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Full text of "Encyclopädische Jahrbücher der gesammten Heilkunde"

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Encyclopadische  Jahrbücher 
dergesammten  Heilkunde 


IL^yjajEj 


»B 

Zbe  Society  of  tbe  Hew  J?orh  Ibospital, 
flDarcb,  1898. 


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REAL-ENCYCLOPÄDIE 

DER 

GESAMMTEN  HEILKUNDE. 


ACHTUNDZWANZIGSTER  BAND. 


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REAL-ENCYCLOPÄDIE 

DER 

GESAMMTEN  HEILKUNDE 

MEDICINISCH-CHIRURGISCHES 

HANDWÖRTERBUCH 

FÜR  PRAKTISCHE  ÄRZTE. 

HERAUSGEGEBEN 

»on 

PROF.  DR-  ALBERT  EÜLENBURG 

in  BERLIN. 

Mit  zahlreictien  Illustrationen  ln  Holzschnitt. 

Zweite,  umgearheitete  und  vermehrte  A u finge. 
ACHTUNDZWANZIGSTER  BAND. 

WIEN  und  LEIPZIG. 

Urban  & Schwarzenberg. 

185*6 


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H |- 

ENCYCLOPÄDISCHE  JAHRBÜCHER 

DF.n 

GESÄUMTEN  HEILKUNDE 


UNTER  MITWIRKUNG  DER  HERREN 

Hofrath  Prof.  ALBERT.  Wien  - San  -R  Em.  AUFRECHT,  Magdehnrg  - Prof.  A.  BAGIN8KY. 
Berlin  — Doc.  B.  BAGINSKY.  Berlin  - Prof.  Einll  BALLO  WITZ.  Greifswald  - Prof  K.  von  BARDE- 
LEBEN. Jena  — Doc.  G.  BEHRKXD.  Berlin  — Geh.  Med. -Rath  Prof.  BEHRING,  Marburg  — D*\ 
B.  BENDIX.  Berlin  - Prof  BENEDIKT,  Wien  - Prof.  BINSWANGER,  Jena  - Geh.  Med.-R. 
Prof.  BIRCH-H  IRSCH  FELD.  Leipzig  — Dr.  Max.  BRESGEX,  Frankfurt  a.  M.  --  Dr.  Ludwig  BRUNS, 
Hannover  — Dr.  A.  BUM,  Wien  — Med.  u phil.  Dr  V.  G.  RUSCH  AN,  Stettin  — Doc.  L.  CASPF.R, 
Berlin  — Prof.  E.  v.  DÜRING,  Conatantinopel  — Prof.  EICHHORST,  Zürich  — Prof.  ENGLISCH, 
Wien  — Prof.  EWALD,  Berlin  — Dr.  Edmund  FRIEDRICH,  Dresden  — Med  -Rath  Prof.  FÜR- 
BRINGER, Berlin  - Prof.  GA D.  Prag  - Prof.  A ÜOLPSCHKIDER.  Berlin  - Doc.  C.  GÜNTHER, 
Berlin  — Dr  H.  GUTZMANN.  Berlin  — Prof.  Tb.  HUSKMANN,  Güttingen  - Prof.  v.  JAKSCH, 
Prag  - San  Rath  JASTROWITZ,  Berlin  - Doc.  H.  KIONKA,  Breslau  Dr.  KTRCHHOFF,  Berlin  - 
Dr.  A.  KIRSTE1N,  Berlin  - Med.  Rath  Prof  KISCH.  Marienbad-Prae  — Prof.  KLEINWACHTKR, 
Czernowitz  — Doc.  A.  KNORR,  Marburg  — Staatamth  Prof  R ROBERT.  Dorpat  — Prof.  KOCHS, 
Bonn  — O.-St.-A.  Prof.  A.  KÖHLER,  Berlin  — San.  Rath  W.  KÖRTE,  Berlin  — Stabsarzt  KOHLSTOCK. 
Berlin  - Prof.  J KRATTER.  Graz  - Dr.  A.  KUTTNER.  Berlin  - Dr.  K.  LANDAU  Franken- 
berg i.  S.  - Geh.  Med.-R.  Prof.  G.  LEWIN,  Berlin  - Geh  Med.-R.  Prof.  LIEBREICH. Berlin  — Prof. 
LITTEN,  Berlin  - Prof.  JXEBISCH,  Innebruck  - Prof.  LORENZ.  Wien  - Prof.  A.  MARTIN,  Berlin  - 
Doc.  M MENDELSOHN  Berlin  - Doc.  v.  METNITZ,  Wien  — Dr.  G.  MEYER,  Berlin  — Prof.  Im. 
MUNK.  Berlin  - Doc.  NF.UBER,  Kiel  - Dr  V.  NEUBURGER,  Wien  - Prof.  POSNRR,  Berlin  - 
Hofr.  Prof.  PRF.YKR . Wiesbaden  - Dr.  REHFISCH,  Berlin  — Prof.  v.  REUSS.  Wien  - Prof. 
RIBKKRT,  Zürich  - San.  R Prof.  L.  RIKSS , Berlin  - Prof.  ROSENBACH,  Berlin  - Doc.  Th. 
ROSENHEIM,  Berlin  - Dr.  ROSIN,  Berlin  - Prof  Wilh.  ROUX,  Halle  - Prof  SaMUKL, 
Königsberg  - Prof.  Fr.  SCH AUTA.  Wien  - Dr  S H SCHEIBER,  Bodapeat  — Dr.  H.  SCHÖNHEIMEK. 
Berlin  - Dr.  Freiherr  v SCHEKNCK-NOTZIXG.  München  - Dr  Jul.  SCHWALBE,  Berlin  - Prof. 
SKELIGMÜLLER.  Halle  a.  d.  S.  - Prof  SONNENBURG,  Berlin  - Oberstabsarzt  SPERLING, 
Berlin  Doc.  STEINER  Freih  v.  PFUNGEN.  Wien  — Dr.  UNNA,  Hamburg  - Mod.-Rath  Prof. 
K.  UN  VERRICHT,  Sodenburg-Magdebnrg  — Prof.  J.  VEIT,  Leiden  — Dr  A.  WASSERMANN, 
Berlin  — Director  WERNER.  Dwitiak  (Posen)  - Well  Reg  - und  Med  Rath  WKRNICH.  Berlin  — 
Kai«  Rath.  Prof  WINTERNITZ,  Wien  - Prof.  Jul.  WOLFF.  Berlin  - Slahearzt  a.  D.  WOLZKN- 
DORFF,  Wiesbaden  - Doc.  M.  v.  ZEISSL,  Wien  - Prof.  ZIEHEN,  Jena 

V * ' ‘itERAflSGECPBBE*  ‘ 

VON 

PROF.  DR  ALBERT  EULENBURG 

IN  BERLIN,  W.,  LICHTEN  STEIN -ALLEE  -t 


Sechster  Jahrf/ang 


Mit  zahlreichen  Illustrationen  In  Holzschnitt  und  einer  Farbendrucktafel 


WIEN  und  LEIPZIG 

Urban  & Schwarzenberg 

1896. 


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Nachdruck  der  in  diesem  Werke  enthaltenen  Artikel,  sowie  Uebersetsung 
derselben  in  fremde  Sprachen  ist  nur  mit  Bewilligung  der  Verleger 

gestattet. 


Notiz  für  den  Buchbinder, 

Die  Farbendrucktafel  zum  Artikel  „ Inijutii/n * ist  zwischen  Seite  27'2  und 
273  dieses  Bandes  einzuschalten. 


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Abdominaltyphus.  Was  wir  in  unserem  vierten  Nachtrags  (Real- 
Encyklopädie,  2.  Aufi.,  XXVII,  pag.  1 — 7,  beziehungsweise  Encyklopädische  Jahr- 
bücher, 5.  Jahrgang)  über  die  Fortschritte  der  Pathologie  und  Therapie  des 
Typhus  geurtheilt,  gilt  in  den  wesentlichsten  Punkten  auch  von  den  neuesten 
Darbietungen  der  einschlägigen  Literatur.  Insbesondere  ist  von  einer  neuen  Aera 
der  Therapie  nach  berühmten  Mustern  noch  keine  Rede. 

Wir  beschränken  uns  in  nachfolgender  Darstellung  der  Hauptsache  nach 
auf  das,  was  das  ln-  und  Ausland  den  Interessen  des  Praktikers  geboten,  und 
künnen  uns  somit  kurz  fassen. 

Aetiologie.  Dem  in  neuerer  Zeit  immer  mehr  in's  Publicum  getragenen 
Argwohn,  der  Genuss  von  Austern  vermittle  in  nicht  wenigen  Fällen  die 
Uebertragnng  der  Krankheit,  ist  man  endlich  durch  bakteriologische  Prüfung 
der  vielgenossenen  Delicatesse  näher  getreten.  Es  gelang  dem  Späher,  Footk, 
indessen  niemals,  den  Typhusbacillus  im  Safte  frischer  Austern  zu  finden.  Aengst- 
liche  Gemüt  her  dürften  von  dieser  Thatsache  immerhin,  trotz  der  durch  die 
„positiven“  Fälle  BRUAnnF.NT’s  erregten  Bedenken,  einige  Beruhigung  davon- 
tragen. Dass  übrigens  der  Schutz,  welchen  die  Salzsäure  des  Mageninhaltes  vor 
dem  Eindringen  des  Typhusbacillus  gewähren  kann,  ein  ziemlich  unsicherer  ist, 
hat  Stkkx  durch  neueste  bakteriologische  Versuche  über  das  Verhalten  des 
Krankheitskeimes  zum  Magensaft  plausibel  gemacht.  Derselbe  Autor  findet  bei 
»einen  Untersuchungen  Uber  die  Fortpfianzungsbedingungen  der  Typhusbacillen 
bei  erhöhten  Temperaturen,  dass  zur  Abtödtung  nicht  einmal  ein  langer  Auf- 
enthalt in  einer  Temperatur  von  42°  genügt.  Das  spricht  gegen  die  Annahme, 
dass  die  Fieberhitze  als  solche  eine  zweckmässige  Vertheidigung  des  Organismus 
gegenüber  dem  Typhuspilz  darstellt. 

Aus  den  Untersuchungen  Franklaxd’s  über  das  Verhalten  des  Typlius- 
barillus  und  des  Bacterium  coli  commune  heben  wir  heraus,  dass  beide 
Bacillenarten,  welche  sich  im  Therasewasser  25 , beziehungsweise  40  Tage  lang 
nach  der  Impfung  lebensfähig  erhielten,  bei  der  Filtration  durch  poröses  Porzellan 
bereits  nach  12  Tagen  nicht  mehr  nachweisbar  waren.  Eine  eigenartige  Bezie- 
hung zu  gewissen , den  Nährböden  zugefUgten  Farbstoffen  legt  MarpmaNN 
seiner  Unterscheidung  der  genannten  Bakterienarten  zu  Grunde.  Wurde  durch 
Natriumbisulfit  entfärbtes  Fuchsin  oder  Malachitgrün  benutzt , so  wuchs  der 
Typhusbacillus  in  Folge  von  Aldehydbildung  roth  oder  grün , während  der 
Bacillu e coli  farblos  blieb.  Mittheilungen  Uber  die  praktische  Verwendbarkeit 
dieser  immerhin  nicht  mühelosen  Diffcrenzirung  liegen  wohl  noch  nicht  vor.  Hin- 
gegen scheint  es,  als  ob  die  bakteriologische  Schnelldiagnose  von  Elsxer,  die 
auch  Bhif.gkr  und  Lazarus  bewährt  fanden,  bei  einem  nicht  kleinen  Contingent 
iy jyHicher.  VI.  1 

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ABDOMINALTYPHUS. 


von  Aerzten,  zumal  von  Krankenhäusern,  sich  einbürgern  dürfte.  Zusatz  von 
Jodkalinm  zu  saurer  Kartoffelgelatine  bewirkt  nämlich,  dass  das  elective  Wachs- 
thum der  beiden  Mikroorganismen,  mögen  sie  sich  in  Entleerungen  oder  sonstigen 
Bakteriengemischen  finden,  sich  recht  verschieden  gestaltet:  im  Gegensatz 

zum  Bacterium  coli  bleiben  die  Typhuskeime  derart  zurück , dass  sie  nach 
24  Stunden  noch  kaum  sichtbar  sind,  während  das  erstere  bereits  ausgewachsene 
Colonien  gebildet  hat.  Nach  48  Stunden  erscheinen  diese  gross,  grob  granulirt, 
braun,  die  Typhuscolonien  klein  und  hellglänzend,  wie  Wassertröpfchen,  äusserst 
fein  granulirt.  Es  ist  dringend  zu  wünschen,  dass  diese  vielversprechende  Diffe- 
rentialdiagnose zunächst  in  Hospitälern  auf  ihre  Leistungsfähigkeit  in  praktischer 
Hinsicht  weiter  eingehend  geprüft  werde.  Bis  zur  Zeit  liegen  16  positive  Fälle 
vor.  Wir  glauben  an  dieser  Stelle  I törichten  zu  sollen,  dass  noch  in  neuester 
Zeit  Wathelet  bei  seinen  Untersuchungen  über  den  Antagonismus  der  Coli- 
bakterien  und  Typhusbacillen  ein  derartiges  Ueberwuchern  der  letzteren  eon- 
statirte,  dass  die  Colonien  auch  bei  ursprünglich  weit  überwiegender  Zahl  gar 
nicht  mehr  nachzuweisen  waren.  Ferner  wuchs  der  Typhuspilz  nicht  auf  Bouillon 
von  Coliculturen , während  das  Bacterium  coli  in  filtrirter  Typhusbouillon  ver- 
impft  gut  anging.  Desgleichen  schützte  nach  Untersuchungen  von  Fi  nck  das 
Serum  der  gegen  Typhusbacillen  immunisirten  Tliiere  nicht  gegen  die  Infection 
von  Bacterium  coli  und  umgekehrt  das  Serum  der  gegen  das  letztere  gefestigten 
Thiere  nicht  gegen  die  Typhusinfection. 

An  Stelle  des  Typhnsstuhles  benutzte  Thiemich  in  der  K.vsT'schen  Klinik 
das  Blut  zur  Züchtung  der  Typhusbacillen  und  fand  sie  bei  vier  unter  sieben 
Typhuskranken.  W right  und  8EMPLE  hinwiederum  weisen  auf  die  praktische 
Bedeutung  der  Fahndung  auf  die  Krankheitskeime  im  Harne  hin.  Unter  7 Fällen 
fanden  sie  hier  sechsmal  die  Typhusbacillen  , zum  Theil  in  überreicher  Menge. 

Der  Befund  von  Typhusbacillen  in  Eiterherden,  welche  sich  im 
Verlauf  der  Krankheit  entwickeln,  ist  wiederholt  erhoben  worden,  u.  A.  von 
Martin  und  Robertson  in  einem  Handgelenksabscess,  von  Janowski  bei  einer 
eomplicireuden  Parotitis.  Freund  und  Levy  vermochten  die  Krankheitspilze  in 
der  Milz  und  dem  Blute  einer  von  der  typhösen  Mutter  ansgestossenen  Frncht 
bei  intactem  Darm,  desgleichen  in  der  Placenta  zu  finden. 

Die  specielle  Klinik  unserer  Krankheit  betreffend,  erwähnen  wir  einen 
von  Roth  beobachteten  Fall  von  „Nephrotyphus“,  der  mit  pvelitischen  Sym- 
ptomen begann  und  die  nephritischcn  Erscheinungen  in  den  Vordergrund  stellte. 

Indem  wir  die  Beobachtungen  von  Noma  mit  Ausgang  in  Heilung 
(Bkwley),  von  Stimmbandlähmung  (Boulay  und  Mendel),  von  plötzlichem  Exitus 
mit  dem  Sectionsbefnnde  einer  Myokardfragmentation  (Hobbs),  von  Gallenblasen- 
empyem mit  Heilung  auf  operativem  Wege  (Monier-Williams  und  Sheild)  nur 
kurz  anführen,  glauben  wir  der  Kundgebung  von  zwei  Fällen  typhöser  Extremi- 
tätengangrän näher  gedenken  zu  sollen.  Dieselben  stammen  von  Quervain  und 
DUCHKSNK.  Der  erstgenannte  Autor  constatirte  den  Beginn  der  Gangrän  des 
rechten  Beines  eines  25jährigen  Typhösen  in  der  vierten  Woche  der  Krankheit. 
Kein  Anhaltspunkt  für  Endokarditis.  Arterien  von  der  Knieschlagader  an  pulslos. 
Zwei  Wochen  später  Amputation  im  Oberschenkel.  Die  Arteria  poplitea  erwies 
sich  durch  einen  ziemlich  festen , aber  etwas  locker  sitzenden , rothen , kaum 
geschichteten  Thrombus  ausgefüllt,  der  tief  herab  in  die  Unterschenkeläste 
reichte.  In  der  Umgebung  lediglich  Typhusbacillen.  Also  nach  des  Verfassers 
Meinung  keine  Mischinfection , auch  keine  marantische  oder  toxische  Thrombose, 
sondern  eine  direct  infectiöse,  d.  i.  durch  eine  Metastase  des  Typhusbacillus 
bedingte.  Im  DucHESXE’schen  Falle  entwickelte  sich  die  Gangrän  bei  einem  Mäd- 
chen mit  sehr  ausgeprägter  typhöser  Herzschwäche  im  Bereiche  beider  Fflsse  und 
stieg  schnell  aufwärts  in  die  Unterschenkel.  Im  Gegensatz  zu  Quervain  führt 
Mettler  in  einer  mehr  allgemeinen  Abhandlung  über  typhöse  Spontangangrän 
die  Verstopfung  der  Arterien  durch  thrombotisches  Material  in  der  Mehrzahl  der 


ABDOMINALTYPHUS. 


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Fälle  auf  eine  Arterienentzündung  durch  das  im  Körper,  beziehungsweise  Blut 
kreisende  gelöste  Typhusgift  zurück,  ohne  mechanische  Faetoren  zu  leugnen. 

An  die  Erfahrungen  verschiedener  Autoren,  dass  nicht  selten  Typhcn, 
welche  aus  dem  gleichen  Hause  stammen,  eine  auffallende  Identität  des  Verlaufes 
zeigen,  knüpft  Nauxyn  entsprechende  Bemerkungen  über  den  „Gruppentyphus“. 

Es  bedingen  insbesondere  Häufigkeit  und  Seltenheit  der  Recidire,  der  Charakter  des 
Pneumo-,  des  Kephrotyphus , der  häufige  und  seltene  Mangel  der  Roseola  die 
Verschiedenheit  des  Krankheitsbildes  je  nach  Zeit  und  Gegend.  Der  Autor  hat 
u.  A.  in  Strassburg  während  seiner  siebenjährigen  Thätigkeit  in  keinem  Typhus- 
falle die  Roseola  bestimmt  vermisst.  Dem  gegenüber  müssen  wir  für  Berlin  den 
Mangel  dieses  Symptomes  als  etwas  recht  Gewöhnliches  ansprechen.  Szokolow 
fand  gar  die  Roseola  in  581  Krankengeschichten  des  Elisabeth-Kinderkranken- 
hauses in  Petersburg  nur  in  10%  aller  Fälle  angegeben. 

Eine  Fülle  von  Beobachtungen  und  Betrachtungen,  welche  insbesondere 
die  Symptomatologie  betreffen,  aber  an  dieser  Stelle  unmöglich  Platz  finden  können, 
bergen  die  in  den  letzten  John  Hopkins  Hospital  Reports  niedergelegtcn  Studien 
von  Osler,  Bi.umer,  Flkxxkr , Rekd  und  Parsons.  Sie  betreffen  u.  A.  die 
typhöse  Pyämie,  die  sogenannten  lymphoiden  Knötchen  in  der  Leber,  die  Neuritis, 
die  posttyphösen  Knochenerkrankungen  und  die  Schüttelfröste  im  Verlaufe  der 
Krankheit. 

Rucksichtlich  der  Therapie  des  Typhus  ist  leider  von  den  sehr  bc- 
merkenswerthen  Bestrebungen  verschiedener  Autoren,  der  Welt  ein  antityphöses 
Heilserum  zu  bieten,  vorderhand  ein  annehmbarer  praktischer  Erfolg  nicht  zu 
verzeichnen.  Trotzdem  es  Klkmferek  und  Levy  glückte,  ein  Hundeblutserum 
durch  Einführung  von  Bakterienculturen  zu  gewinnen , das  andere  Thiere  gegen 
die  typhöse  Infection  schützte  und  selbst  nach  derselben  heilte,  war  bei  typhus- 
kranken Menschen  ein  besonderer  Einfluss  auf  den  Krank heitsverlauf  nicht  zu 
erkennen.  Auch  das  antitoxische  Hammelserum  von  Bkumkk  und  Peiper,  welches 
Mäuse  vor  der  letalen  Typhusdose  schützte  und  Meerschweinchen  in  hohem  Masse 
festigte , vermochte  auf  der  MosLER'schen  Klinik  annehmbare  Resultate  nicht 
zu  erzielen.  In  12  Fällen  beobachtete  Börger  Hmal  keinen,  4mal  einen  möglichen 
Einfluss.  Dieses  Ergebniss  schliesst  zwar  nach  der  Meinung  des  Vcrsuchsanstellers 
eine  Weiterverfolgung  der  Typhusserumfrage  nicht  aus,  lässt  es  aber  stark  ver- 
fehlt und  von  unberechenbaren  Folgen  für  die  gute  Sache  der  specifischen  Be- 
händ! ungsweisc  erscheinen,  wenn  schon  jetzt  das  Typhussorum  Allen  zugänglich 
gemacht  würde.  Auch  die  FuxcK’schen  Resultate  (s.  oben)  haben  zu  praktischen 
Consequenzen  noch  nicht  geführt.  Endlich  vermochte  auch  v.  Jaksch  von  der 
Einverleibung  von  Blutserum , das  er  Typhusconvalescenten  entnommen , einen 
deutlichen  Einfluss  nicht  zu  sehen,  jedenfalls  keinen  therapeutischen  Effect.  Stern 
kommt  auf  Grund  seiner  eigenen  Beobachtungen  zu  dem  Schlüsse,  dass  die  Im- 
munität der  vom  Typhus  geheilten  Menschen  nicht  auf  die  schützende  Wirkung 
ihres  Serums  zu  beziehen  ist,  vielmehr  auf  Veränderungen  der  Körperzellen  selbst, 
beziehungsweise  ihrer  Functionen  beruht. 

Die  von  uns  bereits  wiederholt  erwähnte  RuMPF’sche  Typhusbehandlung 
mit  abgetödteten  Culturen  des  Bacillus  pyocyaneus  eignet  sich  trotz  der 
nicht  ungünstigen  Ergebnisse,  zu  denen  Lambert  mit  ihr  gelangte,  nach  des 
Entdeckers  eigenem  Ausspruch  einstweilen  kaum  zu  einer  allgemeinen  Anwendung. 

Die  Fortsetzung  seiner  klinischen  Versuche  führte  zur  Annahme  einer  nicht  speci- 
fiseben  Beeinflussung,  sondern  einer  reizenden  Wirkung  der  Bakterienproducte 
mit  Anstieg  der  Menge  der  Leukocyten. 

Für  die  methodische  Bäderbehandlung  sprechen  sich  warm  Vooel 
und  Zinn  aus.  Ersterer  imputirt  ihr  das  günstige  Resultat  einer  Mortalität  von 
7%,  Letzterer  spricht  sie  in  seinem  Bericht  über  190  Typhusfälle  des  Nürn- 
berger Krankenhauses  in  ihrer  gemässigten  Form  als  die  zur  Zeit  beste  uud 
relativ  leistungsfähigste  Methode  an.  Calomel  wurde  regelmässig  im  Beginn  der 

1 * 

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ABDOMINALTYPHUS. 


Krankheit  und  bei  Recidiven , aber  ohne  besonderen  directen  Nutzen  gereicht. 
Auch  Dclles  zieht  nach  20jähriger  Erfahrung  kühlende  Abwaschungen  allen 
medicamentßseu  Antipyreticis  vor.  In  der  Cl'RSCHMAN'x’schen  Klinik  findet  nach 
den  Berichten  von  Bkkd  in  den  letzten  8 Jahren  eine  Behandlung  der  Typhus- 
kranken mit  lauwarmen  Bildern , beziehungsweise  kühlen  Uebergiessungen  statt, 
aber  nur  bei  ansgebreiteteren  Lnngenaffectionen  oder  stärkeren  Trübungen  des 
Bewusstseins.  Dabei  starben  von  1826  Typhösen  243,  also  nahezu  13%,  in  den 
einzelnen  Jahrgängen  7 — 18%.  Die  Mortalität  stieg  mit  dem  Lebensalter  und 
war  um  so  niedriger,  je  früher  die  Aufnahme  erfolgte. 

Wir  schlie«8cn  mit  der  Charakterisirung  des  Wcrthes  der  „inneren  Anti- 
sepsis“, beziehungsweise  Danndesinfection  nicht  durch  die  Empfehlungen  von 
Ouajacol  und  Chinin  (Mc  Cormick,  King)  , sondern  durch  die  sehr  beherzigena- 
werthen  Untersuchungen  Stkrx’S.  Er  führte  einen  Sapropbyten  von  charakteristi- 
schem Wachsthum  und  bekannter  Resistenz  gegen  Antiseptica,  den  Bacillus  pro- 
digiosus,  in  den  Darmcanal  ein  und  prüfte  sein  Verhalten  unter  der  Einwirkung 
von  innerlich  dargereichtem  Calomel,  Naphthalin,  Naphthol  und  Kampfer. 
Resultat:  Die  entleerten  Fäces  enthielten  stets  zahlreiche  lebende  Prodigiosuskeime! 
Die  mechanische  Entfernung  der  im  Darmcanal  vorhandenen  Infectionserreger, 
schliesst  Stkrn  , durch  Abführmittel  und  hohe  Eingiessungen  ist  sicherer  und 
gefahrloser  als  der  problematische  und  bei  Anwendung  hoher  Dosen  nicht  un- 
bedenkliche Versuch,  die  Bakterien  im  Darm  durch  Antiseptica  abzutödten.  Wir 
verweisen  auf  unsere  klinisch-bakteriologischen  Untersuchungen  zur  Würdigung 
der  Naphthalin-  und  Calomeltherapie  deB  Typhus  ans  dem  Jahre  1887  unter 
Zugrundelegung  eines  grösseren  Krankcnhausinateriales  (vergl.  dieses  Jahrbuch, 
Jahrgang  1888,  pag.  Stil  ff.).  Auch  Albu,  welcher  die  Eiweisszersetzung  im 
Darmcanal  unter  der  Darreichung  von  Naphthalin,  Benzonaphthnl  und  Phenolet'n 
stndirte,  fand,  dass  dasselbe  Resultat  mit  Abführmitteln  allein  ohne  diese  Auti- 
septica  erreicht  wurde,  also  die  Desinfection  des  Darmcanals  nur  von  der  Häufig- 
keit der  Darmentleernng  abhängig  zu  sein  schien. 

Mit  der  „Antisepsis  intestinale “ Bot'CHAKU’ä,  gegen  welche  wir  uns 
seit  10  Jahren  rUcksichtlich  der  Typhustherapie  mit  Nachdruck  gewandt,  scheint 
es  also  ein-  für  allemal  Nichts  zu  sein. 

Literatur  (kleinere  easuistische  Beiträge  nicht  erwähnt):  Albu,  Berliner  klin. 
Wochenschr.  1895,  Nr.  *14.  — Berg,  1).  Arch.  f.  klin.  Med.  1895,  LIV,  pag.  IG  1 - — Beutner 
und  Peiper,  Zeitsohr.  f.  klin.  Med.  1895.  XXVIII,  pag.  328.  — Blumer,  John  Hopkin’s 
Hosp.  Reports.  V.  Baltimore  1895-  — Börger,  Deutsche  med.  Wochenschr.  1896»  Nr.  9. — 
Brieger,  Berliner  klin.  Wochenschr.  1895,  Nr.  50.  — Broadbent.  Brit.  med.  Journ.  Januar 
1895.  — Duchenne,  M6d.  moderne.  1895.  Nr.  8.  — Dolles,  Med.  News.  December  1894. 
Elsner,  Zeit  sehr.  f.  Hygiene  und  Infectionskh.  1895,  XXI.  pag.  28.  — Flexner,  John 
Hopkin’s  Hosp.  Reports.  V.  Baltimore  1895.  — Foote,  Med.  New'«.  März  1895.  — Frank- 
land, Zeitschr.  f.  Hygiene  und  Infectionskh.  1895,  XIX.  — Freund  und  Levy,  Berliner 
klin.  Wochenschr.  1895,  Nr.  25.  — Funck,  Journ.  de  la  soc.  royale  des  Sciences  med.  et  nat. 
December  1894,  Nr.  48.  — v.  Jaksch,  Verhandl.  de«  13.  Congr.  f.  innere  Med.  Wiesbaden 
1895,  pag.  537.  — Klemperer  und  Levy,  Berliner  klin.  Wochenschr.  1895,  Nr.  28.  — 
Lambert.  New  York  med.  Journ.  April  1895.  — Lazarus,  Berliner  klin.  Wochenschr. 
1895,  Nr.  49.  — Marpmann,  Centralbl.  f.  Bakteriol.  u.  Parasitenkunde.  XVI,  Heft  20.  — 
Mettler,  New  York  med.  Journ.  März  1895.  — Naunyn,  Deutsche  med.  Wochenschr. 
1895,  Vercinsbeilage,  pag.  136.  — Osler,  John  Hopkin's  Hosp.  Reports.  Baltimoro  1895,  V. 

— Parsons,  Ibidem.  — Peiper,  Verhandl.  d.  13.  Congresses  f.  innere  Med.  Wiesbaden 
1895,  pag.  475.  — Quervain,  Centralbl  f.  innere  Med.  1895,  Nr.  33.  — Reed,  John 
Hopkin’s  Hosp.  Rep.  V.  Baltimore  1695.  — Roth,  Münchener  med.  Wochenschr.  1895,  Nr.  11. 

— Rumpf,  Verhandl.  d.  13.  Congr.  f.  innere  Med.  Wiesbaden  1895,  pag.  448.  — Ssoko- 
low,  Bolnj.  Gosetes  Botkina.  1894,  Nr.  39 — 49.  — Stern,  Elin. -bakteriol.  Beiträge  zur 
Path.  u.  Tlierap.  des  Ahdominaltyphus.  Leipzig  1895  und  Samml.  klin.  Vortr.  Nr.  138  — 
Thi  ein  ich,  Deutsche  med.  Wochenschr.  1895,  Nr.  34.  — Vogel,  Münchener  med.  Wochen- 
schrift. 1895.  Nr.  12.  — Wathelet,  Annal.  de  Pinstit.  Pasteur.  1895,  Nr.  4.  — Wright 
und  Semple,  Lancet.  Juli  1895:  — Zinn,  Münchener  med.  Wochenschr.  1895,  Nr.  21  n.  22. 

Für  b ringer. 


ABLESEN. 


5 


Ablesen  des  Gesprochenen  vom  Gesicht.  Diese  Kaust  g-iebt  für 

den  Taubstummen  bekanntlich  die  Möglichkeit,  im  Verkehr  mit  seinen  vollsinni- 
gen Mitmenschen  die  Sprache  zu  verstehen.  Die  seit  Uber  100  Jahren  in 
Deutschland  geübte  Methode  des  Taubstummenunterrichtes,  durch  welche  dem 
Taubstummen  die  Lautsprache  verliehen  wird,  ermöglicht  es,  dass  der  unter- 
richtete Taubstumme  seine  Wünsche,  Fragen,  Berichte  in  einer  verständlichen 
Sprache  seinen  vollsinnigen  Mitmenschen  überliefern  kann.  Bei  dem  Taubstummen- 
unterricht geht  -Abselienlernen  und  Sprechenlernen  naturgemäss  Hand  in  Hand.  Der 
Taubstumme  lernt  keinen  neuen  Laut  sprechen , ohne  ihn  nicht  auch  zugleich 
absehen  zu  lernen.  Allerdings  gründet  sich  dies  Absehen  der  Taubstummen  viel 
mehr  auf  eine  sorgfältige  Inspection  der  Lippen,  Zähne  und  Zunge  als  auf  eine 
allgemeine  Betrachtung  des  Gesichtes.  Die  Folge  davon  ist,  dass  der  Taubstumme 
viel  zu  sehr  an  den  Lippen  des  Sprechenden  „klebt“  und  oft  recht  schlecht  ab- 
sieht. Deshalb  war  man  von  früh  auf  darauf  bedacht,  auch  die  äusserlich 
sichtbaren  Kennzeichen  «ler  einzelnen  Sprechlaute  besonders  zu  be- 
schreiben und  losgelöst  von  der  i m Munde  stattfindenden,  weniger  oder  überhaupt 
nicht  sichtbaren  Sprarhlauthildung  für  sich  einzuüben. 

Den  ersten  Versuch  machte  in  dieser  Richtung  GKASKR  im  Jahre  1829 
in  seinem  Werke : „Der  durrh  Gesicht-  und  Tonsprache  der  Menschheit  wieder- 
gegebene Taubstumme.“  Itn  ersten  Hauptstüeke  des  ersten  Theiles  spricht  er: 
„Von  den  Bedingungen  des  Sprechensehens.“  Die  Hauptsätze,  zn  denen  er  in 
seiner  Betrachtung  gelangt , und  die , wie  wir  sehen  werden , zum  Theil  noch 
unserer  jetzigen  Anschauung  und  Erfahrung  entsprechen,  sind  folgende:  1.  der 
sprechende  Mund  macht  bei  dem  Sprechen  eines  Wortes  ebenso  viele  Bewegungen, 
als  articulirte  Töne  dem  Ohre  des  Hörenden  vernehmbar  werden;  2.  die  Bewegungen 
des  sprechenden  Mundes  müssen  dem  Mund,  ja  selbst  dem  ganzen  Gesicht 
auch  eine  eigenthümliche  Form  geben  und  die  cigenthümliche  Form  eines  jeden 
gesprochenen  Buchstabens  muss  von  dem  Anschaucnden  gesehen,  unterschieden 
und  aufgefasst  werden  können ; 3.  angenommen,  dass  alle  Buchstaben  am  Munde 
ihre  eigenthümliche  Form  in  der  Bewegung  annehmen,  so  ergiebt  sich  am  sprechen- 
den Munde  ebenso  ein  sichtbares  Alphabet,  als  im  Ohre  ein  tönendes  vernommen 
wird:  4.  wenn  die  sichtbaren  Veränderungen  am  Munde  zu  ihren  eigenthüm- 
lichen  Formen  aufgefasst  werden  können,  so  muss  es  dem  Sehenden,  der 
darauf  geübt  ist,  gleichviel  sein,  ob  er  das  Wort  sprechet!  hört  oder 
nur  sprechen  sieht. 

Diese  völlig  logischen  Schlussfolgerungen  illustrirt  der  Verf.  durch  die 
Abbildung  und  sorgfältige  Beschreibung  aller  Gesichtsverftnderungen  bei  den  ein- 
zelnen Sprachlauten.  Freilich  sind  die  Beschreibungen  zum  Theil  falsch , weil 
eine  grosse  Anzahl  von  zufälligen  Erscheinungen  als  eonstaute  aufgefasst  sind, 
weil  ferner  der  Verf.  zum  Theil  falsche  sprachphysiologische  Vorstellungen  hat. 
So  hält  er  z.  B.  das  n für  einen  Nasallaut,  nicht  aber  das  m,  von  der  geson- 
derten Existenz  des  Lautes  sch  weiss  er  nichts,  vom  x und  z behauptet  er,  es 
seien  einfache  Laute  u.  A.  m.  Jedenfalls  dürfen  wir  ihm  diese  Fehler  nicht  so 
übel  aufnehmen,  da  in  den  Sprachphysiologien  der  damaligen  Zeit , die  fast  nur 
von  Grammatikern,  nicht  aber  von  Physiologen  herrührten,  noch  weit  mehr  Fal- 
sches enthalten  ist.  Sein  Bestreben  und  die  Erkennung  des  Wertbes  der  soge- 
nannten „Gesichtssprache“  verdienen  volle  Anerkennung. 

Fast  alle  übrigen  pädagogischen  Schriftsteller  auf  dem  Gebiete  des 
Taubstummcnbildnngsw'esens  übergehen  den  Absehunterricht  entweder  völlig, 
oder  sie  besprechen  ihn  so  nebensächlich,  dass  es  sich  nicht  verlohnt,  näher 
darauf  einzugehen.  Nur  Hiuth  weist  öfter  auf  die  grosse  Bedeutung  eines  guten 
Absehunterricbtes  hin  und  auch  darauf,  dass  der  Taubstumme  nicht  nur  von  den 
Lippen  ablesen  solle,  sondern  auch  vom  Gesicht,  so  besonders  auch  von 
der  Seite. 


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6 


ABLESEN'. 


Die  Fälligkeit  der  Taubstummen  im  Absehen  lässt  sich  auch  ohne 
grössere  Schwierigkeit  von  Schwerhörigen  und  Ertaubten  erwerben  und 
kann  hier  das  verminderte  oder  verloren  gegangene  Gehör  ersetzen.  Gleich  hier 
möchte  ich  auf  einen  Einwand  eingehen , der  häufig , and  zwar  besonders  von 
Ohrenärzten  gemacht  wird,  dass  nämlich  die  Schwerhörigen  durch  die  Erlernung 
des  Ablesens  ihren  Hörrest  nicht  mehr  gebrauchen  und  schliesslich  durch  Inaetivitäts- 
atrophic  verlieren , so  dass  also  die  Hörfiihigkeit  durch  den  Ableseunterricht 
geschädigt  würde.  Zahlreiche  Beobachtungen  an  Schwerhörigen,  die  das  Ab- 
lesen erlernten,  haben  mir  das  Gegentheil  bewiesen.  Der  Hörrest  wurde  durch 
die  Ablesefähigkeit  weit  besser  verwendet,  von  Vielen  wurde  geradezu  behauptet, 
ihr  Gehör  habe  sich  gebessert.  Wenn  nun  auch  diese  Behauptung  wohl  nur 
auf  einer  Selbsttäuschung  beruht,  bo  ist  es  doch  klar,  dass  die  als  unverstandenes 
Geräusch  an  das  Ohr  des  Schwerhörigen  schlagenden  Sprachlautwellen  durch  das 
Ablesen  viel  besser  auch  in  ihrem  akustischen  Eindruck  gedeutet  werden  können. 
Ein  vielcitirtes  Experiment  beweist  ja,  dass  das  Ablesen  in  einem  gewissen  Grade 
auch  bei  den  meisten  hörenden  Menschen,  wenn  auch  nur  gleichsam  latent,  vor- 
handen ist  und  von  ihnen  bei  der  Unterhaltung  offenbar  fortwährend  benutzt 
wird:  wir  verstehen  einen  Redner  besser,  wenn  wir  seinen  Mund  sehen,  wir 
können  uns  die  Worte  eines  Sängers,  die  uns  wegen  der  überwiegenden  Vocalisa 
tion  beim  Singen  so  oft  unverständlich  werden,  leicht  verständlich  machen,  wenn 
wir  uns  sein  Gesicht  durch  das  Opernglas  nähern.  Wir  sehen  dabei  also  die 
Articulation  und  unterstützen  so  durch  das  Gesicht  das  Gehör.  Ich  möchte  daher 
das  Absehenlernen  bei  Schwerhörigen  nicht  nur  auf  die  Fälle  beschränkt 
wissen,  wo  das  Gesprochene  auch  mittels  Hörrohres  nicht  mehr  verstanden  wird, 
wie  Hartmans  es  will.  Für  die  Ertaubten  wird  es  allgemein  als  wichtiger 
Ersatz  des  Gehörs  empfohlen. 

Aus  rein  äusseren  Gründen  dürfte  besonders  bei  jüngeren  Personen  die 
Erlernung  des  Ablesens  auch  bei  weniger  grosser  Schwerhörigkeit  der  Anwendung 
eines  Hörrohres  vorzuziehen  sein. 

Dass  auch  bei  der  sensorischen  Aphasie  das  Alllesen  der  Worte  vom 
Gesicht  das  erschwerte  oder  gänzlich  gestörte  Percipiren  der  Worte  durch  das 
Ohr  ersetzen  kann,  habe  ich  vor  einigen  Jahren  im  Verein  für  innere  Medicin 
ausführlich  vorgetrageu  und  auch  in  diesen  Jahrbüchern  berichtet.  (S.  Artikel 
Sprachstörungen  im  vorigen  Jahre  und  Näheres  in  meiner  Arbeit  im  Archiv 
für  Psychiatrie,  Heft  II,  1896.) 

Der  Erste,  der  die  Bedeutung  des  Ablesens  für  Schwerhörige  und  Er- 
taubte in  vollem  Umfange  erkanute  und  praktisch  verwendete,  war  der  auf  dem 
Gebiete  des  Taubstummeuwesens  rühmlichst  bekannte  Medicinalrath  E.  Schmalz, 
Ohrenarzt  in  Dresden,  nicht  zu  verwechseln  mit  dem  ebenfalls  auf  dem  Gebiete 
des  Taubstummenwesens  literarisch  thätigen  Ohrenarzt  Heinrich  Schmai.tz  in 
Dresden.  E.  Schmalz  schrieb  im  Jahre  1841  ein  kleines  Büchlein:  „l'eber  das 
Absehen  des  Gesprochenen  als  Mittel  bei  Schwerhörigen  und  Tauben,  das  Gehör 
möglichst  zu  ersetzen.“ 

Da  dies  kleine  Büchlein  schon  vieles  enthält,  was  mit  dem  von  mir 
durch  objective  Versuche  (Photographie)  Gewonnenen  Ubereinstimmt , so  möchte 
ich  auf  einzelne  Abschnitte  näher  eingehen. 

Ueber  die  Möglichkeit  des  Ablesens  heisst  es  pag.  10:  „Das  Ableseu  des 
Gesprochenen  ist  deshalb  möglich,  weil  die  meisten  einzelnen  Laute  eine  ihnen 
eigenthttmliche  Stellung  und  Bewegung  der  Sprechwerkzeuge  und  zum  Theil  der 
Gesichtszüge  hervorbringen.  Indem  nun  der  Schwerhörige  oder  Taube  dieselben 
sorgfältig  mit  den  Augen  beobachtet,  setzt  er  die  einzelnen  Mundstellungen  in 
ganze  Worte  zusammen,  so  wie  man  bei  dem  Aussprechen  und  Lesen  die  Buch- 
staben zusammeusetzt.  Daher  ist  diese  Fertigkeit  in  der  That  nichts  Anderes  als 
ein  Lesen  von  den  Lippen.  Der  Schwerhörige  kann  es  in  dem  Absehen  des  Ge- 
sprochenen nach  und  nach  zu  einer  grossen  Fertigkeit  bringen,  besonders  wenn 


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ABLESEN. 


er  so  weit  gekommen  ist,  dass  er  nicht  mehr  jede  Mundstellung  ftir  sich 
auffassen  muss,  sondern  aus  einzelnen  Stellungen,  welche  er  ab- 
gesehen hat,  auf  das  ganze  Wort  und  aus  einzelnen  Worten  auf 
den  ganzen  Satz  schliessen  kann.“ 

Wie  man  sieht,  stellt  Schmalz  hier  eine  viel  weitere  Aufgabe  als  Graser 
(s.  oben).  In  der  That  muss  der  Absehende  das  erreichen,  was  in  dem  letzten 
Satze  ausgedrückt  ist,  wenn  die  Kunst  des  Ablesens  ihm  überhaupt  etwas 
nützen  soll.  Schmalz  macht  auch  auf  die  beschränkenden  Bedingungen  und 
natürlichen  Schwierigkeiten  des  Absehunterrichtes  aufmerksam : „Das  Absehen 
des  Gesprochenen  ist  nämlich  nur  am  Tage  oder  bei  sehr  heller  Abendbcleuch- 
tung  möglich.  Ferner  ist  es  nothwendig,  dass  die  sprechende  Person  mit  dem 
Angesichte  dem  Schwerhörigen  zugekehrt  ist  und  sich  in  der  Nähe  desselben 
befindet.“  Hier  muss  eingewendet  werden , dass  auch  im  Profil  gut  oder  fast 
noch  besser  abgesehen  werden  kann  als  en  face.  Richtig  aber  ist  die  Aehnlieh- 
keit  einer  ganzen  Anzahl  von  Lauten  hervorgehoben,  die  das  Absehen  natur- 
gemäss  sehr  erschwert.  Wenn  auch  meiner  Erfahrung  nach  zwischen  u und  U. 
o und  ö,  e und  i noch  recht  gut  unterschieden  werden  kann,  sind  doch  die 
von  Schmalz  als  fast  gleich  betrachteten  Stellungen  n,  d,  t und  ng,  nk,  g,  k, 
ferner  b,  p,  m (das  w,  was  Schmalz  auch  hinzurechnet,  ist  dag  in  SUddeutsch- 
land  gesprochene  labiolabiale  w , während  unser  norddeutsches  labiodentales  w 
dem  f gleichsieht)  u.  A.  m.  ganz  richtig  zusammengestellt.  Falsch  ist  seine  Auffas- 
sung, da^s  man  die  Laute,  welche  tief  im  Inneren  des  Mundes  gebildet  werden, 
nicht  ablesen  könne,  jedenfalls  ein  Rückschritt  gegenüber  der  GttASER’schen 
Auffassung  (s.  oben).  Sehr  richtig  dagegen  führt  er  an,  dass  sich  beim  schnellen 
Sprechen  die  Laute  so  aneinanderschlicssen,  als  ob  sie  ein  einziges  Wort  bildeten. 
„Hierdurch  wird  das  Auffassen  ebensowohl  für  das  Ohr  als  für  das  Auge 
erschwert.“  Daran  schlicsst  er  folgende  Ausführung,  die  ich  aus  Rücksicht  auf 
ihre  grosse  Wichtigkeit  wörtlich  folgen  lasse: 

„Die  angeführten  Schwierigkeiten  sind  übrigens  bei  den  Schwerhörigen 
bei  weitem  nicht  so  gross  als  bei  den  völlig  Tauben.  Denn  abgesehen  davon, 
dass  der  letztere,  wenn  er  völlig  taub  geboren  oder  im  frühen  Alter  so  geworden 
ist  (der  Taubstumme),  meist  gar  keinen  Begriff  von  dem  Sprechen  mit  Worten 
hat , während  der  Schwerhörige  die  Sprache  in  der  Kegel  schon  in  gewissem 
Grade  erlernt  haben  wird , so  hat  auch  der  ersterc  ja  nicht  nöthig , die  ganze 
Sprache  abzusehen,  sondern  nur  dasjenige,  was  er  nicht  gehört  hat.  Meist  wird 
er  die  Vocale  in  den  Worten  und  oft  selbst  die  betonten  und  scharflautenden 
Consonanten,  z.  B.  I,  m,  n,  r,  s,  sch,  noch  mehr  oder  weniger  deutlich  mit  dem 
Gehör  auffassen  können.  Ist  der  Schwerhörige  nicht  verstandesschwach,  so  wird 
er  bald  lprnen , von  einzelnen  Mnndstellungen  auf  das  ganze  Wort,  von  ein- 
zelnen Worten  auf  den  ganzen  Satz  zu  schliessen.“ 

Sodann  geht  Schmalz  auf  die  Methode  des  Absehuntcrrichtes  selbst 
ein,  auf  die  physiologische  Lautbildung,  die  Sichtbarkeit  der  Laute  n.  s.  w.,  dabei 
laufen  einige  lrrthümer  mit  unter,  im  Allgemeinen  aber  ist  seine  Anleitung  recht 
gut  und  in  mancher  Beziehung  noch  heute  mustergiltig. 

In  neuerer  Zeit  hat  ein  früherer  Taubstummeulchrer  Julius  Müller  in 
deutlicher  Anlehnung  an  Schmalz,  den  er  übrigens  nicht  erwähnt,  „das  Ab- 
sehen der  Schwerhörigen“  einer  besonderen  Bearbeitung  unterzogen,  zum 
Theil  hat  er  dabei  eine  Anzahl  von  neuen  Auffassungen  eiugefügt,  die  nicht 
immer  genügend  begründet  erscheinen.  Soglaubeich  nicht,  dass  sich  der  Taub- 
stumme mit  einer  geringeren  Absehfertigkeit  genügen  lassen  müsse  als  der 
Schwerhörige  oder  Ertaubte,  auch  der  Taubstumme  soll  dahin  kommen,  dass  er 
den  ungesucht  und  natürlich  tliessenden  Satzperioden  folgen  kann , an  die  die 
Hörenden  gewöhnt  sind.  Ich  selbst  keime  eine  grosse  Anzahl  von  erwachsenen 
Taubstummen,  die  dies  ohne  Schwierigkeit  könueu,  die  dem  Redeflüsse  der  Unter- 
haltung so  zu  folgen  vermögen , dass  es  z.  B.  bei  einer  juDgeu  Dame  vorkam. 


8 


ABLESEN. 


dass  Niemand  in  der  Gesellschaft  merkte,  dass  sie  tanh  war,  sondern 
dass  nur  ihre  eigentümliche,  etwas  schrill  klingende  Sprechweise  aufticl. 

Die  Beschreibung  der  äusserlich  sichtbaren  Zeichen  der  Laute  ist  bei 
MCllkk  durchaus  nicht  genügend,  von  den  gesammten  Kieferbewegungen  kennt 
er  nur  die  nach  oben  und  nach  unten.  Dagegen  ist  seine  Einübung  praktisch 
wohl  brauchbar,  wenn  auch  etwas  schwerfällig  und  für  Viele  recht  ermüdend. 
Ich  zweifie  demnach  nicht  daran , dass  er  gute  Resultate  damit  erreicht  hat.  Be- 
sonders werthvoll  ist  sein  Hinweis  auf  die  Notwendigkeit  des  Absehens  von 
der  Seite  des  sprechenden  Gesichtes,  ein  Hinweis,  der  bereits  von  Hirth 
(8.  oben)  ausgesprochen  wurde.  Mit  der  MÜLLKR’schen  Methode  wird  es  daher 
wohl  möglich,  das  Absehen  zu  erlernen,  allein  es  dürfte  der  dort  angegebene 
Weg  recht  häufig  auch  die  Patienten  abschrecken,  da  er  eine  Ubcrgrosse  Geduld- 
probe für  sie  ist.  Der  Hauptfehler  besteht  darin , dass  die  äussere  Sichtbarkeit 
der  einzelnen  Laute  und  Bewegungen  nicht  genau  genug  charakterisirt  wird, 
sondern  die  Aneignung  dieser  Kenntniss  mehr  aus  praktischer  Uebuug  heraus 
erwartet  wird.  Gerade  beim  Schwerhörigen  sollte  der  methodische  Weg  umgekehrt 
sein.  Iu  dem  ScHMALZ’schen  Büchlein  ist  dies  weit  richtiger  erfasst  worden. 

Meine  eigenen  l'nteisuehungen  gehen  auf  das  Jahr  1886  zurück.  Unter 
Taubstummen  gross  geworden,  habe  ich  von  früh  auf  Uebnng  gehabt,  mit  ihnen 
umzugehen  und  dadurch  Gelegenheit,  praktische  Erfahrungen  zu  sammeln.  Bei 
Gelegenheit  eines  damals  von  mir  ertheilten  Absehnnterrichtes  kam  ich  auf  den 
Gedanken,  die  äusserlich  sichtbaren  Zeichen  der  Laute  und  der  Lautbewegungen 
möglichst  genau  an  solchen  Personen  zu  studiren , die  von  dem  Zwecke  meiner 
Beobachtungen  nichts  wussten.  Ich  machte  schon  damals  nämlich  die  Bemerkung, 
die  ja  auch  von  vielen  Anderen  gemacht  worden  ist,  dass  derjenige,  der  seine 
Spraehbewegungen  von  Anderen  beobachtet  weiss,  unwillkürlich  fehlerhafte  Be- 
wegungen einflicht  und  so  die  Bewegung  unabsichtlich  und  unbewusst  fälscht. 
Jahrelanges  sorgfältiges  Sammeln  führte  dann  dazu,  dass  ich  im  Jahre  1892 
einen  grösseren  Aufsatz  über  das  Ablesen  des  Gesprochenen  vom  Gesicht  ver- 
öffentlichen konnte  fs.  Monatsschr.  f.  Sprachheilkunde,  1892,  Heft  3).  Darin  wies 
ich  nach,  dass  die  einzelnen  Laute  sowohl  wie  Silben  und  Worte  nicht  nur  von 
vorn  und  von  der  Seite,  sondern  auch  bei  verdecktem  Munde,  allein  an  den 
verschiedenartigen  Bewegungen  des  Unterkiefers,  der  Wangenhaut  und  des  Mund- 
bodens abgelesen  werden  konnten.  Im  I,aufe  der  Beobachtung  und  weiteren  Er- 
fahrung zeigte  es  sich  denn,  dass  meine  damals  niedergelegte  Beschreibung  im 
Wesentlichen  richtig  war  und  nur  in  Einzelheiten  einer  Berichtigung  bedurfte. 

Die  Hauptbestätigung  erfuhr  aber  diese  Arbeit  durch  die  Photographie. 

Von  Anfang  an  lag  es  nahe,  die  Photographie  zur  Fixirung  der  fluch- 
tigen Spraehbewcgungen  zu  benützen  und  besonders  seit  der  Zeit,  wo  die  Moment- 
photographie eine  so  grosse  Bedeutung  in  der  Erforschung  der  Bewegungslehre 
gespielt  hatte.  Daher  finden  wir  auch  schon  im  Jahre  1885  in  einem  Aufsatze 
von  Felix  Hkmext:  „Le«  propres  rdeents  dnns  V enaeignement  des  Sourd-muet« “ 
("La  Nature,  1885,  pag.  188j  eine  Anzahl  von  Momentphotographien  des  sprechen- 
den Mundes.  Im  Jahre  1892  gelang  es  dann  zuerst  MARKT,  einen  gesprochenen 
Satz  in  Serienphotographien  so  anfzunehmen,  dass  die  Bilder,  wenn  man  sie  in 
einem  stroboskopischen  Apparat  vereinigte,  die  Bewegung  des  sprechenden  Mundes 
genau  Wiedergaben.  Taubstumme  vermochten  die  Worte  wieder  zu  erkennen.  Die 
grossen  Hoffnungen,  die  man  an  diesen  Versuch  Makey’s  für  die  Taubstummeu- 
liildung  sowohl,  wie  für  das  Absehen  des  Gesprochenen  im  Allgemeinen  knüpfte, 
haben  sich,  wie  vorauszuschen  war,  nicht  erfüllt,  ln  der  That  hätte  Märet 
von  Hunderten  von  Worten  und  Sätzen  derartige  Aufnahmen  machen  müssen, 
um  eine  praktische  Verwerthung  zu  ermöglichen. 

Ich  kam  daher  auf  den  Gedanken,  ob  es  nicht  möglich  sei,  eine  gewisse 
Anzahl  von  Typen  herzustellen,  die  bei  sonst  absolut  gleicher  Grösse 
und  Stellung  stets  die  einzelne  Abweichung  der  Theile  von  der  Indifferenzlage 


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ABLESEN. 


9 


angeben.  Mittelst  solcher  Typen  konnte  es  dann  ebenfalls  gelingen,  ein  Wort  im 
stroboskopischen  Apparate  in  seiner  natürlichen  Bewegung  zu  zeigen.  Es 
handelt  sich  nur  darum,  mittelst  geeigneter  Versuche  diese  Typen  heraus  zu 
bekommen.  Dazu  sollten  mir  Serienaufnaltmen  dienen.  Diese  nahm  ich  von  der 
Seite  auf,  und  zwar  so,  dass  der  Kopf  fixirt  war,  so  dass  sich  die  Abweichungen 

bei  den  verschiedenen  Momentstel- 
lungen deutlich  zeigten.  Die  fol- 
genden Figuren  zeigen  derartige 
Aufnahmen.  Auf  Fig.  1.  zeigt  sich 
derOberkiefer  ruhig,  dagegen  zeigt 
der  Unterkiefer  zwei  Contouren. 
Der  vorderste  Contour  entspricht 
der  Indifferenzstellung  des  Unter- 
kiefers bei  ruhigem,  geschlossenen 
Munde,  der  hintere  Contour  da- 
gegen der  Unterkieferstellung  bei 
f.  Es  zeigt  sich  also  daraus  deut- 
lich , dass  der  Unterkiefer  bei  f 
nach  hinten  geht. 

Die  nächste  Figur  zeigt  die 
verschiedenen  Unterkieferstellun- 
gen bei  der  Silbe  ais.  Die  Belich- 
tung der  Platte  fand  hier  dreimal 
statt,  das  erste  Mal  bei  a,  das 
zweite  Mal  bei  i und  das  dritte  Mal  bei  s.  Die  tiefste  Linie  des  Unterkiefers 
entspricht  dem  a,  die  höchste  dem  i,  die  am  weitesten  vorgeschobene  dem  s. 
Auf  der  Wange  ist  mit  chinesischem  Weise  ein  nach  vorn  gerichteter  Winkel 
gezeichnet,  der  die  gleichzeitige  Bewegung  der  Wangenschleimhaut  wiedergiebt.  *) 

In  der  Fig.  3 sind  die  zwei 
Endstellungen  der  Silbe  da  ab- 
gebildct.  Bei  d die  Hebung  des 
Unterkiefers,  bei  a die  Senkung. 

In  der  nächsten  Figur  zeigt 
Hieb  die  Silbe  schau  in  ihren  drei 
charakteristischen  Stellungen.  Der 
weisse  Winkel  auf  der  Wangen- 
haut*) ist  bei  a ruhig,  bei  sch 
und  bei  u aber  vorgeschoben,  und 
zwar  genau  gleich  weit.  Die 
Lippenumgrenzung  zeigt  auch  bei 
beiden  Lauten  (sch  und  u)  keine 
grosse  Differenz,  dagegen  rückt 
beim  sch  der  Unterkiefer  scharf 
nach  vorn.  Beim  a stellt  er  am 
tiefsten.  Man  sieht  aus  den  Figuren 
deutlich,  dass  man  nicht  mehr  als 
drei,  höchstens  vier  Stellungen  auf 
einer  Platte  zur  Serie  vereinigen  kann,  wenn  nicht  die  Linien  so  durcheinander 
laufen  sollen,  dass  man  sieh  in  dem  Gewirr  nicht  mehr  zurechtfinden  kann. 

*)  beider  sind  die  liier  gegebenen  Drucke  nicht  so  scharf,  dass  alles  das  heraus- 
kommt,  was  man  bei  Photographien  deutlich  sehen  kann.  So  ist  in  dieser  und  der  übernächsten 
Figur  vom  weissen  Winkel  auf  der  Wange  nicht  viel  zu  sehen , weil  der  feine  Strich  durch 
das  Xeuvcrfnhrcn  verwischt  wird.  Bei  der  fünften  Figur  ist  der  Doppelcontour  am  Halse,  der 
bei  dem  in  der  medicinischen  Gesellschaft  zu  Berlin  demonstrirten  Diapositiv  mit  Leichtigkeit 
zu  sehen  war,  fast  spurlos  verschwunden. 


Fig.  z. 


Fig.  t. 


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lu 


ABLESEN. 


Diese  Art  der  Scricnaufnahmen  bietet  aber  gegenüber  der  jetzt  allgemein 
üblichen  den  grossen  Vortheil,  dass  man  hier  die  Unterschiede  direct  vergleichen 
kann.  Die  Aufnahmen  des  gehenden  und  laufenden  Mannes  von  Makey,  die  ja  in 
jedem  Lehrbuche  der  Physiologie  gefunden  werden,  sind  nach  demselben  Principe 
angefertigt  worden. 

Zum  Schluss  gebe  ich  noch  die  Bewegung  des  Mundbodens  wieder,  die 
sich  beim  k zeigt , wenn  man  es 
spricht,  ohne  sonstige  Theile  des 
Gesichtes  zu  verändern.  Die  feine 
Linie  am  Halswinkel , die  am 
tiefsten  steht,  entspricht  der  Ruhe- 
stellung, die  etwas  höher  liegende 
der  höchsten  Steigung  beim  k.  *) 

Es  würde  zu  weit  führen, 
wollte  ich  hier  alle  die  Bewe- 
gungen , die  ich  serienphotogra- 
phisch zerlegte,  näher  schildern. 

Es  genügt  wohl,  wenn  ich  darauf 
hinweisc,  dass  sich  die  äusseren 
Bewegungen  der  Sprachlaute  au 
drei  Stellen  charakteristisch 
nachweisen  lassen:  1.  am  Unter- 
kiefer, 2.  an  der  Wangenhaut  und 
3.  am  Mundboden , den  zwischen 
den  beiden  Unterkieferschenkeln  liegenden  Weichtheilen. 

Betrachten  wir  nun  die  einzelnen  auf  die  geschilderte  Weise  constatirten 
Bewegungen  näher,  so  sehen  wir  folgendes  Resultat  der  Untersuchung : 

1.  Bewegungen  am  Unterkiefer:  a)  Der  Unterkiefer  bewegt 
sich  nach  unten  bei  dem  Yocal  a.  Diese  Bewegung  ist  so  charakteristisch  für 
diesen  Vocal,  weil  keinerlei  andere 
Bewegungen,  weder  an  den  Lippen, 
noch  an  den  Wangen , noch  am 
Mundboden  damit  verknüpft  sind  ; 

b)  DerUntcrkiefer  be- 
wegt sich  nach  oben.  Diese 
Bewegung  kann  natürlich  nur  von 
einer  gewissen  Indiflerenzlage  des 
Unterkiefers  aus  gerechnet  werden 
oder  von  irgend  einer  anderen 
Stellung  aus.  Die  Bewegung 
findet  in  starkem  Grade  statt 
bei  d,  t und  n.  Bekanntlich  legen 
wir  zur  Bildung  dieser  drei  Laute 
die  Zungenspitze  hinter  die  obere 
Zahnreihe.  Zur  Erleichterung  der 
Zungenbewegung  heben  wir  stets 
den  Unterkiefer,  obgleich  man  es 
bei  einiger  l'cbung  auch  dahin  bringen  kann,  den  Unterkiefer  in  Oeffhnngsstellung 
zu  halten,  während  man  die  Zunge  in  ihre  Lage  bringt.  Die  gleiche  Bewegung 
des  Unterkiefers  findet  sich  in  schwächerem  Grade  bei  g und  k.  Wenn 
man  die  Hand  flach  unter  das  Kinn  legt  und  abwechselnd  da  und  ga  spricht,  so 
scheint  es,  als  ob  der  Unterkiefer  beim  g mehr  gehoben  würde.  Dies  ist  aber 
ein  Irrthum,  der  dadurch  veranlasst  wird,  dass  die  oben  in  Fig.  5 geschilderte 


*1  Siehe  die  Fujsnote  pag.  <1. 


Fig.  4. 


Fig.  3. 


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ABLESEN. 


11 


Hebung  des  hinteren  Theiles  des  Mundbodeus  zur  Uuterkieferhebuug  hinzutritt. 
Veranlasst  wird  diese  Hebung  durch  die  Bildung  des  k und  g selbst.  Wir  legen 
dabei  den  ZungenrUcken  an  den  Gaumen.  Dadurch  werden  die  mit  dem  Zungen- 
grunde zusammenhängenden  Weichtheile  ganz  naturgemäss  mit  in  die  Höhe  ge- 
hoben. Das  Gleiche  findet  sich  bei  den  Nasallauten  ng  und  nk.  sowie,  wenn  auch 
in  geringerem  Grade,  beim  hinteren  ch,  das  wir  in  den  Worten:  „Ach,  Bach, 
Buch,  Bauch“  hören; 

c)  Der  Unterkiefer  geht  nach  vorn.  Diese  Bewegung  ist  deutlich 
sichtbar  auf  den  Fig.  1 und  4.  In  der  Fig.  1 entspricht  sie  der  Unterkiefer- 
Stellung  lieim  s,  in  der  Fig.  4 der  beim  sch.  Wenn  wir  die  Conturen  des  Kinns 
in  den  beiden  Figuren  vergleichen,  so  sehen  wir,  dass  sie  in  der  That  bei  beiden 
Lauten  gleich  sind,  nicht  aber  so  die  Weichtheile.  Beim  s zieht  die  Wangen- 
hant  deutlich  nach  hinten-ohen  (sichtbar  an  dem  kleinen  mit  chinesischem  Weiss 
gezeichneten  Winkel),  beim  sch  sehen  wir  die  entgegengesetzte  Bewegung  der 
Wangenhaut  nach  vorn.  Die  Differenz  zwischen  beiden  Lauten  wird  also  mittelst 
dieser  combinirten  Wirkung  deutlich  erklärt; 

d)  Der  Unterkiefer  geht  nach  hinten.  Bei  f und  w (dem  nord- 
deutschen labiodentalen)  stellt  sich  die  obere  Zahnreihe  auf  die  Unterlippe,  oder 

besser  gesagt,  zieht  Bich  die  Unter- 
lippe nach  hinten  unter  die  ol>erc 
Zahnreihe.  Diese  Bewegung  wird 
stets  von  einer  kleinen  Bewegung 
des  Unterkiefers  nach  hinten 
begleitet  (s.  Fig.  1 ). 

2.  Bewegungen  an  der 
Wangenhaut:  a)  Bewegung 
der  Wangenhaut  nach  vorn. 
Diese  Bewegung  findet  sich  in 
ausgesprochener  Weise  bei  o und 
u , wo  sie  der  wohlbekannten 
Lippenbewegung  folgt.  Bei  u ist 
sie  jedoch  viel  stärker  als  bei  o. 
Da  sich  die  gleiche  Bewegung  auch 
beim  sch  fand,  so  ist  bei  letzterem 
darauf  zu  aehteu  , dass  hier  der 
Unterkiefer  stark  nach  vorn 
geht,  was  bei  u nicht  der  Fall  ist. 

b)  Bewegungen  der  Wangen  haut  nach  hinten.  Bei  ä in  geringem 
Grade,  bei  e in  stärkerem  vorhanden , zeigt  sich  bei  i gleichzeitig  auch  eine 
Bewegung  schräg  nach  hinten  oben,  die  gleiche  wie  beim  s,  nur  dass  hier 
noch  die  starke  Vorwärtsbewegung  des  Unterkiefers  als  unterscheidendes  Merk- 
mal hiuzukommt.  Die  Aehnlichkeiten  und  Verschiedenheiten  zwischen  u und  sch 
einerseits  und  i und  s andererseits  prägt  man  sich  am  besten  in  folgender 
Tabelle  ein: 


Fig.  5. 


Sprechlaut 

Unterkiefer 

Wangenhaut 

u 

ruhig 

nach  vorn 

3 Cll 

nach  vorn 

nach  vorn 

i 

ruhig 

nach  hinten  oben 

s 

nach  vom 

nach  hinten  oben 

Natürlich  ist  die  Kühe  des  Unterkiefers  beim  u und  i immer  nur  eine 
relative.  Variirt  werden  die  Bewegungen  der  Wangenhant  nach  vorn  bei  den 
Lauten  ö und  U,  die  deutlich  unterscheidbar  sind. 


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Die  Bilder  zeigen  den  Ucbergang  von  a nach  n tieim  Sprechen  des  Doppel vocul 


ABLESEN. 


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S1-« 


ABLESEN. 


IS 

8.  Bewegungen  des  Mundbudens:  a)  Bewegung  des  Mundbudeus 
im  vorderen  Theile  nach  unten.  Wenn  inan  die  Hand  flach  unter  das  Kinn 
legt  und  Afters  la  la  la  spricht,  so  fühlt  man  deutlich,  wie  der  vorderste  Tlieil 
des  Mnndbodens  (gleich  hinter  dem  knöchernen  Kinn)  jedesmal,  wenn  das  1 ge- 
sprochen wird,  sich  nach  unten  vorwölht.  Macht  man  Serienaufnahmen,  so 
sieht  man  diese  Vorwölbung  genauer.  Sie  entsteht  dadurch,  dass  sich  die  Znngen- 

Fi*.  14.  Fi*.  IS. 


bie  tarnte  F and  W (labiodental). 

spitze  keim  1 gegen  die  obere  Zahnreihe  anstemmt  und  nnr  die  unter  ihr  ge- 
legenen Weichtheile  nach  unten  drangt. 

b)  Bewegung  des  Mundbodens  im  hinteren  Theile  nach  oben. 
Diese  Bewegung  haben  wir  schon  bei  der  Fig.  5 bei  k,  g besprochen. 

Es  kann  nun  in  diesem  Referate  wohl  nicht  meine  Aufgabe  sein,  siimmt- 
liche  ansseren  Kennzeichen  der- Sprachlaute  der  Reihe  nach  durchzunehmen; 
aus  dem  Vorstehenden  wird  man  deutlich  entnehmen  können,  wie  sich  eine 

' Fi*.  iS. 


Der  Laut  S. 

gewisse  Anzahl  von  nusserlich  sichtbaren  Bewegungen  in  der  That  zur  Erkennung 
der  Laute  verwerthen  lasst. 

Man  wird  dabei  aber  auch  bemerkt  haben,  dass  flir  mehrere  Laute  öfter 
nur  eine  besondere  Bewegung  vermerkt  wurde,  und  dabei  an  die  früher  schon 
von  Schmalz  b.  oben)  erörterten  Schwierigkeiten  des  Absehens  erinnert 
werden.  Nun  ist  es  aber  damit  nicht  so  schlimm,  wie  es  auf  den  ersten  Augen- 
blick scheint.  Wenn  wir  uns  durch  das  Telephon  unterhalten,  so  verstehen  wir 


Fif.  17. 


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14 


ABLESEN. 


die  Worte  und  Redewendungen  der  gewöhnlichen  Sprechweise  sehr  leicht,  so 
wie  es  sich  aber  um  Eigennamen  oder  eine  besondere  Bezeichnung  handelt,  von 
der  jeder  einzelne  Laut  vernommen  werden  muss,  versagt  das  Telephon  oft  seinen 
Dienst  und  man  muss  zu  Hilfsmitteln  greifen,  um  das  Verständnis  zu  vermitteln. 
Im  Telephonbuch  heisst  es  daher:  „Kann  bei  Uebermittelung  von  Eigennamen, 
einzelner  Buchstaben  etc.  durch  den  Fernsprecher  genügende  Sicherheit  be- 


Flf.  18.  Fig.  1». 


Der  Laut  Feh. 


züglich  der  genauen  l'ebereinstimmung  der  aufgenommenen  mit  den  abgegebenen 
Ausdrücken  auch  durch  gewöhnliches  Buchstabiren  nicht  erreicht  werden 
u.  s.  w.,  u.  s.  w.u  In  diesem  Falle  hilft  man  sich  bekanntlich  durch  Zahlen.  Ich 
habe  Telcphonversuche  gemacht,  die  ergaben,  dass  eine  grosse  Reihe  von  Lauten 
nicht  dilferenzirt  werden  kann,  z.  B.  die  Explosivlaute.  Mau  hört  die  Explosion, 
kann  sie  aber  als  p,  t,  k deuten.  Ebenso  wird  f,  s,  sch,  ch  vertauscht  u.  A.  m. 


Fig.  20.  Fig.  2U 


Der  Laut  L. 


Trotzdem  verstehen  wir  die  gewöhnliche  Unterhaltung  vortrefflich,  offenbar  nur, 
weil  wir  mittelst  der  vorzüglich  übertragenen  Vocale  die  Worte  combiniren. 
Ganz  ähnlich  ist  es  bei  dem  Ahseh„kün stier1,  der  die  Ablesefähigkeit  in 
vollem  Umfange  beherrscht.  Er  belauscht  Gespräche  auf  Entfernungen,  wo  der 
Hörende  nichts  mehr  versteht,  selbst  das  Flüstern  schützt  nicht  vor  Indiscretion. 
Ich  habe  mehr  als  einen  Patienten  sogar  dahin  gebracht,  dass  er  ohne  besondere 
Mühe  einer  Theatervorstellung  folgen  konnte.  Damit  ist  eben  praktisch  bewiesen, 


k 


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ABLESEN. 


15 


dass  eg  durchaus  nicht  nöthig  ist,  jeden  einzelnen  Laut  gesondert  zu  erkennen. 
Uebrigens  lassen  sich  ans  der  Schnelligkeit,  der  besonderen  Form  etc.  der  Be- 
wegung auch  noch  kleine  Unterschiede  heraus  erkennen. 

Aus  den  sämmtliehen  von  mir  angestellten  photographischen  Serienunter- 
suchungen geht  nun  hervor,  dass  es  ungefähr  18  Typen  giebt,  die  insgesammt 
die  äusserlich  sichtbaren  Stellungen  und  Bewegungen  der  Sprache  wiedergeben. 
Als  ich  nun  die  gedachten  18  Stellungen  einzeln  mittelst  Momentphotographie 
so  aufnahm,  dass  der  Kopf  unverrückbar  festgehalten  wurde,  so  konnte  ich  mit 
den  18  Typen  in  einem  stroboskopischen  Apparate  jedes  beliebige  Wort  in 
seiner  natürlichen  Bewegung  darstellen.  Taubstumme  und  Schwerhörige,  die  das 
Absehen  gut  konnten , vermochten  die  im  Stroboskop  eingestellten  Worte  leicht 
zu  erkennen.  Mit  einem  solchen  Apparat,  der  mit  auswechselbaren  Typen  (sowohl 
en  face  wie  im  Profil)  versehen  ist,  wäre  wohl  jeder  Schwerhörige  oder  Ertaubte 
im  Stande,  wenigstens  die  erste  Grundlage  für  die  Kunst  des  Ablesens  zu  legen. 

Damit  ich  hier  nun  wenigstens  eine  Vorstellung  von  diesen  gewonnenen 
auswechselbaren  Typen  gebe,  stelle  ich  in  den  folgenden  Figuren  den  Uebergang 
von  a nach  n en  face  wie  im  Profil  dar.  Die  nächsten  Figuren  zeigen  einzelne 
andere  Lautstellungen,  die  besonders  charakteristisch  im  Sprechen  auftauchen. 

ln  kurzen  Worten  möchte  ich  noch  auf  die  Methodik  des  Abseh- 
unterrichtes eingehen.  Sie  zerfällt  in  verschiedene  Abschnitte.  Das,  was  dem 
Patienten  zuerst  beigebracht  werden  muss,  ist  die  Kenntniss  der  äusserlich  sicht- 
baren Bewegungen  und  Stellungen  jedes  einzelnen  Lautes.  Der  Beginn  geschieht 
mit  den  Vocalen,  und  zwar  aus  folgenden  Gründen.  Die  Vocale  sind  zunächst 
sehr  leicht  abzulesen ; die  Yocalbewegungen  sind  expressive  und  langdauernde ; 
sie  geben  einem  Worte  seinen  Charakter  für  das  Auge  sowohl  wie  für  das  Ohr. 
Jedes  volltönende  Wort  besitzt  grosse  Vocalbe wegungen.  Natürlich  hat  man  dem 
zu  Unterrichtenden  die  Kennzeichen  in  möglichst  einfacher  Form  zu  geben.  An 
einem  Beispiele  will  ich  zeigen,  wie  dies  geschieht: 

Beispiel  zur  Uebung  einzelner  Laute. 


vorn  und  J Unterkiefer  nach  unten 
seitwärts:  | Mund  ruhig 

u. 

I Unterkiefer  nach  vorn 
seitwärts : Mund  nach  vorn  wie  ein  Rüssel 

I Rackenhaut  nach  vorn  verzogen 
| Mundöflnung  ganz  klein 
vorn:  . Lippen  gewulstet 

I Mundwinkel  an  einander  sehr  genähert 

o. 

1 Unterkiefer  nach  unten  und  vorn 
seitwärts:  Mund  nach  vorn  (weniger  als  bei  u) 

| Backenhaut  nach  vorn  (weniger  als  bei  u) 
vorn:  I Mundöflhung  oval 

I Mundwinkel  näher  aneinander  als  beim  a 


seitwärts : 


Unterkiefer  schräg  nach  hinten  oben 
Mund  zurück 

Mundwinkel  schräg  nach  hinten  oben 

Haut  der  Backe  schräg  nach  hinten  oben  (Ricbtungspunkt : Joch- 
bein) 


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16 


ABLESEN'. 


I Zähne  aneinander  genähert 

vorn : . Mundwinkel  weit  auseinander  (etwas  nach  oben; 

| Mundöflhiing  nicht  mehr  oval,  sondern  schlitzförmig 

e. 

I Unterkiefer  nach  ölten 
seitwärts:  Lippen  etwas  zurück 

| Hautzug  direct  nach  hinten  (Richtungspunkt  Ohrläppchen 

I Zahnreihen  näher  als  beim  a,  weiter  als  beim  i 
Mundwinkel  weiter  von  einander  als  beim  a 
Mundöflnung  spaltförmig 

Fragen : 

Sagen  Sie  mir,  was  Sie  beim  a sehen ! 

« r>  n n n n u ti 

n n tt  « jt  n 0 n 

n n n n »1  n e n 

11  n n n 11  v 1 n 

In  ganz  ähnlicher  Weise  werden  auch  die  Kennzeichen  der  einzelnen 
Consonanten  kurz  markirt,  ich  verweise  als  Beispiel  auf  das  oben  von  i,  u,  s 
und  sch  Gesagte. 

Nach  sorgfältiger  Einübung  der  Kenntniss  der  einzelnen  Lautbilder  — 
es  ist  möglichste  Sorgfalt  gerade  auf  diesem  ersten  Theil  des  Ableseunterrichtes 
zu  verwenden,  da  die  einzelnen  Lautbilder  die  Grundlage  bilden  für  die  weitere 
Kenntnisserwerbung  — gelangen  wir  zu  der  Einübung  der  Silbenbilder.  Beson- 
ders sind  hier  diejenigen  Silben  einzuüben , die  in  der  Grammatik  als  Vor-  und 
Nachsilben  bezeichnet  zu  werden  pflegen,  z.  B. : be-,  ge-,  ent-,  er-  u.  s.  f.,  ferner: 
-thum,  -heit,  -keit.  -nis,  -ung,  -en,  -er  u.  s.  f.  Alle  diese  Silben,  deren  es  eine 
grosse  Anzahl  giebt  und  die  natürlich  sammtlich  durchgenommen  werden  müssen, 
besitzen  bestimmte,  nur  für  sie  charakteristische  Bewegungen.  Von  Silben- 
bildern  kommt  man  dann  zu  Wortbildern:  den  zahlreichen  Hilfszeitwörtern, 
die  stets  wiederkehren,  den  Umstandswörtern  u.  v.  A.  Endlich  ist  es  gut,  dass 
die  häufig  vorkommenden  Redewend  ungeu  als  Satzbilder  besonders  eingeüht 
werden.  So  kommt  der  Patient  allmälig  zur  Fertigkeit , der  Unterhaltung  ohne 
Anstrengung  zu  folgen,  und  zwar  sowohl  der  Unterhaltung  mit  Einem  wie  auch 
mit  Mehreren.  Wenn  nämlich  das  Absehen  von  der  Seite  — das,  wie  schon 
HiiiTii  mit  Becht  hervorhebt,  fast  leichter  ist  als  das  von  vorn  — gut  geht,  so 
kommt  es  bei  der  Unterhaltung  nicht  darauf  an,  ob  man  den  ganzen  Mund  sieht 
oder  nicht. 

Für  die  fernere  Cebung  sind  besonders  moderne  Theaterstücke  eine  gute 
Grundlage,  sofern  sie  sich  dem  gebräuchlichen  Dialog  gut  anschliessen. 

Mit  den  gleichen  Grundlagen,  wie  ich  sie  hier  bezeichnet  habe,  können 
auch  fremde  Sprachen  gut  abgelcscn  werden.  Bis  jetzt  hatte  ich  mehrfach 
Gelegenheit,  die  Methode  auf  das  Französische  und  Englische  zu  übertragen, 
leb  möchte  nach  den  dabei  gemachten  Erfahrungen  fast  behaupten , dass  diese 
Sprachen  etwas  leichter  abgesehen  werden  als  das  Deutsche,  und  zwar  beson- 
ders deswegen , weil  in  ihnen  nicht  annähernd  so  viele  Consonantenhäufnngen 
Vorkommen,  wenigstens  werden  sie  nicht  gesprochen. 

Literatur:  E.  Schmalz,  Leber  das  Absehen  des  Gesprochenen  als  Mittel,  bei 
Schwerhörigen  nnd  Tauben  das  Gehör  möglichst  zn  ersetzen.  Dresden  18t  1.  Davon  sind  weiter 
noch  die  2 nnd  3.  Auflage  erschienen,  letztere  18.'>3.  — Julius  Möller,  Das  Absehen  der 
Schwerhörigen.  Hamburg  (ohne  Jahreszahl). — H.  Gutzmanu,  Das  Ablesen  des  Gesprochenen 
vom  Gesiebt.  Monatsschr.  f Sprachheilkunde.  18‘J'J,  Heft  3 — H.  Gutzmanu,  Die  Photo- 

graphie der  Sprache  und  ihre  praktische  Verwerthung.  Vortrag,  gehalten  im  Deeemlwr  1885 
in  der  Berliner  med.  Gesellsch.  (s.  Berliner  klin  Wochenscbr.).  — H.  Gutzmunn.  Leier 
die  Photographie  der  Sprache.  Internat,  photogr.  Monatsschr.  f Med.  u.  Naturwissensch. 
Mönchen  lSlHi.  H.  Guts  mann  (Berlin). 


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ACETYLEN.  — AKROMEGALIE 


17 


Acetylen.  Als  Lenchtmaterial  der  Zukunft  wird  gegenwärtig  das  Acetylen 
bezeichnet,  das  man  bisher  schon  als  einen  der  mit  leuchtender  Flamme  brennen- 
den Bestandteil  des  Leuehtgases  kannte,  fUr  sich  aber  bisher  nicht  zu  technischen 
Zwecken  darzustellen  vermochte,  bis  man  in  dem  Zusammenschmelzen  von  Kohlen- 
pulver und  Kalk  in  der  Hitze  des  elektrischen  Bogenlichtes  ein  billiges  Verfahren 
zur  Darstellung  von  Carbocalcium  oder  Calciumcarbid  erhielt,  das  in  Be- 
rohrung mit  Wasser  Acetylen  entwickelt. 

Das  Acetylen.  C,  H,  oder  CH  CH,  ist  ein  farbloses,  widrig  riechendes  Gas,  das 
bei  -f-  P und  einem  Druck  von  48  Atmosphären,  bei  Uu  sogar  unter  Druck  von  21  Atmosphären 
riu -mit  wird.  Es  wird  vom  Wasser  stark  abftörbirt  und  brennt  mit  leuchtender,  stark  rossender 
Flamme.  Es  lasst  sich  direct  aus  seinen  Elementen  hersteilen,  wenn  der  elektrische  Funke 
zwischen  Kohlenspitzen  in  eine  Wasserstoffatmosphäre  Überschläge  Es  entsteht  auch  beim 
l'eherleiten  von  Grubengas , Alkohol . Aether  u.  s.  w.  über  glühende  Röhren , sowie  beim  Ver- 
brennen von  Aether  oder  Benzol  mit  ungenügenden  Mengen  Sauerstoff.  Die  Entstehung  beim 
Contacte  von  Calciumcarbid  mit  Wasser  wurde  von  Wühler  entdeckt.  Das  Calciumcarbid,  C,Ca, 
wie  es  in  Kenhausen  (Schweiz)  fabriksmässig  hergestellt  wird,  bildet  äusserst  feste  graue 
Massen  , die  an  der  Luft  durch  Wasscranziehnng  zu  einem  weissen , grauen  Pulver  zerfallen, 
wobei  sich  der  an  Phosphorwasserstotf  erinnernde  Geruch  des  Acetylens  geltend  macht.  Beim 
Uebergiessen  mit  Wasser  kommt  es  zu  stürmischer  Gasentwicklnng.  Mit  Kupfer  und  Silber 
verbindet  sich  Acetylen  zn  einer  im  trockenen  Zustande  explosiven  Verbindung,  weshalb  Be- 
fasse aus  Metall  zur  Herstellung  zu  vermeiden  sind.  Man  empfiehlt  es  zu  Beleuchtungszwecken 
nnd  zn  Gasmotoren,  zum  ersten  Zwecke  entweder  zu  directer  Verbrennung  mit  Luft  oder  zur 
Verbesserung  (Carhuration)  gewöhnlichen  Leuchtgases 

In  Bezug  auf  die  Wirkung  des  Acetylens  stellt  nach  den  übereinstimmen- 
den Versuchen  von  Ludimar  Hermann  und  E.  Walker  >),  von  Ooiek  und  Bko- 
ctNF.it  und  R.  Rosemann  3)  fest,  dass  es  kein  Blutgift  ist  uud  weder  bei  langem 
Durchleben  durch  Blut,  noch  bei  tödtlicli  mit  Acetylen  vergifteten  Thieren  Ver- 
änderungen des  Oxybämoglobinspectrums  bewirkt.  In  seiner  Giftigkeit  steht  cs 
ausserordentlich  weit  hinter  der  des  Leuchtgases  zurück  und  nur  sehr  grosse 
Mengen  können  bei  Inhalation  im  Laufe  von  5 — 7 Stunden  letale  Intnxication 
herheiführeu.  Nach  Grehant  sind  40 — 7U°/o  >n  ^er  Atmosphäre  nöthig,  um  den 
Tod  herbeizuführen.  *)  Die  Vergiftungserscbeinnngen  bei  Thieren  bestehen  anfangs 
in  Benommenheit  und  Schlafneigung,  und  erst  im  Laufe  von  2 — 3 Stunden  kommt 
es  bei  fortgesetzter  Zufuhr  des  Gases  zu  tiefem  Schlafe  mit  starker  Athem- 
verlangsamung,  der  anfangs  auf  kurze  Zeit  von  Erbrechen,  später  durch  wieder- 
holte Anfälle  von  Dyspnoe  und  Angst  unterbrochen  wird,  bis  schliesslich  Irregu- 
larität der  Athmung  und  Lähmung  des  Atlimungscentrums  erfolgt. 

