , hauptsächlich in der Form des rothen
Marks. Nur nahe der Peripherie findet man etwas Fettmark. Bemerkenswerth ist
die lymphoide Umwandlung und neben den lymphoiden Zellen die Anwesenheit
von gruppenweis angehäuften Leukocyten, die mit Blutkörperchen und Pigment
beladen sind. Diese Befunde deuten auf starke Blutresorption.
Neben den ausgedehnten subperiostalen Blutungen der Röhrenknochen
(in einem Fall von C'RKADLE und in einem anderen von Sutterland, die zur
Autopsie kamen , waren Muskel und Röhrenknochen von Hämorrhagien frei)
werden nicht gar zu selten Blutungen an den Rippen, am Schädel und an der
Scapula beobachtet, in welchen Fällen die Veränderungen am Periost und Knochen
ähnlich sind wie bei den Röhrenknochen. Ein Hämatom der Dura mater sahen
Sutteri.anD und Barlow, auch Möller beobachtete schon ein solches.
Eine Schwellung und Lockerung des Zahnfleisches liess sich in vielen
Fällen constatiren; die Blutungen in das Zahnfleisch variiren naturgemäss sehr;
sie finden sich von den kleinsten Sugillationen bis zu grösseren Ecchvmosen und
Extravasaten.
Uebcr geringere Blutungen in die Schleimhaut des Intestinaltractus, des
lymphatischen Apparates, berichtet Chkadle. Mackenzie hat die Eingeweide,
Mesenterialdrtlsen, Lungen und die Marksubstanz der Nieren von kleinen , aber
zahlreichen Hämorrhagien durchsetzt gesehen. Cheadle beobachtete reichliche
Blntungen in den Lungen. Barlow fand einen blutig-serösen Erguss auf dem
visceralen Blatt der einen Pleura und auf dem parietalen zahlreiche Petechien.
Die Milz ist vergrössert und weist einen Bluterguss in die Kapsel und in das
Parenchym auf.
Die post mortem durch den Sectionsbefund aufgedeckteu hämorrhagischen
Vorgänge sind wohl im Stande, die Schwellung und die tibergrosse Schmerzhaftig-
keit am Knochen (Hyperämie und Abhebung des Periosts), ebenso wie die
Blutungen der Haut , Schleimhaut und inneren Organe zu erklären. Auch die
Anämie, die mit dem Fortschreiten des ProcesBes mehr und mehr zunimmt, lässt
sich zwanglos mit den stattgehabteu internen Hämorrhagien in Verbindung bringen.
Fragen wir nun nach dem Wesen der Krankheit, so ist auch heute noch,
trotz mancher neuer Veröfl'entlichung, dasselbe darüber zu sagen, was Hkdbxek
schon im Jahre 1893 schrieb:
„Wir haben es bei der in Rede stehenden Affection mit einer wohl
eharakterisirten, von den bisher bekannten Erkrankungen sich unterscheidenden,
eigenartigen Krankheit zn thun. Wir stehen jetzt auf der zweiten Stufe der Er-
kenntniss derselben, der pathologisch anatomischen. Die dritte, der Einblick in
das eigentliche Wesen der Krankheit, ihr ätiologisches Verständniss ist noch zu
erklimmen.“
Interessant ist an der geschichtlichen Entwicklung unserer Kenntnisse
von der Pathogenese der BARLOw'schen Krankheit, dass sich zwei ganz getrennte
Epochen grundverschiedener Anschauungen unterscheiden lassen , und zwar eine
englische und eine deutsche, ln Deutschland war man circa 20 Jahre früher als
in England auf diese eigenthümliche Erkrankung aufmerksam gewurdeu. Möller*),
der bekanntlich zuerst (1859) die Beobachtung der Aerztewelt auf das sonder-
bare Krankheitsbild lenkte, fasste dieselbe als eine Krankheit sui generis auf
und beschrieb sie wegen der in die Augen fallenden charakteristischen Knochen-
erkrankung als „acute Rachitis“.
Diese Bezeichnung wurde von den später über derartige Fälle berichtenden
Antoren Bohn’i, Förster1), Politzer4), Steiner*), Senator6) etc., die sämmt-
lich die acute Rachitis als eine besondere Krankheit auffassen, beibehalten, indem
alle das Hauptgewicht auf die Knochenveränderungen und weniger auf die bisweilen
auftretenden hämorrhagischen Erscheinungen legten. Dabei fehlte es nicht an gewissen
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BARLOW’SCHE KRANKHEIT.
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Meinungsverschiedenheiten. Während Oppenheimer l0) (1881) einen Th eil der als
„acute Rachitis“ beschriebenen Fälle für nichts weiter als multiple Ostitis rachiti-
scher Individuen ansieht, dagegen für die grössere Zahl der Fälle mit fieberhaftem
Verlauf den rachitischen Charakter des Knochenleidens bezweifelt, negirt Fürst8)
(1882) die „acute Rachitis“ als selbständige Kraukheitsform und hielt es viel-
mehr für richtig, von einem acuten Initialstadium gewisser Fälle von Rachitis
zu sprechen, in welchem neben tumultuarisehen Wachsthumserscheinungen an dem
Skelet entzündliche schmerzhafte Schwellungen der Weichtheile mit mehr oder
weniger Fieber, gastrischen Symptomen und Störungen der Ernährung auftreteu.
Kurz und gut, das Thatsächliche der Erkrankung war in Deutschland
schon sehr früh bekannt, indess der Begriff der acuten Rachitis war ein unklarer
und schwankender, wurde von Einzelnen acceptirt, von Manchen dagegen ange-
fochten. Man kannte das Bild der Krankheit, war aber nicht im Stande, es zu deuten.
Da kamen im Jahre 1878 und bald darauf 1882 die ersten englischen
Veröffentlichungen von dem Kinderarzt Cheadle, der die Erkrankung von einem
neuen Gesichtspunkt aus ansah. Er bezeichnet dieselbe als scurvy-Scorbut und
suchte nachzuweisen, dass dieselbe eine Folge fehlerhafter Ernährung sei, bedingt
durch den Mangel an frischen Nahrungsmitteln, und führte als Stütze dieser An-
nahme an, dass die Affection durch Beseitigung dieses Fehlers einer baldigen
Heilung entgegengeführt werden könne.
Vor Cheadle schon hatte in Schweden Inoerslew (1873) auf die scorbut-
artige Natur der BARLOw’schcn Krankheit aufmerksam gemacht. Und in England
selbst fehlte cs nicht an früheren Publicationen, so die von Smith (1875) unter
dem Titel „Hämorrhagische Periostitis“ ; später kamen Fälle von Samijkl GäE
(1881 i unter dem Namen „ostale oder periostealc Cachexie“ und von Page (1843)
als subperiostale Hämorrhagie zur Veröffentlichung. Indessen Bari.OW (1883)
gebührt das Verdienst, durch sorgfältige Untersuchung an der Leiche und durch
den dirccten Nachweis der subperiostalen Blutungen eine Erklärung des klinischen
Gesammtbildes gegeben zu haben. Derselbe glaubt sich, sowohl durch seine
klinische Erfahrung, die er aus 31 Fällen, darunter 11 seiner eigenen Beob-
achtung gewonnen, als auch hauptsächlich auf Grund seiner Sectionsbefunde be-
rechtigt, seine Ansicht dahin formuliren zu dürfen, dass die wesentlichen Merk-
male der sogenannten „acuten Rachitis“ im anatomischen wie im klinischen Ver-
halten in Wirklichkeit auf „infantilen Scorbut“ zurückzuführen sein.
Lues und vor Allem Rachitis, welch letztere sehr häufig gleichzeitig zur
Beobachtung kam, hält er für zufällig coincidirende Erkrankungen, ohne dass
die BARLOw’sche Krankheit sich unbedingt auf rachitischer RasiB entwickeln
muss. Auf demselben Standpunkte steht Barlow auch heute (1895) noch, wie
aus seiner letzten, von Ludwig Elkind in’s Deutsche übertragenen Arbeit Uber
diesen Gegenstand hervorgeht.
Dieser Auffassung der Baulow’scIicu Krankheit von Seiten der Engländer
als „echten Scorbut“ schloss sich späterhin ein grosser Theil der deutschen
Autoren mit mehr oder weniger Einschränkung an.
So lässt Rkhx (1884) seine bis dahin aufrecht erhaltene Meinung einer
Myeloperiostitis ') fallen und spricht sich in dem Sinne der englischen Collegeu
aus, wenngleich er hervorliebt, dass in Deutschland Scorbut überhaupt so gut
wie unbekannt ist, sporadischer Scorbut sehr selten auftritt, und es wunderbar
sei, dass die meisten von BARLOw’scher Krankheit befallenen Kinder unter günsti-
gen Eruährungsverhältnissen leben.
Heuhxek erblickt in dem Leiden eine eigenthümliche Mischerkrankung
von Scorbut und Rachitis und betitelt seine Arbeit Uber diesen Gegenstand:
„Ueber die scorbutartige Erkrankung rachitischer Säuglinge“. Heubner ist übri
gens der Erste gewesen . der den Namen „BARLOw’sche Krankheit“ eingeführt,
wohl um auszudrücken, dass ihm die Identificirung mit echtem Scorbut noch nicht
vollkommen erwiesen scheint.
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BARLO W’SCHE KRANKHEIT.
Hexoch (1895), der sieh nicht ganz so bestimmt ausdrückt, äussert sich
dahin, „dass es sich hier um eine Form der hämorrhagischen Diathese handelt,
die zwar Manches mit dem Scorbnt gemein habe, aber doch nicht identisch mit
diesem zu Bein scheint. Ihre häufige Combination mit Rachitis spricht für eiue
gemeinsame Ursache, die in fehlerhafter Ernährung (Mangel an phospborsaurcm
Kalk und Kali in der Nahrung) zu suchen ist. Die Beziehung zur Syphilis ist
trotz des scheinbaren Erfolges der Mercurialcur in einzelnen Fällen sehr zweifelhaft.“
Baginsky (1893) rechnet die Krankheit zu den echten scorbutischen
Affectionen.
Dagegen fehlt es auch nicht an Stimmen, die sich direct gegen die
Scorbuttheorie ausgesprochen haben, so Hirschsprung ,?), Conitzkk u. A., auch
F. Hoffmann as) steht, obgleich er die Krankheit als „eine eigenthümliche Form
der hämorrhagischen Diathese bei Rachitis“ bezeichnet, in seinem Lehrbuch über
Constitutionskrankheiten dieser Ansicht mit grossen Zweifeln gegenüber. Die Be-
denken, die diese Autoren dagegen auführen, sind dieselben, wie sie früher schon
von Hehn in Erwägung gezogen worden sind, nur fügen sie noch hinzu, es wäre
auffallend, dass gerade die sonst beim Scorbut als llaupterscheinung in den
Vordergrund tretende Zahntleiscberkrankuug beim infantilen Scorbut nur selten
oder gar nicht entwickelt sei , und umgekehrt die häufigste Erscheinuug der
BARi.Ow’schcn Krankheit, die typische Knochenerkrankung, beim echten Scorbut
weniger in die Augen falle. Ferner treffe der nach Chbadi.k und Barlow be-
hauptete Mangel an frischen Vegetabilien in der Nahrung .als Ursache der Krank-
heit für eine grosse Reihe von Fällen sicher nicht zu, und die antiscorbutische
Therapie versage in manchen Fällen.
Wenngleich wir heute kaum schon berechtigt sind, ein definitives Urtheil
in dieser Frage abzugeben, so muss man zugestehen, dass ein ätiologisches
Moment die BARLOw'sche Krankheit in fast allen Fällen mit dem Scorbut gemein
hat, das ist eine qualitativ fehlerhafte Ernährung, die in dem Mangel frischer
Nahrungsmittel besteht (Heubner). So wird bei künstlicher Ernährung des Kindes
unzweckmässig bald ein Kindermehl verwendet, bald greift man zu künstlichen
Milchpräparaten (condensirter Milch, Albuminosenmilch etc.); bisweilen scheint es
schon ein Fehler zu sein, ein Kind zu lange mit reiner Milchnahrung aufzu-
ziehen: von manchen Seiten ”• 3") wird zu lange fortgesetzte Ernährung mit
sterilisirter Milch für die BARLOw'sche Krankheit verantwortlich gemacht, zumal
wenn dieselbe als „Dauermilch“ betrachtet und bis zum Verbrauch tage- oder
gar wochenlang gestanden hatte. Gerade diese letzte Erscheinung muss beson-
ders beachtet werden bei der allgemeinen Verbreitung, die die Anwendung der
sterilisirten Milch heute gefunden hat.
Li hbf. ’s **) Meinung geht dahin, dass vielleicht die Salze der Milch,
denen ja bei der Ernährung auch eine wichtige Rolle zukommt, durch das lange
Kochen bei der Sterilisation eine Schädigung erleiden. Chemisch nachweis-
bare Veränderungen des Eiweiss-, Fett- und Zuckergehaltes der Milch in Folge
der einfachen wie der totalen Sterilisation habe ich a"), wie aus verschiedenen
Versuchsreihen hervorgeht, seiner Zeit nicht nachweisen können. Bemerkenswerth
ist noch, dass die letzten in Berlin veröffentlichten Fälle sämmtlieb mit Albumoseu-
milch ernährt wurden. *■)
Die Erscheinung, dass die BARLOw'sche Krankheit fast immer nur die
Kinder gut situirter Fainilen, dagegen selten die der armen Bevölkerung betrifft,
lässt sich nach Chkadle und Heubner vielleicht dadurch erklären, dass die Kinder
der ärmeren ClasBcn meist schon vor Abschluss des ersten Lebensjahres neben
Milch frische Gemüse und Kartoffel erhalten. Daneben macht sich bisweilen wohl
noch der Umstand geltend , dass den unbemittelten Kreisen auf die Dauer ein
künstliches Milchpräparat oder ein Kindermehl zu theuer kommt.
Mag man nun aber Gegner oder Anhänger der Scorbuttheorie sein,
jeder muss zugeben, dass wir mir mit der Einführung des Namens „Scorbut“ für
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BARLOW'SCHE KRANKHEIT.
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das Wesen dieser bei Kindern auftretenden eigentümlichen Affection absolut
nichts gewonnen haben; ist uns doch die Pathogenese und die Aetiologie des
Seorbut» der Erwachsenen selbst noch nicht klar. Denn von den einen wird der
Seorbut auf den Mangel an Kalisalzen in der Nahrung zurückgeführt und darauf
hingewiesen, dass bei langen Seereisen auf Schiffen , auf denen Fleisch nur in
Form des gesalzenen Pökelfleisches, das an Kalisalzen arm ist, geboten wird, bei
gleichzeitig fehlenden frischen Gemüseu diese Affection eine häufige Erscheinung
ist. Indessen sieht man auch bei Gefangenen , die fast ausschliesslich die kali-
reiche Pflanzenkost erhalten, nicht selten Seorbut auftreten , in einzelnen Fällen
sogar, wo es weder an frischem Fleisch, noch an grünem Gemüse fehlte. Neuere
Beobachtungen, in denen eine Besserung der scorbutischen Affection bei Zusatz
von Fett zur Kost constatirt sein soll , scheinen darauf hinzudeuteu , dass der
Seorbut auch durch eine einseitige fettarme Kost bei gleichzeitigen ungünstigen
(feuchten) Wohnungsverhältnissen hervorgerufen wird (Munk S6j.
Vielleicht aber liegen die Verhältnisse noch anders, vielleicht ist der
Seorbut, der echte der Erwachsenen sowohl wie der infantile, in die Reihe der
Infectionskrankheitcn zu zählen, eine Vermuthung, die schon von verschiedenen
Autoren ausgesprochen worden ist; und die einseitige fehlerhafte Ernährung setzt
die Widerstandsfähigkeit des Organismus herab und schafft so die Vorbedingungen
für das Eindringen der Mikroorganismen, für die specifische Infection, respective
Intoxication.
In diesem Sinne fortgesetzte Untersuchungen scheinen mir erstrebens-
werth ; wie weit sie von Erfolg gekrönt werden, muss die Zukunft lehren.
Literatur. ♦) *) J. 0. L. Möller, Königsberger Med. Jahrb. 1959, I, pag. 377;
1862, III, pag. 135. — *) R. Förster, Jahrb f. Kinderlik. 1868, I, pag. 444. — 3) Hohn,
Jahrb. f. Kinderhk. 1868. I, pag. 201. — 4) Politzer, Jahrb. f. Kinderhk. II, pag. 159. —
Senator, v. Zietnssen's Handb. 1875, XIII. I. Ahth., pag. 201. — *) Steiner, Compendien
der Kinderkh. 1878, 3- Aufl. — 7) Rehn, Veröffentlichung d. Gesellsch. f. Heilkunde. Berlin,
2. Verband!, d. padiatr. Section. 1879- — •) Förster, Ber. über die Versamml. d. padiatr.
Section d. Gesellsch. f. Heilkunde in Berlin vom 5. u. 6. April 1880. — *) L. Fürst, Jahrb.
f. Kinderhk. 1882. XVIII, pag. 210. — ,0) Z. Oppenheimer, Arch. f. klin. Med. 1882,
XXX, pag. 45. — n)Baginsky, Praktische Beitr. z. Kinderhk. Ib82. 2. Heft — **)Rehn,
Rauchfass, Hirschsprung. Ber. über d. Verhandl. d. pädiatr. Section anf dem internat.
med. Congr. zu Kopenhagen 1884. Jahrb. f. Kinderhk. 1886. XXV. pag. 118 — 122. —
,#) Barlow, Thom. med. chir. Transaction m. London 1883. — 14) Rehn, Berliner klin.
Wochenschr. 1889. Nr. 1. — ’*) Rehn, Verband, d. X internat. med. Congr. zn Berlin. 1890,
II. 6. Abth . pag. 57. — t6) Pott, Münchener med. Wochenschr. 1891, Nr. 46 und 47. —
1T) Northrup, Transaction Amer . Paediatr. Soc. New York 1892. — ,#) 0. Heubner,
Jahrb. f. Kinderhk. 1892. XXXIV. pag. 361. — ,w) Bagin sky. Lehrb. f. Kinderkh. 1892,
4. Aufl. 279. — Le Brnin, Nederld. Tijdschr, coor Genetskunde. 1893, II, Nr. 10. —
3I) Förster, Jahrb. f. Kinderhk. 1893. XXXV, pag. 219. — ”) Rehn, Jahrb. f. Kinderhk.
1893, XXXV, pag. 220. — **) Vogel-Biedert, Lehrb. d. Kinderkh. 1887. pag. 526. —
*4) Uffelmann. Kurzgefasstes Lehrb. d. Kinderkh. 1893, pag. 61 — *4) v. Star ck , Jahrb.
f. Kinderhk. 1894. XXXVII, pag. 68. — **) v. Starck, Jahrb. f. Kinderhk. 1894, XXXVIII,
pag. 375. — ,7) Rehn, Jahrb. !'. Kinderhk. 1894. XXX VII. — **) F. A. H offmann, Lehrb.
d. Constitutionskrankheiten. 1893, pag 145. — **) L. Conitzer, Münchener med. Wochen-
schr. 1894. Nr. II n. 12- — M) B Bend ix, Berliner klin. Wochenschr. 1895. Nr. 15. —
**> L. Fürst. Arch. f. Kinderhk. XVIII, pag. 50. — 3I) Henoch, Lehrb. d. Kinderkh. 1895,
*3) v. Starck. Münchener med. Wochenschr. 1895, Nr. 42. — **) A. Hoffmann, Correspon-
denzblatt d. ärztl. Vereine d. Grnssherzogthums Hessen. 1895, 5. Jalirg., Nr. 10. — w) Liebe,
Münchener med Wochenschr. 1896, Nr. 2- — 4*j I. Munk, Ernährung des gesunden und
kranken Menschen. 1895, pag. 87. — aT) H. Hirschsprung, Jahrb. f. Kinderhk. 1895,
XLI. Heft 1, pag. 1. — 3b) Barlow (Eikind), Centralbl. f. klin. Med. 1895, Nr. 2l u. 22. —
**) E. Meyer, Vortrag in der Berliner med. Gesellsch. am 15. Januar 1896.
*) Die von mir aufgeführte Literatur beschränkt sich fast ausschliesslich auf die
Arbeiten der deutschen Autoren.
Die vollständige Literatur über Barlo wache Krankheit mit Ausnahme des letzten
Jahres findet sich bei Fürst, Arch. f. Kinderhk., 1895, XVIII, Heft 1 und 2, übersichtlich
zusammen gestellt.
Bernhard Bendix (Berlin).
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IIZGO
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50
BASEDOWSCHE KRANKHEIT,
Basedow’sche Krankheit. Meinen vorjährigen Bericht (Encyclopäd.
Jahrbücher, V, pag. 18) leitete ich mit der Bemerkung ein, dass sich der Streit
bezüglich der Pathogenese der BASEDOW’schen Krankheit immer noch um die
Frage drehe, ob der Schilddrüse die Bedeutung als ursächliches Moment in dem
Sinne zukomme , wie die Vertreter der sogenannten Schilddrüsentheorie es be-
haupten. Dieser Streit scheint sich im vergangenen Jahre der vermittelnden Auf-
fassung, sowohl auf autoritativer klinischer, als auch chirurgischer Seite zugeneigt
zu haben, dass an dem Zustandekommen des Krankheitsbildes, das man schlechthin
als ÜASKnow’sche Krankheit bezeichnet, ganz verschiedene Factoren betheiligt
sind, und dass von einem ausschliesslich toxischen oder ausschliesslich nervösen
Ursprünge des Symptomencomplexes nicht die Bede sein kann.
Beweis sind u. A. die Verhandlungen des Congris frangais des mMeeins
alifnistes et neurolngistes zu Bordeaux (1. — 7. August 1895). Prof. E. Brissaud
hatte hier das Referat über das Thema „Schilddrüse und BASKDOw’sche Krank-
heit“ übernommen nnd erledigte sich seiner Aufgabe in recht geschickter Weise.
Er stellte zunächst den Grundsatz auf, dass die BASKDOw’sche Krank-
heit keine Krankheit sui generis sei, sondern ein Syndrom, ein Symptomencom-
plex, wie die Epilepsie. Wie lad dieser bald ein meningitischer ProccBS, bald ein
Gumma oder eine progressive Sklerose oder eine Compression oder eine Iutoxica-
tion (alkoholischen, saturninen, renalen, gastrischen etc. Ursprunges) n. A. m.
den morbiden Reiz für ein bestimmtes Centrum , das wir allerdings noch nicht
kennen, abgeben kann, so muss mau auch für den BASKDOw'schen Symptomen-
complex annehmen , dass verschiedene Momente eine Atfection des betreffenden
Centrums, das BrissaüD mit anderen französischen Autoren in das verlängerte
Mark (rdgion bulbo-protubirantielle j verlegt, herbeizuführen iin Stande wären.
Jedes Syndrom charakterisire sich durch ein Ensemble von Erscheinungen,
die enger oder weiter miteinander in Verbindung stehen, unter denen sich aber
in der Mehrzahl der Fälle ein bestimmtes Symptom durch seine Constanz, frühes
Auftreten und Intensität vor den übrigen im Allgemeinen kennzeichnet. Bei dem
Morbus Baxedowii sei dies die Tachykardie ; um sie gruppiren sich die übrigen
Symptome, die zumeist neurotischer Natur sind. Die BASEDOtv’sche Krankheit sei
also ein „Syndrome h peu pr!s exclusivement nerve ur“ . Diese Annahme schliesse
nicht aus, dass ein von der Schilddrüse geliefertes Gift ebenfalls das Nerven-
system schädigen und den Symptomencomplex hervorrufen könne.
Als prädisponirendes Moment stehe die Heredität obenan , im Beson-
deren die neuropatbische Belastung. Sollte dieses Moment nicht beweisen , dass
der Morbus Basedomi das Aequivalent einer Neurose ist? Dafür spräche ferner
die recht häufige C'ombination desselben mit allen nur möglichen Neurosen. Die
Anhänger der Schilddrüsentheorie könnten diese als gleichzeitige toxische Wirkung
der Schilddrüsensecretion auffassen. Unter den determinirenden Ursachen figuriren
Excesse, Ucberanstrengung und Trauma , deren Einfluss die nervöse Theorie als
eine Erschöpfung der Ncrvencentren deutet. Die Schilddrüsentheorie ermangelt
hierfür einer Erklärung, sie müsste denn eine Reizung der excito-secretorischen
Nerven annehmen, also auch hier wieder auf die nervöse Theorie zurückkommen.
Man darf wohl als sicher voraussetzen, dass eine Läsion der Schilddrüse bei
Morbus Basedoxcii constant ist , jedoch bietet dieselbe hier nichts Specifisehes.
Die Hypertrophie der Drüse äussert sich als cystische Neubildung und als eine
Art von hypertrophischer Cirrhose. Im Uebrigen zeige aber die Schilddrüse von
Erwachsenen, die einer chronischen Krankheit erlegen wären, niemals gesunde
Structur. BRISSAÜD hat an zahlreichen Fällen die gleichen Veränderungen wie
die bei den Sectionen von Morbus Basedowt'i gefundenen nachgewiesen. Möglicher-
weise existiren noch andere Veränderungen , wie z. B. die von Renavt (cfr.
unten) behaupteten.
Der Basedow-Syndrom ist bald einfach und autonom, bald zeigt er sich
als die Folge dynamischer und organischer nervöser Zustände, bald endlich leitet
BASEDOWSCHE KRANKHEIT.
57
er eine unbestimmte Reibe von neuropatbischen Zuständen ein. Diese nervösen
Krankheiten sind die Epilepsie, Hysterie, Chlorose, Tabes, Syringomyelie, Sklero-
dermie, Chorea und das Irresein. Wenn diese der BASEDOtv’schen Krankheit
folgen, dann erklärt die Schilddrusentheorie das Zustandekommen durch eine epi-
leptogene u. s. w. Wirkung der Intoxication ; wenn sie aber derselben vorangehen,
dann begnügen sieh die Anhänger derselben mit der Annahme eines zufälligen
Zusammentreffens. Hier lässt die Vergiftungstheorie sie im Stich. Schliesslich
existirt noch eine Gruppe von Zuständen: es sind dies die Fälle von Morbus
Basedomi auf reflectorischer Basis. Hier resultirt der Syndrom aus einer Reizung
der Rdgion bulbo-protubdrantielle (Medulla oblongata) , deren Ausgangspunkt
peripherisch ist. Solche Störung des nncleiiren Centrums ist rein dynamischer
Natur und schliesst die Annahme einer primären SchilddrUsenläsion aus. Dass
aus einer Affection des Bulbus der Basedow-Syndrom , im Besonderen auch Ver
änderungen in der Schilddrüse hervorgehen könuen, haben die Versuche von
Filkhxk und Durdufi gezeigt.
In der Discussion vertrat Prof. RüNAUT-Lyon die Ansicht, dass das nor-
male SchilddrUseuproduct in den die Drüse durchsetzenden Lymphspalten und
Lymphgängen eine Umsetzung erfahre, die in einer Entgiftung bestände. Er
meinte nun weiter, dass bei der BASEixnv’schen Krankheit eine besondere Form
der Thyroiditis vorläge, eine intralobulärc Sklerosis, die die Lymphspalten inner-
halb der Lobuli zum Schwinden bringe. Das Product der inneren Secretion der
Schilddrüse könne daher nicht mehr in die intralobulären Lymphgänge über-
treten, nm hier entgiftet zu werden, sondern entleere sich durch die Venen direct
in’s Blut. Auf diesem Wege gelange das toxische Agens in die Circulation und
äussere seinen Einfluss auf das Nervensystem , im Besonderen auf die Rigion
bulbo protuberantielle des verlängerten Markes. Er stelle sich das Zustandekommen
der primären Affection in der Weise vor, dass irgend ein Primum movens (ner-
vöser, infectiöser, toxischer u. s. w. Einfluss) die bis dahin normal functiouirende
Schilddrüse zur vermehrten Absonderung anrege, diese Hyperthyroidation (func-
tioneile Störung) der Drüse dann weiter eine Entzündung (organische Verände-
rung) hervorrufe, die ihrerseits wieder eine periacinöse Sklerose und so den
Untergang der intralobulären Lymphgänge herbeiführe.
Glky erinnerte an seine Versuche, die lehren, dass die Schilddrüse eine
Substanz secernire , die im Stande ist, gewisse toxische Substanzen, die normaler-
weise im Organismus gebildet werden, zu zerstören. Er hob aber gleichzeitig
hervor, dass Uber die Natur dieser Substanz noch absolute Unklarheit herrsche.
Er meinte ferner, dass die Theorie einer Ilyperthvroidisation zur Zeit noch einer
soliden Basis entbehre; die Injectionen von Schilddrüsensaft hätten bisher noch
nie die Symptome der BASEDOw'schen Krankheit hervorgerufen; hingegen hätten
andere organische Säfte einzelne Erscheinungen wohl herbeigeführt. Er betonte
ferner daran, dass in einzelnen Fällen Sehilddrüseninjectionen die Erscheinungen
der Krankheit verschlimmert hätten, in anderen wiederum gebessert. Ebenso verhalte
es sich mit der chirurgischen Behandlung, die gewisse Kranke günstig beeinflusst,
andere wieder vollständig unbeeinflusst gelassen habe. Mit demselben Rechte wie
eine Hyperthyroidisatiou, so schliesst Gley, könnte man auch eine uugeuügende
Schilddrüsenseerction oder auch die Bildung abnormer toxischer Producte als
Erklärung für die Pathogenese des Morbus Basedowii hcranziehen. Keine dieser
Theorien wäre wirklich begründet. So weit der bekannte Pariser Physiologe.
Weiter berichteten Ballet und Enriqcez über ihre Thierversuche, die
sie über die Wirkung der Hyperthyroidisatiou angestellt haben. Sie constatiren,
dass Einführung von Schilddrüsensaft in gehöriger Menge in den thierischen
Organismus (am deutlichsten mittelst Injection) partiell den Basedow-Syndrom
hervorruft. Besonders interessant wären diese Experimente noch dadurch , dass
sich bei Lebzeiten einigcmale eine Schilddrusenhypertrophie und nach dem Tode
stets histologische Veränderungen der Drüse an den Thieren gezeigt hätten. Diese
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BASEDOWSCHE KRANKHEIT.
letzteren »eien zweierlei Art: einmal constatirte man Veränderungen de« Lymph-
system», wie solche RkxaüT bei Morbus Basedowii angezcigt habe und zum
andern die Substitution eines Granulationsgewebes an Stelle des normalen Drüsen-
gewebes. Die Vortragenden glaubten hierdurch Rexaitt’s Hypothese stützen zu können.
Glky erwiderte hierauf, dass diese Versuche seine vorgetragene Ansicht
nicht ändern könnten.
Ans dem vorstehenden Resumc der Verhandlungen des Congresses in
Bordeaux, ist also ersichtlich , dass auch massgebende französische Autoren nun-
mehr sich auf den gleichen Standpunkt stellen, den ich bereits von Anfang an
und wiederholt vertreten habe , dass nämlich die Basedow 'sehe Krankheit auf
keiner einheitlichen Ursache beruhe, sondern dass verschiedenartige ursächliche
Momente das gleiche Kraukheitsbild hervorrufen können. Zu Gunsten dieser Auf-
fassung sprechen auch die. therapeutischen Krfahrungen der jüngsten Zeit.
AcgiKras und Scanes Spickk berichten über wesentliche Besserung des Basedow-
schen Symptomeucomplexes nach Cauterisation der hypertrophischen Nascnschleim-
haut, respective Wegnahme von Nasenpolypen , PlCQUfi nach Abtragung eines
Uterustibroms, Boi'lLLY nach Salpingektomie, Sternberü ferner constatirte in
einem recht schweren Falle eine recht auffällige Besserung durch Gravidität,
WEISS eine ziemliche und Mabille eine complete Heilung auf die gleiche Weise.
Ich selbst habe im vergangenen Jahre in drei Fällen von BASEDOW’scher Krank-
heit, von denen ich zwei als genuine (nervöse) Form , den dritten als Morbus
Basedowii auf kropfiger Basis ansprechen möchte, einmal durch alleinige An-
wendung des galvanischen und faradischen Stromes zu Hause, das andere Mal
durch das gleiche Verfahren und Combination mit Hydrotherapie (in Königs-
brunn), das dritte Mal durch diese beiden Methoden und einen daran sich an-
schliessenden Aufenthalt unter Höhenklima (Arosa, 1800 M. U. M.) ausgezeichnete
Erfolge, die in zwei dieser Fälle mit Heilung (wenigstens bis jetzt) gleichbedeu-
tend sein dürften , zu verzeichnen, v. Hösslin endlich sah einen schon seit
8 Jahren bestehenden recht schweren Fall hauptsächlich unter Anwendung eines
vegetarianischen Regimes in Heilung übergehen.
Wenn man nun sieht, dass durch so grundverschiedene therapeutische
Verfahren wie die vorstehenden die Erscheinungen des Morbus Basedowii sich
zurückbilden oder sogar in vollständige Heilung übergehen, darf man sich nicht
mehr der Annahme verschliesscn , dass ein einheitliches ätiologisches Moment
demselben nie und nimmer zu Grunde liegen kann, und wird dementsprechend
Bbissaud beipfliebten, der in der Basedow' 'sehen Krankheit nur einen Symptomen-
complex , hervorgerufen durch verschiedene Factoren , erblickt , was in gleicher
Weise bereits für die Epilepsie, Hysterie und andere sogenannte Neurosen für
ausgemacht gilt. Wenn man auf diesem Standpunkte steht, wird man sich auch
erklären können , warum in dem einen Falle die chirurgische Behandlung des
BASEDOw’schen Symptomencomplexes eine mehr oder minder vollkommene Hei-
lung in dem einen Falle herbeigeführt hat, in einem anderen absolut resultatlos
verlaufen ist. Es lassen sich eben alle Fälle von Morbus Basedowii therapeu-
tisch nicht Uber einen Kamm scheren.
Seit Abfassung meines vorjährigen Berichtes habe ich von 14 neuen
operativ behandelten Fällen durch die Literatur Kenntniss erhalten. Dieselben
sind publicirt von Campionniere, Clktis (3 Fälle), Gebster, Haskovec (2), Koch,
Lake, G. Marchaxd, Mc. Cosh, Newton, Peteksox und Tcffier. Von diesen 14
Fällen soll in 7 vollständige Heilung — Campionxiere, Curtis (2 Fälle), HaSkovec
(1 Fall), Lake, Marchaxd, Tcffier — , in 4 Besserung — Gekster, Mc. Cosh,
Newton, Peterson — , in 2 gar kein Erfolg, respective Rückfall — Koch und
HaSkovec — und in 1 tödtlicher Ausgang — Curtis — das Resultat gewesen
sein. Wie weit die geheilten Fälle wirklich Basedow- Fälle waren, lässt sich aus
den mangelhaften Angaben nicht entscheiden. Im Fall Campionxiere handelte es
sich nach Angabe des Autors um einen „goitre exophtalmique seeondaire“ , im
BASEDOWSCHE KRANKHEIT.
59
Falle MarchaND um „ quelques anomalies acec ceux de goitre exophtalmique “ und
im Falle Tiffier um eine hochgradige Trachealstenose als Begleiterscheinung. —
Ich führe diese Fälle besonders an, um zu zeigen, dass das „schablonenhafte“
Operiren bei Morbus Basedowii zu verwerfen ist. Auf den gleichen Standpunkt
dürften augenblicklich auch die meisten Chirurgen zurückgekommen sein. Ai.bkrt
Hkydknreich in Nancy lässt sich in dieser Sache, wie folgt, aus: „Es dürfte
sicherlich übertrieben sein, alle Kranken mit Morbus Basedowii operiren zu
wollen. Man beobachtet Besserungen und Heilungen der Krankheit ohne chirurgi-
schen Eingriff. Auf der anderen Seite ist die Operation nicht ohne Gefahr, und
selbst wenn man von den tödtlich verlaufenen Fällen absieht , besteht die Mög-
lichkeit, dass die Operation keine Besserung bringt. Es erscheint demnach ange-
zeigt, den chirurgischen Eingriff für schwere Fülle zu reserviren, in denen die
medicinische Behandlung kein Resultat erzielt hat. Wenn Jemand der immer fort-
schreitenden Krankheit zu erliegen droht , dann hat man ein Recht , hier die
Gefahren einer Operation auf sich zu nehmen, in der Hoffnung, Heilung oder
wenigstens eine Besserung des Zustandes herbeizuführen. Schliesslich lässt sich
noch unter der Bedingung die Operation rechtfertigen, dass die BASEDOW’sche
Krankheit von einer starken Dyspnoe in Folge von Trachealcompression begleitet
ist.“ In ähnlicher Weise urtheilt Drobxik Uber die operative Behandlung. Er
stellt folgende Fundamentalsätze auf: 1. Die Kropfoperation darf in jenen Fällen
von Morbus Basedowii, welche ihre Entstehung anatomischen Veränderungen im
Gehirn verdanken, nur in Erfüllung einer Jndicatio vitalis ausgeführt werden;
2. dieselbe ist nur in jenen Fällen berechtigt, in denen der ganze Symptomen-
complex auf retlectorischem Wege durch den wachsenden Kropf hervorgerufen
wird; 3. die Art bei der Operation ist von der Natur des Kropfes abhängig; die
Ligatur der Arterien muss für besonders gefüssreicho Kröpfe reservirt bleiben;
4. vor der Operation muss stets genau die Frage in Erwägung gezogen werden,
ob das Svmptomenbild nicht auf retlectorischem Wege von anderen Organen aus,
und zwar von der Nase oder den Genitalien, hervorgerufen wird.
Bezüglich der tödtlichen Chancen der Kropfexstirpation bei Morbus
Basedowii möchte ich noch auf eine Statistik Kocher's hinweisen, die sich auf
870 Exstirpationen bezieht, llmal trat hierunter der Tod ein, und zwar 5mal
nicht auf Kosten der Operation und 6mal in Folge derselben. Unter diesen li
durch den chirurgischen Eingriff bedingten tödtlichen Fällen befanden sich 3
solche von Morbus Basedowii, mithin ein Beweis dafür, dass hier die Excision
ungleich gefährlicher ist als bei der gewöhnlichen Struma. — So viel über die
chirurgische Behandlung der B.ASEDOw’schen Krankheit.
Was für diese hier gesagt ist. gilt in gleicher Weise für die Behand-
lung dieses Leidens mittelst Schilddrüsen präparate. Während auf der einen Seite
eine Reihe Autoren diesem Verfahren günstige Resultate nachrühmen — Aden,
Bograff (3 Fälle), de Cambi, Hock, Mikulicz, Morin, Silex (hier sogar voll-
ständige Heilung), sprechen sich andere Autoren, gleichfalls auf Grund eigener
Erfahrungen, wieder gänzlich ablehnend gegen die Anwendung der Schilddrüse
und ihrer Präparate aus — Costanzo-Gusina (mehrere Fälle), Mc. Cosh, Nasse,
Nielsen, Sänger, Stabel (8 Fälle), Stieglitz (3 Fälle), Taty-Guerin. — In den
günstig beeinflussten Fällen mag es sich, wie schon Rosenbkrg zu dem Falle Hock
bemerkt, um Basedow- Erscheinungen, bedingt durch den Schilddrüsentumor, ge-
handelt haben; mit der Verkleinerung des Kropfes trat dem entsprechend ein Rück-
gang desselben ein. Ccnningham (3 Fälle), Mikulicz und Owen wollen durch Ein-
verleibung von Thymuspräparaten Erfolg gesehen haben. Wie weit derselbe durch
dieses Verfahren bedingt war, bleibt vor der Hand noch unaufgeklärt. Taty-
Gcerix konnten in ihrem Falle nicht den geringsten Einfluss constatiren.
Von sonstigen therapeutischen Methoden wurden neuerdings von v. HöSS-
Lix vegetarische Kost, von Wilson kohlensänrehaltige Kochsalzbäder, von
Madison Taylor das bromwasserstoffsaure Ilyosciu empfohlen.
60
BASEDOWSCHE KRANKHEIT.
Betreffend die Symptomatologie der Krankheit liegen einige neuere
Beobachtungen vor. PAT1CK hat 40 Fälle auf das Vorhandensein des BttYSOx’scheu
Zeichens hin untersucht und constatirt, dass dasselbe bei einer grossen Anzahl
von Kranken vorhanden war, jedoch in keiner Weise für dieses Leiden charak-
teristisch ist und keine besondere Bedeutung für die Prognose, Pathologie, den
Sitz oder die Therapie desselben besitzt.
v. Hosslin führt als neue oder wenigstens in der Literatur nur vorüber-
gehend berücksichtigte Begleiterscheinungen der BAsEDOw’schen Krankheit an :
1. Rhythmische Schwankungen der Pulsfrequenz (die Frequenz des
Morgenpulses Ubertriflt die des Abendpulses umsomehr, je höher die letztere war).
2. Paroxymale Tachykardie und deren Ablauf.
3. Schwankungen der Herzgrösse und des Lumens der Ilerzosticu.
4. Beziehung zwischen Grösse der Struma und den paroxysmalen tachy-
k .irdischen Anfällen (je schwerer und andauernder der tacbykardische Anfall
war, umso kleiner wurde die Struma).
ö. Leucoplasia linguae und Abhängigkeit ihrer Intensität von der
Schwere der BASKoow’schen Kraukheit.
Thkilhabek hat sich in ausführlicher Weise mit den Beziehungen zwi-
schen BASKDOw’scher Krankheit und den Veränderungen der weiblichen Geschlechts-
organe beschäftigt. Auf Grund eigener Beobachtungen und der in der Literatur
veröffentlichten Fälle fasst er seine Anschauungen dahin zusammen, dass solche
Beziehungen allerdings bestehen. Fs kann 1. bei besonders hierzu disponirteu In-
dividuen sich Morbus Basedowii entwickeln in Folge von manchen Veränderungen
im weiblichen Genitalsystem, als da sind a) die Schwangerschaft, b) das Puer-
perium, c) die Lactation, d) alle diejenigen Anomalien, die zu starken Blutver-
lusten führen, e) operative Eingriffe, vor Allem die Castration, und 2. ruft der
Morbus Basedowii nicht selten Störungen in den weiblichen Gcschlcchtstheilen
hervor, nämlich Atrophie des gesammten Gcnitalapparates oder auch nur einzelner
Theile desselben.
Für das Verhalten des Arztes bei Morbus Basedowii giebt Theilhaber
folgende Gesichtspunkte an :
Mädchen mit Morbus Basedowii ist die Ehe zu widerrathen; auch Ver-
heiratete sind vor Schwangerschaft möglichst zu warnen. — Die von Häberlin
ventilirte Frage der Zweckmässigkeit der Unterbrechung der Gravidität ist im
Allgemeinen zu verneinen ; Berechtigung hätte dieser Vorschlag nur bei Bedro-
hung des Lebens in Folge von besonderer Schwere der Krankheit. Patientinnen,
in deren Familie Morbus Basedowii vorgekomir.en ist , oder die sonst ncuro-
pathisrh belastet sind, ist das langdauernde Stillen zu widerrathen. Die Atrophie
der Genitalien, die Amenorrhoe, die Endometritis, Reflexio etc. sollten local nicht
behandelt werden ; geboten wäre eine solche locale Behandlung nur bei häufigen
profusen Blutungen, Carcinom, Ovarialtumoren etc.
Einen Beitrag zur Frage nach den atypischen Formen des Morbus
Basedowii (forme fruste) giebt Maybach. — Die Casuistik bereichern durch
eine Reihe selbst beobachteter Fälle Ditisheim und Pässlkb. — Baldwin be-
richtet von 4 Fällen, in denen sich nach Ablauf eines Morbus Basednwii die
Erscheinungen eines Myxödems einslellten, Babinsky über zwei ähnliche Fälle, in
denen beide Krankheiten gleichzeitig bestanden. Mattox ferner sah in einem
Falle Coincidenz von hypertrophischer Lebercirrhose und Morbus Basedowii und
meint, dass die Ursache für letztere Krankheit in einem cirrhotischem Processe
der Schilddrüse zu suchen sei. Trenel berichtet Uber das gleichzeitige Auftreten
von Tabes, allgemeiner Paralyse und Morbus Basedowii.
Auf Grund einer umfangreichen 30jährigen Erfahrung unternimmt es
Pribram, die Prognose der BAsKnow’sehcn Krankheit möglichst günstiger hinzu-
stelleu , als es die Lehrbücher im Allgemeinen tbun. Er hat in seiner Clientei
ausserhalb des Krankenhauses die Erfahrung gemacht , dass bei der grossen
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BASEDOWSCHE KRANKHEIT.
01
Mehrzahl dieser Fälle, selbst bei sehr schweren, von bereits jahrelangem Bestehen,
eine dauernde Rückbildung der Cardinalsymptome eintrat, und will demgemäss die
Prognose nicht so sehr von der Schwere der vorhandenen primären und secun-
dären Krankheitserscheinungen, als vielmehr von dem Masse und der Dauer der
Sorgfalt und der Pflege abhängig machen, welche dem Kranken entgegengebracht
wird. Und dies mit vollem Recht! Von completer Heilung möchte PftlBRAM hierhei
jedoch nicht sprechen, wohl aber von hochgradigen Besserungen, die den Er-
folgen bei operativem Verfahren gleich kommen. Er glaubt daher, „dass mau
dem Procentsatz der durch Operation erzielten Besserungen und Genesungen den
Procentsatz bei längerer und sorgfältiger Pflege ohne Operation dauernd Genesener
und die geriuge Sterbeziffer solcher Fälle vergleichend entgegenstellen müsse,
wenn man daran geht, die Indication der Operation zu erwägen . . . , dass man
bei der Auswahl der einer versuchsweisen Operation zu unterziehenden Fälle jene
ausscheiden müsse, bei denen keine oder nur eine geringe parenchymatöse Schild*
drüsenvergrösscrung vorhanden ist, dann jene, bei denen schwere hereditäre
neuropathische Belastung, schwere Betheiligung des Herzens mit secundären, sehr
schweren Erscheinungen der Hcrzinsufficienz vorhanden ist: endlich jene, bei
denen die Umstände eine sorgfältige und anhaltende hygienische Behandlung ge-
statten*4. Den gleichen Standpunkt wie PftlBRAM vertritt auf Grund eigener Beob-
achtungen auch v. Hösslix.
„Wenn wir sehen, dass auch die schwersten Symptome des Morbus
Basrdowii sich spontan völlig zurückbildcn können , dass manchmal auch ohne
jeden therapeutischen Eingriff eine rapide Besserung eintritt, so fragt es sich,
ob wir der in letzter Zeit so gerühmten Thyreoidektomie einen anderen Werth
heimessen dürfen als der Ovariektomie und manchen anderen Operationen hei
der Hysterie. Die Baskdow’scIic Krankheit hat ungeheuer viel Gemeinschaftliches
mit der Hysterie; wenn sie auch gewiss als eine Neurose sui generis anzusehen
ist und es ganz falsch wäre, sie mit der Hysterie in einen Topf zu werfen, so
müssen wir uns doch in der Kritik therapeutischer Erfolge hei den beiden Krank-
heiten gleich skeptisch verhalten.“
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Bismal, Wismut h salzderMethyl endi ga Ilussä ure, 4 C,6H|, O]0 +
+ 3 Bi (OH),. Aus Methylendig&llussäure, einem Condensationsproduct aus Gallus-
säure, und Formaldchyd ('s. Tannoform) hat E. Merck durch Digestion
während längerer Zeit mit frisch gefülltem Wismuthhydroxyd und bei gelinder
Wärme das Salz der obigen Zusammensetzung hergestellt. Dieses Wismuthsalz,
das Bismal, ist ein graublaues, sehr voluminöses Pulver, welches von Alkalien
mit gelbrother Farbe aufgenommen und aus diesen Lösungen durch Säuren wieder
ausgefällt wird.
0 EKELE empfiehlt es als Adstringens besonders bei langwierigen Diarrhoen,
die auf Opiate entweder gar nicht oder nur vorübergehend stillhar sind , z. B.
bei Tuberkulose. Er gab es in Einzeldosen von 0,1 — 0,3 Grm., 3 — 4mal täglich
1 Pulver zu nehmen.
Literatur: E. Merck, Bericht über das Jahr 1895. Loebisch.
Blausäure. Für die antidotarische Behandlung der Blausäure-
vergiftung liegen zwei neue Vorschläge vor, die beide nicht blos die Unschäd-
lichmachung des Giftes in den ersten Wegen, sondern auch die Entgiftung des
Organismus nach der Resorption in's Auge fassen. Der eine dieser Vorschläge be-
zweckt eine Entgiftung in der Weise, wie die Entgiftung bei kleinen Dosen Blausäure
im Organismus geschieht, in welchem das Eiweiss vermittelst seines Sulfidschwefels
aus Cyanverbindnngen Thiocvansänre bildet, und setzt an Stelle des nur allmälig
und zu langsam antidotarisch wirkenden Eiweiss das Natriumthiosulfat, das,
wie das seiner eigenen intensiv giftigen Wirkung wegen als Antidot nicht brauch-
bare Schwefelnatrium, im Blute vorhandene Blaugäure bis zu einem gewissen
Grade unschädlich zu machen im Stande ist. Versuche, das Natriumthiosulfat
durch organische Schwefelverbindungen (Methylmercaptan, Aethylsulfid, xanthogen-
saures Natrium, thioglykolsaures Natrium, carbaminthioglykolsaures Natrium,
Schwefelkörper des Spargels) zu ersetzen, haben zu negativen Resultaten geführt.
Eine gewisse, aber dem Natriumthiosulfat durchaus nicht gleichkommende anti-
dotarische Wirksamkeit kommt dem Cystin und Cysteln zu.
Am besten zeigt sich der antidotarische Effect des Natriumthiosulfats,
wenn die Blausäure innerlich und das Antidot subcutan oder intravenös beige-
bracht wird, wo es gelingt, bei Kaninchen die 3 — 4 fache Menge, intravenös sogar
die 5fache Menge der bei interner Einführung constant letalen Dosis unschädlich
zu machen. Etwas weniger günstig stellen sich die Resultate bei subcutaner Ein-
führung der Blaugäure und intravenöser Application von Natriumthiosulfatlösung,
wo es gelingt, der 2 — 3fachen letalen Dosis Herr zu werden. Bei gleichzeitiger
subcutaner Einführung von Gift und Gegengift ist ein Erfolg nicht zu consta-
tiren, da das Thiosulfat weit langsamer als die Blausäure resorbirt wird ; da-
gegen gelingt Lebeusrettung bei einfach letaler Dosis, w-enn man das Thiosulfat
etwas vor der Einführung der Blausäure unter die Haut spritzt. Bei gleichzeitiger
Einführung von Gift und Gegengift in den Magen kann die l1,» fache letale
Menge unschädlich gemacht werden.
Schon vor der Befürwortung des Natriumthiosulfats durch Lang >) sind
von Antal die Kobaltsalze, insbesondere das Kobaltnitrat 2) als Antidot empfohlen
worden , um die Blausäure im Blute in uugiftiges Kobaltcyanid oder Kobalt-
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tu
BLAUSÄURE. — BROMHAMOL UND JODHAMOL.
cyankalinm überzuftlhren. Für die Bedeutung dieses Antidots sprechen nicht nur
die Versuche Axtal’s, sondern auch die von Lang ausgefübrtcn Controlversuche.
Bei der gleichzeitigen Einführung von Gift und Gegengift in den Magen scheinen
sogar die Kobaltsalze vermöge grösserer Schnelligkeit der Wechselzersetzung von
Cyankalium und Kobaltnitrat dem Natriumthiosulfat überlegen zu sein, insofern
es bei Anwendung stark diluirter Lösungen, die einen gründlicheren Contact von
Gift und Gegengift ermöglichen, die 2 — 2'/,fache Menge Blausäure zu überwinden
gelang. Für subcutane und intravenöse Application eignet sich aber Natriumthio-
sulfat besser, da weit grössere Mengen in das Blut gebracht werden können,
da die Giftigkeit dieses nicht höher als die der indifferenten Salze überhaupt ist
und bei Thieren subcutan 2,9 und intravenös 1,3 Grm. pro Kilo keine Zeichen
von Unwohlsein hervorrufen , während von Kobaltsalzen schon 0,3 — 0,6 Grm.
pro Kilo in 1“ 0iger Lösung den Tod herbeifuhren. Dass die von Antai. befür-
wortete ’/iVoige Lösung absolut ungiftig sein soll , ist kaum als richtig anzu-
sehen. Wohl zu beherzigen dürfte deshalb der LANG’sche Vorschlag sein . in
Laboratorien, Ateliers und Werkstätten, wo mit Cyankalium hantirt wird, 5 bis
10° „ige Natriumthiosulfatlösung nebst einer I’RAVAZ'schen Spritze für vorkom-
mende Gefahr vorräthig halten zu lassen. Jedenfalls wird man aber wohl tliun,
die interne und die subcutane Anwendung miteinander zu verbinden. Der Grund
der Entgiftung durch Natriumthiosulfat bei Blausäurevergiftung ist übrigens nicht
als ein ausschliesslich chemischer zu betrachten, da Mischungen letaler Giftmeugen
mit Thiosulfat keineswegs ungiftig werden. ObBchon nascirender Sauerstoff ausser-
halb des Organismus, z. B. bei Gemengen mit Wasserstoffsuperoxyd, die Rhodan-
bildung wesentlich beschleunigt und frisches Lebergewebe (dagegen nicht Blut)
in dem gleichen Sinne wirkt, müssen im Organismus noch andere Functionen im
Spiele sein. Denn einerseits begünstigen ausserhalb des Körpers auch einzelne
Stoffe, bei denen es sich nicht um Sauerstoffübertragung handelt, z. B. Magnesium-
sulfat und Calciumchlorid , die Rhodanbildung, und andererseits wird im Orga-
nismus mehr Blausäure entgiftet, als bei fortdauernder Zuleitung von Sauerstoff
bei 40° im Reagenzglase unwirksam gemacht wird.
Literatur: S. Lang. Studien über Entgiftungstherapie. Ueber Entgiftung der
Blausäure. Aus dem pharmakol. Institute der deutschen Universität in Prag. Arch. f. ciperim.
Rath. 1895, XXXVI, pag. 75. — 3) I. Antal, Kobaltnitrat, ein Gegengift bei Cyanvergiftung.
Pharm. Ztg. f. Russland 1894, pag. 518. Husemann.
Boral, Aluminium borico-t artaricum , ein von M. Leuchter für
Afrika dargestelltes Aluminiumpräparat, welches den Aequafor passiren kann und
haltbar bleibt. Es ist wasserlöslich und wurde von P. Koppel zur desinficirenden
Ausspülung bei eiternden Mittelohrerkrankungen und als 10°/0ige reizlose Salbe
bei Ekzemen des Gehörganges empfohlen.
Literatur: M. Leuchter, Vortrag in der 66. Versammlung deutscher Natur-
forscher und Aerzte in Wien 1894. — P. Koppel, Therap. Mnnatsb. November 1895
Loe bisch.
Borol, ein Gemisch von Borsäure und Natriumbisulfat. — r.
Bromhämol und Jodhämol. Das Hämoglobin vermag sich nach
Koiiert mit verschiedenen Elementen zu eigenartigen Substanzen zu verbinden,
welche physikalisch und chemisch in ihren Eigenschaften vom Blutfarbstoff ab-
weichen. Solche Substanzen sind auch Jodhämol und Bromhämol. Bringt man
freies Jod, in Alkohol gelöst, tropfenweis mit einer wässerigen Lösung von Hämo-
globin oder von Blut, z. B. vom Rind, dessen Stromata man entfernt hat, zu-
sammen, so wird Jodhämol ausgefällt und darüber bildet sich eine fast farblose
Flüssigkeit. Das unter dem Namen Iiaemolum jodatum von E. Merck in den
Handel gebrachte, aus Rinderblut dargestellte Präparat enthält 16,6°/„ Jod, wo-
von die weitaus grösste Menge chemisch fest gebunden ist. Dieses Jodhämol ist ein
braunes Pulver, welches den Magen zum grössten Theile ungelöst durchwandert,
BROM H AMOL UND JODHÄMOL. — BRYONIN.
65
um erst im Dünndarm zur Lösung- und Resorption zu kommen. Das Präparat ent-
faltet alle Wirkungen des Jodkalium in bedeutendem Grade und verdient An-
wendung bei tertiärer Syphilis, bei Scrophulose, bei chronischer Blcivergiftnug, bei
Asthma, Psoriasis etc. Die Darreichung erfolgt am besten in Pillen nach folgendem
Recept :
Rp. Haemoli jodati 10,0
Succi Liquiritiae depnrati q. sat. ut fiant
lege artis pilnlae Nr. 100.
D. S. 3mal täglich 2 — 3 Stück während des
Essens zu nehmen.
Der Vorzug des Präparates vor dem Jodkalium besteht zunächst darin,
dass nicht der grösste Tbeil der eingegebenen Dose rasch durch den Harn den
Körper wieder verlässt, sondern erst aus seiner Eiweisgbindung abgespalten werden
muss, ehe eine Ausscheidung möglich ist. Dadurch wird die Wirkung zwar nicht
intensiver, aber extensiver. Weiter hat das Präparat bei Scrophulose den Vor-
theil, eine Combination von Jod und Eisen vorzustellen, welche weit resorbirbarer
ist als die gewöhnlichen Jodeisenpräparate, und die Verdauungsorgane weniger
als diese belästigt. Ausgedehnte klinische Versuche liegen bis jetzt noch nicht
vor, sind aber im Interesse der Sache erwünscht.
Ganz analog wie Jodhämol lässt sich nun auch ein Bromhämol her-
steilen, wenn man wässerige Lösungen von Riuderblnt, aus denen die Stromata
entfernt worden sind, mit Bromwasser fällt. Während jedoch die Jodfällung stets
einen sehr reichlichen Jodgehalt aufweist, ist der Gehalt der Bromfällung an Brom
ein sehr geringer. In Folge dessen ist das Präparat zur Behandlung der Epilepsie,
wo grosse Bromdosen erforderlich sind , ganz unbrauchbar. Wo jedoch kleine
Dosen von Brom längere Zeit hindurch neben einer allgemein tonisirenden Be-
handlung erwünscht sind, da kommt das Bromhämol wohl in Betracht. Es wird
von E. Mekck unter dem Namen Haemolum bromatum in den Handel gebracht
und istanalog dem Jodhämol zu verordnen. Eine klinischo Prüfung dieses Präparates
ist in der Nervenklinik des Dr. Holst in Riga vorgenommen worden. Der Bericht
darüber ist im Ccntralbl. f. Nervenhk. u. Psych., 1896, Nr. 3, soeben erschienen.
Robert.
Bryonin, c48 Hao 0, , ein in der Wurzel von Bryonia alba neben
Bryonidin vorkommendes Glykosid. Gelbliches, stark bitter schmeckendes, amorphes
Pulver, das sieh in Wasser und Weingeist leicht löst. Das leicht zersctzliche
Präparat ist unter Luftabschluss an einem trockencu Orte aufzubewahren. Nach
J. M. Shallee wirkt Bryonin stark reizend auf die Magendarmschh-imhaut ; es
wirkt daher als energisches Catharticum, welches überdies auch noch die Harn-
secretion steigert. Er empfiehlt es in allen Fällen von Wassersucht und Con-
gestivzuständen der Leber, insbesondere aber bei chronischen Entzüudungszuständen
der serösen Membranen und den davon abhängigen Schmerzen. Man verordnet
das Mittel zweckmässig in Form von Grauulis, deren jedes 1 Mgrm. llryouin
enthält, und lässt davon alle 2 Stunden 1 Stück nehmen, bis ausreichende Stuhl-
entlcerung eingetreten ist, später reicht man 2 — 3mal täglich 1 Stück. Bei kräftigen,
an habitueller Verstopfung leidenden Patienten können diese Gaben um 1 oder
2 Stück erhöht, bei schwächlichen Kranken entsprechend vermindert werden.
Literatur: J. M. Shaller, The Alkaloid. 1894, I, pag. 155; Amer. Med. Surg.
Bull. 1895, pag. 36. — E. Merck, Bericht über das Jahr 1895- Loebiach.
5
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Eucyctop. Jahrbücher VI.
Canadinum hydrochloricum, c,0h„ no4.hci. Da» Alkaloid Canadin
kommt neben dem Berberin und Hydrastinin in der Wurzel von Hydrastis
Canadensis vor. Das salzsaure Salz bildet farblose, mit der Zeit sich gelb
färbende und in Wasser schwer lösliche Krystalle. Nach den Untersuchungen von
Kuno v. Bl'NGE bewirken grosse Dosen von Canadin bei Warmblütern anfangs
psychische und motorische Reizerscheinungen, denen bald Lähmungserscheinungen
folgen , ferner ruft es heftige Darmbewegungen hervor und erzeugt Durchfall.
Der Blutdruck wird durch Canadin im Gegensatz zu Hydrastinin nicht beeinflusst ;
auch auf den Uterus übt Canadin keinen Einfluss aus, wohl aber wirkt es giftig
auf die Föten, die hierdurch zu heftigen Bewegungen veranlasst werden, während
die Uteruswand an sich völlig unbeweglich bleibt. Auf das Herz wirken kleine
Dosen nicht typisch ein, grössere bewirken Arhythmie der Herzbewegungen. Am
Menschen wurde das Alkaloid noch nicht versucht.
Literatnr: E. Schmidt, Pharm. Ccntralh. 1891, pag. 607. — Kuno v. Bunge,
Arbeiten des pharmakologischen Instituts zu Dorpat. 1895, Heft 11 und lü. Loebisch
Cantharidin zur innerlichen Darreichung empfiehlt neuerdings
Freuue.vberg bei cystischen Beschwerden gonorrhoischen Ursprunges zur ver-
suchsweisen Anwendung. Von 56 Fällen kamen 32 zur völligen Heilung. Es
wurde in folgender Weise gegeben: Cantharidin (Merck) O'OOl, Alkohol ad
solvend. 10, Aq. d. ad lOO'O, 3 — 4mal täglich 1 Tbeclöffel. Tritt nicht in den
ersten 3 — 4 Tagen deutliche Besserung ein, so gebe man das Mittel nicht weiter,
ln diesen Dosen treten geschlechtliche Erregungen, Albuminurie nicht auf; als
Nebenwirkungen wurden nur je einmal Hautjucken, masern förmiges Exanthem
und vorübergehende Rückenschmerzen beobachtet. Ausgeschlossen ist Cantharidin
nur in jenen Fällen, wo überhaupt von inneren Mitteln nichts zu erwarten ist,
also z. B. bei älterem Residualharn. Das Mittel ist sehr billig. Gennaeo Pkt-
teki'TI bat unter 3 Fällen sicher nachgewiesener Lungentuberkulose durch
Injectionon mit der LlKBttEICH’schen Lösung von cantharidinsaurem Kali bei
zweien eine völlige Heilung, beim dritten erhebliche Besserung erzielt. Die Be-
obachtung erstreckte sich auf 3 Jahre. Albuminurie trat nie auf, Urobilin-Aus-
scheidung in grösserer Menge bei den ersten 5 Injectionen. 0. Liebreich be-
richtet über neuere günstige Erfahrungen, die er mit dem Cantharidin bei
Lupus und Tuberkulose gemacht hat. Diese Erfolge bestätigen seine Theorie
des Nosoparasitismus , welche für die Entstehung des Tuberkelbacillus und die
durch ihn entstehende Schädigung schon das Bestehen einer Erkrankung voraus-
setzt. Beim wahren Parasitismus kann die Zelle schon allein durch Vernichtung
des Parasiten gesunden. Bei Nosoparasitismus reicht die Abschwächung oder
Tödtuug des betreffenden Parasiten keineswegs zur Heilung hin; diese ist nur
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CANTHARIDIN. - CARBOLSÄUREVERGIFTUNG.
67
möglich, wenn die Lebensthätigkeit der Zelle gehoben wird. Bei Lupus und der
Kelilkopfluberkulosc tritt eine sichen? Besserung ein. So wurde ein kleiner Lupus
vuly. durch 42 Dosen (zusammen = 8‘38 Mgrm.) ohne Narbenbildung geheilt. Die
Nieren zeigten sich bei einem hochgradig phthisiseben Mädchen mit Lupus, welche
Canthnridin während 2'/s Jahre erhalten hatte, bei der Section nach genauesten
Untersuchungen (Hanskmann) normal. Doch muss genau beobachtet und bei Nieren-
reizungen das Mittel ausgesetzt werden. Auch bei Sklerodermie und IStyriasis
rubra pilaris sah er gute Erfolge. Liebreich wendet das Canthnridin in letzterer
Zeit nicht mehr in Form von subcutnncn Injectionen an, sondern per os. Die zu
innerlichem Gebrauch bestimmte Lösung wird folgeudermassen hergestellt: Man
löse genau gewogenes 0'1 Grm. Cant/iaridtnum crystallisatum in 500 Ccm.
Tinctura Aurantii corticis. Man verfährt am besten so, dass man zuerst 0-l Grm.
in 300 Ccm. der Tinctur bei massiger Wärme in einem * s Literkolben auflöst
und nach dem Abkuhlen auf */3 Liter auffüllt. Die Lösung wird, wenn der
Alkoholgehalt der Tinctur richtig ist, vollkommen klar. Die Lösung darf den
Patienten nicht selher in die Hand gegeben werden. Zum Gebrauch werden je
nach dem Falle — '/t — 1 Ccm. der Lösung aus einer Pravazspritze gemessen
in ein kleines Glas Wasser gegossen, das etwa 20 — 30 Ccm. Wasser enthält. Die
opatescirende Lösung hat einen angenehmen Geschmack, man lässt die Patienten
etwas Wasser nachtrinken und einen Bissen Brot nachessen.
Literatur: A. Freudenberg, C'antharidin bei cystischen Beschwerden. Wiener
klin. Wochenschr. 1895, Nr. 23. — G. Petteruti, Drei Fälle von Lungentuberkulose durch
Anwendung von cantbaridinsanrem Kali geheilt. Therap. Monatsk. 1895, pag. 57. — O. Lieb-
reich. Uelier Lnpusheilung durch Cantharidin und über Tuberkulose. Ibid. 1895, pag. 167
und pag. 199. Loebisch.
Carboisäurevergiftung. Wie leicht selbst bedeutungsvolle Thatsachen
vergessen werden, lehrt das in neuester Zeit mehrfach wiederkehrende Vorkommen
von Vergiftungen durch die Application von grösseren Mengen Carbolsäure auf
die Haut. Schon 1868 wurden die ersten Fälle dieser Art, davon zwei mit tödt-
lichem Ausgange, in einem englischen Arheitshause beobachtet, wo drei krätz-
kranke Frauenzimmer aus Versehen mit Carbolsäure eingerieben waren. Dass
tüdtliehe Wirkung auch cintreten kann , wenn nicht die ganze Körperoberfläche,
sondern eine cireumscriptc Stelle in Contact mit der Carbolsäure kommt, hat ein
im Ernst August-Hospitale vorgekommener Fall erwiesen, in welchem der Tod
nach Application anf die Kopfhaut erfolgte. Versuche an Thieren, die gleich-
zeitig von Th. Hlsemaxn und von F. Hoppe-Seylek ausgeführt wurden, zeigten,
dass die Carbolsäure auch durch völlig intacte, von jeder Excoriation freie Haut
hindurchdringt. Diese Thatsache findet neuerdings ihre Bestätigung durch das
Vorkommen von Vergiftungen, die nach Application von 5°/0iger Carbolsäure-
lösung vor Operationen in der unmittelbaren Nähe des Operationsfeldes aus
Gty’s Hospital berichtet werden. ') In mehreren Fällen beschränkten sich die
Erscheinungen auf Kopfweh und Ucbelkeit, und später gab der olivenfarbene
Harn von der Resorption der Carbolsäure sichere Kunde; in zwei Füllen kam
es zu Collaps und 4 — Bstündigem Koma mit stertoröser Respiration und starker
ßchleimabsonderung im Pharynx, profusem Schweisse, äusserst rapidem Pulse
und massiger Contraction der Pupille. Dass die zartere Epidermis bei Kindern
zu derartigen Vergiftungen prüdisponirt, ist selbstverständlich. Wohlerklärlich ist
daher das Auftreten von Collaps bei Kindern nach blosser Reinigung der Kopf-
haut nntcr Anwendung von Carboisäurelösungen. *)
Symptomatologie!) interessant ist das bis jetzt ganz 18011)4 beobachtete
Abstossen der ganzen Oesophagusscbleimhaut hei einem mit einer unbe-
stimmten Menge Carbolsäure vergifteten Kinde, wobei die mikroskopische Unter-
suchung ergab, dass nur die Zellen der oberflächlichen Schleimhautschichten der
Coagulationsnekrose verfallen waren. Erscheinungen von Stenose der Speiseröhre
traten nicht darnach ein. *1
68 CARBOLSÄüREVERGIFTUNG.
Vielfach beobachtet sind in allernenester Zeit Pneumonien nach
interner Csrbolintoxication. Ob die Carbolsäure daran direct oder indirect
schuld ist, kann noch nicht als entschieden betrachtet werden. Möglicherweise
spielten dabei die Verunreinigungen der bei der Vergiftung meist genommenen
unreinen Carbolsäure eine Rolle ; wenigstens kommen bei Vergiftung von Thieren
mit subcutan applicirter, völlig reiner Carbolsäure Pneumonien nicht vor, während
rohe Carbolsäure oft, noch häufiger aber Kreosot aus Bucbenholztheer und Stein-
kohlenthcer Lungenentzündung im Gefolge haben. In manchen Fällen wird man
diese bestimmt als Folge von Aspiration, bei Einführung oder Regurgitation, an-
zusehen haben, besonders da, wo auch Larynx und Trachea Zeichen von Corrosion
oder intensiver Entzündung geben. Die Ansicht, dass es bei solchen Pneumonien
sich um Eliminationswirkungen handle, ist zwar nicht ganz von der Hand zu
weisen, aber bei der geringen Quote der Phenolausscheidung, die auf die Lungen
fällt, ziemlich unwahrscheinlich. Wie die neuesten Versuche von Wacholz *)
lehren, kann subcutan injicirtes Phenol im condensirten Dampfe der exspirirten
Luft nicht nachgewiesen werden. In den Luftwegen kann allerdings Phenol,
jedoch nur mit Millon’S Reagens, nicht mit NHa und Chlorkalklösung nachge-
w-iesen werden. Handelt es sich Überall um Intoxication mit unreiner Carbol-
säure, so ist die Annahme von Silbrkxann *), dass es sich um embolische Pneu-
monien handle, nicht abzuweisen, da z. B. Kreosotvergiftung bei Thieren sehr
häufig embolische Lungenentzündungen setzt. Als Ursache der Thrombose , die
Silbermann in einem Falle auch in den Nieren constatirte, wird eine in auf-
fälliger Zerfiiesslichkeit der weissen und Schrumpfung der rothen Blutkörperchen
bestehende Alteration des Blutes angesehen.
Dass der antidotarische Werth der in die Behandlung der Carboisäure-
vergiftung zuerst durch Bacmaxn eingeführten Entgiftung durch Einführung
von Sulfaten höchst problematisch ist, und dass weder die Erfahrungen am
Krankenbette, noch die damit angestellten Thierversuche irgend welche Gewähr
für einen reellen Nutzen dieser Bchandlungsweise und insbesondere für die Er-
reichung des bei ihrer Verwendung vorschwebenden Zieles , die Carbolsäure im
Blute mit Schwefelsäure zu paaren und als Phenolätherschwefelsäure rascher zur
Elimination zu bringen, kann dem mit der Literatur der Carboivergiftung Vertrauten
keinen Augenblick zweifelhaft sein. *) Da bei schweren Intoxicationen im Harne
der Vergifteten häufig in den ersten Stunden mehrere Gramm Carbolsäure er-
scheinen und die dabei in 24 Stunden ansgeschiedene Carbolsäure selbst über
7 Grm. betragen kann, würde von der Möglichkeit einer entgiftenden Wirkung
nur dann die Rede sein können , wenn erhebliche Mengen der als Antidot ver-
wendeten Sulfate in das Blut gelangten, was selbstverständlich nicht der Fall
bei interner Einführung sein würde, wo die Mittel höchstens durch Erregung von
Diarrhoe und rascher Fortschaffung im Darme befindlicher Giftreste günstig
wirken könnten. Die Stabilität der Verbindungen der Schwefelsäure mit Kalium
oder Natrium ist aber so gross, dass man das Zustandekommen einer Abspaltung
von Schwefelsäure im Blute a priori in Zweifel zu ziehen berechtigt ist, weshalb
auch die subcutane Verwendung keine Aussicht auf Erfolg hat. In der That
geben in dieser Richtung ausgeführte Versuche an Thieren negative Resultate.
Besseren Erfolg scheint die subcutane oder intravenöse Application des aller-
dings weniger stabilen Ammoniumsulfats zu haben, da bei Hunden bei unmittel-
barer Nachspritzung von schwefelBaurem Ammonium die Lebensrettung noch
gelingt, wenn fast die doppelt letale Dosis Carbolsäure (0,57 Grm. per Kilo statt
der minimal letalen Dosis von 0,35) gegeben wird. Es ist indes« auch bei Ver-
wendung dieses Antidots nach Massgabe der sehr exacten Versuche Marfoki’s 7)
nicht möglich, die Carbolsäure mit Schwefelsäure zu binden, da in tödtlich ver-
laufenen Fällen nur ein Viertel, in günstig verlaufenen höchstens die Hälfte der
eingeführten Carbolsäure als Phenolschwefelsäureäther den Körper verlässt. Es
wird also bei Vergiftung durch grössere Mengen immer noch so viel freie Carbol-
CARBOLSÄÜREVERGIFTLNG. — CARNIFERR1N.
C9
säure im Körper bleiben, um schwere und selbst tfldtliche Effecte herbeizuführen.
An den günstigen Effecten des Ammouiumsulfats ist deshalb wahrscheinlich nicht
die Bildung des Phenols schuld, sondern die excitirende Wirkung des Ammoniaks,
das ja auch in verschiedenen Formen *) bei Carbolismus acutus empfohlen worden
ist, aber bestimmt keinen Vorzug von den allgemein gebräuchlichen Aetherinjec-
tionen besitzt.
Die Versuche über Schwcfelammonium als Antidot der Carbolsäure haben
aber deshalb noch weniger Werth, weil die angegebene Maximaldosis offenbar zu
niedrig ist. Noch weniger praktische Bedeutung für die Behandlung der Carbol-
vergiftung hat die von Talber s) ermittelte Tbatsache , dass einzelne schweflig-
saure Verbindungen, besonders Natriumsulfit und Natriumaldehydsulfit,
im Stande sind , Phenol im Blut in Phenolsulfosäure Uberzuführen und dadurch
bis zu einem gewissen Grade antidotarisch zu wirken. Der Vorgang erscheint
hier als eine durch Oxydation vermittelte Synthese , doch gelang es nicht , aus
einer Phenol und Sulfit enthaltenden Lösung durch das oxydative Ferment der
Gewebe oder durch chemische Oxydation Phenolsulfosäure darzustellen. Der anti-
dotarische Effect in Versuchen an Kaninchen war aber geringer als der von
Marfori bei Hunden erhaltene, insoferne nur 10 — 20% der resorbirten Carbol-
säure unwirksam gemacht wurden und durch intravenöse Einführung des Antidots
zwar wohl bei absolut letaler Dosis (0,55) , nicht aber bei einer diese um ein
Geringes übersteigenden Gabe (0,65) Lebensrettung erzielt werden konnte. Bei
interner Darreichung blieben die Antidote gerade erfolglos. Natriumsulfit schien
rascher, Natriumaldebydsulfit zwar langsamer, aber dauernder zu wirken; Com-
hination beider Stoffe gab keine besseren Resultate. Den wesentlichsten Einwand
gegen diese beiden Antidote bildet ihre Giftigkeit, «lie namentlich bei intravenöser
Application schon bei so geringen Mengen sich äussert, dass die zur Bindung
erheblicher Mengen Phenol erforderlichen Mengen nicht ohne Lebensgefahr gegeben
werden können.
Ganz verwerflich ist Natriumpyrosulfit, das zwar bei Thieren rasch die typi-
schen Phenolerscheinungen zum Schwinden bringt, aber sehr rasch zu centraler Lähmung und
unter heftigen Krämpfen, Mydriasis und Exophthalmus erfolgendem Tode führt. Erfolglos sind
nach Tauber's Versuchen ausser Natriumsulfat auch Natriumäthylsulfat, Natriumpyroeulfat,
Natrinmdithionat und Natriumthiosulfat.
Sicher wird man auch nach den neuesten Untersuchungen wohl thun,
hei der Behandlung des Carbolismus acutus von der Entgiftung im Blute vorder-
hand Abstand zu nehmen und sich auf ausgiebige MagenausspUlung , die in
schweren Fällen mit Darmausspülung zu combiniren ist, Bindung etwaiger
Reste mit Zuckerkalk und Bekämpfung des Collaps mit Aetherinjcctionen zu
beschränken.
Literatur: *)R. deinen t Lu ca s und W. Arhuth noth La ne, Two cascs of car-
bolic arid induced by carbolic comprcsses. Lautet. 1. Juni 1895, pag. 1362. — *) E. H.
Brown, A curious casc uf carbolic arid poisoning. Lancet. 2. März 1895. — ") E. Schmidt,
Ein Fall von Carbo] sau re Vergiftung. Przcglad lekarska. 1894, Nr. 30. — *) Leo Wacholz,
Leber Veränderung der Athmungsorganc in Folge von Carboisäurevergiftung. Deutsche med.
Wochenschr. 1895, Nr. 9, pag. 146. — l) Oscar Silberman n , Klinisches und Experimentelles
über Carboisäurevergiftung. Ebenda. Nr. 43, pag. 681. — *) Husemann, Behandlung der
Carboisäurevergiftung. Pentzoldt's und Stiutzing's Handb. d. spec. Therap. II, pag. 212- —
’) Marfori, Sulla formazionc dell’etere fcnilsolforico nclVorganismo in rapporto alla
cura dclV urrelcnamcnto per carbolo. Arch. d. Farmacol. 1894, II, pag. 513. — b) Siegfried
Tauber, Die Wirkung der Schwefelsäuren und der schwefligsauren Salze, sowie anderer
Schwefelverbindungen bei Phenolvergiftung. Arch. f. experim. Path. 1895, XXXVI, pag. 197-
Husemann.
Carniferrin, eine von Max Siegfried zuerst aus wässeriger Fleisch-
extractlösung isolirte Eisenverbindung einer mit Phosphorsäure gepaarten neuen
Säure, der Fleischsäure — letztere von der Formel CmH^N, 06. Fällt man
nämlich wässerige Fleischextractlösung mit Barythydrat, so lässt sich aus dem
Filtrat durch Eisenchlorid ein eisen- und phosphorhältiger organischer Nieder-
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3gle
70
CARNIFERRIN. — CHLORSALOL.
schlag erhalten , welcher eben das Carniferrin mit 30% Eisengehalt darstellt.
Indem man das Carniferrin mit Barytwasser zersetzt und das Barium mit Schwefel-
säure ausscheidet, erhält man die freie Flcischsäure von der obigen Zusammen-
setzung; diese ist mit Phosphorsäure gepaart als Phosphorfleisc hsäure im
Muskel enthalten. Letztere bildet leicht lösliche Barium- und Calciumsalze, die
sich erst beim Kochen der wässerigen Lösungen unter Abscheidung von Calcium-,
beziehungsweise Bariumphosphat zersetzen. Die Eisenverbindung der Phosphorfleisch-
säure ist eben das Carniferrin. Die Fleischsäure ist eine einbasische Säure, im
Wasser leicht löslich und bildet leicht Salze. Sie hat die Eigenschaft , bei ge-
wöhnlicher Temperatur Salzsäure zu binden , so dass diese durch Silbernitrat
nicht nachweisbar ist. Bei der hydrolytischeu Spaltung liefert sie Ammoniak,
Lysin , Lysatinin und noch zwei bisher nicht näher bestimmte Amidosäuren,
Schwefelwasserstoff wird bei Gegenwart von Fleischsäure sehr schnell oxydirt.
Siegfried hält die Fleischsäure identisch mit Kühxe’s Antipepton; wie dieses
entsteht sie bei der Trypsinverdanung und wird durch diese nicht weiter zer-
legt, sie entsteht auch bei der Zersetzung des Eiweisses durch Salzsäure. Sieg-
fried constatirte auch das Vorkommen der Fleischsäure im Harn. C. W. Rock-
wood bestätigt dies und findet, dass sie daselbst theilweise als Phosphor-
fleischsänre auftritt, als eine neue Art von organisch gebundenem Phosphor
im Harn.
Das Carniferrin ist, wie ILali. nachgewiesen, im Darm leicht resorbirbar;
das Eisen lagert sich in allen Körpertheilen , hauptsächlich aber in der Leber
und Milz ab.
Literatur: Max Siegfried, Ueber Fleischsäure. Arch. f. Anat. u. Phys. 1894,
pag. 401; Bericht d. deutschen chemischen Gesellscb. 1894, pag. 2762. — W. S. Hall, üelier
die Resorption des Camiferrins. Arch. f. Anat. u. Phya. 1894, pag. 455. — C. W. Rock-
wood, Heber das Vorkommen der Fleischsäure im Harn. Ibidem. 1895, pag. 1.
Loebisch.
Chlorsalol, sai icylsäurechlorphenylester, salicylsaurcs Chlor-
OH
phenol, C,H,<Q,q — 0 — C, H, CI. Von den drei isomeren Chlorsalolen kommen
therapeutisch nur das Ortho- und Para-Chlorsalol in Betracht. Der Schmelzpunkt
des Ortho-Chlorsalols liegt bei 53° C., der der Para- Verbindung bei 70°. Letztere
hat keinen Geschmack und Geruch, während erstere salolähnlich riecht; beide
sind in Alkohol löslich uud in Wasser unlöslich. Nach Karpow ist das Chlor-
salol ungiftig. Im Organismus des Hundes und des Menschen werden beide Ver-
bindungen in ihre Componenten zerlegt, die Phenole werden als Aetherschwefel-
Bäuren , die Salicylsäure wird unverändert ausgeschieden. Nach Girard wirkt
das Chlorsalol bei Blasen- und Prostatakatarrhen günstiger als das Salol. Bei
fieberhaften Zuständen in Folge infectiöser Traumen war das Chlorsalol in täg-
lichen Dosen von 4 — 6 Grm. von guter Wirkung; auch bei Diarrhoe trat rasche
Besserung ein. Als Streupulver auf eiternde und infectiöse Wunden wirkt das
Chlorsalol rasch reinigend und die Vernarbung beschleunigend. Bei frischen
Wunden sollen die Chiorsalole weniger reizen als das Salol. Für den inner-
lichen Gebranch wird das fast geschmack- und geruchlose Parachlorsalol der
Orthoverbindung vorgezogen ; letztere besonders zur äusserlichen Anwendung
empfohlen. Im Allgemeinen scheint das Chlorsalol in allen Fällen indicirt , wo
bisher das Salol angewendet wurde.
Dosirnng. Innerlich Parachlorsaloli 1,0, Dent. tal. dos. Nr. X ad
Capsulas amyiaceas. Bei Prostata- und Blasenkatarrhen 4 — 6, hei fieberhaften
Krankheiten und Diarrhoen 2 — 4 Pulver pro die.
Literatur: Karpow, Arch. biol. Nanck. St. Petersburg 1893, pag. 305. —
Girard, Rev. mid. de la Suisse romane. 1895, Nr. 7. — E. Merck, Bericht über das
Jahr 1895. Loebisch.
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CHOREA HEREDITARIA.
71
Chorea hereditaria (chronica progressiva). Nach der Aus-
scheidung der Chorea magna aus dem Krankheitsbegriff der Chorea schien letztere
Oberhaupt nur noch durch die Chorea minor (Sydenham’s Chorea) vertreten.
Schon sehr frtlh unterschied man allerdings innerhalb der Chorea minor eine
acute und chronische Form (Thilenius), aber man legte diesem Unterschied keine
besondere Wichtigkeit bei, da abgesehen von dem Verlaufe wesentliche constante
symptomatische Unterschiede nicht bestehen sollten ( vgl. z. B. Wicke, pag. 274). Erst
im Jahre 1868 hob Jul. Sanders hervor, dass in den chronischen Fallen der
Kranke bis zu einem gewissen Grad willkürlich seine unwillkürlichen Bewegungen
zu unterdrücken vermöge , während bei der typischen acuten Chorea minor dies
nur im Anfangsstadium zuweilen gelingt. Auch dies wollte jedoch zunächst nicht
viel bedeuten, denn man konnte einwenden, dass die Kranken eben in Folge der
Langwierigkeit ihrer Krankheit durch Uebung allmälig eine gewisse Herrschaft
über die unwillkürlichen Bewegungen erlangen. In ätiologischer Beziehung
wusste man schon zu Ende des vorigen und Anfang dieses Jahrhunderts , dass
die Krankheit vorzugsweise bei Kindern und erworben auftrete, jedoch ausnahms-
weise auch congenital (Friedländer, Kleinkrt’s Repert. 1828) und auch im
höheren Alter vorkomme (Sioaud LA Fond u. A.). Auch diese Chorea adultorum
schien keine Sonderstellung zu beanspruchen. Endlich erkannte man fast stets
den Einfluss der Erblichkeit an.*) Auch das gelegentliche Vorkommen gleich-
artiger Vererbung war schon Mongenot (1819) bekannt. SfcE stellte 1850 18
solcher Fälle zusammen ; von einer Besonderheit der Symptome in den erblichen
Fällen wusste man nichts. Man kannte also wohl eine Chorea chronica , eine
Chorea adultorum und eine Chorea hereditaria , fand aber keine Veranlassung,
diese Varietäten des Verlaufes, des Auftretens und der Aetiologie von der Haupt-
form zu trennen und zu einander in engere Beziehung zu bringen. Die Arbeit
Huntington ’s vom Jahre 1872 brachte hierin einen Umschwung hervor. Huntington
beschrieb eine Form der Chorea, welche stets chronisch verlief, stets auf dem
Boden gleichartiger erblicher Belastung sich entwickelte, durchwegs sogar
familial auftrat, stets in höherem Alter zur Entwicklung kam und, wie ElCH-
horst hinzufügte, schliesslich symptomatisch von den meisten Fällen der gewöhn-
lichen Chorea minor sich dadurch unterschied, dass die Kranken ihre unwillkür-
lichen Bewegungen bis zu einem gewissen Grade willkürlich zu unterdrücken
vermochten. Auch hat Huntington bereits die progressive Natur des Leidens und
die Verbindung mit zunehmendem Schwachsinn hervorgehoben. Die Bedeutung
der HfNTiNGTON'schen Arbeit liegt nicht etwa in der Feststellung des familialen
Auftretens — ein solches ist von Stikbel bereits 1837 angegeben worden (1. c.
pag. 13) — , auch nicht in der Hervorhebung des chronischen progressiven Ver-
laufes etc. , sondern in der Hervorhebung des Zusammentreffens aller dieser
Momente. Auf diesem Zusammentreffen beruht die Einheit der neuen Krankheit
und ihre Selbständigkeit gegenüber der gewöhnlichen Chorea minor. Seitdem
sind etwa 80 Fälle beschrieben worden. Die Kcnntniss der Krankheit hat sich
dem entsprechend wesentlich erweitert. Die Hauptmomente hat schon Huntington
richtig angegeben, nur darin irrte er sich, dass er die Krankheit durchaus auf
das höhere Alter beschränkte. Wir können also die Huntington 'sehe Chorea
oder Chorea hereditaria chronica progressiva definieren als eine Krankheit,
welche sich chronisch auf dem Boden der gleichartigen Vererbung entwickelt,
welche symptomatisch die typischen Bewegungsstörungen der Chorea minor zeigt,
jedoch in einer vom Willenseinfluss bis zu einem gewissen Grade unterdrück-
baren Form , welche ferner stets mit affectiven Störungen und Intelligeuzdefect
verbunden und endlich ausgesprochen progressiv ist.
*) Unter 101 Fällen Rkmak's waren 82 Fälle sicher anbelastet ; Beknuaudt fand bei
10.8% erbliche Belastung.
72
CHOREA HERED1TARIA.
1. Aetiologie. Nach meinen Zusammenstellungen, welchen ich vier
selbstbeohachtete Fälle, zwei typische und zwei zur Athetosie bilateralü zu rech-
nende, beigefügt habe, sind beide Geschlechter fast gleichmässig betroffen. Jedenfalls
ist das Ueberwiegen der männlichen Kranken, welches z. B. Schlesinger betont
hat, ganz unerheblich. Weitaus die meisten Erkrankungen fallen in das 4. und
5. Lebensjahrzehnt. Gelegentlich tritt sie auch in niedrigerem oder höherem Alter
auf, so z. B. in einem Falle Oslkr’s im 60. Jahre, in einem von Schlesingeb
erwähnten im 70. Jahre. Insbesondere hat man sie auch mehrfach zur Zeit der
Pubertät (Hoffmans) und bei Kindern beobachtet (Jolly, Schlesinger, A. Schmidt,
ich). Congenitales Vorkommen ist zweifelhaft (ein nicht ganz eindeutiger Fall
von Schlesinger).
Erbliche Belastung ist ex definitione überall vorhanden. Durchweg
ist sie gleichartig, sehr selten ungleichartig (Hoffmann). Oft linden sieh in der
Ascendenz neben choreatischen Erkrankungen andere Krankheiten des Nerven-
systems, so namentlich Hysterie, Epilepsie und Psychosen, zuweilen auch Alko-
holismus (Klippel), ln zwei zur Athetosis bxlateralis zu rechnenden, von mir
beobachteten Fällen — es handelt sich um zwei Geschwister — konnte man keine
Belastung nachweisen , obwohl der Verlauf und die Gruppirung der Symptome
ganz dem Bild der Chorea Hcntington’s entsprachen. Meist ist der erbliche
Einfluss direct, sehr selten wird eine Generation ganz übersprungen (Lyon, Huet,
Schlesinger). Der Procentsatz der Krankheitsfälle iu der betroffenen Familie
schwankt sehr. In einer von Menzies studirten Familie waren unter 10Ü Gliedern
25, in einer anderen unter 74 Gliedern 13 befallen. Auch ein endemisches Vor-
kommen ist behauptet wordeu, jedoch nicht bewiesen.*)
In manchen Fällen (Zacher, Weir- Mitchell Fall 1) handelt es sich
um debile Individuen. Die Krankheit entwickelte sich also auf dem Boden eines
leichten angeborenen Schwachsinns. Auch eine neuropathische Constitution scheint
zuweilen vorzuliegen (Hay).
Anderweitige Krankheiten scheinen selten ätiologische Bedeutung zu
haben. Ein Herzfehler lag in dem Falle von Kronthal und Kalischer vor,
Malaria in dem Fall von Hay**), in einigen Fällen Typhus, doch spricht niemals
die Anamnese entschieden für einen Zusammenhang. Der acute Gelenkrheumatismus
< scheint ganz bedeutungslos; in einem Falle Remak’s liegt er vor. In einem Falle
Hcber's scheinen die ersten Symptome und eine spätere Exacerbation an Schwan-
gerschaft sich anzuschliessen. In einem Falle SCHLESINGEr's bedingt die Gravi-
dität eine Verschlimmerung. Auf dio Combination mit Epilepsie werde ich unten
zurückhommen. Anknüpfung der ersten Symptome an Traumen oder Gemüths-
bewegungen wird öfters angegeben, doch treiben bekanntlich die Kranken sowie
die Angehörigen gerade mit diesen ätiologischen Factoreu oft Missbrauch.
Syphilis und Alkoholismus scheinen gar keine Rolle zu spielen; nur in einem
meiner Fälle war Alkoholismus unzweifelhaft vorhanden. Zeitweilige Alkohol-
excesse lagen auch im 2. Fall von Schlesinger vor.
2. Symptomatologie. Die unwillkürlichen Bewegungen stellen das
Hauptsymptom dar. Sie entsprechen im Wesentlichen ganz den typischen der
Chorea minor. Wie diese kann man sie im Allgemeinen als coordinirt bezeichnen,
indem meist bei der einzelnen unwillkürlichen Bewegung Muskeln Zusammenwirken,
welche öfters auch in den willkürlichen Bewegungen Zusammenwirken. Daneben
kommen freilich auch isolirte Contractionen einzelner Muskeln \or, es sind dies jedoch
stets Muskeln , welche wir oft auch willkürlich isolirt contrshiren. Besonders
häutig sind namentlich auch mimische unwillkürliche und affectlose Bewegungen.
*) lieber experimentelle Uebertragung der Chorea liegen nur einige Versuche von
Tr ib ulet vor (Progr. m£d. 1892).
**) Einen verschlimmernden Einfluss hatte die Malaria im K lippel-Ducellier*
«eben Falle.
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IIZ60 Dy VjVJUvlt
Igle
CHOKEA HEREDITARIA.
73
Viele Kranke grimassiren fast unausgesetzt ; auch HUsteln, Schnalzen, Schmatzen,
Schlucken tritt oft unwillkürlich auf. In vielen Fällen ist die gesammte Körper-
musculatur betroffen. Niemals kommt Beschränkung auf eine Körperhälfte, ab
und zu Ueberwiegen auf einer Körperhälfte, und zwar öfter auf der rechten
vor. Gewöhnlich breitet sich die Störung von einer Muskelgruppe allmälig immer
weiter aus. Bald sind die Extremitätenmuskeln mehr als die Gesichtsmuskeln, bald
diese mehr als jene betroffen. Auch die Kopfmuskeln bleiben selten frei. Ebenso
ist die Rumpfmusculatur oft befallen. Mehrfach wird ausdrücklich angegeben,
dass auch die Zungen-, Kehlkopf- und in seltenen Fällen auch die Augenmuskeln
betheiligt waren. Die letztgenannten bieten nicht etwa das Bild des gewöhnlichen
Nystagmus dar , vielmehr erwecken auch die Augenbewegungen durchweg den
Eindruck der Coordination. Zähneknirschen ist in dem Falle von Kronthal und
Kalischer ausdrücklich angegeben. Sehr oft sind auch die Respirationsmuskeln
betheiligt.
Ein regelmässiger Rhythmus ist nicht zu erkennen , ebensowenig wie
bei der Chorea mtnor. Es lässt sich daher auch nicht wohl eine bestimmte Zahl der
unwillkürlichen Bewegungen pro Minute angeben. Zuweilen kommen 6 — 7 Bewe-
gungen auf zwei Secunden , oft sind sie viel spärlicher. Meist sind sie schnell.
Die Excursionsweite ist oft sehr gross. In dem KLlPPEL’scheu Fall verliefen die
Contractionen eyklisch, insofern sie stets im Tihialü ant. und Flexor hallucis
symmetrisch begannen und in einer bestimmten Reihenfolge sich auf den ganzen
Körper verbreiteten. Der ganze Cyklus wurde in circa '/, Minute durchlaufen.
Die Intervalle zwischen den einzelnen Cyklen wechselten sehr.
Fordert man den in Ruhe befindlichen , das heisst keine willkürlichen
Bewegungen vollziehenden Kranken auf, die unwillkürlichen Bewegungen zu
unterdrücken , so gelingt ihm dies meist vorübergehend und bis zu einem
gewissen Grade. Allerdings muss ich betonen, dass es sich dabei meist um eine
willkürliche Contraction der Antagonisten der unwillkürlich sich contrahircnden
Muskeln handelt. Die Kranken lernen allmälig, welche Muskeln sich unwillkürlich
contrahiren, und durch welche willkürlichen Contractionen die unwillkürlichen com-
pensirt werden. Es handelt sich also nicht um eine Unterdrückung der krank-
haften Impulse, Bondern um eine Compensation ihrer mechanischen Effecte bezüglich
der Lageveränderung der Glieder. Viele Kranke helfen sich auch dadurch, dass
sie sich krampfhaft irgendwo lesthalten oder die hin und her schwankende
Zunge zwischen die Zähne einklemmcn u. dergl. m.
Sehr interessant gestaltet sich das Verhalten der unwillkürlichen Be-
wegungen , sobald die Kranken gleichzeitig willkürliche Bewegungen ausführen.
Meist nämlich lassen während der willkürlichen Bewegung die unwillkürlichen
Muskcleontractionen in dem bei der willkürlichen Bewegung betheiligten Muskel-
gebiete nach. In anderen Muskelgcbieten halten sie gewöhnlich unverändert an
oder nehmen sogar zu (Remak, Dreves). Allgemeines Ccssiren bei willkürlichen
Bewegungen ist jedenfalls selten, doch beschreibt Weir-Mitcheli, einen Fall,
in welchem die unwillkürlichen Bewegungen überhaupt nur im Sitzen und Liegen
anftraten , hingegen beim Aufstehen verschwanden. Dank der eben besprochenen
Kigenthttmlichkeit vermögen die Kranken oft ganz complicirte Bewegungen aus-
zuführen, z. B. eine Nadel durch ein freies Loch einer Karte zu stecken (Huber),
zu nähen (Ziehen) u. dergl. m. Daraus erklärt sich auch, dass die Kranken oft
sehr lange noch in ihrem Beruf thätig sind. In anderen Fällen werden auch die will-
kürlichen Bewegungen durch unwillkürliche Zwischenbewegungen gestört. Nament-
lich gilt dies auch von Gang, Sprache und Schrift. Ersterer ist in sehr verschiedener
Weise gestört. Zuweilen fällt nur die ungleiche Excursionsweite der Schritte auf.
Oft ist er ausgesprochen taumelnd (z. B. in den Fällen von Dreves), In mancheu
Fällen ist er wippend und tänzelnd, durch HUpfhewcguugen unterbrochen. Weun
Sinkler u. A. einen langsamen, abgemessenen Gang beobachtet haben, so dürfte
auch hier Vorsicht und Uebung des Kranken eine grosse Rolle spielen. Ebenso ist wühl
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74
CHOREA HEREDITARIA.
die Breitspurigkeit des Ganges zu erklären. In einem meiner Fälle war der Gang
namentlich durch plötzliche Rumpfbeugungen und Streckungen gestört. Bald ver-
beugte sich der Kranke tief zur Krde, bald schlug er plötzlich hintenüber. Merk-
würdigerweise kam er selten zu Fall, doch waren die Bewegungen so heftig, dass er
zuweilen leichtere Möbel, an welchen er sich festhalten wollte, mit umriss. Auch ein
plötzliches unwillkürliches Stehcubleiben ist nicht selten. Auch die Sprachstörung
ist nach Qualität und Intensität sehr verschieden. Bei einer Kranken Hiber’s
wurde die Sprache schliesslich ganz unverständlich. Undeutlichkeit der Aussprache
wird in den späteren Stadien fast niemals vermisst. Oefter wird die Monotonie her-
vorgehoben (Zacher, IIcber u. A.). Mir fiel in einem Falle die Unregelmässigkeit
des Tonfalles besonders auf. Oft werden die Anfangssilben stotternd wiederholt,
Silben und Worte werden oft abgerissen hervorgestossen , bald sehr langsam,
bald polternd und hastig. Scandirend wird man die Sprache schon deshalb nicht
nennen, weil auch hier das Tempo zu unregelmässig ist. Im Allgemeinen herrscht
in den meisten Fällen eben in Folge respiratorischer und anderer Zwischen-
bewegungen , zum Theil auch in Folge kluger Vorsicht gewitzigterer Kranken
Verlangsamung vor. Seltener ist Hcsitation (Schlesinger , Fall 1), Auslassung
oder Versetzung von Buchstaben und Silben. Die Schrift ist meist ausfahrend
nnd zitternd. Die Buchstabenhöhe und die Zwischenräume zwischen den Buch-
staben wechseln oft sehr. Oft setzen die Kranken zwischen den einzelnen Buch-
staben ab , oft werden Buchstaben ausgelassen. Die Schluckbewegungen sind
zuweilen gleichfalls in erheblicher Weise gestört ; in einem meiner Fälle kam
es dadurch zu Lungengangrän.
Statische Innervationen, wie Spreizen der Finger, Offenhaltcn des Mundes
etc., gelingen meinen Kranken stets besonders schlecht.
Längere Hube beeinflusst die unwillkürlichen Bewegungen mitunter
günBtig (A. Schmidt). Affectlose intellectuelle Beschäftigung und sensorische
Ablenkung der Aufmerksamkeit halten keinen erheblichen Einfluss. Affecte wirken
stets erheblich verstärkend. Für den Schlaf wird meist (nicht stets, vergl. 2 Fälle
von Hoffmann) ein vollständiges Aufhören angegeben, ln einem meiner Fälle
ist jetzt schon monatelang in Folge der Heftigkeit der unwillkürlichen Bewegungen
der Schlaf auf ein Minimum reducirt; kommt es einmal zu kurzem Schlafe, so
hören die Bewegungen vollständig auf.
Ueber den Einfluss stärkerer und schwächerer Hautreize ist wenig
angegeben. In einem meiner Fälle wirkte jeder Hautreiz verstärkend.
Fibrilläres Zittern und fasciculäre Contraetioncn sollen gelegentlich neben
den unwillkürlichen Totalcontractioncn Vorkommen (Hoffmann), zu den constanten
Symptomen zählen sie keinesfalls.
Atrophie der Muskeln kommt nicht vor. Hypertrophie scheint zuweilen
einzutreten, so bestand z. B. in einem Falle Huber’s Hypertrophie der Zunge. Die
elektrische und mechanische Muskel- und Nervenerregbarkeit verhalten sich
normal, doch fand ich in drei Fällen die idiomusculärc Erregbarkeit gesteigert.
Ueber die grobe motorische Kraft und Coordination der willkürlichen
Bewegungen lässt sich nur schwer ein Urtheil gewinnen. Im Ganzen scheint mir
nach vielen dynamometrischen Proben eine leichte Abnahme unverkennbar. So
betrug der Händedruck bei einem meiner Kranken W, (Vater), dessen choreatische
Bewegungen seit zwei Jahren bestehen, rechts 32, links 28 Kgrm., bei seiner
jetzt 26jährigen Tochter Ws. welche seit 3 — 4 Jahren an Chorea leidet, rechts 15,
links 14 Kgrm. Dabei muss ich allerdings hinzufügen, dass in beiden Fällen
auch epileptische Anfälle ab und zu Vorkommen. Halbseitige Facialisdiflerenzen
werden gelegentlich angegeben (Schlesinger), doch ist die Beurtheilung natür-
lich auch hier ausserordentlich erschwert. Ataxie im gewöhnlichen Sinne besteht
insofern nicht, als die Kranken, falls die Zwischenbewegungen einmal ausbleiben,
ihre Bewegungen sehr geuau in der gewollten Richtung und mit der gewollten
Kraft und Geschwindigkeit ausführen. Ebenso wird das RoMBERG’schc Schwanken
Digiti.
IIZ60 Dy VjiJUvlt
Igle
CHOREA HEREDITARIA.
75
nur durch die unwillkürlichen Bewegungen des Rumpfes vorgetäuscht. Aller-
dings nimmt es in einem meiner Fälle (W. Tochter) bei Augenschluss deutlich
etwas zu.
Contracturen und Spasmen fehlen in den typischen Fällen. Ich werde jedoch
in der Differentialdiagnose hervorzuheben haben, dass die allgemeine bilaterale
Athetosis , zu deren constanten Symptomen Spasmen gehören, mit der Chorea
hereditaria chron. nahe verwandt und durch contiuuirliche Uebergangsstufcn
verbunden ist. So sind denn z. B. in einigen sonst typischen Fällen (Weir-
Mitchell , Lanxois et Chapois) Spasmen, beziehungsweise Contracturen ver-
zeichnet. Meine Fälle M, und M2 gehören zu den atypischen Uebergangsfilllen.
Die Blasen- und MaBtdarmfunctionen sind gewöhnlich intaet. In meinem
Falle W, (Tochter) bestand freilich öfters trotz geringen Intelligenzdefectes Incon-
tinentia urinae et alvi, ebenso in einem Falle Weih-Mitchell ’s. Der 29jährige
Kranke Klippel’s , welcher im 15. Jahre erkrankte, zeigte bis zum 23. Jahre
Incontinentia urinae.
Die Sensibilität ist häufig intaet. In dem Schlussstadium wird man
entsprechend der schweren Demenz auf Herabsetzung der Sehmerzempfindliehkeit
gefasst sein müssen. In einzelnen Fällen scheinen auch schon vor Entwicklung
ausgesprochenen Schwachsinns Hypalgesien auftzutreten. Ich habe in den Fällen
W, und W, eine Hypästhesie im Gebiete der Hände nachweisen können.
Schlesinger fand in seinem ersten Fall Hyperästhesie des Gesichtes und der
Arme. Das Muskelgefübl und die höheren Sinnesfunctionen sind durchweg intaet.
Die Pupillen sind oft erweitert , die Reactionen erhalten. Die Sehnen-
phänomene sind meist normal oder gesteigert. Herabsetzung ist z. B. in einem
Falle Wf.ir-Mitchell’s angegeben , desgleichen in dem letzten, sehr chronischen
Falle Hoffmann’s. Auch Ungleichheit der beiden Kniephänomene ist beobachtet
worden (Klippel, Zacher). Die Angaben über die Hautreflexe gehen sehr aus-
einander. In meinen beiden typischen Fällen waren sie normal.
Im Bereiche des sympathischen Nervensystems finden sich keine con-
stanten Symptome. In einem Falle Hoffmaxx’s bestand Salivation, in einem Falle
von Drf.vks Bradykardie, in einem Falle Bbrxhardt's Tachykardie u. dergl. m.
Auf Degenerationszeichen haben nur wenige Autoren (z. B. Klippel)
geachtet. Ich möchte hier doch erwähnen, dass in meinem Falle W, der Gesichts-
schädel schief ist , das Os frontale stark überhängt und die oberen Eckzähne
nicht zur Entwicklung gelangt sind.
An den einzelnen Körperorganen ergiebt sich sonst ein normaler Befund.
In dem Falle von Lanxois und Chapiis fand sich Milzhypertrophie und
Leukocytose. In meinem Falle Wa besteht eine hochgradige Anämie und leichte
Leukämie.
Psychische Symptome fehlen fast niemals. Nur der Fall Ewald’s, ein
Fall Schlesikger’s und der letzte Fall Hoffmann’s scheinen psychisch intaet
gewesen zu sein. Meist entwickelt sich — auch in den ganz uncomplicirten Fällen —
eine hochgradige Demenz. In meinen beiden Fällen ist dieselbe gleichfalls
deutlich ausgesprochen. Sehr oft kommen zu dem Intelligenzdefect und der mit
dem Intelligenzdefect Hand in Hand gehenden affectiven Abstumpfung noch
anderweitige affective Störungen hinzu. Unter diesen herrschen krankhafte Trau-
rigkeit und Reizbarkeit vor. Bald findet man beide nebeneinander, bald nur diese
oder jene, ln vielen Fällen wird Uber Suicidgedanken und Suicidversuche berichtet.
Ich möchte hervorheben, dass die Depression undSuicidteudenz nicht stets krankhaft,
sondern zuweilen durch die Verzweiflung über den qualvollen Zustand, Erwerbs-
unfähigkeit und Schlaflosigkeit in normaler Weise motivirt ist. In manchen
Fällen fällt nur die Labilität der Stimmung auf. Pathologische Heiterkeit und
Euphorie ist selten (Fall von Sixkler). Ein an Moral insanity erinnernder
Zustand scheint in einem Falle von DREVES bestanden zu haben. In manchen,
aber doch selteneren Fällen kommt es zu intercurrenten hnllucinatorischen Erregungs-
76
CHOREA HEREDITARIA.
zuständen, welche zum Thcil an epileptische Dämmerzustände zu erinnern
scheinen (Huber, Dreyes u. A.). Auch vereinzeltere Hallucinationen kommen vor
(Kuppel).
3. Verlauf. Im Gegensatz zur Chorea minor ist der Verlauf stets
chronisch. Es wurde bereits erwähnt, dass meist zuerst nur ein Muskelgebiet
befallen ist, z. B. sehr häufig die Facialismusculatur, uud dass erst nach und
nach die unwillkürlichen Contraetionen sich über den ganzen Körper aushreiten.
ln manchen Fällen findet sich allerdings auch die anamnestische Angabe, dass
die Zuckungen von Anfang an allgemein gewesen seien. Die psychischen Symptome
gehen den choreatischen Bewegungen zuweilen voraus (so s. B. in einem Fall
Huber’s) , öfter entwickeln sie sich gleichzeitig oder folgen nach. Ein strenger
l’arallelismns zwischen den choreatischen uud psychischen Symptomen besteht
nicht stets, ln einem meiner Fälle ist er allerdings ganz frappant (Ws).
Ausser dem chronischen Charakter ist der progressive besonders be-
merkenswerth. Ein sicheres Beispiel eines absoluten, dauernden Stillstandes liegt
in der Literatur nicht vor. Cessiren der choreatischen Symptome bei Fortent-
wicklung der Geistesstörung scheint in seltenen Fällen vorzukommen. Schubweise
Exacerbationen sind öfters beobachtet worden. Auch Remissionen sind nicht selten.
So hatte meine Kranke W, im Herbst 1895 in Folge der Heftigkeit der chorea-
tischen Bewegungen die Fähigkeit zu nähen vollständig verloren; jetzt besteht
seit 1 — 2 Monaten eine so erhebliche Remission . dass sie wieder zu nähen ver-
mag. Damit ging Haud in Hand eine wesentliche Besserung auch der psychischen
Symptome. Interessant ist auch, dass in einzelnen Fällen die anfangs befallenen
Muskelgebiete später sich weniger an der Störung betheiligen und dafür andere
Muskelgebiete um so intensiver befallen werden (Hoffmanx).
Der intercurrenten psychischen Erregungszustände wurde oben bereits
gedacht. Im Uebrigen ist der Verlauf ziemlich monoton.
Der Ausgang der Krankheit ist meist der Tod. Allerdings erfolgt der-
selbe fast stets durch intereurrente Krankheiten ("Pneumonie, Darmkatarrh etc.),
indess ist doch unverkennbar, dass das Nervenleiden die Kräfte des Kranken
aufgerieben und dadurch wesentlich zum tödtlichen Ausgang beigetrageu hat.
Während in einigen Fällen der Ernährungszustand des Kranken merkwürdig gut
bleibt (Bulimie), stellt sich in anderen ein ausgesprochener Marasmus ein. Die
Dauer des Leidens beziffert sich daher in vielen Fällen doch nur auf 3 — 6 Jahre,
doch sind auch Fälle bekannt {Weik-Mitchell) , wo sie Uber 25 Jahre betrug
(bis zu 30 Jahren, Laxnois).
4. Prognose. Die Prognose ist, wie sich aus dem Vorigen ergiebt,
durchweg ungünstig. Bezüglich der Heilung kann sie als durchaus ungünstig
angesehen werden, bezüglich der Erhaltung des Lebens hängt sie namentlich von
dem Mass der Pflege ab, welches dem Kranken gewährt zu werden vermag.
5. Complicationen. Unter diesen bedarf eine wegen ihrer Häufig-
keit und auch wegen ihrer Bedeutung für die Auffassung der Krankheit einer
besonderen Erwähnung. Es ist die Complieatiou mit Epilepsie. Bekanntlich kommt
diese C'omplication auch bei der Chorea minor vor (Ziemssen , Nothnagel,
Gotthold, Mc Caxn), indess verhältnissmässig selten. Ebenso hat man gelegent-
lich die Combination von Epilepsie mit Athctose (Eulenburg, Michailowski) und
mit Myoklonie (Unverricht) beobachtet. Während es sich jedoch hier um Aus-
nahmen handelt, ist die Complication der Chorea hereditaria mit epileptischen
Anfällen auffällig häufig. In meinen beiden Fällen sind öfters epileptische Anfälle
beobachtet worden. Ebenso wird Uber solche berichtet in 2 Fällen Hoff.manx’s,
in einem Fall Rkmak's. In meinen Fällen und, wie es scheint, wenigstens auch
in dem einen Fall IIoffmaxx’s weichen die Anfälle von den typischen, epilepti-
schen wesentlich ab. Ein klonisches Stadium fehlt vollständig, das tonische ist,
wofern es überhaupt vorkommt, sehr wenig ausgesprochen. Der Anfall beschränkt
sich somit im Wesentlichen auf die Bewusstlosigkeit. Während des Anfalles hören
CHOREA HEREDITARIA.
Ti
die choreatischen Bewegungen auf. Auffällig ist das tiefe Erblassen. Die Dauer
des Anfalles beträgt zuweilen 1 Stunde. In dem Fall W, war der erste Anfall
vor 6 Jahren aufgetreten, während die choreatischen Bewegungen seit 2 Jahren
bestehen. Im Falle Wa waren schon in frühester Kindheit Anfälle aufgetreten,
während die choreatischen Bewegungen sich erst vor 3—4 Jahren gezeigt hatten.
6. Diagnose. Es kommen folgende Verwechslungen in Betracht:
a) Mit Chorea minor acuta.* I Wo gleichartige Vererbung, chroni-
scher, progressiver Verlauf, Schwachsinn und Abnahme der choreatischen Be-
wegungen bei willkül iehen Innervationen vorliegt, wird man auch hei einem
Kinde mit Sicherheit auf Chorea hereditaria progressiva chronica schliessen.
Schwieriger wird die Frage, wenn zwar in der Ascendenz Chorea chronica vorlicgt,
der zu beurtheilende Fall jedoch durch seine aente Entwicklung und durch die
Zunahme der choreatischen Bewegungen bei willkürlichen Innervationen auf
Chorea minor acuta hinweist. Nach einer hieher gehörigen Beobachtung Hi.'kt’s
ist in solchen Fällen die Diagnose auf Chorea minor zu stellen. Der chronische,
progressive Verlauf ist in allen Fällen das ausschlaggebende Moment. Wenn
dieser nachgewiesen ist, wird man die Diagnose auf Chorea progressiva chronica
auch stellen müssen , wenn bei willkürlichen Innervationen ausnahmsweise die
choreatischen Bewegungen nicht ab-, sondern zunehmen oder sich gleich bleiben,
ebenso wie man bei der gewöhnlichen Chorea minor acuta ausnahmsweise auch
einmal eine Abnahme der unwillkürlichen Bewegungen bei willkürlichen Inner-
vationen beobachtet.
h) Mit anderen Formen der chronischen Chorea. Charcot, IIuet,
Osler u. A. unterscheiden eine besondere, nichthereditäre chronische Chorea. Die
Erstgenannten identificiren allerdings weiterhin das klinische Bild der hereditären
und der nichthereditären chronischen Chorea. Jedenfalls muss man zugeben, dass
die gleichartige Vererbung allein nicht ausreicht, eine besondere hereditäre oder
familiale Form aus der Chorea chronica auszuscheiden. Nnr weil der Verlauf
zugleich durchweg in den hereditären Füllen ausgesprochen progressiv ist und
namentlich auch mit zunehmendem Schwachsinn verknüpft ist, sind wir berechtigt,
die in Rede stehende Form auszuscheiden. Ich stimme daher auch Hoffmann
vollständig bei , wenn er die Bezeichnung Chorea progressiva chronica (ohne
hereditaria ) für zweckmässiger hält. Die Häufigkeit gleichartiger Vererbung,
beziehungsweise das familiale Vorkommen ist, ähnlich wie hei der Dystrophie
muscularis progressiva, eine der interessantesten Eigenthümlichkeiten unserer
Krankheit, aber doch nicht die diagnostisch entscheidende. Denn einerseits kommt
gleichartige Vererbung und familiales Auftreten gelegentlich auch bei anderen
Choreaformen vor und andererseits tritt zuweilen, wenn auch selten, eine typische
Chorea chronica progressiva auf dem Boden ungleichartiger Vererbung auf
(Fall IIoffmann). Wie sollte man sich sonst das erste Auftreten der chronischen
progressiven Chorea in einer Familie überhaupt erklären? Einmal muss die
Krankheit durch ungleichartige Vererbung entstanden sein. Der progressive Ver-
lauf ist neben der chronischen Entwicklung also der entscheidende Factor. Die
gleichartige Vererbung ist nur ein sehr häufiges, interessantes und praktisches
Erkennungsmittel.
Man könnte nun fragen, welche Formen einer nichtprogressiven chroni-
schen Chorea dann überhaupt existiren. Diese sind noch sehr wenig studirt.
Ich glaube, dass es sich wesentlich um Fälle handelt, in welchen eine Chorea
minor fortgesetzt recidivirt. In sehr dankenswerther Weise hat Grosse auf die
Beziehungen dieser Choreaform zur Endocarditis recurrens aufmerksam gemacht.
Diese Fälle, zu denen auch manche der Benilen Chorea gehören, imponiren als
chronisch ; hinsichtlich ihrer ersten Entwicklung sind sie jedoch acut und hin-
*) Das Attribut acuta ist, nachdem die Chorea magna gestrichen ist, viel wichtiger
als das Attribut minor.
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CHOREA HEREDITARJA.
sichtlich ihres weiteren Verlaufes streng genommen reeidivirend und nicht chronisch.
Auch ist sehr bezeichnend , dass sie fast niemals zu jener völligen Demenz
führen, welche so regelmässig das Schlussbild der chronischen, progressiven (here-
ditären) Chorea ist.
Aus allen diesen Erörterungen ergiebt sich also, dass Chorea acuta und
Chorea chronica progressiva und Chorea chronica recidiva verwandte, aber
nicht identische Krankheiten sind.
cj Mit Athetosis bilateralis. Wo die Athctonis einseitig auftritt, ist
sie eben durch ihre Einseitigkeit von der Chorea chronica progressiva, welche
niemals einseitig bleibt, ohne Schwierigkeit, wenigstens bei etwas längerer Beob-
achtung, zu unterscheiden. Aeusserst schwer wird hingegen die Unterscheidung,
wenn es sieh um eine bilaterale oder allgemeine Athetosis handelt. Die athetoti-
schen Bewegungen sind nach Hammoxd chnrakterisirt durch ihre Unablässigkeit,
Langsamkeit, Ausgiebigkeit und Gewaltsamkeit. Alle diese Attribute — mit Aus-
nahme etwa der Langsamkeit — treffen auch für die Bewegungen der Chorea
chronica jtrogressiva zu. Erwägt man dazu, dass die Geschwindigkeit der Be-
wegungen sowohl bei der Athetose wie bei der Chorea innerhalb ziemlich weiter
Grenzen variirt, so muss man zn dem Schlüsse gelangen, dass aus der Qualität
der unwillkürlichen Bewegungen allein ein sicherer differentialdiagnostischer
Schluss nicht möglich ist. Besser ist der Verlauf diagnostisch zu verwerthen. Die
Athetose verläuft gewöhnlich nicht progressiv. Auch die psychischen Symptome
sind verschieden. Die Athetosis bilateralis ist oft mit Idiotie oder Imbecillität
verbunden, aber im Laufe der Krankheit bleibt der Intelligeuzdefeet stationär
oder bessert sich sogar zuweilen etwas, keinesfalls kommt es zu progressiver
Verblödung im Verlauf der Krankheit wie bei der Chorea progressiva chronica.
Endlich scheint gleichartige Vererbung bei der Athetose selten zu sein. Senator
hat auch betont , dass bei der Athetose Spasmen vorhanden sind , bei der
chronischen, progressiven Chorea hingegen fehlen.
Für die Mehrzahl der Fälle ist dies entschieden richtig. Indess in
manchen Fällen versagen diese Unterscheidungsmerkmale. So sind in den Fällen
M, und Ma, welche ich in der hiesigen psychiatrischen Klinik beobachtet habe,
Spasmeu unverkennbar vorhanden, Heredität ist nicht nachweisbar, aber das Vor-
kommen bei 2 Geschwistern, der progressive Verlauf, die zunehmende Demenz
sprechen für chronische, progressive Chorea, zumal die unwillkürlichen Bewegun-
gen zum Tlieil auch sehr rasch, ausgesprochen choreatisch sind. Die Frage also,
ob und in welchem Umfang Spasmen und Contracturen (und auch Paresen)
auch bei Chorea chronica progressiva Vorkommen, scheint mir noch nicht ganz
spruchreif; die Literatur ist bei Angaben bezüglich latenter Contractur etc. bei
Chorea chronica progressiva auffällig schweigsam. Ueberliaupt wird in Er-
wägung zu zieheu sein, ob die zur Athetosis bilateralis gerechneten Fälle nicht
sehr verschiedenen Krankheiten angehören, nämlich theils infantilen, herdartigen
Erkrankungen, theils der sogenannten Lrm.K’schen Krankheit (Bbissai'D, pag. 117,
Freud), theils endlich der Chorea chronica progressiva und ob die atlietotischen
Bewegungen nicht lediglich als eine Spielart der choreatischen zu betrachten
sind. In diesem Zusammenhang erscheint es daher auch sehr bemerkenswert)!, dass
in dem 2. Falle Bemak’s, in welchem eine bilaterale Athetosis vorlag, die Mutter
an Chorea chronica progressiva mit Hemiparese gelitten hatte. Jedenfalls muss
man — auch wenn mau eine besondere bilaterale Athetosis aufstellt — an-
erkennen, erstens, dass sie mit der Chorea chronica progressiva nahe verwandt
ist und zweitens, dass Uebergangsformen existiren , welche die Spasmen der
Athetose, den progressiven Charakter der Hu.NTlNGTOx’schen Krankheit entlehnen.
d) Mit der LrrrLE’schen Krankheit, insoferne diese zuweilen mit bi-
lateralen, unwillkürlichen Bewegungen verknüpft ist (Brissaud). Zu einer solchen
Verwechslung könnten selbstverständlich nur Fälle congenitaler oder in frühester
Kindheit aufgetretener Chorea chronica Anlass geben. Die Differentialdiagnose
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CHOKEA HERED1TAR1A. 79
ergiebt sich daraus, dass die LrrrLK'sche Krankheit mit Diplegie verbunden ist,
fast ausschliesslich bei zu früh geborenen Kindern auftritt und eine Tendenz
zu auffälliger Besserung zeigt. Immerhin scheinen mir auch hier Uebergangs-
formen nieht ganz zu fehlen.
e) Mit multipler Sklerose. Die Abnahme der unwillkürlichen Be-
wegungen bei willkürlichen Innervationen , welche in den meisten Fällen von
Chorea chronica hereditara vorliegt, wird meist schon vor dieser Verwechslung
schützen. Dazu kommt der Nystagmus und die skandirende Sprache, welche die
Chorea chronia hereditaria nur dem oberflächlichen Beobachter Vortäuschen kann.
f) Mit der Maladie des tics, wie sie Charcot und G. GüINON be-
schrieben haben. Differentialdiagnostisch kommt in Betracht, dass diese Krank-
heit meist mit Koprolalie, Kcholalie etc. verknüpft ist, sich vorzugsweise auf die
mimische Musculatur beschränkt, wohl öfters mit Debilität verknüpft ist, aber
nicht zu Demenz führt.
g) Mit Dementia paralytica. Namentlich Phkles hat die Aehnlich-
kcit mit dieser Krankheit betont, ln der That kommen choreatische Bewegungen
bei Dementia paralytica keineswegs selten vor (ich habe sie unter ca. 500 Fällen
dreimal in typischester Form gesehen). Dazu kommt, dass Sprache, Schrift, Gang
mitunter gleichfalls äusserst ähnlich sind. Der progressive Verlauf und die zu-
nehmende Demenz sind beiden gemeinsam. Differentialdiagnostisch kommt in
Betracht, dass bei Dementia paralytica Syphilis , bei Chorea chron. progr.
choreatische Heredität die ätiologische Hauptrolle spielt und dass mehr oder
weniger flüchtige Paresen vorzugsweise ersterer zukommen. Immerhin scheint
mir die Grenze in der That nicht ganz sicher und es dürfte dies in der alsbald
zu besprechenden pathologischen Anatomie der Chorea chronica progressiva eine
ausreichende Erklärung finden.
7. Pathologische Anatomie. Die Sectionsbefunde sind in den typi-
schen Fällen noch sehr spärlich und zudem im Einzelfall so mannigfaltig, dass
der Sitz der Krankheit noch ganz unsicher ist.
Die wichtigsten makroskopischen Befunde sind:
a) Verdickung des Schädeldaches,
b) I'achymeningitis , zum Theil auch Verwachsung der Dura mit dem
Schädeldach (Kkoxthai, und Kalischer),
c) Leptomeningitis zum Theil mit Schwartenbildung und Adhärenz zwi-
schen Pia und Hirnrinde, gelegentlich auch Ilydrocephalus extern us (Sinkler),
d) Atrophie der Hirnwindungen (namentlich im Stirnhirn?),
e) graue Verfärbungen auf dem RUckenmarksquerschnitt.
Mikroskopisch fand man:
a) in der Hirnrinde Verdickung und zum Theil hyaline Entartung (Osler)
der Gefässwände, Erweiterung der perivasculären Lymphräume, kleine Blutaus-
tritte , Leukocytcnausammlungen (GltErrix) , Veränderungen der Ganglienzellen
(Cbromatiuarmuth, Untergang der Chromatinzeichnung), Faserdegeneration und
Neurogliavcrmehrung in der obersten Rindenschieht,
b) in den grossen Ganglien zum Theil ähnliche Veränderungen, dazu
Gefäsathromboscn und kleine Gewebslücken,
c) Verdickung des Ventrikelepcndyms und AVucherung des unterliegenden
Stützgewebes (Mexzies),
d) im Rückenmark Ganglienzellenveränderungen, Atrophie der Clakke-
schen Säulen (Kuoxthal und Kalüschf.h, Mkxzies) und Degenerationen, so
z. B. des GowERs’schen Stranges und der Kleinhirnseitenstraugbahn im Falle von
Mknziks.
Dazu ist noch zu bemerken, dass keineswegs alle diese makroskopischen
und mikroskopischen A'eränderungen in jedem Fall sich fanden, vielmehr bieten
die einzelnen Fälle nur eine Auswahl aus diesen Befunden. Am constantestcn
und sichersten scheinen die meuingitischeu Veränderungen, obwohl gerade diese
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CHOREA HEREDITARIA.
sich am schwersten mit dem familialen Charakter des Leidens in Linklang bringen
lassen. Auch in dem Fall M2) welcher zur Section kam, fand sich eine Pachy-
meningitis haemorrhagica interna und eine Trübung der Arachnoidea. Die
mikroskopische Untersuchung ergab eine leichte Degeneration im Bereiche der
Goix’schen Stränge.
Bei dieser Sachlage sind weitere Sectionsbefunde und namentlich um-
fassende mikroskopische Untersuchungen zur Feststellung des Krankheitssitzes
unerlässlich. Die bisher geäusserten Vermuthungen sind daher äusserst verschie-
den, bald wurde an das Rückenmark, bald an die Oblongata, bald endlich an die
Hirnrinde gedacht.
8. Therapie. Ueber erfolgreiche prophylaktische Massregeln ist nichts
bekannt. Oefters ist eine Arsentherapie versucht worden , jedoch ohne Erfolg
(Schlesinger). Nur in einem von Biernacki mitgethciltcn Falle scheint sie gün-
stig gewirkt zu haben. Reynolds betont die günstige Wirkung von Bettruhe
und Arsenbehandlung. Greppin , welcher auf Grund seines Sectionsbefnndes die
Krankcit als eine nichteiterige Encephalitis auffasst, schlug Jodkalium vor. Ich
selbst habe in dem Fall W. , welcher wegen des jugendlichen Alters noch etwas
günstigere Aussichten darzubieten schien , zunächst Hyoscin und Arsen . beides
ohne ncnnenswerthen Erfolg, versucht. Alsdann gab ich der Kranken 2 Monate
lang alternirend 2 Grm. Natrium jodatum und 2 Grm. Natrium broinatum.
Danach stellte sich eine wesentliche Besserung ein: wie erwähnt, lernte die
Kranke wieder nähen u. A. m. Ob es sich dabei um eine spontane Remission
oder um eine günstige Wirkung der Medication handelt, lasse ich dahingestellt.
Ich muss noch hinzufügen, dass die Kranke zugleich eine Diät einhielt, wie man
sie Epileptikern vorzuschreiben pflegt (Enthaltung von alkoholischen Getränken,
Kaffee, Thce etc.) und täglich mehrmals laue, später kühlere Waschungen des
ganzen Körpers vornahm.
In den vorgeschrittenen Fällen handelt es sich namentlich darum , den
Kranken stundenweise Ruhe und Schlaf zu verschaffen. In dem Falle W, ver-
sagten die stärksten Schlafmittel einschliesslich des Chlorals fast ganz. Grössere
Trionaldosen schienen mir noch am wirksamsten. Im Schlussstadiuin ist die Be-
handlung auf eine möglichst sorgsame Pflege zu beschränken.
Genauer üeberwachung bedarf das psychische Verhalten. Namentlich
kommt der Jähzorn und die Suicidtendenz vieler Kranken in Betracht. Beide
können oft zur Ueberführung in eine geschlossene Anstalt nöthigen. Auch im
Schlussstadium wird wegen der hochgradigen Ptlegebedürftigkeit meist die Auf-
nahme in ein Spital oder in eine Irrenanstalt nothwendig sein. Ueberall, wo
llallucinationcn auftreten , ist selbstverständlich die sofortige Unterbringung in
letzterer angezeigt.
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Ziehen.
Citrophen, citronensaures Phenetidin,
C„ H8 O; (NH* . Ce H4 O . C2 H6)4,
eine von Hexakio empfohlene Verbindung des Paraphenetidins mit Citronensilure.
Es ist ein weisses Krystallpulvcr, welches bei 181° schmilzt. Nach Hexakio be-
sitzt es einen säuerlichen Geschmack und lost sich in etwa 40 Theilcn kalten
und in 50 Theilen siedenden Wasser. Nach Seifert schmeckt es nicht sauer und
löst sich erst in etwa 13.000 Theile kalten Wassers. Es setzt die fieberhafte
Körpertemperatur herab und besitzt analgetische Wirkung. Es wurde in Einzeln-
dosen von 0,5 — 1,0, in Tagesdosen bis 6,0 gegeben, ln Folge seiner chemischen
Constitution ist es vom verwandten Apolysin zu unterscheiden. Wie nämlich
H. Hildebraxdt zeigte, ist im Apolysin ein Molecül Phenetidin, mit einem
Molecül Citronensäure unter H20- Austritt verbunden, während im Citrophen
3 Molccüle Phenetidin mit einem Molecül Citronensäure, hier jedoch ohne Wasser-
austritt, Zusammenhängen. Es ist also im Apolysin, wie dies dessen chemisches
Verhalten zeigt, das Phenetidin inniger gebunden als im Citrophen, welch letzteres
als citronensaures Salz des Phenetidins aufgefasst werden kann. Das von Bf.xario
wegen seinen hohen Gehaltes an Phenetidin an Stelle des Phenacetin und Lacto-
lhenins als Antipyreticum empfohlene Citrophen ist aber gerade wegen der
pockeren Bindung des Phenetidins in demselben nach den Erfahrungen von
Treupel und denen IIildkbraxdt’b keineswegs ein unschädlich wirkendes Mittel.
Encyclop. Jahrbücher. VI.
6
82 CITROPHEN. — CONJUNCTIVITIS.
Nach G. Treupel bewirken 0,5 Grm. Citrophen per Kilo im Organismus beim
Hunde nach der Eingabe energische Abspaltung von Para-Amidophenol, intensive
Indophenolreaetion im Harn, Methämoglobinbildung im Blute und Reizerscheinungen
im Verdauungscanale und in den Nieren. Es wirkt also wegen des grossen Gehaltes
an Phenetidin energisch antipyretisch, jedoch auch aus der gleichen Ursache,
besonders aber auch wegen der lockeren Bindung des letzteren im Molecül,
zugleich im höheren Masse toxisch. Mit Citrophen eingeführte 0,2 Grm. Phene-
tidin erwiesen sich giftiger als die mit Phenacetin eingeführte fast doppelte Dosis.
Mau wird also, bevor weitere Erfahrungen vorliegen, von der Anwendung des
Mittels am Krankenbette Abstand nehmen.
Literatur: Benarin, Citrophen, ein neues Antipyreticum und Antineuralgirum.
Deutsche med. Wochenschr. 1895, Nr. 2(i. — G. Treupel, Einige Bemerkungen zu der Notiz
des Hr. Dr. Ben ar io : Citrophen, ein neues etc. Ibidem. Nr. dl. — K. Seifert, Erklärungen
zu der vorläufigen Mittheilung über Citrophen. Ibidem, Nr. 52. — Benario, Ueber Citrophen.
Ibidem, Nr. 39. — H. H i ldebrand t , ». bei Apolysin. Loebiach.
Crotonharz. Die Annahme, dass das hautreizende Princip im C'rotonöl
eine eigenthümliche Fettsäure sei, ist aufs Neue bestritten worden. Dunst AN und
Miss Bihitle erklären die Crotonsäure für einen keineswegs einheitlichen Körper,
sondern für ein Gemisch innctiver Fettsäuren und einer von ihnen Crotonharz
genannten, resioösen Substanz , die schon in ausserordentlich geringen Mengen
die Haut reizt und Pusteln erzeugt. Dieses nicht krystallisirt zu erhaltende
Crotonharz ist hart, spröde, hellgelb, in Wasser , I’utroleumäther und Benzin
kaum, in Alkohol, Aether und Chloroform leicht löslich. Es erweicht beim Erhitzen
und wird bei 90“ flüssig. Es hat weder basische, noch saure Eigenschaften und
wird durch Kochen mit Wasser und Bleioxyd nicht wesentlich verändert , wohl
aber durch Kochen mit Alkalien, wobei es seine hautreizende Wirkung verliert.
Bei Oxydation mit Salpetersäure resultirt ein Gemenge verschiedener Säuren, von
denen einige der Essigsäure angehören. Als chemische Formel ergiebt sich ein
Multiplum von C13H,8H4.
Literatur: W. K. Dunstaii und Miss \\ L Bootle, Crotoii Oil. Pharm. .Toum.
Transactions, 6. Juli 1895, pag. 5. Uusemann.
Conjunctivitis. Bei Bindehautkatarrhen, die consecutiv vom Ekzem
entstanden sind, ausserdem bei chronischen Katarrhen mit eonseentiver Blepharitis
empfiehlt Peters folgende Salbe in den Bindehautsack ei nzust riehen : lchthyol-
aminon. 0,2 — 0,5, Arnyl. tritic. Flor. Ziuci aa. 10,0, Vaselini amer. 25,0. M. exactiss.
Er meint übrigens, dass manche Katarrhe auch ohne sichtbare HautafTection
ekzematöser Natur seien.
Sicherer riith, bei Bien norrhoea neonatornm täglich einmal das
Auge nach Umstülpung der Lider gründlich mit einer Lösung von Quccksilber-
oxycyanid 1 : 500 zn bespülen ; ausserdem siud Tag und Nacht Eisumschläge zu
machen. Bei iutacter Cornea garantirt er für den Erfolg.
lloOR plaidirt für die von Aklt stets behauptete Zusammengehörigkeit
von Trachom und chronischer Bindehaut b len norrhoe. Er sah drei
Fälle, wo an der Bindehaut des einen Auges nahezu rein granuläres, am anderen
Auge aber ein fast rein papilläres Trachom bestand. In zwei Fällen handelte es
sich ,. apodiktisch und eingcstandencrinassen um absichtliche Autoinfection , und
zwar um gleichzeitige Selbstinfection beider Augen mit dem Secrete einer eigenen
chronischen Urthralblenuorrhue“.
Bei dem dritten Falle konnte mit grösster Wahrscheinlichkeit dasselbe
angenommen werden. In einem anderen Falle wurde unter HOOR S Augen die
lnfertion mit einem Secrct eines acuten Trippers beobachtet; an einem Auge
entstand eine chronische Blennorrhoe ipapilläres Trachom), am anderen Auge aber
körniges Trachom.
Die Lehre von der Conj. crouposa ( membranacen, fibrinosn) hat
eine vollständige Umänderung erfahren. Nachdem schon Moritz in allen von ihm
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CONJUNCTIVITIS. — CUTOL.
83
untersuchten Fallen einen Bacillus gefunden, der sich morphologisch vom echten
Diphtheriebacillus nicht unterscheiden lässt , aber grosse biologische Differenzen
zeigt (er nennt ihn Pseudodiphtheriebacillus), haben Andere (Morelli, Soordille,
Eschebich, Elschxig, Gddek, Vossius, Fuchs) virulente Diphtheriebaeillen nach-
gewiesen, ferner Gerkk und Kain einen Bacillus gefunden, dessen Cultnren grosse
Aehnlichkeit mit dem Verhalten der Culturen des Diphtheriebacillus besitzen und
vielleicht mit ihm identisch sind. Allerdings sind auch negative Untersuchungs-
resnltate publicirt worden , oder es wurden Streptokokken, Staphylokokken und
Pneumokokken gefunden (Albert, Tebson, Debikrre, Parinaud, Bourgeois,
Gaube, Morax, Broxner, FaGE, COPPEJS). Ich selbst beobachte gegenwärtig einen
Fall, in welchem der LoFFLER’sehe Bacillus in Unmassen gefunden wurde und
wo die Impfung beim Kaninchen zu positiven Resultaten führte (Abtheilung
Monti’s an der Wiener allgemeinen Poliklinik i. Dem entsprechend musste die
I -onj unctivilin diphtbrritien in zwei Gruppen getrennt werden, wie es auch
Fuchs in der 5. Auflage seines Lehrbuches gethan hat:
1. Die Form mit oberflächlicher Exsudation, mit Bildung von Membranen,
die bisherige Conj. crouposa.
2, Die Form mit Exsudation eines gerinnfähigeu Produetes in das
Gewebe der Conjunctiva: Diplitheritis im engeren Sinne.
Wie sieh diejenigen Formen von membranösen Conjunctivitiden, die auf
dem Vorhandensein von den genannten anderen Mikrobien beruhen, klinisch von
den wirklich diphtheritischen scheiden lassen, ist allerdings bisher noch unbekannt;
bis dahin wird man auf die bakteriologische Diagnose angewiesen sein.
Es ist selbstverständlich, dass die Heilserumtherapie auch hier anzuwenden
ist und angewendet wurde, meist mit gutem Erfolg, ein solcher ist bisher auch
in Moxti's, noch in meiner Beobachtung stehenden Fall zu verzeichnen.
Gqbdon Norrie meint, den auch von Hkhz und Goi.DENBESG behaupteten
Zusammenhang von Kopfläusen und phly ktännlärer Bindehanterkrankung dadurch
erklären zu können, dass durch das Kratzen des Kopfes Exuleerationen entstehen,
welche durch Streptokokken u. s. w. infleirt werden ; durch wiederholtes Kratzen
werden die Finger mit Bakterien besetzt, die dann durch Reiben in den Con-
junctivalsack gebracht werden.
Literatur: Peters. Zur Behandlung der Bindehatitkatarrlie. Klin. Monatsbl. f.
Augenhk. October 1895. — Sicherer, Zur Behandlung der Blennorrhoe« neonatorum.
Münchener klin. Wochenschr. 1895, Nr. 49. — Hoor, Zur Frage der Aetiologie des Trachoms
nnd der chronischen Bindebautblonuorrboe. Klin. Monatsbl. f. Angenbk. August 1895. —
Vossius, Die croupöse Conjunctivitis und ihre Beziehungen zur Diphtherie. Sammlung
zwangloser Abhandlungen aus dem Gebiete der Augenheilkunde. Balle 1896, Heft 1 jdort die
einschlägige Literaturi. — Fuchs, Lehrbuch der Augenheilkunde. Wien 1895, 5- Aufl. —
Gordon Norrie, Centralbl. f. prakt. Augenhk. October 1895. Reuse.
Cutol, Aluminium borico-tannicum und Clltolum solubile, Alu-
minium boro-tannico-tnrtaricum, zwei zugleich mit dem Boral (s. d.)
von Leuchter empfohlene Thonerdeverbiudungen, welche sich vor den essigsauren
Thonerdeverbindungen als desinficirende Adstringenden durch grössere Beständig-
keit auszeichnen Bollen.
Das Cutol stellt ein hellbraunes, in Wasser unlösliches Pulver dar, das aus 76%
Tannin, 13,23% Thonerde und 20,77% Borsäure zusammengesetzt ist. Durch Bchandlnng des
Cutola mit Wcinsänre erhält man die wasserlösliche Verbindung, das Cutol um eolubile.
Nach P. Koppel ist das Cutol wegen seiner Unlöslichkeit nur in Form
von Salben, Pasten oder Pulvern zu verwerthen, also nur in Fällen , wo cs auf
das erkrankte Gewebe direct applicirt werden kann. Wegen seiuer adstringirenden
Wirkung ist es hei allen trockenen, schuppenden Hautkrankheiten contraindicirt ;
das Hauptcontingent für die Behandlung damit bilden: nässende acute Ekzeme,
stark secernirende Hautdefecte, Erosionen, Fissuren, Geschwüre. Hämorrhoiden
wurden durch 150/,,ige Cutolsalben, denen einige Tropfen Carbolsäurc oder Liq.
Plumbi ucetici zugesetzt sind, rasch gebessert.
ü*
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84
CUTOL. — C VAN VERBINDUNGEN.
Lösungen des Cutolum solubile waren hei chronischer Rhinopliaryn-
gitis ohne Erfolg, dagegen leistete es als 10%ige Cutol-Glycerinsolutiou bei
Angina follicularis, mit Watte oder Spray auf die erkrankte Mandel aufgetragen,
vorzügliche Dienste ; auch der Geschmack ist besser als der des Tanninglycerins.
Bei Fussgcschwüren war Cutol. solub. in 1 %iger wässeriger Lösung, täglich
zweimal aufgelegt, von gutem Erfolg , ferner bei Brandwunden zweiten Grades,
in einigen Fällen von chronischem Ekzem zur Aufsaugung des Filtrates. Bei
Katarrhen der Gebärmutter kam 10%ige Cutol-Glycerinlösung zur Anwendung.
Bei Frostbeulen wirkte es in schwarzen Resorcin- oder I.anolinsalben mit oder
ohne Kampferzusatz.
Dosirung: Cutol in 10 — 20%igen Salben: Cutol 4,0 — 8,0, Olei oli-
varum 10,0, Lanolinii ad 40,0, als Streupulver mit Zinkoxyd und Talcum zu
gleichen Thcilen. Cutolum solubile als 10%ige Salbe: Cutol. solub. 3,0, Olei
olivar. 2,0, Acid. carbol. liqu. gntt. VI, Lanolini ad 30,0 auf Wattebausch anf-
gestrichen zu verwenden.
Literatur: Leuchter, Pharm. Ztg. 1894, pag. 707. — Paul Kuppel. Berlin.
Ueber einige «euere Aluniinininpräparate. Thcrap. Monatsh. 1895. pag. 614. Lochisrh.
Cyanverbindungen. Schon 1887 hat Otto Hermes*) das durch Ein-
wirkung von Blausäure auf Chloral und Chloralhydrat entstehende Chloral-
hydrocyanid (Trichlormilchsäurenitril von Bkilstelv) auf seine Giftigkeit
untersucht und nach Massgabe seiner Versuche an Kaninchen für ein ganz in
Art der Blausäure und wegeu seines constanten Gehaltes an dieser sogar zum
Ersätze des Bittermandelwassers geeignetes Präparat erklärt. Allerdings sind die
Erscheinungen, welche die Verbindung bei Warmblütern in toxischen Dosen her-
vorruft, und das ganze, mit Dyspnoe und krampfhafter Inspiration beginnende,
dann unter Unsicherheit der Bewegung und lebhaftem Zittern, hierauf unter aus-
gesprochenen Convulsionen verlaufende, in tödtlichen Fällen in wenigen Minuten
nach voraufgehendem Tetanus mit Tod im Inspirationskrampf, bei nicht tödtlicher
Dosis ohne tetanischen Krampf verlaufende und allmälig nach einem Stadium
von Schwäche und Lähmung in 24 Stunden mit Rückkehr der normalen Functionen
endigende Intoxicatiousbild der Blausäurevergiftung entsprechend. Auch die
Wirkung bei Kaltblütern, die Herzverlangsamung und der Tod durch Ilerzlähmuug,
ist dieselbe wie bei Cyanwasserstoff. Der Blausäurewirkung entspricht auch bei
Warmblütern die experimentell festgestellte, nach vorgängiger Reizung der Medulla
oblongata di recte eintretende Lähmung dieser, die Unabhängigkeit der Athem-
störungeu von den Lungenvagi und die Lebensverlängerung durch künstliche
Athmung (Hermes). Dem ungeachtet zeigt nach neueren, unter F. A. Fai.ck an-
gestellten Untersuchungen die Wirkung des Chloralcyanid wesentliche Differenzen
von der des Cyankaliums •) und Cyannatriums. 5) Während die Toxicität der
Cyanide der beiden Alkalimetalle sich durchaus uach ihrem Gehalte an wasser-
freier Blausäure richtet, deren letaler Effect allerdings bei verschiedenen Thier-
arten stark differirt, so dass z. B. die zur Tödtung der Maus pro Kilo erforder-
liche geringste Menge 2,39mal so hoch wie beim Kaninchen ist, kann ein solches
Gebundensein an die Dosis der Cyanwasserstoffsäure für das Chloralcyanid *)
nicht constatirt werden. Bei Kaninchen ist die auf wasserfreie Blausäure bezogene
minimal letale Dosis des Chloralcyanids ganz erheblich geringer (1,2978 Mgrm.
gegen 1,8845 Mgrm. bei KCy), bei Mäusen um ein Geringes höher, bei
Tauben ziemlich gleich, obschon gerade bei Taubeu eine grössere Giftigkeit des
Chloralcyanids dadurch hervortritt, dass der Tod rascher als bei entsprechenden
Mengen von Cyankalium eintritt. Eine weitere Abweichung besteht darin, dass
die ersten Vergiftnngserscheinungen, Beschleunigung der Athmung und bei Tauben
Erbrechen, durch weit geringere Dosen herbeigeführt werden (bei Chloralcyanid
schon durch circa 23% der minimal letalen Dosis, bei Cyanknlium und Cyan-
natrium erst durch 38 — 40%).
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C VAN VERBINDUNGEN.
85
Man wird hiernach in dem Chloralcyanid eine eigenartige, wenn auch
hervorragend durch die Blausflure wirkende Substanz zu sehen haben.
Dass das Ferrocyankalium unter Umstünden zu tödtlichen, auf Frei-
werden von Blausäurevergiftung beruhenden Vergiftungen Anlass werden kann,
lehrt ein neuer Fall, bei welchem die Section im Magen sowohl Ferrocyankalium
als Blausäure nachwies , deren Geruch auch in anderen Körperhöhlen constatirt
wurde. Der tödtliche Ausgang wurde durch antidotarische Verwendung von Essig
offenbar beschleunigt.
Literatur. *) Hermes, Chloralcyanhydrat als Ersatz für Aqua Amygdnlarum
amararum. Inaug.-Dissert. Berlin 1887. — *) Theben, Beitrag zur Kenntniss der Wirkung
des Cyankaiium. Kiel 1895. — *) van Biirck. Ueber die Wirkungskraft des Cyannatrium.
Kiel 1895. — 4) Reymann, Beitrag zur Kenntniss der Wirkung des ('Moral, hgdroeganid.
Kiel 1895. — J)Se,hlichte, Selbstmord durch Vergiftung mittelst des „ungiftigon“ Ferro-
cyankatiums (des gelben BlntlaugensalzesJ. Wiirttemberger arztl. Correspondenzbl. 1895, Nr. 4-
Hnseniann.
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D.
Darm (e utzündung, Neubildung, Parasiten), Wir nehmen einige hierher-
gehörige Publieationeu in unserer Besprccbung voraus, die nur ein mittelbar
praktisch-klinisches Interesse haben, im Wesentlichen wichtigere physiologische
oder anatomische Probleme behandeln. Die durch die Untersuchungen von
GrÜtzneh (s. d. Jahrbücher 1895) angeregte und beantwortete Frage, ob und in-
wieweit durch die Einwirkung von Kochsalz auf die Darmschleimhaut
eine A utiperistaltik hervorgerufen wird, die eine Beförderung kleinster
Nahrungspartikelchen vom Mastdarme bis in den Magen hinein ermöglicht, wird
von verschiedenen Seiten experimentell geprüft. Christomanos ') findet im Gegen-
satz zu GrCtzner, wenn er das Auflecken von Darminhalt bei den Thieren un-
möglich machen konnte, dass die Hinaufwanderung von Kohle, Dycopodium u. A.
Uber die BAl'Hlx’schc Klappe hinaus, kaum je zu Stande kommt, von einer
Hinaufbeförderung aber vom Mastdarminhalt durch einen Raudstrom his in den
Magen gar keine Rede sein kann. Der Widerspruch zwischen GuÜtzxkr und
Christomaxos veranlasste Swiezixsky1) zu einer Nachprüfung bei Einhaltung
aller möglichen Cautelen. Er kommt bei seinen Versuchen zu der Ueberzeugung,
dass das in's Rectum des Menschen oder des Hundes eingeführte Lycopodium
zum Theil aufwärts bis in den Magen wandert; wahrscheinlich ist es, dass in
der That das Kochsalz die dabei in Betracht kommende Antiperistaltik hervor-
ruft. Ebenso entschieden aber bestreitet Dauber *) eine derartige Wirkung der
Kochsalzklysticre. Die Resultate, die Grützxer erzielt hat, erklärt er dadurch,
dass Klystierbestandtheile bei den Thieren per os in den Magen und Dünndarm
kommen , er hält es jedenfalls für unmöglich , wenn nicht abnorme Verhältnisse
mitspielen, dass Klystierc und darin suspendirte Körperchen die Ileocöcalklappe
nach oben überschreiten.
Untersuchungen über Darminncrvatiou veröffentlicht Pal. Es wird
nach dem gegenwärtigen Stande der Literatur angenommen, dass der Vagus den
Magen, den Dünndarm und das obere Drittel des Colon innervire. Seine Experi-
mente haben nunmehr gelehrt, dass nach Durchschneidung der Splauehnici und
der Ausschaltung des uuteren Brust- und des Lendenmarkes durch Reizung des
Vagus Bewegungserscheinungen im ganzen Colon und Rectum ausgelöst werdeu
können. Diese Reaction tritt erst nach langer Latenz ein. Sie erfolgt in dem
gleichen Sinne wie die, welche Fei.lxer bei Reizung des Plexus hypogaxtricu»
beschrieben hat, d. h. als Verengerung oder Verkürzung des untersten Darm-
stückes. Der Erfolg ist deutlicher, wenn das Rectum gefüllt ist. Die Balm dieses
Reizes dürfte der Verbindungsfaden sein, der vom Vagus zum Ganylion coelincum
zieht , aus welchem der Plexus hypoyastricus hervorgeht , der die Fasern für
das Rectum führt. Jedenfalls ist aber der Vagus der bewegende Nerv für
den gesammten Darmtract.
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J)ARM
87
Von anatomischem Interesse ist ein Beitrag zur Kenntniss der
Länge des menschlichen Darmes, den Dreier-'') giebt. Er findet, dass der
Dickdarm im Verhältnis zum Dünndarm im Erwachsenen länger ist , als bei
Kindern, die einen relativ längeren Darm als Erwachsene haben. Pathologische
Veränderungen am Darm bewirken bei Kindern eine bedeutende Verlängerung
des Organes , Phthisiker und an marastischen Zuständen Gestorbene haben einen
relativ kurzen Darm.
Die Untersuchungsmethodik des Darms, speciell die physikalische,
bespricht Obbastzow •) ausführlich , und zwar mehr in Form eines klinischen
Vortrages, dessen zahlreiche Einzelheiten hier schwer wiederzugeben sind. Aehn-
liches gilt von der Mittheilung MÜLLEr’S ’), doch hebe ich hier einen Punkt, der
mir wichtig erscheint, hervor, er bezieht sich auf das Auftreten einer Dämpfung
in der Blasengegend, bedingt durch collabirte, nach abwärts gedrängte Darin-
schlingen. Kattirlich kann auch Blasenfüllung die Dämpfung hervorrufen , doch
gehören dazu wohl 500 Ccm. Flüssigkeit, und zwar bei Männern etwas weniger.
Der Nachweis von Flüssigkeit im Abdomen gelingt bei Kindern sicher erst bei
200 Ccm. ; bei Erwachsenen erst bei 1500 Ccm. Masse. Zur Besichtigung des
Mastdarms bis in die Flexura sigm. hinein verdient das Vorgehen von
H. A. Kelly») die grösste Beachtung. Nach Entleerung des Rectums wird der
Kranke in die Knieellenbogenlage gebracht und man führt dann ein cylindrisches
Speculum ein, das mit einem Obturator versehen ist.. Nach Entfernung des
Obturator dehnt man das vorliegende Orgaustück durch Luft aus und kann nun
den Theil inspiciren. Das längste, so einführbare Speculum, das bis in die Flrx.
sigm, hinaufreicht, ist 85 Cm. lang, der Durchmesser beträgt 22 Mm. Zur
Reinigung der Schleimhaut hält man Wattebäusche und Curetten bereit. Die
diagnostischen Resultate sollen recht befriedigend sein.
Indem wir nun zu den rein klinischen Arbeiten übergehen, nehmen wir
eiue Mittheilung von Helling ») vorweg. /Es handelt sich um einen Fall von
Adhäsion des Colon an die Leber, die ziemlich sicher diagnosticirbar war.
Die Patientin ist hartnäckig obstipirt, ohne Abführmittel oder Klystier erfolgt
kein Stuhl, vorher stellen sich aber heftige, reissende und ziehende Schmerzen in
der Lebergegend ein , aber auch während der Verstopfung bestehen Leber-
schmerzen, es bläht sich dann die rechte Unterbauchgegend auf. Durch die
Operation, welche erwies, dass die Verwachsung von einer eiterigen Cholecystitis
ausging, wurde Heilung erzielt.
Dass die Perityphlitis noch immer auf der Tagesordnung steht, wird
Niemanden wundern. Die Discussion dieses wichtigen Themas auf dem 13. Congress
für innere Medicin '♦') bewirkte eine weitere Annäherung bestehender Gegensätze,
aber weder vom klinischen , noch vom pathologisch anatomischen oder experi-
mentellen Standpunkte ist dort etwas wesentlich Neues vorgehracht worden ! Be-
merkenswerth ist, dass die Ausführungen des inneren Referenten Sahli von inneren
Klinikern einige Anfechtung erfuhren , während die Auseinandersetzungen des
Chirurgen Soxnknbl’rg auf dieser Seite zum Theil Beifall fanden. Der Wider-
spruch gegen Sahli’s Ausführungen bezog sich einmal darauf, dass er den Begriff
der stercoralen Ty phlitis überhaupt leugnet. Dem gegenüber hob besonders
Stixtzixg hervor, dass die Koprostase als Gclegenheitsursache, die die Ansiede-
lung der Bakterien im Wurmfortsatz und seiner Umgebung begünstige, nicht
unterschätzt werden darf! Die Kothansammluug ist in der That, sei es primär,
sei es seeundär, recht häufig vorhanden ; wie gelegentliches Verschwinden des
Tumors, z. B. nach Clysmaapplicationen , beweist. Dieser redet auch QftxcKE
deshalb im Beginne einer nicht foudroyanten Perityphlitis gegebenen Falles das
Wort. Stärkere Anfechtung noch aber erfuhr der Satz Sahli’s, dass jede
Typhlitis, sobald sie einen nachweisbaren Tumor erzeuge, auf eiteriger Basis
beruhe. Hier widersprach vor Allem seiner reichen Erfahrung gemäss CfRSCHMAXN,
und auch die Ausführungen von Sonnexbirg über Appendicitis simpltx
88
DAUM.
zu deren Erkenntnis« er auf Grund zahlreicher Autopsien in vivo gekommen
war, stellten eine Widerlegung der SAHLt’schen Behauptung dar. So.nnenburg
führt als Kriterien für die Diagnose dieser Appendicitis simplex und für ihre
Unterscheidung von der eiterigen, perforativen Form an , dass weder der Puls,
noch die Temperatur bei den acut einsetzenden Anfallen wesentliche Aenderungen
zeigeu. Die Krankheit beginnt nicht sehr stürmisch ; sie verlauft ohne bedeutende
Störungen des Allgemeinbefindens und dauert nur kurze Zeit. Es fehlt also das
Bild einer schweren Infection, die sich durch Schüttelfrost, Fieber, Erbrechen,
Durchfall , heftige Schmerzen verräth. Wenn nun auch das Vorkommen dieser
beiden, eben charakterisirten Typen zugestanden werden darf, so scheinen mir
mittelschwere Falle, die Uebergangsformen darstellend, fast ebenso häufig zu sein,
und gerade deren Bcnrtheilung bietet grosse Schwierigkeiten : gerade für diese
Fälle gilt die Unsicherheit der Prognose; gerade hier besteht die Schwierigkeit
zu sagen, ob und wann der operative Eingriff am Platze ist. Mit irgend welcher
Sicherheit können wir den Moment, in welchem sich eine localisirte Entzündung
in oder um den Wurmfortsatz verallgemeinern wird, nicht fixiren. Bei einer
plötzlich acut verlaufenden oder beginnenden Appendicitis ist es in den ersten
Tagen unmöglich , zu entscheiden , ob es zur Begrenzung des Processes oder
zu einer allgemeinen Peritonitis kommen wird, wie dies auch Kämmerer“)
jüngst mit Recht betont hat. Unter diesen Umständen ist und bleibt die
scharfe Indicationsstellung für den operativen Eingriff bei der Perityphlitis ein
frommer Wunsch.
Diesen zweifelhaften Fallen gegenüber nimmt der chirurgische Correferent
Hklfkrich den Standpunkt ein: es ist besser, sich nachher sagen zu können,
„vielleicht wäre der Patient auch ohne Operation gesund geworden“, als „durch
Operation wäre der Patient zu retten gewesen“. Ist man überzeugt , dass durch
das chirurgische Vorgehen keine Gefahr heraufbeschworen wird , so ist diese
Auffassung gewiss berechtigt , aber als ganz gefahrlos kann man den Eingriff
der Operation in kritischen Fällen nicht ansehen.
Immerhin zeigt sich bereits in gewissen Punkten eine erfreuliche Ueber-
eiustimmung in der Indicationsstellung zwischen inneren und chirurgischen
Klinikern. Die hier von Sahli aufgestellten Gesichtspunkte beweisen die sich
vollziehende Annäherung und verdienen als gut begründete zum Schluss hervor-
gehoben zu werden. Er empfiehlt für die ersten Tage der Krankheit Ruhe und
Opium, vollkommene Abstinenz der Nahrung. Geht nach 3, längstens nach 8 Tagen
die Affection nicht ganz erheblich zurück, so ist unbedingt der operative Eingriff:
Entleerung des Eiters, Entfernung des Wurmfortsatzes etc. vorzunehmen. Als
weitere Indicationen zur Operation giebt er 2. an : anhaltendes Fieber oder
Schüttelfrost gleich im Beginn der Krankheit, 3. Wiederauftreten von Fieber und
Schmerzen nach anfänglich scheinbar benignem Verlauf; 4. nachträgliche Ver-
schwärung des Wurmfortsatzes, selbst wenn spontane Entleerungen des Eiters in
den Darm u. s. f. stattgefunden haben.
Die merkwürdige und unerklärte Verbindung von Appendicitis
und rheumatischer Gelcnkaffection ist wieder mehrfach in England beob-
achtet worden, und zwar von Sl'THEBLAND 1J , Frazek la), Brazil. “) In allen
mitgetheilten Beobachtungen war der Erfolg des Xatron salicyl. auch auf die
Rückbildung der Darmartection ganz evident. Von Dickdarmentzündungen
handelt ein Aufsatz von Hale White. lst Er unterscheidet eine einfache, mem-
branöse und nlceröse Colitis. Bei der Colitis simplex ist Diarrhoe das hervor-
stechendste Symptom; die Stühle sind schleimig, auch etwas bluthaltig; Druck -
empfindlichkeit des Leibes, vorwiegend über dem S romanum : mässige Leibschmerzen
sind fast constant vorhanden; Dyspepsie, Erbrechen und Temperatursteigerang
finden sich nur bei schwereren Fällen. Indes« dürfte hiermit die Symptomatologie
der einfachen Colitis nach unserer Ansicht nicht erschöpft sein , da in einer
grossen, vielleicht noch grosseren Zahl von Fällen Verstopfung oder der Wechsel
lOode
DARM.
89
von Verstopfung und Diarrhoe bestehen kann. Das, was White über die mem-
branöse Colitis sagt , ist wohlbekannt und im Allgemeinen zutreffend. Was die
ulceröse Form angeht, so kommt sie am häufigsten im mittleren Lebensalter bei
beiden Geschlechtern vor. Sie ist ausgezeichnet durch starke Leibschmerzen und
heftige Diarrhoen. Selten besteht schwerer Tencsmus, was zur Unterscheidung
von Dysenterie dient. Die Entleerungen sind übelriechend und nicht selten mit
viel Blut vermengt , Schleim fehlt in grösseren Mengen , dagegen trifft man
gelegentlich fetzige, gangränöse Partikelchen ; es besteht Fieber. Der Tod erfolgt
gemeinhin durch Erschöpfung oder Perforationsperitonitis. BRlGHT'seho Krankheit,
Gicht , Leberabscess bestehen neben der Darmaffeetion , deren Behandlung nur
eine symptomatische sein kann, häufig.
Als ein brauchbares Medicament bei chronischen Darmkatarrhen , die
mit Diarrhoen einhergehen, habe ich16) das Nosophen, Tetrajodphenolphthalein
empfohlen. Auch die Wismuthverbindung dieses Körpers, Eudoxin genannt, hat
sich mir wiederholt bewährt. Nach den bisher gemachten experimentellen und
klinischen Erfahrungen dürfen diese im Wasser unlöslichen chemischen Stoffe
wohl den Darmdesinficientien zugerochnet werden. Man verordnet vom Nosophen
oder Endoxin, die durchaus ungiftig sind, Dosen von 0,3 — 0,5 3mal täglich ohne
weiteren Zusatz. Die von Flein KR zuerst empfohlenen und auch von mir erprobten
Oelklystiere zur Behandlung der chronischen Obstipation rühmt auch Berger16),
und zwar bei jeder Art der Verstopfung.
Ueber multiple Polypenbildung im Tractus intestinalis und
deren Beziehung zur Krebsentwicklung verbreitet sich J. Hai’SER ,T) aus-
führlich. Es handelt sich um Entwicklung massenhafter, warzenartiger und poly-
pöser Schleimhautwucherungen des ganzen Darmcanaleg und der Fortio pylorica
des Magens, die auf eine primäre Erkrankung, respeetive Entartung des Drüsen-
epithels zurückzufllhren ist. Der hier mitgetheilte Fall war mit Carcinoma recti
combinirt. Der Zusammenhang ist wohl so zu erklären, dass diese Wucherungen
in Folge der Beschaffenheit des Epithels und des chronischen Heizungszustandes,
in dem sie, namentlich in den tieferen Abschnitten des Dickdarms durch die fort-
währende Einwirkung mechanischer Insulte erhalten werden , eine erhöhte Dis-
position zu krebsigen Entartungen bekommen. Ein gleichwerthiger Fall, der
einen 19jährigen Jüngling betrifft, wird von Port16) mitgetheilt.
Als Curiosum erwähne ich zum Schluss das Auftreten von Flagellaten
im Darmcanal nach Schürmayer die beobachtete Form von niederen Infusorien
aus der Ordnung der Flagellaten war 12 — 14 ut lang, 4 — 5 u. breit. Der Leib
war spindelförmig, endete hinten spitz, hatte vorn zwei derbe Cilien, die länger
als die Zelle waren. Die Parasiten glichen am meisten Trichomonas, sie bewirkten
heftige Diarrhoen.
Literatur: ') Cbristomonas, Zur Frage der Antiperistaltik. Wiener klin. Rund-
schau. 1895, Xr. 12. — 5) Swiezinsky, Nachprüfung der Grützner'schen Versuche Uber das
Schicksal von Rectalinjectionen an Menschen uud Thieren. Deutsche med. Wochenschr. 1895,
Nr. 32 — s) Da über, Ueber die Wirkung von Kochsalzklystieren auf den Darin. Deutsche
med. Wochenschr. 1895, Nr. 34. — *) J. Pal, Ueber Darminnervation. Wiener klin. Wochen-
schrift. 1895, Nr. 29, 30. — Dreikc, Ein Beitrag zur Kenntniss der Lange des mensch-
lichen Darmes. Deutsche Zeitsehr. f. Chir. XI.1V. — s) Obrastzow, Ueber die physikalische
Untersuchung des Darmes. Arch. f. Verdauungskh. I. — ’) F. Müller, Einige Beobachtungen
aus dem Percnssionscurs. Berliner klin. Wochenschr. 1895, Nr. 13. — ‘) H. A. Kelly, A new
method of eramination and treatment of diseases of the rectum and siymoid fiexura. Ann.
of Snrgery. April 1895. — 0 Kelling, Casuistischer Beitrag zur Diagnose der Adhäsion des
Colons an die Leber. Arch. f. Verdauungskh. I. — *•) Sahli, Sonuenburg, Stintzing,
Curschmann, Quincke, Die Pathologie und Therapie der Typhlitiden. Verhandlungendes
13. Congresses für innere Medicin. — ") Kämmerer, Zur Prognose der Appendicitis. New-
Yorker med. Monatschr. VIII, Nr. 7- — Sutherland, Appendicitis and Hheumatism.
I.ancet. 1895, II, pag. 457- — **J Brazil, Brit. med Journ. 1895, I, pag. 1142. — **) Frazer,
Ibid , pag. 1320 — ,!) Rosenheira, Ueber Nosopheiu bei Darmaffcetionen. Berliner klin.
Wochenschr. 1895, Nr. 30. — 1,;) Berger, Ueber die Behandlung der chronischen Obstipation
durch grosse Oelklystiere. Deutsche med. Wochenschr. 1895, Nr. 30. — ,:)G. Hauser, Ueber
90 DARM. — DERMATOMYKOSEN.
Polypoxi* intestinalis und deren Beziehungen zur Krebsentwicklung. Deutsches Arch. f. klin.
Med. LV. — ,s) Port, Multiple Polypenhildung im Darmcanal des Menschen. Deutsche Zeit-
schr. f. Chir. XLII. — ltf) Schürmaver. Uel>er das Vorkommen von Flagellaten im Dann-
canal des Menschen. Centralbl. f. Bakteriol. u. Bakterienk. XVIII, Nr. 11. Rosen heim.
Darmdesinfection bei Typhus, s. Abdominaltyphus, pag. 4.
Dermatol, bei scrophulöscr Conjunctivitis, s. A u gen bei 1 mit tel, pag. 27.
Dermatomykosen. Zu den Mykosen der Haut im weitesten Sinne
gehören sowohl die durch Bakterien, als durch pflanzliche Parasiten und die durch
„makroskopische“ Parasiten hervorgerufenen Affcctionen. Im HEBBA'schen System
bilden die parasitären Dermatosen die zwölfte Classe: nicht enthalten in derselben
sind aber die durch Bakterien hervorgerufenen Krankheiten.
Im Allgemeinen — nicht ganz logisch — versteht man unter mykotischen
llauterkrankungen ans der Classe der parasitären Erkrankungen nur die, die
durch nicht bakterielle, pflanzliche Parasiten hervorgerufen werden, also:
Favus , Herpes fonsurans (Trichophytie), Pityriasis rose de Gibst t,
Eczema maryinatum, Erythrasma und Pityriasis versico/or.
A. Favus und Trichophytie.
Es kann nicht in der Absicht dieser Cebersieht liegen, (Iber die in
Frage stehenden Affectionen eine vollständige Abhandlung zu schreiben — da-
durch würde der Rahmen, der dieser Arbeit durch die Verhältnisse des vor-
liegenden Werkes gezogen ist, weit überschritten werden. Es sind aber gerade
über die Parasiten, welche die mykotischen Hauterkrankungen, speciell den Favus
und die Trichophytie hervorrufen, in den letzten Jahren so zahlreiche, besonders
das allgemein - pathologische, in gewissem Sinne aber auch das therapeutische
Interesse beanspruchende Arbeiten veröffentlicht worden , dass eine Uebcrsicht
Uber das, was bis heute erreicht ist, ein allgemeineres Interesse beanspruchen darf.
I. Die Frage der Unicität oder Pluralität der Erreger des Favus und der
Trichophytie.
Seit einigen Jahren ist ein heftiger Streit entbrannt, ob die durch
Züchtung dargethanen verschiedenen Formen der Pilze des Favus und der
Trichophytie nur auf einem Poly- oder Pleomorphismus eines und desselben Pilzes
beruhen, oder ob wir es mit verschiedenen Speeies von verwandten Pilzen, denen
einander zwar ähnliche, aber doch deutlich differenzirte klinische Krankheitsbilder
entsprechen, zu thun haben.
Wir wollen nicht auf die älteren Arbeiten zurfickgreifen, in die Zeit,
als man nicht einig war, ob Fants, Herpes tansurans und Pityriasis versico/oi
verschiedene Erscheinungsformen einer und derselben Pilzinfection seieu, oder ob
es sich um drei wohlunterschiedene Pilze handle.
Die rebertragung der durch Koch s Entdeckungen in der Bakteriologie
gewonnenen Erfahrungen auf die pflanzlichen Parasiten schien hier ein weites
und dankbares Feld der Forschung zu eröffnen. Und so sehen wir denn, be-
sonders lebhaft in den letzten fünf Jahren, eine Reihe von Forschem mit der
Bearbeitung dieses (iebietes der Dermatologie beschäftigt.
An anderen Fragen bakteriologischer Natur geschult, suchten diese
Forscher die Pilze, welche als Ursache der Dermatomykosen bekannt waren, zu
züchten, ihre biologischen Eigenschaften zu studiren.
Aber gerade der wesentliche Punkt bei diesem Studium, die Herstellung
von Reinculturen, stiess auf ausserordentliche Schwierigkeiten.
Die Schwierigkeiten, aus Material, wie Haare, Schuppen, Krusteu.
Theilen, die. an der Oberfläche der Haut liegend, mit allen möglichen Schimmel-
pilzen und bei secundären Eiterungen auch Eiterungserregern vermischt sind,
Reinculturen zu gewinnen, sind schon an und für sich gross. Aber die Schwierig-
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DERMATOMYKOSEN. RI
keilen sind noch weit anderer Natur; sie liegen, wie wir sehen werden, in dem
N'ebeneinanderleben je nach der Zusammensetzung des Nährbodens zu ganz ver-
schiedenen Zeiten zur Entwicklung kommender Filze — Sabol'RAUD bezeichnet
dieselben als „Commensalen“.
a) Favus.
Schon die erste QnxcKE’sche ’) Arbeit Ober den Favuspilz, Acliorion
ikhoenleinii , traf den Punkt, um den sich heute besonders der Streit zwischen
Uxxa, KrAl-Pick, Sabopbaüd und Mibki.u dreht — um die Pluralität des
verursachenden Parasiten.
Es stand zwar fest, dass speciell auf dem Huhn zwei Arten von Favus
zur Beobachtung kommen, eine dem Huhn eigenthlimliche und ausserdem der
menschliche Favus, der sich auf das Huhn verimpfen liess ; weiter hatte man
Favus auf dem Hund und Pferd nachgewiesen.
Aber Qdixckk war der erste, der eine Pluralität des Favus auf dem
Menschen angab — den a, fl und y Pilz, die er in einer späteren Arbeit auf
den x und y Pilz reducirte. Er fasste seine Resultate zusammen in die Sätze *) :
I. Favus wird nicht durch einen und denselben, sondern mehrere mikro-
skopisch und culturell verschiedene, wenn auch nahe verwandte Pilze erzeugt.
II. Mit den sich ergebenden bakteriologischen Unterschieden decken
sich die gesetzten klinischen Erscheinungen bis zu einem gewissen Grade, indem
die eine Pilzart nur bei der als Herpes faveticus bezeichneten Veränderung der
Haut vorzukommen scheint.
ln diesen zwei Sätzen ist das ausgedrückt, was seither zu zum Theil
heissen Controversen geführt hat — und zwar sowohl für den Favus, wie für
den Herpes tonsurans ; man kann auch bis heute nicht sagen, dass die Frage
für beide Erkrankungen in dem einen oder andern Sinne definitiv entschieden
sei. Auf die Frage: Gieht es eine Pluralität der Pilze, welche die Affection hervor-
rufen, die wir als Favus, als Trichophytie bezeichnen, antworten die Einen
ebenso entschieden und mit guten Gründen besonders für den Favus mit Nein,
wie die andere Partei gestützt auf das Experiment das Gegentheil versichert.
Und ebensowenig sind die Anhänger der Pluralität der Pilze bis heute darüber
einig, ob jeder Pilzart eine klinisch scharf charakteristische Erkrankungsform
entspricht.
Abgesehen von der grossen Schwierigkeit, die sieh — wir kommen
darauf zurück — in der Herstellung der Reinculturen, besonders wegen der
vou Sabouraud als „Commensalcn“, „Tisehgenossen“, bezeichneten acces-
sorischeu Pilze, der Auswahl der geeigneten Nährböden einer baldigen einheit-
lichen Entscheidung der Frage entgegenstellen, scheint mir eine andere, viel
grössere Schwierigkeit in der Unmöglichkeit zu liegen, die gezüchteten Pilze
genau zu bestimmen, nach Arten zu ordnen. Die Botaniker selbst sind, wie
Doctrelkpoxt s) sehr richtig schon auf dem C’ongress 1889 bemerkte, noch
nicht so weit, die uns interessirenden Pilze genau nach Arten sondern zu können.
Und bei der nämlichen Gelegenheit führt Kaposi *) einen Ausspruch de Bary’s
an: „So lange die Dinge klinisch anders aussehen. haben wir Botaniker nicht
das Recht zu sagen, dass diese Pilze von einer PHanze herrühren, weil wir
diese Pilze nach ihren morphologischen und Eutwicklungseigenschaften vorderhand
zu unterscheiden nicht im Staude sind.“ Wir Aerzte sind hier gegenüber den Bo-
tanikern meinem Gefühle nach in der gleichen Lage wie die Aerzte, welche sich
mit physiologischer Chemie beschäftigen, gegenüber den Chemikern vom Fach sind
— die Chemiker sehen den Arzt chemische Formeln, organische Umsetzungen
anfstellen, deren Ausgangsformel und Ausgangsproduct vollständig hypothetisch
sind, und demgemäss fällt das Urtheil des Chemikers aus!
Die IjiTXCKK’schen Untersuchungen — die Ergebnisse hat QnxcKK
übrigens in späteren Publica tion en ‘) aufrecht erhalten — wurden zunächst
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DERMATOMYKOSEN.
92
in Doctrklepoxt’s Klinik von Fahry ä) wieder aufgenommen. Fabky drückt
sieh vorsichtig dahin ans, dass der a-Pilz selten sein müsse, denn es sei ihm
nie gelungen, denselben zu züchten ; die Form des Favus herpetica* werde
offenbar manchmal auch durch den v-Pilz hervorgerufen.
Elskxbehg e) bestätigte zunächst im wesentlichen Qcixcke’s Befunde, in
einer späteren l’ublieation ’) stellt er sich aber auf den Standpunkt P.ck-Khal’s.
Pick ?) hatte schon 1887 die Richtigkeit der Quinte E’schen Resultate
auf Grund eigener Impfresultate in Zweifel gezogen. Aus seiner Klinik ging
nun eine Reihe von sehr wichtigen und mit grosser Schärfe durchgeführten
Arbeiten hervor.
Zunächst auf dem deutschen Dermatologencongress 1889 stellte Krai, »)
eine Reihe von Culturen aus von sechs Fadenpilzen, die er aus Favus und von
3 Fadenpilzen , die er aus Eczema marginatum gezüchtet hatte, ohne hieraus
Schlüsse auf die Pluralität des Favuserregers zu ziehen. Ebenso demonstrirte Jadas-
sohn l0) Favusculturen , ohne sich entschieden für oder gegen Quincke auszu-
sprechen.
Kkal n) setzte seine Versuche fort, nach Vervollkommnung seiner Technik,
worauf wir weiter unten noch näher eingehen werden, und veröffentlichte die-
selben gemeinschaftlich mit Pick. **)
Das Ergebniss dieser Arbeit fassen die beiden Autoren dahin zusammen,
dass es nur einen Favuspilz giebt; der Grund für die Verschiedenheit der
genetischen Entwicklung des Favus — ob herpetisches Vorstadium oder nicht
— liegt in der anatomischen Verschiedenheit der Oertlichkeit und in der Ver-
schiedenheit der Ilebcrtragungsweise. Gleichzeitig geht aber, so schliesst Kral
(pag. 111) seine vorzügliche Arbeit, „aus diesen Untersuchungen hervor,
dass keiner der bisher beschriebenen Favuspilzc mit unseren Favus-
erregern identisch ist“.
In einem späteren Vortrage präcisirt Pick15) die Untersuchungsergebnisse
noch einmal dahin :
1. „Dass der einem Scutnlum vom behaarten Kopf entnommene Pilz
bei Ueberimpfung auf unbehaarte Körperstellen eine mächtige Favuserkrankuug
hervorzurufen im Stande ist, und dass sich die Entwicklung der Krankheit bei
epidermoidaler Impfung vorwiegend unter dem Bilde eines herpetischen Vor-
stadiums vollzieht.“
2. „Dass der demselben Scutulum entnommene Pilz, nachdem er auf
Agar gezüchtet wurde, durch Ueberimpfung auf unbehaarte Hautstellen dieselbe
Krankheit und unter demselben Bilde zu erzeugen im Stande ist.“
3. „Dass die aus beiderlei Arten von Impfscutulis gezüchteten Pilze
mit dem aus genuinen Herden gezüchteten Parasiten übereinstimmeu.“
„Ich glaube daher die Kette als geschlossen betrachten zu dürfen, den
Favus als einen einheitlichen Krankheitsprocess dargethnn zu haben und den
wohlcharakterisirten Pilz als den Erzeuger der Krankheit bezeichnen zu können.“
Aus den klinischen und experimentellen Beobachtungen dieser Arbeit
ging ferner hervor:
1. Dass die Entwicklung der Scutula nicht an die Anwesenheit von
Haarbälgen gebunden ist.
2. Wann und unter welchen Bedingungen cs zur Entwicklung des Favus
herpeticus kommt, und dass diese Favusform nur von der Beschaffenheit der
Haut und dem Modus der Uebertragung abhängt.
3. Dass es ausser dem Favus scutularis und herpeticus noch eine
dritte Erkrankungsform an Favus giebt, der Farns maculosus, welcher analog
dem Herpes tonsurans maculosus in acuter Weise und oft über den ganzen
Körper verbreitet auftritt und nachweislich durch denselben Favuspilz hervor-
gerufen wird wie der Favus scutularis und der Favus herpeticus.
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Hl
Während nun die Arbeiten von Mibelli '*), Ddbreitlh15), Mariaxklli14)
und FuLLY u) einen einzigen, und zwar mit dem von KbäL-Pick identiselien Pilz
als Ursache des Favus ergeben haben, sind aus dem UNNA’sehen Laboratorium
eine Reihe von Arbeiten hervorgegangen, durch welche die Pluralität der Favus-
pilze und entsprechende verschiedene klinische Formen der Erkrankung dar-
gelegt werden.
In einer in Unna’s Laboratorium ausgefflhrten Arbeit stellt Frank ’•)
folgende drei Fragen :
1. Ist der Favus der Thiere identisch mit dem des Menschen?
2. Giebt es verschiedene Favi des Menschen, respective des Thieres oder
nur einen?
3. Im Falle, dass von den verschiedenen, bisher als Favus beschriebenen
Hyphomyceteu nur einer der richtige ist, welcher Pilz ist als solcher zu be-
trachten ?
Die erste Frage ist uicht scharf zu entscheiden; die Uebertragung des
F avus von Mensch auf Thier und vice versa ist bewiesen ; doch bleibt es späteren
Versuchen Vorbehalten, zu prüfen, inwiefern vielleicht ein bestimmter Favuspilz
in dominirender Weise bei einer Thierspecies oder beim Mensehen vorkommt.
Die zweite Frage ist dadurch beantwortet, dass dem Verf. die Züchtung
von drei verschiedenen Species von Favus geglückt ist aus vier Rcinenlturen vom
Menschen und einer Rcineultur von Mäuse-Favns. Damit ist auch die dritte Frage
beantwortet.
In einem Vortrag theilt dann Unna >*) weitere Untersuchungen über
die drei Favusarten mit, und zwar giebt er ihre klinischen und culturellen Unter-
schiede an. Er bezeichnet dieselben als Favus yriseus , Favus sulfureus tardus
und Favus sulfureus celerior. Eine beigegebeue Tafel stellt, auf einem Arm
nebeneinander, die gelungene Impfung mit dem Pilz des Favus yriseus und des
Favus sulfureus celerior dar. Auf Mäusen haben alle drei Formen typische,
aber durch charakteristische Merkmale unterschiedene Scutula gegeben, ln einer
späteren Mittheilung !0) giebt UNNA die botanische Beschreibung dieser Pilze, die
er als Achorion euthythrix ( Favus yriseus), Achorion dikroon (Favus sulfureus
tardus), Achorion atakton (Favus sulfureus celerior) bezeichnet.
Schon in den beiden vorstehenden Arbeiten deutet Unna darauf hin,
dass die Zahl der Favusspecies noch viel grösser ist. Die weiteren Mitlheilungen
erfolgen in einer gemeinsamen Arbeit mit Nkebe. ,ki Hier werden neun rein
gezüchtete, wohlunterschiedene Favusspecies angegeben. Dieselben werden in
zwei grössere ClaBsen : aerophile und aerophobe Arten eingetheilt. Erstere bilden
reichliches Luftmycel, Luftsporen, keine Anschwellungen: letztere geriuges Luft-
mycel, keine Luftsporeu, geformte Anschwellungen. Ausserdem haben sich Ver-
schiedenheiten ergeben — auf gleichem l'ulturmedium — zwischen den aus
verschiedenen Gegenden eingesandten Pilzen, so dass Unna einen Favus sardini-
ensis, Favus scoticus, batavus, hamburyensis, bohemievs, polonicus unterscheidet.
Unna ist aber weit entfernt zu glauben , dass hiermit die Zahl der wohl-
charakterisirten Favuspilze abgeschlossen ist.
Die Arbeiten seither über Favus beschäftigen sich nun fast ausschliess-
lich mit der Controle und Kritik der UNNA'schen Arbeiten. Zunächst nennen
wir eine Untersuchung von Sabhazks. *') Er hat deutlich differenzirbare Favus-
species vom Menschen, vom Huhn und vom Hund gezüchtet. Diese kurze Arbeit
ist vom höchsten Interesse uud enthält eine Fülle von wichtigen Daten, die für
die Beurtheilung der ganzen Frage viel zu denken geben. Zunächst hat Sabrazes
von 17 Fällen von Menschenfavus lTmal den gleichen Pilz in Rcineultur erhalten.
Culturen dieses Pilzes ergaben auf Mäusen typische Scutula; Impfungen von
diesen Scutulis auf Männern meist eine abortive Favusform; auf Hasen und
Hühnern waren die Impfresultate positiv, auf Hunden negativ. Aus den vom
Thier gewonnenen Pilzen konnte stets der ursprüngliche Pilz in Rein-
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cultur gewonnen werden. Das Achorion Sabrazes’ ist identiseli mit dem von
Krad, Mibelli, Pi.aüT und stimmt (Hierein mit dem Achorion atakton und
dikroon Unna ’s.
Kiner der Hauptunterschiede zwischen diesem Menschenfavus und dem
Favus vom Huhn und dem vom Hunde ist, dass elfterer gut bei 2f> — 37°, gar
nicht hei 13° wächst, während die beiden letzteren bei 13“ gut wachsen.
Der Favus des Huhnes ist klinisch und mikroskopisch ein echter Favus,
liervorgerufeu durch das Epidermophyton gaUinae Meynin. Der Htlhnerfavus
hat beim Menschen nach den experimentellen Ergebnissen niemals Scutulabilduug
zur Folge, sondern nur erythemato-squamöse Flecken. Auf der Maus bilden sich
sehr langsam wachsende graue Scutula.
Der Favus des Hundes ist ebenfalls klinisch und mikroskopisch ein
echter Favus. Auf der Maus hat die Impfung des Hundefavus eine sehr rasche,
maligne Favusentwicklung zur Folge; die Scutula sind tiefgelb, leicht röthlich.
Uebrigens ist der Pilz ganz unverändert rein aus diesen Mäusescutulis wieder
zu züchten. Die Impfung auf Hühner hat ein negatives Resultat ergeben.
Die Impfung dieses Pilzes auf Menschen ergiebt nur Herpes tonsurans-
artige Flecken; nur einmal — und dieses Factum durfte biologisch vielleicht von
grösster Bedeutung sein — wurde mit dem Pilz des Ilundefavus Scntulabildung
beim Menschen beobachtet, und zwar aus einer Cultur von einem durch Hundefavus
auf der Maus erzeugten Scutulum.
In einer späteren Arbeit mit Costaktin**) gemeinsam wird noch eine
genauere Beschreibung der Culturen der verschiedenen Pilze gegeben.
Der Menschenfavus, Achorion Schoenleinii, Oospora porriyinis, ist eine
einheitliche Art; von der von Unna angenommenen Multiplicität dieser Species
hat sich Sabrazes nicht überzeugen können.
Der Hundefavus ist als Oospora canina, der Hühnerfavus als Epider-
mophyton gal/isiae bezeichnet.
Biro **) hat mit Erfolg den Elsenberg 'sehen Favuspilz auf sich
geimpft. Er ist der Ansicht, dass die Differenzen zwischen den verschiedenen
Autoren nur auf den Polymorphismus eines und desselben Pilzes zurückzuführen
sind, und dass diese Differenzen nur durch die Verschiedenheit der Culturmedien
bedingt sind.
Dieselbe Ansicht spricht im wesentlichen TisCHOUTKtNK *’) aus.
Die Arbeiten aus dem BESXlER'schen Laboratorium, denen wir uns nun
zuwenden, sind von ausserordentlicher Klarheit, Kritik und Vorsicht in der
Auslegung der eigenen Resultate. Wir werden uns mit den Ergebnissen besonders
der SABOL'RAt'D’schen Arbeiten weiterhin noch eingehend zu beschäftigen haben.
Bodin s‘) kommt in seiner ersten Arbeit zu folgenden Schlüssen :
„1. Die Pluralität der Favusarten ist heute nicht mehr zu bestreiten.
2. Die Zahl der Favusarten scheint sehr gross zu sein. Es ist deshalb
nicht angängig, dass man eine Favusart schon jetzt nach dem Individuum (Mensch,
Thier) benennt, auf dem man den Pilz gefunden hat. Denn es ist ganz unbe-
wiesen, dass ein Thier nicht mehrere Favusarten haben und dieselbe Favnsart
nicht auf mehreren Thieren Vorkommen kann.
3. Ebenso ist es verfrüht, Favusarten nach dem Lande zu bezeichnen,
in dem sie gefunden sind. In einem Lande können mehrere Arten Vorkommen
und die gleiche Favusart kann man in mehreren Ländern linden. So haben wir
z. B. nur vom Menschen auf einem beschränkten Bezirk auf 19 Fällen 7 Arten
gezüchtet.
4. Da die Zahl der Favusarten sich jetzt selbstverständlich nicht Voraus-
sagen lässt, so muss man von vorucherein die weitere lsolirung von ein oder
zwei neuen Arten als sehr leicht, aber auch als von nur secundürem Interesse
ansehen. Es sei denn, dass man diese bestimmte Art sofort beim Menschen
diagnosticircn und bestimmte Angaben über Prognose und Therapie machen kann.
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Man «oll sich vor Difterenzirungen rein theoretischer Art hüten, denn sie sind
für den Arzt vollständig werthlos.“
Die Resultate der zweiten Arbeit26) widersprechen denen der ersten
Arbeit zum Theil diametral. Obwohl in den Conelusionen Punkte enthalten
sind, die wir erst weiterhin zu erörtern haben, so wollen wir doch das Ganze
hier geben:
I. Der erste Factor in der Aetiologie des Favus sind Favuskranke —
sie sind durch directe oder indirecte Contagion die Ursache des Menschenfavus.
Contagion vom Thier kommt zwar vor, ist aber viel seltener.
Vielleicht existirt das Achorion auch als Saprophyt. Demgemäss würde
der Mensch dann auch frei in der Natur dem ursprünglichen Keim der An-
steckung begegnen können.
II. Klinisch hat man mit Recht verschiedene Favusformen aufgestcllt
i Fokus impe'igineux, Favus alypique). Gleichwohl ergiebt eine aufmerksame
Untersuchung der primären Läsionen (Scutula, Haare', dass diese primären
IJisionen sich immer gleich bleiben. Die Unterschiede zwischen den klinischen
Formen dürften anf secundäre Eigenschaften zurüekzufiihren sein, auf Zahl, An-
lagen, Intensität der Läsionen und auf die Association beliebiger Mikroorganismen
mit dem Achorion Schoeuleinii.
Während bei den Trichophytien die elementaren Charaktere der Affeetion
grosse Verschiedenheiten darbieten können, dürfen wir, scheint es, trotz des
manchmal sehr verschiedenartigen Aussehens schliessen, dass es klinisch nur
einen Favus giebt.
III. Die mikroskopische Untersuchung der Favus-Läsionen kann uns bei
dem heutigen Staude unseres Wissens keine Beweise bringen , weder für die
l'nität. noch für die Pluralität des Favus. Man kann mit Recht einerseits sagen,
dass sieh alle Favusforinen in den Haaren in allen Fällen sehr ähneln, andererseits
muss man zugeben, dass es sehr zahlreiche Formen giebt.
Dieser Polymorphismus erstreckt sich selbst auf die Haare eines und
desselben Individuums; er lässt die Unität des Parasiten weniger augenfällig
werden, auf den andererseits zahlreichere Untersuchungen hinzuweisen scheinen.
IV'. Aus dem Studium der C’ulturen des Achoriou ergiebt sieh Folgendes:
A. Das Culturmedium spielt für das Achorion, wie für alle Pilze, eine
überaus wichtige Rolle.
Wenn man dem nicht Rechnung trägt, so sind die erzielten Resultate
als Experiment werthlos.
B. Bei den Achorion-Uulturen, wie bei denen der grosssporigen Tricho-
phyten, kommen kryptogamische Associationen vor, und zwar in */i aller Fülle.
Die assoeiirten Pilze haben keine pathogene Bedeutung und scheinen
sieh dem Achorion nur gleichsam als Tischgenossen zuzugesellen.
C. Zweifellos giebt cs Varietäten des Achorion; sie sind nicht zahlreich
und stehen einander sehr nahe, scheinen aber trotzdem wohl unterschieden zu
sein. Denn wenn man sie mehrfach anf den verschiedensten Medien gezüchtet hat,
kann man gleichwohl niemals eine Form in die andere überführen.
Auf 50 Favii8krnnken haben wir fünf Varietäten des Pilzes gefunden
und zwar der Frequenz nach:
1. das von Krai. beschriebene Achorion Schoeuleinii :
2. u. 3. zwei Varietäten, deren Beschreibung wir noch nicht bei anderen
Autoren angetroflen halten ;
4. das Achorion euthythrix Unnae;
5. das Achorion ataklon Unnae.
Vom botanischen, cryptogamischen Standpunkt ist demnach die Pluralität
der Favusarten des Menschen bewiesen. Bis jetzt hat aber die sorgfältigste Unter-
suchung der Läsionen in keiner Weise erlaubt, bestimmte Beziehungen zwischen
der ätiologischen Favusform und der klinischen Form aufzustellen.
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yt>
Entjiegcn dem, was sieh hei den Trichophytien ergeben hat, mit denen
der Favus in der Pluralität der Arten sich gleicht, ist es nicht möglich gewesen,
bestimmten Favusarten bestimmte klinische Bilder gegentiberzustellen.
Für jetzt wenigstens hat also die Thatsache der Pluralität des Favus
keine praktischen Folgen für die Klinik; sie bleibt vorläufig von rein wissen-
schaftlichem Interesse.
V. Die thatsächliche Art der Fructifieation des Aehorion ist bis jetzt
unbekannt und demgemäss ist die Classification der Pilze der Zukunft Vor-
behalten.“
Als Pick a") auf dem vierten Congress der deutschen dermatologischen
Gesellschaft eine Uebersieht Uber den augenblicklichen Stand der Dermatomykosen -
lehre gab, konnte er die Boi>in 'sehen Favusarbeiten noch nicht berücksichtigen.
Auf Grund der eigenen und KRÄt/schen Untersuchungen kommt er in seinen
UNNA kritisirenden Ausführungen zu dem Kesultate, dass wir (1. c. pag. 71)
heute den Nachweis als einwandfrei erbracht ansehen müssen , dass die als
klinische Einheit aufzufassende Krankheitsform des Menschen, der Favus, durch
einen einzigen specifischen Pilz, das Aehorion Schoenleinii, erzeugt wird.
Näher ansgeführt wird der KRÄD-PtCK’sehe Standpunkt in einer
sehr klar durchgeführten Arbeit von Kral*"), in denen er zu folgendem
Schluss kommt:
Wuchs-, Form-, Pigment- und Rcactionsvariationen berechtigen au und
für sich , ein identisches pathogenes Verhalten innerhalb gewisser klinischer
Grenzen vorausgesetzt, nicht zur Aufstellung von neuen Arten der pathogenen
nautfadenpilze.
Meine eigenen Erfahrungen lassen mich fast unbedingt den BODIN'schen
(Besnier 'sehen) Sätzen anschliessen. Dass speciell die Multiplicität der Favus-
pilze zur Aufstellung klinischer Unterscheidungsmerkmale heute nicht berechtigt,
habe ich verschiedentlich durch das Experiment feststellen können. Ich habe,
stets bei Favuskranken, die mir in leider zu grosser Zahl zur Verfügung stehen,
von Formen, die man klinisch als Farns griseus bezeichnen könnte, auf Kranke
geimpft, die typische gelbe Scutula hatten, und umgekehrt. Und mehrfach ist
die positive Impfung so ausgefallen, dass Farns griscus auf einem anderen In-
dividuum Favus sulfureus gab und umgekehrt.
h) Trichophyton.
Für die Tinea , welche durch den Triebophytonpilz oder besser die
Trichophytcnarten hervorgerufen wird, ist die Zahl der Untersuchungen nicht
so gross; für die Behandlung und Beurtheilung einer ganzen Reihe der für die
Mykosen der Haut in Betracht kommenden Fragen sind aber gerade diese Arbeiten,
und besonders die Arbeiten von Saboijradd, von der grössten Bedeutung.
Dlclai'X *•) hatte zuerst Reinculturen des Trichophyton in flüssigen
Medien dargestellt; Grawitz (s. oben) züchtete sie zuerst auf festem Nährboden.
DlCLArx’ Untersuchungen wurden von Vkrusjki *•) aufgenommen und
seine Resultate bestätigt.
Die Arbeit von Roberts*1) geht von der Voraussetzung einer Tricho-
phytonspccies aus, deren Entwicklung in Reincultur beschrieben wird. Unna ss)
beschreibt noch in seiner Flora dermatologica 1890 einen Trichophyton-
pilz (Nr. XII). Auch in der aus Unna’s Klinik hervorgegangenen Arbeit von
Scharf **) — Impfung mit Trichophyton — ist nur von einem Pilz die Rede.
Bald darauf jedoch gieng aus Unna’s Laboratorium eine Arbeit hervor, in der
die Pluralität der Triehophytonpilze ausgesprochen wird. FfRTHMANN und
Neehe*4) waren, unter Ueberlassung der Reinculturen von Trichophyton, von
Unna beauftragt worden, zu untersuchen, „ob die Trichophytie durch einen ein-
heitlichen Pilz verursacht würde oder ob vielleicht mehrere Pilze für die uns als
Trichophytie bekannte Hautkrankheit verantwortlich gemacht werden müssten.
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Klinische, scharf ausgeprägte Unterschiede Hessen die letztere Ansicht a priori
als die wahrscheinlichere vermuthen. l'nsern Untersuchungen lagen 20 Einzcl-
fälle zu Grunde“. Die Verf. fassen ihre Untersuchungsergebnisse dann wie folgt
zusammen :
Es sind vier Reinculturen von l’ilzen gefunden, welche auf der Haut
des Menschen wachsen, und welche Krankheitsbilder erzeugen, die klinisch als
Trichophytie bezeichnet werden müssen.
1. Trichophyton oidiophoron. (Die Beschreibung der Culturen und
mikroskopischen Befunde müssen wir übergehen.) Das klinische Bild entspricht
genau dem bekannten Bilde der Trichophytie: Centrum mit Schuppen bedeckt,
Rand entzündet, wallartig erhaben, mit Bläschen besetzt, Haare zu Stümpfen
abbrechend.
2. Trichophyton eretmophoron. Dem vorigen sehr ähnlich, nur
in der Fruchtbildung auf Blutserum unterschieden. Klinisch vom oidiophoron
bisher nicht mit Sicherheit zu unterscheiden.
3. Trichophyton atractoplioron. Klinisch: Acutes Auftreten, rasche
periphere Ausbreitung. Geringe Entztlndungserscheinungen. Wachsthum in den
Haarbälgen (bei Thieren) bisher nicht erzielt. Vermnthlich stets als „ Trichophyton
corporis “ auftretend.
4. Trichophyton pterygoides. Klinisch vom Trichophyton oidio-
phoron und eretmophoron nur dadurch unterschieden , dass die Haarstümpfe
fehlen. Schnppenbedeckte, kahle Stellen mit peripherer Raudrüthe.
Von grösster Wichtigkeit, in mykologischer, klinischer, besonders aber auch
in biologischer Hinsicht sind die Arbeiten Sabouraud’s ,6— **) aus dem Besnikr-
schen Laboratorium. Es würde eine Arbeit für sich sein, eine Uebersicht über
die einzelnen, mit ausserordentlicher Klarheit und Genauigkeit durchgeführten
Untersuchungen zu geben. Zusammenfassend sind diese Arbeiten in Saboi'RAI'd’s *')
These 1894 wiedergegeben.
Sabouradd sagt: Unter der Bezeichnung teigne tondante trichophy-
tique sind bis jetzt zwei ganz verschiedene Krankheiten zusammengeworfeu
worden, zwei Krankheiten, die durchaus von einander verschieden sind. Sie
kommen ungefähr gleich häutig vor und sie haben nichts miteinander gemein,
als dass sie sich in den Haaren gegenseitig den Platz streitig machen.
Die eine dieser r,tondantesu wird thatsächlirh durch die cryptogamen
Parasiten verursacht, die auch auf anderen Localisationen Trichophytien erzeugen.
Man kann ihr also den Namen der „ tondante trichophytique “ lassen.
Die andere Form bezeichnet SABOURADD als tondante spiciale de Gruby.
Hier müssen wir einschalten , dass SABOURADD im Laufe seiner Untersuchungen
feststellte, dass seine Befunde genau ihre Bestätigung rinden in drei älteren
Arbeiten von GRUBY * * 4 B ), die der Verf. damit einer un verdiegten Vergessenheit
entreisst und als werthvolle „Controlversuche“ für seine eigenen Untersuchungen
bezeichnet. Es ist allerdings unzweifelhaft eine Bestätigung für Sabouradd und
sehr interessant, wie gut Gruby beobachtet und beschrieben hat und wie sehr
die Resultate der zwei Arbeiten miteinander Ubercinstimmen.
Der zweiten „ tondante “ giebt also Sabouraud den Namen tondante
specials de Gruby, nach dem Namen desjenigen, der als Erster den Parasiten
dieser Affection beschrieben hat. Der Parasit ist das Microsporon Audouini
(Gruby) — er ist aber kein Trichophyton.
Die mikroskopische Untersuchung der Haare zeigt bei den Trichophytien
grosse Sporen (von 5 — 7 u. Durchmesser), die in regelmässigen Figuren (Linien)
angeordnet sind ; bei der tondante de Gruby sieht man kleine Sporen (von
•> — 3 u. Durchmesser), die mosaikartig um die Haare angeordnet sind.
ln Paris ist diese zweite Form der „ tondante “ ganz ausserordentlich
verbreitet; sie ist die häufigste Ursache der tondante bei den Kindern und wird
nur bei diesen beobachtet.
Encyclop. Jahrbücher. VI 7
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‘•8
DERMATOMYKOSEN.
Unter den trichophytischen Tineae giebt es mehrere Arten. SABOUKACD
unterscheidet diese alle nun streng nach 1. dem klinischen Hilde, 2. dem
mikroskopischen Befände an den Haaren und 3. dem Aussehen der Culturen.
Beo. Ein: 45) bestätigt , dass es allen seinen Schülern möglich sei , aus dem
mikroskopischen Befunde die klinische Diagnose zu stellen und umgekehrt aus
dem klinischen Bilde vorher den mikroskopischen Befund zu bestimmen.
Die echten Trichophytien theilen sieh nach Sabodraud nun zunächst in
zwei Classcn, deren mikroskopisches Bild folgende Unterschiede zeigt, ln dem einen
Kalle findet man in dem kranken Haare den Pilz aus grossen, zu Fäden ange-
ordneten Sporen bestehend, ausschliesslich im Innern des Haares — Trichophyton
endothrix. Im anderen Falle finden sich die ebenfalls grossen und zu Fäden
gruppirten Sporen alle ausserhalb des Haares und zwar zwischen Wurzel und
Wurzelscheide — Trichophyton ectothrix.
Auf die mikroskopische Untersuchung der kranken Haare legt Sabouraid
grosses Gewicht, da sie Aufschluss giebt über 1. die Grössenverhältnisse der
parasitären Elemente, 2. die Form derselben und die Anordnung der Pilzelemente
zu einander, und 3. über das „Habitat“, die Lage der Pilzelemente im Haare.
Das Trichophyton endothrix ist nun nach Saboukaud stets mensch-
lichen Ursprungs, das Trichophyton ectothrix stammt vom Thiere. Bei jeder
dieser Arten herrscht nun noch ein bedeutender Polymorphismus. Auf diese
Punkte und die cnlturellen Unterschiede können wir hier nicht näher eingehen.
Diese Befunde Sabouraud’s hat Mibkli.i 48> **) nicht bestätigen können.
Die tondante de Gruby scheint in Italien überhaupt nicht zur Beobachtung zu
kommen. Weiter fand Mibki.i.i das Trichophyton endothrix in Fällen, bei denen
eine thierische Ursprungsquelle des Trichophyton angenommen werden musste;
auch konnte Mibki.i.i auf dem gleichen Individuum das Vorkommen sowohl des
Trichophyton endothrix wie ectothrix feststellen. Da das Trichophyton endothrix
in den Fällen Mibklli’s in den Cilien gefunden wurde bei Individuen, die ur-
sprünglich eine Sycosis borhae aufwiesen mit Trichophyton ectothrix , so fragt
sich Mibki.i.i, ob man eine Art von Anpassungsfähigkeit des Pilzes an die ver-
schiedenen Medien, in denen er lebt, annchmen müBse.
Wenn auch die meisten Autoren darüber einig sind, dass es sieh bei den
verschiedenen als Trichophyton gezüchteten Pilzen nicht um einen einfachen
Pleomorphismus, sondern um eine Pluralität der Species handelt, so ist doch
noch durchaus keine Einstimmigkeit erzielt und die Resultate von Neeiif. und
Unna, von Saboukaud werden, wie schon in den erwähnten Arbeiten von Mibelli,
so in den Arbeiten von Krai, s*), Kbosing 60i, Winternitz 5I), Marianklu 6») in
verschiedenen Punkten einer Kritik unterzogen. So weist Khai. (1. e. pag. 405)
darauf hin, dass er in Uebereinstimmung mit den italienischen Forschern, aus
einem einwandfrei isolirten Trichophytonpilz Culturen mit kleinen
oder mit grossen Sporen, Culturen von verschiedenster Farbe und
Gestalt auf demselben Nährboden erzeugen konnte.
Also auch hier ist die Frage nach der Zahl der Pilze keineswegs abge-
schlossen. Es scheint aber doch unzweifelhaft, im Gegensatz zum Favus, bei dem
cs sich wohl sicher um einen Pleomorphismns ohne klinische Bedeutung handelt,
dass beim Trichophyton .verschiedene Species auch klinisch verschiedene Formen
erzeugen.
Ehe wir zur Erörterung der biologischen Fragen übergehen, dürfte es an-
gebracht sein, ganz ausführlich in Uebcrsetzung das Resume der SABOüRAUD’sehen
Untersuchungsresultate zu bringen, wie er es selbst in der Socidtd de dermatol. ,0)
gezogen hat. Es sind in denselben gleich alle Punkte enthalten, auf welche wir
noch cinzugehen haben. Es heisst bei SABOUKAUD:
I. Die erste Schwierigkeit, die sich bei dem bakteriologischen nnd
mykologischen Studium der Trichophytie bei der Anlegung von Culturen ergiebt,
liegt in den „ ossociations cry ptoya miques “ , die man bei dieser Atfection trifft.
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DERMATOMYKOSEN.
;.<4
Fast alle Trichophyton • Culturcn sind mit verschiedenen , sozusagen
acceasorischen Arten von Cryptogamen, mit „Commensalen“ des Trichophyton
gemischt. Sie scheinen bei den durch Trichophyton hervorgerufenen Läsionen
nur die Bolle von Erregern einer secundiiren cryptogamischen lnfectiou zu spielen.
Die Herstellung von Reincnltnren des Trichophyton ist dem entsprechend
mit grossen technischen Schwierigkeiten verbunden und ist die erste Forderung.
II. Erst mich Herstellung dieser Reinculturen kann man an das Studium
der Unicität oder Pluralität des Trichophyton gehen. Die vergleichende Züchtung
einer grossen Anzahl von Trichophytonfäillen der verschiedensten Localisation,
die sich besonders auf die Thatsachc basiren muss, dass die objeetiven Charaktere
jeder Cultur constant bleiben auf dem gleichen Culturmcdium, ergiebt den Beweis,
dass es eine grosse Zahl cryptogamischer Arten giebt. Deren Verimpfung weiter
muss beweisen, dass es sich um einen wirksamen Parasiten handelt; die durch
diesen Parasiten erzeugten Läsionen nehmen die Formen an, die wir klinisch als
Trichophyton kennen.
III. Die mikroskopische Untersuchung der Trichophytonpilze im Haupt-
oder Barthaar bestätigt die Annahme der Pluralität der Trichopbytonarten, die
durch die Cultur gegeben war. Man findet nämlich:
1. manchmal den Parasiten ausschliesslich im Innern des Haares, in
Sporenketten (Trichophyton entlothrix) ;
2. in andern Fällen zeigt sich der Parasit in Sporenketten ausserhalb
des Haares, in seiner Follikelscheide (Trichophyton ectothrix).
Manchmal ist weiter die Sporenkette sehr widerstandsfähig (bei den
kraterförroigen Culturen), manchmal zerbrechlich, zart i_bei den kegelförmigen
Culturcn). Und alle diese Charaktere bleiben constant für alle Haare des Kopfes
oder Bartes eines Kopfes.
IV. Die Trichophyton endothrix sind die am häufigsten beim Menscheu
(Kinde) zur Beobachtung kommenden. Das Studium der spontan entstandenen
Thiertrichophytien und das Experiment mit denselben ergeben, dass die Ectothrix-
pilze beim Menschen von einer Contagion durch Thiere herstammen.
Umgekehrt scheint der Endothrixpilz dem Menschen cigenthUmlich zu
sein. Er ist die Ursache der grossen Mehrzahl der Trichopliytonfälle.
Die Fälle von Herpes tonsurons, die von animalem Ursprung sind,
zeigen sich dem Arzte durch auffallende Formen der Läsionen an (Kerion, Im-
petigo), besonders aber bei der mikroskopischen Untersnchung durch die Lage
der Sporenketteu, die ausserhalb des Haares selbst, in der Follikelscheide ihren
Sitz haben.
V. Wenn man die Gcsammtheit der Herpes tonauranx-Fälle jeglichen
Sitzes nimmt, so ist die Hälfte auf thicrische Infection zurückzuftihren.
Beim Menschen werden durch dieselbe veranlasst :
1. ungefähr 10% aller Fälle von Herpes tonsurons des Kopfes:
2. mehr als die Hälfte der kreisförmigen Herpes tonsurons- Fälle der
unbehaarten Theile;
3. drittens alle triehophytischcn Follikelentztiudungen des Bartes.
VI. Die thierischen Trichophytien bilden mehrere Gruppen wohlunter-
schiedener Arten.
Die wichtigste Gruppe, der man am häufigsten beim Menschen begegnet,
ist die Gruppe der Trichophyton ectothrix, die weisse Culturen hervorbringen.
Sie sind die Ursache der mit tiefgreifenden Entzündungen des Derma einher-
gehenden Trichophytien.
Die wichtigste Art dieser Gruppe ist eine vom Pferde stammende Art.
Sie veranlasst die mit Schwellung einhergehende trichophytische Perifolliculitis
(pe'rifolliculite agmine'e trichophytique) der verschiedensten Localisationen. Dieser
Trichophytonpilz ist pyogen.
**•*
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DERMATOMYKOSEN.
Verschiedene Arten derselben Gruppe (von Katze, Hund, Schwein etc.
stammend) veranlassen ähnliche, die Cutis in Mitleidenschaft ziehende Trichophytien.
Hei diesen Entzündungen kann eB zur Eiterung kommen ohne das Hinzutreten
einer seenndären bakteritischen Infection.
VII. Sämmtliche Trichophytien des Bartes des Menschen sind auf Tricho-
phyton thierischen Ursprungs zurtickzufilhren und stellen drei Arten dar (vor-
behaltlich noch unbekannter Ausnahmen):
1. die Pferdetrichophytie mit weissen Culturen; sie ist die Ursache
der Sycosis;
2. eine zweite Art vom Pferde mit gelben C'nlturen ;
:j. eine von Vögeln stammende Art mit rothen Culturen.
Jede dieser Arten ist wohl erkennbar durch das objective makroskopische
Aussehen der Läsionen.
VIII. Die Kreise der Trichophytie auf der unbehaarten Haut bei Kindern
sind gewöhnlich verursacht durch den Pilz, der die Trichophytie des behaarten
Kopfes veranlasst; manchmal jedoch kommt auch die Trichophytie mit Eiterung,
mit tiefer Entzündung der Cutis vor, die durch ein Trichophyton mit weisser
Cultur (Katze, Pferd) verursacht wird.
Die kreisförmigen Trichophytien bei Weibern sind auf denselben Pilz
zurückzufflhren, wie die bei Kindern. Die bei Männern kommen selten vom Tri-
chophyton der Kinder, sie stammen häufiger von thierischen Pilzen her; am
häufigsten, wie gesagt, handelt es sich um das Pferdetrichophyton (folliculite
anminie).
IX. Nebenbei wollen wir bemerken, dass der Herpes tonsurans der
heissen Zone — die teiyne imbriqut'e Patrick Maxson’s — nach der mikro-
skopischen Untersuchung des Pilzes in den Läsionen eine Trichophytie thierischen
Ursprungs zu sein scheint. Die Schuppen, welche nach Frankreich gebracht
wurden, waren zu alt, um den Nachweis durch Cultur zu ermöglichen.
X. Gewisse Arten des Trichophyton, besonders unter den vom Thier
herstammenden, rufen beim Menschen charakteristische Läsionen hervor. So ist
das Trichophyton ectothrix des Pferdes die Ursache des Kerion ( folliculite
ogminee). Aber eine und dieselbe Art kann von verschiedener Virulenz sein und
also Läsionen von etwas verschiedenem Aussehen hervorrufen.
XI. Botanisch gehören die Trichophyton in die Classe der Mucedineen.
Da ihre Ausseusporen in Tranbenform angeordnet sind, so muss man
sie zu den Botrytis rechnen, neben den Parasiten des Seidenwurms, den Botrytis
Bassiana, der die Muskardine verursacht.
Dagegen scheint bei einigen Species die Vertheilung der Sporen an den
Mycelfäden den Triehophyten zwischen den eigentlichen Botrytis und den Sporo-
trichum ihren Platz anznweisen.
Weiter bildet die Gruppe der Triehophyten mit weissen Culturen neben
den Traubenformen auch Conidienformen — oder C'hlamydosporen — .die spindel-
förmig, sehr eigenartig, für jede Species wohl unterschieden sind.
XII. Die Vielheit der Trichophvtonarten , das seltene Vorkommen ge-
wisser Arten auf dem Menschen, ilie Leichtigkeit, mit der diese Species auf
künstlichem Nährboden wächst, endlich die Thatsache, dass diese Lebewesen in
ihrem parasitären Dasein auf die Bildung der Myeelsporc reducirt wird, eine
Fmehtform, die wenig geeignet ist, den Fortbestand der Species zu sichern —
alle diese Thatsachen zusammen legen nahe, daran zu denken, dass diese Lebe-
wesen ausser ihrer parasitären Daseinsform auch eine saprophytisehe Form
haben. Diese Hypothese scheint sich durch das Experiment beweisen zu lassen,
denn man kann mit Leichtigkeit Trichophytoncultnren auf Blumendünger, Holz,
Blättern und selbst in rein mineralischen Flüssigkeiten züchten.
XIII. Verimpfungen auf den Menschen fallen positiv aus, wenn sie in
das Serum einer durch oberflächliche Verbrennung gesetzten Blase gemacht werden;
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in dem alkalischen Inhalt dieser Blase kann der Pilz sieh entwickeln. Bei anderem
Impfmodns erhält man abortive Formen und besonders wenn der Schweis« des
Individuums sauer reagirt.
Auf Thieren ergeben Impfungen mit dem Trichophyton endothrix —
menschlichen Ursprungs — eine gutartige Trichophytie, die innerhalb vier bis
fünf Wochen spontan abheilt, lnoculationen von Trichophyton ectothrix —
thierischen Ursprungs — gelingen leichter und veranlassen eine serpiginöso
Trichophytonerkrankung, die keine Tendenz zu spontaner Heilung hat.
In allen Inoculationstrichophytien ist durch Kückimpfung leicht der ur-
sprüngliche Pilz in Reincultur zu züchten, wenn man sich zur Aussaat kleiner
Partikel von Schüppchen bedient.
Mit wenigen Worten wollen wir noch auf die RoSKNKACH’sche Arbeit
hinweisen. Es ist ein Werk für sich , eigenartig. Uns interessirt hier nur
die Thatsache, dass auch er sich für die Pluralität der Trichophytonspecies
entscheidet.
Es bleibt mir nun noch übrig, eine kurze Beschreibung der „ tondante u
zu geben, die SABOtJRAüD aus den Trichophytien ausgeschieden hat als rtondante
de Gruhy “.
Er bezeichnet sie als die Affection, welche früher unter der Bezeichnung
rporrigo decalvans u ging und nennt sie „ tondante rebelleu, da sie (nur auf
dem Kopfe vorkommend) die schwerste, mehrere Jahre dauernde aller Tineae ist.
Da diese Form in Italien fast gar nicht, in Frankreich weitaus am
häufigsten, in Constantinopel selten, aber doch etwa in ’/s der f ülle zur Be-
obachtung kommt, muss die Beschreibung derselben etwas ausführlicher sein,
wenn man entscheiden will, ob sie in einer bestimmten Gegend zur Beob-
achtung kommt.
ln der Ausdehnung der erkrankten Stelle auf dem Kopfe ist jedes Haar
von seiner Basis bis zur Höbe von 3 Mm. oberhalb der Follikelmündung mit
einer weissgrauen Scheide umgeben, als habe ein Epidermiskegel das wachsende
Haar aus dem Follikel begleitet. Nach einiger Zeit brechen die Haare in ver-
schiedener Höhe — 6 — 7 Mm. oberhalb des Follikels etwa — ab. Die Scheiden-
kegel zerfallen und die ganze Kopfhaut ist bedeckt mit schuppigen, weissen
Bröekelehen — daher die Bezeichnung Pityriasis alba. Die Haare gehen von
weitem wie mit Asche bestaubt aus.
Diese Form der vtondanteu scheint ausschliesslich in den Haaren selbst
zu beginnen, während die Trichophytien stets ihren Ausgangspunkt von der
Epidermis nehmen. Selten kommt es zu circinärer Ausbreitung auf der Epidermis.
Allmälig fallen die Haare an den erkrankten Stellen aus und wachsen
zunächst nur spärlich wieder. Die Krankheit ist änsserst ansteckend, giebt aber
eine sehr gute Prognose, denn sie heilt stets vollkommen: schliesslich wachsen
alle Haare wieder und nehmen auch ein durchaus normales Aussehen an.
II. Biologisches aus den citirten Arbeiten.
Worauf sind nun die grossen Divergenzen zwischen den verschiedenen
Forschern zurückzuführen?
Man darf von vorneherein annehmen, dass grobe Fehler, obwohl in
den Polemiken auch der Vorwurf solcher Fehler erhoben wird, bei den meisten
der in anderen Arbeiten bewährten Forscher nicht vorauszusetzen sind. Die Technik
der KoCH’schen Schule ist heute so Allgemeingut geworden, dass es unter gewöhn-
lichen Verhältnissen als selbstverständlich vorausgesetzt werden kann, dass alle
Forscher mit Reineulturen gearbeitet haben.
Es ist deshalb nicht daran zu zweifeln, dass die Arbeiten von Gbawitz*ti,
Dcclaix *<), Verl’jski ssi, This*°)i Roberts *'), Campaxa '■) , Max. za 4e; , sowie
auch alle aus Unna's Laboratorium hervorgegangenen Arbeiten, ferner alle Arbeiten,
welche wir oben über Cultur des Favus und Triehophyten erwähnt haben , sich
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ln
DERMATOMYKOSEN.
in ihren Beschreibungen, Culturen, Experimenten auf Reineulturen stutzen. Eine
Zusammenstellung fast aller versendeten Nährboden findet sieh bei Krau '*)
K kXl. seihst hat eine eigene Methode durehgefübrt zur serupulösesten Durch-
führung der ReinzüchtuDg einer Cnltur aus einem Keime, durch Zerreibung von
Bröckrhen eines Favusseutnlums mit frisch geglühter, also sterilisirter Kieselsäure :
dnreh Verdünnung des Mediums , in das ein Theil der verriebenen Cnltoren
gebracht war und das Plattenverfahren gelang es ihm , zweifellos Reineulturen
zu erhalten. Für alle „Reineulturen“ bis auf Sabouracd ist aber eine Frage
heute unentschieden.
Wir kommen damit zu einer ausserordentlich interessanten Erfahrung.
Wenn man z. B. aus einem Haar eine Cultur von Trichophyton, respec-
tive vom Favus isolirt, so ist es leicht, schon mit blossem Auge festzustellen,
ob man auf festem Nährboden Verunreinigungen von Bakterien in der Cultur
hat oder nicht. Sehr schwer aber ist es, zu sagen, ob man nur ein Kryptogam
vor sich hat.
SsBOfRAfD spricht über diesen Punkt folgendermasseu. Wenn die Zu-
sammensetzung eines Nährbodens für zwei auf demselben verimpfte kryptogame
Pilze gleich güustig ist , so bewahrt die Colonie während der ganzen Zeit der
Entwicklung ein gleiehmiissiges Aussehen ; das Nebeneinanderbestehen von zwei
.Speeles kann so vollständig unbemerkt bleiben.
Ist die chemische Zusammensetzung eines Nährbodens nicht gleich günstig
für beide Pilze, so entwickelt sich einer der Pilze besser; die Colonie bleibt dann
nicht eine gemischte und gleichmässig aussehende ; man wird dann wie bei den
Bakterien zwei Cultureu neben einander haben.
Bei den Pilzen trifft nnn diese letztere Consteliation nicht, wie man
anuehmrn sollte, oft ein, sondern sic ist selten. Daraus ergiebt sich die wohl zu
beobachtende Thatsaehe, dass die scheinbare Homogenität, wie sic auch noch so
vollkommen ist, bei diesen Pilzculturen absolut nicht ihre Reinheit beweist.
Bo sei z. B. das Resultat einer Aassaat mit einem Haar von Trichophi/t.
mryalorporon anscheinend durchaus rein , ohne jede bakterielle Beimischung, —
man kann aber fast sicher sein, dass es eine „gemischte“ Cnltur ist, dass in der
Aussaat, auf welche Weise immer man sie macht, neben den Sporen des Tricho-
phyton auch Sporen fremder Pilze sieh finden.
Da dns Trichophyton sich fast ausschliesslich von Zucker nährt, wie die
Erfahrung gezeigt hat und seine „Commensalen“, d. h. die fast stets sich gleich
bleibenden, mit ihm fast unabändcrlicii assoeiirten Pilze, seine „Tiscbgenossen“,
iin (iegenthcile stickstoffhaltige Nahrung verlangen, so hängt es also ganz vom
Nährboden ab, den man wühlt, welche Cultur man erhält.
Es leuchtet ein, von welch grosser Bedeutung diese Ausführungen sind.
Da die verschiedenen der pathogenen und die indifferenten Pilze demnach fast
stets associirt sind, wird man aus anscheinend sehr verschiedenen Culturen stets
bei der Verimpfung im Experiment gleiche Resultate erhalten. Einmal wächst
der pathogene Pilz und die nicht pathogenen bleiben bei der Verimpfung unbemerkt;
ebenso aber kann , bei einem für den pathogenen Pilz ungünstigen Nährboden,
die Verimpfung eines ganz indifferenten Pilzes, dem der pathogene Pilz als
Commensnie associirt ist, ein positives Resultat ergeben.
MlBKLLI *8) hat diese Erfahrungen Sahoi'RAI'D’s voll bestätigen können.
Es leuchtet ein , dass diese Thatsaehe zunächst alle früheren Forscher zwingt,
ihre Culturen nocli einmal naeiizuprüfen, ob sie nicht vielleicht mit solchen „Com-
meusalen“ gearbeitet haben.
Zur Isolirung der pathogenen Pilze hat SaboI'Raud nun den „specifischen“
Nährboden angegeben. Mau kann die isolirten Pilze erkennen au „der specifischen
Form ihrer Cultur auf specifischen Nährboden“. Diese niederen Pilze zeigen eine
grosse Empfindlichkeit für die ehemische Zusammensetzung des Nährbodens, auf
dem sie verimpft werden. Je nach diesem Nährboden kann derselbe Pilz in
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103
bestimmten Grenzen die grösste Verschiedenheit zeigen, was objectiv betrachtet das
Aussehen der Cultur betrifft ; in sehr weiten Grenzen ändert sich nacli dem Nähr-
boden das mikroskopische Bild desselben Pilzes. Trotzdem aber giebt derselbe
Pilz, auf dem gleichen Nährboden gezüchtet, stets die gleiche Cultur.
Hierfür hat auch Khal schon sehr interessante Beobachtungen gebracht;
die Schlüsse, die man aus denselben ziehen kann, respectivc die Schwierigkeiten
für die Beurtheilung der Resultate der einzelnen Forscher werden darnach noch
grösser. Darnach verändert sogar verschiedener Nährboden die Pilze in dem
Sinne, dass naehherige Aussaat auf dem gleichen Nährboden ganz verschieden
aussehende Culturen für denselben Pilz ergiebt.
Von der gleichen Cultur impfte er Trichophyton einmal auf Bouillon,
eine andere Cultur auf Agar; Ueberimpfung auf Kartoffel beider Culturen ergab
einmal goldbraune Rasen, das anderemal war der Rasen carminroth. Hat hier Ver-
impfung von Commensalen stattgefundeu ? Uder haben sich bestimmte biologische
Eigenschaften des Pilzes auf den verschiedenen Nährböden geändert?
In sehr interessanter eingehender Weise hat sich Roberts c») mit der
gleichen Frage und im gleichen Sinne in dem Capitel seines Buches ausgesprochen,
das Uber „Variation“ handelt.
Die Beachtung dieser biologisch hoch interessanten Befunde macht es
klar, wie schwer die Frage zu entscheiden ist, ob Pleomorphismus oder Pluralität
der Speeies für einen Pilz im gegebenen Falle vorhanden ist. Hält man dazu die
oben erwähnte Thatsache, dass es selbst für Botaniker schwierig ist, für die in
Rede stehenden Pilze die Art zu bestimmen, kann mau getrost sagen, dass wohl
noch lange nicht (ohne Entdeckungen von principieller Wichtigkeit) die Lösung der
Frage auf dem bis jetzt beachrittenen Wege zu hoffen ist.
III. Contagion.
Die Anstcckuug sowohl beim Favus wie beim Trichophyton kann direct
oder indirect erfolgen. Am häufigsten findet sie zweifellos von Mensch zu Mensch
statt, oft genug von Thier zu Mcuscli. Die oben erwähnten Angaben von Mibelli,
die auch von Lesskb in Bern bestätigt werden , lassen die Frage nach dem
für Mensch, respective Thier specifischen Trichophyton (endotlirix oder ektothrix)
vorläufig noch offen.
Mehr Interesse verdient die Frage, welche Sabourai d *s) aufgeworfen
hat, ob der Parasit auch saprophytisch existirt.
Dass die von Mensch, respective Thier genommenen Pilze (z. B. Favus-
scutula) ihre Vitalität Monate, ja Jahre lang bewahren — viel länger als künst-
lich gezüchtete Pilze — ist durch die Erfahrung bewiesen.
Es handelt sich nun darum , zu entscheiden , ob die Sporen der Pilze
auf irgend einem indifferenten Körper nicht nur ihre Vitalität bewahren, sondern
sich selbständig fortpflanzen.
Die Entwicklung des Trichophyton als Parasit auf Mensch und Thier
ist unvollkommen. Es kommt in der Epidermis niemals zur Bildung von sporen-
tragenden Hyphen , sondern immer nur zur Bildung wenig verzweigter Hyphen.
Diese Entwicklungsphasen kennen wir nur durch die künstliche Züchtung. Demge-
mäss sind die einfachen organischen Materialien ein geeigneterer Nährboden für
die Pilze als der, den sie während ihres parasitären Daseins auf der Haut, im Haar
finden. Man müsste also annehmen, dass früher, vor der künstlichen Züchtung,
diese Pilze niemals zu ihrer vollen Entwicklung gekommen seien. Diese. Annahme
ist wohl unmöglich.
Weiter haben wir eiu Analogon in der Aktiuomykose im Aspergillus
fumiyatus. Ehe C’haxtemesse-Rknon feststellten, dass letzterer die Ursache der
Aspergillus-Tuberkulose ist, kannten wir ihn nur saprophytisch. Bei ihm ist die
saprophy tische Existenz die Regel, die parasitäre die Ausnahme. Die saprophy-
tische Existenz ist für einige Bakterien sogar bewiesen, für viele ist sie walir-
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DERMATOMYKOSEN.
scheinlich ; ebenso dürfte es auch für das Aeliorio» und Trichophyton anzu-
nelimen sein.
Ueberdies ist, wie wir schon in den SABoURAUD’schen Conclnsioneu
gesehen haben, die Züchtung des Trichophyton auf Humus. Dünger, faulem Holz.
Körnern gelungen ; auf faulem Stroh gelang seine Züchtung sogar in Concurreuz
mit allen Mikroben, die sich etwa sonst vorfanden, ohne vorherige Sterilisirung.
Schliesslich hat Sabourauii ihn sogar sich entwickeln sehen in der
WlNOGRADsKY’schen (rein mineralischen) Lösung.
Man muss also wohl annehmen , dass eine saprophytische Existenz des
Pilzes möglich und demgemäss nicht jede Trichophytieerkrankung beim Menschen
nothwendig auf Mensch oder Thier zurückzuführen ist.
Für den Favus ist persönliche Disposition sicherlich ein Factor des
„Haftens“. Universellen Favus sieht man fast nur bei ganz elenden, herunter-
gekommenen Menschen. Individuen, die unter den gleichen Bedingungen, grösster
Unreinlichkeit u. s. w. leben, aber von kräftiger Constitution sind, scheinen nicht
so geeignet zur Ansiedlnng des Pilzes zu sein.
IV. Anatomie.
a) Der Favus.
Eine Uebersicht Uber die älteren Arbeiten und Notizen , betreffend die
Anatomie des Favus, findet sich bei KELLOGG. “) Die in den letzten Jahren ver-
öffentlichen Arbeiten von MlBELLI ,s' ••) , Unna**), Wai.SCH °7' *8) haben bis auf
einige Punkte, in denen sich diese Autoren noch widersprechen, die Anatomie
des Favus vollständig geklärt.
Iu den leichtesten Fälleu des oberflächlichen favösen Katarrhs handelt
es sich um eine entzündliche Hyperämie mit Aufquellung und Parakeratose des
Stratum spinosum und Schuppenbildung; in schwereren Fällen kommt es zu
einer beträchtlichen Entzündung mit Oedem des Papillarkörpers und intensiverer
ödeinatöser Anschwellung der Stachelsehicht mit Bildung kleiner, unter der Horn-
schicht gelegener Bläschen, die mit Serum und geringen Mengen von Leukocyten
gefüllt sind.
Die Scutulabildung ist nicht an den Haarbalg gebunden, sondern kann
aurh au unbehaarter Haut stattfindeu.
Bei Schnitten durch Hautstticke mit einem Scutulum am Haarbalg zeigt
sieb, dass der Beginn des Scutulums im lntundibulum des Ifaarbalges liegt. Das
Scutulum wurzelt auf der basalen Hornschicht und ist an den Seiten und oben
anfangs stets von der mittleren und oberflächlichen Hornschicht in comprimirter
Gestalt bedeckt, später auch häufig frei.
Nach Unna wachsen im Scutulum die Pilzfäden senkrecht aus der Horn-
schicht empor; sie bilden — wie Culturen auf künstlichem Nährboden — mit
dem Substrat einen rechten Winkel. Ihre Nahrung erhalten die Pilze von den
darunter liegenden Hautschichten. Die von den Seitenwandungen ausgehenden
Pilze sind kürzer, und die, welche von der oberen Hornschicht senkrecht nach
unten ziehen, sind nur schwach entwickelt oder fehlen. Aus diesen Gründen würde
die Form des Scutulums, die an sich kugelig ist, eine asymmetrische Gestalt an -
nehmen, im Centrum eine Depression erhalten — das Wachsthum der Pilzhyphen
wäre demnach ein eentripetales. Mit dieser Anschauung stimmen weder Mibelli
noch Wai.sch überein. Nach ihnen hat das Scutulum eine planconvexe Gestalt
mit etwas coucaver Oberfläche. Die Pilze zeigen ein peripher fortschreitendes
Wachsthum mit seitwärts ausgestreckten Hyphen, die gleichsam Fühler bilden.
Die Pilzvegetation im Centrum des Scutulums ist die ältere , in der Peripherie
besteht sie nur aus Mycelien und ist jünger.
Die Pilzvegetation findet demnach in centrifugaler Dichtung statt. —
MlBEl.Lt stimmt mit Unna darin überein, dass die Asymmetrie des bereits
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105
gebildeten Scutulums und die centrale Depression seiner oberen Fläche nicht dem
Vorhandensein eines centralen Haares zugeschrieben werden darf — denn dieses
kann ganz fehlen — , welches in Folge seines Zusammenhanges mit der Horn-
schicht das Scutulum daran hindert, sich im Centrum zu heben, wie dies an der
Peripherie frei geschehen kann. Nach Mibklli ist diese Form einfach davon ab-
hängig, dass sich die Colonie oberhalb des primären älteren Vegetationskernes
viel schwächer entwickelt als seitlich und unten. Unna schreibt die asymmetrische
Gestalt dem Umstande zu, dass die seitlichen Hyphen unter dem Druck der Horn-
decke sich kümmerlich entwickeln und sich dem Mittelpunkt zuneigen , so dass
man das Scutulum als eine kugelförmige, in sich überall zurücklaufeude asym-
metrisch ausgebildete Cultur auffassen kann.
Eigene Untersuchungen lassen mich durchaus die MlBEl.u’sche Auf-
fassung theilen.
Eine weitere Differenz besteht zwischen Wälsch und Unna über die
Zusammensetzung des Scutulums. Unna sagt, dass das Scutulum, so lange es
normal vegetirt, weder fremde Pilze, noch Epithelien beherbergt; WÄr,scH will
gefunden haben, dass zwischen den Elementen des Pilzes und an der Peripherie
der Pilzmasse ein sich nicht färbender, feinkörniger Detritus cingelagert ist, der
wahrscheinlich aus Exsudat und in Folge der Pilzwucherung zu Grunde gegangener
Epithelien besteht.
Wir müssen in diesem Punkte die UNNA’schen Untersuchungen bestätigen;
das Scutulum des Favus ist ein reiner Pilzkörper. Erst beim Absterben des Seu-
tulums findet man an, nicht in demselben, meist in Krusten, Leukoeyten und sapro-
phytisch auf ihm lebende Pilze. Die weiteren anatomischen Veränderungen schildert
Unna folgendermassen : „Die Veränderungen, welche der Favusprocess an der Haut
hervorruft, kann mau in ein hyperplastisches Anfangs- und ein atrophisches End-
stadiutn eintheilen. Zunächst geräth die Stachelschicht unterhalb des Scutulums
in starke Proliferation. Während seitlich vom Scutulum Hornschicht und Körner-
schicht verdickt sind, schwindet letztere unterhalb des sich stark vergrössernden
Scutulums . so dass hier die Grenze zwischen den obersten , stark abgeplatteten
.Stachelzellen und den mit stäbchenförmigen Kernen versehenen Hornzellen , in
welchen die Favusbyphen wurzeln, schwer zu ziehen ist. Die subscutuläre Stachel-
scbicht ist im Uebrigen normal oder von wenigen Leukoeyten durchwandert.
Wo die Scutula einen Haarbalgtrichter einnehmen , erstreckt sich , ent-
sprechend der Abwärtswucherung der Hyphen in der Spalte zwischen Haar und
Wurzelscheide, auch die Epithelproliferation an der Stachelschicht des Haarbalges
abwärts, doch gewöhnlich nur über das obere Drittel des Haarbalges, obwohl
die Favushyphen, wenn sie am Follikelausgang in das Haar cingedrungcn sind,
fast immer bald den ganzen Haarschaft bis in die Nähe der Papille durch-
wachsen. Vergleicht man an Schnitten mit vielen Favushaaren , z. B. von der
Kopfhaut, die verschieden weit gediehene Besitzergreifung der Follikel durch
den Pilz, so findet man regelmässig, dass diejenigen Haare, welche die geringste
Invasion aufweisen , dieselbe im unteren Balgtheilc innerhalb des Haarschaftes
allein zeigen. Dann folgen solche Haare, bei welchen ausserdem auch die Wurzel-
scheide von Pilzen durchsetzt ist. Die hochgradigste Favuserkrankung endlich
findet sich nur an wenigen Haaren; hier ist der Pilz mit einem dichten, krausen
Pilzgeflecht zwischen Stacheischicht und bereits hochgradig erkranktem Haare und
Wurzelscheide etwa bis in die Mitte des Haarbalges oder noch tiefer hinab-
gedrungen. Die Fäden desselben dringen nicht in die Stachelschicht des Balges
ein , sondern wurzeln auf der oberflächlichsten , wahrscheinlich parakeratotisrh
verhornten Lage derselben und stellen somit eigentlich nur eine Fortsetzung des
Scutulums in den oberen, stark ausgeweiteten Theil des Haarbalges vor. Aller-
dings ist dieser Theil des Scutulums nicht so regelmässig gebaut wie der der
Oberfläche und geht ohne scharfe Grenze in die centripetal sich verbreiternden
Fäden des uuteren Haarbalgtheiles über. Sowohl die Hornschicht des Haarbalg-
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DERMATOMYKOSEN.
106
trichters, wie weiter unten die Wurzelachcide verliert unter dem Einflüsse der
Pilze die zellige Struetur und verschmilzt zu einer homogenen, wenig tingiblen
Masse. Der Haarschaft wird bei stärkerer Pilzdurchsetzung verdickt; unregel-
mässig aufgetrieben und weniger durchscheinend , zeigt aber nur selten Auf-
splitterungen. Sehr auffallend ist es, besonders an Durchschnitten favöser Kopf-
haut, wie viele vollkommen pilzdurchsetzte Papillenhaare man in relativ wenig
veränderten Bälgen trifft.“
Dass das Scntulum auch einen Druck mechanisch auf die Epithelien
ausübt, sieht man an der schon erwähnten Abplattung der unter ihnen liegenden
Epithelien.
Dieser Druck macht sich aber auch auf die Papillen und Ketezapfen
geltend; die central unter dem Scutulum gelegenen Papillen sind fast ganz ver-
strichen , die seitlichen schräg umgelegt. Um das Scutulum bildet sich eine mit
Detritus gemischte Exsudatschicht , und wenn die Epithellage schwindet bis auf
ein Minimum, so ist damit der Pilzcolonie, als welche das Scutulum zn betrachten
ist, die Nahrung abgeschnitten und das Scutulum beginnt sich zu lockern, ln
den Papillen und im Derma zeigt sich eine besonders um die Gefässe gruppirte
entzündliche Infiltration und, wie Lrloir und Vidai. 6#) richtig vergleichen, sind
die Gefässe im Derma „muffartig“ von Infiltrationszellen umgeben.
Eigentümliche Veränderungen beschreibt Unna an den Knäneldrüsen,
deren Epithel proliferirt, das Lumen verschliesst und so zu Cystenbildung führt.
A ehnliche Veränderungen , aber weit spärlicher , finden sich an den llaarbälgen.
Die Talgdrüsen atrophiren und die in den llaarbälgen zurückgehaltenen Haare
bilden oft ahgeknickt eine spiralig aufgerollte Masse.
Bei der Rückbildung des entzündlichen Infiltrates (Plasmoins nach Unna)
tritt eine für den abgelaufenen Favusprocess charakteristische Atrophie ein. Die-
selbe ist sicher zum grössten Theil auf den entzündlichen Process, zum geringeren
Theil auf den Druck des Seutulums zurückzuführen.
Das elastische Gewebe in der Favusnarbe ist nach Unna und Mibelli
geschwunden, nach WAi.sch nur vermindert.
Durchweg haben meine eigenen Untersuchungen Uebereinstiminung mit
den Befunden von MiBKLLI ergeben.
Ein Wort ist noch zu sagen über das Einwuchern des Favus in die
Cutis. Zweifellos sind alle dahingehenden Beobachtungen irrthümlich. Wälsch
bemerkt richtig, dass die LKLOlR'schen Befunde dahin zu erklären seien, dass
beim Schneiden mechanisch die Pilze in die tieferen Hautsebichten verschleppt
und dort äusserlich haften geblieben seien. Ebenso sprechen sieh Hauruitz70)
und Xkisskr*1) aus.
Für die favöse Nagelerkrankung, Ünychomycosis fnoosa , finden sieh
noch spärliche Untersuchungen. In prägnanter Form hat Fabry 1!) seine Befunde
in folgende Sätze zusammengefasst :
I. Das Terrain, in dem sich die durch den Favuspilz bedingten Vor-
gänge abspielen , ist, wie an der Haut überhaupt, so auch am Nagel sein epi-
thelialer Theil , auch bei langem Bestehen — in einem untersuchten Falle
Bestehen von 35 Jahren — war von einem Eindringen des Pilzes in die Cutis
nicht die Rede.
II. Das Vordringen und die Weiterverbreitung der Pilze zwischen den
Epidermisschichten ist ein actives, sie werden nicht mechanisch mit der fort-
schreitenden Proliferation und der Umwandlung der Schleimschichteu in Horn-
schichten an andere Stellen verschleppt.
III. Die Hauptbrutstätte für die Achorionpilze ist am Nagelgewebe
zwischen C'oriumpapillen und den Epithelzapfen zu suchen : von da aus dringen
die Pilze in die oberen Schichten nicht verhornter Epidermis, ln den Horn-
schichten des Nagels ist kein geeigneter Nährboden für dieselben.
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DERMATOMYKOSEN.
107
IV. Gerade durch die sub III hervorgehobenen Punkte erklärt sich das
Zustandekommen der Mummifkation des Nagels sehr gut, indem durch die
zwischen Corinmpapillen und Epithelzapfen des Rete gelagerten Pilzmassen die
Epithelschichten von den ernährenden Gefässen der Lederhautpapillen ab-
gesehnitten werden.
b) Trichophytie.
Entsprechend den verschiedenen , oberflächlichen oder tiefer gelegenen,
zur Knotenbildung führenden Formen der Trychophytie ist auch ein verschiedener
anatomischer Befund zu verzeichnen.
Aus Unna’s Laboratorium liegt eine Arbeit vor von Scharf. ,5) Charakte-
ristisches bieten diese Befunde wenig. Scharf fasst sie in folgenden Schlusssatz
zusammen, der alles Wesentliche enthält :
„Während wir bisher gewohnt sind, das Trichophyton in seinen Haupt-
schlupfwinkeln, den Haaren der Kopfhaut, in üppigster Weise gewuchert vorzu-
flnden, wobei sich die Rcactiou der Cutis in massigen Grenzen hält, finden wir
in der unbehaarten , respective nur mit Lanugohaaren bestandenen Haut ein
geradezu umgekehrtes Verhältnisse eine bedeutende Reizung derselben trotz einer
nur geringen Proliferation der Pilze in der Hornschicht. Mit diesem Umstände
dürfte es auch wohl Zusammenhängen , dass die Trichophytie der Hornschicht
soviel leichter heilt als die der Haare. Die künstlich erzeugte Reizung und Ent-
zündung, welche man bekanntlich zu einer therapeutischen Methode der Tric/io-
phytia capitis gegenüber erhoben hat , findet so in den reactiven Processen der
unbehaarten Oberfläche ein natürliches Vorbild und damit eine Bestätigung ihrer
Rationalität.“
Bei der knotigen Form (Kerion) kommt es durch die Entwicklung des
Pilzes in der Haut zu bedeutenden progressiven Veränderungen — Plasmombildung
I'nna’8. Entsprechend der in der Tiefe der Haarbälge gelegenen Ursache ist
besonders der untere Theil der Cutis und ein Theil des Hypoderms der Sitz einer
äusserst dichten Zellwueheruug, wodurch der untere Theil der Haarbälge, die
Knäneldrüsen und ein Theil des Fettgewebes in eine einheitliche Zellmasse
verschmelzen.
Innerhalb dieser Zellwueheruug, in den tieferen Schichten der Cutis,
kommt es auch zur Bildung von kleinen Eiterherden.
„Die Trichophytie des Nagels beginnt ebenso wie der FavuB regel-
mässig am vorderen Rande oder einem seitlichen Falz und führt zur Aufrichtung
der Nagelplatte. Im Gegensatz zum Favus nimmt die letztere nicht die dunkle,
bräunliche bis schwärzliche Farbe an, sondern bleibt weissgelblich und wird ferner
— wenn auch erst nach längerer Zeit — so doch schliesslich stets mitergriffen ;
sie wird opak, rauh, schilfert unregelmässig ab, splittert auf und fällt endlich
ganz ab. Sie ist sehr viel seltener als der Nagelfavus und bedarf vielleicht vor-
hergehender anderer Hautkatarrhe zur Verbesserung des Nährbodens.“ Es liegen
Untersuchungen vor von Pkli.jzari7*) und Fournier. 7S) Peli.izari fand die
Verbreitung des Pilzes in analoger Weise wie bei der flächenhaften Verbreitung
des Favus. Aber er constatirte auch die Anwesenheit desselben in der Nagel-
platte in kleinen Herden, welche makroskopisch sichtbaren opaken Stellen der-
selben entsprachen“ (Unna).
V. Klinisches.
a) Favus.
Es liegt nicht in unserer Absicht , eine klinische Beschreibung der
bekannten gewöhnlichen Formen der uns interessirenden Pilzaflectiouen zu geben.
Wir wollen hier nur kurz auf seltenere, in der neueren Literatur erwähnte
Formen hinweisen. Die Ausbeute ist hier sehr viel geringer, als bei den vorher-
gehenden Abschnitten.
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DERMATOMYKOSEN.
l'eber seltene Formen des Favus hat Dcbreuilh”) eine Mittheilung
gemacht. Er beschreibt drei Formen.
Die erste Form ist eine eigentümliche Follikelerkrankung. Man findet kleine,
narbige, vollständig kahle Stellen, wie bei der Alopecia areata, auf denen sich
nicht jene struppigen, für Favus typischen Haare finden. Am Rande dieser kahlen
Stellen finden sieh meist auf einem rotbraunen Papelchen , selten mit einem
Schüppchen oder einem minimalen gelben Scutulum umscheidet, Haare, die, wenn
man sie auszieht, von einer durchscheinenden, weichen, gequollenen Wurzelscheide
umgeben sind. Die Zerstörung der Follikel in dieser Form geht so rasch vor
sich, dass cs gar nicht zur Bildung ordentlicher Scutula kommt. Diese sehr rasch
verlaufende Favusform ähnelt sehr einigen Formen von FollikelentzUnduugen,
die mit Kahlheit enden (Folliculite decalvante) und etwas dem Lupics erythe-
matosus durch die centrale Vernarbung und centrifugale Ausbreitung.
Die zweite Form, welche DrBREDtl.H beschreibt, ähnelt klinisch der
Tondante de Oruby (s. oben), welche SABOURAUD beschrieben hat.
Die Haare fallen nur in geringer Zahl und erst nach langer Krankheits-
dauer aus. Erst nach jahrelangem Bestände merkt man ein Spärlieherwerden
der Haare. Die Läsion besteht in scharfumgrenzten, verdickten und vorspringenden
Plaques; manchmal sind sie auch diffus über den ganzen Kopf verbreitet. Das
Hauptcharaktcristicum dieser Form ist eine massenhafte, aus weissen Plättchen
bestehende Abschuppung. Die kleinen Schuppen bedecken in beträchtlicher Dicke
die Kopfhaut, so dass das ganze Bild sehr der Psoriasis ähnelt.
Verimpfung dieser Form auf die Haut bringt typische Scutula hervor.
Entweder hierin oder in dem vollständigen Fehlen weiterer psoriatischer Plaques
liegt der Hauptunterschied diffcrentialiliaguostisch zwischen dieser Form des Favus
und Psoriasis.
Diese Form ist im Gegensatz zur ersterwähnten durch grosse Chronicität
des Processes und lange Dauer ohne besondere Veränderungen ausgezeichnet.
Manchmal wird der Verlauf durch Bildung impetiginoider Krusten unterbrochen.
Die dritte Form ähnelt, nach Entfernung der meist vorhandenen Borken
und Krusten, Plaques von nässendem Ekzem. Man findet entzündete rothe Flecken
auf dem Kopfe von sehr unregelmässiger Gestalt. Das auffallendste Symptom
hiebei ist die starke Entzündung an der Basis der Haare und die bedeutende
Schwellung der Wurzelscheide an den herausgezogeneu Haaren — viel bedeu-
tender, als man es beim Ekzem sieht.
Diese Form erscheint mir, nach zahlreichen eigenen Beobachtungen, nur
eine Form des gewöhnlichen Favus zu sein , die durch Unreinigkeit, Läuse,
Kratzeffecte mit einer secundären Infection durch Eiterungserreger complicirt ist.
Die beiden ersten, von Ddbreuilh beschriebenen Formen habe ich häufig
zu beobachten Gelegenheit und kann die Beschreibung des Verfassers durchaus
bestätigen.
b) Trichophytie.
Anf die Beziehungen von Trichophyton, Herpes tonsurans maculosus ,
Eczema marginalum und Pityriasis de Gibert kommen wir weiter unten
zurück. Auf die von Sabourai*D nus den Trichophytien ausgeschiedene Form der
„Tonsurante de Gruby“ (Microsporon Audouini) haben wir oben schon
hingewiesen.
Auf eine nicht häufig beobachtete, zu diagnostischen lrrthümern führende
Form der Trichophytie sei hier zunächst hingewiesen. Es ist diese eine voll-
ständig der Impetiyo contagiosa ähnelnde Form. Auf den Randpartien eines
circinäreu typischen Herpes tonaura ns-Fleckes linden sich vollständig impetigo-
artige Pusteln in allen Eutwicklungsstadien. Und auch darin stimmen diese Pusteln
mit der Impetigo überein — worauf schon Lksskr *•) hinweist — dass sie unter
einem Ocdusivverband mit indifferenter Salbe abheilen.
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DERUAT» »MYKOSEN.
109
Wichtiger als diese Form ist die Trichophytie der Handfläche und Fuss-
sohle, die bisher noch ziemlich wenig bekannt war. Eine Reihe von Publicationen
fasst 1)jklai.eddin-Moukhtar 79) in einer mit zahlreichen Krankengeschichten
ausgestatteten Arbeit zusammen. Diese Form hat klinisch deshalb eine grosse
Bedeutung , weil sie grosse Aehnliehkeit mit der ebenfalls häufig in gleicher
Localisation verkommenden Dyshidrosis bietet.
Der Beginn der Trichophytie an diesen Theilen verlauft meist durchaus
symptomlos mit Bildung kleiner Bläschen; s dir selten bildet sich ein rother
Fleck, wie man ihn sonst auf der Haut beobachtet, als Anfangssymptom der
Trichophytie.
Das Initialbläschcn ist in den verschiedenen Fällen von sehr verschie-
dener Grösse, von Stecknadelkopf- bis Linsengrösse; meist besteht nur ein
Bläschen, selten mehrere. Der Inhalt des Bläschens ist anfangs klar. Meist findet
eine Resorption des Blaseninhaltes ohne Hinterlassung einer Macula statt, selten
wird der Inhalt eiterig. Die Epidermis der befallenen Stelle wird glanzlos . ist
nicht mehr durchscheinend, wird weiss und stösst sich ab, reisst ein und es
bildet sich ein kleiner Epidermisrand , der auf einem gesunden Derma zu
sitzen scheint.
ln der Wölbung des Fusses tritt diese Abblätterung der Bläschen nicht
so leicht ein; hier werden die Bläschen häufiger eiterig, in der Umgebung der
ersten Blase erscheinen nette, die mit der erstereu confluiren, und es kommt so
zu pseudo-bullösen Epidermiserhebungen. Je nachdem findet man an der Peri-
pherie dieser Pseudoblase noch kleine Bläschen oder nicht.
Djklaleddi.n bemerkt mit Recht, dass diese Form der Trichophytie der
Planta pedis, besonders der Innenseite des Fusses, bis heute meist verkannt und
als traumatische Dermatitis, Eczema oder Eczema dyshidroticum diagnosticirt ist.
Diese Aehnliehkeit ist gross und häufig vermag nur das Mikroskop zu
entscheiden.
Ein wichtiges differentialdiagnostisches Symptom ist das Fehlen jedes
Juckens bei der Trichophytie. Die Dyshidrosis ist während des ganzen Bestandes
und Verlaufes von heftigem, unerträglichem Jucken, Brennen uud Stechen begleitet.
Die Bläschen der Dyshidrosis platzen nicht, im Gegentbeil vergrössern sie sich,
werden rundlich und springen warzenförmig vor. Beim Kratzen scheinen sich
unter dem kratzenden Finger immer neue Blasen zu bilden. Ueberdies ist die
Dyshidrosis sehr häufig symmetrisch — die Trichophytie könnte das natürlich
nur ganz zufällig sein. Und schliesslich ist die Dyshidrosis eine häufig reeidi-
virende Affection.
Die Trichophytie kann sich natürlich ausbreiten über den übrigen Körper,
was aber selten vorkommt. Dann werden natürlich die charakteristischen Ver-
änderungen sofort auf die richtige Spur helfen. Die Dyshidrosis verbreitet sich
häufiger auf die benachbarten Theile, ähnelt dann aber in nichts mehr der
Trichophytie.
Die Regelmässigkeit der Configuration der Trichophytonfiecken auf Hand-
teller und Fusssohle legen weiter eine Verwechslung mit Psoriasis palmaris und
Syphiloderma psoriatiforme nahe. Hier ist der Hauptunterschied, dass es weder bei
der Psoriasis, noch bei dieser Form des Syphilids jemals zur Blasenbildung kommt.
VI. Therapie.
Die Unzahl der therapeutischen Methoden — man sehe z. B. Broch,
Traitement de» maladie» de la pean , an — und die Fülle der jederzeit neu
empfohlenen Mittel zeigen, wie schwierig die Behandlung ist. Ich will deshalb
im Folgenden nur die von mir befolgte Methode beschreiben , mit der ich —
individuell variirend — gute Erfolge erzielt habe, d. h. die Favuskranken werden
im Durchschnitt in 3 — 6 Monaten geheilt im Hospital ; die Triehophytonkranken
brauchen länger, werden aber meist ambulant und von den Angehörigen behandelt.
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DERMATOMYKOSEN.
Im Hospital sind die Triebopliytien des Kopfes selten, da es sieh bei diesen
Patienten ja meist um Kinder bandelt.
Bei der Behandlung beider Affectioneu sind es hauptsiichlieb fünf Mittel,
die in Betraelit kommen : Epiliren, Seife. Pyrogallol, Chrysarobin und Queeksilber-
pflaster (oder Salben).
Jeder Favuskranke wird zunächst gründlich gereinigt und von den
Seutulis befreit. Dann wird er rasirt , wodurch die erkrankten Partien deutlich
erkennbar werden. Nach gründlicher, energischer Abseifung wird nun der ganze
Kopf, besonders aber die erkrankten Stellen , sehr gründlich mit Jodtinctur
„gebadet“. Am nächsten Tage erfolgt wieder eine gründliche Abseifung und
hierauf, je nach dem Keizungszustandc , wieder Jodtinetur oder Pyrogallolsalbe
(10%). Nach der individuellen Empfindlichkeit wird nun mit der stets erfolgen-
den Abseifung in nahen oder weiteren Abständen Jodtinctur und Pyrogallolsalbe
angewendet. Nach circa 1 Monat lässt man eine Pause eintreten und, bei fort-
gesetzter Waschung, wartet den Erfolg der Behandlung ab.
Die Epilation hetrilft alle erkrankten Partien und die anliegenden
gesunden Theile in einer Breite von circa 0,5 Cm. Wenn die Haare nach dem
ersten Rasiren soweit gewachsen sind, dass man epiliren kauu, wird die gründliche
Epilation in eiuigen Tagen durchgeführt und dann abermals der ganze Kopf
rasirt. Diese Behandlung ist im Grunde sehr einfach. Die Behandlung, wie sie z. B.
La ss ar 7“) angiebt, wird gewiss gute Resultate geben, ist aber nur bei einem riesigen
Krankenwärterpersüual durchzuführen und muss für die Krauken eine Qual seiu.
Nicht anwenden konnte ich die von verschiedener Seite empfohlene
Behandlung mit Wärme. Zinsser8“) aus der Klinik des Prof. Lessku in Bern
veröffentlicht befriedigende und schnell erzielte Resultate mit folgender Methode.
Ausgehend von der experimentellen Erfahrung, dass Culturen von Favuspilzeu
durch 1 — 2sttindiges Verweilen in einer Temperatur von 50“, bei 45“ in 9 bis
10 Stunden abgetödtet wurden, hat Zinsskr mit ,/4%0 Sublimatlösung befeuchtete
Tlieher auf den Kopf des Patienten gelegt und Uber dieselben eine Kappe von
Spiralröhren, durch welche Wasser von der angegebenen Temperatur clrenlirte.
Wenn sieh die Angaben des Verfassers anderweitig bestätigen, so ist
diese, auf gesunde theoretische Voraussetzung begründete Behandlung im Hospital
leicht durchzuführen.
Die Behandlung des Herpes tonsurans , im Beginne sehr einfach und
dankbar, besonders auf der unbehaarten Haut, wird später und besonders auf dem
Kopf und im Bart eine wahre Plage.
Das unfehlbare Mittel für alle Anfangsstadien ist die Jodtinctur, die je
nach der Empfindlichkeit des Individuums 1 — 2mal täglich in dünnerer oder
stärkerer Schicht aufgetragen wird. Bart und Haar lässt man , wenn möglich,
rasiren, da sich bei Jodanwendung auch die Grenzen der befallenen Theile deutlich
bestimmen lassen.
Bei dem gewöhnlichen Herpes tonsurans des Kopfes ähnelt die Behand-
lung sehr der des Favus. Jedoch bedecke ich hier, wenn es möglich ist, die
affieirten Stellen mit hochprocentuirtem U'NNA’schcn Chrysarobinpflaster oder mit
Quecksilberpflaster — meist mit diesen Pflastern abwechselnd.
Die Pflaster werden auf dem Kopfe mit L'NNA’schem Zinkleim befestigt.
Dadurch erhält man einmal einen sehr fest sitzenden , weiter sehr wirksamen,
drittens sehr sauberen und viertens gegen die Weiterverbreitung der Krankheit
sowohl auf dem Individuum selbst, als in seiner Umgebung wirkenden Verband.
Man kann einen Verband gerne zweimal 24 Stunden sitzen lassen.
Bei Kerion muBs man zunächst durch oft gewechselte feuchte Umschläge,
milde Quecksilbersalben, aber auch mit Jodtinetur die Abheilung der Infiltrate an-
streben ; dann sind aber die Fälle von Kerion des Kopfes verhältnissmüssig dankbar.
Sehr grosses Individualismen verlangt die Trichophytie des Bartes —
die Sycosis hyphoyenes ( parasitaria der früheren Noineuclatur).
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DERMATOMYKOSEN*.
m
Salben werden liier oft gar nicht vertragen. Man muss zunächst für
grosse Sauberkeit sorgen. Mit dem Spray am besten besprüht man die nfficirten
Partien mit warmer Camillenthee-Borsiiurelösung ; dann wird sorgfältig mit Gaze
— nicht mit Watte — die Haut abgetrooknet. Bestehen starke Infiltrate, so
lässt man stündlich zu wechselnde Compressen mit Borsäurelösung auflegen und
wendet über denselben heisse Katapiasmen an bis zur Erweichung der Knoten.
Diese Methode kann man auch durch Auflegen Usxa 'sehen Quecksilbercarboi-
pflasters mit oder ohne Katapiasmen ersetzen.
Bind die Infiltrate entleert oder resorbirt , so treten auch hier die Jod-
tinctur. Seife und ein indifferentes Streupulver ein. Salben werden , wie gesagt,
selten vertragen. Wo sie vertragen werden , sind milde Hg-Salben von Zeit zu
Zeit von Nutzen, z. B.
Rp. 1,'ng. hydrarg. cinerei
Lanolini na. 25,0
Zinci oxydnti 10,0
Acid. carbolici 2,0
(oder Acid. salicylici 2,0).
S. Dick auf Lint gestrichen aufzubinden
Eine besondere Erörterung erfordert die Frage der Epilation bei Herpes
tonsurans. Viele Autoren sprechen sich gegen dieselbe aus. Für den Kopf ist
die Methode zweifellos von grossem Nutzen, genau nach den oben für den Favus
angegebenen Kegeln.
Im Barte dagegen reizt die Epilation , wenn sie rücksichtslos gemacht
wird. Man soll nur solche Haare epiliren, die in einem schon vereiterten Haar-
balg stecken — man giebt dadurch dem Eiter einen Ausweg und entfernt das
als Fremdkörper wirkende eliminirte Haar. Aber die Epilation von Haaren, deren
Haarbalg noch gesund oder entzündet ist, wirkt schädlich.
Vor der Anwendung von G'hrysarobin im Gesicht kann wegen der
Gefahren einer Chrysarobin-Conjunctivitis nicht genug gewarnt werden.
Diese Behandlungsmethoden stellen, besonders bei ambulanter Behand-
lung, die fast unmöglich ist bei nicht sehr willigen, intelligenten und gut situirten
Patienten , grosse Ansprüche an Geduld und Ausdauer von Arzt und Patieut.
Sind aber beide Eigenschaften auf beiden Seiten vorhanden, so sind die Resultate
für die Sycosis hvphogenes oft doch recht gute; man siebt im Krankenhaus
häutig in 4 — 6 Wochen die Heilung eintreten. Die Trichophytie des Kopfes er-
fordert fast immer Monate; häufig mehr als ein .Jahr zur Heilung.
B.
Die Besprechung der nun folgenden Affectioneu ist nur im Zusammenhang
vorzunehmen, denn für viele Autoren decken sich die beschriebenen klinischen
Bilder gegenseitig.
Es handelt sich um die als Herpes Umsurans maculosus (Kaposi),
IStyriasis rosea (GiBHRT), Pityriasis rosacee marginie (VlDAL), Eczema rnargi-
natum (Kaposi) bezcichneten Atfectionen.
Kaposi durfte, wie in vielen Fragen, in denen er einen wunderbaren
Conservatismns beweist, so auch in dieser ziemlich vereinsamt sein. Auch in der
neuesten Auflage seines Werkes81) geht er mit wenigen Worten über die die l*u-
haltbarkeit seiner Ansichten klar darlegenden Arbeiten Bkssikr’s weg. Kaposi
siebt in der Pityriasis rosr'e de Gibert das, was er als Herpes fonsurans macu-
losus bezeichnet.
„Wegen der Schwierigkeit des Nachweises der Pilze beim Herpes ton-
surans maculosus, der zweifellos durch die Raschheit des Fortschreitens und der
Exfoliation des Pilzes bei dieser Form bedingt ist, sind viele Autoren noch immer
nicht von der mykotischen Natur derselben überzeugt, und ziehen dieselben vor.
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112
DERMATOMYKOSEN.
diese Krankheitsform als ,. Pityriasis rost P (Gibert) und von Herpes tonsurans
verschieden zu bezeichnen.“
Wer nun die gründlichen Arbeiten Broco's 81), Besnier 's und
Anderer stodirt und selbst Gelegenheit hat, ein einigermassen grosses Material
zu beobachten, kann unbedingt nicht den KAPOSt’schen Ansichten beistioimen.
Das machte sich schon auf dem vierten Congress der deutschen dermatologischen
Gesellschaft geltend, wo Neisser88) und Riehl85) von der KAPOSi’schen Ansicht
abweichend sich äusscrten.
In der Gruppe derjenigen Fälle, die Kaposi als Herpes tonsurans macu-
losus bezeichnet, sind dreierlei verschiedene Affectionen untergebracht. Erstens
einige wenige Fälle von wirklichem Herpes tonsurans; zweitens viele Fälle von
der tigurirten Form des UNXA'schen Eczema seborrhoicum ; drittens das Gros
sind Fälle von Pityriasis rosee de Gibert.
Zahlreiche, genau nach Kaposi’s Vorschrift vorgenommene Untersuchungen
von Schuppen von Pityriasis rosee de Gibert, haben mir ein negatives Resul-
tat ergeben.
Die Pityriasis roste de Gibert ist eine subjectiv fast symptomlos
verlaufende, ziemlich polymorphe oberflächliche Hautaffection. Meist mit einer
Primitivplaque beginnend (Buocq), breitet sie sich in wenigen Wochen, über den
Rumpf besonders, aus, auch auf die Extremitäten, selten auf den Kopf übergehend
und heilt spontan meist in wenigen Wochen (-1 — 6); bei unzweckmässiger Be-
handlung geht sie leicht in ekzematöse Affectionen über.
Der Beginn der Pityriasis roste de Gibert wird, der Symptomlosigkeit
wegen, oft Ubersebeu. Es ist eine kleine, leicht erhabene, erythematopapulöse
Infiltration, die sich rasch in peripheren Kreiseu ausbreitet und mit allcrfeinsten
Schüppchen bedeckt. Niemals beobachtet man spontane Reizungszustände, Bläschen-
bildung oder Nässen. Die Farbe ist ein so typisches, zartes Rosa, mit einem
leichten gelblichen Ton auf den schon ..abgeweideten“ Partien , dass es in
typischen Fällen leicht ist, lediglich aus der Farbe die Diagnose zu stellen.
Meist geht die Affection von der Hals- oder Claviculargegend aus und
verbreitet sich hier Uber den Körper.
Ob, wie es besonders von Jacquet88) und Feulard89) behauptet wird,
die Pityriasis rosee de Gibert von Magendilatation begleitet ist, oder besser, sich
auf Individuen entwickelt, welche eine Magendilatatiou haben, scheint mir mehr
als zweifelhaft; ich habe in zahlreichen Fällen, die besonders zu Beginn des
Sommers zur Beobachtung kommen, nichts derartiges linden können. Die Ursache
dürfte jedenfalls eine parasitäre sein, sie ist uns aber noch unbekannt und ist
sicherlich nicht ein Trichophyton.
Mit der Pityriasis rosie de Gibert identisch dürfte sein die Pityriasis
circinfe et marginie. Vjdai/s; Besxier, der doch wohl VlDAL'sche Fälle gesehen
hat, sagt, er sei nicht im Stande, beide Affectionen zu unterscheiden.
Differentialdiagnostisch kommen Herpes tonsurans, Eczema seborrhoicum
und Syphiloderma er ythrmatosum in Betracht.
Selten wird der Herpes tonsurans eine Ausdehnung annehmen wie die
Pityriasis rosie de Gibert, und dann werden sich immer Kreise mit Bläschen-
bildung und stärkeren Reizungserscheinungen nachweisen lassen. Auch ist die Farbe
eine viel lebhaftere beim Herpes tonsurans als bei der Pityriasis rosee de Gibert.
Bei Eczema seborrhoicum dürften besonders Farbe und Localisation vor
diagnostischen Irrthümern schützen. Man wird immer eine Seborrhoe des Kopfes
und des Gesichtes , weiter eine vorzugsweise Localisation der ersten Plaque auf
Brustbein und zwischen den Schulterblättern beim Eczema seborrhoicum finden ;
ferner ist das buttergelbe Centrum mit dem rotheu, respective kupferrothen Rand
und spärlichere gröbere Abschilferung sehr verschieden von der ganz zart gelben
und rosa nüancirten Farbe und den feinen , zahlreichen Schüppchen bei der
Pityriasis rosee de Gibert.
DERMATOMYKOSEN.
113
Sehr wichtig, wie ich aus der Praxis verschiedentlich erfahren habe, ist
die Differentialdiagnose zwischen Pityriasis rost'e de Gibert und einem erythemato-
circinären Syphilid. Besonders im Anfang, wenn die kleine Papel noch zu con-
statiren ist hei der Primitivpapel der Pityriasis rosen, ist eine Verwechslung
wohl möglich. Man muss dann, wenn es sich um einige wenige Läsionen handelt
und nicht andere Symptome die Diagnose klären, die weitere Abwicklung ab-
warten. In entwickelteren Fällen dürfte dagegen ein Irrthum ausgeschlossen sein
— niemals dürfte ein Syphilid eine derartige Uniformität bieten wie die Pity-
riasis rosiie de Gibert.
Wie schon erwähnt, heilen die meisten Fälle von Pityriasis rosea von
selbst. Die Therapie hat deshalb vor Allem jede Reizung zu vermeiden. Warme
Bäder, Streupulver und in etwas hartnäckigeren Fällen schwache Schwefelpasten
führen bald zum Ziele.
Das Eczema marg in at um K aposi’s dürfte ebenfalls mehrere Affectionen,
Intertrigo, ekzematösen Intertrigo und Fälle von Herpes tonsurans , ganz besonders
aber von Erythrasma in sich begreifen.
Diese besonders in der Schenkelbeuge, in der Scrotal- uud Perineal-
gegend beobachtete Affcction dürfte, wie Besnier treffend bemerkt , nicht eine
in sich abgeschlossene Krankheit darstdlen, sondern eine durch die Localisation
bedingte Form von Epidermo-Dermitcn sein, die durch mehrfache Ursachen hervor-
gerufen werden kann.
Zweifellos können bei Scborrhoikern, bei Individuen, welche an Erythrasma
leiden, schliesslich bei fetten Individuen im heissen Klima durch Hypcrhidrosis,
mangelhafte Reinlichkeit, vielleicht auch — aber sicher selten — durch Herpes
tonsurans. stärkere, ekzematöse oder „ekzematisirte“ Entzündungen der Haut sich
ausbildcn, die alle dieselbe Form annehmen. Die Bedeutung des primären Reizes
— Seborrhoe, Microsporon minutissimum , Herpes tonsurans — tritt hinter
die secundären Reize, welche einen ekzematösen Zustand schaffen, voll-
ständig zurück.
Dafür spricht, dass das Eczema marginatum nicht contagiös ist; Hf.iira
selbst wollte es auch nicht, wie Kaposi jetzt, zu einer der Formen des Herpes
tonsurans machen.
Der verschiedenen primären Ursache entspricht auch die Verschiedenheit
der Therapie. Wo man mit Sauberkeit. Waschungen mit heissem Wasser, Seife
oder schwachen alkoholischen Lösuugen nicht zum Ziele kommt, wird die para-
sitäre primäre Ursache häufig durch die Wirksamkeit der Jodtinctur bewiesen.
Schwefel ist sehr wirksam in vielen Fällen, wird aber, wie Fett überhaupt, als
Salbe schlecht vertragen. Das wichtigste Postulat bei der Behandlung ist Aus
trocknung der affieirten Partien und Vermeidung des Contaetes der erkrankten
Ilautflächen durch Dazwischenlegcn von Mousseline mit Puder.
Das Erythrasma, durch das Microsporon minutissimum verursacht,
gehört an diese Stelle. So lange nicht Schweiss, Unreinigkeit eine Reizung hervor-
bringen , besteht diese Erkrankung in scharf begrenzten , meist blassbräunlich
oder röthlich-gelblichen Flecken, die von glatter, leicht abschilferndcr Oberfläche
sind, nicht nässen, keine subjcctiven Beschwerden machen und meist an den
Oberschenkel- Hoden - Contact flächen, unter den Mammae und manchmal an den
Achselhöhlen localisirt sind.
Bei secundärer Reizung bilden sich Formen ans, die wir eben bei Eczema
marginatum erwähnt haben.
Durch Waschungen mit heissem Wasser uud Seife mit folgender Puderuug
sind diese Flecken leicht zu beseitigen.
Die Pityriasis versicolor , veranlasst durch das Microsporon furfur,
ist in den letzten Jahren mehrfach studirt.
Unna und von Sehlen 90) glaubten, Reinzüchtungen des Microsporon
furfur gewonnen zu haben.
Eooyclop. Jahrbücher. VI. 8
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DERMATOMYKOSEN.
Rotliar91) aber, der selbst Botaniker ist und den Pilz von seiner
eigenen Haut züchtete, konnte die Untersuchungen der vorgenannten Autoren
nicht bestätigen. Er schlägt den Namen Oidium subtile vor für den Pilz der
Pityriasis versicolor.
Diagnostisch giebt diese discrete, schwach gelblich gefärbte, in Insela, die
untereinander manchmal feine Brücken zeigen, sich entwickelnde, fein schuppende,
kaum erhabene Affection kaum Anlass zu Schwierigkeiten. Manchmal sind die
Flecken etwas röthlicher und es ist dann nöthig, an Pityriasis rosea und an
squamös-erythematöse Syphilide zu denken , jedoch dürfte selbst bei nur ge-
ringer Erfahrung einige Aufmerksamkeit jeden Irrthura unmöglich machen.
Von grösserem Interesse ist die Frage, ob die Pityriasis versicolor nur
auf Individuen gedeiht, die an organischen Erkrankungen leiden. Es ist bekannt,
dass besonders bei kachektischen Individuen, so bei Phthisikern, Diabetikern,
Tabikern, Pityriasis versicolor ein häufiger Befund ist.
MOL&NEB und Castilhes 9a) kommen zu den Schluss, dass Microsporon
furfur ein Pilz niederer Ordnung (ein Schimmelpilz) sei, und dass sich dieser
Pilz bei Individuen entwickle, die an Digestioosstörungcn leiden, da deren Haut-
secret ein Gemisch von Fettsäuren enthalte, das der Entwicklung des Pilzes
günstig sei.
Die fast absolute Nicht - Contagiosität dieser Affectionen , die leichte
Heilung durch Seife, Schwefel und Sublimat, die ausserordentliche Hartnäckigkeit
im Recidiviren, sobald die Behandlung ausgesetzt wird, sprechen für die Be-
rechtigung der ausgesprochenen Anschauungen.
Literatur: *) Quincke, Arch. f. experim. Path. u. Pharm. 1886, XXII, pag. 62. —
*) Do utrelepont, Verhandl. d. deutschen dermat Gesellsch. 1889, pag. 97. — *) Kaposi,
Ebenda, pag. 98. — 4) Quincke, Doppelinfection mit Favus vulgaris und Favus herpeticus.
Monatsh. f. prakt. Dermat. 1889, VIII, Nr. 2. — #) Fabry, Klinisches und Aetiologiscbea über
Favus. Arch. f. Dermat. n. Syph. 1889, pag. 461. — •) Elsen berg, Ueber den Favuspilz.
Arch. f. Dermat. u. Syph. 188*, pag- 179- — 7) Elsenberg, Ueber den Favuspilz bei Favus
herpeticus. Arch. f. Dermat. u. Syph. 1890, pag. 71. — 8) Pick, Ueber Favus. Prager rned.
Wochenschr. 1887. — •) Kral, Mittheilungen über Hautmikrophyten und erläuternde Bemer-
kungen zu einer bakteriologischen Ausstellung. Verhandl d. deutschen dermat. Gesellsch. 1889,
pag. 84. — ,0) Jadassohn, Demonstration von Favusculturen. Verhandl. d. deutschen dermat.
Gesellsch. 1889, pag. 74- — u) Untersuchungen über Favus: Pick, I Klinischer und experi-
menteller Theil, pag. 57; Kral, II. Mikrologischer Theil, pag. 79. Arch. f. Dermat. u. Syph.
1891. — **) Pi ck , Der augenblickliche Stand der Dermatomykosenlehre Verhandl. d. deutschen
dermat. Gesellsch. 1894, pag. 64- — **) Mi belli, Sul Favo. Giornale Italiano delle malattie
vencrec et delle pelle. 1892, II; Arch. f. Dermat. u. Syph. 1894, XXVI, pag. 311. —
u) Maria nelli, Achorion Schot nleinii, morfologica , biologia e clinica. Tesa 1892; Annal.
de dermat. et syph. 1894, pag. 794 (in 172 Fallen einen Pilz). — ,a) Dubreuilh, Dia-
gnostic de ta t eigne fareuse. Journ. des malad, cutan. et syph. 1890, pag. 152. — 1#) Fol ly,
Beobachtungen über Infectionen mit dem Favuspilze. Ergänzungsheft zum Arch. f. Dermat. u.
Sypb. 1893« I, pag. lHö. — ”) Frank, Favus Monatsh. f. prakt. Dermat. 1891, XII,
pag. 254. — 18) Unna, Drei Favusarten. Monatsh. f. prakt Dermat. 1892, XIV, pag 1. —
“') Neebe und Unna, Die bisher bekannten neun Favusarten. Monatsh. f. prakt. Dermat.
1893, XVI, pag. 17- — *°) Unna, Flora dermat »logiert. IX. Monatsh. f. prakt. Dermat. 1892,
XIV, pag. 303. — ,1) Sabrazfcs, Sur le favus de Vhomme, de la poule et du einen. Annal
de dermat. et syph. 1893, pag 340. — Costuntin et Sabrazea, Etüde morphologique
des Champignons du favus. Annal. 1894, pag. 109. — ,a) Biro, Du Champignon du favus.
Annal. de dermat. et syph. 1894, pag. 486- — s#) Bodin. Note sur le favus de Vhomme.
Annal. de dermat. et syph. 1893, pag. 415. — **) Bodin, Sur la pluraliti du favus. Annal.
de dermat. et syph. 1894, pag. 12*0. — sa) Pick, Der augenblickliche Stand der Dermato-
mykosenlehre. Verhandl. d. deutschen dermat. Gesellsch. 1894. pag 54. — aT) Tischontkine,
Etüde sur la morphologic et la bioloyie des Champignons du genre Achorion. Annal. de
dermat. et syph. 1895, pag. 72. — 2S) Kral, Ueber den Pleomorph isrnus pathogener Hypho-
rayccten. Arch. f. Dermat. u Syph. 1894, XXVII, pag. 379. — *•) Duclau x, Societe de biol.
16. Jänner 1886. — 30) Verusjki, Annal. de Pinstitut Pasteur. 25 aoüt 1887, Nr. 8. —
Sl) Leslie Roberts, Untersuchungen über Reineulturen des Herpes tonsurans - Pilzes
Monatsh. f. prakt. Dermat. 1889, IX, pag. 339. — **) Unna und v. Sehlen, Flora dermato-
logica. (Nr. XII: Trichophyton ) Monatsh. f. prakt. Dermat. 1890, X, pag. 489. — *3) Scharf,
Eine Impfung des Trichophyton auf den Menschen. Monatsh. f. prakt. Dermat. 1890, X,
pag. 536. - *4) Furthmann und Neebe, Vier Trichophytonarten. Monatsh. f. prakt. Dermat.
1891, XIII, pag. 477. — 5J) Sabouraud, Contribution ä Vitudc de la trichophytii humaine.
DERMATOMYKOSEN.
115
Anna), de dennat. et syph. 1892, pag. 1061, 1151. — **) Sabouraud, Contribution ä l'ttude
de la trichophytie humaine. Annal. XCIII, pag. 116. — a7) Sabouraud, Contribution ä
l'ttude de la tnchophytie humaine ä grosses spores. Ibidem, pag. 814. — **) Sabouraud,
Sur Thypothhe d’une existence saprophyte des trichophyticus. Ibidem, pag. 561. — ") Sa-
bouraud, Note sur trois points de Vhistoire micrographique des trichophytons. Ibidem,
1894, pag. 37 — 4°) Sabouraud, Sur la trychophytie. Ibidem, 1894, pag. 982. —
4I) Sabourand, Lee trichophyties humaines. Paris 1894. — 4f) Sabouraud, Sur une
mycose in nominet de V komme , la t eigne tondante sptciale de Gruby, Mierosporon
Audonini . Annal.de l’institut Pasteur. 1894, VIII. — 49) Mi belli, Trichvphytia blepharo-
ciliaris (Blepharitis trichophyticaj. Monatsh. f. prakt. Dermat. 1893, XIX. — 44) Gruby,
Sur une esptce de mentagre contagieuse rtsultant du dtveloppement d’un nouveau crypto-
garne dans la ranne des poils de la barbe chcz Vhomme. Compt. rend. de l'Acad. des
Sciences. Paris. XV, pag. 5l2ff. (nach Sabouraud). — 4$) Gruby, Recherches sur la na-
ture, le siege et dtveloppement du prorigo decalvans ou phyto-aloptcie . Compt. rend. de l’Acad.
des Sciences. Paria 1843, XVII. pag. 301 (nach Sabouraud). — 4<) Gruby, Recherches
sur les cryptvgames ijui constituent la maladie contagieuse du cuir chevelu dicrite sous la
nt/m de (eigne tondante ( Mahon ) herpts tonsurans (Cazeneuve). Compt. rend. de l’Acad. des
Sciences. Paris 1844, XV1I1, pag 583 (nach Sabouraud). — 47) Bfeclere, Les (eignes
tondantes <1 Ptcole de Vhdpital St. Louis en 1894. Annal. de dermat. et syph. 1894, pag. 685- —
48) Mi belli, Ueber die Pluralität der Trichophytonpilze. Monatsh. f. prakt. Dermat. 1895,
XXI, pag. 613 — 4*) Mi belli, Sur la pluralitt des Trichophytons. Annal. de dennat. et
syph. 1895, pag. 733 (desselben Inhalts wie die vorige Arbeit). — 60) Krösing, Studien
über Trichophyton. Verhandl. d. 4. Congr. d. deutschen dermat. Gesellsch. in Breslau. —
**) Winternitz, Demonstration von Herpes foniurnns-Culturen. Verhandl. d. 4. Congr. d.
deutschen dermat. Gesellsch. — **) Kral, Ueber den Pleomorphismus pathogener Hypho-
myceten. Arch. f. Dennat. u. Syph. 1894. XXVII, pag. 397- — #s) A. Marianelli, Sul tricho-
phyton tonsurans. Lo Sperimentale. 11. Nov. 1893, Nr. 45, pag. 536. — *4) Leslie Roberts,
The botany of Trichophyton. Arch. f Dermat. u Syph. 1894, XXVIII, pag. 426. — w) Mazza,
Ueber Trichopbytonculturen. Arch. f. Dermat u. Syph. 1891. pag. 591. — 4<) Rosenbach,
Ueber die tieferen eiternden Schimmelerkrankungen der Haut und über deren Ursachen. Wies-
baden 1894 — 5T) Grawitz, Ueber die Parasiten des Soors, des Favus und des Herpes
tonsurans. Virchow’s Archiv. 1886, CIII. — 6#) D u c 1 a u x , Compt. rend. de la soci6t6 de biol.
Seance 16 janv. 1886. — w) Verujsk i , Recherches sur la biologie et morphologie du tricho-
phyton tonsurans. Annal. de l'institat Pasteur. 24 aoüt 1886, pag. 378. — M) Thin, Patho-
logy and treatment of ringirorm. London 1877. — ei) Campana, Culturc artißciali di
tricophiton tonsurans di un tumore della gambe di una donna. Relazione della clinica dermo-
siHlopatica. 1887 — 1888. — •*) H. Leslie Roberts, Introduction to the study of the mould-
fungi parasit to man. Liverpool 1893. Dobb <fc Cie. — •*) James G. Kel logg, Zur Geschichte
und Anatomie des Favusscuiulums. Monatsh. f. prakt. Dermat. 1895, XXI, Nr. 9. — ®4) Unna,
Histopathologie der Hautkrankheiten. Berlin 1894 pag. 380. — #l) Mi belli, Sul faro ; rt-
cerche cliniche, micologiche e istologiche. Giorn. ital. d. mal. ven. e. d. pelle. 1892, Nr. 2. u. 3. —
**) M i belli, Einige Bemerkungen über die Anatomie des Favus, Monatsh. f. prakt. Dermat.
1896, XXII, pag. 126. — 4T) Wälsch, Zur Anatomie des Favus. Arch f. Dennat. u. Syph.
1895, XXXI, H. 1. — ,,#) Wälsch, Zur Anatomie des Favus. Prager med. Wochenschr. 1895,
Nr. 17, 18. — ••) Leloiru. Vidal, Traiti descriptif des muladies de la peau. Masson
1893, pag. 362. — ,#) Haurwitz, Ein Beitrag zur Histologie des Favus. Breslau 1892. —
’*) Neisser, Verhandl. d. deutschen Gesellsch. f. Dermatol. 1894, pag. 106. — T*) Fabry,
Onychom icosis faeosa. Arch. f. Dermat. u. Syph. 1890, pag. 29. — 7*) Scharf, Eine Impfung
des Trichophyton auf Menschen. Monatsh. f. prakt. Dermat. 1890, X. pag. 536. — 74) Pelli-
zari, Untersuchungen über Trichophyton tonsurans. Med. Congrea* zu Pavia. 1887. —
n) H. Fournier, Tnchophytie des ongles. Journ. des malad, cutanees et syph. 1889, pag. 3 —
74 ) Dubreuilh, Diagnostic de la t eigne faveuse. Journ. des malad, cutanees et syph. 1889,
1, pag. 152- — 7?) Besser, Verhandl. d. deutschen Gesellsch. f. Dennat. 1894, pag. 107. —
7i) Djelaleddin-Moukhtar, De la trichophytie des rtgions palmaire et plantaire. Annal.
de derniüt. et syph. 1892, pag. 885- — **) Lassar, Art. „Favus“, 3. Aufl. d. Real-Ency-
clupadie von Eulenburg. — a0) Zinsser, Ueber die Behandlung des Favus mit Wärme. Arch.
f. Dermat. u. Syph. 1894, XXIX, pag. 13. — 8I) Kaposi, Pathologie und Therapie der Haut-
krankheiten. 1893, pag. 948 ff — **) Brocq, Note sur la plaque primitive de la pityriasxs
roste de Gibert. Annal. de dermat et syph. 1888, pag. 615. — M) Besnier, Pityriasis roste
de Gibert ( As pect de certains cas de) avec Veeztma «tborrhtique. Annal. de dermat. et syph.
1889, pag. 108. — M) Besnier, Kramen histologique de la Pityriasis roste des Gibert.
Annal.de dermat. et syph. 1889. pag. 338- — ®6) Besnier, Pityriasis roste de Gibert.
Anmerkung in der Uebersetzung des Kaposi’schen Lehrbuches. II, pag. 810. — M) Neisser
u. •*) Riehl, Verhandl. d. 4. Congr. d. deutschen dermat. Gesellsch. 1894, pag. 109, 110. —
Jacquet, Note sur deux cas de pityriasis roste de Gibert sur des sujets atteints de
dilatation gastnque. France m&d. 1886. — 8P) Feulard, Pityriasis roste de Gibert et dila-
tation de Pestumac. Annal.de dermat. et de syph. 1889, pag. 459 U. 714. — M) Unna und
v. S e h 1 e n , Flora dermatoloyiea. Monatsh. f. prakt. Dermat. 1890, XI, pag. 476. — -1) Ko 1 1 i a r,
Die Morphologie des Mierosporon furfur. Wratsch. 1892, Nr. 42 u. 43. Ref. Virchow-Hirsch’s
8*
116
DERMATOMYKOSEN. — DIPÜTHERIEHEILSERUM.
Jahresberichte. 1892, pag. 562 und Arch. f. Dermat. u. SypU. 1894, XXVI, pag. 312. —
w) M oh* ne a a. Castilhets, Pathoytnic et traiiement du pityriasis versicolor. Arch. gen.
de meJ. Oet. 1891, pag. 385. v. Döring, Conatantinopel.
Digitoxinum crystallisatum (Merck). Während bis vor Kurzem das
Digitoxin wegen seiner sehr starken Wirkung eine nur sehr beschränkte An-
wendung fand , trat Masuts in Lüttich auf Grund klinischer Untersuchungen für
diese Substanz aus der Digitalis purpurea gerade wegen seiner schnellen, sicheren und
energischen Wirkung ein. Schon nach 12, meist nach 24 Stunden schwinden in
vielen Fällen Cyanosc und Respiratiousstöruugen, der Puls wird kräftiger und
regelmässig, die Diurese erfährt eine bedeutende Steigerung. Die Wirkung des
Digitoxins währt gewöhnlich 8—10 Tage und macht sich auch bei Pneumonie
und Typhus in Bezug auf Puls und Temperatur geltend. Als Nebenwirkungen treten
nur selten gastrische Störungen von geringer Intensität auf. ln einer grösseren sorg-
fältig durchgeführten Versuchsreihe prüfte Wenzel unter Leitung von Un verricht
dieses Digitalispräparat in schweren Fällen von Herzklappenfehlern, Myokarditis und
Nephritis. Er gab das Mittel per Klysma. Nach einem jedesmaligen Reinigungs-
klystier wurde zuerst 3mal am Tage, später nur 2mal, zuletzt lmal das 15 Grm.
einer Lösung von Digitoxin 0,01, Alkohol 10,0, Aqu. dert. ad 200,0 auf 100,0
Wasser enthaltende, lauwarme Klystier gegeben. Der Kranke erhielt somit pro
dosi 0,00075 Digitoxin, die Tagesdosis überschritt noch um einige Zehntel Milli-
gramm die von Schmikdeherg , Binz, Lewix u. A. auf 2 Mgrm. festgestellte
tägliche, maximale Gabe. Diesmal wurde an toxischen Nebenwirkungen nur bei
2 sehr herabgekommenen Individuen Erbrechen beobachtet, welches nach Aus-
setzen des Mittels sofort anf hörte. Wenzel erklärt das Digitoxin für ein mächtiges
Cardiacum. das selbst wirksam ist, wenn andere Medieameute, selbst das Digitalis-
infus, versagen. Die diuretisehe Wirkung ist ausgezeichnet. Durch die Anwendung
des Digitoxins per Klysma werden die Störungen von Seiten des Digestioustractus
sehr reducirt , fast ganz vermieden , gleichzeitig macht sich die Herzwirkung
energisch geltend.
Auch J. Corix, der das Digitoxin in einer Pneumonieepidemie in grösserem
Massstabc versuchte, spricht sich günstig über das Mittel aus. Er gab es in
etwas hohen Dosen, indem er bei Erwachsenen eine Lösung von 3 — 4 Mgrm.
Digitoxin, crystallis. (Merck ) in Chloroform und Alkohol aa. mit Aqu. dent. ad
200'0 auf 3mal binnen 24 Stunden einuehmen lässt. Für Kinder bis zu 1 Jahr
V, Mgrm. pro die. Erbrechen zeigten 6°/0 der Patienten; je concentrirter die
Lösung, desto leichter tritt jenes auf; doch warnt Corix vor zu sehr fractionirten
Dosen. In Intervallen von 48 Stunden konnte die Dosis von 3 Mgrm. mehrmals
wiederholt werden. Cnmulativwirkung trat nie auf, Corix betont die Nothweudig-
keit, das Mittel rechtzeitig und in gehöriger Dosis zu verabreichen.
Literatur: Musius (Lüttich), Bull, de l'Acad. royale do Med., Anne» 1893 et
1894. — Wenzel, lieber die therapeutische Wirksamkeit des Digitoxin. Centralhl. f. klin.
Med. 1895, Nr. 19. — - J. Corin, Du traiiement de la pneumonie par tu digitoxine. Annal.
de la Soc. mtdic.-cbirurg. de Libgc. 1895. Mai, pag. 201. Locbisch.
Diphtherieheilserum. Als ich Ende 1894 einen Ucberblick über die
Serurabchandlung der Diphtherie auf Grund unserer damaligen Kenntnisse zu
gewinnen suchte, kam ich am Schlüsse zur Aufstellung folgender Sätze1):
1. Die Anwendung des BEHRiXG’schen Diphtherielieilserums basirt auf
einer Reihe exactcr Laborntoriumsversuche und klinischer Beobachtungen , welche
genügend sind, um den Versuch des neuen Mittels bei der sonstigen Machtlosig-
keit unserer Diphtheriebehandlung nicht nur zu rechtfertigen, sondern sogar zu
gebieten.
2. Diesen Versuch dürfen wir praktische Aerzte ohne Zweifel ebenfalls
vornehmen, weil die Unschädlichkeit des Mittels als feststehend zu erachten ist.
3. Die Scrutnbehandlung muss sofort bei Verdacht auf Diphtherie, jeden-
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DIPHTHERIEHEI LSERUM.
117
falls so früh als möglich , einsctzen. Die Geschwister des Patienten sind durch
entsprechend kleine Gaben sofort zu immunisiren.
4. Neben der Serumbehandlung ist die Reinhaltung von Mund- und
Nasenhöhle durch Gurgeluugcu, beziehungsweise Spülungen erforderlich ; auf die
Ernährung der Diphtheriekranken ist nach wie vor das aufmerksamste Auge
zu richten.
5. Bei Stellung der Prognose ist die Schwere des Falles zu berücksichtigen.
Leichte Fälle, bei denen deutliche Belüge und Schwellungen im Rachen ohne An-
zeichen einer Allgemeinintoxication vorhanden sind, pflegen absolut günstig zu
verlaufen; in mittelschweren Fällen, in denen starke Beläge und Schwellungen
ohne Anzeichen von Allgemeinintoxication da sind, darf man hoffen , etwa drei
Viertel genesen zu sehen ; in den schweren Fällen, die mit schwerer Störung des
Allgemeinbefindens, Nasendiphtherie, weichen Drusenschwellungen u. 8. w. ver-
laufen, steigt die Salubritätsziffer unter Serumbehandlung gewiss auch bis auf
die Hälfte der Fälle. Die Prognose der rechtzeitig ausgeführten Tracheotomie
bessert sich wesentlich, wahrscheinlich auch die Prognose der jüngsten Patienten,
die bisher sehr schlecht war, weil da relativ die grösste Anzahl von Heilkörpern
bezogen auf das Körpergewicht einwirkt.
Seitdem ist ein Jahr rastloser Arbeit vergangen, und für die Bedeutung
der neuen Behandlungsweise spricht allein der Umstand, dass an dieser Arbeit
sich die Aerzte der alten und der neuen Welt, die Kliniker und die praktischen
Aerzte mit gleichem Eifer betheiligt haben. Der Enthusiasmus war zumeist so
gross und bei unserer bisher so wenig erfolgreichen Therapie so natürlich, dass
Zweifler ein leichtes Spiel haben mussten, die scheinbare Wirkung der Bkhking-
Roux’schen Diphtheriebehandlung als thatsächlich nicht anzuerkennen. Um so nütz-
licher wird es sein, die Jahresarbeit abermals zu Überblicken, und an diesem
Ueberblick den Inhalt meiner vorjährigen Schlusssätze, die wohl damals dem
Standpunkte der überwiegenden Majorität ungefähr entsprachen, zu prüfen.
Fassen wir zunächst den Verlauf der Serumeinspritzung kurz zusammen,
so lässt sich etwa folgendes Bild entwerfen. Es wird stets die ganze nöthig er-
scheinende Menge nna dosi einverleibt. Die Einstichstelle der Haut, welche ent-
weder an der Seitenwand des Thorax oder in der Subclavicnlargegend oder am
Oberschenkel, seltener am Vorderarm (Wai.kku a) gewählt wurde, wird zunächst
mit möglichst warmem Seifenw'asser gewaschen, hierauf mit Wattebäuschcheu, die
anfangs in antiseptische Lösung getaucht, sodann mit Aether getränkt sind; die
linke Hand erhebt eine Falte, in welche die rechte die Nadel der serumgcfüllten
Spritze — sei dies eine Ballon- oder eine Cylinderspritze verschiedenster Construction —
hineinstösst , um ihren Inhalt subcutan langsam zu entleeren. Die entstehende
Beule massire ich nach HeUBKEK’S Vorschlag nicht ; die kleine Stichöffnung
schliesse ich mit einem Kreuz von Heftpflaster, auf das ich einen kleinen Watte-
bausch auflege. Nach einer halben bis ganzen Stunde hat sich die Flüssigkeit
aufgesaugt; die SticliBtelle bleibt reactionslos, wenn auch zumeist für kurze Zeit,
etwa für die nächsten 24 Stunden , sehr wenig schmerzhaft. Voraussetzungen
für diese Reactionslosigkeit der Stichwunde sind natürlich ausser der Hautreini-
gung gereinigte Hände des Injicirenden und gereinigtes Instrument; ich spritze die
Spritze mit Canüle unmittelbar vor jedem Gebrauch mit heissem, reinem Wasser,
dann mit warmer 2%iger Lysollösung und zuletzt mit Aether durch und wieder-
hole denselben Reinignngsgang unmittelbar nach der Anwendung. Die erste und
am meisten sinnfällige Aeusserung der Serumeinspritzung pflegt eine Euphorie
der Patienten zu sein, welche oft genug geradezu frappirend gegen die vorherige
Abgeschlageuheit und Theilnahmslosigkeit absticht. Kökte *) z. B. findet gerade
diese Besserung im Allgemeinbefinden sehr charakteristisch für die Wirkung des
Diphthcricantitoxins. Wohl alle, welche Serum therapeutisch verwendet haben,
werden erlebt haben, dass Kinder, welche unleidlich oder unwillig oder gar theil-
uahmslos unter dem Bilde eines Schwerkranken da lagen , anderen Tages mit
118
D1PHTHEBIEHEILSERUM.
freundlichem und befriedigtem Gesicht in ihrem Bettchen sassen und mit leb-
haftem Interesse spielten, wie cs z. B. Schippers*,) beschrieb und Widerbofer. 6)
Wenn Vierordt «) darauf wenig Werth legt, weil man es auch sonst gesehen habe
und „besonders zuweilen am zweiten Tage nach dem Eintritt in das Krankenhaus,
nämlich dann, wenn der kleine Patient die erste Scheu vor der neuen Umgebung
Überwunden hat“, so ist darauf hinzuweisen, dass in der Privatpraxis diese Be-
weisführung nicht zutrifft und der überraschende Umschwung im Allgemeinbefinden
dennoch einzutreten pflegt.
Das Fieber wird zumeist günstig umgestimmt; ich habe selbst innerhalb
20 Stunden einen Abfall von 40,2 auf 36,9 constatiren können. Das war ein
Fall von reiner Angina diphtheritica , bei der auch G. Mya 7) der rasche
Temperaturabfall ganz besonders anffiel. Ein Sinken um */, — 1° bereits innerhalb
zweier Stunden nach der Einspritzung beobachtete Charon b), und auch Guizetti *)
sah bei zweistündlicher Temperaturbestimmung das Fieber sich bei hinreichender
Quantität des Mittels ermässigen. Einen Temperaturabfall innerhalb 12 — 24 Stunden
verzeiehneten bei ihren Kranken Hkim 10) und Monti11), innerhalb 24 Stuuden
Walker *) und innerhalb 24 — 36 Stunden G. Seitz 1S) bei seinen Beobachtungen
während der bösartigen Epidemie zu Constanz. Börger **) berichtet aus der Klinik
zu Greifswald, dass zuweilen schon am Tage der Injection die Temperatur zur
Norm sank und in einigen Fällen von einem Tage zum andern von 40° bis zu
37°, allein durchschnittlich sei erst in 2 — 4 Tagen volle Defervcscenz eingetreten.
HorCiCka **) bemerkte diesen Abfall von einem Tage zum andern bis auf die
Norm bei drei bakteriologisch als Diphtherie gesicherten Fällen , welche er als
schwere bezeichnet. Dass der Temperaturabfall häufig „kritisch“ sei , sagt auch
Baginsky “), und Kosski. >*) hält ebenfalls seine Behauptung, „dass bei frischen
Fällen häufig ein fast kritisches Sinken der Temperatur eintritt“, aufrecht; als
Ursachen, welche das Ausbleiben des Temperaturabfalls verschulden, nennt er er-
hebliche DrUseninfiltrationen, welche nachträglich in Eiterung übergehen , erheb-
liche Betheiligung der Nase, des Nasenrachenraumes oder des Kehlkopfes, bereits
bestehende Nephritis oder endlich Obstipation. Wie dem auch sei, ausnahmslos
antipyretisch wirkt das Diphtherieheilsernm nicht , und es giebt Autoren mit
grossen Beobachtungsreihen, welche die Beeinflussung der Temperatur nicht typisch
nennen, so Körte1) und Ganghofner u). Soi.tman.n ,b) behauptet, zuweilen bei
reiner Rachen- oder Nasenrachendiphtherie auch vor der Serumbehandluug einen
Temperatursturz von 40 zu 38 — 37,5 gesehen zu haben und sah bei denjenigen
Injicirten, welche so plötzlich entfiebert waren, die Temperatur bald wieder an-
steigen, um dann in 6 — 14 Tagen lytisch abzuklingen. Monti11) erwähnt, dass
seine Kranken zuweilen ohne nachweisbare Ursache am 3. — 5. Tage post inject,
abendliche Temperatursteigerungen bekamen, welche bis zu 8 Tagen sich wieder-
holten. Einen Temperaturanstieg unmittelbar nach der Injection des Serums, und
zwar innerhalb der ersten 12 Stunden, stellte v. Mitralt 1B) bei 16 Kranken fest,
während die Temperatur von 10 anderen Injicirten in derselben Zeitpause sank.
Eine ebensolche Erhöhung der Körperwärme innerhalb 12 Stunden post inject,
beobachtete Schmidt 10) „in fast allen Fällen“ (2mal bis zu 41,5°! ; diesem Anstieg
folgte indessen in abermals 12 Stunden ein Fall, zuweilen bis zur Norm.
Aehnlich wie mit der Temperatur verhält es sich mit dem Fuls der
eingespritzten Diphtheriekrauken ; cs ist begreiflich, dass namentlich dann, wann
das Serum die Körperwärme günstig beeinflusst hatte , also doch wohl in der
Mehrzahl der Fälle, auch der Fuls qualitativ und quantitativ sich besserte, dass
aber die Autoren, welche einen typischen Einfluss des Serums auf die Temperatur
leugnen, auch eine typische Einwirkung auf den Fuls vermissten. Dass freilich
der Grad der Fulsverbesserung nicht ganz gleich dem der Temperatnrherabsctzung,
sondern etwas geringer ist, stimmt, glaube ich, mit den sonstigen, vor der Serum-
periode gewonnenen Erfahrungen Uber das Verhalten des Fnlses bei Diphtherie-
reeonvalescenten überein. So berichtet selbst KOSSEL1*), dass der Puls oft einen
DIPHTHERIEHEILSERUM.
119
Tag später als die Temperatur normal geworden sei, und Rosknthal **), der bei
Larynxcroup mit der Serumbehandlung sehr guten Erfolg hatte, bemerkt uub
drUcklich, dass die Pulszahl lange hoch zu bleiben pflegte ; die gleiche Ansicht
gewann aus seinen Fällen Soltmaxn ”), dessen Kranke nicht nur einen schnellen,
sondern oft anch einen kleinen und unregelmässigen Puls behielten. Zu denen,
welche die günstige Einwirkung auf den Puls rühmen, zählen u. A. BaGINSKY16),
A. C. White**) und W. T. Howard”). Widerhofkr5) sah „grosse Frequenz des
Pulses von 160 und darüber nach einer Injection auf fast das Normale abfallen“
und schätzt den nach den Einspritzungen „in der Mehrzahl normalen , wieder
kräftigen und vollen Puls“ prognostisch höher, als den Teuiperaturabfall. Etwas
einschränkender äussern Bich Soxnkxburg ”), welcher „in vielen Fällen den Puls
langsamer und besser“ werden sah und den Eindruck gewann, als ob diese Puls-
verbesserung, sowie die Entfieberung bei den Injicirten allgemeiner und energischer
eintrat als bei den Nichtinjicirten, und Bökai *•), der bei den meisten von 85 Fällen
schon wenige Stunden nach der Jnjection den Puls langsamer, regelmässiger,
voller und gespannter fand.
Was ferner den localen Process anlaugt, so hatte Roux behauptet, dass
24 Stunden nach der Injection die Exsudation stillsteht; Hinter Mackenzie”)
hält hieran fest, während Vierordt 8) die Ueberzeuguug gewann, dass der locale
Process nach durchschnittlich 36 Stunden Halt macht. Fast alle Beobachter stimmen
alter in der praktisch unschätzbar wichtigen Thatsache überein , dass sie nach
der Serumeinspritzung, sofern zur Zeit derselben der Kehlkopf frei gewesen war,
niemals einen I'ebergang des Processes aus dem Bachen in den Kehlkopf er-
lebten; ich nenne von ihnen Körte *), Hbubner*7), Baginsky **), Okkmoxig ”),
C. Seite”), Ranke*0), der auch auf dem XIII. Congress für innere Medicin *>)
betonte , dass das Berum eine gewisse Coupirung des diphtheritischen Processes
und besonders des Absteigcns nach den Bronchien erkennen lasse u. A. m. Ranke
widersprach Küht.s *■), welcher öfters nach der Anwendung des BEHRixo’schen
Mittels die Krankheit in den Larynx und bis in die feinsten Bronchien hinab-
steigen sah ; auf demselben Standpunkte stehen Gnändinger und Kassowitz. **)
Auch Soltmaxn15) giebt an, dass unter 89 Fällen 13ma! unter der Bernmbehand-
lung descendirender Croup bis in die feinsten Bronchien und in die Alveolen
hinein unter Bildung ansgedehnter pulmonaler Entzündungsherde aufgetreten sei.
Es ist aber entschieden erlaubt , diese Beobachtungen als wenig beweisend zu
betrachten; denn Soltmaxn insbesondere pflegte sehr spät einzuspritzen, später,
als die Mehrzahl der Autoren, weil er meinte, in allen Fällen die Resultate der
bakteriologischen Untersuchung mittels des Culturverfabrens alnvarten zu müssen
— welch' kostbare Zeit ist ihm da ungenutzt verstrichen ! Ich glaube, bei recht-
zeitigem Eintritt der Behandlung, d. i. sobald als wir die klinische Diagnose
gestellt haben, dürfte die IJescendenz des diphtheritischen Processes sich bestimmt
\ erliüten lassen; die bakteriologische Diagnose, zumal das Culturverfahren, hat
der klinischen und dem Eintritt der Serumbehandlung zu folgen, und es ist dann
noch immer Zeit, zur statistischen Vcrwerthuug alle Fälle auszumerzen, in denen
sieh klinische und bakterielle Diagnose nicht deckten. Diese Forderung ist eine
gerechtfertigte, weil cs bekannt ist, wie rasch sieh zuweilen selbst bei minimal-
stem Rachenbefund der diphtheritische Process auf den l.arynx fortsetzt und
pemieiös wird.
Dass im Rachen selbst unter der Berumeinspritzung noch neue Membranen
in den ersten Stunden entstehen können, erklärt »ich wohl ungezwungen daraus,
dass das Antitoxin eben erst nach einer gewissen Zeit, seien es nun 24 oder
36 .Stunden, seine Wirkung entfaltet; ich habe selbst einen lehrreichen Kall der
Art gesehen — ich injicirte ein Kind mit Fieber, Schnupfen und gestörtem All-
gemeinbefinden, dessen Rachen massig geröthet war, aber keine Spur von Belag
zeigte, mit Bkhuing's Serum Nr. I, weil ich wusste, dass dasselbe in einer diph-
tbericinficirten Wohnung verkehrt hatte; nach etwa 20 Stunden waren auf beiden
120
DII’HTUERIEnElLSERUM.
Mandeln dicke Beläge erschienen trotz Temperaturabfall und Euphorie des kleinen
Patienten, und erst dann zeigte sich die Wirkung des Serums darin, dass diese
Belüge nur 24 Stunden Bestand hatten und das Kind rasch und dauernd genas.
Von Hecidiven darf inan nur dann reden, wenn sich nach der Reinigung des Rachens
jenseits des zweiten Tages post injectionem neue Membranen bilden. Ein solches
thatsächliches Recidiv erlebte z. B Edwin Kuh J5j hei einem 14jährigen Mädchen,
das mit Serum II bei bakteriologisch gesicherter Diagnose behandelt worden war,
am 5. Tage post injectionem. Eine abermalige Einspritzung von Serum I führte rasch
zur Gencsuug; da Km neben der Serumeinspritzung Pinselungen mit der Loff-
LEli’seben Toluollösung vornehmen Hess, so könnte man vielleicht an eine Aato-
infeetion gelegentlich einer unbedeutenden Verletzung beim Pinseln denken. Anders
liegt es bei den Beobachtungen von Wolff-Lewin 3‘), der genau 5 Wochen nach
der ersten prophylaktischen Serumeiuspritznng von 120 I.E. ein Üjähriges Mäd-
chen an Diphtherie und nach Ablauf dieser auf Serum 1 etwa 14 Tage darauf an
einer neuen, binnen 4 Tagen ohne Einspritzung ablaufenden Attaque erkranken
sah und in den beiden Fällen Gobei.'s s‘), der einmal nach Behandlung mit
1500 I. E. bei einem 2jährigen Knaben am 40. Tage ein typisches, bakterio-
logisch erwiesenes Diphtheriereeidiv und ein anderes Mal bei einem siebenjährigen
Mädchen am 28. Tage ein allerdings bakteriologisch nicht einwaudsfrei er-
härtetes Recidiv erlebte. Das beweist eben nur, dass die Schntzkraft des Serums
eine beschrankte ist und die Diphtherie prolongie französischer Autoren , von
der auch Hf.xoch, Gerhardt („öftere Nachschübe diphtheritischer Häute am
Rachen“), Schech u. A. berichtet haben, nicht verhütet. Rückfälle nach Heilung
der Diphtherie durch Serum sahen auch Gkkmoniö 39) (6mal unter 362 Fällen),
C. Seitz 2’) (3mal unter 90 Fällen), Heubxer 2‘) (3mal unter 300 Fällen), Uxtkk-
holzxer*0) und Bäümler57); Timmeh38) verzeichnet einen zweimaligen Rückfall.
Darnach darf man ein Recidiv nach einer serumbehandelten Diphtherie nicht
ablcuguen, darf es aber als einen seltenen, unglücklichen Zufall betrachten.
Sichtbare Veränderungen im Rachen werden häutig beobachtet; das
Exsudat erscheint weisser und dichter , zuweilen von solchem Aussehen , als ob
eine Gerinnung stattgehabt hätte. Die beginnende Ablösung erfolgt dann am 2.
oder 3. Tage in vielen Fällen so, dass die Peripherie der Membran sich wulstet
und aufrollt und eine Abbröckelung derselben vom Rande her beginnt und all -
mülig gegen das Centrum fortschreitet. Widerhofkr6) sah „diese Umwandlung
in eine entschieden milchweiss gefärbte, breiige Detritusmasse auch in den Bron-
chien der meisten von mit absteigendem Croup gestorbenen Kindern“. Zu be-
merken ist dabei, dass solche Veränderungen gesehen werden in Fällen, in denen
keinerlei locale Behandlung des Rachens, abgesehen von antiseptischen, milden
Gargarismen, stattfand, insbesondere jede Pinselung und jede Aetzung unterblieb.
Bökai 26) beschreibt diese Veränderungen so : „Am zweiten , respective dritten
Tage hatte sich das fibrinöse Exsudat auf den Rachengebilden zuerst demarkirt,
bald verdünnt, die schmutziggraue Färbung desselben gewann eine weisse Farbe,
die Verdünnung der Pseudomcmbranen schritt allmälig weiter, bis dieselben
schleierartig wurden und endlich ganz verschwanden.“ Gvizetti ®) bemerkte in
den ersten Stunden nach der Einspritzung eine deutliche Zunahme des localeu
Rachenproccsses , nachher aber begrenzten sich die Pseudomembranen von eiuer
zarten, lebhaft rothen Zone, begannen zu erweichen und waren zwischen dem
dritten und sechsten Tage der Behandlung ganz abgefallen. Engel *•) hält gerade
diese schnelle Besserung des localeu Befundes für charakteristische Serumwirkung;
Vikrordt«) dagegen, Heim10) und vanNks'0) leugnen den sichtbaren Einfluss
des Serums ah. Wann die Abhebung der Membranen beginnt, und in welcher
Frist sie vollendet ist, wird wohl von der Intensität der Erkrankung abhängen.
Walker3) und Dejicth41) sahen bereits am zweiten Tage den Beginn der Lösung
der Membranen eintreten und sahen die Lösung am dritten Tage vollendet.
K Ossel I8) sah die Rachengebilde von den Membranen völlig befreit 18mal air.
1)1 1'HT H EKI EHEILS ERU U .
121
zweiten Tage, 30ma) am dritten, 24mal am vierten, lOmal am fünften, 9mal
am sechsten und 2mal am aehten Tage. Risei.’S 4S) Kranke waren am zweiten
bis am sechsten Tage frei von Membranen. Erst am nennten Tage hatte sich bei
einigen Kranken SchröDER’s *3) der Hachen gereinigt und sogar erst am 13. Tage
bei einem Kranken Rörger’s. 1 *) Bei der unbestimmten Grenze, an weleher wir
vor der Serumbehandlung die Reinigung des Rachens zu sehen gewohnt waren,
und bei diesen weit auseinandergehenden Terminen , die unter dieser Behand-
lungsweise uns den localen Rachenprocess abgelaufeu zeigen, ist es schwer zu
sagen, ob w irklich eine Beschleunigung der Membranabstosaung bei den injieirten
Krauken zu erwarten ist. Heubneb *’) freilich zieht aus einem Vergleich des
Durchschnittes seiner sonstigen Erfahrungen mit dem seiner jetzigen den Schluss,
dass durchschnittlich zwei Tage früher als soust der Rachen gereinigt ist.
Mit der Reinigung des Rachens geht die Abnahme der Kieferdrttscn-
Schwellungen nebenher. Bokai 25) war dieselbe schon kurze Zeit nach der Serum-
cinspritzung ersichtlich, und er hält sic neben der günstigen Aendernng des
Pulses sogar für eines der ersten Zeichen der Serumwirkung. Auch Hager“)
hebt die rasche Abnahme der Drüsensehwellung hervor, und gleicher Meinung ist
Händler44), der seine Erfahrungen nur in der Landpraxis sammelte. Kien be-
richtete im unterelsilssischen Acrztevereiu 44), er habe bereits 12 Stunden nach seinen
Einspritzungen Abnahme der geschw ollenen Lymphdrüsen bis zur Hälfte gesehen. Für
van Nes *°) dagegen w ar eine Einwirkung des Mittels auf die Drüseuschwellungen
nicht nachweisbar; da er hinzufügt, dass sie in seinen 52 Fallen überhaupt „nicht
oft“ auftraten , wollen seine geringen Erfahrungen gegenüber der Summe der
entgegengesetzten wenig sagen.
Von hoher Bedeutung ist die Wirkung des Diphtherieantitoxins auf
Lnrvnx und Trachea; denn von der Stenose dieser lebenswichtigen Organe bängt
gar zu oft die Gefährdung unserer Patienten ab, und da wohl kein einziges
Mittel bisher uns die Sorge um den Eintritt dieser verhängnissvollen Complication
nur einigermaßen benahm, so ist es für uns eine erfreuliche Entlastung, dass
wir, worauf ich schon vorher hinwies, unter sofortiger Serumbehandlung die
Descendenz des diphtheritischen Processes aus dem Rachen in den Kehlkopf und
die Luftröhre mit hoher Wahrscheinlichkeit, vielleicht fast sicher verhindern
können. Ist aber bereits eine Stenose cingetreten, so dürfen wir, im Beginne
wenigstens, auf Rückgang hoffen; es mag sein, dass auch vor der Serumbehand-
lung leichte , stenotische Erscheinungen spontan zurückgingen , aber unzweifel-
haft ist dieser Vorgang unter der Serumbehandlung öfter beobachtet worden.
Wenn Timmkr ,s) sagt, die Beeinflussung der Stenose sei keine frappante, so
steht er mit seiner Ansicht recht vereinsamt. Ihm stellen sich besonders die
zahlreichen Zeugnisse erfahrener Landärzte entgegen , welche übereinstimmend
berichten, dass die Serumeinspritzung die Tracheotomie vermieden nud darum,
weil ihneu diese Operation von den Eltern der kleinen Kranken nimmer zu-
gegeben worden wäre, oder, weil sie bei der leider so oft ganz aussichtslosen
Nachbehandlung in engen Arbeiterwohnuugen oder dumpfen Bauernstuben uuthun-
lich erscheinen musste, die nach allen sonstigen Erfahrungen verlorenen Patienten
gerettet habe. Solche Fälle zählt Eisenstädt 47) , der 102 seruminjicirte Fälle
aus einem bayerischen Landbezirke zusammenstellte, auf; E. SIMON **) sah ein
Kind von 19 Monaten mit Rachendiphtherie und beträchtlicher Kehlkopfstenose,
bei welchem ihm die Tracheotomie verweigert wurde, auf Einspritzuug von Serum I
innerhalb vier Tagen genesen, und ähnlich ist Lev’s4*) Fall bei einem Kinde
von 1 ’/j Jahren; Lissakd 60 ) behandelte ein Mädchen von 5' , Jahren, bei dem
am 11. Tage Crouperscheinungen und am 13. starke Stenose das Leben gefährdete;
am selben Tage spritzte er Serum III ein , am anderen Tage hatten sich die
Stenosenerscheinungen verringert, und am IS. Tage war das Kind genesen.
Lbisskb41) sah in seiner Landpraxis acht sehr schwere Croupfälle ohne Tracheo-
tomie genesen, und auch Pfkilstickee 4a) gelaugte zur Ueberzeugung, dass das
122
DIPHTHERIEHEILSERÜM.
Serum bei beginnender Stenose den Luftröhrenschnitt vermeiden lasse. Pavlik **)
behandelte auf dem Lande ein einjähriges Kind mit bakteriologisch bestätigter
Rachen-Kehlkopfdiphtherie, das mit dem Athem rang und seit acht Stunden die
Brust nicht fassen mochte, das bei stark cyanotischen Lippen 170 Pulsschläge in
der Minute hatte, mit Serum II, und am fünften Tage war der Säugling genesen.
Th. Lange 6‘) endlich sah einen 4jährigen Bergmannssohn , dem er am dritten
Krankheitstage bei inspiratorischen Einziehungen des Jugulums um 2'/t — 3 Cm.
und bei beginnendem Collaps Serum II injicirte, binnen 24 Stunden ausser Gefahr
und in sieben Tagen genesen; „es war ein Fall,“ sagt er, „der erfahrungs-
gemäss ohne Tracheotomie letal enden musste“. Doch auch die Spitalserfahrung
bestätigte diese auffallende und wichtige Erscheinung. Vlerordt 6) nennt es
„höchst auffällig“, dass von 23 mit Stenosenerscheinungen eingetretenen Patienten
9 nach tagelanger Dyspnoe unter Serumbehandlung ohne Tracheotomie genasen.
Auch Ghrmonig 29) erwähnt, dass im Civilspitalc zu Triest die Anzahl der Ope-
rationen unter den Diphtheriekindern abgenommen hat. D’Rspine 66) , der eine
gemischte Praxis ausübt, zählt fünf Laryngostenotische auf, bei denen die Tracheo-
tomie unvermeidlich erschien, und die dennoch ohne dieselbe genasen. Moizard
und Perrkgaux 6e), die über 231 Beobachtungen zu berichten vermögen, sagen
ebenfalls, dass die Tracheotomie seltener nöthig gewesen sei, als sonst, weil sich
die Stenose oft wenigstens soweit verringerte, dass die Intubation genügte.
Kragen wir uns, in welcher Weise das Diphtherieantitoxin solche Wirkung
ausübt, so müssen wir dahin antworten , dass sich unter dessen Einwirkung die
Croupmembranen rascher abstossen und seltener sich neu bilden. Guizktti •),
welcher 30 Stunden bis zum Eintritt der Wirkung des Serums auf den Respirations-
tractus rechnet , fand bei Leichenuntersuchungen am fünften Tage die Pseudo-
membranen in demselben bis zu den feinsten Bronchien hinab „in vollster Auf-
lösung“ und zeigte an mikroskopischen Präparaten, dass die Begrenzung und
Ablösung der Membranen durch Einwanderung von Leukocyten bedingt ist, —
er meint daher, das Heilserum befördere die locale leukocytische Reaction,
während sie das Diphtheriegift verhindere. Damit stimmen 5 Obductionsbefunde
von Kf.tz in denen er eine Erweichung der Croupmembranen constatirte, zu-
sammen, und 1 8 Sectionen, bei denen Biggs 6S) erkannte , wie das Antitoxin die
Ablösung der Membranen begünstigt. Mit der Leukocyteneinwanderung würde sich
die von Charon 8) hervorgehobene klinische Thatsache erklären lassen, dass bei
den laryngostenotischen, eingespritzten Kindern fast regelmässig sich eine reich-
liche Expectoration eiterigen Sputums und hierauf Besserung einstellt. Man kann
es zuweilen an der Veränderung des Athemgeräuscbes, welches aus einem Stridor
in einen Stertor hörbar übergeht, schliessen , wie massenhaft gelöste Membranen
in den oberen Luftwegen flottiren und sich genöthigt sehen, das Auswerfen der-
selben zu befördern, sei es, dass man ein Emeticum reicht, wie es Altmann tliat,
sei es , dass man im warmen Vollbade kühle Begiessungen an wendet , wie es
Lange s‘) zweckmässig anordetc.
Tracheotomie und Intubation werden natürlich trotzdem nicht durchaus
überflüssig; die stenotischen Erscheinungen können ja schon bei Eintritt der
Behandlung so hochgradige sein, dass jene Eingriffe ihre lebensrettende Bedeutung
behalten. Aber die Prognose dieser Operationen wird erheblich gebessert, wenn
die Serumbehandlung sie unterstützt. Dazu wird schon das raschere Ablösen und
das seltenere Neubilden der verengernden Membranen beitragen müssen. Ilinzu-
kommt, dass die Operationswunde der Tracheotomie , wie insbesondere Karg *°)
hervorhebt , der ehemals so häufigen und mit Recht gefürchteten Diphtherie-
infection nicht anheimfällt. „Die Wunden granulirteu gut und schlossen sich
schnell nach Entfernung der Canüle.“ Karg hebt mit Recht hervor, dass die
Entstehung einer Wunddiphtherie zur Bildung neuer Mengen von Toxinen führt,
welche, in den Blutkreislauf gelangt, auch nach behobener Stenose der Luftwege
den Patienten zum Tode brachten, und erblickt folglich in der Vermeidung dieser
OOgle
DIPHTHERIEHEILSERUM.
123
Gefahr einen ausserordentlichen Erfolg. Endlich wird mit einer wohl unbestrittenen
Gewissheit sowohl die Dauer des Cannlements als die der Intubation bei serum-
injicirten Operirten herabgesetzt. Schon Kosskl '•) hatte aus seinen Erfahrungen
behauptet, dass die Entfernung der Canüle durchschnittlich ohne Schwierigkeiten
am dritten bis vierten Tage gelang und nachher keine Störungen im weiteren
Heilverlanf eintraten. Schröder45) gelang das Decanulement bei 31 Tracheo-
tomien in durchschnittlich 6,4 Tagen, W itt auf. r *•) in 5 — 6 Tagen. Auch Büch-
holz •*) vermochte am vierten Tage die Canüle zu entfernen. Dagegen erinnere
man sich, dass z. B. Lossex »5) sagte, „nach Tracheotomie wegen Diphtheritis
darf auch im günstigsten Falle die Canüle nicht vor dem fünften Tage entfernt
werden!“ Aehnlich verhält es sich mit der Intubation. Während Ranke 5<) früher
nur in 8% seiner Fälle den Tubus binnen 24 Stunden entfernen konnte, gelang
das unter der Serumbehandlung bei 1 8,5°/0 der Intubirten. B6kai 64) hatte aus seinen
früheren Beobachtungen eine durchschnittliche Intubationsdauer von 79 Stunden
berechnet; jetzt genügten durchschnittlich 61 Stunden. Dazu kommt, dass bei der
Serumbehandlung die Zahl der während der ersten 48 Stunden extubirten Patienten
in auffallender Weise stieg, nämlich bis nach 24 Stunden auf 18,18% der geheilten
Intubationsfällc gegen sonst 12,55% und bis nach 24 weiteren Stunden auf 40,9%
gegen 26,04%. Dagegen Btellte Dillox Browx, der Mitarbeiter von O’Dwykr,
seinerzeit die durchschnittliche Intubationsdauer auf 123% Stunden fest, und
Hecbnrr *’) berechnete sie nur kurz vor der Serumperiode immer noch auf
100 Stunden. Auf die Salubritätsziffer der Tracheotomirtcn und Intubirten bei
gleichzeitiger Serumeinwirkung werde ich später zurückkommen.
Es sind zunächst noch die etwaigen Erfahrungen Uber den Einfluss des
Antitoxins auf andere Organe, die diphtheritisch erkranken können, zu berichten.
Bei Nasendiphtherie fand Bökai *6) schon 24 — 48 Stunden nach der
Einverleibung des Serums eine Verminderung des reichlich fliessenden, schmutzigen
und blutig tingirten Secretes, und gleichzeitig verlor sich der dem diphtheritischen
Nasenausfluss anhaftende penetrante Geruch ; die Membranen lockerten sich rasch,
so dass sie durch den Strahl der eingespritzten, desinficirenden Flüssigkeit (Bor-
wasscr) leicht hcrausgeschwemmt wurden. Aehnliches bemerkte Widekhofeb 6),
bei desseu Kranken die Nase zufällig recht oft betheiligt war, und er hatte nie
Gelegenheit, einen Patienten durch seine Nasendiphtherie gefährdet zu sehen.
Auch Ganohofnkr ,7) lobt die günstige Beeinflussung der Nasendiphtherie unter
Serumbehandlung. In Blattner’s 66) Fällen hörte die Absonderung der Nase
meist am dritten Tage auf.
Bei zwei Fällen von Vulvitü dxphtheritica sah Bökai J!') die rasche
Ablösung der pseudomembranösen Auflagerungen in ganz ähnlicher Weise vor sich
gehen, wie im Rachen.
Dass endlich auch auf die Augendiphtherie ein nicht zu verkennender
Einflugs seitens des Serums ausgeübt werden kann , beweist z. B. Copper’s
Fall; er injicirte einen Säugling, dessen Augen seit zwei Tagen mit bakterio-
logisch als echt diphtheritisch erwiesenen Pseudomembranen bedeckt waren, und
er sah ihn in nur vier Tagen genesen. Die Abstossung der Auflagerungen erfolgt
auch hier ähnlich wie im Rachen, was auch Bökai 1!j bei einem seiner Patienten
zu bemerken Gelegenheit hatte. Einen sehr interessanten einschlägigen Fall hat
Hoppe“7) mitgetheilt; bei einem zweijährigen Knaben hatte der diphtheritische
Augenprocess, der eine echte Rachendiphtherie complicirte, bereits die Hornhaut
ergriffen und bedrohte deren Ernährung auf das schwerste l Diphtherie der Gon-
junctiva palpebrarum et bulbi und beginnende Infiltrationen der Cornea) , und
trotzdem war 24 Stunden nach Einspritzung von Behuno’s Serum Nr. II eine
Lösbarkeit der ganzen diphtheritischen Einlagerung der Conjunctiva paipebr.
und eine röthliehere Färbung des Bulbus als Zeichen der freier gewordenen
Circulation eingetreten — am fünften Tage fand sich keine Spur mehr von
124
DIPHTHERIEHEILSERUM.
diphtheritisclier Einlagerung, und bald darauf war vollkommene Restitutio ad
integrum erzielt, selbst ohne störende Narbeubildung.
Wenn nun das Serum die geschilderten Einwirkungen auf die diphtheritisch
erkrankten Organe hat , so ist es von vornherein wahrscheinlich , dass die er-
zielten Erfolge einen entsprechenden Ausdruck in der Mortalitätsziffer der Diph-
therie während der Serumbehandlung finden müssen. Es ist wohl unmöglich, die
Thatsache, dass keine Behandlung dieser gefürchteten Krankheit günstigere Heil-
ergebnisse hatte, als die Methode von Behring-Roüx , anders zu erhärten , als
dureh eine umfassende Statistik , so sehr man auch zugeben muss , dass die
Statistik oft genug eine Lügnerin ist. Ich meine , dass mau auch in Zweifeln
das Leitwort ne nimis beherzigen muss, und wenn z. B. Purjksz •*) sich ganz gut
denken kann, dass dem Wegfall der mechanischen und toxischen Insulte durch
Pinselung und Aetzung des Krankheitsherdes und dem Wegfall der bösen Rück-
wirkung aller jener Mittel auf das Nervensystem, wie auf den Gesamintorganismus
ein wesentlicher oder gar ausschliesslicher Anthcil an den besseren Erfolgen der
Serumperiode zukommt, so möchte man ihm wahrlich zurufen „ne nimis!“ Denn
ich kann sowohl aus meiner Studienzeit, alB aus meiner Praxis versichern , dass
wenigstens in Deutschland das Pinseln und Aetzen eine zumeist überwundene
Periode in der Behandlung der Diphtherie darstellte, und dennoch sind unsere
Resultate schlechtere gewesen, als sie jetzt sind. Wenn ferner wiederholt behauptet
wurde, es könnten die Zahlen dadurch beeinflusst werden, dass wir jetzt gerade
eine milde Epidemiezeit hätten, oder dadurch, dass, von der Hoffnung auf raschere
und sicherere Heilung geleitet, mehr Leichterkrankte den Krankenanstalten zu-
geführt worden seien , welche natürlich das Gesammtergebniss günstig verändert
hätten, so bleiben diejenigen, welche den ersteren Einwand machen, den Beweis
schuldig, dass die zahlreichen Statistiken aus der Zeit vor der Serumbehandlung,
besonders die Uber Jahre und Jahrzehnte sich erstreckenden, nur aus schweren
Epidemien gewonnen wurden, und ihnen gegenüber steht die häufig wiederkehrende
Versicherung der jüngsten Statistiker, dass es sich durchaus nicht um leichte
Fälle gehandelt habe, — der zweite Einwand aber wird hinfällig dadurch, dass
einmal die Salubritätsziffer der Seruminjicirten auch dann gestiegen ist , wenn
man von ihnen alle Leichterkrankten ausschliesst, z. B. nur die Tracheotomirten
und Intubirten in Betracht zieht, und dass andererseits auch die Erfolge ausser-
halb der Spitäler, an denen doch stets alle Grade der Erkrankung naturgemäss
Theil hatten, bessere geworden sind. Kleinere Differenzen beweisen freilich nichts,
und aus wenigen Fällen lässt sich kein Schluss auf das Ganze ziehen. Darum
will ich nur einige grössere Beobachtungsreihen anführen. Es verfügen :
Sonnenbnrg*1) . über 104 Fälle mit 79,4fl „ Heilung, davon tracheotomirt 34 mit 62,0% Heilung
K ossel16) . . .
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Das wären im Ganzen 1352 seruminjicirtc Diphtheriefälle aller Grade,
da sie ja von den verschiedensten Gegenden, theils in Spitälern, theils in der
Privatpraxis behandelt, herstammen, mit einer durchschnittlichen Genesungsziffer
von 832 s0/o ; 353 von denselben, also 26,1%, wurden tracheotomirt, und davon
genasen im Durchschnitte 67,2 .
Diese Ziffern stimmen ungefähr mit anderen Sanimelstatistiken überein,
die der Deutschen medicinischen Wochenschrift ’*) ist z. B. in der Genestings-
Digitized by CjOOgle
»IPHTHERIEHEILSERUM.
125
Ziffer etwas günstiger (90,4% bei 5833 Fällen), in der Zahl günstig verlaufener
Tracheotomien etwa gleich (317 Fälle mit 66, 9°.', Heilung). Man würde also
sagen können , dass von sämmtlichen Diphtheriepatienten etwa % genesen sind,
dass die Zahl der Tracheotomien, welche sich trotz Serums nebenbei noch nöthig
erwies, eine geringe war und von dieser etwa % >n Genesung ausgingen. Stellt
man die Genesungsziffern von früher zusammen, erhält man z. B. folgendes Bild :
Von 100 Diphtheriekranken genasen :
im Spitale zu Triest”) durchschnittlich 40 — 1891)
in der Münchener Kinderklinik”) 43 — 57,8 (1887 — 1893)
im St. Josefspital zu Wien14) 49 (teknj. Durchschn.)
in der Charite zu Lyon ”) 50
im Kinderspitale zu Zürich1*) 56,2 (1874—1891)
in der Kinderklinik zu Prag”) 57 (1893 94)
im Olga-Hospitale zu Stuttgart ") . 59,9 (1889 — 1893)
Dagegen von 100 Dipbthcriekranken, ebenfalls lediglich
Krankcnhuusfallen, unter Serumbehandlung1*) .... 85,4 (VJähr. Zeitabschn.)
Ich glaube, man darf da dreist in der Serumperiode begünstigende Momente
annebmen, w ic zahlreichere Leichterkrankte u. dergl. m. , und man wird den-
noch den Anstieg der Salubritätsziffer nicht leugnen können ! Und noch günstiger
für das Serum spricht eine ähnliche Tabelle Uber die Heilung der Tracheotomien.
Unter 592 Tracheotomien fand Langenbuch .22 */, Heilung ( — 1889)
. 670 „ „ H. Fischer 22,5 „ „ (—1891)
„ 697 , „ Thiersch 24,5 „ „ (—1888)
„ 504 , , Langenbeck 29 „ „ (—1877)
„ 1265 . im Krankenhaus Bethanien, Berlin, waren . 31,28, „ ( — 1878)
, 1UU0 „ fand G. Fischer (Hannover) 37 „ „ ( — 1894)
, 704 „ „ Küster 40 „ „ (—1886)
, 572 , „ Hagedorn 44 , , (—1892)
Es bleibt also selbst die günstigste Zahl weit zurück gegen die jetzige,
und die Heilung der Tracheotomie vor der Serumbehandlung würde sich zu der
unter Scrumbehandlung immer noch im günstigsten Falle wie 2:3 verhalten.
In ähnlicher Weise, wie die Salubritätsziffer der Tracheotomie, ist end-
lich die der Intubation gestiegen. Es verzeiehneten bei dieser Operation z. B.
E. Hose nt ha l*1) . . jetzt 84*/, Genesnng gegen vorher 28 */,
J. Bökai“) 45, , , „ 33V,,
BiSgs”) ,43, „ „ , 19 ,.
Ranke*“) sah von seinen Intubirten etwa 70% genesen, Dueyfuss ’*)
sogar alle.
Alle diese Erfolge sind um so beaehtenswerther, als sie wesentlich unter
Betheiligung der jüngsten Alterselassen zu Stande gekommen sind. Der jüngste
Fatient, der mit Diphtherieautitoxin und vielleicht überhaupt jemals genas, dürfte
ein Säugling von fünf Tagen sein, der, von seinem 4jährigen Schwesterchen in-
ficirt, von König und MoXTER 7“) 150 I.-E. in den Oberschenkel injicirt bekam
und binnen vier Tagen ohne üblen Zwischenfall glatt genas. Von Kindern
im ersten Lebensjahre behandelte
j Koss e 1 *•) .
i Widerhofer5)
3 und
8 .
heilte
2
3
„ zweiten „ „
1 Kussel1*) . .
i Widerhofer5)
I Kürte*) . .
4
24
»
4
15
15
8
im ersten und zweiten Lebensjahre
Ganghofner17) 17
13 (sämmtl. tracheotomirt)
behandelte . .
Schröder4*) .
6
3 ( , )
■
Sigel”) . .
10
n
»
5
Die vom kaiserlichen Gesundheitsamt veranstaltete Sammclforschung Uber
die Wirksamkeit des Diphtherieheilserums in den öffentlichen Krankenanstalten
Deutschlands zählt für das zweite Quartal 1895 von Kindern des ersten Lebens-
jahres 41 mit 24 Genesungen, von Kindern des zweiten 218 mit 138 Genesungen J7);
das wäre für die beiden ersten Lebensjahre eine Salubritätsziffer von 62,4%,
während die Sammelstatistik der Deutschen medicinischen Wochenschrift unter
Digi
j by Google ‘
126
DI PHTHEBIEHE1 LSERUM.
735 Kindern unter zwei Jahren 78,2% genesen fand.71) Dabei sind an den
259 Kindern der erstercn Statistik 169, d. h. fast % Schwerkranke betheiligt.
Nicht wunderbar kann es erscheinen , dass die Erfolge der Antitoxin-
einverleibung um bo grössere sind und sein werden, je früher die Patienten dieser
Behandlung unterworfen werden. Behring selbst hatte die Fälle , die in den
ersten drei Tagen der Erkrankung mit Injcctionen von Heilserum in Angriff
genommen werden, allein als Object der Serumtherapie hingestellt. ®) In der Thal
benennt die mehrerwähnte Sammelstatistik der Deutschen mcdicinischen Wochen-
schrift die Salubritätsziffor von 3353 am ersten oder zweiten Tage Eingespritzten
mit 95,8%, die aber von 2480 später Eingespritzten nur noch mit 83,1%. Die
Erfahrung lehrt jedoch, dass man in keinem Falle, von vornherein an einen Erfolg
verzweifelnd, die Einspritzung unterlassen sollte; denn selbst sehr weit über den
dritten Krankheitstag hinaus in Behandlung Gekommene wurden noch geheilt.
Pfeifer7®) z. B. injicirte einmal am fünften, ein anderesmal am sechsten Tage
erfolgreich. Risel**) und Vierobdt®) verzeichneten noch am sechsten Tage,
Kann7*) am siebenten, WotlSLKY ®°) am zehnten und Lissard80) sogar am
dreizehnten Erkrankungstage Erfolg von der Serumeinspritzung. Foster81), der
2740 seruminjicirte Diphtheriefälle aus der Literatur zusammenstellte und auch
auf diese Frage hin prüfte, fand eine Mortalität = 0%, wenn am ersten Tage,
— = 2,83%, wenn am zweiten Tage, — = 9,99%, wenn am dritten Tage, —
-- 20%, wenn am vierten Tage, — = 30,33% , wenn am fünften Tage, —
und = 41,38%, wenn am sechsten Tage eingespritzt worden war.
Fast ganz ununterrichtet sind wir noch darüber, auf welche Weise das
Serum wirkt, und räthselhaft muss es immerhin erscheinen , dass selbst auf die
Diphthericbacillen am Krankheitsherde nur ein geringer oder, wie Peck •*), der
gelegentlich einer Diphtherieendemie im Kinderasyl zu Now-York Kinder mit
normalem Verhalten, aber mit Diphthericbacillen im Rachenschleim, prophylak-
tisch mit recht gutem Erfolge einspritzte, fand, gar kein Einfluss durch da«
Serum ausgeübt wird. Bradon Kyle88) freilich behauptet, dass die Bacillen
unter Serumbehandlung all malig ihre charakteristischen morphologischen Eigen-
schaften verlieren, und zwar derart, dass sie von den HOFFMANN’schen Pseudo-
bacillen nicht mehr zu unterscheiden sind ; er hält die Wirkung indircct hervor-
gerufen durch eine Veränderung des Nährbodens. Wenn das richtig ist, muss
diese Wirkung sehr spät zu erkeunen sein ; denn Silberschmidt 8‘) fand noch
7 — 32 Tage post injectionem typische Diphthericbacillen, die lebensfähig und voll
virulent waren , und damit stimmt Guizetti *) überein , der am 29. Tage noch
im Rachenschleim die Bacillen ebenso virulent fand, als am ersten Tage der
Serumbehandlung. Nach White ,s) verschwinden die Bacillen durchschnittlich am
19. Tage aus dem Rachen; Catlin88) fand bei einem Knaben, der fünf Tage nach
der Einspritzung genesen war , zu dieser Zeit iu seinem Rachen noch virulente
Diphthericbacillen, und erst am 29. Tage nach der Erkrankung waren sie ver-
schwunden.
Experimentell suchten Zagabi und Calabbese 8S) die Wirkung des
Serums zu ergründen und benutzten als Versnchsobjecte Kaninchen, gesunde Kinder
und chronische Nephritiker. Meist erhöhte sich die Temperatur um einen Grad,
nur selten fiel sie etwas; der Puls ward voller und kräftiger, die Anzahl der
rothen Blutkörperchen verringerte sich , der Hämoglobingehalt nahm ab. Nicht
einmal bei den Nephritikern übte die Einspritzung sowohl einfachen Serums, als
auch des Diphtherieheilserums einen Einfluss auf die Nierenthätigkeit aus, und
ein einziger Nephritiker zeigte nach der Einspritzung einen Zustand von Herz-
schwäche. Diese Nichtbeeinflussung von Nieren und Herz durch das Heilserum
bestätigten die mikroskopischen Untersuchungen , welche K AHLDEN 87) an den
Organen von mit Serum 1 reichlich injicirten Kaninchen unstellte. Mya88), der
v ier nicht diphthcritische Kinder, Reconvalescenten von anderen Krankheiten,
einspritzte, fand auch keinen Einfluss auf die Blutcirculation ; die Zahl der rothen
oogle
DIPHTHERIEHEILSERUM.
127
Blutkörperchen fand er ebenfalls vorhergehend vermindert, die der weissen aber
vermehrt. Urobilin suchte er vergebens in dem harnstoffreichen Urin seiner Ver-
suchskinder, und er leugnet folglich eine hämolytische Wirkung des Heilserums
ab. Mit diesen Versuchen steht ein 8elbstversuch, den Adae ••) anstellte, in unlös-
barem Widerspruch ; er spritzte sich experimenti causa Serum I ein und
erkrankte darnach an hämorrhagischer Nephritis, — erst nach drei Wochen
war der Urin eiweissfrei ; diese Erkrankung begann mit Erbrechen und leichter
T emperatursteigerung.
Wir haben ja im Allgemeinen gar wenig Kcnntniss von der Art der
Wirkung von unseren Verordnungen, und oft genug stehen theoretische Raisonnc-
ments und experimentelle Beobachtungen mit den Erfahrungen am Krankenbett
im grellen Gegensatz. Wir werden uns also in der Frage der Wirkung des Diphtherie-
antitoxins zunächst auch mit den klinischen Thatsachen begnügen müssen und es
einer späteren, gercifteren Erkenntniss überlassen müssen, die geheimnissvollen
Fäden zu entwirren , welche die Einspritzung des Serums mit der Heilung der
verderblichen Krankheit verbinden. Je weniger wir aber über die Art der
Wirkung unterrichtet sind, desto berechtigter sind wir, alle Folgen der Ein-
spritzung, soweit sie eben am Körper bemerkbar sind, zu prüfen, desto wichtiger
ist also auch die Frage , ob eine Schädigung des Patienten in irgend welcher
Weise zu erwarten ist; denn primum non nocere!
Hansemann ,0) stellte wohl als Erster mit Entschiedenheit die These auf,
dasg das Heilserum unter Umständen schädlich wirken könne, weil es einen zer-
setzenden Einfluss auf das Blut und eine Schädigung auf die Nieren ausübe. Die
Experimente der nur erstgenannten italienischen Forscher widersprechen ihm
durchaus , und Adae’s Selbstversuch mit seiner nierenschädigenden Wirkung
steht, soweit ich die Literatur Überblicken kann, ganz vereinzelt da, kann also
nichts beweisen. Wir sind folglich wiederum auf die klinische Beobachtung nnd
Erfahrung verwiesen.
Die verhängnissvolle Wirkung des Diphtheriegiftes auf das Herz ist eine
allbekannte und genügend gewürdigte Thatsache , und auch in sonst scheinbar
leichten Fällen kann sie sieh zuweilen ganz plötzlich geltend machen, ja, es ist
bekannt, dass zuweilen Diphtheriereconvalescenten , die man längst ausser aller
Gefahr wähnte, noch sehr spät einem ungeahnten, raschen Herztode erlegen sind.
Von diesem Gesichtspunkte aus muss man doppelt vorsichtig die Frage erörtern, ob
das Antitoxin dem Herzen schädlich werden kann. Doch, glaube ich, ist kein einziger
Beleg dafür erbracht worden, dass die Serumbehandlung das Herz gefährdet;
denn die Sectionsdiagnose „fettige Entartung des Herzmuskels“ und die klinische
Diagnose „Tod an Herzlähmung“ beschuldigt die Diphtherie, nicht aber das
Serum, so lange nicht eine besondere Häufigkeit beider Diagnosen in der Serum-
penode erwiesen ist. Baoinsky ’*) mit seiner reichen Erfahrung aus 525 Beob-
achtungen sagt aber umgekehrt, dass zwar vorübergehende Ilerzstürungen nicht
ausblieben, aber tödtliche Herzlähmung seltener geworden ist. Mukalt ,v) sah in
seinen Fällen nie eine ungünstige Einwirkung auf das Herz, und Ranke ,0) hat
das gleiche Urtheil. Bökai “) verlor unter 31 letalen Fällen nur drei an Herz-
lähmung und erklärt ausdrücklich, „auf Grund seiner vor der Serumperiode er-
worbenen Erfahrungen“ in keinem dieser drei sehr schweren Fälle davon über-
rascht gewesen zu sein. FÜRTH 71) beobachtete unter 100 Fällen nur achtmal
leichtere Herzstörungen. Dass aber der postdipbtheritischc Herztod nicht immer
nach der Abheilung des Krankheitsherdes durch die Serumeinspritzung verhütet
wird, erklärt Heubnkr •') als „halbe, unvollständige Wirkung des BKBRINO'schen
Mittels gegenüber besonders schwer toxischen Fällen“; Thierexperimente beweisen,
„dass Thiore in Folge chronischer Vergiftung an Marasmus zu Grunde gehen
können, trotzdem am Orte der Iufection eine locale Erkrankung nicht entsteht,
dass es also leichter ist, die locale Erkrankung als den diphtheritischcn Herztod
zu verhindern“. Wenn wirklich diese späte, letale Wirkung des Toxins trotz
128
DIPHTIIERIEHEILERSUM.
Antitoxins häufiger, als vor dieser Behandlungsmethode, zur Beobachtung kommen
sollte, so ist diese Häufigkeit eine relative; bedingt durch die grössere Anzahl
von Genesungen gegen ehemals; ohne weiteres daraus zu scliliessen, dass in der
Einspritzungsflüssigkeit herzschädigende Bestandtheile enthalten sein müssten, wie
z. B. Springorum that, das dürfte kaum als genügend begründet anerkannt werden.
Das Serum mag wohl unter gewissen, uns unbekannten Umständen gegen die
Herzvergiftung durch das Diphtherietoxin machtlos sein , aber es begünstigt
diese durchaus nicht.
Fast noch schwieriger ist die Frage , ob das Heilserum einen üblen
Einlluss auf die Nieren ausüben könnte. Auch hierbei muss man sich erinnern,
wie häufig die Nephritis die Diphtherie complicirt, vor Allem, wie gar nicht
selten sie schon frühzeitig auftritt und rasch verderblich wird ; auf die Bedeutung
der parenchymatösen , foudroyant verlaufenden Nephritis als lebensgefährliche
Frtihcomplication der Rachendiphtherie hat noch kürzlich Aufrecht **) aufmerk-
sam gemacht. Experimentell ist, wie erwähnt, ein schädigender Eiufluss des
Mittels auf die gesunde Niere oder selbst auf die chronisch entzündete bisher
nicht bewiesen. Wie stellt sich die klinische Erfahrung zu dieser Frage? Sonn'EX-
BURG “*) sowohl als Heim1“), als Sigel 7*) sahen die Eiweissabsonderung diph-
theritischer Kinder nicht häufiger unter Scrumeinwirkuug auflreten , als sonst;
in gleicher Weise bestreiten Widekhofer “), Heubxkr •*), Ranke *•) und Timmkr *>)
die Existenz einer Serumnephritis. Vierordt*) urtheilt, dass die Albuminurie im
Vergleich zu sonst nur eine geringe Rolle spielt: Kossel1“) sah, wenn zurZeit
der Einspritzung der Harn eiweissfrei war, denselben zumeist auch frei bleiben ;
wenn aber bereits Eiweiss abgeschieden wurde, dauerte diese Absonderung auf-
fallend kurze Zeit. Aehulich äussert sich Borger”), dass Albuminurie zwar
durch die neue Behandlungsweise nicht verhütet wrird, dass aber die bereits vor-
handene eher günstig, als ungünstig beeinflusst wird. Bökai ss) hebt hervor, dass
man nach Saxnk im Allgemeinen beiläufig 50% der Diphtheriekranken einen
ciwcisshaltigen Urin zuschreiben darf, dass er aber bei 120 serumbehnndclten
Fällen nur 421 .% Albuminurie nachweisen konnte, und dass der vierte Theil
jener Kranken bereits vor der Injection diese Complicntiun darboten ; nach seinen
sorgfältigen Aufzeichnungen währte die Eiweissansscheidung lCmal 1 — 3 Tage,
bis zu 6 Tagen 13mal, 3mal 7 Tage und nur je einmal 8, 11, 12, 13,
22 Tage, — also kaum im vierten Theile der Fälle längere Zeit. Das spricht
doch gewiss für Borger's Meinung, dass das Serum eher günstig, als ungünstig
einw irkt. Französische Autoren sind davon so fest überzeugt, dass Moizakd und
Perregaux *•) z. B. rathen, beim Auftreten von Albuminurie, so lange es sich
nicht um eine echte parenchymatöse Nephritis handelt, eine neue Einspritzung
vorzunehmen ; nach ihren eigenen zahlreichen Beobachtungen erscheint aber
Albuminurie jetzt keineswegs häufiger, als sonst. Ja, Silva“*) sah nach seinen
Einspritzungen überhaupt niemals Albuminurie auftreten, und DAMIKXO**) nennt
die Einwirkung der Einspritzung auf die bereits kranke Niere deutlich günstig.
Diese genannten Autoren repräsentiren die stattliche Zahl von rund
1450 Beobachtungen, aus denen sie ihre Schlüsse zogen. Verschwindend klein
ist ihr gegenüber die Beobachtungsziffer jener, welche mehr weniger an eine
Schädigung der Niere durch das Serum glauben ; von ihnen verfügt Kraske **)
über IC Fälle, Monti ,l) Uber 25, SOLTMANN >“) Uber 89, von denen 1‘J ,,im
directcn Anschluss an die Injection“ Eiweiss im Harn ausschieden. Selbst, wenn
sich in der Literatur noch vereinzelte Fälle von scheinbarer ungünstiger Beein-
flussung der Nieren durch das Diphtherieantitoxin finden sollten , die mir ent-
gangen sind, und, selbst wenn man als verdächtig die wenigen Fälle hiuzurechnet,
in denen zum Zwecke des Diphtherieschutzes eingespritzte gesunde Kinder eine
geringfügige Albuminurie für kurze Zeit aufwiesen, so ist die Summe dieser Fälle
gegenüber jener, in denen von einer Schädigung nichts, oder sogar eine an-
scheinend günstige Wirkung bemerkt wurde, so erdrückend gross, dass auch der
,ooolc
DIPHTIIERIEHEILSERt'M.
129
grösste Skeptiker und der entschiedenste Gegner von Statistiken von einer solchen
Majorität überzeugt werden und zngeben muss, dass im Allgemeinen das Diph-
therieheilserum die menschliche Niere nicht schädigt.
Es ist hier der Ort, hinzuzufugen, dass Heckel*7) im Urin der In-
jicirten Pepton nachwies und diese Peptonurie als eine physiologische Wirkung
erklärt , bedingt durch das Ausscheiden der mit dem Serum in das Blut ein-
geführten Eiweisskörper. Simoxovic ,s) fand bei einem dreijährigen Kinde und
bei sich selbst (er hatte sich in seinem Berufe hochgradig inficirt) den Urin reich
an Phosphaten; diese Phosphaturie begann bei ihm 48 Stunden nach einer ersten
Einspritzung von 600 I.-E., beziehungsweise 24 Stunden nach einer zweiten von
gleichem Gehalt und währte drei Tage. Auch Haller 114) constatirte einmal
Phosphaturie, nachdem der hohe Uratgehalt des Harns aufgehört hatte.
Die Diphtherie bewirkt nun bekanntlich in vielen Fällen nicht nur Herz-
schwäche oder Nephritis, sondern schädigt auch die peripheren Nervenendigungen.
Die diphtheritischen Lähmungen können an jeden Fall, sei er noch so günstig ver-
laufen, sich anschliessen ; in manchen Epidemien folgen sie fast jedem Falle, in
anderen nur sehr wenigen. Auch in der Serumperiode sind diese Folgezustände
nicht ausgeblieben, auch da sind sie bald häufig, bald selten in die Erscheinung
getreten. Da P. Meyer bereits bei in den ersten Krankheitstagen erlegenen
Diphtheriekindern mikroskopisch beginnende Degenerationen in den peripheren
Nerven vorfand , so kann es nicht Wunder nehmen , dass in solchen früh be-
ginnenden Fällen selbst eine scheinbar frühzeitige Serumeinspritzung zu spät
kommt, dass die Entartung bereits begonnen hat und in ihrem Fortschreiten nicht
mehr aufzuhalten ist. Es erlebten, um eine kleine, beliebig ausgewählte Ueber-
sicht zu geben :
Kessel“) unter 104 Fällen 19 diphtheritische Lähmungen
Wittaner“) 35 „ 2
Mac Allster’“! ..... 25 , 4 „ „
Heim“) , 27 „ 2 „ ,
Rembold"”) „ 6, 1 „ ,
Das wären unter 197 Fällen 28 diphtheritische Lähmungen, also nicht
ganz 14%. Dagegen hatte Monti11), der wohl die ungünstigsten Erfahrungen
in dieser Hinsicht sammelte, bei 48% Beiner Kranken Lähmungen zu verzeichnen
und bemerke, dass diese auffallend früh auftraten. Im Gegensatz zu letzterer
Beobachtung steht ein Fall von Widerhofer6), ein siebenjähriger Knabe, der
am dritten Krankheitstage zur Behandlung kam und am 31. Tage nach dieser
Injection an einer ausgedehnten, erst am 83. Tage geheilten Lähmung erkrankte.
Schon diese Verschiedenheiten in der Frequenz der Lähmungen machen es wahr-
scheinlich , dass die Serumeinspritzungen auf diese üble Folgeerscheinung über-
haupt keinen wesentlichen Eindruck ausüben. Diese Ansicht vertreten auch gerade
die Autoren, welche über die grössten Reihen Beobachtungen verfügen, wie
Bagixsky ls), Gf.rmosig ss), Sigel76) n. A. Wenn demnach in Zukunft das Auf-
treten postdiphtheritischer Lähmungen gehäufter gegen sonst erscheinen sollte, so
wäre bei der Prüfung dieser Thatsaehen gerade wie bei der Beurtheilung der
Häufigkeit postdiphtberitischcr Herzlähmungen , die , nebenbei bemerkt , ja ätio-
logisch auch als neurotische Processe aufzufassen, also den peripheren Lähmungen
eng verwandt sind, zu bedenken, dass die Zahl der Genesenen unter der Serum-
behandlung angewachsen ist, damit also gleichsam die Zahl der Angriflsobjecte
gestiegen ist.
Wenn wir also das Diphtherieheilserum nicht allein als eine segens-
reiche Bereicherung unserer Waffen gegen den grimmigsten Feind der Kinder
bezeichnen dürfen, sondern auch als ein Mittel, dessen Anwendung wohl manche
Gefahren nicht völlig ausschliesst, aber doch viele abwendet und bestehende nicht
vermehrt, so dürfen wir doch nicht verkennen, dass auch dieses Mittel , wie so
unendlich viele andere, gelegentlich mehr weniger Nebenwirkungen entfalten kann,
die ausser unserer Absicht liegen. Ueber die Neben- und Nachwirkungen des
Bacytlop. Jahrbücher. VI.
9
13U
DIPHTHERIEHEILSERUM.
Diphtherieautitoxins sind zahlreiche Beobachtungen veröffentlicht worden ; es ist aber
kein einziger Kall bekanntgeworden, in welchem eiuwandsfrei eine dauernde Sehiidignng
eines Patienten oder gar der Eintritt seines Todes nachgewiesen worden wäre.
Am häutigsten werden Hautausschläge im Anschluss an die Serum-
cinspritzung beobachtet ; sic gehen nicht selten von der Einstichstelle aus und
können sich entweder Uber den ganzen Körper ausbreiteu oder nur einzelne
Gegenden, z. B. in einem mir bekannten Falle lediglich die linke Gesichtshälfte,
befallen. Sie qualificircn sich als Urticaria (G. Seitz **), Moizard und Perregaux 6a),
Dreyflss 74) , Möller101), Fischer101), oder als Erythem (Gaxghofner 1J),
Bäumlkr *’), Fischer 10i), Asch 101), Seibert 10‘), oder als Herpes (ff. facialis
et auricularis , Mya 7) , II. facialis , Muhai.t 19) oder endlich als Purpura
(Moizard und Perregaux60), Fischer101). Zuweilen entwickelt sich ein uni-
verselles Exanthem, das entweder masernähnlich (Seibert 106), Hl'XXIUS 10e), oder
scbarlachähnlich (Mya88) Heim10), aussehen kann. Diese Hautausschläge gehen
gar nicht selten mit Fieber von meist sehr kurzer Dauer einher. Bald treten sie
frühzeitig anf — Mya107) sah vier scharlachähnliche Exantheme von der Ein-
stichstelle aus bereits anderen Tages auftreten, Heim 10) Aehnliches zuweilen am
dritten Tage post injectionem — ; bald kommen sie ziemlich spät zum Vorschein —
in den Fällen Germonig'S S8) zwischen dem 7. und 13. Tage, im Falle von
Hunxils 10°) sogar am 14. Tage und unter 5 Beobachtungen von Zielenziger ***)
je einmal 16, beziehungsweise 28 Tage nach der Einspritzung. Auch ihre Häufig-
keit schwankt: denn während D’Espixe66) 26 %% Exantheme u. dergl. l>eob-
achtete, Germonig s8) fast 15%, fanden sie Fürth71) sowohl als Eisexstadt4*)
in etwa 10%, Sigel76) in etwa 9° 0 der Fälle und Wittauer *•) unter einer
allerdings kleineren Beobachtungsreihe nur in 7,3%. Mya 107) hält es für mög-
lich , dass diese Hantaffectionen bei besonders empfindlichen Menschen durch
directc Einwirkung auf das vasomotorische Centrum entstehen ; die Urticaria ins-
besondere glaubt er als eine Folgewirkung der lyrophtreibenden Kraft des .Serums
ansehen zu müssen. Im Allgemeinen herrscht die Ansicht vor, dass nicht das
Antitoxin, sondern das Serum ätiologisch in Betracht komme, und BiGGS68), der
über 255 in der Armenpraxis und über 115 im Spital behandelte Fälle berichten
konnte, schien am ehesten ein Ausschlag aufzutreten, wenn Leichterkraukte eine
grosse Gabe Serums erhielten. Mac Allster •*) schien das Serum freier von
solchen Nebenwirkungen zu sein, wenn es ein gewisses Alter erreicht hatte, etwa
zwei Monate alt war. Für prädisponirt zu dieser Nebenwirkung aber erklärt
Mya 107 ) Kinder mit eiiier dunklen, blutreichen Haut.
Recht häufig sind mit diesen Hantaffectionen Gelenkschmerzen , nament-
lich im Kniegeleuk , verbunden ; zuweilen treten solche selbstständig auf. Diese
Störungen der Reconvalescenz sind zwar belanglos und sind vor Allem in An-
betracht der Heilung einer Diphtherie nichtssagend , sind aber doch zuweilen,
besonders wenn hohes Fieber auftritt, die Schmerzen verschiedene Gelenke
la-fallcn , diese selbst geröthet und geschwollen ausschaucn und die Haut ein
Exanthem bedeckt, recht unangenehm, wie die Fälle von Lublixski 109), Cxyrim 10,i,
CollA110), Habel111), Mabcusb ul), Haller114), A. Seibert106) und einige
andere genügend illustriren. Ein noch schwereres Krankheitsbild kann entstehen,
wenn Erscheinungen seitens des Verdannngstraetus hinzutreten; bei einem 6%-
jährigen Kinde z. B., das von Seibert 1U4) mit einer im Pasteur-Institut zu New-
York gefertigten Antitoxinlösung behandelt wurde, traten am 9. Tage Fieber,
polymorphes Exanthem und Gelenkschmerzen ein, wozu sieh am 1 1. Tage l'ebel-
keit und Kopfschmerz, am 13. Tage unstillbares Erbrechen und neue Gclenk-
und .Muskelschmerzen hiuzugesellten. Zu allen diesen Erscheinungen trat iin Falle
Hagexbach’s 116) noch Neigung zu Ülutuug — am Tage nach der Einspritzung
von Serum I ausgebreitete Hautblutung; am dritten Tage, nachdem sich die
Membranen des Rachens abgestossen hatten , blieben stark blutende Geschwürs
flächen im Rachen zurück; am 7. Tage uustillbares Erbrechen, am 10. Exitus
DJPHTHERIEHEILSERUM.
131
letalis mit der Sectionsdiagnose : fettige Entartung von Herz- und Rachenmuscu-
latur, parenchymatöse Nephritis, hämorrhagische Gastroenteritis. Das fünfjährige
Mädchen, welches Kampe118} mit Serum 11 behandelte, bekam am 8. Tage eine
Urticaria, am 13. Tage einen rapiden Anstieg des schon abgefallenen Fiebers
bis 40,9° mit Schmerzen in den Beinen und Entwicklung ausgebreiteter Oedeme;
unter Entwicklung eines übelriechenden Schweisses schwanden bis zum 16. Tage
alle diese beunruhigenden Erscheinungen, als am 17. Tage Leibschmerz, Diarrhoe
und Erbrechen noch einmal die Genesung störten, welche mit dem 19. Tage eintrat.
Wieder etwas anders ist der Fall, den Thibiebok ui) mittheilt: vier Tage post
injectionem Urticaria, am 8. Tage wegen Recidivs erneute Einspritzung; die
Urticaria schwand, aber es stellte sich kaum stillbares Erbrechen ein; nach aber-
mals acht Tagen wiederum Urticaria , dazu Erbrechen , Gelenk- und Muskel-
schmerzen, multiple Drüsenschwellungen und Oligurie, die sich am 18. Tage zur
completeu Anurie mit begleitendem Collaps steigerte. Ganz eigentümlich ist die
Krankengeschichte, welche Pistük 1IB) neuerdings mittheilt; bei einem sieben-
jährigen Mädchen blieb drei volle Monate nach der Einspritzung von Serum II die
Neigung zu fieberhaften Erythemen , Appetitlosigkeit und Stuhlunregelmässigkeit,
und zu Erkältungen zurück und verband sich mit Agrypnie und geistiger Unlust.
Ich glaube , man muss bei solchen Fällen , wie in den letztgenannten,
bei denen sich schwere, ja recht ernste Krankheitsbilder dem Beobachter dar-
bieten, im Urthcilc ausserordentlich vorsichtig sein und sich vor dem post hoc,
ergo propfe.r hoc sehr hüten. Warum muss das Serum daran schuld sein? Es
ist doch auffällig, dass wir unter ungezählten Tausenden von Serumeinwirkungen
so selten jene Beobachtungen machen durften , dass es Beobachter mit einem
sehr reichen Materiale von mannigfachster Zusammensetzung giebt, die niemals
einen schwereren Zufall sahen, als Erythem mit 2 — 3 tägigem Fieber und erträg-
lichen Gelcnkschmerzen in ganz vereinzelten oder gar in einem einzigen Falle!
Könnte da nicht mit gleichem Recht der Verdacht aufsteigen, »lass in jenen Fällen be-
sondere Wirkungen des Diphthcrictoxins, nicht des Antitoxins, sich äusserten, wie
eben gelegentlich jede Erkrankung nach irgend einer Richtung hin ein besonderes
Gesiebt annehmen kann? Dieser Verdacht ist um so gerechtfertigter, als es zu-
weilen schon gelang, angebliche Antitoxinwirkung als Toxinwirkung zu entlarven.
Theymann 11#) z. B. beschrieb einen „Fall acuter hämorrhagischer Nephritis nach
Anwendung des BEHKlNO’schen Heilserums“, und Schwalbe iao) stellte ihm unver-
züglich ein anaioges Krankheitsbild aus der Zeit vor der Serumanwendung gegen-
über. Pistor’s Krankengeschichte erinnert einigermassen an die Erscheinungen,
welche Heubner“1) als diphtherischen Marasmus bezeichnet, Erscheinungen,
welche H KUHN- EU auf eine Fortwirkung des durch das Antitoxin ungenügend
paralysirten Toxins zurückführt, und welche vielleicht öfter jetzt werden gesehen
werden , weil es eben mehr von Diphtherie Genesene giebt, als bisher. Ich will
auch darauf hinweisen, dass schon vor der Serumperiode bei der Diphtherie An-
schwellungen der Gelenke und Durchfälle, wenn auch beides sehr selten (efr.
StrCmpell’s Lehrbuch), gesehen wurden — nicht, als ob ich aus falschem
Enthusiasmus für das neue Mittel jede unliebsame Nebenwirkung ahleugnen
wollte, sondern um darauf hiuzuweiseu, wie vorsichtig man beim Auftreten unge-
wöhnlicher Erscheinungen mit dem Zurtickführeu derselben auf ihre Ursache sein
muss. Wenn aber gar AlföLDI 131) einen Todesfall durch acute, foudroyant ver-
laufende Nephritis in einer, wie Bökai ,s) sagt, „nicht hinreichend genauen“
Krankengeschichte beschreibt und auf die unmittelbar vorausgegangene Serum-
Einspritzung zurückführcu will, so kennt er offenbar nicht solche Fälle, wie sie
z. B. Aufrecht #1) in der schon erwähnten Arbeit auch vor der Serumperiode
beschrieben hat.
Alles in Allem dürfen wir heute nicht mehr von einem „Versuch des
neuen Mittels“, der nicht nur gerechtfertigt, sondern sogar geboten sei, reden,
»andern wir dürfen es als feststehende Tbatsache bezeichnen , dass die sicherste
132
DIPHTHERIEHEILSERUM.
Gewähr für die Heilung der Diphtherie in der Anwendung des Heilserums
gegeben ist, und dass, wer sich seiner Anwendung immer nocli zweifelnd ent-
zieht, seinen Kranken einen schlechten Dienst erweist. Als Gewissheit ist auch
zu betrachten, dass kein Fall so verzweifelt wäre, dass von vornherein auf das
Antitoxin als aussichtslos zu verzichten wäre — als Gewissheit auch , dass die
Prognose der Tracheotomie und Intubation erheblich gebessert ist, — als Gewiss-
heit endlich, dass die Zahl der unvermeidlichen Operationen dieser Art unter
der Serumbehandlung merklich abgenommen hat. Und wenn in diesem oder jenem
Falle scheinbar ungünstige oder unerwünschte Erscheinungen im Verlaufe der
Krankheit oder der Keconvalescenz eintreten sollten, so darf sich das ängst-
lichste Gewissen damit beruhigen , dass entweder der Zusammenhang mit der
Serumeinspritzung zweifelhaft ist, oder, dass es sich um einen unberechenbaren
Unglücksfall , wie man ihn bei jedem Krankheitsfall und bei jeder Behandlung
erleben kann, handelt. Vor Augen wird man sich aber halten müssen, um weder
sich , noch das Publicum einer scheinbaren Täuschung hinzugeben , dass das
Heilserum so wenig wie irgend ein Mittel eine Panacec ist — dass es eine
kleine Reihe von Fällen giebt, die entweder durch hochgradige und rasch ein-
tretende Allgemeinintoxication des Körpers oder durch gefährliche Frühcompli-
cationen, insbesondere Affectionen des Herzens und der Niere, jedes Heilbestreben
zunichte machen , und endlich , dass die postdiphtheritischen Processe, wie peri-
phere Ijähmungen, später Herztod und diphtheritischer Marasmus, nicht aus-
bleiben, im Gegentheil sich vielleicht durch die grössere Anzahl von Genesungen
unter der Serumbehandlung scheinbar vermehren werden.
Soviel über die Anwendung des Antitoxins als Heilmittel! Und nun noch
einige Worte über Diphtherieimmunisirung durch dasselbe Mittel!
Behring hatte ursprünglich geglaubt, dass die subcutane Einverleibung
von 60 I.-E. genügen würden, die Geschwister von Erkrankten vor der Infection
zu schützen. Die spätere Erfahrung lehrte, dass diese Concentration nicht aus-
reichend für viele Fälle war, und Behring 1>*) bestimmte deshalb eine Dose von
150 I.-E. als ausreichenden Schutz gegen die Ansteckung und glaubte damit eine
Immunität bis zu zehn Wochen erreichen zu können. Noch später zog man vor,
200 I.-E. als Schutzdose anzusetzen. Nach den zahlreichen Beobachtungen scheint
mau hier an der unter gewöhnlichen Umständen ausreichenden Grenze angelangt
zu sein, wenngleich neuestens Rubens18*) über einen Fall berichtet, wo er aus-
nahmsweise auch mit dieser Menge einen Misserfolg hatte. Wollen wir uns nach
BEHRING ’S 1,s) eigenen Angaben richten, so wird es auf Grund der Thierexperi-
mente rathsamer sein, mit der Dose nicht weiter zu steigen , sondern lieber der
einen Schutzimpfung bald eine zweite folgen zu lassen: da nämlich um so mehr
Antitoxin (besonders im Urin) ausgeschieden wird , je concentrirter dasselbe im
Blute vorhanden ist, entspricht die doppelte Schutzgabe durchaus nicht der
doppelten Schutzkraft, sondern, wenn 60 I.-E. etwa sechs Wochen schützen , so
schützen 150 I.-E. nicht etwa 15, sondern eben nur besten Falles 10 Wochen
vor der Diplitherieerkrankung.
Weun ich nun die Erfolge der Diphtherievorbeugung durch Einspritzungen
des Antitoxins zusammenstelle, so sind die Ergebnisse einer solchen Tabelle nach
der guten wie nach der schlechten Seite hin nur bedingt zu verwerthen — nach
der guten, weil cs eine allbekannte Erfahrung ist, dass keineswegs alle, die sich
einer Infection aussetzten , auch wirklich erkrankten und es folglich ein Trug-
schluss wäre, wollte man die Zahl der ohne nachfolgende Erkrankung Geimpften
identiticiren mit der Zahl der vor Diphtherie Geretteten: nach der schlechten,
weil diejenigen von den Geimpften , welche nach der Impfung hinnen einer
gewissen Frist erkrankten, also etwa binnen einer Woche , bereits iuficirt waren
und sich im Latenzstadium der Krankheit befanden, also gar nicht mehr geschützt
werden konnten.
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DIPHTHERIEHEILSERUM.
133
Es sind präventiv geimpft worden:
in Croatien und Slavonien 1,<) . . 826 Personen, davon erkrankten 17 (1 tijdtlick)
von
Peck”)
. . 266
y
8
T ho ui a s ,Ji)
. . 136
—
Richter l16)
. . 70
r
7
To r d a v m)
. . 66
n
i
Hilbert’*®)
. . 64
r
7
Heubner17)
. . 64
2
Riael41)
. . 57
n
r
1
Gordon M orill '*“) . .
. . 42
—
Leucht 13J)
. . 41
r
2
Händler44)
. . 37
_
2
Johannessen131) . .
. . 30
_
3
Howard13)
. . 31
„
10
Hager“)
. 35
3
van Schären 13*) . .
. . 18
—
Eisenstädt47). . . .
. . 14
r
„
1
Schmidt16)
. . 12
„
„
—
Mac Alister“6) . . .
. . 9
r
1
Witt aller“)
. . 7
y
1
Davies1^1)
. . 6
«
n
IS
—
d. s. 1831 Personen; davon erkrankten 66 oder 3.6°/»-
WeiiD wir mit Rücksicht auf das oben Gesagte die innerhalb der ersten
Woche nach der Schutzimpfung Erkrankten abziehen, das sind je 1 Fall Torday's,
Risel’s, Lkucht’s, Mac Alistkr’s und Wittaeer’s, so reducirt sich der Procent-
satz auf 31/,0», und wenn wir in gleicherweise annehmen, dass von diesen 1831
Gefährdeten, um möglichst ungünstig zu rechnen, in der That nur etwa die
Hälfte der Krankheit anheimgefallen wäre, so würden immerhin durch die Schutz-
impfung gegen 900 Personen davor bewahrt worden sein — ich glaube, dass das
ein äusserst erfreuliches Ergebnis» ist. Gerade die Erkrankungen trotz Einspritzung
werfen ein Licht auf die Frage der Dauer der Schutzkraft des Antitoxins. Am
schnellsten versagte sie bei zwei Kranken JOHANNKSSKN’S lal), welche 15, bezie-
hungsweise 22 Tage nach der Impfung erkrankten ; in allen Fällen P ECK ’s 8*)
währte die Schutzkraft vier Wochen, ebenso in dem einen Falle Ledcht’s iao);
in einem Falle Händler’« “) dauerte sie sieben, in einem anderen und in einem
Falle Jobanxessen’s lai) aber acht Wochen, und die Richter' sehen Fälle ls*), in
denen die Geimpften neun Wochen geschützt blieben , kommen der Auffassung
Behrixg's von der Dauer der Schutzkraft am nächsten. Im Allgemeinen scheint
sich die Hoffnung Behring'« freilich nicht zu erfüllen , sondern die prophylak-
tische Wirkuug scheint weniger als zehn , vielleicht mit einiger Sicherheit nur
4 — 6 Wochen zu betragen. Für die Praxis genügt das; denn eine Schutzimpfung
wird nur angezeigt sein, wenn es gilt, in der Privatpraxis Geschwister und An-
gehörige eines Ersterkrankten zu schützen, oder in der Spitalsthätigkeit die Mit-
bewohner eines inticirton Saales vor Ansteckung zu bewahren, und in beiden Fällen
reicht ein Schutz von 4 — 6 oder 7 Wochen aus, um durch volle Wiederherstellung
des Ersterkrankten und entsprechende Desinfection aller seiner Utensilien den
Keim zur Krankheit zu ersticken. In diesem Sinne sind die praktischen Erfolge,
die bisher erzielt w urden , sehr ermuthigend ; aus der Privatpraxis erwähne ich
einen Fall Händler’«, aus dem Bereich der öffentlichen Gesundheitspflege den
Bericht Richter’.«, aus der Krankenhauserfahrung die Endemie im Kinderasyl
zu New-York und im Nursery and Child’s Hospital ebendort als Beispiele.
Händler“) erzielte seine guten Resultate auf dem Lande in Slavonien und er
sagt: „Bei fast allen ausgeführten Schutziojectionen war eine Separation der
Kinder durch ungünstige Wohnungsverhältnisse unmöglich, ja, ein Kind, das eine
Srhutzinjectiou erhielt, schlief sogar mit dem anderen, schwer erkrankten in
einem Bette und blieb gesund.“ Richter186) bekämpfte mit dem Serum eine
Epidemie im Dörfchen Wernersdorf ; ein erster Fall, aus einem verseuchten Narh-
bardorf eiDgcschleppt, war tödtlich ausgegangen, von ihm ward die Lehrerwohnung
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DIPHTUERIEHEILSERUM.
und die Käserei des Dorfes inficirt und zu zwei gefährlichen Herden gemacht; es
erkrankten sämmtliche fünf Kinder des Lehrers und in der Käserei von sieben
vier Kinder und ein vereinzelter Fall im Dorfe kam rasch dazu ; die drei noch
überlebenden Kinder jener Familie, in welcher der erste Fall vorgekommen war,
vier Geschwister des vereinzelten Falles im Dorfe, die drei noch nicht ergriffenen
Kinder in der Käserei und vier Kinder einer benachbarten Familie wurden
schutzgeimpft, dazu alsbald auf Krciskostcu 56 Kinder in 32 Familien besonders
des geschlossenen, also am meisten bedrohten Theils der Ortschaft. Die Seuche
stand, und erst neun Wochen später, als ein Kind aus einem Danziger Kranken-
hausc neuen Infectionsstoff mit sich selbst in das Dorf eingeschieppt hatte, erkrankten
die sieben Kinder dieser Familie, obwohl sie sehutzgeimpft waren, an leichter
Diphtherie. Einen ähnlichen frappanten Erfolg erzielte Peck8s) bei einer Endemie
in einer Abtheilung seines Kinderasyls. Er injicirte zunächst 21 sieh normal ver-
haltende, aber im Rachenschleim Diphtheriebacillen bergende Kinder; nur eines
erkrankte nach vier Wochen, und er injicirte jetzt 224 weitere, noch nicht er-
krankt gewesene Kinder, von denen nach 4 Wochen nur 7 erkrankten, und, als
er da eine dritte Serie impfte, kam innerhalb weiterer -l'/j Wochen ein einziger
Fall vor. Fast noch glänzender war der Erfolg im Nureery and Child’s Hospital,
wo innerhalb dreier Monate 46 Kinder sich inficirt hatten ; nun impfte Thomas 1,4j
110 und nach zwei Tagen noch 46 Kinder, darunter 77 Säuglinge, mit 50 bis
150I.-E. , 59 Kinder zwischen 2. und 4. Lebensjahr mit 2ü0 l.-E. , und die
Endemie war erloschen — nur ein Arzt und eine Wärterin, die nicht schutzgeimpft
waren, erkrankten noch drei, beziehungsweise fünfWochen nach jener Massenimpfung.
Bei diesen Schutzimpfungen kommen zuweilen, im Ganzen recht selten,
ähnliche Nebenwirkungen zur Beobachtung, wie bei den Heilinjectionen , vor
Allem die erwähnten Hautausschläge, und zwar gelegentlich auch mit leichten Fieber-
bewegungen. So trat bei einem 12jährigen Mädchen, das Edison 15‘) durch die
Impfung vor der Ansteckung durch seine Geschwister bewahrte, am 7. Tage
post injectionem Urticaria , am 9. aber ein papulöses Exanthem mit viertägigem
Fieber auf. Thomas114) sah siebenmal Ausschläge bei seinen Impflingen, Howard -s)
einmal ein ausgebreitetes Erythem. Leichte Temperatursteigernngeu können auch
ohne Exanthem sich einstellen: Gokdon Morill ,S4) beobachtete sie bei s/, seiner
Impflinge, Thomas134) bei etwa der Hälfte innerhalb der ersten 12 Stunden post
injectionem. Dass sich zur Urticaria und zum Fieber auch Gelenkschmerzen
hinzugesellten und so die Schutzimpfung ein wirkliches Kranksein hervorrief,
beschreibt Klipstein •*•) ; doch scheint sein Fall ein ganz vereinzelter zu sein,
und, ganz abgesehen davon, dass auch seine kleine Patientin rasch und ohne
Nacht heil genas, beweist ein solcher vereinzelter Fall recht wenig.
Bei Erwähnung dieser Nebenerscheinungen bei Diphtherieschutzimpfungen
will ich noch einmal darauf hinweisen , dass auch diese Beobachtungen dafür
zeugen können , dass von allen nach Hcileinspritzungen angeblich beobachteten
Nacherkrankungen nur die llautausschlägc , seien sie von Fieber begleitet oder
nicht, und vielleicht auch die Gelenkschmerzen mit Sicherheit auf das Diphtherie-
heilserum — gleichgiltig, ob auf das Serum oder auf das Antitoxin — bezogen
werden dürfen.*)
Wir kommen zum Schlüsse, dass die Immunisirung von noch nicht In-
ficirten mit durchschnittlich 150 — 200 l.-E. des Diphtherieheilserums in fast allen
Fällen gelingt und darum besonders unter den Verhältnissen der Praxis , wenn
*) (Zusatz bei der Correctnr ) In Berlin hat sich inzwischen der Todesfall eines
Kindes im ersten Lebensjahre nach einer Diphtherieschntzimpfung zugetragen. der vom Vater,
selbst Arzt, auf diese Impfung zurückgeführt wurde. Ohne hier näher darauf eingehen zu
können, weise ich nur darauf hin, dass die so vielfältigen Erfahrungen, wie ich sie hier zusammen-
gestellt habe, nicht eine Spur einer solchen Möglichkeit an sich tragen. Das Bedenkliche. Impfung
und Tod nach Art einer Vergiftung in ursächliches Verhältnis« zu setzen, wird dadurch erhöht,
dass der Tod blitzartig, fast unmittelbar nach der Einspritzung cintrat. Wie sollte in einem
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DIPHTHERIEHEILSERUM.
135
eine I soliruDg aus äusseren Gründen unangüngig ist, ferner bei localen Epidemien
und bei Spitalcndemien berechtigt und geboten ist; leider stösst sich die Aus-
führung dieser Meinung gerade dort , wo sie die äusseren Verhältnisse am drin-
gendsten verlangen , an dem noch immer viel zu hohen Kostenpunkt — eine
Heilimpfung und einige Schutzimpfungen kann weder ein Arbeiter, noch ein
kleiner Handwerker, noch ein kleiner Hauer bezahlen, und für Menschenfreunde
öffnet sieh hier ein noch unbebautes, Dank und Segen in sich tragendes, offenes
Feld. Eine allgemeine Impfung von Staatswegen, analog unserer Pockenimpfung,
empfiehlt sich nicht, weil der Impfschutz ein viel zu kurzdauernder ist; wer
darum die BKHRiXG*sche Methode mit der jENNER’schen vergleicht, befindet sich
auf einem von falschem Enthusiasmus geblendeten Irrwege. Unsere Waffen gegen
die Diphtherie sind geschärft, wie nie zuvor; doch zum Vernichtungskampfe gegen
sie sind sie noch immer nicht scharf genug!
Literatur: *) R. Landau, Zur Geschichte des Diphtberichcilscrums Behring1».
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schrift. 1895, Nr. 23. — 41) Demutli, Vereinsbl. d. Pfälzer Aerzte. November 1894. —
4#) R i s e 1 , Deutsche med. Wochenschr. 1895, Nr. 10. — *3) Ernst Schröder. Münchener
med Wochenschr. 1895, Nr. 14 a/lo. — 44) Hager, Centralb). f. innere Med. 1894, Nr. 48. —
46) B. Händler, Wiener med. Presse. 1895, Nr. 6. — 4a) Sitzungsbericht, V e r. • i nabe i läge
Nr. 24 zur Deutschen med. Wochenschr. 1895, Nr. 19. — 47j Eisen stad t. Münchener med.
Wochenschr. 1895, Nr. 29. — 4i) E Simon, Münchener med. Wochenschr. 1895, Nr. 9. —
4®) H. Lejr, Vereinsbl. d. Pfälzer Aerzte. 1895, Nr. 1. — *•) A Iber t Lissard, Berliner
klin. Wochenschr. 1895, Nr. 10 — 5I) Karl Lennser, Münchener med Wochenschr. 1895,
Nr. 19. — ”) Pfeilsticker, Württemberg er Correspondenzbl. 1895, Nr. 17. — M)Pavlik,
Wiener med. Presst*. 1895, Nr. 1. — M) Th. Lange, Dent-che med. Wochenschr. 1895,
Nr. 7. — ai) D'Espine, Revue med.de la 8uis.se romande. 1895, Nr. 4. — M) Moizard
et Perregaux, Gaz. des höp. 1894, LXVII, 144. — M) Richard Ketz, Wiener klin.
Wochenschr. 1895, Nr. 14- — ö#) G. Biggs, New York med. Record. 1895, Nr. Di. — 59) R-
Altmann, Deutsche med. Wochenschr. 1895, Nr. 14. — <0) Karg, Correspondenzbl. d. ärzti.
Vereine im Königr. Sachsen. 15. Dccember 1895. — 4I) Wittauer, Therap. Monatsh. 1895,
einzigen Kalle ein Process, der sich in hunderttausenden anderen ohne irgend eine Gefahr, in
ausserordentlich wenigen mit vorübergehenden Störungen abspielte, weit rapider, als irgend
ein Gift, ein Leben vernichten V! Da muss ein ganz besonderer Unfall sich ereiguet haben,
dessen Aufklärung leider niemals zweifellos wird bewiesen werden können; am nächsten scheint
mir die Annahme zu liegen, dass ein Kehler in der Einspritzungsart unterlaufen ist, etwa eine
Einspritzung in eine Vene und Tod durch Luftembolie. Keinesfalls kann dieser unglückliche
Einzelfall das Gesammtnrtheil über das Diphtherieheilserum beeinträchtigen oder gar umkehren.
136
DIPHTHERIEHEILSERUM.
Nr. 2- — at) Buchholz, Petersburger med. Wocheaschr. 1895, Nr. 5. — •*) Hüter, Grund-
riss der Chirurgie. 1886, II, 2. — Ä4) J. Bökai, Deutsche med. Wochenschr. 1895, Nr. 46. —
•*) ßlattuer, Correspondenzbl. f. Schweizer Aerzte. 1895, Nr. 5. — M)Copper, Journ.de
Bruxelles. 1895, Nr. 4. — i7) J. Hoppe, Deutsche med. Wochenschr. 1895, Nr. 12. — •*) Sieg-
mund Purjesz, Wiener med. Presse. 1895, Nr. 11. — *) H. Kurth, Deutsche med.
Wochenschr. 1895, Nr. 27— 29. — Tü) Leichte nstern und Wendelstadt, Münchener med.
Wochenschr. 1895, Nr. 24. — 71) Karl Fürth, Münchener med. Wochenschr. 1895, Nr 30.
— 7*) Washhourn, Goodall, Card, Brit med. Journ. 22. December 1894. — 7*) Deutsche
med. Wochenschr. 1895, Nr. 32. — ’4) J. Drey f u ss, Lyon möd. 1895, Nr. &. — 76) A. Sigel,
Württemberger Correspondenzbl. 1895. Nr. 11. — T*) König und Moxter , Zeitschr. f. prakt.
Aerzte. 1896. Nr. 1. — ,7) Deutsche med Wochenschr. 1896, Nr. 2. — ,8) Pfeifer, Therap.
Monatsh. 1895, Nr. 2. — ’9) M. Kann, Deutsche med. Wochenschr. 1894, Nr. 52. —
*g) Worsley, Brit. med. Journ. 6. April 1895. — #l) Foster, Med. News. 1895, Nr. 5. —
81) G. B. Peck, New York med. Record. 1895, Nr. 16. — M) ßradon Kyle. Therap. Gaz.
1895, Nr. 4. — 84) Silberschmidt, Correspondenzbl. f. Schweizer Aerzte. 1895. Nr. 5 und
Münchener med. Wochenschr. 1895, Nr. 9. — 8i) Arnold W. Catlin, Med. News. 1894.
Nr. 19. — 8Ä) Zagari e A.Calabrese. Riforma med. 1895. XI, Nr 48. — 57) v Kahlden,
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Nr. 11. — ##) M. Adae, Württemberger Correspondenzbl. 1895, Nr. 12. — M) D. Hanse-
mann, Berliner kl in. Wochenschr. 1894, Nr. 50- — **) 0. Heubner, Deutsche med. Wochen-
schrift. 1895, Nr. 42. — M) Aufrecht, Therap. Monatsh. März 1894. — •*) H. Titnmer,
Deutsche med. Wochenschr. 1895, Nr. 37. — **) B. Silva, Boll. della Soc. med.-chir. di Pavia.
1895 — *5) Damieno, Riforma med. 1895. XI, Nr. 39- — v*) Kraske, Münchener med
Wochenschr. 1894, Nr. 52- — *’) Heckcl, Münchener med. Wochenschr. 1895. Nr. 8. —
Radivoj Simonovic, Wiener med. Presse. 1895, Nr. 6. — *9) Mao Allster, Univers.
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1895, Nr. 1. — 10#) H. Hunnius, Berliner klin. Wochenschr. 1805, Nr. 10. — 107) G. Mya,
Sperimentale. 1895, Nr. 6. — ,os) W. Lublin ski, Deutsche med. Wochenschr. 1894, Nr. 45.
— ,09) Y. Cnyrim. Deutsche med. Wochenschr. 1894, Nr. 48. — !,®)Colla, Deutsche med.
Wochenschr. 1895. Nr. 3. — IU) Victor Habel, Deutsche med. Wochenschr. 1895. Nr. 1. —
“*) Zielenziger, Deutsche med. Wochenschr. 1895, Nr. 35. — *'*) Pani Marense,
Deutsche med. Wochenschr. 1895, Nr. 35- — ,l4) P. Haller, Berliner klin. Wochenschr. 1895,
Nr. 10. — n*) E Hagenbach, Correspondenzbl. f. Schweizer Aerzte. 1895, XXV. Nr. 1. —
Mij Kampe. Berliner klin. Wochenschr. 1895. Nr. 10. — m) Th i bi e rge , Revue des malad,
de Fünf. 1895, XIII. — “•) M. Pistor, Deutsche Aerzte-Ztg. 1895, Nr. 24 — ,l9) O. Trey-
mann. Deutsche med. Wochenschr. 1894, Nr. 51. — 1,w) Juli us Schwal he, Deutsche med.
Wochenschr. 1894, Nr 51. — m) J. Alföldi, Gyögyäszat. 1895, Nr. 5 (cfr. Bökai sub 25).
nl) Behring. Deutsche med. Wochenschr. 1894, Nr. 46. — m) Rubens, Deutsche med.
Wochenschr. 1895, Nr. 46. — m) Bericht etc. Wiener klin. Wochenschr. 1895, Nr. 18. —
m) Allen M, Thomas. New Yoik med. Record. 1895, Nr. 24. — 11 *) Richter, Deutsche
med. Wochenschr. 1895, Nr. 7. — **7) Torday, Deutsche med. Wochenschr. 1895, Nr. 25,
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Merill, Boston med. and surg. Journ. 1895, Nr. 4. — ,so) Leucht, Correspondenzbl. f.
Schweizer Aerzte. 1895, Nr. 5. — ,#t) A. J oh a nnessen , Deutsche med. Wochenschr. 1895,
Nr. 13. — **•) v. Schären. Berliner klin. Wochenschr. 1895, Nr. 10. — m) J. C. Davies.
New York med. Record. 1895, Nr. 17. — ia4) Cyrus Edison, New Y’ork med. Record. 1895.
Nr. 14. — Gordon Morill, Boston med. and surg. Journ. 1895, Nr. 26. — lsfl Klip-
stein, Deutsche med. Wochenschr. 1894, Nr. 52. Richard Landau.
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E.
Elektrische Bäder zur Augenmassage, 8. A ugenheilmittel , pag. 28.
Elektrische Verunglückungen. Die mächtige Entwicklung, welche
die Elektrotechnik in den letzten zwei Decennien genommen, seitdem der geuiale
Werner v. Siemens dag Princip der elektrodynamischen Maschinen erfunden
und praktisch ausgeführt hat, durch welche die Erzeugung und technische Ver-
werthung von sehr starken elektrischen Strömen möglich wurde , hat auch der
Pathologie ein neues Gebiet eröffnet.
Die elektrischen Starkstromanlagen bringen gewisse Gefahren mit sich
und schon heute ist die Zahl der durch elektrische Betriebe herbeigeführten Un-
glücksfälle keine geringe. Nach einer eher zu niedrig als zu hoch gegriffenen,
von mir auf Grund aller zugänglichen Berichte der ganzen bezüglichen Literatur
vorgenommenen Schätzung muss die Zahl der elektrischen Verunglückungen mit
wenigstens 1000 veranschlagt werden, darunter mehr als 300 Todesfälle. Bei der
immer weiteren Verbreitung der elektrischen Betriebe und der zunehmenden Ver-
wendung von Starkströmen steht naturgemäss eine weitere Vermehrung dieser
industriellen Unglücksfällc zu gewärtigen und gewinnt die Betrachtung der dadurch
bewirkten pathologischen Erscheinungen auch ein erhöhtes praktisches Interesse.
In einer vor Kurzem erschienenen Monographie (Khaitf.r, Der Tod durch
Elektricität, Wien und Leipzig 1896) habe ich nebst eigenen Beobachtungen
tödtlicher und nicht tödtlicher elektrischer Verunglückungen von Menschen auch
Versuchsergebnisse mitgetheilt, welche geeignet sind, Einblicke in das Wesen dieser
eigenartigen Körperbeschädigung zu eröffnen, und welche die von anderen,
namentlich französischen und amerikanischen Autoren , wie Bbown-Skquakd,
D’Absonval, Gbangk, Brouabdel, Gariel, Bibaud, Habold P. Bbown, Ken-
nelly, Petkbson, Clark-Bell u. A. bekannt gewordenen Untersuchungen in
manchen Richtungen erweitern und vervollständigen; ich darf daher wohl auch
in der nachfolgenden Darstellung mich im Wesentlichen auf meine eigenen Arbeiten
und Erfahrungen stützen.
I. Die Veranlassungen der elektrischen Unfälle.
Ein elektrischer Strom kann dem Menschen nur dadurch gefährlich
werden, dass derselbe in den Körper eindringt. Dies geschieht, wenn entweder
der Mensch in den Stromkreis eingeschaltet wird , indem beide Pole mit der
Körperoberfläche in leitende Verbindung gebracht werden, oder wenn er mit
einem blanken Leiter in Berührung kommt, während er mit der Erde oder einem
anderen guten Leiter in Verbindung steht. In letzterem Falle findet ein soge-
nannter Kurzschluss statt.
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138 ELEKTRISCHE VERUNGLÜCKUNGEN.
Das Eindringen eines elektrischen Stromes in den KOrper ist aber noch
nicht hinreichend , schädliche Wirkungen zu äussern , der Strom muss eine ge-
wisse Kraft besitzen. Man bezeichnet diese im gewöhnlichen Leben als die Stärke
des Stromes und nennt Ströme, welche eine grosse Wirkung hervorbringen, starke,
die mit schwachen Wirkungen hingegen schwache Ströme. Alle elektrischen
•Ströme , welche die Gesundheit eines Menschen schädigen oder das Leben be-
drohen, sind Starkströme.
In Wirklichkeit ist aber nicht die Stärke des elektrischen Stromes ent-
scheidend fllr die Wirkung auf den lebenden Organismus , sondern jene Eigen-
schaft, welche als Spannung bezeichnet wird.
Wieso vorwiegend die Spannung und nicht die Stromstärke den Effect
bestimmt, kann durch folgenden Vergleich anschaulich gemacht werden: Wenn
eine grosse Menge von fliessendem Wasser, ein Strom, ein sehr geringes Gefälle
hat, dann bewegen sich seine Massen so wenig, dass der Strom trotz der enormen
Wassermassen an dieser Stelle keine Mühle zu treiben, einen Körper nicht oder
nur unmerklieb zu bewegen , kurz nur weuig Arbeit zu leisten im Stande ist.
Wir können uns in den Strom hineinstellen, ohne umgeworfen oder vorwärts-
getrieben zu werden. Hat aber eine selbst geringe Wassermasse ein grosses Ge-
fälle, so würden wir uns darin mit aller Kraft nicht aufrecht zu erhalten ver-
mögen , sondern ulngeriBsen und fortgcschleudert werden. Dem Gefälle eines
Hiessenden Wassers vergleichbar ist die liedeutung der Spannung eines elektrischen
Stromes für den Endeffect.
Es werden also die Wirkungen der Spannung auf den menschlichen oder
thierisehen Körper unter sonst gleichen Verhältnissen umso verderblicher sein, je
höher die Spannung ist und je häufiger sich die Wirkungen wiederholen. Letz-
teres ist beim Wechselstrom der Kall , wo ein sehr rascher und häufiger Pol-
wechsel stattfindet. Daher ist es verständlich, dass Wechselströme viel gefähr-
licher sind als Gleichströme von derselben Stärke und Spannung bei vollkommen
gleichen Widerständen.
Man sollte nun glauben , dass dementsprechend die Gefährlichkeit der
Wechselströme mit der Wechselzahl steigt und fällt. Es ist dies aber nur bis zu
einem gewissen Grade zutreffend. Steigt nämlich die Zahl der Polweehsel Uber
eine gewisse Grenze , so werden die Einzelschläge nicht mehr wahrgeuominen
und die Gesammtwirkung wird durch diesen Factor nicht weiter vermehrt, son-
dern sie wird mit der zunehmenden Häufigkeit (Frequenz) bei gleichbleibeuder
Stärke, Spannung und Widerstand sogar geringer. Ich habe dieses Verhalten
durch Versuche festgestellt , welche im physikalischen Institute der technischen
Hochschule in Graz von mir unter freundschaftlicher Beihilfe meines verehrten
Col legen l’rof. v. Ettingshausen vorgenommen worden sind. Lässt man Wechsel-
strom auf sich selbst wirken, so kann man dieses Verhalten sehr gut beob-
achten. Werden während des Contactes die Umdrehungen der Dynamomaschine
vermehrt, so dass die Frequenz über 100 steigt, so ist die Empfindung weit
weniger unangenehm als bei einer Zahl von 30 , 40 oder 50 Polwechseln in
der Secunde.
Um also den Gesammteftect der elektrischen Einwirkung eines Stark-
stromes richtig heurtheilcn zu können, genügt es nicht, die Stärke und die
Spannung anzugeben , sondern es muss auch auf die Frequenz, das heisst die
Zahl der Polwechsel in der Zeiteinheit Rücksicht genommen werden. Kur unter
Berücksichtigung auch dieses Factors erhält man ein Bild der jeweiligen Ge-
sammtwirknng, beziehungsweise der Gefahrengrösse, welche bei einer elektrischen
Starkstromanlage besteht. Man kann demnach im Allgemeinen sagen : Unter sonst
gleichen Verhältnissen wird die Gefahr nur umso grösser sein, wenn die Frequenz
geringer ist, und umgekehrt. Es muss somit als ganz zutreffend bezeichnet werden,
wenn bei den elektrischen Hinrichtungen nur Wechselströme von niedriger
Frequenz (30 — 40; in Verwendung kommen.
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ELEKTRISCHE VERUNGLÜCKUNGEN.
130
Ceber die Bedeutung der Erregungsart ftlr die Gefährlichkeit des
Stromes sei zunächst erwähnt, dass unter sonst gleichen Bedingungen Wechsel-
ströme weit gefährlicher sind als Gleichströme.
D’Arsonval hat die Gefahrengrösse der verschiedenen Elektricitäts-
quellen experimentell folgendermassen festgestellt:
1. Die statische Entladung ist nur dann absolut tödtlich, wenn mittelst
genau localisirter Entladungen, deren Energie etwa 3 Kgrm. entspricht, direct
das verlängerte Mark getroffen wird.
2. Mittelst einer Batterie von 420 Volt kann man den Tod nur durch
häutige Unterbrechungen und lang fortgesetzte Einwirkung hervorrnfen.
3. Die GHAMME’sche Gleichstrommaschine ist nur durch den Extrastrom
bei der Unterbrechung gefährlich. Die Maschine mit gemischter Wickelung wirkt
weniger blitzartig als die Serien-Dynamomaschiue. Der Extrastrom einer Serien*
Dynamo, welche 20 A. und 25 V. liefert, wfirde ein Meerschweinchen nieder-
schmettern, während derjenige einer Compound-Maschine, welche 25 A. und 110V.
liefert, keine schädliche Wirkung hervorbringt.
4. Die GRAMME'sche Wcchselstrommaschine führt erst bei Spannungen
über 120 V. den Tod (eines kleinen Versuchstieres) herbei.
5. Eine Priraärrolle ist gefährlicher als eine Inductionsrolle, hauptsäch-
lich, wenn sie mit einem Condensator verbunden ist.
Endlich ist die Wirkung eines bestimmten Stromes ganz wesentlich ab-
hängig von dem Leitungswiderstande des Körpers im Ganzen und den sehr
wechselnden Widerständen der einzelnen Organe und Gewebe, namentlich der
Haut. Dass diesbezüglich sehr grosse individuelle Verschiedenheiten nach Alter,
vielleicht Geschlecht, Gesundheitszustand u. dergl. bestehen, ist ganz unzweifelhaft.
Wir verstehen aus diesem Verhalten die so oft beobachtete verschiedene Wir-
kung desselben Stromes auf verschiedene Individuen.
Aus diesem Grunde ist es nicht möglich, die Grenze der Spannung für
den Eintritt unmittelbarer oder mittelbarer Gefahren anzugeben, ebenso wenig,
wie Bich bestimmen lässt, von welchem Werthe ab die Stromstärke für den
menschlichen Körper schädlich wirkt. Man muss Grawiskel*) vollkommen hei-
stiuunen, wenn er sagt: „Alle Versuche und Erfahrungen Uber die Wirkung der
Spannung und Stromstärke auf den menschlichen Körper geben nur Aufschluss
über die Einwirkungen bei einzelnen Individuen und unter bestimmten Umständen,
sie können nicht verallgemeinert werden.“
Dennoch lässt sieh meiner Meinung nach für die Praxis eine gewisse
unterste Gefährlichkeitsgrenze auf Grund der nun doch schon vorliegenden zahl-
reichen Erfahrungen annähernd bezeichnen, wenn wir unter Gefährlichkeit eines
Stromes verstehen wollen, dass schwere, das Leben bedrohende Erscheinungen
oder selbst der Tod eintreten können. Bisher ist noch keine schwerere Beschädi-
gung oder tödtliche Verunglückung an erwachsenen Personen bei Spannungen
unter 500 V. beobachtet worden, wohl aber kennen wir einige Thatsachen, dass
solche Ströme selbst unter erschwerenden Umständen ohne Schaden ertragen
worden sind. Ich verweise namentlich auf den von Nordmann **) mitgetheilteu
Fall, wo beim Baue der elektrischen Strasscnbahn in Budapest ein Arbeiter in
einem Canal mit dem Kopf zwischen die beiden stromführenden Leitungen ge-
rielh und längere Zeit in dieser Stellung verblieb. Er hat ausser einem augen-
blicklichen Unwohlsein nicht die geriugstc Schädigung davongetragen. Es war
Gleichstrom von 500 V. Spannung in der Leitung. Eine sehr wichtige Erfahruugs-
thatsache hat jüngst Stricker***) festgestellt . Er fand, dass ein Gleichstrom von
* ) Grawinkel, Ueber die Gefahren and schädlichen Einwirkungen blanker Strem*
leitnngen. Vortrag, gehalten in der Sitzung des elektrotechnischen Vereines zu Berlin am
25. October 1892. E. T. Z. 1892, pag. 043 ff.
**) Elektrotechu. Zeitscbr. 1892, pag B37*
***) 8. Stricker, lieber strömende Elektricität. Wien 1894, Schlussheft, pag. 147.
140 ELEKTRISCHE VERUNGLÜCKUNGEN.
440 V. Spannung bei Ableitung von einem Pole durch den Menschen zur Erde
eine so heftige Zuckung auslögt , dass er widerräth , das Experiment zu wieder-
holen, da es dem Menschen gefährlich werden könne.
Wenn man daher sagt, die untere Grenze der Gefährlichkeit elektrischer
Ströme für den erwachsenen Menschen liege um 500 V. Spannung, so hat man
damit, fassend auf sicheren Thatsachen und exacten Versuchen, ein für die
Praxis immerhin wichtiges Mass zur beiläufigen Abschätzung der Gefährlichkeit
festgestellt.
Unter besonderen Umständen, wozu namentlich schwere Allgemeinerkran-
kungen mit hochgradiger Abmagerung, Anämie und ungewöhnliche Erregbarkeit
des Nervensystems zu gehören scheinen, liegt nach interessanten ärztlichen Beob-
achtungen die Gefahrgrenze noch viel niedriger, so dass schon Ströme, wie sie
für therapeutische Zwecke allgemein verwendet werden , den Menschen in ernste
Lebensgefahr bringen können , wie dies v. Basch und Glax beobachtet haben.
Die Gefährlichkeit scheint gehr rasch zu steigen und es sind schon
Tödtungen mit Strömen von weniger als 1000 V. Spannung beobachtet worden.
Man sollte nun annehmen , dass die Gefahren mit der steigenden Volt-
und Wechselzahl in gleichem Masse zunehmen. Das ist auch bis zu einer ge-
wissen Höhe, deren Grenzen man jedoch nicht kennt, unzweifelhaft der Fall. Es
liegt nun die sehr interessante Thatsache vor, dass Wechselströme von sehr hoher
Spannung und Frequenz wieder ganz unschädlich sind, vom Menschen gar uicht
empfunden werden. Es sind dies Spannungen, die zwischen 40.000 — 80.000 und
gelbst über 100.000 V. liegen und wobei die Zahl der Wechselschläge in der
Minute 10.000 — 20.000 und mehr beträgt. Diese Ströme, welche auch sonst ganz
neue und hochinteressante physikalische Phänomene zeigen , werden nach den
ersten Beobachtern derselben in der Regel als TESLA’sche oder HERTz’sche
Ströme bezeichnet. Tesla hat durch Zufall ihre Ungefährlichkeit erfahren, die
seither von zahlreichen Physikern, Physiologen und Elektrotechnikern uachgeprUft
und bestätigt worden ist.
Man hat diese fast unbegreifliche Thatsache in verschiedener Weise zu
erklären gesucht. D’Arsonyai. verwies auf die Unerregbarkeit der Gehör- und
Sehnerven durch Schwingungen, welche eine gewisse Zahl überschreiten. Wirken
zu viele Schw ingungen in der Zeiteinheit auf diese Sinnesnerven ein , so finden
überhaupt keine Wahrnehmungen mehr statt. Andere nehmen an , dass diese
Ströme gar uicht in den Körper einzudringen vermögen , sondern wegen der
enormen Geschwindigkeit, mit der die Einzelimpulse aufeinanderfolgen, die elektri-
schen Wellen gleichsam nur Uber die Oberfläche des Körpers hinwegbrauseu. Die
Einzclimpulse sind von viel zu kurzer zeitlicher Dauer, um den Körperwiderstand
überwinden zu können.
Kokthals endlich erklärt die Erscheinung als eine Wirkung der elektro-
statischen Capacitüt des menschliehen Körpers.*)
*) W. Korthals (Die Wirkung von Wechselströmen anf den menschlichen Körper.
Elektrotechn. Zeitschr., 1892, Heft 32, pag. 428, und Lumiere vlectrique. September 1892,
pag. 48Ö) argumentirt im Wesentlichen folgendermassen : Die Wirkung der Elektricität auf
den menschlichen Körper hängt , abgesehen von dem Einflüsse des Empfindungsvermögens des
einzelnen Individuums, von der Stromstärke ah. die den Körper durchfliesst. Diese ist gleich
dem Quotienten aus der Potentialdiffercnz, die zwischen den zwei Punkten des Körpers, durch
die der Strom ein- und austritt , herrscht . getheilt durch die Summe des Widerstandes. Die
erste Grösse, die Potentialdiflerenz zwischen Eintritts- und Anstrittsstelle des elektrischen
Stromes am Körper nennt Korthals die „Körperspannung“; der L-'sammt widerstand ist zu-
sammengesetzt aus dem Korperwiderstand und dem Uebergangswiderstand. Beide Widerstände
sind individuell sehr stark schwankende Grössen. Denkt man sich jedoch den Gesammtwider-
stand als eine stets gleichbleibende Grösse, dann ist die Stromstärke direct der Körperspan,
nong proportional und sie kann als Mass tür die Wirkung eines elektrischen Stromes anf den
menschlichen Körper angesehen werden.
Es entsteht nun die Frage, wie gross bei einer gegebenen Spannung der Stromquelle
die den Körper treffende Spannung ist. Sie beantwortet sich bei Gleichstrom einfach dabin,
oogle
ELEKTRISCHE VERUNGLÜCKUNGEN.
141
Nach alledem sind wir heute noch nicht in der Lage, eine sichere Er-
klärung der so merkwürdigen Erscheinung der Ungefährlichkeit der TESLA-Ströme
geben au können. Hierüber werden nur neue, physiologische Versuche Aufschluss
an bringen vermögen.
Die concreten Veranlassungen au den elektrischen Unglück sfällen
können, so ausserordentlich mannigfaltig sie auch im Einaelnen sind , doch fast
sämmtlich auf folgende Geschehnisse zurückgeführt werden. Entweder es wird
bei der Arbeit durch Zufall ein Iscitungsdralit , die Polklemmen oder sonst ein
leitender Theil in der Centralanstalt von einem daselbst Beschäftigten berührt,
oder es reisst ein Draht und berührt dabei einen Menschen , oder es wird ein
Transformator schadhaft, so dass statt eines niedrig gespannten Stromes plötz-
lich hochgespannter Strom in eine Hansleitung gelangt. Dabei genügt, wenn der
Mensch nicht isolirt ist, die Berührung auch nur eines Poles oder eines Drahtes.
II. Die Wirkungen der elektrischen Starkströme.
Diese sind in Bezug auf den Ausgang zweifacher Art: der getroffene
Mensch wird entweder getödtet oder er bleibt am lieben ; in letzterem Falle
aber treten sehr beachtenswerthe, meist schwere und gefahrdrohende, wenn auch
in der Regel ziemlich rasch vorübergehende Erscheinungen auf, die wir zunächst
betrachten wollen.
a) Nicht tödtliche Verunglückungen
Bemerkenswerth ist vor Allem die Thatsache, dass die ersten Erschei-
nungen beim Menschen ebenso wie beim Thier ansserordentlich schwere und
bedrohliche sind. In unseren Fällen sind die Getroffenen ausnahmslos hingestürzt
und waren augenblicklich bewusstlos. Die Bewusstlosigkeit hat einige Minuten bis
zu mehreren Stunden angedauert. Rasch ist aber in allen Fällen auch die Er-
holung wieder eingetreteu. In längstens 24 Stunden nach dem Unfälle sind unsere
Verletzten wieder herumgegangen und haben zum Theile sogar ihre Beschäfti-
gung aufgenoramen. Angedauert hat in allen Fällen noch durch Tage hindurch
Schwindelgcfühl, allgemeine Mattigkeit und mehr weniger intensiver Kopfschmerz.
Lähmungen oder Sensibilitätsstörungen sind in unseren Fällen nicht beobachtet
worden. Nur aus den Angaben eines meiner Verunglückten, der ärztlich gar nicht
beobachtet worden ist, scheint hervorzugehen, dass im getroffenen Finger längere
Zeit Sensibilitätsstörungen bestanden haben. Bei diesem Manne waren in der
ersten Zeit auch Herzpalpitationen und intensiver Kopfschmerz vorhanden.
Ganz gleiche Erscheinungen sind von amerikanischen und französischen
Acrztcn beobachtet worden; in den meisten von ihnen beschriebenen Fällen war
auch anfängliche Bewusstlosigkeit vorhanden ; es ist dies besonders hervorgehoben
worden von Hummel, Ph. C. Knapp, Dana, Biogs und Biraud. In einigen Fällen
war jedoch das Bewusstsein erhalten geblieben. So bei einer Verunglückung in
der Centralstation in Rom, wo sich zwei Arbeiter durch Berührung eines Con-
ductors tiefe Verbrennungen an den Fingern zugezogen, ohne das Bewusstsein zu
verlieren, dann bei einer am 23. April 1892 in Brüssel geschehenen Verunglückung
durch einen Gleichstrom von 1300 V. Spannung, wobei cs gleichfalls zu schweren
Verbrennungen kam ohne V'erlust des Bewusstseins und bei einem Unfälle im
dass die Körperspannung gleich der Potentialdifferenz der beiden berührten Leiter ist, wenn
der Widerstand zwischen Stromquelle und Körper im Verhältnis» zum Kürperwideratand gering
ist, wie wohl stets der Fall.
Bei Wechselstrom ist jedoch die Antwort nicht so einfach, da hier zwischen Span-
nung der Quelle und Körpcrspannnng verwickelter» Beziehungen bestehen. Um bei Anwendung
von Wechselströmen die Kurperspannung zu bestimmen, ist eine Eigenschaft des menschlichen
Körpers zn berücksichtigen, welche bei Gleichstrom nicht in Betracht kommt, nämlich di»
Capacität desselben, das ist die Eigenschaft, dass der Körper wie ein Condensator wirkt.
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142 ELEKTRISCHE VERUNGLÜCKUNGEN.
Trocadöro zu Pari« (1888) durch einen Wechselstrom von 400 V. (Biraud,
Beob. X, XII, XV).
Es geht daraus hervor, dass Bewusstlosigkeit bei den nicht tödtlichen
elektrischen Verunglückungen kein unbedingt und ausnahmslos auftretendes, wohl
aber in der überwiegenden Mehrheit der Fülle beobachtetes Symptom ist.
Für die Erkenntniss des Wesens der elektrischen Einwirkung ist die
Erscheinung der augenblicklichen Bewusstlosigkeit insofern von Bedeutung, als
daraus im Zusammenhalte mit den Ergebnissen der Thierversnche hervorgeht,
dass das gesammtc centrale Nervensystem hierbei afficirt wird: die motorischen
Centren des Rückenmarkes, die Bulbusregion und die Grosshirnrinde. Die elek-
trische Reizwelle trifft also auch noch die periphersten Thcilc des Central-
nervensystems.
Die functioneile Störung der Gehirnrinde, die Bewusstlosigkeit, ist in der
Regel von sehr kurzer, meist nur minutenlanger Dauer; dagegen dauern andere
Reizsymptome des Centralnervensystems oft tage- und wochenlang an. so nament-
lich Kopfschmerz und Schwiudelgefühl , die wohl als vasomotorische Neurosen
aufzufassen und durch Angiospasmus zu erklären sein dürften. Ebenso sind die
Unregelmässigkeiten der Herzbewegung und des Pulses, namentlich die mitunter
tagelang andauernden Herzpalpitationen, aus der hochgradigen üebererregung des
Circulation6centrnms leicht verständlich.
Verhältuissmässig selten wurden länger andauernde periphere Neurosen
beobachtet. Nur in wenigen Fällen kam es zu motorischen Lähmungen , ähnlich
den so häufig beobachteten Blitzlähmungen, ln keinem meiner Fülle war irgend
eine Muskellähmung vorhanden. Auch Sensibilitätsstörurigen scheinen selten zu
sein. Doch haben einige andere Autoren sowohl schwere periphere Muskel-
lähmungen und in einem Falle auch Krämpfe (Roiiert in St. Louis), sowie aus-
gebreitetere Sensibilitätsstörungen in Form von Hyperästhesien und Neuralgien
beobachtet, so namentlich Garaix in Dieulcfit, Philipp C. Knapp in Boston,
COLI.INS in New-York (Paralyse des Deltoideus und traumatische Neuritis mit
Verminderung des Wärme- und Muskelgefühls). Peterson in New-York endlich,
wie auch Ph. C. Knapp beobachteten nach elektrischen Verunglückungen länger
andauernde allgemeine Neurosen unter dem Bilde der Neurasthenie oder Hysterie,
die sie den traumatischen Neurosen wie der „railway-spinc“ verglichen. Ein
Beispiel dieser Art der Erkrankung nach Einwirkung starker elektrischer Schläge
bietet offenbar auch ein von mir mitgetheilter Fall (vierte Beobachtung). Diese
Fälle müssen den Blitzhysterien, wie sie vou Nothnagel, Girier de Sa vignt,
Onimi'S, Charcot und Laveran beschrieben worden sind, an die Seite ge-
stellt werden.
Was schliesslich die Verbrennungen anbelangt, die au dcu Berührungs-
stellen niemals fehlen, so zeigen dieselben sehr bedeutende graduelle Unterschiede.
Oft sind sie ganz unbedeutende und oberflächliche Erytheme und Epithelnekrosen;
meist sind es Verbrennungen zweiten Grades in Form von Blasenbildung, mit-
unter aber auch ausgebreitete und tiefgehende, selbst bis an die Knochen reichende
Zerstörungen der Weicbthcile, sogenannte Verbrennungen dritten Grades, ln einigen
Fällen mussten tief verbrannte Finger ainputirt werden oder gelangten umfäng-
lichere Brandwunden nach Abstussung der nekrotischen Theile nur durch „greffc
epidermique“ zur Heilung.
Es sei hier nur noch bemerkt , dass nach übereinstimmenden Beob-
achtungen an Mensch und Thier die Grösse und Schwere der elektrischen Ver-
brennungen in gar keinem Verhältnisse stehen zum anderweitigen Effect. Bei
tödtlichen Fällen kann inan geringfügige Verbrennungen und bei schweren und
ausgebreiteten Verbrennungen geringfügige anderweitige Störungen finden.
Dagegeu habe ich durch Thierversuchc festgestellt:
1. dass die Contactzeit für den Erfolg der elektrischen Einwirkung
von Wesenheit ist. Je länger der Contact, umso schwerer der Erfolg.
Google
ELEKTRISCHE VERUNGLÜCKUNGEN.
143
2. Dass die wiederholte, wenn auch nur ganz kurz dauernde Ein-
wirkung eines Stromes , der einmal von einem Thiere noch ertragen wurde, das-
selbe gleichfalls unfehlbar tödtet.
3. Dass die Erscheinungen bei allen Thieren und Thiergattungen
(ich habe an weisseu Mäusen, Kaninchen, Meerschweinchen, Hunden und Katzen
experimentirt) in vollkommen typischer Weise ablaufen. Sie bestehen ausnahms-
los zunächst in einem hiiehstgradigen tonischen Krampf der gesummten Musculatur
und in Folge dessen in augenblicklicher Hemmung der Athmung; die Herz-
bewegungen überdauern den Athmungsstillstand oft um mehrere Minuten. Wäh-
rend dieses Zustandes der Asphyxie kann das Thier wieder zum Leben zurück-
gebracht werden (vcrgl. Kratter, a. o. 0., pag. 34).
b) Tödtliche Verunglückungen.
Der Tod nach starken elektrischen Einwirkungen ist in der Regel ein
plötzlicher. Die Menschen stürzen nicht selten unter einem lauten Aufschrei wie
vom Rlitze getroffen zusammen und geben entweder gar kein Lebenszeichen mehr
von sich oder es tritt der Tod in wenigen Minuten, sehr selten erst nach 10
bis 20 Minuten oder nach einer halben Stunde ein. So war es wenigstens in
allen Fällen, wo die Verunglückung vor Zeugen erfolgte. Für die Raschheit des
Verlaufes sprechen auch die Leichenbefunde, welche im Wesentlichen die der
Erstickung sind, namentlich die in allen Fällen flüssige Beschaffenheit des Blutes.
Wir finden ausserdem Hypervenosität des Blutes, hochgradige Stauung desselben
in den Organen der Brusthöhle und in vielen Fällen auch subpleurale , subperi-
kardiale und subendokardiale Ekchymosen, sowie Blutungen um die Brustaorta,
also durchwegs Erstickungsbefunde. Ab uml zu wurden auch kleinste Blutaus-
tretungen im Gehirn und in den ßefässscheiden vorgefunden. In zweifelhaften
Fällen können die nie fehlenden, durch Lage und Form charakteristischen Ver-
brennungen an den Contai tstellen die anatomische Diagnose sichern.
Ich habe meine Erfahrungen Uber die Leichenbefunde in folgenden
Sätzen zusammengefasst (a. o. 0., pag. Gl):
1. Ausnahmslos sind die der Erstickung zuknmmenden Allgemeinbefunde
in meist sehr charakteristischer Weise vorhanden, wobei es in den Lungen, wie
es scheint nicht selten, bis zur Entwicklung eines wirklichen Oedems kommt.
2. Die Befunde im centralen Nervensystem sind in der Regel negativ;
nur in einzelnen Fällen bekunden kleine punkt- und streifenförmige Blutaus-
tretungen in den Wandungen des vierten Ventrikels oder in den Meningen eine
mächtige traumatische Einwirkung auf das Gehirn durch den elektrischen Strom.
3. Mitunter ist der Weg, den der elektrische Strom im Körper genommen
hat, durch Blutungen bezeichnet, welche sich insbesondere an den Scheiden der
grossen Gefässe und Nerven finden können.
4. Ausnahmslos sind die Eintrittsstellen und wohl auch immer die mit-
unter mehrfachen Ausgangsstellcu durch Verbrennungen der verschiedensten Grade
gekennzeichnet , von denen besonders die ersteren durch ihre Lage und Be-
schaffenheit die anatomische Diagnose wohl immer sichern und deswegen von
grösster Bedeutung sind.
Dazu kommt noch eine hochgradig entwickelte und lang andauernde
Todtenstarre. welche sowohl beim Menschen als bei Thieren beobachtet wurde,
ln einem meiner Experimeutfälle war die Erstarrung der Musculatur im unmittel-
baren Anschlüsse au den während des Versuches vorhandenen Tetanus und in der
allgemeinen Streckstellung des Thieres erfolgt, so dass in diesem Falle die
Todtenstarre als kataleptisehe bezeichnet werden muss. Dieser unmittelbare Deber-
gaug vom Starrkrampf in die Todtenstarre ist jedoch nur einmal in 40 Ver-
suchen beobachtet worden.
In manchen Fällen sind auch schwerere Beschädigungen innerer Organe,
namentlich Contusioneu des Gehirns, sowie suhduralc und iutermeningcale Blutungen.
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144
ELEKTRISCHE VERUNGLÜCKUNGEN.
Ähnlich wie sie mitunter auch bei vom Blitze erschlagenen Menschen Vorkommen,
beobachtet worden. (Man vergl. diesbezüglich Oksterlen, Tod durch Blitzschlag in
v. Maschka’s Handb. d. gcrichtl. Med. und Hermann Dürck, Zur Casuistik des
Blitzschlages nebst Bemerkungen über den Tod durch Elcktricität. Münchener med.
Wochenschr. 1895, Nr. 31.) Bei einem meiner Versuche kam es sogar zu einer
Zerreissung der Lunge.
Um das Wesen des elektrischen Todes klarzustellen, mussten ausser
Beobachtungen an Menschen und Thicren auch noch besondere Untersuchungen
angestellt werden. Es lag nahe, zunächst an Veränderungen des Blutes als eigent-
liche letzte Ursache des Todes zu denken, umsomehr, als die Physiologie uns
schon vor mehr als 30 Jahren Blutveränderungen kennen gelernt hat , welche
durch die Einwirkung von Entladungsschlägen der Leydenerflasche und durch
elektrische Ströme entstehen. So interessant diese von Rollett, Neumann u. A.
herrührenden physiologischen Versuche, welche lehren, dass durch elektrische
Einwirkungen Blutfarbstoff aus den Blutkörperchen austritt und diese selbst
schliesslich zerstört werden, auch sind, für die Erklärung des elektrischen Todes
sind sic bcdeutunglos ; ich konnte weder Blutkörperchenfragmente, noch ausge-
tretenen Blutfarbstoff (Häinoglobinümie) nachweisen, noch findet man jene makro-
skopische Blntbeschaffenhcit, nämlich hellrothe Lackfarbe, welche für die elek-
trische Einwirkung auf Blut von den Physiologen als so charakteristisch ange-
geben wird. Ich muss zu dem Schlüsse kommen, dass es keine, wenigstens nicht
diese Veränderung des Blutes ist, welche den elektrischen Tod veranlasst.
Dieselbe Anschauung haben auch Tatum, van Gieson, Mac Donald und Bibaüd
gegenüber von Philipp Donlin vertreten, welcher behauptete, dass der elektrische
Tod primär durch eine Veränderung des Gesammtblutes verursacht werde.
Alle beobachteten Erscheinungen bei Mensch und Thier weisen zwingend
auf das Centralnervcnsystem als den Sitz jener Veränderungen hin, welche den
Tod durch Elektricität bedingen. Athmung und Herzbewegung sind in einer Weise
gestört, dass vor Allem an Veränderungen in jenen Theilen des centralen Nerven-
systems gedacht werden muss, welche diesen lebenswichtigen Functionen vorstehen.
Das verlängerte Mark, in dem die Centren der Respiration und Circulation sich
befinden, wird daher mit allergrösstcr Wahrscheinlichkeit von vornherein als
Sitz der eigentlichen letalen Veränderungen anzusprechen sein.
Es ist dies auch nahezu ausnahmslos von Allen geschehen, welche sich
mit diesem Gegenstand befasst haben, insbesondere und zuerst von Brown-Skquabd
und D'Absonval. Allein über diesen, aus den Bcobachtungsthatsachen sich zwin-
gend ergebenden Schluss hinaus ist bisher noch Niemand in der wissenschaft-
lichen Forschung der pathologischen Grundlage des elektrischen Todes vor-
gedrungen.
Ich hielt es daher für die nächste und wichtigste Aufgabe, das ver-
längerte Mark elektrisch getödteter Menschen und Thiere einmal einer genauen
pathologischhistologischen Untersuchung zu unterziehen. Zu diesem Zwecke wurde
eine menschliche und eine thierische Medulla oblongata verwendet.
Das Ergebniss dieser langwierigen Untersuchung war ebenfalls vor-
wiegend negativ in dem Sinne , dass durch die in Anwendung gezogenen histo-
logischen Methoden weder an den gangliären Elementen des Bulbus, noch an
den Leitungsbahnen dieser Gegend irgend welche Veränderungen nachgewiesen
werden konnten. In allen Ebenen verhielten sich die Zellen des verlängerten
Markes gegen Färbemittel ganz so wie die normaler Medullen ; nur wurden die
Farbstoffe auffallend schwer aufgenommen, so zwar, dass man die Schnitte meist
mehrere Stunden in den Farbstofflösungen belassen musste, um schöne Bilder zu
erhalten. Dieses Verhalten allein vermag jedoch einen Rückschluss auf eine
etwaige pathologische Beschaffenheit der Zellcomplexe nicht zu begründen.
Nur eine immerhin heachtenswerthe pathologische Veränderung ist dabei
beobachtet worden, nämlich hie und da ganz kleine Blutextravasate in den peri-
ELEKTRISCHE VERENG LOCKUNGEN.
145-
vasculären IW innen der oberflächlicheren, peripheren Gefiisse. Verfolgte man an
einer lückenlosen Schnittserie die Arteria spinalis anterior nach aufwärts, so
konnte man in ihrer Scheide oder an der abzweigenden Arteria sulci, ein- oder
das anderenial wohl auch an einem zur Vasocorona gehörigen Arterienzweigehen
der entgegengesetzten (hinteren) Seite des Bulbus, an der Arteria fissurae poste-
rius, Arteria interfunicularis und Arteria radicum poster., kleinste pcrivascu-
lftre Blutaustretungen beobachten. Stets wurden solche nur au der Peripherie
oder nahe der Oberfläche, niemals in der Tiefe angetroffen, und niemals fand sich
ein Herd in der Substanz des Markes selbst , sondern die Blutungen waren be-
schränkt auf Extravasationen um das Gefässrohr; es waren also, wie bereits
gesagt, kleinste perivasculäre Blutaustritte.
Diese nicht constant, in verschiedenen Höhen und an wechselnden Oert-
lichkeiten angetroflenen mikroskopisch kleinen Blutaustritte am verlängerten
Mark elektrisch getödteter Thiere und Menschen geben meines Erachtens für
sieh auch noch keine hinreichende Erklärung für das Zustandekommen des Todes.
Ich muss noch hervorheben , dass ich gerade an der bedeutungsvollsten Stelle
des Markes, an den Vaguskernen, in meinen Fällen niemals eine erkennbare Ver-
änderung und da auch die geschilderten kleinen Blutungen nicht gefunden
habe. Man wird diesen au sich gewiss beachtenswerthen und interessanten Be-
fanden keine andere Bedeutung beilegen dürfen als etwa den in grösserer oder
kleinerer Zahl vorhandenen, mitunter aber auch fehlenden Ekchymosen des Herzens.
Solche kleinste BlutaustretuDgen beweisen entweder das Vorhandensein eines starken
örtlichen Traumas, oder sie entstehen viel wahrscheinlicher durch einen ungewöhn-
lich starken Gefässkrampf und abnorme Steigerung des Blutdruckes. Die eigent-
liche Causa mortis muss demnach in feineren, bisher nicht nachgewiesenen, mit
unseren heutigen Untersuchungsmitteln vielleicht gar nicht nachweisbaren Ver-
änderungen der Nervenzellen selbst gelegen sein.
Von peripheren Nerveu wurden jene an Zupfpräparaten und Querscheiben
untersucht, bei welchen sich in den .Scheiden Blutungen gezeigt batten (vergl.
die Befunde). An den nervösen Elementen konnten auch hier keinerlei patho-
logische Veränderungen aufgedeckt werden.
Die vorgefiihrten Beobachtungsthatsachcn ermöglichen es, wenn auch die
feinsten cellularen Veränderungen noch nicht sinnlich wahrnehmbar dargestellt
werden konnten, gleichwohl, uns über den Hergang nnd das Wesen der elektri-
schen Tödtung eine begründete Vorstellung zu machen. Sichtlich handelt es sich
dabei um einen Vorgang, den wir als eine Keflexaction zu bezeichnen pflegen.
Reflexeentrum ist, soweit es sich um die lebenswichtigeren Störungen handelt,
unzweifelhaft das Hespirations- und Circulatiouscentruin im verlängerten Mark. Je
nach der Grösse der elektrischen Einwirkung auf den Organismus werden diese
fuuctioncll so bedeutungsvollen und vulnerablen Zellcomplexc des centralen Nerven-
systems in verschiedenem Grade beschädigt, was entweder bei schwerster Be-
schädigung augenblicklichen Tod, bei weniger starker Tod nach einiger Zeit, bei
noch geringerer nur vorübergehende Störungen zur Folge haben muss.
Den Gesnnimtefleet der Wirkung der Elektricität auf den Körper be-
zeichne ich als Grösse der elektrischen Einwirkung. Diese ist, ausser von der
jeweiligen Stärke, Spannung und Beschaffenheit der Elektricitätsquelle (stehende
oder fliessende Elektricität und in letzterem Falle Gleich- oder Wechselstrom),
noch von individuellen Bedingungen abhängig, vor Allem vom Leitungwiderstand
des menschlichen Körpers im Ganzen und dem besonderen Widerstande der ein-
zelnen Organe und Gewebe. Die grossen individuellen Verschiedenheiten lassen
uns die oft beobachtete Thatsaehe erklärlich erscheinen, dass Ströme von gleicher
Stärke auf verschiedene Menschen ungleich wirken, so dass der Endeft'ect ein
wesentlich verschiedener ist.
Dieser Reflexvorgang wird in der Regel als Shock bezeichnet und ist
diese Bezeichnung auch für den elektrischen Tod vielfach üblich geworden. Ab-
Eneyclop. Jahrbücher VI.
1-16
ELEKTRISCHE VERUNGLÜCKUNGEN.
gesehen von der nichtssagenden Allgemeinheit dieses Ausdruckes, der schon wegen
seiner luhaltlosigkeit so selten wie möglich augewendet werden sollte, ist er hier
auch insoferne nicht zutreffend, als wir damit reflectorisch bedingten primären
Herzstillstand auszudrucken pflegen. Der erbrachte Nachweis, dass der Stillstand
der Athmung das Primäre ist , der Herzstillstand dagegen secundär eintritt , im
Zusammenhalte mit allen beobachteten physiologischen und pathologischen That-
sachen berechtigt, ja nöthigt, den Vorgang der elektrischen Tödtung als Er-
stickung zu bezeichnen. Es ist eine innere Erstickung, hervorgerufen durch deletäre
Einwirkung auf die Ganglienzellen des Athmungscentrums , vergleichbar der
Wirkung gewisser Gifte, die auch in unheilbarer Weise das Kegpirationscentrum
schädigen, wofür beispielweise Morphin typisch ist.
Worin diese Veränderungen eigentlich bestehen, auch das kann nach
dem Stande unseres heutigen Wissens aus dem Verhalten niedriger organisirter
Organismen annäherungsweise schon vermuthet werden. Da von mir der Nach-
weis erbracht wurde, dass mit den gewöhnlichen Methoden der pathologischen
Histologie erkennbare Veränderungen in den fraglichen Zellgebieten nicht vor-
handen sind, so können es nur moleculäre Veränderungen innerhalb der Nerven-
zellen selbst sein. Dies thatsächlich nachzuweisen , wird das Ziel künftiger For-
schungen sein müssen. Die Annahme solcher intracellularer Veränderungen des
Protoplasmas der Nervenzellen bis zur Ertödtung desselben durch elektrische Ein-
wirkungen ist aber schon heute durchaus keine willkürliche oder rein hypothe-
tische, da eine ganze Reihe von Beobachtungen vorliegt , dass das Protoplasma
thierischer und pflanzlicher Zeilen durch Eloktricität bis zur Aufhebung der
Lebenseigensehafteu thatsächlich verändert wird.
Dahin gehören einmal schon die bereits erwähnten Veränderungen der
rothen Blutkörperchen durch Inductionsschläge, die Roulett uns so genau kenucn
gelehrt hat, sowie ähnliche Beobachtungen über das Verhalten des Protoplasmas
verschiedener anderer Zellen von Brücke und Kühne, endlich zahlreiche Beob-
achtungen an Pflanzcnzellcn , welche von Pflanzenphysiologen gemacht wurden.
Durch diese Analogien werden die anscheinend so unverständlichen Vorgänge des
Shocks sowohl, wie der centralen Athmungslähmung unserem Verständnisse wesent-
lich näher gerückt.
Ich komme also zu dem Schlüsse, der Tod durch Elektricität ist eim*
centrale Athmungslähmung, eine besondere Art der inneren Erstickung.
III. Die Schutzmassregeln gegen elektrische Unfälle.
Schon zu Anfang der Achtziger-Jahre hat man die Nothwendigkeit er-
kannt, gegen die sieh häufenden elektrischen Verunglückungen Schutzmassnahmen
zu treffen. Diese gehen im Allgemeinen übereinstimmend dahin, dass die Errich-
tung und der Betrieb von Elektricitätswerkon der staatlichen Controle unter-
worfen wird. Der Staat überwacht die Anlagen und ordnet jene Vorkehrungen
au, welche zum Schutze der beim Betriebe beschäftigten Personen sowohl, wie
zum Schutze der Bevölkerung überhaupt nothwendig erscheinen.
England hat zuerst im Jahre 1882 ein dahin zielendes Gesetz beschlossen,
die „ Electric Lighting Bill “. 1888 erfloss in Oesterreich eine Verordnung,
womit elektrische Anlagen als concessionirte Gewerbe erklärt wurden. Zugleich ist
die Erlassung eines Irf'sonderen Regulativs hinsichtlich der Ausführung und des
Betriebes dieser Anlagen in Aussicht gestellt worden. Dieses Regulativ ist gegen-
wärtig in Vorbereitung, indem der elektrotechnische Verein in Wien sehr ein-
gehende und fachgemässe ..Sicherheitsvorschriften für elektrische Starkstrom-
anlagen“ in Vorschlag gebracht hat (im Selbstverläge des Vereines, Wien 1882).
In Deutschland ist ein bezügliches Reichsgesetz in Vorbereitung und eine ge-
meinsame Commission des Verbandes deutscher Elektrotechniker und des elektro-
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ELEKTRISCHE VERUNGLÜCKUNGEN.
147
technischen Vereines in Berlin hat einen „Vorschlag zu Sicherheitsvorschriften für
elektrische Starkstromanlagen“ ausgearbeitet (Elektrotechnische Zeitschr., 1895,
Heft 21, pag. 319), während für Bayern „Vorschriften für elektrotechnische An-
lagen zum Schutze gegen die gefahrbringenden Eigenschaften des Stromes“ schon
seit 1884 erlassen worden sind, ln Frankreich wurde die Anlage und der
Betrieb elektrischer Werke durch Decret vom 15. Mai 1888 geregelt und 1892
erhielt Italien ein ausgezeichnetes Reglement über elektrische Einrichtungen und
Schutzmassregeln beim Betriebe. In den Vereinigten Staaten von Nord-
amerika besteht eine eigene Controlbehörde „ Board of electrical control“.
Im Wesentlichen laufen alle diese Bestimmungen, welche zumeist bis in’s
Einzelne durchgeführt sind , auf zureichende „Isolirungen“ der einzelnen Theile
der Anlagen und Leitungen hinaus. Die Einzelvorschriften Uber die blanken und
isolirten Leitungen, über die Beschaffenheit und Verlegung der Kabel, Uber die
Mehrfachleitungen , Drahtverbindungen , Kreuzungen , Wand- und Deckendurch-
gänge, 1 solirung und Befestigung der Leitungen, Abschmelzversicherungen, zu-
lässige Maximalstromstärke, Isolationswiderstand der ganzen Anlage u. dgl. haben
ein vorwiegend technisches Interesse.
Von grösserem ärztlichen Interesse aber dürfte es sein, die Hilfe-
leistungen bei elektrischen Verunglückungen noch kurz zu erörtern
(vergl. K ratter, Der Tod durch Elektricität, pag. 127 ff.).
Damit wir uns die Massnahmen klar machen können, welche zu ergreifen
sind, um elektrisch Verunglückte vor dem drohenden Tode zu retten, müssen
wir davon ausgehen , dass der elektrische Tod im Wesen eine Erstickung ist.
Der Verunglückte ist entweder bereits definitiv todt, das heisst schon erstickt —
dann ist selbstverständlich jede Hilfe vergeblich — oder er ist in Gefahr, zu er-
sticken, es besteht keine Athmung, aber die Herzthätigkeit ist noch im Gange.
Es wird dieser Zustand als „Asphyxie“, Erstickungsgefahr bezeichnet. Der
Asphyktische kann nicht selten zum Leben zurückgebracht werden.
Es geschieht dies durch die Anwendung von Mitteln, welche die Athmung
wieder in Gang bringen können. Dahin gehören zunächst starke Reize auf die
Haut , wie man sie zu Wiederbelebung Ertrunkener oder Erhängter seit alter
Zeit und oft mit Erfolg angewendet hat. Der elektrisch Verunglückte ist diesen
völlig gleich zu erachten und daher auch gleich zu behandeln. Diese Hautreize
werden in Reibungen, Bürsten der Haut, Besprengung mit kaltem Wasser, even-
tuell vorsichtigem Auftropfen von heissen Flüssigkeiten bestehen können.
Grundvoraussetzung der Rettung ist natürlich das Aufhören des elektri-
schen Reizes, also Freimachen des Verunglückten von der Leitung, falls er noch
im Zusammenhang wäre. Damit die Athmung in Gang kommen kann, müssen
alle beengenden Kleidungsstücke geöffnet, namentlich der Hals, die Brust und
der Unterleib frei gemacht werden.
Viel wichtiger und zweckdienlicher als die erwähnten Hautreize ist die
Einleitung und Unterhaltung der künstlichen Athmuug. Es wäre sehr empfehlens-
werth , wenn technische Beamte sich mit den nöthigen Handgriffen vertraut
machen würden , weil der Arzt meist nicht rechtzeitig zur Stelle sein wird , um
noch mit Erfolg eingreifen zu können, obwohl eine jüngste Erfahrung lehrt, dass
selbst nach längerer Zeit eingeleitete künstliche Respiration noch von Erfolg ge-
krönt sein kann. D'Arsonval theilte in der Pariser biologischen Gesellschaft
folgenden Fall mit: Bei elektrischen Arbeiten auf einer Bahnstrecke benutzte
man Ströme von 5000 V. mit 1 10 Unterbrechungen. Der Strom betrug 800 Milli-
amperes. Ein Arbeiter kam in die Leitung und bekam den starken Strom. Erst
nach 5 Minuten wurde die Leitung abgestellt. Nach 40 Minuten bekam er Hilfe.
Man musste ihn für tod halten , dennoch wurde die künstliche Athmung einge-
leitet , erst in gewöhnlicher Weise , dann mit Hervorziehung der Zunge. Jetzt
Btellte sich die Athmuug wieder her. Patient wurde in ein Krankenhaus gebracht,
i Deutsche Med.-Ztg. 1894, Nr. 63, pag. 705.)
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ELEKTRISCHE VERUNGLÜCKUNGEN.
Es kann hier nicht der Platz sein, die verschiedenen Methoden der künst-
lichen Respiration zu besprechen; sic sind ärztliches Gemeingut, nur in Bezug
auf die von Brown-Skquard besonders empfohlene Methode der Faradisation des
Phrenicns und Vagus sei mir gestattet, die Worte des Autors selbst anzufilhren.
ln Betreff der besten Art der Wiederbelebung von durch elektrische
Schläge hingestreckteu Thieren bemerkt Brown-Sequabd in der Sitzung der
Pariser Akademie der Wissenschaften vom 4. April 1887 beiläufig Folgendes:
D’Arsonval hätte sagen können, dass wir schon seit Jahren im College
de France eine sehr kräftig wirkende Erreguugsart anwenden , um die durch
Inhibition zum Stillstand gebrachte Respiration wieder in Gang zu bringen. Dieses
Verfahren ist dem der Cauterisirung, welche Faurf. und andere Experimentatoren
anwenden, entschieden überlegen. Es besteht in der Application eines faradischen
Strome« an den Seiten der Luftröhre auf die befeuchtete oder oberflächlich eiu-
geschnittene Haut.
Der Grund, warum gerade diese Art der Galvanisirung sich besonders
zur Wiederbelebung Asphyktischer eignet, liegt darin, dass bei dieser Art der
Nervus vatjua leicht gereizt wird, was bekanntlich Athenen hervorruft und manch-
mal selbst eine beträchtliche Vermehrung der Energie des Athmens erzeugt.
Es ist dies nach dem Aussprüche Brown-SkQUABd’s viel wirksamer als
die Application von galvanischen Strömen auf irgend einen beliebigen Körper-
tlieil, wie dies in deu Laboratorien prakticirt wird, um bei Thieren die Athraung
wieder in Gang zu bringen, wenn sic durch Chloroform oder auf andere Weise
asphyktisch gemacht worden sind.
Ausser der künstlichen Atlimung, die zuerst von D’Arsonval und Bn iw.v
Sequard empfohlen wurde, und die unzweifelhaft stets in erster Linie anzuwenden
sein wird, möchte ich auf Grund theoretischer Ueberlegungen einen therapeuti-
schen Vorschlag machen nnd denselben den Aerzten gewissermassen als ein letztes
noch zu versuchendes Mittel empfehlen, das meiner Meinung nach neben der
künstlichen Respiration mit Erfolg angewendet werden könnte. Es ist das ein in
der modernen Therapie, wie ich glaube, nicht ganz mit Recht verrufenes Mittel:
die Blntentziehung in Form der Vcnaesection, der Aderlass.*)
Die Verunglückten sind meist jüngere, kräftige und blutreiche Individuen.
Bei den Obdnctionen war die Blutüberfüllung de« Herzens, der grossen Gefässe
und der Lungen immer eine ganz enorme. Mau hat unwillkürlich die Vorstellung,
das Herz habe mit seiner durch die elektrische Einwirkung ja ohuehin sehr ge-
schwächten Triebkraft nicht mehr hingereicht, die plötzlich im L'ebermasse an-
gesammelte Blutmenge des kleinen Kreislaufes zu bewältigen. Die pathologischen
Thatsachen drängen zu der Vorstellung, dass die Entlastung des Herzens in
diesen Fällen eine lebensrettende Timt sein könnte.
Der folgende, vom „Elektro-Technikcr“ empfohlene Vorgang bei der ersten
Hilfeleistung ist ganz rationell und empfehlenswert!) :
1. Mau unterbreche sofort den elektrischen Strom, wenn ein solches
Mittel nahe zur Hand ist und man damit umzugehen versteht.
2. Ist dies nicht der Fall, so hüte man sich, den Körper des Ver-
unglückte» mit der Hand zu berühren. Wenn Gummihandschuhe nicht da sind,
so ziehe man ihn an seinen Rockschössen aus deu Drähten. Oder mau falte seinen
eigenen Rock oder eine trockene Decke in zwei oder drei dicke Lagen zusammen
uiid benutze dies zum Anfassen des Körpers, uin ihn herauszuziehen.
3. Wenn es unmöglich ist, den Verunglückten aus den Drähten heraus-
zuziehen, so hebe man mit bedeckten Händen den Tbcil des Körpers des Ver-
unglückten in die Höhe, der mit der Erde oder einem der Pole in Berührung
* Ich habe diesen Vorschlag zuerst im Vereine der Aerzte in Steiermark anlässlich
eines am 18. Februar 18115 gehaltenen Vortrages gemacht. (Kratter, Her Tod durch F. 1 ek -
tricität. Zweite vorläufige Mittheilung. Mittheilungen des Vereines der Aorzte in Steiermark,
1895. Nr. 4 )
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ELEKTRISCHE VERUNGLÜCKUNGEN.
149
8teht. Dadurch wird der elektrische Strom unterbrochen, und es wird gewöhnlich
möglich, den Körper herauszuziehen.
4. Wenn dies alles nicht gelingen sollte, so mache mau aus trockenem
Tuche noch ein anderes Kissen, welches man dann unter den Th eil des Körpers
schiebt, der auf dem Boden liegt. Dann fahre man fort, den Körper aus den
Drähten, wie vorerwähnt, zu befreien.
5. Ist der Körper vom elektrischen Drahte frei , so entferne man am
Halse alle Bekleidung und behandle den Verletzten wie einen Ertrunkenen.
6. Man öffne den Mund des Verunglückten und erfasse dessen Zunge
mit den Fingern, die mit einem Taschentuche bedeckt werden sollen. Dann ziehe
man die Zunge nach vorn und lasse sie allmiilig wieder zurückgehen. Dies wieder-
hole man etwa I6mal in der Minute. Man achte darauf, dass die Wurzel der
Zunge mit in Thätigkeit kommt, also das Anziehen der Zunge gründlich geschieht.
Wenn die Zähne fest zusammeugebissen sind, suche man sie mit einem Stückchen
Holz oder dergleichen auseinander zu bringen.
7. Man wehre alle Versuche der Umstehenden ab, dem Verunglückten
Branntwein oder dergleichen einzugeben , sondern behandle ihn so , wie gesagt,
bis ein Arzt erschienen ist.
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ihren vielen Sehwankungen hat aucli die specielle Lehre von der HirnentzUndung
oder Encephalitis stark beeinflusst. Der Begriff der Entzündung gestaltet sich
nach den neuen Lehren (Ziegler, Weigert) etwa wie folgt : Die Entzündung
ist eine loeale Degeneration des functionirenden Gewebt» verbunden mit patho-
logischen Auswanderungen weisser und zuweilen auch rother Blutkörperchen aus
den kleinen Blutgefässen. Mit dieser Entzündung kann sich von Anfang an oder
erst secundär eine Wucherung des Stützgewebes, also im Gehirn der Neuroglia,
verbinden. Dieser Wuchcrungsproeess ist vorwiegend ein chronischer, während
die locale Gewel sdegeneration und Diapedese bald acut, bald chronisch auftritt. Die
Bezeichnungen interstitiell und parenchymatös werden für das Gehirn am besten
ganz bei Seite gelassen. Klarer und priteiser wird die soeben gegebene De-
finition — namentlich im Hinblick auf die Verhältnisse des Gehirns — , wenn
man ausdrücklich ex definitione ein Mitwirken von Embolien nnd Thrombosen
ansschliesst. Die Encephalitis ist sonach eine locale Degeneration der Ganglien-
zellen und Nervenfasern, verbunden mit Auswanderung weisser und zuweilen auch
rother Blutkörperchen aus den feineren Gcfässcu ohne Mitwirkung von Embolien
oder Thrombosen. Dabei ist natürlich nicht ausgeschlossen, dass praktisch, d. h.
im concreten Einzelfall, die entzündlichen Veränderungen sich oft mit embolischcn,
beziehungsweise thrombotischen Processen combiniren. Diese Encephalitis tritt bald
acut, bald chronisch auf. Sie kann sieh mit chronischer Ncuroglia Wucherung sofort
oder späterhin verbinden.
Durchmustert man von diesem Standpunkt aus die uns bekannten Fälle
und Formen der acuten Encephalitis — von der chronischen kann hier abge-
sehen werden — nach ihrer pathologisch-anatomischen Verschiedenheit, so grenzen
sieh bis jetzt mit Bestimmtheit drei Formen ab.
1. Die Encephalitis purulenta oder eiterige Hirnentzündung: für diese
ist das absolute Leberwiegen der Leukocytenauswandcrungen nnd -Anhäufungen
charakteristisch.
2. Die Encephalitis haemorrhagica oder hämorrhagische HirnentzUndung:
für diese ist das Hinzukommen zahlreicherer und stärkerer Auswanderungen rother
Blutkörperchen charakteristisch. Sie ist zuerst von Lallemand beschrieben worden,
daun aber lange Zeit in Vergessenheit gerathen, bis WERNlCKK und Strümpell
die Aufmerksamkeit wieder auf sie hinlenkten.
3. Die Encephalitis hi/perplastica (Hayem): für das wesentliche Merkmal
derselben halte ich das frühe Hinzukommen einer intensiven Wucherung der
Gliaeleinente (Leyden, Friedmann); man findet dabei dichte Ansammlungen grosser
152
ENCEPHALITIS HAEMORHHAGICA ACUTA.
activer, sogenanuter epitheloider Elemente, welche frlllier oft mit Kömchenzellen
verwechselt wurden. Ich fasse diesen Begriff also erheblich weiter als Hayem,
Friedmann u. A.
Veränderungen der Ganglienzellen und der Axeneylinder (Schwellungen etc.)
kommen bei jeder dieser Formen vor. Zum Theil sind dieselben nekrobiotiseber
Natur. Meist treten auch Körnchenzellcn auf. Zwischen den einzelnen Formen
kommen vielfache Uebergänge vor.
Während die Encephalitis purulenta zum diffusen oder circumseripten
Hirnabseess führt, führt die hämorrhagische und hyperplastische Encephalitis ge-
wöhnlich zur Erweichung, zur Encephaloraslaeic. Diese entzündlichen Erweichungs-
herde gleichen makroskopisch und zum Theil auch mikroskopisch den embolischeu
und thrombotischen Erweichungsherden in hohem Masse. Die folgende Besprechung
bezieht sich ausschliesslich auf die hämorrhagische Form der Encephalitis uud
die aus ihr hervorgehenden Erweichungen.
2. Pathologische Anatomie. Es empfiehlt sich, da der Begriff der
hämorrhagischen Encephalitis sich zunächst nicht aus klinischer Beobachtung,
sondern aus pathologisch anatomischen Befunden ergeben hat, die Besprechung
der letzteren vorauszuschicken und dann erst Symptomatologie und Verlauf
zu erörtern.
Im ersten Stadium der hämorrhagischen Encephalitis — etwaige Vorläufer-
Stadien sind uns noch fast ganz unbekannt — fällt der Erkrankungsherd durch
die Verminderung der C'onsistenz des Gewebes und braun-röthliche Farbe auf. In
der Peripherie findet man zerstreute feinere und gröbere Blutungen und serösen
Glanz der Schnittfläche. Mitunter findet man auch allenthalben im Bereich des
ganzen Herdes auf röthlich-grauem Grunde punktförmige, n flohstichähnliche“
Blutungen („Infiltration sanguine“, Duranh-FaRDEL). Eine wesentliche Abnahme
der Consistcnz scheint mir übrigens wenigstens im ersten Stadium nicht unum-
gänglich nothwendig zu sein, wie dies namentlich Durand-Fardei, für solche
Fälle verlangt (1. c. S. 40). Auf Schnitten quillt der Herd stets etwas vor. Auch
die Abplattung der Windungen, die Verstreiehung der Furchen, die Trockenheit
der Hirnoherfläche und die geringe Füllung ihrer Gefässe deutet darauf, dass
der Herd einen ranniheschränkendcn Einfluss austtbt. Die mikroskopische l'nter-
snehung ergiebt in diesem Stadium Schwellung der Axeneylinder und Ganglien-
zellen, Zerfall der Markscheide, später Untergang des Zellkerns und Verfettung
des Zellkörpers wie der Axeneylinder, ferner Schwellung und Vermehrung der
Gliazellen, endlich Anhäufungen von Leukocyten in den Gefassseheideu und rings
um die Gefässe und namentlich massenhaft theils zerstreut, thcils haufenweise
angesammelte extravasirte Erythrocyten ; letztere finden sich namentlich auch iu
der adventiticllen Lymphscheide der erweiterten Blutgefässe; die Kerne der
Blutgefässwände sind geschwellt und vermehrt. Das Vorkommen von Capillar-
embolien ist zweifelhaft. Oft findet man nicht einen, sondern mehrere Herde.
Im letzteren Falle fällt mitunter eine gewisse Tendenz zu Symmetrie auf
(Leiciitknstekn).
Diese sogenannte rothe Erweichung geht allmälig in das zweite
Stadium, in die sogenannte gelbe Erweichung, über. Die rothen Blutkörperchen
zerfallen. Ihr Farbstoff findet sich, in Hämatoidin verwandelt, thcils frei, theils
in Hundzellen eingeschlossen. Die Ganglienzellen verfallen thcils der pigmentösen,
thcils der fettigen Degeneration. Entsprechend dem Ueberhandnehmen der
letzteren — auch Nervenfasern und Gliazellen nehmen an ihr theil — finden sich
zahlreiche Körnchen zellen.
Im dritten Stadium kommt cs entweder zur Bildung einer Narbe oder
Cyste. Beide bilden sich in Folge einer Glia Vermehrung an der Peripherie des
Herdes. Die erweichten Massen werden entweder resorbirt, die peripherischen
gewucherten Gliazlige treten von allen Seiten zusammen und verwachsen schliess-
lich zu einer plgmentirten Narbe, oder die erweichten Massen werden nur ver-
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ENCEPHALITIS HAEMORRHAGICA ACL'TA. 153
flüssigt und die Gliazüge umgeben wie eine Kapsel den mit trüber Flüssigkeit
erfüllten Hoblramu (Cyste); in letzterem Fall durcbzielum oft feine Gliabalken
und obliterirte Blutgefässe den Cystenraum. Wie weit auch genuines Bindegewebe
sich an der Vernarbung und Abkapselung betheiligt, ist noch nicht sicher ent-
schieden. Bei oberflächlicher traumatischer Encephalitis haemorrhagica der Hirn-
rinde kann mau sieb ohne Schwierigkeit überzeugen, dass auch echtes Biude-
gewebe bei der Bildung der Narbe mitwirkt.
Der soeben skizzirtc schematische Ablauf des pathologisch-anatomischen
Processes ist übrigens keineswegs in jedem Fall nachweisbar. Vor Allem sind
die Veränderungen oft viel diffuser, weniger herdförmig, und dem entsprechend
ergeben sich stark abweichende und sehr variable Bilder. Namentlich können
auch secundäre Thrombosen das Bild modifieiren.
3. Aetiologie. lieber diese wissen wir noch sehr wenig. Gelegentlich
scheint die hämorrhagische Encephalitis in jedem Alter vorzukommen. Jedenfalls
spielen Traumen, Intoxicationen (Alkohol) und iufectiöse Mikroorganismen*) die
Hauptrolle. Ob Traumen ohne letztere eine typische hämorrhagische Encephalitis
hervorrufen können, scheint mir noch nicht sickergestellt. Unter den Infcctions-
krankheiten spielen Influenza , Scarlatina und Endocarditis ulcerosa eine be-
sondere Rolle. Die Ergebnisse der interessanten experimentellen Untersuchungen
von Coen, Fhiedmann u. A. scheinen mir auf die pathologischen Verhältnisse
vorerst noch nicht ohneweiteres übertragbar.
4. Symptomatologie, und Verlauf. Der Verlauf ist in der Regel
peracut. Aus der geringen Casuistik, welche auffällig viele jugendliche weibliche
Individuen enthält, ergiebt sich, dass mehrere Tage vorher als Prodromal-
erscheiu ungen öfter Erbrechen und Kopfschmerzen auftreten (Leichtenstern,
J. Schmidt). Die Krankheit selbst setzt mit Bewusstseinstrübung und hohem
Fieber ein. Meist hat sich bereits nach einigen Stunden völliges Koma entwickelt,
ln dem SCHMlDT’schen Fall und einem älteren Abkrcrombie's eröffueten epileptische
Anfälle die Reibe der schweren Symptome; in dem FtUEDMANN'schen wurden
choreatische Bewegungen in der gekreuzten Körperhälfte beobachtet, in den
beiden STROMPELL'schen Fällen trat eine gekreuzte Hemiplegie auf u. s. f. Offen-
bar hängt das Auftreten dieser oder jener Symptome von dem Umfang und der
Localisation des Herdes ab. In den beiden STRf.MPKl.l, 'sehen Fällen lag er in
der inneren Kapsel und deren Umgebung, in einem Fall von Dance im Balken
u. s. f. Die Temperatursteigerung ist oft maximal. So constatirte Strümpell, in
seinem zweiten Fall bereits am zw’eiten Tag eine Temperatur von 42,2°. In
seltenen Füllen fehlt Fieber (Leichtenstern). Der Puls scheint später stets be-
schleunigt zu sein, anfangs kommt auch Verlangsamung vor (KÖNIGSDORF). Meist
erfolgt der Tod bereits am zweiten oder dritten Tag im Koma. Wie weit die
Fälle der von Strümpell beschriebenen Encephalitis acuta der Kinder hämor-
rhagisch sind, entzieht sich in Folge des Mangels an Sectionsbefunden noch ganz
der Beurtheilung (s. u.j.
Nicht in allen Fällen ist der Verlauf so foudroyant und nicht in allen
Fällen liegt der Herd im Bereich der Capsula interna. Etwas langsamer ver-
laufende Fälle hat z. B. Leichtenstern beschrieben. Zuweilen beschränkt sich
der Krank heitsprocess auf ein verhältnissmässig kleines Gebiet und tritt auch in
diesem nur diffus verbreitet auf, ohne Alles zu zerstören. So hat Wernicke
unter dem Namen Poliencephalitis superior haemorrhagica acuta eine acute
(seltener peracute) hämorrhagische Encephalitis im Kerngrau der Augemnuskel-
nerven beschrieben, welche meist in 10 — 14 Tagen zum Tode führt. Aehnlichc
Fälle haben Thomskn, Kojewnikokk u. A. beschrieben, ln einem Falle Eiskni.OHr’s
erfolgte der Tod bereits nach knnpp zwei Tagen. Verwerthbar für die Zeichnung
*) Der positive Nachweis der letzteren ist allerdings noch Dicht gelungen. Nur Na n-
werck vermochte in einem Falle lnüuenzabacillen nacliznwcisen.
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154
ENCEPHALITIS HAEMORRHAGICA ACUTA.
des Kranklieitsbildes sind natürlich nur diejenigen Fälle, in welchen der Sections-
befnnd keine Embolien, Thrombosen oder einfache Hämorrhagien, sondern eine
hämorrhagische Encephalitis ergeben hat. Erst wenn durch Vergleichung solcher
Fülle sich ein scharf abgegrenztes Krankheitsbild ergeben sollte, könnte man
wagen, auch die ähnlich verlaufenen, in Genesung tibergegangenen Fülle (Thomskn,
ErlENMEYER, SalomONSOHN, Boedekkh) als Encephalitis haemorrhagica zu
deuten. Die Zahl der durch Section und mikroskopische Untersuchung erhärteten
Fälle von Poliencephalitis haemorrhagica xuperior ist verschwindend klein. In den
WEBMCKE'schen und THOMSEN’schen Fällen scheint es sich wenigstens zum Theil
nur um multiple Hämorrhagien im Kerngebiet der Angenmuskelnerven gehandelt zu
haben. Andererseits ist der Gedanke nicht von der Hand zu weisen, dass
auch multiple Hämorrhagien zu einer secundären reactiven Encephalitis der
Umgebung führen können, und dass somit wenigstens in diesem Sinne manche
derartige Fälle zur Encephalitis haemorrhagica gerechnet werden können.
Das klinische Bild stimmt im Allgemeinen in allen diesen Fällen recht
gut Uberein. Somnolenz und Schwindel leiten das Krankheitsbild oft ein. Zu-
weilen erfolgt Erbrechen. Es folgen dann Augenmuskellähmungen progressiven
Charakters. Schliesslich sind oft alle äusseren Augenmuskeln gelähmt. Nur der
Musculus ciliaris und der Sphindtr iridis bleiben häutig verschont. Mehrfach ist
Neuritis optica constatirt worden. Delirien (Hallucinationen, Verwirrtheit, mo-
torische Unruhe) fehlen selten. Puls und Athmung sind meist beschleunigt und
sub finem unregelmässig. Temperatursteigerungen können völlig fehlen. Zuweilen
sind die Temperaturen sogar subnormal (THOM8EN, Kojkwnikoek). Der Tod er-
folgt im Koma nach 1 — 2 Wochen (im Fall Gaykt’s nach fünf Monaten). Mehr-
fach ist Nystagmus beobachtet worden. Gelegentlich kommt auch eine Parese des
Facialisgebietes hinzu. Sensibilitätsstömngen, Paresen und Coordinatiousstörungen
treten oft in den Beinen auf. Der Gang ist daher breitspurig, schwankend, aus-
gesprochen paretiscb, auch öfter durch unwillkürliche Zwischenbewegungeu ge-
stört. Die Sprache ist meist die lallende des Deliranten. Das häutigste ätiologische
Moment ist der chronische Alkoholismus. In einem Fall Wernicke’s lag Schwefel-
säurevergiftung vor.
Ob auch eine analoge hämorrhagische Polienencephalitis inferior, d. h.
eine hämorrhagische Encephalitis im Kerngebiet der letzten (unteren) Hirnnerven
vorkommt, ist noch nicht sicher festgestellt. Es scheint nicht ausgeschlossen,
dass einige Fälle der sogenannten acuten Hulbärparalysc hierherzurechnen sind.
Endlich scheinen einige Fälle darauf zu deuten, dass gelegentlich auch eine
Poliencephalitis haemorrhagica corticalis, also eine hämorrhagische Encephalitis
im Grau der Hirnrinde vorkommt (Strümpell, Sachs, Pkterson, pag. 26).
5. Prognose. Nach den bisherigen Erfahrungen scheint die Prognose
sehr ungünstig, doch ist nicht ausgeschlossen, dass manche in Genesung über-
gegangene Fälle bisher fälschlich zu anderen Krankheiten gerechnet worden
sind, und dass die in der Literatur unter den Namen der Encephalitis haemor-
rhagica vorliegende Casuistik daher kein richtiges Bild der Prognose giebt.
6. Diagnose. Oben wurde bereits erwähnt, dass selbst auf dem Sections-
tisch die hämorrhagische Encephalitis oft kaum von einem embolisehen oder
thrombotischen Erweichungsherd zu unterscheiden ist. Namentlich kommt auch
in Betracht, dass Combinationen entzündlicher mit embolisehen oder thrombotischen
oder hämorrhagischen Processen (Fall von Holst n. A.) nicht selten sind. So
fanden sich z. B. in dem VlRCHOW-SEXATOn'schen Fall neben der hämorrhagischen
Encephalitis auch echte ■ grössere Hämorrhagien und kleinere Abscesse. Die
klinische Diagnose ist unter diesen Umständen natürlich erst recht schwierig.
In den meisten Füllen kann es sich daher nur um eine Vermuthuug handeln.
Man wird in folgenden Fällen mit einiger Wahrscheinlichkeit an Encephalitis
haemorrhagica denken können:
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ENCEPHALITIS HAEMORRHAGICA ACUTA. — ENTEROL.
155
1. wenn bei einem Gewohnheitstrinker sich acut unter Somnolenz oder
Delirien ohne Fieber fortschreitende Augenrouskellähmungcn entwickeln (Poli-
encephalitis haemorrhagica superior) ;
2. wenn nach einer Infectionskrankheit (Influenza etc.) sich peracut unter
hohem Fieber Sopor einstellt und eine Hemiplegie sich erst im Stadium des
Komas innerhalb einiger Stunden, beziehungsweise eines Tages entwickelt und
die gewöhnlichen Ursachen, beziehungsweise Grundkrankheiten der Pachymenin-
gitis haemorrhagica , eines Hirnabscesses, einer Hirnblutung, -embolie und -throm-
bose ausgeschlossen werden können und auch die Cardinalsymptome der acuten
Leptomcningitis*) (Nackensteifigkeit, Herpes etc.) fehlen.
Selbstverständlich ist mit diesen beiden Bildern das Gebiet der Ence-
phalitis haemorrhagica nicht erschöpft , aber sie sind die einzigen , welche
wenigstens einige Aussicht auf richtige Diagnose geben.
7. Therapie. Therapeutisch kommt eventuell Ergotin und Kalium,
lieziehungsweise Natrium jodatum in Betracht. In den deliranten Zuständen der
Poliencephalitis haemorrhagica auperior wird eine ähnliche Behandlung, wie
sie gegen das Delirium tremens üblich ist, am Platze sein, doch wird man
Chloral wegen seiner Wirkung auf die Gefässe vollständig vermeiden. Zur Be-
ruhigung der Kranken dürften sich vielmehr — neben nicht zu kärglichen
Alkoholdosen (bei Alkoholisten) — namentlich Opium oder Morphium in oft
wiederholten kleinen Dosen empfohlen; auch Opium-Trionalklystiere könnten nach
Analogie ähnlicher Zustände versucht werden (2,0 Trional, 0,1 Opium 2,0 Natrium
chloratum , l Esslöffel Amylum auf 200 Grm. Wasser).
Literatur: Boedeker, Klinischer Beitrag zur Kenntniss der acuten alkoholischen
Angenmuskellähnmng. Charite-Annalen, Jahrg. 17. — Dance, Obiervations nur une forme
particulüre d'apoplexie. Arch. gen. de med. 1832- — Dnrand-Fardel, lieber die Hirn-
erweichung. Uebersetz. von Dr. Eisen mann. Leipzig 1844, pag. 44 ff. (These de Paris
1840) — Eisenlohr. Ein Fall von acuter hämorrhagischer Encephalitis ( Potiencephalitis
nuperior acuta haemorrhagica, Wern icke). Deutsche med. Wochenschr. 1892. Nr. 47. —
Erlenmeycr, Berliner klin. Wochenschr. 1890, Nr. 13. — Fried mann, Vortrag auf der
Wanderversammlung südwestdeutscher Neurologen. Mai 1880. — Fried manu, Zur Histologie
und Formeneintheilung der acuten nicht eitrigen genuinen Encephalitis. Neurol. Centralbl.
1889. Nr. 15. — Fürbringer, Deutsche med. Wochenschr. 1892, Nr. 3 (Fall 1 und 2). —
tiavet, Arch. de physiol. 1875. — v. Holst, Psychosen nach Influenza. Berliner klin.
Wochenschr. 1890, Nr. 27. — Koenigsdorf, Ein neuer Fall von acuter hämorrhagischer
Encephalitis während der jetzigen Influenzaepidemie. Deutsche med. Wochenschr. 1892, Nr. 9.
— Kojewnikoff, Progrfes med. 1887, Nr. 36 und 37, namentlich pag. 190 und 197. —
L e ich ten stern , Heber primäre acute häiLorrbagischo Encephalitis. Deutsche med. Wochen-
schrift. 1892, Nr. 2. — Leichtenstern, Deutsche med. Wochenschr 1890, NT. 23. —
Marie, Progrts med. 1885, Nr. 36. — Nauwerck, Influenza and Encephalitis, Deutsche
med. Wochenschr. 1895, Nr. 25. — Senator, Berliner klin. Wochenschr. 1891, Nr. 52. Deutsche
mel, Wochenschr. 1891, Nr. 49. — J. Schmidt, Acute primäre hämorrhagische Encepha-
litis. Deutsche med. Wochenschr. 1892, Nr. 31. — Salomonsohn, Deutsche med. Wochenschr.
1891, Nr. 27. — Strümpell, Ucber primäre acute Encephalitis. Deutsche med. Wochenschr.
1889, Nr. 42 und Deutsches Arch. f. klin. Med., XLVII. — Thomson, Zur Pathologie
und pathologischen Anatomie der acuten completen Allgenmuskellähmung. Arch. f. Psych.,
XIX. — Thomson. Berliner klin. Wochenschr. 1888, Nr. 2. — Trouillet und Esprit,
M£ningoencephalopatice de nature grippale, Semaine med. 1895. — Virchow, Vortrag in der
medicinischen Gesellschaft in Berlin. Deutsche med. Wochenschr. 1891, Nr. 49. Berliner klin.
Wochenschr. 1891, Nr. 52, pag. 1220. — Wer nicke, Verein f. innere Med. zu Berlin.
30. Mai 1881. — Wernicke, Lehrbuch der Gchirnkrankheiten. 1881, II, S. 229 fl‘.
Ziehen.
Enterol. Ausgehend von den physiologischen Thatsachen, dass bei der
Darmfäulniss im menschlichen Organismus ausser Indol, Scatol und Phenol, die
isomeren Kresole ständig als Gegenpmduct der Darmfäulniss gebildet werden,
*) Interessant ist. dass Leichtenstern in der grossen Epidemie 1855/86 von
Genickstarre auch einige Fälle acuter hämorrhagischer Encephalitis (thcils in der Hirnrinde,
theils in den Centralganglien) beobachtet hat, in welchen die Hirnhäute bei der Section völlig
normal sich erwiesen. Auch Oomplication mit eitriger Meningitis ist änderet seits nicht ausge-
schlossen (Trouillet und Esprit).
156
ENTEROL. — EPISKLERITIS PERIOIDICA FUGAX.
und dass in Anbetracht der wenig antiseptischen Eigenschaften des Indols und
Scatols, ferner der Giftigkeit der Carbolsäure unter allen diesen Körpern gerade
die Darm kresolc das wirksamste Prineip der „natürlichen Darinantiseptik“ dar-
stellen, hat Foss zunächst das Mischungsverhältnis» dieser Darmkresole bestimmt
und daun aus chemisch reinen, isomeren Kresolen das Enterol dargestellt,
welches diese im selben Mischungsverhältnisse enthalten soll , in dem sie im
menschlichen Organismus Vorkommen. Das Enterol, ein sehr Übelriechender Stoff,
krvstallisirt bei Zimmertemperatur und verliert diese Eigenschaft erst, wenn es
in feuchter Luft 5°/o Wasser aufgesogen hat. Es soll in einer Verdünnung von
mindestens 0,1 zu 100,0 genommen, für einen kräftigen Erwachsenen in Dosen
von 1.0 — 2,5 — 5,0 Grm. pro die absolut ungiftig sein, ohne unangenehme Reiz-
und sonstige Nebenerscheinungen. Bei grösseren Dosen tritt eine graugrflnliehc
Verfärbung des Urins auf, welche analog der schwarzbraunen Färbung des Carbol-
harns darauf hinweist, dass ein Tlieil der das Enterol bildenden Kresolc nicht
in ätherschwcfelsaure Salze umgewandelt wurde, also im freien Zustande im Blute
und im Harne vorhanden sind. Foss zieht aus seinen therapeutischen Versuchen
den Schluss, dass das Enterol in genügender Gabe ein ganz zuverlässiges Mittel
zur Dcsinfection des Darminhaltes, selbst bei den schwersten Infectionen,
darstellt, üeberdies wird der Harn bei innerem Gebrauch de6 Enterols in grossen
Dosen leicht antiseptisch und unfähig zu gähren. Er fand es wirksam bei
Cholera nostras, bei Cholera infantum, bei acutem und chronischem
Darmkatarrh auch besonders bei der trockenen Form des letzteren, ferner zur
Dcsinfection des Harns bei frischen und subacuten Fällen von Blasen- und Nieren-
beckenkatarrh. Bei dem durch Stauung, Tumoren oder Steine unterhaltenen
chronischen Blasenkatarrh mit tiefen Veränderungen der Schleimhaut und der
Muscularis gelang eine Heilung nicht; doch eignete es sich zu Ausspülungen bei
diesen Affectionen. Die von Foss bisher angewendeten Präparate sind: 1. Das
Enterol mit Spuren Jonon versetzt, welches verdünnten Lösungen den tiblen
Geruch nimmt. 2. Euterolkapseln ä 0,25. 3. Enterolpillen ä 0,1. 4. Enterolabführ-
pillen und Enteroleisenpillen (die gebräuchlichsten Formen mit Enterolzusatz). ln
diesen Pillen ist der Enterolgerueh durch einen zweckmässigen Ueberzug verdeckt
und dieselben sind durrhaus angenehm zu nehmen. Bei Cholera infantum wurde
es in Lösung von 0,1 — 0,25:100,0 ein- bis zweistündlich einen Theelöffel mit
Eiweisswasser oder Reiswasser verdünnt gegeben. Sämmtliche Enterolpräparate
sind durch Dr. Kade’S Oranienapotheke-Berlin zu beziehen. Die Verwerthung der
reinen isomeren Krcsole zu therapeutischen und hygienischen Zwecken statt des
Lysols und ähnlicher Präparate hat schon früher Liebkkich (Therap. Monatsli.
1894, pag. 25) empfohlen.
Literatur: Koss, Ucber die interne Wirkung der isomeren Kresole, besonders das
Enterol. Berliner klin. Wochenschr. 1895, Nr. 47. Loebisch.
Episkleritis perioidica fugax. Unter diesem Namen bespricht
E. Fuchs eine seltene Krankheit , die schon von Manchem beobachtet und be
schrieben , aber im Ganzen wenig beachtet wurde. Die Beschreibung soll
möglichst in Fuchs’ eigenen Worten geschehen : „Es handelt sich um eine oft
wiederkehrende Entzündung, dereu Sitz die Bindehaut des Bulbus, besonders aber
das darunterliegende lockere und gefässreiche episklerale Gewebe ist. Es besteht eine
tiefe lnjection von violetter Farbe nnd eine manchmal beträchtliche Schwellung
des entzündeten Gewebes, doch ist weder eine Absonderung wie beim Katarrh,
noch eine harte Infiltration wie bei der gewöhnlichen Episkleritis vorhanden. Es
handelt sich daher mehr um ein entzündliches Oedem als um eine Entzündung
mit Exsudation.“ ln der Regel beschränkt sich die Entzündung „auf einen oder
einige Quadranten, wandert auch wohl in einigen Tagen von einer Stelle zur
anderen oder von einem Auge auf das andere“. Sie „befällt entweder beide
Augen abwechselnd, manchmal in ganz regelmässiger Weise, oder es werden beide
oogle
EPISKLERITIS PERI0ID1CA FUGAX. - ERYTHEME.
157
Augen zugleich von der Entzündung ergriffen, meist so, dass nach einigen Tagen
oder Stunden das zweite Auge dem ersten folgt.“
„Die Entzündung ist mit Reizersclieimtngen, wie Schmerzen , Thränen-
fluss und Lichtscheu, verbunden. Dieselben sind manchmal gering, anderemalo
wieder ziemlich stark. Häutig ist die entzündete Stelle des Augapfels besonders
empfindlich, wenn man sie durch die Lider hindurch berührt. Wenn die Schmerzen
stark sind , nehmen sie einen neuralgischen Charakter an und strahlen in die
Umgebung des Auges bis in das Hinterhaupt aus. Sie berauben den Patienten
der Nachtruhe und machen ihn durch einige Tage arbeitsunfähig. Von einigen
Patienten wurden die Schmerzen als migräneartig geschildert. Die Kegel ist,
dass die Schmerzen schon vor den üusserlich sichtbaren Zeichen der Entzündung
auftreten und dieselbe ankündigen. Sie verschwinden dann entweder mit dem
Auftreten der Röthnng oder dauern wenigstens nicht so lange wie diese.“ Die
hier geschilderten Züge sind mehr oder weniger allen Fällen gemeinsam.
ln einzelnen Fällen wurde noch beobachtet: Uedem der Lider, punkt-
förmige Trübungen in der Hornhaut, randständige Hornhautgeschwürchen, Hyper-
ämie der Iris, Schmerzhaftigkeit der Accommodation , Accommodationskrampf,
Schmerzhaftigkeit der Augenbewegungen, Exophthalmus (Oedem der TENON’sehen
Kapsel). Die Dauer der Anfalle beträgt manchmal 1 — 2, bei anderen 6 — 8 Tage;
besonders schwere können bis 4 Woehen dauern.
Charakteristisch sind die Recidiven. „Nur ausnahmsweise treten die An-
falle nur 2 — 3mal im Jahre auf, in der Regel sind sie viel häufiger, so dass
die Pausen nur 2—4 Wochen dauern. Das Leiden erstreckt sich in der Regel
über mehrere, oft über viele Jahre.“ Unter 22 von Fuchs beobachteten Fällen
wurde 8mal Heilung beobachtet. Die Dauer des Leidens betrug in diesen Fällen
1 — 20 Jahre.
Bezüglich der Antiologie weiss man nichts Sicheres, ebenso blieben
die veranlassenden Ursachen in den meisten Fällen unbekannt. Die Therapie
ist meist erfolglos. Am meisten Erfolg hatte im Allgemeinen Chinin und salicyl-
saures Natron.
Beobachtet wurde die Krankheit von v. Gi.äfe, Hutchinson, Nbtti.kship,
Burnett, Largkao, vielleicht Baas.
Ich habe die Krankheit wiederholt gesehen und ein Theil der Patienten
von Fuchs gehörte auch meiner Clientei an. Ich stimme auch vollkommen mit
der Beschreibung Fuchs’ überein. Was aber die Deutung als Episkleritis betrifft,
kaun ich ihm nicht beistimmen, sondern halte sie, trotz der gegen die Ansicht
sprechenden langen Dauer für eine vasomotorische Erkrankung. Der Name Epi-
skleritis ist jedoch sehr verlockend und man ist in solchen Fällen, die man zum
ersten Male sieht, sehr geneigt, die Diagnose Skleritis zu stellen, bis man durch
das Flüchtige des Leidens belehrt w ird , dass man es mit keiner gewöhnlichen
Skleritis zu thun hat.
Literatur: Hirschberg, Prof. A. v. Grafe'* klinische Vorträge über Augenheil-
kunde Berlin 1891 (Subconjnnctivitis); Bemerkung von Hirschberg. Centralbl. f. probt. Augcnhk.
1895. pag. 342- — Hutchinson, Transait of the Uphtlialm. Soc. of the Un. Kingd. 1884,
V. — Nettloship, Transact. of the Ophthalra. Soc. VIII. — Largeau, Thhse des Paris.
1895. — Baas, Klin. Monatsbl. f. Augenbk. 1885- — E. Fachs, Wiener klin. Wochcnschr.
1895, Nr. 34- — E. Fuchs, Ueber Epucleritia perioidieu fugax. Arch. f. Ophthalm.
1895, XL!, 4. Renas.
Erysipeltoxin, s. Krebsserum.
Erytheme (insbesondere die polymorphen Erytheme).
Einleitung. Eine Definition von dem zu gehen, was in der Dermatologie
unter Erythem verstanden wird , ist fast unmöglich. Zunächst wird mit Erythem
•m Allgemeinen eine in Röthung ihren Ausdruck findende Hyperämie der Haut
bezeichnet. Klinisch ist aber diese Definition einerseits viel zn eng, andererseits^
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158
ERYTHEME
viel zu weit. Denn wir finden als „Erytheme“ nicht nur Hyperämien der Haut
wieder, sondern auch eine grosse Anzahl durchaus verschiedener entzündlicher,
mit Röthung einhergehender Processe. Andererseits aber vermissen wir in der
Classe der Erytheme eine ganze Reihe von Affectionen , deren hervorstechendstes
Symptom ebenfalls die Röthung ist, die aber als klinische Einheit, als Krankheit
sui generis, längst aus der Classe „Erythem“ ausgeschieden sind: Erysipel, Masern,
Scharlach u. s. w.
Es leuchtet ein, dass das Wort „Erythem“ eine ganz verschiedene
Bedeutung hat, wenn man von einfachen Hyperämien, den Erythemen durch
Hitze, Kälte, Scham, Furcht, Zorn u. s. f. spricht, und wenn inan — im weitesten
Sinne — von den „polymorphen Erythemen“ spricht. Im ersten Fall drückt die
Bezeiehnung Erythem eine häufig gar nicht pathologische Eigenschaft der Haut,
die „Röthung“ aus; im zweiten Falle ist das Wort Erythem schon zu einem
Krankhcitsbegritf geworden, ähnlich wie „Scarlatina“, „Rubeola“.
Eine Definition für den Begriff Erythem , der sich Jedem durch die
Gewalt der Logik aufzwingen liesse, gibt es nicht. Dnd so hat denn auch jeder
Autor eine andere Classification, jeder Autor eine grössere oder kleinere Anzahl
von Affectionen unter dieser Bezeichnung vereinigt.
Wir wollen uns in der vorliegenden Abhandlung nicht so sehr mit allen
in diese Gruppe eingereihten Affectionen beschäftigen, als vielmehr versuchen,
erstens eine schärfere Abgrenzung der Gruppe vorzuschlagen, zweitens kurz
kritisch die Ansichten Uber den Entstehungsmodus der Erytheme im weitesten
Sinne zu beleuchten und drittens den Anfang zu machen mit einer Neuordnung
derjenigen grundverschiedenen Affectionen , die unter dem Sammelnamen der
„polymorphen Erytheme“ zusammengefasst werden.
A. Echte Erytheme. In seiner Histopathologie der Haut ') sagt Unna,
pag. 8 : „Die Blutüberfüllungen der Haut zerfallen i# zwei scharf geschiedene
Olassen , in die Wallungshypcrämieu oder Erytheme und in die Stauungs-
hyperämien oder Cyanosen.“
Schon diese Definition Unna’s grenzt in bestimmter Weise die Erytheme
ab nach einer Seite bin — die Affectionen, welche als Stauungshyperämien zu
bezeichnen sind, gehören nicht zu den Erythemen , also vor Allem werden wir
— entgegen Dl' H RI KG *) , Gaucher*) und vielen Anderen — nicht mehr von
„Erythema pernio “ sprechen.
Weiters heisst es daun bei Unna, pag. 10:
„Die Wallungshyperämien oder echten Erytheme lassen sich definiren als
Blutüberfüllungen der Hautgefässe bei verminderten Widerständen und gesteigerter
Stromgeschwindigkeit. Diese anatomische Definition entspricht genau dem klinischen
Begriffe der Wallung, insofern sich in den Augen des praktischen Arztes liiemit
untrennbar die Symptome erhöhter Hautwärme und hellrother Färbung verbinden.
Denn diese letzteren Bind die natürliche Folge der durch Aufhebung der normalen
Widerstände erlangten grösseren Stromgeschwindigkeit. Halten wir uns streng an
die einfache obige Definition , so bleibt uns für die eigentlichen Erytheme eine
in sich gleichartige Classe von Erscheinungen, die allerdings einen weit kleineren
Umfang besitzt, als gewöhnlich angegeben wird. SpecieH gehören eine Reihe von
erythematösen und angioneurotischen Entzündungen (acute Exantheme, toxische
Erytheme) nicht hierher ; auch eine ganze Anzahl von Hyperämien mit ver-
minderter Stromgeschwindigkeit müssen fort und den Stauungshyperämien zu-
gewiesen werden. Besonders muss es in unseren Augen den einfachen Erythem-
charakter einer Affection verdächtigen , wenn sie sich im weiteren Verlauf mit
Oberhautveränderungen, mit Abschuppung combinirt, da wir sicher wissen , dass
die gewöhnlichen , in die physiologische Breite fallenden Erytheme niemals eine
solche Folge nach sieh ziehen. Im Begriffe der einfachen Wallung im Gegensatz
zur Entzündung liegt eben der Ausschluss jeder secundären Gewebsveränderung;
die einfache Gefässlähmung genügt, um den schädlichen Reiz hinwegznspülen. Die
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ERYTHEME.
159
dergestalt eingeschränkte Classe der Erytheme umfasst solche von mehr all-
gemeinem und solche von rein localem Charakter. Erstere antworten auf centrale
oder central vermittelte, diese auf örtliche Reize.“
Diese Definition Unna ’s hat jedenfalls den Vorzug grosser Präeision
und Klarheit für sich. Ueber Einzelheiten, besonders über Einzelheiten in Betreif
des Entstehungsmodus dieser echten Erytheme sind ja Meinungsverschiedenheiten
möglich, — darüber, dass die von Unna hierher gerechneten Erytheme diese
Bezeichnung zweckmässig tragen, und darüber, dass die Abgrenzung der Gruppe
eine logische ist, lässt sich kaum streiten.
Wir werden hier die Erytheme aus psychischer Erregung, Freude, Scham,
Zorn einreihen ; ferner das Fiebererythem; ferner die Erytheme begrenzten
Charakters, die man bei Phthisikern , während der Pneumonie , bei Säuglingen
während der Dentition, bei Frauen während des Klimakteriums und während der
Periode sieht.
In ihrer Entstehungsart nicht so klar sind dann weiter hier zu nennen
die toxischen Erytheme — die toxische Substanz wirkt hier entweder central
oder peripher auf die Nervenendigungen. Als Typus für die erstere Gruppe
würden die Erytheme nach Atropin, Amylnitrit, Chloral zu nennen sein; wahr-
scheinlicher zur zweiten Gruppe gehörig die Erytheme , welche bei acuten In-
fectionskrankheiten auftreten — Typhus abdominalis, exanthrmaticus, bei Dys-
enterie, Diphtherie und Pneumonie, bei Recurrens, acutem Gelenksrheumatismus,
Dengue und Grippe.
Schliesslich sind hierhergehörig die auf äussere Ursachen zurüekzu-
filhrenden Erytheme, die auf Schlag, Stoss, Kratzen, auf Druck von Binden und
Kleidungsstücken , ferner auf Hitze , Kälte (reactiv) , Acria und Rubefacientia,
Sonnenlicht und Elektrolyse sich zeigenden Erytheme.
Diese letzteren Erytheme können allmälig in Entzündung übergehen und
hören damit auf, echte Erytheme zu sein.
Damit ist die Classe der echten Erytheme nach Unna abgegrenzt und
es würde sicherlich für die allgemeine Verständigung als ein grosser Fortschritt
zu begrüssen sein, wenn diese Definition allgemeine Anerkennung fände. Es würde
dem nicht im Wege stehen, dass wir als Krankheitsbezeichnung mit einem näher
definirenden Adjectivum die Bezeichnung „Erythem“ für die ganze Classe von
Erythemen beibehielten , die wir im weitesten Sinne als polymorphe Erytheme
bezeichnen.
• B. Erytheme im weiteren Sinne (scarlatiniforme und poly-
morphe Erytheme). So verhältnissmässig einfach Abgrenzung und Ein-
thcilung der echten Erytheme ist, so schwer sind die polymorphen Erytheme
abzugrenzeu und einzutheilen. Die Verwirrung in dieser Classe ist eine von
Jahr zu Jahr steigende und man findet kaum zwei Autoren, die nur einigermassen
in ihren Anschauungen ilbereinstimmten.
Es sind in dieser Gruppe die verschiedenartigsten , nur durch
gewisse äussere und manchmal klinische Aehnlichkeiten verbundene Aftectionen
zusammengebracht, Affectionen, die ätiologisch, in der Art ihres pathologisch-
physiologischen Zustandekommens die allergrössten und radiealsten Verschieden
beiten zeigen.
Will man in diese Gruppe Ordnung zu bringen versuchen, so muss man
Besnier4) vollkommen beistimmen, wenn er sagt, dass das Studium der ganzen
Gruppe von vorne zu beginnen ist. Es heisst bei Besnier: „Man darf aber nicht
in den alten Irrthum verfallen, dass man nach pathognomonischcn Merkmalen
sucht und diese nur in dem einen oder dem anderen der für die Krankheit in
Betracht kommenden Factoren — Ursache, Läsionen, Symptome, Verlauf, Dauer,
Ablauf u. s. w. — finden will. Vielmehr muss mau neue Classen aufstcllcn , bei
deneu in jeder alle die angeführten Elemente vollzählig und in gehöriger Reihen-
folge ein selbstständiges Krankheitsindividutim bilden ; zu dem Zwecke muss
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160
ERYTHEME.
jedes einzelne in Betracht kommende Element einer eingehenden Prüfung unter
zogen werden.“
Wir glauben, dass es uns auf Grund einer auffallend grossen Zahl
eigener Beobachtungen möglich sein wird, den Anfang zu machen mit einer
Neuordnung der Gasse der polymorphen Erytheme. Unter strieter Erfüllung
der BESNIER’schen Forderung vermögen wir aus dem grossen Chaos von
polymorphen Erythemen — diesem Syndrom von Aflfectionen, die sich in
der Form ihrer Läsiouen ähneln, ätiologisch aber und in ihrem klinischen
Verlauf, in ihrer Benignität, Malignität, C'omplicationen, grundverschieden sein
können — zunächst mit Bestimmtheit eine Krankheitseinheit, ein Krankheits-
individuum herauszuheben, und damit dürfte der Weg für weitere Fortschritte
gebahnt sein.
Besnier hat zunächst in der erwähnten Arbeit scharf auseinaudergehalten
die „polymorphen Erytheme“ und die „scarlatiniforroen Erytheme“.
Die zweite Classe wird uns nicht weiter beschäftigen , da sie nicht so
sehr zu Disrussionen Anlass giebt und wenn auch noch nicht durchweg, so
doch weit mehr als die „polymorphen Erytheme“ einer einheitlichen Auffassung
begegnet.
Ehe wir zum klinischen Theile unserer Arbeit übergehen, der sicli aus-
schliesslich mit den polymorphen Eythemen beschäftigen soll, ist es vortheilhaft,
über die pathologische Anatomie und Physiologie dieser Affectionen die gegen-
wärtigen Ansichten mitzutheilen.
Vornussehicken wollen wir noch die Definitionen, die Besnier (1. c.
pag. 1 und pag. 12) von den hier in Betracht kommenden Erythemen giebt.
Vom „Erythhne multiforme “ heisst es: „Der individnalisirte Typus
des Erythems, das Erythema multiforme Hebrae, kann heute nicht mehr auf
die Grenzen beschränkt bleibeu , die ihm der berühmte Lehrer der Wiener
Schule gezogen hat. Er erstreckt sich nicht nur auf die einfachen oder
primitiven Formen der papulösen, nodulösen Erytheme und des Erythema iri 's
oder auf einige zugehörige phlvktänoide Formen, sondern noch auf eine ganze
Serie von Erythemen der gleicheu Art und identischer Entstehung, die aber
von ausserhalb liegendem toxischem oder deuteropathischen, infeetiösen Ursprungs
sein können. “
Wir betonen absichtlich diesen Hauptpunkt: „Die gleiche Form des
Erythems kann primitiv, autogen sein, oder ihre unmittelbare Entstehungsursache
kann ein von aussen eingeführtes, toxisches Agens sein, ein infectiüses Element,
das sich im Verlaufe eines protopathischen Krankheitszustandes entwickelt.“
Und weiter definirt Besnier die scarlatiniformeu Erytheme folgendermassen :
„Mit der Bezeichnung Erythema scarlatiniforme beabsichtige ich Derma-
tosen von erythematösem Typus zu bezeichnen, die während eines Abschnittes
oder während der ganzen Zeit ihres Verlaufes, wenn sie von kurzer Dauer sind,
pyretol'd verlaufen. Meist ist ihr Verlauf subacut, manchmal ziehen sie sich durch
mehrere Wochen, ja selten sogar durch Monate hin. Sie werden als scarlatini-
forme Erytheme bezeichnet, weil sie meist, allerdings nicht immer, den Typus
der Scarlatina haben, mit dem sie selbst in den Fällen abschliessen. in denen es
zu Antang fehlte. Wir bezeichnen sie als recidivirende , weil eine ihrer Eigen-
heiten die häufige Neigung zu Rccidiven ist.
„ln ihren acuten Formen und während der ersten Phasen ihrer sub-
acuten und langsam verlaufenden Formen nähern sie sich den fieberhaften,
exanthematischen Krankheiten durch die sie begleitende Allgemeinreaction. Der
Scarlatina ähneln sie durch die Form des Exanthems, manchmal auch durch die
Localisation und durch die Complicationen. durch die manchmal die Differential-
diagnose ausserordentlich erschwert werden kann.
Aber die Nichtspecificität ihrer Aetiologie, die wechselnde, manchmal
lange Dauer, das Gleichzeitig- und Nebeneinanderbestehen der Eruption uud der
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ERYTHEME.
161
Abschuppung-, die Nichtcontagiosität, ihr recidivirender Charakter u. 8. w. weisen
diesen Affectioneu ihre Stellung bei den Erythemen im eigentlichen Sinne an.
Von diesen scarlatiuiformen Affectioneu ist scharf zu trennen eine
Varietät pseudopyrctischer Erytheme, die den fieberhaften Exanthemen — Schar-
lach, Masern, Kötheln u. s. w. — während ihres Verlaufes noch mehr ähneln
und die wir als „scarlatinoide“ und „rubeloide“ Erytheme bezeichnen wollen.
Die letzteren Affectioneu sind wirkliche „Simili-Masern“ oder „Simili-
Scharlach“ , die sich von den recidivirenden scarlatiniformeu Erythemen durch
ihren stets deuteropathischen Charakter, ihren rapiden Verlauf, von den wirk-
lichen Exanthemen durch ihre NHitspecificität, Nichtübertragbarkeit und der Un-
möglichkeit ihrer Verhütung unterscheiden.“
In unseren weiteren Ausführungen haben wir nun im Wesentlichen immer
die besonders interessante und durchaus einer Neuordnung bedürfende Classe der
polymorphen Erytheme im Auge.
C. Pathologische Anatomie und Physiologie.
Seit KöBXsr’s und Lkwin’s 7) Publicationen in den Siebziger-Jahren be-
zeichnet man die Erytheme mit einem von A. Ei lk.nbl'EG zuerst gebrauchten
Ausdruck als Angioneurosen. Man darf den Begriff „Angioneurosen“ aber
nicht, wie viele Autoren, und in gewissem Sinne auch Lewix, es thun, als ätio-
logischen Begriff fassen , sondern es ist damit nur der physiologische Ent-
stehungsmodus der Uautliisinnen ausgedrückt.
Welche Ursachen dabei wirken, äussere oder innere, mechanische oder
chemische, kurz, die ganze Aetiologie findet durch die Bezeichnung Angioneurose
nicht die mindeste Erklärung.
Wir wcdlen uns — da wir Neues nicht zu bringen haben — über die
pathologische Anatomie der Erytheme kurz fassen.
Der Befund ist stets der gleiche, nur in der Ausdehnung und Locali-
sation, je dem Grade der Affcction nach differirend , und besteht hauptsächlich
in Gefässcr Weiterung, Zellenproliferation um die Gefässwünde , Emigration und
Oedem der Epidermis, respective der Cutis.
Für die Entscheidung der Frage, ob sich überhaupt und inwieweit sieh
Veränderungen an den Hautnerven finden bei den verschiedenen Erythem formen,
genügen unsere heutigen Hilfsmittel nicht.
Eingehend aber müssen wir uns mit dem physiologischen Vorgang
beschäftigen, der zum Zustandekommen der verschiedenen Erythemformen führt.
Wenden wir uns zunächst zu der Definition der Begriffes „Angioneurose“.
Lewix (1. c. pag. 670 ff.) sagt, dass bei der Auffassung des Erythems
in Betracht zu ziehen sei, dass „dasselbe, wie anatomisch nachgewiesen, ursprüng-
lich auf einer Erweiterung der Blutgefässe und deren Folgezuständen , Trans-
sudation und Exsudation beruht“, und er erklärt es deshalb als eine Angioneurose.
„Mit diesem Namen ,“ fährt Lewix fort , „belege ich die Gesammtheit
aller der Krankheiten, deren wesentliche Symptome von einer Alteration der den
Gefässtonus regulirenden Nerven erzeugt werden.“
Achnlich definirt SCHWIMMER 4S) : „Als vasomotorische und angioneurotische
Affectioneu bezeichnet mau alle durch die Innervation der Blutgefässe veranlassteu
pathologischen Veränderungen.“
Nach diesen Definitionen dürfte es kaum eine Hyperämie, arterielle oder
venöse, vorübergehende oder länger persistirende, keine Entzündung, acute oder
chronische, welcher Art sie sei, geben, die man nicht als Angioneurose defi-
niren könnte.
Bei jeder Entzündung, chronischer oder acuter, wenig oder stark aus-
gesprochen, mehr oder minder dauernd oder vorübergehend, besteht eine Gefäss-
dilatation. Diese Gefässdilatation kauu immer nur die Folge sein eines — durch
verschiedene , eentrnl (cerebral oder medullär) oder peripher (auf die Gefäss-
Fncyclop. Jahrbücher. VI 11
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162
ERYTHEME.
ganglien) wirkende Ursachen aufgelösten — erhöhten Tonus der gcfässerweitem-
den oder einer Lähmung der gefilssverengernden Nerven.
Für eine länger dauernde Erweiterung der Gefässe kommt nur eine
Lähmung der Vasoeonstrictoren in Betracht, da ein andauernder spastischer Zustand
der Dilatatoren nicht angenommen werden kann.
Ein nervöser Einfluss ist zunächst unbedingt anzunehmen zum Zustande-
kommen jeder acuten Hyperämie, setze dieser Einfluss nun ceutral oder peripher ein.
Erröthen vor Scham, Zorn, Freude setzt eine vom Centrum ausgehende
Erregung der Vasodilatatoren oder eine vorübergehende Lähmung der Vaso-
constrietoren voraus.
Röthung, Hyperämie in Folge der Einwirkung der Sonne, hoher Tempe-
raturen, der Kälte setzt ebenfalls eine, wahrscheinlich peripher wirkende Reizung,
resp. Lähmung der betreffenden Nervengruppe voraus.
Wie gesagt, nach der von Lewix gegebenen Definition ist die Classe
der Angioneurosen unendlich gross. Darnach gehören auch die acuten Exantheme
hierher, die ja Auspitz in der That zu den Angioneurosen rechnet.
Auspitz *) (1. c. pag. 41 ff.), von dessen Auffassung die unserige im
Uebrigcn weit abweicht, sagt dem Sinne naeh dasselbe, was wir eben aus-
geführt haben :
„Veränderungen im Gefässtonus stellen sich freilich bei durch Ent-
zündungsreize hervorgerufenen Wallungen ebenfalls ein; ja solche Wallungen
können ohne active oder passive Erregung der Gefässmusculatur im Bereiche des
entzündeten Theiles und um denselben gar nicht zu Stande kommen. Und weiter-
hin ist nicht zu vergessen , dass im Gefolge und während des Verlaufes der
Entzünd ungsprocesse sich Alterationen des Gefässtonus leicht entwickeln und in
chronischen Störungen der Cireulation und der Aufsaugung ihren Ausdruck finden.“
Die Angioneurosen definirt Auspitz dann folgendennassen:
„Die hierhergehörigen Hautafleetionen entsprechen sämmtlich der nach-
folgenden nosologischen Verstellung:
„Ein auf welchen Punkt des Organismus immer eiuwirkcnder, eigeu-
thümlicher Reiz wirkt auf ein Centrum von Gcfässnervenanshreitungen in der
Haut entweder direct oder auf reflectorischem Wege dergestalt ein, dass eine
Aenderung im Tonus der ihnen ungehörigen Gefässzweige eintritt.“
In grösserer Ausführlichkeit müssen wir auf die Anschauungen Uxka’s
eingehen, da sie einen entschiedenen Fortschritt bedeuten. Wenn wir auch in einigen
nebensächlichen Punkten nicht ganz seine Ansichten theilen , so können w ir im
Wesentlichen dieselben durchaus zu unseren eigeuen machen.
Unna (pag. 10) bezeichnet als „echte Erytheme“ die Wallungs-
hyperiimien der Haut und definirt dieselben als Blutüberfüllungen der Hautgefässe
bei verminderten Widerständen und gesteigerter Stromgeschwindigkeit. Diese ana-
tomische Definition entspricht genau dem klinischen Begriffe der Wallung, inso-
fern sich dem Auge des praktischen Arztes hiermit untrennbar die Symptome
erhöhter Hautwiirmc und hellrother Färbung verbinden. Halten wir uns streng
an die einfache obige Darstellung , so bleibt uns für die eigentlichen Erytheme
eine in sieh gleichartige Gasse von Erscheinungen , die allerdings einen weit
kleineren Umfang besitzt, als gewöhnlich angegeben wird. Speciell gehören nach
dieser Definition eine Reihe von erythematösen Entzündungen (acute Exantheme,
toxische Erytheme nicht hierher; auch eine ganze Anzahl von Hyperämien mit
verminderter Strorogesehwindigkeit müssen fort und den .'stanuugshyperUmicn zu-
gewiesen werden.
Unna (I. c. pag. 21) definirt dann die Angioneurosen der Haut als eine
„Gruppe von Hauteruptionen, die unter einander bedeutende Verschiedenheiten
aufweisen, aber sämmtlich auf eine abnorm hohe Reizbarkeit des Muskel-
tonus als wesentliche Bedingung ihrer Existenz hinweisen“.
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ERYTHEME.
163
Dieser Definition ist nichts mehr hinzuzufügen , sie grenzt die Gruppe
der Angioneurosen durch Hervorhebung des wesentlichen pathologischen
Merkmales deutlich ab.
Diese abnorm hohe Reizbarkeit des Muskeltonus besteht latent, die
Angioneurose besteht latent dauernd, um bei Einsetzen eines Reizes, der in
keiner Weise etwas Specifisches hat (Besnihb), sofort manifestirt zu werden.
Der Typus einer solchen Angioneurose ist die Urticaria(|uaddel. Für das
Zustandekommen der Quaddel nimmt Unna eine spastische Contraction , einen
erhöhten Tonus der Venenwandungen, an.
Obgleich es etwas von dem Zwecke unserer Arbeit abführt, können wir
uns nicht versagen, auf die Unna 'selten Ausführungen deshalb näher einzugehen,
weil wir uns mit seinen Ansichten über die Entstehung der Urticariaquaddel
nicht im Einklang befinden.
Die Theorie eines venösen Spasmus berührt schon Vl'LPlAN 10) (I. c.
Bd. II, pag. 603); er lässt sie aber fallen, da keine physiologische Thatsache
vorliegt , auf die man eine derartige Hypothese gründen könnte. Aber selbst
wenn wir die Möglichkeit einer isolirten spastischen Contractur der Venen-
wandungen annehmen, so vermögen uns die Ausführungen Uxna’s nicht von der
Richtigkeit seiner Hypothesen zu überzeugen. Wir lassen zunächst Unxa's Aus-
führungen folgen. Es heisst 1. c. pag. 33 :
„Wenn das Hinderniss für die normale Aufsaugung der Lymphe durch
die venösen Capillaren plötzlich eintritt, wie bei der Urticaria, so kommt es im
ganzen von dem betreffenden Gefüsskegel versorgten Terrain zu einer Schwellung,
die ihrerseits bei einer gewissen Stärke noch dazu beiträgt, den venösen Abfluss
zu erschweren, indem durch den wachsenden Druck innerhalb der prall-elastisch
gespannten Haut die Veneu stärker comprimirt werden als die Arterien. Dadurch
steigt die Filtration der Lymphe beständig, bis die Elasticitätsgrenze der Haut
und damit ein Gleichgewichtszustand erreicht ist , indem nun jede durch die
Lymphgefässe abfliessende Portion Lymphe durch eine gleich grosse Quantität
uachfiltrirender Lymphe gerade ersetzt wird. Der ödematöse Bezirk grenzt sich
genau mit dem Gebiete der spastisch verengten Gefässe ab.“
Gegen diese mechanische Erklärung erheben sich schwere Bedenken.
Zunächst haben wir, weder pathologisch noch experimentell, nirgend ein
Analogon , das uns das Verständniss eröffnete für ein so plötzlich durch Venen-
verschluss in solcher Mächtigkeit auftretendes Ocdcm.
Unna11) selbst nimmt ja mit KlemensiKWICZ an, dass die Druck-
schwankungen an der Peripherie als directer Reiz auf die musculo-nervöscn
Apparate der grösseren Gefässe wirken. Wir könnten also dementsprechend auch
eine Ausgleichung, eine Verengerung des arteriellen Strombettes , eine geringere
Blutzufuhr zu dem relativ verstopften Gebiete erwarten.
Weshalb soll aber wirklich die Verlegung der venösen Hälfte eines so
kleinen Gebietes, wie das eines Gefässbaumes ist, ein so mächtiges Oedem hervor-
rufen, wo doch die Unterbindung der Hauptvenen kein Oedem zur Folge hat?
Anatomisch , rein mechanisch , ist für dieses begrenzte Oedem kein Grund vor-
handen. Zwischen den als „anatomische Einheit“ zu bezeichnenden Gefässbäumen
(Flächenelementen haben wir doch ein intermediäres Capillarnetz, dessen Venen
nicht in spastischer Contraction sich befinden ; weiter ist doch das übrige,
mit Ly mphge fassen und Lymphräumen versehene Gewebe in keiner Weise
mechanisch in Bezirke getheilt. Weshalb wird nun z. B. die ausgeschiedene
Lymphe nicht von dem benachbarten venösen Capillarnetz aufgenommen ? Oder
weshalb weicht dieselbe nicht in den doch continuirlich sich fortsetzenden Ly mph -
räumen seitlich aus? Warum ist nicht die Erhebung der Haut, die Form der
Quaddel, eine mehr dem ausweichendem Geilem entsprechende abgeflachte? Warum
bleibt sie auf die anatomische Einheit des Flächenelementes beschränkt? Jeden-
falls scheint uns die rein mechanische, spastische Contractur des Flächenelementes
11*
ERYTHEME.
164
nicht in vollem l’mfange die physiologische Erklärung für die Form der Urticaria-
quaddel zu geben.
Uxxa begründet die Unmöglichkeit , eine acut entstandene Quaddel
«elastisches Oedem) wegzudrücken , damit , dass offenbar die noch vollständig
erhaltene Elasticität der benachbarten Haut es ist, welche die Erweiterung der
allseitig frei comniunicirendcn Lymphspalten daselbst erschwert und damit zur
scharfen Umgreuzung der Quaddel beiträgt.
Uns scheint diese Erklärung nicht genügend. Eine normale Lymphe
würde zweifellos ausweichen. Es scheint uns unbedingt uüthig, noch eiu weiteres
■behindernde» Moment für den Abfluss dir Lymphe zu suchen und dieses dürfte
vielleicht in der Beschaffenheit der Lymphe selbst zu suchen sein. Im Hüne
Tigerstedt-Saxtesson-Heiüexhaix’s wäre vielleicht an eine active Thätigkeit
der Endothelzellen der Capillargefässe zu denken, durch deren Sec re t eine (viel-
leicht zähere, schwerflüssige) Lymphe gebildet wird, die in die Lympbbahnen
unter dem vorhandenen Gewebsdruck nicht answeichen kann. Ich kann hier
Uxxa’s Ansicht nicht genügend finden zur Erklärung des Zustandekommens der
spastischen Oedeme.
Darin ist aber Uxxa beizustimmen , wenn er unter der Bezeichnung
„Angioneurosen“ nur die spastischen Oedeme — das circnmscripte Oedem
Qiixcke’s und die Urticaria factitia — und die Erythantheme verstanden
wissen will.
Wir wollen au dieser Stelle uns in eine Erörterung über die Nomen -
datur nicht einlassen. Ob gut oder schlecht, — wenn die Bezeichnung „Ery-
thantheme“, die doch schon bekannt ist , allgemein acccptirt würde zur Unter-
scheidung der von Uxxa hier sehr glücklich vereinigten Affectionen , so wäre
für die Verständigung damit ein grosser Gewinu erzielt.
Es ist jedenfalls für uns sehr wesentlich , dass wir — wie wir weiter
unten zeigen werden — zu der gleichen Auffassung der „polymorphen Erytheme“
im weitesten Sinne auf rein klinischem Wege gekommen sind, zu der Uxxa als
pathologischer Anatom kommt.
Unter der Uebcrschrift „Erythantheme“ (Arsmz-UxxA) sagt Uxxa (1. c-
pag. 25): „Wohl die interessanteste Abtheilung der Angioueurosen bilden Erup-
tionen von maculo-papulöser Grundform, hei denen der Bau der Einzeleftiorescenz
und die Gruppirung derselben keinen Zweifel über ihr Gebundensein an die
circulatorisehen Flächenclemcnte der Haut aufkotnmen lässt. Sie zeigen eine
Fortentwicklung dieses Grundtypns nach zwei Richtungen. Entweder wird die
Olierhaut in Mitleidenschaft gezogen, es kommt zum Aufschiessen von Bläschen
und Blasen, oder der Prucess gipfelt in einem umschriebenen, starken Oedem der
Cutis, in der Quaddelbildung. Bei bullöser Abwandlung der hier in Betracht
kommenden Exantheme wurden dieselben meist zum Pemphigus oder zur Bläschen-
abwandlung des Erythnua multifonue — zum Herpes i-is gestellt — beides mit
Unrecht. Die quaddelförmigen Erythantheme besitzen dagegen, da sie weniger
individuellen Schwankungen unterliegen , bereits seit langer Zeit eineu Special-
namen in der Nosologie : Urticaria. Die verschiedenen Urticariaarten (mit Aus-
nahme der Urticaria factitia j bilden jedoch mit den Angioneurosen maculo-
papulöser Grundform mit oder ohne bullöse Abwandlung zusammen eine wohldefinirte
Gruppe, welcher ich mit Rücksicht auf ihren Grundtypus den ArswTz’schen
Namen der Erythantheme gegeben habe. Besonders bei dieser ist vor einer Ver-
wechslung mit dem Erythema mu/tiforme Ilebrae zu warnen, andererseits aber
auch vor einer solchen mit der bullösen neurotischen Dermatitis i Hydroa).“
Die beiden Affectionen, das Erythema exsudativum multifonue und das
Erythema nodosum, bringt Uxxa dann als „infectiöse Entzündungen, welche durch
einzelne nngionourotische Symptome allerdings eine olierflächliche Aehnlichkeit
mit den wahren Angioneurosen gewinnen“ (I. r. pag. 21).
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ERYTHEME.
lt>5
Für uns gehören diese beiden Affectionen (s. unten) zu den acuten Exan-
themen , zu den allgemeinen Infectionskrankheiten mit symptomatischen Haut-
erkrankungen.
Das neurotische Element tritt jedenfalls sehr in den Hintergrund bei der
Entstehung der l’apeln und der Knoten.
Anf ..angioneurotischem“ Wege lässt sieh die Ausbreitung und die Dauer
einer Papel des Erythema txnudalicum multifurme nicht erklären. Vielleicht
noch das Entstehen der Papel. Aber wie will man die periphere Ausbreitung
bei centraler Abflachung erklären, die doch sichtlich vollständig unabhängig von
jeder anatomischen Anordnung, unabhängig vom (iefässbnnm, von Flächenelementen
erfolgt? Soll die spastische Contraction — ohne sich an die anatomische An-
ordnung des Gefässlianmes zu halten, an dem sich zuerst die Wirkung der
spastischen Contraction gezeigt hat — jeden Tag etwas weiter gehen? Diese
Annahme ist fast widersinnig. Wohl aber lässt sich Form, Ausbreitung und
Dauer erklären, wenn man neben dem mechanischen auch einen chemischen Factor
bei der Ausbreitung der Papeln annimmt , wenn man entweder eine Mikroben-
embolie mit langsamer peripherer Ausbreitung oder eine durch toxischen Reiz der
Gefässendothelien (im Sinne Heidexhain’s) angeregte Secretion der Endothel-
zellen annimmt.
Wir glauben, dass wir uns über diese Abweichung von der UNXA’schen
Auffassung leicht mit diesem Autor verständigen werden. Denn dass das Ery-
thema exsudativum multiform e und das Erythema nodo*itm keine Angioneurosen
sind, damit stimmen wir vollständig überein. Die Zutheilung zu den neurotischen
Entzündungen erfolgt nur sehr zögernd. „Unter diesem Namen“ (1. c. pag. 75), sagt
Unna, „vereinige ich eine kleinere Anzahl von entzündlichen Krankheiten der
Haut, welche eine gewisse Beziehung zum Nervensystem aufweisen, oder besser
gesagt, deren Eigentümlichkeiten wir uns bisher nur durch die Annahme eines
specifisehen Nerveneinflusses auf den Ablauf der Entzündung erklären können.
Aus diesem Grunde lassen sie sich nicht einfach nnd vollständig wie die infec-
tiösen Entzündungen . . . durch die blosse Anwesenheit eines Entzündungserregers
in der Haut begreifen, obwohl die meisten derselben (wenn nicht alle) ebenfalls
anf infectiöse Ursachen zurückgeführt werden können, sondern in irgend einer
noch näher zu erforsrhendeu Wei6e bedarf dirse Ursache der Mithilfe oder der
alleinigen Vermittlung des Nervensystems und diese letztere prägt nicht nur dem klini-
schen, sondern auch dem anatomischen Bilde dieser Affectiou Eigentümlichkeiten
auf, welche eine Sonderstellung der betreffenden Krankheit zu erfordern scheinen.
Uebrigens verhehle ich mir keinen Augenblick, dass die Schöpfung dieser ('lasse
von neurotischen Entzündungen einen sehr provisorischen Charakter besitzt, und
hoffe, dass dieselbe durch theilweises Aufgehen in die Classe der infectiösen Ent-
zündungen mit der Zeit besser zu begrenzen und zu definiren sein wird.“
Wenn wir für einen Tlieil der als „polymorphe Erytheme“ bezeichneten
Erkrankungen, und zwar für die von Unna „Erythantheme“ genannten eine
Angioneurose als bedingenden Factor für die Entstehung annehmen müssen,
so ist für einen anderen Theil derselben ein ganz andersartiger Entstehungsmodus
Bchon bewiesen.
Es liegen schon eine Reihe von Beobachtungen vor, welche die embolische
Entstehung der Papeln und Knötchen des Erythems beweisen. Meist werdeirdiese
Fälle unter der Bezeichnung „ Erythema nodouum“ zu Anden sein; aber auch
unter der Bezeichnung „multiformes Erythem“ finden sich solche embolische,
metastatische Erytheme. Dies trifft zu für einen Fall von Finger15), dessen
mikroskopischen Befund wir hier in extenso folgen lassen.
Die mikroskopische Untersuchung der Erythempapeln ergab: Ocdem des
Papillarkörpers und der Cutis mit Rundzellen, ebenso in der Wand der Blut-
gefässe: im Stratum reticidare, in den Sehweissdrüsen und im subeutanen Fett-
gewebe lockere Rundzelleninfiltration. Grosse Mengen von Kokken, ausschliesslich
16t>
ERYTHEME
in den Blutgefässen , erfüllten derartig die C'apillarschlingen der Papillen , dass
sie das Bild injicirler Papillären gaben. Sie sassen in Klumpen meist wand-
ständig in den grosseren Gefässen des Stratum reticulare , in den Gefässen der
Schweissdrüsen und waren aueh im Inhalte der grösseren Arterien und Venen
des subepidermidalen und des Fettgewebes nachweisbar, l ehcrall , so auch ira
Myokard und Nieren fanden sieh Streptokokken. Das Erythema, sehiiesst das
Referat, sei daher in diesem Falle nicht Angioneurose, sondern bakterielle Meta-
stase, durch Verschleppung von Streptokokken in die Hautgefüsse bedingt.
Diese Beispiele Hessen sieh noch leicht vermehren. Ich weise hin auf die
Fälle von Lkwix '*), ferner auf einen Fall von Orii.lard und SaBOERand >‘)
und besonders auf die These von Jortu.E. IS)
D. Klinischer Theil. Das polymorphe Erythem.
Was heute als Erythema polymurphon beschrieben wird, aueh in Kaposi’s
Lehrbuch, ist durehans verschieden von dem, was Hkbra seinerzeit als ErytI.ema
exsudativum multiforme beschrieben hat. In ganz wesentlichen Punkten weichen
beide Beschreibungen von einander ab. Ich weise nur hin auf die wenigen Punkte,
dass Hkbra *) z. B. örtliche Reizzustände als I'rsaclie fiir die Entstehung des
Erythema exsudativum multiforme vollständig anssehliesst , während Kaposi •)
sic zulässt; dass Hkbra erklärt, bedeutendere Z fälle oder Naelikrankeiten habe
dieses Uebel nie in seinem Gefolge, während Kaposi erklärt, dass „an Compliea-
tionen und Folgen des Erythema multiforme , allerdings vorwiegend des Erythema
nodosum , noch angeführt werden Endo- und Perikarditis, Meningitis, Tuberkulose,
Klappenfehler, Pleuro- und Pneumonie, und es ist in einer beträchtlichen Zahl
(unter 70 von Lewix aus der Literatur angeführten Fällen 10} der Tod ein-
getreten“.
Der wichtigste Punkt, der uns zunächst am meisten interessirt, ist der,
dass Hebha — ohne bei dem damaligen Stande der klinischen Kenntnisse von
den Erythemen dieser Frage principiell näher treten zu können — im Wesent-
lichen die Krankeit „ Erythema exsudativum multiforme * als eine idiopathische
Hauterkrankung ansieht.
Kaposi fasst unter polymorphen Erythemen aber alle Erytheme zusam-
men. welche eine gewisse Polymorphie darbieten und sich untereinander durch
die Läsionen ähneln, und sagt von den mit Complicationen verlaufenden Fällen :
rOffenbar hat in all diesen Fällen das Erythem nicht die Bedeutung
des wesentlichen Proeesses, sondern nur einer symptomatischen Erscheinung, wie
auch viele Roseolen. Man kann deshalb auch nicht dem Erythem den unglück-
lichen Ausgang zuschreiben.“ In dieser principiellen, aber nicht radical durch-
geführten Abweichung von dem HKBKA'schen Standpunkt liegt auch, scheint es
uus, die Erklärung, dass das Erythema nodosum eine so eigenartige, unbestimmte
Stellung bei Kaposi einnimmt. Während Hkbra sagt (I. c. pag. *J01): „Different
von den eben beschriebenen Erythemen, sowohl in Bezug auf die Form, den Sitz
und Verlauf, als aueh bezüglich der begleitenden Erscheinungen, müssen wir das
Erythema nodosum s. Dermatitis contueiformis als ein selbständiges l ebel
anführen“, äussert sich hier Kaposi'7) folgendennassen:
„Redner möchte bei Gelegenheit des Vorkommens von Fällen einer Combi-
nation von Erythema nodosum mit gewöhnlichen Formen von Erythema multi-
forme, wie bei der vorgestellten Kranken, gegenüber anderen Meinungen con-
statiren , dass er für seine Person das Erythema nodosum wie die Purpura
rheumatica , obgleich er sie wegen ihres Typus klinisch anseiuanderbält , doch
für wesentlich identisch und der Gruppe des Erythema exsudativum multiforme
zugehörig erklärt. Sie kommen zu derselben Jahreszeit vor, haben dieselben Fol-
gen am Herzen, machen dieselben Metastasen n. s. w. — Nepmaxx ,ä) meint, dass
das überhaupt die Ansicht der Wiener Schule sei.“ Darnach muss Nepmaxx seine
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ERYTHEME.
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Meinung in den letzten Jahren gelindert haben. Im Jahre 1870 '•) war er der
Ansicht, dass das Erythema nodosum eine selbständige idiopathisehe Erkran-
kung sei, welche mit dem Erythema multiforme nur den Namen theile.
Trotz der eben angeführten KAPOSl’srhen Aeusserung werden aber in
seinem Lehrbuch (1887) Erythema polymorphem und Erythema nodosum voll-
ständig getrennt abgehandelt.
Aus dem oben Mitgetheilten — darum ist es uns zu thun — geht nun
doch wohl mit Sicherheit hervor, dass sich die Ansichten der Wiener Schule
wesentlich gewandelt haben.
KÜHN50) dürfte den Nagel auf den Kopf treffen, wenn er meint, dass
die Verwirrung in dieser Gruppe wesentlich dadurch herbeigeführt sei, dass man
an der von Hebra fixirten symptomatologischen Krankheitseinheit festhaltend,
unter obigem Namen die Folgezustände ätiologisch ganz verschiedener Dinge
zusammengefasst und sieh nun vergebens ahmülit , für differente Krankheitsvor-
gänge, weiche zu einander ähnlichen Hautverändemngen führen können, einheit-
liche Gesichtspunkte zu gewinnen.
Ist aber die von Hebra fixirte Krankheitseinheit nnr symptomatisch
von ihm als solche aufgefasst worden? Mit anderen Worten, hat Hebra schon
eine ganze Reibe verschiedener, nur in den äusseren Symptomen ähnliche Affcc-
tionen als Erythema exsudativum multiforme zusammengefasst, ohne sich dessen
bewusst zu sein? Oder hat Hebra eine wirklich in Aetiohgie, Pathogenese,
Verlauf, Ausgang u. s. w. einheitliche Erkrankung beobachtet und nur — haupt-
sächlich aus Unkenntniss der Aetiologie und weil eine umfassende Erfahrung
noch fehlte — einige ähnliche Erkrankungen , ohne sich tlher die Bedeutung
dieses Schrittes Rechenschaft ablegen zu können, hier angereiht?
Wir möchten dafür halten, dass die in der zweiten Frage enthaltene
Auffassung der Wirklichkeit am nächsten kommt, ln so bestimmter Weise dürfte
die Fragestellung, ob es sieh um idiopathische oder um symptomatische Erytheme
handelt, Hebra noch fern gelegen haben. Er sagt (1. c.) : „Es ist uns keine
Krankheit bekannt, in deren Gefolge solche Erytheme regelmässig auftreten
würden, die Cholera vielleicht ausgenommen.“ Es ist aber Hebra durchaus nicht
entgangen, dass im klinischen Verlaufe dieses Choleraerythems etwas liegt , wo-
durch cs sich von dem eben von ihm beschriebenen Erythem unterscheidet. Er
stillt von dem „oft als Erythema papulatum auftretenden Choleraerythem“ den
Unterschied fest, „dass cs die eigentlichen Choleraerschein nngen überdauerte, ohne
seine Form in die des annulare, iris, gyratum u. s. w. zu verändern, sondern
immer als Erythema papulatum verharrend“.
Auch Besnier hat seine Anschauungen mehrfach geändert. Wir führten
oben die Definition an, welche Besnier vom polymorphen Erythem giebt; die
alte Hebra ’sche Definition genügt nicht mehr, die gleiche Form findet sich hoi
primären und seeundüren Erythemen wieder, die alle zunächst in die gleiche
('lasse gehören.
Ganz abgesehen von den in seinem Artikel „Etüde sur le Ithumutisme
bleunorrhagiqut“ Sl) niedergelegten Anschauungen scheint Besnier im Jahre 1884
unserer weiterhin zu entwickelnden Auffassung der polymorphen Erytheme näher
gestanden zu haben als heute, ln einer Monographie von MOLENEs Mahon :i), in
der zum grossen Theil Besnikr’s Anschauungen wiedergegeben sein dürften, heisst
es in den Conclusions :
„5. Für die meisten französischen Autoren ist das polymorphe Erythem
rheumatischer, für einige deutsche angioneurotischer Natur. Man sieht es häufig
secundär auftreten in einer grossen Zahl von Iufectionskrankheiten. Oft beob-
achtet man es aber auch als Effect einer noch nicht classificirten
Infeotion mit einer Reihe bestimmt abgegrenzter Symptome. Für
diese Fälle schlagen wir den Namen polymorphe Erytheme im enge-
ren Sinne vor.“
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ERYTHEME.
Während, wie gesagt, diese ältere Auffassung unseren Erfahrungen un-
gefähr entspricht, widersprechen dieselben durchaus den Ansichten, die Besnier
in dem oben erwähnten Artikel niedergelegt hat.
Wir betonen ausdrücklich, dass wir unbedingt zu trennen haben die idio-
pathischen einfachen oder primitiven Formen der papulösen oder nodulösen
Erytheme, des Erythema iris oder einiger weiterhin blasig werdender Erytheme
von einer ganzen Reihe von Erythemen, die im Entwicklungsmodus und -Proeess
jenen vielfach ähneln, aber durchaus nicht mit ihnen identisch sind. Die zur ersteren
Gruppe gehörigen Affectioneu haben — das hoffen wir nachzuweisen — , wie
BESNIER es fordert, etwas so Einheitliches in allen für die Krankeit in Betracht
kommenden Factoren: Ursache, Läsionen, Symptome, Verlauf, Dauer, Ablauf
u. s. w., dass sie unbedingt von den zur zweiten Gruppe gehörigen, nur äusser-
lich ihnen ähnelnden polvmorpen Erythemen zu trennen sind.
Wenn Besnier sagt, „dass eine und dieselbe Form des Erythems idio-
pathisch, primär, autogen sein oder ihre pathogenetische Entstehungsbedingung
in einem von aussen hinzutretenden toxischen Agens, in einem infectiösen Ele-
ment haben kann , das sich im Verlaufe einer primären Erkrankung entwickelt
hat,“ so müssen wir dem auf s Allerbestimmteste unsere gegentheiligen Erfah-
rungen entgegenstellen.
Aehncln können sich das von uns zu beschreibende idiopathische
Erythema multiforme mit vielen polymorphen Erythemen in der Form der
Läsionen, vielleicht — so weit unsere Kenntnisse hier zu unterscheiden vermögen — •
in der pathologisch-anatomischen Structur der Elemente — in allen anderen
Factoren: Ursache, Constanz der localen und allgemeinen Symptome. Verlauf,
Dauer, Ablauf, das heisst mit einem Wort, iu dem ganzen klinischen Bilde sind
diese Affectionen grundverschieden.
Wir behalten deshalb für die Affcction , die wir zunächst beschreiben
wollen, die Bezeichnung Hehra’s: Erythema multiforme exsudativum bei. Denn
gestutzt auf eine der Zahl nach von keinem Beobachter erreichte Menge von
Fällen müssen wir sagen , dass Hehra sicher ursprünglich und hauptsächlich
diese Fälle gesehen und diese Fälle seiner Beschreibung zu Grunde gelegt hat.
Späteren Beobachtern kamen zufällig oder vielleicht, weil die ursprüng-
liche llEBRA’schc Form in vielen Gegenden wenig oder gar nicht vorkommt,
Erytheme polymorphen Charakters zu Gesicht, auf welche die HehkaVIic Be-
schreibung ira Grossen und Ganzen passte. Sie theilten sie als Erythema exsuda-
tivum multiforme mit, bemerkten aber oft ganz gut dabei die Abweichungen.
Hkbra selbst hat vielleicht — unklar über die Aetiologie — sieh später in
gleicher Lage befunden.
So wird eine Masse von Einzelbeobachtungen , Erkrankungen, die iu
ihren äusseren Erscheinungsformen dem ursprünglichen Typus des Erythema
multiforme ähnelten, in Aetiologie, Verlauf, Prognose, Complicationen aber ganz
verschieden waren, einfach zum Erythema multiforme hinzugerechnet.
Man vergleiche nur das, was Hekha 1860 als Erythema exsudativum
multiforme beschreibt, mit der LKWlN’schen *') Monographie von 1876.
Die in der LEWiN’sehen Monographie, ferner seither iu den sehr zahl-
reichen casuistischen Mittheilungen der verschiedenen dermatologischen Gesell-
schaften, Dissertationen, Thfcscs u. s. w. niedergelegten Beobachtungen zeigen
unter der gleichen Bezeichnung eine Fülle der klinisch grundverschiedensten
Affectionen; Krankheiten, die nur die „Röthe“ gemeinsam haben und Bich im
Uebrigen so ähnlich sind, wie z. B. Stiefeldruck und ein Erysipel !
Bei der Besprechung der Dilferentialdiagnose werden wir Gelegenheit
haben, aus der Fülle der Beweise eine kleine Auswahl zu treffen.
ln der nachfolgenden Untersuchung wollen wir zu beweisen suchen, ge-
stützt auf eigene Beobachtungen, dass es eine ganz selbständige, acute, exanthema-
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tische Infeetionskrankheit giebt, auf die im Wesentlichen die von Hkiiua für da»
Erythema exsudativum multiforme gegebene Beschreibung passt.
Unsere Stellung zu der Frage, oh das Erythema exsudativum multi-
forme und das Erythema nodottum im Wesen gleiche, nur klinisch verschiedene
Erkrankungen seien, ist damit eigentlich schon gegeben. Ein Anderes ist es, ob man
das Erythema nodosum als idiopathische Erkrankung gelten lassen will , oder
ul> man dasselbe nur als eine Form der mannigfaltigen, symptomatischen, deutero-
pathisclien, polymorphen Erytheme aufzufassen hat.
Unsere Ansicht ist, dass auch das Erythema nodosum eine selbständige
acute exanthematische Infeetionskrankheit ist.
Wir gehen nun an die Beschreibung des Eythema exsudativum multi-
forme Hebrae und werden unsere Ansichten Uber die Übrigen polymorphen
Erytheme in der Diflerentialdiagnose darzulegen versuchen.
1. Erythema exsudativnm multiforme Hebrae.
(seit dem Jahre 1890 beobachtete ich in jedem Herbst — beginnend im
September, mit fast gleichmässiger Intensität dauernd bis zum Januar, dann noch
einmal ansteigend im März und April, nur während des Sommers meist fast ver-
schwindend — eine typisch verlaufende exanthematische Erkrankung.
Während der ersten Jahre war mein ’ auf die Privatpraxis und Poliklinik
beschränktes Material doch nur so gross, dass die Krankheit meine Aufmerk-
samkeit wohl erregen, aber nicht zu Untersuchungen zu dienen vermochte, die eine
entscheidende Stellungnahme und Aufklärung in principielleu Fragen erlaubt
hätte. Ausserdem war ich in meiner Auffassung der mir zur Beobachtung kommen-
den Fälle vollständig durch die in dem schon erwähnten BEsxiKK'schen Artikel
niedergelegten Anschauungen bestimmt. Erst mit Uebernahme der dermatologi-
schen Abtheilung des Hospitals in Huidar-Paseha wurde mir seit 1894 ein grösseres
stationäres Material zugänglich.
Der Abtlieilung für Dermatologie und Syphilis des Hospitals mit einem
mittleren Bestände von 140 Kranken gehen Soldaten aus allen Kasernen der
Hauptstadt zu, Kasernen, die auf beiden Seiten des Bosporus liegen; auf der
europäischen Seite giebt es Kasernen sowohl auf der nördlichen (Peru), wie
der südlichen (Stambul) Seite des Goldenen Horn.
Unserem klinischen Material ist eine gewisse Einseitigkeit nicht ahzu-
sprechcn, da es sich nur um Männer eines bestimmten Lebensalters handelt.
Andererseits bietet aber gerade dieses Material gewisse Vortheile. Besonders
betone ich das gegenüber dem Material , das Lewin's Arbeit zu Grunde lag.
Dasselbe setzte sich zum grossen Theile aus specifisch inticirten Mädchen , meist
wohl Pucllis publicis zusammen. Es bestanden also bei diesen Patienten schon
vorher anderweitige Erkrankungen und weiter kann man wohl, ohne Gefahr des
Widerspruches, eine gewisse „Anlage zur Nervosität“ bei diesen weiblichen Patienten
a priori annehmen.
Unsere Patienten sind durchwegs stramme, gesunde Männer, von vor-
handenen Krankheiten kann meist nicht die Rede sein. Nervosität wird man bei
diesen vollkommenen Natnrkindern vergeblieh suchen.
Ehe wir in die Details unserer Beobachtungen eingehen, sei noch eine
hier unmittelbar interessirende Abschweifung gestattet.
Hkbka') (1. c. pag. 200, Anmerkung) sagt unter Erythema exsudativum
multiforme: „Nach den Angaben von RlGl.KR und Gdstav v. Gaai, soll dieses
Erythem in den Provinzen der europäischen Türkei endemisch Vorkommen.“
Mit der Abfassung dieser Arbeit beschäftigt, musste uns natürlich diese
Angabe von Werth sein, und wir lassen hier den RlGLER’schcn Text folgen5'):
„Unter den acuten nicht contagiösen Exsudaten in der Haut betrachten
wir das Erythema papulatum. Eine unter den Truppen im Frühjahr sehr häutig
verkommende Hautkrankheit ist das Erythema papulatum ; es erscheint in einer
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Heftigkeit und Verbreitung, welche uns überraschte. Unter den in Constantinopel
lebenden Europäern sahen wir es jedoch nie, desgleichen nicht bei Personen
dunkler Hautfarbe. Pbi'NER’s51) Mittheilungen über die Urticaria lassen mit Recht
mutbmassen , dass viele der von ihm beobachteten Falle dieser Hautform ange-
hören, jedoch wirft er sie zusammen.“
Rigi.ki; giebt dann eine ganz vorzügliche Beschreibung des Erythems.
Die hiesigen Aerzte, besonders die im Hospitaldienst seit langen Jahren
beschäftigten (meist im Auslande ausgebihleten) Collegen versichern ebenfalls,
dass sie das Erythema exsudativum muttiforme besonders im Herbst und Früh-
jahr jedes Jahres in grösserer Anzahl zn beobachten Gelegenheit gehabt haben.
Der folgenden Beschreibung des Exanthems liegen Beobachtungen zu
Grunde von 17 in der Privatpraxis und Poliklinik innerhalb 5 Jahren und von
102 in der Klinik vom September 1894 bis Januar 1896 beobachteten Fällen.
Die Fälle aus der Privatpraxis vertheilen sich auf 4 Personen weiblichen,
13 Personen männlichen Geschlechts. Die Erkrankungen fallen fast zu gleichen
Thcilen für jedes Jahr auf die Monate October, November März, April.
Die 105 klinischen Fälle, die natürlich sämmtiieh Männer betreffen, ver-
theilen sich in folgender Weise auf die Monate von August 1894 bis December
1 895 (inclusive) :
1894 :
August 2 Fälle
September 6 „
October 2 „
November 4 „
December 6 „
1895:
Januar II Fälle
Februar 1 „
März 11«
April 12 „
Mai 3 „
Juni 7 „
Juli 5 „
August „
September 9 „
October 9 „
November 9 „
December 5 „
Zusammen . . 105 Fälle
Die Monate mit den höchsten Zahlen sind also Januar, März, April.
Diese Statistik wird durch die nächsten Jahre fortgesetzt werden und so zuver-
lässige Zahlen ergeben.
A. Beschreibung des Exanthems.
Nach unbestimmter lncuhation , meist deutlicher Invasion pflegt am 2.
oder 3. Tag der Erkrankung folgendes Exanthem aufzutreten.
Es bilden sich in den oberflächlichen Schichten, nicht in das Unterhaut-
ztllgcwcl e üqergreifcnd, — der Häufigkeit nach aufgezählt — auf Handrücken,
Gesicht (besonders Stirn), Stcrnoclaviculargegend, Nacken, Hals (seitliche Partien),
Knien, Unterschenkeln, Fussrücken, höchst selten auch am Thorax die gleich
näher zu beschreibenden Efflorescenzen.
ln der Mehrzahl der Fälle sind die Conjunetiven und die dem Gesichte
zugänglichen Schleimhäute befallen. Ja, die ganz charakteristische Conjunctivitis
ist häufig das erste Symptom ; der beste Beweis dafür ist , dass mir viele der
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betreffenden Patienten von der Abteilung meines sehr verehrten Colleger., des
Chefarztes der ophthalmologischen Abtheilung, des Dr. Dikran Bf.y Adjemian, zu-
gehen, der, ein in Wien als Sehfiler Aki.t’s ausgebildeter Oculist, meinen Beob-
achtungen durch l'ebersendung der betreffenden Fülle und durch die weiter unten
folgende Beschreibung der Cobjunctivalveränderungen eine Unterstützung hat an-
gedeihen lassen, die mich ihm zu grossem Dank verpflichtet.
Die Efflorescenzen bieten eine grosse Polymorphie, sowohl was die
Formen und Farbe derselben nebeneinander als ihre Aufeinanderfolge betrifft.
Die hauptsächlichsten Grundformen wollen wir als die papulöse und als
die vesieulöse bezeichnen.
Ks bilden sich z. B. auf dem Handrücken 0,3 — 1 Cm. Durchmesser
habende, bald hochrothe, bald etwas linde, bald — besonders bei dunkler Haut-
farbe — rothbraune runde Erhabenheiten von oberflächlichem Sitz. Die Zahl
derselben ist meist nicht gross.
Innerhalb 24 Stunden wachsen diese oberflächlichen Knötchen peripher;
gleichzeitig flacht sich ihr Centrum leicht ab und nimmt eine zu Beginn nur eben
angedentetc cyanotische Färbung an.
In den nächsten 2 — 3 Tagen hält das periphere Wachsthum an und
die centrale, nunmehr meist ausgesprochen cyanotische, ungefähr auf das normale
Niveau der Haut eingesunkene Partie macht den bei weitem grösseren, von einem
rotlien Saum umrahmten Tlieil der Läsion aus: manchmal begegnen sich solche
Läsionen und der rothe Wall verschwindet zum Tlieil da , wo zwei Kreise auf-
einander 8tossen. Die Begrenzung dieser Kreise ist meist ziemlich regelmässig
oval, rund, jedoch kommen kleine Unregelmässigkeiten , Ausbuchtungen an den
Rindern vor. In den eben beschriebenen Phasen der Entwicklung Anden wir die
Formen des sogenannten Erythema papulatum, viarginatum, gyratum wieder.
Manchmal — nicht häuflg — tritt in den ersten Tagen innerhalb des
blau verfärbten Centrums ein neues Knötchen auf mit demselben Verlauf — wir
halien dann die Formen des Erythema tri».
In anderen Fällen bilden sich — am besten ist dies im Allgemeinen
auf der Stirne zu beobachten — Läsionen, die man als „Herpes“ bezeichnet hat.
Ganz selten ähneln diese Läsionen wirklich dem Herpes, ln den meisten Fällen
haben sie nicht die abfallenden Ränder der Herpesbläscben , sondern ähneln
grossen Blasen dyshidrotischer Affectionen, mit dem Unterschiede, dass die be-
deckende Homschieht bei dem Erythemherpes bedeutend dicker, der Inhalt der
Blasen bedeutend weniger fltissig erscheint. Mit den beiden letzten Merkmalen
sind die Epidermiscrhebungen, die an Stelle des Erythemknötchens treten, unserer
Ansicht nach am besten charnkterisirt. Sie stehen oft vereinzelt, oft in Gruppen,
haben einen Durchmesser ven 0,2 — 0,5 C'm., selten grösser, sind von grauer,
gequollener, stärkt ähnlicher, graugelblicher, manchmal mit einem leichten violetten
Ton vermischter, durchscheinender Farbe. Durchwegs haben sie gar keinen Ent-
zflndungshof — besonders auf der Stirn ; selten sitzen sie einem rotlien Ent-
ztmdungsliof auf. Aeussorst selten ist dieser Entztlndnngshof sehr ausgesprochen
und die Epidermisahhebung mehr einer wirklichen Blase ähnlich ; in diesen Fällen
ist der durchscheinende Inhalt der Blasen ausgesprochener gelblich gefärbt, doch
ist immer noch ein bedeutender Unterschied zwischen der graugelben Farbe dieser
Erythemherpes und der eitergelben Partie einer Pustel. Grosse, als „Bullae“ zu
bezeichnende Blasen haben wir in keinem Falle angetroffen.
Die oben beschriebenen llerpesformen machen nun ganz ähnliche Ver-
änderungen durch wie die früher beschriebenen Knötchen. Ihr Centrum flacht
»ich ab, selten jedoch nur kommt es zur Bildung einer feinen Kruste, der Rand
breitet sich aus. Dieser Rand hat meist ein eigenartiges Aussehen. Am besten
entspricht seinem häufigsten Aussehen wohl , wenn man ihn als erhabenen, ge-
rötheten Rand bezeichnet, auf dem die Blasenbildung mehr angedeutet als zur
Ausbildung gekommen ist.
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ERYTHEME.
Die Farbenveränderung des Centrums, der weitere Ablauf, das bin und
wieder beobachtete Aufschiessen neuer Blasen im Centruin, wobei es vollständig
zur Cocardenform kommt, entspricht im Ganzen den oben beschriebenen Ver-
änderungen der Knötchen (Herpes irfs [WlLLAN, Raykh]).
Die mehr ausgesprochene Bläschenform zeigt in der Entwicklung wenig
Unterschied. Entsprechend der stärkeren Abhebung der Hornschicht ist die cen-
trale Abdachung in Form und Farbe etwas verschieden von den eben beschrie-
benen Läsionen. Wie es übrigens schon bei der schwächer ansgebildeteu Bläsehen-
form zu beobachten ist, zeigt das Centrum häutig eine weniger eyanotisch als
bräunlich pigmentirte Färbung und die bedeckende Homschicht ist runzelig, ge-
fältelt ; die Blasenform bleibt überdies länger erhalten , die centrale Abdachung
also tritt langsamer, weniger ausgesprochen ein als bei den anderen Formen.
Alle Formen können sich auf demselben Individuum finden ; sowohl der
Form als der Farbe nach ist dann eine grosse Mannigfaltigkeit zu beobachten.
Noch grösser wird diese Mannigfaltigkeit, wenn nach Ablauf des ersten Exan-
thems am 10. — 12. Tage ein neuer Nachschub eintritt. Wie erwähnt, kommen
während der ersten Eruption solche Nachschübe wohl vor, sie sind aber, so weit
ich beobachtet habe, im Ganzen selten, worin ein Unterschied gegen das Erythema
nod'isum liegt, bei dem die Eruptionen in den ersten Tagen fortgesetzt einauder
folgen. Dagegen sind die Nachschübe mit Ablauf der ersten Eruption nicht gar
selten : ja es werden sogar 3. und 4. Nachschübe beobachtet. Dann bieten aller-
dings die blaugrauen , bräunlichen , manchmal desquamirenden alten Flecke mit
den hochrothen oder vesiculösen, im Centrum cyanotischen neuen Flecken ein
sehr scheckiges, vielgestaltiges Aussehen.
Nach 11 — 12 Tagen ist, wie erwähnt, die Eruption abgelaufen. Der
erhabene rothe Rand oder Bläschenrand verschwindet, die von der Eruption ein-
genommene Hautpartie ist auf das normale Niveau zurückgeführt. Aber Form
und Ausdehnung der Läsionen ist noch sehr deutlich, zuweilen wochenlang sicht-
bar. Wo es nur zur Knötchenbildung gekommen ist, sieht man meist eine glatte
Haut, deren Farbe aber sich langsam vom Blau zum Braun und zum Grau ab-
wandelt; in denjenigen Fällen, in denen es zur Bläsehenbildung gekommen ist,
erscheint die Hornschicht zunächst gefältelt, später kommt es zu starker, kleien-
förmiger, manchmal aber auch lamellöser Abschnppung,
Wenn es sich um Nachschübe gehandelt hat, wenn im Centrum einer
abgelaufenen Läsion sich eine neue Läsion entwickelt hatte, so können auch diese
znrtirkbleibenden pigmentirten Stellen eine vollständige Cocardenform haben, wie
ich cs ganz besonders scharf ausgesprochen am Halse in einem Falle mit starken
localen und Allgemeincrscheinungen constatiren konnte.
Die Pigmentation besteht oft sehr lange; ich habe in vielen Fällen, die
wegen langsamer Reconvaleseenz im Hospital verweilen müssten, noch nach sieben
Wochen deutlich den Platz und Ausdehnung jeder einzelnen Läsion feststellen
können. In den meisten Fällen verschwinden indessen alle Spuren innerhalb der
ersten vier Wochen.
Besonderheiten des Exanthems nach den einzelnen Regionen.
Entgegen den Angaben vieler Autoren müssen wir betonen , dass nicht
„fast ausnahmslos Handrücken und Fussrückeu“ befallen sind. Verhältnissmässig
häutig ist auch der Fussrticken befallen — bedeutend häufiger, fast ausnahmslos
aber der Handrücken. Dagegen ist häufiger, als man nach den meisten Angabeu
annehmen sollte, das Gesicht befallen, nämlich fast genau so regelmässig wie
die Hände.
An den Händen finden sich alle Formen , jedoch häufiger die papulöse
als die vesiculöse Form. Vorzugsweise ist der Handrücken befallen, in einigen
Fällen auch die Finger, sehr selten das Innere der Handfläche und dann nur
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der Daumen- und Kleinfingerballen. Der Vorderarm zeigt seltener und spärlicher
Usiunen, der Oberarm äusserst selten, fast nie.
Die Einzelläsionen auf dem Handrücken können sehr isolirt oder sehr
zahlreich und gruppirt sein. Gerade an den Händen kommt es in Fällen mit
sehr ausgebreiteten Läsionen und ausgesprochenen Allgemeinsymptomen manchmal
zu ganz bedeutenden, ödematösen, phlegmonösen Processen ähnelnden Schwellun-
gen, jedoch sind derartige Fälle immerhin selten.
An den Händen habe ich in einigen Fällen (im Ganzen 3mal) folgende
interessante Beobachtung machen können. Es handelte sich um eine in einem
Oval ungeordnete, aus 5 — 10 Elementen bestehende Gruppe von Vesikeln; das
('«ntrum war schon etwas abgeflacht und bläulich verfärbt. Mitten durch dieses
Ontrum hindurch sah man eine ganz obertlächliche, sich dunkelblau abzeichnende,
inder Karbe auffallend mit der Localität übereinstimmende , gegen alle übrigen
gleichartigen Gefässe abstechende, verhältnissmiissig bedeutende Vene.
Während an der Hand, wie erwähnt, die papulöse Form gegen die
vcsicnlöse vorwiegen dürfte , scheinen im Gesicht beide Formen gleich häutig,
auf der Stirn dagegen die vcsicnlöse Form vorwiegend zu sein. Auf der Stirn
findet man am häufigsten die gruppirten, hemisphärischen Bläschen, die den Ein-
druck machen, als seien sie sehr dickwandig und hätten einen dickflüssigen In-
hilt. Wenn man solche Bläschen ansticht, so entleert sich in der That kaum
Flüssigkeit. Auch das Fehlen jeder Entzündnngsröthe wird an der Stirn am häufig-
sten beobachtet.
Auf den Wangen finden sich oft wenige, symmetrisch angeordnete Ele-
mente. Auch auf den Augenlidern trifft man Papeln und Vesikeln; es kann dann
wohl zu recht beträchtlichen Schwellungen der Lider — besonders der oberen —
kommen.
Wie erwähnt, ist das Gesicht fast regelmässig , jedenfalls häufiger als
die unteren Extremitäten befallen. *)
Die gi'össte Symmetrie zeigen die an den seitlichen Halspartien auf-
tretenden, häufig vesiculösen Läsionen. Die Mittellinie ist fast nie befallen.
Am seitlichen Hals kommt es manchmal zu. ausgedehnteren, durch Con-
tlucuz zahlreicher Papeln entstandenen, fast erysipelartigen Flecken. Die Ober-
fläche dieser Infiltrate ist chagriuirt, der gemeinsame Hand leicht erhaben. Man
kann am Rande häufig das Hineinbeziehen neuer Papeln beobachten.
Auf der Brust und am Nacken zeigen gerade die Tlieile, die — bei
den vom Lande kommenden Recruten — für gewöhnlich unbedeckt getragen
werden, die Melirzahl der Elemente, ja diesellien sind meist fast genau auf diese
Märker pigmentirten Flächen beschränkt.
Einmal unter allen beobachteten Fällen konnten wir das Auftreten von
Eruptionen in grösserer Ausdehnung auf dem Thorax, aucli auf den Seitontheilen
und tiefer am Rücken herunter beobachten. Die Läsionen unterschieden sich in
nichts von den übrigen und die Affection lief auch hier in der gewöhnlichen Zeit ab.
Eigent liümlieh ist es, dass so viele Beobachter von dem häutigen oder
fast ausnahmslosen Befallensein des Fugsrückens reden. Häufig zeigt allerdings
auch dieser Theil Eruptionen, aber doch ungefähr nur in der Hälfte der Fälle.
Die unteren Extremitäten sind in der Mehrzahl der Fälle neben Händen , Brust
und Gesicht befallen, niemals aber sahen wir die Affection auf die unteren
Extremitäten beschränkt.
An den unteren Extremitäten sind — der Häufigkeit nach — befallen :
I ntcrselienkel (vorderer Theil), Knie, Fnssrüekeu, Oberschenkel.
*) Bestimmte Zahlenangaben Wullen wir nicht gehen, da unter den besonderen hiesigen
\ erhältnissen zu so eingehenden statistischen Vergleichungen zu benützende Eintragungen erst
»eit Beginn dieses Semesters gemacht sind. — ■ Ri gier, t. c., erwähnt auch das häutige Hefallen-
»trden des Gesichtes.
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ERYTHEME.
Die Läsionen an der unteren Extremität haben eine Reihe von sehr
beachtenswerthen, wohl durch örtliche Disposition bedingten Eigenthümlichkeiten.
Würden sich solche Affectionen beschränkt auf die untere Extremität finden , so
wllrde man in Verlegenheit kommen können wegen der Diagnose — wie gesagt,
sahen wir ein Befallensein der unteren Extremität stets nur neben Läsionen an
Händen und Gesicht, die jeden Zweifel von vornherein aussch'ossen.
Am Unterschenkel sind die Papeln oft so gross , dass man sie eher
Knoten nennen könnte; ihr Sitz ist zu beiden Seiten oder auf der Tibia. Die
Farbe ist von vornherein eine mehr cyatiotische, sie durchlaufen nicht so typisch
die Entwicklungsphasen, wie wir sie für den übrigen Körper beschrieben haben.
Mauchmal finden sich nur 2 — 3, dann aber haudtellergrosse, gar nicht scharf
begrenzte , im Aussehen vielmehr einer phlegmonösen Infiltration als einem
Erythemknoten gleichende Läsionen. Diese sind dann , was wir von subjectiveu
Symptomen vorweg nehmen wollen, äusserst schmerzhaft. Die vesiculäre Form ist
an den unteren Extremitäten viel seltener. Auf dem Fussrücken ähneln die Eiuzel-
elemente und ihre Entwicklung wieder mehr dem gewöhnlichen Typus.
Häufiger, als es nach den Angaben der Autoren scheinen könnte, sind
die Knie befallen. Hier finden sich meist zahlreichere, gewöhnlich stärker cyano-
tisch gefärbte Infiltrate, aber auch hier sind Formen und Entwicklung weniger
multiform als an den oberen Extremitäten und am Gesicht.
B. Schleimhäute.
a) Schleimhaut des Mundes und des Rachens.
Die Schleimhäute des Mundes sind in der Mehrzahl der Fälle befallen,
die des Rachens selten. An der Mundschleimhaut sind es besonders Schleimhaut
der Ober- und Unterlippe mit angrenzenden Theilen der Wangenschleimhaut,
manchmal auch der Gaumen.
Meist bestehen die Veränderungen auf der äusseren Haut und den Schleim-
häuten gleichzeitig; in einigen Fällen jedoch waren die Schleimhautaffectionen
vor denen der äusseren Haut zu constatircn.
Die Veränderungen der Schleimhaut können sein a) rein hyperämiseber
(„erythematöser“) Art; b) es bilden sich begrenzte (papulöse) Infiltrate; c) es kann
zur Bläschenbildung kommen; d) endlich' werden auch Ulcerationen beobachtet.
Die häufigste Form der Schleimhautläsionen ist die zweite, die der be-
grenzten papulösen Infiltrate.
Dieselben finden sich in grosser Constanz besonders deutlich an der
Lippcnschleimhaut , in begrenzter Anzahl auftretende linsengrosse , meist isolirt
stehende, älteren Hätnorrhagien ähnliche Infiltrate, leicht über das Niveau der
umgebenden .Schleimhaut hervorragend. Die Farbe ist weinroth , dunkelviolett,
manchmal fast blauschwarz. Selten confluiren mehrere Infiltrate. Diese Läsionen
vergehen gleichzeitig mit den Eruptionen der äusseren Haut, ohne Spuren zu
hinterlassen.
Die rein erythematöse, die vesiculöse und besonders die ulccrirte Form
sind bedeutend seltener.
Zweifellos kommen diffuse Röthungen der Gaumenbögen und des Zäpf-
chens als Sehleimhauteraeheinungen unserer Affcction vor. Jedoch ist cs häufig
schwer, über die Art dieser Hyperämie ein sicheres Crtheil abzugeben.
Blasenbildung kommt bin und wieder, meist auf der Schleimhaut der
Ober- und Unterlippe vor. Dass diese Bläschen , ebenso wie die der äusseren
Haut, eine besonders starke bedeckende Epidermis und sehr schwerflüssigen In-
halt haben , ergiebt sich daraus , dass Ulcerationen ausserordentlich selten sind ;
übrigens entleert sich beim Anstechen dieser Bläschen wenig oder gar kein In-
halt. Die Bläschen sitzen, rund oder oval, einem bläulichen oder rothen Grunde
auf, sind meist kaum grauroth, selten mit einem Stich in’s Gelbliche, von Farbe.
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175
Ulcerationen haben wir im Ganzen nur viermal beobachtet , und zwar alle in
kurzer Zeit, bei sehr verbreitetem Exanthem auf der äusseren Haut und heftigeren
Allgemeinerscheinungen. Einmal waren die l’lcerationen verhältnissmitssig zahl-
reich : es bestanden 5 längliehe, unregelmässig gerundete, mit gelblichem Seerete
bedeckte, ziemlich flache, mit schmalem rothen Kntzflndungshof umgebene Snb-
stanzverluste uud dabei war ttarke Salivation vorhanden.
Wenn, wie es in dieser letzterwähnten Beobachtung der Fall war, diese
Ulcerationen vor den übrigen Symptomen zur Ausbildung kommen, so ist eine
Verwechslung mit syphilitischen Ulcerationen , speciell aber mit den Substanz-
verlusten der Hydroa leicht möglich. Die Ulcerationen des Erythems sind meist
kleiner und regelmässiger, weniger schmutzig gefärbt als die syphilitischen,
weniger regelmässig und mit weniger scharfem Hand als die der Hydroa. Ausser-
dem muss das Gesammtbild, das Fehlen anderweitiger luetischer Symptome, der
weitere Verlauf der Affection die Diagnose klären.
Behrexd j‘) will eine ähnliche Affection — „kleine, seharlacbrothc,
papulöse Erhabenheiten von Stecknadelkopfgrösse, welche an den Genitalien eine
profuse Blennorrhoe veranlassten und unter dem Einfluss der letzteren leicht
■ ulccrirten“ — an den weiblichen Genitalien beobachtet haben. Ulcerationen auf
|der Mundschleimhaut hat auch Lipp**), Betheiligung der Mundschleimhaut haben
viele Autoren constatirt.
bj Conjunctivitis e x an t h em a t ica.
Gar nicht oder nur ganz beiläufig erwähnt ist in der Literatur ein sehr
richtiges und coustantes Symptom des Erythema exsudativum multiforme
riebrae — die Conjunctivitis exanthematica , die man sehr wohl als
■unjunctivitis papulo-vesiculosa bezeichnen könnte.
LlPP**j erwähnt, dass „in zwei Füllen die Bindehaut des Auges (ohne
Erkrankung der Haut der Lider) gcröthet war, einmal in Form eines umschrie-
benen rothen Fleckens“.
Rigler (1. c. pag. 451 hat, was natürlich für uns von besonderem Interesse
)t, hier in Cunstantinopel vor 50 Jahren die Conjunctivitis sehr gut beschrieben :
Jie Conjunctiva beider Augen, besonders am inneren Augenwinkel, zeigt sich
dem Erythema pnpnlatum constant leidend, ein oberflächlich liegendes, breit-
»schiges, saturirt geröthetes, in Spitzen von der Peripherie der Bindehaut gegen
Hand der Cornea zulaufendes Gefässnetz, das sich um die hin und wieder
^bildeten kleinen Abseesse dichter anhäuft.“
Eine These de Paris von Beaüdoxxet*1), in der übrigens die verschieden-
artigsten Erytheme unter einer Etiquette abgehandelt werden , beschreibt ziem-
lich ungenügend Coujunetivalaflectionen. Ein sicher hieher gehöriger Fall ist der
von Fi chs als Herpes iiis conjunctivae beschriebene.
Wie oben erwähnt, ist diese Conjunctivitis häufig das erste Symptom
der Eruptionsperiode. Man sieht in der Lidspalte, auf den horizontalen Durch-
messer des Auges beschränkt, einen Kegel injicirter Gefässe, meist von dreieckiger
Gestalt, mit der Basis am Conjunctivalrande und der Spitze in den Augenwinkeln.
Auf diesem Injeetionskegel aufsitzeud, finden sich kleinlinsengrosse, leicht erhabene,
mit starkem Gefässnetz umgebene, theils isolirt, theils gruppirt stehende und
confluiremle rothe Papelchen oder vollständig transparente Bläschen. Ich gehe im
Nachstehenden die Beschreibung, welche mir mein verehrter College Herr
Dr. Hieran Bey Ai>.i emi an gütigst deutsch niedergeschrieben hat.
„Ueber Conjunctivitis beim polymorphen Erythem.
Die hier zu beschreibende »Form der Conjunctivitis gehört in der Mehr-
zahl der Fälle zu den ersten Erscheinungen der Krankheit, und zwar kommen
die Augensymptome bisweilen einige Tage*) vor und spätestens 3 oder 4 Tage
In dem Fuchs'scken Falte 7 Tage (I. c.).
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17(1
ERYTHEME
nach dem Auftreten der Hautausschläge zum Vorschein. Man bemerkt zuerst auf
der Conjunctiva bulbi mehr oder weniger umschriebene Flecken, welche durch
Infiltration der betreffenden Conjunctiva, sowie auch des subconjunctivalen Binde-
gewebes entstanden sind. Form und Ausdehnung dieser Flecke ist verschieden.
Sie zeigen meistens dreieckige , in anderen Fällen auch viereckige oder rund-
liche Formen; ihre Ausdehnung kann in verticaler Richtung 5 Mm. Bis 2 Cm.
und noch darüber sein, während in horizontaler Richtung diese Ausdehnung noch
etwas mehr ist. Der infiltrirte Theil ist etwas über die Oberfläche der übrigen
Bindehaut erhallen und zeigt ausserdem mehrere kleine stecknadelkopfgrossc oder
hirsekorngrosse Erhabenheiten , welche wahrscheinlich durch subepitheliale um-
schriebene Infiltrate zu Stande gekommen sind; sie haben gelbliches oder leicht
grauliches Aussehen. Die conjonctivalcn, sowie die subconjunctivalen Gefässe sind
auf dem infillrirten Theil stark injicirt, wodurch derselbe eine rothgclhliehe Farbe
bekommt. Der Lieblingssitz der Krankheit ist jener Theil der Conjunctiva, wel-
cher aus der Lidspalte gesehen werden kann, wo der Krankheitsherd sich immer
bis zur Grenze der Hornhaut ausdebnt. Die äussere Seite der Conjunctiva bulbi
ist Öfters als die innere befallen, nur selten sieht man das Auftreten der Krank-
heit auf dem oberen oder unteren Thcile der Bindehaut. Die übrige Conjnnetiva
bietet meistens die Erscheinungen einer ziemlich starken Hyperämie dar; in
einigen Fällen kommt noch hinzu ein katarrhalischer Zustand. Die subjeetiven
Symptome bestehen darin, dass die Kranken über Brennen, Jucken und Thränen
der Augen klagen ; Lichtscheu ist in sehr massigem Grade vorhanden. Conjunc-
tivalabsonderung besteht entweder gar nicht oder nur sehr wenig; seltener beob-
achtet man eine reichliche schleimige oder schleimig-eiterige Secretion. Endlich
soll noch erwähnt werden, dass die Krankheit meistens auf den beiden Augen
zugleich auftritt, nur sehr selten kommt sie einseitig vor.
Die Diagnose kann aus dem oben Gesagten mit Sicherheit und ohne
Verwechslung mit einer anderen Bindehautkrankbeit gestellt werden. Dazu trägt
noch bei das Vorhandensein einer erythematösen Eruption.
Der Verlauf ist immer acut. Die Augeuerscheinungen gehen mit dem
Verschwinden des allgemeinen krankhaften Zustandes zurück, und zwar in zwei
bis drei Wochen. Doch ist diese Krankheit Afters recidivircnd.“ (NB. Meist am
12. — 14. Tage sah ich die Nachschühe. Der Verf.) „Die Prognostik ist gün-
stig, namentlich wenn mau die Kranken unter zweckmässiger Behandlung und
regelmässigen hygienischen Massregelu hält.
Was die Behandlung anbelangt , so bat man meist rein exspertativ zu
verfahren. Lauwarme antiseptische Waschungen der Augen können unter Um-
ständen nützlich werden. Die Kranken füllen grelles Lieht, starken Wind und
Staub vermeiden. Gute und regelmässige Kost ist vortheilhaft, geistige Getränke
sind den Kranken ganz verboten.“
Gerade wenige Tage, nachdem ich vorstehende Beschreibung von meinem
verehrten Collegen erhalten hatte , zeigte derselbe mir die erste Complieation
einer Conjunctivitis exantbeinatica. Es handelte sich um einen Patienten , der
Mitte November mit Conjunctivitis exanthematica auf meine Abtheilung nach
Ausbruch des Exanthems überführt worden war. Am 20. December, nach Heilung
des Erythems , sandte ich den Patienten mit einem Recidiv der Conjunctivitis,
das etwas heftigere Reizerscheinungen zeigte, auf die ophthalmologische Ab-
theilung zurück. Am 26. December zeigte mir der College folgenden Status:
Auf der rechten Cornea, besonders auf dem Cornealrand, neben der exanthemati-
sehen Conjunctivalintiltration , ist eine aus drei gelben Infiltraten bestehende
Keratitis exsudativa zu eonstatiren. Bei seitlicher Beleuchtung sieht man , dass
diese Knötchen deutlich erhaben sind über die Oberfläche. Sie zeigen grosse
Aehnliehkeit mit Keratitis phlyctaenulosa. Der Kranke ist vollständig geheilt
entlassen.
Mindestens 75°/» aller Kranken zeigen diese Conjunctivitis.
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2. Symptomatologie.
Nach der Beschreibung des Exanthems gehen wir nun zur Symptomato-
logie des Erythema exsudativum multiforme Hebrae über. Wir haben dasselbe
für eine acute exanthematisehe lufeetionskrankheit erklärt und haben nun nach-
zuweisen, dass in denjenigen Fällen, in denen das von uns beschriebene Exanthem
bestand, auch die übrigen Zeichen einer Infectionskrankhcit bestanden, dass wir
einen cyklischen Ablauf dieser Krankheit, Incubation, Invasion, Eruption und in
bestimmter Zeit einen Ablauf des Exanthems, sowie die objectiven und snbjeetiven
Allgemeinerscheinungen einer Infection beobachten können.
a) Incubation.
Es ist von grosser Wichtigkeit, über die Periode der Incubation aus-
drücklich zu sprechen , wenn wir auch weder ihre Dauer, noch ihre Symptome
genau tixiren können. Wichtig aber ist es im Hinblick auf eine Aeusserung
Bk^xikr’s (I. c. pag. 5). Nachdem Besnier dargelegt hat, dass das „polymorphe
Erythem“ stets eine individuelle Prädisposition voraussetzt und nachdem er Uber
die Ursachen gesprochen hat, welche diese Anlage „auslösen“, sagt er:
„Es giebt keine Epidemien von polymorphem Erythem. Alles, was in der Hin
sicht vorgebracht ist, ist unbegründet und bezieht sieh nur auf seeundäre Ery-
theme nach zymotisehen Krankheiten, Cholera, Influenza, Dysenterie u. s. w.,
oder eB bezieht sich auf wirkliche fieberhafte Krankheiten, die wegen ihres abor
tiven Charakters oder der nicht nachweisbaren Contagiosität verkannt worden
sind, wie z. B. Masern, oder endlich, es handelt sich um Einführung von Nahrungs-
mitteln, die sich nur auf eine bestimmte Gruppe, auf eine genau begrenzte Zeit
beschranken; die Erytheme verschwinden, wenn diese zufällige Ursache sieh
nicht wiederholt.“
Den grösseren Theil der hier erwähnten Punkte haben wir zu be-
sprechen, wenn wir uns zu der Aetiologie des uns beschäftigenden Erythems
wenden. Aber es geht aus diesem Passus der BESxiER’schen Arbeit zur Genüge
hervor, dass wir genau darauf Acht zu geben haben, ob wir in der Zeit, in welche
wir die Incubation zu verlegen haben, oder in der Zeit, welche dieser Periode
vorhergeht, irgendwelche krankhafte Symptome subjectiver oder objectiver Art
feststellen können. Wenn wir solche Symptome, besonders objectiver Art, finden,
wäre noch festzustellen , ob es Ineubationssymptome sind , oder ob wir es mit
Krankheiten sui generis zu thun haben, die als Secundürerscheinungen das Ery-
them verursachen,
Wir haben diesem Punkte unsere ganz besondere Aufmerksamkeit ge-
schenkt, vorzüglich schon deshalb , weil wir an die Beobachtung unserer Fälle
herangingen, vollständig überzeugt von der Richtigkeit der BüäNiEK’schen An-
sichten. Da uns zunächst keine Symptome in auffallender Weise anfstiessen,
haben wir in jedem einzelnen Falle ausdrücklich unsere Nachforschungen auf
diesen Punkt gerichtet. Erleichtert wurden uns diese Nachforschungen dadurch,
dass eine Anzahl von Patienten mit Favus und chronischem Ekzem auf unserer
Abtheilung erkrankten , nachdem sie zum Theil schon wochenlang in Behand-
lung waren.
Fast ausnahmslos geben die Kranken an, bis 2 — H Tage vor Ausbruch
des Exanthems vollständig gesund gewesen zu sein. Die Fälle z. B. — zwei im
Ganzen ! — , in denen eine Diarrhoe in den letzten 14 Tagen angegeben wurde,
beweisen gerade durch die Zahl so Bicher ein zufälliges Zusammentreffen , dass
sie vernachlässigt werden können. Wir haben also weder Diarrhoe, noch Bron-
chitis, noch irgendwelche fieberhafte, mit oder ohne Exanthem verlaufende Krank-
heit auffinden können , die mit dem Erythem in irgend welchen ursächlichen
Zusammenhang hätte gebracht werden können. Die Incubationsperiode ver-
läuft demnach ohne jedwede objective Symptome.
Encvclop. Jahrbücher. VI. 12
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ERYTHEME.
Die Angaben über subjective Symptome sind selir verschieden, unwesent-
licher und allgemeiner Natur — sehr häufig wohl durch Postsuggestion ein-
gegeben. Die meisten Kranken gehen direct an, vollständig wohl gewesen zu
sein. Einige klagen über ganz allgemeines, nicht bedeutendes Unbehagen, Schwere
in den Gliedern, Kopfschmerz, Appetitlosigkeit. Die meisten Soldaten tliaten bis
zum letzen Augeublick ihren Dienet.
b) Invasion.
Wenn wir im Gegensatz zum Exanthem der äusseren Haut die Erup-
tionen der Schleimhäute als Enantheme bezeichnen wollen, so können wir sagen,
dass in der Invasionsperiode Enanthem , Fieber und AUgemeinsymptome beob-
achtet werden.
Es ist schwer festzustellen, in wie vielen Fällen und wie viele Tage
exact das Fieber der Invasionsperiode der Eruption vorhergeht, da ja die meisten
Kranken erst dann in unsere Deobachtung kommen, wenn sie sich schon wirk-
lich krank fühlen, also meist schon einige Tage krank sind, oder wenn sie gar
schon das Exanthem haben. Wenn wir jedoch das ,. Enanthem“, die Eruptionen
auf den Schleimhäuten , ohne Exanthem auf der äusseren Haut zur Invasions-
periode hinzurechnen und diejenigen Fälle hinzunehmen, die zufällig, wie erwähnt,
auf unserer Abtheilung am Erythem erkrankten, so können wir aus diesen Daten
und aus den anamnestischen Angaben der übrigen Fälle mit ziemlicher Bestimmt-
heit sagen, dass die Invasionsperiode 2 — 3 Tage dauert.
Hkbba*) spricht überhaupt nicht von Fieber, während die Mehrzahl der
späteren Autoren das Fieber erwähnt (z. B. auch Rigler 1. c.i.
ln vielen Fällen kann man nur von subfebrilen Temperaturen sprechen ;
die Temperatur steigt Abends bis 37,7, 37,8°. lu anderen Fällen dagegen —
und zwar nach unseren Beobachtungen müssen wir das ausdrücklich betonen —
ist das Fieber ziemlieh bedeutend und steht in directem Vcrhältniss zur
Ausdehnung des später auftretenden Exanthems.
Wenn wir eine Abendtemperatur von 37,3° C. als die Grenze des Nor-
malen annehmen und alle höheren Temperaturen (Messung in der Achselhöhle i
als fieberhafte bezeichnen, so dürfte ungefähr in 30% der Fälle in der [nvasions-
periode Fieber nachzuweisen sein.
Die Erscheinungen des Enanthems , soweit Conjunctiva, Schleimhaut des
Mundes und Rachens in Betracht kommen, haben wir schon erwähnt. Wir be-
tonen hier uur noch einmal ausdrücklich , dass nach den Erfahrungen unseres
Collegen Dikran Bky Adjkmiak und nach den eigenen Erfahrungen die Eruption
auf der Conjunctiva dem Exanthem bestimmt oft um 2 — 3 Tage vorausgebt 'in
dem oben erwähnten Fall von Fcchs um 7 Tage), dass wir ferner dasselbe für
die Eruptionen auf der Schleimhaut des Mundes feststellen konnten und dass
man demgemäss diese Eruptionen auf der Schleimhaut sehr wohl der Invasions-
periode zuree.hnen kann.
An subjeetiven Symptomen bietet die Invasionsperiode Kopfschmerzen,
Gliederschmerzen, Abgeschlagenheit , Appetitlosigkeit. Wir betonen auch hier
wieder ausdrücklich, dass Höhe der Temperatur, ausgesprochene subjective Sym-
ptome stets im directen Vcrhältniss zur Schwere des weiteren Verlaufes standen.
Die Kopfschmerzen können ganz fehlen , können aber auch sehr heftig
sein. Der Schlaf ist meist unruhig, aber eigentliche Schlaflosigkeit ist eine selten
gehörte Klage.
Die Gliederschmerzen sind vielmehr Muskelschmcrzeu, Schmerzen in den
langen Röhrenknochen als Gelenkschmerzen. Sie fehlen oft ganz.
Die Abgeschlagenheit , eine gewisse Müdigkeit, ist meist recht aus-
gesprochen.
*) L c. (AuS. von 18Ö0).
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179
e) Eruptionsperiode.
Die Eruption erscheint meist sehr plötzlich, die Papeln entwickeln sich
in wenigen Stunden, sind dann aber, was ganz besonders zu betonen ist, stationär,
das heisst sie verschwinden niemals innerhalb weniger Stunden oder Tage, son-
dern machen den Verlauf durch, dessen „Multiformitäf1 wir weiter oben
beschrieben haben, ln den ersten Tagen sehiessen manchmal noch neue Elemente
auf, aber meist hört diese Verbreitung am 3. oder 4. Tage auf. Das Exanthem
besteht ungefähr 11 — 12 Tage.
Die Ausdehnung des Exanthems kann eine sehr verschiedenartige sein.
Wir erinnern uns keines Falles, wo der Handrücken gar nicht befallen gewesen
wäre ; dagegen finden wir verschiedentlich vermerkt, dass das Exanthem auf der
Stirne, im Gesicht, auf der Brust schon 2 — 3 Tage bestand und erst dann die
Handrücken befallen wurden. Immerhin sind aber diese Fälle selten und mau
kann sagen, dass fast immer der zuerst befallene Theil der Handrücken ist und
dass meistens das Erythem gleichzeitig auf Handrücken , .Stirne und Thorax
erscheint.
Am zahlreichsten sind die einzelnen Elemente meist auf der Stirn ver-
theilt , dann kommen Hände , Sternalgegend , Gesicht , untere Extremitäten. Zu
Beginn ist die zwischenliegende Haut meist normal, selten zeigt sie eine teigige
Schwellung. Nur ausnahmsweise (ich finde nur 5 Fälle in meinen Notizen) tritt
eine sehr bedeutende Schwellung ein, besonders der Hände; die Besonderheiten
der Eruptionen au den Unterschenkeln sind weiter oben besprochen.
lieber Entwicklung, Verlauf und Verschwinden des Exanthems haben
wir schon bei der Beschreibung des Exanthems des Erythema multiforme exsuda-
tivum Hebrae ausführlich gesprochen.
Wir wollen hier nur betonen , dass wir zwei verschiedene Arten von
Nachschüben zu verzeichnen haben. Die erste Art von Nachschüben tritt wäh-
rend des Verlaufes der ersten Eruption am 4. oder 5. Tage, manchmal sich nach
einigen Tagen wiederholend ein und verzögert so den Verlauf der Erkrankung.
Diese Fälle bieten die grösste Polymorphie, da man alle Entwicklungsphasen und
alle möglichen Formen nebeneinander beobachten kann.
Die zweite Art von Nachschüben ist vielleicht mit ebenso viel Recht als
Rückfall zu bezeichnen.
Wenu das erste Exanthem in der Resorption, respective in der Ab-
schuppung ist , bilden sich meist auf dcu schon vorher befallenen , manchmal
aber auch auf vorher nicht befallen gewesenen Theilen neue Eruptionen mit
dem gleichen cyklischen, manchmal allerdings etwas weniger acuten Verlauf —
geringere Ausdehnung, minder lebhafte Färbung, schnellere Resorption der
Läsionen.
d) Die Allgemeinsymptome
der Eruptionsperiode können sehr unbedeutend sein, sind in anderen Fällen da-
gegen recht heftige.
Das Fieber ist meist nicht hoch, zeigt geringe Morgenremissionen und
abendliches Ansteigen. Ungefähr in der Hälfte der Fälle sind selbst die Abend-
temperaturen noch normal oder übersteigen kaum 37,6“ C. In anderen Fällen
dagegen erhebt sieh die Temperatur während 10 — 12 Tagen Abends auf über
38,5* C. und fällt nach dieser Zeit ab, bleibt aber noch längere Zeit Abends
subfebril. Im Nachstehenden geben wir einige Curven der Abendtemperaturen.
1. Salihmkh Mehmed: 37,4, 37.4, 37,6, 37,5, 37,1, 37,5, 37,3, 37,5,
37,6, 37,4, 37,4, 37,1, 37,1, 37,0, 36,8, 36,7, 36,6. 36,9, 36,8, 36,9, 37,0,
37,0, 36,8. — Entlassung.
Also ein 23tägiger llospitalaufenthalt. Vom Tage des Eintritts (ohne
Exanthem) bis zum Ausbruch des Exanthems (3. Tag) ist im Vergleich zu den
Temperaturen, welche am Schlüsse als Norm sich ergaben, immerhin eine Er-
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höhung vod 0,5 — 0,6 Centigrade zu constatiren, die sich 8 Tage, bis zum Ablauf
des Exanthems, erhält.
2. Salih Hamze: 37,5, 37,4, 38,3, 38,0, 37,7, 37,1, 37,1, 37,2 36,9,
37,0 fortlaufend bis zum 30. Tage.
Also leichte Temperatursteigerung circa 0,5 Centigrade in der Invasions-
periode, 1 — 1,5 Centigrade Temperaturerhöhung bei Ausbruch des Exanthems,
aber rasche Rückkehr zur Norm.
3. Mehmed Hassan: Eintritt mit ausgebreitetem Exanthem. 38,4, 38,5,
38,1, 38,0, 37,8, 38,1, 38,6, 38,9, 38,8, 38,4, 38,3. 38,1, 37,9, 37,5, 37,5,
37.6, 37,4, 37,3, 37,4, 37,5, 37,6, 37,8, 37,7, 37,7, 37,6, 37,6, 37,5, 37,6,
37.7, 37,6, 37,4, 37,2, 37,3.
Am 6. Tage war ein Nachschub zu constatiren ; am 20. Tage ein
Rückfall.
4. Meemed Mehmed: Trat ein mit beginnendem Exanthem, starker Con-
junctivitis, Eruptionen auf der Mundschleimhaut. 38,0, 37,8, 38,1, 38,4, 39,0,
38.7, 38,9, 38,5, 38,6, 38,2. 38,0, 38,0, 38,0, 37,7, 38,0, 37,8, 37,5, 37,4,
37,5, 37,4, 37,3, 37,3, 37,1, 37,1, 37,0, 37,0, 37,1, 37,0.
5. Abdullah Salih: Trat ein mit voll ausgebrochenem Exanthem,
starker, fast phlegmonöser , schmerzhafter Schwellung des rechten Handrückens.
39.1, 39,0, 39,0, 39,1, 38,8, 38,9, 38,5, 38,4, 38,1, 37,8, 37,5, 37,5, 37,6,
37.7, 37,6, 37,8, 37,5, 37,6, 37,5, 37,3, 37,4, 37,5, 37,4, 37,2, 37,0, 37,0.
Dauer der Krankheit vor Eintritt — von der Augenabtheilung auf die
Hautabtheilung verlegt — 4 Tage. Am 11. Tage Rückfall. Die Abendtemperatur
während des Rückfalles ist circa 0,5 Centigrade ültcr der Norm.
6. Ibrahim Mehmed: Wenig ausgebreitetes Exanthem, das beim Ein-
tritt schon vorhanden ist. Verlauf mit ganz unwesentlicher, sich in den Grenzen
der Norm liewegender Temperaturerhöhung. 37,8, 37,5, 37,0, 36,8, 37,1, 37,2,
37,5, 37,5, 37,2, 37,0, 37,0, 36,8, 36,9, 36,8, 37,0, 37,0, 36,9, 37,0, 36,9,
36,9, 37,1, 37,1, 37,0, 37,0, 36,8, 37,3, 37,4, 37,3 37,1, 37,2.
Am 8. und am 21. Tage Rückfall.
7. Osman Reschid: Eintritt mit beginnendem massig starkem Erythem.
37.2, 37,1, 37,0, 37,1, 37,0, 37,0, 37,0, 37,1, 37,0, 37,0, 36,7, 37,0, 37,0,
36,9, 37,0, 37,0, 36,9, 37,0, 36,8, 37,3, 37,4, 37,2, 37,1, 37,2, 37,1, 37,0,
37.1, 37,1, 37,2, 37,0.
Der Beginn der Erkrankung ist um 2 — 3 Tage vor den Eintritt zurück-
zudatiren. Am 8. Tage und am 20. Tage Rückfall ; wie ersichtlich, sind fieber-
hafte Temperaturen überhaupt nicht vorgekommen.
8. Mustafa Ismail: Auf der Abtheilung wegen eines Ekzems. Klagt
über Unwohlsein, Kopfschmerz, Gliederschmerz und wurde deshalb gemessen und
genau beobachtet. 37,9, 37,8, 37,8, 37,7, 38,0, 38,2, 38,5, 38,7, 38,1, 38.0,
38.2, 38,1, 38,2, 38,1, 38,0, 38,0 37,8, 37,7.
Am zweiten Tage Conjunctivitis, am 5. Tage ausgebreitetes Exanthem,
das mehrfache Nachschübe zeigt.
Es ergiebt sich aus diesen typischen Curven, dass die Temperatursteige-
rung sehr gleichmässig auf derselben Höhe bleibt und sehr typisch circa am 11.
und 12. Tage zur Norm zurückkehrt; dass ferner die Temperatur mit Nach-
schüben und Rückfällen wieder eine leichte Steigerung zeigt.
Wir müssen hier nochmals betonen , dass die Schwere des Allgemein-
zustandes, Höhe des Fiebers und das Exanthem stets in geradem Verhältniss zu
einander stehen. Es ist uns kein Fall vorgekommen , der bei ausgebreitetem
Exanthem niedere Temperaturen, kein Fall , der bei massigem Exanthem hohe
Temperaturen gezeigt hätte.
Nur ein Symptom macht hier eine Ausnahme nach einer Seite.
Ganz auffallend ist bei dem Erythema multiforme exsudativum Hebrae
die rasch und stark sich entwickelnde Anämie und Schwäche.
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Selbst in Fällen, welche mit Temperaturerhöhungen verlaufen, die unter
der Fiebergrenze liegen , bildet sieh schon in den ersten Tagen eine auffallende
Blässe aus. Alle sichtbaren Schleimhäute sind hochgradig blass, wie es nur nach
schweren, z. B. septischen Erkrankungen oder bei Malaria vorkommt. Weiter
erwähnen schon frühere Beobachter ausdrücklich das eigenthümlich melancholische,
leidende, etwas stumpfsinnige Aussehen der Kranken. Der leidende Ausdruck des
blassen Gesichtes, die psychische Depression der Kranken — wir nehmen dieses
ebenso sehr snbjective wie objective Symptom hier vorweg — , die ihren Aus-
druck in der melancholischen Physiognomie findet, ist ein typisches, regelmässiges,
höchst eigenartiges Symptom. Ohne besondere Klagen sind die Kranken sehr
theilnahmslos ; die Blässe, der melancholische Gesichtsausdruck, die Theilnahms-
losigkeit machen den Eindruck, als habe man einen Schwerkranken vor sieb!
Das Blot, welches man solchen Kranken entnimmt, besonders das Blnt
aus Nadelstichen, ist auffallend blass, dünnflüssig, tleischwasserähnlich. Die
Kesnltate der bis jetzt angestellten Blutuntersuchungen ergaben nicht derart con-
stante Befunde , dasB man daraus schon Schlüsse zu ziehen berechtigt wäre.
Eventuelle positive Ergebnisse dieser Untersuchungen müssen wir einer späteren
Veröffentlichung Vorbehalten.
Die Lymphdrüsen, besonders die Cervicaldrüsen sind oft etwas, in
einigen Fällen sogar recht bedeutend angeschwollen.
Die Milz ist meistens percutorisch als vergrössert nachzuweisen ; nicht
seiten ist auch ein Milztumor durch die Palpation festzustellen.
Der Stuhlgang ist eher etwas träge. Diarrhoe besteht fast nie.
Albuminurie besteht niemals; selbst in den mit IStägigem Fieber und
heftigen Allgemcinerscheinungcn einhergehenden Fällen war niemals Eiweiss im
Urin nachzuweisen.
Die Urinmenge ist normal; bei höherem Fieber ist der Urin etwas
hochgestellt und spärlicher.
Subjective Allgemeinsymptome.
Die Läsionen auf der Haut können vollständig symptomlos verlaufen ;
dies ist die Regel. Die meisten Kranken erklären ausdrücklich , dass sie weder
Jucken, noch Brennen, noch Spannung, noch Schmerz empfinden.
Etwas häutiger wird leichtes Brennen und etwas Spannung, selten
Jucken angegeben.
Nur selten wird Uber wirkliche Schmerzhaftigkeit der Knötchen geklagt.
Dann aber sind es immer stärkere Schwellungen, grössere Knötchen, bedeutendere
allgemeine Schwellungen, welchen die Läsionen aufsitzen, oder, wie an den Unter-
schenkeln, diffusere, einer phlegmonösen Eutzünduug ähnelnde Infiltrate, die dann
recht schmerzhaft sein können. Die Empfindlichkeit stebt also meist in directem
Verhältniss zur Heftigkeit der localen Erscheinungen. Schmerzhaftigkeit der
Gelenke wird wohl hin und wieder angegeben, jedoch haben wir eine Schwellung
der Gelenke nicht beobachtet. Die hauptsächlichste Klage der Kranken ist die
Uber Mattigkeit, Abgeschlagenheit , Gliederschmerzen. Kopfschmerzen sind im
Beginne der Eruptivperiode manchmal sehr heftig, hin und wieder wird auch
über Schwindel geklagt. Der Appetit ist sehr gering, die Zunge belegt, zeigt
aber keine erythematöse Röthung am Rande. Der Durst ist mässig. Die Schwäche
der Kranken, auch solcher, die kein Fieber hatten, ist oft recht gross, ihre
Iieconvalescenz eine langsame; besonders hält das anämische Aussehen merk-
würdig lange an, so dass wir gezwungen sind, unsere Patienten meistens mindestens
drei Wochen, nicht selten fast zwei Monate im Hospital zu behalten.
3. Complicationen.
Herba sagt, wie wir in der Einleitung erwähnten, dass das Erythema
exeujativum multiforme ohne Complicationen verlaufe, während die Autoren
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182
ERYTHEME.
nach Hebra — wir verweisen speciell auf Kaposi — von Complicatiouen beim
polymorphen Erythem sprechen.
In einer kleinen Reihe von Fällen konnten wir Bronchitis constatiren.
Es ist ja sehr wohl möglich, dass das Enanthem , das wir auf der Schleimhaut
des Mundes beobachten , sich ebenso auf der Schleimhaut der Bronchien findet
und so Ursache der Bronchitis ist. Uebrigens werden wir der Bronchitis noch
weiter unten Erwähnung thun, wenn wir den Zusammenhang zwischen Erythem
nnd Tuberkulose erörtern werden. Wir können nun ausdrileklichst betonen, dass
wir, ausser der Bronchitis , unter den mehr als hundert Fällen von Erythema
exsudativum multiforme , die wir beobachtet haben , auch nicht eine einzige
Complication oder Folgen gesehen haben, die auf Rechnung des Erythems hätten
gesetzt werden können. Weder Endo- und Perikarditis, noch Meningitis, noch
Tuberkulose, noch Klappenfehler, noch Pleuro- und Pneumonie haben wir beob-
achtet, weder als Complication, noch als Folgekrankheit, noch als symptomatische
Erscheinung.
In einem einzigen Falle — dadurch gerade verliert er wohl seine Be-
deutung — haben wir bei einem Pompier ein blasendes systolisches Geräusch
Uber der Tricuspidalis gehört. Es ist aber mindestens ebenso wahrscheinlich, dass
dieser Herzfehler schon früher bestanden hat.
Ganz besonderes Interesse ist zwei weiteren Punkten zuzuwenden, Uber
die wir heute keine abschliessende Meinung zu geben vermögen.
Einmal der Punkt, ob diejenigen Individuen, welche einmal diese
Krankheit gehabt haben, disponirt sind, sie ein zweitesmal zu acquiriren -— ob
also durch einmaliges Ceberstehen die von Besnier postulirte individuelle Dis-
position erworben werden kann.
Hkrka (1. c. pag. 199) sagt: „Die Recidivcn sind an einen Typus
annuus geknüpft, und es giebt Individuen, bei denen der Ausbruch eines solchen
Erythems viele Jahre hintereinander in denselben Monaten beobachtet wird.“
Wir vermögen zu dieser Frage noch keine definitive Stellung zu nehmen.
Es ist uns in diesem Jahre noch kein Fall zugegangen von solchen Patienten,
die im vorigen Jahre auf unserer Abtheilung gelegen haben. Es wäre ja nun
möglich, dass gerade diejenigen Individuen, welche etwa in diesem Jahre wieder
erkrankt wären , inzwischen die Hauptstadt verlassen haben. Aber wahrschein-
lich ist das nicht. Unter allen meinen Notizen finde ich nur drei Beobachtungen
von recidivireudem Erythema exsudativum multiforme, und von diesen habe ich
eine frühere inzwischen als irrthUmlich berichtigen müssen.
Die Beobachtung stammte aus der Periode, als wir die polymorphen
Erytheme noch als eine grosse zusammengehörige Gruppe ansahen. Inzwischen
hat sich der Patient mit einem seiner Angabe nach mehr als zwölften
Recidiv — die genaue Zahl wusste er nicht — vorgestellt; ich muss feststellen,
dass meine frühere Diagnose insofern falsch war, als es sich um ein polymorphes
Erythem zwar handelt, aber dass dasselbe dennoch in Form und Verlauf erheb-
liche klinische Differenzen zeigt von dem Erythema exsudativum multiforme.
In einem anderen Falle finde ich fünf Recidive, weiter dann in einem Falle zwei
Recidive — in verschiedenen Jahren notirt. Das ist auf mehr als hundert Fälle
eine so kleine Zahl, dass es nöthig erscheint , jetzt mit grösserer Erfahrung auf
diesen Punkt in den nächsten Jahren die grösste Aufmerksamkeit zu lenken.
Vorläufig muss unsere Ansicht in dieser Hinsicht sehr reservirt bleiben. Es würde
aber in nichts gegen unsere Auffassung des Erythema exsudativum als infectiöse,
cxanthcmatischc Krankheit sprechen, wenn die Krankheit acquirirt werden könnte.
Polotebnoff s*) weist schon darauf hin, „dass einige Infectionskrank-
heiten, z. B. Diphtherie, Dysenterie, croupöse Pneumonie, Typhen, sogar Masern,
Scharlach und Variola denselben Menschen mehreremale heimsueheu können“.
. . . „Einige Infcctionskrankheiten haben die unerklärliche Neigung, bei gewissen
Leuten zu einer gewissen Zeit mehrere Jahre hindurch wiederzukehren.“ Er
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ERYTHEME.
183
erwähnt dann Intermittens, ja citirt sogar einen Fall von Diphtherie, die mehrere
.fahre hintereinander zur gleichen Zeit auftrat.
Wir können hier weiter noch hinweisen auf die Neigung des Erysipels
zu Recidiveu.
So kann man auch annehmen, dass das Erythem eine Infectionskrankheit
ist, deren einmaliges Ueberstehen keine Immunität giebt, dass im Gegentheil die
Individuen, welche sich der Infection mehrfach aussetzen, mindestens die Krank-
heit ebenso leicht — vielleicht sogar (durch erworbene individuelle Disposition)
leichter erwerben als solche Individuen, welche die Krankheit noch nicht gehabt
haben. Aber, wie gesagt, die Entscheidung Aber diesen Punkt müssen wir späteren
Beobachtungen Vorbehalten.
Ein anderer Punkt , den wir an dieser Stelle erörtern wollen , ist der,
ob ein Zusammenhang zwischen Erythem und Tuberkulose festzustellen ist. Die
Meinung vieler hiesiger Aerzte geht dahin :
Es liegen über die Beziehungen zwischen Erythem und Tuberkulose
Beobachtungen vor von Oehme *•) und von Uffelmann, von denen mir nur die
erstere im Original vorliegt; es handelt sich hier aber um Erythema nodosum
und der Verfasser kommt zum Schlüsse, dass bei hereditär belasteten Personen das
Erythema nodomtm vielleicht eine anslösende Gelegenheitsursache abgeben könne.
Auch zur Entscheidung dieser Frage gehört eine Jahre lang genau
durchgeftihrte Erfahrung. Wir mtissen uns der Annahme eines Zusammenhanges
zwischen Erythema exsudativum multiforme und Tuberkulose gegenüber zunächst
ablehnend verhalten. Wir haben hin und wieder leichte Schalldiffercnzeu über
den Spitzen und Rasselgeräusche eonstatirt. Da aber das Erythema multiforme
manchmal als Complication eine Bronchitis zeigt, so dürften die katarrhalischen
Erscheinungen ebensogut auf diese zu beziehen sein als auf eine Infiltration der
Lunge. Heftigere Erscheinungen von Seiten der Kespirationsorgane, speciell Husten
mit Auswurf, so dass man eine Untersuchung der Sputa auf Bacillen hätte an-
stellen können, haben wir nicht beobachtet.
Wenn nun wirklich bei einem Individuum , das ein Erythema multi-
forme durchgemacht hat , sieh im Laufe des nächsten Jahres eine Lungentuber-
kulose entwickelt , so ist das mindestens mit gleichem Rechte als ein zufälliges
Zusammentreffen, wie als Folge aufzufassen. Denn die Mehrzahl der in Betracht
kommenden Individuen und besonders unser Material steht in dem Alter, in dem
Tuberkulose Überhaupt nicht selten ist, im Anfang der Zwanziger-Jahre! Anderer-
seits wäre es ja auch immerhin möglich . dass die auffallend schwere Anämie,
die bei einigen Kranken in der Reconvalescenz zur Beobachtung kommt , die
Entwicklung einer latenten , aber mit dem Erythem keineswegs in Beziehung
stehenden Tuberkulose begünstigte.
4. Aetiologie.
Nach unseren Erfahrungen, die mit RlGLEB und Gaal*) Ubereinstimmen
und von den hiesigen Aerzten bestätigt werden , so weit dieselben in dieser
Hiusicht eigene Erfahrungen besitzen , tritt — in der Türkei zunächst — eine
Krankheit epidemisch auf, die sich durch ihre Symptome : Invasion mit Enanthem,
•) Die von Gaal in Bosnien beobachtete Epidemie ist für uns besonders inter-
essant : er sagt . dass die Erkrankung zu Beginn des Jahres 1857 unter einer Gruppe von
80 Menschen auftrat, die aus Anatolien und Kurdistan stammten. Die Männer waren gefangene
Räuber, welche, bevor sie nach Bosnien gebracht wurden, lange Zeit hindurch iu Gefängnissen
und auf Schiffen internirt und daher in ihrer Ernährung heruntergekommen waren. Ohne
Hoffnung, in die Heimat zurückzukehren, waren sie psychisch sehr gedrückt. Nach den Asiaten
begannen die Arnanten zu kränkeln, die ebenfalls lange in Gefängnissen geschmachtet batten.
Noch später kamen die tüchtigen Soldaten an die Reihe, die vorzüglich genährt waren und
sich stramm hielten. Die Epidemie verfloss langsam — vom Januar bis September; der Sep-
tember und October waren frei von Erkrankungen ; im November jedoch traten dieselben
wieder auf.
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ERYTHEME.
Eruption mit Exanthem , typischem Fieber , subjective Erscheinungen und cykli-
schen , typischen Ablauf als exanthematische Infectionskrankbeit erweist und die
in ihrem Exanthem ganz wesentlich mit der von Hebra als Erythema exsuda-
tivum multiforme beschriebenen Krankheit übereinstimmt.
Wir haben schon oben, als wir von der Incubation sprachen , erwähnt,
dass Besnier direct erklärt : Es giebt keine Epidemien von polymorphem „Erv-
tbem ; alles, was in dieser Hinsicht vorgebracht ist, ist unbegründet und bezieht
sich nur auf secundäre Erytheme nach zvmotischen Krankheiten . . . oder
auf fieberhafte Krankheiten, die wegen ihres abortiven Charakters oder wegen
ihrer nicht nachweisbaren Contagiosität verkannt worden sind, wie z. B. Masern;
oder endlich es handelt sich um Einführung von Nahrungsmitteln , die sich nur
auf eine bestimmte Gruppe, auf eine genau begrenzte Zeit beschränken und die
verschwinden, wenn die zufällige Ursache sich nicht wiederholt“.
Dass es sich um secundäre Erytheme nicht handelt, glauben wir zur
Genüge bewiesen zu haben. Die Krankheit ist hier, wenn man will, endemisch
und zeigt von Zeit zu Zeit epidemisches Anschwellen der Frequenz. Dafür sprechen
alle eben citirten Beobachtungen , die sich fast über ein halbes Jahrhundert
vertheilen.
Sollte aber vielleicht der zweite Theil der Besnier’ scheu Behauptung
für unsere Fälle zutreffen , sollten vielleicht bestimmte , zu gewissen Zeiten ein-
geführte Nahrungsmittel ein epidemisches Auftreten unseres Erythems Vortäuschen ?
Gerade bei einem so einseitigen Material, wie es das unsere ist, haben wir genau
zu prüfen, ob hier nicht Besnier’S Einwürfe gegen unsere Auffassung des Ery-
thema exsudativum multiforme als epidemisch auftretende Infectionskrankbeit
geeignet sind, uns eines grossen Irrthums zu überfuhren. Wir müssen hier fast
Satz für Satz Besnier’s Ausführungen folgen und dieselben im Einzelnen auf
ihre Giltigkeit prüfen.
„Es leuchtet ein,“ sagt Besnier , „dass nicht alle Individuen sieh dem
Erythem gegenüber gleich verhalten , wie sie sich z. B. gegenüber den fieber-
haften Exanthemen verhalten.“
Hier bemerken wir, dass in einer Masern-Scharlachepidemie z. B. oft
einzelne Geschwister verschont bleiben , dass diese Geschwister häufig in einer
späteren Epidemie erkranken; dass man also auch hier, allerdings in einem
anderen Sinne als Besnier es thut, von einer vorhandenen oder fehlenden Dis-
position reden kann.
„Weiter behalten diejenigen Individuen, die einmal eine Disposition für
das Erythem gezeigt haben, eine grosse Neigung für dasselbe. Das beweisen die
Nachschübe und Recidive, denen sie regelmässig unterworfen sind.“
Für die dem Erythema multiforme Hebrae ähnlichen polymorphen
Erytheme allerverschiedenster Ursache hat Besnier recht; für das infectiöse,
epidemische Erythema multiforme wäre aber, wenn dasselbe wirklich häufige
Recidive zeigte, eine andere Erklärung sehr möglich. Befällt nicht das Malaria-
fieber spontan , oder bei neuer Infectionsgelegenheit , und hier mit besonderer
Vorliebe diejenigen, welche schon einmal Malaria gehabt haben? Setzen wir
deshalb eine besondere persönliche Disposition für die Malaria voraus? Gewiss nicht.
„In der Pathogenie der Erytheme erscheint also die individuelle An-
lage, die Disposition von vorneherein als ein wesentliches, in erster Linie stehen-
des Moment. Dieses Moment gewinnt noch an Bedeutung, wenn man näher auf
die gegenseitigen Beziehungen der in Betracht kommenden Factoren eingeht.
Es ist klar, dass diese Krankheitsdispositiou sieh vollkommen mit dem
deckt, was mau bei denjenigen Individuen antrifft, die gewisse Gifte, gewisse
Medicamente, gewisse Nahrungen nicht gemessen können, ohne dass sich ein
ganz bestimmter Reizzustaud auf ihrer Haut entwickelt. Und zwar ist dieser
Reizzustand immer der gleiche für das gleiche Individuum und wird viel mehr
beeinflusst durch das Individuum als durch die Nahrung, die Medicamente, die
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Gifte; diese drei Factoren werden bei anderen, unter der gleichen Intoleranz
stehenden Individuen ganz andersartige Erscheinungen auf der Haut hervorrufen.“
Dass Besnier das letztere selbst sagt, ist von der grössten Wichtigkeit
für uns. Man Überzeugt sich nur , z. B. in den Zusammenstellungen , wie sie
L. Lewin }j) giebt , wie verschiedenartig die Nebenwirkungen der Arzneimittel
auf der Haut sein können; man halte sich gegenwärtig, wie ein Individuum
z. B. auf einen Wanzenstich gar nicht reagirt, während bei einem anderen In-
dividuum der Wanzenstich der Ausgangspunkt einer ausgebreiteten scharlach-
artigen Röthung oder einer Urticaria sein kann. Gehen wir, unter Festhaltung
der eben entwickelten Ansichten nun zu unseren Fällen von Erythema exsuda-
tivum multi/orme zurück , so müsste bei allen befallenen Individuen eine indi-
viduelle Disposition vorhanden sein. Es käme dann in Betracht, ob nach Besnier
diese Disposition durch gelegentliche Factoren, z. B. Nahrungsmittel, die sieh nur
auf eine bestimmte Gruppe , eine genau begrenzte Zeit beschränken , ausgelöst
worden ist. Als wir die erste grössere Serie von Erkrankungen im September-
October beobachteten, konnten wir eine vielgenannte Gelegenheitsursache, ein
auslösendes Moment (condition i’tiologigue) ausschliessen : Kälte und Feuchtig-
keit. Denn um diese Zeit herrscht hier, nach einem kurzen, höchstens acht Tage
anhaltenden Regen etwa Ende August, meist das schönste wärmste Sommerwetter
(bis SO“ C.). Allerdings bringen die Monate mit grösster Nässe: Januar, März,
April höhere Ziffern. Aber zu diesen Jahreszeiten sind ja meist eianthcmatische
Krankheiten überhaupt häufiger. Dies konnte also nicht genügen. Wir richteten
dann unserer Augenmerk auf die Nahrung. Die Nahrung des Hauptantheiles
unseres Materials ist nun eine so gleichmässige während des ganzen Jahres und
für alle in Betracht kommenden Individuen, dass man höchstens etwaige Extra-
gaben, der Jahreszeit entsprechend, in’s Auge fassen musste.
Zunächst drängte sich der Gedanke auf, ob hier vielleicht Weintrauben
oder Melonen in Betracht kämen und durch diese die persönliche Anlage aus-
gelöst würde. Allerdings lebt fast das ganze Volk hier von September bis
November zum grossen Theile von Brot, Käse, Melonen und Weintrauben; die
Soldaten bekommen ebenfalls Trauben , aber ausserdem doch stets ihr Hammel-
fleisch und Reis. Es stünde also das ganze Volk zu dieser Saison in der gleichen
„condition etiologique“ . In der Bevölkerung ist unser Erythema multiforme exsu-
dativum Hebrae aber zunächst sicher nicht häufiger, sondern entschieden weniger
verbreitet als unter den Soldaten. Weiter aber nimmt die Krankheit zunächst
mit dem Aufhören der Traubenzeit durchaus nicht ab, steigt ferner im Frühjahr
ganz bedeutend wieder au zu einer Zeit, wo von irgend einer besonderen Nahrung
nicht die Rede ist.
Nehmen wir aber trotzdem einmal an, dass in der Nahrung ein aus-
lösendcs Moment läge, das die Häufung der Erytheme zu erklären vermöchte —
eine Erscheinung bleibt unerklärt, und damit fällt jede Möglichkeit, die BESNiEK'sche
Voraussetzung gelten zu lassen:
Es ist doch unmöglich anzunehmen, dass alle Individuen hier
bei uns gerade nur für eine Form des polymorphen Erythems prä-
d isponirt sein soll ten. Besnier sagt ausdrücklich, dass die Form des
Erythems viel mehr durch das Individuum als durch den auslösen-
den Factor (Medicament, Gift, Nahrung) bestimmt werde, und dass
der gleiche Factor bei verschiedenen Individuen ganz verschieden-
artige Erscheinungen auf der Haut hervorrufen könne.
Unsere Kranken bieten alle ohne Ausnahme, nur in der'
Intensität etwas verschieden, die absolut gleiche Form des Ery-
thems, mit typischem Beginn, cyklischem Verlauf, typischen All-
gemeinerscheinungen, typischem Ablauf.
Hier eine ausgebreitete individuelle Disposition anzunehmen , die durch
eine sich häufende Gelegenheitsursache ausgelöst , eine Epidemie , und zwar
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ERYTHEME.
mit regelmässiger Wiederkehr , vortäuscht , das heisst den Thatsaehen Ge-
walt anthun.
Wir glauben, unbedingt daran festhalteu zu müssen , dass es sich um
wirkliche Epidemien einer exantbematischen lufectionskrankheit handelt.
Dieser Auffassung widerspricht durchaus nicht das endemische Vor-
kommen des Erythems. Wir müssen aunchmen , dass die infeetiöse Ursache zu
jeder Zeit besteht und sporadische Fälle hervorruft; aber vou Zeit zu Zeit unter
bestimmten, uns unbekannten Bedingungen tritt eine plötzliche Verallgemeinerung,
eine Epidemie ein — ebenso wie wir es für eine ganze Reihe von Infections-
krankheiten kennen.
Weshalb nun die Epidemien in den Kasernen häutiger, zahlreicher sind
als anderswo , entzieht sieh mindestens so lange , als wir das infeetiöse Agens
nicht bestimmt kennen, unserer Kenntniss. Es scheint, dass Anhäufung von
Menschen in disponirtem Alter, in Kasernen, Lagern die Entwicklung der viel-
leicht miasmatischen Ursache dcB Erythema exsudativum multiforme begünstigt.
Das Alter von 18 — 24 Jahren etwa ist anscheinend für diese Infeotiou besonders
veranlagt. Ob das Geschlecht eine besondere Anlage zur Erkrankung bietet, ist
nach unserem Material ebensowenig zu entscheiden, wie z. B. Lewis aus dem
seinigen darauf einen Schluss machen darf. Ob das Erythema exsudativum
multiforme contagiös ist oder nicht, wage ich nicht zu entscheiden. Meine Ansicht
darüber ist schon verschicdentliehen Schwankungen unterworfen gewesen.
Die Kranken kommen aus den verschiedensten Kasernen zu uns. Das
würde eher gegen eine miasmatische Infection sprechen, denn die Kasernen liegen
an den verschiedensten Orten, meist allerdings hoch, auf freien Hügeln. Anderer-
seits könnte man aber auch einwerfen, dass, wenn die Krankheit contagiös wäre,
die Zahl der Erkrankten bedeutend grösser sein müsste, lieber den letzten Punkt
kann eine sichere Angabe nicht gemacht werden, da die Kranken auf die ver-
schiedensten Hospitäler vertheilt werden , zum Theile sich das Hospital selbst
wählen können. Es kann also möglicherweise die Erkrankungsziffer weit grösser
sein, als es uns scheint.
Für die Contagiosität spräche, dass wir in dem Saale, in welchem die
Erytheme untergebracht waren , 3 Fälle von Erythem auftreten sahen bei
Favus etc.; spontane Erkrankungen auf anderen Sälen sind auch vorgekommen,
sprechen aber nicht gegen die Contagiosität, da die Kranken nach der Visite
frei mit einander verkehren können. Auch die GAAL’schen Angaben (s. oben)
sprächen vielleicht für Contagiosität, — sie sind aber nicht genügend zu
controliren.
Dennoch sind wir, wenn wir unsere bisherigen Erfahrungen zusammen-
stelleu, eher geneigt, eine Nichtcontagiosität anzunehmen.
Unsere Untersuchungen richten sich darauf hin , im Blute den inficiren-
den Mikroorganismus zu suchen. Die auffallende Anämie fordert direct dazu anf,
nachzuforschen, ob nicht, wie bei der Malaria, Parasiten in den rothen Blut-
körperchen zu linden sind, die die letzteren zerstören. Es bedarf dazu aber lange
durchgeführter und schwieriger Untersuchungen. Wir enthalten uus deshalb noch
jeder weiteren Angaben und Schlüsse Uber die bis jetzt gemachten Befunde.
Zusammenfassend sagen wir also, dass das Erythema exsu-
dativum multiforme eine wahrscheinlich nicht contagiöse, vielleicht
miasmatische, acute exanthematische Infectionskrankheit ist, die
mit Vorliebe das jugendliche Alter befällt, überall sporadisch, in
einigen Ländern endemisch vorkommt und zu gewissen Jahreszeiten,
Herbst und Frühjahr, epidemisch wird. Anhäufung von Menschen in
dem disponirten Alter scheint die Entwicklung des Infectionsstoffes
in hervorragendem Masse zu begünstigen.
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ERYTHEME.
187
5. Differentialdiagnose.
Dass es sich beim Erythema exsudativum multiforme Hebrae um eino
durch 1‘rsachen, Läsionen, Symptome, Verlauf, Dauer, Ablauf u. s. w. — wie
Besnif.r (s. oben) es fordert — ausgezeichnete Krankheit handelt, glauben wir
bewiesen zu haben.
Der Zweck unserer folgenden Auseinandersetzungen ist nun weniger der,
wirklich diejenigen Merkmale anzuftihren, durch die sieh das Erythema exsuda-
tivum multiforme Hebrae von den übrigen polymorphen Erythemen unterscheidet.
Die ^Polymorphie“, die Menge der Casuistik ist so gross, dass das ein fast un-
mögliches Beginnen ist. Vielmehr wollen wir versuchen, in grossen Zügen die
übrigbleibenden polymorphen Erytheme zu gruppireu. Wenn wir sehen , wie
grundverschiedene Dinge unter dieser Bezeichnung zusammengebracht sind, und
wie vielleicht eine Trennung derselben in grosse Gruppen möglich ist, so wird
sich, glauben wir, dadurch das Erythema exsudativum multiforme Hebrae am
besten differential-diagnostisch herausheben.
a) Erythema nodosum.
Dass nach den vorhergehenden Ausführungen selbstverständlich das Ery-
thema nodosum für uns etwas in Ursache, Localisation, Läsionen, Verlauf, .Sym-
ptomen, im ganzen klinischen Bilde Verschiedenes ist, bedarf wohl kaum noch der
Ausführung.
Worauf es vielmehr ankäme, wäre zu untersuchen, ob das Erythema
nodosum nur eine der Erscheinungsformen der vielen in Ursache, Verlauf, klinischem
Bilde u.s. w. so verschiedenen polymorphen Erytheme ist; ob verschiedene Ursachen
bei pritdisponirten Individuen in einem Kalle ebenso gut ein noduläres wie in
einem anderen Falle ein scarlatiniformes oder in einem dritten Falle ein ganz
polymorphes Erythem hervorrufen können ; oder ob wir noch weiter aus dem
grossen Haufen der polymorphen Erytheme eine weitere Kranklieilseinhcit, ein
Krankheitsindividuum isoliren können, das Erythema nodosum, eine Krankheit
mit bestimmter Aetiologie, Localisation, Läsionen, Verlauf, Symptomen, Com-
plicationen.
Wenn das der Fall ist, so würden nach Ausscheidung der zwei acuten
eianthematiseben lufectionskrankheiten, des Erythema exsudativum multiforme
und des Erythema nodosum, unter den polymorphen Erythemen alle die aus
den verschiedensten Ursachen abzuleitenden, iu Verlauf, klinischem Bilde ganz
differenten, nur durch die Läsionen bald mehr dem Erythema exsudativum
multiforme Hebrae, bald mehr dem Erythema nodosum ähnelnden Erytheme
übrig bleiben, deren Gruppirung noch grosse Schwierigkeiten bietet.
Unsere Ansicht ist es, dass es eine Krankheit sui generis, Aas Erythema
nodosum, eine acute, wahrscheinlich contagiöse, exanthematisehe Infections-
krankheit giebt.
Wir wollen diese Form des Erythems nicht in derselben Ausführlichkeit
behandeln wie das Erythema exsudativum multiforme Hebrae. Unsere eigene
Beobachtungsreihe ist auch nicht entfernt so gross für diese zweite Form wie
für die erste. Es ist dem Bilde, wie Hebra es beschrieben hat, wie es besonders
gut in einer französischen These von Amiaud**) dargestellt ist, kaum etwas hiu-
znzu fügen.
Auch hier haben wir eine Invasion, ein Eruptionsstadium, eine Resolution
zu unterscheiden wie bei allen lufectionskrankheiten.
Die Läsionen, wie mau sie in den typischen Fällen von Erythema nodosum
sieht, habe ich in meinen circa 120 Fällen von Erythema multiforme nicht
einmal getroffen.
Aussehen, Form, Art der Ausbreitung und Veränderung der Einzelefflore-
scenz unterscheiden beide Affectionen durchaus von einander.
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ERYTHEME.
Die Localisation, immer auf den unteren Extremitäten, mit ganz geringer
Betheiligung anderer Körpertheilc, hatte in meinen Füllen etwas so Typisches
gegenüber den Fällen von Erythema multifome, dass sie sieh mir stets sofort
als etwas von jenen Verschiedenes darstellten.
Die Allgemeinerkrankung beim Erythema n odosum ist eine viel schwerere ;
der Allgemeinzustand ist ein viel mehr typhöser, respective macht vielmehr den
Eindruck einer schweren Intoxication.
Und am allcrwichtigsten — fast alle Fälle von Erythema nodosum sind
durch Pleuritis, Peri- oder Endokarditis und durch Diarrhoen complicirt.
Das ganze klinische Bild, mit Einschluss der Läsionen, ist also ein von
dem, was wir oben beschrieben haben, so verschiedenes, dass es uns bei der
grossen Zahl der Beobachtungen von multiformem Erythem keinen Augenblick
zweifelhaft sein kann , dass wir diese Fälle von dem Erythema multiforme
exsudativum Uebrae unbedingt zu trennen haben.
Viel schwieriger ist die weitere Untersuchung, ob es sich wirklich um eine
Krankheitseinheit, um eine idiopathische, acute Infectionskrankheit oder um secun-
däre Erscheinungen verschiedenartiger Ursachen handelt.
Zur Entscheidung dieser Frage weisen wir auf eine ganz eigenartige, aber
sehr überzeugende Arbeit von Schulthess **) hin.
Er sagt, dass unter den Erythemen das Erythema nodosum wegen seines
verhültnissmä8sig häufigen Vorkommens (in der Schweiz), wegen der schweren
Allgemeinerkrankung und der bei ihm am ehesten zu beobachtenden schweren
Complicationen daB meiste Interesse gefunden habe. Auf den verschiedensten
Wegen hat man seine Natur zu ergründen gesucht, um ihm den richtigen Platz
im System der Krankheiten anzuweisen, und man ist dabei zu den verschiedensten
Ansichten gelangt.
Unter den zur Lösung der Frage zu Hilfe genommenen Methoden ver-
misst der Verfasser die statistische. Er sagt (1. c. pag. 67): „Wenn man die
einfache Thatsaehe des jeweiligen Auftretens einer Krankheit auf einem bestimmt
umgrenztet: Gebiet während eines bestimmten längeren Zeitraums zur Grundlage
der Untersuchung macht, so wird mau ans dem so festgestellten Gang der Krank-
heit durch die einzelnen Jahre, die Jahreszeiten, aus dem Befallen der verschiedenen
Altersstufen und Geschlechter gewisse Schlüsse auf die Natur der untersuchten
Krankheit ziehen können ; man wird, w enn mir das Bild gestattet ist, auf diese
Weise in den Stand gesetzt sein zu erkennen, wie die Krankheit ihren Namens-
zug selbst schreibt. Natürlich wird Niemand, auf diese Resultate allein gestützt,
einer Krankheit ihren Platz anweisen wollen, aber sie bilden eine nothwendige
Ergänzung des auf anderen Wegen gewonnenen Bildes und sind geeignet, gewisse
Ansichten zu stützen, andere als unhaltbar zurückzuweisen.u
Wir können nun dem Verfasser nicht durch alle Einzelheiten der vor-
züglich durchgeführteu Untersuchungen folgen. Er weist zunächst nach, dass die
Curve, welche das Erythema nodosum durch die Jahre beschreibt, in keiner
Weise der Curve derjenigen Krankheiten gleicht, bei denen dasselbe gewöhnlich
in den Lehrbüchern abgehandelt wird — den Hautkrankheiten.
Verf. zieht dann die Curve des Erythema exsudativum multiforme Eebrae
zum Vergleich heran. „Die Curve dieser Krankheit folgt (pag. 711. c.) offenbar
dem Typus der Infectionskrankheiten, aber sie unterscheidet sich von der des
Erythema nodosum, wenn ich diese Ausdrücke der Physik entlehnen darf, durch
die kürzere Wellenlänge und die kleineren Schwingungsamplituden, woraus man
wohl den Schluss ziehen kann, dass die Bedingungen für das Erythema multi-
fortne gleicbmässiger vorhanden sind als für unsere Krankheit
.... Masern, Erysipel und Varicellen zeichnen Curvenbilder, welche nur den
allgemeinen Typus und die mehr oder weniger scharf ausgeprägten Gipfel der
Curve der Infectionskrankheiten mit Localisation auf der Haut mit Erythema
nodosum gemeinsam haben Aber der Scharlach liefert eine Curve, die
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frappante Aehnlichkeit mit der von Erythema nodosum hat. Beide Krankheiten
halH-n also durch die Berichtsjahre (zwölf Jahre) hindurch völlig Schritt gehalten,
eine Thatsache, die nicht auf blossem Zufall beruhen kann.“
Yerf. kommt dann zu folgenden Schlüssen (1. c. pag. 74 ff.).
„Das Erythema nodosum richtet sich sowohl in seinem Gange durch die
einzelnen Jahre und Jahreszeiten, als auch im vorzugsweisen Befallen eines be-
stimmten Lebensalters, der Jugendzeit, wobei die Geschlechter in verschiedenen
Altersclassen verschiedenen Antheil nehmen, getreulich nach den acuten allge-
meinen Infectionskrankheiten, namentlich denjenigen mit typischer Localisation auf
der Haut, während es durchaus abweicht von dem durch die sogenannten Haut-
krankheiten dargestellten Typus.
Diese Resultate sind gewiss geeignet, die Meinung derjenigen zu stützen,
welche in unserer Krankheit eine acute allgemeine Infectionskrankheit sehen. Die
wohlcharakterisirten Curvenbilder, die uns Erythema nodosum lieferte, sprechen
überdies sehr dafür, dass wir es mit einer selbständigen Krankheit zu thun
haben. Nicht einmal mit dem Erythema exsudativum multiforme llebrae , sofern
man dieses überhaupt als selbständige Krankheit gelten lassen will, steht es in
mgeren verwandtschaftlichen Beziehungen.“
Schliesslich meint Verf., dass sich die Wahrscheinlichkeit einer nahen
Verwandtschaft zwischen Erythema nodosum und Scharlach aufdränge.
„Beide haben klinisch sehr viel Achnliches — man denke nur an den
Ausschlag, der ans Vorliebe die Streckseiten der Glieder und die Gelenkgegenden
befällt, an die Betheiligung der Schleimhäute des Auges, der Nase, des Rachens,
seltener der Bronchien, ferner der serösen Häute der Brustorgane, die bei
beiden mehr oder weniger häutig beobachtet wird, endlich an das lytisch ab-
fallende Fieber.
Trotzdem behauptet jedes seine selbständige Stellung, die schon durch
die hochgradige Coutagiositüt der einen, die geringe oder fehlende der anderen
garantirt ist.“
Stolzenberg *5), auf Tkousseau fassend, unterscheidet streng ein primäres
Erythema nodosum vom secundären. Er kommt ebenfalls zu dem Schlüsse auf
Grund eigener Beobachtungen, dass es sieh beim Erythema nodosum um eine
acute Infectionskrankheit handle. Dieselbe Ansicht vertritt eine These von
Joitlle die unter Debovk’s Präsidium gearbeitet ist.
Wir selbst haben Gelegenheit gehabt, eine immerhin genügende Zahl von
Fällen — neun — zu beobachten, die mit der HEBRA’schen Beschreibung und mit
Amiaud’s **) Darstellung übereinstimmen. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass
IIebra das Erythema nodosum als Hautkrankheit, nicht als Allgemeinerkrankong
auffasste, und dass Amiacd an eine klinische, symptomatologische, aber nicht
ätiologische Krankheitseinheit dachte. Wenn wir die so gewonnenen Erfahrungen
zusammenstellen , so kommen wir zu dem gleichen Schluss wie Schit.thkss,
dass das Erythema nodosum eine ätiologisch und klinisch vom Erythema exsu-
dativum multiforme, Hebrae durchaus verschiedene acute allgemeine Infections-
krankheit ist.
In kurzen Zügen wäre dieselbe folgendermassen zu beschreiben :
Nach einer circa 8tägigen Incuhation haben wir während 2 — 3 Tagen
die Symptome der Invasion der Krankheit. Dieselbe äussert sich durch mehr
oder weniger heftiges Fieber (bis zu 39°), welches aber auch fehlen kann, all-
gemeine Abgeschlagenheit, Schwere in den Gliedern und manchmal sehr heftige
Kopfschmerzen. Der Appetit fehlt, die Zunge ist häufig belegt, trocken, der
Durst gross.
Am vierten Tage etwa zeigt sich die Eruption. Es bilden sich stets zunächst
auf den Unterschenkeln nicht sehr zahlreiche (circa 4 — 25) kirsch- bis wallnnss-
grosse Knoten, manchmal diffusere und noch grössere Infiltrate von fast phleg-
monösem Aussehen. Die Knoten sind von bunter, gelbrother, bläulichrother Farbe;
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ERYTHEME.
sie erscheinen mit ihrem grössten Volumen in die Haut eingelassen, überragen
aber das Niveau der Haut deutlich.
In einigen Fällen bleibt die Affection ganz auf die untere Extremität
beschränkt, wo sie ausser an der vorderen inneren Seite des stets hervorragend
befallenen Unterschenkels am Fussrücken und um das Kniegelenk, wenig am
Oberschenkel getroffen wird. Weiter zeigen sich Eruptionen, aber weit seltener,
an den oberen Extremitäten, besonders an der Hinterseite des Ellbogengelenkes,
an der hinteren iuneren Fläche des Vorderarmes.
Anf den Schleimhäuten finden sich ebenfalls Knoten. Auf der Conjunetiva
sollen Knoten beobachtet sein von Tkocsseait und Amiaid. Sicher kommen
Knoten vor auf der Schleimhaut der Lippen, der Wangen, des Gaumens, des Rachens.
Die Knoten verharren 3 — 4 Tage in dem Zustande der derben, fast
harten Infiltration, die sie zu Beginn zeigen. Dann werden sie durch die Rück-
bildung weich, manchmal fast fluctuirend — aber niemals kommt es zur Absce-
dirung. Die Knoten zeigen weder eine centrale Resorption, noch ein peripheres
Wachstbum. So, wie sie am ersten Tage aufgeschossen sind, abgesehen von den
Erscheinungen, welche ihre Rückbildung begleiten, verharren sie während der
Zeit ihres Bestehens. Während derselben durchlaufen sie in ihrer Färbung die
ganze Scala, die mau bei Coutusionen sieht : sie werden manchmal duukelviolett,
dann werden sie heller blau, dann grünlichgelb, bräunlich, gelblich, um schliesslich
ganz zu verschwinden, ohne eine Spur zu hinterlassen. Die Eruption erscheint
nicht überall auf einmal, vielmehr sehicssen in den ersten 8 — 10 Tagen häufig
noch neue Knoten auf.
An Allgemeinerscheinungen ist zunächst das Fieber zu nennen, das fast
ausnahmslos sehr bedeutend ist. Die Temperatur steigt selbst bis 11°, in fast
allen Fällen bis 39°. Mit dem Beginn der Ernptionsperiode ist das Fieber am
höchsten, um dann allmälig zu fallen und innerhalb zehn Tagen etwa zur Norm
aurückzukehren ; oft, besonders durch die gleich zu erwähnenden Complicationen,
dauert es länger.
Die Zunge ist dick weisslich belegt, trocken, der Geschmack schlecht,
pappig , der Durst sehr stark. Fast stets besteht Diarrhoe. Amiacd dürfte Recht
haben, wenn er diese Diarrhoe auf ein Kn aut hem besieht.
Die subjectiven Klagen beziehen sich meist auf allgemeines, bedeutendes
Gefühl des Krankseins, Gelenk- und Muskclschmerzcu, Kopfschmerzen, Schlaf-
losigkeit. Die Kranken sind sehr theilnahmslos.
Die Krankheit kann so mit einigen durch Nachschübe bedingten Tem-
peraturerhebungen in 3 — 4 Wochen vollständig ablaufen. Von der Mitte der
zweiten Woche ab sind die Kranken fieberfrei, Beldaf und Appetit kehren zurück
und die Kranken erholen sich im Gegensatz zum Erythema exsudativum multi-
furme verhältnissmässig schnell; nur in einigen Füllen ist sie vergrössert, wie
z. B. nach Typhus. Amiaid giebt allerdings auch für das Erythema nodosum
Anämien an, wie wir sie beiin multiformen Erythem beobachtet haben — wir
haben keine solche Beobachtung zu verzeichnen.
Complicationen sind sehr häufig. Besonders sind es Endokarditis,
Perikarditis, Pleuritis und Pneumonien, die im Laufe der zweiten, respective
dritten Woche auftreten. Diese Complicationen verzögern natürlich den Verlauf
der Krankheit sehr, im allgemeinen verlaufen sie aber günstig, mit vollständiger
Resorption.
ln meinen neun Fällen von Erythema nodosum habe ich füufmal Endo-
karditis, dreimal Perikarditis (zweimal mit Endokarditis zusammen), dreimal
Pleuritis (einmal mit Perikarditis und Endokarditis) und einmal Pneumonie (mit
Pleuritis, Perikarditis und Endokarditis) beobachtet. In diesem Falle handelte
es sich tim einen siebenjährigen Knaben und der Fall verlief in der fünften
Wochen letal.
Gelenkaffectionen habe ich nicht beobachtet.
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ln den übrigen acht Fällen trat völlige Genesung ein.
In allen neun Fällen handelte es sich um Individuen unter 20 Jahren,
sechs Mädchen und drei Knaben. Der letal verlaufene Fall war bei dem jüngsten
Patienten; ein junges Mädchen war 19 Jahre alt, die übrigen waren zwischen
10 — 15 Jahren. Im Hospital habe ich noch keinen Fall beobachtet. Der Jahres-
zeit nach waren alle Fülle im Frühjahre, Februar, März, April.
ln allen Fällen wurde mit der grössten Aufmerksamkeit nach einem
protopathischen Leiden gesucht, besonders nach septischen Erkrankungen, es war
jetloch nichts aufzutinden.
Drei von den Patienten sind schon mehrfach erkrankt : ein Knabe zum
dritten Mal, ein Mädchen zum zweiten Mal und die Patientin von 19 Jahren
hatte dasselbe Leiden — immer im Frühjahr — zum dritten Mal.
Der ganze Verlauf der so beschriebenen Erkrankung ist der einer acuten,
exant bematischen lnfeetiouskrankhcit.
Was die Aetiologie des Erythema n odosum angeht, so vermögen wir hier
ebensowenig eine genügende Antwort zu geben wie heim Erythema exsudativum
multiforme.
In der französischen Literatur finden sich einige Mitthellungen Uber
Contagiosität des Erythema nodosum. Es ist aber in der Auffassung aller dieser
Mittheilungen die grösste Vorsicht geboten, da es nach der allgemein herrschenden
Ansicht über die Natur der Erytheme natürlich sehr schwer oder gar nicht zu
entscheiden ist, ob die Verf. eine idiopathische oder eine symptomatische, respective
deuteropathische Erkrankung vor sich gehabt haben.
Lannois S6) giebt eine Heilte von Beobachtungen. Seine Untersuchungen
nach Mikroben sind resultatlos geblieben. Das Ergebniss seiner Beobachtungen
fasst er selbst folgendermassen zusammen :
„Eine Kranke wird im Hospital zugelassen mit Erythema nodosum und
nach Verlauf von acht Tagen zeigt sich bei drei anderen Kranken dieselbe Krank-
heit. In der ganzen Vergangenheit dieser Kranken, mindestens unbedingt bei
zweien von ihnen, findet sich nicht der geringste Anhalt, dass sie für diese
Krankheit irgendwie prüdisponirt seien. Ueberdies ist zu bemerken, dass alle
drei Patienten schon längere Zeit im Hospital waren und dass sie kein Medi-
rameut entnahmen, das etwa die Ursache des Erythems hätte abgeben können.“
„Ftir diejenigen, welche das Erythema nodosum als Infectionskrankhcit
betrachten — mir scheint sich diese Ueberzeugung bei den meisten Fällen auf-
zudrängen — dürfte die natürlichste Erklärung für die Aetiologie unserer Fälle
die Contagion sein. Diese Contagion ist zweifellos daun auf sehr geringe Grenzen
beschränkt und bildet die Ausnahme; es giebt aber genug zweifellos infectiöse
Krankheiten, die sich nicht anders verhalten, wie z. B. die Cerebrospinalmcningitis,
der Typhus und in gleicher Weise auch das Erysipel."
Eine andere Beobachtung ist die vom Para he la Fkrte-Alkas. *■)
Ein Kind von 12 Jahren erkrankt an Erythema nodosum. Die jüngere
Schwester, welche seit neun Tagen im gleichen Bett schlief, wird von derselben
Affection befallen.
Jedenfalls spricht dieser Fall — da nichts von anderweitigen Erkran-
kungen angegeben ist — für eine idiopathische Erkrankung. Ob cs sieh um
Contagion handelt, oder ob nicht beide Schwestern anderweitig unter gleichen
Infectionsbedingungen gestanden haben, ist schwer zu entscheiden.
b) Polymorphe Erytheme im engeren Sinne.
Mit Ausscheidung zw'eier, als selbständige Krankheitsindividnen , als
Allgemcininfeetionen mit symptomatischer Hauterkrankung ebarakterisirter Krank-
heitsgruppen aus der Classe der polymorphen Erytheme ist für die Klinik ein
grosser Schritt voraus gethan.
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ERYTHEME.
Was an polymorphen Erythemen übrig: bleibt, ist aber immer noch eine
vorläufig; jeder sicheren Classificirung spottende Grnppe von Affectionen , die
einerseits sich in ihren klinischen Erscheinungsformen ähneln, die trotz vieler
Verschiedenheiten viel Verwandtschaftliches haben, auf der anderen Seite ätio-
logisch und in ihrem physiologischen Entstehungsmodus die allerheterogensten
Dinge sind.
Wenn wir eine kleine Auslese in der Casuistik machen von dem, was als
polymorphes Erythem bezeichnet ist, so werden wir sehr bald sehen, wie ausser-
ordentlich heterogene Affectionen unter dieser Bezeichnung nntergebracht werden,
und die Berechtigung, unser Erythema exsudativum multiforme Hebrae und
auch das Erythema nculosum als selbständige Krankheiten aufzustellen, wird
sich dadurch nur um so logischer, mit um so zwingenderer Nothwendigkeit ergeben.
Wir sagen es hier ausdrücklich, dass die meisten Fälle von polymorphem
Erythem mit dem Erythema exsudativum multiforme (respective dem Erythema
nodosum) ebensoviel gemein haben wie ein z. B. in Folge von Quecksilber-
Einführung oder -Anwendung entstehendes Erythema scarlatiniforme mit der
Scarlatina; dass ein Fall von knotiger, erythematöser Eruption im Verlaufe des
Puerperalfiebers in allen Beziehungen, mit Ausnahme der Form der Läsionen,
jenem scarlatinilormcn Quecksilbererythem weit näher stehen dürfte als der
exantbematischen Infectionskrankheit Erythema nodosum ; dass ebenso ein Fall
von polymorphem Erythem (mit dem papulösen Typus), das in Folge des Ge-
nusses von Hummern, Austern, Himbeeren entstanden ist, jenem scarlatiniformen
Quecksilbererythem weit näher stellt als der exanthematischen Infectionskrankheit
Erythema exsudativum multiforme Hebrae.
Unsere eigenen Fälle der verschiedenartigsten polymorphen Erytheme,
die neben jenen Infectionskrankheiten, besonders neben der grossen Zahl des
Erythema exsudativum multiforme beobachtet wurden, haben uns mit zwingender
Gewalt von den BESXlEU’schen Anschauungen fort, zu der eben ausgesprochenen
Ansicht geführt.
Auch unter dem übrigen Chaos der polymorphen Erytheme lassen sich
einige grosse Scheidungen vornehmen, zunächst gerade wieder entgegen den An-
sichten Bxsnirb’s.
Wie wiederholt betont, ist für Besxleb das erste Postulat für das Zu-
standekommen der polymorphen Erytheme (die „condition pathoydnSlique “) die
persönliche Disposition.
Nun giebt es aber eine grosse Gruppe von polymorphen Erythemen, bei
denen diese persönliche Disposition entweder sicher keine Rolle spielt , oder
wenigstens die Annahme einer solchen durchaus nicht gerechtfertigt, ja ohne
einen gewissen logischen Zwang gar nicht möglich ist.
Sicherlich ausgeschlossen ist eine persönliche Disposition beim Zustande-
kommen der nachweislich auf bakteriellen , embolischen Processen beruhenden
Reihe von Erythemen.
Weiter durchaus unwahrscheinlich ist das Bestehen einer persönlichen
Disposition bei allen jenen deuteropathischen, im Verlaufe von Typhus, Scharlach,
Masern, Diphtherie, Angina, Cholera auftretenden Erythemen.
(Le Ge.ndhe >h), Hütixel *»), Maxxixg40), Mussy4'), Peter41) u. s. f.,
um nur Fälle der neuesten Literatur zu nennen.)
Ob wir hier ein Becundäres, vielleicht auf Streptokokken-Embolie be-
ruhendes, oder ein toxisches Erythem anzunehmen haben, oder ob auch hier
äusserlich ganz ähnliche Erytheme sowohl auf die eine wie auf die andere
Weise entstehen können, lassen wir unerörtert.*) Nur scheint uns das Postulat
einer persönlichen Disposition hier ganz überflüssig.
*) S. eine hierauf bezügliche Diacusoon in «1er Societi medicale des höpitaux de
Paris zwischen Siredey, Galliard, Renda, Le Gendre und Hayem, ref. Annal. de
denn, et syph., 1895, pag. 894.
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Dem gegenüber stehen dann die Erytheme, deren Entstehung ganz un-
klar ist, bei denen eine persönliche Disposition möglich, aber nicht unbedingt
zur Erklärung erforderlich ist. Hier wären besonders jene zweifelhaften Erytheme
zu nennen, die auch Besnikr berührt, bei denen es schwer zu sagen ist, ob sie
medieamentösen, reflectorischen, toxischen oder infectiösen Ursprungs sind, z. B.
die sogenannten „Urethralerytheme“ — von denen ich Belbst noch keinen Fall
zu beobachten Gelegenheit hatte. Handelt es sich bei einem Individuum mit
Blennorrhoe, bei dem eine urethrale Aetzung vorgenommen wird, gegebenen Falles
um ein toxisches Erythem durch die Blennorrhoe, oder um ein infectiöses Erythem
durch eine secundäre Infection, oder um ein reflcctorisches Erythem von Seiten
der sensiblen Urethralschleimhaut, oder um eine Idiosynkrasie gegen das Medi-
rament (Sublimat, Chlorzink, Höllenstein)?
Jede Erklämngsart hat ihre Berechtigung, die erstereu zwei Möglich-
keiten erfordern eine persönliche Disposition nicht, während sie bei den beiden
folgenden Möglichkeiten nicht entbehrt werden kann.
Schliesslich wären dann die Erytheme zu nennen, die ohne eine per-
sönliche Disposition oder ohne eine Idiosynkrasie nicht zu erklären sind: die
Erytheme nach Resorption von bestimmten Medicamenten oder nach Einführung
von bestimmten Nahrungsmitteln.
Nicht näher erörtern können wir hier, ob diese Erytheme als reflectnrische
oder toxische aufzufassen sind. Vielleicht sind beide Möglichkeiten vorhanden,
und es ist nicht unmöglich, dass z. B. einmal der Genuss von Austern eine
wirkliche Angioneurose hervorruft durch Reizung centraler oder peripherer Ge-
fassganglien, und dass wir cs dann mit mehr urticariellcn Erythemen zu thun
haben; dass dagegen ein anderes Mal das Erythem auf die Wirkung von z. B. im
Darm gebildeten Toxinen zurückzuführen ist, und dass wir es dann mit mehr
polymorphen oder scarlatiniformen Erythemen zu thun haben.
Unter den polymorphen Erythemen, die wir zu beobachten Gelegenheit
hatten — Notizen liegen vor über 15 Fälle — , wollen wir nur drei anführen aus
der letzten Zeit, weil sie uns so recht deutlich einmal die Möglichkeit der Ver-
wechslung mit dem Erythema exsudativum multiforme , andererseits aber auch
die grosse klinische Verschiedenheit dieser mannigfaltigen Formen zeigen.
Im ersten Falle handelte es sich um einen 56jährigen Herrn, den wir
schon seit mehreren Jahren kennen, und der vor zwei Jahren auf einer Reise im
Innern von Klein-Asien zuerst von Intermittens befallen wurde.
Im Cebrigen ist der Patient ein hervorragend gesunder, kräftiger Mann,
der nie Hautaffectionen irgendwelcher Art gehabt hat.
Auch Fieberanfälle waren seit circa sechs Monaten nicht aufgetreten.
Am 15. November liess mich Patient rufen wegen einer Hautaffection,
die er am Morgen des gleichen Tages zufällig entdeckt hatte. Er fühlte sich
seit einigen Tagen nicht wohl, hatte Kopfschmerzen, Neuralgien, schlief schlecht.
Er war der Ansicht, dass wieder ein Malariaanfall im Anzuge sei, hatte jedoch
noch kein Medicameut, weder Chinin noch Arsenik genommen.
Auf den Handrücken, auf beiden Vorderarmen, auf beiden Unterschenkeln
und Fussrücken zeigten sich nicht sehr zahlreiche kirschkerngrosse, hcllrothe,
leicht erhabene Papeln, die ziemlich derb anzufühleu waren, aber nicht bis in die
tieferen Hautschichten sich erstreckten. Subjeetive Symptome von Seiten der Haut
gab Patient gar nicht an.
Am übrigen Körper, besonders am Gesicht, war nichts zu bemerken,
die Schleimhäute waren ebenfalls frei.
Die Temperatur war 38,5°. Die Milz war etwas vergrössert.
Leider habe ich, da es sich um einen Patienten in der Stadt handelte, eine
Blntuntersuchung unterlassen.
Da gerade zu jener Zeit im Hospital sehr viele Fälle von Erythema
exsudativum multiforme Hebrae und auch in der Stadt solche vorkamen,
Eary<*Joj». Jahrbücher. VI 13
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dachte ich zunächst an dieses. Trotzdem verordnte ich 1 1 2 Grm. Chin.su/furic.
pro Tag, da ich wusste, dass Patient an Malaria litt.
Am nächsten Tage zeigten sich einige neue Papeln , einige an den
Schultern, zwei im Gesichte und einige Papeln an den Oberschenkeln. Die Papeln
vorn vorhergehenden Tage zeigten keine Veränderung.
Die Fieberanfälle waren bei den früheren Intermittensattaquen immer
Vormittags eingetreten.
Am dritten Tage blieb das Fieber schon aus. Im Verlauf von sechs
Tagen war das Erythem vollständig verschwenden, ohne irgend eine Spur zu hinter-
lassen, und ohne dass die Papeln irgend eine Veränderung in Form uud Farbe
durchgemaeht hätten.
Ein Erythema polymorphon lag also jedenfalls vor. Aber welcher Natur ?
Dass es nicht zum Erythema exsudativum multifomie gehöre — darüber konnte
für mich kein Zweifel bestehen. Medicamentös war es auch nicht, denn Patient
hatte kein Medicament genommen.
Moxcorvo4*) hat polymorphe Erytheme (er nennt es allerdings Erythime
noiteux) bei Malaria beobachtet, bei Kindern, die prompt auf Chinin reagirten.
Es ist ja möglich, dass es sich bei unseren Patienten um ein solches
polymorphes Erythem handelt. In diesem Falle ist wohl anzunehmen, dass er
jetzt eine persönliche Disposition für das Erythem erworben hat, und dass bei
späteren Malariaanfällen dieselbe Erscheinung sich zeigen wird. Das weiss ich
aber bestimmt, dass ich zu jener Zeit, ehe ich die grosse Zahl epidemisch auf-
tretender Fälle von Erythema exsudativum mulliforme Ilebrae gesehen hatte,
Fälle der letzteren Art, dann der eben beschriebenen und der sogleich zu be-
schreibenden ganz im Sinne der BftsxiKR’schen Auffassung als polymorphe Ery-
theme bezeichnet haben würde.
Im anderen Falle handelt es sieh um einen Mann in den Dreissiger-
Jahren, einen Bulgaren, von schmächtigem Aussehen, etwas blass und nervös.
Patient sagte mir, dass er seit vier Monaten zum vierten Mal an der Hautaflertion
leide, die sich am Abend vorher wieder, d. h. zum vierten Male, eingestellt hatte.
Belästigungen irgendwelcher Art bereite ihm dieselbe nicht, jedoch fürchte er sich,
dass es sich um eine ansteckende Krankheit handle, die er eventuell auf seine
Kinder übertragen könne.
Patient zeigte auf den Handrücken, Vorderarmen, Stirn, Unterschenkeln,
Fussrücken ein papulöses Erythem ziemlicher Ausdehnung. Xuch seiner Angabe
änderte dieses Erythem sein Aussehen nicht und verschwand in den früheren
Fällen nach 3 — 4 Tagen.
Patient stellte sich mir nun täglich vor — und der Verlauf war wie
früher. Da Patient sehr nervös war und mich bat, das Wiederkehren der Anfälle
zu verhüten, gab ich ihm Chinin, bromat., Eisen und Arsenik — fünf Wochen
später trat ein neuer Anfall auf, der ebenso verlief und dem nach einigen Wochen
ein sechster, bald ein siebenter Anfall folgte. Ich hatte mehrfach den Patienten
untersucht, aber kein Anzeichen einer constitutionellen Krankheit tiuden können.
Beim siebenten Anfall wurde ich durch seinen übelriechenden Athem auf den
Zustand seiner Verdauung aufmerksam. Er hatte stets angegeben, dass er gut
esse, gut verdaue und keinerlei Beschwerden habe. Bei genauer Nachfrage gab
er zu, dass er theilweise ziemlich stark an Darmgasen litte, auch sei ihm in
der letzten Zeit schlechter Geschmack und Geruch aus dem Munde selbst
anfgcfallcn.
Ich schrieb ihm nur eine einfache Diät vor und Hess ihn unmittelbar nach
dem Essen 15 Grm. gesättigtes Chloroformwasser, eine Stunde später 1 Grm.
Natron bicarbonicum nehmen. Seit fünf Monaten sind bis jetzt diese Anfälle
nicht wiedergekehrt.
Der dritte Fall gleicht dem eben mitgetheiltcn sehr. Es handelt sieh
um einen 23jährigen Soldaten , der mit der Diagnose Erythema exsudativum
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multiforme von meinem Assistenten aufgenoramen war. Au dem ersten Tage fiel
mir nichts Besonderes auf, ich acceptirte die Diagnose. Es handelte sieh allerdings
um sehr wenige und auffallend sphärische, harte Papeln oder Knötchen. Die
eigentümliche Form und das Ausbleiben jeder Veränderung veranlagten mich
am dritten Tage zu einer eingehenden Untersuchung. Bei dieser Gelegenheit sagte
mir Patient, dass er diese Affection jetzt vielleicht zum zwanzigsten Male, und
zwar seit drei Jahren, aber immer nur im Herbst und Winter habe. Ich habe
jetzt unter meinen Augen mindestens den fünften Nachschub gesehen — es ist
ein Fall von polymorphem Erythem, dessen Aetiologie mir vollständig unklar
ist, der aber von den im selben Saale liegenden multiformen exsudativen Ery-
themen sich ebenso unterscheidet wie etwa ein Kranker mit Aknepusteln von
einem Kranken mit schwerer Lues und einem pustulösen aknei'formen Syphilid —
in dem einen Falle handelte es sich um einen kräftigen, gesunden Mann, der
trotz seiner vielen Erythemnachschübe nichts weniger als elend anssieht, in den
übrigen Fällen resultirt aus einer kurzen Erythemattaque ein mehr oder minder
ausgesprochen kachektischer Zustand.
Wenn ich nun die eigenen Fälle verlasse und mich der Casuistik zu-
wende, so kann ich nur in grossen Zügen einige wenige Beispiele bringen; die
zeigen sollen, wie weit sich das, was man der von Hf.bba geschaffenen Gruppe
anreilit, von der ursprünglichen Auffassung entfernt.
Auch hier werde ich möglichst nur einige Beispiele aus der neuesten
Zeit wählen — nur eine ältere Arbeit, die viel Schuld trägt an der eingerissenen
Verwirrung, muss ich citiren — es ist die LEWix’sche Arbeit.
Zunächst muss betont werden, dass das Lkw!.\’sc1k‘ Material von vorne-
herein dazu wie geschallen ist, irrthümliche Anschauungen zu erwecken. Es
handelt sieh durchweg um anderweitig Kranke. Fast säramtliche Kranke sind
luetische Frauenzimmer. Fast keine der gegebenen Beobachtungen entspricht dem
HXBKA’schen Typus. Fast sämmtliche Fälle lassen sich nach unserer heutigen
Anschauung als dcuteropathische , toxische oder infectiöse Erytheme auffassen.
Von den Fällen, die keine anderweitigen Erkrankungen aufweisen (8, 13, 2 6,
27, 38 bei den weiblichen. 2, 5, 6), wäre es vielleicht in den Fällen 38, 2,
5, 6 möglich , au eine Form des HEBBA’schen Erythems zu denken — alle
übrigen Fälle entsprechen in nichts unseren 120 eigenen Beobachtungen, auf die
Hebbas Beschreibung passt.
Weiter verweisen wir an neueren Publicationen auf diejenige von Polo-
tkbxoff a“), die wir zur Illustration unserer Ansicht in extenso bringen könnten.
Von der neueren Casuistik will ich ganz beliebig aus meinen Notizen
einige Fälle herausgreifen.
FlN'üKR '*) beschreibt als Enjthema multiforme einen Fall einer acuten
Infectionskrankheit , die mit einem sehr verbreiteten Erythem einherging, dem
die Patientin unter septischen Erscheinungen erlag. Die Section ergab diphtheritische
Proeesse im Rachen , bis in den Magen, und Perikarditis und Pleuritis, ln den
Knoten (s. oben) wurden in den Gefässeu Kokken nachgewiesen.
Lkwi.y >*) stellte im Verein für innere Medicin (am 30. November 1891)
einen Fall von Erythema exsudativum multiforme vor. Dieser Fall , sowie die
sich anschliessende Discussion beweisen besser als alle Citate, wie weit man sieh
von dem HRBRA’schen Erythema exsudativum multiforme entfernt hat, und dass
meine Behauptung gerechtfertigt ist , dass man unter der gleichen Etiquette
Affeclionen vereinigt , die genau so eng zu einander oder so weit auseinander
zu halten sind wie eine searlatiniforme Quecksilbereruption und Scharlach und
ein scarlatiniformes Erythem bei schwerer Sepsis !
Es heisst (pag. 79):
„Herr G. Lewix stellt eine Patientin mit Erythema exsudativum multi-
forme vor. Dieselbe litt vorher an Kehlkopfsvpliilitis, welche durch l’nterhaut-
einspritzungen beseitigt wurde; auch war sie früher bereits mit Erythema exsu-
13*
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dativum behaftet gewesen. Redner hat als Erster auf ein Erythema exsudativum
multiforme malignum aufmerksam gemacht, welches einem Typhus ähnlich ver-
läuft. Im ersten Stadium bestellt Schlaflosigkeit, Aufregungszustände. Im Eruptions-
Stadium entstehen unter Schmerzen Flecken, Schuppen, Pusteln mit Fieber, Rilcken-
schmerzen ähnlich wie Pocken. Gleichzeitig kann sich ein Gelenkrheumatismus
mit folgenden Ankylosen entwickeln. Es können sich Knoten in der Gegend der
Tibia mit dem Eindruck von Tophi , Geschwüre im Pharynx , symmetrische
Gangrän, Drtlsenschwellung bilden. Als Nachkrankheiten können Herzfehler,
Tuberkulose, Neuralgien anftreten. Mikroorganismen wurden bei der Erkrankung
bisher nicht gefunden. Redner sieht dieselbe als Angioneurose an. Die meisten
Kranken litten an Urethritis und Erosionen am Uterus. Verfasser konnte durch
Reizung der Portio mit Argent. nitric. und der Harnröhre mit Sabinasalbe einen
Rückfall der Erkrankung erzeugen , der sich nach 24 Stunden unter geringem
Fieber nicht so stark wie der erste Anfall cinstellte und auch schneller wieder
verschwand.“
Jeder Commentar würde den Eindruck schwächen.
Duhking *4) giebt als universelles multiformes Erythem folgen Fall:
„Patient, ein 29jähriger Mann, robust, stets gesund, hatte einseitigen
Rheumatismus im Fuss- und Kniegelenk. Temperatur 38.4. Appetitlosigkeit Kopf-
schmerz, Verstopfung, eiweisshaltiger Urin. In der folgenden Nacht plötzlicher
Ausbruch erythematöser Flecken auf der Beuge- und Streckseite der Arme , auf
Gesicht, Brust, Rücken und den Handflächen, aber nicht auf dem Handrücken.
Die Flecken erbsengross, sehr zahlreich, undeutlich begrenzt, verursachten heftiges
Jucken. Eruption wird intensiver und ausgedehnter, vorzüglich auf Brust und
den Beinen. Halssehmerzen, trockene rothe Zunge, Pharynx mit rothen Flecken,
Schlingbeschwerden. Der ganze Körper ist ergriffen, die Flecken gehen ineinander
über: das ganze Gesicht diffus roth. Rheumatische Schmerzen nachgelassen. Am
Handrücken Papeln mit Vesikeln , auch auf der übrigen Haut entwickelten sich
kleine, zahlreiche gelblichgraue Vesikel wie beim Scharlach. Es fand allgemeine
Abschuppung statt und Heilung nach 3 Wochen. Es war ein Erythema multi-
forvie mit Abschuppung, was ungewöhnlich ist.“
Auch hier ist ein weiterer Commentar nicht nöthig — ein Erythema
exsudativum multiforme Hebrae ist dieser Fall nicht!
SBKRWELL “) bringt einen tödtlich verlaufenden Fall, der als einfaches
Erythem begann und unter schweren Complicationen und Purpura tödtlich verlief —
auch dieser Fall muss sich die Bezeichnung „Erythem“ gefallen lassen.
FOBDYCE iC) stellt einen Fall von Erythema multiforme universale vor
wegen der Ausbreitung der Läsionen. Man sieht gyrirte und circinnäre Flecken
und auch Urticariaquaddeln. Die Eruption recidivirt und ist stark juckend. Der
Referent (L. Broch; fügt hinzu, es scheine sieh mehr um eine Dermatitis herpeti-
formis zu handeln.
Und so könnten wir noch eine grosse Zahl von Belegen bringen *'), dass
man die Bezeichnung multiformes oder polymorphes Erythem derartig allgemein
gebraucht, dass das Wort bald gar nichts mehr bedeutet, als dass man eine
Röthung auf der Haut sieht.
ln den meisten Fällen handelt es sich um secundäre Erkrankungen und
mau sollte sagen, die ursächliche Krankheit, z. B. Sepsis, acuter Gelenkrheuma-
tismus, Nephritis, Malaria u. s. f. mit erythematösen Eruptionen.
Jedenfalls aber wird Niemand mehr die Berechtigung bestreiten, wenn
man gegenüber solchen Fällen sagt, dass unsere oben mitgetheiltcu 120 Fälle
eiu einheitliches Krankheitsbild geben, das mit den citirten Fällen nichts gemein
hat als vielleicht die Form der Kffloreseenzen und die Itöthe.
Mit wenigen Worten müssen wir hier noch das Erythema Itullosum
berühren. Wir haben von dieser Affection erst einen Fall beobachtet. Mit dem
Erythema exsudativum multiforme Hebrae hat diese Erkrankung nur eines
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gemeinsam: eine allerdings auffallende Uebereinstimmung der ursprünglichen
Läsionen. Im Uebrigen giebt es aber weder in Ausbreitung, noch in Dauer, noch
im Verlauf, kurz im ganzen Krankheitshilde auch nicht einen Punkt, in dem
sich diese beiden Affectionen ähnelten. Das Erythema bullosum gehört ebenso-
wenig in die Classe der polymorphen Erytheme überhaupt hinein wie die Der-
matiti < herpetiforinis Dl.'HRlXG’S z. B.
Wenn wir nun zusammenfassen , so müssen wir sagen , dass in der
Gruppe „ Erythema polymorphun “ im weitesten Sinne, sowie Besnier dieselbe
fasst , sicherlich dreierlei grundverschiedene Gruppen von Affectionen enthalten
sind , auf deren weitere eventuelle Unterabtheilmigen wir an dieser Stelle nicht
eingehen wollen.
Wir haben auszusrheiden :
I. Allgemeine Infcctionskrankheiten mit symptomatischer Hauterkrankung:
a) das Erythema rxsuda’ivum multiforme Hebrae , so wie es in vor-
liegender Arbeit aufgefasst und beschrieben ist;
h) das Erythema nodosum.
Von einer individuellen Prädisposition für diese Krankheiten kann eben-
sowenig und ebensoviel die Rede sein wie von einer solchen fitr .Scharlach,
Blattern, Masern, Intermittens etc.
II. Angioneurosen (Erythantheme Auspitz-üxna).
Dazu gehört , eine grosse Reihe der urticariellen oder maculo-papulösen
Affectionen, die den obigen Infectionskrankheiteu ähneln.
Bei dieser Gruppe kommt die Frage der individuellen Disposition in
Betracht. Kür sehr viele der hierhergehörigen erythematösen Affectionen , z. B.
für die toxischen Erytheme, welche durch den Genuss von bestimmten Nahrungs-
mitteln, durch bestimmte Medicamente hervorgerufen werden, muss eine individuelle
Disposition angenommen werden. Es sind dies die idiopathischen Erythan-
theme Uxxa’s.
Für andere, secundäre Erytheme toxischer Natur (z. B. das Cholera-,
Typhus-Erythem) ist die Annahme einer individuellen Disposition nicht erforder-
lich. Vielleicht gehören dieselben aber auch gar nicht zu den Angioneurosen,
sondern sind alle der dritten Gruppe zuzutheilen, nämlich :
III. den durch Embolie hervorgerufenen erythematösen Eruptionen. Hier-
her gehören sicherlich sehr viele der sogenannten „malignen polymorphen Ery-
them eu, meist bei septischen Processen vorkommende Hautmetastasen.
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Vierteljahrschr. f Dermat. u. Syph. 1877, pag. 244 — ,v) Polotebnoff. Zur Lehre von den
Erythemen. (In Unna’s dermatologischen Studien.) Hamburg 1887, Leop. Voss. — *°)Oehrae,
Ueber Erythema nodosum und seine Beziehungen zur Tuberculosis. Arch. f. Heilk. 1877. H. 9,
pag. 426- — **) Gaal (Vele Bey), Epidemie von Erythema papulatum. Zeitschr. d. Gesellsch.
d. Aerzte in "Wien. 1858 (citirt nach Polotebnoff). — **) Lewin, Die Neben wirk ungen der
Arzneimittel. Berlin 1893, Birechwald. — **) Amiaud, Lf Erytheme uoueux et ses rompli -
cation * viscerales. These de Paris. 1879- — M) Schulthess, Statistischer Beitrag zur
Kenntniss des Erythema nodosum. Correspondenzhl. f. Schweizer Aerzte. 1. Februar 1895,
XXV. Jahrg., Nr. 3. — *•) Stol zen berg , Charite-Annalen, XIX. Jahrg., ref. in Virchow-
Hirsch's Arch. 1894. II, pag. 643. — :*) Lannois. L’t-rytheme tioueux, peut il etre con-
tayieux 9 Annal. de dermat. et syph. 1892, pag. 585 ff. — *7) Para, Deux ca* de eonfayion
de Verythemc noueux. Gaz. hebdom. de med. et chir. 23. Juli 1892, Nr 30. — 3S) Le
Gendre, Centralbl. f. allgem. Pathol. u. pathol, Anat. 1894. V, pag. 45. — *9) Hutine l,
Annal. de dermat. et syph. 1893, pag. 492. — 40) Manning, Brit. med. Journ. 1893. pag 691. —
41) Mussy, Les t'rythemes infectieux dam la diphth/rie. These de Paris, 1892. — 41) Peter,
Semaine med. 1891, Nr. 35, pag. 281. — °) Mnncorvo, Annal. de dermat. et syph. 1893,
pag. 58. — 44) Duhring. A case of universal Erythema multiforme. Virchow-Hirsch's
Archiv. 1892. II, pag. 52^*. — 46) Sherwell. Annal. de dermat. et syph 1893, pag. 775. —
4 *) Fordyce, Annal.de dermat. et syph. 1893, pag. 1048. — 4;) Hallopeau, Annal. 1894,
pag. 1105- — Wen dl er, Beitrag zur Lehre vom Erythema exsudatirum multiforme und
nodosum. Dissertnt. Berlin 1893. — 4#) Schwimmer, Die neuropathisehen Dermatosen.
Wien 1883. v. Darin g.
Erythrasma, s. Dermatomykosen. pag. 113.
Erythrophleinum hydrochloricum purissimum. Das von e. mkrck
vor 12 Jaliren ans der Sassyrinde (Sassv-Bark), einer aus Westafrika imporlirten
Drogue, dargestellte ErythrophleVn war ein syrupförtniges Präparat, welch,« nach
der toxikologischen Prüfung, die Haknack und Zabrocki damit ausflihrten, neben
der Herzwirkung zugleich pikrotoxinartige Krämpfe bei den Versuelisthieren
erzeugte. Auch lieferte das ErytliropbleVn beim Kochen mit Salzsäure eine stick-
stofffreie, unwirksame Säure und einen ähnlich dem Pyridin wirkenden basischen
Körper. Das neuerdings von E. Mkkck als Eryth rnphlein um hyd rocht oricum ein-
gefuhrte Präparat unterscheidet sich nach den Untersuchungen von E. Haknack
von dem obigen dadurch, dass es ein gelbliches, pulverförmiges, amorphes Salz
bildet und dass es nur die reine Digitaiiswirkung und nicht auch die des Pikro-
toxins mehr zeigt. Die Spaltung durcli Kochen mit Salzsäure vollzieht sieh viel
schwieriger. Die Giftigkeit der Substanz ist sehr bedeutend ; 3 Mgrm. subeutan
erwiesen sich bei der Katze als letal, 10 Mgrm. subeutau tödteteu etwa binnen
15 Minuten. Das verschiedene Verhalten des dermaligen und des früheren
Präparates möchte Haknack davon herleiten, dass die betreffenden Droguen von
verschiedenen Arten der Stammpflanze Mimoseae) herstammen.
Literatur: Harnack und Zabrocki. Arch. f. experim. I’ath. u. Pharm. XV,
pap. 403; Harnack, Berliner klin. Wochenscl.r. .895, Nr. 34. Loebiech
Eucain. ein ganz kürzlich als Ersatz fUr Cocain empfohlenes locales
Anästhetieum . ist wie Cocain der Methylester einer beuzoylirten Oxypiperidin-
carbousäure von der Constitutionsformel C6H5 — CO — O — COOCH,.
Die Eueainbase ist gleich der Cocainbase in Wasser fast unlöslich ; sie
kommt daher in der Form des löslichen salzsauren Salzes (Eucainmn hydro-
cklori cuwj zur therapeutischen Verwendung, und zwar in dem Lösungsverhältnisse
von 1 : ti1/, Wasser. In dieser Form soll sich das Mittel zu Schleimhaut-
anästhesirnngen , hei Hals- und Nasenkrankheiten, mich in der zahnärztlichen
Praxis bewährt haben : es soll ungiftiger als Cocain, insbesondere indifferent
gegen das Herz sein: auch soll es vor dem Cocain noch den Vorzug besitzen,
dass es beim Kochen mit Wasser nicht zersetzt wird und in Folge dessen bei
Sterilisation der Lösungen nicht leidet , während das Cocain sieh dabei in
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EÜCAIN. — EUDOXIN.
199
Benzoylekgonin and Methylalkohol spaltet und dadurch seine local-anästhesirende
Wirkung auf Schleimhäute einbttsst. Weitere Bestätigungen sind abzuwarten.
Das „Eueain“ wird von der Schering’schen Fabrik in den Handel gebracht, der
Fabrikspreis beträgt zur Zeit 300 bis 325 Mark für das Kilo. — Vergl. KIESEL,
„Eueain, ein neues locales Anästheticum“, Zahnärztliche Rundschau, 1896, pag. 196.
Eucasin. Ein neuerdings in den Handel gebrachtes Milchpräparat,
ein saures Ammoniaksalz des Caseins; weisses, fast geschmackloses, in warmem
Wasser vollständig lösliches, griesartiges Pulver, zu Ernährungszwecken empfohlen.
Man giebt es in Hafer- oder Gerstensuppe, Fleischbrühe oder mit Cacao und
Choeolade, bei Erwachsenen zu 28 — 40 Grm. pro die. Das Mittel soll auch
von empfindlichen Personen gern genommen werden und sich bei chronischen
Verdauungsstörungen, bei Phthisikern , Gichtischen u. s. w. als Ernährungsmittel
nützlich gezeigt haben.
Literatur: E. S a 1 k o wski , Deutsche med. Wochenschr., 1896, Nr. 15: Feustell,
it'id. Nr. 20.
Eudoxin. Das Wismuthsalz des Xosophen, s. Xosophen.
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Favus, 8. Dermatomykosen, pag. 90 ff.
Ferrocyankalium, Vergiftungen, 8. Cyan Verbindungen, pag. 85.
Flagellaten, im Darmcanal, s. Darm, pag. 89.
Fettleibigkeit. Seitdem Leichtenstern und NVexdei.stadt bei Fett-
leibigen eine Entfettung mittelst Schilddrüsenfütterung empfohlen haben ('s. Ency-
clopädiscbe Jahrbücher, 1895, V. Jahrg., pag. 420), ist dieses Verfahren mehrfach
Gegenstand eingehender Untersuchungen gewordeu. Leichtexstern hatte die
Hypothese aufgestellt, dass die Thyreoidea einen Stoff bereitet, der für das Leben
und die Gesundheit des Organismus von grosser Bedeutung ist, der einen regu-
lirenden Einfluss auf die Ernährung der Haut und den Fett- und Wassergehalt
des Panniculu * adijwsu» ausübt. Gesteigerte secretorische Thätigkeit der Schild-
drüse bewirke gesteigerte Verbrennung des Fettes, verminderte Drüsenseeretion
begünstige den Fettansatz , dauernder gänzlicher Mangel des Secretes rufe den
höchsten Grad der Wucherung des ödematösen Fettgewebes hervor, wie dies bei
Myxödem der Fall ist.
A. DKNNIU hat es sieh zur Aufgabe gestellt, zu ermitteln, ob durch
Schilddrüsenfütterung der Stoffwechsel Xoth leidet, namentlich ob Eiwcisszerfall
in bedeutenderem Grade statt hat. Beruht die Gewichtsabnahme nur auf
Wasserentziehung und Fettverbrennung , so schadet die Thyreoidinbehandlung
nicht , wohl aber ist das letztere der Fall , wenn damit vermehrte Stickstoffaus-
scheidung bei gleichbleibender Zufuhr verbunden ist. Die diesbezüglichen Unter-
suchungen erstreckten sich auf drei Personen. Im ersten Falle erfolgte während
der Schilddrüsenfütterung eine geringe Erhöhung der N- Ausscheidung ; iro zweiten
Falle , der nur kurze Zeit zur Beobachtung kam , ging bei der Schilddrüsen-
fütterung die Harustoffmenge stark in die Höhe. Der dritte Fall zeigte ganz
bedeutende Abweichungen in Bezug auf Harnstoff- und Stickstoffangabe. Die X-
Ausscheidung erhob sich am Tage der Schilddrüsendarreichung um Weniges, fiel
am folgenden Tage und stieg hierauf jäh an , sank an den folgenden Tagen,
sich aber weit über der Norm haltend , um dann abermals einen jähen Anstieg
während dreier Tagen aufzuweisen, fällt hernach langsam, dann ausserordentlich
rapid , so dass in den beiden letzten Tagen Werthe erreicht wurden , die weit
unter denjenigen der Eiweisszufuhr stehen ; ähnlich wie die Stickstoffabgabe ver-
hält sich die des Harnstoffes. In diesen Füllen tritt auch eine vermehrte tägliche
Wasserausscheidung zu Tage, während eine solche in den beiden vorhergehenden
Fällen fehlte. Dexxk; hebt hervor , dass aus diesen drei Beobachtungen ersicht-
lich ist , dass bezüglich der Wirkung der Schilddrüsenfütterung Unterschiede im
Körperhaushalte einzelner Individuen bestehen. Während der Eine grössere Mengen
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FETTLEIBIGKEIT.
ÜÜl
Thyreoideasubstanz täglich nehmen kann, ohne dass sein Eiweissbestand wesent-
lich herabgedrUckt wird, kommt es beim Anderen zu erheblichen Schwankungen
im Stoffwechsel , die doch zur Vorsicht mahnen, denn wenn ein Mensch 35 bis
40 Grm. Eiweiss täglich verliert (im 3. Falle), so ist dies von Belang. Dennig
fand ferner an sich und bei einem Anderen nach Gebrauch der Schilddrüsen-
tabletteu, dass der Harn noch einen Monat nach Einnahme derselben deutlich
Metalloxyde reducirtc (Ewald hat in einem Falle, welcher eine myxOdematösc
Frau betraf, schon drei Wochen nach Darreichung von Schilddrtlseutaliiettcn
Klagen über unstillbaren Durst beobachtet und dabei 4% Zucker im Harne
nachgewiesen). Jedenfalls, so sagt DENNIO zum Schlüsse, dürfte es gerathen sein,
Vorsicht bei der Schilddrüsenverabreichung walten zu lassen und es sollten die
Thyreoidaltabletten nicht Jedermann zugänglich sein.
Yorke Davies betont die Bedeutung der Sehilddrüsentabletten als Mittel
zur Entfettung. Er hat diesbezügliche Versuche derart angestellt, dass er
zunächst eine Zeit lang eine Entfettungsdiät befolgeu liess und dann derselben
iu einer zweiten Periode Thyreoidtabletten hinzufügte. Dabei zeigte sich , dass
die Gewebsabnahme in der zweiten , durch Schilddrllsenfütterung beeinflussten
Periode eine wesentlich bedeutendere war.
Bleibtreu und Wesdelstadt suchten iu einem Stoffwechselversuchc
hauptsächlich die Frage zur Entscheidung zu bringen, ob bei der Fütterung von
Schilddrilsenbestaudthcilen der zu beobachtende Gewichtsverlust ausser durch
vermehrte Wasserabgabe und Schwund des Fettgewebes nicht auch mit bedingt
ist durch Abgabe von Eiweisssubstanz, ob also die Stickstoffausfuhr zur Stickstoff-
einfuhr sich so gestaltet, dass eine negative Bilanz zu .Stande kommt. Es stellte
sich heraus, dass, nachdem an drei Tagen ein annäherndes Stickstoffgleichgewicht
hergestellt worden war, mit dem Einsetzen der Schilddrüsenfütterung eine Steige-
rung der Stickstoffausfuhr beginnt, welche sich in dem Auftreten einer negativen
Stickstoffbilanz documentirt. Die negative Stoffwechselbilanz weist bei längerer
Dauer der Thyreoideaeinfuhr immer grossere Zahlen auf und hält noch an, nach-
dem die Tabletten ausgesetzt wurden. Am auffallendsten ist dabei die Thatsache,
dass die negativen Bilanzwerthe nicht einmal die Neigung zeigen , kleiner zu
werden, nachdem eine L'eberernährung durch eine ziemlich bedeutende Zulage
von Fett und Kohlehydraten herbeigeführt worden. Die Summe der negativen
Bilanzwerthe seit Beginn der Thyreoideafütterung bis zum Schlüsse des Versuches
ergiebt 15,97 Grm. Stickstoff oder fast 100 Grm. Eiweiss. Es würde das einem
Zerfall von 500 Grm. Muskeltlcisch gleiclikommen , so dass ein Sechstel des
beobachteten Gewichtsverlustes auf den Schwund stickstoffhaltiger
K Orpersubstanz zurückzu füll ren wäre. Verfasser haben zugleich nach-
gewiesen, dass durch die Schilddrüsenfütterung eine Störung der Resorption von
Seite des Darmcanales, also eine veränderte Ausnützung der Nahrung nicht eiu-
getreten war.
Ist durch obige Versuche bei Darreichung von Sehilddrüsentabletten
auch bei Fettleibigkeit eiu vermehrter Eiweisszerfall bei gleichbloibender Er-
nährung sichergestellt, ein grosserer Wnsserverlust wahrscheinlich, wenn auch
noch nicht zahlenmässig erwiesen, so strebte A. MaoNUS-Lf.VY durch Respiratious-
versuche die Frage zu Iflsen, ob neben diesen beiden Wirkungen auch noch ein
Fettverlust statttiudet, eine Mchrproduction von Wärme und Kraft. Sein dies-
bezüglicher Versuch spricht zu Gunsten eines erhöhten Umsatzes unter dem
Einfluss der Schilddrüsenfütterung. Die absoluten Sauerstoff- und Kohlcnsäure-
zahleu . wie die pro Körperkilo berechneten, sind während des Gebrauches von
Thyreoidea durchwegs gegen die Ausgangswerthe erhöht; im Allgemeinen nur
massig, doch zeigt sich zum Schlüsse ein stärkerer Anstieg des Umsatzes.
Auf die mit dem Gebrauche der Thyreoidintabletten verbundenen Ge-
fahren macht El'LENBCBg aufmerksam. Er warnt vor dem mit Schilddrüsen-
fütterung getriebenen Entfettnngssporte. In einem von Eulkxbcrg erwähnten Falle
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FETTLEIBIGKEIT. — FLUOROL.
202
hatte eine Dame die Thyreoidintahletten gekauft und auf Anrathen des Apothekers
über einen Monat liindurch fi Stück davon täglich genommen. In Folge dessen
waren äusserst schwere Störungen der Herz- und Nerventhätigkeit eiugetreten
und cs hatten sich bei ziemlich bedeutender Abmagerung Erscheinungen einer
offenbar hvdrilmischen Blutbescliaffenheit ohne sonstige organische Ursache rapid
entwickelt. Das Mindeste, was in dieser Richtung geschehen könnte, wäre wohl,
dass der Vertrieb der Thyreoidintahletten und ähnlicher aus Schilddrüsensubstauz
gefertigter Präparate dem Handverkaufe völlig entzogen und nur auf ärztliche
Verordnung (EüLEXBURG geht nicht über 2 Stück Thyreoidintahletten täglich bei
sorgfältiger Controle hinaus) fortan gestattet würde.
Bei fettleibigen Individuen, bei denen selbst durch die grössten Mengen
von mehlhaltigen Nahrungsmitteln (300 — 500 Grm. pro die) keine Spur von
Glykosurie hervorgerufen werden konnte, hat v. NoOKIiEX in einigen Fällen
gefunden, dass sie (4 unter 15 Fettleibigen), wenn man ihnen 100 Grm. Trauben-
zucker Morgens nüchtern verabreichte, Zucker ausschieden. Er schliesst daraus,
dass bei manchen Diabetikern in lange sich hinziehendeu Frühstadien des Leidens
eine Periode vorkommt, welche sich durch auffallende Intoleranz gegen Trauben-
zucker auszeichnet , während andere Kohlehydrate selbst in grossen Mengen
noch vertragen werden. Derselbe Autor (V. Noobdex) betont den Einfluss der
neueren Stoffwechseluntersuchungen auf die Therapie der Fettleibigkeit.
Der alte Streit, ob man mit Harvey-Baxtixg die Kohlehydrate und das Fett
gemeinsam beschneiden solle, das Eiweiss häufen solle, oder ob man mit Okrtei.
vorzugsweise das Fett oder mit Ebstein vorzugsweise die Kohlehydrate ver-
mindern sollte , klingt allmälig aus. Es ist erkannt , dass die Verminderung der
Gesammtnahrung, die Verminderung der f'alorienzufuhr jedenfalls die erste Be-
dingung für die Entfettung ist und dass es eine Frage zweiter Ordnung sei, bei
welchem der Hauptnahrungsmittel die Beschränkung am weitesten gehen soll. In-
dividuelle Verhältnisse sind dafür massgebend. Es ist ferner erkannt, dass die
Beschränkung des Wassers zwar starke Gewichtsverluste (durch Wasservcrarmung
des Körpers), aber durchaus keine Fettvefluste bringen kann. Man erzielt mit
ihr nur Scheinerfolge , wenn nicht die Beschränkung der oxydablen Substanzen
(Eiweiss, Fett, Kohlehydrate, Alkohol) Hand in Hand geht.
Literatur: Adolf Dennig, Ueber das Verhalten des Stoffwechsels bei der
Sehilddrüseutherapie Münchener mcd. Wochenschr. 1895. Nr. 17. — C. A. Ewald, üeber einen
durch Schilddrüs- ntherapie geheilten Fall von Myxödem, nebst Erfahrungen über anderweitige
Anwendung von Thyreoideapräparaten. Berliner klin. Wochenschr. 1805, Nr. 2 u. 3. — Yorks
Davis, Thyreoid tnbloid« in nbesity. Brit. med. Journ. 18 *4 , Nr. 1749. — L. Bleibtreu
u. H. Wendelstadt, Stoffwechselvcrauch bei SchilddrüsenfUtteruug. — A d ol f M agil na-
he vv, Ueber den respiratorischen Gaswechsel unter dem Einfluss der Thyreoidea, sowie unter
verschiedenen pathologischen Zuständen. (Aus dem stadt. Krankenhause r.u Frankfurt a. M..
Abth, Prof. v. Noorden. 1 — A. Eulenburg, Vetter den Missbrauch der Thyreoidintahletten.
Deutsche med. Wochenschr. 1895, Nr. 33. — C. v. Noorden, l'eber die Frühdiagnose der
Zuckerkrankheit. Verband!, d. Congr. f. innere Med. in München; Zeitschr. f. äiztl. lumdpravis.
1895, Nr. 6; ferner: l’eber die Bedeutung der Stoffwei hseluntersnchnngen für die Therapie
Arch. f. Verdannngskrankheiten. 1895. Kisch.
Fleischsäure, vergi. Carniferrin, pag. t?9.
Fluorol, Na Fl , NatriumHuorid, Natrium ßuoratum ; ein weisses, in
Wasser lösliches Pulver, wurde von Drci.OS als Autisepticuni empfohlen. Schon
in 1° 0iger Lösung hebt es die Wirkung der organisirten Fermente auf. während
die der Enzyme nicht beeinflusst wird. Bei Dakryocystitis wirkte es in
0,5° „iger Lösung besser als Sublimat. Bei Cystitis ca tarr/i a! in bewährte es
sieb Tvffier) in 0,25 — 1 0 oaiger Lösung zur Ausspülung der Blase, in 0,5 bis
1° „iger Lösung wendet es Bi.ai/.OT zu Waschungen bei Erythem der Neugeborenen
an, ferner zu Ausspülungen des Mundes, sowie bei Vagiuitis Lösungen derselben
Stärke. Bourgeois empfiehlt Natriumfluorid innerlich bei Tuberkulose der Kinder
in Tagesdosen von 0,1 — 5 Mgrm.
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FLUOROL. — FRACTURYERBÄNDE. 203
Literatur: Duclos, Nouv. remed. 1895. pag. 447. — Tuffier, Semaine inöd.
1894, Nr. 71. — Blaizot. Semaine med. 1895. Nr. 15. — Bourgeois. Bull, de l'Acad. roy.
de Med. de Belg. 1895. pag. 874. — E. Merck, Bericht über das Jahr 1895.
Loeb isc h.
Formaldehyd, s. au genheilmittel, pag. 27.
Formin — Urotropin.
Fracturverbände. in der Behandlung der Knochenbrüche stehen die
Gehverbändc zwar noch immer im Vordergründe des Interesses, aher das bis-
herige Für und Wider ist einstweilen zu dem Abschlüsse gelangt, dass die Geh-
verbände für die Krankenhäuser vollauf berechtigt sind. Bezüglich der Frage
freilich, wie weit diese Behandlung auszudehnen, welcher Art der Verbände der
Vorzug zu geben sei , machen sich abweichende Meinungen geltend. Die Einen,
wie Kobsch, Albf.rs, Doi.i.inubr , wallen alle Fracturen des Unter- und Ober-
schenkels, Andere, wie Kbacsk. nur die Brüche von den Malleolen bis zum unteren
Ende des Oberschenkels mit dem Gypsverbande behandeln ; wieder Andere, wie
Kt'MMKL, lassen den Gypsverband überhaupt nicht zu. Sie verwerfen nicht den
Gehverband, sondern nur den Gypsverband und bedienen sieb an seiner Stelle
der Apparate von Bbuks, Heusner u. A. Schede endlich ist von den gesummten
Gehverbänden kein Freund ; er will zumal bei Oherschenkelhrüchen von ihnen
nichts wissen, sondern empfiehlt den altbewährten Zugverband. Wer die Methode
anwenden will , der versuche sie zuerst bei einfachen Querbrüeheu des Unter-
schenkels oder auch hei ScbrägbrUehen, die keine Neigung zur Dislocation haben.
Bei Obersehenkelbrücben soll man in der Praxis vom Gehverbande am besten
Abstand nehmen.
Babdklkbkx ') giebt einen Gesammtbericlit Uber alle bis zum Frühjahr
1895 in der Charite mit dem Gehverbande behandelten Fälle. Es sind im Gauzen
181, und zwar 135 Untersehenkelbrücbe , 7 Kniescheiben-, 38 Oberschenkel-
brüehe und 1 complicirte Fractur des Ober- und Unterschenkels bei demselben
Kranken.
Bei den im letzten Jahre behandelten 39 Unterschenkelbrüehen war das
Verfahren im Allgemeinen das im vorigen Bande geschilderte (nach Ai.Bers):
das Bein wurde zunächst auf eine Schiene gelagert und das Verhalten det
Bruchgesch wulst abgewartet. Bei 10 Kranken geschah das Anlegen des Ver-
bandes am ersten; bei 17 am zweiten; bei 5, darunter 1 complicirte Fractur, am
dritten ; bei 6 (zweimal starker Bluterguss, einmal liandtellergrosser Lyrnpberguss
am vierten Tage. Zweimal wurde bei offenen Brücheu die Heilung der Haut-
wunden abgew artet und einmal am dritten Tage , nach eben überstaudenem
Delirium, der Verband angelegt.
Das Kniegelenk wurde nur bei Brüchen im oberen Drittel mit ein-
geschlossen, oder wenn der Bluterguss bis in das Gelenk reiehte, beziehungsweise
das Gelenk selbst betheiligt zu sein schien. Bei Hämarthron wurde der Erguss
durch Punction uud Aspiration entleert.
Alle Kranken verliesseu am Tage der Verbandanlegung das Bett; um
üble Zufälle zu vermeiden, ist es rathsam, die Gehversuche nicht vor dem zweiten
oder dritlen Tage beginnen zu lassen. Der Verband bleibt durchschnittlich bis
zur Heilung liegen ; ein Wechsel findet nur statt, wenn der Verband sich lockert,
beziehungsweise schadhaft wird , oder wenn Decubitus zu befürchten ist. Der
zweite Verband ist in der Kegel ein Gyps-Leimverband, der, aufgeschnitten,
leicht alinelirobare, federnde Kapseln giebt. Der Geliverband war bei den Kranken
sehr beliebt und lieferte durchaus befriedigende Ergebnisse. Das unverletzte Knie-,
beziehungsweise Fussgelenk war nach der Consolidation des Bruches frei und
ohne besondere Schmerzen beweglich. Bei mitbetroffenen Gelenkeu fanden sich
erhebliche Bewegungsstörungen, die sich erst allmälig verloren. Muskelschwund
kam vereinzelt, aber nicht in messbarem Grade vor. Verkürzungen waren sehr
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FRACTUR VERBÄNDE.
selten und betrugen höchstens l1,'. Cm. Die Säufer entgingen, bis auf einen,
dem Delirium.
Schliesst man einzelne , ganz ungewöhnliche Fälle aus , so erfolgte die
Heilung , d. h. die Consolidation bei Brüchen beider Unterschenkelknochen in
2f> — 45, bei Knöchelbrüchen in 18 — 31 und bei Brüchen der Fibula in 15 bis
35 Tagen.
Bei den bis zur Consolidation behandelten Brüchen des Oberschenkel-
schaftes (10) wurde der Verband vom ersten bis dritten Tage angelegt.
Die Gehversuche begannen in der Regel am Tage nach dem Anlegen des Ver-
bandes, und zwar zunächst im Laufstuhle, nach 2 — 3 Tagen mit Krücke und
Stock, nach 6 — 7 Tagen mit einem Stocke oder auch ohne solchen. Die Beweg-
lichkeit der Kranken war natürlich beschränkter als bei Unterscheukelbrüchen,
aber einige vermochten immerhin Treppen zu steigen und im Garten herumzu-
gehen. Die Consolidation erfolgte durchschnittlich in 30 Tagen; der C'allus war
meist sehr stark; Verkürzungen in der Ausdehnung von 0,75 — 2 Cm. kamen
unter 1 1 Füllen 5mal vor, das Kniegelenk war sofort bis zu 15° beweglich.
Von Schenkelhalsbrüchen erhielten fünf einen Gehverband (2 ein-
gekeilt, 3 nicht); vier wurden erst 11 — 15 Tage mit Eitension behalten; nur
bei einem wurde der Gehverband schon am zweiten Tage angelegt. Die Con-
solidation erfolgte durchschnittlich in 38 Tagen; Verkürzung (3 Cm.) trat nur
bei einem Kranken ein.
Auch praktische Aerzte haben augefangen, vom Gehverbando, und zwar
vorzugsweise bei Untersehenkelbrücheu, Gebrauch zu machen. NäuKU-Akkrbmjm ’)
bedient sich ausschliesslich des Gypsverbandes, den er über einer Flanell!. inden-
einwicklnng anlegt und am Steigbügel, sowie an der Fracturstelle verstärkt und
an der Fusssohle gut unterpolstcrt. Der Fuss steht, leicht supinirt, im rechten
Winkel. Der Verband besteht aus 5 — 0 Binden von 8 Ctm. Breite und 2'/s Meter
Länge und reicht bis zu den Condylen der Tibia. Sofort nach Anlegung des
Verbandes ergreift Nagem den Fuss, bringt ihn in die richtige Stellung und
überschüttet den Gypsverband mit etwas Schwefeläthcr , um die Erhärtung zu
beschleunigen. Gewöhnlich wird der Verband 12 — 24 Stunden nach der Ver-
letzung angelegt und vom zweiten Tage an mit den Gehübungen begonnen, ln
den Verbänden, die 3 — 6 Wochen getragen wurden, konnten sich die Kranken
gut bewegen ; Schwellung wurde nie beobachtet, und Massage war nach Verhand-
abuahme nicht erforderlich.
Wotruba *) fettet nach der Reposition den Unterschenkel mit Vaselin
ein und rollt dann die Gypsbinden (von 5 Meter langen Binden reichen 3 — 4
für einen kräftigen Mann aus) einfach auf der Haut ab. Sobald der Verband
erhärtet ist , lernen die Kranken mit Hilfe eines Wärters zunächst das Stehen,
und dann beginnen die Gehversuche. Nicht allzu ängstliche Kranke werden in
2 — 3 Tagen so weit gebracht, dass sie an zwei Stöcken umhergehen. Der Verband
wird nur gewechselt, wenn er schadhaft oder locker wird und also seinen Zweck
nicht mehr erfüllt. Meist genügen zwei Verbände. Die Consolidation erfolgt in
4 — 5 Wochen, je nach dem Alter des Patienten. Bei stärkeren Blutergüssen,
zumal in das Knie- oder Sprunggelenk, wird zunächst auswattirt und eingegvpst.
Der Gypsverband folgt erst, wenn die Schwellung zurückgcgangen ist , d. h. in
der Kegel nach 8 Tagen.
Auch für die Diatomit) pedia ist ein Gehverband, und zwar in der Form
des Heftpfiastcrverbaudes nach Giuxkv, von Hofka *) auf das wärmste empfohlen.
Der Verband gestattet den sofortigen Gebrauch des Fusses und liefert geradezu
„wunderbare“ Erfolge. Er besteht aus etwa 10 längeren und 10 kürzeren,
daumenbreiten Streifen von Kautschukpflaster. Die Streifen werden genau nach
Mass zugeschnitten und so Uber eine Stuhllehne gehängt. Die längeren Streifen
müssen von der Grenze des mittleren und oberen Drittels des Unterschenkels ans,
längs der Aussenseite herab, über die Fusssohle hinweg zur inneren Beite des
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FR ACTURVERBÄN DK g05
Fussrückens, in Knöchelhöhe, die kleineren von der kleinen Zelie, an dem äusseren
Fussrandc entlang, um die Ferse herum, längs des inneren Fussrandes bis zur
Wurzel der grossen Zelie reichen.
Der Fuss steht genau recht winkelig zum Unterschenkel. Der erste
Streifen wird in der angegebenen Höhe am Rande der Tibia angeklebt , vom
Kranken festgedrückt und straff angespannt, gerade herabgeführt zum äusseren
Fussrande, von da über die Fusssohle fort zum inneren Rande des Fussrückeus,
wo er etwa fingerbreit vor dem Malleolus int. endet. Dieser erste lange Steifen
wird befestigt durch den ersten kurzen Streifen, der am Aussenrande des Kusses
entlang laufend, die Ferse umfasst und an der Wurzel der grossen Zehe endet.
Ganz so werden die (ihrigen Streifen angelegt , und zwar in der Art , dass der
folgende den vorhergehenden dachziegelartig deckt , und so lange fährt man
damit fort, bis der Rand der Achillessehne erreicht und so das ganze Verletzungs-
gebiet bedeckt ist. (Fig. 34). Zur Verstärkung können noch einige diagonale
Streifen hinzugeftihrt werden. Ueber das Ganze legt man eine Cambrik- , be-
ziehungsweise steife Gazebinde. Der Kranke zieht Strumpf und Schuh an und kann,
selbst bei schwerer Distorsion, den Fuss sofort
gebrauchen , wenn schon anfänglich mit Hilfe
eines Stockes. Zur Vermeidung von Kreislaufs-
störungen dürfen die lleftpflasterstreifen den Fuss
nicht völlig ringsum einschnüren. In leichteren
Fällen genügt ein 8 Tage liegenbleibender Ver-
band; dann eine Woche hindurch tägliche Mas-
sage. Bei schwereren Fällen folgt nach 6 bis
8 Tagen ein zweiter Verband, der 8 — 1U Tage
liegen bleibt; dann Massage. Tritt der Kranke
erst einige Zeit nach der Verletzung in Behand-
lung, und ist bereits stärkere Schwellung vor-
handen , so beseitigt inan diese durch Hoch-
lagerung , elastische C’ompression und Massage
und legt nach 24 Stunden den Verband an.
Vor anderen Brüchen haben die der
Kniescheibe die Aufmerksamkeit der Chirurgen
auf sich gelenkt ; nirgends auch springt der
Wandel in der Fraeturenbehandlung mehr in
die Augen als hier. Während man früher vor
allen Dingen die knöcherne Vereinigung der
Fragmente austrebte uud die Weichthcile ausser
Acht lies», ist jetzt nahezu das Umgekehrte der
Fall : Man weiss, dass keine der bisher üblichen
Behandlungsweiseu für die knöcherne Vereinigung
auch nur einigermassen Gewähr leisten konnte und dass auch bei breiter binde-
gewebiger Zwischeulagerung gute Gebrauchsfähigkeit eintritt. Man legt daher auf
die knöcherne Verwachsung verhältnissroässig weniger Gewicht, dagegen sucht
man in erster Linie den Muskelschwund zu verhüten. Zur Erreichung dieses
Zieles hat man im Wesentlichen zwei Wege eingeschlagen : die sofortige Massage
und möglichst frühzeitiger Gebrauch des Beines, sei es mit oder ohne Verband.
Laxhebeb 5) lagert das verletzte Bein hoch auf einer V’OLKM an. \ 'scheu
Schiene und zieht die Fragmente mit einer Heftpflastertestudo zusammen. Schon
nach 24 Stunden raassirt er täglich zweimal, zu welchem Zwecke der Heftpllaster-
verband abgenommen wird. Das Gelenk selbst wird anfangs nur schonend
gestrichen, gerieben und geknetet; die Oberschenkelmuseulatur geknetet und
gestrichen, vom 3. — 4. Tage an auch geklopft. Am (i. — 8. Tage stehen die
Kranken auf mit einem Verbände, der die Bewegung hindert; Ende der zweiten
Woche gehen sie mit einem Stock und Verbände. Knöcherne Vereinigung wird
Fi*, bi.
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20t»
FRACTCRVERBÄNDE.
mit dein Verfahren zwar auch nicht sicher erreicht, aber der Qnadrieeps atrophirt
nicht, und die Gebrauchsfähigkeit des Beines kehrt frtili zurück.
Das von zum Busch *) beschriebene Verfahren Kraske's geht noch einen
Schritt weiter. Die Massage beginnt womöglich gleich nach der Verletzung: man
entfernt durch sanftes Streichen mit beiden Händen den Bluterguss aus dem
Gelenke und bearbeitet dann die Muskeln in gewohnter Weise. Das Bein wird
auf eine Schiene gelagert, das Knie eingewickelt und mit einem Eisbeutel bedeckt.
Täglich wird die Massage zweimal wiederholt. Schon am Nachmittag des zweiten
Tages steht der Kranke auf; wenn nöthig, wird das Gelenk mit einer Flanell-
binde cingewickelt und 1 — 2 Tage eine Krücke benützt. Meist gehen die Kranken
schon am zweiten Tage mit einem Stocke; in der zweiten Woche müssen sie
Treppen steigen. Dabei verringern sich schnell Bluterguss und Diastasc : Muskel-
schwund tritt nicht ein. Nach 4 Wochen sind die Kranken arbeitsfähig, obwohl
unter 11 Fällen nur einmal die Vereinigung der Fragmente eine knöcherne war.
Die Behandlung in der v. BABDEl.EBEN’schen Klinik geschah im Wesent-
lichen in der von Alkers 7) beschriebenen Weise: ln einem Falle Entleerung von
t>0 Ccm. flüssigen Blutes durch Function mit weitem Troicart am 2. Tage; An-
legung eines von den Knöcheln bis handbreit über die Mitte des Obersehenkels
reichenden Gypsleimverbandes, in den am dritten Tage ein grosses, die Vordcr-
fläche des Knies freigebendes Fenster eingeschnitten wird; Vereinigung der Frag-
mente durch eine Heftpflastertestudo. Mit diesem Verbände geht der Krauke sofort
ohne Stütze. Nach S Tagen Wechseln des Heftpflasterverbandes und Bewegung
der Patella. Consolidation Ende der dritten Woche. Nun wird das Heftpflaster
fortgelassen, der Gypsleimvcrband vorn gespalten und abgenommen. Der Streck-
muskel ist so erheblich geschwunden , dass die Umfangsdiflerenz 2 Cm. beträgt.
In Folge dessen täglich zweimalige Massage und vorsichtige Bewegungen, activ
wie passiv. Nach Ausführung dieser Massnahmen wird die Gypsleimkapsel wieder
angelegt und der Krauke geht in ihr umher. Ende der 5. Woche wird die
Kapsel weggelassen, mit der Massage aber fortgefahren bis zur völligen Wieder-
herstellung. — Bemerkenswertli ist, dass in zwei anderen, nach Ceci genähten
Fällen die Atrophie des Quadriccps ausblieb.
Besonders lehrreich ist die Geschichte Fi*- 3S-
eines veralteten Falles mit völligem Schwunde des
Quadriceps und einer Diastase der Fragmente, bei
gestrecktem Knie, von 7 — 8 Cm. Es wurde ein
künstlicher Streckmuskel angebracht, der den
nicht functionirenden Qnadrieeps ersetzte. Von
den Knöcheln bis zu den Condylen der Tibia
umsehlicsst den Unterschenkel eine abnehmbare,
mit Schnürvorrichtung versehene Gypsleimkapsel
(Fig. 35) , die durch einen Steigbügelriemen in
richtiger Lage erhalten wird. Vorn trägt die
Kapsel einen Telegraphendrahtbügcl (8 Cm. hoch,
6 Cm. lang), der mittelst leimgetränkter Flanell-
binden an der Kapsel befestigt ist. Der künst-
liche Streckmuskel nimmt seinen unteren Stütz-
punkt an eben diesem Bügel , den oberen an
einer über die gesunde Schulter geführten Schärpe.
Zu diesem Zwecke wird durch den Bügel ein
elastischer Gurt geführt, der oben in einen Leder-
riemen ausläuft , mit dem er an dem unteren
Ende der Schärpe, unterhalb der Sehenkelbeuge
festgeschnallt wird. Eine den Oberschenkel um-
fassende Manschette hält das untere Ende der Schärpe in seiner Lage an der
Vorderfläche des Oberschenkels fest. Der künstliche Muskel kann mehr oder
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FRACTCRVERBÄNDE.
207
weniger angezogen und somit in jede beliebige Spannung gebracht werden. Mit
diesem unter tlen Kleidern getragenen Apparate ging der Kranke sofort ohne
Stock herum; das Kniegelenk konnte gestreckt und gebeugt werden und nach
S Wochen hatte sich ein Reservestreckapparat • — Tensor fasria latae s. Vastns
internus mit Faserzügen iu die Cruralfaseie — gebildet , so dass die künst-
liche Vorrichtung nur noch beim Treppensteigen und zu langdauerndein Gehen
benutzt wurde.
Hier in diesem Falle hatte sich der Ueservestreckapparat entwickelt;
geschieht das aber nicht, so hängt nach Hakxel 8j Alles ab von der Festigkeit
der bindegewebigen Zwischenmasse. Fehlt sie, oder ist sie nicht genügend leistungs-
fähig, dann ist die blutige Naht der Kniescheibe angezeigt. Sie nützt, auch wenn
die Reservestreekvorrichtung zerrissen ist , und führt bei zweckentsprechender
Behandlung zu völliger Gebrauchsfähigkeit des Beines.
Zur Nachbehandlung der frischen l’atellafractnr hat Albebs den Streck-
apparat noch erheblich dadurch vereinfacht, dass er den unteren Angriffspunkt
des Zuges unter die Fusssohle verlegte. Dieser Streck-
apparat ist genau das Gegenstück des Beugeapparates
und besteht aus zwei Rindestücken und einem Kautschuk-
schlauche. Die Enden des einen Stückes werden zusammen-
geknüpft, so dass das Ganze eine grosse Schleife bildet
(Fig. 36), die nach Art einer Schärpe über die Schulter
der gesunden Seite geführt wird. Die Enden des zweiten
Stückes werden so geknüpft, dass jedes Ende eine Schleife
bildet. In die untere Schleife setzt der Kranke, wie in
einen Steigbügel, den mit einem Pantoffel oder Schuh
bekleideten Fuss. Die obere Schleife liegt in der Gegend
der Schenkelbeugc und wird mit der Schärpe durch
den Kautschukschlauch verbunden.
Der v. BRAMAXX’sche Sch mettcrl in gs ver-
band für Querfraeturen der Patella besteht aus zwei
gleichen Stücken, die beide einem Schmetterling mit aus-
gebreiteten Flügeln ähneln. An ein etwa 5 Cm. langes
und 4 Cm. breites, starkes, aber gut dehnbares Gummi-
stück ist an jeder Schmalseite unter einem Winkel von
etwa 160 — 170“ je ein etwa 25 Cm. langer, sich peri-
plierwärts etwas verbreiternder lleftptiasterstreifen nn-
genäht. Das eine dieser beiden Stücke wird oberhalb
des oberen Bruchstückes angelegt, stark angezogen und
so , das obere Fragment umfassend und nach unten
drückend, befestigt. Zu diesem Zwecke laufen die Ileft-
ptiasterstreifen wie die Gänge eines Achterverbandes schräg nach unten uud
krenzen sich auf der Wade. Der andere Schmetterling wird ganz in der-
selben Art an das untere Bruchstück gelegt , nur mit dem Unterschiede , dass
er dieses nach oben drückt und die Hefiptiastertlügel sich ungefähr in der
Mitte der Hinterdäche des Oberschenkels kreuzen. Darauf werden beide Schmetter-
linge mit einer Bindeneinwicklung befestigt, das Bein wird in eine VOLKMANN’sche
Schiene gelegt uud aufgehängt. Anfangs vollkommene Ruhe, bald aber Massage
und Elektrieität , und da ist es ein Vorlheil des Verfahrens, dass man nach Ent-
fernung der Schiene deu Quadrtceps femoris und die Wadenmusculatur bearbeiten
kann, ohne den Schmetterlingsverband selbst abnehmen zu müssen.
Wie bei allen ähnlichen Verbänden muss man auch beim Schmetterlings-
verbände darauf achten, dass bei den Bemühungen, die Fragmente durch kräftigen
Druck oder Zug einander zu nährru, sieh über der Lücke keine Hautfalten
bilden oder zwischen die Bruchstücke liineinstülpeu , weil sonst leicht Decubitus
entsteht.
Eig. 3«.
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m
FBACTDH V ER BÄN DE.
Im Allgemeinen fordern Querfraeturen einen blutigen Eingrift' nicht ; ist
das Hämartliron bedeutend, dann frühzeitige Punction, Druckverband, Suspension.
Während v. Bkamaxn auch frühzeitig massircn tmd elcktrisiren lässt , soll man
mit Bewegungen erst nach der Consolidation der Fragmente beginnen. Hat die
Behandlung mit Verbänden in zwei, höchstens drei Wochen keinen oder doch
allzu mangelhaften Erfolg, dann Vereinigung der Bruchstücke durch die Naht.
Heusxer ,0) zieht die beiden Fragmente mittelst zweier elastischer Riemen
(Fig. 37) aneinander, deren Enden kreuzweise gegen die Hinterfläche des Beines
geführt und hier an Stahlstäbchen angeknüpft werden, die auf Filzplatten aufgenäht
sind. Die Filzplatte ist am Ober- und Unterschenkel mit einer Klebemasse und einer
Bindeneinwicklnng befestigt. An ihrer äusseren Fläche trägt die Filzplatte fünf
entsprechend lange, mit Heftknöpfchen versehene Stäbchen aus f’rinolinreifenstahl.
Die vordere Knicgelenkgegend bleibt frei. Die Riemen werden, um ein Hinab-,
Fl*. 37.
Fig. so.
beziehungsweise Hinaufgleiten vor der Kniescheibe zu verhüten, mit einer elastischen
Schlinge nach oben und unten hin festgehaltcn. Zum Schutze gegen ein l'eber-
cinanderschicben der Bruchenden ist noch ein Filzstreifen quer Uber die Brucli-
fläche gespannt, von dessen Zipfeln elastische Riemchen ausgehen , die ebenfalls
an den Knüpfchcn der Rückseite angeheftet werden. Der zum Umhergehen
bestimmte Verband gestattet eine geringe Beugung im Gelenke.
Der Verband ist hervorgegangen aus den HsssiKn’gehen Kniescheiben-
verbänden : von zwei Stahlbügcln, die von oben und unten her die Bruchstücke
umfasseu, werden Gummizügel nach hinten geführt und hier an einer die Knie-
beuge bedeckenden Lederkappe angeknüpft. Zwei ringförmig von den Stahlbügeln
zur Lederkappe geführte Gummiringe sollen seitliche Verschiebungen verhüten.
Denselben Prineipien folgt der für den Bruch des Processus atico-
naeus bestimmte Verband (Fig. 38): das abgebrochene Knochenstückchen wird
mit Hilfe eines hufeisenförmigen, mit Filz unterpolsterten Stahlstäbchens, an dessen
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FRACTURVERBÄNDE. 209
Hörnern Gummizüge angeknüpft sind, nach unten gezogen. Die Gummizüge sind
nach vorne nnd unten herumgespannt, wo sie an einer Filzplatte angeheftet sind.
Die Filzplatte reicht herab bis zum Handteller, hat hier, um das Hinaufgleiten zu
verhüten, eine Oeffnung zum Durchstechen des Daumens und ist ausserdem durch
einen Klebestoff und eine Bindeneinwickelung am Vorderarme befestigt. Vom
Scheitel des Hufeisens erstreckt sich ein 10 Cm. langes Stahlstübchen an der
hinteren Fläche des Oberarmes aufwärts; es trügt am oberen Ende ein Knöpf-
chen, an dem ein um den Oberarm herumlaufender Kiemen zum Schutze gegen
seitliche Verschiebung angeknüpft wird.
Das Ankleben von Filzplattcn , wie es in den eben beschriebenen Ver-
bänden geschieht, brachten Hkcsxer auf den Gedanken , das Verfahren auf die
Zugverbände zu übertragen und die sonst hier üblichen Heftptlasterstreifen
durch handbreite Filzstreifen zu ersetzen. Der etwa ’/, Cm. dicke Filz ist weich,
aber stark, sogenannter Clavierfilz aus der Dittersdorfer Filz- und Kratzentuch-
fabrik in Sachsen. Die Filzstreifen werden zum Verhindern der Dehnung auf
der einen Seite mit fester Leinwand Ubernäht und und naeh dem Anlegen mit
Spreizbrett und Zugschnur ausgerüstet. Die Vorschrift für den Klebestoff ist
folgende: Cerae flavae, Resinae Dammar., Coloph. aa. 10,0, Terebinth. 1,0, Acther,
Spir., 01. Terebinth. aa. 55,0. Filtra.
Mit Hilfe eines Zerstäubungsröhrchens, das mit dem Munde geblasen
wird (oder eines blechernen Blumensprühers) bestäubt man die Haut der Ex-
tremität mit dem Klebestoffe, legt den Filzstreifen mit der freien Seite an und
wickelt ihn erst mit einer trockenen, dann mit einer feuchten, gestärkten Gaze-
binde sorgfältig fest. Der Verband trägt ungeheure Belastung und ist für den
Kranken frei von den Unannehmlichkeiten der Heftptlasterstreifen. Schützt man
vorspringende Knochentheile mit Watte, so kommt auch bei starker Belastung
Drnekbrand nicht leicht vor; Ekzeme wurden nicht beobachtet. Nach Entfernung
der Binden lässt sich der Filz mühelos und ohne Schmerzen von der Haut ab-
ziehen und die zurückbleibende Klebrigkeit leicht mit Seife oder Spiritus ab-
waschen. Die Filzstreifen können wiederholt benutzt werden.
Das von Max Schmidt11) beschriebene neue Verfahren bei subcutanen und
complieirten Fractnreu von Fingern und Zehen ist ein Zugverband, bei dem als
Angriffspunkt des Zuges der Finger-, beziehungsweise Zehennagel dient. Mit einem
Drillbohrer bohrt man von unten her durch den Nagel , an dessen Uebergangs-
stelle zur Haut, zwei zur Nagelmitte symmetrisch liegende Löcher. Durch jedes
dieser Löcher führt man mit Hilfe einer Nähnadel von der Rückenfläche aus
einen starken Zwirn- oder Seidenfaden. Ist das geschehen, dann legt man die
Hand (beziehungsweise den Fuss) auf ein gepolstertes Brettchen , das für den
gebrochenen Finger einen entsprechend langen Fortsatz hat, sonst aber nur bis
zu den Fingerwurzeln reicht, damit sich die gesunden Finger frei bewegen können.
Da» hintere Ende der Schienen wird mit zwei Heftpflasterstreifen am Arme be-
festigt : der obere umfasst mit seiner Mitte den Rand des Brettes (Fig, 39),
Enryclop Jahrbücher. VI. 14
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2 Hl
FRACTÜRVER BÄNDE.
während die Enden sich auf dem Handrücken kreuzen ; der zweite wird kreis-
förmig über den Handrücken geführt. Eine Mullbinde vervollständigt die Be-
festigung. An dem freien Ende des Schienenfortsatzes befindet sieh ein Haken:
hier befestigt man ein doppelt zusammeugelegtes Gummirohr und setzt dasselbe,
während es von einem Gehilfen gedehnt wird, mit den Nagelfäden in Verbindung
(Fig. 40). In den ersten beiden Tagen massiger, vom dritten Tage an verstärkter
Zug durch Verkürzung des Fadens. Auch kurze Nägel f»/4 — 1 Mm.) gestatten
die Durchbohrungen. Der Verband wird 2 — 3 Wochen getragen. Bisweilen zeigte
sich ein Weichwerden der Nagelwurzelgegend, das jedoch nach beendeter Ex-
tension bald verschwand. In 2 Fällen, unter 25, löste sieh später der Nagel.
Filzplatten und Stnhlstäbchco geben auch ohne KlebestofT bei Verletzungen
des Vo rderarmes (Fig. 4 1) und Unterschenkels (Fracturen, Distorsionen, t'ontu-
sionen) ein vortreffliches Verbandmaterial ab: es ist fest und schmiegsam, lässt sich
rasch anlegen und gewährt doch sicheren Halt. Man schneide nach einem Papier
oder Zeugmuster die Filzplatte zurecht und lasse die Stäbchen mit Baumwollen-
oder Leinenstoff aufnähen. Die Stäbchen bestehen ans übersponuenem Crinolin-
reifenstahl , der in jedem Kurz-
w aarengeschäft zu haben ist. Der
so fertiggestellte Verband wird
einfach um das verletzte Glied
liern mgelegt und mit nassen Stärke-
bindeu befestigt.
Der Heüsneu’scIic Ver-
band für den Schlüsselbein-
bruch ist geradizu ingeniös er-
funden und erreicht mit ver-
hältuissmässig einfachen Mitteln
das so lange erstrebte Ziel , die
Schulter der verletzten Seite nach
oben und hinten zu drängeu und
gleichzeitig zu extendiren, ohne
Druck oder erhebliche Unbequemlichkeiten zu verursachen. Der Verband besteht
im Wesentlichen aus 3 Theilen : 1. eine um die Brust und gesunde Schulter
gelegte Umgürtelung als Unterlage für die Extensionsbelastung: 2. eine aus
Filz, Leder und Stahlstäbchen bestehende Umkapselung des Armes der
kranken Seite zur Vertheilung des Gegendruckes auf Ober- und Unterarm ; 3. ein
zwischen beiden angebrachter Winkclhebel, der sich mit dem einen Ende auf
einen Fortsatz des Brustgürtels stützt und mit dem anderen Ende die Armkapsel
nebst Schulter emporhebt (Fig. 42 und 43).
Der Stahlreif der Brnstumxürlelung umfasst nur die Thoraxhälfte der
verletzten Seite und biegt danu stumpfwinkelig hinauf zur gesunden Schulter,
die einen Theil der Last mittragen muss. Unten wird der Stahlreif zu einem
Hinge ergänzt durch einen Lederriemen , dessen beide Endköpfe vorn an dem
Fig. 41
V
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FR ACTUR VERBÄNDE.
211
aufsteigenden Stahlschenkcl angekuüpft werden. Der Stahlreif ist genau der
K Arperobe rfläche augebogen, tiberbrtlekt bügelartig das gesunde Schlüsselbein
und wird zunächst mit Leder, dann noch mit Filz gefuttert. An der Vorderseite
steigt aus der Spitze des stumpfen Winkels ein flacher Stahlstab schräg über die
lirnst hinauf bis zum Sternalende des gebrochenen Schlüsselbeines. Aufgabe dieses
Strebepfeilers In) ist, mit seinem oberen Ende dem Winkelhebe) zum Stutz-
punkte zu dienen. Die am Ellenbogen rechtwinkelig gebogene Armkapsel um-
fasst nur die Vorderseite von Ober- und Unterarm und ist hinten mit Schnallen-
gurten geschlossen ; der obere Hand bleibt etwas von der Achselhöhle fern. Die
mit einer Ausbiegung vor dem Oberarmkopfe emporsteigende Schiene ist an dem
Winkelhebel durch Schrauben befestigt. Der obere Arm des Winkelhebels (b)
läuft wie ein künstliches Schlüsselbein vor dem gebrochenen Knochen einher und
ist innen mit dem Strebepfeiler, sowie aussen mit der Armschicue gelenkig ver-
bunden. Der untere Hebelarm (c) läuft frei herab zum llrustgfirtel und ist unten
mit einem Metallknopfe versehen. Zieht man nun das untere Hebelende gegen
Fig. 42. Fig. 43.
die Achsel der verletzten Seite an und stellt es mittels eines am Brustreife an
geknüpften Riemens fest, so steigt der andere Hebelarm mit der Schulter empor.
Diese wird auch gleichzeitig nach rückwärts gedrängt, indem der der Brustwand
nach auf- und rückwärts folgende Tragpfeiler dem oberen Hebelarme seine eigene
Richtung aufzwingt. Da aber das künstliche Schlüsselbein länger ist als das natür-
liche , so findet eine umso kräftigere Extension statt , je höher die Schulter
emporgehohen wird.
Braatz'*) ging von der Absicht aus, den SAYRE’schen Heftpflasterverband
bei Schlttsselheinhrüchen von seinen Fehlern , dem Drücken und Abglcitcn der
Streifen, zu befreien, und schuf so seinen „Epaulettenverband“ ; d. h. er legte
sowohl an den Ellenbogen der kranken Seite, wie an die Schulter der gesunden
Seite eine Gvpskapscl und darüber die entsprechenden Bindentouren (Nkssel-
oder Cambrik-Binde) an. Die Kapseln bereitet er aus einer dreifachen Lage Hessin»,
(einer Art Sackleinwand) und (iypsbrei. Die Schultcrkappe verstärkt er, zum
festeren Halt der Binde, durch einen etwa fingerlangen und zweifingerdieken Gyps-
zeugstreifen, die Epaulette. Ist der Gyps erhärtet, dann folgen die Bindengänge:
14*
212
FR ACT UR VERBÄNDE.
zuerst schiebt man die Biude doppelt, als Schlinge, um den Oberarm, lässt dann
die Schulter hoch und nach hinten halten und wickelt nun eine Zeugbinde um
Schulter und Ellenbogen. Dann wird das freie doppelte Ende der um den Ober-
arm geführten Schlinge unter ziemlich kräftigem Zuge, vorn auf der Ilrust an
die erste schräge Binde festgesteckt. Nun folgen einfache Kreisgänge zur
Sicherung des Verbandes und schliesslich wird der Arm in eine Schlinge gehängt,
die Uber die mit Watte gepolsterte Bruchstelle läuft. Der Verband hält die
erhobene Schulter dauernd und sicher in dieser Stellung fest. Durch eingegypste
Drahtösen oder Bügel Messe sich das Abgleiten der Binden leicht ganz unmög-
lich machen.
Die zur Behandlung von Oberarmbrüchen bestimmte At.BERS'sche
„Kragenschiene“ IS) (Fig. 44 u. 45) wird wie Bf.f.ly’s Gypshanfschienen auf dem
Körpertheile selbst, und zwar aus Gypsmullbinden hergestellt. Die 4 Meter langen
und 12 Cm. breiten Binden (ohne Weberkante) werden vor dem Anlegen in heisses
Wasser getaucht. Der Kranke befindet sich am besten in sitzender Stellung: der ge-
brochene Oberarm hängt senkrecht herab, der Vorderarm ist rechtwinkelig gebeugt
und supinirt. Ein Gehilfe stutzt Ellenbogen und Hand und verhindert gleich-
zeitig durch Zug am Ellenbogen eine Lageveränderung der eingerichteten Bruch-
stücke. Wenn nöthig, müssen fehlerhafte Stellungen durch Bindenzügel ausgeglichen
Fif?. 44.
Fig. 45.
werden. Ein zweiter Gehilfe steht hinter dem Kranken und ein dritter an der
Hand des gebrochenen Armes. Die feuchte Binde wird auf der leicht geölten
Haut so abgerollt, dass sie in Längsstreifeu von der Mitte des Halses, wo sie
von dem zweiten Gehilfen festgehalten wird, über die Schulter, die Streckseite
des Ober- und Unterarmes und den Handrücken hinweg bis zu den Fingerwurzel u
reicht; hier wird sie umgeschlagen, durch den dritten Gehilfen festgehaltcn und
wieder hinauf zur Mitte des Halses geführt. Dieses Hinab- und Hinaufführen der
Binde wird so oft wiederholt, bis die Hälfte des Halses, die ganze Schulter, die
äussere Hälfte des Ober- und Unterarmes, sowie der Handrücken mit einer 8- bis
lOfachen Gypsbindenschicht bedeckt sind, wozu gewöhnlich zwei Binden ausreichen.
Der untere Theil der Bindenlagen wird nun mit der Hand glatt gestrichen und
durch Kreisgänge einer Cambrikbinde der Mittelhand, dem Unter- und Oberarm
angedrückt, während der obere Theil mit einigen durch die gesunde Achselhöhle
und über die Oberschlüsselbcingrube der verletzten Seite hinweggeführten Gängen
festgchalten wird. Der am Halse in die Höhe geführte Theil der Gypsbinde
wird als Kragen nach aussen umgeschlagen , eine Mitella angelegt und der
Oberarm durch geeignete Unterstützung des Ellenbogens in richtiger Lage erhalten,
bis der Gyps erstarrt ist, d. h. etwa 10 — 12 Minuten lang. Dann wird die Schiene
abgenommen, am Hände gerade geschnitten und etwas aufgebogen, dann mit
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FRACTÜRVERBANDE.
213
dünner Watteschicht gepolstert, vieder angelegt und mit einer Bindeneinwicklung
befestigt. Die letzten Glinge greifen in den Halskragen ein , gehen durch die
gesunde Achselhöhle, halten so den oberen Theil der Schiene fest nnd verhüten
ein Verrutschen nach oben. Die zur Stütze des Vorderarmes angelegte Mitelia
darf nur so stark angezogen werden, dass der Arm bequem in ihr ruht, sonst
könnte die Wirkung der Schiene aufgehoben werden. Die Schiene wirkt erstens
distrahirend auf die Bruchstücke und zweitens als feststellender Verband, da die
Bruchstücke gegen den Oberarmtheil angezogen werden.
Die Schiene lässt sich sehr leicht abnehmen und wieder anlegen ; Massage
und Bewegungen können also jederzeit vorgenommen werden. Etwaige durch
Resorption herbeigeführte Formveränderungen werden durch entsprechende Unter-
polsterung ausgeglichen, so dass die Behandlung meist mit einer Schiene dnreh-
zu fuhren ist. Schon nach Vollendung des Verbandes gehen die Kranken herum.
Fig. 46. Fig. 47.
Bewegungen und Massage werden in der zweiten Woche anfangs alle 3 — 4 Tage,
später täglich vorgenommen. Die C'onsolidation erfolgte durchschnittlich in
22 Tagen.
Der einzige Nachtheil des Verfahrens sind die drei Gehilfen ; aber die
an sie gestellten Anforderungen sind so gering, dass jeder Laie sie erfüllen kanu.
Zur Behandlung von Oberschenkelfracturen bei Kindern, wo die
„verticale Suspension“ nicht durchführbar ist, hat Deotsch u) ein Stchbett im-
provisirt, das sich vortrefflich bewährte.
Die ganze Vorrichtung besteht im Wesentlichen aus einem, nach den
Umrissen des Körpers zugeschnittenem Brette, an dem für Hinterhaupt und Anal-
gegend ein runder Ausschnitt angebracht ist ( Fig. 4b). Die Schultertheile springen
stark hervor, das Fussende des dem kranken Beine entsprechenden Theiles trägt
ein Qucrbretlchen mit einem Haken an der Innenseite. Auf der mit Holzwolle und
Filz wohl gepolsterten Lagerungsschiene wird das Kind so befestigt, dass an dem
gebrochenen Bein ein Zug nach unten ausgeübt werden kann (Fig. 47), während der
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214 FRACTUR VERBÄNDE.
Gegenhalt durch Befestigung des Rumpfes bewerkstelligt wird. Zu diesem Zwecke
wird in üblicher Weise eine Heftpflasterschlinge mit Spreize und Haken angelegt
und durch eine Fhmcllbindc gesichert. Nun wird das nackte Kind auf der
Schiene passend gelagert, die Brust mit einer Lage Watte geschützt und der
Oberkörper durch Bindengänge, die die untere Thoraxgegend fest umgreifen und
kreuzweise um die Bchultertheile des Brettes gehen, angebunden. Hals und
Achselhöhlen bleiben frei. Die Feststellung des Rumpfes wird durch eine Spien
coxae duplex noch mehr gesichert. Die Schenkelfalten werden ansgcpolstert,
Genitale und Anus bleiben frei. Die Extensicp in der Längsachse des Beines
wird durch einen zwischen Spreize und Fusshrctt ausgespannten Gummistrang
bewirkt. Das Kind wird mit Hemd und Jacke bekleidet und das Ganze mit einer
Decke umhüllt.
Da das Stehbett noch nicht die allgemeine Beachtung gefunden, die es
verdient, so sei hier nochmals kurz auf die durch dasselbe gewährten Vortheile
hingewiesen. Mit sicherer Feststellung des gebrochenen Beines hisst sich die
Extension leicht verbinden. Die Fraeturstelle lässt sieh stets überwachen : Massage
und Bewegungen können jederzeit ausgeführt werden. Die Pflege der Kiuder ist
ausserordentlich erleichtert ; man kann sie niederlegen oder aufrecht hinstellen ;
sie können mit und auf ihrem Bette in’s Freie gebracht werden. Die natürlichen
Entleerungen gehen ohne erhebliche Beschmutzung vor sich und die Reinhaltung
des Körpers ist leicht zu ermöglichen. Je nach Bedarf wird die Einwickelung
gewechselt, der Körper gewaschen und auf etwaige Druckstellen untersucht.
Literatur: l) v. Barde leben, Weiter»* Erfahrungen über frühzeitige Bewegungen
gebrochener Glieder mit besonderer Rücksicht auf die untere Extremität. Arch. f. klin Chir.
1895, Hl. — *) H. N aegeli* A kerblom, Zur Behandlung der Knocheuhruche des Unter-
schenkels im Umhergehen. Allg. med. Central-Ztg. 1895, Nr. 2 — *) Wotruba, B- handlang
von Unterschenkelt'raeturen. Oorrespondenbl. d. Vereines deutscher Aerxte in Reiehenberg
L». Sept. 189>. — M Albert Hoffa, Zur Behandlung der Distnrsion im Fussgelenk.
Münchener med. Wochensehr. i>96. Nr. 10- — 5) Länderer. Ueber nenere Methoden der Fractur-
behandlung. Münchener med. Wochensehr. 18144 , Nr. 50. — *) J. P mm Busch (London
Gennan Hospital Zur ambulatorischen Massagebehandlung der Kniescheibenbrüche. Centralbl.
f, Chir. 1895, Nr. 19 — *> A Ibers, Gesellsch. d Charite-Aerzte. 7. Februar 1895: Berliner
kliu. Wochenschr. 18^5, Nr. 2»» — •) F. Haenel, Indicationen für die Naht der Patella bei
tjuerbruohen. Muncheuer med Wochenschr. 181*4. Nr. 47- — *) Otto Schräder. Die snb-
cutanen Vjuerfractaren der Patella und ihre Behandlung. In.iug -Dis*ert. Halle a d. S. 1895. —
•*) He us n er. l>ber einige neuere Verbände an den Extremitäten. Bericht aber die Ver-
handlungen der Abtheilung .Chirurg1 e~ aut' der 67. Versammlung deutscher Naturforscher nnd
Aente in Lübeck. Centralbl f. Chir. 1895. Nr. 41 : Deutsche med. Wochenschr 1895, Nr. 52. —
u) Max Schmidt. Au* dem Knappschaffcs-Laxareth xu Völklingen a. d Saar. Ein neues
Verfahren *ur Behandlung subontaner und complieiner Fracturen von Fingern und Zehen.
Münchener med. Wochenschr. 1>95. Nr A9. — ’*) Egbert Braatx. Zur Behandlung des
Schlu'selheinbruches. Epaulettenverhand. Centralbl f. Chir. l^Vri. Nr 1 — ,T4 A Ibers. Eine
Kragenschiene *ur Pehandturr von Oberarm brachen. Aus der Klinik des Grh_ Oberdäedicinab
rathes v. Bardel eben. Cectralbl. f. Chir. 18;»4. St. 26 — :4 A. Deutsch. Zur hauJlar.g
der Obererheakelbrui he kleiner Kinder. Zeitsehr. f. ant . Lanipravs. 1895. Nr. 9.
W ol xendorff.
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G.
COUCH 3
Gallicin, Methyläther <ler Gallussäure, C() IIa > weisse rhombische
N'OH
Prismen oder feine Nadeln vom Schmelzpunkt 202° C., löslich in heissem Wasser,
im warmen Methyl- und Aethylalkohol, sowie in Aether; wurde von C. Mei.i.ixger
bei Katarrhen der Conjunctiva, die mit chronischer Schwellung- der Schleimhäute,
geringer oder zäher schmieriger Secretion und Ekzemen der Lidränder verlaufen,
mit Erfolg verwendet ; ebenso bei acutem und chronischem Follicularkatarrh,
sowie bei der sich oft so langsam zurtickbildenden Keratitis superficialis und
bei der phlyktänulären AugenentzUudung; in letzterem Falle, wenn wegen ver-
mehrter Secretion die Anwendung des Calomels vermieden werden musste. Das
Galliern wird mittels Haarpinsels 1 — 2mal täglich in den Conjunctivalsaek ein-
gestäubt: in einigen Fällen macht sich nachher ein leichtes Brennen fühlbar,
dieses verschwindet jedoch unter kühlenden Umschlägen nach einigen Minuten.
Literatur: C. Mellinger, Gallicin (Aus der ophtbahu. Klinik d. Prof. Sc k i e ss
in Pasel. I Corresjiondenzbl. f. Schweizer Aerzte. 1895, Nr. 8. — E. Merck, Bericht über das
Jahr 1895. Loebisch,
Gefässgifte. Nach dem jetzigen Standpunkte unserer Kenntnisse müssen
wir die pharmakologischen Agentien hinsichtlich ihres Verhaltens zum Gefäss-
system in vier Gruppen einthcilen:
1. Agentien, welche das vasomotorische Hauptcentrum in der
Medulla oblontjat« beeinflussen. Neben diesem Hauptcentrum giebt cs unter-
geordnete vasomotorische Centren im ganzen RUekenmarke, welche von den
genannten Agentien stets mit beeinflusst werden. Die Wirkung kann reizend und
lähmend sein. Meist prüft man ein Mittel hinsichtlich seiner reizenden Einwirkung
auf das vasomotorische Centrum in der Weise, dass man feststcllt, ob es nach
Halsmarkdurchschueidung noch den Blutdruck erhöht oder nicht. Falls es ihn
jetzt nicht mehr erhöht, kann die vorher beobachtete Erhöhung nur auf
Reizung des vasomotorischen Hauptcentrums , welches jetzt ja ausgeschaltet ist,
bezogen werden.