Üli  etwaige  Verunreinigungen , wie  sie  in  dem  aus  Calciumcarbid  ent- 
wickelten Gase  Vorkommen,  namentlich  Schwefelwasserstoff  oder  Phosphorwasser- 
stoff,  unter  Umständen  die  Giftwirkung  verstärken  können,  steht  dahin ; jedenfalls 
giebt  auch  das  daraus  dargestellte  nicht  ganz  reine  Gas  keine  Abweichungen  von 
der  Giftwirknng  reinen  Acetylens. 

Literatur:  ')  Hermann.  Lehrbuch  der  experimentellen  Pathologie.  Berlin  1874, 
pag.  114.  — ’)  Ggier,  Sur  In  toxiciti  ile  l’acetylene.  Annal.  d'hvgüne  publ.  1887,  XVIII, 
pag.  427.  — 3)  Rudolf  Rosemann,  Ueber  die  Giftigkeit  des  Acetylens.  Arch.  f.  experim. 
Path.  XXX VI,  pag.  178  — *)  Grehant,  Sur  ln  toricitr  de  l'aceti/lrne.  Compt.  rend.  CXXI, 
Nr.  17,  pag.  167.  Husemann. 

Akromegalie  (vergl.  Jahrbücher,  V,  pag.  8).  In  den  letzten  Jahren 
hat  die  Casuistik  der  Krankheit  wieder  eine  beträchtliche  Vermehrung  erfahren 
durch  Mittheilungen  von  Fratnich1),  Pershing*),  Parsons*),  Kalindeho4), 
Ricardo  Ioroe  6),  Campbell  «).  Murray  ’),  Catos  8),  Max  Hoffmann »),  Pinkles  10), 
Bruns11)  und  Mendel ’*).  Wohl  nicht  hierhergehörig  sind  die  Fälle  von  Marie  lä> 
(Pseudoakromegalie  hei  Syringomyelie;  Einseitigkeit  der  Verdickung  und  Defor- 
mation , die  auf  eiuzeine  Metacarpalknochen  und  Finger  der  rechten  Hand  und 
den  linken  Fugs  beschränkt  blieb)  und  von  Allen  Starr  u)  (progressive  Vcr- 
gri’isserung  des  Kopfes  und  Nackens,  vom  Autor  als  „Megalokephalie“  bezeichnet, 
wohl  mit  der  von  VlRCHOW  an  Schädeln  beschriebenen  hochgradigen  ditfusen 
Hypertrophie,  der  „Leontiasin  ossea“ , identisch).  Die  übrigen  nnzweifel- 
Ency  dop.  Jahrbücher.  VI.  2 


18 


AKROMEGALIE.  — ALLOXAN. 


haften  Fälle  liieten  in  syraptomatologisch-kliniseher  Hinsicht  kaum  etwas  Neues  und 
Besonderes.  Erwähnenswerth  ist  der  von  einzelnen  Beobachtern  (PARSONS  *), 
Catox  *)  und  Bruns  *•)  conBtatirte  Einfluss  der  Schilddrüsen flttterung,  der  jedoch 
nur  in  Besserung  der  snbjectivcn  Beschwerden  bestanden  zu  haben  scheint, 
ohne  merkliche  objective  Befundänderung.  MENDEL11),  der  von  den  Thyreoid- 
tabletten  einen  Erfolg  nicht  wahrnehmen  konnte,  versuchte  es  darauf  in  seinem 
(durch  Hemianopsie  und  Fehlen  der  PatellarrcHexe  bemerkenswert hen)  Falle  mit 
der  aus  theoretischen  Gründen  — vergl.  den  vorjährigen  Bericht  — gerecht- 
fertigten und  von  Pershing  bereits  vorgeschlagenen  Hypophysisfütterung  (Dar- 
reichung der  Hypophysis  von  frisch  geschlachteten  Kindern , täglich  1 Grm.}.  Was 
den  Erfolg  betrifft,  so  heisst  es  „abwarten“. 

Eine  grössere  zusammenfassende  Arbeit  erschien  von  M.  Sterxbehg.  !i) 

Literatur:  *)  Ernst  Fratnich,  Weitere  Mittheilungen  übereinen  Fall  von  Akro- 
megalie. Al  lg.  Wiener  med.  Ztg.  1893;  Communicazioni  ulteriori  sopra  un  cuso  (Vacromeyaliu. 
Venezia  1893.  — *)  Ho  well  T.  Hers  hing.  A case  of  acromegaly  irith  remarks  on  the 
patholoyy  of  the  disease.  Journ.  of  nervoux  and  mental  diseases.  1894,  pag.  693.  — *)  R.  L, 
Parsons,  Report  on  a case  of  acromegahj.  Ibid.,  pag.  717.  — 4)  Kalindero,  Sur  l'acro- 
mtyalie.  Roumanie  med.  1894,  Nr.  3.  — s)RicardoJorge,  ('ontrikution  ä l’ctude  de  Vacrtf 
mt'ynlic.  Areh.  di  psich.  1894,  XV.  — •)  Henry  Campbell,  Acromegahj.  Brit.  med.  Journ. 
17.  November  1894,  pag.  1110.  — 7)  Murray,  Clinical  remarks  on  rases  of  acromegaly  and 
osteopathy.  Ibid.  9.  Juli  1895,  pag.  293.  — *)  Ca  ton,  Acromegaly.  Ibid.,  pag.  307.  — Max 
Hoffmann,  Bemerkungen  zu  einem  Falle  von  Akromegalie.  Deutsche  med.  Woehenschr.  1895, 
Nr.  24.  — 10)  Pineies,  Wiener  med.  Club  vom  2ü.  März  1895;  Wiener  med.  Presse.  1895. 
Nr.  16.  — n)  Bruns,  Ein  Fall  von  Akromegalie  und  seine  Behandlung  mit  Schilddrüsen - 
oxtraet.  Neurol.  Centralbl.  1895,  pag.  1173.  — ,#)  Mendel,  Berlinor  med  Gesell  sch.  Sitzung 
vom  13.  November  1895;  Deutsche  med.  Woehenschr.  19.  December  1895,  Vereinsbeilage, 
pag.  204.  — 1J)  Marie,  Un  cos  de  Syringomyelie  a forme  pseitdo-acromcyaligue  (chico- 
Mi'yalic,  defonnation  (Fun  pied>.  Bull,  et  mem.  de  la  8oc.  med.  des  hop.  de  Paris.  6 April  1894  — 
*♦>  Allen  Starr,  Meyalocephalic,  or  leontiasis  ossea.  Amer.  Journ.  of  the  raed.  Sciences.  Dec. 
1894.  — 1Ä)  M.  Sternberg,  Beitrage  zur  Kenntnis*  der  Akromegalie.  Zeitschr.  f.  klin. 

Med.  XXVII.  A.  Eulenburg. 

Aktinomyces  in  den  Thränenröhrchen.  Die  wiederholt  in  den 

Thränenröhrchen  beobachteten  Pilzeoncretionen,  von  denen  man  anfänglich  meinte, 
dass  sie  aus  Leptothrix  buccnlis  bestünden,  bis  es  sich  herausstellte,  dass  sie  einer 
< 'ladothrixart  (htreptothrix  Forsten,  F.  Cohx)  angehören,  haben  neuerliche  Unter- 
suchungen erfahren.  Da  es  sieh  zeigte,  dass  genannte  Streptothrix  identisch  sei 
mit  Aktinomyces,  so  sind  wohl  auch  alle  früher  beschriebenen  Fälle  als  zu  letz- 
terem Pilze  gehörig  zu  betrachten,  Naebgewiesen  wurde  dies  für  neun  Fälle  von 
Th.  v.  Schröder  und  Ei.schmg. 

Literatur:  v.  Schröder.  Aktinomyces  im  unteren  Thränenröhrchen  Klin. 
Monatsbl.  f.  Augenbk.  April  169 1.  — Elschnig,  Aktinomyces  im  Thränenröhrchen.  Ebenda. 
Juni  1895.  Rcnss. 

Alloxan.  u eher  die  Giftigkeit  des  wegen  seiner  Beziehungen  zum  Harn- 
stoff und  zur  Harnsäure  interessanten  Körpers  waren  bisher  Untersuchungen  niciit 
vorhanden.  Nach  Lustxi  besitzen  sowohl  Alloxan , als  das  aus  diesem  durch 
Vereinigung  von  Alloxan  mit  Dialursiiure  entstehende  Alloxantin  als  die  bei 
stärkerer  Einwirkung  von  Salpetersäure  auf  Harnsäure  durch  Oxydation  des  hei 
schwächerer  Einwirkung  resultirenden  Alloxaus  entstehende  Parabansäure  giftige 
Wirkung ; doch  ist  das  Alloxan  die  giftigste,  die  Parabansäurc  die  am  wenigsten 
giftige  dieser  drei  Verbindungen.  Alloxan  und  Alloxantin  haben  auch  eine  stark 
irritirende  Action  auf  die  Haut  und  andere  Körpergewebe,  die  mit  ihnen  in  Be- 
rührung kommen ; der  Parabansäure  geht  diese  ab.  Die  entfernte  Wirkung  ist 
vorwaltend  auf  das  Centralnervensystem  gerichtet  und  ist  anfangs  erregend, 
später  lähmend.  Die  erregende  Action,  die  sich  in  tetanischen  Krämpfen  äussert,  ist 
besonders  stark  bei  Fröschen ; nach  Alloxantin  kommt  es  bei  Kaninchen  nur  zu 
Steigerung  der  Reflexe  und  Schmcrzcmpflndung.  Alle  drei  Substanzen  haben  bei 
Vergiftungen  diastolischen  Herzstillstand  zur  Folge,  der  bei  Alloxan  am  raschesten 


ALLOXAN.  — AMANITA. 


19 


anftritt.  Auf  periphere  Xerven  und  Muskeln  wirkt  Alloxan  und  in  geringerem 
Masse  Alloxantin  erregend , Parabansäure  verniclitet  in  kurzer  Frist  die  Muskel- 
contraetilität  nnd  Xervenirritabilität.  Die  exeitirende  Wirkung  auf  das  Xerven- 

NH 

System  erscheint  von  der  Ureidgruppe  COvv|I  und  nicht  von  der  in  den  Verbin- 


dungen angenommenen 


Imidgruppe  XH 


CO 

CO 


abhängig , 


da  wirkliche  Imide , 


wie 


Succinimid  und  Chlornlimid,  Krämpfe  nicht  hervorrufeu.  Alle  drei  Verbindungen 
werden  im  Organismus  total  verändert;  nach  Einführung  von  Alloxan  finden  sich 
im  Harn  geringe  Spuren  von  Alloxantin  und  Parabansäure,  nach  Alloxantin  ganz 
unbedeutende  Spuren  Alloxantin,  ausserdem  winzige  Mengen  Dialursäure,  Paraban- 
saure und  Murexid,  nach  Parabansilnre  äusserst  kleine  Mengen  der  eingeführten 
Verbindung. 


Literatur:  Lnsini,  Still1  asione  bioloyiea  delle  meide  in  ntjtporto  alla  luro 
eoetituzione  chimirtt.  Altoenano,  Alton  an  nt  inu  c Acido  parabnnieo.  Annal.  di  Chim.  e Farmacol. 
Fase.  4,  6,  8,  U,  pag.  145,  241,  337,  3*5.  Husemann. 


Amanita  phalloides  Fr.  Agnrieu » phalloide»  Phoeb.  s. 

Agaricus  bulbosus  li.,  Knollenblätterschwamm,  ist  ohne  Frage  der  ge- 
fährlichste aller  Giftpilze  Europas.  Während  der  Fliegenschwamm  durch  sein 
charakteristisches  Aeussere  für  Jedermann  leicht  kenntlich  ist  und  zu  Verwechs- 
lungen nur  selten  Anlass  gegeben  hat,  sieht  der  Knollcnblätterschwamm,  welcher 
•eine  weissliche  Färbung  hat,  sehr  unverdächtig  und  dem  Feldchampignon,  sowie 
dem  echten  Mousseron  ähnlich  aus  und  ist  daher  schon  sehr  oft  irrthümlich  statt 
essbarer  Pilze  gesammelt  nnd  zu  Speisen  zugesetzt  worden.  Aber  selbst  Pilz- 
sammler, welche  das  Aussehen  des  in  Rede  stehenden  Pilzes  zu  kennen  glauben, 
werden  gelegentlich  durch  ihn  getäuscht,  da  er  die  Eigenthilmlichkcit  besitzt, 

Varietäten  zu  bilden,  welche  statt  der  weisslichen  Farbe  eine  gelbe,  grüne,  rothe 
oder  braune  aufweisen.  In  manchen  Gegenden  Russlands  bezeichnet  man  ihn 
als  weissen  Fliegenschwamm,  weil  er  die  weissen  Flecken,  welche  den  Hut 
des  Fliegenschwammes  charakterisiren , ebenfalls  hat ; allerdings  heben  sie  sich 
von  dem  weisslichen  Grunde  viel  weniger  ab  als  beim  Fliegenschwamm  vom 
rothen  Grunde.  Leider  können  auch  diese  Flecken  ganz  fehlen,  namentlich  in 
den  gefärbten  Varietäten.  Der  Xame  Knollenblätterpilz  erklärt  sich  aus  der  lamel- 
lösen  Structur  des  Hutes  und  der  am  unteren  Ende  des  Pilzes  nie  fehlenden 
Knolle.  Der  Pilz  findet  sich  im  Spätsommer  und  Herbst  in  schattigen  Waldungen 
Nord-  und  Suddeutschlands,  Russlands,  Frankreichs,  Englands,  Schwedens,  Däne- 
marks, Italiens  etc.  Sein  Geruch  und  Geschmack  ist  weder  im  frischen  Zustande, 
noch  nach  dem  Kochen  unangenehm ; selbst  Feinschmecker  erkennen  ihn,  wenn 
er  in  einzelnen  Exemplaren  unter  ein  Gericht  essbarer  Pilze  gcrathen  ist,  nicht 
heraus.  Alle  für  die  Erkennung  giftiger  Pilze  im  Volke  üblichen  Mittel  (Schwär- 
zung eines  silbernen  Löffels  etc.)  lassen  bei  ihm  völlig  im  Stich.  Die  ältere 
Literatur  Uber  die  Vergiftuugscasuistik  dieses  Pilzes  findet  sich  bei  E.  Bocdier, 
neuere  bei  Studer,  Sahli  und  Schareb.  Xach  einer  Zusammenstellung  von  H. 

Koppel  in  Dorpat  S'nd  binnen  10  Jahren  etwa  48  schwere  Erkrankungen  mit 
zum  Tlieil  tödtliehem  Ausgang  durch  diesen  Pilz  in  der  Literatur  beschrieben 
worden.  Xach  F.  A.  Falck  sterben  7 f> °/0  der  Erkrankten,  ln  Russland  bleibt  die 
Hauptmenge  der  Vergiftungen  durch  diesen  Pilz  unbemerkt , weil  es  an  Aerztcn 
fehlt,  welche  die  richtige  Diagnose  zu  stellen  im  Staude  sind. 

Man  hat  schon  seit  Jahrzehnten  sich  bemüht,  die  die  Vergiftung  bedin- 
gende Substanz  aus  dem  Pilze  darzustellen  und  hat  sie  als  Uulbosin  (Böhmer), 
sowie  als  Phalloidin  (OrE)  bezeichnet.  Seit  vier  Jahren  beschäftigen  sich  Kobekt 
und  E.  Jürgens  eingehend  wieder  mit  dieser  Frage.  Zur  Untersuchung  gelangten 
Pilzexemplare  aus  dem  Harz,  aus  der  sächsischen  Schweiz,  aus  der  Gegend  von 
Freiburg  in  Baden,  von  München,  aus  Livland  und  Finnland.  Dabei  ergab  sich, 

2* 

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20 


AMANITA. 


dass  die  frühere  Vcrmuthung,  wonach  nur  ein  Alkaloid  die  Giftigkeit  bedingt,  falsch 
ist.  Es  handelt  sieh  vielmehr  um  ein  Toxalbumin,  Phalli n genannt,  neben  welchem 
auch  ein  Alkaloid  vorhanden  ist , aber  bei  der  Vergiftung  in  praxi  weniger  Be- 
deutung hat  als  das  Phallin , weil  vorsichtige  Köchinnen  den  ersten  Absud  aller 
zum  Essen  bestimmten  Pilze , in  welchem  sich  natürlich  dieses  Alkaloid  befindet, 
wegzuwerfen  pflegen.  Eine  Reindarstellung  des  Alkaloides  konnte,  da  es  nur  in 
geringer  Menge  vorhanden  ist , bisher  nicht  vorgenommen  werden ; es  wurde 
jedoch  constatirt,  dass  es  kein  Blutgift,  sondern  ein  reines  Nervengift  ist.  Das 
Phallin  wurde  zuerst  von  Robert  dargestellt  und  dann  von  ihm  und  Jürgens 
genauer  untersucht.  Es  besitzt  ungemein  starke  Giftwirkuug  für  die 
rothen  Blutkörperchen,  welche  ähnlich  wie  durch  die  sogenannten  Saponin- 
substanzen aufgelöst  werden.  Das  aufgelöste  Hämoglobin  kann  im  Harn  als  Hämo- 
globin oder  Methämoglobin  in  Lösung  anftreten ; es  kann  aber  auch  bei  der  von 
Bostrokm  zuerst  pathologisch-anatomisch  untersuchten  Lorchelvergiftung  (durch 
Helvella  rsculenta ) in  Form  von  „Tröpfchen“  erstarren,  so  dass  der  Harn  nach 
dem  Absetzeu  gelb  aussieht,  aber  einen  braunrothen  oder  braunschwarzen  Boden- 
satz besitzt.  Endlich  braucht  es  unter  Umständen  überhaupt  nicht  zu  sichtbaren 
Veränderungen  des  Harnes  zu  kommen,  da  einerseits  das  aufgelöste  Hämoglobin 
von  der  Leber,  Milz  etc.  aufgefangen  werden  kann , und  da  andererseits  das 
Phallin  auch  durch  schwere  cerebrale  Störungen  tödten  kann.  Hier  soll  nur  die 
Thatsachc  betont  werden,  dass  beim  Versuche  im  Reagenzglas  mit  Blut  beliebiger 
Thicre  der  mit  physiologischer  Kochsalzlösung  hergestellte  neutrale  Auszug  aus 
allen  überhaupt  zur  Untersuchung  gelangten  frischen  oder  vorsichtig  getrockneten 
Exemplaren  von  Am.  phallaiJes  in  sehr  hohem  Grade  blutkörperehennuflösend 
und  giftig  wirkte.  Die  Exemplare  wurden  zum  Theil  vorher  mit  Alkohol  uud 
dann  noch  mit  Aether  erschöpft,  ohne  dass  dies  auf  die  Wirkung  des  Kochsalz- 
auszuges auf  Blut  wesentlichen  Einfluss  gehabt  hätte.  Robert  glaubte  anfangs, 
dass  dass  Trocknen  oder  Kochen  der  Pilze  insofern  entgiftend  wirkt , dass  bei 
innerlicher  Darreichung  dann  keine  Wirkung  mehr  eintritt.  Leider  hat  sich  jetzt 
herausgcstellt , dass  weder  das  Trocknen  noch  das  massige  Kochen  das 
Phallin  unwirksam  macht;  dass  das  Alkaloid  bei  diesen  Proceduren  unver- 
ändert bleibt,  ist  selbstverständlich.  Für  den  Arzt  ist  es  von  Wichtigkeit  zu  wissen, 
dass  nach  Genuss  kleiner  Mengen  unseres  Giftpilzes  der  Mensch  sich  10  Stunden 
lang  ganz  wohl  helinden  kann,  da  das  beim  Kochen  gewonnene  Phallin  aus  den 
dickwandigen  Zellen  des  Pilzgewebes  nur  sehr  langsam  durch  die  Verdauungs- 
fermente in  Lösung  geht  und  im  Darmcanal  zur  Resorption  kommt.  Die  Diagnose 
wird  dadurch  sehr  erschwert.  Die  Therapie  kann  nur  in  Brechmitteln  und  Ab- 
führmitteln bestehen,  welche  oft  noch  am  zweiten  Tage  unverdaute  Pilzstücke  zu 
Tage  fördern.  Bei  der  Section  der  der  Vergiftung  nach  8 — 10  Tagen  erliegenden 
Patienten  findet  sich  häufig  ein  Befund,  welcher  an  Phosphorvergiftung 
oder  an  acute  gelbe  Leberatrophie  erinnert,  ja  welcher  wohl  geradezu 
damit  gelegentlich  verwechselt  worden  ist.  Genaueres  darüber  siehe  bei  Kobf.rt 
und  JÜRGENS,  ln  Würzburg  ist  vor  Kurzem  die  Giftigkeit  der  Ämanita  phalloides 
und  ihre  Wirkung  auf's  Blut  auf  Grund  einiger  FUtterungsversuehe  an  Mäusen 
bestritten  worden.  Im  Interesse  des  Wohles  von  Tausenden  von  pilzessenden 
Menschen  sieht  sich  Unterzeichneter  leider  geuöthigt,  aufs  Ernsteste  davor  zu 
warnen,  den  Würzburger  Untersueh  ungen  Glauben  zu  schenken. 

Literatur:  E.  Boudier,  Die  Pilze  in  ökonomischer,  chemischer  und  toxikolo- 
gischer Hinsicht.  Deutsche  IJebersetzung  von  Th.  Huscmann.  1867.  — E.  Boudier.  Bull, 
de  l'acad.  de  med.  1882,  Nr.  15,  pag.  372.  — B.  Studer,  H.  Sahli  und  E.  Schärer, 
Mittheilunpen  der  Naturforschergesellschaft  zu  Bern.  1885.  1-  Heft.  — Ort,  Bull,  de  l'acad. 
de  med.  1877.  pag.  350  und  877.  — Kobert,  Sitzungsbericht  der  Dorpater  Natnrforscher- 
gcscllschaft.  1891.  IX,  pag.  535.  — Kobert,  Lehrbuch  der  Intoxicationen.  1893,  pag.  157-  — 
Erwin  Jürgens,  Diese  Pulilicatinn  wird  in  den  Arbeiten  des  pharmakologischen  Institutes  zu 
Dorpat  erscheinen  nnd  von  Abbildungen  begleitet  sein.  Kobert 


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AMYGDOPHENIN.  — ANTINUSIN. 


21 


Amygdophenin,  Aethylamygdophenin,  0„  H , ^NH.CO  CH(OH).C,Hs 
ist , wie  das  Phenacetin  , ein  Derivat  des  Paramidnphenols,  bei  welchem  jedoch 
in  der  NH2- Gruppe  an  Stelle  des  Essigsäurerestes  ein  Mandelsäurerest  ein- 
gefügt ist  und  das  Wasserstoffatom  der  Hydroxylgruppe  durch  Aethylcarlionat 
vertreten  wird,  wurde  von  R.  StÜvk  auf  der  Abtheilung  v.  Noordkn’s  (Frank- 
furt a.  M.)  therapeutisch  versucht.  Das  Mittel,  ein  grauweisses  krystallinisches 
Pulver,  das  sich  im  Wasser  sehr  schwer  löst,  zeigte  sich  namentlich  als  Anti- 
rheumaticum  sowohl  bei  GelenksrheumatismuB  mit  fieberhaftem,  als  nicht  fieber- 
haftem Verlauf  wirksam.  Als  A ntipyreticum  waren  die  Resultate  weniger  sicher, 
als  A n tinenralgicum  zeigte  es  häutig  Erfolg. 

Es  wurde  in  Gaben  von  l'O  ein-  oder  mehrmals  täglich  bis  zu  Tages- 
mengen von  5 — 6 Grm.  verordnet.  Ueble  Nebenwirkungen  soll  das  Mittel  keine  haben. 

Lit  eratn  r:  R.  S t tt  v r,  Amygdophenin,  ein  neues  Antirheumatirum.  (Ans  der  Ahth. 
des  Prof.  v.  Noorden.)  Centralbl.  f.  teuere  Med.  18115,  Nr.  4ti.  Loebiscb. 

Anagyrinum  hydrobromicum  crystallisatum.  c„  his  n,  o, . HBr. 

Das  bromwasserstoffsaure  Salz  des  aus  dem  Samen  von  Anagyris  foetida  von 
Haudy  und  Pallois  zuerst  dargcstellten  Alkaloides  Anagyrin  bildet  weisse 
Schüppchen,  löslich  in  Wasser  und  in  Weingeist,  die  bei  265°  schmelzen.  Nach 
neueren  Untersuchungen  von  A.  Coutekst  wirkt  das  Anagyrin  toxisch  auf  die 
Muskel,  das  Herz  und  die  Respiration.  Die  absolute  Arbeitsleistung  des  Herzens 
wird  gleichzeitig  mit  einer  Beschleunigung  der  Herzschläge  vermindert ; der 
arterielle  Druck  wird  erhöht.  Diese  Erscheinungen  treten  sowohl  an  intacten  als 
auch  curarisirten  Thieren  und  an  solchen,  bei  denen  das  verlängerte  Mark  rese- 
cirt  oder  zerstört  worden , auf.  Das  Aufhören  der  Anagvrinwirkung  nach  Ein- 
führung von  Chloralhydrat  gestattet  die  Annahme,  dass  dieses  Alkaloid  auf  die 
peripheren  Nervcnganglien  und  nicht  auf  das  centrale  Nervensystem  einwirkt. 
Geber  die  praktische  Verwendbarkeit  des  Anagyrin  liegen  noch  nicht  genügende 
Erfahrungen  vor;  möglich,  dass  es  bei  Herzaffectionen,  bei  denen  das  Organ  ge- 
reizt und  der  arterielle  Druck  erhöht  werden  soll,  sich  wirksam  erweist. 

Literatur:  Hardy  und  Gallois,  Soc.  de  Biol.  13.  Juni  1885  nnd  Journ.  de 
Pharm,  et  Chim.  1889,  I,  pag.  10.  — A.  Contrest,  These  de  la  Faculte  de  Med.  de  Paris. 
1892,  Nr.  321.  — E.  Merck's  Bericht  über  das  Jahr  1895.  Loebiscb. 

Anarcotin.  Das  von  Wm.  Roberts  neuerdings  empfohlene  Auarcotin 
ist  identisch  mit  dem  längst  bekannten  Opiumalkaloid  Narcotin  C,,  H13  NOj, 
welchem  er,  da  es  keine  narkotischen  Eigenschaften  besitzt,  den  neuen  Namen 
gab.  Es  bildet  farblose,  durchsichtige  Prismen  oder  platte  Nadeln  , unlöslich  in 
Wasser,  schwer  löslich  in  Weingeist  und  Aether.  Schmelzpunkt  176°C.  Das  salz- 
saure Salz  ist  in  Wasser  leicht,  das  saure  schwefelsaure  Salz  schwer  löslich. 
Nach  Beobachtungen  englischer  Aerzte  in  Indien  steht  das  Anarcotin  bei  Malaria- 
fieber dem  Chinin  wenig  nach.  Ja  es  giebt  Fälle  von  Malaria , die  nur  nach 
Gebrauch  des  Anarcotins  weichen , was  in  der  Verschiedenheit  der  Organismen, 
die  je  einen  bestimmten  Fiebertypus  erzeugen,  seine  Erklärung  findet. 

Dosirung:  Anarcotin  zu  0,1 — 0,2  mehrmals  täglich;  .die  Tagesdosis 
ist  bei  Intermittens  1,0  — 1,5.  Ro.vrs  giebt  es  in  verdünnten  Säuren  nach  fol- 
gender Formel:  Anarcotini  puri  2,0,  Add.  sulfuric.  dilut.  8,0,  Ar/,  dest.  180. 
M.D.S. : 2st(lndlich  1 Esslöffel  voll  zu  nehmen,  oder  man  verordnet  eines  der  leichter 
löslichen  Salze  zu  2 Grm.  auf  180  Wasser  und  10  Grm.  Spiritus  ineiU/t.  piperit. 
Alle  2 Stunden  1 Esslöffel  voll  zu  nehmen. 

Literatur:  W m.  Roberte,  Brit.  med.  Journ.  1895,  II,  pag.  405:  E.  Merck's 
Bericht  über  da»  Jahr  1895.  Loebiscb. 

Antinosin.  Das  Natriumsalz  des  Nosopheus,  s.  Nosophen. 


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APOCODEINl'M.  — APOLVSIN. 


Apocodeinum  hydrochforicum,  C,8H19N0j.HCl,  ein  amorphes, 
gelblichgraues,  in  Wasser  leicht  lösliches  Pulver,  wurde  von  W.  Ml'RRKl.  1891 
als  kräftiges  Expeetorans  bei  chronischer  Uronehitis  zur  innerlichen  oder  subcutanen 
Anwendung  empfohlen.  Guikahd  kam  später  durch  physiologische  Versuche  am 
Hunde  zum  Schluss,  dass  das  Apocodein  keineswegs  in  Analogie  mit  dem  Apo- 
morphin als  Vomitivnm  wirkt,  es  erzeugt  vermehrte  Speichelsecrction  und  be- 
schleunigte Darmperistaltik,  sei  aber  hauptsäcldich  ein  Sedativum,  welches 
leichten  und  vorübergehenden  Schlaf  erzeugt ; im  Vergleich  mit  Codein  ist  es 
weniger  secretionsbefördernd  und  weniger  krampferregend  und  im  Allgemeinen 
mehr  beruhigend,  er  empfahl  es  daher  als  Beruhigungsmittel  in  der  Kinderpraxis 
statt  dieses.  Während  nun  G.  Meder  sich  der  Ansicht  Murrei.’s  anschliesst  und 
es  praktisch  nur  als  Kxpectorans  anwendbar  hält,  berichtet  Tot  wieder  von  der 
beruhigenden  Wirkung  des  Mittels,  welches  selbst  bei  nianiakaliscben  Zuständen 
mehrere  Stunden  Schlaf  herbeiführt.  Sowohl  per  os  als  auch  subcutan  augewendet, 
bewirkt  es  1 — 3 Stühle,  jedoch  niemals  Erbrechen. 

Dosirnng.  Als  Sedativum  bei  innerem  und  subcutanem  Gebrauch  0,02 
bis  0,06  Grm.  Intern:  Apocodein  i hydrochlo  rici  0,5,  Aq.deat,  100,  Syrupi  25,0, 
'/(  — 1 Esslöffel  voll  zu  nehmen.  Subcntan:  Apocodeini  hydrochlorici  0,2,  Aq. 
dett.  10,0.  Eine  PliAVAZ-Spritze  voll  zu  injieiren. 

Literatur:  \V.  Murret,  Brit.  med.  .Inurn.  1891,  pag.  457.  — L.  Guinard, 
Contribut.  ö l'etuile  phi/tiolog'i/uc  de  Vapocodeine.  Lyon  1893  und  Lyon  med.  1893,  Nr.  21 
u.  23.  — G.  Meder,  Inaug.-Dissert.  Dorpat  1895.  • — Toy,  Semaine  med.  1895,  pag.  341»; 
E.  Merck’s  Bericht  für  das  .tahr  1895.  Loebisch 

Apolysin,  Monophenetidin  citron  ensiiure, 
f,  „ / 0CjH5  OH 

1 ‘ NH.COCH, — C CHj.t'OOH. 

't'ÜOH 

Dieses  von  L.  v.  Nkxcki  und  J.  v.  Ja wokski  empfohlene  Antipvreticum  und  Anti- 
neuralgicum  ist  in  seiner  chemischen  Constitution  mit  dem  Phenacetin  verwandt. 
Während  letzteres  durch  die  Substitution  eines  Atoms  Wasserstoff  der  XII, -Gruppe 
durch  den  Essigsäurerest  im  para-Phenetidin  entsteht,  enthält  das  Apolysin  an  der- 
selben Stelle  den  Best  der  Oitronensäure,  Es  stellt  ein  weissgelbliches  krystallinisches 
Pulver  von  schwach  säuerlichem  Geschinacke  dar,  welches  sich  in  kaltem  Wasser 
1:55  löst;  in  heissem  Wasser  in  allen  Verhältnissen.  Es  schmilzt  bei  72°  C.  In 
Alkohol  und  ebenso  in  Glycerin  ist  es  leicht  löslich.  Bei  einer  grossen  Anzahl 
acuter  fieberhafter  Krankheiten  (eroupösc  Pneumonie,  Anginn  follic.,  Scarlatina) 
bewirkte  das  Apolysin  eine  Temperaturvermiuderung  von  1 — 1'8°  C.  mit  gleich- 
zeitiger Linderung  der  Schmerzen.  Bei  Neuralgien  (Xeuralg.  supraorbit.  und 
cervico-occipit.,  Ischias,  Hemicranie)  wurden  die  schmerzhaften  Anfälle  in  ihrer 
Dauer  abgekürzt,  häufig  auch  zum  Schwinden  gebracht.  Bei  leerem  Magen  und 
Dyspepnia  acida  ist  die  Anwendung  des  Mittels,  welches  de  norma  erst  im  Darm 
in  seine  Componenten  gespalten  werden  soll,  contraindicirt.  l'nangenehme  Neben- 
wirkungen wurden  bis  jetzt  nicht  beobachtet.  Das  Mittel  wurde  bisher  in  Pulver- 
form gegeben,  einigemal  auch  in  Verbindung  mit  Bromideu,  auch  mit  Salzen  des 
Coffeins.  Die  antipyretische  Dosis  beträgt  3 Grm.  pro  die  in  stündlichen  Gaben 
von  1 Grm.  Bei  Kindern  dreimal  täglich  0,2 — 0,4  Grm.  Die  Unschädlichkeit 
des  Mittels  gestattete  dasselbe  bei  Puerperalfieber  bis  zu  6 Grm.  pro  die  zu 
geben.  Bei  Neuralgien  während  des  Anfalles  0,5,  1,0 — 1,5.  ln  seiner  toxischen 
Wirkung  stellt  das  Apolysin  dem  Phenacetin  nach,  ln  Bezug  auf  die  Verschieden- 
heiten in  der  Zusammensetzung  des  Apolysins  und  des  Citrophens  (s.  d.)  sei  an 
dieser  Stelle  nur  bemerkt,  dass  sieh  die  beiden  Verbindungen  zu  einander  ver- 
halten wie  Phenacetin  zum  essigsanren  p-Phenetidin.  Die  engere  Bindung,  in 
welcher  das  Phenetidin  im  Apolysin  sich  findet,  bewirkt  nach  II.  Hii.dkbuaxdt, 
dass  das  Phenetidin  in  alkalischen  Flüssigkeiten  nur  schwer  zerlegt  wird,  daher 
die  Unschädlichkeit  grosser  Dosen  Apolysin  bei  subcutaner  Injection;  anderseits 


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APOLYSIN.  — ARGON. 


23 

ist  das  Apolysin  im  sauren  Magensaft  leichter  spaltbar,  wie  das  Phenacetin,  wo- 
durch es  im  Nachtheil  gegen  letzteres  ist.  Demgemäss  haben  die  ersten  Empfehler 
des  Apolysins  den  Gebrauch  bei  nüchternem  Magen  und  bei  Hvpersecretion  für 
contraindicirt  erachtet.  Diese  Contraindication  fällt  jedoch  weg,  sobald  man  statt 
des  stark  sauren  Apolysinpulvers  die  aus  1 Theil  Natrium  bicarbonic.  und 
2 Theile  Apolysin  hergestellten  Apolysin-Tabletten  verwendet,  deren  Lösung 
schwach  alkalisch  schmeckt. 

Literatnr:  Drs.  v.  Nencki  und  Jnworski,  Untersuchungen  Uber  Apolysin.  Gaz. 
lekarska.  Mai  1895  und  Allg.  med.  Central-Ztg.  1895.  Nr.  GO — 62.  — Dr.  H.  H i I de  brandt- 
Elberfeld,  l'eber  Apolysin  und  Cilroplien  nebst  Bemerkungen  über  die  praktische  Verwendbar- 
keit von  Phenetidinderivaten.  Centralbl.  f.  innere  Med.  1895,  November.  Loebisch. 

Arecolin,  c,  Hfi  NOj,  eines  der  in  der  Areennuss  (Areca  catechu)  ent- 
haltenen Alkaloide,  während  das  andere  Arecain  nach  Marme  physiologisch  un- 
wirksam ist,  nach  Mocqokt  aber  dem  Muscarin  ähnlich  wirkt.  FröHNEK  fand 
zuerst,  dass  Arecolinbromhydrat  an  sialagoger  Wirkung  das  Pilocarpin  übertrifft 
und  als  Laxans  dem  Eserin  nahe  steht.  Er  empfahl  es  in  der  Thierheilkunde 
als  Laxans  und  als  Derivativum  an  Stelle  der  combinirten  Inject  innen  von  Ese- 
rin u m su/furicum  und  Pilocnrpinum  nitricum.  G.  Lavagxa  entdeckte  die  myo- 
tische  Wirkung  des  Arecolins;  ein  einziger  Tropfen  einer  l°  0igen  Lösung  von 
Arecolinbromhydrat  in  das  Auge  gebracht  bewirkt  zunächst  ein  Gefühl  von 
Wärme  im  Auge,  Lidspasmus,  Hyperämie  und  leichte  oberflächliche  Injection  der 
Hornhaut.  Die  Reizungserscheinungen  verschwinden  nach  einigen  Minuten,  es 
tritt  Myosis  ein,  die  in  5 Minuten  deutlich  ausgeprägt  ist,  ihr  Maximum  in 
10  Minuten  erreicht  und  bis  zur  30.  Minute  bleibt.  Von  da  an  beginnt  die  Rück- 
kehr zur  Norm,  die  in  70  Minuten  erreicht  ist.  In  dieser  Dosis  erzeugt  das 
Alkaloid  selbst  bei  mehrmaliger  Application  innerhalb  eines  Tages  niemals  Kopf- 
schmerz. Nur  ein  ganz  leises  Gefühl  von  Asthenopie,  bedingt  durch  die  Ueberau- 
strengung  des  MuscuIuji  ciliaris , macht  sich  kurze  Zeit  geltend.  Battistini  und 
Scofone  sahen  bei  Fröschen  zunächst  Reflexsteigerung  und  Krämpfe,  dann  Läh- 
mung; bei  Warmblütern  Myose,  Salivation,  Diarrhoe,  Lähmung  des  Herzens 
und  der  Respiration.  Movqcet  berichtet,  dass  das  Arecolinum  hydrobroinician 
bei  Pferden  in  einer  Dosis  von  0,02  sofort  starken  Speichelfluss  und  Stuhlent- 
leerung ohne  Diarrhoe  hervorruft.  Bardet  empfiehlt  es  als  Taenifugum  an 
Stelle  der  Arccanuss.  Port; kt  wendet  dagegen  ein,  dass  die  bei  Thieren  beob- 
achtete unangenehme  Herzwirkung  des  Arecolins  dessen  Verwendung  am  Men- 
schen beeinträchtigen  könnte. 

Literatur:  G.  Lavagna.  Experimentelle  Notizen  über  die  physiologische  Wir- 
kung eines  neuen  myotischen  Alkaloids  (Arecolin).  Tlierap.  Monatsh.  1895.  pag.  3 Ü4.  — 
Frühner,  Monatsh  f.  praktische  Thierheilkunde.  1894,  V,  pag.  353.  — Battistini  und 
Scofone.  Therap.  Wochcnschr  1895.  pag.  771-  — Monquet.  Bardet,  Pouget,  Su r lt 
hromhydrate  d’Aritolin  et  tes  «ot'x  il' Areequa.  La  semaine  med.  1S95,  Nr  53 

Locbisch. 

Argon  A.  Am  31.  Januar  1894  legten  Lord  RaLEIGE  und  Professor 
W.  RamsaY  der  Royal  Chemical  Society  den  Bericht  Uber  die  Auffindung  eines 
neuen  gasförmigen  Elementes  in  der  Atmosphäre  vor,  welches  einen  normalen 
Bestandtheil  derselben  bildet,  und  dem  sie  den  Namen  Argon  A.  gegeben  haben. 
Der  Name,  aus  dv  und  iiyov  gebildet,  soll  die  Unfähigkeit  des  neuen  Elementes, 
chemische  Verbindungen  einzugeben,  auzeigen:  diese  Eigenschaft  giebt  auch  den 
Grund  dafür,  dass  sich  das  Argon  so  lauge  der  Entdeckung  entzog.  Seit 
Scheele  1775  die  Luft  als  ein  Gemenge  von  Sauerstoff  und  Stickstoff'  kennen 
lehrte,  fand  man  nur  noch  Wasserdampf,  Kohlendioxyd,  Ammoniak,  salpetrige 
Säure  und  Ozon  als  accidentelle  Bestandtheile  darin.  Zur  Annahme  des  Vor- 
kommens eines  neuen  Elementes  in  der  atmosphärischen  Luft  lag  anscheinend 
kein  Grumt  vor.  Doch  ist  es  von  historischem  Interesse,  dass  H.  Cavkxdish  1785 
in  der  phlogistisirten  Luft  — als  solche  wurde  zu  jener  Zeit  der  Stickstoff' 


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ARGON.  — ARGONIN. 


24 

bezeichnet  — einen  Theil  beobachtete,  der  »ich  nicht  in  salpetrige  Säure  ver- 
wandeln lies»,  und  über  dessen  Menge  er  »ich  dahin  ausspricht,  dass  er  nicht 
mehr  als  ’/no  des  Ganzen  betragen  könne.  Die  Anregung  zur  Suche  auf  einen 
neuen  Bestandteil  der  Luft  ergab  der  Umstand,  dass  die  Dichte  des  Stickstoffs, 
welcher  aus  der  Luft  nach  der  Absorption  von  Sauerstoff,  Kohlensäure,  Wasser- 
dampf  (ihrig  blieb,  höher  war  als  die  Dichte  des  aus  verschiedenen  chemischen 
Verbindungen  isolirten  Stickstoffs.  Diu  Dichten  der  letzteren  waren  untereinander 
gleich,  und  zwar  waren  dieselben  um  0,5%  geringer  als  die  Dichte  des  atmo- 
sphärischen Stickstoffs,  das  Verhalten  des  letzteren  konnte  nur  von  einer  fremden 
Beimengung  herrühren.  DieB  wurde  durch  folgcndeu  Versuch  erwiesen:  Leitet 
man  atmosphärischen  Stickstoff  durch  eine  zum  Glühen  erhitzte  Röhre,  welche 
Magnesiumdraht  enthält,  so  wird  hiedurch  sämmtlicher  Stickstoff  vollständig  ge- 
bunden, indem  er  in  eine  feste  Verbindung  Mg3  Na  — Magnesiumnitrid  — ilber- 
gefiihrt  wird;  dabei  bleibt  aber  circa  1 % der  ursprünglichen  Menge  des  atmo- 
sphärischen Stickstoffs  unabsorbirt  und  lässt  sich  aufsammeln.  Dieses  durch 
Magnesium  nicht  gebundene  Gas  ist  das  Argon.  Die  Treunung  des  Argons 
vom  atmosphärischen  Stickstoff  gelingt  auch  durch  Lithium,  welches  sich  schon 
bei  einer  die  Rothgluth  kaum  erreichenden  Temperatur  mit  Stickstoff  verbindet. 
Das  Argon  ist  im  Wasser  etwas  leichter  löslich  als  Stickstoff,  so  dass  Luft,  die 
vorher  in  Wasser  gelöst  war  und  aus  diesem  austritt,  relativ  argonreicher  ist 
als  die  gewöhnliche  atmosphärische  Luft.  R.  OLSZKWsKt  fand  für  das  Argon 
folgende  physikalische  Constantcn:  Kritische  Temperatur  — 121, 0°;  kritischer 
Druck  50,6  Atmosphären;  Siedepunkt  unter  Atmosphärendruck — 187,0°;  Gefrier- 
punkt — 189,G;  Gasdichte  19,9;  Dichte  der  Flüssigkeit  beim  Siedepunkt  cirra 
1,5;  Farbe  der  Flüssigkeit  farblos.  Es  erstarrt  zu  einer  eisäbnliehen,  krystal- 
linischen  Masse,  dio  bei  weiterer  Temperaturerniedrigung  weiss  nnd  opak  wird. 
Nach  W.  Crookes  ist  das  Spectrum  des  Argons  ein  ganz  eigenthümliches.  Dass 
es  hei  den  bisherigen  Speetraluntersuchungen  der  Luft  nicht  hat  beobachtet 
werden  können,  beruht  auf  der  geringen,  in  der  Atmosphäre  vorhandenen  Con- 
centration.  Besonders  charakteristisch  sind  zwei  rotlie  Linien  von  der  Wellen- 
länge 696,56,  beziehungsweise  705,64 : 10 — 6 Mm.  Im  Ganzen  sind  in  dem 
einen  (dem  blauen)  Spectrum  119  und  im  anderen  (dem  rothen)  Spectrum 
80  Linien  aufgefunden  worden.  Die  Dichte  des  Argons  wurde  von  den  Ent- 
deckern desselben  gleich  20  gefunden,  daher  dessen  Atomgewicht  gleich  40  ist. 
Das  Argon  lässt  sich  in  das  von  Mendelejeff  und  Lothar  Mayer  aufgestellte 
periodische  System  der  Elemente  nicht  einreihen. 

Das  Argon  verbindet  sich  nach  Berthelot  unter  dem  Einflüsse  der 
stillen  elektrischen  Entladung  mit  Benzol  und  mit  Schwefelkohlenstoff.  Im  ersteren 
Falle  treten  eigcnthümliche  Fluoreseenzerscheinungeu  auf.  Das  Vorkommen  von 
Argon  wurde  von  Ramsay  in  dem  Gase,  welches  sich  in  einem  Meteoriten  von 
Augusta  County,  Virginia,  eingeschlossen  fand,  nachgewiesen;  ebendaselbst  war 
auch  das  neue  Elemeut  Helium  vorhanden.  Er  fand  ferner  beide  im  Clevett, 
einer  Abart  des  Uranitits,  eines  cerithältigen  Minerals.  Loebisch. 

Argonin,  Argentumcasein.  Diese  von  Röhmaxn  und  Liebrecht  aus 
Silber  nnd  Casein  (Höchster  Farbwerke)  dargestellte  Metalleiweissverbindung 
wird  als  lösliches  Silberpräparat  (4,28%  Silber  enthaltend)  empfohlen , welches 
weder  mit  Kochsalz,  noch  mit  Ei  weiss,  noch  in  beides  enthaltende  Flüssigkeiten 
Niederschläge  erzeugt  und  überdies,  wie  R.  Mkyek's  Versuche  ergeben,  gegen- 
über Bakterien,  speeiell  Gonokokken,  eine  bedeutende  Desinfectionskraft  äussert. 
Wohl  hat  es  in  wässeriger  Lösung  eine  geringere  desinticirende  Kraft  wie 
Argentum  nttricum  und  Argentamin.  In  eiweisshältigen  Flüssigkeiten  nimmt  die 
desinticirende  Wirkung  aller  drei  Mittel  ab,  jedoch  relativ  am  geringsten  beim 
Argouin,  so  dass  die  baktcricide  Kraft  des  Argonins  sich  der  des  Argentamins 
nähert.  Einen  Vorzug  des  Argonins  bildet,  dass  es  keine  Aetzwirkungen  besitzt, 


ARUONIN.  — ARS  EN  WASSERSTUFF. 


25 


also  die  Schleimhaut  im  Gegensatz  zu  den  beiden  oben  genannten  Silberpräparaten 
nicht  reizt.  Das  Argonin  ist  ein  weisses  Pulver,  leicht  in  heissem,  schwer  in 
kaltem  Wasser  lüslich ; die  Lösung  ist  schwach  opalescirend,  reagirt  neutral  und 
soll  in  dunklen  Gefässeu  aufbewahrt  werden.  Durch  Zusatz  von  Alkalien  wird 
die  Lösung  aufgehellt.  Das  Silber  lässt  sich  im  Argonin  durch  die  gewöhnlichen 
Silberreagentien  nicht  nachweisen.  Jadassohx  empfiehlt  das  Mittel  in  1,5 — 2%iger 
Lösung,  vorzugsweise  bei  Behandlung  acuter  Gonorrhoe,  der  Urethra  anterior 
und  posterior  des  Mannes,  der  Urethra  und  des  Uterus  der  Frau ; adstringirende 
Eigenschaften  scheinen  dem  Mittel  zu  fehlen ; es  eignet  sich  daher  keineswegs 
zur  antikatarrhalischen  Behandlung. 

Literatur:  Arthur  Liebrecht.  Leber  A.  Ein  Beitrag  zar  Kenntniss  der  Silber* 
eiueissverbindungen.  Therap.  Monatsh.  1895,  301).  — R.  Meyer,  Zeitsehr.  I*.  Hygiene.  1895, 
XX,  pag.  Iu9.  — J.  Jadassohn,  Areh.  f.  Dermat.  ti.  Syph.  1895.  Loebisch. 

Arsenwasserstoff.  Dass  die  Arsenwasserstoffvergiftung  einen  von  der 
Vergiftung  durch  arsenige  Säure  abweichenden  und  vorwaltend  durch  die  Destruc- 
tion  der  Blutkörperchen  und  die  daraus  hervorgehende  Hämoglobinurie  und  Gelb- 
sucht gekennzeichneten  Symptomencomplex  besitzt , ist  ein  jetzt  allgemein  aner- 
kanntes Factum.  Unter  den  45  Fällen  dieser  Art  der  Intoxication , welche  in 
der  Literatur  bisher  veröffentlicht  sind,  ist  bei  36  Hämoglobinurie  oder  Hämaturie 
als  vorhanden  angegeben,  und  da  in  mehreren  der  übrigen  II  der  Beschaffenheit 
des  Harnes  nicht  gedacht  wird,  ist  es  nicht  unmöglich,  dass  auch  unter  diesen 
noch  einige  Fälle  mit  Hämoglobin  im  Harne  sich  verbergen,  ln  37  Fällen  war 
Icterus  vorhanden;  in  38  Fällen  Frostschauder  oder  Schüttelfröste,  wie  sie  ja  so 
häutig  als  Symptom  von  Hämoglobiuurieanfällen  auftreten.  Dass  es  in  schweren 
Fällen  zu  Annric  kommt,  ist  eine  Thatsachc:  doch  ist  dies  nach  Massgabe  der 
vorliegenden  Literatur  nicht  eben  häutig , da  Anurie  nur  in  8 Fällen  erwähnt 
wird , von  denen  5 tödtlich  verliefen , während  von  den  übrigen  4 1 Vergifteten 
13  starben  und  28  mit  dem  Leben  davon  kamen.  Schmerzen  in  der  Nicren- 
gegend  werden  nur  in  18  Fällen  angemerkt;  dagegen  waren  in  25  Fällen  Kopf- 
weh und  Schwindel  und  in  34  Würgen  und  Erbrechen,  wobei  das  Erbrochene 
vereinzelt  Blut  und  Galle  enthält,  vorhanden.  Man  wird  nach  den  bisherigen 
Ermittlungen  in  allen  Fällen , wo  durch  Kinathmung  eines  Gases  Erscheinungen 
von  starkem  Kräfteverfall  und  Icterus  eintreten , die  Untersuchung  des  Harnes 
auf  abnorme  Blutbestandtheile  und  des  Blutes  auf  die  Zahl  der  Blutkörperchen 
und  den  Hämoglobingehalt  vorzunehmen  haben.  Wie  bedeutend  die  Destruetion 
der  Blutkörperchen  durch  Kinathmung  von  arsenwasserstoffhaltigem  Gase  sein  kann, 
lehren  zwei  in  jüngster  Zeit  von  Dixon  Mann  und  C'LEOO  ’)  beschriebene,  günstig 
verlaufene  Fälle,  in  denen  die  Zahl  der  Erythrocyten  das  eine  Mal  auf  1,800.000, 
das  zweite  Mal  auf  2,700.000  im  Cubikmillimeter  Blut,  somit  auf  nahezu  und 
über  die  Hälfte  der  Norm  gesunken  war.  Mit  der  Verminderung  der  Blutkörperchen- 
zahl geht  aber  ausserdem  Abnahme  des  in  ihnen  vorhandenen  Hämoglobins  ein- 
her. In  Bezug  auf  das  Verhalten  des  Harnes  muss  im  Auge  behalten  werden, 
dass  der  Blutfarbstoff  nicht  blos  als  Hämoglobin,  sondern  auch  als  Methämoglobin 
und  als  Hämatin  in  jenem  vorhanden  sein  kann,  ln  einem  der  Fälle  von  Mann 
und  Clego  war  der  am  dritten  Tage  der  Erkrankung  gelassene  Urin  hämoglobiu-, 
der  Ham  vom  sechsten  Tage  methämoglobinhaltig ; das  erste  Mal  war  auch  Ei- 
weiss  vorhanden,  beide  Male  Nierenepithelien , Schläuche,  rothe  Blutkörperchen 
und  viel  körniges  Fett.  In  einem  Falle,  wo  Hämatin  im  Harn  spectroskopisch 
uachgewieaen  wurde,  war  der  Harn  stark  sauer.  Bei  Thieren  fehlt  Hämoglobin- 
urie nur,  wenn  die  Vergiftung  ganz  rapide,  entweder  unmittelbar  oder  in  wenigen 
Stunden  tödtlich  verläuft,3)  ln  einem  Kopenhageuer  Falle,  in  welchem  das  aus 
einem  Bisse  eines  Ballon  coptif  ansströmende  Gas  schwere  Vergiftung  herbei- 
geführt hatte,  waren  in  den  ersten  Tagen  auch  blutig  gefärbte  Ejaenlationcn 
vorhanden. a) 


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26  AK.SENWASSEBSTOFF. 

Die  von  Makn  und  CLEGG  constatirte  Thatsache,  dass  sich  im  Harn 
mit  Arsenwasserstoff  vergifteter  Menschen  nicht  blos  Gallenfarbstoff,  sondern  auch 
Gallensflnrcn  finden  können,  und  zwar  beide  zugleich  oder  auch  isolirt,  harmonirt 
nicht  ganz  mit  den  von  StadelmaN'N  *)  an  Thieren  angestellten  Versuchen,  wonach 
der  Harn  hei  diesen  zwar  reichlich  Gallenfarbstoff,  aber  Gallensauren  nur  in  ganz 
geringer  Menge  enthalten  soll.  Man  kann  darin  eine  Stütze  für  die  Ansicht 
finden,  wonach  das  Hämoglobin  der  aufgelösten  Blutkörperchen  die  Muttersubstanz 
nicht  allein  des  Gallen farhstoffes,  sondern  auch  der  Gallensiiuren  ist.  Denn  nicht 
als  dirccte  Wirkung  des  Arsenwasserstoffes  auf  die  Leber,  sondern  auf  die 
Wirkung  des  Hämoglobins  der  aufgelösten  Blutkörperchen  ist  die  von  Stadel- 
masx  4)  nachgewiesene  Pleiochroraie  der  Galle  zurückzuführen,  in  welcher  bei 
nicht  statthahender  Vermehrung  der  Quantität  der  Galle  selbst  die  20fache  Menge 
von  Bilirubin  auftritt.  Die  abnorm  dicke  Consistenz  der  an  Gallensäure  armen 
Galle  führt  zur  Stagnation  dieser  in  dcu  Gallengängen  und  veranlasst  auf  diese 
Weise  Icterus,  den  man  gegenwärtig  nicht  mehr,  wie  dies  meist  früher  geschah, 
als  einen  hämatogenen  anzusehen  berechtigt  ist.  Vergiftet  man  Gänse  und  Enten, 
denen  die  Leber  ausgeschnitten  ist,  mit  Arsenwasserstoff,  so  tritt  zwar  reichliche 
Hämoglobinurie  ein , aber  cs  kommt  nicht  zum  Auftreten  von  Gallenpigment  im 
Harn,  und  auch  im  Blute  ist  solches  nicht  nachweisbar. 

Mit  der  rapiden  und  eopiösen  Dcstrnction  der  Blutkörperchen  sind  auch 
die  bei  der  Section  zu  constatirenden  fettigen  Degenerationen  in  Verbindung  zu 
setzen,  die  man  in  verschiedenen  Organen  findet.  Mann'  und  Clkeg  fanden  sie 
in  zwei  Fällen  tödtlicher  Vergiftung  an  den  Nierenepithelicn , aber  auch  herd- 
weise in  der  Leber  und  in  der  Milz,  ln  beiden  Fällen  fand  sich  starkes  Lungen- 
ödem als  unmittelbare  Todesursache;  ausserdem  bestand  starke  hämorrhagische 
Entzündung  und  gelatinöse  Erweichung  der  Schleimhaut  im  Magen  und  dem  oberen 
und  unteren  Theile  des  Dünndarms.  Eisenniederschläge  konnten  im  Leberparen- 
chym nicht  naehgewiesen  werden.  Chemisch  wurde  Arsen  in  einem  Falle  in  Leber, 
Niere,  Galle,  Harn,  Blut,  Perikardial-  und  Pleuralflüssigkeit,  in  einem  anderen  in 
Leber,  Nieren  und  Milz,  dagegen  nicht  im  Blute  und  Serum  constatirt;  die  in 
der  Leber  vorhandene  Menge  entsprach  in  einem  Falle  2,  in  dem  zweiten  1,6  Mgrm. 
arseniger  Säure. 

Die  Vergiftung  mit  Arsenikwasserstoff  kommt  nur  in  wenigen  Fällen 
durch  die  Einwirkung  absichtlich  dargestellten  Arsenwasserstoft's  zu  Stande,  meistens 
durch  Einathmung  anderen  Gasen  beigemengten  Arsenwasserstoffs.  In  8 Fällen, 
von  denen  1 tödtlieh  verlief,  gab  Wasserstoffgas,  das  zu  dem  Zwecke,  die  Ein- 
wirkung dieses  Gases  auf  das  Timbre  der  Stimme  zu  zeigen , geathmet  wurde. 
Anlass  zur  Vergiftung;  in  10  Fällen  geschah  die  Inhalation  in  chemischen  Labo- 
ratorien (davon  4mal  durch  absichtlich  dargestelltes  AsH„),  in  31  Fällen  fand  sie 
in  Fabriken  statt  überwiegend  in  Folge  der  Verwendung  grosser  Mengen  von 
unreinem  Material  zur  Entwicklung  von  Wasserstoff.  Besonders  ist  es  die  Salz- 
säure. deren  Arsengehalt  die  Intoxicationen  dieser  Art  verschuldet  und  die  bei 
der  neuesten  englischen  Vergiftung  von  5 Personen  mit  2 Todesfällen  0,'!09°  0 
As  enthielt. 

Zur  Verhütung  solcher  l'nglücksfälle , die  häufig  mehrere  Personen  zu- 
gleich betreffen,  reicht  es  aus,  wenn  man  die  üble  Gewohnheit  aufgäbc,  da, 
wo  grosse  Mengen  Zink  mit  Salzsäure  oder  Schwefelsäure  behandelt  werden 
müssen,  die  Einwirkung  in  offenen  Gefüssen  an  freier  Luft  vor  sich  gehen  zu 
lassen.  Bei  Anwendung  geschlossener  Gefässe  und  Eutweiehenlassen  der  Dämpfe 
durch  ein  Rohr  in  den  Kamin  würde  jede  Gefahr  beseitigt.  Die  Verwendung 
reiner  Säure  kann  nicht  wohl  gefordert  werden,  da  dadurch  wesentliche  Erhöhung 
der  Kosten  resultiren  würde. 

Literatur:  !)  Dixon  Mann  und  GrayClegp.  0$i  tht  toxic  uction  of  or*e- 
H etted  hyrfroflon,  illiixtrateft  bi / tirc  rase*.  Reprint  trom  the  Med.  Ohmn.  Manchester  1895.  — 
*J  Jo  ly  und  Xahias,  Sär  Vaction  phyciolopiquc  de  Vhyilroyint  arucnic.  Couipt.  rend.  1890, 


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ARSENWASSEBSTOFF.  — AUGENHEILMITTEL.  27 

X.  pa*.  6üG.  — *)  Storch,  Ucber  einen  Fall  von  Humoglobinnrie  nach  Ei nat Innung;  von 
arsenwa.sserttniTkaltigem  Wasserstoff.  Verhandl.  d.  1 1.  Congr.  f.  innere  Med.  1892.  pag.  276.  — 
*)  Stadel  mann,  Die  Ar^enwas^erHtofl’vergiftung,  ein  weiterer  Beitrag  nur  Lehre  vom  Icterus. 
Arch.  f.  experim.  Path.  1882.  XVI,  pag.  22 1 ; Der  Icterus«  und  seine  Formen.  Stuttgart  1892. 

Huscmann. 

Augenheilmittel.  Das  von  VAI.CDE  (s.  Encyel.  Jahrb.  IV)  eingeführte 
Formaldehyd  (Formol  , Formalin)  hat  Gkpxer  >)  als  Augeuwasser  verwendet 
bei  allen  acuten  Bindehauterkrankungen  und  als  Spül-  und  Waschwasser  vor  und 
hei  Äugcnoperationen,  und  zwar  in  einer  Lösung  von  1 : 2000,  höchstens  1 : 1000. 
Die  Bindehautsecretion  wird  dadurch  mauchmal  in  erstaunlicher  Weise  verringert. 
Gi'aita  *)  gebraucht  es  gleichfalls  hei  Operationen  (1:2000),  aber  auch  hei 
Hornhautgeschwüren,  die  er  mit  einer  l%igcn  Lösung  betupft  und  dann  mit  der 
schwachen  Lösung  nachspült.  Bakabaschkw  *)  hält  es  für  das  beste  Antisepticum 
in  der  Augenheilkunde  und  meint,  dass  schwache  Lösungen,  1:4000 — 1:2000, 
welche  unbedeutende  Beizungen  machen,  vollkommen  wirksam  seien.  Er  hat  es  hei 
Trachomen,  Bindehautblennorrhocn,  infectiöscn  Keratitiden  mit  Erfolg  angewendet. 
Auch  zur  Desinfection  der  Instrumente  ist  es  sehr  tauglich.  Ebenso  lobend  spricht 
sich  Lavagxa  *)  Uber  das  Mittel  aus  (1:2000)  und  war  namentlich  bei  Thränen- 
sackblennorrhoe  mit  Injectionen  desselben  sehr  zufrieden.  Ich  habe  es  hei  Horn- 
hautgeschwüren  wiederholt  mit  vorzüglichem  Erfolge  angewendet,  doch  benützte 
ich  stärkere  Lösungen  (1:200  und  1:100)  und  cocainisirte  vorher;  doch  trat 
der  Erfolg  nicht  in  allen  Fällen  ein.  Auch  die  Abnahme  der  Bindehautsecretion 
habe  ich  mehrere  Male  beobachtet. 

Das  Dermatol  hat  Rosklu*'4)  statt  des  Calomel  bei  scrophulöser  Con- 
junctivitis angewendet  und  hält  es  dem  ersteren  Mittel  für  überlegen.  Auch  kann 
es  neben  internem  Jodgebrauch  eingestaubt  werden.  Auch  bei  einfacher  und  paren- 
chymatöser Keratitis  und  bei  Ulcus  corneae  war  es  wirksam,  dagegen  nicht  liei 
Blepharitis  und  Trachom. 

Gleichfalls  als  Streupulver  wurde  das  Thioform  verwendet.  Es  ist  das 
dreiwerthige  Wismuthsalz  des  Dithions,  eines  Derivates  der  Dithiosalicylsäure.  Es 
wurde  mit  Erfolg  eingestaubt  bei  Conjunctivalkatarrhen  und  bei  scrophulösen 
Augcnentzünduugen.  Fromm  "•)  lobt  es  besonders  seiner  austrocknenden  Wirkung 
wegen  bei  der  Conjunctivitis,  welche  durch  das  Tragen  künstlicher  Angen  ent- 
steht. Auch  Rogmaxx  , Jeckmaxx,  Schmidt  haben  gute  Erfolge  gesehen,  und 
zwar  bei  Hornhautgeschwüren ; nach  Tkapf.sxikOW  8)  übt  es  eine  anästhesirende 
Wirkung  auf  die  Hornhaut  aus  und  hat  sich  in  allen  Fällen  von  Lichtscheu  bei 
Keratitis  bewährt. 

Die  subconjunctivalen  Injectionen  von  Mcdicamenten , besonders 
des  Sublimat,  welche  von  Darier  in  die  Augenpraxis  cingeführt  wurden  (s.  den 
IV.  Jahrgang  dieser  Jahrbücher),  haben  eine  ungemeine  Menge  von  Publicationen 
hervorgerufen,  in  welchen  die  widersprechendsten  Ansichten  zu  Tage  treten.  Wäh- 
rend Viele  über  staunenerregende  Resultate  berichten,  sprechen  Andere  den  Iu- 
jectionen , wenn  sie  dieselben  nicht  aus  theoretischen  Gründen  direct  ablehnten, 
wie  Michel14),  Cohx14),  Sameesohx  >*),  Laxdolt14),  Paxas'*),  jeden  Werth 
für  die  Praxis  ab. 

Im  Allgemeinen  stimmen  diejenigen,  welche  Lobredner  der  Injectionen 
sind,  darin  überein,  dieselben  seien  indicirt  bei  allen  infectiösen  Processen  am 
Auge,  möge  nun  die  Infection  direct  an  demselben  erfolgt  sein  oder  aus  dem 
Innern  des  Körpers  heraus  stattgefunden  haben.  Vor  Allem  werden  sie  bei  infec- 
tiöscn Processen  an  der  Hornhaut  gerühmt,  also  bei  l'lcus  corneae  überhaupt 
und  der  sogenannten  Ilypopyonkcratitis  insbesondere;  andererseits  bei  solchen 
Infectionen , welche  nach  Traumen  eintraten , in  erster  Reihe  bei  ungünstigen 
Zufällen  nach  Staaroperationen.  Manche  haben  bei  Cornealproccssen  keine 
Erfolge  gesehen,  sind  aber  entzückt  Uber  die  günstigen  Erfolge  bei  Chorioiditis 
und  Chorioretinitis,  bei  welchen  Viele  die  Injectionen  ganz  ohne  Erfolg  machten. 


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AUGEN  HEILMITTEL. 


28 

.Sehr  gute  Erfolge  sahen  Eiuzclne  bei  Iritis  und  Iridocyclitis , nur  Wenige  bei 
Keratiti 's  pa ren chy matosa , bei  Skleritis,  bei  Chorioiditis  macularis  ex  Myopia, 
kurz,  wenige  Angenkrankbeiten  giebt  es,  die  nicht  in  das  Medicationsbereiek  der 
Suhlimatinjectionen  aufgenommen  wurden. 

Auffallend  ist  es  nun,  dass  wieder  Andere  trotz  zahlreicher  Versuche 
bei  den  verschiedensten  Krankheiten  entweder  absolut  negative  Resultate  erhielten 
oder  zweifelhafte  Erfolge  erzielten,  die,  wenn  eine  andere  Therapie  nebenbei  nicht 
versäumt  wurde,  ebenso  gut  dieser  zugeschrieben  werden  konnten. 

Zu  den  Anhängern  der  Therapie  gehören  ausser  Dahier »),  Sgrosso  und 
Scalixci  1 *),  Ahadie  '*),  Vexxemaxx  >*),  Gagarix  ll), Grandclemext  »*;,  Dufour  **), 
Zossenheim  '*),  Df.utschmaxx*®),  Gepxer  1S),  Gosetti  >*),  Coppez  >*),  PflGgkr  “), 
Meli. inger“)  u.  A.,  unter  diejenigen,  welche  keine  Erfolge  sahen,  Massei.ox’4) 
(v.  Wecker),  Laqueck**),  Dexeffe1*),  Diaxoux14),  Haab'4),  Ficku),  Bocchi**), 
Gctmaxx  **)  u.  A.  Auch  ich  muss  mich  bisher  zu  den  letzteren  zahlen. 

Was  die  eingespritzten  Flüssigkeiten  betrifft , so  war  es  vor  Allem  das 
Sublimat , seltener  das  Queeksilberoxycyanid  , das  Jodtrichlorid.  MellixGER  hat 
Injection  einer  0,75®/Oigen  und  2%igen  Kochsalzlösung  vorgeschlagen  und  hat 
damit  ebenso  gute  Resultate  erhalten ; für  Glaskörpertrübungen  empfiehlt  er  eine 
4%ige.  Die  Wirknng  wurde  von  den  Meisten  auf  die  desinficirende  Wirkung 
des  Sublimats  bezogen.  Es  wurde  aber  bestritten , dass  dieses  überhaupt  oder  in 
ausreichender  Menge  in  das  Augeninnerc  gelange.  Mutehmilch*’),  Stuelp17)  und 
MklLIXGKR15’  *°)  haben  die  Meinung  ausgesprochen,  dass  es  sich  um  eine  durch 
die  eingespritzten  Salze  hervorgerufene  Beschleunigung  des  l.ymphstromes  handle, 
welche  die  beobachteten  günstigen  Wirkungen  verursache;  in  jüngster  Zeit**) 
hat  Mkllixgek  dies  auch  experimentell  nachgewiesen.  Die  Sublimatinjectionen 
rufen  sehr  starke  langdauerndc  Schmerzen  hervor  und  führen  häufig  zu  Ver- 
klebungen zwischen  Conjunotiva  bulbi  und  Sklera,  worauf  von  manchen  Gegnern 
grosses  Gewicht  gelegt  wird.  Ich  habe  die  letzteren  wohl  beobachtet,  aber  für  belang- 
los gehalten.  Den  Iujectionen  von  Chlornatrium  haften  alle  diese  Uebelstände  nicht  au. 

Jedenfalls  ist  die  ganze  Frage  als  eine  noch  offene  zu  betrachten. 

Das  Gallicin,  ein  Methyläther  der  Gallussäure,  ein  weisses  Pulver, 
wird  wie  Calomel  eingestaubt  und  soll  nach  Mei.lixger19)  bei  Katarrhen,  die 
mit  chronischer  Schwellung  der  Schleimhäute , geringer  oder  zäher,  schmieriger 
Secretion  verlaufen  und  sich  mit  Ekzemen  der  Lider  compliciren,  bei  phlyctänu- 
lärer  Entzündung  mit  Secretion  und  Keratitis  superficialis  wirksam  sein.  Auch 
von  Sl'KER  *°)  wird  es  gelobt.  Nach  meinen  Erfahrungen  wirkt  es  günstig  bei  den 
mit  starker  Secretion  einhergehenden  und  mit  phlyetänulärer  Conjunctivitis  eom- 
plicirten  Katarrhen  der  Kinder,  jedoch  nicht  mehr  als  Acidum  tannicum,  das 
ich  schon  jahrelang  hei  solchen  Fällen  einstaube. 

Das  Scopolamin,  als  bromwasserstoffsaures  Salz  benützt,  hat  sich  bewährt 
und  dürfte  wegen  seiner  intensiveren  Wirknng  und  geringeren  Giftigkeit  das 
Atropin  zum  Theile  verdrängen.  Ich  wende,  es  statt  dieses  Mittels  ausnahmslos 
in  0,l“/0iger  Lösung  an.  Die  Beobachtungen  Rählmanx's ’*)  werden  bestätigt 
von  Bei.larmixoff '*),  Martki.i.i  “)  (Axgei.ccoi),  Vikhi.ixg **j,  Sakti5*),  Bock**), 
Gutmaxx •*),  SchOrmaier*7),  Olk  Bull.*«)  Nach  Walter*1)  ist  es  jedoch  bei 
Glaukom  ebenso  eontraindicirt  wie  Atropin. 

Da 8 schon  im  III.  .lahrgange  der  Jahrbücher  erwähnte  Alkaloid  der  Areca- 
nuss  (Arecolinuin  hydrobromatumi  macht  nach  Lavagxa**)  in  l«/0iger  Lösung 
in  einer  Minute  eine  Miose  von  6'/,  auf  2 Mm.,  welche  20  Minuten  dauert  und 
in  30  Minuten  verschwindet,  um  einer  leichten  Mvdriasis  Platz  zu  machen.  Auch 
Spasmus  des  Ciliarmuskels  tritt  in  der  8.  Minute  ein  und  schwindet  nach  weiteren 
10  Minuten.  Auch  ein  Tropfen  einer  Lösung  von  1 : 10.000  macht  noch  durch 
10  Minuten  dauernde  Myosis. 

Kazacrow**)  hat  auf  Maki.akow’s  Vorschlag  die  „elektrische  Feder“ 
von  Edison  zur  Massage  des  Auges  angewendet.  Die  Kugel  wird  direct  auf 


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AUGENHEILMITTEL. 


29 

den  Bulbus  applicirt  und  leicht  vertragen.  Es  entsteht  Injection , Miosis  und 
Accommodationskrampf  und  wird  im  gesunden  wie  im  kranken  Auge  der  intrn- 
oculare  Druck  herabgesetzt.  Angewendet  wurde  sie  mit  Erfolg  bei  Glaukom- 
prodromen, bei  traumatischer  Linsentrübung  zur  Beschleunigung  der  Resorption, 
bei  parenchymatöser  Keratitis.  Bei  chronischer  Episkleritis  soll  die  Heilung  schon 
nach  2 — 3 Stunden  eintreten! 

RKUSS  hat  bei  der  Naturforschcrversainmlung  in  Wien  1894  über  die 
Resultate  der  Behandlung  von  Skleritis  und  verwandten  Erkrankungen  durch 
den  galvanischen  Strom  berichtet.  Er  applicirt  die  eine  Elektrode  (Platin platte) 
direct  auf  den  episkleritischen  Herd  des  cocainisirten  Auges  (1 — 3 Milliamperes 
durch  eine  Minute).  Der  Verlauf  wird  dadurch  bedeutend  abgekürzt  und  eventuelle 
Schmerzen  rasch  zum  Schwinden  gebracht.  Er  meint,  dass  durch  die  entstehende  locale 
IlyperÄmie  die  Resorption  der  Entzündungsproducte  beschleunigt  werde.  Seltener 
wurde  der  faradische  Strom  auf  die  geschlossenen  Lider  applicirt  (elektrische  Hand). 

Sii.kx44)  stellte  Untersuchungen  über  den  Einfluss  kalter  und 
warmer  Umschläge  auf  die  Temperatur  im  Conjuncti valsacke  an.  Es 
ergab  sich,  dass  durch  kalte  Umschläge  die  Temperatur  erhöht  und  durch  warme 
vermindert  werde;  Giesk46)  erhielt  jedoch  das  entgegengesetzte  Resultat. 

Holth4*)  meint,  dass  die  Zersetzung  unserer  gewöhnlichen  Augen* 
salben,  speciell  der  gelben  Salbe,  nicht  durch  das  Ranzigwerdeu  der  Fette, 
sondern  unter  dem  Einflüsse  des  Lichtes  erfolge,  das  durch  die  gebräuchlichen 
Porzellan-  und  Steingutgefässe  und  deren  Holzdeckel  eindringe.  Nimmt  man  Ge- 
wisse, die  für  Licht  undurchlässig  sind,  so  kann  die  Salbe  zwar  ranzig  werden, 
aber  die  Salze  zersetzen  sich  nicht. 

Literatur:  f)Gepnert  Formaldehyd  als  Augen  wasser.  Ccntralld.  f.  prakt.  Augenhk. 
Januar  1?94.  — *)Gnaita,  II  formolo  in  oftalmojatria.  Annali  di  ottalm.  1894,  XXIII. — 
*)  Barabaschew.  Ueber  Formaldeliyd.  Wjest.  ophtalm.  1895,  Nr  2.  Ref.  in  Arcb  f.  Augen- 
heilkunde. 1895,  XXXI.  — 4)  Lavagna,  Süll ’ tmpitgo  ilrlla  formaldetde  nella  terapia 
delle  malatti  oculari  e sptcialimenie  nelle  affezioni  del  sacro  lacrimale.  Bull,  d'ocul.  1895, 
XVII.  — *)  Roselli,  II  derma tolo  in  oftalmo-iatria.  Boll.  d.  R.  Aec.  med.  di  Roma.  1893. 

— *)  Roselli,  Dermatol  nella  pratica  oculistica.  Gazz.  degli  ospcdali.  1894.  — *)  Fromm, 
Ueber  Thioform.  Deutsche  Medicinalzeitung.  1894,  Nr.  40.  — ft)  Trapesniko w in  Wojenuo- 
Medicinski  Shurnal.  Beilage  zur  Petersburger  Ztg.  i895,  Nr.  9 u.  1(J  (Ref.  in  Die  Therapie 
der  Gegenwart.  Februar  1896).  — *)  Darier,  Behandlung  und  Prophylaxis  der  infectiösen 
Procease  nach  Staaroperationen.  Sitzungsber.  d.  ophtbalm.  Gesellsch.  Heidelberg  1893  (Dis- 
cnssion : Sattler,  Laquenr,  Dufour).  — ,#)  Darier,  Encore  lex  injection s souscon- 
jonctivales.  Annal.  d'Oculiatique.  1894,  CXII.  — u)  Ga  gar  in.  Zur  Frage  über  die  suhcon- 
junctivalen  Subiimatinjectionen.  Inaug.-Dissert.  (Russisch.)  Petersburg  1889.  — '*)  Grand- 
c lern  ent.  Die  Indicatinnen  für  die  subconjunctivalen  Sublimateinspritzungen.  Lyon  med. 
April  1893.  — **)  Sgrosso  e Scalinci,  Le  iniezione  sottocongiuntivali  e intratenoniani 
di  subhmato  corrosivo  nella  cura  di  alcune  affezioni  oculari . uiornale  med.  d.  r.  esercito. 
Rom  1893.  — *4)  Valude,  Des  injection#  sous-con juncti vale«  en  therapeutique  oculaire. 
Annal.  d'Oculistiquc.  1893.  (Darin  die  Antworten  vieler  Augenärzte  auf  die  vom  Verf.  ae- 
schehene  Umfrage.)  — ,6)  de  Schweinitz,  Intra-ocular  injections  of  Solutions  of  various 
antiseptic.  substances ; an  experimental  inquirg.  Journ.  of  the  Amor.  ined.  association.  Chicago 
1893,  XXI  ; Subconjunctical  injections  of  corrosive  Sublimate.  Ibid.  — **)  G a 1 1 em  ae  rt  s, 
Du  traittment  des  affections  oculaircs  par  les  injections  sous<on jonctivales.  Bull,  de  l'Acad. 
Roy.  de  mW.  de  Belg.  Brux.  1893,  VII.  — n)  La  grau  ge,  Des  injections  sou+conjonc- 
tirules  de  sublime  au  */,000  dans  le  traitement  des  inßammations  oculaircs.  Mein,  et  bull. 
Soc.  de  med.  et  chir.  de  Bordeaux.  1892.  — !t)  Gepner,  Ueber  subconjunctivale  Sublimat- 
einspritzungen.  Centralbl.  f.  prakt.  Angenhk.  Januar  1894.  — ,#)  Zossen  heim . Ueber  die 
subconjunctivalen  Injectionen  von  Sublimat.  Doutschmann's  Beitr.  z.  Augenhk.  1894.  — 
**)  Deutsch  mann,  Ueber  Behandlung  von  acut  infectiösen  Processen  des  Auges  durch  sub- 
conjunctivale  Subiimatinjectionen  nebst  Schlussbemerkungeu  über  diese  Behandlungsmethode 
überhaupt.  Ibid.  — **)  Mutermilcb,  Quelques  remarques  critiques  au  sujet  des  injections 
sous-con  jonctivales  de  sublimi.  Annal.  d’Oculiatique.  1894,  CXIJ.  — **)  Bocchi,  Sulla 
cura  delle  iniezioni  sottocongionctivali  di  sublimato  corrosivo.  Gaz.  med.  cremonese.  1894, 
XIV.  — **)  Gntmann,  Ueber  subconjunctivale  Injectionen.  Arch.  f.  Augenhk.  1894,  XXIX. 

— **)  Mellinger.  Klinische  und  experimentelle  Untersuchungen  über  subconjunctivale  In- 
jectionen und  ihre  therapeutische  Bedeutung.  Ibid.  — ,s)  Mellinger,  Experimentelle  Unter- 
suchungen über  die  Wirkung  subeonjunetival  injicirter  Kochsalzlösungen  auf  die  Resorption 
aus  der  vorderen  Kammer  und  den  Glaskörper.  Ibid.  IS96,  XXXII.  — *•)  Mellinger  und 


30 


AUGENHEILMITTEL.  — AUTOSKOPIE  DER  LUFTWEGE. 


Bossalino,  Experimentelle  Studie  über  die  Ausbreitung  subconjunctival  injicirter  Flüssig- 
keiten. Ibid.  1805,  XXXI.  — *:)  Stuelp,  Wird  nach  subconjunctivalen  Sublimatinjectionen 
Quecksilber  in's  Angeninnere  resorbirt?  Experimentelle  Untersuchungen  etc.  Ibid.  1895. 
XXXI.  — 3*|  Bull,  Die  Krage  der  Wirksamkeit  subconjunctivaler  Jnjeetionen  von  Sublimat 
bei  Augenleiden.  New  York  med.  Jotim.  Januar  1895.  — -*)  Mellinger,  Gallicin,  ein  neues 
Präparat  der  Gallussäure  und  seine  Anwendung  in  der  Augenheilkunde.  Uorrcspondenzbl  f. 
Schweizer  Aerzte.  1895,  Nr.  8.  — ao)  Suker,  Gallicin,  ein  adstringirendes  und  ableitendes 
Mittel  und  sein  Gebrauch  bei  der  Behandlung  von  Augenkrankheiten.  Aunal.  of  Ophtbnlm. 
and  Otologv.  Juli  1895.  — **)  Kartell!,  Sulla  zcopolamimt.  Arch.  di  OttalD.  1893,  1.  — 
**)  Bellarm  in  off,  O drjstwti  Skopolamin  a na  glas.  Wratsch.  1893,  XIV.  — M)  Vierling. 
Ueber  die  Wirkung  des  Scopolaminum  h ydrobromicum.  Deutschmann's  Beitr.  z.  Augenhk. 