2. Falls es ihn jetzt doch noch erhöht, ist jedoch die Möglichkeit vor-
handen , dass dies durch Reizung der vasomotorischen RUckenmarks-
eentren zu Staude kommt. Um auch diese Möglichkeit auszuschalten, bedarf
mau des sogenannten Durchströmungsversuches, hei welchem ein aus dem Thier-
körper geschnittenes lebenswarmes Organ extra corpus unter dem glcichbleiben-
den Drucke mit lebenswarmem verdünnten Blute desselben Thieres im Wärme-
kasten dnrehströmt wird. Die aus der Hauptvene diesi s Organes ausströmende
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GEFÄSSGIFTE. — GEHEIMMITTEL.
Blutmenge wird von Minute zu Minute gemessen. Falls die in der Zeiteinheit
ausströmendeu Blutmengen nach Zusatz der zu prüfenden Substanz zum Blute
sofort abnehmen, handelt es sich
3. um eine von den vasomotorischen Centren des verlängerten
Markes und des Rückenmarkes unabhängige Gefässcoutraction. Nehmen
die ausfliessenden Blutmengen dagegen zu, so handelt es sich um eine von den
genannten Centren unabhängige GcfHssdilatatiou. Diese Verengerung, beziehungs-
weise Erweiterung der Gefässe kann, falls wir von Giften, welche das Blut physi-
kalisch oder chemisch verändern, nbsehen, wieder zweierlei Art sein:
a) Die Gefässealiberäuderung kommt zu Stande durch Lähmuug oder
Reizung der in den Wandungen der Gefässe gelegenen peripheren
vasomotorischen Nervenapparate. Falls dies der Fall ist, gelingt der
Versuch natürlich nur in den ersten Stunden nach dem Schlachten des Thieres,
weil erfahruugsgemüss die Nerven überlebender Organe rasch absterbeu.
b) Die Gefüsscaliberveränderung kommt zu Stande durch Lähmung oder
Reizung der Muskelschicht der Gefässwandungen. Namentlich wenn das
letztere der Fall ist, gelingt es, den Versuch noch zu einer Zeit anzustellen,
wo die nervösen Elemente längst abgestorben sind. Man hat früher derartig
wirkende Ageutien nicht gekannt; durch Kobebt und seine Schüler ist aber
nachgewiesen worden , dass namentlich die Substanzen der Digitalingruppe eine
ganz ausserordentlich starke Reizwirkung auf die Muscularis der Gefässe , und
zwar hauptsächlich der Arterien austtben. Dass manche Gifte, wie Phosphor,
Degeneration und Ruptur der Gefässe bedingen können, sei hier nur beiläufig
bemerkt, da diese Wirkung natürlich nur subacut oder chronisch vor sich gehen
kann , niemals aber im Laufe einer Stunde , wofern man nicht Ubermaximale
Dosen verwendet hat.
4. Natürlich können die Blutgefässe aber auch unabhängig von allen
bisher aufgezahlten Momenten vom Herzen aus beeinflusst werden. Man ver
gleiche darüber das unter Herz und Ilerzgifte Gesagte.
Eine vollständige Uebersicht alles bis jetzt über die Einwirkung pharmako-
logischer Agentien auf die Gefässe überlebender Organe Gesagten bietet die nach-
stehende Literatur.
Literatur: R. Robert, lieber den Einfluss pharmakologischer Agentien auf
die Gefässe isolirter Organe. Aich. f. experim. Patb, u. Pharm. 1867, XXII. pag. 77. — R. Robert,
( rit-ail Observation* and ejriKrimental Studie* of the inßuence of pharmacological agents
on pcripheral resset*. Therap. Gaz. 1887, pag. ju, 82, 37U. — H. Thomson. Heber die
Beeinflussung der peripheren Gefässe durch phnrmakologische Agentien. Dissertat. liorpat 18-iti.
— H. Thomson, Ein weiterer Beitrag zur selben Frage. Petersburger med. Wochenscbr. 1887,
Nr. 27 u. 28. ■ — Al. Paldroek, Heber die Beeinflussung der Gefasst* überlebender Organe
durch pharmakologische Agentien. Arbeiten aus dem pharmakologischen Institut zu Dorpat.
Herausgegeben von R. Robert, 1896, XIII, pag. 1 (mit 9 Abbildungen). Robert.
Geheimmittei (Specialitätenl, Die in den von dem Gehcimmittel-
nuwesen betroffenen Kreisen schon lange gewünschte einheitliche Regelung im
Deutschen Reiche ist, allerdings nur auf einem Umwege, hinsichtlich des aller-
wichtigsten Punktes, des Verbotes der öffentlichen Ankündigung, endlich zu
Stande gekommen. Indem man wegen der in der Sache liegenden Schwierigkeit
von reichsgesetzlicher Regelung absah, hat der Bundesrath sich darauf beschränkt,
den einzelnen Bundesstaaten die Erlassung gleichtnässiger Polizeiverordnungen
zu empfehlen, wonach die öffentliche Ankündigung von Geheimmitteln, welche
dazu bestimmt sind, zur Verhütung oder Heilung menschlicher Krankheiten zu
dienen, mit Geldstrafen bis zu 150 Mark oder Haft bis zu sechs Wochen be-
straft wird. Diese Verordnung wurde rauf Grund eines im Bundesrathe ge-
fassten Beschlusses“ zuerst am 29. Mai 1895 in Sachsen erlassen, worauf später
Braunschweig, Mecklenburg, Oldenburg, Lippe und die Thüringischen Staaten,
sowie die preussischeu Provinzen Schlesien, Rheinprovinz, Westphalen, Branden-
burg, Posen und der Regierungsbezirk Sigmariugeu folgten. Völlig einheitlich
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GEHEIMMITTEL.
217
ist die Gesetzgebung insofern nicht geworden, als man in preussiseben Provinzen
die Alleren Verordnungen als noch zu Recht bestehend bezeiehuete. Die Aus-
stellung, welche gegen diese Verfügungen erhoben ist, dass sie nicht wirksam
durchführbar seien, so lange nicht dem Begriffe des Gehcimmittels eine gesetz-
liche Definition gegeben wäre, Hesse sich am einfachsten dadurch beseitigen, dass
man, wie in Frankreich, überhaupt die öffentliche Ankündigung von Arznei-
mitteln untersagte oder auf medicinisehe oder phannaceutische Zeitschriften be-
schränkte.
Dass bei einem solchen Verfahren ein grosser Thcil der sogenannten
Spccialitäten in seinem Absatzgebiete wesentlich geschmälert werden wird, ist in
keiner Weise zu beklagen. Die Mehrzahl dieser sind vom wissenschaftlichen
Standpunkte aus als unnütze Dinge zu bezeichnen; eine kleinere Anzahl ist zwar
nicht wcrthlos, aber doch auf ärztliche Verordnung der einzelnen Componenten in
einfachster Weise in Apotheken herzustellen. Als ein erläuterndes Beispiel mag
die nordamerikanische Spccialität Antikamnia genannt werden , von welchen
Probesendungen an 30.000 englische Aerzte vcrthcilt wurden. Es ist eine Mi-
schung von Antipyrin, Natriumcarbonat und Coffein im Verhältnisse von 75:20:1,
wie es kaum einfacher gedacht wird, von jedem nur halbwegs in Reeeptabfassen
geübten Arzte verschrieben und von jeden Apothekeraspiranten, der ein Jahr in
der Lehre gew esen ist, angefertigt werden kann. Der Arzt, der ein solches Prä-
parat als Anticamnin verschreibt , stellt sich zweifellos ein Testimonium pauper-
tatis aus, und noch aus diesem Grunde haben die englischen Aerzte vollkommen
recht, wenn sie neuerdings darauf dringen, dass daB bei ihnen cingerissene Ver-
fahren, Specialitätcn zu verschreiben, aufhören müsse. Ein anderer Grund, der
für Deutschland allerdings wegfüllt, da das Anticamnin und andere Mischungen
bei uns nur in Apotheken verkauft werden dürfen, ist der, dass zu Gunsten
einer Privatperson oder einer Compagnie, die durch den Verkauf der Specialität
Geschäfte machen will, dem Apotheker, der nur beim Prospcriren seines Geschäftes
dies mit der zum Wohle der Patienten nothwendigen Accuratesse führen kann,
die Einnahmen geschmälert werden. Schliesslich schädigt der Arzt sich selbst,
indem er die Patienten veranlasst, sich ohne Rath des Arztes die Specialität zu
verschaffen und sich unter genauer Befolgung der Gebrauchsanweisung vielleicht
zu curiren, mitunter auch bei Nichtbeachtung dieser, wie es bei uns durch den
Liqueur de Laville geschehen, ein verfrühtes Lebensende zu finden.
Die Beseitigung des Gehcimmittelunwesens oder dessen Beschränkung auf
dos Mindestmass ist die gemeinsame Aufgabe der Aerzte und Apotheker.
Der Vorschlag L. Lkwin’s, die Geheimmittel aus den Apotheken zu entfernen '),
ist nichts Neues: in einzelnen deutschen Kleinstaaten ist der Versuch gemacht
und den Apothekern verboten, Geheimmittel abzugeben. Erreicht wird dadurch
nichts, so lange die Aerzte selbst fortfahren, die schlimmsten aller Geheimmittel-
fabrikanten durch Atteste zu unterstützen. In welcher enormen Weise dies in
Deutschland geschieht, bezeugt aufs Neue die Myrrholinseife, die an alle irgendwie
bekannten Arzte zum Zwecke des Erhaltene von Attesten versendet wurde. Unter
der Anzahl der Attestirenden, von denen mehrere es sich gefallen lassen mussten,
dass bei dem Abdrucke ihrer Atteste die Bemängelungen der Seife fortblieben,
finden sich 8 Generalärzte, 6 Hofräthe, eine Menge Geheimer Mcdicinalräthc und
nicht weniger als 19 Professoren. Dass das preussische Cultusministerium die
ihm unterstehenden Aussteller der Atteste wegen dieser amtlich befragt hat, mag
vielleicht dazu dienen, jene in Zukunft etwas vorsichtiger zu machen und sich
bei ähnlichen Aufforderungen zu Attesten zuerst darüber zu informiren, ob nicht
ebenso gute und angenehmer parfumirte Kernseifen für billigeren Preis zu haben
s«ien und ob es sich nicht um die Förderung einer Geschäftsreelame handelt.
Dass die Atteste von Frebichs, Vibchow und Ebstmn wesentlich den Grund-
stein für das Geschäft mit den Schweizer Pillen gebildet haben, hätten die Patrone
der Myrrholinseife nicht vergessen sollen. Fast scheint es, als ob diesen verborgen
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GEHEIMMITTEL. — GLAUKOM.
geblieben sei, dass die gefährlichste Sorte von Geheimmittclfabrikanten Capitalislen
darstellen, die, wie Lewin sagt, „ungeheure Summen für Reelame und Begut-
achtung ausgeben und sieh durch ihren Großbetrieb vor Verfolgung sichern11.
Dass übrigens Gcheimniittel oder Specialitäten nicht absolut nothwendig in den
Apotheken sind, braucht nicht erörtert zu werden; es könnte dies höchstens für
Länder, die, wie Mexiko und die lateinischen Staaten von Amerika, durchgängig
schlecht verwaltete unzuverlässige Apotheken besitzen, gelten, wo allerdings der
Consum von nordamcrikanischcn und englischen Patentinedieiuen einen Werth von
200 Millionen Mark im Jahre beträgt.
Dass neu auftauchende, bei uns dem Handverkäufe und selbst der Ab-
gabe in Droguenhandlungen unter gewissen Bedingungen nicht entzogene Speciali-
täten besondere Gefahren haben, hat EI’I.ESBL'Kc 2) von den Thyreoidintabletten
dargethan. Diese Gefahren werden sich stets am leichtesten bei directer Abgabe an
Patienten geltend machen, können aber auch bei ärztlicher Verordnung, besonders
durch die Ueberschreitung der Gaben seitens der Patienten, Vorkommen. Gerade
die Thyreoidintabletten geben aber ein Beispiel, wie derartige neue Specialitäten
auch von den Aerzteu nur mit grösster Vorsicht zu verordnen sind und unge-
säumt Gegenstand der medieinalpolizeilichcn Ueherwachung werden müssen. Nach
den neuesten Untersuchungen von Kocher und Lan<; ®) bringt der Arzneihandel
theils aashaft riechende und ohne Zweifel aus faulen Schilddrüsen bereitete
Thyreoidintabletten, theils solche von unangenehmem Geschmack, die, vermuthlich
durch Bildung eines Ptomains in den ersten Stadicu der Zersetzung, weit giftiger
als frisch getrocknete Schilddrüse oder aus frischer Schilddrüse getrocknetes
Extract sind und schon nach wenigen Tagen Uebelkeit, Erbrechen, Herzklopfen,
Schwindelgefübl und gestörten Schlaf hervorrufen, während fast die zehnfache
Dosis frischen Glyeerinextracts der Schilddrüse diese sogenannten Thyreoidismus-
erseheinnngeu nicht macht. Dass solche wechselnde Präparate keine angemessenen
Handverkaufsartikel für Apotheker sind, liegt klar zu Tage.
Eine besondere Zunahme der Geheinmiittel in Deutschland kann in den letzten
Jahren nicht constatirt werden. Die Wa s m u t h 'sehen H ii lin e rauge n r i nge und das Odol
sind am meisten angepriesen worden. Das letztere ist nach der neuesten Untersuchung von
B. Fischer eine alkoholische Lösung von 0.5 Salol in 97 Alkohol (80%), m'* 0.1X14 Saccharin,
0. 5 Pfelterminaöl und Spuren von Nelken- und Kümmelöb Die Wundermittel des Schäfer Ast
in Radhruch4), der die Krankheiten aus den Kaekenhaaren diagnosticili, sind Spiritus Melissas,
Hienff boe,;- Essenz, Tinctura a/hara, wässerige Rhaharhertinctur, eine Mischung von Aloe-
und Sennatinctur, eine Mischung ans Aloe, Möhren und Urocus, eine Isisung von Ul. Citri,
01. Foeniculi, Ol. Bosmarini und Peruhalsam in Spiritus, eine Mischung aus Baisamum
Pcritcianum , Tr. Pimpincllae und hiq. Ammonii unisatus , Jerusalemer Halsam ( Tinctura
Benzoes cumposita ), mit Alcnnna gefärbtes Olivenöl . eine Mischung von Spir. camphoratus
und Tinctura Capsici, ein Hurzpliaster gegen Rheumatismus und itergöl.
Literatur: ') I,. Lewin. Geheimmittel in Apotheken. Deutsche med. Wochenschr.,
Nr. 47- — *) Eulenbnrg. Ueber den Missbrauch der Thyreoidintabletten. Ebendas. Kr. 3t,
pag. 559. — *) Lang, Ueber Thyreoidismus Ebendas. Kr. 37. — ') Geheimmittelwcsen.
Pharm. Ztg. Nr. 13, pag. /8. Husemann.
Glaukom, in der Berliner klinischen Wochenschrift, 1895, Kr. 21,
redet Cohn der Eserinbehandlung des Glaukoms das Wort. Dem gegenüber vertritt
Silex energisch die Ansicht Schweiuger’s, dass, sobald einmal die Diagnose
Glaukom siohergcstellt ist , auch in den frühesten Stadien die Iridektomie aus-
geführt werden müsse. Die Fälle , wo nach einer regelrecht ausgeführten Iri-
dektomie noch einmal Glaukom auftrete oder die sonst deletäre Abweichungen
im Heilverlaufe zeigen, sind gegen die glatt verlaufenden Fülle recht selten.
Das Eserin soll man auf solche Fälle beschränken, wo man aus äusseren Gründen
nicht oder nicht sofort operiren kann, und operire gleich, sobald Glaukom nacb-
gewiesen ist. Zögere man, so komme es endlich doch zur Operation , dann aber
nur mit mittelmässigcr Prognose.
0. Walter (Odessa) beobachtete zwei Fälle, in welchen nach dem Ein-
t räufeln von Skopolamin in einem Auge , welches an Chorioiditis litt und in
sie
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GLAUKOM.
219
einem , wo ein glankomverdächtiger Anfall vorhergegangen war , deutliche ent-
zündliche Glankomanfälle eintraten. Das Skopolamin ist demnach ebenso wie
andere Mydriatica bei Glankomverdacht zu vermeiden.
Bei dem letzteren Falle hatte Piperazin einen guten Erfolg. Ange-
wendet wurden 5- — 6 Grm. (1 Grm. pro die), obwohl keine sicheren Zeichen einer
Harnsüurediathese Vorlagen. In einem Falle mit ausgesprochener Gicht traten
nach längerem Aussetzen des Piperacin asthenopische Beschwerden bei der Nahe-
arbeit auf. die sofort versehwanden , als Patient einige Tage die Cur gebraucht
hatte ; es deutet dies auf einen Zusammenhang von Sehstörungen und Harnsäure-
diathese hin s. Evkrsiusch , Die neue Universitäts-Heilanstalt für Augenkranke
zu Erlangen, 1894).
Knies empfiehlt, statt der Iridcktomie bei Glaukom mit dem GRÄKK’schen
Messer die Iris an ihrem Ansätze zu durrhschneiden ; es ist dann nicht noth-
wendig, den Schnitt zu vollenden, sondern mau kann eine Brücke der Sklera
oder auch nur der Conjunctiva stehen lassen. Die Iris selbst wird nicht exeidirt,
sondern eigentlich nur eine partielle Iridodialyse gemacht. Er nennt die Operation
Iridosklerotomie.
Betreffs Glaukoms nach Staaroperationen berichtet Hermann
Pagenstecher. Glaukomatöse Symptome können eiutreten während des Heilungs-
verlaufes nach der Extraction , und zwar schon am 1. — 8. Tage, aber auch erst
in der 2. — 4. Woche. Trockene warme Umschläge und Natrium salicylicum
bringeu gewöhnlich Heilung. Wegen Gefahr von Kecidiven soll man noch längere
Zeit das Natrium salicylicum 2 — 5 Grm. pro die fortgebrauehen lassen. Auch
Pilocarpineinträufelungen können nothwendig werden. Keine Seltenheit ist Druck-
erhöhung nach Discission der Cataracta secundaria. Leichtere Anfälle, die in
24 Stunden vorübergehen, mag man oft übersehen. Stärkere Anfälle treten oft schon
mehrere Stunden nach der Operation mit Schmerzen und diffuser Hornhaut-
trübung auf. Manchmal sind alle Symptome eines fulminanten Glaukoms da.
Therapie: Pilocarpin, Vermeidung der Mydrotica, intern Natrium salicylicum ,
eventuell Punction der vorderen Kammer. Iridektomie ist nicht auzurathen wegen
der Gefahr des Glaskörpervorfalles. Ausserdem können an aphakischeu Augen
noch alle Formen von Glaukom auftreten. Knapp beschäftigt sich speciell mit
den Glaukomanfällen nach Discission, von denen er meint, dass sie durch Zerren
an den Ciliarfortsätzen entstehen. Er räth , prophylaktisch unmittelbar nach der
Discission Pilocarpin einzuträufeln, und wenn die Spannung in der Folge erhöht
ist, Eserin anzuwenden und Morphium (0,01) unter die Schläfenhaut einzuspritzen.
Tritt der Glaukomanfall trotzdem ein, dann macht er Iridektomie, holt die Iris
mit dem stumpfen Häkchen und kümmert sich um den regelmässig eintretenden
Glaskörpervorfall nicht.
Literatur: Silex, Deutsche Aeizte-Ztg. 1895. Nr. 14. — 0. Walter, Zur
Aetiolngie und Therapie des Glaukoms. Klin. Monatsbl. f Augenhk Jänner 1895. XXXIII. —
Knies. Ueber eine neue Behandlung des Glaukoms. Bericht aber die 23. Ophtbalmologen-
versanimlung. Heidelberg 1994. — Pagenstecher, Ueber Glaukom nach Staaroperationen.
Klin Munatsbl. f. Augenhk. August 1S95, XXXIII. — Knapp, Ueber Glaukom uach Dis-
cission des Nachstaars und seine Heilung. Areh f. Augenhk. 1894, XXX. Reuss.
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H.
Haematokele intraperitonealis (retrouterina, anteuterina,
periuterina). Haematokele extraperitonealis *. Ilaematoma periuterinum
s. Thrombus lig. lati. Thrombus vaginae et vulvae. Gemeinschaftlich
den drei Erkrankungen , welche in diesem Abschnitt gemeinsam besprochen
werden, ist nur die Blutung, welche in die Umgehung des Genitalcanals erfolgt.
Das anatomische Verhalten im Einzelnen, die Genese, ihre ganze Pathologie
sind aber so verschieden, dass eine getrennte Bearbeitung nöthig ist. Nur vom
Standpunkt der Therapie könnte man eine gewisse Gemeinschaftlichkeit be-
haupten, insofern als man .im Allgemeinen auf die Resorption des ergossenen
Blutes rechneu kann und daher nur unter bestimmten weiteren Anzeigen ein-
schreiten darf.
Die Haematokele retrouterina ist zuerst von NTxaton ira Jahre 1850
beschrieben als ein hinter dem Uterus gelegener, durch eine Blutansammlung
gebildeter Tumor, welcher auf die im kleinen Becken liegenden Organe eine
mehr oder weniger bedeutende Druckwirkung ausllbt. Dieselbe sitzt seiner De-
finition nach intraperitoueal, aber abgekapselt; sie verdankt menstruellen Vor-
gängen, speciell der Ovulation, ihre Entstehung.
Als einmal die Aufmerksamkeit auf dieses Vorkommniss gelenkt war,
häufte sich in kurzer Zeit die Zahl der Beobachtungen desselben zu einem
guten Theil deswegen, weil man eine jede Blutanummlung im kleinen Becken
(in das sich jede Flüssigkeit in der Bauchhöhle, dem Gesetze der Schwere folgend,
naturgemäss als nach dem tiefsten Punkte senken muss) ohne Unterschied als
llämatokele bezeichnetc, ja es kann keinem Zweifel unterliegen, dass damals wie
auch jetzt mancher Kall von peritonitischem Exsudat, Tubensack, Ovarialtumor
mit unter diesen Namen unterlief. Liegt es doch zu sehr in der Natur der Dinge,
dass man neue, bis dahin unbekannte Erkrankungen gern in eigener Beobachtung
gesehen haben möchte. Hier liegt nun diese Annahme um so näher, als fast
immer die Diagnose allein nach dem klinischen Bilde, ohne dass sie durch
Troikar oder Messer bestätigt wurde, gestellt ist.
ln neuerer Zeit ist man wieder zu der strengeren Nix ATOK 'sehen De-
finition zurückgekehrt, und werden auch wir deshalb diejenigen Blutergüsse,
die keinen Tumor bilden und nicht intraperitoueal sitzen , hier unberück-
sichtigt lassen.
Ueher das Verhältnis des Tumors zum Peritonealsack erhob sich übrigens
bald ein lebhafter Streit ; VlGl'ES z. B., der N'ELATON’s erste Fälle veröffentlichte,
trat seinem Lebrer entgegen für den extraperitonealen Sitz der Geschwulst ein.
Die Schwierigkeit der Erkennung desselben ist in der That selbst bei anatomischer
Untersuchung in Folge der Menge von Pseudomembrauen. Fäden- und Balken-,
lvysten- und Gerinnselbildungen, die ein solcher alter Blutherd aufweist, eine
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HAEMATOKELE. 221
überaus schwierige. Doch machten Voisin >) und später besonders Schröder *)
es im höchsten Grade wahrscheinlich, dass Nf.laton im Hecht sei, und so war
lange Zeit hindurch nur ein unzweifelhafter Fall von Haematokele extraperi-
tonealis ausserhalb des Puerperiums bekannt (Ott), die zufällig bei der An-
fertigung des sagittalen Beckendurchsehnittes einer an Typhus Verstorbenen
gefunden wurde. Erst 1874 hat Kühn15) einige (2) intra vitam diagnosticirte
und durch die Obdnction bestätigte Fälle davon veröffentlicht und damit nicht
nur ihr Vorkommen erwiesen, sondern auch klinische Merkmale für ihre Er-
kennung beigebracht. Mit ihr wollen wir uns weiter unten beschäftigen und
zunächst zur Betrachtung der intraperitonealen Hämatokelen übergehen.
Dieselben sind eine Erkrankung des Blüthealters des Weibes und
kommen am häufigsten in der Zeit vom 25. — 36. Lebensjahre vor, doch sind
auch im späteren Alter Fälle beobachtet worden, woraus ohneweiters schon
hervorgeht, dass der von NElaton so sehr urgirte Einfluss der Menstruation
anf die Entstehung von Hämatokele kein ganz unbedingter ist. Von 43 Kranken
hatten nach Schröder 41 nachweislich, 1 wahrscheinlich geboren und befand
sich somit nur 1 Nulliparn unter ihnen. Die grössero Mehrzahl derselben war
jedoch längere Zeit vor dem Eintritt der Erkrankung steril gewesen oder hatte
wenigstens an Menstruationsanomalien gelitten, so dass man bei ihnen allen mit
grosser Wahrscheinlichkeit schon vorher bestehende Veränderungen des Uterus
und seiner Adneia — wohl meist durch entzündliche Störungen im Puerperium,
gonorrhoische Infection, in specie Perimetritis entstanden — vermuthen darf.
Die Häufigkeit des Vorkommens von Hämatokele wird von den ver-
schiedenen Beobachtern ausserordentlich abweichend beurtheilt. Die Ursache davon
liegt in der oft sehr grossen Schwierigkeit, an der Lebenden Hämatokele von
reiner Perimetritis exsudativa zu unterscheiden, und in dem Umstand, dass bei
der günstigen Prognose der ersteren selten Gelegenheit gegeben ist, die Diagnose
anatomisch zu verificiren. Ich verzichte daher hier ganz auf eine statistische An-
gabe; sie besitzt meines Erachtens gar keinen Werth, weil man mit anatomischer
Exactheit nur die Fälle als Hämatokele bezeichnen dürfte, die bei der Scction
oder Operation direct das Blut nachwiesen.
Da Blutergüsse, die zur Bildung einer typischen Hämatokele führen, wie
wir eben anführten, fast niemals das Lehen direct gefährden, der Tod vielmehr,
wo er erfolgt, stets mehr oder weniger spät durch secundäre Zufälle (Verjauchung,
Perforation in’s Peritoneum) verursacht wird, so beschränkt sich unsere ana-
tomische Kenntniss der betreffenden Affection auf Fälle, in denen die ursprüng-
lichen Verhältnisse meist nicht mehr völlig klar zu erkennen sind, und weiterhin
auf diejenigen Beobachtungen, welche wir bei Laparotomien machen.
Gerade die letzteren haben uns neuerdings in den Stand gesetzt, das
Bild, welches zum Theil theoretisch nach einzelnen Sectionsbefuuden allmälig ent-
standen war, in zweckmässiger Weise zu ergänzen. Auf diese Weise ist je länger
desto mehr Klarheit in die Genese gekommen.
Durch den Genitalcanal hindurch gelangen Infectionskeime leicht in die
Tube und damit in die Bauchhöhle. Sie erregen hier eine Entzündung, und wenn
dieselbe umschrieben bleibt, kommt es zur Bildung von Pseudomembranen und
Adhäsionen. Sich öfters wiederholende Infectioncn bewirken einen chronischen
Reizzustand des Peritoneum in der Umgebung des Fimbrienendes, also im DOUGLAS-
schen Raume. Langsam sich verdickend, schwielig werdend, mit zahlreichen
Verwachsungen bedeckt, ist das Bauchfell dieser Theile sehr geeignet, auf die
geringsten Reize hin mit einer subacuten Entzündung oder auch bei Ein-
wirkung irgendwelcher Traumen mit Blutung in Folge von ZerreisBung zu ant-
worten. VlRCHOW bezeiehnetc diese Veränderung des Bauchfells mit dem Namen
der Pelveoperxtonitis haetnorrhagica ; in dieser Erkrankung kann man
eine der Ursachen finden, durch die es zur intraperitonealen Haematokele
kommen kann.
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222
HAEMATOKELE.
Mehr ist zur Zeit nicht zu sagen : der exaete Beweis, dass in einem
auch irgend erheblichen Bruchtheil von Fällen diese Entstehung wirklich statt-
fand, ist jetzt ausserordentlich schwer. Es haben sich die Verhältnisse insofern
umgekehrt, als man früher die Pelveoperitonitis baemorrhngica als Ursache der
Hämatokele ansah und nun den Nachweis erbrachte, dass mindestens in einem
bestimmten Bruchtheil von Fällen eine andere Genese zutritl't. Diese andere
Genese hat sich in der Lehre Von der Aetiologie so sehr Anerkennung verschafft,
dass es jetzt fast so angesehen wird, dass die Pefveoperilonitis haemorrhagiea
ätiologisch bedeutungslos ist. Diese anderweite Ursache ist die Extrauterin-,
speciell die Tubensch wangerschaft.
Die Stellung derselben zur Pclveoperitonitis bietet insofern einen ge-
wissen Zusammenhang, als eine der Ursachen der Tubenschwangerschaft auch
Infection ist, die den Genitalcanaf trifft, und dass oft bei ihr Adhäsionshildung
im Becken vorkommt. Der Grund, aus dem die Mehrzahl der Gynäkologen so
ungern jetzt noch die Felvcopcritonitis als Ursache anschen, liegt in der That-
sache, dass man bei Laparotomien wegen Tnbenerkrankungen zwar vielfach Ad-
liäsionsbildungen. aber äusserst selten Blutungen, wenigstens völlig abgekapselte,
zwischen ihnen findet.
Liest man ferner die alten Krankengeschichten von Nelatox und Voisix,
so kann man in der Anamnese nicht selten die Angabe finden, dass die Men-
struation vor Eintritt der Erkrankung längere Zeit ausgeblieben sei oder unregel-
mässig war. Ist hierdurch die Annahme einer Schwangerschaft nahegelegt, so
sprechen die Fälle, in denen die Menstruation regelmässig war, keineswegs
sicher gegen Schwangerschaft; die neuere Erfahrung Uber frühzeitige Extrauterin-
schwangerschaft lehrt in dieser Beziehung, dass man nicht immer die Angabe
der ausgebliebcnen Menstruation findet.
Weiter lehrt die Erfahrung, dass die Huptur mit plötzlichem Austritt
von Blut keineswegs der einzige Ausgang einer Tubenschwangerschaft ist. Viel-
mehr lässt sich nicht leugnen, dass neben der vielleicht relativ seltenen Huptur
der langsamere Blutaustritt in Folge einer Ablösung des Eies von seiuer Insertion
und die unter Blutung erfolgende Ausstossung des ganzen Eies durch das Fint-
brieneude in die Bauchhöhle hinein Vorkommnisse sind, denen man hei Tubar-
graviditäten alltäglich begegnen kann.
Wir können vielleicht noch nicht so weit gehen, dass wir das Vorkommen
einer llaematokele. intrauterine allein auf Tubensch waugersebaft zurtlckfüliren,
damit muss man aber rechnen, dass alle anderen Ursachen äusserst selten sind.
Hierbei ist es bemerkenswerth, dass schon VlfiCES und Gallard die Graviditas
extrauterina als fast einzige Ursache der Hämatokele ansahen.
Der Tubenschwangerschaft gleich steht natürlich die Schwangerschaft im
rudimentären Horn des Uterus bicornis, nur ist zu bedenken, dass in Folge der
kräftigeren Entwicklung der Wände einerseits und andererseits des weiten Weges
von der Placentarstelle bis zum Fimbrienende viel häufiger die Huptur mit tödt
liebem Ausgang als die langsamere Blutung erfolgt.
In Bezug auf die anderen — hiernach also seltenen — Ursachen muss
man dann feststellen, dass die VlRCHOw’sche Peheopen'tonitis haemorrhagiea (die
Pacbypelveoperitonitis von Bkrxttz) am wahrscheinlichsten mit liera n gezogen
werden muss.
VlRf'itow betont die Häufigkeit peritonitiselier, stark vascularisirter, den
Douglas’ sehen Haut» überbrückender Pseudomcmhrnneu, aus denen bei tiuctionärer
Hyperämie sieli leicht Blut in die durch ihre Theilnahtne gebildete retroutcrine
Ilölile ergiessen müsse ; er hebt dabei besonders die Aehnliehkeit dieses Vor-
kommnisses mit dem Hämatom der l>nra mater , der Folge einer Pachymenin-
gitis haemorrhagiea, hervor. Da mau den Blutherd meist durcli Pseudomembranen
aligekapselt findet, so ist diese Möglichkeit jedenfalls stets in Erwägung zu ziehen.
Ein von CREDE beobachteter Fall beweist übrigens sicher, dass nach Entfernung
HAEMATOKELE
223
eines (retronterinen) perimetritischen Exsudates (durch Function) eine Blutung in die
dasselbe bergende Höhle nachträglich zur Entstehung einer Hämatokele führen kann.
Ob ausser der Pelveoperitonitis noch andere Ursachen die Hämatokele
bedingen, lassen wir dahingestellt. Natürlich können die verschiedensten Ursachen
zu iutraperitoncalen Blutungen fuhren, aber ob daraus in Folge von Abkapselung
das Bild der Hämatokele entsteht, ist zum Mindesten zweifelhaft.
Die Ovarien machte bereits X F.I.aTOX für die Entstehung von Hämato-
kelen verantwortlich ; er glaubte, dass bei der normalen Ovulation das aus dem
platzenden Follikel sich ergiessende Blut unter Umständen nicht wie gewöhnlich
mit dem Ei in die Tube und von dort in den Uterus gelange, sondern in den
Dot'OLAs’schen Raum abfliesse. Die dieser Ansicht zu Grunde liegende Hypothese
über die Menstruation ist jedoch als irrig erkannt, und ist durch Beobachtungen
sicbcrgestellt, dass unter normalen Verhältnissen der in den Follikel stattfindende
Blutaustritt ein sehr geringer ist : wohl aber kann derselbe unter pathologischen
Bedingungen ein bedeutender werden. Das von Dkxoxvii.uer als Ursache stärkerer
Blutung supponirte Klaffen der Rissöffnnng des Follikels ist freilich eine durch-
aus unbewiesene und unwahrscheinliche Hypothese, jedoch auch ohnedies muss
eine jede entzündliche Aflection des Ovariums und seiner Umgebung, Bildung
von Tumoren in demselben, ja jede Kreislaufstörung die Hyperämie desselben
und damit die Stärke der menstruellen Ausscheidung vermehren. Ein jeder Reiz,
der ein so verändertes Organ trifft und seinen Bintgebalt zu vergrössern im
.Stande ist, sei es die menstruelle Fluxion, sei es geschlechtliche Erregung, oder
beide gleichzeitig, werden natürlich auch vielleicht zur Ruptur von zuweilen
varicös entarteten und durch das gelockerte Gewebe schlecht gestutzten Gefüssen
führen können, die ihr Blut entweder direct in den Peritonenlsack oder in das
Gewebe ergiessen ; so entsteht entweder sofort eine Hämatokele oder zunächst
eine Apoplexie GHAAF'scher Follikel oder ein Hämatom des Ovariums, das dann
bei irgend einer Gelegenheit (Trauma oder erneute Blutung) berstet und seinen
Inhalt, zu dem sich noch das aus der Rissstelle ergosseue Blut gesellt, ebenfalls
in den Banchfellsack entleert. Inwieweit hier kachektische Zustände des Gesammt-
organismus etwa eine Rolle spielen, ist noch fraglich.
Wie weit nicht schwangere Tuben zu Blutungen führen können, ist
keineswegs klar. Man fand bei gewissen Allgemeinkraukheiten, Morbilli, Typhus,
Hämophilie, zuweilen ganz kolossale Blutmengen aus der Tube in die Bauchhöhle
gelangt (fsCANZON'I *). Auch ohnedies ist es denkbar, dass bei Verschluss der Utcrin-
öffnung oder anderen abnormen Verhältnissen der Tube (z. B. wenn sie theilweise
im versenkten Stil eines operirteu Ovarialtumors zurückgeblieben ist) das Men-
strualbiut derselben in’s Peritoneum sieh ergiesst. Sie vermittelt auch vielleicht
manchmal (mehr passiv) nur den Blutübertritt aus dem Uterus (bei Hämatometrn;
in den Peritonealsack. Freilich kommt es in letzterem Falle meist zu Hämatosal-
piux, deren Bersten natürlich dieselben Folgen haben muss wie das der oben
erwähnten ovariellen Hämatome. Auch die Ruptur einer sonst normalen schwan-
geren t ebärmutter kann natürlich eine intraperitoneale Blutung veranlassen. Doch
stellt hier das Trauma und die Eröffnung des Peritonealsackes für die Betrachtung
entschieden im Vordergrund. Fritsch ,0) hat in einem Falle todtlieher Blutung
intrn i/ratiditolem eine Usur des Bauchfellüberzuges des Uterus lind Eröffnung
dicht unter demselben verlaufener Venen gefunden und dabei die Vermuthung
ausgesprochen, dass hierin häutiger eine Veranlassung zur Hämatokelcnbildung
gegeben sein dürfte. Ganz ebenso können aueli die nicht selten varicös entarteten
Veneugeflechte der Liyamenta lata verantwortlich gemacht werden, die an jeder
Fluxion zu den Geschlechtsorganen (sei sie menstruell oder nicht) Antheil nehmen.
Platzt ein Varix, so kann auch hier, wie vorher bei den Ovarien erwähnt, ent-
weder primär oder nach Bildung eines Hämatoms und späterer Ruptur desselben
secundär eine intraperitonenle Blutung entstellen. Für eine Hämatokele nacli-
gewieseu ist aber keine dieser Ursachen.
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HAEMATOKEEE.
Die directe Ursache ihrer Entstehung ist angeblich meist eine solche,
die eine mehr oder weniger starke Flusion zu denselben hcrbeizuftihren im Stande
ist. Von den französischen Autoren wird hier besonders der während der Menses
ausgellbte Coitus als ätiologisches Moment hervorgehoben ; ebenso übermässige
und stürmische Ausübung desselben ; überhaupt gehören hierher alle Schädlich-
keiten und Fehler der Lebensweise, die während der Menses einwirken : körper-
liche Anstrengungen (Tanzen), Erkältungen, Traumen, Anwendung von Quell-
stiften kurz vor oder während der Menses ete. Sind Blutkysten oder Varicen
vorhanden, so kann auch ausserhalb der Katamenien ein Trauma oder eine Er-
höhung des abdominellen Blutdruckes eiue Beratung bewirken. Bei extrauteriner
Gravidität erfolgt sie gewöhnlich in Folge des Wachsthums des Eies.
Schliesslich sind unter den Ursachen von intraperitonealen Blutungen noch
zu nennen Dyskrasien (Purpura, Morbus mnculosis Werlhofii, Scorbut, Icterus gravi»),
Infectionskrankheiten (Morbilli, Scarlatina, Variola, Typhus ), Vergiftung mit Phosphor.
Aetiologisch ist zur Entstehung einer Hämatokele aber mehr
nöthig als einfach ein Austritt von Blut in die Bauchhöhle. Erfolgt
nämlich ein solcher langsam, so wird, wie man sich bei Laparotomien über-
zeugen kann, durch die Darmbewegung das Blut in der ganzen Peritonealhöhle
vertheilt, die Oberfläche der Därme sieht wie mit einer dünnen Schicht Blut be-
schmiert aus, das Peritoneum parietale, besonders die peritoneale Bekleidung
des Diaphragma, scheint sugillirt, weil die Lymphbahnen das Blut in sich auf-
nehmen und zur Resorption gelangen lassen. Erfolgt eine plötzliche, sehr starke
Blutung, so kann ohneweiters der Tod erfolgen.
Daher muss zu der Blutung noch ein Zweites kommen: das ist
die Abkapselung. So wichtig ich die Aufzählung der einzelnen Möglichkeiten
der Blutung in die Bauchhöhle auch halte, so sehr betone ich, dass der Nach
weis, dass aus ihnen eine Hämatokele entsteht, fehlt.
Hier liegen drei Möglichkeiten vor:
1. Blutung in eine allseitig abgeschlossene, vollständig prä-
formirte Stelle.
2. Blutung in die Bauchhöhle, welche schon vorher mehr
oder weniger zahlreiche Adhäsionen besass.
3. Blutung, welche bei ihrer Entstehung Veranlassung zur
Adhäsionsbildung wird.
Ob jemals eine Blutung in eine allseitig abgeschlossene, also voll-
kommen präformirte Höhle zu dem klinischen Bilde der Hämatokele führt,
kann ja aus dem Grunde zweifelhaft erscheinen, weil man mit der Möglichkeit
rechnen muss, dass dann unter dem Einfluss des in die Höhle strömenden Blutes
eine Zerreissung der Adhäsionen zustande kommt.
Immerhin muss man sich aber in der Bauchhöhle die Verhältnisse nicht
so vorstellen, dass eine starrwandige Höhle nothwendigerweise bestände. Ein Theil
der Wand muss stets von Dannschlingcn gebildet sein. Diese können natürlich
einem Drucke in gewissem Grade nachgeben. Ein anderer Theil wird von dem
intacten parietalen oder visceralen Blatte des Peritoneums dargestellt. Weil nun
das parietale Blatt auf seiner Unterlage verschieblich ist, so kann auch hier in
gewisser Ausdehnung ohne Ruptur ein Nachgeben der Wand erfolgen. Wie die
Tubenschwangerschaft sich zu einer solchen Höhle verhält, ist ohneweiters nicht
gegeben. Es kann ja sehr gut sein, dass entsprechend der Herkunft der Keime
für die Peritonitis gerade in der Umgebung der Tube das Ovarium und das Fim-
brienende in eine solche abgekapselte Höhle hinoinmünden, und an sich können
wir es daher theoretisch für wohl möglich erklären , dass eine unter diesen Um-
ständen eingetretene Tubenschwangerschaft nach ihrem Absterben zu einer der-
artigen Ilämatokelenbilduug Veranlassung wird.
So klar hier die beiden Vorbedingungen der Hämatokele, die Blutung und
die Abkapselung, sind , und so sicher man auch annehmen darf, dass starre
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HAEMATOKELE.
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Adhäsionen dem Contractionsdruck der das Blnt aus der Tube treibenden Tuben-
peristaltik gewachsen sein können, so sehr muss doch betont werden, dass jedenfalls
auch ohne strenge Abkapselung eine llümatokelenbildung erfolgen kann. Finden
sich nämlich mehr oder weniger zahlreiche Adhäsionen auf dem Hcekenperitoneum,
und erfolgt nunmehr unter geringem Drucke langsam und in Schüben eine Blutung
in die Bauchhöhle, so wird nothweudigerweise ein Tlieil des Blutes auf den Ad-
häsionen coaguliren und damit die Communieation mit der übrigen freien Bauch-
höhle verringern. So kommt es dann dazu, dass die weiteren Nachschübe der
Blutung, indem sie sich wieder au denselben Stellen niedersehlagen, schliesslich
nur noch eine ganz enge und demnächst verschwindende f'ommunication mit der
freien Bauchhöhle übrig lassen. So entsteht unter der alleinigen Voraussetzung,
dass der Blutdruck kein excessiv grosser ist und dass die Blutung langsam erfolgt,
schliesslich eine Abkapselung des Blutes zu eiuem vollkommenen Sack, dessen
Wandungen wohl im Stande sind, einem enteilten Nachschub einen gewissen
Widerstand entgegenzusetzen.
Wenn nun auch die klinische Erfahrung lehrt, dass die Hämatokele in
der Mehrzahl der Fälle plötzlich entsteht, so ist trotzdem die eben geschilderte
Entstehung nicht ausgeschlossen, ja vielmehr sehr wahrscheinlich. Oft genug sieht
man bei Laparotomien wegen Tubensehwangersehatt ohne jedes ernste Allgemein-
zeichen reichliches Blut in der Bauchhöhle. Es ist mir daher vollkommen ver-
ständlich, dass die ersten Vorboten einer Hämatokele symptomlos sich darstellcn,
und dass erst die stärkere Blntung dann die charakteristischen Erscheinungen
bedingt. Ist man mit dem anatomischen Verhalten der Tubenschwangerschaft ver-
traut, so wird man die langsamen Blutungen durch die Ablösung des Eies von
der Tubenwand erklären, wird die stärker erfolgenden Nachschübe entweder durch
die Austreibung des ganzen Eies oder durch die Ruptur der Tube nach einzelnen
Vorboten erklären. Auch wiril es anatomisch ohneweiters verständlich, dass Nach-
schübe bei einer Hämatokele keineswegs ausgeschlossen sind, sei es, dass die
ersten Blutungen bei Ablösung des Eies schon die Hämatokele herbeigeführt haben
und nunmehr die späteren die Nachschübe bedingen, oder sei es, dass erst die
späteren Blutungen zur Hämatokele führten, und die Ruptur oder Ausstossung
den Nachschub darstellt.
Am schwierigsten zu erklären sind natürlich diejenigen Fälle von Häma-
tokele, bei denen man anzunehmen hat, dass bis zum Eintritt der Erkrankung
die Bauchhöhle völlig intact war. Man nimmt im Allgemeinen mit Recht an, dass
die unter solchen Umständen eintretende Blutung, wenn sie geringfügig ist, von
dem gesunden Peritoneum spurlos resorbirt wird, oder wenn sie erheblich ist,
das Leben bedroht oder znm Ende bringt. Man weiss aber, dass in einzelnen
Fällen infectiöser Tubenkatarrh zur Tubensehwangerschaft die Veranlassung war,
und es ist mir gelungen, in einzelnen Fällen nachzuweisen, dass ein derartiger
Katarrh auch nach Eintritt der Schwangerschaft noch weiter besteht; ich fand
mehrfach zwischen dem Ei und dem Uterus die Tube durch eiteriges Secret aus-
gedehnt. Die Annahme liegt daher nicht sehr fern, dass mit dem Blut, welches
aus der Tube stammt, infeetiöses Material direct in die Bauchhöhle austritt, und
nimmt man wiederum an, dass ein derartiger Vorgang in verschiedenen Schüben
passirt, so ist es gar nicht ausgeschlossen, dass bei den ersten geringen Blutungen
Adhäsionen erregende Keime mit austraten und diese dann zur Bildung der Grenzen
der Hämatokele führten.
Eine foudrovante Blutung in die völlig freie Bauchhöhle führt niemals
zu dem Bilde der Hämatokele, ebensowenig eine gleiche Blutung in die nur mit
wenigen Adhäsionen ausgestattete Bauchhöhle, wenn eben nicht durch die sym-
ptomlosen Vorboten die Adhäsionen in günstiger Weise zur Abkapselung vor-
bereitet wurden.
Adhäsionsbildungen entweder vor oder bei der Blutuug sind als die
notbwendigen Vorbedingungen für Hämatokele, uutl langsame schubweise Blutung,
EQcyclsp, Jahrbücher. VI 15
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226
HAKMATOKELE.
wenn es sich nicht um Blutung in eine völlig abgekapselte Höhle handelt, die
weitere Voraussetzung. Am einfachsten sind die anatomischen Verhältnisse bei
Tubenschwangerschaft gegeben, und wenn ich früher nur einen Bruchtheil aller
Fälle von Hämatokele auf Tubengravidität zurUckführto, so muss ich sagen, dass
die bisherige Beobachtung mir gezeigt hat, dass die überwiegende Mehrzahl von
Fällen diese Aetiologie hat, und dass nur ganz ausnahmsweise die Pelveoperitoniti »
haemorrhagica und noch seltener die anderen Blutungen die Hämatokele herbei-
führen. Es müssen da stets exeeptionelle Verhältnisse vorliegend ganz völlig aus-
schliessen können wir immerhin die anderen Ursachen nicht, aber sie sind so
selten, dass man nicht damit zu rechnen hat.
Das anatomische Verhalten einer Hämatokele ist hiernach unschwer
verständlich. Man findet für gewöhnlich den Doi’GLAS’schen Baum stark ausge-
dehnt durch flüssiges und eoagulirtes Blut. Die obere Wand der Hämatokele wird
nach der freien Bauchhöhle zu von Darmschliugen gebildet, die unter einander
fest verwachsen sind. In der Höhle der Hämatokele mündet die Tube. Nicht
immer ist es möglich, in dem Inhalt des Sackes noch das Ei deutlich uachzuweiseu.
Verschiedene Adhäsiousstränge ziehen durch den Sack hindurch, bilden oft mehr-
fache Unterabtheilungen in ihm, so dass scheinbar mehrere Hämatokelen über-
einander vorhanden sind. Besondere Abweichungen von dem allgemeinen Verhalten
finden sich dann, wenn lange Zeit die Hämatokele bestand und besonders, wenn
ausser dem Blut auch entzündliche Keime mit in die Bauchhöhle austraten.
Dann kann es zur Vereiterung der Hämatokele kommen, und nur schwer ist
es möglich, ein derartiges Bild von einer abgekapselten Peritonitis zu unter-
scheiden. Weitere Complicationen entstehen dann, wenn der Hämatokelensaek iu
den Darm oder die Scheide oder, seltener, in die Blase durchbricht. Bemerkens-
werth ist es nur, dass secuudär ein Durchbruch in die freie Bauchhöhle relativ
selten, meist durch Traumen, Untersuchungen oder ärztliche Eingriffe bedingt ist.
Verschiedene präexistente Veränderungen können den gewöhnlichen Sitz
der Hämatokele im DouGl.AS’schen Baum verändern.
Am häufigsten ist der stark seitliche .Sitz des Tumors. Liegt die eine
Tube fest in Adhäsionen, und ist nur die andere noch relativ frei, so ist ein
derartiges Verhalten ohueweiters erklärlich, ja man muss betonen, dass bei der
uothwendigerweise gewöhnlich anzunehmenden vorherigen Veränderung in der
Bauchhöhle ein derartiger seitlicher Sitz keineswegs selten sein wird. Relativ
selten ist dagegen die Haematokele anteuterina , auf deren Vorkommen
eigentlich zuerst Schröder hingewiesen hat. Die Voraussetzung derselben ist völlig«*
Obliteration des Dot'GLAS’schen Raumes. Die Tube muss dann ausserhalb des ehe-
maligen DouGLAS’scheu Baumes liegen und damit die Möglichkeit gegeben sein,
dass der Blutaustritt in die immerhin veränderte, aber auch relativ freie Bauch-
höhle erfolgen kann.
ln Schröder s Fall fand sich der ganze Beckeneingang von dicken Lagen
trockener, dunkclkirschrother Blutgerinnsel erfüllt; nach ihrer Entfernung kam
inan in eine faustgrosse Höhle, deren Grund mindestens bis zur Höbe des äusseren
Muttermundes hiuabrciehte, deren hintere Wand von dem nach hinten unil unten
liegenden Uterus, rospective den breitcu Mntterbändern, deren vordere von der
hinteren Wand der collabirten und der Symphyse eng anliegenden Blase gebildet
wurde. Nach oben war die Höhle auf keine Weise durch eine Membran begrenzt,
sondern die Bluteoagnla lagen frei da. Der Uterus selbst war durch mehrere
Pseudomembranen dicht an die hintere Beckenwand angelöthet, die zwischen deu
breiten , fibrösen Bändern befindlichen, miteinander zum Theil communicirenden
Hohlräume waren mit Blut erfüllt, aus dem sieb theilweise hellbraune, feste Fibriu-
eoagula auf die Wände niedergeschlagen hatten. Der Boden des DoiGl.AS'sehen
Baumes war schiefergrau gefärbt.
Für alle diese anatomischen Möglichkeiten wäre keineswegs nothwendig,
dass die Tubenschwangerschaft die Ursache ist, sondern das ganze anatomische
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HAEMATOKELE.
m
Vcrbalten ist dasselbe, wenn ganz ausnahmsweise unter den genannten Vorbe-
dingungen aus anderer Ursache der Hlutcrguss erfolgte.
SÄNGER hat neuerdings die Wand von älteren Hämatokeieu untersucht.
Die innere Schicht derselben wird durch feinfaseriges Fibrin dargestellt; in der
Mittelschicht liegt ein breites, an Netzknorpel erinnerndes Maschenwerk, und in
den äusseren Schichten kann mau wellige, bandartige Züge unterscheiden. Von
der lockeren Zwischensubstanz beginnt Gefässbilduug, die bis zur Innenschicht
vordringt. Es zeigt sich hieraus deutlich die langsame Entstellung des Blutergusses
und die fortschreitende Gerinnung von aussen nach innen. Allmälig verdickt sich
die Kapsel durch weitere Fibrinniederschläge auf der Innenseite. Die neu ein-
dringenden Gefässe, welche aus den umgebenden Organen entstehen, führen zur
langsamen Resorption und schliesslich zur Vernarbung.
SÄNGER unterscheidet übrigens weitere solitäre von diffusen Ilämatokelen,
doch halten wir diesen Unterschied nicht für so wichtig, um auf ihm besondere
anatomische oder genetische Unterschiede zu construiren. Die solitären llämato-
kelen sind späte Folgezustände früherer ditfuser.
Ausnahmsweise wird man übrigens auch ilämatokelen finden können, in
denen freie Blutung in die Bauchhöhle neben einer wenigstens grösstentheils ab-
gekapselten Höhle vorhanden ist.
Das klinische Bild einer Hämatokele ist hiernach ohneweiters ver-
ständlich. Die Kranken sind früher relativ gesund gewesen und plötzlich en t-
steht die Hämatokele. Irgend eine Veranlassung wird natürlich von jeder Patientin
angegeben, und die Symptome charakterisiren sich durch die Anämie, den Druck
der plötzlich entstandenen Geschwulst auf die Nachbarorgane und den Schmerz
durch die Spannung in der Höhle. Von diesen Zeichen bleibt am längsten bestehen
die Anämie und der Druck auf die Nachbarorgane, der dauernde Schmerz ver-
schwindet immer mehr und mehr, ln dem weiteren Verlaufe beobachtet man all-
mälig eine Abnahme aller Erscheinungen , die Patientinnen , welche zuerst Uber
Schwindel, Ohnmacht, Uebelkeit u. s. w. klagten, erholen sich, ja man kann sie
oft schwer im Bett halten, die weitere Resorption des ergossenen Blutes erklärt
diese Verringerung der Symptome.
Abweichend hiervon kann man in anderen Fällen nicht verkennen, dass
schmerzhafte Zwischenfälle die Erkrankung compliciren. Entsprechend dem oben
Angedeuteten wird man eine Peritonitis circumscripta in Folge gleichzeitigen Eiter-
austrittes vollkommen erklärlich finden und gleichzeitig dabei die Auftreibung des
Bauehes , die Schmerzhaftigkeit desselben , das Erbrechen und unregelmässiges
Fieber beobachten können. Sicher kommt es bei Hämatokele zu dieser Compli-
ration. Im Allgemeinen rechnen wir auch diese Erscheinungen noch zu dein
klinischen Bilde der Hämatokele. Besser thut man, von einer Combination der
Hämatokele mit Perimetritis oder Peritonitis zu sprechen.
Von grosser Wichtigkeit ist es, dass fast bei allen Fällen der Erkrankung
eine mehr oder weniger starke Blutung aus dem Genitalcanal mit dem
Beginn der Erkrankung einsetzt. Während man früher diese Erscheinung durch
Stauung in Folge des Druckes des Tumors zu erklären versuchte, hat sich all*
mälig unsere Ueberzeugung von der Wichtigkeit der Tubenschwangerschaft in
der Aetiologie bewährt. Die Blutung erfolgt in erster Linie durch die Ausstossung
der regelmässig bei Extrauterinschwangerschaft sich bildenden Decidua uterina.
Nicht immer kann man die Haut reconstruiren, nicht immer die einzelnen Fetzen
noch nachweisen, auch kann nach Ausstossung eines grossen Theiles der Decidua
die Blutung noch andauem. Die sich wiederbildende Schleimhaut des Uterus ist
eben krank. Eine zweite Quelle der Blutung ist aber auch hier die Tube selbst.
Wenn mau länger bestehende Tnbensehwangerschafteu genau untersucht, so findet
man gar nicht selten zwischen Ei und Uterus die Tube durch Blut ausgedehnt
und kann direct die Fortsetzung bis in den Uterus verfolgen. Besondere Sym-
ptome werden natürlich bei abweichendem anatomischen Verhalten der Hämato-
15*
228
HAEMATOKELE.
kele erklärlich, so insbesondere die Nachschübe der Erkrankung, das häutige
Auftreten von Frösteln, wenn eben Peritonitis dabei ist, die Tenesmuserscheinungen,
die vorübergehende Erleichterung im Befinden, wenn ein Durchbruch erfolgt, die
Verschlechterung in dem Zustand, wenn dann der Abfluss stockt, doch sind alle
diese Zeichen relativ von geringer Bedeutung, und man muss daran fcsthalten,
dass in diesen abweichenden Symptomen sich irgend eine wichtige Complication
darstellt, die zu eruiren Sache der exacten Diagnose ist.
Aus alledem geht aber hervor, dass im Allgemeinen mit der Iläraatokele
fieberhafte Erscheinungen nicht verbunden sind. Der Heilungsverlauf bei einer
Hämatokele zieht sieh gewöhnlich , selbst wenn keine erheblichen Nachschübe
störend einwirken, Uber 6 — 10 Wochen hin. Als Residuen bleiben Verlöthungen
der Tube übrig, Adhäsionsbildungen des Uterus mit der hinteren Wand des
DODGLAS’scben Raumes, Tubenverschluss etc. Man kann es erleben, dass chronisches
Siecht bum oder wenigstens mancherlei Beschwerden von der überstandenen Krank-
heit datiren.
Diagnose. Wie überhaupt in der Gynäkologie, so auch bei dieser Er-
krankung, soll man im Wesentlichen aus dem objectiven Untersuchungsbefunde
die Diagnose stellen und die Anamnese der Patientin höchstens zur Unterstützung
der angenommenen Erkrankung mit heranziehen. Letzteres ist gerade deshalb
besonders wichtig, weil die der Erkrankung vorangegangene Extrauterinschwanger-
schaft keineswegs regelmässig aus den Angaben über die Vorgeschichte der Er-
krankung zu entnehmen ist. Allerdings findet sich schon in den ersten Beob-
achtungen Nelaton’s vielfach die Angabe, dass Unregelmässigkeiten in der
Menstruation dem plötzlichen Ausbruche der Erkrankung vorangegangen sind.
Aber wenn man diesen Angaben allein nur folgt und allein hieraus die An-
nahme der Genese aus Extrauterinschwangerschaft begründen will, so wird die
Zahl der hieraus entstandenen llämatokelen relativ zu gering. Des weiteren
findet sich in der Anamnese der llämatokelen oft genug die Mittbeilung, dass die
Erkrankung plötzlich entstanden ist. Dies stimmt aber nicht für alle Fülle und
kann sowohl für, wie gegen die Diagnose Hämatokele verwerthet werden.
Weiterhin findet sich in der Angabe oft genug ein Trauma verzeichnet.
Auch aus dieser Mittheilung ist ein sicherer Schluss auf die Erkrankung selbst
nicht zu entnehmen, ln der Genese haben wir überhaupt das Trauma nicht er-
wähnt. Es ist ja klar, dass, so gut wie eine beliebige Blutung in die Bauchhöhle
ausnahmsweise einmal eine Hämatokele herbeifuhren kann , auch ein Trauma,
welches die Sexualorgane trifft, hierfür Veranlassung sein kann. Jedenfalls aber
darf man aus der einfachen Angabe, dass ein Trauma der Erkrankung voraus-
gegangen ist, nicht ohneweiters schliessen wollen, dass wirklich dieses Trauma
die Ursache gewesen ist. Wenn man noch so sehr geneigt ist, die Aetiologie durch
Trauma anzunehmen, so wird man jedenfalls zur Entstehung der Hämatokele
durch dasselbe bestimmte anatomische Veränderungen als gleichzeitig voraus-
bestehend annehmcu müssen. So wenig wie allein ein Bluterguss in die Bauch-
höhle ohne besondere Voraussetzung zur Hämatokele führt, so wenig ist dies beim
Trauma der Fall. Es kommt hinzu, dass die Bedeutung des Traumas von den
Patientinnen meist sehr gern angenommen wird, ohne dass man recht einsieht,
wie das Trauma zu einer Gefässzerreissung bei ganz normalen Genitalien hat
führen können.
Es ist ja ohneweiters sicher, dass die eombinirtc Untersuchung z. B.
bei einer Extrauterinschwangerschaft der frühen Zeit einmal zur Zerreissung des
Sackes führen kann, aber abgesehen von diesem Trauma wird es sich in der
Anamnese in der Mehrzahl der Fälle um Cohabitationen handeln, welche gern
deshalb von den Frauen angeschuldigt werden, weil dieselben bei schon be-
gonnener, aber noch nicht erkannter, weil noch symptomenloser Erkrankung
durch abnorme Sebmerzempfiudungen als Schädlichkeit empfunden werden. Aus
diesem Grunde findet sich nicht selten die Angabe, dass stürmische oder zur
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HAEMATOKELE.
229
Zeit der Menstruation ausgeübte Cohabitation die Ursache der Hämatokelen ge-
wesen sind.
Trotzdem ist die Bache meist so aufzufassen, dass auch hier die Er-
krankung schon im Beginn ihrer Ausbildung war , und jedenfalls wird für die
differentielle Diagnose zwischen Ilämatokele und anderen weiteren Erkrankungen
die Angabe eines Traumas niemals von entscheidender Bedeutung werden können.
Aus all diesen Darlegungen geht der Werth der objectiven Untersuchung
hervor. Man findet bei den reinsten Formen der Haematokele retrouterina den
Uterus durch den Bluterguss stark nach vorn verlagert.
Die ursprüngliche Meinung war zwar, dass das in das Cavum Douglami
ergossene Blut den Uterus nach vorn vordränge und dann durch periton itische
Membranen abgekapselt werde. Schröder wendete hiergegen Folgendes ein : Ein
DouGLAS'scher Raum existirt eigentlich nur ideell, da unter normalen Verhältnissen
der untere Uterinabschnitt dem Rectum anliegt ; eine nennenswerthe Capacität
erlangt er erst dann, wenn Rectum und Blase völlig leer sind und der, der
hinteren Blasenwand stets folgende Uterus sich von der vorderen Mastdarmwand ent-
fernt. Nur im letzteren Falle werden in die Bauchhöhle ergossene Flüssigkeiten
— die dorthin als dem beim Stehen und Liegen tiefsten Punkt derselben gravi-
tiren — dort in grösserer Menge eindringeu können. Dieselben sind niemals
als Tumor fühlbar, weil sie dem andriingenden Finger ausweichen;
genau dasselbe thun sie auch, wenn Blase und Mastdarm sich wiederum füllen.
Nur wenn das Blut bereits coagulirt und völlig abgekapselt ist, ist ein Ausweichen
unmöglich, und wird dann das Coagulum allerdings als Resistenz hinter dem
Uterus zu fühlen sein ; da dieses jedoch niemals mehr Raum einnchmen kann
als das Fluidum, aus dem es sich abgeschieden, so kann dadurch unmöglich eine
Kaumbeschränkung im kleinen Becken und Dislocation der in demselben befind-
lichen Organe hervorgebracht werden. Der grössere Antheil des Ergusses bildet
im Becken eine Lache, die bei starker Blutung und tiefer Stellung des Uterus
seinen Fundus überragen und sogar in die Excavatio vesicouterina Ubertliessen
kann. Auf dieser Lache schwimmen die Därme, die mit einander verklebt sind
und im Verein mit Pseudomembranen , die dann natürlich auch vom Rectum
au die vordere Rauchwand ziehen können, das Dach einer Höhle bilden, die
den Bluterguss enthält. Erst in diesem Moment wird derselbe auch von aussen
oder bei der combinirten Untersuchung als Tumor fühlbar, während er vorher
nicht nachweisbar war. Ist der DotJGLAS'sche Raum aber einmal von der übrigen
Bauchhöhle abgeschlossen, und tritt nun ein Nachschub der Blutung ein, oder
war die Ueberbrückung in Folge älterer Perimetritis bereits primär vorhanden
und erfolgte gleich der erste Erguss in die so gebildete Höhle oder in einen
schon bestehenden retrouterinen Tumor (perimetritisehes Exsudat), dann wird er
sich, da er nicht entweichen kann, durch Dehnung der deckenden Membran, Com-
pression des Rcctums und besonders Vordrängung des Uterus nach vorn und
oben Raum schaden und so den typischen klinischen Befund der Haematokele
retrouterina hervorrufen. Erfolgt eine neue Blutung über der Decke des Tumors,
so w ird diese in gleicher Weise sich abkapseln und werden auf diese Weise inehr-
ftcherige Blntkysten gebildet werden können.
Die Verdrängung des Uterus nach vorn ist also ohneweiters ein sicheres
Zeichen für die völlige Abkapselung der Hämatokele. Von der Vagina aus fühlt
man die Portio in die Höhe geschoben und dicht hinter der Symphyse liegend,
und die combinirte Untersuchung zeigt den Uterus dicht hinter der vorderen
Baucbwand gelagert, meist nach einer oder der anderen Beite leicht abgewichen
und meist so, dass die eine Kante des Uterus, welche der erkrankten, respective
schwangeren Tube entspricht, etwas tiefer steht, als die gesunde Beite. Die untere
Peripherie des Tumors, der hinter dem Uterus liegt, wölbt sich als ein praller,
völlig glatter Tumor in die Scheide vor, die Wand fühlt sich meist ganz glatt
an, und erst wenn Resorptionsvorgänge oder die geschilderten Niederschläge der
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HAEMATUKELE.
Coagula auf der unteren Peripherie zu Stande kommen, fühlt man die für den
Uebergang in das Bindegewebe und die Vernarbung charakteristischen diffusen
Infiltrationen. Die obere Begrenzung der Häznatokele fühlt sich im Gegensatz
dazu uneben und relativ unklar an, d. h. je nach dem Füllungszustand der den
Tumor begrenzenden Darmschlingcn erscheint er vergrössert oder etwas ver-
kleinert. Nicht selten überragt die obere Kuppe des Tumors den Uteruskürper,
auch ist an derselben ein oder ein anderer härterer Körper palpabel, der sich
als leicht knollige Unebenheit darstellt. Man muss sich vorstellen, dass hier die
Tube oder das vergrösserte Ovarium die anatomische Grundlage der Erschei-
nung bildet.
Gleichzeitig findet man den Uterus mehr oder weniger vergrössert, auch
geht aus den Genitalien deutlich Blut ab.
Dieser Untersuchungsbefund kann natürlich in verschiedener Weise
variiren. Es kommt vor, dass der Tumor nur seitlich sitzt, dass der Boden des
DouGGAS’schen Raumes nicht so stark vorgewölbt wird, weil alte Verlöthungen
bestanden, oder weil der erste Bluterguss schon in der Resorption begriffen war,
als ein stärkerer Nachschub die Veränderungen bedingte. Auch kann die obere
Peripherie des Tumors an einzelnen Stellen ganz glatt und scharf begrenzbar
erscheinen. Das kommt dadurch zu Stande, dass, sei es die vergrösserte Tube
oder eine zufällig bestehende gleichzeitige Ovarialschwellung, von dem Bluterguss
nach oben geschoben wird und durch diese Gebilde , anstatt von den Darm-
schlingen, die Wand begrenzt wird. Noch weiter kann das Bild der Hämatokele
sich dann ändern, wenn bei früherer Obliteration des Doi'GLAS’schen Raumes der
Bluterguss nur auf und vor dem Uterus liegt (Haematokele anteuterina). Je
länger der Proccss bestanden hat, um so schwieriger wird natürlich die Diagnose,
ja es kann schliesslich unmöglich sein, ein in der Resorption begriffenes intra-peri-
toneales Exsudat oder einen tubo-ovaricllen Tumor mit Adhäsionsbildungen mit
Sicherheit von einer Hämatokele zu unterscheiden. Auch können alle Oompli-
cationcn, welche vor dem Ausbruch bestanden, mehr oder weniger den Unter-
suchungsbefund ändern. Eine klare Diagnose der Hämatokele wird daher nur im
Beginn der Erkrankung und bei ganz typischem Sitz mit Sicherheit möglich sein.
Will man mehr erreichen in zweifelhaften Fällen, so ist theoretisch die Probe-
pnnction gewiss ein zweckmässiges Mittel. In praktischer Beziehung dagegen be-
währt sich diese Methode nicht so, wie man denken sollte. Die Vorwürfe, welche
man derselben nämlich stets machen muss, gründen sich darauf, dass schliesslich
doch nur die Unterscheidung von flüssigen oder eiterigen Exsudaten in Frage
kommt; wenn man aber die Anatomie gerade der complicirtcn Fälle von Exsu-
dationen sich vor Augen führt, so sind es doch diejenigen Fälle, in denen
Schwielenbildung die untere Wand des Tumors begrenzt, und hier wird die in
den Tumor eindringende Nadel, selbst wenn die Hauptmasse des Tumors von
Eiter gebildet wird, einmal Blut ergeben können, und ebenso wird es möglich
sein, dass selbst bei einer Hämatokele durch die Canüle nichts sich entleert, weil
man nur in den coagulirten Theil der Hämatokele gelangt. Weiter muss man be-
denken, dass in der Probepunction bei Hämatokele ein nicht ganz gleichgiltiger
Eingriff vorliegt. Es ist oft genug vorgekommen, dass an die Punction sich Fieber
anschloss und eine Vereiterung oder Verjauchung des Tumors entstand, sei es,
dass Infectionskeimc mit dem Troicar cingeführt wurden, sei es, dass derselbe
im Tumor einen von der Blutmasse noch abgekapselten Eiterherd traf. Wenn man
daher zur Probepunction sich entschliesst, so soll man sich darüber klar sein,
dass man eventuell durch die diagnostische Operation eine Schädlichkeit der
Patientin zufügt, welche dann die Indication abgiebt für operative Eingriffe, welche
an sich durch die Erkrankung vielleicht noch nicht indicirt waren. Wenn man
aber überhaupt in der Erkrankung eine Indication zum Einschreiten erblicken
muss, so ist die Frage, ob der Tumor aus eitrigem oder blutigem Inhalt besteht,
relativ von geringfügigem Werth, und nur für bestimmte Fälle, in denen die
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HAEMATOKELE.
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Frage zur Entscheidung steht, ob man durch Laparotomie oder durch Incision
von der Scheide die Erkrankung angreifen soll, wird daher die Probepunction
von Itedeutung werden. Hier ist sie aber dann mehr ein Theil der operativen
Therapie als der allgemeinen Diagnostik.
Man hat in neuerer Zeit ferner versucht, durch die Urobilinuric die Ent-
scheidung zu geben, ob in dem vorliegenden Fall der Inhalt des Tumore Blut
oder Eiter ist. Die Schwierigkeit des chemischen Nachweises gerade von Urobilin
macht es erklärlich, dass das Verfahren bisher wenig Anklang fand, und von
besonderer Bedeutung ist es, dass neuerdings insbesondere von Maxdky gezeigt
wurde, dass keineswegs regelmässig bei Ilämatokelen Urobilinurie besteht. Wir
sind damit schon in die differentielle Diagnostik gekommen. In dieser Be-
ziehung ist es natürlich klar, dass eine grosse Zahl von Erkrankungen hierbei
mit berücksichtigt werden könnte. Gewiss ist diesem oder jenem der Irrthum vor-
gekommen, dass eine Hämatokele als Retroßexio uteri gravidi angesehen wurde,
auch wird ein im Dol'GLAS’seheu Kaum liegender Ovarientumor einmal als Häma-
tokele angesprochen werden.
Es kann aber unseres Erachtens nach nicht die Aufgabe der differentiellen
Diagnose sein, alle diejenigen Ffdle zu besprechen, welche durch genügende Technik
in der combinirten Untersuchung fortfallen. Von Bedeutung ist die Untersuchung
zwischen exsudativen Ergüssen gegenüber der Hämatokele. Auch hier ist für die
Unterscheidung der objective Befund oft am wichtigsten. Je mehr die ganze Um-
gebung und nicht blos die obere Peripherie des Tumors die für Exsudate
charakteristischen diffusen Grenzen darbietet, umsomehr wird man an Ent-
zündungen denken. Der gleichzeitige Blutabgang aus den Genitalien ist ferner
bedeutungsvoll, und bei längerer Beobachtung muss die Entscheidung aus der
Temperaturbewegung mit entnommen werden. Ein grosses Exsndat, welches den
Uterus in der Weise nach oben verdrängt, wie für die Hämatokele geschildert,
wird kaum jemals ohne Fieber bestehen. Besonders trifft dies dann zu, wenn
man häutig genug die Temperatur der Patientinnen bestimmt. Aber eine völlig
sichere Entscheidung kann deshalb nicht getroffen werden, weil, wie erwähnt, die
Hämatokele in Folge von Austritt ficbcrerregender Keime aus der Tube auch
Fieber bewirken kann ; ja die Hämatokele ist ja in gewissem Sinne regelmässig
combinirt mit Peritonitis, und wenn man daher bei einem fieberhaften Process
blutiges Exsudat entleert, so hat man eine Oomhination von Hämatokele mit Peri-
tonitis, sei es, dass mit der Bildung des Blutergusses auch Peritonitis begann, sei
es, dass in ein Exsudat hinein eine Blutung erfolgte.
Wichtiger als diese Unterscheidung ist die Trennung von der frühzeitigen
extrauterinen Schwangerschaft. Sie ist deshalb so schwer, weil ja schliesslich in
der grossen Mehrzahl von Fällen die Hämatokele auf Extrauterinschwangerschaft
zurückgeführt werden musste, und wir daher nicht zwei ganz verschiedene Pro-
cesse von einander zu unterscheiden haben, sondern in gewissem Siune nur zw’ci
Stadien derselben Erkrankung. So lange aber die Extrauterinschwangerschaft noch
in der Tube oder auch im Ovarium sitzt, wird sich ein Unterschied geltend
machen können. Exsudat und präformirter Tumor geben eben bei der combinirten
Untersuchung einen ganz verschiedenen Befund, und die meisten .Schwierigkeiten
entstehen doch nur dann, wenn nach dem Tode der Frucht zu relativ frühen
Zeiten der Schwangerschaft Processe in der Umgebung sich abspielen, die im
Wesentlichen mit Bluterguss einhergehen. So hat man es auch hier mit Com-
binationen der beiden Vorgänge zu thun, bei denen man nicht ohneweiters sagen
kann, was als Hauptkrankheitsbild gelten soll, ob die noch iu der Tube befind-
liche Schwangerschaft oder der das Fimbrienende umgebende Bluterguss.
Die Schwierigkeiten der differentiellen Diagnose werden um so grösser,
je mehr sich die Extrauterinschwangerschaft in ihrem Verlauf mit Adhäsions-
bildungen in der Umgebung vergesellschaftet. Auch die Schnelligkeit der Ent-
stehung, die dringenden Symptome werden nicht immer zur Entscheidung heran-
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HAEMATOKELE.
gezogen werden können; in einen cxtranterinen Fruchtsack kann es hineinbluten
und dadurch eine plötzliche Vergrösserung des Fruchtsackes zu Stande kommen,
welche die Annahme der Hämatokele veranlassen könnte. So klar der Unterschied
daher hei ausgebildeter Hämatokele, respective bei noch in der Tube sitzender
Schwangerschaft ist, so schwierig kann bei Complicationen einer Extrauterin-
schwangerschaft die Trennung werden.
Der frühere Versuch , in diesen Fällen durch die Untersuchung der
Schleimhaut des Uterus zu entscheiden , ob eine Hämatokele oder Extrauterin-
schwangerschaft vorliegt, ist deshalb mit Recht aufgegeben worden, weil eben in
beiden Fällen das Endometrium Schwaugerschaftsveränderungen zeigen kann.
Wir begrtlssen das Anlgeben der diagnostischen Auskratzung zu diesen Zwecken
deshalb mit besonderer Befriedigung, weil die Auskratzung bei Hämatokelen wie
bei Extrauterinschwangerschaft keineswegs gefahrlos ist. Möglich ist weiterhin
eine Verwechslung mit retrouterinen Tumoren : Fibroiden am Cervix Uteri,
kleinen Ovarienkvsten und Carcinomen , die im DoüGLAS'schen Raume sitzen.
Die ersten beiden können durch Hyperämie oder bei Intercurrenz von Entzündung
die Kysten auch durch Blutung in ihre Höhle plötzlich stark schwellen, oder sich
unter der Einwirkung irgend welcher Reize schnell entwickeln ; doch giebt die
Consistcnz, der Verlauf der Atfection, der Nachweis anderer Fibroide am Uterus,
das Auftreten von Kachexie gewöhnlich genügende diagnostische Momente an
die Hand.
In Frage kommt auch die Retention von Blut im verschlossenen Ab-
schnitt eines doppelten Genitalcanals. Der seitliche Sitz des Tumors in diesem
Falle ; sein tiefes Herabtreten, besonders wenu Duplicitüt der Vagina besteht ; das
charakteristische Aufgehen der einen Muttermundslippe in der Wand desselben ;
die dadurch bedingte Veränderung des Muttermundes, der in eine sagittal stehende,
halbmondförmige, mit der t'oncavitüt nach der Geschwulst gerichtete Spalte ver-
wandelt wird; der Nachweis, dass der offene Uterus alle Charaktere eines
Uterus unicomis hat, können die Diagnose ermöglichen. Auch die Anamnese
ergiebt meist in regelmässigeu Perioden erfolgendes, schubweises Wachsen des
Tumors unter wehenartigen Schmerzen zur Zeit der Katamenien ■ cf. Uterus).
Wenn man nur die Möglichkeit des Vorhandenseins einer Bildungsanomalie sich
vergegenwärtigt, wird es bei aufmerksamer Untersuchung wohl stets gelingen,
Irrthllmer zu vermeiden.
Endlich kann die unten zu besprechende Blutung in das Beckenbinde-
gewebe mit der Hämatokele verwechselt werden, doch wollen wir auf diesen
Punkt bei der Besprechung des Hämatoms eingehen.
Man verwerthet übrigens gern für die differentielle Diagnose von nicht
Blut enthaltenden Tumoren und der Hämatokele die bei letzterer verkommende
Anämie. Wir rathen in dieser Beziehung, auf dieses Symptom nicht zu viel Werth
zu legen. Im Beginn der Erkrankung trifft es ja zu, doch kann bei Hämatokele
die plötzliche Entstehung fehlen, und so stelle ich die Anämie nur daun als ein
werthvolles Symptom hin. wenn schon ohneweiters das ganze Krankheitsbild klar
ist. Zur differentiellen Diagnose aber soll man nicht zu viel Werth darauf legen, weil
die Zeichen der Anämie von fieberhaften Schwächezuständen sich nicht immer
trennen lassen.
Für die differentielle Diagnose bei Beginn der Hämatokele kommt noch
die Frage in Betracht, wie weit der eclatant vorhandene Bluterguss als ein frei
in die Bauchhöhle erfolgter und daher sich nicht begrenzender anzusehen ist, und
wieweit mau es bei den schweren shockartigen anämischen Erscheinungen mit dem
Beginn einer sich abkapselnden Blutung zu thun hat. Die Entscheidung wird zum
Thcil durch den gynäkologischen Untersuchungsbefund, zum Theil nach allge-
meineren Gesichtspunkten zu treffen sein. Bei einer typischen Haematolcele retro-
uterina findet man stets einen abgekapselten Tumor. Im Gegensatz dazu ergiebt
sich ein völlig negativer Befund bei freiem Erguss. Man kann eben das Blut, so
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HAEMATOKELE. 233
lange es dem untersuchenden Finger noch nusweichen kann, nicht als Tumor er-
kennen. Findet man den letzteren, so soll man auch bei schweren Erscheinungen
eine Hämatokele aunehmen; findet man hierbei aber nichts, so liegt ein freier
Bluterguss vor. Auch die Schwierigkeiten, die daun erwachsen, wenn zwar ein
kleiner Tumor palpahcl ist, können wir heutzutage nicht mehr sehr gross an-
schlagen. Man muss, wenn man bei schweren Erscheinungen eine Iläinatokele
annehmen will, einen einigermassen so grossen Tumor fühlen können, dass durch
die Grösse des Tumors die Anfimie erklärlich wird.
Die allgemeinen Gesichtspunkte, welche bei dieser differentiellen Diagnose
in Frage kommen, würden wir so formuliren können, dass bei der Annahme einer
Hämatokele die Patientin sich nicht verbluten darf. Liegt also nach dem ruhigen
Urtheil des beobachtenden Arztes in dem Verlauf eine direct das Leben bedrohende
Anämie vor, so soll man einen freien Bluterguss annchmen. Ist ärztliche Hilfe
von vornherein bei einem derartigen Fall vorhanden, so muss man verlangen,
dass unoperirt eine Frau an einem freien Bluterguss heutzutage nicht mehr sterben
darf. Droht das letztere, so muss man trotz scheinbarer Abkapselung eine freie
Blutung annehmen.
Am unwichtigsten in der Diagnose ist die Frage, aus welcher Quelle die
Blutung stammt. Liegt eine Hämatokele wirklich vor, so thut man am besten,
eine Extrauterinschwangerschaft als anatomische Ursache anzunehmeu.
Die Prognose der Haematokele retrouterina ist im Allgemeinen als
günstig zu bezeichnen. Das ansgetretene Blut wird resorbirt und die Residuen
der Erkrankung brauchen keine Symptome zu machen.
Immerhin muss man wissen, dass fieberhafte Störungen eine Vereiterung
oder Verjauchung des Tumors nndeuten können, durch welche die Prognose
völlig geändert wird. Zwar kommt es auch zur Resorption eiteriger Exsudate; da
es sich aber hierbei dann um recht differente Substanzen handelt, da dann der
Durchbruch in die Nachbarorgane möglich ist, so muss man, sobald fieberhafte
Processe sich mit einer Hämatokele vergesellschaften, den spontanen Heilungsvor-
gang nicht mehr mit der Sicherheit erwarten, wie es bei einem Bluterguss sonst
berechtigt wäre.
Das Auftreten auch wiederholter Nachschübe ist für die Prognose nicht
weiter bedenklich. So lange es sich nur um Blutung handelt, und so lange nur
bei ausgebildeter Hämatokele äussere Schädlichkeiten abgehalten werden, wird
die Prognose nicht alterirt. Richtig ist es, dass die Resorption des ergossenen
Blutes langsam erfolgt, und für die arbeitende Classe der Bevölkerung kann
hierin eine so erhebliche materielle Schädigung liegen, dass auf alle Weise eine
Abkürzung des I’rocesses erwünscht wäre. Das Gleiche wünscht Arzt und Patientin
in der heutigen Zeit nur allzu leicht Die glänzenden Erfolge der operativen
Gynäkologie sind die Ursachen, aus denen in solchen Fällen immer weiter gehende
Forderungen an die Operateure gestellt werden. Wenn wir derartige Ansprüche
auch nicht vollständig zurückweisen können, so muss die Operation gerade bei
der Hämatokele nur in einem Eingriff' bestehen können, der an sich die Prognose
nicht beeinträchtigt.
Durch die zufälligen, vielleicht recht unbequemen Erscheinungen der Com-
pression der Nachbarorgane wird übrigens der schliessliche günstige Ausgang
nicht irgendwie alterirt.
Für die Therapie hat man entsprechend der oben auseinandergesetzten
Prognose daran festzuhalteu, dass an sich bei klarer Diagnose „ Hämatokele“ die
Aufgabe nur darin besteht, die Schädlichkeiten von der Patientin feruzuhalten
und die langsame Resorption zu unterstützen, sowie die subjcctiven Beschwerden
zu lindern. Ruhige Bettlage, Eisblase auf den Leib und die Darreichung von
Opiaten sind daher die Ilauptvorsehriften. Je besser das Allgemeinbefinden nach
dem zuerst stürmischen Beginn wird, desto schwerer ist es oft, die Patientin so
ruhig zu halten, wie geboten ist; dass hier im einzelnen Fall, schon um die Ge-
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HAEMATOKELE.
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duld der Patientin nicht auf eine zu harte Probe zu stellen, dieses oder jenes
interne Mittel oder ein oder das andere Medicament, von der Scheide angewendet,
nothwendig werden kann, ist klar; im Beginn wird es sich innerlich wesentlich
um die Darreichung von Säuren handeln, in die Vagina wird man Suppositorien
aus Opium, Morphium, Ichthyol, Jodoform etc. eiufiihren lassen. Ein erheblicher
Erfolg dieser Therapie ist wohl nur selten. Das Bett darf die Patientin erst ver-
lassen, wenn der Tumor im Wesentlichen resorbirt ist. Zieht sich dieser Process
auch sehr lange hin, so ist diese Vorsicht doch dringend geboten. Nur zu leicht
benutzen die Patientinnen die relative Freiheit, um sich Schädlichkeiten anszu-
setzen, welche einen neuen Nachschub der Blutung bedingen können, oder, wie
wir es selbst erlebt haben, noch nachträglich zu Ruptur in die freie Bauchhöhle
führen. Die schliesslich übrig bleibenden Residuen einer Hämatokele wird man
nicht anders behandeln, wie die Reste einer Beckenperitonitis. Schwere Symptome,
welche sich hier geltend machen, können noch nachträglich die Indieation zur
Entfernung der Anhänge darstellen, doch handelt es sich dann nicht mehr um
eine für Hämatokele specifische Therapie.
Es ist ohneweiters klar, dass bei dem so langsamen Verlauf der Re-
sorption der Hämatokelen die verschiedensten Versnche gemacht sind, die Heilungs-
dauer abzukürzen. Die Erfolge, welche wir selbst ebenso wie Andere, insbesondere
Zweifel und Küstner, erreicht haben, haben uns aber nicht überzeugt, dass
an sich in der Haematokele retrvuterina eine Erkrankung vorliegt,
welche operatives Einschreiten erheischt. Erfolge, welche der einzelne
geübte Operateur hier erzielt, würden sich bei allgemeiner Anwendung direct in
das Gegenthcil umwandeln, und auch jetzt noch können wir SchbÖder’S Urtheil
nur unterschreiben, dass durch die Ineision von der Vagina z. B. die Heilungs-
dauer nicht wesentlich abgekürzt wird, und die Technik der Laparotomie, »enn
man sie principiell bei jeder Hämatokele anwenden wollte, kann recht erhebliche
Schwierigkeiten darbieten, so dass trotz der sonst guten Prognose des Baneh-
schnittes in ihm gerade hier eine Gefährdung vorliegt. Ganz anders steht es
natürlich, wenn Complicationen das Krankheitsbild stören. Dann ist nicht der
Hämatokele wegen, sondern in Folge der eingetretenen Störungen das operative
Einschreiten dringend geboten.
Der Weg, auf dem man hierbei vorzugehen hat, ist von den Symptomen
abhängig. Muss man aus dem dauernden Fieber darauf schliessen, dass Ver-
eiterung oder Verjauchung droht und deshalb einschreiten, so ist die Eröffnung
der Hämatokele von der Vagina aus das sicherste Verfahren. Man macht auf der
Sebeidenschleimhaut dort, wo der Tumor sich am meisten vorwölbt, eine breite
Incision durch die ganze Wand der Scheide. Dann gelingt cs leicht, stumpf mit
dem Finger bei combinirter Operation, indem die äussere Hand auf der Kuppe
des Tumors liegt, in denselben hineinzugelangen. Die so gesetzte Oeffnuug erhält
man durch die Einlegung eines Drainrobrcs oder Jodoformgaze offen. Muss man
dagegen zu früher Zeit die Hämatokele wegen schwerer Anämie, die immer wieder
folgenden Nachschüben ihre Eutstchung verdankt, also wegen Blutung, sich zum
Einschreiten cntschliessen, so ist die Laparotomie das beste Verfahren, ebenso
wie wir sie ja für nothwendig erklärten, wenn nicht sicher die Abkapselung des
Blutergusses im Beginn sich ergiebt.
Die Laparotomie ist ferner dann als das richtigere Verfahren anzusehen,
wenn man wegen der zu langsamen Resorption oder wegen zu häufiger Recidive
oder wegen bedrohlieher Allgemeinerseheinnngen bei Hämatokele überhaupt eine
Operation für angezeigt hält. Die Laparotomie ergiebt dann ohneweiters völlig
klare Verhältnisse, sie setzt uns in den Stand, mit Sicherheit die Quelle der
Blutung in der erkrankten Tube zu entfernen, und führt voraussichtlich in der
kurzen Zeit von 14 Tagen zu völliger Heilung. Die Gefahr des Eingrilies ist bei
sicherer Durchführung der Aseptik nicht übermässig hoch anzuschlagen, und
jedenfalls lallt die Schwierigkeit der Incision von der Scheide vollkommen weg.
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HAEMATOKELE.
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welche darin besteht, dass man einen Theil der Hämatokele etwa nicht mit-
eröffnet, und dass man zu Nachoperationen schliesslich gezwungen wird, welche sich
aus der unvorhergesehenerweise mit der Ineision von der Scheide verbundenen
Heilung vergesellschaften können. Die Eröffnung des Peritoneums von dem Septum
vesico-nterinum ans, wie sie neuerdings DOhrssen vorschlägt, ist gerade für diese
Fälle nicht sehr zweckmässig. Die Voraussetzung ftir derartige Operationen ist
doch die Möglichkeit, die erkrankten Theile sich gut zugänglich zn machen. Dies
mag mit dem Uterus, wenn auch mühsam, bei der Hämatokele gelingen, ist da-
gegen mit der Tube au allen seitlichen Theilen mit Sicherheit nicht möglich.
Hier kommt es aber gerade auf die Sicherheit und Schnelligkeit der Operation
besonders an, und wenn anders man überhaupt sich zum Kingriff entschliesst, so
soll man wenigstens den Weg wählen, der eine gute Cebersicht der erkrankten
Gewebe ermöglicht.
Aus dem Gesagten geht aber hervor, dass wir die Laparotomie jedenfalls
nur in ausnahmsweisen Fällen für angezeigt halten können.
Die Therapie der uncomplicirten Hämatokele sei expectativ.
Tritt Fieber hinzu und erreicht dasselbe einen bedrohlichen Grad, so
eröffne man mit dem Messer die Hämatokele von der Scheide. Liegt
in der Anämie oder in den steten Nachschüben die Bedrohung des
Lebens, so ist die Laparotomie geboten.
Als Hämaton bezeichnet man im Gegensatz zur Hämatokele
den Bluterguss in das Ligamentum, latum.
Der frühere Streit, ob man alle Hämatokelen als primär subperitoneal
aufzufassen habe, kann jetzt als erledigt betrachtet werden. Wir wissen, dass
in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle die Blutergüsse intraperitoneal sitzen,
dass aber ausnahmsweise ein Bluterguss auch einmal in das Bindegewebe des
Ligamentum latum erfolgen kann. Der erste durch die Seetion nachgewiesene
Fall dieser Art stammt von KUBX. Das Peritoneum wird hierbei von seiner
Unterlage in weiter Ausdehnung abgehoben. Das Extravasat verhält sich völlig
analog einem parametritischen Exsudat. Auch von der hinteren Fläche des Uterus
kann das Peritoneum abgehoben werden ; von der einen Seite kann der Bluterguss
auf die andere übergehen, er kann sich in den paravaginalen Kaum hineinsenken,
auch auf die Fo&sa iliaca hinaufreichen. Die Wandungen derartiger Höhlen sind
natürlich viel dünner, als die der Hämatokele, weil sie nur aus dem unveränderten
Peritoneum selbst zu bestehen brauchen. Die Erklärung der extraperitonealen
Blutergüsse geht gleichfalls in vielen Fällen auf die Tubenschwangerschaft zurück.
Bekanntlich liegt ja die untere Fläche der Tnbe so unter dem Peritoneum, dass
sie bindegewebig begrenzt wird. Erfolgt daher die Verletzung der Wand der
schwangeren Tube an dieser Stelle, so ist es ohneweiters klar, dass der Erguss
in das Bindegewebe erfolgt. Der Process, durch den die Tubenschwangerschaft
das Bindegewebe erreicht, braucht nicht jedesmal die Ruptur zu sein, es kann
ebenso gut bei dem Wachsthum die Wand auseinanderweichen, also eine Usur
zn Stande kommen ; während am Peritoneum dann oft eine Sicherung dadurch
erfolgt, dass mit der Schwangerschaftshypertrophie auch das Peritoneum wächst,
weicht das Bindegewebe sehr viel leichter auseinander, ja wir kennen direct in
der intraligamentären Entwicklung der Tubenschwangerschaft eine Wachsthums-
richtung, welche direct als zur Hämatombildung disponirend angesehen werden
muss. Wie weit ausser der Tubenschwangerschaft anderweite Processe als ätio-
logisch wichtig für das Hämatom aufgefasst werden müssen, lasse ich dahin-
gestellt. Es ist ja sehr leicht, hier theoretisch eine Hyperämie zur Zeit der Men-
struation, Varicositäten in den breiten Mutterbändern, Hämatome der Ovarien als
disponirend zu bezeichnen, auch ist es gewiss stets möglich, in der Anamnese
ein Trauma zu erfahren, sei es, dass eine übermässige Anstrengung der Bauch-
presse Ihm schwerer Defäcation oder sexuelle Excesse diese darstellen sollen. Der
anatomische Nachweis des Schwangcrschaftsproduetes in einem Bluterguss ist
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HAEMATOKELE.
keineswegs immer leicht; besonders wenn derselbe längere Zeit bestanden bat,
wird in dem Coagulnra eine Chorionzotte sieb schwer nachweisen lassen, ln
dieser Beziehung ist es immer bedeutungsvoll, dass auch das Hämatom der Tube
nicht ohneweiters anatomisch sich als Schwangerschaftsproduct ergiebt. Die
Coagulationsbildungen und Fibrinniederschläge können gewiss die Form der
Chorionzotten vortiiuschen und zu falschen Schlüssen Veranlassung werden. Viel
wichtiger aber ist es, dass die Chorionzotten selbst sehr weit auseinandergedrängt
werden, und dass ihr Auffinden in einem grossen Bluterguss wirklich auf Schwierig-
keit stossen kann. Die Oeffnung in der Tube endlich kann sich nach gewisser
Zeit vollkommen schlicssen, und auch dieser Nachweis fällt dann fort. Aul alle
Weise ist der exacte Nachweis der Tnbenschwangerschaft bei Hämatomen noch
schwieriger als bei Hämatokelen, und wenn schon für die letzteren der Nachweis
so viel Mühe machte, so wird man es verstehen, dass auch bei Hämatomen der
gegründete Verdacht besteht, dass sie auf Schwangerschaft beruhen, wenn auch
der genaue Nachweis sich nicht in allen Fällen erbringen lässt.
Hämatome sind bis jetzt selten der Gegenstand exacter anatomischer
Untersuchungen geworden, sie sind meist ein zufälliger und unerwarteter Befund
gewesen in Fällen, in denen man aus anderen Gründen eine Laparotomie vor-
nahm. Sie haben bisher principiell nur Wenigen die Veranlassung zur Lapa-
rotomie gegeben. A. Martin hat in einzelnen Fällen die Laparotomie vorge-
nommen, doch gerade in diesen Fällen vermissen wir eine genauere anatomische
Untersuchung. Wir bleiben daher bei allen Fällen von Hämatokele wie Hämatom
geneigt, in der Extrauterinschwangerschaft ein sehr wichtiges, wenn nicht das
einzige ätiologische Moment zu erblicken. In beiden Fällen kann man nicht leugnen,
dass auch eine andere Entstehung möglich ist. Hier wie da aber betonen wir,
dass der Nachweis anderer Ursachen einwandsfrei nicht erbracht ist.
Der Verlauf des Blutergusses in das Ligamentum latum ist im Wesent-
lichen derselbe, wie der der Hämatokele. Die Resorption geht ebenfalls vor
sieb und kann ausnahmsweise ebenso durch zufällig hinzutretende Keime ge-
stört werden.
Für die Diagnose müssen wir betonen, dass die Erkenntniss, dass es
sich um einen Bluterguss handelt, relativ leicht gelingt. Sicher aber den Nach-
weis zu erbringen , dass der Tumor extraperitoneal gelagert ist, wird nur in
einzelnen Fällen möglich sein. Aus dem seitlichen Sitze des Tumors darf man
nicht schlicssen wollen, dass es ein Hämatom ist. Auch Hämatokelen können in
Folge vorheriger Abkapselung der Bauchhöhle anders als in der Mittellinie ihren
Sitz haben. Für ganz klare Verhältnisse ist ein Zeichen des Untersuchungsbefundes
vielleicht von Werth, welches sich uns überhaupt bei der Frage, ob ein Erguss
oder Exsudat intraligamentär oder iutraperitoueal sitzt, bedeutungsvoll erwies.
Die untere Fläche jedes intraperitonealen Ergusses muss wenigstens im Beginn
eine glatte Vorwölbung zeigen, die obere Fläche unklare Grenzen darbieten in
Folge von Darmadhäsionen; im Gegensatz dazu hat das Hämatom, wie übrigens
auch das parametritische Exsudat, wenn cs ohne Adhäsionsbildung besteht, die
glatte, deutlich palpirbare peritoneale Oberfläche nach oben ; nach unten zu ist
aber der Uebergang in das Bindegewebe dift'us, undeutlich, mit Ausläufern in das
Gewebe etc. Es trifft dies natürlich nur für einfache Fälle zu, ist aber in solchen
ein werthvoller Hinweis für die Diagnose.
Auch beim Hämatom ist die Prognose gut. Der regelmässige Ausgang
ist die Resorption. Eine nachträgliche Ruptur in F’olge erneuter Blutung ist
selten, eine Vereiterung oder Verjauchung, welche sich natürlich in fieberhaften
Bewegungen kundgiebt, ist entschieden seltener als bei der Hämatokele.
Dem entsprechend soll man auch beim Hämatom nur weitere Schäd-
lichkeiten von der Patientin fernhalten, die Symptome zu lindern versuchen und
im Wesentlichen abwarten. Ein Grund zum Einschreiten findet sich in erster
Linie wieder in der Vereiterung, liier wird die lucision vou der Vagina in den
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HAEMATOKELE.
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meisten Fällen das richtige Verfahren darstellen, weil die Blutung sich nach der
Scheide zu senkt und je nach dem Sitz von der vorderen oder hinteren Fläche
erreichbar wird. Nur ausnahmsweise sitzt der Erguss -sehr hoch. Linun wird
mau oberhalb des Ligamentum Pouparti subperitoncal (Pozzi beschreibt diese
Operation als Laparotomie sousptritoniale , ich als typische Parametritisoperation)
zum Erguss Vordringen und ihn eventuell nach der Scheide drainiren. Findet
sich ohne Fieber in der prallen Füllung, in dem starken Wachsthum, in den
wiederholten Nachschüben oder in der Blutung in die freie Bauchhöhle ein
Grund zum Einschreiten, so ist auch die Laparotomie der Incision von der
Scheide aus bei weitem vorzuziehen. Die Klarheit der Uebcrsicht vereinigt sich mit
der schnellen Möglichkeit der radiealen Heilung und dem kurzen Heilungsprocess.
Immerhin aber ist auch beim Hämatom der operative Eingriff nur die Ausnahme.
Als Thrombus vulvae et vaginae bezeichnet man den Bluterguss,
der in das Bindegewebe, welches die Scheide umgiebt, oder in die grosse Labie
erfolgt. Die Entstehung dieses Blutergusses geht in der überwiegenden Mehrzahl
der Fälle auf die Geburt zurück. Varicen, welche sich in der Vulva gebildet
haben, die reichlichen Venengeflechte in der Umgebung der Scheide, zerreissen
unter der Schleimhaut in Folge des vermehrten Druckes durch die Anwendung
der Bauchpresse. Nur ausnahmsweise wird ein operativer Eingriff die Ver-
anlassung hierfür darstellen. Die Quetschung, welche etwa die Zange ansübt, und
welche wohl zu submucösen Venenzerreissungen Veranlassung werden kann, wird
im Allgemeinen wohl auch die Oberfläche der Schleimhaut zerstören, so dass das
Blut nach aussen abfliesst. Immerhin aber kommt es vor, dass die äussere Ver-
letzung mit der inneren nicht Uhereinstimmt, so dass mit einer Verletzung auch
einmal ein Thrombus sich vergesellschaften kann. Uebrigens sind dies gerade
Fälle, in denen es nachträglich noch zur Vereiterung kommen kann, weil langsam
von der äusseren Wunde aus die Keime zum Thrombus gelangen.
Die Entstehung erfolgt übrigens hier meist direct, so dass schon
während der Geburt der Erguss sich ausbildet; seltener ist der Verlauf der,
dass die vielleicht kleine Vcnenverletzung erst nachträglich zur Ausbildung des
Ergusses führt.
Ausserhalb der Geburt ist ein Thrombus der Vagina und der Vulva nur
sehr selten. Die Ursache bestellt wohl jedesmal in einem directen Trauma, sei
es, dass dasselbe mit sexuellen Excessen, besonders in Folge von solchen bei
sexuellen Psychosen der Männer, in Verbindung steht, sei es, dass eine grobe
Gewalt ausnahmsweise einmal die Vulva trifft. Manche Angabe über ein Trauma
erweist sich bei näherer Nachforschung hier wie überall als erfunden. Sexuelle
Excesse werden selbst von einer Puella publica ungern zugegeben, doch ist es
schon möglich, dass unter besonderen Verhältnissen einmal ein directes Trauma
die Vagina trifft.
Anderweite Ursachen für die nicht puerperalen Thromhen liegen in
vorher bestehenden anatomischen Veränderungen. Am wichtigsten in dieser Be-
ziehung sind Tumoren des Ovarium, die einmal tief in das Beckenbindegewebe
hinein entwickelt sind, Kysten der Scheide oder auch malignere Formen der
Tumoren.
Diagnostisch bieten alle diese Formen der Blutergüsse wenig Schwierig-
keiten dar. Ein Bluterguss neben die Scheide kann allerdings in einem präfor-
mirten Raum existireu, wenn es sich nämlich um die einseitige Hämclythrometra
handelt, hier muss aber die combinirte Untersuchung ohne Schwierigkeit den
Unterschied machen. Ein Bluterguss in das Bindegewebe zeigt immer diffuse
Grenzen; der durch Retention von Menstrualblut entstandene Tumor ist überall
glattwandig und scharf begrenzt. Beim Thrombus vulvae kommt zur Diagnose
als Unterstützungsmittel noch die livide Farbe der Haut hinzu.
Therapeutisch ist alleiu Ruhe geboten. Nur für die seltenen Fälle,
in denen es zur Vereiterung kommt, darf man an die Incision denken.
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HAEMATOKELE. — HARN.
Literatur: *) Voisin, Die Haematokelc retrouterina und die freien Blutextra-
vasate in die Beckenhöhle. Thöse. Paris 1858. Uebersetzt von Langenbeck. Göttingen 1862. —
*) Schröder. Kritische Untersuchungen über die Diagnose der Haematokelc retrouterina.
Bonn 1866. — *) Schröder, Ueber die Bildung der Haematokelc retrouterina. Arch. f. Gyn.
V. — 4) Klob, Pathologische Anatomie der weiblichen Geschlechtsorgane. Wien 1864. —
*) Virchow, Die krankhaften Geschwülste. Berlin 1868, I. — B) Scanzoni, Lehrbuch der
Krankheiten der weiblichen Sexualorgane. Wien 1875, 5. Aufl. — 7) Schröder, Krankheiten
der weiblichen Geschlechtsorgane. 1884. 6. Aufl. — *) Ban dl, itandbuch der Frauenkrank-
heiten. Stuttgart 1885, II, 2. Aufl. — ®) Olshausen, Ueber Hämatokele und Hämatoinetra
Arch. f. Gyn. V. — I0) Fritsch, Die retronterine Hämatokele. Volkmann’s Hefte 56. —
“) Bernutz, Hämatokele etc. Arch. de Tocol. März, April, Mai 1880. — **) J. Veit, Die
Eileiterschwangerschaft. Stuttgart 1884- — '*) Kuhn, Ueber Blutergüsse in die breiten
Mutterbänder. Zürich 1874. — u) Schlesinger, BlutgeschwülRte des Beckens. Wiener med.
Blätter. 1884, Nr. 27, 28, 29, 31, 32, 33, 38, 43, 44, 46. — “) A. Martin. Das extra-
peritoneale periuterine Hämatom. Zeitschr. f. Geb. u. Gyn. 1884, VIII. — **) Zweifel, Die
Behandlung der Blutung hinter der Gebärmutter. Arch. f. Gyn. 1883, XXII, 2; 1884, XXIII,
3. — n) Düvelius, Beitrag zur Lehre von der operativen Behandlung der Haematokelc
extrap. periut. Archiv. 1884, XXIII, I. — ,B) Regnier, Centralbl. f. Gyn. 1893, pag. 849.
— **) Sänger, Verhandl. d. deutschen Gesellsch. f. Gyn. V, pag. 281. — *#) Rosen-
wasser, Amer. Journ. of Obstetr. XXVIII, pag. 412. — **) J. Veit, Samml. klin. Vortr.
Leipzig, N. F. Nr. 15. — *s) Riedinger, Hämatokele. Brünn 1888. — **) Himmelfarb.
Centralbl. f. Gyn. 1888, Nr. 9. — J4) Besselhagen, Arch. f. klin. Chir. XXXVIII. pag. 277.
— ,6) v. Strauch, Petersburger med. Wochenschr. 1889, Nr. 52. — S. übrigens die Jahres-
berichte über die Fortschritte auf dem Gebiete der Geburtshilfe und Gynäkologie von Frommei.
J. Veit.
Harn. Zur Lehre von der Harnab Sonderung:, ferner Ober den Zu-
sammenhang zwischen der quantitativen Zusammensetzung des Blutes und des
Harnes, sowie Uber die quantitativen Verhältnisse der ausser dem Kochsalz im
Harn gelüst enthaltenen festen Substanzen wurden Untersuchungen von Ai.kx.
v. Koränyi *) und seinen Schülern A. Fisch*), Fr. Taoszk *) und J. Kovacs *)
ausgeführt, welche nach der Methode an die Untersuchungen von Dreser '-) Ubt*r
die osmotischen Verhältnisse der thierischen Säfte anknüpfen. Die Grundlage
dieser Arbeiten bildet die von van’t Hoff nachgewiesene Thatsaehe, dass gleich
wie die Verhältnisse der Spannung der Gase im Gesetz von Boylk-Mariottk
ihren Ausdruck finden , in Bezug auf Flüssigkeiten der osmotische Druck den
gleichen Sinn hat. Dreser ging nun beim Studium der osmotischen Verhältnisse
im thierischen Organismus anstatt vom osmotischen Druck von der hiermit pro-
portionalen Gefrierpunktseruiedrigung derselben aus. Er fand, dass der Gefrier-
punkt des Harnes niedriger liegt als der des Blutes , er bestimmte aus dem
Unterschiede beider den der Harnabsonderung entsprechenden Druck. Hierbei
gelangte er zu dem Resultate , dass der Druck des Harnes viel grösser ist als
jener des Blutes , dass also bei der Iiarnseeretion die Niere eine Arbeit leistet,
die nach seinen Versuchen bei einem gesunden Menschen innerhalb 24 Stunden
bis zu 241 Meterkilogramm ausmachen kann. v. Koranyi verwerthete die Gefrier-
pnnkthestiinmung des Harnes, weil sie eben einen tiefen Einblick in die Wir-
kungsweise des Harnabsonderunggapparates gestattet. Bezüglich der Details und
der an grundlegenden Thatsachen reichen Ergebnisse dieser die physiologischen
und pathologischen Verhältnisse des Menschen umfassenden Versuche müssen wir
auf die eingangs angeführten Veröffentlichungen binweisen.
Schon Thomson (du Bois-Reymond’s Arch. f. Physiol., 1894, pag. 117)
zeigte, dass das Atropin ebenso wie die Secretion der Drüsen überhaupt auch
die secretorische Thätigkeit der Nieren herabzusetzen im Stande ist. Ludwig
Walti #) hat nun diese letztere Thatsaehe einer erneuerten Prüfung unterzogen.
Es ergab sich, dass das Atropin (unabhängig vom Blutdruck) die Absonderung
der Niere lierabsetzt ; auch dann, wenn die Diurese durch Einspritzung von Harn-
stoff in einer den normalen Verhältnissen entsprechenden Weise angeregt wurde,
trat diese Wirkung hervor , ebenso wenn die Diurese durch Theobromin oder
Uoffeiusulfosäure hervorgerufen wurde. Wenn das Diiireticum jedoch dem Thiere
wälirend des ganzen Versuches continuirlich durch Eindiesseniassen in die Vene
beigebraeht wurde, zeigte sieh die Atropinwirkung nicht so deutlieh und kam
sie
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HABN.
239
erst zum Vorschein, wenn das Einfliesscn ansgesetzt wurde. Bei der Controlirung
der Harnstüffwirkung zeigte es sich , dass bei Anwendung verdünnter Losung
zwar die Diurese mit dem Blutdruck Hand in Hand geht, bei concentrirten
Lösungen jedoch war das Maximum der Diurese gleich nach der Injection von
beträchtlichem Sinken des Blutdrucks begleitet. Bei diesen Versuchen zeigte es
sich nun, dass auch bei starker Harnstoffdiurese — ähnlich wie cs JaCoby fllr
die Coffeinsulfosäure nachgewiesen hat — Zucker in den Harn Übertritt. Diese
Zuckerausschcidung ist direct abhängig von der Stärke der Diurese : wenn jedoch
ein Thier bei einer ersten Injection Zucker schon ausgeschieden hatte, brachten
auch weitere Injectionen trotz gesteigerter Harnausscheidung doch keine ent-
sprechende Vermehrung des Zuckers mit sich. Auch bei länger dauernder Diurese
verschwand der Zucker allmälig aus dem Harn. Atropin verminderte wie die
Harnsecretion so auch die Zuckerausscheidung. Walti nimmt mit Jacoby einen
echten Nierendiabetes an. Die Lebern der Versuchsthiere erwiesen sich auch hier
nach dem Versuche als zucker- und glykogenfrei.
Auf Veranlassung von Kosskl hat Schmied *) die von Cazbneuve und
Hegounf.nq, ferner die von Mörner und SJÖQVisr und von Gumlich angegebenen
Methoden der Harnstoffbestimmung mit einander verglichen; hierbei gelangte
er zu folgendem vereinfachten Verfahren: 10 Ccm. Ham werden nach Zusatz von
Baryumcarbonat in eine Natronglasröhre eingeschmolzen, langsam im Schiessofen
auf ISO“ erhitzt und dann eine volle Stunde auf dieser Temperatur erhalten. Nach
dem Ahkühlen und Oeffnen der Röhre wird der Inhalt in einen Destillirkolben ge-
spült, das Rohr mit Salzsäure und Wasser nachgewaschen, sodann die Flüssigkeit
mit Baryt alkalisch gemacht , das übergehende Ammoniak in '/jo Normalsäure
aufgefangen und darin durch Titration bestimmt. Daneben wird eine Ammoniak-
bestimmung in dem ursprünglichen Harn nach SCHLüsing vorgenommen uud die
auf 10 Ccm. entfallende Menge von dem durch Destillation erhaltenen Ammoniak
in Abzug gebracht. Durch vergleichende Prüfung dieses Verfahrens und der drei
oben angeführten an künstlichen Mischungen von Harnstoff, Ammoniumchlorid
und Extractivstoffen, an normalem Harn, sowie an Lösungen von gewissen nor-
malen und pathologischen Harnbestandtheilen ergab sich völlige Uebereinstiinmung
in den Resultaten des GUMMCH’schen und des SCHMlED'sehen Verfahrens.
Mörner-Sjöiivist’s Methode lieferte etwas höhere, jene von Cazknecve und
Hugodnenq etwas niedrigere Werthe. Anwesenheit von Pepton beeinflusst Schmied ’s
und Gumlich’s Verfahren nicht.
Rumpf8) machte die Beobachtung, dass während des Stadium algidum
der Cholera die Ammoniakausscheidung im Harn relativ und absolut
beträchtlich gesteigert ist. Dies Ergebniss war für ihn die Veranlassung, die
Infectionskrankheiten überhaupt auf die Ausscheidung von Stickstoff und Am-
moniak zu untersuchen. Dabei zeigte es sich nothwendig, eine grössere Reihe von
Tagen zur Untersuchung heranzuziehen, da einmalige Bestimmungen völlig nor-
male Werthe ergeben können. Im Ganzen fand sich im fieberhaften Stadium eine
durchschnittliche tägliche N-Ausscheidung in NH, von 1,85 Grm., während als
Durchschnittswert!! von Normalen und Reconvalescenten 0,6646 gefunden wurden.
Es ergiebt sich daraus eine Steigerung der Ammoniakausscheidung um 88%,
während eine auf die gleiche Weise angestellte Untersuchung nnd Berechnung
der Ausscheidung des gesammten Stickstoffs nur eine Steigerung von 13,625 auf
18,416 Grm. = 35% ergab. Es findet also nicht allein eine absolute, sondern
auch eine relative Vermehrung des NH3 statt, welche zu einer Erhöhung des
Quotienten führt , in 'welchem die Ausscheidnng des Ammoniakstickstoffs zum
Gesammtstickstoff steht.
Rumpf untersuchte weiterhin, ob die Vermehrung der Ammoniakaus-
scheiduug bei Infectionskrankheiten auf einer Bildung von Ammoniak durch die
Infectionserreger beruht, aber von den zahlreichen in dieser Hinsicht untersuchten
Mikroorganismen wurde nur von Staphylokokken, Streptokokken und von den
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240
HARN.
Cholerabacillen Ammoniak gebildet. Eine Vermehrung der NHS-Ausscheidung im
Harn bei Fieber bat schon IIallervorden nachgewiesen , er hat dieselbe als
eine Folge der Säureproduction im Organismus aufgefasst. Dieser letzteren Auf-
fassung stimmt jedoch Kumpf nur bezüglich der NH3-Vermehrung im Harn bei
Diabetes mellitus zu, für die Infectionskrankheiten hält er gegenüber Minkowski,
welcher eine vermehrte NH3- Ausscheidung nur als Folge der Säureüberproduction
des Organismus auffasst, den sicheren Beweis hierfür noch nicht erbracht.
Die Abhängigkeit der Harnsäureausscheidung vom Eiweissstoffwechsel
im Allgemeinen wurde durch die Untersuchungen nicht bestätigt. Nach neueren
Forschungen wird als Hauptquelle der Harnsäure das Nuclein angesehen;
hiervon ausgehend futterte W. WeintraI'D*) verschiedene Personen mit Thymus,
einem bekanntlich sehr nucleinreichen Organe. Hierbei gelang es ihm thatsächlich,
die Harnsäureausscheidung bis 2,5 Grm. pro Tag zu steigern, er lässt es unent-
schieden , ob dieses Plus direct auf Bildung aus Xuclein zu beziehen ist oder
auf einen durch Xuclein bedingten vermehrten Leukoeytenzerfall.
Als Reagens auf Harnsäure empfiehlt Th. R. Offer ,0) Phosphor-
molybdftnsäure in alkalischer Lösung. Versetzt man eine auf Harnsäure zu
prüfende Flüssigkeit mit einigen Tropfen einer Lösung von Phosphormolybdän-
säure und einigen Tropfen Kalilauge, so entsteht ein dunkelblauer Niederschlag
von molybdänsaurem Molybdänoxyd. Wird die Reaction unter dem Mikroskope
gemacht, so treten dunkelblaue scchstheilige Prismen auf. Die Reaction tritt
noch bei 1 Ccm. Harnsäurelösung mit einem Gehalt von */, Mgrm. Harnsäure
auf. Sie ist indessen nur zu verwerthen , wenn die Anwesenheit von Eiweiss,
Alkaloiden und Gerbsäure ausgeschlossen ist.
Das gegen uratisehe Diathese therapeutisch empfohlene Piperazin
empfiehlt E. Salkowski **) für viele Fälle als bequemer zur Lösung von
Harnsäurekrystallen, insbesondere auch unter dem Mikroskope als die Natron-
lauge. Ausser der Harnsäure erwiesen sich als löslich in Piperazinlösungcn :
Xanthin und Hypoxanthin, Allantoin, Leucin und Tyrosin, auch Hippur-, Benzoe-,
Asparagin-, Kynuren-, Gallen- und Fettsäure. Auffallenderweise erwies sich Gnanin
als unlöslich , wodurch es sich deutlich von der Harnsäure unterscheidet ; auch
Coffein und Theobromin wurden durch Piperazin nicht gelöst.
Die neuen Arbeiten über die semiotischc Bedeutung der Harnsäureaus-
scheidung als solcher und iu ihrem Verhältnisse zur Ausscheidung der Alloxur-
basen lassen den Wunsch nach expeditiven Methoden zur Bestimmung der ge-
nannten Ausscheidungsproducte gerechtfertigt erscheinen , demgemäss begegnen
wir auch häufigen Versuchen, um die bezüglichen Wägungsmethoden iu titri-
metrische umzuwandeln. G. v. Ritter *’j fällt die Harnsäure als Ammoniumurat,
was vorteilhaft durch Zusatz von 30 Grm. Chlorammonium zu je 100 Ccm. Ham
geschieht. Die durch Zerlegung des Niederschlages mit Salzsäure ausgefälltc Harn-
säure kann nun anstatt gewogeu durch Titration mit einer Lösung von übermangan-
saurem Kali von bekanntem Wirkungswerthe bestimmt werden. Es entsprechen
3,61 Mgrm. reiner Harnsäure je einem Centimeter einer normalen Chamäleon-
lösung. Bezüglich der Einzelheiten des Verfahrens verweisen wir auf das Original.
Nach E. Riegi.ER1*) kann das aus dem Harn ausgefällte Ammonium-
urat auch mit überschüssiger FEHLtNG’scher Lösung behandelt, das ausgeschiedene
Kupferoxydul gesammelt und nach einer von ihm angegebenen titrimetrischen
Methode bestimmt werden. Rieglek fand für 1 Grm, Harnsäure in directen Ver-
suchen im Mittel 0,8 Grm. Kupfer; bei der Annahme, dass 1 Molectll Harnsäure
2 Molecülc schwefelsaures Kupfer rcducirt, würde 1 Grm. Harnsäure 0,7556 Grm.
Kupfer entsprechen.
Bekanntlich hält Horbaczkwski die Harnsäure für ein Product des
Leukocytenzerfalls im Organismus. Dieser Annahme entsprechend soll die Menge
der ausgeschiedenen Harnsäure in erster Linie der Vermehrung oder Verminde-
rung der Leukocyten parallel gehen. Die zahlreichen Versuche , welche
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)k
HARN,
24 1
P. F. Richter14) zur Prüfung dieser Ansicht hei Infeetionskrankheiten und
Krankheiten des Blutes anstellte, ergaben diesbezüglich ein zweifelhaftes Resultat,
und gleicher Weise auch die künstliche Verminderung der Leukocyten durch
Darreichung von Chinin und Spermin. Nur die durch Darreichung vou Nuclcin
erzeugte Hyperleukocytose führte zu einem Resultat im Sinne von Horbaczkwski,
indem sich hierbei eine starke Harnsäurevermehrung einstellte. Richter kommt
zu dem Resultate, dass zwar Beziehungen zwischen HarnsäureansscheiduDg und
Leukocytose wahrscheinlich bestehen, dass aber der Zusammenhang nur ein be-
schränkter ist.
In gleicher Richtung bewegen sich auch die experimentellen und klini-
schen Untersuchungen von Kühnaü **) in drei Versuchsreihen. Er erzeugte erstens
durch subcutane Injection von Bakterienextracten und BakterienproteineD, von
Terpentinöl und Milzextract künstliche Leukocytosen , zweitens prüfte er den
Einfluss directer subcutaner und subperitonealer Einverleibung von Leukocyten.
unter Umgehung von Leukocytose, anf die Harnsäureausscheidung, endlich drittens
den Einfluss der Injection von Nudeln in der gleichen Richtung. Nach Kühnau
erfolgt eine Steigerung der Harnsäure: 1. bei einigen Krankheiten mit Leuko-
cytose; 2. sie kann nicht allein durch das Fieber bedingt sein, da sic sich auch
bei Krankheiten , die fieberlos verlaufen , findet ; 3. entspricht sie dem raschen
Absinken einer Leukocytose; 4. erfolgt bei experimentell erzeugter Leukocytose
und erreicht ihren Gipfel erst beim Verschwinden der Leukocytose ; 5. wird
erzielt auch ohne das Zwischenglied der Leukocytose, durch Einverleibung von
leukocytenhaltigem Material (Eiter, Thymus); 6. entsteht durch Injection von Nudeln,
ohne ausschliesslich durch die gleichzeitig auftretende Leukocytose bedingt zu
sein; 7. die Leukocyten sind, wenn auch nicht ausschliessliche, so doch eine
hauptsächliche Quelle des Bildungsmaterials für die Harnsäure.
Wie schon in unserem vorjährigen Bericht kurz erwähnt, haben A. Kossei,
und M. Krüger sowohl für die Harnsäure als auch für jene Xanthinbasen, welche
nach ihrer Constitution einen Alloxan- und llarnstoffkern haben , wie es das
folgende Schema zeigt
N-
<
-C
l
c
N-i
Alloxan
— N
— N
Harnatoffkern
den gemeinschaftlichen Namen rAlloxnrbaseD:t vorgeschlagen. Als regelmässige
Restandtheile des Harnes sind bis jetzt folgende Alloxurbasen bekannt : Harn-
säure, Xanthin, Guanin, Hypoxanthin, Carnin, Paraxanthin und Heteroxanthin.
Bekanntlich stammen nach IIorbaczewski sowohl die Harnsäure als auch die
Xanthinbasen aus einer in den Leukocyten vorkommenden nudeln haltigen Atom-
gruppe, welche einmal bei genügender Oxydation Harnsäure liefert, andererseits
bei der Abhaltung der Oxydation, durch einfache Spaltung nur zur Bildung vou
Xanthinbasen führt. Die Beziehung von Harnsäure und Xanthinbasen ist in Bezug
auf ihre Entstehung nach Horbaczkwski experimentell dadurch gegeben, dass
die ans der gleichen Menge Milzpulpalösung gebildete Harnsäure derselben
Qnantität Stickstoff entspricht als die bei Abhaltung der Oxydation durch ein-
fache Spaltung aus der gleichen Menge Milzpulpa gebildeten Xanthinbascu. Stellt
man nnn der Harnsäure als sauren Alloxurkörper die oben genannten Basen als
Alloxurbasen gegenüber, dann ergiebt sich für den Kliniker die Frage: unter
welchen pathologischen Verhältnissen des Organismus sind die Alloxurbasen auf
Kosten der Harnsäure vermehrt? giebt es Zustände, bei welchen die Ausschei-
dung der Alloxurbasen durch die Niere gehindert ist und die der Harnsäure
nicht? In welchem Lichte erscheint die Lehre von der sogenannten Harnsäure-
retention vom Standpunkte der obigen Frage? Die Lösung dieser Fragen der
Encvclop. Jahrbücher. VI.
242
HARN.
klinischen Medicin (s. lieber Wesen und Behandlung der uratischeu Diathese
von Dr. Rudolf Kolisch aus der II. med. Klinik [Prof. Neuss er] in Wien.
Stuttgart. Verlag von Ferd. Enke, 1895) konnte jedoch nur dann in Angriff
genommen werden, wenn eine Methode zur getrennten Bestimmung der Harn-
säure und der Alloxurbasen im Harne gegeben war. Eine solche Methode boten
Krüger und Wulff >•) dar. Sie beruht auf der Eigenschaft der im Harn vor-
kommenden Alloxurkörper, mit Kupfersulfat nach vorheriger Reduction unlös-
liche Verbindungen zu bilden. Bestimmt mau nun in einer Portion des Harns
die Menge des den Alloxurkörpern entsprechenden Stickstoffs, in einer anderen
Portion des Harns die der Harnsäure allein entsprechende N-Menge, so giebt die
Differenz die in den Alloxurbasen enthaltene N-Menge, beziehungsweise die der
Alloxurbasen selbst verglichen mit der der Harnsäure.
Die Ausführung der Methode im Harn ist in ihren GrundzUgeu folgende:
100 Ccm. des eiweissfreien Harns werden zum Sieden erhitzt und hierauf
mit 10 Cm. einer concentrirten Lösung von Natriumbisulfit und 10 Ccm. einer
13° „igen Lösung von Kupfersulfat versetzt. Nach dem Zusatz der beiden
Reagentien wird die Flüssigkeit noch einige Minuten im Sieden erhalten. Nach
dem Abkuhlen (nicht vor 2 Stunden) wird von dem entstandenen Niederschlag
abfiltrirt, und zwar am besten über ein Faltenfilter aus schwedischem Filtrir-
papier. Der Niederschlag wird fünfmal mit frisch ausgekochtem destillirten Wasser
von 50 — 60° gewaschen und dann feucht in einem Kjeldahlkolben zur Stick-
stoff bestimraung weiter verarbeitet. Der Stickstoffgehalt des Niederschlages ent-
spricht der Summe der Alloxurkörper. Der Basenstickstoff wird durch die Diffe-
renz aus der Summe weniger Harnsäurestickstoff berechnet. Die Harnsäure wird
nach der üblichen Methode von SalkOwsKI-Ludwig bestimmt (s. auch Encyclop.
Jahrb., V, pag. 254).
Es lag nahe, die eben geschilderte Methode von Krüger und Wulff
auch zur Bestimmung der Harnsäure allein in der Weise zu benützen , dass iu
einer 2. Probe des zu untersuchenden Harns vor der Fällung der Alloxurkörper
die Harnsäure durch Oxydation entfernt wird ; eine auf diesem Princip beruhende
Methode bat M. Krüger17) ausgearbeitet und cs sei bezüglich deren Ausführung
auf das Original verwiesen.
R. Kolisch und H. Do.stal13) betrachten die Ausscheidungsverhältnisse
der Alloxurkörper im Harn unter folgenden zwei klinischen Gruppen: 1. Ver-
mehrung der Menge der Alloxurkörper in toto. 2. Normale Menge der Alloxur-
körper, aber die Menge der Buseu auf Kosten der Harnsäure vermehrt. Der
erste Fall findet sich bei der Leukämie als Folge des Zerfalles der vermehrten
Leukocyten, ferner bei der uratischen Diathese; hier noch nicht aufgeklärt.
Den zweiten Fall constatirten Kolisch und Dostal bei schwerer Auämie mit
acutem Blutzerfall (s. auch „Ueber die durch acuten Blutzerfall bedingten Ver-
änderungen des Harns“ von Kolisch und Stejskal, Zeitschr. f. klin. Med. XXVII),
sowie bei allen Nephritiden. Bei dem raschen Blutzerfall wird die verminderte
Harnsäuremenge durch ungenügende Oxydation bedingt ; bei der Nephritis wird
dies dadurch erklärt, dass das Nierengewebe eine der llauptbildungsstätten der
Harnsäure darstellt.
Nach Verfütterung von Theobromin (Dimethylxanthin) und Coffein
Trimethylxanthin) an Thieren und auch an Menschen fanden St. Bondzynski
und R. Gottlieb *’) eine Substanz im Harn, die sich durch die Analyse als
Methylxanthin erwies. Es würden also im Organismus von dem Molecüle des Theo-
bromius und Coffeins Metbylgruppen abgespaltct. Die Verfasser vermnthen, dass auch
das von Salomon im Harne aufgefundene Heteroxanthin, welchem die Formel
des Mctbylxanthins zukommt, einen ähnlichen Ursprung habe, das heisst, dass die
Muttersubstanz desselben, welche bisher unter den Xanthinkörperu der Zellkerne
nicht aufgefundeu werden konnte, unter den höher methylirten Xanthinderivaten
der Pfianzrntiahrung zu suchen sei.
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HARN.
243
In einem Falle von lvmphatisch-lienaler und myelogener Leu-
kämie bestimmten 8t. Bondzynski und R. Gottlieb 20) die im Harn ausgeschie-
denen Xanthinbasen und fanden dieselben bis auf das 3- und 4fnche des
normalen Werthes vermehrt , so dass Bie häufig den Werth der Harnsäureaus-
scheidung erreichten. Versuche, bei denen der Kranke 1 — 2,5 Grm. Theobromin
eingefttbrt erhielt und die er entweder als solches oder in Form von Methyl-
xanthin beinahe in gleicher Menge wieder ausschied, deuten diese Forscher dahin,
dass die gesteigerte Ausscheidung der Xanthinkörper nicht etwa auf einer ge-
hinderten Zerstörung derselben im Organismus beruht, sondern dass sie von dem
Kernzerfall der Leukocyten im Körper herrilhrt. Die aus diesem Zerfall hervor-
gehenden Xanthinkörper verhalten sich offenbar in anderer Weise als die vom
Darme aus resorbirten. Gleichzeitig nehmen sie bei der Leukämie eine Herab-
setzung der Oxydation in den Geweben an, wie das auch das Auftreten grosser
Mengen flüchtiger Fettsäuren im Harne beweist.
Das Vorkommen einer neuen stickstoffhaltigen Säure im Harn der
Fleischsäure hat Max Siegfried21) nachgewiesen. Auch C. W\ Rockwood2*)
fand dieselbe im Harn, zugleich beobachtete er, dass sie theilweise als Phosphor-
fleischsäure darin auftritt, damit sind eine neue stickstoffhaltige Säure und
eine neue Art des organisch gebundenen Phosphors im Harn gegeben. M. SIEGFRIED
isolirte die Fleischsäure aus der von ihm aus der wässerigen Fleischextractlösung
dargestellten Eisenverbindung der Phosphorfleischsänre, welche er als Carni-
ferrin (s. d.) beschrieb. Er hält die Fleischsäure identisch mit dem bei der
Trypsinverdauung der Eiweisskörper entstehenden Antipepton von Kühne.
Die Bestimmung des Kreatinins im Harn mit Verwendung der
K.iELDAHL’schen Methode führt R. Kolisch **) in folgender Weise aus. Man
fallt 200 Ccm. Harn mit so viel Kalkmilch und Chlorcalcium, dass das Gesammt-
volum 220 Ccm. beträgt, filtrirt, säuert 200 Ccm. des Filtrats mit Essigsäure an
und lässt zum Syrup eindunsten. Den Rückstand extrahirt man noch heiss 4-
bis 5 mal mit Alkohol, bringt diesen in ein Kölbchen, das die Marken 100 und
110 Ccm. trägt, füllt bis zur 2. Marke auf und filtrirt. Zu 100 Ccm. des Filtrats
setzt man nun eine Lösung von 30 Grm. Sublimat, 1,0 Grm. cssigsaurem Natron
und 3 Tropfen Eisessig in 125 Ccm. absolutem Alkohol so lange zu, als noch
Fällung eintritt. Der sich rasch absetzende Niederschlag wird abfiltrirt und mit
absolutem Alkohol, dem etwas Natriumacetat und Essigsäure zugesetzt sind , so
lange gewaschen, bis das Filtrat beim Neutralisircn keine Trübung (von Harn-
stoffquecksilber) mehr zeigt. Durch Bestimmung des Stickstoffs nach Kjeldahl
wird der Stickstoffgehalt des Niederschlages ermittelt.
Bezüglich des Verhältnisses der pathologischen Acetonausschei-
dung zur Gesammtstickstoffausscheidung gelangt P. Palma24) auf Grund der
Untersuchung von einschlägigen Harnen ( Diabetes mellitus, Typhus, Phosphor-
vergiftung, Careinom etc.) zu dem Schlüsse, dass zw-ar das Aceton in jenen Fällen,
wo gesteigerter Eiweisszerfall vorliegt, vermehrt erscheint , dass jedoch ein
Parallelismus zwischen Eiweisszcrfall und Acetongehalt nicht zu constatiren ist.
Doch scheinen ihm in Anbetracht auf die leichte Zersetzlichkeit des Acetons
diese Resultate nicht gegen die Theorie der Entstehung des Acetons durch
Oxydation von Eiweiss zu sprechen.
Gegen die allgemein herrschende Theorie, nach welcher Acetonurie
durch gesteigerten Eiweisszerfall bedingt ist, nimmt IIikschkeld 28) Stel-
lung. Er fand stets vermehrte Acetonausscheidung bei Ausschluss der Kohlen-
hydrate aus der Nahrung, und zwar steigend bis zum 8. Tage, um sich von da
an im Wesentlichen auf der gleichen Höhe zu erhalten, ferner dass die Aceton-
urie bei reichlicher Eiweisszufuhr geringer wird als bei massiger und dass beim
Hunger annähernd ebenso viel Aceton ausgeschieden wurde als bei Deckung des
Sloffbedarfes durch mässige Mengen von Eiweiss und reichliche Fettzufuhr, so
dass also die Acetonurie nicht aus einem Zerfall von Eiweiss resultiren kann.
244
HA KN.
Eine durch das Wegfallen der Kohlehydrate aus der Nahrung erzeugte Aceton-
ausscheidung kann durch einen Zusatz von 50 — 100 Grm. Kohlehydrate, haupt-
sächlich Stärke, verschiedene Zuckerarten und Glycerin wieder zum Verschwinden
gebracht werden, während Alkohol, angestrengte Muskelthätigkeit und gewisse
Medicamente, wie Karlsbader Salz, Natrium ttalicyl.. Antipyrin, die Acetonarie
nicht beeinflussen. Auch das Bestehen einer besonderen febrilen Acetonurie weist
HirhCHFEI.Ii zurück ; auch die Acetonurie bei Kranken lässt sich durch Dar-
reichung kohlehydrathältiger Nahrung verringern.
Von Interesse ist auch das von Ernst Becker **) constatirte Vorkommen
einer Acetonausscheidung im Harne bei gesunden narkotisirten Personen,
und zwar stunden- oder tagelang nach der Narkose. Diese Acetonurie trat in
etwa zwei Dritteln der Narkosen mit Aethcr, Aethylbromid, Chloroform, Aether-
chloroform auf; schon vorhandene Acetonurie wurde durch die Narkose erheb-
lich vermehrt. Becker ist geneigt, diese Art der Acetonurie in gleicher Weise
wie die bei Diabetes, Carcinose, Inanition , Psychosen vorkommende, als Zeichen
eines vermehrten Eiweisszerfalles anzusehen. — Eine Methode zur Bestimmung
des Acetons im Harndestillat mittelst des Vaporimeters (durch Bestimmung der
Dampftension) hat Euilio Parlato ,!) angegeben.
Bei der Bestimmung des Acetons im Harn durch die Destillation
macht E. Salkowski *») die Beobachtung , dass bei Verwendung von reichlicher
Schwefelsäure grössere Mengen von Jodoform erhältlich sind als bei Verwendung
von Essigsäure. Wahrscheinlich ist als Ursache dieser Erscheinung die Bildung
von Aldehyd aus den Kohlehydraten des Harnes zu betrachten. Es wurden
nämlich bei der Destillation von Traubenzucker und anderer Kohlehydrate mit
Schwefelsäure reichliche Mengen Jodoform liefernder Substanz erhalten, und zwar
auch dann, wenn unter Verhältnissen, respective Verdünnungen gearbeitet wurde,
wie sie im Harn vorliegen ; die Menge dieser Substanz hing, wie auch im Harne,
von der verwendeten Schwefelsäuremenge ab. Die Substanz gab alle Reactionen
des Acetons, auch die REiNOLD-GuxNlNß’sche Probe. Bei Anstellung dieser,
welche Salkowski in der Weise ausführt, dass er die alkoholische Qucck-
silberoxydsuspension tropfenweise der zu prüfenden Flüssigkeit zufttgt, wobei dann
nach Massgabe der vorhandenen Acetonmengen mehr weniger reichliche Lösung
erfolgt, zeigte sich, dass in der klaren Lösung allmälig metallisches Quecksilber
ausgeschieden wurde ; auch Silberlösungen wurden in der für Aldehyde charak-
teristischen Weise rcducirt. Salkowski leitet hierans die Regel ab, bei der De-
stillation des Acetons aus dem Harne nur schwach (mit Essigsäure) anzusäuera
und die Destillation nicht zu weit zu treiben.
Malkrba *») fand im Dimethylparaphenylendiamin oder Paramido-
dimet hv lanil in , NH,C,H4N(CHS)„ ein neues Reageus auf Aceton und auf Harn-
säure. Es wird in 1 — 2%igcr wässeriger Lösung angewendet. Die Acetonreaction
muss mit dem Destillate des Harns gemacht werden. Das Reagens bewirkt zunächst
rosige bis röthliche Färbung, die sich im Laufe einiger Stunden mehr in’s Violette
zieht und in den nächsten Tagen in Blutroth übergeht. Bei Zusatz von Alkali
verschwindet das Roth, durch concentrirte Mineralsäure entsteht violette Färbung.
Merkwürdig ist dabei, dass die gefärbte Flüssigkeit fast genau das Spectrum des
Oxyhämoglobins zeigt. Lässt man die Flüssigkeit einige Tage unter Luftabschluss
stehen, so geht daB Blutroth in röthliches Gelb über, wobei die beiden Absorptions-
streifen fast völlig verschwinden. Schüttelt man dann mit Luft, so kehren Farbe
und Absorptionsstreifen wieder.
Auf Harnsäure reagirt man in der Weise, dass man die zu prüfende
Substanz in conrentrirter Salpetersäure löst und znr Trockne verdampft. Dem
nun entstehenden gelbrothen Fleck setzt man einige Tropfen des Reagens hinzu,
wobei ein spiegelndes Blauviolett entsteht, das beim Erkalten wieder verschwindet
und beim Erwärmen wieder auftritt. Bezüglich der näheren Details verweisen wir
auf das Original.
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HARN.
245
lieber den Zusammenhang der Ausscheidung von Aceton,
Diacetsäure und £i-Oxy buttersä urc mit den Stoffwechselvorgängen bei
Diabetes mellitus ist bis nun wenig bekannt. B. Weintraud so) schildert zunächst
einen Fall von schwerem Diabetes, in welchem nach lOOtägiger Entziehung der
Kohlehydrate und Einschaltung eines Hungertages endlich Zuckerfreiheit des
Harnes erzielt worden war und in welchem sich der Kranke in Folge grosser
Toleranz gegen Fette vollständig im Stoffwechselgleichgewichte erhielt, dabei aber
beständig Aceton, Diacet- und j-Oxy buttersäure ausschied. Die Versuche, durch
Anwendung von Arzneikörpern und durch diätetische Massnahmen die Ausschei-
dung der obengenannten Substanzen zu beeinflussen, ergaben unter Anderem, dass
Zufuhr von Alkali in Form von milchsaurem und kohlensaurem Natron die
Acetonausscheidung gewaltig erhöhte, ohne gleichzeitig die Js-Oxybuttersäure-
ausscheidung zu erniedrigen (Milchsäure trat dabei nicht in den Harn über);
Nahrungsaufnahme, und zwar nicht nur Aufnahme von Kohlehydraten, sondern
auch solche von Fleisch und Fett, brachte eine Herabsetzung der Acetonmengen
hervor. Bezüglich des täglichen (langes der Acetonausscheidung fand sich der
Nachturin am reichsten an Aceton und auch an Oxybuttersäure ; im Vormittags-
urin, der relativ am meisten Ammoniak enthielt, war am wenigsten Aceton vor-
handen. Aehnlich verhält es sich bei der physiologischen Acctonurie, wie sie
nach Entziehung von Kohlehydraten auftritt. Die Eingabe organischer Säuren,
auch der optisch inactiven Oxybuttersäure, auch der Lävulinsäure, hatte keine
Veränderung der Harnbefunde zur Folge; nur bei subcutaner oder intravenöser
Anwendung sehr grosser Dosen von Lävulinsäure trat bei Hunden vorübergehend
eine geringe Acctonurie auf.
Die bei verschiedenen Krankheiten zur Ausscheidung gelangenden Mengen
von Phenolen, der gepaarten und präformirten Schwefelsäure und des
Indicans untersuchte Alois Strasser. *') Für die Bestimmung der Phenole be-
nützte er die Methode von Kossler und Penny. Er fasst seine Resultate dahin
zusammen, dass Vermehrung der Phenole auftritt: bei acuten Infectionskrankheiten
(Typhus in der ersten und zweiten Woche) Pleuropneumonie, Pneumonie in Lösung,
weiter in allen Fällen von localen Eiterungen und Jauchungen (Pyopneumothorax,
Bronchitis putrida, Gangrän, Peritonitis), endlich bei Diabetes mellitus ; normale
Mengen bei Cystitis, Leukämie und bei Typhus 8 Tage nach der Entfieberung;
verringerte Mengen bei chronischer Anämie, bei Typhus während der Entfieberung,
bei Ileus mit lange dauerndem starken Kotherbrechen , bei acuter Phosphor-
vergiftung und bei hypertrophischer Lebercirrhose. Die Resultate stehen im grossen
Ganzen mit den früher bekannten im Einklänge, nur sind die absoluten Werthe
in Folge der verwendeten genaueren Methode grösser. Die Indicanausscheidung,
sowie die Aenderung des Verhältnisses der Aetherschwefelsäuren gegenüber der
präformirten Schwefelsäure zeigte keine Regelmässigkeit mit den Schwankungen
der I’hcnolmengen.
Bruno Opplers>) hat in Rücksicht auf die prognostische Bedeu-
tung des Auftretens der Acetessigsäure im Urin insbesondere bei Diabetes
mellitus ein Verfahren zur Feststellung der Intensität der sogenannten Gerhardt-
schcn Reaction (Burgunderrothfärbung des Harnes auf Zusatz von Eisenchlorid)
angegeben. Das Princip der Methode beruht darauf, dass die durch Eisenchlorid
hervorgerufene Bordeauxfärbung des Harns durch Mincralsäuren wieder zum
Schwinden gebracht wird und demgemäss die zu diesem Zwecke verbrauchte
Mineralsäure als Mass der vorhandenen Acetessigsäure dienen kann. Zur Aus-
führung dient folgendes Verfahren:
In zwei Reagensgläser werden je 5 Ccm. des zu untersuchenden l’rins
mit der Pipette eingefüllt, dann zu beiden gleichmässig so lange tropfenweise
Liquor ferri sesquichlorati zugesetzt, als die Rothfarbung noch an Intensität
zuzunehmen scheint, wozu im Allgemeinen 5 — 8 Tropfen genügen. Dann fügt
man tropfenweise zu den einen 5 Ccm. Harn so viel officinelle Salzsäure, bis
gle
24ö
HARN.
jede Spur von Rothfärbung gerade verschwunden ist (4 — 10 Tropfen) und nun
nur noch die aus der Eigenfarbe des Urins und der des Liquor ferri sesqui-
chlornti resultirende, mehr oder weniger starke Gelbfärbung vorhanden ist. Dabei
löst sich, falls das nicht schon vorher im Ueberschuss des Eisenchlorids geschehen
ist, der anfangs gebildete Phosphatniederschlag wieder auf. Nun titrirt man die
zweiten 5 Ccm. Harn mit Normalsalzsäure, bis die Farbe der der ersten Probe
genau entspricht und hat nun in der Anzahl der verbrauchten Cubikcentimeter
Normalsalzsäure einen zahlenniässigen Ausdruck für die Intensität der Reaction.
Die für die Titration nothwendigen Mengen Normalsäure schwanken meist zwischen
0,6 und 3,0 Ccm. Statt Salzsäure lässt sich wohl ebensogut Normalschwefelsäure
verwenden.
Salpetrige Säure im Ham fand P. Richter**) in vier Fällen von
Mngendarm erkrankung. Auf diesen Befund lenkte der Umstand hin, da>s
die Indicanreaction im Harn bereits auf Zusatz von Salzsäure auch ohne Zusatz
von Chlorkalk auftrat. Die oxydirende Substanz, welche die Reaction hervorrief,
wurde als salpetrige Säure im Harn identificirt. Zwei weitere Fälle, bei denen
salpetrige Säure im Harn auftrat, ein Carcinom der Bauchorgane und eine acute
gelbe Leberatrophie wurden bakteriologisch untersucht. Bcidemale konnte auf
Agar der gleiche Coccus gezüchtet werden, der im Stande war, im sterilen Harn
nach 24 Stunden intensive salpetrige saure Reaction hervorzurufeu, auch Nitrate
der Nährböden zu Nitriten zu reduciren.
Wie S. Lang *‘) nachweist , erhält der nach Einnahme von Blausäure,
ferner der Nitrile, der Essig-, Propion-, Butter- und Capronsäure, nicht aber
von Benzonitril ausgeschiedene Harn die Eigenschaft, mit Eiscnchlorid eine rothe,
gegen Mineralsäure beständige Färbung anzunehmen. Diese Reaction wird, wie
S. Lang zeigt, durch die Anwesenheit von Rhodan Verbindungen bedingt. Es
wird also die CN Gruppe im Organismus mit der Sulfhydrylgruppe gepaart und auf
diese Weise eutgiftet, der grösste Theil des gebildeten Rhodans wird im Körper
weiterverbrannt und nur ’/s — '/« desselben gelangt im Verlaufe mehrerer Tage
zur Ausscheidung. S. Lang nimmt an , dass auch bei der Bildung von Aether-
schwefelsäuren im Organismus zuerst die SH-Gruppe an das Phenol angelagert
wird, welche dann zu SO, H oiydirt wird. Auch das von Salkowski beobachtete
Auftreten von unterschwefliger Säure bei Eingabe von Isäthionsäure ist eine solche
Sulfhydrirung. Es ist in dieser Beziehung von Interesse, dass man durch Er-
leichterung dieses Processes — Eingabe von Schwefelnatrium oder noch besser
von unterschwefligsaurem Natron — die Giftigkeit der Blausäure bei Kaninchen
um das Doppelte herabsetzen kann. Nach W. Pascheles*6) ist es der locker
gebundene Schwefel der Kiweisskörper, auch der überlebenden Organe, ja selbst
des coagulirten Eiweisses, welcher die Sulfhydrirung der Cyangruppe bewirkt.
Der gesammte Schwefel des Harnes wird zumeist nach L'Ebig durch
Schmelzen mit Salpeter und Kalihydrat oder nach Carids durch Erhitzen des
Harnes mit coneentrirter Salpetersäure im zugeschlossenen Rohr bestimmt. Bei
letzterer Methode wird leicht aus dem Glase Schwefelsäure aufgelöst (0,00040 Grm.
schwefelsaurer Baryt für jede Operation, wenn nur Salpetersäure ohne Harn an-
wendet wurde); die erstere Methode stellt sehr hohe Anforderungen an die
Reinheit der Reagentien, besonders des Aetzkalis. P. Mohr *■’•) schlägt darum fol-
gendes Verfahren vor: 10 Ccm. Harn werden in einer Porzellanschale auf dem
Wasserbad mit 10 — 15 Ccm. reiner rauchender Salpetersäure eingedampft, wobei
es gut ist, anfangs einen Glastrichter dartiberzustellen, um Verluste durch Ver-
spritzen zu vermeiden. Der Abdanipfrttckstand wird zur Abscheidung der Kiesel-
säure mehrmals mit coneentrirter Salzsäure abgedampft, gelöst, filtrirt, und dann
in üblicher Weise mit Chlorbarium gefällt. Die angeführten Analysen zeigen sehr
gut stimmende Wertlie; die neue Methode lieferte, besonders häufig bei Thier-
harnen, etwas niedrigere Werthe als jene nach Liebig oder Carius, doch beträgt
die Differenz der in Procenten ansgedrückten Resultate nur 0,005 — 0,01,
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HARN.
247
welche von MOHR auf die obengenannten Fehlerquellen letzterer Methoden zurück-
gefuhrt wird.
Die Uber die Ausscheidung des Calciums und Magnesiums unter
normalen Verhältnissen ausgeführten Untersuchungen von Siegfried Neu mann
und Bernhard Vas,#) ergaben bei einem Manne im mittleren Alter eine Aus-
scheidung im Harn von täglich im Durchschnitt 0,39 Grm. C'alciumoxyd und
0,18 Grm. Magnesiumoxyd, dabei war der Nachtharn, besonders der von 4 bis
8 Uhr Früh, am reichsten an diesen Bestandteilen, der von 4 — 8 IThr Abends
am ärmsten. Von dem in der Nahrung eingeführten Kalk erschienen in einem
Falle durchschnittlich '/», von der Magnesia etwa t/4 wieder, ln pathologischen
Verhältnissen war vermehrte Ausscheidung der beiden Erdalkalien nur bei einem
Falle von Diabetes vorhanden; in einem Falle von pleuritischem Exsudat
stieg die anfangs geringe Ausscheidung gleichzeitig mit der Aufsaugung des
Exsudates. Siegfried Nedmann ”) studirte die Ausscheidung der Erdphosphate
in einem Falle von Osteomalacie. Es wurden je zwei siebentägige ganz genaue
Stoffwechseluntersuchungen vorgenommen. Die erste davon entspricht noch der
schweren Erkrankung, die zweite fällt in das Stadium der rasch fortschreitenden
Besserung. Die auffallendsten Verhältnisse zeigt die Phosphorsäureausscheidung.
Dieselbe war für den Harn normal oder wenig gesteigert, in Harn und Koth
zusammen jedoch wurden während der ganzen ersten Periode um 15 Grm. PS0S
mehr entleert, als mit der Nahrung aufgenommen , in der zweiten (Besserungs-)
Periode, wo der Harn nur etwa die Hälfte der normalen Phosphormenge enthielt,
zeigte sich eine Retention derselben von 14,78 Grm. (der Koth dieser sieben-
tägigen Periode enthielt nur 2,7 Grm. P208). Die Calciumansscheidung durch die
Niere war während der ersten Periode gegen die Norm nicht verändert, in der
zweiten Periode zeigte sie sich vermindert. Bei Beobachtung der Gesammtaufnahme
au Kalk zu seiner Entleerung ergab sich eine Retention desselben im Organismus
in der ersten Periode von 5,5, in der zweiten von 3,8 Grm. Von der Magnesia
w urde in der ersten Periode ein Mehr von 1,9 Grm. ausgeschieden, in der zweiten
Periode aber 0,36 Grm. im Organismus zurückgehalten. Dabei zeigte sich die
Menge des Magnesiums im Harne im Verhältniss zu der des Calciums sehr
herabgedrückt, ein Vorkommen, wie es auch im Ilungerzustande beobachtet wird.
Den im normalen Menschenharn vorkommenden Proteinstoffen
hat K. A. II. Mörneus,>) eine eingehende Untersuchung gewidmet, welche, wie alle
Arbeiten dieses gediegenen Forschers, die vollste Würdigung beansprucht. Doch
müssen wir uns bei dem grossen Umfange der Arbeit darauf beschränken, nur
die Resultate mitzutheilen. Er zeigt zunächst, dass im Sediment des normalen
Harns, in der sogenannten Nubecula, ein llarnmucold in ungelöster Form vor-
kommt. Dasselbe findet sich schon in der Harnblase vor und sein Ursprung ist
auf die Schleimhaut der Harnleiter und die Blase zurüekzuführen. Dieses Mucold
kann im Harne soweit verändert werden, dass es sich löst. Es kann durch Essig-
säure gefällt werden. Die Gegenwart von Salzen verhindert oder verzögert die
Fällung. Schütteln mit Chloroform befördert die Fällung oder ruft dielbe beziehungs-
weise hervor, ln einem Ucberschuss von Essigsäure (oder einer anderen Säure)
ist der Niederschlag nicht besonders schwer löslich. Das llarnmucold kann durch
schwaches Ammoniak leicht in eine lösliche Form tibergeführt werden. Die übrigen
im (durch Weingeist conservirten) Sedimente vorhandenen Protelnsfoffe werden
durch schwaches Ammoniak in nur geringer Menge gelöst. Das von K. A. H.
Murner analysirte typische llarnmucold steht in seiner elementaren Zusammen-
setzung dem Sehnenmucin von Loebisch und dem Schneckcnmucin von Ham.mak.sten
nahe. Doch ist es reicher an Schwefel wie diese, es steht am nächsten dem Ovo-
mucold von C. Th. Mürner wegen seines hohen Schwefelgehaltcs. Es wäre daher
das llarnmucold als ein Kcratomucold zu bezeichnen. Das llarnmucold giebt die
Farben reactionen des Eiweisses. Die Lösung des Harmnucolds ist linksdrehend
(xD = — 62 — 67,1“ . Mit einer alkalischen Kupferoxydlösung wirkt es nur sehr
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HARN.
schwach redueirend. Nach dem Kochen mit Salzsäure reducirt es dagegen stark,
wenn auch nicht rascher. Ausser diesem ProteKnkörper gelang es nun K. A. H.
Mörser, im normalen dialysirten Harn durch Essigsäure und Schütteln mit Chloro-
form eine Fällung zu erzeugen, welche aus Eiweisg, und zwar zum grössten
Theile aus Serumalbumin bestand. Dieser Eiweisshörper wird aus dem Harn nach
Zusatz von Essigsäure ausgefällt, indem bei Zusatz von Essigsäure eine Verbin-
dung des Eiweisses mit den im Harne vorhandenen eiweiss fällenden Substanzen
gebildet wird. Verbindungen dieser Art sind es, welche unter dem Namen „aufge-
löstes Muciu“, „mueinähnliehe Substanz“, „Nucleoalbumin“ beschrieben worden
sind. Letzterer Name ist insofern berechtigt, als Nucle'insäure ziemlich constant
in der Fällung vorzukommen scheint, was durch den Nachweis von Phosphor
und von Nucletnbasen ermittelt werden konnte. Unter den ei weissfällenden Sub-
stanzen des Harnes ist jedoch die Nuclelnsäure normal von ganz untergeordneter
Bedeutung, indem das Nucleoalbumin — NucleoproteVd — nur einen geringen
Theil der Fällung ausmacht. Im normalen Harn nimmt die von C. Th. MÖRXER
zuerst isolirtc Chondroltinschwefelsäure unter den eiweissfällendeu Substanzen
des Harns den ersten Rang ein. In allen Versuchen wurde sie im normalen (und
in dem schwach eiweisshaltigen) Harne nachgewiesen. Sie wurde sogar fast rein
dargestellt, so dass ihre Eigenschaften sicher dargethan werden konnten. Die
Analyse der Fällungen zeigte, dass es hauptsächlich diese Säure ist, welche im
normalen Harn ciweissfällend wirkt. Möglicherweise kann auch unter normalen
Verhältnissen die Taurocholsäure in der Fällung vorhanden sein . aber nur in
sehr geringer Menge. Im pathologischen Harne kann sie aber als eiweissfällende
Substanz eine hervorragende Bedeutung gewinnen. Die Eigenschaften der Eiweiss-
verbindung wechseln je nach der Menge der vorhandenen Salze, der relativen
Menge des Eiweisses und der eiweissfällendeu Substanzen. Je grösser die relative
Menge der eiweissfällenden Substanz ist, desto mehr werden die Eigenschaften des
Eiweisses verdeckt. Die Eigenschaft, beim Kochen zu coaguliren, die Löslichkeit
und die Fällbarkeit werden verändert. Gewöhnlich hat die Verbindung iu ihrem
Verhalten gegen Säuren (wie Essigsäure, Salzsäure! Aehnlichkeit mit einem Nucleo-
albumin oder mit einem Muciu. Wenn im Harn die Eiweissmenge gesteigert wird,
werden zuerst Reactioncn , die an Mucin erinnern , erhalten. Bei einem noch
grösseren Gehalt an Eiweiss treten die Reactionen des Eiweisses hervor und
werden schliesslich ganz vorherrschend. K. A. H. Mörneb hält es für sehr wahr-
scheinlich oder fast sicher , dass das Serumalbumin in freier Form abgesondert
wird, oder mit anderen Worten, dass die Absonderung des Eiweisses und der
im normalen Harn stets vorkommenden Chondroltinschwefelsäure zwei verschiedene
von einander unabhängige Processe sind. Den Ursprung der Chondrol'tinsehwefel-
säurc sucht Verfasser in den Nieren , nachdem er in den Nieren von Rindern
diese Säure nachgewieseu hat ; im Blute konnte er sie nicht wieder finden.
Bei der Prüfung auf Nucleoalbumin erhielt A. Ott*») durch blossen
Essigsäurezusatz zum Harn nur selten ein positives Resultat. Er bediente sich
daher zu diesem Zwecke nach Versetzen des Harns mit eoncentrirter Kochsalz-
lösung der ALMEN’schen Tauninlösung. Mit diesem Reagens entstand in jedem
Harn, auch in dem von Gesunden, Trübung. Der Versuch, die durch die Koeh-
salztanninlösuug gefüllte Substanz zu isoliren, ergab ein negatives Resultat.
Für die Untersuchung des Harns auf Eiweiss und Zucker empfiehlt
H. Zeehuisen4®) eine starke Verdünnung des Urins mit Wasser. Es soll da-
durch eine Ausschaltung zufälliger Harnbestandtheile , die einen positiven Aus-
fall der betreffenden Reaction Vortäuschen könnten , erreicht , andererseits die
Schärfe der Reaction nicht beeinträchtigt werden. Für den Nachweis des Gallen-
farbstoffes bestätigt ZEEHltlSEX die Brauchbarkeit der von Jom.es empfohlenen
Einengung durch Chlorbaryum an pathologischen Harnen.
Von der Thatsacbe ausgehend , dass die Injection bakterieller , sowie
nicht bakterieller Eiweisskörper bei Menschen und bei Thieren Fieber zu erzeugen
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harn.
249
vermag, untersuchten Kbf.te lind Matthes *') eine Anzahl von Harnen fiebernder
Menschen in der Richtung, ob in diesen höhere Hydrationsstufen von Eiweiss-
körpern vorkämen. Es gelang ihnen, im Harn fiebernder Kranker zwei solche
Körper nachzuweisen; einmal Deu t eroalbumose , sodann eine histonähn-
liche Substanz, entweder einzeln oder zusammen. Das Auftreten dieser beiden
Eiweisskörper ist als ein Beweis für eine Eiweissspaltung durch Bakterien auf-
znfassen, und es liegt nahe, namentlich den Deuteroalbumosen einen Antheil an
der Erzeugung der Temperatursteigerung zuzuschreiben. Die aus dem Harn ge-
wonnene eiweissartige Substanz erzeugte , Meerschweinchen eingespritzt , Fieber.
Nach Arthub Edmunds 4ä) ist ein Niederschlag, den inan durch Sätti-
gung des Harns mit gewissen Salzen erhält, nicht stets als Eiwciss zu betrachten,
denn auch normaler Urin giebt solche Niederschläge. So fällt beim Sättigen
mit Ammoniumsulfat harnsaures Ammoniak aus; beim Sättigen mit Magnesiuin-
sulfat entsteht ein Niederschlag von Calciumsulfat und Magnesiumphosphat. Koch-
salz sowie Natriumsulfat erzeugen im normalen Harn keinen Niederschlag.
A. Ott“) hat 16 der gebräuchlichsten Ei wcissreactionen auf ihre
Brauchbarkeit in Bezug auf den Harn geprüft. Als zuverlässigstes Reagens, wel-
ches selbst die minimalsten Mengen von Alhuuieu am sichersten und intensivsten
nachweist, hat sich das SPIEOLER’sche Reagens ( Hydrarg . bichlorat. 8,0, Acid.
tartaric. 4,0, Aq. dest. 200,0, Sacch. alb. 20,0) bewährt. Denselben Werth bean-
sprucht die Sulfosalicylsäure, welche den Vortheil bietet, dass sie sehr leicht an-
wendbar ist und zugleich zur Dift'erenzirung von Pepton und Albumosen dient. Als
ausserordentlich empfindlich muss auch das Mn.LON’sche Reagens (Acid. phenic.
cryst. 7,70, Acid. acet. pur. 27,21, Liq. Potass. 85,53) bezeichnet werden,
welches empfindlicher >st als das Reagens von Taxret (3,32 Jodkalium und
1,35 Quecksilberchlorid in 20 Ccm. Essigsäure gelöst und die Lösung auf 60 Ccm.
verdtlnut). Beide haben den Nachtheil, dass bei grösserem Urat- und Pepton-
gehalt des Harns anch ohne die Anwesenheit von Albuinen eine Trübung ent-
steht, welche beim Erwärmen verschwindet.
Zur Frage der alimentären Albuminurie bestätigt Ott neuerdings,
dass die Einfuhr von Eiweiss in den Magen eine Eiweissausscheidung im Harne
herbeiführen kann, und zwar bewirkt dies — wie schon Stokvis, Prior u. A.
angeben — die Einführung von rohem Eieralbumin früher als die von gekochtem
Eiweiss. Einen Fall von intermittirender Albuminurie, den Ott beobachtete,
deutet er als eine chroniscb-nephritische Erkrankung, welche sich durch inter-
mittireude Albuminurie und zeitweises Auftreten von Formelementen aus der
Niere auszeichnet. Die Menge des ausgeschiedenen -Eiweisses ist ausserordentlich
wechselnd und verläuft unregelmässig; ebenso wechseln mit den Eiweissmengen
die gefundenen Formelemente, die Bewegung hat einen deutlichen Einfluss auf
die Ausscheidung des Albumen, während die Nahrungsaufnahme, selbst der
Genuss einer grösseren Eiweissmenge, keine Veränderung erkennen lässt.
Als cy klische Albuminurie bezeichnete Pavy (1885) solche Fälle, deren
Eiweissausscheidung einen bestimmten, immer wiederkehrenden Cyklus innebielt.
K. Osswald “) beobachtete 9 solcher Albuminurien und gelangt zu dem Resultat,
dass hier keine functionelle Albuminurie, sondern eine wirkliche Nierenläsion zu
Grunde liegt: es handelt sich um abklingende Nephritiden. In allen Fällen ausBer
einem fanden sich bei öfteren Untersuchungen hyaline, einige Male auch epitheliale,
Cylinder mit verfetteten Epithelien.
Die noch immer strittige Frage der mercuriellen Albuminurie hat
Heller“) einer neuerlichen Prüfung unterworfen. Mit 5130 Einzeluntersuchungen
an 315 Kranken fand er bei den Männern in 72% der Fälle nicht die geringste
Spur von Eiweiss, bei 58 Kranken = 28% fand er Abnormitäten im Harn,
aber nur iu 15 Fällen echte Albuminurien, sämmtlich von geringer Intensität.
Dabei zeigte sich, dass nach Sublimatinjectionen der Procentsatz der Albuminurien
am geringsten war, bei Schmiercuren am grössten. Durchschnittlich begann die
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HARN
250
Albuminurie am 12. Tage der Behandlung. Bei deu Fraueu war in ähnlicher
Weise in 85% kein Albumin während der C'ur zu constatireu. Von den Albu-
minuriefällen kamen auf die Sclimiercur 25°/o, auf die Injectionscur 2,9 Die
Albuminurie selbst ist als eine mercurielle anzusehen, nicht als eine physiologische
oder syphilitische, wofür auch das gleichzeitige Auftreten von Stomatitis und
Enteritis spricht.
Für die densimetrische Bestimmung des Eiweisses in thierisehen
Flüssigkeiten, bei welcher die Dichte der eiweisshaltigen Flüssigkeit vor und nach
der Coagulation verglichen und die ermittelte Abnahme der Dichte zur Berech-
nung der gelüst gewesenen Eiweissmenge benützt wird, empfiehlt Th. Lohnstein**)
sein gegenüber den bisherigen Methoden vereinfachtes Verfahren mit Hilfe des
von ihm angegebenen empfindlichen Gewichtsaräometers (s. Bd. V der Encyclop.
Jabrb., pag. 252). Indem wir bezüglich der Begründung der Methode und der
von Lohnsteix aufgestellten Constante , welche als Factor mit dem ermittelten
Dichtigkeitsunterschiede mult'plicirt werden muss, um den Eiweissgehalt zu er-
halten, auf das Original verweisen , wrollen wir einige der angegebenen Bestim-
mungsverfahren, welche gegenüber der Wägungsmethode durch die Raschheit der
Ausführung bei genügender Genauigkeit den Vorzug haben, hier anführen.
Es werden von dem zu untersuchenden Harn 2 Proben zu je 125 Ccm.
genommen. Die eine wird im Wasserbad bis zur beginnenden Trübung erwärmt,
dann tropfenweise mit eoncentrirter Essigsäure bis zur grobtloekigen Gerinnung
verselzt. Setzt man nach 5 Minuten 1 oder 2 Tropfen eoncentrirter Essigsäure
hinzu und lässt man noch 5 — 10 Minuten im kochenden Wnsserbad stehen, so
ist meist die Eiweissabscheidung eine vollständige. Man filtrirt, spült den Nieder-
schlag mit wenig Wasser nach, bringt ihn sammt Filter in das zur Coagnlation
benützte Becherglas zurück, zieht ihn mit etwa 100 Ccm. Wasser »der in zwei
Fractionen zu 50 Ccm. auf dem Wasserbade aus und vereinigt sämintliche Filtrate.
Dieselben sollen zusammen vorläufig etwas weniger als 250 Ccm. ausmachen. Die
andere nicht coagulirte Harnprobe wird nun mit genau ebenso viel Tropfen
Essigsäure, als bei der ersten Portion verbraucht worden war, versetzt und eben-
falls mit destillirtem Wasser auf nahe 250 Ccm. gebracht. Beide Harnproben
werden in einem Gefäss mit Wasser auf gleiche Temperatur gebracht und mit
Wasser auf genau 250 Ccm. aufgefüllt, die Differenz der jetzt mit LoHXSTKrx’s
Aräometer ermittelten Dichten mit 720 (= 2 X 360) multiplicirt, ergiebt den
Eiweissgehalt.
Das folgende in etwa einer halben Stunde, ausführbare Verfahren ver-
meidet die Verdampfung der Flüssigkeit durch die Congulirung unter Oelabschluss.
Es wird eine Probe von 250 Ccm. Harn in einen etwa 300 Ccm. haltenden,
am oberen Ende mit einer Erweiterung versehenen Kolben gebracht und mit
etwa 20 Ccm. Olivenöl bedeckt. Der Kolben wird im Wasserbad erhitzt. Ist
Trübung eingetreten , so wird mit einigen Tropfen Eisessig völlige Coagulation
erzielt. Dieselbe Menge Eisessig wird einer zweiten Probe der Flüssigkeit von
250 Ccm. zugefügt. Man bringt nun beide Flüssigkeiten auf gleiche Temperatur,
filtrirt die erste Probe und bestimmt im Filtrat wie in der zweiten Portion die
Dichte bis auf 5 Decimnlcn. Die Differenz mit 360 multiplicirt, giebt den Ei-
weissgehalt.
Eine weitere von Lohxstkin empfohlene Modification verwertbet das
Princip, das abgeschiedene Eiweiss in einer Flüssigkeit von bekanntem specifi-
seben Gewicht zu lösen und die Eiweissmenge aus der Dichtigkeitszunahme zu
berechnen. Nach Lohxstein's Bestimmungen muss diese Differenz mit dem Factor
402,45 multiplicirt werden, um den Eiweissgehalt in 100 Ccm. zu erfahren.
Bei allen diesen Verfahren ist es vor der Wahl des Volums der Eiweiss-
lösung wünschenswerth , eine Vorstellung vom Eiweissgehalt der Flüssigkeit zu
haben. Lohnsteix empfiehlt zum Zwecke der vorläufigen Orientirung in folgender
Weise vorztigrhen. Man bringt Hülinereiweiss, das regelmässig 11 — 13"/, coagu-
ole
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HARN.
251
lablc Eiweissstoffe enthält, mit Wasser auf das sechsfache Volum und filtrirt.
Wird das Filtrat auf das 165fache verdünnt, so erhält man eine nahe 0,01° 0ige
Eiweisslösung. Diese dient als Vergleichsflüssigkeit. Man braucht nun blos eine
Probe des Harns so zu verdünnen, dass ein kleiner Theil davon, im Reagensglas
mit ’/, Volum concentrirter Essigsäure und 1 Tropfen 5%iger Ferrocyankalium-
lösnng versetzt, die gleiche Opalescenz giebt wie unter genau gleichen Bedin-
gungen dieselbe Menge der 0,01%igen VergleichslöBung. Die Berechnung des
annähernden Eiwcissgehaltes ist durch die benöthigte Verdünnung gegeben. Die
mitgetheiltcn Belegsbestimmungen stehen den durch Wägung gefundenen Werthen
Behr nahe und es dürfte das in etwa 15 Minuten ausführbare Verfahren für
klinische Zwecke grössere Genauigkeit darbieten als das ESHACH’sche Albuminimeter.
Das Vorkommen des Peptons im Harn bei verschiedenen Krankheiten
hat Wilh. Robitschek*7) neuerdings auf Anregung von v. Jaksch, und zwar
theils nach der Methode von Hofmeister, theils nach der von Devoto geprüft.
Bei 24 von den untersuchten 49 verschiedenen Krankheitsarten fand sich Pepton,
wobei auch bei der gleichen Erkrankung bald Pepton vorhanden war, bald nicht.
Auch bei Phosphorvergiftung war Pepton unter 12 Fällen nur 5mal, 7mal nicht;
bei Pneumonie hingegen unter 12 Fällen llmal, lmal nicht vorhanden, so dass
auch fernerhin nur schon bisher bekannte Anhaltspunkte für die Beurtheilung
einer Peptonurie geboten sind. Robitschek hat häufig dieselben Harne nach den
beiden genannten Methoden bestimmt und cs zeigte sich gewöhnlich bis auf ge-
ringfügige Differenzen Uebereinstimmung, nur in einem Falle (Phosphorvergiftung)
ergab die HOFMEisTEu’sche Methode positives Resultat, die nach Devoto ent-
schieden negatives ; es handelt sich dabei wohl um eine durch Phosphorwolfram-
säure, nicht aber durch Ammoniumsnlfat fällbare Albumose.
Auch Senator hat mit der von Salkowski *8) für den Nachweis von
Pepton angegebenen, leicht ausführbaren Methode das Vorkommen von Peptonurie
bei verschiedenen Krankheiten untersucht. Er fand, dass Peptonurie so gut wie
regelmässig vorkommt bei croupöser Pneumonie kurz vor oder nach der Krise,
bei eiteriger Meningitis und Peritonitis und bei Empyem , viel seltener bei Ge-
lenksrheumatismus und niemals hei Leukämie. Besonders für die Diagnose der
eiterigen Meningitis kann dies Verhalten von Werth werden. Er schliesst sich
der Ansicht Stadklmann’s und V. Noordex’s an, dass es eine Peptonurie über-
haupt nicht giebt, weil im Harn kein Peptou im Sinne KOhne's vorkommt, son-
dern eine Vorstufe desselben, Propepton oder Albumose. Man darf also nur von
einer Albumosurie sprechen.
Die oben erwähnte expeditive Methode Salkowski’S zum Nachweis von
Pepton im Harn ist folgende: Man versetzt 20 — 50 Ccm. eiweissfreien Urins mit
Salzsäure, fällt ihn mit Phosphormolybdänsäure aus und erwärmt. Der Nieder-
schlag zieht sich rasch zu einer am Boden des Glases haftenden harzigen Masse
zusammen, die sich leicht durch Decantation von der Flüssigkeit trennen und
auswaschen lässt; nun löst man ihn durch Zusatz von etwas Wasser (etwa 8 Ccm.)
und wenig Natronlauge. Es entsteht eine tiefblaue Lösung, die durch Erwärmen,
nöthigenfalls neuerlichen Zusatz von einigen Tropfen Natronlauge entfärbt wird,
worauf man mit Kupfersulfatlösung die Biuretreaction anstellt, deren Rothfärbnng
besonders schön nach dem Filtriren sichtbar wird. Die ganze Procedur nimmt
nicht mehr als etwa 5 Minuten in Anspruch. Wegen der geringen zur Verwen-
dung gelangenden Harnmengen ist der Einfluss der Schleimkörper des Harns
nur von geringem Einfluss; schleimreichere oder ei weisshaltige Harne müssen vor-
her in üblicher Weise behandelt werden. Die Empfindlichkeitsgrenze für die
Reaction liegt bei 0,1%,.
Die Titration des Zuckers im Harne nach Fehmng bietet bekanntlich in
Bezug auf Erkennung des Endpunktes grosse Schwierigkeiten, die schon von
Pa VT vorgeschlagene Modification, nämlich Zusatz von Ammoniak, lässt den End
punkt genauer erkennen, hat aber Unsicherheiten, hauptsächlich durch das Ver-
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HARN.
dampfen des Ammoniaks und durch die Oxydation des Kupferoxyduls durch den
Sauerstoff der Luft. Zdenek-Peska **) vermeidet diese beiden Fehler dadurch, dass
er eine etwa >/, Cm. dicke Schichte reinen Paraffinöies über das Reactionsgemisoh
schichtet. Dieses letztere wählt Pkska 5mal so verdünnt wie die FEHLiNG’sche
Lösung (6,927 Grm. krystallisirtes Kupfersulfat in Wasser lflseD, 160 Ccm. 25%iges
Ammoniak dazu und auf 500 Ccm. anffüllen, andererseits 34,5 Grm. Seignette-
salz und 10 Grm. Natronhydrat auch auf 500 Ccm., 50 Ccm. von jeder Flüssig-
keit vor der Operation zusammenmischen). Die Titration wird bei 80 — 85° unter
den auch sonst üblichen Vorsichtsmassregeln vorgenommen. Der WirkuDgswerth
des Gemisches ist wie der der FEHLINo’schen Lösung, abhängig von dem Zucker-
gehalte der zu untersuchenden Flüssigkeit. Es entsprechen nämlich 100 Ccm.
dieser Lösung 80,1 Mgrm. Traubenzucker, wenn 8,02 Ccm. einer l°/0igen Zucker-
lösung zur Bestimmung verwendet wurden, hingegen 82,1 Mgrm. Traubenzucker,
wenn 82,1 Ccm. einer nur 0,l%igen Lösung zur Titration gelangen. Bei Unter-
suchung einer 0,5°/0igen Lösung würden 16,12 Ccm. derselben verbraucht und
entsprechen 86,60 Mgrm. Traubenzucker. Die Tabelle, aus welcher diese Zahlen
genommen sind, ist für Harn, der ja wechselnde Salzmengen enthält, jedenfalls
nicht vollständig zutreffend, aber immerhin genügend.
Friedrich Lanz 60) beobachtete bei Graviden ein häufiges Vorkommen
von alimentärer Glykosurie, also eine Verminderung der Assimilationsfähig-
keit des Traubenzuckers. Unter 30 Fällen fanden sich 19, bei welchen 100 Grm.
Traubenzucker in Thee mit Cognac eingegeben, eine deutliche Glykosurie wäh-
rend der nächsten 6 Stunden hervorriefen. In einem Falle wurden 29,5 Grm.,
ein anderes Mal 7,7 Grm. ausgeschieden , in 9 Fällen weniger als 3 Grm.. in
8 Fällen nur Spuren. Diese Herabsetzung der Assimilationsgrenze zeigte sich
häufiger und stärker in den späteren Stadien der Schwangerschaft, doch wurde
sie einmal schon im 4. Monat beobachtet, nach der Entbindung verschwindet sie
wieder. Der ausgeschiedene Zucker war Traubenzucker, nicht Milchzucker. Die
Erscheinung scheint analog zu sein der von Bunge aufgefundenen Thatsache,
dass der Organismus der schwangeren Frau aus der Nahrung Eisen aufspeichert
und dann nieht mehr im Stande ist, gereichtes Eisen aufzunehmen.
Lafoxm) fand in zahlreichen Fällen, bei denen Sulfonal in Dosen
von 0,75 — 1,0 pro die gegeben worden war, dass der Urin Fehling 'sehe
Lösung reducirt; im Polarimeter fehlt jedoch die Rechtsdrehung. Die Reduction
ist nicht durch transformirte Producte des Sulfonals bedingt, sondern durch letz-
teres selbst, indem Urin mit Sulfonal versetzt (1 : 1000) das Vermögen besitzt.
FEHUNG’schc Lösung zu reduciren.
Zur Entfärbung des Harns behufs polarimetrischer Bestimmung des Zuckers
benützt man bekanntlich Bleizuckerlösung oder Thierkohle. Bei Anwendung der
letzteren erhält man ungenaue Resultate, weil die Thierkohle Zucker zurückhält.
Th. Lohxstein m) hat zum genaueren Nachweis dieses Verhaltens Ver-
suche augestellt, und zwar mit Blutkohle und Beinschwarz, das ist durch Glühen bei
Luftabschluss gewonnenem Knochenmehl. Er kommt nach genaueren Untersuchungen
mit dem von ihm construirtcn Urometer zu dem Resultate, dass das billigere
Beinschwarz zur Entfärbung diabetischer Urine benützt, nur Spuren von Trauben-
zucker zurückhält und daher zu erheblichen Fehlerquellen keine Veranlassung
entsteht; er empfiehlt deshalb das Beinschwarz zur Entfärbung diabetischer
Urine zwecks polarimetrischer Bestimmung des Zuckergehaltes.
Anknüpfend an die von Roberts vor 34 Jahren bearbeiteten Methode,
den Zuckergehalt des Harnes durch die Vergleichung der specifischen Gewichte
des Harnes vor und n ach der Gährnng zu bestimmen, schlägt Tu. Lohnstein5*)
auf Grund des von ihm construirtcn Gewichtsuromcters und eingehender Unter-
suchungen (s. Encyclopäd. Jahrb., V, pag. 252) neuerdings die densimetrische
Zuckerbestimmung im Harne nach einer von ihm gegenüber der von Robfrts
vereinfachten Methode vor. Vor Allem bedarf es eines sicheren Promoters , da
HARN.
253
die Genauigkeit unserer gewöhnlichen Uromcter durch die Fehlerquelle der
Capillarität begrenzt ist. Diese Unsicherheit betrügt 2 — 3 Scalenstriche ; eine
Differenz der gpecifischen Gewichte von 0,002 entspricht aber einem Zucker-
gehalt von 0, 5 °/0. Das neue Gewichtsurometer Lohnstkin’s beseitigt nun diese
Fehlerquellen. In seiner kleineren Form (Volumen des Schwimmkörpers 20 oder
30 Ccm.) gicbt dieses Instrument die specifischen Gewichte bis einschliesslich
der 4. Decimalstelle an. Durch Verwendung einer scharfen Kante als Einstellungs-
marke ist die Fehlerquelle der Capillaritüt vollständig eliminirt. Die zur Be-
stimmung nötbige Fltlssigkeitsmenge beträgt etwa 50 Ccm. Bei diesem Verfahren
ist auch die Filtration des Urins nach stattgehabter Gährung — was ebenfalls
viele Fehlerquellen erzeugte — unnöthig, da Lohnstein die beiden für diu
Methode erforderlichen Bestimmungen des specifischen Gewichtes
an Hefesuspensionen ausführt. Der Anfänger gebraucht zur Vollendung
einer Bestimmung 5 Minuten, der Geübtere 2 Minuten. (Das Urometer wird von
L. Reimann, Berlin SO., Schmidtstrasse 32, geliefert.) Zu 50 Ccm. Harn setzt
man 2 — 5 Grm. Hefe je nach dem Zuckergehalt des Harns, sorgt dafür, dass im
Anfang eine Temperatur von 30 — 35° herrscht; dann kommt die Gährung
schnell in Gang und schreitet dann auch bei Zimmertemperatur rasch vorwärts.
Unter diesen Umständen ist auch bei recht grossen Procentgehalten (über 8%) der
ganze Zucker bis auf einen unbedeutenden Rest nach 6 Stunden zerlegt, anderer-
seits konnte Lohnstein mit seinem Verfahren Zuckergehalte von 0,1% ab
mit hinlänglicher Schärfe bestimmen.
Das Verfahren gestaltet sich folgendermassen : 60 Ccm. des zu unter-
suchenden Harns werden in einem graduirteu, 100 Ccm. haltenden Mcsscylindcr
gefüllt, und so viel Hefe hinzugegeben, dass das Niveau der Flüssigkeit um 3
bis 6 Ccm. steigt (je mehr Hefe genommen wird, umso schneller läuft die Gährung
ab). Das neue Niveau wird notirt. Der Urin mit der Hefe wird nun in ein
Becherglas gegossen und zu einer gleichmässigen Suspension verrührt. Von dieser
wird das specifische Gewicht bestimmt. Hierauf wird die Flüssigkeit in ein Kölb-
chen gegossen, das, um das Trocknen zu ersparen, vorher mit der Harnhefe-
mischung gespült wird. Der Kolben wird mit einem Wattepfropf geschlossen und
in ein Gefäss mit Wasser von 30 — 40° gesetzt. Nachdem die Gährung in Gang
gekommen, wird der Kolben herausgenommen und an einen nicht zu kühlen Ort
gesetzt. Nach Ablauf der Gährung, die sich durch die Bildung eines dichten
Bodensatzes kundgiebt, wird durch Schüttelu wieder eine homogene Suspension
erzeugt, dieselbe in den zur Bestimmung des specifischen Gewichtes dienenden
Cylinder gegossen und nun neuerdings das specifische Gewicht bestimmt.
Die Berechnung des Zuckergehaltes ist folgende: Man nimmt
als constanten Multiplicator den von Lohnsteix berechneten Mittelwerth
von 2 34; nimmt dann die Urinmenge (Harnvolumen) und die durch Ilcfezusatz
gestiegene Urinmenge (das Volumen der durch den Hefezusatz entstehenden Sus-
pension) und endlich das specifische Gewicht der zu untersuchenden Flüssigkeit
und des specifischen Gewichtes nach beendeter Gährung. Die Differenz zwischen
beiden wird wieder als Multiplicator genommen. Es werden z. B. 70,5 Ccm. Urin
genommen, diese Menge steigt durch Hefezusatz auf 80,7 Ccm.; das specifische
Gewicht der Hefeharnlösung betrügt 1,0387 (bei 21,7°) — nach beendeter Gäh-
rnng (nach 6, 8, eventuell 12 .Stunden) beträgt das specifische Gewicht 1,0066
{bei 20,4°) — , die Differenz beträgt also 0,0321. Die Rechnung stellt sich nun
folgendermassen :
(Der constante Multiplicator =) 234 X X 0,0321 = 8, 651°/. , also 8,6%.
Allerdings ist der RoHERTS’sche Factor nur annähernd eine Constante.
Seine Abhängigkeit von der Temperatur, dem Procentgehalt des Harns an Zucker
und dem specifischen Gewicht des entzückerten Harns lässt sich unter Berück-
sichtigung der hauptsächlichsten bei der Gährung stattfindenden Vorgänge durch
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HARN
einfache Formeln (larstellen, welche mit der Erfahrung in vollem Einklang stehen.
Bezüglich dieser Formeln und deren Anwendung verweisen wir auf das Original.
Lohnsteix hält cs für zweckmässig, ein Stück Presshefe mit etwa dem
gleichen Volumen Wasser zu einem Brei zu verrühren und von diesem natürlich
die doppelte der oben angegebenen Menge dem Urin hinzuzugeben, da die käuf-
liche Presshefe sich öfters der Wand des Cylinders so fest ausetzt, dass sie
aus dem Messcylinder nur schwer vollständig in das Becherglas (ibergespült
werden kann.
Ueber Pentosurie, eine neue Anomalie des Stoffwechsels, berichtet
E. Salkowski. 6S*) Bekanntlich hat dieser im Verein mit M. Jastrowitz 1892)
in einem stark reducirenden , aber nicht gälirungs fähigen Harn ein Kohlen-
hydrat mit 5 Atomen Kohlenstoff — eine Pentose gefunden, deren Phenylhydra-
zinverbindung in citronengelben Nadeln vom Schmelzpunkt 159° krystallisirte.
Dieses Phenylpentosazon unterschied sich von der analogen Verbindung des
Traubenzuckers überdies durch seine Löslichkeit im heissen Wasser, und sehr
bedeutenden Schwerlöslichkeit in kaltem Wasser. Auch gab der betreffende Harn
die TOLLENS’sche Rcaction auf Pentosen mit Phloroglucin und Salzsäure. Seitdem
hat E. Salkowski zwei neue Fälle von Pentosurie beobachtet. Er führt die
Prüfung auf Pentose im Harn auf folgende Weise aus : Zunächst nimmt er für
100 Ccm. Harn, 2,5 Grm. Phenylhydrazin, und zwar die Base selbst, nicht das
Chlorhydrat. Dieses wird mit soviel Essigsäure gelöst, dass die Lösung deutlich
sauer rcagirt. Sie wird dann dom zu untersuchenden Harn (100 — 200 — 500 Ccm.)
zugesetzt , die Mischung bis zum beginnenden Sieden erhitzt, dann noch 1 bis
l*/j Stunden in ein im Sieden erhaltenes Wasserbad eingesetzt. Enthält der
Harn Pentose, so findet man nach dem Erkalten einen dünnen Brei von Krystallen,
Der krystallinische Niederschlag wird abfiltrirt, gewaschen, durch Abpressen
mit Filtrirpapier getrocknet und aus heissem Wasser unter ZuBatz von etwas
Alkohol umkrystallisirt. Beim Erkalten der heiss filtrirten Lösung scheiden sich
schön gelb gefärbte Nadeln vom oben erwähnten Schmelzpunkt aus. Die bisherigen
Bestimmungen der Pentosazone in den verschiedenen Harnen ergaben Mengen
von 0,181 — 0,353 Procent.
Die Tolle ns 'sehe Reaction auf Pentose wird in» Ham nach der Vorschrift von Sal-
kowski in folgender Weise ausgeführt: Man lost etwas Phloroglucin unter Erwärmen in
5 — (i Ccm. rauchender Salzsäure, so dies« ein kleiner Uehersclmss ungelöst bleibt, theilt die
Lösung in zwei annähernd gleiche Theile. setzt zu der einen Hälfte im Reagcnsglas circa
*/, Ccm. des zu prüfenden Harns, zu der anderen ebensoviel eines normalen Harns von un-
gefähr derselben Concentration. Nunmehr stellt man die Reagensgläser in ein Becherglas,
welches im Sieden erhaltenes Wasser enthält: in wenigen Augenblicken zeigt der pentose-
haltige Hum einen intensiv rothen oberen Saum . von dem sich allmälig die Färbnng weiter
nach unten uushreitet. während der normale Ham seine Färbnng nicht merklich oder nur sehr
unbedeutend verändert. Man nimmt die Gläser heraus, sobald die Färbnng deutlich entwickelt
ist, da durch zu langes Erwärmen die Reinheit der Reaction beeinträchtigt wird, auch könnten
hei zuckerhaltigem Ham Irrthümer durch die bei der Einwirkung von Salzsäure auf Zucker
sich bildenden Huminsnbstanzen entstehen.
Der pentosehältige Harn verhält sieh bei der Anstellung der Trommkr-
schen Probe manchmal in der Weise, dass Verdacht auf Gegenwart von Zucker
entstehen könnte. Beim Erhitzen mit FEHLlNG’scher Lösung färbt sieh der Harn
erst grün , dann gelblich , die Flüssigkeit zeigt starke Opalescenz , eine Aus-
scheidung von Oxydul tritt jedoch nicht ein. ln den bisher beobachteten Fällen
wurde das Vorhandensein der Pentose im Harn bei mehrmaligem Untersuchen
immer wieder constatirt , vielleicht bandelt es sieh dabei um eine Anomalie des
Stoffwechsels. Ein directcr Zusammenhang der Pentosurie mit krankhaften Pro-
cessen, auch mit dem Diabetes konnte bisher nicht erkannt werden. In einem der
beobachteten Fälle war früher hochgradige Nervosität, auch Ischias vorhanden.
Würden Diabetes und Pentose in einem Individuum auftreten, dann könnte man
letztere ebenfalls diagnosticiren , und zwar durch Darstellung der Osazone der
betreffenden Kohlehydrate, die sich durch ihre verschiedene Löslichkeit in heissem
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HARN.
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Wasser von einander trennen lassen und durch die Verschiedenheit ihrer Schmelz-
punkte identificirt werden. Bezüglich des Ursprunges der Pentose hat Sai.kow.ski
im Anschluss an die Angaben von Hammarstex über das Vorkommen eines eine
Pentose liefernden NucleoprotcVds im Pankreas nachgewiesen, dass die im Haru
vorkummende Pentose identisch ist mit der aus dem Pankreas stammenden.
Ferdinand Blumenthal 6 *1*), der an den von Salkowski untersuchten
Fällen weitere Beobachtungen anstellte, fand in dem Urin des einen Kranken
periodisch neben Pentose auch Glykose , bei dem anderen war dies nicht der
Fall , fernerhin aber auch , dass die Pentosurie von etwa mit der Nahrung eiu-
geführten Kohlehydraten (Xylose, Arabinose) unabhängig war. Während beim
Diabetiker der Indicangehalt des Harns stets vermehrt ist , war in den Fällen
von Pentosurie die Indicanmenge sehr gering. Es wird sich also die im Körper
kreisende Pentose den Mikrobien des Harnes gegenüber in anderer Weise ver-
halten wie Glykose.
Bezüglich der Entstehung des Urobilins giebt es nach der Dar-
stellung von Beck e4t fünf Theorien : die eine betont den intestinalen Ursprung
des Urobilins (Urobilinuria enterogenes), bei einer zweiten wird es durch krank-
haft geänderte Function der Leberzcllen (Insufßsance h&paiique) gebildet, ferner
wird eine Urobilinuria haematogenes , histogenes , nephrogenes erwähnt. Beck
untersuchte nun, ob und unter welchen Bedingungen Bakterien normale Gallen-
farbstoffe reduciren und ob das dabei gebildete Hydrobilirubin mit Urobilin iden-
tisch ist. Dabei ergab sich, dass unter Einfluss last aller Bakterien, also auch unter
dem Einfluss der Bakterien im Darme aus normalen Gallenfarbstoffen Hydrobili-
rubin entsteht. Das in der Galle vorkommende Urobilin entsteht, wie die Versuche
Bkck’s an einem Gallenfistelhuude zeigen, aus dem Urobilin des Kothes, dieser
Farbstoff ist in der Galle nie vorhanden, wenn er nicht im Darminhalt ist. Nur
ein kleiner Theil des Urobilins wird auch im Blute oder in den Geweben aus
Blutfarbstoff gebildet.
Das Studium der Oxydationproducte des Bilirubins und der normalen
Harnfarbstoffe führte Adolf Jolles 66) zur Ansicht, dass die normalen Harn-
farbstoffe mit grösster Wahrscheinlichkeit als identisch mit den höheren Oxy-
dationsproducten des Bilirubins angesehen werden können. Die scheinbar ver-
schiedenen Farbstoffe des normalen Harns unterscheiden sich von einander häufig
nur durch ihren Sauerstoffgehalt. Um die relative Oxydatiousfiihigkeit der einzelnen
Harnfarbstofle festzustellen, wurde eine gewisse Menge der Farbstoffe mit einer
bestimmten Menge HÜBL’scher Jodlösung versetzt und das überschüssige Jod mit
Natriumthiosulfatlösung zurücktitrirt (s. die ausführliche Methode im Original).
In weiterer Verfolgung der Versuche ergab sich, dass das Reductionsproduct des
Bilirubins, das Urobilin, durch IIÜBL’scbe Jodlösung nicht oxydirt wird. Jolles
gelangt bezüglich des Auftretens und des Nachweises von Urobilin im normalen
Ham auf Grund seiner Untersuchungen zu folgenden Schlüssen: Die Harnfarbstofle,
welche nach ihrem spectroskopischen Verhalten und nach ihrer chemischen Reaction
als Urobiline bezeichnet werden, lassen sich in physiologische und pathologische
Urobiline treunen. Die unvollständig oxydirten Harnfarbstofle gehören zu den
physiologischen Urobilinen. Zu den physiologischen Urobilinen gehört auch jener
Farbstoff, der sich beim Stehen normal gefärbter Harne durch das Nachdunkelu
des Harns bemerkbar macht. Beide Urobilinarten unterscheiden sich wesentlich
dadurch , dass die physiologischen Urobiline nach erfolgter Oxydation mit einer
alkoholischen Jodlösung oder Salpetersäure weder Fluorescenz noch ein charakte-
ristisches Spectrum zeigen , während die pathologischen Urobiline nach der
gleichen Behandlung ihr optisches Verhalten und ihre Fluorescenz beibehalten.
Cm Verwechslungen der physiologischen und der pathologischen Urobiline hint-
anzuhalten, ist cs nothwendig, das Urobilin aus dem Harne zu isoliren und dann
genau zu untersuchen. Dies geschieht am besten wie folgt :
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HARN.
In einem entsprechend geformten Schüttelcylinder. eventuell auch Scheidetrichter,
fügt man zu 50 Ccm. Harn 5 Ccm. einer verdünnten, frisch bereiteten Kalkmilchlosung und
nnd 10 Ccm Chloroform hinzu und schüttelt das ganze mehrere Minuten kräftig durch. Als-
dann lässt man den Cylinder einige Minuten stehen, wobei sich das Chloroform und der
Niederschlag zu Roden setzen. Letzteren lässt man in eine kleine Porzellan schale abfiiesaen,
dampft auf dem Wasserbade zur Trockne ein , verreibt den Rückstand mit circa 5 Ccm. ver-
dünnten Alkohol (circa 30 Volumprocent) unter Zusatz einiger Tropfen concentrirter Salpeter
säure und tiltrirt. Bei Gegenwart von pathologischem Urobilin erscheint das Filtrat braunroth
bis granatrot h. zeigt bei passender Verdünnung das charakteristische Spectrum zwischen den
Frau nhof ersehen Linien b und F, und zwar näher an F und grüne Fluorescenz der
ammoniakalfechen, mit Chlorzink versetzten Lösung. Schüttelt man einen Theil des Filtrates
mit Amylalkohol, so nimmt letzterer den Farbstoff auf und zeigt ebenfalls das scharf begrenzte
Absorption»» pectrum.
Als Quelle des pathologischen Urobilins sind der Gallenfarbstoff ("Bili-
rubin) und der Blutfarbstoff anzusehen.
Zur Pathogenese der Hämatoporphyrinurie liefert B. I. Stokvis66)
Beiträge. Er fand das llilmatoporphvrin im Harn nicht nur bei Sulfonalintoxica-
tion , sondern auch bei Magen- und Darmblutungen und bei Bleikolik. Durch
Experimente am Kaninchen stellte Stokvis fest , dass die gemeinsame Ursache
für das Auftreten dieser Substanz im Harne die Bildung von Hämatoporphyrin
ans dem in Magen- und Darmschleimhaut ergossenen Blut ist; auch das Sulfonal
erzeugt derartige Blutungen. Wird das Hämatoporphyrin resorbirt , so kaun es
von der lieber zurückgehalten oder von den Nieren ausgesehieden werden; man
findet daher bei SulfoDaüutoxication nicht immer Hämatoporphyrinurie, selbst nicht
bei tödtlichem Ausgange.
Anschliessend an die Berichte von Litten nnd Glaser, Senator67)
über das Auftreten von Cylindern im Harn gesunder und nur leicht kranker
Menschen hat auch Daiber öfter, besonders bei Amyloiddegeneration und Circu-
lationsstörungcn , niemals aber im albnmenfreien Harn zeitige Gebilde trageude
oder einschüessende Cylinder angetroffeu. Er bezieht dieses Vorkommen auf
eine eventuell vorübergehende Anomalie im Sccretionsapparate der Niere und
betont, dass dasselbe häufig einer eigentlichen Albuminurie vorangehe. Zu dem-
selben Resultate gelangt Radomyski 67*), der die Cylindrnrie ganz besonders bei
denjenigen Krankheiten antraf, die in irgend einer Weise mit Cirenlationsstörungen
Zusammenhängen, ganz besonders bei Herzkrankheiten, jedoch auch hei ander-
weitigen Erkrankungen, Lungentuberkulose, Kachexien. Erkrankungen des Central-
nervensystems u. s. w. Bei Gesunden fanden sich im durch Centrifugiren ge-
wonnenen Sedimente des Harns niemals Cylinder. Radomyski nimmt als die Ent-
stehuugsursachc der Cylinder die Coaguiation kleiner ansgeschiedener Eiweiss-
mengen in den Nierencunälchen an und verwirft jene Annahme, welche das
Entstehen der Cylinder auf einen Secretionsvorgang aus den Epithclien zurückführt.
Zur entgegengesetzten Anschauung kommt Kossler. 6,b) Er fand in einer Reihe
von Fällen Cylindrurie bei gleichzeitigem Fehlen von Serumeiweiss hei den ver
schicdensten Erkrankungen, besonders häufig bei chronischer Lungenschwindsucht,
ferner bei Endocardüis rheumatica , bei Scarlatina nnd Typhv t abdominalis,
bei acuten Lungenerkrankungen und in zwei Fällen von Phosphorvergiftung.
Die gefundenen Cylinder zeigten alle vorkommenden Typen, selbst Blutcylinder
wurden beobachtet, ln den meisteu Fällen nun zeigte sich ein Zusammenfällen
dieser Erscheinung mit dem Auftreten von Nucleoalbnmin im Harn, und da letz-
teres als Ausdruck einer Schädigung des Nierengewebes betrachtet werden muss,
so bezieht Kossler das Auftreteu beider Erscheinungen bei Icterus, acuten In-
fectionskrankheitcn, Intoxieationcn etc., auf eine solche. Dafür spricht auch die
mikroskopische Untersuchung der zur Obduction gelangenden Fälle, welche deut-
lich degenerative Veränderungen aller Art bis zur vollständigen Nekrose an den
Epithelien der Harncanälchen gewöhnlich herdförmig umschriebener Nieren-
abschnitte erkennen Hess.
(Jeher den Werth der Leukocytenzählungen im Harne für die
Diagnostik bat Reinecke68) auf der medicinischen Klinik in Jena Untersuchungen
gle
mit Hilfe des THuMA-ZKtss’schen Apparates ausgeführt. Die Sicherheit der Methode
leidet dadurch, dass eine vollkommen gleichmässige Mischling des Sedimentes mit
dem Harn auch durch lSnger dauerndes Umschütteln nicht erreicht wird : auch
können die sich bildenden Eilerklumpen unter Umstünden die Zählung über-
haupt unmöglich machen. Immerhin erhält man durch die Zählungen ein an-
schauliches Bild von dem Krankheitsverlauf. Sie können auch zur Entscheidung
der Frage beitragen, ob eine Pyelitis mit Nephritis complicirt ist, wenn man zu
gleicher Zeit Eiweissbestimmnngen an filtrirtem Harn ausfuhrt; wobei man nach
den Untersuchungen Goldberg ’s für 100.000 Eiterzellen einen Eiweissgehalt von
l°/oo annimmt. Doch ist man auch hier nicht in jedem Falle berechtigt, eine
Nephritis anzunchmen, wenn der Eiweissgehalt etwas grösser ist, als den Leukocyten-
zablcn entspricht. Reixeckk macht zugleich auf diecolossnle Zellmenge aufmerksam,
die der Körper bei schweren Pynrien verliert. Er zählte in einem Falle 57 Milliarden
Leukocyten in 24 Stunden , also mehr als Leukocyten im Blute vorhanden sind.
Auch GOhDBERG *») betont neuerdings den Nutzen der Leukocyten-
zählung im Harn für die Beurtheilung des Verlaufes eines Entzllndungsprocesses
und seiner Beeinflussung durch die Therapie. Er hält seine Ansicht aufrecht,
dass mehr Eiwciss als 1%„ im Filtrat auf 50.000 Eiterzellen als primäres,
renales Hameiweiss anzusehen ist. GOLDBERG hat auch bei Hämaturie Zellen-
zählungen gemacht. Die rothen Blutkörperchen müssen im frisch gelassenen Urin
gezählt werden , da sie sehr bald ausgelaugt werden und im Gegensatz zu den
Leukocyten rasch zerfallen ; auch wirkt die Beimengung von Gerinnsel als Fehler-
quelle. Um die flüssigen Bestandtheile eines Blutharnes von seinen festen zu
trennen, ist das Filtriren die geeignetste Methode. Die Grösse des Blutverlustes
kann leicht durch Rechnung ermittelt werden , womit zugleich die Bestimmung
der Eiweissmenge , welche auf Rechnung des Blutes kommt, ermöglicht wird.
Goldberg gelangt zum Schluss, dass, wenn ein Blutharn weniger als 1 — 8000
Blutkörperchen im Cubikcentimeter enthält, eine nach den gewöhnlichen Methoden
nachweisbare Eiweissansscheidung im Filtrat Beweis einer renalen, wahren Albu-
minurie ist. Ferner, wenn der Bruch, den man erhält, wenn man den Promille-
Gehalt des Filtrats an Eiwciss in die Zahl der Blutkörperchen dividirt, grösser
ist als ’/joooo > 80 bestellt neben der falschen eine wahre Albuminurie, ist er
kleiner, so besteht entweder keine oder nur eine geringe wahre Albuminurie.
Zur Conservirung von organisirten Harnsedimenten empfiehlt
Fisch KL Centrifugirung, darnach Auswaschen des Sedimentes bis zur Entfärbung
mit physiologischer Kochsalzlösung. Nach Decantiren der überstehenden Flüssig-
keit wird eine Mischung von gleichen Theilen Glycerin und Wasser, welcher
man auch eine 2° Qige gesättigte, alkoholische Thymollösung hinzufUgcn kann,
auf das Sediment geschichtet und dieses verschlossen aufbewahrt. Das so conser-
virtc Sediment lässt sich nach der von KXOLL angegebenen Methode leicht färben;
durch Lackcinkittung des Deckglases lassen sich Dauerpräparate herstellen.
Die von E. Ludwig zum Nachweis von Quecksilber im Harne zu-
erst mit Hilfe von Zinkstaub angegebene Amalgamirungsmethode hat bekanntlich
trotz und wegen ihrer Verwendbarkeit zahlreiche Modificationen in der Richtung
erfahren , dass statt des Zinks andere Metalle und Metalllegirungcn vorge-
schlagen wurden. So haben n. A. FCrbkixgek Messingpulver, ALMEN’ frisch ge-
glühten Kupferdraht empfohlen. Auf Grund der Erfahrung, dass körniges Gold
eine sehr bedeutende Amalgamationsfähigkeit besitzt, schlägt nun A. JOLLES6')
körniges Gold zum qualitativen und quantitativen Nachweis des Quecksilbers
im Harn vor. Dabei wird überdies Zinnchlorid zur Zerlegung der im Harne
enthaltenen Quecksilberverbindung benützt. Der Nachweis des Quecksilbers wird
in folgender Weise geführt: 100 — 300 Ccm. Harn je nach der Menge des Queck-
silbers, welche im Harne enthalten ist, werden mit 2 Grm. reinem, körnigem
Golde versetzt, mit 1 — 3 Ccm. coneentrirter Salzsäure angesäuert, erwärmt und
dann zunächst mit 2 — 3 Ccm. einer gesättigten, frisch bereiteten Zinnchlorürlösung
Rocydop. JaUrlmcher. VC. J7
258
HARN.
versetzt. Entsteht eine flockige Ausscheidung von Zinnhydroxyd, so war zu wenig
Salzsäure zugesetzt worden, was sich nachträglich corrigiren lässt. Nun wird
unter Umrflhren in die auf circa 70 — 80° C. erwärmte Flüssigkeit circa 30 bis
50 Ccm. der frisch bereiteten Zinnchlorfirlösung zugesetzt, weitere 5 Minuten unter
Unirühren erwärmt und dann einige Minuten in Ruhe gelassen. Nunmehr giesst man
die über dem Amalgam stehende Flüssigkeit ab, was sehr leicht ohne Verluste vor
sich geht, nachdem das Amalgam in Folge seines hohen specifischen Gewichtes stets
am Boden verbleibt. Man wäscht auf diese Weise mehrmals das Amalgam mit destil-
lirtem Wasser aus, bis das Wasser keine Chlorreaction zeigt, was in einer Minute
zu erreichen möglich ist. Hierauf wird das reine Amalgam in demselben Gefässe
mit 3 — 4 Tropfen einer warmen coneentrirten Salpetersäure versetzt, diese durch
Schwanken des Gefässes mit dem Amalgam in innige Berührung gebracht, dann in
ein Reagensglas abgegossen, mit einigen Tropfen destillirtem Wasser verdünnt, ab-
ktlhlen gelassen und dann die gleiche Menge der Zinchlortlrlösung zugesetzt. Waren
in dem zu untersuchenden Harne nur 0,0002 Grm. Quecksilber vorhanden , so
zeigt sich noch eine sehr deutliche Trübung und lassen sich auch noch geringere
Quecksilbermengen nachweisen, wenn man neben der Probe ein Rcagensglas hält,
welches gleich hoch mit destillirtem Wasser gefüllt ist. Will man den Nachweis
des Quecksilbers durch den Beschlag führen , so wird das erhaltene Amalgam
mit Wasser gewaschen, hierauf mit Alkohol und dann mit Aethcr behandelt und
in ein Röhrchen von schwer schmelzbarem Glase von circa 10 Cm. Länge und
1 Cm. Durchmesser gebracht. Das Amalgam wird nunmehr im Trockenkasten
bei circa 40° C. etwa 5 Minuten getrocknet und dann schwach geglüht, wobei
der Quecksilberbeschlag bei den geringsten Spuren von Quecksilber sichtbar wird.
Letztere Art des Nachweises kann auch aualog, wie dies E. Ludwig bei dem
Quecksilberamalgam in Anwendung brachte, zur quantitativen Bestimmung
benützt werden. Man braucht blos das Quecksilber vollständig aus dem Röhrchen
auszutreiben. Hat man vorher das Gewicht des Röhrchens + Amalgam bestimmt und
nach dem Vertreiben des Quecksilbers die Wägung wiederholt, so ergiebt die
Ditferenz direct die Menge des Quecksilbers in der verwendeten Flüssigkeits-
meuge. Das bei der Methode auf nassem Wege zurüekhleibende Gold kaun, nach-
dem es gewaschen und ebenso das geglühte Gold sofort zu einer weiteren
Analyse benützt werden.
Einen Fall von Hydrothionurie beobachtete Sa vor ss) bei einer Eklam-
ptischen, die längere Zeit comatös war. Der mittels Katheter entleerte Harn
hatte einen intensiven Geruch nach Schwefelwasserstoff; nach einigen Tagen trat
ausserdem eine Pneumaturie auf, die in kurzer Zeit verschwand , während der
Schwefelwasserstoffgehalt noch einige Tage I »esteheu blieb. Der frisch entleerte
Harn enthielt reichliche Mengen von Baclerium coli, welches, wie Savor nach-
weiseu konnte, fällig ist, im Harne Schwefelwasserstoff zu entwickeln, wenn dem-
selben 2% Pepton oder 0,5° 0 schwefelsaures Natron beigemischt wurde. Es
dürfte sich also um eine Peptonurie im Wochenbette gebandelt haben und die
Infeetion des Harns mit Bacterium coli durch den Katheterismus, den das Coma
nöthig machte, vermittelt worden sein.
In einem von M. Wolff ,s) in der Berliner med. Gesellschaft demon-
strirten Fall von Bacteriurie bei einem Mann wurde der Kranke niemals mit
Sonden oder Katheter behandelt; der Harn mit fötidem Geruch wurde stets trübe
entleert. Die Trübung war verursacht durch zahllose Mengen von Bacterium
coli ■ Eiterkörperchen waren fast nicht vorhanden. Am wahrscheinlichsten ist es,
dass die Mikroorganismen vou unten herauf in die Blase gelangt sind, wenn man
bedenkt, dass sieh das Bacterium coli am Präputium, sowie an der Vulva und Vagina
vorfindet. Infeetion von aussen oder vom Darm her war in dem Fall ausgeschlossen.
In einem ähnlichen Falle fand B. Goldbkrg *•) im Drin zahllose Kokken
mit geringer Eigenbewegung, während sonst keine weiteren körperlichen Elemente
vorhanden waren. Die Kokken waren etwa a/j so gross als Gonokokken und lagen
in Ketten und Haufen. Der Urin war gelblich undurchsichtig und roch etwa wie
gle
HAHN.
259
ein angebrannter Fisch ; auch nach stundenlangem Stehen iin Spritzglase trat keine
Sediinentirung ein. Nach 5,0 Salol täglich verschwanden die Bakterien in 4 Tagen.
Die Existenz des Typhus lässt sich nach Baakt e4) bakteriologisch
aus dem Urin nicht vor der klinischen Diagnose erweisen. In 4 von 27 Fällen
wurden Typhusbacillen, in weiteren 4 Fällen das Bakterium coli com . gefunden.
Andererseits konnten Wbight und Semple*4) unter 7 Fällen von Abdominaltyphus
die Typhusbacillen sechsmal im Urin auffinden. Sie folgern daraus die Noth*
Wendigkeit, den Urin der Typhuspatienten unschädlich zu machen.
Literatur. ') A. v. Koränyi, Untersuchungen über die Harnabsonderungen bei
Gesunden und Kranken. Ungar. Arch. f. Med. III. Jahrg. Ref. nach Jahresber. f. Thier-
Cheiuie. XXIV. — a) A. v. Koränyi u. A. Fisch, Ueber den Zusammenhang zwischen der
quantitativen Zusammensetzung des Blutes und des Harnes. Ibidem. — *)Fr. Tauszk,
Untersuchungen in Bezug auf die quantitativen Verhältnisse der ausser dem Kochsalz ira
Haru gelöst enthaltenen festen Substanzen. Ibidem. — 4) A. Fisch u. J. Koväcs, Beiträge
zur Tagesschwankung der Nierenfunction. Ibidem. — &) Drescr, Arch. f. experim. Path. u.
Pharm. XXIX. — •) Ludwig Waltif Ueber die Einwirkung des Atropins auf die Harn-
•ecretion. Arch. f. experim. Path. u. Pharm. XXXVI, pag. 411. — 0 Schmied, Zur quanti-
tativen Bestimmung des Harnstoffes im Harn. Arch. f. Pbyiiol. von du Bois-Reymofld. 1894,
pag. 52. — ®) Rumpf (Hamburg), Klinische und experimentelle Untersuchungen über die
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Gesellscb. deutscher Naturforscher u. Aerzte in Wien. Abth. f. innere Med. — •) W. Wein-
traut], Ueber den Einfluss des Kucleins der Nahrung auf die Harnsäurebildung. Berliner
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der Harnsaure im Harn. Zeitschr. f. phvsiol. Chemie. XXI, pag. 288. — 13) E. Riegler,
Eine Methode zur Bestimmung der Harnsäure, beruhend auf der Eigenschaft, Fehling’s Lösung
in der Wärme zu rothem Kupferoxydul zu reduciren. Zeitschr. f. analvt. Chemie XXXV,
pag. 31. — ,4) P. F. Richter. Ueber Harnausscheidung der Leukocvtose. Centralbl. f. innere
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Krüger, Das Verhalten von Harnsäure, Adenin und Hypoxanthin zu Kupfersulfat und
Xatrinmsulflt, respective Natriumthiosulfat. Zeitschr. f. phvsiol. Chemie XX. pag. 170. —
IT) M. Krüger, Eine neue Methode zur Bestimmung der Harnsäure im Harn. Zeitschr. f.
phvsiol. Chemie. XXI, pag. 311. — **) Rudolf Kolisch u. Hermann Dostal, Das Ver-
halten der Alloxurkörper int pathologischen Harne; niitgetheilt von Dr. Kolisch. Wiener klin.
Wochenschr. 1895, Nr. 24- — ,,l St. Bondzynski u. R. Gott lieb, Ueber Methylxanthin,
ein Stoffwcchstdproduct des Theobromina und Coffeins. Bericht d, Deutschen ehern. Gesellsch.
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des Leukämikers. Arch f. experim. Path. u. Pharm. XXXVI, pag 127. — **) Max Sieg-
fried. Ueber Fleiachsänre. Arch. f Anat. u. Physiol. Physiol. Abth. 1894, pag. 401. —
**) C. W. Rockwood, Ueber das Vorkommen der Fleischsäure ira Harn Arch. f. Anat. u.
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im Ham. Centralbl. f. innere Med. 1895, Nr. 11. — *4) P. Palma (Prag), Ueber das Ver-
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1895, Nr. 43. — **) Ernst Becker, Ueber Acetonurie nach der Narkose. Virchow’s Arch.
CXL. pag. 1. — *7) Emilio Parlato, Ueber eine neue Methode der quantitativen Aceton-
bestimmung im Harne. Ibidem. CXL, pag. 1. — s8) E. Salkowski, Ueber die Untersuchung
de« Harns auf Aceton. Pflügers Arch. f. d. ges. Physiol. LVI, pag. 339. — 2*) Maler ba,
Un nouveau reactif pour reconnaitre Vacetone et l’acide urique. Arch. ital. de Biol. XXIII,
pag 329. — ,0) Wein traud, 1. Ueber die Ausscheidung von Aceton, Diacetsänre und £-Oxy-
b attersäure beim Diabetes mellitus ; 2. Ueber die Beziehungen der Lävulinsaure zur Acetonurie.
Arch. f. experim. Path. n. Pharm. XXXIV, pag. 109 u. 368. — **) Alois Strasser, Ueber
die Phenolausscheidung bei Krankheiten. Zeitschr. f. klin. Med XXIV, pag. 543. — J,l Bruno
Oppler, Ueber ein Verfahren zur Feststellung der Intensität der sogenannten Gerhardl'schen
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salpetriger Saure im frischen Harn. Fortschritte der Medicin. 1895. — 34) 8. Lang, Ueber
die Umwandlung des Acetonitrils und seiner Homologen im Thierkörper. Arch. f. experim.
Path. u. Pharm. XXXIV, pag. 247. — 3*) W. Paschel es. Ibidem, pag. 281. — 3Sft) P. Mohr,
Ueb«r Schwefelbestimmung im Harn. Zeitschr. f. phvsiol. Chemie. XX, pag. 556. — **) Sieg-
fried Ne umann u. Bernhard Vas, Ueber die Ausscheidung des Calciums und Magnesiums
unter physiologischen und pathologischen Verhältnissen. Ungarisches Arch. f. Med. III,
pag. 3u7. — *7) Siegfried Neumann, Ueber die Verhältnisse der Ausscheidung von Cal-
17*
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260
HARN. — H Y DROTH IONURI E.
cium, Magnesium und Phosphorsäure bei Osteomalncie. Ibidem, pag. 276. — *8) K. A. H Mör-
n er (Stockholm), Uni ersuch un gen Uber die Proteins! uffe und die eiweissfällenden Substanzen
des normalen Memchenliarns. Skandinavisches Aich. f. Physiol. 1895, VI, pag. 332 — 437. —
3B) Olt, Ueber Nucleoalbumin im menschlichen Ham. Zeitschr. f. Heilkunde XVI. pap. 177- —
40) H. Zeehuiseu, Ueber die Bedeutung der Verdünnung des Harns bei der Untersuchung
auf Eiweis?, Zucker und Gallenfarbstoff Zeitsehr f. klin Med. XXVI, Heft 1 und 2. —
41) Krete u. Matth es, Ueber febrile Albuniosurie. Centralbl. f. innere Med. Is95, Nr. öl. —
4f) Arthur Edmunds, The effiect of saturatiny normal urine with certain neutral »alte.
Journ. of Physiol. XVII, pag. 451. — 4*) A. Ott, Beiträge zur Lehre von der Albuminurie.
Deutsches Arcb. f. klin. Med. LIII, Heft 5 u. 6. — 4I) K. Osswald, Cyklische Albuminurie
und Nephritis. Zeitschr. f. klin. Med. XXVI, Heft 1 n. 2. — 4*l Heller, Uela*r mercurielle
Albuminurie. Vortrag in der Berliner med. Gesellsch. Berliner klin. Wochenschr. 1895, Nr. 45.
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keiten. Pflfiger’s Arch. f. d. ges. Physiol. LIX, ]>ag. 479 und LX. pag. 136. - Wilhelm
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Peptons im Harn. Centralbl. f. d. med. Wissenschaften. 1894, Nr. 7. — 4#) Zdenek Peska,
Zur volumetrischen Bestimmung des Zuckers. Zeitschr. f. Rübenzuckerindustrie. XXXIV,
pag. 165; Zeitschr. f analyt. Chemie XXXV, pag. 93. — w) Friedrich Lunz, Ueber
alimentärt* Glykosurie bei Graviden. Wiener med. Presse. 1895, Nr. 49. — 4I) Lafon, Fedue-
tion de la liqueur de Fehling par lee urine s renferment du mdfonal. La med. moderne. Mai
1895, pag. 170. — **) Th. Lohn stein, Ueber die Entfärbung zuckerhaltiger Urine mit
Thierkohle. Allg. med. Central-Ztg. 1895, Nr. 74. — M) Th. Lohnstein, Ueber die densi-
metrische Bestimmung des Traubenzuckers im Harne. Pflüger'» Arch. f. d ges. Physiol. LXII,
pag. 82. — M») E. Salkowski, Ueber die Pentosurie, eine neue Anomalie des Stoffwechsels.
Berliner klin. Wochensehr. 1895. Nr. 17, pag 364. — J*b) Ferdinand Blumenthal,
Klinische Beobachtungen über Pentosurie Ibidem. Nr. 26. pag. 567. — M) Beck, Ueber
Entstehung des Urobilins. Wiener klin. Wochenschr. 1895, Nr. 35. — 5S) Adolf Jo 11 es,
Ueber den Nachweis von Urobi in im Harne. Arch. f. d. ges. Physiol. LX1, pag. 623. —
*8) B I. Stokvis. Zur Pathogenese der Hämatoporpbvnorie. Zeitschr f klin. Med 1895,
XXVIII, pag. 1— 10. — 4;) A. Da i her, Beitrag zum Auftreten von Cylindern im Harn.
Correspondenzbl. f. Schweizer Acrzte. 1894. — t7a) Radom yski, Die Harncylinder im
eiweissfreien Harn. Unverrichts ges. Abhandl. aus der med. Klinik zu Dorpat. 1894,
pag. 24 1. — i7b) A. Kosslcr. Ueber das Vorkommen von Cylindern im Harne ohne gleich-
zeitige Ausscheidung von Serumeiweiss. Berliner klin. Wochenschr. 1895. Nr. 14 und 15 —
Ä*) K. R ei necke, Leukocytenzählongcn im Harn nnd ihr Werth für die Diagnostik.
Berliner klin. Wochenschr. 1895. — B. Goldberg, Zur Kenntniss der Pvnrie und
Hämaturie. Ibidem. — Ä0) Fi sc hei. Notiz zur Conservirung «rganisirter Harn Sedimente.
Prager med. Wochenschr. 1>95, Nr. 12- — 4>) A dolf Jo II es. Ueber eine eiufacbe und
empfindliche Methode zum qualitativen und quantitativen Nachweis von Quecksilber im Ham.
Monatsh. f. Chemie 1895. pag. 684. — **) Senator, Ueber Peptonurie. Deutsche med.
Wochenschr. 1895. — 83) 8a vor, Ein Fall von Hydrotliionurie nach lang andauerndem
Coma eclampticum. Wiener klin. Wochenschr. 1895, Nr. 8 u. 9. — 44 ) M Wolff. Mittbei-
lungen über Bacteriurie. Berliner klin. Wochenschr. 1895, Nr. 7. — 6i) B. Goldberg. Ueber
Bacteiiurie. Centralbl. f. d. Kranklieiten d. Harn- n. Sexualorgane. 1895, Heft 7. — <s) Haart,
Bakterien im Ham bei typhösem Fieber. Inaug.-Dis^ert. Utrecht 1-95. — 6T) W right and
S e nt p 1 e , On the. preeence of typhoid bucilli in the urine of patients sujfering front typhoid
fever , Centralbl. f. innere Med. 1S95. Nr. 46 Loebiscli.
Heilserum. s. Diphtherieheilserum, pag. 1 1 G.
Herpes tonsurans, s. Dermatomykosen, pag:. 111.
Heteroxanthin, «. Harn, pag. 242.
Holigarna. Alle Arten der in Vorder- und llinterimlien verbreiteten
Anacardiaceen-Gattung Holigarna schwitzen in trockener Jahreszeit einen schwarzen
Firniss aus, der zum Schwarzfärben von Holz und zum Zeichnen der Wäsche
benutzt wird und ausserdem auf der Haut FntzUndung und Blasenhildnng hervor-
ruft. Aus dem Fruchtfleische von Holigarna ferrv ginea lloxb. , einer hinter-
indischen Art, gewann Hoopkr ein dem Cnrdol nahestehendes oder damit identisches
irritirendes Oel, das vermnthiieh auch in anderen Species vorhanden ist.
Literatur: David Hooper, Holigarna and its blielerintf prnmplr. l'tianu.
Journ. 29. Juni 1895. pag. 119“. Huseiuann.
Huntington’sche Krankheit, s. Chorea hereditaria, pag. 71.
Hydrotliionurie, s. Ham, pag. 258.
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I. J.
Immunität. Wenn unter genau denselben Bedingungen ein Individuum
von einem 1\ ra n khei tsprocess befallen wird, ein anderes aber gesund bleibt, so
nennen wir das erstere empfänglich und das andere immun.
Wir wenden den Immunitätsbegriff in der modernen Medicin vorzugs-
weise an auf die Infectionskrankheiten , welche durch von aussen stammende
materielle Agentien (Infectionsstoffe) hervorgerufen werden. Sowohl das
Studium der beichten Infectionsstoffe /Parasiten) wie das der nicht belebten
(Gifte) hat ergeben, dass eine absolute Immunität nicht existirt. Weiase Mäuse
gelten z. B. als tuberkuloseimmun , weil solche Quantitäten von dem Infections-
stoff für diese Thiere unschädlich sind, durch welche audere Mäuseracen und
andere viele grössere Thierspeeies sicher krank gemacht werden; Hühner gelten
mit Recht als tetanusimmun. Man kann aber auch weisse Mäuse durch Tuberkel-
bacillen und Hühner durch das Tetauusgift krank machen, wenn sehr stark
wirksame und grosse Mengen dieser Infectionsstoffe incorporirt werden.
Wie es eine absolute Immunität nicht giebt, ebenso wenig giebt es
einen absoluten Mangel derselben. Sowohl bei der Incorporation von lebenden
Mikroorganismen (parasitäre Infection), wie von nicht belebten lnfections-
stoffen (toxische Infection) kann eine .Minimaldosis auch für die empfäng-
lichsten Individuen herausgefunden werden, unter welche nicht heruntergegangen
werden darf, wenn eine krankmachende Wirkung erreicht werden soll.
Immunität und Empfänglichkeit sind also in Wirklichkeit keine conträren
Gegensätze, sondern diese Ausdrücke bezeichnen nur einen höheren oder geringem
Grad der Widerstandsfähigkeit gegenüber einem Iufectionsstoff. Sehr genau ist
durch experimentelle Studien die Widerstandsfähigkeit verschiedener Thierarten
gegenüber einigen Bakteriengiften, namentlich gegenüber dem Diphtlicriegift und
dem Tetanusgifl, dem Choleragift und dem Tuberkulosegift festgestellt worden.
Es hat sich dabei eine auffallende Gleichmässigkeit in dem Verhalten der In-
dividuen innerhalb der einzelnen Thierspecies ergeben, so dass mit grosser Sicher-
heit die unschädliche, die krankmachende und tüdtliche Dosis im Einzelversuch
vorausgesagt werdet! kann.
Zwischen der Widerstandsfähigkeit gegenüber den krankheiterzeugenden
Bakterien (Bakterien lmmunität) und gegenüber den von den Bakterien er-
zeugten Giften (G ift-Immun ität) besteht im Allgemeinen ein derartiges Ver-
hältniss, dass die Empfänglichkeit für die Bakterieuinfeetion mit der Giftempfind-
lichkeit steigt und fällt. Jedoch erleidet dieser Satz mancherlei Ausnahmen. So
sind beispielsweise gegenüber dem Diphtherie g i f t Kaninchen empfindlicher als
Meerschweinchen, während sich die Sache umgekehrt verhält gegenüber den
lebenden Diphtherie bacilleu.
Sowohl die Bakterien-Immunität wie die Gift-Immunität kann angeboren
oder im Individuallebeu erworben sein.
Gift-Immunität. Der Mechanismus des Zustandekommens der Immunität
ist gegenwärtig bis zu einem gewissen Grade verständlich geworden bei der Gift-
immunität; und zwar haben wir da die besten positiven Kenntnisse über er-
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262
IMMUNITÄT.
worbene Giftimmunität. Alle giftigen Infectionsstoffe, die wir bis jetzt kennen
(Diphtheriegift, Tetanusgift, Tuberkulosegift, Pneumoniegift, Choleragift. Typhus-
gift, Schlangengift u. s. w.), haben die Eigenschaft, dass sie in solcher Dosis, in
welcher sie für ein Individuum noch nicht tödtlieh sind, einen mit Störungen
der Wärmeregulirung und localen EntzUndungserscheiuungen einhergehenden
Krankhcitsprocess anslflsen. Nach dem l eberstoheu desselben findet man bei den
giftbehandelten Individuen den Grad der Giftempfindlichkeit verändert, vermehrt
oder vermindert. Ob das eine oder das andere der Fall ist, hängt von der Do-
sirung des Giftes ab. Bei geeigneter Dosirung lässt sich mit Sicherheit die Gift-
empfindlichkeit vermindern, und wenu dann methodisch mit immer grösseren Gift-
dosen die Behandlung wiederholt wird, so werden auch die empfindlichsten In-
dividuen immun gegen die allergrössten Giftdosen. Das bekannteste Beispiel einer
solchen Immunisirung ist die linmunisirung gegenüber dem durch Tuberkulin
repräsentirten Tuberkulosegift, Das Schema der von R. Koch durchgeftihrten
Tuberkulinbehandlung des Menschen kann gleichzeitig als das Vorbild jeder
anderen Giftimmunisirung bezeichnet werden. Diese willkürlich erzeugte Gift-
immunität beruht nun ausnahmslos auf der Entstehung eines Gegengiftes (An-
titoxin) im Organismus des immunisirten Individuums. Gradweise mit der immer
weiter gehenden Giftgewöhnnng nimmt auch das Antitoxin an Menge zu. Jede
Giftbehandluug hat nur die Entstehung eines einzigen Antitoxins zur Folge: die
Angaben, nach welchen durch ein Gift mehrere Antitoxine entstanden sein sollen,
haben sich bisher nicht bestätigt ; und wo scheinbar etwas derartiges beobachtet
ist, da handelt es sich um kein reines Experiment. .So ist nach Behandlung von
Pferden mit Diphtheriegift ein Streptokokkengegengift gefunden worden. Nun
bekommen nicht selten die mit Diphtheriegift behandelten Pferde Abscesse, in
welchen sich Streptokokken nachweiseu lassen. Solche Pferde stehen also unter
dem Einfluss einer Strcptokokkeninfection und können auf diese Weise Strepto-
kokkenantitoxin nach dem Ueberstehen der Infection producirt haben.
So lange als nicht einwandsfreie Beweise für das Gegentheil lu-ige-
bracht sind, müssen wir daran festhnlten, dass ein durch die Immunisirung im
lebenden Körper entstehendes Antitoxin immer nur gegenüber einem einzigen
Gifte wirksam ist.
Wir kennen bis jetzt ein Diphtherieantitoxin, ein Tetanusantitoxin, ein
Choleraantitoxin, ein Typhusantitoxin, ein Pneumonieantitoxin, ein Tuberkulose-
antitoxin (Antituberkulin) und ein Antitoxin für das Schlangengift. Ausserdem sind
Antitoxine für mehrere Pflanzengifte nachgewiesen worden (Antiriein, Antiabrin ).
Die Antitoxine sind in der Blutflüssigkeit « Blutantitoxin) der immuni-
sirten Individuen gelöst und werden am besten gewonnen aus dem nach der
Blutgewinnung sich abscheidenden Serum. Sie werden nachgewiesen durch das
Thierexperiment. Dasjenige Gift, gegenüber welchem ein Antitoxin wirksam sein
soll, wird in tödtlieher Dosis einem geeigneten Versuchsthier einverleibt ; wird
dann nach snbeutaner Iujection der auf Antitoxin zu prüfenden gelösten Suit-
stanz der Vergiftungstod verhütet, so gilt «las als ein Beweis für das Vorhanden-
sein von Antitoxin. Quantitativ werden die Blutantitoxine nicht nach Gewicht oder
Volum , sondern nach der antitoxischen Wirksamkeit bestimmt. Sehr genaue
Werthe erhält man bei Anwendung der Mischungsmethode. Eine genaue titrirte
Giftmenge, d. h. eine genau bekannte Zahl von tödtliehen Minimaldoscn des
Giftes, werden mit der auf Antitoxin zu prüfenden Substanz in verschii'deneu
Verhältnissen gemischt und Versuchsthiereu unter die Haut gespritzt. Durch die
Zahl von tödtliehen Minimaldosen, welche von einem bestimmten Volum oder
Gewicht der zu prüfenden Substanz gerade noch vollkommen unschädlich ge-
macht werden, wird der Gehalt der letzteren an Antitoxin angegeben. Zur Ver-
einfachung des Ausdruckes für die Werthbestinunung bedient man sieh auch der
Ausdrücke Normalgift und Normalantitoxin. Der Titer für das Diphtherie-
Normalgift und Diphtherie-Normalantitoxin wird aufbewahrt im Reichs-
IMMUNITÄT
‘4H3
gesundheitsamt in Berlin und dient ftlr die preussische Controlstation als Aus-
gangspunkt fiir die staatliche Prüfung des Diphtherieheilserums.
Dass nicht blos bei Laboratoriumsthiereu, sondern aucli beim Menselien
die erworbene Giftimmunität auf eine Antitoxinproduction zurück zufithren ist, hat
zum Theil direct bewiesen werden können, zum Theil wird dies ohne direkten
Beweis als Thatsache angenommen.
Die erworbene Giftimmunität geht allmäiig wieder verloren, wenn nicht
von Zeit zu Zeit durch Giftzufuhr erneute Keactionen nach dem Schema der
Tuberknlinbehandlung erzeugt werden. Der Verlust der Immunität beruht darauf,
dass durch die Nieren, den Darm und die Ausführungsgänge von Drüsen das
die Immunität bedingende Antitoxin ausgeschieden wird.
Ohne voraufgegangene Giftbehandlung kann eine Giftimmuuität will-
kürlich hergestellt werden durch Einverleibung von fertigem Antitoxin.
Die Antitoxin-Immunität ist als eine hämatogene Gift-Immunität
zu bezeichnen, da sie unabhängig ist von dem Zustande der lebenden Körper-
theile. Die Production des Antitoxins ist zwar eine Function lebender Körper-
zellen, aber das fertige Antitoxin übt seine immunisirendc Wirkung aus ohne
irgend welche Beeinflussung der organisirten Körpereleincnte, einzig und allein
dadurch, dass es das Gift neutralisirt und unschädlich macht. Es ist ein Speci-
ficuni im strengsten Sinne des Wortes, denn von allen Dingen in der Welt hat
nur das Gift, welchem gegenüber es ein Gegengift ist, eine Affinität zu ihm,
und seine Existenz kann auf keine andere Weise wahrgenommen werden, als durch
die Aufhebung der Giftwirkung.
Insofern als mit der Aufhebung der Wirkung eines Giftes durch das
zugehörige Antitoxin einer krankmachenden Wirkung vorgebeugt wird, ist das-
selbe als Immunisirungsmittel zu bezeichnen. Wird nach dem Ausbruch von Ver-
giftungserscheinungen das im vergifteten Organismus noch vorhandene Gift durch
das Antitoxin unschädlich gemacht, so nimmt die Krankheit einen günstigeren
Verlauf und das Antitoxin wird damit zu einem Heilmittel.
Die Antitoxin-Immunität ist nicht vererbbar. Es kann eine Vererbbarkeit
vorgetäuseht werden, wenn das Blutantitoxin von der Mutter durch den fötalen
Kreislauf an den Fötus mitgethcilt oder nach der Geburt mit der Milch an das
Junge abgegeben wird. Es entsteht dabei eine passagere Antitoxinimmunität,
die nach Ausscheidung des Antitoxins verloren geht. Vom antitoxin immunen
Vater wird Immunität nicht auf die Deseendenten übertragen.
Anders liegen die Verhältnisse bei derjenigen Giftimmunität, welche ieli
als histogene bezeichnet habe; sie ist von Natur bei einem Individuum vor-
handen und wird von Generation zu Generation fortgeerbt. Durch Krankheiten,
durch die Ernährungsweise, durch Alter und Grösse, vor Allem aber durch Auf-
nahme eines Giftes kanu der Grad dieser Giftimmunität vorübergehend vermehrt
oder vermindert werden. Immer wieder aber kehrt er schon im Individualleben und
noch sicherer bei den Deseendenten zu der für jede Thierspecies zu findenden
Norm zurück. Es ist erstaunlich, wie gering bei gesunden gleichaltrigen Thieren
derselben Hace die individuellen Differenzen sind.
Es muss jedoch ausdrücklich betont werden, dass diese Gleiclimässigkeit
in der Giftempfindlichkeit nur für Thicre derselben Raee gilt. So sind es nur
die weissen Mäuse, die mau untereinander vergleichen darf, wenn man auf
denselben Grad der Widerstandsfähigkeit gegenüber dem Tetanusgift, dem Tuber-
kulosegift, dem Rotzgift, dem Typhusgift rechnet. Beispielsweise sind auch die
grössten Giftmengen des bis jetzt hergcstellten Tuberkulosegiftes fiir weisse
Mäuse ganz indifferent, während eine Spielart grauer Feldmäuse (Spitzmäuse)
schon auf verhältnissmässig kleine Tuberkulosegiftdosen mit tödtlich endender
Krankheit reagirt. Ausserordentlich verschieden ist die Giftempfindlichkeit bei
Thieren, welche verschiedenen Thierspecies angehören. Als Beispiel will ich blos
das Verhalten gegenüber dem Diphtheriegift anführen. Wenn man als Diphthcrie-
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IMMUNITÄT.
2*14
normalgift*) ein solches bezeichnet, welches in 0,04 Ccm. die teilt liehe Dosis für
1 Kgrm. lebend Meerschweinrhengewicht enthalt, so rcprSsentircn für 1 Kgrm.
lebend Mäusegewiebt erst 1000 Ccm. Diphthericnormalgift die tOdtliche Minimal-
dosis. Für eine Maus von 10 Grm. ist diese Giftmenge in 0,1 Ccm. meines
hundertfachen Normalgiftes enthalten.
Diese kolossalen Unterschiede in der angeborenen Giftempfindlichkeit
müssen wir auf eine besondere Einrichtung der helebten Körpertlieile zurück-
ftthreu. Sie sind wahrscheinlich das Resultat von Lebensbedingungen, welche un-
zählige Generationen hindurch in Kraft waren und einen allmäligen Einfluss
auf die Structur der organisirten Körperelemente, insbesondere auch auf die Forc-
pfianznngsorgane, ausgeübt haben. Antitoxin finden wir im Blute der von Natur
immunen Individuen nicht.
Ob bei lange Zeit andauernder und sehr buch getriebener Antitoxin-
Immunität schliesslich auch eine vererbbare Immunität entstehen kann, welche
eine verminderte Giftempfindlichkeit der Gewebe zur Voraussetzung hat, diese
Frage lässt sich bis jetzt nicht mit Sicherheit beantworten. Einige bei tetanus-
immunisirten Pferden beobachtete experimentelle Thatsachen glaubte ich früher
im bejahenden Sinne verwerthen zu können ; indessen durch das fortgesetzte Studium
ist diese Anschauung als nicht zutreffend erwiesen worden. Die Abnahme der
Giftempfiudlichkeit fand schliesslich Btets durch den Nachweis von Antitoxin in
den Körpertlüssigkciten vollständig ausreichende Erklärung.
Demgegenüber lässt sich mit voller Sicherheit eine vorüber-
gehende Zunahme der Giftempfindlichkeit willkürlich erzeugen. Nach
der Application einer krankmachenden Giftdosis ist für kürzere oder längere Zeit
eine Herabsetzung der angeborenen histogenen Immunität zu constatiren, welche
dadurch zum Ausdruck kommt, dass kleine Bruehtheile der ursprünglichen tödt-
lichen Minimaldosis den Vergiftuugstod herbeiführen.
Abgesehen von demjenigen Giftschutz, welcher durch die angeborene
Giftunempfindlichkeit und durch den vorübergehenden Gehalt der Körpcrfiüssig-
keit an Antitoxin zu Stande kommt, haben wir noch zu berücksichtigen die Schutz-
vorrichtungen, welche die Aufnahme von wirksamem Gift in die Cireulation ver-
hindern. Es sind das locale Schutzmittel, welche beispielsweise durch die äussere
Haut, durch die Epitheldeckc der inneren Körperoberflächen, durch die chemischen
Kräfte des Magendarminhaltes und der Secretionsorgane repräsentirt werden.
Daneben können wir noch die Giflausscheidung mit Koth und Urin nennen.
Baktcrien-I mmunität. Die zuletzt genannten Schutzmittel spielen
gegenüber den löslichen Giften nur eine untergeordnete Rolle. Viel wichtiger
sind sie für die Unschädlichmachung corpuscnliirer heterogener Schädlichkeiten,
zu welchen wir auch die Bakterien rechnen müssen. Im Verein mit den evacua-
torischcn , bakteriolytischeu und baktcriciden Kräften des Entzünduugsprocesses
sind jene Schutzmittel im Stande, die übergrosse Mehrzahl der in der Natur sich
vortindeudeu Bakterien unschädlich zu machen. Nur insoweit als ein pflanzlicher
Mikroorganismus gleichzeitig als ein Giftproducent im thierischen Körper auftritt,
gewinnt er die Fähigkeit, demselben verderblich zu werden.
Von denjenigen Schutzvorrichtungen, welche in den letzten Jahren be-
sondere Würdigung erfahren haben, sind namentlich aufzuführen die unter dem
Einfluss eingedrungener Bakterien zu beobachtenden Reactioneu, welche sich in
einer veränderten Thütigkeit der lebenden Gewebe und cellulären Elementartheile
äussern. Sehr eingehend ist durch METSCHKIKOFF die phagoeytüre Thätigkeit
gewisser Zellen studirt worden, welche in vielen Fällen zweifellos den Eindruck
der Zweckmässigkeit macht. Auch die exsudativen Proeesse, die man früher als
unerwünschte Krankheitssymptome zu verhindern und zu beseitigen suchte,
Gegenwärtig bezeichne ich aus hier nicht zu erörternden Gründen als Diphtherie-
Normalgift ein solches Gift, welches lomal starker wirksam ist, wie das in meinem Buche
„Infection und Desinfection* charakterisirte Normalgift.
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IMMUNITÄT.
265
lernen wir jetzt als unter Umständen nützliche Einrichtungen schützen. So hat
R. Pfejffkk gezeigt , dass das durch eine Bakterienart erzeugte Exsudat iu
der Peritonealhöhle die Fähigkeit haben kann , lebende Bakterien derselben Art
aulzulösen und dadurch abzutödten.
Selbst katarrhalische Eiterungen , Abscedirungen und Nekrosen erweisen
sich als geeignet, aus dem Organismus krankmnehende Bakterien zu beseitigen.
Auch die im Fieber sich äussernde Allgeincinreaction sehen wir jetzt nicht
mehr als eine mit allen Mitteln zu bekämpfende Krankheitserscheinung an, sondern
als ein Zeichen dafür, dass der thierische Organismus sieb durch eine qualitativ
geänderte und quantitativ gesteigerte Thfttigkeit abmüht, eingedrungener Schäd-
lichkeiten Herr zu werden.
Wie durch eine sachverständige Dosirung entzünduugs- und lieber-
erregender Bakterienculturen und Bakteriengifte alle dauernden Nachtheile ver-
mieden und nur der nützliche Effect eines Baktcrienschutzes erzielt werden kann,
haben die für praktische Zwecke unternommenen Immunisirungen an grossen
Thieren und die Tuberkulinbehandlung des Menschen zur Genüge bewiesen.
Immerhin muss es mit Freude hegrüsst werden, wenn die Möglichkeit
geboten wird, ohne Entzüudungsprocesse und ohne Fieber Bakterienschutz zu erlangen.
Diese Möglichkeit ist nun in der Tliat vorhanden. Wenn wir die Uiftwirkung der
Bakterien vollständig eliminiren, dann verhalten sich die Leiber derselben nicht anders
wie organische Fremdkörper, welche reactionslos einheilen und den Wirthsorga-
nismus noch weniger belästigen, als wie Farbstoffpartikel oder feinste Koldetheilchen.
Auf dieser Erkenntuiss beruht die willkürliche Immunisirung gegenüber
den Diphtheriebacillen und Tetanusbacillen durch das Diphtherie- und Tetanus-
antitoxin. Das Thierexperiment lehrt da, dass diese für empfängliche Thiere so
sehr verderblichen Bakterien, selbst in grossen Mengen unter die Haut oder auch
in seröse Höhlen und direct in die Blutbahu eingeführt, keine Spur von Krank-
heitserscheinungen auszulösen im Stande sind, so dass sie für die giftimmun
gemachten Iudividucn als weniger schädlich zu betrachten sind, wie die als
harmlos geltenden saprophytischen Bakterien. Weder phagocytäre noch exsudative
Processe lassen sich bei sorgfältiger Untersuchung als Folgewirkung erkennen,
und wir müssen annehmen, dass die Beseitigung der Bakterienleiber in ähnlicher
Weise erfolgt, wie bei einem organischen Körper, der in leicht verdaulicher Form
dem thierisclien Körper zugeführt und von ihm assimilirt wird.
Diese Erfahrung hat dazu geführt, dass wir von dem Moment ab, wo
die Giftwirkung eines Mikroorganismus gänzlich eliminirt ist, uns um das Schicksal
desselben nur insoweit kümmern, als er für andere nicht giftgeschützte Individuen
eine Gefahr darstellt. Wir wissen, dass Diphtheriebacillen und Pneumoniebakterieu
mit dem Mundsecret, Cholera- und Typhusbacillen mit den Darmentleerungeu
immuner Menschen nach aussen gelangen und eine Infectionsquelle für andere
nicht immun gemachte Menschen werden können.
Es darf jetzt als allgemein giltiges Gesetz angesehen werden, dass
jede Immunität bedeutenderen Grades auf eine Giftimmunität zurückzufUhreu
ist. Dieselbe ist, wie wir oben gesehen haben, eine histogene, wenn sie
vererbt auftritt, eine hämatogene dagegen, wenn sie erworben wird. Eine
weisse Maus ist deswegen tuberkulöse- immun , rotz- immun und diphtherie-
immun, weil sie das Tuberkulosegift , das Kotzgift und das Diphtheriegift
auch in grossen Mengen anstandslos verträgt; aus demselben Grunde ist ein
Huhn tetanus-immun. Meerschweine werden durch die Einspritzung des Serums
von immunisirten Thieren deswegen diphtheric-, tetanus- und cholera-immun,
weil das Serum solche Körper enthält, welche die Giftwirkung der Diphtherie-,
Tetanus- und Cholerabacillen aufheben. Sind bet den giftimmun gemachten Thieren
nach der Einverleibung von lebenden Bakterien noch phagocytäre und exsudative
Erscheinungen erfolgt, dann war eben die Giftimmunität noch nicht genügend
hoch, um das Gift ganz unwirksam werden zu lassen; die unbeeinflussten Gift-
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IMMUNITÄT. - IMPETIGO.
üöti
reate konnten zwar nicht mehr den Tod und auch nicht namhafte Gesundheits-
störungen hervorrufen, sie reichten aber aus, um noch einen Keiz auf die
lebenden Körperzellen und auf Organe auszutlhen. Dieser Reiz löst exsudative
Processe aus und im Exsudat kann man dann Zellen linden, welche Bakterien in
sich aufnehmen iMetschnikoff’s Phagocytcn), und gelöste Körper, welche
durch Auflösung Bakterien zum Verschwinden bringen (R. Pfeiffkr's Ba kterio-
ly Hi ne) oder Bakterien klebrig machen und ein Zusammenballen derselben ver
anlassen (GbubERs Agglutinine).
Die Bakteriolysine im peritonealen Exsudat choleraimmunisirter und
typhusimmunisirtcr Thiere sind nur gegenüber den Choleravibrionen, beziehungs-
weise gegenüber den Typhusbacillen wirksam, und sie sind wegen dieses speci-
lischen Verhaltens ein sehr werthvolles diagnostisches Hilfsmittel geworden
(R. Pfeiffer). Im Blutserum der immunisirten Thiere findet man die Bakteriolysine
nicht. Dagegen enthält das Blutserum choleraimmun gemachter Meerschweine ein
Agglutinin, welches von GRUBER zur Differentialdiagnose der Choleravibriouen
empfohlen ist, da es einzig und allein diese Mikroorganismen agglutinirt.
E. Behring.
Impetigo (von in-petere, angreifen, plötzlich ergreifen i findet sich aU
Krankheitsbegrifl' zuerst bei CELSUS (lib. V, cap. 281, welcher darunter wer
verschiedene, tlieils pustulöse, theils schuppende l’ebel versteht. Bei den Griechen
scheinen diese theils als 'iwpx, theils als )iiyr(v figurirt zu haben. Peter und
JOSEPH Frank nannten alle chronischen Hautausschläge Impetigeues, im Gegen-
satz zu den als Exanthemata bezeichneten acuten. SCHöXbEIX schloss sich dieser
Definition an. Die erste klarere Begriffsbestimmung für Impetigo giebt VVillax.
der damit eine Eruption kleiner, gelber, juckender Pusteln bezeichnet, welche in
Gruppen erscheinen und mit einer gelben, dünnen, schuppigen Borke endigen.
Die Krankheit ist nach ihm fieberlos, nicht ansteckend und kommt hauptsächlich
an den Extremitäten, bisweilen im Gesiebt vor. WlLLAX unterscheidet 5 Arten:
Impetigo figurata. sparsa, erysipelatodes, scabida und roden», welche fast alle
Autoren, wie Ambert, Raver etc., theils acceptirten, theils noch um neue Arten,
wie Impetigo larvalis, favosa, vermehrten. Auch neuere französische Autoren,
wie Gcibout, behalten die Wn.LAx’schen Arten hei.
IIebra erkannte, dass die vier ersten Arten der Wiu.AX schen Impetigo
verschiedenen Zuständen des Ekzems entsprachen und ordnete dieselben daher
dem Ekzem unter, welcher Begriff dadurch einen ungemein viel grösseren Einfang
erhielt, als er ihn bei WlLLAN besessen hatte. IIebra ging aber noch weiter:
er sprach der Impetigo überhaupt, wie allen Pusteleruptionen (auch dem Ekthyma,
der Porrigo), den Charakter als Morbus sui generis ganz ab und erklärte sie
theils für begleitende, theils für Folgeerscheinungen anderer Hautkrankheiten
(Ekzem, Scabies, Prurigo, Pruritus, Pediculosis). Dieser Anschauung hat sieh
die jetzige Wiener Schule ganz angeschlossen, obgleich eigentlich schon der
ältere Meura gegen sein mit grosser Wärme vertheidigtes Prineip zweimal selbst
verstossen hatte, indem er nicht allein primäre Eiterblasen in der Form metastalischer
Obcrhautabscesse zuliess, sondern sogar eine neue Krankheitsspeoies schuf, die
Impetigo herpetiformis, welche durch primäre Eiterblasen charakterisirt ist. Dazu
kam noch, dass 1872 Tü.bi'RY Fox eiue Form der Impetigo beschrieb, Impetigo
contagiosa, welche mit dem Ekzem gar nichts zu thun hatte uud von Hebra
und seiner Schule auch als selbständige Erkrankung anerkannt wurde. Trotz-
dem bewirkte seine Autorität, dass bis zum Jahre 1887 alle Schriftsteller an
der unrichtigen Doctrin festhielten , dass es keine selbständigen und primären
Pustelerkrankungen gäbe. Erst die in jenem Jahre erschienene Arbeit von
Bockhart führte auf Grund von Impfexperimenten (am eigenen Körper mit
Keinculturen den Nachweis, da-s es eine selbständige Pustelerkrankung giebt,
welche durch den weissen und gelben Traulieneoceus erzeugt wird und sieh durch
eine Reihe ihr specitisch zukonunender Symptome sowohl von den Ekzemen wie
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IMPETIGO.
2<i~
von anderen Pustelerkrankungen unterscheidet. Hiermit war der Bann gebrochen,
der bisher auf der klinischen Erkenntniss einer grossen Reihe von serösen, serös-
fibrinösen und eiterigen Blasenerkrankungen der Haut gelastet hatte. Das genauere
histologische Studium der durch die gewöhnlichen Kiterkokken erzeugten Eiter-
blasen (Oberhautabscessei ermöglichten es nunmehr Unxa schon, eine ganze Anzahl
derartiger Blasenerkrankungen von im Allgemeinen gleichen histologischen Bau
wie die staphylogene Impetigo nachzuweisen und sicher wird sieh das Gebiet
dieser bullös-pustulösen Oberliauterkrankungen, welche bisher alle fälschlich mit
dem Ekzem identificirt wurden, in nächster Zeit durch histologische und bakterio-
logische Studien beträchtlich erweitern.
Seitdem wir wissen, dass es nicht blos eine (staphylogene) Impetigo
neben dem Ekzeme giebt, sondern dass viele Mikroorganismen ähnliche, aber
ätiologisch, histologisch und klinisch dennoch unterschiedene llautaft'ectionen er-
zeugen, bedürfen wir eiues Gruppennamens, welcher ihren Gegensatz zum Ekzem
ebenso gut ausspricht, wie ihre klinische und sonstige Verwandtschaft unter einander.
Historisch berechtigt wäre der Name: Porrigo, denn unter Porrigo favosa hat
bereits Willan das Bild der primären und reincu Pustelerkrankung unverkennbar
gezeichnet. Aber einerseits hat sich mit dem längst veralteten Ausdruck : Porrigo
zu sehr die Idee einer schuppigen Erkrankung des behaarten Kopfes (Porrigo
ist auch = Trichophytie, Favus etc. bei WlLLAX) verquickt, andererseits ist
durch die seit Rayer nie ausser Gebrauch gekommene, wenn auch missbräuch-
liche Anwendung des Misch begriffest „Ekzema impetiginosum “ für pustulöse
und borkige Ekzeme der Ausdruck : impetiginös so sehr mit dem Begriffe der
zu Krusten eintrocknenden Pusteln verknüpft, dass der Name: Impetigo bei der
Schöpfung eines Gruppennamens für bullös-pustulöse Oberhauterkrankungen nicht
umgangen werden kaun.
Unna hat deshalb in seiner kürzlich erschienenen Histopathologie der
Haut folgende neue Definition für den alten Namen Impetigo vorgesehlagen :
Mehr oder minder infectiöse, autoinoculabl e Bläschen-
erkrankung der Haut, insbesondere der Kinderjahre, aus zer-
streuten oder gruppirten, isolirten Bläschen und Blasen
bestehend, welche sich rasch in Krusten u m w a n d e 1 n , mit A b-
stoss u n g der letzteren ohne Narben heilen und zu keiner f lUe h e n-
haften, diffus sich ausbreitenden Erkrankung der Oberhaut
Anlass geben.
Unter diesen Begrilf fallen ausser der Bot'KHART’sehen Impetigo
sta ph plog enes , der HEBRA'schen Impetigo herpeti formte und den
bisher nur von Unxa klinisch und histologisch untersuchten selteneren Formen :
Impetigo serosa, Imp et i go protuberans, Impetigo streptogenes,
Impetig o leukofibri nosa , I mpeti go multilocula ris , vor allem die
beiden sehr gewöhnlichen und überall endemischen Kinderkrankheiten: Impetigo
vulgaris und Impetigo circinata, sowie eudlich die in verschiedenen
Epidemien (zuletzt in Rügen 1885) aufgetretenen impetiginösen Er-
krankungen, welche wahrscheinlich unter sich auch nicht identisch gewesen
sind. Mit Ausnahme der staphylogenen und herpetiformen Impetigo sind alle
diese verschiedenen Arten in den letzten beiden Jahrzehnten meistens als:
Impetigo contagiosa diagnostieirt worden, seitdem Tilbuhy Fox 1872
unter diesem Namen eine eigenartige krustenbildende Blasenerkrnnkung der
Kinder beschrieb; dieselbe ist der Hauptsache nach identisch mit unserer jetzigen :
Impetigo vulgaris. Der Name: Impetigo contagiosa sollte nur andenten dass
diese Krankheit sich leicht von Kind zu Kind fortpflanzt und autoinoculabel ist.
Seitdem wir a! er wissen, dass alle Impetiginesarten autoinoculabel sind und die
meisten als Gruppenerkrankungeu auftreten , hat es keinen Sinn, eine Form
durch das Beiwort: contagiosa auszuzeirhneu : cs würde dadurch nur der Irrthum
wachgerufen werden, als ob die anderen Impetigoarten, in deren Studium wir
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IMPETIGO.
26S
uns jetzt betiniien, nicht coutagiös wären. Höchstens könnte man deu Namen :
Impetigo contagiosa für die exquisit contagiösen , epidemischen Impctigines
reserviren ; aber auch da tliut mau nach meiner Ueberzeugung besser, den
Namen : Impetigo epidemica zu substituiren, wodurch aller Irrthum hinsichtlich
der Contagiosität der übrigen Formen ausgeschlossen ist.
Im Folgenden sollen die vier wichtigsten Formen der Impctigines :
die Impetigo staphylogenes , Impetigo vulgaris, Impetigo
circinata und Impetigo her p et ifo rmis Ile bra kurz besprochen werden.
Impetigo staphylogenes. Die durch die weissen und gelben
Eiterkokken erzeugten Eiterblasen sind als selbständige, primäre Erkrankung
durchaus selten und jedenfalls lange nicht so häutig, wie die meisten, auch
dermatologisch geschulten Aerzte heutzutage auneluncn; in vielen Fällen liegt
eine Verwechslung mit auderen Arten der Impetigo, speciell mit der viel häutigeren
Impetigo vulgaris vor. Meistens schliessen sich die staphylugenen Jmpetigines
an andere eiterige Affcctionen (Ulcera, Wunden) oder an die Abheilung nässender
oder snppurirender , anderer Hautkrankheiten (Ekzeme, Variola, Varicellen)
scrundär als Complication an oder sic gehen direct als eine neue Form
staphylogener Erkrankung aus anderen .Staphylokokkenkrankheiten der Haut
(Furunkel, Sykosis) hervor. Stets schliessen sich bei längerem Bestehen der
staphylogeneu Impetigines Furunkel an dieselben an. Eine impetiginösc Er-
krankung der Haut, welche längere Zeit sich seihst überlass« n besteht, ohne an
einer Stelle in Furunkel Uberzugehen, bezeugt dadurch mit grosser Sicherheit,
dass sie nicht durch die weissen und gelben Staphylokokken erzeugt worden ist.
Aber auch ohne dieses klinische Merkmal von fundamentaler Wichtigkeit lassen
sich die echten staphylogenen Impetigines ziemlich leicht erkennen. Sie sitzen —
im Gegensatz zur Impetigo vulgaris mit ihrer Prädilection für Gesicht und
Hände — am häufigsten dort, wo die Furunkel sitzen, an Orten der Kleidcr-
rcibung (Hals, Vorderarme, Unterschenkel) und in der Umgebung eiternder
Affcctionen, im Uebrigen aber ist die l.ocalisation unbeschränkt und hängt im
Einzelfalle von dem Uebertragungsmodus ab. Universelle Ausbrüche können unter
Umständen bei schon vorhandenen staphylogenen Impetigines oder Furunkeln,
durch feuchte Einpackungen oder Abreibungen, ja selbst durch Bäder mit nacb-
heriger Frottirnug erzeugt werden. Die Effloresccuzen sind von vornherein
eiterig und bleiben es bis zur Eintrocknung; nur in einzelnen Fällen habe ich
an grossen staphylogenen Impetigines eine secundäre Aufhellung bemerkt, so dass
der Inhalt ein molkiger, scröseiteriger wurde. Sie sitzen wie g rü n 1 i c h ge 1 h e
Tropfen, als stark hervorragende, halbkugelige Prominenzen der Haut auf und
sind von einem oft nur schmalen rotheu Saume eingefasst, dessen geringe Aus-
dehnung häutig in auffallendem Contrast zu dem starken Eitergehalt der Blase
steht. Meistens sehiessen sie ziemlich plötzlich, z. B. in einer Nacht auf und
dehnen sieh rasch von Kiibsamcn- bis Erbsengrösse aus, um sodann langsam ein-
zutrocknen oder sich in einen Furunkel zu verwandeln. Wo man bei der Palpation
der Blase eine erhcbliehe Härte der Basis constatiren kann, ist schon die Um-
wandlung der Impetigo in eine Folliculitis oder Perifolliculitis vor sich gegangen,
d. h. der l’ebergang zum Furunkel steht bevor. Je umfangreicher die Blase ist,
desto höher ist sie auch; sie bat, mit anderen Worten, eine Neigung, ihre an-
fängliche II a 1 b k u ge 1 fo r m beizubehalten, was damit zusammenhängt, dass die
Blasendecke dünn ist und nur aus der llornschicht besteht, ohne dass sich an die-
selbe gerinnende Serumscliichten (wie bei der Impetigo ■ vulgaris) anlegen und sie
verdicken. Der Blasenraum ist daher auch immer eiukammerig und die Blase
niemals gcdellt. Mit der Abwesenheit von Gerinnungsprocessen hängt es
auch zusammen , dass die staphylogenen Impetigines, wenn sic ausnahmsweise
platzen, die Haare nicht verkleben (wie Ekzeme und Impetigo vulgaris).
Nach 2- bis höchstens ITtägigem Bestände pflegt das uucomplicirte staphylogene
Impetigobläschen abzaheileu, indem sich ans der llornschicht, dem eiugctrockneten
IMPETIGO.
Eiter des Blascnraumes und einigen verhornenden Lagen des Blaseubodcns eine
braune Borke bildet, welche später, ohne eine Narbe zu hinterlassen,
abfällt. Snbjective Empfindungen verursachen sie während ihres ganzen Bestandes
kaum : bei l'cbergaug in Furunkel tritt jedoch eine schmerzhafte Spannung,
stärkere Röthe und fühlbare Wärme auf.
Wie die mikroskopische Untersuchung nachweist*), entstehen die staphy-
logenen Eiterblasen dadurch, dass die Staphylokokken durch einen Riss der Horn-
schicht unter diese letztere gelangen und sofort einen sich mehr und mehr ver-
grössernden Eiterlropfen aus den Gefässcn des Papillarkörpers anlocken ; dieser
breitet sich zwischen Hornschicht und Stachelsrhicht der Oberhaut aus und wird von
aussen nach innen von den Trauben des Eitercoccus durchwachsen, wobei die
Eiterzellen absterheu, ohne die Eiterkokken in Bich anfzunehmen. Dnrcli den sich
vergrössernden Eitertropfen wird die Stachelschicht und der Papillarkörper zur
Fläche ausgeglichen. Die subpapillaren und papillären Blutgefässe lassen eigent-
liche Entztlndungsphänomene fLeukocytenmäntel, Anschwellung von Bindegewebs-
zellen, serös-eiteriges Exsudat) vollkommen vermissen; mit der vorübergehenden
„leukotaktischen1“ Anlockung ist der ganze Process beendigt. Der Uebergang von
der Impetigo zum Furunkel stellt sich mikroskopisch in der Weise dar, dass die
Staphylokokken in einem in die Pustel eingeschlossenen Haarbalge zwischen Haar-
wurzelscheide und Stachelschicht des Haarhalgs in die Tiefe wachsen , welchem
Einbrüche eine starke perifolliculäre Ansammlung von Leukocyteu antwortet.
Dieser perifolliculäre Abscess bildet den Anfang des Furunkels.
Die Prognose ist sehr günstig, wenn man die Natur der Affection
frühzeitig erkennt, ehe dieselbe sich in eine Furunkulose verwandelt hat und
demgemäss behandelt. Andernfalls wird die Behandlung langwieriger, ohne übrigens
die Prognose zu verschlimmern.
Die Behandlung besteht im Aufstechen der Eiterblasen und der gründ-
lichen Desinficirung des Blasenbodens mit einem in l°/0iger, wässeriger Sublimat -
lösuug getränkten Wattebausch. Hierauf wird am besten eine stark eintrocknende
Zinkoxyd- (10%), Schwefel- (10%), Kieselgur- (10%) Paste applicirt. Weniger
eingreifend und doch meistens genügend ist die Application letzterer Paste allein
oder besser mit Zusatz von 2 — 5% Ichthyol oder selbst nur das einfache Auf-
pinselu von purem Ichthyol und die sorgfältige Entfernung der kokkenhaltigen
Krusten nach der Eintrocknung. Beginnende Furunkel erfordern den Quecksilber-
(’arbol-Pflastermull.
Impetigo vulgaris. Die Impetigo vulgaris ist im Gegensatz zur
staphylogenen Impetigo auf bestimmte Lebenskreise und Altersstufen beschränkt,
innerhalb dieser Grenzen aber eine sehr viel häutigere Erkrankung als die letztere.
Sie beschränkt sich nämlich hauptsächlich auf die Kinder der ärmeren Bevölkerung
und ist hier mit periodischen Schwankungen innerhalb der Jahreszeiten — ein
Maximum der Fälle fällt gewöhnlich auf den Sommer — geradezu endemisch.
Die die Impetigo vulgaris verursachenden Organismen müssen daher ubiquitär
sein und nur geringer Gelegenheitsursachen zum Haften auf der Haut bedürfen,
wie sie etwa in dem Mangel an Reinlichkeit und der Befeuchtung mit natürlichen
Secreten (Thränen, Nasenschleim, Speichel) bei den Kindern der Armen schon
gegeben sind. Auf die hervorragende Wirksamkeit dieser Gelegenheitsursachen
mag auch die eigenthtlmliche constante Topographie der Efflorescenzen zurtlck-
zufübren sein. Dieselben kommen nämlich hauptsächlich und zuerst in der Um-
gebung des Mundes, der Nase und Augen vor, an den Lippen, in der Nasolabial-
falte, den Augenlidern. Von hier verbreiten sie sich leicht durch Autoinoculatioii
auf die Wangen, Stirn, Ohren, Kinn und auf den Rücken der Hände, Finger
und Vorderarme. Des weiteren findet man sie auch am behaarten Kopf, an den
Unterschenkeln, besonders in der Gegend der Fussknöchel und endlich viel seltener
*) Vergl. hierzu die Tafel, Fi(?. 1 n. ii.
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270
IMPETIGO.
am übrigen, bekleidet getragenen Körper. Weiter kommt sie atteh als seeundäre
Erkrankung in der Umgebung von Geschwüren, Nasen- und Augenleiden vor,
hauptsächlich bei Bedeckung letzterer mit unsauberen Verbandmitteln, sowie hei
Scabies, Lichen urtieatus und anderen juckenden Dermatosen der Kinder.
Die Einzelcfflorescenz beginnt mit einem pfefferkorn- bis erbsengrossen,
unregelmässig begrenzten, rothen Flecke, in dessen Mitte nach 12 — 21 Stunden
ein sehr kleines, au einem Follikel gelegenes, durchsichtiges Bläschen aufsehiesst.
Dasselbe juckt gewöhnlich etwas, wird zerkratzt und bildet sich dann nicht
wieder, sondern hinterlässt eine Erosion , welche sieh alsbald mit einem rasch
gerinnenden, grossen Serumtropfen bedeckt. Die auf diese Weise entstehenden,
honiggelben, dicken Krusten haben meistens die Grösse der hyperümischen Flecke,
werden aber nach öfterem Abkratzen etwas grösser, linsen- bis 50-Pfennigstück-
gross, wiedergebildet. Sie dehnen sich aber — im Gegensatz zur Impetigo
circinata — nicht erheblich weiter aus und heilen auch nicht im Centrum ab,
eonfluiren jedoch oft mit benachbarten Efflorescenzen zu grösseren Krustenseheiben
mit polycyklischeu Conturen. Nach mehreren Tagen nehmen die Krusten durch
Eintrocknung eine bräunliche Farbe an und fallen schliesslich bei einem unbe-
deutenden Stosse oder Zuge ab, ohne eine blutende Fläche zu hinterlassen. Ent-
fernt man sie in den ersten Tagen , so sickert sofort eine bedeutende Serum-
menge aus der der Horuschieht beraubten, feinen Epitheldecke nach und bildet
nach kurzer Zeit eine neue Kruste. Nach Abheilung der Krusten hinterbleiben
längere Zeit etwas blaurüthliche Stellen vom Umfange der Krusten mit glatter
Oberfläche und einer eben wahrnehmbaren Depression; doch nie entstehen Narben
und niemals geht eine Impetigo vulgaris - Efflorescenz in eine Folliculitis oder
einen Furunkel über. Ebensowenig entsteht aus der Inijtetigo vulgaris eine
flächenhaft sich ausbreitende, ekzematöse Oberhauterkrankung.
Die Gesammternährung der betreffenden Kinder leidet durch das Be-
stehen der Impetigo vulgaris nicht im Mindesten; in der Mehrzahl der Fälle
handelt es sich um gut genährte Individuen auch bei sehr langem Bestände der
sich fort autoinoculirenden Dermatose. Jedoch findet man ziemlich häufig eine
mehr oder weniger ausgeprägte, regionäre Lymphdrtlsenschwellung , insbe-
sondere an den l'nterkieferwiukcln bei Gesichtsimpetigo. Es hat mir geschienen,
als ob dieselbe immer erst dann auftrete, wenn etwas Secret unterhalb der Krusten
sich staut und die Kinder sehr unreinlich gehalten sind. In solchen Fällen ist
das naehsickernde Secret auch meisens nicht rein serös, wie Anfangs stets, sondern
seröseitrig. Es bleibt zu untersuchen, oh die Lymphdrüsenschwellung und der
seeundäre eiterige Charakter mancher Efflorescenzen zum einfachen Bilde der
Impetigo vulgaris gehören oder die Folge von secundärer Einnistung anderer
Organismen sind. Sichere Abweichungen vom typischen Bilde kommen vor, wo
die Impetigo vulgaris sich am Rumpfe und an den Oberschenkeln einnistet und,
wie das allerdings selten, aber sicher vorkommt. Erwachsene befällt. Die für die
Impetigo vulgaris des Kindergesichtes so charakteristischen gelbbraunen, dicken
Borken pflegen dann dünneren, weniger charakteristischen Platz zu machen, ln
solchen Fällen beruht die Diagnose auf derjenigen der begleitenden Kinder-
erkrankung und auf dem histologisch und culturell erbrachten Nachweis der
specifischen Organismen.
Diese letzteren*) finden sich constaut und meistens in bedeutender An-
zahl in den Krusten der Impetigo vulgaris, .in dem Serum nach Abhebung der
Krusten und in den primären, sehr hinfälligen und darum seltener zur Beob-
achtung gelangenden Bläschen. Es sind kleine Kokken von etwas länglicher,
ovaler Form und ziemlich gleicher Grösse (durchschnittlich 0'8 o. im längeren
•) Die kurzen, hier gegebenen .Mittheilungen über die Impetigo ri/ö/nrie-Organismen
sind ein Auszug au- einer grösseren Arbeit über denselben Gegenstand, welche die Resn t»t«
der in den drei letzten Jahren an der Unna sehen Poliklinik in Hamburg durchgeführten
Untersuchungen zusammenfasst nnd im Laufe dieses Jahres in den Monatsb. f. prakt. Dermat.
arscheinen wird.
IMPETIGO.
271
Durchmesser). Sie besitzen keine auffallende Hülle und daher auf Culturpräparaten
kein regelmässiges „Korn“ (hierin unterschieden von den Morokokken des Ekzems),
sondern ähneln in dieser Beziehung und in Bezug auf die Form mehr dem
Üaphylococcus aureus et albus, von dem sie sich wieder in den Cultoren durch
ihr viel geringeres peptisches Vermögen und die nie goldgelbe, stets weisse Farbe
unterscheiden. In den Krusten bilden die Kokken weder Trauben (Staphylococcus)
noch Drusen (Morococcus), sondern lose gebaute Gruppen mit sparrig abstehenden
Ansläufern, ähnlich einer Hand mit gespreizten Fingern. Häufiger sind kurze
Ketten von 3 — 6 Gliedern, die theils durch ihre Kürze, theils durch die scharf-
winkeligen Biegungen, theils durch die längliche Form und die Unregelmässigkeit
der Einzelglieder mit den sehr verschieden langen, rund gebogenen und regel-
mässig gliederigen Ketten des Streptococcus pyogenes nicht leicht zu verwechseln
sind. Ausser in kurzen Ketten und handförmigen Haufen trifft man sie, aller-
dings seltener, einzeln verstreut oder in grossen Schwärmen. In Reincultur auf
der Haut verrieben, gaben dieselben in einem Falle Anlass zur Entstehung einer
typischen Impetigo vulgaris (beim Erwachsenen).
Die histologische Untersuchung der Krusten ergieht, wie die klinische
Beobachtung, dass diesem Organismus nicht die Fähigkeit einer primären Eiter-
anlockuug (wie den Staphylokokken) zukommt. In reinen und frischen Fällen
bestehen die dicksten Krusten fast aus reinem geronnenen Serum; Blutungen
durch leichte Traumata bedingen Fibrinabscheidung, sehr lange Dauer eine geringe
Eiterbeimischung der Krusten. Erstgebildete Krusten tragen an der Oberfiäcbc
eine zarte Hornschicht, später gebildete nicht; eine reichliche Hornbeimischung
wie bei Ekzem; kommt den Krusten der Impetigo vulgaris nicht zu.*)
Die Behandlung der Impetigo vulgaris ist leicht , wenn man sich eine
energische ein- oder mehrmalige Desinfection aller einzelnen Herde zur Pflicht
macht. Durch eine Abreibung der von den Krusten entblössten Stellen mit einer
1° „igen wässerigen Sublimatlösung, wodurch die in den Follikelmündungen
nistenden Kokken getödtet werden und darauf folgende Application einer die
Erosionen rasch abtrocknenden Zinkschwefel-Kieselgurpaste erzielt man leicht
Heilung, während eine oder die andere Massnahme allein gewöhnlich nicht zum
Ziele führt. Unvollständig geheilte Fälle können sich durch Autoinoculationen
Monate lang hinausziehen. .Salben, auch mit antimykotischen Zusätzen, helfen
noch weuiger, als Pasten allein.
Impetigo circinata. Die circinäre Form der Impetigo scheint
nach der Impetigo vulgaris die häufigste zu sein, kommt aber immerhin beträcht-
lich viel seltener vor als die letztere. Dagegen ist sie nicht wie diese auf die
Kinderjahre vorzugsweise beschränkt ; etwa die Hälfte der Fälle sieht man bei
Erwachsenen. Auch hier ist das Gesicht der hauptsächlich und gewöhnlich zuerst
befallene Körpertheil ; Ueberimpfungen der Effloreseenzen auf den Rumpf und
die Extremitäten sind häufig. Die Impetigo circinata beginnt mit einem rothen
Flecke, auf welchem alsbald sich ein rein seröses, sehr kleines, centrales Bläschen
zeigt, welches aber rasch eintrocknet, ohne eine dickere Kruste zu hinterlassen,
während eine periphere Randzone anschwilit, sich stärker röthet und hier uud
da selbst einen Bläschenwall oder einen Kranz von sehr kleinen Bläschen bildet,
die dann meistens Follikelmündungen entsprechen. Inzwischen hat sich das Centrum
abgeflacht und mit einem ziemlich glatten, grauweissen Schüppchen bedeckt. Durch
dieses circinäre Fortkriechen entstehen Flecke von Mark- und selbst Thalergrösse,
die auch confluiren können, mit einem frisch entzündlichen, zuweilen Bläschen
tragenden oder erodirten, 5 — 7 Mm. breiten Rande und einem abgeheilten, Schüppchen
tragenden Centrum. Eine starke, seröse Absonderung und dicke, gelbe Krusten
fehlen bei dieser Aflection ; sie ist ein trockenerer Hautkatarrh als die Impetigo
vulgaris. Auch bei ihr ist eine regionäre Lymphdrüsenanschwellnng beobachtet.
•) Die histologische Untersuchung der excidirten Bläschen s. Unna. Histopathologie
der Haut. pag. 190. Vergl. hier die Tafel. Fig. ?, n. -1.
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IMPETIGO
272
Als wahrscheinliche Erreger dieser Impetigo - Art fand Uxxa in den
Scliiiitteu einer excidirten Efflorescenz*) runde Kokken, deren Haufen Drusenform
besassen und an die Drusen der Ekzemkokken erinnerten. Die seither in mehreren
Füllen erhaltenen Keinculturen, sowie die Krustenuntcrsuehungen ergaben in der
Mehrzahl der Fülle ebenfalls einen runden Coccus (im Gegensatz zu den Kokken
der Impetigo vulgaris). Positive Impfresultate mit demselben liegen noch nicht vor.
Impetigoherpet ifo rmis. Diese zuerst von F. Hebka ( Wiener ined.
Woehcnschr., 1872) beschriebene Eiterpustelerkrankung kommt fast ausschliesslich
bei Frauen vor, und zwar meistens gegen Ende der Schwangerschaft ; seltener im
Puerperium oder im Anschluss an Uterinleiden. Von 12 sicheren Fällen, welche
Dubeeuilh 1894 zusammenstellte, endeten 13 letal und betrafen nur 2 männ-
liche Individuen. Die Erkrankung loralisirt sich zunächst an der hauptsächlichsten
Prüdilectionsstelle, der Genitocruralregion, und breitet sich von hier aus alhuälig
in Schoben Uber den ganzen Körper aus, besonders auch in der Mammargegend
und auf der Mundschleimhaut. Dabei liegt das Allgemeinbefinden sehr darnieder
und ein intensives Fieber mit Schüttelfrösten begleitet jeden neuen Pustelausbruch.
Bei günstigem Verlaufe kann noch nach vielen Jahren ein tödtliches Iteeidiv eiu-
treten, insbesondere bei erneuter Schwangerschaft. Nach Kaposi treten die
Blasen stets gleich als Eiterblasen auf, welche in Gruppen angeordnet sind und
sich circinär in kreisförmigen Reihen weiter ausbreiten. Auf der Höhe der
Aflection ist der Körper bedeckt mit grossen , aus den Eiterpusteln confluirten
Herden , deren Centrnm bereits wieder normal überhornt oder — in den Uon-
taetstellen — mit matschem, stinkendem Epithel bedeckt, nie aber ulccrirt ist,
wie deun die Einzeleftloresceuz auch stets ohne Narbenbildung abschliesst. Nach
I)l' Mfsxii. ist die Stachelschicht selbst in den meisten Fällen Sitz der Eiterblase,
wobei mehr oder weniger Stachelzellen auf dem Blasenboden Zurückbleiben: der
Papillarkörper und die obere Cutisschicht ist stark entzündlich verändert , die
untere Cutis relativ normal. Obwohl schon Hebka den pyämischen Charakter
der Atfection betonte, die Schwangerschaft, der Beginn in der Genitalregion und
die circinärc Verbreitung sogar bestimmt für eine äussere infectiöse Ursache
sprechen, ist bisher noch kein Mikroorganismus mit Sicherheit als InfectioDstrtger
nachgewiesen und sogar die infectiöse Natur der Affeetioti von einigen Autoren
stark in Zweifel gezogen zu Gunsten einer neuro-reflectorischen (Df Mtcsxil.j.
Wesentlich für die Diagnose einschlägiger Fälle ist in Zukunft die sichere Aus-
schliessung anderer Bläschen- und Eiterblasenerkraukungen, vor allem der pnstu-
lösen Form von Dermatitis herpeliformi* Diihring und aller Blasenerkrankungen
innern, toxischen Ursprungs. Der oberflächliche Sitz und die serpiginöse Ver-
breitung des Uebela, zusammengehalten mit den Schüttelfrösten und dem letalen
Ende, machen die Anschauung am wahrscheinlichsten , dass es sieh um einen
Epithe'parasiten handelt, welcher befähigt ist, in den Körpersäften zu vegetiren
— analog dem Staphylococcu* aureus und Streptococcus pyogene*.
Erklärung der Farbendrucktafel zum Artikel »Impetigo*.
71g. 1 und Fig. 2 Impetigo staphylogenea ; Fig. 1 senkrechter Schnitt durch eine Eiterbia**;
Fig. 2 oberster Theil einer solchen bei stärkerer Vergrösserung; & = Staphylokokken ; H — Hirn-
schidit (Hlneeodccke); t>p = platt gedrückte Stachelschicht (Klasenboden) ; £* = Eiter; /* = Papiil*
Fig. 3 tiod Fig. 4. Impetigo vulgaris; Fig- 3 Kroate. Fis:. 4 ein Theil einer Kraute bei stäfkerer
Vergrößerung; K — Kokken ; Kt ss netzförmig geronnene* Serum ; //«= homogen geronnene* Serum-
Literatur: F. Hebra, Wiener tned. Wochensehr. 1872. — Kaposi, An spitz’
Archiv. 1887. — 1> u Mesnil und Marx, Ebenda, 1889. — i>u Mesnil, Ebenda. 1891- —
Dauber, Ebenda, 181*4. — Dubreuilli, Annale* de liermatologie. 1892. — Dreier,
Dermatol. Zeitsuhr 1894. Unna.
*) Die histologischen Details s. bei Unna, Histopathologie der Haut. pag. 192.
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Tt'i
IMPETIGO.
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A>;n ’rittpädisriir Jahttoiichrr ti tff* UriHntnilr ChromcIitJt // Ih-vrl- v 77i 1‘nn/irvnriA H’trn
IVbanu Sh Invar Ronbonj U'n*nu l»*ipxi«i
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INGESTOL. — INHALATIONSTUERAPIE.
'm
Ingestol, ein Präparat, dessen Hauptbestandteile „Sulfate, einige Salze,
Ferrum und aromatische Substanzen sind. Wirkt als Abführmittel.
Literatur: Dr. Goliner, Erfurt, Zur therapeutischen Wirkung des Ineestol
(Zi m me rm a n n). Heidi-mediein. Anzeiger. 1895. Nr. 8 und 9. Loefaisch.
Inhalationstherapie nennt man diejenige Heilmethode, bei welcher
die Heilmittel auf dem Wege der Athmungsorgane dem Körper zugeführt werden,
ln erster Reihe ist dahei die Behandlung von Krankheiten in’s Auge zu fassen,
welche die Athmungswege Belbst befallen haben , also Nase , Rachpn . Larynx,
Luftwege und Lungen. In zweiter Reihe steht die Frage, inwieweit eingeathmete
Stoffe in den Blutkreislauf gelangen und durch Vermittelung desselben auf ent-
fernte Organe ihre Wirkung ausüben. Bisher hat die Frage nach der Fernwir-
kung inhalirter Heilmittel noch keine besonders eingehende Würdigung erfahren.
Die Wirkung von Chloroform, Aether, Amylnitrit erweisen zur Genüge die Leistung
der Einathmnng für die Erzielung einer Fernwirkling.
An dieser Stelle kann nur die örtliche Wirkung des inhalirten Mittels,
von der Eintrittstelle durch den Mund oder die Nase bis in die Lungenalveolen
in Betracht gezogen werden. Der Weg durch den Mund wird fast immer ge-
wählt, wenn nicht eine locale Wirkung auf die Nasenschlcimhaut beabsichtigt wird.
Vor Allem aber ist zu betonen, dass die locale Einwirkung
inhalirter Stoffe nur auf die luftzuführenden Wege beschränkt ist
und dem kianken Lnngengewcbe direct nicht zu gute kommen kann.
Stoeuck ( pag. 451) erklärt unter Herbeiziehung der experimentellen Ergebnisse
von Dkmakqi av, Bataille, Fourxie, Poggialk, Fieber, Stoerck und Schnitzler,
Waldenburg, Lewix, Siegle: Es geht aus der Summe aller Experimente her-
vor, dass die inhalirte Flüssigkeit mit Sicherheit den Larynx und die Trachea
t>espült , docli beweisen die Versuche keineswegs mit der gleichen Bestimmtheit,
dass ein zur medicamentüsen Wirkung genügender Theil der InhalationstlUssigkeit
bis in die feinsten Verzweigungen der Bronchien gelangt. Es lasse sicli vielmehr
annchmen, dass bei der vielfachen Verzweigung der lironchialäste nur verschwin-
dend geringe Quantitäten der eingeathmeten Flüssigkeit die tieferen Partien er-
reichen und wenn der Zufall ein grösseres Quantum auf eine Stelle gelangen
lässt, so werden eben aus dem bis dahin dunstförmigen Medicament ein oder
mehrere Tropfen gebildet und die unmittelbare Folge ist, dass dieser Tropfen
dureli üetlexactioii wieder entfernt, ausgelinstet wird. Stokhck nimmt auf (»rund der
dureli das Experiment in gleicher Weise wie durch die klinische Erfahrung ge-
stützten Thatsachen bezüglich des Wertlies der lnhalationstherapie als feststellend
an, dass die Anwendung derselben bei Erkrankungszuständen der Lunge bedeu-
tungslos ist, während dieselbe hei den Kehlkopferkrankungen, so lange nur eine
allmilligc nicht intensive Einwirkung verlangt wird, immer ilire Berechtigung hat.
Bezüglich der Lungen habe ich die gleiche Ansicht ausgesprochen unter
Berufung auf die Thatsache, dass bei der Tuberkulose der Lungen die behufs
Heilung der erkrankten Stellen zu inhalirenden Stoffe in diese Stellen gar nicht
hinein gelangen können. Denn das Eindringen eingeathnieter Stoffe in die tieferen
Abschnitte der Lunge gehe ausschliesslich mit dem durch die Ausdehnung der
Alveolen ermöglichten Vorrflcken der Luftsäule gleichen Schritt. Da aber die
Alveolen kranker Lungenabschnittc mit festen Stoffen ausgefüllt sind, also gar
nicht mehr fungiren, so wird keine Luft mehr in dieselben eingesaugt, also kann
auch die inhalirte Substanz nicht bis zu der Stelle gelangen, wo sie wirken soll.
Bei der Tuberkulose der Lungen also könne der Inhalation von Medieamenten
eine direete Wirkung nicht zngesprochen werden.
Die Richtigkeit dieser Ansicht kann keineswegs durch die Thatsache
entkräftet werden, dass inhalirte Stoffe, selbst Partikelchen von verschiedenen
Substanzen (besonders Kohle) inlialirt werden und bis in die Alveolen gelangen,
wo sie liegen bleiben, respeetive entzündungserregend wirken und von wo aus
Fncyf*lop. Jahrhnrher. VI. 18
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274
INHALATIONSTHERAPIE.
sie in das interstitielle Gewebe hineingelangen können. Hier konnte eben der
Luftstrom bis in die bei der Inspiration sich aasdehnenden Alveolen eindringen
and seine Contenta importiren.
ln dieser Beziehung verdienen die experimentellen Untersuchungen von
Schreiber besondere Beachtung. Derselbe erzeugte bei Thieren Lungeninfiltra-
tionen, Abseesse, Atelektasen durch pleuritische Exsudate, Miliartuberkulose etc.
und liess dieselben hinterher Kohlenstaub inhaliren. Es ergab sich, dass in den
Krankheitsherden keine Kohle zu finden war, während dieselbe sich in den ge-
sund gebliebenen Lungenpartien zu grösseren Klumpen angehäuft hatte. Beson-
ders hervorgehoben zu werden verdient, dass in mehreren Fällen von Lungen-
abscess weder im Secret, noch in der Abscesswand Kohle nachweisbar war oder
wie in einem Falle in so geringer Menge und Grösse, dass sie mikroskopisch
nur mit Hilfe stärkerer Objective entdeckt werden konnte.
Schreiber schliesst mit Hecht aus seinen Versuchen, dass in Fällen von
einseitiger oder einceitig umschriebener Lungenerkrankung die Möglichkeit der
Aspiration von Arzneistoffen in den Herd der Erkrankung absolut ausge-
schlossen ist.
Wenn derselbe aber bei einer Reihe von Krankheitszustilnden der Lunge,
wie bei. Katarrh der grösseren und kleineren Bronchien des einen unteren oder
oberen Lappens, resp. der einen Seite; in Fällen von Bronchiektasie und putrider
Bronchitis : in Fällen von chronisch tuberkulösen Processen ; von Abscess oder
Gangrän der einen Seite sich mehr Erfolg von einer combinirten Methode ver-
spricht, welche darin besteht, dass die entgegengesetzte Seite comprimirt, respec-
tive, wenn die oberen Lappen in beiden Lungen affieirt sind , die C'ompression
des unteren Thoraxabschnittes vorgenommen wird, somit der inbalirte Arznei-
dampf eine mehr dem Krankheitsherde zugewandte Richtung erhält, so ist zu
befürchten, dass er hierin keine lebhafte Nachfolge finden wird. Soweit bekannt
ist, hat nur Günther in diesem Sinne sich beifällig ausgesprochen.
Die zur Inhalation angewendeten Mittel sind entweder gas-
förmig oder flüssig — letztere mlissen zerstäubt werden oder sie
werden, nach geeigneter Präparation, als Rauch eingeathmet.
1. Die gasförmigen Mittel bedürfen — abgesehen von ihrer Her-
stellung — behufs Aufnahme in die Luftwege keiner besonderen Hilfsapparate.
Der Patient braucht sich nur in einem geschlossenen Raume zu befinden, in wel-
chem die Gase enthalten sind.
Für die Wirkung der Inhalation von Gasen fehlt annoeh jede rationelle
Begründung. Die Einathmung von Kohlensäure, Slickstoff, Wasserstoff, Schwefel-
wasserstoff, Sauerstoff soll nach Empfehlung der betreffenden Fachmänner für
die gleiche Krankheit, nämlich die Lungenschwindsucht, übereinstimmend ausge-
zeichnete Heilresultate bieten.
Kohlensäure sollte eingeathmet werden, indem Phthisiker Uber frisch
aufgegrabene Ackererde gingen oder in Kuhställe gesperrt wnrden. Heutzutage
dürfte derartiges kaum mehr empfohlen werden.
Stickstoffhaltige Luft wurde angewendet in der Annahme, dass
solche Luft weniger reizend wirke, den Stoffumsatz und die Körpertemperatur
vermindere , sowie die Fettbildung erhöhe. Gelegenheit zu derartigen Inhalationen
finden sich im Inselbad bei Paderborn, in I.ippspringe in Neu-Rakoczy bei Halle a. S.
unter Benützung der Stickstotfentwicklung dortiger Quellen. Treuti.er hatte
eine eigene Anstalt für solche Inhalationen in Blasewitz bei Dresden und stellte
stickstoffreiche Luft her, indem er der atmosphärischen Luft auf kaltem Wege
den Sauerstoff bis zu einem gewissen Procentsatz entzog und dieselbe mit einem
transportablen pneumatischen Apparat unter massigem Drucke einathmen liess
(Kxalthk).
Sauerstoff wurde schon von seinem Entdecker Priesti.ky zu therapeuti-
schen Zwecken empfohlen, ln neuerer Zeit haben Demarqi ay und Lenuer diesem
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INHALATIONSTHERAPIE.
275
Stoffe das Wort geredet. Nach Ansicht des Letzteren soll das Ozon noch wirk-
samer sein, wie der Sauerstoff. Im Gegensatz hierzu fand Filipow auf experi-
mentellem Wege, dass die Einathmung reinen Sauerstoffs keinen Vorzug vor der
Einathmung gewöhnlicher reiner Luft hat, wenigstens in Bezug auf Herzcontrac-
tionen , Atbmung und Körperwärme; dass bei Vergiftungen mit Chloroform,
Aethylalkohol, Schwefelwasserstoff, Kohlenoxyd die Einathmung reinen Sauerstoffs
keinen grösseren Nutzen bringt, als die Einathmungen reiner gewöhnlicher Luft,
dass die Einathmungen verdünnten Ozons nicht als einschläferndes Mittel, wie
Binz annimmt, betrachtet werden können, dass die Einathmungen reinen Ozons
eine starke Reizung der Schleimhaut hervorrufen und für Thiere, sowie für Men-
schen schädlich sind, endlich, dass die Aufnahme von Ozon in das Blut auf dem
Wege der Respirationsorgane als unerwiesen zu betrachten ist.
Schwefelwasserstoff — ein sehr toxisches Gas — wird dort, wo
solche gashaltige Quellen sind , zu Inhalationen verwendet. Diese Inhalationen
sollen reizmildernd , im Allgemeinen beruhigend und secretionshemmend wirken.
Auch die Luft in Gasanstalten, welche aus Leuchtgas, vielleicht
auch einer anderen Kohlenstoffverbindung , aus Ammoniak und Schwefelwasser-
stoff, aus Dämpfen von Carbolsäure und Benzin zusammengesetzt ist, wurde früher
als heilbringend empfohlen.
2. Die flüssigen Inhalationsmittel mit Einschluss der in verschiedenen
Flüssigkeiten aufgelösten festen Stoffe müssen entweder zur Verdunstung, respec-
tive zur Verdampfung und zur Verstaubung, meist mit Hilfe besonderer Apparate
hergerichtet sein, um in die Luftwege eingeathmet zu werden.
Eine Reihe von Mitteln verdunstet bei gewöhnlicher Zimmertemperatur.
So u. A. die Carbolsäure. Man tränkt Tücher mit 5° „igem Carbolwasser und
hängt dieselben im Zimmer auf. Für Kinder, welche an Stickhusten leiden, wird
solches Carbolwasser auf die leinenen oder wollenen Kinderwagendächer gegossen,
unter denen die Kinder liegen.
Auch Pyridin kann in analoger Weise angewendet werden. Man giesst
2 — 5 Grm. auf einen Teller im Zimmer des Kranken, lässt die Flüssigkeit bei
Zimmerwärme verdampfen, die Luft 20 — 30 Minuten einathmeu und wiederholt
diese Procedur 1 — 3mal täglich. Der Geruch dieses Mittels ist ein widerlich
penetranter und wird von manchen Kranken nicht vertragen. Auch lässt es sich
bei sehr heruntergekommenen Personen, bei sehr schwacher Herzkraft, beim Vor-
handensein von Stauungserscheinungen nicht gut anwenden; es tritt dann sehr
leicht Uebelkeit, Erbrechen, Kopfschmerz, Ohnmachtsan Wandlung, Gliederzittern
und allgemeine Muskelerschlaffung ein.
Andere Mittel verdunsten , respective geben einen Theil der in ihnen
enthaltenen ätherischen Oele ab, wenn sie erwärmt sind. Dies geschieht am ge-
eignetsten durch Vermischung mit heissem oder kochendem Wasser oder durch
Aufgiessen auf dasselbe. In solcher Weise wird vornehmlich das Terpentinöl
verwendet. Man giesst in einen weit offenen, zur Hälfte mit möglichst heissem
Wasser gefüllten Topf 1 Esslöffel Terpentinöl, stülpt einen entsprechend grossen
Glastrichter darüber, ohne denselben am Topfrande dicht anliegen zu lassen und
athmet den aus dem dünnen Ende des Trichters aufströmenden Dampf ein. Be-
quemer ist es, an den gebogenen Trichterhals einen kurzen Gummisehlauch anzu-
ftlgen und das freie Ende in den Mund zu nehmen.
Ein bequemes Hilfsmittel zur Inhalation der zum Theil bei gewöhnlicher
Zimmertemperatur verdunstenden Stoffe ist die Maske (Fig. 48), welche von CURSCH-
MA.VN im Jahre 1879 zu allgemeiner Anwendung gebracht worden ist. Sie gleicht
in Form und Grösse der am Waldenburg’sclien Apparate angebrachten Maske.
Ihre Kuppel trägt einen runden, mit Drahtgeflecht überspannten Ausschnitt von
6 Cm. Durchmesser. Dieser bildet den Boden einer der Maske aufgelötheten, etwa
1 ’/, Cm. hohen Kapsel, welche mit einem gleichfalls aus einein Drahtgeflecht ge-
bildeten Deckel geschlossen wird. Die Kapsel ist mit einem Schwamm ausgefüllt,
18*
276
INHALATIONSTHERAPIE.
welcher nach GutiHinkcn mit dem zu inhalirendeu Mcdicament befeuchtet wird.
Der Rand der Maske ist, um einen möglichst guten Anschluss an das Gesicht
zu erzielen, mit einem weichen, elastischen, lufthaltigen Gmntnirande besetzt. Be-
festigt der Patient diese Maske vor der Mundötfnung (meist mit Einschluss der
Nase), so muss der Respirationsstrom sich mit dent von dem Schwamm ver-
dunstenden Medicameut erfüllen. Mit Hilfe dieser Maske wurden hauptsächlich
Terpentinöl lind Carbolsäure, seltener Thymol angewendet. Ersteres wurde ohne
weitere Präparation auf den Schwamm aufgeträufelt und, so weit es verdunstete,
ergänzt. Carbolsäure wurde nach vorheriger Er-
wärmung unverdünnt auf den Schwamm auf-
geträufelt. Dieselbe führte niemals eine örtliche
reizende Wirkung herbei. Nur vereinzelt kamen
im Gesicht, da wo der Gummirand der Maske
auflag, Röthuugcn oder leichte Excoriationcn vor.
Sie können fast sicher vermieden werden , wenn
man den feucht gewordenen Gummiraud häutig
abtrocknet und die Umgebung von Mund und
Nase mit irgend einem Fett bestreichen lässt. —
Bei nicht sehr schweren Erkrankungsfällen wurde
Carbolsäure ebenso wie Thymol in alkoholischer
Lösung (entweder aa oder 1 zu 2 — 3 Alkohol*
angewendet. — Anfangs hatten die Patienten Curschmso^n's^ursprßBKlicher
die mit den zu inhalirendeu Mitteln versehene
Maske mehrmals am Tage nur 1 — 2 Stunden (mit ebeuso langen Pausen) zu
tragen. Fast alle Patienten aber gewöhnten sich bald daran, halbe, ja ganze Tage
das Instrument nicht abzusetzen. In besonders dringenden Fällen wurde von vorn
herein eine solche ununterbrochene Anwendung angeordnet und ohne wesentliche
Schwierigkeit durchgeführt. Angewendet wurde die Maske von Ct'RSCHMAXX bei
putrider Bronchitis, Bronchiektasieu und verwandten Krankheiten. Schon nach
Fig. 4»
Fig. V«.
Fig. 4:*'-.
3 — 4 Tagen konnte eine Beseitigung der putriden Beschaffenheit der Hecretc con-
statirt werden und damit auch ein Nachlassen des Fiebers, weil mit Entfernung
der staguirenden putriden Stoffe eine Resorption fiebererregender Stoffe in das
Blut sich verhüten Hess.
Ein analoger Apparat (Fig. 49) ist von Hai'smaxx empfohlen worden.
Derselbe ist bequem und ebenso wie der CfRSsi’HMAXx'sche zu handhaben. Ange-
wendet wurden: gereinigter Holztheer, Carbolsäure höchstens 8 — 10° „ig, Ter-
pentinöl.
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INHAI.ATIONSTHERAPIE.
277
Von gleichem Princip waren schon früher Oliviek, Langkkhkck, Bäsch-
lix (vergl. Fkakxkki. in Zikmsskn's Handbuch), Sigg, Jakorson, Yeo Cousins
u. A. ausgegangen.
Kinen Naseninhalator (Fig. SO) hat FeldbacSCH angegeben. Zwei kleine
Kapseln, welche in die Nase geklemmt werden, dienen zur Aufnahme des auf
eine kleine Papierrolle gegossenen Medieamentes. Inwieweit bei diesem Apparat
die Einmengung der Nasenoffnu ng, also die Verringerung des eintretenden Luft-
quautums mit in Betracht kommt, muss hier unentschieden bleiben. Hat doch
Eia. so.
Sang Kit mit Hilfe seines Apparates (vergl. Fig. 51) durch mechanische Verenge-
rung des Nasenganges sehr gute Erfolge erzielt.
Auch die Wrt.F’sche Flasche (Fig. 52), die man sieh billig und schnell
selbst herstellen kann, eignet sich iiusserst bequem zum Inhaliren. Man kann jede
grossere Flasche mit weitem Halse benutzen , durchbohrt den Stöpsel doppelt,
srhiebt eine recht lange weite Glasröhre durch bis zum Boden der Flasche, eine
Eia 51
zweite biegt man über der Spiritustiamme und schiebt sie so weit durch den
Pfropfen, dass sic etwas unter denselben durchreicht. In die Flasche giesst man
das Medicament allein oder in Mischung mit Wasser (c). Die Röhre n wird tief
in den Mund gesteckt und durch dieselbe inspirirt (nicht gesaugt!). Die Luft
dringt durch die Röhre b ein, geht durch das Medicament c und entweicht als
medieamentöse Luft bei der Inspiration durch Röhre a. Man hüte sich jedoch in
die Flasche zu exspiriren. In diesem Falle wird das Medicament durch Röhre h
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IN HA I.ATIONSTHERA PIE
nach aussen getrieben, wodurch bei ätzenden Medicamenten Unannehmlichkeiten
entstehen kfinnen. Eine recht lange Röhre b schützt etwas gegen die Folgen
eines solchen Versehens. Die Flasche kann man wie eine Pfeife gebrauchen und
täglich durch dieselbe die vorgeschriebene Zahl der Athraungcn machen.
Man kann die Flasche auch an einen warmen Ort stellen, um die Ver-
dampfung des darin enthaltenen Mittels zu fördern.
Den bedeutsamsten Theil der Inhalationstherapie beansprucht
die Einathmung zerstäubter Flüssigkeiten, respective zerstäubter
aufgelöster Mcdicameute.
Sales GikOXS gebührt das Verdienst, den ersten transportablen Apparat
für zerstäubte Flüssigkeiten angegeben zu haben. Sein Apparat beruht auf dem
Prineip der Zerstäubung eines Flüssigkeitsstrahles
durch Anprallen gegen eine feste Platte. Mit
Hilfe einer Handdruckpumpe wird die raedica-
mentöse Flüssigkeit aus einem geschlossenen Ge-
fäss durch ein Haarröhrchen so kräftig gegen
eine convexe Scheibe getrieben , dass ein feiner
Flüssigkeitsnebel entsteht. Dieser Nebel wird
durch ein vor den Mund des Kranken gebrachtes
Rohr inhalirt. Die Luftcompression wird durch
ein Manometer regulirt.
Diese Zerstäubungsart wird nur noch
in Inhalirsälen mit Hilfe einer grösseren Wasser-
oder Dampftriebkraft benutzt, wie dies schon
von A ITH an geschehen ist (vergl. Schmied).
Hei Matthieu’s Apparat trifft die
ausströmende comprimirte Luft mit der Flüssig-
keit zusammen, reisst diese mit fort und zerstäubt
dieselbe. Die mit einer Handdruckpurape in einem
Glasballon comprimirte Luft entströmt durch ein
Haarröhrchen, über dessen Ausgangsmündung das
Gefäss mit der zu inhalirenden Flüssigkeit derart
angebracht ist, dass dieselbe in geringer Menge
sich fortgesetzt mit der ausströmenden Luft mischt. lnhaHrflascbf.
Bei den neueren auf demselben Prineip be-
ruhenden Apparaten wird die Luftcompression mit Hilfe eines Gummidoppel-
gcbläses bewerkstelligt. Apparate dieser Art sind von Schnitzlek , Tköltsch,
RichakdsüX, Lister angegeben. Am meisten in Gebrauch ist Tköltsch’s Zer-
stäuber (Fig. 53).
Derselbe besteht aus einer Flasche, in der sich die zu zerstäubende
Flüssigkeit befindet. In dieselbe taucht bis nahezu an den Boden der Flasche
ein dünnes Röhrchen, das Steigrohr c. Ein zweites etwas dickeres Röhrchen, der
Luftcanal, durchbohrt den Korkstöpsel bis au das untere Ende desselben und
theilt sich oberhalb des Pfropfes in zwei Arme, einen kurzen n, an welchem das
Gummigebläse angebracht wird, und einen längeren b, der erst spitzwinklig ab-
geht und dann horizontal wird. Das Steigrohr ist vom unteren Ende des Stöpsels
an eoncentrisch sowohl in den verticalen, als in den horizontalen Theil des
Lufteanals eingefügt. Comprimirt man nun die Luft im Kautscbukgebläse, so tritt
sie in fortdauerndem Strome durch den kürzeren Arm des Luftcanals zum Theil
nach unten in die Flasche und treibt die Flüssigkeit durch das Steigrohr in die
Höhe, zum Theil sogleich in den horizontalen Arm, wo sie beim Austritt aus
der feinen Uelfnung d die gleichzeitig austretende Flüssigkeit in einen feinen
Nebel zerstäubt.
Das erwähnte Doppelgebläse besteht aus zwei Ballons. Der nicht uetz-
umhüllte Ballon wird in die volle Hand genommen und zusammengedrüekt. Die
Fi*, st.
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INHALATIONSTHERAPIE.
*79
darin befindliche Luft kann in Folge eines Schluseventils nach dem Ende nicht
entweichen, sondern muss nach dem netzumsponnenen Ballon dringen. Lässt mau
mit der Handcompression nach, so strömt die Luft in den Ballon wieder ein und
wird gefallt. Durch dieses wechselnde Leeren und Fallen des Ballons wird die
Luft bald in dem umsponnenen Ballon comprimirt und übt weiter dringend ihre
Wirkung auf die Flassigkeit in der Flasche aus.
Um die Zerstäubung der Flüssigkeiten dem Larynx näher bringen zu
können, brachte man verschiedene Modificationen an der Röhre b an , und zwar
Fi*. 63.
Troeltsch's Zerstäuber.
« Zaleitongsrobr der Luft. 1 lange Röhre, in welcher die Fortsetzung des Steigrohres
für Flüssigkeit e enthalten ist.
derart, dass man sie verlängerte und katlieterartig krümmte, oder dass man die
vordere gemeinsame Ausgangsöffnung an die Seite der Röhre nach unten ver-
legte, wodurch der Zerstäuhungsstrahl eine rechtwinklig von der Röhre h abgehende
verticale Richtung nach unten bekommt.
Eine sehr bedeutsame Modification erfuhren die Inhalations1-
apparate durch Bkrgsox, welcher die Hebung der zu zerstäubenden Flüssig-
keit nicht durch Druck, sondern durch Aspiration bewerkstelligte Fig. 54).
Fig. M.
Bergaon's Hydrokonion.
Bei seinem Apparat, genannt Hydrokonion. taucht in ein offenes, die zu
zerstäubende Flüssigkeit enthaltendes Gefäss o eine an beiden Seiten offene und
oben spitz znlanfende Röhre c. Reehtwlnkelig zu dieser Röhre, also horizontal,
verläuft eine andere spitz zulaufende Röhre </ derart, dass die Mündungen ein-
ander treffen. Wird nun durch diese horizontale Röhre vermittels des Gummi-
INH A LATI< »NSTHERA PI E.
28u
gebläses eb ein starker Luftstrom getrieben, so wird in dem senkrechten Röhrehon c
ein luftverdünnter Raum hervorgebracht, in Folge dessen die Flüssigkeit aspirirt
und beim Austritt aus der engen Oeffnung durch den nndringenden Luftstrom
zerstäubt wird.
Die höchste Vervollkommnung der Inhalationsapparate aber
danken wir Siegle. Sein Apparat (Fig. 55) besteht aus einem Dampfkesseln,
dessen Oeffnung zum Einfüllen des Wassers durch einen Kork verschlossen ist,
aus welchem eine mit feiner Oeffnung endigende, horizontal sich umbiegende
Röhre b hinausfuhrt. Am Ende der Röhre befindet sich, wie am BEROSOx’scben
Apparat, eine verticale Glasröhre c, die nach unten in ein mit der medieamen-
tösen Flüssigkeit gefülltes Glas hineinreicht, nach oben mit ihrer feinen Mündung
gerade die Oeffnung der Röhre b berührt. Wird der Dampfkessel, der nur halb
mit Wasser zu füllen ist, durch eine darunter stehende Spiritusfinmme erhitzt, so
geräth das in demselben befindliche Wasser in’s Sieden und der sich bildende
Dampf hat keinen anderen Ausweg als die Röhre , durch deren enge Oeffnung
er unter einem gewissen Druck hinausgctricben wird. Durch diese hart Uber der
zweiten Röhre entstehende Strömung bildet sich in ihr ein luftverdüniiter Raum,
durch welchen die medieamentösc Flüssigkeit aus dem Gefässe aspirirt wirJ. Die
hinaufgestiegene Flüssigkeit mischt sich nun
mit dem ausströmemlen Dampfe und wird von Fig. 55.
diesem zerstäubt. Der Dampfnebel wird durch
einen Glastubus eingeathmet. Siegle brachte
noch an seinem Apparat ein sogenanntes
Thermoharometer f an , das als Sicherheits-
Vorrichtung und Druckmesser gegen das Zer-
platzen des Kessels durch überspannten Dampf
dienen sollte. Jetzt fertigt man den Kessel
aus Metall an; als Kork benützt mau bei
den billigen Apparaten auch gewöhnlichen
Kork, bei anderen Metall; die Röhre b wird
dann auch von Metall gefertigt. Der Metall-
kork wird durch Sehiebevorrichtung an dem
Kessel befestigt und ausserdem findet sich an
den meisten Kesseln noch ein kleines Sicher-
heitsventil, welches bei zu starkem Dampfdruck
gehoben wird, so dass ein Bersten des Kessels
verhütet werden kann.
Der SlEGLE’sche Apparat hat unendlich viele Modificationen c rhalten,
die sieh theils auf das Material, aus welchem der Kessel bestellen soll, beziehen,
theils die Art der Oefi'nung für die Röhren, die Art der Ventile, die Lage und
Form der Röhren etc. betreffen. Manche Apparate sind so coustruirt, dass sie
mit einer Handhabe versehen auch bei bettlägerigen Kranken benützt werden können.
Besondere Erwähnung verdient der von MOKITZ Schon in C'rimmitzscbau
construirte Apparat (Fig. 56), weil die Zerstäubung mittels Wasserdampfes —
mit Hilfe einer gewöhnlichen SpiritusHamme — ohne Unterbrechung stundenlang
ausgeführt werden kann. Dies wird ermöglicht durch automatische Zufuhr von
Wasser zum Dampfkessel. Dasselbe strömt aus einem um 2 Meter höher stehen-
den Gefässe durch einen Gummisehlaueh dem Wasserkessel zu. Dieser ruht auf
einer wageartigen Vorrichtung und wird , wenn kein Wasser in demselben ist,
von dem Gegengewicht oder von der Elasticitftt des Gummischlauches gehoben;
sobald aber circa 20 Grm. Wasser in den Kessel geströmt sind , senkt sieh der-
selbe und drückt dabei den wasserzuführenden Schlauch so zusammen , dass der
Zufiuss steht. Verdampft nun Wasser aus dem Kessel, dann w ird derselbe leichter
und die Wasserzufuhr findet wieder so lange statt , bis durch die Schwere des
Kessels der Schlauch von Neuem dicht zusammeugequetscht wird. Es bleibt demnach.
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I N HA LATIOKSTHERA l’I E.
281
so lange Wasser in dem höher hängenden Irrigator vorhanden ist , der Wasser-
stand im Kessel stets derselbe, gleichviel oh der Apparat in Thätigkeit ist oder nicht.
Oie Zerstäubungen von medicamentösen Flüssigkeiten im Grossen für
Inhalirside, also namentlich die Soolzerstaubungcn in den betreffenden Soolbädern,
werden meist nach den MATHIEl’scheu, die Coniferenreisigdampfinhalationen nach
dem SlEGl.E'schen Princip bergestellt und als treibende Kraft wird hier die
Dampfmaschine benützt (vergl. Schmied). Einen transportablen Apparat, bei
welchem «1er Dampfkessel mit mehreren Zerstäubungsröhrchen versehen ist und
sich während der Zerstäubung durch eigene Kraft im Kreise dreht, wodurch dann
jedes grosse Zimmer mit den mctlicamentösen Dämpfen anhaltend gefüllt und in
einen Inhalirsaal verwandelt werden kann, erdachte S. Gcttmax.V.
Bezüglich der Frage, welches System von Iuhalationsappa-
raten zu verwenden ist, kann meiner -Meinung nach heutzutage kei u
Zweifel bestehen. Nur solche Apparate sollten benutzt werden, bei
denen die Zerstäubung mittels Wasserdampfes erreicht wird.
Kig. ss.
ln erster Reihe verdienen diese Apparate den Vorzug, weil iu allen
Fällen, wo statt des Wasserdampfes comprimirte Luft verwendet wird, die in der
Luft selbst suspendirten Stanhtlieilchen mitsammt der zerstäubten Flüssigkeit in
den Respirationstractus gelangen und, selbst wenn nur anorganische eorpuseulüre
.Stoffe darin enthalten sind, auf mechanischem Wege die Schleimhaut reizen können.
Ein weiterer Vortheil der Dampfzerstäuber liegt in der Erwärmung der zer-
stäubten Flüssigkeit. Eine Erwärmung derselben darf aber als wesentliches Desi-
derat angesehen werden. Denn während die Einathmung der Luft unter normalen
Verhältnissen durch die Nase statttiudet, also hier eine Vorwärmung ausgeführt
wird, bevor die Luft in den Larynx und die Trachea gelangt, wird die vom
Inlialationsapparat gelieferte zerstäubte Flüssigkeit durch den Mund direct iu
«len Larvnx geleitet und kann bei niedriger Temperatur um so mehr Nacb-
tlieile bringen, weil im Allgemeinen bei den Inhalationen tiefere Inspirationen
ausgeführt werden, wie unter normalen Verhältnissen. Nur Dainpf-Inhalations-
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INHALATIONSTHERAPIE
apparate können bei einer Entfernung des inhaürenden Mundes nm etwa 10 bis
15 Cm. von der Ausströmungsstelle dem Spray eine Temperatur von 20 — 30°
verleihen, wie sie wohl als geeignet angesehen werden darf, um eine uner-
wünschte Schleimhautreizung oder die Auslösung unnöthiger Hustenstösse zu
verhüten.
Soll aber ein voller Nutzen der inhalirten Flüssigkeit erzielt
werden, dann muss auch die Methodik des Inhalirens sorgfältig ge-
handhabt, respective dem Patienten demonstrirt werden. In dieser
Beziehung geschieht häufig zu wenig, nicht selten wird durch eine Versäumniss
nach dieser Richtung hin der ganze Erfolg der Mediation in Frage gestellt.
Nicht mit Unrecht legen die bewährtesten Fachmänner hierauf besonderes Gewicht.
Türck (pag. 561). hat beobachtet, dass manche Individuen mehr Flüs-
sigkeit inhalirten (was sich durch den erzeugten Husten kundgab), wenn die
Zunge weit hervorgestreckt und in das Rohr des Sales GiROx’schen Zerstäubers
gelegt wurde oder mit dem von ihm angegebenen Zungenspatel niedergehalten
wurde. Bei anderen nützte dies nichts oder hatte die entgegengesetzte Wirkung.
SCH KÖTTER sagt: „Es ist durchaus nothwendig, dass sich der Arzt die
Mühe nimmt, dem Patienten die Anwendung des Apparats 1 — 2mal zu zeigen.
Der Kranke muss den Mund gut öffnen , die Zunge nach rückwärts möglichst
abfiachcn; kann er dies nicht oder zieht er dieselbe beim ersten Flüssigkeits-
Strahle zurück, dann muss die Zunge mit einem Kniespatel — am besten d*-m
Tt'UCKSehcn — niedergedrückt werden. Wenn nun ruhig und hinreichend tief
geathmet wird, so erfolgt schon nach wenigen Athemzügen ein Hustenstoss als
Zeichen , dass die Flüssigkeit eingedrungen ist. Erzählt der Patient . dass er
während der ganzen 14 Tage, die er einathmete, auch nicht ein einziges Mal
gehustet hat, so weiss man mit Bestimmtheit, dass er die Procedur schlecht aus-
führte. An den Reiz gewöhnt sich der Patient übrigens bald , ausserdem aber
fühlt er ein Gefühl des Kitzelns , Rauhseins oder Brennens nicht nur in der
Gegend des Kehlkopfes, sondern auch noch tiefer hinunter hinter dem Sternum
als Beweis dafür, dass die Flüssigkeit selbst in die Trachea gelangt ist.
Die Nachlässigkeit, mit der die Inhalationen gewöhnlich von den Patienten
ansgeführt werden, trägt wohl zum Theil mit die Schuld, dass viele Aerzte, ab
geschreckt durch den Misserfolg, ihr anfängliches Vertrauen zu dieser Heil-
methode verloren haben.“
Im Allgemeinen dürften bezüglich der Haltung des Kranken
beim Inhaliren folgende Massregeln zu empfehleu sein. Der offene
Mund des Patienten muss sich in gleicher Höhe mit der Ausstrümuugsriehtung
der zerstäubten Flüssigkeit befinden und kann 10 — 15 Cm. von der Ausströmungs-
öffnung des Apparates abstehen. Die Zunge muss möglichst flach auf dem Mund-
boden liegen. Bei solchen Patienten, welche die Zunge so hoch wölben, dass sie
fast den Gaumen berührt, ist der Nutzen des Inhalirens ein sehr problematischer.
Die Zunge muss dann mit einem geeigneten Mundspatel niedergehalten werden.
Wird aber dabei die Zunge zu stark gegen die hintere Rachenwand gedrängt, so
muss sie aus dem Munde herausgestreckt und nöthigenfalls festgehalten werden.
Am besten befindet sich der Patient in sitzender Haltung. Falls dies wegen der
Schwere der Erkrankung nicht möglich ist, muss der Oberkörper möglichst hoch
gelagert sein und der Apparat auf einem sogenannten Betttische stehen, dessen
Platte — vor dem Umklappen gesichert — ■ quer über das Bett hinweggeschoben
werden kann. Die Inhalationen müssen möglichst gleichmässig tief, nicht rasch und
ziemlich kräftig ausgeführt werden, damit der Inhalationsstrahl, welcher auf die
hintere Rachenwand direct auftrifft, von seiner Richtnng ab nach dem Kehlkopf
hingeleitet wird. Die Nasenöffnung schliessen zu lassen, hat keinen Zweck. Eine
bestimmte Zeitdauer für die Inhalation zu bestimmen ist unnöthig; ausschliess-
lich richtig ist die Bestimmung des zu verstäubenden Quantums. TCkck empfiehlt
etwa 30 Grm. zu verwenden. Dies würde dem Inhalt des Glases entsprechen,
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INHALATIONSTHERAPIE.
283
welches zu den kleinen Inhalationsapparaten gehört. Doch kann dies nur fiir die
Anwendung differenterer Heilmittel gelten; in anderen Fällen ist die Inhalations-
zeit, sowie die Verwendung des zu inhnlirenden Quantums eine weit beträcht-
lichere und von dem Ermessen des Arztes abhängig.
In besonderem Masse gilt die unbesehränkt lange Anwen-
dung für die Inhalation reinen Wasserdampfes, welche jetzt vielfach in
Gebranch ist. Für diesen Zweck dürfte im Privathause der oben beschriebene
Sehön'sche Apparat gut verwendbar sein. In Krankenanstalten, wo Dampfkessel
vorhanden sind, kann der Dampf direct vom Dampfkessel bezogen werden. Eine
besonders zweckmässige Einrichtung dieser Art hat Baginsky im Kaiser und
Kaiserin Friedrich- Krankenhause getroffen.
Sehr raseh historisch geworden ist die Einathmung heisser Luft, wie sie
von Halter und Weigert empfohlen worden ist. Auch die Einathmung warmer
Luft (Kbcll) ist zu allgemeiner Verwendung nicht gelangt. Bei der weiterhin
zu erörternden Inhalatioustherapie der Lungenschwindsucht ist hierüber Eingehen-
deres bemerkt.
3. Die Räucherungen gehören zu den ältesten Inhalationsmethoden.
Sie werden auch heutzutage noch vielfach , meist ohne Verordnung des Arztes
angewendet. Das Princip beruht auf der Thatsache, dass der Rauch, welcher
bei entsprechender Verbrennung mancher Medicamente entsteht , noch wirksame
Bestandteile derselben enthält. Zum Zwecke der leichteren Brennbarkeit wählt
man die Pulver-Papierkerzehen- oder Cigarettenforin.
Viel angewendet ist die Räucherung mit Salpeterpapier:
Fliesspapier, welches mit einer Lösung von Kalisalpeter (1:5) getränkt ist. Man
brennt ein grösseres Stück dieses Papieres bei Beginn eines Asthmaanfalles ab
und lässt den Dampf einathmen; andere, die allnächtlich oder oft Nachts an
asthmatischen Zuständen leiden, brennen prophylaktisch jeden Abend im Zimmer
ein Stück Papier ab. Nach einer Analyse von Ei'LEXBURG soll der Rauch vor-
nehmlich Ammoniak und Kohlensäure, ferner C'yan, Cyankalium und geringe Men-
gen Kohlenoxyd und freies -Kali enthalten. Kochs dagegen fand weder Cyan und
Cyanverhindungen , noch kohlensaures uud salpetersaures Kalium. Nach seinen
Untersuchungen enthält der Rauch etwas feinvertheilte Kohle, reagirt durch den
Gehalt an reichlichen Mengen kohlensauren Ammoniaks intensiv alkalisch und
enthält beträchtliche Mengen von Kohlensäure und Wasser. Ausserdem fand er
eine grosse Menge von Brenzproducten, unter denen zweifellos aromatische Sub-
stanzen vorhanden waren , und durch Oxydation in einen dem Geruch nach
kumarinartigen Körper übergingen. Er stellt sich die Wirkung des Rauches
(ebenso wie die aller anderen bei Asthma empfohlenen Riechmittel) so vor, dass
derselbe durch seine Wirkung auf die Nase eine „Umstimmung des Reflexmecha-
nismus“ hinsichtlich der Atlunung bewirkt, weil als primäre Ursache des Asthma
eine Neurose des Vagus und die Lungeuerscheinungen als secundäre anzu-
aehen seien.
Strammoniumblätter sind unter den narkotischen Mitteln die um
meisten verwendeten. Man lässt dieselben rein oder mit Tabak vermischt 1:2)
aus gewöhnlichen Thoupfeifen bei Beginn oder wenn möglich, während des
Asthmas rauchen. Manche Kranke ziehen der Tabakpfeife die Straromoniumciga-
retten vor. Die Cigarette# pectorale s d'Espic., welche in Apotheken vorräthig
sind, bestehen aus Fol. Ilel/ad., Fol. Ilyoscy., Fol. Strammonii, welche mit
Extr. (Jpii in Arg. Laurocera-i getränkt, dann getrocknet und in ein mit der-
selben Opiumlösung getränktes Cigarettenpapier gefüllt werden.
Cocacigaretten werden in der jüngsten Zeit von einer Stuttgarter
Firma in den Handel gebracht. Man will, wie es scheint, das Angenehme (des
Rauchens) mit dem Nützlichen (der t'ocawirkung) verbinden. Das Publicum wird
wohl davon Gebrauch machen.
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284
INHALATIONSTHERAPIE.
Aurli zu Räucherpulvern — Asthmaräueherpulvern — werden die ge-
nannten narkotischen Mittel benutzt oder mit Zuhilfenahme von Holzkohle Asthma-
räneherkerzchen aus denselben gefertigt.
Viele Aerzte dürften ohne Räucherungen ausgekommen sein.
Als die wichtigsten Krankheiten, gegen welche Inhalationen —
meist als Adjuvantien bei der Behandlung — zu empfehlen wären,
können genannt werden: die Lungenschwindsucht. Bezüglich des Werthes
der Inhalationen bei dieser Krankheit ist schon oben erwähnt, dass ein beson-
derer Einfluss auf die Krankheitsherde selbst kaum zu erhoffen ist, weil die ein-
geathmeten Stoffe gar nicht bis zu ihnen gelangen. Immerhin bleibt die Mög-
lichkeit: 1. auf tuberkulöse Erkrankungen der Luftw'ege, insbesondere des Larynx
einzuwirken ; 2. der Ausbreitung der tuberkulösen Erkrankung einzelner Lungen-
absehnitte auf ihre Eingebung entgegenzuwirken ; 3. die begleitenden katarrhali-
schen Zustände zu beseitigen. Grund genug, den Inhalationen bei der Behandlung
der Tuberkulose einen Platz zu gönnen.
Carbolsäure wird bei Kehlkopfphthise empfohlen. Absehwellung der
Infiltration , Reinigung und Abflachung der Geschwüre, selbst Heilung flacher
Geschwüre ist beobachtet worden. — Auch Thymol ist angewendet, aber bis-
weilen nicht vertragen worden. — Menthol und Kreosot besitzen keinen be-
sonderen Vorzug vor den genannten Mitteln und sind schon wegen der Unbe-
quemlichkeit bei der Anwendung nicht cmpfehlenswerth. — Naphtalin und
Naphtol gab de Rexzi innerlich zu 1,0, respective 1 — 5,0 täglich und Hess
beide Mittel auch täglich zu 0,5 — 1,0: 100 in Lösung inhaliren. — Guajakol 25
bis 30 Tropfen auf 1000,0 Wasser Hess Schüller wochenlang hei Tuberkulose
inhaliren und hatte anscheinend gute Erfolge. — Camphersänre in */* bis
6° 0iger Lösung zu Inhalationen, welche überdies etwas adstringirend wirkte,
wurde von Reichert bei verschiedenen katarrhalischen Erkrankungen der Ath-
mungsorgane, sowie bei Lungentuberkulose mit günstigem Erfolge verwendet.
Sokmani und BL'OXATEI.i.i fanden, dass die Cnmphersäure bacillentödtcnde Eigen-
schaften hat. — In jüngster Zeit sind Versuche mit Aethrr camphoratu* von
Pktrüschky vorgenommen worden. Er fand nach langdauernder, fast während
des ganzen Tages vorgenommener Inhalation von Aethrr « amphoratu s mit
Hilfe der CCRseHMAXN schen Maske in der Hälfte der Fälle einen Abfall des
Fiebers, so dass nachher eine erfolgreiche Tuberknlineur vorgenommen werden
konnte. — LEYDEN, welcher dreimal täglich je 1 , Stunde inhaliren Hess, hat
keinen Erfolg gesehen.
Fluorwasserstoffsäure wurde auf Grund der Thatsache, dass plithi-
sischc Arbeiter in Glasfabriken, wo die genannte Säure in grösserem Massstabe
verwendet wird , sich in den Dämpfen derselben sehr wohl befinden und dass
auch phthislsche Glasschleifer sich in die Aetzrüume versetzen lassen, therapeu-
tisch 1862 von Basti ex und später auch von Chakcot und Beuseox verwert het ;
man verliess aber das Mittel, weil es keine 1 esonders glänzenden Erfolge bei der
Behandlung von Phthisikern, Asthmatikern, Diphtheritischcn, Keuchhustenkranken
lieferte. 1885 lenkte Seiler und etwas später Garcix die allgemeine Aufmerk-
samkeit auf die Säure, deren Dämpfe in Form von Inhalationen lei Behandlung
der Phthise den ersten Rang einnehmen sollten. Die Wirkungen dieser Inhala-
tionen wurden von Seiler, Garcix u. A. als höchst günstig wirkend bei Lungen-
tuberkulose angewendet und cs fehlt kein einziges Symptom in den diversen
Krankenberichten, welches nicht gebessert wurde, allein die C’ontrolvcrsuche von
Gkaxthek und Chaifakd, sowie Jaccaid ergaben, dass diese Säuredämpl'e die
Lebensfähigkeit des Tnberkelbacillus nicht im Mindesten beeinflussen und die
therapeutischen Versuche Anderer (Polyak) bestätigen auch weiterhin , dass die
Lungentuberkulose in keiner Weise durch die Inhalation güustig beeinflusst wird.
Schweflige Säure wurde wegen ihrer antibarillären Wirkung zu In-
halationen ausser bei Diphtheritis und Keuchhusten 'BÖHM, Il.t.tXGwoRTH u. A.)
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INHALATIONSTHERAPIE
285
auch bei Lungentuberkulose verwendet. Man liess die Kranken 2 Stunden täglich
in einem Raume athmen, in welchem für den Cnbikmeter Rauminhalt 1 •/. Grm.
Schwefel abgebrannt wurden (Dl’jardin-Bf.aumktz, Dariex), oder 3 — 6 Stunden
täglich in einem Raum, in welchem 5 — 10,0 Schwefel für den Raummeter ver-
brannt wurden (Sohi.aM), Lky, Bai.bau.Y n. A.t. — Dt'JARDIN-RKAt'M ETZ ver-
wendete zur Erzeugung von schwefligen Säuredämpfen auch die Sehwefelkohlen-
stofflampen oder die Schwefelkerzen von Dkschiexs, die aus Kal. nitr. und
Schwefel bestehen. Die Dämpfe der schwefligen Säure gellen auf fast sämmtliehe
Symptome bei Lungentuberkulose günstig einwirken. Doch hat in jüngster Zeit
Nietxer diese Anschauung gründlich widerlegt. Auf Grund seiner Versuche,
welche unter möglichst genauer Dosirung der Zimmerluft an schwefliger Säure
vorgenommen wurden, kommt er zu folgendem Resultat: „Die Inhalationen mit
schwefliger Säure haben einen scheinbaren Einfluss auf die die Mischinfection
bedingenden Mikroorganismen im Sputum und das hektische Fieber der Phthisiker
nur in einem Falle gehabt. Die Besserung des Allgemeinbefindens bei 6 Kranken
ist wohl nicht der Einwirkung der schwefligen Säure zuzuschreiben , da bei 4
von diesen 6 Kranken die Besserung schon vor Beginn der Inhalationen einge-
setzt hatte und da diese ausserdem gleichzeitig mit Tuberkulin behandelt wurden.
Von einem Mittel gegen die Mischinfection müssen wir aber verlangen , dass es
in jedem einzelnen Falle in einer gewissen Zeit das Fieber und die Bakterien
aus dem Sputum beseitigt. Das zu leisten, ist die schweflige Säure nicht im
Stande und deshalb ist sie für die Phthiseotherapie nicht brauchbar.“
Formaldehyd-Inhalationen hat ebenfalls Nietner vorgenommen.
Das Ergebniss war ein durchaus uugünstiges. Diese Inhalationen verursachen bei
den zu Fieber neigenden, beziehungsweise bei den schon fiebernden Phthisikern deut-
liche Teroperatursteigerung.
Heisse Luft als Heilmittel gegen Lungentuberkulose in Form von In-
halationen wurde zuerst von Halter empfohlen. Derselbe hatte beobachtet, dass
die Ausriiumer von KalkOfcn nie an Schwindsucht erkranken, nimmt deshalb als
Schutzmittel die dabei anhaltend eingeathmete heisse trockene Luft an und
empfiehlt Lufteinathmungen von 4- 120 — 190“ C. Diese heisse Luft soll die
Tuberkelbacillen in der Lunge tödten, da ihr Optimum bei 37,5“ C. ist, dieselben
bei + 38,5° C. nur noch kümmerlich wachsen, bei 4- 42" C. aber gänzlich auf-
hören , sich zu entwickeln , bei Einwirkung einer Luft von + 50“ C. innerhalb
eines Munates a l.st erben und einmaliges Aufkochen, d. h. 4- 100“ C. sie gänzlich
vernichtet. — Weigert stellte fest, dass trockene Luft, bis zu 150 — 180“ C.
erhitzt, beschwerdelos mehrere Stunden eingeathmet werden kann, dass sie in
den ersten Minuten Beschleunigung des Pulses, eine Verminderung der Respira-
tionsfrequenz mit gleichzeitiger Vertiefung der Inspirationen, eine Erhöhung der
allgemeinen Körpertemperatur um 1 2 — 1“C. bewirkt nnd dass die eingeathmete
Luft eine Temperatur von mindestens 4- 45“ C. aufweist , dass innerhalb einer
Stunde naeh beendigter Inhalation die Körpertemperatur wieder zur Norm zurück-
kehrt und dass das Allgemeinbefinden ungestört bleibt. Es wurde jedoch bald
auf exactem, experimentellem Wege festgestellt, dass die Inhalationen lieisser
trockener Luft (von 180* C.) wirkungslos sind, gar nicht als solche zur Geltung
kommen und die heisse Luft sieh schon innerhalb des Larynx nnd der Faneos so
ahkühlt, dass sie nie höher ist als im Rectum, dass die erhöhte starke Wasser-
verdunstung die ganze Wärme einfach absorbirt (Mosso nnd Roxdei.i.i, Nykamp,
Sehrwalu). Mit Recht sagt Sehrwai.d: „Wäre die ll.ALTER’sche Deduetiou Uber
die Einwirkung der heissen Athmungsluft auf die tuberkulös erkrankten Luft-
wege richtig, so müsste es vor Allem ja die Tuberkulose des Kehlkopfes sein,
welche durch dieselbe günstig beeinflusst werden müsste, denn in den Kehlkopf
gelangt die Luft noch wesentlich heisser als in die Lungen. Von einer Heil-
wirkung der Hai.ter-Weigert’ sehen Methode auf die Kehlkopftuberkulose hat sieh
aber bisher nichts naehweisen lassen.“
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28t;
INHA LATION^THERA PIE.
Feuchte, warme Luft als Inhalation wird von Krull als ausser-
ordentliche« Heilmittel gegen Lungentuberkulose empfohlen. Nach diesem Autor
werden durch wiederholte feuchte, warme Luftinhalationen die Ernährungsgefässe
der Lunge, ähnlich wie Blutgefässe der Haut durch oft wiederholte Einwirkung
warmer Bäder auf dieselbe, alltnälig dauernd reichlicher mit dem ‘durch den an-
geregten Stoffwechsel üppiger bereiteten Blute versehen und der Ernährungszu-
stand des Lungengewebes gehoben. Da nun ein Mensch , der von Tuberkulose
befallen wird, schon eine geschwächte Lunge hat, die zu Tuberkulose disponirt,
so wird diese Schwäche durch obige Wirkungen aufgehoben ; der in der bereits
ergriffenen Lunge noch nicht erkrankte Theil wird gegen das Vordringen des
Tuberkelbacillus widerstandsfähiger gemacht und es werden Bedingungen ge-
schaffen, den erkrankten Theil einerseits durch Resorptionsvorgänge zur Norm
zurückzuführen, andererseits die Erkrankung durch Gefäss-, respective Binde-
gewebsneubildnng zum Abschluss zu bringen. Bei dieser Thätigkeit wird die
Lunge unterstützt durch den mit der warmen Luft eindringenden Wasserdampf,
welcher die Erweichung und Ausstossung der käsigen Depots wesentlich fördert.
Schädliche Einflüsse wurden bei den Inhalationen nicht beobachtet. Dem gegenüber
sind die Untersuchungen Sehrwald’s freilich sehr ungünstig. Er kommt zu dem
Resultat , dass man mit Hilfe dieser Vornahme weder die Lungenluft erwärmen,
noch die Lunge blutreicher machen könne.
Bei Hämoptoe, gleichviel ans welcher Läsion des Lungengewebes die-
selbe hervorgegangen ist, linden Inhalationen heutzutage wohl nirgends mehr
Verwendung. Wenn sie nicht schädlich sind , haben sie zum mindesten keinen
Wertb. Angewendet und empfohlen wurden früher (Siegle, Waldenburg u. Ä.)
Lirju. ferri sesi/uiclil., Tannin, Alaun, Flumbum nceticum.
Bei putrider Bronchitis, Bronchiektasen, Lungenabscess,
Lungengangrän können Inhalationen medicamentöser Stoffe von Erfolg begleitet
sein. Doch ist nicht ausser Acht zu lassen, dass die bei allen diesen Zuständen
vorhandene Bronchitis in erster Linie beeinflusst wird , da nach dem oben Mit
getheilten wohl nur ein minimaler Theil der inhalirten Stoffe in die Lungen-
hohlräume, respective in das kranke Lungengewebe eindringt, ln erster Reihe
kommt auch hier die Carbolsäure in Betracht, welche man in 2- — 3° „iger
Lösung dreimal täglich inhaliren lässt. — Einen nicht zu unterschätzenden Werth
hat bei diesen Krankheiten auch das Terpentinöl. Sowohl die expeetorirende
als auch die zur Resorption chronischer exsudativer Schwellungen der Schleim-
haut beitragende Wirkung wird hier betont ; demnächst auch die fäulniss- und
gährungswidrigen Eigenschaften dieses Mittels, ebenso sein Einfluss auf Herab-
setzung des Fiebers , Verlangsamung der Respiration und Verminderung der
Sensibilität. Die resorptionsbefördernde Wirkung leitet Rohkbach daher, dass
Terpentinöl, wie er experimentell feststellte, durch eine ihm eigcnthüinliche Reiz-
wirkung die Blutgefässe zur Contraction bringt, die Schleimhaut blutleerer macht
und demnach die Absonderung anregt. Die Wirkungen der Inhalationen der
Dämpfe von Coniferenreisigaufgüssen (Tannen, Kiefern, Fichten und Latschen-
kieferreisig) gehören zum grössten Theil dem ätherischen Oelgehalt dieser Coni-
feren an. Derartige Inhalationen werden zumeist in allgemeinen Inhalationssälen
der Bäder verwendet.
Der acute Larynx- und Bronchialkatarrh darf mit besserem
Rechte als eine Domäne der Inhalationstherapie angesehen werden. Wenn trotz-
dem bei diesen Affeetionen nicht allzuhäufig von den Inhalationen Gebrauch gemacht
wird, so hat dies seinen Grund in dem Umstande, dass einestheils Narcotica für
sehr viele Patienten ein bequemeres Hilfsmittel sind und in Anbetracht der
kurzen Dauer des Krank heitszustandes ohne Furcht vor Gewöhnung an Narcotica
verabfolgt werden dürfen, anderntheils sehr oft die Belästigung durch die Krank-
heit lieber hingenommen wird, wie die Mühe und die Umstünde bei der In-
halationsvornahme. Immerhin wird man bisweilen gut thun, bei sehr empfindlichen
INHALATIONSTHERAPIE.
287
and durch Husten besonders belästigten Patienten gelegentlich Aufgüsse aromati-
scher, ätherische Oele enthaltender, und narkotischer Kräuter anznwenden. Die in
diesen Kräutern enthaltenen ätherisch-öligen und narkotischen Bestandtheile sind
hier das Wirksame neben den Wasserdämpfen. Am beliebtesten sind die Camillen-
theedämpfe, welche gelind reizend wirken und deshalb bei Katarrhen mit torpider
Schleimhaut indicirt sind. Unter den Aufgüssen der narkotischen Kräuter sind am
meisten angewendet die von Belladonna , Bilsenkraut , Schierling , Strammonium.
Ebenso eignen sich, besonders im Anfang des Katarrhes, Inhalationen von Lösungen
doppeltkohlensauren Natrons oder eines alkalischen Brunnenwassers.
Beim chronischen Larynx- und Bronchialkatarrh sind die
Patienten schon eher geneigt , sich mit der Procedur zu bemühen. Hier sind
meist adstringirende Mittel, besonders Tannin am Platze. Alaun und Liquor ferri
stsquichl. werden seltener angewendet.
Auch bei Stickhusten sind die Inhalationen beliebt und erwünscht.
Schade nur, dass ein augenfälliger Erfolg keinem Medicamente zuzuschreiben ist.
Unter anderen haben sich Benzindämpfe einen Ruf erworben. Man lässt auf
die Betten der Patienten Nachts Benzin aufträufeln , so dass die Patienten sich
dauernd in einer Benzinatmosphäre befinden, oder man giesst in den Dampftopf
einen Esslöffel voll Benzin und lässt die Dämpfe mehrere Male täglich fünf
Minuten laug einathmen oder man benützt die Papierdüte mit Watte oder man
begiesst einen in siedendes Wasser getauchten Schwamm reichlich mit Benzin
und hält ihn eine Viertelstunde vor Mund und Nase der Kinder, oder ein aus
Gaze hergestelltes Säckchen, welches einen in Benzin getränkten Schwamm enthält,
wird vor die Brust gehängt. Auch schweflige Säuredämpfe werden in der
jüngsten Zeit gegen Keuchhusten empfohlen (Schlief) Des Versuches werth ist
auch die Carbolsäure, vorausgesetzt, dass die Kranken erwachsen genug sind,
um inhaliren zu können (Bvrchardt).
Bei Asthma wurde von See das Pyridin empfohlen. Ueber dio An-
wendungsweise desselben ist oben Ipag. 275) Näheres angegeben. Chloroform,
Amylnitrit , Jodäthvl sind ebenfalls beliebte InhaiationBmittel bei asthmatischen
Zuständen und cs gilt von ihnen dasselbe hinsichtlich der Wirkung und der In-
dicationen, was beim Pyridin gesagt ist. Der Räucherungen beim Asthma ist oben
schon Erwähnung gethnn.
Bei Diphtheritis und Croup wird von Inhalationen ausgiebiger
Gebrauch gemacht. Carbolsäure, Milchsäure, Kalkwasser sind viel em-
pfohlen. Stoekck spricht dem Kalkwasser jeden Werth ab und Gottsteix sagt:
„Ein Medicament wie Kalkwasser oder Milchsäure könne auf dem Wege der In-
halation unmöglich Croupmembranen auflösen. Wenn diesen Inhalationen einiger
Nutzen zugeschrieben wird, so ist derselbe auf Rechnung der Anfeuchtung der
Larvnxwände zu setzen wie bei der Einathmung heisser Wasserdämpfe, denn
niemals sammle sich auch nur annähernd so viel LösungsflUssigkeit nach den
Inhalationen im Larynx an, als nothwendig ist, um kleine Membranstückchen im
Reagensglas zur Lösung zu bringen.“
Neuerdings wird überhaupt der anhaltenden Inhalation von Wasser-
dainpf sehr eifrig das Wort geredet. Nach dem Vorgänge von Okktel, Mackenzie
benutzt Variot den Wasserdampf als Unterstützungsmittel der Serumtherapie.
Er legt die Kinder mit Croup in Zimmer, deren Luft Tag und Nacht mit
Wasserdampf gesättigt ist. Derselbe hat nach seiner Ansicht eine auflöseude
Wirkung auf die Membranen und übt eine sedative Wbkung auf die Larynx-
nerven aus.
Auch Bromdämpfe sind wegen ihrer antiseptischen und desinficirenden
Eigenschaften bei Diphtherie und Croup empfohlen. Man benutzt die aus Brom
und Kieselguhr (5 : 1 ) geformten Platten — Brornum solid ijicatum — die als
Patent von Dr. Frank in den Handel kommen. Letzterer hat auch einen Apparat
angegeben, in welchen diese Platten zur Entwicklung der Dämpfe gelegt werden
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INHALATIONSTHERAPIE.
288
sollen und mittels welcher man direct an die diphtheritisch erkrankten Stellen
die Dämpfe dirigiren kann.
Bei Ozaena ist die Kinathmung zerstäubter Carbollösung- durch die
Nase empfehlenswerth. Auch der oben erwähnte Apparat von Feldbai'sch kann
mit Nutzen angewendet werden.
Für die Eintheilung und Dosirung der zu Inhalationen ver-
wendeten Medicamente besitzen wir grundlegende Angaben durch Walden-
burg, Siegle, Frankel u. A. m.
Im Gebrauche sind: 1. als Adstringentia: Tannin in */4 — 2° „igen
Lösungen. Doeh ist es recht unpraktisch , dem Patienten die rein wässerigen
Lösungen einzuhändigen. Denn bevor das Quantum verbraucht ist, hat sich in
demselben schon reichliche Pilzbildung eingestellt. Am besten verordnet man
Tannin in Glycerin (etwa 2:20) und lässt davon 10 — 20 Tropfen dem zu in-
halirenden Wasserqunntum hinzufUgcn. Bei Bronchialkatarrhen lässt man das
angegebene Quantum 2 — 3mal täglich inhaliren. Weniger in Gebrauch ist Alaun
in */, — 2%iger, Zincum su/furicum in 1 — 2%iger, Liquor ferri sesquichlor.
in 2 — if’/oiger Lösung. Von Höllcnsteinlösungen wird zu Inhalationen wohl kaum
mehr Gebrauch gemacht.
2. Emollientia. Hierzu gehört vor Allem der reine Wasserdampf,
welcher auch bei der Anwendung von Infusen und Decocten schleimhaltiger
Mittel, wie Rad. Ahhatae, Fl. verband , Species pectoral. wesentlichen Antheil
an dem Erfolge hat.
3. Kesolventia. Am meisten im Gebrauch sind Katr. chlor, und Satr,
bicarh. in 2 — 30/0igen Lösungen, ferner die Mineralwässer von Ems, Salz-
brunnen u. A. m. ; seltener werden, in gleicher Lösung wie die oben erwähnten.
Ammon, h i/drochl. , Kali corbonicum depurat. , Kali chlor., Kali bromat.
angewendet.
4. Narcotica: Morphium, Belladonna, Cocain sind, inhalirt , weniger
wirksam, wie per os oder subcutnn aufgenoromen , weil die Dosirung unsicher
und das angewendetc Quantum gewöhnlich zu gering ist , indem bei der Zer-
stäubung ein zu grosser Theil des Medieameutes verloren geht.
5. Desi nficient in und Anti mycotica. Hier steht die Carbolsäure
in I — 3° 0iger Lösung obenan. Nächstdem das Thymol (1 : 1000). In minderer
Gunst steht Aqua rhlori (1 — 10:100). Acidum nalirt/hcum (1:1000) und
Resorcin (1 : 100).
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pag. 303. — Sehrwald, Die KrulPsche Methode. Berliner klin. Wochenschr. 1888, p. 787;
1889. pag. 607; Deutsche med. Wochenschr. 1890, Nr. 45, pag. 889; Nr. 46, pag. 1017. —
Siegle, Die Behandlung der Hals- und Lungenleiden mit Inhalationen. Statteart 1869,
3. Aufl. — Stoerck. Klinik der Krankheiten des Kehlkopfes. Stuttgart 1880. — Treutlor,
Die Herstellung und Anwendung von Stickstotfinhalationcn gegen Lungenkrankheiten. Dresden
1879. — v. Tröltsch, Apparat zur Zerstäubung von Flüssigkeiten. Arch. f. Ohrenhk. 1878,
XHI, 2, 3. — Türck, Klinik der Krankheiten des Kehlkopfes und der Luftröhre Wien
1866. — Variot, Journ. de clin. et de therap. infantile. 1895, Nr. 16. — Waldenburg,
Die locale Behandlung der Krankheiten der Athmungsorgane. Berlin 1872, 2. Aufl. — W eigert,
Zur Heilung der bacillaren Phthise. Internat. Rundschau. 1888, Nr. 51. Aufrecht.
Jodhämol, vergl. pag. 64.
Jodoformin (geruchlose, Jodoform). Eine von der chemischen Fabrik
L. C. Marquart dargestellte Verbindung des Jodoforms mit einem schwach anti-
septischen Körper (Hexamethylentetramin?). Ein geruchloses, fein vertheiltes,
weisscs Pulver, welches sich durch Einwirkung des Lichtes leicht gelb färbt, mit
einem Jodoforrogehalt von 75°, 0, in Wasser unlöslich, schmilzt unter plötzlicher
Zersetzung bei 178° C., spaltet bei Einwirkung von Säuren nnd Alkalien Jodo-
form ab, lässt sich mit Glycerin zur Emulsion und mit wasserfreien Materialien
zu Salben verarbeiten. Wie EichkngrÜN und Ivex ausführen, zersetzen dieWund-
secrcte das Jodofurmin, so dass sich Jodoform abspaltet, wonach jenes dem Jodo-
form antiseptisch vollständig gleiehwerthig wirkt. Die Abspaltung des Jodoforms
hört mit Ablauf der Secretion, also bei eintretender Heilung auf, weshalb der
Geruch nach Jodoform stets nur ein minimaler ist. Trostorff fand es bei Ulcus
molle von guter Wirkung, der Jodoformgeruch trat erst heim Wechsel der Watte
um die Eichel herum und beim Waschen der erkraukten Theile auf; aurli er
hebt deu Mangel an Reizerscheinungen bei Anwendung des Mittels hervor.
Trostorff wendet es bei chronischer Gonorrhoe an, um damit nach voraus-
gegangener anderweitiger Behandlung im Urethroskop die Schleimhaut der Harn-
röhre — Epithcldefecte, Infiltrate im submucösen Bindegewebe — durch Ein-
pudern der Partien zur Heilung zu bringen.
Literatur: A. Eic he ngrü n, Jodoformin (geruchloses Jodoform). Therap Monatsh.
1895, pag. 487. — Ibidem, pag. 669. — Iven, Deutsche med. Wochenschr. 1895, Nr. 36. —
Trostorff, ibidem Nr. 50. Loebisch.
Jodquecksilberhämol. Neben der Immctionscur und der Subcutancur
der Syphilis bleibt die innerliche Behandlung mit Mercurialien trotz aller An-
griffe, welche sie erfahren hat, für gewisse Fälle unzweifelhaft zu Recht bestehen.
Kneyclop. Jahrbücher. VI. JIJ
JODQUECKSILBF.RHAMOL. — JODSÄCRE.
29<i
Weitaus das häufigste interne antisyphilitische Quecksilbcrmittel war bis vor
Kurzem das Calomel; jetzt jedoeh scheint es seine Kollo in dieser Beziehung
wenigstens für Erwachsene ziemlieh ansgespielt zn haben. So iiussert sieh ein
Syphilidolog vom Fach, J. P. Rille, über dasselbe soeben folgendermassen : „Das
Calomel wirkt stark diarrhoisch, hat am rasehesten Stomatitis zur Folge und ist
als Antisvpkiliticum zum internen Gebrauche gegenwärtig wohl nur auf die Kinder
praxis beschränkt.“ Das Sublimat hat zu innerlicher Verwendung nur sehr vorüber-
gehend gedient. Die auf das LrSTGAETEN’sche Tannin Quecksilber gesetzten Er-
wartungen haben sich nach Rille nicht vollständig erfüllt. Auch das gallensaure
Quecksilber und das Peptonquecksilber haben sich nicht bewährt. Man sieht sieh
also gezwungen, seine Zuflucht zu den Jodverhiudungen des Quecksilbers zu
nehmen , die für spätere Stadien dieser Krankheit ja auch den nicht zu unter-
schätzenden Vortheil bieten, gleichzeitig Jod dem Organismus zuzuführen. Neben
dem PrutojoJuretum und Deutojoduretum Hydrargyri , welche namentlich in
Frankreich ausserordentlich viel verwendet worden sind, hat sich nun nach Rille
und nach DlXOX Mann neuerdings das Jodquccksilberhämol eingebürgert. Es
bildet ein in Wasser unlösliches braunes Pulver, welches durch Füllen von in
Wasser gelöstem Blutfarbstoff mit Quecksilberjodidjodkalium hergestellt wird und
einen Quecksilbergehalt von 12 — 13%, sowie einen Jodgehalt von 28,68° 0
besitzt. Es kommt als Baemolum H ydrargyro- jodatum von der Firma
E. Merck aus in den Handel und wird am besten in Pillen verordnet nach
folgender Formel: Rp. Haemoli hydrargyri-jodati 10,0, Succi Liquiritiae
depurati quant. sat ut fiant lege artis pilulae Nr. 50. D. S. 3mal täglich
3 Stück während oder nach der Mahlzeit zu nehmen.
Die nach dem Gebrauche des Mittels auftretenden mercuricilen Neben-
wirkungen sind relativ gering und nöthigen nicht zum Aussetzen der Cur. Die
Magenthätigkeit wird davon gar nicht gestört. Die Resorption erfolgt prompt,
wie man am Schwinden der syphilitischen Erscheinungen , sowie an der Aus-
scheidung durch den Harn naehweisen kann. Der Vorzug des Präparates gegen-
über anderen Mercurialien besteht darin, dass es bei leichter Verträglichkeit auf
heruntergekommene Syphilitiker durch seinen Eisengehalt gleichzeitig tonisirend
wirkt. So äussert sich Rille: „Der Versuch, im Jodquecksilherhämol eine toni-
sirend wirkende Substanz in Verbindung mit einem Antisyphiliticum herzustellen,
gelang auf's Beste.“ Und an anderer Stelle sagt er: „Das Jodquecksilherhämol
ist das einzige Präparat , welches Jod und Quecksilber zusammen mit Eisen
enthält und so neben specifischen Heilwirkungen auch eine tonisirendo, den all-
gemeinen Kräftezustand hebende Einwirkung gestattet. Das längst eingebürgerte
Ferrum jodatum kann dasselbe auch nicht annähernd erreichen und ist leicht
zcrsetzlich. Das Jodquccksilberhämol dürfte demnach bei mit Blässe der Haut,
herahgekommenem Ernährungszustände einhergehenden, gleichwie mit Scrophulose
combinirtcn Syphilisfällen seine Hauptanwendung finden.“ Ganz unabhängig davon
kommt Dixon Maxx in Manchester zu dem Ergebniss : „Jodquecksilherhämol
scheint schneller antisyphilitisch zu wirken als blaue Pillen und Calomel. Ich
hin geneigt, das Jodquccksilberhämol jedem anderen Quecksilberpräparate vorzu-
zielien, wo es sich um anämische, schwache, heruntergekommene Patienten handelt.11
Literatur: J. H. Rille, Leiter Behandlung der Syphilis mit Jodquecksilberhämol.
Arcli f l)erm»t. u. Syph. 1897, XXXIV, Heft 2. — J. Dixon Mann, CUnical Sote on the
actum of Jodide and Mer cur y Haemol. The Med. Chronicle. Februar 1896, Nr. 5, pag. 3-16.
Robert.
Jodsäure und jodsaure Salze. Schon im Jahre 1881 hat Bixz
darauf hingewöesen, dass die Jodsäure wegen ihrer Eigenschaft, Jod leicht abzn-
spalten, sowohl bei innerlicher als äusserlicher Anwendung als Ersatzmittel des
Jodoforms dienen könnte. Erst 1894 stellte J. Rühemann Versuche mit Jodsäure
und jodsaurem Natron an , welche die Brauchbarkeit dieser in dem eingangs
erwähnten Sinne bestätigen. Wohl ist die äussere Anwendung der reinen
.TODSÄURE.
291
Säure wegen Schmerzhaftigkeit zu vermeiden. Sie lässt sich auf der äusseren Haut
und auf Schleimhäuten nur in der Form des Aetzstiftes , ferner in 5 — 10%igen
wässerigen Lösungen oder ebenso starken Lanolinsaloen anwenden. Die Nasen-
schleimhaut verträgt eine 10°/0ige Lösung oder gleichstarke Salbe ausgezeichnet,
der Kehlkopf noch eine aus 1 Thcil Jodsüure mit 3 — 4 Theilen Borsäure, weit
empfindlicher sind dagegen die Schleimhäute der Vagina und des Uterus, bei
deren Behandlung '/, — 1 %ige Vaginalktigeln empfohlen werden. Der Jodsäure ist
auch eine l>edeutende hämostyptisehe Wirkung eigen , besonders wenn man mit
der Anwendung der 5 — 6°/0igen Lösung einen gewissen Druck verbindet.
Innerlich zeigte sich dag jodsanre Natron von guter Wirkung hei
semphulösen Affectionen und Drüsenanschwellungen; beim chronischen Bronchial-
asthma trat nach fortgesetztem langen Gebrauch vorzügliche Wirkung ein.
Drtisenschwellungen schwanden überdies rasch nach suheutanen Injectionen von
Natrium jodicum in Dosen von 0,05 — 0,2 Grm. Intern giebt man dieses pro die
1 Grm. am zweckmässigsten in Pillenform; wässerige Lösungen gebe man in
Milch nach den Mahlzeiten.
In jüngster Zeit hat Ruhemann überdies die jVerhindungcn der Jod-
säure mit Lithium , Silber , Quecksilber , ferner mit einigen Alkaloiden , Atropin,
Chinin, Codel'n, Scopolamin (Hyoscin) und Strychnin an Thioren und in der
klinischen Praxis versucht. Das Lithium jodicum , Li JO„ + '/2 Hj 0 , ein
weisses, in Wasser sehr leicht lösliches Pulver, wurde in Form von subcutaner
lnjection zu 0,1 Grm. bei harnsaurer Diathese und bei Nierenkoliken gereicht.
Nach einigen Injectionen hörte die massenhafte Ausscheidung der krystallinischen
Harnsäure auf. Innerlich versuchte er das Mittel bei alter Gicht in Gabeu von
0,15 — 0,2 Grm. in Pillenform dreimal täglich. Argentum jodicum, AgJOs,
ein weisses , in kochendem Wasser schwer lösliches Pulver, soll in Gaben von
0,005 — 0,01 Grm. als Darmadstringens sowohl bei acuten, als auch bei chroni-
schen Enteritiden und Darmblutungen rasch wirken. Bei Kindern ist die Dosis
entsprechend zu verringern. Das H ydrarg yrum jodicum oxydatum,
Hg(J03),, ein weisses, amorphes Pulver, fast unlöslich in reinem Wasser, löslich
in Wasser, dem etwas Kochsalz oder Jodkalium zugesetzt ist, wurde bei Lues
in Form iutrapareuchy matöser lnjection angewendet. Schädliche Neben-
wirkungen, namentlich auf die Niere, wurden nicht beobachtet. Auch die Reaction
von Seite der Mundschleimhaut war nur geringfügig. Ruhemann verordnet:
Rp. Hydrargyri jodici oxydati 0,12, Katii jodati 0,08, Aq. destillatae 10,0.
I). S. Zu intraparenchymatösen Injectionen 1 — l'/i PftAVAZ-Spritze jeden 2. — 4. Tag
zu applicircn. Für eine Cur sind gewöhnlich 20, in hartnäckigen Fällen 30 In-
jectionen nöthig.
Bezüglich der Verbindungen der Jodsäure mit den Alkaloiden zeigt
sich in einigen Fallen eine Steigerung der eigentümlichen Wirkung der letz-
teren. Chininum jodicum, C2n Htl Na 02 . 11JO, , ein weisses. in Wasser lös-
liches Krystall , zeigt sowohl subctitan als per os genommen einen deutlich
ueurotonischen Einfluss und wäre daher bei Neuralgien zu versuchen. Die In-
jectionsstelle bleibt , wie auch bei den übrigen subctitan einverleibten jodsauren
Alkaloiden , einige Tage lang auf Druck empfindlich. Zur subcutanen lnjection
0,1 pro dosi. Codeinum jodicu m, C)s Hai N0S . (H JO»)i , weisse Nadeln, schwer
löslich in Wasser und Weingeist. Bei längerer Aufbewahrung zersetzt sich das
Salz unter Brauafärbung und Ausscheidung von Jod. Die antineuralgische und
schmerzstillende Wirkung des jodsauren Codeins ist bei subcutaner Einführung
bedeutend energischer ausgeprägt als bei den bisher in der Medicin gebrauchten
löslichen Codeinsalzen ; in einem grossen Procentsatz von Fällen kann es auch
das Morphin vollkommen ersetzen. Es zeigte sich auch bei heftigem Hustenreiz
der Kinder und der Phthisiker wirksam. Rp. Codein i jodici Oß , Aq. de
etilfatae 10,0. D. S. 1 — 1 */, PRAVAZ-Spritze zur subcutanen lnjection. Für
Kinder verordnet man in obiger Formel so viel Ceutigramme Alkaloidsalz, als
19*
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292 JODSÄURE. — IRIDOSKLEROTOMIE.
dieselben Jahre zählen. Atropinum jodicum, C17 H33 NO, . H JO, , farblose,
in Wasser und Alkohol lösliche Krystallnadeln. Die Lösungen dieses Salzes halten
sich lange keimfrei. Nach Ruhemakx tritt sowohl beim jodsauren Atropin als
beim jodsauren Scopolamin die Mydri&sis schneller ein und läuft rascher ab
als bei den anderen Salzen dieser Alkaloide; ftlr die augenärztliche Praxis
empfehlen sich */, — 1 Vs '/•■£* Lösungen des Atropinsalzes. Scopolaminum
(Hyoscinum) jodicum i C17 H„ NO, .HJO,, bildet farblose, in Wasser und
Weingeist lösliche Krystalle. Es zeigt sowohl bei interner als auch bei snbeutaner
Einverleibung eine doppelte, ja dreimal so starke Wirkung als die entsprechen-
den halogensauren Verbindungen. Es sind daher wesentlich geringere Dosen anzn-
wenden als von den letztgenannten Verbindungen. So dürfen intern beim Jodat
Dosen von 0,5 Mgrm. nicht überschritten werden ; bei subcutaner Injection soll
0,0002 als maximale Dosis gelten; für gewöhnlich reicht man von 0,0001 bis
0. 00015 Grm. des jodsauren Salzes. Bei Iritis und Keratitis wirkt das Mittel als
sicheres und reizloses Mydriaticum. Strychninum jodicum, C,, H,, 0, . II J0„
farblose, in Wasser lösliche Krystallnadeln; ist gleich den gebräuchlichen Strychnin-
salzen als Tonicum, ferner bei gewissen Lähmungen und Anästhesien anzuwenden.
Bei der subcutanen Injection darf die Dosis von 6 Mgrm. nicht überschritten
werden, da sonst toxische Wirkungen eintreten.
Literatur: Binz, Arch. f. experim. Path. u. Pharm. 1881, XIII, pag. 131. —
1. Ruhemann, Therap. Monatsh. Marz u. April 1894. — Idem, Untier die klinische Ver-
werthbarkeit der jodsauren Verbindungen. Deutsche med. Wochenschr. 1895, Nr. 37. —
E. Merck, Bericht über das Jahr 1894 und über das Jahr 1895. Loebisch.
Iridosklerotomie, s. Glaukom, pag. 219.
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K.
Kartoffelvergiftung. Die Existenz durch den Genuss von Kartoffeln
herbeigeföhrter Vergiftungen beim Menschen ist durch eine grössere Anzahl in
der Literatur zerstreuter Beobachtungen sichergestellt. Diese gehen bis in das
vorige Jahrhundert zurück. Die Hiteste Intoxieation, die 12 Personen betraf, kam
1784 in Basel vor1); mehrere Hhnliche Fälle von Intoxieation dieser Art, darunter
einen tödtlich verlaufenen, beschrieb Heim 1808. *) Interessanter als diese Einzel-
fälle aus der älteren Literatur sind die der neueren Zeit ungehörigen Massen-
vergiftungen in Kasernen, die theils in Lyon3), theils im Eisass4) beobachtet
wurden. Diese vervollständigen nicht allein die Symptomatologie der fraglichen
Intoxieation, sondern haben auch eigentlich erst durch die an die auf drei ver-
schiedene. Massenerkrankungeu sich vertheilenden Elsässer Fälle sich anreihenden
Untersuchungen die wissenschaftliche Grundlage sowohl für die Theorie als für
die Prophylaxe der Kartoffelvergiftung geschaffen.
Schon aus den älteren Beobachtungen geht das mit Bestimmtheit hervor,
dass es sich um ein aus einer Affcction des Magens und Darmcanals und aus
davon unabhängigen Störungen des Centralnervensystems zusammengesetztes
Krankheitsbild handelt. Zu diesen treten nach den neueren Beobachtungen auch
Störungen der Circulation und der Temperatur hinzu, ln den leichtesten Fällen
beschränken sich die Erscheinungen auf Kopfschmerz, Empfindlichkeit des Unter-
leibes, Uebelkeiten, Abgeschlagenheit und Schwindel , der einige Tage anhalten
kann ; bei schwererer Intoxieation kommt es zu heftigem Leibschmerz, Erbrechen
und Diarrhoe mit Steigerung der Temperatur auf 39° und darüber und häufig
mit stark beschleunigtem Pulse, der später retardirt sein kann, auch mit Trocken-
heit der Zunge. Nicht selten kommen auch bei den leichter Erkrankten Frösteln
und reichliche Schweisse vor, ausserdem die schon von Munckk beobachtete
Pnpillenerweiterung, die z. B. bei */, aller Erkrankten in Lyon beobachtet worden
sein soll, wogegen sie im Eisass nur in einzelnen Fällen zu constatiren war. ln
schwereren Fällen können Ohnmächten oder Collapserscheinuugen mit Facies
hippocratica , Wadenkrampf, kleinem beschleunigten Pulse, tiefliegenden Augen,
Kälte des ganzen Körpers und bedeutender Störung des Bewusstseins zu den
Diarrhöen hinzutreten (MüN'CKe). Bei */3 der Erkrankten in Lyon waren Ohren-
sausen, Lichtscheu und Krämpfe zugegen.
Die Dauer der Erkrankung beträgt 4 — 5, in einzelnen Fällen, wo die
Diarrhoe länger anhält, 7 — 8 Tage. Der Verlauf ist sehr günstig; abgesehen
von einem sehr zweifelhaften Falle von Heim ist tödtliehcr Ausgang überhaupt
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294
KARTOFFEL VERGIFTUNG.
nicht vorgekommen. Die Diagnose des Leidens beruht wesentlich auf der Er-
mittelung der der Erkrankung vorhergegangenen Umstände. Häufig führte das
Erbrochene oder die Darmentleerungen durch die darin enthaltenen unverdauten
Kartoffelstucke zu der Erkenntniss von deren Ursache. Bei Massenerkrankungen
wird es meist nicht schwer sein, das ätiologische Moment anfzufinden und au
den verdächtigen Kartoffeln abweichende Beschaffenheit zu eonstatiren. Bei der
ältesten Vergiftung findet sich angegeben, dass man in Basel eine besondere
Sorte, die „Schweinekartoffel“, für giftig halte, doch ist auch hier, wie bei den
übrigen Intoxicationcn, bemerkt, dass die die Vergiftung veranlassenden Kartoffeln
unreif gewesen sind. Von vornherein ist es auffällig, dass alle Vergiftungen, mit
Ausnahme einer Massenerkrankung im Eisass, in eine Zeit fallen, wo die Ernte
der Spätkartoffeln noch nicht begonnen hatte und diese bestimmt noch nicht reif
und ausgewachsen waren, nämlich im Anfänge des Monats Augnst. Bei der einen
Elsässer Masseuvergiftung, der grössten, auf 357 Mann sich erstreckenden, werden
die Kartoffeln als noch nicht geniessbare Spätkartoft'eln von weicher Consistenz
bezeichnet. In der zweiten Elsässer Vergiftung sollen die Kartoffeln im Allgemeinen
reif, aber weich und wässerig gewesen sein. In der dritten Epidemie 'Mitte
Juli 1893) waren vorjährige Kartoffeln von nicht näher angegebener Beschaffen-
heit die Ursache der Erkrankung, in Lyon reichlich ausgekeimte alte und neue,
unter diesen sehr viele kleine, durch Luftkeimung der alten entstandene. Nach
dem Atifhören des Consums der neuen Kartoffeln kamen hier weitere Krank-
heitsfälle nicht vor.
Es kann nach der Symptomatologie kein Zweifel darüber bestehen, dass
es sich um leichte acute Vergiftungen durch Solanin handelt, das nach den bis-
her vorliegenden Intoxicationsfallen ebenfalls bald vorwaltend gastrointestinale
Reizung, bald mehr cerebrale Erscheinungen herbeifuhrt. Das Auftreten intensiverer
Diarrhoe bei Kartoffelvergiftung erklärt sich leicht dadurch , dass das Solanin
mit dem gequollenen Stärkemehl der Kartoffeln tiefer in den Dartntraetus gelangt
als bei directer Einführung von Solanin in den Magen. Dass es sich nicht um
Zersetzungsgifte wie bei Fleischvergiftungen handelt, lehrt der ausserordentlich
günstige Verlauf der Intoxication. Dass sich Solanin nicht blos, wie man früher
meinte, in den Kartoffelkeimen, sondern auch in den Kartoffeln selbst findet, ist
schon 1843 durch Wackexroder, der aus 1 Kgrm. Kartoffeln 5 Mgm. Solanin ge-
wann, festgestellt worden. Später hat Haaf (1864) in rohen, von den Keimen
befreiten Kartoffeln im Mai 0,032 , im Juli 0,042% Solanin aufgefundeu.
Nach G. Meyer6) ist der Gehalt roher (eisässischer) Kartoffeln vom November
bis zum Februar gleich und beträgt im Kilo 0,042 — 0,046% (Maltakartoffeln
vom März enthalten wenig mehr, 0,045%), steigt aber im März und April auf
das Doppelte (0,078 — 0,096%) und im Mai, Juni und Juli noch weiter bis
0,1 — 0,115. Iin Juli geerntete, nicht ganz ausgewachsene, sehr dünnschalige
Kartoffeln enthielten 0,236, im August geerntete noch 0,201 %„ Solanin.
Noch weit grösser aber ist der Gehalt gekeimter Kartoffeln und insonderheit
der an den Keimen entstehenden kleinen Kartoffeln, von denen 1 Kgrm.
nicht weniger als 0,580 Grm. Solanin lieferte, ln alten mit Pilzwucherungen
durchsetzten Kartoffeln wurde sogar 1,34 per Kilo gefunden. Die Möglichkeit
einer Solaninvergiftung durch Kartoffeln von eiuem solchen Solaningehaltc ist
gewiss nicht abzustreiten, selbst wenn nicht, wie in einzelnen Fällen geschehen,
20 — -30 Kartoffeln verzehrt wurden. Allerdings wird durch Schälen der Kartoffeln
auch ein Theil des Solanins entfernt, da auch iu der Schale selbst, nicht allein
in den Schichten unter der Schale, das Alkaloid vorhanden ist.
Prophylaktisch wird man bei Ankäufen von Kartoffeln zur Verpflegung
im Sommer besonders die an den Keimen entwickelten jungen Kartoffeln per-
horresciren. Durch Aussuchen dieser kleinen Kartoffeln wurde ein Bataillon in
Lyon vor Erkrankungen bewahrt. Am schädlichsten erscheint der Genuss m der
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KARTOFFELYERGIFTUNG. — KOHLENOXYDVERGIFTUNG. 295
Schale gekochter Kartoffeln, da nach Meyer’s Untersuchung kein Solanin in
das Kochwasser übergeht , das beim Kochen geschälter Kartoffeln stets solanin-
hültig ist.
Literatur: *)Rahn, Gazette de Sante. 1785, IV, Heft 6, pag. 565. — *) Heim,
Horn's Archiv. 1808, XIII, Heft 2, pag. 311. — *) Muncke, Ein Fall von Vergiftung durch
den Genuss von unreifen Kartoffeln. Hecker's med. Annalen. XI, pag. 298- — 4) Cortial,
Accidtntn d' intoxication surcenus au 139e d'infunterie u Lyon et imputes a la conxornmation de
pomnus de ttrre de mauvaise qualitd. Arch. de med. milit. 1889, IV, pag. 3. — 6) 0. Schmiede-
berg, Ueber die toxikologische Bedeutung des Solaningehaltes der Kartoffeln. Arch. f. cxperim.
Rath. u. Pharm., XXXVI. png. 372. — §) Gustav Meyer, lieber den Gehalt der Kartoffeln an
Solanin und über die Bildung desselben während der Keimung. Ebenda 1895, pag. 360.
II u s o m a n n.
Kobaltnitrat, bei Blausäurcvergiftung, pag. 63.
Kohlenoxydvergiftung. Zur Theorie des Todes durch Kohlen-
oxydvergiftung ist neuerdings eine Reihe experimenteller Untersuchungen aus-
gefuhrt, die neue Argumente für die Ansicht Geppert’s (Encyclopäd. Jahrh., III,
pag. -152) bringen, dass Kohlenoxyd directe Wirkung auf die Nervencentreu und
speciell auf das Athmungscentrum besitze und die Vergiftung nieht einfach
Asphyxie infolge von Saoeratoffverarmung der Gewebe durch Speisung mit
einem vermöge der Bindung des Kohlenoxydes an Hämoglobin sauerstoffarmen
Blute sei. Ein italienischer Forscher, Bobki *), will sogar sümmtliehe gasförmige
Gifte, die sich mit Ilitmoglobin chemisch verbinden , wie Kohlenoxyd, Schwefel-
wasserstoff und Blausäure, nieht als Blutgifte, sondern als gleichartige, nur grad-
weise verschiedene Nervengifte, deren Hauptangriffspunkt das verlängerte Mark
bildet, angesehen wissen, die nach Art der Aniisthetira zuerst kurzdauernde Er-
regung, später Lähmung des Gehirns hervorbringen. Die für eine solche An-
schauung in’s Treffen geführte, thatsächlich allerdings erwiesene Giftigkeit des
Kohlenoxydes für Thiere, die kein Hämoglobin in sieh haben, beweist indessen
nieht, dass die Bindung des Hämoglobins dureii Kohlenoxyd bei der Vergiftung
von Warmblütern gar keine Rolle spielt ; ja bei genaueren Versuchen darüber wird
man sich leicht überzeugen können , dass zwischen der Einwirkung auf roth-
und nicht rothblütige Thiere ein ganz enormer Unterschied besteht. Nimmt man
die Zeit, in welcher der Tod durch Kohlenoxyd hei warmblütigen Thieren her-
beigeführt wird, als Einheit an, so stellt sieh die für Frösche und Kröten auf
1000, bei Schnecken aber auf 100.000. Dass manche Insectcn nicht von Kohlen-
oxyd getödtet werden, ist eine längst bekannte Thatsache ; auf die Eier der
Seidenraupe hat die 48 Stunden fortgesetzte Einwirkung von Leuchtgas keinen
schädigenden Einfluss.“) Auf die Keimung von Samen übt Kohlenoxyd nur einen
retardirenden Einfluss, hebt sie aber nicht auf.3)
Von Makcacci, der zuerst auf die Analogie der Wirkung des Kohlen-
oxydes mit der der Anästhetica hinwies, ist besonders die Thatsache hervorge-
lioben, dass die Erscheinungen der Vergiftung sich wesentlich ändern, wenn man
das Kohlenoxyd oder die es enthaltenden Gasgemenge durch die Nase inhaliren
oder wenn mau sie von der Bauchhöhle aus oder nach der Tracheotomie durch
eine Canülc athmen lässt. Bei den beiden letzteren Arten der Gaszufuhr fallen
die Erregungszustände, insbesondere die bei Thierversucheu häufigen Krämpfe
völlig weg, und cs kommt dann allerdings zu einem Krankhcitshilde, das mit
der Chloroformnarkose ausgeprägte Aehnlichkeit besitzt, zu anfänglichem Schlafe
und Abschwftchung sämmtlieher Lebeusfunetionen unter starker Abnahme der
Körpertemperatur, die in Fällen von Genesung bis 35°, bei letalem Ausgaage,
wo es zu Sopor und Somnolenz kommt, bis unter 30, ja seihst unter 21° sinken
kann.1) Ob man eine directe Wirkung des Kohlenoxydes auf die Wärmecentrcn
oder auf das Protoplasma als Ursache dieser niedrigen Temperaturen anzuscheu
hat, bedarf noch des experimentellen Nachweises ; jedenfalls aber liegt bis jetzt
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296
KOHLEXOXYDVERGIFTUNG.
kein Grund vor, anzunelunen, dass nicht wenigstens ein Theil dieser Wirkung
auf die Veränderung der Sauerstoffaufnahme der rothen Blutkörperrhen zuriiek-
zuführen ist. Marcacci hat die von ihm bei Kohlenoxydvergiftung durch Inhalation
beobachtete Athembeschleunigung und Verlangsamung des Herzschlages, ebenso
wie die bei Thieren vorkommenden tetanischen Krämpfe als Reflexphänomene
gedeutet, die auf einer reizenden Einwirkung auf die Schleimhaut der Nase be-
ruhen sollen. Es ist aber keinem Zweifel unterworfen, dass Hyperpnoe und llerz-
palpitationen als Folge von Sauerstoffmangel des Blutes, ohne dass irgend ein
fremdea Gas zur Einwirkung gelangt. Auftreten. Wie Haldane 6) richtig bemerkt
hat, sind diese beiden Erscheinungen mit einem Gefühle von \rollsein im Kopfe,
Beeinträchtigung des Sehens und Hörens, Verwirrung der Gedanken und Un-
sicherheit des Ganges die Erscheinungen, welche bei Bergsteigern und Luft-
schiffern durch Einathmen verdünnter Luft in grosser Höhe eintreten und genau
die nämlichen Phänomene sind, wie sieh HALDANE durch interessante Selbstver-
suche zu überzeugen Gelegenheit hatte, die Erscheinungen der leichtesteu Ver-
giftung, wie sie eintreten , wenn die Atmosphäre nur 0,05% Kohlenoxyd ent-
hält, durch welche jeder irritative Effect auf die Nasenschleimhaut selbstverständlich
ausgeschlossen ist. Andererseits ist bei gewissen Fällen von höchst acuter Kohlen-
oxydvergiftung die Annahme einer Reflexsynkope nicht auszuschliessen, besonders
bei dem Einathmen unter starkem Drucke ausströmenden Leuchtgases, wo übrigens
auch noch andere gasförmige Stoffe theils irritativ auf die ersten Luftwege ein-
wirken, theils in bedenklicher Weise den Zutritt des Sauerstoffes zum Blute er-
schweren können. Es handelt sich in den allerdings seltenen Fällen von plötz-
lichem Tode durch entweichendes Leuchtgas vielleicht manchmal nicht um eine
eigentliche höchst acute Kohlenoxydvergiftung, sondern um Combination von
Asphyxie und Synkope, und man wird nicht überrascht sein, wenn man in solchen
Fällen einerseits exquisite Krämpfe auftreten sieht, andererseits die Beschaffen-
heit des Blutes nicht vollständig in Harmonie mit der bekannten ziegelrothen
Farbe bei langsam verlaufender Kohlcndunst- oder Leuchtgasvergiftung flndet.
Man wird in solchen Fällen, ebenso wie da, wo die Vergifteten erst längere Zeit
nach der Vergiftung gestorben sind, nachdem sie bereits Stunden lang wieder
kohlenoxydfreie Luft gcathmet haben , auch das spectroskopische Verhalten des
Kohlcnoxydhümoglohins nicht eonstatireu können. Dasselbe Verhalten hat Rai-
MONDI auch bei rapide mit Leuchtgas getödteten Thieren constatirt.
Bei leichten Vergiftungen geht zweifelsohne die charakteristische Blut-
veränderung parallel der Schwere der Erscheinungen. Nach Haldane wird beim
Einathmen kohlenoxydhaltiger Luft die Hälfte des inhalirten Kohlenoxydes
absorbirt. Die für die Herbeiführung erheblicher Erscheinungen nothwendige
Zeit beim Erwachsenen hängt von der Zeit ab, welche die Inhalation von etwa
660 Ccm. oder die Absorption von circa 330 Ccm. des reinen Gases erfordert.
Sie wird daher bedingt einerseits durch den Procentgehalt der Luft, andererseits
durch die Tiefe der Inspirationen und die Menge der rothen Blutkörperchen.
Das Verschwinden der Symptome ist direct proportional dem Verschwinden des
Kohlenoxydes aus dem Blute durch Dissodation des Kohlenoxydhämoglobins unter
dem Masseneinflnsse des Sauerstoffes in den Lungencapillarcn und die Diffusion
des Gases durch die Epithelien der Alveolen nach aussen. Die Elimination ge-
schieht sehr langsam, so dass nach Sättigung von % — */» noch nach 3 Stunden
10, bezw. 20% Kohlenoxyd im Blute vorhanden sind. Zu Intoxicationssymptomen
kommt es erst heim Menschen, wenn die Luft 0,05% enthält, schwerere Er-
scheinungen treten erst auf. wenn 0,2% vorhanden sind. Der Maximumbetrag,
den das Blut aus einer geringe Mengen Kohlenoxyd enthaltenden Atmosphäre zu
entnehmen vermag, hängt nach Haldane fast ganz von der relativen Affinität
des Kohlenoxydes und des Sauerstoffes für Hämoglobin und von der relativen
Spannung beider Gase im Blute ab. Die Affinität des Kohlenoxydes zum llämo-
Google
KOHLENOX YDVERGIFTUNG .
297
globin ist ungefähr 140mal so gross wie die des Sauerstoffes. Bei einer ge-
gebenen Menge von Kohlenoxyd in der Luft wird eine bestimmte Sättigung des
Blotes mit Kohlenoxyd in etwa 21/, Stunden erreicht und später nicht über-
schritten , wenn auch die Inhalation der verdorbenen Luft noch lange Zeit fort-
gesetzt wird (Haldank).
Auf der relativen Atbemgrösse beruht die ausserordentliche Empfindlichkeit mancher
kleiner Thiere gegen Kohlenoxyd. Jlause werden durch I-uft von gleichem Kohlenoivdgehalt
2l>mal eher als der Mensch afficirt. auch die Restitution erfolgt weit rascher.
Dass auch bei dem «tätlichen Ausgange der Vergiftung die Blutver-
änderung ein mitwirkender Factor ist, kann wohl kaum einem Zweifel unterliegen.
Kg ist ein bekanntes Factum, dass bei der Intoxication niemals das gesammte
Hämoglobin an Kohlenoxyd gebunden wird. Die mittels des Hüfner 'sehen
Spectrophotometers von Drkser“) ausgeführten l'ntersuehungen Jiaben ergeben, dass
der Tod bei Kaninchen und beim Menschen in einer ohne Convulsionen verlaufenden
Kohlenoxydvergiftung in der Regel eintritt, wenn die respiratorische Capacitiit
des Blutes etwa auf 1 s gesunken ist, dass diese aber bei besonders langsamer
Vergiftung bis zum Eintritte des Todes auf 20% sinken kann. Schwere Ver-
giftung erfolgt schon bei einem Oxyliämoglobingehalte von 50%. Dass in einzelnen
Fällen der Tod früher eintritt, ist eine unzweifelhafte Thatsaehe, nicht nur wenn
Krämpfe eintreten, wo es sich um einen eigentlich asphyktischen Tod bandelt,
sondern auch , wenn solche z. B. durch Einathmcn durch eine Trachealcanflle
verhütet werden. Es ist kaum zweifelhaft, dass, wenn z. B. Borri bei einem
tracheotomirten Hunde , der in einer Atmosphäre mit 2° 0 Kohlenoxyd in einer
Viertelstunde zu Grunde ging, spectrophotometrisch nur % des Hämoglobins
an Kohlenoxyd gebunden fand, dies ein Ausnahmsfall ist und der Tod als
die Folge besonderer, für den Einzelfall nicht eruirter Umstände angesehen
werden muss.
Wird man somit bei der Kohlenoxydnarkose den Zustand des Blutes als
einen wesentlichen Factor anzusehen haben und den in die Augen fallenden
Unterschied gegenüber der Einwirkung der Auästhetica (mit Ausnahme des
Schwefelkohlenstoffes), die ausserordentlich lange Dauer des Sopors und das lang-
same Erwachen mit der Blutveränderung in Zusammenhang zu bringen geueigt
sein, so wird man auch die auf Veränderungen der Nervencentren zu beziehenden
nervösen Folgekrankbeiten der Kohlendunst- und Leuchtgasvergiftung von der
durch das pathologisch veränderte Blut resultirendeu ungenügenden Ernährung
der Centren abzuleiten berechtigt sein. Die in vielen Fällen beobachteten Er-
weiehungsberde im Gehirn, wie sie bei zahlreichen Scctionen nach länger währender
Kohlenoxydvergiftung gefunden werden 7) und die in einzelnen Fällen zweifellos
mit pathologischen Veränderungen der Arterien im Zusammenhänge stehen 8), wird
wohl kaum Jemand als directc Kohlenoxydwirkung aufzufassen geneigt seilt.
Jedenfalls bleibt die Existenz einer derartigen directen Veränderung der Nerven-
substauz durch CO noch zu erweisen.
Einen Beweis für die directe Wirkung des Kohlenoxydes auf die Medulla
obUmqata hat man in der gflpstigen Wirkung gewisser, in der neuesten Zeit in
Anwendung gebrachten Mittel bei Kohlenoxydvergiftungeu gefunden. So be-
sonders des Atropins, von welchem zuerst Marcacci angab, dass man dadurch die
bei Inhalation durch die Nase entstehenden Reflexe verhüten könne. Später hat Borri
vom Atropin nicht nur bei Kohlenoxyd-, sondern auch bei Schwefelwasserstoffver-
giftung einen lebensverlängernden Einfluss gesehen , den er auf Erregung der
Medulla oblongata bezieht. Das Resultat beruht aber durchaus nicht auf einem
directen Antagonismus des Atropins und Kohlenoxydes in Bezug auf ihre Action
auf das verlängerte Mark, sondern ist weit einfacher davon abzulciten, dass durch
die aus der Erregung des Atbemcentrums hervorgehende Verstärkung der Zahl
und Tiefe der Athembeweguugen die Masse des zu den Luugencapillaren tretenden
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29»
KOHLENOXYDVERGIFTUXG.
Sauerstoffes erheblich vermehrt und infolge davon auch das Entweichen dissociirten
Kohlenoxyds nach aussen erheblich gefördert wird. Eine von vasomotorischen
Ceutren ausgehende gleichzeitige Drucksteigerung kann auf die Elimination des
giftigen Gases ebenfalls fördernd wirken, ln der gleichen Weise wirkt auch die
zuerst von Rinne und Gobdon e) beim Menschen versuchte, von Borbi nach
Thierversuchen gerühmte intravenöse Kochsalzinfusion nach vorgängigem
Aderlass. Schon der Aderlass allein wirkt nach Bokri auf die Circulation be-
lebend. Jedenfalls ist nach unseren Kenntnissen über die physiologische Wirkung
des Kohlenoxydes die von Haldaxe nach dem Vorgänge von Dreskr empfohlene
Sauerstoffinhalation oder in Ermangelung von Sauerstoff die fortgesetzte künst-
liche Respiration das rationellste Verfahren. Ob der Sauerstoff ausser der Aus
treibung des Kohlenoxydes noch zur Verbrennung eines Theiles des Kohlenoxydes
im Blute, wie solche noch von verschiedenen Aerzten10) angenommen wird, bei
trägt, kann dabei unberücksichtigt bleiben. Raimos'DI befürwortet die von Spica
und MENEGAZZI “) offenbar zur Oxydation des Kohlenoxydes empfohlene subcutane
Injection von Aqua oxygenata, 0,75 — 1% >n der Dosis von 1 — 2 PHAVAZ’sehen
Spritzen (1,0) mehrmals im Laufe von 2 — 3 Stunden, jedoch erst nach vorheriger
Anwendung der künstlichen Athmung. Auch die Hypodermoklyse mit physiologischer
Kochsalzlösung hat Rajmondi nach vorheriger künstlicher Athmung bei Leueht-
gasvergiftung von Thicren anscheinend günstige Resultate gegeben.
Nach H a I d ane soll man die Sauerstoffinhalation oder die künstliche Respiration so lange
fortseizen bis die hellrothe Färbung des Blutea schwindet. Dass sie mitunter sehr lange nothig
ist, beweist ein ans Rom mitgctheilter Fall, in dem artellcielle Athmung 15 Stunden nüthig
war.") Das mitunter ausserordentlch starke Sinken der Temperatur macht die von Haloakk
befürworteten warmen Bäder sehr rationell, zumal da bei Mäusen warme Temperaturen
ausserordentlich günstig wirken.
Auch die chronische Vergiftung durch Kohlenoxyd weist darauf hin,
dass bei ihr die Wirkung des Kohlenoxydes auf das Blut ein wesentlicher Factor
ist, wie schon der ihr in Frankreich gegebene Name „Aru'mie des cuisiniert“
andeutet. Durch die Benützung des Wassergases zum Kochen ist dies Leiden
besonders in den Vereinigten Staaten sehr häufig geworden. Meistens werden
Personen betroffen, die in unmittelbarer Nähe von Undichtigkeiten der Röhren
sich aufzuhalten genöthigt sind. Das hauptsächlichste Symptom ist Anämie, die
meist mit sehr intensiven Kopfschmerzen einhergeht und unter Eisenbehandlung
sich nur dann bessert, wenn die Patienten die gewohnte Stätte ihrer schädlichen
Beschäftigung aufgeben. In anderen Fällen kommt es zu Gefühl von Völle im
Kopfe, Schwindel, Hitzegefühl im Gesichte und mitunter zu Parästhesien in den
Armen; manchmal kommt auch Irritation der Bronchialschlcimhaut vor, die in-
dessen wohl nicht als Kohlenoxydwirkung aufzufassen ist.1*)
Für die grosse Gefährlichkeit des als Wassergas bczeichneten koblen-
oxydhaltigen Gasgemenges (Encyelopäd. Jalirb., I, pag. 435) sprechen eine Anzahl
neuer amerikanischer acuter Vergiftungsfälle. Etwas Wunderbares hat weder die
Gefährlichkeit, wenn wir den hohen Procentgehalt von CO in den einzelnen analysirten
Wassergasarten in's Auge fassen, noch die Häufigkeit des Vorkommens, wenn wir
das ausserordentlich grosse Diffusionsvermögen des Wassergascs berücksichtigen,
vermöge dessen dieses schon bei unerheblichen Dichtigkeiten der Leitung in
grossen Mengen auszuströmen vermag. Auch die sogenannten Halbwassergase,
die man durch Vermengen der gewöhnlichen Generatorgase mit Wa-serstoffgus
darstellt und vorwaltend für Motoren verwendet, weshalb sie auch als Motoren-
gase bezeichnet werden , enthalten zum grössten Thcile noch Kohlenoxyd-
proccnte, die über denen des Leuchtgases stehen. Eine von Stoermek’*) aus-
gearbeitete Tabelle der Zusammensetzung derartiger Gase mag hier zur Orientirung
Platz finden:
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KOHLENOXYD VERGIFTUNG.
299
enthalten HW Tbrile
Schwere
Kohlen
.. . wasser-
Na'ue d»> « assergascs .toffernip.
andere
1 licht*
gebende
\t TheUe
Kohlen-
säure
Kohlen-
oxyd
Wasser-
stoff
Methan
Stick- Sauer-
stoff Stoff
1. Durchschnittliche
Züsammensetaun g 1
1
t. Waasergas nach
Sedgwick und
Nichola . . . 12
04
27
36
21
8 0,2
2. Wasscrga« aus 1
amerikanischem |
Antbracit . . . keine
0
“
35
53
4
4 0,7
3. In Stockholm ver-
1
suchsweise dar ge-
' j
stelltes Wassergas keine
3- 0
33-10
57-
-"öl
0,5-3
4. Lowe-Gas . . 13—25
0.3-4
18-29
24—35
21—26
1,5—4 Spuren
5. New* York er Muni-
cipalgas . . . . 15—18
0,2 — 3
25-27
26-28
21-29
1 —1.5 0,5
6. Oranger Wasser-
gas 13—15
0.2
23 28
35-37
19-21
3 — 4 Spuren
1 7. W h i t e- Wassergas 11
—
15
47
27
1 8. Lep r i n ce-
Wassergas ... 9
0,3
6
25
58
9. Gilla rd‘s Platin*
gas 1
0.5
■1
91
0,5
10* ha wson-Gas . 0—4
5-7
22 2-1
16-18
—
q.sadlOOl —
11. SiemensRegeue-
ratorgas. . . . ?
V
30
?
?
? I ?
12. Wilson-tias .1 —
6
21
*
2
59
13. Generatorgas aus ji
Coaks —
2—6
23—2*
1
—
70
In Amerika wird übrigens
das Wassergas vielfach aus Rohpetrolenm
bereitet, wohin auch das in der Tabelle erwähnte Lowe-Gu gehfirt. Ein nach
einem anderen Procesae (Wilkinson) iiereitetes Wassergas, das z. B. in Baltimore
Verwendung findet, enthält in IOO Theilen 24 Methan, 32 Wasserstoff, 25 Kohlen-
oxyd, 15 schwere Kohlenwasserstoffe und 4 Kohlensäure und Stickstoff. Angeb-
lich soll derartiges Wassergas aus Petroleum, das sich durch grosse Leuchtkraft
auszeichnet, wegen seines schon heim Entweichen kleiner Gasmongen charakte-
ristischen Geruches die in amerikanischen Städten vielfach eingeführten Bepressiv-
massregeln Überflüssig machen.
ln Europa ist die Zahl der Kollcnuxydvergiftungen und spcciell ihrer
häufigsten Art, der Kohlendunstvergiftung, wesentlich durch das Verbot der Ofen-
klappen heruntergegangen. Als neue Ursache zu solchen ist der Gebrauch der sogen,
transportablen Ot-feri zu nennen, die nach MOISSAN 1() beim Heizen mit Anthrucit-
kolilen Gasgemenge von 15 — 16% Kohlenoxyd und 16 — 12% Kohlensäure
liefern und selbst bei gutem Zuge 6% Kohlenoxyd bei 14% Kohlensäure pro*
dueiren, somit ein wesentlich giftigeres Gas als das des Kohlenfeuers im Kamin,
da* nur 1.27% Kohlenoxyd und höchstens 3,22% Kohlensäure gebe. Auf die
Gefahren der Natron Carbonöfeu in geschlossenen , zum dauernden Aufenthalte
von Menschen bestimmten Räumen ist in Deutschland durch verschiedene polizei-
liche Warnungen ( Berlin, Breslau, Oppeln u. s. w.) aufmerksam gemacht worden. ' *)
In Paris hat das Heizen von Fuhrwerken mittels eines Apparates aus gnlvani-
Birteni Eisenblech, in welchem Bri<|uettes langsam verbrannten, Anlass zu Ver-
giftungen bei geschlossenen Fenstern gegeben.1")
Zar ätatistikderKohlenoxydvergiftnng hat Stoermcr einen interessantin
Beitrag durch eine tabellarische Ucbersicht der Intoxicatium n , die in Preusseo «ährend der
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300 KOHLENOXYDVERGIFTUNG.
Jahre 1880— 1891 vorkamen, geliefert. Von den in dieser Periode vorgekommenen 911 Ver-
giftungen waren 243 durch Kohlenoxyd veranlasst, davon 199 durch Kohlendunst und 4 t durch
Leuchtgas. Es bildeten somit die Kohlenoxyd Vergiftungen 26®/o ßämmtlicher Intoxicationen. Geht
man von den Todesfällen durch Gift aus, so ist das Procentverhältniss noch ungünstiger, indem
von 610 tödtlieh verlaufenen Vergiftungen 352, entsprechend 58#/o* auf Kohlendnnst und
Leuchtgas kamen.
Wie ausserordentlich stark fördernd die kalte Jahreszeit anf das Vorkommen von
Kohlenoxydvergiftunge n ist, lehrt eine von Stoermer gemachte tabellarische Uebersicht der
in Berlin von 1876 — 1890 vorgekommenen Verunglückungen und Selbstmorde durch Kohlen-
oxyd und Leuchtgas, nach den Monaten vertheilt. Von 283 Fällen dieser Art fallen auf
Januar . . 45 April. . . 16 Juli ... 6 October. „ 13
Februar . 41 Mai ... 17 August. . 6 November 36
März ... 33 Juni . . . 9 September 6 December. 56
Es haben somit die drei Monate, in denen die Kälte am intensivsten ist, December.
Januar und Februar, fast genau 50° 0l die vier heizfreien Monate Juni bis September 27 Fälle,
d. h. zusammen nicht einmal so viele wie ein Wintermonat geliefert. Die Tabelle stellt ins-
besondere auch den beschränkenden Einfluss des Verbotes der Ofenklappen in Berlin auf die
Kohlenoxydvergiftung klar. Während der Durchschnitt der jährlichen Todesfälle durch Kohlen-
oxyd sich in den Jahren 1876 — 1880 auf 40 stellt, beträgt er für das Decennium 1881 — 1890
nur 8,1, und die sich früher in einzelnen Jahren auf 47 hebende Maximalzahl ist über 12
nicht gestiegen.
Zum Nachweise von Kohlenoxyd in verdächtigen Zimmern hat schon
1888 KUNKEL die Mäuse als besonders empfindliche Thiere empfohlen. Haldane
empfiehlt sie auch prophylaktisch als Indicator von CO in Kobleuminen, in denen
die Sicherheitslampe wohl vor schlagenden Wettern, aber nicht vor Kohleuoxyd-
vergiftung schützt.
Nach den Versuchen Haida no’s zeigt die Maus, deren Kohlensäureproduction in
1 Stunde 4ü Grm. per Kilo beträgt, während der Mensch in derselben Zeit nur % Grm. pro-
ducirt, bei einer Atmosphäre von 0,39% CO schon in 1*/, Minuten, der Mensch dagegeu erst
in % Stunde Vergift ungserscheinuDgen, und im Allgemeinen kann die Wirkung bei Mäusen
als 20mal früher eintretend angesehen werden. Da selbst bei 5% Kohlenoxyd das Eintreten
der Vergiftung beim Menschen erst in 20 Minuten geschieht, ist die Methode nicht abzuweisen,
die jedenfalls das Minimum des Procentgehaltes von CO angiebt , der für den Menschen ge-
fährlich weiden kann.
Von Haldane18) ist auch eine neue Methode zur quantitativen
Bestimmung von Kohlenoxyd in der Luft angegeben, die auf dem
Factum beruht, dass, wenn eine Hämoglobinlösuug mit Luft gut geschüttelt wird,
das Verhältnis» des Hämoglobins, das sich schliesslich mit dem Kohlenoxyd ver-
bindet, mit den in der Loft vorhandenen Procenten CO wechselt, und dass man
somit durch coloriraetrische Bestimmung des Verhältnisses des mit CO verbundenen
Hämoglobins auf den Proeentgehalt des CO in der Luft schliessen kann. Man
kann mittels des von Haldane angegebenen Verfahrens selbst Mengen CO ent-
decken, die lebensgefährliche Wirkung nicht haben, nämlich 0,01% CO, ent-
sprechend 0,2% Kohlengas oder 0,03% Wassergas, und erhält so selbst da
noch positive Resultate, wo die Vergiftungsprobe mit der Maus oder die spectro-
skopische Untersuchung im Stiebe lässt.
Haldane’s Verfahren besteht darin, dass man 2 — 3 Liter Luft durch Eiusaugen
in einer reinen und trockenen Flasche sammelt, diese mittels eines doppelt tubulirten Korkes
und die Rökrenöffnungen mit einem aus einer Kautschnkröhre gemachten Stopfen verschliefst,
in dessen einem Ende ein Glasstab sich befindet. In diese Flasche werden vorsichtig mittels
einer Pipette 5 Ccm. defibrinirtes Ochsenblut mit Wasser (1 : 100) gebracht und 10 Minuten
lang gelinde geschüttelt. Kräftigeres Schütteln beschleunigt zwar die Sättignng, macht aber
durch mechanische Coagulation des Ei weisses die Blutlösung trttle. Bei 10 — 12 Sehüttelstössen
in 5 Secundeu reichen 4 Minuten nicht, wohl aber 6 Minuten zur völligen Sättigung aus.
Nach vollendetem Schütteln wird die Lösung mittels einer Pipette in 1 — 3 schmale Probe-
röhrchen von genau dem nämlichen Durchmesser, welche mindestens 12 Ccm fassen, gebracht
In ein anderes Proberöhrchen werden genau 5 Ccm. der ursprünglichen Blutlöaung mittels einer
Pipette gebracht. Ein drittes wird mit der nämlichen Blutlösung gefüllt, deren Hämoglobin schon
mit CO durch Schütteln mit reinem CO gesättigt wurde. Man vergleicht dann die Farben der
drei Lösungen. Ist mehr als 0,1 CO in der mit der verdächtigen Luft geschüttelten Losung
vorhanden, so ist dieselbe deutlich heller roth als die nicht geschüttelte Blutlösung; wenn
mehr als 3°/0 vorhanden, so entspricht die Farbe nahezu oder ganz derjenigen der mit CO
gesättigten Blutprobe. Man fügt dann von einer Bürette so lange Normalcarminlösung zu.
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Digiti;
d Dy
KOHLENOXYDVERGIFTUNG.
301
bis sie die Farbe der mit Luft geschüttelten Blutlösung zeigt. Sind die Farben fast gleich,
so werden nicht mehr als 0,25% Carminsolution auf einmal zugefägt. Man notirt die Paukte,
wo eben nicht genug und eben zu viel Carmin vorhanden ist und nimmt das Mittel als rich-
tiges Resultat. Zur Darstellung der Normalcarminlösung wird 1 Grm. reines Carmin mit ein
Paar Tropfen Ammoniak in 100 Tropfen Glycerin aufgelöst und bei der Benutzung 5 Ccm.
mit Wasser auf 500 verdünnt. 6 Ccm. dieser Nonnallösung geben, zu 5 Ccm. verdünntem
Ochsenblut (1 : 100) gesetzt, eine Solution, die der Farbe der mit CO gesättigten Blutlösung
entspricht. Man thut wohl, sich vor dem Versuche von diesem Thatbestandc zu überzeugen und
stets frische Lösung zu verwenden, da die Stärke der Carminlösung bei längerem Stehen ab-
nimmt. Man berechnet die procentige Sättigung des Blutes mit CO nach folgendem Schema :
Zu 5 Ccm. Blutlösnng sind 6,2 Ccm. Normalcarmin nöthig, um die Sättigungsfarbe hervorzu-
bringen. Die ursprüngliche Blutlösung bedarf auf 5 Ccm. 2,2 Ccm. Normalcarmin, um die
Färbung der mit der verdächtigeu Luft geschüttelten Blutlösung zu erhalten. Im ersten Falle
ist das Verhältniss des Carmins 26,2:11,2, im zweiten 2,2 : 7,2. Die procentige Sättigung
in dem geschüttelten Blute war somit ’ . X -A77 X 100 = 55,2. Zur Bestimmung des Verhält-
i .2 b,2
nisses des Procentgehaltes der CO Blutlösung zu dem Gehalte der Luft an CO hat Haida ne
eine Reihe von Versuchen gemacht, deren Hauptergebnisse die folgenden sind. Es ent-
sprechen einander
Sättigung der Blutlösung Kohlenoxydgehalt der Luft
in Procenten in Procenten
10 0,015
20 0,04
30 0,08
40 0,12
50 0,16
60 0,22
70 0,30
80 0,60
90 1,2
Das Resultat ändert sich nur unwesentlich , wenn die Luft 2 oder 3% weniger
Sauerstoff enthält, wohl aber, wenn 5°/0 nn(^ mehr O fehlen. Das Resultat fällt dann um fast
*/, zu hoch ans, und halbe Sättigung des Blutes zeigt dann in Wirklichkeit nur 0,11, nicht
die vorhandenen 0,15#/o an* der Procentgehalt der Luft an Sauerstoff bekannt, so lässt
Rieh eine Correction in der Weise ausführen, dass man von dem scheinbar vorhandenen
CO-Procent dasselbe Verhältnis« abzieht, in dem O verringert ist. Wäre z. B. der Sauerstoff um
*/, vermindert (auf 14°/0), so müsste auch ein Drittel von der Procentzahl des C O abgesetzt
werden. Für Procente unter 0,01 trifft dies aber nicht zu.
Die Frage, ob es Umstände giebt, durch welche man die Leuchtgas-
vergiftung von der Kohlendunstvergiftnng zu unterscheiden vermöge, ist mit Be-
stimmtheit zu bejahen , und selbst die Beobachtung der Vergifteten kann ein
absolut sicheres Merkmal für erstere enthüllen. Das ist der Geruch der Athem-
lnft und der Kleidungsstücke der Vergifteten nach Gas, bezw. den im Leuchtgase
enthaltenen riechenden Kohlenwasserstoffen. Stoermer legt besonderes Gewicht auf
die Analyse der Lnft der Räume, in denen die Intoxication stattfand, sowie auf die
chemische Untersuchung der Blutgase. Sicherlich ist die Möglichkeit in manchen
Fällen gegeben, von den Gasen, deren Gemisch das Leuchtgas darstellt, während
sie in Leuchtgas fehlen, in der Zimmerluft eines oder das andere nachzuweisen,
aber in der Mehrzahl der Fälle wird auch der Geruch keinen Zweifel lassen.
Ob die Blntgase von den in Frage stehenden Gasen so viel enthalten, dass sie
chemisch nachzuweiseu sind, ist allerdings problematisch und bedarf noch der
Feststellung durcli den Versuch. Man hat hier an den Nachweis des Benzols,
auch des Acetylens, das mit ammoniakalischer Kupfercldorürlösung einen explosiven
Niederschlag giebt, oder des Sumpfgases zu denken. Günstige Chancen bietet
jedenfalls, und ganz besonders bei Vergiftungen durch Wassergas, das Aufsnchen
des Wasserstoffes, der oft Uber die Hälfte des Gasgemenges bildet und den mau
spectralanaiytisch in einem GElsi.ER’schen Rohre durch drei scharf begrenzte
Linien in Roth, Grün und Blau erkennt. Der Nachweis dieses Gases neben CO
im Blute kann da, wo es sich um differentielle Diagnose der Leuchtgas- und
Kohlenduustvergiftung handelt, von wesentlichster Bedeutung sein. Stoermer rätli
auch Untersuchung des Harnes auf Verwandlungsproducte des Benzols und auf
Naphthalin an, doch ist der positive Ausfall auch hier zweifelhaft. Für Leucht-
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302
KOHLENOXYDVERGIFTUNG.
gaavergiftung will man auch erdfahle Blässe des Gesichtes, Exophthalmus, Nystagmus
und heftige Beugekrämpfe als diagnostisch wichtig ansehen; es ist kein Zweifel,
dass erstere hei Kohlendunstvergiftung nicht selten ist. und dasselbe dürfte von
den übrigen Symptomen gelten. Stoermer weist auch auf die grössere Intensität
der Leichenerscheinungen, namentlich die Hyperämie des Rückenmarkes und seiner
Häute, die starke Blutüberfüllung der Lungen und die hellrothe Farbe des Blutes
hin; doch kommt, wenn auch ausnahmsweise, bei Leuchtgasvergiftung duukle
Blutfärbung vor, die sich leicht durch die Anwesenheit von H2S, NHa oderCS*
im Leuchtgase erklärt.
Bei den vielen und inhaltsreichen Studien zur Diagnostik der Kohlen-
oxydvcrgiftung und den ausserordentlich prägnanten Symptomen sollte man kaum
denken, dass in gerichtlich medicinischen Fällen noch jetzt fehlerhafte Diagnosen
gestellt werden können. Nichtsdestoweniger ist in Frankreich neuerdings ein
derartiger Fall vorgekommen, der recht wohl zur Hinrichtung eines Unschuldigen
hätte führen können, weil, was zwar kaum glaublich erscheint, aber unbestreitbar
wahr ist, der Gerichtsarzt die tödtlicbe Vergiftung zweier Menschen für eine
Cantliaridenvergiftung erklärte. Von einer spectroskopischen Untersuchung des
Blutes war in diesem Falle selbstverständlich keine Rede und Cantharidin war
in den Leichen nicht aufgefundeu worden.
Der von Bro u a rd el , Descourt und Ogier1") ausführlich erörterte Fall betrifft
eine Frau, die 1887 wegen Vergiftung ihres Mannes und Bruders angeklagt vrar. zu deren
Leichen sie kurze Zeit nach dem Tode in einem aufgeregten, rauschähnlichen Zustande Passanten
herbeiholte. Die Unschuld der auf Grund des gerichtsärztlichen Gutachtens zu lebenslänglichem
Gefängnisse verurtheilten Frau stellte sich aber heraus, als in derselben Wohnung spater eine
Frau todt am Bodeu gefunden und noch später mehrere Personen in bewusstlosem Zustande und
eine Katze todt aufgefunden wurden und man nun entdeckte, dass Gase zu der Wohnung von
einem benachbarten Kalkofen gelangen konnten, nach dessen Verlegung weitere Vergiftungen
nicht eiutraten. Der Arzt hatte die hellrothe Färbung der Gedärme für Gastroenteritis gehalten,
die er auf Cantharidismus (!) bezog. Im Gegensätze hierzu wurde neuerdings in einem deutschen
Falle*) Kohlendunstvergiftung angenommen, wo eine Bauernfrau todt und ihr Mann in ver-
wirrtem Zustande, in dem er sich des Mordes seiner Frau anklagte, vorgefundeo wurde , da
Verletzungen nicht Vorlagen und die später gemachte Angabe des Mannes zum Theil in ihn
hineinsuggerirt war zum Theil durch die lntoxicationsdelirien ihre Erklärung fand. In einem
von Tr6nelsl) erwähnten Pariser Falle wurde ein zusammen mit seiner Maitresse betäubt
aufgefundener Mann des Mordes beschuldigt und, da er an vollständiger Amnesie litt, erst
freigegeben, als das Gedächtnis wiederkehrte und er Aufklärungen geben konnte.
Literatur; *) Loren zo Borri, Contributo allo Studio del mtccanismo d't'n-
tossicazione per quei re/eni che contraggono mmo combinazione chimica con la materia colo-
raute del sangue. Lo Sperimentale. 1895, Sez. Biol. I, pag. 95. — *)C. Raimondi und
U. Rossi, Süll asßssia e veneftcio per gaz illuminante c dei susttidi terapeutici utili in
sxffatti casi. Atti della R. Accad. dei Fisiocrit. Siena 1895, Ser. IV, Vol. 7. — *) A. Mar-
cacci, II meccanismo Hella morte nelV awelenamento per ossido di carbonio. Atti della
Soc. Toscana di Sc. nat. 1892, Vol. 12. — 4) Ed. Richter, Kohlenoxyd durch Resorption
von der Leibeshöblc aus. Deutsche mcd. Wochenschr. 1895, Nr. 32. — *) John Hai da ne,
The action of carbonic oxide on mau. Journ. of Phyaiol. 1895, Vol. 18. pag 430. —
•) H. 1) roser, Zur Toxikologie des Kohlenoxyds. Arch. f. experim. Path. und Pharm. 1891,
XXV, pag. 119. — 7) Vergl. z. K. Broadbent, Notes on a rase of coal gas poisoning.
Brit. med. Journ. 13. Mai 1893, pag. 1 004 ; Posselt, Ein Fall von KohlendQnstvergirton£.
Wiener klin. Wochenschr. 1893, Nr. 21. — •) Ernst Koch, Zur Encephalomalacie nach
Kohlenoxydvergiftung. Greifswald 1892. — ®) Max Gordon, Beiträge zur Kochsalzinfusion
bei Vergiftungen. Deutsche med. Wochenschr. 1893, Nr. 12. — ,w) Z. B. von Sai nt -M ar t i n,
Sur le mode d*ilimination de V oxyde de carbone. Compt. rend. 1893, CXVI, pag. 260. —
1 ') S p i c a und Menegazzi, SulV azione della acqua ossigenata. Riforma med. 1893, Nr. 284-
Arch. di Farmacol. e Terap. 1893, XXIII. — la) Wild, Zwei Fälle von Kohlenoxydver-
giftung. Correspondenzbl. f. Schweizer Aerzte. 1895, Nr. 4. — *•) A. Edwin Down, Some
ubsercations on water gas. Mcd. Record. 5. Mai 1894. — **) In dessen ausführlicher Arbeit
über Kohlenoxydvergiftung in Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1896. — l6) Moissan, Sur
Vempoisonnement par Voxgde de carbone. Ball, de l’Ac&d. de Med. Paris 1894, XXXI,
pag. 249. — ,6) E. Becker, Die Kohlenoxydvergiftung und die zu deren Verhütung geeigneten
sanitätspolizeilichen Maas regeln. Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1893. — n) Mot et. In -
toxieaiion par Voxgde de carbone. Annal. d’bygiöne publ. März 1894, pag. 258. — IB) H a Liane,
A method of detecting and estimating carbonic oxide in air. Journ. of Physiol. 1895, XVIII.
pag. 463 — *•) Bronardel, Descourt und Ogier, Un cas d’empoisonnement jxtr
KOHLENOXYDVERGIFTUNG. — KRANKENPFLEGE.
303
Voxyde de cavbone . Aunal. d'hygiene publ. 1894, XXXI, pag. 258. — n) Landgraf, Aus
der gerichtsürztlichen Praxis. Blätter f. gerichtl. Med 1894, pag. 458. — *l) Trenel. Ih
quelque s symptömes consecutifs ä V in toxica t io n aigut par Voxyde de curbotte. Gaz. hebdom.
de med. et chir. 1895, Nr. 30—32. Husemann.
Krankenpflege. Die Krankenpflege ist der Zweig der Heilkunde,
dessen weiterer Ansbau in der Neuzeit in hervorragendem Masse gefördert worden
ist. Die Forschungsergebnisse auf dem Gebiete der Gesundheitspflege sind für
die Krankenpflege von ganz besonderer Bedeutung gewesen und haben in der
gesammten Krankenbehandlung eine Umwälzung hervorgerufen , welche für die
Zukunft entscheidend zu werden verspricht. Im Vordergrund des ärztlichen Inter-
esses steht der kranke Mensch, das kranke Individuum, dessen Eigenthümlich-
kcitcu, Gewohnheiten, Sinnen und Trachten aufmerksam beobachtet und zum
Zielpunkt ärztlichen Handelns und Eingreifens gemacht werden müssen. Die
Krankenpflege umfasst nach den jetzigen Begriffen nicht nur die sorgsamste
Behütung und Aufwartung seitens eines vorzüglich geschulten und erfahrenen
Wartepcrsonales , sondern auch ganz besonders die Sorge und Aufmerksamkeit
des Arztes für alle Einzelheiten , die nach irgend einer Richtnng hin für den
Kranken von Wichtigkeit sein können. Alle Erfahrungen, welche auf dem Gebiete
der Unterbringung von Kranken — in besonderen Heilanstalten oder eigenen
Behausungen — , der Lagerung der Kranken , der Beschaffenheit des Kranken-
zimmers in Bezug auf alle Verhältnisse — Lage, Lüftung, Heizung — , seiner
Bekleidung, Ernährung u. s. w., also auf dem Gebiete der Gesundheitspflege über-
haupt gemacht worden sind und durch Versuche und Untersuchungen von Physio-
logen und Hygienikern erzielt werden , müssen für den erkrankten Menschen
nutzbar gemacht werden.
Die Krankenzimmer waren in den Familien früher genau ebenso ungeeignet
zur Pflege von Kranken, wie sie es häufig heute sind. Sabattia Joseph Wolfe
spricht sich in seinem Buche: „Die Kunst krank zu seyn“ folgendermassen über
diesen Gegenstand aus:
„Ich würde mir es nicht verzeihen können , wenn ich hier eine Unge-
inäcblichkeit nur so obenhin erwähnt hätte, die doch vermöge ihres Einflusses
von solcher Wichtigkeit ist, dass sie es wohl verdiente, dnBs man sich dahei
etwas verweilte; ich meine die Ungemächliehkeit, so die gewöhnlichen Kranken-
zimmer in grossen Städten besonders zu haben pflegen , und wie man an nichts
weniger, als an das denkt, was sich allenfalls noch dabei verändern und bessern liessc.
Nicht nur im Mittelstand, dem es noch eher zu verzeihen wäre, sondern
selbst bei Reichen , wird an Alles eher bei Miethung einer Wohnung gedacht
werden, als an ein bequemes Zimmer, das sich, im Falle Jemand erkrankte, zu
einem Krankenzimmer qnalifleirte. Wohl denkt man an eine schöne lebhafte
Gegend , der schönen Aussicht wegen ; wohl überlegt man , ob es für Geschäft
und Gewerbe passend sey, man vergisst nicht ein bequemes Comptoir und Kabinet,
Entree, Wohn- und Speisestube, Visitenzimmer, am allerwenigsten für Küche und
Speisekammer zu sorgen: man denkt aber weniger daran, ob die Wohnung der
Gesundheit zuträglich sey, weniger an eine gesunde Kinderstube, am allerwenigsten
aber an ein bequemes Krankenzimmer.
Daher kommt es denn auch, dass man sich heute oder morgen in der
grössten Verlegenheit sieht, dass man kein anderes Zimmer, als etwa vorn heraus,
dem Kranken einzuräumen hat, wo das ewige Gerassel der Wagen und Kutschen,
das Schreien uud Lärmen dem armen Leidenden auch keinen ruhigen Augenblick
gemessen lässt , oder wo die Nachbarn von allen Seiten , von oben und unten,
durch ihre Profession, oder auch durch ihre Kunst, als Musik, Singen, Tanzen u. s. w.,
dem Kranken die ihm so nöthigen ruhigen Stunden rauben , ja wohl gar ihm
selbst des Nachts den so erquickenden Schlaf nicht lassen.
Daher kömmt es dann , dass der Kranke auch selbst so ein schlechtes
Zimmer nicht einmal für sich allein haben kann, dass Mehrere darin seyn müssen
304
KRANKENPFLEGE.
oder doch beständig darin etwas zu thun haben, bald etwas holen oder bringen,
oder ihre Geschäftsstrasse durch dieses Zimmer haben; dass es bald zu gross,
bald zu klein, zu hoch oder zu niedrig, zu hell oder zu dunkel, im Winter nicht
zu erwärmen, im Sommer nicht vor der Sonne zu schätzen möglich ist; daher
kommt es , dass man nicht einmal ein bequemes Plätzchen für das Bette des
Kranken Anden kann, was besonders im Winter mit grossen Schwierigkeiten
verknüpft zu seyn pflegt, wo es entweder der zu schnellen Wirkung der Stuben-
wärtne, oder der Wirkung der Kälte, wo nicht gar der Zugluft ausgesetzt ist.
Und wie sehr wird nicht selten die Wiederherstellung dadurch erschwert; wie
oft ganz unmöglich gemacht. Vergebens sucht man die Ursache in der Krank-
heit, der Kunst und dem Künstler.“
Wie vollkommen passen diese im Jahre 1811, also vor 85 Jahren,
niedergeschriebenen Worte auch auf unsere jetzigen Wohnnngsverhältnisse!
Die Pflege in der Wohnung des Kranken und in einem Krankenhause
soll nach genau gleichen Grundsätzen erfolgen, welche durch die genannten, auf
wissenschaftlicher Basis beruhenden Regeln festgelegt sind. Im Besonderen ergeben
sich durch die Verschiedenheiten der Wohnungen allein bereits zahlreiche indi-
viduelle Unterschiede , die der erfahrene Blick des Arztes im Einzelfalle schnell
zu erfassen hat , um hiernach seine eigenen Massnahmen einzurichten und An-
ordnungen für die vorhandenen Pfleger anzugeben. Im Krankenhause, in welchem
für Krankenpflege besser vorgesorgt zu sein pflegt als im Haushalte des Ein-
zelnen, wird sich dieselbe in einfacherer Weise herstellen und besorgen lassen.
Die Krankenhäuser werden so angelegt, dass Lüftung, Heizung, Wasserversorgung,
Beleuchtung und sonstige Einrichtung der Aufenthaltsräume und die für die
besonderen Bedürfnisse des einzelnen Kranken nothwendigen Einrichtungen Dach
Möglichkeit vorhanden sind.
Es muss also der Arzt mit allen Theilen der Krankenpflege vollkommen
vertraut sein und seine Kenntnisse der Gesundheitspflege für seine Thätigkeit in
vollem Umfange mit verwerthen. Das Studium der Hygiene ist daher nicht nur,
wie man noch vor Kurzem vielfach aunahm , für den beamteten Arzt von
Wichtigkeit, sondern jeder Arzt muss in jedem Falle die Gesundheitspflege, soweit
es die umgebenden Verhältnisse gestatten , bei der Krankenpflege zur vollsten
Geltung zu bringen versuchen. Leider stellen sich dieser Absicht häufig unüber
windliche Schwierigkeiten entgegen, und in diesen Fällen wird der Arzt zunächst
den Rath ertheilen, den Kranken in ein Spital überzuführen. Wird dieses nicht
befolgt, so muss daun in dem betreffenden Haushalte, so gut es eben angeht,
Alles, was die Gesundheitspflege für die Krankenpflege vorschreibt, vorgesehen
werden, und besonders gross ist da die Schwierigkeit , weil in diesen Familien
die für den gesunden Menschen nöthigen ünterkuuftsräume und Nahrung in
traurigen Verhältnissen , für Kranke also eigentlich ganz unerträglich zu sein
pflegen, und an höhere Ansprüche von Pflege überhaupt nicht gedacht werden kann.
Gerade diese, welche man jetzt mit dem Ausdrucke des „Comforts“
zusammengefasst hat, müssen beim Kranken in viel höherem Masse als es bis-
her gewöhnlich geschah, erfüllt werden. Der Gedanke, auch für Kranke eine
möglichst grosse Behaglichkeit zu schaffen, ist, wie wir noch sehen werden,
ein bereits alter, aber durch verschiedene Richtungen der Mcdicin etwas ver-
drängt worden. Erst in neuester Zeit hat sich derselbe wieder Bahn gebrochen
und vornehmlich v. Leyden trat in Wort und Schrift in seinen klinischen Vor-
lesungen , Vorträgen und Arbeiten für ihn ein. Nicht nur jene genannten An-
forderungen der Hygiene in Bezug auf Lufträume, Wandanstrich, Fussboden-
belag , Bettstellen , Kleidung des Kranken sollen Berücksichtigung bei der
Krankenpflege Anden, sondern auch der Bequemlichkeit soll bei den Bedürfnissen
des Einzelnen mehr Rechnung getragen werden. In England und Amerika geht
man in dieser Richtung noch weiter und richtet z. B. öffentliche Krankenhäuser
sogar möglichst mit Geschmack ein. Grüne Blattpflanzen im Krankenzimmer
KRANKENPFLEGE.
3u5
erfreuen das Auge des Kranken und gute Bilder an den Wanden der bei uns
sogenannten „Tageräume“ , welche nach den Abbildungen aus Amerika hilulig
mehr den Eindruck von Gesellschaftssäleu erregen, bieten für diejenigen, welche
sieh nicht im Freien aufhaltcn können, einige Abwechslung, während man in
Deutschland mehr den strengen Gesetzen der Hygiene huldigt und von den
Wänden der Krankenzimmer alle nicht genau zur Krankenbehandlung noth-
wendigen Gerätschaften fern hält.
Besonders bei Kranken , welche in gesunden Tagen höhere Ansprüche
an des Lebens Genüsse zu stellen gewöhnt sind, muss die Pflege auf den Comfort
Bedacht nehmen. Gerade bei diesen spielen die „Nerven“ eine grosse Rolle und
selbst anscheinend ganz unwichtige Dinge, wie z. B. das Rauschen des Kleides der
Pflegerin, können nervös angelegte Kranke in Unruhe versetzen. Leider hat sich
die Neurasthenie anoh unter der arbeitenden Bevölkerung jetzt sehr ausgebreitet.
Auch für diese Kranken muss der Grundsatz gelten, jede nur irgend anwendbare
Bequemlichkeit nach den sonstigen Lebensgewohnbeiten des einzelnen kranken
Individuums platzgreifen zu lassen. Das bisweilen geäusserte Bedenken, dass,
wenn die Kranken in den Krankenhäusern zu sehr verwöhnt würden , eine
Zunahme des Simulantenthums eintreten würde, und auch die in ihre Familie
zurückgekehrten Geheilten sich dort unbehaglich fühlen würden , weil sie ja
wieder die ärmlichen Verhältnisse anträfen und dadurch Misstimmung und Un-
zufriedenheit hervorgerufen würde , ist nicht zutreffend. Als oberstes Gesetz für
die Krankenbehandlung und deren vornehmsten Theil , die Krankenpflege, muss
gelten , dass jeder Kranke während der Dauer seines Leidens unter möglichst
günstige Verhältnisse versetzt werde. Und gerade die ausgiebigste Krankenpflege,
gepaart mit dem höchsten erreichbaren „Comfort“, beschleunigt die Heilung, ja
führt sie in vielen Fällen sogar ausschliesslich herbei. Noch vor ganz kurzer Zeit,
am 14. Februar 1896, betonte v. Leyden in einem Vorträge in der Deutschen
Gesellschaft für öffentliche Gesundheitspflege den Werth der Krankenpflege gegen-
über der specifischen uud medicamentösen Behandlung. Der Redner, welcher „die
Aufgaben des Berlin- Brandenburger Heilstättenvereines für Lungenkranke“
schilderte, legte die Bedeutung der hygienisch-diätetischen Behandlungsweise der
Longcnschwindsüchtigen dar, bei welchen die Pflege Hervorragendes leistet. Die
hygienisch-diätetischen Verfahren sind nach der eingangs gegebenen Definition
als der Hauptbestandteil der heutigen, auf wissenschaftlichen Grundsätzen auf-
gebauten Krankenpflege anzusehen. Ja, sogar es ist diese Pflege eigentlich als
das Einzige, was bei einer erfolgreichen Behandlung der Schwindsüchtigen, d. h.
der Kranken im ersten Stadium, in Frage kommen kann, zu betrachten. Die spe-
cifiscbe Theorie hat leider bis jetzt auf diesem Gebiete noch keine glänzenden Er-
gebnisse erzielt, und noch heute gelten die zuerst von Brehmkk aufgestellten Grund
sätze für die Behandlung der Lungenkranken, welche darin gipfeln, den Kranken
zu pflegen und zu ernähren, möglichst zu kräftigen und dadurch in den Staud zu
setzen, siegreich aus dem Kampfe mit seinem Gegner, der Krankheit, hervorzugehen.
Es ist ein Leichtes, den Antheil einer rationellen Krankenpflege an
der Behandlung einer ganzen Reihe von Erkrankungen , besonders denjenigen,
welche mit schweren Ernährungsstörungen in Erscheinung treten, darzuthun. Die
leiden, bei welchen die Ernährungstherapie hervorragende Dienste leistet, können
nur dann günstig beeinflusst werden, wenn die Pflege in zielbewusster Weise ge-
leitet wird. Als Beispiel seien die krebsigen Verengerungen der Kardia genannt,
bei welchen durch systematische Erweiterung Besserung der Möglichkeit der Er-
nährung und damit längere Erhaltung des Lebens erzielt wird. Eine andere
Gruppe von Leiden , an deren erfolgreicher Behandlung die Pflege bedeutend
betheiligt ist, betrifft die Erkrankungen des Herzens. Bei den Herzkranken ist
die Ernährung von grosser Wichtigkeit, wie dies OEBTEL wohl zuerst in neuerer
Zeit betont hat; die Pflege hat bei diesen Kranken besonders diese zu berück-
sichtigen. Ganz erheblichen Antheil hat die Pflege bei einer Ernährungsbehand-
KncycJop. Jahrbücher. VI. 20
306
KRANKENPFLEGE.
lung, welche in der Neuzeit eine grosse Verbreitung gewonnen hat, bei der
Mastcur. Bei dieser rein diätetischen Cur ist gerade eine ausserordentlich sorg-
same Pflege nothwendig, welche alle Einzelheiten der Behandlung von Stunde
zu Stunde zu überwachen hat. Weir-Mitchkl und Playfair haben die Schwierig-
keiten bereits hervorgehoben , welche die Auswahl des richtigen Pflegepersonals
gerade bei der von ihnen eingeführten Cur bedingt, da ja bei dieser der Kranke
ganz allein auf seinen Pfleger angewiesen und es daher dringend erforderlich ist,
dass derselbe sowohl mit allen Theilen der Pflege vertraut, als auch gebildeten
und angenehmen Wesens ist.
Noch bei einem Zustande, welcher allerdings bei normalem Verlaufe nicht
als krankhafter, sondern als physiologischer anzusehen ist, ist eine gute Pflegerin
nicht zu unterschätzen: im Wochenbett. Gewöhnlich beschäftigen sich diese Pflege-
rinnen ausschliesslich mit der Wochenpflege, damit sie nicht durch Wartung
anderer Kranken Veranlassung zur Ansteckung der Wöchnerinnen abgeben. Da
die Pflegerin gleichzeitig die Aufwartung des Neugeborenen übernimmt , so ist
die Annahme einer solchen keineswegs, wie vielfach angenommen wird, eine über-
flüssige Verschwendung. Die Wöchnerin selbst ist in den ersten Tagen des
Wochenbettes nicht im Stande, das Kind zu versehen; die Angehörigen haben
vielfach unrichtige Ansichten Uber die Bekleidung, das Baden, die Ernährung des
Kindes, so dass bei demselben ohne Pflegerin Manches in unrichtiger und
gesundheitswidriger Weise, ausgeführt wird.
Einzelne der Wochenpflegerinnen stehen auf keiner sehr hohen Bildungs-
stufe, und auch diejenigen Frauen, deren Thätigkeit eine gewisse Verwandt-
schaft mit der der Woehenpflegerinnen hat und derselben eigentlich voraufgeht,
die Hebammen, entstammen noch nicht alle den weiten Kreisen des Mittelstandes,
deren weibliche Angehörige so zahlreich unbeschäftigt am Wege des Lebens
stehen , falls sic nicht das hohe Glück hatten — — geheiratet zu werden, ln
den Ständen, in denen es schon als etwas Merkwürdiges gilt, dass ein junges
Mädchen sich dem Pflegeberuf widmet, erscheint es natürlich noch unbegreiflicher,
wenn gar eine Dame Hebamme wird. Und doch erfordert diese Beschäftigung
ansser den noch später zu besprechenden körperlichen und geistigen Eigenschaften
und erlernten Handfertigkeiten ausserordentliche Bildung von Gemüth und Herz.
Wie wenig gemüthvoll ist es beispielsweise, eine Kreissende dureh Erzählung
haarsträubender Fälle aus der Praxis aufzuregen ! Wohl jeder Arzt würde es
mit Freude begrüssen , wenn in Zukunft Damen aus den besten Gesellschafts-
elassen sieh den genannten Berufen widmen würden.
Ueber die geschilderten Verhältnisse sind eine Reihe trefflicher Veröffent-
lichungen in den letzten Jahren erschienen. Vorzüglich sind in der von M. Mkxpki,-
sohn geleiteten „Zeitschrift für Krankenpflege“ zahlreiche Aufsätze über die
Pflege der Kranken bei einzelnen Leiden und Uber die Ausbildung des Pflege-
personales niedergelegt. Die Thatsache, dass jetzt eine Fachzeitschrift besteht,
welch das Princip der Pflege des Kranken als Ergänzung und wichtigsten Theil
der gesammten Behandlung darstellt, ist von hervorragender Bedeutung. Der vom
Herausgeber der Zeitschrift ausgesprochene Satz : „So ist die Krankenpflege bei
näherem Zusehen fast identisch mit einem erheblichen Tlieile der eigentlichen
Krnnkenbehandluug. Sie ist angewandte Therapie“ kann als Programm derselben
gelten. Dieser in der heutigen Heilkunde wieder mehr zur Geltung gelangte
Grundsatz ist allerdings bereits vor längerer Zeit geäussert, wenn er auch durch
die zeitweilig beliebten, aus zwanzig bis dreissig Mittel bestehenden Recept-
verordnungen etwas in den Hintergrund gedrängt worden war. In der Vorrede
jener erwähnten Schrift von S. J. WoLKF findet sich folgender Ausspruch : „Mai
in seinen Vermischten Schriften sagt: Nicht die Arzeneyen allein, sondern die
gute Pflege in der Krankheit und die sehiekliehe Labung in dem Zeitpunkte
der Wiedergenesung sind die Hülfsmittel , die verlohrene Gesundheit herzu-
stellen.“ In ganz ähnlicher Weise spricht sich FLORENCE Nightingalk , welche
KRANKENPFLEGE.
307
wohl den Anspruch erheben kann, als die bedeutendste Krankenpflegerin aller
Zeiten zu gelten, aus : „Eine weitere Berichtigung gilt der Üblichen Vorstellung
von dem, was man sich bei dem Ausdrucke „etwas gegen die Krankheit zu thun“
denkt, nämlich: Medicineingeben; wogegen die meisten es „nichts thun“ nennen,
wenn blos frische Luft, Reinlichkeit u. dcrgl. verordnet wird, ln Wahrheit steht
die Sache so , dass wir uns von dem Einnehmen von Arzneien und ähnlichen
künstlichen Cnren niemals sicheren Erfolg versprechen können, wogegen die all-
gemeine Erfahrung der richtigen Pflege einen massgebenden Einfluss auf Dauer
und Verlauf der Krankheit zuschrcibt. Einnehmen ist also eine grosse Neben-
sache, richtige allgemeine Pflege die Hauptsache !u
Zur Ausübung der Krankenpflege selbst ist ein gutes Personal erforder-
lich, und die in den letzten Jahren erschienenen Schriften über diesen Gegenstand
sind der beste Beweis dafür, dass auf diesem Gebiete noch ein grosser Mangel
herrscht. Zwar ist die Zahl der sich dem Pflegeberufe widmenden Personen im
Ganzen nicht gering, auch eignet sich eine Mehrzahl derselben recht gute Kennt-
nisse und Fähigkeiten für das schwere und verantwortungsvolle Amt an; immer
aber bleibt vorläufig noch die Klage zu Recht bestehen, dass viel zu wenig Indi-
viduen aus gebildeten Kreisen Pfleger werden.
Die Krankenpflege ist ein echt weiblicher Beruf. Es werden zwar noch
in Deutschland und auch anderen Ländern Männer zu Pflegern ausgebildet, aber
die Meinungen aller Sach\ erständigen und Kranken einigen sich wohl in dem
Wunsche nach weiblichen Krankenpflegern. Die gesummte Sorge um den Kranken
während der langen Zeit des Tages, wo der Arzt den Kranken nicht sieht, liegt
in der Hand des Pflegepersonalcs. Der Arzt giebt alle nothwendigen Verord-
nungen, medicamentöse , diätetische, hygienische, und Aufgabe des Pflegers ist
es. alle diese mit Vcrständniss und individualisirend auszuführen. Gerade diese
für die Einzelperson bestimmte Pflege, welche in einer wohlhabenden Familie
gewöhnlich nicht mit allzugrosser Schwierigkeit verbunden ist, bedingt im Kranken-
hause und noch mehr in der noch zu besprechenden Gcmeindekrankeupflege
grosse Anforderungen an die selbstlose Hingabe des Pflegenden. Denn wenn auch
im Spital für Kranke gleicher Gruppen anscheinend gleiche oder ähnlich lautende
Diätzettel oder Verordnungen vorhanden sind , wie dieses für den Dienst einer
Anstalt erforderlich wird, — das frühzeitige Tagmachen in den Krankenhäusern
mag ja für den Dienst von Wichtigkeit sein, dürfte aber Schwerkrankc, welche
bisweilen erst in den Morgenstunden Schlaf finden , doch empfindlich stören —
so wird durch die Person des Pflegers, welcher je nach seiner Befähigung in
kürzerer oder längerer Zeit die Eigenschaften eines jeden Kranken kennen lernt,
der Ausführung der ärztlichen Anordungen und der Darreichung der Speisen und
Getränke ein individuelles Gepräge aufgedrUckt. Es liegt ganz besonders die
Fähigkeit, anspruchslos und sanft , ohne Streben nach äusseren Anerkennungen
und äusserlich sichtbaren Zeichen von Ruhmestiteln die Pflicht zu erfüllen, im
Charakter des Weibes. Die volle Hingabe an eine edle Sache, das Aufgehen in
dem einen Beruf ohne Gedanken an weitere Neben thätigkeit , die stille leiden-
schaftslose Gleichmässigkeit des Charakters sind ja besondere Vorzüge des weib-
lichen Naturells vor dem männlichen. Gerade im Pflegerberuf zeigen sich diese
Unterschiede mit ganz besonderer Deutlichkeit, und wenn auch nicht geleugnet
werden soll, dass auch männliche Pfleger Treffliches leisten und anscheinend z. B.
heim Heere vorläufig noch nicht entbehrlich sind , so wird doch immer die
Pflegerin vor dem Pfleger den Vorzug verdienen. Für unruhige Geisteskranke
wird ein Wärter nicht gnt zu entbehren sein, während bei allen anderen Kranken
die Pflegerin mit ihrer weiblichen Milde und ihrem warmempfindenden Gemüth
am besten ihren Platz ausfüllt. Das Weib eignet sich auch aus dem Grunde
besser zum Pflege beruf als der Mann, weil es in den meisten Fällen nüchterner
und anspruchloscr ist. Selbst die rohesten und ungebildetsten Menschen betrachten,
auch wenn sie gesund sind , mit einem gewissen Gefühl von Ehrfurcht die
20*
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308
KRANKENPFLEGE.
Krankenpflegerinnen. In schwerer Krankheit, wo das Gemüth eines jeden Menschen
weicher und lenksamer wird — allerdings kommen hier Ausnahmen vor — bringt
selbst ein verkommenes Individuum seinem Pfleger Achtung und sogar Zuneigung
entgegen, indem es in diesem den Helfer und Linderer seiner Schmerzen, den
Erretter aus seineu Leiden erblickt.
Noch am Anfänge dieses Jahrhunderts war man, wie aus S. J. Wolff’s
bereits angeführter Arbeit ersichtlich, über die Brauchbarkeit der weiblichen
Pfleger vor den männlichen noch sehr getheilter Ansicht. Unter Kaiser Joseph
waren nur Pflegerinnen thätig, aber es sollen dabei die guten Sitten gelitten
haben, indem die Genesenden „die weibliche Bedienung nicht gut“ vertrugen.
Stoll fand Männer brauchbarer zum Pflegen als Frauen.
In noch höherem Masse aber tritt der bedeutsame Einfluss der Pflegerin
auf ihre Schutzbefohlenen und auch durch ihre Thätigkeit auf den Verlauf de*
Leidens in die Erscheinung, wenn dieselbe höheren Gesellschaftsclassen entstammt.
In dieser Hinsicht ist man in Deutschland noch nicht genügend fortgeschritten,
denn leider wenden sich noch immer nicht gebildete Damen in genügender Zahl
dem Pflegerberufe zu. Dass eine gebildete Person eben durch ihre Bildung auf
Ungebildete einen heilsamen Einfluss auszuüben im Stande ist, dass sie durch
ihre Bildung besser in die Lage versetzt ist, die Launen des Kranken mit stets
glcichmässiger Ruhe des Gemüths zu ertragen und auf alle seine Wünsche ein-
zugehen , als eine geistig ungebildete Pflegerin , liegt klar auf der Hand. Der
Ueberlegenheit , welche das Bewusstsein guter Sitte, das Gefühl der Menschen-
liebe und höheren geistigen Bildung der Pflegerin verleihen, fügen sich auch
geistig rohe Menschen schnell, besonders wenn sich die Pflegerin in das Gemüths-
leben des Kranken hineinzudenken versteht. Natürlich kommen auch hier zahl
reiche Ausnahmen vor, wahre Herzensbildung und Tiefe des Gemüths ist häutig
gerade bei denjenigen wenig vorhanden, welche als besonders gebildet gelten uud
umgekehrt auch in hohem Masse bei solchen Leuten zu Anden, wo man sie nicht
vermuthet. Aber dies trift't für die grosse Menge der Menschen nicht zu , und
ebensowenig ist anzuerkennen, was auch häufig angeführt wird, dass ungebildetere
Menschen einander besser verstehen und daher auch das Pflegerpersonal für diese
den Ungebildeten entnommen werden solle. Noch ein anderer Grund spricht
dafür, die Pflegerinnen aus den gebildeten Kreisen vorzuziehen, welchen Zimmkr
(Herborn) in einem ausgezeichneten Aufsatze: „Wie gewinnen wir gebildete Kranken-
pflegerinnen?“ in treffender Weise dargelegt hat. Ueber 4 1 c/0 der weiblichen
Bevölkerung im durchschnittlichen heiratsfähigen Alter (von 18 — 50 Jahren) sind
nach der letzten Volkszählung in Deutschland unverheiratet. Da in den unteren
Volkskreisen, was statistisch allerdings nicht genau festzustellen ist, bedeutend
mehr Ehen eingegangen werden , als in den mittleren und höheren , so ergiebt
sich, dass von zehn den letzteren angehörigen Jungfrauen höchstens vier Aussicht
haben, sich zu verheiraten. Es bietet sich also gerade hier ein Beruf, für welchen
zahlreiche Frauen und Mädchen in trefllicher Weise geeignet sind. Mit Recht
wird die Frage von allen Bearbeitern dieses Gegenstandes aufgeworfen , aus
welchem Grunde viele Mädchen Gesellschafterinnen , Stützen der Hausfrau , Er-
zieherinnen werden und in dieser Zwitterstellung, welche sie weder materiell
noch ideal befriedigt, verbleiben, oder ohne Talent sich der Malerei oder Musik
meisten« nur zum Entsetzen ihrer Angehörigen und Nachbarn widmen, während
der edelste Beruf, welcher den Unverheirateten die Ehe ersetzen kann , die
Krankenpflege , noch immer viel zu selten von den Frauen ergriffen wird.
Gerade in der Krankenpflege erwächst den Männern durch die Frauen keine
Concurrcnz, denn die Thätigkeit der Männer ist auf diesem Gebiete meistens nur
ein Nothbehelf, und auch immer ein so erheblicher Mangel an tüchtigen Pflegern
vorläufig vorhanden, dass der Wettbewerb der Frauen hier für die Männer nicht
von Belang ist. Und es wird auch die Beantwortung jener Frage von verschie-
denen Seiten versucht und iu verschiedener Weise gegeben, ohne dass bis jetzt
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KRANKENPFLEGE.
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eiue befriedigende Lösung dieses für die gesammte sociale Stellung der Frau
wichtigen Verhältnisses vorhanden wäre. Ein erheblicher Theil der socialen Frage
überhaupt harrt hier seiner Lösung. I'nd auch noch in anderer Hinsicht berührt
die Krankenpflege, wie wir sehen werden, bedeutende Theile des socialen Lebens.
Vor Allem gehört, wie Billhoth mit Recht hervorhebt, eine besonders
starke Neigung zu dieser Art praktischer Hilfeleistung. Die Pflegerin muss den
Trieb in sich verspüren, Leidenden wohl zu thun, und zur Erkenntniss gelangen,
dass in dieser Art des persönlichen Wohlthuns eine Quelle höchsten Glückes ge-
legen ist. Diese Neigung muss genügend stark sein, um die Beschwerden, Gemüths-
bewegungen und auch Gefahren des Berufes dauernd zu überwinden. Empfindet
die Pflegerin während der Lehrzeit bei der praktischen Ausübung das Glück ihres
Berufes, und überwindet sie jene unangenehmen Seiten leicht, so soll sic bei dem
Berufe bleiben, aber einen anderen wählen, wenn sie fühlt, dass sic sich über die
Stärke ihrer Neigung getäuscht hat. Billhoth führt ferner an, dass Frauen von
leidenschaftlicher Natur sich nicht zu Pflegerinnen eignen, sondern ruhigere, welche
weniger mit der Bekämpfung ihrer eigenen Empfindungen zu thun haben. Aber
sie dürfen nicht so phlegmatisch und gleichgiltig sein , so langsam denken und
handeln, dass dadurch der Kranke ungeduldig gemacht wird. Der Kranke und
sein Pfleger müssen an einander Wohlgefallen finden, damit der nahe Verkehr,
in welchen beide treten , ein für den Kranken erspriesslicher und segensreicher
wird, was ohne die erste Voraussetzung eine Unmöglichkeit ist. Besonderes Talent
zur Krankenpflege muss vorhanden sein und sich hauptsächlich in guter Beobachtungs-
gabe äussern, ausserdem sind Wahrheitsliebe, Ordnungssinn, zuverlässige Treue
im Berufe, Folgsamkeit gegen die ärztlichen Anordnungen , Fügsamkeit auch in
schwierigen Verhältnissen , Anstand und Sittlichkeit unerlässliche Eigenschaften
einer Pflegerin. Gesundheit ist für den aufreibenden Beruf im Interesse der
Pflegerin, aber auch des Kranken Nothwcndigkeit.
Die Zahlen, welche Cornet für die Tuberkulose in dem Krankenpflege-
ordeit ermittelt hat, sprechen deutlich dafür, dass gerade dieser Krankheit die
Pfleger in erheblichem Masse ansgesetzt sind und daher gute Gesundheit eines
sich dem Pflegerdienste widmenden Individuums als erste Bedingung für den Eintritt
zur Ausbildung angesehen werden muss. Andererseits werden die Ziffern auch
vielfach benutzt, um hcrzuleiten, dass das PflegerperBonal durch schwere Arbeit
und zu häufige Nachtwachen überbürdet und dadurch frühzeitigem Siechthum näher
gebracht wird. Auf diese Verhältnisse wird noch später eingegangen werden
müssen. Von jenen CoitNKT’schen Zahlen seien einige angeführt. Im Jahre 1885
waren in Preusseu 11.048 Krankenpflegerinnen und 3162 Krankenpfleger vor-
handen. Von 38 katholischen Orden, deren Mitglieder nicht zu beliebiger Zeit
anstreten können, sondern stets im Orden bleiben, deren jährliche Durehschnitts-
frequenz 4028 betrug, starben in 25 Jahren 2099, und zwar an Tuberkulose
1320, d. h. i!2-88°/0 aller Gestorbenen. Das Durchschnittsalter dieser betrug nur
36'27 Lebensjahre, die höchste Sterblichkeit war vom 20. 50. Lebensjahre. Die
relative Sterblichkeit der Personen von 15- 20 Jahren in Klöstern übertraf die-
jenige in Preussen um das Vierfache, und die relative Sterblichkeit der Personen
von 20 — 30 Jahren diejenige in Preussen um das Dreifache. Die Sterblichkeit
der Mitglieder von Krankenpflegerorden war im ersten halben Jahre nach der
Aufnahme eine geringe, stieg aber dann sehr bedeutend an, betrug im ersten
Jahrfünft der Thätigkeit ein Drittheil der Gesamnitsterbliehkeit, im ersten Jahr-
zehnt der Thätigkeit verstärken beinahe zweimal so viel als in der ganzen übrigen
Zeit, vom Anfänge des dritten Thätigkeitsjahres erreichte die Tuberkulose ihren
Höhepunkt.
Zur Erhaltung der Gesundheit der Pflegerin gehört grösste Sauberkeit,
welche dieselbe an ihrer eigenen Person und an Allein, was mit dem Kranken in
Berührung tritt, wahrzunehmen hat. Die Pflegerin muss am eigenen Körper im
eigenen und Interesse des Kranken sauber sein und muss diesen und seine ganze
Google
310
KRANKENPFLEGE.
Umgebung, Zimmer, Bett, Kleider u. 8. w. so erhalten. Bewegung in frischer Luft
und Ruhe am Tage nach durchwachter Nacht sind wichtige Erfordernisse. Be-
sonders werthvoll ist es für den Kranken, wenn die Pflegerin eine leichte, sanfte
Hand hat , welche allerdings nicht jedem Menschen gegeben ist , und als eine
selbstverständliche Eigenschaft für jedes Individuum, welches sich mit Kranken-
pflege befasst, ist die Verschwiegenheit anzuschen ; Neugierde und Schwatzhaftigkeit
sind für eine Pflegerin nicht am Platze.
Es erscheint nicht uninteressant, die von Wolff vor mehr als 80 Jahren
als nothwendig für einen Krankenwärter angeführten Eigenschaften aufznzählen:
Man kann diese Eigenschaften in physische und moralische eintheilcn.
Physische sollten folgende sein :
1. Einen gesunden, robusten Körper, weder zu stark, noch zu schwach,
weder zu gross, noch zu klein, keine Fehler au den Gliedmassen oder sonst ver-
borgene Fehler, als Brüche, aus dem Halse riechend u. s. w. Besonders müssen
seine äusseren Sinne, als: Gesicht, Gehör, Geruch, Geschmack und Gefühl, so voll-
kommen als möglich sein. Eine deutliche angenehme Aussprache, nicht zu schnell
oder zu langsam, weder eine zu starke, noch zu leise Stimme, am wenigsten eine
stammelnde Aussprache.
2. Eine gute freundliche Physiognomie. Ob sich gleich hierüber schwer
lieh etwas Bestimmtes sagen lässt, weil eine Physiognomie nicht für alle gleich
behaglich sein kann, so ist doch so viel gewiss, dass mürrische und verdriessliche
Gesichter den wenigsten Menschen behagen werden , am wenigsten aber einem
Kranken.
3. Sein Alter nicht unter 20, noch viel über 50 Jahren.
4. Wachsam, rasch und doch behutsam. Dies mögen die vorzüglichsten
Eigenschaften sein, welche man unter die physischen zählen kann.
Zu den moralischen Eigenschaften gehört zuvörderst:
1. Ein guter Charakter überhaupt.
2. Gelassenheit, Sanftmut!), Theilnahme, jedoch ohne Weichlichkeit, Gut-
müthigkeit und Geduld, Festigkeit, beharrend und doch nachgiebig, standhaft und
doch unerschrocken, Entschlossenheit und Gegenwart des Geistes.
3. Religiös ohne Aberglauben, und tolerant dabei.
4. Ich werde unter dieser Nummer Alles, was ich noch für nöthig halte,
aufnehmen, wenngleich nicht Alles hierher gehören sollte, denn viele Eigenschaften
eines Wärters sind vou der Art, dass ihre Ermangelung wohl Laster heissen
kann, wenn sie bei einem solchen Geschäft gefunden wird, als z. B. die Nüchtern-
heit u. s. w. Er muss sich nicht ekeln oder fürchten , etwa selbst angesteckt zu
werden, sich selbst reinlich halten, damit der Kranke sich nicht scheue, sich von
ihm anfassen zu lassen, er muss nicht schwatzhaft sein und dem Kranken dadurch
lästig werden, besonders muss seine Unterhaltung nicht etwa sein, wie sie nicht
selten bei Kranken zu deren Verderben stattfindet, da man ihnen nämlich Mord-
geschichten oder schreckliche Krankheitsgeschichten erzählt, die ein trauriges Eude
nehmen, und die Kranken in die heftigste Gemüthsbewegung versetzen, oder sie
mit Klatschereien unterhält , und eine gedeihliche Aergerniss dadurch bei ihnen
veranlasst, die sie auf dem allerkürzesten Wege auf den Kirchhof befördert. Der
Wärter muss verschwiegen, nicht geldgeizig, eigennützig, nicht näschig sein, er
muss wenigstens etwas schreiben und lesen können , so wie er überhaupt kein
ganz roher und ungebildeter Mensch sein darf, und selbst Mcnschenkenntniss be-
sitzen muss.
Wer alle diese Eigenschaften mehr oder weniger besitzt, der ist ungefähr
das, was er sein muss, um ein guter Krankenwärter werden zu können. Hiernach
wird man die Subjecte zu suchen haben, die man dazu machen will.
Da ja gerade, wie von allen Seiten anerkannt wird, die Frauen am
meisten mit den für den Pflegerdienst nothwendigen Eigenschaften ausgestattet
sind, so müssen die Gründe, dass sich nicht eine genügende Zahl gebildeter Frauen
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KRANKENPFLEGE.
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diesem Berufe widmet, auf anderem Gebiete liegen. Mathilde Weber hat die-
selben in einer bemerkenswertheu Schrift näher beleuchtet und eine Anzahl von
ürtheilen Uber diesen Gegenstand zusammengestellt. Dieselben beziehen sich auf
die geistlichen und weltlichen Pflegervereine, welche sieh mit der Ausbildung von
Krankenpflegern beschäftigen, nnd geben im massvollcr Weise als Gründe für den
Mangel an Pflegerinnen Ceberbürdung, die untergeordnete gesellschaftliche Stellung
der Schwestern besonders auch den Aerzten gegenüber, die nicht genügende Sorge
für den Fall der Erwerbsunfähigkeit, im Alter und der Invalidität und die zu
sehr hervorgekehrte „fast mittelalterliche religiöse Schroffheit, die ohne Zusammen-
hang mit der eigentlichen Krankenpflege den Schwestern nur um der Selbst-
kasteiung willen peinliche Erschwerungen in einzelnen Mutterhäusern auferlegt“,
au. Von allen angeführten Gründen scheint die noch heute ira gesellschaftlichen
Leben in Deutschland geltende Geringachtung eines Mädchens, welches sich dem
Ptlegerberuf widmet, der wichtigste zu sein. Vielleicht ist der Ausdruck „Gering-
achtung“ ein etwas zu starker. Sicher ist, dass — wenigstens in den breiten Schichten
des gewöhnlichen Bürgerstandes — ein Mädchen, welches Krankenpflegerin wird,
stets mit sonderbaren Blicken betrachtet wird. Auch die Stellung der Pflegerinnen
den Aerzten gegenüber bedarf weiterer Erörterung. Es mögen hier die diesbe-
züglichen englischen Verhältnisse zum Vergleiche herangezogen werden, welche in
einem Aufsatze von W. Croxeb geschildert sind. Kr führt aus: „Aus dem oben Ge-
sagten gebt auch hervor, dass in englischen Krankenhäusern die Wärterinnen
nicht die Herrinnen des Hauses sind, die auch den Aerzten gegenüber ihre Stel-
lung geltend machen. Das Verhältniss zwischen letzteren und den Pflegerinnen
ist vielmehr ein sehr gutes.“ Die Krankenhäuser sind auch zugleich die Lchr-
stätte für die Schwestern, welche sehr häufig den gutsituirten Ständen angehören,
so dass junge Damen aus guten Häusern und mit gutem Auskommen sich dem
Ptlegerberuf widmen. Auch in England werden wie in Deutschland in körperlicher
und sittlicher Beziehung sehr hohe Ansprüche an die PHegersehüleriunen gestellt,
welche in der ersten Zeit alle selbst niedrigsten Arbeiten verrichten müssen.
Während also Weber Urtheile verschiedener Damen anfuhrt, welche über
ihnen von — besonders jungen — Aerzten zu Theil gewordene Behandlung Klage
führen, hat man in ärztlichen Kreisen doch auch häutig Gelegenheit, Beschwerden
über anmassendes Benehmen der Pflegerinnen zu hören. Einzelne Krankenanstalten
sollen sich sogar in dieser Hinsicht ganz besonders auszeichnen. Vorzüglich jenes
Vorurtheil , welches in weiten Kreisen der Gebildeten Deutschlands gegen den
Ptlegerberuf herrscht und welches hauptsächlich darin begründet ist , dass man
eine Pflegerin nur als eine Art von besserer Dienstmagd, welche mit Kranken
umgeht, ansieht, hat dazu geführt, dass beinahe stets nur Frauen einzelner Stände
sich zu Pflegerinnen ausbilden liessen. Erst in den letzten Jahren beginnt, aber
sehr langsam, eiu Umschwung auf diesem Gebiete sich zu vollziehen, und unter
den weltlichen Krankenpflegervereinen sind jetzt gerade gebildete Frauen aus den
besten Gescllschaftsclassen in grösserer Menge vorhanden , ohne dass aber das
Bedürfnis bis jetzt auch nur einigermassen gedeckt wäre.
Als dritter Grund, welcher gebildete Frauen noch vielfach abschreckt,
Pflegerinnen zu werden , wird von einigen Seiten die nicht genügende Sicher-
stellung gegen Arbeitsunfähigkeit, Invalidität nnd Alter angenommen, ln der
bereits mehrfach angegebenen Schrift von Weber findet sich hierfür eine Anzahl
Belegen, aus denen besonders hervorgeht, dass die Aussicht auf Verbleiben in dem
„einförmigen Altersheim“ für einzelne Mädchen, die sich dem Diakonissenberufe
widmen wollen, wenig Verlockendes bietet. Gemberg dagegen hält die sociale
Stellung der Diakonissin für eine sehr ideale. „Bei Hoch und Niedrig steht die
Schwester in Ansehen und Achtung. Jede Sorge für ihr Alter, für ihre Zukunft
ist von ihr genommen.“
Für die in den weltlichen Vereinigungen ausgebildeten und verbleibenden
Pflegerinnen sind bis jetzt auch nicht gerade reichliche Vorkehrungen für Alter
312
KRANKENPFLEGE.
und Invalidität getroffen, während natürlich Privatkrankenpflegerinnen, über
welche noch weiter unten zu berichten »ein wird, auf irgend welche ihnen zu-
stehenden Unterstützungen für den Fall ihrer Erwerbsunfähigkeit mit Ausnahme
der nicht sehr bedeutenden staatlichen Invalidenrente, gar keinen Anspruch haben.
8. J. Wolff bat Vorschläge zur Errichtung und Erhaltung von Pfleger-
anstalten gemacht, welche sich grösstentheils heute in diesen Vereinigungen aus-
geführt linden, und welche daher am besten zum Vergleich hier wörtlich wieder-
gegeben werden :
„Nach diesem theoretischen Unterricht sollten sie nun zur praktischen
Uebung ein Jahr lang in der hiesigen Charite zubringen Nach Vollendung
dieses Jahres zur praktischen Uebung würden solche Subjecte, wenn sie sich
brauchbar bewiesen, erst Krankenpfleger genannt werden und in der Privatpraxis
zu benutzen sein ; sie müssen beständig unterhalten werden, dass sie gemächlich
leben können. Bei den Kranken, wohin sie zur Pflege gesandt werden, bekommen
sie, ausser ihrem Lebensunterhalt, nichts als höchstens ein freiwilliges Geschenk.
Die Bezahlung würde dem Vorsteher des Institutes übergeben , damit er es zur
Unterhaltung und etwa zu einem Unterstützungsfond, wenn die Mitglieder selbst
krank werden sollten, oder Alters halber nicht mehr Dienste leisten können, auf-
sammlc“. Die Mitglieder des Institutes sollen eigene Anzüge tragen, welche mit
Bändern und Schleifen geschlossen werden, nicht mit Knöpfen, um den Kranken
beim Anfassen nicht zu drücken. Die Kleidungsstücke, die „in einer bösartigen
Krankheit gebraucht worden sind“ , dürfen erst nach gehöriger Lüftung und
Reinigung bei der Pflege anderer Kranker gebraucht werden. Die Hauptschwierig-
keit , ein solches Institut einzurichten , scheint Wolff in der Aufbringung eines
Fonds auf die ersten Jahre zu liegen.
Es sollen jetzt die bedeutenderen in Deutschland vorhandenen Vereini-
gungen zur Ausbildung von Krankenpflegern in Kürze hier zusammengestellt
werdeu, deren Einrichtung in ausführlicherer Weise von Gurlt ' Real-Encyclopädie
der gesummten Heilkunde. XI) und Schwalbe (Encyclopädische Jahrbücher. III)
beschrieben ist. Eine der geschichtlich ältesten Vereinigungen, welche sieh mit der
Krankenpflege befassten, ist der Johanniterorden, welcher eine- Anzahl von
Krankenhäusern besitzt und unterhält. Besonders während des Krieges 1870/71
entfaltete der Orden eine segensreiche Thätigkeit. Auch die Malteserritter
thaten sich rühmlich in diesem Kriege hervor und verpflegten eine grosse Anzahl
Verwundeter und Kranker.
Die Thätigkeit des Krieges bildete wohl den Hauptanstoss zur «eiteren
Entfaltung der freiwilligen Krankenpflege. Da ja für einen Krieg niemals die
staatlieh zur Pflege der Verwundeten und Kranken vorhandenen Hilfskräfte aus-
reichen können, so muss private Hilfe eiugreifen , welche jetzt bereits während
des Friedens wohlgeordnet und vorbereitet und nach bestimmten Grundsätzen im
Kriege der Heeresverwaltung zur Verfügung gestellt wird, so dass alles Material von
einem Mittelpunkte aus an die Stellen, wo ein Mangel vorhanden, entsendet werden
kann. Der Organisationsplan der freiwilligen Kriegskrankeupflege ist für Preusseu
durch die Anlage II zur Kriegsetappenordnung vom 3. September 1887 geregelt.
Es erscheint nicht uninteressant, den Aufruf vom 23. März 1813, der
sich in der Nr. 38 vom Donnerstag, den 1. April 1813 der
Berlinische Nachrichten. Von Staats- und gelehrten Sachen.*)
vorfindet und welcher mit einen Anstoss zur Bildung von Vereinigungen für frei-
willige Kriegskraukcnpllege gegeben hat, an dieser Stelle wieilcrzugeben :
Aufruf an die Frauen im Preussiachen Staate.
I»aa Vaterland ist in Gefahr! so sprach der König zu seinen treuen, ihn liebenden
Unterthanen, und Alles eilt herbei, um es dieser Gefahr zu eutreissen. Männer ergreifen das
Schwert, und reissen sich los aus dem Kreise ihrer Familien; Jünglinge entwinden sich der
*) im Verlage der Haude- u. Siiener'schen Buchhandlung.
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KRANKENPFLEGE.
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zärtlichen Umarmung liebender Mütter, und diese — voll edlen Gefühls — unterdrücken die
heilige Muttertbräne. Alles strömt zu den Fahnen, rüstet sich zu dem blutigen Kampfe für
Freiheit und Selbständigkeit; die Flamme, die in dem Busen eines Jeden lodert, sichert den
glücklichen Ausgang. Aber auch wir Frauen müssen mitwirken . die Siege befördern helfen,
auch wir müssen uns mit den Männern und Jünglingen einen, zur Rettung des Vaterlandes.
Darum gründe sich ein Verein, er erhalte den Namen:
Der Fr auen- Verein zum Wohle des Vaterlandes.
Gern stellen Wir uns, die Wir dem Vaterlande angehören, an die Spitze dieses
Vereines. Wir hegen das feste Vertrauen, es wollen die edelmüthigen Frauen und Töchter jedes
Standes mit Uns dazu beitragen, dass Hilfe geleistet werde den Männern und Jünglingen, die
für das Vaterland kämpfen, damit es wieder in der Reihe der glücklichen Staaten stehe, in
welcher der Friede seine Segnungen ausströmen könne.
Zu diesem Zweck wird gegen eine mit einem Siegel versehene und von Einer Com-
mission, welche wir ernennen werden, Unterzeichnete Quittung in einem Locale, welches noch
näher angezeigt werden wird, jede Gabe, jedes Geschenk nicht nur dankbar angenommen,
sondern auch gesammelt, verzeichnet, in einem der Tugend und Vaterlandsliebe geheiligten
Blatte genannt und wöchentlich aufgeführt werden.
Diese Gaben und Geschenke geben fortan das Recht, sich Theilgenossin des Frauen-
Vereines zum Wohle des Vaterlandes zu nennen, und vorzugsweise das zur Ausrüstung vor-
zustellende Individuum der Commission zu empfehlen.
Nicht blos baares Geld wird dieser Verein, als Opfer dargebracht, annehmen, sondern
jede entbehrliche werthvolle Kleinigkeit, — das Symbol der Treue, den Trauring, die glän-
zende Verzierung des Obres, den kostbaren Schmuck des Halses. Gern werden monatliche Bei-
träge, gern Materialien, Leinwand, gesponnene Wolle und Garn angenommen und selbst unent-
geltliche Verarbeitung dieser rohen Materialien als Opfer angesehen werden.
Alles , was auf diese Weise gesammelt wird, gehört dem Vaterlande. Diese Opfer
dienen dazu, die Vertheidiger, die es bedürfen, zu bewaffnen, zu bekleiden, auszurüsten, und
wenn die reiche Wolilthätigkeit der Frauen Uns in den Stand setzt, noch mehr zu thun, dann
sollen die Verwundeten auch gepflegt, geheilt und dem dankbaren Vaterlande wiedergegeben
werden, damit auch von un>erer Seite erfüllt werde das Grosse, das Schöne, damit das Vater-
land, das in Gefahr ist, auch durch unsere Hilfe gerettet werde, sich neu gestalte und durch
Gottes Kraft aufhlühe.
Marianne, Prinzessin Wilhelm von Prenssen.
Wilhelm ine, Prinzessin von Oranien.
Auguste, Kurprinzessin von Hessen.
W i 1 h e 1 n> i n e , verwitwete Prinzessin von Oranien.
Prinzessin Ferdinand von Preusseo.
Louise, Prinzessin von Preussen-Radziwill.
Louise, verwitwete Erbprinzessin von Braunstliweig.
Carolina, Prinzessin von Hessen.
Marie, Prinzessin von Hessen.
Berlin, den 23. März 1813-
Auf Grundlage des in jenem Aufrufe genannten Vereines entstanden
285 Vereine, deren Mitglieder sich mit Aufopferung einer hingebenden Thiitig-
keit unterzogen.
In einem zweiten Aufrufe, welcher einige Tage später, iu der Nr. 41
vom Dienstag, den 6. April 1813 der genannten Zeitung sich veröffentlicht findet,
wird zur Beisteuer zu einer Verpflegungsanstalt für Verwundete aufgefordert:
Unter dem höchsten Schutze in der obersten Leitung Ihrer Königlichen Hoheit der
Prinzessin Wilhelm von Preusseo und unter dem erhabenen Beistände Ihrer Königlichen Ho-
heiten der übrigen Prinzessinnen des Königlichen Hauses haben sich mehrere Frauen in Berlin
zu Errichtung einer Verpflegsanstalt für die kranken und verwundeten Krieger vereinigt.
Die Verpflegung geschieht in einem besonders dazu eingerichteten Verpflegungshaose.
Die Zahl der Aufzunehmenden wird auf 40 gesetzt. Die Anstalt wird durch mehrere Aerzte
Berlins besorgt. Zwei Vorsteherinnen w« rden im Hause wohnen und die ökonomischen Ange-
legenheiten desselben besorgen. Zwei andere werden den ganzen Tag gegenwärtig sein und
darüber wachen , das» die Kranken nicht blos die nöthigen Arzneien und Nahrungsmittel,
sondern auch Alles, was zu ihrer Erquickung gereicht, erhalten.
Dringt die Armee so weit vor, dass die Verwundeten und Kranken nicht mehr nach
Berlin gebracht werden können, so wird man dafür sorgen . dass die eingesendeten Gelder an
einem anderen, der Armee näher belegencn Orte zu ihrer Verpflegung verwendet werden. Die
Bedürfnisse einer solchen Anstalt sind gross. Man wünscht ihre Dauer gesichert zu sehen und
bittet deswegen um 8ubscription zu monatlichen Beiträgen. Diese werden nicht eher ein-
gesendet, als bis die Anstalt zu Stande gekommen ist, dann aber ersucht man um jedesmalige
Vorausbezahlung auf zwei Monate. Man unterzeichnet sich mit Angabe der Wohnung beim
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KRANKENPFLEGE.
Herrn Commerzienratho Matzdorff unter der Stechbahn, auch ist der Herr Hofprediger
Elirenberg, Oberwallstrasai' Nr. 7, der Buchhändler Reimer in der Realschul-Bnclihandlung.
Kochstras.se Nr. 16, erbötig. Subscriptionen anzunehmen
Die Söhne des Vaterlandes kämpfen für Freiheit, Ehre und Glück, für jedes Ein-
zelnen Wohl. Das Geringste, was die Zurückhleihenden für sie tliun können, ist, denen, die für
Alle bluten, Erleichterung, Erquickung und liebreichen Beistand zu verschaffen. Väter, Mntter,
Schwestern, welch ein Trost für Euch, wenn für die leidenden Söhne und Brüder so gesorgt
wird, wenn eine sanfte Hand die schmerzende Wunde verbindet, die Schwachen unterstützt
und aufrichtet. Eilet zu geben, was Ihr vermögt. Die Zeitgenossen werden Euch segnen ; Euer
schönster Lohn wird der stille Dank des geretteten Bruders sein.
Marianne, Prinzessin von Preussen, als Obervorsteherin.
Auguste, Kurpriuzessin von Hessen.
Wilhelm ine, Prinzessin von Oranien.
Wilhelmine, verwitwete Prinzessin von Oranien
Louise, verwitwete Erbprinzessin zu Braunschweig.
Louise, Prinzessin von Prenssen-Radziwill.
Mehr als 50 Jahre später, im Februar 1864, begründeten die Nach-
kommen jener Krauen und Männer den Preussischcn Verein zur Pflege
im Felde verwundeter und erkrankter Krieger, und am 20. April 1869
einigten sich die unter verschiedener Bezeichnung bestehenden Landesvereine
dahin, ihre gemeinsamen Angelegenheiten durch das Central-Comit6 der
Dcntschen Vereine vom Kothen Kreuz besorgen zu lassen. Als gemein-
schaftliche Aufgabe wurde bezeichnet:
1. Durch ihre Thiitigkeit und ihre Mittel die fllr einen Kriegsfall zur
Aufnahme, Pflege und Heilung der im Felde Verwundeten und Erkrankten
geeigneten Einrichtungen an Personal und Material vorbereitend zu vervollkommnen
und zu verstärken und
2. bei ausbrccheudem Kriege die militärischen Sanitätsbehörden und
Anstalten mit allen ihnen zu Gebote stehenden Kräften und Mitteln zu unterstützen.
Das Central Comit6 verfügte 1894 neben den Leistungen der Vereine auf
dem Gebiete der freiwilligen Krankenpflege und persönlichen Hilfeleistungen über
1402 Pflegerinnen und 251 Pfleger, welche von Vereinen und Körperschaften
ausserhalb der Organisation auf besondere Verpflichtung gestellt werden. Hierzu
kommen (für 1895) 5276 Mitglieder der Genossenschaft freiwilliger Krankenpfleger
im Kriege, von denen 1529 in der Verwundeten- und Krankenpflege vollkommen
ausgcbildet sind , und die Mitglieder der Sanitäts-Colonnen der Kriegervereine.
Die Gesammlzahl der Sanitäts-Colonnen betrug Anfang 1895 in Preussen 319 mit
4126 zur Verfügung des Ceutral-Comitös stehenden Mitgliedern; in den anderen
deutschen Ländern waren 1118 Colonnen mit 1805 verfügbaren Mitgliedern.
Von den übrigen Verbänden ist zu erwähnen der am 12. April 1867
errichtete Preussisohe Vaterländische Frauenverein, welcher in Verbin-
dung mit und als Bestandteil des Prenssischen Vereines zur Pflege im Felde
verwundeter und erkrankter Krieger im Kriege seine Fürsorge auf die im Felde
Verwundeten und Erkrankten richtet, im Frieden bei der Linderung ausserordent-
licher Nothstände Hilfe leistet und durch Ausbildung von Pflegerinnen, Sorge für
Krankenhäuser die Krankenpflege fördert.
ln den ausserpreussischen Landestheilen sind folgende Vereine vorhanden:
der Bayerische Frauenverein, der sächsische Albertverein, der Württem-
bergische Wohl t hätigk eits verein, der Badische Fr auen verein , der Hessische
Alice- Frauen verein , der Frauenverein für das Grossherzogthum
Sachsen- Weitn ar Eisenach, der Mecklenburgische M arien -Fra uen verein,
welche am 12. August 1871 in Würzburg zum
Verband der Deutschen Fraucn-Hilfs- und Pflegevereine
zusammentraten;
der Frauen- Lazareth verei u zu Berlin, welcher, seit 1866 bestehend,
im Kriege die Militärverwaltung in der Pflege verwundeter und erkrankter Krieger
unterstützt, im Frieden freiwillige und bezahlte Pflegerinnen ausbildet, haupt-
sächlich das am 6. April 1870 eröflnete Augusta-llospital verwaltet;
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KRANKENPFLEGE.
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das am 1. Januar 1863 begründete Victoriahaus in Berlin. Die
Anstalt bezweckt Ausübung der Armenkrankenptiege und der Hospitalpflege. Die
Ausbildung der Pflegerinnen, welche in den städtischen Krankenhäusern, in der
chirurgischen und Universitäts-Frauenklinik und mehreren anderen Anstalten in
Berlin und auch ausserhalb der Hauptstadt thätig sind, geschieht zum Theil im
städtischen Krankenhaus in Friedrichshain , wo ein besonderes Pflegerinnenhaus
vorhanden ist. Die Anregung zur Errichtung dieser Anstalt wurde von Rudolf
VlRCHOW gegeben, welcher empfahl, in dem neuen im Oetober 1874 eröffneten
städtischen Krankenhause (am Friedrichshain) Einrichtungen zu schaffen, um die
Krankenpflege entsprechend den modernen Formen des Oesellschaftslebcns in
weltliche Formen einzuführen, den grössten Theil der Krankenpflege in weibliche
Hände zu legen und das für diesen Zweck nothwendige Personal selbst auszubilden.
Um für die ganze Stadt eine genügende Zahl von Pflegerinnen zu erhalten, sollte,
da diese nur in einem grösseren Krankenhause auszubilden seien, eine Schule für
Pflegerinnen bei dem neuen Krankenhause eingerichtet werden. Der erste Curaus
fand 1877 statt. Das Viktoriahans wurde am 1. Januar 1883 begründet. Die
Oberin dieser Anstalt ist gleichzeitig Oberschwester in Friedrichshain und Vor-
gesetzte der daselbst beschäftigten Victoriaschwestern.
Im städtischen Krankenhause Moabit werden augenblicklich Schwestern
ansgebildet, damit in späterer Zeit der Bedarf an Pflegerinnen in den städtischen
Krankenanstalten mit „Städtischen Schwestern“ gänzlich gedeckt werden kann.
Der Hilfsschwesternverein zu Berlin wurde 1875 von der Gräfin
Rittberg, welche vor wenigen Wochen aus dem Leben geschieden, begründet.
Die Stiftung stellt sich die Pflege von Kranken ohne Unterschied des Standes und
der Confession zur Aufgabe. Arme werden unentgeltlich gepflegt. Ein Curatorium,
welches aus vier bis acht Herren und der Oberin des Vereines besteht, vertritt
die Stiftung. Der Stiftung wurden 1882 die Rechte einer juristischen Person ver-
liehen. Am 22. September 1886 wurde das Schwesternheim in Neu-Babelsberg für
invalide Schwestern des Vereines eingeweiht. In den Verein werden nur ausge-
bildete Pflegerinnen nach einer Probezeit von sechs Monaten aufgenommen.
Das Märk ische Hans für Krankenpflege in Berlin bezweckt eine
möglichst grosse Zahl von Pflegerinnen auszubilden, dieselben in einem geschlossenen
Verbände zusammenzulialten und der Bevölkerung aller Confessionen und Stände,
jedes Altera und beiderlei Geschlechts zur Verfügung zu stellen, der Regel nach
gegen Entgelt, nöthigenfalls aber auch ohne Entschädigung Die Tbätigkeit der
Schwestern bleibt auf die Krankenpflege beschränkt, kann jedoch bei der ärmeren
Bevölkerung auf eine gleichzeitige Unterstützung in der Führung des Haushaltes
ausgedehnt werden. Die Pflege in Krankenhäusern und Kliniken wird nur dann
von der Schwesternschaft übernommen, wenn diese Anstalten zugleich als Schule
für die Pflegerinnen dienen. Ihre Ausbildung findet im städtischen Krankenhause
in Hirechbcrg in Schlesien statt, jedoch werden auch bereits ausgebildete Pflege-
rinnen aufgenommen. Letztere heissen Probeschwestern , erstere Schülerinnen,
während die Schwestern die nach Beendigung der Lehr- oder Probezeit Ange-
stellten sind. Invalide Schwestern erhalten eine Pension, indem die ausgebildeten
Schwestern bei der Kaiser Wilhelmsspende mit Vorbehalt der Rückzahlung der
Einlage für den Fall , dass eine Schwester vor dem Bezüge einer Rente stirbt
oder lebend ausscheidet, eingekauft werden. Im Jahre 1891 hatten auf der Krankeu-
abtheilung des Instituts für Infectionskrankheiten zu Berlin Märkische Schwestern
die Pflege übernommen, schieden aber zu Ende des Jahres aus dem Dienste aus,
um sich der Privatkrankenpflege zuzuwenden.
Ausser diesen sind noch mehrere andere weltliche Krankenpflegervereine
und Genossenschaften vorhanden, welche besonders Krankenpflegerinnen für private
Pflegen an Familien stellen.
Die katholischen Orden batten 1885 in Deutschland in 710 Nieder-
lassungen 5470 barmherzige Schwestern und 383 barmherzige Brüder.
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KRANKENPFLEGE.
Die evangelischen Diakonissen and Diakone haben in Deutschland ihre
bedeutendste Verbreitung. Die erstcren verrichten nicht alle Dienste als Kranken-
pflegerinnen, sondern auch als Lehr- und Missionsschwestern.
Der rhcinisch-westphälische Diakonissenverein, die wichtigste Diakonissen-
anstalt zu Kaiserswerth, hat nach § 1 seiner „Grundgesetze, auf Grund deren er
laut Cahinetsordre vom 20. November 1846 die Rechte einer moralischen Person
erhalten hat. den Zweck: „zum Diakonissenamtc im apostolischen Sinne
evangelische Christinnen zu bilden und dieselben zur Pflege von Kranken, Armen,
Kindern, Gefangenen, entlassenen Sträflingen und ähnlichen Hilfsbedürftigen, zu-
nächst in den rheinisch-westphälischen Provinzen, zu verwenden.“ Es ist also sein
Bestreben, die vielfach brach liegenden weiblichen Kräfte zu allgemeinem Nutz
und Frommen in den Dienst der evangelischen Gemeinde zu ziehen. Die Liebea-
arbeit der Diakonissen erstreckt sich ohne Unterschied auf Hilfsbedürftige aller
Confessionen, soll aber nicht Angehörige andererer Confessionen zu Proselyten der
evangelischen Kirche machen. Kein Gebiet menschlicher Noth, auf welchem weib-
liche Kräfte überhaupt helfen können, ist von der DiakoniBsenarbeit ausgeschlossen.
Der Natur der Sache nach theilt sie sich in zwei Hauptgebiete, in die Pflege
Kranker und Armer, und den Unterricht und die Erziehung von Kindern. Anf
dem erstcren arbeiten die Pflege-, auf dem anderen die Lehrdiakonissen.
Der Verein steht unter der Obhut der rheinischen und der westphälischen
Provinzialsynode, deren Präsides oder Assessoren als solche Glieder des Vorstandes
sind. Unter den Vorstandsgliedern muss sich stets ein praktischer Arzt befinden.
Der Vorstand vertritt den Verein nach aussen und übt alle seine Rechte ans.
Unter ihm wird das ganze Werk von der „Direction der Diakonissenanstalt“ ge-
leitet, d. h. von dem Inspector, der ein evangelischer Geistlicher ist, und der
Vorsteherin , welche beide von dem Vorstand des Vereines ernannt werden und
ihr Amt laut einer ihnen vom Vorstand ertheilten Dienstanweisung verwalten.
Ankäufe und Veräusserungen von Grundstücken, Neubauten, Anstellung von
Beamten, Uebernahme neuer oder Kündigung alter Arbeitsfelder, sowie alle nene
Einrichtungen unterliegen der Entscheidung des Vorstandes. Der Pastor (Inspector)
und die Vorsteherin sind die Hauseltern für alle Diakonissen. Unter ihnen aber
hat sowohl das Mutterhaus, wie jedes Toehterhans oder sonstiges Arbeitsfeld seine
vorstehende Diakonissin, die iudess auch nur Schwester, nicht Oberin genannt wird,
weil man sie wie die ältere Schwester in einem Familienkreise ansieht. Sie leitet
nach einer Dienstesanweisung und einer bestimmten Haus- und Tagesordnung die
ihr anvertrante Anstalt oder Station, so dass das grosse Ganze sich in mehrere
selbständige Familien oder Haushaltungen gliedert und doch von einem Geiste
beseelt bleibt.
Zur Uebernahme des Diakonissenberufeg im Dienste des Vereins sind nur
Jungfrauen und kinderlose Witwen evangelischen Glaubens, christlichen Sinnes und
sittlichen Wandels fähig, welche das 18. Lebensjahr zurüeklegt und das 40. nicht
überschritten haben. Der Uebernahme des Diakonissenamtes geht eine nach An-
lagen, Kenntnissen und Erfahrungen verhältnissmässig kürzere oder längere Probe-
zeit vorher, bei welcher der frühere Bildungsgang, Anlage und Fähigkeit jeder
einzelnen gewissenhafte Berücksichtigung findet. Durchaus freie Selbstbestimmung
und schriftliche Einwilligung der Eltern oder Vormünder ist Grundbedingung der
Aufnahme in die Probezeit.
Um den neuankotnmenden Schwestern in unserem grossen Anstaltswesen
das verlassene Familienleben einigermassen zu ersetzen, wohnen, essen und schlafen
sie anfangs in der sogenannten Vorprobe in einem kleineren, trauten Kreise unter
einer älteren Diakonisgin als ihrer mütterlichen Freundin zusammen , bis sie in
dem neuen Boden Wurzel geschlagen haben und unter uns heimisch geworden
sind. Die praktische und theoretische Vorbildung der Probeschwestern geht Hand
in Hand. Sie werden in ihrer christlichen Erkcnntuiss vertieft und zu allen techni-
schen Fertigkeiten des Berufes augeleitct. Freiwillige Liebe ist die Triebfeder,
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KRANKENPFLEGE.
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wodurch jede einzelne dein grossen Anstaltsorganismus gehorsam und willig sich
eingliedert. Besondere Geheimmittel oder methodistische Veranstaltungen, den Willen
zu brechen und das GemUth gefügig zu maeben , von denen vielleicht gefabelt
wird, existiren nicht und taugen auch nicht. Eine Probeschwester, welche durch
den Geist der Kraft und Liebe und Zucht sieh nicht regieren lässt , würde, als
für das Diakonissenamt nicht geeignet, von uns scheiden müssen. Hat sie dagegen
im Mutterhaus angefangen, sich zu bewähren, so wird sie zu weiterer und all-
seitiger Ausbildung, zunächst versuchsweise, auf verschiedene auswärtige Arbeits-
felder gesandt, wo sie beweisen muss, dass sie durch ihren Glauben und ihre Liebe
inneren Halt genug hat, um auch fern vom Mutterhaus würdig ihres Berufes zu
wandeln. Vor der Aufnahme in den Kreis der eingesegneten Schwestern werden
alle in Kaiserswerth anwesenden Diakonissen um ihre Einwilligung gefrngt. Sie
haben das Recht, sich mit Gründen gegen die Aufnahme zu erklären. Bei der
Einsegnung in das Amt giebt die Diakonissin das Versprechen, die Pflichten des
Amtes treu, in der Furcht Gottes und nach seinem heiligen Wort zu erfüllen. Ein
Gelübde findet nicht statt. Mit vollster Freiheit kann jede Diakonissin zur Pflege
alter, kranker Eltern zurückkehren, wenn diese es als nothwendig verlangen, auch
jederzeit in die Ehe treten. Nur wird erwartet, dass sie vor einem bindenden
Verlöbnisse dem Mutterhause offene Mittheilung macht.
Jede Diakonissin ist dem betreffenden Arzte in allen medicinischen, chirur-
gischen und diätetischen Vorschriften pünktlichsten Gehorsam schuldig. Bei
Männerkranken übernimmt sie nur diejenigen Pflegeacte, welche für ihr Geschlecht
sich geziemen, weshalb ihr ein Hilfswärter beigegeben wird. Bei Sectionen von
Leichen ist sie nicht zugegen. — Wie die Diakonissin die Helferin des Arztes
in den leiblichen Bedürfnissen des Kranken, ist sie die Gehilfin des geordneten
Pfarramtes in den geistlichen Bedürfnissen der Pflegebefohlenen. Wenu ein Kranker
geistlichen Trost von Seiten der Diakonissin nicht wünscht, so hat diese die Weisung,
ihren Glauben ohne Worte durch den Wandel zu beweisen.
Die Diakonissin verwaltet ihr Amt unentgeltlich. Sie erhält aber vom
Mutterhause Nahrung und Amtskleidung; zur Anschaffung der nothwendigen, nicht
zur Amtstracht gehörigen Kleidungsstücke empfängt sie ein kleines Taschengeld.
Persönliche Geschenke von Pflegebefohlenen nimmt die Diakonissin nicht an. Bei
Arbeitsunfähigkeit wird sie im Falle der Mittellosigkeit vom Mutterhause verpflegt,
zu welchem Zwecke schon frühe das Feierabendhaus gegründet ward.
Jede Diakonissin behält vollständig freie Verfügung über ihr Privatver-
mögen , welches nach ihrem Tode auf die rechtmässigen Erben übergeht. Mit
ihren Angehörigen bleibt die Diakonissin in freier Verbindung. Alle zwei bis drei
Jahre erhält sie vom Mutterhause die Mittel, zu den Ihrigen, namentlich zu den
Eltern, zu reisen.
Jede Diakonissin übernimmt freiwillig den Arbeitsposten, welcher ihr vom
Mutterhanse angewiesen wird. Bei ansteckenden Seuchen wird sie gefragt, ob sie die
gefahrdrohende Arbeit übernehmen wolle. Es muss constatirt werden, dass noch keine
unserer Diakonissen gezagt hat, bei ansteckenden Krankheiten ihre Hilfe anzu-
bieten. Zur Pflege Geistes- und Gemlithskranker wird keine Diakonissin bestimmt,
welche Bedenken tragen sollte, auf diesem Gebiete thätig zu sein : ebenso wird
keine Diakonissin ohne ihre freie Zustimmung und die Erlauhniss der Eltern in
das Ausland gesendet. Als Lehrdiakonissen werden nur diejenigen ausgebildet,
welche sich zum Unterrichten und Erziehen selbst berufen fühlen“.
Nach der statistischen Aufnahme am X. April 1887 befanden sich im
Deutschen Reich 5450 staatlich geprüfte Heilgehilfen, 1614 männliche Kranken-
pfleger und 12.1*71 Krankenpflegerinnen, von denen 10.544 geistlichen Genossen-
schaften angehörten ; ausserdem wurden 36.046 Hebammen gezählt.
Eine neue Vereinigung, welche die oben erwähnten Nachtheile der bis
berigen Krankenpflegeverbände in glücklicher Weise zu vermeiden sucht, und deren
Satzungen und Einrichtungen in vielen Stücken erheblich von denen der anderen
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KRANKENPFLEGE.
Verbünde ab weichen, ist der Evangelische Diakonie verein zu Elberfeld, an
dessen Spitze der bereits genannte Prof. Zimmer (Herborn) steht. Er erkannte mit
richtigem Blick, dass sowohl für den Kranken, die Krankenanstalten, wie für den
Arzt und die Kirche gute Krankenpflegerinnen von entscheidender Bedeutung sind,
wie er dieses in einem Aufsätze: „Wie gewinnen wir gebildete Krankenpflege-
rinnen ?“ treffend auseinandergesetzt. Er suchte durch eine geschickte Vereinigung
des kirchlichen mit dem weltlichen Elemente in seinem Krankenpflegerverbande
allen den Interessen zu genügen , welche in den bisher bestehenden Kranken-
pflegegenossenschaften anscheinend nicht genügend berücksichtigt waren.
Die Interessen des „Verein zur Sicherstellung von Dienstleistungen der
evangelischen Diakonie, e. Gen. m. b. H.u, wie derselbe mit vollem Namen be-
zeichnet wird, befinden sich nicht im Widerspruch mit den Interessen der die
Schwestern anstellenden Krankenanstalten, Kirchengemeinden oder Einzelpersonen.
Die Ausbildung der Schwestern geschieht nicht in eigenen, selbständigen, sondern
in vorhandenen Krankenhäusern. Der Verein w urde am 11. April 1894 in Ellier-
feld begründet und besitzt einen Vorstand und Aufsichtsratb.
Das Töchterheim des evangelischen Diakonievereines will Töchter ge-
bildeter Stände zu sittlich und wirthschaftlich selbständigen Persön-
lichkeiten heranbilden. „Unsere Töchter müssen mit klarem Bewusstsein zu
sittlicher und wi rt hschaftlicher Selbständigkeit erzogen werden nach
den Grundsätzen : „Jeder Mensch, auch die unverheiratete Frau, muss einen Beruf
haben11 und : Mädchen müssen so erzogen werden, dass sie tüchtige Hausfrauen
und Mütter sein können, aber auch zu selbständigem Berufsleben befähigt sind.“
Hoffentlich gelangen diese Grundsätze in allen Bevölkerungskreisen zur Aner-
kennung und Durchführung, ln Folgendem sollen die Ziele und Zwecke der Anstalt
genauer dargelegt werden.
Das Institut erstrebt eine Sicherstellung von Dienstleistungen der ev. Diakonie. Die
Genossenschaft will durch ihre Veranstaltungen sichern (§. 11 der Vereins- Statuten)
1. „allen ihren Mitgliedern für den Krankheit*- oder sonstigen Bedürfnisslall die
Dienste zuverlässiger und geschulter evangelischer Pflegerinnen);
2. denjenigen ihrer Mitglieder, die als Pflegerinnen) der Genossenschaft ihren Beruf
in dem evangelischen Sinne dienender, barmherziger Liebe, ohne Eigennutz, Selbstgefälligkeit
und Unduldsamkeit nach dem Beispiele des barmherzigen Samariters üben, gesicherten Lebens-
unterhalt, Pension und in Kranklieits- oder sonstigen Bedürfnissfällt-n als Berechtigung anzu-
sprechende Unterstützung.“
Dem ersteren Zwecke dient die Gewinnung, Ausbildung und Tüchtigerhaltung ge-
eigneter Kräfte, dem zweiten die genossenschaftliche Organisation derselben mit ihrem ideellen
und materiellen Rückhalt.
I. Gewinnung und Ausbildung für Diakoniedienste.
Die Diakonissenhäuser haben im letzten Jahrzehnt etwa dieselbe Zahl an Schwestern
erreicht, zu der vorher ganze vier Jahrzehnte erforderlich waren. Das ist ein grossartiger
Aufschwung. Und doch steht die Zahl der vorhandenen Diakonissen in gar keinem Verhältnis»
zu dem Bedürfnisse. Das ist Thatsache. Und es ist ferner Thatsache, dass es wesentlich die
Organisation des Mutterhauses ist, in die so viele, sonst für dienende Liebesthätigkeit wohl
geeignete und bereite Jungfrauen sich nicht finden können. Es ist nicht der religiöse Ernst
der Diakon issenhänser. an dem man sich im allgemeinen stüsst ; im Gegeotheil, die interkon-
fessionellen Vereine gestalten sich in Wirklichkeit immer mehr in religiös bestimmter Richtung
aus. einfach weil die tägliche Pflege von Kranken und Sterbenden nothwendig das religiöse
Empfinden wachruft. Aber die mit der Mutterhausorganisation nothwendig verbundene Be-
schränkung der Bewegungsfreiheit und Selbständigkeit findet Widerspruch; je grösser die
Mutterhäuser werden, je weniger also sie ihrem Vorbilde, der Familie, gleichen, um so mehr
wird diese Eigentümlichkeit von vielen als ein Mangel empfunden, über dem man daa gross-
artige Verdienst dieser Häuser, die Krankenpflege zur Diakonie, zu wirklicher Liebesthätigkeit
erhoben zu haben, oft ganz vergisst. Das ist bedauerlich, aber es ist eine Thatsache, mit deT
man rechnen muss.
Hier ist nun der Ev. Diakonieverein eingetreten, nicht als Gegner der bestehenden
Mutterhäuser — dies wäre Wahnsinn und Verbrechen zugleich — , sondern zu ihrer Ergänzung
und Entlastung. Wir suchen die Kreise, bei denen die Mutterhäuser im grossen Ganzen ver-
geblich angeklopft haben, in einer ihnen vielleicht zusagenderen Weise für die Diakonie zu
gewinnen und in derselben tüchtig zu erhalten. Dies ist in erfreulicher Weise gelungen Wir
haben mehr Anmeldungen, und die in unsere Anstalten Aufgenommenen haben sich bisher besser
oogle
KRANKENPFLEGE.
319
bewährt, als wir je zu hoffen gewagt hätten. Dabei sind die Anforderungen in unseren Anstalten
für Erlernung der Krankenpflege nicht geringe, nicht blos im Interesse der Krankenpflege
selbst, sondern anch im Interesse der Ausbildung zur Pflegerin; denn gründliche Ausbildung
fängt von der Pike an, wenn sie auch natürlich nicht bei der Pike bleibt. Und gründlich
muss und soll die technische Ausbildung unserer Schwestern werden; sie kann es aber um so
mehr sein, je mehr sie in die volle Arbeit einführt.
Gewinnung und Ausbildung geeigneter Kräfte für die Diakonie ist die erste Bedingung,
soll der Ev. Diakonieverein seinen Mitgliedern für den Krankheit«- oder sonstigen Bedürfnissfall
die Dienste zuverlässiger und geschulter Pflegerinnen) sichern.
Die gewonnenen und ausgebildetcn Persönlichkeiten sind ferner, wenn sie in den
Schwesternverband eintreten, verpflichtet, gegen Entgelt im Allgemeinen nur bei Mitgliedern
der Genossenschaft Pflege anszuüben ; im Einzelnen muss ihnen natürlich die volle Freiheit
bleiben, innerhalb dieser Schranken ihre Arbeit zu thnn nach ihrer eigenen Wahl. So weit
als möglich sind damit den Interessenten die persönlichen Kräfte gesichert.
II. Die Tüchtigerhaltung im Di ako n ie d i en st.
Der grösste Beweis für die Tüchtigkeit der Leistungen der Mutterhäuser ist es, dass
es in weiten Kreisen kaum für möglich angesehen wird, ausserhalb des Mutterhaus- Verbandes
wirklich Diakonie zu üben. Man stellt gern den den Mutterhäusern angehürigen, „ohne Entgelt“
arbeitenden Schwestern die ..Lohn Wärterinnen“ gegenüber. Aber jeder Arbeiter ist seines Lohnes
werth. auch wenn er die Arbeit ganz ohne Rücksicht auf Gewinn, nur aus barmherziger
Liebe gethan hat, und auch in den Mutterhäusern wird die Arbeit, wie es Pflicht ist, gelohnt.
Nicht, wie man oft zu denken scheint, die geringe Bezahlung macht die Krankenpflege zur
Diakonie, sondern das Herz, mit dein dieselbe geübt wird. Das Herz aber können Institutionen
nicht machen und nicht umwandcln. Auch die Diakonissinnen bleiben Menschen ; das wissen
sie selbst gar wohl Ist nach dieser Richtung ein Unterschied zwischen Mutterhäusern und
uns. so ist es der, dass dort mehr der Gehorsam, bei uns mehr die Selbstentacheidung und
Selbstverantwortlichkeit betont, und dass in den Diakonissenhänsern der Glaube von vornherein
gefordert, von uns mehr gesucht, von beiden Seiten aber gefördert wird. Liebe kann hier
wie dort und dort wie hier gedeihen. Denn sie wird gedeihen, wo irgend Menschen sind, die
die ewige Liebe an sich erfahren, die Liehe, die den Sünder sucht und zurechtbringt,
mag man nun von diosem Glauben des Herzens gern fröhlich in grösserem Kreise Zengniss
ablegen oder ihn lieber still in seines Herzens Schrein verschliessen und ihn nur durch Thaten
der Liebe bekunden.
Allerdings ist die Stellung der Krankenpflegerin, wenigstens in der Form der freien
Privatpflege, so mannigfach gefährdet, dass ein Vergleich mit der durch amtliche Anstellung
nach innen und aussen gesicherten Lehrerin nicht Stich hält. Die alleiustehenden Pflegerinnen
haben und empfinden am lebhaftesten selbst das ßedürfuiss, einem grösseren genossenschaftlichen
Ganzen, das sie trägt, anzugehören, nicht blos. um sich materiell sicher zu stellen, sondern
auch um sich innerlich tüchtig zu erhalten.
Diesem Zwecke soll der Sch Western verband des Ev. Diakonievereins dienen. Ihm
fehlt allerdings der örtliche Mittelpunkt des „Mutterhauses“, welcher durch die Ausbildungs-
stätte nur theil weise ersetzt werden kann. Aber die Gemeinsamkeit der religiösen Grundlage
des Bildungsgrades, der Ausbildung, des Berntes und der Selbständigkeit im Beruf, ganz zu
geschweigen der Gemeinschaft der materiellen Interessen, wird aller Psychologie und Geschichte
nach genügen, den genossenschaftlichen Geist zu schaffen, der doch auch in den Mutterhäusern
das eigentlich Tragende ist, und der durch regen persönlichen und brieflichen Verkehr
gepflegt werden wird.
III. Die Sicherstellung im Diakoniedienst.
Wiederholt Lst an uns die Frage gestellt worden, ob wir den von uns ausgebildeten
Krankenpflegerinnen etc. dauernde Arbeit nnd lebenslängliche Versorgung verbürgen können?
Die Antwort darauf giebt die einfache Erwägung unserer Organisation. Das Diakonie-Seminar
ist lediglich eine Ansbildungastätte ; es kann seine Schülerinnen wohl empfehlen, wenn es sie
als empfehlenswert h gefunden hat, aber anstcllen kajin es sie so wenig, wie ein Lehrerinnen-
Seminar die von ihm aasgebildeten Lehrerinnen anznstellen vermag. Auch der Diakonie-Verein
kann keine Anstellung gewährleisten; denn er unterhält keine eigenen Krankenhäuser u. dgl.,
sondern ist lediglich der ehrliche Makler zwischen zwei auf einander angewiesenen Bedürfnissen,
indem er vermittelt, dass diejenigen, die Pflegerinnen etc. bedürfen, wie Krankenhäuser, Asyle.
Kindergärten, Gemeinden, Private, mit denjenigen, die Diakoniodienste tüchtig gelernt haben
nnd zu leisten gewillt sind, bekannt und einig werden. Wie gross das Bedürfniss nach tüchtigen
und durchgebildeten Pflegerinnen und wie gross der dafür gewährte Entgelt ist. lässt sich
von keiner Seite verbürgen ; auch die Mutterhäuser können lebenslängliche Versorgung selbst-
verständlich nur unter der Voraussetzung versprechen, dass sie dauernd Arbeit und Einnahmen
ha!>en. Noch für lange Zeit aber fehlt es nicht an Nachfrage, wohl aber an Angebot von
Pflegerinnen, wenigstens von solchen, die durch genossenschaftlichen Halt die Gewähr dafür
zu gel*en scheinen, dass sie aus Liebe, nicht des Erwerbes wegen ihren Beruf ausüben ; Krank-
heiten werden überhaupt nicht anfhören, und Kinder, die erzogen und gepflegt werden müssen,
wird es ja wohl auch dauernd geben. An Arbeit also fehlt es nicht, und je mehr die Kranken-
Google
320 KRANKENPFLEGE.
pflege und die Kleinkindererziehung, Haushaltung*- und Handarbeitsunterricht etc. kunstmassig
betrieben wird und also gelernt werden muss, um so grosser wird die Zahl derjenigen werden,
die in diesen Thätigkeiten ihren dauernden Lebensheruf Anden können. Aufgabe unseres
Sch western- Verbandes ist es zunächst, für die Tüchtigkeit seiner Angehörigen zu sorgen; damit
aber ist — es müssten denn unsere ganzen Verhältnisse von Grund aus andere werden —
auch für ihre dauernde Beschäftigung und ihren Unterhalt gesorgt.
Aber die Frage ist:
1. Werden dieselben immer die für sie passende Arbeitsstätte finden?
2. Wie erhalten sie sich die nöthige Kraft uud Frische in der Arbeit?
3. Wie wird für sie in den Zeiten der Noth und des Alters gesorgt?
Am einfachsten ist das erste Problem gelöst, nämlich durch die Stellenvermittelungs-
einrichtungen des Vereins.
Ungleich schwieriger ist die Lösung der zweiten Aufgabe. Es fehlt zwar noch an
statistischen Grundlagen zu zahtenmässigem Nachweis, aber es scheint kein Zweifel, dass die
Krankenpflege durch allerlei körperliche und seelische Anforderungen bei allem unaussprech-
lichen Glück, das sie gewährt, doch die Kräfte oft vorzeitig aufbraucht. Wir geben deshalb
schon unseren Pflegeschülerinnen die Gelegenheit und den Antrieb, neben der Krankenpflege
(der Pflege sowohl körperlich wio psychisch Kranker) noch einen anderen Zweig der Diakonie
zu lernen, um mit demselben in ihrer Diakoniethätigkeit abwechseln zu können ; denn unnöthig
sich aufreiben ist nicht nach, sondern gegen Gottes Willen. Die Curse, die wir zur Ergänzung
bieten, sind solche, für die auch ohjectiv Bedürfnisse sich Herausstellen : in der Pflegediakouie
die Geburtshilfe und Frauenpflege, in der Lehrdiakonie die Leitung des Kindergartens und
die Ertheilung des Haushalts-, des Handarbeit«- und des GesundheitslehrunterrichteM durch
eine durchgebildete Lehrschwester, endlich in der Wirthschaftsdiakonie die Leitung von An-
stalts- oder Privatwirtschaften durch Damen mit weiterem Blick und reicherer Erfahrung.
Ausser der Möglichkeit der Abwechslung in der Arbeit sieht der Verband aber ancb
eine Sicherstellung seiner Mitglieder gegen Ausnutzung und Abnutzung seiner Kräfte vor. So
verwunderlich es ist, so unzweifelhaft ist es doch, dass viele, auch sonst verständige Leute
von einer Krankenpflegerin fast anzunehmen scheinen, sie brauche überhaupt keine Nachtruhe,
und auch in Krankenhäusern können wohl tüchtige Schwestern Über alle Massen angestrengt
werden. Hier tritt der Verband ein. indem er seine Mitglieder verpflichtet, ihrerseits sich nur
nach den von ihm gutgeheissenen Allgemeinen Bestimmungen anstellen zu lassen und andrerseits
nach längerer ununterbrochener Pflegethätigkeit längeren Urlaub zu nehmen oder mit der Art
der Thätigkeit abzuwechseln. Was wir seitens des Vereins thun können, geschieht somit, um
die Gefahren einer dauernden und wechsellosen Ansübung der Krankenpflege zu beseitigen.
Die letzte Aufgabe ist die Sorge für Zeiten der Noth und des Alters. Das Princip
ist das der Selbsthilfe in der Genossenschaft, das Hauptmittel die Hilfscasse des Vereins.
Die Höhe der Beiträge für dieselbe — mindestens 100 Mark jährlich — mag allerdings
im ersten Augenblick für solche, die mit der Versicherungstechnik nicht vertraut sind, exorbitant
erscheinen. Aber man beachte Folgendes: Erstlich ist die Summe gering gegenüber derjenigen,
die man seitens der eine Pensionsberechtigung zugestehenden Krankenanstalten für den Pensions-
fonds rechnet. Eine grosse norddeutsche Staats-Krankenanstalt z. B. zahlt jährlich 200 Mark
für jede Pflegerin in den Pensionsfonds; diese Summe aber ist für die Versicherte ganz ver-
loren, wenn sie aus der betreffenden Anstalt ausscheidet. Nicht anders bei der Rentenver-
sicbernng Ein 30jähriger z. B. der sich eine Leibrente von 500 Mark sichern will, muss bei
dem u. W. billigsten Versicherung« insti tut (dem Preussischen Beamtenverein) jährlich 85,50 Mark
Prämie zahlen, wenn er die Rente vom (>0. Lebensjahre an, und gar 221,50 Mark, wenn er
sie vom 50. Lebensjahre an erhalten will; und bei vorzeitiger Invalidität oder sonstigen Unfällen,
die ihn die Prämienzahlung einzustellen zwingen, erhält er höchstens die eingezahlten Prämien
ohne Zinsen und mit Abzug von 5°/0 zurück. Dagegen ist die Einzahlung in die Hilfscasse,
wie sie von den Verbacdsmitgliedern gefordert wird, gering, und der für den Pensionsfonds
bestimmte Tkeil derselben verbleibt überdies ganz und mit vollen Zinsen dem Mitgliede selbst.
Es sind nur &ll9% 0 des Baargehaltes (mindestens 10 Mark jährlich), die der Hilfscasse verfallen,
eine Versicherungsprämie, wie die Prämien in der Krankencasse, der Feuerversicherung u. dgl.
30°/§ (mindestens DO Mark) sind nichts anderes als Ersparnisse, an denen man das unbe-
schränkte Eigenthnmsrecht behält, und die man nur gezwungen wird zu sparen und zur Er-
zielung eines höheren Zinsertrages in der Hilfscasse anzn legen Eine Verbandsschwester, die
aus dem Verbände ausscheidet, erhält ihr ganzes Guthaben unverkürzt und mit Zinsen und
Zinseszinsen zurück, ganz so. als hätte sie in eine andere Sparcasse eingezahlt, und nur mit
dem Unterschiede, dass sie über die Belegung ihrer Ersparnisse bei der Hilfscasse selbst mit
zu bestimmen hat, bei einer anderen Sparcasse nicht.
Bei Mutterhäusern, pensionsberechtigten Krankenhäusern und Schwesternverbänden
erlöschen mit dem Austritt aus dem betreffenden Hause oder Verbände alle Rechte an den
Pensionsfonds. In solchen Vereinigungen kann also eine Schwester nicht nach freier Wahl
nnd eigenem Bedürfniss ihre Arbeit sich suchen. Dem Schwesternverbande des Ev. Diakonie-
vereines dagegen ist es völlig gleichgiltig, wo und in welcher Arbeit eine Schwester thätig
ist, wenn sie nur überhaupt Diakoniedienste leistet ; wenn der Verhand ein Interesse hat, so ist es
lediglich das, dass seine Mitglieder gerade da arbeiten, wo sie selbst am liebsten arbeiten, weil dies
im Allgemeinen die beste Gewähr dafür giebt, dass sie die Arbeit dort am besten aushalten.
KRANKENPFLEGE.
321
Deshalb kann der Ev. Diakonieverein auch solchen seiner Mitglieder, die sich einem
Mutierhause oder Schwestern verbände anschliessen. einigermassen die Vergünstigungen seiner
Hilfscasse zugänglich machen. Zwar wird es di© Mutterhaus- und Schwestcrnverbands-Organi-
sation im allgemeinen nicht znlassen, dass ihnen ungehörige Glieder zugleich Mitglieder unseres
Verbandes sind, wohl aber können sie als Vcreinsmitglieder ihre Ersparnisse in den Sparfonds
der Hilfscasse einzahlen, und die Einzahlungen werden ihnen innerhalb der auch für die Ver*
handssch' Western gütigen Grenzen von da an als Pensionsfonds-Guthaben gerechnet und verzinst,
wo sie als Verbandsmitglieder aufgenommen werden. Wir ermöglichen auf diese Weise den von
uns ausgebildeten Schwestern in andere Verbände zu treten, ohne durch deren Pensionsbe-
rechtigung an dieselben dauernd wider ihr eigenes Interesse gebunden zu sein.
Auch Heimstätten haben wir für unsere Verbandsschwestern geschaffen, vorerst,
dem gegenwärtigen Bedürfnisse entsprechend, nur für vorübergehenden Aufenthalt dienstfreier
Schwestern in unsein beiden Töchterheimen. Spater sollen solche auch für dauerndes Bleiben
iolgen. Im Uebrigen soll auch in dieser Beziehung den Schwestern volle Selbständigkeit ver-
bleiben, die Tage ihres Alters zuzubringen, wo und wie sie wollen, nur geschützt vor Ent-
behrung und Noth durch die Gemeinschaft.
Satzungen des Schwesternverbandes des Ev. Diakonievereines.
§ I. Der Schwesternverband des Ev. Diakonievereines („Diakonieverband“) soll
seinen Mitgliedern den Halt einer durch ideelle und materielle Interessen eng mit einander
verbundenen, aber die persönliche Freiheit nicht beschränkenden Gemeinschaft geben. Er soll
den Verbandsschwestern („Herborner Diakoniesch Western“) ermöglichen, ohne Sorge um das
tägliche Brot und um die Zukunft sich den Liebesdiensten der Ev. Diakonie zu widmen. Und
andererseits soll er durch Zuchtübung innerhalb der Gemeinschaft selbst dieselbe fleckenloserhalten.
§. 2. Allen Diakonieschwestern gemeinsam ist der Wunsch und das gegenseitige
Versprechen, Diakoniedienste im evangelischen Sinne dienender, barmherziger Liebe ohne
Eigennutz, Selbstgefälligkeit und Unduldsamkeit nach dem Beispiele des barmherzigen Sama-
riters zu üben. Sie stellen sich sainmtlich unter die stete eigene und gegenseitige Prüfung
ihres Handelns und Wandeins nach der Richtschnur des Evangeliums. Jede Schwester wird
nach bestem Wissen und Gewissen jeder nndern schwesterliche Helferin und Seelsorgerin sein,
ihr bei etwaiger Verfehlung wrie bei Bekämpfung von Charaktorfchlern in Sanftmuth und
Geduld zurecht helfen, wo aber wiederholte private Ermahnungen vergeblich gewesen sein
sollten, oder wo eine Ausschreitung die ganze Schwesternschaft entehren würde, furchtlos und
wahrheitsgetreu und mit vollem Eintreten ihrer ganzen Person dem Ausschüsse Anzeige erstatten.
§. 3. Im l’ebrigen verbleibt den Diakonieschwestern, soweit sie nicht durch Gewissen.
Gesetz und diese Satzungen beschränkt sind, die volle Freineit und Selbsteutscheidung, wie
die volle Verantwortlichkeit. Insonderheit kann keine Diakonieschwester durch den Schwestern
verband genöthigt werden, wider ihren Willen eine Stelle anzunehmen oder aufzugehen (doch
vergl. §.7, b, 3; 9 und 10).
§. 4. Als Diakoniescliweßtern sind nur evangelische Jungfrauen oder Witwen von
durchaus makellosem Wandel und Ruf, von voller Gesundheit, von tüchtiger Allgemeinbildung
und von genügender Kenntnis« und Uebung in wenigstens einem Diakoniefache aufnehmb&r,
wenn sie Mitglieder des Ev. Diakonievereines sind und nicht bereits einem anderen Schwestern-
verbande oder Mntterhause angehören.
Ihre Aufnahme können diejenigen Diakonieschülerinnen beantragen, die nach wenigstens
einjähriger Lernzeit in Abtheilungen des Diakonieseminars ein ohne Einschränkung befriedigendes
Examen in der Pflegediakonie (1. allgemeine Krankenpflege, 2. psychische Krankenpflege,
3. Geburtshilfe und Frauenpflege) oder in der Lehr- oder Wirtschaftsdiakonie abgelegt, haben,
deren Zulassung nicht seitens des Vorstandes ihrer Ausbildungsstättc Widerspruch erfährt, und
die bei eingehender ärztlicher Untersuchung gesund befunden werden.
Wie weit bei einer anderweitig genossenen Ausbildung ein Antrag auf Aufnahme
iu den Schwesternverband zulässig ist, bestimmt in jedem einzelnen Falle der Ausschuss. Als
Grundsatz gilt dabei, dass Schwestern aus Mutterhäusern (Diakonissinnen oder Schwestern
des Vereines zum rothen Kreuz ctc.), auch wenn sie aus ihren Mutterhäusern bereits ausge-
treten sind, nnr im Einverständnis.« mit diesen Aufnahme finden.
S- 5. Jeder Antrag auf Aufnahme in den Schwesternverband wird innerhalb Monats-
frist nämmtlichen Diakonieschwestern vorgelegt. Jede von diesen hat das Recht und, soweit
sie die beantragende Persönlichkeit kennt, die Verpflichtung, binnen einem Monat ihr Urtheil
über dieselbe rückhaltlos abzugehen. Auf Grund dieser Gutachten, die er streng vertraulich
zu behandeln hat, lochliesst der Ausschuss über die Zulassung. Die Zngclassenen werden
beim nächsten Schwestemtage in festlicher Handlung in den Schwestern verband aufgenommen.
Ohne weiteres werden auf ihren Antrag die Oberinnen der Aushildungsstatten
des Vereines als Diakonieschwestern zugelassen; nur der ärztlichen Untersuchung müssen
sie genügen.
$. G. Nicht-Aufgenommene, sowie diejenigen für die Diakonie ausgebildeten Persön-
lichkeiten. die nach §. 4 ihre Aufnahme in den Schwesternverband überhaupt nicht erwarten
dürfen, haben, so lange sie Mitglieder des Vereines sind, Anrecht auf die Benutzung des
Sparfonds, sowie — in Concurrenz mit Diakonieschwestern diesen nachstehend — des Da rieh ns-
funds, der Stellenvermittlung und der Heimstätten (§. 8, a, 1 — 3).
Encyclop. Jahrbücher. VI.
21
322
KRANKENPFLEGE.
Werden solche später in den Sch western verband aufgenommen, so «erden ihre
etwaigen in den Sparfonds eingezahlten Einlagen auf ihren Antrag innerhalb der §. 8. c. 2
gesetzten Grenzen als Pensionsfonds-Gut haben behandelt.
§. 7. Oer Austritt aus dem Verbände geschieht
a) freiwillig unter einfacher Anzeige an den Ausschuss;
b) ohne weiteres
1. beim Austritt oder Ausschluss aus dem Ev. Diakonieverein; 2 wenn eine Diakonie-
schwcster ohne besondere Genehmigung des Ausschusses länger als ein Jahr die geregelte
Ausübung der Diakoniethätigkeit (als Kranken*, Asyl-, Frauen-, Lehr-, Wirthschafts-. Gemeinde-
oder Missionsschwester) oder ihre Beiträge für die Hilf9rasse einstellt; 3. wenn eine Kranken-
oder Asylschwester, die 10 Jahre hindurch ohne längere Unterbrechung gepflegt hat, oder dir
nach begründetem Urtheil des Ausschusses durch ihre Pflegethätigkeit unverhältnissmassig
angestrengt wird, der Aufforderung des Ausschusses, sich (durch Abwechselung mit einer
anderen Diakoniethätigkeit, wie Geburtshilfe, Lehr-, Wirthschafts- oder Missionsdiakonie, oder
durch Wechsel der Stellung, oder durch mehrmonatliches völliges Ausrohen} vor vorzeitiger
Ermüdung zu bewahren, nicht Folge leistet,
c) als letztes Disciplinarmittel, durch den Ausschuss verhängt, in Fallen grober
Pflichtverletzung — wozu für Pflegeseh Western namentlich auch eigenwillige** Hinwegsetzen
über die Anweisungen der Aerzte und Kurpfuscherei gehört — bei anstössigem Lebenswandel
und wenn aus sonstigen Gründen eine Schwester allgemein das Vertrauen der Schwesternschaft
verloren hat Gegen eine derartige Disciplinarentschcidung steht der davon Betroffenen Berufung
an die Generalversammlung zu.
Die Ausgeschiedenen verlieren Namen, Rechte und Abzeichen der Diakonieschwestem :
ihr Pensionsfondsguthaben wird ihnen nach §. H, c, 2 unverkürzt und mit Zinsen zurückgegeben.
§ 8. Alle Diakonieschwestern sind in gleicher Weise
r?> berechtigt zur Benutzung aller Wohlfahrtseinrichtungen des Sch Western verbände«
nach deren besonderen Bestimmungen, nämlich 1. der Stellenvermittlungseinrichtungen ; 2. der
Hilfscasse, und zwar a) des Sparfonds für Anlegung ihrer Ersparnisse; b) des Darlebnsfond«
für Entnahme von Darlehen, c) des Penriousfonds zur Altersversorgung; d) des Unterstützungs-
fonds, aus dem sie bei vorzeitiger Invalidität und bei sonstigen Xotbstanden nach Massgabe
des Bedürfnisses und der verfügbaren Mittel Unterstützung zu beanspruchen haben; 3 der
für erholungsbedürftige und dienstfreie Schwestern geschaffenen Heimstätten , sowie zur Theil*
nähme an den Schwesterntagen und an den Schwestern-Rundbriefen ;
b) verpflichtet zur ideellen und materiellen Förderung des Schwestern verbände?,
indem sic 1. in ihrer Diakoniethätigkeit sich nach den vom Scliwesterutage beschlossenen
Allgemeinen Bestimmungen richten, besonders sich nur nach diesen bei entgeltlichen Leistungen
anstellen lassen ; 2. wenn sie Tracht tragen, was ihnen von Seiten des Sch western Verbandes
frei gestellt wird, ohne besondere Genehmigung des Ausschusses, nur die Tracht des Schwestern-
verbände« anlegen; 3. für den Unterstützungsfonds der Hilfscasse 3*/,% ihres Baargeli altes
(freie Dienstkleidung eingerechnet), mindestens aber jährlich 10 Mark beitragen; 4- für die
eigene Person bestimmte Geschenke von Geld und Geldeswerth ablehnen und der Hilfscasse zuführen ;
c) berechtigt und verpflichtet zugleich 1. das durch Eintraguug in die Zeichenrolle
gesetzlich geschützte Verbandsabzeichen — eine silberne Brocke mit stilisirter Rose und
kleinem Krenz in deren Mitte — zu tragen das sie beim Austritt zurück zügele n haben :
2. falls nicht anderweitig ihre Altersversorgung nach dem Urtheile des Vereinsvorstandes aus-
kömmlich gesichert ist, in den Pensionsfonds 307# ihres Baargehaltea (freie Dienstkleidung
eingerechnet), mindestens aber jährlich 90 Mark, höchstens 180 Mark einzuzahlen, die durch
die von der Generalversammlung festgesetzten Antheile vermehrt und bei der Pension irung
zur Beschaffung einer Leibrente verwendet, bei früherem Ausscheiden aber auf Antrag der
Ausscheidenden, wenn der Antrag innerhalb 0 Monaten nach dem Austritt gestellt und das
Verbandsabzeichen zurückgeliefert ist, unverkürzt und mit der Verzinsung des Sparfonds
zuruckgegeben werden.
§. 9 Alle in der Krankenpflege ausgebildeten deutschen Diakonieschwestern sind bei
Krieg und Seuchen, soweit s;e irgend abkömmlich sind, zum Dienste des Vaterlandes bereit
und werden einem dahingehenden Rufe des Directors des Ev. Diakonie vereinen ungesäumt folgen.
§. 10. Nur diejenigen Diakonieschwestern, die fünf Jahre hindurch Mitglieder des
Schwestern verbände» gewesen sind, haben
a) das active und passive Wahlrecht zum Ausschüsse;
b) das Recht, ohne besonderer Genehmigung des Ausschusses sich als selbständige
Pflegerin etc. (ohne amtliche Anstellung) niederzulassen.
Für die Gemeinde- und die Privatpflege dürfen sich nur solche Diakouiescbvrestern
melden, die einen Cursus in der Wochenpflege durchgetnacht haben.
11. Die Organe des Sch Western verbandes sind 1. der Ausschuss, 2. der Schwestern tag.
§- 12. Der Ausschuss besteht aus
a) dem (durch einen Stellvertreter vertretbaren) Directordes Vereines als Vorsitzendem ;
b) zwei vom Vereinsvorstande abzuordnenden Mitgliedern;
c) drei vom Schwesterntage für 3 Jahre gewählten Diakonieschwestern, von denen
jährlich je eine ausscheidet, der Reihe nach, in den beiden ersten Jahren nach dem Lose.
Die Ausscheidenden sind erst nach einem Jahre wieder wählbar. Während der ersten fünf
KRANKENPFLEGE.
323
Jahre sind diene Ausschussmitglieder die gegenwärtigen Oberinnen der ältesten drei Anstalten
( Anna Margarethe van Helden- El herfeld , Marie Bruns- Bremen, Katharina Wittenburg-Cassel),
die den Stamm der Diakonieschwestern bilden.
§. 13. Hem Ausschuss liegt die Besorgung der laufenden Geschäfte des Schwestern-
verbandes ob, insonderheit die Aufnahme von Diakonieschwestern, wozu sie die Personalien
sorgfältig zu prüfen und vertrauliche Erkundigungen bei Vorgesetzten und Verbandsschwestern
einzuziehen haben, und die Disciplin innerhalb des Verbandes, ferner die Oberleitung der
Stellenvermittelungs-Einrichtungen, die Prüfung und Entscheidung bei Gesuchen um Unter-
stützungen oder Darlehen aus der Hilfscasse u* dergl. Gegen Mehrheitsbeschlüsse des Aus-
schusses steht dem Vorsitzenden ein suspensives Veto bis zur Entscheidung durch die General-
versammlung des Vereines zu.
§. 14. Der Schwesterntag, der durch den Ausschuss nach Bedürfnis« berufen wird,
dient persönlicher Berührung und der gemeinsamen Besprechung der Angelegenheiten des
Schwesternverbandes. Er hat ferner den Ausschuss zu wählen (§. 10) und die ncuanfgenommenen
Verbandsschwestem in die Schwesternschaft einzuführen (§. 5).
Neben diesen beiden Abtheilungen des Diakonievereines besteht das
Diakonieseminar , in dessen erster Hauptabtheilung für Pflegediakonie die Aus-
bildung der Schwestern in allen Zweigen der Krankenpflege geschieht. Es sollen
die leitenden Grundsätze auch dieser Abtheilung hier im Wortlaut angeführt werden.
Hauptabtheilung fiir Pflegediakonie.
A. Ahtheilung für allgemeine K rankenpflege.
I. Eigene Ausbildung* Stätte des Ev. Diakonie Vereines in den städtischen
Krankenanstalten zu Elberfeld ( Arrenhergerstrasse, nahe dem Bahnhöfe Elberfeld-Steinbeck).
1. Das Diakonie-Seminar steht unter der Aufsicht eines eigenen (Kuratoriums (folgen
Namen) und unter unmittelbarer Leitung einer Oberin, die zugleich Oberin der städtischen
Krankenanstalten und Mitglied des (Kuratoriums ist.
2. Die Schülerinnen des Diakonie-Seminars, Schwestern angeredet, haben allen
Unterricht unentgeltlich, ebenso Wohnung, Beköstigung und Reinignog der Wäsche gleich den
angestellten Schwestern der Krankenanstalten. Unter Anleitung der Stationsschwestern und
mit denselben haben sie sich allen Dienstleistungen und Verrichtungen, welche mit der Kranken-
pflege verbunden s»nd (wozu auch das Reinhalten der Krankenzimmer und der Geschirre ge-
hört) zu unterziehen. Sie haben während ihres Lernjahres in und ausser dem Hause die von
den städtischen Krankenanstalten vorgeschriebene (und gegen Bezahlung von ca. 20 Mark
für zwei Kleider gelieferte) Tracht zu tragen. Die Haare werden glatt gescheitelt getragen.
Zu geeignetem Familienanschluss wird Gelegenheit geboten.
3. Die Ausbildung erstreckt sich auf die allgemeine Krankenpflege in Theorie und
Präzis (hierin wird der Unterricht von Aerzten der städtischen Krankenanstalten ertheilt),
die Gesundheitsichre, Religion und die Grundziige der Bürgerkunde, der Psychologie und der
Pädagogik.
4- Eine Probezeit von b Wochen geht der Aufnahme voraus. Nach Ablauf derselben
entscheidet das (Kuratorium über die Aufnahme. Schon vorgebildeten Schwestern kann durch
das Curatorium die Probezeit auf die Lernzeit angerechnet werden.
5. Die Lern- und Uebungsseit, die für die Aufgeuommenen nach der Probezeit folgt,
währt in der Regel 1 Jahr. Fiir tägliche ausreichende Erholung und Bewegung im Freien ist
gesorgt, und die zweckmässige Ausnutzung der Erholungszeit den Diakonieschülerinnen zur
Pflicht gemacht. Jeden zweiten Sonntag Nachmittag haben sie zu ihrer Verfügung. Regelmässiger
einmaliger Kirchgang an Sonn- und Feiertagen wird gewährleistet und erwartet, aber nicht
erzwungen.
(i. Nach der einjährigen Lernzeit haben die Diakoniescbülerinnen das Examen für
allgemeine Krankenpflege abzulegen, worüber ein Zeugnis* ausgestellt wird.
7. Der Austritt aus dem Seminar ist jederzeit gestattet, muss aber dein Curatorium
mindestens 14 Tage vorher angezeigt, werden.
II. Fremde Ausbildungsstätten, die dem Ev. Diakonie verein orten stehen.
Mitglieder des Ev. Diakonievereines werden durch unsere Vermittlung unter den Bedingungen
der Elberfeld er Seminarahtheilung (unentgeltliche Ausbildung in einjährigem (Kursus ohne
Verpflichtung für die Zukunft und mit der Freiheit, jederzeit auszutreten) auch in die
Pflegerinnonschule des Augustahospitals in Berlin uud in die Pflcgcrinnensclmle des Neuen
Allgemeinen Krankenhauses in Hamburg-Eppendorf aufgenommen. Jedoch haben diese Anstalten
das Interesse, die von ihnen ausgebildeten Schülerinnen gegen entsprechendes Honorar längere
Zeit noch in ihrem eigenen Dienst zu behalten ; sie bieten deshalb bereits den Schülerinnen
im zweiten Halbjahr, wenn sie dieselben zn längerem Bleiben verpflichten, ein Taschengeld,
und umgekehrt sind wir nicht wohl in der Lage, ihnen solche Schülerinnen zuzuweisen, die
von vornehcrein entschlossen sind, nur das Lernjahr in der Anstalt zuzubringen. Nur denjenigen
j tarnen, die die Krankenpflege zum Lcbensberufo machen wollen, können wir also empfehlen,
«ich für eine dieser beiden Pflegerinnenschulen anzumelden. Die näheren Bedingungen sind
durch den Vorstand des Ev. Diakonievereines zu erfragen; für diejenigen, die «ich nach
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KRANKENPFLEGE.
einem halben Jahre nicht binden wollen, bleiben es die Bedingungen von Elberfeld. Diese
beiden Ausbildungsstätten stehen übrigens auch Katholikinnen offen. — Nur auf der Frauen-
und Kinderstation werden Mitglieder des Ev. Diakonievereines in unentgeltlichem Curaus im
Frauen krankenhause der Diakonenstalt zu Duisburg ausgebildet.
B. Abtheilung für psychische Krankenpflege.
Fast jede acute Krankheit kann mit Seelenstorungen verbunden sein; namentlich
bei hohem Fieber und bei Blutvergiftungen sind oft die Kranken wie körperlich, so auch
geistig ganz besonders reizbar, und Fieberdelirien geben vorübergehend bei sonst geistig Gesunden
dasselbe Krankheitsbild, unter welchem allein sich der Laie den Irrsinn vorzustellen pflegt.
Die psychische Erkrankung erfordert aber eine psychische Behandlung. Und so gehört zor
völligen Durchbildung in der körperlichen Krankenpflege genau genommen auch die Kenntnis*
und Ucbung psychischer Krankenhehandlung
Noch weniger fast kann die Gemeindcpflegerin eine solche missen. Rechnet man
doch auf 1000 Einwohner 3 — 5 Geisteskranke, die zum grössten Theile nicht in Anstalten
Aufnahme finden, sondern im bürgerlichen Leben bleiben, als Sonderlinge verlacht, als Träumer
verspottet, als gutmüthige Schwachköpfe ausgenützt, als unzuverlässige Charaktere verurtbeilt.
als unleidliche Nachbarn gemieden oder ausgcscholten, und erst, wenn Vergehen gegen Sitte
und Sittlichkeit sie mit dem Volksbewnsstsein oder mit dem Strafgesetzbuch in Conflict ge-
bracht haben, als das erkannt, was sie sind : arme, bedauernswerthe Kranke. Wie viel Hysterische
- um nur ein Beispiel anzuführen — vergällen ihren Angehörigen das Leben, weil diese die
Krankheit nicht als solche erkennen, und gerathen durch den fortdauernden Widerspruch, den
ihr Verhalten hervorruft, nur immer tiefer in ihr Leiden hinein !
Je weniger diese Erkenntnis* zur Zeit noch Allgemeingut ist, um so mehr muss cs
sich der Ev. Diakonieverein angelegen sein lassen, die Gelegenheit zur gründlichen Aneignung
der psychischen Krankenpflege zu bieten und dazu einladen, dass dieselbe auch seitens geistig
geforderter Damen benutzt wird.
Gelernt werden kann die psychische Krankenpflege nur in den Anstalten für Psychisch-
Kranke, weil hier die ganze Aufmerksamkeit auf die psychische Behandlung gerichtet wird.
Nur hier und nur in längerer Ucbung wird man lernen ruhig und scharf beobachten, psychische
Leiden wie Reizbarkeit. Melancholie, gesteigerte Atfecte nml Triebe als Krankheit verstehen
und sich selbst in der Gewalt haben, ohne je die Ruhe zu verlieren. Man fürchte sich nicht
vor der Pflege in solchen Anstalten. Eine wirklich modern eingerichtete Irrenanstalt hat
keinerlei Aehnlichkeit mit einem Gefängniss, wie man gemeinhin glaubt, sondern ist ihrem
Wesen und ihrem Aussehen nach nichts anderes als ein Krankenhaus.
Unsere Ausbildungsstättcn für psychische Krankenptlege sind das städtische Sanct
Jürgen-Asyl zu Bremen (Director I)r. Scholz) und die Privatanstalt von Dr. J. Waldschmidt
zu Westend bei Berlin.
Die Ausbildung erstreckt sich auf die psychische Krankenpflege in Theorie und
Praxis nnd auf die Elemente der Psychologie, zugleich auf eine allgemeine Krankenpflege und
Gesundheitslehre.
Eine Probezeit von 6 Wochen geht der Aufnahme voraus. Nach Ablaaf derselben
entscheidet die Anstaltsdirection über die Aufnahme.
Die Lern- nnd Uebnngszeit, die für die Aufgenommenen nach der Probezeit folgt,
währt in der Regel 1 l/* Jahr, für Schülerinnen, die bereits die allgemeine Krankenpflege
erlernt haben, 1 Jahr.
Nach der Lernzeit haben die Schülerinnen ein Examen für psychische Krankenpflege
abznlegen und können dann aus der Anstalt ausscheiden oder, wenn Platz ist, in ihrem
Dienste verbleiben.
Sonstiger Anstritt aus der Anstalt ist jederzeit gestattet, sobald seitens des Diakonie-
Vereines für Ersatz gesorgt ist, was voraussichtlich stets in einigen Tagen geschehen kann.
Nach der Probezeit erhalten die aufgenommenen Schülerinnen an Gebalt (ausser
völlig freier Station):
1. In Bremen jährlich 24(3 Mark, steigend jährlich um 20 Mark bis zum Höchst -
betrage von 400 Mark, wobei die bereits ira Krankendienst erworbene Altersstufe angerechnet
wird, and Anspruch auf Pensionirung.
2. In Westend im ersten Jahre eine monatliche Vergütung von 20 Mark, für die
erste Hälfte des zweiten Jahres Ü4 Mark monatlich, nach dieser Lernzeit bei längerem Ver-
bleiben in der Anstalt ein entsprechendes, bis zn 45 Mark für den Monat steigendes Gehalt.
Im übrigen gelten die besonderen Bestimmungen der Hausordnung jeder Anstalt,
die auf Wunsch von den Directoren derselben mitgethuilt werden. —
Gleich der Gemeindepflegerin sollte auch die Erzieherin (Lehrerin, Kindergärtnerin.
Kinderfräulein und vielleicht auch die zukünftige Mutter) sich einige Kenntniss psychischer
Krankenbehandlung aneignen. Denn abnorme Seelenzustände treten auch schon im Kindesalter
sehr häutig anf, werden aber häutig in Haus, Kindergarten und Schnle gar nicht erkannt und
erfahren dann eine durchaus verkehrte und darum verfehlte Behandlung. Psychopathisch dis-
ponirte Kinder, zumal wenn schon die Eltern nervös oder sie anderweit erblich behaftet sind,
können jedoch nur durch frühzeitige sorgfältige und sachkundige Behandlung vor Nervosität
und Schlimmerem bewahrt werden. Wo aber finden sich bisher Erzieherinnen, die solche psy-
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KRANKENPFLEGE.
cbische Kinderpflege gelernt haben? Wir sind nun in der Lage, auch in dieser zwischen Pflege-
nnd Lehrdiakonie mitten innesteher den Specialität für eine beschränkte Anzahl Schwestern
eine Gelegenheit zu wirklich fachgemässer Ausbildung zu bieten. Je nach Vorbildung und Be-
fähigung Anden sie unter ähnlichen Bedingungen, wio die der Elberfclder, Bremer und West-
ender Anstalten, Aufnahme in der Erziehung«- und Heilanstalt für Knaben und Mädchen mit
geschwächter oder fehlerhafter Veranlagung auf der Sophienhöhe bei Jena.
C. Abtheilung für Frauenpflege.
Es ist Thatsache, dass ein grosser Theil der so häufigen Frauenkrankheiten zu spät
zu ärztlicher Kenntnis» kommt, erst dann, wenn eine Heilung nur schwer oder gar nicht mehr
möglich ist. Die Gründe liegen theils in der Unbekanntschaft mit dem Sitze der Krankheit, theils
in der natürlichen Schamhaftigkeit, die in diesen Fragen die Hilfe des Arztes scheut, theils
io der Mittellosigkeit, die oft genug am Wichtigsten zu sparen zwingt, namentlich wenn dessen
Werth noch nicht genügend erkannt ist.
Es ist ferner Thaisache, dass die Ursache vieler schwerer Frauenkrankheiten in den
ärmeren Volkskreisen nur der Mangel einer gesunden Geburt«- und Wochenbetthygiene ist.
Sterben doch selbst am Kindbettfieber, das durch Sauberkeit und aseptische Behandlung nahezu
gänzlich zu beseitigen wäre, in Preussen allein noch jährlich 7000—8000 Wöchnerinnen, und
wie gross und zahlreich die Schäden sind, die durch mangelnde Pflege der Wöchnerin, durch
za frühes Aufstehen etc. hervorgerufen werden, spottet der Beschreibung.
Hier liegen für die Diakonie überaus wichtige Aufgaben vor.
Der Punkt, an dem wir unsererseits glauben helfend eingreifen zu können, ist eine
gründlichere Ausbildung unserer Pflegerinnen. Wir streben darnach, dass wenigstens alle die-
jenigen Pflegerinnen, welche sich der Privatpflege widmen, auch einen Curaus für Wochenpflege
durchmachen , und dass ein Theil der Pflegeschwestern auch die Frauenpflege und Geburts-
hilfe erlernt.
1. Die Wochenpflege. Wir bieten zur Erlernung der Wochenpflege eine doppelte
Möglichkeit : eine Vierteljahrsansbildung in einer Universitätsklinik (Giessen), die denjenigen,
namentlich älteren, Damen empfohlen sein mag, die sich auf die Wochenpflege überhaupt be- N
schlanken wollen oder müssen, urd einen Sechswochencursus in mehreren Wöchnerinnenasylen
(Magdeburg. Düsseldorf u. x. w.), der der Ausbildung in der allgemeinen Krankenpflege folgt
oder für diese als Vorcuraus dient, in welch letzterem Falle er nicht nur den Pflegeschülerinnen
selbst wie dem Verein rasch ein einigermassen zutreffendes Urtheil über die Fähigkeit der
Bewerberinnen zur Krankenpflege gestattet, sondern zugleich ihnen den Blick öffnet für die
Wichtigkeit der Wochenbetthygiene.
Die Bedingungen sind im Allgemeinen die folgenden:
Die Ausbildung erstreckt sich auf die gesammte Wocbenbettbygiene und die prak-
tische Hebung in der Wochen- und Säuglingspflege. Für Wohnung, Kost und Wäsche ist eine
Entschädigung von 1 Mark pro Tag, in Giessen bei dreimonatlichem Curaus etwas weniger
zu entrichten.
Die Schülerinnen, Pflt gerinnen genannt, tragen im Pflegedienste einfache (am liebsten
helle) Waschkleider und weisse Schürzen, die sie selbst zu stellen haben. Das Haar soll einfach
gescheitelt sein.
Nach Ablauf der Lehrzeit unterzieht der Director der Anstalt die Schülerin einer
Prüfung nnd fertigt ein Zeugniss aus.
Genügt einer Pflegerin die so gefundene Thätigkeit , so steht es ihr durchaus frei,
sich derselben ohne jede Rücksicht auf den Diakonieverein zu widmen. (Der Magdeburger Aus-
bildungsstätte gegenüber übernimmt sie nur die Verpflichtung, als berufsmässige Wochen pflegerin
sich entweder im Verbände der Asylgenossenschaft in oder bei Magdeburg oder bei freier
Stellung ohne besondere Genehmigung seitens des Asylvorstandes nicht innerhalb der Provinz
Sachsen niederzulassen. Der Anschluss an die Asylgenossenschaft gewährt eine feste Lebena-
stellung; die Bedingungen sind durch Dr. Brennecke in Magdehurg-S. zu erfahren.)
2. Die Geburtshilfe und Frauenkrankenpflege. Dass ein grösserer Bruch-
tbeil unserer Pflegerinnen die Geburtshilfe lernt, wünschen wir vor Allem deshalb, damit mög-
lichst überall auch in kleineren Orten und selbst auf dem Lande, mit der Gemeinde- und Privat-
plieüestation ein Wöchnerinnen-Asyl verbanden werden kann , wie dies immer mehr als Be-
dürfnis« der Geburt«- nnd Woehenbetthygiene erkannt wird. So ansgebildete Diakonieschwestern
werden neben ihrer sonstigen Gemeindepflegethätigkeit die Wöchnerinnen-Asylo als Oberinnen
leiten nnd dem in erfreulicher Arbeit an seiner Selbst bessemng begriffenen Hebammenstande
als moralischer und technischer Rückhalt dienen, sein Vertrauen umso leichter gewinnend und
sich erhaltend, als sie gar nicht in die Lage kommen, ihm sein Brod irgend zu schmälern.
Wir wünschen aber auch, dass unsere Pflegerinnen mehr lernon, als die Geburtshilfe Sie sollen
durch sorgfältige theoretische Unterweisung und durch genügende Uebung dahin gebracht
werden, dass , indem sie einen gewissen Blick für Frauenkrankheiten erhalten und gewisse
Fragen bei Frauenleiden zu stellen und zu beantworten gelernt haben, sie gerade durch ihre
gründlichere Bildung die Noth Wendigkeit des rechtzeitigen Eingreifens des Arztes erkennen,
durch ihr moralisches Uebergewicht für diese Ueberzeugung auch die Leidenden gewinnen und
diesen durch ihre Begleitung den gefürchteten Schritt zum untersuchenden Arzte erleichtern.
So, glauben wir, wird der Gefahr zahlreicher Frauenleiden zeitig und wirksam vorgebeugt
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KRANKENPFLEGE.
326
werden, indem der im Gebiet der Behandlung von Frauenleiden besonders nahe liegenden Car-
pfuscherei entgegengearbeitet wird.
Denjenigen Damen, die als Evangelistinnen und zugleich als Pflegerinnen und Frauen-
ärztinnen in die Mission, namentlich im Orient, zu gehen beabsichtigen, werden ausserdem,
soweit dies möglich ist, die noth wendigsten frauenärztlichen Kenntnisse mitgegeben werden
Ausser den natürlich auch für unsere Schülerinnen zugänglichen öffentlichen
Hebammenschulcn bietet eine spectell für Diakon iesch Western eingerichtete Ausbildnngsstätte
an der gynäkologischen Klinik in Bonn — und zwar diese unentgeltlich — Gelegenheit znr
Erlernung der Geburtshilfe.
Aus den Satzungen des Diakonievereines lauten die wesentlichsten
Paragraphen :
§. 1. Der unter dem heutigen Tage begründete „Evangelische Diakonieverein“, rechts-
verbindlich zeichnend unter der Firma „Verein zur Sicherstellung von Dienstleistungen der
evangelischen Diakonie, eingetragenene Genossenschaft mit beschränkter Haftpflicht"*, regelt
seine Angelegenheiten, soweit dies nicht durch das Genossenschaftsgesetz vom 1. Mai 1889
geschieht, durch folgende Bestimmungen.
§. 2 Der Sitz der Genossenschaft ist Herborn.
§. 3. Gegenstand des Unternehmens sind Veranstaltungen, durch welche die Mitglieder
theils Dienste der evangelischen Diakonie sich sichern, theils in solcher Dienstleistung sicher-
gestellt werden.
§. 4- Zur Mitgliedschaft sind juristische und Einzelpersonen, sowie auch Anstalten
und Vereine für evangelisch-kirchliche und für humanitäre Zwecke berechtigt, die die Dienst«
einer im Sinne von §.11 geübten Diakonie sich sichern oder ausüben wollen.
Die Mitglieder sind berechtigt : 1. bei den Genossenschaftsbeschlüssen und Wahlen
in der Generalversammlung zu stimmen ; 2. an den Vortheilen der Veranstaltungen (§. 11) der
Genossenschaft nach Massgabc der Statuten derselben theilzunehmen ; 3- für ihre Einlagen (§. 5)
den auf dieselben entfallenden Gewinnanteil (§. 16) zu beanspruchen. Verpflichtet sind sie
1. zu einem Jahresbeitrag von mindestens 2 Mark; Gemeinden, Anstalten und Gemeinschaften
sind verpflichtet, einen Jahresbeitrag von so viel Mark zu zeichneu, als ihre Mitgliedereabl
volle oder angefangene Tausende beträgt, mindestens aber sechs Mark ; 2. zu der statutarischen
Einlage (§. ft) und 3. zur Haftung für die Verbindlichkeit der Genossenschaft sowohl dieser
wie unmittelbar den Gläubigern gegenüber bis zur Höhe der Haftsumme <§. 6).
Jedes Mitglied, das seine Einlage voll eingezablt hat, kann durch eine mindestens
3 Monate vor Abschluss des Rechnungsjahres (§. 12) an den Vorstand schriftlich eineereichte
Austrittserklärung aus der Genossenschaft ausscheiden. Die Einlage der Ansscheidenden ver-
fällt der Hilfscasse (§. 11), wenn sie nicht, binnen sechs Monaten nach dem Ausscheiden zurück-
gefordert ist.
Freunde der evangelischen Diakonie, die nicht Mitglieder des Vereines zu werden,
aber seine Arbeit zu unterstützen wünschen , sind als Förderer des Vereines (mit beratender
Srinnm* in den Generalversammlungen) aufzunehmen; die Bestimmung ihrer einmaligen oder
jährlichen Beiträge ist ihnen selbst überlassen.
§.5. Die Einlage (Geschäftsantheil) jedes Mitgliedes beträgt 10 Mark, welche voll
oder innerhalb fünf Jahren in jährlichen Raten von je 2 Mark einzuzahlen sind.
Jedes Mitglied kann sich mit mehreren Einlagen bis zur Gesammtzahl von deren
HOCH) l«;theiligen. Wer einen weitern Geschäftsanteil zeichnet , hat darüber eine von ihm zu
unterzeichnende unbedingte Erklärung abzugelten.
Am Gewinn (§. 16) nehmen nur diejenigen Einlagen teil, welche die volle Höhe
von 10 Mark erreicht haben.
Die Jahresbeiträge und Zuwendungen der Mitglieder und Förderer sind (soweit sie
nicht als Betriebscapital notwendig sind) der Hilfscasse (§. 11) zuzuweisen. Jahresbeiträge,
die nicht bis zum 1. Juni eingehen, sind durch Postauftrag einzuziehen.
§. 6- Die Haftpflicht beträgt für jede Einlage 10 Mark.
§ 7. Die Genossenschaft ordnet ihre Angelegenheit*?« selbständig unter Theilnahnie
aller ihrer Mitglieder.
Ihre Organe sind: 1. der Vorstand (§. 8), 2. der Aufsichtsrath (§. 9), 3. die General-
versammlung (§. 10).
Willenserklärungen und Zeichnungen der Genossenschaft erfolgen unter deien Firma
durch Unterschrift zweier Mitglieder des Vorstandes, unter denen der Director sein muss.
Die Vereinsconvspondenz , soweit sie keine Verbindlichkeit enthalt, wird nur vom
Director oder seinem Stellvertreter unterzeichnet, ln dieser nicht verbindlichen (Korrespondenz
darf die Genossenschaft abgekürzt als „Evangelischer Diakonieverein“ gezeichnet werden.
§.8. Der Vorstand führt die Geschäfte der Genossenschaft selbständig, soweit er
nicht durch das Gesetz oder durch dieses Statut darin beschränkt ist. Er besteht aus dem
Director und 2 — 4 Mitgliedern, die von der Generalversammlung auf fünf Jahre gewählt werden
Die Vertheilung seiner Aufgaben, sowie die Anstellung von Hilfsktaften steht dem
Vorstand selbst zu.
§§. 9 und IO betreffen Aufsichtsrath und Generalversammlung.
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327
§. 11. Die Unternehmungen der Genossenschaft sollen in erster Linie persönliche
Dienstleistungen sicherstellen. Sie sollen also zunächst sichern: 1. allen ihren Mitgliedern für
den Krankheit«- oder sonstigen Bedürfnissfall die Dienste zuverlässiger und geschulter evan-
gelischer Pflegerinnen), 2. denjenigen ihrer Mitglieder, die als Pfleger(innen) der Genossen-
schaft ihren Beruf in dem evangelischen Sinne dienender, barmherziger Liebe ohne Eigennutz,
Selbstgefälligkeit und Unduldsamkeit nach dem Beispiele des barmherzigen Samariters üben,
gesicherten Lebensunterhalt , Pension und in Krankheit*- oder sonstigen Bedürfnis* fällen als
Berechtigung anzusprechende Unterstützung.
Pfleger( innen) im Sinne dieser Bestimmung sind auch diejenigen Personen, die nur
sine einzelne Seite der Diakonie ausüben.
Diesen Zwecken dient zunächst die Hilfscasse, die nach einer vom Vorstande fest-
znsetzen len und von der Generalversammlung zu genehmigenden Geschäftsanweisung verwaltei
wird, das Töchterheini zur Gewährung der grundlegenden, das Diakonie-Seminar zur Aueignung
der Fachbildung für den Diakoniedienst und der Diakonieverband zur Tüchtigerhaltung und
.Sicherstellung der Pflegerinnen. Pflegerinnen des Diakonioverbande* dürfen gegen Entgelt im
Allgemeinen nur bei Mitgliedern der Genossenschaft Pflege ausüben; doch kann ein vom Vor-
stande bevollmächtigtes Mitglied vou dieser Verpflichtung entbinden.
Ueber weitere, der Förderung des Genossenschaftszweckes dienende Veranstaltungen
beschliesst die Generalversammlung auf Vorschlag des Vorstandes.
5§. 12—17 betreffen Rechnungsführung, Bilanz u. s. w.
18. Im Falle der Auflösung des Vereines sind Uebarschnsse, welche sich über den
Gesammtbetrag der Einlagen ergeben, der Hilfscasse zur Sicherstellung von Altersrenten für
die der Genossenschaft Angehörigen Pfleger(innen) zu überweisen. In welcher Weise die Hilfs-
casse weiterbesteht, beslbliesst die Generalversammlung.
Die Mitgliederzahl des Diakonie verein es ist von seiner Begründung an
im steten Wachsen begriffen, wie folgende Tafel erweist:
1894
1895
1. Juli
Octobtr
lanuar
April
l. Juli
Pflegediakonie :
1. Allgemeine Krankenpflege
2. Psychische Krankenpflege:
10
15
2fi
01
82
« ) dnreh Schwestern ..........
—
5
17
10
21
b) durch Brüder (Candidaten)
—
*
—
—
5
3. Idiotenpflege und Erziehung Psychopathischer j
—
—
—
3
4. Frauenpflege
—
1
13
9
7
5. Gemcindepflege
—
—
—
1
10
21
56
89
119
Lehrdiakonie . . . 1 einschliessl. Töchterheim [
I. Wirtschaltsdiakome |
=
12
14
8
18
13
18
Insgesammt . . .
10
33
70
115
150
Vereinsmitglieder. . .
36
100
182
246
364
Die Unterschiede der Organisation dieses Verbandes von den bisher be-
stehenden gehen aus den absichtlich in der vorstehenden Ausführlichkeit wieder-
gegebenen Satzungen und Verbaltungsregeln klar hervor. Audi die Ueberhürdung
der Pflegerinnen, über welche vielfach Klage geführt wird, wird im Diakonieverein
nach Möglichkeit vermieden. Eine Pflegerin kann unmöglich mehrere Nächte hinter-
einander wachen, ohne dass sie am Tage genügende Kühe hat; auch scheint
die Art der Ausbildung im Diakonievereiu eine von der bisherigen der Diakonissen
abweichende zu sein. Es dürfte kaum nothwendig sein, eine Krankenpflegerin zur
Verrichtung der gröbsten Arbeiten im Hause anzuhalten. Dass sie auch in solchen
eine kurze Zeit geübt wird, um nachher die Beaufsichtigung über dieselben in
richtiger Weise zu führen, ist gerechtfertigt, andauernde Beschäftigung mit den-
selben ist aber zu widerrathen, da eine Pflegerin, welche Fenster putzt und
Fassböden aufwischt, auf die Dauer wohl kaum in der Lage sein dürfte, ihre
Hände derartig zu erhalten, um damit Verbände anzulegen oder einen Arzt bei
Operationen zu unterstützen. Eine Ausnahme wäre für die Gemeindeschwestern
zuzugeben, d. h. die in der Armenkrankenpflege in Familien beschäftigten
•Schwestern, welche auch wohl seltener in die Lage kommen werden, als Helfe-
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KRANKENPFLEGE.
rinnen bei Operationen zu fungiren. Für alle anderen Fülle sollten zur Ausübung:
der gröberen Arbeiten nur Dienstboten heraugezogen werden. Denn es erhöbt
gerade auch nicht die Achtung des Kranken vor seiner Pflegerin, wenn er im
Krnnkenhause zu beobachten Gelegenheit hat, dass dieselbe Arbeiten verrichtet,
welche sonst gewöhnlich den Dienstmügden zufallen. Auch wird in einigen Kranken-
häusern auf die Ausführung dieser Arbeiten der Pflegerinnen ein so grosses Ge-
wicht gelegt , dass die eigentliche Pflege entschieden Einbusse erleidet. Eine
„Wärterin“ kann ja wohl gleichzeitig diese niederen Verrichtungen und Kranken
Wartung besorgen; nur kann diese nicht auf den Kamen einer „Pflegerin“ oder
„Schwester“ Anspruch erheben, und vor allen Dingen ist nicht zu verlangen, dass
gebildete Damen sich diesem Berufe zuwenden, wenn dieselben Dienstbotenarbeit,
welche gar nichts mit der eigentlichen Krankenpflege zu thun hat, verrichten sollen.
Andererseits ist der von einigen Seiten erhobenen Forderung, den
Pflegerinnen eingehenden Unterricht in der Anatomie und Physiologie zu
ertheilcn, nicht zuzustinimcn. Selbstverständlich erhält jedes Individuum, welches
sich mit Pflege und Wartung von Kranken beschäftigen will , allgemeine Be-
lehrung Uber den Bau und die Verrichtungen des menschlichen Körpers, welche
ja auch den Samaritern, die nur zur ersten Hilfeleistung bei Unglücksfälleu und
plötzlichen Erkrankungen ausgebildet werden, zu Theil wird. Speciellere Kennt-
nisse in jenen Fächern sind aber für das Pflegepersonal nicht erforderlich und
auch keineswegs geeignet, die Pflegerinnen auf ein höheres und den Acrr.teu
mehr ebenbürtiges Niveau zu erheben. Das Verhalten von Arzt und Pflegerin
zu einander hängt von ganz anderen Dingen ab, als von den Kenntnissen der
letzteren in Anatomie und Physiologie. Das anmassende Wesen, welches einzelne
Pflegerinnen zur Schau tragen, ist sicher nicht durch ihre medieinische Halbbildung
bedingt. WoLFF verlangte bereits, dass man dem Pfleger oberflächliche Kenntnisse
aus sämmtlicheu Fächern der gesammten Arznei Wissenschaft beibriuge.
Die Schwestern, welche in der Gemeindekrankenpflege beschäftigt sind,
müssen, wie erwähnt, alle vorkommendeu Arbeiten verrichten. Die Diakonissen,
welche diesen Missionsdienst übernehmen, haben sicherlich wohl den allerschwersten
Beruf von Allen. Die Gemeindeschwestern üben die Krankenpflege bei armen freuten
aus, wo eine Aufnahme in das Krankenhaus aus irgend einem Grunde unmöglich
ist; ferner vertheilen sie Geld und Unterstützungen von Vereinen und Armenver-
waltungen und haben Uber diese Thätigkeit genau Buch zu führen. Ausserdem
stehen sie wohl noch Sonntagsnachmittagseursen für Dienstmädchen oder christlichen
Jungfrauenvereinen vor. Während sich in kleineren Städten auf je 10.000 Ein-
wohner eine Gemeindeschwester findet, sind in Berlin im Ganzen nur etwa 70
vorhanden. Die Gemeindediakonie steht in Berlin unter der Leitung des Evangelisch-
kirchlichen Hilfsvereins (Localverein Berlin). Es sind 1 1 Krankenpflegstationen
vorhanden, deren jede mit drei bis acht Schwestern unter Leitung einer Oberin
aus verschiedenen Mutterhäusern besetzt ist. Jede Station hat einen bestimmten
Arbeitsbezirk, steht unter Aufsicht eines geistlichen Curators und einer Vorstands-
dame des Vereins „Franenhilfe“. Die Kaiserin hat das Protectorat der Anstalten
übernommen und bringt denselben ein besonderes hochherziges Interesse entgegen.
Einige Zahlen über die Leistungen der Stationen, welche Eglenburg
anführt, gehen Zeugniss von der umfassenden Thätigkeit, welche dieselben ent-
faltet haben. 1893 wurden 13.623 Tages- und 36-18 Nacbtpflegen ausgeführt,
von den 12.714, hezw. 3458 durch die Diakonissen erfolgten. Verpflegt wurden
111 Mäuuer, 1348 Frauen, 174 Kinder unter 15 Jahren aller Bekenntnisse;
659 Gesuche mussten aus Mangel an Kräften abgewiesen werden, also mehr als
4 0% der Familien (1620). auf die sich die Krankenpflege erstreckte. Die Ge-
meiudekrankenpflege hat sieh die Aufgabe gestellt , die Nothstände unter den
Armen und Kranken zu lindern und dadurch tritt sie in eine Keihe mit den
Vorsorgen , welche zur Abhilfe socialer Noth allerorts getroffen werden und für
welche wohl niemals eine genügende Anzahl von Hilfskräften vorhanden sein wird.
KRANKENPFLEGE.
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Neben den bisher erwähnten Genossenschaften mit vorherrschend kirch-
lichen) Gepräge, welche nur Angehörige des betreffenden Glaubensbekenntnisses bei
sich aufnehmen, und den weltlichen Vereinigungen, welche gleichfalls nur christliche
Pflegerinnen ausbilden, sind einige auch bereits erwähnte Anstalten vorhanden,
in denen Damen ohne Unterschied des religiösen Bekenntnisses zur Ausbildung in
der Krankenpflege zugelassen werden, wie z. B. im Victoriahaus zu Berlin.
In neuerer Zeit ist in Berlin ein Verein für jüdische Krankenpflegerinnen
begründet worden, welcher trotz der kurzen Dauer seines Bestehens seit 1894
eich reger Betheiligung zu erfreuen hat. Der Verein bezweckt:
1. jüdische Frauen und Mädchen zu Krankenpflegerinnen auszubilden;
2. unter seiner Leitung oder auch anderwärts ausgebildete, beziehungs-
weise geprüfte jüdische Krankenpflegerinnen (Schwestern) gegen Honorar, auf
Erforderniss aber auch unentgeltlich, als Armen-Krankenpflegerinnen dem Publicum
ohne Unterschied der Coufession zur Verfügung zu stellen;
3. die Begründung von Einrichtungen zur Fürsorge für seine Kranken-
pflegerinnen bei Erwerbsunfähigkeit in Krankheitsfällen und im Alter.
Die Ausbildung der Schwestern erfolgt im jüdischen Krankenhause und
in der Königlichen Charitö zu Berlin.
Als Schülerinnen des Vereines werden Personen im Alter von 20 bis
30 Jahren nufgenommen, die nach Ablauf des Ausbildungsjahres noch mindestens
drei Jahre dem Vereine als Pflegerinnen thiltig sein müssen, wofür eine Bttrg-
schaflssuinme von 100 Mark hinterlegt wird. Die Pflegerinnen erhalten Gehalt
vom Vereine, das Honorar für Privatkrankenpflege wird an die Vereinscasse ge-
zahlt. Die Dienstordnung der Pflegerinnen weicht im Uebrigen nicht wesentlich
von der in anderen Krankenpflegervereinen üblichen ab.
Im Anfang des Jahres 1896 waren bereits 10 Schwestern und 11 Schüle-
rinnen vorhanden, welche im Schwesternheim wohnen. Der Verein hat seit dem
IV. September 1895 die Rechte einer juristischen Person erhalten.
Es war bereits vor mehr als achtzig Jahren der Gedanke aufgetaucht,
eine Schule für jüdische Krankenpflege zu gründen , wie sich aus dem Schlüsse
der Vorrede von S. J. WOLFF’s Werk ergiebt. Es heisst daselbst:
„Von ganzer Seele wünschte ich, dass die so würdigen Vorsteher der
Krankenpflege der jüdischen Gemeinde das Capitel vom Krankenwärter besonders
beherzigen möchten, und besonders rufe ich unter ihnen die so achtungswerthe
Gesellschaft der Freunde an; sie haben zu einer solchen Verbesserung, zu einem
soleheu zu stiftenden Institute die Mittel — in Händen.“
Dass Krankenpflegerinnen zu besolden sind , ist auch eine nicht von
allen Genossenschaften anerkannte Forderung. Und gerade entstammen viele der
den kirchlichen Vereinigungen angehörendeu jungen Mädchen recht dürftigen
Verhältnissen, so dass sie, statt elterliche Unterstützungen — falls sie noch
Eltern haben — gemessen zu können, im Gegentheil noch Verpflichtungen nach
dieser Richtung gegen Angehörige haben. Das monatliche Kleidergeld ist in der
Regel kein sehr bedeutendes, so dass nicht viel von demselben zu erübrigen ist.
Die Kleidung der Krankenpflegerinnen erfordert einige Beachtung. Mit
Recht w ird in den Satzungen aller Genossenschaften und Vereinigungen gefordert,
dass die Kleidung der Schwestern einfach und sauber sei. Dennoch ist kein
Grund einzusehen, dass die Tracht eine möglichst geschmacklose sei. Für den
Kranken ist es angenehmer, wenn die ihn für gewöhnlich umgebenden Personen
kleidsam angezogen sind, was gar nicht hindert, dass die betreffenden Anzüge
allen Anforderungen einer weitgehenden Anti- und auch Asepsis genügen. Am
besten ist es, dass die Schwestern helle, bis zum Halse schliessende Kleider aus
waschbaren Stoffen tragen. Diejenigen, welche auf chirurgischen Stationen oder
bei Operationen thätig sind, haben kurze, bis zum Ellbogen reichende Acnnel.
Grosse weisse Schürzen hüllen die Vorderseite des Anzuges vollständig ein. Die
gleichen Regeln gelten für die Kleidung der männlichen Pfleger.
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KRANKENPFLEGE.
Aufmerksamkeit erheischt auch die Kopfbedeckung der Pflegerinnen.
Die Diakonissen tragen gewöhnlich Hauben, andere Wärterinnen vielfach kleine
Häubchen, welche wohl keinen anderen Zweck liabeu , als ihrer Trägerin ein
möglichst niedliches Aussehen zu verleihen. Auch die katholischen barmherzigen
Schwestern haben Hauben, welche zum Theil noch mit Stirnbinden versehen sind
und beim Ausgang noch mit einer weiteren steifen Bedeckung versehen werden.
Der eigentliche Zweck dieser Bekleidung lag wohl ursprünglich in der Absicht,
Veranlassung zur Weiterverbreitung von ansteckenden Krankheiten durch die
Haare der Pflegerinnen zu verhüten, liegen eine solche Absicht ist nichts einzu-
wenden, vorausgesetzt, dass die Tracht nicht entstellend wirkt. Es können gleich-
zeitig beide Zwecke erfüllt werden. Grosser Werth ist auf die Kleidung der in
Privatkrankenpflege thätigen Personen zu legen, besonders, wenn sich dieselben
der Pflege von ansteckenden Kranken widmen. In dieser Beziehung ist eine
besondere Beaufsichtigung der hauptsächlich in grossen Städten errichteten Privat
krankenpflegestationen not h wendig, bei denen eine Pflegerin oder auch sonstige
Unternehmerin als „Oberin“ mehrere Pflegerinnen mit festem Gehalt und freier
Station anstellt, welche dann auf Verlangen in Familien gesendet werden; die
Bezahlung der Pflegedienste geschieht an die Unternehmerin. Es muss hier streng
beachtet werden , dass nicht eine Pflegerin an einem Tage einen Kranken mit
einer ansteckenden Krankheit pflegt und am nächsten bereits vielleicht mit der-
selben Kleidung sich in eine andere Familie begiebt.
In Bezug auf die Krankenpflege ist der Mittelstand eigentlich am
schlechtesten gestellt, das heisst die grosse Anzahl von Familien, welche nicht
zu Armen- oder Krankencassenverbändeu gehören, aber doch auch nicht wohl-
habend sind. Für diese ist am wenigsten gesorgt; in die öffentlichen oder privaten
Krankenhäuser wollen die Angehörigen dieses Standes sich aus verschiedenen
Gründen nicht gern aufuehmen lassen, zur Beschaffung der nöthigen Pflege bei
länger dauernden Krankheiten fehlt es au Mitteln. Dieser Mangel ist auch bereits
vor langer Zeit erkannt worden und auch S. J. Wolff hat auf dieses Missver
hältniss des Mittelstandes ausdrücklich hiugcwicseu. Mau hut in neuerer Zeit deu
Vorschlag gemacht, eine besondere Krankensteuer zu erheben, um aus deren
Mitteln die für die besondere Krankenpflege nothweudigen Ansgaben, welche Staat
und Gemeinde nicht aufbringcu könnten, zu bestreiten, das heisst Mittel für
Reconvalescentenpflege, Errichtung von Heilstätten für Brustkranke, Heimen für
Invalide und Aehnliches. Auch dieser Vorschlag ist nicht neu, wie sich aus fol-
gendem Satze bei Wolff ergiebt :
Dieser Mittelstand müsste in sich selbst noch eine gemeinschaft-
liche Anstalt einrichten und durch einen immerwährenden monatlichen Beitrag,
der in der That nur klein sein dürfte, würde sich gar bald ein Fond sammeln
lassen und vou unserer Regierung, die so willig alles Gute unterstützt, lässt sich
wolilthälige Mitwirkung hülfen; warum denn nicht so gut hier einen monatlichen
Beitrag, als zur Feuereasse oder Asseeuranz der Möbel V“
Einen Fortschritt naeli dieser Richtung glaubt v. Reitzenstkix in der
Errichtung von Anstalten zur Verleihung von Krankenpflegegeräthsehaften zu
sehen , welche besonders in der Schweiz in ausgedehntem Masse entwickelt
sind. Er meint, dass alle für die Krankenpflege erforderlichen Mittel mit Aus-
nahme der Versorgung der Kranken mit den nothwendigen Gerätschaften heute
in hohem Masse vorhanden seien. Ihre Anschaffung erfordert bisweilen erheb-
liche Ausgaben, welche von Unbemittelten nicht getragen werden können, so dass
die Behandlung Abbruch erleidet, oder der Kranke Anstaltspticge aufsuchen muss,
wodurch die Kraukenhäuser überlastet werden.
Das älteste und grösste Kranken». obilienmagazin , in welchem die be-
treffenden Geräthe gegen geringes Leibgeld zur Verfügung stehen , entstand in
Zürich 1804. 8. J. Wolff bat wohl gleichfalls solche Magazine im Sinne, wenn
er meint, dass in den Instituten , welche zur Unterrichtung und Aufnahme von
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KRANKENPFLEGE.
331
Krankenpflegern eingerichtet werden sollen, „ein ganz eigener Apparat, welcher
Alles auf's Reinlichste enthält, was zum Gebrauch beim Kranken nöthig ist,“
gefunden werden mtisse.
Im Jahre 1885 waren in der ganzen Schweiz nur 18 solcher Anstalten,
aber 1890 waren bereits von 119 Gemeinden des Cantons Zürich 95 mit einem
Magazin versehen, v. Reitzexstein beklagt auch die ablehnende Haltung, welche
Wasserfuhr in der Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte 1883 in
Freiburg der Mittheilung von Bf.ck gegenüber eingenommen, wahrend Roth sich
für die betreflende Einrichtung ausgesprochen. Die Anstalten stehen unter städtischer
Verwaltung oder werden durch Vereinswohlthätigkeit unterhalten. In Deutschland
findet sieh die Einrichtung bei einzelnen Vereinen vom Rothen Krenz, so beim
Vaterländischen und Badischen Frauenverein; auch in der Gemeindekrankenpflege
werden Krankenpflegegeräthe vielfach ohne Entgelt verliehen.
Die Geräthsehaften , welche in den Anstalten vorräthig zu halten sind
(für Fälle besonderen Bedürfnisses auch üettstüeke und Leinenzeug), sind :
1. Badeapparate: Badewannen für Erwachsene, für Kinder, für
Sitzbäder, für Arm- und Fussbäder.
2. Betten und Bettstflcke: Bettstellen (nur von Eisen, nicht von
Holz), Bett rahmen (zur Lagerung für besondere Zwecke), Bettschirme, Bett-
bogen, Spiegel, Ruckenstützen zum Verstellen in verschiedene Hohe; Rosshaar-
matratzen, insbesondere gespellte; Rosshaarkissen; Wolldecken zu Ent-
wickelungen; wasserdichte Unterlagen.
3. Bettwäsche: Leintücher, Kissenüberzüge.
4. Bettgeschirre: Wärmflaschen, Uringläser (nur als Verbrauchs-
gegenstand); Steckbecken und Leibstuhle.
5. Eisbeutel.
6. Inhalationsapparate.
7. Irrigatoren von Blech mit Guramischlauch und Glasansätzen (dienen
als Wundspritzen, sowie für Eingiessungen und Ausspülungen aller Art).
8. Krücken.
9. Krankenheber: Lufttüeher mit Handhaben.
10. Lagerungsapparate: Arm- und Beinschienen (aus Blech oder
Telegraphcndraht, nicht von Holz); Luft- und Wasserkissen, beziehungsweise
Ringe: Spreusäckchen, viereckige und ringförmige.
11. Sitzgeräthe: Lehnstühle, Tragsessel, Fahrstühle.
12. Thermometer: Fieber- und Badethermometer.
Bemerkung: Die uuter Ziffer 1, 7 und 12 durch fette Schrift hervor-
gehobenen Gegenstände wären als die nothwendig6teu in erster Reihe zu be
schaffen, die mit gesperrter Schrift bezeiehneten in zweiter Linie , die übrigen
beim Vorhandensein reichlicherer Mittel.
Jedenfalls wäre ein Versuch mit solchen Anstalten, welche durch private
Wohlthätigkeit einzuriehteii wären, auch in Deutschland in grösserem Masse als
bisher wohl zu machen, um zu erkennen, ob dieselben lebensfähig sein würden.
Für etwas bemitteltere Familien hat I1. Jacobsohn die am häufigsten zu
gebrauchenden Gegenstände als „Hanitätscollection für häusliche Krankenpflege“
zusammengestellt, ln einem hölzernen Kasten sind vereinigt: Steckbecken, Eis-
blase, Irrigator mit Mutterrohr und Klystierrohr, Inhalationsapparat, der auch
zum Spray verwendet werden kann, graduirtes Kinnchmcglas , Maximallicber-
thermometcr, Badethermometer, I’ulsnhr, Zungenspatel, Gummibettunterlage und
Gebrauchsanweisung für diese Dinge. Gleichzeitig könnten wohl in demselben
Kasten gut verpackt auch die als Inhalt eines Verbandkastens von Jacobsohn
aufgezählten Dinge untergebracht werden : 2 Cambricbinden , ein Packetchcn
steriler Watte, Jodoformgaze und ein Fläschchen mit 2° „iger Carbollösung. Die
Bereithaltung dieser Dinge im Hausstände ist für viele Fälle als grosse Annehm-
lichkeit auch für den behandelnden Arzt anzusehen. Aber es erfordert das Vor-
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332
KRANKENPFLEGE.
handenscin derselben auch beim Besitzer einen gewissen Grad von Verständniss
für die Krankenpflege überhaupt, welcher leider nicht in sümmtlichen Familien
vorhanden ist.
Eine Ausbreitung der Kenntnisse in der Krankenpflege wäre eine drin-
gende Notwendigkeit. Sie kannte nur durch iiffentlir.be Unterweisung e rfolgen
und müsste bereits in der Schule geschehen. Es müsste damit Unterricht in der
Gesundheitspflege in den Schulen verbunden werden und auch, wie v. Esmarch
verlangt. Unterricht in der ersten Hilfe bei Unglücksfällen. Jacobsohn hat in
einem Vortrage am 9. December 1895 in der deutschen Gesellschaft für öffent-
liche Gesundheitspflege dargelegt, dass öffentlicher Sanitätsunterricht erforderlich
sei, welchen er zunächst in Berlin in allen Stadttheilen erthcilen lassen will.
Der Verfasser schlug in der Discussion vor, den Unterricht im Anschluss an
den Unterricht in den Fortbildungsschulen einzurichten. Sicherlich würde durch
von Aerzten ertheilte Unterweisung in Gesundheits- und Krankenpflege dem Volke
erheblicher Nutzen geschaffen werden. Eine Ausbreitung des Curpfuseherthums,
welche durch volkstbümlich gehaltene Vorträge über Gesundheits- und Kranken-
pflege angeblich befördert werden soll, ist nicht dadurch zu befürchten. Die Auf-
klärung des Volkes in allen diesen Dingen kann nur viel eher geeignet sein, der
Curpfuscherei Abbruch zu thun. Bereits v. Es MARCH hatte bei Begründung des
deutschen Samaritervereins in Kiel 1882 betont, dass die Ausbreitung der Kennt-
nisse der ersten Hilfe bei Unglücksfällen segenbringend fttr’s Volk wäre, und
dass das Curpfuseherthum durch eine solche nicht gefördert würde. Man kann
im Gegentheil wohl behaupten , dass das wirksamste Schutzmittel gegen jene
Bestrebungen in einer Vermehrung der Kenntnisse aller Menschen in allen die
Medicin betreffenden Fragen zu suchen ist. ln der Discussion des Vortrages von
Jacobs (ihn wurde vollständig richtig von einem Redner hervorgehoben, dass
Vorträge über Lüftung des Krankenzimmers und Lagerung des Kranken uud
die Kenntnisse ähnlicher Verhältnisse doch wohl nicht Veranlassung geben
könnten, dass ein Zuhörer später sich z. B. mit Behandlung von Nierenkrank-
heiten befasse. Das Wachsen der Curpfuscherei int zu einem grossen Theil da-
durch bedingt, dass die Curpfuscher sich in öffentlichen Vorträgen an das Volk
wenden und dieses dadurch für ihre Lehren zu gewinnen suchen und auch ge-
winnen, da sie für den Laien leicht fassliche — wenn auch meistens unrichtige —
Deutungen der Krankheitsvorgänge und ihrer Behandlung ohne unverständliche
Fremdworte vortragen. Dass Aerzte öffentliche Vorträge halten, gilt gewöhnlich
als etwas nicht ganz mit den Gebräuchen Uebereinstimmendes. Es ist angebracht,
diesem Vorurtheil entgegenzutreten, denn allein wissenschaftlich gebildete Aerzte
sind berechtigt und im Stande, Gesundheits- und Krankenpflege auf wissenschaft-
licher Grundlage in volkstümlicher Weise zu lehren. Allerdings muss auch die
Vorbildung der Aerzte nach dieser Richtung mehr erweitert werden, als es bis-
her geschah. Es muss der Krankenpflege beim Studium der ihr gebührende
Werth zuerkannt werden ; in den Schulen sind von Schulärzteu die Grundzüge
der Gesundheits- und Krankenpflege und ersten Hilfe in leichtfasslicher Form
darzustellen und dadurch bereits der Jugend die nötigen Grundregeln für das
spätere Leben zu ortheilen. Wenn diese beiden Bedingungen erfüllt sind , wird
der Curpfuscherei sicherer als durch irgend ein Gesetz der Boden entzogen
werden. Die Aerzte werden die Regeln der auf wissenschaftlicher Grundlage be-
ruhenden Krankenpflege mehr wie früher beherzigen und dadurch sich mehr mit
den wichtigsten Abschnitten des sogenannten „Naturheilverfahrens“ zu beschäftigen
haben. Die Jugend wird in den Stand gesetzt , in allgemeinen Fragen über Ge-
suudheits- und Krankenpflege sich ein einigermassen richtiges Urteil zu bilden.
Man hat übrigens auch früher gefürchtet , durch Vorträge über Krankenpflege
Curpfuscherei auszuhilden. Und schon S. J. Wolff bestreitet dieses und meint,
das Publicum würde wohl einscheu , dass ein Arzt etwas mehr als solche ober-
flächlichen Kenntnisse besitzen müsse.
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KRANKENPFLEGE. 333
Die bereits mehrfach erwähnte „erste Hilfe“ bildet eine Ergänzung zum
Capitel der Krankenpflege, v. Esmarch hat den letzten Abschnitt seines rtthm-
lichst bekannten Leitfadens : „Die erste Hilfe bei plötzlichen Ungltleksfällen“ der
Besprechung der Krankenpflege gewidmet. Der Samariter, welcher bei plötzlichen
Erkrankungen und Ungltleksfällen erste Hilfe leistet, muss mit den Grundzflgen
der Krankenpflege vertraut sein; im Uebrigen hat der Samariter als Nothhelfer
mit der „Pflege“ des Kranken, welche doch stets eine längere Dauer voraus-
setzt, nichts zu thun. Aber ein Gegensatz zu denjenigen Bestrebungen , welche
hauptsächlich der Krankenpflege dienen , kann bei den Samaritern nicht vor-
handen sein. Wenn sich auch ein solcher bei Gelegenheit der ersten Samariter-
versammlung zu Cassel 1895 herauszustellcn schien , so besteht derselbe bei
näherer Betrachtung nicht. Denn es haben gerade die Vereinigungen, welche als
ihre Hauptthätigkeit satzungsgemäss und nach ihrem Namen „die Pflege der
im Felde verwundeten und erkrankten Krieger“ zu Übernehmen haben, als kriegs-
vorbereitende Thätigkeit sich jetzt zwei grosse neue Gebiete ausgewählt. Die
erste Hilfe wurde allerdings von einzelnen zum „Rothen Kreuz“ gehörigen
Vereinen auch früher betrieben. Sie ist in neuerer Zeit als eine zur Erhaltung
der Kriegstüchtigkeit der Vereine nothwendige Thätigkeit erachtet worden.
Da die Berufsgenossenschaften an einer guten Ausbildung der für die
erste Hilfe erforderlichen Einrichtungen grosses Interesse haben , so sollen jetzt
mit Hilfe der in den einzelnen Städten vorhandenen Ortsvereine vom Kothen
Kreuz (Sanitätscolonnen u. s. w.) Anstalten für die erste Versorgung von Ver-
letzten, Verunglückten und plötzlich Erkrankten eingerichtet werden.
Auch noch an einer anderen tief das sociale Leben berührenden Frage
nimmt das Rothe Kreuz jetzt thatkräftigen Anthoil. Während auf jener Seite die
durch die neue sociale Gesetzgebung geschaffenen Berufsgenossenschaften als
Bundesgenossen an der Bethätigung einer grossen humanen Aufgabe sich anzu-
sehlicssen streben, ist an der Lösung der zweiten die gleichfalls als eine segensreiche
Frucht der socialen Politik der Regierung hervorgegangene Alters- und Invaliditäts-
Versicherung betheiligt. Im Vereine mit den Versicherungsanstalten der einzelnen
Landestheile wird das Rothe Kreuz bei der Errichtung von Lungenheilstätten in
Deutschland thätigen Antheil nehmen , ohne die bereits zu diesem Zwecke be-
stehenden Vereinigungen in ihrer Arbeit zu hindern; es besteht vielmehr die
Absicht, alle diesbezüglichen Bestrebungen unter dem Banner des Rothen Kreuzes
zu vereinigen. In Berlin hat sich ein „ V olkshcilstätten verein vom Rothen Kreuz“
gebildet, welcher am 1. Mai d. J. eine Heilstätte für 120 Kranke bei Berlin io
Betrieb gesetzt hat. Die Unterkünfte für diese — DöCKKit’sche Baracken — hat
das Central- Coinitö der Deutschen Vereine vom Rothen Kreuz zur Verfügung gestellt.
Der Berlin Brandenburger Heilstättenverein für Lungenkranke beabsichtigt
unabhängig vou diesem Verein die Errichtung einer ständigen Anstalt für weniger
bemittelte Lungenkranke.
Diese segensreiche Thätigkeit, welche beitragen soll, der furchtbaren
Geissei der Menschen einen grossen Theil ihrer Opfer zu entringen, wird auf der
anderen Seite die Kriegstüchtigkeit der Vereine vom Rothen Kreuz durch die
beständige üebung und Anspannung im Frieden auf der für einen — hoffentlich
in absehbarer Zeit nicht bevorstehenden — Feldzug erforderlichen Höhe erhalten.
Auch der Gedanke der Anlehnung des gesummten Rettuugswesens im Frieden an
das Rothe Kreuz, welchen Verfasser bereits vor längerer Zeit geäussert, ist als
ein sehr glücklicher anzusehen. Verbindet sich das Rothe Kreuz zur Erreichung
dieses Zweckes mit den bereits vorhandenen auf dem Rettungsgebiete und der
Krankenpflege thätigen Factoren, also der Feuerwehr, welche in ganz Deutsch-
land, auch in kleinen Ortschaften , Uber gut ausgebildete Samaritermauuscliaften
verfügt, und den Krankenanstalten, so wird es möglich sein, ein vortreffliches
Rettougswesen herzustellen. Ob hierzu die Errichtungen neuer Stationen erforderlich,
w-ird von den verschiedenen Ortsverhältnissen ubhängen und natürlich nur an
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334 KRANKENPFLEGE.
solchen Stellen erforderlich sein, in deren Nähe sich keine Krankenhäuser, Feuer-
oder Polizeiwachen u. s. w. befinden.
Der Plan der Errichtung von besonderen Heilstätten fllr Brustkranke ist
in Deutschland noch nicht sehr alt, andere Länder, besonders England, waren
mit gutem Beispiel in dieser Hinsicht vorangegangen. Auch besondere Anstalten
zur Pflege von Erholungsbedürftigen und hauptsächlich Genesenden sind erst in
den letzten 25 Jahren und wiedeium vorzüglich iu England eröffnet worden, ob-
wohl in Paris die erste derartige Anstalt errichtet zu sein scheint. Gerade die
Genesungszeit ist für den Kranken von besonderer Wichtigkeit. Ist der eigent-
liche Krankheitsvorgang beendigt, so ist das Krankenhaus nicht mehr als günstiger
Aufenthaltsort für den Kranken bis zu seiner vollständigen Erwerbsfähigkeit an-
zusehen. v. Zikmssen tadelt mit Recht, dass die Kranken zu wenig in die Luft
kommen , nicht genügend Bewegung iin Freien haben und daher häufig des
richtigen Reconvaleseentenappetites ermangeln. Ferner sind die Genesenden der
Gefahr neuer Ansteckung im Krankenhausc ausgesetzt, wozu sie in besonders
erheblicher Weise disponiren. Eine Anzahl von Genesenden erliegt dann erfahrungs-
gemäss häufig der neuen Krankheit. Ferner wird durch die Genesenden der Platz
tür die Kranken selbst beschränkt. Werden aber erstere in ihre Behausungen ent-
lassen, so erleidet die Genesung häufig empfindliche Störungen, nicht selten sind
Verschlimmerungen oder Wiederaufflackern des früheren Leidens. Die Beköstigung,
die Nahrung selbst ist so maugelhaft, dass eine Erholung nur sehr langsam statt-
findet. Da inzwischen kein Verdienst vorhanden, und die während der Krankheits-
dauer geleisteten Beihilfen naturgemäss nicht zur Deckung der Lebensbedürfnisse
der Familie, geschweige noch eines einer ausgiebigeren Pflege bedürftigen Ge-
nesenden ausreichen , so wird vielfach die Arbeit zu früh wieder mitgenommen,
und schwere Schädigung des Gesundheitszustandes herbeigeführt. Für die Zwischen-
stufe zwischen Krankheit und Arbeitsfähigkeit ist also eine Lücke vorhanden.
In Paris wurde nach Häolkr’s Darstellung 1628 eine Reconvalescenten-
anstalt zur Aufnahme von 22 Männern eingerichtet, im vorigen Jahrhundert waren
alle Pariser Lazarethc durch ausgesetzte Legate mit solchen Anstalten versorgt.
Die Anstalt zu Vincennes gewährt 522 Männern, die in Vösiuet 350 Frauen und
50 Kindern Aufnahme; die Anstalten wurden 1857, beziehungsweise 1852 von
Napoleon III. errichtet, werden durch Staatsmittel erhalten, und gewähren jähr-
lich etwa 18.000 Genesenden 14tägigen oder auch ausnahmsweise längeren Auf-
enthalt. Ausserdem sind noch in Frankreich andere private und öffentliche An-
stalten vorhanden.
ln England waren 1882 bereits 157 Convalescent homes mit 5248 Betten
vorhanden , welche privater Wohlthätigkeit ihre Entstehung verdanken. In
Deutschland hatte München die erste Anstalt für Genesende 1861 errichtet,
Frankfurt a. M. begründete Ende der Sechziger Jahre die Anstalt rMainkuru,
in Loschwitz bei Dresden ist eine Privatanstalt mit 50 Betten vorhanden, in
Währing bei Wien ist vor sieben Jahren eine Anstalt auf Staatskosten eröffnet,
in der Rnpprechtsnu bei Strassburg i. E. besteht seit 1879 die „Lovisa“, welche
ihre Entstehung einem Legate eines Privatmannes verdankt.
Seit 1886 besitzt Berlin eine von den Johannitern errichtete Heimstätte
für Genesende und seit 1887 zwei Anstalten auf den Rieselgütern Heineredorf
für 50 Männer und in Blankenberg für 50 Frauen.
Die Stadt Genf hat drei Reconvalescentenheime: Das Hospice des con-
valescents au Petit-Sacconex mit 50 und die Convalescence de Colovrex, das
Asyle de Pressy mit je 30 Betten , ausserdem sind drei Erholungsstätten für
Kinder vorhanden. Lausanne verfügt im Asile lioissonet Uber 35, Naueuhurg iu
Beausite über 10 Betten; die Sociöte des convalescents ä Ncuchätel bietet Gene-
senden Mittel zu Erholungseuren. In Zürich besieht im Röslibad ein cautonalea
Institut, die Reconvalesceuten-Anstalt des freiwilligen Armenvereines in Zürich ist
nur für Genesende bestimmt, in Fluntern verdankt Zürich einem Wohlthäter die
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KRANKENPFLEGE.
335
Reconvalcsceotenanstalt für unbemittelte erwachsene Personen. Für Basel ist in
Brfiglingen seit 1889 eine Anstalt mit 10 Betten errichtet.
In allen Ländern unterstützt die private Wohlthätigkeit durch Errichtung
von Vereinen und Begründung von Anstalten den Staat in der Fürsorge für die
Pflege von Kranken, Schwächlichen und Erholungsbedürftigen. Der Kampf gegen
die Schwindsucht ist, wie bereits oben dargelegt, besonders in den letzten Jahren
in Deutschland mit Eifer aufgenommen worden. Aber auch die als Vorläufer der
Tuberkulose gefürchtete Skrophulose der Kinder ist seit Jahren in thatkräftiger
und zielbewusster Weise zum Gegenstand einer weitgehenden Fürsorge geworden.
Die Pflege kränklicher Kinder ist besonders in den Seehospizen in Italien , in
Mautua, Cremona, Bergamo, Bologna, Padua, Palermo, Rom, Neapel, Florenz von
Bedeutung, obwohl die erste Heilstätte für skroplmlöse Kinder 1796 in England
gegründet wurde, während die zeitlich nächste Anstalt erst 1845 in Turin er-
richtet wurde. In Berlin beschäftigen sich besonders zwei Vereinigungen mit der
Verpflegung schwächlicher Kinder, der Verein für Kinderheilstätten an den
deutschen Seeküsten, welche über ganz Deutschland verbreitet ist und das Comite
für Feriencolonien des Berliner Vereins für häusliche Gesundheitspflege.
Die Pflege kranker Kinder erfordert von Seiten der Pfleger erhebliche
Aufopferung und Geduld. Bei der Pflege eines Kindes zeigt sich erst die Brauch-
barkeit einer Wärterin, aber die Dankbarkeit des Kindes gegen diejenigen, welche
cs in Noth und Gefahr behütet, ist dafür auch um so hingehender und herz-
erfreuender. Sie ist es ja überhaupt, welche den Pfleger — und auch den Arzt —
für viele entsagungsreiche Stunden im dornenvollen Berufe entschädigt und ihn
über die Mühseligkeiten des schweren Daseins erhebt. So fusst die Krankenpflege
in dem Tlieil der ärztlichen Thätigkeit, welcher häufig die äusserlich sichtbarsten
Erfolge darbietet und auch aus diesem Grunde hat sie Anspruch auf die volle
Aufmerksamkeit des Arztes.
Literatur: Sabuttia Joseph Wolff, Die Kunst krunk zu aeyn nebst einem
Anhänge von Krankenwärter» wie sie sind und seyn sollten. Berlin 1811. — Niese, Einige
Worte über Geschichte, Bedeutung und Aufgaben der Krankenpflege für Erweiterung der
Diakonissen-Anstalt in Altona. Altona 1870. — Florence S. Leos, Handbnch für Kranken-
pflegerinnen. In deutscher Sprache herausgegeben von Schliep. Berlin 1874* — Mayer,
Vorlesungen über weibliche Krankenpflege. München 1877. 2. Aufl. — Florence Nightin-
gale, Rathgeber für Gesundheit*- und Krankenpflege. Gebers, von P. Niemeyer. Leipzig
1878, 2. Aufl. — Guttstadt, Die freie Liebest hätigkeit auf dem Gebiete der Krankenpflege
und die Ausbildung des Kranken pflegerpersonales. Berlin 1886. — Com et. Die Sterblichkeits-
Verhältnisse in den Krankenpflegerorden. Zeitschr. f. Hygiene. 1889, VI, I. Heft. — Die öffent-
liche Gesundheit»- und Krankenpflege der Stadt Berlin. Festschrift. Berlin 1890. — Pistor,
Deutsches Gesundheitswesen. Festschrift. Merlin 1890. — Piator, Anstalten und Einrichtungen
das Öffentlichen Gesundheitswesens in Preussen. Festschrift. Berlin 1890. — C huchul, Das
Rothe Kreuz. Vortrag. Cassel 1891. — H agier, Die verschiedenartigen Bestrebungen unserer
Zeit zur Vorsorge für Erholungsbedürftige. Zwei Vorträge. Basel 1891- — v. Criegern-
Th uinitz, Lehrbuch der freiwilligen Kriegs-Krankenpflege. Leipzig 1891, 2. Aufl. — Bill-
roth, Die Krankenpflege im Hause und im Hospitale. Wien 1892, IV. Aufl. — Mendel-
sohn, Der Comfort des Kranken. Berlin 1892, 2. Aufl. — Croner, Reiseskizzen aus England.
Deutsche rned. Wochensclir. 1893, Nr. 1 — 6. — Rechenschaftsbericht des Preußischen Vereins zur
Pflege im Felde verwundeter und erkrankter Krieger für das Jahr 1893 und des Central-
Comit£s der deutschen Vereine vom Rotheu Kreuz. Berlin. — Dissel hof, Das Diakonissen-Mntter-
haus zu Kaiserswerth am Rhein und seine Tochterhäuser. Kaiserswerth a. Rh. 1893, Neue
Ausgabe. — Weber, Warum fehlt es au Diakonissen und Pflegerinnen? Berlin 1894- —
Zimmer, Wie gewinnen wir gebildete Krankenpflegerinnen? Zeitschr. f. Krankenpflege. J894,
Nr. 8. — Gemberg, Die evangelische Diakonie. Berlin 1894. — Märkisches Haus für
Krankenpflege. Bericht für 1891 — 1894; Bedingungen; Pflegerinnen-Ordnung. — Hilfs-
»ch wester verein. Jahresberichte 1875 — 1894; Aufnahmebedingungen; Statut. — Eulen-
burg. Die Krankenpflegestationen des evangelisch-kirchlichen Hilfsvereines zu Berlin. Deutsche
rned. Wochenschr. 1894, Nr. 28. — Rechenschaftsbericht des Prenssischen Vereins zur Pflege
im Felde verwundeter und erkrankter Krieger für das Jahr 1895 und des Central-Comites
der Deutschen Vereine vom Rothen Kreuz. Berlin. — v. Reitzenstein, Ueber Anstalten
zur Verleihung von Krankenpflegegeräthschaften. Deutsche rned. Wochenschr. 1895. Nr. 6. —
Mendelsohn, Zeitschr. f. Krankenpflege. 1895, Nr. 1 — 12. — Verein für jüdische
Krankenpflegerinnen. Satzungen; Regulativ; Jahresberichte. 1894, 1895. — Jacob-
sohn, Geber öffentlichen Sanitatsuntcrricht. Hyg. Rundschau. 1896, Nr. 4. — v. Strantz,
Das internationale Rothe Kreuz. Berlin 1896- George Meyer.
336
KRANKENTRANSPORT.
Krankentransport. Die grosse Bedeutung, welche das Krankentransport-
wegen als ein wesentlicher Bestandteil der KrankenpHege besitzt , da es häufig
den Beginn derselben darstellt, ist zwar seit Erscheinen des ersten Aufsatzes des
Verfassers Uber diesen Gegenstand im Band IV der ..Encyclopädischen Jahrbücher“
zu weiterer Anerkennung gelangt, aber leider wird demselben, d. b. dem nicht
militärischen Theil , noch nicht von allen massgebenden Stellen die verdiente
Beachtung entgegengebraeht. Es hat dieser Umstand, wie wir selten werden, in*
sofcrne Wichtigkeit, als ein so wesentliches Glied der öft'entlichen Gesundheits-
pflege nicht in genügender Weise gefördert werden kann, wenn nicht die betheiligten
Kreise, d. h. die Behörden, von der grossen Tragweite überzeugt sind, welche die
Organisation des Krankentransportwesens für das Allgemeinwohl hat. Während
beim Heere, vorzüglich in Deutschland, die Beförderung der Kranken und Ver-
wundeten in mustergiltiger Weise geregelt ist, so dass für den Fall eines Krieges
die weitgehendsten Vorsorgen nach dieser Hinsicht getroflen sind, welche durch
die im Frieden nach feststehendem Plane geordneten Massnahmen der freiwilligen
Hilfe wirksam unterstützt werden , ist das Krankentransportwesen für die Civil-
verhältuisse in den meisten Tbeilen Deutschlands noch recht wenig eingehend
berücksichtigt worden; es sind daher auch literarische Veröffentlichungen anf
diesem Gebiete noch nicht sehr häufige.
Das Krankentransportwesen gehört aber nicht allein in das Gebiet der
Krankenpflege, sondern vor allen Dingen auch muss es bei der öffentlichen
Gesund lieits pfl ege Berücksichtigung finden. Es darf jedoch eine Scheidung nach
dieser Hinsicht uicht geschehen, sondern beide Theile sind gleichzeitig und als
gleich werthig bei der Krankenbeförderung in’s Auge zu fassen. Da diese letztere
Nothwendigkeit immer noch nicht allgemeine Anerkennung gefunden hat, ist eine
kurze Auseinandersetzung über diesen Punkt nothwendig. Es wird gewöhnlich
bei der Besprechung des Krankentransportes eine Trennung nach der Hinsicht
vorgenommen , dass Kranke mit ansteckenden Krankheiten in anderer Weise
befördert werden sollten oder könnten als nicht ansteckende Kranke oder Ver-
letzte. Eine solche Scheidung ist nicht zutreffend. Auf dem Lande und in
kleinen Ortschaften muss die Krankenbeförderung mit anderen Mitteln geschehen
als in den Mittel- und Grossstädten. In ersteren ist eine Trennung wie die
geschilderte gar nicht durchzuführen , da meistens die Geräthe zum Transport
sehr unzureichende sind und daher die gerade vorhandenen eben benutzt werden
müssen, gleichviel ob ein Verletzter oder mit einer ansteckenden Krankheit Behafteter
zu transportiren ist. Natürlich kann und muss dabei für möglichste Reinigung
nnd Desinfection der Transportmittel Sorge getragen werden. Ueber die Ein-
richtung des Krankentransportwesens auf dem Lande sind bisher überhaupt wenig
Vorschläge erfolgt, so dass eine Erörterung desselben geboten erscheint, welche
auch von mir soeben im „Samariter“ erfolgt ist. ln deu Mittel- und Grossstädten,
welche Uber geordnete Krankentransportverhältnissc verfügen oder wenigstens ver-
fügen sollten, was nicht in allen der Fall ist, ist eine Scheidung nach geuannten
Grundsätzen gleichfalls uicht am Platze. Ich werde zunächst die letzteren
Verhältnisse beleuchten , welche ich in einem im „Verein für innere Mt-dicin"
in Berlin gehaltenen Vortrage: „Ueber den Transport von Personen mit
inneren Erkrankungen“ dargelegt habe.
Das beste Beförderungsmittel für Kranke sind bis jetzt Transportwagen,
welche allen an sie zu stellenden Anforderungen für die Sicherheit und Beiiuem-
lichkeit der Kranken , sowie für Sicherheit seiner Umgebung genügen müssen.
Hauptbedingungen hierfür sind, dass der Wagen so gebaut und eingerichtet ist,
dass die ihn treffenden Erschütterungen und Stösse den Kranken möglichst wenig
belästigen , dass er genügend hoch und geräumig , hell , zu erleuchten und zu
erwärmen, mit einem Raum im Innern zur Unterbringung von Erfrischungs- und
ßelebnngsmitteln zur Benutzung während der Fahrt, mit zu öffnenden Fenstern
zur Lüftung, falls nicht Dachrciterlüftung vorzuziehen, versehen ist. Auch müssen
KRANKENTRANSPORT.
337
Plätze für mitfabrende Wärter oder Begleiter vorhanden sein , auf denen iin
Nothfalle Leiehtkranke sitzen können. Neben diesen das Innere des Kranken-
wagens betreffenden Vorrichtungen für die Bequemlichkeit des Kranken ist der
»nsscre Bau des Fuhrwerks zu beachten. Der Wagenkasten darf nicht zu hoch
vom Erdboden entfernt sein , da das Emporheben des Kranken auf seinem
Lager und Ilineinheben in den Wagen auch bei grösster Umsicht und Sorgfalt
mindestens unangenehme Erschütterungen verursacht. Andererseits ist der Wagen-
boden nicht zu tief von der Erde anzulegcn , da dadurch das Aeussere des
Wagens unangenehm auffällt, was zu Gunsten des Krankencomfort zu ver-
meiden ist. Das Aeussere des Wagens soll möglichst wenig an seine Bestim-
mung erinnern , damit der Kranke , wenn er desselben ansichtig wird , nicht
nnnöthiger Weise erregt wird. Ausserdem werden durch die auffallend gebauten
Wagen , wie man in Berlin täglich beobachten kann , die Vorübergehenden auf
den Transport aufmerksam gemacht, sammeln sich an der Ein- und Aussteige-
stelle des Kranken an und tragen auch zu seiner Aufregung bei. Die Wagen in
Hamburg, Wien, Budapest, welche kutschenartig gebaut sind, vermeiden diesen
Uebelstand , haben dagegen im inneren Bau mancherlei nicht allgemein anzu-
erkennende Einrichtungen. Es könnten coupeartig gestaltete Wagen gebaut werden,
deren Inneres z. B. mit Ledertuchpolsterung auszustatten wäre. Es würde dadurch
Bequemlichkeit für Kranke in sitzender Stellung geschaffen, und der Wagen
könnte ausgiebig gereinigt werden , besonders wenn alle Polster herausnehmbar
sind. Es ist dies sehr zu berücksichtigen , da viele Kranke sitzend befördert
werden können. Nach der hamburgischen Polizeiverordnung vom Jahre 1890
(s. u.) ist sogar die Beförderung der Kranken im Liegen die ausnahmsweise er-
folgende. Auch für Beförderung kranker Kinder würden sich solche Wagen besser
eignen als die sonst gebräuchlichen grossen Kasten, ln dem von aussen zu
öffnenden Raum unter dem Kutschersitz wird der Verbandkasten untergebracht,
was bequemer ist, als wenn dieser Raum mir vom Innern des Wagens aus zu
erreichen ist. Gerade wenn ein Verunglückter auf der Strasse oder am Orte seiner
Beschäftigung sich befindet, kann er mit den aus dem Wagen in leicht erreichbarer
Weise herbeigeschafflen Verhandmitteln versorgt und dann schnell weiterbefördert
werden. Es wäre vielleicht zu empfehlen, den Raum unter dem Kutschbock so za
gestalten, dass derselbe sowohl von aussen wie von innen leicht zu öffnen wäre.
Die Anbringung des Lagers im Innern der Wagen wird noch immer in
verschiedener Weise ausgeführt, aber die betreffenden Vorrichtungen leiden an
einer gewissen Einseitigkeit. Ich habe die Arten der Erschütterungen, denen der
W ägen, beziehungsweise sein Inhalt, durch Unebenheiten des Weges und ungleich-
mä8sigc Bewegung der treibenden Kräfte ausgesetzt ist, bereits an verschiedenen
Stellen erörtert und will hier nur kurz das Wichtigste hervorheben.
Die Bewegungen eines Körpers im Raume verlaufen im Allgemeinen als
geradlinige und als Drehbewegungen. Die beim Krankentransport vorkommenden
Erschütterungen des Kranken setzen sich aus diesen Bewegungen , beziehungs-
weise deren Resultanten (nach dem Gesetze des Parallelogramms der Kräfte) zu-
sammen. Die geradlinigen Bewegungen finden in der Richtung der drei*
Coordinaten des Raumes statt. Die bei Krankentransportwagen vorkommenden
Bewegungen setzen sich zusammen aus:
1. senkrecht gerichteten (Bewegung der Blattfedern), technisch Wogen
genannt ;
2. wagerechten Bewegungen (Zucken);
3. horizontalen Bewegungen, senkrecht zur Richtung der vorigen
(Wanken).
Die Drehbewegungen finden um die drciCoordinatcnachsen des Raumes statt:
n) Um die Längsachse;
b) um die auf dieser senkrecht stehende Wagerechte (Nicken);
c) um die auf der Längsachse senkrecht stehende Verlirale (Schlingern).
Encyclop. Jahrbücher. VI. #£
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338
KRANK EXTRANSPORT.
Man verhütet die Uebertragung der Erschütterungen des Wagens tuf
den zu befördernden Kranken durch entschieden elastische Anbringung seines
Körpers im Kaum, und zwar möglichst im Schwerpunkt des Wagens. Die bisher
zur Verringerung der Erschütterungen bekannten Mittel bezweckten meistens die
Milderung der geradlinig erfolgenden Bewegungen, und zwar durch die senkrecht
wirkenden Blattfedern. Kaum jemals hatte man Verfahren für die Abschwächnng
anderer Stfisse angebracht, mit Ausnahme vielleicht der in den Sanitätszllgen für
Kriegszwecke vorgesehenen Einrichtungen zur Aufhängung der Verwundeten-
tragen, sowie der in gewöhnlichen Feldwagen vorgesehenen Improvisationen.
Merke hat eine Neueinrichtung in dieser Hinsicht geschaffen. Er setzt
nämlich das Transportmittel mit dem darauf oder darin befindlichen Kranken
Fig. 57.
auf eine im Wagen schwebende Bühne, welche an Federn enthaltenden Drähten
hängt , während an den Seiten angebrachte Puffer die nach den verschiedenen
geraden Dichtungen erfolgenden Stösse mildern. Wiewohl diese Bauart besser als
die sonstigen die Erschütterungen für den Beförderten abschwächt, so sind doch
dabei nicht die Drehbewegungen berücksichtigt, und ich kann nur sagen, dass
bisher bei keiner einzigen Vorrichtung an Transportwagen dieses genügend oder
überha :pt geschehen ist. Ich habe daher den Tragboden im Innern des Wagens
federnd auf hohlen Gummikugeln von beträchtlicher Wandstärke aufgestellt. Die
Fig a*.
Der Boden ist vom Rahmen durch Stäbe entfernt, um die Lagernug der Kugeln und Federn xu
veranschaulichen.
Kugeln (Fig. 57 und 581 ruhen in flachen Schalen und bewegen sich gegen gleich-
grosse, an den Ecken des Tragbodens angebrachte Schalen. In der Richtung der Dia-
gonalen des Tragbodens sind an seinen vier Ecken Zugfedern angebracht, welche
sieh in einem gemeinsamen Mittelpunkt unterhalb des Tragbodens am Wagenhoden
vereinigen. Sie verhüten ein Emporkippen des Tragbodens auf einer Seite bei in
starker Belastung der anderen und bewirken, dass die Kugeln nach jeder Ent-
fernung aus ihrer Gleichgewichtslage wieder an den tiefsten Punkt der Schalen
zurückkchren. Durch Befestigung der Schalen und der vier Federn (wie aus den
Abbildungen ersichtlich) auf einem unteren Kähmen kann die elastische Lagerungs-
vorrichtung in beliebigen, z. B. Eisenbahn-, Last-, Leiter-, Landwagen, Aufstellung
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KRANKENTRANSPORT.
339
finden und dient daher besonders auch zur Bereithaltung in kleinen Ortschaften
auf dem Lande und bei MassenunglUcksfällen. Der Kranke wird in oder mit
seinem Lager auf dem oberen Brett aufgestellt. Bringt man in einem Kranken-
wagen mehrere Tragböden zu einer Unfallstelle , so können nach Anbringung
des einen in bereit stehendem Wagen mit den übrigen andere gerade vorhandene
Fuhrwerke ausgerüstet werden. Befestigt man letztere dann an dem ersteren, so
können mit der Bespannung dieses gleiehzeitig mehrere Verletzte befördert werden.
Wie furchtbar die Erschütterungen eines schlecht gebauten Wagens auf
einen Kranken wirken , hat man vielfach in Berlin zu hören Gelegenheit. Die
schmalen, kastenartig gebauten Krankentransportwagen , an deren Seitenwänden
zwei kleine Fensterchen als Eingangspforten für Luft und Licht dienen sollen,
sieht man noch vielfach. Ausser wenig wirkenden Blattfedern sind keine Ein-
richtungen zur Linderung der Stösse vorgesehen ; die Bahre wird vielfach nur
auf dem Boden des Wagens aufgestellt, jeder Bewegung dieses folgend und den
Kranken selbst bei kürzeren Entfernungen schwer schädigend. Das Leben gefähr-
dend kann solcher Transport werden bei Blutungen aus lebenswichtigen Organen,
Fig. 59.
Wagen der (iamewell Sire Alarm Telegraph Company.
Gehirn. Lungen, Magen, Nieren und im Bereiche der Gesehlechtswcrkzeugc.
Ausserdem muss der Kranke beim Transport besonders sorgsam vor Erschütte-
rungen bewahrt werden bei allen Erkrankungen , bei denen Durchbrüche von
Eiter, Blut, Steinen in oder von Organen drohen , z. B. den tvphlitischen , peri
tonitischcn Aflectionen , eiterigen Ergüssen in seröse und andere Körperhöhlen.
Auch die in Wien geübte Aufhängung der Tragen im Wagen mildert keineswegs,
wie sich aus meinen Ausführungen ergiebt, die Erschütterungen in sehr wirk-
samer Weise, wenn auch daselbst noch, wie Charas in einem Vortrage hervor-
hebt, die Aufhängungsriemen mit Gummiringen und die der Seitenwand des
Wagens zugekehrten Theile der Tragbahre mit Gummiwülsten ausgestattet sind.
Ganz eigenartig ist die Aufhängung der Krankentragen in den in ver-
schiedenen nordamerikanischen Städten gebräuchlichen polizeilichen Rettungs-
wagen der Gamewell Fire Alarm Telegraph Company zu New-York- Die Tragen
werden, wie aus den Zeichnungen ersichtlich, in Höhe der Sitzbänke an Ständern
vermittels federnder Haken aufgehängt.
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340
KRANKENTRANSPORT.
In Bezug auf die äussere Gestaltung der Krankenwagen ist immer wieder
darauf hinzuweisen, dass die feste Anbringung des rothen Kreuzes an denselben
— für Civilverhältnisse , um welche es sich stets nur bei dieser Besprechung
handelt — zum mindesten entbehrlich ist. Sollen andere dem Wagen entgegen-
kommende Fuhrwerke zum Ausweichen oder Anhalten bestimmt werden, so genügt
ein weisses Metallschild mit rothem Kreuz, welches, sobald der Kranke sich im
Innern befindet , durch einfachen Zughebel aussen auf dem Dache des Kranken-
wagens emporgehoben und beim Ausladen des Kranken wieder niedergesenkt
wird, so dass dieser selbst des Zeichens gar nicht ansichtig wird. Dass die
äusseren Hinweisungen auf die Bestimmung des Wagens für seine Thätigkeit
unnöthig sind, ergiebt sich z. B. aus der Gestaltung der Wagen in den drei
obengenannten ßtädten, von denen erstere ohnes jedes Zeichen sind, während die
Wagen in Wien und Budapest das Wappen ihrer Rettungsgesellschaften tragen.
Auch die Kutscher und mitfahrenden Wärter können ohne dieses Zeichen ihren
Dienst verrichten — wenn sie sich sonst nur immer der hohen und wichtigen
Aufgaben bewusst sind, welche sie unter diesem Zeichen zu erfüllen haben.
Fir. 60.
Wagon mit Trage der Qamewell Fire Alarm Telegraph Company.
Auch die Beleuchtung des Wagens erfolgt am besten von aussen her.
Zwar ist es für den ersten Augenblick sehr verlockend , wenn im Innern des
Wagens ein mit Reflector versehenes elektrisches Glühlämpchen auf einen Finger-
druck erstrahlt, aber man darf nicht übersehen, dass Stromsammlcr, welche hierzu
nothwendig sind , nicht in allen Orten wieder geladen werden können , wenn
letztere keine elektrischen Anlagen besitzen. Ferner findet auch leicht ein Ver-
sagen der Apparate statt, und wenn keine andere Beleuchtung vorhanden, könnte
hierdurch eine für manche Fälle verhängnissvolle Dunkelheit im Wagen ent-
stehen. Auch an den Wagen in Hamburg ist die Beleuchtung aussen angebracht
und wirft ihr Licht in das Innere des Wagens, d. h. der Kasten mit der Laterne
ist ausserhalb des Wagens, während die eine vorhandene Glasscheibe derselben
in der Wagenwand eingelassen ist. Die drei anderen Wände der Laterne sind
aus Metall hergestellt. Es erscheint zweckmässig, zwei Laternen am Kraukcn-
wagen anzubringen, eine an der Vorder-, eine an der Rückwand und dieselben
gleichzeitig als Signallaternen nach aussen zu iienutzen, wie dies bei den Strassen-
bahnwagenlateruen der Fall ist, indem die dem Wagen gegenüberliegende Wand
des Laternenkastens mit weithin sichtbarer rother Glasscheibe versehen wird.
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KRANKENTRANSPORT.
341
Wenn das Lieht für den Kranken unangenehm , so könnte dessen Stärke durch
eine von aussen noch in den Latemenkasten einzuschiebende grüne Scheibe
gedämpft werden.
Ich lege Werth auf die von aussen erfolgende Einschiebung der Scheibe,
da die zur Laterne selbst gehörige Scheibe vollkommen glatt in die Wagenwand
eingelassen sein soll. Desgleichen müssen die an den beiden Seitenwänden vor-
handenen Fenster sich in gleichem Niveau mit der Innenwand befinden und am
besten fest in die W linde eingefügt, also nicht zum Oeffnen eingerichtet sein.
Die Lüftung des Wagens geschieht entweder durch die erwähnten Dachreiter,
oder, falls solche nicht vorhanden, durch in der Thür vorhandene Fenster, welche
am besten durch am Dnterrand angebrachte Cbarniere schräg gestellt werden
können, während seitwärts befestigte Stangen sie in beliebiger Stellung festhalten.
Auf solche Weise ist es möglich, einigermassen glatte Wandungen im Wagen
herzustellen. Auch die Decke soll glatt, ihr Uebergang zu den Wänden ab-
gerundet sein. Der Fussboden wird mit Linoleum belegt und enthält Oeffnungen,
durch welche zur Reinigung benützte Flüssigkeiten abfliessen können. Das ge-
sammte Innere des Wagens wird mit Oel- oder Emailfarbe gestrichen, wodurch
der Zinkbeschlag der Wagen , wie in anderen Städten , überflüssig wird. Alle
diese Verhältnisse gestatten eine möglichst ausgiebige Desinfection des Wagens,
und diese ist für die Umgebung des Kranken von Wichtigkeit. Findet die Des-
infection im Krankenhause, und zwar möglichst nach jeder Benützung des Wagens
statt, so ist eine Uebertragung von Krankheiten auf diesem Wege, soweit dieB
angängig ist , verhütet oder doch eingeschränkt. Am meisten wird es sich ja
empfehlen, das Lager des Kranken, die Trage, nach jedem Transport zu des-
inficiren und den Wagen zu reinigen, eine Desinfection dieses aber nach jedem
Transport eines ansteckenden oder verdächtigen Kranken vorznnehmen. Es
empfiehlt sich in den meisten Fällen nicht, den Kranken in seinem eigenen Bette
zu transportiren, weil hierdurch die Uebertragung von ansteckenden Krankheiten
gefördert wird. Nur bei solchen Kranken , wo jede Erschütterung schmerzhaft
oder gefährlich ist, könnte die Umbettung unterbleiben. In allen anderen Fällen
soll der Patient auf einer Trage gebettet werden , welche mit den nöthigen
Flanelldecken und Kissen versehen ist, welche nach dem Transport sofort gereinigt,
beziehungsweise desinficirt werden können, während die Trage dem gleichen Ver-
fahren unterworfen wird. Auch der von mir angegebene, oben abgebildete Trag-
boden kann vollkommen desinficirt werden.
Da wir jetzt bei den meisten Infectionskrankhciten die Ursprungsstelle
und den Aufenthaltsort der betreffenden Keime kennen , so ist es nothwendig,
nach dieser Kenntniss auch die Ausführung der Desiufection der Transportmittel
einzurichten, was ökonomisch von grosser Bedeutung ist. Es werden ja diejenigen
Vorschläge am meisten Aussicht haben, Gehör bei den zuständigen Stellen zu
findeu, deren Verwirklichung nicht mit so hohen Kosten verbunden ist, dass der
dadurch gestiftete Nutzen in keinem Verhältnisse zu jenen steht. Und wenn man,
was noch unten zu besprechen, die Uebernahme des Krankentrausportwesens in
den Städten seitens der Behörden befürwortet, so darf auch der Geldaufwand
kein so erheblicher sein , dass die Behörden ohne Weiteres durch dessen Höhe
abgeschreckt werden, einem solchen Plane näher zu treten.
Sehr grosse Aufmerksamkeit wird diesen Verhältnissen in Frankreich zu-
gewendet. Rodssei.et veröffentlicht folgenden Fall. Ein Vater fuhr mit zwei
Kindern in einer Droschke; ein Kind fand unter der Sitzbank ein Stück Papier
und nahm dasselbe mit nach llause. Wie sich später ergab, enthielt das Papier
die Bescheinigung zur sofortigen Aufnahme eines diphtherickranken Kindes in’s
Krankenhaus. Drei Tage nach der Fahrt starb das eine und kurze Zeit später
das zweite Kind an Diphtherie. Wenn auch nicht sicher erwiesen ist, dass die
Kinder durch die Benützung des Wagens erkrankten, so zeigt sich doch, dass
dem Krankentransportwesen in Frankreich grosse Bedeutung bcigelegt wird.
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Mi
KRANKENTRANSPORT.
Allerdings darf man diese Forderungen nicht übertreiben und sogar die Des-
infection der Pferde nach dem Transport, wie sie in Paris nach Rousselet’s
Darlegung ausgeführt wird, als erwünscht betrachten.
Für Aerzte und Publicum wäre das Vorhandensein behördlicher Vor-
schriften in Deutschland , welche die Meldepflicht and Transport bei und Dcs-
infection nach ansteckenden Krankheiten nach einheitlichen Grundsätzen
regelten, von grossem Nutzen. Da der Entwurf eines Reichsgesetzes, betreffend
die Bekämpfung gemeingefährlicher Krankheiten, vom Jahre 1893 keine Giltig-
keit erlangt hat, so ist vorläufig bis nach Inkrafttreten eines Reichs-Seuchen-
gesetzes nach den bisherigen Verordnungen zu verfahren.
Für die Verhältnisse der Grossstadt ist es als besonders nothwendig
hervorznheben , dass jeder Kranke, welcher nicht zu Fuss gehen kann , sowie
alle Kranken mit ansteckenden Krankheiten in besonderen Krankenwagen be-
fördert werden. Kranken der ersten Gruppe, welche als schwerer krank anzu-
sehen sind, kann nicht zugemuthet werden, in einer gewöhnlichen Droschke
zu fahren , da deren Innenraum meistens nicht so gross ist , dass der Kranke
bequem gelagert werden kann und die Erschütterungen für den Patienten znm
Mindesten unangenehm , häutig aber gefahrvoll sind. Selbstverständlich müssen
ansteckende Kranke gehalten sein, sich der Krankenwagen zu bedienen, wozu
allerdings gehört , dass sie selbst ihren Zustand kennen. Da ein Theil von
Kranken aber auch ohne ärztliche Anweisung das Krankenhaus aufsucht , so
ist von diesen nicht gut zu erwarten , dass sie wissen , an welcher Krankheit
sie leiden. Auch aus diesem Grunde und dem schon vielfach angeführten,
dass auch ein Arzt häufig nicht auf den ersten Blick über den Charakter
einer Krankheit im Klaren sein kann, ist es nothwendig, dass so viel Kranken-
wagen in jeder Stadt vorhanden sind , dass sich jeder Kranke derselben ohne
grosse Umstände bedienen kann. Hierzu ist es weiter nothwendig, dass die-
selben an Orten stehen , wo sie leicht erreichbar sind und dass der Transport
nicht von der Bezahlung abhängig gemacht wird, d. h. dass er nicht ein geschäft-
liches Unternehmen wird. Nur für weiter unten noch zu erwähnende Fälle könnten
Privatunternehmer eintreteu. Es müsste also das Krankentransportwesen behörd-
licherseits eingerichtet und verwaltet werden, was auch wegen der Beaufsichti-
gung der Desinfection von hohem Werth wäre. Die Krankenwagen werden am
besten in grösseren Krankenhäusern oder Feuerwachen untergebracht , und aus
den letzteren besonders bei Unglücksfällen herbeigeholt, falls nicht ein Kranken-
haus näher an der Unfallsstelle liegt. Durch diese Einrichtung ist dann gleich-
zeitig eine werthvolle Grundlage für das Rettnngswesen gegeben, indem aus dem
Krankenhaus ein Arzt ohne Weiteres, bei Herbeiholung aus einer Feuerwache
ein vorher bestimmter, in der Nähe der Wache wohnender Arzt, der abgeholt
würde, mit zur Stelle des Unfalles oder der plötzlichen Erkrankung eilen könnte.
Ferner würde das Rettungswesen durch die Anwesenheit der Wagen in den
Krankenhäusern gewinnen, wenn ausserdem für erste Versorgung von Verun-
glückten und Verletzten im Krankenhause ein besonderer Raum in möglichster
Nähe des Einganges eingerichtet und hierdurch die Möglichkeit gegeben würde,
den Kranken nach der ersten Hilfeleistung entweder sogleich in das eigentliche
Spital oder seine Behausung überzuführen. Die Einrichtung des Rettungswesens
in einer Stadt muss hauptsächlich auf der Grundlage eines zweckmässig her-
gestellten Krankentransportdienstes beruhen. Ein auf der Strasse Verunglückter
muss so schnell als möglich — wenn nöthig nach Anlegung eines Nothverbandes —
von der Unfallsstelle fortgeschafft und in ein Krankenhaus oder seine Wohnung
gebracht werden. Die Beförderung ist jedenfalls ganz erheblich wichtig, vielleicht
häufig das Wichtigste für den Rettungsdienst, denn ein Nothverband ist gewöhn-
lich mit so goringen Mitteln herzustellen, dass ein einigermassen gewandter Mensch
mit den erforderlichen Vorkenntnissen einen solchen ohne grosse Vorbereitung her-
stellen kann. Allerdings gilt dies nur für die am häufigsten vorkommenden kleineren
KRANKENTRANSPORT.
343
Einzeluufälle ; für bedeutendere Verletzungen, Masse nunfälle n. s. w. müssen auch
andere Vorbereitungen getroffen sein, deren Auseinandersetzung nicht an dieser Stelle
zu erfolgen hat. Immer ist aber festzuhalten , dass, ebenso wie im Gefecht in
der Feuerlinie, nicht endgiltigc, sondern nur vorläufige Verbände angelegt werden
können, und die Verletzten dann schleunigst transportirt werden müssen , auch
bei einem Unglttcksfalle der Transport höchste Bedeutung hat. Der erste Ver-
band entscheidet nicht allein das Schicksal des Verletzten, da er
eben häufig nur ein Nothverband ist , welcher nach kurzer Zeit wieder entfernt
wird. Wenn wirklich der erste Verband bei Verletzungen so entscheidend sein
würde , wie dies von gewissen nicht sachverständigen Seiten behauptet wird , so
müsste bei weitem mehr Unheil durch die zahllosen Verbände von Laien, welche
in Xothfällcn angelegt werden , herbeigeführt werden. Ich habe daher den er-
wähnten Satz umgeändert in: Der erste Transport und erste Verband
entscheiden das Schicksal der Verletzten. Auch diese Verhältnisse sollten
hier nur kurz berührt werden, da ihre ausführliche Darlegung im Capitel
„Rettungswesen“ geschehen wird.
Fig. «1.
Elastischer Krankenfransportwa^en von der Seite.
a Kasten zum Aufbewabren dea Schraubenziehers, der Vorrathsfeder und Holzen, sowie anch
für Hineinlege» des Gepückes von den in den Wagen kommenden Verwuudeten; b Brvtt, auf
welchem dasTutter für die Prerde aufbewahrt wird ; r—k Vorrichtung zum Aus- und EiDschlebeu
der S^hwerverwundeten mittels der Pritschen, sowohl am Vordertheil als auch am Hlnter-
theil des Wagens. Die Kettenhaken (e) werden von den Ketten (d) loag-hakt, w-uauf die Sitze
(<e) für die Leichtverwundeten, nebst deren Fuasbretter (/), vermittels ihrer Schwere (g) sich
nach unten senken, wo dann die Einsatzthüren (h) aus ihren Befestigungen (•) und Lagen (k)
herausgenommen und so die Pritschen ans- und eingeschoben werden können.
Verunglückte und Verletzte bedürfen gleichfalls beim Transport des
höchsten Comforts. Das Beispiel des einfachen Kochenbruehs , der sich unter-
wegs bei mangelhaftem Transport in einen eomplicirten verwandelt, ist all-
gemein bekannt. Auch bereits zu Anfang dieses Jahrhunderts wurde die Wichtig-
keit des Transportes für (im Kriege) Verletzte hervorgehoben. Es mögen die
Worte des damaligen General-Stabs-C'hirnrgus der preussischen Armee, Joh.
Goerckk, an dieser Stelle wiedergegeben werden. Er beschreibt einen „elastischen
Krankentransportwagen“ (mit elastischen Federn), dessen Abbildung hier gezeichnet
zu werden verdient, und rühmt dessen Vorzüge:
„Die Vortheile eines so construirten Wagens, welcher damals 250 Rcichs-
tbaler kostete*), sind einleuchtend. Da der Wagen 12 Fuss (also zwei Menschen-
*) Eino in Bezug auf die Vielheit der nöthigen Wagen zwar bedeutende Summe,
die aber doch in gar keinem Verhältnisse steht zu den unendlichen Qualen und nur zn oft
tüdtlichen Folgen, mit welchen der Transport schwer verwundeter Vaterlandsvertheidigcr auf
gewöhnlichen heftig stossenden Wagen unvermeidlich begleitet ist: besonders da es durch eine
laoge Erfahrung sich als Grundsatz bewährt hat, dass bei der Hälfte, ja selbst bei zwei Dritt-
Digi
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KRANKENTRANSPORT.
längen) hat , 80 sind znr Verkürzung des Wagens die elastischen Federn sehr
ingeniös auf den Achsen unter dem Kasten angebracht worden, wodurch zugleich
der Vortheil bewirkt wird , dass der Kasten Ober die Räder hinaus zu stehen
kommt, und also nach allen Seiten hin schwingen kann, ohne dnrch Widerstand
Stösse zu erleiden, die den zerschmetterten Gliedern so höchst nachtheilig werden,
und auch selbst bei den in nicht nachgebenden Riemen hangenden Wagenkasten
nicht verhütet werden können.“
Es scheint dieser Wagen gegen andere in damaliger Zeit gebräuch-
liche allerdings ganz ausgezeichnete Vorzüge besessen zu haben, denn Wen dt
schildert 1816 dänische Transportwagen, deren Gestaltung keine für die Kranken
sehr angenehme gewesen zu sein scheint. Er sagt:
„3. Es würde für zwei Kranke oder Verwundete beschwerlich and
selbst gefährlich seyn, besonders in den heissen Sommer-Monaten, lange in diesen
3 Ellen langen uud halb so breiten und tiefen Raum eingeschlossen zn seyn,
dessen Seiten keine Polster haben.
Schon im 2- April 1801 suchte ich mir näheren Unterricht Uber die Einrichtung
der dänischen Krankentransportwagen zn verschaffen, die damals, vorkommender Fälle wegen,
in den Hof des allgemeii.en Hospitales in Kopenhagen gebracht waren, ich legte mich in einen
dieser Wagen, liess alles zumachen und mich ungefähr eine Viertelstunde im Hofe herumziehen.
Länger konnte ich es aber, obgleich vollkommen gesund, in diesem engen Raume nicht aushalten."
Aus den soeben erfulgten Darlegungen ergieht sich, dass jene oben
erwähnte Scheidung des Krankentransportwesens in ein solches für ansteckende
Kranke und Verletzte am besten fallen
gelassen wird. Bedient sich jeder Kranke
oder Verletzte, der nicht gehen kann, und
jeder mit ansteckender Krankheit Behaftete
eines besonderen Krankenwagens — zu
welchem Zwecke allerdings ihre Zahl zu
vermehren wäre — welcher nach jeder
Benutzung gründlich gereinigt, nach jedem
Transporte eines verdächtigen und jedes
ansteckenden Kranken desinficirt wird , so
wäre für die Gesundheits- und Kranken-
pflege viel gewonnen. Der Wagen muss
dann aber so gefertigt sein, dass er ausser
eingehender Reinigung und Desinfection
eine bequeme Lagerung des Kranken oder
Verletzten zulttsst, welche denselben ausser-
dem vor Erschütterungen möglichst bewahrt.
Neben dem von den Behörden ein-
zurichtenden Krankentransportwesen muss
ein von privater Seite unterhaltenes bestehen.
In Wien besorgt die Freiwillige Rettungsgesellschaft einen sehr grossen
Theil aller Krankentransporte und hat seit ihrem Bestehen bis zum 31. Mai 1836
41.703 ausgeführt. Ausserdem besorgt auch die Polizei einen Theil der verfallenden
Krankentransporte, und noch mehrere Privatunternehmer sind für dieselben thätig.
In Hamburg, wo bekanntlich das Krankentransportwesen anf musterhafter Höhe
steht, ist nur der von der Polizeibehörde organisirte Dienst für diese Zwecke
vorhanden und genügt dort auch verwöhnten Ansprüchen. Jedenfalls müssen für
die privaten Transporte gleichfalls strenge Bestimmungen und Aufsicht bestehen.
Für Pcrsouen, welche sehr hohe Ansprüche in Bezug auf Bequemlichkeit zn
stellen gewohnt sind , z. B. bei einem Transport von erkrankten Fremden aus
einem Gasthofe zur Eisenbahn oder in eine Privatbehausung , ist es angebracht,
theilen der uach Verwundung gestorbenen Krieger der Tod nicht sowohl die Folge der Verwundung
an eich, als vielmehr der nachher eingewirkten schädlichen Einflüsse war, unter denen der Trans-
port auf schlecht eingerichteten Wagen immer zunächst in Anrechnung gebracht werden kann.
Flg. SS
Klastischer Krankeutransportwagen von
vorne.
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KRANKENTRANSPORT.
345
sich privater Hilfsmittel zu bedienen, da die von den Behörden zu stellenden ja
wohl auch möglichst grosse Bequemlichkeiten bieten , aber uaturgcmäss nicht so
ausgestattet sein können wie das Prunkzimmer eines reichen Mannes. Ferner
sind die Transportwagen der Privatunternehmer von solchen Personen zu benutzen,
deuen der Gebrauch der für Viele dienenden Transportmittel nicht zusagt.
Fi*. 63.
Krankentransportwagen in Hamburg 1850, geschlossen.
Bei einem jeden Krankentransport muss filr die Mitnahme verschiedener
Gegenstände gesorgt werden, welche nicht nur für den Verband von Verletzten
und für die Lagerung wichtig sind, sondern auch zur Erquickung und Erfrischung
Fi*. 64.
Kranken tranwportu ttgen in Hamburg 1850. geöffnet.
bei anstrengender Fahrt dienen. Morphium und Aether besonders bei länger dauern-
den Eisenbahntransporten, Wein, Cognac, Sect, Eis, Wärmflasche und einige Ess-
waaren sind Dinge, deren für bequem auszufUhrende Transporte nicht zu entrathen ist.
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346
KB ANKENTKANS PORT.
Wie bereits erwähnt, ist in Hamburg das Krankentransportwesen vor-
trefflich geordnet, indem dasselbe amtlich von der Polizei geregelt ist und ver-
waltet wird. Bereits im Jahre 1850 hatte Hambnrg einen besonderen Kranken-
wagen, welchem äusserlich seine Bestimmung nicht anzusehen war.
Das Aeussere des Wagens gleicht den Staatscarossen vornehmlich durch
die C-Federn, in denen des Wagen aufgehängt ist, welche aber keine federnde,
sondern schaukelnde oder pendelnde Bewegung verursachen. Im Innern ist der
Wagen mit einem Bett versehen, so dass der Kranke in den ziemlich hohen
Wagen emporgehoben werden musste. Der Wagen gentlgte bald den gesteigerten
Anforderungen nicht mehr, und es wurden daher 1889 mehrere Wagen nach
Muster der Wiener in Landauer- und Berline-Form angeschaftt, welche mit
Gummirädern und von der Decke herabhängenden Kiemen versehen waren , an
denen die Bahren angehängt wurden. Da letztere gleichfalls nur pendelnde Be-
wegungen erlauben , so hat man jetzt die Gurte entfernt und stellt die Bahren
ohne weitere Vorrichtung in den an der Seite nach oben und unten aufgeklappten
Wagen. Die letzteren können nicht nur bei der Centralstelle im Stadtbause,
sondern auch bei allen Polizeiwachen der Stadt, die an den Hambnrgischen Feucrtele-
graphen angeschlossen sind, bestellt werden. Für besonders dringliche Fälle befinden
Fier «S.
sich auf fast allen Wachen Räderbahreu , welche von der Wachmannschaft be-
dient unverzüglich ausrücken können. Hauptsächlich werden die Räderbahren
bei Transporten in nahe gelegene Krankenanstalten oder in’s nächste Wach-
local benutzt. Die Polizeiwachen auf dem südlichen Elbeufer haben theilweise
noch Krankenkörbe. Auf dein Hauptpolizeiamte im Stadthause befindet sich eine
besondere Meldestelle, auf welcher Tag und Nacht die aus acht Mann bestehende
Sanitätscolonne in Dienst ist, um bestellte Krankentransporte sofort auszuftthren.
Die Ausführung des Transportes wird niemals von vorheriger Bezahlung abhängig
gemacht. Geisteskranke werden in gewöhnlichen Kutschen, nicht in besonders ge-
bauten Wagen befördert. Es wird dadurch, was ich gleichfalls bereits als wichtig
hervorgehoben, jedes Aufsehen für den Kranken vermieden. Nur dürfte cs zweck-
mässig sein, die Polsterung dieser Wagen mit Wachstuchbezug herzustcllen.
Besonderes Augenmerk hat man auch in Hamburg auf die Beförderung
von ansteckenden Kranken gerichtet. Der Transport von diesen in öffentlichen
Fuhrwerken ist gänzlich untersagt; es sind zur Benutzung für solche Kranke
Wagen vorhanden, welche nur aus Eisen , Holz und Glas bestehen , welche aus-
reichende Dcsinfection znlasscn und in genügender Zahl an verschiedenen Orten
der Stadt aufgestellt sind.
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KRANKENTRANSPORT.
347
Die „Verordnung, betreffend die Beförderung von Personen, welche mit
einer ansteckenden Krankheit behaftet sindu, lautet:
II.
Zar Beförderung von Personen , welche an den im § 2 bezeichnten ansteckenden
Krankheiten leiden, werden an den von der Polizeibehörde öffentlich bekannt zu machenden
Orten Krankenwagen anfgestellt. Die Benutzung des öffentlichen Fuhrwerks (Droschken, Pferde-
bahnen, Omnibus) zur Beförderung solcher Personen ist verboten.
Für die Benutzung der Krankenwagen sind die Bespannungs- und Bedienungskosten
der Polizeibehörde zu vergüten. Die letztere ist jedoch befugt, den Umstanden nach diese
Kosten ganz oder theilweise zu erlassen.
§2.
Zu den ansteckenden Krankheiten im Sinne des § 1 gehören:
Pest, Cholera. Fleckfieber (Typhus fxunthematicus Blattern, Scharlach und Diph-
tberitis Der Senat ist jedoch befngt, in gegebener Veranlassung das im § 1 enthaltene Verbot
vorübergehend auch auf andere als die vorstehend aufgeführten Infectionskrankheiten (wie
Masern, Keuchhusten, Unterleibstyphus) auszudehnen.
Die bei den aussergewöhnlichen Infectionskrankheiten : Pest, Cholera und Flcckfieber
1 Typhus exanthematicus) im Falle einer Epidemie etwa erforderlich werdenden ausserordent-
lichen Massnahmen sollen durch die Vorschriften dieser Verordnung nicht beschränkt werden.
§3.
Aerzte, welche die Beförderung von Kranken anordnen, haben hierüber eine schrift-
liche Bescheinigung zu ertheilen. die einen Vermerk darüber enthalten muss, oh es sich um
einen ansteckenden Kranken handelt , für welchen die Benutzung öffentlichen Fuhrwerks aus-
geschlossen ist, oder nicht.
Die Scheine für ansteckende Kranke sind durch ein bestimmtes Merkmal leicht
kenntlich zu machen.
§4.
Oeftentliches Fuhrwerk, welches den vorstehenden Bestimmnngen zuwider zur Be-
förderung von ansteckenden Kranken gedient hat, ist einer gründlichen Desinficirnng zu unter-
werfen. Für den durch diese Mussregel entstehenden Schaden wird aus der Staatscasse nur
dann Ersatz geleistet, wenn den Führer (Schaffner) des Fuhrwerkes hei der Aufnahme des
Kranken kein Verschulden trifft. Ein Verschulden gilt schon als erwiesen, wenn der betreffende
Wagen lüh rer (Schaffner), obwohl ihm bekannt war, dass es sich um eine Krankenbeförderung
handelte, es unterlassen hat , die Vorzeigung der im § 3 gedachten ärztlichen Bescheinigung
zu verlangen.
Die Höhe des zu leistenden Ersatzes bestimmt die Polizeibehörde vorbehaltlich der
Beschreitung des Rechtsweges durch den Geschädigten.
§5.
Zuwiderhandlungen gegen das in den 1 und 2 enthaltene Verbot, sowie gegen
etwaige, auf Grund des §2 erlassene, die Ausdehnung des Verbotes betreffende Anordnungen
des Senates werden , wenn sie vorsätzlich begangen sind , mit Gefängnissstrafe bis zu drei
Monaten oder mit Geldstrafe bis zu IGOO Mark, wenn sie fahrlässig begangen sind, mit Geld-
strafe bis zu lf>0 Mark und im Unvermögensfalle mit Haft geahndet.
Die Verantwortung trifl't sowohl denjenigen, welcher den Kranken auf den Transport
giebt, beziehungsweise den Kranken seihst , als auch den Führer (Schaffner) des betreffenden
öffentlichen Fuhrwerkes.
Uelwrtretungen des § 3 werden mit Geldstrafe bis zu 150 Mark bestraft.
§6.
Wer wegen Zuwiderhandlung gegen das Beförderungsverbot rechtskräftig zu einer Strafe
vernrtheilt ist, kann im Verwaltungswege von der Polizeibehörde zum Ersätze der gemäss
§ 4 aus der Staatscasse etwa zu zahlenden Entschädigung angehalten werden.
§ 7.
Diese Verordnung tritt an einem vom Senate festzusetzenden Tage in Kraft.
Gegeben in der Versammlung des Senats, Hamburg, den 7. Mai 1890.
Die für diese Transporte erforderlichen sogenannten Desinfectionawagen
wurden iiuaaerlich von genau gleicher Gestalt wie die übrigen, im Innern jedoch
ohne Polsterung, mit Eisenbleehbesehlag hergestellt, und von der Polizeibehörde
folgende AusfUhrungsbekanntmuebung erlassen.
Mit dem 1. Juli d. J. tritt die Verordnung vom 7. Mai 1690* betreffend die Beförde-
rung von Personen, welche mit einer ansteckenden Krankheit behaftet sind, in Wirksamkeit.
Von diesem Tage ab ist die Benutzung des öffentlichen Fuhrwerks (Droschken, Pferdebahnen,
Omnibus) zur Beförderung von Personen , welche an den in der Verordnung genannten an-
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KRANKENTRANSPORT.
steckenden Krankheiten : Pest, Cholera, Fleckfieber (Typhus tjranthematicus), Blattern, Schar-
lach und Diphtheritis leiden , verboten. Zur Beförderung solcher Personen sind von dem ge-
dachten Tage ab in den nachstehenden Depots der Finna J. A. Schlüter Söhne:
1. bei der Petrikirche 2,
X. ABC-Strasse, Platz 54,
3. St. Georg, an der Koppel 63/64,
4. Harvestehude, Mittelweg hinter 171
besondere Krankenwagen aufgestellt, welche nach jedesmaliger Benutzung desinficirt werden.
Diese Krankenwagen, welche auf ärztliches Verlangen auch für besonders unreine Kranke zur
Verfügung stehen, können nicht allein in den genannten Depöts, sondern auch in allen Polizei-
wachen, soweit dieselben an den Ham burgischen Feaer-Telcgrapben angeschlossen sind, bestellt
werden. Ausser dem Wagenführer wird in der Regel eine Begleitmannschaft nicht mitgegeben.
Nur wenn der Kranke ausnahmsweise liegend befördert werden muss, sind Krankenträger er-
forderlich, welche mit der Handhabung des Wagens nebst Zubehör vertraut sind. In solchem
Falle ist bei Bestellung des Wagens eine bezügliche Angabe zu machen, worauf das Kranken-
trägerpersonal mit erscheint.
Die Kosten der Bespannung und Bedienung werden abseiten der Polizeicasse
eingezogen.
Die Herren Aerzte werden darauf hingewiesen, dass sie gemäss § 3 der Verordnung
vom 1. Juli d. J. ab in allen Fällen, in welchen sie die Beförderung von Kranken anordnen,
eine schriftliche Bescheinigung zu ertheilen haben, die einen Vermerk darüber enthalten muss,
ob es sich um einen ansteckenden Kranken handelt , für welchen die Benutzung öffentlichen
Fuhrwerks ausgeschlossen ist oder nicht. — Formulare zu diesen Bescheinigungen werden ihnen
rechtzeitig zugehen und sind später jederzeit im Medicinal-Bureau erhältlich. — Die Ver-
pflichtung ist nicht auf die Krankenbeförderung nach den Heilanstalten beschränkt , sondern
gilt für alle Krankentransporte, auch von Haus zu Haus.
Eine ähnlich lantende „Instruction für die Führer öffentlichen Fuhrwerks,
betreffend Krankentransport“, wurde an sämmtliche betheiligten Unternehmer und
Institute ertheilt. Die Führer öffentlichen Fuhrwerks haben sich bei allen Kranken-
beförderungen eine ärztliche Bescheinigung vorzeigen zu lassen , aus der sich
ergeben muss , ob eine Benützung öffentlichen Fuhrwerks geschehen darf. Hat
eine solche dennoch bei ansteckenden Kranken stattgefunden, so muss das Fuhr-
werk desinficirt werden. Hierfür Bind besondere Formulare, roth für ansteekende,
weiss für nicht ansteekende Kranke vorhanden , deren Aufdruck folgender-
raassen lautet:
(Weieses Papier.)
Hamburg, den
Inhaber des Mitgliedsbuchs Nr. der
wohnhaft
bedarf wegen
der Aufnahme in d
Die Benutzung öffentlichen Fuhrwerks (Droschken, Pferdebahnen,
Omnibus) zur Beförderung d Kranken ist nach der Verordnung vom 7. Mai 1890
gestattet.
Unterschrift :
Für die vorliegende Kraukheit gewährt die
freie Verpflegung im Krankenhause eventl. bis
Hamburg, den *'n 189
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KRANKENTRANSPORT.
349
(Rothes Papier.)
Hamburg, den
Inhaber des Mitgliedsbuchs Nr. der
wohnhaft
bedarf wegen
der Aufnahme in d
Oeffentliches Fuhrwerk (Droschken, Pferde-
bahnen. Omnibus) darf zur Befdrderung d Kranken nach
der Verordnung vom?. Mai 189U nicht ben u tat w er d e n,
da es sich nm eine ansteckende Krankheit handelt.
Unterschrift :
Für die vorliegende Krankheit gewährt die
freie Verpflegung im Krankenhanse eventl. bis
Hamburg, den -189
Diese Formulare wurden allen Aerzten, beziehungsweise bei der Nieder-
lassung übersendet und dienen zugleich als Aufnahmcscheine für die Kranken-
häuser. Zuwiderhandlungen gegen diese Bestimmung erfolgen in Hamburg sehr selten.
Zum Transport Verunglückter bei Massenunfallen ist ein nach dem Muster
der Wiener Rettungswagen erbautes Fuhrwerk vorgesehen, in welchem vier Trag-
bahren für liegende Personen hängen. Durch Herausnahme der Tragen und Ein-
stellung von Sitzbänken ist aer Wagen auch für 10 Sitzende einzuriehten.
Durch beständige Fernsprechverbindung des Postenzimmers der Sanitüts-
colonne der Polizei mit dem Hauptdepot des Fuhrgesehäftes, in dessen Anstalten
die Wagen untergebracht sind, und welches die Bespannung für die Wagen stellt,
und mit der Feuerwehr können Tag und Nacht in kürzester Zeit die Wagen
nach allen Stadtgegenden ausrücken.
Dem Hauptdepot gegenüber, welches gleichfalls eigene Tclcphonstation
besitzt, befindet sich ein Stall mit 17 vollständig angeschirrten Pferden, wodurch
es ermöglicht wird, dass nach Meldung des Transportes, wie ich selbst beob-
achtete, der Wagen binnen einer Minute zur Abfahrt bereit steht.
Auch die Transportverhältnisse in Dresden sind recht gut geordnete
und sollen in Kürze geschildert werden. Auch in Dresden liegt das Kranken-
transportwesen hauptsächlich in den Händen der städtischen Wohlfahrtspolizei,
beziehungsweise der 14 Wohlfahrtspolizeiinspeetionen, welche untereinander Fern-
sprechverbindung und Nachtdienst haben ; hierzu kommen die beiden städtischen
Feuerwehranstalten, die Wache der Chaisenträger im Schloss und der Raths-
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350
KRANKENTRANSPORT.
chaisenträger. Bei der Polizei sind 14, bei den Chaisenträgen 4, bei der Feuer-
wehr 3 zusammenlegbare und eine feste Krankentrage vorhanden, von denen erstere
jedesmal beim Brande mitgeführt werden. Der Transport ansteckender Kranken hat
pflichtgemäss in den acht städtischen Krankenwagen stattzufinden und ist unent-
geltlich. Fünf der Wagen haben die Gestalt eleganter Coupes, drei gewöhnlicher
Droschken. In Privatbesitz sind noch zwei Krankentragen und ein Wagen in Omnibus-
form ; ferner sind Tragen in grösseren Fabriken und in jedem Bahnhof vorgesehen.
In Berlin , wo das Krankentransportwesen besonders für ansteckende
Kranke noch immer nicht auf der für eine Grossstadt erforderlichen Höhe steht,
werden trotz der weitgehendsten Polizeiverordnnngen noch in zahlreichen Fällen
öffentliche Fuhrwerke zur Beförderung ansteckender Kranken benutzt. Mütter
fahren mit ihren kranken Kindern auf dem Schoss in der Pferdebahn oder Omnibus
zum Krankcnhause oder zur Poliklinik , Erwachsene benützen Droschken. Der
Grund hierfür ist darin zu suchen, dass der Transport der Kranken in Berlin sehr
theuer ist , da er eine Einnahmequelle für Privatunternehmer bildet , und auch
sonst mit Unzuträglichkeiten verbunden ist, welche im Laufe der Erörterungen
auch schon gestreift wurden. Würde eine einheitliche Regelung der Angelegenheit
seitens der Behörden erfolgen, so könnten die Transporte, wie cs z. B. in Hamburg
stattfindet, gegen Rückerstattung der Fuhrkosten oder sogar ganz kostenlos erfolgen,
wenn der beförderte Kranke nicht selbst in der Lage ist, den Transport zn bezahlen
und keiner Vereinigung (Krankencassen- oder Armenverband) angehört, welche die
Kosten deckt. Auch hier sind gerade die Minderbemittelten, wie bei vielen Verhält-
nissen in der Krankenpflege, am meisten und viel mehr als bisher zu berücksichtigen.
Der einfache, von mir bereits mehrfach geäusserte Vorschlag, Kranken-
wagen in den Krankenhäusern selbst eiuzustcllcn , wie dies in vielen Staaten
Amerikas, England, Frankreich, Norwegen etc. der Fall ist, ist in Berlin noch
nicht allgemein befolgt. Im Krankenhause der jüdischen Gemeinde war vor
mehreren Jahren ein solcher Wagen vorhanden, wurde aber wegen zu geringer
Inanspruchnahme wieder aufgegeben. Auch das königliche Charite-Kranken haus
hat einen Krankenwagen eingestellt , jedoch soll auch dieser nicht sehr häufig
benutzt werden. Es beweist dies natürlich nichts gegen meine erhobene Forderung
der Unterbringung der Krankentransportwagen in allen grösseren Hospitälern.
Wenn in einem Krankenhausc ein Krankenwagen vorhanden, so gelangt dies natür-
lich nicht zur Kenntniss des grösseren Publicums, während dies sehr wohl der Fall
ist, wenn sämmtlielie Krankenhäuser mit solchen Wagen versorgt sind und die
Ausführung des Transportes nicht von Bezahlung abhängig gemacht wird.
Um einmal zu ermessen, ob und wie häufig in Berlin die Beförderung
von Kranken in ungeeigneten, beziehungsweise verbotenen Gefährten stattfindet,
habe ich die betretlenden Zahlen aus den drei städtischen Krankenhäusern in
Berlin zusammengestellt, welche sich auf die Jahre 1892 — 1894 beziehen.
Es kamen in das städtische Krankenhaus:
a) Im
Fricdrich8hain
Kranke mit
Infectiona
krankheiten ')
Kranke mit
anderen inneren
Krankheiten
Verletzte und
Verunglückte
1892
1893
18)4
1892
1893
1894
1892
18*3
1894
Zu Fusa
In Öffentlichen Fuhrwerken, und
571
7(52
732
5230
5997
5550
604
506
440
zwar Droschken |
18
28
56
1387
1784
1631
316
355
379
In besonderen Kranken wagen
107
106
105
4*5
3.80
633
120
10»
130
Mit anderen Transportmitteln
28
44
43
187
152
2'i6
74
06
57
Stimme . .
724
940
936
7289
8313
8020
1014
1036
1006
') d. h. Cholera, Pocken. Unterleibs- und Flecktyphus, Masern. Scharlach, Diph-
therie, Wochenbetttleber, Hirnhautentzündung, Rose, Keuchhusten.
KRANKENTRANSPORT.
351
Kranke mit
Infec Lions*
kraukbeiteu
Kranke mit
anderen inneren
Krankheiten
1
189*
1899
1894
1892
181,8
1894
1H98
1891) i
1894
1 Zn Fuss
lt 479
457
672
3118
2766
4402
232
143
252
ln öffentlichen Fuhrwerken .
27
38
37
615
747
698
99
117
115
1 In besonderen Krankenwagen
219
71
60
331
350
324
20
30
29 !
; Mit anderen Transportmitteln
7
3
1
71
4K
48
17
23
16 I
Summe .
732
569 770
4135
3911
5472
368
312
412
c) Am Urban.
Kranke mit
Infektions-
krankheiten
Kranke mit
anderen inneren
Krankheiten
Verletzte
1808
1891 1894
1892
1898
1891
1892
1893 I
1891 1
i ln
öffentlichen Fuhrwerken . .
ll 27
33 23
1306
1343
1272
279
185 |
206
ln
besonderen Krankenwagen .
h 73
120 122
443
666
563
6 8
56
65
Mit anderen Transportmitteln .
52
17 ! 25
128
145
121
59
47
32
1
Summe . .
152
170 17U
1877
2154
1956
406
288
303
Aus den Zahlentnfeln ergiebt sieb, dass weit über die Hälfte der ge-
summten Kranken die Krankenhäuser zu Fuss aufsuchen. Von den rund 08.000
in jenen drei Jahren aufgenommenen Kranken kamen 287, d. h. mehr als vier
vom Tausend Infectionskranke in gewöhnlichen Fuhrwerken, meistens Droschken,
in’s Krankenhaus. Dies beträgt durchschnittlich 32 für jedes Krankenhaus und
für das Jahr, also eine recht erhebliche Zahl, welche sieh noch grösser stellt,
wenn hierzu alle jene Fälle innerer Krankheiten gerechnet werden , welche sich
später als ansteckende Krankheiten erwiesen. Berechnet man diese 287 auf die
Summe der Infectiouskrankheiten allein, so ergiebt sich, dass mehr als vier vom
Hundert der Infectionskranken mit verbotenen Transportmitteln in die Kranken-
häuser kamen. Die Zahl der in unzweekmässigen Transportmitteln zurückgelcgten
Transporte wird aber noch viel grösser, wenn man alle chirurgischen Fälle hiuzu-
reehnet, welche besonderer Transportmittel bedurft hätten, aber in gewöhnliehen
Fuhrwerken befördert wurden. Die Gründe hierfür in Berlin sind sehr mannig-
faltige. In den meisten Fällen ist der Breis der Beförderung, häufig aber auch
die unbequeme Art, wie die Beförderungsmittel zu beschaffen und die Abneigung gegen
die vielen mit einem Transport in Berlin verbundenen Unzuträglichkeiten die Ursache.
Ich habe nun aus deu mitgctheilten Zahlen die Summe der Transporte
von Kranken mit inneren und Infectionskrankheiten und Verletzten in den einzelnen
Krankenhäusern für die einzelnen Jahre wie folgt berechnet :
, I.
*) dff. F. = Transporte im öffentlichen Fuhrwerk. — !) bcs. T.-M. = Transporte
in besonderen Transportmitteln. — ’) 8uuinie = Gesnmmtzahl der im Laufe des Jahre» Auf-
gcnommenen. — *) Da nur nur die Zihlen bis zum 31. März 1893 zur Vertäuung standen, habe
ich die Zahlen der übrigen Monate nach dem Durchschnitte der einzelnen Monate der früheren
Jahre berechnet.
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352
KRANKENTRANSPORT.
In allen drei Krankenhäusern wurden aufgenommen :
Summe 68.146 Patienten; von diesen waren befördert in:
öff. F. 11.070 = 16% der Aufgenommenen,
bea. T.-M. 7367 = 11% der Aufgenommenec.
n.
Städtische Krankenhäuser
Jahre
Moabit
ürban
Fiiedricbahain
otr.F. **■
Summe
öff. F. , T
Somme
öff F.
bes.
TM
Summe
1892
1893
1894
741 , 665
902 525
850 478
5235
6293
6899
1612 950
1561 1154
1501 ! 1025
6444
7181
6616
1721
2167
1361
1195
1032
2066
9027
10289
9962
2493 1668 | 18427
Summe. . 135%: 9% j
In allen drei Krankenhäusern w
Summe 68.146 Patienten
off. F. 18.121 = 197«
bes. T.-M. 8.385 = 12® 0
4674 3129 1 2l>441
22% 15°/0 |
urden aufgenommen :
von diesen wurden befo
der Aufgenommeneu,
der Aufgenommenen.
5954
207.
rdert ic
3588
12%
29278
Es kamen also in öffentlichen Fuhrwerken 16%, mit besonderen
Transportmitteln 1 1% der Aufgenommenen in die drei städtischen Krankenhäuser,
so weit es sich nm innere nnd Infectionskrankheiten (Tafel I) handelt. Zieht man
die Zahlen der Verletzten, welche besonders häutig in besonderer Weise zn be-
fördern sind, hinzu (Tafel II), so erhöhen sich jene Zahlen auf 19, beziehungs-
weise 12%. Durchschnittlich wurden in den drei Krankenhäusern zusammen
jährlich rund 22.000 Kranke aufgenommen , das heisst etwas weniger als der
dritte Theil der überhaupt in sämmtlichen Krankenanstalten Berlins zur Auf-
nahme gelangenden Kranken.*) Berechnet man also jene 11% der Aufgenommenen,
welche jetzt in besonderen Transportmitteln in die Anstalten kamen, auf die
Gesammtsumme in allen Krankenhäusern in Berlin, so ergiebt sich, dass jährlich
7100 Menschen (mit inneren Erkrankungen) in Berlin besonderer Transportarten
schon unter jetzigen Verhältnissen bedürftig sein würden , eine Zahl , welche
sicherlich die hohe Wichtigkeit des Krankentransport wesens kennzeichnet. Dass
jene genannten Kranken eines besonderen Transportes wirklich bedürftig waren,
ist für jeden Kenner Berliner Verhältnisse klar, da iit Berlin kein Kranker, welcher
nicht muss, sich in besonderen Krankenwagen u. s. w. befördern lässt.
Diese Zahlen stehen im Widerspruch zu denen, welche Rubneb anführt.
Er sagt in seinem im preussischen Abgeordnetenhause gehaltenen Vortrage, dass
5 — 6 von 100 aller Kranken eines besonderen Transportes bedürften , und er
hat die gleichen Ziffern in einem Aufsatze an anderer Stelle wiederholt.
Die Reinigung und Desiufection der Krankenwagen erfolgt am besten
in dem Krankenhause, zu welchem sie fahren oder gehören. Der erste re Fall
tritt dann ein, wenn die Wagen beispielsweise bei der Feuerwehr untergebracht
sind. In kleinen Orten, auf dem Lande , wo Krankenhäuser bisweilen sehr weit
entfernt liegen, .Spritzenhäuser hingegen sehr zahlreich, meistens in jedem grösseren
Dorfe vorhanden sind, empfiehlt sich die Aufstellung der Wagen in diesen be-
sonders. Es ist allerdings schwierig, in bereits vorhandenen Feuerwachen
in Gressstädten für Krankenwagen Platz und Bespannung zu beschaffen. Bei
Um- und Neubauten von Feuerwachen , welche jetzt mehrfach z. B. in Berlin
*) Es wurden in allen Berliner Krankenhäusern anfgenommen :
1889
rund
58.1 HM) Kranke
1890
60.t«Xl ,
1891
61.000
1892
. „
66.UOU
also durchschnittlich .
61.250 Kranke
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KRAN KENTRA NSPORT.
353
bevorstehen, sollte diese Frage in ernste Erwägung gezogen werden. Gerade die
Verbindung auch dieses Zweiges des Sanitätsdienstes mit der Feuerwehr würde
segensreiche Folgen haben , da in Deutschland und Oesterreich hei den meisten
Feuerwehren Sanitätscolonnen und Samariter ausgebildet sind, denen die Ausübung
der ersten Hilfe der „Rettung-1 bei allen erdenklichen Unglücksfällen obliegt. Auch
bei den freiwilligen Feuerwehren besteht eine vortreffliche Mannszucht, welche für
den Krankentransportdienst, besonders wenn derselbe bei Massennnglüeksfällen in
Thätigkeit tritt, unerlässlich ist.
Es werden daher die am Schlüsse meines Vortrages im Verein für innere
Medicin zu Berlin aufgestellten Sätze , gegen welche sich in der betreffenden
Sitzung kein Widerspruch erhob, auch an dieser Stelle zu erwähnen sein :
1. Das Krankentransportwesen einer Grossstadt ist behördlicherseits
einzurichten und zu verwalten.
2. Die Krankeutransportwagen sind am besten in den grösseren Kranken-
häusern und Feuerwachen unterzubringen.
3. Die Bestellung der Krankentransportwagen erfolgt direet von deren
Unterkunftsplätzen, durch Vermittlung der Rettungswachen oder der Polizeiwachen.
4. Bei der Bestellung der Krankentransportwagen sind den Bestellern
sogleich Nachrichten über die in dem gewünschten Krankenhause verfügbaren
Plätze zu geben.
5. Die Beförderung von ansteckenden und solchen innerlich Erkrankten,
welche nicht gehen können, in den öffentlichem Verkehr dienenden Fuhrwerken
ist zu verbieten.
6. Die Krankentransportwagen werden nach jeder Benutzung im Kranken-
bause, zu welchem sie fahren oder gehören, gereinigt, beziehungsweise desinficirt.
7. Die den Krankentransport ausfuhrenden Träger haben nach jedem
Transport ihre Kleider zu reinigen, beziehungsweise zu desinficiren.
8. Die Ausführung eines Krankentransportes darf niemals von der Be-
zahlung abhängig gemacht werden.
Nicht allein die Sanitätscolonnen der Feuerwehr, sondern auch die frei-
willigen Sanitätscolonnen, welche aus der Zahl der Kriegervereine hervorgehen,
pflegen das Krankentranaportwesen in besonderer Weise. Bei den meisten
L'ebungen, welche das Rothe Kreuz veranstaltet, wird, wie aus den Jahres-
berichten des Central-C'emites der Deutschen Vereine vom Rothen Kreuz hervor-
geht, zu Land und zu Wasser gerade die Beförderung von Kranken in hervor-
ragender Weise geübt. Der Krankentransportdienst bildet wohl einen der
wichtigsten Theile der kriegsvorbereitenden Friedensthätigkcit jeuer Vereine,
welchen die der Wichtigkeit des Gegenstandes entsprechende hohe Aufmerk-
samkeit gewidmet wird.
Diese letztgenannten Vereinigungen sind auch berufen , das Kranken-
transportwesen auf dem Lande und in kleinen Ortschaften in zweckentsprechender
Weise einzuriehten und zu erhalten. Bei einem grösseren Unglücksfalle werden
die in allen Orten wohnenden Mitglieder der genannten Vereinigungen, zu denen
auch noch au zahlreichen Plätzen die Mitglieder der Genossenschaft freiwilliger
Krankenpfleger nud der Samaritervereine kommen, sich sofort zu gemeinsamem
Vorgehen vereinigen und unter Zuhilfenahme improvisirter Beförderungsmittel,
falls andere nicht vorhanden , wirksame Unterstützung gewähren können. Auch
bei Einzeltransportcn erkrankter Personen werden sich die Improvisationen erfolg-
reich erweisen, indem besonders die auf dem Lande gebräuchlichen Leiterwagen —
auch unter Benützung meines oben abgebildeten Tragbodens — in kurzer Zeit
zu brauchbaren Krankeutransportwagen umgestaltet werden können, wie dies
Port durch zahlreiche Angaben gelehrt hat. Die Improvisationen dieses Meisters
der Technik eignen sich ganz besonders auch für die nichtmilitärischen Verhält-
nisse im Frieden, während die von Ellbogen (Iglau) vorgeschlageuen Abände-
rungen von gewöhnlichen Arbeitswagen zu Krankentransportwagen, welche auf der
Encyclop. Jahrbücher. VI. 23
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354
KRANKENTRANSPORT.
Ausstellung des internationalen Hygiene-Congresscs in Budapest 1894 zu selten
waren , sich hauptsächlich für Kriegszwecke eignen dürften.
Für den Transport auf dem Lande und in kleineren Städten wird man
auch vielfach auf die Benützung von Tragen allein oder von Räderbahren ange-
wiesen sein , da für diese die Aufstellung von Krankenwagen ja auch als zu
ersehnendes Ziel zu betrachten, aber doch wohl zn kostspielig sein dürfte.
Auch die Tragen und Räderbahren müssen nach dem oben Gesagten
für den Kranken möglichste Bequemlichkeit bieten und gut desinficirt werden
können. Es sind seit Erscheinen meiner ersten Arbeit an dieser Stelle mehrere
recht brauchbare Modelle von Krankentragen veröffentlicht worden , welche für
den Patienten bequem, zum Theil zusammenlegbar sind und auch meistens die
Forderung der Desinfectionsfähigkeit erfüllen.
Geschichtlich bemerkenswerth ist das „englische hängende Tragbett4,
welches der dänische Obermedicus Wendt 1810 beschreibt und welches eine
genaue Wiedergabe verdient (Fig. 66).
Der unterste Rahmen ist von Holz 7' lang, 4*/«' breit und mit vier
Handgriffen versehen.
Das Hängebett ist mit Stroh, Werg oder Tangmatratze, Kopfkissen
und Decke versehen.
Fig. o«.
Englisches hängendes Tragbrtt 181B.
Ucbcr die halbrunden hölzernen halben Reifen wird ein Stück Segeltuch
oder desgleichen gelegt, um den Kranken gegen böse Witterung zu schützen.
Bereits seit längerer Zeit ist beim Leipziger Samaritervercin eine Trage
im Gebrauch, deren genauere Beschreibung im vorigen Jahre im Mai in „Der
Samariter“ erfolgte. Die Tragstangen sind durch in Charnieren gehende Quer-
balken verbunden, welche gemeinschaftlich und gleichzeitig durch eine in ihrer
Mitte angebrachte Leitstange genähert und entfernt werden können.
Die Trage wiegt 10 Kgrm., ihre Anwendung ergiebt sich aus den bei-
gefügten Abbildungen (Fig. 67 — 69).
Eine Räderbahre, welche auf dem internationalen mediciniscben Congress
in Rom preisgekrönt wurde , hat Soltsiek (Altona) angegeben. Die Achse ist
13 Cm. lang, die Räder je 65 Cm. hoch.
Eigenartig und ursprünglich ist der Gedanke, welchen Ingenieur Hei.i.-
dohfer (Würzburg) bei der Construction seines „Tragbahren-Vehikels“ verfolgte.
Diese fahrbare Tragbahre, welche eigentlich Kriegszwecken dienen soll, aber
auch gerade für kleinere Ortschaften im Frieden nutzbringend sein dürfte, kann,
wie die Abbildung zeigt, auf sehr kleinen Raum zwecks bequemen Verpackens
auf Fahrzeugen zusamtnengclegt werden. Jede Tragbahre ist mit einem umklapp-
baren Rade ausgerüstet, welches eine augenblickliche Verwandlung in eine ein-
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KRANKENTRANSPORT.
355
räderige Fahrbahre zulässt und vermöge des Einrades Befahren selbst schmälster
Fig. 67.
Tragbahre de* Leipziger Samaritervereins.
Wege gestattet. Jede Bahre kann auch durch Anbringung des Radgabe lschaftes
in einer mit Federn ausgerüsteten Hülse federnd hergestellt werden. Sind bessere
23*
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356
KRANKENTRANSPORT.
Wegeverhältnisse vorhanden, so werden zwei Bahren nebeneinander verkuppelt,
und es entsteht eine zweiräderige Fahrbahre, welche die Beförderung von zwei
Räderbahre nach Soltsien.
Verwundeten durch einen Mann gestattet. Es können auch drei Bahren neben
Fig. 71.
Tragbahren-Vebikel nach Helldurfer.
einander gestellt werden, so dass dann drei Verletzte durch zwei Mann be-
fördert werden können, was bei grösseren Unglücksfällen in Fabriken in kleinen
Tragbahreu-Vehikel. Rad und Fusastutzen heruntcrgeklappt.
Städten hohen Werth hat. Die Kadanbringung ist derartig hergestellt , dass ein
einziger Handgriff genügt , um das Rad nach allen Richtungen fest versteift in
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KRANKENTRANSPORT.
357
Fahrstellvng zu bringen. Am Hinterl heil der Tragbahre sind zwei Fussstützen
angebracht, deren Herablassung eine wagereehte Stellung der im Ruhezustand
2 Tragbahren-Vebikel nebeneinander verkoppelt.
befindlichen fahrbar gemachten Tragbahre bewirkt. In dieser Stellung kann die
Trage, welcLe Tischhöhe hat, nötbigenfalls als Operationstisch benützt werden.
Fi*. -4.
Zusammengelegt.
Die beschriebene Einrichtung, Rad, Fussstützen und Verkuppelungsvor-
richtung, kann auch au beliebigen anderen Tragen angefügt werden (Fig. 75 — 77).
Gewöhnliche Tragen, mit Bad, Fussstützen und Verkuppelung versehen.
Eine zusammenklappbare Tragbahre, welche durch einen Handgriff
gebrauchsfähig zu machen ist , war auf der deutsch nordischen Handels- und
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358 KRANKENTRANSPORT.
Industrieausstellung in Lübeck 1895 von Si ff (Hamburg) ausgestellt. Dieselbe
zeichnet sich durch Leichtigkeit nnd Kaumersparniss aus (Fig. 78 und 79).
Flg. 7«.
Tragbahre nach Siff.
Die Beförderung von Kranken auf Eisenbahnen ist in einzelnen Staaten,
z. B. Deutsehland, noch nicht in einer allen Anforderungen genügenden Weise
geordnet. Auf den preussischen Bahnen sind sechs Salonkrankenwagen vorhanden,
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KRANKENTRANSPORT.
359
Fig. 7s*.
ftlr deren Benützung Fahrkarten I. Classe für jede Person, mindestens jedoch
zwölf Karten zu lösen sind. Bei Einstellung von Gepäck- und Güterwagen, sowie
von Personenwagen III. und IV. Classe (insofern aus ersterer die Sitze heraus-
genommen sind) sind sechs Fahrkarten I. Classe der betreffenden Zuggattung zu
lösen. Die Kosten für eine Krankenheförderung sind also sehr hohe und die
Benützung der Wagen nur für begüterte Menschen erreichbar,
was auch v. Leyden hei Gelegenheit der Discussion meines
Vortrages im Verein für innere Medicin bestätigte.
Die Anbringung von Spueknäpfen in sämmtlichcn
Abtheilungen der Eisenbahnwagen wäre dringend erforderlich.
Auch der Transport von Kranken auf Schiffen ist von
Bedeutung, da derselbe als sehr schonender angesehen wer-
den muss. In Hamburg ist für diesen Zweck ein besonderes
Boot mit einer Cajüto vorhanden, welche zwei Abtheilungen,
für ansteckende und nicht ansteckende Kranke, enthält. Es
dient dazu, Kranke von den im Hafen liegenden Schiffen
aufzunehinen und an's Land zu bringen, wo dieselben dann
im Krankenwagen weiter befördert werden.
Gerade in den letzten Jahren sind die Vereine vom Kothen
Kreuz der Frage des Wassertransportes Kranker näher getreten,
da derselbe ja besonders in Kriegszciten treffliche Dienste zu
leisten im Stande ist, wie sich dieses in mehreren Feldzügen
auch bereits gezeigt hat. Von früheren Versuchen nach dieser
Richtung ist das auf der internationalen Ausstellung 1876
für Gesundheitspflege und Rettungswesen in Brüssel ausge-
stellt gewesene Kraukentransportscliiff zu bemerken, welches
von der schwedischen Gesellschaft des Rothen Kreuzes hergerichtet worden war.
Seine Einrichtung ergiebt sieh aus den Abbildungen (Fig. 81 — 84).
ln Bayern wurden Uebungeu mit Mainschiflen, welche eine Breite von
3 Meter, Höhe von 80 Cm. und Länge von 18 Meter besitzen, angestellt. In einem
-d
Tragbahre, zusammen-
geklappt.
Fig. SO.
Englisches Krankentransport-Fahrrad.
solchen Schiff sind 24 Krankentragen unterzubringen, wobei noch genügender Raum
für Ess- und Waschtisch, Nachtstuhl und Verbandkasten übrig bleibt. Die Bahren
werden in Gestelle eingelegt , von denen siebeu Stück benöthigt sind. Die Ge-
stelle sind aus Brettern von etwa 12 Cm. Breite zusammengesetzt. Die schrägen
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KRANK ENTRANSPORT.
Bretter dd (Fig. 85) kreuzen sich mit ihren oberen Enden : im Kreuzungswinkcl liegt
die Firststange a. Von ihren unteren Enden gehen die schrägen Bretter re nach
aussen gegen den Schiffsrand und tiberragen denselben um etwa 40 Cm. Die
schrägen Bretter dd und ee werden jederseits durch die wagereebteu Bretter bh
und cc verbunden , welche die Bahrengriffe tragen und von denen erster? mit
dem äusseren Ende auf dem Schiffsbord aufruhen. Die -3 Cm. breiten Bretter ft'tt-
die die 2, 3 Meter von einander entfernten Gestelle verbinden , bilden für die
oberen Bahren eine Art Bettkasten zur Sicherung gegen das Herausfallen des
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KRANKENTRANSPORT.
361
Kranken. Das stumpf anf dem Schiffsrand aufgesetzte Brett gg trägt die seit-
lichen Längsstangen hh, Uber welche der Sehiffsplan herabhängt. Schwerkranke
befinden sich in den oberen Bahren, Leichtkranke und Wärter in den unteren.
Bemerkenswerth sind auch die bei der Hamburger Colonne vom Rothen
Kreuz zum Transport von Kranken in Schuten angegebenen Methoden iFig. 86).
Fig. sä.
I
Schnitt nach Ä.
An den Längsseiten des Schiffes wird in der Höhe des anzubringenden Gestells ein
Brett angenagelt und an dieser Latte eine Art Leiter mit zwei Sprossen befestigt.
Der Leiter gegenüber wird ein Gestell in Sägebockform aufgerichtet und Uber beide
Theile oben und unten ein Querholz mit zwei Knacken gelegt, durch die zur
Fig. 8«.
1
Schnitt nach B.
Befestigung ein Holzpllock gesteckt wird. Nach Aufstellung eines zweiten gleichen
Geräthes können vier Tragen, zwei oben und zwei unten, untergebracht werden.
Auch in Frankfurt a. M. bewährte sich bei einer im Mai 1894 von der
dortigen Sanitätscolonne abgehaltenen Uebung die Beförderung der Kranken auf
einem Flussschiff vortrefflich. Die Holzconstruction zur Aufnahme der Tragbahren
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362
KRANKENTRANSPORT.
scheint nach dem Bericht Aehnlichkeit mit der auf den bayrischen Schiffen ge-
habt zu haben.
Fig. 84.
Bett auf dem Transportschiff in Brüssel.
Die allgemeine Anerkennung, welche bei allen vorgekommenen Gelegen-
heiten , auch bei zahlreichen anderen als den geschilderten Gelegenheiten , der
Fig. 8».
A
c e
Krankentransport anf Mainschiffen.
Krankenbeförderung in Flussschiffen zu Theil geworden, haben das Central-Comite
der deutschen Vereine vom Kothen Kreuz veranlasst, auf der diesjährigen Gewerbe-
Fig. 88.
Krankentransport in Sehnten (Hamburg).
Ausstellung in Berlin eine vollständig für Krankentransport ausgerüstete Zille
zur Anschauung zu bringen. Mehrere derselben können miteinander verbunden
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KRANKENTRANSPORT. — KREBSSERUM
363
von einem Schleppdampfer befördert werden und bilden dann einen Saoitiltszug
auf dem Wasser. Vor einigen Tagen fand eine Hebung der freiwilligen Sanitäts-
Colonne Berlin mit diesem Schiff statt, welche die erheblichen Vorzüge des
Wassertransportes auf Flusslilufen besonders gut erkennen licss.
Die Vereine vom Rothen Kreuz sind ganz besonders dazu berufen lind
geeignet , in Gemeinschaft mit den übrigen für die Ausübung der ersten Hilfe
bestehenden Körperschaften, Samaritervereinen, Sanitätscolonnen der Feuerwehren
u. s. w. das Krankentransportwesen thatkriiftig zu fördern, wie dies auch an vielen
Orten geschieht. Es steht zu hoffen, dass in Deutschland alle diese gemeinnützigen
Zwecken dienenden Vereinigungen sich um einen Mittelpunkt schaaren und eine
gemeinsame Organisation für ihr segensreiches und humanes Wirken schaffen.
Literatur: Goercke, Kurze Beschreibung der bei der königl. preussischen
Armee stattfindenden Krankentransportmittel für die auf dem Schlachtfelde schwer Ver-
wundeten. Berlin 1814. — Wen dt, Ueber Transportmittel der verwundeten und kranken
Krieger. Kopenhagen 1816. — Peltzer, Das Militär • 8 an i tat s wesen auf der Briissele inter-
nationalen Ausstellung für Gesundheitspflege und Rettungswesen. Berlin 1877. — Dag Kranken-
transportwesen in Hamburg, seine Entwicklung und Organisation. Hamburg 1892. — Rousse-
let, Le# *ecourn public# en ca# d'accideut«. Paris 1882. — Rousselet, Le trän spart de#
waUtde# dan# le# höpitaux. Progres m6d. 1892, Nr. 9. — George Meyer, Krankentrans-
port. Encvclopädische Jahrb. 1894, IV. — George Meyer, Der Krankentransport in Berlin.
Zei'schr. f. Krankenpflege. 1894, Nr. 4 und Berliner klin. Wochenschr. 1894, Nr. 44. —
Rubner, Leitende Grundsätze für die Anlage von Krankenhäusern und üb r nothwendige
Reformen der Zukunft. Vortrag. Leipzig 1895. — Krankentransportfahrrad. Brit. med. Journ.
27. April 1895- — Die neue Leipziger zusammenlegbare Krankentrage. Der Samariter. 1895,
Nr. 10. — Soltsien. Eine Wasserübung der Hamburger Colonne des Rothen Kreuzes. Der
Samariter. 1895, Nr. 16. — George Meyer. Rettnnggwesen. Encvclopädische Jahro. 1895,
V. — Helldörfer, Tragbahrenvehikel. Der Samariter. 1895, Nr. 21. — Einrichtung von
Fl os«- und Canalschiffen für den Verwundetentransport. Der Samariter. 1896, Nr. 3. — George
Meyer, Ueber den Transport von Personen mit inneren Erkrankungen. Vortrag. Deutsche med.
Wochenschr. 1896, Nr. 4. — Charas, Ueber Krankentransportwesen in Städten und auf dem
flachen Lande. Vortrag Wien 1896. — George Meyer, Eine neue Lagcrungsvorricktung für
Krankentransport. Zeitscbr. f. Krankenpflege. 1896, Nr. 5 — George Meyer, Krankentransport
und Rettungswesen auf dem Lande. Der Samariter. 1896, Nr. 11. George Meyer.
Kreatinin, Bestimmung im Harn, 8. pag. 243.
KrebSSerum (Krysipelserum). Die mehrfache Beobachtung rascher
Heilung von Krebs und Sarkom durch intercurrentes Erysipel regte dazu an, die
Toxine des Erysipels als Heilmitte.I gegen Krebs zu versuchen. Schon Fkhl-
eiskx und N Kl ss ku haben virulente Reincnltnren von Erysipclkokken hei hoff-
nungslosen Füllen von Krebs mit Erfolg eingeimpft, jedoch dieses Mittel wurde
als zu gefährlich bald aufgegeben. William B. Colkv wollte aus Cnlturcombi-
nationen von Strcptoeoecus mit Bacillus -pruditjiosus Toxine gewinnen , deren
suhcutanc oder parenchymatöse Application auf maligne Tumoren heilend cinwirken
sollen. Emmerich constatirte 1886, dass das Erysipel nicht nur den Krebs,
sondern auch Milzbrand heile, und stellte schon vor den Veröffentlichungen Bkuring’s
Uber das Diphtlicriescrum ein Heilserum gegen Milzbrand dar. Er versuchte nun
dieses Heilserum, nachdem er es von den giftigen Stoffwccliselproducten, Toxinen
der Erysipelkokken, im Organismus des Schafes, welche diese im Harn aus-
scheiden, befreite, im Vereine mit Hermann Scholl auch gegen Krebs beim
Menschen anzuwenden. Das Krebsseruin ist kein Immnnserum wie das Diphthcrie-
heilserum. Bei der Darstellung desselben werden die Thiere nicht durch Bchnclle
Steigerung der anfangs injieirten kleinen Dosen baktcrienhaltiger Culturen
immunisirt, sondern es wird gleich mit der Injeetiou einer ziemlich grossen
Quantität von Erysipelculturen begonnen. Diese Quantität lässt nur eine geringe
Steigerung zu und erzeugt hei den Thieren eine Art chronischen Krankheitsprocess,
der häufig mit localen Eiterungen verbunden ist. Es kann hier demgemäss die
Höhe der Wirkung nicht in Immunisirung ausgedruckt werden. Dm jedoch das
Krebsscrum möglichst gleichartig zu gestalten, ist es nöthig, dass zur Infectiou
möglichst gieichwerthiger Thiere immer auch Culturen von demselben Orad der
Virulenz benützt werden. Diese Cultureu werden aus dem Herzblut iutraperitoneal
KRERSSERUM.
364
inlicirter Kaninchen gewonnen. Zur Gewinnung des Krebssernms lässt man
die mit Erysipeleultur inficirten Schafe verbluten und fängt das Blut in sterili-
sirten Gefässen auf. Nach einer bestimmten Zeit wird das Serum alipipettirt
und durch ChaMBERLAKD- oder d’Ahsoxval ■ Filter von Erysipelkokken befreit.
Das auf diese Weise kalt sterilisirte Serum wird in 10 Ccm. fassende, sterilisirte
Kollfläschchen gefüllt, welche, mit sterilisirtem Kitt verschlossen, bis zum Gebrauch
kühl und im Dunkeln aufbewahrt werden. Die Dosis des Serums richtet sich nach
der Grösse des Tumors und nach dem Körperzustande des Kranken. Bei jüngeren
kräftigen Individuen kann mau so viel als möglich injiciren; bei Tumoren bis
Taubeneigrflsse genügt meist die Injection von 1 — 4 Ccm., täglich wiederholt.
Bei grösseren Tumoren kann man 10 — 25 Ccm. Serum auf einmal an verschiedenen
Stellen der Geschwulst einspritzen. Nach der lujection tritt oft erysipelartige
Schwellung, aber kein oder nur massiges Fieber auf. Tritt keine Verkleinerung
des Tumors ein, so kann man die Injectionen immerhin fortsetzen. Geschieht
dies längere Zeit, so hat man den Nachtheil , dass eine Art Immunisirung ent-
steht. Es soll daher eventuell die Behandlung nach mehrwöchentlichem Aussetzen
wieder von Neuem begonnen werden. Bei schweren bedrohlichen Fällen (Sehluck-
und Athcmnoth infolge des Tumors) versuchten Emmerich und Scholl nach
mehreren energischen Seruminjectionen überdies die Einimpfung von viru-
lenten Erysipelstreptokokken, da nach ihren Beobachtungen die Seruminjeetion
den Verlauf des Erysipels gefahrlos zu gestalten vermag.
Emmerich und Scholl theilten 6 Fälle von Krebskranken mit, bei denen
das Erysipelserum stets Heilerfolge erzielte, wo noch kein ausgedehuter eiteriger
Zerfall der Geschwulst eingetreten war. Die Geschwulstknoten verkleinerten sich
in einigen Tagen um die Hälfte und schwanden nach weiteren wenigen Tagen
ganz. Je jünger das Carcinom zur Behandlung kommt, um so sicherer soll die
Heilung sein. Nach Analogie der Wirkung dieses Serums gegen Milzbrand
nehmen Emmerich und Scholl an, dass Krebsparasiten vorhanden sein müssen,
gegen die das Erysipelserum seine Wirksamkeit entfaltet.
Die Nachprüfungen der von Emmerich und Scholl mitgetheilten Resul-
tate stimmten die Aussichten auf eine auf diesem Wege mögliche Heilung des
Krebses bedeutend herab. Wohl berichtet auch Mynter über die Heilung eines
Sarkoms der Bauchhöhle durch lujection von Erysipeltoxinen. Bruns konnte
jedoch in seinen Fällen (Carcinome , Sarkome und maligne Lymphome) keine
Einwirkung der Injectioneu auf das Waehsthum der Neubildungen beobachten.
Als üble Nebenwirkungen, die wohl auf den nicht sterilen Zustand des be-
treffenden Serums zurückzuführen sein dürften, stellten sich in einigen Fällen
plötzlich hochgradige Störnngen der Athmung und Herzthätigkeit ein, in allen
Fällen trat eine mit der Menge des eingespritzten Serums zunehmende Temperatur-
steigerung auf. Reineboth versuchte es bei einem Endotheliom ebenfalls mit
negativem Erfolg. Bei einem Kranken von Freymuth mit recidivirender sarkomatöscr
Epulis am rechten Oberkiefer, dem in mehrtägigen Intervallen 0,5 Serum in die
rechte Wange injieirt wurde, trat hierauf ein heftiges Erysipel auf, welches sich
Uber das ganze Antlitz aUBbreitete und sich auf die Gattin des Patienten übertrug.
Czerxy berichtet über ein mit Coley’s sterilisirten Erysipelkokken-
Prodigiosusculturen erfolgreich behandeltes Parotiscarcinom. Trotz oder vielleicht
wegen der heftigen Nebenwirkungen, die dabei auftraten, habe cs mehr geleistet
als das EMMERiCH-SCHOLL sche Heilserum. P. L. Friedrich studirtc gelegentlich
von Heilvcrsucheu nach Coley’s Methode die Wirkung der Streptokokken und
der Prodigiosustoxine auf den menschlichen Organismus, speciell auf die Körper-
temperatur. Kr kam dabei zu dem interessanten Resultate, dass die den Ein-
spritzungen folgenden Fieberbewegungen einen typischen Charakter zeigten ; nach
Injection von reinen Streptokokkentoxinen erfolgte ein relativ langsamer Anstieg
und entsprechend langsame Remission des Fiebers. Je nach der Widerstands-
fähigkeit der behandelten Personen bedurfte es verschieden hoher Dosen von
Toxinen, um dieselbe Reaction zu erzielen, welche jedoch zu dem Umfange
KREBSSERUM.
KROPFBEHANDLUNG.
365
der Neubildung in keiner nachweisbaren Beziehung stand. Andererseits
zeigte sich kein Parallelismns zwischen der Toxicität der Cultur für den
Körper von Thieren und fltr den vom Menschen ; so wurden Toxine einer
ftir Tliiere hochvirulenten Streptokokkencultur vom Menschen in sehr hohen
Dosen fast reactionslos vertragen. Die Injeetion unfiltrirter Cultursterilisate
der Mischculturen von Streptococcus und Bacillus prodigiosys erzeugten beim
Thiere keine schweren Erscheinungen , dagegen beim Menschen die schwersten
Intoxicationswirkungcn — Muskelschinerz , Schüttelfröste, unzählbaren Puls,
frequenteste Athmung — , die schon 15 Minuten nach der Einspritzung auftraten
und mit bedeutender Temperatursteigerung nach 2 — 4 Stunden ihren Höhepunkt
erreichten. Hingegen bewirkten Filtrate des reinen Streptococcus , sowie der
obigen Mischcultur keine wesentliche Reaction. Es finden sich also die wirksamen
Giftkörper an die Bakterienzelle gebunden und gehen in die im Filtrat vor-
handenen löslichen Stotfwecliselproducte nicht Uber.
Einen anderen Weg zur Gewinnung eines Krebs heilserums schlugen
Richet und Hericourt ein. Sie spritzten Eseln und Hunden den filtrirten wässerigen
Extraet eines malignen Tumors ein und entnahmen 10 — 14 Tage später das
Blut des Versuehsthieres. Von dem so gewonnenen Serum wurden in die Nach-
barschaft der behandelten Tumoren (Fibrosarkom der Brustwand, inoperabler
Magenkrebs) täglich 3 Ccm. mehrere Wochen hindurch eingespritzt. Erfolge:
angeblich Verkleinerung der Geschwulst und Besseruug des Allgemcinzustandes.
ClMIXO modificirte dieses Verfahren in der Weise, dass er Hunden, Eseln und
Ziegen 40 Tage hindurch abwechselnd Streptokokkenculturen und wässerigen
Krebsextract injicirte. Mit dem nach weiteren 40 Tagen aseptisch entnommenen
Blutserum wurden den Krebskranken Einspritzungen gemacht von zuerst 1 Cem.,
dann 2 Ccm. täglich, wenn keine zu heftige Reaction auftrat. Auch diese Methode
soll vorzügliche Erfolge geliefert haben. (Literatur s. bei P. Barlerix.)
Literatur: R. Emmerich im Vereine mit Most. Scholl nnd Tsuboi. Blut-
serum gegen Milzbrand. Münchener med. Wochenschr. 1894, Nr. 28. — Coley, Treatment
of inoperables malignes Tumours by the toxines of Erysipelcocrus and of Bacillus pro-
digiosus. Amer. Journ. of the med. Science«. 1894, Juiy und Amer. medico - aurgical ltuliet.
1. December. — R. Emmerich und H. Scholl, Klinische Erfahrungen über die Heilung
des Krebses durch Krebsserum (Erysipelserum). Deutsche med. Wochenschr. 1895, Nr. 17. —
P. Bruns, Zur Krebsbehandlung mit Erysipelserum. Deutsche med. Wochenschr. 1895, pag. 313.
— W. Pctersen. Einige kritische Bemerkungen zur Krebsheilserumtherapie von Emmerich
und Scholl. Deutsche med. Wochenschr. 1895, Nr. 20. pag. 314. — Freymuth (Danzig),
Zur Behandlung des Krebses mit Krebsserum. 1895, Nr 21. — ■ Mynter, Sarcome of the
abdominal cavity treated by injections of Erysipel toxines. Med. Record. 18115- — De Witt,
Malignes Tumours treated by Erysipel toxines. Northwestern Lancet. 13. März 1895. —
H. Scholl, Mittheilung über die Darstellung von Krebsserum. Deutsche med. Wochenschr.
1895, Nr. 46. — Czerny, L'ebcr Theilversucke bei malignen Geschwülsten mit Erysipeltoxincn.
Münchener med. Wochenschr. 1895, Nr. 36. — Emmerich und Zimmermann, Leber einige
mit Krebsserum behandelte Fälle von Krebs und Sarkom. Deutsche med. Wochenschr. 1895,
Nr. 43- — Czerny (Heidelberg), Entgegnung auf vorstehende Mittheilung. Ibidem. — Reine-
both, Injectionen in ein Endotheliom mit Emmerich'schem r Krebsserum * . Aus der medi-
cinischen Universitätsklinik zu Halle. Deutsche med. Wochenschr. 1895, Nr. 48. — P. L. F ried-
rieh, Heilversuche mit Bakteriengiften bei inoperablen bösartigen Neubildungen. Arch. f. klin.
C'hir. L, pag. 709. — P. Barlerin, Traitement du cancer par la Bfrumtherapie. Linde-
pendance medicale. 1896, Nr. 5. Loebisch.
Kropfbehandlung mittelsSchilddrüsenpräparate. Gelegentlich der
Versuche, welche Prof. Emmixghaus und Dr. Reinhold im Jahre 1894 in der psychia-
trischen Klinik zu Freiburg i. B. an kropfigen Geisteskranken anstellten, um dadurch
nach Analogie der günstigen Erfolge bei den als Complication der Entkropfungs-
kachexie auftretenden Geistesstörungen die psychopathischen Vorgänge zu beein-
flussen, ergab sieh der zufällige Befund, dass diese Behandlung eine erhebliche
Einwirkung auf die gleichzeitig bestehende Anschwellung der Schilddrüse zeigte.
Bei 4 unter 5 Kranken nahm der Halsumfang während der Behandlung tim
I, 5 — 4 Cm. ab: der eine trotz Behandlung persistirende Kropf erwies sich
als ein Cystenkropf. — Die Veröffentlichungen der beiden Freiburger Psychiater
veranlassten Prof. BRCXS in Tübingen , die gleiche Methode bei gewöhnlichen
366
KROPFBEHANDI.UNG.
Strumen in Anwendung zu ziehen. Der erste Bericht, den BRUNS auf der Natur-
forscher-Versammlung in Wien 1894 über seiue diesbezüglichen Beobachtungen
gab, brachte eine Bestätigung der vorstehenden Beobachtungen. Auf Grund von
12 mit Schilddrüseningestion behandelten Fällen kam Bruns zu dem Schlüsse,
dass „die Schilddrüsenfüttcrung auf manche Strumen eine speeifische Wirkung
ausübe und deren rasche Verkleinerung oder vollständige Beseitigung bewirke“.
Von den 12 Kranken wurden 4 Kinder im Alter von 4 — 12 Jahren innerhalb
4 Wochen vollständig von ihrem Kropfe befreit; der Halsumfang nahm om
2,5 Cm. ab. ln einem 5. Falle ging der Halsumfaug um 7 Cm. zurück, es blieb
nur ein cystischer Rest übrig. In einem 6. Falle ging ein rechtsseitiger klein-
faustgrosser Knoten zurück und ein hühnereigrosser Knoten der anderen Seite
blich bestehen. In 3 Fällen fand eine Verkleinerung des Halses um 3 Cm. statt
und in weiteren 3 Fällen war die Behandlung resultatlos. — Auf Anregung von
Bruns versuchte sodann l’rof. Kocher an 12 Patienten jflnglichcn Alters die
gleiche Behandlung. In 3 Fällen war der Erfolg gleich Null, in den übrigen
9 war eine merkliche Verkleinerung des Kropfes zu constatiron, hauptsächlich
im Dickendnrchmesser, weniger im Breiten- und am geringsten im Längsdnrch-
messcr. Ein vollständiger Schwund der Struma trat nicht ein.
REINHOLD und Bruns traten bald mit weiteren Versuchen in die Oeffent-
lichkcit. Der erstere hatte 12 weiteren kropfigen Geisteskranken Schilddrüsen-
präparate verabreicht. Bei keinem derselben blieb der Erfolg aus: cs liess sich
immer eine Verminderung des Halsumfanges um 1 — 3, einmal sogar um 6 Cm.
(innerhalb 30—40 Tagen Behandlung) nachweisen. Brcns verfügte zur Zeit seiner
zweiten Veröffentlichung Uber 60 Beobachtungen. Von diesen 60 behandelten
Fällen bezeiehnete er 14 als vollständig geheilt, 20 von ihrer Struma als zum
grössten Theile und von ihren Beschwerden gänzlich geheilt, 9 als erheblich
gebessert uud 17 als erfolglos behandelt. Die weitaus günstigsten Resultate
hatte er bei jugendlichen Individuen erreicht ; sümmtliche im ersten Jahrzehnte
stehenden 7 Kranken wurden vollständig geheilt. Von den 28 im 2. Jahrzehnt
stehenden Kranken traf dieses Resultat nur für 7 zu, 14 galten als grössten-
theils geheilt, 4 als gebessert und 3 als erfolglos behandelt. Das 3. Jahrzehnt
gab ungleich schlechtere Chancen; von 14 Kranken waren 4 mit gutem, 3 mit
massigem und 7 ohne Erfolg behandelt worden ; vollständige Heilung war hier
nicht zu verzeichnen. Von 11 weiteren Kranken im 4. — 6. Jahrzehnt war bei
2 das Resultat ein gutes, bei 2 ein massiges und bei 7 ein negatives.
Nach der von Bruns jüngst auf dem letzten Congresse für klinische
Medicin gegebenen Zusammenstellung hat die Zahl der von ihm behandelten Fälle
die stattliche Zahl 350 erreicht. Ein Viertel derselben blieb von dem Verfahren
überhaupt unbeeinflusst, ein Drittel erfuhr eine bedeutende Abnahme des Kropfes
bis auf kleine Knoten, ebenfalls ein Drittel erfuhr eine nur mässige Besserung
und nnr 8% erfuhren eine vollständige Rückbildung. Von den erfolgreich behan-
delten Fällen machte sich bei 60% bereits nach 1 — 2 Wochen, hei 40% nach
3 — 4 Wochen eine Verkleinerung bemerkbar. Leider aber war der Erfolg bei
der grössten Mehrzahl der Fälle kein anhaltender ; denn in mehr als drei Viertel
derselben wuchs der Kropf wiederum uacli. Das Recidiv pttegte schon nach
1 — 2, zuweilen auch erst nach 3 — 4 Monaten ciuzutreten. Jedoch machte BRUNS
gleichzeitig die Erfahrung, dass man durch eine Wiederaufnahme der Cur schon
für nur kurze Zeit in bestimmten Zwischenräumen einem Recidiv Vorbeugen könnte.
Auch in der kgl. chirurgischen Poliklinik in Berlin sind seit 1894 eine
Reihe von Fütterungsversuehcn mit Schilddrüsen präparaten angestellt worden,
Uber die Stabki, jüngst ein Rcsume gegeben hat. In allen Fällen, die mindestens
4 Wochen lang in Behandlung waren, d. i. in 25, wurde ein positives Resultat
erzielt, jedoch auch fast immer nur eine Besserung. Eine complete Heilung liess
sich nur in 2 Fällen (% Jahr lang ohne Recidiv) feststellen, zwei weitere an-
fänglich als Heilung aufgefasste Fälle recidivirten. Aber auch die 92% Ge-
besserten blieben nicht stationär, sondern zeigten allmälig wieder eine Zunahme
KROPFBEHANDLUNG.
367
des Halsttmfanges, in der Regel 4 — 6 Woclien nach Aussetzen der Behandlung.
Nur eine einzige von den 23 gebesserten Strumen war stationär geblieben ; es
war dieses aber gerade die am wenigsten stark entwickelte mit der geringsten
Neigung zum Waehsthum. Stabei. machte ferner die Beobachtung, dass, je
schneller eine Struma sich zuriickbildete, um so schneller sie im Allgemeinen auch
wieder wuchs , wenn die Fütterung in den ersten Wochen ausgesetzt wurde.
Dieses Resultat muss auffallen gegenüber den Angaben Bruns, dass sich unter
seinen 60 Füllen nur 3mal ein leichtes Recidiv nach Ablauf einiger Monate ein-
gestellt habe. — Weiter sei erwähnt, dass auch Angerer Erfahrungen über ein
verhültnissmässig grosses Krankenmatcrial veröffentlicht hat. Von ihm wurden
78 Kropfkranke mittels Schilddrüsenpräparate behandelt. Von 4 — 6 Fällen ab-
gesehen, die wegen Beschwerden oder Widerwillen die Behandlung vorzeitig ab-
brachen , wurde bei allen Kröpfen eine entschiedene Rückbildung erreicht. Der
Erfolg war bis auf 2 Fälle ein dauernder.
Im Auslande hat schliesslich Fletcher Ingals 50 Fälle aus seiner und
befreundeter Collegen Clientei gesammelt. In 38 Fällen nahm die Geschwulst ab,
in 1 1 blieb sic unverändert und in einem Hess sich Uber den Ausgang nichts
Genaueres in Erfahrung bringen.
Ausser Reixhold, Bruns, Kocher, Stabel und Angerf.r haben noch
Ewald und Kuttner — 8 Fälle, die säinmtlich eine Abnahme des Halsumfanges
um 2 — 4,5 Cm. aufzuweisen hatten — , Epelbaum — 1 Fall mit erheblicher
Besserung — , Heixsheimkr — 2 Fälle mit Rückgang um 3 Cm. — , HKRZEL
und Irsai — eine Reihe von Fällen mit Erfolg — , Marie — 1 Fall mit beträcht-
licher Abnahme — , MC Claughry — 1 Fall mit vollständigem Schwinden der
Struma, ein zweiter mit Verkleinerung um */, Zoll — , Mc Dowall — 1 Fall von
enormem Kropf mit beträchtlicher Besserung — , MÜNZ — 2 Fälle mit ausge-
zeichnetem Erfolg, darunter bei einem Heilung — , Sabrazis und Cabannis —
1 Fall mit Heilung — , SENK — 1 Fall mit ausgezeichnetem Erfolg — , Sserapin —
von 12 Fällen erfuhren 7 eine Verkleinerung des Umfanges um 1 — 3,5 Cm. —
und Thomas — 1 Fall bei einem Kinde mit gutem Resultate — diesbezügliche
Beobachtungen über Schilddrüsentherapie bei genuinem Kropf veröffentlicht.
Was die Präparate betrifft, so verabreichten Bruns, Emminghaus-Rein-
hoi.d, Kocher und Stabel im Anfänge frische rohe Schilddrüse vom Kalb oder
Hammel, fein zerhackt, in Oblaten oder als Sandwichs genossen, in einer Dosis
von 6 — 8 — 10, vereinzelt auch bis 15 Grm., anfänglich alle 2 — 3 Tage, später
alle 8 — 14 Tage (bei Kindern je nach dem Alter 4 — 10 Grm.), bei späteren Ver-
suchen, desgleichen Ewald getrocknete Schilddrüsensubstanz in Form der bekannten
Tabletten (cf. weiter unten den Artikel „Sehiiddrüsenbehandlung“) in der Dosis
1 — 2, ansteigend bis 7mal 0,3 Grm. Stabel will beobachtet haben, dass mit
Tabletten, wenigstens mit denen der Dresdener Hofapotheke, nicht das gleiche
günstige Resultat erzielt werden konnte wie mit Fütterung der frischen Drflseu-
substanz. Als möglichen Grund für diese Erscheinung führt er an, dass es nicht
möglich ist, hier die absolut gleiche Menge der wirksamen Substanz der frischen
Drüse einzuführen, ohne eine zu grosse Alteration der Herzthätigkeit zu bewirken;
denn der Versuch, die Dosis Tabletten zu erhöhen, nöthigte wegen des un-
günstigen Einflusses auf das Herz mehrfach, die Therapie für eine Zeit auszusetzen.
Im Allgemeinen wurden von den angeführten Autoren direct unange-
nehme Erscheinungen niemals beobachtet, d. h. solange die Dosis sich inuerhalb der
oben angeführten Grenzen bewegte. Wenn ja einmal solche sich bemerkbar zu machen
begannen, dann genügte ein kurzes Aussetzen, um dieselben sogleich zum Ver-
schwinden zu bringen. Mässige Steigerung der Pulsfrequenz war nach Staiiel
jedoch eine constante Erscheinung , ohne dass dabei die Kranken über Kopf-
schmerzen, Herzklopfen u. s. w. geklagt hätten. Acute Dilatation des Herzens
vermochte er auch bei der höchsten Pulsfrequenz niemals zu beobachten. Zucker
im Urin zeigte sich nur einmal, und dieses nur vorübergehend. War einmal eine so
hochgradige Herzthätigkeit eiugetrcten, resp. Uberseben worden, dann hielt die-
K RO t‘F B K HANDLUNG-
3G8
selbe infolge der cumulativen Wirkung des Thyreoidins allerdings noch wochen-
lang an. Rkinhold, Ewald und Bruns sahen ebensowenig bedrohliche Er-
scheinungen. — Dagegen erwähnt Angerer, dass er in einem Falle, wo sich an
die Schilddrüsenbehandlung die Strumektomie anschloss, einen tödtlichen Ausgang
infolge von Herzlähmung erlebte, und warnt daher, dieser Methode den opera-
tiven Eingriff unmittelbar folgen zu lassen.
lieber das Verhalten des Körpergewichtes während der Schilddrüsen-
fütterung gehen die Angaben der Beobachter auseinander. Kocher will in keinem
seiner 12 Fälle eine Gewichtsabnahme, bei 7 ein Gleichbleiben und bei 5 sogar
eine Zunahme um 200 bis 3200 Grm. beobachtet haben. Reinhold sah bei weit-
aus den meisten Fällen eine deutliche Abmagerung, bei 3 jedoch auch eine Zunahme.
Bezüglich der Indicntion für die SchilddrUsenbehandlung hatte bereits
Bruns gelegentlich seiner ersten Versuchsserie gefunden, dass bei Cystenkröpfen
wenig oder gar nicht auf einen Erfolg zu rechnen sei; am günstigsten wtlrden
einfache Strumen ohne Complication, und zwar ausschliesslich Parenchymkröpfe,
desgleichen relativ frische Strumen jugendlicher Individuen beeinflusst. Auch bei
seinen späteren Versuchen erzielte Bauxs die günstigen Erfolge an jugend-
lichen Personen, wie aus der obigen Zusammenstellung ersichtlich. Kocher hin-
gegen konnte nicht finden, dass das Alter für die Wirksamkeit oder Unwirksam-
keit der Schilddrüsenbehandlung massgebend sei, sondern vielmehr die Natur des
Kropfes. Cystische Kröpfe bleiben unbeeinflusst, wie auch Reinhold gesehen
hatte. Auch grosse C’olloidknoten längerer Dauer, wo man bei Operationen starke
Bindegewebsentwicklnng, Blutergüsse und diffuse Colloidentartung von Gefäss-
wänden und interstitiellem Gewebe neben der follicnlären Hyperplasie und der
Colloidansammlung in den Follikeln antriflt, scheinen der diesbezüglichen Behand-
lung nicht zugänglich zu sein. Bruns’ und Kocher's Ansichten dürften sich in-
dessen in dem Punkte begegnen , dass diejenigen Kröpfe die meiste Reduction
erfahren, die zum grössten Theile aus einfachem, die Kropfknoten verbindendem
und einleitendem hyperplastischcn Gewebe bestehen, was ja auch für die jugend-
lichen Kröpfe zumeist zutrifft. Dieser Theil der Struma wird zum Schwinden
gebracht, und nur die Kropfknoten bleiben, wie beide Autoren übereinstimmend
betonen. Die Struma erhält dadurch eine feste, derbe Consistenz.
Auch Herzel, Flktcher Ixgals und Andere machten die Erfahrung, dass
einfach hyperplastische und womöglich jugendliche Kröpfe die günstigsten Chancen
bieten. Ponset ferner betont, dass die Statistik gezeigt habe, dass unter 10 Kröpfen
8 — 9 eystischer Natur und nur 1 — 2 parenchymatöser Natur zu sein pflegen
und verspricht sich daher von der Schilddrüsenbehandlung bei Kropf im Allge-
meinen keinen grossen Werth. Er meint sogar, dass diese Methode hinter der
Jodbehandlung zurückstche.
Für die Dauer der Behandlung werden im Durchschnitt einige wenige
Wochen genügen. Bruns, Ewald und Reinhold beobachteten nämlich überein-
stimmend, dass der Erfolg sich bereits nach den ersten Dosen bemerkbar zu
machen beginnt, nach 8 — 14 Tagen sein Maximum erreicht, und dass von dann
an eine weitere Abnahme des llalsumfanges wohl kaum mehr stattfindet.
Ob der Schilddrüsenbehandlung des primären Kropfes eine so grosse
Bedeutung zukommt, wie Bruns auf Grund seiner umfangreichen Versuche be-
hauptet, oder ob sie nur von temporärem Wcrthe ist , wie Stabel behauptet,
muss die Zukunft entscheiden. Möglicher Weise war die Beobachtungszeit von
Bruns eine zu kurze. Dessenungeachtet bietet das Verfahren zweierlei Vortheile,
einmal , dass es bei Luflröbrenstenose infolge zu grossen Schilddrüscnvolumens
die sonst unausbleibliche Tracheotomie vermeiden lässt, und zum zweiten, dass
es, worauf Bruns mit Recht hinweist, in Fällen mit unvollständiger Rückbildung
der Struma die nachträgliche Enuclration der einzelnen, nunmehr leicht abzu-
tastenden Knoten sehr erleichtert.
Es erledigt sich noch die Beantwortung der Frage , auf welche " eise
der Rückgang des Kropfes zustande kommt. Geht mau von der Voraussetzung
KROPFBEHANDLUNG. — KUPFER.
m
aus, dass beim Entstehen eines Kropfes ein Theil der spezifischen Drüsenelemente
infolge der kropfigen Veränderungen fnnetionsuntüchtig wird, und dass andere
Theile den Ausfall der Function mit übernehmen müssen und daher hypertrophiren,
so wird leicht verständlich, warum in dem Falle, dass normales Schilddrüsen-
secret von aussen dem Organismus hinzugeführt wird, die physiologische Hyper-
trophie sich wieder zurückbildct. Sie ist überflüssig geworden ; es bedarf keiner
Compensation mehr.
Literatur: Angerer, Ueber die Behandlung de« Kropfes durch Schilddrüsensaft.
Münchener med. Wocbenschr. 1896, Nr. 4 — P. Bruns, Ueber die Kropfbehandlung mit
ächilddrüsenftitterung. Deutsche med. Wochenschr. 1894, Nr. 41. — P. Bruns, Weitere Er-
fahrungen über die Kropfbehandlung mit Schilddrüsenfütterung. Beitr, zur klin. Chir. XIII,
Heft 1. — Bruns, Deutsche med. Wochenschr. 1896. Ver.-Beil., pag. 85. — A. Epelbaum, De
V organoth^rapie. Tb£se de Paris. 1896. — C. A. Ewald, Ueber einen durch Schilddrüsentherapie
geheilten Fall von Myxödem nebst Erfahrungen über anderweitige Anwendungen von Thyreoidea-
präparaten. Berliner klin. Wocbenschr. 21. Januar 1895. — Gaide, Du traitement thyroidien
dann le goitre , le myxoedbne et le crJtinisme. Th6se de Bordeaux, 1895. — Fr. Heinsheime r,
Entwicklung und jetziger Stand der Schilddrüsenbehandlung. J. F. Lehmann, München 1895. —
A. Hennig, Ueber Thyrojodin. Münchener med. Wochenschr. 1896, Nr. 14. — Herzei und
Irsai, Versuche und Heilbeiträge über den Einfluss der Schilddrüse auf Gesunde und Struma-
kranke. Pester med.-chir. Presse. 1896, Nr. 12. — Fletcher lngals. The tveatment of the
goitre and the exophtalmic goitre by thyroid extract. New York med. Journ. 7. Sept. 1895. —
Kocher, Die Schilddrüsenfunction im Lichte neuerer Beobachtungsmethoden verschiedener
Kropfformen. Correspondenzbl. f. Schweizer Aerzte. 1895. Nr. 1. — Lanz, Die Schilddrüsen-
therapie des Kropfes. Correspondenzbl. f. Schweizer Aerzte. 1895, Nr. 2. — P. Marie, De la
medicatiun thyrotdienne dann Je goitre vulgaire. Semaine mW. 1895, Nr. 56. — Th. S. Mc
Claughry, Ttro cases of insanity u'ith yoitrt treated irith thyroid extract. Journ. of ment,
science. XL, Nr. 171, pag. 635. — Mc Dowall, Journ. of ment. Science. Jan. 1895, pag. 171. —
Münz, Die Schilddrüsenbehandlung des Kropfes. Münchener med. Wechenschr. 1896, Nr. 3. —
Poncet und Boudet, Sur la raleur de la mMication thyroidienne. Lyon m6d. 1896.
Nr. 7. — G Reinhold, Ueber Schilddrüsentherapie bei kropfleidenden Geisteskranken. Münchener
med. Wochenschr. 31. Juli 1894. — G. Rein hold, Weitere Mittheilungen über Schilddrüsen-
therapie bei kropfleidenden Geisteskranken. Münchener med. Wochen-chr. 1895, Nr. 52. —
Sabrazis und Cabannis, Gutrison rapide d'un goitre simple etc. Gaz. hebdom. 1896,
Nr. 28. — Sen 6, Gucrison d’un goitre rolumineux par Vingestion de corpo thyroXdc de
mouton. Jonrn. de med. et de chir. prat. 25. Mai 1895. — Sse rapin, Zur Frage der Behand-
lung der verschiedenen Kropfarten mittels Schilddrüsenpräparalen. (Russ.) Wratsch. 1896,
Nr. 5. — H. Stabei, Zur Schilddrüsentherapie. Berliner klin. Wochenschr. 1896, Nr. 5. —
Thomas, Deutsche med Wochenschr. 1896. Ver.-Beil., S. 86. G. ßuschan.
Kupfer. Gegenüber der allgemein verbreiteten Ansicht von der Un-
schädlichkeit kleiner Mengen von Kupferverbindungen im Allgemeinen vindicirt
Filkhne l) nach Versuchen an Kaninchen und Hunden dem K 11 p f e r k a 1 i u m-
tartrat gesandheitsgcfährliche Wirkung, die sich auch schon bei Gaben üussert,
die nicht brechenerregcnd wirken. Zum Genüsse für Menschen bestimmte Lösungen
von Weinsäuren Salzen und in specie von Kaliumtartrat, besonders also auch
Weine, müssen vor nachträglicher Berührung mit Kupfer oder Messing oder mit
Kupfersalzen behütet werden, nnd Weine , die infolge solcher Berührung in
Betracht kommende Mengen durch Schwefelwasserstoff nachweisbaren Kupfers
enthalten, müssen unter allen Umständen gemieden werden. Mit diesen Vcrsuchs-
resultaten harmonirt auch das neuerdings constatirte Vorkommen von Vergiftung
durch Wein, der durch innen stark grünspanhaltige Messingkrahne abgezogen
wurde und in welchen man starken Kupfergehalt nachweisen konnte, wobei sich
charakteristische Cnprismussymptome (Ohnmacht, Tenesmus, Muskelzuckungen
und Icterus) nachweisen lassen.*) Solche Fälle sprechen natürlich nicht für ein
Verbot des Kupfcrns von Weinstftcken zur Verhütung der Traubenkrankheit,
da hier höchstens dann Kupferkaliumtartrat in den Wein gelangt, wenn die
Trauben vor dem Keltern nicht von dem mechanisch anhaftenden Kupfersalz-
überzuge befreit wurden. Das aus dem Boden aufgenommene Kupfer ist im Weine
nur in Mengen vorhanden . die schädliche Wirkung nicht voraussetzen lassen.
Auffallend ist dio Differenz der Giftigkeit des Kupfernatrium- und Kupferkalitiin-
tartrats, insofern doppelt so grosse Gaben von Cu in Form des Kaliumdoppel-
Encyclop Jahrbücher. VI. 24
370
KUPFER.
salzcs ertragen werden als vom Natriumdoppelsalze. Die Verhältnisse der Aus-
scheidung durch die Nieren bieten dafür keine Erklärung. Denn obsehon das
Kaliumsalz sich wesentlich diffusibler als das Natriumsalz erweist, wird es in
geringeren Mengen und weit langsamer durch die Nieren eliminirt, so dass das
Maximum der Ausscheidung bei letzteren auf die 60., bei der Natriumverhinduug
erst auf die 108. Stunde fällt. Der Grund ist darin zu suchen, dass ungeachtet
seiner grösseren Diffusibilität das Kaliumdoppelsalz langsamer resorbirt wird,
so dass zu derselben Zeit sich nur ,/4 der Cu - Menge in der Leber deponirt
befindet als bei Vergiftung mit dem Natriumdoppelsalze. Bei intravenöser Ein-
führung ist das Kaliumdoppelsalz giftiger. Ucbrigens ist die Giftigkeit des Kupfers
bei Application der Doppelsalze, soweit es sich um acute Intoxicationeu handelt,
grösser, als man nach den früheren Untersuchungen IIarnack’s annimmt. So
resnltirt nach Ft LEHNE tödtliche Vergiftung von Kaninchen nach 2 — 4 Mgrm.;
subcutan ist die 7 — 14faehe Menge erforderlich, intern das etwa löfacbe der
minimal letalen subcutanen Dosis.
Hinsichtlich der Theorie der acuten Kupfervergiftung ist durch die neueu
Untersuchungen ermittelt, dass neben der Muskellähmnng, in der man meist nach
Harxack's Vorgänge das Wesen des Cuprismus acutus erkennt, auch Lähmung der
Nervencentra existirt. Man darf nicht blos an functionellc Lähmung denken, denn
es finden sieb bei etwas länger dauernder acuter Vergiftung stets materielle Ver-
änderungen des Blutes und der Organe, die in ihren geringsten Anfängen sich
nach Filehxe durch die für Blutgifte charakteristischen kleinen Blutungen in
der Magenschleimhaut und in fettiger Degeneration der Leberzellen der Aeinus-
peripherie, in weiter vorgeschrittenen Fällen durch schwere Anämie und ausge-
dehntere Veränderung der Leber, die bald das Bild der biliösen Cirrhose mit
fettiger Degeneration, bald das der atrophischen, fettig degeuerirten Leber dar-
bietet, der Nebeunieren, die intensiv fettig degenerirt sind, und der Nieren
(Metallniere) charakterisirt. Auch Klemptner*) hebt als constanten Leichen-
befund bei Vergiftung mit Kupfernatriumtartrat Blutungen hervor, die von ihm
in fast allen Organen, mit Ausnahme von Milz und Speicheldrüsen, sehr verbreitet
auch in den Muskeln aufgefunden wurden. Als besonders auffällig erschien in
Ki.EMPTCEr’s Versuchen, besonders bei rascher Vergiftung durch intravenöse oder
subeutane Application, die hämorrhagische Schwellung des Darmes, die stets am
intensivsten im Dickdarm war, aber auch bis in den oberen Theil und selbst bis
in den Magen hinaufreichte.
Dass es sich hei den fraglichen Vergiftungen auch da, wo das Mittel inner-
lich gegeben wird, um die Wirkung des resorbirten Kupfers handelt, ergiebt sich
daraus, dass die Magenschleimhaut intact ist oder nur wenig betroffen wird. Auch
bei Thiercn, welche erbrechen, können durch nicht brechenerregende Gabeu von
Kupferdoppelsalz, wenn solche monatelang mit dem Futter verabreicht werden,
die bezeichneten Veränderungen in Leber und Niere hervorgerufen werden.
Von Interesse erscheint auch, dass die „Fetttröpfchen“ in der veränderten
Leber sich häufig nach Osmiumeinwirkung nicht schwarz, sondern dunkelbraun
färben. Da in ungefärbten Präparaten Tröpfchen mit geringerem Lichtbrechungs-
vermögen von dem Aussehen des Myelins verkommen, die sich mit Osmium
ebenfalls braun färben, handelt es sich dabei wahrscheinlich um Vorstufen des
Fettes oder ein für die frühen Stadien fetter Degeneration charakteristisches Fett.
Im Harne nicht tödtlich vergifteter Thiere ist anfangs kein Eisengehalt nach-
weisbar, später aber wird der Urin dunkler und ergiebt, offenbar infolge des
Zugrundegehens von Erythrocyten , mehrere Tage mit Rhodankalium zu consta-
tirenden erheblichen Eisengehalt.
Eine vollständige Ungiftigkeit kupferorganischer Verbindungen, in denen
das Cu maskirt ist , kann wohl nicht zugegeben werden , da die dem Ferratiu
entsprechende, neuerdings von Schwarz *) dargestellte Cuprialbumin säure,
die durch Reduction in Cuproalhuminsäure übergeht, toxische Action liesitzt.
Allerdings tritt der giftige Effect erst sehr spät ein, und die am Froschherzen
KUPFER.
371
im WiLLlAMsVhen Apparate bei stärkerer Concentration resultirende Schädigung
des Herzmuskels mit schliesslichem systolischen Herzstillstände bleibt bei einer
Concentration von */4 Mgrm. auf 50 Ccm. Nährflüssigkeit nicht allein ans, sondern
es kommt zur Verstärkung der Systolen und Diastolen , wogegen Kupfersulfat
und Kupfernatriumtartrat in gleicher Concentration noch Herzstillstand bewirken.
Dieser Umstand und die von Tschirch *) durch weitere Versuche bei Wasser-
culturen von Phaaeolus multiflorua constatirte Thatsache, dass bei Aufnahme von
Kupfer die Vegetation viel üppiger vor sich geht als ohne Cu 0, scheinen
die tonisirende Action der kleinen Knpferdosen zu bestätigen. Ob aber für die
therapeutische Verwendung die kupferorganischen Verbindungen , von denen
Robert6) die unter dem Namen Knpferhämol in den Handel gebrachte Ver-
bindung mit Hämoglobin vorgeschlagen hat, zu benutzen seien, erscheint fraglich,
da nach den Versuchen von Ki.emptner das Kupferhämol wegen seiner rascheren
Resorption im Tractus sogar giftiger als das weinsaure Kupferdoppelsalz wirkt.
Während das Kupfernatriumtartrat 713 Mgrm. Kupferoxyd bei Verfütterung
nöthig hatte, um eine Katze zu tödten, ging eine solche schon nach einer 100 Mgrm.
CuO entsprechenden Menge von Kupferhämol zu Grunde. Allerdings harmonirt
dies nicht mit den Resultaten, die Filehne mit einem dem Fcrratin nachgeahmten
Kupfereiweiss erhielt, das in seiner Giftigkeit hinter dem Doppeltartrat zurück-
blieb. Die auf Kupferoxyd bezogene letale Gabe stellt Bich bei Cuprialbumiu-
säure und Tartrat gleich, dagegen erfolgt der Tod bei ersterer stets nach
mehreren Stunden, bei Subcutanapplication in 2 — 3 Tagen.
Man wird bei Kupfervergiftungen wohl annehmen müssen, wie dies
Ködert6) neuerdings für alle Metallvergiftungen plausibel gemacht hat, dass die
nächste Veränderung der Kupferverbindungen nach der Resorption in der Ver-
bindung mit Hämoglobin besteht. Von dieser Verbindung befreit sich der Organis-
mus theils durch Deposition in gewisse Organe, insbesondere Leber und Milz,
theils durch Elimination, wobei sich in erster Linie Darmschleimhaut und Nieren
betheiligen. Wie Filehne und Klemptner übereinstimmend fanden, lässt sich
Kupfer mikrochemisch in gehärteten Schnitten des Leberparenchyms nicht nach-
weisen. Dagegen findet sich nach Ki.emptner in einigen Fällen eine Menge
dunkler Pünktchen in den Zellen der Leber und makrochemisch lässt sich durch
II, 8 constant dunklere Färbung der Leber erzielen. Die gelbbraunen Massen
und die Schwarzfärbung durch H. 8 kommen auch der Milz zu, und erstere, die
auch auf der Magendarmschleimhaut und in dem Harncanälchen nngetroflen
werden, stehen vermuthlich mit der Elimination im Zusammenhänge. Neben dem
Darme und den Nieren kommen auch die Leber selbst, die Speicheldrüsen und
das Pankreas für die Elimination in Betracht. Die IlauptauBscheidungsstätten
und die Organe der Deposition sind auch der Sitz der ausgedehntesten pathologischen
Veränderungen, die sich durch starke Erweiterung der Gefässe und Ekchvmosen,
in den schwersten Fällen als hämorrhagische Enteritis und Nephritis charakterisiren.
Auch das Pankreas ist oft Sitz degenerativer Veränderungen. Im Darme sind nach
Klemptner besonders die Zotten verändert, an denen sich starke Hypertrophie,
massenhaftes Vorhandensein von Lymphköruchen und schliesslich Epitheldegeneration
eonstatiren lassen. Die Zotten erscheinen keulenförmig oder bandförmig ausge-
zogeri, die äusserste Spitze homogen, und schliesslich drängt sich die ganze die
Zotte ausfüllende Masse in das Innere des Darmlumens.
Literatur: ') Filehne. Beiträge zur Lehre von der aenten nnd chronischen
Knpfervergiftnng. Deutsche med. Wochensthr. 1895. Nr. 19. — *) K le m p tner, Zur Wirkung
des Kupfers auf den thierischen Organismus. Jürgen- 1894. — 3) Leo Schwarz, Ueber die
Wirkung der Kupferalbnminsäure. Arch. f. experim. Path. u. Pharm. XXXV, pag. 437. —
*) A. Tschirch. Weitere .Mittheilungen über das Kupfer vom Standpunkte der Toxikologie.
Schweizer Wochenschr. f. Pharm. 1895, Nr. 13. — ) R Kobert, Ueber den gegenwärtigen
Stand der Frage nach den pharmakologischen Wirkungen des Kupfers. Deutsche med.
Wochenschr. 1895. Nr. 1 u. 3. — CJ Kobert. Ueber die Beziehungen der Schwermetalle
zum Blute. Arch. f. llerraat. n. Syph. XXXI, pag. 33. IlnsemaDn.
Leucocyten, Züchtung im Harn, pag. 256, 257.
Lignosulflt. Eine von Franz Hartmann gegen verschiedene Erkran-
kungen der Respirationsorgane empfohlene Inhalationsflüssigkeit. Sie wird bei der
Gewinnung der Cellulose aus Tannenholz nach dein sogenannten „Sulfitverfahren’*
erhalten. Hierbei wird das zerkleinerte Nadelholz in einer Lösung von Kalk-
milch und schwefeliger Säure bei Ueberscbuss der letzteren — Calciumbisullit —
gekocht. Die Kochfltissigkeit enthält nach längerer Einwirkung die aus dem
Holze extrahirten Salze, ätherischen Oele und Harze nebst organischen flüchtigen
Verbindungen, die durch Einwirkuug der schwefeligeu Säure auf diese während
des Kochens entstanden sind, und schliesslich etwas freie schwefelige Säure. Letz-
tere dürfte wohl das wirksame Agens der Lignosultitinhalationen sein. Die ersten
Angaben Uber die Wirksamkeit der besagten Dämpfe von Cellulosefabriken gegen
Tuberkulose stammen aus Laienkreisen (s. bei I. A. Rosenberger). Hartman*
lässt das Lignosulflt im Krankenraume durch einen den Gradirwerken ähnlichen
Apparat verdunsten, eventuell wird es auf Tannenzweige oder auf einer flachen
Schüssel, also auf eine möglichst grosse Fläche vertheilt. Auch kann man einige
Löffel Lignosulflt je nach der gewünschten Concentration mit Wasser gemischt
in eine Wt'LFF’sche Flasche bringen und die durch diese gesaugte Luft mit
Hilfe eines Schlauches einathmen; auch Taschenapparate nach diesem Princip
wurden hergestellt. Hartmann’ empfahl die Lignosulfltdämpfe zur Anwendung
bei Lungenemphysem, Katarrh der Luftwege und bei Lungenpbthise , äusscrlich
sollte es sich bei tuberkulösen Hautleiden bewähren. Inhalatorien sind bis nun
in Hallein bei Salzburg, im Wiener allgemeinen Krankenhause, in der Wiener
Poliklinik, zu Meran und Reichenhall eingerichtet. Nach A. Heixdl’s Erfahrun-
gen auf der Abtheilung von Chiari an der Wiener Poliklinik ist Lignosulfit
wohl kein directes Heilmittel gegen Tuberkulose, aber es desinflcirt die Luftwege,
erleichtert die Expectoration und scheint hierdurch die Resorption von Zersetzungs-
producten zu verhindern. So lange der Kranke an die Dämpfe nicht gewöhnt
ist, stellt sich mehr Hustenreiz ein, derselbe lässt in kurzer Zeit nach. Wo be-
sondere Vorsicht geboten , kann man zu Beginn das Lignosulfit mit gleichen
Theilen Wasser verdünnen , durch Entfernen von der Verdunstungsstelle wird
die Wirkung der mit Luft gemischten Dämpfe ebenfalls abgeschwächt. Sobald
der Kranke an die Einathmung der Lignosulfltdämpfe gewöhut ist, kann der
Apparat öfter beschickt werden. Die Dauer der Inhalation und der Sättigungs-
grad der Dämpfe können nach individuellen Verhältnissen, wie ersichtlich , sehr
gut geregelt werden. Um beim Patienten tiefes Einathmen anzuregen, kann man
im Inhalationsraume auch Turnübungen ausführen lassen.
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LIGNOSULFIT. — LOCHIEN.
373
K. Eblich halt auf Grund von Erfahrungen an einem grösseren
Krankenmateriale die Lignosulfitinhalation bei schweren Phthisikern wegen der
eintretenden Reizerscheinungen nicht angezeigt , auch hei echtem Asthma bron-
chiale und bei Emphysem der Lungen wurde das Auftreten solcher während
der Inhalationen beobachtet. Andererseits konnte er bei den leichten katarrhali-
schen Formen entschiedene Besserung des localen Processes , Aufhören der
Nachtschweisse , Verschwinden des Hustens und Auswurfs und Zunahme des
Körpergewichtes während einer l1/, monatlichen Behandlung beobachten. Ohne
den I.ignosul fitinhalationen ihre nunmehr von mehreren Aerzten bestätigte
günstige Wirkung bei den Anfangsstadien der Tuberkulose abzusprechen , ist
I. A. RoSE.NBF.RGER der Ansicht , dass die Errichtung von öffentlichen Sanatorien
zur Behandlung von Lungenkrankheiten jeder Art mit den Lignosultitdämpfeu
so lange unterbleiben möge, bis dessen sichere Wirkung durch weitere Beob-
achtungen unumstösslich festgestellt sein wird.
Literatur: Franz Hartmann (Hallein), Die neue Behandlungsweiae zur Hei-
lung von Lungentuberkulose durch Inhalationen von Lignosulfit. Wien 18B5. — A. Heindl,
Vorläufige Mittheilungen über die Wirkung von Lignosulfitinhalationen. Wiener klin. Wochen-
schrift. 1895, Nr. 39 u. 40. — K, Eh lieh, Einige Beobachtungen über die Lignosulflt-
inhalationen bei Tuberkulose. Aus der medicinischen Klinik des Prof. v. Schrötter. Wiener
klin. Wochensehr. 1696, Nr. 15- — I. A. Rosenberger (Würzburg), Errichtung von Heil-
anstalten zur Behandlung von Lungenkranken jeder Art, speclel! aber der Tuberkulose mit
den bei der Cellulosefabrication sich ergehenden Gasen und Dampfen in den Cellnlosefabriken.