1894,  XIII.  — M)  Rah  1 mann,  Ueber  die  Anwendung  eines  neuen  Mvdriaticunis,  des 
Scopolamins,  in  der  ophthalmologisi hon  Praxis.  Wiener  med.  Wochenschr.  1894.  Nr.  2';  das- 
selbe in  Annal.  d'Oculistique.  1894,  CXI.  — ls)  Gutmann.  Beitrag  zur  Kenntniss  des 
Sropolaminum  h ydrobromicum.  Therap.  Monatsh.  März  1894.  — 36)  Sarti,  Sulla  scopolamina. 
Boll.  delle  scienze  med.  di  Bologna.  1893,  IV.  — ,T)  Schtirmaier,  Scopolanunum  hydro- 
bromicum,  ein  neues  Mitte)  zur  Erweiterung  der  Pupille  und  Lähmung  der  Accommodation. 
Med.  Neuigkeiten.  München  1894  — M)  Scopolamine,  its  calue  in  Ophthalmie  pratice.  New 
York  med.  Joura.  1894.  — 81)  Bock,  Scopolaminum  h ydrobromicum.  Allg.  Wiener  med 
Ztg  1894.  — 4l)  Oie  Bull,  Therapeutiske  Notitser.  N' or.sk  Mag.  f.  Laegevid.  Christiania 

1895,  Nr.  9.  — 4I)  Walter,  Zur  Aetiologie  und  Therapie  des  Claukoms.  Klin.  Monatsbl.  f. 
Augenhk.  Januar  1895.  — 4I)  La  vag  na,  Appunti  sperimentali  sull’  azione  ßsioloyica  d'un 
nuoro  olcaloide  miotizzante  ( Varecolina j.  Boll.  di  ocul.  1895,  XVII.  Ref.  in  Arch.  f.  Augen- 
heilkunde. XXXI.  — 4S)  Kazaurow,  Die  Anwendung  des  Edison 'gehen  Elektromotors  zur 
Massage  des  Auges  nach  der  Methode  des  verstorbenen  Prof.  Maklakow.  Wratsch.  1895. 
Nr.  22.  Ref.  ebendaselbst.  — 44)  Silex,  Zur  Temperaturtopographie  des  Auges  und  ütier 
kalte  und  warme  Umschläge.  Arch.  f.  Augenhk.  1893,  XXVI.  — 4i)  Giese,  Temperatur* 
Messungen  im  Conjunctivalsack  des  Menschen.  Arch.  f.  Augenhk.  1894,  XXVIII.  — 4*t  Hol  th. 
Das  Licht,  unsere  gelbe  Salbe  und  die  gewöhnlichen  Salbenkruken.  Arch.  f.  Augenhk.  1895,  XXX. 

R e u s s. 

Autoskopie  der  Luftwege.  Das  Innere  des  Kehlkopfes  und 
der  Luftröhre  ist  bei  vielen  Menschen  der  directen  Besichtigung 
zugänglich,  manche  Operationen  an  diesen  Theilcn  können  unter 
direeter  (durch  keinen  Spiegel,  kein  Prisma  vermittelter)  Controle 
des  Auges  ausgeführt  werden.  Dieser  Satz,  Ende  April  lS'.lf»  von  mir  in 
der  Allg.  med.  Central-Ztg.  (Xr.  34)  pnblieirt,  schuf  das  Problem  einer  Laryngo- 
traeheotcopia  directa  (Autoskopie  der  Luftwege),  ein  Problem,  dessen  vollständige 
Losung  bereits  vier  Monate  später  (Ende  August  1805)  erreicht  war,  indem  ich 
die  Technik  des  Untersuchen»  uud  Operirens  ausgehildet,  die  Leistungsfähigkeit 
der  Methode  erprobt,  ihre  natürlichen  Grenzen  ermittelt,  ijire  theoretischen  Grund- 
lagen klargestellt  hatte.*) 

Die  Autoskopie  der  Luftwege  bedeutet  nicht  etwa  blos  eine  Bereicherung 
unseres  methodologischen  Wissens,  sondern  sie  ist  zu  umfangreichen  praktischen 
Leistungen  befähigt.  Von  vornherein  wird  kaum  bezweifelt  werden,  dass  es  eine 
nützliche  Errungenschaft  ist,  wenn  man  im  Innern  des  Kehlkopfes  und  der  Luft- 
röhre in  derselben  directen,  natürlichen,  unkünstliehen  Weise  operative  Eingriffe 
vollziehen  kann  wie  an  anderen  Körpertheilen ; ebensowenig  ist  zu  bestreiten, 
dass  die  direete  Betrachtung  eines  Organes,  wenn  sie  flink,  bequem  und  ohne 
zu  grosse  Belästigung  des  Patienten  erlangt  werden  kann,  den  Vorzug  verdient 
vor  der  Betrachtung  des  blossen  Spiegelbildes  dieses  Organes.  In  der  That,  wer 
sein  Auge  erst  an  den  nunmehr  erschlossenen  autoskopischen  Anblick  des  Kchl- 

*)  Längst  bekannt  ist  die  direete  Larvngoakopirharkeit  mancher  Thiere.  Erfischen 
braucht  man  nur  das  Maul  zu  öffnen,  um  hinter  der  Zunge  den  Larynxeingang  als  einen  sagittaleu 
Spalt  zu  erblicken,  der  hei  jedem  Inspirium  auseinanderklafft.  Hem  t.etfügel  öffnet  man  die  Mund- 
höhle und  drückt  den  Kehlknpf  von  aussen  in  die  Höhe;  auf  diese  Weise  kann  man  bequem 
das  Innere  des  Kehlkopfes  und  seihst  noch  einen  Theil  der  Luftröhre  besichtigen  Bei  kurz- 
srhnauzigen  Hunden  und  bei  Katzen  kann  man  nach  Oeffnung  der  Mundhöhle,  Fixirung  der 
Kiefer  und  Niederdrücken  oder  Vorziehen  der  Zange  den  TTehergang  des  Schlnndkopfes  in  den 
Kehlkopf,  den  Kehldeckel  und  den  Eingang  in  die  Kehikopfhöhfe  ziemlich  gut  besichtigen.  Bei 
langschnauzigen  Hunden , desgleichen  bei  Schafen  nnd  Ziegen , sowie  Kälbern  ist  dies  schon 
schwieriger.  Pferden  kann  man  einen  geraden  Tubus  durch  den  unteren  Nasengang  in  den 
Kehlkopf  einfübren.  (Theilweise  nach  Friedberger  und  Frfihner.) 


3gle 


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AUTOSKOPIE  DER  LUFTWEGE. 


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kopfes  und  der  Luftröhre  gewöhnt  hat,  an  die  ungeschwächte  Körperlichkeit  der 
Formen,  au  den  Reiehthurn  und  die  Lebhaftigkeit  der  farbigen  Nuancen,  an  die 
auffallend  günstige  Perspective  der  tiefen  Theile  — dem  erscheint  im  Vergleiche 
dazu  das  Spiegelbild  fortan  matt,  kalt,  unplastisch:  das  Spiegelbild  sinkt 
in  optischer  Beziehung  zum  Range  eines  Surrogates  herab.  Aber  trotz 
dieser  unantastbaren , im  Wesen  der  Sache  liegenden  Superiorität  der  directen 
Laryngoskopie  kann  sie  in  der  Praxis,  ans  Griinden  anderer  Art,  neben  der  in- 
directen  Methode  nur  eine  zweite  Rolle  spielen.  Es  fehlt  ihr  nämlich  die  die 
Spiegelmethode  auszeichnende  Universalität:  nur  bei  einem  Theile  der  Menschen 
ist  der  Kehlkopf  und  die  Luftröhre  in  voller  Ausdehnung  direct  sichtbar  zu  machen, 
bei  den  anderen  zeigt  sich  blos  ein  mehr  oder  weniger  grosser  Abschnitt  der 
Luftwege,  und  besonders  die  vorderste  Partie  des  Larynxinnern  bleibt  bei  der 
Mehrzahl  der  Menschen  unsichtbar;  es  giebt  sogar  Individuen,  bei  denen  man 
sich  mit  dem  directen  Anblick  der  tiefen  Rachentheile  begnügen  muss,  indem  vom 
Kehlkopf  nichts  zu  sehen  ist  als  höchstens  ein  Stück  der  Epiglottis.  Somit  hat 
meine  Erfindung  nicht  die  Kraft,  au  der  dominirendeu  Stellung  der  Spiegcl- 
methode  zu  rütteln,  sie  macht  keine  einzige  der  überlieferten  larvngologischen 
Manipulationen  entbehrlich,  aber  sie  gewinnt  der  Diagnostik  UDd  Therapie  neue 
mächtige  Hilfsmittel  zu  den  alten  bewährten  hinzu,  sie  führt  in  den  durch  Gakcia, 
TCkck  und  Czkrmak  vor  vier  Decennien  entfesselten  Strom  zum  ersten  Male 
einen  starken  Nebenfluss.  Die  Erfahrung  lehrt,  dass  die  Autoskopie  uns  in  zahl- 
reichen Fällen  eine  genauere  Kenntniss  der  Zustände  im  Respirationstractus  ver- 
schafft als  der  Spiegel  (dies  gilt  in  allererster  Reihe  für  die  sehr  häufig  sich 
riaehenhaft  priisentirende  llinterwand  der  Kehlkopfhöhle,  ferner  für  die  Luftröhre 
und  die  Bifurcation,  schliesslich  noch  ganz  besonders  hei  der  Untersuchung  von 
Kindern),  und  dass  sie  eine  Reihe  von  Operationen  leichter  und  exacter  zu  voll- 
ziehen gestattet  als  die  Spiegelmethode.  Man  beginne  (das  ist  mein  Rath)  eine 
jede  Kehlkopfuntersuchung  regulär  mit  dem  Universalinstrument,  dem  Spiegel;  wer 
<lie  Autoskopie  erlernt  hat  und  beherrscht,  der  weiss  gewiss  die  Fälle  herauszu- 
tinden , in  deren  Beurtheilung  oder  Behandlung  ihn  dann  meine  Methode  noch 
weiter  zu  fördern  vermag.  Das  wird  bei  dem  einen  Arzte  häufig,  bei  dem  anderen 
selten  geschehen,  denn  es  liegt  in  der  menschlichen  Natur,  dass  die  Vortheile 
einer  Neuerung,  auf  deren  Benutzung  wir  nur  in  wenigen  Fallen  mit  zwingender 
Noth wendigkeit  angewiesen  sind,  von  verschiedenen  Beurtheilcru  verschieden 
hoch  geschätzt  werden,  und  dass  da,  wo  zwei  gangbare  Wege  zum  Ziele  führen  (wie 
bei  gewissen  Operationen;,  einer  diesen,  ein  anderer  jenen  Weg  lieber  wandelt. 

Aufgabe  der  folgenden  Zeilen  sei  es,  die  von  mir  entdeckten  That- 
saehen  und  in  Congruenz  damit  erfundenen  Hilfsmittel  zu  beschreiben  und 
zu  erklären,  nicht  aber  Iudicationsfragen  zu  erörtern,  Uber  welche  man  (wie 
eben  angedeutet)  verschiedener  Meinung  sein  kann,  ist,  und  wohl  auch  bleiben  wird. 

Als  „Autoskopie*)  der  Luftwege“  bezeichne  ich  die  gerad- 
linige Besichtigung  der  tiefen  Rachentheile,  des  Kehlkopfes,  der 
Luftröhre  und  der  Bronchialcingänge  von  der  Mundöffnung  aus.  Die 
Bedingungen  einer  solchen  vollständigen  geradlinigen  Besichtigung  kann  man  sich 
leicht  a priori  construiren  : 

1.  Es  muss  dem  Körper  eine  Haltung  gegeben  werden,  bei  der  das 
Lumen  des  tracheolaryngealen  Rohres  in  seiner  geradlinig  gedachten  Verlängerung 
nach  oben  hin  in  den  Bereich  der  Mundöffhung  fallen  würde. 

2.  Es  müssen  die  in  die  gedachte  Verlängerung  des  tracheolaryngealen 
Lumens  hineinragenden  Körpcrtheile  (Kehldeckel  und  Zungengrund)  aus  dem  Wege 
geräumt  werden. 

*)  Pas  Wort  Autoskopie  soll  ungefähr  dasselbe  bedeuten  wie  das  Wort  Autopsie: 
authentische,  möglichst  unvermittelte  Besichtigung  unter  günstigen  Bedingungen.  Eine  andere 
passende  Benennung  wäre  Eil  t h y ftcup  ia  Utrt/nyitt  = Lari/nt/oxcopiu  directa,  von  rjüdf  — 
dircclus,  geradlinig. 


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ACTOSKOPIE  DER  IA'FT WEGE. 


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Ad  1.  Hei  militärischer  Haltung  würde  die  Verlängerung  der  Luftröhre 
ungefähr  die  Nasenwurzel  treffen , bei  Rtlekneigung  des  Kopfes  (wie  wenn  inan 
in  die  Höhe  schaut)  ungefähr  das  Kinn ; das  kann  man  sich  an  jedem  aufrecht 
stehenden  Menschen  durch  äussere  Betrachtung  verdeutlichen,  wenn  man  nur  daran 
denkt,  dass  die  Luftröhre,  deren  oberes  Ende  am  Halse  ganz  vorne  liegt,  im 
Thorax  schräg  nach  hinten  verläuft,  parallel  zur  Wirbelsäule,  so  dass  sie  mit 
dem  Brustbein  einen  beträchtlichen  Winkel  bildet.  Die  Autoskopirhaltung  muss 
somit  zwischen  der  erst-  und  zweiterwähnten  Haltung  liegen  und  durch  ein  ganz 
bequemes  Anheben  des  Kopfes  zu  erzielen  sein , bis  die  Blickrichtung  mit  der 
Rumpfachse  einen  Winkel  von  fünfviertel  bis  anderthalb  Rechten  bildet  — eine 
Ueberlegung,  die  durch  die  Erfahrung  vollkommen  bestätigt  wird.  Die  Bewegung 
des  Kopfes,  um  die  es  sich  handelt,  vollzieht  sich  im  Atlantooceipitalgelenk.  Dass 
ein  kleiner  Winkel  in  diesem  Gelenk  einen  hinreichend  grossen  Ausschlag  am 
Oberkiefer  ergiebt,  liegt  an  der  Länge  des  Radius  der  Kreisbewegung  (circa  12  Cm.  ). 


Fig.  28. 


Ad  2.  Der  Zungengrund  kann  aus  dem  Bereiche  des  verlängerten  Tra- 
chcalrohrcs  naturgemäss  nur  in  der  Richtung  nach  vorn  und  unten  hin  ausweiehen : 
zur  Herbeiführung  der  erforderlichen  Lage  der  Zunge  bedarf  man  eines  für  den 
Zungendruek  geeigneten  Instrumentes,  also  eines  Spatels,  der  aber  nicht,  wie  bei 
der  traditionellen  Pharyngoskopie,  vor  den  Pupillae  cireumvallatne  bleiben  darf, 
sondern  gerade  den  dahinter  liegenden  Zungentheil  anpacken  muss.  Zur  Aufrich- 
tung des  Kehldeckels  haben  wir,  wie  längst  bekannt,  zwei  Möglichkeiten : das 
directe  Anheben  durch  ein  Uber  die  Epiglottis  greifendes  Instrument,  oder  das 
indireete  Anhebeu  nach  dein  von  Reichert  1879  beschriebenen  Princip,  welches 
lautet : Druck  auf  den  Zungengrund  und  das  Ligamentum  glosao-epiglotticum 
medium  veranlagst  die  mit  der  Zunge  eng  verbundene  Epiglottis  sich  aufzurichten. 
Da  das  erstere  Verfahren  Cocainisirung  erfordert,  so  ist  cb  für  Ausnahmefälle  zu 
reserviren ; die  Autoskopie  hat  im  Allgemeinen  mit  dem  RElCHEltT’schen  Princip 
zu  rechnen,  welches  durch  die  ohnehin  nothwendige  instrnmcntclle  Dislocation  des 
Zungengrundes  sich  von  selber  erfüllt. 


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AUTOSKOPIE  DER  LUFTWEGE. 


33 


Zur  Ausübung  der  Autoskopie  des  Kehlkopfes  und  der  Luftröhre  nach 
den  hier  dargelegten  Principien  genügt  in  ganz  günstigen  Füllen  irgend  ein  ge- 
wöhnlicher knieförmiger  Zungenspatel.  Meistens  jedoch  ist  es  erforderlich , sich 
eines  besonderen  Instrumentariums  zu  bedienen , welches  ich  jetzt  beschreiben 
werde.  *) 

Das  vollständige  sogenannte  „Autoskop“  besteht  aus  3 Theilen : dem 
Autoskopspatel,  dem  Aufsatzkasten,  dem  Handgriff. 


Fig.  *3. 


Gefrierscbnitt  zur  Demonstration  der  topographisch-anatomischen  Ver- 
hältnisse bei  der  vollständigen  Autoskopio  der  Luftwege. 

Das  Präparat  stammt  von  einem  ansgetragenen,  am  11.  Tage  nach  der  Geburt  gestorbenen 
Kinde,  ueaaeo  Leiche  mir  von  Herrn  Geheimrath  Olshausen  gütigst  tiberlassen  wurde.  Zur 
Herbeiführung  und  Fixirung  der  während  vollständiger  Autoskopie  des  Kehlkopfes  und  der 
Luftröhre  bestehenden  Lage  der  Tbeile  wurde  ein  ganz  dünner  Holzstab  vom  Munde  aus  in 
den  Kehlkopf  eingeführt  und  tief  in  die  Luftröhre  geschoben.  Die  Leiche  kam  in  eine 
Mischung  von  Bis  und  Salz  und  wurde  nach  48  Stunden  durchsägt,  wobei  sie  sich  als 
völlig  durchgefroren  erwies.  Das  Holz  wurde  entfernt,  das  Präparat  in  Alkohol  gehärtet.  Der 
Schnitt  zerlegt  den  Kopf  und  den  Hals  in  der  Medianebene,  weicht  dann  nach  unten  hin 
allmälig  nach  links  ab  und  eröffnet  den  Anfangstheil  des  linken  Bronchus. 


Der  Autoskopspatel  ist  eine  flache  Kinne,  welche  geradlinig  verläuft; 
nur  am  Ende,  da  wo  er  die  Convexität  der  Zunge  bereits  überschritten  hat,  be- 
kommt der  gewöhnliche  (prälaryngeale)  Autoskopspatel  eine  abwärts  gerichtete 


•)  Simmtliche  Instrumente  zur  Autoskopie  verfertigt  nach  meiner  Angabe  Herr 
W A.  Hirachmann,  Berlin  N.,  Johanniaatr.  14  15. 

Enoyelop.  Jahrbücher.  VI.  3 

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AUTOSKOPIE  DER  LUFTWEGE. 


Krümmung,  um  den  zur  Aufrichtung  der  Epiglottis  erforderlichen  Druck  auf  die 
Zungenwurzel  und  das  Ligamentum  glosso-epiglotticum  medium,  eventuell  auch 
den  Zungenbeinkörper  auszullben.  Das  genannte  Ligament  erfordert  eine  Delle  am 
Spatelende,  welches  im  Uebrigen  verdickt  sein  und  sehr  sorgsam  abgerundete 
Ränder  haben  muss,  um  Verletzungen  der  Schleimhaut  zu  vermeiden.  Dir  Länge 
des  Spatels  für  Erwachsene  beträgt  14  Cm.,  die  Breite  am  Endstücke  circa  2, 
im  Uebrigen  circa  1,6  Cm.  Der 
Spatel  besteht  aus  vernickeltem 
Ncusilber,  ist  äusserst  leicht  zu 
reinigen  und  in  kochendem  Wasser 
zu  desinficiren.  Das  Endstück  ist 
bei  dem  meist  benutzten  Spatel 
(Nr.  2,  sogenanntem  Normal- 
spatel) derartig  gekrümmt,  dass 
der  freie  Rand  circa  1 Cm.  tief 
unter  der  Ebene  des  Rinnenbodens 
steht,  doch  ist  der  Besitz  eines 
stärker  (Nr.  3)  und  namentlich 
eines  schwächer  (Nr.  1)  gekrümm- 
ten Spatels  für  gewisse  Fälle 
wttnschenswertli.  Die  Spatel  für 
Kinder  sind  kürzer  und  schmäler. 

Bei  cocainisirten  Patienten  (zu 
operativen  Eingriffen)  kann  man 
den  intralaryngealen  Autoskop- 
spatel  (Nr.  0)  anwenden,  der  hinter 
dem  Kehldeckel  cingeführt  wird, 
diesen  an  die  Zunge  andrückt  und  Normal'|,ato1  a^e^t°AX«kX^i,yngeÄl",*telt 
dabei  verdeckt.  Er  besteht  aus 

einer  vollständig  geraden  Rinne,  die  vorne  mit  dünnem,  convexem  Rande  endet. 

Der  Aufsatzkasten,  ebenfalls  aus  vernickeltem  Metall,  dient  dazu,  dem 
Einfall  des  Lichtes,  dem  Einblicke  des  Arztes,  sowie  etwa  erforderlichen  Ope- 
rationsinstrumenten die  Bahn  freizuhalten,  die  sonst  durch  dichtes  Aufliegen  der 
oberen  Zähne,  der  Oberlippe,  eventuell  des  Schnurrbarts  versperrt  werden  würde. 
Manchmal  ist  der  Aufsatzkasten  entbehrlich. 

Als  Handgriff  benutzen  wir  häutig  einen  Apparat, 
welcher  gleichzeitig  die  Beleuchtung  des  Gesichtsfeldes  besorgt, 
nämlich  ein  sogenanntes  ElektroBkop  (nach  dem  CASPER’scben 
System  i;  das  ist  eine  elektrische  Ilandlampe , deren  durch  eine 
Linse  gesammeltes  Licht  durch  ein  Prisma  um  90°  abgelenkt  wird. 

An  dieses  Elektroskop  wird  der  Autoskopspatel  rechtwinklig  fest 
angeschraubt;  das  Licht  streicht  dann  immer  über  den  Spatel 
hinweg  und  an  ihm  entlang.  Der  Einblick  erfolgt  unmittelbar  über 
die  Kante  des  Prismas  hinweg,  so  dass  der  ganze  durch  die 
divergirenden  Lichtstrahlen  erhellte  Bezirk  vollkommen  übersehen 
werden  kann. 

Eine  andere  Art  zu  autoskopiren  besteht  darin , dass  man 
den  Autoskopspatel  an  einen  einfachen  Handgriff  steckt  und 
zur  Beleuchtung , je  nach  der  vorhandenen  Lichtquelle , ent-  Einfacher 
weder  (für  Sonnenlicht,  Petroleum,  Gas,  Gasglühlicht)  den  ge-  H*u<lgri,r' 
wöhnlichcn  Stirnspiegel,  oder  die  von  mir  constmirte  elektrische  Stirn- 
lampc  für  reflectirtcs  Licht  benutzt  (die  übrigens  nicht  nur  für  die  Auto- 
skopie brauchbar  ist,  Bondern  bei  6äinmtlichon  Untersuchungsmethoden  des 
Halses , der  Nase  und  des  Ohres  vorzügliche  Dienste  leistet).  Das  Licht  einer 
kleinen  Glühlampe  wird  durch  eine  Convexlinse  gesammelt  und  sofort  beim 


Fi*.  s<. 


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AUTOSKOPIE  DER  LUFTWEGE. 


35 


Austritt  aus  der  Linse  durch  einen  unter  45°  fest  angebrachten  kleinen  Plan- 
spiegel rechtwinklig  abgelenkt.  Der  Spiegel  ist  zum  Durchsehen  in  der  Mitte 
schräg  durchbohrt.  lTm  die  Winkelstellung  des  Spiegels  hat  man  sich  beim  Ge- 
brauch gar  nicht  zu  kümmern , sondern  man  richtet  Rieh  bei  der  Einstellung 
des  Instrumentes  lediglich  nach  einer  hinter  dem  Spiegel  (vor  dem  Auge  des 
Untersuchers)  angebrachten,  vertical  stehenden  länglichen  Blechscheibe , welche 
ebenfalls  ein  Loch  hat.  Sieht  man  durch  die  beiden  Löcher  hindurch,  so  befindet 
sich  die  Sehachse  ohne  weiteres  im  Centrum  des  Lichtbündels  — ein  optisch  ideal 
günstiges  Verhältniss.  Durch  Veränderung  des  Abstandes  der  Convexlinse  von 
der  Glühlampe  lässt  sich  der  Lichtkreis  vergrössern  oder  verkleinern;  man  er- 
mittele durch  Probircn  den  Abstand , bei  welchem  die  betreffende  Lampe  den 
günstigsten  Beleucbtungscffect  giebt,  und  belasse  diese  Einstellung  permanent  (für 
die  BJiinosropia  anterior  benutze  man  den  obersten  Abschnitt  des  Lichtkreises). 
Die  Verbindung  der  Lampe  mit  dem  Stirnschilde  ist  durch  zwei  unter  Spiralfeder- 
druck stehende  Gelenke  derart  hergestellt,  dass  jede  beliebige  Bewegung  in 
weitester  Excursion  mit  geringster  Kraft  vollzogen  werden  kann  und  dass  die 
Lampe  in  jeder  Stellung  sofort  automatisch  fixirt  ist.  Um  die  Stellung  der  Lampe 
zu  verändern,  benutzt  man  den  unteren  Band  der  durchbohrten  Blechscbeibe  als 
Handhabe.  Der  obere  Theil  der  Lampe  darf  nicht  der  Stirne  sehr  genähert 

werden.  An  dem  Kabel  ist  ein 
Fis  26 - Stromunterbrecher  angebracht. 

Statt  am  Stirnbande  (wie  in  der 
Fig.  26)  kann  die  Lampe  auch 
an  einem  Stahlbügel  getragen 
werden. 

Wir  wenden  uns  nun 
zur  Anwendung  des  Antoskopes 
hei  dem  Patienten,  zur  Auto- 
skopie. Die  Autoskopie  ist 
eine  Kunst  — das  vorweg. 
JtX  Wer  glaubt,  er  braucht  nur 

Z'|J  zum  Autoskop  zu  greifen,  um 

Elektrische  Stirulampe  für  redcctirtea  Licht.  autoskopiren  ZU  können  - der 

wird  eine  Enttäuschung  erleben. 
Wir  haben  gesehen  , dass  die  Blickrichtung  des  Patienten  im  Allgemeinen  einen 
stumpferen  Winkel  zur  Itumpfachse  bilden  soll  als  bei  der  militärischen  Haltung. 
Licssen  wir  nun  zu  diesem  Zwecke  den  ganz  gerade  aufrecht  sitzenden  Patienten 
den  Kopf  etwas  zurückneigen , so  würde  die  Verlängerung  seiner  Luftröhre, 
wenn  sie  auch  zur  Verlicalcn  schon  beträchtlich  geneigt  ist,  doch  noch  so 
steil  in  die  Luft  ragen,  dass  die  Untersuchung  für  den  Arzt  unbequem  wäre. 
Wir  geben  deswegen  gewöhnlich  dem  ganzen  Oberkörper  des  Patienten  eine 
leichte  Neigung  nach  vorne  (vergl.  Fig.  27).  Zur  Untersuchung  bleibt  der  Patient 
in  voller  Bekleidung , höchstens  das  Halstuch  oder  ein  allzu  enger  Kragen 
wird  gelockert.  Künstliche  Gebisse  werden  hcrausgenommen.  Der  Arzt  steht  vor 
dem  sitzenden  Patienten.  Das  Autoskop  wird  in  die  volle  Faust  genommen  und 
nnter  Leitung  des  Auges  eingeführt.  Arbeitet  man  mit  einem  der  elektrischen 
Belenchtungswerkzeuge , so  schliesst  man  vor  der  Einführung  den  Contact.  Man 
bringt  nun  den  Spatel  in  den  Mund,  so  dass  sein  umgebogenes  Ende  in  die 
Grube  zwischen  Zunge  und  Kehldeckel  einhakt , hebt  den  Griff,  bis  der  Aufsatz- 
kasteu  die  obereu  Zähne  berührt,  giebt  Acht,  dass  die  Oberlippe  nicht  eingeklemmt 
wird,  und  zieht  gleichzeitig  den  Zungengrund  nach  vorn  und  unten , soweit  als 
es  ohne  Forcirung  gelingt : bei  alledem  schaut  man  durch  den  Aufsatzkasten  hin- 
durch. Empfehlenswerth  ist  es,  zwischen  die  Zähne  (respective  den  Kiefer)  und 
den  Aufsatzkasten  eine  nichtmetalliscbc  Schicht  eiuzuschalten ; dazu  eignen  sich  sehr 
dünne  Plättchen  von  Holz  oder  ähnlichem  Material , am  besten  aber  ein  ganz 

3* 


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AUTOSKOPJE  DER  LUFTWEGE 


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klein*-«  Binse  heben  Watte.  Jiothwendig  ist  eine  solche  Watteauflage , wenn 
ein  zahnloser,  aber  mit  schlechten  Wurzeln  bepflanzter,  entzündlich  geschwollener 
Kieferrand  die  Be  rüh  rung-i  fliehe  bildet.  Sitzt  das  Antoskop  richtig,  so  kann  man 
sieh  jetzt  meistens  sehr  viel  Zeit  lassen  ond  Alles  in  Ruhe  besichtigen,  während 
der  Patient  ganz  ungestört  athmet . phonirt  n.  s.  w.  Lässt  man  den  Kopf  des 
Unterpachten  allmilig  sich  nach  vorne  (zur  Brust i neigen,  so  verbessert  sich  in 
vielen  Fillen  der  Ueberblick  Ober  die  Hinterwand  des  Larynz:  durch  die  ent- 
gegengesetzte Bewegung  gelangt  man  zur  Einstellung  der  Stimmbandcommissur 
(falls  dieselbe  bei  dem  Individuum  Überhaupt  erreichbar  sein  sollte i.  Will  man 
das  Antoskop  entfernen,  so  muss  man  natürlich  das  hakenförmige  Ende  erst  durch 
Senken  des  Griffes  in  die  Höhe  bringen  und  nicht  etwa  versuchen,  die  angehakte 
Zunge  ans  dem  Rachen  herauszureissen. 

Die  richtige  Handhabung  des  Autoskopes  erfordert,  wie  bereits  an- 
gedentet . eine  grosse  L'ebung;  nur  derjenige  wird  die  Methode  vollkommen  zu 
bewältigen  lernen,  der  für  jegliche 

L'nzuträgliehkeit  bei  der  Einfüh-  Fig  si. 

rung  des  Instrumentes  die  Schuld 
io  erster  Linie  bei  sich  selber 
sucht.  Das  Kennzeichen  eines  guten 
Autoskopikers  ist  folgendes:  Er 
erzeugt  bei  den  Patienten  selten 
Reflexbewegungen  (Würgereiz) 
und  sehr  selten  Schmerz.  Um 
dieses  Ziel  zu  erreichen,  manipu- 
lire  man  schnell  und  sicher,  aber 
nicht  brüsk,  sondern  vorsichtig, 
rücksichtsvoll,  mit  feinfühliger  und 
geschmeidiger  Hand.  Ich  pflege 
zu  sagen:  „Das  Autoskop  ist  ein 
Instrument , mit  welchem  man 
jedem  Patienten  Schmerzen  machen 
kann  und  keinem  Schmerzen 
machen  darf.“  Auch  bei  voll- 
endeter Technik  lässt  sich  nicht 
vermeiden , dass  die . meisten 
Patienten  bei  der  Autoskopie  (be- 
sonders bei  der  erstmaligen)  eine 
unangenehme  Empfindung 
haben,  aber  diese  Empfindung  ist 
nicht  schmerzhaft ; sie  beruht  darauf,  dass  der  innige  Contaet  mit  einem  harten, 
glatten , kühlen  Instrument , sowie  die  Dislocation  durch  eine  vis  n tergo  für 
die  Zungenwurzel  etwas  sehr  Ungewohntes,  ihrer  natürlichen  Bestimmung  Wider- 
strebendes ist.  Unangenehm  für  die  Patienten  sind  ja  wohl  die  meisten  ärzt- 
lichen Untersurhungsmethoden , in  praxi  kommt  es  nur  darauf  an,  ob  das 
Mass  der  Belästigung  leicht  oder  schwer  erträglich  ist.  Die  Untersuchung  mit 
dem  Autoskop  ist  nun  bei  eleganter  Handhabung  der  Regel  nach  ganz  leicht 
erträglich,  wenn  auch  etwas  lästiger  als  die  Spiegelung  (welcher  sie  jedoch 
von  einigen  Kranken  vorgezogen  wird).  Dass  Personen  mit  abnorm  gesteigerter 
Sclimerzempfmdlichkeit  (Hyperalgesie)  eine  Ausnahme  von  der  Regel  bilden 
können , indem  auch  ein  sanfter  Druck  ihnen  einen  wirklichen  Schmerz  be- 
reitet , ist  selbstverständlich.  Da  wird  man  sieh  nüthigenfalls  mit  Cocain  be- 
helfen. Irritative  Processe  an  der  Zungenwurzel  oder  in  der  Fossa  glosno-epi- 
glottica  können  unter  Umständen  eine  Contraindication  gegen  die  Autoskopie 
abgeben;  das  ist  einer  dor  Gründe,  weshalb  ich  es  für  rathsam  halte,  sich  vorher 
mit  dem  Spiegel  zu  orientiren. 


Autonkopiache  Operation. 


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AUTOSKOPIE  I)EK  LUFTWEGE. 


37 


Die  Technik  der  Antoskopie  weicht  von  dem  gewöhnlichen  Typus  ab, 
wenn  Chloroformnarkose  angewandt  wird,  wie  cs  öfters  in  der  Kinderpraxis 
erforderlich  ist.  Ich  lasse  das  Kind  auf  einem  recht  hohen  Tisch  chloroformiren, 
ziehe  den  Kopf  über  den  Tischrand  und  gebe  ihn  in  die  Hand  eines  Assistenten. 
Das  Autoskop  nehme  ieh  verkehrt  (den  Spatel  nach  unten)  in  die  linke  Faust 
und  hake  über  den  Zungengrund  ; den  Kopf  lasse  ich  nun  allmälig  soweit  heben 
oder  senken,  bis  die  richtige  Einstellung  erlangt  ist.  In  derselben  Haltung  (welche 
keineswegs  identisch  ist  mit  dem  sogenannten  „hängenden  Kopf“)  pflege  ieh, 
auch  ohne  Narkose , zu  autoskopiren , wenn  es  sich  um  ganz  kleine  Kinder 
(z.  B.  Säuglinge)  handelt,  oder  wenn  der  Widerstand  strampelnder  Schreihälse 
durch  energisches  Festhalten  gebändigt  werden  soll.  (Nach  meiner  Anschauung 
ist  die  Chlorofomnarkose  bei  der  Autoskopie  blos  ein  Mittel  der  l'eberwältigung, 
dürfte  also  bei  Erwachsenen  kaum  in  Frage  kommen.) 

Das  Autoskop  hemmt  den  Larynx  etwas  in  seiner  natürlichen  Beweg- 
lichkeit; dies  ist  der  Grund  dafür,  dass  es  zur  Diagnose  feinerer  Motilitäts- 
störungen wenig  taugt.  Bringt  die  neue  Methode  demnach  keinen  Fortschritt  für 
die  Neurologie  des  Kehlkopfes,  so  ist  sie  andererseits  eine  echt  chirurgische 
Methode;  sie  legt  mit  einer  Art  Speculum  den  Larynx  in  der  Kachentiefe  frei, 
ungefähr  so  wie  man  die  Pt>rt!o  vaginalis  uttri  durch  Entfaltung  der  Scheide 
freilegt.  Habe  ich  eine  Geschwulst  im  Autoskop  eingestellt,  so  brauche  ich  nur 
einfach  zuzagreifen,  geradenwegs,  mit  Zange,  Messer,  Curette,  Schlinge,  oder  wie 
es  am  bequemsten  geht.  Dabei  dirigire  ich  das  Autoskop  mit  der  linken  Hand 
und  führe  mit  der  rechten  das  Operationsinstrument  innerhalb  der  rechten  Hälfte 
des  Aufsatzkasteus  durch  das  Autoskop  hindurch.  Der  knieförmig  abgebogene  Griff 
des  Operationsinstrumentes  kann  nach  Bedürfniss  parallel  oder  unter  irgend  einem 
Winkel  zum  Autoskopgriff  gehalten  werden. 


Kt*,  »s. 


Die  Instrumente  zu  autoskopischen  Operationen  haben  die  Form  der 
Naseuinstrumente ; sie  messen  vom  Knie  bis  zur  Spitze  20  Cm.,  für  die  Luftröhre 
entsprechend  mehr.  Neue  Instrumente  brauchen  wir  kaum  zu  erfinden,  wir  über 
setzen  einfach  unser  gebräuchliches  Instrumentarium  in’s  Autoskopische,  indem 
wir  die  laryngologischen  Modelle  gestreckt  und  geknickt,  oder  die  rhinologischen 
Modelle  verlängert  ansführen  lassen.  Für  zerlegbare  Instrumente,  z.  B.  Doppel- 
curctten , lässt  man  am  besten  zwei  Zwischenstücke  (Lcitungsröbrcn)  arbeiten, 
eines  nach  der  alten  und  eines  nach  der  neuen  Fat.on,  so  dass  man  mit  den- 
selben Curetten  und  demselben  Handgriff  sowohl  »ntoekopisch  wie  unter  Spiegel- 
leitung zu  operiren  vermag.  Für  manche  Zwecke  erweisen  sich  kleine  Ab- 


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38 


AUTOSKOPIE  DER  LUFTWEGE. 


spielender  Leichtigkeit.*)  Nach 
erfolgter  Cocainisiruug  wurde  der 
intralaryngeale  Autoskopspntel  am 
Blektroskop  befestigt,  hinter  die 
Epiglottis  eingeflihrt  und  mit  der 
linken  Hand  dirigirt.  Die  Ge- 
schwulst wurde  mit  einer  feinen 
Zange  gefasst  und  entfernt.  Die 
Patientin  war  von  der  wenige 
Secunden  dauernden  Operation 
ausserordentlich  befriedigt.  In  der 
Tliat  stellt  ja  eine  autoskopisehe  Operation,  vermöge  der  Cocainauilsthesie , an 
die  Willenskraft  der  Patienten  nicht  im  mindesten  eine  grössere  Anforderung  als 
wie  eine  Operation  unter  Spiegelbildung. 


biegungen  (schräg  oder  bajonettförmig)  am  laryngealen  Ende  der  Instrumente 
nützlich ; doch  fällt  das  schon  so  sehr  in  das  Gebiet  der  individuellen  Ansprüche 
und  Gewohnheiten  des  Operateurs,  dass  ich  eine  genauere  Erörterung  solcher 
Einzelheiten  lieber  unterlasse. 

Als  ausreichender  Beweis  für  die  Leistungsfähigkeit  der  autoskopischen 
Operationsmethode  diene  die  Abbildung  (Fig.  29)  des  Kehlkopfes  einer  39jährigen 
Frau,  welcher  ich  das  vorne  am  liuken  Stimmband  sitzende  hirsekorngrosse  Fibrom 
autoskopisch  entfernt  habe.  (Die  Frau  litt  ausserdem  an  Lähmung  des  rechten 
Recurrens  in  Folge  tuberculöser 

Infiltration  der  rechten  Lungen-  Fis  S,K 

spitze.)  Der  Fall  ist  wohl  hin- 
reichend bemerkenswert)),  da  hier 
zum  allerersten  Male  die  Her- 
ausnahme einer  im  Innern 
des  Kehlkopfes  festliegendcu 
Neubildung  vom  Mund  aus 
ohne  Spiegel,  aber  unter  ge- 
nauer Leitung  des  Auges  ge- 
lungen ist  — und  zwar  mit 


Fig  as 


*)  In  der  vorlaryngoskopischen  Zeit  (1845)  hat  Horace  Green  (Oh  the  sargical 
treatmrnt  af  potyyi  of  the  larynx  aml  ordema  af  glntlis.  New- York  185Z)  bei  einem  1 1 jährigen 
Mädchen  einen  Kehlkopfpolypen  operirt  unter  Beihilfe  des  Gesichtssinnes.  Diese  Leistung  ist 
gewiss  denkwürdig,  aber  sie  ist  kein  Hinderniss  meines  oben  detinirten  Anspruches,  denn  soweit 
die  Operation  Green's  unter  Leitung  des  Auges  geschalt,  vollzog  sie  sich  gar  nicht  im  Larynx, 
sondern  im  Bereiche  der  eommunen  Sichtbarkeit,  im  Mundrachen.  Der  grosse,  lang  gestielte 
Polyp  flog  bei  HustenstOssen  aus  dem  Kehlkopf  heraus  in  die  Hohe  und  war  bei  einfach  (in 
altühlicher  Weise)  platt  heruntergedrückter  Zunge  momentan  zu  sehen , wurde  auch  in  einem 
solcheu  Momente  glücklich  unter  Leitung  des  Auges  mit  einem  Doppelbaken  gefasst;  dann 
wurde  ein  geknöpftes  Messer  in  den  Kehlkopfeingang  hinuntergeführt  und  der  Stiel  durchtrennt. 
Die  hier  ölten  aus  dem  Werke  Green’s  reproducirtc  Abbildung  (Fig.  30)  zeigt  „a  very  corrert 
rirw “ der  Situation  des  Polypen  wahrend  eines  Hnstenstosses , sowie  daneben  die  durch  die 
Operation  gewonnene  Geschwulst. 


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AUTOSKOPIE  1)EK  LUFTWEGE. 


39 


Manchmal  gelingt  es,  cocainisirten  Patienten  einen  kleinen  sogenannten 
Subglottisspiegel  an  langem  Stiele  durch  das  Autoskop  hindurch  in  den  Larynx 
einzufahren,  zur  Betrachtung  der  Unterfläche  der  Stimmbänder. 

Aerzte , welche  auf  Brillenbenutzung  angewiesen  sind , leiden  bisweilen 
darunter,  dass  ihnen  beim  Autoskopiren  (mit  dem  Elektroskop)  der  nahe  An- 
bauch des  Patienten  das  Brillenglas  beschlägt.  Dieser  Uebelstand  wird  vermieden, 
wenn  man  vor  das  autoskopirende  Auge  zum  Schutz  ein  durchbohrtes  Diaphragma 
bringt,  wozu  jeder  Stirnspiegel  taugt,  der  nicht  allzu  dicht  vor  der  Brille  steht. 
(Der  vom  Verfasser  angegebene  Stirnspiegel  ist  sehr  verstellbar , vermöge  der 
doppelten  Federgelenke,  die  auch  die  elektrische  Stimlampe  (Fig.  26)  tragen.) 
Der  Wasserdampf  schlägt  sich  grösstentheils  auf  dem  Stirnspiegel  nieder,  welcher 
sich  ausserdem  durch  das  Abfangen  ausgehustetcr  Secrettheilchen  nützlich  macht. 

ln  der  Einleitung  haben  wir  die  sonderbare,  praktisch  Überaus  wichtige 
Thatsache  hervorgehoben,  dass  die  Autoskopie  bei  den  verschiedenen  Patienten 
verschieden  günstige  Resultate  ergiebt,  indem  sie  die  grossen  Luftwege  bei  manchen 
Menschen  vollständig  freilegt,  bei  auderen  zu  einem  grossen  Theile , bei  noch 


Fig-  si. 


Fig.  ss. 


anderen  zn  einem  kleinen  Theile:  besonders  die  vorderste  Partie  des  Larynx* 
innern  bleibt  bei  der  Mehrzahl  der  Menschen  unsichtbar.  Indem  wir  gezwungen 
sind,  uns  bei  diesem  eigenartigen  Verhältnisse  zu  beruhigen  uud  unsere  weiter- 
gehenden Wünsche  zu  unterdrücken,  haben  wir  die  Aufgabe,  uns  Uber  die  Gründe 
jeDer  empirisch  gefundenen  individuell  verschiedenen  A utoskopi rbarkeit 
Klarheit  zu  verschaffen.  Diese  Gründe  sind  bei  der  Anatomie  zu  suchen.  Denken 
wir  uns  die  vordere  Tangentialebene  des  trachcolaryngealen  Lumens,  so  müssen 
wir  doch,  um  vollständig  autoskopiren  zu  können,  den  Oberkiefer  dorsalwärts,  die 
Zunge  (mit  dem  Kehldeckel)  ventralwärts  über  diese  Ebene  hinaus  versetzen.  Nun 
geliugt  ersteres  wohl  bei  allen  Menschen,  die  nieht  etwa  ein  steifes  Genick  haben, 
ohne  Umstände  durch  leichtes  Anheben  des  Kopfes.  Die  Erklärung  der  Differenzen 
ist  daher  bei  dem  zweiten  Factor  zu  suchen,  bei  der  Dislocationsfähigkeit  der  Zunge. 
Indem  das  erleuchtete  Autoskop  die  Zunge  vor  sich  herschiebt,  bestreicht  das  Licht 
nach  Art  eines  Radius  vector  die  hintere  Rachenwand  von  oben  nach  unten,  geht 
dann  über  die  Aryknorpel  hinweg  und  zieht  suceessive  die  Luftwege  bis  in  die 
Nische  des  vorderen  Glottiswinkels  hinein  in  seinen  Bereich.  Bei  dieser  Bewe- 
gung überwindet  der  Autoskopspatci  den  elastischen  Widerstand  der  Zunge,  wobei 


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40 


'ABTOSKOPIE  OEB  LUFTWEGE. 


er  nach  einander  einen  doppelten  Angriffspunkt  gewinnt , erst  einen  dorsalen 
(d.  h.  am  Böcken  der  Zunge,  zwischen  den  Arcus  palatoglossi) , dann  einen 
basalen  (am  Zungenbeinkörper  oder  in  dessen  Nachbarschaft).  Demnach  hängt  es 
hauptsächlich  von  der  Dicke  und  Consistcnz  der  Zunge  und  der  Straffheit  ihrer 
seitlichen  Fixation,  nebenbei  von  der  Beweglichkeit  des  Zungenbeines  ab,  wie 
weit  wir  mit  dem  Autoskop  ungehemmt  vorwärtskommen.  Fernerhin  ist  es  klar, 
dass  bei  verschiedenen  Kopf-  und  Iialsformen  die  Dislocationsfähigkcit  der  Zunge 
verschieden  stark  in  Anspruch  genommen  wird.  Denken  wir  uns  den  Patienten 
im  Moment  vor  dem  Beginn  des  Zuogendruckes , also  den  Kopf  in  Autoskopir- 
stellung,  die  Zunge  in  der  Ruhelage:  verbinden  wir  jetzt  den  dorsalen  Angriffs- 
punkt der  Zungo  (Z) , die  Mitte  des  freien  Überkieferrandes  (0)  und  die  Com- 
missur  der  Stimmbänder  (C)  untereinander  durch  gerade  Linien,  so  ergiebt  sich 
aus  der  Form  und  Grösse  des  Dreieckes  ZOC  das  Mass  der  für  die  Autoskopie 
des  betreffenden  Individuums  erforderlichen  Zungendislocation;  bei  vollständiger 
Autoskopirbarkeit  müsste  sich  der  Radius  vector  um  die  Winkelgrösse  ZOC  (J) 
vorwärts  bewegen  lassen;  gestattet  nun  die  Zungenbeschaffenheit  des  Patienten 
nur  eine  kleinere  Winkeldrehung  (§),  so  ist  die  Autoskopirbarkeit  des  Indivi- 
duums = ~j-.  Vorausgesetzt  ist  bei  dieser  Erörterung,  dass  der  Patient  weder 

durch  willkürliche,  noch  durch  unwillkürliche  Muskelaction  das  Untersuchungs- 
resultat beeinträchtigt.  Gelegentlich  kann  das  autoskopische  Gesichtsfeld  verdeckt 
werden  durch  eine  stark  verbogene  und  starre  oder  zu  schlaff  an  der  Zunge  be- 
festigte Epiglottis,  deren  Aufrichtung  nur  mangelhaft  gelingt.  Auch  ein  stark 
vorspringender  Petinlus  epiglottidis  kann  stören.  *) 

Die  enormeVariationsbreitc  in  der  Autoskopirbarkeit  des  Menschengeschlechtes 
bringt  es  mit  sich,  dass  man  über  praktische  Verwendungen  der  Autoskopie  fast 
gar  nichts  aussugen  darf  ohne  den  ausdrücklichen  oder  stillschweigenden  Vorbehalt: 
„insofern  das  bei  dem  Patienten  erreichbare  Mass  der  Autoskopie  für  den  in 
Hede  stehenden  Zweck  genügt“  — eine  Voraussetzung,  die  fast  nie  von  der 
Art  der  Krankheit,  sondern  von  dem  soeben  discutirten  trigonometrischen  Ver- 
hältnisse der  Kopf-  und  Halsthcile  abhängt,  also  nicht  von  transitorischen , son- 
dern von  individuell  constanten  Bedingungen,  ln  welchem  Umfange  die  Luftwege 
einer  bestimmten  Person  autoskopirbar  sind , lässt  sich  in  der  Regel  nur  durch 
den  Versuch  mit  dem  Autoskop  selbst  sicher  entscheiden.  Die  äusserliche  Üon- 
figuration  des  Halses  bietet  gar  keine  genügenden  Anhaltspunkte.  Wohl  aber  ist 
der  Geübte  meist  im  Stande , bei  der  einer  jeden  Kehlkopfuntersuchung  selbst- 
verständlich vorangehenden  Besichtigung  der  Rachenhöhle  unter  Anwendung  eines 
Zungenspatels  eine  annähernd  richtige  Prognose  der  Autoskopie  zu  stellen  — 
freilich  nicht  bei  dem  traditionellen  Herunterdrucken  des  hochgewölbten  Mittel- 
theiles der  Zunge  (womit  man  ja  ganz  zweckmässig  die  Untersuchung  cinleitet), 
sondern  erst  bei  der  durch  Einsetzen  des  Spatels  in  die  Fossa  glosso-epiglottica  zu 
erzielenden  Freilegung  des  tiefen,  hinter  dem  Zungengrnnd  verborgenen  Rachen- 
abschnittes, dessen  directe  Besichtigung  (ohne  Würgen!)  in  den  meisten  Fällen 
ausführbar  ist  und  einen  integrirenden  Bestandtheil  meiner  Methode  bildet  (Auto- 
skopie des  tiefen  Pharynx.**)  Die  derart  gesteigerten  Anforderungen  in  der 


*)  Um  Verwirrungen  zu  vermeiden,  benutze  ich  die  Worte  „autoskopirbar,  Autoskopir- 

5 

barkeit“  (ohne  erläuternden  Zusatz)  ausschliesslich  in  Bezug  auf  die  Proportion  ^ , ohne  Rücksicht 

auf  ausserwesentliche  Hindernisse  des  Einblickes,  wie  abnorme  Reizbarkeit  des  Patienten,  un- 
günstige  Kehldeckelform  oder  dergleichen.  Die  Autoskopirbarkeit  ist  im  Allgemeinen  bei  Kindern 
günstiger  als  bei  Erwachsenen. 

**)  Voltolini  hat  bereits  vor  30  Jahren  angegeben,  dass  man  ohne  Spiegel  bei  fast 
allen  Menschen,  mit  seltenen  Ausnahmen,  den  Pharynx  bis  zum  Oesophagus  und  den  Kehl- 
deckel besichtigen,  manchmal  selbst  die  Giesskannenknorpel  zur  Ansicht  bringen  kann,  beson- 
ders leicht  bei  Kindern  (Berliner  klin.  Wochenschr.  1868,  Nr.  23).  Das  liest  sich  jetzt  so,  als 
ob  es  dasselbe  wäre  wie  meine  „Autoskopie  des  tiefen  Pharynx“,  aber  cs  ist  nicht  dasselbe. 


AUTOSKOPIE  DER  LUFTWEGE. 


41 


Fi*.  M. 


pharyngoskopiscben  Technik  machen  es  wünschenswert!) , die  Überlieferten,  dem 
Zangendrucke  dienenden  Instrumente  durch  meinen  Zungenspatel  zu  ersetzen. 

welcher  in  seinem  vordersten  Abschnitt  den  Autoskop- 
spatein ähnelt  (Verdickung,  Abrundung,  Delle),  aber 
eine  viel  sanfter  abfallende  KrUmmnng  hat;  auch 
ist  der  Querschnitt  nicht  rinnenförmig,  sondern  platt. 
Die  Breite  beträgt  circa  14 — 17  Mm.,  die  Länge  vom 
vorderen  Ende  bis  zur  rechtwinkligen  Abbiegung  11  Cm. 
Diesen  Spatel  kann  man,  je  nach  BcdUrfniss,  beliebig 
weit  vorne  oder  hinten  an  die  Zunge  ansetzen.*) 

Wer  alle  hier  berührten  Verhältnisse 
znsammenfasst  und  erwägt,  der  wird  erken- 
nen, dass  von  der  gewöhnlichen  Art,  die  Mund- 
höhle und  den  Pharynx  zu  besichtigen,  all- 
mälige  Uebergänge  zur  Autoskopie  des  Kehl- 
kopfes und  der  Luftröhre  hinführen,  ja  dass 
meine  ganze  Erfindung  nichts  Anderes  ist  als 
die  Fortentwicklung  und  der  natürliche  Ab- 
schluss der  alten  ärztlichen  Kunst,  bei  nieder- 
gedrückter Zunge  in  den  Hals  zu  sehen. 


Sieben  Hauptsätze  zur  Autoskopie  der  Luftwege,  aufgcstellt  im  No- 
vember 1895. 

1.  Kehlkopf  und  Luftröhre  des  Menschen  sind  autoskopirbar , d.  h.  der 
directen  Besichtigung  zugänglich ; das  Mittel  hierzu  ist  Druck  auf  die  Zunge. 

2.  Der  Grad  der  Autoskopirbarkeit  schwankt  bei  den  einzelnen  Menschen 
in  den  weitesten  Grenzen ; die  Gründe  hierfür  sind  anatomische. 

3.  Die  Untersuchung  mit  dem  Kehlkopfspiegel  ist  zwar  nicht  mehr,  wie 
bisher,  die  einzige  Methode  zur  Besichtigung  der  Luftwege,  aber  sie  bleibt  die 
normale  und  in  erster  Linie  zu  benutzende  Inspectionsmcthode  behufs  Stellung 
der  Diagnose. 

4.  Die  autoskopische  Untersuchung  bildet  eiue  wichtige  Ergänzung  des 
Spiegelbcfundes,  ganz  besonders  für  die  hintere  Larynxwand  und  die  Luftröhre. 

5.  Für  die  Untersuchung  von  Kindern  ist  die  Autoskopie  in  vielen 
Fällen  unentbehrlich ; besonders  gut  gelingt  sie  in  der  Chloroformnarkose. 


Voltolini  konnte  (von  leichtesten,  günstigsten  Fällen  abgesehen)  die  genannten  Theile  nur 
in  einem  Moment  besichtigen,  and  zwar  in  einem  nnphysiologischeu  Moment,  während  ich  sie 
in  aller  Rahe  unter  physiologischen  Bedingungen  der  Betrachtung  freilege.  Der  wesentlichste 
Bestandtheil  der  Voltolini’schen  Technik  ist:  absichtliche  Hcrvorrufung  von  Würgebewe- 
gnngen  durch  mechanische  Reizung  des  Zongengrundes ; dazu  kommt:  Anlieben  des  Kehlkopfes 
von  anssen  und  (Tür  die  Aryknorpcl)  Aufheben  der  Epiglottis  mit  dem  Kehldeckelstäbchen. 
Bei  meiner  Technik  ist  gerade  die  Vermeidung  von  Würgehewegungen  das  Hauptbestreben. 

*)  Um  die  „spiegellose  Mnnd-Rachenbcsicktigung“  hier  gleich  möglichst  zu  erledigen, 
weise  ich  darauf  hin,  dass  die  Zungenwurzcl  einer  ausreichenden  Inspection  ohne  Spiegel  kaum 
zugänglich  ist,  und  mache  fernerhin  auf  einige  vielleicht  nicht  ganz  allgemein  bekannte 
Punkte  aufmerksam , ohne  ihnen  einen  erheblichen  Werth  beizumessen.  Die  orale  Fläche  des 
Alveolarfortsatzes  und  der  Zähne  am  Oberkiefer  ist  meist  sehr  gut  zu  übersehen,  wenn  der 
Patient,  am  besten  im  Stehen,  den  Kopf  stark  nach  hinten  beugt  und  den  Mund  weit  öffnet; 
am  Unterkiefer  gelingt  dieselbe  Procedur,  jedoch  etwas  weniger  gut,  wenn  der  Patient  sitzt 
nnd  den  Kopf  bei  weit  geöffnetem  Munde  zur  Brust  neigt,  der  Arzt  aber  steht.  Itic  Ktgio 
tonsillari * kann  man  flächenhaft  übersehen,  wenn  man  die  Wange  der  anderen  Seite  mit  einem 
in  den  Mundwinkel  eingesetzten  stumpfen,  nicht  ganz  schmalen  Haken  (allenfalls  mit  dem 
Finger)  kräftig  zum  Ohre  zieht,  über  die  Backenzähne  hinweg  den  Spatel  auf  die  Zunge  setzt 
und  nun  vom  Kieferwinkel  her  in  den  Rachen  schaut.  Den  stumpfen  Haken  kann  der  Patient 
selber  halten. 


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42 


AUTOSKOPIE  DER  LUFTWEGE, 


6.  In  der  endolaryngealen  und  endotrachealen  Chirurgie  wird  sich  die 
Autoskopie  den  Rang  der  Normalmethode  erobern , innerhalb  der  anatomischen 
Autoskopirbarkeitsgrenzen.  *) 

7.  Die  Technik  der  Spiegeloperationen  ist  nach  wie  vor  unentbehrlich, 
für  die  ungenügend  autoskopirbaren  Patienten. 


Die  Entdeckung  der  Autoskopie  (1895)  ist  nicht  auf  dem  Wege  erfolgt,  den  mau 
jetzt,  hinterher,  als  den  rationellen  construiren  könnte.  Ich  ging  von  der  vorgefassten  Mei- 
nung aus,  dass  eine  directe  Laryngoskopie  möglich  sein  müsse ; ohne  eine  richtige  Vorstellung 
von  den  erforderlichen  Voraussetzungen  zu  haben , verlegte  ich  mich  aufs  Probiren , begann 
mit  einer  verkehrten  Versuchsanordnung,  tastete  mich  schnell  zum  praktischen  Ziele  hindurch 
und  legte  darnach  unschwer  die  theoretische  Einsicht  klar,  von  der  aus  die  Entdeckung 
ohne  Umweg  zu  haben  gewesen  wäre. 

Die  Autoskopie  hat  keine  Vorgeschichte.  Zwar  mag  die  Idee,  einen 
directen  Einblick  in  den  Kehlkopf  des  unverletzten  lebenden  Menschen  anzustreben,  ganz  selten 
schon  früher  hie  und  da  aufgetaucht  sein  (bis  zu  Hoffnungen  auf  die  Luftröhre  oder  gar  die 
grossen  Bronchien  hat  sich  gewiss  noch  Niemand  verstiegen),  aber  das  Problem  ist  wohl  nir- 
gends über  das  Stadium  des  Wunsches  hinansgediehen  Eine  einzige  Person , eine  anonyme 
Dame  (ehemalige  Sängerin)  erkenne  ich  in  gewissem  Sinne  als  Vorläuferin  an . da  sie  eine 
reelle  autoskopische  Leistung  vollbracht  hat  (1864).  Sie  entdeckte  (oder  entwickelte)  an  sich 
selber  die  Fähigkeit,  das  Innere  ihres  Kehlkopfes  theil weise  der  directen  Besichtigung  darzu- 
bieten, wobei  sie  den  Kopf  zurücklegte  und  ihre  sehr  dünne  Zunge  nach  vorn  hin  gegen  die 
untere  Reihe  der  Schneidezähne  drängte.  (Das  Factum  bezeugt  To bold  , Lehrbuch  der  Laryngo- 
skopie. Berlin  1869,  2.  Aufl.,  pag.  43.)  Diese  Person  dürfte  sich,  trotz  meiner  Entdeckung, 
auch  heute  noch,  so  gut  wie  vor  HO  Jahren,  als  Sehenswürdigkeit  produciren , da  sie  durch 
blosse  Willenskraft , ohne  Instrument,  eine  ausreichende  Dislocation  ihres  Zungengrundes  zu 
Wege  brachte. 

Literatur:  Berliner  klin.  Wochenschr.  1895,  Nr.  22.  — Arch.  f.  Laryng.  und 
Rhinol.  III.  Bd..  Heft  1 und  2-  — Therap.  Monatsh.  Juli  1895.  (Diese  ersten  drei  Aufsatze  sind 
in  Text  und  Abbildungen  jetzt  total  veraltet.)  — Deutsche  ined.  Wochenschr.  1895,  Nr.  38.  — 
Allg.  med.  Central-Ztg.  1895,  Nr.  89  und  90.  — Eine  zusammen  fassende  Darstellung  gab  die 
Ende  November  1895  erschienene  Brochüre:  Die  Autoskopie  des  Kehlkopfes  und  der  Luftröhre 
(Besichtigung  ohne  Spiegel).  Berlin  1896,  Verlag  von  Oscar  Coblentz.  — Die  vorliegende  Ab- 
handlung wurde  im  Januar  1896  verfasst;  ein  im  Wesentlichen  identischer  Aufsatz  erschien  in 
den  Annalen  den  maladien  de  Voreilte  et  du  larynx,  März  1896. 


Nachträge:  1.  Der  Schild knorpcldrnck.  „Drückt  man  mit  dem  Daumen 

auf  die  Mitte  des  Schild knorpels,  so  vergrössert  sich  das  autoskopische  Gesichtsfeld  nach  vorne 
hin  in  vielen  Fällen  um  ein  Beträchtliches,  insbesondere  bei  jugendlichen  Personen.  Mit  Hilfe 
dieses  äusseren  Handgriffes,  der  bei  Operationen  einem  Assistenten  überlassen  werden  kann, 
gelingt  relativ  häutig  die  Einstellung  der  Stimmbandcommissur.  Der  Handgriff  ist  den  meisten 
Patienten  leicht  erträglich.“  (Allg.  med.  Central-Ztg.  1896,  Nr.  25,  25.  März.) 

2.  Aus  „Autoskopie  und  Spateltechnik“  (Allg.  med.  Central-Ztg.  1896, 
Nr.  Hl , 15.  April).  „Ich  führe  jetzt  sammtliche  autoskopische  Untersuchungen  mit  ganz  ein- 
fachen , glatten,  schmalen  Zungenspateln  aus,  deren  ich  zwei  besitze  (für  Erwachsene),  und 
beleuchte  in  der  gewöhnlichen  Weise  vom  Kopfe  aus,  allermeist  mit  meiner  bekannten,  re- 
flectirtes  elektrisches  Licht  gebenden  Stirnlampe.  Das  sogenannte  „Autoskop“  verbleibt  regulär 
nur  noch  für  die  (gegenüber  der  Gcsammtzahl  der  Untersuchungen  doch  immerhin  seltenen) 
Fälle,  wo  die  zweite  Hand  frei  bleiben  muss  (vor  Allem  also  zu  operativen  Eingriffen),  sowie 
für  die  Demonstration  des  autoskopischen  Bildes.  Jeder  Arzt  kann  die  Autoskopie  erlernen 
und  ausgiebig  betreiben  ohne  Autoskop. 

Ich  unterscheide  einen  (relativ)  flachen  und  einen  krummen  Zungenspatel.  Das 
Antoskop , ebenfalls  in  zwei  Formen  vorhanden , entspricht  ganz  genau  den  beiden  Zungen- 
spateln , ist  nur  hinten  soweit  verbreitert , dass  ein  sogenannter  Aufsatzkasten  (als  stummer 
Assistent)  hernbergeschoben  werden  kann.  Die  Rinnenform  ist  endgiltig  beseitigt.“ 

H.  Vergleiche:  „Voltolini  und  die  Autoskopie  der  Luftwege.“  Monatsschr.  f. 

Ohrenhk.  April  1^96.  Alfred  Ki  rat  ein. 

*)  Diese  These  sagt  gar  nichts  aus  über  den  der  Autoskopie  zukommenden  Antheil 
an  der  Gesammtheit  der  endolaryngealen  Operationen;  sie  nimmt  eine  Snperiorität  des 
directen  Verfahrens  gegenüber  dem  indirecten  an  in  denjenigen  Fällen,  in  welchen  beide 
Methoden  concurriren.  Für  solche  Falle,  in  denen  das  Operationsgebiet  nicht  in  die  ana- 
tomischen Autosknpirbarkeitsgrenzen  des  Individuums  fällt,  ist  die  directe  Methode  nicht 
inferior,  sondern  „nicht  vorhanden“. 


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B. 


Bacillus  pyocyaneus,  abgetödtete  Culturen  bei  Typhus,  s.  Abdo- 
minaltyphus, pag.  3. 

Bacterium  coli,  Verhalten  bei  Typhus,  s.  Abdominaltyphus,  pag.  1. 

Bäder.  Id  jüngster  Zeit  hat  man  dem  physikalisch-chemischen 
Verhalten  der  Mineralwässer  im  Vergleiche  zu  dem  gewöhnlichen  Wassers  be- 
sondere Aufmerksamkeit  geschenkt,  um  daraus  Schlüsse  auf  die  Wirkung  der 
Mineralbädcr  und  Heilquellen  zu  ziehen.  Nachdem  schon  früher  für  das  Gasteiner 
Thermalwasser  nacbgewiesen  worden,  dass  dasselbe  eine  ohngefähr  6 mal  grössere 
elektrische  Leitfähigkeit  besitzt  als  destillirtes  Wasser,  hat  jetzt  Treadwell 
in  exacter  Weise  die  Leitfähigkeit  des  Wassers  der  Pfaeferser  Therme  unter- 
sucht. Während  (in  dem  Apparate  von  Kohlraüsch)  destillirtes  Wasser  einen 
Widerstand  von  337,7  Siemens  zeigte,  ergab  das  Thermalwasser  folgende  Zahlen: 


Verdünnung 

Widerstand 

Verdünnung 

Widerstand 

i 

. . . 2,017  Siemens 

128  ...  . 

. . 143,500  Siemens 

2 

. . . 3,901 

256  .... 

. . . 220,700 

•1 

. . . 7,077 

512  ...  . 

. . . 247.900 

8 

. . . 14,720 

102-1  .... 

. . . 284.500 

lti 

. . . 17,360 

2048  .... 

. . . 319.700 

32  ...  . 

. . . 50.350 

4096  .... 

. . . 332,700  „ 

64 

. . . 87.800 

l 

1 

Es  geht  hieraus  hervor,  dass  erst  bei  einer  mehr  als  4000fachen  Ver- 
dünnung des  Pfaeferser  Wassers  der  Widerstand  dem  des  destillirten  Wassers 
gleiehkam,  seine  elektrische  Leitfähigkeit  also  um  mehr  als  l&Ofach  grösser  ist 
als  diejenige  des  destillirten  Wasser».  Es  ist  bekannt,  dass  die  Fähigkeit,  Elek- 
trirität  zu  leiten , hauptsächlich  sehr  verdünnteu  Lösungen  von  Salzen , Säuren 
uml  Basen  zukommt  und  dass  diese  Fähigkeit  eine  um  so  grössere  wird,  je  mehr 
diese  Substanzen  in  der  Lösung  dissociirt,  d.  h.  in  ihre  Jouen  gespalten  sind, 
indem  die  letzteren  die  Träger  der  Elektricität  bilden.  Andererseits  giebt  uns  die 
Bestimmung  der  elektrischen  Leitfähigkeit  wiederum  ein  Mittel  zur  Erkennung 
des  Zustandes  der  gelösten  salzartigen  Stoffe,  denn  die  Menge  der  Elektricität, 
welche  von  einer  elektrolytischen  Flüssigkeit  bei  gegebenen  Kräften  und  Abmes- 
sungen geleitet  wird,  ist  unter  sonst  gleichen  Umständen  der  zur  Leitung  be- 
fähigten, d.  h.  gespaltenen  Molecüle  proportional.  Es  ist  also  dargethan,  dass  das 
Pfaeferser  Wasser  keine  nicht  dissociirten  Salze  enthält,  ln  praktischer  Beziehung 
glaubt  Bally  auf  die  RENz’sche  Thermosentheorie  zurtlckgeheud  (Renz  himmt 
für  Wildbad  an,  dass  ein  Wasser,  welches  unter  so  hohem  Atmosphärendruck 
der  Glühhitze  des  Erdinneren  ausgesetzt  gewesen,  eine  andere  Lagerung  seiner 


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44 


BÄDEB. 


Moleclile  und  damit  andere  Wärmeschwingungeu  annchmen  müsse  als  gewöhnliches, 
künstlich  erwiirmtes  Wasser),  sich  den  Schluss  erlauben  zu  dürfen,  dass  die 
Wärmeempfindung  unserer  Hautnerven  bei  gleicher  Temperatur  und  in  demselben 
Medium  doch  eine  verschiedene  sei  je  nach  der  Wärmequelle,  und  dass  ein  Wasser, 
dessen  elektrische  Leitfähigkeit,  chemische  Affinität  und  Reactionsfähigkeit  eine 
ganz  besondere  ist , auch  physiologisch  anders  wirken  müsse  als  gewöhnliches 
oder  dcstillirtes  Wasser. 

üeber  die  wärmebindende  Kraft  des  Warmbrunner  Thermalwassers 
hat  Scholz  Beobachtungen  angestellt,  bei  denen  er  Vergleichungen  mit  künstlich 
erwärmtem  Thermalwasser  und  erhitztem  Brunnenwasser  vornahm.  Als  Resultat 
giebt  er  an : 1.  Das  Thermalwasser  hat  eine  erheblich  grössere  Kraft  die  Wärme 
zu  binden  als  das  künstlich  erwärmte  Wasser.  2.  Der  Wärmeverlust  ist  bei  allen 
drei  Wässern  in  den  ersten  Stunden  am  stärksten,  ater  bei  den  Thermalwässern 
immer  viel  geringer  als  bei  dem  künstlich  erwärmten  Wasser.  Scholz  nimmt  auch 
als  Hypothese  zur  Erklärung  an,  dass  die  Erdwärme  das  Wasser  inniger  dureh- 
dringe,  sieh  inniger  mit  ihm  verbinde  als  die  künstlich  erzeugte  Wärme;  er  sieht 
ein  Analogon  im  Verhalten  der  Kohlensäure  bei  natürlichen,  kohlcnsauren  Wässern 
gegenüber  den  künstlichen,  indem  aus  letzteren  die  Kohlensäure  ebenfalls  viel 
schneller  entweicht  als  aus  den  natürlichen  Säuerlingen. 

Auf  die  physikalisch  chemischen  Eigenschaften  der  Mineralwässer  recurrirt 
auch  0.  Liebreich,  indem  er  die  natürlichen  Heilquellen  und  ihre  künstlichen 
Nachbildungen  vergleicht.  Die  grossen  Entdeckungen  der  physikalischen  Chemiker 
haben  gezeigt,  dass  eine  Lösung  nicht  mehr  der  Vorstellung  entspricht,  welche 
die  Chemie  ehedem  sich  davon  gemacht  batte , d.  h.  dass  die  Lösungen  die  un- 
zersetzten  Salze  wirklich  enthalten.  Wir  sind  jetzt  berechtigt,  anzunehmen,  dass 
sowohl  in  künstlichen,  wie  in  natürlichen  Lösungen  eine  mehr  weniger  weit- 
gehende Dissociation  der  Salze  in  die  elektrisch  geladenen  Theilmolekel,  die  so- 
genannten Jonen,  zerfalle.  War  es  schon  früher  nicht  ohne  Willkür  möglich,  die 
Vertheilung  der  durch  die  Analyse  direct  gefundenen  Säureu-  und  Basenmengen 
zu  bewerkstelligen,  so  ist  diese  Aufgabe  heute  angesichts  der  complicirten  Gleich- 
gewichtsverhältnisse doppelt  so  schwierig,  denn  das  Gleichgewichtsverhältniss  zwi- 
schen den  nicht  dissociirten  und  den  in  ihre  Jonen  zerfallenen  Salzmolekeln  kann 
durch  die  geringsten  Aenderungen  der  Concentration  wesentlich  verschoben  werden, 
so  dass  die  Herstellung  einer  mit  der  natürlichen  vollständig  identischen  Salz- 
lösung nur  mit  den  grössten  Schwierigkeiten  ausführbar  sein  dürfte.  Auch  hin- 
sichtlich der  Qualität  der  Lösung  ist  zu  bedenken , dass  in  den  natürlichen 
Mineralwässern  eine  Anzahl  von  Stoffen  in  kleinen  Mengen  nachgewiesen  worden 
ist , wie  Flusssäure , Ameisensäure  u.  A. , von  denen  man  ja  gerade  nicht  mit 
Sicherheit  annehmen  kann , dass  sie  in  diesen  Mengen  eine  besondere  physio- 
logische Wirkung  ausüben,  die  aber  bei  der  systematischen  und  lange  Zeit  durch- 
geführten  Anwendung  recht  wohl  eine  Bedeutung  erlangen  können.  Auch  ist  in 
Betracht  zu  ziehen,  dass  mehrere  ähnlich  wirkende  Substanzen,  wenn  sie  gleich- 
zeitig in  kleinen  Mengen  zur  Anwendung  kommen,  eine  grössere  Wirkung  er- 
zielen als  jede  einzelne  Substanz  für  sich  selbst  in  grösserer  Dosis.  Wir  sind, 
wie  Liebreich  betont,  noch  nicht  so  weit,  dass  wir  die  natürlichen  Mineral- 
wässer mit  einer  mathematischen  Sicherheit  künstlich  herstcllen  können  und  darum 
ist  ihre  Anwendung  nicht  identisch.  Er  erinnert  z.  B.  an  die  Wildbäder,  deren 
(iehalt  an  nachweisbaren  Substanzen  so  gering  ist,  dass  Manche  Bie  für  nichts 
mehr  als  destillirtes  Wasser  halten,  deren  physiologischer  Effect  auf  den  mensch- 
lichen Organismus  aber  unbestimmbar  ist. 

Ueber  den  Einfluss  heisser  Bäder  auf  den  Stoffwechsel  hat 
Hornstein  Versuche  angcstellt.  Bekanntlich  sind  die  bisher  vorgenommenen  Ex- 
perimente diesbezüglich  in  ihren  Resultaten  sehr  schwankend.  So  fanden  in  letzter 
Zeit  Formanek,  Schleich,  Bartels  und  Godlewsky,  Topp  nach  Anwendung 
von  Bädern,  welche  die  Körperwärme  mehr  oder  weniger  übersteigen,  Luft-, 


BADER. 


45 


Dampf-  und  Wasserbädern,  eine  erhöhte  Ktickstoffausscheidung,  während  Kaupp, 
Dapper,  Baelz  , Simanovsky  eine  Verminderung,  respective  Gleichbleihen  der 
Stiekstoffausfuhr  angeben.  Frey  und  Heimgenthai.,  eine  Verminderung  in  den 
Badelagen  und  nachherige  Vermehrung  constatiren.  Die  vorliegenden  Versuche 
Bornstein’s  gelangen  zu  den  Schlössen : Bei  einem  normalen  Menschen  mit  guter 
Verdauung  und  Ernährung,  die  den  Bedarf  vollkommen  bedeckt,  tritt  bei  An- 
wendung heisser  Bäder  eine  Verringerung  der  N-AusBcheidung  durch  Harn 
und  Koth  ein.  Was  wir  hier  an  N weniger  linden,  ist  durch  die  vermehrte 
Schweisssccretion  während  des  Bades  und  nach  dem  Bade  ausgeschieden 
worden.  Das  subjective  Allgemeinbefinden  wird  bei  Anwendung  heisser  Bäder 
in  keiner  Weise  altcrirt,  objectiv  tritt  keine  Störung  im  Haushalte  des  Körpers 
ein;  die  N-Ausscheidung  ist  nicht  auf  Kosten  des  Vorhandenen  gestört,  die  Ver- 
dauung wird  in  keiner  Weise  beeinträchtigt. 

Deber  die  physiologischen  Wirkungen  verschieden  warmer  Bäder 
und  über  das  Verhalten  der  Eigenwärme  im  Allgemeinen  liegen  eingehende  Unter- 
suchungen von  L.  W ick  vor.  Die  von  ihm  in  Gastein  und  Baden,  sowie  in  Bädern 
mit  Temperatur  unter  dem  Indifferenzpuukte  Angestellten  Versuche  ergaben  ihm, 
dass  im  Bade  eine  Wärmestauung  nach  Innen  stattfindet,  Hautoberfläche  und 
Muskelschichte  abgekflhlt  werden,  dass  die  Wärmeabgabe  eine  vermehrte  ist  und 
nicht  durch  eine  Vergrösserung  der  Wärmeprodnction  compensirt  wird.  In  Bädern 
über  dem  Indifferenzpunkte  zeigte  sich , dass  die  Eigenwärme  parallel  mit  der 
Badetemperatur  anstieg;  in  den  grossen  Bassins  der  Thermalbäder,  in  denen  die 
Temperatur  des  Wassers  eine  gleichbieibende,  verursachten  selbst  Zehntelgrade 
Steigerung  der  Badewärme  einen  merklichen  Aufschlag  der  Eigenwärme.  Nach 
heissen  wie  nach  warmen  Bädern  erfuhr  nach  Verlassen  des  Bades  die  Körper- 
temperatur eine  Steigerung.  Durch  Trinken  kalten  Wassers  während  des  Bades 
wurde  Abkühlung  der  Körpertemperatur  bewirkt.  Die  letztere  wurde  auch  durch 
die  Art  des  Badegebrauches,  durch  verschieden  tiefes  Eintauchen  des  Körpers  in 
das  Wasser  verschieden  modificirt.  Die  Erhöhung  der  Eigenwärme  durch  warme 
und  heisse  Bäder  sei  nicht  constant  und  es  ergebe  sieh  mit  der  grössten  Wahr- 
scheinlichkeit, dass  die  Eigenwärme  auch  durch  Badecnrcn  nicht  abgeändert, 
sondern  in  fast  absoluter  "eise  constant  erhalten  werde,  vorausgesetzt,  dass  es 
sich  um  einen  normalen  Organismus  handelt.  Was  den  Stoffwechsel  beim  Ge- 
brauche der  heissen  Thermalbäder  betrifft,  so  fand  Verfasser,  dass  das  Körper- 
gewicht regelmässig  um  500 — 850  Grm.  (durch  Wasserverarmung  des  Organismus) 
sank,  sich  dann  während  der  Badecur,  wenn  der  Wassergehalt  der  Gewebe  bis 
zu  einer  gewissen,  dann  gleichbleibenden  Grösse  gesunken  war , wieder  zumeist 
hob,  letzteres  stets  noch  mehr  nach  der  Cur.  Die  Harnstoffmenge  wurde  durch 
heisse  Bäder  nicht  gesteigert,  die  Harnsäureansscheidung  schien  eher  vermindert 
als  vermehrt.  Der  Puls  blieb  nach  Bädern  unter  dem  Indifferenzpunkte  noch 
durch  3 — 4 Stunden  verlangsamt,  um  sich  dann  im  Laufe  des  Tages  zu  erhöhen, 
nach  warmen  und  heissen  Bädern  war  in  den  ersten  3 Stunden  die  Pulsfreiiuenz 
höher , kehrte  später  zur  Norm  zurück,  um  selbst  uuter  diese  zu  sinken.  Der 
Hämoglobingehalt  des  Blutes  war  während  der  Badecur  etwas  vermehrt.  Die 
Athmung  wurde  bei  Bädern  von  39°  an  verlangsamt,  in  Bädern  von  42 — 44° 
trat  dabei  das  Gefühl  der  Erregung  auf ; constant  wurde  in  heissen , zuweilen 
auch  in  geringen  Tempcraturbäderu,  aber  dann  wieder  stark,  eine  Einziehung  des 
Unterleibes  beobachtet , welche  Verfasser  nicht  nur  auf  den  Druck  der  Wasser- 
masse  bezieht,  sondern  auch  als  Reflexerseheinung  deutet.  In  der  täglichen  Wieder- 
holung der  heissen  Bäder  und  der  damit  gegebenen  Wiederholung  der  Reizwir- 
kungen auf  den  Organismus  liege  ein  Moment  der  Accommodation  und  l'ebung, 
welches  die  Badezeit  überdauere  und  als  Nachwirkung  bezeichnet  werden  könne. 

Ueber  das  Verhalten  des  Stoffwechsels  bei  hydriatischer  Therapie 
(kühle  und  kalte  Badeprocedureu)  hat  A.  Stkasser  Versuche  angestellt.  Es  zeigte 
sich  eine  ausgiebige  Steigerung  der  Stickstoffausseheidung , welche  Strasse«  als 


46 


BÄDER.  — BARLOW’SCHE  KRANKHEIT. 


active  Erhöhung  des  N- Um  satzes  von  Seite  des  Organismus  im  Sinne  einer 
besseren  Ausnützung  der  Nahrung  deutet,  darauf  weist  auch  der  Umstand  hin, 
dass  der  Koth-N  gleichzeitig  mit  der  Steigerung  des  Harn-N  herabgeht,  ein  Ver- 
halten , welches  in  beiden  Versuchsreihen  vollständig  übereinstimmend  constatirt 
wurde.  Die  rasche  Rückkehr  zur  guten  N-Bilanz , d.  b.  zu  einem  Zustande , wo 
kein  Verlust  an  Körpereiweiss  stattfand  — zeigt  nach  Strasser  , dass  mit  der 
Dauer  der  Reize  durch  hydriatische  Proceduren  die  N-Zersetzuug  nicht  in  gleicher 
Weise  gesteigert  wird,  sondern  nach  einer  dem  Anfang  (am  ersten  oder  zweiten 
Tag)  der  Reize  entsprechenden  Exacerbation  auf  einem  Standpunkt  stehen  bleibt, 
wo  ein  höherer  Eiweisszerfall  stattfindet  als  normaler  Weise  der  Fall  ist,  doch 
ein  Verlust  an  Körpereiweiss  bei  genügender  Ernährung  nothwendiger  Weise  in 
keinem  Falle  eintreten  mnss.  Was  die  Einzelheiten  betrifft,  so  macht  der  Harn- 
stoff die  groben  Schwankungen  der  N-Ausschcidung  mit  und  steigen  die  absoluten 
Mengen  des  Harnstoffes  an  den  Tagen  der  hohen  N-Quantitüten  auch  wesentlich 
höher.  Auch  die  absoluten  Mengen  der  ausgeschiedenen  Harnsäure  sind  gesteigert, 
ebenso  findet  eine  starke  absolute  und  relative  (gegenüber  dem  ausgeschiedenen 
Gesammt-N)  Vermehrung  der  Phosphorsäure  statt,  sowie  eine  sehr  grosse  absolute 
Vermehrung  der  Ammoniakausscheidnng.  Der  Rest  für  Extractivstofle  sank  während 
der  Badeperiode  und  noch  in  der  Nachperiode  sehr  bedeutend.  Es  ist  also  weitaus 
der  grösste  Thcil  des  Stickstoffs  zur  Bildung  normaler  Endproduete  des  Stoff- 
wechsels verwendet  worden,  so  zwar,  dass  für  Extractivstofle  nur  mehr  ein  sehr 
geringer  Antheil  übrig  blieb.  Kurz  fasst  Strasser  die  Wirkung  hydriatischer 
Proceduren  auf  den  Stoffwechsel  darin  zusammen,  dass  unter  ihrem  Einflüsse  der 
Stoffwechsel  quantitativ  und  qualitativ  im  Sinne  einer  vorwiegenden  normalen 
Thätigkeit  des  lebendigen  Organismus  gesteigert  wird. 

Literatur:  Bally.  Mittheilungen  über  die  neuesten  chemischen  und  physikali- 
schen Untersuchungen  der  indifferenten  Thermen  Ragaz-Pfaefers.  Veröffentlichungen  derHufe- 
land'schen  Gesellschaft  in  Berlin.  Sechzehnte  öffentliche  Versammlung  der  Balneologischen 
Gesellschaft.  Berlin  1895.  — Scholz.  Beobachtungen  über  die  wärmobindende  Kraft  des 
Warmbrunner  Thermal wassers.  — L.  Wiek,  Ueber  die  physiologischen  Wirkungen  verschieden 
warmer  Bader  und  über  das  Verhalten  der  Warme  im  Allgemeinen.  Beiträge  zur  klinischen 
Medicin  und  Chirurgie.  Wien  1894,  6.  Heft.  — Der  dreiundzwanzigste  schlesische  Bäder- 
tag und  seine  Verhandlungen.  Reinerz  1895.  — 0.  Liebreich,  Einige  Bemerkungen  über 
künstliche  Mineralwässer  und  Salzmischungen.  Separatabdruck  aus  den  Verhandlungen  der 
Balneologischen  Gesellschaft.  Berlin  1895.  — Bornstein,  Ueber  den  Einfluss  heisser  Bäder 
auf  den  Stoffwechsel.  Verhandlungen  der  Balneologischen  Gesellschaft.  Berlin  1895.  — A. 
Strasser,  Das  Verhalten  des  Stoffwechsels  bei  hydriatischer  Therapie.  Wien  1895. 