Münchener med. Wocheuschr, 1896, Nr. 7 Loebisch.
Lochien, Wochenfluss, Wochenreinigung, nennen wir jenen
Ausfluss aus dem Uterus, der sich nach der Geburt einstellt und 3 — 6 Wochen
andauert.
Dieser Ausfluss ist nichts anderes als ein Wundsecret. das Secret der
Placentarstelle und der übrigen Uterusinnenwand, die durch die Geburt der oberen
Schleimhautschichten beraubt wurde.
Während des Lochialflusses findet die Involution des puerperalen Uterus
statt , d. h. die Verfettung und Resorption der nun überflüssigen Muskelmasse
unter gleichzeitiger Bildung neuer Muskelelemente. Inwieweit der Lochialfluss an
der Thütigkeit des ersten dieser zwei Vorgänge mitbetheiligt ist, ist bisher noch
nicht genau bekannt.
Die Lochialflüssigkeit enthält intacte und zerfallene rothe Blutkörperchen,
weissc Blutkörperchen. Plattenepithel, junges und altes, im Zerfalle begriffene
Cylinderepithelzcllen, Schleimkörperchen, Detritus, Fett, braunes Pigment, Körner-
aggregate, Mikroorganismen verschiedener Art , nicht selten auch Deciduafetzcn,
Placentar- und Eihautpartikel, ferner Cholestcarinkrystalle , das Infusorium Tri-
chomonas vaginalis u. dergl. m. Die Reaction ist eine neutrale. Alkalisch und
übelriechend wird die Lochialflüssigkeit, wenn sie sich anstaut und dann zersetzt.
Die chemische Untersuchung ergiebt die Gegenwart von Albumin, Mucin, verseif-
baren Fetten, Peptou, Chlor- und Phosphorverbindungen, sowie die von Eisen
(Scherer1), Wertheimer5), Rokitansky jun. *), Kehrer4), Marchioneschi 8),
Karewski“), Eustachb '), Fischel8). Der normale Lochialfluss besitzt einen faden
üblen Geruch.
Die ersten Tage nach der Geburt tiberwiegt der Gehalt an rothen Blut-
körperchen, so dass der Lochialfluss eine braune Farbe besitzt, sogenannte
Lochia cruenta s. rubra. Vom dritten Tage an, zuweilen erst später, nimmt
der Blutgehalt ab und treten mehr jene Bestandtheile in den Vordergrund , die
bei der Regeneration der Uterusmucosa eine Rolle spielen. Gleichzeitig nimmt
die Menge der Mikroorganismen zu. Um diese Zeit spricht man von Lochia
serosa. Vom 6. — 7. Tage an nimmt die Flüssigkeit eine rahmartige Beschaffen-
heit an, Lochia alba, da sie nun namentlich aus Eiterzellen, aus Epithelzellcn
in den verschiedensten Stadien der Entwicklung, aus jungen, spindelförmigen
Bindegewebszellen mit Fettkörnchen, freiem Fett, Cholestearin u. dergl. m. besteht.
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374
LOCHIEN.
Nach und nach nimmt der Ausfluss an Menge ah, wird heller, glasig nnd nähert
sich immer mehr dem nicht puerperalen, chronisch-katarrhalischen Uterussecrete,
um schliesslich nach 3 — G Wochen gänzlich zu verschwinden. Nach Gassxkr •)
soll die Menge der Lochia cruenta bis zum 4. Tage 1 Kgrm. , die der Lochia
serosa bis zura 6. Tage 280 Grm. und die der Lochia alba bis zum 9. Tage
205 Grm. betragen. Giles ,0) dagegen beziffert die Menge der Lochialflüssigkeit
nur auf 300 Grm. , meint aber , die Differenz zwischen seiner Ziffer und der
Gassxer’s beruhe zum guten Theilc darauf, dass in seinen Fällen desinficirende
und adstringirendc Irrigationen vorgenommen wurden.
Das Verhalten der Lochien hat insoweit eine prognostische Bedeutung,
als man aus deren längerer Dauer auf eine langsamere Involution des Uterus
schliessen kann. Aus dem Grunde dauert der Lochialfluss bei Nichtstillenden
(was öbrigens von Giles geleugnet wird) und bei gewissen puerperalen Erkran-
kungsformen länger als sonst. Nach Giles ist der Lochialfluss bei Frauen bis
zum 25. Lebensjahre profuser und ebenso, wenn die Placenta grösser war. Die
Menge steht nach ihm in gleichem Verhältnisse zum Blutverluste bei der Geburt
und sie ist eine grössere bei Frauen , die früher profus menstruirten und bei
solchen mit dunkler Hautfarbe. Ein ungewöhnlich bedeutenderer oder abnorm
lange andauernder Blutgehalt der Lochien zeigt Erkrankungen an. Bei puerpe-
raler Septikämie sind die Lochien sehr häufig putride und sind ein Symptom der
gangränösen Endometritis.
Uebelriechend und gleichzeitig alkalisch reagirend wird der Lochialfluss,
wenn sein Abfluss behindert wird und sieh die Flüssigkeit im Uteruscavum zer-
setzt. Diese Stauung der Lochialflüssigkeit, die Locliiometra, kommt dann zu-
stande, wenn der Uterus stärker nach einer Seite hin verlagert ist, wodurch der
Cervicalcanal geknickt und verlegt wird (Schrokder *'), Crede**), PFANNKCCH ”),
Boerxkr '*), Jakobs EX 16). Man beobachtet sie namentlich bei verlangsamter In-
volution, bei der der Uterus grösser und schlaffer bleibt, als er es der Zeit des
Puerperiums entsprechend sein sollte. Die Therapie besteht im Aufstellen des
Uterus und eventuellen nachfolgenden desinficirenden Ausspülungen seiner Höhle,
um einer allfälligen , sogenannten Selbstinfection vorzubeugen. Angezeigt ist es,
der Entleerung und Desinfection der Uterushöhle einige Dosen Ergotin folgen zu
lassen. Bei einer gehörigen Behandlung des Puerperiums kommt cs nicht leicht
zur Entstehung einer Lochiometra.
Der Lochialfluss folgt auch einem Abortus und einer Frühgeburt, doch
dauert er hier nicht so lange wie nach einer rechtzeitigen Geburt.
Mikroorganismen finden sich, wie erwähnt, regelmässig im Lochialflusse,
und zwar während der ersten Woche in zunehmender Menge. Der Gehalt des
Lochialtlusses an denselben ist verschieden , je nach den einzelnen Abschnitten
des Genitalrohres. Nach Dödkrlein 10) ist der Uterus frei von Mikroorganismen
nnd sind sie erst abwärts vom inneren Muttermunde zu treffen. Nach Thomex1«)
enthalten die Lochien der Vagina unter normalen Verhältnissen zahllose Keime
der verschiedensten Art , wie Diplo-, Tafelkokken, Kurzstäbchen , relativ häufig
Strepto-, aber keine Staphylokokken. Im oberen Drittel der Vagina finden sich
weniger Mikroorganismen als in den zwei unteren. Die Lochialflüssigkeit der
Cervix fand er nur in einem Falle reich an Mikroorganismen. In den Lochien
der Uterushöhlc fand er zweimal Streptokokken. Die Lochialflüssigkeit stellt
bekanntlich einen günstigen Nährboden für das Wuchern der Mikroorganismen
dar, ein Umstand, der insoweit von Bedeutung ist, als sich häufig schon von
früher her pathogene Keime im Scheideneingange oder im Scheidensecrete befinden.
Literatur: *) Scherer, Chemische und mikroskopische Untersuchungen zur
Pathologie. Heidelberg 1873. — T) Wertheimer, Virchow’s Archiv. XXI, pag. 319. —
*) Rokitansky jan., Stricker's med. Jahrli. 1874, H. 2, pag 161. — 4) Kehrer, Beitrage
zur vergleichenden nnd experimentellen Geburtskunde. 1875, H. 4. — *) M archionesch i,
Annal. di Ostetr. November u. Januar 1882. — *) Karewski, Zeitscbr. f Geburtsh. n. Gyn.
1882, VII, pag. 331. — ’) Eustache, Journ. d'Acc. 1884, Nr. 3; Centralbl. f. Gyn. 18S4.
Google
LOCHIEN. - LUMBALPÜNCTION.
375
pajf. 391. — *) Fischei, Central bl. f. Gyn. 1884, pag. 725; Arch. f. Gyn. 1884. XXIV,
pag. 440; 1885, XXVI, pag. 12 ». — *) Gassner, Monatsehr. f. Gebnrtsk n. Frauenkli. 1862,
XIX. pag. 51. — ,#) Gilea, Transact. of the Obstet r. Soc. of London. 1894, XXXV, pag. 190. —
**) Schroeder, Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett. Bonn 1867, pag. 119. — Crede,
Arch. f. Gyn. 1870, I, pag. 84. — **) Pfannkuch, Arch. f. Gyn. 1871. III, pag. 327. —
,4) Buerner, Ueber den puerperalen Uterus. Graz 1875. — ,6) Jakobson, Central bl. f. Gyn.
1893, pag. 284. - *•) Döderlein, Arch. f. Gyn. 1887, XXXI, pag. 412. — w) Thomen,
Arch f. Gyn. 1889, XXXVI, pag. 231. — Vergl. ausserdem noch Ott, Arch. f. Gyn. 1888,
XXXII, pag. 436. — Artermieff, Zeitscbr. f. Geburtsh. u. Gyn. 1889, XVII, pag. 171.
Kleinwächter.
Losophan. Metakresoltrijodid C6 HJ3 <S$y von E'8AALFKLD
wegen seiner Eigenschaft, auf «ier schon entzündeten Haut die entzündliche Reizung
noch zu steigern, zur Anwendung insbesondere hei chronischen Hautkrankheiten
empfohlen, zeigte günstigen Einfluss bei der Behandlung von Prurigo, von chro-
nisch infiltrirten Ekzemen, Sycosis vulgaris, Acne vulgaris und rosacea. Auf
die entzündete Haut wirkt das Mittel sehr heftig, so dass es in solchen Fällen
vermieden werden muss. Bei syphilitischen Schankcrn beschleunigt das
reine Losophan als Streupulver die Vernarbung (Descottes). 5 — 10% Losophan-
salbe wirkte gegen das Jucken bei Lichen simplex, in 5 — 10 — 20%iger Salbe
gegen Dermatomykosen und Epizoen.
Das Losophan bildet farblose Krystalluadeln (78,39% Jod) vom Schmelz-
punkt 121, 5°C., unlöslich in Wasser, in Alkohol schwer, in Aether, Benzol,
Chloroform leicht löslich. Kette Oele lösen es nur in der Wärme. In verdünnter
Natronlauge ohne Veränderung löslich, durch concentrirte Kalilauge wird es zu
einem grünlich-schwarzen amorphen Körper, der in Alkohol unlöslich ist.
Dosirung: Ansserlicb als 1 — 5%iges, auch als reines Pulver; mit
Traumaticin 1:10, als 1 — 3 — 5%ige Lösung, als 5 — 10 — 20° oige Salbe.
Literatur: E. Saatfeld, Ueber Losophan. Thcrap. Monatsh 1892, pag. 544. —
Felix Descottes, Etüde sur le Losoplnnt. These de Paris. 1893 — Waugh, Times and
Register. 3. Jnni 1893. Loebisch.
Lumbalpunction. Spinalpunction.
I. Geschichte der Spinalpunction.
Auf dem Congress für innere Medicin in Wiesbaden 1891 machte
II. Quincke die erste Mittheilung *) Uber eine neue, von ihm erfundene Methode,
(Zerebrospinalflüssigkeit aus dem Körper des lebenden Menschen zu entnehmen.
Bis dahin kannte man nur die Punction der Hirnventrikel , welche hei Hydro-
cephalus oft ausgeführt worden ist. Bei einem Kalle, welcher wahrscheinlich einen
frisch entstandenen hydrocephalischen Erguss betraf, wünscht Quincke eine Ent-
lastung durch Ablassung von Ccrebrospinalflüssigkeit zu bewirken. Eine Punction
der Hiniventrikel jedoch schien ihm nicht gersthen. Quincke erinnerte sich aus
seiner früheren Arbeit „Zur Physiologie der Cerebrospinalflüssigkeit“ *), dass er
beim Hunde und Kaninchen mittels Pravazspritzc ohne Eröffnung des knöchernen
Wirbelcanales Flüssigkeit in den Dnralsaek gespritzt hatte. Er punktirte deshalb
hei dem in Rede stehenden (1* Jiihrigen) Patienten den Durasaek in der Höhe
der Lendenwirbel, indem er zwischen dem III. und IV. Wirbclbogen 2 Cm. tief
einging; es entleerten sieh tropfenweise einige Cubikcentimeter wasserklarer
Cerebrospinalflüssigkeit; an den Tropfen konnte er deutlich exspiratorische Be-
schleunigung und inspiratorische Verlangsamung beobachten. Die Punction schien
einen günstigeu Einfluss auf das Befinden des Kindes zu haben und wurde des-
halb in mehrtägigen Pausen noch 2mul wiederholt. Bei der dritten Punction ging
Quincke unterhalb des IV. Lendenwirbels ein, gleichfalls mit Erfolg, und vervoll-
kommnete das Verfahren, indem er mit der Punction zugleich eine manometrische
Druckmessung verband. Es trat schliesslich eine fast völlige Genesung des
Kindes ein.
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376
LUMBALPUNCTION.
Es ist anatomisch und experimentell erwiesen, dass die Arachnoidalräuine
des Rückenmarks mit den Hirnventrikeln coutinuirlich Zusammenhängen ( Foramen
Magendii und Aperturae laterales des IV. Ventrikels). Daher erwartete QUINCKE
von der Lumbalpunction eine Herabsetzung des Hirndruckes; nur in solchen
Füllen , wo durch Sklerose des Arachnoidalgewebes oder durch Verschluss des
Aquaeductus Si/lvii die Communication aufgehoben ist, wird dieselbe nicht zu-
stande kommen. Der erste Fall , bei welchem Quincke die Lumbalpunction au-
wandte, gab ihm sofort Recht, und so lag es für ihn nahe, seinen glücklichen
Gedanken weiter zu verfolgen.
Quincke giebt folgende Vorschrift für die Ausführung der Func-
tion: Der Patient wird auf die flinke) Seite gelagert mit stark nach vorn ge-
beugter Lenden Wirbelsäule und angezogenen Beinen. Die Punction geschieht mit
einer dünnen Hohlnadel unterhalb des III. oder IV. Lendcnwirbelbogens.
„Bei jüngeren Kindern kann man etwa in der Mitte zwischen zwei
Dornfortsätzen eingehen , wegen des starken Lig. interspinale sticht inan aber
besser einige Millimeter seitlich von der Mittellinie ein und richtet die Nadel so,
dass sie an der Hinterfläche des Durasackes die Medianlinie trifft. Bei Erwachsenen
(und zum Theil wohl 6chon hei älteren Kindern) sind die Dornfortsätze etw: s
nach abwärts gerichtet, so dass sie einen Theil des Zwischeubogenraumes decken
und man diesen am besten trifft , wenn man in der Hohe des unteren Drittels
des Dornfortsatzes und etwas seitlich (circa 1 Cm. seitlich von der Mittellinie)
davon in der eben beschriebenen Weise eingeht und die Nadel etwas aufwärts
richtet. Uebrigens variiren bei Erwachsenen diese Dinge individuell. Etwas muss
man sich bei der Punction durch das Gefühl leiten lassen. Beim Heransziehen der
Nadel ist — vermuthlich wegen der Structur der Fascien — zuweilen recht er-
heblicher Widerstand zu überwinden, mehr als heim Einstechen.“
Die Entfernung der Dura von der Hautoberfläche an der gedachten
Stelle ist vom Alter (KürpergrOsse) und der Constitution der Muskeln und des
Fettpolsters abhängig und schwankt zwischen 2 — 6 Cm. Narkose hielt QuiNCKK
bei einiger Benommenheit nicht für erforderlich.
Die QuiNCKE’sche Punction ist für das Rückenmark ganz ungefährlich ;
beim Erwachsenen reicht das Rückenmark bis zum oberen Ende des II. Lenden-
wirbels herunter, bei Kiudern weiter, aber nicht unter den III. Lendenwirbel
herunter. Nach Ravenel reicht der Conus medullaris schon beim Neugeborenen
nur bis zum III. Lendenwirbel. Quincke fand bei der Untersuchung von 8 Kinder-
leichen das Ende des Conus bis zum Ausgang des 1. Lebensjahres in der
Höhe des III. Lendenwirbels, vom Ausgang des 3. Jahres ab in der Hohe des
II. Lendenwirbels; nur einmal bei einem 4jährigen Kinde in Hohe des
IV. Lendenwirbels.
Auch eine Verletzung der Cauda equina ist so gut wie ausgeschlossen,
weil die in der Flüssigkeit schwebenden Nervenwurzeln der Nadel ausweichcn.
In demselben Jahre (18'Jll veröffentlichte Quincke eine ausführlichere
Arbeit 4) in der Berliner klin. Wochenschr., in welcher er genauere und weiter-
gehende Angaben mittheilte. Dieselben bezogen sich auf die physiologischen und
pathologischen Druckverhültnisse im Cerebrospinalraume , auf die physikalische
und chemische Beschaffenheit der durch Punction entleerten Cerebrospinalflüssig-
keit bei verschiedenen Krankheitsfällen. Auch einige therapeutische Erfolge hat
Quincke aufzuweisen. Als Iudication für den Eingriff stellt er auf:
1. Lebensgefährliche Höhe des Hirndruckes.
2. Chronische Exsudation der Cerebrospinalflüssigkeit.
Ausgeführt hatte Quincke die Punction bis dahin 22mal bei 10 Patienten.
Im Jahre 1893 kommt Quincke in seiner Schrift über Meningitis
serosa *) auf die Lumbalpunction zurück, über welche er jetzt schon reichere Er-
fahrungen gesammelt hat, und macht Angaben über die verschiedene Beschaffen-
heit der Flüssigkeit und der Druckverhältnisse unter pathologischen Bedingungen ;
LUMBALPDNCTION.
377
ferner empfiehlt er die Punctiou als therapeutischen Eingriff bei der von ihm in
der betreffenden Schrift beschriebenen Meningitis serosa , namentlich fflr die acuten
Fälle derselben. Auch die Technik der Punction erfährt in der gedachten Schrift
durch Hinzufügung eines Mandrins (s. später), sowie durch die Schlitzung der
Dura mittels Lanzenmessers (s. später) eine Bereicherung.
Nachdem bis dahin der Erfinder der Methode allein das Wort genommen
batte, lassen sich von 1893 ab nun auch andere Stimmen hören. Lichtheim*)
machte 1893 Uber eine Reihe von Spinalpunctionen , die er ausgeführt hatte,
Mittheilung.
Therapeutische Erfolge hatte er gar nicht gesehen. Dagegen misst er
der Punction diagnostischen Werth bei. Er findet den Eiweissgehalt der Flüssig-
keit bei entzündlichen Meningcalatfectionen höher als bei Stauungstranssudaten
durch Tumor ; ferner stellt er wichtige Mikroorganismenbefunde fest : Streptokokken,
Pnenmokokken , Tuberkelbacillen. Bemerkenswerth ist auch seine Angabe , dass
bei Tumor cerebri sich regelmässig Zucker in der Flüssigkeit findet (wie es auch
im normalen Liquor cerebrospinalis der Fall ist), während dieser Befund bei
Meningitis tuberculosa zu den Ausnahmen gehört.
Einige Wochen später, nachdem dies Lichtheim in Königsberg vorge-
tragen, berichtete v. Ziemssen •) auf dem Congress für innere Mediciti über seine
Erfahrungen mit der QuiNCKE’schen Punction. Er sah Besserung von Hirndruck-
symptomen , besonders Besserung und Beseitigung des Kopfschmerzes nach den
Punctionen. Ferner wies er auf die Möglichkeit hin, durch die Punction gelöste
medicamentöse Stoffe der Cerebrospinalflüssigkeit beizumischen. Bei der Discussion
zeigte sich, dass von anderer Seite nur wenig Erfahrungen Vorlagen; Ewald,
Sahli, Nackt n berichteten je Uber eine kleine Zahl von ausgeführten Punctionen.
In demselben Jahre erfolgten zur Sache noch einige kleinere Mitthei-
lungen. 0. Wyss '•) berichtete über einen Fall von durch Schädel- und Lumbal-
punctionen gebessertem Hydrocephalus bei einem 8 Monate alten Kinde (es waren
6 Ventrikel- und 1 Lumbalpunction gemacht worden). Dknnig 8) fand bei einem
Falle von tuberkulöser Cerebrospinalmcningitis post mortem mittels Lumbalpunction
massenhaft Tuberkelbacillen, welche auch durch den Thierversuch als solche nach-
gewiesen wurden.
Durch die Verhandlungen auf dem 12. Congress für innere Mediein
wurde ein actuelleres Interesse für die Spiualpunction angeregt, und wenn auch
in der nächsten Zeit und auch im Jahre 1894 nur wenig in die Oeffentlichkeit
drang , so zeigte doch das explosionsartige Auftreten zahlreicher Mittheilungeu
itn Jahre 1895, dass an vielen Stellen Erfahrungen gesammelt wurden. Eine sehr
merkwürdige Mittheilung aus dem Jahre 1894, welche Aufsehen hervorrief,
geschah durch Fueyhak. *) Derselbe berichtete aus dem städtischen Krauken-
hause Friedrichshain über einen Fall, dessen klinisches Bild dem einer aenten
epidemischen Cerebrospinalmeningitis glich. Bei der Spiualpunction wurden 60 Ccm.
einer leicht getrübten Flüssigkeit mit 3%0 Albumengehalt, ohne Zucker, deren
Sediment spärliche Eiterkörperchen und Tuberkelbacillen enthielt, gewonnen;
bei einer zweiten Punction nach 8 Tagen derselbe Befund; Thierversuch
wurde nicht gemacht. Der FKEYHAN’sche Fall brachte einmal einen Beitrag zur
Frage der Heilbarkeit der tuberkulösen Meningitis und zweitens als Beweisgrund
den Befund von Tuberkolbaeillen in der Cerebrospinalflüssigkeit, wodurch die
Angaben von Lichtheim (s. oben; bestätigt wurden. Der Befund von Tuberkel-
bacillen bei der Spiualpunction ist seitdem hänfig wiederholt worden.
Das Jahr 1895 brachte nun eine Reihe von sehr ausführlichen Mitthei-
lungen von Seiten von Lichtheim ,0), Fürumxger '*), Quincke1*), Riekex ls)
(ans der QuixCKE’schen Klinik) u. A. ln der Berliner medieinischen Gesellschaft *•),
in der Charite-Gesellschaft 15), sowie auf der Versammlung deutscher Naturforscher
und Aerztc in Lübeck '*) war die Spiualpunction Gegenstand von Vorträgen und
Discussionen.
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378
LUMBALPUtfCTION.
Eine sehr ausführliche Besprechung erfuhr die Lumbalpunetion auf dem
14. CongresB für innere Mediein durch Lknhartz '*) und die sich anschliessende
Discussion.
Auf die Angaben der einzelnen Autoren soll in dieser historischen Ucber-
sicht nun nicht weiter eingegangen werden, um nicht Wiederholungen nöthig zu
machen. Wenn auch die Erfahrungen noch längst nicht zu einem genügenden
Abschluss gelangt sind , so sind sie doch vielfältig genug, um eine zusammen
fassende Betrachtung zu gestatten.
11. Technik der Spinalpunction.
Die Ausführung der Spinalpunction geschieht am testen genau nach
Quinckk’s oben eitirten Angaben. Vielfach hat man auch den Patienten behufs
Punction in sitzende Stellung gebracht (FÜBBRINGEe). Vielleicht erleichtert dies
die Einführung der Canüle; im Uebrigen aber dürfte die Seitcnlage rathsamer
sein, da die Gefahr besteht, dass heim Sitzen die Cerebrospinalflüssigkeit za
schnell abflicsst.
Von Manchen wird der Einstich in der Mittellinie, nicht seitlich von
derselben, bevorzugt (Lknhartz, Renvkhs, Goldscheider).
Zuweilen kommt es vor, dass der Einstich zunächst keine Flüssigkeit
zu Tage fördert, nach weiterem Hin- und Hergehen mit der Canülenspritze oder
erneutem Einstich aber schliesslich der Abfluss erfolgt. Dies hat seine Ursache
darin, dass die Spitze nicht ordentlich in den Durasaek eingedrungen ist oder
dass sich Fibringerinnsel , Ncrvenwurzeln etc. vorgelegt haben. Aber auch
hei regelrecht ausgeführter Punction kann Solches, wie FüBBRIN'ger gezeigt
hat, Vorkommen, da unter Umständen der Durasaek unten keine Cerebrospinal-
flüssigkeit enthält. In Fürbrixger's Fall handelte es sich um eine tuberkulöse
Cerebrospinalmeningitis, bei welcher die Arachnoidea in eine sulzige Masse ver-
wandelt war, so dass die Dura, ohne Flüssigkeit zu enthalten, stark gespannt war.
Nach Qüincke kann auch ein Verschluss des Aquaeductus Sylvii oder
partielle Sklerose des Arachnoidalgewebes die Ursache davon sein , dass der
Arachnoidalraum des Rückenmarks nicht mit den Hirnventrikeln communicirt,
was weiter zur Folge hat. dass selbst trotz gesteigerten llirndruckes kein nennens-
werther Abfluss bei der Spinalpunction erfolgt.
Aspiration ist auf das Strengste zu vermeiden.
Narkose ist fast stets entbehrlich. Man kann den Einstich durch
Cocainisirung der Haut (subcutan oder nach SCHLEICH intracutan I ganz schmerz-
los machen. Auch ist derselbe an und für sich sehr wenig schmerzhaft, besonders
wenn man nicht seitlich von der Mittellinie, sondern in der Mittellinie selbst ein-
geht, was auch .bei Erwachsenen durchaus ausführbar ist.
Nach Qüincke soll die Punction stets mit einer Druckmessung verbunden
werden. Qüincke führt dies so aus, dass er in das änssere ausgeschliffenc Ende
der Canüle einen Conus einsetzt, welcher mittels Kautschuckschlauches mit einem
dünnen Glasrohr verbunden ist; letzteres wird senkrecht gehalten und nun wird
die Höhe, bis zu welcher die austretende Flüssigkeit in das Glasrohr emporsteigt,
mit einem Massstabe gemessen. Ich seihst führe die Punction jetzt gleichfalls
stets mit der QuiNCKE’schen Druckmessung aus und kann die Anwendung der-
selben dringend empfehlen, da sie uns Uber die Geschwindigkeit der Druckab-
nahme werthvollen Aufschluss giebt. Mau bekommt freilich nicht den wirklichen
Druck, welcher im Durasaek geherrscht hat, sondern nur denjenigen, welcher
nach AubHus8 eines gewissen Quantums von Flüssigkeit besteht; aber letzteres
beträgt gewöhnlich nur etwa 6 Ccm. und im Uebrigen ist dieser Fehler in prak-
tischer Hinsicht ganz gleiebgiltig.
Es ist hier noch die gleichfalls von Qüincke angegebene Schlitzung der
Dura zu besprechen. Da die abgelassene Cerebrospinalflüssigkeit nach der
Punction sich meist schnell wieder ersetzt, der Hirndruck somit wieder über die
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UJMBALPUNCTION.
379
Norm ansteigt, so suchte Quincke einen dauernden Abfluss durch Schlitzung des
Durcisackes zu erzielen. „Zu diesem Zwecke wurde ein langgestieltes Lanzenmesser
(mit 4 Mm. breiter Lanze) in derselben Weise und in dieselbe Tiefe wie die
Punctionsnadel eingesenkt und, wenn der Zwischenknochenraum es erlaubte, mit
demselben eine leichte Ilebclbewegung in der Medianebene ausgeführt. Oefter
ergossen sich aus dem Schnittcanal des Lanzenmessers einige Tropfen Cerebro-
spinalflUssigkeit ; mehrmals fand sich in den folgenden Tagen mehr oder weniger
(Jedem der Weichtheile in der Lnmbalgcgend , als Ausdruck des wirklich statt-
flndenden Abflusses der Flüssigkeit in die umgebenden Gewebe.“ Bedeckung mit
Jodoform- und Collodium-Wattverband. Ueble Folgen hat Quincke niemals von
der Schlitzung gesehen. Dieser Eingriff scheint von anderen Seiten bis jetzt
wenig angewendet worden zu sein , so dass wir Uber anderweitige Erfahrungen
nicht berichten können. Ich selbst kann bestätigen , dass die Schlitzung leicht
ausführbar ist; in einem Falle von tuberkulöser Meningitis konnte ich mich von
dem Vorhandensein des Schlitzes in der Dura auch bei der Section überzeugen.
Quincke bat die zur PuDction und Schlitzung erforderlichen Instrumente- in einem
kleinen Besteck vereinigen lassen, weiches der Instrumentenmacher A ssma n n in Kiel liefert.
III. Diagnostische Bedeutung der Spinalpunction.
Die diagnostische Bedeutung der QmxcKE’scben Function beruht auf dem
Nachweise pathologischer Veränderungen der herausgezogenen Spinalflüssigkeit.
Man kann dieselben in drei Gruppen ordnen:
a) Alteration der Menge und des Druckes der Spinalflüssigkeit ;
b) Alteration der qualitativen Beschaffenheit der Spinalflüssigkeit ;
c) Nachweis von Mikroorganismen in der Spinalflüssigkeit.
a) Alteration der Menge und des Druckes des Liquor cerebrospinalis.
Auch unter normalen Verhältnissen fördert die Spinalpunction Flüssigkeit in einer
gewissen Menge und unter einem gewissen Druck. Auf eine pathologische Ver-
mehrung der Flüssigkeit, bezw. der Spannung ist also nur dann zu schliessen,
wenn der Liquor in abnormer Menge oder unter abnormem Druck auftritt.
Es fehlt noch an Ermittlungen und Angaben darüber, welches Quantum
von Flüssigkeit beim Gesunden austritt. Es wird dies ja auch nicht bestimmt
«u sagen sein, da eben die Flüssigkeit fortwährend durch die Canülo aussickert;
unter der Voraussetzung, dass die Caniile sehr lange liegen bleibt, wird auch
beim Gesunden die ausgetretene Flüssigkeit ein erhebliches Maas erreichen können.
FORMUNG er entleerte bei einem Phthisiker ohne Meningealtuberkulose über
100 Ccm. Wir können somit nur in Betracht ziehen, welches Quantum von
Flüssigkeit in einer bestimmten Zeit, in einer bestimmten Anzahl
von Minuten, austritt.
Bestimmte Angaben über die physiologischen Werthgrenzen besitzen wir,
wie gesagt, nicht. Die meisten Beobachter begnügen sich mit einer Schätzung;
kommt die Flüssigkeit nach dem Einstich in einem Strahle oder sehr schnell
tropfend heraus, so nimmt man eine vermehrte Menge an ; langsames Tropfen
oder Aussickern wird als Ausdruck der normalen Quantität der Flüssigkeit
betrachtet.
Die Merkmale, welche wir für die Beurtheilung der Vermehrung
der Quantität des Liquor benutzen, sind also eigentlich diejenigen des Druckes.
Druck. Auch Uber den normalen Druck liegen ganz cxactc Zahlen-
werthe noch nicht vor.
Quincke hat bei einem Kinde von 1 1 Wochen mit Spina bifida lum-
balis ohne Zeichen von Druckerliöhung den Druck des Liquor cerebrospinalis
in Seitenlage = 4 Mm. Hg (55 Mm. Wasser) gefunden; er rechnet die physio-
logische Breite bei Erwachsenen etwa von 40 — 60 — 70 Mm. Wasser. Immerhin
sind diese Werthe nicht scharf genug bestimmt, um nun etwa einen über 70 Mm.
betragenden Druck unter allen Umständen schon als pathologisch nnsehen zu lassen.
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380
LUMBALPUNCTION.
Quincke ist geneigt, einen Druck von 150 Mm. Wasser sicher als pathologische
Steigerung anzusehen.
Die bei den verschiedenen pathologischen Fällen beobachteten Druck-
höhen gehen etwa bis 700 Mm. Wasser bei Erwachsenen, bis 500 Mm. bei Kindern.
In diesen Angaben ist immerhin ein Anhaltspunkt ftir die Erkennung
der pathologischen Druckverhilltnisse in praxi gegeben.
Die absolute Höhe des Druckes ist der Schwere der Krankheitser-
scheinungen nicht proportional, es kommt vielmehr ausser Anderem auch auf die
Geschwindigkeit der D r u c k st e i ge r u n g an.
Demgemäss stellt Quincke mit Recht den Satz auf: Massige Druck-
steigerung mit schweren Druckerscheinungen deutet auf eine
acute, stark erhöhter Druck mit geringen Drucksymptomen auf
chronische Erkrankung.
Restimmte Beziehungen der Druckhöhe zn der Art der vorliegenden
Krankheit lassen sich bis jetzt nicht aufstellen. Der Druck zeigt vielmehr bei
denselben Erkrankungen eine sehr verschiedene Höhe.
Im Sitzen fliesst nach v. Zikmssen’s Messungen der Liquor unter stärkerem
Druck aus als in der Seitenlage.
Beiläufig sei erwähnt (v. Ziemssen, FCrbhinger, Goldscheider), dass
bei Urämie bald viel, bald wenig Flüssigkeit durch Spinalpunction gefördert wird.
b) Beschaffenheit der Cerebrospin al fl üssigke it. Der normale
Liquor cerebrospinalis ist wasserhell, alkalisch, von 1007 specifischem Gewicht.
0,2 — 0,5°/oo Eiweissgehalt, von geringem Zuckergehalt, fast frei von Zellen.
Unter pathologischen Verhältnissen finden wir folgende Veränderungen
der Beschaffenheit:
Vermehrung des Ei weissgehaltes findet sich namentlich bei
Stauung durch Hirntumoren und bei Entziinduug (Meningitis tuberculosa,
Meningitis serosa acuta). Dagegen ist der Eiweissgehalt bei der chronischen
Zunahme der Ccrebrospinalfllissigkeit (Hydrocephalus cfiron., Meningitis serosa
chron.) nur wenig oder gar nicht vermehrt.
Bei der tuberkulösen Meningitis scheint der Albumengehalt höher zu sein
als bei der sogenannten acuten serösen Meningitis.
Was die bis jetzt beobachteten Zahlenwerthe betriftt, so giebt Riekrn
nach den Beobachtungen auf der QuiNCKE’schen Klinik folgende Durchschnitts-
zahlen an:
Eiweistgebalt nach Ksbach
in pro Mille
Einfach entzündliche Meningitis 1,84
Tuberkulose Meningitis 2,00
Meningitis serosa chron. und Hydrocephalus . . . 0,95
Hirntumoren 2,17
Lichtheim fand bei tuberkulöser Menigitis 1 — 1,35%0, bei Hirnabscess
0,7°/oti, hei Tumor cerebri 0,4 — 0,8°/00.
Diese Angaben beziehen sich aber auf eine viel geringere Anzahl von
Fällen als die RiEKEN’scben Angaben. Die Grösse des Eiweissgehaltes erlaubt
also nicht , eine Unterscheidung zwischen Stauungsbydrocephalus , entzündlichen
und tuberkulösen Ausschwitzungen zu machen, wohl aber zwischen diesen einer-
seits und einfachem chronischen Hydrocephalus andererseits zu unterscheiden. In
einzelnen Fällen von Stauungshydrocephalus durch Hirntumor (mit t'ompression
der Vena magna Galeni) sind sehr hohe Eiweisswerthe , über 3°/00, ja bis
7°, oo beobachtet worden.
Nach Freyhan ist auch bei Nephritikern im Stadium der Urämie der
Eiweissgehalt des Liquor gesteigert.
I) ie Veränderungen des speeifischcn Gewichts in pathologischen
Fällen sind unbedeutend und, wie es scheint , nicht verwerthbar , um bestimmte
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LUMBALPUNCTION.
381
Schlüsse zuzulassen. Aach zur Eiw'eissmenge steht das specifische Gewicht in
keiner regelmässigen Beziehung.
Zuckergehalt. Der in der Norm vorhandene Zuckergehalt der Cerebro-
spinalAüssigkeit, welcher namentlich mittels Pbenylhydrazinreaction nachgewiesen
wird, soll sich bei Stauungshydrocepbalus gleichfalls regelmässig linden ; dagegen bei
entzündlicher und tuberkulöser Meningitis nicht regelmässig.
Nebst geformten Bestandtheilen in Gestalt von beigemengten Endothel-
und Rundzellen, welche in der Norm nur spurweise im I.iquor vorhanden sind, findet
sich in pathologischen Fällen zuweilen eine durch Zellen getrübte Flüssigkeil,
nämlich bei eiteriger Meningitis. Unter Umständen , aber wie es scheint nur in
einer Minderzahl von Fällen, kann auch eiterige Flüssigkeit durch die Punetion
herausgezogen werden. Uebrigens findet man gelegentlich sogar klare Flüssigkeit
bei eiteriger Cerebrospinalmeningitis. Dies hängt damit zusammen, dass der Eiter
eben in den Maschenräumen der Arachnoidea festsitzt. Wie es scheint, kann auch
bei chronischer, nicht eiteriger Meningitis eine trübe, ein- und mehrkernige Leuko-
cyten und Endothelzellen enthaltende Flüssigkeit angetroffen werden.
Beimengung von Blut in geringer Menge kann auf Verletzung kleiner
Blutgefässe bei der Punetion beruhen oder auch durch eine irgendwo, auch im
Schädel gelegene Meningealblutung bedingt sein.
Fast rein blutige Punctionsflüssigkeit dagegen lässt auf einen blutigen
Inhalt des Durasackes schliessen, also Hämatorhachis oder Durchbruch von
Blutungen in die Ventrikel.
Gerinnung. Bei entzündlichem Erguss setzt die entleerte Punctions-
flttssigkeit nach einiger Zeit ein Gerinnsel ab, welches in dem Reagensröhrehen
als zarter Faden die Mitte der Flüssigkeit durchzieht.
Bei Hydroccphalus und Stauungstranssudat (Hirntumor, Hirnabscess) kommt
es dagegen nicht zur Gerinnselbildung. Etwas anderes ist es, wenn eine diffuse Sar-
komatose der Häute vorliegt; hierbei kommt es, wie Lichthrim’s Fall zeigt, zur
Gerinnselbildung; es handelt sich dabei eben nicht um einen blossen Stauungs-
hydrocephalus.
c) Beimengung von Mikroorganismen. Es sind bei Spinalpunc-
tionen in der Punctionsflüssigkeit gefunden worden:
Streptokokken (bei otitischer Meningitis [Lichthkim]);
Pneumokokken (bei Cerebrospinalmeningitis [Lichthkim]).
Tuberkelbacillen (bei tuberculöser Meningitis (Licutheim, Fueyhan, Für-
P RINGER U. A.]).
Der Befund von Tuherkelbacillen ist von Manchen häufig, von Anderen
selten oder gar nicht gemacht worden. Diese Schwankungen sind zum Theil
durch Zufälligkeiten , zum Theil durch die Untersuchungsmethoden bedingt. Es
ist kein Zweifel , dass man oft, ja in der Mehrzahl der Fälle, Tuberkelbacillen
findet, während es andererseits auch feststeht, dass dieselben auch bei genauester
Untersuchung vermisst werden können.
Mau findet die Tuberkelbacillen am sichersten in dem Gerinnsel, bezie-
hungsweise im Sediment der Flüssigkeit, welches man zweckmässigerweise noch
centrifugirt. Lenhartz empfiehlt, eine kleine Flocke der sterilen Watte , mit
welcher das Culturglas verschlossen ist, in der entleerten Flüssigkeit untersinken
zu lassen und später mit der Platinöse herauszufischen und auszustreichen.
Zusammenfassende diagnostische Bemerkungen. 1. Die Spinal-
punction gestattet uns, eine pathologische Vermehrung des Liquor cerebrospinalis
und Druckerhöhung nachzuweisen. Obschon nun in vielen Fällen der Hirndruck
auch ohne Spinalpunction mit genügender Sicherheit nachgewiesen werden kann,
so giebt es doch Fälle, wo die pathologische Vermehrung des Liquor, beziehungs-
weise der Hirndruck zweifelhaft ist und erst durch die Punetion sichergestellt
wird. Dies gilt namentlich für gewisse Fälle von Meningitis serosa und von
Hirntumor mit undeutlichen Erscheinungen.
382
LUMBALPUNCTION.
2. Finden wir klinisch starke Drucksyraptome , bei der Punction aber
nur mässig vermehrten Druck, so können wir anf einen acuten Proeess, — um-
gekehrt auf einen chronischen schliessen (s. oben).
3. Die deutliche Vermehrung des Eiweissgehaltes lässt einen einfaches
Hydrocephalus ausschliessen; spurweiser Eiweissgehalt andererseits einen entzünd-
lichen oder durch tuberkulöse Meningitis bedingten Erguss ausschliessen, auch
ein Stauungstranssudat durch Hirntumor als unwahrscheinlich erscheinen.
Dieser Umstand kann entschieden zuweilen eine sonst unklare Diagnose
erhellen. Namentlich kommt in Betracht die Unterscheidung eines Tumor-
transsudates vom einfachen Hydrocephalus. Auch die tuberkulöse Meningitis ist
durchaus nicht immer leicht zu erkennen.
4. Die oben erwähnte Verschiedenheit der Zuckerreaction ist mit grosser
Vorsicht zu verwerthen, da auch bei tuberkulöser Meningitis, wie ich gesehen
habe, Zucker vorkommt. Hierzu kommt, dass entzündliche Affectionen der Häute
nicht leicht mit Stauungshydrocephalus verwechselt werden dürften.
5. Das Auftreten einer Gerinnselbildung spricht für entzündliche Affec-
tionen, das Ausbleiben derselben für Stauung durch Tumor oder für einfachen
Hydrocephalus.
6. Trübe, zellenreiche Flüssigkeit spricht für eiterige (oder chronische?)
Meningitis; klare Punctionstiüssigkeit schlicsst eiterige Meningitis nicht aus.
7. Die blutige Punctionstiüssigkeit gestattet, falls sie wiederholt con-
statirt wird, die Diagnose der Ventrikolblutung (s. oben).
8. Das Auffinden von Tuberkelbacillen beweist natürlich das Vorhanden-
sein von tuberkulöser Meningitis; andererseits aber schliesst das Fehlen von
Bacillen diese Krankheit nicht aus.
Die Mehrzahl der Fälle von tuberkulöser Meningitis ist klar und sicher
genug zu diagnosticiren , um der Spinalpunction entrathen zu können. Jedoch
kommen Fälle von tuberkulöser Meningitis vor, welche durchaus nicht so klar
liegen , und schon mehrere Male ist bei bis dahin zweifelhaften Erkrankungen
erst durch die Lumbalpunction die Diagnose der tuberkulösen Meningitis ent-
schieden worden.
Der Nachweis von Streptokokken, Pneumokokken etc. dürfte, wenn auch
an sich interessant, doch nicht von erheblichem, praktisch-diagnostischen Interesse
sein, da wir eiterige Meningitis fast stets sicher diagnosticiren können und auch
meist nachweisen können, ob es sich nm eine otitische, pyämische oder sogenannte
epidemische Form handelt. Immerhin giebt es Fälle, wo zunächst nicht klar zu
erkennen ist, ob eine eiterige oder eine acute seröse Meningitis vorliegt: hier
kann der Nachweis der Mikroorganismen neben der meist trüben Beschaffenheit
des Liquor den Ausschlag geben. Ferner ist es in manchen Fällen doch schwierig,
die eiterige von der tuberkulösen Meningitis zu unterscheiden; der Nachweis von
Eiterungserregern wird hier gleichfalls zur Entscheidung führen.
Wie Lichtheim hervorhebt, ist die Lumbalpunction bei Hirnabscess werth-
voll, da sie darüber Aufschluss geben kann, ob der Hirnabscess von einer eiterigen
Meningitis begleitet wird oder nicht, was für die Frage des operativen Eingriffes
von grosser Bedeutung ist.
9. Es ist endlich noch zu erörtern, ob der negative Erfolg der Spinal-
punction, d. h. ein Ausbleiben des Fltlssigkcitsabflusses, von diagnostischer Bedeu-
tung ist. Angenommen , dass die Punction regelrecht ausgeführt , die Canüle
nicht verstopft ist u. s. w., so beweist das Fehlen einer austretenden Flüssigkeit,
dass der Durasack leer ist, beziehungsweise abnorm wenig Liquor enthält. Dies
kommt in der That vor; es kann sich um Verschwellung der Arachnoidea handeln
(Fürbringer und eigene Beobachtung).
10. Ein besonders wichtiges Moment ist darin gelegen, dass die Spinal-
punction uns gestattet, das Vorhandensein einer acuten serösen Meningitis
zu eonstatiren. Es erscheint mir zweifellos, dass diese von Quincke hervor-
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LU MB A LPUNCTION.
383
gehobene und gezeichnete Erkrankung existirt, nicht allzugelten zur Beobachtung
gelangt und oft verkannt wird , weil in der That die Spinalpunction ein noth-
wendigeg Requisit zur Diagnose derselben darstellt.
11. Es liegt auf der Hand, dass aus dem Fehlen von pathologischen
Beimengnngen in der durch Spinalpunction entzogenen Flüssigkeit kein bindender
Schluss gezogen werden kann, denn es ist nicht gesagt, dass diese an irgend
einer Stelle des Cercbrospinalraunies geschehenden Beimengungen (Leukocyten,
Mikroorganismen etc.) sich überall im Liquor vertheilen müssten.
Im Ganzen stellt die QuiNCKE’sche Punction also zweifellos
eine werth volle Bereicherung unserer diagnostischen Hilfsmittel dar.
IV. Therapeutische Bedeutung der Spinalpunction.
Ueber die therapeutische Bedeutung der Spinalpunction sind die Ansichten
noch sehr getheilt. Von der einen Seite wird jeder Einfluss auf den klinischen
Verlauf oder das Befinden des Kranken geleugnet, von anderer wird eine gün-
stige Einwirkung hei gewissen Erkrankungen behauptet. Endlich werden die
Gefahren einer Spinalpunction hervorgehoben.
Stellen wir die bis jetzt vorliegenden Angaben Uber günstige Einwir-
kung zusammen, so sieht Quincke dieselbe in der Herabsetzung des Hirn-
drucks. Er sah den Kopfschmerz, die Benommenheit und die Nackensteifigkeit
geringer werden.
Dies trifft namentlich für Fälle von acuter Meningitis serosa und sero-
purulenta, beziehungsweise Exacerbation chronischer seröser Meningitis zu. Die
Abnahme der Beschwerden schloss sich mehrfach so auffällig an die Punction
an , dass „die Punction geradezu eine Wendung der Krankheit zum Besseren
einleitete“. In einem Falle von Meningitis nahm nach der Punction eine be-
stehende Facialislähmnng ab.
Ein Einfluss auf die Pulsfrequenz trat nicht hervor.
„Therapeutischen Nutzen hat die Punction also wesentlich für
acute Fälle seröser und serös-eiteriger Meningitis. Hier nützt die Druckver-
minderung wohl nicht nur direct und momentan , sondern , nach Analogie der
Pleurahöhle, auch dadurch, dass comprimirte Blut- und Lymphbahnen für die
Resorption des noch übrigen Exsudates wieder frei werden. In chronischen Fällen
wird bei acutem Nachschub der Exsudation wenigstens Erleichterung verschafft“
(Quincke).
Bei der tuberkulösen Meningitis hat Quincke keine Erfolge gesehen.
Ob in Freyhan’s Falle von geheilter tuberkulöser Meningitis die Puijc-
tion für den günstigen Verlauf von Bedeutung gewesen ist, steht dahin.
In seinem Vortrage 1893 hatte v. Zif.msskx berichtet, dass er dureh
die Punction Herabsetzung der auf Hirndruck beruhenden Beschwerden, speciell
des Kopfschmerzes, gesehen habe. Er erhoffte eine Steigerung der therapeuti-
schen Wirkung durch öftere Wiederholung der Punction im Einzelfalle.
Auch Naunyn «) berichtet im Anschluss an v. Ziemssen über solche
palliativ bessernde Wirkungen.
IlEUBNER ’8) hat bei tuberkulöser Meningitis unter Umständen durch die
Lumbalpunctiou gewisse Symptome, wie Erbrechen, Convulsioneu, Kopfschmerzen,
beseitigen können. Auch bei eiuem Falle von Kleinhirntumor mit sccundärem
Hydrocephalus sah er eine Linderung der Beschwerden, speciell des Kopfschmerzes,
durch Spinalpunction.
A. Frankel14) beobachtete bei einem Falle von wahrscheinlichem Hirn-
tumor nach der Punction Verschwinden des Kopfschmerzes und Rückbildung der
Stauungspapille.
Auch Ewald *■ ,4) sah bei einem Falle von Hydrocephalus mit schweren
Hirndruckerscheinungen eine vorübergehende Besserung nach der Punction.
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384
LUMBALPUNCTION.
Senator1*' konnte wie Hecbner bei einem Falle von tuberkulöser
Meningitis eines Kindes vorübergehende Linderung der Beschwerden nach der
Punction constatircn.
Andererseits hat Lichtheim selbst nur vorübergehende Erfolge nicht
gesehen. Auch hochgradige Hirndruckerscheinungen bei Hirntumoren wurden trotz
Entleerungen sehr grosser Flüssigkeitsmengen (bis 80 Ccm.) nicht einmal vorüber-
gehend gebessert.
Lenhartz *9) sah Besserung bei seröser Meningitis und bei Hirntumor;
ferner bei schwerer Chlorose.
Eigene Erfahrungen: Ich selbst kann durchaus bestätigen, dass die
Spinalpunction eine Besserung der Beschwerden in manchen Fällen herbeizn-
führen im Stande ist. Namentlich bei den allerdings seltenen Fällen von acuter
seröser Meningitis, mit deren Diagnose man übrigens recht vorsichtig sein soll.
Bei einem solchen Falle konnte ich die Wiederkehr der erloschenen Patellar-
reflexe nach der Punction beobachten. Ferner sind hier die (kleinen) Hirntumoren
zu nennen. Namentlich auffällig waren die lange anhaltenden Besserungen der
Beschwerden , welche ich bei zwei Fällen, wo cs sich anscheinend um Tumoren
der hinteren Schädelgrube handelte, herbeiführen konnte. Bei tuberkulöser Menin-
gitis und hei Urämie habe ich keine Besserung gesehen.
Wenn auch über den therapeutischen Werth der Spinalpunction ein
definitives Urtheil noch nicht zu fällen ist , so fordern die Ergebnisse doch zu
weiteren Studien und Versuchen auf. Möglicherweise kann die Spinalpunction
sogar von vitaler Bedeutung sein durch Herabsetzung eines zu lebensgefährlicher
Höhe gespannten Druckes.
Schädliche Wirkungen der Spinalpunction. Bei der Punction
selbst kommen üble Zufälle kaum vor. Nur ein zu schnelles Abfliessen der Flüssig-
keit, namentlich aber Aspiration , ist zu vermeiden , weil es hierbei zu Collaps-
zufällen durch Hirnhyperämie, beziehungsweise Blutungen kommt. Auf einem zu
schnellen Abfiiessen, beziehungsweise einem vor der Punction sehr hoch ge-
spannten Hirndruck dürfte auch der zuweilen bei der Punction auftretendc
Schmerz beruheu, welcher Kopf, Rücken, Extremitäten betriflt.
Bei massig gesteigertem Hirndruck und langsamem Abtröpfeln der
Flüssigkeit beobachtet man Schmerzerscheinungen entweder gar nicht oder nur
eine unbedeutende Steigerung des Kopfschmerzes, namentlich gegen Ende
der Punction.
Schmerz kann ausser beim Einstich in die Haut auch durch Streifen
des Periosts, sowie beim Durchstechen der Dura entstehen. Ferner wird zuweilen
Schmerz oder krampfhafte Spannung in einem Beine angegeben, wohl bedingt
durch Zerrung eines Bündels der Cauda equina (Quincke).
Einigemale ist ein auffallend schnell auf die Punction folgender tödt-
liclier Ausgang (bei Hirntumoren und Urämie) beobachtet worden. ls) Es fragt
sich, ob hier der Zufall eine Rolle gespielt hat, oder ob die Druckentlastung so
gefährliche Folgen haben kann. In der Hauptsache handelt es sich um zufällige
Coincidenz. Jedoch ist nicht zu bezweifeln, dass eine zu schnelle oder zu reich-
liche Entleerung der Flüssigkeit — namentlich wenn der Druck hochgespannt
war — gefährliche Folgen wird haben können. Man wird gut thun , falls der
Druck so stark ist, dass die Flüssigkeit im Strahle herauskommt, durch Ver-
schluss der C'anüle mit dem Finger für ein allmäiiges Abfiiessen Sorge zu tragen.
Entleerung der Flüssigkeit im .Sitzen oder mittels Aspiration ist zu vermeiden.
Die QuiNCKE’sche Druckmessung gestattet die Abnahme des Druckes zu beob-
achten. Je schneller die Druckabnahme vor sich geht , umso grössere Vorsicht
ist nöthig. Die Unfälle betrafen hauptsächlich Fälle von Hirntumor und Fürbrisger
rüth namentlich bei Kleinhirngeschwulst zur grossen Vorsicht.
Die Gefahr der Infection ist bei sachgeiuässer Handhabung der Technik
ausgeschlossen.
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LUMBALPUNCTION. — LYSOLVERGIFTUNG.
385
Literatur: *) H. Q $ incke, Ueber Hydrocephalus. Verhandl. des X. Congresses
f. innere Med. Wiesbaden 1891, pap. 321. — 3) H. Quincke. Zur Physiologie der Cerebro-
spinalflüssigkeiv. Du Bois und Reichert's Archiv. 1872. — 3) H. Quincke, Berliner klin.
Woehenschr. 1891, Nr. 39. — 4) H. Quincke, Ueber Meningitis aerosa. Sammlung klin.
Vorträge, begründet von R. v. Volkmann. N. F. Nr. 67. — *) Lichtheim, Deutsche med.
Woehenschr. 1893, Nr. 40 u. 47. — *) v. Ziemssen, Ueber den diagnost. u. tlier. Werth der
Panction des Wirbelcanals Verhandl. des XII. Congresses f. innere Med. Wiesbaden 1893,
pag. 197. — T) O. Wyss, Correspond enzbl. f. Schweizer Aerzte. 1893, XXIII. pag. 2S9. —
s) Dennig, Münchener med. Woehenschr. 1894. Nr. 49 u. 50. — *) Frey ha n, Ein Fall
von Meningitis tuberculosa mit Ausgang in Heilung. Deutsche med. Woehenschr. 1894,
Nr. 36 — Lichtheim, Berliner klin. Woehenschr. 1895, Nr. 13. — **) Fürbringer,
Ebendort. — ,s) Quincke. Berliner klin. Woehenschr. 1895, Nr. 41. — l§) Rieken, Deutsches
Arrh. f. klin. Med. LVI, 1 Heft. — 14) Discussion in der Berliner med. Gescllsch. Sitzung
vom 20. März 1895- Berliner klin Woehenschr. 1895, Nr. 13. pag. 287. — li) Heubner,
Vortrag über Lumbalpnnction. Sitzung vom 11. November 1894. Berliner klin. Woehenschr.
1895. Nr. 13. pag. 2S‘9. — **) Ref. in Deutsche med. Woehenschr. 1895, Nr. 40 u. an anderen
Stellen — ,T) Stadelmann. Ein Beitrag zur diagnostischen Bedeutung der Lumbalpunction.
Berliner klin. Woehenschr. 1895. Nr. 27. — *8) Fürbringer, Plötzliche Todesfälle nach
Lumbalpunction. Centralbl. f. innere Med. 1896, Nr. 1. — ,9) Lenhartz, lieber den dia-
gnostischen und therapeu tischen Werth der Spinalpunction, mit Discussion. XIV. Congress f.
innere Med. 1806. A. Goldscheider.
Lungenschwindsucht, Behandlung mit Inhalationen, s. pag;. 284 tT.
Lycetol, weinsaures Dimethylpiperazin, Dimethyl/nperazinum tartari-
cuin, wurde von H. Wittzack als harnsäurelöseudes Mittel für alle Fülle , io
denen das Piperazin angezeigt, empfohlen. Es soll, wie Piperazin, die Harnsflure
losen, die dinretische Wirkung der Weinsäure äussern und überdies durch Um-
wandlung des Weinsäuren Salzes im Blut zu eiuem kohlensauren die Alkalescenz
des Blutes vermehren. Das Lycetol schmeckt angenehm säuerlich , ohne auf die
Dauer Widerwillen zu erregeu. Wittzack hat 7 Fülle vou harnsaurer Diathese,
darunter einen von Arthrit. def. urica, mit Lycetol behandelt und fand be-
trächtliche Vermehrung der Diurese mit herabgesetztem speeifisehen Gewicht des
Harns: keine Störungen des Allgemeinbefindens auch bei längerem Gebrauche,
Nachlassen der Beschwerden bei Gicht , Ausbleiben sonst regelmässiger Gicht-
anfälle. Das Mittel soll zu 1 — 1' 9 Grm. täglich in Pulverform oder in Zucker-
wasser mindestens 14 Tage hindurch curmässig gebraucht werden. In Form von
snbeutanen Injectionen ist es nicht anwendbar.
Literatur: H. Wittzack. Notiz über (las Lycetol (Ditnethylpijterasinum tnv-
tarinun ), ein harnsäurelösendes Mittel. Allg. med. Central-Ztg. 1894, Nr. 7. Loebiseh.
Lysolvergiftung. Das unter dem Namen Lysol als Desiuficiens einge-
führte Gemenge von Kresolen und Seife hat in Folge seiner ausgedehnten Ver-
wendung eine grössere Anzahl von Vergiftungen, vorwaltend zufälliger durch
Trinken kleiner Mengen an Stelle anderer Flüssigkeiten, aber auch einzelne
absichtliche Intoxicationen herbeigeführt. Diese nähern sich den Intoxicationen
mit C'arbolsäure und Kresolen in Bezug auf die Symptomatologie bei Lebzeiten,
indem sie entfernte Erscheinungen (raseli eintretende Bewusstlosigkeit, Atbem-
störungen, Cvanose) neben localen (Verätzungen im Jlijnde) zeigen, unterscheiden
sieh aber nicht unwesentlich durch die weit grössere Intensität der örtlichen
Einwirkung, die sich sowohl bei der örtlichen Besichtigong als insbesondere in
tödtlich verlaufenen Fällen bei der Section zu erkennen giebt. ln Folge davon
findet sich gelblich-braune Verschorfung an den Lippen, an Kinn und Wangen,
mitunter auch streifenförmig auf den Hals und Kumpf, ja selbst bis auf die
Arme sieh hinziehend, Trübung und röthlichbraune Färbung der Nasenschieim-
haut, fetzige Ablösung des Epithels im Oesophagus, und im Magen entweder
Reizungserschcinuugen oder auch in Folge des Freiwerdens von Alkali Quellung
und Lockerung neben Trübung und bräunlicher Färbung der Schleimhaut. Auf-
fällig ist, dass in allen bisher zur Section gelangten Fällen sieh auch eorrosive
Erscheinungen in deu Luftwegen und circumscripte Verätzungen und Oedcm der
Encyelop. Jahrbücher. VI. £5
386
LYSOLVERGIFTUNG.
Lungen in Folge von Aspiration gefunden haben. Wird das Lysol, wie in einem
Falle von Comstock, in starker Verdünnung eingeführt, so können die örtlichen
Erscheinungen relativ gering sein, selbst wenn die Flüssigkeit längere Zeit im
Magen verweilt. In solchen Fällen kann bei glücklichem Verlaufe auch kurz-
dauernde Albuminurie Vorkommen. Auch zeigt der Athem einige Tage Theer-
geruch. Im Mageninhalt ist das Lysol als dickflüssige, theerartig riechende,
seifenartig anzufüblende Substanz zu erkennen , deren Lösung mit Eisencblorid,
Bromwasser und MiLLOx’schem Reagens die Reactionen der Kresole giebt. Diese
Reactionen können auch im Erbrochenen und in dem durch Magenausspülung Ent-
leerten erhalten werden. Die letale Dosis ist nach den bisherigen Beobachtungen
nicht sicher festzustellen ; ein Kinderlöffel voll hatte den Tod eines lOmonat-
lichen Knaben zur Folge, während bei rascher ärztlicher Behandlung 10 Orm.
von einem 2jährigen und 25 Grm. von einem 4jährigen Knaben Uberstanden
wurden und 2 — 3 Grm. von Erwachsenen ohne besondere Störungen tolerirt
werden. Wie Phenol, kann Lysol auch von der äusseren Haut und von Wunden
aus schwere Vergiftung bewirken.
Literatur: Haberda, Ueber Vergiftung durch Lysol. Wiener klin. Wochensehr.
1895, Nr. 16 u. 17. — Stühlen, Ueber Gesundheitsbeschädigung und Tod durch Einwirkung
von Carholsäure und verwandten Desinfectionsmitteln. Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med 18!i\
Heft 4, pag. 240. — Comstock, Poisoning by lysol. Med. News. 17. August 1895, pag. 175.
Husemann.
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M.
Magen. Unter den den Magen betreffenden Arbeiten stellen wir die-
jenigen Publicationen voran, die sieb auf physiologische Fragen beziehen.
Mokitz1) veröffentlicht Studien tlber die motorische Thätigkeit des Magens, und
zwar beschäftigt er sieh zunäehst mit dem Verhalten des Druckes in diesem
Organ. Beim Menschen findet sich im Magen ein geringer positiver Druck: es
wurden im Sitzen Werthe von 2 — 6 Cm. Wasser, am häufigsten 6 — 8 Cm. beob-
achtet. Dieser Druck beruht auf der Belastung des Magens durch die Eingeweide,
besonders die Leber, auch betheiligt sich an seinem Zustandekommen ein gewisser
variabler Contractionszustand des Magens, weniger ein allgemeiner, durch die
Spannung der Baiichdecken bedingter intraabdominaler Druck. DaR Herabtreten
des Zwerchfelles verstärkt den Druck um 4 — 12 Cm. und die Herzbcwegung um
0,5 — 2 Cm.; inspiratorisches Absinken des Druckes ist selten und nur bei starker
Erweiterung der Bauchhöhle durch die Hebung der Rippen vorhanden. Von
grösstem EinHuss auf den Druck ist die Wirkung der Baoclipresse, sie hebt die
Wassersäule bis zu 3 M. In Betreff der activen Steigerung des Druckes von
Seiten des Magen besteht ein bedeutender Unterschied zwischen Kundus und
Antrum; im ersteren erfolgt eine solche während der Digestion nur minimal, im
letzteren beträchtlich (50 Cm.), und zwar ist der Druckverlauf so, dass der
Anstieg anfangs langsam , dann rascher geschieht und der Abfall jäh eiutritt.
Die Bewegungsverhäl tnisse des gesunden und kranken Magens sucht auch
Einhorn1) näher zu analysiren; er bedient sich dazu eines kleinen, verschluck-
baren Apparates, „Gastrograph“ , der aus zwei concentrischen Kugeln besteht,
zwischen denen eine Platinkugel bei Bewegungen den Contact herstellt, der dann
auf einer rotirenden Trommel markirt wird. Einhorn will sich so ein lirtheil
Ober die vom Magen selber geleistete mechanische Arbeit verschaffen. In die
Augen springende Resultate hat er unter normalen und pathologischen Verhält-
nissen mit seiner Methode bisher nicht erzielt. Hemmeter *) studirte die Magen-
bewegungen an einem Gummibeutelchen , das in den Magen eingeführt und mit
Luft gefüllt wird. Dasselbe wird bei jeder Contraction des Magens comprimirt,
dieser Druck wird auf ein Wassermanometer oder ein Kymographion mittels
ßchlnuch Oberfragen.
Sehr gründliche Untersuchungen über die Secretion und Motilität
des normalen Magens, bei denen so ziemlich alle wesentlichen Fragen berück-
sichtigt werden, giebt A. Schüle4). Im Thierexperimente wie beim Menschen
wird der Einfluss der verschiedensten chemischen Körper auf die Functionen des
Magens geprüft , im Ganzen bringen die gewissenhaften Bemühungen des Ver-
fassers eine Bestätigung und Erweiterung der Angaben früherer anerkannter Arbeiter;
auf die zum Theil interessanten Einzelheiten kann hier nicht eingegangen werden.
25*
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388
MAGEN.
Nur die Erfahrungen, die Schule mit einem Körper, dem Xatr. bicarb.. gemacht
hat, will ich hervorheben , da er sieh hier im Gegensätze zu N. RrichmaXX *)
befindet. Dieser Autor spricht dem Salz einen Einfluss auf die Salzsäureausschei-
dung ab, sein Werth liege in der neutralisirenden Wirkung; letztere ist ohne
weiteres zuzugeben ; aber auch die Labdrtisenthiitigkeit modifieirt das Mittel
deutlich , indem grössere Gaben nach SchüLK zunächst eine Verminderung und
dann eine Steigerung der Secretion bis zur Norm und tlber dieselbe hinaus
herbeifuhren.
Die resorptive und secretorische Function des menschlichen Magens
ist nach dem Vorgänge v. Mering’s durch J. Miller ') geprüft worden. Die
Veränderung der Concentrationsverhältnisse innerhalb bestimmter Zeiten wird
an den verschiedensten Lösungen (Alkohol, Salze, Pepton, Zucker) festgestellt
und daraus Schlüsse auf die Functionen gezogen; Miller kommt zu denselben
Resultaten im menschlichen Magen, wie sie v. Merino beim Thiere erhielt (siehe
dieses Jahrbuch, 1894) und er bezieht die Veränderungen, die die Flüssigkeiten
erleiden, auf gleichzeitiger Resorption der gelöst eingeführten Stoffe und Absehei-
dung von Wasser in den Magen. Die Veränderung des Mageninhaltes wächst mit
der Goncentration der Lösung. Auch ohne Salzsäureabsonderung kann der Magen
Wasser abscheiden , wie Beobachtungen bei Einfüllung hoch concentrirter Koch-
salzlösungen beweisen. Dass der Magen übrigens nicht blos Wasser, sondern auch
andere, und zwar speciell körperfremde Stoffe ausscheidet, ist bekannt. In
umfassender Weise ist dieses Verhalten noch einmal von Boxgers7) geprüft w orden.
Subcutan oder per Klysma einverleibt werden in den Magen ausgeschieden von
Alkaloiden: Morphin, Veratrin, Bruein, Coffein, Antipyrin , Chinin, von aromati-
schen Substanzen Salicylsäure, von Fettkörpern Chloroform, Chloralhydrat, Aethyl-
alkohol, Methylalkohol, Aceton. Nicht nachgewiesen wurden im Magen Atropin,
Apomorphin, Carbolsäure.
Arbeiten , die sich mit den rntersuchuugsmcthodcn befassen , sind nur
wenige zu verzeichnen. 11. Wiener8) hat die gasvolumetrisehe Salzsäure-
bcstimmung im Magensafte nach MiEkzyxski auf ihre klinische Brauchbarkeit
geprüft und sie wohl verwerthbar gefunden, wenn er sie auch uiclit für sonder-
lich einfach erklärt. Auch die TöPKER’sche Methode, die Salzsäure mit Dimethyl-
amidoazobenzo! nachzuweisen und zu bestimmen, ist durch Frieuunwald “) und
durch Stkacss10) geprüft und brauchbar gefunden worden. Im Ganzen hat sich,
wie aus dem Wenigen hervorgeht . das Interesse au dem Studium der Salzsäure
erschöpft; dagegen wurden die Gährungssäuren, namentlich die Milchsäure, in
Bezug auf Nachweis, Entstehung und diagnostische Bedeutung eingehender
gewürdigt. Das ausserordentlich umständliche Verfahren von Boas habe ich bereit«
im vorigen Jahre an dieser Stelle eingehend kritisirt, die wissenschaftlichen Grund-
lagen desselben werden durch die Nachprüfungen von Seelig n) wesentlich er-
schüttert, der selbst bei Anwendung absolut alkoholfreien Aethers die Reaction
unzuverlässig fand. Ich ia) selbst habe nach zahlreichen Controlen ebenfalls den
Eindruck gewonnen, als ob wir mit der l" ff klmanx 'sehen Reaction sehr gut aus-
kommrn können, wenn wir uns daran gewöhnen, nur das Auftreten einer Gelb-
grün- oder Grünfärbung als verwerthbares Kriterium zu betrachten. Ist man
in Betreff der Deutung einer Farbennuance im Zweifel, so macht man eine Aethrr-
cxtractiou nach Ansäuerung des Filtrats mit Phosphorsänre; der abgegossene
saure Aether wird mit 10 — 20 Tropfen einer dünnen Eisenchloridlösung (2 Tropfen
Lü/u. ferri xesquiddor. gelöst auf 50 Grm. Wasser) versetzt und nun nicht kräftig
geschüttelt, wie dies früher gerathen worden ist, sondern vorsichtig langsam auf-
und abgeschwenkt. Gelbgrün- oder Grünfärbung unterhalb der Aetherschieht ist
für die Anwesenheit von Milchsäure beweisend, Graugelb- oder Gelbfärbung kann
durch wenig Milchsäure hervorgerufen sein, doch geben auch andere ätherlöslicbe
Stoffe, z. B. Alkohol, Essigsäure, die Reactiou mit dieser Nuance. Das energische
Schütteln bei dieser Manipulation ist deshalb nicht empfehlenswert!! , weil die
agle
MAGEN.
389
GrOnfärbung des Keagtns im überschüssigen Aether verloren gehen kann. Auch
eine ungefähre quantitative Bestimmung der Milchsäure kann nach Stbauss 1S) mit
Hilfe der Aetherextraotion und des Eiseuchlorid ermöglicht werden, wenn man
in einer eigens dazu von ihm angegebenen graduirten Glasröhre die Flüssigkeit
zweckentsprechend verdünnt. Ueber die Entstehung der Milchsäure als Gährungs-
produet sind alle Autoren einig, offen blieb nur die Frage, ob unter ganz
bestimmten Krankheitsbedingungen immer die gleichen Bakterien die Ursache der
abnormen Fermentation sind. Besonders wurde hier auf jene langen, winkelig
gekrümmten Bacillen gefahndet, denen von einzelnen Autoren eine gewisse
Speeifieitüt zuerkannt wurde, ja sic sollten sogar nur bei Carcinom auftreten,
ihr Vorhandensein erhielt also diagnostische Bedeutung (Oppler “). Die in Rede
stehenden Parasiten sind nun von Kaufmann und Schlesinger '*) und H.Strauss1*)
in Reincultur gezüchtet und als starke Milchsäurebildner erkannt worden. Kauf-
mann und Schlesinger stehen nicht an, für diesen Milchsäurebacillus eine Speci-
ticität zu construiren, indem sie ihn als Indicator und wesentlichsten Erreger der
Milehsäuregährung ansprechen, dessen Constatirung dem chemischen Nachweis der
Milchsäuregährung diagnostisch gleichwerthig sei. Dass in allen diesen Schluss-
folgerungen weit Uber das Ziel hinausgeschossen wird , haben Rosenhf.im und
Richter i!) in einer ausführlichen Arbeit, der sie eine Züchtung der Pilzfiora in
zahlreichen normalen und pathologischen Mägen zu Grunde legten , dargethan.
Wir fanden, dass der normale Magen ebenso starke Milchsäurebildner
beherbergt, als sic unter pathologischen Verhältnissen nachgewiesen werden.
Die $perificität der langen Bacillen fällt in sich zusammen, da uns der Nachweis
gelang, dass sie auch im nicht carcinomatösen erweiterten Organ ausserordentlich
stark wuchern und Milchsäure bilden können. Auch fanden wir sie gelegentlich
in salzsäurehaltigem Magensaft. Die meisten Milchsäurebildner sind aber auch
befähigt, Gasgälirung und Fäulnissprocesse einzuleiten. Man erkennt also, dasB
es durchaus keiner grossen Multiplicität von Mikrobenarteu henöthigt , um in
einem Mageninhalte die mannigfachsten Zersetzungsvorgänge hervorzurufen. Welche
Art von Gährungsprocessen sich abspielt, hängt weniger von der Zahl und
Qua lität der Erreger, als von anderen Momenten ab, unter denen die Zusammen-
setzung des Nährbodens und die Acidität von der grössten Bedeutung sind. So
erklärt es sich auch, dass verhältnissmässig leicht und ohne controlirbare Ursache
bei demselben Individuum die Zersetzungsvorgänge wechseln können , worauf
ich ■-) besonders hingewiesen habe. Dass das Auftreten der Milchsäuregährung
kein nur dem Carcinom zukommendes specifisches Zeichen ist, wie
Boas ,!,j will, habe ich auf Grund einer einwandsfreien Beobachtung früher dar-
gethan und jetzt neue derartige hinzugefügt. Durch v. Noorden1"), Klempeker so),
Bi al 3,1 sind dieselben bestätigt worden.
Eine Untersuchung von Strauss und Bialacoir Ji) über die Abhängig-
keit der Milchsäuregährung vom Salzsäuregehalt des Magensaftes
erweist den bedeutenden Einfluss, den auch die an Eiweisskörper gebundene Salz-
säure auf die Verhinderung der Milchsäuregährung hat.
Mit Hilfe der complicirtcn Methoden der genauen Gasanalyse ist nach dem
Vorgang von G. Hoppe-Seyler die Gasgährung im menschlichen Magen von
E. Wissel21) studirt worden. Auch er findet, dass die Gasgähruug durch den
Salzsäuregehalt wenig oder gar nicht beeinflusst wird. Je weniger atmosphärische
Luft im Magen die Analyse nachweist, umso mehr Kohlensäure uud Wasserstoff
treffen wir au, die, in erheblicheren Mengen vorhanden, stets der Ausdruck patho-
logischer Fermentation sind. Dns Verhältniss der Intensität der Gkhrung zum
Grade der motorischen Störung ist kein constantes, indem starke Gährung bei
geringer motorischer Insufficienz Vorkommen kann. Erwähnung verdient noch,
dass Sarcine besonders gern da sich entwickelt, wo wir bei Magengährung viel
\V asserstoff finden. Schliesslich soll noch einer Arbeit von J. Kaufmann"1) Er-
wähnung gethan werden, der bei einem Falle von Magensaftfluss mit leichter Atonie
MAGEN.
390
acht verschiedene Bakterienformen züchtete, unter deuen sich ein besonders starker
Erreger von Gasgährung in grossen Mengen befand.
Eine sehr wenig geübte , aucli recht schwierige Untersuchungsmethode,
die aber unter Umständen sehr beweisende Aufschlüsse über das anatomische Ver-
halten des Magens liefern kann, ist die 1'ntersuehung kleiner Schleimhant-
stückchen, die wir gelegentlich bei Ausspülungen und Sondirungen erhalten.
P. Cohnheim ,5j veröffentlicht eine grössere Zahl von Untersuchungen, die er an
solchen Schleimhautstürkchen gemacht hat und betont mit gutem Grunde die dia-
gnostische Bedeutung, die einer solchen Prüfung, wenn sie exact gemacht wird,
nicht blos für die Erkeuntniss des Carcinoms, sondern auch für das Studium der
Schleimhautveränderungen im Allgemeinen zukommt. Uns von früheren Arbeitern
behauptete Vorkommen einer Degeneration der Drflseuzellen bei Gastritis
wird von ihm, ebenso wie dies bereits von A. Schmidt S1) geschehen ist, bestritten.
Während aber Letzterer das Bild durch ein Erliultensein , respective Wucherung
der normaler Weise im Magen vorkommenden Schleimdrüsen erklärt, ist Cohxhkim
der Ansicht, dass diejenigen Schläuche, welche Stäbchensnumepithel und Beclier-
zellen enthalten , den verlängerten und erweiterten Magengrübchen entsprechen.
Diese schleimige Degeneration der Vorraumschieht, nicht der Drüseuzellen. kommt
sowohl bei dem einfachen schleimigen Katarrh, wie bei den zur Atrophie führenden
Processen vor.
Dass man beim Sondiren für die Diagnose verwerthbare Schleimhant-
stückchen im Spülwasser und in der Sonde gelegentlich hei jeder Art von Magen-
störung findet, zumal wenn man nicht ganz vorsichtig manipulirt , ist bekannt;
dass dasselbe bei Tiefstand des Pvlorus auch einmal aus der Pförtnergegend
aspirirt werden kann, lehrt eine Beobachtung von Ebstein17). Nach Einhorn1’)
aber kommen Fälle zur Beobachtung, wo die Abstossung von Schleimhaut ganz
auffallend leicht und häufig vor sieh geht. Hier besteht also eine ausgesprochene
Neigung zur Bildung von Erosionen; bei diesen Kranken traten Abmage-
rung, Gefühl von Schwäche, Schmerzen auf, die nicht sehr intensiv sind und
gleich nach dem Essen, unabhängig von der Qualität der Nahrung, kommen. Die
Fetzen werden regelmässig morgens im nüchternen Magen gefunden ; die Schleim-
haut bot gemeinhin die Erscheinungen der Gastritis glandularis chronica. Erfolg-
reich erwies sich die Behandlung mit der Anjent. niYrtc.-Douche.
Gegenstand lebhafter Discussion ist endlieh zur Zeit eine Untersuchuugs-
methode: die Magcndurchleuchtung. ln systematischer Weise hat MELTZISA")
das Gastrodiaphan zu Untersuchungen über Grösse, Lage und Beweglichkeit des
kranken mul gesunden menschlichen Magens verwandt. Die Ergebnisse wurden
am leeren und vollen Magen, im .Stehen und Liegen verglichen; für die Grenz-
bcstimmungeu erwies sich besonders die Verschiebung der Lichtquelle, das
„Wanderulassen“ der Lampe vortheilhaft. Als Resultate, die auch MARTH'S *°),
unter dessen Leitung MELTZING arbeitete, vertritt, hebe ich hervor: I. beim
Gesunden erreicht der leere Magen den Nabel, der gefüllte reicht noch tiefer bis
zu einer Linie, die den höchsten Punkt der Crista tlei verbindet (Ergebniss bei
28 Gesunden). 2. Die untere Grenze des gefüllten Magens verschiebt sich beim
Aufstehen des Patienten zugleich mit der unteren Lebergrenze um 4 — 11 Gm.
3. Die respiratorische Verschiebbarkeit ist im Liegen grösser als im Stehen.
4. Nach der Anfüllung vergrössert sich das Lichtbild hauptsächlich nach rechts.
5. Von der gefundenen Grösse des Magens darf absolut kein Schluss auf die
motorische Thätigkeit des Magens gemacht werden, da sehr grosse, aber voll-
kommen normal lunctionirende Mägen beobachtet sind. tj. Bei Carcinomeu half die
Methode nur den Sitz näher bestimmen.
Ob die Magcndurchleuchtung , selbst mit allen möglichen Cantelen aus-
geführt, in der That als einwandsfreie Methode gelten kann, erscheint mir doch
fraglich. Den Einwänden von E. Meinebt **) und E. Langekhaxs s) kann ich
mich nur nnschliessen. Wasser, Luft, Contenta in den Bauchorganen , der Grad
MAGEN.
391
der Wölbung der Bauchhöhle können zweifellos Fehlerquellen bedingen , die
manchmal gering, manchmal beträchtlich sein dürften. Für mich bleibt das
souveräne Verfahren zur Feststellung der Lage und Form des Magens die Auf-
blähung mit Luft oder Kohlensäure. Die Diagnose specicll der Verlagerung des
Magens, der Gastroptose, wird auf diesem Wege leicht und sicher. Mit diesem
Hilfsmittel arbeitend, kam Meinbrt 31) zu dem Resultat, dass die Gastroptose
eine regelmässige Begleiterin der in der Pubertätszeit erworbenen
Chlorose auch bei jungen Mädchen, die nicht geboren haben, sei. Dass man
die Verlagerung bei schlanken, mageren, besonders in letzter Zeit abgemagerten
Frauen häutig findet, muss zugegeben werden, aber von einer Constanz des
Symptomes ist namentlich, so lange das Fettpolster gut erhalten bleibt, sicher
keine Hede, eine Auffassung, die auch Helling *•) vertritt. Dass Mkixkkt nebenbei
diese von ihm diagnosticirte Gastroptose in Verbindung bringt mit einer Heizung
desjenigen sympathischen Centrums, unter dessen Einfluss die in der Milz statt-
findende Hämoglobinbereitung steht, dass ferner die Gastroptose nach ihm die der
Chlorose zu Grunde liegende örtliche Störung ist, sei noch erwähnt, soll aber
nicht weiter discutirt werden. Eingehend würdigt auch A. Ilt’iiKu von einem
anderen Standpunkte die Gastroptose und macht auf das überaus häufige Vor-
kommen der motorischen Insufficienz bei der Verlagerung aufmerksam;
ziemlich oft findet man Subacidität. Endlich bringt Flkixkb s0) eine zusammen-
fassende Darstellung der Beziehungen der Form- und Lageveränderungen des
Magens und Dickdarms zu Functionsstörungen und Erkrankungen dieser Organe.
Darin sind alle Autoren einig, die sich mit diesem wichtigen Gegenstand be-
schäftigen , dass das Schnüren die wichtigste und bedenklichste Ursache dieser
Anomalien ist. Unbestreitbar ist die Thatsache, dass die Schnürung eine Ver-
engerung des Magenlumens herbeifülirt , die die Vorwärtsbewegung des Omans
hemmt, sich durch Stenosengeräusche (Kollern) manifestirt und sich durch Magen-
krämpfe, Ohnmächten u. Aelinl. äussern kann. Der mechanischen Bcwegnngs-
hemmung entspricht auch häufig ein Schwächezustand der Drüsenfunction, der
durchaus nicht nervöser Natur zu sein braucht, wenn auch Störungen des Nerven-
systems durch den Druck und die Zerrungeu, oder indirect durch Blutverände-
rungen veranlasst, hier ebenso häufig und ebenso mannigfaltig nuftreten, wie bei
Verlagerungen der Gebärmutter.
Klinisches Interesse haben des weiteren noch einige Ausführungen von
Eh'TKlN kI) über die Beziehungen zwischen Trauma und Magenerkran-
kung. Der Einfluss eines Traumas auf die Entstehung eines Ulcus wird durch
neue gute Beobachtungen sichergestellt. Nicht blos directe Verletzungen der
Magengegend können eine Uieeration von dem klinischen Charakter des runden Magen-
geschwüres zur Folge habeu, sondern auch Verletzungen, die andere Körpertheile
treften, ziehen den Magen in Mitleidenschaft oder schädigen ihn allein, ln gleichem
Sinne wirken auch aussergewiihnliche körperliche Anstrengungen, indem sie Magen-
blutungen und Ulcusbildung nach sich ziehen. Dass nicht jede Hämorrhagie noth-
wendlg ein Ulcus zur Voraussetzung hat , ist allgemein anerkannt. Dass die-
selbe gelegentlich auch ohne dass anatomische Veränderungen an dem Organ
vorliegen, zu Stande kommt, wird lange nicht geuug gewürdigt. Zudem ist, wie
KrTTXEtt ,s) mit Recht hervorhebt, Magenblutung häufiger als Bluterbrechen und
wird meist nicht genug beachtet. Magenblutungen treten öfter periodisch im
Zusammenhänge mit der Menstruation und deren Anomalien auf, dieselben werden
am besten menstruelle Magenblutungen genannt. Die bei Amenorrhoe auf-
tretenden periodischen Magenblutungen stehen in einem gewissen Zusammen-
hang mit dieser Menstruationsanomalie, sind aber nicht als vicariirend in dem
Binne aufzufasseu , als ob die Magenblutung den physiologischen Vorgang der
Meustruation ersetzen könnte. Die beim Ulcus ventric. auftretendeo Magenblutungen
halten zuweilen auch den Menstruationstermin inne. Menstruelle Magenblutungen
legen deu Verdacht auf das Vorhandensein eines latenten Ulcus ventric. nahe.
3yü
MAUEN.
Im gegebenen Falle ist die Durchführung einer typischen LEUBK’schen Ruheeur
angezeigt, die Erfolglosigkeit derselben spricht gegen das Magengeschwür.
Von Belang sind dann noch einige Ausführungen von C. NaUWEBCK 3>)
über den mykotischen Ursprung des peptischen Magengeschwüres,
der früher ebenso entschieden behauptet, als in letzter Zeit angefochten worden
ist. Für die Entstehung des Ulcus auf infectiösem Wege von der Schleimhaut-
obertläche her spricht auch thatsächlich nichts. Dagegen giebt es hämorrhagische
Erosionen, die als vom Blute her gesetzte mykotische Nekrosen der Schleimhaut
beginnen, aus denen, wenn auch seltener, echte Geschwüre hervorgehen können.
Bei diesen Erosionen ist Blutaustritt ein nachfolgender Vorgang vou untergeordneter
Bedeutung, von sehr wesentlicher aber ist die hyaline Thrombose, die man hier
wie auch sonst bei ulcerösen Processen am Magen oft genug tindet, und die
Gefässverschluss, Circulationsstörung, Aenderung des Gewebes durch den Magen-
saft nach sich zieht. Diese mykotisch-torische Genese des Ulcus kommt in Betracht
bei Sepsis, Pol yarthritis rheumatien , vielleicht auch Tuberkulose und Infectious-
krankheiten.
Ueber Neurosen gastrischen Ursprungs mit besonderer Berück-
sichtigung der Tetanie und ähnlicher Krampfanfälle handelt Fleixek *°)
ausführlich. Neurosen des Vagus , Sympathicus und sensibler peripherer Nerven,
im Gefolge von Magenkrankheiten werden oft genug beobachtet. Die häutigsten
Formen , in denen die nervöse Reactimi sich geltend macht , sind wohl dorso-
lumbare Intereostalneuralgien und Migräne. Bei geeigneter Disposition begegnen
wir auch Psychosen gastrischen Ursprungs: Angst, hypochondrische Wahnideen,
auch hallucinatorische Verwirrtheit können im Anschluss an Erkrankungen des
Magens und mit diesen zusammenhängenden Ernährungsstörungen auftreten. Sehr
viel seltener sind motorische Neurosen , Krämpfe und Lähmungen , doch gehen
letztere nur indirect vom Magen aus und sind von spinalen Veränderungen ab-
hängig. Zu den Krämpfen gehören der chronische Zwerchfellkrampf, der Singultus
in Folge Erregung des Phrenicus, ferner der viel bestrittene Magenhusteu in
Folge refleetorischen Krampfes in den Exspirationsmuskeln. Endlich gehören hier-
her die co n vu lsivischen Anfälle verschiedener Art, die unter dem Namen
Tetanie irrthümlich bisher zusammeugefasst wurden , die aber sehr verschieden-
artigen Charakter haben können; bald haben sie mehr Aehnlichkeit mit echter
Tetanie, bald sind sie starrkrampfartig, bald epileptiform, bald ist das Bewusst-
sein getrübt, bald ganz zum Schwinden gebracht, bald frei. Neurosen können
vom Magen her einfach durch Reflexwirkung und Irradiation zu Stande kommen,
indem die Nerven die Vermittlung übernehmen , häutig entstehen Neurosen aber
auch auf dem Wege der Blutbahn, und zwar dadurch, dass Producte ab-
normer Fermentationen und Umsetzungen im Magen durch Resorption in s Blut
gelangen und auf die Zusammensetzung desselben, auf die Ernährung der Gewebe
nnchtheilig einwirken und allgemeine oder nur auf geschwächte oder weniger
widerstandsfähige Gewebe des centralen oder peripheren Nervensystemes beschrankte
toxische Wirkungen entfalten. Diese schweren Convuleionen sind Flein er mehr-
fach (4 Fällej vorgekommen, er hat sie aber nicht blos bei den durch Magcn-
saltfluss ausgezeichneten Ektasien, sondern auch bei einfacher socundärer Magen-
erweiterung mit Subacidität beobachtet. Die in eiuem Falle angestellteu Versuche,
ein Krampfgift aus dem Mageninhalt zu isoliren, schlugen fehl. Die Erfahrungen,
die Fi.EINER bei der Behandlung dieser Zustände gemacht hat, veranlassen ihn,
wo wirkliche Tetanie vorliegt, oder am Nervensystem, im Urin, am Herzen oder
sonstwo Zeichen nachweisbar sind, welche, wie das Facialis- und TROCSSKAO’sche
Phänomen, die Albuminurie und gesteigerte Toxirität des Harnes, komatöse Zu-
stände, Delirien u. dergl., als Antointoxicationsphänomenc gedeutet werden müssen,
von einem operativen Eingriff abznrathen. Einem vergifteten Körper kaun
eben eine Operation seiner Ansicht nach nichts nützen, sie beschleunigt zusammen
mit der Narkose, wie eine Beobachtung lehrte, den tödtlichen Ausgang. In solchen
MAGEN.
393
Füllen soll man versuchen , den Körper durch Auswaschungen des Magens und
besonders auch des Dickdarmes mit grossen Wassereinläufeu , die in’s Wut
gelangen, die Giftstoffe zu entfernen. Nach der Entgiftung dürfte eine Operation
bessere Chancen gewähren.
Als erwähnenswert he Raritäten, die nicht ohne klinisches Interesse sind,
hebe ich einen Fall von Actinomykosc des Magens hervor, über den
A. Grill*1) berichtet; ferner den Befund eines papillären, in das Duodenum
herabgestiegenen Fibroadenom des Pylorus bei einer 70jährigen Frau —
der Tumor war 2 Cm. breit, 11 Cm. lang — das Cl. CaLZAvora **) beschreibt;
endlich ein mit dem Ductus Wirsung. commuuicircndes Tractionsdivertikel
des Magens. Letzteres fand H. Hkubkl **) 1 Cm. lang, entstanden durch Ent-
zündungsvorgiiuge im Paukreas, die die Hinterwand, respective die kleine Curvatur
des Magens angriffeu und bei der Schrumpfung auszogen. Eine solche Bildung
ist bereits früher von Tilgner “), von der Gallenblase ausgehend, gesehen worden.
Endlich verdient hier der interessante Fall von K. Hirsch, der einen höchstwahr-
scheinlich rongenitalen Sanduhrmagen betrifft, einen besonderen Hinweis.
Ich schliesse diesen Abschnitt mit einer Besprechung derjenigen Arbeiten,
die therapeutischen Zwecken huldigen. Ich selbst*^ habe eine, wie ich
glaube, erschöpfende Darstellung vom Stande der chirurgischen Behandlung
der Magenkrankheiten gebracht. Meine Stellungnahme war begründet auf die
Erfahrungen , die ich an einem grossen Material zu machen Gelegenheit hatte.
Siebenmal wurde wegen Krebses reseeirt, 3 von diesen Kranken starben in Folge
der Operation, die 4 anderen genasen, 2 davon blieben dauernd recidivfrei, eine
Patientin ist es bereits 5 Jahre. Achtmal wurde wegen Pyloruskrebs die Gastro-
enterostomie gemacht, von diesen Kranken, obgleich es sich ausnahmslos um
vorgeschrittene Fälle handelte, starb keiner an der Operation, vielmehr erholten
sich alle erheblich, wurden fast beschwerdefrei, in der Mehrzahl der Fälle war
die Lehensverlängerung unzweifelhaft, eine meiner Kranken lebt heute, fast zwei
Jahre nach der Operation , immer noch. Bei gutartiger Xarbenstenose ist der
operative Eingriff dringend zu empfehlen, wie überhaupt bei jeder motorischen
Insufticienz und Ektasie, unabhängig von der Qualität des Grundleidens,
wenn die Heilpotenzen der inneren Medicin, insbesondere die Ausspülungen keine
funetionelle Besserung herbeifuhren, vor Allem die Unterernährung nicht
beseitigen. Dann können auch Perigastritis und immer wiederkehrende Blutungen
die indieation zum operativen Eingriff abgeben. Das souveräne Verfahren Ist in
allen diesen Fällen die Gastroenterostomie. Im Anschluss an meinen Vortrag
befürwortet Pariser *5) die Ausführung der Laparotomie innerhalb der ersten
20 Stunden nach Perforation eines Ulcus. Die Resultate sind namentlich
nach den in England gemachten Erfahrungen nicht ungünstig; Spontanheilung
ist nur zu erwarten, wo der Magen bei der Katastrophe leer ist. Ermuthigend
sind auch die Mittheilungen Uber die Resultate, die von Kocher*8) nnd Mikulicz ,s),
der z. B. bei 10 Resectionen wegen Carcinom in den letzten Jahren nur 1 Todes-
fall hatte, für die operative Behandlung des Carcinoma in’s Feld geführt werden.
Die guten Erfolge der Gastroenterostomie veranschaulicht auch eine Mittheilung
vou v. Hacker. 60) Statistisches vom chirurgischen Standpunkte trägt in er-
schöpfender Weise IIabekkralt 61) zusammen. Ausser mir haben vom Stand-
punkte des inneren Klinikers Talma62) und Cahv6*) für die operative Behand-
lung der Magenkrankheiten Indicationen aufgestellt, die sich im Wesentlichen
mit meinen Anschauungen decken. Dass die functionellen Resultate, die die
Chirurgen erzielen , wenigstens bei der Reseetiou und Gastroenterostomie vor-
treffliche sind , ist durch genaue Beobachtungen sichergestellt und wird iu einer
Allhandlung von Mi.vtz '“) nach jeder Richtung hin in erschöpfenderWeise dar-
gelegt. Ein wichtiges, lange nicht genug gewürdigtes Hilfsmittel zur Herstellung
unserer Magenkranken ist zweifellos die Ausschaltung der äpeisezufuhr
vom Munde her und die eonsequente Durchführung der Ernährung vom Mast-
394
MAGEN.
darin aus. Schlesinger ss) redet diesem Verfahren wieder eindnuglirhst das
Wort, namentlich wo es sich um die Beseitigung einer motorischen Insuffi-
cienz massigen Grades oder um schwere Reizzustände des Organes handelt.
Als Bereicherung unseres therapeutischen Apparates ist ein von HEmmetkr“)
construirter Schlauch zu erwähnen, der es ermöglicht, unter permanentem
Zufluss den Magen auszuwaschen. Der Schlauch besteht aus Canälen, von denen
der die Flüssigkeit zuführende enger ist ; er kann mit geringer Modifieation auch
für den Mastdarm verwendet werden; hier macht mau die Durchspülung in Knie-
ellenbogenlage. Znr Bekämpfung der saueren Dyspepsie empfiehlt J. Berg-
mann S7) Kauenlassen harter Brotrinde oder feiner Kautabletten, die Um/. Zimjib.,
May ii. usta u. Aehn. enthalten. Er meint , dass Neutralisirung des Magensaftes
«’en Effect hervorrufe.
Endlich soll hier noch eine Behandlungsmethode, namentlich die elek-
trische, deren Werth vielfach strittig ist, gewürdigt werden. Ich halte durch
Brock **•) an einem grösseren Krankenmaterial Versuche Uber den Nutzen der
inneren Galvanisation des Magens und Darms anstellen lassen. Die gemachten
Erfahrungen dürften wohl deshalb einige Geltung haben, als es sieh durchgehend«
um eingewurzelte l'ebel handelte, und weil wir nur diese eine Heilpotenz wirken
Hessen, während wir von jeder anderen medicamentösen und mechanischen Behand-
lung Abstand nahmen. Es scheint uns nnbezweifelhar , dass auf diesem Wege
störende sensible Reizersclieinungen des Magens beseitigt werden können. Ebenso
erwies sich die Galvanisation des Mastdarmes in verschiedenen Fällen ausser-
ordentlich nützlich zur Bekämpfung der Darmatonie. Dass namentlich schwache
Endogalvanisation Magenschmerz bei Neurosen und organischen Aflectionen zu
mildern im Stande ist, betont auch E. GOLD.-CHMIDT. &u) Dagegen findet er, dass
die directe Faradisation und Galvanisation des Magens auch bei starken Strömen
(15 — 25 M.-A.) auf die motorische Thätigkeit des Organes, wenn überhaupt, nur
unbedeutenden und inconstanten , auf die sreretorisehe aber gar keinen Einfluss
hat. Die Resultate decken sich mit Beobachtungen von MELTZKR “•), der an
Thicren den Eintiuss des faradischen Stromes auf Magen und Darm prüfte. Es
zeigte sich ihm. dass die Schleimhaut des Verdauungscanalcs und specicll
die des Magens dem Durchtritt des Stromes einen ausserordentlichen
Widerstand entgegensetzt, der, wenn man von der Serosa.aus die Muscit-
laris reizt, vergleichsweise nur geringfügig erscheint. Die therapeutische Er-
wartung, dass bei der percutancn, respective inneren Faradisirung der Magen und
Darm zur Contraction gebracht werden können, scheint somit unbegründet zu seiu.
Literatur: ‘) Moritz, Zeitschr. f. Biol. XXII. — *) E i n b o r n . Zeitschr. f. klin.
Med. XXVII. — *) Hemroeter. New York med Jonm. 22- Juni 1995. - *1 Schäle, Zeit
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Kaufmann, Berliner klin. Wochenschr. 1995, Nr. fi, 7. — :;l P. Cohnheiai, Arch. f Ver-
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Nr. ZG, gl. — -*) Me 1 1 z i n g Zeitschr f. klin. Med. XXVII. — tu) Martins, Wiener med
Wochenschr. 1895. Nr. 7. — *') Mcinert, Centralbl. f. innere Med. 1895, Nr. 44. — 1:) E
Langerhans. Wiener med. Blätter. 1895, Nr. 45. — ”) Meinert, Ueber einen bei Chlorose
des Entwlcklnngsalters anscheinend constanten pathologisch-anatomischen Befund und über die
klinische Bedeut uns desselben. Samml. klin. Vortr.N.F , Nr. 115 1 Ifi. — *4) K el 1 i n g. Physikalische
Untersuchungen über die Druckverhältnisse in der Bauchhöhle. Elienda. N. F., Sr. 144.
MAGEN.
MARKTPOLIZEI.
395
**) Huber, Correapondenzbl. f. Schweizer Aerzte. 1895, Nr. 11. — *•) Fl ein er, Münchener
med. Wochenschr. 1-95, Nr. 42 — 45. — *7) Ebstein. Deutsches Arcb. f. klin. Med. UV. —
*•) Kuttner, Berliner klin. Wochenschr. 1895. Nr. 7 — 9. — *9) Nauwerck, Münchener
med. Wochenschr. 1895, Nr. 38. 39. — 40) Fl einer, Arcb. f. Verdauungskh. I. — 4l) Grill,
Beiträge zur klin. Chirurgie. XIII. — 4*) Calzavora, Virchow’s Archiv. CXLI. — 43) Heu bei,
Deutsches Arch. f. klin. Med. LV. — ^Tilgner. Virchows Archiv. CXXXIII. — 4S) K.
Hirsch, Virchow’s Archiv. CXL. — 4*)Rosenheim, Deutsche med. Wochenschr. 1895,
Nr. 1—3- — 4:) Pariser, Deutsche med. Wochenschr. 1895, Nr. 28. — 48) Kocher, Deutsche
med. Wochenschr. 1895, Nr. 16—18. — *9) Mikulicz, Arch. f. klin. Chir. LI. — 40) v. Hacker.
Wiener klin. Wochenschr. 1895, Nr. *5, 26. — M) Haberkraut, Arch. f. klio. Chir LI. —
**) Talma, Berliner klin. Wochenschr. 1895. Nr. 25. 26. — :'a> Calis, Berliner klin. Wochen-
schrift 1895, Nr. 28. — S4) Mintz, Wiener klin. Wochenschr. 1895. Nr. 18 — 20. —
**) Schlesinger, Wiener klin. Wochenschr. 1895, Nr. 19 — 21. — 50) Hemraeter, New
York med. Journ. 30. März 1895. — ST) J. Bergmann, Berliner klin. Wochenschr. 1895,
Nr. 6- — f<) B ro c k . Therap. Monatsh. Juni 1895. — t9) E Goldschmidt, Deutsches Arch.
f. klin. Med LVI. — eo) Meitzer, Centralbl. f. Phvsiol. IX, Nr. 8. Rosen heim.
Marktpolizei (Verkehr auf Märkten und in Markthallen). Lange bevor
der Zusammenhang einer ungefährlichen und rationellen Ernährung mit dem
Volkswohl und den volkswirtschaftlichen Interessen erkannt war, hat es in den
verschiedenen Ländern und besonders innerhalb städtischer Gemeinwesen nicht an
erfolgreichen Bemühungen gefehlt, minderwerthige , ekelhafte und gesundheits-
schädliche — auch verfälschte — Nahrungsmittel dem Marktverkehr fernzuhalten.
Dass der entscheidende Fortschritt auf diesem Gebiet jedoch durch Erlass
bestimmter Gesetze gethau wird, welche das Feilhalten und an den Markt Bringen
derartiger Nahrungsmittel mit Contiscation und mit (Geld- und Gefängniss-)Strafen
bedrohen, dürfte sich geschichtlich leicht beweisen lassen.
Für den Verkehr auf offenen Märkten pflegen den örtlichen Verhältnissen
angepasste Bestimmungen in den einzelnen Städten erlassen zu sein. Gewöhnlich
ist der Marktverkehr auf die Vormittagsstunden gewisser Tage beschränkt. Es
bestehen Bestimmungen über Platzmicthe, Reinigen des Platzes und die Beschaffen-
heit der feilzuhaltenden oder auch — meist ans eonnnerziellen Gründen — vorn
Marktverkehr auszuschliesseuden Gegenstände. Wenn auch die Märkte immerhin
leichter zu überwachen sind, wie der Ilansirlinndel , auch Angebot und Nach-
frage durch sic besser geregelt wird, so haften ihnen docli gewisse Mängel an.
Zunächst sind die Waaren selbst der Ungunst der Witterung rücksichtslos aus-
gesetzt und verderben daher leicht, ln gleicher Weise gilt dies von den Ver-
käufern und ebenso für das kaufende Publicum. Ausserdem werden die Abfälle
der Marktwaaren, die im Verkehr auch in die Umgebung getragen werden, eine
Verunreinigung der Strasse bewirken. Dazu kommt weiter die Verpestung der
Luft durcli die unter dem Witterungseintluss leicht verderbenden Waaren, be-
sonders Fische und Käse.
Die erste Markthalle. „la Halle“ genannt, wnrde in Paris zu Ende des
vorigen Jahrhunderts errichtet. Ihr dürfte es zum grossen Theil zu danken sein,
das« in den schweren zweimaligen Belagerungszeiten dieser Stadt die Einwohner
doch sich , ohne dass eine schwere Hungersnot h eingetreten wäre, zu ernähren
vermochten. ') Gegenwärtig nehmen die „Halles Centrales1* in Paris 40.390 Qm. ein.
In London befindet sich die Ceiitralmarkthalie in Smithficld. Sie besteht
aus 3 Gebäuden (Central raeat market), der Fischhalle und der Halle für Geflügel,
Butter, Käse u. dergl. Für den Fise.hhandel befindet sieh ausserdem eine weitere
Halle in Billingsgate. Daneben existirt nocli eine Anzahl von Märkten , z. B.
Leadenhall Market, Covent garden M., Farrington Street M., Great Eastern Rail-
way M., Shadwell M. , Elephanthe and Cattle Market, Columbia Market u. A. s)
Uebrigens wurde das Marktwesen in England im Jahre 1847 durch die
.Markets an fair clauses Act“ geregelt.
Berlin begann mit der Erbauung von Markthallen (in städtischer Entre-
prise) im Jahre 1883. *) Zehn Jahre später waren neiieu der an die Stadtbahn
angesehlossenen Centralmarkthalle mit umfänglichsten Ausladevorriehtungen, Fahr-
MARKTPOLIZEI.
3%
Stühlen, KUhlräumen , Fischbassins) 14 weitere Hallen der Oeffentlichkeit (iber-
geben ; die offenen Märkte aufgehoben.
In Wien besteht eine grosse Markthalle und sechs kleinere in den ver-
schiedenen Stadtgegenden. Der Marktverkehr wird im Uebrigen noch zum Theil
durch die Marktordnung von 1770 geregelt. 3)
In Brüssel bestehen zwei bedeckte Markthallen, der ..Marche couvert de
la Madelaine“ und die „Halles Centrales“ , erstere hauptsächlich für Gemüse,
Früchte und GetiUgel , letztere, die ganz aus Eisen und Glas gebaut sind, für
Fleisch, Geflügel, Gemüse und Fische. ')
Die gegenwärtig in Bezug auf diesen Stoff für Deutschland massgebende
Lex generalis, das „Gesetz betreffend den Verkehr mit Nahrungsmitteln, Genuas-
mittclu und Gebrauchsgegenständen“ vom 14. Mai 1879 hat nicht nur in seinem
tj 2 die Befugnisse der Polizeibeamten gegenüber auch den „auf Märkten“ feil-
gehaltenen und zum Verkauf gestellten Gegenständen iler bezeichneten Art wesent-
lich erweitert (§ 2) und im Allgemeinen für verschärfte Strafandrohungen — be-
sonders im Falle der eingetretenen Gesundheitsbeschädigung — gesorgt (§§ 8 — 13);
sondern sie legt ein entscheidendes Gewicht auf die Unterscheidung von Fahr-
lässigkeit und wissentlichem Verschulden (auf letzteres steht eventuell 10jährige
bis lebenslängliche Zuchthausstrafe), — sie unterwirft den Lebeusmittelfälscher
der Einziehung der beanstandeten Marktwaare, der Tragung der Kosten, eventuell
sogar dauernder Polizeiaufsicht, — sie stellt es in das Ermessen des Urtheils-
sprtiches, dass die Strafthat durch Publieirung desselben an die Oeffentlichkeit
gebracht werde.
Zu besonderer Strenge hat sich , unterstützt durch eine Reihe mass-
gebender Erkenntnisse der höchsten Gerichtshöfe, mit Recht die Ueberwachung
des Verkehrs mit Fleiscliwaaren auf den Wochenmärkten gesteigert. Doch hat
sich gerade bei diesem Artikel die Nothwendigkcit am klarsten herausgestellt,
bei der blossen Ueberwachung des Marktverkehres nicht stehen zu bleiben, sondern
die Mittel der Beaufsichtigung bereits in den Herrichtungsstätteu des zur Nahrung
bestimmten Fleisches in ausgedehntestem Masse zur Anwendung zu bringen. Der
erste Schritt zur Versorgung der Städte wird gegenwärtig seitens der höheren
Verwaltungsbehörden mit Recht in der Einrichtung öffentlicher Schlachthäuser,
gleichzeitig mit einer Revision sämmtlichen von auswärts eingeführten Fleisches
auf seine „Bankwürdigkeit“ erblickt. Nur für Plätze, welche von den Schlacbt-
zwangsbestimmungen Gebrauch zu machen noch verhindert sind, erweist sich die
alte Marktcontrole als ein brauchbarer Nothbehelf. Denn die bedenklichsten Mängel
am ausgeschlachteten Fleische (Fäulniss, Durchsetzung mit Perlknoten und Finnen,
ausgeprägte Rotldauf- und Rauschbranderscheinungen) pflegen auch der im Vor-
übergehen die Verkaufsschragen und Fleischbuden musternden Marktcommission
(Polizeibeamtcr uud Thierarzt) nicht zu entgehen.
Neben dem Fleische der Schlachtthiere im engeren Sinne bedürfen auch
die auf den Wildbret-, Geflügel- und Fischmärkten feilgehaltenen l’roducte
hier der besonderen Erwähnung. Bei der Beaufsichtigung des Wildbretmarktes
tritt eine Schwierigkeit dadurch ein, dass eine erst im Beginn der Fäulniss stehende
Waare, welche mit einem Geruch behaftet ist, nicht wohl dem Verkauf, resp. der
Feilhaltung entzogen werden kann , weil von vielen Seiten das Wildbret ver-
schiedener Art erst in diesem Zustande für ganz genussreif gehalten und begehrt
wird. Trotzdem sollte jedes thatsächlich in Fäulniss ttbergegangene Wildbret,
es mag sich um Hochwild oder sogen, niederes Wild handeln, als der mensch-
lichen Gesundheit schädlich confiscirt werden. Nicht zu dulden ist ferner das
Aushängen des Wildes ohne Fell und Decke oder die Zurichtung des gewöhn-
lichen Borstenviehes in der Art (durch Hetzen und Brennen), dass es Schwarz-
wild vorstellen soll und als solches verkauft werde.
Geflügel, welches lebendig feilgeboten wird, pflegt von den Käufern
selbst sorgsam geprüft zu werden. Handelt es sich um todtes, so erregt liereits
MARKTPOLIZEI.
397
die Magerkeit Verdacht, besonders wenn sieh an verschiedenen Körperstellen
schwärzliche Flecken finden, der Kamm gelblich oder stark entfärbt, die Maul-
höhle sehr blass oder schmutziggelb , mit häutigen Auflagerungen oder zer-
fliessenden Massen erfüllt ist. Fehlt es bei grösseren Vögeln an Schlachtwunden,
bei den kleineren an den Zeichen des llalsabdrchens , so ist der Verdacht auf
Verrecken bestätigt. Die Milch wird von der Marktpolizei nur auf das specifische
Gewirkt untersucht.
Auf den Fischmärkten gilt die todte Waare, solange sie noch unver-
dorben ist, neben den lebenden Fischen als marktberechtigt. Wie die in Fäulniss
Ubergegangenen (wahrscheinlich durch Toxine und Ptomaüne giftigen) Fische, so
sind auch die mittelst Anwendung von Giften (Kockeiskörner!) betäubten und so
gefangenen Fische zu verwerfen. Sind Fischarten am Orte verdächtig, Fiseh-
gifte im engeren Sinne zu produciren, so ist ihr Ausschluss vom Markte (be-
sonders zur Laichzeit) selbstverständlich. Anlässlich des Verkaufs von Stockfischen
ist darauf zu achten, dass dieselben gehörig gebeizt sind; ein allzu starker Zusatz
von Kalk zur Lauge wäre zu beanstanden. Heringe, welche über ein Jahr alt
und nur durch Kunstgriffe für den Verkauf hergerichtet sind, ebenso andere ge-
salzene, gesottene, geräucherte oder marinirte Fische, die irgendwie Zeichen des
Verdorbenseins aufweiseu, sind zu vertilgen, der Verkauf von Austern im Sommer
während der Laichzeit zu verbieten. Krebse und Schildkröten, bei welchen n n-
mittelbar nach dem Tode die Fäulniss eintritt, dürfen in todtem Zustande auf
den Fischmärkten überhaupt nicht geduldet werden. — Auf Muscheln (Mies-
muscheln) wäre ebenso wie auf Garnelen ein Augenmerk zu richten.
Unter den vegetabilischen Marktwaaren bedürfen besonders Schwämme
(Pilze) der Controle, welche jedoch wegen der Schwierigkeit der die Giftigkeit au-
deutenden Merkmale gewöhnlichen Executivbeamten kaum zugemuthet werden kann.4)
Der Verkehr in den Markthallen ist durch Markthallcn-Ordnungen,
besondere Reglements und Polizeiverordnungen örtlich zu regeln. In Berlin bestehen
z. B. einmal vom Magistrat als Besitzer der Hallen erlassene, hygienisch weniger
interessirende Reglements. Ausserdem ist der Verkehr durch die nachstehende
Polizeiverordnuug geregelt:
Polizei- Verordnung.“!
J 1. l)ie städtischen Markthallen in Berlin sind zu .Marktzwecken für Jedermann,
für Verkäufer, Händler. Vermittler, Miether von Geschäftsräumen indessen nur gegen den Nach-
weis der Zahlung der von der städtischen Verwaltung festgestellten Gebühren und Staud-
miethen geöffnet.
§ 2. Die vorbezeichneten Markthallen sind täglich geöffnet, und zwar: u) Die Central-
markthallen (I und Ia) fnr die Einbringung von Marktgut in die Stände im Winter wie im
Sommer von 1 llhr Nachts ab, für den Grosshandel im Winter von 4 Uhr und im Sommer
von 3 Uhr Morgens, für den Detailhandel im Winter von 7 Uhr und im Sommer von ti Uhr
Morgens ab. iy Die übrigen Markthallen lür den Engroshandei im Winter von 5 Uhr Morgen»,
im Sommer vou 4 Uhr Morgens, für den Detailhandel im Winter von 7 Uhr Morgens, iin
.Sommer von ti Uhr Morgens ab.
2. Für deu Verkehr des Publicum» werden geschlossen: Die in der Centralmarkt-
haUe I für den Grosshandel bestimmten Abtheilungen , sowie die Uentralmarkthalle Ia ganz
am 10 Uhr Vormittags, die in der Centraimarkthalle I für den Kleinhandel bestimmten Ab-
theilungen nnd alle übrigen Markthallen zu jeder Jahreszeit Nachmittags um 1 Uhr
3. An den Wochentagen werden dieselben für den Marktverkehr mit Aussehlus* des
Fleisehgrosshandcls Nachmittags 5 Uhr wieder eröffnet und bleiben dann zu jeder Jahreszeit fiir
den Grosshande] in den Centralmarkthallen bis 7 Uhr Abends, für den Kleinhandel überhaupt
bis 8 Uhr Abend«, an den Sonnabenden bis 9 Uhr Abends geöffnet.
4., 5., ti. Sonntagsverkehr. — Zeichen für die Schlüsse.
$ 3. In den Detnilverkaufsständen der Markthallen, sowie in ullen sonstigen verfüg-
baren bedeckten Räumen der letzteren und mit der Einschränkung des ^ 4 ist der' Handel mit
Gegenständen des Marktverkehrs (§ liß. Satz 1 und Nr. 1, 2 und 3 der Reichsgewerbeordnungl
gestattet. In den Kellerräumen darf ein Marktverkehr nur insoweit stattfinden, als dieselben
von der Markthallenverwaltung hierzu eingerichtet nnd ausdrücklich bestimmt sind.
Das Feilhieten von Waaren, welche nicht zu den Gegenständen des Marktverkehres
oder zu den durch die zuständige Verwaltungsitehörde ausserdem ausdrücklich im Marktverkehr
zngelassenen Gegenständen gehören, darf in den Markthallen nicht stattfinden.
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398
MARKTPOLIZEI. — MEDICINAL- MALTON-WEINE.
§ 4. Gewerbetreibenden, welche mit Gegenständen des Marktverkehrs handeln, einen
eigentlichen Marktstand aber nicht besitzen, können, soweit der Verkehr dies nach dem Er-
messen des Commissära für Markt- und Gewerbeangelegenheiten gestattet, auch aosserhall* der
Markt-tände. insbesondere in den breiten Durchfahrten, feste Handelsstellen angewiesen werden.
Unter allen Umständen ausgeschlossen von der Besetzung mit derartigen Handelsstellen sind
diejenigen Gänge in den Markthallen, welche nicht mehr als 2 Meter breit sind.
§ 5. Jeder Gewerbebetrieb im Umhergehen in den Markthallen ist verboten.
§ 6. Gegenstände des Marktverkehrea sind:
1. Rohe Naturerzeugnisse mit Ausschluss des grösseren Viehes;
2. Fabrikate, deren Erzeugung mit der Land- und Forstwirtschaft , dem Gatten*
und Obstbau oder der Fischerei in unmittelbarer Verbindung steht, oder zu den Neben-
beschäftigungen der Landlente der Gegend gehört oder durch Tagelöhnerarheit bewirkt wird,
mit Ausschluss der geistigen Getränke;
3. frische Lebensmittel aller Art.
Der zuständigen Verwaltungsbehörde bleibt es Vorbehalten, auf Antrag der Gemeinde-
behörde noch andere, als die vorgenannten Gegenstände zum Marktverkebr in den Markthallen
zQzulassen (37 Gruppen sind „nach Ortsgewohnheit und Bedtirfuiss“ vom Berliner Bezirks-
ausschuss zugelassen worden).
Während die §§ 11 — 17 die Raumvertkeilung, Competenzen der Aof-
eichUbeamten, Störungen der Ruhe und Ordnung, Streitigkeiten, Anwesenheit von
Hunden, Normirung der Preise und Strafenbelegung regeln, sind von hygienischer
Bedeutung noch folgende Vorschriften :
§ 7. Das Mitbringen von rohen Thierfellen in die Markthallen, sowie das Lagern
derselben und der Handel mit denselben in den Markthallen ist im gesundheitspolizeiüchen
Interesse verboten.
Eine Ausnahme von diesem Verbot findet nur statt bezüglich des Ausschlachtens
und Zerlegens von Kälbern und Wild aus dem ganz frischen Fell.
§ 8. Unreifes Obst ist von dem reifen gesondert zu halten und als solches durch
Aufstellung einer Tafel mit der deutlich lesbaren Aufschrift „Unreifes Obst“ kenntlich
zu machen.
§ 9- Wer Rossfleisch zum Verkauf stellt, darf nicht auf demselben Verkaufs?tand
anderes Fleisch feilhalten und muss an dem Verkaufsstand eine Tafel mit der d-utlich lesliaren
Aufschrift „ Rossfleisch“ führen.
$ 10. Kunstbutter und Mischbutter ist von Naturbutter gesondert zu halten und
als solch« durch Aufstellung einer Tafel mit der deutlich lesbaren Aufschrift „Kunst butter“,
„Mischbutter“ kenntlich zu machen.
Literatur: ') E Thomas, Manuel des hailes et warchts en (/ros. Paris 1872-
— s) A. Palmberg, TraiU d'hygiine publique. Paris 1891. — “) J. Hennick e, Mit-
theilungen über Markthallen. Berlin 1881. — 4) Dämmer, Handbuch der Gesundheitspflege
Stuttgart 1891. *— 5) Th. Wey Ta Handbuch der Hygiene. Jena 1893, VI. 1. — a) Wern ich
und Wehm er, Lehrbuch des öffentlichen Gesundheitswesens. Stuttgart 1894. Wern ich.
Medicinal-Malton-Weine. Dr. Lauer bereitet alkoholische Getränke
obigen Namens, welche keine Spur von Traubensaft enthalten, sich jedoch kaum
von echten Weinen unterscheiden, nur etwas voller sind und einen ganz geringen,
an Malzextract erinnernden Beigeschmack haben. Die eigentümliche Beschaffen-
heit des Malton-Weines ergiebt sich aus der von Lauer angegebenen Herstellungs-
art, die im Wesentlichen darin besteht , dass eine gesäuerte MalzwUrzc durch
Reineulturen von Hefe, die von einer bestimmten Traubenart lierstammt, in ein
alkoholisches Getränk übergeffihrt wird , welches in Geschmack jenen Weinen
ähnelt, von deren Tranbenart die Hefe zur Reinzüchtung entnommen wurde. Es
wird also die Bereitung damit eingeleitet, dass man die Hefe einer besonderen
Traubenart, z. B. der spanischen oder ungarischen, aus kleinster Menge in Rein-
cultur auf sterilisirter gesäuerter Malzwürze anfzieht and vermehrt und dem-
gemäss eine vollkommen reine Rasse verwenden kann. Durch bestimmte Maiscli-
temperatnren wird eine Würze erreicht, die circa 80% Maltose, 20% Isomaltose
und Dextrin enthält. Die Säuerung dieser Würze erfolgt durch künstliche Milch -
säaregährung aus rein gezüchteten Milchsäurebakterien. Die Menge der Milch-
säure wird auf 0,6 — 1,0% der Gesammtwürzc reducirt. Wird nun die zu ver-
gütende milchsäurehaltigc Würze mit dieser Hefe beschickt, so tritt eine
Btürinische Alkoholgährung ein, die bis zu 14, ja selbst 18 Volumprocent Alkohol
bildet und zugleich entwickeln Bich damit die eigenthümlichen, jenen Trauben
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MEDICINALMALTON- WEINE. — MENSTRUATION.
399
udcI den daraus gewonnenen Weinen charakteristischen Riech- und Geschmack-
stoffe. Es ist eben merkwürdig, dass jede Heferasse, wenn sie rein gezüchtet
einem Gähruugssubstrat zugesetzt wird , nicht nur ihre ganz bestimmte Menge
Alkohol und alkoholähnlicher aromatischer Stoffe bildet, sondern auch dem
resultirendcn Getränk ihren specifiscben Charakter aufdrängt. So haben der unter
Bezeichnung Tokaier gehende Maltouwein nach der Analyse von FRESENIUS
14,37 Volumprocent Alkohol, der Malaga 25,28“/o, der Sherry 18,62“/,,
auch den Geschmack der betreffenden Weinsorten. Der diesem „Jungmalzwein“
nocli anhaftende Malzgeschmack und Geruch wird dadurch möglichst beseitigt,
dass derselbe entgegen dem "bei der Nachgährung des Lagerbieres eingeschlagenen
Verfahren bei einer Temperatur von circa 50“ C. mit einem stetig erneuerten
Luftstrom einige Wochen lang beschickt wird. Nach C. A. Ewald sind diese
Malton Weine, die wesentlich Aethylalkohol und keine Spur von Fusel enthalten,
durch ihren bedeutenden Nährwerth, den sie dem hoben Malzextractgehalt, dem
hohen Gehalt an Albumosen und phosphorsauren Salzen verdanken, ferner wegeu
ihres angenehmen Geschmackes berufen , in der Krankenpflege, beziehungsweise
Ernährung eine wichtige Rolle zu spielen. Im Augnsta-IIospitale wurden die
verschiedenen Sorten des Malton-Weines an Kranke verabreicht, sie wurden
gern genommen und entsprachen den Erwartungen in Bezug auf belebende und
stärkende Wirkung.
Literatur: C. A. Ewald, lieber Medicinal-Malton-Wein. Berliner klin. Wochen-
schrift. 1895, Nr. 42. Loebisch.
Megalokephalie, s. Akromegalie, pag. 17.
Menstruation. Unter Menstruation verstehen wir den bei dem ge-
schlechtsreifen Weibe sich alle vier Wochen einstellenden, einige Tage anhaltenden
und in der Regel mit gewissen Störungen im Allgemeinbefinden verbundenen
Blutfluss aus dem Uterus, der so ziemlich der Brunst der weiblichen Säugethiere
entspricht.
Das Jahr 1827, in das die epochemachende Entdeckung des menschlichen
Eies von Ca kl Ernst v. Haek ') fällt , bildet den grossen Markstein in der Ge-
schichte der Menstruation, wenn auch der Genannte gerade 100 Jahre früher in
Si.NTEMMA s) einen nicht weiter beachteten Vorgänger hatte, der auf dem Wege
der Speculation den Vorgang von dem Austritte des Eies aus dem Ovarium und
die Wanderung desselben durch die Tuba in den Uterus richtig construirte. Bis
dahin stossen wir auf nicht wenige Hypothesen, diesen räthselhaften Vorgang der
Natur zu deuten und zu erklären. Die vorherrschendste derselben lief darauf
hinaus, in der Menstruation eine kritische Ausleerung, durch die allerlei schädliche
Stoffe aus dem weiblichen Körper entfernt werden, zu sehen. Uebereinstimmend
mit dieser Anschauung wurden dem Menstrualblute giftige Eigenschaften zuge-
schrieben.
Erst jene erwähnte Entdeckung ermöglichte eine wenigstens annähernd
richtige Auffassung dieses physiologischen Vorganges, nämlich die menstruale
Blutung mit der Ovulation in ursächlichen Zusammenhang zu setzen , wenn uns
auch trotz eingehendster Studien das Wechselverhältniss zwischen Ovu-
lation und Menstruation noch immer nicht ganz klar ist.
Bischoek ’) sprach sich seinerzeit dahin aus, dass die Ovula periodisch,
und zwar unabhängig von der Einwirkung des Spermas reifen und ausgestossen
werden, und zwar zu der Zeit, die man Menstruation nenne, so dass nur zu dieser
Zeit die Cohabitation befruchtend sei. Bezüglich des zeitlichen Verhältnisses der
Follikelberstung zur menstrualen Blutung glaubte er, dass erstere erst gegen Ende
der Blutung vor sich gehe. Trotz dem Gesagten aber meinte er, dass die Men-
strualblutung nur eine accidentellc Erscheinung der Ovulation sei und letztere
auch ohne erstere vor sich gehen könne, Beweis dessen die Fälle von C'onception
bei Amenorrhoe.
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400
MENSTRUATION.
PFLÜOKK *) hält 1*8 für endgiltig bewiesen , dass die Ovarien die Men-
struation bedingen, alter nur so lange, als in ihnen Eier reifen, und dass die
Entfernung derselben die Menstruation für immer aufhebt. Die Veränderungen,
die die Uterusmueosa während der Menstruation zeigt, fasst er als den Beginn
einer Bildung der Membrana deeidua auf, die sich anschickt, das Ei zur Ein-
bettung aufzunehmen. Nach seiner Anschauung besteht ein Wechsel Verhältnis?
zwischen der Menstrualblutung und dem Austritte des Eies aus dem Follikel, doch
muss ein solches nicht sein, denn es können auch erstere ohne letzterem da sein,
wie dies die Fülle erweisen , in denen gesunde Frauen in Folge heftiger Ge-
müthsaffeote und anderer Umstände plötzlich , ausserhalb ihres sonst üblichen
Termines, zu menstruiren beginnen, obwohl es keinem Zweifel unterliege, dass
nicht zu jeder Zeit ein reifer, eben im Bersten begriffener Follikel vorhanden
sei. Die Ovulation — die Berstung des Follikels nnd der Austritt des Eies —
ist daher nicht die Ursache der Menstruation. Den rhythmischen Eintritt der
Menstruation erklärt er daraus, dass in den Ovarien fortwährend Follikel, die
von einem derben Parenchym umgeben sind, wachsen und daher durch ihre stete
Volumszunahme auf die im Parenchym verlaufenden Nerven einen Druck ausüben,
der für diese eine Reizung ist. Sobald nun jene Reizung eine Zeit laug ange-
dauert , d. h. wenn bei dem gegebenen Zustande der Erregbarkeit des Rücken-
markes die Summe der fortwährenden kleinen Reizungen eine gewisse Höhe
erreicht hat, erfolgt der retiectorische Ausschlag in Form einer gewaltigen Blut-
congestion nach den Genitalien. Diese eine Zeit andauernde Congestion bringt nun
einerseits die mcnstrnalen Veränderungen des Uterus und andererseits die Reifung
der grösseren Follikel zu Stande. Es tritt Blutung ein nnd während oder nach
dieser öffnet sich der Follikel und tritt das Ovum hervor. Blutung und Eilösung
sind demnach zwei durch die gleiche Ursache, die menstrualc Congestion, bedingte
Phänomene. Die Periodicität der menstrualen Congestion ist darin begründet, dass
bei dem dynamischen Gleichgewichte, welches iu allen Organen herrscht, dir
Stärke und Zahl der Reizungen , die von den Ovarien täglich in da» Cefitral-
nervensystem zugeführt werden, constant sind, so dass die Summe von Reizungen
bestimmter Stärke, die zur Erzeugung des reflectorischen Ausschlages erforderlich
ist, stets immer im Laufe einer constanten Zahl von Tagen angehäuft wird. Men-
struation ohne Ovulation findet dann statt, wenn zur Zeit der menstrualen Con-
gestion kein Follikel zur Reife gelangt ist.
Nach Sigismund*) ist die Menstruation nicht Folge der Ovulation und
auch nicht ein Zeichen des Zerfalles und der Abstossung der während der Inter-
menstrualperiode gewucherten oberflächlichen Schichten der Uterusmueosa, sondern
die Wucherung der Uterusmueosa bildet das Bett für das der Befruchtung ent-
gegensehende Ei. Tritt letztere ein, so entwickelt sieh die Deeidua weiter, bleibt
sie dagegen aus, so verfällt die Deeidua der Auflösung und wird ausgestossen.
da sic nun überflüssig geworden ist. Die Menstruation beweist daher nur, dass
ein Ei abgesondert wurde, das nicht befruchtet wurde, nicht aber dass es abge-
sondert wird. Der ganze Vorgang ist daher nichts Anderes als ein Abort eines
unbefruchteten Eies. Nach dieser Auffassung erklärt es sich leicht, wie so cs ge-
schehen kann, dass das Weib noch vor seiner ersten Menstruation concipirt. Da
die periodische Bildung der Deeidua, auch unabhängig von der Bildung eiucs Eies,
als ein in der Anlage des Uterus selbst begründeter Vorgang anzusehen ist, so
kann auch Menstruation nach Castration eintreten.
Nahe diesen Anschauungen stehen die Löwenhakdt's.*) Die Ovulation ist
periodisch, findet aber 5 — 8 Tage vor Eintritt der Menstruation statt. Der <*rt
der Conception ist die Tuba und folgt die Conception stets dem Eiaustrittr. Be-
findet sich in der Tuba kein Sperma zur Zeit, als das Ovum aus dem Ovarinm
hervortritt, so geht das Ei zu Grunde und gleichzeitig mit ihm wird die Deeidua
ausgestossen, ein Vorgang, der mit Blutung verbunden ist. Findet dagegen Be-
fruchtung statt, so entwickelt sich die Deeidua weiter. Um die Fälle von
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MENSTRUATION.
401
Conception nach einmaliger, einige Tage nach cessirter Menstruationsblutung statt-
gehabter Cohabitation zu erklären, nimmt Löwexhabdt eine Vitalität von mindest
zwei wöchentlicher Dauer der Spermazellen an. Unbedingt steril aber bleibt nach
ihm die Cohabitation intra menstruationem.
Heicheht7! meint, die Bildung der Decidua menstrualix und Ausstossung
des reifen Eies seien zwei, während der Menstruationsperiode neben einander ver-
laufende Vorgänge. Der Eiaustritt aus dem Follikel erfolge wenigstens 24 bis
48 Stunden nach dem eigentlichen Beginn der Menses und der Bluterguss stelle
sich wahrscheinlich erst nach dem Austritte des Eies ein, vorausgesetzt, dass keine
Befruchtung stattfindet.
BEIGEL sieht die Menstruation als unabhängig von der Ovulation an.
Letztere beginnt schon im Kindesalter, Beweis dessen die Fälle von Gravidität
bei 7 — 9jährigen Mädchen. Die Anwesenheit reifer Ovula erzeugt jedoch in der
Kegel erst dann sexuelle Impulse, wenn die Genitalien ihre Keife erlangt halten.
Erst bei zu voller Reife gelangten Genitalien treten von Zeit zu Zeit wieder-
kehrende sexuelle Impulse ein, wobei es in Folge von Ueberftlllung der Capillaren
der Uterusmueosa und wahrscheinlich auch der Tuben zu einer Blutung aus diesen
Organen kommt. Dies ist die Menstruation. Die Rolle , die die Ovarien hierbei
spielen, ist eine ganz passive, aber nicht unwichtige. Diese menstruale Hyperämie
beschleunigt das Wachsthum und Bersten der Follikel. Eine gleiche, aller nur
vorübergehende Turgeseenz erzeugt der Coitus, deshalb kann auch er, wenn
auch nicht in so hohem Masse, die Reife der Follikel beschleunigen, doch gleicht
er durch die Häufigkeit das aus , was die Menstruation durch die lange Dauer
leistet. Auf die Weise lässt sich die zu jeder Zeit vorhandene Coneeptiousfühig-
keit leicht erklären. Es ist demnach die Menstruation von der Ovulation und die
t’iinception von der Menstruation unabhängig.
Aehnliche Anschauungen hat Slavjansky. */ Die Follikel erreichen von
den ersten Lebensmonaten an bis zum Greisenalter gewisse Stufen der Reife,
doch verfallen die meisten derselben ohne erreichte völlige Reife der Atresie.
Das Zustandekommen dieser Atresie weist eine fast vollständige Analogie mit der
Bildung der gelben Körper auf. Das Wachsthum und die Reifung der Follikel
sind nicht regelmässig, nicht periodisch und giebt es keinen Connex zwischen
ihnen und der Menstruation. Letztere ist ein völlig selbständiges physiologisches,
von der Reifung der Follikel unabhängiges Phänomen. Die Berstung der Follikel
steht immer mit einer Congestiou der Beckenorgane, die durch mancherlei Ur-
sachen bedingt wird, in Zusammenhang.
Lorwknthal •«) schlägt eine neue Deutung des Menstrualprocesses vor.
Er geht von der Ansicht aus, dass unzweifelhaft zwischen Ovulation und Men-
struation Wechselbeziehungen bestehen. Da aber in Folge der zeitlichen lncon-
gruenz diese Wechselbeziehung nicht als unmittelbarer Zusammenhang zwischen
den beiden Processen, und zwar Ovulation als Ursache und menstruale Blutung
als Folge aufgefasst werden kann, so bleibt nur noch die Annahme, dass dieser
Zusammenhang ein mittelbarer sei und sich ein dritter Factor zwischen Ovu-
lation als Ursache und Menstruation als Folge einfügen müsse. Dieser Factor ist
das unbefruchtete Ei. Letzteres gelangt auf die Uterusmueosa und erzeugt Schwel-
lung derselben, die Decidua menstruat i/t. Erfolgt Befruchtung, so wandelt sieh
die menstruale Decidua in eine Schwangerschaftsdecidua um. Bei Ausbleiben der
Befruchtung stirbt das Ei ab und erzeugt dadurch sowohl eine active Blutcon-
gestion , als auch den Zerfall der Menstrualdecidua , wodurch es zur Menstrual-
blutung kommt. Die Hyperämie wirkt ihrerseits wieder auf die mittelbare Quelle
Ihres Ursprunges zurück, nämlich auf das bildende Organ, und trägt dadurch
dazu bei, einen inzwischen wieder herangereiften Follikel im Ovariuin zum Bersten zu
bringen. Selbstverständlich aber ist es nicht ausgeschlossen, dass auch jede andere,
der mcnstrualen Congestion gleichwerthige und gleich wirkende Ursache dieselbe
Wirkung hervorrufen kann , einen reifen Follikel zum Bersten zu bringen. Da
Encyclop. Jahrbücher. VI
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402
MENSTRUATION.
nach unseren heutigen Anschauungen ein physiologischer Blutverlust undenkbar
ist, die Menstrualblutung weiterhin weder eine physiologische Fnnction, noch die
»otbwendige Begleiterscheinung einer solchen ist, sondern nur die dunkle und
durch unzählbare Wiederholungen verstärkte Folge eines durch culturelle Ver-
hältnisse bedingten Vorganges (der Nichtbefruchtung und des Absterbens des Eies)
ist, so hat sie alle Eigenschaften und Wirkungen anderer und stets pathologischer
Blutungen.
FeOKTISTOW n) sieht die Ovulation als unabhängig von der Menstruation
und nicht periodisch vor sich gehend an. Die Periodicität der Menstruation er-
klärt sich nach PflCger's Beispiel durch Reflex von den Ovarien in Form von Blut-
congestion. Befruchtung des Eies ist nach ihm nur dann möglich , wenn die
charakteristischen Menstrualveränderungen der Fterusmucosa da sind. Dies schliesst
aber nicht die Conception bei Amenorrhoe aus, da bei einer solchen die charak-
teristischen Menstrualveränderungeu der Fterusmucosa auch vorhanden sein können,
wenn auch keine Blutung da ist.
Nach Veit11! liegt die Ursache der Ovulation in dem steigenden Drucke
im Innern des Follikels. Der Zeit nach trifft die Ovulation mit der Menstruatiun
ungefähr zusammen, d. h. es kann erstere vor, während oder kurz nach dem
Blutabgange eintreten. Ausser dieser menstrualen Ovulation giebt es noch eine
zufällige , von der Menstruation unabhängige , die durch verschiedenartige die
Genitalien treffenden Reize — sexuellen Verkehr, centrale Ursachen u. dcrgl. m. —
bedingt wird. Das wechselseitige Verhältniss zwischen Ovulation und Menstruation ist
ein derartiges, dass das Bedingende die Ovulation und das Bedingte die Men-
strualblutung ist, wobei auch in erster Linie in der Ovulation die Ursache der
Regelmässigkeit beider Vorgänge gesucht werden muss. Die Follikelreifung stellt
einen Reiz ftlr die Genitalncrven dar, unter deren Reiz es zur Anschwellung des
Endometriums kommt , die äich nach Erreichung eines gewissen Grades unter
Seeretion von blutigem Schleim zurtlckbildet. Follikelberstung und Eiaustritt haben
an und für sich keinen Einfluss auf den menstrualen Process. Nur das Heran-
reifen des Eies bedingt Hyperplasie der Uterusmueosa. Ist demnach die Ursache
der menstrualen Uterusveränderungen in den Ovarien zu suchen , so kann doch
nicht von der Hand gewiesen werden, dass auch in der An- und Rückbildung
des Endometriums an sich eine Ursache der Regelmässigkeit gesucht werden kann.
Aller Wahrscheinlichkeit nach tritt hier schliesslich eine gewisse Selbständigkeit
ein, so dass man von einer Gewöhnung des Endometriums sprechen darf.
Chazan i!) steht auf dem Standpunkte, dass Menstruation und Ovulation
fast getrennt von einander vor sich gehen und nur insoweit in Zusammenhang
unter einander steheu, als es dem Ziele entspricht, welches ihrem Dasein zu
Grunde liegt. Die stete Conceptionsfähigkeit des Weibes spricht dafür, dass die
Ovulation während der ganzen Dauer des Geschlechtslebens stattfindet, und zwar
auch bei Amenorrhoe. Die Ovulation ist nicht an die Menstruation gebunden, sie
kann au jedem Tage der Intermenstrualperiode stattfinden und geht sie ununter-
brochen vor sich. Dass in den ersten Tagen nach der Menstruation am leichtesten
Conception erfolgt , spricht nicht gegen die erwähnten Anschauungen , da diese
Beobachtung nur erweist, dass für die Conception auch der Zustand des Bodens,
in dem sich das befruchtete Ei einbettet, von Bedeutung ist. Die Unabhängigkeit
der Ovulation von der Menstruation involvirt noch nicht die Nothwendigkeit des
Umgekehrten. Es steht im Gegentheile die Menstruation in einer gewissen Ab-
hängigkeit von der Ovulation. Bei Fehlen oder rudimentärer Entwicklung der
Ovarien fehlt die Menstruation, weil hierbei stets auch der Uterus fehlt oder nur
rudimentär angelegt ist. Bei Fehlen des Uterus können dagegen die Ovarien
normal entwickelt sein und fuuetioniren. Die Menstruation , obgleich selbständig
organisirt , bedarf doch eines Anstosses durch die Ovulation. Sie kann einmal
monatlich auftreten, wenn während dieser Zeit viele Follikel gereift und geborsten
sind, und umgekehrt kann die langsame Reifung eines Follikels mittelst des auf
MENSTRUATION.
403
da« Nervensystem ausgeühten Reizes mehrere Menstruationen hervorrnfen. Die
Periodieität der Menstrnation wird durch Pfi.Cger’s Hvpotliese nicht erklärt.
Stützen zur Erklärung derselben sind in den Ovarien nicht zu linden. Man muss
sieh die UterusmucoBa während der ganzen Dauer des Geschlechtslebens in immer
währender Lebensthätigkeit, ohne eine Pause, denken. Die Vollendung der Rück-
bildung der Uterusmucosa bildet zugleich den Anstoss zum Wiederbeginn der
Anschwellung und sind die bekannten 28 Tage der Zeitraum , der zum völligen
Abläufe eines solchen Cyclus nöthig ist.
Nach Glaevecke ll) ist die Pflüg ER'sche Theorie des Menstrnations-
processcs noch immer die, die den Vorgang am besten erklärt und den That-
sachen am meisten entspricht, nur muss sie den neueren Forschungen angepasst
werden. Eine Reihe von Thatsachen spricht dafür, dass die Ovulation unabhängig von
der Menstruation zu jeder Zeit stattlinden kann, doch erfolgt sie zumeist zur Zeit
der Menstrnation, da sich da die Ovarien im Zustande der Hyperämie befinden,
durch den die Seeretion des Liquor vermehrt und die Beratung des Follikels
beschleunigt wird. Es kann das Ei aber auch in der menstruationsfreien Zeit
austreten. Den Eintritt der Menstruation erklärt er wie PflCgeb. Ist ein sprung-
fertiger Follikel da, so wird seine Beratung durch die mcnstruale Hyperämie
beschleunigt, es muss aber nicht ein solcher vorhanden sein. Im Uterus hat sich
unter der Zeit die Decidua menstrualis gebildet und die nun reflectorisch ausge-
löste Hyperämie des Uterus trifft schon auf eine gelockerte, stark saftreiche Mu-
cosa. Dadurch kommt es zur Beratung der C'apillaren, i. e. zur Blutung. Der
reflectorisch vom Centrum ausgelöste Nervenreiz bildet daher nur den letzten
Anstoss zum Beginn der Menstrualblutung. Findet der reflectorische Reiz zu einer
Zeit statt, in der keine Decidua meustrua/is da ist, so kann natürlich keine
Blutung erfolgen. Die Ovulation ist von der Menstruation als ein selbständiger
Vorgang abzutrennen , trotzdem ist aber die Menstruatiou vom Ovarium , d. h.
von der Follikelreifung abhängig. Die Ovulation findet gewöhnlich ungefähr
periodisch zur Zeit der Menstruation statt. Sie kann aber auch unperiodisch zu
jeder Zeit vor sich gehen, trotzdem die Menstruation periodisch bleibt. Die Ovu-
lation ist jedenfalls ein selbständiger Vorgang, der in keiner Weise an die Men-
struation geknüpft ist und ohne dieselbe vor sich gehen kann. Die Menstruation
aber ist vom Ovarium abhängig und kann nur bei functionireudem letzteren zu
Stande kommen. Wenn sich das Endometrium auch selbständig zur Menstruations-
blutung vorbereitet, so darf man sich dasselbe doch nicht so selbständig vor-
stellen , dass es allein im Stande wäre , eine Menstruationsblutung auszulösen.
Letztere kommt nur dann zu Staude, wenn die letzte dazu nöthige Hyperämie
vom Ovarium aus durch Nervenreiz angeregt wird. Ist auch die Ovulation nicht
an eine regelmässige Periodieität gebunden, so bleibt die Menstruation doch regel-
mässig periodisch. Dies hat seinen Grund im Anfsummen des Reizes im Centralorgane
und im Verhalten des Endometriums, dem Zustande der vierwöchentlichen Wellen-
linie, in der sich das Endometrium bewegt. Befindet «ich der Uterus auf dem
Gipfel der Welle, d. h. ist eine Decidua menstruali» da und trifft sie der Nerven-
reiz, so kommt es zur Blutung, sonst nicht. Gewöhnlich fallen diese zwei Factoren
(der reflectorische Reiz und die Bildung der Decidua menstrualis) zusammen
und kommt es daher allvierwöcheutlich zur Menstruationsblutung. Trotzdem
die Ovulation jederzeit reife Eier liefern und der Coitus jederzeit stattfinden
kann, tritt Coneeption nachweislich am häutigsten gleich nach der Menstruation
ein , w eil sich das befruchtete Ei nur zu dieser Zeit im Uterus ansiedeln kann
und hier einen günstigen Nährboden findet. Für die Unabhängigkeit der Ovulation
von der Menstruation spricht auch die bekannte Thatsache der Fortdauer der-
selben nach operativer Entfernung des Uterus.
Steinhaus 16 will das zwischen Ovulation und Menstruation bestehende
Wcchselverhältniss durch nachfolgende Hypothese klären. Die Ovarien stellen die
Drüse, Tuben, Uterus und Vagina deu Ausführungsgang der Drüse vor. Die
2ii*
MENSTRUATION.
404
Function des Drüsenausführungsganges ist unabhängig von der Function der
Drtise, d. h. die Menstruation ist unabhängig von der Ovulation. Wird die Drüse
atrophisch oder entfernt, so erfolgt Atrophie des Drlisenausfilhrungsgauges, d. li.
wird das Ovariutn entfernt, so atrophirt der Uterus. Wird nur der Drüsenaus-
führungsgang entfernt , so functionirt die Drüse weiter, d. h. die Ovulation geht
auch weiterhin von statten, wenn auch der Uterus entfernt wurde. Die Men-
struation ist daher von Ovulation abhängig, nicht aber die Ovulation von der
Menstruation.
Fussend auf den Ergebnissen seiner Studien , die er au exstirpirten
Ovarien vornalun , kommt Leopold Io) zu folgenden Ansehauungen über da«
zwischen der Menstruation und Ovulation bestehende Wechselverhältniss. L>ie
Menstruation wird gewöhnlich von der Ovulation begleitet, nicht selten aber ver-
läuft sie ohne letztere. Der periodische menstruale Blutliuss hängt von der An-
wesenheit der Ovarien und von einer genügenden Ausbildung der Uterusmucosa
ab , zwei Factoren , ohne deren gemeinsame Wirkung er nicht gedacht worden
kann. Er ist daher von der Reifung, sowie von der Beratung der Follikel unab-
hängig und muss er bei Fehlen der Ovarien, ebenso wie bei Atrophie der Mucosa
fehlen, mag im ersteren Falle auch die Uterusmucosa vollständig ausgebildet oder
im letzteren die Ovulation ganz normal vor sich gehen. Findet Ovulation statt,
so ist sie für gewöhnlich auf die Blutung der Menstruation zurückzuführen. Sie
erfordert zu ihrem Zustandekommen einen mehrtägigen stärkeren Blutandrang zu
den Genitalien und hat sie die Bildung eines typischen Corpu s luteum znr Folge.
Ausserhalb der Menstruation kommt Ovulation auch vor, doch scheint dies unter
physiologischen Bedingungen nur selten zu geschehen. Manchmal wird die t »vn-
lation und Bildung eines typischen Corpus luteum durch den Blutandrang zu
einem vielleicht noch nicht reifen und nicht aufbrechenden Follikel (atypische«
Corpus luteum) ersetzt. Znr Zeit der senilen .Schrumpfung der Ovarien giebt es
auch normale Follikel, die zum physiologischen Aufbruche gelangen und typische
Corpora lutea. Menstruation und Ovulation ist daher das Häutigere, Meustrualion
ohne Ovulation das Seltenere. Sicher ist es , dass zur Zeit der periodischen
Blutung auch Ovulation statttinden kann, selbst wenn die äussere Blutung ein-
mal ausfällt.
Das Wachsthum und die Reifung der Follikel findet sclnm im Kindes-
alter statt und können auch zu der Zeit schon befruchtnngsfähigc Eier austreten,
wie dies die Fälle von Schwängerung von Kindern selbst unter 10 Jahren und
der anatomische Befund kindlicher Ovarien erwiesen, doch scheint es die Kegel
zu sein , dass sieh die in diesem Alter entwickelten Follikel nicht zur völligen
Reife entwickeln und nicht bersten, sondern auf verschiedenen Entwicklungsstadien
vorzeitig der Atresie verfallen. Als Norm ist die Ovulation während der vollen
Geschlechtsreife bis zum Eintritte der Klimax zu betrachten, doch fallen auch
während dieser Periode viele Follikel vorzeitig der Atresie anheim, ln dem Masse,
als sich die Frau der Klimax nähert, vermindert sich auch die Zahl der Follikel,
sowohl durch Ovulation als durch Atresie, bis endlich in der Klimax keine mehr
da sind. Ausnahmsweise aber reifen und bersten Follikel auch noch bei alten,
in der Menopause sich bereits befindenden Frauen, denn nur so sind die in dieser
Zeit ausnahmsweise noch zu beobachtenden Schwangerschaften zu erklären, abge-
sehen davon , dass in den Ovarien solcher alter Frauen frische Corpora lutea
gefunden wurden. Nach dem früher Mitgethciltcn müssen w’ir die Ovulation als
einen physiologischen Vorgang anffassen, der sowohl spontan vor sich geht, als
in Folge verschiedener einwirkender Reize, und zwar solcher von innen nud
solcher von aussen herwirkender. Die Ovulation ist daher kein periodischer und
kein nothwendiger Weise mit der Menstruation zusammenfallender Vorgang.
Die Annahme COHXsTElX’S ,J), dass die Ovarien in Bezug auf die Follikel -
berstnng in ihrer Thätigkeit alterniren sollen, ist eine durch nichts begründete
Hypothese.
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MENSTRUATION.
405
Richtig und treffend bezeichnet der Terminus „Ovulation“ das, was wir
deiiniren wollen, die Berstung des Follikels nnd den Austritt des Eies aus dem-
selben. Nicht so ist es mit dem Terminus „Menstruation“ der Fall, unter dem,
dem Sprachgebrauch zur Folge, nicht nur die periodischen Veränderungen im
Uterus und der Blutfluss, sondern auch die Summe aller periodischen Alterationen,
die der Gesammtorganismus während dieser Zeit erleidet, ja selbst ausserdem noch
die Ovulation, verstanden zu werden pflegt. Richtiger ist es, nur von einem
menstrualen Blutflusse, von menstrualen Veränderungen des Uterus, respec-
tive seiner Mucosa und von menstrualen Begleiterscheinungen der Übrigen Körper-
organe nnd Körpertheile zu sprechen.
Der Uterus nimmt unter den Organen des weiblichen Körpers eine ganz
exceptionelle Stellung ein. Während die anderen Organe von der Geburt au bis
zur Pubertät gleichmässig und stufenweise heranwachsen, nimmt wohl der Uterus
an Grösse zu. behält aber seine kindliche Gestalt und seine kindliche anatomische
Beschaffenheit. Charakteristisch ist es nach dieser Richtung hin , dass das Ver-
hältniss der Länge der Cervix zu der des Corpus zwischen 3 — 2 : 1 bleibt, sich
die P/icae palmatae auch am Corpus linden und das Cylinderepithel keine
Flimmerhaare besitzt. Nähert sich aber das adolesecnte Mädchen der Pubertät,
so holt der Uterus das Versäumte in kürzester Zeit nach. Das Corpus wächst
energisch, so dass binnen Kurzem das Verhilltniss dessen Länge zu der der Cervix
gleich 1 : 1 wird, wie bei der Erwachsenen, die Plicae palmatae im Corpus ver-
schwinden, die Mucosa verdickt sich und das Epithel erhält seine Flimmerhaare,
ohne dass die Zellenform eine Veränderung erleidet. Sobald der Uterus diese
Grössenzunahme erreicht und diese anatomischen Veränderungen durchgemacht,
tritt in der Regel der erste menstrnale Blutfluss ein nnd ist nun das Mädchen
geschlechtsreif, d. li. für die Fortpflanzung tauglich geworden.
Parallel diesen Veränderungen des Uterus gehen andere in körperlicher
und psychischer Beziehung vor sieh , die man unter dem üblichen Terminus
„Pnbertätsentwicklung“ aubsumirt.
Die körperlichen Formen runden sieh ab und verlieren ihre vorher häutig
scharfen, eckigen Contoureu. Es entwickeln sich die Brüste, die Brustwarzen
vergrössern sich und treten hervor. Die Hüften werden voller. In der Achsel-
höhle, auf dem Monn ernenn , sowie an der Vulva spriessen die Schamhaare
hervor. Die grossen Labien füllen sich mit Fett, wachsen, schlicssen aneinander
und bedecken Nymphen, die kindliche Stimme wandelt sich in die der Erwachsenen
um u. dergl. in.
Gleichzeitig ändert sich die Psyche, streift das Kindische ab und nimmt
den specitiscli weiblichen Charakter an.
Dieser Pubertätsprocess spielt sich iu relativ kurzer Zeit von 1 big
2 Jahren ab. In Folge der durch denselben herbeigeführten ganz gewaltigen
Veränderungen der Wachsthums- und Ernährungsverhältnisse wird der Gesammt-
organismus stark in Anspruch genommen, so dass er gerade in dieser Zeit krank-
machenden Einflüssen , die diese Entwicklung stören oder verzögern können,
weniger Widerstand entgegenzusetzen vermag. Abgesehen von der Chlorose,
die gerade zu dieser Zeit am häutigsten manifest wird, offenbart sich in dieser
Lebensphnse auch häufig die hereditäre Anlage zur Phthise. Die bedeutende
Reizung der Nerven, die das schnelle Wachsthum und die erhöhte Function der
Genitalien austtbt, erzeugt nicht selten die Disposition oder Hervorrufuug neuroti-
scher oder gar psychischer Alterationen. Andererseits wieder wirken körperliche
Leiden und Schwächezustände, die von früher her da sind, wie beispielsweise
eine schlechte Ernährung, Skrophulose, angeborene Lues u. dergl. m., auf die
Raschheit der Pubertätsentwicklung zurück und verzögern sie oder hemmen sie
gänzlich, wie z. B. der Cretinismus.
Abgeschlossen werden alle diese Pubertätsvorgänge iu der Regel durch
den Eintritt des ersten menstrualen Blutflusses.
406
MENSTRUATION.
Der Zeitpunkt der vollendeten Pubertät ist bei den Weibern der ver-
schiedenen Völker ein verschiedener, lrn Grossen und Ganzen lässt sich wohl
sagen, je südlicher der Wohnort des Volkes, desto früher stellt sich die Pubertät
ein. ln den Tropen fällt die sexuelle Reife in das 10., in unseren Breiten in
das 13. — 15. und im Norden in das 16. — 17. Lebensjahr. Andererseits ist unter
gleichen Breiten der Eintritt der sexuellen Reife von der Rasse abhängig, Jüdinnen
pflegen beispielsweise um 1*. — 2 Jahre früher zu menstruiren , als die Weiber
der anderen Völker, unter denen die Juden in unseren Breiten leben. Innerhalb
derselben Rasse wird der Eintritt der sexuellen Reife wieder durch andere Um-
stände beeinflusst , wie namentlich durch die Lebensweise. Städterinnen reifen
früher als Landbewohnerinnen, harte körperliche Arbeit verzögert und Wohlleben,
sowie geistige Reife beschleunigt den Eintritt der körperlichen Reife etc.
Mangel der Ovarien involvirt das unbedingte Ausbleiben der sexuellen
Reife. Die Menstruation tritt hier überhaupt nicht ein. Bei rudimentärer Entwicklung
der Ovarien verzögert sich der Eintritt der Menstruation und ist letztere nicht nnr
quantitativ beschränkt, sondern ihr weiteres Auftreten kein typisch regelmässiges.
Wenn auch das Eintreten der menstrualen allmonatlichen Blutung das
wichtigste Zeichen der erfolgten sexuellen Reife darstellt , so ist sie doch aus-
nahmsweise nicht ein unbedingt nothwendiges. Wir stossen nämlich, wenn auch
nur selten, zuweilen auf Weiber, die nie menstruirt haben und körperlich doch
die Zeichen der sexuellen Reife an sich tragen und regelmässig concipiren und
gebären. In anderen Fällen wieder verspätet sich, trotz anscheinend körperlicher
Reife, der Eintritt der ersten Menstruationsblutung und folgt erst im 20. Jahre
oder gar noch später oder gar erst nach Ueberstehen einer Geburt.
Ein anderes, wenn auch ebenfalls sehr seltenes Abweichen von der Regel
besteht darin, dass die menstruelle Blutung, sowie die anatomischen Zeichen der
Reife des Uterus ungewöhnlich frühe, ja schon innerhalb der ersten Lebensjahre
da sind und dem entsprechend auch die äusseren Genitalien eine ungewöhnlich
frühzeitige Entwicklung zeigen. Dass Fälle bekannt sind, in denen Kinder noch
weit unter dem Alter, in dem normaler Weise die sexuelle Reife eintritt, gravid
wurden und in denen reife Follikel und typische Corpora lutea gefunden wurden,
wurde bereits oben erwähnt. In solchen Fällen wies die Section auch nach, dass
der Uterus seiner Form und seinem anatomischen Gepräge nach alle Charaktere
der sexuellen Reife au sich trug.
Der menstruale Blutfluss ist bekanntlich ein typischer, das heisst
in bestimmten Intervallen wiederkehrender. In der Regel stellt er sich alle
28 Tage ein. Ausnahmen nach der Dauer des Intervalles hin sind jedoch nicht
selten. So giebt es gesunde Frauen, bei denen die Menstruation stets erst nach
29 — 31 Tagen eintritt und ebensolche, bei denen der Intervall nur 24 — 26 Tage,
ja auch solche, bei denen die intermenstruale Zeitperiode wieder gar nur 21 Tage
dauert. Die Frauen der im höchsten Norden lebenden Völker sollen weit längere
intermenstruale Intervalle zeigen und in der monatelangen Polarnacht vollstän-
dig amenorrhoisch sein. Die Feuerländerinnen sollen überhaupt nicht oder höch-
stens nur sehr selten menstruiren.
Eine Abkürzung des intcrmenstrualen Termines, das heisst ein Eintreten
der menstrualen Blutung vor der bestimmten Zeit ist wohl in den meisten Fällen
das Zeichen einer sexuellen Erkrankung, immerhin aber giebt es Fülle, in denen
man letztere aussehliesscn und annehmen muss , dass es äussere Verhältnisse,
körperliche oder geistige Einflüsse sind , wie eine bedeutende körperliche An-
strengung, sexuelle Erregung, psychische Momente u. dergl. m„ die deu vorzeiti-
gen Eintritt der Menstrualblutung herbeifübren. Diese Erscheinung spricht dafür,
dass der Eintritt der menstrualen Blutung durch die Thätigkeit der Nerven I»e-
diugt wird. Die Ursache des periodischen Auftretens des Menstrualflnsses bleibt
uns aber bisher noch immer unbekannt und vermag die Pn.CoER'sche Hypothese,
so geistreich sie auch ist, diese Frage doch nicht zu lösen.
Google
MENSTRUATION.
407
Meist hält die Blutung 4 — 5 Tage an, doch kann ihre Dauer auch zwischen
1 — 8 Tage betragen. Ebenso ungleich ist die Menge des ausgeschiedenen Blutes,
die überdies kaum sicher zu ermitteln ist. Im Allgemeinen wird desto mehr Blut
ausgeschieden, je länger die Blutung dauert, ln wannen Klimaten soll im Mittel
die Blutung stärker sein , als in kälteren , damit übereinstimmend findet man
bei manchen Frauen den Blutfluss im Sommer profuser als im Winter. Ab-
weichungen von der Norm, betreffs der Dauer und Intensität der Blutung, sind
in der Regel auf Erkrankungen des Sexualsystems oder auf Allgemeiuerkran-
kungen zurückzuführen, doch scheint auch hier die Thätigkeit der Nerven eine
grosse Rolle zu spielen. (Bezüglich des Näheren vergl. die Artikel Amenor-
rhoe und Metrorrhagie.) Psychische Affeete, wie Schreck, Angst, Kummer,
Freuden , sowie Psychosen , lasciver Lebenswandel , häufige sexuelle Erregung,
Lesen erotischer Schriften , Onanie u. dergl. m. sind von bedeutendem Einfluss
auf den Menstruatiousprocess und vermögen die Menge des abgehenden Blutes,
die Dauer der Blutung, sowie den Eintritt derselben ganz erheblich in ungünstiger
Weise zu beeinflussen. Bezüglich des Einflusses, den die Menstruation auf Krank-
heiten ausübt und vice versa, war bis vor Kurzem nicht viel bekannt. Mehr
Licht in dieses Thema brachte das Werk Eisenhart’s. ,b) Viele Krankheits-
processe, namentlich die noch in ihren ersten Stadien sich befindlichen Psychosen,
werden durch den Menstruationsvorgang entschieden ungünstig beeinflusst. Anderer-
seits wieder alteriren die verschiedenen Erkrankungen den Menstruationsprocess
in mannigfaltigster Weise, sowohl bezüglich des Typus der Blutung, als deren
Dauer und Intensität.
Der Eintritt und Verlauf der Menstrualblutung ist in nicht
wenigen Fällen durchaus frei von irgend welchen Empfindungen , so dass die
Frau erst dann von ihr weiss , wenn sie sich bereits eingestellt hat. Anderer-
seits aber geben dem Eintritte der Blutung Erscheinungen sehr mannigfacher
Art, oft in ganz regelloser Weise combinirt, voraus oder begleiten solche die-
selbe. Diese Beschwerden werden bekanntlich „Molimina menstrualia “ genannt.
Zumeist bestehen diese Beschwerden in Schmerzen und Ziehen im Kreuze
und Leibe, in dem Gefühl von Schwere und Wärme daselbst, in einem Haru-
drange, in Störungen der Defäcatiou (meist Diarrhoe), kurzum in Symptomen,
die einer jeden activen Hyperämie der Beckenorgane eigen sind. Diese Verände-
rungen der Cireulationsverhältnisse bleiben aber durchaus nicht immer auf das
Becken beschränkt, sondern erstrecken sich auch auf andere Körpergebiete. Die
Brüste schwellen an und werden empfindlich , die Verdauung wird gestört , es
kommt zu Wallungen nach dem Kopfe, zu Kopfschmerzen, zu einer nervösen
und psychischen Erregbarkeit u. dergl. m. In Ausnahmsfällen participirt auch die
Haut an den Störungen und stellen sich Exantheme ein, die sogenannteu men-
strualen, wie Ekzem, Urticaria, Lichen u. dergl. m. Von diesen Symptomen ist
meist eines oder das andere da oder stellen sich gleichzeitig mehrere ein,
wenn auch das eine oder andere nur schwächer augedeutet ist. Es lässt sich
daraus entnehmen, dass bei dem Menstruationsprocesse der Genitalapparat nicht
der einzige Ort ist, in dem sich dieser Process abspielt, sondern der ganze Orga-
nismus in Mitleidenschaft gezogen wird, wenn auch wohl zweifellos nur in reflec-
toriscliem Wege. Dass durch den Menstruationsprocess der normale Stoffwechsel
alterirt wird, ist unzweifelhaft , doch ist darüber noch nicht viel bekannt. So
ziemlich sicher scheint es zu sein, dass die Temperatur in den letzten Tagen
vor Eintritt der Blutung erhöht ist. Das Gleiche gilt vom Blutdrücke und der
Ausscheidung des Harnstoffe«. Sobald die Blutung in Gang kommt, sinkt die
Temperatur, der Blutdruck nimmt ab und ebenso die Menge des ausgeschiedenen
Harnstoffes.
Mehr in die Augen springende Veränderungen zeigen die Genitalien.
Die Talgdrüsen der Vulva seeerniren stärker, daher der specifUch unangenehme
Geruch des Menstmalblutes. Die Vulva ist von blutigem Schleim , den mau in
MENSTRUATION.
4lH
der Vagina findet, bedeckt. Vulva und Vagina erscheinen wärmer als gewöhn-
lich und sind succulenter, sowie hyperämisch. Die Portio ist weicher, succulenter
und etwas geschwellt, der Muttermund bei Nulliparen rundlich , das Corpus ist
etwas aufgerichtet, zuweilen durch etwas retinirtes Blut ausgedehnt. Der ganze
Uterus erscheint massiger und voller. Im Speculum findet man die Portio dunkler
und aus dem Muttermunde Blut hervori|uellen. Manchmal sieht man an der Portio,
sowie an der Schleimhaut des Scheidengewölbes kleine submucöse Blutextra-
vasate. Die Ovarien sind geschwollen, succulenter, weicher, empfindlicher.
Das abgehende Blut coagulirt in der Regel nicht, wohl in Folge wäh-
rend dieser Zeit reichlicher abgesonderten alkalischen Schleimes der Uterinal-
drflsen. Coagula finden sich nur bei stärkerer Blutung. Mikroskopisch findet man
ausser Blut- und Schleimkörperchen, Fettkörnchen, Flimmer, Cylinder- und Platten-
epithel, ausnahmsweise Mucosafetzchen.
Dass die Menstrualblutung sich aus dem Uterus und nicht aus tiefer
gelegenen Theilen ergiesse , war schon längst bekannt , dass sie aber aus dem
Uterus, respective aus dessen Mucosa stamme und wie sich dieser Vorgang ab-
spiele, wurde erst in den letzten Decennien in exacter Weise sichergestellt.
Die ersten genauen Untersuchungen des menstruirenden Uterus,
die unter Anwendung der modernen Methoden der mikroskopischen Technik aus-
geführt wurden, rühren von Kondrat und Exoelmaxx '*) her und datiren aus
dem Jahre 1873. Diese beiden Forscher fanden, dass die Uterusmucosa, respec-
tive ihre lnterglandularsubstanz in der prämenstruellen Periode rundzellenreich
wird, dass sieh die Drüsenmtlndungen erweitern und ebenso die Blutgefässe, die
sieh gleichzeitig stark mit Blut füllen. Alle diese Veränderungen gehen allmälig
vor sich und erreichen zur Zeit der Menses ihre Höhe. Gleichzeitig finden auch
degenerative Processe im Uterus statt, nämlich fettige Metamorphose des Schleim-
hautepithels, der Drüsenzellen, der Gefässwände und des Intcrglandulargewelies.
Alles dieses führt zu GeftUsruptur, das heisst zu Blutung. Dass nicht die Hyper-
ämie allein die Ursache der Blutung ist , sondern auch die degenerativen Ver-
änderungen in den Gewebszellen den Eintritt zu einer solchen befördern , ist
daraus zu entnehmen , dass sich die Blutextravasate nur in den obertiächliehen
Mucosaschichten finden und dass auch nur dort die fettige Metamorphose anzu-
tretfen ist. Nach der Blutung findet Regeneration statt. Die verfetteten Elemente
werden durch neue ersetzt. Nach vollendeter Regeneration verharrt die Mucosa
nur kurze Zeit im Zustande der Ruhe. Bald aber beginnt der beschriebene
Cyklns von Veränderungen von Neuem. Die menstrualen Mucosaverämlernngt-n
ähneln denen, die sieh in den Anfangsstadien der Bildung der Utcidua yrneiili-
tntii finden.
Zwei Jahre nach K CXMRAT - E xg klmaxn publieirtc Williams*0) seiue
Untersuehungsergebnisse. Auch er nimmt eine fettige Degeneration der Mucosa
an, doch solle diese die ganze Dieke der Mucosa befallen, so dass die ganze
Mucosa bis auf die Muscularis hin zerfallen und ausgestossen werden soll, worauf
energische Proliferation der Muskelwand folgt und die junge Brut zur Regenera-
tion der Mucosa benützt wird. Sechs Tage nach Aufhören der Blutung soll die
neue Mucosa w ieder vollendet da sein. Am 10. Tage der Intermenstrualzeit be-
ginnt die Schwellung und Wucherung und erreichen diese zwei Processe den
Gipfel ihrer Höhe in der Zeit, in der der Wiedereintritt der Blutung erwartet
wird. Ist die Schwellung und Wucherung der Mucosa am weitesten vorgeschritten,
so ist die Mucosa bereit, das befruchtete Ei aufzunehmen. Ist kein solches da,
so beginnt ihre Degeneration und Desquamation. Gleichzeitig stellen sich aorh
Uteruscontraet innen ein, durch welche die Schleimhautgefässe stark gefüllt werden,
aber in Folge der eiugetretcnen Degeneration bersten, wodurch es zur Blutung
kommt. Dass sich der Menstruationsvorgang nicht so abspielen kann, wie ihn
Williams beschreibt, erhellt daraus, dass ausser ihm noch Niemand die Des-
quamation und Ausstossung der ganzen Mucosa gesehen und es gegen alle bio-
ioogle
MENSTRUATION'.
T09
logischen Gesetze verstosst, ans der Muscularis eine Neuliildnng der Mucosa
anzunehmen. Da die Uteri , die er untersuchte, mit wenigen Ausnahmen Frauen
entstammten , die an acuten fieberhaften Krankheiten gestorben waren , so muss
der von ihm angetroffene Befund (die Abstossung der Mucosa ihrer ganzen Dicke
nach) als ein pathologischer angesehen werden, nicht aber als ein physiologischer.
Nach Leopold**) schwillt die Uterusmucosa in der prämenstrualen
Zeit bis zu einer Dicke von 6 — 7 Mm. an und während der Blutung wieder zu
einer Dtinne von 2 — 3 Mm. ab. Bei dieser prämenstrualen Verdickung erleidet
die Mucosaoberfläche eine eigentümliche wellenartige Faltung in Folge Ungleieh-
mässigkeit des Wachsthums in der Länge und Dicke. Die freien Mucosaober-
flächen nähern sich gleichzeitig einander immer mehr, so dass die Uterushöhle
völlig verschwindet. Während dem erfolgt auch eine Vermehrung der Zellen der
iDterglandularsubstanz, die aber nicht dem Grade der Mucosaschwellung ent-
spricht. Ausser Vermehrung der Zellen findet auch Anschwellung derselben statt,
wodurch das Gewebe wie ödeinatös wird. Bis zum Momente der Blutung beob-
achtet man weder ungewöhnliche Füllung der Blutgefässe, noch degenerative
Vorgänge in den Epithelzelleu. Zn Beginn des Ülutfiusses steigt die Blutfüllung
unter dem Einflüsse der menstrualen Hyperämie stark an, die Capillaren erwei-
tern sich, und zwar um so leichter, als das umgebende Gewebe gelockert ist.
Nun erfolgt in den gelockerten, beinahe sich ablösenden oberflächlichen Mucosa-
sehichten Diapedese der rothen Blutkörperchen, zusammen mit dem Blutplasma.
Das Epithel löst sich, nachdem es fettig degenerirt, vollständig ab und das Blut
tritt nach aussen, doch geht die Epitheldesquaraatiou herdenweise vor sich und
nicht gleichmäS8ig auf der ganzen Mucosaoberfläche. Durch die eigenthümlichen
Vascularisationsverhältnisse, nämlich viele zuführende und wenige ableiteudc Blut-
gefässe und die bedeutende Blutüberfüllung der Gefässe, kommt es zur Diapedese.
Die fettige Degeneration der oberflächlichen Mucosasehichteu , beziehungsweise
der ganzen Mucosa, bildet nicht die Ursache der Blutung, wenigstens kann dies
so lange nicht angenommen werden, bis es nicht bewiesen ist. Ebenso muss die
Desquamation der ganzen Mucosa zurückgewiesen werden. Während der Blutung
schwillt die Mucosa durch Ausblutung ab, worauf die Regeneration beginnt.
Wie lange diese letztere dauert, ist bis jetzt noch nicht genau festgestellt. Der
Umstand , dass nur die oberflächlichen Schichten ersetzt werden , spricht für
eine kurze Dauer des Regenerationsprocesses. In zwei Fällen war sie 6chon 9 bis
10 Tage nach Beginn der Blutung, demnach nur einige Tage nach beendeter
Blutung, vollendet. Nach dem 18. Tage nach Beginn der Blutung fand er die
Mucosa schon wieder in Verdickung nnd Anschwellung begriffen. Ueber den Zu-
stand des Uterus zwischen dem 10. und 18. Tage nach Beginn der Blutung
kann er wegen Mangel an entsprechendem Materiale nichts berichten.
Wyder’s **) Arbeit erschien bald nach der letztangeführten, ln der-
selben spricht er sieh dahin aus, dass die Mucosa während der Blutung durch
Desquamation der oberflächlichen Schichten eine ziemlich beträchtliche Verminde-
rung ihrer DickeDdimensionen erfährt. Die zurückgebliebenen Mucosascbichten
zeigen weder in ihren tiefen , noch in ihren blossliegenden Lagen eine fettige
Degeneration. Die Interglandularsnbstanz erleidet bei der Menstruation nur quanti-
tative Veränderungen und bleibt ihr kleinzelliger Typus unverändert bestehen.
Im Allgemeinen will er an der Uterusmucosa keine fettige Degeneration gesehen
haben, aber nicht bestreiten, dass eine secundäre solche der sieh ablösenden
Schichten während der Blutung stattfinden kann, wie sie Leopold beschreibt. Die
primäre fettige Degeneration WILLIAMS' dagegen war wahrscheinlich nur ein
Krankheitsproduct. Die Ursache der Blutung liegt daher, ebenso wie es LEOPOLD
annirnmt, nicht in der primären fettigen Degeneration, sondern in den eigenthüm-
lichen Gefässverhältnissen. Er nimmt bei der Blutung eine Gefässzerreissuug an,
ohne aber die Diapedesis vollkommen zu bestreiten. Entschieden aber bestreitet
er, dass nach Kundrat-Exoelmanx keine Blutextravasate in der Tiefe der
410
MENSTRUATION.
Mucosa Vorkommen und dass nach Williams die ganze Mucosa desquamirt
werde. Die Desquamation ist eine oberflächliche und partielle. Die Mucosa men-
strualis unterscheidet sich von der Dtcidua vera durch den erhaltenen klein-
zeiligen Typus der Interglandularsubstanz.
Möricke51) suchte die Frage, ob bei der Menstruation fettige Entartung
und Desquamation der Mucosa stattfinde, auf die Weise zu lösen, dass er, statt
Leirhenmaterial zu verwenden, das stets einer nicht unberechtigten Kritik unter-
liegt, mit dem scharfen Löffel abgeschabte Gewebspartikel der L’terusmucosa,
entnommen während der Menstruation , zur Untersuchung nahm. Er fand . dass
nicht der geringste Theil der Mucosa zu Grunde gehe. Das Flimmerepithel bleibe
die ganze Zeit hindurch intact und es finde weder eine fettige Degeneration der
Zellen, noch eine Proliferation des Interglandulargewebes statt. Dagegen sah er
starke Blutftlllung nnd Erweiterung der Gefässe und durchtränken Extravasate
die oberflächlichen Mucosaschichten. Die Quantität der homogenen Intereeliularsub-
stanz nimmt bedeutend zu.
Vox Kahldex14), der Letzte, der sich mit dieser Frage beschäftigte,
behauptet gegen Möricke, dass das Epithel während der Menstrualperiode immer
wenigstens theilweise zu Grunde gehe. Allerdings wird es nicht gleich im Be-
ginne der Menstruation ganz und gar in seiner Coutinuität abgestosseti, sondern
es kann, selbst zu einer vorgerückten Zeit der Menstruation noch, an einzelnen Stellen
erhalten sein. Es wird nicht ausschliesslich das Deckepithel desquamirt, sondern wahr-
scheinlich sogar die gesammte hämorrhag'sch infiltrirte Mucosa. Die Katamenial-
flüssigkeit enthält Mucosabestandthcile. Gleich nach der Menstruation sind die
oberflächlichen Mucosaschichten regelmässig abgestossen. Die Neubildung des
Epithels in der postmenstrualcn Periode geht von den Drüsen aus, deren tiefere
Partien stets erhalten bleiben. Zur Regeneration der Mucosa tragen neugebildete
Gcfässe und vielleicht auch eine Vermehrung der Interglandularsubstanz bei.
Nach Lawsox Tait 5ß) soll der Menstruationsprocess von den Tubeu
abhängig sein und sollen dieselben mit theilnehmen an der Menstrualblutung,
doch müssen noch weitere eingehende Untersuchungen lehren, ob sich dies Alles
so verhält.
Die Jahre, innerhalb welcher die Menses tliessen, stellen die Blflthezeit
des weiblichen Organismus dar. In unseren Breiten dauert die Menstruation im
Mittel 30 Jahre, doch unterliegt diese Dauer vielen Schwankungen, die zum guteD
Theile von den verschiedensten Allgemeinen und individuellen Einflüssen veran-
lasst werden. Die Ursachen, die auf die Dauer der Menstruation einwirken, sind
zum guten Theile die gleichen, die auch das frühere oder spätere Eintreten der
ersten Menstruation beeinflussen, nämlich das Klima und die Rasse. Bei im Süden
lebenden Völkern erlischt die Menstruation bedeutend früher, als bei nördlichen.
Früher meinte man, dass die Menstruation bei Frauen, bei denen sie früher ein-
trat, auch frühzeitig erlösche, doch ergeben statistische Zusammenstellungen gerade
das Gogentheil davon , dass nämlich die Menstruation desto später erlischt , je
frühzeitiger sie sich einstellte.
Sexuelle Thätigkeit, regelmässige Ausübung des Coitus, Puerperien,
Lactation, verlängern die Zeit der menstruellen Function. Sehr frühe begonnener
sexualer Umgang dagegen scheint den entgegengesetzten Erfolg zu haben. Das Gleiche
gilt von rasch einander folgenden Puerperien und Aborten, sowie von allzulange
währender Lactation, die zur Hyperinvolution und vorzeitiger Uterusatrophie
führen kann. Denselben Einfluss haben gewisse Erkrankungen des Uterus nnd
der Ovarien, sowie andere schwächende Potenzen und sich einstellende Fettleibig-
keit (vergl. den Artikel Amenorrhoe). Frauen mit spärlichen, unregelmässigen
Menses sollen letztere früher verlieren als solche, bei denen sie reichlich und
regelmässig eintretend sind. Bei manchen Frauen hört die menst ruale Thätigkeit,
ohne dass man dafür eine Ursache nachweisen könnte, vorzeitig auf und scheint
dies Verhalten nach meinen Beobachtungen ein hereditäres zu sein.
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MENSTRUATION.
411
Verlängert wird die Menstruationszeit dureh eine Hypertrophie des
Uterus, durch Fibrome und Polypen des Uterus, sowie durch alle jene krank-
haften Zustände, die eine aetive oder passive Hyperämie des Uterus hervorrufeu,
doch ist in vielen solchen Fällen die Menstruation nur eine scheinbare und liegen
Blutungen, die dureh den bestehenden Krankheitsprocess bedingt sind, vor.
Andererseits vermögen günstige äussere Verhältnisse bei Fehlen irgend einer
allgemeinen oder sexuellen Erkrankung die Dauer der Menstruationszeit zu
verlängern.
Das Aufhören der Menstruationsthätigkeit fällt in das Capitel „Klimax“
und möge das Nähere darüber dort nachgesucht werden.
Wichtig zu wissen ist das Verhalten der Ovulation und Men-
struation während der Schwangerschaft und Lactation.
Wenn man auch früher meinte, dass die Ovulation während der
Gravidität cessire und in neuerer, sowie in neuester Zeit von Manchen der
Gegenbeweis davon geliefert sein will, müssen wir doch eingestehen, dass wir bis
jetzt über diese Frage eigentlich so viel als nichts wissen. Brierre de Bojsmont2®)
will in den Ovarien Schwangerer und frisch Entbundener häutig weit in der
Entwicklung vorgeschrittene Follikel gefunden haben und auch Meigs ,7), sowie
SCANZONI2*) behaupten, bei Sectionen Gravider an den Ovarien Beweise einer
fortdauernden ovulatorischen Thätigkeit augetroffen zu haben. Der wärmste An-
hänger der Anschauung der auch während der Gravidität fortwährenden Ovnlation
ist Si.avjanskv5'-*), sich hierbei auf den Sectionsbefund eines einschlägigen Falles
stutzend. Bei der Section einer an einer inneren Blutung nach Ruptur der graviden
linken Tuba im dritten Schwangerschaftsmonate Verstorbenen fand sich im linken
Ovarium, entsprechend dem befruchteten Ovum, ein Corpus luteum, sowie ein
reifer Follikel und im rechten ein junges Corpus luteum, das sich (angeblich)
aus einem während der Schwangerschaft geborstenen Follikel gebildet hatte.
Ausserdem zeigten beide Ovarien ziemlich viele Follikel in den verschiedensten
Stadien ihrer Entwicklung und ihrer physiologischen Atresie. Dieser einzige bisher
bekannte Fall kann aber noch nicht als überzeugender Beweis gelten und bleibt
es daher noch der Zukunft Vorbehalten, diesen strittigen Punkt definitiv zu klären.
Die Ovulation während der Lartation ist zwar nicht anatomisch,
aber durch die Erfahrung sattsam erwiesen, da nicht wenige Fälle bekannt sind,
in denen die Frauen im Verlaufe der I.actation, ohne seit der Entbindung noch
menstruirt zu haben, wieder gravid wurden. Ich habe eine grosse Reihe solcher
Fälle gesehen.
Die Annahme einer Menstruation während der Gravidität ist ein
der Gravidität widersprechender Nonsens, denn wenn die Mucosa während
der Gravidität noch mehr anschwellen und sich verdicken sollte (was physi-
kalisch und anatomisch nicht denkbar ist) und darauf alle die anatomischen
Veränderungen der Sehleimhaut, wie bei einer Menstruation, vor sieh gehen sollten,
so müsste der Effect unbedingt eiue sofortige Unterbrechung der Schwangerschaft
sein. Da die bei der Menstruation vor sieh gehenden Veränderungen der l'terus-
mucosa während einer gleichzeitig bestehenden Schwangerschaft, wie bereits er-
wähnt, physikalisch und anatomisch unmöglich sind und Schwangerschaftsunter-
brechungen, die auf ein Zusammentreffen von Gravidität und Menstruation zurück-
zuführen sind, nie beobachtet wurden, muss das Auftreten der Menstruation
während der Gravidität in das Gebiet der Fabel verwiesen werden. Fülle ein-
schlägiger Art, die mitgetheilt wurden, beruhten auf Selbsttäuschung oder wurde
der Arzt durch die Frau getäuscht. Blutungen im Verlaufe der Schwangerschaft
liegt stets ein pathologischer Vorgang zu Grunde. Selbst bezüglich der Fälle
von Verdoppelung des Uterus, bezüglich welcher vielleicht angenommen werden
könnte, dass der eine Uterus oder die eine Uterushälfte gravid sei und der audere
oder die andere Hälfte gleichzeitig meustruire, i«t kein verlässlicher bekannt, in-
dem während der Gravidität Menstruation eintrat.
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MENSTRUATION.
41*
Während der Lactat ion sistirt in der Regel die Mens truatiou, doch
sind die Fülle durchaus nicht so selten, in denen die Frauen trotz dem Sänge-
geschäftc ruhig menstruiren oder in denen sieh, nachdem die Frau bereits mehrere
Monate stillt, die Menstruation wieder einstellt und regelmässig wiederkelirt.
Da die Menstruation ein physiologischer Process ist, so kann von einer
Therapie derselben keine Rede sein. Ist man wegen einer zu profusen , einer
zu lange anhaltenden, einer zu rasch oder zu selten sich einstellenden, einer
allzu schmerzhaften oder wegen einer nach einer andereu Richtung hin abnormen
Menstruation gezwungen, therapeutisch einzuschreiten, so geschieht dies strenge
genommen nicht wegen der abnormen Menstruation , sondern wegen der ihr zu
Grunde liegenden Krankheit und wird daher nicht die abnorme Menstruation,
sondern die sie bedingende Erkrankung behandelt.
Ist demnach von einer Therapie der Menstruation keine Rede, so besteht
wohl eine Hygiene derselben und ist diese ungemein wichtig, da durch Ein-
haltung einer solchen einer Abnormität der Menstruation, d. h. Erkrankungen des
Sexualsystems vorgebeugt werden kann. Bei der Hygiene der Menstruation haliea
wir die beim Eintritte der ersten Menstruation von jener zu unterscheiden , die
angezeigt ist, wenn das Weib bereits regelmässig menstruirt ist.
Der Hygiene der ersten Menstruation hat eine entsprechende solche
des Pubertfttsalters vorauszugehen. Das junge Mädchen soll davon unterrichtet
werden, dass ihm der Eintritt einer periodisch vor sich gehenden Blutung aus
den Genitalien bevorsteht, denn einestheils kann die unvorbereitet eintretende
Blutung einen nicht unbedeutenden psychischen Affect hervorrnfen, der einen un-
günstigen Einfluss auf die Menstruation ausflbt und andererseits vermeidet mau,
dass die Phantasie durch geheimes Flüstern der Freundinnen uonöthiger Weise
in Bewegung gesetzt werde. Wichtig ist weiterhin eine entsprechende Kleidung,
d. h. eine Warmerhaltung des Unterleibes und die Sorge für regelmässige gehörige
Darmfunction. Namentlich letztere ist wichtig, da die habituelle Constipation bei
jungen Mädchen etwas ganz Gewöhnliches und eine solche auf die Circulations-
verhältnisse im Becken ungünstig einwirkt. Da die Mädchen in der Pubertätszeit
zumeist anämisch sind, empfiehlt sich die Darreichung von Eisen. Um allen
schädigenden Einflüssen vorzubeugen, empfiehlt cs sich, das junge Mädchen die
erste Menstruation im Bette durchmachen zu lassen.
Ist die Menstruation bereits im Gange, so bedarf die intermenstruale
Periode, wenn die Frau sonst gesund ist, keines speciellen hygienischen Ein-
greifens. Dagegen erheischt der prämenstruale Congestionszustand , die pri-
menstrunle Excitation, sowie die Menstrualblutung nach mehreren Richtungen hin
eine gewisse Vorsicht. Je weniger Anzeichen von Nervosität, Unruhe, Schmerzen
und dergleichen mehr da sind, desto weniger Anlass ist zu einer besonderen
Vorsicht vorhanden. Treten dagegen diese Erscheinungen stärker hervor, so
empfiehlt sich Schonung schon in der prämcustrualen Periode. Starke körperliche
Anstrengungen und Arbeiten , starke und plötzliche Abkühlung des Körpers,
namentlich des Unterleibes, sind zu vermeiden. Ebenso hüte sich die Frau vor
nassen und kalten Füssen. Auch während der Menstrualblutung ist Alles zu
vermeiden, was eine C'ongestion zu den Beekcnorganen herbeiführt. Aus dem
Grunde ist namentlich das Tanzen zu verbieten. Zu vermeiden ist ferner der
Gebrauch drastischer Purgantien und ein reichlicherer Genuss von Spirituosen.
Direct schädlich ist die plötzlich einwirkende Külte auf den Unterleib während
des Menstritalflusses. Das Schlittschuhlaufen, ein kaltes Bad, kalte Scheidenirrigation
und dergleichen inehr können zur plötzlichen Entstehung einer Hämatokel ■ oder
einer acuten Entzündung in der Beekenhöhle führen. Wahrscheinlich kommt es
durch plötzliche Einwirkung der Kälte zu einer C’ontraction der Gefässe der
Uterusmucosa und Uterusmusculatur und consecutiv zu einer Blutüberfüllung und
Gefässberstung in den Adnexen und Parametriten. Nur auf diese Weise sind die
Fälle zu erklären, in denen nach plötzlicher Einwirkung von Kälte und Xis**
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MENSTRUATION.
4ld
die Menstruation momentan aussetzt und sich jrleiclizeitig- Zeichen einer inneren
Blutung oder Zeichen einer acuten Peri- und Parametritis einstellen. In gleicher
schädigender Weise kann die Cohahitation wahrend der Menstruation wirken, da
durch sie die ohnehin vorhandene Congestion der Beckenorgane noch mehr ge-
steigert wird. Obwohl schwer zu erklären, ist es dennoch in vielen Fällen eine
Thatsache, dass das Wechseln der Wäsche während des Blutflusses letzteren
nicht nur verstärkt, sondern auch verlängert. Sowohl um dies zu vermeiden, als
namentlich im Interesse der Reinlichkeit, empfiehlt es sich, die Menstruirende eine
sogenannte Menstruationsbinde tragen zu lassen, eine Bandage zum AulTatigen
des Blutes. Der Typus der meisten dieser Bandagen besteht in einer T-Binde
mit einem losen, Feuchtigkeit aufsaugenden Kissen, das vor der Vulva liegt.
Dabei ist die Binde so eingerichtet, dass das Kissen nach erfolgter Durehnässung
gewechselt werden kann. Durch dieses Kissen wird nicht nur eine Verun-
reinigung der Leibwäsche verhindert , sondern es werden gleichzeitig auch die
Genitalien vor Kälte geschützt. Durchaus unschädlich und sogar im Interesse
der Reinlichkeit geboten ist eine Reinigung der beschmutzten Genitalien mit
lauem Wasser, eventuell eine Irrigation der Vagina mit 30 — 35° C. warmem
Wasser. Auch ein gewöhnliches lauwarmes Bad von einer Temperatur von 3f>“ C.
und in der Dauer von 10 Minuten ist nicht nur nicht schädlich, sondern direct
gesundheitsgemäss.
Zur Zeit der Menstruation wird die Singstimme besonders in den hohen
Tönen unrein und wird behauptet , dass es für die Stimme schädlich sei, wenn
die Frau zu dieser Zeit singe. Es dürfte sich daher für Bcrufssängerinnen
empfehlen, zur Menstruationszeit nicht zu singen. Dieses verbieten denn auch
fast alle Singlehrer ihren Schülerinnen.
Häufig w ird man von den Kranken befragt, ob es erlaubt sei , auch
während der Menstrualblutung die verschriebene Medicin weiter einzunehmen.
In der Regel steht dem nichts entgegen. Selbst der Gebrauch der Eisenpräparate,
die besonders gefürchtet werden, hat sehr häufig keinen Einfluss auf die Blutung.
Nur wo die Erfahrung gelehrt hat, dass die Blutung schädlich beeinflusst, ins-
besondere verstärkt wird , ist der Gebrauch des betreffenden Mittels in dieser
Periode zu unterbrechen.
Nach Beendigung der Menstruationsblntung ist eine gründliche Reinigung
und namentlich eine solche der Genitalien angezeigt. Zn dem Behufe hat das
Weih ein Bad zu nehmen und empfehlen sieli hei Verheirateten Ausspülungen
der Scheide mit lauwarmem Wasser.
Schliesslich wären nur noch einige wenige Worte darüber zu verlieren,
wie es sich mit der Ovulation und Menstruation nach operativer Ent-
fernung der Ovarien oder nach operativer Entfernung des
Uterus verhält.
Operative Entfernung der Ovarien zieht immer eine fortdauernde
Amenorrhoe nach sieh, d. ii. der menstruale Blutfiuss stellt sich nicht mehr ein.
Alle Fälle, in denen nach Entfernung beider Ovarien die Menstruation nicht aus-
blieb, die Frau eventuell nachträglich noch gravid wurde, sind nur so zu deuten,
dass hei der Operation übersehene Reste von Ovarialsubstanz (eventuell auch im
Stumpfe) znrückblieben oder dass ein überzähliges drittes Ovarium da war.
Operative Entfernung des Uterus bei zurückgebliebenen normalen Ovarien
lieht die Ovulation nicht auf, wie dies die Molimina bei solchen Frauen erweisen,
ln einem von Koeberle*0) operirten Falle, in dem der Uterus unter Zurück-
lassung der Vaginalportion supravaginal amputirt worden war, trat (in Folge von
zurückgebliebener Permeabilität des Uterusstiimpfes) nachträglich sogar Extra-
uterinalgravidität ein, der beste Beweis, dass eine Entfernung des Uterus unter
Zurücklassung der gesunden Ovarien die Ovulation nicht alterirt.
Literatur; ') C. E. v. Buer, I>e oti mammnl. et hum. <jent»i. Epist. ad Acad.
Imp. Petropol. Lipsiae 1827. — 3) Sin t c m m a , Sieire Bt*chrgiein<i der kleine iraerlt of
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414
MENSTRUATION. — METRORRHAGIE.
ttrhandlinge ocer de menscheiyke natuur. Rotterdam 1728. — 3) Bischof f, Beweise der
von der Begattung unabhängigen periodischen Reifung nnd Loslösting der Eier der Sängethiere
und der Menschen. Giessen 844 und Beiträge zur Lehre von Menstruation und Ovulation.
Zeitschr. f. rationelle Med. 1853, IV, N. F., pag. 155. — 4> Pflüger, Ueber die Bedeutung
und Ursache der Menstruation. Untersuchungen aus dem physiologischen Laboratorium in Bonn.
Berlin 1865, pag. 52. — *) Sigismund, Ideen über das Wesen der Menstruation. Berliner
klin. Wochenschr. 1871, pag. 824. — 4) Löwenhardt, Die Berechnung der Schwanger-
schaftsdauer. Arch. f. Gyn. 1872, 111, pag- 457. — 7) Reichert. Beschreibung einer früh-
zeitigen menschlichen Frucht etc. Abhandl. der königl. Akad. der Wissensch. zu Berlin. 1)873,
pag 1. — e> Beigel, Die Krankheiten des weiblichen Geschlechtes. 1874, 1. pag. 298. —
v) Slavjansky, Recherche* sur ln regrexsion den follicules etc. Arch. de Physiol. 1874.
pag. 213. — ,0j Löwenthal, Eine neue Deutung des Menstruationsprocesses. Arch. f. Gyn.
1884, XXIV, pag. 169- — n) Feoktistow, Einige Worte über die Ursache und den Zweck
der Menstruation. Arch. f. Gyn. 1885, XXVII, pag. 379. — **) Veit, Müller s Handb d. Geb.
1888, I. pag. 137 und Verhandlungen der deutschen Gesellschaft für Gynäkologie. IV. Congre».
Leipzig 1893, pag. 3. — **) Chazan. Ovulation und Menstruation. Arch. t. Gyn. 1889, XXXVI,
pag. ^7. — u) Glaevecke, Körperliche und geistige Veränderungen im weiblichen Körper
nach künstlichem Verluste der Ovarien etc. Arch. f. Gyn. 1889, XXXV, pag. 1. — IS) Stein-
haus, Menstruation und Ovulation in ihren gegenseitigen Beziehungen. Leipzig 1890, pag. 111.—
16) Leopold, Studien über die Uterusschlei mh*ut etc. Arch. f. Gyn. 1877. XI, pag 111.
Untersuchungen über Menstruation und Ovulation, eod. loc 1883, XXI, pag. 347. Beitrag zor
Lehre von Menstruation und Ovulation, eod. loc. 1894, XLV, pag. 506. Vergleiche auch noch
Winterhalter: „Ein sympathisches Gangliom im menschlichen Ovarium.** Arch. f. Gyn. 1896,
LI, pag. 49. — t7) Cohnstein, Beitrag zur Lehre von der Ovulation. Deutsche Med. Wochen-
schrift. 1890, Nr. 34. — **) Ei sen hart. Die Wechselbeziehungen zwischen internen and
gynäkologischen Erkrankungen. Stuttgart 1895. — *■) Kund rat und Engel mann, Wiener
Med. Jahrb. 1873. — *°) Williams. The Obstetr. Journ. of Great Brit. and Irel. Februar
und März 1875- — *') Leopold, Studien über die Uterusschleimhaut etc. Arch. f. Gyn.
1877, XI, pag. 111. — **) Wyder, Beiträge zur normalen und pathologischen Histologie
der menschlichen Uternsschleimbaut. Arch. f. Gyn. 1878, XIII, pag. 1. — **) Möricke,
Die Uternsschleimh&ut in den verschiedenen Altersperioden und zur Zeit der Menstruation.
Zeitschr. f. Geburtsh. u. Gyn. 1881, VII, pag 84- — *4) Von K ah Iden, Ueber das Verhalten
der Uterusschleimhaut während nnd nach der Menstruation. Beitr. zur Geburtsh. u. Gyn. Fest-
schrift für Hegar. Stuttgart 1889 — **) Lawson Tait. A Research in to the cotmidenct
of Ovulation nnd Menstruation. The Brit Gyn. Journ. 1888, IV. pag. 91. — **) Brierre
de Boismont, I)e In Menstruation, considerte dans xes r apport« phg- ioh giquex et patkm
logiquts. Paris 1842. — 2T) Meigs, Obstetrics, the Science and the art, Philadelphia 1849. —
,8) Scanzoni, Lehrbuch der Geburtshilfe. 1855. — Slavjansky, Med. Bote (russisch),
1877, Nr. 31. — w) Koeberle, Keller, Grossesses eitrauterines. Paris 1872, pag. 23. —
Vergl. weiterhin noch betreffs der Menstruation folgende Werke : Krieger, Die Menstruation.
Eine gynäkologische Studie. Berlin 1869. — Raciborski, Traiti de la Menstruation.
Paris 1868- — Icard, Lu fenimc pendant la piriode menstruelle. Paris 1890- — Leopold
Meyer, Der Menstruationsprocess und seine krankhaften Abweichungen. Stuttgart 18)0.
Klein Wächter.
Metrorrhagie nennen wir jede heftigere Uterinalblutung. Findet diese
zur Zeit der Menstruation statt, d. h. ist letztere auffallend profus, so sprechen
wir von einer Menorrhagie. Der Begriff der Menorrhagie lässt sich nicht haar-
scharf feststellen , da die Menge des während der Menstruation ausgesehiedenen
Blutes nicht nur bei verschiedenen Frauen sehr ungleich ist , sondern auch mit-
unter bei einer und derselben Frau wechselt und beispielsweise post pnerperium
und in den klimakterischen Jahren oft verstärkt ist, ganz abgesehen davon, dass
auch intercurrirende Erkrankungen des Uterus und der Sexualorgane überhaupt
nicht selten die Menstrualblutung nicht wenig verstärken. Ob inan die Menstrual-
blutung als übermässig stark, d. h. als Menorrhagie anzusehen habe, hängt von
verschiedenen Umständen in jedem Einzelfalle ab.
Die Art der Blutung ist eine verschiedene. Das Blut tiiesst eontinuirlich
oder nur stossweise. Letzterer Modus kann durch verschiedene Umstände bedingt
sein. Bei ruhiger Rückenlage kann sieh das ergossene Blut in dem rückwärtigen
Scheidengewölbe, das tiefer als der Scheidenausgang liegt, ansammeln und dort
gerinnen, worauf es bei Wechsel der Körperlage oder bei Action der Bauch-
presse flüssig oder als Gerinnsel ausgetrieben wird. Andererseits wieder kann sich
das Blut, wenn die Uterushöhle, wie bei sessilcn oder gestielten Fibromyomen,
erweitert ist , in dieser ansammeln und gerinnen und dann unter Uteruscontrac-
tionen, die das Gefühl des Wehenschmerzes erzeugen, ausgestossen werden.
METRORRHAGIE.
415
Begreiflicherweise ist die Metrorrhagie, eventuell die Menorrhagie keine
Erkrankung per se , sondern nnr ein Symptom , dass durch die verschiedensten
Erkrankungen des Uterus, respective des Sexualsystemes oder durch Allgemein-
erkrankungen bedingt sein kann. Alle Momente, die eine active oder passive Hyper-
ämie des Uterus bedingen, vermögen daher Veranlassung einer Blutung zu werden,
namentlich wenn ihre Wirkung zu der der physiologischen menstruellen Hyper-
ämie hinzutritt.
Hierher zählen Schädlichkeiten, denen sich die Frau zur Menstruations-
zeit aussetzt, wie Erhitzung, Erkältung, schwere Arbeit, Tanzeu, Reiten, Abusus
spirituosorum, stürmischer Coitus, geistige und namentlich sexuelle Erregung u. dgl. m.
Alle übrigen hier in Frage kommenden Ursachen, seien es solche, die
die Blutbewegung im ganzen Körper (wie bei Emphysem und Herzfehlern) oder
nur im Becken behindern (wie bei Ascites, Leberaffectionen , Kothstauuug, bei
varicöser Entartung der Beckenvenen, bei Exsudaten im kleinen Becken, grossen
Tumoren , besonders bei solchen , die zwischen den Blättern des Ligamentum
latum sitzen und bis zu seiner Basis oder gar bis auf den Beckenboden herab-
reichen) oder gar nur im Uterus, erschweren (wie bei Lageveränderungen des-
selben t oder schliesslich solche, die den Blutzufluss zum Uterus steigern (wie
Bildung von Tumoren des Uterus und bei entzündlichen Processen im und um
den Uterus), werden zur Zeit der Menstruation die gleiche Wirkung erzeugen,
d. h. die Menstrualblutung heftiger machen. In der intermenstrualen Periode da-
gegen können die erwähnten Ursachen nur dann eine Blutung herbeiführen, wenn
gleichzeitig Veränderungen der Uterusschleimhaut da sind, wie bei Gegenwart
einer Endometritis oder eines Neoplasmas (eines Carcinoms, Sarkoms, eines Fibro-
rayoms u. dergl. m.) des Uterus. Die Blutung kommt dadurch zu Stande, dass
die ausgedehnten, brüchigen, leicht zcrreisslichen Capillargefiisse vom umgebenden
Gewebe schlecht gestutzt werden und daher einer massigen, unter normalen Ver-
hältnissen ungefährlichen und unwirksamen Steigerung des Blutdruckes nicht zu
widerstehen vermögen. Die stärkeren menstrualen Blutungen der klimakterischeu
Periode und die sich zuweilen bei Greisinnen einstellenden Uterinalblutungen
beruhen wohl auch nur auf einer abnormen Rigidität und Brüchigkeit der Gefässe.
Die aussen auf der Portio aufsitzenden und in die Vagina hineinwuchernden Neu-
bildungen des Uterus sind ebenso wie Erosionen der Portio ausserdem noch aller-
hand mechanischen Insulten (wie bei dem Coitus, das Gescheuertwerden an deu
Vaginalwandungen bei Körperbewegungen) ausgesetzt und bluten oft sehr bedeutend,
da den lädirten weiten Capillaren die Fähigkeit der Retraction mangelt.
Nicht selten zieht die Bildung von Hämatomen und Hämatokele Metror-
rhagien nach sich. Bekannt ist es weiterhin, dass protrahirte Aborte mit Retention
von Eihaut- und I’laceutarresten sehr häufig Uterinalblutungen nach sich ziehen.
Wohl nur theilweise ist bei gewissen Erkrankungen, die das Sexualsystem
nicht direct betreffen , die Blutung aus dem Uterus auf eine Schwäche der
Gefässwände , aber hauptsächlich auf eine abnorme Blutbeschaffenheit zurückzu-
führen, w ie bei Hämophilie, Chlorose, Anämie, Tuberkulose u. dergl. m.
Heftige Blutungen , die aber den menorrhagischen Charakter enthalten
können, stellen sich ausnahmsweise bei chronischer Nephritis ein (Trier1), West*).
Blutungen, die sich im Verlaufe schwerer , acut fieberhaft verlaufender
Krankheiten einstellen , wie namentlich bei acuten Infectionskraukheiten (im Ver-
laufe der Variola, Scarlatina, des Ileotyphus), Blutungen im Verlaufe der Cholera
und der acuten Phosphorvergiftung sind nur der Ausdruck einer durch die
Allgemeinerkrankung zu Stande gekommenen acuten Endometritis.
Bei vielen Erkrankungen des Uterus ist das Verhalten der Menorrhagien
und Metrorrhagien ein so typisches, dass es sich graphisch darstellen lässt und
man ganz charakteristische, den einzelnen Erkrankungen (z. B. dem unvollständigen
Aborte, der Myomblutung, der Involutio Uteri incompleta , der Endometritis
fungota , dem Carcinoma colli uteri u. dergl. m.) entsprechende Typen erhält,
METRORRHAGIE
416
von denen jeder für sieh ein eigentümlicher ist und sich von den anderen ganz
bedeutend unterscheidet (Kaltenbach*).
Was die Behandlung der Metrorrhagie uud Meuorrhagie anbelangt , so
fallt sie eigentlich mit der Therapie der verschiedensten gynäkologischen Erkran-
kungen und mit der nicht weniger Allgomeinerkrankungeu zusammen und kann
demnach eine eingehende Besprechung derselben hier nicht stattfinden. Soviel nur
lässt sich hier sagen, «lass man in jedem einzelnen Falle die l’rsache der Blutung
zu erforschen hat, worauf dann die entsprechende Therapie einzuleiten ist.
Hier mag nur die Behandlung im Allgemeinen (ohne Rücksichtnahme
auf die der Blutung zu Grunde liegende Erkrankung) kurz besprochen werden.
Häufig vermag man, wenn man auch momentan nicht gegen die zu
Grunde liegende Krankheit einschreiten kann, durch ein entsprechendes diäteti-
sches Verhalten die Blutung zu sistiren. Man räume die Schädlichkeiten aus dem
Wege, verordne ein kühles Verhalten, säuerliche Getränke, verbiete Alles, was
den Blutdruck steigert, wie Tliee, Kafi'ee und Spirituosen, untersage eine auf-
regende Beschäftigung und Lectttre, sowie sexuelle Erregungen. Gleichzeitig lasse
man die Kranke absolute körperliche Ruhe einhaltcn. Häufig aber mindert die
horizontale Lage im Bette die Blutung nicht oder verstärkt sie selbe gar noch.
Es erklärt sich dies daraus, dass hierbei die Genitalien am tiefsten gelagert sind,
das Blut demnach bei dieser Lagerung nicht rücktiiessen kann, sich demnach
eine venöse Stase bildet , die die Blutung noch steigert , begünstigt noch durch
den Druck von Beite der Därme auf das Berken. Lässt man dagegen die Kranke
die Knieellenbogenlage einnehmen , wodurch der intraabdominale Druck ver-
mindert und der Abiluss des Blutes aus dem Becken erleichtert wird, so mindert
sich die Blutung ganz wesentlich oder sistirt auch zur Gänze. Hierbei muss der
Rücken möglichst cingebogen sein, die Bauchmusculatur erschlafft werden und die
Athmung möglichst tief sein. Die Kranke ermüdet in dieser Lagerung wohl
anfangs rasch und fühlt einen Druck im Kopfe, doch ist sic bald im Stande, in
derselben längere Zeit auszuharren. Wird eine Aenderung der Lage nöthig,
so lässt man mit der Knicellenbogenlage die Bauchlage und Seitenbauehlage ab-
wechseln (Dokaldsok *). Unter Umständen macht man, wenn die Blutung durch
ihre Heftigkeit bedrohend ist (und zwar namentlich hei Gegenwart von Uterus-
neubildungen) kalte Vaginalinjeetionen oder legt man Eisstücke in die Vagina.
Die äussere Anwendung der Kälte nützt so viel als nichts. Die Wirkung der
Kälte ohne die begleitende der Nässe entfalten auch die von verschiedenen beiten
her construirten Kühlapparate der Vagina. Gut wirken zuweilen und namentlich
bei Menorrhagien lnjcctionen von bis 50° C. heissen Wassers in nicht zu grossen
Mengen und öfter des Tages; 3 — 4mal des Tages 1 3 — */4 Liter.
Unter Umständen timt es gut, utero-abdominal zu galvanisireu, uud zwar
mit dem positiven Pole als dem activen und einer Stromstärke von 10U und mehr
Amperes bei einer Sitzungsdauer von höchstens bis 5 Minuten, vorausgesetzt aber,
dass die Kranke' diese Stromstärke gut verträgt.
Zuweilen erzielt man gute Resultate und vermag mau die profuse Men-
struation nahezu ganz zu unterdrücken , wenn man die Vagina tamponirt. lu der
Regel genügt es, nur das Scheidengewölbe fest anzntainpouiren, seltener wird cs
nöthig, ausserdem auch noch den übrigen Vaginalabschnitt fest anzntamponiren.
Letzteres vermeidet mau lieber, weil sonst die Urethra mit eomprimirt wird und die
Frau dann nicht den Harn allein lassen kann, sondern katheterisirt werden muss. Mit
Jodoform bestreute Watte eignet sich zum festen Tamponmateriale besser als Jodo-
formgaze, die binnen Kurzem zusammenbackt, wodurch der Tampon kleiner wird.
Umständlicher schon, da sie eine ärztliche Assistenz und grössere \or-
bereitungen (Lagerung der Kranken auf den Tisch , Einführung und Fixation
eines löffelförmigen Spcculums , Fixation der Vaginulportion , eventuell vorans-
geheude Dilatation des l’terinalcanales) erfordert, ist die Austumponirung des Uten»-
cavurns mit Jodoformgazestreifen.
Google
METRORRHAGIE.
417
Sistirt die Blutung naeli der Tamponade (der Vagina oder des l'terus),
so kann der jodoformirte Wattetampon 24 Stunden, der Jodoformgazetampon mehrere
Tage liegen bleiben.
In anderen Füllen wird man, je nach der Grundkraukheit, die Exeochlea-
tion und Ausätzung des Cteruscavums vornehmen, Aftermassen mit dem Löffel
entfernen und darauf das Glüheisen anwenden u. dergi. m.
Da wir uns heute das l'ternscavum nötigenfalls ganz gut für Instrumente,
Aetzmittel u. dergi. m. enter Vermeidung jeder Gefahr zugänglich machen können,
siml die ihrerzeit beliebten intrauterinen Injectionen mit Chloreisen , Jodtinctur
u. dergi. m. als viel zu gefährlich gänzlicli verlassen. Gar häufig folgten solchen In-
jectionen allgemeine Peritonitiden, die nicht selten die Kranken binnen kürzester
Zeit dahinrafften.
Sehr beliebt ist die Darreichung innerer Mittel , die erfahrungsgemäss
bei Uterinalblutungen eine blutstillende Wirkung entfalten. Ihre Darreichung ist
in der Kegel das erste, was der Arzt thut, wenn er zn dem Bette einer an
einer Fterinalblutung leidenden Frau kommt.
Am verbreitetsten ist die Darreichung des Ergotins und seiner Präparate.
Das Secale comutum als solches, sei es in Pulverform oder als Infusum
wird heutzutage nur mehr selten gegeben, sowohl seines unangenehmen Geschmackes
wegen, als wegen seiner unsicheren Wirkung.
Unbedingt vorzuziehen ist das Ergotin. Zu den beliebtesten und wirk-
samsten Präparaten zählt das WERNICH’sehe Extractum dinlysatum , das Bom-
liELON'sche und das DENZEL'sehe Extract. Am leichtesten und angenehmsten ist
das Ergotin in Pillenform zu nehmen. Ich lasse aus 3,0 100 Pillen anfertigen,
denen ich 5 °/„ Benzoesäure zusetzen lasse, um das Präparat haltbar zu machen.
2 — 3mal des Tages 3 Pillen pflegen in der Regel günstige Wirkung zu erzielen.
Feber das Cornutin fehlen mir Erfahrungen.
Feber das f'stilago Maid in, sowie über die Hamamelis virginica kann
ich mich nicht aussprechen, da ich diese Mittel nicht anwende.
Die Cat tex Viburni prunifolii, die bei drohendem Aborte in geeigneten
Fällen ausgezeichnet wirkt, fand ich hei Meno- und Metrorrhagien gänzlich
unwirksam.
Das Extractum Gossypii, allein gegeben, wirkt nahezu nichts, wohl aber
scheint es, gleichzeitig mit Ergotin und Hydrastis gegeben, gut zu wirken.
Während das Ergotin bei Blutungen in Folge vorhandener Fibromyome
wirksamer ist, als das Extractum IJydrastis eanadensis, scheint letztgenanntes
Mittel wieder bei hyperflmischen Zuständen des L’terus und dadurch bedingten
Blutungen besser zu wirken, als das Ergotin.
Ich pflege die drei genannten Mittel, Ergotin, Extractum Hydrastis
ennadensis und Extractum Gossypii zu gleicher Zeit , und zwar in Pillenform
zu geben ; Ergotini, Extract. Gossypii und Extract. Hydrast. canad. aa. 3,0, Acid.
benzoicii 0,15, Pulv. et Extract. rad. Acori q. s. nt f. pill. Nr. 100. Von diesen
Pillen lasse ich zweimal des Tages 3 Stück und bei heftigeren Blutungen 9 Stück
des Tages nehmen.
Ausgezeichnet bewährt hat sich mir das Hydrastinin aber nur in den
Fällen, in denen es angezeigt ist , eine Anämie des Uterus herbeizuführen , um
dadurch eine Stillung der Blutung herbeizuführen, nicht aber um Fteruscontractionen
zu erregen, durch die eine atonische Blutung behoben werden soll. Bei Menor-
rhagien steigert man die Wirkung dadurch , dass man das Mittel bereits einige
Tage vor der zu erwartenden Menstruation nehmen lässt und es dann die ganze
Zeit der Menstruation hindurch reicht. Es kommen jetzt im Handel schon fertige
Gelatinpillen vor, die neben 0,1 Saechar. lact. 0,02 Hydrastinin. nutriaticum ent-
halten. 2 — 3ma! des Tages eine Pille genügt.
Literatur: ') Trier, Nord. Med. Ark. lsstj, VIII, Nr. 16; t'entralbl f. Uvn.
1897. pap. 200. — *) tl’rit, Lehrbuch der Frauenkrankheiten. Deutsche IVhersctzunz von
Eneyclop. Jahrbücher. VI. 27
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418
METRORRHAGIE. — MOLENSCHWANGERSCHAFT.
W. Langenbeek. Güttingen 1863- — ^Kaltenbach, Zeitschr. f. Geburtsh. u. Gyn. 1891,
XXI, pag. 290. — 4) Donalds on, Amer. Journ. of Obetetr. 1885, XVIII, pag. 499. — VergL
ferner Leopold Meyer, Der Menstruationsprocesa und seine krankhaften Abweichungen.
Stuttgart 1890, pag. 63 und Heffter, Die intern wirkenden Hämostatica in der Gynäkologie.
Monatsschr. f. Geburtsh. u. Gyn. 1895, I, pag. 131 und die einschlägigen Capitel in den ver-
schiedenen Lehrbüchern der Gynäkologie. Das einzige über die Gebärmutterblutungen existirende
Werk, das von Snegnireff (Professor in Moskau) verfasst ist und 1895 in Moskau erschien,
ist mir, da es in russischer Sprache geschrieben, unzugänglich. Es führt den Titel: „Die
Gebarmutterblutungen, deren Aetiologie, Diagnostik und Behandlung etc.-
Kleinwächter.
Milchsäuregährung, s. Magen, pag. 388.
Möller • Barlow’sche Krankheit, ». Barlo w 'sehe Krank-
heit, pag. 46.
Molenschwangerschaft nennen wir das Tragen gewisser entarteter
Abortiveier.
Hipphkrates1), Aristoteles*), Oalencs*) und Aktivs *) sprechen von
der „Mola“, verstehen aber unter diesem Ausdrucke jene degenerirten Abortiv-
eier, die wir heute als Blut- oder Fleischmolen bezeichnen. Die Araber dehnten
den Begriff weiter ans, indem sie unter „Mola“ alle jene Geschwülste zusammen-
fassten, die sieh in der Gebärmutter oder deren Wandung bilden. Später unter-
schied man „wahre“ und „falsche“ Molen, Schwangerschaftsproducte und ohne
Conception entstandene Gebilde. Man nannte diese Gebilde Mondkalb, Tenfelsbrnt,
Windei, Kielkopf, Sonnenkind, Nierenkind u. dergl. mehr und theilte sie nach
ihrem Inhalte in Blut-, Wasser-, Luft-, Haar-, Fleisch-, Knochen-, Kalkmolen
n. s. w. ein.
Wir sprechen heutzutage nur mehr von einer Blasen- oder Trauben-
mole und einer Blut- oder Fleischmole und verstehen unter ersterer eine
blasenförmige Degeneration der Chorionzotten und unter letzterer das Convolnt
eines durch Blutergüsse frühzeitig zu Grunde gegangenen Eies.
Die ßlasenmole erwähnt zuerst 1565 Schexck von Grafexberg s)
und TULPIUS •). Kcysch 7) spricht 1691 von ihr als Schwangerschaftsproduct
und ebenso Haller"), sowie 1761 Morgagni0). Vom Ende des 18. Jahrhunderts
bis ziemlieh weit in das 19. hinein hielt man sie für wirkliche BlascnwUrmer —
Götze10) und Bremser ") — , daher auch der Name „Hydatidenmole“. Die Natur
der Blasen als echte Cysten bestritten bereits Velpkav *-) und JOH. Müller1').
Gierre und Meckel u) hielten das Wesen der Erkrankung für eine Hypertrophie
der C'horionzotten mit Oedem, während H. Müller **) das Exochorion nnd Mbtte.v-
bkimer1*) das Bindegewebe als Ausgangspunkt der Erkrankung annahmen.
VlRCHOW *") endlich fasste die ßlasenmole als nichts Anderes auf, als eine
Hyperplasie des Schleimgewebes, des normalen Grundstockes der Chorionzotten.
Die Blasenmole ist eine Degeneration der Chorionzotteu zu verschieden
grossen Blasen, die innerhalb der ersten Schwangerschaftswochen stattündet. Durch
die neuesten Arbeiten Marchaxd’s >*) wird die bisher allgemeine Ansicht, dass
die Blasenmole als eine myxomutöse Degeneration der Choriouzotte nach VtRCHoW
aufznfassen sei, zur Gänze umgestossen.
Der ganze Krankheitsprocess ist analog einer malignen Neubildung und
handelt es sich bei ihm in erster Linie um eine ganz enorme Einwanderung,
resp. Einwucherung epithelialer, vom Chorionepithelc abstammender Elemente,
durch die die Serotina mehr oder minder vollständig zerstört wird. Nur die kleinen
mehr compacten Massen der Chorion zotten zeigen noch den charakteristischen Bau des
Zottenstromas. Der bei weitem grösste Theil der stärkeren Zottenanschwellnngcn
ist ganz oder wenigstens fast ganz abgestorben und in Vertitissigung begriffen.
Es besteht demnach, wie bereits erwähnt, keine proliferirende myxomutöse Zellen-
wucherung im Sinne Virchow’s, sondern die Blasenzotten stellen blos das Resultat
einer gewissen regellosen Wucherung mit bydropischer Quellung und schliess-
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MOLENSCHWANGEBSCHAFT.
419
Kcher Nekrose dar. An den kleinen Zotten ist das Epithel am wenigsten ver-
ändert. Wo es noch gut erhalten ist, finden sich, analog den früheren Ent-
wicklungsstadien der Placenta, die zwei Schichten derselben, die äussere, dem
Uterusepithele entstammende, das sogenannte Syncytium und die innere, die so-
genannte LAXGHANS’sche Zellscbichte. Die letztere ist ganz erheblich stärker ent-
wickelt, überzieht continuirlieh die Zotten und vielfach finden sich ganz erheb-
liche Wucherungen derselben. Das Syncytium ist von wechselnder Dicke und
bildet oft unregelmässig gestaltete Klumpen. Es zeigt ebenfalls beträchtliche Ver-
änderungen degenerativer Art. Häufig treten in seinem Protoplasma kleine scharf-
randige helle Vacuolen auf. Wo stärkere degenerative Processe und Wucherungen
vorhanden sind, findet sich noch eine eigenthümliche fibrinöse Umwandlung des
im Absterben begriffenen Syncytiums. An manchen Stellen kommt es zu einer
bydropischen Degeneration desselben. Es findet sich nämlich von sehr zahlreichen
grossen hellen Vacuolen seiner ganzen Dicke nach durchsetzt, wodurch es voll-
ständig die Beschaffenheit eines grossblasigen Schaumes erhält. Diese Veränderungen
der beiden Schichten des Chorionepithels bilden sich vornehmlich in der Nachbar-
schaft der Decidua serotinn. Die Verbindung der Zottenspitzen mit der Fibrin-
schichte der Decidua serotinn ist meist nicht eine unmittelbare, vielmehr wird
sie fast stets durch mehr oder minder mächtige, von den Enden der Haftzotten
ausgehende Zellwucherungen vermittelt. An diesen Zottenepithelwucherungen be-
theiligen sich beide Schichten, das Syncytium und die LANGHAXS’sehe Zellen-
schicht, doch scheint ersterer eine grössere Bedeutung zuzukommen. Diese Zell-
massen dringen in der ganzen Ausdehnung der Serotina von der Oberfläche
gegen die Tiefe vor und zerstören dieselbe in sehr bedeutendem und ausgedehntem
Masse. An vielen Stellen, dort, wo die Fibrinschichte, die gewissermassen einen
natürlichen Schutzwall gegen das Eindringen der epithelialen Massen bildet, zer-
stört ist, fehlt die ganze compacte und spongiöse Schichte der Decidua. Die
lockeren Zellmassen liegen direct an der Oberfläche der entblössten Muscularis,
dringen sogar in letztere ein, so dass man da thatsächlich von einer epithelialen
Uleeration der Serosa sprechen kann. Durch diese epithelialen Wucherungen
werden zahlreiche zu- und abführende Blutgefässe verlegt und andere tieferliegende
werden eröffnet , w-odurch es zu den bekannten Blutungen kommt. Sogenannte
Dieidualsepten fehlen gänzlich.
Was die Ursache der Blasenmolenbildung anbelangt, so ist es am wahr-
scheinlichsten, dass dort , wo es zu einer allgemeinen Molenbildung des ganzen
Eies kommt, das Ei ein schon primär pathologisches ist, ein schon im Ovarium
irgendwie verändertes, welches sich aber doch späterhin in einem gewissen Grade
entwickeln kanu. Die wichtigste dieser primären Veränderungen des Eies dürfte
wohl die sein , die dessen epithelialen Theil betrifft , wodurch vielleicht schon
frühzeitig eine hydropische Beschaffenheit des Chorionbindegewebes herbeigeführt
wird. Dabei ist es nicht ausgeschlossen, dass anderen Formen der Blasenmole,
namentlich den partiellen, auch andere Ursachen zu Grunde liegen. Für einen
späteren Eintritt dieses pathologischen Processes spricht namentlich die relativ
gute Entwicklung, die der Fötus erreichen kann. Geringe Grade von Blasenbildung,
wie man sie nicht so selten bei Aborten antrifft, können auch Folgen localer
Ernährungsstörungen nach Absterben der Frucht sein. Diese haben aber dann
eine andere anatomische und klinische Bedeutung, als Erkrankungen des ganzen
Eies oder der ganzen Placenta. Die epithelialen Elemente des Ektoderms (der
LAXGHANS’schen Zellensehichte) und des Syncytiums zeichnen sich schon früh
durch eine abnorme Wucherungsfähigkeit aus, durch die sie geradezu die Be-
deutung maligner Geschwulstelemente erhalten. In den bindegewebigen Theilen
des Chorions dagegen überwiegen die degenerativen Processe, die activen Wucherungs-
vorgänge.
Mit Sicherheit kann es ausgeschlossen werden, dass ein frühzeitiges Ab-
sterben der Frucht ein ätiologisches Moment zur Bildung einer Blasenmole ab-
27*
MOLENSCH W ANGERSCH AFT.
45SO
gicbt. Andererseits dagegen scheint es, dass Störungen von Seiten des mütter-
lichen Organismus nicht ohne Eintluss auf die Entstehung dieses Leidens sind.
Hierher zählt das relativ häufigere Vorkommen derselben bei älteren , dem
Klimakterium nahen Frauen und das wiederholte Auftreten derselben bei einer
und derselben Frau, und selbst wenn dieselbe von verschiedenen Männern gravid
wurde, das häufigere Vorkommen bei jungen chlorotischen Frauen, die lauge
an Leukorrhöen oder Menstruationsstörungen gelitten und bei an Nephritis
Leidenden. Auffallend ist ferner die nicht so seltene Complication mit Ovarial-
cysten. Andererseits dagegen hat eine früher dagewesene Endometritis mit der
Aetiologie der Blasenmole nichts zu thun. Das Gleiche gilt von der Syphilis.
Degeneriren die Chorionzotten sehr frühe (bevor noch eine l’laeeiitar-
bildung statthatte), so erkrankt die ganze Eioberfiäche und die Fruchtanlage
stirbt ab. Letztere zerfällt und findet man später weiter nichts mehr von ihr
oder höchstens nur ein Rudiment des N’abelstranges. Zuweilen stösst man auf
eine verkümmerte, geschrumpfte Fruchtanlage. Geht die Frucht ganz zu Gründe,
so befindet sich in der Mitte des Aftergebildes nur eine kleine mit Flüssigkeit
gefüllte Amnionhöhle. Tritt die Degeneration dagegen erst nach Bildung der Placenta
ein, so beschränkt sich die Blasenbildung zumeist nur auf die Plaeentarstelle.
Ausnahmsweise nur beobachtet man eine umschriebene Blasenmolenbildung
neben normaler Placeutarbildung. Dies ist dadurch bedingt, dass ein nicht atro-
phirtcr Zottenbaum des Chorion Bitz der Neubildung wurde. Einen solchen Fall
beschreibt WlNOORADOW. *») Zuweilen ist nicht die ganze Placenta, sondern nur
ein Theil derselben degenerirt, ein einzelner Cotyledo blos oder nur ein Ale
schnitt eines solchen. Unter solchen Umständen kann die Frucht zur normalen
Entwicklung gelangen und lebend geboren werden, doch ist dies die Ausnahme,
denn gewöhnlich wird sie unter solchen Verhältnissen nicht ausgetragen und
abgestorben ausgestossen. Sülche Fälle finden sieh in der Literatur nicht wenige
angeführt. Durchaus nicht selten findet man an abortiv ansgestossenen Eiern
Zeichen einer beginnenden Blasenmolenbildung. Die Blasenmole kann auch als
degenerirter Zwilling bei Gegenwart einer normal entwickelten Frucht Vorkommen.
Auch diese Fälle siud nicht selten. Die Blasenmolcnbildung kann weiterhin,
ebenso wie bei intrauterin gelagerter Frucht, auch bei Tubenschwangerschaft zti
Staude kommen. Solche Fälle thcilcn Otto3") und Marchaxd11) mit. Jakobsohx3*)
sah sogar eine tubare Zwillingsmolenschwangerschaft. Es sind schliesslich auch solche
Fälle bekannt, in denen gleichzeitig eine intrauterine und extrauterine Gravidität
bestand und beide Eier zu Blasenmolen degenerirt waren.
Ist das Ei zur Gänze in eine Blasentnole umgewaudelt, so ist der makro-
skopische Befund in der Regel folgender: Man hat einen Tumor vor sieh, der aus
einem Conglomcrat verschieden grosser, mit Flüssigkeit gefüllter Blasen, die
traubenartig aneinander gereiht sind, besteht. Je nach der vorgeschrittenen Neu-
bildung findet sich im Centrum dieses Blasenhaufens eine kleine oder grössere
centrale Hülle, die ein Frnchtrudiment enthält oder nicht. Die verschieden grossen
Blasen hängen durch Stiele mit einander zusammen. Die Blagen sind verschieden
gross, von Mohnkorn- bis Erbsen- und Bohnen- bis Kirschcngrösse. Unter Um-
ständen siud die Blasen bis zu Hühnereigrösse entwickelt (Fig. 87i. Das ganze
Gebilde kann nur weidge Gramm wiegen . aber auch das Gewicht mehrerer
Kilo erreichen.
Aus jüngster Zeit liegen keine Mittheilungen über eine chemische Unter-
suchung des Inhaltes der Blasen vor, aus früheren Jahren aber wohl, und zwar
die von Heller3*) und Gschkidlex 24). Uebercinstimmeud fanden beide Unter-
suelier, dass der Blaseninhalt eine chemische Achnliehkeit mit dem Fruchtwasser
besitze und namentlich viel Muciu enthalte. Je älter die Blasen sind, desto mehr
nimmt der Gehalt der Flüssigkeit an festen Stoffen, und zwar namentlich an
Eiweiss, zu, während sich die Menge des Mucins vermindert. Ausser dcu er-
wähnten Stoffen fand OsCHEiDLKN ziemlich viel Leucin.
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MOLEN SCHW ANti ERSCHAKT.
421
Partielle Degenerationen der Plaeenta, sowie eine beginnende Blasen-
molenbilduug an Abortiveiern sieht man nicht so selten. Seltener dagegen stösst
man auf eine ausgesprochene Blasenmole.
Im Beginne der Erkrankung fehlen Symptome oder sind sie so wenig
hervorstehend, dass sie übersehen werden. Nach Kkhrer's28) Zusammenstellungen
soll Schwächegcfühl, Schmerz im Unterlcibe und Ocdem der Unterextremitäten
häutiger Vorkommen als bei normaler Schwangerschaft, doch kann ich dies nach
meinen Erfahrungen nicht bestätigen. Späterhin wird das Allgemeinbefinden durch
den Abgang von Schleim, Blasen nnd namentlich durch intercurrirende Blutungen
alterirt. Der Uterus \ergrössert sich nicht entsprechend der Dauer der Schwanger-
schaft. Zuweilen bleibt er kleiner, nicht selten wird er grösser, als es der Dauer
der Schwangerschaft entspricht. Manchmal ist die Vergrössernng des Uterus eine
auffallend rapide. Charakteristische Symptome für die spätere Zeit sind Wehen
mit Abgang von Blasen und Schleim, so-
wie Blutungen. Letztere können heftig,
ja gefahrdrohend werden.
Der Verlauf der Blasenmolen-
schwangerschaft charakterisirt sich in der
Kegel dadurch, dass sieh lange vor dem
Graviditätsende , gewöhnlich vom 3. bis
4. Monate an, Wehen einstellen, die mit
einem Abgänge von schleimiger Flüssig-
keit nnd Blut verbunden sind. Nicht sel-
ten werden gleichzeitig einzelne Blasen
oder ganze Congloinerate solcher ausge-
stossen. Der Geburtsverlauf ist meist ein
langwieriger, schleppender, denn nur aus-
nahmsweise geht die Mole auf einmal
intoto ab. Gewöhnlich findet blos ein stück-
weiser Abgang derselben statt, wodurch
die Frau, namentlich infolge der beglei-
tenden Blutungen, stark herabkommen
kann. Ist die Mole auf einmal abge-
gangen, so ist das Leiden sofort behoben,
ln der Regel wird das Neugebilde im
3. — H. Monate ausgetrieben, doch sind
auch Fälle bekannt, in denen es t* — 10
Monate und sogar noch über das nor-
male Schwangerschaftsende hinaus im Uterus zurückgelialten wurde. Ist eine
Frucht da, so wird die Schwangerschaft gewöhnlich vor ihrem normalen Ende
unterbrochen. Zumeist wird zuerst die Frucht geboren und die Mole verbleibt
noch eine Zeit im Uterus. Seltener wird Frucht und Neugebilde gleichzeitig ge-
boren. Ausnahmsweise nur w’ird die Mole zuerst ausgestossen und später erst
die Frucht geboren. Einen solchen Fall sah Caspari. '2")
Die Diagnose ist im Krankheitsbeginne unmöglich. Vrrmuthcn kann
man eine Blasenmole dann , wenn die Ausdehnung des Uterus dem Graviditäts-
terminc nicht entspricht, der Uterus demnach kleiner oder grösser ist, als er sein
sollte. Wahrscheinlicher wird die Diagnose, wenn zwischen dem 3. und 4. Monate
Schleim und Blut unter Wehen abgeht, sicher aber erst dann, wenn man Blasen
abgehen sieht oder selbe durch den eröfl'neten Muttermund direc t fühlt. Schwierig
wird häufig die Bestimmung, ob mnn eine kleine abgestorbene Frucht oder eine
Mole vor sich hat. Verbleibt die Mole bis zum 5. oder 6. Monate im Uterus, so
wird die Diagnose dadurch wesentlich erleichtert, dass man sowohl mittels der
äosseren als mittels der inneren Untersuchung keine Fruchttheile findet und auch
keinen Fötalpuls vernimmt. Aus der weichen , mitunter fiuetnirenden Consistenz
Fig. *7.
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422
MOLENSCHWANGERSCHAFT.
des Uterus allein darf man keine diagnostischen Rackschlüsse ziehen , da leicht
Täuschungen unterlaufen können. Bei nur umschriebener Degeneration der
Placenta und gleichzeitiger Gegenwart einer normalen Frucht ist nur daun toq
einer Diagnose die Rede, wenn unter Wehen Blasen abgehen. Noch weniger ist
eine Diagnose zu stellen, wenn ein zu Grunde gegangenes Ei im Uterus ist oder
der Abort eines solchen im Zuge ist und dasselbe Zeichen einer beginnenden
Blasenmolenbildung an sich trägt.
Die Prognose wurde bis vor kurzem im Allgemeinen nicht ungünstig
gestellt. Die neuesten Forschungen haben diese Annahme aber stark erschüttert.
(Das Nähere darüber soll weiter unten besprochen werden.] Sie hängt, so weit
es die momentanen Verhältnisse anbelangt, von der Intensität und Häufigkeit der
sich wiederholenden Blutungen ab. Wesentlich gebessert wird sie durch ein recht-
zeitiges entsprechendes therapeutisches Eingreifen, andererseits aber ungünstiger,
wenn der Fall sich selbst überlassen bleibt. Die Blasen haften der Innenwand
des Uterus gewöhnlich so fest an, dass sie sich spontan nur schwer ablösen, die
Mole geht daher , sich selbst überlassen , häufig nicht in toto ab. Aus dem er-
wähnten totalen oder nur partiellen Abgänge des Neugebildes wird die Prognose
weiterhin durch die Grösse desselben , die Intensität und die Wiederholung der
Blutungen beeinflusst.
Die Therapie muss, wenn einmal die Diagnose gestellt ist, dahin ge-
richtet sein , das Gebilde aus dem Uterus zu entfernen oder die bereits vor-
handenen Austreibungsbestrebungen des Uterus zu unterstützen. Bei starker
Blutung tamponire man , bei sich eröffnendem Muttermunde gebe man Ergotin
per os oder subcutan. Eventuell versuche man das Uteruscontentum zu exprimiren.
Verzögert sich die Eröffnung der Cervix , so kann man sie durch Einlegung
eines Pressschwammes oder Quellstiftes, aber selbstverständlich unter den ent-
sprechenden antiseptischen Cautelen, befördern. Der Quellstift stillt nicht nur die
Blutung, sondern regt gleichzeitig auch die Wehenthätigkeit an. Bei nachgiebiger,
weicher Cervix kann man selbe auch mittels Dilatatorien brüsk so weit dila-
tiren , bis man mit ein oder zwei Fingern in den Uterus einzugehen vermag,
um die Mole manuell zu entfernen. Bei eröffnetem Muttermund ist das gleiche
Vorgehen angezeigt. Löst man die Neubildung von der Uteruswand mit dem
Finger ab, so muss dies vorsichtig geschehen . da eventuell auch eine destrui-
rende Mole vorhanden sein und man hei Anwendung auch von nur wenig Ge-
walt die Uteruswand perforiren kann. Aus dem Grunde ist die Verwendung der
Cürette nicht anzticmpfehlen. Atthii. !7) empfiehlt, zur Beförderung der Aus-
stossung des Aftergebildes bei eröffneter Cervix Heisswasserinjectionen in die
Uterushöhle vorzunehmen.
Ist man mit der Diagnose im Zweifel und stellen sich Blutungen mit
Wehen ein, so verhalte mau sich , bei gleichzeitiger Bemühung, die Blutung zu
stillen , exspectativ. Man ordne Bettruhe an , lasse eiskalte Iujectionen in die
Vagina, eventuell auch in den Uterus machen und tamponire im Falle der Noth.
Oben wurde erwähnt, dass die Prognose der Blasenmole bis vor Kurzem
im Allgemeinen nicht ungünstig gestellt wurde. Diese Annahme wurde nur inso-
weit beschränkt, als sieh die Blasenmole nicht in eine destruirende solche (von
der noch weiter unten gesprochen werden soll) nmwandle. In den ersten Jahren
dieses Decenniums wurde die Entdeckung gemacht , dass sich Aborten ebenso
wie normalen Geburten unter Umständen büchst bösartige Neubildungen an-
Bchliessen können , die dem Leben der Kranken in unverhältnissmässig kurzer
Zeit ein Ende bereiten. Es sind dies die sogenannten „malignen Deciduome11,
epitheliale, von dem Epithel der Chorionzotten ausgehende Wucherungen, die in
die Serotina wuchern und dieselbe nicht blos zerstören, sondern gleichzeitig
binnen Kurzem ebenso bösartige Metastasen in verschiedenen Organen, uud zwar
mit Vorliebe in den Lungen, setzen. Weiterhin zeigt es sieh, dass sich diese
malignen Deciduome mit Vorliebe an bestandene Blasenmolen anschliessen. Sicht
MOLENSCHWANGERSCHAFT.
423
man von dem aus dem 18. Jahrhundert herrUhrenden Falle von Meckel-
Gregorini **), den Marchand 20) auch hierher zählt, ab und ebenso von den
Fällen von Gcttenplax 10) und H. Meyer11) aus den Jahren 1883 und 1888,
die ihrer Zeit noch nicht ihre richtige Erkenntnis« und Deutung fanden, so er-
giebt sich, dass sich das maligne Deeiduom durchaus nicht selten an eine frühere
Blasenmole anschliesst , denn seit dem Jahre 1890 bis zu Beginn des Jahres
1896 liegen einschlägige Mittheilungen Uber 14 solche Fälle vor. Publicirt
wurden dieselben von Pfeifer 51), Kaltenbach-Kümmel s1), P. Müller **), Pesta-
lozza11), Loehlf.in14), Nove-Josserand u. Lacroix17), Persko-I,. Frankel19),
Klikx1»), Menge40) (2 Fälle), Tannen41), Bacon4*), Schacta 41) u. Apfel-
STEDT. “) Marchand44) erklärt diesen auffallend häufigen Zusammenhang dieser
malignen Neubildung mit Blasenmolenschwangerschaft daraus, dass bei letzterer
diejenigen Wucherungsvorgänge , die die Veranlassung zur Geschwulstbildung
geben können , in viel höherem Grade entwickelt sind als bei der normalen
Gravidität.
Das klinische Krankenbild , das sich in solchen Fällen entrollt, ist, in
kurzen Zügen dargestellt , folgendes. Nach Geburt oder Ausräumung der Mole
erholen sieh die Kranken nicht. Es halten unregelmässige Blutungen an und
gleichzeitig leidet das Allgemeinbefinden. Wenige Wochen später erscheint der
Uterus vergriissert und bei Eröffnung seines Canales kann man einen verschieden
grossen , in die Uterushöhle hervorragenden , leicht blutenden weichen Tumor
nachweisen, der sich wohl leicht entfernen lässt, doch erscheint seine Haftstelle
so wenig widerstandsfähig und brüchig, dass man mit dem Finger oder Cürctte
tief in die Uteruswandung hinein gelangen kann. Trotz der Excochleation lassen
die Blutungen nur wenig oder nicht nach, bald kommt es bei blutig-wässerigem
Ausflüsse unter Fieber und Husten zu einer nicht genau nachweisbaren Lungen-
affection. Nicht selten bildet sich ein metastatischer weicher Tumor in der Vagina.
Bald darauf geht die Kranke unter schweren Lungenerscheinungen oder unter
Erscheinungen der Sepsis zu Grunde. Gar häufig verfliessen zwischen der Molen-
geburt und dem Tode nur 4 — 5 Monate, selten blos erlebt die Kranke nach der
Molengeburt noch ein weiteres Jahr.
Selbstverständlich liegt der Gedanke nahe, sobald aus den aus dem
Uterus ausgeräumten Massen die Diagnose eines malignen Tumors gestellt werden
kann, sofort die Uterusexstirpation vorzunehmeu, um die Kranke am Leben zu
erhalten. Dieser operative Eingriff wurde auch in den Fällen von Loehleix,
Nove-Josserand n. Lacroix, Menge, Tannen und Schaüta vorgenommen, aber
trotzdem gingen die Frauen an wieder auftretenden Recidiven in den ersten 4
dieser erwähnten 6 Fälle bald zu Grunde und ist dieser Ausgang auch in den
2 letzterwähnten Fällen zu erwarten, da zur Zeit der l'ublieation derselben erst
3 und 5 Monate nach dem operativen Eingriffe verflossen waren. Apfelstedt
steht nicht an , diese Neubildung als die bösartigste anzusehen , die überhaupt
existirt, und sich dahin auszusprechen , dass hier jeder operative Eingriff über-
flüssig sei, denu sobald die Neubildung einmal da sei , sei es überhaupt schon
zu spät zum Operiren.
Nach der Auffassung Marchand’s ist die Blasenmole als solche noch
nicht als eine maligne Erkrankung aufzufassen, sondern nur insofern als eine
bedenkliche Affeetion anzusehen, als durch dieselbe leicht eine nachträgliche er-
höhte Neigung zur Bildung und Entwicklung einer malignen epithelialen Neu-
bildung erweckt wird. Apfelstedt aber beobachtete einen Fall, der den Beweis
liefert, dass die Blasenmole unter Umständen bereits an sich eine maligne Er-
kranknng darstellen und als solche schon Metastasen, die ihr vollständig gleichen,
setzen kann. In dem von ihm beobachteten Falle, in dem eine 42jährige Frau
eine Blaseumole geboren, bildete sich schon in der Gravidität ein Tumor im
linken Labiu» majus. 3 Monate nach Geburt der Blasenmole wurde der inzwischen
grösser gewordene Tumor eröffnet und entpuppte sich derselbe als eine kleine
424 MOLENSCHWAXGERSCHAFT.
im paravaginalen Bindegewebe gelagerte Blasenmole. Dieselbe präsentirte sich als
eine Traube von etwa 20 Stecknadelkopf- bis kirschkerngrossen Bläschen. 5 Wochen
später starb die Kranke unter pyämischen Erscheinungen und fanden sich bei
der Secfion ausser dem primären Sitze der Erkrankung im l'terus und der er-
wähnten Metastase noch andere weitere in den Lungen, sowie in der Milz.
Bis vor Kurzem noch wurde die sogenannte destruirende Blasen-
mole als ein Krankheitsprocess aufgefasst, bei dem die Verbindung zwischen
den degenerirten Chorionzotten und der Uteruswand nicht in der Decidua statt-
linde, sondern bei dem die Zotten in die sinuösen Bluträume hineinwuchern und
dadurch das Uterusgewebe durch Druck zum Schwund bringen, so dass sie bis
unter den Peritonealüberzug Vordringen. Dadurch werde die Ausstossung des
Neugebildes erschwert oder ganz unmöglich gemacht. Diese destruirende Molen-
bildung sei nur auf die Placentarstelle beschränkt, oder erstrecke sie sich Uber die
ganze Eioberfläche. Mabchaxd **) vermuthet, es handle sich nm ähnliche Ver-
hältnisse wie bei der nicht destruirenden Blasenmole und dass die Zerstörungen
auch hier durch epitheliale Wucherungen bedingt seien. Abweichend ist jeden-
falls hier das allseitige destruirende Hineinwuchern der Blaseuzotten in die Ge-
fässe und tief in die Muscularis hinein, ja sogar ein Wuchern der Zotten durch
die ganze Muscularis und das Perimetrium. Zum Glücke ist die destruirende
Blasenmole eine nur selten zu beobachtende Erkrankung. In der Literatur sind
blos die einschlägigen Fälle von Moth 47), Nkvebmaxx 4#), Wiltox 4a), Volkmann 80|,
WaldEYER-Jakotzky 61) - Schaffraxek 62), Lori) tJ) und Krieoer 64) verzeichnet.
Die Prognose der destruirenden Blasenmole ist eine ungünstige , da der Tod
durch Blutungen, Peritonitis oder Ruptur des Uterus eintreten kann. Ruptur des
Uterus ist bei Gegenwart der Uteruswand sehr zu fürchten , namentlich bei
Versuchen, die Mole manuell zu entfernen. Zu diagnosticiren ist die destruirende
Blasen mole nicht.
Bresi.au 88) und Ebkrth 6#) beschreiben einen Fall, in dem das embryo-
nale Bindegewebe der Allantois (das die gesammte Eiperipherie zwischen dem
serösen Blatte — dem Exochorion — und Amnion umzieht) Sitz einer mvxoma-
tösen Hyperplasie war. Bei normaler Placenta fand sieh in der ganzen Peri-
pherie des Eies zwischen Exochorion und Amnion eine 4 — 5 Mm. dicke Schichte
von der Beschatfenheit der Nabelstrangsulze. Es war demnach angeblich nur die
an der Peripherie des Eies herumgewucherte Schichte des dem Chorion ange-
hörenden Bindegewebes entartet , wobei die Chorionzotten atrophisch waren.
Breslau und Ebertii bezeichneten dieses pathologische Verhalten als Myxomn
d iffxsu m.
Späth und WEDL 87j beobachteten einen Fall , in dem ohne Alteration
der Cborionzotten der unter dem placentaren Theile des Amnion befindliche Rest
der Allantois hyperplastisch war. Nahe der Insertion des dicken Nabelstrangcs
lag unter den Häuten ein 1 Mm. dickes Stratum jungen salzigen Bindewebes,
das sich gegen den Rand der Placenta hin fortsetzte. Aehnliches erwähnt auch
Rokitansky.68)
Als J lyxotnn fibrosum placentae bezeichnet VlRCHOW *•) jenen
pathologischen Vorgang, bei dem die homogenere dünnschleimigc Interccllular-
substanz seines Myxomes der Chorionzotten reicher an faserigen Bestandtheilen
ist, wodurch das Gewebe ein mehr bindegewebiges Aussehen annimmt, ein Ver-
halten, wie es die peripheren Schichten des Nabelstranges zeigen. In dem von
ihm mitgetheilten Falle fand sich bei gesunder Frucht zwischen den normalen
Cotyledonen der Placenta ein degenerirter. Auf dicken, derben, taubeueigrossen
Knoten , den Hauptstämmen der Zotten, sassen als secundäre und tertiäre Aus-
läufer haselnass- und hanfkorngrosse Knötchen. Storch °°) weicht auf Grund
einiger untersuchter Fälle von dieser Deutung ab, indem er eine zeitige Hyper-
plasie dis von der Allantois stammenden sehleimgewebigeu Grundstockes der
Zellen annimmt. Hii.debraxdt •>) macht, gestützt auf die Beobachtung eines
Google
MOLENSCH WAXGERSCHA FT.
425
Falles , diese Entartung abhängig von einer in der abführenden Vene des er-
krankten Cotyledo naehgewiesenen Stauung. Sinclair"2) sah einen Fall, in dem
die ganze Placenta in dieser Weise entartet gewesen sein soll. Von SteixbCchel •*)
werden in jüngster Zeit ebenfalls zwei einschlägige Fälle mitgetheilt.
Blut- oder Fleischmole. Der Tod der Fruchtanlage (vergl. den Art.
Absterben des Fötus) wird häutig durch Erkrankungen und Anomalien der-
selben, sowie ihrer Anhänge veranlasst. Zu diesen zählen namentlich Hämor-
hagien der Decidua , die durch verschiedenste Fmstünde bedingt sein können.
Der Blnterguss wird durch Uteruscontractionen (erzeugt durch verschiedenartige
Momente), Congestivzustände , Allgemeinerkranknngen (namentlich die Cholera),
Erkrankungen der Decidua, Traumen u. dergl. m. hervorgerufen. Dem Blutergusse
folgen Wehen und letztere steigern die Hämorrhagit* noch mehr. Gewöhnlich wird
durch diese Blutung die Schwangerschaft vorzeitig unterbrochen (vergl. dou Art.
Abortus). Drei Momente sind es, die bei diesen Blutergüssen namentlich in
Betracht kommen, und zwar die Intensität der Blutung, der Ort derselben und
das Alter der Fruchtanlage. Im Beginn einer Schwangerschaft ist einer kleinen
Fruchtanlagc ein geringerer Bluterguss weit gefährlicher als ein grösseres Extra-
vasat einer in der Entwicklung bereits vorgeschritteneren Frucht. Ein Bluterguss
in die Decidua serotina ist bedeutungsvoller als ein solcher in die Vera und letz-
terer wieder bedenklicher als ein Extravasat in die Reflex«. Gewöhnlich wird
die Decidua vera zertrümmert. Sie zerreisst in Fetzeu , die an ihrer äusseren
Seite mit Blutcoagulis besetzt sind und ein unebenes, dickzottiges Aussehen er-
halten. Wurde das Ei nicht zertrümmert, so wird es mindest comprimirt. Häutig
sind diese Blutungen mit solchen in die Decidua serotina vergesellschaftet. Die
Serotina erscheint verdickt, vorgetrieben. Zwischen den Chorionzotten liegen
grosse Blutergüsse , durch die das Ei an dieser Stelle abgehoben wird. Bei
starken Blutergüssen wird auch die, Retiexa zertrümmmert. Die Apoplexien in
die Retiexa sind namentlich zu der Zeit bedenklich , in der dieselbe noch die
Ernährung des Eies zu besorgen hat. Bei noch stürmischeren Blutergüssen wird
das Chorion oder gar dieses mit dem Amnion zerrissen und das Blut ergiesst
sich in das Innere des Eies, so dass nicht blos letzteres, sondern auch die
Fruchtanlage direct zertrümmert wird. Der Fötus kann abgeheu und die Neben-
theile verbleiben im Uterus. Bleibt das Ei als solches intact, so geht die Frucht-
anlage gewöhnlich zu Grunde, entweder infolge des auf sie wirkenden Druckes
oder wegen der gestörten aufgehobenen Weiterernährung. Der Embryo macerirt
in seinen Fruchtwässern , zerfällt und kann so resorbirt werden , dass man von
ihm nichts weiter als ein Stück Nabelstrang findet. Dies geschieht nicht so gelten,
ln anderen Fällen bleibt er relativ gut erhalten. Fand die Apoplexie später, vom
3. Monate an , statt , so stosst man meist auf Reste der Placenta. Reste des
Chorion und der Decidua lassen sich in einem derartigen Abortivei gewöhnlich
noch nachweisen.
Bei einem solchen Abortivei können die Chorionzotten selbst nach zu-
grunde gegangener Fruchtanlage und vernichteter Decidua vera noch weiter
wuchern. Das Ei wächst trotzdem weiter und verbleibt noch verschieden lange
Zeit im Uterus. Dies kann sowohl vor als selbst nach Bildung der Placenta
geschehen. Dadurch erklärt cs sich, dass derartige degenerirte Eier noch 5 big
6 Monate und noch länger im Uterus verweilen können. Dass solche Abortiveier
zuweilen den Beginn eiuer Blascnmolenbildung zeigen, wurde bereits oben erwähnt.
Die Blutergüsse eines solchen Abortiveies machen die bekannten Meta-
morphosen durch. Sie werden lichter, fester und härter, es lagern sich in ihnen
Kalksalze ab u. dergl. m. Meist erreichen diese Gebilde nur die Grösse einer
Orange, doch können sie auch weit Uber kindskopfgross und bis 1 Kilo schwer
worden. Diese Abortiveier führen den Namen Fleisch- oder Blutmolen, je
nachdem die hämorrhagischen Ergüsse bereits metamorphosirt sind und ein fleisch-
artiges Aussehen erhalten haben oder noch frisch sind.
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MOLENSCHWANGERSCHAFT.
426
Literatur: ’) Hippokrates, Uebersetzung von Grimm-Lilienhain. Glog«
1837 — 38. — *) Aristoteles, De gentrat. animant. Lib. 4. Cap. 7. — 3) Galena*./)f
utfu pari, Lib. 14, Cap. 7. — 4) Aetius. Tetrabibiion. IV, Serm. IV, c. 79. — S1 Schenck
von Grafenberg. Observ. med rar. Francof. 1665, Lib. IV. — *) Tulpina, Obsenr. med.
Amatel. 1652. pag. 246. — *) Ruysch, Advers. anat. prim., pag. 7 und Thea. anal. VI.
Nr. 130- — ®) Haller, Opusc. path. Laus. 1768. pag. 130 — 9) Morgagni, Von Jom
Sitze und den Ursachen der Krankheiten etc. Uebersetzt von Königsdörfer. Altenbarg
1771, XLVIII. Brief 9, 10. — *°) Götze, Versuch einer Naturgeschichte der Eingeweide
würmer etc. Blankenburg 1782, pag. 196. — tl) Bremser, Ueber lebende Würmer etc.
Wien 1819, pag. 253. — l3) Velpeau, Revue med. September 1827, pag. 508. — u)Joh
Müller, Archiv. 1843, pag. 441. — M) Gierse und Meckel, Verhandl. d. Gesellsch. f.
Geburtsh. in Berlin. 1847, pag. 126. — 16 ) H. Müller, Abhandl. über den Bau der Molen.
Würzburg 1847. — 16) Met tenheimer, Müller's Archiv. 1850, IX und X, pag. 41" —
171 Virchow, Die krankhaften Geschwülste. Berlin 1863, I, pag. 4G5. — 19) Marchand,
Ueber den Bau der Blasenmole. Zeitsehr. f. Geburtsh. u. Gyn. 1895, XXXII, pag. 404 u. Berliner
klin. Wochenschr. 1895, Nr. 42. In der erstgenannten dieser beiden Arbeiten ist auch die
einschlägige Literatur ausgeführt. — 1#) Winogradow, Vlrchow'g Archiv. LI, pag. 146.—
3^) Otto, Ueber Tubarschwangerschaft. Dissert. inaug. Greifswald 1871. — 3l) Marchand.
Monatschr. f. Geburtsh. u. Gyn. 1895, I, pag. 419 u. 513. — 3*) .1 a kobsohn , Neue Zeitachr.
f. Geburtsh. 1834. II. — 33) Heller, Arch. f. physiol. u. path. Chemie und Mikroskope.
1847, pag. 312. — ’*) Gscheidlen. Arch. f. Gyn. 1874, VI, pag. 292. — 3i) Kehrer,
Uel»er Traubenmolen. Arch. f. Gyn. 1894, XLV. pag. 478. — *•) Ca »pari, Deutsche med.
Wochenschr. 1878; Med.-chir. Rundschau 1878, pag- 368 — a:) Atthil, Brit. med. Journ.
9. März 1878; Centralbl. f. Gyn. 1878. pag. 237- — *9) Meckel-Gregorin i. De hydrop
uieri et de hydatidibus in utero risis aut et eo exclumi». Dissert. inaug. Halae 1795. —
3ft) Marchand, Ueber die sogenannten decidualen Geschwülste etc. Monatssclir. f. Gebartsb
u. Gyn. 1895. I, pag. 419 u. 513. — *•) Guttenplan, Ein Fall von hämorrhagischem
Sarkom des Uterus und der Vagina mit Metastasen in den Lungen. Dispert, inaug. Strasburg
1883- — 3I) H. Meyer, Ein Fall von zerstörender Wucherung zurückgebliebener myxomit
Chori*.nzotten. Arch. f. Gyn. 1880, XXXIII, pag. 53. — 3!) Pfeifer, Ueber eine eigenartige
Geschwulstform des Uterusfundus etc. Prager med. Wochenschr. 1890, Nr. 26 — J3i Kalten-
bach-Rummel, Erfahrungen über Uterussarkome Verhandl. d. internat. med. Congres^es.
Berlin 1890, III, 8. Abth.f pag. 7 1 und Ueber Myxo ma chorii. Dissert. inaug. Halle 1891 —
a4) P. Müller, Verhandl. d. IV. Gyn.-Con grosses. Leipzig 1893, pag. 341. — *5) Pest*-
1 ozza. Contributo allo studto dei sarcomi deü' utero. II Morgagni. September 1891, 1. Nr. 9- —
34) Loehlein, Soreoma deciduo-cellulare nach vorausgegangenem Myxom a chorii. Central-
blatt f. Gyn. 1893, pag. 297 und 1894, pag. 484. — 3 ) No v6- Joss^ra nd et Lacroii,
Sur le deciduoma malin. Anoal. de Gyn. et d’Obstetr. XL, April 1894. — ■’*)Persko
u. L. Frankel, Ein Fall von Soreoma deciduo-cellulare. Dissert. inaug. Greifswald 1894 D**
von dem Epithel der Chorionzotten ausgehende Carcinom des Uterus nach Blasenmole. Arch.
f. Gyn. XLVIII, 1895, pag. 81) und Die Histiologie der Blasenmolen und ihre Beziehungen
zu den malignen von den Chorionzotten ausgehenden Uterustumoren. Arch. f. Gyn. XL1X.
1895, pag 181. — *•) Klien, Ein Fall von Deciduo-sarcoma uteri giganto-cellulare. Arch.
f. Gyn. LXVII, 1894. pag. 243. — 40) Menge, Centralbl. f. Gyn. 1894. pag. 264 und Ueber
Deciduosarcoma uttri. Zeitsehr. f. Geburtsh. u. Gyn. 1894, XXX, pag. 323. 41) Tannen.
Ein Fall von Sarcoma uteri deciduo-cellulare. Arch. f. Gyn. 1895. XLIX, pag. 94 —
43) Bacon, A ca*e of deciduoma malignum. The Amer. Journ. of Obste tr. 1895. XXXI,
pag. 679. — 4,)Scbauta, Ein Fall von Sarcoma deciduo-cellulare. Centralbl. f. Gyn. l."*95,
pag .*48. — 44) Apfels tedt, Ueber bösartige Tumoren der Cliorionzotten. Arch. f. Gyn
1896, L, pag. 511. — 4S) Marchand, Ueber die sogenannten decidualen Geschwüre etc
Monatschr. f. Geburtsh. u. Gyn. 1895, I, pag. 525. — 4*) Marchand, Ueber den B*u der
Blaaenmole. Zeitsehr. f. Gyn. u. Geburtsh. 1895, XXXII, pag. 460. — 4T) Moth. Mad. Boi-
vin. Neue Nachforschungen über die Blasenmole. Weimar 1?*28, pag. 70. — 4B) Neverniann,
Vollständige Geschichte der Durchlöcherung und Zerreissung des Uterus. Von Dnpacque,
bearbeitet von Nevermann. 1838, pag. 44. — 4*)Wilton, ffydatids, terminating fatollf
by haemorrhage. Lancet. 1840, XXXVII, pag. 691. — 4i) Volk mann. Fall von inter-
stitieller destruirender Molenbildung. Virchow’s Archiv. 1867, LXI, pag. 528. — 31) Wald-
eyer und Jarotzky, Traubenmole in Verbindung mit dem Uterus etc. Virchow’s Archiv.
1868, XLIV, pag. 88. — >Ä) Schaffraneck , Beobachtung einer Traubenmole etc. Dissert.
inaug. Breslau 1868- — I31 Lord, Case of hydatigcnwiut degeneration of the ocum. Edin-
burgh med. Journ. Januar 1868. — !4) Krieger. Fall von interstitieller destruirender Molen-
bildung. Beiträge zur Geburtsh. n. Gyn. 1872. I. — M) Breslau, Wiener med Presse 1867,
I. — :8) Eberth, Virchow's Archiv. XXXIX, Heft 1. — :7)Späth und Wadi, ZelUcbr.
der Gesellsch. d. Wiener Aerzte. 1851, pag. 822. — 58) Rokitansky. Lehrbuch d. path.
Anat. Wien 1861, 3. Aufl., III, pag. 546. — **) Virchow, Die krankhaften Geschwülste.
Berlin 1^63, I, pag. 415. — t,J) Storch, Nord. med. Ark. 1876, VIII; Centralbl. f Gyn.
1877. pag. 206 und Vir cho w's Archiv. LXXII, pag 582. — 4I) Hildebrandt. Monatssehr.
f. Geburtsh. u. Frauenkh. 1868, XXXI, pag. 346 — 6S) Sinclair, Boston Gyn. Journ. V,
pag. 338. — *8) v. Steinbüchel, Zwei Falle von sogenanntem Myxoma ßbroeum placentae.
MOLENSCHWANGERSCHAFT. — MORPHIUMKRANKHEIT.
427
Centralbl. f. Gyn. 1S92, pag. 465. Vergl. ausserdem noch John Hodgen, Fibro-myxoma
of the Placentn. Brit. med. Journ. 1879 und C. Breus. Ueber das Myxoma ßbroaum der
Placenta. Wiener med. Wochenschr. 1880, Nr. 40. Kleinwächter.
Monol. Mit diesem Natnen bezeichnet Bokdas das von ihm als Anti-
septicum vorgeschlagene Calcium hgpennanganicum, das durch seine bedeutende
Oxydationskraft eine zerstörende Wirkung auf Mikroorganismen austiheu soll
beim Fehlen jeder toxischen und kaustischen Nebenwirkung. Es soll (nach
Fkrki im Verhältnisse von 0,04 : 1000 als Präventivmittel zu Waschungen u. s. w.
Anwendung linden und sich insbesondere in der gynäkologischen Praxis als dem
Sublimat gleichwertig bewährt haben.
Morphiumkrankheit Wir fassen unter dieser Bezeichnung alle die-
jenigen Zufälle zusammen , die durch den längeren Gebrauch von Morphium,
gleichviel ob dies subcutan oder innerlich oder an irgend einer anderen Körperstelle
applicirt wurde, hervorgerufen werden. Die Bezeichnung umfasst auch die auf
längeren Gebrauch von Opium (Opiophagie, Opiumraucheni folgenden Störungen,
die, von geringen Abweichungen abgesehen, ganz nach Art der durch Morphium-
einspritzung herbeigcftlhrten verlaufen und in der That von dem im Opium ent-
haltenen Morphin abhängig sind, insoweit solche Oberhaupt, was bekanntlich für
die Inanitionssymptome nicht der Fall ist, directe Vergiftnngssymptome sind. Der
Name ist dem von C’UOTHERS') und anderen amerikanischen Schriftstellern be-
nutzten Opiuinkraukheit (Opium disease) jedenfalls vorznziehen, da nicht das
als Opinm bekannte Gemenge diverser Stoffe, sondern nur das in ihm enthaltene
Morphin den eigentlichen Symptomencomplex hervorruft, der allerdings, mit Ein-
schluss des Morphiumhungers und der euphorischen Wirkung des Morphins bei
Entziehung oder Beschränkung der Dosis, längst bei Opiophagen bekannt ist und
schon im Anfänge dieses Jahrhunderts von dem englischen Essayisten DE QriXCKY
nach Erfahrungen am eigenen Körper in seinem noch 1886 in’s Deutsche über-
tragenen Buche Confessions of an Opium eater (London 1821) detaillirt be-
schrieben wurde. Die Bezeichnung Morphiumkrankheit ist bestimmt dem von Levin-
steix eingeführten Namen „Morphiumsucht“, die nur ein, wenn auch sehr her-
vorragendes Symptom zur Basis hat, und dem in Frankreich üblichen „Morphio-
mauie“, der füglich auf die mit maniakalischer Aufregung verlaufende Psychose
infolge von Morphin- oder Opiummissbrauch zu beschränken ist , vorzuziehen.
Der mehrfach gebrauchte Name „chronischer Morphinismus“ oder „chro-
nische Opiumvergiftung“ ist deshalb weniger gut, weil, wie bereits oben
bemerkt, manche wesentliche Erscheinungen gar keine directen Giftwirknngen sind.
Für Abtrennung der Opiumkrankheit von der Morphinkrankheit, wie dies neuer-
dings bei Monographen der durch Morphinspritzen hervorgerufenen Affection ge-
bräuchlich ist, liegt kein triftiger Grund vor.
Es ist sehr bedauerlich , eingestehen zu müssen , dass die Morphium-
krankheit infolge von Subcutaninjection, ungeachtet der prophylaktischen Mass-
regeln, die man in vielen Staaten dagegen, insbesondere durch Verordnungen Uber
die Reiteratnr von Morphinrecepten, getroffen hat, im Laufe des letzten Decenniums
bestimmt keine erhebliche Abnahme erfahren hat. Sie hat sogar in den letzten
Jahren ein Gebiet annectirt, von dem man kaum ahnen konnte, dass es jemals
die Stätte der habituellen Morphiuinjectionen werden würde, nämlich China, wo
seit Anfang 1893 die Morphiuinjectionen in Wettbewerb mit dem Opiumrauchen
getreten sind. Das Austreiben des Teufels durch Beelzebub, dort des Opium-
rauchens mit Morphiuinjectionen, hat leider einen englischen Arzt zum Urheber,
der Uber die unheilvollen Folgen eines solchen Verfahrens, wie sie sich bei uns
bei dem Ersätze des Morphins durch Cocain in so eelatanter Weise gezeigt haben,
sich keine Vorstelluug gemacht hat. Indem dieser Arzt bei einem dem Opiumrauchen
ergebenen Chinesen in Hongkong diese Gewohnheit durch die Morphinspritze be-
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MORPHIUMKRANKHEIT.
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seitigte, den Patienten aber zum leidenschaftlichen Enthusiasten für die Morphium-
injectionen machte, legte er den Grund zur Entwicklung eines höchst gefähr-
lichen Industriezweiges, der in Hongkong und Canton eingerichteten Morphin-
boutiken, von denen es 1894 in Hongkong bereits mehr als zwanzig gab, in
welchen Morphiuminjectionen zu 5 Pfennigen das Sttlck verabreicht wurden.
Das Morphin wird theils aus Bombay, thcils aus Europa in 2 Unzen-Gläsern
eingeführt, welche als „Gift für die Behandlung der Opiumraucher“ signirt sind.
Schon 1894 wurden 18 Kilo Morphin in dieser Weise eingeführt, wovon die
Hälfte in Canton, der dritte Theil in Hongkong verbraucht wird , während der
Rest in anderen Thcilen von China Abnehmer findet.5)
Die Ersetzung des Opiumrauchens durch Morpbininjectionen ist eine Un-
geheuerlichkeit, wie sie kaum grösser gedacht werden kann, da laut der Über-
einstimmenden Aussprüche englischer und französischer Aerzte der Neuzeit, denen
die Gelegenheit zu Theil geworden ist , die Einwirkung des habituellen Opiura-
rauchens auf die ostasiatische Bevölkerung kennen zu lernen, das Opiumrauchen
weit weniger Gefahren mit sich führt. In einer von der englischen Regierung
veranstalteten Enquete Uber die Krage, inwieweit das Opiumrauchen die physische
Gesundheit oder die Moral der Bevölkerung in Indien schädige, haben sich die
bedeutendsten Aerzte und Chirurgen dafür erklärt, dass von irgendwelcher erhelr
lichen Schädigung der einheimischen Bevölkerung in beiden Richtungen nicht die
Rede sei und dass namentlich ein Vergleich der Schädigungen durch Opium in
Indien mit den durch Alkohol in Europa veranlassten durchaus nicht statthaft
sei. Die von einzelnen Seiten angeregte Aufhebung, bezw. Untersagung des Opium-
rauchens in Indien hat daher durchaus keine Aussicht auf Verwirklichung, zumal da
diese Massrcgel nach dem Urtheilc von verschiedenen indischen Behörden unfehlbar
eine Rebellion nach sich ziehen würde.*) Der Xichtcintluss auf Gesundheit und
Moral erklärt sich übrigens daraus, dass die Indier im Allgemeinen nur sehr
mässige Quantitäten Opium zu sich nehmen*), während allerdings exeessives
Opiumrauchen, wie solches von Europäern in Ostasien nicht selten betrieben wird,
nicht allein zu acuten Vergiftungen, sondern auch zu einem der Morphiuinsueht
ähnlichen Krankheitsbilde führen kann.*) Auch bei mässigem Opiumgennsse können
übrigens beim Sistiren des Opiums Inanitionserscheinungen eintreten, die sich als
Steigerung der Sensibilität und Unruhe documentiren. Die dem habituellen Opium-
genusse zugeschriebene Herabsetzung des Geschlechtstricbes und der Zeugungs-
kraft wird nur bei grösseren Opiumquantitäteu beobachtet.'“)
Es ist selbstverständlich, dass bei der Bemessuug der Schädlichkeit des
Opiumrauchens nicht allein das Quantum der gerauchten Pfeifen, sondern auch
die Qualität des Rauchmaterials von Bedeutung ist. Man gebraucht keineswegs in
allen Thcilen von Ostasien dasselbe Opium oder richtiger aus dem nämlichen
Opium dargcstelltes Extract zum Rauchen, das allgemein mit dem Kamen Chanda
(Tjandoe der Holländer), in den französischen Colonien als Opium curt be-
zeichnet wird. Wird das bengalische Opium für sich angewendet, so kommt
bestimmt nur eine geringe Menge Morphin in dem Rauche zur Wirkung; denn
das bengalische Opium enthält reichlich Xarkotin , aber weit weniger Morphin
als Opium der Levante. Das Znsammenvemrbeiten von */, bengalischen und
*/j levantischen Opiums, wie es in den holländischen Colonien geschieht, zum
Chandu giebt ein weit intensiver giftiges Product als das aus indischem Opium
bereitete. Nach den neuesten Untersuchungen von STOKDElt’) besteht das benga-
lische Opium aus einer aus mit Opiumsaft verklebten Mohnblüthen gebildeten Kruste
und einer schwarzen, glänzenden, teigartigen Innenmasse, und das durch Aus-
kochen mit Wasser, Colireu und Eindampfen gewonnene Chandu enthält, wenn
es aus der Kruste bereitet wird, nur 5,9" „ Morphin nud 2,9“ „ Xarkotin. da-
gegen aus dem Teige bereitet 10,2% Morphin und 2,9° 0 Xarkotin. Wird
levnntisches Opium benutzt, so resultirt ein Product von 20° Morphin und
5% Xarkotin. In der Praxis kommen indess mannigfache Abweichungen der
MOR l'HI IM KRANKHEIT.
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Qualität vor, wie (He Resultate von Stoeder’s Analysen bekunden, die in
12 Tjandusorten einen Morpliingehalt (Iber 12 und in 10 einen solchen unter
10° o constatirten. In Tonkin enthält das dort benutzte Chaudu 9 — 10% Morphin.
Die Ansiebt MOISSAn's8), dass die Dämpfe des Cliandu unschädlich seien und
nur beim Verbrennen des als Dross oder auch als Tjetjin bezeichneten
Rückstandes sich wirklich giftige Dämpfe entwickeln, die Pyrosol-, Aceton-, Pyridin-
basen (namentlich Hydropyridine) und auch Morphin enthalten, ist bestimmt un-
richtig. Dass hier neben dem Morphin noch andere giftige Stoffe mitwirken, ist
nicht erwiesen. Wieviel Morphin in den Respirationswegen zur Resorption ge-
langt, ist bis jetzt nicht festgestellt. Die Resorption variirt bestimmt sehr , je
nachdem man den Ranch sofort wieder ausbläst oder, wie es in Tonkin Sitte
ist, ihn längere Zeit in den Luftwegen verweilen lässt, ein Umstand, der eine
theilweise Erklärung des Factnms giebt, dass Hunde den Dampf grosser Mengen,
z. B. 32 Grm. C'handu, tolcriren, ohne dadurch betäubt zu werden, während bei
Menschen, die an Opiumrauchen nicht gewohnt sind, schon nach der vierten
Pfeife .Stirnkopfschmerz und nach der zwanzigsten (entsprechend 4,0 Grm. Chaiulu)
Schwindel und Gleichgewichtsstörungen eintreten können.*) Diese Dosis Über-
schreitet Übrigens nach Rochard1) die in Tonkin gebräuchliche Maximaign be
(3,5 Grin.}, was bei einem Morphingehalte von 8° 0 0,028 Morphin entspricht,
wovon selbstverständlich der grösste Tlieil durch die Verbrennung zerstört wird,
so dass der gewöhnliche Raucher nicht mehr als 2 — 3 Mgrm. Morphin absorbirt.
Diese Maximalgabe wtlrde etwa 10 — 12 Pfeifen des Chandu entsprechen, da das
Gewicht der einzelnen Pfeife 0,35 — 0,40 beträgt. Während die Tonkinesen in
der Regel bei ihrer gewöhnlichen Dosis verbleiben, «teigen aber gerade die
Europäer mit dieser Dosis, so dass 60 — 80, ja selbst 150 — 200 Pfeifen die
Tagesc|uantität ausmachen. Als Folge dieses excessiven Gebrauches kommt es
dann zu einem Symptomencomplex, der aus dem bekannten Bilde des chronischen
Morphinismus zwar viele charakteristische Ztlge darbietet, aber doch sich mit
diesem nicht völlig deckt. Besonders auffällig ist die von MtCHAl'T *) beschriebene
höchst entwickelte, ganz ausschliesslich auf inveterirte und starke < »piumraueher
beschränkte Opiiimlilhmu n g. Sie stellt sieh als Paralyse der Extensoren der
Hände und Finger dar, die sich langsam entwickelt und sehr viel Aehnliehkeit
mit der Bleilähmung hat. von der sie Bich durch das Fehlen des Bleisaums, der
Atrophie und Störungen der Sensibilität und durch die Anwesenheit der bei
alten Opiumrauchern niemals fehlenden starken Abmagerung nnd Anämie unter-
scheidet. Als constante Erscheinungen werden von den französischen Militär-
ärzten schw ankender Gang, Athemnoth, chronische Diarrhoe und (bei alten Rauchern)
Aceommodationsstürungen bezeichnet. Ansserdem kommen nicht selten Gastralgie,
Erbrechen, Obstipation, Stomatitis, wechselnde Zustände der Blutftllle des Gehirns,
Synkope, Herzklopfen, Arhythmie des Herzschlages und Hautjucken vor, mitunter
auch Harnbeschwerden, namentlich Anurie und Blasenzwang, endlich psychische
Störungen, die meist den Charakter der Depression tragen, manchmal auch als
eine Art Megalomanie sieh darstellen und schliesslich zu allgemeiner Paralyse
mit monomanischen Delirien führen. Die so charakteristische Willensschwäche
der Morphinisten fehlt auch liier nicht. Im Ganzen sind die Tonkinesen weniger
als die Cochinchinesen dem übertriebenen Opiumgenusse ergeben. Auf .lava
rauelit mau ausser dem Tjandoe und dem namentlich von der ärmeren Bevölkerung
gerauchten Tjettik auch mit Tjaudu imprägnirte Blätter von Ficut * eptica
(Stoeher). Dass das Rauchen des Abfalls aus Opiumpfeifen weit schädlicher als
das von gutem Opium sei, wird von holländischen Militärärzten bestätigt.
Als eine eigenthümliehe, bei der Opiumentwöhnung auftretende Affection
der Opiumraucher hat Pastkk io) Malaeie der Cornea bezeichnet, die er auf die
mit der schweren allgemeinen Ernährungsstörung einhergelienden .Störungen der
Osmose bezogen wissen will, zu denen die Hornhaut durch ihren Gefässmangel
besonders prädisponirt sei.
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MORPHIUMKRANKHEIT.
Bemerkenswerth ist die Angabe, dass in C'ochinehina auch eine Leiden-
schaft von Thiercn für Opium constatirt wurde, indem Affen, Katzen und Hunde,
die das Lager ihrer Opium gewohnheitsmässig rauchenden Herren aufsuchen und die
Rückstände aus den Pfeifen verzehren, bei Reisen ihrer Herren regelmässig in Ab-
magerung, Traurigkeit und Sitophobie verfallen. ll) Letzteres ist freilich auch einer
anderen Deutung fähig, da es auch bei Hausthieren nicht an Opium gesühnter
Herren vorkommt und steht im Gegensätze zu dem in Europa gewonnenen Resultate,
dass Morphiuminanitionserscheinungen sich experimentell bei Thieren nicht er-
zeugen lassen. Obersteixkr 1S) sah bei mehrmonatlicher Zufuhr von Morphin
in steigenden Gaben (0,05 — 0,04 ) bei Thieren zwar Gewöhnung bei leichten In-
toxicationserscheinungen, wie Trägheit, Ausfallen der Haarp, geringere Steigerung
der Reflexaction und leichten Darmkatarrhen, aber keine Symptome, die in
Morphiumhunger irgendwie erinnern. Guixard14) sah bei Katzen nach längerer
Einführung kleiner Morphinmengen starke Abnahme der Fresslust , Speichelfluss
und Abmagerung, aber keine narkotischen und nervfisen Symptome.
Eine bunte Reihe von Morphiumkrankheiten aus verschiedener Ursache
bietet unter den civilisirten Staaten die nordamerikanisehe Union, ln Bezug auf
die Morphiumkrankheit durch Spritzen sind die Vereinigten Staaten von Nord-
amerika den europäischen Ländern bestimmt überlegen. Daneben aber hat sich,
zunächst vielleicht angeregt durch die chinesische Einwanderung, auch eine Leiden-
schaft ftlr das Opiumrauehen entwickelt, das z. B. in New-York eine solche Aus-
dehnung gewonnen hat, dass schon 1889 dort nicht weniger als 8000 — 10.000
Anhänger der Opiumpfeife existirten.- Wesentlich damit im Zusammenhänge steht
die enorme Steigerung der Einfuhr von Opium, die 1892 eine halbe Million Pfund
betrug, wogegen 1854 nur 72.000 und 1880 372.000 Pfund importirt wurden.
Allerdings ist in nicht unbedeutender Weise an dieser Steigerung die Ausdehnung
der Quacksalberei, die opiumhaltige Paten tmedicincn in ausgiebigster Weise be-
nutzt, mitschuldig. Auf diese und auf den unbeschränkten Verkauf giftiger Medi-
camente in der Union ist die Entstehung einer eigentümlichen Opiumsucht, die
meist durch den Gebrauch von Tinetura Opii benzoica zum Einschläfern von
Kindern der ersten Lebensjahre hervorgerufen wird, zurückzufilhren. Die zuerst
1892 von Rotch ’*) constatirte Thatsache, dass vielfach Kinder Vorkommen, die,
von den Müttern an opiumhaltige Schlafmittel gewohnt, durch ihr tagelang fort-
gesetztes Geschrei und die Gier, die sie bei Darreichung der ( ipiumtincturen ver-
raten, das Vorhandensein von Opiumsucht verraten, kann nach ihrer Bestätigung
durch L. Fisher *6) als unzweifelhaft gelten. Es kommt hier zu den von den
morphiumkranken Erwachsenen her bekannten Abstinenzsymptumen , von denen
das constanteste Diarrhoe ist, die mitunter grosse Intensität annimmt und wobei
die Ejecta wässerig und übelriechend, selten blutig sind; in manchen Füllen tritt
Erbrechen hinzu, häufig Anorexie und Schlaflosigkeit, bei längerer Dauer Icterus,
grosse L'nruhe und Reizbarkeit, nicht selten Hautjucken, auf das die vorhandenen
Kratzekzeme hinweisen. Dabei besteht in fast allen Fällen Stupor, mitunter selbst
tiefes Koma, nach dessen Verschwinden die Kinder zusammenhängend zu reden ver-
mögen. Die Reflexe sind bald vermindert, bald gesteigert, der Puls im Anfänge
der Krankheit meist voll, langsam und regelmässig, später beschleunigt und un-
regelmässig, ebenso die Athmung. Nach Fisher hat das Leiden eine relativ
günstige Prognose, so dass von 23 Fällen 19 geheilt wurden, ln Bezug auf die
bei habituellen Opiumrauchern zu beobachtenden Erscheinungen bestehen nach
Cor. lins •*) keine wesentlichen Abweichungen ; Abmagerung, eingefallenes Gesicht
und gelbe Hautfarbe kommen constant vor. Aus den Vereinigten Staaten
besitzen wir auch Mittheilungen über einzelne Fälle von Morphiumkranken in
folge von Anwendung von Morphin als Injectionsmittel in die Nase und in-
Suppositorien. lt,‘)
In europäischen Ländern ist es besonders Frankreich, wo in den letzten
Jahren die Steigerung des Vorkommens von Morphiumsucht durch Spritzen be-
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MORPHIUMKRANKHEIT.
431
deutend war; Opiumrauchen ist hier vereinzelt von Soldaten aus Tonkin in ihre
Heimat mitgebracht worden. Schon 1884 wies Notta ”) darauf hin, dass sich
die Unsitte des Morphiumspritzens namentlich in der Demi-monde sehr verbreitet
habe und in dieser eine Menge Morphiumkranker existiren, die das Morphin
benutzen, um sexuale Aufregung zu erhalten , und welche für die Verbreitung
habitueller Morphiuminjectioneu unter ihren Berufsgenossen thiltige Propaganda
machen. Injectionsspritzen in feiner Ausführung sind in dieser Bevölkerungs-
classe und auch ausserhalb derselben in Paris als Geschenk sehr beliebt. Her
Vorschlag Notta’s, ein Verbot der Abgabe von Morphinspritzen an Nichtärzte
zu erlassen, hat keine Berücksichtigung gefunden.
Dass übrigens medicinalpolizeiliche Massnahmen in dieser Art die Morphium-
kraukheit nicht ausrotten werden, ist a priori einzusehen, wenn man die hohen
Procentziffern in’s Auge fasst, die das Heilpersonal und speciell der ärztliche Stand zu
den Affectionen stellt. Nach der Statistik, die Bubkart u) 1883 über die von ihm in
Marienberg behandelten Morphinisten gab, waren unter 115 Kranken (85 Männer,
3U Frauen) 45 Aerzte, 6 Arztfrauen und 2 Apotheker: in einer aus demselben
Jahre stammenden Statistik Obersteiner’s ••) waren unter 194 Kranken (143 Männer,
51 Frauen; 67 Aerzte. Ganz im Einklänge damit stehen aus den letzten Jahren
stammende Zahlen des amerikanischen Morphinspecialisten MattisON, der in dem
von ihm dirigirten Home for Habitues in Brooklyn 1888 unter 300 Morphinisten
118 Doctoren und unter 125 von ihm später Behandelten 62 Aerzte zählt, deren
Proeentziffer in seiner neuesten Statistik Uber 70 sich erhebt.20) Unter 33 von
Sollirr in den Jahren 1892 — 1894 behandelten männlichen Morphinomanen waren
15 Aerzte, 1 Stndent der Medicin uud 1 Pharmacien, also mehr als die Hälfte.
Die meist sehr deutlich ausgesprochene Prävalenz des männlichen Geschlechtes
ist dies in Paris am wenigsten, da hier namentlich die Demi-monde das Morphin-
spritzen sieh vielfach angewöhnt hat. Unter 58 von Sollier behandelten Fällen
waren 33 Männer und 24 Frauen.
Die Literatur der durch Morphiuminjectionen hervorgerufenen Affection
ist eine sehr ausgedehnte. Erlexmeyer21) hat in der dritten Auflage seiner
Monographie der Morphiumsucht (1887; nicht weniger als 260 bis zum Jahre 1885
erschienene Arbeiten citirt und verarbeitet, und seit jener Zeit lassen sich gegen
100 neuere Publicationen nachweisen. Indessen geben die neueren Arbeiten nur
wenig wesentlich Neues Uber Aetiologie und Symptomatologie, kaum etwas Uber
die pathologische Anatomie, dagegen mancherlei Neues in Bezug auf die Theorie
uud sehr viel auf die Therapie Bezügliches.
Was die Aetiologie anlangt, so sind verschiedene Beispiele bekannt ge-
worden, wo sonst gesunde Personen vou Morphiumsüchtigen zum Morphiumspritzen
verleitet wurden. Dass nicht alle Personen, denen längere Zeit Morphin cingc-
spritzt oder in irgend einer Form eingeführt wird , morphiumkrank (morphium-
sücbtigi werden, ist eine bekannte Thatsache. Charakterschwache Personeu zeigen
eine besondere Prädisposition. Auch neuropathische Belastung der Eltern ist als
prädisponirendes Moment nicht auszuschliessen. Nach Crothers ■) werden die
Kinder von Morphinisten nicht selten wieder morphiumsüchtig, in anderen Fällen
sind Alkoholismus oder Neuralgie als Zeichen neuropathischer Belastung der
Eltern nachzuweisen. Invaliden infolge vou Gehirn-, Nerven- oder Körperkrank-
heiten stellen ein bedeutendes C-ontingent zur Morphiumkrankheit ; in anderen
Fällen scheint auch abnorme Ernährung, sei es Dyspepsie mit nachfolgender
Anämie und nachfolgender Hyperästhesie oder übermässige Speisezufuhr bei sitzender
Lebensweise (Crothers) die Prädisposition zu begründen. Auf alle Fälle aber
bleibt eine grosse Zahl von Morphiumkranken übrig, bei denen irgend ein prii-
disponirendes Moment vor der Morphium- oder Opiumzufuhr nicht nachweisbar
ist und wo durch das Morphin selbst und seine euphorische Wirksamkeit, wenn
es fortgelassen wird, bei sonst psychisch und körperlich Gesunden die „Sucht“
sich entwickelt. Erwähnung verdient, dass von Morphinistinnen geborene Kinder
M0RPH1UMKRANK HEIT.
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liäuti^r Abstiueuzerscheinungen zeigen, rasch cyanotisch werden und die Erhaltung
ihres Lebens nur unter Anwendung von Opium und Alkohol gelingt. Nach
Happel '-*) stirbt die Mehrzahl der von Morphinistinnen geborenen Kinder in der
ersten Lebetiswoehe. Wenn sie das erste Lebensjahr überstehen, bleiben sie stets
zart und nervös, und wenn sie erwachsen sind, werden sie entweder Morphium-
Habitues oder Trinker. Auch die Kinder morphiumsüchtiger Väter werden nicht
selten morpbiumkrank.
In Bezug auf die Symptomatologie der Morphiumkrankheit ist eine
Angabe von CoMBES**) über eine eigenthfimliehe Affection der Zähne bei
Morphiumsüchtigen wenig beachtet. Diese beginnt an den Kauflächen der Mahl-
zähne. ergreift dann die Backzähne, Sehneidezähne und zuletzt die Eckzähne,
deren konisches Ende sich becherförmig aushöhlt. Das Leiden, das mitunter
gleichzeitig mit Ausgehen der Haare einhergeht, hat seinen Sitz im Elfenbein
und verläuft fast schmerzlos ohne Periostitis ausserordentlich schnell, so dass im
Laufe eines Jahres kein Zahn mehr gesund ist. Ob zur Entstehuug des Leidens
Acidität des Speichels oder dyspeptische Zustände mitwirken, ist bisher nicht erwiesen.
l’eber den Einfluss des längeren Morphingebrauches auf die Geschlechts-
funetion liegen ziemlich widersprecheude Angaben vor. Bei Männern ist Herab-
setzung des Geschlechtstriebes jedenfalls Regel. M. Rosenthal“) fand das Sperma
in einem Falle dünnflüssig, mit ganz dünnen, kurzen, auch bei Zusatz verdünnter
Kaliiösung unbeweglichen Spermatozoiden, in einem älteren Falle glashelle rhom-
bische Samenkrystalle und Abwesenheit von Samenfäden , die erst in der Ent-
zielmngsperiode, und zwar anfangs ohne Bewegung, später beweglich, wieder auf-
traten. Dass bei Morphinistinnen in der Regel die Menstruation cessirt. hat sogar
dazu geführt, die Blutungen bei Carcinom und Fibrom der Gebärmutter dadurch
zu bekämpfen, dass man die Kranken zu Morphinistinnen machte.*5) Anderseits
liegen zahlreiche Beobachtungen darüber vor, dass die Morphinmkrankhcit bei
Frauen auf Conception und Verlauf der Gravidität einen Einfluss nicht ausgeübt hat.
Als Morphiumaffection wird auch .-lene rosacea angegeben , die sowohl
bei Morphiumspritzern als hei Morphiophagcn vorkommt und mit der Morpltium-
entziindnng schwindet oder sich bessert. Das Leiden soll nach heftigem Jucken
der Nase auftreten und verbindet sich meist mit Seborrhoe. *•)
Ein vielbesprochenes Capitel der Morphiumkrankheit sind Psychosen,
auf deren Entstehung bei Morphinisten schon 1874 Fiedler in seiner für die
Morphiumkrankheit der Morphinisten grundlegenden Arbeit hinwies. ,:) Man hat
hier wohl zu unterscheiden zwischen Psychosen als Theilerseheinungcu der chro-
nischen Morphiumvergiftung und solchen , die infolge der Morphiumentzichung
entstehen und einen Tlieil der bekannten Morpbiuminanitionserscheinungen bilden.
So zweifellos auch habitueller Morphingenuss bei längerer Dauer ungünstig auf die
geistigen Functionen einwirkt und insbesondere zu Abnahme des Gedächtnisses und
der Arbeitsfähigkeit, namentlich aber auch zn Abnahme der Willensthätigkeit und
zu moralischem Schwachsinn führt, der durch Lügen und Betrügen sich inanifcstirt,
so sind doch ausgeprägte Psychosen als Ausdruck wirklicher chronischer Morphin-
intoxicatiou selten (MattisON). Diese zeigen dann , wie sie schon Fiedler lie-
schrieb, zumeist die grösste Aehnlichkeit mit cerebraler Paralyse und unterscheiden
sieh von dieser dadurch , dass der Kranke sieh seines Zustandes und dessen
Ursache bewusst ist, und dass das Leiden durch Beseitigung der Morphinzufuhr heil-
bar ist. Manche bei Morphinisten, bei denen erbliche Disposition vorliegt . anf-
tretende Geistesstörungen sind nicht eigentliche Morphinpsychosen, und das Mor-
phin ist dabei höchstens insofern im Spiele, als es den Ansbruch beschleunigt hat.
ln der Abstinenz treten meist Delirien, vereinzelt Melancholie und Apathie,
auf. Von den Delirien kommen die schwersten Formen, insbesondere das soge-
nannte Delirium tremens der Morphinisten , fast nur bei der plötzlichen Ent-
ziehung von Morphin vor, während leichtere Delirien nicht selten auch bei anderen
Entziehungseuren sieh kundgeben. Charakterisirt wird diese schwere Form durch
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MORPHIUM KRANKHEIT.
433
die grosse Angst, die sich oft zur Todesangst steigert, die allgemeine Benommen-
heit und die Accommodationsstörungen, die mit maximaler Dilatation der Pupille
einhergehen und als Ursache von Illusionen erscheinen, die den grössten Theil der
Gesichtstiluschungen, die sich bei diesen Kranken (besonders in der Dämmerung)
finden, verursachen. Daneben bestehen perverse Sensationen, wie Kneifen, Druck,
Ameisenkriechen und insbesondere Elektrisirtwerden , auch Hallucinationen des
Geruchs und Gehörs. as) Oft besteht so heftige Tobsucht, dass der Kranke isolirt
werden muss. Die Dauer dieser Delirien beträgt bald nur Stunden , bald aber
auch mehrere Tage; mitunter kommt es dabei zu Collaps, der nur durch eine
Morphindose beseitigt wird. Unter den Hallucinationen kommen mitunter die
nämlichen Erscheinungen (kleine Thiere, bewaffnete Männer) vor, die für das
Delirium alcoholicum als charakteristisch galten, und schleimiges Erbrechen und
rhythmische Zuckungen vervollständigen die Aehnliehkeit mit diesem Krankheits-
bilde. *•) Es ist aber nicht unmöglich, dass, da die meisten Morphinisten auch
Excesse in Alkohol begehen, bei der Erzeugung dieser Erscheinungen der Alkohol
im Spiele ist. Mitunter kann reichliche Alkoholzufubr im Laufe der Entziehung
zu hnllucinatorischen Delirien fuhren, die auch mit anderen bei Alkoholikern vor-
kommenden Erscheinungen sich complicircn. So sah Erlenmeykr *°) bei einer
anämischen Frau , die am Ende einer an sich leichten Entziehung die Nahrung
mehrere Tage verweigerte, dagegen sehr viel Portwein trank, ein dreitägiges
hallucinatorisehes Delirium, woran sich Paraplegie beider Beine mit Anästhesie
und Analgesie bis zur Nabelhöhe, Erlöschen der Patellarreflexe und paradoxe
Muskelcontraction , mehrere Monate anhaltend, schlossen. In manchen Fällen mit
Hallucinationen ist übrigens auch Cocain ohne Zweifel betheiligt.
Nach der Entziehung eintretende Psychosen entwickeln sich meist im
Anschlüsse an intensive Schlaflosigkeit unter der Form eines mit Gesichts- und
Gehörsballucinationen verbundenen Verfolgungswahns, der Monate lang andauern
kann. Auch diese Affection ist bei reinen Morphinisten selten und wird namentlich
bei gleichzeitigem Missbrauche von Morphin und Alkohol beobachtet. ,0)
Erwähuenswerth ist , dass unmittelbar nach der Entziehung sich eroto-
manische Symptome sowohl bei Frauen als bei Männern entwickeln können
(Maraxdon de Montyel, Erlenmeyer).
In Bezug auf die somatischen Abstinenzerscheinungen, insoweit
diese nicht in den gebräuchlichsten Monographien der Morphiumkrankheit aus-
führliche Darstellung gefunden haben, sind vor Allem die Circulationsstörungen
hervorzuheben. Nach Ball und J ENNINGS ,l) ist bei Morphinisten kurz nach einer
Einspritzung der Puls normal mit schwacher Spannungszunahme am Ende der
Systole , dagegen erscheint nach einigen Stunden Abstinenz die Pulscurvc oben
ganz abgeplattet , und bei längerer Entziehung stellt sich unter Fiebererschei-
nungen die normale Curve wieder her. Die auf Schwächung des Herzimpulses
und Ischämie der allgemeinen Circulation hinweisende Pulsverändcruug bei Absti-
nenz, die durch Morphiuminjection und verschiedene Medicamente (Nitroglycerin,
Spartein) behoben wird, lässt sich nach Ball und JennixGS sogar als diagnostisches
Hilfsmittel in zweifelhaften Fällen von Morphiumkrankheit benutzen. Nach SOL-
likr js) hat jede Abstinenz Verlangsamung und Verminderung der Energie der
Herzschläge zur Folge, die zugleich unregelmässig werden. Die beiden am
häufigsten zu beobachtenden Irregularitäten sind das Fehlen eines Schlages auf
2 oder 3 oder auf 8 — 9.
Als ein nicht seltenes Vorkommniss unmittelbar nach der Morphinent-
ziehung bezeichnet Soleier 5!) das Wiodcrauftrcten von schmerzhaften Affeetionen,
gegen welche das Morphin ursprünglich angewendet wurde, die dann aber nach
dem Vorübergehen der sonstigen Inauitionserseheiuungen wiederum verschwinden.
Auch Erlexmeykr *•) macht darauf aufmerksam, dass nicht alle in der Abstinenz
auftretenden Erscheinungen wirklich Abstiuenzerseheinungen sind , und führt als
solche Pseudalistinenzsymptome nach eigener Beobachtung Neuralgien und Blut-
Encyclop. Jnlirbftcher. VI.
43+
MORPHIUMKRANKHEIT.
brechen au. Die Erfolglosigkeit des Morphins gegen derartige Symptome ist das
Kriterium für diese.
Mehr noch als die mannigfache Form der Abstinenzerscheinungen ist
deren Theorie der Gegenstand neuerer Erörterungen geworden. Zur Aufklärung
darüber hat der Umstand wesentlich beigetragen, dass man in neuester Zeit die
Schicksale des Morphins im Organismus genauer kennen gelernt hat. Von
ganz besonderem Interesse ist die Thatsache, dass die Magenschleimhaut der
hauptsächlichste Ort der Ausscheidung des Morphins ist. Schon 1883 wies Leine-
weber ss) die Elimination subcutau injicirten Morphins durch den Magen bei
Thieren nach. 1888 bestätigte Ai.t **) diese Thatsache in vollem Masse und führte
den Nachweis, dass die Menge Morphin, die an dieser Stelle ausgeschieden wird,
eine sehr beträchtliche ist. Baumert faud colorimetrisch bei einem von Alt mit
0.2 vergifteten Hunde nicht weniger als 0,083 einer morphinähnlichen Substanz
in dem Magenspülwasscr wieder, wonach, da ein Theil der Ausspülungsflüssig-
keit nicht wieder erhalten wurde, nahezu die Hälfte des injicirten Morphins durch
die Magenschleimhaut eliminirt zu sein schien. Dies stimmt völlig mit dem Re-
sultate von Tauber *6) 1890 angestellter Untersuchungen, wo bei einem Hunde,
dem in 10 Tagen 1,24 Morphin (als Salz) subcutan beigebracht war, aus den
gesammelten Fäces 0,512 reines Morphin wieder erhalten wurde, was 4 1 •3i> 0
des eingeftlhrten Morphins entspricht.
Auf diese Thatsache hat Hitzig **) eine grosse Anzahl der Abstiuenz-
symptome zurtickgeführt und darauf zugleich ein weiter unten genauer ausein-
anderzusetzendes Verfahren der Bekämpfung, bezichungsw'cise Verhütung dieser
Symptome begründet. Sind die Magennerven der directen Einwirkung fast der
Hälfte des Morphins ausgesetzt , die ein Morphinist während der Dauer seines
Lasters zu sich nimmt, so liegt es klar zutage, dass sie auch in hervorragender
Weise unter den Einfluss des Giftes gebracht werden. Diese Giftwirkung kann
sich aber, so lange die Zufuhr dauert . nur in einer starken Herabsetzung ihrer
Function äussern , und aus dieser geht dann eine starke Verminderung der
Abscheidung von Magensaft, speciell von Salzsäure hervor, die sich thatsächlieb
auch bei dem Morphinisten nachweisen lässt. Wird nun das Morphin ganz oder
theilweise entzogen, so befindet sich der Magen in einem Zustande derartig ver-
änderter Erregbarkeit, dass schon der Reiz des nun in normaler Menge wieder
secernirten Magensaftes als abnorm empfunden wird, woraus dann Erscheinungen
resnltiren, wie sie bei Katarrhen mit Hyperacidität gewöhnlich sind. Auf diese
Weise lassen sich z. B. die Unruhe in Rumpf und Gliedern und die Empfindung
von Wärme und Brennen im Rücken, die bei Morphinisten analog wie bei Magen-
kranken der angegebenen Kategorie Vorkommen, erklären. Dass nicht alle Absti-
nenzsymptome durch die Störungen des Magens sich erklären lassen, ist nicht zu
leugnen, doch ist die wesentliche Bedeutung dieser dadurch sichergestellt, dass
man nach den übereinstimmenden Erfahrungen von Hitzig und Erlexmkyer 10)
durch Anwendung neutralisirender Mittel nach der Morphiumentziehung fast alle
Abstiuenzerscheinungcn verhüten kann. Ueber die Ursache des Morphiumhungers
gehen die Ansichten auseinander. Hitzig fasst ihn als Folge der künstlichen
Anacidität des Magensaftes auf, die durch Salzsäurebehandluug schwinde, Erlen-
mkyer, der darin in erster Linie ein psychisches Symptom erblickt, macht dagegen
mit Recht geltend, dass der Morphiumhunger nicht in der Periode der Anacidität,
sondern in der durch die Morphiumentziehung herbeigeführten Superacidität sich
geltend mache und , wenn er überhaupt vom Magen abgeleitet werden könne,
mit dem Heisshunger der nervösen Dyspcptiker zusammeuzustellen sei, der
notorisch durch plötzlichen Erguss von Säure auf die Magenschleimhaut hervor-
gerufen werde.
Die HlTZlo’sche Theorie lässt übrigens recht wohl noch eine Ueber-
tragung auf einzelne andere bei den Entzichungscurcn zu beobachtenden Erschei-
scheinungen zu, die das Gegentheil von dem Verhalten während der Morphinm-
Google
MORPHIUMKRANKHEIT.
435
zul'uhr sind. Dahin gehören z. B. die Menstruatio nimia , die an Stelle von
Amenorrhoe tritt, die übermässigen Samenergüsse bei einzelnen, vorher an An-
aphrodisie leidenden Personen , das Niesen und Thränenträufeln , die Mvdriasis,
möglicherweise auch die Neuralgien. Jedenfalls reicht die Verwandlung einer
während der Morphiumentziohung bestehenden Hemmung der Functionen in stark
erhöhte Thätigkeit nicht zur Erklärung aus für die sämmtlichen Abstinenzerschei-
nuugen , insbesondere nicht für die der vom Gehirn abhängigen mannigfachen
Symptome und für den Collaps.
Bestimmt aber ist daran festzuhalten, dass die Abstinenzsymptome nicht
als Morphiumvergiftungserscheinungen aufzufassen sind, wie schon daraus hervor-
geht, dass sie unter Einführung von Morphin rasch zum Stillstände gebracht
werden. Ebenso irrig ist es auch, sic auf einen der Stoffe zu beziehen, die sich
aus einem Theile des in den Organismus eingeführten Morphiums, besondere unter
dem Einflüsse der Oxydation bilden. Dass sich bei Morphinisten im Harn neben
Morphin, mitunter auch allein, aus dem Morphin entstandene Körper finden, ist
schon lange bekannt. Jaffe und ELLASSOW *7) fanden 1882 bei Kaninchen nach
wiederholter Einbringung von kleinen Dosen Morphin eine Substanz im Harn, die
sich mit Fröhde’s Reagens grünblau, mit concentrirter Schwefelsäure braun und
auf Zusatz einer minimalen Menge Salpetersäure grünblau färbt. In demselben
Jahre gelang es Bukkart 38), aus dem 24stündigen Harnquantum von Morphinisten,
die 1,30 — 1,35 Morphium hydrochloricum im Tage injicirten, eine Substanz zu
isoliren , die die charakteristischen Morphiumreaction nicht gab, aber narko-
tische Vergiftungserscheiuungen hervorrief, die aber nicht so heftig wie nach
Morphin waren.
Als Erklärung der Abstinenzerscheinungen der Morphinisten hat man
seit 1883 nach dem Vorgänge von Marme s“) die Bildung von Oxyditnorphin
im Organismus ziemlich allgemein angenommen, und selbst in der allerneuesteu Zeit
hat Erlf.xmeyer so) die Hypothese, dass die Abstinenzsymptome Folgen einer
Oxydimorphinvergiftung seien, als allen Anforderungen einer genügenden Erklä-
rung entsprechend bezeichnet. In der Thnt ist nicht nur bei protrahirter Vergiftung
von Hunden, denen grössere, jedoch nicht letale Mengen eines Morphiumsalzes
snbeutan injicirt wurden, der Nachweis dieses Oxydationsproducts des Morphins
erbracht worden, sondern es tritt auch nach directer Einführung von nicht letalen
Dosen von Oxyditnorphin in das Blut bei Thieren ein Symptomencomplex auf,
der bestimmte Analogie mit den Erscheinungen, die bei Morphinisten, denen das
Morphin entzogen wird , auftreten , zeigt. Dieser besteht in Würgen und Er-
brechen , die mitunter schon nach 2 Mgrm. eintreten , dann bei intravenöser
Application grösserer Mengen in deutlich hörbarer , anscheinend schmerzhafter
Peristaltik, worauf Darmentleerungen, mitunter auch blutige Abgänge folgen, in
starker Pulsbeschlctinigung , starkem Sinken des Blutdrucks unter gleichzeitiger
Erweiterung peripherer Blutgefässe , Sinken der Körpertemperatur und eollaps-
artiger Schwäche.
Die Thatsache, dass diese Erscheinungen durch Morphin (wie übrigens
wahrscheinlich auch durch andere Narcotica oder die Peristaltik hemmende Mittel)
wesentlich gebessert und beseitigt werden, bildet ebenfalls eine Stutze der Hypo-
these, da ja Morphin bei den Abstinenzerscheinungen und besonders beim Collaps
im Laufe von Entziehungscuren das allerbeste Hilfsmittel bildet. Erlenmeyek
hat seine Ansicht , dass die Abstinenzsymptome Oxydimorphinvergiftung seien,
besonders noch dadurch zu motiviren gesucht, dass diese sich in auffälligster
Weise da zeigen , wo die Bedingungen zu einer reichlichen Bildung von Oxy-
dimorphin oder zu einer Ucbercompensation der antidotarischen Effecte des Mor-
phins vorhanden seien, somit einmal bei sehr langer Dauer der Gewöhnung, in
zweiter Linie bei der Gewöhnung an sehr grosse Morphinmengen und in dritter
bei der sehr raschen Entziehung. Hierbei ist überall vorauszusetzen, dass das
bei der Oxydation des Morphins iin Thierkörper entstehende Oxyditnorphin in
28*
436
MORPHIUMKRANKBEIT.
relativ grosseren Mengen deponirt wurde. Diese Annahme trifft aber nicht zu,
da sich immer nur Spuren von Oxydimorphin im Thierkörper nachweisen lassen
und andererseits das Oxydimorphin in alkalischer I.ösung sich so leicht zersetzt,
dass eine weitere Oxydatiou im Körper zweifellos sehr rasch vor sich geht. 40) ln der
That ist ja auch, wie oben erwähnt wurde, durch Burkart und Eliassow
der Nachweis geliefert, dass neben dem Oxydimorphin noch andere Köper aus
Morphin im Thierkörper entstehen, die mit dem unzersetzt eliminirten Theile des
eingeflihrten Morphins in den Secreten erscheinen. Es hat auch unter diesen
Umständen nichts Auffallendes, wenn Oxydimorphin in einzelnen Fällen bei
Morphinisten nicht nachweisbar ist. *') Ein schwer wiegender Umstand, dass die
giftige Wirkung des Oxydimorphins sich nur bei intravenöser, nicht aber bei
subrutaner und interner Application an Thieren sich geltend macht (was Toht
und Kobert zu der neuerdings von Puschmann zurückgewiesenen Ansicht , dass
die Symptome auf embolisehen Processen bernheu , führte), macht ebenfalls die
Hypothese werthlos. Auch beim Menschen ist Oxydimorphin intern genommen in
sehr grossen Dosen ohne jede toxische Wirkung; selbst 0.4 ruft keinerlei Be-
findensstörung hervor (L. Hermann und Kreis).
Ausser den unmittelbar an die Morphiumentziehung sich anschliessenden
Abstinenzerseheinungen kommen übrigens nach SOLI.tER **) später eintretende,
von der Demorphinisation noch abhängige Krisen vor, die unvermuthet sich
einstcllen. Sie sind weniger heftig als die Abstinenzsymptome, können aber 24
bis 36 Stunden anhaltcn und äussern sich durch Mattigkeit in den Beinen,
Congestionen nach den Mahlzeiten, Appetitlosigkeit und Insomnie, mitunter auch
durch Diarrhoe und biliöses Erbrechen, das 2 — 3 Tage anhalten kann. Constant
besteht dabei Morphiumhunger, ein Umstand, der diese Zustände besonders be-
aehtenswerth für den Arzt macht. Nach Sollier kommen solche Krisen noch
6 Monate nach der Morphiumentziehung vor. Derartige Krisen , die übrigens
schon Burkart 1884 beschrieben hat, sind der entschiedenste Beweis gegen die
Oxydimorpliintheorie der Abstinenzerscheinungen und für die Auffassung der
fraglichen Symptome als einfache Reaction des Nervensystems auf das Ausbleiben
des gewohnten Reizes. **)
ln der Behandlung der Morphiumkrankheit hat die schnelle Entziehung,
wie sie in Deutschland besonders von Erlrnmeyer, in Frankreich von SOLLIER
empfohlen wird , die früher übliche langsame Entwöhnungscur und die dieser
diametral entgegengehende plötzliche Entziehungscur jetzt fast vollständig ver-
drängt. Bei allen diesen Curcn ist übrigens nach der Entwöhnung von Morphin,
beziehungsweise nach dessen Entziehung, die Behandlung der Reconvalescenz eine
Hauptaufgabe.
Das älteste Verfahren ist die allmälige Abgewöhnung, die man
entweder im Hause des Kranken oder zweckmässiger in einer offenen Anstalt
(Kaltwasserheilanstalt) vornehmen kann. Die Abgewöhnung in der eigenen Woh-
nung giebt die wenigsten Chancen für die wirkliche Entwöhnung, da hier meist
eine gehörige Beaufsichtigung fehlt. Dass einzelne Personen, wenn sie sonst
nicht nenropathisch sind, die Cur durchführen, namentlich wenn die Dosis nicht
allzuhoch war, ist wohl möglich, aber diese Fälle sind immer Ausnahmen. Für
Anstalten ist dieses Verfahren wegen seiner langen Dauer und weil man die
Reconvalescenz, in der verschiedene Aerzte sogar den wichtigsten Zeitabschnitt
der Behandlung zur Erzielung dauernder Heilung sehen *•), nicht berücksichtigen
kann, wenig empfehlenswert!!. Selbst bei denjenigen Fällen, wo man sie meist
noch als indicirt betrachtet , bei ausserordentlich decrepiden Individuen und bei
Kranken mit schweren Organleiden, z. B. mit Herzfehlern oder Emphysem, ist
es fraglich, ob man sie durchführen soll , oder ob man sich darauf beschränkt,
das dem Körper zugeführte Morphin auf eine der Gesundheit nicht unzuträgliche
Dosis herabzusetzen, wie dies Obkusteixkr bei allen Patienten mit mangelhafter
Herzthätigkeit, mag es sich dabei um Innervationsstörungen oder um organische
MORPHIUMKRANKHEIT.
437
Veränderungen der Kreislauforgane handeln, empfiehlt. Nach Wagner44) führt
die allmälige Entwöhnung nur hei Personen, die täglich nicht Uber 1,0 Morphin
consumiren und früher noch nicht entwöhnt waren , zu vollständiger Heilung.
Dass die allmälige Entwöhnung mehr als andere Methoden vor Reaction schütze,
weil sie die Intensität der Ahstinenzsymptome am besten berücksichtige und weil
sie durch Weckung des durch den Morphingenuss eingeschläferten Ehrgefühls
und durch Anspannung des Willens auf den Patienten günstig wirke, wird von
Mayländkr 44) hervorgehoben ; doch ist das von ihm befürwortete Verfahren
keineswegs ein sehr gemächliches Entwöhnen, da er sofort auf */ 3 — >/, des Mor-
phins herabzugehen und die ganze Menge in höchstens 4 — 5 Wochen zu ent-
ziehen riith. Zu gleichen Anschauungen bekennt sich Emmerich44), der in dem
Verfahren einen grösseren Schutz gegen Recidive sieht, dasselbe jedoch insoferne
modifieirt, dass er die Entziehung absatzweise vor sich gehen lässt, und wenn
eine Quantität Morphin entzogen worden ist, vor der weiteren Entziehung wiederum
eine grössere Dosis injicirt. Dieses Verfahren hat eine Anzahl scharfer Kritiken
erfahren , denen der Autor in Flugblättern seine günstigen Erfahrungen gegen-
über stellt.
Die durch Levixsteix 47) eingeführte und häufig nach ihm benannte
plötzliche Entziehung lässt die Ahstinenzsymptome in ihrer grössten Inten-
sität auftreten und führt dadurch den Patienten nicht selten in Lebensgefahr,
die nur durch rechtzeitige Eingrifte seitens des behandelnden Arztes verhütet
werden kann. Sie setzt nicht allein die Behandlung in einer geschlossenen An-
stalt, sondern auch bei Tage und bei Nacht fortgesetzte Ueberwachung durch
ein physisch kräfliges und zuverlässiges, gegen Bestechungsversuche unzugängiges
Wartepersonal voraus. Als Abstinenzsyraptom kommt nicht selten schwerer Collaps
vor, dessen tödtlicher Ausgang mitunter auch nicht durch Injcction von Morphin
abgewendet wird. Auch die schlimmsten maniakalischen Zustände gehören dieser
Behandlungsmethode an. Vortheile der Cur liegen in ihrer kurzen Dauer und in
der Verlängerung der Reeonvalescenz, wodurch eine psychische Einwirkung auf
den Patienten in ausgiebiger Weise ermöglicht wird.
Es muss übrigens bemerkt werden, dass einzelne Fälle vorliegen, wo
nach mehrmonatlichem Gebrauche von Morpbininjcctionen Patienten selbst ohne
ärztliche Beihilfe sich das Morphin plötzlich entziehen, ohne dass irgend welche
Inanitionserscheinungen eintreten. Es setzt dies indess das Nichtvorhandensein
irgend einer Neuropathie, das Nichtflbcrschreiten der Anfangsdosis und die Ab-
wesenheit des Gefühls von Euphorie voraus, das bei den Morphinisteu, wenn sie
mit der Dosis in die Höhe gehen , sich regelmässig geltend macht und aller
Wahrscheinlichkeit nach den Ausdruck des entweder schon vorher bestehenden
oder durch Morphin hervorgerufenen Zustandes nervöser Schwäche bedeutet. Charak-
teristisch ist in dieser Beziehung ein von Skxlecq48) beschriebener Fall, wo ein
Mann, der 5'/a Monate täglich drei Spritzen einer 24/0igen Lösung gegen
Schmerzen infolge von Cystitis gebrauchte , ohne dass je die Erscheinungen der
Euphorie anftraten , das Einspritzen ohne jedes Unwohlsein aufguh , nach einem
Jahre aber durch Schmerzen zu weiteren Morphineinspritzungen gezwungen, mit
den Einspritzungen anfangs auf 4 — 6, und im Laufe von sieben Jahren auf 30
bis 50 Spritzen stieg und schon in sechs Jahren, wo er 20 Spritzen injieirte,
bei einem Selbstentziehnngsversuche nur eine Beschränkung auf 12 Spritzen er-
reichen konnte.
Die ERLENMKYER’sche Methode der schnellen Entziehung bezweckt,
die völlige Entziehung in relativ kurzer Zeit durchznführen , ohne dass lebens-
gefährliche Symptome der Abstinenz eintreten. Kleinere Dosen von 0,3 — 0,5
werden durchschnittlich in 5 — 6 Tagen, grössere von 1,0 und darüber in 8 bis
10 Tagen entzogen. Collaps wird bei diesem Verfahren niemals beobachtet;
ebenso kommen schwere Delirien oder schwerere Störungen der Cireulation und
Respiration nicht vor. Eri.exmkvku bemüht sich, zunächst durch Versuche die für
438
M0RPHIÜMKRANKHE1T.
den Fortbestand des Wohlbefindens bei den Morphinisten erforderliche Dosis festzu-
gtellen und diese sogenannte Arbeitsdosis vor der Entziehung einige Tage dem
Kranken zu verabreichen , um so das „Morphingleiehgewicht“ herzustellen. Die
Cur muss unter Verhältnissen durchgeführt werden , die heimliche Morpbiumzu-
fuhr unmöglich machen, was in der Anstalt durch absolute Trennung des Patienten
von seinen mitgebrachten Sachen und Abschluss von allem Verkehr, unter Auf-
sicht absolut zuverlässiger Pfleger , beziehungsweise Pflegerinnen , die zur Vor-
sicht mit einer Spritze und einer 2°/,igen Morphinlösung ausgerüstet sind , ge-
schieht. Das Zimmer muss heizbar sein, da Morphiumentziehung häufig Patienten sehr
empfindlich gegen niedrige und selbst sonst normale Temperaturen (15°) macht.
Das Morphin wird vom Arzte in 3, selten in 4 gleichen Portionen zu bestimmten
Zeiten verabfolgt, die Abenddosis, die am längsten beibehalten wird, zwischen
10 und 11 Uhr, um auf den Schlaf günstig zu wirken. Die Cur erfordert reich-
lichste Zufuhr kräftigster Nahrung, die die Kranken am besten unmittelbar nach
der Einspritzung nehmen.
Sollier 5S) lässt in frischen Fällen (l'/> — 2 Jahre), wo die Tagesgabe
nicht 0,2 — 0,25 überschreitet , besonders bei kräftigen Männern , die plötzliche
Entziehung zu, geht aber meist und namentlich bei Frauen am 1. Tage auf 0,1
herab und entzieht am 2. das ganze Morphium. Bei mehrjährigen Morphinisten,
die nicht Uber 0,2 — 0,5 pro die injicircn, kann man am ersten Tage auf die
Hälfte, am 2. auf 1 , herabgehen und am 3. Tage das Morphin ganz entziehen.
In alten Fällen, wo mehr als 0,5 injicirt wird, vollendet Soi.lier die Entziehung
in 4 — 6 Tagen, wobei er am 1. Tage auf */*> am 2. Tage auf */,, am 3. auf
*/,, am 4. auf '/„ herabgeht. Die Verminderung erzielt man am besten, indem
man gleichzeitig mit der Zahl der Injectionen uud mit der Dosis herabgeht und
sobald die dargereichte Menge auf den Patienten keinen euphorischen Einfluss
mehr hat, kann man überhaupt die Morphiumzufuhr sistireu. Als zweckmässig
bezeichnet Sollikb zu einer Tageszeit aufzuhören , dass voraussichtlich die
Inanitionserscheinungen am Tage eintreten. Da die Abstinenzerscheinungen bei
leichten Fällen in der Regel in 12, bei schweren in 24 Stunden sich einstellen,
so empfiehlt es sich, in leichten Fällen um Mitternacht, in schweren früh Morgens
die letzte Injection auszuführen.
Sollieh empfiehlt, die Cur mit einem Abführmittel einzuleiten, um die
gastrischen Beschwerden zu beseitigen , da Morphinisten häufig an Obstipation
leiden. Sollten die Kranken neben dem Morphin noch ein anderes Narcoticuu
(Alkohol, Cocain) missbrauchen, so sind diese vorher zu entziehen. Bei spirituösen
Getränken kann dies 8 — 14 Tage dauern, während man Cocain plötzlich ent-
ziehen kann, ohne dass es zu Störungen kommt.
Als einen wesentlichen Vorzug der schnellen Entziehung hat man nach
Sollieh die rasche Wiederzunahme der Kräfte und des Körpergewichts gegen-
über der allmüligen Entziehung anzuseben. In der Regel tritt vom 6. — 12. Tage
nach Beginn der Cur starke Steigerung des Appetits ein, und eine Zunahme von
16 — 19 Pfd. ist im Laufe von 6 — 8 Wochen nichts Seltenes. Das Vorkommen
von Synkope ist nicht häufiger als bei der allmüligen Entziehuugscur. Dass das
Verfahren auch in manchen Fällen angewandt werden kann, wo schwere Herz-
leiden uud sonst ungünstige Verhältnisse bestehen, beweist ein Fall von Sollikb,
in welchem die Entziehung bei einem seit 14 Jahren Morphin in Mengen von
0,5- — 0,7 consumirenden , sehr kaehektisehen und mit einem doppelten Fehler
der Mitralis- und Aortenklappe behafteten Mann in 5 Tagen ohne erhebliche
Inanitionserscheinungen gelang.
Neben diesen einfachen Entziehungscnren giebt es noch solche, bei denen
Medicamente eine Hauptrolle spielen. Unter diesen sind verbreitet die als Sub-
stitutionsmethoden bezeichneten Entzichungsmethoden, die mit der Darreichung
eines anderen Narcoticums verbunden sind, das man während der Dauer der Cur
dem Morphin substituirt. Den Grund zu diesen Methoden legte Blkkart **), der
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MORPHIUMKRANKHEIT.
439
1880 für die allmälige Entwöhnung in offenen Anstalten empfahl, von dem Zeit-
punkte an, wo die Morphiumentziehung bis zu dem letzten Drittel vorgeschritten
ist, neben den Injektionen 1 — 2 — 4mnl täglich 0,03 — 0,09 Opium oder eine ent-
sprechende Menge einer Opiumtinrtar zu verabreichen , womit man dann noch
einige Tage nach der letzten Morphineinspritzung fortzufahren hat. Nach Burkart
führt dies Verfahren dahin, dass die bei der Entziehung eintretenden physischen
und psychischen Störungen in der Regel minimale sind, so dass z. B. cb niemals
zu Erbrechen kommt und Diarrhoen nur in beschränkter Weise, höchstens 3- bis
4 mal im Tage, eintrelen. Die von Erlenmeyer ausgesprochene Ansicht, dass
man den Kranken dadurch zu einem Opiophagen mache, dem dann die Ent-
ziehung des Opiums gerade so viel Beschwerden verursache wie die Entziehung
der letzten Morphinspritze , ist nach Bcrkart nicht zutreffend , vielmehr macht
die Beseitigung des Opiums niemals Schwierigkeit. Wahrscheinlich ist indess die
in der Regel geringe Intensität der Inanitionssymptoine nicht sowohl Folge des
Opiums, als der allmftligen Entziehung, und dass es unter Umständen zu sehr
erheblichen Abstinenzerscheinungen sehr lange nach der Entwöhnung kommt,
beweisen die heftigen Erregungserscheinungen mit Oesichtshallucinationen , die
Bcrkart selbst in einem Falle 19 Tage nach der letzten Üpiumgabe und 20 Tage
nach der letzten Morphiumeinspritzung constatirte. In manchen Fällen ertragen
übrigens Kranke den Uebergang von der Einspritzung zur internen Verabreichung
von Opium schlecht, indem sie entweder darauf durch Erbrechen reagiren oder
danach nicht das Gefühl von Euphorie, das ihnen die Injection schafft, bekommen. 18)
Verschieden von der BtJRKART'schen Methode ist die von Franz Miller
iii Graz angegebene, ebenfalls anf Anwendung von Opium beruhende Cur, in-
dem hier sofort Opium oder Opiumextract in Rillen mit Eitr. Sem. Strychni
dem Morphin substituirt wird. Die Dosis wird dabei sofort auf die Hälfte oder
ein Drittel der zuletzt genommenen Morphinmengc gesetzt, dann täglich um eine
0,01 Morphin entsprechende Menge gekürzt. so)
Kaczorowski ‘’1) entzieht ebenfalls das Morphin sofort und reicht an
Stelle davon Tinctura Opii, jedoch in Verbindung mit Tinctura Jodi (nach der
Vorschrift: Tinctura Opii simplicis 20,0, Tinctura Jodi 2,0, Tag und Nacht,
alle 2 Stunden je 20 Tropfen). Das Jod soll dabei antifermentativ in Magen und
Darm wirken, den Appetit und die Ernährung normal erhalten und auch sonst
die Abstinenzerscheinungen mindern. Die Dosis der Tincturen wird dann inner-
halb einiger Wochen bis auf Null vermindert, ohne dass es zu erheblichen Ina-
nitionserseheinungen kommt. Da das Opium ausschliesslich durch seinen Morphin-
gehalt wirksam sein kann, lässt sich für die Anwendung des Opiums im
Wesentlichen nur die Möglichkeit anführeu , den Patienten von der bei ihm zur
Leidenschaft gewordenen Art der Einführung des Giftes zu entwöhnen. Zu dem-
selben Zwecke ist in Amerika gegen Opiumrauchen das temporäre Morphincin
spritzen, natürlich nur von Aerzten nusgeführt, in Versuch gezogen. So heilte
M.vrrisON ts) eine an Opiumrauchen gewöhnte Amerikanerin, die zu ihrer Leiden-
schaft dadurch gekommen war, dass sie zuerst statt 1 ,gräniger Morphinschlaf-
pulver die Opiumpfeife anwandte, später aber diese mitunter den ganzen Tag
nicht ausgehen liess, wodurch Darmtorpor und Schwäche und Irregularität des
Herzschlages eingetreten waren, nach zweijährigem Gebrauche ohne sonderliche
Abstinenzerscheinungen durch Morphin , das in 10 Tagen wieder fortgelassen
wurde, ln Frankreich hat besonders Charcot die langsame Entziehung unter
Beihilfe von Opium befürwortet. Die Kranken müssen sofort ein Drittel ihrer
gewohnten Morphindose opfern, dann dem Morphin das Opiumextract substituiren,
so dass man für 0,025 Morphin 0,015 — 0,02 Opium giebt, ohne dabei jedoch
0,1 Opium zu überschreiten. Charcot verwendete ausserdem aber auch noch
Bromkalium und unterdrückte die letzten 5 — 0 Cgrm. Opium plötzlich. ä3)
An Stelle des Opiums hat man später das Codein und ein als Mero-
narcein bezeichnetcs französisches morphiimifreies Opimnprüparat zu gleichen Zwecken
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-HO
MORPHIUMKRANKHEIT.
und in Ähnlicher Weise angewandt. Codein empfahl 1889 M. Rosenthal 5,‘) im
Anfänge der Cur zu 0,2 — 0,3, bei sehr erregbaren Kranken mit 3 Giro, ltrom-
natrium verbunden , unter Elimination einer Abendinjection darzureichen and
später bei weiterer Rcduction der Morphingaben das Codein 3 — 4mal täglich an-
zuwenden. Die spätere Beseitigung des C'odeins soll keine Mtlhe machen. Pollak“)
bat keinen Erfolg davon gesehen. Der Angabe, dass Codein nicht zur Gewöhnung
führe und keine Abstinenzerscheinungen mache, wird von Erlexmeyer in ent-
schiedener Weise widersprochen. Auch nach Sollier kann Codein zwar in gewissen
Fälleu leicht beruhigen und dem Zucken in den Gliedern eutgegeuwirken , ver-
hindert aber das Auftreten der Nebenerscheinungen nicht. Das Meconarcein,
ein von DdQDESKEL hergestelltes Alkaloidgemenge aus Opium , das vorwaltend
Naivem enthalten soll, ist als Substitut des Morphins bei Entwöhnung Morphium-
kranker von Laborije 66) und Fromme6*) zu Subcutaninjeetionen verwendet worden.
Man soll von den in den Handel gebrachten Lösungen 10 Grm. im Tage ein-
spritzen können.
Von anderen narkotischen Mitteln sind Bromide am allgemeinsten,
besonders auch in Amerika in Anwendung gekommen. Schon 1880 empfahl
Mann*7) lOtiigige Darreichung von Bromkalium und spätere Entbromung unter
Beihilfe diuretiseher Mittel. Mattison’s Schnellmethode ( rapid methodj besteht in
der Darreichung von steigenden Dosen Bromnatrium, wobei er mit 2mal täglich
2,0 Grm. beginnt und die Einzelgabe täglich um 0,5 steigert, bis am 8. Tage
die Dosis von 2mal täglich 6,0 Grm. erreicht ist, die man am 9. lind 10. Tage
nur Abends verwendet. Neben dem Bromnatrium verwendet MattisON in der
Regel auch Codein subcutan ('mit Hilfe von Phosphorsäure gelöst) zu 0,06 — 0,2 oder
intern zu 0,12 — 0,24 2 — 4 stündlich, jedoch meist nicht eher, als bis das ganze
Morphium entzogen ist. 68) Charcot empfahl neben Opium Bromkalium zu 3,0
bis 5,0 besonders gegen die Unruhe), dessen Darreichung er mit der letzten
Entziehung des Opiums sistirte.
Vielfach ist auch Cannabis indica empfohlen worden, doch kommt dies
Mittel weniger als Substitut des Morphiums, wie als Schlaf herbeifuhrendes Mittel
in Anwendung. M. Rosenthal **) empfahl besonders gegen Opinmgewöhnnng ein
im Vncuum bereitetes Extractum Cannabis Indirae , mit welchem er 1,0 mit
Extractum Alo'es aquosum und Extractum libei zu 50 Pillen verarbeiten lässt,
von denen 3 — 10 im Tage genommen werden. Auch BlRCH hat den Gebrauch
zur Milderung der Abstinenzerscheinungen bei Morphinismus warm befürwortet.6’)
Mattison rühmt davon Erfolge insbesondere bei Morpbiumpsychosen. 60l
Die am meisten bekannt gewordene, aber auch die gefährlichste aller
Substitutionsmethoden ist die Cocainmethode, da sic häutig zu dem weit
gefährlicheren Symptomeneomplexe des chronischen Cocaiuismus, der stets mit
intensiven psychischen Alterationen einhergeht, Veranlassung giebt. Dem Enthu-
siasmus für das Mittel, das 1885 bei uus besonders durch Freud“1) und Ober-
STEIXER 6i), in Frankreich durch Düjardin-Beaumetz Eingang fand, folgte selion
1886 durch die Pnblicationen von Eklekmeyek **) über die Morphino-Cocaino-
mauie Ernüchterung. Jetzt ist man allgemein der Ansicht, das allerdings sehr
euphorische Mcdiearneut so viel wie möglich und bei der Anwendung insbesondere
die subcutane Applieationsweise zu vermeiden. Allerdings lässt es sieh nicht
leugnen, dass es mitunter in der allmäligen Entwöhnungscur bei heftigen Inanitious-
erscheinungen vorzügliche Dienste leistet. Bei solchen hält Obersteiner an
dem Mittel fest, das er aber nur innerlich in Dosen von 0,05 — 0,1 (höchstens
0.5 pro die) zulässt, schon am 3. Tage in kleineren Dosen giebt und am 6. Tage
völlig beseitigt.
Fast ebenso gefährlich wie die Ersetzung des Morphins durch Cocain
ist die durch grosse Dosen Spirituosa. wie sie Zambaco 6t) für die allmälige
Entwöhnungscur als stimnlirenden Ersatz der Morphiuminjcctionen empfohlen hat.
Sie kann nicht allein die Ursache zur Trunksucht werdeu, sondern auch zu
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MORPHIUM KRANK HEIT.
441
schweren Erscheinungen , besonders Psychosen führen. So hat Mabandox de
Montyel ea) einen Fall beschrieben, wo ein Arzt, der nach wiederholten plötz-
lichen Entziehungen immer wieder recidiv geworden war, das Morphin durch
grosse Alkoholdosen ersetzte und dann bei plötzlicher Abstinenz in eine Geistes-
störung verfiel, in der moralische Degeneration, sexuelle Vorstellungen und später
Wahnideen mit religiöser Färbung, zum Tlieil im Zusammenhänge mit Halluei-
nationen, eine grosse Rolle spielten. Da es keinem Zweifel unterliegt, dass die
Recidive der Morphiumkrankheit sehr häufig durch Excesse in spirituösen Getränken
hervorgerufen werden, ist der Vorschlag von Smith °') nicht abzuweisen, die der
Entziehungscur unterworfenen , an Alkoholgenuss gewöhnten Morphinisten zur
Alkoholabstinenz zu bringen, was in den allerverzweifeltsten Fällen in 2 — 3 Fällen
gelingt, ohne dass Abstinenzerscheinungen eintreten. Dass der Alkohol für Morphin-
euren absolut entbehrlich ist, kaun keinem Zweifel unterliegen; bei Collaps ist
er durch Actherinjectionen oder andere Mittel leicht zu ersetzen und stellt unbe-
dingt dem Morphium als dem besten Reizmittel nach. Nichtsdestoweniger ist er
noch Restaudtheil verschiedener Curen, z. B. der von Voisix °8) in dem Gefäng-
nisse der Pariser Präfectur benutzten, wo die Kranken nach der sofortigen Ent-
ziehung des Morphins 4mal täglich schwarzen Kaflee, ausserdem innerlich Pillen
ans Extractum Otntianae und Mica jianis , ferner eine sogenannte Potion de
Todd (40 Grm. Rum mit 30 Grin. Syrup. simpl ., 5 Grm. Tinctura Cinnamomi
und 75 Grm. Aqua) erhalten. Erlenmeyer, der die gewohnten Mengen von
Spirituosen beibehielt, warnt dringend von zu liberaler Gewähr von Alcoholica,
da die Kranken , welche am meisten trinken , sich nach Beendigung der eigent-
lichen Entziehung weit langsamer als Massige erholen. Stärkere Weine, Cognac
u. s. w. räth er auf alle Fälle für die letzten schweren Stunden der Cur auf-
zusparen.
Eine eigenthUuiliche Behandlungsmethode ist die von Bali, und Jexntxgs 80)
eingeführte Entwöhnung unter Beihilfe von Spartein und Nitroglycerin.
Diese basirt auf dem Umstände, dass diese beiden Substanzen in gleicher Weise
wie Morphin auf die Veränderungen der Pulscurve einwirken, die das Entziehen
des Morphins zuwege bringt und dass beide auch den Morphinhunger beseitigen.
Man soll Nitroglycerin da, wo die psychischen Abstinenzerscheinungen die somati-
schen itberwiegen, im umgekehrten Falle aber Spartein anwenden, doch können
auch beide Mittel combinirt werden, indem man innerlich 2 — 4 Tropfen l°/0iger
Nitroglycerinsolulion und subcutan 0,02 Sparteinsulfat verabreicht. In manchen
Fällen sollen auch die Mittel zweckmässig noch einige Zeit nach dem Ver-
schwinden der Inanitionssymptome fortgegeben werden. Sou.ieii 52 ) hält Spartein
bei Herzschwäche in der Entziehungsperiode zwar für brauchbar, zieht jedoch
Coffein vor.
Für die Verwendung des Atropins bei Entziehungscuren liegt bis jetzt
nur ein einziger von Koch.«'0) beobachteter Fall vor, wo es gelang, unter An-
wendung von A.sCHE'gchen Atropin-Morphintabletten bei einer Morphinistin an-
fangs in 10 Tagen die Tagesgabe von 0,7 — 0,5 unter gleichzeitiger wesentlicher
Besserung herabzudrfleken und bei vier Rückfällen das gleiche Resultat zu erhalten.
Dass dabei der sogenannte Antagonismus von Opium und Belladonna wohl kaum
in Frage komme, hebt Erlenmeyer ,a) mit Recht hervor; auch spricht der
Verlauf des ganzen Falles wenig für das Mittel. Selbst als symptomatologiseh
wirksames Mittel kann Atropin kaum bezeichnet werden, während für andere dem
Morphin substituirto Medicamente wenigstens die Möglichkeit einer Action gegen
einzelne intensiv hervortretende Abstinenzsymptome zugegeben werden kann. Man
darf aber auch den Werth dieser nicht überschätzen. So ist bei heftiger Erre-
gung der Effect von Bromkalium , Chloralhydrat oder Antipyrin in der 24- bis
36sttlndigeu Periode der Entziehung meist nur ein geringer, und protrahirte
warme Vollbäder (Erlenmeyer) und absolute Ruhe (Sollier) scheinen mehr als
Medicamente zu helfen.
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•142
MORPHIUMKRANKHEIT.
Eine wesentliche Verbesseruni; in Bezug auf Beschränkung der Abstinent-
erscheinungen überhaupt scheint ans dem Nachweise der starken Morphinelimi-
nation durch die Magenschleimhaut und der relativen Hyperacidität des Magen-
saftes hervorzugehen. Hitzig s<) gründete darauf die Methode, vor der Enk
Ziehung zur Beseitigung der Anacidität Salzsäure zu verordnen , und bei der
Entziehung zuerst den Magen nach einem Probefrühstuck regelmässig ausznhebern,
um das Morphin zu entfernen, und hierauf mit Karlsbader Salzlösung zur Neu-
tralisation auszuspülen. Eblexheyer >0) hat diese Methode, welche Hitzig bei
einem mehrmals recidiven Morphinisten mit dem Erfolge ausführte, dass nicht
nur die gastrischen, sondern fast alle Abstinenzerscheinungen ausblieben, modilicirt,
indem er die Ausheberungen fortlässt und sich auf die Salzsäuredarreichung vor
der Entziehung und bei der Entziehung auf die Neutralisation durch ein alkalische»
Natronwasser (Fachin'GER), von dem er ein Liter und mehr im Tage glasweise
verbrauchen lässt, beschränkt und an 14 Kranken das Ausbleiben der meisten
Abstinenzsymptome und die Abkürzung der Abstinenzperiode überhaupt ennstatirt.
Insbesondere bleibt bei der Fachingcrcur die für die Abstinenz constante Diarrhoe
ganz aus, während die vasomotorischen Escheinungen (Herzklopfen, leichte Gefiss-
parese, Kopfcongestioneni, ferner auch die Pupillenerweiterung und Schlaflosigkeit
nicht ganz wegfielen, aber erheblich milder verliefen. Den günstigen Eintiuss eiw
von ihm früher gerühmten Bromwassers bei Entziehungseuren glaubt Erlexmkyek
ebenfalls auf das darin vorhandene Xatriumbicarbonat zurückführen zu dürfen.
Wenn es vermittels dieser Methode gelingeu sollte, die Schlaflosigkeit,
die namentlich auch nach beendeter Entziehung dem Therapeuten viel zu schaffen
macht, und welche oft genug der Vorläufer einer tieferen Psychose ist, auf ein
Minimum zu beschränken, so wird damit die viel ventilirte Frage über die Indi-
cationen der Schlafmittel und deren Wahl zu einem sehr wünschenswertben Ab-
schlüsse gelangen. Dass Erlexmeyer die Schlaflosigkeit, wie sie bisher bei Ent-
ziehung vorkam , für ein „für Patienten und Arzt oft schreckliches Symptom"
erklärt, ist völlig berechtigt. Namentlich bei inveterirteu Morphinisten, die
12 Jahre und länger injieirt haben, führen oft die enormsten Gaben hypnotischer
Mittel, mag man sie isoürt oder combinirt auwenden , nur zu sehr wenig aus-
giebigem Schlafe. In solchen Fällen rätli Erlexmeyer zur Hypnose und zu
häufigerem Wechsel der Schlafmittel , selbst wenn eines darunter sich wirksam
erwiesen hat, auch zu längeren Ausfahrten, bei denen einzelne Patienten zum
Schlafe gelangen. Sollier hält ungeachtet der langen Dauer der Insomnie bet
schneller Entziehung Schlafmittel für eontraindicirt, weil die Kranken sich leicht
daran gewöhnen und wie vorher morphinsüchtig nun chloral- oder opinmsüehtig
werden. Von vielen Seiten wird namentlich Chloralhydrat perhorrescirt, und da nach
den Resultaten der Untersuchungen von Remektz 71) das Chloral den Eiweiss-
zerfall im Thierkörper sehr erheblich steigert, sind gegen dieses Schlafmittel in
der That gewichtige Bedenken vorhanden. MaylaEXDER *6) hat Sulfonal nach
Selbsterfahrung als das vorzüglichste Schlafmittel bezeichnet, Mattisokm) stellt
das Trional , das er bei Männern zu 2,5, bei Frauen zu 2,0 Abends nach der
letzten Morphiuminjection und dann unter allmäliger Verkleinerung der Gabe auf
die Hälfte an den nächsten 6 — 8 Abenden verabreicht, höher; doch ist man nach-
her oft genöthigt, auf I’araldehyd oder Chloralhydrat zu recurriren.
Von allen Seiten wird die Nothwendigkeit eines tonisirenden Verhalten?
bei Entziehungs- und Entwöhnungscuren betont. Soleier empfiehlt als besonders
zweckmässig Fleischgallerten , die auch bei starkem Erbrechen oft gut ertragen
werden, besser als Spirituosa, die bei Depressionszuständen manchmal sehr günstig
w irken , in einzelnen Fällen aber geradezu Erbrechen herbeifuhren , das den
Kranken sehr schwächen und selbst Reflexsynkope lierbeifütiren kann.
Gegen die bei Morphinistinnen nicht selten nach den Entziehungen cin-
treteuden Mcnstrualkoliken zeigt sich nach Erlexmeyer ss) manchmal Antipyrin
intern oder rectal applicirt sehr hilfreich.
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MORI’HIUMKRAXKHEIT.
443
In Bezug auf die Intensität der Abstinenzsymptome kann als feststehend
gelten, dass nicht blos die Höhe der gebrauchten Dosen, sondern namentlich auch
die längere Dauer der Einführung sie im Wesentlichen steigert. Bei einzelnen
Morphinisten, deren Gewohnheit seit 10 — 20 Jahren datirt , können die Erschei-
nungen schon bei der ersten Herabsetzung so heftig werden, dass die Cur nicht
vollendet werden kann. So beobachtete Eblenmeyer *•) bei einem Manne, der
Uber 20 Jahre die Morphinspritze gebraucht hatte , als die Dosis auf 0,35 ge-
bracht war, Eintritt von solcher Herzschwäche, Dyspnoe, Oedemen und Schlaf-
sucht (Gehirnödem) , dass die weitere Entziehung unmöglich wurde. Das Vor-
kommen von Synkope in der Reeonvalesceuz wird von Obeksteixer % und von
Bali, und JKKOTKG8 •») constatirt. Die Methode der Entziehung hat insoferne Ein-
fluss, als die I.EVlNSTElN’sche Methode die heftigsten, das HlTZJG-ERLEXMEYEk’sche
Verfahren die geringsten AliBtinenzsymptomc liefert. Andererseits ist die geringe
Stärke oder selbst das Ausbleiben der Morphininauitionssymptome kein Beweis
für eine vollständige Heilung, da die besonders im Laufe der Reeonvalesceuz bei
nicht genügender Aufsicht eintretenden Recidiven auch bei der IIitzig-Erlex-
MEYER’sehen Methode Vorkommen. Man hat vielfach der allmäligcn Entwöhnung
nachgerühmt, dass sie in Bezug auf Recidiveu mehr als die Entziehungsmethoden
leiste ; indessen liegt ein zuverlässiges statistisches Material in Bezug auf diese
Frage nicht vor. Sollier nimmt nach seinen allerdings nur auf ein halbes
Hundert von Patienten und auf einen Zeitraum von 4 Jahren beschränkten Er-
fahrungen bei der ERLEXMKYKK’schen Methode 30% Rückfälle an. Weit pessi-
mistischer dagegen und geradezu traurig lautet der Ausspruch von Eklenmeyer
selbst: „Ich will nicht sagen, dass 99% rückfällig werden, gewiss aber 98%.
Aber cs ist ja gewöhnlich schon viel damit gewonnen , wenn der Kranke selbst
nnr auf eine grössere Zahl von Monaten oder Jahren morphiumfrei bleibt.“ Als
von grösster Bedeutung für die Verhütung der Recidiven wird allseitig die stete
Beaufsichtigung des Kranken im Schosse seiner Familie für mindestens ein
halbes Jahr nach Schluss der Cur besonders betont. Mit W. Lkvinstein ist ins-
besondere vor dem Herumreisen in Bädern und Sommerfrischen zu warnen, zumal
da die Reconvalescenten dort Gefahr laufen, mit anderen Morphinisten zusammen-
zutreften und von diesen zur Wiederaufnahme der mit Mühe losgewordenen In-
jectiouen aufs Neue animirt zu werden.
Dass die Cur der Morphiumkrankheit nicht in der Familie, sondern in
einer geschlossenen Anstalt durchzuführen ist, wird jetzt allgemein anerkannt. In
Amerika benutzt man besondere Asyle, meist für Morphinisten und Alkoholiker
gemeinsam. Dass es nicht zweckmässig ist, Morphiumkranke mit Patienten der-
selben Art zusaramenzubringen , ist wohl nicht zu leugnen und spricht gegen
derartige Specialanstalten. Ebi.EXMEYER hebt hervor, dass Trinkerasyle und
Morphiumanstalten die sociale Stellung der Kranken bei uns gefährden, so dass
die Verbringung in eine derartige Austalt bei Beamten Gruud zur Verabschiedung
geben könnte. Wirklich geisteskranke Morphinisten gehören selbstverständlich in
eine Irrenanstalt, wohin man bei uns die Mehrzahl der Morphiumkranken über-
haupt verweist. SBXLECQ **) erklärt mit Recht auch die Insassen von Irren-
anstalten für keine passende Gesellschaft für uichtgeisteskranke Morphinisten.
Am zweck massigsten sind öffentliche Krankenhäuser, vorausgesetzt, dass deren
Einrichtungen genügende Sicherheit bieten, um den Verkehr des Kranken mit
der Ausseuwelt zu überwachen uud ein zuverlässiges Wartepersonal zur Ver-
fügung steht.
Die Frage, wie sich der Staat gegen die Morphiumkranken zu ver-
halten hat, ist verschieden beantwortet. Von vielen Seiten sind energische Mass-
regeln gegen diese gefordert. Am radiealsten will Happel**) vorgegangen wissen,
der gesetzliche Massregeln fordert, wonach alle Potatoren und Opiophageu als
für das Publicum gefährliche Personen in eine Irrenanstalt gebracht werden und
dort festgehalten werden sollen, bis sie curirt sind. Achnliche Massnahmen sind
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MORPHIUM KRANKHEIT.
aueli in Frankreich wiederholt befürwortet. Das dagegen von Sollier u. A.
geltend gemachte Bedenken, dass die gegen ihren Willen Demorphinisirten stets
wieder morphiumkrank würden, hat keine besondere Bedeutung, wenn man die
schlimme Prognose der Morphiumentziehung bei freiwillig Entsagenden, wie sie
namentlich Eri.knmeyer ausgesprochen hat, in Erwägung zieht.
Eine überall erwünschte Massregel ist staatliche Beschränkung des Mur-
pbiumverkaufs , wie sie in Deutschland z. B. in dem Verbote der Abgabe von
Morphium oder Opium ohne ärztliches Recept, der Reiteratur von Opinm- oder
Morphinrecepten ohne Genehmigung des Arztes existiren. Vernichtet wird da-
durch die Affection nicht, da einerseits die Aerzte selbst, wie gesagt, eine be-
deutende Zahl der Morphiumkranken bilden, andererseits sich allzuleicht dunkle
Menschenfreunde finden, die den Morphinisten neues Material liefern. Dass auch
der GrosBverkauf des Morphins Beschränkungen unterliegen muss und Opium-
präparate und Morphin unter den Vorräthen der Detaildroguisten durchaus nicht
zu dulden sind, liegt auf der Hand.
Die Beurtheilung der Zurechnungsfähigkeit der Morphinisten
in Bezug auf criminell strafbare Handlungen, die sie begehen, ist ein nament-
lich in Frankreich vielbesprochenes Capitel. Es ist im Allgemeinen der Satz
aufzustellen, dass das habituelle Morphiumspritzen an sich nicht unzurechnungs-
fähig macht, dass aber in einer grösseren Anzahl von Fällen Aufhebung der
Zurechnungsfähigkeit hei Morphiumkranken existirt, ohne dass diese eine be-
stimmte Form von Geisteskrankheit darbieten. Dass im Laufe der Entziehung
des Morphins in Anstalten sich ein Zustand von Angst und Unruhe einstellt, zu
deren Beseitigung der Kranke nur in dem Morphium sein einziges Heil erblickt,
das er unter allen Umständen sich verschaffen zu müssen glaubt, ist bekannt
genug. Es ist auch bekannt , dass in dieser Zeit, um Eri.ENMEYEr’s Worte
zu gebrauchen, jener „unheimliche Seclenzustand auftritt, für den die Bezeichnung
Demoralisation noch viel zu gelinde ist“, in welchem der Kranke seinen inneren
Halt verloren hat und in welchem er nicht mehr zu unterscheiden vermag, ob
die Mittel, deren er sich bedient, um Morphin herbeizuschaffen, erlaubt oder
gesetzlich verboten ist. Schon Levinstein hat die Morphinisten in diesem Zu-
stande der Abstinenz für unzurechnungsfähig erklärt. Ganz derselbe Zustand,
der bei der Entziehungscur sich rasch nach ihrer Beendigung verliert, kann
aber auch hervortreten, ohne dass eine reguläre Entziehungscur stattfindet, wenn
dem Morphiumkranken der Morphiuravorrath plötzlich ausgebt, oder wenn ihn
äussere Umstände hindern , zur rechten Zeit die Morphiuminjcction zu machen,
welche ihm die ersehnte Euphorie wiederzugeben im Stande ist. Verschiedene
Fälle liegen vor, wo derartige Morphiumkranke Einbruchdiebstähle, Urkunden-
fälschungen und ähnliche Verbrechen begingen , um in den Besitz des ihnen
unentbehrlichen Morphins zu gelangen und sich der begangenen Handlung als
einer durchaus nicht entehrenden rühmten. So erzählt Marandon de MONTYEL
von einem morphiumkranken Rechtsanwälte, dem auf einer Seereise vom Schiff--
arzte das Morphin verweigert wurde und der saus fai;on die Arzueicabine erbrach
und sieh den ganzen Morphiumvorrath , wie er selbst scherzweise erzählte, an-
eignete. Wie lief die Moralität bei derartigen Kranken sinkt und wie selbst die
heiligsten Gefühle, z. B. die Mutterliebe, durch die Morphiumkrankheit erlöschen,
zeigt insbesondere ein Fall von Gitmbajl5*), in welchem eine Mutter ihre Kinder
elend verkommen liess, während sie selbst verschiedene Diebstähle ausführte, um
sieh Morphin zu kaufen, ln solchen Fällen ist die Zurechnungsfähigkeit als auf-
gehoben zu betrachten, selbst wenn die Verbrechen in geschickter oder geradezu
raffinirter Weise begangen wurden, ln einem derartigen Falle brachte z. B. die
Diebin die gestohlenen Waaren in das Magazin, dem sie sie entnommen, zurück,
um sie als für sie unpassend zu bezeichnen und sieh den Geldbetrag dafür
zurOckgcben zu lassen. Dass übrigens nicht alle derartigen an Morpbingebratich
gewöhnten Diebinnen unzurechnungsfähig sind, braucht kaum betont zu werden.
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MORPHIUMKRANKHEIT.
445
In der von Gaudry 74) veranstalteten reichen Sammlung von Füllen, in denen
an den habituellen Genuss des Morphins gewöhnte Personen wegen diverser
Delicte mit den Gerichten in Confliet kamen , finden sich solche , in denen die
Gewohnheit offenbar benutzt wurde, um straflos auszugehen. Der Arzt wird sein
Augenmerk immer darauf zu richten haben , ob die betreffende Person in der
Zeit ihres Deliets Mangel an Morphin litt. In Fällen, wie sie Gacdry’s Casuistik
aufweist, wo eine Diebin sich unmittelbar vor dem Diebstahl noch eine Injection
macht, um ihren Muth zu dieser Handlung zu beleben, oder wo eine solche be-
hauptet, dass ihr die Morphiumeinspritzung einen unwiderstehlichen Trieb zum
Stehlen mache , wird der Sachverständige stets jede Verminderung der Zu-
rechnungsfähigkeit bestreiten müssen. Dass nicht blos Verbrechen gegen das
Eigenthum, sondern auch gegen die Person unter dem Einflüsse der Morphium-
krankheit begangen werden können, um sich Morphin zu verschaffen, liegt klar
zutage. Es ist auch in hohem Masse wahrscheinlich, dass bei Morphiumkranken,
die bis zu sehr hohen Dosen gestiegen sind und bei denen wiederholt Mangel
an Morphin zu den erwähnten Angstanfällen und der begleitenden Demoralisation
führen, ein chronischer Zustand, in welchem die Kranken der Unrechtmässigkeit
von ihnen begangener Handlungen sich nicht bewusst sind, besteht. Als Morphinist
dieser Art wird von Gujmbail, Ball u. A. der englische Giftmörder Dr. Larason,
der seinen Schwager mit Aconitin vergiftete und das Verbrechen mit dem Tode
basste, angesehen. Man wird bei sachverständiger Beurtheilung dieser Källe auch
in Betracht zu ziehen haben, ob der Thäter im Zustande der Morphiuminanition
gehandelt hat oder nicht. Selbstverständlich ist auch die Möglichkeit des Aus-
bruches eines maniakalischen Anfalls oder eines Delirium bei Morphinisten im
Auge zu behalten, wie es in einem Falle von Hallez vorhanden w’ar, in dem
ein Morphinist einen ihm völlig unbekannten Menschen ohne jeden Grund auf
der Strasse tödtete.
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Nederld. Ti jd sehr, voor Pharm. 1893, pag. 357. — *) M o i 8 s a n , Etüde chimique de la fumee
d'opium. Compt. rend. 1892, CXV. pag. 988. — *)Gr6hant u. Martin, Recherchen physio-
logiques aur la fumee d'opium. Ibid. pag. 1012. — 10) Paster, Ein Fall von Opiumver-
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morphinomanie chez len animaux. Compt. rend. 1887, CXIV, pag. 1195. — ia) Oberateiner,
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ph inisme aigu et chromque chez le chat. Lyon med. 1891, Nr. 33 u. 34. — u) Rotch,
Casea of atropine and opium poiaoning in early life. Boston med. and snrg. Joum. 10. März
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man es. Compt. rend. 1 ><87, CXIV, pag. 864 — **) Sollier, La dcmorphiniaation et U
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Lew inst ein, Die Therapie der Reconvalescenz nach Morphium- und Corainentziehoog
Deutsche med. Wochenschr. 1888, Nr. 35, pag 715. — 44) Richard Wagner, Ueber Mor-
phiumentwölinung. Ebenda. 1888, Nr. 35, pag. 715- — 4|) Mayländer, Selbsterfahrnngea
während der Morphiumkrankheit und deren Behandlung mit besonderer Berücksichtigung der
secundären Abstinenzperiode. Halle 1889. — 4<) Emmerich. Die Heilung des chroni-
schen Morphinismus ohne Zwang und Qual. Berlin 1894. — 47) Ed. Lew instein, Di«
Morphiumsucht. Berlin 1887. (1883, 3. Aufl.) — 4B) Senlecq, Un caa de motphi nomamt.
Annal. mW. psych. 1888, pag. 24 — 4Ö) Burkart, Die chronische Morphiumvergiftung
und deren Behandlung durch allmälige Entziehung. Bonn 1880; Die Behandlung der chro-
nischen Morphiumvergiftung. Wiener med. Presse. 1880, pag. 703, 786, 804; weitere Mit-
theilungen über chronische Morphium Vergiftung und deren Behandlung. Bonn 1882. —
w) Franz Müller, Ueber Morphinismus. Wiener med. Presse. 1880. pag. 297, 332, 361.—
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pag. 197. — M) Gilles de la Tou rette, Traitement de la moiphinomanie . Bull. gen. de
therap. 15. September, pag. 221. — **•) M. Rosenthal, Zur Behandlung des Morphinismus
und Chloralismns. Wiener med. Presse. 1889, pag. 1441. — 54) Pollak, Ueber die thera-
peutische Verwendbarkeit des Codein. Therap. Monatsh. November- December 1893. — w) La-
ll orde, Etüde experimentale d’un nouveau produit tiri de V opium et prestntani les pro-
prillea physiologiques et therapeutiques de la narceinc, la nteconarceine. Bull, de l'Acad.
de med. 18*8, Nr. 19, pag. 615. — M) Fromme, Die Abstinenzcur des Morphinismus« mit
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and human treatment of the morphine disease . Med. Record. 23. December 1893 —
*•) Birch, The nee of Indian hemp in the treatment of chronic opium and chronic chlor«!
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41) F reud, Beitrag zur Kenntniss der Cocainwirkung. Wiener med. Wochenschr. 1885, Nr 5. —
•*) Obersteiner, Zur internen Anwendung des Cocains bei Neurosen und Psychosen Wiener
med. Presse 18*5, Nr. 40 — <5) Erlen m eye r, Ueber Cocainsucht. Wiener med. Blätter lN?6,
Nr. 22. — 44 ) Obersteiner, Ueber Morphinismus. Wiener med. Blätter. 1891. Nr. 47. —
•*) Zamba co. De la morpheomanie. Gaz. des höp. 1883, Nr. 5, pag. 36. — •*) Marandon
de Montyel, Contributiona ä Vitude de la mor phinomanie. Annal. med. psych. Januar
18*5. — Smith, Zur Behandlung der narkotischen Suchten. Münchener med. Wochenschr.
1*94, Nr. 34. — Ä8) Voisin, Traitement de la morphinomanie par la mithode de la
suppression brusque. Semaine mW. 1894, pag. 297. — **) Ball u. Jennings. ConsuMrfr
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Jennings, The relief of the morphia crating hy sparteine and nitroglycerine. Laneet.
25. Juni 18s7, pag 12. — 70) W. Kochs, Atropin bei Morphinismus. Therap. Monatsh. 1893,
pag. 539. — Tl) Erlen me yer, Atropin bei Morphinismus. Ebenda. 1894, pag. 14. — T9 R«-
n-ertz, Ueber die Beeinflussung der Schwefel- und Stickstoflausseheidung im Hundeham durch
Chloralhvdrat. Halle 1893. — *3) Guimbail, Crime* et delit« commis par les morph iomane*.
Annal. d’hygidne publ. Juni 1*91, pag 481. — ;4) Claudius Gand ry, Contribtition d
V/tude du morphinisme chronique et la responsabilite pdnale chez les morph inomanes. Coolem-
miers. 1866. Pariser Thfese. 1886, Nr. 312. Husemann.
MYELITIS.
447
Myelitis (Rücken m arksentzündun g). Myelitis transversa acuta
et chronica. Enceplialomyelilis disseminata acuta.
Einleitung. Definition des K ra n kh e i t sbeg ri ffcs. Eine
systematische Darstellung der Lehre von der Myelitis , der Entzündung des
Rückenmarkes, gehört ohne Frage heutzutage zu den schwierigsten Aufgaben auf
dem Gebiete der inneren Mcdicin. Wohl auf kein anderes Capitel kann man
Heracut’s irivTa pst mit grösserer Berechtigung anwenden. Um sich davon zu über-
zeugen, braucht man nur die Anschauungen der auf dem Gebiete der Rückenmarks-
krankheiten massgebendsten Autoren in Kürze neben einander zu stellen. Oppen-
heim S1), dessen Verdienst es ist, die ganze Frage neuerdings durch einen energischen
Angriff gegen das alte Lehrgebäude der Myelitis zur lebhaften Discussion ge-
bracht zu haben, kommt auf Grund seiner ausgedehnten Erfahrungen zu dem
Schlüsse, dass die Lehre von der Myelitis wesentlich mehr in Dunkel gehüllt sei
als die der anderen Rückenmarkskrankhciten , dass, nachdem durch die Fort-
schritte der letzten beiden Jahrzehnte immer mehr einzelne, klinisch und patho-
logisch wohl abzugrenzende Krankheitsbilder erkannt worden sind, eieren Sonder-
stellung sich meistentheils auf Kosten der Myelitis vollzog, die reine Myelitis
eine seltene Erkrankung geworden sei, deren Diagnose man nur nach Ausschluss
aller anderen Möglichkeiten stellen dürfe, dass aber namentlich die chronische diffuse
Myelitis ein durch Klinik und pathologische Anatomie nur in sehr geringem
Masse gestütztes Krankheitsbild sei — in den meisten Fällen dieser Art handle
es sich um multiple Sklerose. Im vollen Gegensätze dazu bezeichnet Leyden**)
das Capitel der Rückenmarksentzündung als eines der best gekannten — er
rechnet ferner alle chronischen Rückenmarkskrankheiten, abgesehen von der
Tabes dorsalis, der progressiven spinalen Muskelatrophie, der FRlEDREiCH'seben
Ataxie und der Syringomyelie zur Myelitis, vor Allem auch, und mit besonderer
Begründung, die sogenannten combiuirten Systemerkrankungen. Auch Gowers3*)
hält die Myelitis acuta für eine recht häufige Erkrankung — er spricht sogar
von einer besonderen Neigung des Rückenmarkes zu entzündlichen Processen
und rechnet dabei allerdings noch Dinge zur Myelitis — wie die Compression
und traumatischen Affectionen des Rückenmarkes — die man heute wohl besser
davon abtrennt, ebenso trennt er die einfachen nicht von den entzündlichen Er-
weichungen. Pierre Marie*4) wieder hält es bei dem heutigen Standpunkte der
Wissenschaft nicht für möglich, eine wissenschaftlich begründete allgemeine Ab-
handlung Uber die Myelitis zu schreiben. Selbst der Name Myelitis gebe zu
Controvcrsen Anlass. Ebenso könnten die ätiologischen Momente nicht ausschlag-
gebend sein, da unsere Kenntnisse in dieser Beziehung noch zu unvollkommen
und unsicher sind. Den Begriff der Myelitis ganz zu unterdrücken, sei vielleicht
schwer, man müsse speciell aus praktischen Gründen an ihm noch festhalten,
aber seine Anwendung soviel als möglich einschränken. Diese paar Citatc genügen
wohl, um die Sprödigkeit des Themas zu charakterisiren und zu zeigen, wie un-
sicher der Boden ist, auf dem wir uns hier bewegen. Im Ganzen steht ja aller-
dings Pierre Marie*4) auf der Seite Oppenheim’s21), er ist nur noch radicaler
als dieser und es mag hier gleich gesagt werden, dass, soweit ich das beurtheilcn
kann, der Standpunkt Oppenheim’s und nicht der Leyden’s von dem
grössten Theile der jetzigen Ncuropathologen getheilt werde. Auch ich halte es
beim heutigen Standpunkte der Wissenschaft für richtiger, alle diejenigen früher
einfach zur Myelitis gerechneten Krankheitsbilder, die sich einigermassen durch
bestimmte klinische, pathologisch-anatomische, ätiologische oder andere Momente
auszeichnen, zunächst einmal als gesonderte Krankheitsbilder in allen ihren Einzel-
heiten zu erforschen und zu discutiren, selbst wenn es sich bei einzelnen der-
selben um echte entzündliche l’rocesse handelt. Es ist dabei keineswegs gesagt,
dass nicht über kurz oder lang bei weiterem Fortschreiten unserer Erkenntnis»
viele der jetzt scharf getrennten Krankheitsbilder sich wieder zu einer höheren
Einheit werden zusammenfassen lassen — Anfänge dazu finden sieh schon an
448
MYELITIS.
manchen Stellen — , für jetzt aber wird der Forschung und speciell auch der
Klinik durch eine möglichste Spccialisirung der einzelnen Krankheitsbilder und
den besonderen Hinweis auf ihre Differenzpunkte noch mehr gedient sein. Vor
Allem kommt es also — will man an eine systematische Darstellung der Myelitis
herangehen — auf eine möglichst scharfe Definirung und Umgrenzung des Krank-
heitsbegriffes an. Nur dadurch wird es schliesslich möglich sein, in dem bisher
hier herrschenden Chaos Ordnung zu schaffen und schliesslich eine zwar kleine,
aber sicher hierhergehörige Gruppe von Krankheitsfällen auszuscheiden und an
ihnen das Krankheitsbild der Myelitis zu entwickeln. Wie ist das nun am besten
anzufangen? A priori sollte man meinen, es könne wenigstens vom pathologisch-
anatomischen Standpunkte aus nichts leichter sein als eine sichere Unterscheidung
der Myelitis, der auf Entzündung beruhenden Erkrankung des Rückenmarkes von
anderen Erkrankungen dieses Organes. Aber wenn die physiologische und patho-
logisch-anatomische Definition der Entzündung überhaupt eine immer noch schwierige
und mit neueren Erfahrungen wechselnde ist, so trifft dies ganz besonders für das
Rückenmark zu. — Wir sind hier heutzutage kaum besser gestellt als vor
20 Jahren, als Ebb15) für die 2. Auflage von Zikmssen’s Speeieller Pathologie
und Therapie die Rückenmarkskrankheiten schrieb. Auch heute noch sind die
Anschauungen der Autoren über das, was man als echte Entzündung, als ein-
fache Erweichung und als degenerative Atrophie der Medulla bezeichnen soll,
sehr verschieden und stehen manchmal schroff einander gegenüber. So wird, um
nur ein Heispiel zu nennen, die spinale Kinderlähmung heutzutage von den
meisten Autoren als eine sicher entzündliche Infectionskrankhcit angesehen, von
einzelnen aber immer noch als eine primäre degenerative Atrophie im Sinne
Charcot’s. Auch die pathologische Histologie hilft uns hier wenig — sie steckt für
das Rückenmark überhaupt noch so ziemlich in den Kinderschuhen. Der Nachweis
speeieller Entzündungserreger gelang bisher nur in ganz vereinzelten Fällen ; sehr
selten sind überhaupt noch die bald nach dem Beginne der Erkrankung zur
Section gekommenen Fälle, bei denen das histologische Bild im Uebrigen die un-
verkennbaren Zeichen einer echten Entzündung darbot — die Befunde in älteren
abgelaufenen Fällen aber und bei der chronischen Myelitis während ihres ganzen
Verlaufes, zeigen keineswegs ein wohl abgegrenztes, sie speciell als Entzündung
charakterisirendes Bild, sie unterscheiden sich, wie wir sehen werden, nicht von
den Bildern, die man bei abgelaufenen anderen Affectionen, die nichts mit einer
Entzündung zu tliun haben, z. B. bei der schweren Compression oder bei der
Quetschung des Rückenmarkes zu sehen bekommt. Auch die pathologische Anatomie
ist also nicht im Stande, als sichere Leitschnur bei der Definition dieser Erkran-
kung zu dienen.