Kisch. 

Barlow’sche  Krankheit  Unter  BARLOw’scher  oder  besser  Möllkr- 
BARLOw’seher **)  Krankheit,  um  nicht  blos  dem  bedeutendsten  Autor,  sondern 
noch  den  Verdiensten  des  Entdeckers  der  Krankheit  gerecht  zu  werden,  verstehen 
wir  heute  eine  ganz  bestimmte,  auf  hämorrhagischer  Diatbese  beruheade  Knoehen- 
crkrnnknng  (hämorrhagische  Periostitis  der  zwei  ersten  Lebensjahre) , die  mit 
Schwellung  und  unter  grosser  Schmerzhaftigkeit  einhergeht.  Dabei  ist  eine  aus- 
gesprochene Kachexie  vorhanden  ; und  nicht  selten  gesellt  sich  dazu  eine  scorbut- 
art ige  Zali nfleischerkra n kn ng. 

Die  früher  als  „acute  Rachitis“  aufgefasste  Erkrankung  der  Säuglinge 
ist  eine  ziemlich  schwere  constitutionelle  Erkrankung,  die  unter  den  Erscheinungen 
schwerer  Anämie  und  Kachexie  tödtlich  verlaufen  kann,  aber  in  den  meisten 
Fällen  durch  ein  passendes  diätetisch-hygienisches  Regime  zur  Heilung  gelangt. 

Während  früher  die  Zahl  der  Beobachtungen  recht  gering  war,  hat  sich 
in  den  letzten  10 — 12  Jahren  dieselbe  wesentlich  vermehrt,  seitdem  die  Kinder- 
ärzte mit  einem  nicht  unbedeutenden  Interesse  mehr  auf  das  Krankheitsbild  achten 
und  dasselbe  richtig  zu  deuten  gelernt  haben. 

Während  Barlow1*)  im  Jahre  1883  über  eine  Zusammenstellung  von 
31  Fällen  und  Hkubnkk  *9)  im  Jahre  1892  Uber  50  Fälle  verfügte,  ist  die  Statistik 
durch  die  Bemühungen  des  Holländers  DK  BrUIN5®)  im  Jahre  1893  schon  anf 


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gle 


BARLO W'SCHE  KRANKHEIT. 


47 


1 66  Fälle  angewacbsen , die  in  den  letzten  beiden  Jahren  durch  neue  Hinzu- 
fttgungen  von  CosrrzER,  Fürst,  Hirschsprüng,  v.  Starck,  E.  Mbyer  bedeutend 
Überschritten  worden  ist. 

Symptomatologie.  Dag  klinische  Bild  dieser  Krankheit  stellt  sich  nach 
den  Beobachtungen  Barlow’s  in  England  und  nach  denen  der  deutschen  Autoren 
Rehn,  Hkubner,  Pott,  denen  die  meiste  Erfahrung  darüber  zusteht,  folgender- 
massen : Es  handelt  sich  gewöhnlich  um  Kinder  von  4 — 18  Monaten;  bei  jüngeren 
ist  die  Krankheit  nicht  beobachtet  und  nur  ausnahmsweise  bei  solchen,  die  das 
zweite  Lebensjahr  überschritten  haben.  Die  Kinder  sind  meist  Flaschenkinder,  die 
bisweilen  auch  kurze  Zeit  von  der  Mutter  genährt  worden  sind ; zur  Zeit  der 
Erkrankung  befand  sich  jedoch,  so  weit  ich  die  Literatur  übersehe , keines  der 
Kinder  an  der  Mutterbrust.  In  fast  allen  Beobachtungen  leben  die  Kinder  unter 
günstigen  hygienischen  Bedingungen  — nur  Hihschsprung  llj  erwähnt,  dass  „die 
häuslichen  Verhältnisse  meist  sehr  bescheiden  seien“  — , unter  ausreichender,  wenn 
auch  nicht  immer  sehr  zweckmässiger  Ernährung,  da  häufig  condensirte  Milch, 
Albuminosenmllch  oder  Kindermehlc  als  Nahrung  verabreicht  wurden.  Bisweilen 
sind  die  Zeichen  leichter  Rachitis  vorhanden,  häufig  fehlt  aber  auch  jede  Spur 
derselben. 

Der  Ausbruch  der  Krankheit  findet  am  häufigsten  in  der  kälteren  Jahres- 
zeit, meist  im  Spätwinter  oder  im  Frühling  bei  nasskalter  Witterung  statt,  bei 
wärmerer  Jahreszeit  wird  das  Leiden  fast  nie  beobachtet. 

Die  Art  des  Auftretens  ist  häufig  eine  ziemlich  plötzliche. 

Wird  der  Arzt  zu  dem  Kinde  gerufen , das  sich  bis  zum  Beginn  der 
Erkrankung  angeblich  wohl  befunden  hat,  so  erzählen  die  Eltern  gewöhnlich  von 
„rheumatischen“  Schmerzen,  die  sich  bei  dem  Kinde  mit  grosser  Heftigkeit  einge- 
stellt hätten  und  keinem  Mittel  weichen  wollten.  Meist  sind  die  Schmerzen  in 
der  unteren  Extremität  viel  stärker  ausgeprägt  als  in  der  oberen.  Die  Eltern 
berichten,  dass  das  Kind,  welches  schon  Steh-  und  Gehversuche  gemacht,  jetzt 
die  Lust  zum  Stehen  und  Gehen  wieder  verloren  habe  und  jede  nicht  unbedingt 
nothwendige  Bewegung  des  Körpers  ängstlich  vermeide. 

Das  Kind  liege  mit  flectirten  Gelenken  im  Bett,  oder  halte  beide  Beine 
steif  und  gestreckt.  Es  wimmere,  auch  ohne  dass  man  es  berühre,  und  sei  schlaflos. 
Der  Appetit  sei  schlecht. 

Bei  der  Untersuchung  findet  der  Arzt  die  Aussagen  der  Eltern  bestätigt. 
Er  sieht  ein  den  Umständen  nach  noch  gut  entwickeltes  Kind  vor  sich,  an  dem 
aber  schon  eine  erhebliche  Blässe,  bisweilen  wachsbleiche  Färbung  der  Haut  auf- 
fällt. Die  Musculatur  fühlt  sich  schlaff  und  weich  an.  Am  Schädel  uud  an  den 
Rippen  finden  sich  die  Zeichen  einer  mässig  entwickelten  Rachitis,  die  indessen 
auch  fehlen  können. 

Das  Kind  ist  verdriesBlich,  jammert  und  weint  bei  jeder  Berührung,  ja 
wehklagt  schon  bei  Annäherung  von  Personen,  von  denen  es  weiss,  dass  sie  es 
berühren  wollen.  In  seltenen  Fällen  ist  Aphonie  vorhanden. 

Die  Temperatur  ist  gar  nicht  oder  nur  gering  erhöht,  nur  in  einigen 
vereinzelten  Fällen  ist  dieselbe  erheblich  gesteigert.  In  1 Fällen  Rehn’s  *7)  ging  sie 
bis  zu  39°  und  40°  C.  hinauf  uud  war  mehrere.  Wochen  hindurch  erhöht,  ohne 
einen  bestimmten  Typus  einzuhalten.  Der  Puls  ist  klein,  weich  und  frequent.  Es  sind 
starke  Schweisse,  besonders  profus  am  Kopfe  vorhanden.  Neben  der  Anämie  und 
Hinfälligkeit,  die  auf  ein  Ergriffensensein  des  ganzen  Körpers  hindeuten,  fallen  vor 
Allem  bei  den  acut  einsetzenden  Fällen  sofort,  und  bei  den  subacuten  nach  einigen 
Tagen  die  Veränderungen  an  den  Knochen  auf.  Dieselben  sind  angeschwollcn 
und  erscheinen  im  weiteren  Verlauf  der  Krankheit  verdickt,  und  zwar  mehr  an  der 
Diaphyse  als  an  den  Epiphysen ; die  Geschwulst  nimmt  nach  den  Gelenkenden 
zn  ab.  Darüber  ist  häufig  die  Haut  prall  geschwollen,  sicht  glänzend  und  meist 
blass  ans,  sie  kann  aber  auch  eine  röthlich  oder  röthlichblaue  Farbe  annchmen. 
Der  Fingerdruck  hintcrlässt  bisweilen  eine  leichte  Vertiefung.  Bei  Ergriffensein 


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48 


BARLOW’SCHE  KRANKHEIT. 


der  Tibia  werden  stärkere  Fussödeme  ziemlich  eonstant  gefunden.  Tastet  man 
den  Knochen  ab,  so  kann  man  entweder  eine  Spindel-  oder  cylinderförmige  Auf- 
treibung desselben,  respeetive  seiner  nächsten  Umgebung  oder  eine  mehr  diffuse 
Anschwellung  constatiren.  Häutig  beginnt  die  Erkrankung  mit  der  Intumescenz 
des  Femur  und  der  Tibia  und  geht  dann  auf  die  obere  Extremität  über  — der 
Process  scheint  zu  wandern  — , noch  häufiger  ist  auch  nur  Ober-  und  Unter- 
schenkel ergriffen ; der  Process  kann  auf  eine  Seite  beschränkt  bleiben  oder 
beiderseitig  werden.  Nur  ausnahmsweise  werden  andere  als  die  langen  Röhren- 
knochen ergriffen,  selten  finden  sich  harte  umschriebene  Schwellungen  am  Schädel, 
an  der  Scapula,  an  den  Rippen,  am  Os  ilei,  an  der  Fusswurzel.  Bisweilen  zeigt 
sich  auch  eine  Auftreibung  des  Ober-  und  Unterkiefers , dann  stets  in  ihreu 
Alveolarfortsätzen. 

Epiphysenlösungen , bald  mit  Crepitation , bald  ohne  dieselbe , gehören 
nicht  zu  den  Seltenheiten.  Die  Gelenke  bleiben  in  allen  Fällen  intact. 

Die  Schmerzempfindlichkeit  ist  auf  der  Höhe  der  Affection  enorm,  so 
dass  man  die  Abtastung  des  ganzen  Skelettheils  nur  mit  der  grössten  Vorsicht 
und  Sanftheit  ausführen  kann.  Die  Empfindlichkeit  gegen  Berührung  und  die 
Scheu  vor  activer  Bewegung  kann  sich  bis  zur  völligen  Bewegungslosigkeit  — 
Pseudoparalyse  — steigern.  Die  untere  Extremität,  um  die  es  sich  meistentheils 
handelt,  hängt  dann  schlaff  herab  oder  sie  ist  stark  flectirt , seltener  gestreckt 
und  nach  aussen  rotirt. 

Bei  genauer  Palpation  coustatirt  man,  dass  die  Geschwulst  nicht  eigentlich 
von  dem  Knochen  selbst  ausgeht,  sondern  anscheinend  in  den  Weichtheilen  sitzt; 
und  zwar  befindet  sich  der  Sitz  der  Geschwulst  zwischen  dem  Knochen  und  dem 
von  ihm  abgehobenen  Periost.  Diese  Thatsache  ist  durch  Sectionsbefunde  (Bah- 
Low *8),  Fürst  **)  genügend  festgestellt  und  lässt  sieh  auch  mit  Leichtigkeit  durch 
eine  am  lebenden  Kinde  unter  aseptischen  C'autelen  ausgeführte  Punction  oder 
Incision  (Rehn,  Pott'*)  nachweisen.  Die  I’robepunction  hat  einen  grossen  dia- 
gnostischen Werth,  weil  wir  durch  die  Entleerung  von  Blut  aus  der  in  der  Tiefe 
leicht  fluctuirenden  Geschwulst  die  Fehldiagnose  eines  Eiterherdes  (Osteomyelitis/ 
vermeiden,  und  zugleich  die  rachitische  Knochenanschwellung  hierdurch  Aus- 
scheiden. Bei  Freilegung  des  Herdes  durch  Einschnitt  gelangt  man  durch  Muskeln, 
Faseien  und  Periost  direct  auf  das  subperiostale , schwärzlich-lackartige  Blut- 
gerinnsel, das  den  weissbläulichen  Knochen  umgiebt  (FÜRST*1).  In  dem  auf  diese 
Weise  gewonnenen  Blute  fand  sich  häufig  eine  Verminderung  der  Leukoeyten 
und  Poikilocyten  (Fürst).  Die  von  Rehn  mit  derartigem  Blute  augesetzten  Cul- 
turen  ergaben  ein  negatives  Resultat,  ebenso  wenig  ergaben  v.  Starck's1*)  Unter- 
suchungen des  Blutes  am  hängenden  Tropfen  etwas  Positives. 

Noch  charakteristischer  und  der  Diagnose  zugänglicher  wird  das  Kratik- 
heitsbild,  wenn  zu  der  Kachexie  und  der  typischen  Knochenerkrankung,  den 
Cardinalsymptomen  dieses  eigenthümliehen  Processes,  wie  es  nicht  gar  zu  selten 
vorkommt , hämorrhagische  Erkrankungen  der  Haut , der  Schleimhäute  oder  der 
inneren  Organe  hinzukommen. 

Obenan  an  Häufigkeit  steht  die  scorbntartige  Schwellung  nnd  Blutung  des 
Zahnfleisches.  Bei  Besichtigung  des  Mundes  findet  sich  der  bemerkenswerthe  Be- 
fund , dass  diejenigen  Partien  des  Zahnfleisches , wo  die  wenigen  vorhandenen 
Zähne  durchgebrocben  sind,  oder  wo  der  Durchbruch  sich  vorbereitet,  hochgradig 
geschwollen,  von  schwammiger  Consistenz  und  dtinkclblauroth  gefärbt  sind,  und 
bei  der  Berührung,  oft  auch  schon  beim  Oeffncn  des  Mundes,  zu  bluten  anfangen. 
Die  übrige  Mund-  und  Rachenschleimhaut  erscheint  normal  (Heibneb). 

Die  Intensität  der  Erkrankung  des  Zahnfleisches  hängt  wesentlich  ab 
von  der  Zahl  der  Zähne ; sind  gar  keine  Zähne  vorhanden , so  sieht  das  Zahn- 
fleisch ganz  normal  aus  oder  zeigt  höchstens  ganz  kleine  bläuliche  Flecke , die 
da  ihren  Sitz  haben,  wo  der  Durchbruch  des  Zahnes  später  zu  erwarten  ist.  Nur 
sehr  selten  kommt  es  zu  einer  ausgesprochenen  Stomatitis  mit  Ulecrationen  und 


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BARLOW’SCHE  KRANKHEIT. 


49 


Foetor  ex  ore.  Die  Mitbetheiligung  des  Zahnfleisches  erschwert  bisweilen  die 
Nahrungsznfuhr. 

Schon  Möller  ')  (1862;  hat  diese  scorbutartige  Mundaffection  bei  Barlow- 
scher  Krankheit  gesehen  und  beschrieben:  später  (1868)  hat  sie  Förster*)  eben- 
falls beobachtet,  und  seitdem  wird  sie  als  ein  mehr  oder  weniger  häufig  auf- 
tretendes Symptom  der  BARLOw’schen  Krankheit  angeführt. 

Es  scheint  überhaupt  eine  Disposition  zu  Blutaustritten  vorhanden  zu 
sein.  Blutungen  in  die  Haut  (Petechien,  Sugillationen)  sind  von  Möller,  Barlow, 

Gee,  Rk.h.n  , Pott  u.  A.  beobachtet;  Blutungen  der  Schleimhäute,  so  aus  der 
Nase,  treten  vereinzelt  auf;  bluthaltige  Stühle  werden  von  Rehn  ,4)  und  Pott1") 
mitgetheilt.  Gelegentlich  kann  es  auch  zu  einer  ödematös  hämorrhagischen  An- 
schwellung eines  oder  beider  Augenlider  kommen , wodurch  letztere  zu  prallen, 
blutrothen,  unförmlichen  und  das  Gesicht  entstellenden  Säcken  umgewandelt  werden, 
die  zu  der  Blässe  des  Gesichtes  stark  contrastiren.  Derartige  subconjunctivale 
Blutungen  sind  von  Shoppee  und  Gom.EE  (citirt  von  Barlow)  gesehen  worden. 

Hämaturie  findet  sich  bei  GßE , Shoppee,  de  Broix,  Coxitzer,  Albuminurie  bei 
Cheadle,  Helbner,  Coxitzer  verzeichnet.  Der  Urin  enthielt  in  einzelnen  Fällen 
nur  geringe  Mengen  von  Eiweiss,  in  anderen  jedoch  Nierenepithelien  und  granu- 
lirte  Cylinder;  im  Uebrigcn  weist  der  Harn  nichts  Abnormes  auf,  er  ist  stets 
zuckerfrei.  Die  Mitbetheiligung  der  Nieren  und  speciell  die  Nierenblutung  scheint 
ein  sehr  seltenes  Vorkommen  zu  sein. 

Diarrhoen  werden  häufiger  beobachtet,  ebenso  schleimhaltige  Stühle;  ein 
Fall  Pott’s  zeigte  eine  während  des  ganzen  Verlaufes  der  Krankheit  anhaltende 
Stuhlverstopfung. 

Die  Untersuchung  der  Lungen,  des  Herzens  und  der  Leber  ergiebt, 
wenn  keine  Complicationen  vorliegen,  keine  pathologischen  Veränderungen.  Milz- 
vergrösserung,  bisweilen  um  das  Doppelte,  ist  öfters  vorhanden. 

Der  Verlauf  der  Krankheit  ist  fast  regelmässig  ein  chronischer, 
sich  gewöhnlich  auf  2 — 3 Monate,  meist  sogar  auf  3 — 4 Monate  erstreckender; 
seltener  genesen  Kinder  schon  nach  2 — 3 Wochen ; Barlow  hat  in  einem 
Falle  schon  nach  dreitägiger  Behandlung  mittelst  rationeller  Diät  Besserung 
gesehen. 

Ein  grosser  Theil  der  Fälle  heilt  bei  richtiger  frühzeitiger  Behandlung, 
einzelne  sogar  spontan,  zmnal  bei  Eintritt  warmer  Witterung.  Die  starke  Schwel- 
lung der  Extremitäten  geht  zurück , die  gespannte  Haut  wird  wieder  weich 
und  faltig,  die  Contouren  der  Knochen  treten  wieder  hervor,  der  Schmerz  lässt 
nach  und  verschwindet  bald  vollkommen.  Die  normale  Function  der  Bewegungen 
stellt  sich  wieder  ein,  das  Kind  macht  Aufrichtungs-,  Geh-  und  Sehversuche.  Die 
Blutungen  schwinden.  Anstatt  der  Blässe  tritt  wieder  normale  Hautfarbe  ein  und 
bei  beginnendem  Appetit,  der  sich  mehr  und  mehr  steigert,  beginnen  die  kachekti- 
schen  Erscheinungen  zu  weichen,  kurz  das  Kind  ist  auf  dem  Wege  der  Recon- 
valcseenz  und  Heilung. 

Nicht  ausgeschlossen  sind  im  Verlauf  der  Krankheit  Störungen  von  Seiten 
des  Darms  und  der  Luftwege,  die  dem  schon  durch  die  Blutungen  geschwächten 
Kinde  leicht  verhängnisvoll  werden  können. 

Erwähnenswerth  scheint  mir  noch,  dass  die  IiARLOW’sche  Krankheit 
gerade  unter  den  niederen , sehr  armen  Bevölkerungsschichten  sehr  selten  vor- 
kommt, so  dass  man  ihnen  in  den  zahlreichen  Kinderpolikliuiken  fast  kaum  be- 
gegnet ; v.  Starck  und  Kassowitz  haben  unter  den  Tausenden  von  Kindern,  die 
jährlich  in  ihre  Poliklinik  kommen,  keinen  einzigen  Fall  von  BARLOw’scher  Krank- 
heit beobachtet.  Ich  selbst  habe  im  Verlaufe  der  letzten  6 Jahre  bei  Beobachtung 
von  circa  2000  Krankheitsfällen  im  Jahre  in  der  Kinderpoliklinik  des  Herrn 
Sanitätsraths  Dr.  Ehrexhacs  nie  einen  Fall  von  Murbus  Barloirii  gesehen ; 
leider  scheint  sie,  wie  aus  den  sich  häufenden  Mittheilungen  der  letzten  Jahre 
hervorgeht,  im  Znnehmen  begritl'en  zu  sein. 

Encyclop.  Jahrbücher.  VI.  4 

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BARLOW’SCHE  KRANKHEIT. 


Die  Diagnose  ist  für  gewöhnlich  für  einen  aufmerksamen  Beobachter 
nicht  gar  zu  schwer.  Es  kann  überhaupt  kein  Zweifel  walten,  sobald  der  gesammtc 
Symptomencouiplex,  das  bekannte  Knochenlciden,  die  Kachexie  und  die  seorbut- 
artige  Gingivitis  vereint  auftreten.  Aber  auch  in  den  Fällen,  wo  die  Kuochen- 
erkrankung  die  einzige  Erscheinung  bleibt,  wird  man  kaum  eine  Fehldiagnose 
stellen,  da  das  Knochenleiden  in  seinem  ganzen  Verhalten,  in  seinem  Anwachsen, 
einem  kurzen  Verweilen  auf  der  Höhe,  begleitet  von  der  grössten  Schmerzhaftig- 
keit und  schwerer  Functionsstörung,  in  seinem  langsamen  Rückgang  ohne  die 
geringste  Neigung  zur  Suppuration  etwas  so  Charakteristisches  ist,  dass  es  sich 
kaum  mit  einer  anderen  Krankheit  verwechseln  lässt.  Steigen  trotzdem  Bedenken 
auf,  so  ist  mau  durch  Probeincision  oder  Punction  im  Stande,  den  Beweis  zu 
liefern,  dass  es  sich  um  eiterige  Processe  nicht  handelt,  bei  denen  auch  meistens 
das  Fieber  höher,  bisweilen  sogar  initiale  Sehüttelfrösste  vorhanden  sind.  Gegen 
Rachitis,  die  differentialdiagnostisch  in  Betracht  kommen  könnte,  spricht  die  fast 
gänzlich  auf  die  Diaphyse  beschränkte  Schwellung  und  die  Ubergrosse  Scbmerz- 
emptindlichkeit.  Congenitale  Lucs  schliesst  sich  durch  die  Anamnese,  durch  das 
Alter,  durch  den  langsameren  Verlauf,  durch  geringere  Schmerzhaftigkeit  und 
durch  die  charakteristischen  Haut-  und  Schlcimhautsyniptome  aus. 

Acute  Gelenkentzündungen,  Gelenkrheumatismus  spielen  sich  an  den 
Gelenken  ab  und  verschonen  die  Diaphysen.  Die  Gelenke  sind  bei  B.ARLOw'scher 
Krankheit  stets  frei. 

Die  Prognose  der  Krankheit  bietet  im  Allgemeinen  günstige  Chancen, 
vorausgesetzt  — HEU  UN  ER  betont  dies  mit  Recht  ganz  besonders  — , dass  das 
Leiden  rechtzeitig  genug  erkannt  und  zweckmässig  behandelt  wird.  Die  BAKLOW’scbe 
Krankheit  ist  eine  Affection,  die  Neigung  hat  spontan  zu  heilen  ; immerhin  sind 
eine  Reihe  von  Todesfällen  besonders  in  England  und  in  letzter  Zeit  auch  in 
Deutschland  häutiger  beobachtet  worden.  Aus  Russland  und  Frankreich  ist  über- 
haupt noch  kein  Fall  von  BARLOw'scher  Krankheit  veröffentlicht  worden,  ln  Fällen, 
die  mit  ausgedehnter  Stomatitis  einhergehen  oder  mit  Blutungen  der  inneren 
Organe  wird  die  Prognose  nicht  unwesentlich  getrübt , und  gleichfalls  wird  sie 
verschlechtert,  wenn  Complicationen  von  hochgradiger  Rachitis,  von  Seiten  der 
Atlunungs-  oder  Verdauungswege  auftreten. 

Ceber  die  Therapie  herrscht  unter  den  einzelnen  Autoren,  von  welchem 
Gesichtspunkt  sie  auch  sonst  die  Krankheit  auffassen  mögen,  kaum  eine  Meinungs- 
verschiedenheit. Im  Vordergrund  steht  bei  allen  die  Hygiene  und  die  Regelung 
der  Diät.  Grosse , luftige , trockene  Wohnräume  für  das  Kind , wenn  möglich 
häufiger  Aufenthalt  im  Freien  bei  gutem,  nicht  feuchtem  Wetter,  genügende 
Hautpflege  durch  warme  Bäder  etc.  machen  einen  Hauptfactor  der  Behandlung 
aus.  Dazu  kommt  die  Sorge  für  die  richtige  Ernährung  des  Kindes.  Vor  Allem 
sind  Mehlpräparate  und  die  künstlichen  Milchpräparate  (Conserven,  Albuminoscn- 
mileh ; gänzlich  aus  der  Kost  zu  entfernen.  Dafür  tritt  die  frische,  abgekochte 
und  in  den  heissen  Monaten  die  einfach  sterilisirte  Milch  in  ihre  Rechte , falls 
es  nieht  noch  möglich  ist,  dem  Kind  die  Mutterbrust  oder  Frauenmilch  zu  ver- 
schaffen. Man  beschränke  sich  indessen  nicht  allein  auf  frische  Milch,  sondern 
verabreiche  daneben  täglich  einige  Kinderlöffel  frischen  ausgepressten  Fleisch- 
saftes (in  Verbindung  mit  geringen  Mengen  von  Malaga  oder  llngarwein).  Chkad- 
i.e’s  Vorschrift  hierfür  ist  folgende : 1 Theil  fein  gehacktes  Rindfleisch  wird  mit 
4 Thcilen  Wasser  gut  verrührt,  dann  bei  gewöhnlicher  Temperatur  ’/,  Stunde 
sich  selbst  überlassen , hierauf  durch  feine  Gaze  geseiht  und  ausgepresst.  Auch 
rohes  Schabefleisch  ist  empfehlcnswerth.  Da  die  frische  vegetabilische  Nahrung 
ihrer  „antiscorbutischen"  Eigenschaften  wegen  gerühmt  wird,  so  erscheint  es  nicht 
unangebracht  zu  sein,  Mittags  neben  einer  Kalbsbrühe  oder  Hühnersuppe  einige 
Kaffeelöffel  frischen  und  durch  das  Sieb  geschlagenen  breiförmigen  Gemüses 
(Kartoffelmus,  Spinat,  Mohrrüben  etc.)  zu  verabreichen  (llEUBNEK).  Caxtani  rühmt 
Kastanien,  Artischokeu,  Kresse,  Coch/earia  o#s.  etc.  Ferner  giebt  man  mit  Er- 


BARLOW'SCHE  KRANKHEIT. 


51 


folg , besonders  bet  jungen  Kindern  , täglich  2 — 3raal  1 Kaffeelöffel  Fruchtsaft 
(Citronen-  oder  Apfclsinensaft)  entsprechend  versllsst;  auch  Apfelmus  gentlgt. 
Nordrnskjöld  ’•)  sah  von  dem  Saft  der  Multbeero  (Rubus  chamaemorus),  eine 
unserer  Maulbeere  ähnliche  Frucht,  in  Verbindung  mit  Rum  gute  Erfolge.  Bar- 
LOW  empfiehlt  einen  Esslöffel  Orangen-  oder  Traubensaft  mit  Wasser  zu  verdünnen 
und  in  einzelnen  Portionen  zu  geben.  Henoch  ,a)  (Lehrbuch  1895)  und  Bagi.vsky  *') 
(Lehrbuch  1892)  empfehlen  5 — Gmal  täglich  1 Theelöffel  frischer  Bierhefe.  Letz- 
terer empfiehlt  auch  Pinselungen  mit  Citronensaft  zur  Bekämpfung  der  Mund- 
affection. 

Medicamente  kann  man  sich  ersparen:  indessen  will  ich  der  Vollständig- 
keit wegen  erwähnen,  dass  von  Einigen  tonisirende  und  roborirende  Mittel  wie 
Chinadecocte , leicht  verdauliche  Eisenpräparate,  Phosphor  in  Verbindung  mit 
Leberthran  oder  Lipanin  angewendet  werden. 

Von  einer  Localbehandlung  der  geschwollenen  Extremitäten  mit  Eis- 
eompressen  ist  besser  abzuseben , da  nach  den  Versuchen  verschiedener  Autoren 
häufig  die  Schmerzhaftigkeit  danach  erhöht  wird ; wohl  aber  ist  es  angezeigt, 
znr  Linderung  der  Schmerzen  Priessnitz’sche  Umschläge  anzuwenden  (Heubnkr) 
und  falls  in  schwereren  Fällen  die  Befürchtung  einer  Epiphysenlösung  oder  einer 
Fractur  vorliegt,  erscheint  es  angebracht,  feuchte  Verbände  anzuwenden.  Porr 
hat  auch  einmal  zur  Gradstellung  der  am  meisten  afficirten  linken  unteren 
Extremität  eine  Extensionsschiene  (nach  Volkmanx)  für  nöthig  erachtet. 

Legt  man  den  Schwerpunkt  der  Behandlung,  die  möglichst  frühzeitig 
eingeleitet  werden  muss,  auf  die  Diät,  so  hat  man  die  Genugthnung,  baldige  und 
fortschreitende  Besserung  eintreten  zu  sehen. 

Giebt  uns  nun  die  Section  einen  Aufschluss  und  eine  Erklärung  der 
Symptome,  welche  wir  intra  vitam  am  Krankenbette  beobachtet  haben? 

Pathologische  Anatomie.  Genauere  Kenntniss  von  den  pathologischen 
Vorgängen , wie  sie  sich  bei  der  BARLOw’schen  Krankheit  abspielen , verdanken 
wir  den  Sectionsbcfunden  Baklow’s,  der  im  Jahre  1883  zttm  ersten  Male  Ge- 
legenheit hatte,  einen  derartigen  Fall  zu  seciren.  Der  typische  Befund  Barlow’s 
ist  später  von  verschiedenen  Beobachtern  ergänzt  und  bestätigt  worden. 

Die  hauptsächlichsten  Veränderungen  finden  natürlich,  dem  klinischen 
Bilde  entsprechend,  an  den  Knochen  statt,  und  zwar  sind  hauptsächlich  die  Röhren- 
knochen und  von  diesen  wieder  die  Knochen  der  unteren  Extremität  am  häufig- 
sten betroffen.  Schneiden  wir  durch  die  Haut  und  Muskel  auf  die  Knochen  ein, 
so  finden  sieh  bisweilen  Hämorrhagicn  schon  in  den  Fascien  und  in  dem  Unter- 
hautzellgewebe. Die  oberflächliche  Musculatur  erhält  eine  massige  Qualität  blass- 
gelber, seröser  Flüssigkeit,  in  den  tieferen  Schichten  linden  sich  zahlreiche  Blut- 
gerinnsel. 

Die  Röhrenknochen  zeigen  im  Verlauf  der  ganzen  Iliaphyse  und  an  einem 
kleinen  Theil  der  Epiphyse  eine  Schicht  von  Blutgerinnscln,  die  zwischen  Periost 
und  Knochen  liegen ; das  Blutgerinnsel  ist  zuweilen  in  eine  ehocoladenfarhige 
Detritusmasse  umgewandelt  Die  Blutungen  brauchen  nicht  nur  subperiostal  zu  sein, 
sondern  können  auch  endostcale  sein  (Mac  EXZIE).  Durch  die  Hümorrhagic  zwi- 
schen Periost  und  Knochen  wird  das  Periost  stellenweise  vom  Knochen  abge- 
hoben, bisweilen  ist  er  desselben  vollkommen  entkleidet.  Das  Periost  selbst  ist 
gefässreich  und  verdickt.  Der  Knochen  dagegen  ist  bisweilen  auf  eine  dünne 
Schicht  reducirt;  bei  vereinzelten  Fällen  hat  das  vom  Knochen  abgehobene 
Periost  eine  neue  dilnue  Schicht  knöchernen  Materials  abgesetzt  (Scapula,  Schädel). 

Fracturcn  an  der  unteren  Extremität  und  an  den  unteren  Rippen  kommen 
seltener  vor,  dagegen  sind  Epiphysenlösungen  eine  häufige  Erscheinung.  Zwischen 
Diaphyse  und  Epiphyse  gewahrt  mau  entweder  nur  abnorm  starke  Hyperämie 
oder  hämorrhagische  Infiltration  oder  selbst  Bluterguss. 

Was  die  histologischen  Verhältnisse  des  Knochens  betrifft,  so  fand  Fürst'1) 
wenig  Osteoblasten  nahe  der  Corticalzone.  Die  Knochenbalken  waren  normal,  die 

4* 


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BARLOW’SCHE  KRANKHEIT. 


HowSHlP’schen  Lakunen  wenig  ausgebildet.  Nach  der  Markhöhle  sah  man  reich- 
liche lymphoide  Zellen;  ausgewanderte  Blutzcllen  Hessen  sich  nicht  constatiren. 
Das  Mark  findet  sich  stark  vaseularisirt , hauptsächlich  in  der  Form  des  rothen 
Marks.  Nur  nahe  der  Peripherie  findet  man  etwas  Fettmark.  Bemerkenswerth  ist 
die  lymphoide  Umwandlung  und  neben  den  lymphoiden  Zellen  die  Anwesenheit 
von  gruppenweis  angehäuften  Leukocyten,  die  mit  Blutkörperchen  und  Pigment 
beladen  sind.  Diese  Befunde  deuten  auf  starke  Blutresorption. 

Neben  den  ausgedehnten  subperiostalen  Blutungen  der  Röhrenknochen 
(in  einem  Fall  von  C'RKADLE  und  in  einem  anderen  von  Sutterland,  die  zur 
Autopsie  kamen , waren  Muskel  und  Röhrenknochen  von  Hämorrhagien  frei) 
werden  nicht  gar  zu  selten  Blutungen  an  den  Rippen,  am  Schädel  und  an  der 
Scapula  beobachtet,  in  welchen  Fällen  die  Veränderungen  am  Periost  und  Knochen 
ähnlich  sind  wie  bei  den  Röhrenknochen.  Ein  Hämatom  der  Dura  mater  sahen 
Sutteri.anD  und  Barlow,  auch  Möller  beobachtete  schon  ein  solches. 

Eine  Schwellung  und  Lockerung  des  Zahnfleisches  liess  sich  in  vielen 
Fällen  constatiren;  die  Blutungen  in  das  Zahnfleisch  variiren  naturgemäss  sehr; 
sie  finden  sich  von  den  kleinsten  Sugillationen  bis  zu  grösseren  Ecchvmosen  und 
Extravasaten. 

Uebcr  geringere  Blutungen  in  die  Schleimhaut  des  Intestinaltractus,  des 
lymphatischen  Apparates,  berichtet  Chkadle.  Mackenzie  hat  die  Eingeweide, 
Mesenterialdrtlsen,  Lungen  und  die  Marksubstanz  der  Nieren  von  kleinen , aber 
zahlreichen  Hämorrhagien  durchsetzt  gesehen.  Cheadle  beobachtete  reichliche 
Blntungen  in  den  Lungen.  Barlow  fand  einen  blutig-serösen  Erguss  auf  dem 
visceralen  Blatt  der  einen  Pleura  und  auf  dem  parietalen  zahlreiche  Petechien. 
Die  Milz  ist  vergrössert  und  weist  einen  Bluterguss  in  die  Kapsel  und  in  das 
Parenchym  auf. 

Die  post  mortem  durch  den  Sectionsbefund  aufgedeckteu  hämorrhagischen 
Vorgänge  sind  wohl  im  Stande,  die  Schwellung  und  die  tibergrosse  Schmerzhaftig- 
keit am  Knochen  (Hyperämie  und  Abhebung  des  Periosts),  ebenso  wie  die 
Blutungen  der  Haut , Schleimhaut  und  inneren  Organe  zu  erklären.  Auch  die 
Anämie,  die  mit  dem  Fortschreiten  des  ProcesBes  mehr  und  mehr  zunimmt,  lässt 
sich  zwanglos  mit  den  stattgehabteu  internen  Hämorrhagien  in  Verbindung  bringen. 

Fragen  wir  nun  nach  dem  Wesen  der  Krankheit,  so  ist  auch  heute  noch, 
trotz  mancher  neuer  Veröfl'entlichung,  dasselbe  darüber  zu  sagen,  was  Hkdbxek 
schon  im  Jahre  1893  schrieb: 

„Wir  haben  es  bei  der  in  Rede  stehenden  Affection  mit  einer  wohl 
eharakterisirten,  von  den  bisher  bekannten  Erkrankungen  sich  unterscheidenden, 
eigenartigen  Krankheit  zn  thun.  Wir  stehen  jetzt  auf  der  zweiten  Stufe  der  Er- 
kenntniss  derselben,  der  pathologisch  anatomischen.  Die  dritte,  der  Einblick  in 
das  eigentliche  Wesen  der  Krankheit,  ihr  ätiologisches  Verständniss  ist  noch  zu 
erklimmen.“ 

Interessant  ist  an  der  geschichtlichen  Entwicklung  unserer  Kenntnisse 
von  der  Pathogenese  der  BARLOw'schen  Krankheit,  dass  sich  zwei  ganz  getrennte 
Epochen  grundverschiedener  Anschauungen  unterscheiden  lassen , und  zwar  eine 
englische  und  eine  deutsche,  ln  Deutschland  war  man  circa  20  Jahre  früher  als 
in  England  auf  diese  eigenthümliche  Erkrankung  aufmerksam  gewurdeu.  Möller*), 
der  bekanntlich  zuerst  (1859)  die  Beobachtung  der  Aerztewelt  auf  das  sonder- 
bare Krankheitsbild  lenkte,  fasste  dieselbe  als  eine  Krankheit  sui  generis  auf 
und  beschrieb  sie  wegen  der  in  die  Augen  fallenden  charakteristischen  Knochen- 
erkrankung als  „acute  Rachitis“. 

Diese  Bezeichnung  wurde  von  den  später  über  derartige  Fälle  berichtenden 
Antoren  Bohn’i,  Förster1),  Politzer4),  Steiner*),  Senator6)  etc.,  die  sämmt- 
lich  die  acute  Rachitis  als  eine  besondere  Krankheit  auffassen,  beibehalten,  indem 
alle  das  Hauptgewicht  auf  die  Knochenveränderungen  und  weniger  auf  die  bisweilen 
auftretenden  hämorrhagischen  Erscheinungen  legten.  Dabei  fehlte  es  nicht  an  gewissen 


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BARLOW’SCHE  KRANKHEIT. 


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Meinungsverschiedenheiten.  Während  Oppenheimer  l0)  (1881)  einen  Th  eil  der  als 
„acute  Rachitis“  beschriebenen  Fälle  für  nichts  weiter  als  multiple  Ostitis  rachiti- 
scher Individuen  ansieht,  dagegen  für  die  grössere  Zahl  der  Fälle  mit  fieberhaftem 
Verlauf  den  rachitischen  Charakter  des  Knochenleidens  bezweifelt,  negirt  Fürst8) 
(1882)  die  „acute  Rachitis“  als  selbständige  Kraukheitsform  und  hielt  es  viel- 
mehr für  richtig,  von  einem  acuten  Initialstadium  gewisser  Fälle  von  Rachitis 
zu  sprechen,  in  welchem  neben  tumultuarisehen  Wachsthumserscheinungen  an  dem 
Skelet  entzündliche  schmerzhafte  Schwellungen  der  Weichtheile  mit  mehr  oder 
weniger  Fieber,  gastrischen  Symptomen  und  Störungen  der  Ernährung  auftreteu. 

Kurz  und  gut,  das  Thatsächliche  der  Erkrankung  war  in  Deutschland 
schon  sehr  früh  bekannt,  indess  der  Begriff  der  acuten  Rachitis  war  ein  unklarer 
und  schwankender,  wurde  von  Einzelnen  acceptirt,  von  Manchen  dagegen  ange- 
fochten.  Man  kannte  das  Bild  der  Krankheit,  war  aber  nicht  im  Stande,  es  zu  deuten. 

Da  kamen  im  Jahre  1878  und  bald  darauf  1882  die  ersten  englischen 
Veröffentlichungen  von  dem  Kinderarzt  Cheadle,  der  die  Erkrankung  von  einem 
neuen  Gesichtspunkt  aus  ansah.  Er  bezeichnet  dieselbe  als  scurvy-Scorbut  und 
suchte  nachzuweisen,  dass  dieselbe  eine  Folge  fehlerhafter  Ernährung  sei,  bedingt 
durch  den  Mangel  an  frischen  Nahrungsmitteln,  und  führte  als  Stütze  dieser  An- 
nahme an,  dass  die  Affection  durch  Beseitigung  dieses  Fehlers  einer  baldigen 
Heilung  entgegengeführt  werden  könne. 

Vor  Cheadle  schon  hatte  in  Schweden  Inoerslew  (1873)  auf  die  scorbut- 
artige  Natur  der  BARLOw’schcn  Krankheit  aufmerksam  gemacht.  Und  in  England 
selbst  fehlte  cs  nicht  an  früheren  Publicationen,  so  die  von  Smith  (1875)  unter 
dem  Titel  „Hämorrhagische  Periostitis“ ; später  kamen  Fälle  von  Samijkl  GäE 
(1881  i unter  dem  Namen  „ostale  oder  periostealc  Cachexie“  und  von  Page  (1843) 
als  subperiostale  Hämorrhagie  zur  Veröffentlichung.  Indessen  Bari.OW  (1883) 
gebührt  das  Verdienst,  durch  sorgfältige  Untersuchung  an  der  Leiche  und  durch 
den  dirccten  Nachweis  der  subperiostalen  Blutungen  eine  Erklärung  des  klinischen 
Gesammtbildes  gegeben  zu  haben.  Derselbe  glaubt  sich,  sowohl  durch  seine 
klinische  Erfahrung,  die  er  aus  31  Fällen,  darunter  11  seiner  eigenen  Beob- 
achtung gewonnen,  als  auch  hauptsächlich  auf  Grund  seiner  Sectionsbefunde  be- 
rechtigt, seine  Ansicht  dahin  formuliren  zu  dürfen,  dass  die  wesentlichen  Merk- 
male der  sogenannten  „acuten  Rachitis“  im  anatomischen  wie  im  klinischen  Ver- 
halten in  Wirklichkeit  auf  „infantilen  Scorbut“  zurückzuführen  sein. 

Lues  und  vor  Allem  Rachitis,  welch  letztere  sehr  häufig  gleichzeitig  zur 
Beobachtung  kam,  hält  er  für  zufällig  coincidirende  Erkrankungen,  ohne  dass 
die  BARLOw’sche  Krankheit  sich  unbedingt  auf  rachitischer  RasiB  entwickeln 
muss.  Auf  demselben  Standpunkte  steht  Barlow  auch  heute  (1895)  noch,  wie 
aus  seiner  letzten,  von  Ludwig  Elkind  in’s  Deutsche  übertragenen  Arbeit  Uber 
diesen  Gegenstand  hervorgeht. 

Dieser  Auffassung  der  Baulow’scIicu  Krankheit  von  Seiten  der  Engländer 
als  „echten  Scorbut“  schloss  sich  späterhin  ein  grosser  Theil  der  deutschen 
Autoren  mit  mehr  oder  weniger  Einschränkung  an. 

So  lässt  Rkhx  (1884)  seine  bis  dahin  aufrecht  erhaltene  Meinung  einer 
Myeloperiostitis ')  fallen  und  spricht  sich  in  dem  Sinne  der  englischen  Collegeu 
aus,  wenngleich  er  hervorliebt,  dass  in  Deutschland  Scorbut  überhaupt  so  gut 
wie  unbekannt  ist,  sporadischer  Scorbut  sehr  selten  auftritt,  und  es  wunderbar 
sei,  dass  die  meisten  von  BARLOw’scher  Krankheit  befallenen  Kinder  unter  günsti- 
gen Eruährungsverhältnissen  leben. 

Heuhxek  erblickt  in  dem  Leiden  eine  eigenthümliche  Mischerkrankung 
von  Scorbut  und  Rachitis  und  betitelt  seine  Arbeit  Uber  diesen  Gegenstand: 
„Ueber  die  scorbutartige  Erkrankung  rachitischer  Säuglinge“.  Heubner  ist  übri 
gens  der  Erste  gewesen  . der  den  Namen  „BARLOw’sche  Krankheit“  eingeführt, 
wohl  um  auszudrücken,  dass  ihm  die  Identificirung  mit  echtem  Scorbut  noch  nicht 
vollkommen  erwiesen  scheint. 


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54 


BARLO W’SCHE  KRANKHEIT. 


Hexoch  (1895),  der  sieh  nicht  ganz  so  bestimmt  ausdrückt,  äussert  sich 
dahin,  „dass  es  sich  hier  um  eine  Form  der  hämorrhagischen  Diathese  handelt, 
die  zwar  Manches  mit  dem  Scorbnt  gemein  habe,  aber  doch  nicht  identisch  mit 
diesem  zu  Bein  scheint.  Ihre  häufige  Combination  mit  Rachitis  spricht  für  eiue 
gemeinsame  Ursache,  die  in  fehlerhafter  Ernährung  (Mangel  an  phospborsaurcm 
Kalk  und  Kali  in  der  Nahrung)  zu  suchen  ist.  Die  Beziehung  zur  Syphilis  ist 
trotz  des  scheinbaren  Erfolges  der  Mercurialcur  in  einzelnen  Fällen  sehr  zweifelhaft.“ 

Baginsky  (1893)  rechnet  die  Krankheit  zu  den  echten  scorbutischen 
Affectionen. 

Dagegen  fehlt  es  auch  nicht  an  Stimmen,  die  sich  direct  gegen  die 
Scorbuttheorie  ausgesprochen  haben,  so  Hirschsprung  ,?),  Conitzkk  u.  A.,  auch 
F.  Hoffmann  as)  steht,  obgleich  er  die  Krankheit  als  „eine  eigenthümliche  Form 
der  hämorrhagischen  Diathese  bei  Rachitis“  bezeichnet,  in  seinem  Lehrbuch  über 
Constitutionskrankheiten  dieser  Ansicht  mit  grossen  Zweifeln  gegenüber.  Die  Be- 
denken, die  diese  Autoren  dagegen  auführen,  sind  dieselben,  wie  sie  früher  schon 
von  Hehn  in  Erwägung  gezogen  worden  sind,  nur  fügen  sie  noch  hinzu,  es  wäre 
auffallend,  dass  gerade  die  sonst  beim  Scorbut  als  llaupterscheinung  in  den 
Vordergrund  tretende  Zahntleiscberkrankuug  beim  infantilen  Scorbut  nur  selten 
oder  gar  nicht  entwickelt  sei , und  umgekehrt  die  häufigste  Erscheinuug  der 
BARi.Ow’schcn  Krankheit,  die  typische  Knochenerkrankung,  beim  echten  Scorbut 
weniger  in  die  Augen  falle.  Ferner  treffe  der  nach  Chbadi.k  und  Barlow  be- 
hauptete Mangel  an  frischen  Vegetabilien  in  der  Nahrung  .als  Ursache  der  Krank- 
heit für  eine  grosse  Reihe  von  Fällen  sicher  nicht  zu,  und  die  antiscorbutische 
Therapie  versage  in  manchen  Fällen. 

Wenngleich  wir  heute  kaum  schon  berechtigt  sind,  ein  definitives  Urtheil 
in  dieser  Frage  abzugeben,  so  muss  man  zugestehen,  dass  ein  ätiologisches 
Moment  die  BARLOw'sche  Krankheit  in  fast  allen  Fällen  mit  dem  Scorbut  gemein 
hat,  das  ist  eine  qualitativ  fehlerhafte  Ernährung,  die  in  dem  Mangel  frischer 
Nahrungsmittel  besteht  (Heubner).  So  wird  bei  künstlicher  Ernährung  des  Kindes 
unzweckmässig  bald  ein  Kindermehl  verwendet,  bald  greift  man  zu  künstlichen 
Milchpräparaten  (condensirter  Milch,  Albuminosenmilch  etc.);  bisweilen  scheint  es 
schon  ein  Fehler  zu  sein,  ein  Kind  zu  lange  mit  reiner  Milchnahrung  aufzu- 
ziehen: von  manchen  Seiten  ”•  3")  wird  zu  lange  fortgesetzte  Ernährung  mit 
sterilisirter  Milch  für  die  BARLOw'sche  Krankheit  verantwortlich  gemacht,  zumal 
wenn  dieselbe  als  „Dauermilch“  betrachtet  und  bis  zum  Verbrauch  tage-  oder 
gar  wochenlang  gestanden  hatte.  Gerade  diese  letzte  Erscheinung  muss  beson- 
ders beachtet  werden  bei  der  allgemeinen  Verbreitung,  die  die  Anwendung  der 
sterilisirten  Milch  heute  gefunden  hat. 

Li hbf. ’s **)  Meinung  geht  dahin,  dass  vielleicht  die  Salze  der  Milch, 
denen  ja  bei  der  Ernährung  auch  eine  wichtige  Rolle  zukommt,  durch  das  lange 
Kochen  bei  der  Sterilisation  eine  Schädigung  erleiden.  Chemisch  nachweis- 
bare Veränderungen  des  Eiweiss-,  Fett-  und  Zuckergehaltes  der  Milch  in  Folge 
der  einfachen  wie  der  totalen  Sterilisation  habe  ich a"),  wie  aus  verschiedenen 
Versuchsreihen  hervorgeht,  seiner  Zeit  nicht  nachweisen  können.  Bemerkenswerth 
ist  noch,  dass  die  letzten  in  Berlin  veröffentlichten  Fälle  sämmtlieb  mit  Albumoseu- 
milch  ernährt  wurden.  *■) 

Die  Erscheinung,  dass  die  BARLOw'sche  Krankheit  fast  immer  nur  die 
Kinder  gut  situirter  Fainilen,  dagegen  selten  die  der  armen  Bevölkerung  betrifft, 
lässt  sich  nach  Chkadle  und  Heubner  vielleicht  dadurch  erklären,  dass  die  Kinder 
der  ärmeren  ClasBcn  meist  schon  vor  Abschluss  des  ersten  Lebensjahres  neben 
Milch  frische  Gemüse  und  Kartoffel  erhalten.  Daneben  macht  sich  bisweilen  wohl 
noch  der  Umstand  geltend , dass  den  unbemittelten  Kreisen  auf  die  Dauer  ein 
künstliches  Milchpräparat  oder  ein  Kindermehl  zu  theuer  kommt. 

Mag  man  nun  aber  Gegner  oder  Anhänger  der  Scorbuttheorie  sein, 
jeder  muss  zugeben,  dass  wir  mir  mit  der  Einführung  des  Namens  „Scorbut“  für 


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BARLOW'SCHE  KRANKHEIT. 


55 


das  Wesen  dieser  bei  Kindern  auftretenden  eigentümlichen  Affection  absolut 
nichts  gewonnen  haben;  ist  uns  doch  die  Pathogenese  und  die  Aetiologie  des 
Seorbut»  der  Erwachsenen  selbst  noch  nicht  klar.  Denn  von  den  einen  wird  der 
Seorbut  auf  den  Mangel  an  Kalisalzen  in  der  Nahrung  zurückgeführt  und  darauf 
hingewiesen,  dass  bei  langen  Seereisen  auf  Schiffen , auf  denen  Fleisch  nur  in 
Form  des  gesalzenen  Pökelfleisches,  das  an  Kalisalzen  arm  ist,  geboten  wird,  bei 
gleichzeitig  fehlenden  frischen  Gemüseu  diese  Affection  eine  häufige  Erscheinung 
ist.  Indessen  sieht  man  auch  bei  Gefangenen , die  fast  ausschliesslich  die  kali- 
reiche  Pflanzenkost  erhalten,  nicht  selten  Seorbut  auftreten , in  einzelnen  Fällen 
sogar,  wo  es  weder  an  frischem  Fleisch,  noch  an  grünem  Gemüse  fehlte.  Neuere 
Beobachtungen,  in  denen  eine  Besserung  der  scorbutischen  Affection  bei  Zusatz 
von  Fett  zur  Kost  constatirt  sein  soll , scheinen  darauf  hinzudeuteu , dass  der 
Seorbut  auch  durch  eine  einseitige  fettarme  Kost  bei  gleichzeitigen  ungünstigen 
(feuchten)  Wohnungsverhältnissen  hervorgerufen  wird  (Munk  S6j. 

Vielleicht  aber  liegen  die  Verhältnisse  noch  anders,  vielleicht  ist  der 
Seorbut,  der  echte  der  Erwachsenen  sowohl  wie  der  infantile,  in  die  Reihe  der 
Infectionskrankheitcn  zu  zählen,  eine  Vermuthung,  die  schon  von  verschiedenen 
Autoren  ausgesprochen  worden  ist;  und  die  einseitige  fehlerhafte  Ernährung  setzt 
die  Widerstandsfähigkeit  des  Organismus  herab  und  schafft  so  die  Vorbedingungen 
für  das  Eindringen  der  Mikroorganismen,  für  die  specifische  Infection,  respective 
Intoxication. 

In  diesem  Sinne  fortgesetzte  Untersuchungen  scheinen  mir  erstrebens- 
werth ; wie  weit  sie  von  Erfolg  gekrönt  werden,  muss  die  Zukunft  lehren. 

Literatur. ♦)  *)  J.  0.  L.  Möller,  Königsberger  Med.  Jahrb.  1959,  I,  pag.  377; 
1862,  III,  pag.  135.  — *)  R.  Förster,  Jahrb  f.  Kinderlik.  1868,  I,  pag.  444.  — 3)  Hohn, 
Jahrb.  f.  Kinderhk.  1868.  I,  pag.  201. — 4)  Politzer,  Jahrb.  f.  Kinderhk.  II,  pag.  159.  — 
Senator,  v.  Zietnssen's  Handb.  1875,  XIII.  I.  Ahth.,  pag.  201.  — *)  Steiner,  Compendien 
der  Kinderkh.  1878,  3-  Aufl.  — 7)  Rehn,  Veröffentlichung  d.  Gesellsch.  f.  Heilkunde.  Berlin, 
2.  Verband!,  d.  padiatr.  Section.  1879-  — •)  Förster,  Ber.  über  die  Versamml.  d.  padiatr. 
Section  d.  Gesellsch.  f.  Heilkunde  in  Berlin  vom  5.  u.  6.  April  1880.  — *)  L.  Fürst,  Jahrb. 
f.  Kinderhk.  1882.  XVIII,  pag.  210.  — ,0)  Z.  Oppenheimer,  Arch.  f.  klin.  Med.  1882, 
XXX,  pag.  45.  — n)Baginsky,  Praktische  Beitr.  z.  Kinderhk.  Ib82.  2.  Heft  — **)Rehn, 
Rauchfass,  Hirschsprung.  Ber.  über  d.  Verhandl.  d.  pädiatr.  Section  anf  dem  internat. 
med.  Congr.  zu  Kopenhagen  1884.  Jahrb.  f.  Kinderhk.  1886.  XXV.  pag.  118 — 122.  — 
,#)  Barlow,  Thom.  med.  chir.  Transaction m.  London  1883.  — 14)  Rehn,  Berliner  klin. 
Wochenschr.  1889.  Nr.  1.  — ’*)  Rehn,  Verband,  d.  X internat.  med.  Congr.  zn  Berlin.  1890, 
II.  6.  Abth  . pag.  57.  — t6)  Pott,  Münchener  med.  Wochenschr.  1891,  Nr.  46  und  47.  — 
1T)  Northrup,  Transaction  Amer . Paediatr.  Soc.  New  York  1892.  — ,#)  0.  Heubner, 
Jahrb.  f.  Kinderhk.  1892.  XXXIV.  pag.  361.  — ,w)  Bagin sky.  Lehrb.  f.  Kinderkh.  1892, 
4.  Aufl.  279.  — Le  Brnin,  Nederld.  Tijdschr,  coor  Genetskunde.  1893,  II,  Nr.  10.  — 
3I)  Förster,  Jahrb.  f.  Kinderhk.  1893.  XXXV,  pag.  219.  — ”)  Rehn,  Jahrb.  f.  Kinderhk. 
1893,  XXXV,  pag.  220.  — **)  Vogel-Biedert,  Lehrb.  d.  Kinderkh.  1887.  pag.  526.  — 
*4)  Uffelmann.  Kurzgefasstes  Lehrb.  d.  Kinderkh.  1893,  pag.  61  — *4)  v.  Star  ck , Jahrb. 
f.  Kinderhk.  1894.  XXXVII,  pag.  68.  — **)  v.  Starck,  Jahrb.  f.  Kinderhk.  1894,  XXXVIII, 
pag.  375.  — ,7)  Rehn,  Jahrb.  !'.  Kinderhk.  1894.  XXX VII.  — **)  F.  A.  H offmann,  Lehrb. 
d.  Constitutionskrankheiten.  1893,  pag  145.  — **)  L.  Conitzer,  Münchener  med.  Wochen- 
schr. 1894.  Nr.  II  n.  12-  — M)  B Bend  ix,  Berliner  klin.  Wochenschr.  1895.  Nr.  15.  — 
**>  L.  Fürst.  Arch.  f.  Kinderhk.  XVIII,  pag.  50.  — 3I)  Henoch,  Lehrb.  d.  Kinderkh.  1895, 
*3)  v.  Starck.  Münchener  med.  Wochenschr.  1895,  Nr.  42.  — **)  A.  Hoffmann,  Correspon- 
denzblatt  d.  ärztl.  Vereine  d.  Grnssherzogthums  Hessen.  1895,  5.  Jalirg.,  Nr.  10.  — w)  Liebe, 
Münchener  med  Wochenschr.  1896,  Nr.  2-  — 4*j  I.  Munk,  Ernährung  des  gesunden  und 
kranken  Menschen.  1895,  pag.  87.  — aT)  H.  Hirschsprung,  Jahrb.  f.  Kinderhk.  1895, 
XLI.  Heft  1,  pag.  1. — 3b)  Barlow  (Eikind),  Centralbl.  f.  klin.  Med.  1895,  Nr.  2l  u.  22. — 
**)  E.  Meyer,  Vortrag  in  der  Berliner  med.  Gesellsch.  am  15.  Januar  1896. 


*)  Die  von  mir  aufgeführte  Literatur  beschränkt  sich  fast  ausschliesslich  auf  die 
Arbeiten  der  deutschen  Autoren. 

Die  vollständige  Literatur  über  Barlo  wache  Krankheit  mit  Ausnahme  des  letzten 
Jahres  findet  sich  bei  Fürst,  Arch.  f.  Kinderhk.,  1895,  XVIII,  Heft  1 und  2,  übersichtlich 
zusammen  gestellt. 

Bernhard  Bendix  (Berlin). 


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BASEDOWSCHE  KRANKHEIT, 


Basedow’sche  Krankheit.  Meinen  vorjährigen  Bericht  (Encyclopäd. 
Jahrbücher,  V,  pag.  18)  leitete  ich  mit  der  Bemerkung  ein,  dass  sich  der  Streit 
bezüglich  der  Pathogenese  der  BASEDOW’schen  Krankheit  immer  noch  um  die 
Frage  drehe,  ob  der  Schilddrüse  die  Bedeutung  als  ursächliches  Moment  in  dem 
Sinne  zukomme , wie  die  Vertreter  der  sogenannten  Schilddrüsentheorie  es  be- 
haupten. Dieser  Streit  scheint  sich  im  vergangenen  Jahre  der  vermittelnden  Auf- 
fassung, sowohl  auf  autoritativer  klinischer,  als  auch  chirurgischer  Seite  zugeneigt 
zu  haben,  dass  an  dem  Zustandekommen  des  Krankheitsbildes,  das  man  schlechthin 
als  ÜASKnow’sche  Krankheit  bezeichnet,  ganz  verschiedene  Factoren  betheiligt 
sind,  und  dass  von  einem  ausschliesslich  toxischen  oder  ausschliesslich  nervösen 
Ursprünge  des  Symptomencomplexes  nicht  die  Bede  sein  kann. 

Beweis  sind  u.  A.  die  Verhandlungen  des  Congris  frangais  des  mMeeins 
alifnistes  et  neurolngistes  zu  Bordeaux  (1. — 7.  August  1895).  Prof.  E.  Brissaud 
hatte  hier  das  Referat  über  das  Thema  „Schilddrüse  und  BASKDOw’sche  Krank- 
heit“ übernommen  nnd  erledigte  sich  seiner  Aufgabe  in  recht  geschickter  Weise. 

Er  stellte  zunächst  den  Grundsatz  auf,  dass  die  BASKDOw’sche  Krank- 
heit keine  Krankheit  sui  generis  sei,  sondern  ein  Syndrom,  ein  Symptomencom- 
plex,  wie  die  Epilepsie.  Wie  lad  dieser  bald  ein  meningitischer  ProccBS,  bald  ein 
Gumma  oder  eine  progressive  Sklerose  oder  eine  Compression  oder  eine  Iutoxica- 
tion  (alkoholischen,  saturninen,  renalen,  gastrischen  etc.  Ursprunges)  n.  A.  m. 
den  morbiden  Reiz  für  ein  bestimmtes  Centrum , das  wir  allerdings  noch  nicht 
kennen,  abgeben  kann,  so  muss  mau  auch  für  den  BASKDOw'schen  Symptomen- 
complex  annehmen , dass  verschiedene  Momente  eine  Atfection  des  betreffenden 
Centrums,  das  BrissaüD  mit  anderen  französischen  Autoren  in  das  verlängerte 
Mark  (rdgion  bulbo-protubirantielle j verlegt,  herbeizuführen  iin  Stande  wären. 

Jedes  Syndrom  charakterisire  sich  durch  ein  Ensemble  von  Erscheinungen, 
die  enger  oder  weiter  miteinander  in  Verbindung  stehen,  unter  denen  sich  aber 
in  der  Mehrzahl  der  Fälle  ein  bestimmtes  Symptom  durch  seine  Constanz,  frühes 
Auftreten  und  Intensität  vor  den  übrigen  im  Allgemeinen  kennzeichnet.  Bei  dem 
Morbus  Baxedowii  sei  dies  die  Tachykardie ; um  sie  gruppiren  sich  die  übrigen 
Symptome,  die  zumeist  neurotischer  Natur  sind.  Die  BASEDOtv’sche  Krankheit  sei 
also  ein  „Syndrome  h peu  pr!s  exclusivement  nerve  ur“ . Diese  Annahme  schliesse 
nicht  aus,  dass  ein  von  der  Schilddrüse  geliefertes  Gift  ebenfalls  das  Nerven- 
system schädigen  und  den  Symptomencomplex  hervorrufen  könne. 

Als  prädisponirendes  Moment  stehe  die  Heredität  obenan , im  Beson- 
deren die  neuropatbische  Belastung.  Sollte  dieses  Moment  nicht  beweisen , dass 
der  Morbus  Basedomi  das  Aequivalent  einer  Neurose  ist?  Dafür  spräche  ferner 
die  recht  häufige  C'ombination  desselben  mit  allen  nur  möglichen  Neurosen.  Die 
Anhänger  der  Schilddrüsentheorie  könnten  diese  als  gleichzeitige  toxische  Wirkung 
der  Schilddrüsensecretion  auffassen.  Unter  den  determinirenden  Ursachen  figuriren 
Excesse,  Ucberanstrengung  und  Trauma , deren  Einfluss  die  nervöse  Theorie  als 
eine  Erschöpfung  der  Ncrvencentren  deutet.  Die  Schilddrüsentheorie  ermangelt 
hierfür  einer  Erklärung,  sie  müsste  denn  eine  Reizung  der  excito-secretorischen 
Nerven  annehmen,  also  auch  hier  wieder  auf  die  nervöse  Theorie  zurückkommen. 
Man  darf  wohl  als  sicher  voraussetzen,  dass  eine  Läsion  der  Schilddrüse  bei 
Morbus  Basedoxcii  constant  ist , jedoch  bietet  dieselbe  hier  nichts  Specifisehes. 
Die  Hypertrophie  der  Drüse  äussert  sich  als  cystische  Neubildung  und  als  eine 
Art  von  hypertrophischer  Cirrhose.  Im  Uebrigen  zeige  aber  die  Schilddrüse  von 
Erwachsenen,  die  einer  chronischen  Krankheit  erlegen  wären,  niemals  gesunde 
Structur.  BRISSAÜD  hat  an  zahlreichen  Fällen  die  gleichen  Veränderungen  wie 
die  bei  den  Sectionen  von  Morbus  Basedowt'i  gefundenen  nachgewiesen.  Möglicher- 
weise existiren  noch  andere  Veränderungen , wie  z.  B.  die  von  Renavt  (cfr. 
unten)  behaupteten. 

Der  Basedow-Syndrom  ist  bald  einfach  und  autonom,  bald  zeigt  er  sich 
als  die  Folge  dynamischer  und  organischer  nervöser  Zustände,  bald  endlich  leitet 


BASEDOWSCHE  KRANKHEIT. 


57 


er  eine  unbestimmte  Reibe  von  neuropatbischen  Zuständen  ein.  Diese  nervösen 
Krankheiten  sind  die  Epilepsie,  Hysterie,  Chlorose,  Tabes,  Syringomyelie,  Sklero- 
dermie, Chorea  und  das  Irresein.  Wenn  diese  der  BASEDOtv’schen  Krankheit 
folgen,  dann  erklärt  die  Schilddrusentheorie  das  Zustandekommen  durch  eine  epi- 
leptogene  u.  s.  w.  Wirkung  der  Intoxication ; wenn  sie  aber  derselben  vorangehen, 
dann  begnügen  sieh  die  Anhänger  derselben  mit  der  Annahme  eines  zufälligen 
Zusammentreffens.  Hier  lässt  die  Vergiftungstheorie  sie  im  Stich.  Schliesslich 
existirt  noch  eine  Gruppe  von  Zuständen:  es  sind  dies  die  Fälle  von  Morbus 
Basedomi  auf  reflectorischer  Basis.  Hier  resultirt  der  Syndrom  aus  einer  Reizung 
der  Rdgion  bulbo-protubdrantielle  (Medulla  oblongata) , deren  Ausgangspunkt 
peripherisch  ist.  Solche  Störung  des  nncleiiren  Centrums  ist  rein  dynamischer 
Natur  und  schliesst  die  Annahme  einer  primären  SchilddrUsenläsion  aus.  Dass 
aus  einer  Affection  des  Bulbus  der  Basedow-Syndrom  , im  Besonderen  auch  Ver 
änderungen  in  der  Schilddrüse  hervorgehen  könuen,  haben  die  Versuche  von 
Filkhxk  und  Durdufi  gezeigt. 

In  der  Discussion  vertrat  Prof.  RüNAUT-Lyon  die  Ansicht,  dass  das  nor- 
male SchilddrUseuproduct  in  den  die  Drüse  durchsetzenden  Lymphspalten  und 
Lymphgängen  eine  Umsetzung  erfahre,  die  in  einer  Entgiftung  bestände.  Er 
meinte  nun  weiter,  dass  bei  der  BASEixnv’schen  Krankheit  eine  besondere  Form 
der  Thyroiditis  vorläge,  eine  intralobulärc  Sklerosis,  die  die  Lymphspalten  inner- 
halb der  Lobuli  zum  Schwinden  bringe.  Das  Product  der  inneren  Secretion  der 
Schilddrüse  könne  daher  nicht  mehr  in  die  intralobulären  Lymphgänge  über- 
treten, nm  hier  entgiftet  zu  werden,  sondern  entleere  sich  durch  die  Venen  direct 
in’s  Blut.  Auf  diesem  Wege  gelange  das  toxische  Agens  in  die  Circulation  und 
äussere  seinen  Einfluss  auf  das  Nervensystem , im  Besonderen  auf  die  Rigion 
bulbo  protuberantielle  des  verlängerten  Markes.  Er  stelle  sich  das  Zustandekommen 
der  primären  Affection  in  der  Weise  vor,  dass  irgend  ein  Primum  movens  (ner- 
vöser, infectiöser,  toxischer  u.  s.  w.  Einfluss)  die  bis  dahin  normal  functiouirende 
Schilddrüse  zur  vermehrten  Absonderung  anrege,  diese  Hyperthyroidation  (func- 
tioneile Störung)  der  Drüse  dann  weiter  eine  Entzündung  (organische  Verände- 
rung) hervorrufe,  die  ihrerseits  wieder  eine  periacinöse  Sklerose  und  so  den 
Untergang  der  intralobulären  Lymphgänge  herbeiführe. 

Glky  erinnerte  an  seine  Versuche,  die  lehren,  dass  die  Schilddrüse  eine 
Substanz  secernire , die  im  Stande  ist,  gewisse  toxische  Substanzen,  die  normaler- 
weise im  Organismus  gebildet  werden,  zu  zerstören.  Er  hob  aber  gleichzeitig 
hervor,  dass  Uber  die  Natur  dieser  Substanz  noch  absolute  Unklarheit  herrsche. 
Er  meinte  ferner,  dass  die  Theorie  einer  Ilyperthvroidisation  zur  Zeit  noch  einer 
soliden  Basis  entbehre;  die  Injectionen  von  Schilddrüsensaft  hätten  bisher  noch 
nie  die  Symptome  der  BASEDOw'schen  Krankheit  hervorgerufen;  hingegen  hätten 
andere  organische  Säfte  einzelne  Erscheinungen  wohl  herbeigeführt.  Er  betonte 
ferner  daran,  dass  in  einzelnen  Fällen  Sehilddrüseninjectionen  die  Erscheinungen 
der  Krankheit  verschlimmert  hätten,  in  anderen  wiederum  gebessert.  Ebenso  verhalte 
es  sich  mit  der  chirurgischen  Behandlung,  die  gewisse  Kranke  günstig  beeinflusst, 
andere  wieder  vollständig  unbeeinflusst  gelassen  habe.  Mit  demselben  Rechte  wie 
eine  Hyperthyroidisatiou,  so  schliesst  Gley,  könnte  man  auch  eine  uugeuügende 
Schilddrüsenseerction  oder  auch  die  Bildung  abnormer  toxischer  Producte  als 
Erklärung  für  die  Pathogenese  des  Morbus  Basedowii  hcranziehen.  Keine  dieser 
Theorien  wäre  wirklich  begründet.  So  weit  der  bekannte  Pariser  Physiologe. 

Weiter  berichteten  Ballet  und  Enriqcez  über  ihre  Thierversuche,  die 
sie  über  die  Wirkung  der  Hyperthyroidisatiou  angestellt  haben.  Sie  constatiren, 
dass  Einführung  von  Schilddrüsensaft  in  gehöriger  Menge  in  den  thierischen 
Organismus  (am  deutlichsten  mittelst  Injection)  partiell  den  Basedow-Syndrom 
hervorruft.  Besonders  interessant  wären  diese  Experimente  noch  dadurch , dass 
sich  bei  Lebzeiten  einigcmale  eine  Schilddrusenhypertrophie  und  nach  dem  Tode 
stets  histologische  Veränderungen  der  Drüse  an  den  Thieren  gezeigt  hätten.  Diese 


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BASEDOWSCHE  KRANKHEIT. 


letzteren  »eien  zweierlei  Art:  einmal  constatirte  man  Veränderungen  de«  Lymph- 
system», wie  solche  RkxaüT  bei  Morbus  Basedowii  angezcigt  habe  und  zum 
andern  die  Substitution  eines  Granulationsgewebes  an  Stelle  des  normalen  Drüsen- 
gewebes.  Die  Vortragenden  glaubten  hierdurch  Rexaitt’s  Hypothese  stützen  zu  können. 

Glky  erwiderte  hierauf,  dass  diese  Versuche  seine  vorgetragene  Ansicht 
nicht  ändern  könnten. 

Ans  dem  vorstehenden  Resumc  der  Verhandlungen  des  Congresses  in 
Bordeaux,  ist  also  ersichtlich , dass  auch  massgebende  französische  Autoren  nun- 
mehr sich  auf  den  gleichen  Standpunkt  stellen,  den  ich  bereits  von  Anfang  an 
und  wiederholt  vertreten  habe , dass  nämlich  die  Basedow 'sehe  Krankheit  auf 
keiner  einheitlichen  Ursache  beruhe,  sondern  dass  verschiedenartige  ursächliche 
Momente  das  gleiche  Kraukheitsbild  hervorrufen  können.  Zu  Gunsten  dieser  Auf- 
fassung sprechen  auch  die.  therapeutischen  Krfahrungen  der  jüngsten  Zeit. 
AcgiKras  und  Scanes  Spickk  berichten  über  wesentliche  Besserung  des  Basedow- 
schen  Symptomeucomplexes  nach  Cauterisation  der  hypertrophischen  Nascnschleim- 
haut,  respective  Wegnahme  von  Nasenpolypen , PlCQUfi  nach  Abtragung  eines 
Uterustibroms,  Boi'lLLY  nach  Salpingektomie,  Sternberü  ferner  constatirte  in 
einem  recht  schweren  Falle  eine  recht  auffällige  Besserung  durch  Gravidität, 
WEISS  eine  ziemliche  und  Mabille  eine  complete  Heilung  auf  die  gleiche  Weise. 
Ich  selbst  habe  im  vergangenen  Jahre  in  drei  Fällen  von  BASEDOW’scher  Krank- 
heit, von  denen  ich  zwei  als  genuine  (nervöse)  Form , den  dritten  als  Morbus 
Basedowii  auf  kropfiger  Basis  ansprechen  möchte,  einmal  durch  alleinige  An- 
wendung des  galvanischen  und  faradischen  Stromes  zu  Hause,  das  andere  Mal 
durch  das  gleiche  Verfahren  und  Combination  mit  Hydrotherapie  (in  Königs- 
brunn), das  dritte  Mal  durch  diese  beiden  Methoden  und  einen  daran  sich  an- 
schliessenden Aufenthalt  unter  Höhenklima  (Arosa,  1800  M.  U.  M.)  ausgezeichnete 
Erfolge,  die  in  zwei  dieser  Fälle  mit  Heilung  (wenigstens  bis  jetzt)  gleichbedeu- 
tend sein  dürften , zu  verzeichnen,  v.  Hösslin  endlich  sah  einen  schon  seit 
8 Jahren  bestehenden  recht  schweren  Fall  hauptsächlich  unter  Anwendung  eines 
vegetarianischen  Regimes  in  Heilung  übergehen. 

Wenn  man  nun  sieht,  dass  durch  so  grundverschiedene  therapeutische 
Verfahren  wie  die  vorstehenden  die  Erscheinungen  des  Morbus  Basedowii  sich 
zurückbilden  oder  sogar  in  vollständige  Heilung  übergehen,  darf  man  sich  nicht 
mehr  der  Annahme  verschliesscn , dass  ein  einheitliches  ätiologisches  Moment 
demselben  nie  und  nimmer  zu  Grunde  liegen  kann,  und  wird  dementsprechend 
Bbissaud  beipfliebten,  der  in  der  Basedow' 'sehen  Krankheit  nur  einen  Symptomen- 
complex , hervorgerufen  durch  verschiedene  Factoren , erblickt , was  in  gleicher 
Weise  bereits  für  die  Epilepsie,  Hysterie  und  andere  sogenannte  Neurosen  für 
ausgemacht  gilt.  Wenn  man  auf  diesem  Standpunkte  steht,  wird  man  sich  auch 
erklären  können , warum  in  dem  einen  Falle  die  chirurgische  Behandlung  des 
BASEDOw’schen  Symptomencomplexes  eine  mehr  oder  minder  vollkommene  Hei- 
lung in  dem  einen  Falle  herbeigeführt  hat,  in  einem  anderen  absolut  resultatlos 
verlaufen  ist.  Es  lassen  sich  eben  alle  Fälle  von  Morbus  Basedowii  therapeu- 
tisch nicht  Uber  einen  Kamm  scheren. 

Seit  Abfassung  meines  vorjährigen  Berichtes  habe  ich  von  14  neuen 
operativ  behandelten  Fällen  durch  die  Literatur  Kenntniss  erhalten.  Dieselben 
sind  publicirt  von  Campionniere,  Clktis  (3  Fälle),  Gebster,  Haskovec  (2),  Koch, 
Lake,  G.  Marchaxd,  Mc.  Cosh,  Newton,  Peteksox  und  Tcffier.  Von  diesen  14 
Fällen  soll  in  7 vollständige  Heilung  — Campionxiere,  Curtis  (2  Fälle),  HaSkovec 
(1  Fall),  Lake,  Marchaxd,  Tcffier  — , in  4 Besserung  — Gekster,  Mc.  Cosh, 
Newton,  Peterson  — , in  2 gar  kein  Erfolg,  respective  Rückfall  — Koch  und 
HaSkovec  — und  in  1 tödtlicher  Ausgang  — Curtis  — das  Resultat  gewesen 
sein.  Wie  weit  die  geheilten  Fälle  wirklich  Basedow- Fälle  waren,  lässt  sich  aus 
den  mangelhaften  Angaben  nicht  entscheiden.  Im  Fall  Campionxiere  handelte  es 
sich  nach  Angabe  des  Autors  um  einen  „goitre  exophtalmique  seeondaire“ , im 


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Falle  MarchaND  um  „ quelques  anomalies  acec  ceux  de  goitre  exophtalmique “ und 
im  Falle  Tiffier  um  eine  hochgradige  Trachealstenose  als  Begleiterscheinung.  — 
Ich  führe  diese  Fälle  besonders  an,  um  zu  zeigen,  dass  das  „schablonenhafte“ 
Operiren  bei  Morbus  Basedowii  zu  verwerfen  ist.  Auf  den  gleichen  Standpunkt 
dürften  augenblicklich  auch  die  meisten  Chirurgen  zurückgekommen  sein.  Ai.bkrt 
Hkydknreich  in  Nancy  lässt  sich  in  dieser  Sache,  wie  folgt,  aus:  „Es  dürfte 
sicherlich  übertrieben  sein,  alle  Kranken  mit  Morbus  Basedowii  operiren  zu 
wollen.  Man  beobachtet  Besserungen  und  Heilungen  der  Krankheit  ohne  chirurgi- 
schen Eingriff.  Auf  der  anderen  Seite  ist  die  Operation  nicht  ohne  Gefahr,  und 
selbst  wenn  man  von  den  tödtlich  verlaufenen  Fällen  absieht , besteht  die  Mög- 
lichkeit, dass  die  Operation  keine  Besserung  bringt.  Es  erscheint  demnach  ange- 
zeigt, den  chirurgischen  Eingriff  für  schwere  Fülle  zu  reserviren,  in  denen  die 
medicinische  Behandlung  kein  Resultat  erzielt  hat.  Wenn  Jemand  der  immer  fort- 
schreitenden Krankheit  zu  erliegen  droht , dann  hat  man  ein  Recht , hier  die 
Gefahren  einer  Operation  auf  sich  zu  nehmen,  in  der  Hoffnung,  Heilung  oder 
wenigstens  eine  Besserung  des  Zustandes  herbeizuführen.  Schliesslich  lässt  sich 
noch  unter  der  Bedingung  die  Operation  rechtfertigen,  dass  die  BASEDOW’sche 
Krankheit  von  einer  starken  Dyspnoe  in  Folge  von  Trachealcompression  begleitet 
ist.“  In  ähnlicher  Weise  urtheilt  Drobxik  Uber  die  operative  Behandlung.  Er 
stellt  folgende  Fundamentalsätze  auf:  1.  Die  Kropfoperation  darf  in  jenen  Fällen 
von  Morbus  Basedowii,  welche  ihre  Entstehung  anatomischen  Veränderungen  im 
Gehirn  verdanken,  nur  in  Erfüllung  einer  Jndicatio  vitalis  ausgeführt  werden; 
2.  dieselbe  ist  nur  in  jenen  Fällen  berechtigt,  in  denen  der  ganze  Symptomen- 
complex  auf  retlectorischem  Wege  durch  den  wachsenden  Kropf  hervorgerufen 
wird;  3.  die  Art  bei  der  Operation  ist  von  der  Natur  des  Kropfes  abhängig;  die 
Ligatur  der  Arterien  muss  für  besonders  gefüssreicho  Kröpfe  reservirt  bleiben; 
4.  vor  der  Operation  muss  stets  genau  die  Frage  in  Erwägung  gezogen  werden, 
ob  das  Svmptomenbild  nicht  auf  retlectorischem  Wege  von  anderen  Organen  aus, 
und  zwar  von  der  Nase  oder  den  Genitalien,  hervorgerufen  wird. 

Bezüglich  der  tödtlichen  Chancen  der  Kropfexstirpation  bei  Morbus 
Basedowii  möchte  ich  noch  auf  eine  Statistik  Kocher's  hinweisen,  die  sich  auf 
870  Exstirpationen  bezieht,  llmal  trat  hierunter  der  Tod  ein,  und  zwar  5mal 
nicht  auf  Kosten  der  Operation  und  6mal  in  Folge  derselben.  Unter  diesen  li 
durch  den  chirurgischen  Eingriff  bedingten  tödtlichen  Fällen  befanden  sich  3 
solche  von  Morbus  Basedowii,  mithin  ein  Beweis  dafür,  dass  hier  die  Excision 
ungleich  gefährlicher  ist  als  bei  der  gewöhnlichen  Struma.  — So  viel  über  die 
chirurgische  Behandlung  der  B.ASEDOw’schen  Krankheit. 

Was  für  diese  hier  gesagt  ist.  gilt  in  gleicher  Weise  für  die  Behand- 
lung dieses  Leidens  mittelst  Schilddrüsen präparate.  Während  auf  der  einen  Seite 
eine  Reihe  Autoren  diesem  Verfahren  günstige  Resultate  nachrühmen  — Aden, 
Bograff  (3  Fälle),  de  Cambi,  Hock,  Mikulicz,  Morin,  Silex  (hier  sogar  voll- 
ständige Heilung),  sprechen  sich  andere  Autoren,  gleichfalls  auf  Grund  eigener 
Erfahrungen,  wieder  gänzlich  ablehnend  gegen  die  Anwendung  der  Schilddrüse 
und  ihrer  Präparate  aus  — Costanzo-Gusina  (mehrere  Fälle),  Mc.  Cosh,  Nasse, 
Nielsen,  Sänger,  Stabel  (8  Fälle),  Stieglitz  (3  Fälle),  Taty-Guerin.  — In  den 
günstig  beeinflussten  Fällen  mag  es  sich,  wie  schon  Rosenbkrg  zu  dem  Falle  Hock 
bemerkt,  um  Basedow- Erscheinungen,  bedingt  durch  den  Schilddrüsentumor,  ge- 
handelt haben;  mit  der  Verkleinerung  des  Kropfes  trat  dem  entsprechend  ein  Rück- 
gang desselben  ein.  Ccnningham  (3  Fälle),  Mikulicz  und  Owen  wollen  durch  Ein- 
verleibung von  Thymuspräparaten  Erfolg  gesehen  haben.  Wie  weit  derselbe  durch 
dieses  Verfahren  bedingt  war,  bleibt  vor  der  Hand  noch  unaufgeklärt.  Taty- 
Gcerix  konnten  in  ihrem  Falle  nicht  den  geringsten  Einfluss  constatiren. 

Von  sonstigen  therapeutischen  Methoden  wurden  neuerdings  von  v.  HöSS- 
Lix  vegetarische  Kost,  von  Wilson  kohlensänrehaltige  Kochsalzbäder,  von 
Madison  Taylor  das  bromwasserstoffsaure  Ilyosciu  empfohlen. 


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BASEDOWSCHE  KRANKHEIT. 


Betreffend  die  Symptomatologie  der  Krankheit  liegen  einige  neuere 
Beobachtungen  vor.  PAT1CK  hat  40  Fälle  auf  das  Vorhandensein  des  BttYSOx’scheu 
Zeichens  hin  untersucht  und  constatirt,  dass  dasselbe  bei  einer  grossen  Anzahl 
von  Kranken  vorhanden  war,  jedoch  in  keiner  Weise  für  dieses  Leiden  charak- 
teristisch ist  und  keine  besondere  Bedeutung  für  die  Prognose,  Pathologie,  den 
Sitz  oder  die  Therapie  desselben  besitzt. 

v.  Hosslin  führt  als  neue  oder  wenigstens  in  der  Literatur  nur  vorüber- 
gehend berücksichtigte  Begleiterscheinungen  der  BAsEDOw’schen  Krankheit  an : 

1.  Rhythmische  Schwankungen  der  Pulsfrequenz  (die  Frequenz  des 
Morgenpulses  Ubertriflt  die  des  Abendpulses  umsomehr,  je  höher  die  letztere  war). 