Will man im Sinne der oben angeführten, von Oppenheim ') und Pikree
Marie1! gegebenen Direetive den Begriff’ der Myelitis möglichst eng fassen —
was zunächst einen besonderen praktischen Werth für die Klinik, dann aber auch
durch die Möglichkeit einer immer feineren Ausarbeitung der einzelnen Krnnk-
hcitsbilder eine nicht zu unterschätzende wissenschaftliche Bedeutung schon gehabt
hat und jedenfalls für längere Zeit noch haben wird, so ist nach meiner Ansicht
der einfachste Weg, um zu dieser — s. v. v. — Reindarstellung der Myelitis
zu gelangen, dieselbe an der Richtschnur der durch die Forschungen speciell der
letzten 20 Jahre herbeigeführten historischen Entwicklung des Begriffes
der Myelitis zu versuchen. Man braucht dabei nicht streng chronologisch zu ver-
fahren, kann auch an einzelnen Stellen eigene, von den bisherigen einigermassen
abweichende Ansichten einfügen — im Ganzen wird man aber bei dieser Methode
doch zugleich eine Uebersicht Uber die Geschichte der Myelitis in der neuesten
Zeit — etwa in den letzten 15 Jahren — geben. Man wird dabei sehen, dass
die allmäliche Abtrennung immer neuer Theile von dem früher so weiten
Gebiete der Myelitis keineswegs nach einheitlichen , sondern nach den ver-
schiedensten, an Werth sehr ditlerirenden Gesichtspunkten erfolgt ist; waren
MYELITIS.
449
es zum Theil wirklich wissenschaftliche Momente, die dazu führten, so kamen
an anderen Stellen, wie wir sehen werden, rein praktische Beziehungen oder
anch die Rücksicht auf eine gewisse Tradition, auf die besondere historische
Entwicklung eines Krankheitsbildes, auf die mit ihm verknüpften berühmten
Namen, ferner auch ganz sperielle klinische Besonderheiten für die vorläufige
und einstweilen aufrecht erhaltene Abtrennung in Betracht.
Als Leyden 18) sein Hauptwerk — die Klinik der Rückenmarkskrank-
heiten — schrieb, machten die Capitel der acuten und chronischen Myelitis,
trotzdem auch dieser Autor schon einzuschränken suchte, einen sehr grossen
Theil der gesammten Rückenmarkspathologie, ja, man kann wohl sagen, der Neuro-
pathologie überhaupt aus. Leyden rechnete damals zur acuten Myelitis die Com-
pressionsinyelitis, die acute spontane Myelitis, wozu er auch die acute Bulbär-
paralyse zählte, die acute spinale Lähmung Erwachsener (Poliomyelitis anterior
adultorum acuta), die acute aufsteigende Paralyse, die Refrigerationslähmung,
die acute Ataxie, zur chronischen Myelitis unter Anderem die Tabes, die sym-
metrische Sklerose der Seitenstränge und die multiple herdförmige Sklerose. Da
einerseits auch ein grosser Theil seiner Reflex- und Intoxicationslähmungen heute
zu Myelitis gerechnet werden müssen, auf der anderen Seite aber die multiple
Neuritis noch nicht bekannt war, so erkennt man leicht, wie wenig neben der
Myelitis eigentlich übrig blieb. Auch bei Erb17) nimmt das Capitel der Myelitis
noch den bedeutendsten Raum ein; immerhin ist sich Erb doch schon der Un-
sicherheit dieses ganzen Gebietes bewusst — namentlich führen ihn zu dieser
Ansicht allgemein pathologische Gründe, er weist mit Nachdruck darauf hin,
dass man gar nicht bestimmt Bngen könne, was im Rückenmurke als echte Ent-
zündung zu bezeichnen sei, und er trennt mit Schärfe die entzündliche von der
compressiven und vasculärcn Erweichung. Wie sehr sich diese Sachlage auf Kosten
der Myelitis heute geändert hat, beweist am besten ein Blick auf die paar Seiten,
die Oppenheim *“) in seinem Lehrbuche der Myelitis widmet. Und wenn auch
Leyden2*), wie wir gesehen haben, auch heute noch den Begriff der Myelitis viel
weiter fasst als die meisten anderen Autoren — er selbst ist in hervorragender
Weise für die Einschränkung dieses Krankheitsgebietes tbätig gewesen, ich meine
durch seine bahnbrechenden Forschungen Uber die Neuritis multiplex. Durch
die von Leyden vor Allem bewirkte Erkenntniss , dass ein grosser Theil rasch
eintretender, weit verbreiteter, manchmal rein motorischer, meist aber auch mit
sensiblen Störungen verknüpfter Lähmungen nicht, wie bisher angenommen, auf
eine Erkrankung des Rückenmarkes, sondern auf eine solche der peripheren
Nerven zurüekgeführt werden müsste, musste natürlich der Diagnose der acuteu
und subacuten Myelitis eine sehr viel seltenere als früher werden. Diese Ein-
schränkung betraf in erster Linie die von Duchenne aufgestellten Krankheits-
bilder der acuten und subacutcn Poliomyelitis anterior adultorum , dann aber auch
wegen der vorhandenen Gefühlsstörungen die eigentliche diffuse und transversale
Myelitis: die ersteren Krankheitsbilder schienen eine Zeit lang fast ganz in
Frage gestellt und ihre Seltenheit ist noch immer anerkannt ; und wenn sich auch
neuerdings immer mehr die Erkenntniss Bahn bricht, dass auch in Fällen deut-
licher multipler Neuritis ein vollständiges Freibleiben des Rückenmarkes jeden-
falls recht selten ist, so dass sich, wie besonders Oppenheim ,()) hervorhebt, echte
Myelitis und Neuritis sehr oft mit einander verbinden, so kann das natürlich der
Selbständigkeit des Krankheitsbildes der multiplen Neuritis keinen Abbruch
thnn , und wie sehr das Gebiet der Myelitis durch die Neuritis eingeengt ist,
erkennt man wohl am besten daraus, dass in der Praxis in den meisten
Fällen , wo heutzutage nur zu oft die Diagnose zwischen Neuritis und Myelitis
schwankt, dieselben, wrenn nicht schon früher, so durch den Verlauf zu Gunsten
der Nduritis entschieden werden muss. Die Diagnose der multiplen Neuritis
ist für den Neuropathologen von heute eine häufige , die der Myelitis eine
sehr seltene.
Encyclop. Jahrbücher. VI.
29
450
MYELITIS.
Nicht in 80 ausgedehntem Masse wie durch die Neuritis, aber immerhin
in merkbarer Weise verlor die Myelitis an Terrain durch die neueren Forschungen
über die functionellcn Nervenkrankheiten. So hat man früher einen Theil der
schweren Formen von traumatischen Neurosen, deren psychische Natur jetzt wohl
sicher steht, mit Bestimmtheit zur Myelitis gerechnet und auch die sehr erweiterten
Kenntnisse über die Hysterie lassen uns in vielen Fällen diese besonders pro-
gnostisch so wichtige Diagnose stellen, in Fällen, wo früher die irrige Annahme
einer Myelitis nicht zu umgehen gewesen wäre.
Kann bei den oben erwähnten beiden Krankheitsformen Uber die absolute
Berechtigung ihrer Trennung von der Myelitis schon deshalb kein Zweifel seiu,
weil das Rückenmark bei ihnen überhaupt nicht oder nur unwesentlich betheiligt
ist, so kommen nun in zweiter Linie Krankheitsbilder, die zwar durch eine Er-
krankung des Rückenmarkes selbst, aber sicher nicht durch eine Entzündung hervor-
gerufen sind, früher aber zur Myelitis gerechnet wurden, weil man sie überhaupt
nicht genügend kannte oder sie irrthümlicher Weise als inflammatorische Procesw-
ansah. Ehe man z. B. das Symptomenbild der Syringomyelie genau erforscht
hatte, sind sicherlich viele Fälle derselben einfach zur Myelitis gerechnet worden,
und die Kenntniss, dass es sich bei der chronischen (Tuberkulose der Wirbelsäule.
Tumoren) oder acuten (Trauma) Compression des Rückenmarkes nicht tim eine
Compressionsmyelitis, sondern um nicht entzündliche Vorgänge, wie Oedem,
Nekrose etc. und dadurch hervorgerufene einfache Erweichung handelt, verdanken
wir erst der neuesten Zeit (Schmauss**). Wie sehr aber gerade wieder die Diagnose
der Myelitis, speciell der chronischen, umgrenzt würde, wenn wir in allen Fällen
im Stande wären, als Ursachen einer Paraplcgie von vornherein eine Tuberkulose
der Wirbelsäule oder einen Tumor zu erkennen, leuchtet ohne Weiteres ein;
gerade hier müssen wir uns häutig mit der provisorischen Diagnose einer Myelitis
begnügen, und erst später tritt die eigentliche Natur der Erkrankung zutage.
Für die Wirbelsäulentuberkulose hebt das besonders Oppenheim ,i) hervor und
Allen Starr10) sagt ausdrücklich, dass in den meisten Fäilen von Rückenmarks-
tumor die falsche Diagnose einer Myelitis gestellt worden sei.
Man war früher — und viele Autoren, ich nenne z. B. Gowersss), sind
es bis heute — geneigt, die recht häufig bei syphilitisch Iuficirten mehr oder weniger
acut eintretenden Paraplegien der Beine, die sich fast stets mit Störungen von
Seite der Blase und wechselnd starker Atfection der Sensibilität verbinden —
im weiteren Verlaufe tritt häufig eine erhebliche Besserung oder unvollkommene
Heilung, spastische Parese mit erhöhten Sehnenreflexen ein — auf eine syphi-
litische RUckenmarksentzUndung zurüekzuführen und in diesen Fällen von einer
Myelitis transversa syphilitica , meist dorsal is , zu sprechen. Ja man kaun wohl
sagen, und das hebt z. B. neuerdings noch Erb*’) hervor, dass der grösste Theil
der als sogenannte acute transversale Myelitis beschriebenen Fälle bei Syphilitisches
beobachtet ist und sich als das oben kurz skizzirte Krankheitsbild darstellt, ja
noch mehr, dass das pathologisch-anatomische und klinische Symptomenbild der
acuten Myelitis fast allein aus diesen Fällen construirt ist. Ich bin aus ver-
schiedenen Gründen schon lauge der Anschauung gewesen, dass es sich in diesen
Fällen in der Regel nicht um eine Entzündung, sondern um eine auf Get'ässerkran-
kung beruhende ischämische Erweichung handelt. Hauptsächlich spricht dafür
das sehr acute, oft apoplektiforme, viel seltener subacute Einsetzen der Lähmung,
das fast vollständige Fehlen aller Schmerzen und sonstigen Reizerscheinungen, die
immer nur unvollkommene Heilung und die Wirkungslosigkeit der antisyphili-
tischen Therapie, nicht zum wenigsten auch der Umstand , dass ganz analoge,
auf Blutgefässerkrankung beruhende Erweichungen im Gehirn bei Syphilis von
allgemein anerkannter Häufigkeit sind. Mannkopf *8) und Marchand 30) haben
schon vor Jahren f ». Inaug.-Dissert. von Tietzen**) dieselbe Ansicht vertreten und
neuerdingt schlicssen sich ihr auch Pierre Marie -*), Lamysi) und Leyden-Gold-
SCHEIDER ss) an. Ich verkenne dabei natürlich nicht, dass ein Theil sehr ähnlich
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MYELITIS.
451
verlaufender Fülle auf gummöser Meningomyelitis beruht — namentlich werden
das Fälle mit deutlichen Reizerecheinungen, mit mehr subacutem, zum Theil
remittireudem Verlaufe und mit deutlicher Reactiou auf eine Hg-ßehnndlung sein
— und dass es in sehr seltenen Fällen vielleicht auch einfache, aber echt syphi-
litische Entzündungen des Markes giebt — die werden dann wohl primär als
perivasculäre Herde entstehen oder ebenfalls von der Pia ausgehen (Lamy31) —
aber schon die gummösen Meningomyelitiden treten an Zahl sehr hinter den
einfachen vasculären Erweichungen zurück — die meisten Beobachtungen soge-
nannter syphilitischer Myelitis haben mit einer eigentlichen Entzündung des
Markesfcniehts zu thun. Es mag hier übrigens noch erwähnt werden, dass ebenso
wie in seltenen Fällen arteriosklerotische Erkrankung des Gehirnes eine sich weit
ausdehnendc Erweichung ganz allmälig, ohne sichtbare acute Schübe erfolgen
kann — ebenso auch im Rückenmarke einmal das Bild einer chronisch - pro-
gressiven Myelitis auf solcher vasculären Basis entstehen könnte.
Erb37) bat vor einigen Jahren unter dem Namen der syphilitischen
Spinalparalyse ein Krankheitsbild beschrieben , das er für ein nosologisch gut
abgegrenzles hält. Es handelt sich um eine mehr weniger chronisch sich ent-
wickelnde Paraplegie der Beine mit Sensibilitäts- und Blasenstörungen, die zu-
nächst bis zu einer gewissen Höhe fortsehreitet, dann sich wieder bessert und in
einem bestimmten Stadium — es bestehen dann spastische Parese der Beine,
leichte Paräathesien und geringe Blascnstörungen — Jahre lang und oft dauernd
stehen bleibt. Uebrigens ist in einer Anzahl namentlich nach Erb beschriebener
Fälle das Einsetzen doch ein mehr acutes gewesen. Ich glaube nach meinen eigenen
Erfahrungen — ich habe das von Erb mit gewohnter Schärfe skizzirte Krank-
heitsbild natürlich auch vielfach gesehen — dass es sich auch in diesen Fällen,
abgesehen von den oben schon citirten Ausnahmen , um eine auf vasculitrer Er-
krankung beruhende, nur meist langsam, aber dafür eine lange Zeit fortschreitende
Erw'eichung des Markes handelt, und ich kann deshalb nicht umhin , ebenso wie
Oppenheim **) au der Selbständigkeit des ERB’scheu Krankheitsbildes zu zweifeln.
Mit einer Myelitis hätte dann, wenn ich mit meinen oben auseinandergesetzten
Ansichten Recht habe, auch diese Erkrankung nichts zu thun.
Hier angereiht können werden die auf nicht syphilitischer Arteriosklerose
beruhenden Erkrankungen des Rückenmarkes. Solche Affeetionen sind besonders
von ÜEMAKOK 3‘) bei Greisen als senile Tabes spastica beschrieben worden und
sie beruhen auf herdartig tun die Gefasse sich entwickelnden Sklerosiruugen mit
Zerfall des Markes in denselben Gebieten. Ebenso muss man hier anfübreu die
gewiss sehr seltenen , auf Embolie oder nicht syphilitischer Arteriothrombosc
zurUckzuftlhrenden acuten Erweichungen des Markes. Ob eine einfache nicht vas-
cnlärc, nicht durch Compression und auch nicht durch Entzündung bedingte Er-
weichung des Rückenmarkes vorkommt , ist eine noch offene Frage. Jedenfalls
kann man aber alle diese Processe nicht zur Myelitis rechnen.
Dass die hereditären oder familialcn Erkrank ungen des Markes
— wir verlassen damit die mehr diffusen Erkrankungen, um uns zu solchen zu
wenden, die nur einzelne Theile des Markquersehnittes — Systeme, Stränge —
betheiligen , von denen wir jetzt schon eine grosse Anzahl kennen , die in
wechselnder Weise zum Theile die motorischen, zum Theile die sensiblen Neuronen
oder beide zusammen betreffen, — ich meine die hereditäre Ataxie Friedkkich’s,
die hereditäre spastische Spiualparalyse (v. Strümpell **), Bernhard *•) , New-
mark 3") oder die complicirteren Formen, die Seeligmüller m) als amyotrophische
Lateralsklerosen , Hoffmans *») als besonderen Symptomencomplex beschrieben
hat, nicht zur Myelitis gehören, wird wohl allseitig anerkannt. Längere Zeit hat
man dagegen die sccundären auf- und absteigenden Degenerationen
dazu gerechnet , während man heute weiss , dass zwar der Herd, von dem die
Degeneration ausgeht und der innerhalb und ausserhalb des Rückenmarkes seinen
Sitz haben kanu , entzündlicher Natur sein kann , die secundäre Degeneration
29*
452
MYELITIS.
selber aber ein einfach degenerativer I’rocess ist. Der pathologisch -anatomische
Process der Tabes dorsalis, um auch das noch hier zu erwähnen, ist, soweit er
das Rückenmark betrifft, nach unserer heutigen Anschauung ebenfalls nichts
anderes als eine secundäre, aufsteigende Degeneration, deren Ursprung vielleicht
entzündlicher Natur ist, aber ausserhalb des Rückenmarkes (hintere Wurzeln,
Spinalganglien, periphere Nerven) gesucht werden muss.
Haben wir es bisher mit Erkrankungen der Medulla zu thun gehabt,
deren Abtrennung von der Myelitis darin ihre sichere Begründung fand, dass
es sich mit Bestimmtheit nicht um entzündliche Atfectionen handelt, so kommen
wir nun zunächst zu einer kleinen Gruppe von Krankheitsbildern, deren Stellung
in dieser Beziehung zweifelhaft ist; die von dem einen Autor als degenerative.
von dem anderen als entzündliche Processe angesehen werden , deren Sonder-
stellung also auf andere Weise begründet werden muss. Fraglich ist in dieser
Beziehung z. B. die Stellung der amyotropliischen Lateralsklerose, die von vielen
Autoren als eine reine primäre systematische Degeneration beider motorischen
Neurone angesehen wird, während Marie40), der eine primäre Degeneration einer
Nervenfaser überhaupt für unmöglich hält, dieselbe für eine der best charakie
risirten Myelitiden ansieht, die nach ihm ihren Ursprung in einer entzünd-
lichen (?) Erkrankung der grossen Ganglienzellen der grauen Substanz — sowohl
der motorischen als der Strangzellen der Seitenstränge nehmen soll. Fraglich ist
ferner die Stellung der bei der Paralysis progressiva vorkommenden Erkran-
kungen des Markes, ln einzelnen Fällen handelt es sich hier wohl um echte
Tabes oder sicher vom Gehirn ausgehende secundäre Degenerationen der Pyramiden-
bahnen. In den meisten Fällen, spociell in den häufigen combinirten Strangerkran-
kungen in den Hinter- und Seitensträngen, aber hängen diese weder direct von einer
Tabes noch von der Gehirnerkrankung ab — es handelt sich dann entweder
um primäre, in loco entstandene degenerative Veränderungen, oder aber es handelt
sich um einfache Degeneration der Achsencylinder der primär entzündlich er-
krankten Strangzellen der Hinter- und Seitenstränge in der grauen Substanz, wie
ebenfalls Marie40) das plausibel ausfuhrt. Am allerfraglichsten ist schliesslich die
Stellung der sogenannten combinirten Systemerkrankungen, ganz besonders auch
deshalb, weil ihre Existenzberechtigung überhaupt neuerdings von Leyden und
Goldscheider 81) mit guten Gründen in Frage gestellt wird. Sicher handelt es
sich in einer ganzen Reihe dieser Fälle um nur scheinbar primäre Strangerkran
kungen, dahin gehören z. B. die von Marie !4) als pseudosystematisch bezeichnelen
Erkrankungen, die zum Theilc auf einer primären Meningitis, zum Theile auf
einer vasculären Erkrankung beruhen. Diese sind besonders von Ballet und
Minor beschrieben nnd sie sind ja dann ziemlich Bicher myelitischer Natur; in
anderen Fällen fehlt überhaupt bei näherem Zusehen jede Symmetrie der Er-
krankung oder Beschränkung auf uns bekannte Systeme, — in einer dritten
Reihe von Fällen entsprechen aber klinische und anatomische Befunde sich so
vollständig, die ersteren beschränken sich genau auf Symptome , von denen wir
wissen , dass sie bei Erkrankung der betreffenden Bahnen einzutreten pflegen,
dass ich ein vollständiges Anfgeben der s. v. v. primären combinirten Systein-
erkrankungen doch nicht für berechtigt erklären kann. Wie man sich aber auch
zn der theoretischen Frage der entzündlichen oder einfach degenerativen Natur
dieser in dieser Beziehnng zweifelhaften Krankheitsgruppe stellen mag, zur
Myelitis rechnet man sie heute nicht ; die amvotrophische Lateralsklerose und die
Paralyse schon deshalb nicht, weil ein wesentlicher Theil ihrer Symptome durch
die Hirn- und Rückentnarkserkrankungen bedingt sind , die combinirte System-
erkrankung nicht wegen der meist doch vorhandenen Besonderheit ihres klini-
schen und pathologisch-anatomischen Bildes, wenn auch zugestanden werden muss,
dass das klinische Bild dem der Myelitis transversa manchmal sehr nahe kommen
kann. Für die Paralyse kann die Unterscheidung von der Myelitis eine praktische
Bedeutung deshalb haben, weil diese Krankheit in seltenen Fällen klinisch
MYELITIS.
453
wenigstens mit isolirteu und längere Zeit für sich bestehenden Rückenmarks-
Symptomen beginnt.
Die drei letztgenannten Krankheiten bilden schon den l'ebergang zu
der letzten grossen Gruppe der von der Myelitis heute abgetrennten Rücken
markskrankheiten. Diese nehmen eine besondere Stellung ein , weil es sich bei
ihnen entweder mit Sicherheit oder doch mit höchster Wahrscheinlichkeit um
echt entzündliche Erkrankungen handelt, also um solche, die bei Anlegung eines
streng wissenschaftlichen Massstabes mit vollem Recht den Namen einer Myelitis
verdienen und zur Rückeumarksentzündung gerechnet werden müssen. Ihre
Trennung von den heute als Myelitis beschriebenen Krankheitsformen und ihre
Darstellung als klinisch und anatomisch besondere Krankheiten ist denn auch
aus den verschiedensten Gründen erfolgt, die einer wissenschaftlichen Kritik nicht
immer Stand halten können. Einer dieser Gründe ist z. B. die Beschränkung der
Erkrankung auf einen bestimmten , mehr weniger eng umschriebenen Theil des
Querschnittes der Medulla, wodurch dann wieder ein ganz bestimmtes klinisches
Bild hervorgerufen wird. Die bestgekannte Krankheit dieser Art ist die sicher ent-
zündliche Poliomyelitis anterior acuta infantum und die gleiche Erkrankung der
Erwachsenen. Dass vielleicht aucht die amyotrophische Latcralsklerose hierhergehört,
habe ich schon erwähnt. Aach eine halbseitige Läsion des Markes kann die
Myelitis in seltenen Fällen einmal hervorrufen ; diese Fälle werden dann unter
dem Titel der BtiOWN-SEQUARD’scben Lähmung beschrieben, obgleich sie natür-
lich ganz zur Rückenmarkscntzündung gehören. In wieder anderen Fällen geht
die Entzündung von den Meningen aus und greift hauptsächlich auf die peri-
pheren Theile des Markes über, — so bei der Meningomyelitis syphilitica, der
Pachymeningitis cervicalis hypertrophica und in seltenen Fällen bei Tuberkulose
der Wirbelsäule, iu denen es zu wirklicher Entzündung des Markes kommt. Auch
bei der tuberkulösen und eiterigen cerebrospinaien Leptomeningitis ist das Mark
meist betheiligt. Diese letzteren Erkrankungen , die klinisch überhaupt kaum zu
erkennen sind, lösen sich schon deshalb von der Myelitis, weil die cerebralen
Krankheitsherde hier bei weitem die Hauptsache sind.
Andere, ebenfalls sicher entzündliche Rückeumarkserkrankungcn sind —
wahrscheinlich nur vorläufig von der Myelitis getrennt, weil sie erstens in ätio-
logischer Beziehung zu ganz bestimmten Allgemeinerkrankungen stehen, zweitens
aber, sowohl in klinischer, w ie pathologisch-anatomischer Beziehung noch dringend
weiterer Erforschung bedürfen. Dahin gehören die RUckenmarkserkrankuugen bei
gewissen Kachexien, die besonders bei schwerer Blutarmuth von Lichtheim 4I),
Minnig ,2) und Nonne **) erforscht sind, aber auch schon bei Icterus gratis und
Carcinomatose beobachtet sind ; sie scheinen mit besonderer Vorliebe in den Hinter-
strängen aufzutreten.
Die besondere Aetiologie zusammen mit einer Beschränkung auf einen
bestimmten Theil des Rückenmarksquerschnittes trennen auch diejenigen Erkran-
kungen der Vorderhörner von der Myelitis ab, die in seltenen Fällen, z. B. durch
Bleivergiftung (Oppenheim “), Monakow 4S), Oeller **) oder durch deu Diabetes
mellitus (Nonne41) hervorgerufen werden und aus denselben Gründen widmet
man dem Ergotismus mit Hinter- und der Pellagra mit Hiuter- und Seitenstrangs-
erkrankung (Tuczkck 4!t) eine besondere Beschreibung: von dem Lathyrismus kann
man bisher nur vermuthen, dass es sich um Läsion der Seitenstränge , specicll
der Pyramidenbahnen handelt. Marie14) hält übrigens die bei Pellagra und Ergo-
tismus in den weissen Strängen nachgewiesenen Erkrankungen ebenfalls für nicht
primär, sondern für Degeneration der Achsency linder primär erkrankter Straug-
zellen. Die multiple Sklerose schliesslich, deren entzündliche Natur doch eben-
falls höchst wahrscheinlich, trennt sich in etwas durch ihren pathologisch-ana-
tomischen Befund, vor Allem aber durch den besonderen und häufig charakte-
ristischen klinischen Verlauf von der Myelitis, wozu wohl eine gewisse pietätvolle
Scheu kommt, das von Chabcot in seinen Hauptzügen so meisterhaft entworfene
MYELITIS.
4.14
Krankheitsbild in seiner Selbständigkeit anzugreifen. Uebrigens ist die multiple
Sklerose ja fast immer eine cerebrospinale Erkrankung und nimmt ihre Haupt
eharakteristica von ihren cerebralen Localisationen: ist sie auf das Rückenmark
beschränkt, dann ist ihre Abtrennung von der Myelitis klinisch eine schwierige
Sache und linden sich in solchen Fällen , wie manchmal , nicht umschriebene
getrennte Herde, sondern eine vollständig diffuse Sklerosirnng des Markes anf
weite Strecken hin, so ist sie auch anatomisch unmöglich. Diese letzteren Fälle
bilden nach Oi’PENHEIm’S S1) Anschauung die Hauptstütze für das Krankheitsbild
der chronischen Myelitis. Die Tradition ist wohl auch der Hauptgrund, weshalb
die sogenannte LAN'DRY’sehe aufsteigende Paralyse — ich spreche hier
von ihrer centralen Form, die sicher wohl auf entzündlichen Processen des Markes
beruht — immer noch als besondere Krankheit gefasst wird. Verlaufen die Fälle
genau so, wie sie Lakdry beschreibt, so kann man gegen eine besondere Stellung
nichts haben; bleibt aber schliesslich nur der rapide auf- und absteigende Verlauf,
während das Vorkommen von Schmerzen , Anästhesien , Blasonstörungen auf ein
Ergriffensein des ganzen Querschnittes binweist, so liegt kein Grnnd vor, gerade
diese Erkrankungen , deren echt entzündliche Natur übrigens in einigen Fällen,
wie wir sehen werden , ganz besonders sichergestellt ist , von der Myelitis zu
trennen. Fälle dieser Art sind übrigens früher auch als Myelitis acuta
centralis (generalis seu diffusa) beschrieben. Ich komme auf sie
später zurück.
Auch die acute disseminirte Encephalomyelitis, die acute, cen-
trale Ataxie Lrydkn’s *°), unterscheidet sich klinisch schon allein durch die starke
Betheiligung des Bulbus und des Grosshirus, und auch pathologisch-anatomisch
so sehr von den landläufig als Myelitis beschriebenen Krankheitsbildern, dass ihre
Trennung von denselben jedenfalls eher gerechtfertigt ist, als die der Laüdkv-
schen Paralyse. Aber da die entzündliche Natur der Erkrankung absolut sicher
feBtstcht , da sie vielleicht sogar die häufigste Form der postinfectiösen Rücken-
markserkrankungen ist, so ist es wohl berechtigt, sie im Anschluss an die ge-
wöhnlich als Myelitis bezeichneten Krankheitsbilder, wenn auch an besonderer
Stelle zu besprechen.
Wir haben jetzt die oben geäusserte Absicht einer möglichst scharfen
Definirnng und Einschränkung dessen , was wir heutzutage im Capitel Myelitis
unterbringen wollen, nach einer, der negativen Seite hin, erfüllt, insofern wir
jetzt darüber im Klaren sind, welche früher und zum Theile bis vor kurzer Zeit
zur Myelitis gerechneten Krankheitsbilder wir von denselben abtrennen müssen,
respectivc wollen. Wir haben dabei gesehen, dass ein Theil der erwähnten Krank-
heitsbilder in seiner Stellung zur Myelitis auch heute noch eontrovers ist, während
andere mit Sicherheit und für immer von der Myelitis abgetrennt sind. Ich hebe
hier nochmals hervor, dass namentlich für die beiden letzten oben erwähnten
Gruppen und ganz speciell für einzelne Symptomencomplexe derselben diese
Trennung einen rein praktischen, vor allen Dingen klinischen Zweck hat, sich
wissenschaftlich nicht halten lässt und späterhin vielleicht wieder aufgehoben
wird. Ueberblicken wir noch einmal die grosse Zahl der oben angeführten, von
der Myelitis abgetrennten Krankheitsbilder, so sehen wir auf der einen Seite. wie
weit früher das Gebiet der Myelitis gefasst war, andererseits , wie wenig brate
— das Material schwindet einem geradezu unter den Fingern — für die Myelitis
noch übrig bleibt, so wenig, dass man es wohl verstehen kann, wenn MARI**1)
es heutzutage überhaupt für unmöglich hält, eine Abhandlung über die Myelitis
zu schreiben.
Es bleiben für die Darstellung des Krankheitsbildes der
Myelitis über und sollen im Folgenden ausführlich erörtert werden,
neben der nicht ganz hierher gehörigen dissemin irten Encephal0-
myelitis die über einen grösseren Theil des Längsschnittes (diffus I oder
mehr weniger vollständig über den Querschnitt in einer gewissen Höhe
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MYELITIS.
455
(transversal'1 sich erstreckenden oder aber und vor allem die nacli
beiden Richtungen, transversal und diffus, ohne Rücksicht auf die
einzelnen Systeme und Ahtheilungen des Quersch n ittes sich a usbrei-
tenden Kückenznarkserkrnnkungen, soweit sie mit Sicherheit oder
doch mit Wa hrscheinlichkeit entzündlicher Natur sind. Wir bezeichnen
diese Krankheitsbilder als Myelitis transversa, eventuell Myelitis transversa diffusa.
Klinisch zerfallen sie dann noch in die acuten, subacutcn und chronischen Formen.
Da bisher wenigstens, abgesehen von Ausnahmen, sich die entzündliche Natur der
Erkrankung auf histologischem oder bakteriologischem Wege, wie oben schon
kurz erwähnt, mit Sicherheit nicht nachweisen lässt, so sind wir, um dieselbe
festzustclien, hauptsächlich auf die ätiologischen Verhältnisse angewiesen, und es
mag schon hier — die specielle Aetiologie wird weiter unten folgeu — gesagt
sein, dass weitaus die meisten Fälle echter Myelitis sich ätiologisch
in zwei Gruppen ordnen lassen, sie hängen ab: entweder von Infec-
tionen oder von acuten, respeetive chronischen Intoxicationcn des
Organismus. Ganz sicher sind bei dieser Beschränkung, soweit sieh das bis
jetzt übersehen lässt, die zur Myelitis zu rechnenden Krankheitsfälle recht selten,
am häufigsten kommen noch die acuten Formen vor, sehr selten die chronischen,
abgesehen von den aus den acuten hervorgehenden chronischen Formen, und wir
sind deshalb heutzutage nicht sehr oft in der Lage, die Diagnose einer Myelitis
mit der Aussicht auf Bestätigung durch den weiteren Verlauf zu stellen. Gerade
bei der Diagnose einer chronischen Myelitis gilt es vor Allem, mit der Diagnose
vorsichtig zu sein und sie mit Sicherheit erst zu stellen , wenn alle Möglich-
keiten , ganz besonders die Druckläsion , ausgeschlossen siud. Ich muss nach
meinen eigenen Erfahrungen, was die Diagnose einer Myelitis anbetrifft, mit
Oppenheim ») ganz übereinstimmen ; ich weiss noch sehr genau , wie ich selbst
in den ersten Jahren meiner specialärztlichen Thätigkeit sehr verwundert darüber
war, wie selten ich in der Lage war, diese Diagnose zu stellen und wie ich
durch längere Zeit, ehe ich zur selben Erkcnntniss wie Oppenheim, speciell durch
dieses Autors Aufsatz1) kam, diese Seltenheit auf eine Mangelhaftigkeit des mir
zuströmenden Materiales bezog. Aber wenn man auch die Seltenheit ohneweiters
zugiebt, so ist doch eine möglichst genaue Darstellung des Krankheitsbildes der
Myelitis, ganz abgesehen davon, dass man auch seltene Erkrankungen genau
kennen muss , auch von anderen praktischen und wissenschaftlichen Gesichts-
punkten von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Die praktischen Gesichtspunkte
lässt selbst Marie **) gelten, so radieal er sonst mit der Myelitis verfährt. Diese
sind darin begründet, dass wir bei der einmal nicht wegzuleugnenden Unvoll-
kommenheit unserer Diagnose in manchen Fällen gezwungen sind , wenigstens
eine vorläufige Diagnose auf Myelitis zu stellen , in denen der weitere Verlauf
die lrrlhümliclikeit derselben aufklärt. Es wird deshalb selbst bei der heutigen
Vorsicht die klinische Diagnose einer Myelitis immer noch viel häufiger sein,
als den Thatsachen entspricht. Ich nenne nur die Fälle von Compressiou des
Markes, bei deuen die eigentliche Krankheitsursache oft erst sehr spät und
manchmal intra vitam gar nicht bestimmt zu Tage tritt, ich verweise auf die
Fälle schwieriger Differentialdiagnose zwischen Neuritis multiplex und Myelitis,
wo oft nur der Ausgang entscheidet. Die grosse wissenschaftliche Bedeutung der
kleineu Zahl der echten Myelitiden liegt in ihrer ätiologischen Beziehung, Die
Aetiologie hat im Gesammtgebiet der Mcdiciu bei der immer grösseren Ausdehnung
und Sicherheit unserer dahingehörigen Kenntnisse eine weittragende Bedeutung
gewonnen und gerade in Bezug auf die Aetiologie der diffusen Myelitis haben
klinische und experimentelle Untersuchungen aus den letzten Jahren eine Fülle
von Thatsachen gebracht, die übrigens geeignet sind, auch auf eine Reihe anderer,
nicht hierhergerechneter Erkrankungen des Nervcnsystemes neues Licht zu werfen.
Geschichte der Myelitis. Ehe ich nach dieser etwas langathmigeu,
aber nach meiner Ansicht nothwendigen Einleitung an die eigentliche Darstellung
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MYELITIS.
45«
des Krankheitshildes der Myelitis herangehe, mögen hier noch einige historische
Bemerkungen Platz linden. Ich kann mich dabei sehr kurz fassen , da ich die
Geschichte der letzten 20 Jahre schon oben bei der Definition des Krankheit«
bildes implicitc geben musste. Aus den früheren Perioden mag Folgendes gesagt
sein — ich schöpfe diese geschichtlichen Daten hauptsächlich aus der Arbeit von
Pick '•) über die Myelitis in der 2. Auflage der Real-Eneydopädie und kann in
Bezug auf genauere Details auf Leyden’s ’8) Klinik der Rückenmarkskrankheiten
und auf die Darstellung Erb’s8) in Ziemssen’s Handbuch der speciellen Patho-
logie und Therapie, 2. Auflage, verweisen.
Eine erste Periode der Geschichte der Myelitis kann man etwa mit den
fast gleichzeitig erschienenen berühmten Werken von Olliver d'Angers 'i und
Abercrombie M) abschliessen lassen. Die Anfänge dieser ersten Periode reichen
natürlich so weit zurück, wie die klinische Beobachtung überhaupt (HlPPO-
kbates). Während aber bis dahin und speciell auch noch im Anfänge unsere«
Jahrhunderts die Krankheiten der Wirbelsäule, der Häute und des eigentlichen
Markes nicht streng von einander getrennt wurden — sie wurden unter dem
Ausdruck Spinitis zusammengefasst, der Name Myelitis stammt nach Leyden von
Leonhakiu (nach KCstermann soll ihn Oluviek von Hable&s *5*) entlehnt
haben ) — gelang es diesen beiden Autoren zuerst, die Schwierigkeiten, die allein schon
die Sectionstechnik der Erforschung der Rückenmarkskrankheiten gegenüber bot,
zu überwinden, und gestützt auf eine grosse Anzahl klinischer und anatomischer
Beobachtungen , eine Darstellung der eigentlichen Krankheiten des Markes und
damit auch der Myelitis zu geben. Als ihr Hauptverdienst gilt, dass sie den
Zusammenhang der Rückenmarkserweichung mit der sogenannten acuten Myelitis
nachwiesen und auch schon erkannten , dass die chronischen Formen zur Skle
rose führten. Zwar stützten sieh diese Pathologen nur auf makroskopische Unter
suchungen , diese aber und ihre klinischen Beobachtungen waren für ihre Zeit
mustcrgiltig. Eine zweite Periode kann man von Oluviek und Abekcrombie bis zum
Erscheinen von Leyden’s Lehrbuch im Anfänge der Siebziger-Jahre rechnen, vor
Allem kommen dabei die letzten 15 Jahre dieser Periode in Betracht. Die Ent-
wicklung unserer Kenntnisse über die Kückenmarkskraukheiten ging in dieser
Periode Hand in Hand mit der genauen histologischen Durchforschung de«
normalen Markes, der Entwicklung der allgemeinen Pathologie und der speciellen
pathologischen Anatomie und Histologie dieses Organes, der immer sorgfältigeren
und zielbewussteren Ausführung des physiologischen Experimentes und der immer
grösser werdenden klinischen Erfahrung. Es ist nicht möglich, hier auch nur mit
annähernder Vollzähligkeit die Namen der Autoren zu nennen, die hier bahn
brechend gearbeitet haben; es möge genügen, die Namen Dcjabdin-Beaijiktz •),
Haykm *) und vor Allem Charcot in Frankreich, Bbown-Skquakd , Lockbabt
Clarke6) und Gcli, in England, Vikcuow, Hasse8), Engelke7), Wkstphal,
Fromanx8) und Mannkopf») in Deutschland anzufiihreu. Von Westphal“
stammen auch die ersten genaueren Angaben Uber die disseminirte Myelitis.
Leyden18) hat dann, gestützt auf eine grosse pathologisch-anatomische und
klinische Erfahrung, in dem Hauptwerke seines Lebens, in seinen Rückenmarks-
krankheiten, alles bisher Gekannte zusammeugestellt und kritisch gesichtet, —
er vermochte den Begriff der Myelitis, soweit er ihn auch noch fasste, doch schou
sehr einzuengen und zugleich die Myelitis selbst in eine Anzahl von Einzelfortnen
zu zerlegen. Von da an beginnt die neueste Periode der immer schärferen Lteli-
nirung des Begriffes und damit der immer weitergehenden Einengung des Terrain?
der Myelitis, ein Process, den wir oben genau auseinandergesetzt, dessen Berechti-
gung Leyden selbst allerdings nicht voll anerkennt, während die meisten Ubrigcu
modernen Autoren ihm voll zuslimmen. Erb17) nennt zwar auch die Myelitis da*
umfangreichste und wichtigste C'apitel der ganzen Rücken markspathologie — er
ist sich aber wohl bewusst , dass Vieles . was er hierherrechnet , wenigstens im
allgemein pathologischen .Sinne nicht zur Kückenmarksentzündung gehört
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MYELITIS.
■157
und dass der ganze Aufbau dieser Lehre auf sehr schwankenden Fundamenten steht.
Auch hebt er für die Art seiner Darstellung schon wesentlich praktische Momente
als massgebend hervor. Als Pick *•) dann seine ausgezeichnete Abhandlung über
die Myelitis schrieb , kannte man schon die Neuritis und die Syringomyelie
genauer und auch noch an vielen anderen Stellen war schon ein Einbruch in das
Gebiet der Myelitis erfolgt. Oppenheim 21) hat dann, wie schon gezeigt, das Ver-
dienst, den schärfsten und am besten vorbereiteten Angriff auf dieses Gebiet gemacht
zu haben, Marie j*) ist ihm in noch energischerer Weise gefolgt und von da an
verwenden wohl die meisten Nenropathologen den Ausdruck Myelitis in der
äusserst eingeschränkten Weise, wie ich das oben auseinandergesetzt habe. Ganz
in Uebereinstimmung mit der immer stärker werdenden Einschränkung des Gebietes
der Myelitis sind auch, wenigstens mehr allgemeine, Abhandlungen über diese
Krankheit, abgesehen von den Lehrbüchern, die sich ja damit befassen müssen,
recht selten geworden (einzelne Fälle sind von Pfeifer und Kü.stermann ’*)
veröffentlicht) ; der neuesten Zeit gehören vor allen Dingen genaue Angaben über
die ätiologischen Momente der Myelitis an, — die ersten Anfänge dazu reichen
allerdings schon in die Sechziger-Jahre zurück — und in der allerletzten Zeit hat
sich, besonders in Frankreich, auch die experimentelle Forschung mit Glück
dieses Gebietes bemächtigt. Darüber folgt unten noch Genaueres, doch möchte
ich schon hier auf den Vortrag von Grasset 51) hinweisen, der gerade in dieser
Beziehung auch das Neueste in Vollständigkeit bringt.
Die Geschichte der sogenannten chronischen Myelitis hängt bis Ollivier
inclusive mit der acuten zusammen , später haben sich beide Gebiete etwas ge-
trennt entwickelt. Türk l0) und Rokitansky n) brachten anatomische Mittheilungen,
die sich allerdings im Wesentlichen auf die sccundären Degenerationen bezogen,
Frerichs 1 j) hat sich besonders mit klinischen Untersuchungen befasst. Ferner
trat besonders die Schule Charcot’s hervor (Charcot, Vülpian **• ,4), Orden-
stkin ,6) , ferner Bourneville1*); die meisten Untersuchungen dieser Schule
bezogen sich aber auf die multiple Sklerose. In neuester Zeit ist es der chroni-
schen Myelitis noch schlechter gegangen als der acuten ; bei Leyden nimmt sie
noch ein grosses Gebiet ein, während Oppenhf.im sie nur in ganz seltenen Fällen
und nach Ausschluss aller anderen Möglichkeiten zulassen will. Nach Oppbn-
heim’s Angabe laufen die meisten Fälle sogenannter chronischer Myelitis auf
multiple Sklerose hinaus — freilich rechnet er nicht wie Leyden die combinir-
ten Systemerkrankungen einfach zur Myelitis.
Für die Geschichte der disseminirten Encephalomvelitis , die fast ganz
der neueren und neuesten Periode angehört, verweise ich auf die Namen Wkst-
phal 60), Ebstelv ts), Leyden *»), Küssner und Brosin. **)
Aetiologie. Das Capitcl Uber die Aetiologie ist heutzutage vielleicht
das wichtigste, jedenfalls das interessauteste in der Lehre von der Myelitis. Wir
haben oben schon kurz angedeutet, dass die Ursachen zunächst der acuten trans-
versalen oder diffusen Myelitis und der disseminirten Encephalomvelitis sieh in
zwei grosse Gruppen theilen lassen: die Infectionen und die lntoxicationen. Was
zuerst die Infectionen anbetrifft, so ist es wahrscheinlich, dass unter Umständen
nach jeder Infcctionskrankhcit entzündliche Processe im Rllekenmarke auf-
treten können und Grasset sl) hat neuerdings diese Ansicht ganz bestimmt aus-
gesprochen. Die Entstehung der Myelitis im speciellen Falle würde dann entweder
auf eine reine Zufälligkeit zurückzuführen sein, — darauf nämlich, dass in diesem
Falle gerade eine zur lnfectiou genügende Menge der infeetiösen Substanz in’s
Rückenmark gelangte, oder darauf, dass heim Vorhandensein des Infectionsstoffes
im ganzen Kreislauf daB Rückenmark des betreffenden Individuums durch ange-
borene oder erworbene Schwäche einen Locus minoris resistentiae darstellte.
Meist nur klinisch — aber diagnostisch sicher — und mit Sorgfalt beobachtet
sind Fälle acuter transversaler Myelitis uach Masern, Blattern. Scharlach, acutem
Gelenkrheumatismus, Pneumonie, Typhus abdominalis, Malaria, Diphtherie;
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458
MYELITIS.
in den letzten Jaliren hat die Influenza ziemlich reichliches Material geliefert
(Hebzog8*) u. A.) und eine kliuisch sehr interessante und wichtige Gruppe bilden
die Fälle transversaler Myelitis, die nach Gonorrhoe beobachtet worden sind
(Leyden). Was die Syphilis anbetrifft, so habe ich mich schon oben dahin ans-
gesprochen, dass ich für die meisten acuten Paraplcgien bei Syphilitikern einen
vasculären, nicht entzündlichen Ursprung annehme. Diese Fälle bilden jedenfalls
bei weitem das Hau pteontingent der sogenannten syphilitischen Myelitis; bei
mehr subacutem Verlauf mit deutlichen Reizerscheinungen würde man eher an
eine Meningomyelitis gummosa denken und auch die Fälle primärer echter syphiliti-
scher Infiltration des Markes, an deren Existenz ich nicht zweifle, können wohl
kaum in acuter Weise verlaufen.
Die Tuberkulose bewirkt in den meisten Fällen — bei Erkrankung der
Meningen und der knöchernen Wirbelsäule — eine Compression, nicht eine Ent-
zündung des Markes; in seltenen Fällen kommt es aber auch zu einer direct
tuberkulös-entzündlichen Betheiligung des Markes in diesen Fällen; meist tritt
eine solche Betheiligung auch bei tuberkulöser Leptomeningitis des Gehirnes und
Rückenmarkes ein.
Es folgen dann die gewöhnlich zu den Wundinfcctionen gerechnet«!
Krankheiten; so sah man diffuse und transversale Myelitiden im Gefolge von
Erysipel, Septikämie, Milzbrand und bei der puerperalen Infeetion. Letztere führt
verhältnissmässig häufig zur Myelitis transversa. Schliesslich sind wir in einer
Reihe von Myelitisfällen genöthigt, eine Infeetion auzunehmen, ohne die eigent-
lichen Infectionserreger selbst zu kennen — Marie2*) spricht von Infeetion»
innominees , das würden dann scheinbar oder in Wirklichkeit ganz primäre
Myelitiden seiu — , so geht es uns z. B. mit der Poliomyelitis anterior acuta
und mit vielen Fällen von Landry scher Lähmung. Auch der Bacillus coli
communis hat besonders durch experimentelle Untersuchungen neuerdings für
diese Fragen Bedeutung gewonnen. Für die Lyssa, die ja sicher wohl eine Myelitis
hervorruft, ist es noch fraglich , ob das krankmachende Agens infectiüser oder
rein toxischer Natur ist.
Die acute disseminirte Enccphalomyclitis kommt bei ganz dra-
selben Infcctionskrankheiten vor und ist nach denselben sogar entschieden häutiger
als die umschriebene transversale Myelitis. Von oben noch erwähnten Krank-
heiten sind als Ursachen derselben beschrieben die Cholera, Dysenterie,
der Brechdurchfall und die chronische Diarrhoe. Die ersten Fälle dieser
Art halien Imbeet, Goirbeyke und vor Allem Gubler88) schon 1860 nach Dysen-
terie beschrieben; es folgte im Anfang der TOer-Jahre Westpiial 80) mit
mehreren Fällen nach Blattern, Ebstein82) nach Typhus. Bekannt ist aurh
der Fall KÜssnrh-Brosin 88), der wahrscheinlich auf Gonorrhoe beruht, und
Oppenheim 2') erwähnt das Vorkommen der disseminirten Myelitis bei Tuberkulose.
An dieser Stelle wären auch wohl die experimentellen Untersuchungen
zu erwähnen, die besonders von französischen Autoren angestellt sind, denen
wir damit die Kenntnisse vom Zusammenhang entzündlicher Processe des Rücken-
markes mit ganz bestimmten Entzündungserregern verdanken. So haben Babinsky
und Charhin87) durch Infeetion mit dom Bacillus pyocyaneus , Rorx und
Yrrsin »*) mit dem Diphtheriebacillus und dem Bacillus coli communis, Thoixot
und MaSSELIN 88*) mit dem letzteren und Bacillus pyogenes aureus, ROGKB8*)
mit dem Streptococcus des Erysipels Myelitis erzeugt ; ähnliche Untersuchungen
stammen von Gilbert und Lion8"), Manfredi und Travkrsi 8I), Vincent“),
Widal und Besancon. **) Für die Diphtherie ist es auch nachgewiesen, dass die
Toxine die gleiche Wirkung haben wie die Bacillen selbst. Interessant ist vor
allen Dingen noch , dass nicht nur transversale und disseminirte Myelitis auf
diesem Wege erzeugt werden konnten, sondern auch partielle Formen, so spasti-
sche Symptome durch den Bacillus pyocyaneus (Babinsky und Charrin 87) und
eine der spinalen Muskclatrophie ähnliche Erkrankung durch den Erysipelcoecus
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MYELITIS.
459
durch Roger. 5>) Frühere Versuche, auf chemische Weise mittels Jod und Glycerin
Myelitiden hervorznrufen , wie sie von Hayem und Liouville und Grancher
angestellt und von Dujardix-Bauhetz berichtet sind (citirt bei Leyden ,s), hatten
keine einwandsfreien Resultate ergeben ; etwas besser war das Experiment
Leyden selbst mit Injection von Solutio arsenicalis Fowleri gelungen.
Wie stellt sich nun der genaue Modus der Infection des Markes bei
den gedachten Infectionskrankheiten dar? Hier sind drei Wege möglich: 1. das
Mark wird direct durch die Erreger auch der primitren Erkrankung ergriffen ;
2. es erkrankt durch secundäre Infectionen, die 6ich sozusagen auf die primäre
aufpfropfen oder 3. durch Toxine, die sich durch die primäre Erkrankung im
Organismus bilden. Der erste Modus ist bisher, soweit mir bekannt, in der mensch-
lichen Pathologie nur in zwei Fällen nachgewiesen, in dem von Cübschmann "*),
der in einem Falle von Myelitis nach Typhus Typhusbacillcn im Rlickenmnrke
nach weisen und in Culturen zöchten konnte, und schon früher in Badmgartkn’s65)
Falle (Myelitis nach Milzbrand), der bei demselben Milzbrandbacillen im Ruckenmarke
nachwies. Sehr viel häufiger — nach Grasset51) vielleicht die häufigste Infections-
nrt — ist die durch secundäre Infectionserreger, die mit der primären Erkrankung
nichts zu thun haben, sich aber auf dem von dieser vorbereiteten Boden ansiedeln
und zur allgemeinen Infection führen können; das nimmt man z. B. ganz bestimmt
für viele Fälle von Lähmungen nach Diphtherie au. Hier kommen wohl hauptsäch-
lich die Eiterkokken, so der Stapbylococeus und Streptococcus, in Betracht. So
fand Eisenlohr •••) in einem Falle von Myelitis nach Typhus Staphylokokken,
Marinesco ,<ih) in einem Falle von LANiiBY’scher Paralyse bei oder nach Blattern
zahlreiche Streptokokken, Barrie ,,8C) Staphylokokken in einem Fall von Myelitis
bei Gonorrhoe. Die Toxine schliesslich sind bisher noch nicht im Rückenmarke
selbst nachgewiesen , wir müssen sie aber als Entzündungserreger aunehmen,
wenn wir geformte Erreger nicht nachweisen können und übrigens ist ihre
Wirkung auch experimentell erwieseu (Roux-Yersix 5s). Uebrigens fallen die
Toxinmyelitiden schon wdeder mehr in das Gebiet der toxischen Kückcnmarks-
entzündungen.
Möglich wäre es, dass die weitere klinische Erfahrung uns die Unter-
scheidung dieser drei Infectionsmodi erlauben würde. Die Infection des Markes
mit den Erregern der primären Infectionskrankheit müsste wohl ziemlich gleich-
zeitig mit dieser erfolgen; die durch Toxine längere Zeit hinterher und oft
lange nach Heilung der primären Erkrankung, wie wir das bei Diphtherie nicht
selten sehen ; eine Mittelstellung in dieser Beziehung dürften wohl die Myeli-
tiden durch secundäre Entzündungserreger einnehmen. Ob schliesslich eine mehr
umschriebene transversale Myelitis oder eine disseminirte Encephalomyelitis ent-
steht, das hängt wohl von äusseren Umständen ab: im erstereu Falle gelangen
eine grosse Menge von Infectionsstoffen in ein umschriebenes Rücken marksgebiet
oder die Toxine wirken auf das Verbreitungsgebiet eines einzelnen oder einiger
weniger grosser Gefässe ; bei disseminirter Encephalomyelitis verbreiten sich In-
fectionserreger oder Toxine durch eine Masse kleiner Gefässe im ganzen Gebiete
des Rückenmarkes, Hirnstammes und unter Umständen auch des Grosshirnes.
Es muss hier daran erinuert werden, dass nach den heutigen klinischen
Anschauungen die erwähnten Infectionen viel häufiger als — wenigstens durch
transversale — Myelitiden durch periphere Neuritiden hervorgerufen werden sollen.
Differentialdiagnostisch können hier vor Allem cervicale und lumbale Myelitiden
Schwierigkeiten machen. Namentlich hat man sich gewöhnt , bei Ansgang in
Heilung eher eine Neuritis anzunchmen , was kein ganz sicheres Kriterium ist.
Neuerdings aber mehren sich die Beobachtungen , bei denen auch in typischen
Fällen sogeuanutcr peripherer Neuritis eine Mitbcthciligung des Rückenmarkes
nachgewiesen wurde; ich führe nur die Untersuchung von Crocq ,i6) in einem
Falle diphtherischer Lähmung au, weil gerade bei der Häufigkeit und relativen
Gutartigkeit der postdiphtherischen Lähmungen auf ihre neuritischc Natur ganz
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MYELITIS.
besonderer Nachdruck gelegt wurde. Mabie5*) geht sogar so weit, die Selbst-
ständigkeit peripherer Neuritiden ganz zu leugnen und sie, ähnlich wie Ebb die
progressive Dystrophie, immer von einer anatomisch nicht uachweishareu Er-
krankung der Ganglienzellen im RUckenmarkc ahhängen zu lassen. Ich kann
aber gerade bei den Lähmungen nach Infectionskrankheiten die Berechtigung
dieser Anschauung nicht einsehen ; warum sollen z. B. die grösseren peripheren
Nerven8tämme nicht direct durch die infectiösen Gifte angegriffen werden ?
Noch viel bestimmter als bei den Infectionen wird bei den Lähmungen
durch Einwirkung eigentlicher Gifte , zu denen wir jetzt kommen . heutzutage
angenommen, dass es sich meist nm p< ripher-neuritische Proeesse handle. Doch
kommt auch hier in Betracht , dass es a priori wenig wahrscheinlich ist , dass
die Giftwirkung sich auf das periphere Nervensystem absolut beschränkt, und dass bei
genauem Suchen sich meist eine, wenn auch nur geringe, Betheilignng des Markes
findet. Von den anorganischen Giften kommen hier Blei, Arsenik und Phosphor in Be-
tracht. Vom Blei ist allerdings nur das Vorkommen umschriebener Myelitis des
grauen Vorderhornes bewiesen (Oelleb *•), Oppenheim **), v. Monakow. 4S) Die
Natur der bei Arsen- und Phosphorvergiftungen gefundenen Rtlckenmarksver-
änderungen ist eine etwas zweifelhafte (postmortale Veränderungen?). Möglicher-
weise kommen auch nach Quecksilbervergiftungen myelitische Proeesse vor.
Der chronische Alkoholmissbrauch lasst ebenfalls das Rückenmark nicht
ganz intact. Leyden 18) erwähnt uoch das Vorkommen von Lähmungen narb
Nitrobenzinvergiftung und beim Missbrauch von Gopaivabalsam.
Von thierischen Giften scheint manchmal das Schlangengift acut ent-
zündungserregend auf das Rückenmark zu wirken. Auch an manche Fälle von
Fleisch- und Wurstvergiftung mit Lähmungen wäre hier zu erinnern.
Es folgen dann die Gifte, die im Körper selbst entstehen und meist ah
Producte eines krankhaften Stoffwechsels aufgefasst werden; so hat neuerdings
Nonne47) eine Poliomyelitis acuta bei Diabetes beschrieben ; auf Grund schwerer
Tuberkulose und der Geschwulstkachexie sah Oppenheim 20' !1) Erweichungen im
Ruckenmarke auftreten, die er als entzündliche auffasst. Von den meist die Hinter-
stränge betheiligenden Erkrankungen bei schwerer Anämie, Icterus gravis , Morbut
Addisonii ist schon oben gesprochen. Auch auf die Autointoxication vom Magen and
Darm aus legt man heutzutage einen immer grösseren Werth, möglich ist auch,
dass in diesen Fällen manchmal der Bacillus coli communis eine Rolle spielt.
Sicher entzündliche, mehr chronische Proeesse, die sich aber mehr auf
bestimmte Theile des Markquerschnittes beschränken, sind die Rückenmarks-
affectionen bei Ergotismus, Pellagra und vielleicht beim Lathyrismus. Auch ein-
zelne Fälle von Beri-Beri gehören wohl hierher; nach Mabie auch die Fälle
von eombinirter Entartung bei Paralyse ^Syphilistoxin) und vielleicht die atnyo-
trophische Lateralsklerose (?). Ein grösserer Theil chronischer Myelitiden geht
wohl direct aus den acuten hervor. Gerade bei infectiösen Processen ist ja dieser
Verlauf von acutem Einsetzen zu mehr chronischem Weiterschreiten, ab und zu
mit acuten Schüben, sehr wohl zu erklären, weniger leicht allerdings für die
chemischen Gifte. Ich will nur daran erinnern , dass z. B. für die multiple
Sklerose neuerdings durch Marie4) und Oppenheim 47) ganz bestimmt ein solcher
Modus angenommen wird. Das häufig acute Einsetzen der ersten Krankheits-
symptome, der weitere Verlauf in Schüben oder chronisch lassen sich auf diese
Weise am besten erklären, auch wird der Zusammenhang der multiplen Sklerose
mit acuten Infectionskrankheiten, dann mit der acuten Ataxie Leyden’s, der ja
das Krankheitsbild der multiplen Sklerose sehr getreu copirt, ferner mit chroni-
scher professioneller Vergiftung (Blei, Oppenheim47) immer wahrscheinlicher.
Oppenheim hält auch viele Beobachtungen der sogenannten acuten Encephalitis
nur für den ersten Schub einer multiplen Sklerose.
Die gasförmigen Gifte scheinen besonders leicht eine disseminirte Eme-
phalomyelitis hervorzurufen. Das ist z. B. für Kohlenoxydgas und Schwefclkohlen-
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MYELITIS.
461
stoff n&chgewiesen ; ich selber sah einmal eine acute Ataxie im unmittelbaren
Anschluss an eine Chloroformnarkose eintreten. In engerer Beziehung zur dissemi-
nirten Encephaloinyelitis stehen wohl auch die Fälle vou Polioencephalüts superior
und Poliomyeloencephalitis , die mit Vorliebe die Augenmnskelkerne ergreifen
und besonders bei Alkoholismus, aber z. B. auch bei Schwefelsäurevergiftung
beobachtet sind.
Bei der durch die Forschungen der letzten Jahre immer mehr sich in
den Vordergrund drängenden Erkenntnis von der ausschlaggebenden Bolle, die
bei der Entstehung der acuten und subacuten Myelitiden die Infectionen und die
Intoxicationen spielen, sind andere, früher für sehr wichtig gehaltene ätiologische
Momente sehr in den Hintergrund gedrängt. Ganz vernachlässigen darf man
sie aber wohl auch heute noch nicht, ln erster Linie wäre hier die Erkältung
zu erwähnen. Soweit dieselbe auf einer ausgedehnten und starken Abkühlung
der Haut beruht, ist sie vielleicht auch eine Intoxication, die auf einem durch
Unterdrückung der Hautthätigkcit im Körper zurflckgehaltenen Gifte beruht, ln
derselben Weise könnte man sieh die Wirkung einer Unterdrückung habitueller
Fusssehweisse erklären. LF.YDEX hat in einem Falle nach Trauma disseminirte
Myelitis beobachtet. Im Allgemeinen werden sonst echte Myelitiden nach Traumen
nur Vorkommen, wenn dasselbe schwere Verletzungen der Haut und der Wirbel-
säule bedingt hat und zu directer septischer Infcction des Markes Anlass giebt.
Hitzig **) hat allerdings in seinen Untersuchungen über die traumatische Tabes
neuerdings auch beim Trauma die Entstehung eines Toxins für discutirbar ge-
halten. Von l'eberanstrengungen wissen wir jetzt, dass sie schwere periphere
Lähmungen hervorrufen können — eine Erkrankung des Markes wäre also auch
wohl möglich — ist diese dann aber eine myeli tische? Für die Häufigkeit so-
genannter „Myelitis“ nach Feldzügen kommt neben Erkältung, Traumen, Ueber-
anstrengung, Alkoholmissbrauch sicher wohl auch die Syphilis in Betracht. An eine
Myelitis nach sexueller Ueberanstrengung bei sonst einem gesunden Menschen kann
ich nicht glauben, ebensowenig an ihr Entstehen nach Unterdrückung der Menses;
hei den nach Gemüthsbewegungen eintretenden Paraplegien — auch Gowers”)
hält noch an dieser Aetiologie fest — dürfte es sich wohl eher um vasculäre
Erkrankungen handeln. In England spricht man, entsprechend der viel grösseren
Bedeutung, die man dort der Gicht in der allgemeinen Pathologie beilegt, auch
von einer Gichtmyelitis (Gowers s,i. Dass die acute Myelitis in allen Lebens-
altern und gleichmässig bei beiden Geschlechtern Vorkommen wird , kann man
schon aus ihren Ursachen sehliessen.
Pathologische Anatomie. Der schwierigste Abschnitt des im Ganzen
schon so schwierigen Capitels der Myelitis ist unstreitig die pathologische Ana-
tomie dieser Krankheit. Das liegt zum Theil in rein änsserlichen Gründen. Wir
sind selten in der Lage, einen Fall von echter acuter Myelitis im frischen Zu-
stande, wo die entzündliche Natnr der Erkrankung am leichtesten festzustellen
wäre, zu untersuchen — meist dauert die Erkrankung, weun sie auch zum Tode
führt, über das acute Stadium hinaus — , die anatomische Untersuchung liefert
dann kurz gesagt die Befunde der Narbenbildung. Erb 17) z. B. hebt ganz be-
stimmt hervor, dass bei dem Mangel, respective der Seltenheit von anderem ana-
tomischen Materiale die pathologische Anatomie der acuten Myelitis fast ganz
aufgebaut sei auf die schnell letal endenden Fälle sogenannter traumatischer
Myelitis; diese zur Myelitis zu rechnen haben wir heutzutage aber kein Hecht.
Ein anderer Theil der als acute Myelitis beschriebenen Fälle ist sicher vascu*
lären, embol Ischen, thrombotischen Ursprunges; hier handelt es sieh also eben-
falls nicht um eine entzündliche Affeetion. Es ist deshalb nicht zu verwundern,
dass, wie wir bald sehen werden , die von den Autoren als charakteristisch für
die aente Myelitis angegebenen, speeiell die histologischen Befunde, sich abgesehen
von ganz besonderen und bisher sehr seltenen Ausnahmen, nicht von de.n unter-
scheiden , was von Anderen wieder bei nicht entzündlicher traumatischer oder
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MYELITIS
46Z
vasculärer Erweichung gefunden ist. Noch mehr verwischen sich diese Unter-
schiede bei der chronischen Myelitis, sei es nun, dass diese, wie am häufigsten,
aus der acuten hervorgegangen ist, oder dass es sich von Anfang an nur um
eine der zwar seltenen, aber doch auch von Oppenheim anerkannten chronischen
Myelitiden handelt. Hier überwiegen im anatomischen Bilde stets die Zeichen der
regressiven Metamorphose, die Narbenbildung, und diese zeigt in Fällen von
entzündlicher und nicht entzündlicher Zerstörung des Markes stets dasselbe Bild.
Zu allen diesen Schwierigkeiten kommt noch hinzu, dass die feinere pathologische
Histologie gerade im Gebiete des Centralnervensystems noch sehr viel zu wünschen
übrig lässt — für die so sehr wichtigen Ganglienzellen giebt uns eigentlich nur
die NissEL'sehe Färbung die Möglichkeit eines Fortschrittes — und dass
schliesslich noch die zur mikroskopischen Untersuchung nöthige Härtung des
Materiales in vielen dieser Fälle Schwierigkeiten bereitet. Wenn diese heutzu-
tage auch wohl meist durch Colloidineinbettung überwunden werden können , so
lässt doch gerade diese Methode die Herstellung sehr dünner Schnitte nicht zu.
Wenn oben von einigen ganz besonderen und bisher sehr seltenen Fällen
echter Myelitis gesprochen ist, die sich durch die Möglichkeit einer sicheren
Unterscheidung von sonstigen acut eintretenden Erkrankungen, speciell den Er-
weichungen des Rückenmarkes, auszeichnen , so bezieht sich das auf die paar
Fälle, bei denen bisher bakterielle Entzündungserreger im erkrankten Rücken-
marke seihst gefunden werden konnten. Es sind das die Falle von Ccbsch-
maxn ") nach Typhus abdominalis , Bai moaeten t6) nach Milzbrand, Eisen-
lohr 6bb) nach Typhus abdominalis, Marinesco u. Oettingek ••») nach Blattern,
BakuiE 6#c) nach Gonorrhoe. Nur von Cuhsohmaxx und Baumgartex wurden die
specifiächen Krankheitserreger der primären Erkrankungen, der Typhus- respective
der Milzbrandbacillus, noch im Ruckenmarke gefunden, Eisexi.ohr, Marinesco und
BarkiE konnten nur seenndäre Entzündungserreger, Strepto- und Staphylokokken,
nachwcisen. Uebrigens scheint gerade hei der gonorrhoischen Myelitis auch ohne
Bakterienbefund die Diagnose Entzündung nicht selten sichergestellt werden zu
können, da diese meist von den Meningen ausgeht und oft nur eine Randroyelitis
ist Die genaueste histologische Untersuchung mit Zuhilfenahme aller modernen
Methoden haben wohl OettinQER und MARINESCO in ihrem Falle angestellt. Bei
ihnen handelte es sich klinisch um einen Fall aufsteigender LAXDRY’scher Läh-
mung. Anatomisch wurde das periphere Nervensystem ganz normal befunden.
Im Kürkenmarkc fanden sich vor allem Veränderungen an den Blutgefässen, die
sich Uber den ganzen Quer- und Längssehnitt des Markes ausbreiteten und in
der Hauptsache in der Einlagerung massenhafter Leukocyteu und anderer Zellen
zwischen den Häuten der Gefässe des Markes bestanden (Perivascnlitis). Diese
Zellen enthielten oft Streptokokken. Letztere fanden sich auch überall frei im
Gewebe und in denjenigen Zellen, die hier zwischen den Nervenfasern als zellige
Infiltration des Markes lagerten. In kleineren Gefässen fanden sich Thromben
und endarteriitisebe Processe; in ihrer Umgehung oft frische Blutungen. Die Gan-
glienzellen zeigten alle Stadien der trüben Schwellung, ferner eine Aenderung in der
Anordnung ihrer chromatophiien Substanz, häufig ein Ahreissen der Aehsencylinder
und Protoplasmafortsätze dicht an der Zelle. Der Centralcanal war besonders dicht
mit Mikroben angefüllt , in ihm verbreitete sich wahrscheinlich der Process so
rasch von unten nach oben ; im Lendenmarke war die Erkrankung am stärksten
ausgeprägt.
In diesem und den ihm gleichstebenden Fällen kann natürlich über die
entzündliche Natur der Markerkraukung kein Zweifel sein und ich habe die
histologischen Befunde im Falle Mahinesco’S so ausführlich gegeben , weil ich
glaube, dass dieser Fall für die pathologische Anatomie der Rückenmarksentzündung
im acuten Zustande geradezu ein Paradigma darstellt und uns den Weg anzeigt,
auf dem die weitere Forschung auf diesem Gebiete vorangehen muss. Freilich
werden wir derartige Befunde nur in den Fällen erwarten dürfen, hei denen
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MYELITIS.
4»<3
die Entzündung entweder vom Erreger einer primären Erkrankung direct oder
wenigstens von secundüren geformten Entzündungserregern ausgeht ; schwieriger
wird die Sache schon , wenn die Toxine des primären Krankheitserregers in Be-
tracht kommen, wie wir das in so vielen Fällen annehmen müssen.
Aber so wichtig diese Fälle auch sind, sie bilden bUher doch nur eine
ganz kleine Minderzahl, um auf sie ein für alle Fälle passendes Bild der patho-
logischen Anatomie der Myelitis aufzubauen. Hier wie auf dem gesammteu Ge-
biete dieser Erkrankung sind wir bei der Mangelhaftigkeit unserer Kenntnisse,
wenn wir nicht überhaupt auf eine systematische Darstellung verzichten wollen,
genöthigt , dem praktischen Bedtirfniss Concessionen zu machen. Thun wir das,
so kann die Darstellung der pathologischen Anatomie der acuten Myelitis, wenig-
stens der diffusen oder transversalen, auch heute noch kaum eine andere werden,
als sie uns vor 20 Jahren Leyden 18) und Erb •’) — der letztere Autor schon
mit grossem Bedenken — geliefert haben, trotz aller neueren Widersprüche gegen
ein solches Verfahren, die oben schon kurz angedeutet sind. Kur unter diesen
ausdrücklichen Vorbehalten, auf die ich später noch einmal znrückkomme, wolle
man die folgende Darstellung betrachten, die sich übrigens im Wesentlichen —
ich weiss nichts Besseres — an die Ausführungen Ekb’s 6) und Pick's S3) anlehnt.
Halten wir uns zunächst wieder an die acute Myelitis und an die hier
vor Allem in Betracht kommende transversale oder diffuse Form. Der erste Aus-
druck bedeutet, dass sich die Erkrankung ohne System über den ganzen Quer-
schnitt in irgend einer Höhe des Rückenmarkes ausbreitet ; er bedeutet aber —
was ich hier schon hervorheben will — nicht, dass diese Erkrankung auf irgend
einem Querschnitte soweit geht, dass nun dort jede einzelne Nervenfaser functions-
nnfähig geworden ist; gerade bei der Myelitis linden sich solche totale Quer-
schnittsunterbrechungen fast nie, sondern es sind zwischen den erkrankten Partien
überall noch mehr weniger grosse Inseln normaler Substanz vorhanden Das
Adjectivum diffus bezieht sich auf die Ausdehnung des Processcs in der
Längsachse des Markes — diese kann sehr verschieden sein; manchmal werden
ganz erhebliche Strecken des Markes befallen, wobei natürlich in den verschie-
denen Höhen die Ausdehnung Uber den Querschnitt wieder eine sehr verschiedene
sein kann.
Es folgt zuerst der makroskopische Befund. Man hat sieh gewöhnt, nach
dem Befunde mit dem blossen Auge die Anatomie der Myelitis in 3 Stadien
einz utheilen. Leyden18) und mit ihm Pick33) unterscheiden eine rotbe, eine gelbe
und eine weisse Erweichung — das letzte Stadium bildet dann schon den L’eber-
gang zur Narbenbildung. Erb“) spricht von dem ersten Stadium der rothen, dem
zweiten der gelben und weisseu Erweichung — in die zweite Hälfte dieses
Stadiums stellt er schon den Beginn der regressiven Metamorphose, die Leyden
graue Erweichung nennt — und dein dritten, dem Stadium des Ausganges, mit
Induration, Cysten- und Höhlenbildung. Im ersten Stadium — der rothen Er-
weichung — zeigt sich das Rückenmark an der erkrankten Partie leicht ge-
schwellt. Macht man einen Querschnitt, so quillt das Mark meist erheblich über
die Querschnittsebene aus der Pia heraus. Das normale Bild des Querschnittes
ist nicht mehr scharf zu erkennen , mehr oder weniger oder auch ganz sind
die Unterschiede zwischen der grauen und weissen Substanz verwischt. Bei etwas
schwächerer Ausprägung der Erkrankung sieht der Querschnitt fleckig verändert,
wie inarmorirt aus, die erkrankten Partien zeichnen sich durch eine rotbe bis
rothbraune Färbung aus, vielfach linden sich dazwischen auch feinere capilläre
Blutungen — in stärkeren Graden — der sogenannten hämorrhagischen Myelitis
— ist der ganze Querschnitt homogen hoehroth oder rothbraun, chocoladcnartig
gefärbt, eine Farbe, die durch allmäligc Zersetzung der ausgetretenen rothen
Blutkörperchen zustande kommt. Die Erweichung des Markes kann dabei eine
verschieden starke sein — in einem Falle handelt es sich nur um eine etwas
grössere Sueculenz, eine Art Oedern des Markes, in anderen Fällen ist die Er-
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464
MYELITIS.
weichung bis zu einer breiartigen Consistenz vorgeschritten, so dass es heim
Durchschnitt zu einem mehr weniger vollständigen Ausfliessen des Markes ans der
Pia kommt. In vielen Fällen bestehen zugleich Hyperämie der und entzündliche
Auflagerungen auf der Pia mater.
Das zweite Stadium, die gelbe Erweichung, zeigt eine Schwellung des
Markes nicht mehr, eher schon eine leichte Verschmälerung desselben. An die
Stelle der rothen bis rothbraunen Farbe des Markes auf den Querschnitten ist
jetzt eine gelbröthliche, gelbe bis weissliche getreten ; einerseits sind durch Auf-
hören der Hyperämie , durch Resorption der ausgetretenen Blutkörper und des
Blutfarbstoffes die Unterlagen für die rothen Farbennuancen geschwunden, ander-
seits sind durch den weiter vorgeschrittenen Zerfall des Markes und die reich-
liche Bildung von Körnchenzellen (s. n.) die rahmartigen Substanzen entstanden, die
dem Inhalte der Pin den gelblichweissen bis weissen Farbenton verleihen. Die
Erweichung ist in diesem Stadium meist noch weiter vorgeschritten — nicht so
selten fliesst beim Durchschneiden des Markes fast der ganze Inhalt ans: nur eia
dtinncr Saum an der Peripherie bleibt dann wohl noch stehen. Nach Eub‘)
bildet übrigens nicht nur das zerfallene Mark das Substrat dieser Erweichung,
sondern zugleich auch noch ein flüssiges Exsudat aus den Blutgefässen.
Tritt allmälig eine immer weiterschreitende Resorption des zerfallenen
Markes und auch der es aufnehmenden und fortschaffenden Körnchen zellen auf,
dann treten ausser den immer erhaltenen, oft gewucherten und in ihren Wan-
dungen verdickten Blutgefässen , vor Allem die bindegewebige Septa und die
vermehrte und verdickte Neuroglia zutage, und an den Stellen, wo das ge-
schieht, nimmt der Querschnitt des Markes einen mehr grauen Farbenton an —
das ist das Stadium der grauen Erweichung von Leyden18) und Pick,19) Die
grau verfärbten Inseln, die sich allmälig über den ganzen Querschnitt ausbreiten.
bilden den Ausgangspunkt zu dem letzten Stadium Erb’s — dem Stadium der
Narbenbildung. In diesem Stadium ist das Rückenmark im ganzen Gebiete der
Erkrankung geschrumpft. Ist die Längsausdehnung der Entzündung nur eine
geringe gewesen, so hat sie wohl den Eindruck eines einfachen Knickes au ihrer
Stelle ; erstreckt sie sich Uber eine Anzahl von Rllckenmarkssegmenten, so ähnelt
dasselbe an der erkrankten Partie eher einem mehr weniger platten Bande. Die
Consistenz des Markes nimmt bei dieser Schrumpfung zu — es schneidet sich
viel härter als die gesunde Umgebung — mit einem Worte, die Sklerose ist ein-
getreten. Auf dem Querschnitte erscheint die sklerotische Partie jetzt deutlich
grau. Nimmt sie mehr weuiger den ganzen Querschnitt ein, so gehen von ihr
aus nach oben und nach unten die bekannten secundären Degenerationen, die
sich ebenfalls, wenn sie ausgeprägt sind, schon am frischeu Marke durch ihre
graue Farbe von der Umgebung abheben. Auch breitet sich nicht selten, wenn
das eigentliche acute Stadium vorbei ist, der Process in schleichender Weise sn
der Peripherie des primären Herdes weiter aus; damit ist dann der Uebergang
von einer acuten in eine chronische Myelitis gegeben. In seltenen Fällen bildet
sich an Stelle der Erkrankung eine grosse, mit hellem Serum erfüllte dünnwandige
Cyste; sehr viel häufiger sind in der Narbe kleinere Höhlen ohne eigene Wan-
dungen. Natur und Ursprung dieser beiden Arten von Cysten ist wohl ein ganz
differenter.
Man sollte annehmen, dass bei echter Myelitis der Entzündungsherd
auch in einen Abscess übergehen könnte, doch sind primäre Rückenmarksabsccsse
abnorm selten und ist ihre Entstehung aus dem klinischen Krankheitsbilde der
Myelitis bisher noch nicht beobachtet (vielleicht einmal bei gouorrhoischer Myelitis,
wohl aber bei der experimentellen Myelitis, Leyden >*). Deutlicher als im frischen Zu-
stande gelingt es nach der Härtung in MCi.LER's Flüssigkeit, die erkrankten Partien
von den gesunden abzugrenzen. Bekanntlich färbt die Chromsäure das erkrankte
Mark nur hellgelb, während die gesunden Markscheiden einen dunkelbraunen,
manchmal grünbraunen Ton annehmen. Vor Allem hat das Bedeutung im Stadium
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MYELITIS.
4tiö
der Narbenbildung einer acuten Myelitis oder bei von Anfang an chronischen,
resp. später chronisch gewordenen Myelitiden. Hier kann man manchmal auf
dem Querschnittsbilde schon makroskopisch auch ganz kleine, gesund gebliebene
Partien von den kranken unterscheiden. Ebenso heben sich die secundären
Degenerationen scharf ab, manchmal so scharf, dass man sich später bei der
mikroskopischen Untersuchung wundert, wieviel Nervenfasern im degenerirten
Gebiete doch noch erhalten sind. Im Stadium der rothen und der gelben Er-
weichung ist der Querschnitt des in Müller erhärteten Rückenmarkes, wenn die
Härtung überhaupt soweit gediehen ist, dass man einen Querschnitt anlegen kann,
abgesehen von Blutextravasaten, die einen hochrothen Ton zeigen können, diffus
hellgelb gefärbt und zeigt im Uebrigen seine Erkrankung hauptsächlich dadurch,
dass die Schnittfläche keine glatte wird , sondern meist ein krümlichcs, bröck-
liehes Aussehen zeigt.
Die bisherigen Charaktere der acuten transversalen Myelitis waren
durch die makroskopische Betrachtung gewonnen — sie werden nur erkannt,
wenn der Process ziemlich grober Natur ist. Ist die Erkrankung im ersten
Beginne, oder nimmt sie nur kleine und kleinste Theile des Querschnittes ein,
so kann das Mark makroskopisch ganz normal erscheinen ; andererseits sind
früher jedenfalls baldig einfache, selbst postmortale Erweichungen als entzünd-
liche angesehen. Auch bei den groben, bis zur Zerfliessung gehenden, den ganzen
Querschnitt ergreifenden entzündlichen Affectioncn kann natürlich ein Einblick in
die feineren Veränderungen nur durch das Mikroskop gewonnen werden. Ich
will hier aber nochmals hervorheben, dass diese Untersuchung schon technisch
(Härtung, feine Schnitte) erhebliche Schwierigkeiten darbietet, dass unsere Kennt-
nisse von den feineren histologischen Details dieser Processe noch sehr geringe
sind, speciell auch deshalb, weil unsere bisherigen Färbemethoden mehr Rück-
sicht auf die groben Verhältnisse der topographischen Anordnung der Krank-
heitsgebiete als auf die pathologische Histologie genommen haben, dass wir
deshalb in dieser Beziehung heute kaum weiter sind, als Erb1’) es vor 20 Jahren
war. Die mikroskopischen Untersuchungen können am frischen oder am gehärteten
und eingebetteten Rtlckenmarke angestellt werden: einzelne histologische Details,
z. B. die Körnchenzellcn, die Amyloidkörper, gewisse Arten des Markzerfalles,
erkennt man am besten am frischen, andere, wie die Wucherung und Wand-
erkrankung der Blutgefässe, die Zunahme des Binde- und Neurogliagewebes, die
Schwellung der Achseneylinder, besser an gefärbten Präparaten.
Im Ganzen kann man — ich halte mich auch hier wieder an die drei
Stadien Erb’s8) und auch sehr eng an seine detaillirte Darstellung — ungefähr
Folgendes als Wichtigstes hervorheben :
1. Stadium: rothe Erweichung. Erweiterung und strotzende Füllung der
Capillaren und auch der kleineren Arterien, Austritt weisser und rother Blut-
körperchen, zunächst in die Arterienwand und von da in das umgebende Gewebe.
Reichliche Hämorrhagien grösseren oder geringeren Umfanges in der Umgebung
der Blutgefässe. Durchsetzung des ganzen Markes mit weissen und zum Theil
auch mit rothen Blutkörperchen — kleinzellige Infiltration. Die Nervenfasern
zuerst im Beginn, später in allen Stadien des Zerfalles: Quellung und Fracturining
der Markscheide, so dass dieselbe auf dem Längsschnitt ein rosenkranzähnliches
Aussehen gewinnt und sich immer weniger intensiv bei Behandlung mit Osmium-
säure schwärzt ; Bchliesslich vollständiger Zerfall der Markscheide bei reichlicherem
Auftreten von Körnchenzellen. Oft enorme Anschwellung der Achseneylinder, auch
diese, wie man auf Längsschnitten sicht, segmentär, so dass hier ebenfalls das
Bild des Rosenkranzes resultirt; diese Schwellung kann mit oder ohne gleich-
zeitige der Markscheide stattfinden — bei Färbung mit Weiuekt's Hämatoxylin
uebmen die gequollenen Achseneylinder oft einen blassgrauen Ton an, wie blasse
Tintenflecke auf Löschpapier. Zu gleicher Zeit Schwellung der Neuroglia und
ihrer Zellen. Breiterwerden der Interstitien zwischen den einzelnen Nervenfasern —
Encyclop. Jahrbücher. VI.
30
460
MYELITIS.
erster Beginn aucii der Wucherung des eigentlichen Bindegewebe« , das mit
den Blutgefässen und in den grossen Septcn in's Bückenmark eindringt. Schwellung
und trübe Körnung der Ganglienzellen : dieselben verlieren ihre polygonale Ge-
stalt, werden rundlich und plump — die Fortsätze brechen ah oder verlieren
sich ganz — am längsten halten sich wohl Kern und Kernkörper, aber schliess-
lich verschwinden auch sie — die Ganglienzellen sind dann oft schwer, nicht
selten nur durch ihre Lage im Centrum des Querschnittes als solche zu erkennen.
Im 2. .Stadium, der gelben Erweichung, ist der Zerfall des .Markes auf
seinem Höhepunkt angelangt, ist die Erweichung bis zum Flüssigwerden vor-
geschritten, so dass auch nach der Härtung noch ein Theil ausfliesst, so be-
kommt man natürlich nur ein unvollkommenes Bild des Querschnittes. Soweit die
Feberreste des Markes durch das Celloidin an ihrer Stelle festgehalten sind,
sieht man abwechselnd ganze Haufen gewucherter und in ihren Wandungen ver-
dickter Blutgefässe mit reichlicher kleinzelliger Infiltration der nächsten l'm
gebung — dann wieder Haufen gänzlich zerfallener, nur noch bruchstückweise
vorhandener Markscheiden, die letzten Reste dieser zeigen sich als krflmliche,
bei Weigert- Färbung sch warze Pigmentreste, ferner fettiger Detritus, Reste von
Blutfarbstoff und zerfallene Blutkörper, stark gequollene freie Acliscncylinder —
au eh wohl ab und zu eine gesunde Nervenfaser. Wieder andere Inseln sind
gebildet von gequollener und gewucherter Neuroglia oder auch von echtem
Bindegewebe. Die Ganglienzellen sind in kleine homogen gefärbte Schollen ver-
wandelt, ohne Andeutung von Kern und Kernkörperchen. Ist der Zusammenhang
des Markes ein noch etwas festerer, so bekommt man wohl einen vollständigen
Querschnitt heraus; auf demselben zeigen sich die einzelnen Arten des Zerfalles
genau in derselben Weise wie oben beselirieben , nur dass dann wohl mehr ge-
sunde Fasern vorhanden sind. Manchmal bilden in diesem Stadium nur die Blot-
gefässe oder die gewucherte Neuroglia das Gertist, das den Markquerschnitt noch
zusammcnhält. Bei frischer Untersuchung findet mau gerade in diesem Stadium
die reichlichste Menge der bekannten Körnchenzellen, ferner unregelmässig ge-
formte Myelintropfen, auclt Fetttropfen, Blutpigment und rothe Blutkörperchen
im Zerfall, daneben auch weisse Blutkörperchen.
Im 3. Stadium — der Vernarbung — treten die Beste des Markzer-
falles immer mehr zurück — in den Vordergrund tritt die Wucherung der
Neuroglia und auch des echten welligen Bindegewebes, das schliesslich fa-t dm
ganzen Querschnitt des Markes, resp. seiner erkrankten Partien, einnimmt, ln
diesem Narbengewebe finden sich aucii die sogenannteu Spinnenzellen. Auf den
acuten Process weisen vor Allem noch die reichlich im Narbengewebe vor-
handenen dickwandigen Gefässc hin ; manchmal finden sieh mitten im Narben-
gewehe noch einzelne gut erhaltene Nervenfasern , häufiger alter die Reste
zerfallener Nerven, Piginentsclmllen und krlimlichcr Detritus; dann Beste von
Blutungen, ab und zu wohl auch eine kaum noeh zu erkennende Ganglienzelle,
Beste von Körncheuzcllen und dergleichen. Die oben erwähnten grösseren Cysten
unterscheiden sielt in histologischer Beziehung nieht von den bei Blutung und
Erweichungen im Gehirn entstehenden; die kleineren ohne eigentliche Wandungen
sind wohl zurUckzuführen auf primäre strangförmige Nekrosen (Schsiai'ss**)-
Dafür spricht, dass sie sich öfters als direete Fortsetzungen solcher nekrotischer
Stellen finden: an anderen Stellen liegt das nekrotische Stück noch losgelöst wie
ein Knochensequester in (1er Todtcniade in der Höhle darin, ln diesem 3. Stadium
findet man die Amyloidkörper am häufigsten.
Feber die Histologie der secundären Degenerationen ist nichts weiter
zu sagen. Ebenso ist es natürlich klar, dass die vom erkrankten Gebiete direct
abhängigen Nerven und Muskeln einer Degeneration anhrimfallen.
Auch über die histologischen Verhältnisse der sogenannten chronischen
diffusen und transversalen Myelitis braucht nichts weiter gesagt zu werden. W ie
erwähnt, ist die primäre chronische Myelitis sehr zweifelhafter Natur und ist
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MYELITIS.
4<> 7
Uber ihren histologischen Charakter — abgesehen von den Fallen, die zur mul-
tiplen Sklerose gehören — so gut wie nichts bekannt. In den beschriebenen Fällen
überwiegt die Härtung und Sklerosirung des Markes, in den diffusen Fällen ist
oft das ganze Mark sehr verdünnt; histologisch unterscheiden sich diese Fälle
kaum von den acuten im Narbenstadium — reichliches Bindegewebe, viele
Spinnenzellen, viel Blutgefässe. Schliesst sieh eine chronisch fortschreitende
Myelitis an eine acute an, so wird man Bich ihr histologisches Bild wohl aus
dem oben Gesagten construircn können — im Gebiete des Furtschreiteus werden
sich die histologischen Veränderungen der rothen und gelben Erweichung, uur
weniger intensiv, finden, während der übrige Theil des erkrankten Markes mehr
das Bild des Narbenstadiums darbietet.
Noch eine sehr schwierige und zweifelhafte Frage wäre hier zu er-
örtern. Es giebt mit Sicherheit, wenn auch seltene Fälle acuter transversaler
Myelitis mit Ausgang in volle Heilung, wenigstens im klinischen Sinne, und gerade
in den Fällen, wo die Erkrankung sicher entzündlichen Charakters ist, ist dieser
glückliche Ausgang noch am häufigsten. Man muss annehmen, dass in diesen
Fällen die Krankheitsnoxe, etwa das entzündliche Exsudat, nur functionshemmend,
nicht zerstörend auf dii-se Nervenfasern und Zellen des erkrankten Bezirkes ge-
wirkt hat. Wirkliche Zerstörungen scheinen sieh aller Erfahrung nach, wenigstens
im Kuckenmarke des Menschen, nicht zu repariren — wenn man vielleicht aueli bei
sehr geringer Ausdehuuug der Läsionen nach den neuesten Untersuchungen von
Stköbk ein Wiederauswachsen der zerstörteu Nervenfasern für möglich
halten kann.
Damit wären die Angaben über die pathologische Anatomie der trans-
versalen und diffusen Myelitis wohl erschöpft. Ich halte es aber für durch-
aus nothwendig, jetzt, nachdem wir übersehen können, was die
Autoren als charakteristische anatomische Merkmale der acuten und
chronischen Myelitis angegeben haben, noch einmal darauf hinzu-
weisen, dass alle diese Dinge eine specifische Bedeutung für die
Myelitis im engeren Sinne nicht haben, dass also die ganze anato-
mische Begründung dieser Erkrankung auf den schwächsten Füssen
steht, und dass, wie schon erwähnt, das vorstehend von mir ent-
worfene Bild einen mehr praktisch didaktischen als wirklich wissen-
schaftlichen Werth besitzt. Wir brauchen, um das zu erkennen, uns nur
die histologischen Beschreibungen anzusehen, wie sie für ätiologisch sichere vascu-
läre Erweichungen, dann bei der sogenannten traumatischen Myelitis, oder für
die acute Erweichung, infolge von Compression z. B. durch Tumor mehrfach
initgctheilt sind. Was die vaseuläre Erweichung anbetrifft, so brauche ich nur
daran zu erinnern, dass wir im Gehirne bei Thrombose und Embolie schon lange
die rothe, gelbe und weisse Erweichung kennen, um zu beweisen, dass die be-
treffenden Erweichungen im Kückeumarke sich in ihrem makroskopischen Befunde
nicht von denen des Gehirues unterscheiden und schon aus diesem Grunde die
Wahrscheinlichkeit, dass es sich in vielen der als acute Myelitis beschriebenen
Fälle um vasculüre Erkrankungen handelt, als gross erscheinen zu lassen. Auch
die Bildung der grossen mit Serum gefüllten Cysten ist auf diese Weise am
besten zu erklären. Auch stimmt in denjenigen genau mikroskopisch untersuchten
Fällen sogenannter acuter Myelitis, bei denen die vaseuläre Natur der Erkran-
kung sicher erkannt wurde — ich erinnere nur an den Fall von TlETZEN**), den
«lieser unter Maxskopf’s und Makchand's Leitung bearbeitete — , der histologische
Befund ganz mit dem oben skizzirten überein. TlKTZBN*J) gebt sogar soweit,
alle Fälle acuter Myelitis für vaseuläre Erweichungen anzusehen. Ebenso ist das
in den Fällen, bei denen ein Trauma plötzlich einen grösseren Bezirk des Markes
zerstört, oder wo, nach bisher nicht recht erklärter Weise, bei einem com-
priraiivnden Tumor ganz plötzlich rapider Markzerfall eintritt, namentlich fehlen
liier nicht die Wucherungen der Blutgefässe , die perirasculären Blutungen lind
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MYELITIS.
4»J8
«lie zeitige Infiltration des Markes, die Körnchenzelleu , die Wucherung der
Ncuroglia etc. etc. Koch ähnlicher sehen sich schliesslich die Ausgänge aller
dieser Erkrankungen im Stadium der Karbenbildung, und wir milssen ehrlich
eingestchen, dass es uns heutzutage fast immer ganz unmöglich ist, einer Rückcn-
marksnarbc anzuschen, ob sie aus einer wirklich entzündlichen Erkrankung oder
aber aus einer einfachen Erweichung oder Zerquetschung hervorgegangen ist.
Dieser Ansicht war auch Ebb schon vor 20 Jahren, und wenn er damals noch
annahm, dass bei reichlicher Anwesenheit von Körnchenzellen , stark gefüllten
Blutgefässen, gequollenen Aehsenevlindern, Wucherung des interstitiellen Gewebes
die entzündliche Natur des Processes gegenüber einer nicht entztindlicheu Er-
weichung wohl sichcrgestellt sei, so wird er jetzt, wo wir wissen, dass alle
diese Dinge etwas Specifisehes nicht haben, wohl nicht mehr auf dieser Meinung
beharren. Kurz gesagt — das für die Myelitis als charakteristisch
angegebene histologische liild des Rückenmarkes gestattet
an sich, abgesehen von dem bisher selten geführten Nach-
weis specifiseher Entzünd ungserreger, fast die Diagnose auf
eine wirkliche Entzündung gegenüber einer andersartigen
Desintegration des Markes zu stellen: erst durch die Anamnese,
epeciell durch die ätiologischen Momente und auch durch gewisse Besonderheiten
im klinischen Verlaufe kann man manchmal zur Entscheidung kommen : ebenso
entscheidend — aber meist gegen eine Myelitis — können noch andere Befunde
bei der Scction wirken — so der klinisch nicht geführte Nachweis eines com-
primirenden Momentes oder der sichere Befund einer Thrombose oder Embolie.
Viel charakteristischer und ohne Weiteres für die entzündliche Natur
der Erkrankung sprechend ist die Art der Verbreitung und der Sitz der Krank-
heitsherde in den Fällen von acuter disseminirter Encephalomyelitis. Die ersten
anatomischen Untersuchungen dieser Fälle sind wohl von Westphai. 60) und Ebstein“)
.ingestellt — doch handelte es sich hier um Fälle vorgeschrittenen Verlaufes.
Auch der Fall Baumgartkn'S gehört wohl hierher. Eine genaue anatomische
Untersuchung eines frischen derartigen Falles verdanken wir KOsskkb und
llltOSlN. »») Es handelte sich hier um kleinste, mehr weniger dicht nebeneinander
liegende Herde der Degeneration, die ihre entzündliche Natur am deutlichsten
durch ihr stetiges Gebuudcnsein au die Umgebung feinster Blutgefässe doenmen-
tirten ; hier kommt es zuerst zur Auswanderung weisser Blutkörperchen, durch
sie zur Zerstörung von Nervenfasern in umschriebenen Gebieten — dann mischen
sich die Zerfallsproductc der kleinzelligen Infiltration bei — schliesslich kommt
es zur Resorption, wobei an der erkrankten Stelle zunächst nur das Glianetz
Übrig bleibt. Zur eigentlichen Narbenbildung war es im Falle Küssnkb und Bbosis
noch nicht gekommen.
Nach dem, was ich oben bei der transversalen Myelitis über die Mög-
lichkeit einer Heilung (zum mindesten im klinischen Sinne! gesagt habe, kann
mau sich leicht vorstellen, dass dieser günstige Ausgang bei der disserainfrten
Myelitis häufiger sein wird. Dem entsprechen auch die klinischen Erfahrungen.
Symptomatologie, Verlauf und Ausgänge. — 1. Myelitis
transversa ( diffusa ) acuta. Der Versuch einer genauen, alles umfassenden
und möglichst systematischen Darstellung der acuten, transversalen und mehr
weniger diffusen Myelitis stösst auf eine Anzahl von Schwierigkeiten, die seine
vollkommene Ausführung unmöglich machen. *) Diese Schwierigkeiten beruhen vor
*) Audi neuere Autoren, z. B. Gowers und Pick, nehmen noch ein jmar andere
Formen der acuten Myelitis an. Bei der focalen Myelitis von Gowers beschränkt sich die
Erkrankung auf einen kleinen Herd, der aber nicht so klein ist, wie die einzelnen Herde der
dUseminirten .Myelitis; es dürfte sich dabei wohl häufig um einen ersten Herd der multiplen
Sklerose handeln. — Die sogenannte diffuse Myelitis centralis scheint in der Beschreibung
ihres klinischen Bildes auch mit der Landry'schen Paralyse zusammenxufallen. von der es
auf- und absteigende Formen giebt. Eine Unterscheidung in parenchymatöse und interstitielle
.Myelitis kann ich nicht zugeben, die echte Myelitis ist immer interstitiell.
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MYELITIS.
-IßO
Allem auf der ganz unsystematischen, in jedem Falle verschiedenen Ausbreitung
des oder der Krankheitsherde im Ruckenmarke. Das bezieht sich sowohl auf die
Ausdehnung in der Quere, wie in der Länge. Wenn wir von transversaler Myelitis
sprechen, so müssen wir uns dabei wohl bewusst sein, dass eine totale Leituugs-
unterbrechung auf irgend einem Querschnitte bei der Myelitis mindestens sehr
selten ist, dass in einem Falle viele und grosse, im anderen wenige und kleine
Inseln gesunder Nervensubstanz übrig bleiben. Noch weniger einheitlich ist die
Ausdehnung in der Längsrichtung; kann sich der Herd einmal auf ein einzelnes
Segment beschränken — im Ganzen ist das recht selten — so ergreift er das
anderemal das Mark fast in seiner ganzen Länge. Schliesslich finden sich auch,
abgesehen von der eigentlichen disseminirten Myelitis, häufig neben einem grossen
Herde ein oder eine Anzahl kleiner: ebenso kann der primär kleinere Herd sieb
allmälig nach oben und nach unten vergrössern. Da nun die Symptomatologie
der Rflckenmarkferkrankungcu ganz und gar abhängt von der Function der von
der Erkrankung ergriffenen Segmente, nach obiger Auseinandersetzung aber so-
wohl die Zahl der ergriffenen Segmente eine sehr verschiedene sein kann , als
auch diese einzelnen Segmente wieder in ganz differenter Weise partiell oder
mehr weniger total transversal lädirt sein können, so ergiebt sieh wohl von
selbst, wie verschiedenartig in jedem einzelnen Falle je nach Höhensitz, Längs-
nnd Querausdehnung die Symptomatologie der Myelitis sein muss und die Unmög-
lichkeit, jede mögliche Art in ausführlicher Weise zu behandeln. Die schwanken-
den Details müssen vielmehr, wie PICK sagt, der auf die Anatomie und Physiologie
des Rückenmarks gestutzten Analyse überlassen bleiben, einer Aufgabe, deren
Lösung wir ja bei der stetig fortschreitenden Erkenntniss auf diesem Gebiete
immer näher kommen. Hier soll zunächst ein kurzer Abriss «ler jeder acuten
Myelitis zukommenden Symptome und Allgemeines über Verlauf und Ausgänge
beigebracht werden; im Anschluss daran einige detaillirtere Angaben über die
Symptome bei bestimmter Localisation der Erkrankung. Die Symptomatologie der
disseminirten Encepbalomyelitis folgt dann in einem besonderen Abschnitte.
Die durch entzündliche Erkrankung des Rückenmarkes hervorgerufenen
Störungen lassen sich eiutheilcn in solche der Sensibilität, der Motilität, der
Reflexe und in trophische Störungen. Alle diese Störungen verhalten sich in ltezug
auf die Zeit ihres Auftretens , ihre Intensität und in der Art ihrer Gruppiritng
untereinander, anch abgesehen von den durch die Segmenthöhe der Erkrankung
hervorgerufenen Differenzen, im Einzelfalle natürlich sehr verschieden. Spceiell
hängen solche Verschiedenheiten auch von dem mehr oder weniger rapiden Verlauf
der Erkrankung ab. So pflegen z. U. in den Fällen sogenannter Myelitis acutis-
siinrt (auch haemorrhatjica genannt), deren entzündliche Natur allerdings sehr
zweifelhaft ist , die Schmerzen ganz zu fehlen , während in den subacut
oder mehr chronisch verlaufenden Fällen vage oder auch auf bestimmte llaut-
abschuitte beschränkte schmerzhafte Empflndungcn den übrigen Symptomen meist
vorausgehen können. Diese schmerzhaften Empfindungen bestellen in mehr weniger
umschriebenen reissenden, lauciniremlen und bohrenden Schmerzen, auch Rücken-
schmerzen können natürlich vorhanden sein , ebenso manchmal auch sehr deut-
licher Gürtelschmerz. Werden dann die auf eine Rttckenmarkserkrankung liiu-
deutemlen und spceiell die Lühmnngssymptomc erst bestimmter, so pflegen auch
■ n diesen Fällen die Schmerzen aufzuhören und man kann überhaupt wohl sagen,
«lass ausgesprochene und länger andauernde schmerzhafte Empfindungen immer
«len Gedanken an eine Betheiligung der Meningen und damit auch der Rücken*
niarkswnrzeln nahclegcn müssen , wenn sie nicht sogar zur Diagnose des Aus-
ganges der Erkrankung von den Meningen — also einer Meningomyelitis —
berechtigen. Ganz sicher ist natürlich dieser Umstand nicht zu verwerthen , da
wir heutzutage bestimmt wisseu, dass auch durch Läsionen der sensiblen Bahnen
im Rüekenmarkc und sogar im Gehirn peripher empfundene Schmerzen ausgelöst
werden können, die sieli manchmal dann sogar in ganz anästhetischen Gebieten
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<J7U MYELITIS.
bemerkbar machen (Anaesthesin dolorosa). Sehr viel häufiger und namentlich
auch hartnäckiger als eigentliche Schmerzen sind sogenannte Parästhesien, sowohl
irn Beginne als im weiteren Verlaufe der Erkrankung, so das Gefühl von Tanb-
sein, Kingeschlafensein und Ameisenkriechen in den Gliedern, das Gefühl von
Schwere in den Gliedern , ferner plötzliche , an den Extremitäten vom Kumpfe
bis zu den Fingern oder Zehen herablaufende Wärme- oder Kälteempfindungen,
so dass die Patienten das Gefühl haben, als würden sie an diesen Stellen plötzlich
mit warmem oder kaltem Wasser begossen. Mir speciell ist besonders häufig
geklagt worden über die Empfindung, als sei die betreffende Extremität oder das
Extremitätenende verdickt, geschwollen, ein Gefühl, das so deutlich war, dass
die Patienten sich nur sehr schwer von der Subjectivität dieser Empfindung über-
zeugen Hessen.
Die sensiblen Lähmungserscheinungen verhalten sich im einzelnen Falle
ebenfalls sehr verschieden. Meist folgen sie zeitlich den Schmerzen und Parästhe-
sien nach. So kann eine deutliche Anästhesie in manchen Fällen während des
ganzen Verlaufes fehlen, während in anderen Fällen das Gebiet der Anästhesie
sehr bald der Erkrankungshöhe im RUckenmarke entspricht, ihr oberes Ende .in
der Grenze der dem höchst erkrankten Rückenmarkssrgmcntc entsprechenden
Hautpartie findet. Das hängt natürlich davon ab, ob überhaupt und in welcher
Ausdehnung die sensiblen Bahnen auf dem erkrankten Querschnitte mitaflicirt
sind. Es ist aber sehr wichtig zu wissen, dass, da die Qncrsohnittserkrankung fast
nie eine totale ist, auch die obere Grenze der Anästhesie an der Haut fast nie der
oberen Grenze der Rückeumarkserkrankung entspricht, sondern fast immer
beträchtlich, manchmal sehr tief darunter liegt; man kann also ans der Aus-
dehnung der Gefühlsstörungen an der Haut nur in seltenen Fällen eine Diagnose
auf die Ausdehnung der Erkrankung im RUckenmarke machen. In denjenigen
Fällen, in denen die Anästhesie langsam vorschreitend allmälig das ganze von dem
betreffenden Herde in Mitleidenschaft zu ziehende Ilautgcbiet ergreift, sieht n;an
nicht so selten, dass sie von unten nach oben fortschreitet, zuerst die Fltsse, dann
die Beine, schliesslich den Rumpf ergreift.
Meist ist die Anästhesie bei RückenmarksentzUndung entsprechend der
transversalen Ausdehnung der Erkrankung eine doppelseitige und auf beiden Seiten
symmetrische, — ebenso sitzen die Schmerzen in beiden Körperhälften an gleichen
Stellen. Bei mehr weniger halbseitigen Myelitiden würden die subjectiven Gefühls-
6törungen auf der Seite der Erkrankung, die Anästhesien gekreuzt sitzen, letztere
abgesehen von der dem Herde selbst entsprechenden Hautpartie — solche Be-
schränkung auf eine Seite ist aber bei Myelitis recht selten. Nicht so selten
kommt es vor, dass die Gefühlsstörung keine totale, sondern eine partielle ist,
d. h. dass sic nicht alle Gefühlsqualitätcn betheiligt. Die Beschränkung der
Empfindungsstörung auf die Schmerz- und Temperaturempfindungen ist keines-
wegs ein specifisches Merkmal der Syringomyelie, sie kommt — ganz abgesehen
von peripherischen Erkrankungen der Nerven — auch bei der Myelitis vor.
namentlich geht sie manchmal der totalen Anästhesie voran oder folgt auf sie
im Beginne der Reeonvalesecnz. Manchmal findet man unter diesen Umständen
in den peripheren Theilen der ergriffenen Körpertheile conjplete Anästhe>ie.
während in den weniger distalen nur das Gefühl für Schmerz- und Temperatur-
reiz erloschen ist. In wieder anderen Fällen — hier handelt es sich um leichtere
Gefühlsstörungen — ist die Empfindung für eine Berührung oder für einen
Nadelstich zwar vorhanden, aber sie wird mangelhaft oder gar nicht localisirt.
Ebenso kann die Empfindung eine verlangsamte sein. Ist die Läsion des Quer-
schnittes an ihrem oberen Ende eine totale, so dass Anästhesiegrenze der Hunt
und oberstes ergriffenes Rückenmarkssegment mit einander harmoniren, so
findet man über der Anästhesie- auch wohl eine schmale Hyperästhesiezone,
doch ist das bei der .Myelitis immerhin selten , viel seltener als z. B. bei der
Compression des Rückenmarkes.
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JlYEUTIS.
471
Auch bei den motorischen Erscheinungen gelten die Reizerscheinungen
den Lähmungserscheinungen meist voran. Zu den ersteren gehören häutige und
sehr heftige, aber meist rascli vorübergehende, sogenannte Orampi , die vor
Allem an den unteren Extremitäten und meist in den Wadenmuskeln auftreten,
sehr schmerzhaft sind und vollständig denen entsprechen, wie sie bei peripheren
Erkrankungen, speciell bei der alkoholischen Neuritis Vorkommen. Auch länger
dauernde, ebenfalls schmerzhafte tonische Spannungen ganzer Extremitäten können
Vorkommen, doch sind diese vor Allem bei der Erkrankung vorderer Wurzeln
beobachtet. Sehr häutig werden plötzliche, unwillkürliche, rasche oder noch häufiger
langsame , dann eigentümlich träge Bewegungen einer ganzen Extremität beob-
achtet, so namentlich Beugungen des Oberschenkels im Hüftgelenke, die zu
einer erheblichen Loeomotion des ganzen Beines führen ; manchmal ist auch diese
Bewegung mit Schmerzen verbunden, andererseits kommt sie wieder in willkür-
lich ganz gelähmten und anästhetischen Gliedern vor, kann aber auch unter
diesen Umständen dem Kranken zum Bewusstsein kommen durch die Erschütte-
rung, die durch sie dem ganzen Körper mitgetheilt wird. Nach Pick1*) soll es
manchmal auch zu tctanischer Starre des ganzen Körpers kommen — das ist
jedenfalls nur bei sehr diffuser Myelitis möglich und würde mir immer den Ver-
dacht auf eine sehr starke Betheiligung der Meningen nahelegen.
Auf die motorischen Reizerscheinungen folgen dann rascher oder lang-
samer die Lähmungserseheinungen. Der gewöhnlichste Typus der Rückenmarks-
lähmung ist die Paraplegie, — die Lähmung der Beine und der unteren Theile
des Kumpfes — in selteneren Fällen sind alle vier Extremitäten betheiligt, die
genauere Ausbreitung entspricht der Höhe des Krankheitssitzes und der grösseren
oder geringeren Vollständigkeit der Quersehnittserkrankung, ihre Intensität hängt
vor Allem vom letzteren Momente ab. ln ausgeprägten Fällen betrifft die
Lähmung a Ile diejenigen Muskeln, die von d eu Rücke nm ar kssegmen ten
der Erk rank it ugss teile selbst und den darunter liegenden abhängen.
Hier soll zunächst nur von diesen Fällen die Rede sein, über die allein All-
gemeines sich aussagen lässt, einiges über die Gruppirung der Lähmungen bei
besonderem Sitze der Entzündung soll noch weiter unten folgen. Tritt die Läh-
mung — also meist eine solche der Unterextremitäten — rasch ein (sie kann Uber
Nacht eine totale werden), namentlich häutig sind aber acute Verschlimmerungen,
so betrifft sie zunächst alle unterhalb der Läsionsstelle repräsentirten Muskeln,
und ist es fast immer eine schlaffe izum Theile Shncklähmung); erst allmälig tritt
fast immer , ausgenommen , wenn di« Myelitis im Lendenmarke ihreu Sitz hat,
oder in ganz seltenen Fällen auch bei anderem Sitze (s. u.) in den dauernd ge-
lähmt bleibenden Muskeln der Beine eine immer zunehmende Steifigkeit ein, die
schliesslich zur starren Contractur (in den Beinen, auf die sie ja meist beschränkt
ist, am häufigsten zu Streck-, nicht selten aber auch zu Beugecontractur) führte.
Letztere ist besonders prognostisch sehr ungünstig, weil sie die Pflege und Lage-
rung des Kranken sehr erschwert, sich auch meist noch mit starrer Adductions-
contrartur der Oberschenkel verbindet. Tritt die Lähmung mehr allmälig ein,
so hält die Contractur mit ihr gleichen Schritt. In diesem Falle kann die Läh-
mung erst das eine, dann das andere Bein befallen, und sie schreitet dann ebenso
wie die Anästhesie manchmal von unten nach oben fort, so dass in solchen Fällen
z. B. eine Bewegung des Beines in der Hüfte noch möglich ist, während der
Fnsg schon vollständig gelähmt ist. Wird allmälig die Querseh nittsmiterbrecbung
eine totale, so entspricht schliesslich natürlich auch iu diesen Fällen die Lähmung
dem Sitze dieser vollkommen transversalen Affection, — sie ist bis in diese Höhe
eine totale und alle Muskeln betreffende.
Hier ist der Platz, Uber die Verhältnisse der Sensibilitäts- zu den Motilitäts-
störungen besonders in topographischer Beziehung zu sprechen. Diese siud sehr
wechselnde. Im Allgemeinen kann mau sagen, dass die Motilität fast immer erheb-
licher gestört ist, als die Sensibilität — ja es kann, wie schon erwähnt, bei
47 2
MYELITIS.
schwerer motorischer Lähmung- jede Anästhesie fehlen, noch häufiger verliert sich
die anfangs vorhandene sehr rasch , während die motorische Lähmung bestehen
bleibt. Meist hinkt hei langsam eintreteuder Paraplegie die Anästhesie der Lähmung
nach , — so dass in einem bestimmten Termin die Lähmung schon auf eine
Läsion höherer Segmente hinweist als die GefUhlsstörung, und nicht selten kommt
es vor, dass selbst auf der Höhe der Erkrankung Sensibilitäts- und Motilitäts-
störungen sich segmentär nicht decken . weil , wie gesagt . die ersten; nicht so
weit nach oben reicht, wie die letztere. Alles das muss natürlich von der unregel-
mässigen Verbreitung der Erkrankung auf dem Querschnitte abhäugen.
Selbstverständlich sind sowohl in Bezug auf die Motilitäts- wie die
Sensibilitätsstörungen Heiz- und Lähmungserscheinungen zeitlich nicht scharf von
einander getrennt, so treten bei schubweisem Verlaufe natürlich immer neue
Heizsymptome auf, auf die dann wieder entsprechende Lähmungssymptome folgen.
Auch Uber die trophischen Verhältnisse der gelähmten Muskeln kann
schon an dieser Stelle das Nothwendige gesagt werden. l>ie von den direct
ergriffenen RUckenmarkssegmenten abhängigen Muskeln verfallen mehr weniger
rasch einer degenerativen Atrophie. Diese zeigt sich deutlich, wenn die Myelitis
das Hals- oder Lendenmark ergreift — Genaueres siehe unten — , während bei
dem weit häufigeren Sitze im Dorsalmarke sich natürlich die degenerative Atrophie
einzelner Intercostalmuskcln nicht uachweisen lässt. Der degenerativen Atrophie
entspricht complete oder partielle Entartuugsreaction. Die unterhalb der Läsious-
stelle gelähmten Muskeln werden zunächst in ihrer Ernährung nicht wesentlich
beeinträchtigt, später aber, in Fällen, bei denen eine Besserung nicht cintritt und
die Lähmung complet bleibt, entweder unter dem Einflüsse des Marasmus —
vielleicht auch durch die Abtrennung von trophischen Centren des Gehirns —
erkranken auch sie und magern meist ganz erheblich ab. Die elektrische Erreg-
barkeit ist dann meist sehr herabgesetzt, aber nur quantitativ; in einzelnen Fällen
guter Beobachter soll sie ganz erloschen gewesen sein.
Die .Sehneureflexe , spcciell die Reflexe von der Patellar- und Achilles-
sehne, können bei acut ersetzender Lähmung bei jedem Sitze der Läsion fehlen
(Shock), aber meist fehlen sie nur kurze Zeit. Später nehmen sie fast immer sehr
erheblich zu — abgesehen von der Localisatiou der Erkrankung im Lenden-
marke, wobei dann zugleich degenerative Atrophie der Muskeln besteht — in
gleichem Schritte mit der allmälig zunehmenden Steifigkeit und Contractur der
Beine. Zuletzt besteht meist ausgesprochener Patellar- und Achillessehuenclonus
und das Phänomen , das Brown-Sbquard sehr ungeeigneter Weise Epilepsie
spinale genannt hat — schon bei den geringsten passiven Bewegungen der
I'nterextremitäten oder sogar schon bei leichtesten Berührungen der Haut der-
selben, vor Allem auch beim Versuch, die Sehnenrettexe auszulösen, treten die
heftigsten, langamlauerndeu Schüttelbe wegungen der Unterextremitäten und manch-
mal des ganzen Körpers ein. Höchst selten ist jedenfalls bei Myelitis, dass auch
bei hohem Sitze der Entzündung die Sehnenreflexe dauernd fehlen und dass auch
die Lähmung eine schlaffe bleibt . doch hat z. B. Bastian ,0) solche Fälle mit-
getheilt. Es ist jetzt wohl sicher festgestellt, dass auch bei hochsitzenden totilen
transversalen Läsionen des Rückenmarks, ohne Betheiligung des Lendenmarkes,
die Sehnenreflexe dauernd fehlen und die Lähmung eine schlaffe bleibt oder
zum wenigsten bleiben kann ; dass das bei der Myelitis so selten vorkommt,
liegt wohl daran, dass eine totale transversale Läsion bei dieser Krankheit eine
Seltenheit ist.
Die Hautreflexe sind wenigstens bei nicht ganz total transversaler Läsion,
abgesehen voy denjenigen, deren Reflexbogen in die erkrankten Segmente fällt,
erhalten. Einzelne , wie z. B. die Plantarreflexe , sind ganz besonders resistent
und fehlen manchmal auch in denjenigen Fällen nicht, bei denen man aus anderen
Gründen eine totale Unterbrechung des Querschnittes aunehuieu muss. Im l'ebrigcn
sind die Hautreflexe mit wenigen Ausnahmen (Plantar-, Cremasterreflex) auch bi
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MYELITIS.
473
Gesunden so wechselnd und häufig schwer oder gar nicht auszulösen, dass ihre
praktische Bedeutung dadurch sehr beeinträchtigt wird.
Zu den Lähmungserscheinungen gehören auch die von Seiten der Blase
und des Mastdarmes und namentlich die ersteren sind für die Myelitis von sehr
erheblicher diagnostischer und prognostischer Bedeutung. Blascnstörungen sind
nicht so selten bei der Myelitis das erste auffällige Symptom oder doch dasjenige,
was zuerst durch seine Intensität und die dadurch verursachten Beschwerden den
Kranken zum Arzte führt. Häufig tritt, nachdem eine Zeit lang neben leichten
Parästhesien ein vermehrter Drang zum Urinlassen bestanden hat, — eine Art im-
perativen Dranges, der, wenn ihm nicht sofort nachgegeben wird , den Schliess-
muskel sprengt, — dann plötzlich Blasenlähmung mit Harnverhaltung auf, also
schwacher Detrusor, die gleich so stark ist, dass sic zur Anwendung des Katheters
zwingt. Namentlich habe ich das ein paarmal gesehen in Fällen, die dann sehr
rapide in der Art der aufsteigenden Lähmung verliefen, aber auch in einem Falle
mit subaentem Verlaufe, bei dem es sich wahrscheinlich um eine Meningomyelitis
i/orsalis handelte. Der weitere Verlauf gestaltet sich dann sehr verschieden, und
diese Verschiedenheit hängt ebenfalls wieder hauptsächlich vom Sitze der Er-
krankung ab. ln günstigeu Fällen stellt sich bald wieder die Möglichkeit einer
willkürlichen Urinentleerung ein, aber diese ist eine erschwerte, erfordert lange
Zeit und ist meist eine unvollständige, es bleibt Harn in der Blase (Residual-
harn). Auch der vermehrte und imperative Draug kann, wenn die Besserung
nicht weiter geht , zu einem Dauerzustände werden. Bleibt die Schwäche des
Detrusor für willkürliche Entleerungen bestehen, so kann doch jedesmal, nachdem
sich ein gewisses Quantum Harn angesammelt hat, auf reflectorischem Wege die
Entleerung einer grossen Menge Urins erfolgen (gushes der Engländer), ohne
Willen, aber bewusst für den Kranken; reicht der Detrusor auch für diese reflee-
torisehe Thätigkcit nicht mehr aus oder besteht Anästhesie der Blasenschleimhaut
und wird der Katheter nicht angewandt , so tritt nur bei starker Füllung der
Blase eine .Sprengung des Sphinkters ein — die Blase läuft , wie man sagt,
Uber — die Entleerung erfolgt tropfenweise bei voller Blase (lschuria paradoxal.
In den schlimmsten Fällen ist auch die Musculatur des Sphinkters gelähmt, aber
itnmerhin hält seine Elasticität unter gewöhnlichen Umständen bei ruhiger Lage
des Kranken noch eine gewisse Quantität Harn zurück und kommt es zum Ab-
Hiessen des Harnes aus der Blase, gleich wenn dieser aus den Harnleitern in
dieselbe tritt: aber die Elasticität des Sphinkters leistet nur einen massigen Wider-
stand und schon kleinere Mengen genügen, ihn zu überwinden, so dass dann auch
ein Abträufeln des Harnes bei wenig gefüllter Blase eintritt. Das kann ebenso
schon allein durch das Aufrichten des Kranken oder durch eine Verschiebung
gefüllter Darmschlingen geschehen. Sicher ist auch die elastische Schliesskraft
des Sphinkters beim Maune stärker als beim Weibe. Ist der Sphinkter vollkommen
gelähmt , so ist die Blase ausdrückbar. Durch alle diese Umstände wechselt die
specielle Symptomatologie der Blasenstörungen sehr erheblich; im Allgemeinen
ater kann man sagen, dass bei fortschreitender Affeetion im Anfänge der Erkran-
kung Harnverhaltung, später Incontinentia vrinae besteht.
Von Seite des Mastdarmes besteht meist Obstipation. N'ur in längereu
Zwischenräumen entleert sieh durch das Nachdrängen frischen Kothes von oben
eine grössere oder geringere Menge trockenen Kothes; ,sehr oft ist eine Ent-
fernung per Clysma oder manuell nöthig. Ist der Sphincter ani mitgelähmt, so
fehlt beim Einführen des Fingers in den Anus seine Zusammenziehung, aber auch
in diesem Falle ist durch die Obstipation und durch die meist sehr trockenen
Kothmassen dafür gesorgt, dass die Elasticität des Sphinkters ausreicht, einen
gewissen Widerstand zu leisten und der Kranke jedenfalls nicht immer in seinem
Kothe liegt. N'ur wenn Durchfälle eintreten, kommt das vor.
Von den trophischcn Störungen sind die der Musculatur schon besprochen.
Die wichtigsten sind die der Haut und von diesen wieder der Decubitus, l'eber
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MYELITIS.
474
die Entstehung desselben, wie über die Aetiologie der trophischen Störungen über-
haupt, siud die Meinungen noeli immer getheilt. Wahrend längere Zeit hindurch
mit sehr gewichtigen Gründen die Ansicht vertreten wurde, dass bei seiner Ent-
stehung das Nervensystem eine mehr passive Rolle spiele und seine Ursache vor
Allem in äusseren Umständen liege — es wurde ungenügende Pflege, speciell
schlechte Lagerung und mangelhafte Reinlichkeit angeschuldigt, Umstände, die
selbstverständlich besonders bedenklich wirken müssen bei Patienten , die wegen
ihrer Lähmung die Lage nicht ändern und wegen ihrer Anästhesie auch gröbere
Falten im Lager und das Liegen in Ruth und Urin nicht bemerken — bricht sich
neuester Zeit, veranlasst durch genaue kritische Sichtung der Umstände bei der
Keratitis neuroparalytica , wieder mehr die Ansicht Bahn, dass wenigstens bei
der acuten Entstehung solcher trophischer Störungen active Nervenprocesae
betheiligt seien. Jedenfalls tritt in manchen Fällen von Myelitis der Decubitus —
Decubitus acutus — so raseh auf und greift so rapide um sich, dass man dieser
Ansicht eine Berechtigung nicht ohne weiters absprechen kann. Doch ist es vor allen
Dingen praktisch äusserst wichtig, die alte Ansehauung nicht so rasch völlig zu
verlassen. Sicher ist jedenfalls, dass der Decubitus bei mangelnder Anästhesie
fehlt und nur auftritt, wenn die Gefühlsherabsctzuug eine erhebliche ist und der
Kranke nebenbei infolge der Blasenlähmung häutig im Urin liegt - deshalb
ist er auch bei Lendenmarksmvelitis häufiger oder bei vollständig transversaler
Läsion — und ebenso sicher ist, dass er in vielen Fällen, wenn nicht ganz ver-
hindert , so doch erheblich in Schranken gehalten und oft sogar wieder zur
Heilung gebracht werden kann.
Der Decubitus tritt am häufigsten am Kreuzbeine ein, dann folgen die
Hacken , die Kniegelenkebeugc , die Gegend des Trochanter inajor am Ober-
schenkel, die Schulterblattregion. Eine dem Decubitus sehr verwandte Erscheinung
ist die Entwicklung grosser, mit Serum gefüllter Blasen, die wie Brandblasen
aussehen. Sie finden sich an anästhetischen Gliedern besonders dann, wenn die-
selben längere Zeit, z. B. Uber Nacht, so gelegen haben, dass sie sich gegenseitig
drücken, wenn z. B. die Beine übereinander gelegen haben. Sie sitzen dement-
sprechend gern an der Innenseite der Unter-, respectivc Oberschenkel. Auch Herpes
Z.,le. und pemphigusartige Kfflorescenzen können auftreten.
Neben dem Decubitus findet sich vor Allem an den unteren Extremitäten
oft starkes Ocdem. Ebenso oft enorme Trockenheit und starke Schuppung der
Haut, so dass mau manchmal von Ichthyosis sprechen könnte. Beide I mstande
erhöhen den Widerstand für elektrische, besonders für faradische Ströme sehr
erheblich und haben schon öfters Veranlassung zu der irrigen Aunahme eines
Fehlens der elektrischen Erregbarkeit an deu Nerven und Muskeln der l'nter-
extremitäten gegeben.
Es ist noch zu erwähnen, dass Zellgewebsentzündungen sich in den ge
lähmten Gliedern besonders rapide verbreiten können , namentlich kommen such
die acuten , jauchig eiterigen Formen mit Gasbildung — das acute purulente
Oedcm — in solchen Fällen manchmal vor.
Die Hauttemperatur der gelähmten Glieder soll zuerst etwas erhöbt,
später meist herabgesetzt sein. Die Schweisssccretion ist bei vollständiger Ou*t-
schnittsunterbreehnng unterhalb der Läsionsstelle aufgehoben und tritt diese*
Verhalten oft so scharf hervor, dass man es für die Segmentdiagnose ver-
werthen kann, ln Fällen completer Lähmung soll sic manchmal vermehrt sein.
Zu den vasomotorischen Störungen rechnet man auch die nicht so seltenen ab-
normen Verhältnisse des Penis, dieser kann sich dauernd in vollständiger, noch
häufiger aber in einer Art Halberection befinden; in letzterem Falle tritt öfters
eine sehr störende Vollerection beim Versuch des Katheterismus ein; auch in
Bezug auf dieses .Symptom verweise ich auf den Abschnitt über Cervicalmyclitis.
Auch in den Gelenken kommen trophische Störungen vor. So erhebliche Arthro-
pathien wie bei der Tabes treten wohl deshalb nicht ein, weil die Kranken »egen
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MYELITIS.
475
ihrer Lähmung aii's Bett gefesselt sind. Es kommt aber zu hydropischen Er-
güssen, besonders im Kniegelenk ; in anderen Fällen treten offenbar trophisehc
Störungen im Knorpel ein, die Gelenke werden steif und schwer beweglich und
knarren stark bei jeder passiven Bewegung, ln späteren Stadien , während der
Contraetur, kommt es oft zu Verwachsungen und Verkürzungen der Bänder und
Sehnen um die Gelenke, die dann auch eine passive Bewegung des betreffenden
Gelenkes nicht zulassen ; das findet sich besonders am Sprunggelenke , ein
fixirter Pes equinus.
Schliesslich rechnet man zu den trophischen Störungen auch noch die
Cystitis und ihr Gefolge, die Pyelonephritis. Sie tritt besonders bei vollkommener
Lähmung der Blase ein. Wenn sie auch wohl immer eine Folge des Katheterismns
ist, so muss man doch sagen , dass auch bei grösster Sauberkeit , bei irgendwie
länger dauernder Blasenlähmung der Eintritt einer Cystitis nicht zu vermeiden
ist, und dass sie manchmal so rapide eintritt, dass die Annahme tropbischer Ein-
flüsse zum mindesten naheliegt. Bei Sphinkterenlähmung oder bei hchuria para-
doxa können auch wohl ohne den Katheter Infcctiunsstoffe in die Blase gelangen.
Die Potenz ist natürlich im ersten Stadium vollkommen aufgehoben, was
natürlich keine praktische Bedeutung hat; später kann sie bei günstigem Verlauf
und speciell bei hohem Sitze der Läsion vollkommen wiederkehren.
Bei besonders hohem Sitze der Läsion — Phrenicuskern , viertes Cer-
vicalsegment — - kommt es zu erheblichen Störungen der Respiration , die meist
rasch zum Tode führen; ebenso kommt es in diesen Fällen zu Miosis und Ver-
engnng der Lidspalten, worüber unten Genaueres.
In einigen Fällen von Myelitis hat man auch Neuritis optica beob-
achtet. Es ist wohl sicher, dass diese nicht eigentlich von RUekenmarkserkr.in-
knng abhing, sondern auf einer gleichzeitigen entzündlichen Erkrankung des
Sehnerven beruht : sie ist besonders häutig bei disseminirtcr Encephalomyclitis
gesehen worden.
Die Störungen des Allgemeinbefindens sind bei der acuten Myelitis meist
sehr erhebliche. So kann besonders bei den sehr acuten und zur Diffusitüt
neigenden Formen im Anfang hohes Fieber bestehen ; in vielen Fällen geht Fieber,
allgemeine Abgcschlagenheit , Appetitlosigkeit den eigentlich specifischcn Krank-
licitseymptomen voran. Ist später Decubitus und Cystitis eingetreten , so bestellt
immer Fieber, die Nahrungsaufnahme ist eine schlechte, der Schlaf ein sehr
gestörter. Selbstverständlich können alle diese schweren Erscheinungen bei ge-
ringer Ausdehnung des Herdes und baldigem Stillstände der Erkrankung auch fehlen.
Der Verlauf der Erkrankung und ihre Ausgänge sind in den einzelnen
Fällen von Myelitis recht verschieden. Erhebliche Unterschiede zeigen sich schon
beim Einsetzen der Erkrankung, ln einem Falle erfolgt — wir wollen uns hier
nur an die Lähmungen halten — die Paraplegic mit einem Schlage, nicht selten
in der Nacht während des Schlafes, so dass der Patient das Eintreten derselben
gar nicht merkt. Diese Fälle sind natürlich besonders eines vasculären Ursprungs — -
Erweichung, Blutung — verdächtig, ln ebenso acuter Weise können auch Nach-
schübe eintreten. In anderen Fällen braucht die Lähmung einige Stunden , bis
sie complet ist. Der Kranke fühlt zunächst nur eine Schwere in einer oder in
beiden Unterextremitäten, die nach kurzem Ausruhen vielleicht wieder verschwindet,
um bald wiederzukehren. Es dauert nicht lange , so kann er sich überhaupt
nicht mehr aufrecht erhalten , legt sich nieder und die Lähmung wird complet.
ln diesen Füllen pflegen auch deutliche Schmerzen oder Parästhesicn vorhanden
zu sein. Schliesslich kann die Lähmung iu subacuter Weise von einem Beine
auf das andere übergehen, meist von unten nach oben anfsteigend 'Wenn es auch
richtig ist, dass in manchen Fällen incompleter Lähmung der Beine die Zehen
allein noch bewegt werden können , so braucht das nicht auf eiuen besonderen
Schutz der betreffenden Muskeln zurückgeführt zu werden, sondern darauf, dass
zur Locomotion der Zehen sehr geringe, zu der des Oberschenkels ziemlich grosse
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MYELITIS.
Kraft gehört) und sich erst in 14 Tagen bis 3 Wochen zur vollen Paraplegie
ausbilden. In diesen Fällen kommen auch Remissionen vor, die fast an Heilung
heranreichen und dann wieder von Verschlimmerungen abgelöst werden können:
meist erreicht die Krankheit schliesslich das Stadium einer vollen Paraplegie,
natürlich aber kann es auch wohl bei der Lähmung einer Unterextremität oder
einzelner Extremitätenabschnitte bleiben.
Die übrigen Symptome , die Sensibilitätsstörungen , die Lähmungen von
Blase und Mastdarm, die trophischen Störungen, können sich natürlich in ebenso
verschiedener Weise entwickeln.
Ebenso variabel wie das Einsetzen der Erkrankung ist im einzelnen
Falle der Verlauf und schliesslich der Ausgang der acuten transversalen Myelitis.
In einzelnen Fällen foudroyanten Verlaufes kann unter hohem Fieber, rapidem
Fortschreiten der Erkrankung nach unten und oben (diffuse Myelitis), Decubitus
acutus der Tod in einigen Tagen eintreten. Das sind die Fälle, die die Autoren
als acute centrale Myelitis (generalis seu diffusa) beschrieben haben und die im
Wesentlichen den Symptomencomplex zeigen, wie er von der LANWtY’schen Para-
lyse bekannt ist. ln einer zweiten Reihe von Fällen schreitet die Erkrankung
langsam, aber unaufhaltsam immer weiter, bis sie schliesslich lebenswichtige
Centren erreicht — der Tod tritt dann meist an Asphyxie durch Lähmung der
Athemmusculatur ein. Oder aber die Complicationen , vor Allem Cvstitis, der
Decubitus, das ständige Fieber führen zum Marasmus, untergraben die Kräfte
und machen nach langer Zeit, manchmal erst nach Monaten dem Leben ein Ende.
Dieser Verlauf ist bei Myelitis des Lendenmarkes häutiger als bei der des Dorsal-
markes, weil die Blaseustörungen im erstcren Falle schwerere sind.
In einer grossen Reihe von Fällen führt die Krankheit nicht zum Tode,
auch dann kann der Verlauf — abgesehen vom acuten Stadium — ein sehr ver-
schiedener sein. Entweder es bleibt für die ganze spätere Lebenszeit die volle
I’araplcgie — das Höhenstadium der Erkrankung bestehen. Es handelt sich daun
entweder um Lähmung mit Contractur — dorsaler Typus — , hier nicht selten
Beugecontraetur, oder viel seltener — lumbale Myelitis — um schlaffe Lähmung
mit Muskelatrophie und WESTPHAt.’schem Zeichen. Diese letzteren Fälle sind im
chronischen Stadium selten , weil sie meist nicht am Leben bleiben — aus den-
selben Gründen sind (lauernde Lähmungen aller vier Extremitäten selten — totale
cervicale Myelitis. Es is aber überhaupt , wenn einmal Stillstand eintritt , ein
Stehenbleiben auf dem Höhepunkte der Erkrankung ausserordentlich selten und
muss nach meiner Erfahrung immer eher den Verdacht auf eine Compressiun.
z. B. durch einen ganz langsam wachsenden oder auch wohl vorübergehend im
Wachsthum einhaltenden Tumor, nahelegen. Relativ häutig — cs bezieht sich
das auf die Zahl überwiegender Fälle der Myelitis dorsalis — geht die Besse-
rung soweit , dass die Kranken allmälig wieder anfangen zu gehen , zuerst mit
Krücken, dann ohne dieselben, dass die Beine aber schwach bleiben, meist steif
und der Sitz häufiger Crampi und Spasmen sind. Der Gang ist dann entweder
ein mehr paretischer, die Beiue werden nachgezogen, kleben am Boden, oder ein
spastischer — der Hacken hebt sich vom Boden, sobald die Fussspitze denselben
berührt, dabei kann der ganze Körper in rhythmische Zitterbewegungcn geratlien,
diesen Fussspitzengaug habe ich besonders bei disseminirter Kncepbalomvelitu
gesehen. Die Sehnenreflexe an den Beinen bleiben fast immer im klonischen
Zustande. Das sind dann Fälle sogenannter spastischer Spinalparalysc und diese
Fälle von „Myelitis“ bilden zusammen mit der multiplen Sklerose die häufigste
Grundlage für dieses Krankheitsbild. Schliesslich kann die Besserung so »eit
gehen, dass Schwäche und Steifigkeit ganz schwinden und nur die erhöhten
Sehnenreflexe an die überstandene Erkrankung erinnern. (Diesen Verlauf erlebt
man am ersten bei Paraplegien durch Tuberkulose der Wirbelsäule , die später
in Heilung übergeht. Es hat sich dann also nur scheinbar um Myelitis gehandelt.)
Sehr selten ist jedenfalls bei der transversalen Myelitis der Ausgang in volle
MVEL1TI3.
477
Heilung, aber er ist in klinisch sicheren Fällen constatirt. Es ist ja richtig,
dass ein solcher Verlauf bei der immer doch nur sehr geringen, wenn überhaupt
vorhandenen Regem rationsfähigkeit des Rückenmarkes, wenigstens in Fällen, die
ausgesprochene Symptome dargeboten haben , stets den Gedanken an einen Irr-
thum in der Diagnose nahelcgen muss — namentlich kann es sich in solchen
Fällen um multiple Neuritis oder um eine geheilte sogenannte Compressions-
myelitis handeln. Aber es giebt auch Fälle, die man klinisch ganz sicher als
Myelitis bezeichnen kann und die in volle Heilung übergehen. I’lCK '*) ist cs
schon aufgefallcn, dass es sich in diesen günstig verlaufenden Fällen meist um
transversale Myelitis nach Infectionskrankheiten handelte; ich selber habe einen
typischen solchen Fall nach Masern gesehen.
Nachdem wir so das Krankheitsbild der Myelitis im Allgemeinen darge-
stellt und dabei schon auf die Varietäten Rücksicht genommen haben , die durch
den mehr weniger acuten Verlauf und die grössere oder geringere Vollständig-
keit der Quersehnittserkrankung bedingt sind, so erübrigt es noch, mit einigen
Worten auf die Haupt Varietäten hinzuweisen, die durch den Hüheusitz der Er-
krankung bedingt sind. Wir unterscheiden in dieser Beziehung eine Myelitis
dorsalis, lutnbalis und cervicalis. Natürlich können hier nur allgemeine Typen
geschildert werden, auf Varietäten in Details, speciell in Bezug auf die Ausbrei-
tung und genauere Gruppirung der Lähmungen und Gefühlsstörungen kann nicht
eingegangen werden, und ebenso kann an dieser Stelle im Wesentlichen nur auf
den Syroptomencomplex Rücksicht genommen werden, der besteht, wenn die
Krankheit in der betreffenden Segmenthöhe eine total transversale oder doch fast
eine solche ist , wenn also mit anderen Worten das Krankheitsbild seine volle
Ausbildung, seinen Höhepunkt erreicht hat.
Die häufigste Unterart der acuten transversalen Myelitis ist die Myelitis
transversa dorsalis. Das hängt wohl einfach damit zusammen, dass der Dorsal-
theil bei weitem der längste Theil des Rückenmarkes ist. Bei voller Ausprägung
des Krankheitsbildes sind die Symptome ungefähr dieselben wie bei der Dureh-
sehneidung des Markes in der betreuenden Segmenthöhe. Es besteht vollständige
Lähmung der Beine, der Bauch- und der unteren Rücken- und Intercostalmuskclii.
Die Lähmung ist bei acutem Einsetzen zunächst eine schlaffe — bald aber treten
C'ontracturen ein, meist in Streckhaltung der Beine, seltener und prognostisch
viel ungünstiger in Beugestellung, die so stark werden kann, dass die Unter-
schenkel ganz unter den Rücken gezogen werden. Nur in sehr seltenen Fällen totaler
und dauernder Quersehnittsunterbrecbung bleibt die Lähmung eine schlaffe. Degc-
nerative Atrophie und Entartungsreaction lässt sieh eventuell an den Bauchmuskeln
nachweisen ; sicher wird sie wohl immer in einzelnen Intcreostalmuskeln be-
stellen, doch entzieht sie sich da des Nachweises. Das Gefühl kann bis zur Höhe
des obersten affieirten Rüekenmarkssegmentes total oder partiell aufgehoben sein —
häufig reicht die Anästhesie nicht ganz so hoch als die Lähmung — , im Höhe-
stadium fehlt sie aber wohl nur selten. In sehr scharf abgegrenzten Fällen
findet sich Uber der Anästhesie noch eine Hyperästhesiezone. Von Parästhcsie,
respective Schmerzen findet sich am häufigsten GUrtelgefühl. Die Sehnenreflexe
fehlen gewöhnlich beim acuten Verlauf in den ersten 8 Tagen — Shock — und
in ganz schweren Fällen können sie dauernd fehlen (s. bes. Fälle von Bastian’^.
In den meisten Fällen erholen sie sich bald und tritt Hand in Hand mit der
zunehmenden C'ontractur eine Verstärkung derselben ein, so dass schliesslich aus
gesprochene Epilepsie spinale (s. oben) besteht. Bei stärksten Graden der Con-
tracttir können schliesslich die Gelenke so fixirt werden . dass die Sehnenreflexe
nicht auszulösen sind. Was die Blasenstörungeu anbetrifft , so besteht meist Un-
vermögen, den Harn zu lassen und Nothwendigkcit zu katheterisiren; später in
schweren Fällen auch Incontinentia urinae , eventuell auch Ischuria paradoxa,
in leichteren Fällen unwillkürliche reflectorische Entleerungen in grösseren Mengen,
die dem Patienten aber bewusst sind ; schliesslich in günstigen Fällen nur noch
478
MYELITIS.
geringe Störungen, vermehrter und imperativer Harndrang, die Kothwendigkeit
eines stärkeren Fressens. Der Stuhl ist meist stark angehaltcn, erfolgt von sellist
selten und muss meist künstlich entleert werden. Die Intensität der trophischen
Störungen , speciell des Decubitus , hängt hauptsächlich von der grösseren oder
geringeren Anästhesie ab , der Zustand der Blase — speciell in Bezug auf das
Eintreten einer Cystitis — vor Allem von der Art und Schwere der Iilasrn-
lähtnung. lin Allgemeinen kann mau nur sagen, dass die Prognose der dorsalen
Myelitis in Itezug auf Decubitus und Cystitis eine verhältnissniässig günstige ist.
Ausgänge sind der Tod itn acuten Stadium oder an Marasmus — bei diesem Sitze
ist aber relativ häutig weitgehende Besserung — spastische Parese — oder
auch volle Heilung. Selten bei Erhaltung des Lebens Stehenbleiben der Er-
krankung im Höhestadium.
Die bei Erkrankung der Lendcnanschwellung eintretenden Aenderungca
im Krankhcitsbilde kann man sich selber leicht eonstmiren. Ist die ganze l.enden-
anschwellung erkrankt , so tritt Lähmung beider lteine in ihrer Totalität ein.
Hier ist die Lähmung aber nicht nur im Beginne, sondern so lange sie liesteht.
eine schlaffe. Die Sebnenreflexe fehlen für immer — es tritt deutliche degene-
rative Atrophie der Gesammtmusculatur ein mit entsprechenden elektrischen
Störungen. Das Gefühl ist in diesen Fällen vorn bis etwas Uber die Inguinal
falte, hinten bis zum Darmbeinkamme aufgehobeu oder herabgesetzt . eventuelle
Sehmerzen strahlen in die Unterextremitäten aus. Es besteht meist dauernde
Incontinentia urinae, der Mastdarm verhält sich kaum anders wie bei der dor-
salen Myelitis. Vielleicht wegen der grossen 8chwere der Blasenstörungen und
der häutigeu Verunreinigung tritt der Decubitus hier leichter ein und verläuft
schwerer. Der Tod tritt jedenfalls bei der Lendenmarksmyelitis häufiger ein als
wie bei der dorsalen. Bleibt der Kranke am Leben, so besteht dauernd schlaffe
Lähmung der Beine , Blasenlähmung und Impotenz. Eine an Heilung reichende
Besserung ist sehr selten.
Bei Beschränkung der Myelitis auf den Plexus lumbalis Antheil des
Rückenmarkes wird in den Muskeln dieses Plexus degenerntive Atrophie, in
denen des Plexus sacralis geringe oder gar keine Atrophie bestehen. Die Sen-
sibilitfltsstörungen sind dieselben wie bei Erkrankung der ganzen Lendcnanschwel-
lung. Die Patellarreflexc werden fehlen, die Achillessehnenretlexe können erhöht
sein. Blase und Mastdarm werden sieh so verhalten wie bei dorsaler Myelitis.
Nimmt die Myelitis den Sacraltheil ein, so werden bestehen: Lähmung
der Muskeln für die Bewegung der Ftlssc und Zehen, mit Ausnahme eventuell
des Tihialis anticus , der Beuger des Unterschenkels, der Glutäen und der
Perinealmusculatur; die übrige Musculatur der Unterextremitäten ist nicht ge-
lähmt. Anästhesie besteht hauptsächlich auf der Hinterseite der Beine, Fehlen
des Achillessehnenretlexes bei Erhaltensein oder gar Steigerung der Patellar-
retlexe. Totale Blasen- und Mastdarmlähmung.
Eine Beschränkung der Myelitis auf den Conus terminalis dürfte, wenn
sie überhaupt vorkommt, wohl änsserst selten sein. Ihre Symptome könuen wir
aus den Fällen traumatischer Zerstörung dieser Region abstrahiren, sie sind nach
Oppenheim1»): Lähmung der Blase und des Mastdarmes, Impotenz, Anästhesie
in der Gegend des Anus, Perineums, am Scrotum, Penis und an der Innenfläche
der Oberschenkel, eventuell degenerative Atrophie im Ischiadicusgebiet.
Auch bei der transversalen Myelitis cervicalis kann man mehrere Varie-
täten unterscheiden. Ist die Halsanschwcllung in ihrer ganzen Ausdehnung be-
troffen, so haben wir eine schlaffe Lähmung mit degenerativer Atrophie und
Fehlen des Tricepsreflexcs an den Armen mit spastischer Lähmung der Beine und
des Rumpfes. Das Gefühl ist am Rumpfe aufgehoben vorn bis zur Höhe der
zweiten Rippe, hinten bis etwa zur Spina scapulae. auch die Arme sind total
gefühllos. Auf der Erkrankung der unteren Theile der Halsanschwellung beruht
eine Verengerung der Pupillen und der Lidspalten. Sehnenreflexe an den Beinen,
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MYELITIS.
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Blase und Mastdarm verhalten sieh wie bei der dorsalen Myelitis. Bleibt der
obere Tbeil der Halsanschwellung frei , so kann sieh die Lähmung auf Finger
und Hände beschränken, während die Bewegungen in Schultern und Ellenbogen
frei sind und die Anästhesie trifft nur die ulnare Seite der Arme. Pupillen und
Lidspalten sind verengt. Ist nur der obere Theil der Halsanschwellung erkrankt, so
besteht degenerative Atrophie und schlaffe Lähmung nur in den Muskeln der
Schultern und des Oberarmes — Hand und Finger befinden sich in Contraetur-
stellung. Die Anästhesie betheiligt natürlich wieder den ganzen Arm.
Die Athmung ist bei der Myelitis der Ccrvicalansrh wellung immer er-
schwert, da sämmtlirhe Intereostalnmskeln gelähmt sind.
Sehr gefährlich wird die Situation , wenn die Erkrankung das obere
Halsmark ergreift. Schon am vierten Segment ergreift sie den Phrenicuskern
und dann ist Asphyxie unvermeidlich. Bei etwas langsamer verlaufenden Fällen
kann sieh der Sitz der Myelitis im oberen Halsmarke dadurch documentiren, dass
auch die oberen Extremitäten spastisch gelähmt sind, während degenerative Atrophie
z. B. im Cucullaris und Sternocleidomastoideus zustande kommt. Dadurch wird
die Bewegung und Haltung des Kopfes erschwert. Eine echte Myelitis dieser
Hegend ist übrigens sehr selten.
Sehr gewöhnlich ist bei der Myelitis des Halsmarkcs der Priapismus.
Der Ausgang in den Tod ist bei dieser Myelitis besonders wegen der Gefahr der
Athemlähmung ein häufigerer als bei der Dorsalmyelitis.
Ist die Erkrankung des Querschnittes bei der cervicalen Myelitis keine
ganz vollständige, so kann unter Umständen Lähmung der Arme ohne solche der
Beine bestehen — Paraphyia brachialis. Natürlich kann eine solche Gruppirnng
eher bei einer Läsion der Wurzeln des Halsmarkes als bei einer des Halsmarkes
selber Vorkommen. Im Uebrigen kann natürlich auf alle möglichen Varietäten
des Krankheitsbildes durch nur partielle Läsion des Querschnittes hier ebenso-
wenig als beim dorsalen und lumbalen Typus eingegangen werden — das Notli-
wendigste ist weiter oben schon gesagt, auch ist auf die Möglichkeit einer ziem-
lich scharf halbseitigen Myelitis hingewiesen.
2. Myelitis transversa chronica. Mit der Darstellung der
chronischen Myelitis kann ich mich kurz fassen. Ich habe oben schon an ver-
schiedenen Stellen meine Ansicht Uber die Zweifelhaftigkeit vieler besonders in
früherer Zeit, von manchen Autoren aber auch jetzt noch als chronische Myelitis
beschriebenen Krankheitsfälle ausgesprochen und erwähnt, dass ich in dieser Be-
ziehung ganz der Meinung Oppkxheim’s bin, der der chronischen Myelitis in
seinem Lehrbuch ein besonderes Capitel gar nicht widmet — die meisten Fälle
chronischer Myelitis als einfache Fortsetzungen der acuten ansieht und behauptet,
dass die primäre chronische Myelitis, wenn sie auch vorkäme, doch eine enorm
seltene Erkrankung sei — in den meisten Fällen stelle sich früher oder später
heraus, dass es sich um multiple Sklerose handle. Ich muss diese meine Ansicht
hier aber noch etwas näher begründen, denn Goweh-s») z. B. hält auch heute
noch die chronische Myelitis wenigstens im jugendlichen Alter für ein sehr häutiges
Leiden. Als Erb sein Lehrbuch der Kückenmarkskrankheiten schrieb, rechnete
er im Grunde auch noch die Tabes, ferner die multiple Sklerose, die sogenannte
primäre Seitenstrangsklcrose, die amyotrophische Latcralsklerose und die combinirte
Systemerkrankung zur chronischen Myelitis und trennte diese Formen vom all-
gemeinen Bilde der KUckenmarkscntzUndung nur aus zum Theil klinischen und
pathologisch-anatomischen, zum Theil aus didaktischen Gründen. Pick 35) ist dann
in der schärferen Definirung des Krankheitsbildes schon viel weiter gegangen.
Er erkennt, dass die sogenannte periependvmäre Sklerose Hai.lopeac’s nichts
anderes ist, als was man heute Syringomyelie oder centrale Gliose nennt : er führt
aus, dass die als Tabes spasmodica der Greise beschriebenen Fälle, wie Dkmaxge3*)
nachgewiesen, nicht nach einer eigentlichen Myelitis, sondern auf einer auf Gcfäss-
erkrankung zurückzuführenden perivasculären Sklerose beruhen. Er rechnet einen
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MYELITIS.
Theil der als chronische Myelitis des Halsmarkes beschriebenen Fülle zur
Pa eh y men inyitis cervicalis Hypertrophien , scheidet aber im Uebrigen die durch
chronische Compression (Caries der Wirbelsäule, Tumor) hervorgerufenen Rttcken-
marksaffectionen (die differentialdiagnostisch besonders wichtig und schwierig sind
noch nicht ganz scharf von den eigentlichen Entzündungen. Er behält filr die
chronische Myelitis ausser den chronischen Folgezuständen der acuten besonders
zwei Erkrnnkungsformen Übrig: eine chronische transversale Myelitis, die sich
entweder diffus über den grössten Theil des Rückenmarkes ausbreitef oder auch
focal ist, und die sogenannte ringförmige Sklerose (Scle'rose rorticale annulaire
VrLPlAN’s71). Um letztere zuerst zu erledigen, mag hier nur gesagt sein, dass,
abgesehen davon, dass ein Theil dieser Fälle sicher auf einer primären Erkran-
kung der Meningen beruht, es sich also um eine Meningomyclitis handelte, vor
Allem neuere Erfahrungen gelehrt haben, dass in den Randpartien der ganzen
Peripherie des Rückenmarkes — mit Ausnahme der Hinterstränge — sich auf- und
absteigend degenerirtc Fasersysteme finden und dass deshalb beim Vorhanden-
sein einer mehr weniger totalen Querschnittsunterbrechung an irgend einer Stelle
die darüber und darunter liegenden Marktheile leicht das Bild einer ringförmigen
Myelitis Vortäuschen können. Die Fälle sind übrigens so selten und klinisch so
wenig charakteristisch, dass sie auch praktisch von geringem Wertbc sind.
Bleibt die chronische transversale mehr weniger diffuse Myelitis. Auch
hier handelt cs sich klinisch und pathologisch - anatomisch um Seltenheiten. Es
soll sich in diesen E'ällen die langsam fortschreitende Sklerose allmälig fast über
das ganze Rückenmark und von da in die Medulla oblonyatn ausbreiten. Nun
ist sicher nachgewiesen, dass in schweren E'ällen von multipler Sklerose, wenn
die Patienten lange genug leben, durch das allmäligc Zusammenflüssen der ein-
zelnen Herde eine solche diffuse Sklerose entstehen kann. Mau findet auf Quer-
schnitt8hildem derartig erkrankter Rückenmarkspartien dann nur ganz geringe
Inseln erhaltener Rückenmarkssubstanz. Auch Pick erwähnt diese diffuse E'orm
der multiplen Sklerose. Das Uebergreifen solcher Herde auf die Medulla oblongata
bringt in klinischer Beziehung diese Krankheitsbilder ganz mit der multiplen
Sklerose zusammen. Unmöglich ist es ja schliesslich auch nicht, dass die multiple
Sklerose sich einmal auf das Rückenmark beschränkt und namentlich , dass sie
das für einen gewissen Zeitraum der Erkrankung thut — in solchen E'ällen muss
natürlich, abgesehen von den hier vorkommenden acuten Schüben, das Krnuk-
heitsbild ganz der chronischen Myelitis gleichen — factisch handelt es sich ja auch
darum. Aber jedenfalls sind diese E'älle sehr selten.
Wir sind damit auf den Ausgangspunkt zurückgekehrt. Eis bleiben für
die chronische Myelitis die chronischen Fortsetzungen der acuten und gauz seltene
E'älle primär chronischen Verlaufes der transversalen oder diffusen RUekenmarks-
entztlndung. Die Symptome dieser chronischen E'ormeti können natürlich grund-
sätzlich von denen der acuten nicht differiren, alle einzelnen Symptome können
in wechselnder Intensität hier wie dort Vorkommen und hier wie dort wird ihre
Gruppirung und Aufeinanderfolge im Wesentlichen von der Localisirung des Leidens
auf den Quer- und Längsschnitt abhängen. Durch den chronischen Verlauf werden
in der Hauptsache zwei Besonderheiten bedingt. Erstens können dabei die oben
hervorgehobenen einzelnen Stadien im Verlaufe des Leidens sich deutlicher ans
prägen, schärfer von einander abgreuzen und länger für sich bestehen. Dis
letztere gilt namentlich für das erste Stadium der motorischen und sensiblen Reiz-
erscheinungen ; sie können den Lähmungserscheinungen lange vorausgehen. Ebenso
erklärt der langsame Verlauf ohneweiters, dass deutlich ausgeprägte Symptomen-
bilder einer partiellen Erkrankung des Markquerschnittes hier häufiger sind als
bei der acuten Myelitis, bei dem mit einem Schlage meist fast der ganze Quer-
schnitt zerstört oder doch in seinen Functionen gelähmt ist: so kommen hier
E'älle spinaler Hemiplegie vor; Gowers hat in einem E'älle chronischer Myelitis
der einen Markhälfte das charakteristische Bild der Brown - SKqi'AEP’sclien
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MYELITIS.
481
Lähmung beobachtet ; auch die sogenannte Parnplegia brachialis dürfte sich wohl
nur bei chronischer Myelitis finden. Ein zweites Merkmal der chronischen Myelitis
gegenüber der acuten liegt darin, dass die Symptome in den Anfangsstadien der
Erkrankung gering sind und allmälig zunehmen , während bei den sehr acuten
Formen ihre Intensität mit dem Einsetzen der Krankheit die höchste ist und
später, wenn überhaupt eine Aenderung eintritt, sich allmälig absehwächt. Paresen,
spcciell spastische Paresen, sind bei der chronischen Myelitis häufiger als Para-
lysen ; die Sensibilität kann ganz intact sein , ihre Störung immer geringer als
die der Motilität ; Blasenschwäche ist häufiger als Blasenlähmung. Der Decubitus
ist absolut zu vermeiden oder doch in engen Grenzen zu halten.
Das Allgemeinbefinden ist fast immer ein gutes, Fieber fehlt gänzlich.
Später natürlich, wenn die Krankheit, wie nicht selten, unaufhaltsam fortschreitet,
erreichen auch hier die Symptome ihre höchste Intensität und namentlich die für
die Lagerung der Kranken so misslichen Bcugecontracturen kommen gerade in
diesen chronischen Fällen am häufigsten vor.
Der Verlauf kann sich über mehr als 10 Jahre ausdehnen. Es können
lange Stillstände, selten wohl in den rein chronischen Fällen vorübergehende
Besserungen verkommen. Diese Stillstände können auch von Dauer sein und relativ
häufig bleibt das Krankheitsbild der spastischen Spinalparalyse in grösserer oder
geringerer Intensität bestehen. Ebenso häufig aber schreitet die Erkrankung auch
unaufhaltsam fort und der Tod tritt schliesslich durch Betheiligung der Medulla
oblungata oder an Complieationen ein. Ein Ausgang in Heilung ist hier
nicht möglich.
3. Acute disseminirteEncephalomyelitis (Myelitis di s se-
in inata; centrale acute Ataxie Leyden’s). Das klinische Bild der das
Rückenmark, den Hirnstamm und meist auch das Grosshirn betheiligenden acuten
Myelitis in disseminirten Herden ist ein sehr charakteristisches. Hier soll nur auf die
Fälle mit gleichzeitiger spinaler und cerebraler Localisation Rücksicht genommen
werden; beschränkt sich die disseminirte Myelitis auf das Rückenmark, wie z. B. in
einigen von WüSTPHAL60) anatomisch untersuchten Fällen, so kann sich das Krank-
heitsbild, wenn die Herde überhaupt so zahlreich sind, um ausgesprochene Sym-
ptome hervorzurufen, natürlich nicht wesentlich von eiDer ziemlich diffusen Myelitis
unterscheiden. Das Krnnkheitsbild der diffusen Encephalomyelitis ist nun, obgleich
die ersten und gleich sehr vollständigen klinischen und anatomischen Mittheilungen
schon mehr als 25 Jahre zurtiekliegen, doch dem grösseren ärztlichen Publicum
sehr wenig bekannt geworden — zum Theil wohl, weil selbst grosse und neue
Iland- und Lehrbücher dasselbe gar nicht besprechen oder kurz Uber dasselbe
hinweggehen. Diese stiefmütterliche Behandlung verdient die Erkrankung aber
nicht, da sie allein schon durch ihre relative Häufigkeit besonders nach infeetiösen
Erkrankungen eine entschieden grössere praktische Bedeutung hat als die oben
beschriebene nnd allgemein bekannte transversale Myelitis; ferner bieten die Fälle
bei zuerst meist sehr stürmischem Verlaufe im Ganzen doch eine gute Prognose,
ja sie gehen uicht so selten in volle Heilung Uber und geben dem erfahrenen
Arzte deshalb Gelegenheit, die Angehörigen frühzeitig zu beruhigen und ihnen
Res pect vor der Sicherheit seiner Voraussage einzuflössen. Ich werde aus allen
diesen Gründen auf diese Krankheit hier etwas näher eingehen. Ich will zunächst
3 Fälle meiner eigenen Beobachtung bringen, die in Ursachen, Symptomen und
Verlauf im Einzelnen von einander abwcichen und so ungefähr ein Bild aller hier
möglichen Varietäten geben. An der Hand dieser Fälle sollen danu noch einige
allgemeine Bemerkungen über die disseminirte Encephalomyelitis folgen.
Beobachtung 1. Disseminirte Encephalomyelitis nach Varicellen.
XV. Irmgard, 4 Jahre. Die kleine Patientin hat vor 10 Tagen Varicellen dnreh-
gemacht. Eine Schwester erkrankte ebenfalls 14 Tage später an Windpocken — ich war also
in der Lage, mich von der Natur der Erkrankung zu überzeugen. Vor etwa 4 Tagen war sie
wieder anfgestanden. sonst scheinbar gesund, nur nicht so lebhaft und vergnügt wie früher.
Encyciop. Jahrbücher. VI. 31
482
MYELITIS.
Drei Tage vor meiner ersten Untersuchung, am 5. März 1892, Latte man Morgens beim Er-
wecken de» Kindes — dasselbe hatte gut geschlafen — es in demselben Zustande gefunden,
den es auch am 8. März 1892 darbot.
Status 8. März 1892. Die Kleine liegt ruhig im Bette, ist offenhar ganz klar und
verständig. Sie antwortet auf Fragen richtig, dabei fällt auf. dass die Sprache deut-
lich gestört ist, die einzelnen Silben sind durch längere Pausen von einander getrennt,
die Kranke scandirt. Die Sprache ist dabei leicht näselnd und manchmal werden anch
die einzelnen Silben etwas verstümmelt (Dysarthrie). Nicht selten kommt der Anfarg des
Wortes in etwas explosiver Weise betau». Das Gesicht zittert beim Sprechen nicht und
zeigt keine Lahmnng. Die Zunge wird ebenfalls ohne Zittern gerade üervorgest reckt. die
Augen bewegen sich gut und ohne Nystagmus nach allen Seiten, der Augen hin (ergründ i*t
normal. Das Schlucken geht ziemlich von statten, der Kopf dagegen geräth schon in
Sitzen hei Drehbewegungen, und wenn die Patientin den Arzt lixirt, in
lebhafte rotirende Z itterbe wegu nge n.
Veranlasst man das Kind zu Bewegungen der Arme, so tritt ein ausgesprochener
grobschlägiger Tremor derselben ein, der übrigens mit mehr ataktischen Erschei-
nungen so sehr gemischt ist, dass man zweifeln könnte, oh es sich mehr um Ataxie oder
uni Intentionstremor handle. Im Allgemeinen sind allerdings die einzelnen Zitterbewegungen
der Arme ziemlich rhythmisch, die einzelnen Ausfahrbewegungen der Arme von ziemlich ton-
stanter Grösse (I n t e n t i o n s t re m or). Doch greift die Patientin an ihrer Nase z. B tneiir
nach der Art der Ataxie vorbei. Die grobe Kraft der Anne scheint nicht wesentlich beeia-
trächtigt. Im Liegen zeigen die Beine bei Bewegungen grobes ataktisches Schleudern
( Kniehai kenversuch), das man hier jedenfalls nicht als Zittern bezeichnen kann, und auch
statische Ataxie besteht, das Kind ist nicht im Stande, das erhobene Bein einen Augen-
blick ruhig in der Luft zu halten. Versucht man, di* Patientin anfzustellen, so tritt zunächst
lebhafter Schütteltremor der Beine auf. dann zittert der Rumpf, die Arme und schlie»
lieh der Kopf iu derselben Weise; das Kind ist, auch wenn es gehalten wird, sehr ängstlich
und würde ohne Stütze sofort Umfallen. Bei Versuchen zu gehen, treten heftigste Schleuder
Bewegungen der Beine, wie bei ausgeprägter Tabes ein. Die Patella rreflexe sind vor-
handen, nicht gesteigert. Auch sitzen kann das Kind des Zitterns wegen nicht.
in den nächsten Tagen, vom 9. — 13. März, befand sieh das Kind noch schlecht, liem
sich jetzt nur schwer untersuchen, war recht widerspenstig. Am 13. März fand ich schon die wesest*
liehe Besserung, die von da rasch zunahm, dass die .Sprache wieder gut war, das Zittern der Arm«
geringer ; auch konnte die kleine Patientin wieder siizen Am 15 Marz hal* ich notirt: Sitx* »hn«
sich anznlehneu, vermag »ich auch allein im Bette aufzurichten. Sprach* — nach Angabe der
Eltern — ganz normal. Bei Bewegungen der Arme und der Hände noch typisches InteiiiioM-
zitlern. Gang ziemlich gut ar.sfühihar, wenn auch mit deutlichem ataktischen Schwanken,
Schleudern und Stampfen mit den Beinen. Psychisch sehr envgbar. Am 20. Marz fand i»h
nur r.cch ganz geringes Zittern der Arme und der Hände — isst wieder allein. Stehen and
Gehen ganz gut bis auf das Treppensteigen. Am 22. Marz ganz geheilt — ist bisher ge-
sund geblieben
Beobachtung 2. Disgeiniuirte Enccphalomy elitis nach Gasvergiftung.
Die Natur des Gases nicht sicher festzustellen.
S., 43 dah re. Arbeiter der Contincntal-Gascorapagnie , war am 4. Februar 189* mit
Herstellur g von schwefelsaurem Ammoniak aus dem Gaswasser beschäftigt. Er wurde einigw
Zeit darauf in »einem Arbeitsraume bewusstlos aufgelunden und in diesem Zustande in d*s
städtische Krankenhaus gebracht. Ich will hier gleich bemerken, dass ich in Rücksicht auf
einige Beobachtungen in der Literatur zunächst glaubte, es handle sich um CO-Vergiftm g,
die betreffende Berufsgenossenschaft t heilte mir aber auf Anfrage mit, dass bei der Beglei-
tung des Gaswassers CO nicht entstehen könne, vielleicht käme schweflige Saure oder Ammnilk
in Betracht. Uehrigens sei der Berufsgenossenschaft ein ähnlicher Fall noch nicht vorgekommsa,
obwohl viele Fabriken die Bearbeitung des Gaswassers selbst besorgten. Patient war im Kranken-
hanse die erste Zeit noch bewusstlos, beziehungsweise im Bewusstsein getrübt, im Anfang
auch (ob auch mit der Sprache?) gelähmt. Ueber sein Verhalten wahrend des übrigen Tneil«
des Krankenhausaufenthaltcs habe ich nichts in Erfahrung bringen können. Er wurde im
April 1892 „geheilt* entlassen, stellte sich aber schon am Tage der Entlassung seinem Cassea*
arzte vor, der stark erhöhte Sehnenreflexe eonstat irte.
Ich konnte den Kranken am 3. Juni 1892 zum ersten Male untersuchen. Das Auf-
fälligste an ihm war sein Gang — hat der Patient längere Zeit gesessen, so sind die ersten
Schritte besonders durch die Parese der Beine charakterisirt — , die Fasse werden kaum
vom Boden erhoben, nachgeschleift und mühsam vorwärtsbewegt Nach einigen Schritten aber
ändert sich das Bild. Es treten allmälig immer stärker werdende Zitterbewegungen ein,
die an den Beinen beginnen, dann aber auf Rumpf, Kopf und Arme üliergehcn . so da«
schliesslich der ganze Körper in’s Schwanken geräth mid der Patient, wenn nicht gehalten,
hinstbrzt. Zu Beginn des Zitterns, wenn sich Patient noch von der Stelle bewegen bann,
sieht man »ehr deutlich, wie hei jedem Schritte durch eine Zusammenziehung d-r Wadcn-
musculatur der Hacken sich hebt und der Fuss nur noch mit der Spitze den Boden berührt
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(exquisit spastischer Gang). Ein eigentliches Rom b erg’sches Symptom besteht nicht,
dagegen gerät h auch beim Stehen der Körper in derselben Weise und in derselben Reihenfolge
der einzelnen Muskeln wie beim Gehen in Zittern, so dass Patient umzufallen droht. Auch
im Liegen sind die Bewegungen der Beine erheblich gestört ; z. B. wenn man den Patienten
mit dem Unterschenkel einen Kreis in der Luft beschreiben lässt , treten ganz erhebliche
zitternde und mehr ausfahrende — ataktische — Bewegungen ein. Lässt man ihn langsam,
z. B. mit dem rechten Hacken das linke Knie aufsuchen, so geht das zunächst einigermassen,
ist das Ziel aber erreicht, so treten auch hier die lebhaftesten Zuckungen und
Zitterbe wegu ngen im Fu9se eia.
Beide Beine sind schwach — besonders das linke — aber nicht contracturirt. Es
besteht Patella r- und Acliillesclonus, doch sind dieselben nicht so ganz leicht nach-
zuweisen, da bei Versuchen, sie auszulösen, das ganze Bein und schliesslich der ganze Körper
in Zittern geräth.
An den Armen besteht schon bei einfachem Ansstrecken Zittern und bei jeder Be-
wegung der lebhafteste Intentionstremor. Nur bei besonderen Bewegungen, z. B.
Zusammenbringen der Finger vor der Mittellinie des Körpers oder beim Auf- und Zuknöpfen
zeigt sich ;iuch eine ataktische Bewegungsstörung, die sich dem Tremor hinzuaddirt. Die
Arme sind ebenfalls schwach, besonders der linke, die Tricepsreflexe fehlen; die Schrift zeigt
deutlich den Tremor intentionalis. Nirgends eine Storung der Sensibilität ; Blase und Mast-
darm ungestört.
Die Sprache ist exquisit scandirend. Das Gesicht zittert beim Sprechen
massig, deutlicher der Kopf. Die Zunge zittert nicht. Es besteht kein Nystagmus, aber heim
Fixiren in Extremstellung der Bulbi wird das Kopfzittern stärker. Die Sinnesorgane, speciell
die Augen, sind gesund. Die Intelligenz ist normal.
Die inneren Organe sind gesund. Im Urin weder Eiweiss noch Zucker.
Mitte November desselben Jahres (1892) war das Krankheitsbild noch genau dasselbe.
Im April 1893 konnte ich Folgendes notiren: Alles in allem sehr viel besser geworden,
doch sind die Störungen im Gange noch sehr deutlich und werden cs besonders, wenn Patient
ermüdet. Der Gaug ist zunächst ein typisch spastischer: beim stampfenden Aufsitzen
des Kusses erhebt sieb sofort wieder der Hacken vom Boden, so dass gewisser-
masseu ein Tänzeln eintritt; erst bei Ermüdung kommt dann noch das Zittern der Beine und
des Rumpfes dazu und bringt den Körper zum Schwanken: diese Ermüdnng tritt jetzt
nach einer halbstündigen Untersuchung ein. Bei starker Ermüdung werden die Beiue nach-
geschleift. Beine schwach. Patellar- und Acliillesclonus und ausgesprochene Epilepsie spinale
bei häufigerem Beklopfen der Patellarsebne — Alles nicht mehr so stark wie früher. Bei
Kreisbewegung der Beine Intentionstremor stärksten Grades, beim Kniehacken versuche deut-
lich, aber geringer. Bei ruhigem Halten der Beine in der Luft kein Zittern — links Alles
stärker als rechts.
An den Armen hei rnhigem Ausstrecken kein Zittern mehr; rechts auch kaum bei
intendirten Bewegungen, links noch deutlich. Im Urin nichts.
Sprache typisch scandirend, nur spurweise auch dysarthrisch. Ganz leichtes Zittern
der Gesichts* und Zungeninusculatnr Ebenso noch leichtes Zittern des Kopfes , speciell
beim Fixiren.
Pupillen gleich, mittel weit, reagiren gut auf Licht.
16. Octoher 1893. Keine Aenderung.
2. April 1894. Sehr auffällige Besserung. Gang im Anfang normal, nach Ermüdung
leichte spastische Symptome und auch etwas Schwanken. Kein Zittern mehr beim Gange.
Auch im Liegen beim Knicliackenversuche kein Tremor. Kein Patellarclonus , Achillesclonus
geringen Grades, eher ganz kurz dauernde Epilepsie spinale bei Versuchen der Auslösung
des Achillesclonus. Kraft der Beine gut. Intentionstremor der Arme, des Gesichtes und der
Zunge kaum mehr vorhanden. Kein Nystagmus. Kopfbewegungen ohne Zittern. Sprache noch
immer scandirend, Schrift gut.
Ich veranlasst«' den Patienten jetzt, seine Arbeit wieder aufzunehmen, er gab sich
auch die grösste Mühe, doch gelaug das Experiment nicht er ermüdete sehr rasch und musste
bald wieder aufhören. Als ich ihn dann Ende April 1894 wieder untersuchte, waren alle
Symptome wieder hochgradig ausgebildet Der Gang war paretisch und exquisit spastisch —
Epilepsie spinale trat schnu beim passiven Erheben der Beine auf. Im linken Beine, wo auch
der Patellarreflex lebhafter ist als rechts, tritt auch beim Kniehackenversuche lebhafter Tremor
ein. An den Armen war die Besserung bestehen geblieben. Scandirende Sprache noch vor-
handen. Er erholte sich rasch wieder, doch trat im Juni 1894 nach mehrtägigem Durchfalle
wieder eine Verschlechterung, speciell in Bezug auf die Beine ein.
Als Curiosum will ich angebeu, dass die Frau dieses Patienten an multipler Sklerose
litt. Spastische Parese mit schwankendem Gange, Intentionstremor der Arme, scandirende
Sprache, leichte Blasenstörungen.
Hier war der Verlauf langsam progressiv.
Beobachtung 3. Disseminirte Eucephalomyelitis nach Scharlach.
Lina K.. 7l , Jahre. Arbeiterskind, erkrankte im October 1887 an Scharlach ohne
Diphtherie. Am Tage der Erkrankung trat mit einem Male — einige Tage vorher hatten
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MYELITIS.
Kopfschmerzen bestanden — ein bewusstloser Zustand ein, in dem die Patientin fortwährend
schrie, um sich schlug. Niemanden kannte und Koth und Urin unter sich gehen liess. Dieser
Zustand dauerte etwa 30 Tage. Jn den ersten 12 Tagen häutig Unruhe, Contractur der Ex-
tremitäten und des Rumpfes — arc de cercle-Bildnng. Nach 3U Tagen besserte sich der Zu-
stand, das Bewusstsein klärte sich, die Patientin war aber vollkommen sprachlos. Wenn sie
etwas wollte, z. B. ihre Bedürfnisse befriedigen, dann weinte sie, die Mntter musst« dann
errathen, was sie wollte, und die Patientin nickte, wenn sie es getroffen hatte, ln dieser
Zeit bestanden fortwährende choreatische Bewegungen, speciell der rechten
Seite. Blase und Mastdarm waren intact. Die Beine waren zunächst vollständig gelähmt,
die Anne konnten etwas gehoben werden, aber mit starkem ataktischen Schwanken. Allmalig
besserte sich der Zustand, zuerst die Motilität und grobe Kraft, während die Ataxie
noch bestand und die Patientin z. B. gefüttert werden musste. Weihnachten 1887 konnte sie
noch nicht ordentlich sitzen, der Kopf wackelte stark. Die Sprache lernte sie allmälig wie
neu, zuerst sprach sie nur die ersten Silben nach, jetzt die ganzen Worte. Lesen konnte die
Patientin vor ihrer Erkrankung erst einzelne Buchstaben, schreiben noch nicht. Das Schlucken
war nur auf der Höhe der Krankheit leicht gestört.
Status 13. Februar 1888 Intelligenz gut.
Musculatur des Kopfes noch schwach, Kopf etwas nach vorn geneigt gehalten.
Augen nnd Augen bewegun gen intact, kein Nystagmus.
Zungenbewegungen etwas langsam und träge, die Sprache deutlich scandirend, dabei
aber auch mit erheblichen dysarthrischen Störungen. Keine aphatischeu Symptome mehr.
Rechter unterer Facialis etwas schwächer als der linke. Der linke Arm ist etwas
kräftiger als der rechte, er wird auch zum Essen gebraucht; bei Greifbewegungeu rechts
deutliche Ataxie. Sensibilität intact. Keine trophischen oder ataktischen Störungen.
Grobe Kraft der Beine gut. Keine Contracturen. Beiderseits lebhafte Patel-
larreflexe, kein Achillesclonus. Bei inteudirten Bewegungen mit den Beinen
im Liegen lebhafteste Ataxie und baldiges Ermüden. Stehen nur mit offenen
Augen und breitbeinig möglich, auch dann lebhaftes Schwanken und bal-
diges Umsinken. Gang ataktisch und stampfend wie hei Tabes, auch hier ermüdet
die Patientin rasch und schleift dann die Beine nach. Lagegefahl. wie überhaupt die
Sensibilität intact. Ebenso keine trophischen oder elektrischen Störungen, die inneren
Organe gesund, im Urin nichts.
Am 6- April war eine Besserung eingetreten Sie konnte frei und ungenützt eia
paar Schritte gehen, mit Stütze längere Strecken. Am 1. Mai 1888 konnte ich die Patientin
ungefähr in demselben Zustande den Mitgliedern des Vereins (l« r Irrenärzte Niedersachser.s
und Westphaleus vorstellen.
Im November 1888 war der Gang sehr viel sicherer, aber immer noch stumpfend
und bei Augenschiass schwankend. Im reehten Arme noch deutliche Bewegungsataxie , keine
statische Ataxie mehr, die Ataxie verstärkt sich hier nicht beim Augenschiiessen. Psyche
intact, geht wieder in die Schule, lernt leicht, nur das Schreiben geht noch schlecht. Rechter
Facialis noch paretisch, Zunge nicht mehr; Sprache nicht mehr dysart li risch, al>er langsam
und scandirend.
Am 30. April 1890 sah ich die Patientin noch einmal wieder. Der Gang ist etwas
unsicher und plump, ohne deutliche Ataxie, an Armen und Händen nichts Abnormes mehr.
R. untere Facialis noch deutlich paretisch. Sprache exquisit scandirend.*)
Aus (len vorstehenden Krankengeschichten und ihren Varietäten kann
man sich ohneweiters ein gutes Bild von Symptomen und Verlauf der soge-
nannten acuten Ataxie, der disseminirteu Encephalomyelitis machen. Hier soll
deshalb nur eine kurze Zusammenfassung der klinischen Symptome meiner und
der in der Literatur niedergelegten Fälle folgen: In allen Fällen folgt die Er-
krankung während oder nach einer acuten Infeetionskrankheit oder nach einer
Vergiftung. Der nahe Zusammenhang mit Infectionskrankheiten bedingt auch die
Häufigkeit des Vorkommens der acuten Ataxie bei Kindern. Das Einsetzen ist
stets ein acutes — nicht selten, wie z. B. in meinem ersten Falle, entwickeln
sich die Symptome über Nacht zu voller Höhe — das Kind war scheinbar noch
ganz gesund zu Bett gegangen. In den meisten Fällen — so z. B. bei Wkst-
PHAL b0) — bestanden im ersten Stadium Symptome, die auf ein allgemeines und
schweres Ergrifiensein des ganzen Nervensysteme» hindeuteten. So finden wir
z. B. im Fall 2 mehrtägige Bewusstlosigkeit , dann längere Zeit hindurch totale
Lähmung. Noch deutlicher ist das in Fall 3; hier bestand durch vier Wochen
*) April 1896 habe ich die Patientin noch einmal wieder bestellt. Die Sprach? «t
noch immer behindert, aber viel weniger als früher. Die Schrift etwas zitterig. Sonst alles
in Ordnung.
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total«' Bewusstlosigkeit mit grösster Unruhe, schreckhaften Delirien, Secessus
inst'ri — nach und nach bildete sich ein Symptomencomplex heraus, der am
meisten Aehnlichkeit mit einer schweren Chori'a hatte — als das Bewusstsein
wieder kam, liestand zunächst totale motorische Aphasie, vollkommene Lähmung
der Extremitäten, die choreatischen Bewegungen Hessen allmftlig nach, aber erst
nach Wochen bot das Krankheitsbild diejenigen Symptome, die, wie wir sehen
werden, für das Krankheitsbild am charakteristischesten sind. Einen ähnlichen
Verlauf mit langdauernder Bewusstseinsstörung, wochenlanger allgemeiner Chorea,
Blindheit und Taubheit mit Ausgang in Heilung habe ich vor Kurzem noch bei
Encephalomyelitis disseminata nach Pertussis erleht. Gerade in diesem Stadium
der allgemeinen Erkrankung des gesummten Nervensystems kommt auch Neuritis
optica vor. In einer drittt'n Reihe von Füllen, wie z. B. in meinem Falle 1, —
das sind wohl die prognostisch günstigsten — treten die Erscheinungen von
Seiten des Grosshirnes (Bewusstlosigkeit, Delirien, vielleicht Chorea) ganz zurück
und beschränkt sich die Erkrankung im Ganzen auf Medulla oblongata und
Rückenmark, ln diesen Fällen besteht von Anfang an dasjenige Krankheitsbild,
das, abgesehen von Gt.-HI.GB “), Westphai. *•) und Ebstein ••) zuerst beschrieben
haben und um dessen weitere Erforschung Leyden**), der der Krankheit den
Namen acute Ataxie gab, die grössten Verdienste hat. Wkstphal hebt schon
die charakteristischen Symptome scharf hervor; ich sehe dabei davon ab, dass
das erste grosse Charakteristicuin der acute Beginn ist. Es besteht — in den
leichteren Fällen von Anfang an , in den schweren stürmischen nach Ueber-
Btehung der ersten Periode der schweren Allgcmeinsymptome — 1. die Ataxie,
die sich in den Beinen beim Gehen und bei Bewegungen im Liegen zeigt , die
in den Armen besonders bei Greifbewegnngen manchmal aber auch als
statische Ataxie auftritt. Auch das Zittern des Kopfes wird fast in allen
Fällen erwähnt; 2. die Störungen der Sprache, die sich im ganzen als
scandirende Sprache bezeichnen lässt; 3. eine nicht immer vorhandene
Störung der Intelligenz. Ich möchte als Nr. 4 noch hinznreehnen Paresen oder
spastische Zustände der Beine mit entsprechendem Gange, sehr selten der
Arme mit manchmal enorm gesteigerten Sehnenretlexen, öfters mit Ueberwiegcn
dii’ser Erscheinungen auf einer Seite und als negative Symptome das Fehlen jeder
Sensibilitütsstörung, besonders auch der des sogenannten Muskelsinnes, was übrigens
Wkstphal schon hervorgehoben hat, und das Fehlen deutlicher Sphinkteren-
störungen. In Bezug auf Einzelheiten und Varietäten in den Symptomen kann
ich wohl auf meine Krankengeschichten verweisen, die ebenso, wie sonstige neuere
Beobachtungen das von Wkstphal und Lei den aufgestellte Krankheitsbild nur
zu stützen geeignet Bind.
Nur in Bezug auf die Bezeichnung Ataxie für die Bewegungsstörung
der Arme und Beine in diesen Fällen — eine Bezeichnung, wie sic von den
Autoren bisher immer ohneweiters angewandt ist — möchte ich hier noch ein
paar Bemerkungen machen. Was die Störungen der Beine beim Gehen oder bei Be-
wegungen im Liegen anbetrifl't, so kommen hier bei genauerem Zusehen offenbar
zweierlei Erscheinungen vor: erstens echte Ataxie, ataktisch^ Bewegungen ganz
wie wir sie bei der Tabes kennen , so z. B. in meinem Falle 1 beim Geheu , nicht
aber bei Bewegungen im Liegen , im Fall 3 ganz typisch ebenfalls bei Geh-
versuchen, und dasselbe findet sich in den meisten Fällen von Wkstphal und
Leyden. Zweitens aber wird beobachtet eine Bewegungsstörung, die mit den
gauz groben, in ihrer Amplitude wechselnden und unberechenbaren Bewegungen,
wie sie für die Ataxie charakteristisch sind, nichts zu thun haben, sondern mehr
in groben , aber gleichinüssigeu , wenn auch nicht immer rhythmischen Zitter-
bewegnngen bestehen, die schliesslich den ganzen Körper in's Schwanken bringen
können. Das war in den Beinen besonders deutlich im Stehen im meinem Falle 1,
beim Gehen und Stehen im Falle 2 , wird übrigens auch von Wkstphal
schon in einem Falle besonders hervorgehoben. Nicht selten sieht man , wie
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MYELITIS.
der Tremor der Beine sich herausbildet aus den einzelnen Zuckungen, die
in der Wadenmusculatur beim Gange zunächst auftreten ; es sind das die Fälle
mit typisch spastischem Gange. Ist dieser Tremor deutlich, so tritt er nattirlieb
auch im Liegen bei Bewegungen (Kniehackcnversueh) und bei einfachem Erheben
der Beine auf (Fall 2). In den Armen bestand in meinen Fällen 1 und 2 ein
sehr deutliches, ganz dem Intentionstremor gleichendes Zittern, nur bei ganz
besonderen Bewegungen wirkliche Ataxie, während die letztere z. B. in den
Fällen von Westphal sehr deutlich beschrieben ist und auch in meinem Falle 3
unverkennbar war. Am Kopfe ist sehliesslieh von allen Autoren, ebenso wie von
mir, nur einfaches rhythmisches Zittern beobachtet. Wir sehen also bei offenbar
im Grunde gleichartigen Fällen im einen mehr echt ataktische, im anderen mehr
tremorartige Störungen, häufig beides vereint. Dazu kommt noch, dass, was ich
zuerst hervorgehoben habe und was auch von anderen Autoren, z. B. von Goi.D-
SCH EIDER anerkannt ist , die Ataxie und der Intentionstremor oft schwer ans-
einanderzuhaltcn sind, ja dass man sich in einzelnen Fällen — ich erinnere an
meinen Fall von Vierhllgeltumor — ebenso gut für die eine wie für die andere
Bezeichnung entscheiden könnte. Es ist ja übrigens bei der jedenfalls nicht immer
gleichen Localisation der Krankheitsherde der disseminirten Encepbalumyelitis
eine Differenz in dieser Beziehung zwischen den einzelnen Fällen sehr wohl
erklärlich — die Ataxie würde mehr für einen Sitz in der Schleife, der Inten-
tionstremor mehr für einen solchen in oder in der Nähe der der Pyramiden-
bahnen sprechen. Dass übrigens der ersterc Sitz und damit Ataxie selten ist,
dafür spricht hier auch der Mangel an Störungen des Lagegefühles. Ich wollte diese
Dinge nur hervorheben, damit man, wenn man auch den Namen „acute Ataxie"
beibehält, doch weiss, dass die Bewegungsstörungen in vielen Fällen nicht auk
tische sind, sondern mehr dem Intentionstremor gleichen.
Die Störungen der Intelligenz scheinen mir nach meinen eigenen Be-
obachtungen nicht dauernde zu sein, sondern nur in den schweren Anfangsstadien
der Erkrankung zu bestehen. An progressive Paralyse, bei der Tremor ja auch
sehr hochgradig sein kann, erinnerten die Fälle jedenfalls nur bei oberflächlicher
Betrachtung. Für die seandirende Sprache ist in schweren Fällen charakteristisch
ihr Hervorgelien aus voller Sprachlähmung. Selten sind auch leichte dvsarthri-
sehe Störungen.
Der Verlauf der Erkrankung ist, wie schon meine wenigen Fälle zeigen,
ein äusserst wechselnder, er hängt wohl hauptsächlich von der Schwere und
Ausbreitung des Krankheitsgiftes ab. Häufig tritt — manchmal, wie in Fall 1 sehr
rasch — volle Heilung ein, besonders in den Fällen nach Infectionskrankhciten.
In anderen Fällen bessert sich das Leiden ganz allmälig, doch nur bis zu einem
gewissen Grade; paretischer oder spastischer Gang bleibt bestehen, auch die
seandirende Sprache (Kall 2 und 3). ln solchen Fällen köunen, wie Nr. 2 lehrt,
auch vorübergehende Verschlimmerungen nach änsseren Anlässen oft spät nach
Beginn der Erkrankung noch cintrcten. Der Tod tritt selten ein, dann wohl meist
im ersten Stadium, später an Complicationen.
Schon Westphal 60) war die grosse Aehnlichkeit dieser Symptomen-
complexe mit denen der multiplen Sklerose aufgefallen. Eine Differenz bestellt
eigentlich nur in der acuten Ausbildung des ganzen Krankheitsbildes, —
bei der multiplen Sklerose findet sich ja auch acutes Entstehen, aber zuerst nur
einzelne Symptome. Neuere Autoren, besonders Marie*4), sind sehr geneigt, einen
directen späteren Uebergang dieser Kalle, auch der scheinbar geheilten, in echte
multiple Sklerose anzuuehmen. Beobachtet ist das aber bisher noch nicht und
auch meine Erfahrungen stimmen mehr mit der Ansieht Leydex’s **) , der in
dieser Beziehung sagt : „An sich hat der Process keine Tendenz zum Fort-
schreiten.“
Diagnose und Differentialdiagnose. Bei acuter oder sub-
acuter, im letzteren Falle noch durch die Aufeinanderfolge, Gruppirung
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.MYELITIS.
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und allmälige Ausdehnung der Symptome charakterisirter Entstehung eines der
oheu als typisch für die transversale Myelitis bezeichnten Krankheitsbilder ist
zunächst die Diagnose auf eine Erkrankung des Rückenmarkes im Allgemeinen
eine leichte. Sehr viel schwieriger, schon bei der relativen Seltenheit dieser Er-
krankung, ist es aber im gegebenen Falle mit Sicherheit zu sagen, dass cs sich
um eine echte Myelitis handelt. Meines Erachtens kommt hier als
wichtigstes Moment die Anamnese, die Kenntniss der ätiologischen
Verhältnisse in Betracht. Entwickelt sich das Krankheitsbild der acuten
Rürkenmnrkslähmung im Verlaufe oder im Anschlüsse an eine Infectionskrankheit
— hier kommen alle diese Krankheiten in Betracht, wenn auch nach einzelnen
Infectioncn die Betheiligung des Rückenmarkes besonders häufig vorkommt —
oder auch nach einer der oben erwähnten Vergiftungen , so ist die Annahme
einer myelitischen Natur der Krankheit eine sehr viel gesichertere. Es kommt
dann vor Allem nur darauf an, eine erst neuerdings mehr bekannt gewordene
Erkrankung auszuscheiden, die sich ebenfalls mit besonderer Vorliebe an Jnfec-
tionen oder Intoxieationen anschliesst, das ist die multiple Neuritis. Diese
Unterscheidung kann eine leichte, sie kann unter Umständen aber auch eine
sehr schwierige sein , manchmal ist sie unmöglich , was a priori schon deshalb
verständlich ist, weil in neuerer Zeit genauere anatomische Untersuchungen gelehrt
haben, dass selten oder nie, auch bei sonst typischer Neuritis das Rückenmark
ganz frei bleibt und klinische Beobachtungen besonders von Oppenheim *) vorliegen,
die eine Combination mvelitischer und nenritiseher Krankheitsprocesse darstellen.
Differentialdiagnostische Unterschiede können sowohl in dem ausgebildeten Krank-
heitsbilde in seiner Gesammtheit wie in einzelnen speciellen Symptomen gegeben
sein, vor Allem aber in Verlauf und Ausgang der Erkrankung sich ausprägen.
Was ersteres anbetrifft, so kann z. B. eine Myelitis transversa dnrsalis wohl
kaum mit einer Neuritis verwechselt werden; wenn auch bei letzterer manchmal
eine Steigerung der Sehnenreflexe beobachtet worden ist , so kommt doch die
Contractnr der Beine, die bei Myelitis fast immer eintritt, hier nicht vor. Ebenso
kann eine Myelin 's cervicalis nur so lange mit einer Neuritis im Plexus brackialis
verwechselt werden , als sich die Symptome in der Form der cervicalen Para-
plegie auf die Arme beschränken; werden die Beine betheiligt, so tritt auch
hier spastische Lähmung ein, die mit Neuritis unvereinbar ist. Auch fehlen bei
einer Neuritis des Plexus braebia/is stets die Symptome von Seiten der Pupillen
und Lidspalten. Sehr viel schwieriger und manchmal unmöglich ist die Unter-
scheidung einer Myelitis transversa lumbalis von einer sich auf die Beine
beschränkenden multiplen Neuritis, ln beiden Fällen ist die Lähmung eine schlaffe,
betrifft meist symmetrische Muskeln und kann auch bei Neuritis den sacralen oder
lumbalen Typus zeigen. In beiden Fällen tritt Atrophie und Entartungsreaction
io den Muskeln ein und fehlen fast immer die Sehnenreflexe. Doch siud auch hier
eine Anzahl freilich nicht immer stimmender Unterscheidungsmerkmale vorhanden,
die zum Theile in das Gebiet der für jede der beiden Krankheiten mehr weniger
charakteristischen Einzelsymptome fallen. Dahin gehören z. B. die oft ungeheuer
intensiven und ausgebreiteten Schmerzen im Beginne der multiplen Neuritis beim
Fehlen oder der Geringfügigkeit derselben bei der Myelitis, die Druckschmerz-
haftigkeit der Nervenstämme und Muskeln bei der ersteren Krankheit, die übrigens
inconstant ist . die meist wohl geringere Deutlichkeit objectiver sensibler Sym-
ptome, speciell der Anästhesien bei Neuritis, das Fehlen schwerer trophischer
Störungen, speciell des Decubitus und vor Allem der Blasenstörungen ebenda.*)
Die Blasenstörungen sind ja gerade bei der Myelitis besonders ausgeprägt, sie
pfl egen bei der Neuritis fast immer zu fehlen, höchstens besteht hier im Beginne
ein vermehrter Harndrang. Auch die Entwicklung und der Verlauf der beiden
*) Auf die Unterscheidung der Poliomyelitis acuta adultorum von der Neuritis, die
oft nur durch den Verlauf möglich ist, kann hier natürlich nicht eingegangen werden. Gerade
in das Gebiet dieser Krankheit hat die Neuritis die grössten Eingriffe gemacht.
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Erkrankungen kann werthvolle diflcrcntialdiagnostische Aufklärungen gelien. Die
multiple Neuritis entwickelt sich meist subacut — auf eine Periode der leb-
haftesten Schmerzen folgen allmälig die Lähmungen — eine foudroyant cintretende
Paraplegie, wie in manchen Fällen von Myelitis ist hier jedenfalls eine Seltenheit.
Entscheidend filr die Diagnose einer Myelitis ist es auch , wenn das erste deut-
liche Symptom des Leidens ein solches ist, wie es bei der Neuritis nicht oder
nur sehr selten verkommt, so ist z. K. die Blasenlähmung nicht selten ein
Initialsymptom der Myelitis. Schliesslich ist der Ausgang von Wichtigkeit; volle
Heilung ist bei Neuritis häutig, bei transversaler Myelitis doch sehr selten, wenn
sie auch verkommt. Die lumbale Myelitis ist noch dazu prognostisch besonders
bedenklich, sie führt sehr oft zum Tode, der ja allerdings auch bei der Neuritis
nicht, immer fernzuhalten ist. Bleibt der Patient am Leben, so ist jedenfalls der
häutigste Ausgang der Myelitis der in partielle Lähmung.
Das mag zur Unterscheidung zwischen Neuritis und Myelitis genügen.
Kann man bei einem den Verdacht auf eine RUckenmarkskrankheit cinschlagen-
den Krankheitsbilde eine Neuritis ausscldiessen und sind die oben erwähnten
ätiologischen Momente vorhanden, so darf man die Diagnose einer echten
acuten Myelitis wagen. Schwieriger wird die Sache, wenn jeder ätiologische An-
haltspunkt fehlt oder nur solche von zweifelhaftem Werthe vorhanden sind. Vor
Allem ist die Trennung der acutesten Formen einer Myelitis von den auf Blutung
oder Thrombose beruhenden acuten Erweichungen eine enorm schwierige. Aus-
gedehnte spontane Blutungen — analog den Hirnapoplexien — siud jedenfalls
im Rttekenmarke äusserst selten, ihre Symptomatologie würde dieselbe sein, wie
bei der foudrovanten Myelitis. Tritt eine Paraplegie nach Traumen auch ohne
nachweisbare Läsion der Wirbelsäule ein, so wird man Uber die Diagnose einer
Hämatomyelie nicht im Zweifel sein; sehr schwierig ist es wohl meist, eine
Hämatorachis zu erkennen, hier kommt vor Allem die Heftigkeit der Schmerzen
und eventuell eine Rückensteiflgkeit in Betracht.
Von viel grosserer Bedeutung ist jedenfalls die Unterscheidung der ein-
fachen, uicht entzündlichen, meist auf Thrombose, selten auf Embolie beruhenden
Erweichung des Markes von der echten Myelitis. Nach meiner Ansicht — ich
stütze mich dabei übrigens auf eine ganze Anzahl sehr erfahrener Autoren (s. o.)
— sind gerade diese Fälle besonders häufig und vor Allem bilden sie in der
weitaus grössten Mehrzahl die anatomische Grundlage für die sogenannte acute
syphilitische Myelitis. Meist handelt es sieh hier um sehr acut verlaufende Fälle,
alter auch in subacuter Weise kann durch allmälige Verstopfung des betreffenden
Gefässgebietes das Bild einer transversalen Myelitis entstehen. Eine Unterschei-
dung ist klinisch oft nicht möglich und auch anatomisch ist das fast immer sehr
schwierig, schon deshalb, weil das angeblich für Myelitis charakteristische ana-
tomische Bild zum Thcile nach deu sicher vasculären Fällen gezeichnet ist. An
die thrombotische Erweichung ist jedenfalls zu denkeu, wenn bei
einem Syphilitischen eine Paraplegie acut eintritt und irgendwelche
Vorboten, namentlich Schmerzen, in keiner Weise bestanden haben,
— auch die weitere Beobachtung kann hier entscheiden — hier wie bei der auf
syphilitischer Gefässeckrankung beruhender Erweichung des Gehirnes kann die
Hg-Bchandlung natürlich auf den Krankheitsherd nicht von Einfluss sein und
wird eine Besserung nur insoweit möglich sein, als es sicli um in ihrer Function
beeinträchtigte, nicht aher um zerstörte Bahnen handelt.
Vielleicht kann ein diagnostisches Unterseheiduugsmoment zwischen vas-
culärer und myelitisclicr Paraplegie auch einmal darin liegen , dass in erstcrem
Falle niemals Fieber bestellt.
Die da» Rückenmark comprimirenden Erkrankungsformen, die Tumoren
und die Caries der Wirbelsäule und die intravertebralen Geschwülste,
werden im Allgemeinen eher zur Verwechslung mit der chronischen Myelitis
Anlass geben können, doeli können in allen diesen Fällen, bei den Wirbelcrkran-
■s
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klingen durch plötzliches Einsinken der Wirbel und dadurch hervorgerufenc acute
Compression des Markes , bei den intravertebralen Tumoren durch ein acut ein-
setzendes Oedein, paraplegische Erscheinungen acut einsetzen, während die vorher-
gehenden Erscheinungen so vage waren , dass sie wenigstens eine bestimmte
Diagnose nicht znliessen. Boi den vertebralen Erkrankungen wird man unter
diesen Umständen wohl stets eine Difformität der Wirbelsäule finden; bei den
intravertebralen Tumoren wird meist eine langdauernde Wurzclreizuug vorher-
gegangen sein.
Von älteren Autoren wird noch die acute Meningitis in differential-
diagnostischer Weise der Myelitis gegenttbergestellt. Nun wissen wir von einer auf
das Hückeumark beschränkten, einfachen autochthonen Meningitis eigentlich gar
nichts. Die Tuberculosis und die eiterige Meningitis betheiligen zwar stets das
Rtiekenmark, aber hier treten die Symptome von Seiten des (iehirnes so in den
Vordergrund, dass an eine Verwechslung mit Myelitis nicht zu denken ist. Die
syphilitische Meningomyelitis ergreift mehr in langsamer Weise unter
häufigen spontanen und therapeutisch bedingten Remissionen das Mark; sollte sie
einmal einen aenten Schub machen, so werden neben der syphilitischen Anamnese
die vorausgegangenen meningealen und durch Wurzelerkrankung bedingten Reiz-
ersebeinungen von grösster Bedeutung sein.
Die Hysterie kommt ebenfalls differential-diagnostisch mehr gegenüber
der chronischen Myelitis in Betracht. Doch kann natürlich auch bei der Hysterie
einmal acut ein Krankheitsbild entstehen, das für den Anfang und durch längere
Zeit deu laisehen Verdacht einer Myelitis nahelegt. Namentlich entstehen hier
Krankheitsbilder, die an die Myelitis transversa dorsohs erinnern. So kommen
erhebliche Contracturen und erhöhte Sehnenreflexc bei der Hysterie häufig vor.
Aul' eine eingehende Schilderung der di ffereutial diagnostischen Momente kann
ich mich hier nicht einlassen, cs genüge, auf die meist psychische Aetiologie der
hysteriseben Lähmungen hinzuweisen auf die eigenthttmliche Vcrtheilung der
meist sehr erheblichen Anästhesien — auf das Fehlen von Symptomen, die mit
Sicherheit auf ein organisches Leiden hinweisen, wie Muskclatrophie, Entartungs-
reaction, Decubitus, Blasenlähinung.
Alles in Allem die Diagnose einer echten acuten Myelitis ist
berechtigt — bei voller Anerkennung ihrer Seltenheit — wenn para-
plegische Erscheinungen acut eintreten, die erwähnten ätiologischen
Momente vorhanden und Xeuritis multiplex auszu sch Hessen ist.
Fehlen die charakteristischen ätiologischen Momente, so ist eine Unterscheidung
von acuter Compression meist leicht, eine solche von vasculärer Erweichung
schwer oder gar nicht möglich. Bei Syphilis ist aber die auf Thrombose und
Erweichung des Markes beruhende Paraplegie jedenfalls die bei weitem häufigste.
Dass die Diagnose einer Myelitis eine unsichere wird, wenn die Aflec-
tion nur einen Tkeil des Rtlekenmarksquerschnittes ergreift, ist selbstverständlich;
hier werden entweder oben abgetrennte Krankheitsbibler, z. B. die Poliomyelitis,
entstehen oder unklare und nicht bestimmt zu erkennende Symptomencomplexe.
Auf Einzelnes hier eingehen, ist natürlich unmöglich.
l’eber die Segmentdiagnose der Myelitis ist oben alles Nöthige gesagt,
leb will hier nochmal erwähnen, dass die Ilantreflexe für die genaue Erkenntniss
des Höhensitzes einer Läsion von unsicherer Bedeutung sind. Sie vnriiren sehr
bei den einzelnen Individuen — und die Höhe des Rellcxbogens ist wenig sieher
bekannt — , doch können sie ebenso wie die Sehnenreflexc bei schweren Läsionen
auch unterhalb derselben fehlen.
Die Diagnose einer chronischen Myelitis ist hei der ausserordentlichen
Seltenheit dieser Krankheit schon a priori stets unter allem Vorbehalte zu stellen.
Am leichtesten ist sie noch, wenn das chronische Leiden sich an eine mit Sicher-
heit erkannte acute Myelitis ansehlicsst. Bei der primär in chronischer Weise
eintretemien Rückenmarkslähmung gilt es zunächst, die Compression des
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Markes auszuschliessen. Hier kommt neben der Carics und den Tumoren
der Wirbelsäule, dann den intravertebralen Tumoren, vor Allem noch
die Pac by men ingitis in Betracht. Die Pachymeningitis und die intraverte-
bralen Tumoren haben meist einen in klinischer Beziehung charakteristischen
Verlauf; sie kommen aber auch ohne solche specifischc Symptome vor und Ai.lex
Starr hat wohl recht, wenn er nngiebt, dass in den meisten Füllen von Tumor
des Rückenmarkes die Diagnose einer Myelitis gestellt sei. Auch bei den Er-
krankungen der Wirbelsäule verläuft oft lange Zeit, ehe man sie, auch bei sorg-
fältigster Untersuchung, mit Sicherheit erkennen kann ; bei C'aries kommt das be-
sonders daher, dass sie meist zuerst die Wirbelkörper ergreift — und es bleibt
dann nichts anderes Über, als die provisorische Diagnose einer Myelitis chronica.
Die Syringomyelie ist früher als eine Form der Myelitis beschrieben — Mß-
Ute periependyniaire, Myilite envitaire — , in typischen Fällen ist es heutzu-
tage ja leicht , eine richtige Diagnose zu stellen ; es kommen aber auch hier
Krankheitsbilder vor, die im Wesentlichen nichts anderes als eine spastische Pan-
plegie bieten und deshalb die Diagnose einer chronischen Myelxti s dorsnli»
nahelegen. Dass eine Abgrenzung der combinirten Systemerkrankung voa
der Myelitis oft nicht möglich ist, geht schon daraus hervor, dass überhaupt von
manchen Autoren, z. B. Leydex und Goi.dscheidkr '*) , die diffus mvelitische
und nicht systematische Natur dieser Erkrankung behauptet wird. Die häutigste
und deshalb wichtigste Erkrankung, die zur falschen Diagnose einer chronischen
transversalen Myelitis Anlass giebt, ist jedenfalls die multiple Sklerose. Es
ist ja richtig, dass man bei der letzteren Krankheit bei genauerer Kenntniss der
Anamnese sehr viel häutiger, als man früher gedacht hat, auf die acute Entste-
hung einzelner und speciell der initialen lvrankheitscrscbeinungen tritft — dann
kann natürlich von einer chronischen Myelitis keine Rede mehr sein, vor Allem,
wenn, wie recht häufig, dieses erste Symptom in vorübergehender Amblyopie
oder Amaurose bestand , die oft klinisch keine Spuren zurücklässt — , aber cs
giebt erstens doch auch Fälle, und nicht so selten, die trotz des Vorhandenseins
sklerotischer Herde im Gehirne klinisch keine Symptome der Hirnbetheiligung dar
bieten und zweitens, wenn auch selten, sicher zur cerebrospinalen Sklerose ge-
hörende Fälle , die auch anatomisch nur eine mehr weniger diffuse Erkrankung
des Markes dnrbicten. Im ersteren Falle wird man klinisch geneigt sein, die
falsche Diagnose einer chronischen Myelitis zu stellen ; im zweiten Falle handelt
es sich auch anatomisch um eine solche, und die Abgrenzung dieser Form von
der Myelitis transveisa ist, vielleicht abgesehen von dem Erhaltenblciben der
Achsencylinder , eine nur künstliche. Im Allgemeinen wird man in solchen
zweifelhaften Fällen öfter das Richtige treffen, wenn man die Diagnose einer
multiplen Sklerose stellt.
Für die spastische Spinalparalyse ist es jetzt sichergestellt, dass
es eine primär systematische Erkrankung der Pyramidenbahneu giebt (V. Stküvi-
PKI.l), doch ist diese Form sehr selten und, abgesehen von der multiplen Sklerose,
besteht ihr anatomischer Grund am häufigsten in den Residuen einer amten
dorsalen Myelitis — allerdings am häufigsten der sogenannten syphilitischen Mye-
litis, bei der es sich um eine echte Entzündung nicht handelt.
Die Unterscheidung einer chronischen syphilitischen Meningomyclitis wird
sich nicht selten aus der Anamnese und dem Erfolge der Therapie machen lassen,
besonders da man Hg ja in allen zweifelhaften Fällen anwendet.
Nicht selten kommt die Differentialdiagnose zwischen Myelitis und einer
chronisch verlaufenden Neuritis in Betracht; differential-diagnostische
Momente sind oben bei der acuten Myelitis angegebeu; vor Allem würde die
volle Heilung einer als Myelitis chronica imponirenden Erkrankung eher an
Neuritis denken lassen. Von der Hysterie ist schon gesagt, dass sie manchmal
eine chronische Myelitis Vortäuschen kann; wegen der Unterscheidungsmomente
verweise ich nach oben.
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■491
Die Diagnose der d isscminirten Encephalomyelitis ist Lei der
Prägnanz dieses Krankheitsbildes meist eine leichte. Nur im ersten Stadium mit
schweren allgemeinen nervösen Erscheinungen kann sie , wie man leicht ersieht,
manchmal unmöglich sein. Auch hier ist vor Allem wichtig der directe Anschluss
an eine Infeetiou oder Intoxication, ferner der oft gttnstige Verlauf. Fehlt die
Anamnese, so kann man wohl zur Annahme einer echten multiplen Sklerose
kommen, die ja auch aus dieser Erkrankung hervorgehen soll. Manche Fälle
erinnern an progressive Paralyse, erstens weil auch bei der disseminirten
Encephalomyelitis eine Betheiligung der Intelligenz Vorkommen kann, und zweitens,
weil es Fälle von Paralysen giebt, bei denen das Zittern so stark wird und so
an den Intentionstremor erinnert, dass aucli von Erfahrenen hier nicht selten die
falsche Diagnose multiple Sklerose gemacht wird. Bei den ersteren Fällen wird
die Raschheit des Entstehens der Symptome, das Vorhergehen einer acuten Infec-
tionskrankheit , eventuell das Fehlen der Lues, schwer gegen die Paralyse in’s
Gewicht fallen; entscheidend ist der Verlauf, da eine progressive Demenz bei
der acuten Ataxie nicht vorkommt.
Die sehr seltenen, auf peripherer Neuritis beruhenden Fälle acuter (peri-
pherer) Ataxie, Pseudotabe s peripherica , zeigen nur eine oberflächliche Aehn-
lichkeit mit der disseminirten Encephalomyelitis. Es fehlen fast immer die
btllbären Symptome, dagegen linden sich Schmerzen und Anästhesien; die Sehnen-
reflexe sind geschwunden; meist sind noch, wenigstens iu einzelnen Gebieten,
degenerative Muskelatrophien nachzuweisen. Das Vorkommen nach Infections-
krankheiten ist beiden Erkrankungen gemeinsam.
Prognose. Die Prognose der Myelitis transversa acuta ist immer
eine sehr ernste, zum mindesten eine zweifelhafte und im Ganzen eine ad maluni
vergens. Sehr häufig ist schon bald nach dem Einsetzen der Erkrankung oder
nach langen Qualen der Tod das unabwendliche Ende. Allerdings sind im
Einzeifalle die verschiedensten Ausgänge möglich — manchmal, wenn auch selten,
vollständige Heilung, in vielen Fällen Stillstand in einem bestimmten Stadium der
Erkrankung — dabei können, selten, alle vorhandenen Symptome bestehen bleiben
oder aber, häufiger, eine mehr weniger weitgehende, aber immer unvollkommene
Besserung eintreten. Häufig tritt schon im acuten Stadium durch die Ausdehnung
oder Loealisation der Erkrankung der Tod ein , oder aber erst später durch
langsameres Fortschreiten der Krankheit selbst oder an Complicationen. Etwas
Bestimmtes lässt sich wohl kaum jemals Uber die Prognose des Einzelfallcs sagen
und schon eine Einthcilung der Prognose quoad vitam und quoad valetudinem
eompletam oder iucomplctam ist kaum möglich. Die prognostischen Erwägungen
werden abhängen von der mehr weniger grossen Raschheit des Eintretens und
Fortsehreitens der Erkrankung auf dem Quer- und Längsschnitte des Markes,
von dem llühensitzc der Erkrankung , von den ursächlichen Momenten und von
dem Fehlen oder Vorhandensein ernster, das Leben bedrohender Complicationen,
wenn sich auch diese vier Gruppen natürlich nicht scharf von einander trennen
lassen , da sie ja zum Theil wieder in Abhängigkeit von einander stehen. So
bieten natürlich die unter stürmischen Erscheinungen , nicht selten mit hohem
Fieber einsetzenden Fälle von Myelitis acutissima, die von vornherein Uber den
ganzen Querschnitt sich ausdehnen und eine Tendenz zu rascher Ausbreitung
auch in der Längsrichtung haben, eine schlechte Prognose; besonders schnell
tritt der Tod ein , wenn die Erkrankung nach Art der aufsteigenden Paralyse
verläuft und rasch auf das obere Halsmark und den Bulbus Ubergeht.
In diesen Fällen ist auch die Entstehung eines acuten Decubitus mit
allen seinen Gefahren am meisten zu fürchten. Im Uebrigcn aber ist es keines-
wegs gesagt, dass gerade die acut einsetzenden Fälle eine besonders schlechte
Prognose haben; sie haben sic nur, wenn Raschheit des Einsetzens sich mit
diffuser Ausdehnung verbindet im Gegentheil kaun man bei acut cinsetzemlen,
aber bald nicht mehr sich ausdehnenden Symptomen, besonders dann, wenn diese
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492 MYELITIS.
auf ein mir partiell«-» Ergriffensein des Querschnittes und auf eine geringe Aus-
dehnung in der Längsachse hin weisen, die Prognose naturgemäss günstiger stellen
als in Füllen, die langsamer einsetzen und weiterschreiten und bei denen es sich
durch lange Zeit in keiner Weise voraussehen lässt, wann und wo der Proeess
zum Stillstand kommen wird. Die den ganzen Querschnitt ergreifenden und eine
totale Läsion des Markes in einer bestimmten Höhe veranlassenden Myelitisformen
sind schon deshalb prognostisch viel bedenklicher, als die in dieser Beziehung par-
tiellen, weil bei ihnen unterhalb der Läsion die Gcfühlsstörungen besonders aus-
geprägt sind und damit z. B. die Gefahr des Decubitus eine viel grössere ist,
und weil in diesen Fällen bei jedem Sitze der Läsion schwere Störungen der
Blasenfunction mit allen ihren Folgen eintreten.
Was die Segmenthöhe der Myelitis anbetrifft, so sind jedenfalls die pro-
gnostisch günstigsten und glücklicherweise auch die häutigsten Fälle die von
Myelitis dorsal is. Bei ihnen kommt es nicht selten so weit, dass schliesslich nur
eine leichte spastische Parese übrig bleibt und der Patient wieder seinen BerutV
geschäfteu nachgehen kann. .Sehr viel ungünstiger, speciell wegen der grösseren
Schwere der Blasenstörungen , die zu Cystitis, Pyelitis und Nephritis mit allen
ihren Complicationen führt, dann wegen der grossen Häufigkeit des Decubitus,
zu dem sowohl die Blasenstörung, wie schwerere Hautnnästhcsien beitragen, liegen
prognostisch die Fälle lumbaler Myelitis. Auch wenn das Leben liier erhalten
bleibt, bleibt die Lähmung eine schlaffe und damit fehlt jede Möglichkeit, dass
Patient wieder auf die Beine kommt. Am gefährlichsten aber ist die Myelitis,
wenn sie das obere Halsmark ergreift, weil sie hier durch Zerstörung der Kerne
des Phrenieus, nachdem bei totaler Querläsion schon die übrigen, unterhalb der
Läsion liegenden Ccntren für die Athemrnusculatur, speciell für die lntercestale*
ausser Function gesetzt sind, in kurzer Zeit töfitlich wirken muss. Bessert sich
die Myelitis des Halsmnrkcs, so bleibt ausser einer spastischen Parese eine meist
schlaffe und atrophische Lähmung der Arme bestehen, die natürlich die Arbeits-
fähigkeit sehr beeinträchtigt.
Selbstverständlich wird auch die Verschiedenheit der ätiologischen Momente
eine Rolle bei der Prognose spielen. OPPENHEIM10) hält speciell die Fälle mit
klarer infectiöser Aetiologie für prognostisch günstiger als die mit unklarer Ur-
sache und ich glaube, dieselbe Erfahrung gemacht zu haben. Als besonders günstig
hebt Oppenheim die gonorrhoische Myelitis hervor — hier haudelt es sich meist
um eine Meningomyelitis mit nur geringer Betheiligung des Markes, ferner Fälle,
bei denen sich neben myelitischen deutliche neuritische Symptome finden: anderer-
seits weist er auf die schlechten Aussichten der Myelitis hei Tuberkulose, im
Puerperium und bei Sepsis hin. Es ist jedenfalls sehr wohl verständlich . dass
ebenso wie die hier in Betracht kommenden Infectionen und Intoxicationen sich
in Bezug auf ihre Gefährlichkeit im Allgemeinen sehr verschieden verhalten —
man denke z. B. nur an die Unterschiede , die in dieser Beziehung zwischen
Masern und Scharlach bestehen — , ebenso auch die von ihnen abhängigen
Myelitisformen in einem Falle eine viel günstigere Prognose bieten können wie
im anderen. Natürlich kann es nicht allein auf die Schwere des Krankheits-
giftes ankommen, immer ist daneben die Ausdehnung desselben im Mark und der
speciellc Sitz der Aflection zu berücksichtigen. Da die von Oppenheim als pro-
gnostisch relativ günstig erkannten Combinationen von Neuritis und Myelitis sich
durch das Vorhandensein lebhafter Reizerseheinnng-eu und speciell von Schmerzen
der reinen Myelitis gegenüber auszeichnen werden, so kann rein praktisch auch
der Satz aufgestcllt werden , dass das Vorhandensein lebhafter Schmerzen bei
einer Myelitis prognostisch ein gutes Zeichen ist. Da die betreffenden Schmerzen
auf der complicirenden Neuritis beruhen, gerade die Neuritis aber besonders
häufig eine klare infectiöse Aetiologie hat , so hängt die gute Proguose dieser
Fälle wohl mit der besseren Aussicht bei infectiösen Myelitiden überhaupt
zusammen.
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Es braucht schliesslich wohl kaum gesagt zu werden, dass bei Stellung
der Prognose auch auf den Kräftezustand des Patienten Rücksicht genommen
werden muss, ebenso wie auf sein Alter und die ihm zuthcil werdende Pflege.
Diese Umstände kommen vor Allem in Betracht, wenn das erste schwere Stadium
der beginnenden Erkrankung vorüber ist und das zweite Stadium der Dauer-
symptome und der mehr weniger weitgehenden Hcconvalescenz eintritt , in dem
es sich im günstigsten Falle doch noch um ein langes und schweres Kranken-
lager handelt. In dieser Zeit sind auch die Complieationen von der grössten
Bedeutung — vor Allem die Blasenstörungen und die von ihnen ausgehenden
Nierenaffectionen oder Phlegmonen des pcrivesicalen Bindegewebes, ferner der
Decubitus, dessen In- und Extensität wesentlich auch von der Pflege abhängt.
Die Prognose der chronischen Myelitis ist eine schlechtere als die
der acuten, weil der Process hier zwar langsam, aber meist unaufhaltsam weiter-
schreitet und schliesslich doch das Ergreifen lebenswichtiger Centren durch
Complieationen oder allgemeinen Marasmus zum Tode führt; doch soll nicht ge-
leugnet werden , dass auch hier Stillstände Vorkommen können , meist allerdings
nur für einige Zeit. Bleibt die Krankheit wirklich auf die Dauer stehen , so
richtet sich die Prognose natürlich nach den vorhandenen Symptomen und ihrer
grösseren oder geringeren Gefährlichkeit. Ausgänge in Heilung müssen immer
den Verdacht auf eine falsche Diagnose nahelegen ; vor Allem kommt hier Auf-
hören der Compression bei geheilter Wirbelsäuletuberkulosc oder auch Neuritis
multiplex in Betracht.
Die Prognose der disseminirten Encephalomyelitis ist bei weitem gün-
stiger als die der anderen Myelitisformen. Der Tod erfolgt hier relativ selten
und daun meist im ersten, diagnostisch unklaren Stadium ; volle Heilung ist
häufig, und wenn sie auch nicht ganz vollkommen ist, so erreicht die Besserung
doch meist einen ziemlich hohen Grad. Auch hier wird die Prognose, zum Thcil
wohl von der Schwere des Kraukheitsgiftes abhängen , so sah ich volle Heilung
in je einem Falle nach Varicellen und Keuchhusten , partielle nach Scharlach ;
aber natürlich kommt auch die Ausdehnung der Krankheit in Betracht. Gehen
wirklich manche dieser Fälle später in multiple Sklerose über, so wird ihre
Prognose natürlich wesentlich trüber.
Therapie. Die Behandlung der acuten transversalen Myelitis
zerfallt naturgemäss in zwei scharf von einander zu trennende Abschnitte : 1. in
die Behandlung des Entwicklungs- und Möhestadinms der Erkrankung — 2. in
die Periode der iteconvalescenz und der dauernden Krankheitsrückstände. Da
die Therapie dieses 2. Stadiums der acuten Myelitis sich nicht wesentlich von
der unterscheidet, die man auch bei den von vornherein chronisch verlaufenden
Myelitisfällen anwendet, so soll sie iiu Zusammenhänge bei der Myelitis chronica
besprochen werden; hier kommt also zunächst nur die Behandlung des acuten
primären Stadiums in Betracht.
Viele Autoren — ich nenne hier z. B. Eu»') und auch neuerdings noch
Gowkrs*) haben sich mit der Frage nach der Möglichkeit und Nützlichkeit einer
A ho rt i v be h an d 1 u n g der acuten Myelitis belässt, wenn sie natürlich auch
Beide die zweifelhafte Wirkung dieser Massnahmen voll erkennen. Zunächst kann
von einer Abortivbehandlung natürlich nur in subacut sich entwickelnden Fällen
die Rede sein, nicht in den Fällen acutestcr Myelitis ; hier würde es aber darauf
ankommen, hei den ersten für eine beginnende Myelitis irgendwie verdächtigen
Symptomen mit einer energischen Behandlung einzusetzen. W’cr wird es aber
heutzutage wagen, in solchen Fällen in dieser Zeit schon eine einigermassen sichere
Diagnose zu stellen und wenn die Krankheit nach den therapeutischen Mass-
nahmen einen günstigen Verlauf nimmt, zu behaupten, es handle sich um einen
Heilerfolg bei wirklicher Myelitis? Im Gegentheil wird man heutzutage, und mit
Recht, bei solchem Verlaufe geneigt sein, diese Diagnose auszuschliessen. Wenn
überhaupt, so wird man sich deshalb jedenfalls nur zu unschädlichen und mehr
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MYELITIS.
harmlosen therapeutischen Abortivversuchen herbeilassen; so kann man *. B. wie
Erii und GowEBS fast mit denselben Worten nnrathen , dann , wenn als bio-
logisches Moment eine wirkliche und erhebliche Erkaltung vorzuliegen scheint,
wohl den Versuch einer kräftigen Diaphorese mit heissen Bädern, Einpackungen
und heissen Getränken machen.
Ist das H ö h est a d ium erreicht, so liegt der Kernpunkt der ärztlichen
Tbätigkcit in der Pflege des Kranken, im weitesten Sinne dieses Wortes. Vor Allem
handelt es sich um möglichste Abwendung zweier grosser Gefahren : des Decubitus
und der eiterigen Cystitis. Der Kranke bedarf zunächst unbedingt der Bettruhe
vom ersten Beginne des Leidens an — ist die Krankheit auf ihrem Höhepunkt,
so ergiebt sich die Nothwendigkeit dieser Forderung von selbst — und er soll
so wenig wie möglich in derselben gestört werden , also auch z. B. zur Befrie-
digung seiner Bedürfnisse nicht aus dem Bette gehoben werden. Die Einrichtung
des Lagers selber ist von der grössten Bedeutung — der Kranke liegt jedenfalls
aiu besten von vornherein auf einem grossen Wasserkissen , dieses wieder auf
einer festen Matratze, am besten von Rosshaar; unter das Wasserkissen legt man
noch eine Gummiunterlage, über dasselbe ein leicht zu wechselndes Leintuch.
Wenn es irgend möglich ist, so halte man für einen an Myelitis leidenden Kranken
zwei solche Betten bereit , so dass man ihn bei der Bereitung des einen Bettes
ohne Schwierigkeit in das andere legen kann ; sehr angenehm ist es für den
Kranken auch, wenn er Abends in ein frisches Bett gelegt wird. Die Lage des
Kranken soll eine möglichst wechselnde sein , bald auf der einen, bald auf der
anderen Seite, nicht zu lange auf dem Rücken: ist dem Kranken die Bauchlage
möglich, so so soll auch diese von Zeit zu Zeit eingenommen werden. Schon bei
Anwendung dieser Massnahmen wird man die grösste Gefahr, die dem Kranken
droht — die Entwicklung eines Decubitus — cinschränken , in zweiter Linie
kommt hierfür die grösstmögliche körperliche Sauberkeit in Betracht. Diese wird
nalurgt mäss erschwert durch die bäuligeu BlasenstOrungen , weniger durch die
Lähmung des Sphiiicter ntti , da beide zur Verunreinigung des Bettes und der
Kranken führen. Jedenfalls ist es nötliig, stets genau aufzupassen und sofort nach
geschehener Verunreinigung den Kranken zu säubern und wieder trocken zu
legen; am einfaehsten und sehonendsten für den Kranken erreicht man das, wenn
mau im Krankenzimmer eine Badewanne stehen hat, in die der Kranke hinein-
gelegt und abgewaschen wird, während unterdessen das Bett wieder in Ordnung
gebracht wird. Im Uebrigen kann man die Verunreinigung der Kranken in vielen
Fällen auch in gewissen Grenzen halten — bei Lähmung des U^trusor vtr'ea ’
gilt es, zur rechten Zeit zu katlieterisiren ; ebenso aber auch beim Harnträufeln,
da in diesen Fällen, und nicht nur bei der eigentlichen Ischuria pavadoxa, sich
meist ein gewisses Quantum Harn in der Blase befindet, nach dessen Entleerung
das Haniträufeln für einige Zeit aufhört. Genügt die Elastieität der Sphinktercn
nicht mehr, um auch nur eine kleine l’rinmenge in der Blase zurüekzulialten,
so kann man hei Mäuncrn wenigstens einer steten Einnässung durch geeignete
Urinare Vorbeugen, man muss dann aber darauf Acht geben, dass nicht an
dem immer anästhetischen Penis durch Auflagerung auf der Flasche Entzündung
und Decubitus — sehr häufig ist auch Ocdem des Präputiums — entstehen.
Am besten lagert man, um das zu verhindern, die Glaus ptnis auf einen
Wattebausch, den inan häufig erneuert. Bei Frauen legt man unter gleichen Im-
ständen am besten grosse häufig zu wechselnde Wattebäusche oder Mooskissen
zwischen die Beine.
Mit den Verunreinigungen durch Koth hat man itn Allgemeinen weniger
Schwierigkeit, da der Stuhl meist angehalten und sehr trocken ist; nicht selten
muss man überhaupt für jede Stuhlentleerung künstliche Hilfe anwenden; am
besten sind Clysmata oder manuelle Entfernung des Kothes.
Sehr beliebt sind im Publicum auch Waschungen des Rückens und
Kreuzes mit Franzbranntwein; da sie jedenfalls nichts schaden, so wird man
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MYELITIS.
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nichts dagegen haben, nur darf man dabei anch Waschungen mit Seife nicht
vergessen.
Ist trotz aller dieser Yorsichtsmassregeln dennoch Decubitus eingetreten,
so muss mau sofort eine energische Wundbehandlung eintreten lassen. Die Druck-
stelle muss mehrmals täglich verbunden werden ; am besten so lange die nekro-
tischen Theile sich nicht ganz losgestossen haben, mit Bor- oder Jodoformsalbe;
später, wenn eine gut grauulirende Wundtiäche vorhanden ist, nimmt man statt
dessen gern Argentum nj’tr/cum-Salbc. Ist man sorgfältig, so erreicht man auf
diese Weise nicht so selten eine Heilung des Decubitus, kann aber jedenfalls seine
Ausbreitung sehr aufhalten. Schwere Fälle von Decubitus mit Blosslegung der
Knochen oder gar mit Eröffnung der Wirbelsäule erlebt man dann kaum.
Eine sorgfältige Ueberwachung der Urinentleerung ist auch die erste
Bedingung, wenn man eine Entzündung der Blase mit allen ihren Folgen
(Nephritis, Urämie) vermeiden will. Lässt man einen Kranken mit Harnträufeln
ganz in Buhe, so tritt die Cystitis unfehlbar sehr bald ein. Es muss also sowohl
bei diesen Kranken als bei denen mit Detrusorschwäche eine künstliche Ent-
leerung der Blase platzgreifen. Gewöhnlich hat das mittels des Katheters zu ge-
schehen. Eine peinliche Sauberhaltung der betreffenden Instrumente ist unbe-
dingte Nothwendigkeit. Aber auch wenn man diese einhält, ist wenigstens nach
meinen Erfahrungen, bei etwas länger andauernder Blasenlähmung, wenn man
katheterisiren muss, die Cystitis selten zu vermeiden. Es wird deshalb jedenfalls gut
sein, in den Fällen sogenannter ausdrückbarer Blase — meist handelt es sich um
Lendenmarkmyelitis — von dem Katheterismus abzusehen und die Blase durch Druck
auf ihren Fundus zu entleeren.
Ist eine Cystitis eingetreten, so sucht man sie durch autiseptische Blasen-
ausspfllungen zu heilen oder in Schranken zu halten. Auch giebt man dann gern
reichlich Getränke, vor Allem Wildunger oder Vichy- Brunnen. Freilich ist die
dadurch vermehrte Urinmenge für die sonstige Pflege des Kranken nicht gerade
angenehm.
Die Ernährung soll im Allgemeinen eine kräftige sein und vielleicht
etwas Bucksicht darauf nehmen, dass der Kranke meist obstipirt ist; besondere
Diätvorschriften sind nicht nöthig. Schon wegen der möglichen Reizung der
Blascnschleimhaut sind starke Gewürze, Bier und Wein zu widerrathon.
Was die mehr activen therapeutischen Methoden bei der acuten Myelitis
anbetrifft, so gilt hier noch mehr wie sonst das Nil noccre. Man hat früher
besonders von französischer Seite einer energischen Antiphlogose durch Blutent-
ziehnng, Auflegen von Eisblasen auf den Rücken, den sogenannten Chapmax-
schen Eisbeutel, Einreibung von grauer Salbe, Anwendung von Vesicnntien oder
gar energischer Application des Glüheisens das Wort geredet. Auch Erb ist für
diese Behandlungsmethoden noch sehr eingenommen, obgleich er ihre Gefahren
natürlich erkennt. Man hat jetzt wohl eingesehen, dass die Wirkung dieser Mittel
eine sehr problematische ist und man muss meines Erachtens auf jeden Fall
von all den energischen Mitteln absehen, die die Gefahr eines Decubitus geradezu
heraufbeschwören — daher gehören stärkere Blutentziehungen, Vesicantien und
vor Allem das Ferrum candens , vielleicht auch auf allzu energische Einpinselungen
mit Tinctura Jodi. Am wenigsten lässt sich jedenfalls gegen die Einreibungen
mit grauer Salbe sagen, und man wird dieselbe besonders in denjenigen Fällen
ansführen, bei denen die Möglichkeit einer luetischen Erkrankung, speciell einer
A/eningomytlitis syphilitica vorliegt, die ja nur selten mit Sicherheit auszu-
schlitsscn ist. Oppenheim8) räth in Fällen mit sicher infcctiöser Aetiologie zur
Anwendung diaphoretischer Methoden — speciell zu Einpackungen — ein Vor-
schlag, der auch theoretisch begründet ist, seitdem wir sicher wissen, dass
Krankheitsgifte mit dem Schweisse ausgeschieden werden. Eine energische
Ableitung auf den Darm würde ich jedenfalls bei Mastdarmlähmung lieber
vermeiden.
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Von medicamentösen Mitteln ist im Allgemeinen nicht viel zu erwarten.
Hat man keine bestimmten Indicationen, so lässt man sie am besten ganz fort.
Hei der geringsten Möglichkeit einer Lues ist natürlich der innere Gebrauch von
Jodkali indirect — man sei sich dabei aber wohl bewusst, dass die meisten
Fälle sogenannter syphilitischer Myelitis auf thrombotischer Myelomalacie bernhen
und bei ihnen also eine eigentliche Heilwirkung auf die vorliegenden Läsionen
des Jod und Hg nicht in Betracht kommt — höchstens eine Hinderung des Furt-
sebreitens der Gefässerkrankung. Oppknhkim empfiehlt auch noch die Salicyl-
prä parate und in den mit Malaria zusammenhängenden Fällen natürlich Chinin.
Sehr günstig wirken auch, abgesehen von ihrer reinigenden Kraft, warme
Bäder — heisse sind zu vermeiden und Dampfbäder sind direct gefährlich. Die
elektrische Behandlung ist, itn acuten Stadinm wenigstens, eine
unnütze Quälerei.
Symptomatisch muss man manchmal gegen die Schmerzen Vorgehen,
liier ist Morphium noch immer das beste Mittel. Sehr lästig, aber schwer zu
bekämpfen sind oft die unwillkürlichen Muskelzuckungen, Oppenheim empfiehlt
warme Bäder. Bei hartnäckiger Schlaflosigkeit sind auch Hvpnotica nicht zu
entbehren.
Wenn schon bei der acuten Myelitis unsere therapeutischen Krfolge im
Ganzen sehr geringe sind — glückliche Ausgänge sind selten, und wo sie ein-
treten, sind sic jedenfalls mehr der tos medicalrix naturae als unserem thera-
peutischen Handeln auf's Conto zu schreiben, welches letztere meist zufrieden
sein muss, den Kranken in die für die Naturheilung günstigste Lage zu bringen
und Schädlichkeiten von ihm fcrnzuhalten , bo gilt das alles noch mehr für die
sogenannte chronische Myelitis. Hier ist selbst ein Stillstand des Leidens
ein seltenes Ereiguiss, eine Heilung muss dringend dazu auffordern, die Diagnose
zu revidiren. Was will man hier also therapeutisch Grosses erreichen ? Dennoch
ist es natürlich auch hier unsere Pflicht, alles anzuwenden, was dem Kranken
irgendwelche Erleichterung in seinem Leiden verschaffen kann und vor Allem
auf keine Massnahme zu verzichten, von der man sich auch nur entfernt einen
günstigen Einfluss auf die Krankheit versprechen kann. Für die chronische
Myelitis — und zwar sowohl für die primär chronische, wie für die chronischen
Ausgänge der acuten, kommen vor allen Dingen dreierlei therapeutische Methoden
in Betracht — die Balneotherapie, die Hydrotherapie im engeren Sinne und die
Elektrotherapie — im Anschluss an letztere vielleicht auch noch Massage nnd
Gymnastik. Ich habe oben schon darauf hingewiesen, dass dieselben Massnahmen
auch im Reconvalesecnzstadium der acuten Myelitis zur Anwendung kommen nnd
der Credit, den sie bei der Behandlung der Myelitis gemessen, ist wohl haupt-
sächlich auf die Erfolge in diesen Fällen gegründet, die an und für sich schon
eine Tendenz zu weitgehender Besserung haben. Ueber die Balneotherapie der
Myelitis hat Erb17) wohl die genauesten und am meisten kritischeu Angaben
gemacht, die neuere Zeit kann dem nichts hinzufügen ; ich schöpfe die nach-
stehenden Angaben ganz aus seinem Lehrbuelie. Zu dem Gebrauche indifferenter
Thermen ist im Allgemeinen hei der Myelitis nicht zu ratlien, höhere Tempera-
turen sind direct gefährlich, namentlich sollen sie in frischeren Fällen vermieden
werden und bei allen chronischen Formen, die Neigung zu Exacerbationen haben.
Sehr viel günstiger sind die Erfolge der kohlensäurehaltigcn Soolbäder, von denen
in Deutschland Oeynhausen und Nauheim zu nennen sind — aueli hier ist vor
extremen Temperaturen, zu langer Dauer der Bäder und zu grossem COa-Ge-
halt zu warnen. Zur Empfehlung der Seebäder wird man sich nur sehr selten
bei weit fortgeschrittener Besserung und bei sehr kräftigen Individuen entsehliessen.
Sehr günstig urtheilt Erb über die hydrotherapeutische Behandlung. Selbstver-
ständlich sind hier die milden Massuahmen die besten — vor Allem einfache
Einpackungen, Abwaschungen, warme Douchen, Halb- und Sitzbäder; starke
Kältegrade, zu kräftige Douchen, zu lange Dauer der einzelnen Applicationen
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ist zu vermeiden; wichtig ist auch der Rath, eine Wassercur nicht zu
lange auszudehnen. Neben der eigentlichen Cur kommt wohl die Steigerung
des Appetites und der Aufenthalt in guter Luft sehr in Betracht. Dampfbäder
halte ich nach einer eigenen sehr unangenehmen Erfahrung — der betreffende
Patient hatte sie sich selbst verordnet — fUr direct gefährlich.
Sehr Übertrieben waren bis vor Kurzem die auf die Elektrotherapie ge-
setzten Hoffnungen. Heutzutage werden wohl auch die glücklichsten Elektrothera-
peuten nicht mehr an einen directen Einfluss der Elektrieität auf den Krank-
heitsprocess im Rtlckenmarke glauben. Dennoch ist gerade die directe Galvanisation
der Wirbelsäule, wenn überhaupt elektrisirt werden soll, noch die beste, weil
jedenfalls unschädlichste Methode. Vor einer directen Galvanisation, resp. Fara-
disation der gelähmten Glieder in Fällen mit erhöhtem Muskeltonus ist zu warnen,
da jedenfalls Reflexzuckungen auf diese Weise ausgelöst werden — Oppenheim
weist auch auf die Gefahren der Galvanisation an anästhetischen Köpertheilen
hin. Erlaubt ist eine directe elektrische Behandlung der gelähmten Muskeln bei
schlaffer Paraplegie — aber auch hier wird der Heilerfolg wesentlich von der
Intensität und Ausdehnung des entzündlichen Processes im Lendenmarke ab-
hängen und wahrscheinlich hauptsächlich der vis medicatrix naturae zuzuschreiben
sein. Manchmal sieht man gute Erfolge von einer directen galvanischen Behand-
lung der gelähmten Blase — hier sind kräftige Ströme mit Unterbrechungen
anzu wenden.
Tritt eine wesentliche Besserung ein, so dass der Patient wieder anfangen
kann, seine Beine zu gebrauchen — meist handelt es sich in diesen Fällen um
sogenannte spastische Parese nach Myelitis dorsal is — so tritt auch die Massage
und leichte gymnastische Proceduren in ihre Reihe. Beides muss mit grosser
Vorsicht und streng individualisircnd geübt werden, jede Ermüdung ist zu ver-
meiden ; die beste und dem Krauken auch psychisch am meisten zusagende
Gymnastik sind Spaziergänge mit häutigem Niedersetzen.
Eigentliche specifische Medieameute kann man bei der chronischen Myelitis
nicht empfehlen. Am ersten wäre noch ein Versuch mit Argentum nitrieum
zu machen, natürlich ist unter Umständen 11g oder Jod anzuwenden. Im Reeon-
valescenzstadium der acuten Myelitis sind Tonica am Platze — Eisen , Chinin,
Leberthrau, vielleicht Arsen. Zu dieser roborirenden Behandlung gehört auch
kräftige, aber einfache und leicht verdauliche Kost und viel Aufenthalt in frischer
und reiner Luft, schliesslich auch Bewegung im Freien.
Die Behandlung etwaiger Complieationen, so des Decubitus und der
Cystitis, ist hier natürlich dieselbe wie bei der acuten Myelitis. Mit der Anwen-
dung des Morphium gegen die Schmerzen muss man, was leicht einzusehen, in
chronischen Fällen zurückhaltender sein.
Bei der Encepkalomyelilis disseminata kommt im acuten Stadium, ab-
gesehen etwa von Diaphorese, vor Allem auch die sorgfältigste Pflege in Be-
tracht. Erschwert wird diese manchmal durch die heftigen Delirien des Kranken;
ferner dadurch, dass derselbe sich durch seine choreatischen Bewegungen Ver-
letzungen zuzicht — schliesslich unter Umständen durch Schlinglähmung. Seltener
tritt hier, da Anästhesien fehlen, Decubitus ein. Später kann man in Fällen mit
rasch günstigem Verlaufe überhaupt nichts mehr thuu, in anderen Fällen nichts
anderes als bei den übrigen Myelitisformen.
Literaturgeschichte. 1 ) Ollivier, Traiti des malatlies de 1a tnotlle rpimhe.
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MYELITIS.
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MYELITIS.
499
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reparatori sehen Vorgänge bei der Heilung von Verletzungen des Rückenmarkes etc. Habili-
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pag. 151. — T1) Vulpian, Arch. de physiol. 1869, II, pag. 279. — 73) v. Strümpell,
Ueber einen Fall primärer systematischer Degeneration der Pyramidenbahnen mit den Sym-
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Nervenkh. XXVI. pag. 381. L. Bruns.
32*
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N.
Nasenscheidewand-Verkrümmungen. l'eber ihre Ursachen gehen
die Meinungen immer noch auseinander. Jedoch darf man wohl als allgemein
giltig annehmen, dass hauptsächlich zwei verschiedene Ursachen, jede für sich
oder beide zusammen vorliegen können. Die eine beruht auf Vererbung, die
andere auf äusseren Einflüssen. Jene äussert sich mehr in Schiefstellung, diese
mehr in Knollen-, Höcker- und Leistenhildung der Scheidewand. Mit der Schief-
stellung aber ist immer auch eine Verkrümmung, beziehungsweise eine Aus-
bauchung verknüpft. Mit derartigen Veränderungen ist ausnahmslos eine l'n-
gleichmässigkeit in der Entwicklung beider Schädelhälften — der engeren
Nasenseite entspricht fast stets auch engerer Gehörgang — verbunden. Diese
Ungleichmüssigkeit ist übrigens bereits im Alterthume bekannt gewesen: denn an
den Bildwerken jener Zeit ist sie nachweisbar, ein Umstand, der auf eine scharfe
Beobachtung und vollendete Künstlerschaft jener alten Meister schliessen lässt.
Es ist zweifellos richtig, wenn Potiqüet sagt, dass die Gleich raässigkeit in der
Entwicklung der beiden Kopfhälften, beziehungsweise beider Körperhälften umso
unvollkommener sei, je höher die Culturstufe, auf der ein Mensch oder ein Volk
stehe, sich darstelle. Ursprünglich massgebend sind sicherlich äussere Einflüsse,
durch welche die Nasenscheidewaud ihre gerade Stellung und Gestalt einbtisste,
gewesen. Solche Einflüsse können umso stärker an der Nase sich geltend machen,
je mehr diese aus der Gesichtsebene hervortritt. Bei den Menschen höherer Cultur
sind aber auch die Kinder weniger geschickt heim Gehenlernen ; auch tritt dieses
später als bei sogenannten Naturvölkern ein. Auch heutzutage giebt das Gehen-
lernen noch die allerhüutigste Ursache für eine Verkrümmung der Nasenscheide-
wand ab. Der Fall auf die Nase bei den ersten Gehversuchen ist so häufig, das
Nasenbluten dabei, wenn auch noch so bescheidener Art, so bekannt, dass man
sich wundern muss, wie man so lauge Jahre diese häufigste Ursache hat über-
sehen und verkennen können. Zu den äusseren Einflüssen zählt auch die Ver-
stopfung des Nasenluftweges innerhalb des Nasenrachenraumes infolge von hoch-
gradig vergrösserter Rachenmandel. Infolge dieser Erkrankung fehlt während
der Entwicklungszeit der Nase der flir diese sehr w ichtige, durch den Athmungs-
strom bedingte Luftdruck. Der harte Gaumen wölbt sich unverhältnissmässig stark
nach oben , verkleinert damit die Höhe der knöchernen Nasenscheidewand and
bewirkt, wenn nicht noch andere Ursachen mitwirken, lediglich im knorpelige#
Theile einfache oder S-förmige Verbiegungen , da der Knorpel stärker als der
Knochen wächst.
Die Knollen-, Höcker- und Leistenbildung dürfte in der grossen Mehr-
zahl der Fülle auf äussere Gewalt zurfickzuflihren sein. Ganz besonders wird
dies von denen, die nahe dem Nasenbodeu sitzen, angenommen werden müssen;
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NASENSCHEIDEWAND-VERKRÜMMÜNGEN.
501
denn hier ist fast immer eine Verlagerung des unteren Randes der Scheidewand
zn erkennen. Die in der Richtung von vorne unten nach hinten oben, entlang
der Naht zwischen Pflugscharbein nnd knorpeliger Scheidewand, beziehungsweise
senkrechter Siebbeinplatte so häufig verlaufende Leiste ist stets mit einer mehr
oder minder deutlichen Knickung der Scheidewand verknüpft.
Von den krankhaften Erscheinungen , welche die Verkrümmungen der
Nasenscheidewand begleiten können, ist neben der Verlegung des Nasenluftweges
in den letzten Jahren besonders dem Kopfschmerz grössere Aufmerksamkeit
geschenkt worden. Es ist sehr wichtig, bei Kopfschmerz die Nase sorgfältig mit
Sonde und Cocain nicht blos auf Schleimhautschwellung nnd -Röthe, sondern auch
anf beengende Verkrümmungen der Nasenseheidewand zu untersuchen.
Zur Behandlung hat man in letzter Zeit vielfach der Elektrolyse sich
bedient. Dieses Mittel vermag bei richtiger Anwendung auch vortreffliche Wir-
kung zu erzielen. Es ist auch in allen Fällen, in denen weder der Brenner, noch
blutige Verfahrungswcisen aus besonderen Gründen angewendet werden können
oder dürfen, zu benutzen. Denn auch der Knochen wird, wenn auch sehr lang-
sam, durch die Elektrolyse zerstört; das Verfahren ist überhaupt ein sehr lang-
sam wirkendes, dafür aber auch ohne jede unangenehme Nebenwirkung. Wenn
die Umstände ein schnelles Verfahren zulassen, so sind natürlich die blutigen
Behandlungsweisen vorzuziehen , wenigstens was den Knochen anbclangt. Der
Knorpel wird zwar auch durch die Elektrolyse sehr rasch zerstört, aber immer-
hin nicht so rasch wie durch die elektrische Glühhitze , den Brenner. Freilich
trifft man in der Tiefe nicht selten auf Knochenkeme, die dem Brenner Wider-
stand leisten ; sie werden am raschesten mit dem Meissei beseitigt; Sägen nnd
Feilen sind an solchen Stellen nicht anwendbar. Für stark hervortretende Höcker
und Leisten sind die Sägen ja manchmal ganz brauchbar, wie für erstere sich
auch die Feile eignet, allein rascher kommt man in diesen Fällen mit dem Meissei,
insbesondere mit dem elektrisch betriebenen zum Ziele. Die auf gleiche Weise
oder mittels der Tretmaschine der Zahnärzte in Thätigkeit gesetzten Trephinen
vermögen zwar auch jedes Hinderniss in der Nase zu beseitigen , allein auf
Kosten des Abschlusses beider Nasenhälften von einander. Die dabei stattfindende
Durchlöcherung der Nasenscheidewand ist doch von erheblicherer Bedeutung, als
man in neuerer Zeit im Hinblicke auf die Anwendung der Trephinen darzustellen
liebt. Das Schneuzeu der Nase ist je nach der Grösse des Loches in der Scheide-
wand mehr oder weniger bedeutend erschwert; auch giebt es nicht wenige Fälle, in
welchen das Hinderniss in der Hintcrnasc nicht vollständig beseitigt ist, während
der Kranke sich im Glauben befindet, es sei dies der Fall, da er ja infolge des
in die Scheidewand gebohrten Loches durch beide Nasenlöcher zu athmen vermag.
Bei sorgfältiger Handhabung des elektrisch betriebenen und bei einiger Geschick-
lichkeit und Uebung in der Führung des Haudmeissels ist eine Durchlöcherung
der Scheidewand ganz ausgeschlossen. Hat man von der letzteren so viel ent-
fernt, als, ohne sie zu durchlöchern, nöthig ist nnd genügt der hergestellte Weg
dennoch nicht zur Athmung, so ist es leicht, dieses Ziel zu erreichen, indem
man von der unteren Nasenmuschel mit dem Meissei so viel wegnimmt, als nöthig
ist. Mit dem elektrisch betriebenen Meisscl ist dies eine ganz ausserordentlich
leichte und rasch ausgeführte Operation. Die entstehende Blutung wird leicht
durch 24stündige Ausstopfung der Nase mit Watterollen (von vorne her) gestillt.
Die Nachbehandlung ist die von mir schon wiederholt beschriebene.
Von grosser Wichtigkeit ist die Behandlung frisch entstandener Ver-
letzungen der Nasenscheidewand. Dadurch, dass diese gemeinhin noch gar nicht
allgemein beachtet werden , entstehen gerade die ungemein hochgradigen Ver-
engerungen der Nase, mit deren Beseitigung man später so sehr viel Mühe hat.
Kinder, welche gehen zu lernen im Begriffe sind, sollten auch bei der geringsten
Blutung aus der Nase, selbst wenn ihr Fall auf die Nase nicht beobachtet wurde,
untersucht werden; immer muss dies aber geschehen, sobald das Kind auf die
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502
NASENSCHEIDEWAND- VERKRÜMMUNGEN. — NATURHEILKUNDE.
Nase gefallen ist, auch wenn keine Blutung stattgefunden hat. Das Gleiche gilt
von Schlag, Stoss u. dergl. auf die Nase. Durch Einlegen von Watterollen kann
die gebrochene, geknickte oder sonstwie aus ihrer Richtung gebrachte Nasen
Scheidewand in wenigen Tagen wieder hergestellt werden. Geschieht aber, wie
noch allgemein üblich , nichts , so werden den Betroffenen leicht Jahre ihres
Lebens durch Verstopfung ihrer Nase, durch Kopfschmerzen u. dergl. m. vergällt
Literatur: J. Bergonie und E. J. Monre, Ueber die elektrische Behandlong
von Verbiegungen und Vorsprüngen der Nasenscheidewand. Paris 1892. Doin ; Bericht in der
Deutschen Med.-Ztg. 1893, Nr. 52, pag. 577. — M. Bresgen. Der Kopfschmerz bei Nasen*
und Rachenleiden und dessen Heilung. Unter besonderer Berücksichtigung der angeborenen and
erworbenen Unregelmässigkeiten der Nasenscheidewand. 1. u. 2. Anti., Leipzig 1894. Langkatnmer.
— M. Bresgen, Die Anwendung der Elektrolyse bei Verkrümmungen und Verdickungen der
Nasenseheidewand sowie bei Schwellung der Nasenschleimhaut Wiener med. Wochenschr. 1894.
Nr. 46f S.*A. — K. Hess, Zur Anwendung der Elektrolyse bei Leisten nnd Verbiegungen des
Septum narium. Münchener med. Wochenschr. 1894, Nr. 39, S.-A. — H. Iben, Ueber die
Missbildungen der knöchernen Nasenscheidewand. Dissert. Kiel 18m. — K ret schniann,
Ueber die Behandlung von Nasenschcidcwand-Verbiegungen mit der Trephine. Arch. f. Laryngol.
1895, II, 3. II. — Ed. Meyer, Die elektrolytische Behandlung der Leisten des Septum
narium. Deutsche med. Wochenschr. 1893, Nr. 22. S.-A. — Potiquet, Etüde critique tur
V Ätiologie de« diviations de tu clotson nasale. Med. mod. 1892; Bericht in Semon’s CentradbL
1893/'.»4, X, Nr. 4, pag- 172. — E. Rosen fei d, Beitrag zur Casuistik der nasalen Stenosen.
Dissert. Würzburg 1894. — W. Sc heppegrell, Deform itie * of the nasal septum and their
inßuence in diseases of the ear and throat. New' Orleans med. and surg. Journ. 1893,
S.-A. — M. Schmidt, Behandlung der Verbiegungen nnd Auswüchse der Na sensc heidewand
durch Elektrolyse. Verhandl. d. Congr. f. innere Med. 1893. S.-A. — G. Spiess, Zur Behand-
lung der Verbiegungen der Nasenscheidewand. Arch. f. Larvngol. 1894, I, 3. H., S.-A. —
E. Winckler, Zur Oberkiefer Missbildung bei behinderter Nasenathmung. Wiener med.
Wochenschr. 1895, Nr. 9. 10, S.-A. — Ziem. Zur Behandlung der Verbiegungen der Nasen-
scheidewand. Monatsschr. f. Ohrenhk 1894, Nr. 7 , S.-A. — Ein ausführlicheres Schriften-
verzeichnis« findet sich in meiner ,, Krankheit.«- und Behandlungslehre der Nasen-, Mund- and
Kachenböhle. sowie des Kehlkopfes nnd der Luftröhre“, 3. Aufl., Wien u. Leipzig 189*), Urban
u. Schwarzenberg, llaximilian Bresgen.
Natriumsulfit, Natriumaldehydsulfit, bei C'arbolvergiftuug. pag. 69-
Naturheilkunde , Naturheilverfahren.* i Gesundheitsstörungen dem
Leben des Einzelnen fern zu halten , den allgemeinen Wohlstand zu sichern,
gemeinschaftlichen Betrieben diejenige Zuverlässigkeit zu Grunde zu legen, welche
bei häufigen Erkrankungen nicht möglich ist : ist das Ziel einer vernünftigen
Prophylaxe, jeder Gesundheitspflege, der modernen Krankbeitsverhütang.
Der Gedanke: „Wenn Krankheiten vermeidbar sind, warum vermeidet
man sie nicht V“ war populär, ehe er ausgesprochen wurde : er lag in der Luft
und musste Schule machen, ln der Gesundheitspflege , der Hygiene, muss die
Heilkunde unserer Zeit die Wurzeln ihrer Kraft, ihre Volkstümlichkeit suchen;
die Vermeidung voraussichtlicher Schädigungen sollte ein Gegenstand der Unter-
weisung aller Gefährdeten sein. Daneben sind für Jedermann die Heilmittel der
Natur: I.uft, Sonnenlicht, Wasser, Körperbewegung, die Stoffe zu einer einfachen
Ernährung (mit Ausschluss der Nahrungsgifte) zur Hand. Arzneiliche Gifte aber
hat Niemand — von Notfällen abgesehen — nötig sieh einzuverleiben.
Ueber diese Wünsche und Ziele könnte die Volksmediciu, die Natur-
heilkunde, sieb mit der Scbulmedieiu , der wissenschaftlichen Heilkunde, an-
scheinend ohne grosse Schwierigkeiten einigen. Die Entwicklung des Thatsäch-
lichen in der Wirklichkeit hat zwischen der einen und der anderen Kiehtung
des Heilverfahrens einen gauz anderen Verlauf genommen — den eines förm-
lichen Kampfes. Zwar ist die einfache Naturbeobachtung von jeher die festeste
Grundlage für medicinisches Fortschreiten und für ärztliches Können gewesen.
Allein die hippokratische Beobaclitmigsmetliode, die unbefangene klinische For-
schungsweise genügen dem modernen Arzt nicht mehr. Insbesondere das Specia-
*) Eine der letzten Arbeiten des leider zu früh für die Wissenschaft und die ärztlich«
und sanitären Interessen ans dem Ia*ben geschiedenen Verfassers. Die Kerl.
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NATURHEILRUNDE.
m
listenthum mit seiner immer mannigfaltigeren Arbeitsteilung, ans welcher sich
gar zu bereitwillig der therapeutische Speeialist entwickelt, die Suche nach aller-
neuesten Heilmitteln, der sich der Familienarzt auch kaum zu entziehen vermag,
eine ungesunde Pharmakopkilie und therapeutische Vielgeschäftigkeit •) haben
anscheinend dem wissenschaftlich gebildeten Arzt den gesunden Boden der Natur-
beobachtnng etwas entrückt und ihn mit einem Arsenal kostspieliger und doch
noch dem Versuch unterliegender Medicamente umgeben.
Dagegen bäumt sich ein therapeutisches Pfuscherthum mit seinem Hinter-
halt an Heilinstituten, Sanatorien, Curorten J), Privatkranken- und diätetischen
„Anstalten“ auf: als eine naheliegende und begreifliche Reaction gegen die Viel-
geschäftigkeit mit „Heilmitteln“ ist in vielen tausend Halbgebildeten (und selbst
Gebildeten) der Gedanke mächtig geworden , sich von „Naturkundigen“ und
„arzneilos“ behandeln zu lassen.
Auf diesen Momenten beruht die immer schroffer sich entwickelnde
Differenz, welche kaum vorübergehend dadurch gemildert schien, dass auch
Aerzte in einseitiger Weise der Massage- und Suggestionstherapie, dem hydiatri-
schem Kleinkram, dem Purgiren mit Thees und Buttermilch das Wort redeten.
Selbst die physiologische Heilmethode ebenso wie die nihilistische und
rationelle Richtung in der Mediein aus der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts
werden von den „Nnturheilkundigen“ unserer Tage ansgenutzt, um die Gegen-
sätze zur Schulmedicin als unüberbrückbar darzustellcn und den pharmakologi-
schen Ballast, das mechanische Receptschreiben , die kurzhändige Anwendung
diätetischer Formeln auf den Kranken möglichst zu disereditiren. *)
Die Frage , wie durch Reformen des ärztlichen Unterrichts den etwa
berechtigten Angriffspunkten der nichtärztlichen Naturkundigen zu Hilfe zu
kommen sei , lässt sich an dieser Stelle nur streifen. Die obligatorische Ein-
führung des 10. Studiensemesters, Ausdehnung des physikalischen und chemischen
Unterrichts auf Kosten der jetzt au Zeit allzu gut bedachten Anatomie , mehr
poliklinische Unterweisung an Stelle der klinischen Paradevorstellungen und
theoretischer Collegia , Richtigstellung der universalen und der gpecialistischen
Bestrebungen unter einander, echtes öpecialisiren auf dem Gebiet des Könnens,
der Kunstfertigkeit, Anschaulichkeit im Ertheilen des pharmakologischen Unter-
richts und für die Pharmakodynamik — das Alles sind vielbesprochene und
mehrfach empfohlene Einzclpuukte der lieraedur. Auch sollte der Studirendc wie
der Arzt auf den Weg geleitet werden, in Form diätetischer und physikalischer,
der Natur und Empirie abgelauschter Heilweisen der allgemeinen Therapie
ihr Feld einzuräumen gegenüber der symptomatischen Behandlung so vieler
Krankheiten mit Einzelmitteln. *)
Zeigt sich durch die bereite und nachdenkliche Erwägung dieser Besse-
rungsgednnken nun aber die Aerztewelt bereit, den Kern der Naturheilkunde zu
Ehren zu bringen , so muss sie umso mehr darauf dringen , dass deren vorge-
schriebene Prätensionen nicht von Dunkelmännern im unlauteren Wettbewerb und
in schamloser Gesetzesverletzung gegen deu mit der Ungunst der Zeit kämpfenden
Arzt nusgenützt werden. Mag man 8emmelweiss oder Jenner, Priessnitz oder
Brkhmeb, ja selbst Hahnemann als Bahnbrecher für die Würdigung der Natur-
heilpotenzen in’s Feld führen, — immer hat es sich dabei doch uin eine durch
Mühe errungene Erwerbung von Können oder Wissen gehandelt. Aber dass der
blosse Verzicht auf Kenntnisse, ein freches Know-nothing-thum neben dem
Schimpfen auf die „Schulmedicin“ das einzige Kennzeichen der unfehlbaren
Naturheilkunde vorstellt, erregt bereits Verdacht. Bei einiger Bekanntschaft mit
den Personen der Naturheilbeflissenen findet sich selten ein Anlass, den gefassten
Verdacht fallen zu lassen, ln vielen Richtungen auseinander gehend , halten sie
sich Alle für Inhaber des einzig wahren Naturheilfactors. Während die Einen
an gewisse mit den erforderlichen Geheimnissen ausgestattete Pflanzensäfte, die
Anderen an das Wasser, Dritte an den unbedingten Einfluss der Nahrung glauben,
NATÜKHEILKÜNDE.
5(14
wollen weitere Gruppen ausschliesslich arzneilos Vorgehen, noch Andere verwerfen
vor Allem die Schutzimpfungen, die Anwendung des Eises etc. ")
Um aber Aerzten, die — glcichgiltig aus welchem Grunde — mit einem
Fuss in der Naturheilkunde stehen, die Machtgebote der Laienkünstler nicht allzu
unbedingt Vorkommen zu lassen, erscheint es von Werth, die Fühlung der „Natur-
ärzte“ und nicht medicinischen Naturheilkünstler mit dem Strafgesetz hier noch
kurz darzulegen.
Zunächst ist selbst nach dem in der deutschen Gewerbeordnung und
ihren reichsgesetzlichen Ergänzungen niedergelegten Recht die Curirfreiheit keine
schrankenlose. Es sei an die Strafen der Curpfu6cherei im Umherzieben, an die
im Impfgesetz vorgesehenen Strafen erinnert. Weitere Beschränkung enthalten die
Gewerbeordnungsparagraphen Uber die Privatkraukenanstalten. Die über Erthci-
lung der Concession ({; 30 der Novelle vom 1. Juli 1883) befindende Behörde
wird immer zu prüfen haben, ob der Unternehmer für den Zweig der Heilkunde,
dem die Anstalt dienen soll, die nöthige Fachbildung besitzt.") Eine Berufung
auf die allgemeine Curirfreiheit giebt es hier nicht. Wiederholt haben iu der
Praxis die Instanzen der Selbstverwaltung und die competenten Behörden aus
der Art sowohl der Krankenuntersuchung als auch des Heilverfahrens auf den
Mangel der medicinischen (ärztlichen) Fachausbildung und damit auf die Unzu-
verlässigkeit des Conccssionsnehmers geschlossen; und dies, trotzdem dem
Pfuscher stets die leichteren Leiden vorgeführt und schon dadurch mit Ijeichtig-
kein anscheinend häufigere Erfolge vorgetäuscht werden. :) So scheint die Zeit
vorüber, in welcher die Naturheilkünstler mit der Statistik ihrer Heilungen, den
Befähigungszeugnissen der ,.Prüfungscommission der Vereine für Gesundheitspflege
und für arzneilose Heilkunde“, der Verdächtigung der ArzneistoflTe, der Gegner-
schaft gegen Bakteriologie und Impfung, der Anklageerhebung gegen „falsche
Lebensweise“ vor den Gerichten Stimmung zu machen und Freisprechungen zu
erzielen verstanden.
Selbst in Sachsen, wo die „Naturheilkunde“ einige Jahre lang beträcht-
liche Vorstüsse zu verzeichnen hatte, sind neuerdings die offenkundigsten Rück-
schläge bemerkbar. H) Das dortige Ministerium des Innern hatte in der Verurd-
orduung vom 24. März 1832 zunächst ausgesprochen, dass unter der im Kranken
casseugesetz bezeichneten „ärztlichen“ Behandlung die durch einen approbirten
Arzt zu verstehen sei, es dagegen als mit den Bestimmungen des Krankenver-
sicherungsgesetzes verträglich bezeichnet, dass Versicherte in einzelnen besonderen
Ausnahmefällen mit Genehmigung des Cassenvorstandes uuter Verzicht auf die
Behandlung durch einen approbirten Arzt an einen Nichtarzt sich wenden und
dass der Krankencasse unverwehrt sein müsse, solchenfalls auch. die Kosten des
Heilverfahrens zu übernehmen. Doch seien auch für diese Fälle gewisse autori-
täre Befugnisse (Zeugnissertheilung, Gutachten Uber die Nothwendigkeit von
Krankenpflege u. s. w.) den approbirten Aerzten ausschliesslich vorzubehalten.
Wenn demgegenüber bei der L.-er Ortskrankencassa es gestattet ist, dass die-
jenigen Cassenmitglieder, welche sich von Nichtärzten behandeln lassen wollen,
sich nach eigenem Ermessen an letztere wenden und die Ausübung der vou der
Casse beabsichtigten ärztlichen Controle dieser Heilbehandlung einfach unterbleibt,
wenn unterlassen wird , den Controlärzten rechtzeitig hievon Mittheilung zu
machen, ganz abgesehen davon, dass auch diese Controle häufig nur dem Namen
nach ausgeübt zu werden scheint: wenn ferner ähnliche Verhältnisse bei den
Ortskrankencassen zu W. bestehen, die Mehrzahl der dortigen Ortskrankencasseu
auch ihren Statuten zuwider die Auszahlung der Krankengelder ohne Einreichung
einer von einem Cassenarzt ausgestellten Bescheinigung der Erwerbsunfähigkeit
vollzogen hat, wenn endlich bis zum Einschreiten der Kreishauptmannschaft Z.
bei verschiedenen Ortskrankencassen ihres Regierungsbezirks sogenannte Natur-
heilkundige thatsäcblich zur unbeschränkten ärztlichen Behandlung erkrankter
Cassenmitglieder zugelassen und als zur Ausstellung cassenärztlicher Zeugnisse
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NATURHEII.KDNDE.
505
befugt angesehen worden sind, so widerspricht ein solches Verfahren den gesetz-
lichen Bestimmungen und den zn deren Ausführung erlassenen Anordnungen in
so offenkundiger Weise, dass die Aufsichtsbehörden, soweit dies nicht bereits
geschehen, anznweisen sein werden, mit allem Ernst diesem unzuverlässigen Ge-
bahren entgegenzutreten.
In dankenswerter Weise schafft endlich ein Endurtheil des Reichsgerichts »)
Klarheit über die Stellung der Naturheilkundigen zu deu §§ 29 und 147, 3 der
Reichsgewerbeordnung vom 21. Juni 1869 und über ihre Anmassung, Titel anzu-
nehmen, wie „praktischer Vertreter der arzneilosen Heilkunde“, „Specialfrauen-
praktiker“, „Mitglied des deutschen Naturärztebundes“, — jeweilig auch ab-
wechselnd mit „der Unterzeichnete behandelnde Arzt“. Von diesen Bezeichnungen
war dann in der Revisionsinstanz behauptet worden, arztähnliche Titel (§ 147, 3)
wären sie nicht. Darüber, dass jede einzelne Bezeichnung den entgegengesetzten
Thatbestand erfülle, liess schon das angegriffene Urtheil keinen Zweifel. Das
Endurtheil führt wörtlich aus:
„Die Behauptung, dass die Bezeichnung .praktischer Vertreter der arzneilosen Heil-
kunde“ notorisch die übliche Bezeichnung der nicht approbirten Vertreter der Heilkunde sei,
entbehrt jeden Haltes. Nicht darauf kommt es ferner an, ob aus der Thatsache, dass die
approbirten Aerzte sich häutig praktische Aerzte nennen, die Folgerung zu ziehen ist, dass
die geprüften Aerzte allein das Recht hätten, diese Bezeichnung zu führen, sondern darauf,
ob ein solcher Gebrauch existirt. Ist dies der Fall , so wird jene Bezeichnung allerdings die
Meinung erwecken können, als wenn es sich um einen approbirten Arzt handelte. Wem gegen-
über von der Bezeichnung Gebrauch gemacht, ist gleichgiltig, da das Gesetz weder verlangt,
dass in dem speciellen Fall, in welchem die Bezeichnung verwendet worden, eine Täuschung
bezweckt und beabsichtigt noch auch, dass jener Zweck, den Glauben an die Eigenschaft des
Gebrauchmachenden als geprüfter Medicinalperson zu erwecken, erreicht worden ist, sondern
nur, dass die gewählte Bezeichnung zur Erweckung jenes Glaubens sich überhaupt eigne, und
es konnte daher hierfür das Urtheil ohne Rechtsirrthum auch auf die Verhältnisse des Orts
der Bezeichnung als eines Carorts mit einem Publicum, das wenigstens theilweise mit der
technischen Bezeichnung der staatlich approbirten Aerzte nicht völlig vertraut ist. Rücksicht
nehmen. Dass ferner der § 29 Gew.-O. die Behandlung von Frauenkrankheiten allgemein frei-
giebt, schlicsst die Annahme des Urtheils, dass jene Krankheiten „gemeiniglich nur von
Aerzten behandelt werden“, keineswegs aus. Wenn die Revision selbst zugiebt, dass die Bei-
legung der Bezeichnung eines Specialisten für Frauenkrankheiten seitens eines nicht appro-
birten Arztes nicht zu rechtfertigen ist, so kann auch daraus dem Urtheil in rechtlicher Be-
ziehung ein Vorwurf nicht erwachsen, wenn dasselbe die Bezeichnung als Specialfrauenpraktiker
der eines Specialisten für Frauenkrankheiten gleichstellt. Ob zu dem Bund der Naturärzte
auch andere Personen als Naturärzte gehören dürfen, kann dahingestellt bleiben , da für den
Richter nur die ebenfalls dem thatsächlichen Gebiet angehörige Frage zur Entscheidung stand,
ob das Publicum durch die Bezeichnung „Mitglied des Naturärztebundes'4 zu dem Glauben
verleitet werden konnte, dass der Angeklagte sich selbst als Naturarzt kennzeichnete, und
dass diese Bezeichnung die Ausübung der Heilkunde nach vorgängig erlangter Approbation
enthalte. Die Revision vermisst endlich den besonderen Nachweis, dass der Angeklagte den
Willen oder auch nur das Bewusstsein gehabt habe, sich einen arztähnlichen Titel beizulegen,
durch welchen der Glaube erweckt worden , er sei eine geprüfte Medicinalperson. Indes* die
Merkmale eines vorsätzlichen oder mit dem Bewusstsein der Rechtswidrigkeit vorgenom menen
Handelns sind in dem Thatbestand des § 147, Ziff. 3 a. a. 0. gar nicht enthalten und bedürften
daher auch keiner besonderen Feststellung.“
Es genügte vielmehr der im Urtheil unzweideutig zum Ausdrucke ge-
brachte Nachweis, dass der Angeklagte bewusst die bezieh tigten Bezeichnungen
gebraucht hat, und dass sein Handeln ihm deshalb als Schuld anzurechnen sei.
Irrte er darin, dass er sein Handeln für straflos erachtete, so konnte dieser Irr-
thum seine Schuld nicht beseitigen.
Literatur: *) Ueber moderne Therapie, ihre Licht- und Schattenseiten. Zeitschr.
f. arztl. Landpraxis. 1892. 6 u. 7; Der Amerikanismus in der modernen Therapie (von
Dr. raed. B. L. in W.). Deutsche Med.-Ztg. 1893, Nr. 84. — *) Dr. S. Goldschmidt, Ein
Besuch bei Pfarrer Kneipp in Wörishofen. Deutsche Med.-Ztg. 1895, Nr. 04. — *) E. Schwe-
ll inger, Eine Aerztesehule. „Zukunft“ und Apoth.*Ztg. 189t>, Nr. 7. — 4) Ferd. Hüppe,
Naturheilkunde und Schulmedicin. Zeitsehr. f. sociale Med. I. Heft 2; Derselbe, Ueber die
Ursachen der Seuchen und über die ursächliche Bekämpfung und Heilung derselben. Zeitgeist.
181*4, Nr. 50. — fc) Prager, Die Vor- und Nachtheile der Naturheilmethode. Leipzig, Ranert.
und Rocco, 1890. — 6) Rechtsauwalt A. Joachim, Die Rechtsverhältnisse der Curpfuscherei
in Deutschland und die Bekämpfung ihrer Gefahren für die Gesundheit. Zeitschr. f. sociale
NATURHEILKUNDE. — NOSOPHEN.
506
Med. I, Heft 4. — ') Dr. Berger, Zur Lage des ärztlichen Standes Deutsche Xed.-Ztg.
J895, Nr. 84. — •) Aerztliche Behandlung (Rev. Kr. V.-G. §6. Abs. 1. Ziff. 1). Reger. Ent-
scheidungen. XVI. — *) Urtheil des Reichsgerichts (I. Strafsenat) vom 4. Juli 1895. Recht-
sprechung u. Med.-Gesetzgebung. Bei bl. z. Zeitsehr. f. Medicinalbeamte. 189d. Nr. 3- — lM 0.
Schwarz. Die Errichtung besonderer Lehrstuhle für Naturheilkunde, Hydrotherapie und
Homöopathie. Deutsche med. Wochenschr. 1896. Nr. 13. Wern ich
Nicotianaseife, eine vom Apotheker Menzel in Bremen dargestellte, mit
Tahaklauge, welche etwa 0,7“ „ Nicotin und 10° 0 Tabake* trnct enthält, versetzte
Seife. Schon seit Jahren werden riesige Mengen Tabaklauge nach Argentinien aus-
gefUhrt, wo dieselbe zur Behandlung räudiger Schafe dient. I*. Taxv.er versuchte
die braunschwarze, mit Bergamottöl parflimirte Nicotianaseife hei parasitären Haut-
krankheiten, vornehmlich bei Scabies, bei welcher Krankheit die Patienten sich früh,
abends, später nur einmal, den ganzen Körper mit der Seife zu waschen haben.
Den Seifenschaum soll man in den ersten Tagen auf dem Körper eintrocknen
lassen , während man später, besonders wenn die Haut anfängt, empfindlich zu
werden , den Schaum wieder absptilt. Audi bei Pityriasis versicolor und bei
parasitären Ekzemen war die Seife von guter Wirkung. Bei Pruritus senilis
und einem Fall von nervösem Jucken bewährte sie sicli ebenfalls, in anderen
Fullen blieb die juckatlllendc Wirkung aus. Nach bisherigen Mittheilungen dürfte
namentlich bei Kindern Vorsicht in der Anweuduug der Seif- empfohlen sein.
Ein damit behandeltes Kind wurde von Erbrechen und I’iiisäuderuug befallen.
Literatur: P Tänzer-Bremen, l’eber Nicotianaseife. Monatsh. f. prakt Perma:
XXI. NT. lg. Loebisch
Nitroglycerin, bei Morpbiumentziehnng, pag. 441.
Normaiantitoxin, Normalgift, s. Immunität, pag. 263.
Nosophen. Das von Classex und Lim dargestellte Nosophen, Tetra-
jodphcnolphtaleln (s. Encyelop. Jahrb. V. Jahrg.), ist nach Versuchen von
C. Btxz und N. Zl’XTZ dem Organismus weniger gefährlich als das Jodoform.
Unmittelbar in’s Blut in Form des Natronsalzes cingespritztes Nosophen wird in
ziemlicher Menge in den Darmcanal ausgesehieden ; in den Harn geht es nnr
dann reichlich über, wenn dieser alkalisch reagirt. Wohl wirkte die intravenöse
Anwendung des Nosophens schädlich, doch kommt dies fflr den praktischen
Gebrauch nicht in Betracht. Es verhindert gleich dem Jodoform die Eiterung,
indem es auf die I.eukocyten direct lähmend wirkt. Den Einfluss des Nosu-
phens auf die Wundheilung im Vergleich mit dem des Jodoforms , Dermatols.
Europhens und Aristols prüften N. Zl'NTZ und E. R. W. Fraxk. Sie erzielten mit
Nosophen seihst hei inficirten Wunden trotz der nachweisbaren Gegenwart von
pathogenen Bakterien im Gewebe gute Wundheiluug. und zwar im directen Ge
gensatz zu den Virgleichswunden ; bei den reinen Wunden war der Heilungs-
vorgang ein glatter, wahrend die Vergleichspräparate mehr oder weniger starke
Reizung der Wunde und deren Umgehung verursachten. 0. Lassar fand Jas
Nosophen bei Uhus molle, Herpes progenitalis, Balanitis, ferner hei kleineren
Flächenwunden und in Ueberhftutung begriffenen Granulationen , überdies bei
Cyatitis, wo eine Insufficienz der Blasenmusculatnr vorlag, in Form von Aus-
spülungen (1 Tlieil Natronsalz, 400 — 500 Wasser) von prompter Wirkung. Er
hebt den exsiecatorischen Charakter des Pulvers hervor, weicher jedoch unter
Umständen auch zur Secretrctcution führen kann. Krustenbildung ist zu ver-
meiden ; die Schleimhaut der Nase kann durch Einführung von Nosophen rasch
zur Abtrocknung geführt werden. SEIFERT wandte es in Form von Einblasunzcn
bei Rhinitis hgper.-ecretoria an, ferner zur Nachbehandlung nach Aetzungea mit
Chromsäure und Trichloressigsäure. Das Nosophen soll nur in sehr dünner
Schicht aufgetragen werden, v. NOORDEX empfiehlt die lüproeentige Nosophcn-
gaze als Ersatz der Jodoformgaze in jenen Fällen, wo letztere wegen ihres
penetranten Geruches aus socialen Gründen zu meiden ist: sie zeigte sich auch
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NOSOPHEN — NDCLEOALBDMIN.
507
bei tuberkulösen HautgeschwUrcn und namentlich bei Tamponade innerhalb der
Mund- und benachbarten Höhlen brauchbar. Auf Grund der eingangs erwähnten
Versuche, welche die Unschädlichkeit des Nosophens auch bei innerlicher
Darreichung erwiesen , versuchte Rosenheim das Mittel in zahlreichen Fällen
von chronischem Darmkatarrh in Gaben zu 0,3 — 0,5, täglich dreimal. Das
Mittel wurde vom Magen gut vertragen , bei empfindlichen Magen besser wie
Tannigen; im Dann schien es in einigen Fällen desinficirend zu wirken. Er
empfiehlt das Wismuthsalz des Nosophens (Endoxin) in Dosen von 0,3 bis
0,5 Grm. (3 — 5mal nach dem Essen zu nehmen) für diejenigen hartnäckigen
Formen des chronischen Dannkatarrhs, bei denen die oberen Diekdnrm- und
namentlich auch DUnndarinabsehnitte mitbetheiligt sind, bei denen Diarrhoe oder
Wechsel von Diarrhoe und Obstipation bestehen. Die wässerige Lösung des
Natriumsalzes (Antinosin) (1:400 — 500) versuchte Rosenheim zu Magenaus-
spülungcn (1 — 3:1000); in einem Falle traten Reizerscheinungen auf, sonst
wirkte die Lösung desinficirend.
Literatur: Seifert. Leber Nosophen. Wiener klin. Wochenschr. 1895, Nr. 12. —
C. Binz und N. Znutz. Leiter Wirkungen und Verhalten des Nosophens im Thierkörper. Fort-
schritte der Medicin. 1395, Juli. — 0. Lassar. Das Nosophen. Dermat.Zeitschr.il, Heft 4- —
Zuntz und Ernst Frank, Studien über Wundheilung. Ibidem. — v. Noordeu, Lieber
Nosopliengaze statt Jodoformgaze. Münchener med. Wochenschr. 1895, 22. — Rosenheim,
Ceber Nosophen hei Dannaffectionen. Berliner klin. Wochenschr. 1895, Nr. 30.
Loe bisch.
Nucleoalbumin, s. Harn, pag. 248.
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o
Oesophagus (Oesophagoskopie). Dem Stadium der Oesopbagus-
affectionen hat sich das Interesse in den letzten Jahren mehr und mehr zuge-
wandt, vor allen Dingen aber ist eine wesentliche Förderung unserer Erkenntnis
bei dieser Krankheitsgruppe von der Einführung der Oesophagoskopie zu
erwarten. Seit geraumer Zeit lasse ich mir die Verbesserung dieser Methode
angelegen sein und habe ich jüngst (s. diese Jahrbücher, 1895) Uber die Art
meines Vorgehens berichtet.
Die diagnostische Bedeutung des Verfahrens berücksichtigt eine weitere
Arbeit von mir 1 , in welcher ich über die ösophagoskopischen Bilder beim
Speiseröhrenkrebs auf Grund von Beobachtungen in 18 Füllen Mittheilung
machte. Die ösophagoskopischen Bilder zeigen eine grosse Mannigfaltigkeit,
sicherlich in Abhängigkeit von dem Stadium der Entwicklung, in dem sich die
Neubildung befindet, und vor Allem von der Art ihres Wachsthums. Grundver-
schieden ist das Bild, das sich darbietet, wo blumenkohlartige Wneheruugen. die
in das Lumen hineinspringen, entstanden sind , oder wo es nur zu einer harten
Infiltration der Wand gekommen ist, wo Geschwürsbildung Platz gegriffen hzt
oder die Schleimhaut noch erhalten ist, wo die Verengerung sehr beträchtlich
oder gering ist. Die raumbeengenden krebsigen Protuberanzen sind bei genauem
Zusehen mit nichts anderem zu verwechseln; es giebt keinen Proeess im Oeso-
phagus ausser dem Carciuom , der mit der Bildung derartiger prominirender,
weissgrau bis grünlicher oder schmutzig graugelblichcr, von punktförmigen Härnor-
rhagien durchsetzter Massen einhergeht. Der Befund eines Tumors, dessen Schleim-
haut noch erhalten ist , ist weniger eindeutig. Die Infiltration bedingt ein Vor-
springen der Schleimhaut in’s Lumen von verschiedener Höhe. Die Mucosa kann
dann ein annähernd normales Aussehen haben, oder sie ist auffallend blass, mit-
unter mehr gelblich oder auch bläulichroth cyanotisch ; manchmal finden wir
sie auch stark geröthet, succulent, ein Verhalten, das sie sonst häufiger am Ramie
der Neubildung neben dem weisslichen carcinomatösen Gewebe zeigt. Erheblichere
Venektasien konnte ich in keinem Falle entdecken. Bemerkenswerth sind an der
Mucosa weissliche, Hache Epithelverdickungcn, die sieh auch in einiger Entfernung
vom eigentlichen Krankheitsherd finden können und die wie Leukoplaques der
Zunge anssehen; andere Male beobachteten wir weissliche, mehr papilläre Kzcre-
scenzen, ähnlich spitzen Condylomen. Paihognostiscb aber ist dieser Befund nicht,
da er auch bei gutartigen Entzündungen festgestellt werden kann. Abgesehen
von den bereits erwähnten weissgrauen Wucherungen, die mit nichts anderem zu
verwechseln sind, sind auch Hache Clceratiouen mit scharfem zerfressenen Rande
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OESOPHAGUS.
509
kaum je durch etwa» anderes als dnrch Krebs bedingt. Von den sonst in der
Speiseröhre vorkommenden gescbwürigen Processen (syphilitischen , tuberkulösen,
peptischen) ist es bei ihrer grossen Seltenheit bisher noch nicht gelungen , ein
ösophagoskopisches Bild zu erhalten; nur Hache, katarrhalische Erosionen habe
ich zweimal beobachtet : einmal bei einem Degenschlucker mit schwerer Oeso-
phagitis chronica und einmal im unteren Drittel des Oesophagus bei einem
Individuum mit Kardiospasmus. Diese ganz oberflächlichen , kaum fünfpfennig-
stückgrossen Defecte , die sich durch ihren matteren Glanz und ihre dunklere
Farbe gegen die Umgebung abheben und die sich hauptsächlich auf der Höhe
der Falten finden , haben nichts, was an Carcinom erinnert. Neben dem Nach-
weis der Ulceration kann das Hervorsickern von Blut aus der Tiefe einer Strictur,
ohne dass eine Verletzung mit dem Instrument die Ursprungsstelle der Hämor-
rhngie getrotfen hätte, sowie auch das spontane Hervortreten von Eiter im Ge-
sichtsfeld, namentlich wenn derselbe sehr übelriechend ist, als werthvolle Anhalts-
punkte für die Diagnose Krebs gelten. Dagegen kann die Feststellung einer
Lumenverengerung, das Vorhandensein von mit Schleimhaut bedeckten Protu-
beranzen oder Trichterbildungen, die Aufhebung der respiratorischen Beweglich-
keit der Oesophaguswand in ihrer ganzen Circumt'erenz oder auf einer Seite
niemals als ausreichendes Kriterium für die Diagnose des Carcinoms angesehen
werden, und das Gleiche gilt auch von den Veränderungen der Schleimhaut, die
wir als verschiedenartigen Ausdruck katarrhalisch-entzündlicher Processe und
Stauungen , wie sie aus den mannigfachsten Ursachen entstehen , deuten dürfen.
Am schwierigsten ist die Diagnose des Krebses mit Hilfe des Oesophagoskops
an der Kardia, da man die Magenöffnung nicht immer sieht. Das Vorhandensein
eines Krankheitsherdes an dieser tiefsten Stelle verräth sich dann nur manchmal
dnrch Farbenveränderungen der Schleimhaut, starke Falten- und Wnlstbildungen
derselben in der Gegend des Fornmen oesophageuin; Alles dies ist nicht ein-
deutig, da man z. B. Rüthung der Mucosa hier auch gewöhnlich bei echtem Kar-
diospasmus findet. Gemeinhin liegt, wenn der subphrenische Theil der Speise-
röhre ergriffen ist, Krebs der Portio cardiaca des Magens vor oder der über
dem Zwerchfell gelegene Oesophagusabschnitt ist der Ausgangspunkt der Krank-
heit. Im erstcren Falle liefert uns die Untersuchung des Mageninhaltes brauch-
bare Kriterien für die Beurtheilung, im letzteren giebt das Oesophagoskop den
wUnschenswerthen Aufschluss. Dass die Besichtigung auch im Anfangsstadium
der Krankheit ein stringentes Resultat liefert, kann man in vielen Fällen, aber
nicht allemal mit Bestimmtheit erwarten. Hier kann unter Umständen die Unter-
suchung eines kleinen, unter Leitung des Auges exstirpirten Gewebsstückchens
die Entscheidung bringen.
Auf die Frage, warum die Besichtigung der Kardia in manchen
Fällen nicht gelingt, überhaupt auf die Sondirungsverhältnisse im untersten Oeso-
phagealabschnitt bin ich *) in einer anderen Arbeit genauer eingegangeu. Auf
Grund topographisch-anatomischer Studien stellte ich die Lage der Kardia beim
Erwachsenen für die überwiegende Mehrzahl der Fälle am 12. Brustwirbel fest;
den tiefsten Punkt, das untere Drittel des 12. Brustwirbels, erreicht sie bei totaler
Abwärtsdrängung des Magens. Die gleiche Senkung beobachtete ich auch bei
Leuten mit ausgespochener Ectasia ventriculi, hier und da bei sehr schlanken,
mageren Individuen. Der unterste Oesophagusabschnitt ist etwas nach links zu
winklig abgebogen oder seitlich gedreht , bevor er in den Magen mündet , er
kann aber auch unter pathologischen Verhältnissen gerade gestreckt sein, z. B.
bei Dislocation und Ektasie des Magens. Wo diese Linksdrehung sehr scharf
ausgeprägt ist, wo das Stützgewebe sehr fettreich ist, da bleibt wenigstens iu
Rückenlage das geradlinige starre Instrument meist am Foramen oesophageuin
stehen und dringt nicht weiter vor. Man beobachtet das namentlich bei adipösen,
mit quadratischem Thorax ansgestatteten kurzhalsigen Personen, selten auch bei
anderen Individuen, bei denen man das gleiche anatomische Hinderniss in Er-
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510
OESOPHAGUS.
manglung eines anderen plausiblen Grundes annehmcn darf. Abgesehen von den
anatomischen Verhältnissen wird das Vordringen des Instrumentes sicher auch
durch functioneile Anomalien gestört, durch Oesophagospasmus an der Zwerch-
fellpassage, der auch bei sonst gesunden Individuen sehr hartnäckig sein kann,
der das Instrument aber am häufigsten bei nervös unruhigen , neurasthrnischen
Individuen aufhält. Führt man nun das Instrument vom rechten Mundwinkel ans
ein und drängt die Spitze thunliehst nach links, so gelingt es, das Hinderniss.
welches die Linksdrehung darstellt, gemeinhin auszugleicben. dagegen ist dies beim
Spasmus dureh mechanische Hilfsmittel nicht möglich, so dass derselbe eventuell
nur in der Narkose beseitigt werden kann. Die Aufgabe, den tiefsten Theil des
Oesophagus der Besichtigung allemal zugänglich zu machen , hängt zusammen
mit der Lösung des Problems der Gastroskopie. Ist man nämlich einmal erst
mit einem starren geraden Rohr in Rtickeulage bis zur Kardia gelangt, so kann
man das Instrument auch so weit in den Magen vorschieben , als für gastro-
skopische Zwecke nöthig ist; ausnahmsweise erweist sieh ein leicht gekrümmte?
Instrument brauchbarer. Das von mir verwendete Gastroskop ist ein vergrössertes
Cystoskop mit Gummiansatzstück und coinplicirt durch Luft- und Wnsscrzuleitungs-
vorrichtung. Der optische Apparat ist geradlinig, er ist ferner an seinem
untersten Stück vergeh raubbar, so dass hier verschieden winkelige Prismen für
die Aufnahme des Magenbildcs in jedem Falle eingefügt werden können, er ist
endlich im Ganzen verschiebbar, er kann aus dem Tubus, der bei mir nur einen
Durchmesser von 12 Mm. hat, bequem herausgezogen werden, um dann eventuell
Verwendung in dem anderen Instrument, das mit dem Schnabel versehen ist,
zu finden.
Den Werth der Oesophngoskopie vom therapeutischen Standpunkt
illustriren Mittheilungen von E. Mkyer *), der sich meiner Methode bediente. Er
konnte z. II. im Tubus eine Sondirnng ausführen , die sonst unmöglich war und
dadurch den Patienten vor der Gastrotomie bewahren; er konnte in einem anderen
Falle, wo ein Fremdkörper verschluckt war, die Abwesenheit desselben feststellen
und die vorhandenen Beschwerden als dureh eine flache, leicht iitzbare l'lceration
bewirkt darthun.
Was die Klinik der Oesophaguskrankheiten betrifft , so haben wir nur
wenig Beachtenswerthes zu verzeichnen. Ich erwähne hier einen Beitrag von
C. Ritter4) zur Lehre von den Oesophagusdiverti kein, der auf Grund
mehrerer Beobachtungen sieh der Auffassung anschlicsst , dass aus einem Trac-
tionsdivertikel sich secundär ein Pulsiousdivertikel entwickeln kann. Wo ein
Tractionsdivertikel in versuchende Lymphadenitis und Mediastinitis ausgeht, dürfte
ein seenndäres Pulsionsdivertikel nicht selten das Zwischenglied bilden. Höchst
wahrscheinlich sind Tractionsdivertikel nicht selten Ausgangspunkt für die Ent-
stehung von Krebs. Bychowski theilt einen Fall von Divertikel bei einem
2ljührigen Manne mit; dasselbe war 15 — 17 Cm. lang, sein unterer Rand war
37 Cm. von den Zähnen entfernt , es bewirkte seit 9 Jahren Erbrechen.
Von der ziemlich seltenen Tuberkulose der Speiseröhre handelt ein
Aufsatz von K. Zexker. 4) Das echte tuberkulöse Geschwür des Oesophagus
verengte das Lumen beträchtlich ; in einem Falle von Br SS •) bestand kein offene»
Ulcus, es war die stenosirte Partie in einem Conglomerat verkäster indurirter
Lymphdrtlscn eingebettet. Der Tod war hier durch gewaltsames Sondircn ver-
ursacht worden. Die Infection dureh Tuberkelbaeillen findet an der Schleimhaut
des Oesophagus nur da statt, wo dieselbe durch Soor, dureh Aetzung, durch
Carcinomentwicklung die Möglichkeit der Inoculation gewährt.
Erwiihneuswerth ist auch ein ausführliche Darstellung der Entwicklungs-
geschichte und Klinik der Polypen und polypenähnlichen) Gewächse des Rachens
und der Speiseröhre durch P. R. MtNSKI. *) Er geht von einer eigenen Beobach-
tung aus, die eine 65jährige Frau betraf. Ein Polyp von 14 Cm. Länge nud
7,5 Cm. Umfang im unteren Drittel trat aus dem Munde seit 8 Tagen hervor,
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OESOPHAGUS. — OXYSPARTEINUM HYDROCHLORICUM. 511
ohne bislang je Beschwerden verursacht zu haben ; er ging vorn oberen Oeso-
phagusrande aus und wurde mit der Scheere leicht abgetragen.
Endlich sei hier auf einen Aufsatz hingewiesen, in dem ich 9) das dunkle
Gebiet der Neurosen des Oesophagus systematisch abgehandelt habe; es ist
das eine im Wesentlichen lehrburkmassige Darstellung des Gegenstandes, aus
der mittlerweile erschienenen zweiten Auflage meiner „Krankheiten der Speise-
röhre und des Magens“ vorweg entnommen.
Literatur: ') Rosenheim, Deutsche med. Wochenschr. 18°5, Xr. 50. — ’) Hosen-
heim. Ebenda. 1895, Nr. 45. — 3) E. Meyer, Allg. med. Central-Ztg. 1895, Nr. 100. —
•j Ritter. Deutsches Arch. f. klin. Med. LV. — 5) Bychowski, Virchow’s Archiv. CXL1 —
* l K. Zenker, Deutsches Arch. f. klin. Med. LV. — :) Buss, Deutsche med. Wochenschr.
1895, Nr. 23 — •) Minski, Deutsche Zeitschr. f. Chir. XLI. — *) Rosenheim, Allg. med.
Central-Ztg. 1895, Nr. 98, 99. R o s e n h e i m .
Opiumlähmung, s. Morph iumkrankh eit, pag. 429.
Orphol, basisches [i-Naphtol wismuth. Bismuthum 'ynaphtolicum ,
[(Cjo H, 0)3 Bi], 4- BL 03, wurde Ursprünglich von Schcbenko als Darmdcsinficiens
bei Cholera namentlich in den ersten Stadien empfohlen. H. Engel fand es bei
Katarrhen des Magendarmcanals , namentlich bei den Störungen, die auf Auto-
intoxication vom Darme aus zurttckgefQhrt werden, als vorzügliches Wismuth-
präparat wirksam. Edm. Chaumier empfiehlt es bei Diarrhoen der Kinder und
Erwachsener, bei Phthisikern und beim Abdominaltyphus. Man stellt das j3-Naphtol-
wismnth dar, indem man eine Lösung von Wismuthnitrat oder Wismuthchlorid
mit einer Lösung von i-Xaphtul in überschüssigem Alkali versetzt und den
Niederschlag mit Wasser genügend auswäscht ; es stellt getrocknet ein hell-
braunes Pulver dar, welches circa 50% Bi, 0, enthält.
Dosirung: Bei Cholera täglich 1,0 — 2,0 in Pulverform. Bei acutem
Darmkatarrh der Kinder 0,25 — 0,5 dreimal täglich in Pillen oder als Pulver,
für Erwachsene wird die Einzelgabe verdoppelt. Kindern in den ersten Jahren
für jedes Lebensjahr 0,03 pro dosi in Pulverform dreimal täglich.
Literatur: Schubenko und .Jasenski, Wratach. 1892. — H. Engel. New
York med. Journ. März 1895. — Edm. Chaumier, Tlierap. Wochenschr. 1895, Nr. 48.
Loebisch.
Ouabain , Wabain. Aus den bisher bekannten Arten von Acocan-
thera wurden drei verschiedene Glykoside erhalten, welche sämmtlich mit dem
Namen Ouabain bezeichnet werden. Das von Lewin aus der Rinde und dem Holze
von Acocant/iera Deßemit gewonnene Glykosid ist amorph, stark bitter, gelblich,
in kaltem Wasser, Alkohol und Formamid löslich. Die mit concentrirter Schwefel-
säure erhaltene Lösung fluorescirt grün. Dieses Glykosid vermag nach Lewin
gleich dem Erythropldoein Sehleimhiinte und auch die Cornea zu anästhesiren.
Sowohl subcutau als per os beigebracht, wirkt es giftig. Bei Warmblütern wird
der Tod durch gestörte Herzbewegung und der hieraus rcsultirenden Dyspnoe
herbeigeführt. Das von Rochebrone und ARNAUD aus der Acocanthera Ouabaio
(dem Somalipfeilgifte „Ouiabio“) isolirte, ferner das vou Phaser und Tillie aus
Acocanthera Schiwperi erhaltene Ouabain sind beide krystullinisch und iden-
tisch. Fraser schlägt vor, die letzteren zum Unterschiede vom amorphen Ouabain
als Akocantherin zu bezeichnen. Nach Gley bewirkt beim Frosche schon
1 Mgrm. Ouabain (krystall.) Stillstand des Herzens in der Systole, eine Gift-
wirkung, deren Intensität die der Mikrobentoxine erreicht. Ein Handels-Ouabain
stammt nach E. M. Holmes aus dem Samen von Strophantin) glaber Max. ( ’ornu.
Literatur: Arnnud, Compt. rend. de l’acud. des scienc. 1888, pag. lull. —
E. M. Holmes, Pharm. Journ. amt Transactious. 1893, Nr. 1203, pag. 41. — Lcwin,
Virchow's Arch. f. pathul. Anat. u. Physiol. CXXXIV. — Gley, Semaiue mt'-'l 1895, pag. 40.
Loebisch.
Oxysparteinum hydrochloricum. langlois und Mairange haben
schon 1894 auf die herztonisirende Wirkung des Sparteins hingewiesen, welches
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512
OXYSPARTEINUM HYDROCHLORICUM.
subcutan injicirt namentlich die bei Chloroformanästhesie von Seite des Herzens
drohenden Symptome wenn nicht vollständig zu beseitigen , doch wesentlich zu
reduciren vermag. Seitdem hat Hürthle gezeigt, dass diese die Herzthätigkeit
stimulirende Wirkung dem Oxyspartein in noch höherem Masse zukommt und
LanglOIS und Maurange nahmen ihre Versuche nun mit Oxysparteinum hydro-
chloricum auf. Nach der Injection bemerkt man zunächst eine Herabsetzung der
Vaguserregharkeit, daneben tritt aber noch eine deutliche Kräftigung der Herz
contractionen auf. Oxyspartein vermindert die Gefahr der „Syncope rißexe' bei
der Chloroformnarkose. Laxglois und Maurange injicirten vor der Operation
0,04 — 0,05 Oxyspartein. hydrochlor. uud 0,01 Morph, hydrochlor. unter die
Haut. Die Narkose trat rasch ein und war mit wenig Chloroform leicht zu er-
halten, dabei arbeitete das Herz regelmässig und kräftig, selbst bei obertlich-
licher Athmung. Bei protrahirten Narkosen wurde in wenigen Fällen eine zweite
Injection von Oxyspartein ohne Zusatz von Morphium etwa 1 — 1 1 s Stunden nach
Beginn der Narkose gemacht. Kp. Oxyspartein. hydrochlor. 0.5, Aq. amygdalar.
omar. dilut. 10,0. D. S. 6 — 8 Theilstriche der PitAVAZ-Spritze zu injiciren.
Literatur: Les nouv. remi-des. 1894, pag. 344, u. 1895, pag. 400. — E Merck,
Bericht über das Jahr 1895. Loebisch.
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p.
Pellotin, ein ganz kürzlich als Schlafmittel empfohlenes und bewahrtes
Alkaloid gewisser Caeteenspecies (Anhalonium Leitini und A. Williamsii), der
Träger der Wirkungen des „l’ellote“ oder „Peyot“ (vergl. Cacteen gifte,
EncyclopSd. Jalirb., V, pag. 30), kommt in der Form des leicht löslichen Pel-
lotinum muriaticum zur Anwendung (Formel CIS H„ N03 HCl). Nach Thierver-
suchen von Hkftek benutzte neuerdings JOLLY das Mittel bei 40 Kranken,
denen es theils subcutan , theils innerlich in Dosen von 4 — 7 Cgrm. bei Tage
dargereicht wurde ; namentlich in Fallen schmerzhafter Nervenerkrankung (Tabes,
Neuritis), ferner bei Alkoholdeliranten. Bei letzteren mussten wiederholte Dosen
(0,04 subcutan 3mal kurz nach einander, im Ganzen 0,12 in zwei Stunden) ge-
reicht werden. Bei einzelnen Kranken blieb die Wirkung aus, einzelne klagten
Uber Bransen im Kopfe, Schwindel und Wärmegefühl nach dem Einnehmen ; bei
einem epileptischen Potator versagte das Pellotin ebenso wie Morphium und
Chloralhydrat, hier half nur Paraldebyd. In einzelnen von mir beobachteten Füllen
zeigte sich 0,04 nicht genügend; zweimal klagten die Kranken über unangenehme
Gefühle im Kopfe nach dem Einnehmen. Darsteller des Pellotins sind Boehringer
und Söhne in Waldhof bei Maunheim.
Literatur: Jolly, Ueber Pellotin als Schlafmittel. Deutsche med. Wochenschr.
1S96, Nr. 24. Eulenbnrg.
Pentosurie, s. Ham, pag. 254.
Pepton, Nachweis im Harn, pag. 251.
Pfeilgifte. Ueber die Stamm pflanzen der Pfeilgifte der Sakais der
Berge in Straits Settlements (vergl. Encyclopäd. Jalirb., IV, pag. 276) liegen
neue Untersuchungen ') vor, wonach die als Ipoh Alcer bezeiclmete Strvchnosart,
die einen Ilanptantheil des Giftes bildet, nicht Str ychnos Mainyayi, sondern
eine neue Specics mit papierartigen Blättern und glattem Ovarium ist , welche
Strychnos Wallichiana sehr nahe steht. Prual ist eine Rubiacee aus der
Abtheilung der Cinchonecn, Coptonapelta flavescens Korth., die somit nach
den Untersuchungen von Stock man (a. a. 0.) zu den Giftpflanzen gerechnet werden
muss. Die mitunter als Zusatz zu den Pfeilgiften dienende Pflanze Likir ist die
Aroidee Amorphophnllus Prainii Hook. fil. (Stapf).
Ein auf der zu den Philippinen gehörigen Insel Luzon von den Negritos
bereitetes Pfeilgift wird aus der Rinde einer Euphorbiacce, Rabelaisia ph ilipp i-
nentis, die auf Kalkfelscn in der Gegend von Marivales wächst, bereitet. Ein
daraus dargestelltes wässeriges Extract erzeugt bei Fröschen systolischen Still-
stand und bei Warmblütern ebenfalls Herzstillstand und davon abhängige Er-
scheinungen der Anämie der Medulla oblonyota (Dyspnoe, Erstickungskrämpfe *).
Encyclop. Jahrbücher VI. 33
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514
PFEILGIFTE.
Ob die ans dem Südosten von Lnzon erhaltene Rinde identisch mit einer der
beiden Rinden ist , aus welchen nach Fedor Jagor die im Norden von Lnzon
wohnenden Igoroten ihre Pfeilgifte bereiten, bleibt zu erniren. Diese zerklopfen
die Bastschicht der einen Rinde , feuchten sie an , drücken sie aus and kochen
den wie dünne Erbsensuppe aussehenden Saft in einem Topfscherben über
schwachem Feuer zur Svrupsdicke ein. Der Flüssigkeit wird dann der von der
inneren Oberfläche der zweiten Rinde ausgcdrUckte dunkelbraune Saft, etwa ’/n
der Menge des ersten Saftes entsprechend, zugesetzt. Hat das Gemenge die
Consistenz einer guten Salbe, so wird es mit einem Span aus dem Scherben
herausgekratzt und in einem mit Asche bestreuten Blatt aufbewahrt. Zum Ver-
giften eines Pfeils verwendet man ein haselnussgrosses Stück , das durch Er-
wärmen gleichmässig Uber die breite eiserne Spitze vertheilt wird. Man benutzt
denselben Giftpfeil mehrmals.
In Bezug auf afrikanische Pfeilgifte sind Fraser und Tillie')
zu der Ansicht gelangt, dass das wirksame Princip der H’u Nyika, Wa Gyriama
und H o Komba Pfeilgifte und des zur Bereitung diesor dienenden Holzes von
Acokanthera Schimperi identisch mit dem von Akn.U'D aus dem Holze einer
Acokanthera dargestellten krystallisirenden Glykoside Ouabain, dagegen von den
amorphen Glykosiden verschieden sei , die Rochkbbi’XE und Arxacd aus einer
im nördlichen Somalilande zur Herstellung von Pfeilgift verwendeten Wurzel und
Lewix aus Acokanthera Deßersii erhielten. Das krvstallisirte Glykosid, für das
Fraser und Tillie den Namen Acokantherin vorschlagen , weicht in seiner
physiologisehen Wirkung von Strophantin nicht ab. Die Giftigkeit ist ausser-
ordentlich bedeutend, da die letale Dosis für den Frosch sich auf 1/ll5 Mgrm.
stellt, wodurch in 2 Stunden systolischer Herzstillstand herbeigetührt wird. Noch
bedeutender scheint die Giftigkeit der activen Substanz in einem ebenfalls als
Herzgift wirkenden Pfeilgifte aus Segou im französischen Sudan, das Fehke
und BnsQCKT J) zu untersuchen Gelegenheit hatten, zu sein, von dem 1 Ccm.
einer Lösung von 0,5 Mgrm. in 100 Grm. Wasser Fische in 3 Minuten tödteL
Es handelt sich um ein krystallisirendes, in Wasser lösliches, in absolutem Alkohol
unlösliches Glykosid, das die Reactionen von Strophantin giebt.
Das auf den Pfeilspilzen befindliche Gilt der Bewohner vnn Segou bildet eine
dunkelbraune, homogene Masse von grosser Harte und glanzendem Bruche, bitterem, leicht
zusammenziehendem Gescbmacke und in befeuchtetem Zustande von eigenthfimlichem Geruch*.
Der mikroskopische Nachweis von Tracheiden lasst das Gift als einen eingedickten Milchsaft
erscheinen. Die etwa 5U Cm. langen Giftpfeile l»estehen aus einem 4 — 5 Mm. dickem weissen
Bambus nnd einer eisernen Spitze.
Bezüglich der slldamcri konischen Pfeilgifte ist erwähnenswerth.
dass seit 1880 an Stelle der früher nach dem Verpackungsmateriale unterschie-
denen beiden Sorten Curare, «lern Topfenrare und Calebassencurare, eine dritte
getreten ist, die in Bambusrohren (Tubos oder Parawaures) von durchschnittlich
25 Cm. Länge und 4 — 5 Cm. Weite, welche oben mit einem Stück Palmblatt nach-
lässig verschlossen nnd mit Bastfäden umschnürt sind, besteht. Der Ursprung dieses
Tubocurare, von dem in jeder Tube 200 — 280 Grm. vorhauden sind, ist bis
jetzt nicht zu bestimmen. Der dafür gebräuchliche Name Para curare ist jeden-
falls unrichtig, da in Para Niemand das Curare kennt. Nach Th. Schcchardt
soll es aus der brasilianischen Provinz Amazonas stammen und am südlichen
Ufer des gleichnamigen Stromes von Indianern fabricirt werden. Uebrigens ist
solches Pfeilgift in Röhren schon aus älteren Zeiten bekannt, aber nur aus Pem,
woher Poeppig ein Pfeilgift von Maynas, dem westlichen l'ferdistrict des Rio
Huallaga, südlichen Nebenflusses des Maranon, erwähnt, neben welchem noch
ein Pfeilgift in Yurimagua, gleichfalls am Ufer des Huallaga, das zwar exportirt
wird, aber in seiner Heimat als wenig werthvoll gilt, erwähnt wird.
Das Tubocurare des Handels bildet eine dunkelbraune , etwas körnige
Masse, die die Consistenz des Pumpernickels hat und in deren Innerem sich
häutig grosse und weite Hohlräume befinden. Sie riecht schwach nach Cichorien
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PFEILGIFTE.
515
und piebt getrocknet ein braunes Pulver. Charakteristisch dafür ist das Vor-
handensein makroskopisch sichtbarer, gut ansgebildeter, selbst 2 C'm. langer und
0,5 Cm. breiter, sehr harter, flockig gelb gefärbter KryBtalle von Quercit, die
weder in Calebassen- noch in Topfenrare jemals Vorkommen. In Wasser und
verdünntem Weingeist löst es sich bis 85%; von Alkohol und anderen Lösungs-
mitteln wird nur wenig aufgenommen. Die Asche enthält kein Mangan. Es ist
das schwächste aller Cnrarearten , da es in völlig unveränderter Waare im
Durchschnitte nur zu 0,006 — 0,01 Grm., höchstens zn 0,005 des wässerigen
Auszuges pro Kilo Kaninchen tödtet.
Nach den genauen Untersuchungen von Böhm •) ist das Tubocorare
auch in Bezug auf seine Bestandtheile von den früheren Curarearten verschieden,
und diese Verschiedenheit bringt es auch mit sich, dass die physiologische Wir-
kung der älteren und neueren Handelssorten des Curare sich nicht decken. Tubo-
curare enthält eine sehr grosse Menge der von Böhm und Tili.y als Cu rin
bezeichneten Base, die bei Fröschen Störungen der Herztbätigkeit, die, mit
peristaltischen Contractioncn beginnend , schliesslich zur Herzlähmung führen,
hervorruft und auch bei Warmblütern Abnahme des Blutdruckes und Paralyse
des Herzens bewirkt. Der hauptsächlichste Bestandtheil, der annähernd 10% des
Tuboeurare ausmacht , ist das bei Kaninchen zu 1 Mgrm. pro Kilo letal wir-
kende, dem Curnrin verwandte, aber wesentliche Unterschiede davon darbietende
Tubocurarin. Wie Curnrin, ist es ein Ncrvenendgift, aber diese Wirkung ist
bei Fröschen weniger energisch. Bei Warmblütern verläuft die Intoiication bei
überletalen Gaben wie beim Curariu , aber bei der an der Grenze der minimal
letalen Dosis liegenden Gabe ist der Verlauf weit protrahirter und dehnt sich
auf längere Zeiträume (12 — 18 Stunden) aus. Auf den Gcfässapparat haben kleine
Dosen Tubocurarin denselben Effect wie Curarin und rufen namentlich auch starke
Steigerung der vasomotorischen Reflexerregbarkeit hervor ; das Gift lähmt aber
die Vasomotoren und den Vagus weit früher als Curarin, und die auf grössere
Dosen erfolgende stetige Abnahme des Blutdrucks führt auch bei unausgesetzter
künstlicher Athmung zum Tode des Thieres. Unstreitig ist das Tuboeurare bei
Beinern hohen Gehalte an Curin und bei der relativ schwachen Action des
Tubocurarins auf die Nervenendigungen ein für physiologische Zwecke sehr wenig
geeignetes Präparat und die Vorschläge, es durch eine andere Substanz, z. B.
Septentrionalin 7), zu ersetzen, sind wohl berechtigt.
Von Interesse sind die Beziehungen des Tubocurarins znm Curin. Das Curin ist
eine blendend weisse, an den Rändern leicht gelb werdende, gewöhnlich amorphe und mikro-
krystallinische Masse, die jedoch auch unter günstigen Umständen in farblosen Nadeln oder
rhombischen Tafeln aus absolutem Alkohol oder Methylalkohol krystallisirt. Es entspricht der
Formel C1S H|U N03 und ist eine tertiäre Base, die mit Methyljodid das Jodid einer Ammo-
niumbase. Methylcurin C1S H19 NO, CH, , liefert, die qualitativ und quantitativ genau wie
Tubocurarin wirkt. Bei der Oxydation mit Kaliumpermanganat oder Chromsäure liefert Curin
amorphe braune Körper, die die dem Curin selbst abgebende Nervenendwirkung des Curarins
bei Fröschen und Kaninchen hervorbringen. Das Tubocurarin, das nicht zum Krystallisiren
gebracht werden kann, löst sich als Hydrochlorat in Wasser, Methyl- und Aethylalkohol klar
und ohne Rückstand zu einer hellrothgelben , etwas grün tluorescirenden Flüssigkeit, die
intensiv bitter schmeckt, während Curinlösung süss schmeckt. Es verhält sich Reagentien
gegenüber dem Curin sehr ähnlich und wird insbesondere wie dieses von Vanadinsehwefel*
saure anfangs kohlschwarz, später zwiebelroth gefärbt. Von Curarin aus Calebassencurare
unterscheidet es sich theils durch seine dreimal schwächere Wirkung, tlieils durch das Fehlen
der prachtvoll blauvioletten Färbung, die das Curarin beim Betupfen mit concentrirter Schwefel-
säure annimmt. Es entspricht der Formel CI9 H ,0 N4 und erscheint danach als Curin mit
einer Methylgruppe und 0. Zwischen Jodmethyl und Tubocurarin findet keine Reaction statt.
Literatur: *) Stapf, Ipoh poison. Kew Bull. 1895, pag. 140. Pharm. Jouru.
31. August, pag. 177. — *) Rosenthal, Ueber ein Herzgift aus Manila. Arch. f. Anat.
u. Physiol. Physiol. Ahth. 1895, pag. 1895; Gärtner, Beobachtungen über die physiologische
Wirkung eines neuen Pfeilgiftes, dessen sich die Negritos auf der Insel Luzon (Philippinen)
bedienen. Dissert. inaug. Erlangen 1895. — *) Fraser u. Ti Hie, Acokanthera Schimperi,
its natural history, chemistry and pharmaeology. Pharm. Jonrn. 27. Juli 1895, pag. 76. —
*) Gley, De VouabaTne. Semaine med. 1895, Nr. 5, pag. 40. — *) Ferre und Busquet,
De * fliehe* empoisonn Sa du Soudan framjai*. Arch. de physiol. S£rie 5, Tom. VII, pag. 801. —
33*
516
PFEILGIFTE. — PHENYLHYDROXYLAMIN.
*) R- Böhm, Das sädamerikanische Pfeilgift Curare in chemischer und pharmakologischer
Beziehung. 1. Theil : Das Tubocnrare. Abhandl. d. mathemat. physikalischen Clause der Sächsi-
schen Gesellseh. d. Wissensch. XXII, Nr. 3, pag. 204- — *) Rosendahl, On Septentnv
nalin an an anaesthetic and Substitute for curare in the perfonnation of r triste! ton. Brit.
med. Jonrn. 14. September, pag. 657. Husemaon
Phallin, s. Amanita phalloides, pag. l'.t.
Pharyngitis, s. Rachenentztlndung.
Phenole, Bestimmung im Harn, pag. 245.
Phenylhydroxylamin. Als neues Gift erscheint das durch Erhitzen
von Nitrobenzol mit der zehnfachen Menge Wasser und einem grossen Ueber-
schnsse von Zinkstaub oder durch Keduction des Nitrobenzols in alkoholischer
Lösung unter Zusatz von Chlorcalcium dargestellte ß-Phenylhydroxylaroin. ■)
Es ist eine basisebe, stark redneirende Substanz, die sich in 10 Theilcn heissen und
50 Th. kalten Wassers, reichlicher in verdünnten Mineralsauren und in Essigsäure, sehr schwer
in Ligroin und sehr leicht in Alkohol, Aether und Chloroform löst. In wässeriger Lösung ist
es, besonders in der Warme, sehr unbeständig und geht leicht in Azoxylbenzol über: Alkalien
beschleunigen, Sauren verzögern die Zersetzung. Verdünnte Alkalien bilden in der wässerigen
Lösung gelblichweisse Emulsion von Nitrobenzoltrüpfchen. In sanrer Lösung geht Phenylhydro*
xylamin in Anilin über. Beim Erwärmen mit verdünnten Säuren lagert es sieb in Paramido
pheaol nm. Oxydirende Mittel erzeugen daraus Nitrobenzol. Concentrirte Schwefelsäure lost es
mit grünblauer Karbe; die Lösung zeigt im Spectrum einen breiten Absorptionsstreifen bei C.
Bei Contact mit Blut ausserhalb des Körpers entsteht sehr rasch Methämoglobin . gleichzeitig
schwinden rasch die Erythrocyten. Auf Eiereiweiss oder Buttersäure wirkt es nicht in erkenn-
barer Weise ein.
Phenylhydroxylamin hat eine örtlich irritirende und mit Veränderung
des Blutes einhergehende entfernte Wirkung. Anf der Haut des Menschen rufen
kleine Mengen in 15 — 20 Minuten leichtes Prickeln hervor, worauf allmälig zn-
nehmende Röthung und Hautentzündung folgt, die in 2 — 3 Tagen ihre Höhe
erreicht. In die Nase kommende Släubchen erregen anhaltendes Niesen. Injection
in das Unterhautgewebe führt ebenfalls zu Entzündung, bei grossen Dosen auch
zu blutigen Suffusiouen ; später resultirt lederartige Verdickung an der Injections-
stelle. In das Blut gelangt , bewirkt Phenylhydroxylamin durch Sauerstoffentzie-
hung Methämoglobinämie, die sieh schon 3—4 Minuten nach der Einbringung in
das Unterhautgewebe durch bräunliche Farbe der vorher roth durchscheinenden
Ohrgefäs8e bei Kaninchen , grauviolette Färbung des Sehnabels und der Zunge
bei Tauben und braunschwarze Farbe des Herzblutes bei Fröschen verräth. Bei
Warmblütern ist nach kleineren Mengen ausser dieser allmälig wieder schwinden-
den Veränderung der Blutfarbe und vorübergehender Beschleunigung der Athmung
keine Veränderung wahrnehmbar ; nach tödtlichen Dosen (0,05 pro Kilogramm)
kommt es zu Dyspnoe, Zuckungen, Schwinden der Reflexerregbarkeit und sehliess-
liehem Athemstillstande. Bei Fröschen tritt anfangs Aoceleration, dann Schwinden
der Hcrzthätigkeit und Paralyse ein.
Von besonderem Interesse ist der leichte Uehergang in das Blut, weuo
Phenylhydroxylamin in alkoholischer Lösung anf die Haut gepinselt wird, und
das rasche Verschwinden der Vergiftungserscheinuugen mit der Abualimc der
Methämoglobinämie, wofür wahrscheinlich der Umstand massgebend ist, dass
Phenylhydroxylamin beim Contact mit Blut zwar sehr rasch Methämoglobin bildet,
aber nicht, wie das Hydroxylamin thut, gleichzeitig auch Hämatin. Beide Momente
gelten auch für die Vergiftung beim Menschen. In dem einzigen bisher vor-
gekomnienen Falle, der einen Studenten der technischen Hochschule in Charlotten-
bürg betraf, kam es nach dem Zerbrechen eines Kolbens mit alkoholischer Lösung
und Ergiessen dieser auf die Haut des Unterleibes und den Obersehenkel und
die diese Theile bedeckenden Kleidungsstücke zunächst zu Brennen der mit der
Giftlösung in Contact getretenen Körpertheile , dann nach ungefähr 20 Minuten
zu Bewusstlosigkeit mit Schwinden des Cornea!- und Pupillarreflexes, graublaner
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PHENYLHYDROXYLAMIN.
517
Verfärbung der Lippen und fahler Färbung der Haut, Pupillenerweiterung,
schnarchender Athmung, kaum fühlbarem Puls, Masseterenkräropfen, Nystagmus,
krampfhaftem Beugen der Arme und Sehnenhüpfen. Durch Campherätherinjectionen,
kalte Uehergiessungcn im warmen Bade und Herzmassage wurde keine Besserung
der noch nach 5 Stunden fortbestehenden Erscheinungen erzielt, dagegen trat auf
eine Venäsection , die 300 Ccm. schwarzbraunes, chocoladefarbiges Blut entleerte,
Besserung des Pulses und der Athmnng ein , und unter allmäligem Sehwinden
des eigentümlichen Hautcotorits kehrte das Bewusstsein nach 7 Stunden zurück.
Neben den entfernten Wirkungen hatte in diesem Falle die Phenylhydroxylamin-
lösung an verschiedenen Stellen der Haut, mit denen es in Berührung gewesen
war, erhebliche Verbrennungen in allen Stadien hervorgerufen. Der am 4. Tage
nach der Vergiftung entleerte Harn war stark eiweisshältig und enthielt reich-
lich Ilarncvlinder und Nierenepithelien , die selbst noch am 4. Tage vorhanden
waren, aber weder reducirende Stoffe, noch körperfremde Bestandtbeile. Das Blut
zeigte 3 Stunden nach der Vergiftung den Methämoglobinstreifen , Destruction
rother Blutkörperchen war nicht nachweisbar, am 3. Tage nach der Vergiftung
konnte Methämoglobin im Blute nicht mehr nachgewiesen werden.
Ob man die Erscheinungen der schweren Vergiftung als Folge der Ver-
änderung des Blutes betrachten kann , ist demnach jedenfalls zweifelhaft. Eine
direete Einwirkung des Giftes auf die Nervencentren geht aus den Versuchen
von Binz und Radtkk hervor , wornach Salzfrösche durch gleiche Dosen des
Giftes wie normale Frösche gelähmt werden.
Die toxische Wirkung des Phenylhydroxylamins ist zweifelsohne auf
dieses selbst und nicht auf eines der Zersctzungsproduetc, die es mit chemisch
activen Substanzen bildet , zurückzuführen. Im Harn findet sich weder Anilin,
noch Nitrobenzol, noch Paramidophenol, wohl aber Azoxybenzol. Diese in Wasser
unlösliche und bei Contact mit Blut dieses nicht verändernde Verbindung ruft
nichtsdestoweniger bei Einführung in das Unterhautzellgewebe Vergiftung hervor,
die mit Blutveränderung einhergeht, doch ist der Methämoglobinstreifen in ähn-
licher Weise au die erste Blutlinie herangcrückt wie bei der Nitrobenzolvergiftung.
Möglicherweise handelt es sieb um Spaltung des Azooxybcnzols in Anilin und
Azobenzol. Gegen die Abhängigkeit der Vergiftung von Bildung von Nitrobenzol,
Anilin oder Paramidophenol bei der Phcnylhydroxylamin-Vergiftung sprechen
übrigens auch die Verhältnisse der Dosis toxica, die Lage des Streifens im ver-
änderten Blute bei Nitrobenzolvergiftung und das gleichzeitige Auftreten von
Hämatin und Methämoglobin bei Contact von Paramidophenol und Blut.
Zur Unterscheidung von der Nitrobenzolvergiftung ist, abgesehen von
dem langsamen Verlaufe dieser, auch das bei Nitrobenzolismus constante Auf-
treten des Nitrobenzolgerucbes im Athem zu benutzen. Auch der Harn kann
durch das Fehlen von reducirenden Substanzen Anhaltspunkte für das Vorhanden-
sein einer Pheuylhydroxylamin Vergiftung geben. Als wesentliche Differenz beider
Gifte ist übrigens die örtliche Wirkung anzusehen, und es ist unzweifelhaft, dass
wie hei externen Vergiftungen mit Phenylhydroxylamin Brandwunden verschiedenen
Grades die Vergiftung compliciren, so bei etwaiger interner Intoxication auch
Anätzungen im Schlunde, Munde und Magen mit dem diesen zukommenden
Symptomencomplexe anftreten. Auch die Erscheinungen beginnender Nephritis,
die bei Nitrobenzolvergiftung nicht eintritt, können für die differentielle Diagnose
verwerthet werden.
Zur Behandlung der Vergiftung ist nach den oben gegebenen Erfah-
rungen in Charlottcuburg der Aderlass, mit dem die subcutane Injection von
Kochsalzlösung verbunden werden kann, dringend zu empfehlen.
Literatur: ') L. Lcwin, Die Wirkungen des Phenylhydroxylamins. Ein weiterer
Beitrag znr Kenntnis« der Blutgifte. Areh. f. experim. Path. 1895. XXXV, pag. 40l. —
*) Hirsch und Edel, Ueber eine Phenylhydroxylaminvergiltung beim Menschen. Berliner
klin. Wochenschr. 1895, Nr. 41, 4Z. — s| Binz, Die nervenlähmcnde Wirkung des Phenyl-
hydroxylamin. Arch. f. experim. Path. XXXVI. pag. 403. Husemann.
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PHONENDOSKOP.
Phonendoskop. Unter diesem Namen ist vor etwa 2 Jahren ein von
Prof. Bunchi in Florenz — unter Mitwirkung des Physikers Professor Ecgexio
Bazzi — constrnirtes Instrument in die medicinische Untersuchungsmethodik ein-
geführt worden, das hei der Anscultation der Organe die wahrnehmbaren Töne in
sehr beträchtlicher Weise verstärkt zur Perception zu bringen vermag. Das
Phoneudoskop (ipoiv^ und evSotoottoj = Ermittler der Töne, die im Innern des
Körpers entstehen) besitzt den Umfang und die Form einer grossen dicken Taschen-
uhr (cf. Fig. 88). Es setzt sich aus 2 Hauptbestandteilen zusammen : der Schall-
dose und den sehallleitenden Gnmmischläuchen. Die Schalldose ist wiederum aus
8 Componenten gebildet : a) der eigentlichen Schallkapsel, b) einer abnehmbaren
Scheibe und c) einem iu die letztere einschraubbarcn Stäbchen mit knopfförmigein
Ende. Die eigentliche Schallkapsel besteht in der Rück- und Seitenwand aus
Metall. Ihre vordere Wand wird aus einer dünnen, schwarzen, ebonitartigen
Scheibe gebildet, die in einem Metallfalz befestigt ist. Das Centrum dieser Scheibe
wird durch eine im Innern der Kapsel angebrachte kleine Spirale etwas nach
aussen ansgebancht erhalten. Die hintere Wand der Schallkapsel ist nahe dem
Centrum von 2 schrägen. 5 Mm. im Durchmesser haltenden, convergenten Canälen
durchbohrt, deren innere Oeffnungen zur Hälfte von der er-
wähnten Spirale bedeckt werden. Auf die Scheibe der Kapsel
kann b) die zweite, dickere , ebenfalls ebonitartige Scheibe
aufgesetzt und in dieser Lage durch 2 an der Kapsel ange-
brachte kleine Stifte erhalten werden. Diese Scheibe weist
im Centrum eine mit Schraubengewinde versehene Oeffnung
auf, in welche e) das genannte solide Metallstäbehcn ein-
geschraubt werden kann, ln den beiden oben beschriebenen
Canälen der hinteren Kapselwand endlich werden die beiden
Gummischläuche mittels kleiner Metallhülsen befestigt. Statt
der einfachen Metallröhrchen kann man auch ein- oder mehr-
fach gegabelte verwenden und damit das Instrument gleich-
zeitig für eine grössere Zahl von Auscultunten verwerthhar
machen. An den oberen Enden der Schläuche sind kleine,
central durchbohrte Holzoliven angebracht. Der ganze Appa-
rat wiegt beiläufig 230 Grm, Preis 20 Mark.
Zum Gebrauch legt man die mit den Gummischläuchen
in der erwähnten Weise armirte Kapsel auf den zu behor-
chenden Körpertheil und steckt die Holzoliven der Schläuche
in die Ohren. Am empfindlichsten reagirt der Apparat, wenn
mau nach Entfernung der Scheibe b die innere Scheibe auf
den Körpertheil direct auflegt und beide Hörschläuche benutzt. Die geringste
Empfindlichkeit hat das Instrument bei Anwendung beider Scheiben und nur
eines Schlauches. Bei Auscultation engbegrenzter Gebiete benutzt man das
aufgeschraubte Stäbchen.
Die praktische Verwendbarkeit des Phonendoskops gilt nach
der Ausicht des Erfinders in 2 Richtungen. Einmal soll das Instrument
die spontanen normalen und pathologischen Töne und Geräusche des Organis-
mus in verstärkter Weise vernehmen lassen und deshalb auch solche akustische
Phänomene zur Wahrnehmung bringen, die bei den gewöhnlichen Hilfsmitteln der
Auscultation verborgen bleiben. Auf diese Weise vermittelt das Phonendoskop die
Athemgeräp«che (g. Fig. 89), die Töne und Geräusche des Blutkreislaufs, der
Verdauungsorgane, des Ohrs etc. im gesunden und kranken Körper, ferner die
Muskel-, Gelenk- und Knochengeräusche /bei Fraetnren etc.), die Geräusche der
graviden Gebärmutter und die fötalen Herztöne, endlich die Geräusche der
Capillarcirculation („Dermatopbonie“/. Dabei betont Bianchi, dass die Verwendung
von 2 Instrumenten in ausgedehntem Masse eine vergleichende Auscultation er-
möglicht. Indem mau auf die beiden corrcspondirenden Stellen je ein Phoneudo-
Fig. Ss.
Digi
i Dy
Google
PHONENDOSKOP.
519
skop auflegt und je einen Schlaoch der beiden Instrumente in das Ohr steckt,
vollzieht sich die Tonlibertragung von den beiden l'ntersuchungspunkten zu-
gleich, und indem man abwechselnd durch momentanen Verschluss des Gummi-
schlauchs die Tonperception von der einen oder anderen Richtung her unter-
bricht, kann man eine unmittelbare Vergleichung der akustischen Philnomene
erreichen.
Ausser der Vermittlung der spontanen Schallerseheinungen des Körpere
soll aber die Pbonendoskopie durch künstlich in den Organen hervorgerufene
Schwingungen die Form, die Lage, die Dichte und die gegenseitigen Beziehungen
der einzelnen Organe zu erkennen geben und damit die Percussion ersetzen. Zu
dieser Untersuchung benutzt man, wie Biaxchi angiebt, das Phonendoskop mit
dem geknöpften Stübchen, das man an einer Stelle über dem zu untersuchenden
Fig. 89.
Organ fest auf die Haut drückt, während man zumeist nur einen Ilörschlauch
benutzt. Es genügt . mit dem Zeigefinger der rechten Hand in der Nähe des
Stäbchens unter gelindem Dinck über die Haut zu streichen, um eine ziemlich
deutlich bemerkbare Schwingung wahrzunehmen, -welche je nach der Dichte und
Spannung des untersuchten Organs verschieden ist (cf. Fig. 90). Dann streicht
man in derselben Weise etwas entfernt von der ersten Stelle; erhält man
keine Schwingung oder nur eine sehr schwache, so fährt man fort, von aussen
nach dem Knopf des Stäbchens hinzustreichen, und zeichnet mit einem Bunt-
stift die Stelle an , bei welcher das Auftreten einer deutlichen Schwingung, die
im Ton der beim Streichen in der Nähe des Stäbchens gehörten ähnlich ist, sich
kundgiebt. Wenn man so rund um das Stäbchen herum fortfährt und dabei darauf
achtet, convergent von aussen nach dem Stäbchen hinzustreichen (und in zweifel-
haften Fällen als Gegenprobe vom Stäbchen nach aussen), so kann man eine
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520
I’UOXENDOSKOP.
Reihe von Punkten festlegen , welche bei Vereinigung durch eine Linie die
Zeichnung des Umrisses des untersuchten Eingeweides ergeben.
Einige vom Verfasser näher erörterte Vorsichtsmaßregeln sind bei diesem
Verfahren nöthig ; sie im einzelnen wiederzugeben wurde uns an dieser Stelle
zu weit führen.
Was BlAXCHI auf diese Weise zur Anschauung bringen will, ist aller-
dings geeignet, das Erstaunen im höchsten Grade wachzurufen. Die folgenden
— wörtlich reproducirten — Auseinandersetzungen des Autors liefern Uber die
detaillirte Methodik und die Resultate seiner Untersuchungen hinreichenden
Aufschluss.
„Vorderseite des Körpers: Lungen: Man setzt das Phonendoskop
auf, ober- und unterhalb der Clavicula fllr den Überlappen, im 3. lntereostal-
raum für den Mittellappen, im 4. für den Unterlappen, stets iu der Semiclavi-
eularlinie beider Seiten. — Nicht sehr starke Schwingungen. — Man
bestimmt auf diese Weise den Umfang der Lungen, deren Abgrenzung in einzelne
Lappen, sowie die l'cbereinanderlagerung derselben. — Bei Vorhandensein eines
Rippenfellergusscs setzt man das Instrument an denselben Stellen auf und lässt —
sie- so-
nach Untersuchung in Rückenlage und mit aufgerichtetem Uberkörper — den
Kranken sieh zuerst auf die rechte und dann auf die linke Seite legen, um die
Verschiebung des Fltlssigkeitsnivcaus zu sehen. Starke Schwingungen.
Herz: Zur Bestimmung der Lage des Herzens setzt man das Phon-
endoskop in der linken Parasternallinie, 4. Intereostalraum, auf; für den rechten
Ventrikel etwas tiefer nach links, für die rechte Vorkammer etwas tiefer nach
rechts, für den linken Ventrikel etwas höher nach links, für das grosse Gefäss-
bündel etwas höher nach rechts. Starke Schwingungen. — Mau eruirt auf diese
Weise den genauen Umfang des Herzens, dessen Theilungen in Kammern und Vor-
kammern, erkennt die Lage der grossen Gefässe, sowie des Herzens selbst hin-
sichtlich der Wandstäudigkeit (Kig. SU).
Leber: Das Phonendoskop wird der Reihe nach aufgesetzt: unterhalb
des Processus xy/jlioilcos, in der rechten Mammillarlinie im 7. Intercostalraum,
im 9. Intercostalraum über der mittleren Axillarlinie. Starke Schwingungen.
Magen: Man setzt das Phonendoskop auf im 7. Intercostalraum über
der linken Semidavicularlinie und dann auf die Linea alLa neben dem linken
Rippenbogen. Bei gefülltem Magen setzt man das Instrument gleich unterhalb der
grossen Curvatur auf. Auf diese Weise lassen sich nncliweisen das l’ylorus- und
das Kardiaende des Magens, die Windungen des Darms, sowie das Vorhanden-
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PHONENDOSKOP.
521
sein flüssigen oder gasförmigen Inhalts; ebenso auch die Veränderungen der Form
und Lageder Gedärme wie des Inhalts bei Positionswechsel des Kranken. .Schwache
Schwingungen für den Gasraum, starke für den flüssigeu Inhalt.
Colon: Für das Coecum und Colon ascendens setzt man das Instrument
in der Foesa ilinca d extra und unter dem Rippenbogen in der vorderen und
mittleren Axillarlinie auf; für das Colon transcemum an 2 oder 3 Punkten, je
nach der Ausdehnung, oberhalb einer Linie, welche von rechts nach links über
den Nabel geht und gegen den linken Rippenbogen zur mittleren und hinteren
Axillarlinie aufsteigt; für das Colon descendens unterhalb des linken Rippen-
bogens in der mittleren Axillarlinie und neben der Spina anterior superior des
Darmbeins. Die Art der Schwingung hängt von dem Inhalte ab.
Fig. 91. Fi". 93.
Blase: Das Instrument wird auf der Linea alba über dem Schambein
aufgesetzt. Schwache Schwingungen, wenn die Blase leer, starke,
wenn sie mit Flüssigkeit angefüllt ist.
Ascitesflüssigkeit: Es ist nöthig, dass das Instrument beiderseits auf
die vordere Axillarlinie und auf die Linea alba unterhalb der querlanfcnden
L'mbilicallinic aufgesetzt werde ; während der Untersuchung muss der Kranke
sich in Rückenlage, dann aufrecht sitzend und auf den Füssen stehend befinden.
Starke Schwingungen.
Neubildungen, sowie tiefer liegende Organe (Niere, Milz),
by pertrophirte Drüsen kann man aufzeiehnen, wenn man das Instrument auf
die Mitte der betreffenden Organe aufsetzt und die Umgebung streicht.
Untersuchung der Rückseite des Körpers. Lungen: Man setzt
das Phonendoskop beiderseits auf der Scnpularlinie in der Höhe zwischen dem
1. und dem 4. Brustwirbel (Oberlappen), zwischen dem 7. und 10. Brustwirbel
(Unterlappen) auf.
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522
PHONENDOSKOP. — PHOSPHORNEKROSE.
Leber: Das Phonendoskop wird auf der rechten Scapularlinie in der
Höhe des 12. Brustwirbels aufgesetzt.
Milz : Das Phonendoskop wird auf die linke hintere und mittlere Axillar-
linie in den Zwischenräumen der letzten Rippen aufgesetzt.
Nieren: Das Phonendoskop wird ein wenig innerhalb der Semiseapular-
linie gleich unterhalb des Bereichs der Leber und der Milz (Fig. 92; aufgesetzt/
Controlirendc Mittheilungen anderer Autoren über die Brauchbarkeit des
Phonendoskops liegen meines Wissens nur in sehr wenigen, und zwar ausschliess-
lich französischen Arbeiten vor. Die Angaben BlANCHl’s über die Abgrenzung der
einzelnen Lungenlappen, der Herzhöhlen etc. sind wohl a limine — mindestens —
mit grösstem Zweifel aufzunehmen.
Meine eigenen noch nicht sehr zahlreichen Versuche mit dem Phonendo-
skop lassen mich einstweilen folgendes Urtheil über seine Brauchbarkeit fällen.
Das Phonendoskop ist handlicher als das gewöhnliche Stethoskop; es gestattet
dem Arzte, die Auscultation des Patienten in grösserem Abstande von demselben
vorzunehmen , die Stellung des Arztes (speciell die Kopfhaltung) bei der* Pbon-
endnskopie ist eine angenehmere, man kann sich der Haltung des Patienten besser
adaptiren, was ganz besonders bei den lebhaften Bewegungen der Kinder von
Vortheil ist. Mittels des Stäbchens kann man auch an Stellen nusrnltiren , die
dem blossen Ohr oder Stethoskop schwer oder gar nicht zugänglich sind. Die
akustischen Phänomene werden in unvergleichlich intensiverer Weise als durch das
Stethoskop vermittelt ; das ist ein Vortheil, der — bei manchen undeutlichen Ge-
räuschen — unter gewöhnlichen Verhältnissen bedeutungsvoll sein kann, der aber
ferner für schwerhörige Aerzte das Instrument unschätzbar machen dürfte. Bei
der Auscultation mit aufgelegter Scheibe fallen die Nebengeräusche, die durch Druck
des Stethoskops hervorgerufen werden können, fort; das macht sich namentlich
bei der Untersuchung des Herzens (speciell des kindlichen) oft angenehm geltend.
Der Klangcharakter der akustischen Phänomene wird durch das Phonendoskop
nicht verändert. Schliesslich möchte ich es für den klinischen Unterricht als
grossen Vortheil bezeichnen, dass mehrere Untersucher zu gleicher Zeit dieselbe
Organstelle untersuchen können. — Meiner Meinung nach genügen diese Eigen-
schaften des Phonendoskops, um ihm einen dauernden Platz im Instrumentarium
des Arztes zu sichern. Freilich unter der von mir zur Zeit noch nicht zu beur-
theilenden Bedingung, dass der Apparat seine Haltbarkeit für längere Zeit bewahrt.
J. Schwalbe.
Phosphnrnekrose. Man hat neuerdings in der Schweiz unter beson-
derer Hervorhebung der hygienischen Rücksichten zur Bekämpfung der chronischen
Phosphorvergiftung, beziehungsweise Verhütung der Phosphornekrose die Mono
polisirung der Zündhölzchen einzuführen versucht; doch wurde diese vom Bundes-
rathe angenommene Massregel durch die Volksabstimmung verworfen. Nach unserem
Erachten mit Recht, weil man in der That im Stande ist, durch ein Verbot des
gewöhnlichen Phosphors dasselbe und besser zu erreichen, was man in der Schweiz
durch Monopolisirung erstreben wollte. Denn dass die Monopolisirung keines-
wegs immer die Abhaltuug der Phosphornekrose oder auch nur deren Beschrän-
kung zur Folge hat , das beweisen die neuesten Verhältnisse dieses Leidens in
Frankreich. Dort ist seit 1889, wo der Staat die Zündhölzer monopolisirte, trotz
des Versprechens des damaligen Finanzministers, die von den vornehmsten medi-
cinisehen Körperschaften gestellte dringende Vorstellung, die Zündhölzchen mit
gewöhnlichem Phosphor abzuschatfen , prüfen und im Sinne der berechtigten
Forderung der Hygiene erledigen zu wollen, Nichts im Interesse der Arbeiter
in Zündhölzchenfabriken geschehen. Der damalige Finanzminister ist dann , wie
es in Paris Sitte ist, bald hernach wieder Privatmann geworden und seine Nach-
folger haben die Prüfung der Frage vom finanziellen Standpunkte nicht weiter
verfolgt. Hätte man das Monopol nicht eingeführt , so würde das Drängen der
Hygieniker doch bestimmt zu der besseren staatlichen Beaufsichtigung der Fabriken
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PHOSPHORNEKROSE
52 t
geführt haben ; jetzt aber sind die Fabriken in den Händen des Staates und es
bleibt damit beim Alten. Die Sorglosigkeit, mit der man dort verfährt, und der
gesundheitswidrige Zustand der Fabriken in Paris sind nach dem Eingeständnisse
eines Pariser Arztes, Magitot, geradezu horrend; es sind nach seinen eigenen
Worten „wahre Herde der Intoxication, bei deren Zustande man sieh keineswegs
Uber die Menge der Zufälle, die dort Vorkommen, wandern kann“, ln einzelnen
Districten Frankreichs sind allerdings die Verhältnisse besser , z. B. in Algier,
und die Fabriken bieten hier, wie in Italien in Turin und Monealieri, genügende
Ventilation, um die Phosphordämpfe zum grössten Tlieile aus den Werkstätten
entweichen zn lassen, ln der That ist die Zahl der Kranken mit Phosphornekrose
in Frankreich bedeutend gestiegen, und MAGITOT hat in den beiden in der Nähe
von Paris belegenen Fabriken von Pantin und Aubervilliers nicht weniger als
24 Fälle eonstatirt. Dazu kommt noch eine grössere Zahl aus den Departements,
wonach in Frankreich, als gegenwärtig sicher eonstatirt, nicht weniger als 34 Fälle
angesehen werden müssen. Dass hier dringend Abhilfe nöthig ist, liegt auf der Hand.
Die Frage , wie die Phosphornekrose zustande komme , ist noch immer
nicht mit Sicherheit entschieden. Nachdem man Jahre lang die Affeetion als eine
locale angesehen hat, neigt mau sich in Frankreich jetzt wieder der alten Theorie
zu, wonach es sich um ein durch die Phosphordämpfe verschuldetes Allgemein-
leiden, das zu gewissen localen Erscheinungen prädisponirt , handle. Nach der
Angabe Peli.AT’s, des Arztes der beiden oben genannten ZUndhölzchenfabriken
von Pantin und Aubervilliers, bietet eine grosse Zahl der Arbeiter besondere
krankhafte Erscheinungen, ihre ganze Haltung deutet auf Schwäche und Gebrech-
lichkeit, Magerkeit, Blässe und eine subicterisehe Färbung des Gesichtes sind
vorhanden, dazu kommt constant Knoblauchgeruch des Atliems, der mitunter im
Dunkeln leuchtet, und der Perspiration, manchmal sogar noch längere Zeit nach
dem Aufgeben der Arbeit anhaltend. Die Arbeiter leiden häufig au oft sehr
hartnäckigen Durchfällen , manche auch an Nephritis und Cystitis und bei fast
allen findet sich Eiweiss im Harn. Coryza und Bronchitis , mitunter mit Er-
stickungsanfüllen , kommen nicht selten vor. Auffällig ist die Häufigkeit von
Knochenbrüchen , seihst bei geringfügigen Gelegenheiten und deren langsame
Consolidation, ferner die leichte Entstehung von Nekrose an freigelegten Knochen,
besonders auch nach Zahnextractionen am Kiefer hervortretend. Nach Unter-
suchungen von Moxfet über das Verhalten des Harns bei 9 Kranken, -die an
Phosphornekrose litten, ist Phosphorgeruok des Urins und Abgabe von Dämpfen
phosphoriger Säure nicht selten : vereinzelt kommt sogar Phosphorescenz vor.
Der Phosphorgeruch des Harns soll sogar bei Arbeitern zu beobachten sein, die
schon Monate lang nicht mit Phosphor in Berührung gekommen sind. Von neun
untersuchten Harnen enthielten sieben geringe Mengen Eiweiss, einer Indican (bei
Diarrhoe). Auffällig geändert ist constant das Verhältniss der mineralischen Ele-
mente des Harns zu den llarnelementen überhaupt, statt der normalen Zahl 30
kommen Werthe von 51 — 5ti vor. Die Menge des Harnstoffs sinkt, in manchen
Fällen unter die Hälfte der Norm ; ebenso ist die Ausscheidung der Phosphor-
sänre und das Verhältniss dieser zum Gesammtstickstoff, ferner die von Kalk
und Magnesia herabgesetzt, während Schwefelsäure und Chlor vermehrt sind. Das
Verhalten der Mineralsäuren des Harns steht übrigens im Einklänge zu der von
Gai'TRKlet und Pean geäusserten Ansicht, dass der Phosphornekrose eine Kachexie
mit Hyperacidität des Blutplasma zu Grunde liege.
ln Bezug auf die Behandlung der Phosphornekrose befürwortet Magitot
die climinntoriscbe Behandlung unter Anwendung absoluter Milchdiät bei gleich-
zeitiger Anwendung von Oxydantien (Snuerstoffinlialntionen, Ozon, nicht rectiticirtes
Terpentinöl) uud localen Gebrauch antiseptischer Mittel (Thymollösung, 0,25 : 1000
mit Natriumbicarbouat). Operative Eingriffe sind erst nach Beseitigung der
Kachexie erlaubt.
Literatur: Magitot, her aeeldents industriell de phosphore et in partieulier
du phosphoritme. Bull, tle l’Acad. üe Med. Nr. 10, pag. 207. Husemana.
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m
PILZVERGIFTUNG.
Pilzvergiftung. Dass das von Kobert in Amanita phalloides auf-
gefundene, als Blutgift wirkende Phallin (vergl. Eneyelopäd. Jahrb., II, pag. 561)
nicht für gewöhnlich die Ursache der beim Menschen beobachteten Intoxicatioo
sein kann, geht aus dem Umstande hervor, dass die Toxieitiit des zu den Toxal-
buminen gehörigen Stoffes durch Siedhitze zerstört wird und die Vergiftungen
stets durch gekochte Pilze herbeigeführt werden. Zu demselben Resultate führt
die Erwägung, dass das Krankheitsbild und der Sectionsbefund in älteren beob-
achteten Fällen dieser Art in keiner Weise denjenigen der durch Gifte veran-
lassten Hämoglobinämie und Hämoglobinurie entspricht. Schon Mascbka ist die
Füllung der Blase mit hellgelbem Urin bei durch Amanita phalloides zugrunde
gegangenen Menschen aufgefallen, die sich auch bei Thieren constant findet1)
und eine Hämoglobinurie mit Sicherheit ausschliesst. Die an sich schon unzulässige
Erklärung, dass den früheren Aerzten Beobachtungsfehler untergelaufen seien,
wird völlig hinfällig durch neuere Fälle in München, bei denen sorgfältig darauf
geachtet wurde, ob Blutrothzcrsetzung während der Krankheit und nach dem
Tode vorkäme. In 5 im August 1894 vorgekommenen Fällen, von denen 2 tödt-
licli verliefen, bestanden die Symptome entweder in choleriformen Anfällen, bei
denen die Diarrhoe sich 60 — 80mal in 24 Stunden wiederholte, mit Waden-
krämpfen und einzelnen Muskclzuckungen, aber sonst ohne bedeutende cerebrale
Symptome, oder bei wenig ausgesprochenen oder verhältnissmässig rasch vorüber-
gehenden gastrointestinalen Erscheinungen in starken nervösen Symptomen
(Somnolenz, Delirien, allgemeine Convulsionen). In allen diesen Fällen fehlte Lebw-
schmerz und Icterus, auch bestand keine Anurie. auch war der Harn von hell-
gelber Farbe und völlig hämoglobinfrei. Bei der Scction ergab sich neben rer-
hältnissinässig geringfügigen Veränderungen im Darm und Ekehvmosen in
Tractus und anderen Organen höchst intensive fettige Entartung der Leber,
die 68,9 und 53,6°/o Fett , somit Mengen, wie sie nur bei acuter Phosphor-
und chronischer Alkoholvergiftung existiren, enthielt, ferner der Niereu tind
des Herzfleisches. Dass übrigens mitunter Anurie bei Vergiftung mit .4»uj-
nita pfialloides vorkommt , beweisen zwei andere iu München im September
1894 vorgekommene Vergiftungen, in denen diese als wesentliches Symptom
neben dem nach heftiger Gastroenteritis sich entwickelnden Koma mit starker
l’ulsvcrlangsamung angegeben wird und bei der Section die Blase leer angetroffen
wurde ; auch hier war die fettige Degeneration der Leber sehr ausgesprochen.
Auffällig war bei den im August Erkrankten die bei den in Genesung endigenden
Kranken ausgesprochene Mydriasis, während bei einer 1886 in München vorge-
kommencu Intoxicatioo mehrerer Personen mit sonst gleichem lntoxicationsbilde
und Sectionsbefunde Myosis constatirt wurde.2)
Ob übrigens nicht unter besonderen Umständen der fragliche Giftpilz
doch zu Erscheinungen, die auf die Einwirkung von Phallin hinweisen. führen
kann, möchten wir nicht von der Hand weisen. Dass die Zubereitung des Pilzes
von wesentlichem Einflüsse ist, beweisen auch die Münchener Fälle, die ein weit
kürzeres Intervall als das gewöhnlich 10 — 12 und mehr Stunden lietrageude
Intervall der Intoxication durch den Knollenblätterpilz aufweisen. Der Erkrankungs-
grnud liegt darin , dass der Pilz in der Form der Schwammsuppe genossen
wurde, in welcher das Gift in der Flüssigkeit gelöst ist. Bei Zubereitungen, in
denen die Pilze nur wenig oder nur an der Oberfläche mit der Siedhitze in
Berührung kommen, z. B. beim Backen nur grob zerschnittener Pilze in der
Pfanne, kann recht wohl ein Theil des iu rohen Pilzen vorhanden Pballins un-
zerstört bleiben und seine Wirkung änssern. So scheint es in einem neueren
italienischen Falle gewesen zu sein, in dem Amanita phalloides var. citnna
mit Sicherheit als die giftige Pilzart erkannt wurde. Hier kam es nach 10 — 18
Stunden zu choleriformen Erscheinungen mit Mvose und Speichelfluss, dann vom
7. Tage ab zu Icterus der Conjunctiva und der Haut, später auch zu Epistaxis
und Cyanose. Der Fall ist besonders merkwürdig dadurch, dass die Kranken
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PILZVERGIFTUNG. — PNEUMOTOMIE.
525
dieselben Pilze früher in Wasser gekocht naeh Abgiessen der Brühe häufig
ohne Schaden genossen haben wollten , was nach dem bekannten Entgiftungs-
verfahren von (If.rakd wohl kaum bezweifelt werden kann.5)
In den Münchener Fällen scheinen Kampferinjectionen von grossem
Werthe gewesen zu sein. Viel gerühmt sind bei den choleriformen Pilzvergiftungen
neuerdings auch wiederholte Injectinnen von Strychnin4) in kleinen Einzel-
gaben (0,001).
Literatur: ') Seibert, Beiträge zur Toxikologie der Amanita phalloides.
Mfincben 1893- — 5) Tappeiner. Bericht über einige im August und September des Jahres
1894 in München vorgekommene Schwammvergiftungen. Münchener med. Wochensehr. 1895,
Nr. 7, pag 133. — Verhandlungen des ärztlichen Vereines München vom 14. November 1894.
Ebenda. Nr. 8, pag. 176. — 3) Parona. Trr casi di veneßcio per funghi. Giorn. della
Soc. d'Igiene. 1893, Nr. 1, pag. 25. — *) Koenigsdö rffer, Sechs Fälle von Pilzvergiftung
mit Ausgang in Heilung. Therap. Monatsh. November 1892, pag. 571. Husemann.
Piperazin, bei Glaukom, pag. 219.
Pityriasis, rose e de Gibert, s. Dermatomykosen, pag. 112
Pneumotomie; Pneumektomie. Die Fortschritte, welche die Lungen-
chirurgie in den letzten Jahren errungen hat, halten sich in bescheidenen Grenzen.
Wie die Höhlenchirurgie überhaupt innerhalb des Thorax keine nennenswerthen
Triumphe feiert, viel geringere als in der Schädelhöhle und namentlich an den
Organen des Unterleibes, so entsprechen die Erfolge des Messers im Besonderen bei
den chirurgischen Lungenkrankheiten noch lange nicht den Erwartungen, zu denen
manche Forscher schon vor einer Reihe von Jahren sieh berechtigt glaubten.
Die Gründe für diese Thatsachen liegen klar zu Tage. Die Schwere der Grund-
krankheit, die eigenartige Structur dieses lebenswichtigen Organs, die Schwierig-
keit der Diagnose und die unvollkommene Zugänglichkeit zu dem Operationsgebiet
schrecken selbst den kühnsten Chirurgen vor radiealen Eingriffen zurück und be-
dingen es, dass die mangelhaften , zuui Theil völlig unzulänglichen Erfolge der
inneren Medicin von chirurgischer Seite nur geringe Aufbesserung erfahren.
Gleichwohl muss anerkannt werden, dass sich in dem letzten Lustrum, auf
das sich unser Bericht erstreckt, die günstigen Ausgänge der vorgenommenen
Lungenoperationen vermehrt haben, Dank der Vervollkommnung der chirurgischen
Technik und dem erspriesslichen Zusammenwirken von innerer Medicin und
Chirurgie.
Als speeifisch chirurgische Eingriffe in das pathologische Lungengewebe
betrachtet] wir lediglich die Pneumotomie oder den Lungenschnitt, und die Pneu-
mektomie oder Lungenresection. Die Punction und die daran geschlossenen gleich-
wertigen Maassnahineu haben sich so sehr als Rüstzeug der inneren Medicin
eingebürgert, dass sie — zumal bei der Geringfügigkeit ihrer Technik — ans
unserer Erörterung ausgeschieden werden können.
Die Pneumotomie, deren erste Anfänge bekanntlich in das 17. Jahr-
hundert*) zurückreicben, zieht die Lungeneiterungen und den (nicht erweiterten)
Lungenechinococcus in ihr Operationsgebiet. Zu den Lungeneiterungen gehören
der einfache acute und chronische Abscess, der acute und chronische gangränöse
Abscess, die einfachen und putriden Bronchiektasien, die putriden Eiterungen nach
Fremdkörpern. Eine Sonderstellung nehmen die tuberkulöse Eiterung und der ver-
eiterte Echinococcus ein.
Ich gebe zunächst die gesummte Literatur unseres Berichtsgebiets aus
den letzten 5 Jahren, soweit sie mir aus Originalien und Referaten zugänglich
*) Eine interessante Uebersicht Uber den Stund der Pneumotomie im Jahre 1793
gjebt die — wie ich sehe, sonst nicht citirte — Arbeit von J. J. Gumpreeht, De pulmonum
abecessu ope vhirurgira aperiendo. Dissert. inang. Göttingen 1793. Ich kann es mir nicht
versagen, im Verlauf meines Aufsatzes daraus einige einschlägige Bemerkungen zu citiren, aus
denen eine Uebereinstimmung mit den heutigen Grundsätzen der Antoren hervorgeht
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526
PNEUMOTOMIE.
war. Als werthvolle Quelle filr mein Material ist die kürzlich erschienene Mono-
graphie von Quincke, lieber Pneumotomie, Mittheilungen aus den Grenz-
gebieten der Medicin und Chirurgie, 1895, 1, Heft 1 besonders hervorzuheben.
I. Pneumotomie.
A. Lungeneiterungen.
1. Acute einfache Abscesse.
1. Greene, Pulmonary abscess suryically treated: recovery. Lancet,
1891, I, pag. 293.
bjähriger Knabe. 3 Wochen nach überstandener linksseitiger croupöser Pneumonie
hektisches Fieber und eitriges Sputum. In der Gegend des V. Intereostalraumes Empfindlich-
keit auf Druck. Nach 2 Wochen Incision an dieser Stelle in der Axillarlinie ergiebt Eiter;
völlige Entleerung des etwa 3 Cm. tief im Lungengewebe gelegenen Abscesses durch Incision:
Drainage. Heilung nach 12 Tagen.
2. Huber, Abscess of lung. Transaction of the Amor. Paediatric Society.
1892, UI, pag. 235 und Med. News. 17. October 1891.
4jähriger Knabe. Nach linksseitiger Pleurapneumonie entwickelt sich innerhalb
4 Wochen ein Lungenabscess in der Regio in/raclacicularis. Die Diagnose wird durch Probe-
punction festjrestellt. Am nächsten Tage Incision im III. Intercostalraum ; erst nach mehreren
Incisionen gelingt es, den Eiter wiederzufinden. Stumpfe Dilatation des Pnnctionscanals, Drainage.
Nach der Operation neue linksseitige Pneumonie. Heilung nach acht Monaten.
3. Hoerbye in der Discussion zu Winge. Operative Behandlung der
Lungenkrankheiten im Allgemeinen. Norsk Magazin. 1891, pag. 11. (Ref. in
Virchow-Hirsch’s Jahresber.)
2* Jähriges Kind. Rechtsseitiger Lungenabscess nach Laugetrinken. Resection der
VII. Rip]>e in der Axillargegend. 2 Cm. tiefer Abscess mit dem Thermokauter geöffnet, 2 Thee-
löflel Eiter entleert. Drainage; Heilung.
4. Trzkbicky, Ein Beitrag zur Lungenchirurgie. Wiener med. Wochenschr.
1893, Nr. 21 22.
Fall 1. 42jübrige Frau mit acutem metastatischen puerperalen Lungenabscess, Zuerst
seröse Pleuritis. Diese resorbirt sich. Dann Schüttelfröste, Dyspnoe, hartnäckiger Husten mit
eitrigem Sputum. Ca verne im rechten Unterlappen. Probepunction ergiebt Eiter. Da Operation
verweigert wird, Aspiration von 50(1 Ccm. mit dem Potain’schen Apparat. Besserung. Am
3. Tage wieder starke Verschlimmerung. Resection der rechten VII. Rippe. Collaps der nicht
angewachsenen Lunge. Eröffnung der Caveme mit dem Messer. Entleerung von reichlichem
Eiter. Drainage. 10 Stunden nach der Operation Tod.
5. Fairchild, Pneumotomy for abscess of lung : recovery. Chicago
Clinical Review. 1893, Nr. 23.
55jähriger Mann. Lungenabscess nach acuter Pneumonie. Probepunction im V. Inter-
coBtalraum erzielt Eiter. Incision, Resection der V. Rippe. Abfluss von circa 11 Unzen Eiter,
Drainage. Heilung nach 1 Jahr.
2. Chronische einfache Abscesse.
6. Andrews, Pneumotomy for abscess of right lung, and removal of
large calcareous deposit through the ehest wall, Med. Record. 1892. (Ref.)
7. Neubeb, Vorstellung eines geheilten Lungenahscesses. Mitth. des Ver-
eins Schleswig-Holstein’scher Aerzte. 1894, Nr. 3, pag. 55.