2.  Paroxymale  Tachykardie  und  deren  Ablauf. 

3.  Schwankungen  der  Herzgrösse  und  des  Lumens  der  Ilerzosticu. 

4.  Beziehung  zwischen  Grösse  der  Struma  und  den  paroxysmalen  tachy- 
k .irdischen  Anfällen  (je  schwerer  und  andauernder  der  tacbykardische  Anfall 
war,  umso  kleiner  wurde  die  Struma). 

ö.  Leucoplasia  linguae  und  Abhängigkeit  ihrer  Intensität  von  der 
Schwere  der  BASKoow’schen  Kraukheit. 

Thkilhabek  hat  sich  in  ausführlicher  Weise  mit  den  Beziehungen  zwi- 
schen BASKDOw’scher  Krankheit  und  den  Veränderungen  der  weiblichen  Geschlechts- 
organe beschäftigt.  Auf  Grund  eigener  Beobachtungen  und  der  in  der  Literatur 
veröffentlichten  Fälle  fasst  er  seine  Anschauungen  dahin  zusammen,  dass  solche 
Beziehungen  allerdings  bestehen.  Fs  kann  1.  bei  besonders  hierzu  disponirteu  In- 
dividuen sich  Morbus  Basedowii  entwickeln  in  Folge  von  manchen  Veränderungen 
im  weiblichen  Genitalsystem,  als  da  sind  a)  die  Schwangerschaft,  b)  das  Puer- 
perium, c)  die  Lactation,  d)  alle  diejenigen  Anomalien,  die  zu  starken  Blutver- 
lusten führen,  e)  operative  Eingriffe,  vor  Allem  die  Castration,  und  2.  ruft  der 
Morbus  Basedowii  nicht  selten  Störungen  in  den  weiblichen  Gcschlcchtstheilen 
hervor,  nämlich  Atrophie  des  gesammten  Gcnitalapparates  oder  auch  nur  einzelner 
Theile  desselben. 

Für  das  Verhalten  des  Arztes  bei  Morbus  Basedowii  giebt  Theilhaber 
folgende  Gesichtspunkte  an : 

Mädchen  mit  Morbus  Basedowii  ist  die  Ehe  zu  widerrathen;  auch  Ver- 
heiratete sind  vor  Schwangerschaft  möglichst  zu  warnen.  — Die  von  Häberlin 
ventilirte  Frage  der  Zweckmässigkeit  der  Unterbrechung  der  Gravidität  ist  im 
Allgemeinen  zu  verneinen  ; Berechtigung  hätte  dieser  Vorschlag  nur  bei  Bedro- 
hung des  Lebens  in  Folge  von  besonderer  Schwere  der  Krankheit.  Patientinnen, 
in  deren  Familie  Morbus  Basedowii  vorgekomir.en  ist , oder  die  sonst  ncuro- 
pathisrh  belastet  sind,  ist  das  langdauernde  Stillen  zu  widerrathen.  Die  Atrophie 
der  Genitalien,  die  Amenorrhoe,  die  Endometritis,  Reflexio  etc.  sollten  local  nicht 
behandelt  werden ; geboten  wäre  eine  solche  locale  Behandlung  nur  bei  häufigen 
profusen  Blutungen,  Carcinom,  Ovarialtumoren  etc. 

Einen  Beitrag  zur  Frage  nach  den  atypischen  Formen  des  Morbus 
Basedowii  (forme  fruste)  giebt  Maybach.  — Die  Casuistik  bereichern  durch 
eine  Reihe  selbst  beobachteter  Fälle  Ditisheim  und  Pässlkb.  — Baldwin  be- 
richtet von  4 Fällen,  in  denen  sich  nach  Ablauf  eines  Morbus  Basednwii  die 
Erscheinungen  eines  Myxödems  einslellten,  Babinsky  über  zwei  ähnliche  Fälle,  in 
denen  beide  Krankheiten  gleichzeitig  bestanden.  Mattox  ferner  sah  in  einem 
Falle  Coincidenz  von  hypertrophischer  Lebercirrhose  und  Morbus  Basedowii  und 
meint,  dass  die  Ursache  für  letztere  Krankheit  in  einem  cirrhotischem  Processe 
der  Schilddrüse  zu  suchen  sei.  Trenel  berichtet  Uber  das  gleichzeitige  Auftreten 
von  Tabes,  allgemeiner  Paralyse  und  Morbus  Basedowii. 

Auf  Grund  einer  umfangreichen  30jährigen  Erfahrung  unternimmt  es 
Pribram,  die  Prognose  der  BAsKnow’sehcn  Krankheit  möglichst  günstiger  hinzu- 
stelleu , als  es  die  Lehrbücher  im  Allgemeinen  tbun.  Er  hat  in  seiner  Clientei 
ausserhalb  des  Krankenhauses  die  Erfahrung  gemacht , dass  bei  der  grossen 


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BASEDOWSCHE  KRANKHEIT. 


01 


Mehrzahl  dieser  Fälle,  selbst  bei  sehr  schweren,  von  bereits  jahrelangem  Bestehen, 
eine  dauernde  Rückbildung  der  Cardinalsymptome  eintrat,  und  will  demgemäss  die 
Prognose  nicht  so  sehr  von  der  Schwere  der  vorhandenen  primären  und  secun- 
dären  Krankheitserscheinungen,  als  vielmehr  von  dem  Masse  und  der  Dauer  der 
Sorgfalt  und  der  Pflege  abhängig  machen,  welche  dem  Kranken  entgegengebracht 
wird.  Und  dies  mit  vollem  Recht!  Von  completer  Heilung  möchte  PftlBRAM  hierhei 
jedoch  nicht  sprechen,  wohl  aber  von  hochgradigen  Besserungen,  die  den  Er- 
folgen bei  operativem  Verfahren  gleich  kommen.  Er  glaubt  daher,  „dass  mau 
dem  Procentsatz  der  durch  Operation  erzielten  Besserungen  und  Genesungen  den 
Procentsatz  bei  längerer  und  sorgfältiger  Pflege  ohne  Operation  dauernd  Genesener 
und  die  geriuge  Sterbeziffer  solcher  Fälle  vergleichend  entgegenstellen  müsse, 
wenn  man  daran  geht,  die  Indication  der  Operation  zu  erwägen  . . . , dass  man 
bei  der  Auswahl  der  einer  versuchsweisen  Operation  zu  unterziehenden  Fälle  jene 
ausscheiden  müsse,  bei  denen  keine  oder  nur  eine  geringe  parenchymatöse  Schild* 
drüsenvergrösscrung  vorhanden  ist,  dann  jene,  bei  denen  schwere  hereditäre 
neuropathische  Belastung,  schwere  Betheiligung  des  Herzens  mit  secundären,  sehr 
schweren  Erscheinungen  der  Hcrzinsufficienz  vorhanden  ist:  endlich  jene,  bei 
denen  die  Umstände  eine  sorgfältige  und  anhaltende  hygienische  Behandlung  ge- 
statten*4. Den  gleichen  Standpunkt  wie  PftlBRAM  vertritt  auf  Grund  eigener  Beob- 
achtungen auch  v.  Hösslix. 

„Wenn  wir  sehen,  dass  auch  die  schwersten  Symptome  des  Morbus 
Basrdowii  sich  spontan  völlig  zurückbildcn  können  , dass  manchmal  auch  ohne 
jeden  therapeutischen  Eingriff  eine  rapide  Besserung  eintritt,  so  fragt  es  sich, 
ob  wir  der  in  letzter  Zeit  so  gerühmten  Thyreoidektomie  einen  anderen  Werth 
heimessen  dürfen  als  der  Ovariektomie  und  manchen  anderen  Operationen  hei 
der  Hysterie.  Die  Baskdow’scIic  Krankheit  hat  ungeheuer  viel  Gemeinschaftliches 
mit  der  Hysterie;  wenn  sie  auch  gewiss  als  eine  Neurose  sui  generis  anzusehen 
ist  und  es  ganz  falsch  wäre,  sie  mit  der  Hysterie  in  einen  Topf  zu  werfen,  so 
müssen  wir  uns  doch  in  der  Kritik  therapeutischer  Erfolge  hei  den  beiden  Krank- 
heiten gleich  skeptisch  verhalten.“ 

Li t eratu r (Ende  1894  bis  Anfang  1896) : Abram,  J.  Hall,  Exophthalmic goitre. 
Lautet.  1895,  16.  November,  Nr  3768.  — P.  Acchiote,  La  Symptomatologie  de  la  maladie 
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izecui 


Dgle 


62 


BASEDOWSCHE  KRANKHEIT. 


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Gray  und  Stewart,  On  the  surgical  treatment  of  Graves'  disease.  Lancet.  1895,  13.  April.  — 
L.  HaSkovec,  Nemoc  Basedowora,  jeji  lecettt  a pridinoslovi.  Prag  1695.  A.  Kohut.  — 
L HaSkovec,  La  maladie  de  Basedow ; son  traitement  et  sa  pathogenie.  Gaz.  des  höp. 
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arlicular  rhumatism  and  mitral  Stenosis . Glasgow  med.  Jonrn.  1895,  XL11I,  Juni,  pag.  446.  — 
A.  Heydenreich,  Le  traitement  chirurgical  de  la  maladie  de  Basedow.  Semaine  mW. 
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11.  August.  — Hi  t schm  an  n,  Beitrag  zur  Casuistik  des  Morbus  Basrdowii.  Wiener  klin. 
Wochenschr.  1895,  Nr.  49  u.  50.  — van' t Hoff,  Morbus  Basedowii.  Weekblad  v.  het.  Nederld. 
Tijdschr.  voor  Geneeskunde.  1895,  I,  Nr.  15-  — R.  v.  II  das  1 in,  Neues  zur  Pathologie  des 
Morbus  Basedowii.  Münchener  med.  Wochenschr.  1896,  Nr.  2.  — Jaboulay,  Goitre  exoph • 
thalmique.  Med.  moderne.  1894.  pag.  275.  — E.  Jan  sei  me,  Sur  la  coexistence  da  goitre 
exophthalmique  et  de  la  scUrodermie.  Mereredi  med.  1895,  Nr.  1.  — Jessop,  Three  roses 
of  exophthalmic  goitre  with  severe  ocular  lesions.  (B.)  Lancet  1895,  23.  November,  Nr.  3769.  — 
Jouin,  Pathogenie  uttrine  de  la  maladie  de  Basedow.  Bull.  med.  1895,  Nr.  30.  — Koch, 
Weekbl.  v.  het.  Nederld.  Tijdschr.  voor  Geneeskunde.  1895,  II,  Nr.  4.  — Kocher.  Die  Schild- 
drüsen function  im  Lichte  neuerer  Behandlungsmethoden  verschiedener  Kropfforraen.  Correspon- 
denzbl.  f.  Schweizer  Aerzte.  1895.  Nr.  1 und  2;  Allg.  med.  Central-Ztg.  1895.  Nr.  45.  — 
R.  Koegel,  lieber  den  Morbus  Basedowii  und  seine  Beziehung  zur  Epilepsie.  Dissert.  Berlin 
1895.  — R-  Lake,  Entfernung  des  rechten  Schilddrüsenlappens  wegen  Basedowscher  Krank- 
heit. Internat.  Centralbl.  f.  Laryng.  1895,  April,  Nr.  10.  — Lancereaux.  Des  trophonferoses 
des  SXtrhnitis.  La  trophonivrose  ac romegal ique ; sa  coexistence  avsc  le  goitre  exophthal- 
mique. Semaine  mW.  1895,  Nr.  8- — Mabille,  s.  Brissaud. — Mnrchant,  s.  Tuff  i er. — 
A Maude,  Mental  Symptoms  in  relation  to  exophthalmic  goitre.  Med.  Press  and  Circ.  1895. 
LX,  pag.  228;  Brit  med.  Journ.,  28.  September,  Nr.  1813,  pag.  766.  — I Mauas,  Glandula 
thyreoidea  und  Uypophysis  cerebri  mit  Hinweis  auf  die  mit  denselben  in  Beziehung  stehen- 
den Krankheitserscheinungen.  Inaug.-Dissert.  Greifswald  1895  — 1.  Mavbanm,  Ein  Beitrag 
zur  Kenntniss  der  atypischen  Formen  der  Basedowschen  Krankheit.  Zeitschr.  f.  klin.  Med. 
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Mikulicz,  Die  chirurgische  Behandlung  der  Basedow'schen  Krankheit.  Deutsche  med.  Ztg. 
1895,  Nr.  34.  — H.  Mignon,  Contribution  äl'etude  de  l'ltiologie  du  syndrome  de  Basedow. 
Paris  1895. — Mob  ins,  Ueber  Morbus  Basedowii.  Zusammenstellung.  Schmidt’s  Jahrb. 
CCXLV,  pag.  135.  — Morin  . Schrifll.  Mitth.  — Nasse.  XXIV.  Congr.  d.  Chir.  1895.  — 
R.  S.  Newton,  Case  of  exophthalmic  goitre,  thyroidectomie.  Boston,  med.  and  surg.  Journ. 

1894,  19.  April.  — ()’ Dono  van,  Case  of  exophthalmic  goitre  treated  during  two  years 

with  tincture.  of  strophantus.  Maryland  med.  Journ.  1895,  5.  Januar.  — A.  R.  Oppen- 
heimer, Myxoedema  and  exophthalmic  goitre  in  sisters  etc.  Journ.  of  nerv,  and  ment, 
diseases  1895,  Nr.  4.  — I).  Owen,  Further  notes  on  the  treatment  of  a case  of  ex- 
ophthalmic goitre.  Brit.  med.  Journ.  1895,  6.  Februar.  — Pass ler,  Erfahrungen  über  die 

ßascdow'sche  Krankheit.  Deutsche  Zeitschr.  f.  Nervenhk.  1895.  VI,  Heft  3 u.  4.  — H.  Pa- 
trick, Bryson's  Symptom  in  Graves ’ disease.  New  York  med.  Journ.  1895,  9.  Februar  — 
Fr.  Peterson,  Exophthalmic  goitre  eured  by  thyroidectomy.  New  York  med.  Journ.  1894. 
24.  November.  — Pique,  s.  Tuffier.  — Pfibram,  Demonstration  eines  Mannes  mit 
Morbus  Basedowii.  Wiener  klin.  Wochenschr.  1895,  Nr.  2;  Zur  Prognose  des  Morbus  Base- 
dowii. Wiener  klin.  Rundschau.  1895.  — I.  Putnam,  Modern  views  of  the  nature  and 
treatment  of  exophthalmic  goitre.  Boston  med.  and  surg.  Journ.  1895,  August,  CXXXIII, 
pag.  131.  — R6naut,  s.  Brissaud.  — Sänger,  Münchener  med.  Wochenschr.  1895. 
Nr.  5.  — H.  Salomonsohn  , Bemerkungen  über  Exophthalmus.  Deutsche  med.  Wochenschr. 

1895,  Nr.  28.  — Scanes  Spicer,  Graves'  disease  and  nasal  polype.  Philadelphia  med. 
Journ.  18JM,  17.  November,  — .Silex,  Geheilter  Morbus  Basedowii.  Deutsche  med.  Wochenschr. 
189',  Ver.-Beil.  Nr.  6.  — Ch.  Simonds,  Case  of  exophthalmic  goitre.  Brit.  raed.  Journ. 

1894,  15.  December.  — Soukhanow,  Intellectuelle  Storungen  im  Verlaufe  der  Basedow- 
schen Krankheit.  (Russ.)  Wratsch.  1895,  Nr.  34.  — Sternberg,  Wiener  klin  Rundsehan. 

1895,  Nr.  49. — L Stieglitz,  Die  Sehilddrnsentherapie  in  der  Nervenheilkunde.  New  York 


BASEDOWSCHE  KRANKHEIT,  — BLAUSÄURE. 


63 


med.  Monatsschr.  1895,  Juni.  — Taty -G  u6rain , s.  Brissaud.  — A.  Theilhaber,  Die 
Beziehungen  der  Basedow’ sehen  Krankheit  zu  den  Veränderungen  der  weiblichen  Gescblechts- 
organe.  Arch.  f.  Gyn.  XXIX,  Heft  1.  — Tuffier,  Traitement  chirurgical  du  goitre  ex - 
ophthalmique.  Gaz  m6d.  de  Paris.  1895,  Nr.  12;  Bull  med.  1895,  Nr  14.  — C.  Usiglio, 
Sui  t umort  dtlla  tiroide  t loro  cura.  Milano.  — Vlaccos,  De  la  Chirurgie  du  goitre  et 
de  sei r constquences  immMiates  et  iloignies.  Paris.  — Voisin,  Goitre  ex ophthalmique  trls 
rapidemmt  otneliore  par  la  m/dication  thyroilienne.  Revue  neurol.  1895,  Nr.  1 : Semaine 
mfed.  1894,  pag.  472.  — A.  Voss  ins,  Ein  Fall  von  Forme  fruste  des  Morbus  Bascdou^ii. 
Beitr.  zur  Augenhk.  1895,  Heft  XVIII.  — Weiss,  8.  Sternberg.  — Claude  Wilson, 
Saline  baths  «n  Graves * disease.  The  Practitioner.  1895,  September.  Busch  an. 

Bismal,  Wismut  h salzderMethyl  endi  ga  Ilussä  ure, 4 C,6H|,  O]0  + 
+ 3 Bi  (OH),.  Aus  Methylendig&llussäure,  einem  Condensationsproduct  aus  Gallus- 
säure, und  Formaldchyd  ('s.  Tannoform)  hat  E.  Merck  durch  Digestion 
während  längerer  Zeit  mit  frisch  gefülltem  Wismuthhydroxyd  und  bei  gelinder 
Wärme  das  Salz  der  obigen  Zusammensetzung  hergestellt.  Dieses  Wismuthsalz, 
das  Bismal,  ist  ein  graublaues,  sehr  voluminöses  Pulver,  welches  von  Alkalien 
mit  gelbrother  Farbe  aufgenommen  und  aus  diesen  Lösungen  durch  Säuren  wieder 
ausgefällt  wird. 

0 EKELE  empfiehlt  es  als  Adstringens  besonders  bei  langwierigen  Diarrhoen, 
die  auf  Opiate  entweder  gar  nicht  oder  nur  vorübergehend  stillhar  sind , z.  B. 
bei  Tuberkulose.  Er  gab  es  in  Einzeldosen  von  0,1 — 0,3  Grm.,  3 — 4mal  täglich 
1 Pulver  zu  nehmen. 

Literatur:  E.  Merck,  Bericht  über  das  Jahr  1895.  Loebisch. 

Blausäure.  Für  die  antidotarische  Behandlung  der  Blausäure- 
vergiftung liegen  zwei  neue  Vorschläge  vor,  die  beide  nicht  blos  die  Unschäd- 
lichmachung des  Giftes  in  den  ersten  Wegen,  sondern  auch  die  Entgiftung  des 
Organismus  nach  der  Resorption  in's  Auge  fassen.  Der  eine  dieser  Vorschläge  be- 
zweckt eine  Entgiftung  in  der  Weise,  wie  die  Entgiftung  bei  kleinen  Dosen  Blausäure 
im  Organismus  geschieht,  in  welchem  das  Eiweiss  vermittelst  seines  Sulfidschwefels 
aus  Cyanverbindnngen  Thiocvansänre  bildet,  und  setzt  an  Stelle  des  nur  allmälig 
und  zu  langsam  antidotarisch  wirkenden  Eiweiss  das  Natriumthiosulfat,  das, 
wie  das  seiner  eigenen  intensiv  giftigen  Wirkung  wegen  als  Antidot  nicht  brauch- 
bare Schwefelnatrium,  im  Blute  vorhandene  Blaugäure  bis  zu  einem  gewissen 
Grade  unschädlich  zu  machen  im  Stande  ist.  Versuche,  das  Natriumthiosulfat 
durch  organische  Schwefelverbindungen  (Methylmercaptan,  Aethylsulfid,  xanthogen- 
saures  Natrium,  thioglykolsaures  Natrium,  carbaminthioglykolsaures  Natrium, 
Schwefelkörper  des  Spargels)  zu  ersetzen,  haben  zu  negativen  Resultaten  geführt. 
Eine  gewisse,  aber  dem  Natriumthiosulfat  durchaus  nicht  gleichkommende  anti- 
dotarische Wirksamkeit  kommt  dem  Cystin  und  Cysteln  zu. 

Am  besten  zeigt  sich  der  antidotarische  Effect  des  Natriumthiosulfats, 
wenn  die  Blausäure  innerlich  und  das  Antidot  subcutan  oder  intravenös  beige- 
bracht wird,  wo  es  gelingt,  bei  Kaninchen  die  3 — 4 fache  Menge,  intravenös  sogar 
die  5fache  Menge  der  bei  interner  Einführung  constant  letalen  Dosis  unschädlich 
zu  machen.  Etwas  weniger  günstig  stellen  sich  die  Resultate  bei  subcutaner  Ein- 
führung der  Blaugäure  und  intravenöser  Application  von  Natriumthiosulfatlösung, 
wo  es  gelingt,  der  2 — 3fachen  letalen  Dosis  Herr  zu  werden.  Bei  gleichzeitiger 
subcutaner  Einführung  von  Gift  und  Gegengift  ist  ein  Erfolg  nicht  zu  consta- 
tiren,  da  das  Thiosulfat  weit  langsamer  als  die  Blausäure  resorbirt  wird ; da- 
gegen gelingt  Lebeusrettung  bei  einfach  letaler  Dosis,  w-enn  man  das  Thiosulfat 
etwas  vor  der  Einführung  der  Blausäure  unter  die  Haut  spritzt.  Bei  gleichzeitiger 
Einführung  von  Gift  und  Gegengift  in  den  Magen  kann  die  l1,» fache  letale 
Menge  unschädlich  gemacht  werden. 

Schon  vor  der  Befürwortung  des  Natriumthiosulfats  durch  Lang  >)  sind 
von  Antal  die  Kobaltsalze,  insbesondere  das  Kobaltnitrat  2)  als  Antidot  empfohlen 
worden , um  die  Blausäure  im  Blute  in  uugiftiges  Kobaltcyanid  oder  Kobalt- 


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tu 


BLAUSÄURE.  — BROMHAMOL  UND  JODHAMOL. 


cyankalinm  überzuftlhren.  Für  die  Bedeutung  dieses  Antidots  sprechen  nicht  nur 
die  Versuche  Axtal’s,  sondern  auch  die  von  Lang  ausgefübrtcn  Controlversuche. 
Bei  der  gleichzeitigen  Einführung  von  Gift  und  Gegengift  in  den  Magen  scheinen 
sogar  die  Kobaltsalze  vermöge  grösserer  Schnelligkeit  der  Wechselzersetzung  von 
Cyankalium  und  Kobaltnitrat  dem  Natriumthiosulfat  überlegen  zu  sein,  insofern 
es  bei  Anwendung  stark  diluirter  Lösungen,  die  einen  gründlicheren  Contact  von 
Gift  und  Gegengift  ermöglichen,  die  2 — 2'/,fache  Menge  Blausäure  zu  überwinden 
gelang.  Für  subcutane  und  intravenöse  Application  eignet  sich  aber  Natriumthio- 
sulfat besser,  da  weit  grössere  Mengen  in  das  Blut  gebracht  werden  können, 
da  die  Giftigkeit  dieses  nicht  höher  als  die  der  indifferenten  Salze  überhaupt  ist 
und  bei  Thieren  subcutan  2,9  und  intravenös  1,3  Grm.  pro  Kilo  keine  Zeichen 
von  Unwohlsein  hervorrufen , während  von  Kobaltsalzen  schon  0,3 — 0,6  Grm. 
pro  Kilo  in  1“  0iger  Lösung  den  Tod  herbeifuhren.  Dass  die  von  Antai.  befür- 
wortete ’/iVoige  Lösung  absolut  ungiftig  sein  soll , ist  kaum  als  richtig  anzu- 
sehen. Wohl  zu  beherzigen  dürfte  deshalb  der  LANG’sche  Vorschlag  sein . in 
Laboratorien,  Ateliers  und  Werkstätten,  wo  mit  Cyankalium  hantirt  wird,  5 bis 
10°  „ige  Natriumthiosulfatlösung  nebst  einer  I’RAVAZ'schen  Spritze  für  vorkom- 
mende Gefahr  vorräthig  halten  zu  lassen.  Jedenfalls  wird  man  aber  wohl  tliun, 
die  interne  und  die  subcutane  Anwendung  miteinander  zu  verbinden.  Der  Grund 
der  Entgiftung  durch  Natriumthiosulfat  bei  Blausäurevergiftung  ist  übrigens  nicht 
als  ein  ausschliesslich  chemischer  zu  betrachten,  da  Mischungen  letaler  Giftmeugen 
mit  Thiosulfat  keineswegs  ungiftig  werden.  ObBchon  nascirender  Sauerstoff  ausser- 
halb des  Organismus,  z.  B.  bei  Gemengen  mit  Wasserstoffsuperoxyd,  die  Rhodan- 
bildung wesentlich  beschleunigt  und  frisches  Lebergewebe  (dagegen  nicht  Blut) 
in  dem  gleichen  Sinne  wirkt,  müssen  im  Organismus  noch  andere  Functionen  im 
Spiele  sein.  Denn  einerseits  begünstigen  ausserhalb  des  Körpers  auch  einzelne 
Stoffe,  bei  denen  es  sich  nicht  um  Sauerstoffübertragung  handelt,  z.  B.  Magnesium- 
sulfat  und  Calciumchlorid , die  Rhodanbildung,  und  andererseits  wird  im  Orga- 
nismus mehr  Blausäure  entgiftet,  als  bei  fortdauernder  Zuleitung  von  Sauerstoff 
bei  40°  im  Reagenzglase  unwirksam  gemacht  wird. 

Literatur:  S.  Lang.  Studien  über  Entgiftungstherapie.  Ueber  Entgiftung  der 
Blausäure.  Aus  dem  pharmakol.  Institute  der  deutschen  Universität  in  Prag.  Arch.  f.  ciperim. 
Rath.  1895,  XXXVI,  pag.  75. — 3)  I.  Antal,  Kobaltnitrat,  ein  Gegengift  bei  Cyanvergiftung. 
Pharm.  Ztg.  f.  Russland  1894,  pag.  518.  Husemann. 

Boral,  Aluminium  borico-t artaricum , ein  von  M.  Leuchter  für 
Afrika  dargestelltes  Aluminiumpräparat,  welches  den  Aequafor  passiren  kann  und 
haltbar  bleibt.  Es  ist  wasserlöslich  und  wurde  von  P.  Koppel  zur  desinficirenden 
Ausspülung  bei  eiternden  Mittelohrerkrankungen  und  als  10°/0ige  reizlose  Salbe 
bei  Ekzemen  des  Gehörganges  empfohlen. 

Literatur:  M.  Leuchter,  Vortrag  in  der  66.  Versammlung  deutscher  Natur- 
forscher und  Aerzte  in  Wien  1894.  — P.  Koppel,  Therap.  Mnnatsb.  November  1895 

Loe  bisch. 

Borol,  ein  Gemisch  von  Borsäure  und  Natriumbisulfat.  — r. 

Bromhämol  und  Jodhämol.  Das  Hämoglobin  vermag  sich  nach 
Koiiert  mit  verschiedenen  Elementen  zu  eigenartigen  Substanzen  zu  verbinden, 
welche  physikalisch  und  chemisch  in  ihren  Eigenschaften  vom  Blutfarbstoff  ab- 
weichen.  Solche  Substanzen  sind  auch  Jodhämol  und  Bromhämol.  Bringt  man 
freies  Jod,  in  Alkohol  gelöst,  tropfenweis  mit  einer  wässerigen  Lösung  von  Hämo- 
globin oder  von  Blut,  z.  B.  vom  Rind,  dessen  Stromata  man  entfernt  hat,  zu- 
sammen, so  wird  Jodhämol  ausgefällt  und  darüber  bildet  sich  eine  fast  farblose 
Flüssigkeit.  Das  unter  dem  Namen  Iiaemolum  jodatum  von  E.  Merck  in  den 
Handel  gebrachte,  aus  Rinderblut  dargestellte  Präparat  enthält  16,6°/„  Jod,  wo- 
von die  weitaus  grösste  Menge  chemisch  fest  gebunden  ist.  Dieses  Jodhämol  ist  ein 
braunes  Pulver,  welches  den  Magen  zum  grössten  Theile  ungelöst  durchwandert, 


BROM  H AMOL  UND  JODHÄMOL.  — BRYONIN. 


65 


um  erst  im  Dünndarm  zur  Lösung-  und  Resorption  zu  kommen.  Das  Präparat  ent- 
faltet alle  Wirkungen  des  Jodkalium  in  bedeutendem  Grade  und  verdient  An- 
wendung bei  tertiärer  Syphilis,  bei  Scrophulose,  bei  chronischer  Blcivergiftnug,  bei 
Asthma,  Psoriasis  etc.  Die  Darreichung  erfolgt  am  besten  in  Pillen  nach  folgendem 
Recept : 

Rp.  Haemoli  jodati  10,0 

Succi  Liquiritiae  depnrati  q.  sat.  ut  fiant 
lege  artis  pilnlae  Nr.  100. 

D.  S.  3mal  täglich  2 — 3 Stück  während  des 
Essens  zu  nehmen. 

Der  Vorzug  des  Präparates  vor  dem  Jodkalium  besteht  zunächst  darin, 
dass  nicht  der  grösste  Tbeil  der  eingegebenen  Dose  rasch  durch  den  Harn  den 
Körper  wieder  verlässt,  sondern  erst  aus  seiner  Eiweisgbindung  abgespalten  werden 
muss,  ehe  eine  Ausscheidung  möglich  ist.  Dadurch  wird  die  Wirkung  zwar  nicht 
intensiver,  aber  extensiver.  Weiter  hat  das  Präparat  bei  Scrophulose  den  Vor- 
theil, eine  Combination  von  Jod  und  Eisen  vorzustellen,  welche  weit  resorbirbarer 
ist  als  die  gewöhnlichen  Jodeisenpräparate,  und  die  Verdauungsorgane  weniger 
als  diese  belästigt.  Ausgedehnte  klinische  Versuche  liegen  bis  jetzt  noch  nicht 
vor,  sind  aber  im  Interesse  der  Sache  erwünscht. 

Ganz  analog  wie  Jodhämol  lässt  sich  nun  auch  ein  Bromhämol  her- 
steilen, wenn  man  wässerige  Lösungen  von  Riuderblnt,  aus  denen  die  Stromata 
entfernt  worden  sind,  mit  Bromwasser  fällt.  Während  jedoch  die  Jodfällung  stets 
einen  sehr  reichlichen  Jodgehalt  aufweist,  ist  der  Gehalt  der  Bromfällung  an  Brom 
ein  sehr  geringer.  In  Folge  dessen  ist  das  Präparat  zur  Behandlung  der  Epilepsie, 
wo  grosse  Bromdosen  erforderlich  sind , ganz  unbrauchbar.  Wo  jedoch  kleine 
Dosen  von  Brom  längere  Zeit  hindurch  neben  einer  allgemein  tonisirenden  Be- 
handlung erwünscht  sind,  da  kommt  das  Bromhämol  wohl  in  Betracht.  Es  wird 
von  E.  Mekck  unter  dem  Namen  Haemolum  bromatum  in  den  Handel  gebracht 
und  istanalog  dem  Jodhämol  zu  verordnen.  Eine  klinischo  Prüfung  dieses  Präparates 
ist  in  der  Nervenklinik  des  Dr.  Holst  in  Riga  vorgenommen  worden.  Der  Bericht 
darüber  ist  im  Ccntralbl.  f.  Nervenhk.  u.  Psych.,  1896,  Nr.  3,  soeben  erschienen. 

Robert. 

Bryonin,  c48  Hao  0, , ein  in  der  Wurzel  von  Bryonia  alba  neben 
Bryonidin  vorkommendes  Glykosid.  Gelbliches,  stark  bitter  schmeckendes,  amorphes 
Pulver,  das  sieh  in  Wasser  und  Weingeist  leicht  löst.  Das  leicht  zersctzliche 
Präparat  ist  unter  Luftabschluss  an  einem  trockencu  Orte  aufzubewahren.  Nach 
J.  M.  Shallee  wirkt  Bryonin  stark  reizend  auf  die  Magendarmschh-imhaut ; es 
wirkt  daher  als  energisches  Catharticum,  welches  überdies  auch  noch  die  Harn- 
secretion  steigert.  Er  empfiehlt  es  in  allen  Fällen  von  Wassersucht  und  Con- 
gestivzuständen  der  Leber,  insbesondere  aber  bei  chronischen  Entzüudungszuständen 
der  serösen  Membranen  und  den  davon  abhängigen  Schmerzen.  Man  verordnet 
das  Mittel  zweckmässig  in  Form  von  Grauulis,  deren  jedes  1 Mgrm.  llryouin 
enthält,  und  lässt  davon  alle  2 Stunden  1 Stück  nehmen,  bis  ausreichende  Stuhl- 
entlcerung  eingetreten  ist,  später  reicht  man  2 — 3mal  täglich  1 Stück.  Bei  kräftigen, 
an  habitueller  Verstopfung  leidenden  Patienten  können  diese  Gaben  um  1 oder 
2 Stück  erhöht,  bei  schwächlichen  Kranken  entsprechend  vermindert  werden. 

Literatur:  J.  M.  Shaller,  The  Alkaloid.  1894,  I,  pag.  155;  Amer.  Med.  Surg. 
Bull.  1895,  pag.  36.  — E.  Merck,  Bericht  über  das  Jahr  1895-  Loebiach. 


5 

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Eucyctop.  Jahrbücher  VI. 


Canadinum  hydrochloricum,  c,0h„  no4.hci.  Da»  Alkaloid  Canadin 

kommt  neben  dem  Berberin  und  Hydrastinin  in  der  Wurzel  von  Hydrastis 
Canadensis  vor.  Das  salzsaure  Salz  bildet  farblose,  mit  der  Zeit  sich  gelb 
färbende  und  in  Wasser  schwer  lösliche  Krystalle.  Nach  den  Untersuchungen  von 
Kuno  v.  Bl'NGE  bewirken  grosse  Dosen  von  Canadin  bei  Warmblütern  anfangs 
psychische  und  motorische  Reizerscheinungen,  denen  bald  Lähmungserscheinungen 
folgen , ferner  ruft  es  heftige  Darmbewegungen  hervor  und  erzeugt  Durchfall. 
Der  Blutdruck  wird  durch  Canadin  im  Gegensatz  zu  Hydrastinin  nicht  beeinflusst ; 
auch  auf  den  Uterus  übt  Canadin  keinen  Einfluss  aus,  wohl  aber  wirkt  es  giftig 
auf  die  Föten,  die  hierdurch  zu  heftigen  Bewegungen  veranlasst  werden,  während 
die  Uteruswand  an  sich  völlig  unbeweglich  bleibt.  Auf  das  Herz  wirken  kleine 
Dosen  nicht  typisch  ein,  grössere  bewirken  Arhythmie  der  Herzbewegungen.  Am 
Menschen  wurde  das  Alkaloid  noch  nicht  versucht. 

Literatnr:  E.  Schmidt,  Pharm.  Ccntralh.  1891,  pag.  607.  — Kuno  v.  Bunge, 
Arbeiten  des  pharmakologischen  Instituts  zu  Dorpat.  1895,  Heft  11  und  lü.  Loebisch 

Cantharidin  zur  innerlichen  Darreichung  empfiehlt  neuerdings 
Freuue.vberg  bei  cystischen  Beschwerden  gonorrhoischen  Ursprunges  zur  ver- 
suchsweisen Anwendung.  Von  56  Fällen  kamen  32  zur  völligen  Heilung.  Es 
wurde  in  folgender  Weise  gegeben:  Cantharidin  (Merck)  O'OOl,  Alkohol  ad 
solvend.  10,  Aq.  d.  ad  lOO'O,  3 — 4mal  täglich  1 Tbeclöffel.  Tritt  nicht  in  den 
ersten  3 — 4 Tagen  deutliche  Besserung  ein,  so  gebe  man  das  Mittel  nicht  weiter, 
ln  diesen  Dosen  treten  geschlechtliche  Erregungen,  Albuminurie  nicht  auf;  als 
Nebenwirkungen  wurden  nur  je  einmal  Hautjucken,  masern  förmiges  Exanthem 
und  vorübergehende  Rückenschmerzen  beobachtet.  Ausgeschlossen  ist  Cantharidin 
nur  in  jenen  Fällen,  wo  überhaupt  von  inneren  Mitteln  nichts  zu  erwarten  ist, 
also  z.  B.  bei  älterem  Residualharn.  Das  Mittel  ist  sehr  billig.  Gennaeo  Pkt- 
teki'TI  bat  unter  3 Fällen  sicher  nachgewiesener  Lungentuberkulose  durch 
Injectionon  mit  der  LlKBttEICH’schen  Lösung  von  cantharidinsaurem  Kali  bei 
zweien  eine  völlige  Heilung,  beim  dritten  erhebliche  Besserung  erzielt.  Die  Be- 
obachtung erstreckte  sich  auf  3 Jahre.  Albuminurie  trat  nie  auf,  Urobilin-Aus- 
scheidung in  grösserer  Menge  bei  den  ersten  5 Injectionen.  0.  Liebreich  be- 
richtet über  neuere  günstige  Erfahrungen,  die  er  mit  dem  Cantharidin  bei 
Lupus  und  Tuberkulose  gemacht  hat.  Diese  Erfolge  bestätigen  seine  Theorie 
des  Nosoparasitismus , welche  für  die  Entstehung  des  Tuberkelbacillus  und  die 
durch  ihn  entstehende  Schädigung  schon  das  Bestehen  einer  Erkrankung  voraus- 
setzt. Beim  wahren  Parasitismus  kann  die  Zelle  schon  allein  durch  Vernichtung 
des  Parasiten  gesunden.  Bei  Nosoparasitismus  reicht  die  Abschwächung  oder 
Tödtuug  des  betreffenden  Parasiten  keineswegs  zur  Heilung  hin;  diese  ist  nur 


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CANTHARIDIN.  - CARBOLSÄUREVERGIFTUNG. 


67 


möglich,  wenn  die  Lebensthätigkeit  der  Zelle  gehoben  wird.  Bei  Lupus  und  der 
Kelilkopfluberkulosc  tritt  eine  sichen?  Besserung  ein.  So  wurde  ein  kleiner  Lupus 
vuly.  durch  42  Dosen  (zusammen  = 8‘38  Mgrm.)  ohne  Narbenbildung  geheilt.  Die 
Nieren  zeigten  sich  bei  einem  hochgradig  phthisiseben  Mädchen  mit  Lupus,  welche 
Canthnridin  während  2'/s  Jahre  erhalten  hatte,  bei  der  Section  nach  genauesten 
Untersuchungen  (Hanskmann)  normal.  Doch  muss  genau  beobachtet  und  bei  Nieren- 
reizungen das  Mittel  ausgesetzt  werden.  Auch  bei  Sklerodermie  und  IStyriasis 
rubra  pilaris  sah  er  gute  Erfolge.  Liebreich  wendet  das  Canthnridin  in  letzterer 
Zeit  nicht  mehr  in  Form  von  subcutnncn  Injectionen  an,  sondern  per  os.  Die  zu 
innerlichem  Gebrauch  bestimmte  Lösung  wird  folgeudermassen  hergestellt:  Man 
löse  genau  gewogenes  0'1  Grm.  Cant/iaridtnum  crystallisatum  in  500  Ccm. 
Tinctura  Aurantii  corticis.  Man  verfährt  am  besten  so,  dass  man  zuerst  0-l  Grm. 
in  300  Ccm.  der  Tinctur  bei  massiger  Wärme  in  einem  * s Literkolben  auflöst 
und  nach  dem  Abkuhlen  auf  */3  Liter  auffüllt.  Die  Lösung  wird,  wenn  der 
Alkoholgehalt  der  Tinctur  richtig  ist,  vollkommen  klar.  Die  Lösung  darf  den 
Patienten  nicht  selher  in  die  Hand  gegeben  werden.  Zum  Gebrauch  werden  je 
nach  dem  Falle  — '/t — 1 Ccm.  der  Lösung  aus  einer  Pravazspritze  gemessen 

in  ein  kleines  Glas  Wasser  gegossen,  das  etwa  20 — 30  Ccm.  Wasser  enthält.  Die 
opatescirende  Lösung  hat  einen  angenehmen  Geschmack,  man  lässt  die  Patienten 
etwas  Wasser  nachtrinken  und  einen  Bissen  Brot  nachessen. 

Literatur:  A.  Freudenberg,  C'antharidin  bei  cystischen  Beschwerden.  Wiener 
klin.  Wochenschr.  1895,  Nr.  23.  — G.  Petteruti,  Drei  Fälle  von  Lungentuberkulose  durch 
Anwendung  von  cantbaridinsanrem  Kali  geheilt.  Therap.  Monatsk.  1895,  pag.  57.  — O.  Lieb- 
reich. Uelier  Lnpusheilung  durch  Cantharidin  und  über  Tuberkulose.  Ibid.  1895,  pag.  167 
und  pag.  199.  Loebisch. 

Carboisäurevergiftung.  Wie  leicht  selbst  bedeutungsvolle  Thatsachen 
vergessen  werden,  lehrt  das  in  neuester  Zeit  mehrfach  wiederkehrende  Vorkommen 
von  Vergiftungen  durch  die  Application  von  grösseren  Mengen  Carbolsäure  auf 
die  Haut.  Schon  1868  wurden  die  ersten  Fälle  dieser  Art,  davon  zwei  mit  tödt- 
lichem  Ausgange,  in  einem  englischen  Arheitshause  beobachtet,  wo  drei  krätz- 
kranke  Frauenzimmer  aus  Versehen  mit  Carbolsäure  eingerieben  waren.  Dass 
tüdtliehe  Wirkung  auch  cintreten  kann , wenn  nicht  die  ganze  Körperoberfläche, 
sondern  eine  cireumscriptc  Stelle  in  Contact  mit  der  Carbolsäure  kommt,  hat  ein 
im  Ernst  August-Hospitale  vorgekommener  Fall  erwiesen,  in  welchem  der  Tod 
nach  Application  anf  die  Kopfhaut  erfolgte.  Versuche  an  Thieren,  die  gleich- 
zeitig von  Th.  Hlsemaxn  und  von  F.  Hoppe-Seylek  ausgeführt  wurden,  zeigten, 
dass  die  Carbolsäure  auch  durch  völlig  intacte,  von  jeder  Excoriation  freie  Haut 
hindurchdringt.  Diese  Thatsache  findet  neuerdings  ihre  Bestätigung  durch  das 
Vorkommen  von  Vergiftungen,  die  nach  Application  von  5°/0iger  Carbolsäure- 
lösung  vor  Operationen  in  der  unmittelbaren  Nähe  des  Operationsfeldes  aus 
Gty’s  Hospital  berichtet  werden. ')  In  mehreren  Fällen  beschränkten  sich  die 
Erscheinungen  auf  Kopfweh  und  Ucbelkeit,  und  später  gab  der  olivenfarbene 
Harn  von  der  Resorption  der  Carbolsäure  sichere  Kunde;  in  zwei  Füllen  kam 
es  zu  Collaps  und  4 — Bstündigem  Koma  mit  stertoröser  Respiration  und  starker 
ßchleimabsonderung  im  Pharynx,  profusem  Schweisse,  äusserst  rapidem  Pulse 
und  massiger  Contraction  der  Pupille.  Dass  die  zartere  Epidermis  bei  Kindern 
zu  derartigen  Vergiftungen  prüdisponirt,  ist  selbstverständlich.  Wohlerklärlich  ist 
daher  das  Auftreten  von  Collaps  bei  Kindern  nach  blosser  Reinigung  der  Kopf- 
haut nntcr  Anwendung  von  Carboisäurelösungen.  *) 

Symptomatologie!)  interessant  ist  das  bis  jetzt  ganz  18011)4  beobachtete 
Abstossen  der  ganzen  Oesophagusscbleimhaut  hei  einem  mit  einer  unbe- 
stimmten Menge  Carbolsäure  vergifteten  Kinde,  wobei  die  mikroskopische  Unter- 
suchung ergab,  dass  nur  die  Zellen  der  oberflächlichen  Schleimhautschichten  der 
Coagulationsnekrose  verfallen  waren.  Erscheinungen  von  Stenose  der  Speiseröhre 
traten  nicht  darnach  ein.  *1 


68  CARBOLSÄüREVERGIFTUNG. 

Vielfach  beobachtet  sind  in  allernenester  Zeit  Pneumonien  nach 
interner  Csrbolintoxication.  Ob  die  Carbolsäure  daran  direct  oder  indirect 
schuld  ist,  kann  noch  nicht  als  entschieden  betrachtet  werden.  Möglicherweise 
spielten  dabei  die  Verunreinigungen  der  bei  der  Vergiftung  meist  genommenen 
unreinen  Carbolsäure  eine  Rolle ; wenigstens  kommen  bei  Vergiftung  von  Thieren 
mit  subcutan  applicirter,  völlig  reiner  Carbolsäure  Pneumonien  nicht  vor,  während 
rohe  Carbolsäure  oft,  noch  häufiger  aber  Kreosot  aus  Bucbenholztheer  und  Stein- 
kohlenthcer  Lungenentzündung  im  Gefolge  haben.  In  manchen  Fällen  wird  man 
diese  bestimmt  als  Folge  von  Aspiration,  bei  Einführung  oder  Regurgitation,  an- 
zusehen haben,  besonders  da,  wo  auch  Larynx  und  Trachea  Zeichen  von  Corrosion 
oder  intensiver  Entzündung  geben.  Die  Ansicht,  dass  es  bei  solchen  Pneumonien 
sich  um  Eliminationswirkungen  handle,  ist  zwar  nicht  ganz  von  der  Hand  zu 
weisen,  aber  bei  der  geringen  Quote  der  Phenolausscheidung,  die  auf  die  Lungen 
fällt,  ziemlich  unwahrscheinlich.  Wie  die  neuesten  Versuche  von  Wacholz  *) 
lehren,  kann  subcutan  injicirtes  Phenol  im  condensirten  Dampfe  der  exspirirten 
Luft  nicht  nachgewiesen  werden.  In  den  Luftwegen  kann  allerdings  Phenol, 
jedoch  nur  mit  Millon’S  Reagens,  nicht  mit  NHa  und  Chlorkalklösung  nachge- 
w-iesen  werden.  Handelt  es  sich  Überall  um  Intoxication  mit  unreiner  Carbol- 
säure, so  ist  die  Annahme  von  Silbrkxann  *),  dass  es  sich  um  embolische  Pneu- 
monien handle,  nicht  abzuweisen,  da  z.  B.  Kreosotvergiftung  bei  Thieren  sehr 
häufig  embolische  Lungenentzündungen  setzt.  Als  Ursache  der  Thrombose , die 
Silbermann  in  einem  Falle  auch  in  den  Nieren  constatirte,  wird  eine  in  auf- 
fälliger Zerfiiesslichkeit  der  weissen  und  Schrumpfung  der  rothen  Blutkörperchen 
bestehende  Alteration  des  Blutes  angesehen. 

Dass  der  antidotarische  Werth  der  in  die  Behandlung  der  Carboisäure- 
vergiftung zuerst  durch  Bacmaxn  eingeführten  Entgiftung  durch  Einführung 
von  Sulfaten  höchst  problematisch  ist,  und  dass  weder  die  Erfahrungen  am 
Krankenbette,  noch  die  damit  angestellten  Thierversuche  irgend  welche  Gewähr 
für  einen  reellen  Nutzen  dieser  Bchandlungsweise  und  insbesondere  für  die  Er- 
reichung des  bei  ihrer  Verwendung  vorschwebenden  Zieles , die  Carbolsäure  im 
Blute  mit  Schwefelsäure  zu  paaren  und  als  Phenolätherschwefelsäure  rascher  zur 
Elimination  zu  bringen,  kann  dem  mit  der  Literatur  der  Carboivergiftung  Vertrauten 
keinen  Augenblick  zweifelhaft  sein.  *)  Da  bei  schweren  Intoxicationen  im  Harne 
der  Vergifteten  häufig  in  den  ersten  Stunden  mehrere  Gramm  Carbolsäure  er- 
scheinen und  die  dabei  in  24  Stunden  ansgeschiedene  Carbolsäure  selbst  über 
7 Grm.  betragen  kann,  würde  von  der  Möglichkeit  einer  entgiftenden  Wirkung 
nur  dann  die  Rede  sein  können , wenn  erhebliche  Mengen  der  als  Antidot  ver- 
wendeten Sulfate  in  das  Blut  gelangten,  was  selbstverständlich  nicht  der  Fall 
bei  interner  Einführung  sein  würde,  wo  die  Mittel  höchstens  durch  Erregung  von 
Diarrhoe  und  rascher  Fortschaffung  im  Darme  befindlicher  Giftreste  günstig 
wirken  könnten.  Die  Stabilität  der  Verbindungen  der  Schwefelsäure  mit  Kalium 
oder  Natrium  ist  aber  so  gross,  dass  man  das  Zustandekommen  einer  Abspaltung 
von  Schwefelsäure  im  Blute  a priori  in  Zweifel  zu  ziehen  berechtigt  ist,  weshalb 
auch  die  subcutane  Verwendung  keine  Aussicht  auf  Erfolg  hat.  In  der  That 
geben  in  dieser  Richtung  ausgeführte  Versuche  an  Thieren  negative  Resultate. 
Besseren  Erfolg  scheint  die  subcutane  oder  intravenöse  Application  des  aller- 
dings weniger  stabilen  Ammoniumsulfats  zu  haben,  da  bei  Hunden  bei  unmittel- 
barer Nachspritzung  von  schwefelBaurem  Ammonium  die  Lebensrettung  noch 
gelingt,  wenn  fast  die  doppelt  letale  Dosis  Carbolsäure  (0,57  Grm.  per  Kilo  statt 
der  minimal  letalen  Dosis  von  0,35)  gegeben  wird.  Es  ist  indes«  auch  bei  Ver- 
wendung dieses  Antidots  nach  Massgabe  der  sehr  exacten  Versuche  Marfoki’s  7) 
nicht  möglich,  die  Carbolsäure  mit  Schwefelsäure  zu  binden,  da  in  tödtlich  ver- 
laufenen Fällen  nur  ein  Viertel,  in  günstig  verlaufenen  höchstens  die  Hälfte  der 
eingeführten  Carbolsäure  als  Phenolschwefelsäureäther  den  Körper  verlässt.  Es 
wird  also  bei  Vergiftung  durch  grössere  Mengen  immer  noch  so  viel  freie  Carbol- 


CARBOLSÄÜREVERGIFTLNG.  — CARNIFERR1N. 


C9 


säure  im  Körper  bleiben,  um  schwere  und  selbst  tfldtliche  Effecte  herbeizuführen. 
An  den  günstigen  Effecten  des  Ammouiumsulfats  ist  deshalb  wahrscheinlich  nicht 
die  Bildung  des  Phenols  schuld,  sondern  die  excitirende  Wirkung  des  Ammoniaks, 
das  ja  auch  in  verschiedenen  Formen  *)  bei  Carbolismus  acutus  empfohlen  worden 
ist,  aber  bestimmt  keinen  Vorzug  von  den  allgemein  gebräuchlichen  Aetherinjec- 
tionen  besitzt. 

Die  Versuche  über  Schwcfelammonium  als  Antidot  der  Carbolsäure  haben 
aber  deshalb  noch  weniger  Werth,  weil  die  angegebene  Maximaldosis  offenbar  zu 
niedrig  ist.  Noch  weniger  praktische  Bedeutung  für  die  Behandlung  der  Carbol- 
vergiftung  hat  die  von  Talber  s)  ermittelte  Tbatsache , dass  einzelne  schweflig- 
saure Verbindungen,  besonders  Natriumsulfit  und  Natriumaldehydsulfit, 
im  Stande  sind , Phenol  im  Blut  in  Phenolsulfosäure  Uberzuführen  und  dadurch 
bis  zu  einem  gewissen  Grade  antidotarisch  zu  wirken.  Der  Vorgang  erscheint 
hier  als  eine  durch  Oxydation  vermittelte  Synthese , doch  gelang  es  nicht , aus 
einer  Phenol  und  Sulfit  enthaltenden  Lösung  durch  das  oxydative  Ferment  der 
Gewebe  oder  durch  chemische  Oxydation  Phenolsulfosäure  darzustellen.  Der  anti- 
dotarische Effect  in  Versuchen  an  Kaninchen  war  aber  geringer  als  der  von 
Marfori  bei  Hunden  erhaltene,  insoferne  nur  10 — 20%  der  resorbirten  Carbol- 
säure unwirksam  gemacht  wurden  und  durch  intravenöse  Einführung  des  Antidots 
zwar  wohl  bei  absolut  letaler  Dosis  (0,55) , nicht  aber  bei  einer  diese  um  ein 
Geringes  übersteigenden  Gabe  (0,65)  Lebensrettung  erzielt  werden  konnte.  Bei 
interner  Darreichung  blieben  die  Antidote  gerade  erfolglos.  Natriumsulfit  schien 
rascher,  Natriumaldebydsulfit  zwar  langsamer,  aber  dauernder  zu  wirken;  Com- 
hination  beider  Stoffe  gab  keine  besseren  Resultate.  Den  wesentlichsten  Einwand 
gegen  diese  beiden  Antidote  bildet  ihre  Giftigkeit,  «lie  namentlich  bei  intravenöser 
Application  schon  bei  so  geringen  Mengen  sich  äussert,  dass  die  zur  Bindung 
erheblicher  Mengen  Phenol  erforderlichen  Mengen  nicht  ohne  Lebensgefahr  gegeben 
werden  können. 

Ganz  verwerflich  ist  Natriumpyrosulfit,  das  zwar  bei  Thieren  rasch  die  typi- 
schen Phenolerscheinungen  zum  Schwinden  bringt,  aber  sehr  rasch  zu  centraler  Lähmung  und 
unter  heftigen  Krämpfen,  Mydriasis  und  Exophthalmus  erfolgendem  Tode  führt.  Erfolglos  sind 
nach  Tauber's  Versuchen  ausser  Natriumsulfat  auch  Natriumäthylsulfat,  Natriumpyroeulfat, 
Natrinmdithionat  und  Natriumthiosulfat. 

Sicher  wird  man  auch  nach  den  neuesten  Untersuchungen  wohl  thun, 
hei  der  Behandlung  des  Carbolismus  acutus  von  der  Entgiftung  im  Blute  vorder- 
hand Abstand  zu  nehmen  und  sich  auf  ausgiebige  MagenausspUlung , die  in 
schweren  Fällen  mit  Darmausspülung  zu  combiniren  ist,  Bindung  etwaiger 
Reste  mit  Zuckerkalk  und  Bekämpfung  des  Collaps  mit  Aetherinjcctionen  zu 
beschränken. 

Literatur:  *)R.  deinen  t Lu  ca  s und  W.  Arhuth  noth  La  ne,  Two  cascs  of  car- 
bolic arid  induced  by  carbolic  comprcsses.  Lautet.  1.  Juni  1895,  pag.  1362.  — *)  E.  H. 
Brown,  A curious  casc  uf  carbolic  arid  poisoning.  Lancet.  2.  März  1895.  — ")  E.  Schmidt, 
Ein  Fall  von  Carbo]  sau  re  Vergiftung.  Przcglad  lekarska.  1894,  Nr.  30.  — *)  Leo  Wacholz, 
Leber  Veränderung  der  Athmungsorganc  in  Folge  von  Carboisäurevergiftung.  Deutsche  med. 
Wochenschr.  1895,  Nr.  9,  pag.  146.  — l)  Oscar  Silberman  n , Klinisches  und  Experimentelles 
über  Carboisäurevergiftung.  Ebenda.  Nr.  43,  pag.  681.  — *)  Husemann,  Behandlung  der 
Carboisäurevergiftung.  Pentzoldt's  und  Stiutzing's  Handb.  d.  spec.  Therap.  II,  pag.  212-  — 
’)  Marfori,  Sulla  formazionc  dell’etere  fcnilsolforico  nclVorganismo  in  rapporto  alla 
cura  dclV  urrelcnamcnto  per  carbolo.  Arch.  d.  Farmacol.  1894,  II,  pag.  513.  — b)  Siegfried 
Tauber,  Die  Wirkung  der  Schwefelsäuren  und  der  schwefligsauren  Salze,  sowie  anderer 
Schwefelverbindungen  bei  Phenolvergiftung.  Arch.  f.  experim.  Path.  1895,  XXXVI,  pag.  197- 

Husemann. 

Carniferrin,  eine  von  Max  Siegfried  zuerst  aus  wässeriger  Fleisch- 
extractlösung  isolirte  Eisenverbindung  einer  mit  Phosphorsäure  gepaarten  neuen 
Säure,  der  Fleischsäure  — letztere  von  der  Formel  CmH^N,  06.  Fällt  man 
nämlich  wässerige  Fleischextractlösung  mit  Barythydrat,  so  lässt  sich  aus  dem 
Filtrat  durch  Eisenchlorid  ein  eisen-  und  phosphorhältiger  organischer  Nieder- 


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70 


CARNIFERRIN.  — CHLORSALOL. 


schlag  erhalten , welcher  eben  das  Carniferrin  mit  30%  Eisengehalt  darstellt. 
Indem  man  das  Carniferrin  mit  Barytwasser  zersetzt  und  das  Barium  mit  Schwefel- 
säure ausscheidet,  erhält  man  die  freie  Flcischsäure  von  der  obigen  Zusammen- 
setzung; diese  ist  mit  Phosphorsäure  gepaart  als  Phosphorfleisc hsäure  im 
Muskel  enthalten.  Letztere  bildet  leicht  lösliche  Barium-  und  Calciumsalze,  die 
sich  erst  beim  Kochen  der  wässerigen  Lösungen  unter  Abscheidung  von  Calcium-, 
beziehungsweise  Bariumphosphat  zersetzen.  Die  Eisenverbindung  der  Phosphorfleisch- 
säure ist  eben  das  Carniferrin.  Die  Fleischsäure  ist  eine  einbasische  Säure,  im 
Wasser  leicht  löslich  und  bildet  leicht  Salze.  Sie  hat  die  Eigenschaft  , bei  ge- 
wöhnlicher Temperatur  Salzsäure  zu  binden , so  dass  diese  durch  Silbernitrat 
nicht  nachweisbar  ist.  Bei  der  hydrolytischeu  Spaltung  liefert  sie  Ammoniak, 
Lysin , Lysatinin  und  noch  zwei  bisher  nicht  näher  bestimmte  Amidosäuren, 
Schwefelwasserstoff  wird  bei  Gegenwart  von  Fleischsäure  sehr  schnell  oxydirt. 
Siegfried  hält  die  Fleischsäure  identisch  mit  Kühxe’s  Antipepton;  wie  dieses 
entsteht  sie  bei  der  Trypsinverdanung  und  wird  durch  diese  nicht  weiter  zer- 
legt,  sie  entsteht  auch  bei  der  Zersetzung  des  Eiweisses  durch  Salzsäure.  Sieg- 
fried constatirte  auch  das  Vorkommen  der  Fleischsäure  im  Harn.  C.  W.  Rock- 
wood bestätigt  dies  und  findet,  dass  sie  daselbst  theilweise  als  Phosphor- 
fleischsänre  auftritt,  als  eine  neue  Art  von  organisch  gebundenem  Phosphor 
im  Harn. 

Das  Carniferrin  ist,  wie  ILali.  nachgewiesen,  im  Darm  leicht  resorbirbar; 
das  Eisen  lagert  sich  in  allen  Körpertheilen , hauptsächlich  aber  in  der  Leber 
und  Milz  ab. 

Literatur:  Max  Siegfried,  Ueber  Fleischsäure.  Arch.  f.  Anat.  u.  Phys.  1894, 
pag.  401;  Bericht  d.  deutschen  chemischen  Gesellscb.  1894,  pag.  2762.  — W.  S.  Hall,  üelier 
die  Resorption  des  Camiferrins.  Arch.  f.  Anat.  u.  Phya.  1894,  pag.  455.  — C.  W.  Rock- 
wood, Heber  das  Vorkommen  der  Fleischsäure  im  Harn.  Ibidem.  1895,  pag.  1. 

Loebisch. 

Chlorsalol,  sai  icylsäurechlorphenylester,  salicylsaurcs  Chlor- 
OH 

phenol,  C,H,<Q,q — 0 — C,  H,  CI.  Von  den  drei  isomeren  Chlorsalolen  kommen 

therapeutisch  nur  das  Ortho-  und  Para-Chlorsalol  in  Betracht.  Der  Schmelzpunkt 
des  Ortho-Chlorsalols  liegt  bei  53°  C.,  der  der  Para- Verbindung  bei  70°.  Letztere 
hat  keinen  Geschmack  und  Geruch,  während  erstere  salolähnlich  riecht;  beide 
sind  in  Alkohol  löslich  uud  in  Wasser  unlöslich.  Nach  Karpow  ist  das  Chlor- 
salol ungiftig.  Im  Organismus  des  Hundes  und  des  Menschen  werden  beide  Ver- 
bindungen in  ihre  Componenten  zerlegt,  die  Phenole  werden  als  Aetherschwefel- 
Bäuren , die  Salicylsäure  wird  unverändert  ausgeschieden.  Nach  Girard  wirkt 
das  Chlorsalol  bei  Blasen-  und  Prostatakatarrhen  günstiger  als  das  Salol.  Bei 
fieberhaften  Zuständen  in  Folge  infectiöser  Traumen  war  das  Chlorsalol  in  täg- 
lichen Dosen  von  4 — 6 Grm.  von  guter  Wirkung;  auch  bei  Diarrhoe  trat  rasche 
Besserung  ein.  Als  Streupulver  auf  eiternde  und  infectiöse  Wunden  wirkt  das 
Chlorsalol  rasch  reinigend  und  die  Vernarbung  beschleunigend.  Bei  frischen 
Wunden  sollen  die  Chiorsalole  weniger  reizen  als  das  Salol.  Für  den  inner- 
lichen Gebranch  wird  das  fast  geschmack-  und  geruchlose  Parachlorsalol  der 
Orthoverbindung  vorgezogen ; letztere  besonders  zur  äusserlichen  Anwendung 
empfohlen.  Im  Allgemeinen  scheint  das  Chlorsalol  in  allen  Fällen  indicirt , wo 
bisher  das  Salol  angewendet  wurde. 

Dosirnng.  Innerlich  Parachlorsaloli  1,0,  Dent.  tal.  dos.  Nr.  X ad 
Capsulas  amyiaceas.  Bei  Prostata-  und  Blasenkatarrhen  4 — 6,  hei  fieberhaften 
Krankheiten  und  Diarrhoen  2 — 4 Pulver  pro  die. 

Literatur:  Karpow,  Arch.  biol.  Nanck.  St.  Petersburg  1893,  pag.  305.  — 
Girard,  Rev.  mid.  de  la  Suisse  romane.  1895,  Nr.  7.  — E.  Merck,  Bericht  über  das 
Jahr  1895.  Loebisch. 


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CHOREA  HEREDITARIA. 


71 


Chorea  hereditaria  (chronica  progressiva).  Nach  der  Aus- 
scheidung der  Chorea  magna  aus  dem  Krankheitsbegriff  der  Chorea  schien  letztere 
Oberhaupt  nur  noch  durch  die  Chorea  minor  (Sydenham’s  Chorea)  vertreten. 
Schon  sehr  frtlh  unterschied  man  allerdings  innerhalb  der  Chorea  minor  eine 
acute  und  chronische  Form  (Thilenius),  aber  man  legte  diesem  Unterschied  keine 
besondere  Wichtigkeit  bei,  da  abgesehen  von  dem  Verlaufe  wesentliche  constante 
symptomatische  Unterschiede  nicht  bestehen  sollten  ( vgl.  z.  B.  Wicke,  pag.  274).  Erst 
im  Jahre  1868  hob  Jul.  Sanders  hervor,  dass  in  den  chronischen  Fallen  der 
Kranke  bis  zu  einem  gewissen  Grad  willkürlich  seine  unwillkürlichen  Bewegungen 
zu  unterdrücken  vermöge , während  bei  der  typischen  acuten  Chorea  minor  dies 
nur  im  Anfangsstadium  zuweilen  gelingt.  Auch  dies  wollte  jedoch  zunächst  nicht 
viel  bedeuten,  denn  man  konnte  einwenden,  dass  die  Kranken  eben  in  Folge  der 
Langwierigkeit  ihrer  Krankheit  durch  Uebung  allmälig  eine  gewisse  Herrschaft 
über  die  unwillkürlichen  Bewegungen  erlangen.  In  ätiologischer  Beziehung 
wusste  man  schon  zu  Ende  des  vorigen  und  Anfang  dieses  Jahrhunderts  , dass 
die  Krankheit  vorzugsweise  bei  Kindern  und  erworben  auftrete,  jedoch  ausnahms- 
weise auch  congenital  (Friedländer,  Kleinkrt’s  Repert.  1828)  und  auch  im 
höheren  Alter  vorkomme  (Sioaud  LA  Fond  u.  A.).  Auch  diese  Chorea  adultorum 
schien  keine  Sonderstellung  zu  beanspruchen.  Endlich  erkannte  man  fast  stets 
den  Einfluss  der  Erblichkeit  an.*)  Auch  das  gelegentliche  Vorkommen  gleich- 
artiger Vererbung  war  schon  Mongenot  (1819)  bekannt.  SfcE  stellte  1850  18 
solcher  Fälle  zusammen ; von  einer  Besonderheit  der  Symptome  in  den  erblichen 
Fällen  wusste  man  nichts.  Man  kannte  also  wohl  eine  Chorea  chronica , eine 
Chorea  adultorum  und  eine  Chorea  hereditaria , fand  aber  keine  Veranlassung, 
diese  Varietäten  des  Verlaufes,  des  Auftretens  und  der  Aetiologie  von  der  Haupt- 
form zu  trennen  und  zu  einander  in  engere  Beziehung  zu  bringen.  Die  Arbeit 
Huntington ’s  vom  Jahre  1872  brachte  hierin  einen  Umschwung  hervor.  Huntington 
beschrieb  eine  Form  der  Chorea,  welche  stets  chronisch  verlief,  stets  auf  dem 
Boden  gleichartiger  erblicher  Belastung  sich  entwickelte,  durchwegs  sogar 
familial  auftrat,  stets  in  höherem  Alter  zur  Entwicklung  kam  und,  wie  ElCH- 
horst  hinzufügte,  schliesslich  symptomatisch  von  den  meisten  Fällen  der  gewöhn- 
lichen Chorea  minor  sich  dadurch  unterschied,  dass  die  Kranken  ihre  unwillkür- 
lichen Bewegungen  bis  zu  einem  gewissen  Grade  willkürlich  zu  unterdrücken 
vermochten.  Auch  hat  Huntington  bereits  die  progressive  Natur  des  Leidens  und 
die  Verbindung  mit  zunehmendem  Schwachsinn  hervorgehoben.  Die  Bedeutung 
der  HfNTiNGTON'schen  Arbeit  liegt  nicht  etwa  in  der  Feststellung  des  familialen 
Auftretens  — ein  solches  ist  von  Stikbel  bereits  1837  angegeben  worden  (1.  c. 
pag.  13)  — , auch  nicht  in  der  Hervorhebung  des  chronischen  progressiven  Ver- 
laufes etc. , sondern  in  der  Hervorhebung  des  Zusammentreffens  aller  dieser 
Momente.  Auf  diesem  Zusammentreffen  beruht  die  Einheit  der  neuen  Krankheit 
und  ihre  Selbständigkeit  gegenüber  der  gewöhnlichen  Chorea  minor.  Seitdem 
sind  etwa  80  Fälle  beschrieben  worden.  Die  Kcnntniss  der  Krankheit  hat  sich 
dem  entsprechend  wesentlich  erweitert.  Die  Hauptmomente  hat  schon  Huntington 
richtig  angegeben,  nur  darin  irrte  er  sich,  dass  er  die  Krankheit  durchaus  auf 
das  höhere  Alter  beschränkte.  Wir  können  also  die  Huntington 'sehe  Chorea 
oder  Chorea  hereditaria  chronica  progressiva  definieren  als  eine  Krankheit, 
welche  sich  chronisch  auf  dem  Boden  der  gleichartigen  Vererbung  entwickelt, 
welche  symptomatisch  die  typischen  Bewegungsstörungen  der  Chorea  minor  zeigt, 
jedoch  in  einer  vom  Willenseinfluss  bis  zu  einem  gewissen  Grade  unterdrück- 
baren Form , welche  ferner  stets  mit  affectiven  Störungen  und  Intelligeuzdefect 
verbunden  und  endlich  ausgesprochen  progressiv  ist. 


*)  Unter  101  Fällen  Rkmak's  waren  82  Fälle  sicher  anbelastet ; Beknuaudt  fand  bei 
10.8%  erbliche  Belastung. 


72 


CHOREA  HERED1TARIA. 


1.  Aetiologie.  Nach  meinen  Zusammenstellungen,  welchen  ich  vier 
selbstbeohachtete  Fälle,  zwei  typische  und  zwei  zur  Athetosie  bilateralü  zu  rech- 
nende, beigefügt  habe,  sind  beide  Geschlechter  fast  gleichmässig  betroffen.  Jedenfalls 
ist  das  Ueberwiegen  der  männlichen  Kranken,  welches  z.  B.  Schlesinger  betont 
hat,  ganz  unerheblich.  Weitaus  die  meisten  Erkrankungen  fallen  in  das  4.  und 
5.  Lebensjahrzehnt.  Gelegentlich  tritt  sie  auch  in  niedrigerem  oder  höherem  Alter 
auf,  so  z.  B.  in  einem  Falle  Oslkr’s  im  60.  Jahre,  in  einem  von  Schlesingeb 
erwähnten  im  70.  Jahre.  Insbesondere  hat  man  sie  auch  mehrfach  zur  Zeit  der 
Pubertät  (Hoffmans)  und  bei  Kindern  beobachtet  (Jolly,  Schlesinger,  A.  Schmidt, 
ich).  Congenitales  Vorkommen  ist  zweifelhaft  (ein  nicht  ganz  eindeutiger  Fall 
von  Schlesinger). 

Erbliche  Belastung  ist  ex  definitione  überall  vorhanden.  Durchweg 
ist  sie  gleichartig,  sehr  selten  ungleichartig  (Hoffmann).  Oft  linden  sieh  in  der 
Ascendenz  neben  choreatischen  Erkrankungen  andere  Krankheiten  des  Nerven- 
systems, so  namentlich  Hysterie,  Epilepsie  und  Psychosen,  zuweilen  auch  Alko- 
holismus (Klippel),  ln  zwei  zur  Athetosis  bxlateralis  zu  rechnenden,  von  mir 
beobachteten  Fällen  — es  handelt  sich  um  zwei  Geschwister  — konnte  man  keine 
Belastung  nachweisen , obwohl  der  Verlauf  und  die  Gruppirung  der  Symptome 
ganz  dem  Bild  der  Chorea  Hcntington’s  entsprachen.  Meist  ist  der  erbliche 
Einfluss  direct,  sehr  selten  wird  eine  Generation  ganz  übersprungen  (Lyon,  Huet, 
Schlesinger).  Der  Procentsatz  der  Krankheitsfälle  iu  der  betroffenen  Familie 
schwankt  sehr.  In  einer  von  Menzies  studirten  Familie  waren  unter  10Ü  Gliedern 
25,  in  einer  anderen  unter  74  Gliedern  13  befallen.  Auch  ein  endemisches  Vor- 
kommen ist  behauptet  wordeu,  jedoch  nicht  bewiesen.*) 

In  manchen  Fällen  (Zacher,  Weir- Mitchell  Fall  1)  handelt  es  sich 
um  debile  Individuen.  Die  Krankheit  entwickelte  sich  also  auf  dem  Boden  eines 
leichten  angeborenen  Schwachsinns.  Auch  eine  neuropathische  Constitution  scheint 
zuweilen  vorzuliegen  (Hay). 

Anderweitige  Krankheiten  scheinen  selten  ätiologische  Bedeutung  zu 
haben.  Ein  Herzfehler  lag  in  dem  Falle  von  Kronthal  und  Kalischer  vor, 
Malaria  in  dem  Fall  von  Hay**),  in  einigen  Fällen  Typhus,  doch  spricht  niemals 
die  Anamnese  entschieden  für  einen  Zusammenhang.  Der  acute  Gelenkrheumatismus 
< scheint  ganz  bedeutungslos;  in  einem  Falle  Remak’s  liegt  er  vor.  In  einem  Falle 
Hcber's  scheinen  die  ersten  Symptome  und  eine  spätere  Exacerbation  an  Schwan- 
gerschaft sich  anzuschliessen.  In  einem  Falle  SCHLESINGEr's  bedingt  die  Gravi- 
dität eine  Verschlimmerung.  Auf  dio  Combination  mit  Epilepsie  werde  ich  unten 
zurückhommen.  Anknüpfung  der  ersten  Symptome  an  Traumen  oder  Gemüths- 
bewegungen  wird  öfters  angegeben,  doch  treiben  bekanntlich  die  Kranken  sowie 
die  Angehörigen  gerade  mit  diesen  ätiologischen  Factoreu  oft  Missbrauch. 
Syphilis  und  Alkoholismus  scheinen  gar  keine  Rolle  zu  spielen;  nur  in  einem 
meiner  Fälle  war  Alkoholismus  unzweifelhaft  vorhanden.  Zeitweilige  Alkohol- 
excesse  lagen  auch  im  2.  Fall  von  Schlesinger  vor. 

2.  Symptomatologie.  Die  unwillkürlichen  Bewegungen  stellen  das 
Hauptsymptom  dar.  Sie  entsprechen  im  Wesentlichen  ganz  den  typischen  der 
Chorea  minor.  Wie  diese  kann  man  sie  im  Allgemeinen  als  coordinirt  bezeichnen, 
indem  meist  bei  der  einzelnen  unwillkürlichen  Bewegung  Muskeln  Zusammenwirken, 
welche  öfters  auch  in  den  willkürlichen  Bewegungen  Zusammenwirken.  Daneben 
kommen  freilich  auch  isolirte  Contractionen  einzelner  Muskeln  \or,  es  sind  dies  jedoch 
stets  Muskeln , welche  wir  oft  auch  willkürlich  isolirt  contrshiren.  Besonders 
häutig  sind  namentlich  auch  mimische  unwillkürliche  und  affectlose  Bewegungen. 


*)  lieber  experimentelle  Uebertragung  der  Chorea  liegen  nur  einige  Versuche  von 
Tr ib ulet  vor  (Progr.  m£d.  1892). 

**)  Einen  verschlimmernden  Einfluss  hatte  die  Malaria  im  K lippel-Ducellier* 
«eben  Falle. 


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CHOKEA  HEREDITARIA. 


73 


Viele  Kranke  grimassiren  fast  unausgesetzt ; auch  HUsteln,  Schnalzen,  Schmatzen, 
Schlucken  tritt  oft  unwillkürlich  auf.  In  vielen  Fällen  ist  die  gesammte  Körper- 
musculatur  betroffen.  Niemals  kommt  Beschränkung  auf  eine  Körperhälfte,  ab 
und  zu  Ueberwiegen  auf  einer  Körperhälfte,  und  zwar  öfter  auf  der  rechten 
vor.  Gewöhnlich  breitet  sich  die  Störung  von  einer  Muskelgruppe  allmälig  immer 
weiter  aus.  Bald  sind  die  Extremitätenmuskeln  mehr  als  die  Gesichtsmuskeln,  bald 
diese  mehr  als  jene  betroffen.  Auch  die  Kopfmuskeln  bleiben  selten  frei.  Ebenso 
ist  die  Rumpfmusculatur  oft  befallen.  Mehrfach  wird  ausdrücklich  angegeben, 
dass  auch  die  Zungen-,  Kehlkopf-  und  in  seltenen  Fällen  auch  die  Augenmuskeln 
betheiligt  waren.  Die  letztgenannten  bieten  nicht  etwa  das  Bild  des  gewöhnlichen 
Nystagmus  dar , vielmehr  erwecken  auch  die  Augenbewegungen  durchweg  den 
Eindruck  der  Coordination.  Zähneknirschen  ist  in  dem  Falle  von  Kronthal  und 
Kalischer  ausdrücklich  angegeben.  Sehr  oft  sind  auch  die  Respirationsmuskeln 
betheiligt. 

Ein  regelmässiger  Rhythmus  ist  nicht  zu  erkennen , ebensowenig  wie 
bei  der  Chorea  mtnor.  Es  lässt  sich  daher  auch  nicht  wohl  eine  bestimmte  Zahl  der 
unwillkürlichen  Bewegungen  pro  Minute  angeben.  Zuweilen  kommen  6 — 7 Bewe- 
gungen auf  zwei  Secunden , oft  sind  sie  viel  spärlicher.  Meist  sind  sie  schnell. 
Die  Excursionsweite  ist  oft  sehr  gross.  In  dem  KLlPPEL’scheu  Fall  verliefen  die 
Contractionen  eyklisch,  insofern  sie  stets  im  Tihialü  ant.  und  Flexor  hallucis 
symmetrisch  begannen  und  in  einer  bestimmten  Reihenfolge  sich  auf  den  ganzen 
Körper  verbreiteten.  Der  ganze  Cyklus  wurde  in  circa  '/,  Minute  durchlaufen. 
Die  Intervalle  zwischen  den  einzelnen  Cyklen  wechselten  sehr. 

Fordert  man  den  in  Ruhe  befindlichen , das  heisst  keine  willkürlichen 
Bewegungen  vollziehenden  Kranken  auf,  die  unwillkürlichen  Bewegungen  zu 
unterdrücken , so  gelingt  ihm  dies  meist  vorübergehend  und  bis  zu  einem 
gewissen  Grade.  Allerdings  muss  ich  betonen,  dass  es  sich  dabei  meist  um  eine 
willkürliche  Contraction  der  Antagonisten  der  unwillkürlich  sich  contrahircnden 
Muskeln  handelt.  Die  Kranken  lernen  allmälig,  welche  Muskeln  sich  unwillkürlich 
contrahiren,  und  durch  welche  willkürlichen  Contractionen  die  unwillkürlichen  com- 
pensirt  werden.  Es  handelt  sich  also  nicht  um  eine  Unterdrückung  der  krank- 
haften Impulse,  Bondern  um  eine  Compensation  ihrer  mechanischen  Effecte  bezüglich 
der  Lageveränderung  der  Glieder.  Viele  Kranke  helfen  sich  auch  dadurch,  dass 
sie  sich  krampfhaft  irgendwo  lesthalten  oder  die  hin  und  her  schwankende 
Zunge  zwischen  die  Zähne  einklemmcn  u.  dergl.  m. 

Sehr  interessant  gestaltet  sich  das  Verhalten  der  unwillkürlichen  Be- 
wegungen , sobald  die  Kranken  gleichzeitig  willkürliche  Bewegungen  ausführen. 
Meist  nämlich  lassen  während  der  willkürlichen  Bewegung  die  unwillkürlichen 
Muskcleontractionen  in  dem  bei  der  willkürlichen  Bewegung  betheiligten  Muskel- 
gebiete nach.  In  anderen  Muskelgcbieten  halten  sie  gewöhnlich  unverändert  an 
oder  nehmen  sogar  zu  (Remak,  Dreves).  Allgemeines  Ccssiren  bei  willkürlichen 
Bewegungen  ist  jedenfalls  selten,  doch  beschreibt  Weir-Mitcheli,  einen  Fall, 
in  welchem  die  unwillkürlichen  Bewegungen  überhaupt  nur  im  Sitzen  und  Liegen 
anftraten , hingegen  beim  Aufstehen  verschwanden.  Dank  der  eben  besprochenen 
Kigenthttmlichkeit  vermögen  die  Kranken  oft  ganz  complicirte  Bewegungen  aus- 
zuführen, z.  B.  eine  Nadel  durch  ein  freies  Loch  einer  Karte  zu  stecken  (Huber), 
zu  nähen  (Ziehen)  u.  dergl.  m.  Daraus  erklärt  sich  auch,  dass  die  Kranken  oft 
sehr  lange  noch  in  ihrem  Beruf  thätig  sind.  In  anderen  Fällen  werden  auch  die  will- 
kürlichen Bewegungen  durch  unwillkürliche  Zwischenbewegungen  gestört.  Nament- 
lich gilt  dies  auch  von  Gang,  Sprache  und  Schrift.  Ersterer  ist  in  sehr  verschiedener 
Weise  gestört.  Zuweilen  fällt  nur  die  ungleiche  Excursionsweite  der  Schritte  auf. 
Oft  ist  er  ausgesprochen  taumelnd  (z.  B.  in  den  Fällen  von  Dreves),  In  mancheu 
Fällen  ist  er  wippend  und  tänzelnd,  durch  HUpfhewcguugen  unterbrochen.  Weun 
Sinkler  u.  A.  einen  langsamen,  abgemessenen  Gang  beobachtet  haben,  so  dürfte 
auch  hier  Vorsicht  und  Uebung  des  Kranken  eine  grosse  Rolle  spielen.  Ebenso  ist  wühl 


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CHOREA  HEREDITARIA. 


die  Breitspurigkeit  des  Ganges  zu  erklären.  In  einem  meiner  Fälle  war  der  Gang 
namentlich  durch  plötzliche  Rumpfbeugungen  und  Streckungen  gestört.  Bald  ver- 
beugte sich  der  Kranke  tief  zur  Krde,  bald  schlug  er  plötzlich  hintenüber.  Merk- 
würdigerweise kam  er  selten  zu  Fall,  doch  waren  die  Bewegungen  so  heftig,  dass  er 
zuweilen  leichtere  Möbel,  an  welchen  er  sich  festhalten  wollte,  mit  umriss.  Auch  ein 
plötzliches  unwillkürliches  Stehcubleiben  ist  nicht  selten.  Auch  die  Sprachstörung 
ist  nach  Qualität  und  Intensität  sehr  verschieden.  Bei  einer  Kranken  Hiber’s 
wurde  die  Sprache  schliesslich  ganz  unverständlich.  Undeutlichkeit  der  Aussprache 
wird  in  den  späteren  Stadien  fast  niemals  vermisst.  Oefter  wird  die  Monotonie  her- 
vorgehoben (Zacher,  IIcber  u.  A.).  Mir  fiel  in  einem  Falle  die  Unregelmässigkeit 
des  Tonfalles  besonders  auf.  Oft  werden  die  Anfangssilben  stotternd  wiederholt, 
Silben  und  Worte  werden  oft  abgerissen  hervorgestossen , bald  sehr  langsam, 
bald  polternd  und  hastig.  Scandirend  wird  man  die  Sprache  schon  deshalb  nicht 
nennen,  weil  auch  hier  das  Tempo  zu  unregelmässig  ist.  Im  Allgemeinen  herrscht 
in  den  meisten  Fällen  eben  in  Folge  respiratorischer  und  anderer  Zwischen- 
bewegungen , zum  Theil  auch  in  Folge  kluger  Vorsicht  gewitzigterer  Kranken 
Verlangsamung  vor.  Seltener  ist  Hcsitation  (Schlesinger  , Fall  1),  Auslassung 
oder  Versetzung  von  Buchstaben  und  Silben.  Die  Schrift  ist  meist  ausfahrend 
nnd  zitternd.  Die  Buchstabenhöhe  und  die  Zwischenräume  zwischen  den  Buch- 
staben wechseln  oft  sehr.  Oft  setzen  die  Kranken  zwischen  den  einzelnen  Buch- 
staben ab , oft  werden  Buchstaben  ausgelassen.  Die  Schluckbewegungen  sind 
zuweilen  gleichfalls  in  erheblicher  Weise  gestört ; in  einem  meiner  Fälle  kam 
es  dadurch  zu  Lungengangrän. 

Statische  Innervationen,  wie  Spreizen  der  Finger,  Offenhaltcn  des  Mundes 
etc.,  gelingen  meinen  Kranken  stets  besonders  schlecht. 