45jähriger Mann. Chronischer Abscess im rechten Unterlappen, an geschlossen an
einen Bronchialdrüse nabscess. Smonatlicher Bestand des Leidens. Resection der VIII. — X. Rippe
auf 8 Cm., darauf Incision des Abscesses. Letzterer liegt 5 — 6 Cm. tief, ist 500 Ccm. gross,
enthält noch Kalkconcremente. Unvollkommene Heilung mit Fistel. Patient fühlt sich völlig gesund.
3. Chronische einfache Bronchiektasen.
8. Coupland, Clinical lecture on basic pulmonary cavities f their
diagnosts and t reale ment. Lancet. 15. October 1892.
lBjähriges Mädchen. Chronische Bronchiektasien des linken Unterlappens. Nach Punc-
tion einer Bronchiektasie Entzündung im Sticlicanal. Deshalb Incision, Rippenresection, Er-
öffnung der Höhle. Bei letzterem Act plötzlich Livor, Schweiss, Stertor, Pulsschwäche, weite
Pupillen. Tod nach 20 Minuten. Bei der Section Blut und Schleim in den Bronchien.
9. Stewart, On the treatement of bronchiectasie. Brit. med. Journ.
Juni 1893.
Fall von bronchiektatischer Caverne. Eröffnung. Heilung.
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PNEUMOTOMIE.
527
10. Quincke, Ueber Pneumotomie. Mitth. a. d. Grenzgebieten d. Medicin
u. Chirurgie. 1895, Heft 1, pag. 20/21.
25jähriger Mann. Aetiologie der Krankheit unsicher. Wahrscheinlich länger beste-
hende multiple Bronchiektasien verschlimmert durch doppelseitige acute Pneumonie. Im linken
Unterlappen Cavcrnensymptome. Resection der IX. — XI. Rippe nach vorangegangener Chlor-
zinkbebandlung. Einbohrung eines Fistelcanals in die Lunge mittels des Thermokauters ; dabei
anscheinend Eröffnung eines Bronchus. Nach zwei Monaten Heilung (verzögert durch Wund-
erysipel), freilich nicht absolute, sondern nur für das subjective Befinden des Patienten (Husten
und Auswarf sehr gering; über der Narbe bronchiales Exspirium , bisweilen mit klein- und
gross blasigem Rasseln).
11. Quincke, ebenda.
34jähriger Mann. Multiple Bronchiektasien und Schrumpfung im linken Unterlappen,
wahrscheinlich im Anschluss an eine vor 17 Jahren überstandene Pneumonie, verschlimmert vor
1 Jahr durch Pneumonie und Influenza. Höhlenerscheinungen nicht vorhanden. Nach Chlor-
zinkbehandlung wird die IX. und X. Rippe zu je 5 Cm. resecirt. Mittels Chlorzink und Thermo-
kauter wird ein grösserer Bronchus eröffnet und der Eiter entleert. Nach \iermonatlicher Be-
handlung mit Fistel gebessert entlassen, da LO Tuberkulose einsetzt.
12. Quincke, ebenda.
36jähriger Mann. Bronchiektasie im linken Unterlappen als Folgezustand chronischer
circa 12 Jahre bestehender Bronchitis. (Tuberkulose verdächtig. Ref.) Sputum dreischichtig, ent-
hält elastische Fasern. Probepunction im IX. Intercostalraum. LHU ergieht sich das Vorhanden-
sein eines grösseren Hohlrauraes. Resection der IX. und X. Rippe auf 6 bezw. 7 Cm. Chlor-
zinkbehandlung. Keine Eröffnung der Caverne; durch Schrumpfung des linken Unterlappens
wird aber Besserung erzielt.
13. Bioxdi. Contributo alla chirurqica polmonare. La clinica chirurgica.
1895, Nr. 10.
26jäbriger Mann. Zahlreiche Bronchiektasien im linken Unterlappen, welche eine
grössere Caverne vortäuschten. Pleuritis. Pneumotomie. Allgemeine Sepsis und Tod nach 2 Tagen.
4. Acote gangränöse Abscesse.
14. Thue, Fall von operirter Lungengangrän mit Empyem. Heilung.
■Später Tod infolge Perikarditis. Norsk Magazin. 1891, pag. 289. (Ref. Virchow-
Hirsch’s Jahresber.)
37jäbriger Mann. Acute Gangrän im rechten Überlappen nach fieberhafter Bronchitis
und doppelseitiger seröser Pleuritis. Resection der III. und IV. Rippe. Annähung der Lunge
an die Brustwand, Eröffnung der Höhle mittels Thermokauter. 4 Wochen ohne Fieber, dann
rechtsseitiges Empyem. Operative Entfernung desselben. 31/* Wochen später Tod an Perikar-
ditis, ausgehend von vereiterter Drüse des Mediastinum anticum.
15. DE C£rexville, Deux observations de pneumotomie pour ganyrüne
du poumon. Revue med. de la Suiase romande. 1892, Nr. 4.
53jähriger Mann Acute Gangrän im linken Oberlappen bei alteren Bronchiektasien.
Nach etwa vierwöchentlicher Krankheitsdauer, Operation in extremis: Resection der V. Rippe
in der Axillarlinie und Eröffnung der grossen Caverne mittels des Thermokauters. Wenige
Stunden nach der Operation Exitus.
16. de Cerenville, ebenda.
ISjähriger Mann. Acute Gangrän bei Bronchiektasie nach Influenza im rechten Unter-
lappen. Nach 8wöchentlieher Krankheitsdauer Resection der IX. Rippe. Bei der Incision der
Pleura theilweise Retraction der Lunge, deshalb Pneumothorax. Annähung der Lunge an die
Pleura costafis , Incision der Caverne. 8 Tage später Incision einer 2. Caverne im XI. Inter-
eostalraum. Am 16. Behandlungstage wird der Pneumothorax fötid eiterig. Entleerung von
1 Liter Eiter durch Incision. Heilung nach 4 */a Monaten, dabei aber auscultatorisch noch
Höhlensymptome.
17. Pochat, Ein Beitrag zur Pathologie und operativen Behandlung
von Lungenabsceaaen. Dissert. inaug. Kiel 1895.
28jährige Frau. Putrider frischer Abscess im rechten Oberlappen nach Aspirations-
pneumonie. Nach 3wöchcntlichem Bestand des Leidens Chlorzinkbehandlung und Resection der
III. Rippe auf 31 t Cm. Spontaner Durchbruch der Höhle und Besserung des Befindens. Ver-
schlechterung des Zustandes, weil alte gutartige Bronchiektasien im rechten Unterlappen putride
werden, wahrscheinlich nach Infection durch den putriden Abscessinhalt. Nach lDwöclientlicher
Dauer der neuen Krankheit Chlorzinkbehandlung und Resection der IX. Rippe hinten. Broncho-
pneumonie: Tod nach 2 Tagen.
18. Quincke, Ueber Pneumotomie. Mitth. etc., pag. 9.
30jähriger Mann. Acute Lungenpangrän im unmittelbaren Anschluss an eine
Pneumonie, wahrscheinlich begünstigt durch alte Bronchitis nach Pneumonie. Caverne im
rechten Unterlappen. Probepunction im VII. Intercostalraum ergiebt Eiter. VIII.— X. Rippe
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PNEUMOTOMIE.
am folgenden Tape auf 6 Cm. resecirt. Probepunctionen ergeben keinen Eiter. Tamponade.
)i Tage später spontaner Durchbruch des Eiters. Erweiterung der Pertorationsdffnung mit dem
Thermokauter. Drainage. Heilung in 0 Wochen.
5. Chronische gangränöse Abscesse.
19. OkhleR, Casuistischer Beitrag zur Lungenchirurgie. Münchener med.
Wochenscbr. 1891, Nr. 41.
HOjähriger Mann. Chronischer gangränöser Abaceu im rechten Unterlappen nach
Pleuropneumonie. %p Jährige Krankheitsdauer. Bei der Resection der VII. Rippe entsteht durch
Einriss der Pleura ein Pneumothorax. Operation unterbrochen. Drainage der Pleurahöhle
Pneumothorax nach wenigen Tagen resorbirt. 4 Woeben später, nachdem sich Adhäsion der
Dunge ausgebildet hat. wird der Thermokauter in die Lunge in der Richtung der vermut licten
Höhle 5 Cm. tief eingesenkt. Operation unterbrochen wegen Husten und Asphyxie. Caverne
nicht eröffnet. Perforation erfolgt erst 2 Tage spater spontan. Bei Versuch, die Fistel zu schließen.
Verschlimmerung. Fistel besteht z. Z. 2 Jahre.
20. Krkcker, Lungenchirnrgie. Münchener med. Wochenscbr. 1891, Nr. 23.
üOjähriger Mann. Oesophagusstrictur nach Laugengenuss. Rechteseitige Lungcngangran
und eiterig jauchige Pleuritis. Sehr elender Zustand. Aeussere Oesophagotomie und Einführung
eines Gummirohres in den Magen. Rippenresection. Entleerung des pleuritischen Eiters. Dabei
gelingt es, den unter der Pleura gelegenen Gangränherd zu finden und zu eröffnen. Hühnerei-
grosse Höhle, 0 Stunden nach der Operation Tod.
21. Ibidem.
löjähriges Mädchen. Speiseröhrenstrictur nach Laugengenuss. Aeussere Oesophagv
turoie und Einführung eines Gummirohres in den Magen. Cominunication der Trachea und
des Oesophagus. Im rechten Unterlappen Gangrän. 14malige Probepunction vergeblich
endlich Aspiration einer schwärzlich braunen, fötiden Jauche. Resection von Rippen. Stumpfe
Ei Öffnung des Jaucheherdes. Tamponade mit Jodoformgaze. Besserung. Dann links seröse
Pleuritis. Wiederholt« Punction. Exitus. Bei der Section werden mehrere Abscesse in der linken
Lunge gefunden. Die rechte Gangranhöhle war in der Ausheilung begriffen.
22. Bi ll, Bidrag til Lingeoperationernes . Norsk Magazin f. Laege*
videnskahen 1891. (? Ref.)
23. BastiaKELLI, Pneumotomia per gangrena polmonare. Bull, di 8oc.
Lamisiana d. osped. di Roma. 1891. (? Ref.)
24. Delagekjere, Contribution h Vetude de la Chirurgie de la plrcrt
et dt s lobt 8 inferieurt s du poumon . Arcli. provinc. de chir. 111. (Ref. in Wiener
klin. Wochenscbr. 1892, pag. 568.)
HTjahriger Mann. Chronischer gangränöser Abscess des linken unteren Lungenlappetü
Incision an der IX. Rippe, Resection der VII. — IX. Rippe. Ineision der Pleura an der
IX. Rippe, Eröffnung der Höhle und Entleerung von 500 Grm Eiter mit schwärzlichem,
fölidem Detritus. Das ganze gangränöse Gewebe des linken Unterlappens wurde mittel*
l'ince te und Scheele abgetragen, so dass eine faustgrosse Caverne übrig blieb. Diese wurde
desiniieirt. In die Lungen- und Pleurahöhle je ein Drain eingeführt, die Pleura im Uebrigeo
vernäht. Nach einem Monat Entfernung der Drains, nach weiteren 6 Wochen Heilung.
25. PAUL et Pekikk, Observation de gangrine pulmonaire traitee
<dabord par les aspirations antiseptiques, puis par une Intervention chirurgicale.
Bull, de UAcad. 1892, Nr. 11. (Ref. in Virchow-Hirsch.)
Operation einer Lungengangrän und Heilung unter gleichzeitiger Anwendung aoti*
septischer Medicamente, besonders von Cainphernaphthol.
‘ 26. MONOD, Gangräne du poumon. Pneumotomie . Bull, et mein. de la
Soc. de chir. de Paris. 1892, XVIII.
Gangränöser Lungenabscess im mittleren Abschnitt der linken Lunge, nahe der
Wirbelsäule. Incision im VIII. Intercostalranm , 3 — 4 Ouerfinger breit nach aussen von der
Dorn fort satzl in ie. Erst nach Durchtrennung einer ziemlich dicken Schicht verdichteten Lnngea*
gewebes kommt man auf den Abscess. Resection der IX. Rippe. Drainage. Nach 8 Tagen Ent-
fernung des Drain. 10 Tage später Entlassung des Patienten mit Fistel. Dieselbe hat »ich
schnell geschlossen.
27. ÜOFMOKL, Zwei Fälle von cireumscripter Höhlenbildung in der Lunge
rach Pneumonie und putrider Bronchitis, geheilt durch Pneumotomie mit consecti-
tiver Drainage. Wiener med. Presse. 1892.
Fall a) Junger kräftiger Manu. Nach acuter rechtsseitiger Pleuropneumonie Luogrn-
abscess. Fast die ganze Rückseite rechts gedampft, consonirende, grossblasige Rasselgeräu-ch»*.
bronchiales Atlnnen, lotides Sputum. Am Angut us scapulae Rippenresection. Plenrae verwachsen
Mit Puquelin Hohle eröffnet. Heilung nach 6 Wochen.
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PNEUMOTOMIE.
529
28. Tbzebicki, Ein Beitrag zur Lungenchirurgie. Wiener med.
Wochenschr. 1893, Nr. 2.
58jähriger Mann. Chronische Gangrän im rechten Oberlappen. Aetiologie nicht
ganz sichergestellt, ^monatlicher Bestand des Leidens; Patient sehr hernntergekommen.
Nach Probepnnction Resection der IV. Rippe. Stumpfe Eröffnung der Gangränhöhle. Tod
nach IG Stunden.
29. White, Fneumotomy ticice in the Marne patient to the relief of
tuherculous ahsceMM and gangrene of the lang; recovery. Med. News. 1893,
14. Januar. (Ref. Virghow-Hibsch.)
2 Gangränhöhlen eröffnet. Heilung. Tuberkulose zweifelhaft.
30. PKIESTLEY Leech, Gangrenous abscess of the lung. Operation .
Recovery. Lancet. 13. Januar 1894.
22jähriger Mann. Chronischer Abscess mit secundärer Gangrän im linken Ober-
lappen. Krankheitsdauer 4 Monate. Trotz der Abwesenheit von Höhlensymptomen und trotz
negativen Ausfalls mehrfacher Probepunctionen Incision im II. Intercostalraum. Stumpfe Dila-
tation des Probepunctionscanals. Drainage Nach 6 Monaten Heilung.
31. Matignon, ConsüUrations sur t/n cas de pneumotomie pour abcbs
du poumon. Areh. gön. de m6d. 1894, pag. 162.
29jähriger Mann. Chronischer putrider Lungennbscess im rechten Oberlappen nach
Pneumonie. I'/Jäbrige Krankheitsdauer. Resection der II. Rippe. Nach Aspiration von Eiter
durch Probepnnction Eröffnung der circa 5 Cm. tief liegenden Höhle mittels des Thermokauters.
Nach aussen oben liegt eine zweite, mit der ersten Höhle communicirende Caveme; ebenfalls
Eröffnung durch Thermokauter. Drainage. Ausstopfung der Höhlen mit Jodoformgaze. Nach
circa 4 Wochen neue Eröffnung der fast vernarbten Wunde wegen mehrfacher Hämoptoe,
Thermokauter. Nach Klmonatlicher Behandlung Heilung.
32. Krause, F., Ueber operative Behandlung der Lungengangrän, nament-
lich hei gesunder Pleura. Berliner klin. Wochenschr. 1895, Nr. 16.
36jähriger Mann. Chronische Gangrän nach croupöser Pneumonie im linken Unter-
lappen. Nach Resection der IX. und X. Rippe und Einlage von Jodoformgaze Eröffnung der
apfclgrossen Höhle mit dem Thermokauter. Heilung in 6 Wochen.
33. Quincke, Ueber Pneumotomie, png. 23.
H9jähriger Mann. Chronischer gangränöser Abscess mit secundären Bronchiektasien
ira linken Unterlappen, lumonatliche Kmnkheitslauer. Nach Behandlung mit Chlorzinkpaste
Resection der VI. Rippe. Eröffnung der Höhle, nachdem Probepunction Eiter ergclien hat,
mittels Thermokauter. Infolge unzureichender Adhäsion der Lunge eitrige circumscripte Pleuritis.
Tod nach 3 Tagen.
34. Quincke, Ueber Pneumotomie, pag. 25.
34jaliriger Mann. Chronische putride Ab-cesse im linken Ober- und Unterlappen
nach Influenzapneumonie. 1 '/Jährige Krankheitsdaner. Patientsehr heruntergekommen. Resection
der 111. Rippe in der Axillarlinie. Eröffnung der Höhle mittels Messer und Thermokauters.
Tod 1 V, Stunden nach der Operation.
35. A. Lenz, Ein Fall von Pneumotomie. Centralbl. f. Cbir. 1896, Nr. 25.
47jähriger Mann Decemb**r 1895 erkrankt mit Schmerzen in der linken Brust.
Husten, übelriechendem Auswurf. Allmälige Verschlimmerung. Ende März hinten im Bereich
der VII. — IX. linken Rippe tbeils tympanitische. theils absolute Dämpfung mit amphorischem
Athmen und klingendem Rasseln. Eröffnung des gangränösen tiefliegenden Lungenabscesses mittels
Paquelin und stumpf in < hloroformnarkose bei rechter Seitenlage, nach Resection von 4*/* Cm
der IX. Rippe. Vorliegendes Lungeugewebe derb, mit der Pleura costalts leicht verwachsen.
Am 2. Tage nach der Operation starke Blutung aus der Caveme. Tamponade mit Jodoform-
gaze. Am 4- Tage rechtsseitige Pneumonie. Tod.
36. A. EsqüERDO, Revista de Ciencias Mcdicas di Barcelona. 1896, Nr. 11.
42jähriger Mann. Ende 1894 anscheinend rechtsseitige Influenzapneumonie. .Seitdem
Brustschmerzen. Husten, übelriechender Auswurf. Januar 189G Dämpfung RH von der Spina
bis zum Anyulus scapulae, daselbst abgeschwächtes Athemgeräusch. Resection der VII. Rippe.
Verbindung der beiden nicht verwachsenen Pleurablätter durch Catgutnähte, Eröffnung der
raittelapfelgrossen Caveme mittels Paquelin. Vorliegendes Lungengewebe derb intlltrirt. Tampo-
nade der Höhle mit Jodoformgaze. Bei späterer Ausspülung mit Borsäurelösung Husten und
Erstickungsanfälle. 8 Tage nach der Operation Ersatz der Tamponade durch Drain. Nach ca.
l'/i Monaten Heilung.
6. Chronische putride Bronchiektasien.
37. Hofmokl, Zwei Fälle von circumscripter Höhlenbildung in der Lunge
nacb Pneumonie und putrider Bronchitis , geheilt durch Pneumotomie mit con-
Encyclop. Jahrbücher. VI. 34
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PNEUMOTOMIE.
secutiver Drainage. Wiener med. Presse. 1892, Nr. 48/49. Vergl. dazu Wiener
klin. Woehenschr, 1893, pag. 68.
Fall b) 25jähriger Mann. Bronchitis chronica. 1892 im Aqgost plötzliche Expectoration
von reichlichem Spntnm. Von da ab Sputum fötid. Profuse Nachtschweisse t bedeutende Ab-
magerung. Orthopnoe. In der linken Spitze bis zur 111. Rippe Dämpfung und Cavernensymptome.
Keine Tuherkelbacillen. Innere Medication vergeblich. Befinden progressiv verschlechtert. LHU
trockene Pleuritis. Am 29. September Operation. Incision im II. Intercostalraum. Pleurablätter
verwachsen. Stumpfe Eröffnung der Höhle gelingt nicht. Daher Tamponade mit Jodofonngaze
in der Hoffnung auf Spontaneröffnung der Höhle. Da letztere nicht erfolgt, nach 4 Tagen
Resection der III. Rippe, Eröffnung der Höhle mit dem Paquelin (nach 3maligcm vergeblichen
Versuch). Beim Versuch, den Wundcanal stumpf zu erweitern, profuse Lnngenblutung. Schleunige
Tamponade der Lungenwunde mit Jodoformgaze und subcutane Ergotininjection bringt die
Blutung zum Stehen. Fieber nach der Operation geschwunden, Sputum vermindert und gebessert.
Am 14- November (6 Wochen nach Eröffnung der Höhle) Patient mit fast völlig vernarbter
Wunde entlassen; Körpergewicht hatte nach der Operation ca. 16 Pfund zugenommen, später
noch 28 Pfund. In der Narbe, die schon gänzlich verheilt war, ist bei einem Hustenstosse
eine kleine Oeffnung entstanden, die aber nichts entleert.
38. Krautwig, Lungenchirurgie. Inaug.-Diss. Bonn 1893.,
46jährige Frau. Putride Bronchiektasien nach Pneumonie im rechten Unterlappen.
Incision im X. Intercostalraum. Einlegen von Chlorzinkpaste auf die freigelegte Rippenpleura.
Aetzung mehrfach wiederholt. Nach 4wöchentlicher Behandlung Probepunction erst negativ, dann
nach 2 Tagen Entleerung einiger Tropfen fötiden Eiters. Einstich mit spitzem Messer längs
der Punctionsnadel und Eröffnung eines grösseren Hohlraumes in der Tiefe von 5 Cm. Drain.
Reichliche Entleerung von Eiter durch die Wunde, Husten vermindert. Später alter Zustand
wie vor der Operation. Mit Fistel ungeheilt nach 10 Wochen entlassen. Nach circa 1 Jahr
Lungenbefund unverändert. (Es ist unklar, warum hier keine Rippenresection vorgenommen
worden ist. Ref.)
39. Hofmokl, Bronchtecta&ia apteis pulmoms dextri . Pneumotomie.
Heilung. Wiener mcd. Presse. 1893, Nr. 18.
Aetiologisch unklare, mit fötider Exhalation und Expectoration, massig hohem Fieber.
Abmagerung verbundene Höhlenbildung in der rechten Lungenspitze. Tuberkelbacillen nicht
gefunden. Üebrige Lunge gesund. Eröffnung der Höhle im zweiten Intercostalraum mittels
rothglühenden Thermokauters nach Durchtrennung der Weichtheile durch 9 Cm. langen Schnitt.
Entleerung von jauchigem Eiter. Drainage. Jodolorm verband. 17 Tage nach der Operation
hörten Expectoration und Husten auf; Drain entfernt, 'Patient entlassen. Später völlige Heilung
der Wunde. Abgesehen von geringer Dämpfung rechts oben ist die Lunge normal. Patient fohlt
sich völlig wohl.
40. Quincke, Ueber Pneumotomie, pag. 27.
66jähriger Mann. Sackförmige Bronchiektasien mit secundärer Gangrän im linken
Unterlappen. Multiple Bronchiektasien auch rechts vorhanden. Ursache chronische Bronchiti«.
Krankbeil sdauer 3 Monate. Resection der IX. linken Rippe. Probepunction (nach 7 Tagen!
erreicht die Höhle nicht Tod am folgenden Tage durch Schwäche, vor Eröffnung der Caverne.
41. Quincke, pag. 32.
42jährige Frau. Sackförmige und eylindrische putride Bronchiektasien ira linken
Unterlappen wurden angenommen, wahrscheinlich im Anschluss an die vor einem Jahre durch-
gemachte Influenza. Nach Chlorzinkbehandlung Resection der X. Rippe. Probepunction ohn?
Ergebniss. Durch furchuug der Lunge mit dem Thermokauter. Tod nach 4 Tagen durch all-
gemeine Schwäche. An der Stelle der Operation nur alte Schrumpfung und kleine Brouchiekiasien
Grosse Höhle im linken Oberlappen.
42. Quincke, pag. 34.
12jähiiger Knabe. Multiple putride eylindrische Bronchiektasien der ganzen rechten
Lunge nach chronischer Bronchitis. 3* Jährige Krankheitsdauer. Trotz fehlender Hohlensym-
ptome Resection der II. und III., VIII. und IX. Rippe, Durchfurchung der Lunge mit dem
Thermokauter. Nur erweiterte Bronchien, keine Höhle. Mit Fistel ungeheilt entlassen. (Aehn*
liebes Verfahren schon vor 3 Jahren.)
43. Quincke, pag. 35.
iBjähriger Mann. Sackförmige putride Bronchiektasien mit secundärer Abscessbildun?
im rechten Unterlappen, 5 Jahre bestehend, im Anschluss an Pneumonie. Complication einer
Mitralinsufficienz. Nach Chlorzinkbehandlung Resection der X. Rippe, Eröffnung einer Hohle
mit Thermokauter. Drainage. Mit Fistel gebessert entlassen. Nach 1 jährigem relativen Wohl-
befinden Erweiterung der Fistel, darauf Tod durch Lungenblulung.
44. Quincke, pag. 37.
31 jähriger Mann. Sackförmige putride Bronchiektasien im linken Unterlappen nach
Pneumonie. Anscheinend 9jährige Krankheitsdauer. Nach Chlorzinkbehandlung IX. und X. Rippe
resecirt. Spontaneröffnung der Höhle. Eiterahrtnss. Nach 4 Tagen plötzlich Tod, wahrscheinlich
durch Lufteintritt in eine Lungenvene.
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45. Quincke, pag. 41.
49jähriger Mann. Multiple putride Bronchiektasien beiderseits. Aetiologie: chronische
Bronchitis und eine vor 3 Wochen voraufgegangene Pneumonie. Nach Chlorzinkbehandlung
Resection der X. Rippe. Thermokauter eröffnet keine Hohle, nur einen erweiterten Bronchus.
3 Monate nach der Operation gebessert entlassen.
7. Chronische putride Eiterungen nach Fremdkörpern.
46. Sutherland, Cast of bronchiectatic abscess due to the impaction
of an O'Dicyer's tube. Lancet, Januar 1892.
17jähriger Mann. Putride Bronchiektasien und Abscess im linken Unterlappen nach
Hinabstossen einer O’D wy e r’schen Intubationsrohre. 3monatliche Krankheitsdauer. Rcsection
der III. Rippe. 3 Tage später Punction und stumpfe Dilatation des Punctionscanals. Drainage.
Mehrfache Hämoptoe, die letzte tödtlicli am 19. Tage nach der Operation.
47. Quincke, Ueber Pneumotomie, pag. 47.
2ojährige Frau. Bronchiektasien und kleine Abscesse im rechten Unterlappen. Fremd-
körper-A etiologie höchst wahrscheinlich, doch nicht aufgeklärt. 9monatliche Krankheitsdauer.
Im fötiden Sputum elastische Fasern. Hohlensymptome. Nach Cblorzinkpaste X . später VIII.
und IX. Rippe resecirt. Punction. Thermokauter. Keine grössere Höhle eröffnet. Drainage. Be-
finden gebessert. Nach 2 Jahren Fistel geschlossen. Linker unterer Lungenlappen geschrumpft.
Verminderung des nicht mehr fötiden Auswurfs. Somit relative Heilung.
48. Ibidem.
47jähriger Mann. Chronischer Abscess und Bronchiektasien im rechten Unter-
lappcn nach Aspiration eines Hühnerwirbels. Fötides Sputum. 23 Jährige Krankheitsdaner.
Nach Chlorzinkhehaudlnng VII. — IX. Rippe resecirt. Mit Thermokauter mehrere Bronchien
eröffnet. Drainage. Aushusten des Knochenstückchens. Mit Fistel entlassen, doch völlig arbeits-
fähig. Hat allmälig 34 Pfund zugenommen.
B. Tuberkulöse Cavernen.
49. Sonxkxhurg, Operative Behandlung von Lungcncavernen unter
KoCH’scher Behandlung. Deutsche mcd. Wochenschr. 1891, Nr. 1 und Verhandl.
d. deutschen Gesellsch. f. Chir. 1891.
36jähriger Mann. Ca verne in der rechten lieg io infraclaticuluri #. Im Sputum reich-
liche Tuberkelbacillen. Eröffnung der Caverne und Tubcrkulininjcctionen. Caverne vernarbt.
Allgemeines Wohlbefinden und Gewichtszunahme. Fast rein schleimiger Auswnrt ohne Bacillen,
ln der Umgebung der vernarbten Caverne relative Dämpfung (Induration). Sonst in den Lungen
normale Verhältnisse.
Bei einem zweiten Patienten bestanden bei allmälig fortschreitender Phthise mit
wiederholter Hämoptoe deutliche Höhlenerscheinungen rechts oben, auch war die linke Spitze
befallen. Cavernenflstel noch nicht vollständig geschlossen, doch gut granulirend. — lm
Ganzen 6 Fälle operirt.
50. E. Hahn, Vorstellung einer durch Operation geheilten Lungencaverne.
Verhandl. d. Congr. f. Chir. 1891.
23jährige Patientin. Links oben etwa apfelgrosse Caverne. Eröffnung mit dem Messer,
Ausstopfung der Höhle. Nach der Operation deutliche Besserung. Gewichtszunahme 12 Pfund,
Bacillen verringerten sich. Als die Wunde sich schloss, vorübergehende Verschlechterung. Mit
Wiedereröffnung der Wunde und Drainage Besserung. — Ausser dieser Patientin sind noch
2 Patienten operirt. doch nach 3, bezw. 2 Wochen gestorben.
51. Leser, Beitrag zur Eröffuung von tuberkulösen Lungencavernen
behufs Behandlung mit KoCH’scher Flüssigkeit. Münchener med. Wochenschr.
1891, Nr. 8.
42jährige Frau, decrepid. Vorn oben links Caverne. Sputum enthält Tuberkelbadllen .
Eröffnung der Caverne, ohne Blutung, Entleerung von l1/, Esslöffel Eiter Tamponade. Tuber-
cnlinbehandlung. Nach 3 wöchentlicher Behandlung hat sich die Caverne um die Hälfte verkleinert.
— Nach directer freundlicher Mittheilung Leser’« I.1896) ist Patientin 2‘/* Monate nach
der Entlassung ans der Klinik, also 4 Monate nach der Operation an florider Phthise gestorben.
Cavernenflstel bis zum Tode.
4*<jähriger Mann. Kleine Caverne in der rechten Lungenspitze. Operation. Tuberculin-
behandlung. Einwirkung zur Zeit der Veröffentlichung gering. — Patient ist nach der letzten Unter-
suchung Leser’s (Juni 1896) nicht sehr abgemagert, hustet wenig. Linke Lunge wohl intact.
In der rechten Lunge mehrere Cavernen. An der Stelle der Operation tief eingezogene, nicht
schmerzhafte , völlig geschlossene Narbe. Zeichen für Caverne hier nicht mehr vorhanden.
Operations wunde hat sich nach ca. * Jährigem Bestände geschlossen.
52. Krkcke, Lungenchirurgie. Münchener med. Wochenschr. 1891.
33jähriger Patient mit Tuberkulose. Caverne im rechten Unterlappen. Ziemlich hef-
tiges septisches Fieber. Resection „der Rippen“. Verwachsung beider Pleurablätter. Eröffnung
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PNEUMOTOMIE.
der Höhle mit stumpfer Pincette. Ausstopfung mit .Todoformgaze. Fieber nach der Operation
abgefallen. Wnndverlauf sehr befriedigend. Plötzlich Hämoptoe. Tod.
53. Kurz, Ein kleiner Beitrag zur Lungenchirurgie. Wiener med. Presse.
1891, Nr. 37.
30j ihriger sehr kräftiger Mann. Im linken oberen Lappen Ca verne. Sonstiger Lunge n-
befund normal. Starke Hustenattaquen: Bernfsfähigkeit sehr vermindert. Eröffnung der Caverne
mit Thermokauter unter massiger Blutung (ohne Narkose). Pleurablätter ungenügend verwachsen,
daher abgesackter Pneumothorax Temp. 39°, Dyspnoe, starke Pulsfrequenz. Nach ti Tagen
Pneumothorax verschwunden. Fieberfrei. Ausspülung erzeugt heftigen Hustenreiz. Jodoformein-
blasung. Nach 3 Monaten Fistel geschlossen. Völliges Wohlbefinden. Ueber der linken Spitze
unbestimmtes und abgeschwächtes Athmen. Nach 1 4 Jahr volle Berufsfähigkeit. 3 Jahre Wohl-
befinden. Dann rapide diffuse Tuberkulose der rechten Lunge, in wenigen Wochen Tod.
54. CABELLI, Caverna pulmouare trattata cii tV u rgica mente. Raccogütore
med. 20. Mürz 1891. (Ref.)
Adhärente tuberkulöse Caverne links oben, mit Paquelin eröftnet. Ausgang zweifelhaft
55. Malpoli, Empiema tubercolare destro con ulcerazione del polmone:
resezione estesa delln parete toracica e pneumotomia ; guarigione . Gazz. degli
ospedali. 1892.
56. Kkautwig, Lungenchirurgie. Inaug.-Dissert. Bonn 1893.
42jähriger Mann. Seit lly Jahren tuberkulös, mit initialer Hämoptoe. Seit 1 Monat
Schmerzen vorn im linken II Intercostalraum am Sternum, seit 14 Tagen daselbst Schwellung.
Die letztere ist handtellergross, geröthet: auf Druck scheint Luft unter Gurren aus ihr zu
entweichen, ln der rechten Spitze und im ganzen linken Oberlappen Rasseln. Durch breite
Incision der Anschwellung Eröffnung eines jauchigen Abscesses, der von der Haut an ItJ Cm.
tief bis in die Lunge führt. Entleerung von Eiter und Luft. Aushrennen der äusseren Wunde
mit Paquelin, Drain. Ausstopfung mit Jodoformgaze. Wund verlauf gut Allgemeinbefinden ge-
hoben. Nach 14tägiger Behandlung mit Fistel entlassen. Später mehrfach Hämoptoe.
C. Lungen-Echinokokken.
57. Maydl, Ueber Echinococcus der Pleura und die ihn vortüuschenden
Localisationen der Echinokokkenkrankheit. Wien 1891.
Patient, früher an Pleuraechinococcus operirt, zeigt je eine Verwölbung vom und hinten
an der rechten unteren Thoraxpartie. Daselbst Dampfung und Aufhebung des Athemgeräusehes
Aushusten einer Echinocoecnsblase. Nach Resection der VII. und IX. Rippe stösst man vorn,
bezw. hinten auf eine Echinococcusmembran. Incision. Extraction der Blase. Aelmlich wird
mit der hinteren Echinococcusblase verfahren. Drainage der Höhlen. Hintere Wunde nach Z Monaten
geheilt. Aus der vorderen entleert sich ab und zu Eiter und Blasen, Einspritzung von Flusig-
keit in dieselbe ruft stets krampfhaften Husten Inrvor. 2 Monate nach der Operation Hämo-
ptoe und starker Husten, Spontaneröffnung der Narbe, Entleerung einer kindskopfgrossen
Echinococcusblase. Rippenresection, Drainage der eigentlichen Lungenhöhle. Nach der Operation
sistirt der Bluthusten. Oeftere Entleerung von Blasen durch die frischen Wunden 4 Wochen
später Aushusten einer zusammengerollten Blase mit Blut. Drain allmalig fortgelassen. Hohle
noch nachweisbar, bat anscheinend Abfluss durch die Bronchien. Reichlicher eitriger Aufwurf,
morgendlicher quälender Husten. Etwa 4 Monate nach der ersten Operation weiden kleine
collabirtc Blasen ausgehustet. Höhlensyroptome noch vorhanden. Nach einem weiteren Viertel-
jahr Höhlensymptome nicht mehr nachweisbar, kein Husten oder Auswurf. Körpergewicht er
heblich gestiegen.
58. Netter, Kyste hydatique du sommet du poumon g au che; pneu n.o-
tomie ; guerison. Bull, et inem. de la Soc. des liöpit. de Paris. 1892.
59. Bra^uehaye, Kyste hydatique du poumon gauche suppurtf. Bull, de
la soc. anat. de Paris. 1892, VI, pag. 474.
23jäbriger Mann, bekommt plötzlich Bluthusten und abendliches Fieber, magert ab.
Im Verlauf der Krankheit Schmerzen in der linken vorderen Axillarlinie , in der Hohe des
X. Intereostalraums. Bei der Untersuchung Dämpfung vom Angulus scagulae abwärts, dasellwt
auch Athemgeräusch abgesch wacht. Leichte Dyspnoe. Nach 3 Wochen plötzlich fötides Sputum.
An der Stelle der Dämpfung amphorisches Athmen und Bronchophonie. In der Annahme eine«
Pyopnenmothorax Iiicision im IV. Intercostalraum. Dabei wird eine grosse Kchinococrushöhle
der Lunge constatirt, welche mit mehreren Bronchien eommnnidrt. Ausspülung und Drai-
nage. Heilung.
60. Bouilly , Kyste hydatique du poumon. Pneumotomie. Guerison.
Bull, et nu*iu. de la soc. de chir. de Paris. XVII I, pag. 577.
Sitz des in die Bronchien durchgebrochenen Echinococcus im vorderen und seitlichen
Theil des linken Oberlappens. Incision im III. Intercostalraum, in der Axillargegend. Resection
der IV. Rippe. Pleurablätter verwachsen. Eine circa zweifaustgrosse Echinococcusblase wird
extrahirt. Austupfung der Höhle mit Subliuiatbäuschchen. Drainage. Heilung in 5 Wochen
PNEUMOTOMIE.
533
61. Delageniere, Kyste hydatique du poumon gauche rompu dans la
plivre, trn iti successivement par la pneumotomie, puls l’ extirpation du kyste.
Bull, de la Soc. de chir. Juni 1893.
H6jähri|te Fran. Zuerst Zeichen von Pleuritis. Durch Punction 1800 und 1200 Ccm.
transparente grünliche Flüssigkeit entleert. Nach Wiederansammlung der Flüssigkeit Eröffnung
der Pleurahöhle und Rippenresection. Dabei wird eine Echinococcushöhle an der Basis der
Lange entdeckt, eröffnet und drainirt. Während der folgenden Wochen Entleerung vieler Echino-
kokkenblasen. Wegen Eiterung und Fieber Resection langer Stücke der VI. — VIII. Rippe.
Manuelle Ausschälung der Cvstenwand. Rasche Heilung.
62. Pagkxstf.Cheh, lieber Operation deB Lungenechinococcus. Festschrift
zur Feier des 50jährigen Jubiläums des Vereins der Aerzte des Regierungs-
bezirks Düsseldorf. Wiesbaden 1894.
lljähriger Knabe. Faustgrosser Echinococcus im Unterlappen. Eröffnung mit Paqnelin.
Heilung nach 3 Monaten.
[ 0e*
Ibtorben
Geheilt
Besse-
rung
Ohne
Erfolg
Acute einfache Abscesse 1
4
■
Chronische einfache Abscesse —
—
i
—
Chronische einfache Bronchiektasien 2
1
3
—
Acute gangränöse Abscesse 2
1
2
Chronis* he gangränöse Abscesse t>
9
1
Chronische putride Bronchiektasien ... 4
2
1
2
Chronische Eiterungen nach Fremdkörpern 1
—
2
—
Echinokokken —
6
—
—
Tuberkulose 3
5
3
1
Resumiren wir die Heilerfolge der aufgeführten Fälle von Pneumotomie,
so ergicbt sich als Facit vorerst die Thatsache, die auch von allen Autoren der
letzten Jahre constatirt worden ist, dass nämlich von den Lungeneiterungs-
k rankheiten die acuten einfachen Abscesse eine gute Prognose quoad vitam
et valetudinem gehen. Der einzige Todesfall unserer Reihe war durch Empyem und
Puerperalfieber mitverschuldet. Bei den übrigen Processen ändert sich die Grup-
pirung, je nachdem wir den Ausgang in absolute Heilung oder in Tod als Angel-
punkt der Statistik ansehen. Die gangränösen Abscesse liefern einen grossen
Heiluugs- , aber auch einen grossen Mortalitätsquotienten. Die chronischen ein-
fachen Abscesse und Bronchiektasen haben zwar nicht viele Todesfälle zu ver-
zeichnen, geben aber für völlige Heilung nur wenig Aussichten ; vielmehr Uber-
wiegen hier die Fälle mit unvollkommener Heilung, beziehungsweise Besserung (Fistel,
Fortbestand von Höhlenerseheinungen, Auswurf etc.). Die schlechteste Prognose
sowohl quoad vitam als aueh quoad sanationem gewähren die chronischen putriden
Bronchiektasien und Fremdkörpereiterungen.*) Die Erklärung für diese Verhält-
nisse ist in dem bestehenden Grundleiden zu suchen. Bei den acuten ein-
fachen Abscessen liegen die Bedingungen für die Heilung am günstigsten. Bei Be-
*) Ein etwas abweichendes Verhalten zeigt die Statistik — abgesehen von den acuten
einfachen Abscessen — in der über einen grösseren Zeitraum sich erstreckenden Qnincke-
uchen Aufstellung; namentlich ist hier der günstigere Heilungsquotient der acuten gangränösen
Abscesse hervorzuheben.
Quincke ‘sehe Tabelle.
Amte einfache Abscesse
Acute gangränöse Abscesse
Chronische einfache Abscesse und Bronchiektasien
Chronische pntride Abscesse
Putride Bronchiektasien .
Pntride Proeesse mit Fremdkörpern
1 Unvoll-
Ge- n u ii* 1 Kein komme-
storben Gehe,It Erfolg ner Er-
1 folsr
1
j i i l
6
1 7 — 1
2
1 14 1
3
4 - 2
5
— 2 3
1 3
1 2 1
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534 PNEUMOTOMIE
obaehtung aller Cautelen gelingt es leicht, die für die Erkenntniss ihrer Anwesenheit
und ihres genauen Sitzes relativ wenig Schwierigkeiten darbietende Höhle zn er-
öffnen und zu entleeren. Nach Entfernung des Eiters collabiren die Wauduugen der
Caverne, und bei der geringen Veränderung des Lungenparenchyms im Umkreis der
Höhle tritt schnell eine heilkräftige Reaction ein, die zur Verklebung und Vernarbung
der Wundflächen führt. Bei den einfachen chronischen Abscesseu und Bronchi-
ektasen sind diese günstigen Bedingungen für die Heilung der Höhle nicht vorhanden.
Die Umgebung derselben ist durch die langdauernde Entzündung derb, schwartig,
narbig verändert worden , auch nach der Entleerung des Eiters collabiren die
Cavernenwünde nicht, sondern streben in ihrem starren Gefüge die Configuration
aufrecht zu erhalten , die narbige Strnctur der Wand und ihrer Nachbarschaft
ist einer die Verheilung fördernden, beziehungsweise ermöglichenden Proliferation
nicht günstig, bei den multiplen Bronchiektasen endlich ist es schwer, ja oft
unmöglich, jeden Krankheitsherd zu treffen. So gelangt in diesen Fällen trotz
zweckmässiger operativer Maassnahmen der l’rocess nicht zur Ausheilung. — Bei
der chronischen Gangrän kommt es seltener) und in weniger ausgedehntem Masse
zu einer bindegewebigen Induration der Höhlenwandungen oder des ihnen be-
nachbarten Lungenparenchyms. Die chemische , durch die Fäulnisserreger stet«
unterhaltene Zersetzung des abgestorbenen Gew-ebes lässt eine schwielige Verände-
rung des Parenchyms nicht zu, und so finden sich anatomisch bei den acuten und
chronischen gangränösen Abscessen im Grossen und Ganzen dieselben Verhältnisse.
Ist die Demareation des brandigen Processes vollendet — und nur solche
Fälle bieten überhaupt dem operativen Eingriff Aussichten auf Erfolg — , so
haben wir für die Ausheilung der Höhle ähnliche Bedingungen wie bei dem ein-
fachen aeuteu Abscess. Wir sehen deshalb auch bei über 50% unserer chroni-
schen fbei QUINCKE) ebenso der acuten Gangränfälle eine völlige Ausheilung zn
Stande kommen. Andererseits lassen die schwere Krankheit, die gewöhnlich die
Veranlassung zur Gangrän abgiebt , die intensive Erschöpfung des Organismus
durch den jauchigen Proeess, die hohe Gefahr einer — oft multilobulären — Pneu-
monie überaus häufig gar nicht den durch Aspiration des jauchigen Abscessinhaltcs
entstandenen Hcilungsprocess in sein erstes Stadium eintreten und gestatten
der Operation nicht, trotz ihres augenblicklichen Erfolges, das Leben der Patienten
zu verlängern. Und so müssen wir unter unseren gangränösen Abscessen cirr*
40% Todesfälle constatiren.
Die Nachtheile der chronischen narbigen Entzündung des Lungenparen-
chyms und der den Körper vergiftenden putriden Eiterung vereinigen sich, um die
Erfolge der Pneumotomie bei den chronischen putriden Bronchiektasen, be-
ziehungsweise Fremdkörpereiterungen sowohl nach der Richtung der völligen
Heilung wie nach derjenigen der Lebenserhaltung recht ungünstig zu gestalten. Von
den Fällen unserer Statistik sind nur 16% völlig geheilt, dagegen 4 1 % gestorben.
Die Indicationen für die Pneumotomie, die sich aus diesen Fest-
stellungen ergeben, dürften sich folgendermassen prücisiren. Man lasse für die
acuten einfachen Abscesse den allgemein gütigen chirurgischen Grundsatz in sein
Recht treten : ubi pus, ibi cvacua. Gelangt auch, wie die Erfahrung lehrt, mancher
Lungenabscess durch Perforation in einen Bronchus und folgende Expectoration
des Eiters, sehr selten wohl nach Art eines „Empyema necessitatis“ , spontan zur
Ausheilung, so ist einmal dieser Ausgang durchaus nicht die Regel, vielmehr kann
durch Perforation des Eiters in die Pleurahöhle , durch Ueberschwemmung der
Luftwege mit Eiter, durch Metastasen des Eiters in audere Organe (Gehirn !) der
Tod eintreten*); ferner kann der Abscess chronisch werden und damit selbst für
*) Vergl. J. Gumprecht, 1. c. pag. 13. rt,iitnndo morbus adhuc stbi relinquitur,
triplex ntntus esse potest ; Tel pus in pectoris canim se effundit , empyema nempe ontur,
et mors aegroti scemtm claut/it ; rel puris copiu per os eraettatur, quod si semel et sinul
fit , aeyroties antequum ei auxiliun* ferre possumtis, sujfocabitur ; rel futrrus interdum lumor
oedematosus , tätigen ti digito cet/ens, externo obsercatur .*
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PNEUMOTOMIE.
535
die Pneumotomie eine viel schlechtere Prognose darbieten, als der acute Abscess
erfahrungsgemäss besitzt.
Ks empfiehlt sich aber auch, den chronischen einfachen Abscess , ferner
die chronische einfache und putride bronchiektatische Höhle, sobald dieselbe
das Krankheitsbild beherrscht, ferner den acnten und chronischen gangränösen
Abseess und die putride Eiterung nach Fremdkörper der operativen Behandlung
zu unterwerfen. Für die gangränösen Processc und Fremdkörpereiterungen muss
indess der Nachweis von deutlich localisirbaren Höhlensymptomen gefordert werden,
und multiple Bronchiektasen, zumal mit putrider Eiterung, sind vor der Pneumo-
tomie zu bewahren. Lässt sich zwar die Möglichkeit, dass die Pneumotomie
auch bei den im letzten Satze ausgeschlossenen Fällen eine wesentliche Besserung
.schafft, nicht völlig von der Hand weisen, so ist doch einmal die Wahrschein-
lichkeit hierfür nach den bisher gesammelten Erfahrungen nicht gross, zweitens
kann auch spontan ein günstiger Ausgang in demselben Proeentsatz der Fälle
eintreten *), und diesen beiden Momenten gegenüber ist endlich in Betracht zu
ziehen, dass die Pneumotomie an sich — besonders in den genannten Fällen —
kein so ungefährlicher Eingriff ist , dass nicht dadurch allein der Tod des
Patienten herbeigeführt oder doch mindestens beschleunigt werden könnte. Als
Todesursachen, die mit der Operation in Zusammenhang gebracht werden können,
beziehungsweise müssen, sind bei den pneumotomirten Kranken u. A. anzuführen :
allgemeine — bisweilen durch die Operation nur verstärkte — Prostration, tödt-
liche Lungenblutung (durch Csur des Drains oder durch Gefässzerreissung veran-
lasst), Aspirationspneumonie infolge Ausspülung der Höhle mit antiseptischer Flüs-
sigkeit oder durch Verschleppung des Abscessinhalts während der Operation in
bis dahin gesunde Lungentheile, Pleuritis, beziehungsweise Pyopneumothorax, Luft-
eintritt in eine Lungenvene.
ln Anbetracht dieser Gefahren muss in allen Fällen vorerst eine mög-
lichst völlige Klarlegung der Verhältnisse erzielt sein, bevor man sich zur Aus-
führung der Pneumotomie entschliesst. Die Berücksichtigung des allgemeinen
Kräftezustandes , der Ausschluss anderweitiger Krankheitsherde , sei es in der-
selben Lunge' (Bronchiektasen), in der anderen Lunge (Gangrän) oder in anderen
Organen (Metastasen in der Leber, im Gehirn), der Ausschluss sonstiger Com-
plieationen (Amyloid der Organe, Nephritis, Tuberkulose), die den Effect der
Operation völlig illusorisch machen und das Verlustconto der Pneumotomie in
zweckloser Weise erhöhen, gehört zu den „Conditiones sine qua non “ des
Lungenschnitts. Wünschenswert ist zweitens der Nachweis einer Höhle und
ihres Sitzes. Die Schwierigkeit, die bisweilen mit der Lösung dieser Aufgabe
verknüpft ist, wird von allen Beobachtern hervorgehoben. Zwar pflegen
diagnostische Zweifel nicht zu bestehen, falls die Caverne sich in der Lungen-
spitze oder nahe der Oberfläche des übrigen Parenchyms befindet. Sobald
aber der Hohlraum von einer dickeren Lungengewehsschicht überlagert ist,
können die scmiotisclien Erscheinungen so geringfügig oder undeutlich werden,
dass eine sichere Erkenntniss nicht möglich ist. Eine besondere Schwierigkeit
ist darin gegeben, dass eine Vielheit von kleinen, namentlich mit einander com-
munieirenden Höhlen völlig den Eindruck einer einzigen grossen Caverne hervor-
znrufen im Stande ist, und nicht selten hat sich der irrthümliche Befund erst hei
der Operation oder auf dem Leichentisch herausgestellt. **) Besonders lehrreich ist
in dieser Beziehung Fall 8, pag. 32, in der oft citirten QUINCKE' sehen Monographie,
*) Ein von mir im Krankenhause Friedrichshain beobachteter Patient mit schwerer
putrider chronischer Bronchitis und Bronchiektase (Aspiration von putridem Eiter? von Knochen-
seipiester?), bei dem wegen bedrohlicher Erscheinungen ein operativer Eingriff geplant , aller
angesichts mangelnder Cavernensvmptome abgelehnt wurde, lebt heute noch nach 7 Jahren bei
relativem Wohlbetinden. — Bezüglich der Lungenfremdkürper vergl. u. A. die Mittheilung von
Schild, Centralbl. f. klin. Med. 1893, pag. 70t>-
**) Vergl. dazu u. A. auch Schnitze, Centralbl. f. klin. Med. 1891, pag. 345.
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530
PNEUMOTOMIE.
wo die Hiihle im linken Unterlappen angenommen und dementsprechend operirt
wu rde, während in Wirklichkeit dort nur erweiterte Bronchien , die kleinapfel-
grosse Höhle aber — wie der Sectionsbefund lehrte — hn Oberlappen vorhanden
wa r. Zur Klarlegung solcher Situationen kann häufig, wenn überhaupt, nur die
auf merksamste und wiederholte Untersuchung und die Vereinigung aller diagnosti-
schen Hilfsmittel führen; einzelne Symptome, wie die reichliche („maulvolle“)
Expectoration in wechselnder Menge, die Putrescenz des Sputums, der Wechsel
der auscultatorischen Erscheinungen können täuschen, speciell auch das Ergebnis«
der Probepunction. Denn mit der PttAVAz'schen Nadel vermag man auch aus
einem erweiterten Bronchus eitrigen Schleim heranszuholen. Umgekehrt kann
auch das Resultat der Probepunction bei vorhandener Caverne negativ ausfallen.
Die Anwendung der Probepunction hat man im Ganzen möglichst zu beschränken,
da diese (selbst am Abdomen und im Gehirn etc. relativ ungefährliche) Mass-
nahme bei der Exploration von Cavernen insofern unheilvoll werden kann, als
durch den Stichcanal eine Infectiou der Pleura bewirkt und ferner durch den
vom Einstich hervorgerufeneu Reiz Husten und damit eine Aspiration des Cavernen-
eiters mit folgender Pneumonie erzeugt werden kann. Israel*) giebt daher den
lieherzigcnswerthen Rath, vor der Probepunction durch Nafreotica die Reflexerreg-
barkeit herabzusetzen. Gelingt der stringende Nachweis einer Caverne nicht, so
wird man in vielen Fällen (s oben) von der Pneumotomie abstehen, andere Male
aber trotzdem an der Stelle, an welcher man den Abscess vermuthet, — nament-
lich wenn das Allgemeinbefinden des Patienten einen operativen Eingriff erfor-
dert — die Lunge eröffnen. Wie die angeführte Casuistik lehrt, vermag man
anch in den letzteren Fällen nicht selten einen Erfolg zu erzielen.
Die Technik der Pneumotomie selbst unterliegt nur wenigen Varia-
tionen. Ihre Aufgabe ist einmal die Entleerung des Eiters und dauernde, voll-
ständige Ableitung des Ilöhlensecrets, zweitens die für die Heilung nothwendige
Verkleinerung und Aufhebung des Hoblrauins. Zur Erreichung dieses Ziels ist dasselbe
Verfahren nothwendig, wie es sich in den letzten Jahren bei der Empyembehand-
lung bewährt hat : breite Incision und Drainage für den ersten Theil der Aufgabe,
Rippenresection für den zweiten, ln manchen Fällen wird die Incision mit folgender
Drainage des Abscesses allein zum Ziel führen, so bei sehr oberflächlich gelegenen
Abscessen, insbesondere bei acuten Formen, jugendlichen Individuen und bei gerin-
gerem Umfang des Hohlraums, ln der Regel aber wird man gut thun, der Incision
die an sich unbedeutende und technisch leicht ausführbare Rippenresection voraus-
zuschicken.**) Bei frischeren und kleineren Abscessen wird die Rcsection von 1 bis
2 Rippen auf 5 — 7 Cm. Länge ausreichen, bei älteren grosseren Abscessen wird
oft die Resection von 2 — 4 Rippen auf 6 — 9 Cm. Länge nothwendig werden.
Was die Resection , beziehungsweise die ganze Pneumotomie schwieriger macht
als z. B. die radicale Empyemoperation, ist die Frage der Pleurablätterver-
wachsung. Von der überwiegenden Mehrzahl der Autoren wird mit Recht ver-
langt, dass man den Eingriff in die Lungensybstanz nicht vornehmen soll, ohne
dass die Pleurablätter an der Stelle der Operation verwachsen sind , weil im
anderen Falle Pneumothorax und eine unter Umständen lebensbedrohlicbe Infec-
tion der Pleura erfolgen kann.***) Die Erkenntniss, ob an der Stelle der Pneu-
motomie eine hinreichend feste Verwachsung der Pleura costalin mit der Pleura
pulmonali « besteht, ist oft sehr schwer. Ans der Dauer des entzündlichen
*) Israel, Operative Behandlung des Lnngenechinococcus. Deutsche tued. Wochen-
schrift. 188ti, Nr. 19.
**) Bemerkenswert h ist, dass in einem Falle Quincke'» die Heilung eines acuten,
im Unterlappen der Lunge gelegenen Abscesses lediglich durch Rippenresection und Chloriink-
pastenbehandlnng — ohne Eröffnung der Höhle — nach Verlauf von circa 9 Wochen suiUnde
gekommen ist.
**•) Vergl. J. J. 0 u m pre ch t , I.C., pag. 16. „Qtir*/ ad Tertium deniijue, pleurae
nrrtij r cum pulmune eoalitionem adtinel, neceeee ent, ut chiruryuis , antequam operationtm
uuecipiut, obeercetj an pteurne cum pulmone cohucreatr nec ne .**
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PNEUMOTOMIE.
537
Lungeuprocessrs diese Frage zu entscheiden, ist im Allgemeinen nicht angängig,
da bisweilen auch bei zwei- und mehrjährigem Bestände des Abscesses die Pleura-
höhle Uber demselben sich nicht als abgeschlossen erwies, während schon
bei geringdauernden Abscessen Adhäsionen gefunden wurden. Als diagnostische
Hilfsmittel für die Erkennung von Adhäsionen werden angegeben : Nachweis
einer vorangegangenen (Anamnese) oder bestehenden acuten Pleuritis (Druck-
emptindliehkeit , Knarren bei der Auscultation etc.); ferner inspiratorische Ein-
ziehung der unteren Rippen, mangelhafte oder fehlende respiratorische Ver-
schiebung der Lungenränder, nach Fknger*) die mangelnde Verschieblichkeit
einer in die Lunge eingestossenen Nadel. Dickere pleuritische Schwarten ver-
mag man, wie ich mich oft überzeugt habe, an dem charakteristischen Wider-
stand , den sie dem Einstossen einer Nadel (Pravaz) in die Lunge entgegen-
setzen , zu erkennen. Auch soll man nach der Durchtrennung der Weichtheile
bei directer Besichtigung die Verwachsung aus der grauen, beziehungsweise
weisslichen Trübung der Pleura und der mangelnden Bewegung der Lunge er-
schliessen. **) Indessen sind alle diese Zeichen recht oft unverlässlich und trüge-
risch. Wo feste Adhäsionen zwischen den Pleurablättern fehlen oder wo man
über ihr Vorhandensein im Zweifel ist, soll man sie in der Regel auf künst-
lichem Wege erzielen. ***) Zur Erreichung dieses Zweckes sind verschiedene
Methoden angegeben : Einspritzen von Jodtinctur (Quincke), Einstechen mehrerer
Nadeln (DE Cerenville) oder mehrerer Troicarts concentrisch nach der Lungen-
höhle hin (v. Baudeleben, Berliner klin. Wochenschr. 1886, Nr. 24), Einlegen
einer Aetzpaste in die Weichtheilwunde auf die freigelegte Costalpleura (Krim Kit
und Walter, Journ. complement. des Sciences möd. 1830, pag. 270 ff.), speciell
einer Chlorzinkpaste +) (neuerdings von Quincke ausschliesslich angewandt),
Tamponade der Weichtheile mit Jodoformgaze für 6 — 9 Tage (Neuber). Ge-
stattet indess der Zustand des Patienten das längere Zuwarten , das stets für
eine durch adhäsive Pleuritis zu bewirkende Verwachsung der Pleurablätter noth-
wendig ist, nicht, so vereinigt man die Pleura costalte mit der Pleura pu/mo-
na/i.i im Umkreis der Weichtheilwunde durch eine fortlaufende Nahtfj-) (de Ckren-
VILLE), speciell nach Roux durch die Suture ü arrtire point (— Hinterstichnaht,
bei der jede folgende Nadel zwischen dem Ein- und Ausstichpunkt der voran-
gegangenen eingestochen wird); oder man führt — wie es z. B. Israel (1. c.)
gemacht hat — die iDcision „absatzweise und nur in der Exspirationsphase aus,
während Jodoformgazebäuschchen dem Messer Schnitt für Schnitt folgend, sofort
von einem Assistenten auf den jeweils vollendeten Incisionsabschnitt aufgedrückt
werden und damit die Wunde sicher verschliessen, ehe noch die nächste Inspira-
tion Luft ansaugen kann : ist die Incision in ganzer Ausdehnung vollendet , so
wird wiederum nur im Beginn der Inspirationsphase die Wunde nach und
nach durch den Assistenten auseinandergezogen und der zum Klaffen gebrachte
Abschnitt des Pleuraspaltes sofort durch Hineindrucken des auf ihm liegenden
Gazeballens verstopft.11 Erweist sich bei der Pneumotomie die Pleura durch Naht
oder Jodoformmullbäusche nicht als sicher abgeschlossen, so empfiehlt Krause
(1. c.i leichte Ausspülung der Pleurahöhle und Drainage.
*) Fenger, Amor. Journ. of the mcd. Sciences. October 1881.
**) Krause, Berliner klin. Wochenschr. 1895, Nr. 16.
***) Nach Kranse 1. c. ist eine feste Adhärenz nicht nitthig, wenn sich der zu
eröffnende Lnngenthe'l von der Ineisionswunde der Weichtheile ans als derb inflltrirt erweist.
Doch soll auch in diesem Falle die Wunde mit Jodofortngaze tamponirt nnd mindestens 5 Tage
zwecks Verklebung der Pleurablätter gewartet werden.
t) Interessant ist die Angabe Qnincke's, dass er bisweilen bei der präparatorischen
Cblorzinkpastenbehandlung eine Abnahme des eitrigen Sputums constatirt halte. Dasselbe hat
übrigens schon Krimer (Journ. compl. des sc. niüd. 1830) constatirt; W. Koch, der diese
Beobachtung citirt (Berliner klin. Wochenschr. 1674, Nr. 16), tiegleitet sie mit einem Frage-
nnd Ausrufnngszeichen — in Hinsicht auf die Q ui nc k e sehe Wahrnehmung mit Unrecht.
ff) Quincke (I. c.) macht darauf aufmerksam, dass hei oberflächlich gelegenen
Eiterherden die Naht durch die Ütichcanäle eine eitrige Infection der Pleura erzeugen konnte.
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538
PNEUMOTOMIE.
Nach diesen vorbereitenden Massnahmen schreitet man zur eigentlichen
Pneumotomie. Zweekmüssigerweise nach (nochmaliger) Feststellung der Lage des Ab-
scesses durch Proliepunction und unter Leitung der liegenbleibenden Nadel dringt
man mit einem spitzen Messer oder besser — zur Vermeidung von bisweilen recht
beträchtlichen Blutungen — mit einer stumpfen l’ineette oder Kornzange oder am
besten mittels eines spitzen Thermokauters in das Lungengewebe hinein. Trifft
man den Abscess nicht, so senkt man den Thermokauter in der wahrscheinlichen
Richtung des Abseesses mehrmals ein; erfahrungsgemäss bricht dann bisweilen
der Abscess einige Tage darauf nach Ablösung des Brandschorfs in den Wund-
eanal durch. Treten Blutungen ein, so stopft man die Wundhöhle mit Jodoform-
gaze aus. In den eröffneten Abscess legt man ein Drain , oder man tampo-
nirt die Höhle. Ausspülungen — namentlich mit antiseptischen Flüssigkeiten —
werden sowohl bei der Operation, wie während der Nachbehandlung am besten
vermieden: in einigen Fällen ist durch antiseptische Ausspülungen starker Husten-
reiz und folgende Aspirationspneumonie mit tödtlichem Ausgang erzeugt worden
(cf. Brookhocse, Lancet. 1886, Nr. 24 ; Mosler, Verhandl. d. C'ougr. f. innere
Med., 1883). Die Anlegung von Gegenöffnungen, wie sie von Btoxru (1. t.)
empfohlen und in einem Mosi.Kli'schen Falle von Yoot ausgeführt ist , dürfte
höchst selten sich als nothwendig erweisen.
Im l'ebrigeu ist bei der Nachbehandlung für guten Abfluss des Secrets
zu sorgen. Bei zu frühzeitiger Verengerung der AbBcessöffnung ist dieselbe durch
Einlegen von Laminaria oder Pressschwamm (nicht unbedenklich wegen Blutungen
oder durch den Thermokauter wieder zu erweitern. Andererseits darf man auch
ein Drain wegen der Gefahr der Drurkusur nicht allzulange liegen lassen. Eine
locale medieamentöse Behandlung der Cavernen — abgesehen von den oben er-
wähnten Spülungen — beschleunigt den lleilungsproeess nicht. In Fällen, wo
eine Heilung nicht erzielt wird und eine chronische Fistel verbleibt, muss eine
Vorrichtung zur Aufnahme des Seerets am Thorax angebracht werden. Qci.vcke
empfiehlt dafür eine zweiröhrige , unter der Kleidung zu tragende plattkugel-
förmige Glasflasche, in welche ein mit dem Drain verbundener Gummischlauch
eintaucht. Wird die Wunde ganz flach und will das freiliegende Lungengewebe
von der .Seite her nicht vernarben , so empfiehlt Krause (1. c.), die Haut an
beiden Seiten von ihrer Unterlage abzulösen und Uber der durch einen flachen
Schnitt angefrischten Lungenwunde durch eine exaete Naht zu vereinigen.
Mit dieser Schilderung der Technik des Lnngenschnitts könnten wir
das Capitcl „Pneumotomie“ verlassen , wenn wir uns nicht gegenwärtig halten
müssten, dass wir bisher 2 Krankheitsbilder noch in keiner Weise berührt haben, die
im Eingang unseres Artikels als zugehörig zu dem Operationsgebiet der Pneumotomie
bezeichnet worden sind, nämlich die tuberkulöse Caverne und den intactrn, betw.
vereiterten Lungenechinococcus. Wenn wir diese beiden so differenten Aff«"
tionen von den geschilderten Lungenkrankheiten abgesondert zu gemeinsamer Be-
sprechung bringen, so könnte das auf den ersten Blick verwunderlich erscheinen.
Die Berechtigung zu unserer Anordnung leiten wir aus einer — im Sinne unserer
Betrachtung — gleichen und einer völlig entgegengesetzten Eigenschaft der beiden
Affectionen her. Lungenechinococcus und tuberkulöse Caverne zeichnen sich vor
den anderen Lungenkrankheiten dadurch aus, dass die Diagnose sowohl ihrer
Existenz, wie ihres Sitzes in der Regel wenig Schwierigkeiten begegnet. Per
Lungenechinococcus verräth sich namentlich durch die Zeichen des Tumors
(Vorwölbung, Verdrängung der Nachbarurgane , cireumscripte Dämpfung und
Aufhebung des Athemgeräuschesi , durch die Anwesenheit von Haken oder
MembranstUckchen im Sputum oder gar durch ausgehustete Blasen. Die auffälligen
Symptome der in der Spitze gelegenen tuberkulösen Caverne bedürfen an dieser
Stelle keiner Aufzählung. Dass gleichwohl bisweilen ein versteckter kleiner
Echinococcus und eine im Centrum des Ober- und l'uterlappens gelegene tuber-
kulöse Caverne der Erkenutuiss Schwierigkeiten entgegensetzen können, ist von
PNEUMOTOMIE.
539
vornherein zuzugebeu : jedenfalls ist aber diese Schwierigkeit seltener nls bei den
Lungenei teru ngen .
Verhalten sich also Echinococcus und tuberkulöse Caverne in dieser
wichtigen Vorbedingung zur Pneumotomie gleich günstig, so unterscheiden sie
sich völlig in den Indicationen und Erfolgen der Operation. Während der
Lungenechinococcus ohne chirurgischen Eingriff in circa CO° 0 der Fälle zum
Tode führt*), durch die Pneumotomie aber fast ausnahmslos mit Genesung
endigt, kann bei der tuberkulösen Caverne nach den bisherigen Erfahrungen
im günstigsten Falle das Leben des Kranken verlängert, eine Heilung der
Grundkrankheit dagegen nicht erzielt werden. Wenn demnach die Operation
eines Lungeneehinococcus unter allen Umständen empfohlen werden muss,
so wird die Indication zur Pneumotomie der tuberkulösen Caverne nur von
weuigen Autoren überhaupt anerkannt , von den meisten Autoren direct ver-
worfen. Und die Zulassung der Pneumotomie der tuberkulösen Caverne wird
auch von den Anhängern derselben auf diejenigen Fälle beschränkt, in denen
die Höhle, besonders die Secretstauung mit ihren Folgeerscheinungen, das Krank-
heitsbild beherrscht, beziehungsweise den einzigen Krankheitsherd darstellt. Aus
diesem Grunde ist die Statistik der pneumotomirten Fülle von tuberkulöser
Höhle gegenüber der ungeheueren Häufigkeit der Att'ection geradezu verschwin-
dend klein. Bis zum Jahre 1890 zähle ich in der Literatur 10 Fälle. **) Die
im Vergleich hierzu ungewöhnlich hohe Zahl meiner eigenen Tabelle ist auf
Rechnung der Tuberculinperiode zu setzen , in welcher allein — von den
16 Fällen — 11 operirt worden sind. Unter den Fällen meiner***) Zusammen-
stellung haben nur zwei einen mehrjährigen befriedigenden Erfolg von der Ope-
ration davongetragen ; bei allen übrigen waren selbst die relativen Heilungen,
beziehungsweise Besserungen , ganz vorübergehend. Der Satz Runkbeec's (1. c.),
„dass die Möglichkeit einer temporären Besserung, welche also unzweifel-
haft vorhanden ist, bei unserem jetzigen Standpunkt der Therapie der Tuber-
kulose die Aufnahme der tuberkulösen Cavcrnen unter die Indicationen für
die Pneumotomie nicht indicirt,“ besitzt auch heute noch seine volle Berechti-
gung, umsomehr, als die isolirten und geringgradigen Cavernen auch ohne
operativen Eingriff zu einer relativen Heilung gelangen können, andererseits die
Pneumotomie durch die Gefahr der Lungenblutung, der Eintreibung von Tuberkel-
bacillen in die Blutbahn, durch die Begünstigung der Aspiration tuberkulösen Eiters
mit secundärer käsiger Pneumonie als ein höchst bedenkliches Verfahren be-
zeichnet werden muss.
Die oben geschilderte Technik der Pneumotomie weist für den — ver-
eiterten oder nichtvereiterten — Lungenechinococcus und die tuberkulöse Caverne
keine Abweichungen auf. Vereinfacht ist sie dadurch, dass bei beiden Affectiouen
Verwachsungen der Pleurablätter die Regel bilden, f) Wo letztere fehlen, sind
sie vor der Eröffnung der Lunge in derselben Weise künstlich herzustellen, wie
früher auseinandergesetzt worden ist. Der Vollständigkeit halber will ich er-
wähnen, dass SONNENBUBO bei der Operation der tuberkulösen Cavernen eine
Resection der 2. Rippe vorgenommen , Hahn dagegen sich mit einer einfachen
Incision im 1. Intereostalraum — unter besonderen Cautelen — begnügt hat. TTJ
*) S. Maydl, 1 c. pag. 71.
**) Yergl. Runeberg, Operative Behandlung von Lungenkrankheiten. Deutsches
Archiv f klin. Med. 1887. pag. 127 und Hey d w ei 1 1 er, Ueber Lungencbirurgie. Inaug.-
Diasert. Berlin l8iJ4.
***) Der M osler "sehe Patient (1883. 1. c.l lebte 8 Monate nuch der Operation. —
G n in prech t (1. c.) erwähnt einen von Richter (Chirurg. Bild. X. pag. 4n) operirten Patienten,
den er selbst nach 13 Jahren noch als gesund befunden hat. Uebrigcns soll nach G um prec h t
(er bemerkt aber allerdings *ni fatlor*) Junker die Operation phthisischer Abscease zuerst
empfohlen haben. (Diesen, de pbthisi operatione cbirnrgica sanamla. Hai. Jahr?)
tl Kür den Echinococcus vergl. die Angabe von Maydl. I. c.
ft) Die nach Abschluss der Correctnr dieser Arbeit erschienene Quincke’sche Ab-
handlung über Pntumotumie bei Phthise in Heft 'i der „Mittheilungen aus den Grenzgebieten"
konnte ich leider nicht mehr verwertben.
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540
PNEUMOTOMIE.
II. Pneumektomie.
1. Müller, Eine Thoraxwand Lungenresection mit günstigem Verlauf.
Zeitsehr. f. Chirurgie. 1893, XXXVII.
Sfrausseneigrosses Osteochondrosarkom bei jungem Manne an der V. Rippe, ver-
wachsen mit dem Unterlappen der rechten Lunge in einer Longe von 9 Cm.. Breite von 3 Cm.
Rippenresection. Pleura bei der Auslösung der Rippe eingeriasen. C'ollaps der Lunge und
gleichzeitig grosse Herzschwäche des Patienten. Sobald die Lunge in Inspirationsstelluog ge-
bracht wird, erholt sich Patient Unterlappen zwischen Zeigefinger und Daumen gefasst,
Durchführung eines doppelten Catgntfadens, Unterbindung nach zwei Seiten hin, Stück mit
Tumor im gesunden Lungengewebe abgetragen ; die Lnngenwunde wird mit fortlaufender
Catgutnaht verschlossen. Hautwunde bis auf ein kleines Stück vernäht, Lücke mit Jodoform-
gaze tamponirt. — Bis zum 3. Tage fortschreitende Besserung. 94 — It>4 Pulsschlage . kein
Fieber, etwas Dyspnoe. Am 3. Tage Fieber; fibrinöse Auflagerungen auf der Lungenwunde.
Am 10. Tage fieberfrei. Nach 3 Wochen Entlassung mit völlig vernarbter Wunde; annähernd
normale Lungen- und Lebergrenze, links reines Vesicnlärathmen bis zur X. Rippe, von dt
ab etwas Abs<hwächnng infolge geringen Exsudats. März 1891 kleines Sarkomrecidir ohne
Betheilignng der Lunge; entfernt. 1893 noch gesund.
2. LOWSON, A rase of pneumectomit. Brit. med. Journ. 3. Juni 1893.
34jährige Frau. Seit 12 Monaten Anzeichen von Tuberkulose. Retraction der rechten
Claviculargrube. Dampfung bis zom 2- Intercostalraum, Verstärkung des Pectoralfremitus Nach
Gmouatlicher Beobachtung, während deren Husten und Schweisse Zunahmen, Operation. Incision
längs der II. Rippe, Durchtrennung der II. und III. Rippe am Knorpel, Eröffnung der Pleura-
höhle, Einspritzung von warmer Carbollösnng in den Pleuraraum. Collaps der Lunge. Ablösung
der ausgedehnten Adhäsionen In die Lunge unterhalb des erkrankten Theils wird eine mit
doppeltem Faden armirte Nadel durchgestossen , das Lungengewehe nach beiden Seiten hin
abgebunden. Entfernung der kranken Lungenspitze, etwa in der Grösse einer halben Faust.
Dieselbe enthielt eine dichte tuberkulöse Mas-e mit kleinen peripherischen Knötchen. In die
Lungenwunde wird Jodoform eingerieben, dann Nabt, Verschluss der äusseren Wunde ohne
Drain. Respiration während der Operation gut. Am Abend des Operationstages Puls 84.
Respiration 30, Temperatur 99° F. Die nächsten 3 Tage gutes Befinden. In der Nacht des
4 Tages trockene Pleuritis auf der linken Seite. Rückgang derselben unter Umschlägen etc.
Am Ende der 2. Woche jeden Abend Temperaturanstieg; als Ursnche wahrscheinlich Hämo-
thorax. Nach 4 Wochen Temperatur und Respiration normal. Zur Zeit des Berichts Zunahme
de« Körpergewichts. — Nach freundlicher schriftlicher Mittheilung Lowson's wurde die
Patientin mit völlig geschlossener Operationswunde entlassen, wies nahezu normalen Aut*
cultations- und Percussionsbefund über der resecirten Lunge auf und fühlte sich gesund.
8* , Monate nach der Operation ist sie aber an Hämatemesis zugrunde gegangen. Low» ob
vennuthet ein Ulcus tentriculi.
3. Tuffikr, Resection du sommet du pouwon. Bull, et mem. de la So«,
de Chir. 1891; Gaz. des hop. de Toulouse, 1892; Bull, et m6m. de la Soc. de
Chir. August 1893.
25iähriger Mann, kräftig gebaut. Seit 2 Monaten tuberkulöse Kehlknpfaffectiou.
Dämpfung über der rechten Lungenspitze, saccadirtes Athmen , verlängerte Exspiration,
trockenes Rasseln. Linke Lunge normal. Incision im 2. Intercostalraum, Durrhschneidung der
Costalpleura Ablösung der Lungenpleura, dabei Einriss derselben an einer Stelle; Rissöffnung
wird erst mit dem Finger, dann mit Jodoformgaze verstopft. Lungenspitze mit stumpfer Zange
vorgezogen, ligirt und abgetragen. Der Stiel wird an der Innenseite am Periost der II. Rippe
fixirt, Muskeln genäht. Jodoformverband. Im Centrum des resecirten Lungenstticks klein-
wallnnssgrosse, von Tuberkeln umgebene Induration. Schnelle Genesung ohne Zwischenfall.
Athetngeräusch über der Spitze etwas abgeschwächt.
Zwei Jahre später berichtet Tuffier wieder über «len Patienten. Derselbe ist voll
berufsfähig geblieben . hat keinen Husten. Seit der Operation hat er ltj Kgrm. zugenommen.
4. Omer, Resection totale d’un pouuton. Lyon m6d. 1894.
Mehr noch als in der Beschränkung der Pneumotomie sind die Autoren in
der Verwerfung der Pneumektomie bei Tuberkulose einig. Die hochtiiegeuden
Erwartungen , die manche Chirurgen an die erfolgreichen Thier- und Leichen-
experimente von Glück, Schmid und Block*) knüpften, wurden recht bald
durch die traurigen Resultate der RüGGl’schen Operationen an 2 Phthisikern**)
*) Gluck. Berliner klin. Wochen sehr. 1881 und Deutsche med. Wochen« ehr. 1881;
H. Schmid, Berliner klin. Wochenschr. 1881 ; Block, Dtutsche med. Wocbenschr. 1881-
•*) Vergl. Krönlein, Berliner klin. Wochenschr. 1884, Nr. 9 und Bull, Berliner
klin. Wochenschr. 18?4.
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PNEUMOTOMIE. — POLYNEÜRJTIS.
541
völlig niedergeschmettert. Die Erwägung, dass es unmöglich ist, mit voller Be-
stimmtheit die Tuberkulose selbst in den Lungenspitzen abzugrenzen und alles
Krankhafte zu entfernen, und andererseits die Schwierigkeit und grossen Gefahren
einer Lungenresection haben die Literatur der Pneumektomie bei Tuberkulose nicht
Uber wenige Fälle (bisher etwa vier) hinauskommen lassen. Unter dem Eindruck
der RCGGt’sehen Operationen konnte Albf.kt (Wiener med. Presse, 1884, Nr. 27
und 28) den Satz aussprechen : „Wenn sich nach diesen Erfahrungen dennoch
Menschen fanden, die den Gedanken der Resection tuberkulöser Lungenspitzen
ernst nahmen, so ist das eben eine Verirrung der Medicin. Die Geschichte wird
sie verzeichnen und die Sache ist abgethau.“ Indess — ein Blick auf unsere
Tabelle lehrt, dass die Schlussworte der ALBERT’schcu Bemerkung in dem Lustrum,
auf das sich unser Bericht erstreckt, ihre Richtigkeit wieder eingehllsst haben. In
2 Fällen (der Aufsatz von Omer ist mir weder im Original , noch auszUglich
zugänglich gewesen) ist die Resection einer tuberkulösen Lungenspitze wieder
versucht worden, und zwar beide Male mit Glück; in dem einen Falle Tt'FFtKa’S
wird sogar über die Dauer des Erfolges nach einem Jahre berichtet. Diese beiden
Erfahrungen werden an dem Urtheil Albert’s, dem sich wohl wenige Autoren
entziehen werden, nichts ändern. Die Resection tuberkulöser Lungenspitzen muss
als ein waghalsiges Unternehmen bezeichnet werden , das im Interesse der
Kranken verpönt sein sollte.
Nicht im gleichen Masse ist die Pneumektomie bei Lungentumoren zu
verdammen. Bei oberflächlich gelegenen, von sonst gesundem Parenchym umgebenen
Geschwülsten, die dem operativen Eingriff relativ leicht zugänglich sind, kann
die Pneumektomie versucht und wie die — allerdings äusserst spärlichen Er-
fahrungen lehren — mit gutem Erfolg durchgeführt werden. Der Eingriff ist
hier umso eher berechtigt, wenn die Natur der Geschwulst sonst einen schnellen
Tod des Patienten befürchten lassen muss. Zu den beiden Fällen von KrOxleix*)
und Wkinlechner**) ist in unserer Berichtszeit der Fall von Müller hinzu-
gekommen, der zu neuen Versuchen nach dieser Richtung hin auffordert
Die Technik der Pneumektomie bei Tumoren ist bereits bei der
kurzen Inhaltsangabe der MÜLLElt’schen Krankengeschichte geschildert worden,
ln Einzelheiten wird sie sich nach den jeweiligen Verhältnissen richten müssen.
Wenn die Umstände es gestatten, wird natürlich auch hier eine vorgängige Vcr-
löthnng der beiden Pleurablätter auf artificiellem Wege — falls natürliche Ad-
häsionen nicht vorhanden sind — die Gefahren der Pueumektomie vermindern.
Es erübrigt schliesslich, kurz der Lungenresection bei traumatischen
Lungenhernien zu gedenken. Hier wird das aus der Brustwunde ausgetretene
Lungensltlck abgebunden und resecirt. Corvv (Münchener med. Wochensehr.
1890) berichtet Uber 14 derartige Fälle, von denen nur 2 tödtlick geendet haben.
J. Schwalbe.
Polyneuritis (multiple, degenerative Neuritisl. (Vgl. Keal-Encycl.,
2. Auf!., Iid. XIV, pag. 320. "I Seitdem Leydex in seiner bekannten Arbeit Uber
Neuritis und Poliomyelitis, die 1879 erschien (Zeitschr. f. klin. Med. I, pag. 387),
zuerst eine scharfe Sonderung dieser Krankheitsprocesse vornahm und die multiple
Neuritis als eine selbständige, klinisch fest eharakterisirte Form einführte, hat
sich eine reiche Literatur dieses Gegenstandes entwickelt, die zunächst in den
monographischen Darstellungen von Allex Starr (Multiple Neuritis and its
relation to certain peripheral neuroses. Med. record. 1887) und von Leydex
selbst (Die Entzündung der peripherischen Nerven, Polyneuritis, Neuritis multi-
plex, deren Pathologie und Behandlung. 1888) zu einem gewissen Abschlüsse
gebracht zu sein schien. In der That waren hier die Grundlinien aus-
reichend fest gezogen , und was in der Folge noch hinzugekommen , ist theils
*) Kriinlein, Berliner klin. Wochenschr. 1884, Nr. 9 und ebenda Ibgö, Nr. 12.
**) Citirt bei Kiedinger, Deutsche Chirurgie. 42. Lfg., pag. gl>9.
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542
POLYNEURITIS.
weiterer Ausbau auf der schon gegebenen Grundlage mit dem massenhaft zu-
strömenden casuistischeu Material , theils Ergcbniss der nach bestimmten Rich-
tungen hin ergänzenden und erweiternden, aber nicht umgestaltenden Forschung.
Es sei nur an die werthvolleren neueren Untersuchungen über gewisse toxische
und infectiöse Neuritisformen (arsenikale, mercurielle, puerperale Neuritis), an
die sich häufenden Mittheilungen über „peripherische Nenro-Tabesu, über die in
der Form LAXDBY’scher Paralyse auftretende Polyneuritis etc. erinnert.
Von allgemeinerer und priucipieller Bedeutung ist eine vor zwei Jahren
erschienene EDDtOER’sche Abhandlung, die „eine neue Theorie über die Ur-
sachen einiger Nervenkrankheiten, insbesondere der Neuritis und
der Tabes“ zum Gegenstände hat.1) Es handelt sieh dabei im Wesentlichen mn
Anwendungen der WEHiKRT’schen Rcizlehre und der Roux’schen Lehre vom
„Kampfe der Theilc“ im Organismus auf die Nervenpathologie unter Zugrunde
legtmg der neueren histologischen Anschauungen Uber die als C'omplex von Ur-
sprungszelle, Achsencylinder und dessen Endverzweigungen sich darstellende
Nerveneinheit, das „Neuron“. Die mit unseren jetzigen Mitteln nachweisbaren
groben Schädigungen von Zelle und Faser sind Allen geläufig; aber diesen müssen
ergänzend die Schädigungsvorgänge angereiht werden, die durch die normale
Function selbst fortdauernd herbeigeführt werden, denn die normale Function
bedeutet an sich ebenfalls eine Schädigung, wenn auch nur „eine Schädigung
im weiteren Sinne“. Wenn der normalen Thätigkeit nicht ein normaler Er-
satz im Stoffwechsel von Nerv und Zelle entspricht, oder wenn bei sonst ganz
normaler Ersatzmögliehkeit die Leistung über das normale Maas hinaus gestei-
gert wird, so müssen sich im Nervensystem Zeichen von Zerfall hier und da
geltend machen, ähnlich wie bei grob mechanischen Leitungsstörungen : Zerfall
der Markscheide, Untergang des Achsencylinders u. s. w., wofür u. A. die nach
Ueberarbeitung entstehenden nenritischen Lähmungen (Beschäftigungs-
lähmungen u. 8. w.) schlagende Beispiele liefern. Auch für die auf scheinbar
ganz verschiedenem Boden erwachsenden Formen multipler Neuritis ist als
gemeinsames Momeut festzuhalten , „dass Nerv und Zelle bei abnormem Stoff-
wechsel den normalen, respective für sie abnormen Anforderungen der Function
nicht gewachsen sind, dass sie zerfallen, wenn zuviel von ihnen verlangt, zu
wenig vom Verbrauchten ersetzt wird“. Diese allerdings noch manche Schwierig-
keiten offen lassenden Anschauungen erscheinen jedenfalls in ihren Grandzügen
wohl annehmbar und zu weiterer Ausgestaltung einladend.
Gehen wir nun auf die sehr zahlreichen Einzeluiitersuclmngen Uber, so
müssen wir zunächst für das Verhältnis der Neuritis zu gewissen
Rückenmark skraukheiten, Tabes, Poliomyelitis u. s. w., die Mittheilnugen
von DEJERINE*'*) Uber peripherische Neumtabes (Ataxie locomotrice par
nevriten pfriphi'riques) hervorheben. Dejekixe theilt zwei Fälle mit, iu denen
klinisch ganz die Erscheinungen der Tabes vorhanden waren, bei der Obduction
aber das Rückenmark völlig intact gefunden wurde , während dagegen ausge-
sprochene parenchymatöse Neuritis der Hautnerven (namentlich an den Beinen!
und zum Theil auch Veränderungen der intramusculären Nerven vorhanden
wareu. Im Anschlüsse an einen dritten klinisch beobachteten Fall erörtert
Dkjkkixk die pathologische Physiologie der Neuro-Tabes, von der er eine atak-
tische und eine paralytische (zu atrophischer Lähmung führende) Form unter-
scheidet; er erklärt die Ataxie bei der ersteren als Folgezustand der Sensibilitats-
störung, namentlich der Störung des Muskelgefühls (Sehnennerven); die Cober-
einstimmung der Erscheinungen mit der eigentlichen (spinalen) Tabes ergiebt
sich mit Nothwendigkcit daraus, dass nach neueren histologischen Untersuchungen
die hinteren Wurzeln im Rückenmark ebenso wie an der Peripherie mit
freien Ausläufern endigen , ihr Befallensein im Centralorgan oder an der
Peripherie daher die gleichen Ausfallssymptome (Sensibilitätsstömngen und
Ataxie) darbietet.
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POLYNEURITIS.
543
Auf das Verhältnis« der Polyneuritis zur Poliomyelitis und zur
Polioencephalomyelitis anterior , namentlich auf die oft schwierige
differentialdiagnostische Unterscheidung beziehen sich u. A. Mittheilungen von
Pctawski *) und Higier •), in denen jedoch nur die klinische Seite des Krankheits-
bildes Berücksichtigung findet und ein Fall mit Section (Fuchs7), wo anscheinend
beide Processe sich coordinirt entwickelten.
Einen Fall, in dem sich zu anfangs bestehender Neuritis secundiire
Myelitis hinzugesellte (Obductionsbefund), hat Shiamura 8) initgetheilt ; experi-
mentell hat Feinberg *) den Uebergang einer degenerativen Neuritis auf das
Bückenmark, vorzugsweise auf die hintere Wurzelfaserung, Hinterhirn und
C'LARKE’sche Säulen durch Thierversuehe an Kaninchen , bei denen der Isehia-
diens durch Aetherspray oder Application einer eiskalten Kochsalzlösung in
Degeneration versetzt war, makroskopisch und mikroskopisch erwiesen.
Von grossem Interesse sind mehrere Publicationen , die sich auf das
neuerdiugs erörterte Verhältnis« der Polyneuritis zur acuten aufsteigenden
Paralyse (der sogenannten Landky 'sehen Lähmung) beziehen; so nament-
lich die Mittheilungen von Leyden10) und von JOLLY'.11) Leyden theilt zwei
Fälle von acuter aufsteigender Paralyse mit, beide nach Influcuza, von denen
der eine in Heilung endete, der andere letal verlief und eine intensive neuritische
Atrophie an den peripherischen Nerven, sowie auch parenchymatöse, ödematös
entzündliche Veränderungen im Rückenmark herausstellte. Die letzteren werden
von Leyden als Folgezustand der ursprünglichen Polyneuritis betrachtet und es
werden von ihm zwei Formen der acuten aufsteigenden Paralyse, eine (ursprüng-
lich) hulbäre und eine (ursprünglich) neuritische — zu der dann consecutive
Myelitis liinzutreten kann — unterschieden. Diese beiden Formen lassen sich
auch klinisch durch das Freibleiben oder Erlöschen der elektrischen Erregbar-
keit, durch Vorhandensein oder Verschwinden der Sehuenreflexe differenziren. Zu
gleichen Ergebnissen gelangt Jolly n), der einen Krankheitsfall mit günstigem
Verlaufe miltheilt , in dem die Ursache in Alkohol- und Tahakmissbraucb zu
suchen war: symptomatisch ist die hier vorhandene Xeuritis optica, die
Herabsetzung der Sensibilität an Händen und Füssen, das Fehlen der Patellar-
retlexe , die Veränderung der elektrischen Erregbarkeit (partielle Entartungs-
reaction), die Schmerzhaftigkeit der ergriffenen Nerven und Muskeln als für
Polyneuritis sprechend hervorzuheben. (Vergl. auch 13.)
Ein unter dem Bilde Landry 'scher Paralyse tödtlich verlaufender Fall
von acuter multipler Neuritis ist neuerdings von VRANJIUAN *s) initgetheilt worden.
Wenden wir uns nun zu den einzelnen ätiologisch charakterisirten
Formen der multiplen Neuritis, so haben wir zunächst auf dem Gebiete der
toxischen Neuritiden mehr oder minder belangreiche Casuistik, z. B. Uber
Alkoholneuritis, wobei übrigens zu bedenken ist, dass ausser Alkoholisniua
nicht selten noch anderweitige pathogenetische Momente der Neuritis coneurrircn
(Chahcot**), theils reine Alkoholncuritiden, theils Complication mit Gelenkrheuma-
tismus, Syphilis und Erysipel; Lacekda und Pagknstechf.r 16) Complication mit
Tuberkulose; auch der obige JOLl.v’sche Fall gehört hierher). Von mercurieller
Polyneuritis hat v. Engel ••) ein Beispiel mitgetheilt (Anschluss an eine Schmier-
eur; Albuminurie durch chronische Nephritis, unabhängig von der Quecksilber-
intoxication) ; neuerdings haben experimentelle Untersuchungen von Heller 1T)
(Snblimatinjectionen bei Kaninchen) zu einer lebhaften Erörterung dieses noch
nicht hinreichend aufgeklärten Gegenstandes Anlass gegeben. Für satnrninc
und besonders für arsenikale Neuritis sind die Publicationen von Jolly18),
Bernhardt10), Menschen *°), Kailton21), Osler22), Barrs21), Adams2') zu er-
wähnen. In den Fällen von Adams, Osler, Railton und Barrs wurden arseni-
kalc Neuritiden durch den therapeutischen Gebrauch von Arsenikpräparaten
I Solntio Fowleri gegen Chorea) verursacht.
Auch für die Kategorie der infectiösen oder doch mit grosser Wahr-
scheinlichkeit als infectiös zu bezeichnenden Neuritisformen ist ein ziemlich
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544
POLYNEURITIS.
reichliches casuistisehes Material vorhanden. Für die Beri-Beri Krankheit, deren
Wesen immer mehr in einer auf infeetiös-endemischer Ursache beruhenden ,\Vk-
ritis multiplex haemorrhagica gesucht wird , sind ausser der grundlegenden
ausführlichen monographischen Bearbeitung von Schecbe*4) kleinere Abhand-
lungen von Girai:d s“) , LACKRDA ,:) , Kirchbero“) zn erwähnen. Von Neuritis
im Anschlüsse an Lungenerkrankungen sind 2 Fälle von C'hahcot (Pneumonie,
Tuberkulose) zu erwähnen, die sich den älteren Beobachtungen von Fiessinger
(Poiyncuritis nach Lungeneiterung, Empyem u. s. w.) anschliesseu. Aus dem Ge-
biete der acuten Infectionskrankheiten sind die Fälle von Neuritis nach Typhus
(Funk8*), Babes*0), nach Masern (Monro **) , Masern und Keuchhusten
(Mackey **), Influenza (Leyden, vergl. o„ Gradexigo, wahrscheinliche Neu-
ritis des Servus acusticu»), Diphtheritis (Edgrkx'4), Hawthokxe 35) zu er-
wähnen. Einen Fall von sensorischer Neuritis der Anogenitalgegend auf syphi-
litischer Basis (Besserung unter Quecksilberbehandlung) beschrieb Hct.KE. **)
Ausser den toxischen uud infectiösen Neuritiden bleibt bekanntlich noch
eine Kategorie von Polyneuritis-Fällen Übrig, in denen wir uns gewöhnt haben,
mit Leyden die vorhandene A nämie oder allgemeine Ernährungsstörung infolge
kachektischer und constitutioneller Erkrankung als Grundlage zu accep-
tiren (was ja auch mit den oben referirten Erörterungen von Edinc.ee ganz gut
übereinstimmt). Hierher würden z. B. die diabetische Neuritis zu rechnen seiD,
deren Casuistik durch Daviks Pryce S7) (3 Fälle) und einen Fall von A. Reich38
vermehrt wird; ebenso die „rheumatische“ durch einen schweren, schliesslich
geheilten Fall von Leyden und durch einen schweren Fall von acuter rheuma-
tischer Neuritis optica mit Ausgang in Amaurose Zimmermanx). Hierher
gehört wahrscheinlich auch ein Theil der bekanntlich von Moebii'S (1887 zuerst
beschriebenen , bisher in der Literatur noch einigermassen spärlich vertretenen
und ihrem Wesen nach offenbar sehr ungleichartigen puerperalen Neuritiden.
Charles Mills **) der in einer Abhandlung 8, wohl nicht sämuitlicb im engeren
Sinne hierher zu rechnende Fälle mittheilt , will 4 verschiedene Formen unter-
scheiden, nämlich traumatische Paralysen des Peronealtypus meist nach Zangen-
anleguug , sacrale und sacrodistale Neuritis mit Pseudoparalyse und oft mit
Erkrankung oder Lageveränderung der Beckenorgane: puerperale Neuritis septisch-
infectiösen Ursprunges und endlich Neuritis, Paralyse und Psendoparalyse bei
Phlebitis und Phlegmasia alba ; er glaubt ausserdem das Vorkommen einer
septisch-infectiösen Myelitis puerperalis als Analogon der entsprechenden Neuritis
constatirt zu haben. Von Lenz *') ist ein sehr schwerer Fall von puerperaler
Neuritis nach anscheinend ganz normalem Puerperium mitgetlieilt. Von Bern-
hardt •*) sind drei schon früher beschriebene Fälle wieder zur Sprache gebracht
worden. Et.'LENBrRG 4S) theilt vier neue Fälle von puerperaler Neuritis und Poly-
neuritis mit, wovon drei sich dem sogenauuten Armtypus (MoEBIUS) uud dem
Beintypns (Tcillaxt-Dejeuink) anreihen, der vierte dagegen ganz und gar dem
Bilde schwerer aufsteigeuder LANDRY’scher Paralyse entsprach, aber
schliesslich auch einen günstigen Verlauf nahm. Es hatte in diesem Falle eine
künstliche Unterbrechung der Schwangerschaft durch den wegen unstillbaren
Erbrechens eingeleiteten Abortus stattfinden müssen. E. betont die ätiologische
Wichtigkeit dieses letzteren Moments und stellt aus der bisherigen Literatur im
Ganzen 38 Fälle puerperaler Neuritis zusammen, auf Grund deren er eine
leichtere, mehr localisirte Form und eine schwerere, mehr diffuse oder gen e-
ralisirte Form klinisch unterscheidet. Neuritis des Opticus ist bei dieser Form
neuerdings vou SCHANZ41) beobachtet worden.
Die schon mehrfach vermuthungsweise geäusserte Auffassung der ge-
wöhnlich sogenannten rheumatischen Faciallähmungen als einer Form der Poly-
neuritis wird von HCbsohmann 44) auf Grund einer sorgfältigen Analyse der
rccidivirendeu und diplegischcn Faciallähmungen dahin erweitert, dass man
cs mit einer degenerativen ascend irenden (sich centralwärts ausbreitenden )
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POLYNEURITIS.
545
Neuritis auf Grund einer noch unbekannten , den Menschen in der Regel nur
einmal befallenden, dann mehr oder weniger vollständige Iminuuität hinterlassenden
infectiösen Noxe dabei zu thuu habe.
Zur Hydrotherapie der Polyneuritiden giebt 0. Pospischil 4e) in
einem Vortrage bei dem Balneologen-Congresse in Berlin (1896) werthvolle
Fingerzeige; er empfiehlt u. A. Application des WiNTERNiTZ'schen Kflhlschlauches
mit Wasser von circa 12° R. an der Lendenwirbelsäule, sowie Longuettenverband
der schmerzhaften Extremitäten im ersten acuten Stadium , später bei Nachlass
der Schmerzen Einpackungen von grösserer oder geringerer Dauer und öfterer
Wiederholung.
Literatur: *) K dinge r, Eine neue Theorie über die Ursachen einiger Nerven-
krankheiten, insbesondere der Neuritis und der Tabes. Sammlung klin. Vortr. von Volkmann,
N. F. Leipzig 1894, Nr. lütj. — *)D6jerino, Sur le nervo-tabea piriphirique (ataxie loco-
motrice p<tr nivrites piri ph iriqu es avec integriti de la mobile ipinikre). Semaine med.
26. April 1893, pag. 201. — *) Dejerine, Sur le nervo- tobe* piriphivique (ataxie loco -
motrice par nivrites piriphiriques, avec integritd abeolue des meines posterieures des gan-
glions spinaux et de la moelle ipinilre). Travail du laboratoire de M. Vulpian. Paris,
22. October 1893. — 4) Pal, Multiple Neuritis und Tabes (LXVI. Versammlung deutscher
Naturforscher u. Aerzte in Wien 1894). Neurol. Centralh). pag. 740. — 6) Putawgky, Gaz.
lekarska. 1894, Nr. 18. — •) Higier, Ibid. Nr. 17—20. Neurol. Centralbl. 1894, pag. 542,
543. — T) Fuchs, Klinische und anatomische Untersuchungen über einen Fall von multipler
Neuritis und Erkrankung der Nervi optici. Deutsche Zeitschr. f. Nervenhk. 1893, IV. —
•) Shiamura, Ueber einen Fall von Myelitis ex neuritide aacendente. Zeitschr. f. klin.
Med. XXIV. — 9)Feinberg, Myelopathiu postnevritica. (Experimentelle Studie.) Ibid. XXV.
— ,<J) Leyden, Ueber multiple Neuritis und acute aufsteigende Paralyse nach Intluenza.
Zeitsehr. f. klin. Med. XXIV. — ll)Jolly, Ueber acute aufsteigende Paralyse. Berliner klin.
Wochensehr. 1894. — ,Ä) Rohde, Ein Fall von schwerer Polyneuritis aller vier Extremitäten
mit bulbären Symptomen (aufsteigende Paralyse). Zeitschr. f. klin. Med. XXV. — 13) Fer-
guson, Five cases of audden dcath due to asccnding neuritia. Med. News. 6 Januar 1894.
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lÄ) v. Engel. Ueber Polyneuritis mercurialis. Prager med. Wochenschr. 8. und 15. Februar
1894. — IT) Heller, Experimentelle Beitrage zur Polyneuritis mercurialis. Deutsche med.
Wochenschr. 1896, Nr. 9 u. 10. — ,#) Jolly, Ueber Blei- und Arseniklähmung. Deutsche med.
Wochenschr. 1893, Nr. 5; Ueber einen Fall von multipler Neuritis nach chronischer Arsen-
vergiftung. Charite-Annalen. 1893, XVIII. — ,#) Bernhardt. Kurze Mittheilung über einen
Fall von Arseniklahmung. Deutsche med. Wochenschr. 1893, Nr. 5. — ,0) Henschen, On
arsenical paralgsis presented to the Royal Society of Sciences of Upsala. September
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Roumaine med. März 1893, 1. — Jl) Monro, Peripheral neuritia öfter measlea . Lancet.
14- April 1894. — **) Mackey, Case of multiple neuritia in a child, with remarks. Brit.
med. Journ. 25. August 1894, pag. 407. — **) Gradenigo, l'eber einen Fall von wahr-
scheinlicher Neuritis des Nervus acusticus nach Intlnenza. Allg. Wiener med. Ztg. 1893,
Nr. 4 n. 5. — 3<) Edgren. Tviinne fall af difteritish förlamning. Hygiea. 1893, LV, 2,
pag. 160. — *4) Hawthorne, Cast of diphtheritic paralysis icithout any preceding histonj
of throat affection. Glasgow med. Journ. November 1893 — $t) Hulke, Peripheral neuritt is
of sensory nerves of integument of the buttocks, penis, acrotum etc., syphitia, improvement
under mercurial treatment. Lancet. 31. März 1894. — 37) Davies Pryce, On diabetic
neuritia with a clinical and pathological description of three cases of diabetic pseudo-
tabes. Braia. 189 3, LXIII. — **) A. Reich, A case of diabetic multiple peripheral neuritia.
Med. record. 1894, Nr. 1210. — *w) Leyden, Vorstellung eines Falles von schwerer, nach
zweijähriger Dauer fast geheilter multipler Neuritis nebst Bemerkungen über Verlauf, Pro-
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pa ralysia following labor. University med. magazine. Mai 1893. — 4‘) Lunz, Ueber Poli-
Encyclop. Jahrbücher. VI. 35
546
POLYNEURITIS. — QUECKSILBER.
neuritis puerperalis. Deutsche med. Wochenschr. 1894, Nr. 47. — 41) Bernhardt, Ueber
Neuritis puerperal is. lbid. Nr. 50. — °) Eulen bürg, Ueber puerperale Neuritis und Poljr*
neuritis. lbid. 1895, Nr. 8 u. 9. — 44) Hübschniann, Ueber Recidive und Diplegie bei der
sog. rheumatischen Facialislähmung. Neurol. Centralbl. 1894, Nr. 22, 23. — 45) Vranjican
(Zara), Ein unter dem Bilde der Lan dry'schen Paralyse tödtlich verlaufener Fall von
acuter multipler Neuritis. Wiener klin. Wochenschr. 1895, Nr. 27 und 28. — 4*) C. Zimmer*
mann, Acute rheumatic optic-neuritis. Archive« of ophthalm., 1896, XXV, Nr 1. —
47) Schanz, Die Betheiligung des Opticus bei der puerperalen Polyneuritis. Deutsche med.
Wochenschr., Nr. 28. — 48) Pospiachil, Zur Hydrotherapie der Polyneuritiden. Blatter f.
klin. Hydrotherapie. 1896, Nr. 4. Eulenburg.
Polystichumsäuren. Mit diesem Namen hat POÜLLSON zwei filii-
säureähnliche Substanzen aus Polystich um ( Aspidium ) spinulosum be-
legt, von denen die eine, C„ H,, 0„, in schwefelgelben, feinen, seideglänzenden
Nadeln, die andere, C„ Ht6 O,, in morgensternförmigen, aus kleinen Nadeln
zusammengesetzten, weissen Körnern krystallisirt. Beide entwickeln beim Erwärmen
Buttersäuregeruch. Sie rufen bei Fröschen und Kaninchen centrale Paralyse hervor,
die in der Regel von leichten Krämpfen begleitet ist und sich durch ihren Ver-
lauf meist deutlich als aufsteigende Rtlckenmarkslähmnug kennzeichnet Bei
Fröschen persistiren Herzthätigkeit und Nerven- und Muskclreizharkeit lansre
Zeit nach der completen Lähmung. Bei Kaninchen ist die Reflexerregbarkeit
anfangs erhöht , der Krampf unbedeutend ; der Tod erfolgt durch Athemstill-
stand. Bei Kaninchen ist die intravenöse letale Gabe 0,03 — 0,05 pro Kilo; die
gelbe Säure scheint hier etwas giftiger zu sein , während bei Fröschen beide
gleich stark wirken. Aehnliche der Filixsäure ähnliche Säuren enthalten auch
andere Farukrautarten, z. B. Aspidium angulatum , Aspidium aculea-
tum, Asplenium filix foemina, Struthiopteris germanica und
Allosurus crispus, von denen die letztgenannte in Norwegen für giftig gilt.
Literatur: Poulsson, Ueber Polystichumsäuren. Arch. f. experim. Path. u.
pharm. XXXV, Heft 2 und 3, pag. 97. Husemaun.
Proteinstoffe, im normalen Harn, pag. 247.
Pseudotabes peripherica, s. m yelitis, pag. 491.
Pyridin, s. Inhalationstherapie, pag. 275, 287.
Q-
Quecksilber, Nachweis im Harn, pag. 257.
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R.
Rachenentzündung. Bei der frischen Entzündung der Rachenhohle
wird insbesondere nach zwei Richtungen hin eine höhere Aufmerksamkeit bean-
sprucht. Schon langer bekannt, ist aber erst in den letzten Jahren eindringlicher
darauf hingewiesen worden. Zunächst ist es die im Nasenrachenräume beginnende
frische Entzündung, die weit häufiger, als gemeinhin noch angenommen wird,
vorkommt. Die Kranken klagen über Schmerzen oben im Halse, Ziehen und auch
Schmerzen in den Ohren, Trockenheitsgefühl hinter dem Gaumensegel. Bei der
Besichtigung der Rachenhöhle findet man gewöhnlich nichts Auffälliges; erst wenn
man mittels Spiegel den Nasenrachenraum untersucht, erkennt man darin die oft
beträchtliche Röthe und Schwellung, sowie bei stärkerer Entwicklung des ade-
noiden Lagers manchmal weissliche Punkte , wie wir sie so häufig an den
Gaumenmandeln finden und als Angina follicularis kennen. In nicht wenigen
Fällen von Vergrösserung der Rachenmandel wird auf diese erst durch eine
frische Entzündung des Nasenrachenraumes die Aufmerksamkeit gelenkt; denn
hierdurch wird erstere oft so sehr vergrössert, dass die Nasenathmung , wenn
auch vorher schon nicht onlnungsmässig, nun gänzlich aufgehoben wird. Bei
jeder Rachenentzündung, insbesondere aber wenn bei der unmittelbaren Besichti-
gung kein die Beschwerden des Kranken erklärender Befund erhoben werden
kann, muss dem Nasenrachenraume die sorgfältigste Beachtung zutheil werden.
Es giebt nicht wenige Fälle von frischer Rachenentzündung, die lediglich oder
wesentlich im Nasenrachenraume verlaufen, viele auch, welche sich mehr in die
Nase als in die untere Rachenhöhle fortpflanzen.
Mit frischen RachcnentzUudungen vergesellschaftet sich nicht selten auch
Muskel- und Gelenkrheumatismus. Es ist sehr wichtig, dass diesem Um-
stande jetzt eine erhöhte Aufmerksamkeit zugewendet wird. Es ist für viele Fälle
erwiesen, dass die rheumatische Erkrankung ihre Eingangspforte in der Rachen-
höhle gefunden hat. Sehr bezeichnend ist es, dass gerade leichten Mandel-
entzündungen unmittelbar ein Gelenkrheumatismus gefolgt ist. Es ist sehr leicht
möglich, dass in solchen Fällen seither die voraufgegangene, vielleicht gar nicht
weiter behandelte Mandelentzündung unbeachtet geblieben ist. Die durch die
Mandeln eingedrungenen Krankheitserreger sind augenscheinlich im Staude, in
jenen mehr oder weniger erhebliche Erkrankungen zu veranlassen, wie z. B.
eine Angina lacunaris. Dass diese letztere auch im Nasenrachenraume Vorkommen
kann, ist bekannt. Ich sah kürzlich einen solchen fall im Anschlüsse an eine
Anwendung des elektrischen Brenners in der Nase , und noch bevor die Ilals-
beschwerden vollkommen beseitigt waren, trat in einem Knie- und in einem Ell-
bogengeleuk nach einander eine mässig starke Entzündung auf, die jedoch nach
14 Tagen spurlos verschwunden war.
35*
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548 RACHENENTZÜNDUNG. — RÜCKENMARKSENTZÜNDUNG.
Es empfiehlt sieh dringend, jeder Halsentzündung sorgfältigste Be-
achtung zu schenken. Kinder sollten , sobald sie aus der Schule nach Hause
kommen, sofort 3 — 4mal mit einer leichten Kochsalzlösung gurgeln; in Zeiten,
in denen Halsentzündungen jedoch häufig Vorkommen , empfiehlt sich eine Jod-
kochsalzlösung (Solut. Natrii chlorati 3,0:300,0, Tinct. Jodi 1 ,50 ) zum gleichen
Zwecke; bei Halsentzündungen mit Belag leistet diese bei ’/, — lstündlichem
Gebrauche ganz ausgezeichnete Dienste; daneben sind PRlESSNlTZ'sche Umschläge
zu gebrauchen. Besondere Sorgfalt ist auch der Mundhöhle, besonders den Zähnen
zn widmen. Bei kranken Zähnen ist der ein- bis mehrmalige Gebrauch des
MlU-ES’schen Mundwassers täglich zn empfehlen, da hierdurch die leicht gefähr-
lich werdenden Krankheitserreger zerstört werden. Von grösster Wichtigkeit aber
ist , dass ein etwa verschlossener oder behinderter Nasenluftweg baldigst frei-
gelegt wird und damit die die Rachenenge (durch Austrocknung^ so leicht ver-
letzende Mundathmung durch die auch noch in manch anderer Beziehung wich-
tige Nnsenathmung ersetzt werden kann. Bei Kranken aber, welche in dieser
Richtung behandelt werden , empfiehlt es sich , gleichzeitig durch geeignete
Gurgelungen die leicht erkrankenden Rachenorgane vor dem Eindringen der
zahlreich vorhandenen Entzündungserreger möglichst zu schützen.
Bemerkenswert!) ist auch, dass es Hals- oder Schlingsehmerzen giebt,
ohne dass bei sorgfältigster Untersuchung irgend etwas auf eine Entzündung der
Rachenhöhle oder ihrer Nachbarschaft Deutendes gefunden werden könnte. Die
Schlingbeschwerden wechseln auch ihren Ort, verschwinden aus dem Halse
und tauchen als Muskelschmerzen an anderen Körperstellen auf. In solchen Fällen
handelt es sich um Rheumatismus der Halsmuskeln, gegen den Bich PiUESSXITZ'sche
Umschläge am besten bewähren.
Literatur: W. C. Braislin, The rheumatic throat a contrihutirn to the ttür
logt/ of catarrh of the naso-pliarynx. New York med. Journ. 1893; Bericht in Seroon's Centralbl.
X, 1893 94, Nr. 6, pag. 294. — Bass, Ueber die Beziehungen zwischen Angina und acutem
Gelenkrheumatismus. Arch. f. klin. Med. LIV, S.-A. — J. C. Cross! and , Tonsillitis as a s
initial Symptom of acute rheumatism in the adult. Journ. amer. Assoc. ; Bericht in Semon s
Centralöl. IX. 1892 93, Nr. 10. pag. 495. — W. Freudenthal, On rheumatic and allicd afie-
tions of the jdiarynx, larynx and nose. New York med. Kecord. 1895, S.-A. — Gougnea-
hoim, Die aente rheumatische Angina. Gaz. med. 1894; Bericht in der Deutschen Med.-Zt*.
1894, Nr. 57, pag. 634. — A. Heller, Der Nasenrachenraum in der Pathologie. Arch. f. klin.
Med. 1895, LV, S.-A. — J. Sendziak, Beitrag zur Aetiologie der sogenannten „Angina
follicularis“. Arch. f. Laryngol. 1894, II, H. 2, pag. 180. — H. Snchannek, Die Kerir-
hnngen zwischen Angina und acutem Gelenkrheumatismus. Sammlung zwangloser Abhand-
lungen aus dem Gebiete der Nasen-, Ohren-, Mond- und Halskrankheiten, heransgegehen von
M. Bresgen. 1. H. Halle 1895, Marhold. — Max Thorner, llheumatic throat ajfectium.
Cincinnati med. Journ. 1893, S.-A. — M. Bresgen, Krankheits- nnd Behandlnngslrhre der
Nasen-, Mund- und Rachenhöhle sowie des Kehlkopfes nnd der Luftröhre 3., amgearbeitete nnd
erweiterte Auflage. Wien 1896, Urban nnd Schwarzenberg. Maximilian Bresgen.
Rhinalgin, ein von Dr. Thomalla aus Alumnol , Oleum ualerianat,
Menthol und Oacaobutter hergestelltes Präparat, aus welchem 1,0 schwere Zäpf-
chen bereitet werden, die, in die Nase eingefllhrt, sich besonders bei Jodschnupfen,
aber auch bei Coryza, bei Nasengeschwüren und Entzündungen der Nasensclileim-
haut bewähren sollen, ln jedes Nasenloch legt mau */i Zäpfchen und sobald e*
zn zergehen beginnt, drückt man es von den Aussenwänden der Nase weit in
die hintere Nasenöffnuug lind bleibt einige Zeit auf dem Rücken liegen. Diese
Applicatiou soll raehreremale am Tage vorgenommen werden.
Literatur: Thomalla, Ueber die Beseitigung des Schnupfens, speciell des Jod-
schnupfens durch Rhinalgin. Allg. med. Central-Ztg. 1895, Nr. 5. Loebiscb.
Rhodanverbindungen, im Harn, pag. 246.
Riickenmarksentzündung, 8. Myelitis, pag. 447.
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s.
Safranvergiftung. Dass dem als Gewürz bekannten Safran giftige
Eigenschaften zukommen , ist schon Diokcokides bekannt gewesen. Trotz einer
grossen Anzahl von Bestätigungen durch spätere, besonders mittelalterliche und
im 17. Jahrhundert lebende Autoren wird die bei dem hohen Gehalte der Droge
an ätherischem Oele an sich durchaus wahrscheinliche Giftigkeit nach den nega-
tiven Versuchen Okfjla’s an Thieren meist als problematisch oder überhaupt
nicht existirend angesehen. Doch sind in neuester Zeit zwei Fälle tfldtlicher Ver-
giftung vorgekommen. In dem einen von SOHlllIiTMAXX in Wilhelmshaven beob-
achteten Falle handelte es sich um ein Dienstmädchen, das Safran als Abortivum
genommen hatte und am 3. Tage an der dadurch bewirkten, mit Benommenheit,
Erbrechen, Nasenbluten u. s. w. einhergehenden Vergiftung zu Grunde ging. Der
andere, im Detmolder Landkrankenhause behandelte Fall betrifft eine 23jährige
Bonne, bei der sich nach dem ebenfalls zum Zwecke der Fruchtabtreibung ein-
genommenen Gifte ein plötzlicher Anfall von Bewusstlosigkeit mit krampfhaften
Erscheinungen an den Extremitäten und Neigung zum Drehen nach rechts,
Nystagmus mit Pupillenerwciterung einstellte. Die Bewusstlosigkeit dauerte bis
zu dem 53 Stunden nach dem Eintritt des Anfalles erfolgenden Tode an.
8 Stunden vor dem Tode erfolgte Abortus. Bei der Section fand sich ausser-
ordentlich starke Blutfüllung der Gcfässe in der Magrndarmschleimhaut, im Gehirn
und in den Hirnhäuten ; auch bestand leichte Nephritis. Der Fall bestätigt somit
auch die abortive Wirkung des Safrans, die in älteren Schriften vielfach betont
wird und dom Volk leider nur zu gut noch jetzt bekannt ist. Dass der Safran
allein die Schuld an dem Tode war, beweist in dem Detmolder Falle die chemische
Analyse des Mageninhalts, die alle anderen zu Abortivzwecken verwendeten Gifte
ausschloss, während sie die Anwesenheit grosser Mengen Safran constatirte. Die
genommene Dosis ist in dem Detmolder Falle unbekannt; einige Monate zuvor
hatte das Mädchen einen weinigen Aufguss von 2 — 21/, Grm. Safran genommen,
ohne darnach zu erkranken, ln dem Wilhclmshavener Falle hatte die Vergiftete
wiederholt von einem Bpirituöscn Auszuge aus einer Flasche, die sie zu einem
Drittel mit Crocns und zu zwei Drittel mit Spiritus gefüllt hatte, getrunken.
Literatur: Corvey, Ueber die Giftigkeit des Safrans. Dissert. Leipzig 1895.
Busemann.
Safrol. Ein sehr giftiger Bestandtheil verschiedener ätherischer Oele
ist das zuerst als der llauptbestandtheil des Sassafrasöles bekannt gewordene,
jetzt in grosser Menge wegen seines fenchelartigen Geruches zu Parfumerie-
zwccken, insonderheit zur Darstellung des lleliotropins (Piperonals), aus dem
rohen Campheröl gewonnene Safrol , CI0 H10 Os , das nach den neuesten chemi-
schen Untersuchungen als Allylbrenzcatechinmethyläther aufzufassen ist.
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550
SAFROL.
Das Safrol findet sich , von Laurus Sassafras und Camphora off ci na rum abge-
sehen , auch in den Früchten von lllieium an ts atu m und 1. rel i g io su m , ferner in
einer grösseren Anzahl zu den Lauraceen, Magnoliaceen und Monimiaceen gehöriger Gewächse
Es ist eine farblose Flüssigkeit, die bei 232° siedet und bei starker Abkühlung zu schönen
monoklinen Prismen erstarrt, die bei 121 schmelzen. Bei 11° hat es ein specifisches Gewicht
von 1,005. Es löst sich in Aether, Alkohol und Benzol, nicht in Wasser, Alkalien und Säuren.
Concentrirte Schwefelsäure färbt sich mit Safrol roth. Bei Oxydation mit Kaliumpermanganat
entstehen daraus neben Ameisensäure, Oxalsäure und Essigsäure vorwiegend Piperonyl-
säure und Piperonal; als Zwischen producte erscheinen ein zweiwertbiger Alkohol, Methylen-
dioxybenzylglykol und Homopiperonylsaure, aus der sich dann weiter Piperonal und Piperonyl-
säure bilden. Das Safrol gehört zu den populärsten Parfüms der Seifenindastrie . dient aber
in Amerika auch zum Aromatisiren von Tabak und von erfrischenden Getränken, unter denen
das sogenannte Saraaparilla Water , mit Zuckertinctur braun gefärbtes, mit Kohlen-
säure unter starkem Druck gesättigtes und mit Safrol aromatisirtes Zuckerwasser . als blot-
reinigendes Mittel in erstaunlichen Quantitäten Absatz findet. In Leipzig producirt die Firma
Schimmel & Cie. jährlich etwa 120.000 Kgrm. aus rohem Campheröl.
Im Organismus wird Safrol nur zum kleineren Theile oxydirt, während
der grösste Theil durch die Lungen ausgeschieden wird. Im Harn erscheint eine
kleine Menge (nach Einführung von 12,0 nur 0,5) Piperonylsäure.
Vermehrung von Aetherschwefelsäure findet nicht statt. Piperonylsäure tritt im Harn
auf nach Einführung von Piperonal (Heliotropin), das physiologisch unwirksam erscheint und
vom Menschen zu 10 Grm. genommen werden kann, ohne ßefimlensstörung zu veranlassen
Nach den Versuchen von Heffter ist Safrol einer der giftigsten Bestand-
theile ätherischer Oele, indem es bei Kaninchen vom Magen oder Untcrhautzell-
gewebe aus zu annähernd 1,0 pro Kilogramm, in Emulsion intravenös injicirt.
Bchon zu 0,2 pro Kilogramm Tod herbeiführt. Local reizende Wirkung kommt
dem Safrol nicht zu. Seine entfernte Wirkung ist lähmend , wobei zunächst das
Gehirn (Narkose), dann die Reflexcentren und schliesslich das Athmungscentnim.
durch dessen Lähmung der Tod eintritt, betroffen werden. Auch die vasomotori-
schen Centren werden dadurch gelähmt, doch sind sie relativ resistent gegen das
Gift, da bei kleinen Safroldosen nur vorübergehende Blutdrucksenkung eintritt,
und auch bei grossen die Erregbarkeit für den Er8tickungsreiz sehr lange er-
halten bleibt. Auf die Pulsfrequenz ist Safrol ohne constanten Einfluss. Bei
Fröschen bewirken 5 Mgrm. einstfindige Narkose mit starker Herabsetzung der
Reflexaction und Verminderung der Herzschlagzahl.
Obschon beim Menschen Vergiftungen mit Safrol bis jetzt nicht vor-
liegen, kommt dem Stoffe bei seiner überaus ausgedehnten technischen Anwendung
in der Seifenindustrie doch unzweifelhaft hygienisches Interesse zu , da sehr
leicht accidentelle Vergiftungen damit Vorkommen können. Diese Gefahr ist nicht
zu unterschätzen, da aus Nordamerika verschiedene Beobachtungen über sch wen*
Intoxicationen durch Sassafrasöl vorliegen, dessen Hauptmasse, wie oben bemerkt,
aus Safrol besteht.
Schon 1884 wies Hill die grosse Giftigkeit des Sassafrasöls für Hund-, Katzen
und Mäuse nach. Gegen die in Amerika Mode gewordene theelöffelweise Anwendung des Sa*»*
frasöls zog 188(3 Bartlett zu Felde unter Mittbeilung von zwei Fällen von Abortus , die
unter Gebrauch von Sassafrasaufguss entstanden waren. Eine schwere Vergiftung durch einen
Theelöffel voll Sassafrasöl beobachtete 1889 Allright bei einem jungen Manne, der schon
nach wenigen Minuten zu hallucitriren begann und trotz mehrmaligen spontanen Erbrechens
nach einer Stunde in einem 10 Stunden anhaltenden Zustand completer Bewusstlosigkeit mit
Kälte der Extremitäten, kaum fühlbarem Radialpuls und Sinken der Athemzahl bis auf 12 io
der Minute verfiel. Dass es übrigens noch giftigere ätherische Oele als das Sassafrasöl und selbst
als Safrol gibt, ist nicht zu bezweifeln. Nach den Erfahrungen an Menschen ist schon eine
einzige Muscatnuss, die bei einem Gewicht von 4 — 5 Grm. und einem Gehalte von 6% ätheri-
schem Oele 0,24 bis 0,3 ätherischem Oele entsprechen würde, im Stande, mehrstündige Narkose
bei Erwachsenen zu bewirken.
Auch die Benutzung zum Parfumiren von Tabak oder noch mehr von
Getränken verdient die Aufmerksamkeit der Hygiene, da Safrol nicht blos acute,
sondern auch subacute chronische Vergiftung zu bewirken vermag. Thiere, die
intern oder subcutan mehrere Tage hinter einander grössere, aber nicht tödtliche
Dosen von Safrol erhalten, magern ah, werden träge und apathisch, verlieren die
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SAFROL. — SALIGENIN.
551
Fresslust und sterben in 6 — 8 Tagen , ohne dass die Section wesentliche Ver-
änderungen ergiebt. Bei Katzen, bei denen zunächst heftiges Erbrechen cintritt,
nnd bei Thieren, denen man das Safrol in längeren Zwischenräumen darreicht,
kommt es zu Icterus und hochgradiger fettiger Entartung verschiedener Organe,
namentlich der Leber und der Nieren, Erscheinungen, die nach ätherischen Oelen
(mit Ausnahme von Thymol, Rosmarinöl und dem Oele von Mentha PuUgium)
bisher nicht beobachtet wurden, nach Heffter aber, allerdings prägnant nur in
den protrahirtesten Vergiftungsfällen, einem Allyl enthaltenden, festen ätherischen
Oele, dem Apiol, zukommen.
Der in den Früchten von PetrostUnum sativum enthaltene Pe ters il ien c am pb e r
oder Apiol, bildet nadelförroige Krystalle, die bei 30° schmelzen und bei 29° -sieden.
Sie 9chmechen schwach nach Petersilie nnd schmecken brennend aromatisch. Durch Kalium-
permanganat wird Apiol zu Apiolsäure, CloH,0O, , oxydirt. Apiol ist der Dimethylmetbylen-
äther eines Allyltetraoxybenzols und von Safrol durch Substitution von 2 Methoxylgruppen
verschieden. Durch Kochen mit alkoholischem Kali geht es in isomeres Isapiol über. Im Thier-
körper wird es schwierig resorbirt , so dass acute Vergiftung vom Magen und Unterhautzell-
gewebe aus bei Warmblütern nicht zu erzielen ist, wahrend bei Fröschen tiefe Narkose da-
durch bewirkt werden kann, jedoch nur unter Anwendung sechsfach grösserer Mengen. Neben
der Safrolwirkung besitzt Apiol eine stark örtlich reizende Wirkung, so dass es nicht nur bei
Subcntanapplication nekrotisch eiterige Infiltration erzeugt, sondern auch bei länger dauernder
interner Zufuhr zu hochgradiger Gastroenteritis mit Blutungen in den Darm hinein Anlass wird.
Als ein in der Seitenkette oxydirtea Safrol ist nach Pomeranz das Cubebin
anzusehen, das jedoch als ganz unwirksam bezeichnet werden muss, da davon nur sehr geringe
Mengen resorbirt werden, wenn überhaupt Resorption stattfindet. Bei Hunden können in fünf
Tagen 36 Grm., beim Menschen innerhalb eines Tages 13 Grm. innerlich genommen werden,
ohne irgendwelche Störungen im Befinden herbeizuführen.
Die ausserordentlich grosse Toxieität des Safrols erscheint umso auf-
fälliger, als eine dem Safrol in ihrer Constitution sehr nahe verwandte aromatische
Verbindung, das Eugenol, die als Dioxyallylbenzolmonomethyläther aufzufassen
ist, nur wenig oder kaum giftig ist, da 7 — 8 Grm. bei Hunden nur Polyurie
und mitunter Durchfälle hervorrufen und 3 Grm. in getheilten Dosen beim Menschen
keine nennenswerthen Störungen machen , während allerdings grössere Dosen
Schwindel und rauschartigen Zustand bewirken. Von theoretischem Interesse ist
besonders auch die Differenz der toxischen Verhältnisse des dem Safrol isomeren
Isosafrols, das in derselben Weise wie Safrol zusammengesetzt ist, aber statt
Allyl die diesem isomere Propenylgruppe enthält.
Das Isosafrol , der Methylenäther des Propenylbrcnzcatechins, entsteht bei Erhitzen
von Safrol mit Natrium und festem Kali im Rohr oder durch Erwärmen in alkoholischer
Kalilösung am Rückfiusskühler. Es ist eine wenig gelblich gefärbte Flüssigkeit von safrolähn-
lichem , aber schwächerem Gernche . die bei 246 — 248" siedet und bei — 18° nicht erstarrt.
Löslichkeit und Reaction mit Schwefelsäure verhalten sich wie bei Safrol. Bei der Oxydation
entsteht neben Piperonal und Piperonylsäure noch eine zweite Säure, Piperonylcar bonsäure.
Isosafrol wirkt bei Fröschen wie Safrol , ist aber bei Kaninchen etwas
schwächer giftig, indem erst 0,3 Grm. intravenös in Emulsion applicirt den Tod
bewirken, dem dieselben Erscheinungen wie bei Safrolvergiftung voraufgelren. Sehr
different ist dagegen die subacute Vergiftung , insoferne diese nicht allein weit
langsamer (in 3 Wochen) und nur nach höheren Dosen tödtlich verläuft, sondern
auch die Symptome, insoferne neben der Schwäche auch deutlich nervöse Sym-
ptome, wie Taumeln und selbst Krämpfe auftreten, abweichen und der Leichen-
befund auch bei Katzen niemals Verfettung der Herzmusculatur, der Leber und
der Nieren wie bei der Safrolvergiftung darbietet.
Literatur: Heffter, Zur Pharmakologie der Safrolgrnppe. Arch. f. experim. Path.
XXXV, H. 4 u. 5, pag. 4!f3. Husemaun.
Saligenin, C, 1 ,-.>y Ortho-oxybenzylalkohol, Salicyl-
alkohol, bildet einen Bestandtheil des in der Weidenrinde vorkommenden
Glykosids Salicin, welches bei der Spaltung durch Säuren, Alkalien und Fer-
mente in Saligenin und Glykose zerfällt. Das Salicin wurde schon seit langer
Zeit arzneilich angewendet und auch in neuerer Zeit von Senator als Anti-
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552 SALIGENIN. — SCHANKERGIFT.
pyreticum wieder empfohlen; man durfte annelimeu, dass die Wirkung des-
selben auf das .Saligenin zurückzuführen ist. Duch Oxydationsmittel wird das
Saligenin leicht in salicylige Säure (Salicylaldehyd) und in Salieylsätire
übergeführt, es verhalten sich also die drei Verbindungen zu einander wie Al-
kohol, Aldehyd und Säure. Die Annahme, dass dem Saligenin wegen seines
phenolartigen Charakters antiseptische Wirkungen zukommen, wurde durch den
Versuch bestätigt, dessen therapeutische Wirksamkeit bei acutem Gelenksrheuma-
tismus versuchte man durch die Oxydation des Saligenins im Organismus zu
Salicylsäure zu erklären. Lederer kann sich dieser Auffassung auf Grund seiner
klinischen Beobachtungen nicht anschliessen. Bekanntlich bedarf es, um mit
Salicylsäure eine rasche und sichere Wirkung zu erzielen, ziemlieh grosser Dosen.
Wäre nun der therapeutische Werth des .Saligenins allein durch die im Orga-
nismus producirte Salicylsäure bedingt, 60 müssten , da im Harn bei der Sali-
geninbehandluug neben Salicylsäure und Salicylursäure auch noch salicylige Säure
nebst unverändertem Saligenin vorhanden sind, zur Erzielung der Wirkung noch
grössere Mengen Saligenin , als der Behandlung mit Salicylsäure entsprechen,
vorhanden sein. Es wirkt jedoch das Saligenin schon in kleineren Gaben rasch
und anhaltend, so dass man zur Annahme gelaugt, dass die Salicylsäure im
Organismus zu Saligenin reducirt werde und der Heilwerth jener eigentlich dem
Reductionsproducte zukomme. Nach Lederer ist der therapeutische Effect des
Saligenins ein nur diesem eigcnthümlicher.
Während das aus dem Salicin erhaltene Saligenin wegen des hohen
Preises wenig Aussicht auf eine allgemeine Verwendung hatte, bietet das durch
Vereinigung von Carbolsäure mit Formaldehyd synthetisch erhaltene Saligenin in
dieser Beziehung günstigere Aussichten. L. Lederer berichtet über acht von
P. Walter mit Saligenin behandelte Fülle, sieben Fälle von acutem Gelenks-
rheutnatismus, ein acuter Gicbtunfall; die Wirkuug war in Bezug auf
Schmerzhaftigkeit und Schwellungen eine prompte, ohne dass ähnliche Neben-
wirkungen wie nach Salicylsäure bemerkt wurden.
' Dosirung. 0,5 — 1,0 pro dosi I — 2stündlich als Pulver oder in alkoho-
lisch-wässeriger Lösung. Rp. Saligenin 4,0, Spiritus 30,0, Aq. dest. ad 200,0.
MDS. Stündlich 1 — 2 Esslöffel zu nehmen.
Literatur: L. Lederer, Leber Salicin und Saligenin. Münchener med. Wochen-
schrift. 1994, pag. 019. — Idein. Saligenin in der Therapie. Münchener med. Wochenschr. 1895, 7.
Loebisch.
Salpeterpapier, Räucherungen, s. Inhalationstherapie, pag. 283.
Salubrol; Name eines bei Einwirkung von Brom auf Methylenbisantipyrin
entstehenden Brompräparates, dag als geruchloses Pulver von den Höchster Farb-
werken neuerdings dargestellt und als Jodoformersatz, namentlich als antiseptischcs
Streupulver in Form von Salubrolgaze u. s. w. zur Anwendung gebracht wird.
Salzsäure, gasvolumetrische Bestimmung, s. Magen, pag. 388.
Schankergift. Die Lehre , dass der Syphilis und dem Sehanker ver-
schiedene Gifte zu Grunde liegen, welche für Deutschland durch Bärensprus«.
namentlich aber durch H. v. Zeissl zur Anerkennung gebracht wurde , darf
heutzutage als allgemeingiltig angesehen werden. Während das Syphilisgift
noch vollkommen unbekannt ist und man nur seine klinischen Aeusserungen
kennt, sind hingegen die Anschauungen über die l'rsachen des local bleiben-
den Schankergcschwüres in den letzten fünf Jahren wesentlich bereichert worden.
H. v. ZEI88L und ich haben uns immer dahin ausgesprochen, dass den Schanker
ein besonderes, ihm allein eigentümliches Contagium veranlasse. So heisst cs
in der fünften Auflage des von mir hernusgegebenen Lehrbuches, pag. 229:
„Wir können nur aus der Thatsnche, dass eine Minimnlquantität des Geschwflrs-
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SCHANKERGIFT.
553
secretes, wenn dasselbe mit belebten Theilen der Cutis oder der Schleimhaut in
Contaet gebracht wird , in sehr kurzer Zeit an Ort und Stelle ein dem Mutter-
geschwür ähnliches Geschwür hervorruft, den Schluss ziehen, dass das betreffende
Gesehwttrssecret eine contagiiise Kraft besitzen muss.“ Ausserdem heisst es pag. 309
desselben Lehrbuches: „Alle Schankergeschwüre erzeugen ein- und dasselbe Virus.“
Primo Ferrari '), Manxio *) und de Lecca *) berichten in den Jahren 1885 und
1886 üher die von ihnen im Schanker- und Buboneneiter gefundenen Mikro-
organismen. Ob diese Autoren schon die später von Dccrev, Kreftikg und
Unna beschriebenen Mikroorganismen neben den anderen von ihnen im Schanker-
citer gefundenen Mikroorganismen gesehen haben, lässt sich nicht mit Sicherheit
aussagen. Die Kenntnisse, die über das Contagium des weichen Geschwüres in
den letzten Jahren erworben wurden, bauen sich auf die Arbeiten Duceey'S4),
Khkftixg's*) und Unna’s auf.
Es sei hier bemerkt, dass vor Ddcrey W e LAND KR •) in einer im
Jahre 1891 erschienenen Arbeit, welche „Abortivbehandlung der Bnboncn“ be-
titelt ist, berichtet, dass er schon im Jahre 1887 im Schankereiter neben staphylo-
und streptococcusähnlichen Mikroorganismen sparsam auftretende , öfter in Zellen
eingeschlossene Stäbchen gefunden habe, die möglicherweise mit den von Maxxio
beschriebenen identisch seien. Reinculturen dieser Stäbchen gelangen auf Agar-
Agar und Fleischpeptongelatine nicht. Schon 1887 impfte Welaxder, sowie
später D Ckky den Schanker in Generationen, und gelang es ihm, in vielen auf
diese Weise erhaltenen Secreten — doch nicht in allen — durch Färbung mit
Methylenblau und Fuchsin (nicht nach Grami die kleinen, oben erwähnten Stäbchen
stets in äusserst geringer Zahl und oft ohne Beimischung von anderen Mikroben
nachzu weisen. Im Gewebe ausgeschnittener Schanker glückte Welaxder der
Nachweis dieser Bacillen nicht.
Dvcrey 7) tlieilt mit , dass es ihm gelungen sei , den Mikroorganismus
des weichen Schankers auf seinem natürlichen Culturboden, der menschlichen
Haut, zu züchten, nachdem Versuche, auf N’ährgelatinc Reinculturen zu erhalten,
missglückt waren. Das Secrct zur Impfung entnahm ÜrcREY drei typischen
weichen Schankern der Genitalorgane. Es wurden drei verschiedene Reihen von
Impfpusteln angelegt und bis zur 25. Generation verfolgt. In dem Eiter der
drei natürlichen Schanker liessen sich mit dem Mikroskope sehr verschiedene
Mikroorganismen entdecken, die auf gewöhnlichen Nährböden zu cultiviren waren,
aber nicht constant angetrotfen w urden , vielmehr bei den verschiedenen Arten
variirten. In den Impfpusteln nahm ihre Zahl allmälig ab, bis von der 5. oder
der 6. Generation an ein eiteriges I’roduct gewonnen wurde, das im höchsten
Grade virulent war, aber auf Nährböden wirkungslos blieb. Und doch zeigte
das so erhaltene Virus constant und ausschliesslich einen besonderen Mikroorga-
nismus unter dem Mikroskope. Ein Bakterium von 1,48 y. Länge und 0,50p.
Breite, kurz und gedrungen; an den Enden schön abgerundet; am häuligsten
mit seitlicher Einschnürung. Diese Bakterien liegen gewöhnlich in Gruppen von
4, 5, 8 Exemplaren oder auch allein oder zu Paaren. Sie liegen mit Vorliebe
in den intercellulären Räumen , aber auch im Protoplasma der Eiterzellen. Am
besten färben sie sich mit Fuchsin, Methylriolett und Gentianaviolett. die Methoden
von Gbam und Kühne waren erfolglos. Anlagen von Culturen von dem Eiter der
Impfschanker waren resultatlos.
Krefting konnte diese Bacillen im Seerete der weichen Schanker, im
Buboneneiter and in Schnitten ausgeschnittener weicher Schanker und in Schnitten
von dem Rande eines Schankerbubos nachweisen.
Unna s) fand in Schnitten ausgeschnittener weicher Schankergeschwürc
einen in Ketten angeordneten Bacillus. Diese von Unna’s Bacillus gebildeten
Ketten durchziehen oft das ganze Gesichtsfeld. Unna nennt diesen Mikroorga-
nismus Streptobacillus des weichen Schankers. Derselbe entfärbt sich nach Gram
und giebt seinen Farbstort' sehr leicht an Alkohol ab.
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554
SC II ANKERGIFT.
Ch. ÄUDRY ») erkennt nur solche Geschwüre als Schankergeschwüre an,
in welchen sieh der von Ddcrf.y und Krefting beschriebene Bacillus findet.
AüDRY sagt, man dürfe, da sich im Vnlvar- und Bnlanopräputialsecrete Bacillen
finden, welche sieb, ebenso wie die Dl'CREY’schen Bacillen, nach Gram entfärben,
aus der Untersuchung von Eiter, welchen man aus der Vul vargegend und ans
dem Vorhautsacke entnahm, keine positiven Conclusionen ziehen. Aüdry führt
aus, dass der Sehankerbubo durch Absorption der Ptomaine der Dt'CRKY'schen
Bacillen entstehen kiinne, oder dass die Bacillen, welche den Bnbo erzeugten,
wieder verschwinden. Audry neigt zn letzterer Anschauung.
Walter Petersex lu) fand im Ulcus molle neben Streptokokken einige
Bacillen, welche an die von Dl'CRKY und KreftIXG beschriebenen erinnern, sah
aber nie eine ansgesprochene Abschnürung in der Mitte. In lmpfschankern fand
er diese Bacillen in grösserer Menge. In Schnitten von ausgeschnittenen weichen
Geschwüren fand er den von Unxa beschriebenen Streptobacillus constant. Die
Bacillen fand er nie in Leukocyten. Auf Menschenserum mit Agar (1:2) ent-
wickelten sich in den tieferen Partien des Nährbodens am zweiten Tage rund-
liche, wolkige, nach aussen mit kleinen Ausbuchtungen versehene lichtgelbe
Colonien. Die vierte Aussaat ergab eine Reincultur von Bacillen, die in den
Grössen Verhältnissen den Bacillen von Unxa entsprachen. Abrundung der Ecken
und Einschnürung in der Mitte fehlten. Entfärbung erfolgte durch Jod, Säuren
und Alkohol. Kettenanordnung fehlte. Es gelang nur eine Cultivirung bis in die
vierte Generation auf Blntserumagar. Auf Kaninchen blieb die Impfung erfolglos.
An Menschen erzeugte die Impfung am zweiten Tage geringe Röthung, am dritten
Tage eine minimale Pustel , die am fünften Tage abheilte. Petkmsex schreibt
den Streptobacillen wegen der Constanz der Befunde eine Bedeutung für die
Pathogenese des Ulcus molle zu, die Wirkung äussere sich erst in Symbiose mit
anderen Mikroorganismen. Die Identität mit dem DCCR K Y - K R KFTING 'sehen Mikro-
organismus möchte Petersex nicht ohneweiters annchmen.
Sch Eixis u) fand im Eiter von 29 Schankcrn und 5 Schankerbubonen
den DrCREY’schen Mikroorganismus : nur im Eiter von 2 Schankcrn fehlte er,
da sich dieselben bereits im Stadium der Reparatur befanden. Zu beachten ist
anch die Bemerkung von Schkixis, welche besagt, „dass durch luoculation er-
zeugte Generationen von Schanker, selbst bei Beobachtung antiseptischer Vor-
Bichtsmassrcgeln, nicht, wie man bis jetzt glaubte, zur Erhaltung der DtCREYschen
Bacillen in reinem Zustande führen können; wenn der primäre Schaukerciter
einen Mikroben (z. B. Micrococcus tetragenus) enthält, welcher das Vermögen
besitzt, sich schneller als der DucREY’sche Bacillus zu entwickeln und zu ver-
mehren, so soll die specifische Ansteckungsfähigkeit schon von der dritten oder
vierten Generation an aufhören“.
L. JüLLIEN **) konnte seine Schaukcritnpfuugen nur bis in die dritte
Generation fortsetzen, daun sehlugen sie fehl und konnte er in den durch Impfung
erzielten Pusteln bei der mikroskopischen Untersuchung keinerlei Mikroorganismen
nachweisen. Jcllien meint wegen dieser seiner Beobachtung , dass wir mit
unseren Färbemethoden den Schankermikroorganismus, der sicher existirt, noch
nicht nachweisen können. Jullikn sagt, dass der Eiter oder Impfschanker von
der 4. oder 3. Generation ab seine Virulenz zu verlieren scheint , was mit der
steten, sicheren und unbegrenzten Virulenz des Eiters des originären Schankers
zu eontrastiren scheine. Man könnte diese Eigenthümlichkeitcn geradezu durch
die Abwesenheit fremder Mikroorganismen in dem Eiter der unter antiseptiseben
Cautelen erzeugten Geschwüre erklären. Es könnte sich beim Schanker um eine
Association von Mikroorganismen , um eine Symbiose handeln. Und es wäre
möglich, dass aus diesem Grunde der „reine“ Schankereiter, den wir bei Impfung
uuter antiseptischen Cautelen erhielten , viel weniger virulent ist als der vom
originären Schanker entnommene Eiter. Diesen Erklärungen , die JcLUEX für
seine Beobachtungen nngiebt , möchten wir uns nicht anschliesseu und auch an
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SCHANKERGIFT.
555
eine Symbiose verschiedener Mikroorganismen , durch welche erst der Schanker
erzeugt wird, nicht glauben, ehe nicht zwingende Beweise hierfür vorliegen. Er-
wähnt sei hier, dass, wie DrBRBUIL und Lasset in ihrer später citirten Arbeit,
pag. 10, erwähnen, J. Gazon mit und ohne antiseptischen Cautelen nur immer
Eine Schankergeneration erhielt, die sich nicht weiter impfen Hess.
An Hofrath Neumann’S Klinik liess sich einmal die Impfung nicht über
die 2. Generation und einmal nicht über die 3. Generation hinaus fortführen,
obgleich vor der Impfung die Haut nur desinficirt, dann gut mit Alkohol und
Aether abgewaschen, aber keinerlei Schutzverband angelegt worden war.
Eine ausführliche Arbeit Uber unseren Gegenstand verdanken wir Dubrkgil
und Lasnkt. *') Diese Autoren bestätigen die Angaben von Dt'CitKT, KR EFT INO
und Unna und identificiren Uxna’s Streptobacillus mit dem DucREY-KREFTiNG’schen
und heben mit Recht hervor, dass schon im Schankereiter sich die Anordnung
in Ketten nachweisen lasse.
Im gleichen Sinne äussert sich Ch. Nicolle. >*) Besonders hebt Nicolle
hervor, dass man die Ketten, welche der Mikroorganismus des Schankers im
Eiter bildet, dann schön zur Ansicht bringt, wenn man exact gereinigte Deck-
gläser benützt und auf diesen den Eitertropfen nicht verstreicht, sondern sich
selbst vertheilen lässt, damit die Ketten nicht mechanisch zerrissen werden.
Bestätigungen der Beobachtungen von Krefting und Dt'CRRY veröffent-
lichten auch Quinquaüd und M. Nicolle1*) und Riyierk. ••) L. Chkinissk *’)
stellt auf Grundlage seiner Arbeit folgende Sätze auf:
1. Der DuCREY’sche Bacillus scheint wohl das specifische Agens des
Ulcus molle zu sein, obschon es noch nicht gelungen ist, Reinculturen herzu-
Btellen, durch deren Impfung das weiche Geschwür reproducirt wird.
2. Wenn man auch nicht in absoluter Weise die Speciticität dieser
Mikroben feststellen kann, so ist doch in zweifelhaften Fällen sein Nachweis ein
wichtiger Behelf für die Stellung der Diagnose. Dieser Nachweis ist so werth-
voll wio die Inoculation und hat als diagnostisches Mittel den Vorzug vor der
Schaffung eines neuen Schankers.
3. Der im Momente der Buboneneröffnung gewonnene Buboneneiter ist
nicht immer steril ; man findet in ihm meist pyogene Mikroorganismen gewöhn-
licher Art, aber oft auch den DccREY’schen Bacillus. Sowohl der sterile Eiter
als auch solcher, w’elchcr Staphylokokken oder Streptokokken enthält, ist nicht
Überimpfbar. Nur Buboneneitcr, in welchem man den ÜUCKEY’schen Bacillus
findet, erzeugt durch Inoculation einen typischen Schanker. Dieser Umstund ist
eine mächtige Stütze für die Speciticität der Mikroben.
4. Durch eine Reihe successiver Impfungen unter aseptischen Cautelen
gelingt es durchaus nicht, den DuCREY'scben Bacillus zur Isolirung zu bringen.
Im Eiter des primären Schankers findet sich auch ein Mikrobe, der sich rascher
entwickelt als der DrCKKY’sche Bacillus, und im Stande ist, in der Inoculations-
pustel die Actionskraft des Ducrey 'sehen Bacillus aufzuhalten.
5. Die Mikroben, welche man im Schankerciter neben dem DuCREY’schen
Bacillus findet, haben sicher auf den Entwicklungsgang des Schankers Einfluss,
vielleicht auch einen wesentlichen, hervorragenden, ausschlaggehen Anlheil an
der Entwicklung des Bubo.
6. Weitere Forschungen müssen nun diesen dem Processe zugehörigen
Mikroben gelten , und wird es sich darum handeln , festzustellen , ob sie einen
Einfluss auf den Gang des I’roeesses üben, und wird man die Beziehungen zwischen
ihnen und den DuCREY’schen Bacillen sicherstellen müssen.
Eliasberg ls) untersuchte acht Drüsen und nimmt, da er iu diesen acht
Fällen keinen Mikroorganismus fand , die Einwirkung schädlicher Stoffwechscl-
producte, welche zur Aufsaugung kommen, an. Diese hypothetische Annahme sei
hier verzeichnet, müsste aber wohl erst durch das Experiment begründet werden,
wenn einmal die Reincultur der Schankerbacilleu gelungen ist.
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556 SCHANKEROIFT.
0. Petersf.n '•) spricht sich dahin aus, dass mit einer bis an Gewiss-
heit grenzenden Wahrscheinlichkeit der Ducrey-K REFTiXü’sehe Bacillus als der
Krankheitserreger des Ulcus molle anzusehen ist. Er fügte noch bei, dass er
den besprochenen Bacillus in syphilitischen Erosionen , ulcerösen Pusteln und
Erythema syphiliticum niemals gefunden habe.
Brault so) hält den Dl'CREY’sehen Bacillus fUr den Erreger des Ulcus
molle, glaubt jedoch, dass cs sich in den Bubonen um eine Symbiose einer
grösseren Zahl von eitererregenden Mikroorganismen handle. In dieser Symbiose
sicht Bkault den Grund für die häufige Erfolglosigkeit der Impfungen. Man ist
nicht im Stande, den specifischen Bacillus zu isoliren und impft mit Materie,
welche zum Tlieile sehr lebenskräftige Mikroben enthält , und unter ihnen den
specifischen Erreger des Ulcus molle, meist sehr schwach, und der Luft, die für
ihn I.ebensbedingung ist, beraubt; daher erzielt man 2 — 3 Tage nach Eröffnung
des Bubo sehr wohl positive lmpfresultatc. In dem Schankerbubo wuchern die
gemeinen pyogenen Mikrokokken , die zuerst in die Drüsen gelangen und das
Terrain für den specifischen Keim vorbereiten. Dieser gedeiht erst, wenn er von
seinen Begleitern, die ihn ersticken und in der Entwicklung hemmen, befreit ist.
F. J. Pick*1), der sich jetzt zur Dualitätslehre bekennt, sagt, es habe
viel für sich, dass der DuCREY-KREFTI.Nu’sche Mikroorganismus der Erreger des
Schankers sei, es fehle aber noch viel, dies mit Bestimmtheit sagen zu können.
Mit Bestimmtheit kann man sich aber, wie PlCK mit Hecht sagt, dahin aus-
sprechen, dass die gewöhnlichen Eiterkokken, die sich, wie natürlich, in Massen
im Secrete des weichen Schankers vorfinden , denselben hervorzurufen nicht im
Stande sind.
C. DÜKINu a*) neigt sich zu der Anschauung, dass die von Ducket,
Krbftino und Unna beschriebenen Mikroorganismen die Ursache desSchankers seien.
Buschke (Referat in der Wiener med. Presse, 1895, Kr. 48) wendet
sich auf Grund seiner unter Neisser’s Leitung vorgenommenen eigenen Unter-
suchungen und Erfahrungen gegen die Theorie Finger’s Uber die Aetiologie des
venerischen Geschwüres, des Ulcus molle, welches nach diesem Autor durch
jederlei Eitererreger erzeugt werden kanu. Diesbezügliche Impfungen mit Eiter,
Secreten verschiedenen Ursprungs, Culturen von Streptokokken und Staphylo-
kokken, Stäbchen aus Ulcus molle blieben stets insofern negativ, als Buscbke
dadurch kein Ulcus molle erzielen konnte, sondern nur rasch heilende Pusteln
erhielt. Dagegen hatte Buschke in 21 Fällen von Ulcus molle jedesmal den
DuCREY’schen Streptobacillus im Eiter nachgewiesen. Nur in einem eiuzigeu Falle
von klinisch typischem Ulcus molle fand Buschke Streptokokken und keine
Streptobacillen. Und dieser Fall war nicht inoculabel und heilte auch spontan.
Demnacli hält Buschke den DucREY-KRRFTlXG-UNXA’schen Streptobacillus für die
Ursache des venerischen Geschwüres und erklärt das Ulcus molle für einen
ätiologisch einheitlichen Begriff', für eine specitisch menschliche venerische lnfee-
tion, welche durch den genannten Bacillus bedingt wird. Geschwüre , die nicht
durch diese Mikroben, sondern durch gewöhnliche Eiterung an dem Genitale
nach einem Coitus entstehen können {Balanitisgeschwüre etc.), sondert er streng
vom l leus molle und Imzeichnet sie als Ulcus simplex.
Der DucREY’sebe Bacillus findet sich auch in den das Ulcus molle be-
gleitenden Bubonen in dem Eiter und mitten im Drüsenparenchym.
Andere Eitererreger fand Buschke niemals in seinen untersuchten Bubo-
fällen, was insoferne merkwürdig ist, als sich ja im primären Ulcus molle nebst
den Streptobacillen auch noch andere Mikroorganismen finden. Aber die That-
sache steht fest. In i) von 36 untersuchten Bubonen fand sich im Eiter, respec-
tive Drüsengewebe der DocKBY’gche Bacillus und in allen diesen Fällen war der
Drüseneiter auch sofort nach der Eröffnung inoculabel, die Wunde wurde schankrös
und enthielt im Geschwüreiter ebenfalls Bacillen. Es giebt Fälle, wo das Secret
der eröffheteu Bubonen nicht gleich, sondern erst nach mehreren Tagen schankrös
Dgle
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SCHANKERGIFT.
557
wird, was darauf Zurückzufuhren ist, dass die im Eiter vorhandenen Bacillen
abgestorben waren und erst die aus der Tiefe des noch nicht zerfallenen Drüsen-
gewebcs nachrllckenden virulent sind und inoculablcn Eiter geben und das Schnn-
kröswerden der Wunde veranlassen. Durch passende Behandlung wird das Schan-
kröswerden leicht vermieden. In einzelnen Fällen avirulcnter Bubonen fand
Buschkk ebenfalls Bacillen, in anderen, der Mehrzahl allerdings, war der Eiter
und das Gewebe frei. Seine Untersuchungen über diese Bubonenart sind übrigens
noch nicht abgeschlossen.
Rille berichtete in Graz (1895), dass er bei 100 Impfungen mit Bubonen-
eiter neunmal weiche Geschwüre erzeugen konnte. Im Eiter, der nicht inoeulabel,
konute Rille keine Mikroorganismen nachweisen, der DüCKEv’sche Bacillus fand
sich aber immer im inoculablen Eiter.
Auch Korr spricht sich in einem Referat der Münchener med. Wochen-
schrift, 3. December 181)5, für die Pathogenität des DucREV-KuEFTiN'ti’schen
Bacillus aus.
Eine genaue Cebersicht der Literatur findet sich in Lfttzel's Arbeit
über das venerische Geschwür im Zuelzer-Obkkländer’s klinischen Handbuch
der Ham- und Scxualorgane.
Ich habe mich seit l1/, Jahren mit der Untersuchung von Schanker-
geschwüren beschäftigt und will nun über diese Untersuchungsergebnisse berichten.
Untersucht wurden 18 Fälle von Schanker, ll Impfschanker erster und
zweiter Generation und 2 Fälle von verdächtigen Erosionen am Penis.
In 16 Fällen wurden zunächst Deckglaspräparate angefortigt, dann von
den Geschwüren Culturen angelegt, die gewonnenen Culturen genau mikroskopisch
untersucht und von jeder der verschiedenen Colonien Reinculturen gemacht und
diese auf ihre Pathogenität geprüft. In 3 Fällen wurde von dem Schanker-
geschwür auf den Oberarm oder den Oberschenkel oder die Bauchhaut des
Kranken geimpft und von den Impfschankern Culturen angelegt. Eine Rein-
cultur des als Schankcrbacillus anzusprechenden DcCRKY’schen Bacillus gelang
bisher auf keinem der benutzten Nährböden. Verwendet wurde Gelatine, Agar-
Agar, Glycerinagar, Rinderserumagar, Mensehenserumagar, Harnagar, Menscben-
sernraharnagar, Rinderserumharnagar und zweimal Nueleinagar. Zweimal wurde
Glycerinagar, auf welches sterilisirter Eiter ausgestrichen war, als Nährboden
verwendet, dreimal wurde die Cnltivirnng auf Glycerinagar, auf welchen Menschen-
blut ausgestrichen war (Pfeiper’scIics Agar), als Nährboden versucht. Zweimal
wurde Agar, dem chylöser Ascites beigemengt war, als Nährboden verwendet.
Einmal wurde Kral’s Nährboden Nr. III in Verwendung gezogen. Zwei excidirte
Schankergeschwüre wurden, nachdem vor der Excision Deckglaspräparate ange-
fertigt worden waren, in Schnitten mikroskopisch untersucht.
Bei den missglückten Versuchen, den Schankerbacillus zu züchten, sah
ich ll) aus dem zur Cultivirung verwendeten Schankereiter auf den Nährboden
wachsen Staphylococcus a’bus, Staphytococcus aureus, Streptococcus pyogenes
und einen für Thiere und Menschen nicht pathogenen, morphologisch und culturell
dem Bacillus diphtheriae ähnlichen Bacillus. Einmal wuchs eine Sarcineart,
weisse Hefe und eine nicht näher bestimmbare Stäbchenart, welche auf Serum-
agar grössere glattrandige Colonien bildeten , die einen Stich in’s Gelblichrothe
hatten und sich nicht weiter enltiviren Hessen.
Einmal hatte ich ,s) Gelegenheit , einen Schanker in der männlichen
Harnröhre zu untersuchen. Von diesem Harnröhrenschanker legte ich an den
Bauchdecken des Patienten Impfschanker an. Von diesem Falle stammen die
Fig. 93, 94, 95 und 96, welche die in demselben nachgewiesenen Ducrey-Kree-
TiNG’schen Bacillen zeigen.
Fig. 93. Zeigt zahlreiche Leukocyten, von denen einer 12 Stäbchen ein-
schloss. Dieselben färbten sich nach Gram nicht und zeigten, wie aus der Abbildung
ersichtlich, eine weniger gefärbte Stelle in der Mitte. Dieses Präparat war von
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SCHANKERGIFT.
einem durch Spontanimpfung an der Glans entstandenen kleinen Schankergeschwtir
entnommen.
Fig. 94 zeigt das Secret des Harnröhrenschankers, und zwar vier Leuko-
cyten mit massenhaften DucREY-KREFTiNG’schen Bacillen, und ist hier eine An-
ordnung zu finden, die auf eine Tendenz zur Ketteubildung hinweist.
Fig. 95 zeigt die Stelle eines Präparates , welches von einem Schanker
herrührt , der durch Spontanimpfung des Secretes am Scrotum entstanden war.
In einem Lcukocyten fand sich eine aus drei Bacillen geformte Kette.
Fig. 93. Fig. 9«.
Fig. 96 ist ein Comkinationsbild zweier Stellen eines Präparates, das
aus dem Sehankereiter eines an der Bauchhaut erzeugten Impfschankers ge-
wonnen wurde.
Fig. 97 und 98 zeigen mikroskopische Präparate von Schnitten weicher
Schankergeschwürc. Die Schnitte wurden in Boraxmethyleublau gefärbt, rasch
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SCHANKERGIFT.
559
durch sehr verdünnte Essigsäure gezogen , möglichst gut gewaschen , dann sehr
kurze Zeit in Alkohol entwässert, in Bergamottöl aufgehellt und in Canadabalsam
eingesclilossen. In beiden Fällen konnte ich keine das ganze Gesichtsfeld durch-
ziehende Ketten nachweisen.
Fig. 99 ist ein Ausstrichpräparat des Secretes des Schankers, von
welchem das durch Fig. 96 versinnlichte Präparat stammt. Die Leukoeyten ent-
halten zahlreiche Duck KY 'sehe Bacillen.
Nach den bisherigen Erfahrungen muss man sich dahin aussprechen,
dass der von DUCBEY und Krefting beschriebene Mikroorganismus sehr wahr-
scheinlich mit dem von Unna beschriebenen identisch ist. In diesem Sinne spricht
sich Unna selbst in einer im Giorn. ital. delle mal. ven. e della pelle, 1895, 111,
erschienenen Arbeit aus. Die Befunde Anderer, sowie meine eigenen Wahr-
nehmungen lassen es, obwohl noch Keinculturcn fehlen' und daher die Erzeugung
von Schankergeschwüren aus solchen unmöglich ist , doch als fast sicher er-
scheinen, dass der DCCRBY - Kreftini.'scIic Mikroorganismus die Ursache des
Schankers ist. Dafür spricht : 1. Die Constanz des Befundes. 2. Dass in späteren
Generationen der Impfseliankcr sich ausschliesslich DucEEY-KKEFTiNG’scbe Bacillen
durch die mikroskopische Untersuchung nachweisen lassen. 3. Weist das Ein-
gclagertsein der Bacillen in Eeukocyten sowohl in Ausstrichpräparaten als auch
in Schnitten darauf bin , dass diese Bacillen mit dem Schaukerprocess in einem
ursächlichen Zusammenhang stehen. 4. Es ist verschiedenen Autoren gelungen,
in Schankerbubonen den Ducke y- Kbkf t ixg sehen Bacillus nachzuweisen. 5. Ist
es beachtenswert!!, dass die Ducke y-Kkefting sehen Bacillen morphologisch gleiche
und den Farbstoffen gegenüber analog sich verhaltende Mikroorganismen, welche
durch Einimpfung des sie enthaltenden Eiters in die Menschenhaut gewisser-
massen in Reincultur erhalten werden können , bei dem Schanker ähnlichen Ge-
schwürsprocessen nicht gefunden wurden. 6. Jullien meint, dass der DucREY’gche
Bacillus nicht die Ursache des Ulcus molle sein könne, weil er in Impfschankern,
die Bich weiterimpfen Hessen , mikroskopisch diesen Bacillus nicht nachweisen
konnte. Dieser Einwand kann aber die ätiologische Bedeutung des Duckey-
KREFTlNG’schen Bacillus ebensowenig erschüttern als ein negativer mikroskopischer
Befund untersuchter Urethralfäden bei chronischem Tripper die ätiologische Be-
deutung des Gonococcus. 7. Da nicht jedem Schanker das sogenannte typische
Aussehen zukommt, so wären als Schanker nur solche Geschwüre zu bezeichnen,
in welchen der DuCREY-KaEFTlNG’sehe Bacillus nachweisbar ist.
Die zwei nachstehend mitgethcilten Fälle haben für unsere Frage einiges
Interesse. Ein Mann, der sich mit der Cigarette an der Glans penis verbrannt
batte, zog mich wegen der dadurch veranlassten mässigeu Eiterung zu Ratlie.
In diesem Eiter fanden sich einzelne Kokken , aber keinerlei Stäbchen. Ein
zweiter, 24 Jahre alter Mann bemerkte drei Tage nach einem stürmischen Coitus
mehrere kleine Geschwürchen an der Glans des Penis. Der Eiter dieser Ge-
schwürchen enthielt massenhaft plumpe Bacillen, welche sich nach Gram färbten.
Die Geschwüre sahen auch äusserlich einem Schankergoschwüre nicht ähnlich
und waren, nachdem in 1 „%igem Carholwasser getauchte Wattebäuschcheu appi-
cirt wurden, nach vier Tagen geheilt.
bitcratur: ’) „Der Bacillus des weichen Schankers“, eine der Akademie Goenia
am 26. Juli 1885 gemachte Mittheilung. Virchow-Hirsch' Jahresbericht. 18*5, pag. 509. —
*) Suove ricerchc sulla pathopenesi del bubone' ehe aeeotn pagna iulrern eenereo. Ingraccia
Palermo 1885, I, pag. 226 — 298 und Annal. de dermat. et syph. Paris 1-885, pag. 486 — 495- —
“) Ga/./, degli os|>eda1c. 18*6, 38 — 41 ; Giornale delle mal. vener. e della pelle, 1886; Areh. f.
Dermat. und Syph. 1886. pag. 902. — 4) 11 eirus deW ulcera venerett non 1 stalo aneora
cultieato. Giornale internuz. de seienza med. 1>89, Nr. 1 ; Uieerche tt -perimeniali sullu natura
intinta dell' contayio dell' ulcera vetteren e sulla patogenesi del bubone renereo, Milano 18*9;
Monatsh. f. prakt. Dermat. 1889. Nr. 9. — 6) Nur le inte ruhe du chanrre mvu. Annal. de
dermat. cs syph. 1893. pag. 167 — 170 und 836 — *39. — 6) Areh. f. Dermat. und Syph. 1891,
pag. 41— 46. — 7) Diese Stelle ist dem Referate Stern thal’s im Areh. f. Dermat. 1 "90,
pag. 687 nnd 688, entnommen. — 8) Der Streptobacillus des Clcus molle. Monatsh. f. Dermat.
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560
SCHANKERGIFT. — SCHILDDRÜSENTHERAPIE .
XIV, pag. 485. — •) Ch. Au dry, Bacteriologie clinique du chartere simple et des blennor-
rhagies compliquvs. Gaz. hebdorn, de med. et chir. 1893, Nr. 9. — ,0) Central bl. f. Bakterie*
logie. 8. Juni 1893, XIII. 23, pag. 793. — “) W ratsch. 1893, Nr. 48; V ircho w-Hirach' Jahresber.
1893, pag. 594. — **) Recherchen experimentales nur le chancre mou. Annal. de dermat. et
syph. Mai 1892, pag. 773. — l3) Etüde bactiriologique sur le chancre tnou et le boubon
chancreux. Arch. clin de Bordeaux. October und November 1893. — u) Recherchen sur U
chancre mou. Paris 1893. — u) Communication ä la SociHi de Dermat. et Sgph. (7. Juli
1892). Annal. de dermat. et syph. — *•) Communication <1 la SociiU d’Anat. et Phys. dt
Bordeaux (17- April 1893). Jonrn. de connaissance med. Mai 1893- — l1) Contribution ä
Vit wie bacteriologiquc du chancre mou. Annal. de dermat. et syph. März 1894, pag. 277. —
**) J. El iasberg, Ein Beitrag zur pathologischen Anatomie der Bubonen. Inaug.-Dissert
Dorpat 1894. — *•) Ö. Petersen , Ulcus molle. Arch f. Dermat. und Syph. 1894, XXIX.
pag 429. — ao) Brault, Traitement des adenitis inguinales ä forme aiguc et subaiguü.
Lyon m£d. 1894, Nr. 9 — 10 und Arch. f. Dermat. und Syph. 1895, XXX. pag. 156 und 157. —
*') S. J. Pick, Behandlung und Prophylaxis der venerischen Krankheiten und der Syphilis.
Handb. d. spec. Therap. der inneren Krankh. von Penzoldt und Stintzing. 1895, pag 126. —
**) Klinische Vorlesungen über Syphilis. Hamburg und Leipzig 1895, pag. 40. — >s) Arch. f.
Dermat. und Syph. XXVIII, pag. 119. — M) M. v. Zeissl, Ueber den gegenwärtigen Stand der
Erkenntniss des Schankergiftes. Wiener klin. Wochenschr. 1896, Nr. 2 u.3. — **) M. v. Zeissl,
Die Bedeutung der Untersuchung auf Gonokokken für die Diagnose des Harnröhrentrippers
und für das Urtheil über die Heilung desselben. Centralbl. f. d. Krankh. der Harn* und Sexoal-
orstane. 1896, 6. Heft. M T zei,,i.
Schilddrüsenpräparate zur Kropfbehandlung, pag. 365.
Schilddrüsentherapie. Unter Schilddrüscntherapie versteht man die
Einverleibung von thierischer Schilddrüse oder eines aus dieser hergestellten Prä-
parates in den menschlichen Organismus, um pathologische Zustände, von denen
theils nachgewiesen ist , theils sich annehmen lässt , dass sie auf einem Ausfall
der normalen Sehilddriisensecretion beruhen, gfinstig zu beeinflussen.
Die Geschichte dieses Verfahrens ist eng mit der Geschichte des
Myxödems verknüpft. Die Thierexperimente von Schiff, Horsley, v. Eisei^beeo
u. A. um die Mitte der 80er Jahre haben den Nachweis erbracht, dass mit der
Wegnahme der Schilddrüse aus dem Organismus, also mit Ausfall ihrer Function,
ernste Störungen verbunden sind. Vassale, Gley und nach ihnen Andere hatten
sodann die weitere Beobachtung zu verzeichnen, dass Injection von Schilddrüsen-
saft in die Venen oder unter die Haut oder Transplantation gesunder Drüsen auf
entkropfte Thiere im Stande sind, die Folgen der totalen Schilddrüsenexstirpation
für eine Zeit abzuschwächen oder aufzuhalten. Angeregt durch diese Erfahrungen,
versuchte zuerst Bikchbr, ein Chirurg in Aarau, das gleiche Experiment am
Menschen zu machen. Am 16. Januar 1889 nähte er die Schilddrüse einer ge-
sunden Frau in die Bauchhöhle einer Kranken mit postoperativem Myxödem.
Das Resultat war auffällig, jedoch nicht anhaltend. Daher sah sich Bikcheb
veranlasst , am 9. Mai eine zweite Implantation vorzuuehmen , die diesmal zwar
wieder von grossem Erfolge, jedoch keinem bleibenden gekrönt war. Ungefähr
gleichzeitig führte Lannkloxgue unabhängig von Bikcher den gleichen Versuch
aus. Er vernähte */, einer Hammelschilddrüse in das subcutanc Gewebe der
rechten Thoraxhälfte eines 14jährigen cretinoiden Mädchens; (Iber den Ausgang
dieser Operation wurde indessen nichts bekannt. Als Dritter im Bunde, und
zwar ebenfalls ohne zu wissen, dass Birchkr und Laxxklongue bereits ein Jahr
vorher eine gesunde Schilddrüse auf den entkropften menschlichen Organismus
verpflanzt hatten, machte Horsley im Jahre 1890 den Vorschlag, die Schilddrüse
eines Lammes — diese sei histologisch am meisten der menschlichen Drüse ähn-
lich — in die Bauchhöhle von Myxödemkranken zu transplantiren. Dieser Ge-
danke kam auf Uorsley’s Anregung hin mehrfach zur Ausführung.
Um der mit der operativen Ueberpflanzung von Schilddrüsensuhstanz
verbundenen Gefährlichkeit aus dem Wege zu gehen, machte R. MCRRay in New-
Castle einen Versuch mit der subcutanen Einverleibung eines stcrilisirten Giyccria-
extractes aus der thicrischen Schilddrüse in den erkrankten Organismus. Pen
ersten auf diese Weise behandelten Fall stellte Mcbray im Jahre 1891 auf der
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SCHILDDRÜSENTHERAPIE.
561
Jahresversammlung; der englischen Aerzte zu Beremouth vor. Seine Methode
wurde indessen bald durch ein noch sichereres und bequemeres Verfahren, die
Schilddrüsenfütterung (thyroid feeding), überflügelt. Dieses hat seitdem , mehr
oder wenig modificirt, in der Therapie das Feld vor den anderen behauptet. —
Der Gedanke, die Schilddrüse roh, wie sie ist, an Stelle der bisherigen Injectionen
dem Organismus, und zwar per os einzuverleiben, wurde von 3 Aerztcn ziemlich
gleichzeitig, und dieses unabhängig von einander, zur Ausführung gebracht, von
Prof. Ho witz in Kopenhagen, Dr. L. Fox in Plymouth und Dr. Hector
Mackenzie in London. Die erste Veröffentlichung rührt von Mackenzie her.
Kurz vorher (Juni 1892) hatte jedoch schon Howitz seine erste darauf bezüg-
liche Mittheilung auf dem Skandinavischen Aerztecongress gemacht. Die Methode
der Schilddrüsenfütterung fand bald grosse Verbreitung. Anfänglich bestand sie
in der Darreichung roher Schilddrüse vom Kalb oder Hammel , bald jedoch er-
fuhr sie eine Vervollkommnung bezüglich des zu verabreichenden Präparates.
Eine Reihe Versuche wurde angestellt, um die vermeintlich wirksame Substanz
zu isoliren und als trockenes Extract in Form von Pastillen, Pillen oder Pulver
mundgerecht zu verarbeiten. Die grosse Nachfrage nach diesen Sehilddrüsen-
präparaten machte ihre fabriksmässige Herstellung nunmehr erforderlich. So kam
eine grosse Anzahl von Präparaten auf den Markt, die sämmtlich das wirksame
Princip der Schilddrüse enthalten sollten.
Vorstehend habe ich die Methoden bereits angeführt , die in der
Schilddrüsenbehandlung üblich sind , resp. gewesen sind : die Implantation , die
Injection und die Ingestion; dazu kommt noch eine von Menziks empfohlene
und meines Wissens nur ganz vereinzelt in Anwendung gekommene Methode,
die Inunction.
1. Die Implantation besteht in der Einnähung einer gesunden Schild-
drüse, hauptsächlich vom Schaf oder Affen, unter die Haut, zumeist über den
grossen Brustmuskel. Das Verfahren dürfte in kaum mehr als 20 Fällen
(Afflkck-Caird, Bkttbncodrt-Skhrano, Bircher, Carter, Collins, Fenwick,
v. Gernet, Gibson, Gottstein, Harris-Wright, Lannelongue, Macpherson,
Martin-Rennie, Mercklen-Walther, Ord-Clctton, Rebn, Robin), vorwiegend
bei Myxödem, vereinzelt auch bei sporadischem Cretinismus und Tetanie in An-
wendung gekommen, heutzutage aber wohl gänzlich aufgegeben sein. Denu ab-
gesehen von der relativen Gefährlichkeit und Umständlichkeit, ist der Erfolg ein
nur vorübergehender. Mit Ausnahme zweier Fälle (Collins und Macpherson),
in denen der Erfolg noch nach 1’/, Jahren von Bestand war, fiel die trans-
plantirte Drüse stets sehr bald der Resorption anheim und das erreichte Resultat
wurde dadurch wiederum gleich Null. Ob in den beiden dauernd geheilten Fällen
die Schilddrüse zur Einheilung gekommen ist , oder ob Nebenschilddrüsen oder
sonstige embryonale Gewebe einen Anstoss erhalten und dadurch die Thätigkeit
der verloren gegangenen Drüse wieder aufgenommen haben, hält schwer zu ent-
scheiden ; denn beide Möglichkeiten können, nach unseren bisherigen Erfahrungen
zu schliessen, zutreffen.
2. Die subcutane Injection wurde zuerst von George R. Mirray
im Jahre 1891 inaugurirt. Mcrray stellte einen Auszug der vermeintlichen
wirksamen Bestandthcile aus der Schilddrüse in der Weise dar, dass er die
frisch ausgenommene, mittels sterilisirter Instrumente sorgfältig vom Fett und
Bindegewebe befreite Drüse vom Schaf oder Kalb nach Möglichkeit zerkleinerte,
die Stückchen in einem sterilisirten Gefässe mit 1 Ccm. reinsten Glycerins und
0,5*/#iger wässeriger Carboisäurelösung übergoss, sofort zerquetschte und 24 Stunden
lang wohlverschlossen am kühlen Orte stehen Hess und schliesslich den Inhalt
durch ein sterilisirtes Lcinwandläppchen auspresste. Von der so erhaltenen fleisch-
farbenen Flüssigkeit — im Ganzen werden jedesmal circa 3 Ccm. = 3,24 Grm.
Gesammtextract aus einer Drüse erhalten — injicirte er 1 — I1/, Pravazspritzcn
(= 0,5 Grm. Schilddrüsenextract oder ’/» Drüsenlappen) wöchentlich 2mal unter
Encydop. Jahrbücher. VI. 36
562
SCHILDDRÜSENTHERAPIE.
die Haut. WlCHMAX, Leichtkxstrrn und Laache halten später einige kleine Ab-
weichungen in dem Herstellungsverfahren angegeben.
Das MlRRAY’sche Verfahren wurde, da es der Implantation gegenüber
den Vorzug der Einfachheit und relativen Ungefährlichkeit besass, in der
Folge vielfach — mehr als 50 Fälle vermag ich aus der Literatur zusammen-
zustellen — angewandt, theils allein ftlr sich, theils in Verbindung mit der so-
gleich zu besprechenden Schilddrüsenftitterung, vereinzelt auch im Anschluss an
Implantation. Das Versuchsobject waren zumeist Myxödemkranke. Bezüglich der
damit erreichten Erfolge möchte ich noch kurz erwähnen, dass mehrfach
(Arnozan, Canter Marie, Carter. Mendel, Talford Smith) beobachtet worden
ist, dass das Injectionsverfahren nur eine ganz geringe oder auch gar keine
Besserung herbeifllhrte, die dann an seine Stelle gesetzte SchilddrUsenfiitterunp
aber vorzügliche Dienste leistete. — Uebelstände, die mit der Injection verbunden
waren, wie das Auftreten von Abscessen, Phlegmonen oder crysipelatösen Ery-
themen (Abrahams, Beatty, Carter, Hall, Harold, Hearx, Henry, Luxdii,
Murray, Napikr, Shaw) — ich sehe hierbei von der bei jeder Injection gegebenen
Möglichkeit der Einspritzung von Luft in eine Vene ab — Hessen diese Methode,
nachdem die noch einfachere und ungefährlichere Ingestion aufgekommeu war,
mehr und mehr in den Hintergrund treten.
3. Die Ingestion per os, die Schilddrüsenfütterung (thyroid feeding)
bat augenblicklich den übrigen Methoden den Rang abgelaufen. Seitdem Howrrz,
Mackenzie und Fox ihre Anwendung zum ersten Male (1893) empfohlen haben,
hat die Art und Weise der Verabreichung mancherlei Abänderungen, resp. Ver-
besserungen erfahren. Ursprünglich wurde die rohe, von frisch geschlachteten
Thieren entnommene Schilddrüse den Kranken in Form eines Hachee auf«
Butterbrot geschmiert) oder eines sonstigen, gaumengerecht zubereiteten Gerichtes
»— die Wirksamkeit der gekochten Drüse wird von Einigen angezweifelt , von
Anderen wieder zugestanden — gegeben. Indessen, die immerhin ekelerregende
Darreichung, sowie die schwere und umständliche Beschaffung frischer Schild-
drüse Hessen sehr bald auf Abhilfe sinnen. Auf Veranlassung von MaCKKXZH
versuchte daher EDMUND White, Apotheker am St. Thomaskrankenhaus in
London, die Herstellung eines trocken Extraetes (Auszug der wirksamen Bestand-
theile mittels Glycerin und Wasser, Filtration, Ansäuerung durch Phosphorsäure.
Zusatz von Calciumhydrat bis zur alkalischen Reaction, dann möglichst schnelle
Abfiltration, Auswaschung und Anstrocknung über Schwefelsäure bei gewöhnlicher
Temperatur). Ein etwas modificirtes Verfahren behufs Gewinnung einer trockenen
wirksamen Schilddrüsensubstanz haben später noch Vermehren, der für dieselbe
den Namen Thyreoidin einführte, und Pu. Küthe angegeben. Seitdem hat sich
die chemische Industrie die Herstellung angelegen sein lassen und eine ganze
Reihe von Präparaten in den Handel gebracht. Von den gangbarsten Präparaten
nenne ich die der Firmen Borroughs, Wellcome & Co. (tabloids), Willows,
Francis & Butler (tabloids, pills und extract), Brady & Martin, Duukan & Flock-
hart (fluid extract und pastills), Allen & Handbury (tabloids, cachcts und elixirl,
diese sämmtlich in Grossbritannien , von C. Döpper in Köln a. Rh. (tabuine
Uiyreoideae), der Struve'sclien Apotheke in Görlitz (tabulae thyr. und capsulae
elaelicae), von E. Merck in Darmstadt (Thyreoidinum niccatum und depuratum,
in Form von Pillen und Pastillen), Knoll & Co. in Ludwigshafen a. Rh. (Thyradön
in Form von Pulvern, Tabletten oder Pillen) und Friedrich Bayer & Co. (Thvro-
jpdin in Form von Pulver oder Tabletten). Ohne darüber ein Urtbeil abgebeu zu
wollen, ob es bisher schon wirklich gelungen ist , „das wirksame Princip der
Schilddrüse“ zu isoliren, will ich nur anführen, dass Thyrojudin , eine aus der
Schilddrüse gewonnene organische Jodverbindnng, nach Angabe seines Erfinders,
Prof. Baumann in Freiburg, dasselbe in reiner Form, Thyraden, sowohl dieses
Thyrojodin, als auch das von S. Frankel im Laboratorium von Prof. E. Ludwig
in Wien hergestellte Tbyreoantitoxin, einen stickstoffhaltigen krystallinischen
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SCHILDDRÜSENTHERAPIE.
563
Körper, Th yreoidinum depuratum Merck, zwei von Notkin gewonnene .Eiweiss-
körper (Globulin nnd Enzym5! enthalten sollen. Diese drei Präparate dürften sich für
die Zukunft zu therapeutischen Zwecken empfehlen ; Versuche haben bereits ge-
zeigt, dass sie sich alle drei in der gleichen Weise wirksam erweisen.
Die Dosirung der Präparate ist eine verschiedene. Von Thyrojodin soll
die Minimaldosis 0,3 Grm., 1 — 3mal pro die, die Maximaldosis 2 — 4 Grm. pro die,
für Kinder 0,3 Grm., 1 — 3mal (laut Prospect) betragen, von Thyraden die
Minimaldosis 1,0 — 1,5 Grm. pro die, die Maximaldosis 5,0 Grm. pro die (oder
7 — 10 bis höchstens 30 Pillen oder Tabletten pro die) und von Thyreoidinum
depuratum 0,01 Grm., 2mal pro die. Die Firma Merck empfiehlt folgende Ordi-
nation: Thyreoid. dep. 0,25, Kaolini 3,0, Vanillini 0,01, Muc. Tragac. q. s.
u. f. pill. N. XXV, S. 1 — 2 Pillen täglich, oder Thyreoid. dep. 0,05, Add.
carh. 0,02, Aq. dest. 10,0. M. D. S. 1 Pravazspritze voll zu injiciren, lmal am
Tage. — Um unangenehmen Nebenwirkungen vorzubeugen, beginne man im An-
fänge einer Kur mit den Minimaldosen und steigere dieselben allmfilig bis zu
der erträglichen, dem individuellen Falle angepassten Höhe.
4. Die Inunctionsmethode ist meines Wissens nur ganz vereinzelt
(Mknzies und Bi.akk) angewendet worden ; sie empfiehlt sich in solchen Fällen,
in denen die Fütterung per os nicht gut vertragen wird, und soll sich nach
Angabe der Autoren, die sie bisher verordnet haben , ganz günstig bewähren.
Es ist dies die äussere Application der Schilddrüse in Salbenform. Blake giebt
folgendes Recept für die Herstellung an: Thyreoid. 10,0, Acth. 60,0, Lanolini
480,0. Vor der Anwendung dieses „Schilddrüsen - Lanolincreams“ soll die Körper -
Oberfläche mit heissen Schwämmen abgerieben und tüchtig trocken frottirt, dann
erst die Mischung eingerieben werden.
Anwendung der Schilddrüsentherapie. Die Schilddrüsen-
präparate sind bei einer ganzen Reihe von Krankheiten in Anwendung gebracht
und versucht worden ; bei einem Theile derselben liegt eine Schilddrüsenaffection
vor oder ist als höchstwahrscheinlich anzunehmen ; bei einem anderen lässt sich
eine solche nach dem bisherigen Stande unseres Wissens nicht voraussetzen.
I. Allen Krankheiten voran steht das Myxödem; über diesen Zustand
liegen die frühesten, meisten und günstigsten Erfahrungen vor. Und zwar ist
sowohl das Myxödem der Erwachsenen, als auch das infantile oder congenitale
Myxödem mit günstigem Erfolge in den Bereich der Behandlung gezogen worden.
Ich habe an anderer Stelle (Bdschan, „Das Myxödem“, Wien, Deuticke, 1896)
etwas ausführlicher auseinandergesetzt, in welch’ auffälliger Weise sich schon
kurze Zeit nach dem Beginn der Behandlung das Befinden der Myxödemkranken
verändert und will hier nur kurz erwähnen, dass die myxödematöse Anschwellung
verschwindet, die Haut ihre normale, geschmeidige Beschaffenheit und gesunde
Farbe wieder annimmt , die Haare wieder wachsen , die Schweisse sich wieder
einstellen, die Körpertemperatur bis zur Norm ansteigt, die Function der Unter-
leibsorgane (Appetit, Stuhlgang, Menstruation, sexuelle Potenz) günstig beeinflusst
wird , die Blutkörperchen eine Zunahme erfahren und ihr Hämoglobingehalt sich
hebt, das Gcdächtniss wiederkehrt, geistige Frische und Interesse wieder wach-
gerufen werden, selbst bestehende Psychosen gebessert werden, kurz, dass das
ganze körperliche und geistige Befinden der Kranken eine solche Umwandlung
erfährt, dass sie bald sowohl sich selbst als anch Anderen den Eindruck von
ganz gesunden Personen machen. Leider ist aber, dies muss ich sogleich hinzu-
fügen, die Heilung in den meisten Fällen keine bleibende, sie kann aber zu einer
solchen gemacht werden dadurch , dass man die Behandlung von Zeit zu Zeit
wiederholt. Allerdings sind eine ganze Reihe von Fällen veröffentlicht worden,
in denen die Heilung für eine gewisse Zeit lang (bis zur Publication) von Bestand
war, aber es bleibt abzuwarten, oh sich doch nicht noch ein Rückfall einstellen
wird. Für einzelne dieser vermeintlichen Heilungen ist dieser bereits eingetroffen ;
für die übrigen ist die Beobachtungszeit noch zu kurz gewesen. Indessen ist die
36*
564
SCHILDDRÜSENTHERAPIE.
Möglichkeit, dass wirkliche, d. i. dauernde Heilungen eintreten können, nicht von
der Hand zu weisen; man hat ja auch spontane Heilungen, wenn auch nur ver-
einzelt, zu verzeichnen. Wir müssen uns solche Heilungen in der Weise erklären,
dass etwa im Organismus noch vorhandenes , bis dahin unthätiges Schilddrüsen-
gewebe einen Anstoss zur Regeneration, resp. Aufnahme seiner specifischen Function
durch die eingeführte wirksame Schilddrüsensubstanz in den Kreislauf erbalten hat.
Im Allgemeinen lässt sich als Regel für die Behandlung aufstellen, dass
mau solange die Schilddrüsenpräparate nehmen lassen soll, bis sämmtliche Er-
scheinungen des Myxödems zum Schwinden gebracht worden sind oder wenigstens
eine weitere Besserung sich nicht mehr bemerkbar macht, und weiter einige Zeit
(einige Wochen) noch darüber hinaus. Man kann dann die Behandlung solange
aussetzen, bis sich wiederum Anzeichen eines beginnenden Myxödems etwa ein-
stellen sollten. Wie oft eine solche Cur dann wieder aufzunchmen ist, darüber
fehlt uns zur Zeit noch die Erfahrung. Möglicher Weise müssen die Schilddrttsen-
präparate das ganze Leben hindurch verabreicht werden. Mag dem auch sein,
wie es will, auf jeden Fall besitzen wir in der Schilddrüsenbehandlung ein Mittel,
um dem Myxödemkranken für eine Zeit, und wenn das Verfahren wiederholt
wird, vielleicht auch dauernd Heilung zu verschaffen.
Die Erfolge, die sich bei dem infantilen oder congenitalen Myxödem
(sporadischer Cretinismus) erzielen lassen , sind gleichfalls sehr beachtenswerth.
Die Veränderungen, denen sich hier der Organismus bei SchilddrUsenbehattdlung
unterzieht, sind die gleichen wie bei dem Myxödem der Erwachsenen. Dazu
kommen aber noch zwei weitere Erscheinungen, d. i. eine Zunahme der Körperlingc.
wie überhaupt des Knochenwachsthums und eine Zunahme der geistigen Fähig-
keiten. Zurückbleiben, resp. Stehenbleiben der Knochen im Wachsthum, sowie
eine an Idiotie oft genug grenzende Beschaffenheit der Intelligenz sind ja gerade
für das im jugendlichen Alter sich entwickelnde Myxödem gegenüber dem im
ausgewachsenen Zustande charakteristisch.
Der Einfluss der Schilddrüsenpräparate auf das Körper wach stimm ist oft
genug ein eclatanter. So nahm z. B. ein Patient (infantiles Myxödem) von
Combe . . . .
im
Alter
von
2 Jahren
innerhalb
6 Monaten
um
11 Cm.
Combe Nr. 2 .
ft
4 »
n
13
TI
n
20 „
Mann ....
ft
47, n
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n
21 3 Cm.
Talfort Smith
10 „
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Bramwell .
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17, Cm.
Falleake . . .
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rt
^ ft
Talfort Smith
»
„
18 „
n
4
n
rt
2 Zoll
an Körperlange zu. Die günstigen Erfolge gaben Hkrtoghe Veranlassung, dis
gleiche Verfahren bei nicht-myxödematischen Kindern zn versuchen , die in der
Längenentwicklung aus verschiedenen Ursachen zurückgeblieben waren. Auch in
diesen Fällen trat eine Zunahme der Körperlänge ein.
In derselben Weise wie die Röhrenknochen erfahren auch die Schädel-
knochen eine Förderung ihres Wachsthums. Die Folge davon ist, dass sich die
Uber die normale Zeit hinaus otlen gebliebenen Fontanellen recht schnell schliessen.
Weiter brechen die in ihrer Entwicklung zurückgehaltenen Zähne bald durch.
Die Veränderungen, die sich in dem geistigen Befinden der myxödema-
töseu Kinder vollziehen, sind gleichfalls augenscheinliche. Der Fortschritt kann
unter Umständen ein so bedeutender sein, dass die vorher stupiden und beinahe
idiotischen Kinder nach der Behandlung sich intellectuell und moralisch von
gleichalterigen normalen Kindern kaum unterscheiden lassen (Anson, Carmichael,
Com be, Gabrod, Lunn, Okd, Poncet, Talfort Smith u. A.).
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SCHI LDDRCSENTHERA PI E.
565
Für die Dauer der Behandlung bei infantilem Myxödem dürften die
gleichen Grundsätze gelten , die ich oben für das Myxödem des Erwachsenen auf-
gestellt habe.
II. Die Beobachtung Reinhold’r, die derselbe gelegentlich der Behand-
lung kropfiger Geisteskranker mittels Schilddrtlgenpräparate machte, dass nämlich
der Kropf unter dieser Behandlung zurückging, veranlassten BrüNS, weitere Ver-
suche in diesem Sinne an Kropfkranken anzustellen. Die günstigen Resultate, die
Brüns anfänglich zu verzeichnen hatte, ermnthigten eine ganze Reihe Aerzte
(Angekkh, Firrab, Fletchrr, Ixgals, Henxig, Hf.bzkl und Irsai, Knöpfbl-
macheb, Kocher, Lf.nz, Reinhold, Sserapin, Stabel u. A.), das gleiche Ver-
fahren an strnmösen Personen vorzunehroen. Leider erfüllten sich die auf die
Methode gesetzten Hoffnungen nicht in dem Maasse, zu denen die ersten Versuche
berechtigten. Nach dem von Brüns auf dem diesjährigen Congresse für innere
Medicin gegebenen Berichte über 300 so behandelte Kropfkranke blieben >/4 der
Fälle vollständig unbeeinflusst , in nur 8° „ war eine vollständige Rückbildung
des Kropfes zu erreichen, in */, der Fälle trat eine bedeutende Abnahme derselben,
in ebenfalls ’/, eine solche massigen Grades und in mehr als s/, der Fälle stellte
sich ein Recidiv ein. Die günstigsten Chancen boten die rein hyperplastischen
Kröpfe und dieses in um so höherem Grade, je jünger dag Individuum war. —
Die Einzelheiten habe ich vorher im Artikel Kropfbehandlung zusammengestellt.
III. Als die ersten günstigen Erfahrungen bei Kropfbehandlung mittels
Schilddrüsenpräparnten in die Öffentlichkeit gedrungen waren, lag der Gedanke
nahe, das gleiche Verfahren beim Kropf in Verbindung mit Morbus Basedowii
zu versuchen. Man glaubte dadurch ausserdem dieses Leiden heilen zu können
und dieses mit um so grösserem Rechte, als zur gleichen Zeit in der Lehre von
der Pathogenese der Basedow 'sehen Krankheit die Hypothese Oberwasser hatte,
dass diesem Symptomeneomplex stets eine primäre Schilddrüsenläsion , nämlich
die Struma, zu Grunde liege. Wie anfänglich die chirurgische Behandlung des
Morbus Basedowii , so wurde nnn auch die Scbilddrflsenbehaudlnng kritiklos und
unbekümmert darum, dass diesem Zustande auch noch andere ätiologische Momente
zu Grunde liegen können, angewendet. Ich habe aus der Literatur gegen 100 Fälle
Zusammentragen können und vermag hierüber folgende Statistik aufzustellcn : Bei
mindestens 70 (Cbary — 51 Fälle — , Eder, Ewald — 3 Fälle — , Forxet,
Goldscheideb, v. Jaksch — 6 Fälle — , Jeaffbesox, Mackenzie — 2 Fälle — ,
Nielsen , Sänger — mehrere Fälle — ) derselben war die Einwirkung gleich
Null; bei weiteren 15 (Auld, Cantkr, Costanzo- Güsina , Leichtensterx —
4 Fälle — , Leszvnsky, Kocher, Lenke, Nasse, Stieglitz — 4 Fälle — ) fiel
der Erfolg gleichfalls negativ in dem gehofften Sinne aus, die Präparate wurden
ausserdem schlecht vertragen, erzeugten in einzelnen Fällen sogar eine Verschlim-
merung der Krankheit; in 15 Fällen endlich (Bograff — 3 Fälle — , de Cambi,
Etienxe — 2 Fälle — IIallock, Mikulicz, Morin, Nasse, Otto, Owen,
Putnam, Silex, Voisix) wurde eine Besserung, in 5 Fällen (Etiexne — 1 Fall — ,
Oito, Owen, Silex, Voisin) darnnter angeblich auch Heilung efziclt. Dieses
Resultat ist allerdings wenig ermuthigend. Nur gegen 1 4 °/0 der mittels Schilddrüsen-
präparaten behandelten Fälle von Morbus Basedowii wurden also davon günstig
beeinflusst, einzelne darnnter auch nur in einem geringen Grade. Es liegt meines
Erachtens hierin ein neuer Beweis dafür, dass nicht alle Fälle dieser Krankheit
ihren Ursprung einer abnormen Function der Schilddrüse verdanken, sondern dass
dieselbe einen Symptomeneomplex, erzeugt durch mancherlei Ursachen, ebenso wie
z. B. die Epilepsie und Hysterie, vorstellt. Eine primäre Läsion der Schilddrüse
kann unter Umständen auch die Ursache abgeben, und in solchen Fällen dürfte
sich die Schilddrüsentherapie nützlich erweisen.
IV. Der experimentelle Nachweis, dass die Schilddrüscnexstirpation bald
Myxödem, bald tetanische Erscheinungen nach sich zieht, ferner die Beobachtung,
dass beide Krankheitsformen auch am Menschen coinbinirt nuftreten oder auf
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566
SCHILDDRÜSENTHERAPIE.
einander folgen können, sowie die Erfahrung , dass Injection von Schilddrüsen-
saft oder Darreichung von Schilddrüsenpräparaten die tetanischen Folgeerschei-
nungen der Totalwegnahme der Drüse zu mildern im Stande sind , Hessen den
Versuch Gottstein’s berechtigt erscheinen, in einem Falle von Tetanie die
Schilddrüsentherapie in Anwendung zn ziehen. Die zweimalige Transplantation
blieb, weil jedesmal Eiterung eingetreten war, ohne Erfolg; dagegen führte die
Darreichung von Schilddrflsenextract per os eine Verminderung der Anfälle und
eine subjective Besserung herbei. Ebenso sahen Bbamwell und Levy-Dokn in
je einem Falle von typischer Tetanie, bei dem schon alle möglichen therapeutischen
Verfahren vergeblich versucht worden waren, eine bedeutende Besserung sich ein-
stellen. SCHULTZR erlebte, dass in einem Falle (16jähriges Mädchen mit Tetanie
und Kropf) an Stelle der tetanischen Anfälle epileptische Krämpfe sich einstellen.
Schliesslich möchte ich noch auf einen von Stieglitz publicirten Fall von progres-
sivem Gesichtsschwund, complicirt mit heftigen «Ionisch-tonischen Zuckungen, hin-
weisen, in dem Schilddrüsenpräparate versuchsweise verordnet wurden. Der Erfolg
war hier zunächst frappant; nach 8 Tagen hörten die Krämpfe ganz und gar
auf und blieben auch während der 6 Wochen dauernden Behandlung aus. Beim
Aussetzen der Schilddrüsenpräparate kehrten sie indessen nach 8 Tagen in früherer
Heftigkeit wieder, Hessen sodann bei erneuter Aufnahme der Behandlung wiederum
nach , ohne jedoch vollständig zu verschwinden und blieben trotz fortgesetzter
Behandlung wieder bestehen.
V. Da nach der Auffassung einiger Autoren auch der Akromegalie
eine primäre Schilddrüsenläsion zu Grunde liegen soll, so wurde anch dieses
Leiden in den Bereich der Schilddrüsentherapie gezogen. Es Hegen bereits eine
ganze Reihe von Versuchen (Bramwell, Bruns, Costanzo, Depangher, Lkichten-
sterx, Marina, Parsons, Putxam, Schulze, Solis-Cohen) vor, mit dem Resul-
tate, dass das subjective Befinden sich wohl besserte, objectiv sich aber auf den
hypertrophischen und hyperostotiRchen Process kein Einfluss bemerkbar machte.
VI. Die Beobachtung an Myxödematösen, dass unter Schilddrüsenbehand-
lung sieb die Vitalität der llant hebt, insbesondere, dass die spröde, trockene,
schuppende Hautoberflächc einer weichen, geschmeidigen und glatten Beschaffen-
heit Platz macht — Macfie Campbell sah in einem Falle eine Wunde, die
die Patientin sich bereits vor ihrer Erkrankung zugezogen hatte und die nicht
recht heilen wollte, nach Einleitung der Schilddrüsenbehandlung sich anstandslos
und schnell schliessen — , brachte Byron Bramwell in Edinburgh 1893 auf
den Gedanken, das Mittel bei Psoriasis vulgaris zu versuchen. Der Erfolg war
über alles Erwarten zufriedenstellend und hatte zur Folge, dass man das gleiche
Verfahren bei allen nur möglichen Hautkrankheiten in Anwendung
brachte. Die weitaus meisten Versuche betreffen die Psoriasis (Abrahams, Auld,
Bbamwell, Brocke, Combe, Crary, Gordon Dill, Epklbrum, Ewald. Joses
Gokdon, Hager, Hartley, Hunt, Hyde, Dai.e James, King, Leichtkxsterx,
Menau, Mosse, Nammark, Philipps, Pkeece, Spillmann, Squire, Stelwagkn,
Thibieger, Vautrin, Wilson, zum Busch). Soweit ich Angaben über den Erfolg
vorfinde, war in 44 Fällen der Erfolg recht zufriedenstellend — einige Fälle
sind darunter verzeichnet, wo das Leiden bereits lange, z. B. 14 (Hager) oder
20 (King) Jahre lang jeder anderen Therapie getrotzt hatte und binnen Kurzem
gänzlich beseitigt wurde — , in 51 Fällen machte sich absolut kein Einfluss auf
die Psoriasis bemerkbar; in 14 von Abraham beobachteten Fällen und in 1 von
Jones nahm das Leiden sogar an Ausdehnung zu. Ausser Psoriasis wurde noch
eine ganze Reihe von Störungen der Haut mittels Schilddrüsenpräparate behandelt ;
der Erfolg war hier ebenfalls theils recht befriedigend, theils negativ. Es sind
dieses (der Häufigkeit der Fälle nach geordnet) das Ekzem (Abraham, B ehrend,
Menzies, Philipp, zum Busch — 6 positive, 5 negative Erfolge), die Ichthyosis
(Bbamwell, Jackson, Jirzykowski, McDowall, Nobb, Rutgkhs, zum Busch
— 5 positive, 1 negatives Resultat), der Lupus (Abraham, Bbamwell, Ewald —
SCHILDDRÜSENTHERAPIE.
567
mehrfache günstige, lmal negatives Resultat), Lichen planus (Abraham —
3 positive, 1 negatives Resultat), Xerodermie (Jackson, Philipp — 1 positives,
3 negative Resultate), Pityriasis rubra (Scatschard, Stelwagen — je 1 posi-
tives und 1 negatives Resultat), chronische Urticaria (Abraham — 2 Misserfolge),
Dermatis exfoliativa (Jackson, Stelwagen — 1 positives und 1 negatives Re-
sultat), Acne rosacea (Gordon Dill — 1 Misserfolg), Pemphigus (Bramwell
— 1 positiver Erfolg), Alopecia universalis (Bramwell — 1 positiver Erfolg),
Sklerodermie (Morselli, Pearce Baii.ay, Sachs, Stiiglitz, Weber — 3 positive
und 2 negative Erfolge), eigenartige Diitormität der Nägel an Fingern und Zehen
(Stieglitz — 1 positiver Erfolg I, Pruritus vulgaris und Adenoma sebaceum
(Abraham — je 1 Misserfolg). In einzelnen Fällen , in denen ein Erfolg zu ver-
zeichnen war, Hess derselbe jedoch nach Aussetzen der Behandlung wieder nach.
Aus der voranstehenden Zusammenstellung wird man sich selbst ein Ur-
theil darüber bilden können, wie weit die Schilddrlisentherapie bei Hautkrankheiten
berechtigt erscheint. Da jedoch auch gute Resultate, darunter auch ganz beachtens-
werthe zu verzeichnen sind, so möge man dieses Verfahren immerhin versuchen,
jedenfalls nicht unversucht lassen, ehe man dem Kranken gegenüber die Befreiung
von einem der oben genannten Hautübel als aussichtslos hinstellt. Die günstigen
Erfolge dürften in der Weise zu erklären sein , dass die Ernährung der Haut
eine bessere wird, wodurch diese die Fähigkeit gewinnt, des morbiden Proccsses
Herr zu werden.
VII. Die Erfahrung, dass Myxödemkrauke bei Schilddrüsenbehandlung
mehr oder weniger an Körpergewicht abnehmen — so constatirten de Boi k nach
Ablauf von 2 Monaten einen Gewichtsverlust um 9 Kgrm., Bronneis nach
1 Monat um 24 Pfund, Cantkr- Marie nach 11 Tagen um 3,5 Kgrm. und in
dem gleichen Falle nach weiteren 60 Tagen nm 10 Kgrm., Lanz in 1 Monat um
5 Kgrm., Leichtexstern in l1/, Monaten um 8,3 Kgrm., Marie-Guerlain in
2 Monaten um 17 Kgrm., Oppenheimer in 14 Tagen um 11,5 Pfund, Ratjen
in 14 Tagen um 27 Kgrm., Varco in 23 Tagen um 10 Kgrm. etc. — veran-
lassten Leichtenstern in Köln a. Rh., im Jahre 1894 das Verfahren bei Obesitas
in Anwendung zu bringen. Seitdem hat dasselbe sich in der Behandlung
fettleibiger Personen erfolgreich Bahn gebrochen. Allerdings fehlt es auch
nicht an Misserfolgen, indessen diese verschwinden gegenüber den grossartigen
positiven Resultaten. Er ist klar, dass nicht alle Fälle von Fettleibigkeit Uber
einen Kamm geschoren werden dürfen ; man wird dementsprechend auch bei der
Behandlung mittels Schilddrüsensaft sieh an gewisse Indicationen zu halten haben.
Leider ist cs zur Zeit noch nicht möglich, solche in exacter Weise aufzustellen ;
dafür ist die Methode noch zu jung und zu wenig erprobt, v. Noorden glaubt
auf Grund seiner Erfahrungen den Grundsatz aufstellen zu dürfen, dass in allen
jenen Fällen, welche durch unvernünftige und über dass Durchschnittsmass ge-
steigerte Zufuhr von Speisen und Getränken, verbunden mit Mangel an körper-
licher Bewegung, bedingt sind (Ueberfettungsfettsucht), der Erfolg der Schild-
drüsentherapie ansblcibt, dagegen bei jenen Fällen, die ohne exeessive Steigerung
der Nahrung, vielmehr trotz längere Zeit durchgeführter und beträchtlicher
körperlicher Anstrengung zu Stande kommen, ein solcher wohl einzutreten pflegt.
Für diese zweite Kategorie von FettsUchtigcn nimmt v. Noorden an, dass die
Verbrennungsenergie der Körpergewebe eine abnorm geringe ist, so dass bei
einer Zufuhr von Brennmaterial, in so geringer Menge, wie sie für einen Durch-
schnittsmenschen kaum ausreicht, noch Ersparnisse gemacht werden können. Es
liegt hier also ein krankhaft verminderter Stoffwechsel der Zellen vor. Auch
Lepine stellt die gleiche Indication für Schilddrllsenbehandlung bei Obesitas auf.
Leichtenstern hat gefunden, dass am besten diejenigen, zumeist ausgesprochen
anämischen Fettleibigen auf diese Behandlung reagiren , die mit schwammigem
Fettpolster, aufgedunsenem, an Oedem erinnerndem Gesicht einhergehen, ferner
die fettleibigen Chlorotischen.
568
SCHILDDRÜSENTHERAPIE.
Es fragt sich weiter, wie die erreichten Resultate zu erklären sind?
Vor Allem kommt es darauf an zu wissen, ob während der Methode der Eiweiss-
zerfall bedeutend gesteigert ist. Zur Lösung dieser Frage sind von verschiedenen
Autoren diesbezügliche Experimente angestellt worden, Ucbereinstimmend haben
dieselben ergeben, dass bei Einverleibung von Schilddrüsenpräparaten in den
menschlichen Organismus die ausgeschiedeue Harnmenge eine bedeutende Steige-
rung, die Menge der Harnstoff-, respective Stickstoffausseheidung eine Erhöhung
erfährt (Bübgek, Dennig, Ewald, Scholz, Teufel, Vas, Vermehren u. A.).
Dabei hat sich aber hcrausgestellt, dass bezüglich der Wirkung der Schilddrüsen-
präparate Unterschiede im Körperhaushalte einzelner Individuen bestehen. Wäh-
rend nämlich der eine grössere Mengen Schilddrüsensubstanz täglich zu sich
nehmen kann , ohne dass sein Eiweissbestand wesentlich herabgedrückt wird,
kommt cs bei einem anderen zu erheblichen Schwankungen im Stoffwechsel. Im
zweiten Falle kann unter Umständen der Verlust an Körpereiweiss ein bedeu-
tender sein , wie Dennig beobachtet hat ; jedoch ist nicht ausgeschlossen , dass
man mittels Mehrzufuhr von stickstoffhaltigem Material das Deficit wieder decken
oder zum mindesten stark einscliränken kann. Die Gewichtsabnahme in Folge von
Schilddrüsenfütterung beruht also in erster Linie auf Wassereutziehung und
Fettverbrennung; daneben kommt auch eine Eiweisszersetzung vor. Dass der
Verbrennungsprocess im Körper eine mächtige Anregung erfährt, wird ausserdem
durch die von A. Magnus-Lew Angestellten Versuche bewiesen. Diese ergaben
nämlich, dass der Sauerstotfverbrauch und die Kohlensäureproduction , also die
Oxydationsprocesse, eine beträchtliche Steigerung (um 21°/») erfahren.
Der Gewichtsverlust pflegt nach den Beobachtungen von Wkndelstedt
und Lkichtensterx in den ersten Wochen der Behandlung am stärksten zu
sein, darauf nur allmälig bei gleicher Dosis oder geringer Steigerung derselben
zuzunehmen. Oft tritt dann (nach circa 6 Wochen) ein Stadium ein, von welchem
an keine weitere Gewichtsabnahme erfolgt und auch die Steigerung der Dosis
keine oder nur eine unbedeutende Wirkung äussert. Im Durchschnitt dürfte die
Gewichtsabnahme in der ersten Woche I — 3 Kgrm. betragen; jedoch kann die-
selbe auch höhere Ziffern annehmen. So sah LeichtensTF.rn eine Fran in der
ersten Woche bereits 5 Kgnn., Bruns einen Mann binnen 14 Tagen sogar
10 Kgrm., desgleichen Meltzer eine Frau innerhalb des gleichen Zeitraumes
20 Pfund abnehmen u. s. w. Ferner dürfte der Schwund des Fettes schon sofort
nach der Aufnahme der Sehilddrüsencur beginnen. Meltzer z. B. beobachtete
in allen von ihm behandelten Fällen, dass die Kranken schon nach 24 Stunden
über eine ausgesprochene Erleichterung in der Athmung und eine Abnahme des Herz-
klopfens berichteten, ohne dass sich jetzt schon eine Gewichtsabnahme nach weisen
liess, und gewann aus diesem Verhalten den Eindruck, dass das Herz der Ort ist,
wo dass Fett zu allererst und bereits bei kleinen Dosen zu verschwinden beginnt.
Er versuchte das Verfahren daher auch bei Fettdegeneration des Herzens und will
in einigen imässig schweren) Fällen mit dem Erfolge sehr zufrieden gewesen sein.
Wie schon erwähnt, reagiren nicht alle Fettleibigen auf das Mittel.
Leichtexstern hatte seinerzeit 27 Personen in Behandlung genommen nnd konnte
bei 24 — 89" 0 einen positiven Erfolg coustatirrn. Welchen Grad dieser Erfolg
erreichen kann , mögen folgende Beispiele illustriren. Ewald constatirte nach
einer Cur von 4 Wochen eiuen Gewichtsverlust von 3,5 Kgrm., Lkichtknstern
nach 6 Wochen eineu solchen von 5, 6,5 und 9,5 Kgrm., Barhon sogar von
25 englischen Pfund, Ewald nach 61 2 Wochen von 9,2 Kgrm., Leichtenstkrn
nach 7 Wochen von 5,5 Kgrm., derselbe nach 8 Monaten von 7,5 Kgrm., Jerzy-
kowski nach 2 Monaten von 20 Kgrm., derselbe nach 3 Monaten von 15 Kgrm.,
Meltzer nach 31/, Monaten von 18 englischen Pfund, Rexdu nach 6 Monaten um
33 Kgrm. u. A. m.
Vereinzelt ist auch beobachtet worden, dass bei Gebranch von Schild-
drüsencur das Körpergewicht eine Zunahme erfahren hat. Es scheint dieses haupt-
SCH1LDDBÜSENTHERAPIE.
569
sächlich bei melancholischen Geisteskranken (Klay, Reinhold) und jugendlichen
Individuen, vor Allem Kindern (Anson, Gaerod, Heli.ieb, Fletcher Ino als,
Ord, Paterson u. A.) vorzukommen.
Die Dose braueht nach den bisherigen Erfahrungen nur eine geringe
zu sein ; stärkere Dosen bringen im Verhältniss keinen grösseren Effect hervor.
Die durchschnittliche Tagesdosis, die angewendet worden ist, betrug 2, höchstens
4 Thyreoidintabletten (4 0,3 Grm. SchilddrUsensuhstanz) oder 0,3 — 0,5 Grm.
Thyrojodin (Henxig). Eine besondere Diätcur scheint zumeist nicht beobachtet
worden zu sein, im Gegenthcil, Wendelstadt und Hknnig betonen ausdrücklich,
dass die von ihnen Behandelten ihre frühere Lebensweise während der Schild-
drUseacur beibehalten hätten. Ob indessen eine Combination der .Schilddrüsen-
behandlung mit einer Diätcur die Resultate steigert, ist meines Wissens bisher
noch nicht ansprobirt worden. Um einem etwaigen Eiweisszerfall vorzubeugen,
ist vielmehr von einzelnen Autoren eine stickstoffreiche Kost empfohlen worden.
Bei Adipositas cordis oder Herzfehlern ist im Allgemeinen Vorsicht geboten;
eine directe Contraindication für Schilddrüsenbehandlung geben diese Complica-
tionen jedoch nicht ab, wie Meltzer (cf. oben) gezeigt bat.
VIII. Gelegentlich der Behandlung der mit geistigen Störungen einher-
geheuden Myxödemfälle hatte man mehrfach (Beadi.es, Cl.OUSTON, Macpherson,
Shaw) die Beobachtung gemacht, dass die begleitenden Psychosen unter Schild-
drüsenbehandlung sich gleichfalls besserten . rcspective gänzlich verschwanden.
Von diesem Gesichtspunkt ausgehend, versuchte zuerst Lewis C. Bbuce an einem
grösseren Krankenmaterial (30 Kranke) das gleiche Verfahren und, da seine
Resultate ermuthigende waren, nach ihm noch verschiedene Autoren mit einem
allerdings weniger erfreulichen Resultate. — Ich gebe im Folgenden eine Zu-
sammenstellung der von Bruce, Eastekbrook, Havelock, C. Johnstone , Ire-
land, Klav und Reinhold an 41 Fällen erzielten Resultate.
Manie
Melan-
cholie
Pnerperal-
psyci.oae
Lactations- 1
p-ychoee
Cyklische
Psychose
Paracoia
Demenz
Heilung
Besserung . . .
Kein Einfluss .
Verschlimmerung
2
1
3
2
2
4
4
5
-
L
1
3
[(Remission?) —
ä* ^
Demenz
Alkobo-
Epileiv
Syphili-
nach
1 «sehe
Para’yse
Idiotie
tische
tische
Manie
Amnesie
|
Psychose
Psychose 1
Heilung . . .
11 —
—
—
1 ( Remission) —
—
Besserung . . .
|| —
—
—
i
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! Kein Einfluss .
i
1
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—
—
i
1
1 Verschlimmerung
1 -
—
—
—
—
—
—
Bei der geringen Anzahl Beobachtungen ist es vor der Hand nicht
möglich, den Werth der Sehilddrüsenpräparate in der Behandlung von Geistes-
störungen zu beurthcilen, vor Allem, nicht zu entscheiden, ob dieses Verfahren
den psychologischen Zustand direct beeinflusst, oder ob, wie Reinhold vermnthet,
zunächst die Ernährung hebt und so indirect zur Besserung des psychischen
Befindens beiträgt. Bruce beruft sich auf die Steigerung der Körpertemperatur
bis zu leicht-febriler Höhe, die er stets an seinen Kranken bei Darreichung von
Schilddrüsenpräparaten beobachtet haben will, und stellt die hierbei erzielten
Besserungen, respeetive Heilungen zu den günstigen Resultaten in Parallele, die
man nach fieberhaften Krankheiten öfters beobachtet hat und ebenfalls der er-
höhten Körpertemperatur Schuld zu geben geneigt ist. Leider trifft die Voraus-
setzung Brüce’s, dass Sehilddrüsenpräparate eine febrogene Substanz enthalten,
nicht zu; den Anstieg der Temperatur Uber den normalen Durchschnitt hinaus
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570
SCHI LDDR ÜSENTHERA FI K.
beobachtet man bei ihrer Darreichung nur selten (cf. weiter ur.ten). Daher hat
die andere Annahme, dass die Besserung im psychischen Verhalten sich durch
die des körperlichen vollzieht , mehr Wahrscheinlichkeit für sich ; denn Klay
und REINHOLD constatirten an ihren psychisch Kranken mehrfach Steigerung des
Appetits, Zunahme des Körpergewichts etc.
Contraindicirt soll die Schilddrüsenbehandlung nach Bbcce's Angabe bei
Manie sein, wenn die Erregung acut, der Gewichtsverlust rapid ist und die
Gefahr der Erschöpfung infolge mangelhafter Assimilation der Nahrung besteht.
Die Dosis ist die übliche, wie bei anderen Krankheiten.
IX. Ausser den angeführten morbiden Zuständen hat man bei noch ver-
schiedenen anderen die Schilddrüsentherapie in Anwendung gezogen , ohne dass
diese nachweislich mit einer Störung der Schilddrüsensecretion im Zusammen-
hänge stehen, nämlich bei Diabetes, Arthritis, Khachitis, Tuberkulose,
Uterusfibromen, progressiver Myopathie, Syphilis und Carcinoma.
Blachstmn will bei mehreren Diabetikern, besonders bei einer Kranken,
deren Schilddrüse sehr klein war, sehr bedeutende Besserung durch Schilddrttsen-
präparate erreicht haben. Veranlassung zu diesen Versuchen gab ihm seine Be-
obachtung gelegentlich der Sectionen von Diabetikern, dass die Schilddrüse hier
oft Veränderungen darbietet, sowie der Befund an 5 lebenden Diabetikern mit
Obesitas (unter 6), die eine deutliche Anschwellung der Schilddrüse zeigten. Der
letzte Punkt widerspricht allerdings den Beobachtungen v. Noordex’s, der unter
150 Diabetikern bei keinem einzigen eine klinische Veränderung der Schilddrüse
gefunden haben will. — An oberen Diabetikern mit geschwollener Schilddrüse
constatirte BlaCHstein, dass sich ihr Allgemeinbefinden bei dieser Behandlung
zwar hob, die Ausscheidung des Zuckers aber zunahm.
Von der Thatsache ausgehend, dass Myxödemkranke unter Schilddrüsen-
behandlung eine beträchtliche Menge von Harnstotf und besonders Harnsäure aus-
scheiden, hielt Combe cs für angezeigt, dieses Verfahren bei gewissen Krankheiten
anzuwenden, die sich durch eine Abnahme der Verbrennungsvorgänge im Körper,
respective eine Abnahme der Stickstotfuusscheidung kennzeichnen, also bei der
sogenannten arthritischen oder uriimiBchen Diathese. Die Resultate sollen im
Allgemeinen günstig ausgefallen sein ; im Besonderen erwähnt Combe einen Fall
von Psoriasis mit heftigen Nervenschmerzen, Gclenkschmerzen und trophischen
Verunstaltungen , in dem alle diese Erscheinungen unter Sehilddrüsenbehandlung
zurückgingen , sowie einen zweiten von Gelenkgicht, in dem da« Fieber, die
Schmerzen, die Röthe und Anschwellung der Hände und Füsse auf diese Weise
gleichfalls verschwanden.
Die Experimente Schiff ’s und Tbachewsky’s, in denen es gelangen
war, von entkropften Mutterthiercn rhachitische Junge zu erhalten, mögen die Ver-
anlassung gewesen sein, dass Laxz, Knöpfelmacher und Heviine« in Fällen
von Rhachitis die Sehilddrüsentherapie versuchten; die beiden ersten Autoren
mit negativem Erfolge, der letztere mit recht günstigem Einflüsse auf das All-
gemeinbefinden, besonders bei den mit schwerer Anämie einhergehenden Formen,
aber ohne Einfluss auf das Leiden selbst.
Schliesslich sei noch erwähnt , dass Morin und Smith das Verfahren
bei Tuberkulose der Lungen, Jocix bei Uterusfibromen, LftPINK bei Myopathie,
Mexzies und Guhadse bei schwerer Syphilis mit ausgezeichnetem Erfolge in
Anwendung gebracht haben.
Es erübrigt noch, des Thyreoidismus zu gedenken. Neben den
bisher geschilderten Wirkungen der Schilddrüsenpräpnrate stellen sich constant
oder vereinzelt noch eine Reihe von üblen Erscheinungen ein, die die englischen
Autoren unter der Collectivbezeichnung „thyreoidisma zusammengefasst haben. —
Fast unmittelbar nach der Aufnahme der ersten , manchmal auch schon ganz
minimaler Dosen von Schilddrüscnpräparaten beginnt sich eine Reaction des Or-
ganismus bemerkbar zu machen. Die betreftenden Personen klagen über allgo-
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SCHILDDKÜSENTHERAPIE.
571
meines Missbefinden, unangenehmen Kopfdruck, Mattigkeit, Schlafsucht, ziehende
rheumatoide Schmerzen in den Extremitäten und im Rumpf, sowie Schwindel und
Gefühl von Hitze ; es sind dieses alles Erscheinungen, die wohl nie auszublcibcn
pflegen , in ihrer Intensität und der Zeit des Auftretens indessen je nach der
Individualität der Versuchspersonen schwanken. Unter Umständen kann der
Thyreoidismus sich ausschliesslich in dem Auftreten dieser wenigen Nebenerschei-
nungen äussern, wie die Mittheilungcn von BiC'KUt, Buschan, Kobekt, Laxz,
Wex'üelstadt u. A. beweisen. In der Mehrzahl der Fälle vervollständigt jedoch
noch eine Erscheinung das Bild des physiologischen Thyreoidismus, das ist ein
Anstieg der Pulsfrequenz bis zur Norm bei Myxödematösen und darüber hinaus,
sowohl bei diesen , als auch bei Gesunden. Auch bezüglich dieser Erscheinung
besteht eine Idiosynkrasie ; denn einzelne Personen reagiren schon bei verhiiltniss-
miissig geringen Dosen mit einer änsserst rapiden Pulsfrequenz, während andere
trotz hoher Dosen von einer Beschleunigung der Herzthätigkeit ziemlich frei-
bleiben. Ich für meine Person vermuthe, dass die Nahrungsweise der Versuchs-
personen (ob vorwiegend carnivor oder herbivor?) für einen etwaigen Anstieg der
Herzthätigkeit massgebend sein dürfte , und habe an anderer Stelle die VVahr-
scheinlichkeitsgründe für diese Annahme angeführt. — Eine weitere physiologische
Wirkung der Schilddrüsenpräparate ist die Zunahme der Urinmenge und eine
Vermehrung der Stickstofläusscheidnng.
Ausser den vorstehend angeführten Erscheinungen sind verschiedentlich
noch andere Zufälle unangenehmer Natur beobachtet worden, die indessen nicht
zur physiologischen Wirkung gehören, wie hohe Körpertemperatur, Albuminurie,
Glykosurie, stenokardischc Anfälle, soporöse Zustände, tonische Krämpfe, Koma
und selbst tödtlicher Ausgang. Alle diese Zufälligkeiten , denn solche Bind es,
beruhen, wie die Versuche von Parke-Davies, Burk, Nahes, Küthe und vor
Allem LaNZ gezeigt haben, zum grössten Theil auf toxischen Veränderungen,
welche sich in der Schilddrüse bereits vor ihrer Verarbeitung zu Präparaten oder
vor ihrer Darreichung im rohen Zustande vollzogen haben — nach Laxz’
Beobachtungen fällt kein thierisches Organ so schnell der Fäulniss anheim
als gerade die Schilddrüse ; bereits 6 Stunden nachdem das Thier geschlachtet
ist, reagirt sie sauer, zieht nach 12 Stunden an und stinkt am folgenden Morgen
schon ganz energisch , dieses alles bei gewöhnlicher Zimmertemperatur — , zum
Theil auch wohl auf anderen Beimischungen , die durch Krankheit der Schild-
drüse oder auch durch die Verschiedenheit der Nahrung (?) etc. bedingt sein mögen.
Man muss also einen physiologischen und einen pathologischen Thyreoi
dismuB unterscheiden; der erstere ist ungefährlich, der letztere kann zu ernsten
Befürchtungen Veranlassung geben. Durch Darreichung von absolut frischer Schild-
drüse oder aus solcher hergestelltcn Präparaten wird mau die Erscheinungen
des pathologischen Thyreoidismus vermeiden können.
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Schlangengift. Die interessante Errungenschaft der modernen For-
schung, dass man durch allmälige Beibringung nicht tödtlicher Dosen von Schlangen-
gift Thiere gegen tödtliehe Mengen unempfänglich machen kann, ist durch weitere
Experimente von Fbasrk *) auch für verschiedene bisher nicht untersuchte toxische
Secrotc von exotischen Giftschlangen bestätigt worden. Was für das Gift der
ostindischen Cobra di capello (Naja tripudians) gilt, gilt auch fllr das Gift
der amerikanischen Cascavela oder Schaaerklapperschlange, Crotalus
horridua Dand., ftlr das der südafrikanischen Ringhalsschlange, Srpedon
haemachatea , und für das der wahrscheinlich der Gattung Diemenia unge-
hörigen grossen Schlange des Diamautdistricts von Südaustralien. Alle diese Gifte
Btehen übrigens in der Intensität ihrer Wirkung dem Cobragifte bedeutend nach ;
das Gift der australischen Schlange ist nach vergleichenden Versuchen an
Kaninchen 6, das der Binghalsschlange 10 und das der Cascavela lOmal
schwächer als das Cobragift, das in Bezug auf seine Letalität den stärksten
Pflanzengiften, dem Aconitin und Ouabain, gleichkommt. Die minimal letale Dosis
des Cobragiftes beträgt pro Kilo für Meerschweinchen 0,18, für Kaninchen 0,245,
für weisse Ratten 0,25, für Katzen 5, für Kätzchen 2 und für Tropidonotua
natrix 30 Mgrm.; bei Kaninchen stellt sich die kleinste letale Dosis der Gifte
von Diemenia, Sepedon und Grotalua horridua auf 1,5, bezw. 2,5, bezw. 4 Mgrm.
Die Wirkung der drei letztgenannten Gifte ditferirt von der des Cobragiftes
wesentlich dadurch, dass nach ihnen die örtlichen Veränderungen weit intensiver
sind, und namentlich tritt nach dem Crotalusgifte stets ausgedehnte Infiltration
des Unterhautbiudegewebes mit Blut und blutigem Serum, Umwandlung der Muskeln
in eine breiartige, blutgefleckte Masse und intensiv rothe Färbung ein. Nach
dem Gifte der Sehlange der südaustralisehen Diamantfelder sind diese Verän-
derungen in loco zwar bedeutend geringer, dagegen kommt es regelmässig zu
Hämaturie oder Hämoglobinurie.1)
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SCHLANGENGIFT.
575
Die Thatsacbe, dass das Gift verschiedener Schlangen nicht die nämliche Toxicität
besitzt, ist neuerdings auch durch umfassende Versuche von Calmette dargethan ; doch ist
auch das Gift einer und derselben Schlangenart nicht zu allen Zeiten von gleicher Activität,
und ausserdem spielt auch die Thierart, der das Gift inoculirt wird, dabei eine nicht unbe-
deutende Rolle. Von einer egyptischen Naja Haje wirkte z. B. das im Vacuum getrocknete
Gift, als das Thier 3 Monate gefastet hatte, zu 0.7 Mgrm. in 4 Stunden auf Kaninchen tödt-
lich, während 2 Monate später das getrocknete Gift derselben Schlange zu 0,25 Mgrm. und
das der Speicheldrüsen der nach 8 Monaten gestorbenen Schlange schon zu 0,1 Mgrm. den
Tod herbeiführte. Beim Kaninchen stehen die Gifte von Cobra di capello und Naja Haje
obenan, während Trigonocepbalus und Crotalus 4— 5mal weniger Toxicität besitzen. Kaninchen
sind gegen Schlangengift doppelt so resistent wie Meerschweinchen , Hunde fast doppelt so
widerstandsfähig wie Kaninchen Interessant ist die von Fraser consta tirte Thatsache, dass
bei Fütterung von Pflanzenfressern mit Fleisch die Resistenz der Thiere gegen Schlangengift
zunimmt und mitunter sogar der von Fleischfressern gleich wird.
Applicirt man subeutan bei Thicren Cobragift unter allmäliger Steigerung
der Dosen, gleichviel ob man mit Vio oder Vs oder Vs der minimal letalen Dose
beginnt oder auch eine minimal letale Menge zum Ausgangspunkte wühlt, so
kann man es erreichen, dass nach 5 — Gmaliger Application der minimal letalen
Menge 3 — 4 — 5mal so viel Cobragift ohne toxischen Effect oder doch nur unter
Hervorrufung ganz geringen Unwohlseins ertragen wird. Die geringen Quanti-
täten, die Fraser von den Giften der drei übrigen Giftschlangen zu Gebote
standen, gestatteten hei diesen nur den Nachweis der Immunisation bis zur drei-
fach minimal letalen Dosis, doch ist nicht zu zweifeln , dass auch hier höhere
Giftmengen überwunden werden können. Bei diesen Giften tritt allerdings die
intensivere örtliche Wirkung hemmend in den Weg, indem diese nicht so rasch
wie die Nervenwirknng überwunden wird. Geht man beim Cobragifte mit den
Versuchen w-eiter, so gelangt man bei Kaninchen schliesslich zu der Immunität
gegen 10 — 20 — 30 — 50fach minimal letale Dosen. Fast die einzige danach auf-
tretende Erscheinung ist die wenige Stunden nach der Injection zu beobachtende
Steigerung der Körperwärme, die einen besonderen Contrast zu dem auch nach
nicht letalen Dosen hei nicht immunisirten Thieren erfolgenden Temperatu rab-
falle bildet; nicht selten kommt es auch zu Verminderung der Fresslust und damit
im Zusammenhänge stehender temporärer Abnahme des Körpergewichtes , die
ebenfalls im Gegensätze zu der Zunahme dieses und dem allgemeinen Wohlbe-
finden steht, das die Thiere während der Periode der Immunisirungsversuche
darhicten. Auch bei Pferden kann bei subcutaner Application ein Grad der
Immunisirung gegen die lOfach letale Cobragiftdosis, hei Katzen die Immuni-
tät sogar durch interne Darreichung gewonnen werden.
Diese Jmmunisirnng von Katzen durch interne Darreichung hat eine besondere Be-
deutung einestheils dadurch, dass sie uns möglicherweise eine Erklärung für die Immunität von
Schlangenbeschwörern giebt, anderenteils aber besonders dadurch, dass sie ermöglicht, das Schlangen-
gift in einer Weise darzureichen, dass es dem Organismus keinen Schaden zufügt, da wenigstens
in der Regel das in den Verdanungscanal eingeführte Schlangengift keine Vergiftungserschei-
nungen hervorruft. In den Versuchen Fraser ’s, wo mit lf4 der minimal letalen Subcutan-
gabe begonnen wurde, konnte am 116. Tage die 8fach letale Dosis intern eingeführt werden,
ohne dass danach irgend welche Störung erfolgte, und 8 Tage später zeigte sich das Thier
gegen die subcutane Anwendung der lf/sfachen letalen Dose insoweit immun, als keine all-
gemeinen Störungen resnltirten, während es allerdings zu localem Oedem und Hantnekrose
kam. Von Interesse ist, dass ein von der Katze am 54. Tage der Immunisationsversuche ge-
worfenes Kätzchen, das nur mit der Muttermilch ernährt wurde, am 57. Lebenstage die
P/.fach letale Dosis subeutan ohne schwere Vergiftungserscheinungen bestand, während ein
zweites Jnnge am 69. Lebenstage nach der 3fach letalen Dosis zu Grunde ging. Auch bei
Albinoratten ist es möglich, intern bei allmäliger Steigerung enorme Giftquantitäten , selbst
die lOOOfache Menge der subeutan minimal letalen Dosis ohne andere Vergiftungserscheinungeu
als etwas Schläfrigkeit und 1 — 2 Tage anhaltenden Appetit Verlust in den Magen einzuführen
und dabei eine Resistenzfäkigkeit gegen Subcutanapplication der 2fach letalen Dosis zu ge-
winnen , ohne dass jedoch Immunität gegen diese Giftmenge zustande gekommen war, da
24stündige Schläfrigkeit, Anorexie und Zunahme der Speichel- und Broochialsecretion resnltirten.
Auch hei den von Fraser neugeprüften Giften bestätigt sich die That-
sache. dass dureli das Gift jeder Schlange auch eine Immunität gegen die Gifte
der anderen und gegen Cobragift erzielt werden kann, wie auch die Immuni-
576
SCHLANGENGIFT.
sinnig mit Cobragift gegen die übrigen Gifte immun macht ; doch scheint die
Immunisirung für das Gift derselben Schlangenart wirksamer zu sein. Ueber die
Frage der Dauer der Immunisirung sind die Versuche noch nicht abgeschlossen;
doch ist mit Sicherheit ein 20 Tage anhaltender Effect constatirt worden.
Dass die directe Immunisirung durch Schlangengift, wie sie ja allerdings
bei einzelnen afrikanischen Völkcrstämmen, die die Kinder von jungen und relativ
wenig gefährlichen Schlangenarten beissen lassen sollen, um sie gegen den Biss
gefährlicher Giftschlangen zu schützen, in Anwendung gezogen ist, für die Pro-
phylaxe der Vergiftung in tropischen Giftländern kaum je Bedeutung erlangen
wird , ist leicht einzusehen. Eher wäre an die Möglichkeit zu denken , das
Blut der Schlangen als Träger des Antitoxins in dieser Weise zu verwerthen, um-
somehr, als nach weiteren Versuchen Fraser’s mit dem Blutserum der grossen
ostindischen Giftschlange Ophiophagus elaps antidotarische Effecte, und zwar
gegen das Gift der Cobra di capello , erhalten werden können. Werden nur
kleine Mengen zu einer minimal letalen Gabe von Cobragift hinzugesetzt, so
wirkt bei gleichzeitiger Einführung das Ophiophagusserum nur lebensverlftngernd,
während bei Zusatz grösserer Mengen (25 Ccm. pro Kilo) Vergiftungserschei-
nungen überhaupt ausblciben können. Selbst nachträgliche Einführung, '/, Stunde
nach der Injection des Cobragiftcs, kann lebensrettend wirken. Gleiche Resultate
hat Fraser auch bei gleichzeitiger und nachfolgender Injection des Serums der
australischen schwarzen Schlange, Pseudechys porphyriacus , in Bezug auf das
Gift dieser Species erhalten.
Am nächsten liegt es freilich , von der bereits von französischen Ge-
lehrten dargethanen und von Fraser bestätigten Thatsache, dass auch das Blut
immunisirter Thiere selbst die Fähigkeit besitze, auf andere Thiere gegen Schlangen-
gift immunisirend zu wirken, Nutzen zu ziehen und durch Inoculation grosser
Thiere, z. B. Pferde, immunisirendes Blutserum zu erhalten, und dies würde
umsomehr in Betracht kommen, als der antidotarische Werth, soweit die allerdings
unter ungünstigen Umständen gewonnenen Schlangenblutsera Fraskr’s zur Ver-
gleichung berangezogen werden können, ein entschieden grösserer ist und sich Blut-
serum immunisirter Warmblüter von sehr constanter Beschaffenheit ohne Mühe be-
schaffen lässt. Nach Fraskk’s Erfahrungen ist man im Stande, durch Eintrocknen
frisch abgetrennten und durch ein t’HAMBERLAND-Filter filtrirten Blutserums in dem
Recipienten einer Luftpumpe über Schwefelsäure eine trockene und leicht pulverisir-
bare Masse zu erhalten, die sich unbegrenzt activ erhält und mit Wasser ver-
düunt eine zu Immunisirungsversucbcn geeignete Lösung giebt. Mit den von
Kaninchen, die die SOfache letale Dosis Cobragift erhalten hatten, gewonnenen
Serum, dem Fraser die Bezeichnung Antivenen beigelegt hat, angestellte
Versuche führten zu dem Resultate, dass nicht nur Mischungen tödtlicher Mengen
Schlangengift mit genügenden Mengen Antivenen tolerirt werden , sondern dass
auch Thiere gerettet werden können , die erst '/, Stunde nach Einführung des
Schlangengiftes Antivenen erhalten, so dass also das Resultat dasselbe wie beim
Ophiophagusserum ist. Mischt man eine die letale Menge um ein Geringes über-
steigende Quantität Cobragift mit Mengen von natürlichem oder durch Wasser
lösung dargestellten Kaninchen - Antivenens , welche 0,5 bis 0,004 (Vsso) Ccm.
pro Kilo entsprechen, so erfolgen selbst bei den geringsten Mengen Antivenens
keine oder nur unerhebliche Vergiftungserscheinungen. Vom Pferdeblutantivenen
ist schon Viooo Ccm. bei der einfach letalen Dosis Cobragift wirksam. Nimmt
man die doppelt letale Dosis, so sind pro Kilo 0,06 — 0,075 Ccm. Antivenen
nothwendig , während 0,5 Ccm. unwirksam bleiben, ln Versuchen mit der drei-
fach letalen Dose sind 0,8 Ccm. unzureichend, dagegen 1 und 1,5 Ccm. activ;
bei vierfach letaler Dosis sind 2 Ccm. Antivenen nothwendig, um die Wirkung
ausblciben zu lassen. Applicirt man die doppelt letale Quantität von Cobragift
an der einen Körperhälfte und unmittelbar danach an der anderen Seite Anti-
venen, so reichen 2,5 — 3,5 zur Lebensrettung aus, während 1,5 — 2,0 Ccm.
SCHLANGENGIFT.
577
unwirksam bleiben. Spritzt man zuerst Antivenen und nach 30 Minuten die ein-
fach letale Dosis Cobragift ein , so Bind 4 Ccm. Antivenen zur Lebensrettung
erforderlich. Injicirt man zuerst das Schlangengift in einfach minimal letaler
Dose, nnd ’/, Stunde später das Gegengift, so reichen 1,5, 1,0 und selbst 0,8 Ccm.
zur Lebensrettung aus, nicht aber 0,75 und bei dem nämlichen Verfahren wird
die doppelt letale Menge durch 5 Ccm. pro Kilo, nicht aber durch 2 — 3 Ccm.
Überwunden. Hei den antidotarischen Versuchen kommt es fast immer zu Ver-
giftungserscheinungen. Auch in den tödtlieh verlaufenden Experimenten wird
die Lebensdauer ausserordentlich verlängert und es erscheint die Möglichkeit
nicht ausgeschlossen, dass die weitere Darreichung des Antidots in der späteren
Zeit noch lebensrettend wirken kann.
In der That sprechen dirccte Versuche dafür, dass die Lcbensrettnng
grössere Chancen hat, wenn man sich nicht auf einmalige Einführung beschränkt,
sondern successive mehrere Dosen des Antivenens administrirt,
und cs dürfte diese Anwendungsweise beim Menschen überall zu bevorzugen sein.
Fbaskr drängt darauf, die erste Dosis in den von dem Bisse getroffenen Theil
zu injieiren, ehe die angelegte Ligatur entfernt und ehe die Excision der Um-
gebung der Läsionsstelle erfolgt ist. Als Anfangsgabe bezeichnet Fraser 20 Ccm.
flüssigen Antivenens, welcher man in */, Stunde oder 1 Stunde eine zweite und
wenn nöthig in gleichen Intervallen eine dritte und vierte Gabe folgen lassen
kann. Als Arzneiform ist übrigens das oben erwähnte trockene Antivenen wegeu
seiner grösseren Haltbarkeit vorzuziehen. Von diesem entsprechen 11,5 Theile
100 Theilen des flüssigen Serums, so dass etwa 2,3 Grm. 20 Ccm. flüssigen
Antivenens entsprechen würden.
Um übrigens ein Antivenen von guter Wirkung zu erhalten , erscheint
es nothwendig, das Blut von Thieren zu benützen, die wirklich eine mehr als
letale Dosis Gift bekommen haben. Das Serum von Thieren, die nur Bruehtbeile
der einfach letalen Dosis längere Zeit hindurch erhielten, ist weit schwächer,
doch reichen bei Mischen des Giftes und des Antivenens bei einfach letaler Gift-
menge 5 Ccm. pro Kilo, nicht aber 3 Ccm. zur Lebensrettung aus.
Das Cobraantivenen wirkt übrigens nicht blos lebensrettend bei Intoxi-
cation durch Cobragift, sondern auch bei Intoxication durch das Gift von Crotalus,
Disemenia und Sepedon, wenigstens bei einer die einfach letale Dosis um */)2
überschreitenden Giftmenge in der Quantität von 1,5 Ccm. pro Kilo, */a Stunde
nach der Vergiftung applicirt.
Die Versuche von Fraser, die Scrotherapie für die Behandlung der
Schlangenbisse in exotischen Schlangenländern nutzbar zu machen, finden ein
Pendant in den analogen Bestrebungen von Calmette *) in Frankreich. Calmette,
der sein Serum durch Iinmunisirung von Pferden und Eseln mit Cobragift (an-
fangs mit Chlorkalk gemischt, später nur in steigenden Gaben inoeulirt) und
später mit anderen Schlangengiften gewinnt , hat bereits grosse Mengen dieses
Serums, das schon zu '/toooo activ ist (soll heissen: bei Kaninchen zu ’/ioooo des
Körpergewichtes inoeulirt, eine 1 Stunde später inoculirte Schlangengiftmenge,
die in 3 — 4 Stunden nicht immunisirtc Kaninchen tödtet, neutralisirt , so dass
VergiftungBerscheinungen nicht eintreten), nach Indien, nach den Antillen und nach
Australien geschickt. Das fragliche Serum giebt übrigens noch eclatante Resul-
tate, wenn man 1 Ccm. pro Kilogramm ll/t Stunden nach einer in 3 Stunden letal
wirkenden Gifltmenge subcutan verabreicht.
Dass die subcutane Anwendung von Chlorkalk um die Bisswunde
herum sehr brauchbare antidotarische Resultate bei Bisswunden australischer
Schlangen giebt, hat neuerdings Halford in Melbourne bestätigt. Dass der Chlor-
kalk nur durch Neutralisation des Giftes an der Applicationsstclle wirkt, nicht aber
durch Erzeugung eines Antitoxins im Blute, wie Calmette ursprünglich annahm,
lehren neuere Vcusuche von Phisalix und Bertkanü.6)
Encyclop. Jahrbücher. VI. 37
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578
SCHLANGENGIFT.
You Australien aus wird die St ry c h ni n bc li a ndl u n g als unwirksam
in schweren Fällen bezeichnet. Es ist bestimmt richtig, was W. C. C. Macdonald •)
von der Beurtheilang der Wirksamkeit von Antidoten gegen Schlangenbisse sagt,
dass in einer grosen Anzahl von Fällen die Schlangenbisse relativ ungefährlich
sind, weil die Gift zähne nicht in die Tiefe eingedrungen sind und dass nur
dann, wenn die Schlange einen Körpertlieil mit beiden Kiefern umfasst hat, ein
wirklich gefährlicher Biss vorliegt. Von 60 Fällen von Schlangenbiss, die
Macdonald in den letzten 11 Jahren zu behandeln hatte, sind nur 6 tödtlich
verlaufen, und diese trotz der Anwendung von Strychnin, das eine Hebung der
Herztbätigkeit nur in solchen Fällen bewirkt, in welchen auch andere an sieh
ungefährliche Kxeitantien diese Wirkung haben. Ligatur, Scarificationen und Aus-
saugen sind nach Macdonald die allein zuverlässigen Mittel.
Ein eigenthUmliches Antitoxin des Viperngiftes haben Phisalix und
Bkrtkand auch in dem Blute des Igels constatirt, dem man längst eine relative
Immunität gegen das Kreuzottergift zuBchrieb. Die immunisirende Wirkung dieses
Igelblutantitoxins äussert sich jedoch erst dann, wenn man durch Erhitzen auf
58 0 ein das Antitoxin begleitendes toxisches Princip zerstört hat. Meerschweinchen,
denen 7 — 8 Ccm. des so präparirten Serums in die Bauchhöhle iujicirt werden,
widerstehen einer sonst in 4 — 5 Stunden tödtlichen Gabe Viperngift. Auch in
dem Blute der Natter und in dem der Viper selbst ist ein solches Antitoxin
vorhandeu, da das auf 58° erhitzte Blutserum nicht allein bei Meerschweinchen
ohne Schaden injicirt werden kann, sondern diese auch gegen Viperngift immun
macht. Doch geht der Effect in einigen Tagen vorüber. SJ
Wenn man in früherer Zeit das Aussaugen der Verletzungen dnreh
Schlangenbisse als eine ganz ungefährliche Proeedur bezeichnet hat, weil das
Schlangengift nicht von Schleimhäuten resorbirt werde, so kann es doch Zustände
geben, die das Verfahren für den cs Ausübenden zu einem sehr gefährlichen
machen. Ein dies illustrirendes Beispiel ist ein von Hiuscuhokn beschriebener
Fall , wo bei einem früher immer gesunden Gensdarmen nach dem Aussaugen
einer dilatirten Bisswunde an dem Finger einer Bäuerin schon 10 Minuten nach-
her schmerzhafte Schwellung der linken Unterkiefergegend auftrat, die sich auf
Hals, Brust, Arm und Bein derselben Seite fortsetzte und Schwindel, Ohrensausen, Hin-
fälligkeit und später auch heftige tonische und klonische Krämpfe der linken Seite sich
einstellten. Noch nach vier Wochen traten derartige toxämische Spasmen, denen
Vertaubungsgefühl der linken Seite vorausging und die mit zeitweisem Aussetzen
der Athmung einhergingen, während das Bewusstsein nie völlig getrübt war und
die Pupillen zwar erweitert waren, aber auf Lichtreiz reagirten, auf und machten
eine fast vierteljährliche Bromkaliumeur nothwendig. Der Umstand, dass der
Kranke eine von einer Zahucxtraction herrührende noch nicht verheilte Zahn-
lücke hatte , erklärt die Erscheinungen uud weist darauf hin , dass der-
artiges Aussaugen vergifteter Wunden nur von solchen Per-
sonen ausgeübt werden darf, deren Mundhöhle keine Schleim-
hau tdefecte hat. Auch in einem englischen Falle von Verletzung durch
Vipernbiss sprechen die dabei beobachteten Erscheinungen für schädliche Wirkung
des Aussaugens. Der Arzt Bewks, dem das Unglück selbst passirte und der die
Verletzung am Finger sofort aussog und dann nach 10 Minuten mit Ammoniak
kautcrisirte , zeigte danach als erste Vergiftungserscheinung Schwellung der
Lippen, Zunge und der Sublingualdrüsen, die einen solchen Umfang gewann,
dass sic Schlucken und Articulation hinderte ; erst später kam es zu Schwellung
an Hand und Arm und zu entfernten, in Kolik, Diarrhoe und Strangurie be-
stehenden Symptomen.
Literatur: ') Th. Fraser, Tlte treatment of snalee jioisoning trilh antirei teme
derieed front animal« protected against s erpents re Hum. Brit. med. Joura. 17. August,
pag. 416. — a) Fraser, The relative toxicitg of serpent renoms. Pharm. Journ, and Trans-
actions 7. Sept., pag. 198. — *) Phisalix et Bertraud, Sur l’emploi du sang de njnre
et de couleurre eomme substance untirenimeuse. Compt. read. CXXI, pag. 74, 545. —
SCHLANGENGIFT. — SOPHORA.
579
4) A. Calmette, Au sujet du traitement des morsures de serpents venimeux par le
chlorure de chaux et par le sc rum antivbibxeux. Compt. rend. CXX, pag. 1443. —
*) Phisalix and Bertrand, Sur l’emploi et le mode d’action du chlorure de chaux
contre les mor eures des serpents venimeux. Compt. rend. CXXI, pag. 1295. — ®) Mac-
donald, Snake bite. Lancet. 21. September, pag. 763. — 7) Hirschhorn, Infection durch
Schlangengift per os. Wiener med. Presse. Nr. 30. — 0) Be wes, Viper bite , a personal
experience. Brit med. Joarn. 7. December, pag. 1422. Husemann.
Schweflige Säure, s. Inhalationstherapie, pag-. 284.
Scopolamin, s. Augenheilmittel, pag. 28.
Scrophuiaria. In der Gattung Scrophuiaria, nach welcher die die
Gattung Digitalis cinschliessendc Familie ihren Namen hat , scheint es toxische
Arten zu geben. van de Moer erhielt aus der gewöhnlichsten Art, Scrophu-
iaria nodosa L., giftige wässerige und alkoholische Extracte aus dem Samen
und aus der ganzen Pflanze. Sie wirkten bei Fröschen lähmend auf die Nerven-
centra und erzeugten zugleich Unregelmässigkeit des Herzschlages und schliess-
lich diastolischen, mitunter auch systolischen Herzstillstand. Nähere Untersuchungen
sind erwönscht.
Literatur: Van de Moer, Orer de gifiigheit ran Scrophuiaria nodosa.
Neederl. Tijdschr. voor Pharm., pag. 258. Husemann.
Serumbehandlung, s. Diphtherieheilserum, pag. 116.
Somatose, ein von den Elberfeid'sehen Fabriken in den Handel ge-
brachtes All)umo8enpräparat, welches 84 — 86% Albumosen, an Stickstoff 13,5%
enthält. Es liegen zahlreiche Berichte über die Brauchbarkeit des Präparates bei
Patienten mit Ernährungsstörungen vor. Thomalla verwendete es bei Typhus-
kranken in Verbindung von Milch , Milchsnppen , leichte Bouillon. Es entspricht
1 Grm. Somatose dem Eiweissgehalt nach 4 Grm. fettlosem geschabten Fleisch.
Die Typhuskranken haben 15 — 20 Grm. Somatose in obiger Form sehr gat
vertragen nnd verdaut. Bei Pneumonie eines Potators wurde die Somatoso in
Verbindung mit Wein oder Cognac gegeben. Kindern kann man dreimal täglich
einen Thcelöffel Somatose in die Suppe mengen. Auch kann man es zu 10%
dem Caeaopulver beimengen, umsomehr, als es den Geschmack der Speisen nicht
alterirt. I. Webee rühmt den Erfolg des Mittels in einem Falle von Ulcus, in
dem der Patient nach Aufnahme von fester Nahrung sofort Schmerzen bekam.
Bei Sängiingen mit Gastrointestinalkatarrhen, wenn Milch wieder erbrochen wird,
scheint Somatose in Hafergrützenabkochung ein recht brauchbarer Ersatz zu sein
Auf eine Kinderflasche von 250 Grm. Inhalt dürfen nur 1,5 — 2,0 Grm. Somatosc
verwendet werden. Saalfeld verwendete es erfolgreich hei einer Reihe von
Syphilisfällen beim Darniederiiegen der AUgemeinernährung. Die tägliche Dosis
waren 3 — 4 Theelöffel des Präparates. Eduard Reichmann hebt besonders her-
vor, dass die Somatose auf die Verdauungsorgane wegen ihres geringen Gehaltes
an Salzen (lediglich Fleisehsalze) nnd wegen des nahezu völligen Fehlens von
Pepton kaum reizend einwirke.
Literatur: Thomalla, Zeitschr. f. Krankenpflege. 1885. — I. Weber, Aerztl.
Central-An zciger. 1895, 17. — E. Saalfeld, Therap. Monalsh. Mai 1895. — E. Reich-
raann, Deutsche Med.-Ztg. 1895. 40. Loebisch.
Sophora. Neuere Untersuchungen von Pl.CGOB stellen fest, dass auch
die Samen den amerikanischen Sophoraarten , Sophora speciosa Benth. und
S. secundifl ora Lagasca (Virgilia secundiflora Cav.) gerade wie von
S. tomentosa L. (vergl. Encyclopädisehe Jahrbücher, III, pag. 664) Cytisin ent-
halten, das auch in der amerikanischen Papilionacee Baptisia tinctoria (so-
genanntes Baptitoxin von Schroeder) und in der javanischen Euchresta Ilors-
fieldii vorhanden ist. In den amerikanischen Sophoraspecies ist es sogar zu
3,23 und 3,37% vorhanden, so dass sich die Giftigkeit eines einzelnen Samens,
37*
560
SOPHORA. — .STREPTOKOKKENSERUM,
dessen Gehalt nahezu 0,03 Cytisin beträgt, recht wohl erklärt. Auffallend ist bei
dieser grossen Verbreitung des Cytisins in der Familie der Leguminosen, dass
verschiedene ostasiutische Species von Sophora davon frei sind , nicht blos die
wegen ihres gelben Farbstoffes bekannte S. japonica und deren Varietät S. japo-
nica pendula, sondern auch S. affinis und S. angustifolia. ln der bitteren
Wurzel der letzteren, die als Matari in Japan, als Kusham oder Kiusiu in China
als Arzneimittel dient, wies Xagai ein Alkaloid, von ihm Mat rin genannt, nach,
das der Formel Cu H2, X s 0 entspricht und weit schwächer giftig als Cytisin ist.
Literatur: Plügge, Over het voorkomen ran Cytisin? m cerschillende Papilio-
naceae. Neederl. Tijdschr. voor Geneesk., Nr 11, pag. -1 '6 ; Matrine, het alcaloid ran Sophora
angustifolia. Ibid., pag. 48(i; Over de identiteit ran Baptitoxine en Cytisine. Ibid., Nr. 'CI
pag. 109ö. Husemann
Spartein, bei Morphiumentziehung, pag. 441.
Spastische Spinalparalyse, s. Myelitis, pag. 490.
Specialitäten, s. Geheimniittel, pag. 216.
Spinalpunction, s. Lumbalpunction, pag. 375.
Stickhusten, Behandlung mit Inhalationen, pag. 287.
Stramonium, Blätter. s. Inhalationstherapie, pag. 283.
Streptokokkenserum. Dieses Heilserum wird von Makmobrck im
Institut PASTKl-lt von Thieren gewonnen, welche durch progressive Impfung mit
steigenden Gaben gegen Streptokokkeninfection immnnisirt worden sind. Die
Impfung geschieht mit besonders virulent gemachten Culturen , deren Virulenz
durch Aufzucht in einem Gemisch von menschlichem Serum mit Bouillon — diese
Mischung hat sich besser bewährt als thierisches Serum — und mehrfaches I)urch-
passiren durch lebende Thierkörper, wozu Kaninchen benutzt werden, bis zu
einem hohen Grade gesteigert ist. Von einer derartig gewonnenen Cultur tiidtet
ein Tausendmillionstel Cubikcentimeter ein Kaninchen mittlerer Grösse. Fm ein
gut wirksames Serum zu erzielen, war auch hier wie bei der Immuuisirung
gegen Diphtherie nöthig, bei den geimpften Thieren starke Heactionen zu erzeugen.
Jedoch ist es big jetzt noch nicht gelungen , Thiere nicht durch Verimpfung
lebender Culturen, sondern durch Kinführung von Streptokokkentoxinen in
den Körper zu immunisiren , da vorläufig noch kein hochwirksames Toxin her-
gestellt werden konnte. Von den auf diese Weise immunisirten Thieren — meist
Pferden, früher benützte man auch Schafe und Esel — darf das Blut zur Ge-
winnung des Serums erst in 3 — 4 Wochen nach der letzten Impfung entnommen
werden. Es hat sich nämlich herausgestellt, dass das Serum in den ersten Tagen
häufig noch infectiös ist und in den ersten zwei bis drei Wochen toxische Eigen-
schaften zeigt.
Die Injectioncu des Heilserums sind am wirksamsten, wenn sie vor der
Streptokukkenimpfung erfolgen. Man hat viel mehr Serum nöthig, um ein bereits
erkranktes Thier zu heilen, als um es präventiv zu schützen. 1 Ccm. des Serums
rettete ein Kaninchen , welches 3 Stunden vorher eine zehnfache tödtliche Dosis
erhalten hatte. Aber auch noch bis 5 Stunden nach erfolgter Impfung Hessen sich
schworst inficirte Kaninehen durch Injection von 5 Ccm. des Serums retten. Eine
lnjeetion von Heilserum 6 Stunden nach erfolgter lnfection war dagegen vergeb-
lich. Es sind also umso kleinere Dosen nöthig, und die Anwendung ist umso aus-
sichtsvoller. je früher dieselbe erfolgt.
Man dosirt vorläufig, ebenso wie beim Diphtheriehcilserum , nach
Immunisirungseinheiten. Als eine Immunisirungseinheit gilt nach Marmokeck die-
jenige Menge, welche, 12 — 18 Stunden vor der lnfection subcutan injicirt, aus-
reicht, um ein mittelgrosscs Kaninchen von 1500 — 1800 Grm. gegen die In-
fection mit einer zehnfach tödtlichen Menge einer Streptokokkencultur zu schützen.
Hiernach berechnet hatte Makmoreck zu seinen Versuchen ein Serum benützt.
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STREPTOKOKKEXSERUM. — STYPTICIN.
681
welches 7000 Immunisirungseinheiteu im C'nbikeentimeter enthielt. Jedoch hofft
Marmoreck, das Serum allmälig noch zu einem höheren Grade von Heilkräftig-
keit steigern zu können.
An Menschen wurden bisher in einer Reihe von Streptokokkenerkran-
kungen mit diesem Heilserum Versuche angestellt, so zunächst beim Erysipel.
Bei dieser Krankheit zeigte sich etwa 2 — 3 Stunden nach der Seruminjection ein
meist rapider Abfall des Fiebers, dem zuweilen ein leichter Temperaturanstieg
voranging. Nach 24 Stunden war meist die Temperatnr auf normaler Höhe und
verblieb, wenn die Injection früh genug erfolgte, auf ihr, ohne nochmals wieder
anzusleigen. Zugleich mit dem Temperaturabfall begann die locale Atfection sich
zu bessern, die Röthang zu schwinden, das Erysipel sich abzusrbuppen. Je nach
der Schwere der Infection , dem Momente des Einschreitens und der Menge des
angewandten Serums verlief die Besserung mehr oder weniger rasch (Chantemkssr).
Auch in Fällen puerperaler Infection, bei Phlegmonen und
Anginen, die auf Streptokokkeninfection beruhten, und neuerdings auch bei
Scarlatina wurden durch die Behandlung mit Streptokokkenserum Erfolge erzielt.
Jedoch sind bei allen diesen Krankheiten die bisher mit Heilserum behandelten
Fälle an Zahl noch zu gering, um jetzt schon ein abschliessendes Crthcil Uber
den Werth dieses Heilmittels zu gestatten. Jedenfalls sind die bisher mitgetheilten
therapeutischen Erfolge sehr vielversprechend und fordern zu weiteren Ver-
suchen auf.
Nach Injection des Sernms werden zuweilen, ähnlich wie nach den In-
jeetionen des Diphtherieheilserums , einige „Nebenwirkungen“: Erytheme,
urticariaartige Ausschläge, Schmerzen an der Injectionsstelle etc. beobachtet.
Besonders häufig treten diese nach der Injection von Serum anf, welches von
Schafen , die sich noch viel leichter als Pferde und Esel gegen Streptokokken
immunisiren lassen , gewonnen war. Es w erden daher jetzt Schafe nicht mehr
zur Gewinnung von Serum benutzt.
Das Heilserum ist bis jetzt in den Apotheken noch nicht zu haben.
Bei den Versuchen, Thiere gegen Streptokokken zu immnnisiren, ergab
sich die interessante Thatsache, dass Pferde, welche gegen Diphtherie immunisirt
waren , eine ganz bedeutende Unempfindlichkeit dem Streptococcus gegenüber
zeigten. Dieser Umstand dürfte vielleicht dazu führen, ein Heilserum gegen die
häufig zu beobachtende Mischinfection mit Diphtheriebacillen und Streptokokken
zu gewinnen. Diese für die Praxis äusserst wichtigen Versuche der „combinirten
Immunisirung“ werden gegenwärtig noch im Institut Psstecr fortgesetzt.
Kionka.
Stypticin, Patentschutzname (E. Merck) für Cotarninum hydro-
c hloricum , C,j Hls NOä + HaO.HG'l. Gelbe, in Wasser und Weingeist
leicht lösliche Krystalle. Wird das Opiumalkaloid Narkotin mit oxydirenden
Mitteln behaudelt, so zerfällt es in eine Säure, die Opiansäure und eine Base,
das Cotarnin. Letzteres ist nach seinem chemischem Bau nichts anderes als
ein Hydrastinin , in welchen 1 Atom Wasserstoff durch den Rest 0 . CHS (Oxy-
mcthyl) ersetzt ist. Diese Verwandtschaft des Cotarnins mit dem Hydrastinin
regte Gottschalk zur Untersuchung an , ob letzterem nicht ebenso wie dem
Hydrastinin blutstillende Eigenschaften zukommen. Er fand, dass das Stypticin
thatsächlich blutstillend wirkt und gegenüber dem Secale und der Hydrastis
cunadensin den Vorzug einer gleichzeitig schmerzstillenden, beruhigenden,
schwach betäubenden (schlafmnchcndcn) Nebenwirkung hat, welche gerade bei
dysmenorrhoischen Zuständen sehr erwünscht ist. Gottschalk empfiehlt das
Stypticin daher bei dysmenorrhoischen Zuständen , die durch starke menstruelle
Blutungen und Schmcrzunfälle während der Menses gekennzeichnet Bind, auch
bei profusen Hämorrhagien ohne pathologisch-anatomisch nachweisbares Substrat,
wie man sie in den Pubertätsjahren beobachtet , desgleichen bei klimakterischen
Blutungen und gegen Blutungen bei fungöser Endomcntritis. Myomblutungen
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582
STYPTICIN. — SUGGESTION.
werden, falls sie nicht durch einen Bubmucösen Polypen verursacht, ebenfalls
gestillt. Gute Erfolge sah Gottschalk auch in einigen Fällen von Blutungen
in Folge von Subinvolutio uteri puerperalis bei nichUtillendcn Frauen oder
nach Abortus, wo die Blutung nur durch reine Atonie, nicht durch Deciduareste
bedingt war. Hingegen muss das Mittel bei drohendem Abort geradezu vermieden
werden, da durch dasselbe Contractionen der Gefässwandung ausgelöst werden,
welche den Uterus anämisch machen, was sehr oft indirect zu Uteruscontraetiouen
Veranlassung gieht ; das Mittel dürfte daher auch bei Blutungen in der Schwanger-
schaft contraindieirt sein.
Falk spricht sich auf Grund toxikologischer Versuche aus theoretischen
Gründen gegen die Einführung des Colarnins in die Praxis aus. Die chemische
Verwandtschaft des Cotarnins mit dem Ilydrastinin berechtigte allerdings zur An-
nahme einer blutstillenden Wirkung, auch zeigen beide Körper eine analoge Wirkung.
Jedoch ein Mittel, das durch Gefässverengerung blutstillend wirken soll, muss
auch einen directen Einfluss auf die Gefässc oder auf das vasomctrische Centrnm
ausüben. Beide Wirkungen fehlen aber dem Cotarnin, zumal als primäre. Die
Blutdrucksteigerung, die bei ihm eintritt, ist seenndärer Natur, sie findet sich
nur, sobald eine Lähmung des Athmungscentrums beginnt und gewöhnlich erst
wenige Minuten vor dem Athmungsstillstand, wenn durch das an Kohlensäure
reiche Blut das vaBometrische Centrum gereizt wird. Diese secundäre Steigerung,
die nie eine wesentliche ist, ist also ein Zeichen der Vergiftung und nieht, wie
die durch Hydrastinin erzeugte, die unabhängig von Athemnoth auftritt, ein
Zeichen der medicamentögen Wirkung. Wenn anderseits, wie die zahlreichen
Beobachtungen von Gottschalk zeigen, das Stypticin dennoch bei Gebärmutter-
blutungen günstig wirkt, so muss die Ursache hierfür eine andere sein, vielleicht
eine Wirkung auf die Uterusmusculatnr.
Dosirung. Innerlich: Bei Hümorrhagien ist das Mittel 4 — 5 Tage
vor der zu erwartenden Regel 5mal täglich in der Dosis von 0,025 Grm. am
besten in Gelatineperlen zu verabreichen; in den ersten Tagen der Blutung 4- bis
5mal täglich 0,05. Bei starker Blutung empfiehlt sich subcutane Injection in
die Glutäalmusculatur. Rp. Stypticin i 1,0, Aq. destillatae 10,0. SDF. Täglich
2 Ccm. in die Glutäalmusculatur zu injiciren.
Literatur: Sigmund Gottschalk, Das Stypticin (Cotarninum hydrochloricumj
bei Gebürmuttorblutungen Therap. Monatah. 1895. pag. 646 — Edmund Fatk, Cotarninum
hydrochloricum (Stypticin). Aus dem pharmakologischen Institut der Universität Berlin.
Therap. Monatah. 1896, pag. 28. Loebisch.
Subconjunctivale Injectionen von Medicamenten , s. Augenheil-
mittel, pag. 27.
Suggestion, Suggestivtherapie. Die Literatur dieses Faches nahm
im verflossenen Jahre einen sehr bescheidenen Umfang ein , was sich wohl vor-
wiegend daraus erklärt, dass die Symptomatologie des Hypnotismus zum grössten
Theile abgeschlossen ist und nunmehr die Periode heranreift, in der die Forscher
ihr Hauptaugenmerk der exacten Analyse der einzelnen Phänomene zuwenden,
eine Aufgabe, die naturgemäss nur sehr allntälig ihrer Lösung zugeführt werden
kann. Einen sichtbaren Ausdruck erhielt dieses Bestreben dadurch , dass das
deutsche Fachblatt sein Arbeitsprogramm durch Einbeziehung der Psychophysio-
logie nnd Psychopathologie wesentlich erweiterte und zugleich vertiefte. Würden
die Grundsätze der Programmrede *) der „Zeitschrift für Hypnotismus“ zur allge-
meinen Richtschnur dienen , dann würden in Bälde die seichten Auffassungen
schwinden, welche gerade in der bisherigen Literatur gang nnd gäbe waren.
Wir wollen einige besonders markante Sätze hervorheben : „Jedes einzelne
hypnotische Symptom muss methodisch analysirt werden. Nach einer gründlichen
Analyse eines Phänomens ist die Erklärung seines Wesens dann aus jenen allge-
meinen Lehren zu deduciren, zu denen uns die physiologischen und ncuropbysio-
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SUGGESTION.
583
logischen Inductioncn fuhren. Eine derartig geschaffene Theorie des Hypnotismus
hat uns dann hinwiederum bei unseren svmptomatologischen Studien zu leiten,
die ihrerseits neue Stützen für unser psycho- und neurophysiologisches Inductious-
gebäude liefern müssen .... Eine methodische Symptomatologie, eine wissen-
schaftlich begründete Theorie des Hypnotismus wird erst des weiteren seine
völkerpsychologische Bedeutung , seinen juristischen Werth in’s rechte Licht
setzen Aber auch das Wechselverhiiltniss zwischen Hypnotismus und
Psychologie und Nerveupliysiologie macht sich noch weiter in der praktischen
Anwendung der Suggestionstherapie bemerkbar. Nur derjenige Arzt kann ein
guter Hypnotiseur werden, nur derjenige wird keine Schädlichkeiten bei der
therapeutischen Anwendung des Hypnotismus beobachten, der psychologisch ge-
schult ist.“
Es ist unleugbar, dass seit dem Emporblüben der Psychotherapie neue
kräftige Anregung zu einer mehr psychologischen Vertiefung des medicinischen
Studiums im Allgemeinen gegeben wurde; mit besonderem Nachdruck traten für
die Dringlichkeit dieser Frage kürzlich Forkl *) in seinem Essay „Der Hypno-
tismus in der Hochschule“ und Navratil s) in seinem flott geschriebenen Werk-
chen „Die Elemente der psychischen Therapie“ ein. Fokel ist der Ansicht, dass
die Beschäftigung mit der Suggestionstherapie die Brücke von der Medicin zur
praktischen Psychologie schlägt, denn gerade die Lehre vom Hypnotismus sei
in eminenter Weise dazu geeignet, den Zusammenhang der praktischen Medicin
mit der Psychologie darzuthun, und empfiehlt daher die Einführung der Sug-
gestionstherapie als Lehrfach, eine Forderung, die allerdings allerorten heftigen
Widerspruch erregen dürfte. Freilich würde eine Art von systematischen Unter-
richts auch der Technik des Hypnotisircns sehr zu gute kommen und andererseits
den Vorwurf R. W. Tatzei/s *) illusorisch machen , der neuerdings „dreist und
fest“ behauptet, die grösste Anzahl der Aerzte sei „nur“ deshalb Gegner des
Hypnotismus, weil sie ohne die nöthigen Vorkenntnisse einige vielleicht recht
ungeschickte Versuche gemacht hätten. Solche Vorwürfe verlieren zwar sehr an
Bedeutung , wenn sie von einem Autor kommen , der die BUhnenkunststUckchcn
eines Hansen mit den bahnbrechenden Leistungen der CHARCOT’schen Schule auf
eine Stufe setzt.
Von den psychologischen Analysen des Hypnotismus, welche im ver-
flossenen Jahre versucht wurden, steht unstreitig die Abhandlung Oskar VOGT’s l)
„Zur Kenntniss des Wesens und der psychologischen Bedeutung des Hypnotis-
mus“ am höchsten , wie sich aus den bisher erschienenen Abschnitten ersehen
lässt und bedauern wir, dass dieselbe zur Zeit wegen ihrer Unabgeschlossenheit
im Referate nicht berücksichtigt werden kann. Bergmann 6) warf in dem Artikel
„Ist die Hypnose ein physiologischer Zustand?“ die alte vieldiscutirte Frage
auf, welche die Nancyer Schute von der CHARCOT’schen trennt, und kommt zum
Schlüsse , dass die Hypnose nichts anderes sei als ein durch Verbalsuggestion
herbeigeführter passiver Ruhezustand des Gehirns, in welchem die Intensität der
eintretenden Vorstellungen eine so grosse ist, dass sie sich ohneweiters realisiren.
Die Hypnose sei identisch oder ähnlich dem normalen Schlafe und besonders
charakterisirt durch Steigerung der normal vorhandenen Suggcstibilität infolge
Ausschaltung der Gehirncontrole. Dasselbe Thema behandelte auch M. Hirsch7)
in der Abhandlung „Ueber Schlaf, Hypnose und Somnambulismus“. Dieser Autor
kommt im Gegensatz zu seinen früheren Anschauungen zu folgenden Resultaten.
Bei etwa 10% der Menschen ist Schlaf und Hypnose identisch. Es sind das
solche Individuen, welche beim ersten Hypnotisirungsversuch in tiefste Hypnose
verfallen und welche die Eigenthümlicbkcit haben , dass der Rapport auch in
ihrem Schlaf vorhanden ist. Der Schlaf dieser Personen , welche meist neuro-
pathisch veranlagt Bind, besitzt auch die Eigenthümlichkeit der Hypnose, näm-
lich einseitige Concentration der Aufmerksamkeit. Anders bei den übrigen. Hier
sei die Aufmerksam keit im Schlaf gleichmässig vertheilt, sie sei deshalb einer
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584
SUGGESTION.
Concentratinn und eines Rapports unfähig. Schlaf und Hypnose ist demnach bei
der Überwiegenden Mehrzahl nicht identisch. Die oben erwähnten 10% sind
zumeist Degenerirte, welche wahrscheinlich auch systematischere Träume haben.
In äusserst treffender Weise subsumirt Benedikt8) in seinem Werte
„Die Seelenkunde des Menschen“, welches ganz neue Perspectiven eröffnet? uni
Jedem , der sich mit Psychotherapie befasst , unentbehrlich ist, die hypnotischen
Phänomene unter dem Begriff „seelische Starrezustände“. Nach dem Verf. stellt
die Hypnose eine Form veränderten Seelenlebens dar, die durch „Gehirnstarre“
bedingt ist. Der idealste Zustand dieser künstlichen Starre sei jener, bei dem
im Augenblicke jede Erregung fehlt, aber die Erregbarkeit erhalten ist. Dann
gleiche das Gehirn einem in Bezug auf die Entwicklung und Leistungsfähigkeit
fertigen Kindergehirn, in das die Anregungen erst hingetragen werden. „Es
k (innen bei solchen Menschen zwangsweise Vorstellungen, Empfindungen und Be-
wegungen erzeugt werden, in denen nur jene Theile erregt werden, auf welche
der äussere Anstoss hinzielt und alle andern Theile, die stören oder hemmen
können, in Starre verbleiben.“
Einen ähnlichen Standpunkt nimmt Schaffer*) in seiner Studie „Sug-
gestion und Reflex“ ein. Seine Auffassung geht dahin, dass die Umsetzung jeder
auftauchenden Vorstellung in eine sofortige Handlung nur durch unmittelbare
Association geschehen könne, und da letztere nicht nur der Mechanismus der
Suggestion , sondern zugleich der Mechanismus des somatischen Reflexeg sei , so
stelle die Suggestion einfach einen psychischen , corticalen Reflex dar. Es ist
demnach nicht die Suggestion das cardinale Symptom der Hypnose, sondern
jene Veränderung des Associationsmcchanismus, welche in directcn, soge-
nannten primären Verknüpfungen sich mauifestirt. Die Suggestibilität ist die
psychische, sowie die neuro- und sensomusculäre Uebererregbarkeit, die soma-
tische Manifestation des eingeschränkten Associationsmcchanismus. Schaffeb’s
Arbeit ißt deshalb auch von grossem Interesse, weil sie davon Kunde giebt, dass
Forel’s 10) Nachruf auf die Schule Charcot’s, „dass es seit Charcot’s Tod mit
seiner Theorie des Hypnotismus sehr still geworden, und es darf wohl jetzt die-
selbe trotz einzelnem Aufflaekern als begraben betrachtet werden“, ein wenig
verfrüht war. Die sogenannten somatischen Phänomene , welche von der derzeit
dominireuden Lehre nur als Production der Suggestion aufgefasst werden, fanden
trotz Moll’s'i) bedeutsamen Ausspruchs, dass selbst 1000 negative Resultate
nicht im Stande sind , ein positives Resultat eines Beobachters, wie Chakcot es
war, nmzustossen, wenig Beachtung und wurden trotz Obersteiner “), Freud11),
HöGYES und Lacfenauer’S Bestätigung spöttisch in die Rubrik „Hypnotitme de
culture“ eingestellt. Die Untersuchungen, welche Schaffer an hypnotisirten Hysteri-
schen anstcllte, ergaben, dass es bei manchen Individuen möglich ist, durch tak-
tile oder sensorielle Reize die willkürliche Musculatur in hochgradige Contractur
zu versetzen, und zwar entstehen Reflexcontracturen von bilateralem oder hemi-
lateralem (gekreuzt oder gleichsinnig) Typus.
So erzeugte z. B. bei einem Individuum von hemilateralcm Typus die
neben das linke Ohr gehaltene Stimmgabel eine linkseitige Contractur; auf
Reizung der rechten Zungenhälfte (Salz oder Chinin) entstand rechtsseitige, auf
gleichzeitige Reizung beider Nasenlöcher (Essig) bilaterale Contractur etc. Die
merkwürdigsten Resultate ergab die Untersuchung mit optischen Reizen mittels
Perimeter (Kerzenflamme, weisses Papierblatt). Befand sich der Reiz in der
durch den gelben Fleck vertical gelegten Ebene oder in gewissen Entfernungen
von derselben, so erfolgte bilaterale Contractur. Wurde die am meisten periphere
nasale Netzhauthälfte des rechten und die am meisten periphere temporale Netz
hauthälfte des liuken Auges gereizt, so erfolgte eine exclusiv rechte Hemieon-
tractur, während der gereizte periphere Theil der temporalen Retina des rechten
und der nasalen des linken Auges eine rein linksseitige Hemicontractur provocirtc.
Da diese Reflexcontracturen in beständiger Form und gesetzmässig erscheinen,
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SUGGESTION.
585
so benutzt sie der Verfasser als Mass, um die Wirkung gegebener Suggestionen
zu beurtheilen. Es zeigte sich , dass auf gegebene positive und negative Sug-
gestionen dieselben Contraeturen eintraten wie nach den entsprechenden physio-
logischen Reizungen, wo jede Suggestion ausgeschlossen war.
So interessant die Arbeit Schakeer'S ist, so kann sie doch dem Ein-
wand, dass ihre Folgerungen im Verhältniss zur geringen Anzahl der Unter-
suchten etwas kühn sind , schwer Stich halten , doch wird sie zu weiteren
Forschungen in ihrer Richtung Anstoss geben , die möglicherweise das ge-
steckte Ziel: Beseitigung der antagonistischen Anschauungen von Nancy und
Paris erreichen.
Unter deu Autoren, welche an Stelle der bisher üblichen neue exactcre
Begriffsbestimmungen zu setzen bemüht sind, wäre >1. Hirsch '*) zu erwähnen.
Derselbe unterscheidet drei Stadien der Hypnose : den passiven Ruhezustand des
Gehirnes, welches der „Somnolenz“ Forel’s entspricht, die „Schlafillusion“, die
„Somnambul-Hypnose“. In das erste Stadium gelangen circa 25°/0, das zweite
erreichen 60%, das dritte 10% der Personen, 5% bleiben refraetär. „Captiva-
tion“ nennt er jene Zustände, in denen ein suggestibles Individuum eine Sug-
gestion bei wachem Bewusstsein annimmt. Die schwierige Aufgabe , den Begriff
„Suggestion“ scharf abzugreuzen, suchte William Hirsch in seiner polemischen
Schrift „Was ist Suggestion und Hypnotismus V“ zu lösen.
Mit Recht hebt er hervor, dass fast sämmtliche Autoren den Begriff
der Suggestion als etwas Bekanntes voraussetzend und entweder gar keine oder
eine Erklärung geben, die mit der Auffassung der übrigen in scharfem Wider-
spruch steht. Die Gleichstellung der Suggestion mit BeeinHussung sei nichtssagend,
BkRNHRi m’s bekannte Definition zu weit. Hirsch geht davon aus, dass zum Zu-
standekommen von Sinnesempfindungen mehrere Factoren nöthig sind, die er als
„physiologische Erreger“ bezeichnet, nämlich der Reiz an der Peripherie, die
centripetale Nervenleitung , die psychische Metamorphose dieses Vorganges und
ein centrifugaler psychischer Vorgang, die Aufmerksamkeit. Vorstellungen er
fordern eine Reihe complicirter psychischer Momente, nämlich vorausgegangene
Sinnesempfindung , Association , Gedäcbtniss und Urtheilsvermögen , die er zu-
sammen als „physiologische Erreger“ bezeichnet. In dem Verhältniss, in
welchem nun die Sinnesempfindnng oder die Vorstellung zu ihren „physiologi-
schen Erregern“ steht, findet der Verfasser das Charakteristicum der normalen
und der suggerirten Vorstellung. Seine Definition lautet nämlich: Suggestion ist
die Erzeugung von Empfindungen, Stimmungen und Vorstellungen, welche sich
zu ihren physiologischen Erregern in keinem adäquaten Verhältniss befinden.
Weiters, während für gewöhnlich Vorstellungen durch Sinnesempfindungen und
Wahrnehmungen gebildet werden, handelt es sich hier um Erzeugung von Wahr-
nehmungen und Empfindungen durch Vorstellungen. Abgesehen von einzelnen
Formulirungen , welche mit der hergebrachten Terminologie in Widerspruch
stehen , Hesse sich an dieser Definition aussetzen , dass sie die suggerirte Vor-
stellung, unbekümmert um ihre Genese mit der Wahnvorstellung, einfach iden-
tificirt, ferner auch, dass sie ein wesentliches Moment, die leichte Umsetzung der
Vorstellung in Handlung, nicht berücksichtigt. Wir finden die Definition, welche
Forel giebt und von Hirsch gar nicht in Erwägung gezogen wurde , bis jetzt
am treffendsten: „Als Suggestion bezeichnet man die Erzeugung einer dynami-
schen Veränderung im Nervensystem eines Menschen oder in solchen Functionen,
welche vom Nervensystem abbängen , durch einen anderen Menschen mittels
Hcrvorrufung der bewussten oder unbewussten Vorstellung , dass jene Verände-
rung stattfindet oder bereits stattgefunden hat oder stattfinden wird.“ Um den
Begriff der Suggestion von demjenigen der Beeinflussung des Menschen durcli
andere Mensehen, durch Gedanken , Lcctüre etc. abzugrenzen, fasst FOREI, die
Suggestion als intuitive Beeinflussung, eine Erklärung, der allerdings ein
etwas mystischer Beigeschmack anhaftet.
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586
SUGGESTION.
W. Hirsch fordert mit Recht eine strenge Trennung der Begriffe Sug-
gestion und Beeinflussung, da sonst nur höchst widerspruchsvolle Schlussfolge-
rungen bezüglich der Suggestibilität gezogen werden können. Berkheim und
Krafft-EbiNG gehören derselben Richtung an; Rie verfechten dieselben Principien;
sie werden von den Suggestionstherapeuten in gleicher \Vei6e als Autoritäten
in’s Feld geführt. Der Eine von ihnen Ragt: „Alles, was die Wirksamkeit der
Vernunft verringert. Alles, was die Hirncontrole unterdrückt oder schwächt,
erhöht die Suggestibilität.“ Der Andere hingegen ist der Ansicht, dass „je willens-
und denkkräftiger Jemand ist, umso leichter ihm etwas zu suggeriren sei, und
dass gerade „oberflächliche und bomirte“ Menschen schwer suggestibel seien“.
Bedarf es noch weiterer Argumente, nm die enormen Widersprüche dieser Lehren
aufzudecken ? Der Verf. vertritt die Ansirht, dass die Suggestibilität stets im
umgekehrten Verhältniss zur Willenstärke und geistigen Gesundheit steht, und
dass insbesondere Handlungen . die als posthypnotische Suggestion aufgefnsst
werden, soweit sie nicht Komödie oder Ausführungen infolge blinden Gehorsams
sind , auf schwere geistige Erkrankung hinweisen. „Alle Bestrebungen , welche
darauf gerichtet sind , die Suggestibilität eines MenRchcn zu erhöhen , müssten
als schädlich bezeichnet werden.“ Wenn wir auch den entschiedenen Standpunkt
des Verf. eingehender hervorheben, so wollen wir damit nicht etwa die Neuheit
desselben kennzeichnen, da alle diese Thaten viel markanter in der vielbefehdeten
Schrift Bf.nedikt’s ,#) „Hypnotismus und Suggestion“ längst vertheidigt wurden,
wo der Satz „Hypnotismus ist eine Versetzung in einen minderwertbigen
Zustand“ durch Beispiele illustrirt wurde. Immerhin ist es werthvoll, diese
Grundsätze nochmals zusammenfassend hervorgehoben zu haben, umsomehr alt
von mancher Seite kein Bedenken geäussert wird , die Suggestion auch auf
pädagogisches Gebiet zu übertragen. Mit diesem Streben, welches Sommer gelinde
als Utopie bezeichnet, beschäftigen sich P. F. Thomas ”) und Tyko Brunnbebg. ,ri
Des letzteren Schrift „Die Bedeutung des Hypnotismus als pädagogisches Hilfs-
mittel“, geschmackvoll mit dem Thema „Menstruationsstöruugen und ihre Be-
handlung mittels hypnotischer Suggestion“ zusammengestellt, wurde von R. T atz KL
aus dem Schwedischen übersetzt. Obzwar auch in dieser Schrift die farblose
Auffassung der Suggestion als psychische Beeinflussung vorherrscht , da nach
dem Verf. daR ganze psychische Geschehen als eine zusammenhängende Reibe
natürlicher Suggestionen betrachtet wird , so ist dennoch die hypnotische Sug-
gestion als pädagogisches Aushilfsmittel vorgeschlagen in Fällen, wo die physio-
logische Pädagogik nicht ausreicht. Es ist mehr als wahrscheinlich , dass der
„pädagogische Hypnotismus“ noch bei weitem grösseren Widerstand finden wird
als der therapeutische, schon aus psychologischen Gründen.
Die criminelle Bedeutung der Suggestion fand mehrfache Erörterung
pro und contra , insbesondere als Nachhall des Münchener Proccsses Czynski-
Zedlitz, auf dessen eingehende Darstellung im vorjährigen Berichte vor Allem
verwiesen sein soll. Zur Ergänzung seien noch einige Stimmen angeführt, welche
dem Falle klärende psychologische Beleuchtung zutheil werden Hessen.
Dahin gehört die Aeusserung Benkdikt’s 1s), welcher, ausgehend von
der Ansicht, dass man durch Suggestion Niemanden zu einem wirklichen Ver-
brechen und überhaupt zu einem zusammengesetzten Denken und Fühlen oder
zu einer zusammengesetzten Thätigkeit verleiten könne, die criminelle Bedeutung
des Hypnotismus völlig in Abrede stellt. In diesem Processe habe es sich nicht
etwa um die Frage, ob durch eine gewaltsame Schändung in der Hypnose, wie
sie Vorkommen könne, ein Verbrechen gegen die Sittlichkeit begangen wurde,
gehandelt, sondern es sei vorausgesetzt worden , dass man einer hypnotisirten
Person Liebe gegen ihren Willen suggeriren und sie so in einem posthypnoti-
schcn Zustande ihres freien Willens berauben kann. Nach dem Verf. müsse jeder
Menschenkenner zugeben , dass der Geschlechtstrieb so innig mit dem ganzen
Netze des Denkens, Fühlens und der Thätigkeit verknüpft ist, dass auch ein
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SUGGESTION.
587
Shakespeare als Hypnotiseur nicht alle Anreize und Hemmungen kennen würde,
um sie durch Suggestion zu wecken , beziehungsweise wegznschaffen. Der Fall
lässt sich, ohne Zuhilfenahme der Suggestion, viel ungezwungener psychologisch
beleuchten und manches, was unmotivirt erschien, wird füglich seines mystischen
Charakters beraubt, wenn man ein wenig Menschenkenntnis an wendet, Rtatt
durch die Brille suggestiver Voreingenommenheit zu blicken.
Benedikt schildert den Fall folgendermassen: „Eine Dame in der Nähe
der klimakterischen Jahre, die vielleicht manchesmal im Leben von Liebesgluth
durchwärmt war, ohne dass ihr ein Sonnenstrahl des Genusses zuthe.il wurde,
leidet an einer Nervosität, für die wir Aerzte das Heiraten als specifisches Heil-
mittel verordnen , ohne dass es in unserer Macht liegt, dasselbe zu dispensireu.
Sie ist spiritistisch infirirt, mit spiritistischen Geruchshallucinationen behaftet, und
es zeigt von der Unklarheit ihres Geistes, dass sie sich sträubt, Spiritistin zu
sein und sich „Spiritualistin“ nennt. In dieser Verfassung erscheint ein Markt-
schreier und ganz gemeiner Hochstapler, der eine für sie neue Curart , den
Hypnotismus und die Suggestion anuoncirt. Die Dame vertraut sieh ihm , den
sie für einen Arzt hält, an, und er hypnotisirt sie zweifellos und bringt ihr
Erleichterung. Der Grad der erreichten Hypnose erzeugt keine Bewusstlosigkeit
und Gedankenstarre , sondern bloss eine tiefe Erschöpfung und Unbeweglichkeit
der Muskeln, also einen Grad , der auch nach meinen Erfahrungen bedeutende
Erleichterung zu erzielen im Stande ist. Die Verbindung zwischen einem Heil-
erfolge und demjenigen, der ihn hervorruft, ist ein inniges seelisches Band, und
darum tritt, wo überschüssiger und unverbrauchter sexueller Beiz vorhanden ist,
auch dieser in die Combination ein. Die Uebersetzung dieser Seelencombination
in’s Praktische verhinderte für die Patientin in unserem Falle anfangs die That-
sache, dass Czynski verheiratet war. Als dieser Abenteurer aber merkte , dass
er nicht ohne Eindruck blieb, machte er, um sein abenteuerliches Lebenschiff in
einen sicheren Hafen zu lenken, einen Liebesantrag , deutete die Möglichkeit
einer Verbindung an , und fasste das mystisch angehauchte Opfer mit einem
modernen Schlagworte: der „Seelenrettung11. Czynski hat in der „Societe des
Sciences esotheriques“ die Philosophie der Knrtenaufschlägerinnen mit mystischen
Emblemen aus Indien und Egypten kennen gelernt und insinnirte als indische
verlorene Seele „Punar Bhava“ seine „Utsarpini“, seine Seelenerrettung. Er ver-
steht es, sein Opfer in eine Chambre separtV zu locken, zu Falle zu bringen und
im Vollgefühle als sexueller Athlet ist er seiner Sache für alle Zukunft sicher;
denn ein Mann, der mit der Farbengluth voller sexueller Befriedigung und mit
dem Anreize immer neuer Genüsse in das Seelenleben eines Weibes eingetragen
ist, wird aus demselben nie mehr herausgeschwemmt. Das ist Naturgesetz , das
die Erfahrung unter oft unglaublich scheinenden Verhältnissen immer bestätigt.
Es ist also psychologisch vollständig klar, dass das Opfer Czynski’s, auch nach-
dem die Trauungscomödie entlarvt war , an dem Betrüger hing. Die Freuden
der „dtlices de la nuit“ konnte ihr der Vater und der Bruder nicht ersetzen.
Sie ahnte, dass sie getäuscht wurde, aber die verbotenen Früchte waren ihr
süsser als die von der gesellschaftlichen Ehre ihr gebotenen Entbehrungen
derselben.“
William Hiilsch*0), welcher die Frage, ob geistig gesunde Menschen
ihrer freien Willensbestimmung durch suggestive Einflüsse beraubt werden könnten,
in seiner Schrift „Die menschliche Verantwortlickeit und die moderne Suggestions-
ichre“ behandelt, meint, dass in dem ProcesB Czynski der Abs. 2 des § 176 nur
dann hätte in Betracht kommen dürfen, wenn man annahm, dass es sich nm
eine geisteskranke Person handelte. Die Schuldfrage hätte lediglich von der Con-
statirung der Schwachsinnigkeit der Baronin , für welche allerdings mancherlei
Gründe sprächen , abhängig gemacht werden sollen. „Würde man andererseits
annehmen, dass die Baronin geistig gesund sei , so hätte Czynski weiter nichts
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588
SUGGESTION.
gethan als Liebe geheuchelt, um sieh dadurch Vortheile zu schaffen, eine Hand-
lungsweise , wie sie täglich vorkommt , wie sie Jeder vollfuhrt , der sich ohne
Liebe aus materiellen Interessen um ein Mädchen bewirbt und zur Erreichung
seines Zieles Liebesempfindungen simulirt.“ Nach Hirsch wäre in derartigen
Fällen zu entscheiden, ob man es mit einer Erotomanie oder mit einer suggerir-
ten Liebe zu thnn hat. Gegen erstere spricht im Falle Zedlitz die ganze Art
des Verhaltens, die Betheiligung des sexuellen Triebes, sowie der Umstand, dass
sich schliesslich nach endlicher Erkennung des Betruges die Liebe in Abneigung
verwandelte; ein suggerirter Liebeswahn ist aber deshalb ausgeschlossen , weil
dieser sich nur in ganz vorübergehenden Aeusserungen manifestirt, niemals cotn-
plicirte und systematisirte Handlungen zur Folge hat und sich keineswegs über
eine Reihe von Monaten erstreckt. Wahrhaft überzeugend beruft sich der Verf.,
wenn man das Unmotivirte dieser Liebe als Beweisgrund für die Annahme einer
pathologischen Liebe benützen will , auf die Scene zwischen Richard III. und
Anna : „Oer Mörder des Vaters und des jungen Gatten naht der Trauernden.
Sie flucht dem Verhassten, sie speit nach ihm — und doch, wie schnell gelingt
es ihm , durch erheuchelte Liebesbetbcuerungen sie umzustimmen , ihr Herz zu
erweichen. Hat vielleicht Shakespeare hier den Hypnotismus schildern wollen,
oder war cs die Absicht des grossen Menschenkenners, ein Bild der weiblichen
Seele zu liefern?“
Auch zu Pbeykr’s „merkwürdigem Fall von Faseination“ wurde mehr-
mals Stellung genommen , da dieser beweisen sollte , dass es durch die grosse
Macht des fascinirendcn Blickes und der Wachsuggestion gelingen könne, geistig
gesunde Menschen ihrer freien Willensbestimmung zu berauben. Es handelte sich
um eine junge Frau, welche drei Jahre in glücklicher Ehe mit einem Herrn von
Porta lebte. Während dieser Zeit stand das Ehepaar in sehr freundschaftlichem
Verkehre mit einem Herrn l’ander und dessen Gattin, mit denen Herr von Porta
bereits vor seiner Ehe befreundet war. Nach Ablauf dieser Zeit bewegt Pander,
welcher Ellida, der jungen Gattin Porta’s, in sehr eigentümlicher Weise Liebes-
erklärungen machte, dieselbe wiederholt zu Zusammenkünften, wobei die Ehefrau
Pander’s vermittelte. Hierbei gelingt es Pander, die anfaugs widerstrebende junge
Frau durch unaufhörliche Drohungen, dass er ihretwegen einen Selbstmord ver-
ülien wolle, sowie durch fascinirende Blicke so unter seinen Einfluss zu bringen,
dass sic schliesslich mit ihm entflieht, ohne eine Ahnung davon zu haben, wohin
es ginge. Ohne irgend welche Vorliereitungcn reisen sie nach Madagaskar, wo
sie ein halbes Jahr verweilen und sich mit dem Sammeln von Natur- und Kunst-
productcn beschäftigen. Nach Deutschland zurückgekehrt, trennt sich Ellida unter
dem Einflüsse ihrer Mutter von Pander für kurze Zeit, jedoch nur, um bald darauf
neuerdings der mystischen Gewalt Pander’s zu unterliegen , der sie zur Flucht
nach England und zum Eingehen einer Civilehe mit ihm zwingt. Während der
fünf Jahre ihrer gegenseitigen Beziehungen soll es niemals zu sexuellem Verkehr
gekommen sein. Sie lebten „in getrennten Stuben“ wie „Bruder und Schwester“
nur ihrer „idealen Liebe“. Als sic hierauf England verlassen hatten und wieder
nach Deutschland zurückgekehrt waren, trennte sich Ellida neuerdings von Pander
und traf in Heidelberg mit ihrer Mutter zusammen. Daselbst wurde sie von einem
„redegewandten Assistenzarzt“ in vierzehn , mehr als zweistündigen Gesprächen
innerhalb einer Woche von der Furcht, dass Pander 6eine Drohungen, im Falle
der Trennung einen Selbstmord zu begehen, zur Wahrheit machen werde, geheilt
Sie halte den Glauben an ihn verloren, weil er sich trotz seiner Schwüre nicht
erschossen hatte. Als Pander, der inzwischen sechs Wochen in einer Irrenanstalt
verweilen musste , weil er durch sein sonderbares Benehmen , seine unverständ-
lichen Anzeigen in den Rheinischen Zeitungen Befremden in weiteren Kreisen
erregt hatte, die junge Frau auf dem Niederwald bei Rüdesheim in Begleitung
ihrer Mutter wieder antraf, hatte er jeden Einfluss auf sie verloren. Frau
Digit
Google
SUGGESTION.
589
von Porta glaubt nicht mehr an ihn and seither Hess er von seinen Nach-
stellungen ab.
Preyeb veröffentlichte diesen Fall, um „die grosse Macht des fascinirenden
Blickes nnd der Wachsuggestion“ , sowie deren „willenlähmenden Einfluss“ zu
beweisen und hebt nachdrücklichst hervor, dass keine der betheiligten Personen
weder im Sinne des Gesetzes noch nach ärztlichem Urtheil geisteskrank ist. Selbst
Pander blieb während seines secbswöchcntlichen Aufenthaltes in der Irrenanstalt
vollkommen unauffällig. Von den zahlreichen Episoden, in denen der fasciuirende
Blick eine grosse Rolle gespielt haben sollen , wollen wir eine erwähnen und
verweisen sonst auf Pkeyer’s interessantes Buch. So beschwor Pander Ellida eines
Tages , ihm zu sagen , dass sie ihn lieber habe als Karl , ihren Gatten. Ihre
Weigerung versetzte ihn in die höchste Erregung. „Also, Sie wollen mich dem
sicheren Tode überantworten“, schrie er verzweifelt, „Und weshalb? Weil Sie
das kleine Wort nicht sprechen wollen , um das ich Sie bat , darum lassen Sie
einen Menschen untergeben!“ Sie blieb standhaft und entgegnetc: „Sie können
doch unmöglich von mir verlangen, dass ich Ihnen sagen soll, ich hätte Sie lieber
als Karl, nachdem ich bis jetzt das Gegentheil behauptet habe.“ Da aber gerieth
er in masslose Erregung und rief: „Gewiss will ich das! Ich bitte Sie kniefällig
darum , und wenn Sie es tausendmal nicht glauben , ich bitte Sie trotzdem,
sprechen Sie es aus oder l*i Gott, das schwöre ich ihnen, Sie sind noch nicht
zur Thür hinaus und ich existire nicht mehr.“ Während er sie mit „starrem
Blick“ anstierte, sprach die von Angst erfüllte Frau die Worte: „Ich habe Sie
lieber als Karl.“
W. Hirsch vertritt in seiner obgenannten Schrift, in der er auch diesen
Fall eingehend analysirt, die Ansicht, dass es sich bei Pander um einen ganz
typischen Fall von Erotomanie handle, während der Fran von Porta psychische
Minderwertigkeit zugesprochen werden müsste. Aus den hypnotischen Versuchen,
welche Preyer mit ihr anstellte, geht hervor, dass Bie infolge ihrer psychischen
Schwäche ausser der enormen Impressionabilität nnd Leichtgläubigkeit einen ausser-
ordentlichen Grad von Suggestibilität besass. Er hält die Vorkommnisse, wie sie
von Preyer geschildert werden, mit geistiger Gesundheit filr unvereinbar. „Weder
die Handlungen Pandcr's, noch die der jungen Frau von Porta entsprechen dem
Verhalten geistesgesunder Menschen.“
In wesentlich anderer Beleuchtung erscheint der ganze Sachverhalt hin-
gegen in der Darstellung, die ihr Benedikt11) widmet und es gewinnt dieses
Urtheil umso mehr an Werth, wenn man vernimmt, dass dieser Autor Gelegen-
heit hatte, die eine Hauptperson, Ellida, persönlich kennen zu lernen. Nach
Benedikt ist von einem psychopathischen Zustande bei den Personen in der
pREYER’schen Geschichte so wenig die Rede als von einer Beeinflussung durch den
mechanisch-hypnotischen, fascinirenden Blick. Pander ist ein komödiantenhafter
Geck , der durch Gesten und Posen die Aufmerksamkeit auf seine Person zu
lenken weiss , dessen Handlungen von purer Eitelkeit dictirt sind. „Vor Allem
aber liebt er mit einer Art Leidenschaft das Ränkeschmieden, er ist ein geborener
„Ränkeschmied“ , der jene merkwürdig verlogene und intriguirende Species von
Hysterischen vertritt, die Unheil und Unfrieden in jeden Kreis hineintragen, in
dem sie erscheinen. Eine gewisse sentimentale Reizbarkeit macht den Eindruck
von Gefühl, Virtuosität im Lügen and im Heucheln benebelt die Erkcnntnisssinne
der Umgebung, bis Thaten und Vorgänge einen erschreckenden Einblick in
den seelischen Schlammkrater gewähren. Die Haupttaste auf der Claviatur, auf
der er mit dem Glücke und dem Frieden seiner Umgebung spielt, war der Er-
fahrungssatz. dass man mit schwachmüthigen Menschen, die keiner errettenden
Erregung und keines Entschlusses fähig sind, thun kann, was man will, wenn
man sie fortwährend auf die Schneide von Situationen versetzt, aus denen sie
sich nur durch Willenskraft retten können. Pauder hat etwas vom phantastischen
690
SUGGESTION.
Zigeuner an »ich. Unruhig, zu einer andauernden, ernsten Berufstätigkeit un
fähig, wanderlustig, erregte er den unbestimmten Eindruck eines ungewöhnlichen
Menschen. Schon als Ellida Braut war, wusste er ihre Aufmerksamkeit durch eine
fizirende Gafferpose an sich zu ziehen, die später als .Fascination durch den
Blick“ aufgefasst wurde. Ellida hat ein Gehirn ohne selbstproducirenden Inhalt. Sie
hat geheiratet und hat geboren, sie hat mit Pander als Frau und nach der Scheidung
vom Manne jahrelang ein Verhältnis gehabt, aber sie hat nie geliebt ! Sie ist nie
corrupt gewesen, aber sie hat gelogen, geheuchelt und intriguirt .... Xcben
dem temperamentlosen Porta wird sie von dem temperamentvollen Schwätzer
Pander iropressionirt. Jedes lebende Gewebe hat eine Spannung nach aussen, einen
Drang zur Function. Auch das träge Hirn Ellida's ist von der Spannung nicht
frei und Pander beutet diese Spannung aus. Ihn intriguirt es , dass ein schönes
Weib einen Andern lieber haben soll als ihn. Er spielt die Komödie des feurigen
Liebhabers und erzwingt durch Drohung mit Selbstmord und Mord , von Ellida
die Aussage, dass sie ihn lieber habe als ihren Mann. Er hat Ellida nie geliebt
und Ellida ihn nicht. Seine Eitelkeit und Ränkesucht treiben ihn zur Liebes-
komödie, und ohne Sympathie für ihn spielt das gelangweilte Gehirn Ellida's
aus Drang zur Function den Liebesroman ab. Unter dem Einflüsse der lutrigue
und des Intriguanten lügt, heuchelt und betrügt Ellida, sie bricht ihr gegebenes
Wort zum wiederholten Male, nicht auf der Grundlage eigener Verworfenheit aus
sieh heraus, sondern hauptsächlich aus innerer, angeborener Widerstandsschwäche
gegen äussere Anstösse.“
Diese Probe der Charakterisirung , welche Benedikt auf alle Personen
des Dramas ausdehnt, mag genügen, um zu beweisen, wie leicht es ist, scheinbar
verwickelte psychologische Probleme zu klären , wenn man ans einem Born von
Menschen- und Weltkenntniss zu schöpfen itn Stande ist. Freilich, die Zuhilfe-
nahme mystischer Erklärungsgründe ist noch leichter und bequemer!
Von den bisherigen Processen, in denen der Hypnotismus eine Rolle hätte
spielen sollen: es sind dies die Fälle Bompard in Paris, Czynski in München.
Mac Donald im Staate Cansas und der Minnesota-Fall, ist es kein einziger, wo
dies auch thatsächlich erwiesen werden konnte. Ueber die beiden letzteren
finden sich mehrere interessante Gutachten in dem Organe der New-Yorker Medice-
Legal Society. *’)
Im Processe Gray-Mae Donald gab die ausserordentliche Thatsachc, dass
nur der intellectuelle Urheber der Mordthat verurtheilt wurde, Anlass zu der in
der Tagcspresse vertretenen Meinung, dass das gerichtliche Urtheil auf der An-
nahme stattgefundener hypnotischer Suggestion basire. Diese Auffassung wurde
aber vom Obergerichte ausdrücklich zurückgewiesen. Ebenso sprach sich ein fran-
zösisches Gericht vor Kurzem in einem Erbschaftsproccsse , wo ein Magnetiseur
beschuldigt war, durch Suggestion eine Witwe derart beeinflusst zu haben, diss
sie ihre Testament zu seinen Gunsten abfasste, dahin aus, dass die Hypnose noch
nicht den wissenschaftlich undiscutirbaren Charakter erworben habe, der gestatten
würde, daraus die Grundlage für ein richterliches Urtheil zu machen.11)
Von den Verfechtern der criminellen Bedeutung der Suggestion wären
Likbault1*) und J. P. Durand16) (de Gros) hervorzuheben, welche den Angriff
Dklboeuf’s, dass die durch Suggestion herheigeftlhrten Verbrechen .Laboratoriums-
Verbrechen“ seien, zurückzuweisen trachten. Letzterer vertritt die Ansicht, dass
dem Hypnotiseur unbeschränkte Gewalt über Gefühle. Ideen und Beschlüsse des
Ilypnotisirten zukomme.
Die therapeutische Verwerthung der Suggestion fand eine zusammen-
hängende Darstellung durch C. Lloyd Tuckky •*), dessen „Psychotherapie“ von
Ta TZ KL aus dem Englischen übersetzt wurde. Tuckky steht auf dem Standpunkte
der Nanever Schule, nur spricht er sieh für eine möglichst isolirte Behandlung
der Patienten aus. Von seinen Erfolgen giebt folgende Zusammenstellung Zeugniss.
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SUGGESTION.
591
Unter 96 Kranken wurden 40 geheilt, 35 gebessert, 20 blieben unverändert.
Davon entfielen auf:
Geheilte
Gebeanerte
l’ngeheilte
8
Fälle
von
chronischem Alkoholismus
4
l
3
1
Nicotin ismus
1
—
—
2
krankhaften Einbildungen
1
1
—
7
a
Hypochondrie
1
3
3
4
schlechten Gewohnheiten
2
2
—
1
Melancholie
—
—
1
8
Neurasthenie
3
4
1
5
Schlaflosigkeit
. 3
2
—
1
krankhaftem ErrÖthen
.
—
1
2
Migräne
1
1
—
9
verschiedenen chronischen Neuralgien
4
3
2
2
Epilepsie
—
1
1
4
n
functioneilen Lähmungen
2
1
1
1
Hvstero-Epilepsie
1
—
—
3
*
Schreibkrampf
1
1
1
2
r
Stottern
.
2
—
2
allgemeiner Chorea
.
—
2
6
n
n
Dyspepsie
4
2
—
4
unregelmässiger Verdauung
. 3
1
—
3
Enuresis
2
—
1
8
Menstruationsanomalien
5
3
—
3
chronischem Rheumatismus
2
1
—
2
Sklerose
—
—
2
2
Tabes
.
2
—
1
Hirntumor
—
—
1
2
n
Apoplexie
—
2
—
2
n
»
Kinderlähmung
—
2
—
Bechterew a7) erörterte die Bedeutung
der Hypnose und
fand einen
besonders günstigen Einfluss bei Nervenleiden, die nicht durch organische Läsionen
bedingt sind , z. B. hysterischen Convulsionen, Paralysen und Contracturen, bei
Parästhesien , Hyperästhesien und Neuralgien , allgemeiner Nervenerregbarkeit,
Schwindel, Kopfschmerz, Alterationen der Herz- und Athmungthätigkeit, nervösem
Asthma, Erbrechen, Enuresis nocturna, Appetit- und Schlaflosigkeit, Menstruations-
störungen. Besonders bemerkenswert!! sind unter seinen angeführten Beispielen
die wenigstens zeitweilige Beseitigung von krankhaften Trieben (Alkoholismus,
Kleptomanie) und von Zwangsvorstellungen. Namentlich bei letzteren soll die
Hypnose die besten Resultate geben.
Dagegen empfehlen andere Autoren , wie Galdi Rakfaeli ä8) , die in
jedem Falle modificirte Wachsuggestion. Dieser Autor berichtet über einen Fall
von hysterischer Psychose. Die Kranke hatte die fixe Vorstellung, dass sie nur
durch einen „Spiritisten“, der ihr die Schlangen aus dem Körper nehme, geheilt
werden könnte und genas auch thatsächlich dadurch, dass eine als Zauberer ver-
kleidete Person allerlei Hokuspokus trieb und ihr bei magischer Beleuchtung
endlich eine im Aermel verborgene Eidechse aus dem Munde zog.
Ueber den Grad und die Tiefe der anzuwendenden Hypnose schwanken
die Autoren, doch rüth Grossmaxn zur oberflächlichen Hypnose, weil sich der
Therapeut sonst eines mächtigen Factors zum Gelingen der Cur begebe, der Mit-
hilfe des Patienten. Sehr empfehlenswert)! ist ferner die Mahnung Ringier’s a“),
durch die Suggestion nicht, wie es meist geschieht, das Denken auf ein Symptom
zu concentriren, sondern im Gegentheil durch Erklärung des ganzen Zusammen-
hanges der Einwirkung des angewöhnten falschen Denkens mit dem Leiden das
selbe abzulenken.
T atz ki, »°) sieht die Ursache der ihm rüthselhaft erscheinenden That-
sache , dass der Werth des therapeutischen Hypnotismus noch immer so sehr
verkannt wird, trotz der glänzenden Berichte Liebault’s, Bernheim's, Wettkr-
straxd’s, Forel’s u. A. lediglich darin, weil die meisten Aerzte nicht einsehen
wollen, dass mau den therapeutischen Hypnotismus wie jede Kunst erlernen muss,
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592
SUGGESTION.
und weil sie sich ohne die nöthigen Vorkenntnisse nach einigen vielleicht recht
ungeschickten Versuchen an die schwersten Fälle heran wagen. So berechtigt
manche seiner Bemerkungen sind, darf doch nicht übersehen werden, dass gerade
unter den heftigsten Gegnern der therapeutischen Verwendung der Hypnose Männer
sind, welche sich seit langer Zeit und früher als einige der derzciten Verfechter
mit dieser Art der Therapie beschäftigten. Wie sehr eg auch auf das Milieu an-
kommt, beweist wohl nichts mehr als eine kürzlich gefallene Aeusserung
v. Khafft-Ebing’s *>), die ein recht interessantes Licht auf den absoluten Werth
der Suggestionstherapie wirft: „Am allerfatalsten ist es, wenn der hypnotische
Eingriff absolut wirkungslos bleibt — die besonders leichte und jeweils zu ge-
wftrtigende Hypnotisirbarkeit hysterischer Kranker trifft nach meinen Erfahrungen
keineswegs zu — womit der Arzt nothwendig empfindlich an seinem Prestige
dem Kranken gegenüber einbfisst, oder wenn bei jedem hypnotischen Versuch der
Kranke darauf mit neuerlichen Anfällen seiner Krankheit reagirt und innerhalb
solcher hypnotischer Beeinflussung gegenüber erst recht sich refraetär zeigt. Solche
Erfahrungen sind in den letzten Jahren in meiner Klinik geradezu die Regel.
Zum Theil lassen sie sich auf durch vermeintlich autoritative, den Unwerth und
selbst die Gefahr hypnotischer Behandlung behauptende Suggestionen, welche dem
Wiener Publicum zutheil wurden , zurückführen. Jedenfalls besteht in dieser
Hinsicht ein grosser Unterschied zwischen Wien und Nancy !“ Ausserdem darf
auch nicht übersehen werden , dass mancher der angeblich schönen Erfolge auf
ein Minimum zusammenschrumpfen würde, wenn eine genügend lange Beob-
achtungszeit zum Massstab der Beurtheilung angewendet würde, was nament-
lich bei Füllen von Morphinismus und perversen Trieben gilt. Bcispielweise ist
die Beobachtungszeit ia den bisher von v. Schrknck-Notzing *j) veröffentlichten
Fällen von conträrer Sexualempfindnng, bei denen so überraschende Erfolge an-
geführt werden, dass sich der Autor sogar gegen die Ansicht v. Kkafft Ebinu’S
über die Genese der Perversitäten aussprechen zu dürfen glaubt, viel zu kurz.
In der That kommt auch ein anderer Autor51) in verwandten Fällen zu einem
anderen Rcsumö.
Von den erfreulichen Resultaten der Suggestionstherapeuten wären
namentlich die Erfolge bei Byaterin yravis (2 Fälle v. Krafft-Ebixg's), bei
chronischen Gelenksaffectioncn (Grossmann *‘) und die Heilung von chronischem
Morphinismus, Cocainismus und Chloralismus (Wkttf.rstkand 5I') bemerkenswerth.
Grossmaxn 54) behandelte eine Reihe von Fällen chronischer Gelenks-
krankheiten , besonders gichtischer und rheumatischer Natur, suggestiv mit so
ülierraschcndem Erfolge, dass nach seiner Meinung nicht blos von symptomatischer
Therapie die Rede sein kann. Er beseitigte nicht allein den Schmerz, sondern
auch die Schwellungen. Durch Wegsuggeriruug der Schmerzen werde die Functions-
fähigkeit und die hierdurch mögliche Bewegung erzielt , die wesentlich zur
schnelleren Resorption der Exsudate, zur Lockerung der Adhäsionen etc. beitrage.
Besonders imponirt auch ein Casus von gonorrhoischer Gelenkschwellung !
I)a GkosbmaNN S Darstellung einige neue Gesichtspunkte enthält, welche der all-
gemeinen Kenntnissnahme werth sind , seien folgende Sätze mitgetheilt : „Ich
zwinge das Gehirn, die Schmerzempfindung anders als bisher, nach aussen zu
projiciren , sie in der Peripherie anders zu localisiren und schliesslich gänzlich
zu exteriorisiren, worauf ich das Schwinden der Schmerzen suggerire. Und das
mache ich so: Ich hebe, an der schmerzenden Stelle mit meinem Finger möglichst
tief eingehend, die Weichtheile zu einer Falte auf und suggerire zunächst unter
gelindem Druek an der Basis der Falte, dass diese heftig weh thue . . . Das
Gehirn des Patienten lenkt nun sofort seine Aufmerksamkeit auf den nenen
Schmerz, und da es bekanntlich nicht zwei Empfindungen zu gleicher Zeit ver-
arbeiten kann, geht dem Patienten der erste Schmerz aus dem Bewusstsein. Ich
ziehe nun nach einigen Secuuden, mit dem Druck allmälig naclilassend, die Weich-
thcilfaltc durch meinen Finger, suggerire, dass der Schmerz allmälig nachlasscnd,
SUGGESTION.
593
bis in die Haut hineinzflge und nun loslasscnd, dass der Schmerz sich nach aussen
verflüchtige.“ Interessant ist auch die Art, wie die Gelenkse.hwellung beseitigt
wird. „Man suggerire, am besten unter Auflegen der Hand auf das kranke, ent-
blösste Gelenk , dass die von der Hand ausgehende Wärme die Geschwulst ver-
theile, oder man macht einige leichte massirende Bewegungen, Streichungen, mit
denen mau die Geschwulst wegdrückt u. dcrgl. m.“ Namentlich letztere Mani-
pulation ist darnach angethan, zu erweisen, welchen Autosuggestionen (?) die Ver-
treter der Massage unterworfen sind , da Gkosshann den „leicht“ massirenden
Bewegungen und Streichungen ja keine Bedeutung zuschreibt !
Ueber 0. Wetterstkand’s *5) Resultate giebt folgende Tabelle rasche
Uebersicht :
Männer
Frauen
Summe
Ge-
storben
Keine
Wirkung
Rcci-
dive
Gesuod
Morphinismus , bei dem das Mor-
phium subcutan angewendet wurde
IG
22
38
2
5
3
-
28
Morphinismus, bei dem das Mor-
phium innerlich genommen wurde
i
2
3
_
_
1
2
Morphinismus und Alkoholismus
i
—
1
—
-
1
Morphinismus und Cocainismus .
2
1
3
l
i
1
Cocainismus
1
—
1
—
—
—
1
Opium innerlich
—
4
4
—
—
1
3
Chloralismus
—
1
1
—
—
—
1
Summe ....
21
30
51
3
6
5
37
Ausser diesen analysirt Wetterstrand noch eine Anzahl sehr bemerkens-
wertlier Fälle, indem es ihm trotz anscheinender Aussichtslosigkeit gelang, den
oft viele Jahre bestehenden Morphinismus für immer zu beseitigen und die Leiden
der Abstinenzzeit auf ein Minimum zu reduciren. Besondere Berücksichtigung
verdient es, dass er davor warnt, in solchen qualvollen Krankheiten, wo ein
rasches Ende nicht zu erwarten steht, zu narkotischen Mitteln zu greifen,
bevor man sich vergewissert hat, dass die suggestive Behandlung wirkungslos ist.
Diesen Satz illustrirt auch ein Fall Tatzel's, in dem bei Nierencarcinom die
Suggestion zum Zweck der Euphorie und Euthanasie mit Erfolg benützt wurde.
Tatzel **) veröffentlicht eine reiche Casuistik (Hysterie , clonischer Krampf der
rechten Armmusculatur, die Accessoriusmusculatur , traumatische Neurose, Dipso-
manie, Enuresis, chronischer Rheumatismus u. a.).
G erster 5I) berichtet über eine hysterische Contraotur, Kaudkks *a) über
eine eomplete Lähmung des rechten Armes, welche durch hypnotische Suggestion
beseitigt wurde. Ebenso theilen Oetker59) Heilerfolge der Suggestionstherapie
bei Krampfweheu , Tyko Brunsberg 18) bei Menstruationsanomalien mit. Fkan-
cotte 40) kam bei einer „hysterischen Taubstummheit“ durch Wachsuggestion zum
Ziele. Ein 35jähriger Arbeiter erkrankte im Anschluss an heftigen Schrecken
an völliger hysterischer Stummheit, welche die seltene Complication mit hysteri-
scher Taubheit zeigte. Energische Suggestion im wachen Zustande beseitigten
jedoch rasch die „Taubstummheit“. Eine höchst interessante Krankengeschichte
eines „durch Spiritismus erkrankten und durch Hypnotismus geheilten“ Patienten
publicirte Forel. *') Es handelte sich hier nicht allein um Hallucinationen, son-
dern auch um ein suggestiv und autosuggestiv entstandenes Wahnsystem. Das
Resumfe Forkl’s: „Es wäre wirklich interessant, radieale hypnotische Curen bei
den zahllosen, von den Spiritisten zu Gewohnheits Hallucinanten gemachten Gläu-
bigen systematisch vorzunehmen“ , erscheint förmlich wie ein Protest gegen die
aufdringliche und allzufrüh triumphirende Aeusserung des occultistischen Führers
DU PREL, welche in folgende Worte ausklaug: „Hypnotismus, Somnambulismus
und Spiritismus sind nur durch ganz flüssige Grenzen getrennt ; wer also durch
das hypnotische Eingangsthor tritt, wird schliesslich beim Spiritismus anlangen.“
Encyclop. Jahrbücher. VI. 33
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594 SUGGESTION. — SYPHILISCONTAGIUM.
Literatur: *) 0. Vogt, Zeitschr. f. Hypnotismus. 3- Jahrg. , Schluss. Zum Pro-
gramm. — *i Forel, Der Hypnotismus in der Hochschule. Zeitschr. f. Hypn. IV, Heft 1. —
*) Navratil, Die Elemente der psychischen Therapie. Wien 1695. — 4) R. W. Tatzel,
Warum wird der Werth des therapeutischen Hypnotismus noch immer so wenig erkannt? Zeit-
schrift f. Hypn. IV, Heft ]. — 6) 0. Vogt, Zur Kenntnis** des Wesens und der psycho-
logischen Bedeutung des Hypnotismus. Ebenda. 111, Juli. IV, Heft 1. — *) Bergmann, Ist
die Hypnose ein physiologischer Zustand? Ebenda. März -April 1895. — 1 1 M. Hirsch,
Ueber Schlaf, Hypnose und Somnambulismus. Deutsche med. Wochcnschr. 1895, Nr. 36 —
b) Benedikt, Die Seelenkunde des Menschen als reine Krfahningswissenschaft. Leipzig 1895. —
9) Schaffer, Suggestion und Retlex. Jena 1895 — Forel, Der Hypnotismus. 3., verb.
Aufl., Stuttgart 1895. — n)Moll, Der Hypnotismus. 1894. — '*) Oberateiner, Die Lehre
vom HypnotismuB. Wien und Leipzig 1893. — 1S) Bern heim, Die Suggestion und ihre Heil-
wirkung. Uebersetzt von Freud, Wien 1893. Einleitung. — ,4) M. Hirsch, Zur Begriffs-
bestimmung der Hypnose. Deutsche Med.-Ztg. 1895, Nr 91. — *9 William Hirsch, Was
ist Suggestion und Hypnotismus. Berlin 1896- — 14) Benedikt , Hypnotismus und Suggestion.
Leipzig und Wien 1894. — ,J) P, F. Thomas, La Suggestion, son röte dans l'education
Paris 1895. — I81 Tyko Brunnberg. Menstrnationsstbrungen und ihre Behandlung mittels
hypnotischer Suggestion. Die Bedeutung des Hypnotismus als pädagogisches Hilfsmittel. Ans
dem Schwedischen von Dr. R. Tatzel. Autorisirte Ausgabe. Berlin 1896. — *•) Benedikt.
Process Czynski. Wiener med. Wochensehr. 1895, Nr. 9. — f0) William Hirsch. Die
menschliche Verantwortlichkeit und die moderne Suggestionslehre. Eine psychologisch-forensische
Studie. Berlin 1896. — **) Benedikt, Ein Ehehrucüdrama in hypnotischer Beleuchtung. Offener
Brief an Herrn Prof. Dr. W. Preyer. Sonderabdruck aus der Wiener med. Wochenachr. 1693.
Nr VO. — **) The Medico-Legal Journ. Juni 1895, XIII. Nr. 1. — *a) La Suggestion et l’hypno-
tistne en matiere de t es tarnen t. Revue de l'Hypn X, Heft 1. — *4) Licbault, Criminelle
hypnotische Suggestionen. Zeitschr. f. Hypn. Juni 1895. — 3i) J. P. Durand (de Gros). Suy
gestions hypnotiques criminelles. Revue de l’Hypn. X, Heft 1, — *€) Psychotherapie oder
Behandlung mittels Hypnotismus und Suggestion, von C. Lloyd Tuckey. Aus dem Englischen
von Dr. med. Tatzel. Neuwied 1895, Heuser* 8 Verlag. — 3,J Bechterew, Die Hypnose und
ihre Bedeutung. Sep.-Abdr. der therap Wochen sehr. 1895, Nr. 2 ff. — ,B) Galdi Raffaeli,
La Suggestion e nello ßsicoterapia. 11 Manicomio moderne. 1894, X, Heft 3, pag. 315. — **) Rin*
gier. Einige Betrachtungen zur Suggestivbehandlung. Zeitschr. f. Hypn. 3. Jahrg. — *•) R. W.
Tatzel. Warum wird der Werth des therapeutischen Hypnotismus noch immer so wenig er-
kannt? Ebenda. IV, Heft 1. — **) R. v. Krafft-Ebing, Zur Suggestivhehandlnng der
fiysteria gratis. Ebenda. IV, Heft 1. — 3S) Freih. v Schrenck -Notzing, Ein Beitrag
zur Aetiologie der eonträren Sexualempflndnng. Wien 1*95. — 33) Havelock Elliä, Sexual
Inversion in tromen. Reprint from the Alienist and Neurologist. St. Louis. April 1895. —
34) Grossmann . Zur suggestiven Behandlung der Gelenkkrankheiten. Zeitschr. t'. Hypn. 111. —
•*) 0. Wetterstrand. Die Heilung des chronischen Morphinismus , Opiumgenusses, Cocai-
nismus und Chloralismns mit Suggestion und Hypnose. Ebenda. IV, Heft 1. — *•) Ebenda.
3. Jahrg., 1895. — **) Gerster, Ein Fall von hysterischer Contractur Ebenda. 3- Jahrg.
Kaudors, Hypnotische Behandlung eines Falles von complcter Lähmung des rechten
Annes. Wiener med. Wochenschr. 1895, Nr. 9. — 39| Oetker, Die Behandlung der Krampf-
wehen durch Verbalsuggestion. Deutsche Med.-Ztg. 1895, Nr. 47. — 40) Franco tte, Surdi’
mutitt hystfrique gudrie jutr Suggestion a l'itat de veille. Cit. nach Pentralbl. f. Xervenh
und Psych. VI. pag. 148. — 4l) Forel, Durch Spiritismus erkrankt und durch Hypnotismus
geheilt. Zeitschr. f. Hypn. 3. Jahrg. Max Neubörger (Wien).
Sulfate, bei Carboivergiftung, pag. 68.
Syphiliscontagium. Während durch die Untersuchungen , welche in
den letzten Jahren vorgenommen wurden , der Erreger des local bleibenden
Schankergeschwüres in der Gestalt des DuCREY- K KRFTINC .'sehen Bacillus bekannt
w urde, haben die bisherigen bakteriologischen Untersuchungen über die Wesen
heit des Syphilisgiftes keinen Aufschluss gebracht, und kann man nur das Eine
sagen , dass trotz der Arbeiten Lcstgartex’s und Gollasch’s die Entdeckung
des Syphil »-Mikroorganismus noch immer aussteht. Alles das, was wir über das
Syphilisgift heute wissen, ist einzig und allein auf klinische Erfahrung und anf
Analogieschlüsse gegründet. Ich habe es mir zur Aufgabe gemacht, in den nach-
stehenden Zeilen in Kürze die jetzt herrschenden Anschauungen zu skizzirvn und
über das Syphilisgift dasjenige auszuspreehen, was sich meiner Meinung nach Ober
dasselbe auf Grundlage der klinischen Wahrnehmungen sagen lässt. Alle An-
schauungen stimmen darin überein , dass der Syphilis eiu Contagium animatum
zu Grunde liege, ln anderer Beziehung gehen aber die Anschauungen in *wei
Richtungen auseinander. Die eine Richtung betrachtet die Gesammtsumme der
SYPHILISCONTAGIUM.
595
auf der Haut und Schleimhaut zu Tage tretenden Erscheinungen als directe Aeusse-
rung des Syphilis-Mikroorganismus, während eine zweite Anschauung eine Reihe
von an der Haut und Schleimhaut zu Stande kommenden Symptomen nicht als
eine directe Wirkungsäusserung des Syphilis-Mikroorganismus, sondern der Toxine
desselben auffasst. Diese zweite Anschauung will das Zustandekommen der Immu-
nität des einzelnen Individuums gegen die Svphilisinfection aus der Wirkung der
Toxine auf den Gesammtorganismus ableiten. Die letztere Ansicht wird namentlich
von Finger , Düring u. A. sehr eifrig vertreten. Ich will gleich hier bemerken,
dass ich für meine Person , mich dieser Anschauung wegen des Ergebnisses der
klinischen Beobachtungen und wegen der Ergebnisse der pathologisch-anatomischen
Untersuchungen nicht vollinhaltlich anzuschliessen in der Lage bin , insoferne
dieselbe bestimmte Syphilissymptome, welche der Spfitperiode angehören, als durch
die Toxine bedingt hinatcllt. Wie soll man sich nun die Einwirkung des
Syphilisgiftes auf den menschlichen Organismus vorstellen? H. Zeissl und ich
haben uns an auderen Orten schon dahin geäussert, dass das Syphilisgift zu-
nächst an irgend einer Stelle des menschlichen Körpers eindringt und dass das-
selbe von der Eintrittsstelle ans allmälig sowohl auf dem Wege der Lymph-
als Blutbahnen in den Gesammtorganismus gelange. Es wird sich nun zunächst
an der Eintrittsstelle die erste Einwirkung des Syphilisgiftes in Form der
syphilitischen Initialsklerose äussern , weil an dieser Stelle, wo direct die
Mikroorganismen deponirt werden , sich dieselben unter günstigen Bedingungen
am raschesten vermehren und daher am raschesten ein Product der Syphilis,
das unserem Auge und Tastgefilhl sinnfällig ist, hervorrufen können. Diese erste
Erscheinung bezeichnen wir als syphilitischen Primäraffcct. Derselbe pflegt in
der Regel schon am 12. oder 15. Tage von der Iufection an ausgebildet zu sein.
Längere Zeit wird es nun dauern, bis die Mikroorganismen im Körper eine der-
artige Vermehrung erfahren haben, dass sie im Stande sind, an der allgemeinen
Decke oder an der Schleimhaut Erscheinungen der Syphilis hervorzurufen. Den
Zeitraum, welcher zwischen dem Sichtbarwerden des syphilitischen Primäraffectes
und zwischen dem Auftreten der ersten allgemeinen Erscheinungen verstreicht,
bezeichnet man als zweite Incubationsperiode. Dieses Auftreten der ersten allge-
meinen Erscheinungen eines maculo-papulösen oder papulösen Syphilides pflegt in
der Regel von einer Reihe anderer Symptome , wie Fieberbewegungen , heftigen
Kopfschmerzen, Erhöhung der Reflexe etc., begleitet zu sein.
Es drängt sich nun die Frage auf, ob diese Erscheinungen als eine
directe Aeusserung des Syphilis- Mikroorganismus aufzufassen sind oder ob diese
FieborbcwegungeD, sowie die Kopfschmerzen, die Abgeschlagenlieit, die Vergrösse-
rung der Milz möglicherweise nur auf Rechnung der von den Mikroorganismen
producirtcn Toxine zu setzen seien. Diese Frage wird sich heutzutage wohl
kaum mit Sicherheit entscheiden lassen. Was die oft so quälenden Kopf-
schmerzen anlangt, so dürften dieselben wohl auf eine andere Weise ihre Erklä-
rung finden, als durch die Production reichlicher Toxine. Wir wissen, dass das
Auftreten der heftigen Kopfschmerzen der Eruption eines Syphilides an der all-
gemeinen Decke vorausgeht oder mit dieser zusammenfällt , wir wissen , dass
namentlich bei papulösen Syphiliden und speciell beim klein-papulösen Syphilid
mit besonderer Vorliebe sich papulöse Efflorescenzen an der Iris entwickeln
können, mit einem Worte, dass eine Iritis specifica mit besonderer Vorliebe das
klein-papulöse Syphilid begleitet. Schon II. Zeissl hat darauf hingewiesen , dass
die Pia mater in ihrem histologischen Baue eine grosse Aehnlichkeit mit der
Iris besitze, und es läge daher nahe anzunehmen, dass, wenn sehr heftige Kopf-
schmerzen bestehen, diese dadurch veranlasst werden, dass sich an der genannten
Hirnhaut ähnliche Vorgänge abspielen, wie wir sie so häufig in Begleitung syphi-
litischer Hautausschläge an der Regenbogenhaut ablaufcn selten. Und es ist
zur Genüge bekannt , dass auch die specifische Regeubogenhautentzttndung mit
grosser Schmerzhaftigkeit einbergeht. Nach diesem Analogieschlüsse muss man
38»
596
SYPHILISCONTAGIÜM.
sich wohl dahin aassprechen , dass es sehr nahe liegt , dass ähnliche Vorgänge,
wie an der Haut und Regenbogenhaut, sich an den Gehirnhäuten abspielen mögen,
und dass dadurch die heftigen Kopfschmerzen bedingt werden. Eine weitere
Frage ist die: Was sind eigentlich die Exantheme, die wir auf der Haut sehen?
Werden die Exantheme dadurch an der Haut hervorgerufen, dass an einer be-
stimmten Stelle der Hautdecke sich eine grössere Summe von Mikroorganismen
festgesetzt hat, oder entwickeln sich Efflorescenzen an der Haut in ähnlicher
Weise, wie wir Exantheme entstehen sehen nach dem Gebrauche gewisser Arznei-
mittel, wie z. B. das Erythem nach Belladonna, nach Chinin, Antipyrin oder die
Urticaria balsamica nach dem Gebrauche balsamischer Mittel, oder das Auf-
treten von Ausschlägen , wie sie nach dem Genüsse verdorbenen Fleisches oder
anderer verdorbener Nahrungsmittel vorzukonimen pflegen. Alle durch derartige
Gelegenheitsursachen hervorgerufenen Ausschläge sind entweder Erytheme oder
mit erythematösen Efflorescenzen gepaarte Hauthämorrhagien. Die höchstorgani-
sirten Efflorescenzen, welche wir durch Einwirkung der genannten Gelegenheits-
ursachen zu sehen bekommen, sind Urticariaquaddeln. Pustelbildung sehen wir aber
nach Jod- und Bromgebraueb und bei Akne vulgaris (G. Singer) und lassen sich
diese Exantheme anders erklären. Wenn es hochkommt, ist das Erythem ein so inten-
sives, dass ein L'cbergangsstadium vom Flecke znm Knötchen zu sehen ist, welche
Uebergangsform H. Zeissl für die Syphilide mit der Bezeichnung Erythema papula-
tum belegt hat. Dass derartige beträchtliche Inflltrate, wie wir sie als Papel bei
der Syphilis entstehen sehen, durch Resorption vom Darme aus an der Haut zu Staude
kommen , hat man mit Ausnahme der Brompusteln und Jodefflorescenzcn und
Akne vulgaris bisher noch nicht beobachtet. Wir könnten also nur zu der Idee
kommen, dass die Roseola syphilitica nicht direct durch den Mikroorganismus,
sondern durch die Toxine des Syphilis-Mikroorganismus veranlasst sein möchte. Eine
derartige Voraussetzung halte ich aber fflr so lange, als wir den Syphilis- Mikro-
organismus nicht kennen und seine Toxine nicht darzustellen in der Lage sind
und nicht directe Experimente machen können, für verfrüht und daher auch für
überflüssig. Da es aber gelungen ist, in Roseola typhosa (Neithaus), in papu-
lösen Infiltraten und fotliculären Efflorescenzen bei Typhus (G. Singer) Typhns-
bacillen nachzuweisen, so ist es heute wohl viel gerechtfertigter, anzunehmen,
dass alle Svphilisefflorescenzen durch den Syphilis-Mikroorganismus bedingt werden.
Dass sowohl die Roseola syphilitica als auch die Efflorescenzen des papulösen
und gummösen Stadiums durch den Mikroorganismus der Syphilis direct veran-
lasst werden können, dafür sprechen, wie gesagt, die bei Typhus von G. Sing KR
gemachten Untersuchungen. Diese enthalten eine weitere Analogie für die Syphilis-
exautheme, indem es Singer gelang, spccifische Typhusexantheme durch Dampf-
bäder zur Proruption zu bringen. Es wird also in gleicher Weise wie bei den
Syphilisexanthemen das Typhusexanthem, welches durch den Typhusbacillus pro-
ducirt wird, durch active Hyperämie der Haut zur Entwicklung gebracht. Des-
halb liegt die Vermuthung nahe, dass auch für die verschiedenen Formen der
Syphilisexantheme der Syphilis-Mikroorganismus als directer Erreger anzusehen ist
Eine weitere Frage ist es, wieso es kommt, dass bei einzelnen Individuen die papulösen
Efflorescenzen zu vereitern beginnen , und dass die verschiedenen Formen der
pustulösen Syphilide, wie sie von H. Z El SSt als Acne syphilitica, Variola syphi-
litica, Ecthyma syphiliticum , Impetigo syphilitica , Rupia syphilitica etc. be-
zeichnet wurden, zu Stande kommen. Für die Entwicklung der pustulösen Syphi-
lide könnten wir zweierlei Erklärungen geben. Die eine Erklärung wäre die,
dass irgend ein Eitererreger in die Haut eingeführt wurde, und dass durch diesen die
schon vorhandenen syphilitischen Efflorescenzen zum Zerfall gebracht würden, obwohl
es nicht leicht einzusehen ist, warum dann nicht auch an anderen Körperstellen,
welche von papulösen syphilitischen Efflorescenzen freigeblieben sind, sich dann durch
die Eitererreger veranlasste Pusteln entwickeln sollten. Gegen diesen Einwand könnte
man allerdings mit der Entgegnung auftreten, dass an einer schon durch Syphilis
>gle
Digitized by
SY PHI LISCONTAGIOM.
597
erkrankten Hautstelle das Hautorgan empfindlicher für die Einwirkung der Eiter-
erreger ist als an noch gesund gebliebenen Hautstellen. Hingegen muss man
andererseits wieder sagen, dass es doch ganz eigentümlich ist, wenn erst eigene
Eitererreger in die schon vorher vorhanden gewesenen syphilitischen Papeln ein-
dringen müssen und die Vereiterung der syphilitischen Papeln verschiedene
Formen annehmen, so dass das eine Mal nur die Spitze der Papel vereitert, wie
bei der Acne syphilitica , ein anderes Mal schon eine grössere gedellte Pustel
entsteht, wie bei der Variola syphilitica, und endlich sich bei der Rupia syphi-
litica ein Infiltrationswall, welcher einen Eiterkranz umgiebt, innerhalb dessen
sich der eingetrocknete Eiter in Form einer austernschalenühnlichen Kruste be-
findet, bildet? Warum die Staphylokokken oder Streptokokken, die die Ver-
eiterung in den vorhanden gewesenen Papeln hervorrufen , so verschiedene
Formen des Pnstulationsprocesses zu erzeugen in der Lage wären, dafür fehlt
uns heute noch jedweder Anhaltspunkt. Eine zweite Erklärung, die plausibler
erscheint und auch leichter das Zustandekommen des Zerfalles der an der Haut
gesetzten syphilitischen Hautveränderungen erklärt, ist die schlechte Ernährung
der Kranken. Es ist eine von allen Aerzten gemachte Beobachtung, dass pustu-
löse Syphilide in der Regel nicht früher als 7 — 8 Monate nach der erfolgten
lnfcction auftreten, und dass dieselben namentlich Individuen, welche hochgradig
anämisch oder durch Excesse in baccho wesentlich geschwächt sind, befallen. Es
ist nun sehr schwer zu begreifen, warum bei solchen Individuen, bei welchen
ein papulöses Syphilid 8 oder 9 Monate nach erfolgter Infeetion auftritt, dieses
leichter durch von aussen eindringende Eitererreger zum Zerfalle gebracht werden
solle, als bei solchen Individuen, bei welchen ein gleiches Syphilid 2 oder 3 Monate
nach erfolgter Infeetion zu Tage tritt. Für diese merkwürdige Thatsache könnten
wir höchstens dann eine Erklärung finden, wenn Impfexperimente ergeben würden,
dass die Eitererreger in die unverletzte Haut anämischer Individuen leichter ein-
dringen als in die Haut nichtanämischcr Individuen , ein Beweis, welcher bisher
durch das Experiment nicht erbracht wurde. Mir erscheint die Erklärung plau-
sibler, dass durch Gefässveränderungen in dem Gewebe der durch syphilitische
Efflorescenzen veränderten Haut der Zerfall begünstigt werde.
In den jüngsten Jahren machte sich namentlich in Deutschland und
Oesterreich auf Grundlage des von Ricord aufgestellten Lehrsatzes: die gummösen
Producte sind weder durch die Impfung, noch durch die Vererbung übertragbar,
die Tendenz geltend, die Spätformen der Syphilis, die sogenannten tertiären
Syphilisproducte nicht mehr als eine Aeusserung der Syphilis-Mikroorganismen,
sondern nur als eine Aeusserung der Toxine derselben hinzustellen. Diese An-
schauung wurde in geistreicher Weise von verschiedenen Autoren, so von Finger,
Düring u. A., verfochten. Diese Anschauung ist weder vom klinischen, noch vom
pathologisch-anatomischen Standpunkte berechtigt und erscheint durch in Frank-
reich in den letzten Jahren gemachte klinische Beobachtungen direct widerlegt.
Wenn wir zunächst die pathologisch - anatomische Seite der Frage be-
trachten, so ergiebt die histologische Untersuchung zwischen dem syphilitischen
Primäraftect, der syphilitischen Papel und dem syphilitischen Gumma grosse histo-
logische Achnlichkeiten. Wenn wir des Weiteren das Spätproduct der Syphilis,
"das Gumma, mit den durch die Tubcrkelbacillen und die Leprabacillen hervor-
gerufenen Granulationsgeschwülsten vergleichen, so werden wir finden, dass im
Gumma sowohl als im Tuberkel- und im Lupusknoten — der ja ebenfalls durch
den Tuberkelbacillus bedingt wird — die Verkäsung ein ausserordentlich häufiger
Vorgang ist. Wir sollen nun dieser neuen Hypothese gemäss aussagen, dass die beiden
Processe Lepra und Tuberkulose directe Aeusserungen des Lepra- und des Tuberkel-
bacillus sind, während wir für das Gumma, welches histologisch und klinisch so viele
Aehnlichkeiten gerade mit der einen Form der Hauttnberkulose, dem Lupus, dar-
bietet, die Ansicht acceptiren sollen, dass das Gumma nicht direct durch den Syphilis-
bacillus, sondern durch dessen Toxine veranlasst werde. Ausserdem sollen wir
598
SYPHILISCONTAGIUM.
annehmen, dass jedes Individuum, welches mit gummösen Producten der Syphilis
behaftet ist, nicht mehr im Stande sei, Syphilis auf ein anderes Individuum
direct oder durch Ueberimpfung oder durch die Zeugung zu übertragen, wo wir
doch wissen, dass man durch excidirte Lupusknötchen im Stande ist, an Thieren
Impftuberkulose zu erzeugen , wo wir also mit Sicherheit wissen , dass eine
Granulationsgeschwulst, die so viele histologische und kliuischc Aehnlichkeiten
mit der syphilitischen Granulationsgeschwulst hat, Bacillen mit voller Virulenz
enthält. Eine derartige Auffassung und Lostrennung des gummösen Processes
aus dem Rahmen der Syphilis ist aber noch aus weiteren Gründen absolut un-
statthaft. Wir wissen, dass in vereinzelten Fällen gleichzeitig an einem und dem-
selben Individuum Gummata und papulöse Efllorescenzen Vorkommen können,
also Efllorescenzen, von welchen durch vielfältige Erfahrung zur Genüge bekannt
ist, dass ludividuen, welche mit ihnen behaftet sind, sowohl syphilitische Kinder
zeugen, als auch, wenn man von ihren Syphilisproducten auf Gesunde überimpft,
die Letzteren Syphilis acquiriren können. Wir kämen also zu der sehr erzwungenen
Erklärung, dass gleichzeitig an einem und demselben Individuum Eftloreseenzen
vorhanden sind , von denen die einen eine directe Aeusserung des Syphilis-
mikroorganismus, die andere nur eine Aeusserung seiner Toxine wären. Viel
complicirter würde noch die Erklärung ausfallen , wenn man bedenkt, dass bei
einem Individuum unmittelbar an den syphilitischen Primäralfect sich zuerst so-
genannte Spätformen anschliessen können, und nachdem diese geschwunden sind,
zum erstenmal sogenannte Secundärerscheinungen, id est Papeln oder Flecke, zu-
Tage treten. Auch diese gar nicht so selten vorkommende Thatsache spricht vom
klinischen Standpunkte aus gegen die Annahme, dass die Gummen durch Toxine
der Syphilismikroorganismen hervorgerufen werden.
Was eine weitere Behauptung anlangt, dass Fälle in der Literatur vor-
handen sind, in welchen angegeben wird, dass zu einer Zeitepoche, wo Indi-
viduen mit Gummen behaftet sind, an ihnen ein syphilitischer Primäraffect beob-
achtet wurde, also eine zweite Infection mit Syphilis erfolgt wäre, so ist diese
Angabe einfach unrichtig. Denn weder der Fall von Mkrkl, noch der Fall von
Bouley, noch die Fälle von Gascoyen, die so oft in dieser Richtung citirt
werden, können — wie ich schon vor Jahren nachgewiesen habe — vor einer
halbwegs ernsten Kritik auch nur einen Augenblick Stand halten. Wir müssen
daher sagen, dass bis heute kein einziger Fall beobachtet worden ist, wo ein
Individuum, das mit Gummen behaftet war, einen syphilitischen Primäraflfeet
darbot, welcher einige Wochen später von einer Roseola oder einem papulösen
Syphilid gefolgt war. Denn nur eine derartige Beobachtung würde beweisen,
dass ein Individuum, welches Gummata trägt, keine überimpfbaren Formen der
Syphilis mehr producirt und dass dieses Individuum auch nicht mehr immun
gegen Syphilis ist. Was die Vererbung der Syphilis von solchen Individuen, die
mit Spätformen der Syphilis behaftet sind, anlangt, so ist eine ganze Reihe von
Fällen bekannt, in welchen hereditär syphilitische Kinder von Eltern gezeugt
wurden , welche gummöse Formen der Syphilis trugen. Ein weiteres Moment,
welches für die Ansicht, dass das Gumma seiner Wesenheit nach etwas Anderes
als die Efllorescenzen des papulösen Stadiums sei , in’s Feld geführt wird, ist
die Behauptung, dass gummöse Efllorescenzen durch die Quecksilberbehandlung
weniger gut involvirt werden als die Erscheinungen der secundären Periode, dass
hingegen die Jodpräparate Gummen sehr rasch zum Schwinden brächten, während
sie auf die Erscheinungen des papulösen Stadiums keinen Einfluss hätten. Auch
diese beiden Behauptungen sind in dieser scharfen Formulirung entschieden un-
richtig. Richtig ist, dass, wie ein jedes Medicament gegen schwerere Symptome
weniger rasch wirkt als gegen leichte, das Quecksilber auch gegen die schwereren
Gummen relativ langsamer wirkt, als gegen die weniger mächtigen Infiltrate des
papulösen Stadiums, obwohl man ganz gut weiss, dass das Quecksilber auch mit-
unter gegen Papeln nicht die gewünschte rasche Heilwirkung äusserte. Richtig
SYPniLISCONTAGIUM.
599
ist es ferner, dass das Jod die Erscheinungen des papulösen Stadiums sehr
langsam involvirt, während die gummösen Erscheinungen unter seiner Einwirkuug
ziemlich rasch zurUckgchen. Was aber die Behauptung anlangt, dass die gum-
mösen Erscheinungen durch das Quecksilber wenig oder gar nicht beeinflusst
werden, so wird die Unrichtigkeit derselben schlagend täglich an jeder Klinik
erwiesen, indem es wohl keinen erfahrenen Syphilidologen geben wird, welcher
bei drohender Perforation der Nasenscheidewand oder bei anderen durch ihre
rasche Zerstörung grosse Entstellung herbeifuhrenden syphilitischen Geschwür-
processen , nicht sofort eine energische Quecksilbercur einleiten würde , in dem
Bewusstsein, im Mercur dasjenige Mittel zu besitzen, welches am raschesten dera
gummösen Processe Halt gebietet. Wir sehen also, dass sowohl vom pathologisch-
anatomischen, als auch vom klinischen, als auch vom therapeutischen Standpunkte,
als auch von Analogieschlüssen ausgehend wir keinen einzigeu logischen Gruud
haben, das Gumma nicht als directe Emanation des Syphilisgiftes zu betrachten.
Es ist die ganze Frage Uber die Uebertragung der Syphilis von einem Indi-
viduum auf das andere von einem ganz anderen Gesichtspunkte aufzufassen und
zu beurtheilen als von dem Gesichtspunkte, ob an dem betreffenden Individuum
Papeln oder Gummen vorhanden sind. Jeder erfahrene Syphilidologc wird eine
Reihe von Fällen kennen gelernt haben, in welchen er es erlebt hat, dass ein
Mann oder ein Weib mit deutlichen Erscheinungen der papulösen Syphilis be-
haftet war und dass ein solches Individuum dessenungeachtet ein gesundes
Kiud zeugte oder zur Welt brachte. Derartige singuläre Ereignisse pflegen in
der Regel bei solchen Individuen vorzukommen , bei denen solche papulöse
Efflorescenzeu noch viele Jahre nach vorangegangener syphilitischer Infection
wieder auftraten. Auf der anderen Seite wissen wir, dass es vereinzelte Fälle
giebt, in welchen schon sehr kurze Zeit nach der Infection schwere gummöse
Processe an der allgemeinen Bedeckung znr Beobachtung kommen. Gewöhnlich
findet so frühzeitig nach der Infection das Auftreten von Gummen an anämischen
und kachektischen Individuen statt. Es wird nun wohl Niemandem einfallen, be-
haupten zu wollen, dass Ueberimpfung des Eiters solcher Gummen, welche so kurze
Zeit nach der Infection entstehen, keino Syphilis an gesunden Individuen erzeugen
werde. Es werden sich vielmehr allmälig die Anschauungen zu dem Standpunkt
klären müssen, der von Leloir und M. Zkissl vertreten wird, dass nicht die Form
des Syphilisproductcs entscheidend für die Uebe rt ragbarkeit der
Syphilis von einem Individuum auf das andere ist, sondern dass
einzig und allein die Zeit, welche von der Infection mit Syphilis
bis zur Entstehung eines Syphili sproductes verlief, für die Infec-
tiosität desselben massgebend ist. Ein Individuum, das kurze Zeit nach
der Syphilisinfection mit Gummen behaftet ist, wird ein gesundes Individuum in-
ficiren und syphilitische Kinder erzeugen können , während ein Individuum, das
29 Jahre nach der Infection — wie ich es einmal gesehen — eine Roseola als
Recidive zeigte, möglicherweise gesunde Kinder zeugt und nicht mehr infectiös
zu sein braucht. Das gewichtigste Moment aber, welches dafür augeführt werden
muss, dass die Spätformen der Syphilis infectiös sein können, besteht in der
Thatsaehe, dass l.A.N'DOUZY schon im Jahre 1891 auf dem internationalen derma-
tologischen Cougress in Paris die Mittheilung machte, dass ein Mann, welcher
an der rechten Seite seines Penis ein Gumma trug , durch dasselbe an seiner
Frau auf der linken Seite des Vaginalrohres einen syphilitischen Primäraffcct
erzeugte, welcher alsbald von einer Roseola gefolgt war. Fournikk bestätigte
diese Beobachtungen Lan'doczy’s und fügte bei, dass er selbst ähnliche gemacht
habe. Und ebenso sagte der seither verstorbene Harm, dass man genöthigt sein
werde , die Meinung aufzugeben , dass die tertiäre Syphilis weder durch die
Zeugung, noch durch Uebertragung von Person zu Person infectiös wirken
könne, geradeso, wie man diese Meinung seinerzeit der sogenannten sccundärcn
Syphilis gegenüber aufzugeben hatte. Gleiche Anschauungen hegt Pf.tr INI deGalatz.
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600
SYPH1LISCONTAGIÜM.
Von einigem historischen Interesse ist, dass diese Aeusserungen der beiden so hervor-
ragenden französischen Syphilidologen mit besonderer Vorliebe verschwiegen werden !
Einer eifrigen Discussion wurde auch die Frage unterzogen, in welcher
Weise die Syphilis von den Eltern auf das Kind vererbt werde. Die Fragen,
welche in dieser Beziehung zu beantworten sind, lassen sich in folgende 7 Punkte
zusammenfassen :
1. Was geschieht, wenn zur Zeit der Zeugung der Frucht der Vater
allein mit Syphilis ergriffen ist?
2. Was geschieht, wenn zur Zeit der Zeugung der Frucht die Mutter
allein von Syphilis behaftet ist?
3. Was geschieht, wenn zur Zeit der Zeugung der Frucht beide Eltern
an recenter Syphilis leiden?
4. Was geschieht, wenn zur Zeit der Zeugung der Fracht der Vater
oder die Mutter oder beide Theile an latenter Syphilis leiden?
5. Was geschieht, wenn zur Zeit der Zeugung der Frucht Vater und
Mutter gesund waren und während der Schwangerschaft die Mutter mit Syphilis
inficirt wurde?
6. Was geschieht, wenn ein Weib, das ein hereditär syphilitisches Kind
zur Welt gebracht hat, dasselbe säugt?
7. Was geschieht, wenn ein von syphilitischen Eltern stammendes, trotz-
dem gesund gebliebenes Kind nach der Geburt einer syphilitischen Infection aus-
gesetzt wird?
Der erste Punkt — wenn der Mann zur Zeit der Zeugung syphilitisch er-
krankt ist — lässt sich dahin erledigen, dass in der grossen Mehrzahl der Fälle
ein hereditär syphilitisches Kind gezeugt werden wird. Fraglich bleibt nur, ob
das Kind überhaupt lebend zur Welt kommt oder ob es anscheinend gesund ge-
boren wird und erst kurze Zeit nach der Geburt sich an diesem Kinde manifeste
Erscheinungen der allgemeinen Syphilis an Haut und Schleimhaut entwickeln.
Soweit ist der Einfluss, den die Syphilis des Vaters auf das Kind ausübt, ein
fast constantcr. Aeusserst selten kommen aber Ausnahmsfälle vor, in welchen von
einem mit manifester Syphilis behafteten Vater ein gesundes Kind gezeugt wird.
Noch ungelöst ist die Frage, wie sich der Organismus der Mutter in einem
solchen Falle , wo sie ein vom Vater her syphilitisches Kind getragen, zur
Syphilisinfection verhält? In einer grossen Anzahl der Fälle, wo der Vater zur
Zeit der Zeugung noch manifeste Erscheinungen der Syphilis trägt, geschieht es,
dass gleichzeitig mit der Befruchtung die Infection der Mutter erfolgt und dass
schon zur Zeit der ersten Wochen der Gravidität an der Frau ein syphilitischer Primär-
affect besteht, welcher dann in gewöhnlicher Weise von allgemeinen Erscheinungen
der Syphilis gefolgt wird. Da aber in der Regel nur solche Männer in die Ehe
treten, bei welchen die Syphilis schon einige Zeit keine deutlichen Erscheinungen
an der Haut oder Schleimhaut hervorgerufen hat, so kann es geschehen, dass
weder durch den Coitus selbst, noch auch durch irgend eine andere Berührung,
wie sie ja zwischen Ehegatten stattfindet — so z. B. Kuss — noch auch durch
mittelbare Infection — wie durch Triukgeschirre etc. eine Infection der Frau
stattfindet. Und doch sieht man, dass, wenn eine solche Frau ihr vom Vater
her hereditär syphilitisches Kind selbst säugt, obwohl an ihren Brustwarzen
offene Stellen sind und das Kind deutliche Papeln an den Mundlippen trägt,
doch die Frau von Syphilis frei bleibt. Aus diesen so häufig vorkommenden Befunden
hat man ein Gesetz abgeleitet , welches man mit dem Namen des COLLKs'schen
Gesetzes belegt. Aber nicht nur die klinische Erfahrung, sondern auch Impfexperi-
mente, wie solche von Caspabi in Königsberg, von I. Nkumank und von E. Finger
vorgenommen wurden, ergeben, dass Weiber, welche ein hereditär syphilitisches
Kind gezeugt haben, gesund bleiben, wenn man ihnen den Eiter zerfallender
syphilitischer Producte an irgend einer Körperstclle einimpft. Aus den klinischen
Beobachtungen sowohl als aus den Impfexperimenten geht hervor, dass die
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SYPHIUSCONTAGIUM.
601
Frauen, welche ein hereditär syphilitisches Kind zur Welt gebracht haben, meist
gegen die Syphilis immun geworden sein müssen. Von dieser fast als Regel hin-
zustellenden Thatsache linden sich aber doch hin und da Ausnahmen. Es sind
nämlich in der Literatur vier Fälle bekannt, in welchen Weiber, die ein hereditär
syphilitisches Kind geboren haben, dessen ungeachtet während des Säuggeschäftes
von ihrem Kinde infieirt wurden. Ein derartiger Fall wurde von Rank, ein
zweiter Fall von Lütte in Burtscheid beobachtet und von M. v. Zeissi. veröffentlicht.
Ein dritter zweifelhafter wird von GibOC erwähnt , und ein vierter Fall ist in
Focknikh’s „Hereditärer Syphilis“ citirt. Wir sehen also, dass in einem gewissen
Sinne der Satz, den Bäkenspbuxg aufgestellt hat, das Sperma eines syphilitischen
Mannes inficire eine Frau, wenn dieselbe von diesem syphilitischen Manne ge-
schwängert wird . richtig ist. Wir müssen aber noch hinzufügen , dass nach
unseren eigenen und nach H. Zeissl’s Beobachtungen eine Infection des Weibes
durch das Sperma möglich ist, ohne dass Schwängerung erfolgte, ohne dass
beim Weibe ein syphilitischer Primäraffect jemals, selbst bei genauer Controle,
zu beobachten war. Die grosse Frage , welche aus dem bisher Gesagten
hervorgeht, ist nun die: Ist ein Weib, welches ein hereditär syphilitisches Kind
geboren hat, und an welchem , trotzdem man ihr Zerfallsproducte syphilitischer
EfHorescenzen einimpft, doch keine Syphilis sich zeigt — ist ein solches Weib
syphilitisch oder ist dasselbe nur immun gegen Syphilis geworden. Auch dieser
Punkt ist nicht für alle Fälle in gleicher Weise zu beantworten. Es sind mir
aus eigener Erfahrung eine Reihe von Fällen bekannt — und einem jeden er-
fahrenen Syphilidologen stehen derartige zur Verfügung — dass Weiber hereditär
syphilitische Kinder geboren haben, während der ganzen Zeit, wo sie dieselben
säugten, von den Erscheinungen der Syphilis frei blieben und dass nach dem dritten
oder vierten Kinde, das sic in die Welt setzten, an ihnen manifeste Erscheinungen
der Syphilis zu Tage getreten sind, ohne dass an diesen Weibern jemals ein
syphilitischer Primäraffect gesehen worden wäre. Man muss aUo annehmen, dass
in diesen Fällen durch die Placenta das Syphilisgift hindurchgegangen und das
Weib direct syphilitisch gemacht worden ist. Für eine grosse Reihe anderer
Fälle muss die von FIXGEB, DChrixu und anderen Autoren angenommene
hypothetische Behauptung, dass durch das Hindurchgehen der Toxine des Syphi-
lis-Mikroorganismus durch die Placenta und durch das Hinciugelangen derselben
in den Kreislauf der Mutter diese vom Fötus aus gegen Syphilis immunisirt
worden sei, aeeeptirt werden.
Punkt 2 : Wenn die Mutter zur Zeit der Zeugung allein mit Syphilis
behaftet ist, so ist die grösste Wahrscheinlichkeit vorhanden, dass das zur Welt
kommende Kind deutliche Erscheinungen der Syphilis darbieten wird, kurz und
gut, dass die Syphilis der Mutter an dem Kinde in irgend einer Weise zu-
tage tritt.
Punkt 3 : Für diesen Fall ist die Zeugung eines hereditär syphilitischen
Kindes von allergrösster Wahrscheinlichkeit.
Punkt 4 : Was geschieht nun, wenn Vater und Mutter oder nur eines der
Eheleute an latenter Syphilis leidet r1 Hier sind wieder verschiedene Möglichkeiten
vorhanden. Es kommt gar nicht so selten vor, dass vier, fünf syphilitische Kinder
in die Welt gesetzt werden und dass sogar, ohne dass eine Behandlung der
Eltern stattgefunden hat. die Syphilis sich endlich erschöpft und gesunde Kinder
von diesen früher syphilitisch gewesenen Eltern erzeugt werden. Auf der anderen
Seite kann es wieder geschehen, dass Eltern im Jahre 1890 z. B. ein hereditär
syphilitisches Kind zeugen, dass dieselben Eltern, ohne dass eine Therapie intcr-
venirte, im Jahre 1892 ein gesundes Kind zeugen, welches, durch viele Jahre hindurch
beobachtet, immer frei von Erscheinungen der Syphilis bleibt. Auf dieses Kind
folgt nun wieder ein hereditär syphilitisches, auf dieses wieder ein gesundes
Kind. In diesem Falle nun wird man eben mit derselben Erklärung auslangen,
mit der wir für die Erscheinungen allgemeiner Syphilis auslangen müssen, d. h.
SYPBILISC0NTAG1UM.
602
wir müssen uns sagen : Warum ist ilenn dieses Individuum so und so viele Jahre,
ohne dass eine Therapie intervenirte, von Symptomen der Syphilis freigeblieben und
plötzlich erscheint an ihm wieder ein Syphilisrecidiv '< Das Zeugen hereditär sy-
philitischer Kinder ist ja eben auch nur ein Symptom der Syphilis, wie schon
Diday immer gesagt hat. Wir können für diese merkwürdige Erscheinung, dass
Eltern einmal ein syphilitisches, ein anderes Mal ein gesundes Kind zeugen,
folgende hypothetische Erklärung geben : Es ist möglich , dass die Syphilis-
bacillen zugrunde gehen und im Körper nur die Danersporen übrig bleiben ;
durch irgend welche eigentümlichen, uns nicht näher bekannten Umstände können
nun diese Dauersporen wieder zu neuer Vitalität gelangen und zur Production
zahlreicher Mikroorganismen Veranlassung geben, welche allerdings keine Er-
scheinungen au dem betreffenden Individuum hervorrufen, aber dessen ungeachtet
noch derartige Veränderungen des Spermas oder der Eizellen hervorrufen, dass
syphilitische Kinder eine Folge der Zeugung sind.
Punkt 5 : Sind beide Eltern zurZeit der Zeugung gesund und die Mutter
wird während der Schwangerschaft mit Syphilis inticirt, so kann das Syphilisgift
durch die Placcnta hindurchgehen und das Kind im Mntterleibe mit S> philis in-
ticirt werden. Der erste unwiderlegliche derartige Fall wurde von M. Zki.-sl
veröffentlicht und wurden seither eine Keihe Bolcher überzeugender Vorkomm-
nisse von demselben, I. NeüMaNN, Frank in Gablonz und anderen Autoren ver-
öffentlicht. Es zeigt sich, dass unter gewisseu Verhältnissen bei der Syphilis das
Gift aus dem Organismus der Mutter zum Kinde gelangen kann , analog wie
es in einzelnen Fällen von Milzbrand , Recurrens etc. vorznkommen pflegt. Die
Ursache, weshalb in einem Falle die Placcnta von dem Syphilisgifte passirt wird,
im anderen nicht, mag darin liegen, dass durch die vorliegende parasitäre Er-
krankung derartige Veränderungen in dem Gewebe der Placenta zustande kommen,
dass dieselbe für das organisirte Gift durchgängig wird.