Längere  Hube  beeinflusst  die  unwillkürlichen  Bewegungen  mitunter 
günBtig  (A.  Schmidt).  Affectlose  intellectuelle  Beschäftigung  und  sensorische 
Ablenkung  der  Aufmerksamkeit  halten  keinen  erheblichen  Einfluss.  Affecte  wirken 
stets  erheblich  verstärkend.  Für  den  Schlaf  wird  meist  (nicht  stets,  vergl.  2 Fälle 
von  Hoffmann)  ein  vollständiges  Aufhören  angegeben,  ln  einem  meiner  Fälle 
ist  jetzt  schon  monatelang  in  Folge  der  Heftigkeit  der  unwillkürlichen  Bewegungen 
der  Schlaf  auf  ein  Minimum  reducirt;  kommt  es  einmal  zu  kurzem  Schlafe,  so 
hören  die  Bewegungen  vollständig  auf. 

Ueber  den  Einfluss  stärkerer  und  schwächerer  Hautreize  ist  wenig 
angegeben.  In  einem  meiner  Fälle  wirkte  jeder  Hautreiz  verstärkend. 

Fibrilläres  Zittern  und  fasciculäre  Contraetioncn  sollen  gelegentlich  neben 
den  unwillkürlichen  Totalcontractioncn  Vorkommen  (Hoffmann),  zu  den  constanten 
Symptomen  zählen  sie  keinesfalls. 

Atrophie  der  Muskeln  kommt  nicht  vor.  Hypertrophie  scheint  zuweilen 
einzutreten,  so  bestand  z.  B.  in  einem  Falle  Huber’s  Hypertrophie  der  Zunge.  Die 
elektrische  und  mechanische  Muskel-  und  Nervenerregbarkeit  verhalten  sich 
normal,  doch  fand  ich  in  drei  Fällen  die  idiomusculärc  Erregbarkeit  gesteigert. 

Ueber  die  grobe  motorische  Kraft  und  Coordination  der  willkürlichen 
Bewegungen  lässt  sich  nur  schwer  ein  Urtheil  gewinnen.  Im  Ganzen  scheint  mir 
nach  vielen  dynamometrischen  Proben  eine  leichte  Abnahme  unverkennbar.  So 
betrug  der  Händedruck  bei  einem  meiner  Kranken  W,  (Vater),  dessen  choreatische 
Bewegungen  seit  zwei  Jahren  bestehen,  rechts  32,  links  28  Kgrm.,  bei  seiner 
jetzt  26jährigen  Tochter  Ws.  welche  seit  3 — 4 Jahren  an  Chorea  leidet,  rechts  15, 
links  14  Kgrm.  Dabei  muss  ich  allerdings  hinzufügen,  dass  in  beiden  Fällen 
auch  epileptische  Anfälle  ab  und  zu  Vorkommen.  Halbseitige  Facialisdiflerenzen 
werden  gelegentlich  angegeben  (Schlesinger),  doch  ist  die  Beurtheilung  natür- 
lich auch  hier  ausserordentlich  erschwert.  Ataxie  im  gewöhnlichen  Sinne  besteht 
insofern  nicht,  als  die  Kranken,  falls  die  Zwischenbewegungen  einmal  ausbleiben, 
ihre  Bewegungen  sehr  geuau  in  der  gewollten  Richtung  und  mit  der  gewollten 
Kraft  und  Geschwindigkeit  ausführen.  Ebenso  wird  das  RoMBERG’schc  Schwanken 


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CHOREA  HEREDITARIA. 


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nur  durch  die  unwillkürlichen  Bewegungen  des  Rumpfes  vorgetäuscht.  Aller- 
dings nimmt  es  in  einem  meiner  Fälle  (W.  Tochter)  bei  Augenschluss  deutlich 
etwas  zu. 

Contracturen  und  Spasmen  fehlen  in  den  typischen  Fällen.  Ich  werde  jedoch 
in  der  Differentialdiagnose  hervorzuheben  haben,  dass  die  allgemeine  bilaterale 
Athetosis , zu  deren  constanten  Symptomen  Spasmen  gehören,  mit  der  Chorea 
hereditaria  chron.  nahe  verwandt  und  durch  contiuuirliche  Uebergangsstufcn 
verbunden  ist.  So  sind  denn  z.  B.  in  einigen  sonst  typischen  Fällen  (Weir- 
Mitchell , Lanxois  et  Chapois)  Spasmen,  beziehungsweise  Contracturen  ver- 
zeichnet. Meine  Fälle  M,  und  M2  gehören  zu  den  atypischen  Uebergangsfilllen. 

Die  Blasen-  und  MaBtdarmfunctionen  sind  gewöhnlich  intaet.  In  meinem 
Falle  W,  (Tochter)  bestand  freilich  öfters  trotz  geringen  Intelligenzdefectes  Incon- 
tinentia urinae  et  alvi,  ebenso  in  einem  Falle  Weih-Mitchell ’s.  Der  29jährige 
Kranke  Klippel’s  , welcher  im  15.  Jahre  erkrankte,  zeigte  bis  zum  23.  Jahre 
Incontinentia  urinae. 

Die  Sensibilität  ist  häufig  intaet.  In  dem  Schlussstadium  wird  man 
entsprechend  der  schweren  Demenz  auf  Herabsetzung  der  Sehmerzempfindliehkeit 
gefasst  sein  müssen.  In  einzelnen  Fällen  scheinen  auch  schon  vor  Entwicklung 
ausgesprochenen  Schwachsinns  Hypalgesien  auftzutreten.  Ich  habe  in  den  Fällen 
W,  und  W,  eine  Hypästhesie  im  Gebiete  der  Hände  nachweisen  können. 
Schlesinger  fand  in  seinem  ersten  Fall  Hyperästhesie  des  Gesichtes  und  der 
Arme.  Das  Muskelgefübl  und  die  höheren  Sinnesfunctionen  sind  durchweg  intaet. 

Die  Pupillen  sind  oft  erweitert , die  Reactionen  erhalten.  Die  Sehnen- 
phänomene sind  meist  normal  oder  gesteigert.  Herabsetzung  ist  z.  B.  in  einem 
Falle  Wf.ir-Mitchell’s  angegeben , desgleichen  in  dem  letzten,  sehr  chronischen 
Falle  Hoffmann’s.  Auch  Ungleichheit  der  beiden  Kniephänomene  ist  beobachtet 
worden  (Klippel,  Zacher).  Die  Angaben  über  die  Hautreflexe  gehen  sehr  aus- 
einander. In  meinen  beiden  typischen  Fällen  waren  sie  normal. 

Im  Bereiche  des  sympathischen  Nervensystems  finden  sich  keine  con- 
stanten Symptome.  In  einem  Falle  Hoffmaxx’s  bestand  Salivation,  in  einem  Falle 
von  Drf.vks  Bradykardie,  in  einem  Falle  Bbrxhardt's  Tachykardie  u.  dergl.  m. 

Auf  Degenerationszeichen  haben  nur  wenige  Autoren  (z.  B.  Klippel) 
geachtet.  Ich  möchte  hier  doch  erwähnen,  dass  in  meinem  Falle  W,  der  Gesichts- 
schädel schief  ist , das  Os  frontale  stark  überhängt  und  die  oberen  Eckzähne 
nicht  zur  Entwicklung  gelangt  sind. 

An  den  einzelnen  Körperorganen  ergiebt  sich  sonst  ein  normaler  Befund. 
In  dem  Falle  von  Lanxois  und  Chapiis  fand  sich  Milzhypertrophie  und 
Leukocytose.  In  meinem  Falle  Wa  besteht  eine  hochgradige  Anämie  und  leichte 
Leukämie. 

Psychische  Symptome  fehlen  fast  niemals.  Nur  der  Fall  Ewald’s,  ein 
Fall  Schlesikger’s  und  der  letzte  Fall  Hoffmann’s  scheinen  psychisch  intaet 
gewesen  zu  sein.  Meist  entwickelt  sich  — auch  in  den  ganz  uncomplicirten  Fällen  — 
eine  hochgradige  Demenz.  In  meinen  beiden  Fällen  ist  dieselbe  gleichfalls 
deutlich  ausgesprochen.  Sehr  oft  kommen  zu  dem  Intelligenzdefect  und  der  mit 
dem  Intelligenzdefect  Hand  in  Hand  gehenden  affectiven  Abstumpfung  noch 
anderweitige  affective  Störungen  hinzu.  Unter  diesen  herrschen  krankhafte  Trau- 
rigkeit und  Reizbarkeit  vor.  Bald  findet  man  beide  nebeneinander,  bald  nur  diese 
oder  jene,  ln  vielen  Fällen  wird  Uber  Suicidgedanken  und  Suicidversuche  berichtet. 
Ich  möchte  hervorheben,  dass  die  Depression  undSuicidteudenz  nicht  stets  krankhaft, 
sondern  zuweilen  durch  die  Verzweiflung  über  den  qualvollen  Zustand,  Erwerbs- 
unfähigkeit und  Schlaflosigkeit  in  normaler  Weise  motivirt  ist.  In  manchen 
Fällen  fällt  nur  die  Labilität  der  Stimmung  auf.  Pathologische  Heiterkeit  und 
Euphorie  ist  selten  (Fall  von  Sixkler).  Ein  an  Moral  insanity  erinnernder 
Zustand  scheint  in  einem  Falle  von  DREVES  bestanden  zu  haben.  In  manchen, 
aber  doch  selteneren  Fällen  kommt  es  zu  intercurrenten  hnllucinatorischen  Erregungs- 


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CHOREA  HEREDITARIA. 


zuständen,  welche  zum  Thcil  an  epileptische  Dämmerzustände  zu  erinnern 
scheinen  (Huber,  Dreyes  u.  A.).  Auch  vereinzeltere  Hallucinationen  kommen  vor 
(Kuppel). 

3.  Verlauf.  Im  Gegensatz  zur  Chorea  minor  ist  der  Verlauf  stets 
chronisch.  Es  wurde  bereits  erwähnt,  dass  meist  zuerst  nur  ein  Muskelgebiet 
befallen  ist,  z.  B.  sehr  häufig  die  Facialismusculatur,  uud  dass  erst  nach  und 
nach  die  unwillkürlichen  Contraetionen  sich  über  den  ganzen  Körper  aushreiten. 
ln  manchen  Fällen  findet  sich  allerdings  auch  die  anamnestische  Angabe,  dass 
die  Zuckungen  von  Anfang  an  allgemein  gewesen  seien.  Die  psychischen  Symptome 
gehen  den  choreatischen  Bewegungen  zuweilen  voraus  (so  s.  B.  in  einem  Fall 
Huber’s)  , öfter  entwickeln  sie  sich  gleichzeitig  oder  folgen  nach.  Ein  strenger 
l’arallelismns  zwischen  den  choreatischen  uud  psychischen  Symptomen  besteht 
nicht  stets,  ln  einem  meiner  Fälle  ist  er  allerdings  ganz  frappant  (Ws). 

Ausser  dem  chronischen  Charakter  ist  der  progressive  besonders  be- 
merkenswerth.  Ein  sicheres  Beispiel  eines  absoluten,  dauernden  Stillstandes  liegt 
in  der  Literatur  nicht  vor.  Cessiren  der  choreatischen  Symptome  bei  Fortent- 
wicklung der  Geistesstörung  scheint  in  seltenen  Fällen  vorzukommen.  Schubweise 
Exacerbationen  sind  öfters  beobachtet  worden.  Auch  Remissionen  sind  nicht  selten. 
So  hatte  meine  Kranke  W,  im  Herbst  1895  in  Folge  der  Heftigkeit  der  chorea- 
tischen Bewegungen  die  Fähigkeit  zu  nähen  vollständig  verloren;  jetzt  besteht 
seit  1 — 2 Monaten  eine  so  erhebliche  Remission . dass  sie  wieder  zu  nähen  ver- 
mag. Damit  ging  Haud  in  Hand  eine  wesentliche  Besserung  auch  der  psychischen 
Symptome.  Interessant  ist  auch,  dass  in  einzelnen  Fällen  die  anfangs  befallenen 
Muskelgebiete  später  sich  weniger  an  der  Störung  betheiligen  und  dafür  andere 
Muskelgebiete  um  so  intensiver  befallen  werden  (Hoffmanx). 

Der  intercurrenten  psychischen  Erregungszustände  wurde  oben  bereits 
gedacht.  Im  Uebrigen  ist  der  Verlauf  ziemlich  monoton. 

Der  Ausgang  der  Krankheit  ist  meist  der  Tod.  Allerdings  erfolgt  der- 
selbe fast  stets  durch  intereurrente  Krankheiten  ("Pneumonie,  Darmkatarrh  etc.), 
indess  ist  doch  unverkennbar,  dass  das  Nervenleiden  die  Kräfte  des  Kranken 
aufgerieben  und  dadurch  wesentlich  zum  tödtlichen  Ausgang  beigetrageu  hat. 
Während  in  einigen  Fällen  der  Ernährungszustand  des  Kranken  merkwürdig  gut 
bleibt  (Bulimie),  stellt  sich  in  anderen  ein  ausgesprochener  Marasmus  ein.  Die 
Dauer  des  Leidens  beziffert  sich  daher  in  vielen  Fällen  doch  nur  auf  3 — 6 Jahre, 
doch  sind  auch  Fälle  bekannt  {Weik-Mitchell)  , wo  sie  Uber  25  Jahre  betrug 
(bis  zu  30  Jahren,  Laxnois). 

4.  Prognose.  Die  Prognose  ist,  wie  sich  aus  dem  Vorigen  ergiebt, 
durchweg  ungünstig.  Bezüglich  der  Heilung  kann  sie  als  durchaus  ungünstig 
angesehen  werden,  bezüglich  der  Erhaltung  des  Lebens  hängt  sie  namentlich  von 
dem  Mass  der  Pflege  ab,  welches  dem  Kranken  gewährt  zu  werden  vermag. 

5.  Complicationen.  Unter  diesen  bedarf  eine  wegen  ihrer  Häufig- 
keit und  auch  wegen  ihrer  Bedeutung  für  die  Auffassung  der  Krankheit  einer 
besonderen  Erwähnung.  Es  ist  die  Complieatiou  mit  Epilepsie.  Bekanntlich  kommt 
diese  C'omplication  auch  bei  der  Chorea  minor  vor  (Ziemssen  , Nothnagel, 
Gotthold,  Mc  Caxn),  indess  verhältnissmässig  selten.  Ebenso  hat  man  gelegent- 
lich die  Combination  von  Epilepsie  mit  Athctose  (Eulenburg,  Michailowski)  und 
mit  Myoklonie  (Unverricht)  beobachtet.  Während  es  sich  jedoch  hier  um  Aus- 
nahmen handelt,  ist  die  Complication  der  Chorea  hereditaria  mit  epileptischen 
Anfällen  auffällig  häufig.  In  meinen  beiden  Fällen  sind  öfters  epileptische  Anfälle 
beobachtet  worden.  Ebenso  wird  Uber  solche  berichtet  in  2 Fällen  Hoff.manx’s, 
in  einem  Fall  Rkmak's.  In  meinen  Fällen  und,  wie  es  scheint,  wenigstens  auch 
in  dem  einen  Fall  IIoffmaxx’s  weichen  die  Anfälle  von  den  typischen,  epilepti- 
schen wesentlich  ab.  Ein  klonisches  Stadium  fehlt  vollständig,  das  tonische  ist, 
wofern  es  überhaupt  vorkommt,  sehr  wenig  ausgesprochen.  Der  Anfall  beschränkt 
sich  somit  im  Wesentlichen  auf  die  Bewusstlosigkeit.  Während  des  Anfalles  hören 


CHOREA  HEREDITARIA. 


Ti 

die  choreatischen  Bewegungen  auf.  Auffällig  ist  das  tiefe  Erblassen.  Die  Dauer 
des  Anfalles  beträgt  zuweilen  1 Stunde.  In  dem  Fall  W,  war  der  erste  Anfall 
vor  6 Jahren  aufgetreten,  während  die  choreatischen  Bewegungen  seit  2 Jahren 
bestehen.  Im  Falle  Wa  waren  schon  in  frühester  Kindheit  Anfälle  aufgetreten, 
während  die  choreatischen  Bewegungen  sich  erst  vor  3—4  Jahren  gezeigt  hatten. 

6.  Diagnose.  Es  kommen  folgende  Verwechslungen  in  Betracht: 

a)  Mit  Chorea  minor  acuta.* I Wo  gleichartige  Vererbung,  chroni- 
scher, progressiver  Verlauf,  Schwachsinn  und  Abnahme  der  choreatischen  Be- 
wegungen bei  willkül  iehen  Innervationen  vorliegt,  wird  man  auch  hei  einem 
Kinde  mit  Sicherheit  auf  Chorea  hereditaria  progressiva  chronica  schliessen. 
Schwieriger  wird  die  Frage,  wenn  zwar  in  der  Ascendenz  Chorea  chronica  vorlicgt, 
der  zu  beurtheilende  Fall  jedoch  durch  seine  aente  Entwicklung  und  durch  die 
Zunahme  der  choreatischen  Bewegungen  bei  willkürlichen  Innervationen  auf 
Chorea  minor  acuta  hinweist.  Nach  einer  hieher  gehörigen  Beobachtung  Hi.'kt’s 
ist  in  solchen  Fällen  die  Diagnose  auf  Chorea  minor  zu  stellen.  Der  chronische, 
progressive  Verlauf  ist  in  allen  Fällen  das  ausschlaggebende  Moment.  Wenn 
dieser  nachgewiesen  ist,  wird  man  die  Diagnose  auf  Chorea  progressiva  chronica 
auch  stellen  müssen , wenn  bei  willkürlichen  Innervationen  ausnahmsweise  die 
choreatischen  Bewegungen  nicht  ab-,  sondern  zunehmen  oder  sich  gleich  bleiben, 
ebenso  wie  man  bei  der  gewöhnlichen  Chorea  minor  acuta  ausnahmsweise  auch 
einmal  eine  Abnahme  der  unwillkürlichen  Bewegungen  bei  willkürlichen  Inner- 
vationen beobachtet. 

h)  Mit  anderen  Formen  der  chronischen  Chorea.  Charcot,  IIuet, 
Osler  u.  A.  unterscheiden  eine  besondere,  nichthereditäre  chronische  Chorea.  Die 
Erstgenannten  identificiren  allerdings  weiterhin  das  klinische  Bild  der  hereditären 
und  der  nichthereditären  chronischen  Chorea.  Jedenfalls  muss  man  zugeben,  dass 
die  gleichartige  Vererbung  allein  nicht  ausreicht,  eine  besondere  hereditäre  oder 
familiale  Form  aus  der  Chorea  chronica  auszuscheiden.  Nnr  weil  der  Verlauf 
zugleich  durchweg  in  den  hereditären  Füllen  ausgesprochen  progressiv  ist  und 
namentlich  auch  mit  zunehmendem  Schwachsinn  verknüpft  ist,  sind  wir  berechtigt, 
die  in  Rede  stehende  Form  auszuscheiden.  Ich  stimme  daher  auch  Hoffmann 
vollständig  bei , wenn  er  die  Bezeichnung  Chorea  progressiva  chronica  (ohne 
hereditaria ) für  zweckmässiger  hält.  Die  Häufigkeit  gleichartiger  Vererbung, 
beziehungsweise  das  familiale  Vorkommen  ist,  ähnlich  wie  hei  der  Dystrophie 
muscularis  progressiva,  eine  der  interessantesten  Eigenthümlichkeiten  unserer 
Krankheit,  aber  doch  nicht  die  diagnostisch  entscheidende.  Denn  einerseits  kommt 
gleichartige  Vererbung  und  familiales  Auftreten  gelegentlich  auch  bei  anderen 
Choreaformen  vor  und  andererseits  tritt  zuweilen,  wenn  auch  selten,  eine  typische 
Chorea  chronica  progressiva  auf  dem  Boden  ungleichartiger  Vererbung  auf 
(Fall  IIoffmann).  Wie  sollte  man  sich  sonst  das  erste  Auftreten  der  chronischen 
progressiven  Chorea  in  einer  Familie  überhaupt  erklären?  Einmal  muss  die 
Krankheit  durch  ungleichartige  Vererbung  entstanden  sein.  Der  progressive  Ver- 
lauf ist  neben  der  chronischen  Entwicklung  also  der  entscheidende  Factor.  Die 
gleichartige  Vererbung  ist  nur  ein  sehr  häufiges,  interessantes  und  praktisches 
Erkennungsmittel. 

Man  könnte  nun  fragen,  welche  Formen  einer  nichtprogressiven  chroni- 
schen Chorea  dann  überhaupt  existiren.  Diese  sind  noch  sehr  wenig  studirt. 
Ich  glaube,  dass  es  sich  wesentlich  um  Fälle  handelt,  in  welchen  eine  Chorea 
minor  fortgesetzt  recidivirt.  In  sehr  dankenswerther  Weise  hat  Grosse  auf  die 
Beziehungen  dieser  Choreaform  zur  Endocarditis  recurrens  aufmerksam  gemacht. 
Diese  Fälle,  zu  denen  auch  manche  der  Benilen  Chorea  gehören,  imponiren  als 
chronisch ; hinsichtlich  ihrer  ersten  Entwicklung  sind  sie  jedoch  acut  und  hin- 


*)  Das  Attribut  acuta  ist,  nachdem  die  Chorea  magna  gestrichen  ist,  viel  wichtiger 
als  das  Attribut  minor. 


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CHOREA  HEREDITARJA. 


sichtlich  ihres  weiteren  Verlaufes  streng  genommen  reeidivirend  und  nicht  chronisch. 
Auch  ist  sehr  bezeichnend , dass  sie  fast  niemals  zu  jener  völligen  Demenz 
führen,  welche  so  regelmässig  das  Schlussbild  der  chronischen,  progressiven  (here- 
ditären) Chorea  ist. 

Aus  allen  diesen  Erörterungen  ergiebt  sich  also,  dass  Chorea  acuta  und 
Chorea  chronica  progressiva  und  Chorea  chronica  recidiva  verwandte,  aber 
nicht  identische  Krankheiten  sind. 

cj  Mit  Athetosis  bilateralis.  Wo  die  Athctonis  einseitig  auftritt,  ist 
sie  eben  durch  ihre  Einseitigkeit  von  der  Chorea  chronica  progressiva,  welche 
niemals  einseitig  bleibt,  ohne  Schwierigkeit,  wenigstens  bei  etwas  längerer  Beob- 
achtung, zu  unterscheiden.  Aeusserst  schwer  wird  hingegen  die  Unterscheidung, 
wenn  es  sieh  um  eine  bilaterale  oder  allgemeine  Athetosis  handelt.  Die  athetoti- 
schen  Bewegungen  sind  nach  Hammoxd  chnrakterisirt  durch  ihre  Unablässigkeit, 
Langsamkeit,  Ausgiebigkeit  und  Gewaltsamkeit.  Alle  diese  Attribute  — mit  Aus- 
nahme etwa  der  Langsamkeit  — treffen  auch  für  die  Bewegungen  der  Chorea 
chronica  jtrogressiva  zu.  Erwägt  man  dazu,  dass  die  Geschwindigkeit  der  Be- 
wegungen sowohl  bei  der  Athetose  wie  bei  der  Chorea  innerhalb  ziemlich  weiter 
Grenzen  variirt,  so  muss  man  zn  dem  Schlüsse  gelangen,  dass  aus  der  Qualität 
der  unwillkürlichen  Bewegungen  allein  ein  sicherer  differentialdiagnostischer 
Schluss  nicht  möglich  ist.  Besser  ist  der  Verlauf  diagnostisch  zu  verwerthen.  Die 
Athetose  verläuft  gewöhnlich  nicht  progressiv.  Auch  die  psychischen  Symptome 
sind  verschieden.  Die  Athetosis  bilateralis  ist  oft  mit  Idiotie  oder  Imbecillität 
verbunden,  aber  im  Laufe  der  Krankheit  bleibt  der  Intelligeuzdefeet  stationär 
oder  bessert  sich  sogar  zuweilen  etwas,  keinesfalls  kommt  es  zu  progressiver 
Verblödung  im  Verlauf  der  Krankheit  wie  bei  der  Chorea  progressiva  chronica. 
Endlich  scheint  gleichartige  Vererbung  bei  der  Athetose  selten  zu  sein.  Senator 
hat  auch  betont , dass  bei  der  Athetose  Spasmen  vorhanden  sind , bei  der 
chronischen,  progressiven  Chorea  hingegen  fehlen. 

Für  die  Mehrzahl  der  Fälle  ist  dies  entschieden  richtig.  Indess  in 
manchen  Fällen  versagen  diese  Unterscheidungsmerkmale.  So  sind  in  den  Fällen 
M,  und  Ma,  welche  ich  in  der  hiesigen  psychiatrischen  Klinik  beobachtet  habe, 
Spasmeu  unverkennbar  vorhanden,  Heredität  ist  nicht  nachweisbar,  aber  das  Vor- 
kommen bei  2 Geschwistern,  der  progressive  Verlauf,  die  zunehmende  Demenz 
sprechen  für  chronische,  progressive  Chorea,  zumal  die  unwillkürlichen  Bewegun- 
gen zum  Tlieil  auch  sehr  rasch,  ausgesprochen  choreatisch  sind.  Die  Frage  also, 
ob  und  in  welchem  Umfang  Spasmen  und  Contracturen  (und  auch  Paresen) 
auch  bei  Chorea  chronica  progressiva  Vorkommen,  scheint  mir  noch  nicht  ganz 
spruchreif;  die  Literatur  ist  bei  Angaben  bezüglich  latenter  Contractur  etc.  bei 
Chorea  chronica  progressiva  auffällig  schweigsam.  Ueberliaupt  wird  in  Er- 
wägung zu  zieheu  sein,  ob  die  zur  Athetosis  bilateralis  gerechneten  Fälle  nicht 
sehr  verschiedenen  Krankheiten  angehören,  nämlich  theils  infantilen,  herdartigen 
Erkrankungen,  theils  der  sogenannten  Lrm.K’schen  Krankheit  (Bbissai'D,  pag.  117, 
Freud),  theils  endlich  der  Chorea  chronica  progressiva  und  ob  die  atlietotischen 
Bewegungen  nicht  lediglich  als  eine  Spielart  der  choreatischen  zu  betrachten 
sind.  In  diesem  Zusammenhang  erscheint  es  daher  auch  sehr  bemerkenswert)!,  dass 
in  dem  2.  Falle  Bemak’s,  in  welchem  eine  bilaterale  Athetosis  vorlag,  die  Mutter 
an  Chorea  chronica  progressiva  mit  Hemiparese  gelitten  hatte.  Jedenfalls  muss 
man  — auch  wenn  mau  eine  besondere  bilaterale  Athetosis  aufstellt  — an- 
erkennen, erstens,  dass  sie  mit  der  Chorea  chronica  progressiva  nahe  verwandt 
ist  und  zweitens,  dass  Uebergangsformen  existiren , welche  die  Spasmen  der 
Athetose,  den  progressiven  Charakter  der  Hu.NTlNGTOx’schen  Krankheit  entlehnen. 

d)  Mit  der  LrrrLE’schen  Krankheit,  insoferne  diese  zuweilen  mit  bi- 
lateralen, unwillkürlichen  Bewegungen  verknüpft  ist  (Brissaud).  Zu  einer  solchen 
Verwechslung  könnten  selbstverständlich  nur  Fälle  congenitaler  oder  in  frühester 
Kindheit  aufgetretener  Chorea  chronica  Anlass  geben.  Die  Differentialdiagnose 


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CHOKEA  HERED1TAR1A.  79 

ergiebt  sich  daraus,  dass  die  LrrrLK'sche  Krankheit  mit  Diplegie  verbunden  ist, 
fast  ausschliesslich  bei  zu  früh  geborenen  Kindern  auftritt  und  eine  Tendenz 
zu  auffälliger  Besserung  zeigt.  Immerhin  scheinen  mir  auch  hier  Uebergangs- 
formen  nieht  ganz  zu  fehlen. 

e)  Mit  multipler  Sklerose.  Die  Abnahme  der  unwillkürlichen  Be- 
wegungen bei  willkürlichen  Innervationen , welche  in  den  meisten  Fällen  von 
Chorea  chronica  hereditara  vorliegt,  wird  meist  schon  vor  dieser  Verwechslung 
schützen.  Dazu  kommt  der  Nystagmus  und  die  skandirende  Sprache,  welche  die 
Chorea  chronia  hereditaria  nur  dem  oberflächlichen  Beobachter  Vortäuschen  kann. 

f)  Mit  der  Maladie  des  tics,  wie  sie  Charcot  und  G.  GüINON  be- 
schrieben haben.  Differentialdiagnostisch  kommt  in  Betracht,  dass  diese  Krank- 
heit meist  mit  Koprolalie,  Kcholalie  etc.  verknüpft  ist,  sich  vorzugsweise  auf  die 
mimische  Musculatur  beschränkt,  wohl  öfters  mit  Debilität  verknüpft  ist,  aber 
nicht  zu  Demenz  führt. 

g)  Mit  Dementia  paralytica.  Namentlich  Phkles  hat  die  Aehnlich- 
kcit  mit  dieser  Krankheit  betont,  ln  der  That  kommen  choreatische  Bewegungen 
bei  Dementia  paralytica  keineswegs  selten  vor  (ich  habe  sie  unter  ca.  500  Fällen 
dreimal  in  typischester  Form  gesehen).  Dazu  kommt,  dass  Sprache,  Schrift,  Gang 
mitunter  gleichfalls  äusserst  ähnlich  sind.  Der  progressive  Verlauf  und  die  zu- 
nehmende Demenz  sind  beiden  gemeinsam.  Differentialdiagnostisch  kommt  in 
Betracht,  dass  bei  Dementia  paralytica  Syphilis , bei  Chorea  chron.  progr. 
choreatische  Heredität  die  ätiologische  Hauptrolle  spielt  und  dass  mehr  oder 
weniger  flüchtige  Paresen  vorzugsweise  ersterer  zukommen.  Immerhin  scheint 
mir  die  Grenze  in  der  That  nicht  ganz  sicher  und  es  dürfte  dies  in  der  alsbald 
zu  besprechenden  pathologischen  Anatomie  der  Chorea  chronica  progressiva  eine 
ausreichende  Erklärung  finden. 

7.  Pathologische  Anatomie.  Die  Sectionsbefunde  sind  in  den  typi- 
schen Fällen  noch  sehr  spärlich  und  zudem  im  Einzelfall  so  mannigfaltig,  dass 
der  Sitz  der  Krankheit  noch  ganz  unsicher  ist. 

Die  wichtigsten  makroskopischen  Befunde  sind: 

a)  Verdickung  des  Schädeldaches, 

b)  I'achymeningitis , zum  Theil  auch  Verwachsung  der  Dura  mit  dem 
Schädeldach  (Kkoxthai,  und  Kalischer), 

c)  Leptomeningitis  zum  Theil  mit  Schwartenbildung  und  Adhärenz  zwi- 
schen Pia  und  Hirnrinde,  gelegentlich  auch  Ilydrocephalus  extern us  (Sinkler), 

d)  Atrophie  der  Hirnwindungen  (namentlich  im  Stirnhirn?), 

e)  graue  Verfärbungen  auf  dem  RUckenmarksquerschnitt. 

Mikroskopisch  fand  man: 

a)  in  der  Hirnrinde  Verdickung  und  zum  Theil  hyaline  Entartung  (Osler) 
der  Gefässwände,  Erweiterung  der  perivasculären  Lymphräume,  kleine  Blutaus- 
tritte , Leukocytcnausammlungen  (GltErrix) , Veränderungen  der  Ganglienzellen 
(Cbromatiuarmuth,  Untergang  der  Chromatinzeichnung),  Faserdegeneration  und 
Neurogliavcrmehrung  in  der  obersten  Rindenschieht, 

b)  in  den  grossen  Ganglien  zum  Theil  ähnliche  Veränderungen,  dazu 
Gefäsathromboscn  und  kleine  Gewebslücken, 

c)  Verdickung  des  Ventrikelepcndyms  und  AVucherung  des  unterliegenden 
Stützgewebes  (Mexzies), 

d)  im  Rückenmark  Ganglienzellenveränderungen,  Atrophie  der  Clakke- 
schen  Säulen  (Kuoxthal  und  Kalüschf.h,  Mkxzies)  und  Degenerationen,  so 
z.  B.  des  GowERs’schen  Stranges  und  der  Kleinhirnseitenstraugbahn  im  Falle  von 
Mknziks. 

Dazu  ist  noch  zu  bemerken,  dass  keineswegs  alle  diese  makroskopischen 
und  mikroskopischen  A'eränderungen  in  jedem  Fall  sich  fanden,  vielmehr  bieten 
die  einzelnen  Fälle  nur  eine  Auswahl  aus  diesen  Befunden.  Am  constantestcn 
und  sichersten  scheinen  die  meuingitischeu  Veränderungen,  obwohl  gerade  diese 


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CHOREA  HEREDITARIA. 


sich  am  schwersten  mit  dem  familialen  Charakter  des  Leidens  in  Linklang  bringen 
lassen.  Auch  in  dem  Fall  M2)  welcher  zur  Section  kam,  fand  sich  eine  Pachy- 
meningitis  haemorrhagica  interna  und  eine  Trübung  der  Arachnoidea.  Die 
mikroskopische  Untersuchung  ergab  eine  leichte  Degeneration  im  Bereiche  der 
Goix’schen  Stränge. 

Bei  dieser  Sachlage  sind  weitere  Sectionsbefunde  und  namentlich  um- 
fassende mikroskopische  Untersuchungen  zur  Feststellung  des  Krankheitssitzes 
unerlässlich.  Die  bisher  geäusserten  Vermuthungen  sind  daher  äusserst  verschie- 
den, bald  wurde  an  das  Rückenmark,  bald  an  die  Oblongata,  bald  endlich  an  die 
Hirnrinde  gedacht. 

8.  Therapie.  Ueber  erfolgreiche  prophylaktische  Massregeln  ist  nichts 
bekannt.  Oefters  ist  eine  Arsentherapie  versucht  worden , jedoch  ohne  Erfolg 
(Schlesinger).  Nur  in  einem  von  Biernacki  mitgethciltcn  Falle  scheint  sie  gün- 
stig gewirkt  zu  haben.  Reynolds  betont  die  günstige  Wirkung  von  Bettruhe 
und  Arsenbehandlung.  Greppin  , welcher  auf  Grund  seines  Sectionsbefnndes  die 
Krankcit  als  eine  nichteiterige  Encephalitis  auffasst,  schlug  Jodkalium  vor.  Ich 
selbst  habe  in  dem  Fall  W. , welcher  wegen  des  jugendlichen  Alters  noch  etwas 
günstigere  Aussichten  darzubieten  schien , zunächst  Hyoscin  und  Arsen . beides 
ohne  ncnnenswerthen  Erfolg,  versucht.  Alsdann  gab  ich  der  Kranken  2 Monate 
lang  alternirend  2 Grm.  Natrium  jodatum  und  2 Grm.  Natrium  broinatum. 
Danach  stellte  sich  eine  wesentliche  Besserung  ein:  wie  erwähnt,  lernte  die 
Kranke  wieder  nähen  u.  A.  m.  Ob  es  sich  dabei  um  eine  spontane  Remission 
oder  um  eine  günstige  Wirkung  der  Medication  handelt,  lasse  ich  dahingestellt. 
Ich  muss  noch  hinzufügen,  dass  die  Kranke  zugleich  eine  Diät  einhielt,  wie  man 
sie  Epileptikern  vorzuschreiben  pflegt  (Enthaltung  von  alkoholischen  Getränken, 
Kaffee,  Thce  etc.)  und  täglich  mehrmals  laue,  später  kühlere  Waschungen  des 
ganzen  Körpers  vornahm. 

In  den  vorgeschrittenen  Fällen  handelt  es  sich  namentlich  darum , den 
Kranken  stundenweise  Ruhe  und  Schlaf  zu  verschaffen.  In  dem  Falle  W,  ver- 
sagten die  stärksten  Schlafmittel  einschliesslich  des  Chlorals  fast  ganz.  Grössere 
Trionaldosen  schienen  mir  noch  am  wirksamsten.  Im  Schlussstadiuin  ist  die  Be- 
handlung auf  eine  möglichst  sorgsame  Pflege  zu  beschränken. 

Genauer  üeberwachung  bedarf  das  psychische  Verhalten.  Namentlich 
kommt  der  Jähzorn  und  die  Suicidtendenz  vieler  Kranken  in  Betracht.  Beide 
können  oft  zur  Ueberführung  in  eine  geschlossene  Anstalt  nöthigen.  Auch  im 
Schlussstadium  wird  wegen  der  hochgradigen  Ptlegebedürftigkeit  meist  die  Auf- 
nahme in  ein  Spital  oder  in  eine  Irrenanstalt  nothwendig  sein.  Ueberall,  wo 
llallucinationcn  auftreten , ist  selbstverständlich  die  sofortige  Unterbringung  in 
letzterer  angezeigt. 

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1888-  — Bernhardt,  Ncurol.  Centralbl.  1891,  Nr.  12,  pag.  377.  — Biernacki,  Ein  Fall 
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lOogle 


CHOREA  HERRDITARJA.  — CITROPHEN. 


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Kronthal  u.  Kalischer,  Ein  Fall  von  progressiver  Chorea  (hereditaria,  Huntington)  mit 
pathologischem  Befunde.  Neurol.  Centralbl.  1892.  Nr.  19  und  20.  — Kurella,  Athetosis 
bilateralis.  Centralbl.  f.  Nervenhk.  1887,  Nr.  13.  — Korinloff,  Choree  chronique  heredi- 
taire.  Messager  de  Psych.  et  Neuropath.  VI.  — Kuss  maul,  Wanderversamml.  d.  siidwest- 
deutschen  Neur.  und  Irrenärzte.  Juni  1887.  — Landouzy,  Gaz.  med.  de  Paris.  1873.  — 
Lannois,  Charge  hirfditaire.  Revue  de  n»6d.  1888,  Nr.  8.  — Lannois,  Nosographie  des 
chorfts.  Th£se  d’agregation.  Paris  IB8">-  — Lannois  n.  Cbapuis,  Lyon  med.  1893,  Nr.  1; 
Gaz.  des  hop.  de  Toulouse.  1893,  pag.  67.  — Lyon.  Amer.  med.  Times.  New  York  1863.  — 
Macleod,  Loses  of  choreic  convulsions  in  persons  of  adranced  age.  Journ.  of  ment.  sc. 
Juli  1881-  — Mc  Cann,  Chorea  gravidarum.  Transactions  of  the  Obstetr.  Society.  London 

1892.  — Mendel,  Neurol.  Centralbl.  1891,  Nr.  11.  pag.  352.  — Menzies,  Cases  of  heredi- 
targ  chorea.  Journ.  of  ment.  Sciences.  October  1892  u.  Januar  1893.  — Micha ilowski, 
Etüde  clinique  sur  V athe  tose  double.  Nouv.  Iconogr.  de  la  Salp.  1892,  Nr.  2 — 5.  — Osler, 
Hemarks  on  the  carieties  of  chronic  chorea  and  a report  upon  tico  families  of  the  heredi - 
targ  form,  teith  one  autopsy.  Journ.  of  nerv,  and  ment,  diseases.  1893.  — Peretti,  Ber- 
liner klin.  Wochenschr.  1885,  Nr.  50.  — Phelps,  A nett  consideration  of  hereditär y chorea. 
Journ.  of  nerv,  and  ment,  disease.  October  1892.  — Oppenheim  und  Hoppe,  Zur  patho- 
logischen Anatomie  der  Chorea  chronica  progressiva  hereditaria.  Arch.  f.  Psych.  XXV.  — 
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ereditaria.  Rivista  sper.  di  freniatria  e di  med.  leg.  1888.  — Schuchardt,  Chorea  und  Psy- 
chose. Zeitsehr.  f.  Psych.  XLII1  — Rossoli mo,  Gesellsch.  d.  Neuropath.  u.  Irrenärzte  zu 
Moskau.  November  1890.  — Schlesinger,  Ueber  einige  seltene  Formen  der  Chorea.  Zeitschr. 
f.  klin.  Med.  XX,  pag.  127  und  506.  — Ad.  Schmidt,  Zwei  Fälle  von  Chorea  chronica 
progressicu.  Deutsche  med.  Wochenschr.  1892,  Nr.  25.  — Sinkler.  On  her ed Hary  chorea 
teith  a report  of  three  additional  cases  and  details  of  an  autopsy.  New  York  med.  Record. 
181*2.  — Sinkler,  Journ.  of  nerv,  and  ment,  diseases.  Februar  1889.  — Sncklin,  Heredi - 
tary  chorea  (Huntington’s  Disease).  Brit.  med  Journ.  1889.  — Stiebei.  Ueber  den  St.  Veits- 
tanz. Wochenschr.  f.  d.  gesummte  Heilkunde.  Jahrg.  1837,  Nr.  1,  pag.  8.  — Vassitch,  Etüde 
sur  la  chorie  des  adultes.  Thfcse  de  Paris.  1883-  — Weir-Mitehell  and  Burr,  Cnusual 
cases  of  chorea , possibly  involving  the  spinal  cord.  Jonrn.  of  nerv,  and  ment,  diseases.  1890.  — 
Wicke,  Versuch  einer  Monographie  des  grossen  Veitstanzes.  Leipzig  1844.  — Zacher,  Ueber 
einen  Fall  von  hereditärer  Chorea  der  Erwachsenen.  Neurol.  Centralblatt.  1888.  Nr.  2. 


Ziehen. 

Citrophen,  citronensaures  Phenetidin, 

C„  H8  O;  (NH* . Ce  H4  O . C2  H6)4, 

eine  von  Hexakio  empfohlene  Verbindung  des  Paraphenetidins  mit  Citronensilure. 
Es  ist  ein  weisses  Krystallpulvcr,  welches  bei  181°  schmilzt.  Nach  Hexakio  be- 
sitzt es  einen  säuerlichen  Geschmack  und  lost  sich  in  etwa  40  Theilcn  kalten 
und  in  50  Theilen  siedenden  Wasser.  Nach  Seifert  schmeckt  es  nicht  sauer  und 
löst  sich  erst  in  etwa  13.000  Theile  kalten  Wassers.  Es  setzt  die  fieberhafte 
Körpertemperatur  herab  und  besitzt  analgetische  Wirkung.  Es  wurde  in  Einzeln- 
dosen von  0,5 — 1,0,  in  Tagesdosen  bis  6,0  gegeben,  ln  Folge  seiner  chemischen 
Constitution  ist  es  vom  verwandten  Apolysin  zu  unterscheiden.  Wie  nämlich 
H.  Hildebraxdt  zeigte,  ist  im  Apolysin  ein  Molecül  Phenetidin,  mit  einem 
Molecül  Citronensäure  unter  H20- Austritt  verbunden,  während  im  Citrophen 
3 Molccüle  Phenetidin  mit  einem  Molecül  Citronensäure,  hier  jedoch  ohne  Wasser- 
austritt, Zusammenhängen.  Es  ist  also  im  Apolysin,  wie  dies  dessen  chemisches 
Verhalten  zeigt,  das  Phenetidin  inniger  gebunden  als  im  Citrophen,  welch  letzteres 
als  citronensaures  Salz  des  Phenetidins  aufgefasst  werden  kann.  Das  von  Bf.xario 
wegen  seinen  hohen  Gehaltes  an  Phenetidin  an  Stelle  des  Phenacetin  und  Lacto- 
lhenins  als  Antipyreticum  empfohlene  Citrophen  ist  aber  gerade  wegen  der 
pockeren  Bindung  des  Phenetidins  in  demselben  nach  den  Erfahrungen  von 
Treupel  und  denen  IIildkbraxdt’b  keineswegs  ein  unschädlich  wirkendes  Mittel. 


Encyclop.  Jahrbücher.  VI. 


6 


82  CITROPHEN.  — CONJUNCTIVITIS. 

Nach  G.  Treupel  bewirken  0,5  Grm.  Citrophen  per  Kilo  im  Organismus  beim 
Hunde  nach  der  Eingabe  energische  Abspaltung  von  Para-Amidophenol,  intensive 
Indophenolreaetion  im  Harn,  Methämoglobinbildung  im  Blute  und  Reizerscheinungen 
im  Verdauungscanale  und  in  den  Nieren.  Es  wirkt  also  wegen  des  grossen  Gehaltes 
an  Phenetidin  energisch  antipyretisch,  jedoch  auch  aus  der  gleichen  Ursache, 
besonders  aber  auch  wegen  der  lockeren  Bindung  des  letzteren  im  Molecül, 
zugleich  im  höheren  Masse  toxisch.  Mit  Citrophen  eingeführte  0,2  Grm.  Phene- 
tidin erwiesen  sich  giftiger  als  die  mit  Phenacetin  eingeführte  fast  doppelte  Dosis. 
Mau  wird  also,  bevor  weitere  Erfahrungen  vorliegen,  von  der  Anwendung  des 
Mittels  am  Krankenbette  Abstand  nehmen. 

Literatur:  Benarin,  Citrophen,  ein  neues  Antipyreticum  und  Antineuralgirum. 
Deutsche  med.  Wochenschr.  1895,  Nr.  2(i.  — G.  Treupel,  Einige  Bemerkungen  zu  der  Notiz 
des  Hr.  Dr.  Ben ar io : Citrophen,  ein  neues  etc.  Ibidem.  Nr.  dl.  — K.  Seifert,  Erklärungen 
zu  der  vorläufigen  Mittheilung  über  Citrophen.  Ibidem,  Nr.  52.  — Benario,  Ueber  Citrophen. 
Ibidem,  Nr.  39.  — H.  H i ldebrand  t , ».  bei  Apolysin.  Loebiach. 

Crotonharz.  Die  Annahme,  dass  das  hautreizende  Princip  im  C'rotonöl 
eine  eigenthümliche  Fettsäure  sei,  ist  aufs  Neue  bestritten  worden.  Dunst  AN  und 
Miss  Bihitle  erklären  die  Crotonsäure  für  einen  keineswegs  einheitlichen  Körper, 
sondern  für  ein  Gemisch  innctiver  Fettsäuren  und  einer  von  ihnen  Crotonharz 
genannten,  resioösen  Substanz , die  schon  in  ausserordentlich  geringen  Mengen 
die  Haut  reizt  und  Pusteln  erzeugt.  Dieses  nicht  krystallisirt  zu  erhaltende 
Crotonharz  ist  hart,  spröde,  hellgelb,  in  Wasser , I’utroleumäther  und  Benzin 
kaum,  in  Alkohol,  Aether  und  Chloroform  leicht  löslich.  Es  erweicht  beim  Erhitzen 
und  wird  bei  90“  flüssig.  Es  hat  weder  basische,  noch  saure  Eigenschaften  und 
wird  durch  Kochen  mit  Wasser  und  Bleioxyd  nicht  wesentlich  verändert , wohl 
aber  durch  Kochen  mit  Alkalien,  wobei  es  seine  hautreizende  Wirkung  verliert. 
Bei  Oxydation  mit  Salpetersäure  resultirt  ein  Gemenge  verschiedener  Säuren,  von 
denen  einige  der  Essigsäure  angehören.  Als  chemische  Formel  ergiebt  sich  ein 
Multiplum  von  C13H,8H4. 

Literatur:  W.  K.  Dunstaii  und  Miss  \\  L Bootle,  Crotoii  Oil.  Pharm.  .Toum. 
Transactions,  6.  Juli  1895,  pag.  5.  Uusemann. 

Conjunctivitis.  Bei  Bindehautkatarrhen,  die  consecutiv  vom  Ekzem 
entstanden  sind,  ausserdem  bei  chronischen  Katarrhen  mit  eonseentiver  Blepharitis 
empfiehlt  Peters  folgende  Salbe  in  den  Bindehautsack  ei nzust riehen : lchthyol- 
aminon.  0,2 — 0,5,  Arnyl.  tritic.  Flor.  Ziuci  aa.  10,0,  Vaselini  amer.  25,0.  M.  exactiss. 
Er  meint  übrigens,  dass  manche  Katarrhe  auch  ohne  sichtbare  HautafTection 
ekzematöser  Natur  seien. 

Sicherer  riith,  bei  Bien norrhoea  neonatornm  täglich  einmal  das 
Auge  nach  Umstülpung  der  Lider  gründlich  mit  einer  Lösung  von  Quccksilber- 
oxycyanid  1 : 500  zn  bespülen ; ausserdem  siud  Tag  und  Nacht  Eisumschläge  zu 
machen.  Bei  iutacter  Cornea  garantirt  er  für  den  Erfolg. 

lloOR  plaidirt  für  die  von  Aklt  stets  behauptete  Zusammengehörigkeit 
von  Trachom  und  chronischer  Bindehaut b len norrhoe.  Er  sah  drei 
Fälle,  wo  an  der  Bindehaut  des  einen  Auges  nahezu  rein  granuläres,  am  anderen 
Auge  aber  ein  fast  rein  papilläres  Trachom  bestand.  In  zwei  Fällen  handelte  es 
sich  ,. apodiktisch  und  eingcstandencrinassen  um  absichtliche  Autoinfection  , und 
zwar  um  gleichzeitige  Selbstinfection  beider  Augen  mit  dem  Secrete  einer  eigenen 
chronischen  Urthralblenuorrhue“. 

Bei  dem  dritten  Falle  konnte  mit  grösster  Wahrscheinlichkeit  dasselbe 
angenommen  werden.  In  einem  anderen  Falle  wurde  unter  HOOR  S Augen  die 
lnfertion  mit  einem  Secrct  eines  acuten  Trippers  beobachtet;  an  einem  Auge 
entstand  eine  chronische  Blennorrhoe  ipapilläres  Trachom),  am  anderen  Auge  aber 
körniges  Trachom. 

Die  Lehre  von  der  Conj.  crouposa  ( membranacen,  fibrinosn)  hat 
eine  vollständige  Umänderung  erfahren.  Nachdem  schon  Moritz  in  allen  von  ihm 


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CONJUNCTIVITIS.  — CUTOL. 


83 


untersuchten  Fallen  einen  Bacillus  gefunden,  der  sich  morphologisch  vom  echten 
Diphtheriebacillus  nicht  unterscheiden  lässt , aber  grosse  biologische  Differenzen 
zeigt  (er  nennt  ihn  Pseudodiphtheriebacillus),  haben  Andere  (Morelli,  Soordille, 

Eschebich,  Elschxig,  Gddek,  Vossius,  Fuchs)  virulente  Diphtheriebaeillen  nach- 
gewiesen, ferner  Gerkk  und  Kain  einen  Bacillus  gefunden,  dessen  Cultnren  grosse 
Aehnlichkeit  mit  dem  Verhalten  der  Culturen  des  Diphtheriebacillus  besitzen  und 
vielleicht  mit  ihm  identisch  sind.  Allerdings  sind  auch  negative  Untersuchungs- 
resnltate  publicirt  worden  , oder  es  wurden  Streptokokken,  Staphylokokken  und 
Pneumokokken  gefunden  (Albert,  Tebson,  Debikrre,  Parinaud,  Bourgeois, 

Gaube,  Morax,  Broxner,  FaGE,  COPPEJS).  Ich  selbst  beobachte  gegenwärtig  einen 
Fall,  in  welchem  der  LoFFLER’sehe  Bacillus  in  Unmassen  gefunden  wurde  und 
wo  die  Impfung  beim  Kaninchen  zu  positiven  Resultaten  führte  (Abtheilung 
Monti’s  an  der  Wiener  allgemeinen  Poliklinik  i.  Dem  entsprechend  musste  die 
I -onj unctivilin  diphtbrritien  in  zwei  Gruppen  getrennt  werden,  wie  es  auch 
Fuchs  in  der  5.  Auflage  seines  Lehrbuches  gethan  hat: 

1.  Die  Form  mit  oberflächlicher  Exsudation,  mit  Bildung  von  Membranen, 
die  bisherige  Conj.  crouposa. 

2,  Die  Form  mit  Exsudation  eines  gerinnfähigeu  Produetes  in  das 
Gewebe  der  Conjunctiva:  Diplitheritis  im  engeren  Sinne. 

Wie  sieh  diejenigen  Formen  von  membranösen  Conjunctivitiden,  die  auf 
dem  Vorhandensein  von  den  genannten  anderen  Mikrobien  beruhen,  klinisch  von 
den  wirklich  diphtheritischen  scheiden  lassen,  ist  allerdings  bisher  noch  unbekannt; 
bis  dahin  wird  man  auf  die  bakteriologische  Diagnose  angewiesen  sein. 

Es  ist  selbstverständlich,  dass  die  Heilserumtherapie  auch  hier  anzuwenden 
ist  und  angewendet  wurde,  meist  mit  gutem  Erfolg,  ein  solcher  ist  bisher  auch 
in  Moxti's,  noch  in  meiner  Beobachtung  stehenden  Fall  zu  verzeichnen. 

Gqbdon  Norrie  meint,  den  auch  von  Hkhz  und  Goi.DENBESG  behaupteten 
Zusammenhang  von  Kopfläusen  und  phly  ktännlärer  Bindehanterkrankung  dadurch 
erklären  zu  können,  dass  durch  das  Kratzen  des  Kopfes  Exuleerationen  entstehen, 
welche  durch  Streptokokken  u.  s.  w.  infleirt  werden ; durch  wiederholtes  Kratzen 
werden  die  Finger  mit  Bakterien  besetzt,  die  dann  durch  Reiben  in  den  Con- 
junctivalsack  gebracht  werden. 

Literatur:  Peters.  Zur  Behandlung  der  Bindehatitkatarrlie.  Klin.  Monatsbl.  f. 

Augenhk.  October  1895.  — Sicherer,  Zur  Behandlung  der  Blennorrhoe«  neonatorum. 

Münchener  klin.  Wochenschr.  1895,  Nr.  49.  — Hoor,  Zur  Frage  der  Aetiologie  des  Trachoms 
nnd  der  chronischen  Bindebautblonuorrboe.  Klin.  Monatsbl.  f.  Angenbk.  August  1895.  — 

Vossius,  Die  croupöse  Conjunctivitis  und  ihre  Beziehungen  zur  Diphtherie.  Sammlung 
zwangloser  Abhandlungen  aus  dem  Gebiete  der  Augenheilkunde.  Balle  1896,  Heft  1 jdort  die 
einschlägige  Literaturi.  — Fuchs,  Lehrbuch  der  Augenheilkunde.  Wien  1895,  5-  Aufl.  — 

Gordon  Norrie,  Centralbl.  f.  prakt.  Augenhk.  October  1895.  Reuse. 

Cutol,  Aluminium  borico-tannicum  und  Clltolum  solubile,  Alu- 
minium boro-tannico-tnrtaricum,  zwei  zugleich  mit  dem  Boral  (s.  d.) 
von  Leuchter  empfohlene  Thonerdeverbiudungen,  welche  sich  vor  den  essigsauren 
Thonerdeverbindungen  als  desinficirende  Adstringenden  durch  grössere  Beständig- 
keit auszeichnen  Bollen. 

Das  Cutol  stellt  ein  hellbraunes,  in  Wasser  unlösliches  Pulver  dar,  das  aus  76% 

Tannin,  13,23%  Thonerde  und  20,77%  Borsäure  zusammengesetzt  ist.  Durch  Bchandlnng  des 
Cutola  mit  Wcinsänre  erhält  man  die  wasserlösliche  Verbindung,  das  Cutol  um  eolubile. 

Nach  P.  Koppel  ist  das  Cutol  wegen  seiner  Unlöslichkeit  nur  in  Form 
von  Salben,  Pasten  oder  Pulvern  zu  verwerthen,  also  nur  in  Fällen , wo  cs  auf 
das  erkrankte  Gewebe  direct  applicirt  werden  kann.  Wegen  seiuer  adstringirenden 
Wirkung  ist  es  hei  allen  trockenen,  schuppenden  Hautkrankheiten  contraindicirt ; 
das  Hauptcontingent  für  die  Behandlung  damit  bilden:  nässende  acute  Ekzeme, 
stark  secernirende  Hautdefecte,  Erosionen,  Fissuren,  Geschwüre.  Hämorrhoiden 
wurden  durch  150/,,ige  Cutolsalben,  denen  einige  Tropfen  Carbolsäurc  oder  Liq. 

Plumbi  ucetici  zugesetzt  sind,  rasch  gebessert. 

ü* 

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84 


CUTOL.  — C VAN  VERBINDUNGEN. 


Lösungen  des  Cutolum  solubile  waren  hei  chronischer  Rhinopliaryn- 
gitis  ohne  Erfolg,  dagegen  leistete  es  als  10%ige  Cutol-Glycerinsolutiou  bei 
Angina  follicularis,  mit  Watte  oder  Spray  auf  die  erkrankte  Mandel  aufgetragen, 
vorzügliche  Dienste ; auch  der  Geschmack  ist  besser  als  der  des  Tanninglycerins. 
Bei  Fussgcschwüren  war  Cutol.  solub.  in  1 %iger  wässeriger  Lösung,  täglich 
zweimal  aufgelegt,  von  gutem  Erfolg , ferner  bei  Brandwunden  zweiten  Grades, 
in  einigen  Fällen  von  chronischem  Ekzem  zur  Aufsaugung  des  Filtrates.  Bei 
Katarrhen  der  Gebärmutter  kam  10%ige  Cutol-Glycerinlösung  zur  Anwendung. 
Bei  Frostbeulen  wirkte  es  in  schwarzen  Resorcin-  oder  I.anolinsalben  mit  oder 
ohne  Kampferzusatz. 

Dosirung:  Cutol  in  10 — 20%igen  Salben:  Cutol  4,0 — 8,0,  Olei  oli- 
varum  10,0,  Lanolinii  ad  40,0,  als  Streupulver  mit  Zinkoxyd  und  Talcum  zu 
gleichen  Thcilen.  Cutolum  solubile  als  10%ige  Salbe:  Cutol.  solub.  3,0,  Olei 
olivar.  2,0,  Acid.  carbol.  liqu.  gntt.  VI,  Lanolini  ad  30,0  auf  Wattebausch  anf- 
gestrichen  zu  verwenden. 

Literatur:  Leuchter,  Pharm.  Ztg.  1894,  pag.  707.  — Paul  Kuppel.  Berlin. 
Ueber  einige  «euere  Aluniinininpräparate.  Thcrap.  Monatsh.  1895.  pag.  614.  Lochisrh. 

Cyanverbindungen.  Schon  1887  hat  Otto  Hermes*)  das  durch  Ein- 
wirkung von  Blausäure  auf  Chloral  und  Chloralhydrat  entstehende  Chloral- 
hydrocyanid  (Trichlormilchsäurenitril  von  Bkilstelv)  auf  seine  Giftigkeit 
untersucht  und  nach  Massgabe  seiner  Versuche  an  Kaninchen  für  ein  ganz  in 
Art  der  Blausäure  und  wegeu  seines  constanten  Gehaltes  an  dieser  sogar  zum 
Ersätze  des  Bittermandelwassers  geeignetes  Präparat  erklärt.  Allerdings  sind  die 
Erscheinungen,  welche  die  Verbindung  bei  Warmblütern  in  toxischen  Dosen  her- 
vorruft, und  das  ganze,  mit  Dyspnoe  und  krampfhafter  Inspiration  beginnende, 
dann  unter  Unsicherheit  der  Bewegung  und  lebhaftem  Zittern,  hierauf  unter  aus- 
gesprochenen Convulsionen  verlaufende,  in  tödtlichen  Fällen  in  wenigen  Minuten 
nach  voraufgehendem  Tetanus  mit  Tod  im  Inspirationskrampf,  bei  nicht  tödtlicher 
Dosis  ohne  tetanischen  Krampf  verlaufende  und  allmälig  nach  einem  Stadium 
von  Schwäche  und  Lähmung  in  24  Stunden  mit  Rückkehr  der  normalen  Functionen 
endigende  Intoxicatiousbild  der  Blausäurevergiftung  entsprechend.  Auch  die 
Wirkung  bei  Kaltblütern,  die  Herzverlangsamung  und  der  Tod  durch  Ilerzlähmuug, 
ist  dieselbe  wie  bei  Cyanwasserstoff.  Der  Blausäurewirkung  entspricht  auch  bei 
Warmblütern  die  experimentell  festgestellte,  nach  vorgängiger  Reizung  der  Medulla 
oblongata  di  recte  eintretende  Lähmung  dieser,  die  Unabhängigkeit  der  Athem- 
störungeu  von  den  Lungenvagi  und  die  Lebensverlängerung  durch  künstliche 
Athmung  (Hermes).  Dem  ungeachtet  zeigt  nach  neueren,  unter  F.  A.  Fai.ck  an- 
gestellten  Untersuchungen  die  Wirkung  des  Chloralcyanid  wesentliche  Differenzen 
von  der  des  Cyankaliums  •)  und  Cyannatriums. 5)  Während  die  Toxicität  der 
Cyanide  der  beiden  Alkalimetalle  sich  durchaus  uach  ihrem  Gehalte  an  wasser- 
freier Blausäure  richtet,  deren  letaler  Effect  allerdings  bei  verschiedenen  Thier- 
arten stark  differirt,  so  dass  z.  B.  die  zur  Tödtung  der  Maus  pro  Kilo  erforder- 
liche geringste  Menge  2,39mal  so  hoch  wie  beim  Kaninchen  ist,  kann  ein  solches 
Gebundensein  an  die  Dosis  der  Cyanwasserstoffsäure  für  das  Chloralcyanid  *) 
nicht  constatirt  werden.  Bei  Kaninchen  ist  die  auf  wasserfreie  Blausäure  bezogene 
minimal  letale  Dosis  des  Chloralcyanids  ganz  erheblich  geringer  (1,2978  Mgrm. 
gegen  1,8845  Mgrm.  bei  KCy),  bei  Mäusen  um  ein  Geringes  höher,  bei 
Tauben  ziemlich  gleich,  obschon  gerade  bei  Taubeu  eine  grössere  Giftigkeit  des 
Chloralcyanids  dadurch  hervortritt,  dass  der  Tod  rascher  als  bei  entsprechenden 
Mengen  von  Cyankalium  eintritt.  Eine  weitere  Abweichung  besteht  darin,  dass 
die  ersten  Vergiftnngserscheinungen,  Beschleunigung  der  Athmung  und  bei  Tauben 
Erbrechen,  durch  weit  geringere  Dosen  herbeigeführt  werden  (bei  Chloralcyanid 
schon  durch  circa  23%  der  minimal  letalen  Dosis,  bei  Cyanknlium  und  Cyan- 
natrium erst  durch  38 — 40%). 


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C VAN  VERBINDUNGEN. 


85 


Man  wird  hiernach  in  dem  Chloralcyanid  eine  eigenartige,  wenn  auch 
hervorragend  durch  die  Blausflure  wirkende  Substanz  zu  sehen  haben. 

Dass  das  Ferrocyankalium  unter  Umstünden  zu  tödtlichen,  auf  Frei- 
werden von  Blausäurevergiftung  beruhenden  Vergiftungen  Anlass  werden  kann, 
lehrt  ein  neuer  Fall,  bei  welchem  die  Section  im  Magen  sowohl  Ferrocyankalium 
als  Blausäure  nachwies , deren  Geruch  auch  in  anderen  Körperhöhlen  constatirt 
wurde.  Der  tödtliche  Ausgang  wurde  durch  antidotarische  Verwendung  von  Essig 
offenbar  beschleunigt. 

Literatur.  *)  Hermes,  Chloralcyanhydrat  als  Ersatz  für  Aqua  Amygdnlarum 
amararum.  Inaug.-Dissert.  Berlin  1887.  — *)  Theben,  Beitrag  zur  Kenntniss  der  Wirkung 
des  Cyankaiium.  Kiel  1895.  — *)  van  Biirck.  Ueber  die  Wirkungskraft  des  Cyannatrium. 
Kiel  1895.  — 4)  Reymann,  Beitrag  zur  Kenntniss  der  Wirkung  des  ('Moral,  hgdroeganid. 
Kiel  1895.  — J)Se,hlichte,  Selbstmord  durch  Vergiftung  mittelst  des  „ungiftigon“  Ferro- 
cyankatiums  (des  gelben  BlntlaugensalzesJ.  Wiirttemberger  arztl.  Correspondenzbl.  1895,  Nr.  4- 

Hnseniann. 


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D. 


Darm  (e  utzündung,  Neubildung,  Parasiten),  Wir  nehmen  einige  hierher- 
gehörige Publieationeu  in  unserer  Besprccbung  voraus,  die  nur  ein  mittelbar 
praktisch-klinisches  Interesse  haben,  im  Wesentlichen  wichtigere  physiologische 
oder  anatomische  Probleme  behandeln.  Die  durch  die  Untersuchungen  von 
GrÜtzneh  (s.  d.  Jahrbücher  1895)  angeregte  und  beantwortete  Frage,  ob  und  in- 
wieweit durch  die  Einwirkung  von  Kochsalz  auf  die  Darmschleimhaut 
eine  A utiperistaltik  hervorgerufen  wird,  die  eine  Beförderung  kleinster 
Nahrungspartikelchen  vom  Mastdarme  bis  in  den  Magen  hinein  ermöglicht,  wird 
von  verschiedenen  Seiten  experimentell  geprüft.  Christomanos  ')  findet  im  Gegen- 
satz zu  GrCtzner,  wenn  er  das  Auflecken  von  Darminhalt  bei  den  Thieren  un- 
möglich machen  konnte,  dass  die  Hinaufwanderung  von  Kohle,  Dycopodium  u.  A. 
Uber  die  BAl'Hlx’schc  Klappe  hinaus,  kaum  je  zu  Stande  kommt,  von  einer 
Hinaufbeförderung  aber  vom  Mastdarminhalt  durch  einen  Raudstrom  his  in  den 
Magen  gar  keine  Rede  sein  kann.  Der  Widerspruch  zwischen  GuÜtzxkr  und 
Christomaxos  veranlasste  Swiezixsky1)  zu  einer  Nachprüfung  bei  Einhaltung 
aller  möglichen  Cautelen.  Er  kommt  bei  seinen  Versuchen  zu  der  Ueberzeugung, 
dass  das  in's  Rectum  des  Menschen  oder  des  Hundes  eingeführte  Lycopodium 
zum  Theil  aufwärts  bis  in  den  Magen  wandert;  wahrscheinlich  ist  es,  dass  in 
der  That  das  Kochsalz  die  dabei  in  Betracht  kommende  Antiperistaltik  hervor- 
ruft. Ebenso  entschieden  aber  bestreitet  Dauber  *)  eine  derartige  Wirkung  der 
Kochsalzklysticre.  Die  Resultate,  die  Grützxer  erzielt  hat,  erklärt  er  dadurch, 
dass  Klystierbestandtheile  bei  den  Thieren  per  os  in  den  Magen  und  Dünndarm 
kommen , er  hält  es  jedenfalls  für  unmöglich , wenn  nicht  abnorme  Verhältnisse 
mitspielen,  dass  Klystierc  und  darin  suspendirte  Körperchen  die  Ileocöcalklappe 
nach  oben  überschreiten. 

Untersuchungen  über  Darminncrvatiou  veröffentlicht  Pal.  Es  wird 
nach  dem  gegenwärtigen  Stande  der  Literatur  angenommen,  dass  der  Vagus  den 
Magen,  den  Dünndarm  und  das  obere  Drittel  des  Colon  innervire.  Seine  Experi- 
mente haben  nunmehr  gelehrt,  dass  nach  Durchschneidung  der  Splauehnici  und 
der  Ausschaltung  des  uuteren  Brust-  und  des  Lendenmarkes  durch  Reizung  des 
Vagus  Bewegungserscheinungen  im  ganzen  Colon  und  Rectum  ausgelöst  werdeu 
können.  Diese  Reaction  tritt  erst  nach  langer  Latenz  ein.  Sie  erfolgt  in  dem 
gleichen  Sinne  wie  die,  welche  Fei.lxer  bei  Reizung  des  Plexus  hypogaxtricu» 
beschrieben  hat,  d.  h.  als  Verengerung  oder  Verkürzung  des  untersten  Darm- 
stückes.  Der  Erfolg  ist  deutlicher,  wenn  das  Rectum  gefüllt  ist.  Die  Balm  dieses 
Reizes  dürfte  der  Verbindungsfaden  sein,  der  vom  Vagus  zum  Ganylion  coelincum 
zieht , aus  welchem  der  Plexus  hypoyastricus  hervorgeht , der  die  Fasern  für 
das  Rectum  führt.  Jedenfalls  ist  aber  der  Vagus  der  bewegende  Nerv  für 
den  gesammten  Darmtract. 


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J)ARM 


87 


Von  anatomischem  Interesse  ist  ein  Beitrag  zur  Kenntniss  der 
Länge  des  menschlichen  Darmes,  den  Dreier-'')  giebt.  Er  findet,  dass  der 
Dickdarm  im  Verhältnis  zum  Dünndarm  im  Erwachsenen  länger  ist , als  bei 
Kindern,  die  einen  relativ  längeren  Darm  als  Erwachsene  haben.  Pathologische 
Veränderungen  am  Darm  bewirken  bei  Kindern  eine  bedeutende  Verlängerung 
des  Organes , Phthisiker  und  an  marastischen  Zuständen  Gestorbene  haben  einen 
relativ  kurzen  Darm. 

Die  Untersuchungsmethodik  des  Darms,  speciell  die  physikalische, 
bespricht  Obbastzow  •)  ausführlich , und  zwar  mehr  in  Form  eines  klinischen 
Vortrages,  dessen  zahlreiche  Einzelheiten  hier  schwer  wiederzugeben  sind.  Aehn- 
liches  gilt  von  der  Mittheilung  MÜLLEr’S  ’),  doch  hebe  ich  hier  einen  Punkt,  der 
mir  wichtig  erscheint,  hervor,  er  bezieht  sich  auf  das  Auftreten  einer  Dämpfung 
in  der  Blasengegend,  bedingt  durch  collabirte,  nach  abwärts  gedrängte  Darin- 
schlingen.  Kattirlich  kann  auch  Blasenfüllung  die  Dämpfung  hervorrufen , doch 
gehören  dazu  wohl  500  Ccm.  Flüssigkeit,  und  zwar  bei  Männern  etwas  weniger. 
Der  Nachweis  von  Flüssigkeit  im  Abdomen  gelingt  bei  Kindern  sicher  erst  bei 
200  Ccm. ; bei  Erwachsenen  erst  bei  1500  Ccm.  Masse.  Zur  Besichtigung  des 
Mastdarms  bis  in  die  Flexura  sigm.  hinein  verdient  das  Vorgehen  von 
H.  A.  Kelly»)  die  grösste  Beachtung.  Nach  Entleerung  des  Rectums  wird  der 
Kranke  in  die  Knieellenbogenlage  gebracht  und  man  führt  dann  ein  cylindrisches 
Speculum  ein,  das  mit  einem  Obturator  versehen  ist..  Nach  Entfernung  des 
Obturator  dehnt  man  das  vorliegende  Orgaustück  durch  Luft  aus  und  kann  nun 
den  Theil  inspiciren.  Das  längste,  so  einführbare  Speculum,  das  bis  in  die  Flrx. 
sigm,  hinaufreicht,  ist  85  Cm.  lang,  der  Durchmesser  beträgt  22  Mm.  Zur 
Reinigung  der  Schleimhaut  hält  man  Wattebäusche  und  Curetten  bereit.  Die 
diagnostischen  Resultate  sollen  recht  befriedigend  sein. 

Indem  wir  nun  zu  den  rein  klinischen  Arbeiten  übergehen,  nehmen  wir 
eiue  Mittheilung  von  Helling  »)  vorweg.  /Es  handelt  sich  um  einen  Fall  von 
Adhäsion  des  Colon  an  die  Leber,  die  ziemlich  sicher  diagnosticirbar  war. 
Die  Patientin  ist  hartnäckig  obstipirt,  ohne  Abführmittel  oder  Klystier  erfolgt 
kein  Stuhl,  vorher  stellen  sich  aber  heftige,  reissende  und  ziehende  Schmerzen  in 
der  Lebergegend  ein , aber  auch  während  der  Verstopfung  bestehen  Leber- 
schmerzen, es  bläht  sich  dann  die  rechte  Unterbauchgegend  auf.  Durch  die 
Operation,  welche  erwies,  dass  die  Verwachsung  von  einer  eiterigen  Cholecystitis 
ausging,  wurde  Heilung  erzielt. 

Dass  die  Perityphlitis  noch  immer  auf  der  Tagesordnung  steht,  wird 
Niemanden  wundern.  Die  Discussion  dieses  wichtigen  Themas  auf  dem  13.  Congress 
für  innere  Medicin  '♦')  bewirkte  eine  weitere  Annäherung  bestehender  Gegensätze, 
aber  weder  vom  klinischen , noch  vom  pathologisch  anatomischen  oder  experi- 
mentellen Standpunkte  ist  dort  etwas  wesentlich  Neues  vorgehracht  worden  ! Be- 
merkenswerth ist,  dass  die  Ausführungen  des  inneren  Referenten  Sahli  von  inneren 
Klinikern  einige  Anfechtung  erfuhren , während  die  Auseinandersetzungen  des 
Chirurgen  Soxnknbl’rg  auf  dieser  Seite  zum  Theil  Beifall  fanden.  Der  Wider- 
spruch gegen  Sahli’s  Ausführungen  bezog  sich  einmal  darauf,  dass  er  den  Begriff 
der  stercoralen  Ty  phlitis  überhaupt  leugnet.  Dem  gegenüber  hob  besonders 
Stixtzixg  hervor,  dass  die  Koprostase  als  Gclegenheitsursache,  die  die  Ansiede- 
lung der  Bakterien  im  Wurmfortsatz  und  seiner  Umgebung  begünstige,  nicht 
unterschätzt  werden  darf!  Die  Kothansammluug  ist  in  der  That,  sei  es  primär, 
sei  es  seeundär,  recht  häufig  vorhanden ; wie  gelegentliches  Verschwinden  des 
Tumors,  z.  B.  nach  Clysmaapplicationen , beweist.  Dieser  redet  auch  QftxcKE 
deshalb  im  Beginne  einer  nicht  foudroyanten  Perityphlitis  gegebenen  Falles  das 
Wort.  Stärkere  Anfechtung  noch  aber  erfuhr  der  Satz  Sahli’s,  dass  jede 
Typhlitis,  sobald  sie  einen  nachweisbaren  Tumor  erzeuge,  auf  eiteriger  Basis 
beruhe.  Hier  widersprach  vor  Allem  seiner  reichen  Erfahrung  gemäss  CfRSCHMAXN, 
und  auch  die  Ausführungen  von  Sonnexbirg  über  Appendicitis  simpltx 


88 


DAUM. 


zu  deren  Erkenntnis«  er  auf  Grund  zahlreicher  Autopsien  in  vivo  gekommen 
war,  stellten  eine  Widerlegung  der  SAHLt’schen  Behauptung  dar.  So.nnenburg 
führt  als  Kriterien  für  die  Diagnose  dieser  Appendicitis  simplex  und  für  ihre 
Unterscheidung  von  der  eiterigen,  perforativen  Form  an , dass  weder  der  Puls, 
noch  die  Temperatur  bei  den  acut  einsetzenden  Anfallen  wesentliche  Aenderungen 
zeigeu.  Die  Krankheit  beginnt  nicht  sehr  stürmisch ; sie  verlauft  ohne  bedeutende 
Störungen  des  Allgemeinbefindens  und  dauert  nur  kurze  Zeit.  Es  fehlt  also  das 
Bild  einer  schweren  Infection,  die  sich  durch  Schüttelfrost,  Fieber,  Erbrechen, 
Durchfall , heftige  Schmerzen  verräth.  Wenn  nun  auch  das  Vorkommen  dieser 
beiden,  eben  charakterisirten  Typen  zugestanden  werden  darf,  so  scheinen  mir 
mittelschwere  Falle,  die  Uebergangsformen  darstellend,  fast  ebenso  häufig  zu  sein, 
und  gerade  deren  Bcnrtheilung  bietet  grosse  Schwierigkeiten : gerade  für  diese 
Fälle  gilt  die  Unsicherheit  der  Prognose;  gerade  hier  besteht  die  Schwierigkeit 
zu  sagen,  ob  und  wann  der  operative  Eingriff  am  Platze  ist.  Mit  irgend  welcher 
Sicherheit  können  wir  den  Moment,  in  welchem  sich  eine  localisirte  Entzündung 
in  oder  um  den  Wurmfortsatz  verallgemeinern  wird,  nicht  fixiren.  Bei  einer 
plötzlich  acut  verlaufenden  oder  beginnenden  Appendicitis  ist  es  in  den  ersten 
Tagen  unmöglich , zu  entscheiden , ob  es  zur  Begrenzung  des  Processes  oder 
zu  einer  allgemeinen  Peritonitis  kommen  wird,  wie  dies  auch  Kämmerer“) 
jüngst  mit  Recht  betont  hat.  Unter  diesen  Umständen  ist  und  bleibt  die 
scharfe  Indicationsstellung  für  den  operativen  Eingriff  bei  der  Perityphlitis  ein 
frommer  Wunsch. 

Diesen  zweifelhaften  Fallen  gegenüber  nimmt  der  chirurgische  Correferent 
Hklfkrich  den  Standpunkt  ein:  es  ist  besser,  sich  nachher  sagen  zu  können, 
„vielleicht  wäre  der  Patient  auch  ohne  Operation  gesund  geworden“,  als  „durch 
Operation  wäre  der  Patient  zu  retten  gewesen“.  Ist  man  überzeugt , dass  durch 
das  chirurgische  Vorgehen  keine  Gefahr  heraufbeschworen  wird , so  ist  diese 
Auffassung  gewiss  berechtigt , aber  als  ganz  gefahrlos  kann  man  den  Eingriff 
der  Operation  in  kritischen  Fällen  nicht  ansehen. 

Immerhin  zeigt  sich  bereits  in  gewissen  Punkten  eine  erfreuliche  Ueber- 
eiustimmung  in  der  Indicationsstellung  zwischen  inneren  und  chirurgischen 
Klinikern.  Die  hier  von  Sahli  aufgestellten  Gesichtspunkte  beweisen  die  sich 
vollziehende  Annäherung  und  verdienen  als  gut  begründete  zum  Schluss  hervor- 
gehoben zu  werden.  Er  empfiehlt  für  die  ersten  Tage  der  Krankheit  Ruhe  und 
Opium,  vollkommene  Abstinenz  der  Nahrung.  Geht  nach  3,  längstens  nach  8 Tagen 
die  Affection  nicht  ganz  erheblich  zurück,  so  ist  unbedingt  der  operative  Eingriff: 
Entleerung  des  Eiters,  Entfernung  des  Wurmfortsatzes  etc.  vorzunehmen.  Als 
weitere  Indicationen  zur  Operation  giebt  er  2.  an : anhaltendes  Fieber  oder 
Schüttelfrost  gleich  im  Beginn  der  Krankheit,  3.  Wiederauftreten  von  Fieber  und 
Schmerzen  nach  anfänglich  scheinbar  benignem  Verlauf;  4.  nachträgliche  Ver- 
schwärung des  Wurmfortsatzes,  selbst  wenn  spontane  Entleerungen  des  Eiters  in 
den  Darm  u.  s.  f.  stattgefunden  haben. 

Die  merkwürdige  und  unerklärte  Verbindung  von  Appendicitis 
und  rheumatischer  Gelcnkaffection  ist  wieder  mehrfach  in  England  beob- 
achtet worden,  und  zwar  von  Sl'THEBLAND  1J , Frazek  la),  Brazil.  “)  In  allen 
mitgetheilten  Beobachtungen  war  der  Erfolg  des  Xatron  salicyl.  auch  auf  die 
Rückbildung  der  Darmartection  ganz  evident.  Von  Dickdarmentzündungen 
handelt  ein  Aufsatz  von  Hale  White.  lst  Er  unterscheidet  eine  einfache,  mem- 
branöse  und  nlceröse  Colitis.  Bei  der  Colitis  simplex  ist  Diarrhoe  das  hervor- 
stechendste Symptom;  die  Stühle  sind  schleimig,  auch  etwas  bluthaltig;  Druck - 
empfindlichkeit  des  Leibes,  vorwiegend  über  dem  S romanum  : mässige  Leibschmerzen 
sind  fast  constant  vorhanden;  Dyspepsie,  Erbrechen  und  Temperatursteigerang 
finden  sich  nur  bei  schwereren  Fällen.  Indes«  dürfte  hiermit  die  Symptomatologie 
der  einfachen  Colitis  nach  unserer  Ansicht  nicht  erschöpft  sein , da  in  einer 
grossen,  vielleicht  noch  grosseren  Zahl  von  Fällen  Verstopfung  oder  der  Wechsel 


lOode 


DARM. 


89 


von  Verstopfung  und  Diarrhoe  bestehen  kann.  Das,  was  White  über  die  mem- 
branöse  Colitis  sagt , ist  wohlbekannt  und  im  Allgemeinen  zutreffend.  Was  die 
ulceröse  Form  angeht,  so  kommt  sie  am  häufigsten  im  mittleren  Lebensalter  bei 
beiden  Geschlechtern  vor.  Sie  ist  ausgezeichnet  durch  starke  Leibschmerzen  und 
heftige  Diarrhoen.  Selten  besteht  schwerer  Tencsmus,  was  zur  Unterscheidung 
von  Dysenterie  dient.  Die  Entleerungen  sind  übelriechend  und  nicht  selten  mit 
viel  Blut  vermengt , Schleim  fehlt  in  grösseren  Mengen , dagegen  trifft  man 
gelegentlich  fetzige,  gangränöse  Partikelchen ; es  besteht  Fieber.  Der  Tod  erfolgt 
gemeinhin  durch  Erschöpfung  oder  Perforationsperitonitis.  BRlGHT'seho  Krankheit, 
Gicht , Leberabscess  bestehen  neben  der  Darmaffeetion , deren  Behandlung  nur 
eine  symptomatische  sein  kann,  häufig. 

Als  ein  brauchbares  Medicament  bei  chronischen  Darmkatarrhen , die 
mit  Diarrhoen  einhergehen,  habe  ich16)  das  Nosophen,  Tetrajodphenolphthalein 
empfohlen.  Auch  die  Wismuthverbindung  dieses  Körpers,  Eudoxin  genannt,  hat 
sich  mir  wiederholt  bewährt.  Nach  den  bisher  gemachten  experimentellen  und 
klinischen  Erfahrungen  dürfen  diese  im  Wasser  unlöslichen  chemischen  Stoffe 
wohl  den  Darmdesinficientien  zugerochnet  werden.  Man  verordnet  vom  Nosophen 
oder  Endoxin,  die  durchaus  ungiftig  sind,  Dosen  von  0,3 — 0,5  3mal  täglich  ohne 
weiteren  Zusatz.  Die  von  Flein  KR  zuerst  empfohlenen  und  auch  von  mir  erprobten 
Oelklystiere  zur  Behandlung  der  chronischen  Obstipation  rühmt  auch  Berger16), 
und  zwar  bei  jeder  Art  der  Verstopfung. 

Ueber  multiple  Polypenbildung  im  Tractus  intestinalis  und 
deren  Beziehung  zur  Krebsentwicklung  verbreitet  sich  J.  Hai’SER  ,T)  aus- 
führlich. Es  handelt  sich  um  Entwicklung  massenhafter,  warzenartiger  und  poly- 
pöser Schleimhautwucherungen  des  ganzen  Darmcanaleg  und  der  Fortio  pylorica 
des  Magens,  die  auf  eine  primäre  Erkrankung,  respeetive  Entartung  des  Drüsen- 
epithels zurückzufllhren  ist.  Der  hier  mitgetheilte  Fall  war  mit  Carcinoma  recti 
combinirt.  Der  Zusammenhang  ist  wohl  so  zu  erklären,  dass  diese  Wucherungen 
in  Folge  der  Beschaffenheit  des  Epithels  und  des  chronischen  Heizungszustandes, 
in  dem  sie,  namentlich  in  den  tieferen  Abschnitten  des  Dickdarms  durch  die  fort- 
währende Einwirkung  mechanischer  Insulte  erhalten  werden , eine  erhöhte  Dis- 
position zu  krebsigen  Entartungen  bekommen.  Ein  gleichwerthiger  Fall,  der 
einen  19jährigen  Jüngling  betrifft,  wird  von  Port16)  mitgetheilt. 

Als  Curiosum  erwähne  ich  zum  Schluss  das  Auftreten  von  Flagellaten 
im  Darmcanal  nach  Schürmayer  die  beobachtete  Form  von  niederen  Infusorien 
aus  der  Ordnung  der  Flagellaten  war  12 — 14  ut  lang,  4 — 5 u.  breit.  Der  Leib 
war  spindelförmig,  endete  hinten  spitz,  hatte  vorn  zwei  derbe  Cilien,  die  länger 
als  die  Zelle  waren.  Die  Parasiten  glichen  am  meisten  Trichomonas,  sie  bewirkten 
heftige  Diarrhoen. 

Literatur:  ')  Cbristomonas,  Zur  Frage  der  Antiperistaltik.  Wiener  klin.  Rund- 
schau. 1895,  Xr.  12.  — 5)  Swiezinsky,  Nachprüfung  der  Grützner'schen  Versuche  Uber  das 
Schicksal  von  Rectalinjectionen  an  Menschen  uud  Thieren.  Deutsche  med.  Wochenschr.  1895, 
Nr.  32  — s)  Da  über,  Ueber  die  Wirkung  von  Kochsalzklystieren  auf  den  Darin.  Deutsche 
med.  Wochenschr.  1895,  Nr.  34.  — *)  J.  Pal,  Ueber  Darminnervation.  Wiener  klin.  Wochen- 
schrift. 1895,  Nr.  29,  30.  — Dreikc,  Ein  Beitrag  zur  Kenntniss  der  Lange  des  mensch- 
lichen Darmes.  Deutsche  Zeitsehr.  f.  Chir.  XI.1V.  — s)  Obrastzow,  Ueber  die  physikalische 
Untersuchung  des  Darmes.  Arch.  f.  Verdauungskh.  I.  — ’)  F.  Müller,  Einige  Beobachtungen 
aus  dem  Percnssionscurs.  Berliner  klin.  Wochenschr.  1895,  Nr.  13.  — ‘)  H.  A.  Kelly,  A new 
method  of  eramination  and  treatment  of  diseases  of  the  rectum  and  siymoid  fiexura.  Ann. 
of  Snrgery.  April  1895.  — 0 Kelling,  Casuistischer  Beitrag  zur  Diagnose  der  Adhäsion  des 
Colons  an  die  Leber.  Arch.  f.  Verdauungskh.  I.  — *•)  Sahli,  Sonuenburg,  Stintzing, 
Curschmann,  Quincke,  Die  Pathologie  und  Therapie  der  Typhlitiden.  Verhandlungendes 
13.  Congresses  für  innere  Medicin.  — ")  Kämmerer,  Zur  Prognose  der  Appendicitis.  New- 
Yorker  med.  Monatschr.  VIII,  Nr.  7-  — Sutherland,  Appendicitis  and  Hheumatism. 
I.ancet.  1895,  II,  pag.  457-  — **J  Brazil,  Brit.  med  Journ.  1895,  I,  pag.  1142.  — **)  Frazer, 
Ibid  , pag.  1320  — ,!)  Rosenheira,  Ueber  Nosopheiu  bei  Darmaffcetionen.  Berliner  klin. 

Wochenschr.  1895,  Nr.  30.  — 1,;)  Berger,  Ueber  die  Behandlung  der  chronischen  Obstipation 
durch  grosse  Oelklystiere.  Deutsche  med.  Wochenschr.  1895,  Nr.  30.  — ,:)G.  Hauser,  Ueber 


90  DARM.  — DERMATOMYKOSEN. 

Polypoxi*  intestinalis  und  deren  Beziehungen  zur  Krebsentwicklung.  Deutsches  Arch.  f.  klin. 
Med.  LV.  — ,s)  Port,  Multiple  Polypenhildung  im  Darmcanal  des  Menschen.  Deutsche  Zeit- 
schr.  f.  Chir.  XLII.  — ltf)  Schürmaver.  Uel>er  das  Vorkommen  von  Flagellaten  im  Dann- 
canal des  Menschen.  Centralbl.  f.  Bakteriol.  u.  Bakterienk.  XVIII,  Nr.  11.  Rosen  heim. 

Darmdesinfection  bei  Typhus,  s.  Abdominaltyphus,  pag.  4. 

Dermatol,  bei  scrophulöscr  Conjunctivitis,  s.  A u gen  bei  1 mit tel,  pag.  27. 

Dermatomykosen.  Zu  den  Mykosen  der  Haut  im  weitesten  Sinne 
gehören  sowohl  die  durch  Bakterien,  als  durch  pflanzliche  Parasiten  und  die  durch 
„makroskopische“  Parasiten  hervorgerufenen  Affcctionen.  Im  HEBBA'schen  System 
bilden  die  parasitären  Dermatosen  die  zwölfte  Classe:  nicht  enthalten  in  derselben 
sind  aber  die  durch  Bakterien  hervorgerufenen  Krankheiten. 

Im  Allgemeinen  — nicht  ganz  logisch  — versteht  man  unter  mykotischen 
llauterkrankungen  ans  der  Classe  der  parasitären  Erkrankungen  nur  die,  die 
durch  nicht  bakterielle,  pflanzliche  Parasiten  hervorgerufen  werden,  also: 

Favus , Herpes  fonsurans  (Trichophytie),  Pityriasis  rose  de  Gibst  t, 
Eczema  maryinatum,  Erythrasma  und  Pityriasis  versico/or. 

A.  Favus  und  Trichophytie. 

Es  kann  nicht  in  der  Absicht  dieser  Cebersieht  liegen,  (Iber  die  in 
Frage  stehenden  Affectionen  eine  vollständige  Abhandlung  zu  schreiben  — da- 
durch würde  der  Rahmen,  der  dieser  Arbeit  durch  die  Verhältnisse  des  vor- 
liegenden Werkes  gezogen  ist,  weit  überschritten  werden.  Es  sind  aber  gerade 
über  die  Parasiten,  welche  die  mykotischen  Hauterkrankungen,  speciell  den  Favus 
und  die  Trichophytie  hervorrufen,  in  den  letzten  Jahren  so  zahlreiche,  besonders 
das  allgemein  - pathologische,  in  gewissem  Sinne  aber  auch  das  therapeutische 
Interesse  beanspruchende  Arbeiten  veröffentlicht  worden , dass  eine  Uebcrsicht 
Uber  das,  was  bis  heute  erreicht  ist,  ein  allgemeineres  Interesse  beanspruchen  darf. 

I.  Die  Frage  der  Unicität  oder  Pluralität  der  Erreger  des  Favus  und  der 

Trichophytie. 

Seit  einigen  Jahren  ist  ein  heftiger  Streit  entbrannt,  ob  die  durch 
Züchtung  dargethanen  verschiedenen  Formen  der  Pilze  des  Favus  und  der 
Trichophytie  nur  auf  einem  Poly-  oder  Pleomorphismus  eines  und  desselben  Pilzes 
beruhen,  oder  ob  wir  es  mit  verschiedenen  Speeies  von  verwandten  Pilzen,  denen 
einander  zwar  ähnliche,  aber  doch  deutlich  differenzirte  klinische  Krankheitsbilder 
entsprechen,  zu  thun  haben. 

Wir  wollen  nicht  auf  die  älteren  Arbeiten  zurfickgreifen,  in  die  Zeit, 
als  man  nicht  einig  war,  ob  Fants,  Herpes  tansurans  und  Pityriasis  versico/oi 
verschiedene  Erscheinungsformen  einer  und  derselben  Pilzinfection  seieu,  oder  ob 
es  sich  um  drei  wohlunterschiedene  Pilze  handle. 

Die  rebertragung  der  durch  Koch  s Entdeckungen  in  der  Bakteriologie 
gewonnenen  Erfahrungen  auf  die  pflanzlichen  Parasiten  schien  hier  ein  weites 
und  dankbares  Feld  der  Forschung  zu  eröffnen.  Und  so  sehen  wir  denn,  be- 
sonders lebhaft  in  den  letzten  fünf  Jahren,  eine  Reihe  von  Forschem  mit  der 
Bearbeitung  dieses  (iebietes  der  Dermatologie  beschäftigt. 

An  anderen  Fragen  bakteriologischer  Natur  geschult,  suchten  diese 
Forscher  die  Pilze,  welche  als  Ursache  der  Dermatomykosen  bekannt  waren,  zu 
züchten,  ihre  biologischen  Eigenschaften  zu  studiren. 

Aber  gerade  der  wesentliche  Punkt  bei  diesem  Studium,  die  Herstellung 
von  Reinculturen,  stiess  auf  ausserordentliche  Schwierigkeiten. 

Die  Schwierigkeiten,  aus  Material,  wie  Haare,  Schuppen,  Krusteu. 
Theilen,  die.  an  der  Oberfläche  der  Haut  liegend,  mit  allen  möglichen  Schimmel- 
pilzen und  bei  secundären  Eiterungen  auch  Eiterungserregern  vermischt  sind, 
Reinculturen  zu  gewinnen,  sind  schon  an  und  für  sich  gross.  Aber  die  Schwierig- 


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DERMATOMYKOSEN.  RI 

keilen  sind  noch  weit  anderer  Natur;  sie  liegen,  wie  wir  sehen  werden,  in  dem 
N'ebeneinanderleben  je  nach  der  Zusammensetzung  des  Nährbodens  zu  ganz  ver- 
schiedenen Zeiten  zur  Entwicklung  kommender  Filze  — Sabol'RAUD  bezeichnet 
dieselben  als  „Commensalen“. 

a)  Favus. 

Schon  die  erste  QnxcKE’sche  ’)  Arbeit  Ober  den  Favuspilz,  Acliorion 
ikhoenleinii , traf  den  Punkt,  um  den  sich  heute  besonders  der  Streit  zwischen 
Uxxa,  KrAl-Pick,  Sabopbaüd  und  Mibki.u  dreht  — um  die  Pluralität  des 
verursachenden  Parasiten. 

Es  stand  zwar  fest,  dass  speciell  auf  dem  Huhn  zwei  Arten  von  Favus 
zur  Beobachtung  kommen,  eine  dem  Huhn  eigenthlimliche  und  ausserdem  der 
menschliche  Favus,  der  sich  auf  das  Huhn  verimpfen  liess ; weiter  hatte  man 
Favus  auf  dem  Hund  und  Pferd  nachgewiesen. 

Aber  Qdixckk  war  der  erste,  der  eine  Pluralität  des  Favus  auf  dem 
Menschen  angab  — den  a,  fl  und  y Pilz,  die  er  in  einer  späteren  Arbeit  auf 
den  x und  y Pilz  reducirte.  Er  fasste  seine  Resultate  zusammen  in  die  Sätze  *) : 

I.  Favus  wird  nicht  durch  einen  und  denselben,  sondern  mehrere  mikro- 
skopisch und  culturell  verschiedene,  wenn  auch  nahe  verwandte  Pilze  erzeugt. 

II.  Mit  den  sich  ergebenden  bakteriologischen  Unterschieden  decken 
sich  die  gesetzten  klinischen  Erscheinungen  bis  zu  einem  gewissen  Grade,  indem 
die  eine  Pilzart  nur  bei  der  als  Herpes  faveticus  bezeichneten  Veränderung  der 
Haut  vorzukommen  scheint. 

ln  diesen  zwei  Sätzen  ist  das  ausgedrückt,  was  seither  zu  zum  Theil 
heissen  Controversen  geführt  hat  — und  zwar  sowohl  für  den  Favus,  wie  für 
den  Herpes  tonsurans ; man  kann  auch  bis  heute  nicht  sagen,  dass  die  Frage 
für  beide  Erkrankungen  in  dem  einen  oder  andern  Sinne  definitiv  entschieden 
sei.  Auf  die  Frage:  Gieht  es  eine  Pluralität  der  Pilze,  welche  die  Affection  hervor- 
rufen,  die  wir  als  Favus,  als  Trichophytie  bezeichnen,  antworten  die  Einen 
ebenso  entschieden  und  mit  guten  Gründen  besonders  für  den  Favus  mit  Nein, 
wie  die  andere  Partei  gestützt  auf  das  Experiment  das  Gegentheil  versichert. 
Und  ebensowenig  sind  die  Anhänger  der  Pluralität  der  Pilze  bis  heute  darüber 
einig,  ob  jeder  Pilzart  eine  klinisch  scharf  charakteristische  Erkrankungsform 
entspricht. 

Abgesehen  von  der  grossen  Schwierigkeit,  die  sieh  — wir  kommen 
darauf  zurück  — in  der  Herstellung  der  Reinculturen,  besonders  wegen  der 
vou  Sabouraud  als  „Commensalcn“,  „Tisehgenossen“,  bezeichneten  acces- 
sorischeu  Pilze,  der  Auswahl  der  geeigneten  Nährböden  einer  baldigen  einheit- 
lichen Entscheidung  der  Frage  entgegenstellen,  scheint  mir  eine  andere,  viel 
grössere  Schwierigkeit  in  der  Unmöglichkeit  zu  liegen,  die  gezüchteten  Pilze 
genau  zu  bestimmen,  nach  Arten  zu  ordnen.  Die  Botaniker  selbst  sind,  wie 
Doctrelkpoxt  s)  sehr  richtig  schon  auf  dem  C’ongress  1889  bemerkte,  noch 
nicht  so  weit,  die  uns  interessirenden  Pilze  genau  nach  Arten  sondern  zu  können. 
Und  bei  der  nämlichen  Gelegenheit  führt  Kaposi  *)  einen  Ausspruch  de  Bary’s 
an:  „So  lange  die  Dinge  klinisch  anders  aussehen.  haben  wir  Botaniker  nicht 
das  Recht  zu  sagen,  dass  diese  Pilze  von  einer  PHanze  herrühren,  weil  wir 
diese  Pilze  nach  ihren  morphologischen  und  Eutwicklungseigenschaften  vorderhand 
zu  unterscheiden  nicht  im  Staude  sind.“  Wir  Aerzte  sind  hier  gegenüber  den  Bo- 
tanikern meinem  Gefühle  nach  in  der  gleichen  Lage  wie  die  Aerzte,  welche  sich 
mit  physiologischer  Chemie  beschäftigen,  gegenüber  den  Chemikern  vom  Fach  sind 
— die  Chemiker  sehen  den  Arzt  chemische  Formeln,  organische  Umsetzungen 
anfstellen,  deren  Ausgangsformel  und  Ausgangsproduct  vollständig  hypothetisch 
sind,  und  demgemäss  fällt  das  Urtheil  des  Chemikers  aus! 

Die  IjiTXCKK’schen  Untersuchungen  — die  Ergebnisse  hat  QnxcKK 
übrigens  in  späteren  Publica tion  en  ‘)  aufrecht  erhalten  — wurden  zunächst 


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in  Doctrklepoxt’s  Klinik  von  Fahry  ä)  wieder  aufgenommen.  Fabky  drückt 
sieh  vorsichtig  dahin  ans,  dass  der  a-Pilz  selten  sein  müsse,  denn  es  sei  ihm 
nie  gelungen,  denselben  zu  züchten ; die  Form  des  Favus  herpetica*  werde 
offenbar  manchmal  auch  durch  den  v-Pilz  hervorgerufen. 

Elskxbehg  e)  bestätigte  zunächst  im  wesentlichen  Qcixcke’s  Befunde,  in 
einer  späteren  l’ublieation  ’)  stellt  er  sich  aber  auf  den  Standpunkt  P.ck-Khal’s. 

Pick  ?)  hatte  schon  1887  die  Richtigkeit  der  Quinte  E’schen  Resultate 
auf  Grund  eigener  Impfresultate  in  Zweifel  gezogen.  Aus  seiner  Klinik  ging 
nun  eine  Reihe  von  sehr  wichtigen  und  mit  grosser  Schärfe  durchgeführten 
Arbeiten  hervor. 

Zunächst  auf  dem  deutschen  Dermatologencongress  1889  stellte  Krai,  ») 
eine  Reihe  von  Culturen  aus  von  sechs  Fadenpilzen,  die  er  aus  Favus  und  von 
3 Fadenpilzen , die  er  aus  Eczema  marginatum  gezüchtet  hatte,  ohne  hieraus 
Schlüsse  auf  die  Pluralität  des  Favuserregers  zu  ziehen.  Ebenso  demonstrirte  Jadas- 
sohn  l0)  Favusculturen , ohne  sich  entschieden  für  oder  gegen  Quincke  auszu- 
sprechen. 

Kkal  n)  setzte  seine  Versuche  fort,  nach  Vervollkommnung  seiner  Technik, 
worauf  wir  weiter  unten  noch  näher  eingehen  werden,  und  veröffentlichte  die- 
selben gemeinschaftlich  mit  Pick.  **) 

Das  Ergebniss  dieser  Arbeit  fassen  die  beiden  Autoren  dahin  zusammen, 
dass  es  nur  einen  Favuspilz  giebt;  der  Grund  für  die  Verschiedenheit  der 
genetischen  Entwicklung  des  Favus  — ob  herpetisches  Vorstadium  oder  nicht 
— liegt  in  der  anatomischen  Verschiedenheit  der  Oertlichkeit  und  in  der  Ver- 
schiedenheit der  Ilebcrtragungsweise.  Gleichzeitig  geht  aber,  so  schliesst  Kral 
(pag.  111)  seine  vorzügliche  Arbeit,  „aus  diesen  Untersuchungen  hervor, 
dass  keiner  der  bisher  beschriebenen  Favuspilzc  mit  unseren  Favus- 
erregern identisch  ist“. 

In  einem  späteren  Vortrage  präcisirt  Pick15)  die  Untersuchungsergebnisse 
noch  einmal  dahin : 

1.  „Dass  der  einem  Scutnlum  vom  behaarten  Kopf  entnommene  Pilz 
bei  Ueberimpfung  auf  unbehaarte  Körperstellen  eine  mächtige  Favuserkrankuug 
hervorzurufen  im  Stande  ist,  und  dass  sich  die  Entwicklung  der  Krankheit  bei 
epidermoidaler  Impfung  vorwiegend  unter  dem  Bilde  eines  herpetischen  Vor- 
stadiums vollzieht.“ 

2.  „Dass  der  demselben  Scutulum  entnommene  Pilz,  nachdem  er  auf 
Agar  gezüchtet  wurde,  durch  Ueberimpfung  auf  unbehaarte  Hautstellen  dieselbe 
Krankheit  und  unter  demselben  Bilde  zu  erzeugen  im  Stande  ist.“ 

3.  „Dass  die  aus  beiderlei  Arten  von  Impfscutulis  gezüchteten  Pilze 
mit  dem  aus  genuinen  Herden  gezüchteten  Parasiten  übereinstimmeu.“ 

„Ich  glaube  daher  die  Kette  als  geschlossen  betrachten  zu  dürfen,  den 
Favus  als  einen  einheitlichen  Krankheitsprocess  dargethnn  zu  haben  und  den 
wohlcharakterisirten  Pilz  als  den  Erzeuger  der  Krankheit  bezeichnen  zu  können.“ 

Aus  den  klinischen  und  experimentellen  Beobachtungen  dieser  Arbeit 
ging  ferner  hervor: 

1.  Dass  die  Entwicklung  der  Scutula  nicht  an  die  Anwesenheit  von 
Haarbälgen  gebunden  ist. 

2.  Wann  und  unter  welchen  Bedingungen  cs  zur  Entwicklung  des  Favus 
herpeticus  kommt,  und  dass  diese  Favusform  nur  von  der  Beschaffenheit  der 
Haut  und  dem  Modus  der  Uebertragung  abhängt. 

3.  Dass  es  ausser  dem  Favus  scutularis  und  herpeticus  noch  eine 
dritte  Erkrankungsform  an  Favus  giebt,  der  Farns  maculosus,  welcher  analog 
dem  Herpes  tonsurans  maculosus  in  acuter  Weise  und  oft  über  den  ganzen 
Körper  verbreitet  auftritt  und  nachweislich  durch  denselben  Favuspilz  hervor- 
gerufen wird  wie  der  Favus  scutularis  und  der  Favus  herpeticus. 


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Hl 

Während  nun  die  Arbeiten  von  Mibelli  '*),  Ddbreitlh15),  Mariaxklli14) 
und  FuLLY  u)  einen  einzigen,  und  zwar  mit  dem  von  KbäL-Pick  identiselien  Pilz 
als  Ursache  des  Favus  ergeben  haben,  sind  aus  dem  UNNA’sehen  Laboratorium 
eine  Reihe  von  Arbeiten  hervorgegangen,  durch  welche  die  Pluralität  der  Favus- 
pilze und  entsprechende  verschiedene  klinische  Formen  der  Erkrankung  dar- 
gelegt werden. 

In  einer  in  Unna’s  Laboratorium  ausgefflhrten  Arbeit  stellt  Frank  ’•) 
folgende  drei  Fragen : 

1.  Ist  der  Favus  der  Thiere  identisch  mit  dem  des  Menschen? 

2.  Giebt  es  verschiedene  Favi  des  Menschen,  respective  des  Thieres  oder 
nur  einen? 

3.  Im  Falle,  dass  von  den  verschiedenen,  bisher  als  Favus  beschriebenen 
Hyphomyceteu  nur  einer  der  richtige  ist,  welcher  Pilz  ist  als  solcher  zu  be- 
trachten ? 

Die  erste  Frage  ist  uicht  scharf  zu  entscheiden;  die  Uebertragung  des 
F avus  von  Mensch  auf  Thier  und  vice  versa  ist  bewiesen ; doch  bleibt  es  späteren 
Versuchen  Vorbehalten,  zu  prüfen,  inwiefern  vielleicht  ein  bestimmter  Favuspilz 
in  dominirender  Weise  bei  einer  Thierspecies  oder  beim  Mensehen  vorkommt. 

Die  zweite  Frage  ist  dadurch  beantwortet,  dass  dem  Verf.  die  Züchtung 
von  drei  verschiedenen  Species  von  Favus  geglückt  ist  aus  vier  Rcinenlturen  vom 
Menschen  und  einer  Rcineultur  von  Mäuse-Favns.  Damit  ist  auch  die  dritte  Frage 
beantwortet. 

In  einem  Vortrag  theilt  dann  Unna  >*)  weitere  Untersuchungen  über 
die  drei  Favusarten  mit,  und  zwar  giebt  er  ihre  klinischen  und  culturellen  Unter- 
schiede an.  Er  bezeichnet  dieselben  als  Favus  yriseus , Favus  sulfureus  tardus 
und  Favus  sulfureus  celerior.  Eine  beigegebeue  Tafel  stellt,  auf  einem  Arm 
nebeneinander,  die  gelungene  Impfung  mit  dem  Pilz  des  Favus  yriseus  und  des 
Favus  sulfureus  celerior  dar.  Auf  Mäusen  haben  alle  drei  Formen  typische, 
aber  durch  charakteristische  Merkmale  unterschiedene  Scutula  gegeben,  ln  einer 
späteren  Mittheilung !0)  giebt  UNNA  die  botanische  Beschreibung  dieser  Pilze,  die 
er  als  Achorion  euthythrix  ( Favus  yriseus),  Achorion  dikroon  (Favus  sulfureus 
tardus),  Achorion  atakton  (Favus  sulfureus  celerior)  bezeichnet. 

Schon  in  den  beiden  vorstehenden  Arbeiten  deutet  Unna  darauf  hin, 
dass  die  Zahl  der  Favusspecies  noch  viel  grösser  ist.  Die  weiteren  Mitlheilungen 
erfolgen  in  einer  gemeinsamen  Arbeit  mit  Nkebe.  ,ki  Hier  werden  neun  rein 
gezüchtete,  wohlunterschiedene  Favusspecies  angegeben.  Dieselben  werden  in 
zwei  grössere  ClaBsen : aerophile  und  aerophobe  Arten  eingetheilt.  Erstere  bilden 
reichliches  Luftmycel,  Luftsporen,  keine  Anschwellungen:  letztere  geriuges  Luft- 
mycel,  keine  Luftsporeu,  geformte  Anschwellungen.  Ausserdem  haben  sich  Ver- 
schiedenheiten ergeben  — auf  gleichem  l'ulturmedium  — zwischen  den  aus 
verschiedenen  Gegenden  eingesandten  Pilzen,  so  dass  Unna  einen  Favus  sardini- 
ensis,  Favus  scoticus,  batavus,  hamburyensis,  bohemievs,  polonicus  unterscheidet. 
Unna  ist  aber  weit  entfernt  zu  glauben , dass  hiermit  die  Zahl  der  wohl- 
charakterisirten  Favuspilze  abgeschlossen  ist. 

Die  Arbeiten  seither  über  Favus  beschäftigen  sich  nun  fast  ausschliess- 
lich mit  der  Controle  und  Kritik  der  UNNA'schen  Arbeiten.  Zunächst  nennen 
wir  eine  Untersuchung  von  Sabhazks.  *')  Er  hat  deutlich  differenzirbare  Favus- 
species vom  Menschen,  vom  Huhn  und  vom  Hund  gezüchtet.  Diese  kurze  Arbeit 
ist  vom  höchsten  Interesse  uud  enthält  eine  Fülle  von  wichtigen  Daten,  die  für 
die  Beurtheilung  der  ganzen  Frage  viel  zu  denken  geben.  Zunächst  hat  Sabrazes 
von  17  Fällen  von  Menschenfavus  lTmal  den  gleichen  Pilz  in  Rcineultur  erhalten. 
Culturen  dieses  Pilzes  ergaben  auf  Mäusen  typische  Scutula;  Impfungen  von 
diesen  Scutulis  auf  Männern  meist  eine  abortive  Favusform;  auf  Hasen  und 
Hühnern  waren  die  Impfresultate  positiv,  auf  Hunden  negativ.  Aus  den  vom 
Thier  gewonnenen  Pilzen  konnte  stets  der  ursprüngliche  Pilz  in  Rein- 


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cultur  gewonnen  werden.  Das  Achorion  Sabrazes’  ist  identiseli  mit  dem  von 
Krad,  Mibelli,  Pi.aüT  und  stimmt  (Hierein  mit  dem  Achorion  atakton  und 
dikroon  Unna ’s. 

Kiner  der  Hauptunterschiede  zwischen  diesem  Menschenfavus  und  dem 
Favus  vom  Huhn  und  dem  vom  Hunde  ist,  dass  elfterer  gut  bei  2f> — 37°,  gar 
nicht  hei  13°  wächst,  während  die  beiden  letzteren  bei  13“  gut  wachsen. 

Der  Favus  des  Huhnes  ist  klinisch  und  mikroskopisch  ein  echter  Favus, 
liervorgerufeu  durch  das  Epidermophyton  gaUinae  Meynin.  Der  Htlhnerfavus 
hat  beim  Menschen  nach  den  experimentellen  Ergebnissen  niemals  Scutulabilduug 
zur  Folge,  sondern  nur  erythemato-squamöse  Flecken.  Auf  der  Maus  bilden  sich 
sehr  langsam  wachsende  graue  Scutula. 

Der  Favus  des  Hundes  ist  ebenfalls  klinisch  und  mikroskopisch  ein 
echter  Favus.  Auf  der  Maus  hat  die  Impfung  des  Hundefavus  eine  sehr  rasche, 
maligne  Favusentwicklung  zur  Folge;  die  Scutula  sind  tiefgelb,  leicht  röthlich. 
Uebrigens  ist  der  Pilz  ganz  unverändert  rein  aus  diesen  Mäusescutulis  wieder 
zu  züchten.  Die  Impfung  auf  Hühner  hat  ein  negatives  Resultat  ergeben. 

Die  Impfung  dieses  Pilzes  auf  Menschen  ergiebt  nur  Herpes  tonsurans- 
artige  Flecken;  nur  einmal  — und  dieses  Factum  durfte  biologisch  vielleicht  von 
grösster  Bedeutung  sein  — wurde  mit  dem  Pilz  des  Ilundefavus  Scntulabildung 
beim  Menschen  beobachtet,  und  zwar  aus  einer  Cultur  von  einem  durch  Hundefavus 
auf  der  Maus  erzeugten  Scutulum. 

In  einer  späteren  Arbeit  mit  Costaktin**)  gemeinsam  wird  noch  eine 
genauere  Beschreibung  der  Culturen  der  verschiedenen  Pilze  gegeben. 

Der  Menschenfavus,  Achorion  Schoenleinii,  Oospora  porriyinis,  ist  eine 
einheitliche  Art;  von  der  von  Unna  angenommenen  Multiplicität  dieser  Species 
hat  sich  Sabrazes  nicht  überzeugen  können. 

Der  Hundefavus  ist  als  Oospora  canina,  der  Hühnerfavus  als  Epider- 
mophyton gal/isiae  bezeichnet. 

Biro  **)  hat  mit  Erfolg  den  Elsenberg 'sehen  Favuspilz  auf  sich 
geimpft.  Er  ist  der  Ansicht,  dass  die  Differenzen  zwischen  den  verschiedenen 
Autoren  nur  auf  den  Polymorphismus  eines  und  desselben  Pilzes  zurückzuführen 
sind,  und  dass  diese  Differenzen  nur  durch  die  Verschiedenheit  der  Culturmedien 
bedingt  sind. 

Dieselbe  Ansicht  spricht  im  wesentlichen  TisCHOUTKtNK  *’)  aus. 

Die  Arbeiten  aus  dem  BESXlER'schen  Laboratorium,  denen  wir  uns  nun 
zuwenden,  sind  von  ausserordentlicher  Klarheit,  Kritik  und  Vorsicht  in  der 
Auslegung  der  eigenen  Resultate.  Wir  werden  uns  mit  den  Ergebnissen  besonders 
der  SABOL'RAt'D’schen  Arbeiten  weiterhin  noch  eingehend  zu  beschäftigen  haben. 

Bodin  s‘)  kommt  in  seiner  ersten  Arbeit  zu  folgenden  Schlüssen  : 

„1.  Die  Pluralität  der  Favusarten  ist  heute  nicht  mehr  zu  bestreiten. 

2.  Die  Zahl  der  Favusarten  scheint  sehr  gross  zu  sein.  Es  ist  deshalb 
nicht  angängig,  dass  man  eine  Favusart  schon  jetzt  nach  dem  Individuum  (Mensch, 
Thier)  benennt,  auf  dem  man  den  Pilz  gefunden  hat.  Denn  es  ist  ganz  unbe- 
wiesen, dass  ein  Thier  nicht  mehrere  Favusarten  haben  und  dieselbe  Favnsart 
nicht  auf  mehreren  Thieren  Vorkommen  kann. 

3.  Ebenso  ist  es  verfrüht,  Favusarten  nach  dem  Lande  zu  bezeichnen, 
in  dem  sie  gefunden  sind.  In  einem  Lande  können  mehrere  Arten  Vorkommen 
und  die  gleiche  Favusart  kann  man  in  mehreren  Ländern  linden.  So  haben  wir 
z.  B.  nur  vom  Menschen  auf  einem  beschränkten  Bezirk  auf  19  Fällen  7 Arten 
gezüchtet. 

4.  Da  die  Zahl  der  Favusarten  sich  jetzt  selbstverständlich  nicht  Voraus- 
sagen lässt,  so  muss  man  von  vorucherein  die  weitere  lsolirung  von  ein  oder 
zwei  neuen  Arten  als  sehr  leicht,  aber  auch  als  von  nur  secundürem  Interesse 
ansehen.  Es  sei  denn,  dass  man  diese  bestimmte  Art  sofort  beim  Menschen 
diagnosticircn  und  bestimmte  Angaben  über  Prognose  und  Therapie  machen  kann. 


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Man  «oll  sich  vor  Difterenzirungen  rein  theoretischer  Art  hüten,  denn  sie  sind 
für  den  Arzt  vollständig  werthlos.“ 

Die  Resultate  der  zweiten  Arbeit26)  widersprechen  denen  der  ersten 
Arbeit  zum  Theil  diametral.  Obwohl  in  den  Conelusionen  Punkte  enthalten 
sind,  die  wir  erst  weiterhin  zu  erörtern  haben,  so  wollen  wir  doch  das  Ganze 
hier  geben: 

I.  Der  erste  Factor  in  der  Aetiologie  des  Favus  sind  Favuskranke  — 
sie  sind  durch  directe  oder  indirecte  Contagion  die  Ursache  des  Menschenfavus. 
Contagion  vom  Thier  kommt  zwar  vor,  ist  aber  viel  seltener. 

Vielleicht  existirt  das  Achorion  auch  als  Saprophyt.  Demgemäss  würde 
der  Mensch  dann  auch  frei  in  der  Natur  dem  ursprünglichen  Keim  der  An- 
steckung begegnen  können. 

II.  Klinisch  hat  man  mit  Recht  verschiedene  Favusformen  aufgestcllt 
i Fokus  impe'igineux,  Favus  alypique).  Gleichwohl  ergiebt  eine  aufmerksame 
Untersuchung  der  primären  Läsionen  (Scutula,  Haare',  dass  diese  primären 
IJisionen  sich  immer  gleich  bleiben.  Die  Unterschiede  zwischen  den  klinischen 
Formen  dürften  anf  secundäre  Eigenschaften  zurüekzufiihren  sein,  auf  Zahl,  An- 
lagen, Intensität  der  Läsionen  und  auf  die  Association  beliebiger  Mikroorganismen 
mit  dem  Achorion  Schoeuleinii. 

Während  bei  den  Trichophytien  die  elementaren  Charaktere  der  Affeetion 
grosse  Verschiedenheiten  darbieten  können,  dürfen  wir,  scheint  es,  trotz  des 
manchmal  sehr  verschiedenartigen  Aussehens  schliessen,  dass  es  klinisch  nur 
einen  Favus  giebt. 

III.  Die  mikroskopische  Untersuchung  der  Favus-Läsionen  kann  uns  bei 
dem  heutigen  Staude  unseres  Wissens  keine  Beweise  bringen , weder  für  die 
l'nität.  noch  für  die  Pluralität  des  Favus.  Man  kann  mit  Recht  einerseits  sagen, 
dass  sieh  alle  Favusforinen  in  den  Haaren  in  allen  Fällen  sehr  ähneln,  andererseits 
muss  man  zugeben,  dass  es  sehr  zahlreiche  Formen  giebt. 

Dieser  Polymorphismus  erstreckt  sich  selbst  auf  die  Haare  eines  und 
desselben  Individuums;  er  lässt  die  Unität  des  Parasiten  weniger  augenfällig 
werden,  auf  den  andererseits  zahlreichere  Untersuchungen  hinzuweisen  scheinen. 

IV'.  Aus  dem  Studium  der  C’ulturen  des  Achoriou  ergiebt  sieh  Folgendes: 

A.  Das  Culturmedium  spielt  für  das  Achorion,  wie  für  alle  Pilze,  eine 
überaus  wichtige  Rolle. 

Wenn  man  dem  nicht  Rechnung  trägt,  so  sind  die  erzielten  Resultate 
als  Experiment  werthlos. 

B.  Bei  den  Achorion-Uulturen,  wie  bei  denen  der  grosssporigen  Tricho- 
phyten,  kommen  kryptogamische  Associationen  vor,  und  zwar  in  */i  aller  Fülle. 

Die  assoeiirten  Pilze  haben  keine  pathogene  Bedeutung  und  scheinen 
sieh  dem  Achorion  nur  gleichsam  als  Tischgenossen  zuzugesellen. 

C.  Zweifellos  giebt  cs  Varietäten  des  Achorion;  sie  sind  nicht  zahlreich 
und  stehen  einander  sehr  nahe,  scheinen  aber  trotzdem  wohl  unterschieden  zu 
sein.  Denn  wenn  man  sie  mehrfach  anf  den  verschiedensten  Medien  gezüchtet  hat, 
kann  man  gleichwohl  niemals  eine  Form  in  die  andere  überführen. 

Auf  50  Favii8krnnken  haben  wir  fünf  Varietäten  des  Pilzes  gefunden 
und  zwar  der  Frequenz  nach: 

1.  das  von  Krai.  beschriebene  Achorion  Schoeuleinii : 

2.  u.  3.  zwei  Varietäten,  deren  Beschreibung  wir  noch  nicht  bei  anderen 
Autoren  angetroflen  halten ; 

4.  das  Achorion  euthythrix  Unnae; 

5.  das  Achorion  ataklon  Unnae. 

Vom  botanischen,  cryptogamischen  Standpunkt  ist  demnach  die  Pluralität 
der  Favusarten  des  Menschen  bewiesen.  Bis  jetzt  hat  aber  die  sorgfältigste  Unter- 
suchung der  Läsionen  in  keiner  Weise  erlaubt,  bestimmte  Beziehungen  zwischen 
der  ätiologischen  Favusform  und  der  klinischen  Form  aufzustellen. 


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yt> 


Entjiegcn  dem,  was  sieh  hei  den  Trichophytien  ergeben  hat,  mit  denen 
der  Favus  in  der  Pluralität  der  Arten  sich  gleicht,  ist  es  nicht  möglich  gewesen, 
bestimmten  Favusarten  bestimmte  klinische  Bilder  gegentiberzustellen. 

Für  jetzt  wenigstens  hat  also  die  Thatsache  der  Pluralität  des  Favus 
keine  praktischen  Folgen  für  die  Klinik;  sie  bleibt  vorläufig  von  rein  wissen- 
schaftlichem Interesse. 

V.  Die  thatsächliche  Art  der  Fructifieation  des  Aehorion  ist  bis  jetzt 
unbekannt  und  demgemäss  ist  die  Classification  der  Pilze  der  Zukunft  Vor- 
behalten.“ 

Als  Pick  a")  auf  dem  vierten  Congress  der  deutschen  dermatologischen 
Gesellschaft  eine  Uebersieht  Uber  den  augenblicklichen  Stand  der  Dermatomykosen  - 
lehre  gab,  konnte  er  die  Boi>in 'sehen  Favusarbeiten  noch  nicht  berücksichtigen. 
Auf  Grund  der  eigenen  und  KRÄt/schen  Untersuchungen  kommt  er  in  seinen 
UNNA  kritisirenden  Ausführungen  zu  dem  Kesultate,  dass  wir  (1.  c.  pag.  71) 
heute  den  Nachweis  als  einwandfrei  erbracht  ansehen  müssen , dass  die  als 
klinische  Einheit  aufzufassende  Krankheitsform  des  Menschen,  der  Favus,  durch 
einen  einzigen  specifischen  Pilz,  das  Aehorion  Schoenleinii,  erzeugt  wird. 

Näher  ansgeführt  wird  der  KRÄD-PtCK’sehe  Standpunkt  in  einer 
sehr  klar  durchgeführten  Arbeit  von  Kral*"),  in  denen  er  zu  folgendem 
Schluss  kommt: 

Wuchs-,  Form-,  Pigment-  und  Rcactionsvariationen  berechtigen  au  und 
für  sich , ein  identisches  pathogenes  Verhalten  innerhalb  gewisser  klinischer 
Grenzen  vorausgesetzt,  nicht  zur  Aufstellung  von  neuen  Arten  der  pathogenen 
nautfadenpilze. 

Meine  eigenen  Erfahrungen  lassen  mich  fast  unbedingt  den  BODIN'schen 
(Besnier 'sehen)  Sätzen  anschliessen.  Dass  speciell  die  Multiplicität  der  Favus- 
pilze zur  Aufstellung  klinischer  Unterscheidungsmerkmale  heute  nicht  berechtigt, 
habe  ich  verschiedentlich  durch  das  Experiment  feststellen  können.  Ich  habe, 
stets  bei  Favuskranken,  die  mir  in  leider  zu  grosser  Zahl  zur  Verfügung  stehen, 
von  Formen,  die  man  klinisch  als  Farns  griseus  bezeichnen  könnte,  auf  Kranke 
geimpft,  die  typische  gelbe  Scutula  hatten,  und  umgekehrt.  Und  mehrfach  ist 
die  positive  Impfung  so  ausgefallen,  dass  Farns  griscus  auf  einem  anderen  In- 
dividuum Favus  sulfureus  gab  und  umgekehrt. 

h)  Trichophyton. 

Für  die  Tinea , welche  durch  den  Triebophytonpilz  oder  besser  die 
Trichophytcnarten  hervorgerufen  wird,  ist  die  Zahl  der  Untersuchungen  nicht 
so  gross;  für  die  Behandlung  und  Beurtheilung  einer  ganzen  Reihe  der  für  die 
Mykosen  der  Haut  in  Betracht  kommenden  Fragen  sind  aber  gerade  diese  Arbeiten, 
und  besonders  die  Arbeiten  von  Saboijradd,  von  der  grössten  Bedeutung. 

Dlclai'X  *•)  hatte  zuerst  Reinculturen  des  Trichophyton  in  flüssigen 
Medien  dargestellt;  Grawitz  (s.  oben)  züchtete  sie  zuerst  auf  festem  Nährboden. 

DlCLArx’  Untersuchungen  wurden  von  Vkrusjki  *•)  aufgenommen  und 
seine  Resultate  bestätigt. 

Die  Arbeit  von  Roberts*1)  geht  von  der  Voraussetzung  einer  Tricho- 
phytonspccies  aus,  deren  Entwicklung  in  Reincultur  beschrieben  wird.  Unna  ss) 
beschreibt  noch  in  seiner  Flora  dermatologica  1890  einen  Trichophyton- 
pilz  (Nr.  XII).  Auch  in  der  aus  Unna’s  Klinik  hervorgegangenen  Arbeit  von 
Scharf  **)  — Impfung  mit  Trichophyton  — ist  nur  von  einem  Pilz  die  Rede. 
Bald  darauf  jedoch  gieng  aus  Unna’s  Laboratorium  eine  Arbeit  hervor,  in  der 
die  Pluralität  der  Triehophytonpilze  ausgesprochen  wird.  FfRTHMANN  und 
Neehe*4)  waren,  unter  Ueberlassung  der  Reinculturen  von  Trichophyton,  von 
Unna  beauftragt  worden,  zu  untersuchen,  „ob  die  Trichophytie  durch  einen  ein- 
heitlichen Pilz  verursacht  würde  oder  ob  vielleicht  mehrere  Pilze  für  die  uns  als 
Trichophytie  bekannte  Hautkrankheit  verantwortlich  gemacht  werden  müssten. 


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DERMATOMYKOSEN. 


97 


Klinische,  scharf  ausgeprägte  Unterschiede  Hessen  die  letztere  Ansicht  a priori 
als  die  wahrscheinlichere  vermuthen.  l'nsern  Untersuchungen  lagen  20  Einzcl- 
fälle  zu  Grunde“.  Die  Verf.  fassen  ihre  Untersuchungsergebnisse  dann  wie  folgt 
zusammen : 

Es  sind  vier  Reinculturen  von  l’ilzen  gefunden,  welche  auf  der  Haut 
des  Menschen  wachsen,  und  welche  Krankheitsbilder  erzeugen,  die  klinisch  als 
Trichophytie  bezeichnet  werden  müssen. 

1.  Trichophyton  oidiophoron.  (Die  Beschreibung  der  Culturen  und 
mikroskopischen  Befunde  müssen  wir  übergehen.)  Das  klinische  Bild  entspricht 
genau  dem  bekannten  Bilde  der  Trichophytie:  Centrum  mit  Schuppen  bedeckt, 
Rand  entzündet,  wallartig  erhaben,  mit  Bläschen  besetzt,  Haare  zu  Stümpfen 
abbrechend. 

2.  Trichophyton  eretmophoron.  Dem  vorigen  sehr  ähnlich,  nur 
in  der  Fruchtbildung  auf  Blutserum  unterschieden.  Klinisch  vom  oidiophoron 
bisher  nicht  mit  Sicherheit  zu  unterscheiden. 

3.  Trichophyton  atractoplioron.  Klinisch:  Acutes  Auftreten,  rasche 
periphere  Ausbreitung.  Geringe  Entztlndungserscheinungen.  Wachsthum  in  den 
Haarbälgen  (bei  Thieren)  bisher  nicht  erzielt.  Vermnthlich  stets  als  „ Trichophyton 
corporis “ auftretend. 

4.  Trichophyton  pterygoides.  Klinisch  vom  Trichophyton  oidio- 
phoron  und  eretmophoron  nur  dadurch  unterschieden , dass  die  Haarstümpfe 
fehlen.  Schnppenbedeckte,  kahle  Stellen  mit  peripherer  Raudrüthe. 

Von  grösster  Wichtigkeit,  in  mykologischer,  klinischer,  besonders  aber  auch 
in  biologischer  Hinsicht  sind  die  Arbeiten  Sabouraud’s  ,6— **)  aus  dem  Besnikr- 
schen  Laboratorium.  Es  würde  eine  Arbeit  für  sich  sein,  eine  Uebersicht  über 
die  einzelnen,  mit  ausserordentlicher  Klarheit  und  Genauigkeit  durchgeführten 
Untersuchungen  zu  geben.  Zusammenfassend  sind  diese  Arbeiten  in  Saboi'RAI'd’s  *') 
These  1894  wiedergegeben. 

Sabouradd  sagt:  Unter  der  Bezeichnung  teigne  tondante  trichophy- 
tique  sind  bis  jetzt  zwei  ganz  verschiedene  Krankheiten  zusammengeworfeu 
worden,  zwei  Krankheiten,  die  durchaus  von  einander  verschieden  sind.  Sie 
kommen  ungefähr  gleich  häutig  vor  und  sie  haben  nichts  miteinander  gemein, 
als  dass  sie  sich  in  den  Haaren  gegenseitig  den  Platz  streitig  machen. 

Die  eine  dieser  r,tondantesu  wird  thatsächlirh  durch  die  cryptogamen 
Parasiten  verursacht,  die  auch  auf  anderen  Localisationen  Trichophytien  erzeugen. 
Man  kann  ihr  also  den  Namen  der  „ tondante  trichophytique “ lassen. 

Die  andere  Form  bezeichnet  SABOURADD  als  tondante  spiciale  de  Gruby. 
Hier  müssen  wir  einschalten  , dass  SABOURADD  im  Laufe  seiner  Untersuchungen 
feststellte,  dass  seine  Befunde  genau  ihre  Bestätigung  rinden  in  drei  älteren 
Arbeiten  von  GRUBY  * * 4 B ),  die  der  Verf.  damit  einer  un  verdiegten  Vergessenheit 
entreisst  und  als  werthvolle  „Controlversuche“  für  seine  eigenen  Untersuchungen 
bezeichnet.  Es  ist  allerdings  unzweifelhaft  eine  Bestätigung  für  Sabouradd  und 
sehr  interessant,  wie  gut  Gruby  beobachtet  und  beschrieben  hat  und  wie  sehr 
die  Resultate  der  zwei  Arbeiten  miteinander  Ubercinstimmen. 

Der  zweiten  „ tondante “ giebt  also  Sabouraud  den  Namen  tondante 
specials  de  Gruby,  nach  dem  Namen  desjenigen,  der  als  Erster  den  Parasiten 
dieser  Affection  beschrieben  hat.  Der  Parasit  ist  das  Microsporon  Audouini 
(Gruby)  — er  ist  aber  kein  Trichophyton. 

Die  mikroskopische  Untersuchung  der  Haare  zeigt  bei  den  Trichophytien 
grosse  Sporen  (von  5 — 7 u.  Durchmesser),  die  in  regelmässigen  Figuren  (Linien) 
angeordnet  sind ; bei  der  tondante  de  Gruby  sieht  man  kleine  Sporen  (von 
•> — 3 u.  Durchmesser),  die  mosaikartig  um  die  Haare  angeordnet  sind. 

ln  Paris  ist  diese  zweite  Form  der  „ tondante “ ganz  ausserordentlich 
verbreitet;  sie  ist  die  häufigste  Ursache  der  tondante  bei  den  Kindern  und  wird 
nur  bei  diesen  beobachtet. 

Encyclop.  Jahrbücher.  VI  7 


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‘•8 


DERMATOMYKOSEN. 


Unter  den  trichophytischen  Tineae  giebt  es  mehrere  Arten.  SABOUKACD 
unterscheidet  diese  alle  nun  streng  nach  1.  dem  klinischen  Hilde,  2.  dem 
mikroskopischen  Befände  an  den  Haaren  und  3.  dem  Aussehen  der  Culturen. 

Beo. Ein: 45)  bestätigt , dass  es  allen  seinen  Schülern  möglich  sei , aus  dem 
mikroskopischen  Befunde  die  klinische  Diagnose  zu  stellen  und  umgekehrt  aus 
dem  klinischen  Bilde  vorher  den  mikroskopischen  Befund  zu  bestimmen. 

Die  echten  Trichophytien  theilen  sieh  nach  Sabodraud  nun  zunächst  in 
zwei  Classcn,  deren  mikroskopisches  Bild  folgende  Unterschiede  zeigt,  ln  dem  einen 
Kalle  findet  man  in  dem  kranken  Haare  den  Pilz  aus  grossen,  zu  Fäden  ange- 
ordneten Sporen  bestehend,  ausschliesslich  im  Innern  des  Haares  — Trichophyton 
endothrix.  Im  anderen  Falle  finden  sich  die  ebenfalls  grossen  und  zu  Fäden 
gruppirten  Sporen  alle  ausserhalb  des  Haares  und  zwar  zwischen  Wurzel  und 
Wurzelscheide  — Trichophyton  ectothrix. 

Auf  die  mikroskopische  Untersuchung  der  kranken  Haare  legt  Sabouraid 
grosses  Gewicht,  da  sie  Aufschluss  giebt  über  1.  die  Grössenverhältnisse  der 
parasitären  Elemente,  2.  die  Form  derselben  und  die  Anordnung  der  Pilzelemente 
zu  einander,  und  3.  über  das  „Habitat“,  die  Lage  der  Pilzelemente  im  Haare. 

Das  Trichophyton  endothrix  ist  nun  nach  Saboukaud  stets  mensch- 
lichen Ursprungs,  das  Trichophyton  ectothrix  stammt  vom  Thiere.  Bei  jeder 
dieser  Arten  herrscht  nun  noch  ein  bedeutender  Polymorphismus.  Auf  diese 
Punkte  und  die  cnlturellen  Unterschiede  können  wir  hier  nicht  näher  eingehen. 

Diese  Befunde  Sabouraud’s  hat  Mibkli.i  48>  **)  nicht  bestätigen  können. 

Die  tondante  de  Gruby  scheint  in  Italien  überhaupt  nicht  zur  Beobachtung  zu 
kommen.  Weiter  fand  Mibki.i.i  das  Trichophyton  endothrix  in  Fällen,  bei  denen 
eine  thierische  Ursprungsquelle  des  Trichophyton  angenommen  werden  musste; 
auch  konnte  Mibki.i.i  auf  dem  gleichen  Individuum  das  Vorkommen  sowohl  des 
Trichophyton  endothrix  wie  ectothrix  feststellen.  Da  das  Trichophyton  endothrix 
in  den  Fällen  Mibklli’s  in  den  Cilien  gefunden  wurde  bei  Individuen,  die  ur- 
sprünglich eine  Sycosis  borhae  aufwiesen  mit  Trichophyton  ectothrix , so  fragt 
sich  Mibki.i.i,  ob  man  eine  Art  von  Anpassungsfähigkeit  des  Pilzes  an  die  ver- 
schiedenen Medien,  in  denen  er  lebt,  annchmen  müBse. 

Wenn  auch  die  meisten  Autoren  darüber  einig  sind,  dass  es  sieh  bei  den 
verschiedenen  als  Trichophyton  gezüchteten  Pilzen  nicht  um  einen  einfachen 
Pleomorphismus,  sondern  um  eine  Pluralität  der  Species  handelt,  so  ist  doch 
noch  durchaus  keine  Einstimmigkeit  erzielt  und  die  Resultate  von  Neeiif.  und 
Unna,  von  Saboukaud  werden,  wie  schon  in  den  erwähnten  Arbeiten  von  Mibelli, 
so  in  den  Arbeiten  von  Krai,  s*),  Kbosing  60i,  Winternitz  5I),  Marianklu  6»)  in 
verschiedenen  Punkten  einer  Kritik  unterzogen.  So  weist  Khai.  (1.  e.  pag.  405) 
darauf  hin,  dass  er  in  Uebereinstimmung  mit  den  italienischen  Forschern,  aus 
einem  einwandfrei  isolirten  Trichophytonpilz  Culturen  mit  kleinen 
oder  mit  grossen  Sporen,  Culturen  von  verschiedenster  Farbe  und 
Gestalt  auf  demselben  Nährboden  erzeugen  konnte. 

Also  auch  hier  ist  die  Frage  nach  der  Zahl  der  Pilze  keineswegs  abge- 
schlossen. Es  scheint  aber  doch  unzweifelhaft,  im  Gegensatz  zum  Favus,  bei  dem 
cs  sich  wohl  sicher  um  einen  Pleomorphismns  ohne  klinische  Bedeutung  handelt, 
dass  beim  Trichophyton  .verschiedene  Species  auch  klinisch  verschiedene  Formen 
erzeugen. 

Ehe  wir  zur  Erörterung  der  biologischen  Fragen  übergehen,  dürfte  es  an- 
gebracht sein,  ganz  ausführlich  in  Uebcrsetzung  das  Resume  der  SABOüRAUD’sehen 
Untersuchungsresultate  zu  bringen,  wie  er  es  selbst  in  der  Socidtd  de  dermatol. ,0) 
gezogen  hat.  Es  sind  in  denselben  gleich  alle  Punkte  enthalten,  auf  welche  wir 
noch  cinzugehen  haben.  Es  heisst  bei  SABOUKAUD: 

I.  Die  erste  Schwierigkeit,  die  sich  bei  dem  bakteriologischen  nnd 
mykologischen  Studium  der  Trichophytie  bei  der  Anlegung  von  Culturen  ergiebt, 
liegt  in  den  „ ossociations  cry ptoya miques “ , die  man  bei  dieser  Atfection  trifft. 

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DERMATOMYKOSEN. 


;.<4 


Fast  alle  Trichophyton  • Culturcn  sind  mit  verschiedenen , sozusagen 
acceasorischen  Arten  von  Cryptogamen,  mit  „Commensalen“  des  Trichophyton 
gemischt.  Sie  scheinen  bei  den  durch  Trichophyton  hervorgerufenen  Läsionen 
nur  die  Bolle  von  Erregern  einer  secundiiren  cryptogamischen  lnfectiou  zu  spielen. 

Die  Herstellung  von  Reincnltnren  des  Trichophyton  ist  dem  entsprechend 
mit  grossen  technischen  Schwierigkeiten  verbunden  und  ist  die  erste  Forderung. 

II.  Erst  mich  Herstellung  dieser  Reinculturen  kann  man  an  das  Studium 
der  Unicität  oder  Pluralität  des  Trichophyton  gehen.  Die  vergleichende  Züchtung 
einer  grossen  Anzahl  von  Trichophytonfäillen  der  verschiedensten  Localisation, 
die  sich  besonders  auf  die  Thatsachc  basiren  muss,  dass  die  objeetiven  Charaktere 
jeder  Cultur  constant  bleiben  auf  dem  gleichen  Culturmcdium,  ergiebt  den  Beweis, 
dass  es  eine  grosse  Zahl  cryptogamischer  Arten  giebt.  Deren  Verimpfung  weiter 
muss  beweisen,  dass  es  sich  um  einen  wirksamen  Parasiten  handelt;  die  durch 
diesen  Parasiten  erzeugten  Läsionen  nehmen  die  Formen  an,  die  wir  klinisch  als 
Trichophyton  kennen. 

III.  Die  mikroskopische  Untersuchung  der  Trichophytonpilze  im  Haupt- 
oder Barthaar  bestätigt  die  Annahme  der  Pluralität  der  Trichopbytonarten,  die 
durch  die  Cultur  gegeben  war.  Man  findet  nämlich: 

1.  manchmal  den  Parasiten  ausschliesslich  im  Innern  des  Haares,  in 
Sporenketten  (Trichophyton  entlothrix) ; 

2.  in  andern  Fällen  zeigt  sich  der  Parasit  in  Sporenketten  ausserhalb 
des  Haares,  in  seiner  Follikelscheide  (Trichophyton  ectothrix). 

Manchmal  ist  weiter  die  Sporenkette  sehr  widerstandsfähig  (bei  den 
kraterförroigen  Culturen),  manchmal  zerbrechlich,  zart  i_bei  den  kegelförmigen 
Culturcn).  Und  alle  diese  Charaktere  bleiben  constant  für  alle  Haare  des  Kopfes 
oder  Bartes  eines  Kopfes. 

IV.  Die  Trichophyton  endothrix  sind  die  am  häufigsten  beim  Menscheu 
(Kinde)  zur  Beobachtung  kommenden.  Das  Studium  der  spontan  entstandenen 
Thiertrichophytien  und  das  Experiment  mit  denselben  ergeben,  dass  die  Ectothrix- 
pilze  beim  Menschen  von  einer  Contagion  durch  Thiere  herstammen. 

Umgekehrt  scheint  der  Endothrixpilz  dem  Menschen  cigenthUmlich  zu 
sein.  Er  ist  die  Ursache  der  grossen  Mehrzahl  der  Trichopliytonfälle. 

Die  Fälle  von  Herpes  tonsurons,  die  von  animalem  Ursprung  sind, 
zeigen  sich  dem  Arzte  durch  auffallende  Formen  der  Läsionen  an  (Kerion,  Im- 
petigo), besonders  aber  bei  der  mikroskopischen  Untersnchung  durch  die  Lage 
der  Sporenketteu,  die  ausserhalb  des  Haares  selbst,  in  der  Follikelscheide  ihren 
Sitz  haben. 

V.  Wenn  man  die  Gcsammtheit  der  Herpes  tonauranx-Fälle  jeglichen 
Sitzes  nimmt,  so  ist  die  Hälfte  auf  thicrische  Infection  zurückzuftihren. 

Beim  Menschen  werden  durch  dieselbe  veranlasst : 

1.  ungefähr  10%  aller  Fälle  von  Herpes  tonsurons  des  Kopfes: 

2.  mehr  als  die  Hälfte  der  kreisförmigen  Herpes  tonsurons- Fälle  der 
unbehaarten  Theile; 

3.  drittens  alle  triehophytischcn  Follikelentztiudungen  des  Bartes. 

VI.  Die  thierischen  Trichophytien  bilden  mehrere  Gruppen  wohlunter- 
schiedener Arten. 

Die  wichtigste  Gruppe,  der  man  am  häufigsten  beim  Menschen  begegnet, 
ist  die  Gruppe  der  Trichophyton  ectothrix,  die  weisse  Culturen  hervorbringen. 

Sie  sind  die  Ursache  der  mit  tiefgreifenden  Entzündungen  des  Derma  einher- 
gehenden Trichophytien. 

Die  wichtigste  Art  dieser  Gruppe  ist  eine  vom  Pferde  stammende  Art. 

Sie  veranlasst  die  mit  Schwellung  einhergehende  trichophytische  Perifolliculitis 
(pe'rifolliculite  agmine'e  trichophytique)  der  verschiedensten  Localisationen.  Dieser 
Trichophytonpilz  ist  pyogen. 

**•* 

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100 


DERMATOMYKOSEN. 


Verschiedene  Arten  derselben  Gruppe  (von  Katze,  Hund,  Schwein  etc. 
stammend)  veranlassen  ähnliche,  die  Cutis  in  Mitleidenschaft  ziehende  Trichophytien. 
Hei  diesen  Entzündungen  kann  eB  zur  Eiterung  kommen  ohne  das  Hinzutreten 
einer  seenndären  bakteritischen  Infection. 

VII.  Sämmtliche  Trichophytien  des  Bartes  des  Menschen  sind  auf  Tricho- 
phyton thierischen  Ursprungs  zurtickzufilhren  und  stellen  drei  Arten  dar  (vor- 
behaltlich noch  unbekannter  Ausnahmen): 

1.  die  Pferdetrichophytie  mit  weissen  Culturen;  sie  ist  die  Ursache 
der  Sycosis; 

2.  eine  zweite  Art  vom  Pferde  mit  gelben  C'nlturen ; 

:j.  eine  von  Vögeln  stammende  Art  mit  rothen  Culturen. 

Jede  dieser  Arten  ist  wohl  erkennbar  durch  das  objective  makroskopische 
Aussehen  der  Läsionen. 

VIII.  Die  Kreise  der  Trichophytie  auf  der  unbehaarten  Haut  bei  Kindern 
sind  gewöhnlich  verursacht  durch  den  Pilz,  der  die  Trichophytie  des  behaarten 
Kopfes  veranlasst;  manchmal  jedoch  kommt  auch  die  Trichophytie  mit  Eiterung, 
mit  tiefer  Entzündung  der  Cutis  vor,  die  durch  ein  Trichophyton  mit  weisser 
Cultur  (Katze,  Pferd)  verursacht  wird. 

Die  kreisförmigen  Trichophytien  bei  Weibern  sind  auf  denselben  Pilz 
zurückzufflhren,  wie  die  bei  Kindern.  Die  bei  Männern  kommen  selten  vom  Tri- 
chophyton der  Kinder,  sie  stammen  häufiger  von  thierischen  Pilzen  her;  am 
häufigsten,  wie  gesagt,  handelt  es  sich  um  das  Pferdetrichophyton  (folliculite 
anminie). 

IX.  Nebenbei  wollen  wir  bemerken,  dass  der  Herpes  tonsurans  der 
heissen  Zone  — die  teiyne  imbriqut'e  Patrick  Maxson’s  — nach  der  mikro- 
skopischen Untersuchung  des  Pilzes  in  den  Läsionen  eine  Trichophytie  thierischen 
Ursprungs  zu  sein  scheint.  Die  Schuppen,  welche  nach  Frankreich  gebracht 
wurden,  waren  zu  alt,  um  den  Nachweis  durch  Cultur  zu  ermöglichen. 

X.  Gewisse  Arten  des  Trichophyton,  besonders  unter  den  vom  Thier 
herstammenden,  rufen  beim  Menschen  charakteristische  Läsionen  hervor.  So  ist 
das  Trichophyton  ectothrix  des  Pferdes  die  Ursache  des  Kerion  ( folliculite 
ogminee).  Aber  eine  und  dieselbe  Art  kann  von  verschiedener  Virulenz  sein  und 
also  Läsionen  von  etwas  verschiedenem  Aussehen  hervorrufen. 

XI.  Botanisch  gehören  die  Trichophyton  in  die  Classe  der  Mucedineen. 

Da  ihre  Ausseusporen  in  Tranbenform  angeordnet  sind,  so  muss  man 

sie  zu  den  Botrytis  rechnen,  neben  den  Parasiten  des  Seidenwurms,  den  Botrytis 
Bassiana,  der  die  Muskardine  verursacht. 

Dagegen  scheint  bei  einigen  Species  die  Vertheilung  der  Sporen  an  den 
Mycelfäden  den  Triehophyten  zwischen  den  eigentlichen  Botrytis  und  den  Sporo- 
trichum  ihren  Platz  anznweisen. 

Weiter  bildet  die  Gruppe  der  Triehophyten  mit  weissen  Culturen  neben 
den  Traubenformen  auch  Conidienformen  — oder  C'hlamydosporen — .die  spindel- 
förmig, sehr  eigenartig,  für  jede  Species  wohl  unterschieden  sind. 

XII.  Die  Vielheit  der  Trichophvtonarten , das  seltene  Vorkommen  ge- 
wisser Arten  auf  dem  Menschen,  ilie  Leichtigkeit,  mit  der  diese  Species  auf 
künstlichem  Nährboden  wächst,  endlich  die  Thatsache,  dass  diese  Lebewesen  in 
ihrem  parasitären  Dasein  auf  die  Bildung  der  Myeelsporc  reducirt  wird,  eine 
Fmehtform,  die  wenig  geeignet  ist,  den  Fortbestand  der  Species  zu  sichern  — 
alle  diese  Thatsachen  zusammen  legen  nahe,  daran  zu  denken,  dass  diese  Lebe- 
wesen ausser  ihrer  parasitären  Daseinsform  auch  eine  saprophytisehe  Form 
haben.  Diese  Hypothese  scheint  sich  durch  das  Experiment  beweisen  zu  lassen, 
denn  man  kann  mit  Leichtigkeit  Trichophytoncultnren  auf  Blumendünger,  Holz, 
Blättern  und  selbst  in  rein  mineralischen  Flüssigkeiten  züchten. 

XIII.  Verimpfungen  auf  den  Menschen  fallen  positiv  aus,  wenn  sie  in 
das  Serum  einer  durch  oberflächliche  Verbrennung  gesetzten  Blase  gemacht  werden; 


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DERMATOMYKOSEN. 


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in  dem  alkalischen  Inhalt  dieser  Blase  kann  der  Pilz  sieh  entwickeln.  Bei  anderem 
Impfmodns  erhält  man  abortive  Formen  und  besonders  wenn  der  Schweis«  des 
Individuums  sauer  reagirt. 

Auf  Thieren  ergeben  Impfungen  mit  dem  Trichophyton  endothrix  — 
menschlichen  Ursprungs  — eine  gutartige  Trichophytie,  die  innerhalb  vier  bis 
fünf  Wochen  spontan  abheilt,  lnoculationen  von  Trichophyton  ectothrix  — 
thierischen  Ursprungs  — gelingen  leichter  und  veranlassen  eine  serpiginöso 
Trichophytonerkrankung,  die  keine  Tendenz  zu  spontaner  Heilung  hat. 

In  allen  Inoculationstrichophytien  ist  durch  Kückimpfung  leicht  der  ur- 
sprüngliche Pilz  in  Reincultur  zu  züchten,  wenn  man  sich  zur  Aussaat  kleiner 
Partikel  von  Schüppchen  bedient. 

Mit  wenigen  Worten  wollen  wir  noch  auf  die  RoSKNKACH’sche  Arbeit 
hinweisen.  Es  ist  ein  Werk  für  sich , eigenartig.  Uns  interessirt  hier  nur 
die  Thatsache,  dass  auch  er  sich  für  die  Pluralität  der  Trichophytonspecies 
entscheidet. 

Es  bleibt  mir  nun  noch  übrig,  eine  kurze  Beschreibung  der  „ tondante u 
zu  geben,  die  SABOtJRAüD  aus  den  Trichophytien  ausgeschieden  hat  als  rtondante 
de  Gruhy “. 

Er  bezeichnet  sie  als  die  Affection,  welche  früher  unter  der  Bezeichnung 
rporrigo  decalvans u ging  und  nennt  sie  „ tondante  rebelleu,  da  sie  (nur  auf 
dem  Kopfe  vorkommend)  die  schwerste,  mehrere  Jahre  dauernde  aller  Tineae  ist. 

Da  diese  Form  in  Italien  fast  gar  nicht,  in  Frankreich  weitaus  am 
häufigsten,  in  Constantinopel  selten,  aber  doch  etwa  in  ’/s  der  f ülle  zur  Be- 
obachtung kommt,  muss  die  Beschreibung  derselben  etwas  ausführlicher  sein, 
wenn  man  entscheiden  will,  ob  sie  in  einer  bestimmten  Gegend  zur  Beob- 
achtung kommt. 

ln  der  Ausdehnung  der  erkrankten  Stelle  auf  dem  Kopfe  ist  jedes  Haar 
von  seiner  Basis  bis  zur  Höbe  von  3 Mm.  oberhalb  der  Follikelmündung  mit 
einer  weissgrauen  Scheide  umgeben,  als  habe  ein  Epidermiskegel  das  wachsende 
Haar  aus  dem  Follikel  begleitet.  Nach  einiger  Zeit  brechen  die  Haare  in  ver- 
schiedener Höhe  — 6 — 7 Mm.  oberhalb  des  Follikels  etwa  — ab.  Die  Scheiden- 
kegel zerfallen  und  die  ganze  Kopfhaut  ist  bedeckt  mit  schuppigen,  weissen 
Bröekelehen  — daher  die  Bezeichnung  Pityriasis  alba.  Die  Haare  gehen  von 
weitem  wie  mit  Asche  bestaubt  aus. 

Diese  Form  der  vtondanteu  scheint  ausschliesslich  in  den  Haaren  selbst 
zu  beginnen,  während  die  Trichophytien  stets  ihren  Ausgangspunkt  von  der 
Epidermis  nehmen.  Selten  kommt  es  zu  circinärer  Ausbreitung  auf  der  Epidermis. 

Allmälig  fallen  die  Haare  an  den  erkrankten  Stellen  aus  und  wachsen 
zunächst  nur  spärlich  wieder.  Die  Krankheit  ist  änsserst  ansteckend,  giebt  aber 
eine  sehr  gute  Prognose,  denn  sie  heilt  stets  vollkommen:  schliesslich  wachsen 
alle  Haare  wieder  und  nehmen  auch  ein  durchaus  normales  Aussehen  an. 

II.  Biologisches  aus  den  citirten  Arbeiten. 

Worauf  sind  nun  die  grossen  Divergenzen  zwischen  den  verschiedenen 
Forschern  zurückzuführen? 

Man  darf  von  vorneherein  annehmen,  dass  grobe  Fehler,  obwohl  in 
den  Polemiken  auch  der  Vorwurf  solcher  Fehler  erhoben  wird,  bei  den  meisten 
der  in  anderen  Arbeiten  bewährten  Forscher  nicht  vorauszusetzen  sind.  Die  Technik 
der  KoCH’schen  Schule  ist  heute  so  Allgemeingut  geworden,  dass  es  unter  gewöhn- 
lichen Verhältnissen  als  selbstverständlich  vorausgesetzt  werden  kann,  dass  alle 
Forscher  mit  Reineulturen  gearbeitet  haben. 

Es  ist  deshalb  nicht  daran  zu  zweifeln,  dass  die  Arbeiten  von  Gbawitz*ti, 
Dcclaix  *<),  Verl’jski  ssi,  This*°)i  Roberts  *'),  Campaxa  '■) , Max. za  4e; , sowie 
auch  alle  aus  Unna's  Laboratorium  hervorgegangenen  Arbeiten,  ferner  alle  Arbeiten, 
welche  wir  oben  über  Cultur  des  Favus  und  Triehophyten  erwähnt  haben , sich 


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in  ihren  Beschreibungen,  Culturen,  Experimenten  auf  Reineulturen  stutzen.  Eine 
Zusammenstellung  fast  aller  versendeten  Nährboden  findet  sieh  bei  Krau  '*) 
K kXl.  seihst  hat  eine  eigene  Methode  durehgefübrt  zur  serupulösesten  Durch- 
führung der  ReinzüchtuDg  einer  Cnltur  aus  einem  Keime,  durch  Zerreibung  von 
Bröckrhen  eines  Favusseutnlums  mit  frisch  geglühter,  also  sterilisirter  Kieselsäure : 
dnreh  Verdünnung  des  Mediums , in  das  ein  Theil  der  verriebenen  Cnltoren 
gebracht  war  und  das  Plattenverfahren  gelang  es  ihm , zweifellos  Reineulturen 
zu  erhalten.  Für  alle  „Reineulturen“  bis  auf  Sabouracd  ist  aber  eine  Frage 
heute  unentschieden. 

Wir  kommen  damit  zu  einer  ausserordentlich  interessanten  Erfahrung. 

Wenn  man  z.  B.  aus  einem  Haar  eine  Cultur  von  Trichophyton,  respec- 
tive  vom  Favus  isolirt,  so  ist  es  leicht,  schon  mit  blossem  Auge  festzustellen, 
ob  man  auf  festem  Nährboden  Verunreinigungen  von  Bakterien  in  der  Cultur 
hat  oder  nicht.  Sehr  schwer  aber  ist  es,  zu  sagen,  ob  man  nur  ein  Kryptogam 
vor  sich  hat. 

SsBOfRAfD  spricht  über  diesen  Punkt  folgendermasseu.  Wenn  die  Zu- 
sammensetzung eines  Nährbodens  für  zwei  auf  demselben  verimpfte  kryptogame 
Pilze  gleich  güustig  ist , so  bewahrt  die  Colonie  während  der  ganzen  Zeit  der 
Entwicklung  ein  gleiehmiissiges  Aussehen ; das  Nebeneinanderbestehen  von  zwei 
.Speeles  kann  so  vollständig  unbemerkt  bleiben. 

Ist  die  chemische  Zusammensetzung  eines  Nährbodens  nicht  gleich  günstig 
für  beide  Pilze,  so  entwickelt  sich  einer  der  Pilze  besser;  die  Colonie  bleibt  dann 
nicht  eine  gemischte  und  gleichmässig  aussehende ; man  wird  dann  wie  bei  den 
Bakterien  zwei  Cultureu  neben  einander  haben. 

Bei  den  Pilzen  trifft  nnn  diese  letztere  Consteliation  nicht,  wie  man 
anuehmrn  sollte,  oft  ein,  sondern  sic  ist  selten.  Daraus  ergiebt  sich  die  wohl  zu 
beobachtende  Thatsaehe,  dass  die  scheinbare  Homogenität,  wie  sic  auch  noch  so 
vollkommen  ist,  bei  diesen  Pilzculturen  absolut  nicht  ihre  Reinheit  beweist. 

Bo  sei  z.  B.  das  Resultat  einer  Aassaat  mit  einem  Haar  von  Trichophi/t. 
mryalorporon  anscheinend  durchaus  rein , ohne  jede  bakterielle  Beimischung,  — 
man  kann  aber  fast  sicher  sein,  dass  es  eine  „gemischte“  Cnltur  ist,  dass  in  der 
Aussaat,  auf  welche  Weise  immer  man  sie  macht,  neben  den  Sporen  des  Tricho- 
phyton auch  Sporen  fremder  Pilze  sieh  finden. 

Da  dns  Trichophyton  sich  fast  ausschliesslich  von  Zucker  nährt,  wie  die 
Erfahrung  gezeigt  hat  und  seine  „Commensalen“,  d.  h.  die  fast  stets  sich  gleich 
bleibenden,  mit  ihm  fast  unabändcrlicii  assoeiirten  Pilze,  seine  „Tiscbgenossen“, 
iin  (iegenthcile  stickstoffhaltige  Nahrung  verlangen,  so  hängt  es  also  ganz  vom 
Nährboden  ab,  den  man  wühlt,  welche  Cultur  man  erhält. 

Es  leuchtet  ein,  von  welch  grosser  Bedeutung  diese  Ausführungen  sind. 
Da  die  verschiedenen  der  pathogenen  und  die  indifferenten  Pilze  demnach  fast 
stets  associirt  sind,  wird  man  aus  anscheinend  sehr  verschiedenen  Culturen  stets 
bei  der  Verimpfung  im  Experiment  gleiche  Resultate  erhalten.  Einmal  wächst 
der  pathogene  Pilz  und  die  nicht  pathogenen  bleiben  bei  der  Verimpfung  unbemerkt; 
ebenso  aber  kann , bei  einem  für  den  pathogenen  Pilz  ungünstigen  Nährboden, 
die  Verimpfung  eines  ganz  indifferenten  Pilzes,  dem  der  pathogene  Pilz  als 
Commensnie  associirt  ist,  ein  positives  Resultat  ergeben. 

MlBKLLI  *8)  hat  diese  Erfahrungen  Sahoi'RAI'D’s  voll  bestätigen  können. 
Es  leuchtet  ein , dass  diese  Thatsaehe  zunächst  alle  früheren  Forscher  zwingt, 
ihre  Culturen  nocli  einmal  naeiizuprüfen,  ob  sie  nicht  vielleicht  mit  solchen  „Com- 
meusalen“  gearbeitet  haben. 

Zur  Isolirung  der  pathogenen  Pilze  hat  SaboI'Raud  nun  den  „specifischen“ 
Nährboden  angegeben.  Mau  kann  die  isolirten  Pilze  erkennen  au  „der  specifischen 
Form  ihrer  Cultur  auf  specifischen  Nährboden“.  Diese  niederen  Pilze  zeigen  eine 
grosse  Empfindlichkeit  für  die  ehemische  Zusammensetzung  des  Nährbodens,  auf 
dem  sie  verimpft  werden.  Je  nach  diesem  Nährboden  kann  derselbe  Pilz  in 


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bestimmten  Grenzen  die  grösste  Verschiedenheit  zeigen,  was  objectiv  betrachtet  das 
Aussehen  der  Cultur  betrifft ; in  sehr  weiten  Grenzen  ändert  sich  nacli  dem  Nähr- 
boden das  mikroskopische  Bild  desselben  Pilzes.  Trotzdem  aber  giebt  derselbe 
Pilz,  auf  dem  gleichen  Nährboden  gezüchtet,  stets  die  gleiche  Cultur. 

Hierfür  hat  auch  Khal  schon  sehr  interessante  Beobachtungen  gebracht; 
die  Schlüsse,  die  man  aus  denselben  ziehen  kann,  respectivc  die  Schwierigkeiten 
für  die  Beurtheilung  der  Resultate  der  einzelnen  Forscher  werden  darnach  noch 
grösser.  Darnach  verändert  sogar  verschiedener  Nährboden  die  Pilze  in  dem 
Sinne,  dass  naehherige  Aussaat  auf  dem  gleichen  Nährboden  ganz  verschieden 
aussehende  Culturen  für  denselben  Pilz  ergiebt. 

Von  der  gleichen  Cultur  impfte  er  Trichophyton  einmal  auf  Bouillon, 
eine  andere  Cultur  auf  Agar;  Ueberimpfung  auf  Kartoffel  beider  Culturen  ergab 
einmal  goldbraune  Rasen,  das  anderemal  war  der  Rasen  carminroth.  Hat  hier  Ver- 
impfung von  Commensalen  stattgefundeu  ? Uder  haben  sich  bestimmte  biologische 
Eigenschaften  des  Pilzes  auf  den  verschiedenen  Nährböden  geändert? 

In  sehr  interessanter  eingehender  Weise  hat  sich  Roberts  c»)  mit  der 
gleichen  Frage  und  im  gleichen  Sinne  in  dem  Capitel  seines  Buches  ausgesprochen, 
das  Uber  „Variation“  handelt. 

Die  Beachtung  dieser  biologisch  hoch  interessanten  Befunde  macht  es 
klar,  wie  schwer  die  Frage  zu  entscheiden  ist,  ob  Pleomorphismus  oder  Pluralität 
der  Speeies  für  einen  Pilz  im  gegebenen  Falle  vorhanden  ist.  Hält  man  dazu  die 
oben  erwähnte  Thatsache,  dass  es  selbst  für  Botaniker  schwierig  ist,  für  die  in 
Rede  stehenden  Pilze  die  Art  zu  bestimmen,  kann  mau  getrost  sagen,  dass  wohl 
noch  lange  nicht  (ohne  Entdeckungen  von  principieller  Wichtigkeit)  die  Lösung  der 
Frage  auf  dem  bis  jetzt  beachrittenen  Wege  zu  hoffen  ist. 

III.  Contagion. 

Die  Anstcckuug  sowohl  beim  Favus  wie  beim  Trichophyton  kann  direct 
oder  indirect  erfolgen.  Am  häufigsten  findet  sie  zweifellos  von  Mensch  zu  Mensch 
statt,  oft  genug  von  Thier  zu  Mcuscli.  Die  oben  erwähnten  Angaben  von  Mibelli, 
die  auch  von  Lesskb  in  Bern  bestätigt  werden , lassen  die  Frage  nach  dem 
für  Mensch,  respective  Thier  specifischen  Trichophyton  (endotlirix  oder  ektothrix) 
vorläufig  noch  offen. 

Mehr  Interesse  verdient  die  Frage,  welche  Sabourai  d *s)  aufgeworfen 
hat,  ob  der  Parasit  auch  saprophytisch  existirt. 

Dass  die  von  Mensch,  respective  Thier  genommenen  Pilze  (z.  B.  Favus- 
scutula)  ihre  Vitalität  Monate,  ja  Jahre  lang  bewahren  — viel  länger  als  künst- 
lich gezüchtete  Pilze  — ist  durch  die  Erfahrung  bewiesen. 

Es  handelt  sich  nun  darum , zu  entscheiden , ob  die  Sporen  der  Pilze 
auf  irgend  einem  indifferenten  Körper  nicht  nur  ihre  Vitalität  bewahren,  sondern 
sich  selbständig  fortpflanzen. 

Die  Entwicklung  des  Trichophyton  als  Parasit  auf  Mensch  und  Thier 
ist  unvollkommen.  Es  kommt  in  der  Epidermis  niemals  zur  Bildung  von  sporen- 
tragenden Hyphen , sondern  immer  nur  zur  Bildung  wenig  verzweigter  Hyphen. 
Diese  Entwicklungsphasen  kennen  wir  nur  durch  die  künstliche  Züchtung.  Demge- 
mäss sind  die  einfachen  organischen  Materialien  ein  geeigneterer  Nährboden  für 
die  Pilze  als  der,  den  sie  während  ihres  parasitären  Daseins  auf  der  Haut,  im  Haar 
finden.  Man  müsste  also  annehmen,  dass  früher,  vor  der  künstlichen  Züchtung, 
diese  Pilze  niemals  zu  ihrer  vollen  Entwicklung  gekommen  seien.  Diese.  Annahme 
ist  wohl  unmöglich. 

Weiter  haben  wir  eiu  Analogon  in  der  Aktiuomykose  im  Aspergillus 
fumiyatus.  Ehe  C’haxtemesse-Rknon  feststellten,  dass  letzterer  die  Ursache  der 
Aspergillus-Tuberkulose  ist,  kannten  wir  ihn  nur  saprophytisch.  Bei  ihm  ist  die 
saprophy tische  Existenz  die  Regel,  die  parasitäre  die  Ausnahme.  Die  saprophy- 
tische  Existenz  ist  für  einige  Bakterien  sogar  bewiesen,  für  viele  ist  sie  walir- 


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scheinlich ; ebenso  dürfte  es  auch  für  das  Aeliorio»  und  Trichophyton  anzu- 
nelimen  sein. 

Ueberdies  ist,  wie  wir  schon  in  den  SABoURAUD’schen  Conclnsioneu 
gesehen  haben,  die  Züchtung  des  Trichophyton  auf  Humus.  Dünger,  faulem  Holz. 
Körnern  gelungen ; auf  faulem  Stroh  gelang  seine  Züchtung  sogar  in  Concurreuz 
mit  allen  Mikroben,  die  sich  etwa  sonst  vorfanden,  ohne  vorherige  Sterilisirung. 

Schliesslich  hat  Sabourauii  ihn  sogar  sich  entwickeln  sehen  in  der 
WlNOGRADsKY’schen  (rein  mineralischen)  Lösung. 

Man  muss  also  wohl  annehmen , dass  eine  saprophytische  Existenz  des 
Pilzes  möglich  und  demgemäss  nicht  jede  Trichophytieerkrankung  beim  Menschen 
nothwendig  auf  Mensch  oder  Thier  zurückzuführen  ist. 

Für  den  Favus  ist  persönliche  Disposition  sicherlich  ein  Factor  des 
„Haftens“.  Universellen  Favus  sieht  man  fast  nur  bei  ganz  elenden,  herunter- 
gekommenen Menschen.  Individuen,  die  unter  den  gleichen  Bedingungen,  grösster 
Unreinlichkeit  u.  s.  w.  leben,  aber  von  kräftiger  Constitution  sind,  scheinen  nicht 
so  geeignet  zur  Ansiedlnng  des  Pilzes  zu  sein. 

IV.  Anatomie. 
a)  Der  Favus. 

Eine  Uebersicht  Uber  die  älteren  Arbeiten  und  Notizen , betreffend  die 
Anatomie  des  Favus,  findet  sich  bei  KELLOGG.  “)  Die  in  den  letzten  Jahren  ver- 
öffentlichen Arbeiten  von  MlBELLI  ,s'  ••) , Unna**),  Wai.SCH  °7'  *8)  haben  bis  auf 
einige  Punkte,  in  denen  sich  diese  Autoren  noch  widersprechen,  die  Anatomie 
des  Favus  vollständig  geklärt. 

Iu  den  leichtesten  Fälleu  des  oberflächlichen  favösen  Katarrhs  handelt 
es  sich  um  eine  entzündliche  Hyperämie  mit  Aufquellung  und  Parakeratose  des 
Stratum  spinosum  und  Schuppenbildung;  in  schwereren  Fällen  kommt  es  zu 
einer  beträchtlichen  Entzündung  mit  Oedem  des  Papillarkörpers  und  intensiverer 
ödeinatöser  Anschwellung  der  Stachelsehicht  mit  Bildung  kleiner,  unter  der  Horn- 
schicht gelegener  Bläschen,  die  mit  Serum  und  geringen  Mengen  von  Leukocyten 
gefüllt  sind. 

Die  Scutulabildung  ist  nicht  an  den  Haarbalg  gebunden,  sondern  kann 
aurh  au  unbehaarter  Haut  stattfindeu. 