Was den Punkt 6 anlangt, so kann in seltenen Fällen — wie der von
Rank , ferner der von Lüttk beobachtete und von M. Zkissi. veröffentlichte
Fall beweisen — ein Weib, das ein hereditär syphilitisches Kind zur Welt gebracht
bat, ausnahmsweise von diesem inticirt werden. Derartige Vorkommnisse sind
aber thatsächlich ausserordentlich selten und man kann daher mit Recht sagen
und annchmen, dass durch das Tragen eines hereditär syphilitischen Kindes in
utero ein Weib gegeu Syphilis immun wird, indem die Toxine durch die Placenta
in den Körper der Mutter gelangen.
Punkt 7 : Wenn ein von syphilitischen Eltern stammendes, trotzdem gesund
gebliebenes Kind nach der Geburt einer syphilitischen Infection ausgesetzt wird,
so bleibt dasselbe in der Regel gesund. Diese Thatsache wird als Gesetz von
Profkta bezeichnet. Auch für solche Fälle muss man aunehmen, dass durch die
die Placcnta passirenden Toxine derartige Veränderungen in den Zellen des
kindlichen Organismus vorgegangen sind, dass derselbe gegen das Syphilisgift
immun wurde.
Aus dieser Darstellung ergiebt sich, dass wir das Syphiliscontagium
nicht kennen, dass unsere Aussagen über seine Natur und Wesenheit keine
exacten sein können und wir uns nur auf die Folgerungen aus den klinischen
Beobachtungen und auf Analogien stützen dürfen. Daraus folgt das Schwankende
und noch vielfach nicht Aufgeklärte, zum Theile die controversen Meinungen in der
Ausdeutung der klinischen Thatsachen. Soviel jedoch können wir mit grosser
Wahrscheinlichkeit behaupten, dass die Syphilis durch Mikroben bedingt wird.
Das Syphilisgift haftet nur am Menschen und vermehrt sich lei gelungener Haf-
tung an Ort und Stelle innerhalb eines begrenzten Zeitabschnittes; es braucht
zur Invasion des ganzen Körpers und zum Evidentwerden seiner Reizungs-
produete (Granulome) eines zweiten, etwas grösseren Zeitraumes (erste und zweite
Ineuhatiom. — Wir können ferner aussagen , dass es zunächst an die Gefasse
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SYPHILISCONTAGIUM. — SYRINGOMYELIE.
603
(Blut- und Lymphbahnen) anknüpft und die aus Bindegewebe gebauten Elemente
zunächst angreift. Es mtlssen im Körper Vorrichtungen bestehen, denen die Fähig-
keit innewohnt, das Syphilisgift zu vernichten und in der Vermehrung zu hemmen
(Selbstheilung) und dass unsere Therapie nichts anderes ist als eine Unter-
stützung dieser vie medicatrix naturae mit Hilfe des Hg, J und der Holztranke.
Das Syphilisgift kann jahrelang im Körper, ohne sichtbare Erscheinungen zu be-
wirken, ruhen und bei günstiger, uns jedoch unbekannter Gelegenheit neue Ge-
websveränderungen bewerkstelligen. Es ist ferner als Thatsache anzunehmen, dass
der Organismus seine Immunität nach (iberstandener Infeetion nach einer gewissen
Zeit verliert (Reinfection). Das Virus conservirt sich auch an leblosen Objecten
i indireete Infeetion) und kann neben einem zweiten Virus ganz anderer Art noch
zur Wirkung gelangen (Schanker und Tripper). Die Vererbungssyphilis ist
nur eine bestimmte Art der directen Uebertragung. — Wichtig ist die Kennt-
niss, dass das Virus schon aus dem Organismus climinirt sein kann und die
von seiner Lebensthätigkeit hcrrUhrenden Veränderungen dennoch bestehen bleiben
(Dauerformen der Bindegewebsveränderung). M. v. Zeissl.
Syringomyelie. Das Studium der als Syringomyelie bezeichneten Er-
krankung ist noch sehr neuen Datums. Ein allgemeineres Interesse wird derselben
erst entgegengebracht, seit Kahlkk und Schultzp. in zwei fast gleichzeitig
(1882) erschienenen Publicationen nachwiesen, dass dem bis dahin nur die Ana-
tomen interessirenden Befunde von Höhlenbildung im Rückenmark ein mit be-
stimmten, die Stellung einer Diagnose ermöglichenden Symptomen einhergehendes
klinisches Krankheitsbild entspräche.
Den typischen, von jenen Autoren aufgestellten Fällen haben sich nun
mit der Zeit eine Fülle von solchen Beobachtungen angereiht , die in wesent-
lichen Symptomen von dem ursprünglichen Bilde abweichen. Und heute bereitet
sich eine weitere Scheidung in der bezeichneten Gruppe vor, nach den patho-
genetisch und pathologisch-anatomisch verschiedenen Veränderungen, die wir im
Rückenmark antreffen — der eigentlichen Syringomyelie und der Gliomatose.
Ein weiteres Interesse hat die Syringomyelie dadurch gewonnen , dass
eine Reihe von Autoren, vor Allem Zambaco, darauf hinwiesen, welche auf-
fallende, eine Differentialdiagnose fast ansschliessende Aehnlichkeit zwischen den
als Syringomyelie (inclusive Maladie de Morvan) beschriebenen Krankheitsbildem
und denjenigen klinischen Befunden bestehe, die man bei Lepra gelegentlich zu
beobachten Gelegenheit hat.
Wenn auch Zambaco unbedingt weit Uber das Ziel hinausschiesst, wenn
er ohne weiteres alle Fälle von Syringomyelie und Maladie de Morvan als
leprösen Ursprungs bezeichnet, so ist es ihm doch gelungen, und andere Autoren
haben ihm zustimmen müssen, die lepröse Natur einiger als Syringomyelie und
Maladie de Morvan diagnosticirter Fälle zu erweisen. Das Stadium dessen, was
bis heute pathologisch-anatomisch als Substrat der verschiedenen , klinisch als
Syringomyelie zu diagnosticirenden Bilder bekannt ist, legt andererseits die
Grundlosigkeit der ZAMBACO’schen Behauptung dar. Zweifellos werden aber noch
mancherlei Ueberraschungen aus dem Studium dieser proteischen Krankheit
hervorgehen und unsere Anschauungen noch mannigfachen Aenderungen unter-
worfen sein.
Pathologische Anatomie. Da uns eigene Untersuchungen nicht vor-
liegen, folgen wir hier — wie übrigens in vielen Fällen weiterhin — der classi-
schen Monographie Schlesingbr’s.
Der äussere Anblick des Rückenmarks kann ein sehr verschiedenartiger
sein , je nachdem es sich uni Ilöhlenentwicklung oder um Tumorentwicklung in
demselben handelt. Im ersteren Falle sieht das Rückenmark plattgedrückt, band-
artig ans; häufig ist aber das Rückenmark auch in den anderen Durchmessern
verkleinert, so dass dasselbe auf eine längere Strecke hin die Dicke eines Feder-
SYRINGOMYELIE.
004
kiele haben kann. Ist nur ein Theil des Rückenmarks befallen , so kann der
Volumensunterschied zwischen afficirten und nicht afficirten Theilen sehr auffallend
Bein. Ist nur ein centraler Gliafaden vorhanden, so ist das Rückenmark von fester
Consistenz.
In einigen Abschnitten aufgetrieben oder auf Strecken hin spindelförmig
verdickt erscheint das Rückenmark , wenn dasselbe Sitz eines Tumors , eines
Glioms ist ; die Consistenz desselben ist dann bald härter, bald weicher.
Form und Ausdehnung der Höhlen können sehr verschiedenartig sein;
häutig haben dieselben, meist unter Respeetirung der vorderen Commissur, einen
centralen Sitz.
Schlesinger beschreibt eingehend (1. c. pag. 145 — 157) die verschie-
denen mikroskopischen Befunde, wie sie sich bei Höhlenbildung durch Hydro-
myclie, durch Gliose (der eigentlichen Syringomyelie im Sinne von Simon, Schcltze,
Hofemann) und durch die centralen Geschwulstformeu darstellen.
Man findet z. B. (bei Hydromyelie) im Querschnitt einen bedeutend er-
weiterten Centralcanal, der entweder eine rundliche oder häufiger bnohtige Lücke
im Rückenmark darstellt. Auf tiefer oder höher angelegten Schuitten trifft man
den Centralcanal und einen oder mehrere Divertikel , so dass man eine mehr-
fache Höhlenbildung zu haben scheint.
Die Ausbuchtungen des Centralcanals sowohl wie die Divertikel sind
mit Cylindercpithel ausgekleidct. In der Nähe der Höhle findet sich eine lebhafte
Zellwucherung in der grauen Commissur, die aber nicht init den Gef&ssen in
Verbindung gebracht werden kann. In der Umgegend, sowohl im Anfangs wie
im Endtheile der Höhle, Bieht man zahlreiche Zellen, die sich gerade so intensiv
färben wie das Centralcanalepithel und nach ihrer Structur grosse Aehnlichkeit
mit den den Centralcanal zusammensetzenden Ependvmzellen besitzen. Um den
erweiterten Centralcanal kommt es zu Wucherungsvorgängen , die hauptsächlich
die Glia betreffen und in Folge dessen zu einer Verbreiterung der grauen Com-
missur auf Kosten der Hinterstränge. Nicht selten liegt an der hinteren Grenze
der Commissur ein mit Cylindercpithel ausgekleideter Hohlraum (zweiter Central-
canal), gegen welchen vom hinteren Septum eine Arterie hinzieht. Die Gefässe
sind in diesen Abschnitten schon nicht unerheblich verändert. Sie sind zum Theil
sehr weit und strotzend mit Blut gefüllt , mehrere hingegen ziemlich enge in
Folge von Ablagerung hyaliner Massen in die Media; die Adventitia ist mächtig
verdickt. Mit den Gefässen strahlen häufig in die Rückenmarkssubstanz wellig
verlaufende Bindegewebszüge ein , die sogar papillenähnliche Bildungen er-
zeugen können.
Die Höhle nimmt mit Vorliebe die Gegend der Commissur, des Kopfes
der Hintorhörner, die vorderen Abschnitte der Hinterstränge ein und verschont
zumeist die Vorderhörner.
Bei der Höhlenbildung durch Zerfall gewucherten Gliagewebes, der
sogenannten Gliose, ist das mikroskopische Bild folgendes. Die Wucherung des
Gliagewebes beginnt fast stets in der Gegend des Centralcanals, nimmt bald die
ganze graue Commissur ein und dringt zapfenförmig in die Hinterstränge vor.
Die Gliawucherung ist in der Kegel sehr kernreich und vernichtet dort , wo sie
am üppigsten stattfindet, das normale Nervengewebe völlig. Nichtsdestoweniger
setzt sie sieh von der Umgebung keineswegs scharf ab, obgleich die Randpartien
mehr in Haufen gestellte Kerne besitzen und dadurch weit schärfer hervortreten
als das homogenere Centrum. Allenthalben gehen nämlich vom Rande aus breitere
oder schmälere Gliabalken in das umliegende Nervengewebe zwischen die ein-
zelnen Nervenbündel ein und stellen auf diese Weise eine Verbindung mit der
Umgebung her. Die Verdrängungserscheinungen sind gering oder fehlen voll-
ständig. ln den Randpartien des neugebildeten Gewebes, sowie in dessen Um-
gebung sieht man die Lumen zahlreicher Gefässc, welche zum Theil (weiter unten
zu beschreibende) Veränderungen zeigen. Im Innern dieser Neubildung geht nuu
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SYRINGOMYELIE.
605
mehr oder weniger schnell eine (hyaline?) Degeneration vor sich. Die scharfe
Structnr verwischt sich, das Aassehen wird ein homogeneres; dieses Gewebe zer-
fällt, zerklüftet sich, es entstehen Spalten, die anfangs noch durch Gliafasern
getrennt, sich allmälig zu einer Höhe umwandeln, deren Wandungen durch zer-
fallendes Gewebe gebildet sind. Dieses Gewebe besteht, peripher, aus einem dicht
verfilzten Gewebe feinster Gliafasern und Kerne. Der Uebergang zu den anderen
Abschnitten der Medulla erfolgt für das unbewaffnete Ange bisweilen ziemlich
schroff, unter dem Mikroskope kann man aber stets einen mehr allmäligen Ueber-
gang in die Umgebung durch kernarroe Gliafaserzüge verfolgen. In den reinen
hierher gehörigen Fällen liegt der Ccntralcanal geschlossen vor der Höhle. Manch-
mal findet sieh — ein sehr wichtiger Befund — die Wand der Höhle zum
Theil mit Cylinderepithel ausgekleidet.
Bei einigermassen erheblicher Gliawucherung findet man auch eine be-
deutende Vermehrung der Gefässe; besonders reichlich finden sich dieselben in
den peripheren Abschnitten der Gliawucherung und in den angrenzenden Partien
des Rückenmarks.
Die Gefässe selbst zeigen Veränderungen. Sie sind manchmal bedeutend
erweitert, die Arterien haben dabei häufig eine ganz ungewöhnlich zarte Wand.
In anderen Fällen ist das Lumen stark verengt, ja geradezu obliterirt ; dann ist
die Adventitia öfters ganz enorm verdickt, zeigt manchmal eine concentrischc
Streifung, häufiger aber ist sie verwachsen und nahezu structurlos, auf den
Schnitten gleichförmig glänzend geworden ; die Media verbreitert sich ebenfalls
manchmal nicht unerheblich, gewinnt aber ein homogenes, glasiges Aussehen.
Diese Gefässveränderungen sind wahrscheinlich die Ursache der nicht seltenen
Blutungen in die Rttckcnmarkssnbstanz.
Die Ganglienzellen der Vorderhörner und CLARKE’schen Säulen er-
leiden häufig sehr schwere Veränderungen und können in 'einem Präparate ver-
schiedene Stadien der regressiven Metamorphose zeigen.
Das Verhalten der Nervenfasern in der Umgebung der Gliawucherung
wechselt. Am häufigsten sind nur geringfügige Veränderungen vorhanden, manch-
mal dagegen sieht man die Achsencylinder stark aufgetrieben, die Nervenfasern
stark varicös geschwellt, mitunter sogar körnigen Zerfall des Markmantels; au
anderen Fasern ist die Markscheide sehr breit und der Achsencylinder nicht
wesentlich verändert.
Die mikroskopische Untersuchung der eigentlichen centralen Geschwulst-
formen des Rückenmarks, welche zur Höhlenbildung in innige Beziehung treten
können , giebt sehr verschiedene Bilder. Man findet manchmal die Neubildung
zum grossen Theil aus gleichartigen rundlichen oder undeutlich polygonalen
grösseren und kleineren Zellen mit langen Fortsätzen, vielfach verästelten Spinnen-
zellen und Sternzellen zusammengesetzt ; die letztgenannten Zcllformen haben
einen grossen, oft ovalen oder auch mehr rundlichen Kern ; weiters findet man
im Neoplasma zahlreiche grosse , rundliche blasse Zellen , die theils in Nestern
angehäuft, theils den Piafortsätzen folgend angeordnet sind, theils sind sie ohne
erkennbare Anordnung diffus zerstreut. Der zellige Charakter überwiegt in der
Neubildung, obwohl auch das Stützgewebe vermehrt sein kann; letzteres ist leicht
faserig und ohne deutliche Structur, manchmal ziemlich faserreich. Die Begrenzung
der Neubildung ist nirgends scharf, sondern cs dringen ganze Zellcolonnen von
der Geschwulst aus in die umgebende Nervensubstanz ein und umschliessen auf
diese Weise die nervösen Elemente. Die Tumorwucherung findet meist auf Kosten
des umliegenden Nervengewebes statt. Die Zellneubildung findet mehr in der
Längsrichtung des Rückenmarkes statt, es handelt sich also um langgestreckte,
oft verzweigte Tumoren . die man als Gliome, und wenn sie zumeist nur aus
Spinncnzellen bestehen, als Spinnenzellengliome bezeichnen kann.
Zeigen diese Gliome grossen Gefässreichthura, so bezeichnet man sie als
Angiogliome.
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(i06
SYRINGOMYELIE.
Die Gliome zeigen häufig grosse Neigung zu Hämorrliagien.
Durch Aemleruug der Zwischensubstanz , schleimige Entartung z. B.,
Vorwiegen von Spindelzellenformen mit fibrillären Ausläufern , Hyperplasie der
Nervenfasern kommen Mischformen: Mvxogliome, Spindelzellengliome, Neurogliome
zu Stande.
In anderen Fällen bestehen die Tumoren aus grossen, nach einem Typus
gebauter Zellen, die rund oder stumpfeckig, ein- oder mehrkemig sind und
kurze, stumpfe Fortsätze haben; die Zw'ischensubstanz tritt ganz zurück. Diese
sind die Uebergangsformen zu den Gliosarkomen. Die Gliosarkome selbst be-
stehen aus zahlreichen , kleinen Rundzellen , feinen Fibrillen und grossen , meist
einkernigen runden und unregelmässig gestalteten Zellen, welche zum Tlieil auf-
gei|Uollen sind. Ausserdem findet man noch eigeuthUmliche, den Ganglienzellen
in Bezug auf Grösse, Kern und granulirte Beschaffenheit ausserordentlich ähn-
liche Gebilde mit langen Fortsätzen , die nach Ansicht einiger Autoren aus den
Achsencylinderrcsten zerfallender Nervenfasern entstanden sein dürften.
Durch Combination der verschiedenen Geschwulstformen kann es zu
Mischgeschwülsten („sarkomatöses Myxogliom“, „teleangiektatisches Gliosarkom“)
kommen.
Andererseits kann das Gliagewebe vollständig zurdektreten und die Ge-
schwülste sind dann als Spindelzellensarkome oder in einem anderen Falle als
centrales Angiosarkom bezeichnet worden.
Vom ursprünglichen Tumor werden wohl zapfenförmige Fortsetzungen
von Tumorgewebe in die Umgebung ausgesandt, so dass man auf Querschnitten
anscheinend mehrere Tumoren antrifit.
Im Nervengewebe um das Neoplasma findet man neben kleinen Hämor-
rhagien Vergrösserungen der Gefilsse. Verbreiterung der Stützsubstanz noch Ver-
änderungen der Nervenfasern selbst. Während man bei einfacher Gliosc (Syringo-
myelie) nur hie und da eine gequollene Faser siebt , ist bei der Gliombildung
eine Verbreiterung und varicöse Auftreibung des Aehscncylinders, ein Zerfall
der Markscheide ungleich häufiger.
Der Centralcanal ist meist im Neoplasma vollkommen aufgegangen oder
man erkennt an seiner Stelle einen Zcllenhaufen, oder es besteht ein Canal mit
ganz kleinem Lumen.
Die Höhlen, welche in den Geschwülsten Vorkommen, können wohl nur
ausnahmsweise mit dem Centralcanal in einen ursächlichen Zusammenhang ge-
bracht werden. Sollte sich dennoch hier und da eine Epithelauskleidung vorfinden,
so dürfte es sich nur um eine reiu zufällige Coineidenz handeln : nach Mülleb
und Meder kommt diese Epithelauskleidung häufiger vor, ist aber nicht auf
ursprüngliche Verbindung mit dem Centralcanal zu beziehen, sondern auf Rech-
nung des nach Durchbruch der Geschwulst in den Centralcanal gewucherten
Epithels des letzteren zu setzen.
Pathogenese. Wie schon aus der anatomischen Beschreibung hervor-
geht, kommt die Höhlenbildung im Rückenmark auf verschiedene Weise zu
Stande und so haben wohl alle oder die meisten der bisher aufgestellten Theorien
über die Pathogenese der Syringomyelie eine gewisse mehr oder minder aus-
gedehnte Berechtigung.
Ollivikk ') , von dem der Ausdruck Syringomyelie stammen dürfte, sah
jede Höhlenbildung, das Fortbestehen des Centralcanals an und für sich für
pathologisch und für eine Hemmungsbildung an. Als später das Irrige der
Ot.LlviKB’schen Anschauung, dass das Fortbestehen des Centralcanals ein patho-
logischer Befund sei, nachgewiesen war, wurde auch die Bezeichnung Syringo
myelie fallen gelassen. Erst Simon6) nahm dieselbe wieder auf, und zwar be-
zeichnet er die hydropische Erweiterung des Centralcanals als Hydromyelic, die
pathologischen Höhlenbildungen im Rückenmark Erwachsener als Syringomyelie.
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SYRINGOMYELIE. 607
Er hatte durch seine Untersuchungen festgestellt, dass bei der Syringo-
myelie der Ccntralcanal meist geschlossen vor der Höhle lag und dass letztere
von neugebildetem Gewebe umgeben und ans dessen Zerfall hervorgegangen war.
Leyden ’• 8) (in Uebereinstimmung mit Virchow) vertrat besonders die
Ansicht, dass die Hühlcnbildung als ein Product entwicklungsgeschichtlicher Vor-
gänge anzuschen sei, dass eine vorausgegangene Hydromyelic die Prädisposition
zur Entwicklung einer Syringomyelie abgeben könne. Allerdings giebt er in
seinem Lehrbuch 7 ätiologisch verschiedene Formen der Höhlcnbildung an , er-
klärt aber die eben erwähnte Aetiologie für die Regel.
Die 7 von LEYDEN angeführten Ursachen sind: 1. llydromyelie, 2. Cysten
nach Hämatomyelien, 3. Cysten nach Myelitis acuta oder chronica , 4. Rücken-
raarksblutung mit Resorption des Herdes, 5. Myelitis mit Erweichung, 6. Aus-
füllung des Centralcanals mit Serum, 7. Einschmelzung eines intramedullären Tumors.
Leyden hatte Gelegenheit, zwei Fälle von congenitaler Hydromyelie zu
untersuchen bei Kindern. Durch Vergleichung der hier gewonnenen Resultate
mit den Befunden bei der Syringomyelie Erwachsener kommt er zu dem Schlüsse,
dass zwischen beiden Formen grosse Aehnlichkeit bestehe. Das Zustandekommen
der Syringomyelie erklärt er folgendcrmassen : Zu einer gewissen Fötalperiode
ist der Centralcanal stark erweitert. Die obere Höhlenbildung kann sich vom
Ccntralcanal abschnüren, mit massenhaftem Gewebe umgeben, welches sich auf
die Hiuterstränge ausdehut und deren Entwicklung, besonders die der GoLL'sehen
Stränge, beeinträchtigt. Entwickeln sich später Hinterhörner und Hinterstränge,
so können sie sich bis zur normalen Mächtigkeit entwickeln , vielleicht etwas
verschoben bleiben. Dadurch erklären sich die symptomenlosen Syringomyelien.
Ist die Krankheit progressiv, so entwickeln sich aus dem stationären Zustaude
leicht fortschreitende Störungen. Die meisten Veränderungen sind vom Drucke
herzuleiten , wie Erweichungen, Blutungen, Atrophien der grauen Substanz. Es
ist auch möglich, dass durch schwächende Einflüsse erst der centrale Zerfall der
neugcbildeten Masse veranlasst wird, oder der Sccretionsdruck, wie dies auch bei
anderen Cysten der Fall ist, plötzlich gesteigert wird (nach Schlesinger).
Aehnliche Ansichten entwickeln Strümpell 9), Blooq 1j), Steffen 18),
Kahler und Pick.10-11) Letztere nähern sich etwas den von Hallopkau >*),
Charcot16), Joffroy und Achaud1*14) aufgestellten Theorien. Hallopeai: war
der Erste, welcher die Höhlenbildung als Folge einer Myelitis bezeichnete. Nach
ihm handelt cs sich um eine chronische Myelitis, die durch ihre Localisation in
der Umgebung des Ependyms ausgezeichnet ist, mit sehr langsamer Entwicklung
und dem Ausgang in Sklerose, Sclt'rose periependymaire. In dem von ihm unter-
suchten Falle wurde ein nekrotischer Erweichungsherd im Bulbus gefunden und
von hier hatte sich der entzündliche Process auf das Rückenmark ausgedehnt
Im Rückenmark fand sich als Folge davon eine diffuse interstitielle Myelitis, die
ihren Sitz im Bindegewebe um den Ccntralcanal hatte; weiterhin hatten sich in
dem sklcrosirtcn Gewebe regressive Metamorphosen geltend gemacht und den
partiellen Untergang des sklerotischen Gewebes zur Folge gehabt; darauf ist die
Entstehung der Höhle zurückzuftihren. Die Erweiterung des Centralcanals trägt
nur secundär bei zu dieser Höhlenbildung.
Joffroy und Achard bestätigen IIallopeaü’s Ansichten und bezeichnen
diese Affection als „ Myilite caritaire“ .
Eine andere Theorie für das Zustandekommen der Höhlen ist die von
Langhans. ”) Er führt diesen Zustand zurück auf Drucksteigerung durch raum-
beengende Tumoren in der hinteren Schädelgrube. Dadurch werden Lymph- und
Blutstauungen im Rückenmark und in Folge dessen Oedem und Dissociation der
nervösen Elemente des Rückenmarks hervorgebracht. Er stützt seine Ansicht auf
Untersuchung von 11 Fällen und begründet sie mit folgenden Ausführungen:
1. In allen Fällen ist nur der Halatheil des Rückenmarks und höchstens
noch ein geringer Theil des Dorsaltheils betheiligt.
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SYRINGOMYELIE.
608
2. Es konnte der Zusammenhang der Höhlen oder wenigstens der meisten
derselben mit dem Central canal nachgewijtsen werden.
8. Die Höhlen sind entweder einfache Aussackungen oder Divertikel des
Centralcanals.
4. Die Spalten liegen vorzugsweise in der grauen Commissur und den
Hinterhörnern , die Divertikel zwischen und in dem vorderen Theil der Hiuter-
stränge, wofür wahrscheinlich nur die Consistenz der Umgebung des Central-
canals und speciell die weisse Commissur massgebend ist.
5. Die Divertikel erstrecken sich fast nur nach abwärts.
6. Das Cylinderepithel findet sich nur in den Höhlen , welche in der
grauen Substanz und besonders in der Commissur liegen. Dass dasselbe in den
Höhlen der Hinterstränge fehlt, ist kein Beweis für die Selbständigkeit der Höhle,
sondern ist durch die Entstehung derselben bedingt; sie beruht nur in der Ab-
lagerung einer homogenen gallertigen Masse zwischen die vorhandenen Elemente;
letztere werden auseinandergedrängt und gehen zu Grunde.
Neuerlich haben Beiträge zur Stütze dieser Theorie gebracht Kron-
thal *°) und Fraxcotte21) ; sie sehen aber diese Aetiologie nicht als die einzig
mögliche für die Entstehung der Höhlen an.
Die SlMOX’sche Anschauung von der Entstehung der Syringomyelie
nahm Schultze wieder auf. SIMON hatte die zur Höhlenbildung führende Neu-
bildung als teleangiektatisches Gliom bezeichnet. Roth nahm neben der Leyde.n-
schen Theorie die Erweichung von Gewebswucherungen (Gliomen) als Ursache
der Syringomyelie an.
Schultze **• **■ 3,1 **) hat diese Anschauung, gestützt auf eigene Befunde,
in klarer und präciser Weise ausgcstaltet. Ein Theil der Fälle von Höhlenbildung
ist sicher auf die von Leyden entwickelte Ursache zurückzuführen. Für die
anderen Fälle nimmt Schultze als Ursache eine Gliawucherung an, in Beziehung
stehend zum Ependym ; sie kann aber auch iu der Substanz der Hinterhörner,
vielleicht sogar in der weissen Substanz entstehen. Die Structur dieser Wuche-
rung stimmt in Zellform und Anordnung der Zellen zu den Gliafasern mit dem
Ependym überein, weshalb Schultze die Bezeichnung Gliose einführte.
Für ihn besteht zwischen dem Process, den er als Gliose bezeichnet,
und dem Gliom nur ein quantitativer Unterschied. Durch Zerfall dieser Glia-
masse kommt es zur Hohlraumbildung — zur Syringomyelie. Ob diese Höhlen
mit dem Centralcanal communiciren , hängt davon ab , ob zufällig sich Tumor
und Centralcanal begegnen und in einander öffnen.
Dass es sich bei der „Gliose“ und den „Gliomen“ zwar um nahe
verwandte, aber um klinisch wie anatomisch verschiedene Kranheitsbilder handelt,
wurde durch die Arbeiten der französischen Schule mehr verwischt. Erst durch
die Arbeiten von Miura **), Weigert **) und besonders HOFFMaxn *7) wurde
diese Thatsache von Neuem hervorgehoben. HOFFMAXN suchte diese beiden
Formen scharf zu trennen und bezeichnete die erstere Form als „primäre cen-
trale Gliose“, die zweite als „centrale Gliomatose“.
Wir wollen die übrigen Hypothesenaufstellungen von Schaffer und
Preise *#), Redlich*»), Chiari *°), Rogf.k*1) hier übergehen. Von den grossen
Klinikern nehmen folgende Entstehungsarten an :
CharcOT : Die Höhlenbildung kann stattfinden : a) durch Erweiterung
des Centralcanals, b) durch die Myilite caritaire, c) durch Gliom.
Gowkrs : Die meisten Fälle sind auf embryonale Entwicklungshemmung
zurückzuführen. Andere („senile Formen“) Fälle müssen auf Rarefaction der
grauen Substanz und Desintegration zurüekgeführt werden.
In einer Zusammenfassung der von den verschiedenen Autoren ent-
wickelten Anschauungen stellt Schlesinger ‘) (1. c. pag. 188) fest, dass allgemein
angenommen seien als mögliche Aetiologie der Höhlenbildung im Rückenmark
folgende Veränderungen :
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SYRINGOMYELIE.
Ü09
Infolge von Entwicklungsanomalien (z. B. bei Spina bifida) kann der
Centraleanal mitunter auf eine weite Strecke und in sehr erheblichem Umfange
offen bleiben, cs kann also eine angeborene Hydromyelie mit der histologischen
Zusammensetzung der Wand, wie sie dargelegt ist, bestehen.
Zumeist stimmen die Ansichten auch darin überein, dass eine in einem
Rückenmarkstumor gefundene Höhle aus dem centralen Zerfall desselben infolge
nekrobiotiseher Processc zustande kommen kann ; sie brauchen mit dem Central-
canal in gar keiner Beziehung zu stehen. Der centrale Zerfall kann durch mannig-
fache Ursachen bedingt sein. Veränderungen der den Tumor durchziehenden Qe-
fässc, Obturirung derselben, Brüchigkeit der Wandungen können entweder
mangelhafte Ernährung, Nekrosen oder Blutungen zur Folge haben, die Ursache
der Höhlenbildung sind.
Für die anderen Formen der Syringomyelie, und zwar gerade für die
am häufigsten vorkommenden derselben, ist aber die Pathogenese noch ein sehr
umstrittenes Gebiet.
Nach Schlesinger’* Untersuchungen ist die Beantwortung der Frage
nach Lage des Centralcanals zur Höhle, die Beziehungen desselben zur Spalt-
bildung ungemein viel schwieriger, als es den Anschein hat.
Ob eine Höhle zum Centralcanal iu genetischer Beziehung steht oder
nicht, ist sehr schwer zu entscheiden. Denn einmal kann das Cylinderepithel
des Centralcanals auf weite Strecke ausfallen , andererseits konnte SCHLKSINGKR
in allen von ihm untersuchten Fällen von sogenannter primärer Gliose Abschnitte
nachweisen, in welchen die Höhle streckenweise in einem Theile ihres Umfangs
von typischem , zusammenhängenden Centralcanalepithel ausgekleidet war. Dass
hier eine zufällige Confluenz beider Höhlen Vorgelegen habe , ist wegen der
Regelmässigkeit des Befundes ausgeschlossen. Daraus geht hervor, dass die Unter-
scheidung von Hydromyelie und jenen Formen von Syringomyelie, die nicht aus
Tumoren hervorgegangen sind, fast unmöglich sein kann. — „Jedenfalls“, sagt
Schlesinger, „ist eine partielle Auskleidung der Höhlenwand bei Syringomyelie
mit Centralcanalcpithel ein sehr viel häufigeres Vorkommniss, als nach den bis-
herigen Mittheilungen zu erwarten stand. Wahrscheinlich fehlt sie nur in einem
sehr geringen Bruehtheil der Fälle.
Ein principieller Unterschied kann zwischen Hydromyelie und Syringo-
myelie nicht statuirt werden. Sowohl die mit Gliawucherung einhergehenden als
auch die mit completer Cylinderepithelauskleiduug versehenen Höhlen bilden also
anatomisch eine Reihe, an deren einem Ende die vollständig mit Epithel ausge-
kleidetc Hydromyelie, an dem anderen nur die von Bindegewebe und Glia um-
gebene Syringomyelie steht.“
Wie Hoffmann nimmt Schlesinger an, „dass die centrale Gliose vom
Centralcanalepithel ausgeht und dass hierbei zumeist angeborene Anomalien (be-
sonders Erweiterungen des Centraleanals) mitspielen; dass die Höhlen im neu-
gebildeten Gewebe durch Einschmelzung desselben zustande kommen.“ Schle-
singer ist der Ansicht, „dass den regelmässig gefundenen Auomalien der Gefässe,
welche bereits in einiger Entfernung von der Neubildung constatirt werden
können, eine grosse Bedeutung für die Entstehung der Hohlräume beizumessen
ist. Die Gefässerkrankung spielt hierbei eine der centralen Gliose coordinirte Rolle.“
Die Ansicht Schlesingers, dass die Höhlen entstehen können lediglich
auf Grund der Gcfässveränderungen , ohne dass gliomatöscs Gew:ebe vorhanden
ist (Gewebsnekrose durch Gefässerkrankung), findet ihre Bestätigung im Befunde
von Müller und Medkb. u) Bei dem von den Verfassern beschriebenen Fall
von Syringomyelie war die Ilöhlcnbildung auf eine einfache regressive Gewebs-
metamorphose der grauen Substanz zurUckzufUhrcn. Die Verquellungs- und Er-
weichungsprocesse schienen mit einer überall sehr deutlichen Gefässdegeneration
in ursächlichem Zusammenhang zu stehen. Die Gefässe waren vermehrt und ihre
Wand, namentlich in der Adventitia, weniger der Intima, stark verdickt. Die
Encyclop. Jahrbücher. VI. 39
610
SYRINGOMYELIE.
Verdickungen erschienen in Präparaten, die nach Weigert und Pal gefärbt
waren, als helle „hyaline“ Scheiben. Verschiedentlich waren die Erweichungs-
höhlen in den Centralcanal durchgebrochen. Das Epithel des Canals war dann
gewuchert und hatte die Höhle, soweit sie von Glia- und nicht von Bindegewebe
begrenzt wurde, theilweise oder ganz ausgekleidct. Der letztere Befund ist be-
sonders deshalb wichtig, als darnach das Vorhandensein einer vollständigen Epithel-
umkleidung von Markböhlen nicht mehr als Beweis dafür angesehen werden darf,
dass Hydromyclie und nicht Syringomyelie vorliegt. Damit werden also auch die
Untersuchungen Schlesixger’s in diesem Punkte bestätigt. Wenn Gefässe in die
Höhle eindringen, ist nach MüLLEB-Meder immer an Syringomyelie zu denken.
Das Beschränktsein der Erweichungen auf die graue Substanz , obwohl
die Gefüssveräuderungen in grauer und weisser Substanz gleich vorgeschritten
gefunden wurden, suchen die Verfasser durch die Experimente von Ehrlich und
Bkibgkh zu erklären, nach denen die weisse Substanz gegen Ernährungsstörungen
viel weniger empfindlich ist als die graue.
Ehrlich und Brieger fanden nach temporärer Abklemmung der Bauch-
aorta im Wesentlichen nur die graue Substanz geschädigt, respective entartet:
zweifellos werden aller doch unter diesen Bedingungen weisse und graue Substanz
in gleicher Weise von der Ernährungsstörung betroffen. Bei weiterer Verfolgung
dieser Experimente fand dann SPRONCK die interessante Thatsache , dass die
reparatoriseben Vorgänge, welche an Stelle der untergegangenen grauen Substanz
Platz greifen, in einer hochgradigen Gliawucherung bestehen. Müller Meder
glauben deshalb vermuthen zu dürfen, dass vielleicht auch bei manchen Fällen
von Syringomyelie die Gliawucherung als „Heilungsvorgang“ in pathologisch-
anatomischen Sinne aufzufassen ist. Zum mindesten betrachten sie die bei der
Syringomyelie so ausserordentlich häufige Gefässentartung uielit als seenndäre,
von der Gliawucherung abhängige, sondern als eine selbständige, mit den letz-
teren gleichwerthige Erscheinung. Das Gleiche nehmen sie von der so häufig
mit Syringomyelie vergesellschafteten Meningitis s/iinnlis an.
Sehr wahrscheinlich ist auch die Hämorrhagie in das Rückenmark —
Hämatomyelie — als Ursache für eine Reihe von Fällen von Höhleubildung im
Rückenmark anzusehen. Dafür sprechen ausser den Fällen von Minor45) die
Befunde, welche Schultze40) letzthin gemacht hat. Er hatte Gelegenheit, das
Nervensystem von drei Kindern zu untersuchen, welche mit Kunsthilfe zur Welt
gebracht, kurz nach der Geburt oder bei derselben starben. Bei allen drei Kin-
dern war Vornahme der Wendung nothwendig gewesen.
Die Section ergab die Grosshirnsnbstanz makroskopisch und mikro-
skopisch normal , dagegen in der Oblongata , der Medulla spinalis Blntcxtra-
vasate in den Meningen und innerhalb des Rückenmarks, in welch letzterem sic
zur Bildung von Hohlräumen führten. Diese letzterwähnten Hohlräume fanden
sich im Dorsalmarke, im Cerviealmarke , und zwar namentlich an den Hinter-
hörnern, so dass die mikroskopischen Bilder sehr an die Localisation der Syringo-
myelie erinnern. Schultze theilt in der gleichen Arbeit eine Anzahl von klini-
schen Beobachtungen nervöser Störungen mit bei Kindern , deren Entbindung
schwer gewesen war. Es erscheint ihm wohl möglich, dass diese Störungen auf
die in anderen Fällen constatirten Blutungen zurückzuführen seien , und dass
Überhaupt derartige Blutungen für die Aetiologie der später auftretenden Syringo-
myelie von Bedeutung wären.
Was die LAXGHAUs-KRONTHAL’sche Theorie von dem Zustandekommen
der Höhlenbildung im Rückenmark angeht , so verhält sich Schlesinger nicht
so ablehnend wie Hofkmaxx gegen dieselbe. Er erklärt es als eine feststehende
Thatsache , dass „eine massige Erweiterung des Centralcanals (Hydromyelie,
welche durch Wucherung des Epithels zur Syringomyelie führen kann) öfters
durch eine chronische Comprcssion des Rückenmarks bedingt sein könne , sie
finden sich alier in der Regel nur oberhalb der comprimirten Stelle“.
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SYRINGOMYELIE.
611
Symptomatologie. Die Diagnose der Syringomyelie ist natürlich zu-
erst an ganz typischen , durch die Section verificirten Fällen gestellt worden.
Schültze und fast gleichzeitig Kahler haben zuerst die Aufmerksamkeit auf
die Combination von Muskelatrophie mit eigenartigen Sensibilitätsstörungen gelenkt
in Fällen, in denen die Autopsie im Kückenmark das Vorhandensein einer Syringo-
myelie oder eines centralen Glioms nachwies. Das Wesentliche für die Diagnose
war danach, dass die afficirten Hautpartien eine eigenartige „Dissociation“
der Sensibilitäten zeigte : Analgesie, Thermoanästhesie bei erhaltenem Tastsinn.
Die typischen Fälle bieten in ihrem klinischen Bilde die grösste Achn-
lichkcit mit der Aran-Duchenne’ sehen Muskelatrophie. Duchenne selbst hat
offenbar schon Fälle von Syringomyelie unter seinen Fällen von Mnskelatrophie
beschrieben. Er erwähnt, dass die Muskelatrophie sich ausnahmsweise mit Sensi-
bilitätsstörungen verbinden könne, mit Anästhesie, die manchmal so ausgesprochen
sei, dass die Kranken weder starke faradische Ströme, noch die Wirkung des
Feuers verspüren. Er hat tiefe Verbrennungen beobachtet an den anästhetischen
Theilen, ohne dass die Kranken etwas davon bemerkt hätten. Uebrigens erwähnt
schon Ckarcot **) 1877 unter den Ursachen der „ Amyotrophie s spinales deutero-
pathiques “, unter 3. die „ Myilite centrale speciell die „Hydromyölie“ oder
„Hydromyölite“ und unter 4. die intraspinalen Tumoren, Gliome und Sarkome.
Die weiteren Erfahrungen haben aber ergeben, dass das Symptomenbild
der Syringomyelie (im umfassendsten Sinne) ein viel proteusartigeres ist. Von
vorneherein kann man diese Buntscheckigkeit des klinischen Bildes eigentlich
voraussetzen. Denn es handelt sich ja nicht um eine Systemerkrankung und die
Combination der verschiedenen Symptome , eventuell Ausfallserscheinungen, wird
sich darnach richten, welche Theile des Kückenmarks durch die Höhlenbildung,
durch die Neubildung in Mitleidenschaft gezogen sind und in welchem Grade.
Die Symptome enthüllen uns, wie Charcot ”) sagt, nur die mehr oder weniger
tiefgehenden Störungen, welche die nervösen Elemente der Vorder- oder Hinter-
liörner durch die sich in ihnen entwickelnden Neoplasmen erleiden. Ganz die
gleichen pathologisch-anatomischen Veränderungen der Nervenelemente muss man
— das ist von vorneherein klar — bei den Affcctionen allerverechiedenster Natur,
seien sie gliomatöa oder nicht, mehr oder weniger ausgesprochen wiederfinden,
wenn diese Affectionen ihren Sitz in der grauen Substanz haben.
Je nachdem nun die Affection mehr auf ein System übergreift, oder
mehrere Systeme des Rückenmarks afficirt, wird man natürlich die allcrmannig-
faltigsten Krankheitsbilder bekommen. Dadurch wird die Gruppirung der ver-
schiedenen , besonders häufig beobachteten Formen von Erkrankungen , deren
anatomische Grundlage die Syringomyelie oder Gliomatose ist, ausserordentlich
erschwert.
Wir wollen nns im Folgenden der Einthcilung Schlesinger’s anschliessen.
Dadurch, dass zuerst im Allgemeinen die zur Beobachtung kommenden Störungen
beschrieben werden , ist es leichter , zusammenfassend Haupttypen aufzustellen.
Kurz sollen aber doch einige der von anderen Autoren gewählten Eintheilungen
mitgetheilt werden.
Charcot ,j) sagt (1. c. pag. 495), dass die Störungen bei Syringomyelie
in ihren verschiedenen Combinationen auf zwei grosse Gruppen zurückgeführt
werden können :
1. Symptoraes intrinseques,
solche, die auf Störungen zurückgeführt werden können, welche lediglich die
centrale graue Substanz betreffen.
Hier sind zu unterscheiden :
a) Symptome der Poliomyelitis anterior, progressive Muskelatrophie
nach dem Typus Aran-Duchenne ;
b) Symptome der Poliomyelitis posterior, Anästhesie für Schmerz, Kälte,
Hitze, ohne Beeinträchtigung des Tastsinnes und des Muskelgefühls.
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SYRINGOMYELIE.
612
c) Symptome der Poliomyelitis mediana, trophische Störungen, abge-
sehen von den strophischen Störungen der Muskeln.
2. Svmptomes cxtrinseques.
Symptome, die nicht eigentlich zum Bilde der gliomatösen Syringomyelie
gehören, die sich aber häufig mit demselben verbinden. Sie sind bald bedingt
durch Mitbetheiligung der Hinterstränge, bald der Pyramidenbahnen, bald beider
gleichzeitig, entweder dadurch, dass die Neubildung auf dieselbe übergreift oder
dadurch, dass sie eine Compression auf die verschiedenen Systeme ausübt. Dem-
gemäss ist hier zu unterscheiden zwischen
a) Symptome» leucomydliques latdraux (Paresen oder spastische Läh-
mungen);
b) Symptome» leucomydliques postdrienrs (verschiedene tabetisehe Er-
scheinungen, Störungen des Tastsinnes etc.).
Dieser Eintheilung ist auch Brühl **) in seiner Monographie gefolgt.
Neuerlich hat Brühl14) eine grössere Anzahl von Formen aufgcstellt: Forme
mixte commune ou Forme classique; Forme sensitive; Forme motrice (in der-
selben drei Unterformen: Typus Akan-Duchknne , Typus der Pachymeningitis
cervicalis, Typus der amyotrophischen Lateralsklerosc) ; Forme trophique ( tyj>e
MORVAN); Forme fruste; Forme latente.
Critzmann *s) stellt vier Formen auf:
1. Syringomydlie forme d’atrophie musculaire type Aran-DI'CHKSXK.
2. Syringomydlie forme MORVAN.
3. Syringomydlie forme de scldrose latdrale amyotrophique.
4. Syringomydlie forme latente.
Man muss Schlesinger durchaus beistimmen, wenn er die Forme latente
überhaupt nicht gelten lässt. Es handelt sich dann immer um Fälle , in denen
eine eingehende klinische Prüfung überhaupt nicht stattgefunden hat. Schle-
singer weist das gerade gegenüber der BÄUMLKE’schen s7) Arbeit und gegenüber
dem für die latente Form immer citirten HoLSCHEWNlKOFF’schen *’) Falle nach.
Die Differentialdiagnose kann unter Umständen so schwierig sein , dass die
Syringomyelie verkannt wird. Oder die sensiblen Störungen , die ja unter Um-
ständen dem Kranken vollständig unbewusst bleiben können , herrschen so vor,
dass — eben weil der Kranke dieselben nicht bemerkt — eine Untersuchung
gar nicht vorgenommen und eine Diagnose nicht gestellt wird; aber man kann
deshalb noch nicht von latenter Syringomyelie sprechen.
Wir gehen nun zur Uebersicht Uber die einzelnen Störungen und fassen
dann nachher die Haupttypen nach Schlesinger zusammen.
Motorische Störungen. Die Symptome der Poliomyelitis anterior
gehören zu den Cardinalsymptomen der Syringomyelie. Am häufigsten ist der
Beginn mit den Symptomen der Amyotrophie und Paralyse nach dem Typus
Aran-Dijchknnk; je mehr man jedoch die Krankheit kennen lerut , desto mehr
Varietäten zeigen sich. Weiter bleibt die Amyotrophie auch nicht stationär, son-
dern, je nachdem sich die Affection von ihrer Prädilectionsstelle im Uutertheile
des Halksmarks gegen den Bulbus oder gegen den Kückentheil ausdehnt, werden
andere, correspondirende Muskclgruppcn befallen. Meistens ist der Functionsaus-
fall und die Atrophie der Muskeln nicht strenge an das Verbreitungsgebiet ein-
zelner Nerven gebunden, sondern es werden regellos von verschiedenen Nerven
versorgte Muskeln befallen, so dass man oft gleichzeitig Musculi interossei,
lumbricales, den Musculus opponens, adductor pollicis und digiti minimi ver-
schieden stark atrophirt findet, ohne dass ein Nervengebiet besonders bevorzugt
ist. Ja es können sogar gleichzeitig alle Muskeln im Verbreitungsgebiet aller drei
Nerven erkranken. Die dann durch die Contractur entstehende Kralleustellung
der Hand ist vollkommen gleich der bei der progressiven Muskelatrophie, Typus
Aran-Duchennk, zumeist auftretenden (Schlesinger).
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613
Die Atrophie progressiven Charakters beginnt fast immer im distalen
Knde der oberen Extremität , an den kleinen Handmnskeln ; das zeitliche Auf-
einanderfolgen der verschiedenen Gruppen, ob zuerst Interossei und dann Thenar
oder umgekehrt, wechselt. Häufig ist der Beginn und Verlauf der Atrophie analog
dem bei isolirter Ulnarisläsion auftretenden Mnskelschwunde ; die Zwischenräume
zwischen den Mittelhandknochen sinken immer mehr ein, da die Muxculi inter-
ossri gelähmt sind und atrophiren (Schlesinger). ln anderen Fällen überwiegt
das Bild der Medianuslähmung. Im ersten Falle kommt es zur Bildung der Krallen-
haud ( Klauenhand, main en griffe, clasped hand J, im zweiten Falle zur Atfenhand.
Das weitere Verhalten der Atrophien ist ganz verschieden. Manchmal
bleiben sie stationär, manchmal sind sie langsam fortschreitend, aber ein be-
stimmter Typus für das Fortschreiten ist nicht aufzustellen. Manchmal schreiten
sie gleiehmässig vom distalen Ende centralwärts vor, manchmal werden z. B. die
sämmtlichen Muskeln des Vorderarms übersprungen. So beobachtete Schlesinger
bei Klauenstellung der Hand und hochgradiger Atrophie des Deltoideus eine
geradezu herkulische Entwicklung der dazwischen gelegenen Abschnitte der
Musculatur.
Im weiteren Fortschreiten werden die Muskeln des Schultergürtels meistens
gleiehmässig befallen, dann die Rücken-, Intereostal- und Bauchmusculatur.
Von hier fortschreitend oder auch unter Verschonung der Schulter-,
Rückenmuacnlatur kennen die unteren Extremitäten ergriffen werden.
Durch bestimmte Combinationen von Muskelgruppcn, welche erkranken,
können Bilder entstehen , welche anderen, bestimmt abgegrenzten Erkrankungen
gleichen.
Wird z. B. die Musculatur des Schnltergürtels ergriffen , ro kann die
Muskelatrophie den Scapulo-Hmneraltypus zeigen. Neuerlich hat Brissacd7) einen
Fall von DCCHENNK-ERB’scher combinirter Schulterarmlähmung, höchst wahrschein-
lich auf gliomatftser Basis beschrieben.
Bei fortgeschrittener Atrophie sind die Knochen nur mit Haut bedeckt,
zu Tage liegend.
Die Muskelatrophien können bilateral und unilateral auftreten; ein aus-
schliesslich unilaterales Auftreten dürfte aber kaum auf die Dauer beobachtet
werden; ungleichmässige Intensität der Atrophie auf beiden Seiten dagegen kommt
häufiger zur Beobachtung.
Die befallenen Muskeln bieten meist vor dem Auftreten der Degenerations-
erscheinungen fibrilläre Zuckungen oder Zittern in einzelnen MuskelbUndeln. In
anderen Fällen fehlen die fibrillären Zuckungen, trotz sehr bedeutenden Muskel-
schwundes, gänzlich, wo sie bestehen, sind sie meist lange, während mehrerer
Monate oder selbst Jahre zu beobachten.
Häufig wird der Muskelschwund durch eine langsame Abnahme der
Leistungsfähigkeit der betreffenden Muskeln cingeleitet. Von dieser langsam ein-
setzenden, aber definitiven Ausfallserscheinung ist scharf zu unterscheiden die
plötzlich einsetzende Lähmung einzelner Extremitätenabschnitte und ganzer Extre-
mitäten, die nach kurzdauernden I’arästhesien und grosser Schwäche in wenigen
Stunden sich ausbilden kann. Solche Lähmungen können zwei Ursachen haben.
Es kann in das neu gebildete Gewebe eine Blutung erfolgen , und infolge des
erhöhten Druckes oder durch directe Zerstörung von Rückenmarksabschnitten
kann eine Parese zustande kommen. Oder aber cs kann nach längerem Be-
stände des Processes durch collatcrales Oedem um neugebildetes Gewebe im
Rückenmark eine Comprcssion der Pyramidenseitenstrangbahnen stattfinden und
auf diese Weise eine Parese der Beine zustande kommen. Derartige Lähmungen
können vorübergehend sein.
An den Beinen sieht man häufig sich eine Abnahme der motorischen
Fähigkeiten langsam entwickeln , die im auffallenden Gegensatz zu der noch
ziemlich kräftigen Beschaffenheit der Musculatur stehen kann. Für die Erklärung
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SYRINGOMYELIE.
dieser Parese muss eine andere Entstehungsursache gesucht werden. Sehr oft
sind bei der Syringomyelie die krankhaften Veränderungen im Halsmark beson-
ders stark ausgesprochen und es erleiden die Pyramidenseitenstrangbahnen mehr
minder Bchwere Läsionen, auf welche sie mit Zugrundegehen zahlreicher Nerven-
fasern und consecutiver absteigender Degeneration reagiren. Da die Degeneration
oft hochgradig ist, so erscheint es begreiflich, wenn sieb an den unteren Extre-
mitäten neben einer erheblichen Abnahme der motorischen Kraft spastische
Phänomene geltend machen. Die Muscnlatur der unteren Extremitäten wird daun
häufig rigide, die Beine werden zumeist im Kniegelenk gestreckt und aneinander
adducirt gehalten, die FUsse stehen mitunter in Spitzfussstellung. Wenn die
Rigiditäten längere Zeit andauern , so kann es auch zur Entwicklung von Con-
tracturcn mit theilweiser Fixation der Gelenke kommen. Sind die Pyramidcn-
seitenstrangbahnen noch oberhalb der Cervicalanschwellung ergriffen , so können
die Rigiditäten auch au den oberen Extremitäten in sehr ausgeprägtem Masse
hervortreten, während sonst mehr schlaffe Lähmungen überwiegen (Schlesinger,
1. c. pag. 11). In diesen Ausführungen liegt die Erklärung für das Auftreten
des bei der Syringomyelie nicht seltenen Bildes der amyotrophischen Lateral-
sklerose.
Während als motorische Reizerscheinungen im Beginn der Syringomyelie,
manchmal der Lähmung und Abmagerung vorausgehend, Schüttelbcwegungen und
unregelmässige Zuckungen beschrieben werden, sind dieselben in späteren Stadien
mehr tonischer Art.
In vorgeschrittenen Fällen nehmen auch, wie Schlesinger beobachten
konnte (1. c. pag. 13), Rumpf- und Athmungsmusculatur an den Krämpfen theil.
Die ganze Körpermusculatur ist stark contrahirt, der Kopf nach rückwärts ge-
zogen ; es entwickelt sich Opisthotonus von solcher Intensität, dass man bei einer
Erhebung des Kopfes den ganzen Körper mithebt. Der Athem geht zuerst tief
und keuchend , später setzt er infolge Glottiskrampfes aus ; die Respiration
beginnt sodann mit einem hörbaren inspiratorischen Jauchzen (Laryngospasmus);
die Dauer des Anfalles kann 5 Minuten betragen. Bei diesen generalisirten An-
fällen muss wohl an ein Ergriffensein der Medulla oblongata gedacht werden.
Die elektrische Untersuchung kann einfache Herabsetzung, respective
Schwinden der Erregbarkeit für den faradischen sowohl wie für den galvanischen
Strom ergeben, ln anderen Fällen zeigt Bich bei galvanischen Strömen gesteigerte
Erregbarkeit.
Entartungsreaction ist selten und meist nur auf einzelne Muskeln oder
Muskelbündel beschränkt.
Was den Gang der Kranken betrifft, so tritt zunächst schon in früheu
Stadien leicht Ermüdung ein ; häufig wird der Gang , je nach den Läsionen,
vollständig spastisch oder ataktisch und bei Localisation in der Medulla oblongata
taumelnd.
Das Verhalten der Sehnen- und Periostreflexe ist differential-
diagnostisch von der grössten Bedeutung.
Bei den Formen, die mit einer Muskelatrophie an den Armen verbunden
sind, erlöschen die Reflexe meist sehr frühzeitig. Eine Ausnahme hiervon machen
nur die Fälle, bei denen acut die Abmagerung der Muskeln cn masse eintritt.
Bei diesen Fällen , welche sehr der amyotrophischen Lateralsklerose ähneln , ist
eine hochgradige Steigerung der Sehnen- und Periostrefleie an den oberen Extre-
mitäten beobachtet worden (Schlesinger), ln anderen Fällen, wenn die Rigidi-
täten der Muskeln das Krankheitsbild beherrschen, kann man schliesscn, dass
die Erhöhung der Schnenreflexe an den oberen Extremitäten auf eine Ausdehnung
des Processes im Halsmark hindeutet.
„An den unteren Extremitäten sind oft Reflexe,“ heisst es bei Schle-
singer (1. c. pag. 66), „und zwar Patellar-, Fusssohlen- und Adductorenreflex
bedeutend erhöht. Nicht selten ist Fussclouus vorhanden oder durch Beklopfen
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SYRINGOMYELIE.
Ul 5
der Sehne des Quadriceps fetnorü eine Contraction auslösbar. Dieses Verhalten
der Reflexe findet man besonders bei Syringomyelie in den oberen Abschnitten
des Rückenmarkes und bei jenen Formen, welche im Lendenmark die centralen
Theile der Mcdulla einnehmen. Steigerung der Sehnenreflexe an den unteren
Extremitäten ist ein so häufiges Symptom bei der cervicalen Form der Syringo-
myelie, dass ein Ausbleiben derselben oder gar ein Ausfall der Sehnenreflexe
das reine Krankheitsbild trübt.“
Schlesinger betont, dass das Ausfallen dieses Symptoms, das hin und
wieder beobachtet werde, nicht genügend beachtet sei. Er führt drei Gründe an,
welche das Fehlen der Reflexe an den unteren Extremitäten bedingen können :
1. wenn die Syringomyelie mit Tabes dorsalis combinirt ist; 2. wenn das Lenden-
mark erkrankt und die reflexvermittelnden Abschnitte durch Höhlenbildung, respec-
tive Neubildung von Gewebe zerstört sind ; 3. wenn gleichzeitig eine Menin-
gitis besteht.
In einem Falle wurde Erhöhung der Masseterenreflexc festgestellt.
Die Hautreflcxe sind bei Syringomyelie meist gesteigert; dasselbe gilt
für die Bauehdecken-, Cremaster- und Fusssohlenkitzelreflexe , auch bei vollstän-
diger Analgesie.
Sensible Störungen. Als das auffallendste und für die Diagnose wich-
tigste Symptom der Syringomyelie wurde in den Beobachtungen von Schultze
und Kahler die (von Charcot so genannte) Dissociation der Sensibilitäten
bezeichnet. Bei vollständig erhaltener tactiler Sensibilität fallen die Sensibilitäten
für Temperatur und Schmerz vollständig aus.
Auf einem, durchaus nicht zu einem bestimmten Innervationsgebiete ge-
hörenden Abschnitt der äusseren Decke constatirt man bei der Untersuchung
vollständige Analgesie, Thermoanästhesie ; daneben ist der Tastsinn und der
Muskelsinn (Bruhl, 1. e. pag. 31) erhalten.
Diese Integrität der Berührungsempfindung und des Muskelsinnes trifft nun
allerdings für eine grosse Reihe von Fällen zu; die neueren Erfahrungen haben
gezeigt, dass diese Sensibilitäten häufig sehr bedeutende Störungen erleiden, ja voll-
ständig anfgehoben sein können. Während man aus den zuerst publicirten classischen
Fällen für die Differentialdiagnosc der Syringomyelie als Gesetz aufstellen konnte,
dass das Fehlen der erwähnten Qualitäten die Diagnose Syringomyelie ausschlösse,
weiss man heute, dass diese Dissociation nicht nur der Syringomyelie zukommt,
uud dass das Fehlen derselben nicht die Diagnose Syringomyelie ausschliessen
lässt, wenn die anderen Symptome für Höhlenbildung im Rückenmark sprechen.
Tactile Anästhesie ist von Roth •“), Joffroy und Achard *•), Hoch-
haus 4 °), FCrstner und Zacher42), Oppenheim42) (mit Schwund des Muskel-
sinnes) in sicheren, meist durch die Autopsie bestätigten Fällen von Syringomyelie
beobachtet worden. Aehnliche Fälle theilen Miura *•) und Ckitzmann 2e) (Beob.
N. IV von Parmentieri mit.
Weiter sind Fälle beobachtet, bei denen vollständig normale Sensibilität
in allen Qualitäten angegeben ist und in denen die Autopsie dennoch ausgedehnte
Höhlenbildung ergeben hat. In dem Fall vonSt'HÜLE*1) bestanden die Symptome
einer allgemeinen Paralyse neben vollständig intacter Sensibilität ; die Autopsie
ergab eine Höhle, welche fast das ganze Rückenmark einnahm. Dasselbe gilt für
einen Fall von Krauss42) und für einen von Schultze.2*)
Demgegenüber giebt es Fälle genug in der Literatur, in denen bei ganz
andersartigen Rückenmarksaffectionen die Dissociation der Sensibilitäten zu con-
statiren war. Neuerlich haben Plc und RlGAUD*1) einen Fall von Dissociation
der Sensibilitäten bei „ Pachymeningomyelite“ , veranlasst durch POTT'sche Krank-
heit, mitgetheilt.
Ckitzmann (1. c. pag. 21) stellt einige derartige Fälle zusammen. Er
erwähnt zunächst einen Fall von Parmentier *•), in dem es sieh zweifellos
um Ataxie handelte. Dass Minor *’) die Dissociation in 5 Fällen von Hämato-
616
SYRINGOMYELIE
myclie constatirte, erscheint ans nach den oben ansgeftlhrten Anschauungen von
Schlesinger und den Befunden von Schultze“) durchaus als voraugzusetzen.
Chahcot *8) tlieilt einen Fall von Hysterie mit Dissociation der Sensibilitäten
(mit vorübergehender Heilung!) hei einem Manne mit. Zwei gleiche Fälle
sind angegeben in der These von Caillet **) und einer in der These von
SOUQUKS. **J
Weiter sind Fälle von Dissociation der Sensibilitäten bei Alkoholintoii-
cation mitgetheilt von Lancebeaux 61). Lemoixe41; und bei traumatischer Neuritis
von Charcot.6*)
Die Fälle von ZlEHI. 6<), welche Critzmann (I. c. pag. 23) hier citirt,
dürften allerdings kaum in Betracht kommen, obgleich sie sehr interessante Bei-
spiele der verschiedenartigsten partiellen Empfindungslähmungen bringen.
Am häufigsten werden aber dieselben Dissociationen bei der Lepra beob-
achtet. Wenn wir auch bei dem Abschnitt über DifTerentialdiagnose eingehender
ilie Lepra berücksichtigen müssen , so wollen wir doch an dieser Stelle schon
daraufhinweisen, dass Zambaco 8S’ B«), Lki.oiz 6I), Princb A. Morrow **), Die-
rixg 5*) u. A. Beobachtungen von Dissociation der Sensibilitäten bei Lepra mit-
gctheilt hahen. Die Erfahrungen des Verfassers in den letzten zwei Jahren in
dieser Hinsicht können die früheren Mittheilungen nur bestätigen. Critzmann
(1. c. pag. 22 — 31) geht die verschiedenen Formen des Tastsinnes durch und
kommt zu dem Schluss, dass die Empfindung der einfachen Berührung, des
Druckes, der Localisation , der Reliefsinn, oder stereognoinische Sinn und die
Fähigkeit, die Art von Flüssigkeiten durch das Gefühl zu bestimmen — , dass,
sagen wir alle diese Qualitäten des Tastsinnes bei der Syringomyelie geschwächt
oder vollständig aufgehoben sein können. Sie können aber auch bestehen, können
andererseits auch bei anderen Rückenmarkserkranknngen afficirt sein , und sind
es, wie wir aus reicher Erfahrung sagen könucn, oft bei der Lepra.
SCHLESINGER vermochte in Fällen, in denen der Tastsinn vollständig
erloschen zu sein schien, durch rasch wiederholte Berührungen einer hyper-
ästhetischen Hautstelle noch Tastempfindung auszulösen. Nach demselben Autor
ist Polyästhesie oder Verspätung einer Empfindung bei Syringomyelie nicht beob-
achtet. Vielleicht Hesse sieh diese Beobachtung differentialdiagnostiseh verwert hon ;
bei Lepra ist die Polyästhesie eine oft vorkoinmende Erscheinung.
Nachempfindungen und Hyperästhesien findet man meist der sensiblen
Lähmung vorausgehend.
Anästhesien und Hyperästhesien entsprechen in ihrer Ausdehnung meist
den analgetischen und thermoanästhetischen Gebieten. SchCppel *°) hat einen
höchst eigenthllmliehen Fall von Anästhesie am ganzen Körper beschrieben.
Die Veränderungen der Schmerzempfindungen werden häufig
durch Hyperästhesie eingeleitet ; die Hypalgesie, resp. Analgesie entwickelt sieh
langsam, zeigt aber dann, einmal entwickelt, fast nie grössere Schwankungen.
Die Analgesie beginnt meist au einer Extremität, häufig ganz unabhängig
von den .Muskelatrophien, und schreitet dann ceutralwärts voran ; werden z. B.
beide obere Extremitäten so befallen und treffen sich im Vorschreiten die anal-
getischen Zonen, so kommt cs zu der, von Chahcot sogenannten, westenförmigen
Analgesie. Die Analgesie erstreckt sich in vielen Fällen auch auf die tieferen
Theile ; bekannt ist der Fall von SCHULTER, der einen Bäcker betrifft, welcher
sich beim Teigkneten, ohne Schmerz zu empfiuden, deu Arm brach. Schlesinger
hat schmerzlos eine Luxation eintreten und repouirt werden sehen. Er theiit
ausserdem eigene und fremde Fälle mit von Bchmerzlos ausgeführten Operationen,
ohne Narkose, bei Syringomyeliekranken. Ich hatte Gelegenheit, bei Lepra-
kranken, welche Dissociationen der Sensibilitäten boten, den eigcnthttmlichen Ein-
druck zu beobachten, den es machte, wenn der Kranke genau angiebt, an welcher
Stelle Operationen — tiefe Incisionen, Amputationen von Fingern — vorgenommen
werden, ohne irgend welche Schmerzempfinduug zu haben, ln anderen Fällen
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SYRINGOMYELIE.
617
werden tiefgehende Verbrennungen von den Kranken, z. B. des ganzen Rückens,
erst durch den Brandgeruch bemerkt.
Die Schleimhäute des Mundes, der Nase, der Blase, des Rectums, sowie
die Conjunctivn können ebenfalls vollständig analgetisch werden.
Die Störungen der Temperaturempfindung beginnen meist mit
subjectiven Parästhesien, Hitze- und Kälteempfindung. Allmälig wird dann die
Pereeption von TemperatureindrUcken verlangsamt ; die Kranken warten längere
Zeit, bis sie eine Antwort geben auf die Application eines heissen oder kalten
Gegenstandes. Wechselt man rasch hinter einander selbst bei grösseren Temperatur-
differenzen heiss und kalt, so vermögen die Kranken nicht mehr bestimmt zu
antworten und bleiben dann häufig bei einer Temperaturempfindung stehen, er-
klären also — wenn die Temperaturdifferenz nicht z. B. Eis und fast kochendes
Wasser ist, sondern ca. 20 — 25 0 beträgt — jede Temperatur in gewissen Breiten
für kalt oder für warm.
Eine eigenartige Veränderung der Temperaturempfindung erwähnt Schle-
singer, die stark an tabetisehe Sensibilitätsstfirungen erinnert. Es handelt sich
nämlich um zeitliche Dissoriation der Tempcratiirempfindung in der Weise, dass
dieselbe an den Beinen im Vergleiche zu den anderen Sinnesqualitäten erheblich
verspätet eintraf.
Die Schleimhäute können auch völlig therrooanästhetisch werden. Weber
hatte angenommen, dass die Empfindung von kalt und heiss durch Getränke,
welche in den Magen eingeführt werden, nicht von der Schleimhaut des Magens,
sondern durch die Abkühlung oder Erwärmung der äusseren Decke ausgelöst
werde. In einem Falle von absoluter Thermoanästhesie vermochte nun Schle-
singer nachzuweisen, dass der Kranke heiss und kalt im Magen zu unterscheiden
wusste; es muss demgemäss die Magenschleimhaut selbst diese Empfindung ans-
gelöst haben.
SCHLESINGER vermochte in einem Falle auch Thermoanästhesie der
Schleimhaut der Urethra und der Blase zu constatiren.
An sensiblen R ei z e rsc h ein u n ge n müssen ausser den schon er-
wähnten Parästhesien von Seiten des Temperatursinnes schmerzhafte Parästhesien
an manchen Körperstellen und Nebenempfindungen im Bereiche der tactilen
Sphäre erwähnt werden. Schlesinger fuhrt noch eine Beobachtung von Müller
(Graz) an, dessen Kranker, obwohl anhidrotisch, fortwährend die Empfindung
hatte, wie wenn er von Schwciss triefen würde.
Lancinirende Schmerzen sind, wie Schlesinger betont, nicht selten ein
Initialsymptom, können viele Jahre dauern und werden von den Kranken ganz
analog wie bei Tabes geschildert. Auch Gürtelgefühl wird beobachtet.
Trophische Störungen. Die trophischen Störungen bei der Syringo-
myelie sind mannigfaltigster Art und bieten das grösste Interesse. Sie betreffen
Haut, Unterhaut, Knochen und Gelenke.
Ich will hier einflechten, dass die Existenz trophischer Nerven nicht
mehr eine Hypothese zu sein scheint nach DUKDUri’s ••) experimentellen Unter-
suchungen. Durch Rcsection des Vagus (vagosyinpathicus) der einen Seite bei
4 Monate alten Hündchen wurden Cornealtrübung und Infiltrationsprocesse an der
Lunge hervorgebracht. Weiter hatte die Durchschneidnng des Halssympatbicus
der einen Seite an noch wachsenden Thieren Vergrösserung des gleichseitigen
Ohres zur Folge. Damit ist die Frag«1 nach der Existenz trophischer Nerven
im positiven Sinne entschieden.
Trophische Störungen der Haut (mit Einschluss der vaso-
motorischen Störungen). Die trophischen Störungen an der Haut können die.
ganze Scala von der einfachen Hyperämie durch alle regressiven und progressiven
Ernährungsstörungen durchmachen. Schlesinger hat dieselben denn auch direct
in Anlehnung an das HEBRA-KAPOsfsche System durchgenommen und die zuge-
hörige Literatur zusammengestellt.
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618
SYRINGOMYELIE.
Wir finden Anämie und Stauung an der Haut, besonders der Extremi-
täten, die vollständig dem Typus der RAYXAUD’schen Krankheit entsprechen ;
weiter findet man Erytheme (echte Erytheme im Sinne Unna ’s, Wallungshypcrämien)
sowohl an den Extremitäten, als auch an Körperstellen, die, besonders bei bett-
lägerigen Kranken, dem Druck ausgesetzt sind.
Durch Wallungs- sowohl wie durch Stauungshyperämie werden weiter
eine ganze Reihe ekzemartiger Affectionen bei der Syringomyelie beobachtet.
Urticaria, pruriginöse und pemphigoide Eruptionen werden weiter beschrieben.
Pemphigoide Eruptionen werden vielfach erwähnt. Als besonders in-
structiv möchten wir hier den nach jeder Seite hin gründlich beobachteten Fall
von Nkubergkk*1), dessen anatomischer Theil später von Asxus •*) beschrieben
ist, im Auszuge mittheilen.
Es handelte sich um ein hysterisches, mit secundärer Lues behaftetes
Mädchen. Bei der Untersuchung wurden auf dem Rücken 2 Narbenkeloide con-
statirt ; der Mittelfinger der rechten Hand war , angeblich wegen Trauma und
consecutivem Brand, amputirt; der Amputationsstumpf war auf Druck sehr schmerz-
haft, und von ihm aus traten von Zeit zu Zeit heftige, iancinircnde, auf die
obere Extremität, Brust und Rücken der rechten Seite ausstrahlcnde Schmerzen auf.
Nach vierwöcbentlichem Spitalaufenthalte zeigten sich plötzlich bei der
Patientin in der Umgebung der rechten Brustdrüse und oberhalb deg rechten
Schlüsselbeines, unter gleichzeitigem Ausbruch der bisher noch niemals aufge-
tretcuen Menses, zahlreiche Blasen.
Diese Blaseneruptionen wiederholten sich bei der Kranken in oft an die
Menses sich anschliessenden, sonst aber unregelmässigen Intervallen, und waren
zunächst auf die rechte Brust und die rechte obere Extremität beschränkt; erst
nach einem Zeitraum von vier Monaten gingen sie auch auf die linke Körper-
seite und zwar nur auf die obere Extremität und Brust über.
Die Blasen trockneten zu grossen, gelbgrünen, unter dem Hautniveau
liegenden Schorfen ein, die meist bald durch den umspülenden Eiter losgelöst
wurden und dann einen unregelmässig vertieften, scharf umschriebenen, leb-
haft eiternden , einen fötiden Geruch verbreitenden Substanzverlnst zu Tage
treten liessen, der mit schliesslicher Keloidbildung langsam verheilte. Oft ent-
wickelten sich auch ohne Blasenbildung während der Nacht wie verätzt aus-
gehende, einen trockenen Schorf bildende, nekrotische Stellen. Seltener traten
längliche oder nierenförmige, braunroth verfärbte, beetartige Erhabenheiten auf,
die erst nach tagelangem Bestände eine centrale mumificirtc Kruste bildeten,
während zugleich manchmal am Rande frische, ganz kleine Bläschen auftauchten.
Sehr häufig wurden erythematöse Flecken im Gesichte, sowie beträcht-
liche Schwellung und Röthung der Umgebung der zur Gangrän führenden Flecke
beobachtet. Mehrfach wurden auch im weiteren Verlaufe oberflächlichere, nekro-
tisirende Plaques an der Zungen-, Mund- und Lippenschleimhaut und eine kleine,
runde, verschorfte Stelle an der rechten grossen Labie coustatirt.
Die neurologische Untersuchung ergab: Rechtsseitige totale, auch auf
die untere Extremität sich erstreckende Anästhesie in allen Qualitäten, am linken
Bein normale Sensibilität. Auch die Conjunctiva des rechten Auges ist anästhe-
tisch ; dadurch kommt es gelegentlich zu einer Keratitis.
Es bestand : Totaler Verlust der Schmerzempfindung, Thermoanästhesie,
geringe rechtsseitige Einengung des Gesichtsfeldes. Ferner traten mehrfach
Furunkel, ein allerdings nicht schmerzloses Panaritium am rechten Zeigefinger
auf ; ausserdem heilten die Wunden unter Keloidbildung. Diese Symptome
sprechen für Syringomyelie. Doch liessen sich die erwähnten Sensibilitätsstörungen
auch auf die ganz in den Vordergrund gedrängte ganz besonders hochgradige
Hysterie der Patientin zurückfuhren. Diese Thatsache «*n,- ijei gleichzeitigem
Fehlen von Muskelatrophie, Skoliose, Afienhand (Akax-Di Thexne), Verdickungen
der Hände, von Störungen der Nägel, im Vereine mit einer „hochgradigen Herab-
SYRINGOMYELIE.
619
«etzung der Bcrührungscmpfindung , sowie einer nur sehr geringgradigen vaso-
motorischen Störung (Urticaria factitiaj Hess die Diagnose: Syringomyelie dem
Verfasser zweifelhaft erscheinen.
Patientin wurde rasch kachektisch, magerte rapid ab, Nase und Extremi-
täten wurden kühl, am rechten Handrücken entwickelte sich eine eigenthümliehe,
bläuliche Verfärbung; erythematöse, etwas erhabene und hochgradig schmerzhafte
Flecken kamen besonders an den unteren Extremitäten zum Vorschein und der
Exitus trat schnell ein.
Die Section ergab : Syringomyelie.
ln dieser einen Beobachtung finden sieh also eine grosse Reihe von
trophischen Störungen der Haut vereinigt.
Rem AK01) beschreibt ein spinales Ocdem, das sich durch Localisation und
Dauer bei intactem Herz und Nieren einstellte.
Bemerkenswerth ist auch der von Jacqcet«“) im internationalen Atlas
seltener Hautkrankheiten (mit anatomischen Präparaten) abgebildete Fall von
Hautgangrän um den Schultergtlrtel und am Kopf bei Syringomyelie.
Schwielenbildung an den Händen, auch bei nicht arbeitenden Individuen,
Sehrunden an diesen Stellen, Warzenbildung, Sklerodermie, abnorme Pigmentationen
werden mehrfach beschrieben. Schlesinger stellt (1. c. pag. 46, 47) die hierher
gehörigen Publicationen zusammen.
Abnorme Pigmentationen (Vitiligo) hat Buchl in seiner These beschrieben.
Eine besondere Erwähnung verdienen die meist nur als verschiedene
Grade desselben Processes anzusebendcn, sich um einen der Maladie de Raynaud
vollständig entsprechenden Symptomencomplex anreihenden Affectionen der Extre-
mitäten. Man beobachtet bei Kranken mit den Zeichen der Syringomyelie alle
Stadien, angefangen von leichter Cyanose und kühler Temperatur der Extremi-
täten, durch fast vollkommene Sehwarzfärbung und Schwellung bis zu vollständiger
Gangrän. In einigen mitgetheilten Fällen kam es regelmässig zu blasiger Ab-
hebung der Haut au den Fingerspitzen ; in anderen Fällen zu Ulcerationen.
Weiter sind klinisch von besonderem Interesse die tieferen Entzündungen,
die Phlegmonen und gangränösen Entzündungen des l’nterhautzcllgewebes.
Es sind dies diejenigen Affectionen, welche den Typus der als Maladie
de Alorvan bezeichneten Form der Syringomyelie ausmachen.
Morvan**) beschrieb 1883 als „Parisie arutlgdsique h panaris ou
par&to-analgisie des extrimiiis superieitres“ eine eigenartige Krankheit, auf die
wir weiter unten, bei der Aufstellung der häufigsten Typen von Syringomyelie,
zurückkommen werden ; an dieser Stelle intcrcssiren uns die trophischen Störungen.
Lot] az El. 67) (in einer unter Charcot’s "Vorsitz gearbeiteten These) beschreibt die-
selben ganz vorzüglich folgenderinassen : „Was den Kranken zum Arzte führt,
ist meistens das Panaritium ; dasselbe ist häufig gerade das Symptom, welches
die Krankheit verräth. Der Beginn ist wie beim gewöhnlichen Panaritium :
Röthe, Hitze, Schwellung ; die ersten Panaritien sind meist auch noch schmerz-
haft. Aber die Schmerzen nehmen allmälig ab, um schliesslich ganz aufzubören
bei den später sich wiederholenden Panaritien. Hin und wieder sind die Pana-
ritien auch von Anfang an schmerzlos, in anderen Fällen besteht dauernd Schmerz-
haftigkeit bei denselben.
In den meisten Fällen sind die Folgen der Panaritien sehr schwere; es
tritt schnell Knochennekrose ein, sowohl der äussersten, wie der übrigen Phalangen
und die Knochen werden ausgestossen. Der Effect ist manchmal auch Entzündung
der Gelenke mit Ausgang in Ankylose. Man hat auch das Fortkriechen der
Entzündung in den Sehnenscheiden der Beuger beobachtet. Sehr selten gehen
diese Panaritien in Heilung aus ohne Betheiligung des Skelettes. Wie gesagt
haben diese Panaritien Neigung zum Recidiviren ; es sind auf demselben Individuum
bis zu 9 Panaritien beobachtet. Manchmal folgen sich diese Panaritien schuell,
manchmal, z. B. in einem Fall von JCrgensen, lagen 10, in einem Fall von
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«20
SYRINGOMYELIE.
Morvax 11 Jahre zwischen dem ersten und zweiten Panaritium: in dem Falle
von PboüFF hat der Kranke in 44 Jahren 8 Panaritien gehabt; zwischen dem
4. und 5. Panaritium lagen 20 Jahre.
Eine Folge dieser Entzündungen der Finger sind Mutilationen, dauernde
Verunstaltungen der Hände, wodurch die aus der bestehenden Parese resultireuden
Funetionsstörungcn noch vermehrt werden.
Aber die im Gefolge der Panaritien auftretenden Störungen sind nicht
ausschliesslich auf Rechnung der Verunstaltungen der Hände zu setzen ; dieselben
sind bis zu einem gewissen Grade Folgen der zahlreichen anderweitigen trophischen
Störungen. Sehr häufig entwickeln sich in den natürlichen Falten der Gelenk-
beugen Einrisse, die zur Eiterung Anlass geben : hin und wieder dringen diese
Schrunden bis in die Sehnenscheiden und sind die l'rsaehe eiteriger Sehnen-
scheidenentzündung.
Die Epidermis verdickt sieb und bildet harte Schwielen (s. obeni. In
anderen Fällen kommt es zum Mal perforanl, besonders an den Füssen.“
Kip ioo.
Eig<*uo HeoUinhtuug. Lepra (Typus der Jtaiaitu de J/onan).
An dieser Stelle muss auch das Vorkommen der „ Gloeey ttkin“ erwähnt
werden. Gerade Patienten mit dem Type der Maladie de Morvnn zeigen diese
glänzende, gespannte, rothviolette, mit dilatirten Gcfässen durchzogene Haut, die
an den (meist verunstalteten) Nägeln ansetzt, als sei die zu enge Haut mit Gewalt
strafl' gezogen.
Die lctztbeschriebenen Läsionen linden sieh nun besonders bei den
Leprösen, die den Symptomcneomplex der Maladle de Morvan und der Syringo-
myelie bieten. Beistehende Figur 1 giebt eine Abbildung der rechten oberen
Extremität eines Leprösen mit den Veränderungen der Maladie de Morvan :
Hyperextension der Hand, äusserste Contractur der Finger, Panaritien, G loset/
«A-m und phlegmonöse Entzündungen des Vorderarmes. Ich bemerke, dass der
Kranke nur an den Extremitäten, und zwar viele Jahre (10 — 12 Jahre) nur an
den oberen Exlremitftten Symptome seiner Krankheit zeigte.
Auch acuter Decubitus, acute tiefgreifende Gangrän ist in einigen Fällen
beobachtet. Gerlach bat einen Decubitus erwähnt, der sieh in 5 Tagen zu
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SYRINGOMYELIE.
G21
einer Grösse von 10x14 Cm. entwickelte und den Knochen arrodirte; Schöpprl
sah bei fettreichem oder ödematösem Gewebe jauchigen Zerfall des Gewebes vor
sich gehen (Schlesinger, 1. c. pag. 43). Diese jauchigen Entzündungen können
die letzte Ursache des letalen Ausganges der Syringomyelie sein.
Störungen der Sch weisssecretion werden häufig beobachtet.
Vermehrung derselben, einseitig oder begrenzt, berichten Schultze, Bernhardt.
Fürstner und Zacher, Rumpf, Adler, Strümpell, Hoffmann u. A. Auch Ver-
minderung der Schweisssecretion wird beobachtet. Diese Störungen der Sehweiss-
secretion werden von den Kranken selbst bemerkt und sind häufig ein Frühsymptom
der Syringomyelie.
Als Anomalien der Nägel werden sowohl Hypertrophien wie Atrophien
beobachtet. Die Nägel erscheinen manchmal auffallend stark gekrümmt, schmal
und verlängert ; manchmal hingegen sind sie verkümmert, kurz , mit starker
Krümmung. Die Oberfläche ist gefurcht, rissig, die Nagelsubstanz ist brüchig
und blättert ab, die Nägel können weiter in ihrer Substanz auffallend verdünnt
oder, besonders gegen den vorderen Rand zu, stark verdickt sein.
Auf trophische Störungen zurückzuführende Erkran-
kungen der Knochen und Gelenke. Die Häufigkeit der Gelenkerkran-
kungen bei Syringomyelie ist besonders von Sokoloff 60' Chakcot (Berbez,ü)
und Grap71) betont worden.
Sokoloff konnte 20 Fälle ans der Literatur und 3 eigene Fälle zu-
sammenstellen.
ln seinen eigenen Fällen wurde bei der Resection der Gelenke hoch-
gradige Zerstörung der Gelenkenden durch Knorpeldefect , Abschleifung des
Knochens und Fracturen, neben mehr oder weniger starker Verdickung anderer
Theile durch Osteophytenbildung gefunden; ausserdem Schrumpfung und Ver-
dickung der Kapsel mit Zottenwucherung und Atrophie der Muskeln.
Sokoloff kommt auf Grund seiner Beobachtungen zu dem Schlüsse,
dass diese Gclenkerkrankungeu keine zufällige Complicationen der Syringomyelie
seien, sondern ein neuropathisches Leiden; sie haben viel gemeinsames mit den
Gelenkleiden bei Tabes, können aber wegen mancher Eigentümlichkeiten doch
als gliomatöse von den tabetischen Erkrankungen unterschieden werden.
Charakteristisch ist ihre fast regelmässige Localisation den oberen Extremitäten.
Schlesinger (1. c. pag. 50) stellt bei 63 Patienten 97 Arthropathien an den
grösseren Gelenken zusammen.
Es betrafen :
Schultergelenk .... 29
Ellbogengelenk .... 24
Handwurzelgelenk ... 18
Daumengelenk 2
Hüftgelenk 4
Kniegelenk 7
Fugswurzelgelenk .... 7
Kiefergelenk 4
Sterno-Claviculargelenk . . 2
97
Es entfallen also etwra 80% Arthropathien auf die oberen Extremitäten,
während bei der Tabes nach der Statistik von Schrötter 76%j nach der von
Rotter 80% auf die unteren Extremitäten kommen. Das männliche Geschlecht
wird weit häufiger befallen als das weibliche.
Nach der Statistik von Graf beginnt die Erkrankung durchschnittlich
im 40. Lebensjahre. Manchmal kann die Gelenkerkrankung das erste Symptom
der Syringomyelie sein.
Als veranlassendes Moment werden häufig Traumen genannt, häufig ist
aber auch keine Verletzung vorhergegangen. Schlesinger dürfte das Richtige treffen
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622
SYRINGOMYELIE.
für eine Reihe von Fällen, wenn er meint, dass eine Atrophie der die Gelenke
bedeckenden Musculatur Veranlassung znr Erschlaffung der Gelenksbänder und
damit auch zur Herbeiführung von krankhaften Veränderungen an den Gelenken
Anlass geben. Häutig fehlt aber sowohl dieses Moment , wie auch jegliches
Trauma, und dann hat man entschieden ein neurotisches Gelenkleiden vor sich.
Als wichtiges anatomisches Unterscheidungsmerkmal zwischen der Arthritis
deformans und der gliomatöseu Gelenkentzündung bezeichnet Sokqloff den
Befund, dass beim Gliom auch ausserhalb der Gelenkkapseln Osteophyten auf-
treten und zur Verknöcherung der periarticulären Weiehtheile fuhren.
Nach Graf hat man eine atrophische Form der Gelenkentzündung zu
unterscheiden.
Klinisch stellen sich die Gclenkerkrankungen folgendennassen dar (nach
Schlesinger):
Der Beginn ist oft ein acuter mit bedeutendem Erguss in das Gelenk
und mächtiger Schwellung der Umgebung. Schmerzen fehlen oft oder sind so
gering, dass manchmal erst aus dem Functionsausfalle und der Schwellung der
Gelenksgegend vom Kranken eine Beschädigung vermuthet wird. Der Erguss
kann sich nach Tagen oder Wochen vollkommen resorbiren und damit restitutio
in integrum eintreten, oder es bleiben Residuen zurück, deren Existenz durch
Knarren bei Bewegungen im Gelenk erkannt wird. Nach und nach tritt wieder
eine stets zunehmende Vergrösserung in der Gelenkgegend auf, welche nach
längerem Bestände eine unförmliche V erunstaltung des nfticirten Körperabsehnittes
bewirkt. Schmerzen fehlen hierbei oft völlig. Aber auch bei fehlendem Schmerz
kann es sich dabei um echte, durch Obduction verificirte neuropathische Arthro-
pathien handeln. Die Untersuchung ergiebt eine bedeutende Difformität sowohl
der knöchernen Antbeile des Gelenkes als auch der Kapsel und der Bänder.
Die Veränderungen können hypertrophischer oder atrophischer Natur sein, sich
auch mit einander combiniren. Im ersten Falle sind die Knochen stark aufge-
trieben, die Gelenksknorpel usurirt, die Synovialis trägt zumeist zahlreiche,
manchmal langgestielte Zotten ; dieselben könnten sich auch von der Unterlage
ablösen, und als freie Körper im Gelenke flottiren. Die Kapsel selbst enthält
reichliches neues Knochengewebe; um die Gelenke herum sind in den Weich-
theilen, sowie an den Knochen selbst Knochenneubildungen wahrzunehmen. Im
letzteren Falle ist die Rarefaction des Kopfes, die Zerstörung der Pfanne, die
Diastase der Gclenkenden und Ausdehnung der Kapsel, endlich die Erschlaffung
des Handapparates auffällig. Es können sich beide Zustände combiniren , indem
neben Erschlaffung des Bandapparates und der Kapsel, neben Atrophie der
knöchernen Antheile des Gelenkes hypertrophische Wucherungen an der Synovialis,
Knochcneinlagerungcn in die Kapsel, Infiltration der Weiehtheile, Exostosen-
bildung an den Knochen sich vorfinden. Der Flüssigkcitserguss in das Gelenk
kann auch bei diesen Formen sehr mächtig sein. — Es kommt durch die er-
wähnten Momente zum Schlottergelenk und infolge dessen zu spontanen
Luxationen. Manchmal ist Epiphysenlösung oder Spoutanfractur der Knochen
in der Umgebung der erkrankten Gelenke vorhanden. Mitunter ist der Endaus-
gang der Arthropathie Ankylosirung des Gelenkes. — Eine vollständige Zu-
sammenstellung von 63 Beobachtungen (53 von anderen Autoren und 10 eigene)
bringt Schlesinger (1. c. pag. 54 — 60).
Die trop bischen Störungen an den Knochen stellen sich dar
entweder als Volumsvermehrungen, hypertrophische Zunahme der Knochensubstanz,
oder als Rareficirung, Spongiöswerden des Knochens. Es kann manchmal zu
ganz bedeutenden Exostosen kommen. Dkj&kink beobachtete eine taubeneigrosse
Exostose am rechten Ellenbogen, die 37 Jahre bestanden hatte. Die Rareficirung
des Knochens hat eine grosse Brüchigkeit desselben zur Folge , so dass es bei
ganz geringfügiger Gewaltanwendung und sogar spontan, durch Muskelzug zu
Fracturen kommt ; dieselben werden , der Analgesie wegen, in manchen Fallen
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SYRINGOMYELIE.
623
kaum bemerkt. Roth theilt einen Fall mit von Clavicularfractur, die dem Kranken
erat am folgenden Tage durch die Schwellung bemerkbar wurde. Weitere ist
bekannt in der Literatur der schon oben citirte Fall von Schultze : Ein Biieker
10g sich im Verlaufe von 3 Jahren eine Fractnr des Humerus, zwei Fraeturen
des Metacarpus und eine Radinsfractur zu. Und zwar passirten die Fraeturen
beim Teigkneten, ohne dass der Patient es bemerkt hätte.
Die Heilung solcher Fraeturen erfolgt meist in der normalen Zeit, aber
mit Bildung auffallend grosser Callusmassen ; Pseudarthroseubildnng ist selten.
Verkrümmungen der Wirbelsäule werden von allen Autoren
berichtet; einige legen auf dieselbe mehr Gewicht, als berechtigt erscheint. Bruhl
berechnet das Vorkommen derselben auf 50%) *1» er es 17mal bei 36 Fällen
erwähnt findet; Bernhardt'*) berechnet (aus 70 Fällen mit 18mal Verkrüm-
mungen) 25% Verkrümmungen der Wirbelsäule bei Syringomyelie.
Am häufigsten wird die Skoliose beobachtet; sie kann sehr geringgradig
sein, in anderen Formen dagegen kommt es zu wirklichen Missstaltungen des
Thorax. In den meisten Fällen betrifft die Skoliose die RUckenwirbclsäule und
erstreckt sich von hier manchmal auf die Hals-, resp. Lendenwirbelsäule.
Die Kyphoskoliose ähnelt der, welche bei der Pachymeningitis ceroicalis
hypertrophica zur Beobachtung kommt. Zwei hochgradige Specimen finden sich
abgebildet; einmal bei Hoffmann*) (1. c. pag, 10) und in den klinischen Ab-
bildungen von Curschhanx. Lordose ist sehr selten ; Bruhl und Schlesinger
erwähnen je einen Fall.
Ausnahmsweise sollen Verkrümmungen der Wirbelsäule schon in frühen
Perioden der Krankheit beobachtet werden : ausgesprochene Kyphoskoliose gehört
jedenfalls späteren Perioden an.
Subjectiv wurde Schmerzhaftigkeit der Wirbelsäule spontan und besonders
bei Beklopfen, und zwar vorzüglich an den der stärksten Läsion entsprechenden
Stellen constatirt.
KröxiG ’*) glaubt , dass diese Rückgratsverkrtimmung auf artbritische
Processe, ähnlich den bei Tabes an langen Knochen vorkommenden, zurückzu-
filhren sei. Roth glaubt, dass die Muskelatrophie primär sei und das Ueber-
gewicht der nicht atrophischen Muskeln durch Zug die Verkrümmung der Wirbel-
säule zustande bringe. Schlesinger tritt mit Morvax und Bruhl für die
trophische Natur der Deviation der Wirbelsäule ein. Morvan **) drückt sich
folgendermassen aus: Man muss eine trophische Störung ohne Störung der sensiblen
und motorischen Nerven annehmen ; die Skoliose ist der Effect einer centralen
trophisehen Innervstionsstörung.
Es liegen eine Reihe von Mittheilungen in der Literatur vor, in denen
Akromegalie bei Syringomyelie beobachtet wurde.
Es ist hier nicht der Ort, die Frage zu erörtern , ob wir unter Akro-
megalie eine Krankheitseinheit zu verstehen haben, oder ob cs sieh um ein
Syndrom von Symptomen bandelt, die wir bei verschiedenen anderweitigen
Alterationen beobachten können.
Wir möchten uns der Anschauung von Erb7*) anschliessen , dass es
sich um eine forinative Reizung handelt, die 1. von aussen kommen kann, und
zwar entweder durch Mikroorganismen oder durch chemische Reize, durch Nahrungs-
und Genussinittel ; 2. von innen, und zwar a) durch trophoneurotische Reizung
zur Gewebshypertrophie oder b) durch Production von chemischen Stoffen , die
theils erregend auf die Körpergewebe wirken, theils Wucherung veranlassen durch
Aussendung von mit grösserer plastischer Energie begabten Elementen.
HOLSCHEWXlKOKF7*) durfte deshalb zuzustimmen sein, wenn er die Ver-
änderungen von Akromegalie bei einem als Syringomyelie durch die Autopsie
erwiesenen Falle, als Folge der von der Syringomyelie abhängigen Nervenein-
flüssc hinstellt. Recklinghausen ,t) stellt als wesentliches Unterscheidungsmerkmal
der Akromegalie gegenüber dem Riesenwuchs hin , dass die Akromegalie sich
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624
SYRINGOMYELIE.
erst entwickelt, wenn das allgemeine Körperwachsthum abgeschlossen ist, während
der Riesenwachsthum bis zum 10. Lebensjahre entsteht und bis zum 20. Lebens-
jahre abgeschlossen ist. Auch anatomische Differenzen zeichnen die Akromegalie
aus. Es handelt sich nicht um ein Längenwachsthum, sondern um eine allgemeine
Gcwebshypcrtrophie, welche besonders die Knochen betrifft, an denen sich, wie
VlRCHOW 78) kürzlich demonstrirte, mächtige Exostosen bilden. In einer neueren
Arbeit hat Arnold "*) die Akromegaliefrage behandelt. Er will, da ein I^ängen-
wachsthum bis jetzt bei Syringomyelie nicht nachgewiesen ist, die Affection als
Pachyakrie bezeichnen, und zwar je nachdem mehr die Weichtheile oder die
Knochen an der Volumszunahme betheiligt sind, als Pachyakria mollis
oder Pachyakria ossea. Marie und Marinesko linden eine gleichmässige
Hypertrophie aller Bestandtheile der Haut in den afficirten Partien, ebenso des
Knorpels und der Knochen, bei denen es sich direct um Knochenbildung handelt.
(Eine Zusammenstellung der gesamintcn hierher gehörigen Literatur und der ver-
schiedenen Ansichten siehe bei Eulenburg.80)
Nicht ganz zurückzuweisen scheint uns, gerade bei der Syringomyelie,
die von DüCHESNEAU*1) ausgesprochene Meinung einer am yo t ro p h i s c h e n Form
der Akromegalie.
Wir können deshalb der Ansicht BbuHL’s **) (1. c. pag. 40) nicht bei-
stimmen, der in dem Befunde der Giiomatose bei gleichzeitig bestehender Akro-
megalie ein zufälliges Zusammentreffen sehen will, ohne jede inuerc Beziehung.
Die Fälle von Erb’*), Fischer81), Holschewxikofk7*), Arnold 8J), Bier81), ferner
der von Fischer citirte Fall von Wagner beweisen zweifellos, dass zu dem
Symptomeneomplex der Syringomyelie in einigen Fällen auch die Akromegalie gehört.
Dass Störungen der Sphinkter enfunction nicht häutiger sind,
muss, wenn man die bedeutende Ausdehnung der gliomatösen Neubildung, den
Umfang der Höhlen im Rückenmark bedenkt, auffallen , wie Brchl betont
(1. c. pag. 47).
Störungen von Seiten der Blase, Retention oder Ineontinenz kommen wohl
vor, aber äusserst selten. Symptome von Cystitis werden verzeichnet ; sie dürften
aber, wie Bruhl meint, mehr auf trophische Störungen zurückzufUhren sein als
auf Betheiligung der spinalen Centren. Die wohl als Frühsymptom auftretenden
Blasenstorungen können entweder in häufigem , imperiösem Harndrang oder in
einer Parese der Hlasenmusculatur bestehen, so dass die Entleerung der Blase
nur unter Anstrengung möglich ist ; oder aber es besteht Blasenlähmung mit
Sphinkterenkrampf (lschuria paradoxal. Die Blasenstörungeu, Blasenkatarrh,
selbst eiteriger, können subjectiv für die Kranken oft fast ganz symptomcnlos
verlaufen. Sie können aber durch aufsteigende Infcction, Pyelitis und Pyelone-
phritis die unmittelbare Todesursache abgeben. — Bekannt in der Literatur ist
der Fall Charcot’s, mitgetheilt von BLOCQ8*), bei dem es sich um eine Per-
forationsperitonitis infolge eines einfachen — jedenfalls auf trophischcn Störungen
beruhenden — Geschwüres der Blase handelte. Schlesinger stellt als im All-
gemeinen gütige Regel hin, dass Erscheinungen von Seite der Harnblase und des
Mastdarmes früher manifest werden und im Symptomenhilde eine bedeutend grössere
Rolle spielen in denjenigen Fällen , welche mit der raschen Entwicklung eines
grossen Tumors einhergehen, besonders wenn derselbe seinen Sitz im Lenden-
mark hat.
Störungen der Defäcation finden meist ihren Ausdruck in einer
mehr oder minder hartnäckigen Verstopfung, beruhend auf Lähmung der Dartn-
musculatur. Incontinentia alvi wird wohl nur gegen das Ende des kachektischen
Stadiums oder als vorübergehendes Symptom beobachtet; bei Wicbmaxn *) werden
4 Fälle erwähnt.
Die Störungen von Seiten der Genitalfunctionen sind noch
wenig studirt. Es liegen nach Bruhl (1. c. pag. 48) zwei Beobachtungen von
Suppressio mensium bei syringomyeliekranken Frauen vor. Schlesinger hat
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SYRINGOMYELIE.
Ij'25
verschiedentlich Erloschen der Libido »exuali* zu verzeichnen gehabt. Ein Kranker
von Wichmaxx s) hatte erhöhte Erregbarkeit, oft nächtliche, schmerzhafte
Pollutionen. lu einigen Fällen ist sowohl die Potentin eoeundi wie die Libido
erloschen , in anderen Fällen wird von Bestehen der Erection bei erloschener
Libido berichtet.
Störungen, die ihren Grund in der Miterkrankung der
Medulla oblongata haben, sind schon zahlreich in der Literatur angeführt.
Es linden sich besonders in einer Arbeit von 11. F. Müller97), Wichmaxx *) und
bei Schlesinger (I. c. pag. 70) ausführliche Untersuchungen über die bei
Syringomyelie beobachteten Bulbärsymptome. Schlesinger besonders hat sich
eingehend mit denselben beschäftigt ; man könnte den Abschnitt über Bulbär-
symptome fast als Monographie in der Monographie bezeichnen. Aus den Zu-
sammenstellungen von Müller und von Schlesinger ergiebt sich, dass in der
Literatur etwa 24 Fälle von Syringomyelie mit bulbären Symptomen verzeichnet sind.
Nach Hofkmanx -) (1. c. pag. 200) sind von Bulbärerscheinungeu in
erster Linie die dissociirte Empfindungslähmung im Gebiete des Trigeminus der
einen oder beider Seiten zu nennen, sodann Atrophie und Parese der Zunge,
Posticus- oder völlige Recurrenslähmnng mit Heiserkeit, Alteration des Pulses,
Schlingbeschwerden, Parese oder Spannung im Facialisgehiet, Abduccnsparese
mit Doppelsehen, erschwertes Kauen, Nystagmus, Polyurie und Polydipsie, endlich
Salivation. Symptome, welche als allgemeine aufzufassen sind und sich heraus-
bilden, wenn der Krankheitsprocess zu einer stärkeren Geschwulstbildung in der
Medulla oblongata und im Pons führte, sind Schwindel , dumpfer Kopfschmerz,
Sehstörung und Neuritis optica, Erbrechen, tonische und klonische Krämpfe ....
(I. e. pag. 201). . . . Psychische Alterationen gehören nicht eigentlich zu der
Krankheit und die Kranken sind nach meiner Beobachtung nicht mehr und nicht
weniger hypochondrisch, neurasthenisch, hysterisch etc. als andere mit schweren
Kückenmarksaffectionen. Auch Gesichtsfeldeinschränkung wurde in letzter Zeit
in einer Anzahl von Fällen nachgewiesen. Schlaflosigkeit kommt, wenn nicht
Sensibilitätsstörungen die Ursache abgeben, nicht oft vor; relativ häufig begegnet
man der Angabe der Kranken, dass sich seit einiger Zeit eine grosse Schreck-
haftigkeit eingestellt habe; gewöhnlich handelt es sich um eine Steigerung der
allgemeinen rctlectorischen Erregbarkeit.
Schon bevor die der Syringomyelie zu Grunde liegende Läsion durch
Weiterwuchernng, resp. Ausdehnung die Medulla oblongata erreicht, kann im
4. Cervicalsegment der Ursprung der Phrenici in Mitleidenschaft gezogen werden.
Die Erkrankung der beiden Phrenicuskerne führt durch Respirationslähmung zum
Tode. Wichmaxx *) theilt einen derartigen Fall mit.
Von den Himncrven sind die speciellen Sinnesnerven selten ergriffen.
Der 01 facto rius wird sehr selten betheiligt gefunden. Erb stellte gerade auf
Grund der vorhandenen Anosmie in einem Falle von Hysterie verbunden mit
Dystrophia musculorum die Diagnose auf Hysterie. Schlesinger meint , dass
wahrscheinlich die beobachteten einseitigen Anosmien auf Hysterie zurückzu-
füliren seien.
Auch der Acusticus ist selten afficirt bei Syringomyelie. Subjectiv
werden Summen, Klingen, Pfeifen als quälende Symptome angegeben. In einem
Falle von Schlesinger, in dem eine Mittelohrerkrankung durch die Untersuchung
ausgeschlossen war, bestand das fortwährende Gefühl des Sausens im Kopfe.
Objectiv ist Schwerhörigkeit und Schwanken angegeben, ln dem Falle
von H. F. Müller hat die durch Bexzoldt vorgenommene elektrische Unter-
suchung des Acusticus ein negatives Resultat ergeben.
Der G 1 ossoph a r y n ge u s scheint etwas häufiger betheiligt; es wird
Verlust der Empfindung für den vorderen Abschnitt der Zunge oder für eine Hälfte
der Zunge angegeben, Schlesinger beschreibt eine Dissociation des Geschmacks-
sinnes; in einem Falle war die Empfindung für „Bitter-1 erloschen, für alle
Encyclop. Jahrbücher. VI. 40
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026
SYRINGOMYELIE.
anderen Geschmacksqualitäten erhalten ; später erloschen auch die anderen Quali-
täten. Gegen Ende des Verlaufs dieses Falles wurden die Empfindungen (speciell
„Süss“) nur mit den in den Gaumenbögen verlaufenden Nerven percipirt. Im
anderen Falle Schlbsinger's wurde „Süss“ überhaupt nicht erkannt, Chinin als
„Sauer“ angegeben.
Für die Affectionen des Sehnerven betont Hoffmans, dass in der
Mehrzahl der Fälle von Neuritis des Sehnerven mit nachfolgender Atrophie die
Ursache in einer Haumbeengung zu suchen ist, welche ein im Bulbus medullae
sich entwickelndes Gliom veranlasst. Schlesinger giebt das für viele Fälle als
Ursache der bei Syringomyelie beobachteten Atrophia nervi optici zu , glaubt
aber, dass in anderen Fällen, ähnlich wie bei Tabes , von vornherein eine ein-
fache Atrophie des Sehnerven eintritt.
Die Frage nach dem Verhalten des Gesichtsfeldes wird seit den
Publicationen von Dejerine und Tuilant 88) und Morvax viel discutirt. Chabcot
— in der These von Bbianceau89) — bestreitet die Richtigkeit der DejEbixe-
sclien Schlüsse und stellt folgende Schlusssätze auf : In der Mehrzahl der Fälle
von Syringomyelie ist das Gesichstfeld normal ; wenn es eingeschränkt ist, so
muss die Erklärung dieses Phänomens in einer anderen Ursache als einer myelite
cavitaire gesucht werden. Die Hysterie, welche sich so oft mit der Syringo-
myelie verbindet, ist die einzige Ursnche der Gesichtsfeldeinschränkung (abgesehen
von jenen Fällen, bei denen es sich um ophthalmoskopisch erkennbare Ver-
änderungen handelt, so dass die Gesichtsfeldeinschränkung nicht als ein Zeichen
einer Syringomyelie aufgefasst werden darf. — Schlesinger hat diese Frage
einer sehr gründlichen Nachprüfung unterzogen. Er theilt 67 perimetrisehe
Untersuchnngsresultate mit (1. c. pag. 73), von denen 27 positive Resultate, Ge-
sichtsfeldeinschränkung, ergeben haben. Hiervon sind 7 hysterische oder auf Hysterie
verdächtige Fälle abzuziehen. Die Gesichtsfeldeinschränkung ist nach den Con-
troluntersuchuugen, die Schlesinger hat vornehmen lassen, durchaus nicht immer
eine vollständige, sondern es. besteht zumeist ein peripherischer Gesichtsfelddefect
für Farben, besonders für grün.
SCHLESINGER schränkt deshalb die oben aufgestelltcn Schlusssätze Char-
cot'S dahin ein, dass die Gesichtsfeldeinschränkung bei Syringomyelie durch eine
eoncomittirende Hysterie bedingt sein kann , dass aber in einer geringen Zahl
von nicht mit Hysterie complicirteu Fällen eine mehr minder bedeutende Gesichts-
feldeinschränkung, besonders für Farben (grün), besteht.
Aus allen bis jetzt vorliegenden Beobachtungen geht Eines mit Sicherheit
hervor: dass die Syringomyelie weit seltener als andere Rückenmarks- nud Ge-
hirnkrankheiten mit primärer Opticusatrophie eiuhergeht.
Nystagmus und nystagmusartige Zuckungen kommen bei Syringo-
myelie verhältnissmässig häutig vor ; sic treten in verhältnissmässig frühen Stadien
der Krankheit ein. Oft sind sie vorhanden hei Syringomyelie ohne Lähmung
oder Parese eines Augenmuskels; dieser Punkt ist wichtig, da bei Syphilis und
bei Tabes, von denen eine Differenzirung wichtig ist, nystagmusartige Zuckungen
nur bei Lähmungen von Augenmuskeln verkommen. Schlesinger sieht, im
Gegensatz zu Nechaus und Hoffmans, dieses Symptom als eine Erscheinung
der Syringomyelie an und hält dasselbe gegebenen Falles für das erste Bulbärsymptom.
Augenmuskellähmungen hat Schlesinger in 12% der Fälle erwähnt
gefunden. Sie treten mitunter frühzeitig im Initialstadium der Syringomyelie auf
und sind dann, ähnlich wie bei Tabes und Syphilis, vorübergehender Natur. Am
häufigsten befallen sind die Abducentes. Ptosis ist selten. Bei Mitbetheiligung
des Sympathicus wird eine Enge der Lidspalte beobachtet , welche der Ptosis
ähnelt; de facto handelt es sich aber um ein Zurücksinken des Augapfels und
manchmal um einen leichten Grad von Strabismus internus-, das Auge ist gleichsam
in die Augenhöhle zurückgewichen. Dieses Phänomen ist auf die Lähmung
des vom Sympathicus innervirteu MCl.l.ER'schen Muskels zurückzuführen. Die
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SYRINGOMYELIE.
027
Svmpathicuslähmung kaun auch gleichzeitig die Ursache einer Pupillendifferenz
sein; Schlesinger hat unter 200 Fällen 24 Mal Pupillendifferenz ohne Sym-
pathicuslähmung gefunden ; rechnet er die Fälle mit Syinpathicuslähmung
hinzu, so kommt er auf 53 Fälle mit Pupillendifferenz, das bedeutet 25%.
Wie Erb und Goltz nachgewiesen haben, liegt im unteren Halsmark und im
oberen Brustmark ein Centrum, unter dessen Einfluss die Pupille steht. Reizung
desselben bewirkt Erweiterung, Zerstörung desselben Verengerung der Pupille.
Weiter haben DEjErink-Klumpckh festgestellt, dass Fasern des Sympathicus mit
dem Ramus cammunicans des ersten Brustnerven das Rückenmark verlassen,
und dass demgemäss Läsionen des oberen Brustmarkes auch eine Lähmung
des Sympathicus zur Folge haben können. Die häutige Localisation syringo-
myelitischer Processe an dieser Stelle erklärt die Frequenz der Pupillendifferenz.
In mehreren Fällen waren plötzliche Lähmungen einer Pupille in Bezug
auf Convergenz und Accommodation eingetreten. In Zukunft muss man demgemäss
der Syringomyelie wohl einen Platz in der Aetiologie der Ophthalmoplegia externa
einräumen.
Die Lähmung des Sympathicus ist meist unilateral, befindet sich am
häufigsten auf der Seite, an der die Muskelatrophie stärker ausgesprochen ist
und ist nicht selten eines der initialen Symptome, besonders der eerviealen Form
der Syringomyelie.
Der Trigeminus ist ziemlich häufig (Schlesinger giebt unter 200 Beob-
achtungen 17 Mal an) betheiligt. Es kommen Dissociationserscheinungen vor,
Analgesien und Thermoanästhesicn, denen aber meist eine Periode, gewöhnlich
einseitiger, von Hyperästhesie sämmtlicher Qualitäten vorausgeht. Auch die
Schleimhäute des Mundes, der Nase, der Conjunctiva nehmen an dieser Dissociation
theil. Die Störung schneidet scharf in der Mittellinie ab. Trophische Störungen
sind Belten ; Chabanne theilt einen Fall von Hemiatrophia faciei mit.
Die motorischen Fasern des Trigeminus sind ausserordentlich selten
betheiligt.
Vom Facialis ist besonders häufig der Mundfacialis betheiligt, selten
alle Aeste. Scholtze beobachtete eine exquisite Uebererregbarkeit des Servus
facialis (Facialisphänomen). Schlesinger hat das Facialisphänoinen bei mit
Hysterie und Neurasthenie complicirter Syringomyelie beobachtet.
Die elektrische Erregbarkeit der gelähmten Muskeln ist normal oder
einfach herabgesetzt ; einmal ist partielle Entartungsreaction angegeben.
Störungen des Kau- und Deglutitionsappa rates sind häufige, früh-
zeitig, in vielen Fällen vorübergehende Bulbärsymptume der Syringomyelie;
manchmal bleiben fibrilläre Zucken der Zunge, Abschwächung des Würgrefloxes,
eine Deviation der Zungenspitze die einzige Bulbärerscheinung : in anderen Fällen
sind sie der Ausgangspunkt wichtiger und folgenschwerer Veränderungen, wie bei
der Bulbärparalyse. Manchmal entwickelt sich eine ausgesprochene, meist halb-
seitige Atrophie der Zunge. Mitunter setzen die Deglutitionsbeschwerden apoplekti-
form ein, können auch als Terminalsymptom einsetzen.
Störungen von Seiten des Kehlkopfes sind nicht selten, sind aber
erst von Schlesinger und Müller genauer gewürdigt worden. Es können, un-
abhängig von einander, bei Syringomyelie sensible und motorische Störungen am
Kehlkopf Vorkommen.
Sensible Störungen subjectiver Natur sind : Parästhesien auf dem Gebiete
des Temperatursinues und Kitzelempfindungen. An objectiven sensiblen Störungen
stellt Schlesinger fest: Herabsetzung der laryngealen Ueflexerregbarkeit.
Für die motorischen Anomalien glaubt Schlesinger eine gewisse Gesetz-
mässigkeit feststellen zu können. Man kaun sie. ähnlich wie bei Tabes dorsalis,
in 3 Gruppen bringen: 1. ausgesprochene Lähmimgserscheiunngen ; 2. eigenartige
Bewegungen der Stimmbänder; 3. Ilustenparoxysmen (Larynxkrisen). Aus dem
ihm zur Verfügung stehenden Material leitet Schlesinger (I. c. pag. 84) folgenden
40*
628
SYBINGOMVEI-IE.
wichtigen Satz ab: „Die syringomyelischen Kehlkopflähmungen sind charakteristisch
durch die complete Parese eines Recurrens; Posticnslithmungen stellen zumeist
ein vorübergehendes Stadium dar und finden sich, wenn überhaupt, in der Regel
nur auf einer Seite vor.“ Hierin liegt nach Schlesinger differentialdiagnostisch
ein wichtiges Moment gegenüber der Tabes, für welche die doppelseitige Posticus-
lähmuug die Kehlkopflähmung par excelltnce sei.
Durch die einseitige Recnrrenslähmung kann auch eine bei Syringomyelie
beobachtete Störung der Sprache erklärt werden. Die Stimme wird rauh,
heiser, unverständlich. Lähmungen der Zunge stören die Lautbildung, Gaumen-
lähmung bewirkt näselnde Sprache.
Als V a g n saf fec t i o n e n werden Beschleunigung, Verlangsamung,
Irregularität des Pulses verzeichnet. Dauernde Beschleunigung der Pulsfrequenz
trifft mit Kehlkopfstörungen bei der humero-scapularcn Form der Syringomyelie
zusammen. Weiter werden Parästhesien in Lungen, Magen, Darm und schliesslich
Erbrechen auf Vagusstörungen bezogen.
Das Sc h w i n d el ge f ti h 1 tritt meist anfallsweise auf, ist selten dauernd
vorhanden. Es ist öfter ein Drehschwindel , so dass die Kranken zu Boden
stürzen, aber selten ist es mit Bewusstseinsstörung combinirt.
Ein besonderes Gewicht legt 11. F. M Oller auf das apoplekti forme
Auftreten der Bulbärsymptome. Es heisst bei Müller (I. c. pag. 278), (nach
Nennung der Cerebralsymptome: Erbrechen, Schwindel, Kopfschmerz): „Eine
Eigenthtimlichkeit der Fälle von primärer centraler Gliose des verlängerten Marks
und der Himncrvcnkerne scheint nach den bislang beobachteten Fällen — die
Neigung zu apoplektiformen Anfällen zu sein, die meist mit Erhaltensein oder
nur geringer Trübung des Bewusstseins, aber mit intensivem Schwindelgefühl
bis zu taumelndem Gang verlaufen, in deren Gefolge erst die bulbären Erschei-
nungen klinisch in Scene treten können. Die Eigenartigkeit des klinischen Bildes
dieser Anfälle ist bereits den ersten Beobachtern derartiger Fälle nicht entgangen.
FOrstxer und Zacher, die einen Fall von Syringomyelie mit Bulhärerseheinungen
beobachteten. . . . bemerken ausdrücklich, dass die von ihnen wiederholt beob-
achteten Anfälle, bei denen das Sensorium wenig oder gar nicht beeinträchtigt
war, die durch intensives Schwindelgefühl, stärkere Parästhesien, Zuckungen der
Zunge, Sprachstörung, Dyspnoe, Cyanosc, erhöhte Pulsfrequenz gekennzeichnet
waren . . . wohl in der Medulla oblongata oder in das Cervicalmark zu ver-
legen wären.
. . . „Dass die in Rede stehenden Anfälle in die Kernregion des Gehirns
und verlängerten Marks zu verlegen sind, beweisen direct jene Fälle, in welchen
im unmittelbaren Gefolge derselben Bulbürerscheinungen auftraten.“
Schlesinger führt als weitere allgemeine Erscheinungen noch an
Krämpfe klonischen und tonischen Charakters: Salivatiou; Schluchzen.
Stauungspapille ist auf Hirndrnck zurückzuführen und dürfte nur bei
Syringomyelie beobachtet werden, welche durch Tumoren veranlasst wird.
Psychische Störungen können vorübergehend bei Syringomyelie beob-
achtet werden, welche den Bulbus erfasst. Zumeist aber bleiben bis zum Lebensende
die geistigen Fähigkeiten vollständig erhalten, und es lassen die Kranken während
der ganzen Krankheitsdauer durchaus keine Abnahme der Intelligenz erkennen.
Der allgemeine Ernährungszustand ist bei vielen Kranken ein
blühender, durchaus normaler, bei anderen tritt bald Kachexie ein. Handelt es
sich um einen nicht auf Tumorbildung beruhenden Spinalprocess, so ist der Er-
nährungszustand meist bis iu späte Stadien gut, während bei Tumorentwicklung
rapider Kräfteverfall und Abmagerung eintritt.
Der syringomyelitische Proeess befällt meist nur einen oder zwei Hirn-
nerven, grössere Ausdehnung des Processes ist selten.
Der Typus der Bulbäraffeetion bei Syringomyelie trägt den Charakter
der halbseitigen Lähmung (Schlesinger).
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SYRINGOMYELIE.
629
Die Haupttypen. Wir wiesen schon oben darauf hin, dass die
Autoren noch kein einheitliches Princip haben für die Aufstellung der Haupt-
typen, die bei der Syringomyelie zur Beobachtung kommen
„Die Aufstellung einer grösseren Zahl von Typen“, heisst es bei Schle-
singer (1. c. pag. 97), „führt natürlich leicht zum Schematismen, und es ist
selbstverständlich, dass zwischen allen diesen Typen Uebergangsformen existiren.“
SCHLESlNGElt’s Aufstellung berücksichtigt nur die prägnantesten Bilder.
I. Syringomyelie mit den classischen Symptomen.
a) Cervicalty pus. Es ist die zuerst beschriebene und am besten studirte
Erscheinungsform der Syringomyelie.
In einigermassen entwickelten Fällen constatirt man objectiv : Atrophie
der kleinen Handmuskeln, Sensibilitätsstörungen im Sinne der Dissociation, aber
begrenzt auf kleinere Abschnitte; trophische Störungen der Haut der Finger.
Subjectiv besteht Schwäche einer Hand, die Kranken sind ungeschickt im Halten
von Gegenständen, klagen Uber reissende Schmerzen in den Armen , über l'ar-
ästhesien auf dem Gebiete des Temperatursinnes.
In vorgeschrittenen Fällen besteht Klauenhand , Atrophie der Vorder-
armmuskeln und des Deltoides; die Sensibilitätsstörungen sind Uber eine ganze
Extremität, selbst bis auf den Thorax , ausgedehnt. I’atellarreflexe gesteigert,
Sehnenreflexe an den oberen Extremitäten erloschen. Ocfters ist Sympathicus-
lähmung an der stärker betroffenen Seite vorhanden. In den späteren Stadien
magern die Arme skeletartig ab, die Musculatur des Schultergürtels schwindet.
Skoliose. Spastische Lähmung der Beine bis zur Unmöglichkeit zu gehen. Später,
bei Fortschreiten des Processes, Atrophie der Musculatur der Beine. Sensibilitäts-
Störungen Uber einen grossen Theil der Hautoberfläche. Trophische Störungen
auf der Haut, hauptsächlich Blaseneruptionen und Entzündungen.
b) D or s o -L u m b a 1 1 y p u s. Seltener als die vorige Form. Oft steht
die oben erwähnte Trias im Vordergründe. Reissende Schmerzen mitunter von
lancinirendem Charakter, Külte- und Ilitzeparästhesien im Beginn; weiterhin
Schwärhegefdhl in den Beinen, Lähmung einzelner Muskelgrnppen, denen convut-
sivische Zuckungen , Zittern oder klonische Convulsionen in bestimmten Muskel-
gruppen vorausgehen. Die Lähmungen setzen manchmal plötzlich ein (wahrschein-
lich durch Blutung in die UUckenmarksubstanz). Die im Anschluss an die Lähmung
auftretende Atrophie der Musculatur ist gehr hochgradig. Lähmung meist spastisch,
Gang spastisch-paretisch, Sehnenreflexe hochgradig gesteigert. Der Verlauf kann
sehr langsam oder sehr acut sein ; die Lähmung hatte sich in einigen Fällen in
wenigen Wochen (Tumorbildung?), in einem Falle im Verlaufe einer Stunde zu einer
vollständigen entwickelt (Hämorrhagie?).
Sensible Erscheinungen sind sehr entwickelt: Lancinirende Schmerzen;
Gürtclgefühl; äusserst lästige Parästhesien. Häufige Mitbetheiligung der Blase
und des Mastdarmes. Die Genitalfunctionen können herabgesetzt oder erloschen sein.
„Durch Fortschreiten der Erkrankung entlang und in der grauen Sub-
stanz nach aufwärts und durch das Auftreten von Sensibilitätsanomalien am Rumpfe
durch das Vorhandensein einer Kyphose am untersten Abschnitte der Wirbelsäule,
einer progressiven Muskelatrophie an den Beinen, sowie durch Auftreten schwerer
trophischer Hautstörungen an den unteren Extremitäten (besonders Mal perforant,
spontane Hautgangrän, spinale Oedeme) kann die Diagnose unter Umstünden ge-
sichert werden, dürfte aber dennoch nicht über die Grenzen einer Wahrschein-
lichkeitsdiagnose hinausgehen.“
II. Syringomyelien mit vorwiegend motorischen Erscheinungen.
a) Syringomyelien, die unter dem Bilde einer amyotrophi-
schen Lateralsklerose verlaufen. Beginn mit Schwächestadium, dann plötz-
liche Abmagerung, welche die Musenlaturmasse befällt, obere und untere Extre-
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63-j
SYRINGOMYELIE
mitäten gleich schwer befallend. Rigidität der Musculatur. Kolossal gesteigerte
Reflexerregbarkeit. Contractnren.
Die Sensibilität kann durch Jahre ungestört bleiben, Störungen bilden
sich erst später heraus. Manchmal Blasenstflrungen und Bulhärsytnptome. Lordose.
Trophiscbe Störungen der Gelenke und der Haut.
b) Die spastische Paralyse und die Syringomyelie können manch-
mal lange Jahre nicht zu sondern sein. In späteren Stadien dürften die sensiblen
Störungen nicht fehlen und das Bild klären. Auch vasomotorische und tropbische
Störungen treten manchmal hinzu.
cj Humero-scapularer Typus. Die Erkrankung kann entweder mit
Muskelatrophie im Bereiche des Schulterblattes beginnen oder sie setzt mit einer
Abmagerung der Nacken- und Vorderbrustmuskelu ein. Parästhesien, mitunter
auch trophische Störung leiten den Process ein.
Diese Fälle ähneln der Dystrophia progressiva musculorum noch mehr,
wenn es zn einer Hypertrophie einzelner im Bereiche des erkrankten Körperab-
schnittes gelegener Muskeln kommt, wie Schlesinger z. B. zweimal eine mächtige
Hypertrophie des M. biceps beobachten konnte.
Sensible Störungen treten bei dieser Form oft erst sehr spät und auf
kleine Territorien begrenzt ein. Dagegen kommt es häutig zu laryngealen und
bulbären Symptomen. Mehrmals wurde dauernd erhöhte Pulsfrequenz constatirt.
(Sitz der Affection im oberen Theile des Halsmarkes, leicht übergreifend auf
die Mcdulia.)
III. Formen mit vorwiegend seusiblen Erscheinungen.
aj Formen, welche hysterische sensible Hemiplegien und Zonen
imitiren. Ist nur ein Hinterhorn und dieses in grösserer Ausdehnung befallen, so
wird man begrenzte Territorien mit Dissociation der Sensibilitäten, aber keine
Lähmungen und Atrophien haben. Meist werden aber wohl trophische oder vaso-
motorische Störungen das Krankheitsbild klären.
b) Allgemeine Anästhesie, ln dem berühmten Fall von Späth und
Schüppei, war nicht nur Analgesie und Thermoanästhesie vorhanden, sondern es
war auch die ßerübrungsemptindnng, das Gefühl für aetive und passive Bewegung,
die Lagevorstellung der Glieder abhanden gekommen. Mit Ausnahme des Kopfes
und eines Theils des Halses war am ganzen Körper die Empfindung erloschen,
so dass der Kranke Nachts bei ausgelöschtem Licht sich nicht zudecken konnte,
da er weder die Decke, noch den eigenen Körper fand. Anatomisch wurde eine
mächtige, die ganzen centralen Abschnitte des Rückenmarkes und in einer grösseren
Strecke auch die Hinterstränge einnehmende Höhle gefunden.
IV. Syringomyelie mit vorwiegend trophischen Störungen.
Syringomyelie mit dem MORVAX'schen Symptomencomplex (s. hierzu auch
A. Galib.*»)
Wir haben dieselbe schon oben erwähnt und kommen bei der Differential -
diagnose noch darauf zurück.
V. Tabischer Typus.
Es herrscht noch Meinungsverschiedenheit darüber, ob eine Syringo-
myelie oder eine centrale Gliose ein der Tabes klinisch und anatomisch analoges
Bild hervorrufen kann, oder ob in solchen Fällen eine Combination einer Gliose
mit Tabes besteht. Schlesinger entscheidet sich dafür, dass es sich wohl in
der Mehrzahl der Fälle um Combination beider Processe handelt. Es scheint
aber auch Fälle zu geben, bei welchen der tabische Symptomencomplex durch
eine in den Hintersträngen wuchernde Gliose vorgetäuscht wird.
Differentialdiagnose. Fast in allen Fällen, in denen die Differcntial-
diagnose zwischen Syringomyelie und einer anderen Rückenmarksaffection besondere
Schwierigkeiten macht oder unentschieden bleibt, handelt es sich um eine der
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SYRINGOMYELIE.
631
folgenden Alternativen: Entweder glaubt man eine Krankheit vor sich zu haben,
deren gewöhnlicher Symptotnencomplex durch die filr Syringomyelie charakteristische
Dissociation der Sensibilitäten complicirt ist; oder man nimmt eine Syringomyelie
an, obwohl die Dissociation der Sensibilitäten fehlt, was, wie schon erwähnt,
nicht selten der Fall ist. Morvan und Grasset stellen den Satz auf, dass bei
den HUckenmarkskrankheiten der Sitz, nicht die Natur der Affection den Sym-
ptomencomplex bedingt. Darnach wäre es verständlich, dass verschiedene Affectionen
durch ihre Loealisirung den gleichen Svmptomencomplex bedingen können. IIoff-
Mann37) (I. c. pag. 77) will diesen Ausspruch allerdings nur bedingt gelten
lassen, „und zwar für abgelaufene krankhafte Processc, welche zum Untergang
von Centren oder Leitungsbahnen geführt haben, welchen eine bestimmte Function
zukommt. Sind durch irgend einen beliebigen Vorgang so und so viele Centren
zerstört, so müssen immer diese oder jene, aber stets dieselben Ausfallserschei-
nungen da sein. Anders gestalten sich die Verhältnisse bei gleichem anatomischen
Sitz der Krankheit, wenn die Aetiologie und der krankhafte Process verschieden
sind. Es verhält sich das Rückenmark in dieser Beziehung nicht anders als andere
nicht nervöse Organe.“
Bernhardt hatte sich in einer Auseinandersetzung über die Beziehungen
zwischen Syringomyelie und Maladie de Morvan dahin ausgelassen, dass die
Läsionen (für gleiche Symptomencomplexe) nicht einheitlicher pathologisch ana-
tomischer Natur zu sein brauchten; ihre Dignität liege in ihrem Sitz (und speciell
für die Syringomyelie und die Maladie de Morvan in dem chronischen Verlauf).
Hoffmann sagt nun, er könne Bernhardt nicht darin beipfiiebten, dass ausser
dem anatomischen Sitz nur der chronische Verlauf dazu gehöre, damit das gleiche
Symptomenbild erzeugt werde. Er ist im Gegentheil der Ansicht, dass es dabei
auch bei chronischem Verlauf in erster Linie auf den Krankheitsprocess selbst
ankommt (1. c. pag. 57). ,,'Vie oft sitzen Herde der multiplen Sklerose in den
grauen Vorder- und Hinterhörnern des Rückenmarkes oder greifen auf dieselben
Uber, und trotzdem haben wir so gut wie nie diesem Sitz der gewiss chronischen
Krankheit entsprechende, trophische Störungen der Muskeln und der Haut!'*
„Es vermag also weder der Sitz allein, noch vermögen dieser oder ein beliebiger
chronischer Process zusammengenommen ein Krankheitsbild zu einem eigenartigen
zu gestalten, indem ihm besondere Merkmale aufgedrückt werden , sondern es
gehört dazu ein drittes wesentliches Moment, welches in der Aetiologie, der
Genese und dem durch diese vorgezeichneten Krankheitsprocess zu suchen ist.“
Trotzdem steht aber sowohl fest, und fast alle Autoren betonen cs, dass
auf verschiedener anatomischer Grundlage so absolut identische Krankhcitsbilder
bei Betroffensein gleicher Centren, gleicher Systeme hervorgernfen werden können,
dass in gewissen Fällen die Differentialdiagnose zwischen Syringomyelie und
anderen Kückenmarksaffectionen während des Lebens überhaupt unmöglich ist; um so
unmöglicher, als häutig verschiedene anderweitige Affeetioneu des Rückenmarkes
neben der Syringomyelie hergehen, oder sich mit ihr combiniren, oder, wenn
man will, als bei anderen Rückenmarksbefunden ausserdem noch Höhleubildung
und Gliosc constatirt wurde.
Schlesinger nennt (1. e. pag. 114) vor Allem die Hysterie; Charcot*#)
giebt in den poliklinischen Vorlesungen der Salpötriere eine vorzügliche Be-
schreibung eines solchen Falles. Weiterhin sind Epilepsie, chronische Chorea,
Tetanie, Morbus Basedoicii , Pachymeninyitis chronica, Myelitis und combinirte
Systemerkrankung, Syphilis des Centralnervensystems, Poliomyelitis anterior
chronica , FRIEDREICH’sehe Krankheit, Tumoren des Kleinhirns, Pons, Grosshirns,
Hydrocephalus; schliesslich Demenz oder Beschränktheit, Idiotie, Melancholie,
progressive Paralyse und Verrücktheit mit Syringomyelie combinirt oder gleich-
zeitig mit derselben beobachtet worden.
Hoffmann -1) (1. c. pag. 120) zählt folgende Combinationen auf: Amyo-
trophische Lateralsklerose, Poliomyelitis anterior chronica, combinirte primäre
y Google
63a
SYRINGOMYELIE.
Systemcrkranknng des Rückenmarks mit Verdopplung des Centralcanals und
Gliose, das anatomische Bild der FiiiEDREicH’aehen hereditliren Ataxie mit centraler
Gliose; in 5 weiteren Füllen der gleichen Krankheit Verdopplung des Central-
canals; Verdopplung des Centralcanals, ein abnormes Bündel weisser Fasern vor
der vorderen Cominissur und abnorme Länge der Cnuda equina ; ein abnormes
Bündel lüngsverlaufender Fasern vor der vorderen Commissur; Heterotopie eines
Klümpchens gelatinöser Substanz in einem Hinterstrang: Ponsgliom mit Hydro-
myelus, Gliose u. s. w. ; Schädeldifformität, Hydrocepha/us intern., Heterotopie
grauer Substanz, Verdopplung des Centralcanals bei Gliose mit Höhlenbildung;
Sklerose beider Kleinhirnhemisphären, bei kleinem Gehirn abgeplattete J ledulla
oblongata und schnabelartige Verlängerung beider Tonsillen des Kleinhirns nach
unten : starke Atrophie des Gehirns und Rückenmarkes bei weiten Gehirnventrikelu,
Hydromyclus und Gliose; Hirn fast wie ein Mikroencephalengehirn mit Hydro-
cephalus internus ; diffuse Erkrankung des Nervensystems, chronisch entzündliche
Veränderungen der Gehirnrinde mit Gefässdegenerntion ; multiple Tumoren des
Nervensystems mit Hydromyelus.
Aus alledem 6icht man, dass bei der Differentialdiagnose sehr viele
Dinge zu berücksichtigen sind.
Die ersten Kalle von Syringomyelie wurden ausgeschieden aus den
spinalen progressiven Muskelatrophien. Das Hauptgewicht bei Differential-
diagnosc ist auf die Verhältnisse der Sensibilität zu legen ; weiterhin auf die
trophischen Störungen, welche bei progressiver Muskelatruphie fehlen. In anderen
Fällen treten im weiteren Verlaufe der Syringomyelie neben den Erscheinungen
der chronischen progressiven Muskelatrophie an den oberen Extremitäten spastische,
spastisch paretisc.he und ataktische Erscheinungen an den unteren Extremitäten,
weiter Kyphoskoliose der Wirbelsäule auf — Symptome, die gegeu progressive
Muskelatrophie sprechen.
Ganz besondere Schwierigkeiten kann die Differentialdiagnosc zwischen
Syringomyelie und amyotrophischer Lateralsklcrose machen. Spinale
Muskelalrophien, bulbärc und spastische Erscheinungen, Erhöhung der Reflexe
sind bei beiden Krankheiten beobachtet worden, Oppenheim hat bei der amyo-
trophischen Lateralsklerose dauernde Sensibilitätsstörungen uachgewiesen, welche
den Charakter der typischen Dissociation annehmen können. Gegen amyotrophische
Lateralsklcrose und für Syringomyelie würden in schwierigen Fälleu einmal die
Uber einen grösseren Theil des Körpers ausgedehnten Dissociationcn , zweitens
trophische Störungen an der Haut, dem Untcrhautzellgcwebe , an Knochen und
Gelenken sprechen.
In selteneren Fällen können die spastische Spinalparalye, die
multiple Sklerose schwer von der Syringomyelie zu unterscheiden sein.
Gegen die spastische Spinalparalyse würden in solchen Fällen besonders
zu verwertlien sein ciumal die Störungen, weun auch beschränkter Art, der
Sensibilität, das Vorhandensein auch geringgradiger Muskelatrophien , Blasen- und
Mastdarmstörungen, Herabsetzung der Geschlechtsfunctionen, trophische Störungen,
sowie bulbärc Erscheinungen.
Gegen multiple Sklerose sprechen ausgedehntere Muskelatrophien ; Sen-
sibilitätsstörungen sind nach den L'ntcrsuchungen von Freund nicht selten, jedoch
betreffen sie meist nur eine Sensibilität: die eigentliche syringomvelitische
Dissociation ist selten. Weiter kommen für Syringomyelie in Betracht: trophische
Störungen, Deviation der Wirbelsäule.
Die Dystrophia musculorum progressiva Erb kann grosse
diagnostische Schwierigkeiten haben. Es wird Tust stets eine längere Beobaeh-
tungsdaucr uöthig sein, um eine der beiden Affcctionen ausschliessen zu können.
Eine höchst instructive Durchführung einer Differentialdiagnose, mit der Wahr-
scheinlichkeitsdiagnose Syringomyelie findet sich bei Hrissaud’7): Sur les para-
I ysies du type radiculaire dans la Syringomyelie.
:ed by Google
SYRINGOMYELIE.
633
Kür die Ditferentialdiagnose zwischen acuter und subacuter
Myelitis reit Syringomyelie stellt Hoffmann Folgendes auf: Die Sehnenreflexe
sind bei der transversalen dorsalen Myelitis meist dauernd gesteigert, bei der
Gliomatose im Beginn oft gesteigert, um dann an Lebhaftigkeit nachzulassen und
schliesslich ganz zu verschwinden; Muskelspannungcn au den Beinen scheinen
bei der dorsalen Myelitis mehr ausgesprochen zu sein , dagegen fehlen sie in
manchen Fällen von ßliomatose fast ganz. Vielleicht ist dies durch eine functionelie
Affection der Pyramidenseiteustrangbahnen zu erklären oder durch ein Tiefer-
reichen des Tumors. Es ist jedoch zu bemerken, wie Schlesinger aus seiner
Erfahrung hioznfUgt, dass auch Fälle von centralen KUckenmarkstumorcn (Gliomen)
zur Beobachtung gekommen sind, bei welchen die Rigiditäten an den Beinen in
den Vordergrund des Interesses treten. GürtelgefUhl ist bei beiden Affectionen
vorhanden, jedoch bei der Gliomatose über der anästhetischen Zone noch eine
hyperästhctUche ; und es erstreckt sich das Gürtelgefühl über mehrere Inter-
costalräumc. Bei Gliomatose ist weiter spinale Halbseitenläsion häufiger, ebenso
spricht für Gliomatose, wenn zu einer Parese Muskelspannungcn, klonische und
tonische Zuckungen, Parästhesien, Parese und Abmagerung hinzutritt, endlich sind
Bulbärerscheinungen bei Myelitis seltener, als bei Gliomatose. (Schlesinger,
1. c. pag. US, 119.)
Die Ditferentialdiagnose zwischen Syphilis des Rückenmarks
und seiner Häute und der Syringomyelie wird meist kaum in Betracht
kommen. Als wichtiges unterscheidendes Merkmal in Fällen, die Zweifel auf-
kommen lassen, ist die Unvollständigkeit der Ausfallserscheinungen zu betrachten
(es werden nur einzelne Muskelgruppen atrophisch), das intercurrente Auftreten
von Hirnerecheinnngen, und besonders der Umstand, dass die Symptome sich zu-
meist nicht auf einen Herd beziehen lassen. — Züge im Symptomenbild, die der
Syphilis zukommen.
Ausserordentliche Schwierigkeiten kann nach den neueren Erfahrungen
die Ditferentialdiagnose zwischen 'Tabes dorsalis und Syringomyelie machen.
Es sind Fälle von Tabes bekannt, bei denen partielle Empfindungslähmnng in
grösserer Ausdehnung constatirt ist. Es ist zweifellos festgestellt, dass Erschei-
nungen, die für Syringomyelie als typisch gelten können, z. B. trophische
Störungen, Muskelatrophien, auch bei Tabes durch Hinzntreten schwerer peri-
pherer Neuritiden zur Beobachtung kommen. Andererseits kann wieder die
Syringomyelie, resp. Gliose, besonders wenn sie im Lendenreark beginnen und
besondere die Hinterstränge einnehmen, die Symptome der Tabes hervorrufen.
Ganz besondere Schwierigkeiten aber bieten jene Fälle, bei welchen die syringo-
myelitische Affection die ganze Länge des Rückenmarks eiunimmt und sich mit
Tabes dorsalis combinirt. Genaue Beobachtung der Localisationen der verschie-
denen Ausfallserscheinungen. Feststellung der Reihenfolge des Auftretens der ver-
schiedenen für Tabes und für Syringomyelie sprechenden Erscheinungen können
hier zum Resultat führen. Schlesinger bemerkt hierzu: „Im ersten Falle (Sitz
der syringomyclitischen Affection im Lendeumark — Hinterstränge) kann die
Uebercinstimmung der Symptome eine ausserordentliche sein ; sind aber zu einer
Zeit, zu welcher man nach den anderen Symptomen nicht berechtigt ist, eine
bedeutende Längenausdehnung der Höhlen oder der centralen Gliawucherung zu
vermutheu, Augenmuskellähniungen, tabischc Pupillarsymptome vorhanden, so ist
man berechtigt , zu mindestens eine Comhination von Syringomyelie mit Tabes
anzunehmen. Unterliegen die Muskelsinnstörungen an den unteren Extremitäten
verhältiiissinässig häufigen, raschen Schwankungen, so ist bei sonst überwiegender
Betheiligung des Schmerz- und Temperatursinnes oder beider die Diagnose einer
Syringomyelie auch daun wahrscheinlich , wenn dauernder Verlust der Patellar-
reflexe und exquisites RoMBEBG’sches Phänomen besteht.“
Fast unmöglich kann die Differentialdiagnose werden zwischen Pachy-
meningitis cervicalis hypertrophica und Syringomyelie. Es dürfte
634
SYRINGOMYELIE.
in Füllen mit Uebergangssymptomen nur die genaue Berücksichtigung der Ent-
wicklung und der zeitlichen Aufeinanderfolge von einigem Werth sein. Dasselbe
gilt für andere Krankheiten, welche eine Compression des Rückenmarkes setzen,
Caries der Wirbel (Compressionsmyelitis) und extramedulläre Tumoren des Rücken-
markes. Meist allerdings wird hier der Verlauf bald die Diagnose klären.
In dem schon mehrfach citirten Vortrag Chaucot’s in der Salpetriere
sind die grossen Schwierigkeiten dargelegt, welche die Differentialdiagnose zwischen
Syringomyelie und Hysterie bieten kann. Das Hauptgewicht ist wohl auf das
Schwanken der Symptome bei Hysterie, die vorübergehenden Heilungen der
Sensibilitätsstörungen und auf die der hysterischen eigentümlichen Geruchs- und
Geschmacksstörungen zu legen.
Die ganze Reihe der trophischen und vasomotorischen Störungen, welche
bei der Syringomyelie zur Beobachtung kommen können , werden zum Theile
noch bei der Besprechung der Differentialdiagnose von Lepra und Syringomyelie
ihre Besprechung linden. Symptome der Maladie de Raynaud, der Arthriti»
deformans, des Riesenwuchses, der Akromegalie, trophische Erkrankungen der
Haut werden meist darnach classificirt werden können, ob sie selbständig oder als
Theilerscheinungen anderweitiger Störungen auftreten.
Eine besondere Besprechung erfordert die Diffcrentialdiagnose zwischen
Lepra und Syringomyelie. Wir schicken voraus, dass die Maladie de Morvan
nach den neueren Arbeiten (so besonders nach der Arbeit von Hoffmann)
zweifellos als ein Typus der Syringomyelie anzusehen ist.
Die Lepra ist wohl die formenreichste Krankheit, die existirt, und es
werden noch viele Bemühungen nöthig sein von Aerzten, die gleich gut geschult
sind in der Neurologie, wie in der Dermatologie, und noch viele von compctenten
Autoritäten ausgeführte Autopsien, ehe man in genügender Weise ein Bild der
klinischen Formen der Lepra, sowie der den beobachteten Läsionen zu Grunde
liegenden anatomischen Veränderungen aufstellen kann.
Besonders das Studium der anatomischen Veränderungen des Central-
nervensystems ist überhaupt erst zu beginnen. Gerade die einzige ausführ-
lichere neuere Arbeit Uber diesen Punkt, die von Hansen und Looft •*), zeigt
bei einiger Kritik, wie berechtigt diese Forderung ist. Die Tabelle über die
Befunde von 36 Sectionen bei maculo-anästhetischer Lepra ergeben nur 4 zähl-
bare Befunde; darunter zweimal Degeneration der Hinterstränge; Atrophie
der hinteren Wurzeln , Sklerose der Spinalganglien ; einmal Lumhartheil ver-
dickt; die Häute verdickt und hyperätnisch; einmal Rückenmark dünn und
atrophisch. Chassiotis #s) hat Bacillen im Rückenmark bei anästhetischer Lepra
nachgewiesen.
In einer Arbeit (Mittheilung auf dem internationalen Congress von
Rom) von Susa Martics 100) findet sich die Beschreibung eines Falles von Syringo-
myelie, der zwei Jahre in Beobachtung war und der bei der Autopsie folgenden
Befund ergab:
Die Häute des Rückenmarks sind verdickt und adhärent am Rücken-
mark, besonders im Cervicaltheil.
Im Dorsal- und Lumbarthcil ergiebt die mikroskopische Untersuchung
nichts Normales ; im Cervicaltheil ist das Rückenmark bedeutend verdickt, spindel-
förmig aufgetrieben.
Auf dem Durchschnitt zeigt dies»; Halsanschwellung eine Höhle in ihrer
ganzen Ausdehuung, die sich sowohl auf die Grenze wie auf die weisse Substanz
erstreckt. Sie ist ausgefüllt von einer braunen breiigen Masse.
Die Untersuchung dieser Masse ergab Bacillen von dem Charakter der
Leprabacillen.
Der Verfasser schliesst seine Mittheilung mit folgenden Sätzen :
1. Es giebt keine Krankheitscinheit , die man als Syringomyelie be-
zeichnen könnte.
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SYRINGOMYELIE.
635
2. Die Syringomyelien (ebenso wie die verschiedenen Höhlenbildungen
in den Lungen, die man im Allgemeinen als syringopneumonisch bezeichnen könnte),
sind Folgezustiinde einer Erkrankung.
3. Dieser Folgezustand kann von verschiedenen Erkrankungen abzu-
leiten sein.
4. Eine dieser Krankheiten ist die Lepra.
Sollten sich diese Befunde bestätigen , so wären unsere mehrfach aus-
gesprochenen Ansichten glänzend bestätigt.
Diesen mageren Befunden gegenüber steht die ganze erdrückende Fülle
der klinischen Thatsaeheu, welche sich nur durch die Annahme centraler Störungen
Fig. 101.
Syringomyelie (nach Hoff mann).
erklären lassen. Wir finden bei der Lepra besonders Bilder, die vollständig an
den Type Abax-Dcchense der Syringomyelie erinnern ; zum Beweise ist in
Fig. 101, 102, 103 und 104 einmal der bekannte Fall Hoffmann’s gegeben, zweitens
zwei Fälle von Lepra eigener Beobachtung, durch welche die Aehnlichkeit dar-
gethan wird. Die Befunde von Lepra mit dem klinischen Bilde der Maladie
de Morvan sind schon obenerwähnt (s. Fig. 100). Zambaco Pacha hat in Paris
selbst nachgewiesen, dass Fälle, welche in der Iconographie de la SalpetriZre
als Typen der Syringomyelie, der Maladie de Morvan figuriren, de facto —
und zwar anerkannt von den Pariser Autoritäten , als Lepra zu erklären sind
(s. De EBING4»).
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63ö
SYRINGOMYELIE.
Progressive Muskelatrophie. Dissociation der Sensibilitäten, vasomotorische
und trophisehe Störungen (Bilder der Maladie de Rai/nnud, der Akromegalie,
der Erythromelalgie, Panaritien, alle Formen der tropliisehen Störungen au Haut.
Unterliautzellgewebe, Knochen und Gelenken, die wir oben für die Syringomyelie
beschrieben haben) finden sieh bei der Lepra wieder. Lassen wir Schdltze’s
Arbeit vom Jahre 1888 unberücksichtigt, weil sich seither zu viele neue Erfahrungen
für die Klinik der Syringomyelie ergeben haben, als dass sich die von ScHULTZE
aufgestellten differentialdiagnostisehen Merkmale aufrecht erhalten lassen.
Fig. lOj.
Lepra iType Aran-Duchennei. Eigene Beobachtung.
Hoffmanx (1. c. pag. 53) stellt folgende unterscheidende Merkmale für
Lepra und Syringomyelie auf.
1. Bei Lepra handelt es sich um multiple periphere Neuritis ^hier und
da mit Degeneration in den Hinterstriingen (Looft); die Syringomyelie ist eine
Rücken markskran kheit.
Dem gegenüber kann ich nur immer wieder tictonen, dass diese Behaup-
tung erst zu erweisen ist. Was Eulen BÜRO “•'■) bei anderer Gelegenheit sagt,
findet auf die Lepra ihre Anwendung.
Indireet, auf dem Wege der Analogie und Vergleichung, unter Heran-
ziehung gewisser anderer, schon pathologisch-anatomisch fundirter Erkrankungen
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SYRINGOMYELIE.
637
Lepra (Type A ra u- Dnchenue). Eigene Beobachtung.
Weise, und zwar an den distalen Gliedabschnitten beginnend uder auf diese sich
beschränkend, befallen, die chronisch verlaufen und ihren Ausgangspunkt (mag
es sich nuu um schwere organische oder um blos „functionclle“ Schädigungen
handeln) in gewissen Abschnitten der grauen Achse des Kückenmarkes — vor-
zugsweise in der h inte reu und seitlichen grauen Substanz — unter
gelegentlicher weiterer Querschnittausbreitung und Hcthciligung auch anderer be-
des C’entralnervensystems kommen wir mit der Berechtigung innerer Wahrschein-
lichkeit dazu, eine Gruppe zu bilden von Krankheitszuständen, „die durch Ver-
bindung von localisirten, theilweise eigenartigen und typischen Sensibilitätsstörungen
mit ebenfalls localisirten und eigenartigen vasomotorischen, secretorischen und
trophisehen Störungen charaktcrisirt werden und die in der Kegel die Extremi-
täten (bald obere und untere, bald nur die obere allein'! in meist symmetrischer
Fi ff. los.
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6:«
SYRINGOMYELIE.
nachbarter Rückenmarksabschnitte (vordere graue Substanz einerseits,
Hinterstränge und hintere Wurzelfaserung andererseits) haben.*
In diese Gruppe gehören die oben erwähnten klinischen Befunde bei der
Lepra , die sieh absolut nicht durch periphere Neuritis erklären lassen.
Tschikiew’s 9S) Beobachtung, die Schultze (1. c. pag. 513) sehr geringschätzig
behandelt — kleine Hämorrhagicn, Verringerung der Zellen in den Hinterhörnern
des Halstheils, atrophische Stellen in den Hinterhörnern und in den CLAitKE’sehen
Säulen, bei Lepra nervorum — fällt in eine Zeit, wo die Untersuchungsmethoden
ftlr das Rückenmark noch nicht ihre, besonders Weigert zu verdankenden.
Fortschritte gemacht hatten. Wir sind der Ansicht, dass bei neuen Untersuchungen
zweifellos centrale Veränderungen gefunden werden müssen, welche die nervösen
Störungen bei der Lepra veranlassen.
2. Als zweites Unterscheidungsmerkmal führt Hoffmans' an: Lepra-
hacillen-tiliose. Es wäre ja möglich, wenn sich Chassioti’s und Susa Maktixi’s
Befund nicht weiter bestätigen sollte, dass wir secundäre Veränderungen (z. B.
Gefässerkrankungeu [hyaline Degeneration]) bei der Lepra linden, oder dass
Fie. tot.
Lepra (Type Arau- Duchenne). Eigene Beobachtung.
wir „para “lepröse Affectionen (im Sinne wie die Tabes eine parasyphilitische
Affcction ist) anzunchmcn hätten. Wir kennen jetzt schon mehrere ganz ver-
schiedene anatomische Ursachen für das Zustandekommen des klinischen Bildes
der Syringomyelie, die w ir bis jetzt klinisch kaum auseinander zu halten wissen.
3. Flecken der Haut; Ulcerationen der Haut (Leprabacillen), auch der
Schleimhaut; lepröse Knoten u. s. w. — Keine solche Flecken u. s. w. Typische
Fälle kommen nicht in Betracht; im Uebrigen wissen wir, dass seither auch Lei
der Syringomyelie Anomalien der Pigmentation, trophische Störungen der Haut
und Schleimhäute etc. beobachtet sind. Der Nachweis des Lepra bacillus gelingt
bei der Lepra nicht immer und speciell nicht zu jeder Zeit.
4. Klinisch das Bild der multiplen Neuritis. — Syraptomenbild der
Rückenmarkskrankheit. Ist unter 1. berücksichtigt.
5. Druckempfindlichkeit und Verdickung der peripheren Nerven —
keine Druckcmptindliehkeit der Nerven. Dieses Symptom fehlt oft ganz bei der
Lepra, ist andererseits bei der Syringomyelie constatirt.
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SYRINGOMYELIE.
639
6. Die Sensibilitätsstörungen bei der Lepra an den Extremitäten , und
zwar an den peripheren Theilen am stärksten oder auch fleckenweise — bei der
Syringomyelie mehr den Segmenten des Rückenmarks entsprechend vertheilt. —
ln praxi erweist sich diese Angabe für die Lepra als durchaus irrig. Wir haben
Fälle mit eompleter Dissociation an oberen Extremitäten und Torax, mit An-
ästhesie an den Extremitäten, Dissociation am Thorax u. s. f. beobachtet.
7. Fast ausnahmslos ist bei Lepra Tast-, Temperatur- und Schmerzsinn
befallen gleich Anästhesie, wenn auch in verschiedenem Grade. Besteht einmal
partielle Empfindungslähmung, so ist meist, nicht immer, der Tastsinn gestört,
die Sensibilität in den tieferen Gewebstheilen erhalten. Für Syringomyelie spricht
gewöhnlich partielle Empfindungslähmung bei Erhaltensein des Tastsinnes. In den
Weichthcilcn und Knochen bestehen die gleichen Sensibilitätsstörungen, wie in
Fig. 105.
Ptosis bei Lepra (Zambaco).
der Haut. — Alles dieses ist auch bei Lepra eoustatirt worden, kanu also diffe-
rentialdiagnostisch nur vorsichtig verwerthet werden.
8. Fibrilläre Zuckungen sind bei Lepra selten, bei Syringomyelie häufiger;
kann aber vorkommenden Falles nicht ausschlaggebend sein.
9. Secretorische Störungen sind bei Lepra selten oder fehlend, bei Syringo-
myelie häufig. Nach unseren Beobachtungen sind sie bei Lepra gar nicht selten.
10. Die Sehnenreflexe normal, herabgesetzt oder fehlend ; nie spastische
Symptome; tabische Symptome fast nie. Diese Angaben für Lepra finden sich
in praxi bestätigt, für tabische Symptome eher „selten"1.
Syringomyelie : Verhalten der Sehnenreflexe wccbsclvoller : fehlend, nor-
mal, gesteigert (wo ist hier der Unterschied?), spastische Symptome, auch tabische,
erstere häufiger.
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640
SYRINGOMYELIE.
11. Ocnlopupilläre Symptome (Myosis, Lidspaltverengerung, Retraction
des Bulbus) nicht vorhanden bei Lepra , dagegen lepröse Augenerkrankungen.
Bei Syringomyelie oculopapiliäre Symptome Iniulig, keine sonstigen der leprösen
ähnliche Augenerkrankungen. Es liegen mir drei Beobachtungen vor mit Lid-
spaltenverengerung, Lagophthalmie, Myosis bei verificirter Lepra. Zambaco hat
mir gtltigst den in Eig. 105 abgebildeten Fall zur Verfügung gestellt; aus einem
demnächst bei Masson erscheinenden Werke.
12. Bei Lepra werden an Händen und Füssen die knöchernen Phalangen
einfach absorbirt oder rcsorbirt ohne äussere Entzüudungserscheinungen : Pana-
ritien selten. Nagel Veränderungen — Mal per f orant.
Bei Syringomyelie: Gewöhnlich nur an den Händen Panaritien mit
Nekrose und Abgestossenwerden von Knochenstücken uuter entzündlichen , zu-
weilen phlegmonösen Erscheinungen; Mal perforant selten. — Zahlreiche Beob-
achtungen liegen vor, die des Verf. Ansichten über Lepra in keiner Weise bestätigen.
13. Ausfallen der Haare und Cilicn bei Lepra. Kein Haarschwund bei
Syringomyelie. In vielen Fällen von Lepra fehlt der Cilienansfall, die darüber
auch von Bergmann ausgesprochene Ansicht ist durchaus irrig (siehe z. B.
Fig. 103 oben).
Schlesinger (1. c. pag. 112) modificirt Hoffmann's Ansichten dahin,
dass ,,die Maladte de Morr an keine eigene Erkrankung darstellt, sondern einen
Symptomencomplex , welcher sich sowohl bei der Syringomyelie , als auch der
Lepra findet. Ist im betreffenden Falle Lepra ausgeschlossen , so darf man den
Symptomencomplex nach dem heutigen Stande unseres Wissens direct zur Syringo-
myelie rechnen“.
Es giebt aber Fälle, in denen die Lepra nicht auszuschliessen ist. Neuer-
lich werden ja in Deutschland verschiedentlich Leprafälle bei Individuen con-
statirt, die nie in Lepraländern gelebt haben. Die Lepra ist bei uns in Deutsch-
land im Regierungsbezirk Memel — s. Wassermann87) — und kürzlich von
Czerny88) in Baden festgestellt worden; sie ist aber den meisten Aerzten fast
ganz unbekannt, besonders in deu Formen, bei welchen die verschiedenen ner-
vösen Störungen in den Vordergrund treten. Diese geringe Bekanntschaft mit
der Krankheit tritt in allen Diseussioneu hervor. Es ist deshalb sehr wahrschein-
lich, dass Lepra in Deutschland sehr viel häufiger ist als man annimmt. Für
Länder, in denen die Lepra aber gefunden wird, ist der Satz unumst össlieh, dass
es Fälle giebt, in denen der Beweis, dass es sieh im gegebenen Falle
nicht um eine lepröse Affection als anatomische Grundlage der
syringomyelitischen Symptome handelt, unmöglich zu erbringen ist.
Schliesslich ist bei der Erörterung der Differentialdiagnose noch das
Bestreben zu berücksichtigen, klinisch die zwei Hauptformen der Syringomyelie,
nämlieh die aus Gliomen hervorgegangenen und die auf andere Weise entstandenen,
zu sondern.
Nach Schlesinger ist diese von Micha schon angestrebte, von Hoff-
mann durchgeführte Scheidung, eine Differentialdiagnose in einer Zahl von Fällen
immerhin möglich. Das besondere Gewicht ist darauf zu legen, dass bei der cen-
tralen Gliomatose jene Symptome in den Vordergrund treten, welche durch einen
rasch wachsenden Tumor im Centrum des Rückenmarks hervorgerufen werden
können. Der Verlauf ist bei Gliom ein rapider; in wenigen Monaten, spätestens
in 3 Jahren vom Beginn der ersten Erscheinungen an gerechnet, erfolgt der
Exitus. Bei einfacher Syringomyelie kann das Leiden bis 40 Jahre und länger
dauern. Weiter weisen wir auf das weiter oben berührte Verhalten des allge-
meinen Ernährungszustandes hin. Bei Gliose schnelle Abmagerung, kacbektisches
Aussehen, bei anderweitiger Syringomyelie blühendes Aussehen , guter Ernäh-
rungszustand.
Diagnose. In den typischen Fällen, wie sie zuerst mit der Trias der
CarJinalsymptome von Schultze und Kahler beschrieben sind, ist die Diagnose
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SYRINGOMYELIE.
641
leicht. Für die schwierigeren Fälle, in denen ein Theil der Störungen fehlt oder
noch nicht entwickelt ist, möge folgender Satz SCHLKsinger’s beherzigt werden:
Man soll die Diagnose einer Syringomyelie nicht wagen, wenn nur ein Cardinal-
symptom vorhanden ist und dasselbe dnreh keine Erscheinung von geringerer
Dignität unterstützt ist.
Aetiologie. Die Syringomyelie ist eine Krankheit, welche im jugend-
lichen Alter beginnt.
Schlesinger (1. c. pag. 136) stellt von 190 Fällen folgende Tabelle auf:
Lebensjahr
Männlich
Weiblich
Znsiuniuen
1-10
4
1
5
11-20
36
8
44
*1— 30
53
25
78
31-40
30
12
42
41—50
4
7
11
51— 60
3
3
6
61 und darüber
3
1
4
133
57
190
Die Krankheit scheint bei Männern häufiger als bei Frauen aufzutreten;
bei Frauen tritt sie häufiger im höheren Lebensalter auf.
Unter den Gelegenheitsursachen steht nach allen Autoren das
Trauma (Schlag, Fall, Sturz auf den Rücken) zweifellos obenan. Wahrschein-
lich spielt hier congenitale Anlage eine grosse Rolle. In einigen Fällen werden
Erkältungen, häufiger Infcctionskrankhciten, besonders Typhus, als der Syringo-
myelie vorhergehend bemerkt.
Heredität wird nur zweimal angegeben. Zweifellos spielen Gefässerkran-
kungen eine Rolle bei der Entstehung — Erweichung und regressive Gewehs-
metatnorphosen, worauf besonders neuerlich Müller und Meder “) hingewiesen
haben. Gestützt auf Experimente von Ehrlich und Brikgkr sehen sie die Glia-
wucherung bei Syringomyelie in manchen Fällen als „Heilungsvorgang“ an iin
anatomisch-pathologischen Sinne; zum mindesten betrachten sie die bei der Syringo-
myelie so überaus häufige Gefässentartung nicht als secundäre, von der Glia-
wucherung abhängige, sondern als eine selbständige, mit der letzteren srleich-
werthige Erscheinung. Das Gleiche nehmen sie von der so häufig mit Syringo-
myelie vergesellschafteten Meningitis spinalis au. Sie weisen weiter darauf hin,
dass sowohl die Gefäss Veränderungen wie die Meningitis Erscheinungen sind,
welche der auch sonst begründeten Annahme, dass in der Aetiologie der Syringo-
myelie die Lucs eiue Rolle spiele, weitere Stutzen verleihen.
Verlauf. Im Verlauf hat man zu unterscheiden zwischen den am
Tumorentwicklung beruhenden Fällen und den anderweitigen Fällen von Syringo-
myelie. Die ersteren entwickeln sich und verlaufen mehr acut, die letzteren mehr,
oft ausserordentlich schleichend. Meist werden zuerst Sensibilitätsstörungen , in
anderen Fällen Muskelatrophien oder trophische Störungen im Vordergründe
stehen ; jedoch ist nicht zu vergessen, dass bei Fehlen von Muskelatrophieu oder
trophischen Störungen die Sensibilitätsstürungen für die Patienten ganz unbemerkt
bleiben. Die Krankheit kann Jahrzehnte lang stationär bleiben ; durch Hämor-
rhagien (z. B. in Folge von Traumen , von Gefilssverändernngen) können apo-
plectiforme Nachschübe eintreten. Selten — wohl nur bei Bulbärsymptomen —
ist die Syringomyelie die directe Todesursache; intercurrente Krankheiten, am
häufigsten Phthise, Infcctionskrankhciten, Blasenstörungen mit ihren Folgen, sep-
tische Erkrankungen durch Phlegmonen geben die Todesursache.
Aus dem Vorhergehenden ist die Prognose leicht zu entnehmen. Bei
den langsam verlaufenden Fällen ist sie relativ günstig quoad vitam, bei Gliom-
bildung die der malignen Tumoren. Heilung ist aber ausgeschlossen.
Die Therapie kann nur eine symptomatische sein; Antipyrin, Anti-
febrin, Phenacetin, Bromprüparate, protrahirte warme Bäder bei Schmerzen,
Encyclop. Jahrbücher. VI. 41
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SYRINGOMYELIE.
642
im äussersten Falle Morphium. Bei spinalen Reizerscheinungen kann eventuell
Punction des Wirbelcanals nach Quincke versucht werden.
Für die Contracturen und Gelenkaffectionen , sowie für die ulcerativen
Proceßse ist nach den Regeln der Chirurgie vorzugehen.
Die Elektricität wird von Hoffmanx eventuell empfohlen, Schlesixger
hat keine Wirkung derselben gesehen.
Prophylaktisch lässt sich bei erklärten Fällen nur die Vermeidung
von Traumen und allen die Gesundheit im Allgemeinen schädigenden Um-
ständen anrathen.
Literatur: *) Schlesinger, Die Syringomyelie. Mit einer Tafel, 29 Abbildungen
im Texte. Leipzig und Wien, Franz Deuticke, 1895. (Diese Monographie enthält Alles, was bis-
her in der Literatur [bis 1895] über das einschlägige Thema zu linden ist, nebst der eigenen
Erfahrung Schlesinger’s. Ein vollständiges Literaturverzeichnis» von mehr als 500 Arbeiten
findet sich am Schluss. Ich bemerke ausdrücklich, dass vorstehende Uebersicht sich in vielen
Punkten durchaus, manchmal wörtlich, an Sch lesin ge r’s Monographie anlehnt.) — *) l. H off-
mann, Syringomyelie. Volkmann’s Vorträge. N. F. I. Serie, 1891, Nr. 20. — *) Wich mann,
Geschwulst und Höhlenbildung im Rückenmark. Stuttgart, Metzler, 1887. — 4) Schul tze,
Klinisches und Anatomisches über die Syringomye ie. Zeitschr. f. klin. Med. XIII. — *) Olli-
vier, TraiU de ln nwelle epimere et ses maladies. I" edit. Paris 1823. — *) Simon,
lieber Syringomyelie und Geschwnlstbildung im Rückenmark. Arch. f. Psych. 1874. V. —
7) Leyden, Klinik der Rückenmarkskrankheiten. 1875, II. — b) Leyden, Hydromyelus und
Syringomyelie. Virchow’s Archiv. 1876, LXVIII. — *) Strümpell, Beiträge zur Pathologie
des Rückenmarks. Arch. f. Psych. 1880. — 10) Kahler und Pick, Beitrag zur Lehre von
der Syringo- und Hydromyelie. Viertcljahrschr f. praktische Heilkunde. 1879. — u) Kahler
und Pick, Beiträge zur Pathologie und pathologischen Anatomie des Centralnervensvstems.
Arch. f. Psych. X, — *■’) Hallopeau, Contribution ä l’t'tude de ln sclirose periependymaire
Gaz. med. de Paris. 1870. — **) Joffroy & Achard, I)e la myelite caeitaire. Arch. de
physiol. 1887. — u) Joffroy & Achard, Diagnostic et nature de la Syringomyelie. Bull,
et mini, de la Soc möd. des höp. de Paris. 1890- — 16) Charcot, Legons sur Iss maladies
du Systeme nerreux. Paris 1887, Tom. II. — 18) Miura, Zur Genese der Höhlen im Rücken-
mark. Virchow’s Archiv. CXVII, Heft 3. — 1T) Blocq, Syringomyelie. Brain. Part. III. 1890.
pag. 289. — ,8) Steffen. Spina bifida . Hydromyelie. Zweitheilung des Rückenmarks. Jahrb.
f. Kinderhk. XXXI, pag. 248. — 19) Langhaus, Ueber Höhlcnbildung im Rückenmark als
Folge von Blutstauung. Virchow’s Archiv. 1881, LXXXV. — 9v) Kronthal, Zur Pathologie
der Hohlenbildung im Rückenmark. Neurol. Centralbl. 1889, Nr. 20, 21, 22. — ,l) Fran-
cotte, JEtudes sur Vanatomie pathologique de la nioelle ipiniire. Arch. de Neurol. 1890,
XX, Nr. 56, 57, 58. — 8>) Schnitze, Beitrag zur Lehre von den Riickenmarkstumoreu.
Arch. f. Psych. VIII. — *•) Schnitze, Ueber Spalt-, Höhlen- und Gliombildung im Rücken-
mark und der Medulla oblongata. Virchow’s Archiv LXXXVII. — *4) Schnitze, Weiterer
Beitrag zur Lehre von der centralen Gliose des Rückenmarks mit Syringomyelie. Virchow’s
Arch. CII. — *•) Schnitze, Klinisches und Anatomisches über Syringomyelie. Zeitschr. f.
klin Med. XIII. — *4) Weigert, Zur pathologischen Histologie des Neurogliafasergcrüstes.
Centralbl. f. allg. Path. u. path. Anat. 1890, Nr. 23. — *7) Hoffmann, Zur Lehre von der
Syringomyelie. Deutsche Zeitschr. f. Nervenhk. III, pag. 1 — 136. — a8)Schaffer u. Preis*,
l eber Hydromyelie und Syringomyelie. Arch. f. Psych. 1891, XX 111, Heft 1, pag. I. —
*9) Redlich, Zur pathologischen Anatomie der Syringomyelie und Hydromyelie. Prager
Zeitschr. f. Heilkunde. 1891. — *°)Chiari, Ueber die Pathogenese der sogenannten Syringo-
myelie. Vortrag im Verein deutscher Acrzte in Prag. (Separat-Abdruck.) 18. Januar 1888. —
*') Roger, Contribution ä Vetude des carites pathologiques de la nwelle. Revue de med.
10. August 1892, pag. 577. — **) Charcot, Legons sur les maladies du Systeme nervrux
frites ü la Salptlriire. Paris 1877, II, pag. 195 — 196. — 38) Charcot, Legons du Jdardi
ä la Salpetriere. Paris 1 889, Le^on XXI, pag. 501. — 34 ) B r u h 1 , Contribution ä Vitude
de la Syringomyelie. Paris 1890, Thöse. — **) Bruli I. Syringomyelie. La med. moderne.
HO. August 1893. — **)Critzmann, Essai sur la Syringomyelie. Paris, Steinheil, 189*2. —
*7) Brtssaud, Sur les paralysies du type radiculaire dans la syringomyilie. Semaine
med. 189ö, pag. 129. — *e) Roth, Du diagnostic de la gliomatose mfdullaire Moskau
1891- — w) Joffroy & Achard, Arch. de med. experim. 18. Juli 1890, Nr. 4. — 40) Hoc h-
haus, Zur Kcnntniss des Riickenraarksglioms Deutsches Arch. f. klin. Med. 1890, XL VH,
pag. 6U3. — 4l) Schule, Deutsches Arch. f. klin. Med. 1877, XX, pag. 271. — 4S) Fürst n er
und Zachner, Zur Pathologie und Diagnostik der spinalen Höhlenbildungen. Arch. f. Psych.
1883. pag. 422. — 4J) Ed. Kraus», lieber einen Fall von Syringomyelie. Virchow’s Arch.
1885, C, pag. 304. — 44) F. Müller u. E. Meder, Ein Beitrag zur Kenntniss der Syringo-
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allg. Path. 1896, pag. 211.) — 44) F. Sch ul tze, Ueber Befunde von Hämatomyelie nnd
OblongatablntUDg mit Spaltbildung bei Dystokien. Deutsche Zeitschr. f. Nervenhk VIII.
pag. 1. (Ref. im Centralbl. f. allg. Path. u. patb. Anat. 1896, pag. 241.) — 4Ä) Farmen t ier.
SYRINGOMYELIE.
643
Xouvelle Iconographie de la Salpitrihre. 1890, pag. 5. — 47) Minor, Beitrag zur Lehre
der Hämato- und Syringomyelie. Verband I. d. internat. Congr. zu Berlin. 1990, IV. IX. Abth.,
pag. 4. — 4B) Charcot, Le^ons du mardi ä ln Salp£trih'e Policlinique. 1888 — 1889,
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>emaine m6d. 13 Mai 1891. — M) Ziehl, Zur Casuistik der partiellen Empfindungslähmung
peripheren Ursprungs etc. Deutsche med. Wochenschr. 25. April 1889. Nr. 17, pag. 335. —
4t) Zambaco, Les Ifpreux de la Bretagne. Paris, Masson. 1892. (Mit Tafeln.) — M) Zam-
ba co, Les llpreux de la Bretagne Cotnmunic. faxte ä Vacademie de la m£decine. Paris,
23. August 1892, Masson. — *7) Leloir, Traiii pratique et thtorique de la lipre. —
w) Prince A. Morrow, Journ. of cut. and gen -ur. disease. Jan 1890. — ••) v. Düring,
Lepra und Syringomyelie. Deutsche med. Wochenschr. 8. Febniar 1894, Nr. 6. pag. 123. —
••) SchÜppel, Ein Fall von allgemeiner Anästhesie. Arch. f. Heilkunde. 1876. XV. —
4I) Durdufi, Experimentelle Untersuchungen zur Lehre von den trophischen Nerven. Cen-
iralblatt f. allg. Path. u. path. Anat. 15. Juni 1894, V, Nr. 12, pag. 509. — *’) Neuberger,
Ueber den sogenannten Pemphigus neur oticus. Ergänzungsheft d. Arch. f. Dermat. u. Syph.
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Heft 1. — **) Remak, Oedem der Oberextreniitäten auf spinaler Basis. Berliner klin.
Wochenschr. 1889, Nr. 2. — Äi) Jaquet. Ulcera tropthica (Syringomyelie). Internat. Atlas
seltener Hautkrankheiten. XVIII. — ®*) Morvan, ParMe analg£sique ä jmnaris ou par£so-
analgcsie des extremit£s superieures. Gaz. hebdom. de möd. et chir. 1883. — #7)LouazeI,
Contribution ä Vetude de la Maladie de Morvan. Thfcse de Paris. 1890. — •*) Sokoloff,
Ueber Veränderung der Gelenke bei Syringomyelie. Petersburger med Wochenschr. 1891. —
°) Sokoloff, Die Erkrankungen der Gelenke bei Gliomatose des Rückenmarks. Deutsche
Zeitschr. f. Chir. 1892, XXXIV. (Ref. im Centralbl. f. allg. Path. u. path. Anat. 1894, V,
pag. 225.) — 7fl) Berbez, Bull, de la soc. clin. 1885. — 71) Graf, Ueber die Gelenks*
erkrankungen bei Syringomyelie. Beiträge z. klin. Chir. 1893. X. Heft 3. — 7I) Bernhardt,
Syringomyelie und Skoliose. Centralbl. f. Ncrvenhk. 1889, Nr. 2. — T3) Krönig, Ueber
Wirbelerkrankungen bei Tabikern. Zeitschr. f. klin. Med. 1888, XIV. — 74) Morvan, De
Vanr-thesie sous les divers nwdes dans la pa riso-analgisie. Gaz. hebdom. de med et chir.
1889. - ,5) Erb, Arch. f. klin. Med. 1883, XLII, pag. 290. - 74) Holschewnikoff,
Ein Fall von Syringomyelie und eigenthümlicher Degeneration der peripheren Nerven mit
trophischen Störungen (Akromegalie). Virchow’g Archiv. CXIX. pag. 10. — 77) v. Reckling-
hausen, Ueber Akromegalie (Nachschrift zu der vorstehenden Abhandlung.) Ibidem, pag. 36. —
,#) Virchow, Sitzungsber. d. Berliner med. Gesellsch vom 4. December 1895. Deutsche
m«*d. Wochenschr. 1896, Nr. 1; ' ere ins bei läge Nr. 1, pag. 2 — 7B) Arnold, Weitere Bei-
träge zur Akromegaliefrage. Virchow’s Archiv CXXXV, pag. 1. — Eulen bürg, Akro-
megalie, Real-Encyclopädie d. ges. Heilkunde. 3. Aufl., I, pag 362. — •*) Duchesneau,
Contribution a Vftude anatomique et clinique de Vucromegalir. Paris 1892. — **) Fischer,
Beitrag zur Casuistik der Akromegalie und Syringomyelie. Inang.-Dissert. Kiel 1891. —
•*) Arnold, Akromegalie, Pachyakrie oder Ostitis. Ziegler’s Beitr. z. path. Anat. u allg.
Path. 1891. — M) Bier, Mittheilungen ans der chirurgischen Klinik zu Kiel. 1888. —
•*) Marie & Marinesco, Sur Vanatnmie pathologique de VacromSgalic. Verhandl. d. X inter-
nationalen med. Congr. Berlin 1891, IV, 9- Abth.. pag. 129. — **) Blocq, Bull, de la Soc.
anat. 1887. — *7) H. F. Müller, Syringomyelie mit bulbären Symptomen. Deutsches Arch.
f. klin. Med. 1894» LII, Heft 3 u. 4, pag 259. — **) Döjerine 4 A. Tuilant, Sur l’exi-
stence d'un r£tr£cisse$nent du champ risuel dans ln Syringomyelie. La med. moderne. 1889
bis 1890- — sr) Hrianceau, Contribution ä Vitude du champ risuel dans la Syringo-
myelie et la Maladie de Morvan. These de Paris. 1891. — B0) P i c & Regand, Dissociation
dite syringomytlique de la sensibilitt dans un ras de pachymeningomyelite due a un mal
de Pott safis cacitfs mfdullaires, II. Congr. f. innere Med. Bordeaux, 8- — 14. August 1895.
Seraaine med. 1895, pag. 363. — 9t) Hansen und Looft, Die Lepra vom klinischen und
pathologisch-anatomischen Standpunkt. Bibliotheca med. 1894, DII, Heft 2. — •*) Looft, Bei-
lrag zur pathologischen Anatomie der Lepra anaesthetica , besonders des Rückenmarks.
Virchow’s Archiv. CXXVHI, pag. 215. — M) Chassiotis, lieber die bei der anästhetischen
Lepra im Rückenmark vorkommenden I acillen. Monatsh. f. prakt. Dermat. 1887, pag. 1047. —
**) Schnitze, Zur Kenntniss der Lepra. Deutsches Arch. f. klin. Med. 1888, XLIII, Heft 4
nnd 5, pag. 513. — **) Eulen bürg, Erythromelalgie. Deutsche med. Wochenschr. 1893,
Nr. 50; Beiträge zur neuropathologischen Casuistik. Ibid. 1896, Nr. 29. — M) Tschiriew,
Virchow's Archiv. 1873, LVII. — VT) Wassermann, Ueber Lepra. Berliner klin. Wochenschr.
1895, pag. 1087. — •*) Czerny, Casnistische Mittheilung. Münchener med. Wochenschr.
Februar 1896. — ") D’Ali Galih, Contribution r) l'etude de la Syringomyelie. Lyon 1894. —
10°) Susa Martins, Un cas de Syringomyelie relevant de la lepre. Bericht d. internat.
med. Congr. zu Rom. III, pag. 349. E v Düring.
41 *
3y Google
T.
Tannin, zu Inhalationen, pag. 288.
Tannoform, ca, H10019t ein von K. Mebck dargestclltes Condensations-
prodnct aus Gallusgerbsäure und Formaldeliyd , welches durch Einwirkung von
concentrirter Salzsäure auf die beiden Componenten entsteht.
Ein leckeres weissrethliches Pulver . unliislich in Wasser , löslich in Ammoniak,
Natronlauge, sowie in Sodalösnng. Ans seinen Lösungen wird es durch Säuren wieder abge-
schieden. Das Tannoform schmilzt bei 230 C. unter Zersetzung
Das Tannoform wird als vorzügliches Mittel zur Bekämpfung des De-
cubitus und der Hyperidrosis empfohlen. Seine Wirkung weicht von der des
Tannins erheblich ab. Gegen Ulcus molle kamen I Theil Tannoform mit
4 Theilen Amylum zur Anwendung. Nach v. OEFELE ist es bei Pruritus vmjinne
Diabetischer, auch bei Ozaena von günstigem Einfluss.
Dosirung: Als Streupulver pur oder mit Amylum (1:2 — 4) gemischt.
Literatur: W II. Frank, Vortrag in der Dermat. Vereinigung Berlin am
3. Deccmber 1895. Deutsche Mod.-Ztg. 1895, Nr. 102. — E. Merck'» Ber. über das Jahr 1895.
Loebisch.
Taubstumme, Ablesen des Gesprochenen vom Gesicht, s. pag. 5 ff.
Tetanus.
Einleitung. Definition des Tetanus und frühere Anschauungen über
sein Zustandekommen.
Der Tetanus, Starrkrampf, als typische, scharf charakterisirte Krankheit
des Menschen , stellt sich tlar als ein tonischer, ununterbrochener Krampf einer
Anzahl Muskelgruppen. Aus kleinen Anfängen anwachsend, schreitet dieser Krampf
contiuuirlic.h weiter und breitet sich, langsamer oder schneller , über einen Theil
des Körpers aus. Der Bezirk seiner Ausbreitung kann auf ein kleines Gebiet
beschränkt bleiben , aber auch fast alle Muskelgruppeu des Körpers umfassen
(Localerscheinungen).
Diese continuirliehe tonische Contraction erfährt in vorgeschritteneren
Stadien meist von Zeit zu Zeit blitzartig eintretende Steigerungen in Grad und
Ausdehnung, die durch irgend welche äussere Heize ausgelöst werden und einige
Zeit anhalten , worauf dann wieder der alte Zustand eintritt (Allgemeinerschei-
nungen). Während dieser Steigerungen können auch wohl klonische Zuckungen
auftreten , die aber mit dem typischen Bilde des Tetanus nichts zu thun haben.
In dieser höchst charakteristischen Form ist der Starrkrampf schon seit
alter Zeit bekannt. Man sah, dass die Krankheit am häutigsten im Gefolge von
gequetschten, zerrissenen, grob verunreinigten Wunden auftrat (Tetanus trauma-
ticus) und erklärte sich meist ihren Eintritt mit einer starken mechanischen
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TETANUS.
645
Zerrung und Reizung einer grosseren Zahl von Nervenendigungen. Besonders
die Verletzung sehr sensibler Nervenbezirkc , so bei Castration der Thiere oder
bei Fingerverlctzungen , sollte leicht Tetanus herbeiführen können. Der häufige
Fund spitzer Holzsplitter, Nägel u. dergl. in sonst unbedeutenden Wunden Teta-
nischer wurde mit einem Eindringen dieser Gegenstände in Nervenstämme in
Verbindung gebracht. Man war geneigt, auch bei dem Auftreten des Tetanus im
Gefolge von Erkältungen (Tetanus rheumaticus) an Einwirkungen auf das Nerven-
system zu denken. Als das Wesentliche bei dieser Nervenreizung wurde eine
langdauernde Einwirkung bei erhaltener Leitung» fähigkeit der geschädigten Nerven
angesehen (Zikmsskn’s Handbuch, 1876).
Entwicklung der Anschauungen in neuerer Zeit.
Als man begann, das Auftreten verschiedener Krankheiten mit kleinsten
Lebewesen in Verbindung zu bringen, gewann der Gedanke, dass es sich beim
Tetanus ebenfalls um eine Infectionskrankheit handeln könne, immer mehr An-
hänger. Die erste experimentelle Begründung erhielt diese Ansicht durch die
Versuche von Carle und Rattone 1884, denen es gelang, durch Debcrtragung
von Theilcn der Infectionsstelle tetanischer Menschen typischen Tetanus bei
Thieren zu erzeugen. Weiter fand im Jahre 1885 Nicolaikr, dass die Infectinns-
quelle im Boden enthalten sei. Er verimpfte Gartenerde auf Versuchsthiere und
bekam dabei häufig typischen Tetanus. In solcher Erde fand er mikroskopisch
regelmässig köpfchentragende Bacillen, die er auch auf künstlichen Nährböden,
z. B. Blutserum, zur Vermehrung brachte, allerdings nur in Gemeinschaft mit
einer grossen Zahl anderer Mikroorganismen. Dieselben Bacillen fand 1886 RosK.it-
bach an der Infectionsstelle von an Tetanus erkrankten und gestorbenen Menschen.
Es wurde dadurch die Annahme, in diesen charakteristischen Mikrobien
die Ursache der Krankheit gefunden zu haben, immer wahrscheinlicher. Dagegen
erhoben sich aber doch noch gewichtige Bedenken. Zunächst war eine Ueber-
tragung des Tetanus von Thier zu Thier nur in beschränktem Masse gelungen.
Nach wenigen Fassagen erlosch die Uebertragungsfähigkeit. Ferner wurden die
betreffenden Bacillen von den nachprüfenden Forschern durchaus nicht immer
gefunden , und endlich fand sich regelmässig eine Menge anderer Keime. Da
gelang es Kitasato im Jahre 1889, die Bacillen aus dem Wundeiter eines an
Tetanus erkrankten Menschen zu isoliren und beliebig lange in Reincnltur virulent
fortzuzüchten. Von diesem Zeitpunkt an war es möglich, allen Einzelheiten und
Eigeolhiimlichkeiten der Infection experimentell nachzuspüren und es gelang in
kurzer Zeit, den ganzen Infectionsmodus und Krankheitsverlauf des Tetanus so
klar zu legen, wie dies bisher bei keiner anderen Krankheit geschehen konnte.
Schon von ROSKNBACH war eonstatirt worden, dass die charakteristischen
Bacillen nur im Bezirk der Infectionsstelle gefunden werden konnten. Und
Kitasato beobachtete bei der Uebertragung der Bacillen in Reincultur, dass selbst
grosse Mengen derselben in sehr kurzer Zeit spurlos verschwanden , oft bevor
noch die Erscheinungen des Tetanus bei den Versuchsthieren zum Ausbruch ge-
kommen waren.
Dies Hess , besonders nach Analogie mit dem kurz vorher von Roux
gefundenen Diphtheriegift, als höchst wahrscheinlich erscheinen, dass es sich
auch bei Tetanus um die Einwirkung eines von den Mikrobien hervorgebrachten
Giftes handle. In der That rief schon 1889 Ksi’P Faber mit dem sterilen
Filtrat von allerdings unreinen Culturen tetanische Erscheinungen bei Thieren
hervor. Und Kitasato konnte bald einwandsfrei naehweisen, dass die in Rein-
cultur gezüchteten Bacillen an die sie umgebende Flüssigkeit ein leicht lösliches
Gift von bisher beispiellos heftiger Wirkung abgeben , mit dem allein alle Sym-
ptome des Tetanus bei Thieren hervorgebracht werden können.
Als Ursache des Tetanus haben wir also das Eindringen des Tetanusbacillus,
das heisst des von ihm erzeugten spccifischen Giftes in den Organismus anzusehen.
646
TETANUS.
Tetanusbacillus.
Form. Die Tetanusbacillen stellen sich nach Kitasato als schlanke,
gerade Stäbchen mit abgerundeten Enden dar, die sich zu langen Fäden ver-
einigen können. Im Brutschrank bilden sie schnell (30 — 48 Stunden) Sporen,
welche rund und dicker als der Bacillenfaden Bind und au einem Ende des
Bacillus sitzen, so dass derselbe in sporenhaltigem Zustand ein stecknadelförmiges
Aussehen hat. Die sporenlosen Bacillen haben deutliche, aber wenig lebhafte
Eigenbewegung, die sporenhaltigen sind unbeweglich. Sie wachsen in Reincultur
nach Kitasato nur bei Ausschluss des Luftsauerstoffes. Gegentheilige Beobach-
tungen wurden zwar aus Italien mitgetheilt, sind aber nicht allgemeiner be-
stätigt worden.
Die Colonien haben ein massiges dichtes Centrum , umgeben von einem
feinen, nach allen Seiten gleichmässig entwickelten Strahlenkranz. Gelatine wird
allmälig verflüssigt, nicht Blutserum (entgegen den Angaben TlZZOXl’s). Die
günstigste Wachsthumstemperatur ist 36 — 38“ C. Die Bacillen wachsen aber auch
noch bei 16°, allerdings sehr langsam.
Resistenz. Vermöge ihrer Sporenbildung sind die Tetanusbacillcn gegen
äussere Einflüsse, Hitze, Chemikalien, Eintrocknung und Anderes sehr widerstand«
fähig. In Wasser, Staub etc., an Gegenständen angetrocknet, können sie sieb
sehr lange virulent erhalten. Ein Stück Baumast z. B., das 11 Jahre lang trocken
anfbewahrt worden war, enthielt nach dieser Zeit noch infectionsfähige Tetanuskeime.
Diese Widerstandsfähigkeit ist nicht immer die gleiche, sic ist nach dem
Alter und der Herkunft der Culturen kleinen Schwankungen unterworfen. Die
von Tizzoni geprüften Sporen scheinen zum Beispiel widerstandsfähiger gewesen
zu sein als die Kitasato's.
Fundort der Bacillen ausserhalb des Körpers. In der Natur ist
der Tetanusbacillus sehr verbreitet. Er befindet Bich häufig in, an organischen
Substanzen, reichem Boden, dem Humus, in dem er sich nach den Untersuchungen
von Bombicci auch vermehrt. Naturgemäss ist er nicht gleichmässig im Boden
verthcilt, sondern es finden sich Stellen, die sehr reich an Tetanusindividuen
sind, während andere Strecken gänzlich frei gefunden werden. Solche Anhäufungs-
orte fallen daun oft dnreh ihre besondere Neigung zur Infection auf. Besonders
reich an Tetanusbacillen soll die Erde in den Tropen sein. Dafür spricht auch,
dass das Pfeilgift mancher wilden Stämme in der Antrocknung tetanushaltiger
Erde bestehen soll.
Mit der Erde, die an Schuhen, Arbeitsgeräten, am Futter der Thiere
haften bleibt, wird der Keim in Wohnungen und Ställe verschleppt.*) In dem
ihrer Nahrung anklebenden Schmutz und Staub können die Thiere die Sporen
aufnehmen. I)a dieselben den Verdanungstractus, ohne das Thier zu schädigen,
oder selbst Schaden zu leiden, passiren können, ja sich scheinbar im Darme
noch vermehren, werden sie mit dem Kothe in den Ställen verstreut. In solchen
Ställen häufen sich dann die Erkrankungen von Thieren, besonders Pferden, nach
unbedeutenden Verletzungen der Extremitäten.
Ansiedel uu gs- und Wachsthumsbedingungen des Bacil Ins. Aus
diesen Medien kann der Tetanusbacillus in den thierischen und menschlichen
Organismus gelangen. Doch ist dazu die Erfüllung gewisser Bedingungen nöthig.
Die unverletzte Haut und die Schleimhäute bilden einen sicheren Schutz gegen
Beine Ansiedlung. Erst wenn diese verletzt sind, vermag er einzudringen. Aber
auch dann kann er nicht ohne Weiteres wachsen. Schliesst man die Mitimpfung
von fertigem Gift durch Erhitzung oder Auswaschen der Culturen aus, so kann
man Thieren eine grosse Menge wachsthumsfähiger und virulenter Tetanuskeime
unter die Haut bringen, ohne irgend welche Erkrankung zu veranlassen. Offenbar
*) Heinzeimann fand unter 13 verschiedenen Proben von Dielenritzenstaub !>mal
Tetanusbacillen.
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TETANUS.
647
findet der Bacillus im intacten Gewebe keinen Nährboden und geht rasch unter.
VAn.i.ARD in Gemeinschaft mit Vincent und Rouget haben diese Verhältnisse
experimentell festgestellt und gefunden, dass es eine Anzahl anderer Mikrobien
giebt, die die Gewebe für die Ansiedelung der Tetanusbaeillen vorbereiten. Es
scheint diese Symbiose am häufigsten die Tetanusinfection zu ermöglichen, da
immer eine Anzahl anderer Mikrobien in Gesellschaft der Tetanusbacillen ge-
funden werden. Aher auch andere Schädigungen der Gewebe ermöglichen das
Zustandekommen einer Infection : so Blutergüsse, Nekrosen, Einspritzung von
Milchsäure, Beigabe eines Holzsplitters.
Ueber die Umgebung der Infectionsstclle wuchern die Bacillen auch
dann nicht hinaus, und sie gehen nicht in'g Blut Uber. Die Angaben, dass in den
inneren Organen sich Tetanusbaeillen gefunden haben, stammen aus der aller-
ersten Zeit der Züchtungsmöglichkeit und sind später nicht mehr bestätigt worden.
Die Uebertragbarkeit der Krankheit durch grosse Stücke innerer Organe beruht
wohl nur auf einer Uebertragung von Gift.
Tetauusgift.
Bildung. Kommt nun der Tetanusbaeillus in einen ihm zusagenden Nähr-
boden, der die zu seiner Vermehrung und zum Aufbau seiner specifischen Pro-
ducte nöthigen Stoffe enthält, so beginnt er Gift zu bilden.*) Diese Nährstoffe müssen
nicht unbedingt Eiweissstoffe sein. Uschinsky hat gezeigt, dass der Tetanus-
bacillus auf völlig eiweissfreien , in ihrer Zusammensetzung genau bekannten
Nährlösungen zu wachsen vermag. Immerhin sind da Beine Lebensiiusserungen,
besonders die Energie der Giftbildung, sehr kümmerliche. Andererseits scheinen
auch wieder zu complicirte Verbindungen ihm nicht besonders zuzusagen und Bind
seine Ansprüche an den Nährboden jedenfalls keine besonders grossen.
Das Gift, das offenbar im Körper des Bacillus gebildet wird, tritt zum
grössten Theil ausserordentlich raBeh, im Gegensatz zu anderen Bakteriengiften,
aus dem Mikrobienkörper in die flüssige Umgebung über und kann im Filtrat
der Culturen schon nach einem Wachsthum von wenigen Tagen in reichlicher
Menge nachgewiesen werden.
Die Wirksamkeit des Giftes ist eine erstaunliche. Kitasato besage be-
reits Culturen, von denen 0,000005 Ccm. eine weisse Maus tödtete. Und durch
Concentration bringt man es sehr leicht auf Trockenpulver von 0,0000001 Grm.
Minimaldosis für eine Maus. Das wäre, auf den Menschen von 60 Kgrm Gewicht
berechnet, eine gleiche Empfindlichkeit vorausgesetzt, 0,0003 Grm. einer unreinen
Substanz , von der wahrscheinlich der allergrösste Theil nichts mit der Gift-
wirkung zu thun hat.
Chemische und physikalisc he Eigenschaften. Das Gift ist seiner
chemischen Natur nach unbekannt, da es bisher nicht von den übrigen Stoffen
der Culturlösungen abgetrennt werden konnte. Die früher von Briegkk für das
speeifische Gift des Tetanus angesprochenen , chemisch definirten Körper, das
Tetanin und Tetanotoxin, gaben bei den Versuehsthieren ein dem Tetanus nicht
entsprechendes Krankheitsbild und haben nichts mit dieser Krankheit zu thun.
Und auch die neueren Bestrebungen in dieser Richtung, an denen sich beson-
ders wieder Buiegku betheiligte, haben bis jetzt noch nicht zu einem endgiltigen
Resultat geführt.
*) Einige Antoreu sind der Ansicht, dass das eigentliche Tetanus erzeugende Gift
nicht vom Bacillus gebildet werde. Dieser producire nnr eine fermentartig wirkende Substanz,
die dann im Organismus die Giftbildung veranlasse. Mit der Zeit, die diese Bildung brauche,
erklären sie die Incubation. Das im Körper gebildete Gift rufe auch Tetannserscbeinungen
hervor bei anderen Organismen, aber ohne Incubation. (Vincenzi, V. Congrcss der italieni-
schen Gesellsch. f. innere Med. 18'*2. Bef. in Miinchener med. Wochenschr. 1892, pag. 878;
Conrmont n. Doyon, Semaine med. Juli 1893; Buscbke u. Orgel, Deutsche med.
Wochenschr. Nr. 7.) Diese letztere Beobachtung wurde jedoch nicht bestätigt. (Brunner.
Deutsche med. Wochenschr. 1894, Nr. 5; Uschinsky, Centratbl. f. Bakteriologie. 1893,
XIV, Nr. 10.)
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648 TETANl'S.
Dagegen hat bereits Kn ID Fader , Tizzoni und besonders Kitasato
über das Verhalten des Gifts gegenüber physikalischen und chemischen Einflüssen
eine grosse Reihe von Erfahrungen gesammelt. Und diese wurden seitdem noch
bedeutend erweitert und vervollständigt. Das Ergebniss dieser Forschungen war
vor Allem, dass das Tetanusgift ausserordentlich leicht veränderlich ist.
Verlauf der Intoxication bei Thieren. Führt man nun eine ge-
wisse Menge einer Keincultur einem Versuchsthier — Kaninchen, weisser Maas,
Meerschweinchen — unter die Haut ein, so erkrankt das Thier an typischem
Tetanus. Es handelt sich dabei, ob man die lebenden Bacillen entfernt oder nicht,
immer um eine reine Intoxication. Die Bacillen vermehren sich nicht, verschwinden
im Gegentheil, wie oben bereits bemerkt, ziemlich rasch spurlos aus dem Orga-
nismus und das Gift ist genau ebenso scharf zu dosiren, wie nach Filtration
der Cultur.
Je nach der Menge des Giftes und der Empfindlichkeit der Thiergattung
ist der Verlauf und Ausgang der Krankheit ein verschiedener. Charakteristisch
ist, dass auch bei den stärksten Giftdosen dem Ausbruch der Erscheinungen ein
Incubationsstadium vorausgeht. Nach Kitasato dauert dasselbe mindestens 5 Stunden.
Dasselbe ist je nach der Hohe der Dosis grösser oder kleiner. Eine längere
Incubation wie 4 Tage bei Mäusen und Meerschweinchen bei Gifteinführung
konnte von Kitasato nicht beobachtet werden. Waren bis dahin noch keine
Erscheinungen aufgetreten, so blieben die Thiere überhaupt gesund.
Je grösser die Dosis ist , desto rascher treten die Erscheinungen anf,
so dass direct aus der Dauer der Incubation ein ungefährer Schluss auf die
Grösse der angewandten Giftdosis gemacht werden kann. Dies ist nicht annähernd
so scharf möglich bei der Infection.
Ganz fehlt also die Incubation nie. Gcgentbeilige Angaben hielten, wie
bereits bemerkt, der Nachprüfung nicht Stand.
Bei den gewöhnlichen Laboratoriumsthieren treten bei subeutaner Ap-
plication des Giftes nach Ablauf der Incubation die ersten Erscheinungen in der
Nachbarschaft der Einführungsstelle auf. Von da breiten sie sich, je nach der
Grösse der Dosis, schneller oder langsamer aus, zunächst loeal. Nach einiger
Zeit beginnen sie allgemein zu werden, das heisst, es treten von Zeit zu Zeit
die blitzartigen Steigerungen der Erscheinungen in Form allgemeiner tonigeher
Krämpfe ein.
Der Process kann bei sehr hohen Dosen vom Beginn der Erscheinungen
bis zum Tod in wenigen Stunden verlaufen. Dann sind natürlich die einzelnen
Phasen wenig ausgeprägt. Andererseits kann er sich bei kleinen Dosen tagelang
hinziehen. Länger wie 3- — 4 Tage bleiben weisse Mäuse und Meerschweinchen
gewöhnlich nicht am Leben, Uberstehen sie diese Frist, so tritt der Tod meist
überhaupt nicht mehr ein.
Der Verlauf der Vergiftung ist ein ungemein charakteristischer und
kann wohl kaum mit irgend etwas Anderem verwechselt werden. Spritzt man
einer weissen Maus subeutnn in die Gegend der rechten Schenkelbeuge eine
sicher tödtlichc, aber nicht viel grössere Giftdosis ein, so dauert das Incubations-
stadium. während dessen man an dem Thier keine Veränderung bemerken kann,
etwa 24 Stunden. Dann beginnt die Maus den rechten llinterfuss etwas naehzn-
sehleppen, der Gebrauch desselben wird „ruderförmig“, zugleich kann man. be-
sonders bei Erheben des Thieres beim Schwanz, eine leichte Verkrümmung der
Wirbelsäule eonstatiren. Allmälig treten die localen Erscheinungen deutlicher
hervor und breiten sich in der Umgebung aus. Im Laufe des zweiten Tages
nach Beginn der Erscheinungen tritt das allgemeine Stadium ein. Der Anfang
dieses Stadiums ist meist zuerst an dem Anziehen der Ohren gegen den Kopf
zu eonstatiren. Jetzt treten die allgemeinen Anfälle auf. Man kaun dieselben
durch Erschütterung des Glases, in dem die Maus sitzt, in vorgeschrittenem
Stadium schon durch Geräusche , die die Maus erschrecken , auslösen. Ain
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TETANl'S.
64»
schönsten treten sie ein, wenn man die Maus auf den Rucken legt. Dann wird blitz-
artig der ganze Körper völlig starr. Beide Hinterextremitäten werden ad maximum
gestreckt, die Zehen gespreizt, die Vorderextremitäten krampfhaft angezogen. Die
Ohren sind fest an den Kopf gelegt, die Augen geschlossen, die Zähne zusammen-
gepresst und meist die Unterlippe herabgezogen. Die Athmung ist mühsam uud
langsam, oft setzt sie völlig aus. Nach 5 — 10 Secunden lösen sieh allmälig die
Krämpfe . und machen einer theilweisen Erschlaffung Platz, ohne dass jedoch die
localen Symptome verschwinden würden.
Ruft man diese allgemeinen Krämpfe häufig hintereinander hervor, so
tritt ein Zustand der Erschlaffung ein, in dem selbst eine starke Reizung keinen
Krampf mehr auslöst.
Der Tod tritt sehr oft in einem allgemeinen Anfall ein, jedoch köuneu
die Mäuse auch stundenlang ohne sichtbare Athmung im Anfall liegen, ohne zu
sterben. Andererseits kann der Tod auch ganz plötzlich ohne sichtbare Steige-
rung der Erscheinungen eintreten. Das ist besonders der Fall hei sehr hohen
Giftdosen, bei welchen von Beginn der Erscheinungen an der Process in wenigen
Stunden zum Tode führt und es gar nicht zur Entwicklung von Anfällen zu
kommen braucht.
Giebt man dagegen eine Dosis, die unter der tödtliehen Menge liegt, so
treten die localen Erscheinungen wohl auch zutage und können sehr hohe
Grade erreichen , die allgemeinen Erscheinungen entwickeln sich jedoch nur
schwach oder bleiben ganz aus. In solchen Fällen pflegt das Fortschreiten des
Processes am 3. oder 4. Tag Halt zu machen und die etwa schon bestehenden
Allgemeinsymptome nehmen bald ab. Dafür aber nehmen die bereits vorhandenen
localen Contracturen noch erheblich zu. Die Wirbelsäule kann so verkrümmt
werden , dass die Schnauze den Schwanz berührt. Der rechte Hinterfnss ist ad
maximum gestreckt und die Pfote mit der Innenfläche nach oben gedreht. Die
Maus kann sich nicht mehr aufrecht erhalten, sondern liegt auf dem Rücken.
Alle anderen drei Extremitäten können dabei völlig frei bleiben. Auch ist cs
nicht möglich , in diesem chronischen Stadium eine Steigerung oder Verallge-
meinerung der Erscheinungen hervorzurufen, ln diesem Zustand können die
Mäuse wochenlang verharren, bis allmälig eine Lösung der Krämpfe eintritt,
die nach Monaten mit völliger Restitutio ad integrum enden kann. Oft aber
treten, offenbar infolge gestörter Circulation , an dem gestreckten Fuss oder am
Sehwanz Nekrotisirungen auf, die mit Demarcation eines Theiles des Schwanzes
oder der Pfote enden.
Durch geeignete Dosirung des Giftes kann man nun willkürlich die ver-
schiedensten Grade der Erkrankung hervorrufen. So gelingt es manchmal auch,
wenn die Dosis sehr nahe der tödtliehen liegt, ein Kraukheitshild hervorznrufen,
bei dem die Allgemoinerseheiuungrn bis zu einem höchst bedrohlichen Grad zu-
nehmen und doch nach 8 — 10 Tagen Stillstand und allmälig völlige Gene-
sung eintritt.
Anders verläuft der Tetanus, wenn man das Gift nicht an eine Stelle
des Unterhautbindegewebes, sondern anderswohin bringt. Besonders lehrreich ist
die Injection in die Blutbahn, da sie den Gegensatz zum localisirtcn Tetanus zeigt:
Es geht auch hier stets eine lncubationsperiode dem Beginn der Er-
scheinungen voraus, dann aber kommt es zu einem plötzlichen allgemeinen Aus-
bruch, die Höhe des Krankheitsbildes ist sehr rasch erreicht und der Tod tritt
viel schneller ein als bei der analogen subrutanen Application.
Vom Verdauungscanal aus ist das Gift völlig unschädlich.
Ueber das Verhalten der Temperatur , Athmung etc. beim experimen-
tellen Tetanus ist wenig zu sagen. Die Temperatur bleibt meist normal, die
Athmung ist, besonders nach einem Anfall, beschleunigt.
Mit dem Tode tritt eine völlige Erschlaffung der contrahirten Musculatur
ein, die aber oft nur sehr kurze Zeit dauert, da die Todtenstarre sehr bald eintritt.
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TETANöS.
Abweichender Verlauf des Tetanus bei Pferd und Esel. Anders
verläuft die Intoxicntion bei einer Anzahl anderer Thiere, so dem Pferd und
Esel. Hier treten die ersten Erscheinungen nicht local an der Einführungsstelle
auf, sondern zuerst an der Nickhaut des Auges und an den Hebern des Schwanzes.
Erst dann werden andere Muskelgruppen ergriffen. Die charakteristischen Erschei-
nungen selbst gleichen ganz den an kleinen Thieren beobachteten.
Die ätiologische Zusammengehörigkeit des Tetanus dieser Thiere mit
dem der Laboratoriumsthiere hat Kitt bereits 1890 experimentell nachgewiesen.
Verlauf der Infection. Erregt man die Krankheit bei den Thieren
statt durch Einführung fertigen Giftes, durch Einbringung lebender Infcctions-
erreger, denen man Gelegenheit zum Wachsthum giebt, z. B. durch an Holzsplitter
angetrocknete Sporen, deren freies Gift durch Hitze zerstört ist, so ist im All-
gemeinen der Verlauf der Krankheit genau derselbe. Nur kann das Incubations-
stadium verhältnissmässig länger dauern , da ja die Bacillen erst Auswachsen
müssen. Dieses Auswachsen ist den verschiedensten Zufälligkeiten ausgesetzt, wes-
halb aus der Incubationsdauer nicht ohne Weiteres auf die Menge des wirklich
zur Geltung kommenden Giftes und damit der Schwere des Falles geschlossen
werden kann.
Pathologisch-anatomischer Befund. Sowohl bei Intoxication als
bei Infection ist der pathologisch-anatomische Befund, wenigstens bei nicht allzn
langsam verlaufenden Fällen, ein rein negativer. Die unbedeutenden localen Ver-
änderungen, die meist bei Infection vorhanden sind, sind jedenfalls belanglos
und auf die Wucherung der Mikrobien, vor Allem der Begleiter der Tetauus-
bacillen, zurückzufUhren.
Physiologische Wirkungsweise des Giftes auf den Körper.
Localisation im Körper. Um so eifriger suchte mau der physiologi-
schen Localisation des Giftes auf die Spur zu kommen. Die Forscher, die sieh
damit beschäftigt haben, sind darin einig, dass das Gift direct in Verbindung
tritt mit nervösen Elementen. Während aber der eine Tlieil diese Nervenelemente
nur peripher sucht, glaubt der andere Theil den Angriff des Giftes allein in’s
Rückenmark verlegen zu müssen. Die Unterschiede, die sieb dabei in den Experi-
menten selbst ergeben haben, sind wohl auf verschieden starke Dosiruug des Giftes
zurückzuführen. Andere wieder, so BROKXER und vor Allem Goldschkider, ver-
treten die Möglichkeit einer Doppelwirkung, peripher und central.
Vertheilung des Giftes im Körper. Diese letztere Ansicht findet
noch eine Stütze durch die eigenthümliche Vertheilungsweise des Giftes im Körper,
über die man allerdings noch ziemlich unklar ist.
Schon sehr bald wurde das Gift im Blut und in anderen Säften kranker
Thiere naebgewiesen. Von da tritt es auch in den Urin Uber. In einer grossen
Zahl von Fällen, bei Mensch und Thier, war es aber nicht möglich, das
Gift nachzuweisen. Untersucht man nun quantitativ genauer, so findet man, dass
das Gift durchaus nicht gleichmiissig im Körper sich vertheilt. Subeutan einge-
spritzt kommt nur ein ganz kleiner Theil des Giftes im Blut zum Vorschein.
Wahrscheinlich ist, je nach dem Ort der ersten Einwirkung und den Kesorptions-
verhältnissen dieses Orts und besonders nach der Thierart, diese Menge sehr
verschieden. Genauere Forschungen in dieser Beziehung werden vielleicht den
Unterschied in Local- und Allgemeinwirkung und Verschiedenheiten im Verlauf
der Krankheit dem Verständnis näher bringen.
Wichtig erscheint dies besonders gegenüber der Thatsache, dass, wie
oben erwähnt, die dem Tetanusgift überhaupt zugänglichen Nervenelemente bei
einzelnen Thierarten, dem Pferd, dem Esel und auch bei dem Menschen erheb-
liche Unterschiede in der Empfindlichkeit zeigen , während dies bei unseren
Laboratoriumsthieren nicht der Fall zu sein scheint. Beunxer theilt mit liecht
die Organismen in zwei Gruppen , je nachdem alle in Betracht kommeuden
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TETANUS.
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Nervenelemeute gleich empfindlich gegen das Tetanusgift zu sein scheinen, oder
ob einzelne Theile desselben Individuums viel leichter reagiren als andere.
Zusammen mit der unglcichmässigen Vertheilung des Giftes im Körper
erscheint diese Beobachtung wohl geeignet, manche Eigentümlichkeiten im Ver-
laufe des menschlichen Tetanus klarer zu machen.
Empfindlichkeitsunterschiede und -Veränderungen. Auch bei
den gleichmässig reagirenden Organismen ist wieder ein grosser Unterschied in
der Empfindlichkeitsstärke je nach der Zugehörigkeit zu einer Thierart zu con-
statiren. Das Huhn z. B. ist fast völlig unempfindlich gegen das Tetanusgift.
Wenig empfindlich scheint auch der Hund zu sein. Hehr empfindlich ist das
Kaninchen, die weisse Batte. Zu den empfindlichsten Thieren gehören die weisse
Maus, die Ziege, vor Allem das Meerschweinchen und das Pferd. Man misst be-
kanntlich die Empfindlichkeit einer Thiergattung, indem man an einer Reihe von
Thieren die zur sicheren Herbeiführung des Todes nöthige Giftmenge bestimmt,
die sicher tödtliche Minimaldosis. Die Applicationaweise muss allerdings ein und
dieselbe sein und wählt man dazu gewöhnlich die subctitane Injeetion.
Dabei zeigt sich nun, dass diese Dosis bei einer und derselben Thier-
art, normale Thiere vorausgesetzt, sehr geringen individuellen Schwankungen
unterliegt, wenn man das Körpergewicht in Rechnung zieht, dass dagegen bei
den verschiedenen Thierarten die Unterschiede sehr erhebliche sind. So ergiebt
sich, dass, wenn man 1 Grm. Meerschweinchcnkörpergewicht mit einer Giftein-
heit tödten kann, man zu 1 Grm. Mäusegewicht etwa 6 Einheiten und zu 1 Grm.
Kaninchengewicht 1000 Einheiten nöthig hat. Mit anderen Worten , das Meer-
schweinchen ist tausendmal empfindlicher wie das Kaninchen. Das Verhältniss
der krankmachendeu Giftdosen ist allerdings ein anderes, da die Empfindlich-
keitslireite, d. h. der Unterschied der Mengen, die das Thier tödten und es ge-
rade noch krank machen, beim Kaninchen viel grösser zu sein scheint. Diese
Empfindlichkeit des einzelnen Individuums selbst ist aber keine unter allen Um-
ständen feststehende und kann willkürlich beeinflusst werden. So hat Roux ge-
zeigt. dass die Empfindlichkeit steigt bei Thieren , welche unter dem Einflüsse
anderer Schädigungen stehen. Auch durch allzu häufige Einführung kleiner
Mengen des Tetanusgiftes selbst wird die Empfindlichkeit erhöht. Andererseits
wird die Empfindlichkeit durch rationelle Einführung des Giftes herabgesetzt, die
Thiere werden immun. Dieser Zustand ist kein absoluter, sondern immer nur
ein relativer, einer gewissen Giftmenge gegenüber.
Behring hat zuerst bei Diphtherie und Tetanus nachgewiesen, dass dabei
ein Stoff sich allmälig im Blut anhäuft, der im Stande ist, die schädlichen Eigen-
schaften des Giftes aufzuheben. Ceber diese wichtigsten Ergebnisse der Immuni-
tätsforschung muss, wenn auch ein grosser Theil am Tetanus gefunden wurde,
auf eine andere Stelle verwiesen werden.
Tetanus beim Menschen.
Aetiologie. Nach diesen experimentellen Thatsachen ist es ansser
Zweifel, dass die Ursache der Tetanuserkraukung beim Menschen in dem Tetanus-
bacillns und seinen Lebensäusserungen zu suchen ist.
Die Möglichkeit der Aufnahme fertigen Tetanusgiftes allein in genügender
Menge ist, wenn sie auch bei der kolossalen Wirksamkeit des Giftes theoretisch
zugegeben werden muss, praktisch wohl von geringer Bedeutung. Es gehört
demnach zum Zustandekommen der Erkrankung die Anwesenheit des Tetanus-
bacillus in virulentem Zustand, die Möglichkeit für denselben, durch eine Con-
tinuitätstrennung, eine Wunde, die schützende Haut zu passireu, in der Wunde
die Verhältnisse zur Ansiedelung zu finden und wenigstens während kurzer
Zeit zu wachsen.
Disposition. Der Telanusbacillus und die zu seiner Ansiedelung nölhi-
gen Componenten finden sich in der Erde, im Thierkoth und an den damit be-
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652
TETANUS.
schmutzten Gegenständen. Alle Personen, die mit diesen Dingen viel in Berührung
kommen, sind daher besonders zur Tetanuserkrankung disponirt. Weiter disponirt
die Berührung dieser Dinge mit unbedeckten Theilen der Haut , den Händen,
blossen Armen, Knien, Füssen und die Möglichkeit, sich häufig an diesen Theilen
unbedeutende, leicht vernachlässigte Verletzungen zuzuziehen. Daraus ergiebt
sich von selbst das häufige Vorkommen des Tetanus bei Gartenarbeitern, Pferde-
wärtern, Scheuerfrauen, ebenso die Neigung von Finger- und Handverletzungcn,
Tetanuserkrankung im Gefolge zu haben.*)
Weiter disponiren, theils wegen der häufigen Verunreinigung mit Erd-
partikelehen und der Schwierigkeit der Reinigung, theils wegen der für die
Bacillen vortheilbaften Wachstbumsbedingungen, stark gequetschte, zerrissene
Wunden, Nckrotisirungeu, Erfrierungen der Extremitäten, starke Blutgerinnsel,
complicirte Fractureu , Wunden im Kriege. Hierher ist auch die Neigung zum
Tetanus bei Wöchnerinnen und Neugeborenen, die in ärmlichen, schmutzigen
Verhältnissen sich befinden, zu rechnen.
Auf schmutzige Behandlung, Mangel an Bedeckung der Haut sowohl,
als auch grosse Verbreitung der Mikrobien iBt die Beobachtung zurückzuführen,
dass eine ganze Menschenrasse, die Neger, in ihrer Heimat für Tetanus be-
sonders disponirt zu sein scheinen.
Infectionspforte. In den meisten Fällen ist die Einwanderungspforte
der Bacillen leicht zu finden und durch den mikroskopischen oder culturellen Nach-
weis derselben fcstzustcllen. Es ist so bei allen Fällen von Tetanus traumaticu*.
In einer kleineren Anzahl von Fällen aber kann sie auch verborgen bleiben, es
sind das die Fälle, die mau früher als Tetanus idiopathicus und theumnti us** |
bezeichnet hat. Durch genaue Untersuchung wird auch bei diesen Fällen oft noch
der Gang der Infection aufgeklärt werden können. Dass es nicht immer leicht
ist, zeigen einige genauer beschriebene Fälle. So wollen Carbone und Perrkro
Tetauusbucillen im Bronchialschleim eines an Tetanus Gestorbenen nachgewiesen
haben. Kitasato fand tief iu der Planta pedis eines Tetanustodten einen infec-
tiösen Splitter, der äusserlich absolut keine Erscheinungen gemacht hatte, ln
Fällen, wo es gar nicht möglich ist, die Infectionspforte nachzuweisen . bleibt
immer die Möglichkeit noch offen, dass der Wachsthumsproeess der Bakterieu ein
kurzer und beim Ausbruch der Krankheit bereits abgelaufen war. Dafür spricht
auch, dass diese Fälle meist sehr milde verlaufen.
Nachweis der Bacillen durch Züchtung. Der Nachweis der
Bacillen kann zunächst mikroskopisch erfolgen und wird siehergestellt durch
Züchtung der Bakterien. Als rationellste Art des Nachweises muss auch heute
noch die Zticbtungsmethode von Kitasato gelteu.
Derselbe kam zu seinen ersten positiven Resultaten dadurch, dass er
das verdächtige Material der Infcctionsstellc, Eiter, Holzsplitter und dergleichen,
weissen Mäusen unter die Haut brachte. Wenn diese unter tetanischen Erschei-
nungen gestorben waren, fand er an deren lnfeetionsstellc wiederum Eiter, in
dem sich die charakteristischen Mikrobien mikroskopisch leicht nachweisen Hessen.
Diesen Eiter breitete er auf Agarnährböden aus und licss ihn einige Zeit
*) Diese Neigung illustrirt eine Tabelle, welche in Ziemssen’s Handbuch 1876
angeführt ist. Es fand sich danach bei Tetanus der Sitz der Infectionspforte:
an Hand und Finger in 27,42°/,
„ Ober- und Unterschenkel 25,08° 0
„ Kossen und Zehen „ 22,19'/«
„ Kopf, Gesicht und Hals „ 10,99'/«
„ Ober- und Unterarm 8,09' ,'«
„ Kumpf „ 6.28°/«
**) Ob es sich bei diesem , dessen Entstehung früher auf eine starke Erkältung be-
zogen wurde, immer um ein zufälliges Hinzntreten der Erkältung handelt, oder ob manchmal
diese znm Ausbrach eines sonst latent verlaufenden Tetanus durch Erhöhung der Empfindlich-
keit (Roux 'sehe Versuche) beitragen kann, ist wohl nicht zu entscheiden.
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TETANUS.
653
(30—48 Standen) ihm Brutschrank stehen, bis die charakteristische Sporenbildung
der Tetanusbacillen in reichem Maasse zu constatireu war. Dann wurde diese
Cultur */, — 1 Stunde im Wasserbad auf 80° erhitzt und jetzt erst auf Nährboden
für Anaerobe (Gelatine in hoher Schicht) übertragen. Hier wuchs nun der Tetanus-
bacillus, wenn nicht rein, so doch in so überwiegender Menge, dass die An-
legung einer Keincultur durch Ueberimpfen absolut keine Schwierigkeiten mehr bot.
Es handelt sich bei diesem Verfahren im Princip darum, zunächst die
Menge der Tetauussporen zu vermehren (Mischcultur). Dann w'erden die anderen
Bakterien durch Hitzegrade vernichtet, welche die Sporen noch überleben können.
Wesentlich zum Gelingen des Verfahrens ist, dass der Tetanusbacillus schneller
Sporen bildet als die meisten anderen Bakterien der Mischcultur (Kitasato),
die die Fähigkeit der Sporenbildung auch besitzen. Es ist deshalb sehr wichtig,
die Mischcultur bei hoher Temperatur (37 — 38") und nur bis zum Eintritt der
Sporulation der Tetanushacillen, also nicht zu lange wachsen zu lassen.
Das Verfahren hat im Laufe der Zeit manche Modificationcn erfahren,
die dem Gutdüuken des Einzelnen überlassen bleiben können. Die Grundprincipien
aber müssen gewahrt bleiben, wenn man einen Erfolg haben will. So hat
Kitasato selbst bereits aus dem infcctiöscn Material des Menschen, mit Umgehung
der Thierpassage, direct gezüchtet. Es empfiehlt sich aber doch, wenigstens das
Material zu theilen und beide Wege einzuschlagcn. Eincstheils können vielleicht
manche Erdbakterienarten, die in dem ursprünglichen Material noch vorhanden
waren, im Thierkörper aber nicht zu wachsen vermögen, ausgeschlossen werden
durch die Thierpassage , und andererseits giebt das Eintreten der tetanischen
Erscheinungen beim Thier, auch wenn die Züchtung fehlschlägt, einen Beweis
für das Vorhandensein wenigstens von Tetanusgift.
Wichtiger noch als der Nachweis der Tetanusbacillen beim bereits er-
krankten Menschen erscheint der Fund der Infectionsqnelle in der Umgebung des
Kranken, da dieser die Handhabe zu prophylaktischem Handeln geben kann. Auch
hier sind schon interessante Resultate erzielt worden: So konnte Hevsk bei einem
Tetanus pnerperalis bei welchem er intra vitam in den Lochien bereits Tctanus-
bacillcn nachwies, in dem Barillengehalt des Zimmerschmutzes den Ansteckungs-
herd aufdeckcu. Ferner fand Caliahdi Tetanusbacillen in Spinngeweben, von denen
ein Tbeil zur Blutstillung einer Fingerwunde bei einem Knaben verwendet worden
war und bei diesem Tetanus hervorgerufen hatte. So konnte auch im Staube eines
Luftheizungsschachtes dieürsache zweier Tetanuserkrankungen nachgewiesen werden.
Verlauf des Tetanus beim Menschen. Der Tetanus des Menschen
beginnt, wie bekannt , in den meisten Fällen nicht in der Umgebung der Ver-
letzung, sondern in den Kaumuskeln und nimmt gewöhnlich seinen V'erlauf Uber
die Muskeln des Nackens, Rückens, Bauches nach unten. Die Arme bleiben am
häufigsten frei. Die Erklärungen, die man für dieses vom Versuch an kleinen
Thieren abweichende Verhalten gegeben hat , sind bereits früher besprochen
worden. Sie werden gestützt durch eine grosse Zahl von Beobachtungen, die
BRUNNER an Fällen von menschlichem Kopftetanus gesammelt hat. Derselbe
nimmt analog früher ausgesprochener Ansichten eine für das Tetanusgift besonders
empfindliche Stelle in der Medulla ohtongala an. Uebrigens weist er an seinem
reichen Material auch nach, dass die Fälle, in denen der Tetanus in der Gegend
der inficirten Stelle beginnt, durchaus nicht so selten sind.
Der weitere V'erlauf des menschlichen Tetanus ist allgemein bekannt und
weist sonst keine wesentlichen Verschiedenheiten von dem hei Thieren experi-
mentell erzeugten Tetanus auf.
Das Incuhationsstadium kann sehr verschieden lang sein und lässt nicht
ohne Weiteres einen Schluss auf die Schwere der Erkrankung zu. Im Allgemeinen
kann man die Fälle mit Incubation bis zu 10 Tagen zu den schweren rechnen.
Auch die Dauer der Erkrankung kann sehr verschieden sein. Gewöhn-
lich tritt der Tod innerhalb der ersten fünf bis sechs Tage von Beginn der Er-
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654
TETANUS.
scheinungen ein. Jeder Tag mehr bessert die Aussicht auf Genesung erheblich.
Die Symptome bleiben zunächst stehen und gehen dann ganz allmälig zartick.
Doch kann der Tod auch noch viel später erfolgen.
Pathologische Anatomie. Wie bei den Thieren, ist auch beim
Menschen der pathologisch-anatomische Befund meist negativ. Es sind zwar schon
von Rokitansky und Anderen Veränderungen am Rückenmark und an den peri-
pheren Nerven beschrieben worden und vor einiger Zeit hat wieder Boxomk
Beobachtungen veröffentlicht. Diese Veränderungen wurden aber von der Mehrzahl
der Untersucher nicht bestätigt und sollen nicht charakteristisch für Tetanus sein.
Diagnose. Die Diagnose des Tetauus ist ausserordentlich leicht zu
stellen. Meist schon die ersten Anzeichen , die Behinderung des Rauens und
Sprechens, und vor Altem das vollentwickelte Bild lassen kaum einen Zweifel
aufkommen und genügen zur sicheren Bestimmung der Krankheit. Auch der
Nachweis der Bacillen ist nach der oben beschriebenen Methode leicht zu führen
und dient mehr zur wissenschaftlichen Bestätigung. Weiter bat Kitasato die
Prüfung des Giftgehaltes des Blutes praktisch angewandt. Mau giebt einem mög-
lichst empfindlichen Thier, also am besten einem Meerschweinchen, grosse Mengen
Blut *) , das man womöglich schon während des Lebens durch Venaesection dem
Kranken entnommen hat.
Man durfte hollen, vielleicht aus der Menge des Giftes einen prognosti-
schen Schluss auf die Schwere des Falles machen zu könneu. Im Allgemeinen
gehören allerdings die Fälle, bei denen Gift im Blut nachgewiesen werden kann,
zu den schwersten. Die naehgewiesene Menge steht aber offenbar in keiner directen
Beziehung zur wirklich im Körper vorhandenen Giftmenge, wie dies zwei Fälle
von Stkrn neben auderen zu beweisen scheinen. Jedenfalls lässt dies prognostische
Hilfsmittel gerade dann, wenn es wichtig wäre, bei nicht allzu schwerer Er-
krankung meist vollständig im Stich.
Prognose. Im Allgemeinen ist die Prognose bei Tetanus sehr schlecht.
Manche Autoren rechnen 80 — 90% Sterblichkeit, und wenn die Incubation unter
fünf Tagen beträgt, soll kaum ein Fall durchkommen. Andere aber wieder,
besondere Italiener, berechnen nur etwa 20% Sterbefälle. Es scheint fast, als ob
das mit den Gegenden verschieden sei und in Italien der Tetanus milder verlaufe.
Gewöhnlich stellt man die Prognose nach der Länge der Incubationszeit.
Dies ist allerdings für kurze Iucubationsdauer , etwa bis zu 10 Tagen , ziemlich
richtig, das heisst, der Procentsatz der Todesfälle ist bis dahin sehr gross, aber
nach dieser Zeit wird die Prognose ausserordentlich unsicher. Wichtiger erscheint
die Schnelligkeit des Ansteigens der Erscheinungen. Ist in kurzer Zeit, in 24 bis
48 Stunden das Krankheitsbild bereits ausgesprochen , so handelt es sich sicher
um einen sehr schweren Fall. Ziehen sich dagegen schon die ersten Symptome
mehrere Tage hin, ist die Wahrscheinlichkeit des Ueberstehcns der Krankheit
sehr grosB.
Therapie. Diese Unsicherheit in der Prognose einer gewissen Gattung
der Tetanusfälie machte von jeher die Ileurtheilung des Heilerfolges irgend
eines Mittels sehr schwierig. So wurde im Laufe der Zeit manches Mittel lioch-
geprieseu und bald wieder als nutzlos aufgegeben. Es seien nur die von Bacckli.i
empfohlenen Carboisäureeinspritzungen als Beispiel erwähnt. Erhalten haben sich
nur die Narcotica, vor Allem das Chloralhydrat. Wenn demselben auch ein
bedeutender Einfluss auf die Sterblichkeitszitfer des Tetanus kaum nachgewiesen
werden kann . trägt es doch ausserordentlich zur Linderung der Beschwerden
der Kranken bei. Sehr wichtig erscheint dagegen die Prophylaxe, die besondere
sorgfältige Reinigung und Pflege aller, auch der kleinsten Wunden, die den Ver-
dacht auf eine mögliche Tetannserkrankung erwecken können. Am meisten erreicht
man bei der grossen Widerstandsfähigkeit der Tetanuskeimo jedenfalls mit
*) Das Scrnni ist ebenso wirksam.
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TETANUS.
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möglichst gründlicher mechanischer Reinigung. Von bakteriologischer Seite wurde
dem Silhernitrat und Jodoform ein besonders starker Einfluss auf die Tetanus-
bakterien zugeschrieben. Ist der Tetanus ausgebrochen, so ist jedenfalls die Ent-
fernung des inficirenden Gegenstandes geboten. Allerdings wird man nach den
heutigen Anschauungen von der Amputation ganzer Extremitäten absehen.
Je machtloser man dem ausgesprochenen Bilde des Tetanus gegenüber-
steht, desto grössere Erwartungen musste man der Heilserumtherapic entgegeubringen,
und es wurden auch bis jetzt eine Reihe von Fällen mit Tetanusheilserum be-
handelt. Die allgemeine Meinung Dher diese Fälle geht dahin, dass dieselben noch
keinen sicheren Schluss auf die Wirksamkeit der neuen Therapie für Tetanus
zulassen. Einerseits werden die geheilten Fälle als zu leichte, die auch so hätten
in Genesung übergehen können, von mancher Seite nicht als Heilungen anerkannt.
Andererseits sind immer noch schwere Fälle, trotz Behandlung mit Heilserum,
gestorben. Dazu ist zunächst zu constatiren , dass die bis jetzt beim Menschen
angewandten Dosen, nach den Erfahrungen beim Thierexperiment, mit wenig
Ausnahmen viel zu klein waren. Die Thierversuche beweisen andererseits mit
Sicherheit, dass eine Möglichkeit der Heilung des Tetanus bei sonst sicher tödt-
lichem Verlaufe vorliegt, allerdings bis jetzt nur bei nicht allzu schweren, nicht
allzu vorgeschrittenen Fällen und mit grossen Mengen Antitoxin. Für die Aus-
sicht, dass damit die Erfolge der Heilserumtherapic erst in ihrem Beginne stehen,
und dass mit Erhöhung des Serumwerthes der Procentsatz der durch diese
Therapie vom sicheren Tode zu rettenden Menschen immer mehr zuuimmt,
sprechen die Erfahrungen bei der Behandlung der Diphtherie.
Literatur: I. Tetanusbacillus: Carle und Kattone, Uebertragbarkeit.
Giornale dell’ R. acrad. di Med. di Torino 1884. — Nicolaier, Fund der lnfectionsquelle
in der Erde. Inaug.-Dissert. Güttingen 1885. — Rosen hach, Bacilleu beim Menschen an
der Infectionsstelle mikroskopisch nachgewiesen. Arch. f. klin. Chir. 1886, pag. 306. —
Kitasato, Reinzüchtung aus Infectionsstelle, Morphologie, Widerstandsfähigkeit, Thierversuch.
Zeitsehr. f. Hygiene. 1889, VII. — Tizzoni, Cattani u. Baqnis, Thierversuch. Bacillen-
fund im Organismus. Ziegler's Beitrage zur pathologischen Anatomie. 1889, VII. — Sor-
mani, Ftitterungsversuche, Vermehrung der Bacillen im Darm. Associazione Medica. 1889,
XIII ; V. Congr. d italienischen Gesellsch, f. innere Med. 1892, Ref. im Centralbl. f. Bukteriol.
1892, XII, pag. 609 — Parietti, Impftetanus bei Hunden. Riforma raed. 18*»9. — Kita-
sato u. Weyl, Züchtung. Zeitschr. f. Hygiene. 189U, VIII u. IX. — Kitt, Impftetanus bei
Pferden, Schafen etc., Verlauf. Centralbl. f. Bakteriol. 1890, VII, Nr. 10. — Sanchez-
Toledo u. Veilion, Koth der Thiere infectiüs, Bacillenfund in deu Organen. Arch. de med.
experim. 1890, II, Serie I, pag. 1 ; LaSemaine raed. 1890, X, Nr. 45. — Sormani, Vom
Verdauungs- und Respirationstractus Infcction nicht möglich. Deutsche med. Wochensehr. 1890,
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Bacillen. Arch. f. experiiu. Patli. n. Pharm. Ifc91, XXVIII, pag. 41. — Heinzeimann, Nach-
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II. Tetanusgi ft. — 1. Chemische und physikalische Eigenschaften,
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schwächung durch Hitze. Berliner klin. Wochensehr. 1690, Nr. 31, pag. 717- — Brieger u.
Frankel, Toxalbumine, Alkoholfällung. Berliner klin. Wochenschr. 1890, Nr. 11 u. 12. —
Kitasato u. Weyl, Zeitschr. f. Hygiene. 1890, VIII. — Tizzoni u. Cattani, Chemische
3y Google
TETANUS.
656
Eigenschaften des Giftes. Centralbl. f. Bakteriol. 1890, VIII, pag. 69. — Kitasato, Gift-
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als Conservirung von Tetanusmaterial. Referat im Centralbl. f. Bakteriol. 1893, XIII, pag 031.
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Autokratow, Physiologische Experimente. Arch.de med. experiin. Septem her 1892. — Vin-
cenzi. Tetanusgift entsteht erst im kranken Organismus durch fermeutartige Wirkung. Auf-
treten im Blut bereits Heilvorgang. Arch j>er le Science med. 1892, XVI, pag. 341 ; Referat in
Münchener med. Wochenschr. 1892, pag. 878- — Courmont u. Doyon, Physiologische Ex-
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schrift. 1893, Nr. 7. — Courmont u. Doyon, Ebenfalls Gift ohne Incubation. 8emaine
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klin. Med. 1894, XXVI; Fortsehr. d. Med. 1895. — Gnmprecht, Physiologische Experimente.
Pflüger’ s Archiv. 1894, LIX; Deutsche med. Wochenschr. 1894, pag. 546. Kritik der Arbeiten
Anderer. Deutsche med. Wochenschr. 1895, pag. 693. — Goldscheider, Kritik der obigen
Arbeit. Deutsche med. Wochenschr. 1895, pag. 735. — 3. Vertheil ung des Giftes im
Thierkörper nml Ausscheidung: Behring u. Kitasato, Gift im Pleuraexsudat und
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Camara Pestana, Gift in den thierisehen Organen. Le bull. med. 1891, Nr. 53. — K ar-
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empfänglich. Genauer Meerschweinchen, weisse Mäuse, Kaninchen, Huhn unempfindlich. Zeit-
schrift f. Hygiene. 1889, VII. — Tizzoni, Cattani u. Baquis, Ebenso grosse Anzahl von
Thieren. Photographien von kranken Thieren. Ziegler’s Beiträge zur pathologischen Anatomie.
1889, VII. — Wladimiroff, Empflndlichkeitsscala für die zu Laboratoriums- und Iramuui-
sirungszwecken gebräuchlichsten Thiere. Zeitschr. f. Hygiene. 1893, XV, pag. 4U5. — Knorr,
Schwanken der Empfindlichkeit Habilitationsschrift. Marburg 1895. — 5. Ile ilungs ver-
suche bei Thieren: B e hr i n g u. K i ta sato , Heilung bei Intoxication der Mause. Deutsche
med. Wochenschr. 1890, Nr. 49. — Tizzoni u. Cattani, Heilung von weissen Ratten bei
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Heilung im Verhältnis zur Immunisirung. Deutsche med Wochenschr. 1892, Nr. 16 —
Kitasato, Heilung von weissen Mäusen und Meerschweinchen bei Infection. Zeitschr. f. Hy-
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bei Intoxication, Bestimmung des Unterschiedes zwischen Imtuanisirung und Heilung. Zeitschr.
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chen, Mausen und Kaninchen bei Infection. Annal. de l'institut Pasteur. 1893, Nr. 2. —
Tizzoni u. Cattani, Heilung theilweise gelangen. Berliner klin. Wochenschr. 1893, Nr. 50,
51 u.52. — Brieger n. Cohn. Heilung bei Intoxication möglich, nicht bei Infection. Zeit-
schrift f. Hygiene. XV, pag. 189. — Beck, Heilung bei Infection nicht möglich ■Meer-
schweinchen). Zeitschr. f. Hygiene. 1895, XIX. — Knorr, Heilung bei Infection möglich
(Meerschweinchen). Habilitationsschrift. Marburg 1895.
III. Tetanus des Menschen. 1. Nachweis der Bacillen; 2. des Gifte«
im Körper; 3. anatomischer Befund; 4- Statistik — 1. Kitasato, Erste Rein-
Züchtung. Zeitschr. f. Hygiene. 18"9, VII. — Chanteraesse u. Vidal, Bacillen im Uterus.
Bull. med. 18>9, Nr. 74. — Renvers, Drei Fälle von Züchtung aus der Wunde (durch
TETANUS. — THIERGIFTE.
657
Kitasato). Verein f. innere Med. Berlin, 7. Juli 1890. — Kitasato, Einige Fälle von
Züchtung. Zeitschr. f. Hygiene. 1891, X, pag. 302. — Stern, Nachweis in zwei Fällen:
Puerpera und sogenanntem Tetanus rheumaticus. Deutsche med. Wochenschr. 1892, Nr. 12.
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Kranken. Deutsche med. Wochenschr. 1893, Nr. 14, pag. 8. — Schnitzler, Fund von Bacillen in,
der Wunde benachbarten Lymphdrüsen. Centralbl. f. Bakteriol. 1893, XIII, pag. 679- — Car-
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XVIII, Nr. 7. — 2. Kitasato, Gift im menschlichen Blut. Zeitschr. f. Hygiene. 1891, X,
pag. 303. — Nissen, Gift im menschlichen Blut. Deutsche med. Wochenschr. 1891, Nr. 24,
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Bruschettini, Gift im Blut und Urin. La Riforma med. 1892, Nr. 172 u. 173; Deutsche
med. Wochenschr. 1892, Nr. 16. — Kallmeyer, Untersuchung des Blutes auf Gift negativ.
Deutsche med. Wochenschr. 1892, Nr. 4. — Stern, Bei schwerem Fall kein Gift, bei leich-
terem Gift im Blut, nicht in Milch und Urin. Deutsche med. Wochenschr. 1892. — Vulpius,
Sehr viel Gift im Blut, nichts im Urin , nichts in Galle. Deutsche med. Wochenschr. 1893,
Nr. 41, pag 992. — 3. Bonome, Veränderungen im Rückenmark bei vier Fällen. Arch. per
le science med. 1891, XV, pag. 15. — 4. Rot t er, Citirt die Statistiken von Richter und
Rose, 80 — 90% Sterblichkeit Deutsche med. Wochenschr. 1893, Nr. 7. — Marcosignori,
Statistik über 188 Fälle, etwa 20% Sterblichkeit. Ga*, degli ospedali. 1892, Nr. 10. — Al-
b ertön i, Statistik über 176 Fälle, etwa 20% Sterblichkeit. Münchener med. Wochenschr.
1892, Nr. 45, pag. 805. — Vinay, Literatur des Tetanus puerperal is . Lyon med 1891,
Nr 51 u 52. — Brunner, Zusammenstellung sehr vieler Tetanusfalle, besonders Kopftetaiius.
Beobachtungen über Verlauf, Experimente. Bruns’ Beiträge zur klinischen Chirurgie. IX, X,
XI. — Sahli, Therapie des Tetanus. Mittheilungen aus Kliniken und medicinischen Instituten
der Schweiz. 1895, 3. Reibe, H. 6.
IV. Anwendung des Heilserums heim Menschen. — Baginaky, Bei
Neugeborenem. (Gestorben.) Deutsche med. Wochenschr. 1891, Nr. 7- — Gagliardi, Geheilt.
La Riforma med. 1892, Nr. 76. — R. Schwarz, Geheilt. Centralbl. f. Bakteriol. 1891, X, Nr. 24. —
Pa ein i, Geheilt. La Riforma med. 1892, Nr. 4. — Finotti, Geheilt. Wiener klin. Wochen-
schrift. 1892, Nr. 1, p. 1. — Tizzoni, Geheilt. La Riforma wed. 1892, pag. 160. — Taruffi,
Geheilt. Centralbl. f. Bakteriol. 1892, XI, Nr. 20. — Ca sali, Geheilt. Ebenda. XII, Nr. 2, 3.
— Finotti, Geheilt. Wiener klin. Wochenschr. 1892, pag. 431. — Berger, Geheilt. Mün-
chener med. Wochenschr. 1892, pag. 921 (Referat). — Re non, Zwei Fälle gestorben. Annal.
de l'institut Pasteur. 1892, pag. 233. — Rotter, Geheilt. Deutsche med. Wochenschr. Nr. 7.
— Busch ke n. O e rg e 1 , Gestorben. Ebenda. Nr. 7. — B usc h k e , Selbstimmunisirung gegen
Tetanus. Erscheinungen. Ebenda, Nr. 50. — Roux u. Vaillard. Sieben Fälle, davon fünf
gestorben, zwei geheilt. Annal. de rinstitut Pasteur. 1893, pag. 123. — Magagni, Geheilt.
Centralbl. f. Bakteriol. 1893, XIV, pag. 157. — Finotti, Geheilt. Wiener klin. Wocherschr.
1893. Nr. 7. — Gattai, Geheilt. Centralbl. f. Bakteriol. 1893, XIV, pag. 108. - Lesi,
Geheilt. Ebenda. 1893, XIV, pag. 393. — Marcosignori, Scheint einen Fall aufzuführen,
der starb. Deutsche med. Wochenschr. 1893, pag- 612; Referat aus Gaz. degli ospedali. 1892,
Nr. 10. — Moritz, Geheilt. Münchener med. Wochenschr. 1893, Nr. 32, pag. 561 — Esche-
rich, 2 gestorben, 1 geheilt. Wiener klin. Wochenschr. 1893. Nr. 30, pag. 586. — Dörfler,
Geheilt. Münchener med. Wochenschr. 1894, Nr. 15. — Giusti u. Bonaiuti, Kopftetanus.
Geheilt. Berliner klin. Wochenschr. 1894, Nr. 36, pag. 818. — Foges, Gestorben. Wiener
klin. Wochenschr. 1894, Nr. 24. — v. Hacker, Zwei Fälle geheilt. Ebenda. 1894, Nr. 25. —
Schwarz. Gestorben. Ebenda. 1894, Nr. 45. — Bauer, Gestorben. Ebenda. 1894, Nr. 54. —
Remesoff u. Fedoroff , 2 Fälle, 1 geheilt, 1 gestorben. Centralbl. f. Bakteriol. 1894, XV,
pag. 115. — Beck, Gestorben. (Grosse Antitoxinmengen) Zeitschr. f. Hygiene. 1895, XIX,
pag. 445. — Vagede«. Geheilt. (Grosse Antitoxinmengen.) Zeitschr. f, Hygiene. 1895, XX,
pag. 295. — Caretti, Geheilt La Riforma med. 1895, Nr. 14. — Sahli, Drei Fälle von
Tetanus, 2 ohne, 1 mit Serum behandelt, alle 3 geheilt. Mittheilungen aus Kliniken und medi-
cinischen Instituten der Schweiz. 1895, 3. Reihe, H. 6. — Thompson, Ein Fall geheilt.
Interessant die Infectionsquelle. Mittheilung von D. Weir, dass bis jetzt bereits 20 Falle be-
handelt seien, wovon 4 gestorben seien, während früher die Sterblichkeit 95% betragen hätte.
Med. Record. New- York, 5 Januar 1895. — Wal ko, Tetanus puerperalis. Gestorben. Zusammen-
stellung von behandelten Fällen. Deutsche med. Wochenschr. 1895, pag. 591. Knorr.
Thermalbäder, s. Bäder, pag. 43 ff.
Thiergifte. Zu den Raupen, deren Haare starke Entzündung der
Haut des Gesichtes und der Augenbindehaut hervorrufen können, gehört auch
die Raupe des Schwanes oder Mosch usvogels , Porthe sia auriflua Steph.
{Liparix auriflua L.), die an Obstbäumen, Hainbuchen, Eichen, Weissdorn, auch
an Linden und Weiden in grossen, aus zusammengesponnenen Blättern gebildeten
Nestern überwintert. Auch die Puppen sind behaart und können in gleicher
Weise wie die Raupen schädlich werden.
Encydop. Jahrbücher. VI.
42
658
THIERGIFTE. — THYROJODIX.
L'eber die Giftigkeit afrikanischer Articulaten, aus der Gattung Argas.
liegen neue Mittheilungen von Dowsox vor, wonach die Portugiesen in Tete durch
den Biss einer giftigen Zecke viel Verlust erlitten hatten. Neuangekommene
werden davor gewarnt, sich auf den Boden der Zelte zum Schlafe niederzulegen,
und man stellt in Tete die Beine der Bettstelle in mit Petroleum gefüllte Geftsse,
um die Thiere fernzuhalten. Fieber und acute Dysenterie sollen die Erscheinungen
sein, die durch die Thiere herbeigeführt werden. In einem Falle, den Dowsox
beobachtete, traten leichte Schwellung an der grossen Zehe mit nachfolgendem
Unempfindlich w erden, hochgradiges Fieber und zweimaliges Erbrecheu ein. Das
Thier ist von Livingstone bereits erwähnt und kommt auch in der Stadt Lena
am unteren Zambese vor. Nach Pocock gehört der Carapato oder Tamlven von
Tete zur Gattung Argas und ist nahe verwandt mit der in Aegypten vor-
kommenden Art Arg an Savignyi und einer am Congo vorkommenden Speeies.
Unter den Heilmethoden gegen Vergiftung figurirt auch die Kälte, die
besonders bei der Strychninvergiftung in Frage kam, nachdem zuerst
Ci.. Bebxard, später Kunde und F oster gezeigt hatten, dass dieses auf Frösche
in kaltem Wasser schwächer wirke als auf solche in warmem Wasser. BrintoM
und Cash zeigten, dass in warmer Aussentemperatur Thiere mit Kupfer und
Kalisalzen, Bariumsalzen, Veratrin , Guanidin und anorganischen Muskelgiften
(Zink, Mangan) rascher und intensiver vergiftet werden. LlthsiNGER fand , dass
Frösche durch Pikrotoxin in Wasser von höherer Temperatur (32°; in wenigen
Minuten, in solchen von 15° weniger rasch und bei Abkühlung auf 0® über-
haupt nicht vergiftet werden. Nach den neueren Untersuchungen über die Ursache
dieser antidotarischen Etfecte der Abkühlung scheint es indessen, als ob die Indi-
cation der Kälte besonders für eine Reihe örtlicher Intoxicatiunen , nämlich für
die durch subcutane Injectionen oder durch offene Wunden erfolgenden, also ins-
besondere für die Vergiftung durch Beisswerkzeuge oder Stacheln giftiger Thiere,
indicirt seien. Die älteren Versuche von Sassetzki und MaxaSSEIN (1880), nach
denen die Erhöhung der Temperatur au den Applicationsstellen beim Menschen
die Resorption von Jodkaliutn und Ferrieyankalium beschleunigt und die Herab-
setzung der Temperatur das Gegonthcil bewirkt, haben durch die allerneuesten
Versuche v. Kossa’s *) an Thieren Bestätigung erfahren. Kühlt man bei Kaninchen
die Ohrmuschel mit Schnee und Salz oder mit Schnee und Wasser oder selbst
nur mit Wasserleitungswasser von + 7° einige Minuten ab, so führt die Injection
se bst der heftigsten Gifte, wie Cyankalium, Strychnin und Pikrotoxin, überhaupt
nicht zu Vergiftungserscheinungen, die auch nicht eintreten, wenn die Abkühlung
nach einiger Zeit (in 1 — l’/a Stunden) eingestellt wird, und von dem unter den-
selben Bedingungen injicirten Jodkalium findet sich im Harn nach 45 Minuten
keine Spur. Die Anwendung von Eis bei externen thierischen Giften hat
somit nicht nur symptomatische (analgesirende) , sondern wirklich antidotarische
Bedeutung.
Literatur: ‘) Oldham R rai t h wa i t o , Caterpillar Ophthalmia . Pharm. Jnurn.
Transactions. 29. Juli, pag, 80. — ’) Dawsnn. Poisonou* ticky. Brit med. Jonm. 1. Juni,
pag. 1901. — 3 v Hussa, Die Resorption der Gifte an uligekiihlten Körpcrstcllen. Areb. f.
experim. Path. XXXV, pag. 120. Hnsemann.
Thioform, s. a ugenheilmittcl, pag. 27.
Thyrojodin. Als solches wird von Baumann die jodhaltige, iu der
Glandula thyreaidea enthaltene Substanz bezeichnet, welche den wirksamen Stoff
dieser Drüse darstellt.
Baumann und Roos haben das Vorhandensein von Jod in der Schild-
drüse der Thiere und Menschen nachgewiesen ; es gelang, dasselbe aus den
Schilddrüsen von Hammeln, Hunden, Pferden, Rindern und Schweinen zu ge-
gewinnen ; am meisten enthielten die HatnmelschilddrUsen , am wenigsten die
Schilddrüsen der Schweine und Hunde. Bei letzteren geht namentlich nach länger
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THYROJODIN.
659
dauernder Fleischfütterung der Judgehalt der Drüse auf ein Minimum zurück,
während andererseits Fütterung mit Hundekuchen eine merkliche Steigerung des
Jodgehaltes bewirkt. Diese Thatsache zeigt deutlich den Einfluss von verschiedenen
Arten der Ernährung auf die Jodansammlung in der Schilddrüse. Ueberhaupt
ist die Quelle für das Jod in der Nahrung, vor Allem in der eiugeführten
Pfianzennahrung zu suchen, wenigstens wissen wir, dass eine grosse Anzahl der
Landpflanzen Jod enthalten. Es ist aber bemerkenswert!), dass bei den fast ver-
schwindend kleinen Spuren von Jod, welche die Nahrung bietet, diese Drüse so
beträchtliche Mengen Jod — auf 1 Grm. troekene Hammcldrüsc bis 5,3 Mgrm.
oder auf 1 Grm. frische Drüsensubstanz 0,2 — 1,5, im Durchschnitt 0,3 Mgrm.
— aufzunehmen und festzuhalten vermag. — Was den Jodgebalt der mensch-
lichen Schilddrüse anbelangt, so schwankt er je nach dem Alter und vor
Allem nach den localen Verhältnissen zwischen sehr weiten Grenzen. Es betrug
der Jodgehalt von 26 Schilddrüsen Erwachsener in Freiburg im Durchschnitt
etwa 2,5 Mgrm., in Hamburg unter 30 Schilddrüsen im Mittel 3,85 Mgrm.,
in Berlin (11 Fälle) 6.6 Mgrm. Es ist also der Jodgehalt der Drüse in Freiburg,
wo Kröpfe häufig sind, erheblich kleiner als in Hamburg und in Berlin , wo
Kröpfe nicht endemisch Vorkommen. Ebenso enthalten die Schilddrüsen von
Kindern und häufig auch im Greisenaltcr bei weitem weniger Jod als bei
Menschen in mittleren Lebensjahren. Durch vorherige Jodbehandlung — Eingeben
von Jodkalium , Behandlung mit Jodoform , Genuss von Schilddrüsen präparaten
— lässt sich der Jodgehalt der Schilddrüse erheblich steigern, beim Menschen
bis auf 20 — 30 Mgrm. (in einem Falle bei einem Hunde bis auf 47,6 Mgrm.)
(Baumann). Es würde sich daher wohl verlohnen, zu versuchen, bei Hammeln,
deren Drüsen zur Gewinnung des Thyrojodin benützt werden sollen, durch Jod-
kaliumdarreichung den Gehalt der Drüse an Jod zu steigern (Fii.khnk). —
In den Kröpfen ist nach Baemann der Jodgehalt normalerweise immer ein sehr
geringer, doch findet man zuweilen auch sehr erhebliche Mengen, was wohl
darauf zurüekzuführen ist, dass Patienten mit Kröpfen meist zu irgend einer Zeit
eine Jodbehandlung durchgemacht haben , die den Betreffenden seihst oft nicht
mehr erinnerlich oder überhaupt nicht bekannt geworden ist.
Weitere Untersuchungen ergaben, dass die Höhe der Wirksamkeit der
Schilddrüse und ihrer Präparate : Extracte, Thyreoideatabletten , „Thyreoidin“,
„Thvreoantitoxin“ ete. von ihrem Gehalt an Jod abhängt. Letzteres scheint in der
Drüse in Form des von Badmann und Roos dargestelltcn „Thyrojodin“ enthalten
zu sein. Dasselbe lässt sich aus der Drüse durch Kochen mit verdünnter Schwefel-
säure und uachherige Behandlung mit Petroläther etc. oder noch besser durch
künstliche Verdauung gewinnen. Es enthält etwa 10% Jod in sehr starker
Bindung, das in der Drüse hauptsächlich an zwei Eiweisskörper, eine Albumin-
uud eine Globulinsubstanz, gebunden ist; beide, sowohl die Globulin- wie die
Albuminvcrbindung, aus der Drüse extrahirt, erwiesen sich entsprechend ihrem
Jodgehalt bei Kröpfen ungefähr ebenso wirksam wie die frische Schilddrüse.
Ferner enthält das Thyrojodin ausser Stickstoff kleine Mengen Phosphorsäure in
organischer Form.
Das Thyrojodin stellt eine in kaltem Wasser und Aetlier fast unlös-
liche Substanz von schwach sauren Eigenschaften dar. die in Alkohol und Alkalien
sieh leicht löst. Das Präparat wird in den Farbenfabriken vormals Friedrich
Bayer & Co. in Elberfeld nach den Vorschriften Badmann’s aus Hammelschild-
drüseu hergestellt und kommt in Form von Verreibungen der Substanz mit
Milchzucker in den Handel. Dieselben sind so angefertigt, dass 1 Grm. der Ver-
reibung 0,3 Mgrm. Jod enthält; es ist dies die Menge Jod, welche 1 Grm.
frische Hammeldrtlse im Durchschnitt enthält , und es entspricht also demnach
1 Grm. des Präparates 1 Grm. frischer Drüse.
Dass das so dargestellte Thyrojodin wirklich der wirksame llestand-
theil der Schilddrüse ist, scheint nach den nunmehr veröffentlichten Untersuchungen
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660
THYROJODIN. — TYPHUSBACILLDS.
jetzt festgestellt. Wenigstens ergaben die Stoffwechselversnche, welche mit diesem
Präparate bei Menschen und Thieren angestellt wurden, dieselben Resultate,
welche aus den Stoffwechseluntersuchungen mit Schilddr Ilsen Substanz bekannt
sind : Körpergewichtsabnahme, Steigerung der Stickstoff- und Phosphorsäureaus-
scheidung (Roos, Treupel, Grawitz, Mennig). — Ebenso zeigte sich das Thyro-
jodin äusserst wirksam bei parenchymatösen Kröpfen. Der Eintritt der Wirkung
war hierbei stets so prompt, dass derselbe von Baumann und Roos bei der
Prüfung ihrer Präparate als Reagens auf die Wirksamkeit benützt wurde (Roos,
Ewald, Bbuns). — Auch die Ausfallerecheihungen nach Thyreoidektomie gelang
es nach neueren Mittheilungen (Baumann und Goldmann, Hofmeister) bei
Hunden und Kaninchen durch Thvrojodindarreichung hintanzuhalten. Die Thiere
blieben bei dieser Behandlung trotz fehlender Schilddrüse wochenlang bei bestem
Wohlsein am Leben. Die entgegengesetzten Resultate, welche Gottlieb erhalten
hat, beruhen nach Ansicht Baumann’s vielleicht darauf, dass Gottlieb zu seinen
Versuchen ein wenig brauchbares Präparat benützte
Inwieweit auch anderen aus der Schilddrüse gewonnenen Präparaten :
dem Thyreoidin Xotkin’s und dem Thyreoantitoxin Fränkel’s eine gleiche oder
ähnliche Wirksamkeit zukommt und ob dieselben in Zusammensetzung und Wir-
kungsart in irgend welchem Zusammenhänge mit dem Thyrojodin stehen, ist vor-
läufig noch unentschieden.
Therapeutisch ist das Thyrojodin bisher schon angewandt worden
bei frischen, parenchymatösen Kröpfen, wo es in den meisten Fällen Vor-
zügliches zu leisten scheint. Diese Wirksamkeit wird aber anscheinend nicht durch
das Jod als solches bedingt, sondern nur durch den specifischen, von der Schild-
drüse gebildeten, organischen, jodhaltigen Körper, da auch noch nach verun-
glückten Jodeuren mit Thyrojodin Erfolge erzielt werden (Ewald). — Ebenso
hat es sich schon von guter Wirkung gezeigt bei Myxödem (Leichtenstern,
Ewald) und bei Fettsucht (Grawitz, Mennig); weniger constant waren bisher
die Erfolge der Thyrojodinbchandlung bei Morbus Basedowii (Hknnio). Auch
einige Fälle von Psoriasis, denen statt des Arsen Thyrojodin innerlich gegeben
wurde, zeigten anscheinend Besserung (Roos).
Man giebt das Thyrojodin in Dosen von 0,5 — 2,0 Grm. (der Milch-
zuckerverreibung) täglich, die meist gut vertragen werden. Nur selten sieht man
bei besonders empfindlichen Patienten schon nach solch niedrigen Dosen Neben-
erscheinungen auftreten, die bei grössereu Gaben (3,0 Grm. und mehr) häufiger
sind, wie Kopfschmerzen, Schwindelaufälle, Mattigkeit, Zittern, Appetitlosigkeit
Herzklopfen, Angstgefühl, Schlaflosigkeit, ziehende Schmerzen im Rücken und
in der Brust, leicht vorübergehende Albuminurie, zuweilen auch Glykosurie.
Kinder vertragen das Mittel im Allgemeinen recht gut. Kionka.
Trichophyton, s. Dermatomykosen, pag. 96.
Tuberkulose: Pneumotomie, pag. 531 ; Pneumektomie, pag. 5-10.
Typhusbacillus, s. Abdominaltyphus, pag. 1.
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u.
Urobilin, s. Harn, pag. 255.
Uropherinum salicylicum , Theobrominnatrium cum Natrio
salicylico. Das von E. Mkkck dargestellte Uropherin unterscheidet sich von
Dinretin dadurch, dass das in letzterer Verbindung enthaltene Lithium durch
Natrium ersetzt wird. Hierdurch wird das Uropherin ein billigeres Präparat als
das Dinretin, angeblich ohne au seiner harntreibenden Wirkung einznbUssen.
Es wird daher das Uropherin als Ersatzmittel des Diuretins in gleichen Dosen
und mit gleicher Indication wie dieses empfohlen.
Literatur: I. Hnitek, Rospr. Cesk. Akad. cisare Frant. Jos. Roen. in, Tfida II,
pag. 25. — E. Aterck'8 Bericht für das Jahr 1895. Loebisch.
Urotropin, Hexamethylentetramin, (CH,), N„ Formin. Die Ver-
bindung, eine einsäurige Base, entsteht aus Formalaldehyd und Ammoniak schon
beim Eindampfen einer ammoniakalischcn Formaldehydlösung, sie bildet in Wasser
leicht lösliche , geruch- und geschmacklose Krystalle. Das Bromäthyladditions-
product der von Bardet Formin benannten Verbindung wurde von diesem und
Laqler als Bromalin gegen Epilepsie empfohlen (s. Encyclopäd. Jahrb., V,
pag. 29). Nach A. NiO'I.aikr kommt dem Urotropin die Fähigkeit zu, die Di-
urese zu steigern und das Ausfallen von Harnsäure und harnsauren Salzen aus
dem Urin zu verhindern. Das Urotropin geht nach innerlicher Darreichung sehr
rasch in den Harn über; bereits nach einer Viertelstunde kann man es mit
Bromwasser als ein voluminöses Bromadditionsproduct im Harn nachweisen.
0,5 des Mittels waren nach etwa 13 Stunden, 1,0 Grm. nach etwa 27 Stunden
mit dem Harn vollständig ausgeschieden. Die wichtigste Eigenschaft des Mittels
ist, dass der Harn während dessen Anwendung die saure ltcaction behält und
zugleich die Eigenschaft besitzt, harnsaurc Concremente aufzulösen. Diese letztere,
auch schon von Bakdet erkannte Eigenschaft würde dem Mittel den Vorzug vor
dem Piperazin, Lycetol und Lysidin verleihen, welche zwar in wässeriger Lösung
Harnsäure zu lösen vermögen, im Harne selbst aber diese Eigenschaft nicht be-
sitzen (Mendelsobn). Ueberdies hemmt das Urotropin die Entwicklung von Bak-
terien, besonders die der ammoniakalischen Hnrngährung und des Bacterium coli.
In zwei Fällen von Cystitis, in denen der Urin stark ammoniakalisch war, beob-
achtete Nicolaikr nach Anwendung von Urotropin das Sauerwerden des Harnes.
Das Mittel lässt sich in geringer Dosis monatelang fort nehmen, ohne dass Reiz-
erscheinungen der Niere auftreten. Nach Gaben von 6 Grm. täglich stellte sich
Brennen in der Blasengegend, zeitweise auch vermehrter Harndrang ein; wurde
das Mittel weiter gereicht, dann konnte man im Harn zahlreiche Uebergangs-
epitheiien, zuweilen auch rothe Blutkörperchen auffinden.
Dosirung. In wässeriger Lösung 1,0 — 2,0 pro die des Morgens zu
uehmen. Wo man eine grössere Reizbarkeit der Niere annimmt, kann man mit
0,5 — 1,0 täglich beginnen.
Literatur: A. Nicolaier, lieber die therapeutische Vcrwcrthung des Urotropins.
Deutsche med. Wochenschr. 1895, Nr. 34. Loebisch.
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V.
Vagina. Ohne auf feinere anatomische oder physiologische Vorgänge,
welche in neuerer Zeit klargelegt worden sind, näher eiDzugehen, sollen an
dieser Stelle nur die Erfahrungen, soweit sie für die Praxis Interesse hahen,
insbesondere neuere Kenntnisse zur Pathologie und Therapie der Scheide ge-
sammelt werden.
A. Allgemeines.
Ucber das normale Secret der spärlichen Schleimdrüsen der Vaginal-
schleimhant hat Peri ') neue Untersuchungen angestellt. Von der Geburt an bis
zum (ireisenalter fand er ihre Secretiou sauer, falls die Prüfung weder kurz vor oder
einige Tage nach der Menstruation, noch im Puerperium und in der Gravidität vor-
genommen wurde, und zwar verhielt sich eine Stelle der Vaginalwand genau wie
die andere. Das Maximnm der Acidität erreicht das Scheidensecret Neugeborner,
das Minimum gehört der postklimakterischen Zeit an ; bis zur Pubertät nimmt
der Säuregrad ab und bleibt dann bis zur Menopause stationär. Je reichlicher
die Absonderung ist, desto saurer ist das Secret. Alkalisch wird das Secret kurz
vor und kurz nach der Menstruation, ferner im Puerperium ; verursacht wird die
Alkalcscenz durch Bcimengnng von Blut oder Schleim. Dagegen bleibt in der
Gravidität die Reaction sauer; am geringsten pflegt die Acidität in den mittleren
drei Monaten der Schwangerschaft zu sein.
Die Ursache der Acidität des Scheidenschleims hatte frtlher DÖDERLEIN
auf bestimmte Bacillen, die bisher nur in der menschlichen Scheide gefunden
wurden, zurtickgefUhrt und angenommen, dass diese Milchsäure producirten ; für
ihn ist das Kriterium eiues normalen Scheidcnsecrets saure Reaction und An-
wesenheit jener Bacillen in Reincultur bei Fehlen pathogener Keime. Menge *\
der das Scheidensecret Nichtschwangercr untersuchte, bestreitet aber die Stich-
haltigkeit dieses Kriteriums, weil dann unter den verheirateten und nichtschwan-
geren Frauen ein „normales“ Scheidensecret sehr selten sei, man aber etwas
Ausnahmsweises nicht gut als „normal“ bezeichnen könne; nicht die Säuretnenge,
sagt er, hänge von der im Secret vorwiegenden Bakterienspecies ab, sondern um-
gekehrt bestimme die Stärke der Säure die Bakterienart. Für die Zeit der
Schwangerschaft prüfte Döderlein s Angabe Krönig *) nach, und auch er be-
kämpft die Ansicht Dodebleix’s, weil die Unterschiede der Reaction des Scheidcn-
secrets viel zu schwankende seien, um darauf ein«; Eiutheilnng in normal und
pathologisch zu gründen ; wolle man überhaupt eine Eintheilung schaffen, so müsse
man allenfalls die verschiedene BakterienÜora der Secrete als Grundlage wählen.
Wie dem auch sei, die praktische Bedeutung der sauren Secretion und
der specifischen Scheidenmikroorganismen liegt darin, dass sie beide, wenn nicht
die einzigen, so doch sehr gewichtige Factoren für das bakterienfeindliche Ver-
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VAGINA.
663
halten des Scheidensecrets sind. In Betracht konnten zur Erklärung dieses Ver-
haltens der Scheide pathogenen Keimen, wie überhaupt nichtspeeifischen gegen-
über, ausserdem die Phagocytentheorie und der Mangel von Sauerstoff als
Lebensbedingung jener Keime in der Vagina herangezogen werden. Eine allzu
grosse Rolle scheint nach KrOnig's Versuchen der Säuregrad des Secretes nicht
zn spielen; denn auch schwachsaures Beeret, das blaues Lackmuspapier nur
schwach roth färbte, zeigte eine bakterienfeindiiehe Wirksamkeit und liess Pyocyaneus-
culturen in durchschnittlich 18 Stunden zu Grunde gehen. Es ist klar, von
welcher weitgehenden Bedeutung insbesondere für den Verlauf des Wochenbettes es
ist, wenn die Scheide selbst im Stande ist, von aussen eingedrungene pathogene
Keime lebens- und entwicklungsunfähig zu machen ; denn mit dieser Eigenschaft
steht und fällt die sogenannte Selbstinfeetion, für welche Kaltenbach geltend
machte, dass auch sie zwar eine Infeetion von aussen sei, sich aber zeitlich von
der sub partu durch unsaubere lliinde, unreine Utensilien etc. bewirkten unter-
scheide, weil die Zeit der Infeetion bereits ante partum läge, der partus aber
mit seinen physiologischen Vorgängen diese latente und chronische Infeetion
manifest und acut mache. Wenn dies richtig ist, müssten einmal im Vaginal-
sccrct pathogene Keime gelegentlich, ohne dass sie eine Wirkung geäussert hätten,
gefunden werden ; andererseits müssten experimentell eingeführte, schädliche
Mikroorganismen bestehen bleiben und sich noch längere Zeit nnehweisen lassen.
Pathogene Keime, insbesondere die für diesen praktischen Gesichtspunkt so be-
deutsamen Streptokokken, hat Dödem.ein *) in der That zuweilen im Beeret von
Schwangeren und von Nichtschwangeren gefunden ; er bezeichnet ja gerade als
anormal ein schon äusserlich durch schwachsaurc bis neutrale Reaction und
mikroskopisch durch einen leicht wahrnehmbaren Reichthum an verschiedenen
Bakterienarten ausgezeichnetes Vaginalsccrct. Auch Menge8) hat wenigstens in
einem der fünfzig untersuchten Secrete Streptokokken gefunden, und zwar in
Gesellschaft von typischen Gonokokken. Dagegen gelang es Krönig *) niemals,
in seinen Culturen aus dem Secrete Schwangerer Streptokokken zu züchten.
Gewiss ist, dass pathogene Keime, wenn überhaupt, so doch sehr selten in der
weiblichen Scheide virulent erhalten existiren, so selten, dass jene sogenannte
Selbstinfeetion daraus kaum cinwandsfrei bewiesen werden kann. Aber geradezu
.unvereinbar ist jene Theorie mit dem Vorgang, den Menge *) treffend als „Selbst-
reinigung der Scheide“ bezeichnet hat und der darin besteht, dass schwangere
und nicht schwangere Scheiden streben, sich von aerob uur auf alkalischem Nährboden
wachsenden Bakterien rein zu halten, insbesondere von den pyogenen Mikrokokken.
Schon vor ihm hatten Doiierlein und Bumm gesehen, dass experimentell in das Scheiden-
secret einer Virgo Intacta übertragene Staphylokokken nach einigen Tagen ver-
schwunden waren. Nach Menge’s Versuchen, deren Anzahl achtzig betrug,
gelang es, weder den Pyocyaneus, noch den Staphylococcus pyogenes aureus noch
den Streptococcus pyogenes , in irgend einem Scheidensecrete Nichtschwangcrer,
gleichgiltig, ob cs sauer oder amphoter oder alkalisch reagirte, virulent zu
erhalten, sondern in 2'/j — 70 Stunden waren die eingebrachten Culturen abge-
storben. Am längsten erhielt sich der Staphylococeus mit durchschnittlich 26 Stunden,
während die Streptokokken im Durchschnitt bereits nach 22 Stunden abgetüdtet
waren, gerade im alkalischen Secret aber bereits nach durchschnittlich 18 Stunden.
Diese Selbstreinigung der Scheide wird ausnahmsweise vermindert oder vielleicht
gar aufgehoben, wenn mehrere der dieses Verhalten verursachenden Momente weg-
fallen, insbesondere wenn die Reaction des Secrets alkalisch wird und zugleich
eine Verdünnung des Secretes eintritt, so dass sieh die Zahl der den pathogenen
Keimen antagonistischen, specifischcn Keime, seien dies Döderlein’s Bacillen oder
andere, relativ verringert, wie das z. B. zur Zeit der Menses und bei starker
pathologischer Absonderung aus dem Uterus oder aus der Vagina selbst f Fluor
albus) der Fall ist. Damit stimmt überein, dass Kröxig in der Gravidität niemals
pyogene Mikroorganismen in der Scheide fand — denn hier fallen jene Momente
664
VAGINA.
insbesondere dnrch die Cessatio mensium, durch die sistirte Absonderung aus
dem Uterus und durch die aussergewöhnlich zähe Consistenz des Cervixsehleim-
pfropfes fort. Werden in die Scheide Schwangerer pyogene Keime von aussen
hineingebracht, so tilgt auch sie diese natürliche Kraft des Scheidensecrets, feind-
liche Keime zu vernichten, und Kköxios) behauptet auf Grund solcher Experimente,
dass eine Scheide, die nachweislich 2 — 3X24 Stunden nicht berührt wurde,
aseptisch sein müsse, dass darum eine Scbcidendesinfeetion ante partum unter
normalen Verhältnissen unnütz sei, ja vielleicht gar schädlich, weil die Desinficientien,
die er experimenti causa benutzte, die Selbstreinigungskraft der Scheide herab-
zusetzen schienen. Döderlkin 4) mag recht haben, wenn er diese Schlussfolgerung
für „viel zu weitgehend“ bezeichnet und nur für jenes Secret gelten lässt, dem
er nach seiner Eintheilung das Prädicat normal ertheilt, während das von ihm
pathologisch geheissene solche Schutzkraft nicht absolut, sondern nur mit hoher
Wahrscheinlichkeit und in der Uehrzahl der Fälle hat. Aber die seltenen Fälle,
in denen das Scheidensccrct ganz ausnahmsweise die Kraft der Selbstreinigung
so weit verloren hat, dass sogar ein Streptococcus in ihr Existenzbedingung findet,
können doch keineswegs genügen, eine besondere Theorie, wie die der Selbst-
infection ist, zu begründen, und wenn wir dazu die klinischen Resultate der
Autoren, welche in Ablehnung jener Theorie jeden energischen Versuch, ante
partum die Scheide aseptisch zu machen, verpönen, sondern vielmehr vor jeder
überflüssigen Berührung der Scheide durch die Finger, durch das Irrigations-
rohr u. s. w. eindringlichst warnen (LEOPOLD, MekuaxN u. A.), in Betracht ziehen,
so müssen wir für die Praxis zur Selbstreinigung der Scheide Vertrauen genug
gewinnen, um eine Autoinfection ausser Rücksicht zu lassen, um analog unserer
aseptischen Wundbehandlung mehr darnach zu streben, die Scheide ante partum
rein zu halten, als rein zu machen.
B. Specielle Pathologie.
1. 1. Entwicklungsfehler: Den vollkommenen Mangel einer
Scheide beobachtete neuerdings Graxdix und berichtete ihn an die Gesellschaft
für Geburtshilfe in New- York.6) Die Patientin war seit zwei Jahren verheiratet
und klagte über lebhafte Schmerzen beim Coitus; Grandix fand die äusseren
Geschlecbtstheile wohl ausgebildet, eine Scheide aber fehlte vollständig, und an
Stelle der Gebärmutter fühlte man nur ein Knötchen ; das Becken war kindlich.
2. Embryonale Zustände: Eine vollständige Erhaltung des embryo-
nalen Zustandes hat Kxals‘) beschrieben ; Vagina und Uterus waren vollkommen
iu ihrer ganzen Längenausdehnung durch ein Septum gespalten, und beide Hälften
hatten sich vollkommen entwickelt, so dass die Menses aus beiden Uteri gleich-
zeitig sich einstelltcn. Nicht ganz vollkommen, sondern, wie zwei gleichzeitig in beide
Portiones vaginales eiugeführte Sonden durch ihre Kreuzung erwiesen, oberhalb
des inneren Muttermundes aufhörend, war die Scheidewand in einem Falle
Wes termayer’s ;) ; in einem anderen Falle, den derselbe Autor mittheilt, war
die Vagina duplex wohl deutlich erweislich, nicht aber die Existenz eines Uterus
bicornis — in diesen beiden Fällen bestand ein rechtsseitiger Pvokolpos. Bra(“X
aber und Lott theiltcn der Wiener geburtshilflich-gynäkologischen Gesellschaft *5
je eine Beobachtung Uber incompletee Vaginalseptum, über sogenannte Vaginal-
blindsäcke, mit. Bhain’s Patientin war vier Jahre verheiratet und vermochte
wegen heftiger Schmerzen den Coitus nicht länger zu leiden. Das Septum fand
sich im oberen Drittel der Vagina; da die Verschmelzung der beiden embryonalen
Scheiden von oben beginnt, ist das der seltenere Fall, und Septa im unteren
Drittel sind häufiger. Von den beiden engen Oeflhungen, welche das Septum der
BKAUN’schen Patientin liess, führte eine in einen echten Bliudsack, die andere in
einen wohlgebildeten Uterus. Lott betrachtete in seinem Falle den Blindsack auf
Grund der Veränderungen, welche ihm die äusseren Genitalien darboten, als
ausgedehnten Sinus urogenitalis , der durch häutig ausgeführte Coitusversuche
Google
VAGINA.
665
noch artifiziell weiter gedehnt worden war. Von den Schmerzen abgesehen,
welche beim Coitus unter solchen Verhältnissen eintreten können, haben diese
Hemmungsbildungen darum ein gewisses praktisches Interesse, weil, wie im
BEAUN’schen Falle, auch die Periode Schmerzen verursachen kann, indem die
starke Stenose des einen Canals das Menstrualblut zurtlckhält.
3. Congenitale Atrcsie, welche natürlich Hämatokolpos zur Folge
hat und um dieses Zustandes willen in bekannter Weise operirt werden muss,
hat Heydenreich9) bei einem fünfzehnjährigen Mädchen neuerdings constatirt;
es sind das nicht allzu seltene Beobachtungen.
4. Congenitale Stenosen sind, wie die literarhistorische Arbeit Nei;-
GEBAUEr’s 10) orweist, nicht gar selten. Die praktische Bedeutung dieser abnormen
Bildung ist natürlich die gleiche wie die der erworbenen Stenose, und ich werde
bei dieser darauf und auf die Therapie zurUckkotnmcn.
II. Entzündliche Processe der Scheidenschleimhaut. Ausserhalb
des Wochenbetts und abgesehen von den gonorrhoischen Aflectionen beobachtet
man sehr selten Fälle von Vaginitis nach arteficiellen Aetzungen ; häufiger sind
ulcerflse Entzündungen, durch den Reiz von Fremdkörpern bedingt, oder seltener
spontan, besonders im höheren Alter uod jenseits der Menopause, entstanden als
Vaginitis adhaesiva ulcerosa (IIildebkandt) oder adhaesiva senilis. Einen sehr
merkwürdigen Fall der ersteren Art berichtet Blenk"), der dadurch zustande
kam, dass ein Liebhaber seinem Mädchen die Frucht durch Eingiessen einer
Mineralsänre in die Scheide abzutreiben versuchte. Der Erfolg freilich blieb aus
und bestand lediglich in Erwerbung einer so hochgradigen Scheidenatresic, dass
ihre Erweiterung nicht mehr gelang und das lebenskräftige Kind durch Per-
foration entwickelt werden musste. Fremd körpervaginitis wird bekanntlich
am häufigsten durch zu lange Zeit liegende Pessare erzeugt. Dass aber auch
zu onanistischen Zwecken eingebrachte Gegenstände lange genug in der Tiefe
der Vagina lagern können, um dort entzündliche Vorgänge hervorzurufen, die
ihrerseits wieder zu Verengungen des Scheidenlumens führen, beweist neuerdings
eine Beobachtung von Winternitz ,:l) aus der Tübinger Klinik. Eine 26jährige
Fabrikarbeiterin hatte zu masturbatorisehen Zwecken eine Fadenrolle sechs Jahre
vor Erhebung des Befunds in die Scheide gebracht ; sie war hincingcsehlüpft
und liegen geblieben, hatte eine Entzündung verursacht, die sich auf den Douglas
und das Parametriuni fortgesetzt und in der Scheide etwa 6 Cm. oberhalb der
Vulva eine kaum einen Sondenknopf durchlassende Stenose verursacht hatte und
hatte schliesslich durch Schmerz, übelriechenden Austiuss und seeundäre Kachexie
die Trägerin zum Arzte und zum Geständnis» getrieben. Die Entfernung konnte
nur operativ durch seitliche lncisionen und senkrecht auf diese abwärts in der
Mittellinie geführte Einschnitte in den starren Narbenring hinein geschehen.
Winternitz fand in der Literatur fünf analoge Fälle, von denen je einer auf
einen onanistischen Insult vor 23, vor 14, vor 7 und vor 4 Jahren zurückzu-
führen war; eine Patientin ging an septischer Peritonitis, die sich an eine
Druckgangrän der Scheide angcschlossen hatte, zu Grunde, während die anderen
durch die Operation genasen, eine sogar nach derselben gravid wurde; doch
zwang die erfolglos behandelte Stenose der Vagina zur Einleitung der Früh-
geburt im achten Monate, wobei noch immer lncisionen nach allen Richtungen
hin und Znngenextraction nöthig waren — bei der zweiten Geburt war der
Narbenring nicht mehr hinderlich. Jene Patientin , welche ihre Fadenspule
14 Jahre trug, war zweimal verheiratet, ehe sie sich wegen Menorrhagie und
starken Unterleihsschmerz in Behandlung begab, und beide Gatten hatten nichts
von dem Leiden bemerkt. Was endlich die Vaginitis adhaesiva ulcerosa
anlangt , so ist sie durch einen dünnflüssigen , klebrigen , oft blutig tingirten
Ausfluss, zuweilen durch Neigung zu Blutungen nach Urin- und Kothentleerung,
nach einer Cnhahitation oder nach einer Digitaluntersuchung charakterisirt, vor
Allem aber durch die grosse Tendenz zu Verklebungen zwischen den Vaginal-
Google
VAGINA
666
wänden oder zwischen Vagina und Portio , welche zuweilen sich bis zu festen
Verwachsungen und dadurch zum Scheidenverschlnss steigern können. Im Spiegel
erscheint die Schleimhaut glatt, bedeckt mit kleineren Petechien und Ekchvmoeen,
so dass sie wiegetigert aussehen kann. WixrEKNITZ **) sah diesen merkwürdigen
Zustand durch einen Ilümatokolpos bei einer 62jährigen Frau, die acht ausge-
tragene Kinder ohne Kunsthilfe geboren hatte, nie nennenswerth krank gewesen
und mit 50 Jahren in die Menopause getreten war, coroplicirt, und Sondheimer '*)
sah ihn sogar mit Hiimatokolpos, Hümatometra und einem primären Corpuscar-
cinom vergesellschaftet. Bei dieser 67jährigen Patientin hatte die senile adhäsive
Kolpitis einige Centimentcr über dem Scheideneingang eine Atresie veranlasst,
während sieh im Fundus uteri später ein Carcinom entwickelte. Nach Erweichung
dieses Tumors hatte die reicldiche Secretion im oberen Theii der Scheide einen
Hämatokolpos erzeugt und durch weitere Secretstauung eine Hümatometra. Sänger
amputirte diesen Uterus supravsginai mit extraperitonealer Kticlversorgung ; an
eine Eingiessung von 50 Grm. Kicinusfll in das Rectum sich anschliessende Diarrhöen
Hessen die ohnehin geschwächte Patientin bald nach der Operation zu Grunde gehen.
Auf ganz dunkler, entzündlicher Grundlage, vielleicht auf einer solchen,
die zu Gcfässobliterationcn führt, entwickelt sich das runde phagedünische
Scheidengeschwür Clarke ’s, das bei Vernachlässigung zu Fisteln (Scheiden-
blasen- oder Scheidendarintisteln'), nach Klebs sogar zu tödtlicher Blutung führen
kann. An einer Lebenden diagnosticirte zum ersten Mal Skowroxski 16) diese
seltene Erkrankung. Er fand bei einer 37jährigen Frau, Ilpara, frei von Lues
oder Gonorrhoe, 1 ’/, Cm. oberhalb des narnröhrenwulstes ein halbkreuzergrosses,
mit unebenen Granulationen bedecktes, gegen Berührung sehr empfindliches Ge-
schwür mit steilen Rändern, Umschnitt es im Gesunden und excidirte cs ; Heilung
erfolgte durch Granulationen. Die mikroskopische Untersuchung des gewonnenen
Präparats zeigte eine plötzliche Unterbrechung der Epitbelschicbt am Rande des
Geschwürs und einen vom Rande gegen die Mitte zu fortschreitenden Zerfall
der Schleimhaut mit Vernichtung ihrer Structur ; am Geschwürsrande zogen
Gefässe mit hypertrophischen Wandungen hin, deren Inneres mit spindelförmigen
Zellen ausgefüllt war.
Zu Geschwüren kommt es auch bei puerperalen Processen der Scheiden-
schlcimhaut. Diese puerperalen Scheidcngcsch würe können, wie ich selbst’*)
gezeigt habe, sich der frühzeitigen Diagnose entziehen, falls sie im oberen Tlieile
des Organs sitzen, und doch kann von dieser rechtzeitigen Diagnose Genesung
und Leben der Wöchnerin abhängen. In meinem Falle handelte es sich um eine
28jährige IVpara, welche etwa drei Wochen post partum eine Spätblutung be-
kam und nach deren Stillstand — anfangs bei voller Euphorie — Temperatur-
steigerungen, die schliesslich 39° überschritten, zeigte. Die Untersuchung des
Thorax und des Abdomens war ohne Resultat ; subjective Genitalsymptome fehl-
ten durchaus, und dennoch fand der explorirende Finger im Cervicalcansl einen
jauchenden Placentarrest von der Grösse einer welschen Nuss, die Spiegelunter-
suebung zwei genau gegenüberliegende , in ihrer Form congruente Scheiden-
geschwüre an der vorderen und der hinteren Wand, deren oberste Grenze genau
dem äusseren Muttermund anlag, etwa 3 — 4 Cm. lang, 2 — 3 Cm. breit, massig
vertieft , am Grunde mit einer graugrünen . fest anhaftenden Decke bekleidet.
Nachdem ich die puerperale Gebärmutter im Querbette ohne Narkose mit der
schleifenförmigen Cu rette ausgeschabt, die Höhle mittelst Uteruskatheter mit
2°/0iger Lysollösung dnrehspült und darauf für 24 Stunden mit Jodoformgaze
tamponirt hatte, habe ich zur Behandlung der kranken Scheide statt der üblichen
reichlichen antiseptischen Scheidenberiesclungen einen trockenen Weg cingeschlage.il,
um die Vortheile der trockenen Wundbehandlung gegenüber der Verschwendung von
antiseptischeu Flüssigkeiten aus der Chirurgie in die Geburtshilfe zu übertragen. Des-
halb legte ich unter Spiegelbeleuchtung nach peinlichster vorgängiger Desinfcction
von Händen und Instrumenten Jodoformgazestreifen in die Scheide ein, so dass
VAGINA.
6G7
das obere Ende eines etwa 4 Cm. breiten, meterlangen, zu einem Docht locker
aufgedrehten Gazestreifens ganz oberflächlich in den äusseren Muttermund ein-
geschoben, der Rest aber gekrtillt genau zwischen beiden Geschwüren und sie in
ihrer ganzen Ausdehnung bedeckend gelagert wurde. Diese Einlage wechselte
ich zuerst nach 24 Stunden, dann nach 4 — 6 Tagen. Bereits andern Tags post
operationem war das Fieber abgefallen , mit Ablauf der ersten Woche waren
bereits die gangränescirenden Geschwüre in frischrothe, gut granulirende Wund-
flächen umgestimmt, und trotz einer intercurrenten Pleurüü m'cca war die schwer-
kranke Patientin innerhalb neun Wochen vollkommen genesen. Diese Methode
der Behandlung puerperaler Scheidengeschwüre hat , abgesehen von den Vor-
theilen aseptischer Behandlung gegenüber antiseptischer, den Vorzug, dass der
Arzt allein die Puerpera behandelt und das Pflegepersonal nichts mit localen
Genitalmanipulationcn zu thun hat, der Arzt selber nur selten local einzngreifen
hat (vielleicht darf man bei genügender Controle des Allgemeinbefindens die
Einlage, besonders gegen Schluss der Behandlung, noch etwas länger als sechs
Tage liegen lassen) — Umstände, welche gewiss geeignet sind, weitere Infection
des puerperalen Genitalschlauches hintanzuhalten. Nebenbei ist diese selten vor-
genommene locale Genitalbehandlung für die Patientinnen angenehmer als die
in Zwischenräumen von Stunden vorgenommenen Scheideuausspülungen u. Aehnl. m.
— ein Vorzug, der besonders in der Privatpraxis nicht ganz ohne Bedeutung ist.
III. Primäre Tumoren der Scheide. 1. Cysten der Scheidenwand
können einfache Blutcysten sein, die im Anschluss an Traumen entstehen; inter-
essant ist, dass sich dabei ein Stiel bilden kann. Qukikel ,j) fand in der
Literatur sechs Fälle solcher gestielter Thromben und fügte als siebenten eine
eigene Beobachtung hinzu. Bei einer 19jährigen, zum ersten Mal schwangeren
Frau trat im Anschluss an einen stürmischen Beischlaf eine Blutung aus den
Genitalien ein und sie wurde mit beschleunigtem Puls und 38° Temperatur in
das Krankenhaus eingeliefert; aus dem Scheideneingang ragte eine bläulieb-
schwarze, etwa hühnercigrosse Geschwulst hervor, die mit einem 5— G Cm.
langen .Stiel aus der hinteren Scheidenwand entsprang; an den Labien sah man
zahlreiche Venektasien, in der Mastdarmscheidenwand fand sich keine Blutung.
Ql'EiKEL trug diesen Thrombus über einer Klemme ab, vernähte die Wunde und
erzielte glatte Heilung. Echte Neuplasmen sind diesen Gebilden gegenüber jene
Cysten, welche sich aus embryonalen Anlagen entwickeln, insbesondere aus per-
sistirenden GÄRTNEu'seben Canälen. Einen solchen Fall beobachtete und operirte
mit gutem Erfolge Pkhi '“) bei einer 51jährigen Frau, welche das Gebilde bereits
seit 30 Jahren bemerkt haben wollte. Zur Zeit war es hühnereigross und sass
auf der prolabirten vorderen Scheidenwand ; der Inhalt bestand aus einer faden-
zichenden , bernsteingelben Flüssigkeit mit Schleim, Blut, Fett-, Detritus und
mannigfachen Zellen und war in zwei durch eine Einschnürung geschiedene
Fächer vertheilt. Die Wand der Cyste setzte sich aus einer Muskelhaut mit longi-
tudiuuler Faserung, einer inneren Muskelhaut mit circulärer Faserrichtung und
gefiissreichem Bindegewebe zusammen und war mit Cylinderepithel ausgekleidet.
Noch beinerkenswerther ist eine Mittheilung von Roith19), welcher b i einer
über beständigen Ausfluss aus den Geschlechtstheilen klagenden Frau mit ein-
ander commnuicirende Cysten des Parovariums uud der Scheide fand ; bekannt-
lich ist das Parovarium der persistirende Best der Urniere, während die GÄRT-
N'ER’schen Canäle AusfUhruugsgänge derselben sind , welche vom späteren
Uteruskörper her längs der Scheide (diese entsteht bekanntlich aus den MOLL Kit-
schen Gängen, die ebenfalls Ansführungsgänge aus der Urniere sind) nach unten
ziehen, ohne dass man ihre wahre Mündung kennt. Von der im rechten Ltg.
latnm sitzenden Parovarialcyste liess sich nach aussen in der Scheidenwand eine
längliche, nicht ganz regelmässige Erhöhung bis in die Gegend des Vestibulum
neben der Harnröhre verfolgen ; sie besass hier eine nur für einen feinen Catgut-
faden durchgängige Oeflhung, aus der sich zuweilen übelriechende, wässerig-
Google
668
VAGINA.
eiterige Flüssigkeit entleerte. Bei Druck auf diese Scheidengeschwulst schwoll
die Parovarialeyste an , und als die Cyste in der Scheidenwand vom Paquelin
eröffnet wordeu war , wies auch eine dünne Sonde den Zusammenhang beider
Tumoren nach. Es sind in der Literatur nur sehr wenige analoge Fälle ver-
zeichnet. Endlich giebt es noch Scheideneysten , die wahrscheinlich aus drüsen-
artigen Einbuchtungen der Scheidenschlcimhaut entstehen. Dahin dürfte nach dem
mikroskopischen Befunde die hühnereigrosse Vaginalcyste zählen, welche Gkyl!0)
beschrieben hat.
2. Fibroide der Scheide sind selten; Schramm*1) demonstrirte der
gynäkologischen Gesellschaft zu Dresden eine neue derartige Beobachtung, ein
pflaumengrosses Fibromyom der vorderen Scheidenwand, welches Beschwerden
beim Coitus verursachte. Es wirken diese Tumoren stets nur bei einer gewissen
Grösse mechanisch störend, während sie sonst keine subjectiven Symptome machen.
3. Sarkome der Vagina finden sich primär entweder als diffuse In-
filtration der Wände oder circumBcript, zuweilen in polypoider Form. Das auf-
fallend häufige Vorkommen bei kleinen Mädchen als angeborene Geschwulst ist
bekannt, und MÜNZ 5E) will diese Fälle direct in Sarkome bei Kindern, d. i. unter
3 Jahren, und in Sarkome bei Erwachsenen getrennt wissen. Bei Kindern
fand er unter 13 beglaubigten Fällen die Tumoren theils als traubenförmige
Wucherungen, theils als polypenähnliche Gebilde, fast immer an der vorderen
oder der seitlichen Scheidenwand sitzen. Pathologisch-anatomisch sind es theils
Bundzellensarkome mit eingesprengten Spindelzellen, theils Fibrosarkome. Klinische
Erscheinungen treten entweder beim Zerfall auf oder beim Druck auf die Nach-
barorgane, und man beobachtet demnach bald eiterigen, übelriechenden Genital-
ausfluss bei den kleinen Patienten, bald Obstipation oder Blasenbeschwerdeu, die
zn Cystitis und selbst zu Urämie fuhren können. So war es auch bei dem von
Power53) beobachteten Kinde von 2'/a Jahren, das durch einen mit heftigen
Schmerzen begleiteten eiterigen Vaginalkatarrh auf das tödtlicbe Leiden hinwies
und an Urinreteution und terminaler Urämie zu Grunde ging. Das Sarkom sass
hier ausnahmsweise rings um den hinteren Tbeil der Vagina und war mit ge-
stielten Schleimhnutpolypen der mittleren vorderen Vaginalwand complicirt.
Pick *‘) hebt hervor , dass diese congenitalen Scheidensarkome , so gross auch
ihre Neigung ist, die ganze Schleimhaut schnell zu durchsetzen uud auf die
Nachbarorgane iiberzugreifen , nicht in das Rectum und das periproetale Binde-
gewebe hineinwuchern, also keine Defäcationsbesckwerden machen, sondern nur
Blasentenesmus, Harnverhaltung u. s. w. Als sonstige kliuische Symptome nennt
Pick alarmirende Blutungen, Heraustreteu von Geschwulstmassse vor die Vulva,
Jauchungsfieber, Marasmus. Mit Erfolg operirt wurde nach Münz bisher ein ein-
ziger Fall von VOLKMANN.
Das Vaginalsarkom Erwachsener dagegen hat eine viel grössere
Neigung, sich local abzukapseln ; es macht viel seltener multiple Metnstaseu und
Reeidive. Neben blutig-eiterigem, oft stinkendem Vaginalausfluss tiberwiegen bei Er-
wachsenen die Defäcationsbeschwerdcn. Man findet diese Tumoren nach MÜNZ von
der Pubertät au bis zum hohen Alter — klinisch entweder als flächenhafte, nicht
sehr harte Infiltration der Scheidenschleimhaut oder als erhabene Geschwulst
des submncösen Bindegewebes, pathologisch-anatomisch als Spindel Rundzellen-
sarkome , als Angiosarkomc , als Fibrosarkome. In dem Falle, den Münz neu
aus der Fl.ATAU’schen Klinik beschreibt , handelte es sich um ein Riesenzellen-
sarkom bei einer 58jährigen, seit 10 Jahren in der Menopause befindlichen und
seit 2 Monaten an Blutungen leidenden Frau ; es sass breit der vorderen Sehciden-
waud an uud reichte bis zur Hälfte der Scheide hinauf. Der Tod tritt hierbei
zumeist durch Marasmus ein, so dass die Prognose ebenfalls eine sehr trübe ist.
Flatau’s Patientin starb 61/, Monate post operationem. Heilung ist eine einzige
bekannt (Spikgelrkrg’s Patientin). Was die Different ialdiagnose anlangt, so be-
merkt Münz, dass Carciuomc bretthart sind, erhabene Ränder haben, die Scheide
sy Google
VAGINA.
669
stenosiren und die Lymphdrlisen der Umgegend infiltriren, dass mail bei Tuber-
kulose und Lupus die Umgebung nach Tuberkel-, beziehungsweise Lupusknötchen
absuchen muss, insbesondere bei Tuberkulose auf etwaige Tuberkulose der Harn-
organe achten muss, und dass Scheidengummata zeitig zerfallen und tief gelegene
GeschwUrsränder zeigen.
4. Careinome der Vagina sind sehr selten primäre Neubildungen;
doch ist das Vorkommen der primären Krebse weder an ein Alter , noch an
vorausgegangene Graviditäten gebunden. Entweder findet man halbkugelige
Tumoren oder diffuse Schleimhautinfiltrationen. Nach Ingermann-Amitin 2‘) stehen
die meisten Patientinnen im Alter zwischen 30 und 40 oder zwischen 50 und
60 Jahren: die letztere Dekade fand auch Bkrnard 2#) als Durchschnittsalter.
Der Lieblingssitz ist die hintere Scheidenwand, während das secundäre Caroinom
häufiger auf der vorderen Wand sitzt. Berxaud fand den primären Tumor meist
im hinteren Scheidengewölbc. Ingermann-Amitin hebt weiter hervor, dass das
primäre Careinom häufiger als das secundäre sich bis zum Scheideneingang ver-
breitet. Symptome des primären Carcinoms sind Blutungen, übelriechender Aus-
fluss , Blasen- und Mastdarmbeschwerden ; Schmerzempfindung kann vorhanden
sein, kann aber auch fehlen. Da es schnell wächst oder bei langsamerem Wachs-
thum doch rasch auf die nächste Umgebung Ubergreift, ist cs sehr bösartig und
die Prognose ist sehr schlecht. Die Operation kommt oft zu spät, weil erst bei
sehr vorgeschrittenem Proecss Symptome eintreten. So beobachtete Lauenstein ,7)
einen Fall, in dem die Patientin auf ihr primäres Scheidencarcinom erst auf-
merksam wurde , als es in der Mitte der hinteren Scheidenwaud das Septum
rectovaginale durchbrochen hatte und Koth durch die Scheide abging. Bei recht-
zeitiger Behandlung bessert sich die Prognose vielleicht weit mehr, als man
allgemein annimmt. Lauenstein operirte einen Fall mit gutem Erfolg, so dass
erst nach 3 */2 Jahren ein Recidiv an der Portio vaginalis eintrat und, nachdem
nun die Totalexstirpation des Uterus ausgeführt worden war, nach weiteren drei
Jahren die Frau absolut gesund geblieben war. Dagegen giebt Olshauskn 18)
an, dass von 16 operirten Fällen seiner Klinik nur ein einziger nach zwei
Jahren noch recidivfrei war.
Zur Operation dieser malignen Neubildung empfiehlt Olshausen ,s)
die Exstirpation der Vagina durch die. perineale Methode, welche Zucker-
kaxdl früher für die Totalexstirpation des Uterus angegeben hatte ; er spaltet
den Damm quer von Sitzknorren zu Sitzknorren und präparirt nun , wäh-
rend der Finger des Assistenten im Rectum die Messerführung controlirt, stumpf
die hintere Vaginalwand vom Rectum ab bis zum Ansatz an die Cervix und
lockert zugleich die seitlichen Wände bis in das Bereich des Gesunden, in wel-
chem man die Abtrennung vornimmt. Dann stellt er an der bequemsten Stelle
die Verbindung zwischen dem Lumen der Vagina und der zwischen hinterer
Vaginalwand und Rectum entstandenen Höhle her und trennt die letzte Ver-
bindung des schon abgelösten Carcinoms mit der Scheere. Wird der Douglas
eröffnet, müssen ihn Catgutnähte sofort schliessen ; lassen sich in dem Scheiden-
reste keine Nähte aubringen , muss man dio Wundhöhle unter Jodoformgaze-
tamponadc ausheilen lassen. Soll der Uterus mit der Scheide entfernt werden, so
eröffnet man , nachdem der Scheidenansatz an die Cervix erreicht war , den
Douglas hinter der Vagina , stülpt den Uterus nach hinten um und hindet ihn
von den Tuben beginnend in den Ligamenten ab; ist dies theilweise geschehen,
schneidet man an der Grenze des abgelösten Theils die Vagina mit der Scheere
durch und löst das Carcinom aus. Nach stumpfer Trennung der Blase vollendet
man schliesslich die Abbindung der Cervix. Thors2*) billigt diese perineale
Methode für die Careinome im mittleren und unteren Drittel der V'agina, wäh-
rend ihm für die Krebse im oberen Drittel und im Vaginalgewölbe rationeller
dünkt, Damm und Vagina auf der stärker erkrankten Seite bis auf circa 3 Cm.
an das Carcinom heran zu spalten und nun die Ablösung, und zwar ebenfalls
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670
VAGINA.
von hinten her vorzunehmen, und , uni bei Mitleidenschaft des Uterus diesen zu
entfernen und das ganze paranietrische und paravaginale Bindegewebe gründlich
auszuräumen , empfiehlt er, wie schon vorher Fritsch that, die saerale Methode
als gründlichste, wenn auch die Genesung von der Operation langsamer herbei-
führende.
Denselben Vorschlag der saeralen Methode bei Betheiligung des Uterus
macht auch Behnard. **) Dührswen50) hat die Scheide mit Hilfe einer Se.heidcn-
dammincision mit Durchtrennung des Levator ani und Eröffnung des Carum
inchiorectale auf derjenigen Seite, nach welcher das Careinom weniger nach der
vorderen Wand zu gew uchert ist , und in Coinbination mit der hohen Cervix-
nmputation exstirpirt ; er glaubt, dadurch das Operationsfeld noch zugänglicher
zu machen und eine Contactiufection des Gesunden während der Operation noch
sicherer ausschliessen zu können, ohne die Operation blutiger zu machen, als die
perineale Methode. Sollte das Carcinom der hinteren Vaginalwand von beiden
Seiten her nach vorn Ubergegriffen haben, würde derselbe Weg angängig sein,
nur würde man, so weit die Schcidendammspaltung sich im carcinomatösen Ge-
webe bewegt, statt des Messers den Thermokauter zur Verhütung einer Infection
anwenden müssen. Bei Betheiligung des Uterus aber erscheint DOhbssex wohl
mit Hecht jede Operation zwecklos, sobald das Carcinom den supravaginalen
Cervixtheil ergriffen hat, weil dann direct vom primären Vaginaltumor aus das
Parametrinm bereits so carcinomatös iufiltrirt sein wird, dass an eine Entfernung
alles Kranken nicht mehr zu glauben ist. Lacknsteix S7) endlich operirte in
dem einen Falle, der den erwähnten günstigen Erfolg, wohl den günstigsten
aller bekannten Fülle, hatte, ähnlich wie OlshaüSKN; im anderen aber mit dem
ebenfalls schon erwähnten Durchbruch in das Kectum bildete er zuerst einen
künstlichen After an der Flexura mit totaler Durchtrennung des Darmrohrs,
Einuähen des zufuhrenden Stückes in die Bauchwand und Verschluss und Ver-
senken des abführenden Stückes. Dann exstirpirte er in derselben Narkose das
Septum rectovaginale sammt einem beträchtlichen Stück Mastdarmsehleimhaut,
vernähte das erüffnete Cavum Douglasii mit sechs Catgutnähten und verkleinerte
die grosse Wundfläche durch Einstülpung des beiderseitigen Hautrandes der
seitlichen Aftergegend. Unter lockerer .lodoformgazetamponade war der Wuml-
verlauf ungestört, nach mehreren Tagen begann der Anus praeternaturalis zu
funetioniren und Patientin konnte geheilt entlassen werden. Diese Operation wurde
im Frühjahr 1894 ausgeführt; ihr Dauererfolg also ist noch in suspenso.
5. Lymp/iangioma malignum vaginae. Bei einer 50jährigen
Frau , welche, nach 14 Schwangerschaften mit 42 Jahren in die Menopause
eingetreten , seit S Wochen an Scheideublutungeu und Kreuzschmerzen litt,
entdeckte Klien 31) zwei Tumoren in der Scheide, den einen priaumengross, den
anderen klcinapfelgross. Sie bestanden aus einem Netzwerk erweiterter Lymph-
eapillaren, dessen kleinere Räume von auffallend grossen, zu drei bis vier an
Zahl zusammenstosseuden Endothelzellen ausgefüllt waren , während eiten solche
Endothelien an deu weiteren, bis hanfkorngrossen Räumen einen einschichtigen .
bis zu 50 p. hohen Wandbelag bildeten. Zwischen diese endothelbekleideten Räume
schob sich zartes , gefassrciches Bindegewebe hinein ; an manchen Stellen aber
fehlte dieses, und Eudothelreihe legte sich unmittelbar an Endothelreihe. Nur
die grösseren Räume waren von Blut erfüllt. Aus der Wucherung der Endo-
tlielien folgerte Ki.iex den malignen Charakter der Tumoren und bezeichnete
sie als Lymp/iangioendothelioma cavernosum haemorrhagicum malignum.
IV. Mykosen der Scheide fanden einen neuen Sehilderer in v. Herff. ,:)
Er fand etwa unter 553 Patientinnen der Hallenser gynäkologischen Poliklinik einen
Fall von Kolpitis mycotica acuta, und von sämnttlichen 26 Fällen kamen merk-
würdiger Weise 17 auf die heissen Monate Juni bis September, während December
und Januar ganz frei von dieser Erkrankung blieben. Prädisponireud für die
Ansicdlnng saprophytiseher Keime in der weiblichen Scheide muss also die
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VAGINA.
671
Sommerhitze seiu dadurch , dass eie Zersetzungen des Scheidensecrets und Inter-
trigo begünstigt. Ein zweites prüdisponirendes Moment ist unzweifelhaft die
Schwangerschaft, und je prädispouirender, desto weiter sie zeitlich vorgeschritten
ist. Unter den Niehtsehwangeren ist das höhere Alter bevorzugt. In 13 Füllen,
welche Neumann ji) mittheilt, handelte es sich stets um Weiber, die unter schlechten
äusseren Verhältnissen lebten und auf Stroh oder in feuchten Wohnungen ihr
Nachtlager hatten. Der häufigste Erreger der Krankheit ist der Soorpilz (üidium
albicans), welcher z. B. von den Händen einer ihr soorkrankes Kind pflegenden
Mutter in die Scheide gelangen kann. Sonst findet man gelegentlich Monilia
candida, Lcptolhrix vaginalis u. dergl. Dass man experimentell mykotische
Kolpitis durch Einimpfen des Soorpilzcs erzeugen kann, hat früher schon Hauss-
manx nachgewiesen. Ob aber echte Hefepilze (Saccharoinyeeteu) die Krankheit
verursachen können, i6t zweifelhaft. Die Symptome der Scheidenmykose sind
vor Allem Klagen über heftiges Brennen, Jucken und Hitzcgcffihl in der Scheide,
zuweilen Empfindung des Drängens nach abwärts, nls ob ein Vorfall vorhanden
wäre, nicht selten llarnheschwerden und besonders bei Betheiligung der Gegend
der Klitoris geschlechtliche Aufregungsznstände. Fluor fehlt in uncomplicirten
Fällen. Die subjeetiven Belästigungen pflegen sich Nachts zu steigern. Fiober-
steigeruugen beobachtete Nkumanx, was mit Haussmaxk's experimentellen Beob-
achtungen im Einklang steht; mit dem Fieber können Exantheme (Erythema noilo-
sum oder papulatum oder pustulöse Formen, die von einem gerötheten Hof peripher
umgrenzt sind; in Erscheinung treten. Die Scheidenscbleimhaut zeigt sich stark
geröthet und aufgelockert, sowie sammetartig geschwollen, oft bedeckt von rahm-
artigen Fleckehen , die ans abgestossenen Epitbclien entstehen ; die Empfindlich-
keit ist meist gross genug, um die Einführung eines Spiegels zu vereiteln. Die
Pilzrasen können so dicht stehen , dass die Schleimhaut wie mehlbestaubt er-
scheint. Meist bleiben sie von der Grösse eines Stäubchens, nur selten werden
die einzelnen Flecke bis linsengross oder noch etwas grösser. Infolge anhaltender
Beizung durch Reibung sah Nedmaxn mehr oder weniger tiefgehende Ge-
schwürehen entstehen, in frischen Fällen scharf umschrieliene , halblinsen- bis
linsengrosse, oft viel kleinere, im Niveau der Schleimhaut gelegene Eftlorescenzen
mit mehr oder weniger lebhaft geröthetem Wall und mit gelhlichweisser bis
weisser Exaidatschicht bedeckt. Die Diagnose muss sich wesentlich auf die
vorhandenen weisslichen rahmartigen kleinen Flöckchen auf der Scheidenscbleimhaut,
welche eben die Pilzrasen sind, stützen ; pathognomonisch für diese ist das feste
Haften , so dass sie sich nicht leicht fortwischen lassen. Die mikroskopische
Untersuchung wird dann leicht die Entscheidung bringen. Die aphthösen Ge-
schwürehen können forensisch von Interesse sein, damit sie nicht mit venerischen
verwechselt werden ; doch haben diese einen speckigen , rein eiterigen , leicht
und vollständig allzustreifenden Belag, steile, stets mehr oder weniger unter-
minirte Ränder, und die Umgebung der venerischen Geschwüre ist stets intensiver
entzündet, als bei einer Scheidenmykose. Gelegentlich könnte auch eine Ver-
wechslung mit tuberkulösen oder gummösen Ulccrn Vorkommen. Die Dauer der
Anwesenheit der Pilze in der Scheide kann vielleicht eine sehr lange sein, die
Dauer der subjeetiven Reizerscheinungen jedenfalls eine wochenlange. Gonorrhoe
und I.ues scheinen den l’rocess zu begünstigen, stark saure oder stark alkalische
Beschaffenheit des Scheidensccretes , vor Allem die Beschaffenheit des Wochen-
flusses, beeinträchtigt ihn. Die Prognose ist gut bei richtiger Behandlung;
diese besteht in antiseptischeu Ausspülungen, zu denen vor Allem das Sublimat
in Lösungen von 1 : 5000 — 10.000 zu empfehlen ist. Ein der Ausspülung folgen-
des stundenlanges Brennen heftigster Art haftet allen antiseptischeu Ausspülungen
bei dieser Atl'ection an und muss durch kühle Sitzbäder, Bleiwasserumschläge etc.
gemässigt werden. Eine gründliche Ausspülung pro die genügt meistens; mehr
als 2 oder 3 täglich sind nicht zu empfehlen. Heilung sah Hekfk auf solche
Art durchschnittlich in 4 Tagen eintreten.
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672
VAGINA.
Eine sehr merkwürdige parasitäre Scheidenerkraukung ganz
anderer Art hat Coxdio 34) bei einer verkrüppelten, 56jährigen Bettlerin erlebt,
welche mit Klagen Uber Brennen und Schmerz in der Scheide, nebenbei auch
mit Koliksehmerzen, Erbrechen und Tenesmus in Behandlung kam. Deren Scheide
bewohnte die Käserailbe , Piophila casei, und musste durch energische Irri-
gationen mit Borwasser und Carbolwasser gereinigt werden. Die Milben drangen
von der Vagina aus in die Cervix ein. Mit der Milbe gefütterte Kanin-
chen beherbergten sie einige Tage lebend in ihrem Darm; ein trächtiges
Kaninchen bekam nach Fütterung mit in Klee gereichten Käsemilben Erbrechen
und Abortus.
V. Traumata vaginae. 1. Verletzungen extra partum werden
nur sehr selten durch wirkliche Unglücksfälle (Fall auf spitze Gegenstände in
Reitsitz, Stoss einer Kuh) verursacht; am häufigsten sind diese seltenen Traumen
durch einen stürmischen Coitus bedingt. Die Möglichkeit von Schcidenzerreissungen
bei diesem physiologischen Acte ist durch mehrere glaubhafte Beobachtungen
bestimmt erwiesen. Ostermayer ss) stellt 16 Fälle aus der Literatur zusammen
und beschreibt im Anschluss daran aus eigener Anschauung eine Kolporrhexis,
ein sexuell entstandenes bogenförmiges Abreissen des hinteren Scheidengewölbes
von der Portio, wie es früher einmal (1889) Frank erlebt hat. Die in der
Literatur niedergelegten Füllo lassen nicht erkennen, dass eine besondere (Qualität
der Scheidenwände oder eine bestimmte Position der Verletzten während des
Coitus die Verletzung begünstigte. Doch können begünstigend einwirken die auf
seniler Rückbildung beruhende Atrophie und Schrumpfung des Organs, infantile
Formen und Missbildungen , Gestalt- und Lageanomalien des Uterus , welche die
Spannuugsverhältnisse der Vaginalwände besonders in der Richtung der Längs-
achse alteriren, das Rohr verkürzen oder fixiren und sein normales Lumen ver-
legen, zumal wenn die verlagerte Gebärmutter, durch para- oder perimetritische
Processe fixirt, nicht auszuweichen vermag. Umstände letzterer Art begünstigten
bei der 40jährigen, anämischen und schwächlichen Witwe, bei welcher Oster-
Mayer durch den impetuösen Coitus ihres betrunkenen Schwagers eine ausge-
dehnte Kolporrhexis mit Gefahr des Verblutungstüdes entstehen sah , diese Ver
letzung. Der Uterus war in totaler Anteversio fixirt, das hintere Scheidengewölbe
dadurch ad extremum gespannt, dazu noch durch Exsudatreste befestigt. Die
Ausdehnung der Scheidcnabreissung in diesem Falle war noch beträchtlicher, als
im analogen FRAN'K’schen ; der Riss war etwa 8 Cm. lang, so dass nur eine
etwa 2 Cm. breite Verbindung der vorderen Scheidewand mit der Portio übrig
geblieben war, und durch die klaffenden Wundränder konnten bequem drei Finger
durchgeführt werden. Die Behandlung besteht natürlich in sorgfältiger Wund-
naht mit Jodoformgazeeinlage.
2. Verletzungen intra partum sind bei weitem häufiger; ohne Ver-
letzung der Schcidensckleimhaut geht wohl kaum eine Entbindung vor sich. Doch
beanspruchen nur die grösseren derartigen Verletzungen, insbesondere die, welche
eine Perforation der Wand in toto verursachen, ein lebhaftes praktisches Interesse ;
denn einerseits sind sie die Ursache sehr bedrohlicher Blutungen , andererseits
sind sie die häufigste Veranlassung für die Entstehung der Scheidenstenosen,
soweit sie nicht angeboren, sondern erworben sind. Neugebager (1. c. ,0) führt
186 Scheidenverengerungen und Scheidenverwachsungen , die unter der Geburt
erworben wurden, auf. Diese Geburtsverletzungen können sowohl bei spontanen,
als bei artifieiell beendeten Geburten zustande kommen. Wenn spontane Entbin-
dungen zu erheblichen Vaginaltraumen führen, mag wohl eine krankhafte Ver-
änderung des Organs eine Prädisposition geben. So behandelte Baudrv '*) eine
27jährige Primipara; im April 1891 hatte diese eine Abscedirung der hinteren
Scheidenwand, die sich von selbst öffnete, durchgemacht. Mitte Februar 1892
gebar sie ein Kind in erster Schädellage; als der Kopf in der Schamspalte sichtbar
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VAGINA.
673
wurde, bekam die Patientin heftigen Stuhldrang, und plötzlich fiel ein Händchen
durch den After vor. Die Hebamme entwickelte rasch den Kopf und zog den
vorgefallenen Arm ohne Schwierigkeit per vaginam heraus; die nachfolgende
Blutung war nicht gar erheblich. BauDRY fand bei seiner Ankunft den Dainm
intact, in der Scheide aber einen dreieckigen , mit der Basis gegen den Damm
gerichteten, 3 Finger breiten Riss, welcher die ganze Mastdarmscheidenwand
durchsetzte; doch war die Rissöffnung im Rectum kleiner als in der Vagina. Er
vernähte diesen Riss in der Scheide vom Damm her, eine zurückbleibende Rccto-
vaginalfistel schloss sich nach vier Monaten. Auch LlPINSKY *7) behandelte eine
im Anschluss an eine spontane Entbindung mit nachfolgender Puerperalerkrankung
entstandene, 3 Cm. lange, narbige Stenose des unteren Theiles der Vagina, welche
nur noch der Sonde den Durchgang gewährte. Unter den künstlichen Entbin-
dungen sind aber die Zangeneutbindungcn die häufigste Ursache für Verletzungen
und consecutive Narbenstenosen der Scheide. Dabei brauchen gar nicht einzelne
grosse und sehr tiefe Risse zu entstehen ; cs genügt offenbar , dass mehrere
kleinere Verletzungen gesetzt werden, welche bei ihrer Vernarbung das Gewebe
rctrahiren. So erklärt sich z. B. , dass eine mit Forceps entbundene Primipara,
der post partum nur der eingerissene Damm genäht worden war , drei Monate
darauf in die Behandlung van de POI.l’s ,a) mit einer starkem Verengerung der
Scheide durch Narbenstränge trat.
Die Behandlung der erworbenen Scheiden Stenosen kann zu-
weilen durch langsame Dilatation zum Ziele führen, wie im Falle van de Poi.i.’s,
dessen Patientin 10 Monate nach der Entlassung sogar ein normal grosses Kind
spontan gebären konnte. Diese Dilatation kann durch Spccula oder Bougies von
wachsender Dicke, durch l.aminaria oder Pressschwamm, durch den Kolpeurvnther
oder endlich durch den Ballon von Gahikl , den Pichkvin **) als brauchbarste
Methode ansieht, bewirkt werden. Braun v. Fkrnwai.d40) empfiehlt sein Ver-
fahren der Cervixdilatation auch für die Scheide; es besteht darin, dass man ein
Uber eine ganz glatte Sonde ad maximum ausgezogenes Gummidraiurobr einlegt
und dann plötzlich mit dem äusseren Zuge aufhört, so dass das Gummirohr
tiefer in die Scheide hineinschnellt. Dann zieht man die Sonde vorsichtig zurück.
Durch das Bestreben, seine ursprüngliche Form zurückzugewinnen , übt dieses
elastische Bougie, wie Braun in zwei Fällen sah, eine wirksame Dilatation aus.
Doch kann diese stumpfe Erweiterung nicht nur misslingen , sondern auch neue
Verletzungen setzen. LlPINSKY sah in seinem eben erwähnten Falle durch fort-
gesetzte Dilatationsversuche eine Mastdarmscheidenfistel entstehen. Er frischte
schliesslich den unteren Theil der Vagina blutig an und benutzte die kleinen
Labien zur Deckung der seitlichen Defeete, um in einer späteren Sitzung den
Mangel in der hinteren Scheidenwand sammt der Fistel durch einen aus der
Hinterbacke genommenen, gestielten Lappen zu decken. Die Heilung gelang so
vollständig und dauernd ; die Scheide war 7 Cm. lang und für zwei Finger
durchgängig geworden. Achnlich verfuhr ROSCISZEWSKY 41), als die zumeist unge-
nügende Methode der Discisiou der Scheidennarben auch ihm misslang, indem er
nach Exci8ion des Narbengewebes den Defect mit den kleinen Labien deckte
und damit den gewünschten Erfolg erzielte.
Für nachfolgende Gehurten haben natürlich die Vaginalstenosen sehr
ernste Folgen. Neugebauer *°) zählt 23 Porrooperationen und 35 conservative
Kaiserschnitte auf, welche durch Stenose oder Atresie der Scheide nötliig wurden ;
in 245 anderen Fällen konnte freilich die Geburt noch immer durch die natür-
lichen Wege geleitet werden.
VI. Neurosen der Scheide. 1. Vaginodynie benannte James J.
Simpson eine musculöse Contraction des ganzen Vaginalsclilauches zum Unter-
schiede von Vaginismus, der nur die Contraction des Scheideneingauges bedeutet.
Frost4*) beschreibt auf Grund eigener Erfahrungen die Affection so, dass die
Euoyclop. Jahrbücher. VI. 43
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VAGINA. — VERATROG.
Patientinnen Uber heftige Schmerzen im Leibe klagen, wahrend die physikalische
Untersuchung des Abdomens keine Veränderung der Organe ergiebt. Diese
Schmerzanfälle wiederholen sieh regellos. Der Versuch , den Finger durch den
zusammengezogenen Sphincter vaginae hindurchzuzwängen , löst neue heftige
Schmerzen aus ; drückt er aber kräftig gegen den Beckenboden , so verringert
sich der Schmerz oder hört auf. Die Diagnose stutzt Bich auf das plötzliche
Auftreten von sehr heftigen, reissenden , anhaltenden Schmerzen in der unteren
Beckengegend, oft mit Contraetion des Perineums vergesellschaftet ; häufig han-
delt es sich um hysterische Personen. Die Behandlung besteht in Einführung
eines oder einiger Finger in die Vagina und Druck gegen das Perineum, während
zugleich der Daumen gegen das untere Segment des Kreuzbeines gepresst wird.
Nach 10 — 20 Minuten Dauer erschlaffen die Muskeln bei dieser Dehnung der
Vagina völlig, und mehrmalige Anwendung dieses Verfahrens beseitigt das
Leiden dauernd.
2. Als Ursache des Vaginismus bei jung verheirateten Frauen
beschuldigt neuerdings Barbier“) die Blennorrhoe; der blennorrhoiscbe Ent-
zünduugsprocess greift auf die noch nicht vernarbten Lappen des Hymen Uber.
Doch hilft gegen diese äusserst schmerzhafte Affection, die zur Bettruhe zwingt,
die antigonorrhoisehe Behandlung recht wenig, und Barbier empfiehlt, bei aus-
einander gehaltenen Labien über dem Orificium vaginale mittels eines Richard-
sON’schen Sprays eine l,25%ige Cocainlösung zu zerstäuben; daneben verordnet
er täglich lauwarme Bäder von 1 — 2 Stunden Dauer und sah meist in 8 bis
10 Tagen Heilung eintreten.
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Nr. 44. pag. 1737. — 4S) Barbier. La Semaine med. 1895, Nr. 18
Richard Landau.
Veratrol, Ce H4<^qj^!, Brenzkatechindimethyläther , Vera-
trolum synthet icum , verwandt mit dem Guajnkol, welches bekanntlich nach
seiner chemischen Constitution Brenzkatechinmonomethyläther ist. Das synthetisch
dargestellte Veratrol ist eine leichtbewegliche klare Flüssigkeit, die sich in
Alkohol, Acthe.r und fetten Oelen löst und bei 205 — 206° C. siedet. Nach
II. SlRMOXT und A. VERMERSCH wirkt das Veratrol gegenüber Cholera-, Typhus
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VERATROL.
675
nnd Diphthcriebacillen als energisches Antisepticum; weniger deutlich ist die
baktericide Wirkung gegenüber dem Bacillus pyogenes und dem Staphylococcus
pyogenes, hingegen wird der Tuberkelbacillus in seiner Entwicklnng bedeutend
gehemmt. Es entfaltet eine stärkere Aetzwirkung wie das Guajakol, wirkt aber
etwa dreimal weniger giftig als dieses. Es wird sowohl von der Haut als von
den Respirationswegen durch den Verdauungscanal auch bei subcutaner Einfüh-
rung vom Organismus aufgenommen. Auf die Haut gepinselt wirkt es etwas
schwächer als Guajakol. Bei Intercostnlneuralgien wirkt es analgetisch ; eine
Epididymitis acuta schwand nach zweimaliger Anwendung von Vcratrolsalbe.
Dosirung. Aeusscrlich als schmerzstillendes Mittel. Bei Orchitis als
10%igc Salbe oder mit gleichen Theilen Tinct. jodii als Liniment zu Einpiuse-
lungen. Innerlich 2 — 4 Tropfen dreimal täglich in Gelatinkapseln gegen Tuber-
kulose empfohlen.
Literatur: H. Surmont u. A. Vermerach, Semaine meil. 1895, pag. 387. —
E Mcrck's Bericht über das Jahr 1895. Loebiach.
43*
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Wabain, s. Ouabain, pag. 511.
Wasserdampf, Inhalationen, pag. 287.
Wassergewinnung, Wasserwerkrecht. — Das zur Verwerthung
als Trinkwasser wie als Reinigung»- (Nutz-) Wasser bestimmte Wasser soll klar,
ungefärbt, geruchlos sein, nicht nach irgend einem Bestandtheil schmecken, eine
erfrischende Temperatur haben. Vor Allem wird aber erfordert, dass cs von
Körpern und Stoffen, die narh seiner directen oder mittelbaren Einführung in
die ersten Wege vergiftend oder ira Sinne der Krankheitsverbreitung schädigend
wirken konnten, frei sei. Aus dieser Anforderung ist es verständlich . wenn die
Gesundheitsichre der Gegenwart den mineralischen Bestandtheilen der Wässer
eine schädliche Wirkung kaum beimisst und auch den organischen chemischen
Beimengungen (selbst bei schon merkbarer Verunreinigung) nur in Ausnahtne-
fälleu, etwa bei kürzlich erfolgtem oder dauerndem Zutritt, eine mehr zurück -
tretende Bedeutung beilegt. Das Hauptkriterium für ein im bedenklichen Sinne
unreines Wasser wird dagegen in seiner Eigenschaft, Aufenthaltsort, Nährmediura
und Vehikel pathogener Mikroorganismen zu sein , gesucht. Es handelt sich
um die Grenzen der Ucberzeugting, innerhalb deren die Infectiosität des Wassers
für schwerere oder leichtere, für häufigere oder seltenere Kraukheitsausbrüche
unbesehen acceptirt oder immer von Neuem und von Fall zu Fall unter Beweis
gestellt worden soll.
Der Beweis ist doppelter Natur: a) eine Epidemie wird bis auf ihre
ersten Entstehungsfälle erforscht und diese letzteren an Wassergenuss gebunden
erklärt, womit dann in der Regel der Nachweis verbunden wird, dass alle Nicht-
eonsumeuten des verdächtigen Wassers unter sonst gleichen Lcbensverhultnissen
gesund blieben, oder dass nach Sperrung der verdächtigen Wasserquelle kein
Fall der fraglichen Krankheit mehr eintrat; b) cs werden die für die letztere
pathogenen Mikroben im fraglichen Trink- und Nutzwasser nachgewiesen und
sie sind nicht mehr nachweisbar zu der Zeit, in welcher primäre Fälle der
Krankheit sich nicht mehr ereignen.
Der Beweis ad b) ist meistens noch schwieriger zu liefern als der ad a).
Einwandfreie Schlusskctten sind trotz des in unübersehbarer Menge veröffent-
lichten Materials sehr selten. Nichtsdestoweniger muss die Gesundheitspolizei auf
die Erfüllung der Forderung hinarbeiten, unter dem als „Reinw&sser“ gelieferten
Product der Wasserentnahmestellen ein von Ansteckungskeimen freies
Wasser zu verstehen und besonders den Consumenten öffentlicher Wasserleitungen
für diese Eigenschaft des gemeinsam bezogenen Wassers eine thunliehe Gewähr
zu leisten. So oft in den nachfolgenden Ausführungen von der „R e i n h ei tu des
Wassers gehandelt wird, ist darunter stets die Reinheit im eben angedeuteten
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WASSERGEWJNNÜNG.
677
Sinne und unter „Wasser“ niemals allein das sogenannte Tränkwasser, sondern
Nutz, Gebrauchs-, Bade-, WTasch-, Reinigungs- etc.: jedes Wasser, das
mit dem menschlichen Leibe in irgend eine Berührung kommt, mitverstanden.
Zu einer solchen Ausdehnung genügt die Dunkelheit mancher W’ege der An-
steckung, deren einmal vorkommende Möglichkeit bestaunt , ja belächelt —
aber nicht abgestritten werden kann.
Schwer erfüllbar ist die Forderung, die Herkunft der Wasseradern in
ihrer ersten Entstehung so zu beaufsichtigen, dass gefährliche Beimengungen
(sc. Ansteckungsstoffe) ihnen ferngehalten werden, mag es sich um oberirdische
oder unterirdische Wasseradern handeln.
Die Gesetze der Wasseransammlung im Boden führen zwar auf die An-
nahme, dass, sobald die unterirdischen Wasseradern den oberen Bodenschichten
sich entzogen haben, sie mehr zur fortschreitenden Reinigung als zu zunehmender
Verunreinigung neigen.
Umgekehrt zeigt jeder oberirdische Wasserlauf mit jedem Stadium
seiner Verbreiterung sich unter einer progressiven Beeinflussung durch Unreinig-
keiten, die nicht von seiner Wasserfläche und seinem Bett abzuhalten sind.
Als hygienischer Grundsatz für Wasserversorgungen pflegt zu gelten,
dass directe Herleitungen von Quellwasser die erstrebenswertheste Art der
Versorgung ist. Die sanitätspolizeiliche Beaufsichtigung derartiger Anstalten wird
sich in erster Linie auf den Punkt zu richten haben, ob die Menge des Quell-
wassers eine ununterbrochen ausreichende ist. Wassermangel, wie er infolge
ungünstiger 8chneeverhältnisse und andererseits bei grosser und anhaltender
Hitze auftreten kann, soll vermieden werden. Quellwasserleitungen in solcher
Zahl und Ausdehnung, wie sie sieh in das alte Rom hinein erstreckten, dürften
für keine moderne Stadt mehr möglich sein.
Von sehr zurücktretender Bedeutung erscheinen den mitteleuropäischen
Culturverhältnissen gegenüber die Regenwasserversorgungen, wie sie in
einzelnen, sonstiger Wasserquellen ermangelnden Orten noch jetzt in Thätigkeit
sind (Auffangung und Ansammlung in C'isternen, oft sehr umsichtige Baueinrich-
tungen der letzteren, besondere Beaufsichtigung der stellenweise vorhandenen
Filterwerke). Regenwasser wurde — abgesehen von verschiedenen, oft ganz be-
deutenden Plätzen Spaniens, Nordafrikas, Arabiens etc. — im Jahre 1885 noch
von 130 Communeu Italiens (mit zusammen 721.900 Einwohnern), auch auf dem
Palatin in Rom, zur Benutzung gezogen.
Bei der Ingebrauchnahme von Brunnenwasser muss vor Allem die
Herkunft des WTassers ermittelt und Klarheit darüber geschaffen werden, ob die
im Moment der Untersuchung festgestellten Eigenschaften des Wassers in notli-
wendigem Zusammenhang mit seiner Herkunft stehen. Das Entscheidende ist
schliesslich die Untersuchung der örtlichen Verhältnisse, des Zustandes der
Entnahmequclle. Muss aus dieser Untersuchung gefolgert werden, dass der
Ursprung des Wassers für einen dauernd guten Zustand desselben keine Gewähr
leistet, so wäre selbst bei seinem augenblicklich guten Zustande die Verwendung
zu beanstanden. Andererseits würde die durch chemische wie bakteriologische
Untersuchung nachgewiesene ungenügende Beschaffenheit eines Wasser» nur die
Wirkung leicht abstellbarer Mängel sein können.
Grund wasscr zu verwenden, empfiehlt sich schon wegen der filtrirendcn
und entgiftenden Eigenschaften des Erdbodens. Allein nicht immer leistet der
Boden, was man im speciellen Falle erwarten zu sollen glaubt: es können dem
natürlich gereinigten Grundwasser dauernd oder zeitweilig noch an der Entnahme-
steile Verunreinigungen mannigfaltigster Provenienz beigemengt werden. Darüber
wird die unmittelbare, örtliche Untersuchung, welche sich auch auf die Beschaffen-
heit sämmtlicher Theile des Brunnens zu erstrecken hat, Aufschluss gelten; die
chemische, mikroskopische und bakteriologische Untersuchung einzelner Wasser-
proben kommt nur soweit in Betracht, als sie uns über Verhältnisse aufklärt,
678
WASSERGEWINNUNG.
die sieh bei der örtlichen Untersuchung nicht ohneweitere wahrnehmen lassen :
Uber den Reinheitszustand des Bodens und Uber dessen Leistungsfähigkeit
als Filter.
Die bakterielle Beschaffenheit des Brunnenwassers wird dann zu
untersuchen sein, wenn nach pathogenen Keimen gefahndet wird, die durch ein-
malige Verunreinigung in das Wasser gelangt sind. Im Uebrigen kommt Ver-
fasser zu dem Schluss: nI)ie bakteriologische Brunnenwasseruntereuchung in ihrer
gegenwärtigen Ausführnngsweise ist unbrauchbar.“ Sie ist in ihrer jetzigen Form
aufzugehen, weil sie nichts lehrt und zu vielerlei Einflüsse ihr Ergebniss trüben.
Bei der Einsammlung der Wasserproben muss Alles aufgeboten werden,
um das Wasser möglichst unverändert in dem Zustande zu sammeln, in dem es
der Entnahmestelle zuströmt, bevor es an der Entnahmestelle selbst Veränderungen
erlitten hat. Die verschiedenen Verfahren, welche dabei zur Benutzung kommen
können, sind aber umständlich und theuer und deshalb nur bei grossen centralen
Wasservereorgungsanlagen anwendbar. In alltäglichen Fällen kann von einer
bakteriologischen Untersuchung des Grundwassers abgesehen werden, da in der
Regel Boden und Grundwasser in einer Tiefe von 3 — 4 Meter abwärts keim-
frei sind.
Der Fluss, an dessen Ufern sich eine Industriestadt aufgehaut hat,
nimmt schliesslich für jede Theilstrecke seiner Ufer, für jedes Quantum seines
strömenden Wassere eine recht reichlich bemessene Menge von Unreinigkeiten
jeder Art in sich auf. Keimuntereuchungen zeigen , dass die Mitte des Wasser-
laufes am keimfreiesten ist, und dass der Jahreszeit nach die Verminderung von
Keimen aller Art auf den Frühling fällt. (Durch völliges Gefrieren kann der
Keimgehalt der Flusswässer auf ein Drittel heruntergehen.)
Das Wasser der Flüsse und Seen, wie es oft in grösster Masse zur
Verfügung steht, kann nach modernen Erfahrungen ungereinigt oder auch nur
nach Selbstreinigung unmöglich als befriedigend angesehen werden. Es ist daher
vor dem Gebrauch zu reinigen: d. h. in erster Linie von wahrscheinlich stets
vorhandenen pathogenen Mikroorganismen zu befreien, in eine sterile Flüssigkeit
zu verwandeln. Die mechanische Reinigung durch Thonfilter liefert zwar ein
keimfreies Wasser, jedoch in so geringer Menge, dass dieses Verfahren nicht in
Betracht kommt, ln quantitativer Hinsicht ist demgegenüber die Leistung der
Sandfilter eine genügende. Aber als in mehrfacher Beziehung mangelhaft erscheint
das, was die Sandfilter bezüglich des Abfangens der Keime leisten, besondere im
Beginn des Filtrationsvorganges. Erst im Verlauf desselben bildet sich eine
Schlammdecke, und diese ist das eigentliche Filter.
Bei diesen Unvollkommenheiten dieser Reinigungsmethode musste daran
gedacht werden, insonderheit zu Epidemiezeiten, die Sicherheit des Reinignngs-
werkes zu steigern. Dieser Zweck ist in hervorragender Weise erreicht durch
die „Grundsätze für die Reinigung von Oberflächen wasscr durch
Sandfiltration zu Zeiten der Choleragefahr“, ansgearbeitet im Kaiserlichen
Gesundheitsamt :
§ 1. Bei der Beurtheilung eines filtrirtea Oberfläcbenwassere sind folgende Punkte
zu berücksichtigen:
a ) Die Wirkung der Filter ist als eine befriedigende anzuseben, wenn der Keim-
gehalt des Filtrats ein möglichst geringer ist nnd jene Grenzen nicht überschreitet, welch«
crfahrnngsgeinäas durch eine gute Sandfiltration für das betreffende Werk erreichbar ist. Bevor
man nicht bestimmte Kenntnisse über die örtlichen und zeitlichen Verhältnisse der einzelnen
Wasserwerke, insbesondere auch über den Einfluss des Rohwassers gesammelt bat. ist als
Regel zu betrachten, dass ein befriedigendes Filtrat beim Verlassen des Filters nicht mehr als
ungefähr 100 Keime im Cubikcentimeter enthalten darf.
b) Das Filtiat soll möglichst klar sein nnd darf in Bezug auf Farbe, Geschmack,
Temperatur und chemisches Verhalten nicht schlechter sein als vor der Filtration.
§ 2. Um das Wasserwerk in bakteriologischer Beziehung fortlaufend zu controliren.
muss vorläufig das Filtrat jedes einzelnen Filtere täglich untersucht werden; hierbei ist
namentlich auf ein plötzliches Ansteigen des Keimgehaltes zu achten, das den Verdacht einer
Störung im Filterbetrieb begründet und die Betriebsleitung zu erhöhter Aufmerksamkeit mahnt.
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WASSERGEWINNUNG.
679
§ 3. Um bakteriologische Untersuchungen im Sinne des § 1 zu a) veranstalten za
können, muss das Filtrat eines jeden Filters so zugänglich sein, dass zu beliebiger Zeit
Proben entnommen werden können.
§ 4. Um eine einheitliihe Ausführung der bakteriologischen Untersuchungen zu
sichern, wird folgendes Verfahren zur allgemeinen Anwendung empfohlen: Als Nährboden dient
eine 10%*£e Fleisch wasserpepiongelatine. Dieselbe kommt in Mengen von 10 Ccm. zur An*
Wendung. Von dem zu untersuchenden Wasser werden stets zwei Proben zu je 1 Ccm. und
V, Ccm. mit der vorher bei 30—25° verflüssigten Nährgelatine vermengt, durch vorsichtiges
Neigen des betreffenden Reagensglases eine möglichst vollständige Mischung herbeigeführt und
der Inhalt des Glases auf eine sterile Glasplatte ausgegossen. Die Platten werden in Glas-
platten gelegt , deren Boden mit angefeuchtetem Fliesspapier bedeckt ist und bei etwa 20°
aufbewahrt.
Die Zählung der entstandenen Colonien erfolgt mit der Lupe, nachdem 48 Stunden
verflossen sind.
Ist die Temperatur des Aufbewahrungsraumes der Platten niedriger als oben an-
gegeben, so geht die Entwicklung der Colonien langsamer von statten , und kann die Zählung
demgemäss erst später statt Anden.
Beträgt die Menge der Colonien in 1 Ccm. des untersuchten Wassers mehr als etwa
100. so hat die Zählung mit Hilfe des Wolffhüge Lachen Apparates zu geschehen.
§ r. Die mit der Ausführung der bakteriologischen Controle betrauten Personen
müssen den Nachweis erbracht haben , dass sie die hierlür erforderliche Befähigung besitzen.
Dieselben sollen, wenn irgend thunlich, der Betriebsleitung selbst angehören.
§ 6. Entspricht das von einem Filter gelieferte Wasser den hygienischen Anforde-
rungen nicht, so ist dasselbe vom Gebrauche auszuschliessen , sofern die Ursache des mangel-
haften Verhaltens nicht schon bei Beendigung der bakteriologischen Untersuchung behoben »st.
Liefert ein Filter nicht nur vorübergehend ein ungenügendes Filtrat, so ist es ausser Betrieb
zu setzen und der Schaden aufznsuchen und zu beseitigen. — Nach den bisher gemachten
Erfahrungen kann es aber unter gewissen unabwendbaren Verhältnissen (Hochwasser etc.) tech-
nisch nicht möglich sein, ein den in § 1 angegebenen Eigenschaften entsprechendes Wasser
zu liefern. In Milchen Fällen wird man sich mit weniger gutem Wasser begnügen, gleichzeitig
aber je nach Lage der Dinge (Ausbruch einer Epidemie etc.) eine entsprechende Bekannt-
machung erlassen.
§ 7. Um ein minderwertiges, den Anforderungen nicht entsprechendes Wasser
beseitigen zu können (§ 6), muss jedes einzelne Filter eine Einrichtung besitzen, die es
erlaubt, dasselbe für sieb von der Rein Wasserleitung abzusperren und das Filtrat abzulassen.
Dieses Ablassen hat, soweit die Durchführung des Betriebes es irgendwie gestattet,
in der Regel zu geschehen:
1. unmittelbar nach vollzogener Reinigung des Filters und
2. nach Ergänznng der Sandschicht.
Ob im einzelnen Falle nach Vornahme dieser Reinigung, beziehungsweise Ergänzung
ein Ablassen des Filtrats nöthig ist, und binnen welcher Zeit das Filtrat die erforderliche
Reinheit wahrscheinlich erlangt hat, muss der leitende Techniker nach seinen aus den fort-
laufenden bakteriologischen Unteisuchungen gewonnenen Erfahrungen ermessen.
§ 8- Eine zweckmässige Sandflltration bedingt, dass die Filterfläche reichlich bemessen
und mit genügender Reserve ausgestattet ist, um eine den örtlichen Verhältnissen und dem zu
tiltrirenden Wasser angepasste massige Filtrationsgeschwindigkeit zu sichern.
§ 9. Jedes einzelne Filter soll für sich regulirbar und in Bezug auf Durchfluss,
Ueberdruck und Beschaffenheit des Filtrats controlirbar sein ; auch soll es für sich vollständig
entleert , sowie nach jeder Reinigung von nuten mit flltrirtem Wasser bis zur Sandoberfläche
angefüllt werden können.
§ 10. Die Filtrationsgeschwindigkeit soll in jedem einzelnen Filter unter den für
die Filtration jeweils günstigsten Bedingungen eingestellt werden können und eine möglichst
gleichmässige und vor plötzlichen Schwankungen oder Unterbrechungen gesicherte sein. Zu
diesem Behufe sollen namentlich die normalen Schwankungen , welche der nach den verschie-
denen Tageszeiten wechselnde Verbrauch verursacht, durch Reservoire möglichst ausge-
glichen werden.
§ 11. Die Filter sollen so angelegt fein . dass ihre Wirkung durch den veränder-
lichen Wasserstand im Reinwasseibehälter oder -Schacht nicht beeinflusst wird.
§ 12. Der Filtrationsüberdruck darf nie so gross werden, dass Durchbrüche der
obersten Filtriracbicbt eintreten können. Die Grenze, bis zu welcher der Ueberdruck ohne
Beeinträchtigung des Filtrats gesteigert werden darf, ist lür jedes Werk durch haktet iologische
Untersuchm gen zu ermitteln.
§ 13. Die Filier sollen derartig ennstruirt sein, dass jeder Theil der Fläche eines
jeden Filters möglichst gleichmassig wirkt.
§ 14. Wände und Böden der Filter sollen wasserdicht hergestellt sein, und nament-
lich roll die Gefahr einer mittelbaren Verbindung oder Undichtigkeit, dureh welche das
unflltrirte Wasser anf dem Filter in die Reinwassercanäle gelangen könnte, ausgeschlossen sein.
Zu diesem Zwecke ist insbesondere auf eine wasserdichte Herstellung nnd Erhaltung der Luft
schlauche der Reinwassercanäle zu achten.
WASSEBGEWINSCNG.
OSO
4 15. Die Stärke der Fznöwhiiht »dl mindesten- so beträchtlich ««3. far-
selbe dorch die Beiniiicrzen niemals auf weniger »1* aof 30 Cm. verringert wird. Es ernpd-a T
«ich, die-e niedrigste Greczzuhl. tofern es der Betrieb irgend gestattet, z« erhöhe«
Besonderes Gesricbt ist darauf an legen . dass die obere Filtrirsrhicht in - ’ ser für
die Filtration möglichst günstigen Beschaffenheit berge-teilt und dauernd erfeal'en wird ka-r-
für ist es zweckmässig, vor jeder frischen Saadaoffollang nach B sertigtmg der alten S( tlaacai-
schicht die unmittelbar darunter befindliche dhnne Schiebt gefärbten Sandes abrtiet.es
demnächst auf die durch Aüllulinng ergänzte Sandflache aufzubringen.
4 16. Es ist erwünscht, dass von sammtlichen Sandfittcrwrrfcen im Iswr-chcs Beicit
Uber die Belriebeergebnieae . namentlich über die bakteriologische Beschaffenheit des Wassers
vor und nac h der Filtration dem Kaiserlichen Gesundheitsamte. welches sich Uber diese Frage
in dauernder Verbindung mit des seitens der Filtertecbniker gewählten Commissi«« halten
wird, vierteljährlich Mittbeilong gemacht wird, um bei einer ernenten Besprechung nach Ab-
lauf von etwa zwei Jahren geeignetes Material zur Beurtbeilcug zu besitzen. Der erstg.s trsn
Einsendung ist tbnnlichst eine Beschreibung des Werkes i«izutügen.
Der gefährlichste Zustand der Keimausstrcuung scheint vorznlit-gen.
wenn ein Wasserleitungssystem die Cbolerakeime in sich aufgenommen und sein
Inhalt die Eigenheit hat, zur reichlichen Keimvermehrung die theils bekannten,
tbeils noch unbekannten Grundlagen darzubieten.
Die Verunreinigung des in dem Rohrsystem gefassten Wassers durch
unbeabsichtigte Zuflüsse. — Kein Material, aus welchem Wasserrohre
gefertigt werden, bietet Sicherheit gegen Löcherig- und Cudiehtwerden. Während
für die meisten Fälle die Bedeutung des Vorganges mehr für die Wasserversch Wen-
dung in Frage kommt, also eine untergeordnete ist, gewinnt derselbe ein ganz
anderes Ansehen , wenn die nnbekannte Lücke im Wasserrohrsystem ein Z n-
strömen äusserer Flüssigkeit und Vermengung solcher mit dem „Reinwasser*
ermöglicht, was unler bekannten physikalischen Bedingungen im spitzem Winkel
convergirende Richtung beider Ströme) seiir wohl Vorkommen kann.
I)cr Wasrergtwinnong mittels Tiefbrunnen, wie sie — wegen der Krimfreit, eit
iles zu erbohrenden Wassers — auch praktisch mehr und mehr in Oen Vorder* rund tritt.
Iiercitet in vielen Gegenden die massige Anwesenheit von Eisensalzen grosse Schwierigkeiten.
Biese Salze schlagen sich bei längerem Stehen des Wassers als Eisenoxyd nieder.
Hierdurch wird das Wasser trübe, unansehnlich, und eignet sich auch für manche wirtbscbaft-
liche Zwecke nicht. Noch bedenklicher wird diese Verunreinigung dadurch, dass sich in der-
artigem Wasser leicht Algeo, besonders die Crenotbrix, ansiedeln und durch ihr Wuchern die
I.eitiingi-n verstopfen, sowie daB " asscr weiter verschlechtern. Versuche mit blosser Durchlüftung
erwiesen sich bezüglich des Eisengehaltes als unzureichend. Vom Jahre 1 893 wurde daher | Ver-
fahren des Oberingenieora Piefke) das in der Nähe von Berlin und Charlottenbnrg aus Tief-
brunnen gewonnene Quellenwasser dureli Maschinen auf Siebe gehoben, um vondortauf eine .1 Meter
hohe f.'oak sschicht zu rieseln. Hierbei scheidet sicu das Eisen durch die dauernde Heruhrnng
des Wassers mit der Luft aus. Nachher geht das so enteisnete Wasser dann in die SandtUter.
Nach langem Kampfe, in welchen — was deutsche Verhältnisse betrifft
— fast alle grossstädtischen Gemeinwesen wälirend der jüngst vergangenen
Jahrzehnte hineingezogen wurden, darf als der siegreiche Gedanke auf dem Ge-
biete der Wasserverunreinigung der bezeichnet worden, dass für jede topo-
graphische Individualität der besondere Modus ermittelt werden muss, unter dessen
technisch vollkommenster Anwendung Abfallstoflc flüssiger wie fester Natur am
raschesten ausser Bereich grösserer Wohuungscomplexe gesehafl't werden, ohne
an ihrem Bestimmungsort zur Entfaltung schädlicher Wirkungen neue Gelegenheit
zu erhalten.
So die theoretisch gewiss berechtigte Anforderung. Sehr schwierig hat
es sich indess erwiesen, die verschiedenen, oft rein arbiträren Gesichtspunkte zu
einer Grundansicht, von der das öffentliche Wasscrrccht nach dieser
Seite ansgehen könnte, zu vereinigen. Ergiebt sich doch bis zur Stunde selbst
für die Urtheilsschöpfung im Privatrecht ein sehr unsicherer Standpunkt.
Der unterhalb liegende Uferbewohner wird sich diejenigen Einleitungen in
den Fluss gefallen lassen müssen, welche das Haas des „Gemeinübliclien“ nicht
überschreiten, möge die Zuleitung in einer Vermehrung der Wassermasse oder
in fremden Beimengungen bestehen, wobei es noch nicht einen berechtigen Ein-
spruch begründet, wenn die absolute Verwendbarkeit des ihm zufliessenden Wassers
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WASSERGEWINN UNG.
681
zu jedem beliebigen Gebrauche eine Beeinträchtigung erfährt. Dagegen hebt die
Berechtigung zum Einspruch an, wenn das „Mass des GemeinüblichenM überschritten
wird ; dies ist eine Bedingung, die leichter erkennbar ist bei der quantitativen
Seite (Flussaustretung) als bei der qualitativen (Einleitung von Stoffen , welche
eine Schädigung des Untenliegenden bedingen). Da dem L' n t e n liegenden der
Nachweis der Eigenthumsschädigung nach sonst geläufigen Rechtsnormen obliegt,
kann diese sehr erhebliche Grenzen erreicht und überschritten haben, ehe das
„ Beschädigtsein“ zu einem Erkenntniss und zur Abstellung führt.
Noch ungleich misslicher aber steht infolge so arbiträrer
Massstäbe wie des „Gemeinüblichen“, der „Schädigung“ und bei der
ungemeinen Divergenz der Abhi Ifevorschläge die Sanitätspolizei und
die Gesetzgebung da.
Denn das Gesundheitswesen wie das Steuerwesen hat vom Wasser als
einem Getränk (Nahrungsmittel) bis jetzt völlig abstrahirt und sieht als „Getränke“
nur die künstlich bereiteten an — wohl aus dem stillschweigend überall ange-
nommenen Grunde, weil die Möglichkeit des Verderbens, der Verfälschung, der
Minderwertigkeit im gesundheitlichen Sinne bislang nur den bereiteten und zum
Kauf feilgehaltenen Getränken zuerkannt wurde.
Es erscheint jedoch fraglich, ob diese Anschauung sich der Gewinnungs-
art des Wassers — noch mehr, ob sie sich der Art, wie das gewonnene zu
Reinwasser umgewandelt, wie es bei der Filtration bearbeitet, verarbeitet, sicht-
lich auf künstliche Weise bereitet wird, gegenüber halten kann.
Wenn nicht Verfälschungen, so sind doch zum Verderben und zur
Minderwerthigkeit führende Thätigkeitcn oder Unterlassungen sicher mit in Be-
tracht zu ziehen, wofür die nachstehende compendiöse Darstellung der thatsäch-
liehen Verhältnisse spricht.
Dass die Schweiz schon wegen der Hinstellung eines einfachen Zweckes (des
Fischzuchtschutzes) mit ihrem Bundesgesetz vom |H. Juli 1886 einen Erfolg versprechenden
Weg verfolgt, muss zugegeben werden. Doch liegt es andererseits wohl in der Eigenart der
dortigen Ströme, dass der Schutz der Gesundheitsinteressen vorläufig nicht so dringend schien
und in vorbildlicher Weise dürfte jenes Gesetz deshalb weniger seinem materiellen Inhalt
nach als bezüglich seiner Ausführung liinzustellen sein. Diese fusst nämlich auf dem Vor-
gehen der wirklichen Sachverständigen (bei der Zweckbegrenzung ausschliesslich Chemiker)
nnd schliesst sonach jene Missgriffe, welche von Verwaltungsorganen leicht bei der Schwierig-
keit der Fragestellung und der Abhilfe begangen we den, ans.
Auch Baden, was deshalb noch hier angeschlossen sein mag. geht zunächst nur
darauf aus, seine fischreichen Flüsschen nnd Flüsse vor bezüglichen Verunreinigungen zu
schützen und hat diesen l»cgrenzten Zweck (durch eine ministerielle Verfügung) scharf ge-
fasst; die Erfolge erscheinen auch liier einstweilen zufriedenstellend.
Ö esierreich ’s neuestes Wasserversorgungsgesetz (vom 5. August 1892 für Dal-
matien) streift die Frage der Flussverunreinigungen nur obenhin und bedarf nur hinsichtlich
der Enteignung von Privat wassern und der angeordneten Control berichte besonderer Erwähnung.
In England droht das betreffende (nach (»jähriger Vorarbeit erlassene) Gesetz von
1876 hohe Strafen an gegen die Einleitung von Abwässern, welche gewisse Stoffe über eine
ganz bestimmte Menge hinaus enthalten. Die Industrie wies eine ihr durch die Strafen zu-
gelügte, unverhalumsmässig gross erscheinende Hinderung und Schädigung nach — und bereits
1886 erging das neue Gesetz, welche.-' die Einleitung auch verunreinigter Wässer in die Fluss-
laufe gestattet, sofern nur gewisse Grenzzahlen der verunreinigenden Muffe nicht überschritten
sind, die je nach den Gebrauchszwecken des Flusses berechnet und festgesetzt werden.
Frankreich hat zwar in der Theorie den Weg der gesetzlichen Regelung und
verfügt in sanitätspolizeilicher Hinsicht auf dem Papier über eine Menge von Sch utzm assregeln
und prophylaktische n Bestimmungen. Wie sehr indess die Anwendung und Ausführung
dieser Gesetzesvorschriften (deren nähere Erörterung deshalb auch hier erübrigt) Im Argen
liegt, lehrt die Geschichte der Seineverunreinigung und ein Blick auf die ebenso verzweifelten
wie vergebens gebliebenen Anstrengungen, welche die untenliegenden Ortschaften gegenüber
den aus Paris sie überfiuthenden Verunreinigungen gemacht haben.
Für p re uss i sc h e Verhältnisse ist von Interesse, dass die Minister für Landwirt-
schaft und für öflentliche Arbeiten soeben (Januar 189-4) einen „Entwurf eines Preussischen
Was.*ei rechtes sammt Begründung“ Berlin 1894 der Oeffentlichkeit unterbreiten, welcher das
öffentliche nnd private Wasaerretht einschliesslich der Beliördenorganisation zusa m men fasst ;
ursprünglich bestimmt die Allerhöchste Cabinetsordre vom 24. Februar 1816, betreffend die Verun-
reinigung der schiff- und fiossbaren Flüsse und Canäle wörtlich Folgendes:
682
WASSERGEWINNUNG.
„Auf Ihren Bericht vom 18. d. M. setze Ich, zur Verhütung der Verunreinigung
der schiff* und flossbaren Flosse und Canäle, hierdurch fest, dass . . . überhaupt Niemand,
der sich eines Flusses zu seinem Gewerbe bedient, Abgänge in solchen Massen in den
Fluss werfen darf, dass derselbe dadurch, nach dem Unheile der Provinzialpolizeibehörde,
erheblich verunreinigt werden kann/
Zur Zeit exbtiren zwar als auf den Gegenstand Bezug habend Vorschriften der
Gewerbeordnung und baupolizeiliche Vorschriften in ziemlicher Anzahl ; aber als allgemeine
Directiven tür die zuständigen Behörden (die Bez i rk s regier ungen) nur die bezüglichen
Rechtsgrundsätze und jene ministeriellen Erlässe, die sich auf die Gutachten der .Wissen-
schaftlichen Deputation für das Medicinalwesen** beim Ministerium der Medicinalangtdegen-
heiten gründeten. Die weiteren Pflichten der Verwaltungsbehörden in dieser Beziehung sind in
einem Urtheile des Oberverwaltungsgerichtes vom 15. April 1884 des Näheren ausgefubrt:
.Die öffentlichen Ströme sind in allen ihren drei integrirenden Bestandteilen — dem Wasser,
dem Bette nnd dem Ufer — der Fürsorge nicht der Ortspolizeibehörde, sondern der Landes-
polizeibehörde unterstellt, und zwar besteht die Zuständigkeit der letzteren überall da,
wo es sich überhaupt darum handelt, den Strom in einer polizeilich zu überwachenden, durch
das öffentliche Interesse erforderten Verfassung zu erhalten. Nicht nur die Sicherheit und
Bequemlichkeit der Schifffahrt gehört hiernach dem Gebiet der Lande-polizei an, sondern . . .
gerade auch die Ueberwachungderöffentlichen Ströme in sanitärer Beziehung,
die Fcrnhaltung jeder dem Publicum nachtheiligen Verunreinigung nnd anderseits die
Bestimmung über die Benutzung öffentlicher Ströme zur Aufnahme unreiner Abflüsse
fallen in den Kreis der Rechte und Pflichten der Landespolizeibehörde/
Auch im Königreiche Sachsen, wo — wie bereits hervorgehoben — ausserordent-
lich gründliche locale Vorarbeiten zur Verfügung standen, enthalten das Wichtigste die Be-
stimmungen, durch welche die betreffenden Behörden angewiesen werden, in vorbeugender
Weise zu wirken. Genauere und für jeden Fall zutreffende Charakteristiken nnd Merk-
male, nach welchen die Flussverunreinigung als solche unzweifelhaft vorhanden declarirt wird,
hat inan auch hier seitens der Centralbehörde zu geben noch unterlassen. Jedoch sichert hier
das Bestehen einer bezüglichen „Technischen Deputation* innerhalb der obersten I.andes-
verwaltungsbehörde (welche die Recnrsinstanz bildet) jedenfalls eine gewisse Einheitlichkeit
wenigstens in der Durchführung der Verordnungen.
In eiuem noch zu schaffenden deutschen Waasenrerkrecht würde einen Haupt-
punkt bilden müssen die Frage nach der — für die Vergunst der Entnahme aus öffentliches
Kntnahniestellen doch unbedingt zu verlangenden — G ege nleistu ng der Wasserwerke,
nach der t^uAntitat and Qualität des Wassers, ferner jener Fragepunkt, ob man nicht die Er-
aeugnngsproducte der Wasserwerke demnächst dem Nahrungsmittelgesets zu unterstellen kabeai
werde, auch die Frage, ob die Wasserwerke nicht zu den nach § Itj der Gewerbeordnung re-
tiehmigungspflichtigen Anlagen zu rechnen seien. Hiermit in Zusammenhang ist auch die
Schwierigkeit zu erwähnen, die bei der Eriaubniss zur Entnahme aus öffentlichen Wimtsm
hervorxutreten beginnt.
Es liegt auf der Hand, dass durch eine zu freigebige Verfügung über di«
Wasserschätze der öffentlichen Gewässer die Interessen der Schifffahrt beeinträch-
tigt und die auf Hebung der letzteren gerichteten Bestrebungen der Staatsregiemng in ihre«
Erfolge gefährdet werden können. Das Gleiche gilt für die landwirthschaftlichen Interesses,
und wenn auch vorausgesetzt werden kann, dass bei Ertheilung der Genehmigung xn seoez
Wasserentnahmen die Frage, ob dadurch den bereits verliehenen Rechten Eintrag ge-
schehen wurde, schon bisher sorgfältig geprüft ist. so ist doch auch zu beachten, dass durch
solche Verleihung für die Zukunft die Möglichkeit zu einer Nutzbarmachung des Wasser*
für wichtigere Zwecke in Frage gestellt werden kann. Man wird aas diesem Grwdi mit 4«r
Gestattung von Wasserentnahmen nicht bis zur Grenze des gegenwärtig Zulässig« gehen
Von allen Seiten drängen sieh Ueberginge *of zur Vcrbcawug der
Rechtsnormen , unter denen die Wasserwerke zu arbeiten genöfhigt sind. X«
kann kaum weiter fortschreiten ohne jede Richtschnur über probegütige Liefe-
rungen des Products auf der einen, — nnd über das. was dem Abnehmer mmf
zuerlesen wäre, auf der anderen Seite. Dazu tritt schliesslich noch die ausserordent-
liche Unsicherheit in Bezug auf die sogenannte „Verseuchung“ oder Verse ach t-
Iteit der Öffentlichen Wässer.
Ks ist keine gleicbgiltige Sache, wenn in den Umgebungen einer Gro**-
stadt sämmtiiehe Wasserverso rgungsstellen plötzlich, gleichsam durch eia Ma*räs
wort, als ..ver-eucht ~ bezeichnet werden.
Literatur T a t er $ uc h u n r e a auf Triak wa»*«r- ü a r«iaigk«it# w. —
Schu*cknig u. v. Feder Ciirin« Triakwwmr Areb. f. Hrnw. III. — Grakx Ch*-
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6S8
Seite
Spartein, bei Morphiuraentziehung . . . 580
Spastische S^inalparalyse, s. Myelitis . . 580
Speciali täten, s. Gebeinjm ittel 580
Spinalpunction, s. Lnmbalpunction . . . 580
Stickhusten, Behandlung mit Inhalationen 580
Stramoniutp, 8. Inhalationstherapie . . . 580
ätreptokokkenserum 580
Stypticin 581
Subconjunctivale Injectionen von Medica*
menten, s. Augenheilmittel 582
Suggestion . 582
Sulfate bei Carboivergiftung 594
Syphiliscontagium 594
Syringomyelie 603
Tannin zu Inhalationen 644
Ta »no form 644
Taubstumme ... 644
Tetanus 644
Thermalbad .r, 8. Bäder 65?
«• Seile
Thiergifte 657
Thioform, s. Angenheilmitiel 658
Thyrojodin 658
Trichophyton, s. Dermatomykosen . . . 660
Tuberkulose • 660
Typhusbacillus, s. Abdominaltyphus . . 660
Urobilin, s. Harn 661
Uropherinum salicvlicum . . .' . . . .661
Urotropin .661
Vagina . . 662
Veratrol 674
Wabain, s. Ouabain 676
Wasserdampf 676
Wassergewinnnng 676
Wochenlluss, s. Lochien 685
Xanthinbasen, s. Harn • 685
Zuckerbestimmung, im Harn 685
Zungenspatel, s. Autoskopie der Luftwege 685
Zurechnungsfähigkeit, der Morphinisten . 685
Dcuirlt von Göttlich OUtd & Comp, in Wien.
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*
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LANE MEDICAL LIBRARY
To avold fine, tbis book should be relurned
on or before the date last stamped below.
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