Bei  Schnitten  durch  Hautstticke  mit  einem  Scutulum  am  Haarbalg  zeigt 
sieb,  dass  der  Beginn  des  Scutulums  im  lntundibulum  des  Ifaarbalges  liegt.  Das 
Scutulum  wurzelt  auf  der  basalen  Hornschicht  und  ist  an  den  Seiten  und  oben 
anfangs  stets  von  der  mittleren  und  oberflächlichen  Hornschicht  in  comprimirter 
Gestalt  bedeckt,  später  auch  häufig  frei. 

Nach  Unna  wachsen  im  Scutulum  die  Pilzfäden  senkrecht  aus  der  Horn- 
schicht empor;  sie  bilden  — wie  Culturen  auf  künstlichem  Nährboden  — mit 
dem  Substrat  einen  rechten  Winkel.  Ihre  Nahrung  erhalten  die  Pilze  von  den 
darunter  liegenden  Hautschichten.  Die  von  den  Seitenwandungen  ausgehenden 
Pilze  sind  kürzer,  und  die,  welche  von  der  oberen  Hornschicht  senkrecht  nach 
unten  ziehen,  sind  nur  schwach  entwickelt  oder  fehlen.  Aus  diesen  Gründen  würde 
die  Form  des  Scutulums,  die  an  sich  kugelig  ist,  eine  asymmetrische  Gestalt  an - 
nehmen,  im  Centrum  eine  Depression  erhalten  — das  Wachsthum  der  Pilzhyphen 
wäre  demnach  ein  eentripetales.  Mit  dieser  Anschauung  stimmen  weder  Mibelli 
noch  Wai.sch  überein.  Nach  ihnen  hat  das  Scutulum  eine  planconvexe  Gestalt 
mit  etwas  coucaver  Oberfläche.  Die  Pilze  zeigen  ein  peripher  fortschreitendes 
Wachsthum  mit  seitwärts  ausgestreckten  Hyphen,  die  gleichsam  Fühler  bilden. 
Die  Pilzvegetation  im  Centrum  des  Scutulums  ist  die  ältere , in  der  Peripherie 
besteht  sie  nur  aus  Mycelien  und  ist  jünger. 

Die  Pilzvegetation  findet  demnach  in  centrifugaler  Dichtung  statt.  — 
MlBEl.Lt  stimmt  mit  Unna  darin  überein,  dass  die  Asymmetrie  des  bereits 


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gebildeten  Scutulums  und  die  centrale  Depression  seiner  oberen  Fläche  nicht  dem 
Vorhandensein  eines  centralen  Haares  zugeschrieben  werden  darf  — denn  dieses 
kann  ganz  fehlen  — , welches  in  Folge  seines  Zusammenhanges  mit  der  Horn- 
schicht das  Scutulum  daran  hindert,  sich  im  Centrum  zu  heben,  wie  dies  an  der 
Peripherie  frei  geschehen  kann.  Nach  Mibklli  ist  diese  Form  einfach  davon  ab- 
hängig, dass  sich  die  Colonie  oberhalb  des  primären  älteren  Vegetationskernes 
viel  schwächer  entwickelt  als  seitlich  und  unten.  Unna  schreibt  die  asymmetrische 
Gestalt  dem  Umstande  zu,  dass  die  seitlichen  Hyphen  unter  dem  Druck  der  Horn- 
decke sich  kümmerlich  entwickeln  und  sich  dem  Mittelpunkt  zuneigen , so  dass 
man  das  Scutulum  als  eine  kugelförmige,  in  sich  überall  zurücklaufeude  asym- 
metrisch ausgebildete  Cultur  auffassen  kann. 

Eigene  Untersuchungen  lassen  mich  durchaus  die  MlBEl.u’sche  Auf- 
fassung theilen. 

Eine  weitere  Differenz  besteht  zwischen  Wälsch  und  Unna  über  die 
Zusammensetzung  des  Scutulums.  Unna  sagt,  dass  das  Scutulum,  so  lange  es 
normal  vegetirt,  weder  fremde  Pilze,  noch  Epithelien  beherbergt;  WÄr,scH  will 
gefunden  haben,  dass  zwischen  den  Elementen  des  Pilzes  und  an  der  Peripherie 
der  Pilzmasse  ein  sich  nicht  färbender,  feinkörniger  Detritus  cingelagert  ist,  der 
wahrscheinlich  aus  Exsudat  und  in  Folge  der  Pilzwucherung  zu  Grunde  gegangener 
Epithelien  besteht. 

Wir  müssen  in  diesem  Punkte  die  UNNA’schen  Untersuchungen  bestätigen; 
das  Scutulum  des  Favus  ist  ein  reiner  Pilzkörper.  Erst  beim  Absterben  des  Seu- 
tulums  findet  man  an,  nicht  in  demselben,  meist  in  Krusten,  Leukoeyten  und  sapro- 
phytisch  auf  ihm  lebende  Pilze.  Die  weiteren  anatomischen  Veränderungen  schildert 
Unna  folgendermassen : „Die  Veränderungen,  welche  der  Favusprocess  an  der  Haut 
hervorruft,  kann  mau  in  ein  hyperplastisches  Anfangs-  und  ein  atrophisches  End- 
stadiutn  eintheilen.  Zunächst  geräth  die  Stachelschicht  unterhalb  des  Scutulums 
in  starke  Proliferation.  Während  seitlich  vom  Scutulum  Hornschicht  und  Körner- 
schicht verdickt  sind,  schwindet  letztere  unterhalb  des  sich  stark  vergrössernden 
Scutulums . so  dass  hier  die  Grenze  zwischen  den  obersten , stark  abgeplatteten 
.Stachelzellen  und  den  mit  stäbchenförmigen  Kernen  versehenen  Hornzellen , in 
welchen  die  Favusbyphen  wurzeln,  schwer  zu  ziehen  ist.  Die  subscutuläre  Stachel- 
scbicht  ist  im  Uebrigen  normal  oder  von  wenigen  Leukoeyten  durchwandert. 

Wo  die  Scutula  einen  Haarbalgtrichter  einnehmen , erstreckt  sich , ent- 
sprechend der  Abwärtswucherung  der  Hyphen  in  der  Spalte  zwischen  Haar  und 
Wurzelscheide,  auch  die  Epithelproliferation  an  der  Stachelschicht  des  Haarbalges 
abwärts,  doch  gewöhnlich  nur  über  das  obere  Drittel  des  Haarbalges,  obwohl 
die  Favushyphen,  wenn  sie  am  Follikelausgang  in  das  Haar  cingedrungcn  sind, 
fast  immer  bald  den  ganzen  Haarschaft  bis  in  die  Nähe  der  Papille  durch- 
wachsen. Vergleicht  man  an  Schnitten  mit  vielen  Favushaaren , z.  B.  von  der 
Kopfhaut,  die  verschieden  weit  gediehene  Besitzergreifung  der  Follikel  durch 
den  Pilz,  so  findet  man  regelmässig,  dass  diejenigen  Haare,  welche  die  geringste 
Invasion  aufweisen , dieselbe  im  unteren  Balgtheilc  innerhalb  des  Haarschaftes 
allein  zeigen.  Dann  folgen  solche  Haare,  bei  welchen  ausserdem  auch  die  Wurzel- 
scheide von  Pilzen  durchsetzt  ist.  Die  hochgradigste  Favuserkrankung  endlich 
findet  sich  nur  an  wenigen  Haaren;  hier  ist  der  Pilz  mit  einem  dichten,  krausen 
Pilzgeflecht  zwischen  Stacheischicht  und  bereits  hochgradig  erkranktem  Haare  und 
Wurzelscheide  etwa  bis  in  die  Mitte  des  Haarbalges  oder  noch  tiefer  hinab- 
gedrungen. Die  Fäden  desselben  dringen  nicht  in  die  Stachelschicht  des  Balges 
ein , sondern  wurzeln  auf  der  oberflächlichsten , wahrscheinlich  parakeratotisrh 
verhornten  Lage  derselben  und  stellen  somit  eigentlich  nur  eine  Fortsetzung  des 
Scutulums  in  den  oberen,  stark  ausgeweiteten  Theil  des  Haarbalges  vor.  Aller- 
dings ist  dieser  Theil  des  Scutulums  nicht  so  regelmässig  gebaut  wie  der  der 
Oberfläche  und  geht  ohne  scharfe  Grenze  in  die  centripetal  sich  verbreiternden 
Fäden  des  uuteren  Haarbalgtheiles  über.  Sowohl  die  Hornschicht  des  Haarbalg- 


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trichters,  wie  weiter  unten  die  Wurzelachcide  verliert  unter  dem  Einflüsse  der 
Pilze  die  zellige  Struetur  und  verschmilzt  zu  einer  homogenen,  wenig  tingiblen 
Masse.  Der  Haarschaft  wird  bei  stärkerer  Pilzdurchsetzung  verdickt;  unregel- 
mässig aufgetrieben  und  weniger  durchscheinend , zeigt  aber  nur  selten  Auf- 
splitterungen. Sehr  auffallend  ist  es,  besonders  an  Durchschnitten  favöser  Kopf- 
haut, wie  viele  vollkommen  pilzdurchsetzte  Papillenhaare  man  in  relativ  wenig 
veränderten  Bälgen  trifft.“ 

Dass  das  Scntulum  auch  einen  Druck  mechanisch  auf  die  Epithelien 
ausübt,  sieht  man  an  der  schon  erwähnten  Abplattung  der  unter  ihnen  liegenden 
Epithelien. 

Dieser  Druck  macht  sich  aber  auch  auf  die  Papillen  und  Ketezapfen 
geltend;  die  central  unter  dem  Scutulum  gelegenen  Papillen  sind  fast  ganz  ver- 
strichen , die  seitlichen  schräg  umgelegt.  Um  das  Scutulum  bildet  sich  eine  mit 
Detritus  gemischte  Exsudatschicht , und  wenn  die  Epithellage  schwindet  bis  auf 
ein  Minimum,  so  ist  damit  der  Pilzcolonie,  als  welche  das  Scutulum  zn  betrachten 
ist,  die  Nahrung  abgeschnitten  und  das  Scutulum  beginnt  sich  zu  lockern,  ln 
den  Papillen  und  im  Derma  zeigt  sich  eine  besonders  um  die  Gefässe  gruppirte 
entzündliche  Infiltration  und,  wie  Lrloir  und  Vidai.  6#)  richtig  vergleichen,  sind 
die  Gefässe  im  Derma  „muffartig“  von  Infiltrationszellen  umgeben. 

Eigentümliche  Veränderungen  beschreibt  Unna  an  den  Knäneldrüsen, 
deren  Epithel  proliferirt,  das  Lumen  verschliesst  und  so  zu  Cystenbildung  führt. 
A ehnliche  Veränderungen , aber  weit  spärlicher , finden  sich  an  den  llaarbälgen. 
Die  Talgdrüsen  atrophiren  und  die  in  den  llaarbälgen  zurückgehaltenen  Haare 
bilden  oft  ahgeknickt  eine  spiralig  aufgerollte  Masse. 

Bei  der  Rückbildung  des  entzündlichen  Infiltrates  (Plasmoins  nach  Unna) 
tritt  eine  für  den  abgelaufenen  Favusprocess  charakteristische  Atrophie  ein.  Die- 
selbe ist  sicher  zum  grössten  Theil  auf  den  entzündlichen  Process,  zum  geringeren 
Theil  auf  den  Druck  des  Seutulums  zurückzuführen. 

Das  elastische  Gewebe  in  der  Favusnarbe  ist  nach  Unna  und  Mibelli 
geschwunden,  nach  WAi.sch  nur  vermindert. 

Durchweg  haben  meine  eigenen  Untersuchungen  Uebereinstiminung  mit 
den  Befunden  von  MiBKLLI  ergeben. 

Ein  Wort  ist  noch  zu  sagen  über  das  Einwuchern  des  Favus  in  die 
Cutis.  Zweifellos  sind  alle  dahingehenden  Beobachtungen  irrthümlich.  Wälsch 
bemerkt  richtig,  dass  die  LKLOlR'schen  Befunde  dahin  zu  erklären  seien,  dass 
beim  Schneiden  mechanisch  die  Pilze  in  die  tieferen  Hautsebichten  verschleppt 
und  dort  äusserlich  haften  geblieben  seien.  Ebenso  sprechen  sieh  Hauruitz70) 
und  Xkisskr*1)  aus. 

Für  die  favöse  Nagelerkrankung,  Ünychomycosis  fnoosa , finden  sieh 
noch  spärliche  Untersuchungen.  In  prägnanter  Form  hat  Fabry  1!)  seine  Befunde 
in  folgende  Sätze  zusammengefasst : 

I.  Das  Terrain,  in  dem  sich  die  durch  den  Favuspilz  bedingten  Vor- 
gänge abspielen , ist,  wie  an  der  Haut  überhaupt,  so  auch  am  Nagel  sein  epi- 
thelialer Theil , auch  bei  langem  Bestehen  — in  einem  untersuchten  Falle 
Bestehen  von  35  Jahren  — war  von  einem  Eindringen  des  Pilzes  in  die  Cutis 
nicht  die  Rede. 

II.  Das  Vordringen  und  die  Weiterverbreitung  der  Pilze  zwischen  den 
Epidermisschichten  ist  ein  actives,  sie  werden  nicht  mechanisch  mit  der  fort- 
schreitenden Proliferation  und  der  Umwandlung  der  Schleimschichteu  in  Horn- 
schichten an  andere  Stellen  verschleppt. 

III.  Die  Hauptbrutstätte  für  die  Achorionpilze  ist  am  Nagelgewebe 
zwischen  C'oriumpapillen  und  den  Epithelzapfen  zu  suchen  : von  da  aus  dringen 
die  Pilze  in  die  oberen  Schichten  nicht  verhornter  Epidermis,  ln  den  Horn- 
schichten des  Nagels  ist  kein  geeigneter  Nährboden  für  dieselben. 


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IV.  Gerade  durch  die  sub  III  hervorgehobenen  Punkte  erklärt  sich  das 
Zustandekommen  der  Mummifkation  des  Nagels  sehr  gut,  indem  durch  die 
zwischen  Corinmpapillen  und  Epithelzapfen  des  Rete  gelagerten  Pilzmassen  die 
Epithelschichten  von  den  ernährenden  Gefässen  der  Lederhautpapillen  ab- 
gesehnitten  werden. 

b)  Trichophytie. 

Entsprechend  den  verschiedenen , oberflächlichen  oder  tiefer  gelegenen, 
zur  Knotenbildung  führenden  Formen  der  Trychophytie  ist  auch  ein  verschiedener 
anatomischer  Befund  zu  verzeichnen. 

Aus  Unna’s  Laboratorium  liegt  eine  Arbeit  vor  von  Scharf.  ,5)  Charakte- 
ristisches bieten  diese  Befunde  wenig.  Scharf  fasst  sie  in  folgenden  Schlusssatz 
zusammen,  der  alles  Wesentliche  enthält : 

„Während  wir  bisher  gewohnt  sind,  das  Trichophyton  in  seinen  Haupt- 
schlupfwinkeln, den  Haaren  der  Kopfhaut,  in  üppigster  Weise  gewuchert  vorzu- 
flnden,  wobei  sich  die  Rcactiou  der  Cutis  in  massigen  Grenzen  hält,  finden  wir 
in  der  unbehaarten , respective  nur  mit  Lanugohaaren  bestandenen  Haut  ein 
geradezu  umgekehrtes  Verhältnisse  eine  bedeutende  Reizung  derselben  trotz  einer 
nur  geringen  Proliferation  der  Pilze  in  der  Hornschicht.  Mit  diesem  Umstände 
dürfte  es  auch  wohl  Zusammenhängen , dass  die  Trichophytie  der  Hornschicht 
soviel  leichter  heilt  als  die  der  Haare.  Die  künstlich  erzeugte  Reizung  und  Ent- 
zündung, welche  man  bekanntlich  zu  einer  therapeutischen  Methode  der  Tric/io- 
phytia  capitis  gegenüber  erhoben  hat , findet  so  in  den  reactiven  Processen  der 
unbehaarten  Oberfläche  ein  natürliches  Vorbild  und  damit  eine  Bestätigung  ihrer 
Rationalität.“ 

Bei  der  knotigen  Form  (Kerion)  kommt  es  durch  die  Entwicklung  des 
Pilzes  in  der  Haut  zu  bedeutenden  progressiven  Veränderungen  — Plasmombildung 
I'nna’8.  Entsprechend  der  in  der  Tiefe  der  Haarbälge  gelegenen  Ursache  ist 
besonders  der  untere  Theil  der  Cutis  und  ein  Theil  des  Hypoderms  der  Sitz  einer 
äusserst  dichten  Zellwueheruug,  wodurch  der  untere  Theil  der  Haarbälge,  die 
Knäneldrüsen  und  ein  Theil  des  Fettgewebes  in  eine  einheitliche  Zellmasse 
verschmelzen. 

Innerhalb  dieser  Zellwueheruug,  in  den  tieferen  Schichten  der  Cutis, 
kommt  es  auch  zur  Bildung  von  kleinen  Eiterherden. 

„Die  Trichophytie  des  Nagels  beginnt  ebenso  wie  der  FavuB  regel- 
mässig am  vorderen  Rande  oder  einem  seitlichen  Falz  und  führt  zur  Aufrichtung 
der  Nagelplatte.  Im  Gegensatz  zum  Favus  nimmt  die  letztere  nicht  die  dunkle, 
bräunliche  bis  schwärzliche  Farbe  an,  sondern  bleibt  weissgelblich  und  wird  ferner 
— wenn  auch  erst  nach  längerer  Zeit  — so  doch  schliesslich  stets  mitergriffen ; 
sie  wird  opak,  rauh,  schilfert  unregelmässig  ab,  splittert  auf  und  fällt  endlich 
ganz  ab.  Sie  ist  sehr  viel  seltener  als  der  Nagelfavus  und  bedarf  vielleicht  vor- 
hergehender anderer  Hautkatarrhe  zur  Verbesserung  des  Nährbodens.“  Es  liegen 
Untersuchungen  vor  von  Pkli.jzari7*)  und  Fournier.  7S)  Peli.izari  fand  die 
Verbreitung  des  Pilzes  in  analoger  Weise  wie  bei  der  flächenhaften  Verbreitung 
des  Favus.  Aber  er  constatirte  auch  die  Anwesenheit  desselben  in  der  Nagel- 
platte  in  kleinen  Herden,  welche  makroskopisch  sichtbaren  opaken  Stellen  der- 
selben entsprachen“  (Unna). 

V.  Klinisches. 

a)  Favus. 

Es  liegt  nicht  in  unserer  Absicht , eine  klinische  Beschreibung  der 
bekannten  gewöhnlichen  Formen  der  uns  interessirenden  Pilzaflectiouen  zu  geben. 
Wir  wollen  hier  nur  kurz  auf  seltenere,  in  der  neueren  Literatur  erwähnte 
Formen  hinweisen.  Die  Ausbeute  ist  hier  sehr  viel  geringer,  als  bei  den  vorher- 
gehenden Abschnitten. 


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108 


DERMATOMYKOSEN. 


l'eber  seltene  Formen  des  Favus  hat  Dcbreuilh”)  eine  Mittheilung 
gemacht.  Er  beschreibt  drei  Formen. 

Die  erste  Form  ist  eine  eigentümliche  Follikelerkrankung.  Man  findet  kleine, 
narbige,  vollständig  kahle  Stellen,  wie  bei  der  Alopecia  areata,  auf  denen  sich 
nicht  jene  struppigen,  für  Favus  typischen  Haare  finden.  Am  Rande  dieser  kahlen 
Stellen  finden  sieh  meist  auf  einem  rotbraunen  Papelchen , selten  mit  einem 
Schüppchen  oder  einem  minimalen  gelben  Scutulum  umscheidet,  Haare,  die,  wenn 
man  sie  auszieht,  von  einer  durchscheinenden,  weichen,  gequollenen  Wurzelscheide 
umgeben  sind.  Die  Zerstörung  der  Follikel  in  dieser  Form  geht  so  rasch  vor 
sich,  dass  cs  gar  nicht  zur  Bildung  ordentlicher  Scutula  kommt.  Diese  sehr  rasch 
verlaufende  Favusform  ähnelt  sehr  einigen  Formen  von  FollikelentzUnduugen, 
die  mit  Kahlheit  enden  (Folliculite  decalvante)  und  etwas  dem  Lupics  erythe- 
matosus durch  die  centrale  Vernarbung  und  centrifugale  Ausbreitung. 

Die  zweite  Form,  welche  DrBREDtl.H  beschreibt,  ähnelt  klinisch  der 
Tondante  de  Oruby  (s.  oben),  welche  SABOURAUD  beschrieben  hat. 

Die  Haare  fallen  nur  in  geringer  Zahl  und  erst  nach  langer  Krankheits- 
dauer aus.  Erst  nach  jahrelangem  Bestände  merkt  man  ein  Spärlieherwerden 
der  Haare.  Die  Läsion  besteht  in  scharfumgrenzten,  verdickten  und  vorspringenden 
Plaques;  manchmal  sind  sie  auch  diffus  über  den  ganzen  Kopf  verbreitet.  Das 
Hauptcharaktcristicum  dieser  Form  ist  eine  massenhafte,  aus  weissen  Plättchen 
bestehende  Abschuppung.  Die  kleinen  Schuppen  bedecken  in  beträchtlicher  Dicke 
die  Kopfhaut,  so  dass  das  ganze  Bild  sehr  der  Psoriasis  ähnelt. 

Verimpfung  dieser  Form  auf  die  Haut  bringt  typische  Scutula  hervor. 
Entweder  hierin  oder  in  dem  vollständigen  Fehlen  weiterer  psoriatischer  Plaques 
liegt  der  Hauptunterschied  diffcrentialiliaguostisch  zwischen  dieser  Form  des  Favus 
und  Psoriasis. 

Diese  Form  ist  im  Gegensatz  zur  ersterwähnten  durch  grosse  Chronicität 
des  Processes  und  lange  Dauer  ohne  besondere  Veränderungen  ausgezeichnet. 
Manchmal  wird  der  Verlauf  durch  Bildung  impetiginoider  Krusten  unterbrochen. 

Die  dritte  Form  ähnelt,  nach  Entfernung  der  meist  vorhandenen  Borken 
und  Krusten,  Plaques  von  nässendem  Ekzem.  Man  findet  entzündete  rothe  Flecken 
auf  dem  Kopfe  von  sehr  unregelmässiger  Gestalt.  Das  auffallendste  Symptom 
hiebei  ist  die  starke  Entzündung  an  der  Basis  der  Haare  und  die  bedeutende 
Schwellung  der  Wurzelscheide  an  den  herausgezogeneu  Haaren  — viel  bedeu- 
tender, als  man  es  beim  Ekzem  sieht. 

Diese  Form  erscheint  mir,  nach  zahlreichen  eigenen  Beobachtungen,  nur 
eine  Form  des  gewöhnlichen  Favus  zu  sein , die  durch  Unreinigkeit,  Läuse, 
Kratzeffecte  mit  einer  secundären  Infection  durch  Eiterungserreger  complicirt  ist. 

Die  beiden  ersten,  von  Ddbreuilh  beschriebenen  Formen  habe  ich  häufig 
zu  beobachten  Gelegenheit  und  kann  die  Beschreibung  des  Verfassers  durchaus 
bestätigen. 

b)  Trichophytie. 

Anf  die  Beziehungen  von  Trichophyton,  Herpes  tonsurans  maculosus , 
Eczema  marginalum  und  Pityriasis  de  Gibert  kommen  wir  weiter  unten 
zurück.  Auf  die  von  Sabourai*D  nus  den  Trichophytien  ausgeschiedene  Form  der 
„Tonsurante  de  Gruby“  (Microsporon  Audouini)  haben  wir  oben  schon 
hingewiesen. 

Auf  eine  nicht  häufig  beobachtete,  zu  diagnostischen  lrrthümern  führende 
Form  der  Trichophytie  sei  hier  zunächst  hingewiesen.  Es  ist  diese  eine  voll- 
ständig der  Impetiyo  contagiosa  ähnelnde  Form.  Auf  den  Randpartien  eines 
circinäreu  typischen  Herpes  tonaura ns-Fleckes  linden  sich  vollständig  impetigo- 
artige Pusteln  in  allen  Eutwicklungsstadien.  Und  auch  darin  stimmen  diese  Pusteln 
mit  der  Impetigo  überein  — worauf  schon  Lksskr  *•)  hinweist  — dass  sie  unter 
einem  Ocdusivverband  mit  indifferenter  Salbe  abheilen. 


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DERUAT»  »MYKOSEN. 


109 


Wichtiger  als  diese  Form  ist  die  Trichophytie  der  Handfläche  und  Fuss- 
sohle,  die  bisher  noch  ziemlich  wenig  bekannt  war.  Eine  Reihe  von  Publicationen 
fasst  1)jklai.eddin-Moukhtar  79)  in  einer  mit  zahlreichen  Krankengeschichten 
ausgestatteten  Arbeit  zusammen.  Diese  Form  hat  klinisch  deshalb  eine  grosse 
Bedeutung , weil  sie  grosse  Aehnliehkeit  mit  der  ebenfalls  häufig  in  gleicher 
Localisation  verkommenden  Dyshidrosis  bietet. 

Der  Beginn  der  Trichophytie  an  diesen  Theilen  verlauft  meist  durchaus 
symptomlos  mit  Bildung  kleiner  Bläschen;  s dir  selten  bildet  sich  ein  rother 
Fleck,  wie  man  ihn  sonst  auf  der  Haut  beobachtet,  als  Anfangssymptom  der 
Trichophytie. 

Das  Initialbläschcn  ist  in  den  verschiedenen  Fällen  von  sehr  verschie- 
dener Grösse,  von  Stecknadelkopf-  bis  Linsengrösse;  meist  besteht  nur  ein 
Bläschen,  selten  mehrere.  Der  Inhalt  des  Bläschens  ist  anfangs  klar.  Meist  findet 
eine  Resorption  des  Blaseninhaltes  ohne  Hinterlassung  einer  Macula  statt,  selten 
wird  der  Inhalt  eiterig.  Die  Epidermis  der  befallenen  Stelle  wird  glanzlos . ist 
nicht  mehr  durchscheinend,  wird  weiss  und  stösst  sich  ab,  reisst  ein  und  es 
bildet  sich  ein  kleiner  Epidermisrand , der  auf  einem  gesunden  Derma  zu 
sitzen  scheint. 

ln  der  Wölbung  des  Fusses  tritt  diese  Abblätterung  der  Bläschen  nicht 
so  leicht  ein;  hier  werden  die  Bläschen  häufiger  eiterig,  in  der  Umgebung  der 
ersten  Blase  erscheinen  nette,  die  mit  der  erstereu  confluiren,  und  es  kommt  so 
zu  pseudo-bullösen  Epidermiserhebungen.  Je  nachdem  findet  man  an  der  Peri- 
pherie dieser  Pseudoblase  noch  kleine  Bläschen  oder  nicht. 

Djklaleddi.n  bemerkt  mit  Recht,  dass  diese  Form  der  Trichophytie  der 
Planta  pedis,  besonders  der  Innenseite  des  Fusses,  bis  heute  meist  verkannt  und 
als  traumatische  Dermatitis,  Eczema  oder  Eczema  dyshidroticum  diagnosticirt  ist. 

Diese  Aehnliehkeit  ist  gross  und  häufig  vermag  nur  das  Mikroskop  zu 
entscheiden. 

Ein  wichtiges  differentialdiagnostisches  Symptom  ist  das  Fehlen  jedes 
Juckens  bei  der  Trichophytie.  Die  Dyshidrosis  ist  während  des  ganzen  Bestandes 
und  Verlaufes  von  heftigem,  unerträglichem  Jucken,  Brennen  uud  Stechen  begleitet. 
Die  Bläschen  der  Dyshidrosis  platzen  nicht,  im  Gegentbeil  vergrössern  sie  sich, 
werden  rundlich  und  springen  warzenförmig  vor.  Beim  Kratzen  scheinen  sich 
unter  dem  kratzenden  Finger  immer  neue  Blasen  zu  bilden.  Ueberdies  ist  die 
Dyshidrosis  sehr  häufig  symmetrisch  — die  Trichophytie  könnte  das  natürlich 
nur  ganz  zufällig  sein.  Und  schliesslich  ist  die  Dyshidrosis  eine  häufig  reeidi- 
virende  Affection. 

Die  Trichophytie  kann  sich  natürlich  ausbreiten  über  den  übrigen  Körper, 
was  aber  selten  vorkommt.  Dann  werden  natürlich  die  charakteristischen  Ver- 
änderungen sofort  auf  die  richtige  Spur  helfen.  Die  Dyshidrosis  verbreitet  sich 
häufiger  auf  die  benachbarten  Theile,  ähnelt  dann  aber  in  nichts  mehr  der 
Trichophytie. 

Die  Regelmässigkeit  der  Configuration  der  Trichophytonfiecken  auf  Hand- 
teller und  Fusssohle  legen  weiter  eine  Verwechslung  mit  Psoriasis  palmaris  und 
Syphiloderma  psoriatiforme  nahe.  Hier  ist  der  Hauptunterschied,  dass  es  weder  bei 
der  Psoriasis,  noch  bei  dieser  Form  des  Syphilids  jemals  zur  Blasenbildung  kommt. 

VI.  Therapie. 

Die  Unzahl  der  therapeutischen  Methoden  — man  sehe  z.  B.  Broch, 
Traitement  de»  maladie»  de  la  pean , an  — und  die  Fülle  der  jederzeit  neu 
empfohlenen  Mittel  zeigen,  wie  schwierig  die  Behandlung  ist.  Ich  will  deshalb 
im  Folgenden  nur  die  von  mir  befolgte  Methode  beschreiben , mit  der  ich  — 
individuell  variirend  — gute  Erfolge  erzielt  habe,  d.  h.  die  Favuskranken  werden 
im  Durchschnitt  in  3 — 6 Monaten  geheilt  im  Hospital ; die  Triehophytonkranken 
brauchen  länger,  werden  aber  meist  ambulant  und  von  den  Angehörigen  behandelt. 


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110 


DERMATOMYKOSEN. 


Im  Hospital  sind  die  Triebopliytien  des  Kopfes  selten,  da  es  sieh  bei  diesen 
Patienten  ja  meist  um  Kinder  bandelt. 

Bei  der  Behandlung  beider  Affectioneu  sind  es  hauptsiichlieb  fünf  Mittel, 
die  in  Betraelit  kommen  : Epiliren,  Seife.  Pyrogallol,  Chrysarobin  und  Queeksilber- 
pflaster  (oder  Salben). 

Jeder  Favuskranke  wird  zunächst  gründlich  gereinigt  und  von  den 
Seutulis  befreit.  Dann  wird  er  rasirt , wodurch  die  erkrankten  Partien  deutlich 
erkennbar  werden.  Nach  gründlicher,  energischer  Abseifung  wird  nun  der  ganze 
Kopf,  besonders  aber  die  erkrankten  Stellen , sehr  gründlich  mit  Jodtinctur 
„gebadet“.  Am  nächsten  Tage  erfolgt  wieder  eine  gründliche  Abseifung  und 
hierauf,  je  nach  dem  Keizungszustandc , wieder  Jodtinetur  oder  Pyrogallolsalbe 
(10%).  Nach  der  individuellen  Empfindlichkeit  wird  nun  mit  der  stets  erfolgen- 
den Abseifung  in  nahen  oder  weiteren  Abständen  Jodtinctur  und  Pyrogallolsalbe 
angewendet.  Nach  circa  1 Monat  lässt  man  eine  Pause  eintreten  und,  bei  fort- 
gesetzter Waschung,  wartet  den  Erfolg  der  Behandlung  ab. 

Die  Epilation  hetrilft  alle  erkrankten  Partien  und  die  anliegenden 
gesunden  Theile  in  einer  Breite  von  circa  0,5  Cm.  Wenn  die  Haare  nach  dem 
ersten  Rasiren  soweit  gewachsen  sind,  dass  man  epiliren  kauu,  wird  die  gründliche 
Epilation  in  eiuigen  Tagen  durchgeführt  und  dann  abermals  der  ganze  Kopf 
rasirt.  Diese  Behandlung  ist  im  Grunde  sehr  einfach.  Die  Behandlung,  wie  sie  z.  B. 
La ss ar  7“)  angiebt,  wird  gewiss  gute  Resultate  geben,  ist  aber  nur  bei  einem  riesigen 
Krankenwärterpersüual  durchzuführen  und  muss  für  die  Krauken  eine  Qual  seiu. 

Nicht  anwenden  konnte  ich  die  von  verschiedener  Seite  empfohlene 
Behandlung  mit  Wärme.  Zinsser8“)  aus  der  Klinik  des  Prof.  Lessku  in  Bern 
veröffentlicht  befriedigende  und  schnell  erzielte  Resultate  mit  folgender  Methode. 
Ausgehend  von  der  experimentellen  Erfahrung,  dass  Culturen  von  Favuspilzeu 
durch  1 — 2sttindiges  Verweilen  in  einer  Temperatur  von  50“,  bei  45“  in  9 bis 
10  Stunden  abgetödtet  wurden,  hat  Zinsskr  mit  ,/4%0  Sublimatlösung  befeuchtete 
Tlieher  auf  den  Kopf  des  Patienten  gelegt  und  Uber  dieselben  eine  Kappe  von 
Spiralröhren,  durch  welche  Wasser  von  der  angegebenen  Temperatur  clrenlirte. 

Wenn  sieh  die  Angaben  des  Verfassers  anderweitig  bestätigen,  so  ist 
diese,  auf  gesunde  theoretische  Voraussetzung  begründete  Behandlung  im  Hospital 
leicht  durchzuführen. 

Die  Behandlung  des  Herpes  tonsurans , im  Beginne  sehr  einfach  und 
dankbar,  besonders  auf  der  unbehaarten  Haut,  wird  später  und  besonders  auf  dem 
Kopf  und  im  Bart  eine  wahre  Plage. 

Das  unfehlbare  Mittel  für  alle  Anfangsstadien  ist  die  Jodtinctur,  die  je 
nach  der  Empfindlichkeit  des  Individuums  1 — 2mal  täglich  in  dünnerer  oder 
stärkerer  Schicht  aufgetragen  wird.  Bart  und  Haar  lässt  man , wenn  möglich, 
rasiren,  da  sich  bei  Jodanwendung  auch  die  Grenzen  der  befallenen  Theile  deutlich 
bestimmen  lassen. 

Bei  dem  gewöhnlichen  Herpes  tonsurans  des  Kopfes  ähnelt  die  Behand- 
lung sehr  der  des  Favus.  Jedoch  bedecke  ich  hier,  wenn  es  möglich  ist,  die 
affieirten  Stellen  mit  hochprocentuirtem  U'NNA’schcn  Chrysarobinpflaster  oder  mit 
Quecksilberpflaster  — meist  mit  diesen  Pflastern  abwechselnd. 

Die  Pflaster  werden  auf  dem  Kopfe  mit  L'NNA’schem  Zinkleim  befestigt. 
Dadurch  erhält  man  einmal  einen  sehr  fest  sitzenden , weiter  sehr  wirksamen, 
drittens  sehr  sauberen  und  viertens  gegen  die  Weiterverbreitung  der  Krankheit 
sowohl  auf  dem  Individuum  selbst,  als  in  seiner  Umgebung  wirkenden  Verband. 
Man  kann  einen  Verband  gerne  zweimal  24  Stunden  sitzen  lassen. 

Bei  Kerion  muBs  man  zunächst  durch  oft  gewechselte  feuchte  Umschläge, 
milde  Quecksilbersalben,  aber  auch  mit  Jodtinetur  die  Abheilung  der  Infiltrate  an- 
streben ; dann  sind  aber  die  Fälle  von  Kerion  des  Kopfes  verhältnissmüssig  dankbar. 

Sehr  grosses  Individualismen  verlangt  die  Trichophytie  des  Bartes  — 
die  Sycosis  hyphoyenes  ( parasitaria  der  früheren  Noineuclatur). 


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DERMATOMYKOSEN*. 


m 


Salben  werden  liier  oft  gar  nicht  vertragen.  Man  muss  zunächst  für 
grosse  Sauberkeit  sorgen.  Mit  dem  Spray  am  besten  besprüht  man  die  nfficirten 
Partien  mit  warmer  Camillenthee-Borsiiurelösung ; dann  wird  sorgfältig  mit  Gaze 
— nicht  mit  Watte  — die  Haut  abgetrooknet.  Bestehen  starke  Infiltrate,  so 
lässt  man  stündlich  zu  wechselnde  Compressen  mit  Borsäurelösung  auflegen  und 
wendet  über  denselben  heisse  Katapiasmen  an  bis  zur  Erweichung  der  Knoten. 
Diese  Methode  kann  man  auch  durch  Auflegen  Usxa 'sehen  Quecksilbercarboi- 
pflasters mit  oder  ohne  Katapiasmen  ersetzen. 

Bind  die  Infiltrate  entleert  oder  resorbirt , so  treten  auch  hier  die  Jod- 
tinctur.  Seife  und  ein  indifferentes  Streupulver  ein.  Salben  werden , wie  gesagt, 
selten  vertragen.  Wo  sie  vertragen  werden , sind  milde  Hg-Salben  von  Zeit  zu 
Zeit  von  Nutzen,  z.  B. 

Rp.  1,'ng.  hydrarg.  cinerei 
Lanolini  na.  25,0 

Zinci  oxydnti  10,0 

Acid.  carbolici  2,0 
(oder  Acid.  salicylici  2,0). 

S.  Dick  auf  Lint  gestrichen  aufzubinden 

Eine  besondere  Erörterung  erfordert  die  Frage  der  Epilation  bei  Herpes 
tonsurans.  Viele  Autoren  sprechen  sich  gegen  dieselbe  aus.  Für  den  Kopf  ist 
die  Methode  zweifellos  von  grossem  Nutzen,  genau  nach  den  oben  für  den  Favus 
angegebenen  Kegeln. 

Im  Barte  dagegen  reizt  die  Epilation , wenn  sie  rücksichtslos  gemacht 
wird.  Man  soll  nur  solche  Haare  epiliren,  die  in  einem  schon  vereiterten  Haar- 
balg stecken  — man  giebt  dadurch  dem  Eiter  einen  Ausweg  und  entfernt  das 
als  Fremdkörper  wirkende  eliminirte  Haar.  Aber  die  Epilation  von  Haaren,  deren 
Haarbalg  noch  gesund  oder  entzündet  ist,  wirkt  schädlich. 

Vor  der  Anwendung  von  G'hrysarobin  im  Gesicht  kann  wegen  der 
Gefahren  einer  Chrysarobin-Conjunctivitis  nicht  genug  gewarnt  werden. 

Diese  Behandlungsmethoden  stellen,  besonders  bei  ambulanter  Behand- 
lung, die  fast  unmöglich  ist  bei  nicht  sehr  willigen,  intelligenten  und  gut  situirten 
Patienten , grosse  Ansprüche  an  Geduld  und  Ausdauer  von  Arzt  und  Patieut. 
Sind  aber  beide  Eigenschaften  auf  beiden  Seiten  vorhanden,  so  sind  die  Resultate 
für  die  Sycosis  hvphogenes  oft  doch  recht  gute;  man  siebt  im  Krankenhaus 
häutig  in  4 — 6 Wochen  die  Heilung  eintreten.  Die  Trichophytie  des  Kopfes  er- 
fordert fast  immer  Monate;  häufig  mehr  als  ein  .Jahr  zur  Heilung. 


B. 

Die  Besprechung  der  nun  folgenden  Affectioneu  ist  nur  im  Zusammenhang 
vorzunehmen,  denn  für  viele  Autoren  decken  sich  die  beschriebenen  klinischen 
Bilder  gegenseitig. 

Es  handelt  sich  um  die  als  Herpes  Umsurans  maculosus  (Kaposi), 
IStyriasis  rosea  (GiBHRT),  Pityriasis  rosacee  marginie  (VlDAL),  Eczema  rnargi- 
natum  (Kaposi)  bezcichneten  Atfectionen. 

Kaposi  durfte,  wie  in  vielen  Fragen,  in  denen  er  einen  wunderbaren 
Conservatismns  beweist,  so  auch  in  dieser  ziemlich  vereinsamt  sein.  Auch  in  der 
neuesten  Auflage  seines  Werkes81)  geht  er  mit  wenigen  Worten  über  die  die  l*u- 
haltbarkeit  seiner  Ansichten  klar  darlegenden  Arbeiten  Bkssikr’s  weg.  Kaposi 
siebt  in  der  Pityriasis  rosr'e  de  Gibert  das,  was  er  als  Herpes  fonsurans  macu- 
losus bezeichnet. 

„Wegen  der  Schwierigkeit  des  Nachweises  der  Pilze  beim  Herpes  ton- 
surans  maculosus,  der  zweifellos  durch  die  Raschheit  des  Fortschreitens  und  der 
Exfoliation  des  Pilzes  bei  dieser  Form  bedingt  ist,  sind  viele  Autoren  noch  immer 
nicht  von  der  mykotischen  Natur  derselben  überzeugt,  und  ziehen  dieselben  vor. 


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112 


DERMATOMYKOSEN. 


diese  Krankheitsform  als  ,.  Pityriasis  rost P (Gibert)  und  von  Herpes  tonsurans 
verschieden  zu  bezeichnen.“ 

Wer  nun  die  gründlichen  Arbeiten  Broco's  81),  Besnier 's  und 

Anderer  stodirt  und  selbst  Gelegenheit  hat,  ein  einigermassen  grosses  Material 
zu  beobachten,  kann  unbedingt  nicht  den  KAPOSt’schen  Ansichten  beistioimen. 
Das  machte  sich  schon  auf  dem  vierten  Congress  der  deutschen  dermatologischen 
Gesellschaft  geltend,  wo  Neisser88)  und  Riehl85)  von  der  KAPOSi’schen  Ansicht 
abweichend  sich  äusscrten. 

In  der  Gruppe  derjenigen  Fälle,  die  Kaposi  als  Herpes  tonsurans  macu- 
losus  bezeichnet,  sind  dreierlei  verschiedene  Affectionen  untergebracht.  Erstens 
einige  wenige  Fälle  von  wirklichem  Herpes  tonsurans;  zweitens  viele  Fälle  von 
der  tigurirten  Form  des  UNXA'schen  Eczema  seborrhoicum ; drittens  das  Gros 
sind  Fälle  von  Pityriasis  rosee  de  Gibert. 

Zahlreiche,  genau  nach  Kaposi’s  Vorschrift  vorgenommene  Untersuchungen 
von  Schuppen  von  Pityriasis  rosee  de  Gibert,  haben  mir  ein  negatives  Resul- 
tat ergeben. 

Die  Pityriasis  roste  de  Gibert  ist  eine  subjectiv  fast  symptomlos 
verlaufende,  ziemlich  polymorphe  oberflächliche  Hautaffection.  Meist  mit  einer 
Primitivplaque  beginnend  (Buocq),  breitet  sie  sich  in  wenigen  Wochen,  über  den 
Rumpf  besonders,  aus,  auch  auf  die  Extremitäten,  selten  auf  den  Kopf  übergehend 
und  heilt  spontan  meist  in  wenigen  Wochen  (-1 — 6);  bei  unzweckmässiger  Be- 
handlung geht  sie  leicht  in  ekzematöse  Affectionen  über. 

Der  Beginn  der  Pityriasis  roste  de  Gibert  wird,  der  Symptomlosigkeit 
wegen,  oft  Ubersebeu.  Es  ist  eine  kleine,  leicht  erhabene,  erythematopapulöse 
Infiltration,  die  sich  rasch  in  peripheren  Kreiseu  ausbreitet  und  mit  allcrfeinsten 
Schüppchen  bedeckt.  Niemals  beobachtet  man  spontane  Reizungszustände,  Bläschen- 
bildung oder  Nässen.  Die  Farbe  ist  ein  so  typisches,  zartes  Rosa,  mit  einem 
leichten  gelblichen  Ton  auf  den  schon  ..abgeweideten“  Partien , dass  es  in 
typischen  Fällen  leicht  ist,  lediglich  aus  der  Farbe  die  Diagnose  zu  stellen. 

Meist  geht  die  Affection  von  der  Hals-  oder  Claviculargegend  aus  und 
verbreitet  sich  hier  Uber  den  Körper. 

Ob,  wie  es  besonders  von  Jacquet88)  und  Feulard89)  behauptet  wird, 
die  Pityriasis  rosee  de  Gibert  von  Magendilatation  begleitet  ist,  oder  besser,  sich 
auf  Individuen  entwickelt,  welche  eine  Magendilatatiou  haben,  scheint  mir  mehr 
als  zweifelhaft;  ich  habe  in  zahlreichen  Fällen,  die  besonders  zu  Beginn  des 
Sommers  zur  Beobachtung  kommen,  nichts  derartiges  linden  können.  Die  Ursache 
dürfte  jedenfalls  eine  parasitäre  sein,  sie  ist  uns  aber  noch  unbekannt  und  ist 
sicherlich  nicht  ein  Trichophyton. 

Mit  der  Pityriasis  rosie  de  Gibert  identisch  dürfte  sein  die  Pityriasis 
circinfe  et  marginie.  Vjdai/s;  Besxier,  der  doch  wohl  VlDAL'sche  Fälle  gesehen 
hat,  sagt,  er  sei  nicht  im  Stande,  beide  Affectionen  zu  unterscheiden. 

Differentialdiagnostisch  kommen  Herpes  tonsurans,  Eczema  seborrhoicum 
und  Syphiloderma  er  ythrmatosum  in  Betracht. 

Selten  wird  der  Herpes  tonsurans  eine  Ausdehnung  annehmen  wie  die 
Pityriasis  rosie  de  Gibert,  und  dann  werden  sich  immer  Kreise  mit  Bläschen- 
bildung  und  stärkeren  Reizungserscheinungen  nachweisen  lassen.  Auch  ist  die  Farbe 
eine  viel  lebhaftere  beim  Herpes  tonsurans  als  bei  der  Pityriasis  rosee  de  Gibert. 

Bei  Eczema  seborrhoicum  dürften  besonders  Farbe  und  Localisation  vor 
diagnostischen  Irrthümern  schützen.  Man  wird  immer  eine  Seborrhoe  des  Kopfes 
und  des  Gesichtes , weiter  eine  vorzugsweise  Localisation  der  ersten  Plaque  auf 
Brustbein  und  zwischen  den  Schulterblättern  beim  Eczema  seborrhoicum  finden ; 
ferner  ist  das  buttergelbe  Centrum  mit  dem  rotheu,  respective  kupferrothen  Rand 
und  spärlichere  gröbere  Abschilferung  sehr  verschieden  von  der  ganz  zart  gelben 
und  rosa  nüancirten  Farbe  und  den  feinen , zahlreichen  Schüppchen  bei  der 
Pityriasis  rosee  de  Gibert. 


DERMATOMYKOSEN. 


113 


Sehr  wichtig,  wie  ich  aus  der  Praxis  verschiedentlich  erfahren  habe,  ist 
die  Differentialdiagnose  zwischen  Pityriasis  rost'e  de  Gibert  und  einem  erythemato- 
circinären  Syphilid.  Besonders  im  Anfang,  wenn  die  kleine  Papel  noch  zu  con- 
statiren  ist  hei  der  Primitivpapel  der  Pityriasis  rosen,  ist  eine  Verwechslung 
wohl  möglich.  Man  muss  dann,  wenn  es  sich  um  einige  wenige  Läsionen  handelt 
und  nicht  andere  Symptome  die  Diagnose  klären,  die  weitere  Abwicklung  ab- 
warten.  In  entwickelteren  Fällen  dürfte  dagegen  ein  Irrthum  ausgeschlossen  sein 

— niemals  dürfte  ein  Syphilid  eine  derartige  Uniformität  bieten  wie  die  Pity- 
riasis rosiie  de  Gibert. 

Wie  schon  erwähnt,  heilen  die  meisten  Fälle  von  Pityriasis  rosea  von 
selbst.  Die  Therapie  hat  deshalb  vor  Allem  jede  Reizung  zu  vermeiden.  Warme 
Bäder,  Streupulver  und  in  etwas  hartnäckigeren  Fällen  schwache  Schwefelpasten 
führen  bald  zum  Ziele. 

Das  Eczema  marg  in  at  um  K aposi’s  dürfte  ebenfalls  mehrere  Affectionen, 

Intertrigo,  ekzematösen  Intertrigo  und  Fälle  von  Herpes  tonsurans , ganz  besonders 
aber  von  Erythrasma  in  sich  begreifen. 

Diese  besonders  in  der  Schenkelbeuge,  in  der  Scrotal-  uud  Perineal- 
gegend beobachtete  Affcction  dürfte,  wie  Besnier  treffend  bemerkt , nicht  eine 
in  sich  abgeschlossene  Krankheit  darstdlen,  sondern  eine  durch  die  Localisation 
bedingte  Form  von  Epidermo-Dermitcn  sein,  die  durch  mehrfache  Ursachen  hervor- 
gerufen werden  kann. 

Zweifellos  können  bei  Scborrhoikern,  bei  Individuen,  welche  an  Erythrasma 
leiden,  schliesslich  bei  fetten  Individuen  im  heissen  Klima  durch  Hypcrhidrosis, 
mangelhafte  Reinlichkeit,  vielleicht  auch  — aber  sicher  selten  — durch  Herpes 
tonsurans.  stärkere,  ekzematöse  oder  „ekzematisirte“  Entzündungen  der  Haut  sich 
ausbildcn,  die  alle  dieselbe  Form  annehmen.  Die  Bedeutung  des  primären  Reizes 

— Seborrhoe,  Microsporon  minutissimum , Herpes  tonsurans  — tritt  hinter 
die  secundären  Reize,  welche  einen  ekzematösen  Zustand  schaffen,  voll- 
ständig zurück. 

Dafür  spricht,  dass  das  Eczema  marginatum  nicht  contagiös  ist;  Hf.iira 
selbst  wollte  es  auch  nicht,  wie  Kaposi  jetzt,  zu  einer  der  Formen  des  Herpes 
tonsurans  machen. 

Der  verschiedenen  primären  Ursache  entspricht  auch  die  Verschiedenheit 
der  Therapie.  Wo  man  mit  Sauberkeit.  Waschungen  mit  heissem  Wasser,  Seife 
oder  schwachen  alkoholischen  Lösuugen  nicht  zum  Ziele  kommt,  wird  die  para- 
sitäre primäre  Ursache  häufig  durch  die  Wirksamkeit  der  Jodtinctur  bewiesen. 

Schwefel  ist  sehr  wirksam  in  vielen  Fällen,  wird  aber,  wie  Fett  überhaupt,  als 
Salbe  schlecht  vertragen.  Das  wichtigste  Postulat  bei  der  Behandlung  ist  Aus 
trocknung  der  affieirten  Partien  und  Vermeidung  des  Contaetes  der  erkrankten 
Ilautflächen  durch  Dazwischenlegcn  von  Mousseline  mit  Puder. 

Das  Erythrasma,  durch  das  Microsporon  minutissimum  verursacht, 
gehört  an  diese  Stelle.  So  lange  nicht  Schweiss,  Unreinigkeit  eine  Reizung  hervor- 
bringen , besteht  diese  Erkrankung  in  scharf  begrenzten , meist  blassbräunlich 
oder  röthlich-gelblichen  Flecken,  die  von  glatter,  leicht  abschilferndcr  Oberfläche 
sind,  nicht  nässen,  keine  subjcctiven  Beschwerden  machen  und  meist  an  den 
Oberschenkel- Hoden  - Contact flächen,  unter  den  Mammae  und  manchmal  an  den 
Achselhöhlen  localisirt  sind. 

Bei  secundärer  Reizung  bilden  sich  Formen  ans,  die  wir  eben  bei  Eczema 
marginatum  erwähnt  haben. 

Durch  Waschungen  mit  heissem  Wasser  uud  Seife  mit  folgender  Puderuug 
sind  diese  Flecken  leicht  zu  beseitigen. 

Die  Pityriasis  versicolor , veranlasst  durch  das  Microsporon  furfur, 
ist  in  den  letzten  Jahren  mehrfach  studirt. 

Unna  und  von  Sehlen  90)  glaubten,  Reinzüchtungen  des  Microsporon 
furfur  gewonnen  zu  haben. 

Eooyclop.  Jahrbücher.  VI.  8 

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114 


DERMATOMYKOSEN. 


Rotliar91)  aber,  der  selbst  Botaniker  ist  und  den  Pilz  von  seiner 
eigenen  Haut  züchtete,  konnte  die  Untersuchungen  der  vorgenannten  Autoren 
nicht  bestätigen.  Er  schlägt  den  Namen  Oidium  subtile  vor  für  den  Pilz  der 
Pityriasis  versicolor. 

Diagnostisch  giebt  diese  discrete,  schwach  gelblich  gefärbte,  in  Insela,  die 
untereinander  manchmal  feine  Brücken  zeigen,  sich  entwickelnde,  fein  schuppende, 
kaum  erhabene  Affection  kaum  Anlass  zu  Schwierigkeiten.  Manchmal  sind  die 
Flecken  etwas  röthlicher  und  es  ist  dann  nöthig,  an  Pityriasis  rosea  und  an 
squamös-erythematöse  Syphilide  zu  denken , jedoch  dürfte  selbst  bei  nur  ge- 
ringer Erfahrung  einige  Aufmerksamkeit  jeden  Irrthura  unmöglich  machen. 

Von  grösserem  Interesse  ist  die  Frage,  ob  die  Pityriasis  versicolor  nur 
auf  Individuen  gedeiht,  die  an  organischen  Erkrankungen  leiden.  Es  ist  bekannt, 
dass  besonders  bei  kachektischen  Individuen,  so  bei  Phthisikern,  Diabetikern, 
Tabikern,  Pityriasis  versicolor  ein  häufiger  Befund  ist. 

MOL&NEB  und  Castilhes  9a)  kommen  zu  den  Schluss,  dass  Microsporon 
furfur  ein  Pilz  niederer  Ordnung  (ein  Schimmelpilz)  sei,  und  dass  sich  dieser 
Pilz  bei  Individuen  entwickle,  die  an  Digestioosstörungcn  leiden,  da  deren  Haut- 
secret  ein  Gemisch  von  Fettsäuren  enthalte,  das  der  Entwicklung  des  Pilzes 
günstig  sei. 

Die  fast  absolute  Nicht  - Contagiosität  dieser  Affectionen , die  leichte 
Heilung  durch  Seife,  Schwefel  und  Sublimat,  die  ausserordentliche  Hartnäckigkeit 
im  Recidiviren,  sobald  die  Behandlung  ausgesetzt  wird,  sprechen  für  die  Be- 
rechtigung der  ausgesprochenen  Anschauungen. 

Literatur:  *)  Quincke,  Arch.  f.  experim.  Path.  u.  Pharm.  1886,  XXII,  pag.  62.  — 
*)  Do  utrelepont,  Verhandl.  d.  deutschen  dermat  Gesellsch.  1889,  pag.  97.  — *)  Kaposi, 
Ebenda,  pag.  98.  — 4)  Quincke,  Doppelinfection  mit  Favus  vulgaris  und  Favus  herpeticus. 
Monatsh.  f.  prakt.  Dermat.  1889,  VIII,  Nr.  2.  — #)  Fabry,  Klinisches  und  Aetiologiscbea  über 
Favus.  Arch.  f.  Dermat.  n.  Syph.  1889,  pag.  461.  — •)  Elsen  berg,  Ueber  den  Favuspilz. 
Arch.  f.  Dermat.  u.  Syph.  188*,  pag-  179-  — 7)  Elsenberg,  Ueber  den  Favuspilz  bei  Favus 
herpeticus.  Arch.  f.  Dermat.  u.  Syph.  1890,  pag.  71.  — 8)  Pick,  Ueber  Favus.  Prager  rned. 
Wochenschr.  1887.  — •)  Kral,  Mittheilungen  über  Hautmikrophyten  und  erläuternde  Bemer- 
kungen zu  einer  bakteriologischen  Ausstellung.  Verhandl  d.  deutschen  dermat.  Gesellsch.  1889, 
pag.  84.  — ,0)  Jadassohn,  Demonstration  von  Favusculturen.  Verhandl.  d.  deutschen  dermat. 
Gesellsch.  1889,  pag.  74-  — u)  Untersuchungen  über  Favus:  Pick,  I Klinischer  und  experi- 
menteller Theil,  pag.  57;  Kral,  II.  Mikrologischer  Theil,  pag.  79.  Arch.  f.  Dermat.  u.  Syph. 
1891.  — **)  Pi  ck  , Der  augenblickliche  Stand  der  Dermatomykosenlehre  Verhandl.  d.  deutschen 
dermat.  Gesellsch.  1894,  pag.  64-  — **)  Mi  belli,  Sul  Favo.  Giornale  Italiano  delle  malattie 
vencrec  et  delle  pelle.  1892,  II;  Arch.  f.  Dermat.  u.  Syph.  1894,  XXVI,  pag.  311.  — 
u)  Maria nelli,  Achorion  Schot  nleinii,  morfologica , biologia  e clinica.  Tesa  1892;  Annal. 
de  dermat.  et  syph.  1894,  pag.  794  (in  172  Fallen  einen  Pilz).  — ,a)  Dubreuilh,  Dia- 
gnostic de  ta  t eigne  fareuse.  Journ.  des  malad,  cutan.  et  syph.  1890,  pag.  152.  — 1#)  Fol  ly, 
Beobachtungen  über  Infectionen  mit  dem  Favuspilze.  Ergänzungsheft  zum  Arch.  f.  Dermat.  u. 
Sypb.  1893«  I,  pag.  lHö.  — ”)  Frank,  Favus  Monatsh.  f.  prakt.  Dermat.  1891,  XII, 
pag.  254.  — 18)  Unna,  Drei  Favusarten.  Monatsh.  f.  prakt  Dermat.  1892,  XIV,  pag  1.  — 
“')  Neebe  und  Unna,  Die  bisher  bekannten  neun  Favusarten.  Monatsh.  f.  prakt.  Dermat. 
1893,  XVI,  pag.  17-  — *°)  Unna,  Flora  dermat  »logiert.  IX.  Monatsh.  f.  prakt.  Dermat.  1892, 
XIV,  pag.  303.  — ,1)  Sabrazfcs,  Sur  le  favus  de  Vhomme,  de  la  poule  et  du  einen.  Annal 
de  dermat.  et  syph.  1893,  pag  340.  — Costuntin  et  Sabrazea,  Etüde  morphologique 
des  Champignons  du  favus.  Annal.  1894,  pag.  109.  — ,a)  Biro,  Du  Champignon  du  favus. 
Annal.  de  dermat.  et  syph.  1894,  pag.  486-  — s#)  Bodin.  Note  sur  le  favus  de  Vhomme. 
Annal.  de  dermat.  et  syph.  1893,  pag.  415.  — **)  Bodin,  Sur  la  pluraliti  du  favus.  Annal. 
de  dermat.  et  syph.  1894,  pag.  12*0.  — sa)  Pick,  Der  augenblickliche  Stand  der  Dermato- 
mykosenlehre. Verhandl.  d.  deutschen  dermat.  Gesellsch.  1894.  pag  54.  — aT)  Tischontkine, 
Etüde  sur  la  morphologic  et  la  bioloyie  des  Champignons  du  genre  Achorion.  Annal.  de 
dermat.  et  syph.  1895,  pag.  72.  — 2S)  Kral,  Ueber  den  Pleomorph isrnus  pathogener  Hypho- 
rayccten.  Arch.  f.  Dermat.  u Syph.  1894,  XXVII,  pag.  379.  — *•)  Duclau  x,  Societe  de  biol. 
16.  Jänner  1886.  — 30)  Verusjki,  Annal.  de  Pinstitut  Pasteur.  25  aoüt  1887,  Nr.  8.  — 
Sl)  Leslie  Roberts,  Untersuchungen  über  Reineulturen  des  Herpes  tonsurans  - Pilzes 
Monatsh.  f.  prakt.  Dermat.  1889,  IX,  pag.  339.  — **)  Unna  und  v.  Sehlen,  Flora  dermato- 
logica.  (Nr.  XII:  Trichophyton  ) Monatsh.  f.  prakt.  Dermat.  1890,  X,  pag.  489.  — *3)  Scharf, 
Eine  Impfung  des  Trichophyton  auf  den  Menschen.  Monatsh.  f.  prakt.  Dermat.  1890,  X, 
pag.  536.  - *4)  Furthmann  und  Neebe,  Vier  Trichophytonarten.  Monatsh.  f.  prakt.  Dermat. 
1891,  XIII,  pag.  477.  — 5J)  Sabouraud,  Contribution  ä Vitudc  de  la  trichophytii  humaine. 


DERMATOMYKOSEN. 


115 


Anna),  de  dennat.  et  syph.  1892,  pag.  1061,  1151.  — **)  Sabouraud,  Contribution  ä l'ttude 
de  la  trichophytie  humaine.  Annal.  XCIII,  pag.  116.  — a7)  Sabouraud,  Contribution  ä 
l'ttude  de  la  tnchophytie  humaine  ä grosses  spores.  Ibidem,  pag.  814.  — **)  Sabouraud, 
Sur  Thypothhe  d’une  existence  saprophyte  des  trichophyticus.  Ibidem,  pag.  561.  — ")  Sa- 
bouraud, Note  sur  trois  points  de  Vhistoire  micrographique  des  trichophytons.  Ibidem, 

1894,  pag.  37  — 4°)  Sabouraud,  Sur  la  trychophytie.  Ibidem,  1894,  pag.  982.  — 

4I)  Sabourand,  Lee  trichophyties  humaines.  Paris  1894.  — 4f)  Sabouraud,  Sur  une 
mycose  in  nominet  de  V komme , la  t eigne  tondante  sptciale  de  Gruby,  Mierosporon 
Audonini . Annal.de  l’institut  Pasteur.  1894,  VIII.  — 49)  Mi  belli,  Trichvphytia  blepharo- 
ciliaris  (Blepharitis  trichophyticaj.  Monatsh.  f.  prakt.  Dermat.  1893,  XIX.  — 44)  Gruby, 
Sur  une  esptce  de  mentagre  contagieuse  rtsultant  du  dtveloppement  d’un  nouveau  crypto- 
garne  dans  la  ranne  des  poils  de  la  barbe  chcz  Vhomme.  Compt.  rend.  de  l'Acad.  des 
Sciences.  Paris.  XV,  pag.  5l2ff.  (nach  Sabouraud).  — 4$)  Gruby,  Recherches  sur  la  na- 
ture,  le  siege  et  dtveloppement  du  prorigo  decalvans  ou  phyto-aloptcie . Compt.  rend.  de  l’Acad. 
des  Sciences.  Paria  1843,  XVII.  pag.  301  (nach  Sabouraud).  — 4<)  Gruby,  Recherches 
sur  les  cryptvgames  ijui  constituent  la  maladie  contagieuse  du  cuir  chevelu  dicrite  sous  la 
nt/m  de  (eigne  tondante  ( Mahon ) herpts  tonsurans  (Cazeneuve).  Compt.  rend.  de  l’Acad.  des 
Sciences.  Paris  1844,  XV1I1,  pag  583  (nach  Sabouraud).  — 47)  Bfeclere,  Les  (eignes 
tondantes  <1  Ptcole  de  Vhdpital  St.  Louis  en  1894.  Annal.  de  dermat.  et  syph.  1894,  pag.  685-  — 
48)  Mi  belli,  Ueber  die  Pluralität  der  Trichophytonpilze.  Monatsh.  f.  prakt.  Dermat.  1895, 
XXI,  pag.  613  — 4*)  Mi  belli,  Sur  la  pluralitt  des  Trichophytons.  Annal.  de  dennat.  et 
syph.  1895,  pag.  733  (desselben  Inhalts  wie  die  vorige  Arbeit).  — 60)  Krösing,  Studien 
über  Trichophyton.  Verhandl.  d.  4.  Congr.  d.  deutschen  dermat.  Gesellsch.  in  Breslau.  — 
**)  Winternitz,  Demonstration  von  Herpes  foniurnns-Culturen.  Verhandl.  d.  4.  Congr.  d. 
deutschen  dermat.  Gesellsch.  — **)  Kral,  Ueber  den  Pleomorphismus  pathogener  Hypho- 
myceten.  Arch.  f.  Dennat.  u.  Syph.  1894.  XXVII,  pag.  397-  — #s)  A.  Marianelli,  Sul  tricho- 
phyton  tonsurans.  Lo  Sperimentale.  11.  Nov.  1893,  Nr.  45,  pag.  536.  — *4)  Leslie  Roberts, 
The  botany  of  Trichophyton.  Arch.  f Dermat.  u Syph.  1894,  XXVIII,  pag.  426.  — w)  Mazza, 
Ueber  Trichopbytonculturen.  Arch.  f.  Dermat  u.  Syph.  1891.  pag.  591.  — 4<)  Rosenbach, 
Ueber  die  tieferen  eiternden  Schimmelerkrankungen  der  Haut  und  über  deren  Ursachen.  Wies- 
baden 1894  — 5T)  Grawitz,  Ueber  die  Parasiten  des  Soors,  des  Favus  und  des  Herpes 

tonsurans.  Virchow’s  Archiv.  1886,  CIII.  — 6#)  D u c 1 a u x , Compt.  rend.  de  la  soci6t6  de  biol. 
Seance  16  janv.  1886.  — w)  Verujsk  i , Recherches  sur  la  biologie  et  morphologie  du  tricho- 
phyton  tonsurans.  Annal.  de  l'institat  Pasteur.  24  aoüt  1886,  pag.  378.  — M)  Thin,  Patho- 
logy  and  treatment  of  ringirorm.  London  1877.  — ei)  Campana,  Culturc  artißciali  di 
tricophiton  tonsurans  di  un  tumore  della  gambe  di  una  donna.  Relazione  della  clinica  dermo- 
siHlopatica.  1887 — 1888.  — •*)  H.  Leslie  Roberts,  Introduction  to  the  study  of  the  mould- 
fungi  parasit  to  man.  Liverpool  1893.  Dobb  <fc  Cie.  — •*)  James  G.  Kel logg,  Zur  Geschichte 
und  Anatomie  des  Favusscuiulums.  Monatsh.  f.  prakt.  Dermat.  1895,  XXI,  Nr.  9.  — ®4)  Unna, 
Histopathologie  der  Hautkrankheiten.  Berlin  1894  pag.  380.  — #l)  Mi  belli,  Sul  faro ; rt- 
cerche  cliniche,  micologiche  e istologiche.  Giorn.  ital.  d.  mal.  ven.  e.  d.  pelle.  1892,  Nr.  2.  u.  3.  — 
**)  M i belli,  Einige  Bemerkungen  über  die  Anatomie  des  Favus,  Monatsh.  f.  prakt.  Dermat. 
1896,  XXII,  pag.  126.  — 4T)  Wälsch,  Zur  Anatomie  des  Favus.  Arch  f.  Dennat.  u.  Syph. 

1895,  XXXI,  H.  1.  — ,,#)  Wälsch,  Zur  Anatomie  des  Favus.  Prager  med.  Wochenschr.  1895, 
Nr.  17,  18.  — ••)  Leloiru.  Vidal,  Traiti  descriptif  des  muladies  de  la  peau.  Masson 
1893,  pag.  362.  — ,#)  Haurwitz,  Ein  Beitrag  zur  Histologie  des  Favus.  Breslau  1892.  — 
’*)  Neisser,  Verhandl.  d.  deutschen  Gesellsch.  f.  Dermatol.  1894,  pag.  106.  — T*)  Fabry, 
Onychom icosis  faeosa.  Arch.  f.  Dermat.  u.  Syph.  1890,  pag.  29.  — 7*)  Scharf,  Eine  Impfung 
des  Trichophyton  auf  Menschen.  Monatsh.  f.  prakt.  Dermat.  1890,  X.  pag.  536.  — 74)  Pelli- 
zari,  Untersuchungen  über  Trichophyton  tonsurans.  Med.  Congrea*  zu  Pavia.  1887.  — 
n)  H.  Fournier,  Tnchophytie  des  ongles.  Journ.  des  malad,  cutanees  et  syph.  1889,  pag.  3 — 
74 ) Dubreuilh,  Diagnostic  de  la  t eigne  faveuse.  Journ.  des  malad,  cutanees  et  syph.  1889, 
1,  pag.  152-  — 7?)  Besser,  Verhandl.  d.  deutschen  Gesellsch.  f.  Dennat.  1894,  pag.  107.  — 
7i)  Djelaleddin-Moukhtar,  De  la  trichophytie  des  rtgions  palmaire  et  plantaire.  Annal. 
de  derniüt.  et  syph.  1892,  pag.  885-  — **)  Lassar,  Art.  „Favus“,  3.  Aufl.  d.  Real-Ency- 
clupadie  von  Eulenburg.  — a0)  Zinsser,  Ueber  die  Behandlung  des  Favus  mit  Wärme.  Arch. 
f.  Dermat.  u.  Syph.  1894,  XXIX,  pag.  13.  — 8I)  Kaposi,  Pathologie  und  Therapie  der  Haut- 
krankheiten. 1893,  pag.  948 ff  — **)  Brocq,  Note  sur  la  plaque  primitive  de  la  pityriasxs 
roste  de  Gibert.  Annal.  de  dermat  et  syph.  1888,  pag.  615.  — M)  Besnier,  Pityriasis  roste 
de  Gibert  ( As  pect  de  certains  cas  de)  avec  Veeztma  «tborrhtique.  Annal.  de  dermat.  et  syph. 
1889,  pag.  108.  — M)  Besnier,  Kramen  histologique  de  la  Pityriasis  roste  des  Gibert. 
Annal.de  dermat.  et  syph.  1889.  pag.  338-  — ®6)  Besnier,  Pityriasis  roste  de  Gibert. 
Anmerkung  in  der  Uebersetzung  des  Kaposi’schen  Lehrbuches.  II,  pag.  810.  — M)  Neisser 

u.  •*)  Riehl,  Verhandl.  d.  4.  Congr.  d.  deutschen  dermat.  Gesellsch.  1894,  pag.  109,  110.  — 
Jacquet,  Note  sur  deux  cas  de  pityriasis  roste  de  Gibert  sur  des  sujets  atteints  de 

dilatation  gastnque.  France  m&d.  1886.  — 8P)  Feulard,  Pityriasis  roste  de  Gibert  et  dila- 
tation  de  Pestumac.  Annal.de  dermat.  et  de  syph.  1889,  pag.  459  U.  714.  — M)  Unna  und 

v.  S e h 1 e n , Flora  dermatoloyiea.  Monatsh.  f.  prakt.  Dermat.  1890,  XI,  pag.  476.  — -1)  Ko 1 1 i a r, 
Die  Morphologie  des  Mierosporon  furfur.  Wratsch.  1892,  Nr.  42  u.  43.  Ref.  Virchow-Hirsch’s 

8* 


116 


DERMATOMYKOSEN.  — DIPÜTHERIEHEILSERUM. 


Jahresberichte.  1892,  pag.  562  und  Arch.  f.  Dermat.  u.  SypU.  1894,  XXVI,  pag.  312.  — 
w)  M oh* ne a a.  Castilhets,  Pathoytnic  et  traiiement  du  pityriasis  versicolor.  Arch.  gen. 
de  meJ.  Oet.  1891,  pag.  385.  v.  Döring,  Conatantinopel. 

Digitoxinum  crystallisatum  (Merck).  Während  bis  vor  Kurzem  das 
Digitoxin  wegen  seiner  sehr  starken  Wirkung  eine  nur  sehr  beschränkte  An- 
wendung fand , trat  Masuts  in  Lüttich  auf  Grund  klinischer  Untersuchungen  für 
diese  Substanz  aus  der  Digitalis  purpurea  gerade  wegen  seiner  schnellen,  sicheren  und 
energischen  Wirkung  ein.  Schon  nach  12,  meist  nach  24  Stunden  schwinden  in 
vielen  Fällen  Cyanosc  und  Respiratiousstöruugen,  der  Puls  wird  kräftiger  und 
regelmässig,  die  Diurese  erfährt  eine  bedeutende  Steigerung.  Die  Wirkung  des 
Digitoxins  währt  gewöhnlich  8—10  Tage  und  macht  sich  auch  bei  Pneumonie 
und  Typhus  in  Bezug  auf  Puls  und  Temperatur  geltend.  Als  Nebenwirkungen  treten 
nur  selten  gastrische  Störungen  von  geringer  Intensität  auf.  ln  einer  grösseren  sorg- 
fältig durchgeführten  Versuchsreihe  prüfte  Wenzel  unter  Leitung  von  Un  verricht 
dieses  Digitalispräparat  in  schweren  Fällen  von  Herzklappenfehlern,  Myokarditis  und 
Nephritis.  Er  gab  das  Mittel  per  Klysma.  Nach  einem  jedesmaligen  Reinigungs- 
klystier wurde  zuerst  3mal  am  Tage,  später  nur  2mal,  zuletzt  lmal  das  15  Grm. 
einer  Lösung  von  Digitoxin  0,01,  Alkohol  10,0,  Aqu.  dert.  ad  200,0  auf  100,0 
Wasser  enthaltende,  lauwarme  Klystier  gegeben.  Der  Kranke  erhielt  somit  pro 
dosi  0,00075  Digitoxin,  die  Tagesdosis  überschritt  noch  um  einige  Zehntel  Milli- 
gramm die  von  Schmikdeherg , Binz,  Lewix  u.  A.  auf  2 Mgrm.  festgestellte 
tägliche,  maximale  Gabe.  Diesmal  wurde  an  toxischen  Nebenwirkungen  nur  bei 
2 sehr  herabgekommenen  Individuen  Erbrechen  beobachtet,  welches  nach  Aus- 
setzen des  Mittels  sofort  anf hörte.  Wenzel  erklärt  das  Digitoxin  für  ein  mächtiges 
Cardiacum.  das  selbst  wirksam  ist,  wenn  andere  Medieameute,  selbst  das  Digitalis- 
infus,  versagen.  Die  diuretisehe  Wirkung  ist  ausgezeichnet.  Durch  die  Anwendung 
des  Digitoxins  per  Klysma  werden  die  Störungen  von  Seiten  des  Digestioustractus 
sehr  reducirt , fast  ganz  vermieden , gleichzeitig  macht  sich  die  Herzwirkung 
energisch  geltend. 

Auch  J.  Corix,  der  das  Digitoxin  in  einer  Pneumonieepidemie  in  grösserem 
Massstabc  versuchte,  spricht  sich  günstig  über  das  Mittel  aus.  Er  gab  es  in 
etwas  hohen  Dosen,  indem  er  bei  Erwachsenen  eine  Lösung  von  3 — 4 Mgrm. 
Digitoxin,  crystallis.  (Merck ) in  Chloroform  und  Alkohol  aa.  mit  Aqu.  dent.  ad 
200'0  auf  3mal  binnen  24  Stunden  einuehmen  lässt.  Für  Kinder  bis  zu  1 Jahr 
V,  Mgrm.  pro  die.  Erbrechen  zeigten  6°/0  der  Patienten;  je  concentrirter  die 
Lösung,  desto  leichter  tritt  jenes  auf;  doch  warnt  Corix  vor  zu  sehr  fractionirten 
Dosen.  In  Intervallen  von  48  Stunden  konnte  die  Dosis  von  3 Mgrm.  mehrmals 
wiederholt  werden.  Cnmulativwirkung  trat  nie  auf,  Corix  betont  die  Nothweudig- 
keit,  das  Mittel  rechtzeitig  und  in  gehöriger  Dosis  zu  verabreichen. 

Literatur:  Musius  (Lüttich),  Bull,  de  l'Acad.  royale  do  Med.,  Anne»  1893  et 
1894.  — Wenzel,  lieber  die  therapeutische  Wirksamkeit  des  Digitoxin.  Centralhl.  f.  klin. 
Med.  1895,  Nr.  19.  — - J.  Corin,  Du  traiiement  de  la  pneumonie  par  tu  digitoxine.  Annal. 
de  la  Soc.  mtdic.-cbirurg.  de  Libgc.  1895.  Mai,  pag.  201.  Locbisch. 

Diphtherieheilserum.  Als  ich  Ende  1894  einen  Ucberblick  über  die 
Serurabchandlung  der  Diphtherie  auf  Grund  unserer  damaligen  Kenntnisse  zu 
gewinnen  suchte,  kam  ich  am  Schlüsse  zur  Aufstellung  folgender  Sätze1): 

1.  Die  Anwendung  des  BEHRiXG’schen  Diphtherielieilserums  basirt  auf 
einer  Reihe  exactcr  Laborntoriumsversuche  und  klinischer  Beobachtungen , welche 
genügend  sind,  um  den  Versuch  des  neuen  Mittels  bei  der  sonstigen  Machtlosig- 
keit unserer  Diphtheriebehandlung  nicht  nur  zu  rechtfertigen,  sondern  sogar  zu 
gebieten. 

2.  Diesen  Versuch  dürfen  wir  praktische  Aerzte  ohne  Zweifel  ebenfalls 
vornehmen,  weil  die  Unschädlichkeit  des  Mittels  als  feststehend  zu  erachten  ist. 

3.  Die  Scrutnbehandlung  muss  sofort  bei  Verdacht  auf  Diphtherie,  jeden- 


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DIPHTHERIEHEI  LSERUM. 


117 


falls  so  früh  als  möglich , einsctzen.  Die  Geschwister  des  Patienten  sind  durch 
entsprechend  kleine  Gaben  sofort  zu  immunisiren. 

4.  Neben  der  Serumbehandlung  ist  die  Reinhaltung  von  Mund-  und 
Nasenhöhle  durch  Gurgeluugcu,  beziehungsweise  Spülungen  erforderlich ; auf  die 
Ernährung  der  Diphtheriekranken  ist  nach  wie  vor  das  aufmerksamste  Auge 
zu  richten. 

5.  Bei  Stellung  der  Prognose  ist  die  Schwere  des  Falles  zu  berücksichtigen. 
Leichte  Fälle,  bei  denen  deutliche  Belüge  und  Schwellungen  im  Rachen  ohne  An- 
zeichen einer  Allgemeinintoxication  vorhanden  sind,  pflegen  absolut  günstig  zu 
verlaufen;  in  mittelschweren  Fällen,  in  denen  starke  Beläge  und  Schwellungen 
ohne  Anzeichen  von  Allgemeinintoxication  da  sind,  darf  man  hoffen , etwa  drei 
Viertel  genesen  zu  sehen ; in  den  schweren  Fällen,  die  mit  schwerer  Störung  des 
Allgemeinbefindens,  Nasendiphtherie,  weichen  Drusenschwellungen  u.  8.  w.  ver- 
laufen, steigt  die  Salubritätsziffer  unter  Serumbehandlung  gewiss  auch  bis  auf 
die  Hälfte  der  Fälle.  Die  Prognose  der  rechtzeitig  ausgeführten  Tracheotomie 
bessert  sich  wesentlich,  wahrscheinlich  auch  die  Prognose  der  jüngsten  Patienten, 
die  bisher  sehr  schlecht  war,  weil  da  relativ  die  grösste  Anzahl  von  Heilkörpern 
bezogen  auf  das  Körpergewicht  einwirkt. 

Seitdem  ist  ein  Jahr  rastloser  Arbeit  vergangen,  und  für  die  Bedeutung 
der  neuen  Behandlungsweise  spricht  allein  der  Umstand,  dass  an  dieser  Arbeit 
sich  die  Aerzte  der  alten  und  der  neuen  Welt,  die  Kliniker  und  die  praktischen 
Aerzte  mit  gleichem  Eifer  betheiligt  haben.  Der  Enthusiasmus  war  zumeist  so 
gross  und  bei  unserer  bisher  so  wenig  erfolgreichen  Therapie  so  natürlich,  dass 
Zweifler  ein  leichtes  Spiel  haben  mussten,  die  scheinbare  Wirkung  der  Bkhking- 
Roux’schen  Diphtheriebehandlung  als  thatsächlich  nicht  anzuerkennen.  Um  so  nütz- 
licher wird  es  sein,  die  Jahresarbeit  abermals  zu  Überblicken,  und  an  diesem 
Ueberblick  den  Inhalt  meiner  vorjährigen  Schlusssätze,  die  wohl  damals  dem 
Standpunkte  der  überwiegenden  Majorität  ungefähr  entsprachen,  zu  prüfen. 

Fassen  wir  zunächst  den  Verlauf  der  Serumeinspritzung  kurz  zusammen, 
so  lässt  sich  etwa  folgendes  Bild  entwerfen.  Es  wird  stets  die  ganze  nöthig  er- 
scheinende Menge  nna  dosi  einverleibt.  Die  Einstichstelle  der  Haut,  welche  ent- 
weder an  der  Seitenwand  des  Thorax  oder  in  der  Subclavicnlargegend  oder  am 
Oberschenkel,  seltener  am  Vorderarm  (Wai.kku  a)  gewählt  wurde,  wird  zunächst 
mit  möglichst  warmem  Seifenw'asser  gewaschen,  hierauf  mit  Wattebäuschcheu,  die 
anfangs  in  antiseptische  Lösung  getaucht,  sodann  mit  Aether  getränkt  sind;  die 
linke  Hand  erhebt  eine  Falte,  in  welche  die  rechte  die  Nadel  der  serumgcfüllten 
Spritze  — sei  dies  eine  Ballon-  oder  eine  Cylinderspritze  verschiedenster  Construction  — 
hineinstösst , um  ihren  Inhalt  subcutan  langsam  zu  entleeren.  Die  entstehende 
Beule  massire  ich  nach  HeUBKEK’S  Vorschlag  nicht ; die  kleine  Stichöffnung 
schliesse  ich  mit  einem  Kreuz  von  Heftpflaster,  auf  das  ich  einen  kleinen  Watte- 
bausch auflege.  Nach  einer  halben  bis  ganzen  Stunde  hat  sich  die  Flüssigkeit 
aufgesaugt;  die  SticliBtelle  bleibt  reactionslos,  wenn  auch  zumeist  für  kurze  Zeit, 
etwa  für  die  nächsten  24  Stunden , sehr  wenig  schmerzhaft.  Voraussetzungen 
für  diese  Reactionslosigkeit  der  Stichwunde  sind  natürlich  ausser  der  Hautreini- 
gung gereinigte  Hände  des  Injicirenden  und  gereinigtes  Instrument;  ich  spritze  die 
Spritze  mit  Canüle  unmittelbar  vor  jedem  Gebrauch  mit  heissem,  reinem  Wasser, 
dann  mit  warmer  2%iger  Lysollösung  und  zuletzt  mit  Aether  durch  und  wieder- 
hole denselben  Reinignngsgang  unmittelbar  nach  der  Anwendung.  Die  erste  und 
am  meisten  sinnfällige  Aeusserung  der  Serumeinspritzung  pflegt  eine  Euphorie 
der  Patienten  zu  sein,  welche  oft  genug  geradezu  frappirend  gegen  die  vorherige 
Abgeschlageuheit  und  Theilnahmslosigkeit  absticht.  Kökte  *)  z.  B.  findet  gerade 
diese  Besserung  im  Allgemeinbefinden  sehr  charakteristisch  für  die  Wirkung  des 
Diphthcricantitoxins.  Wohl  alle,  welche  Serum  therapeutisch  verwendet  haben, 
werden  erlebt  haben,  dass  Kinder,  welche  unleidlich  oder  unwillig  oder  gar  theil- 
uahmslos  unter  dem  Bilde  eines  Schwerkranken  da  lagen , anderen  Tages  mit 


118 


D1PHTHEBIEHEILSERUM. 


freundlichem  und  befriedigtem  Gesicht  in  ihrem  Bettchen  sassen  und  mit  leb- 
haftem Interesse  spielten,  wie  cs  z.  B.  Schippers*,)  beschrieb  und  Widerbofer.  6) 
Wenn  Vierordt  «)  darauf  wenig  Werth  legt,  weil  man  es  auch  sonst  gesehen  habe 
und  „besonders  zuweilen  am  zweiten  Tage  nach  dem  Eintritt  in  das  Krankenhaus, 
nämlich  dann,  wenn  der  kleine  Patient  die  erste  Scheu  vor  der  neuen  Umgebung 
Überwunden  hat“,  so  ist  darauf  hinzuweisen,  dass  in  der  Privatpraxis  diese  Be- 
weisführung nicht  zutrifft  und  der  überraschende  Umschwung  im  Allgemeinbefinden 
dennoch  einzutreten  pflegt. 

Das  Fieber  wird  zumeist  günstig  umgestimmt;  ich  habe  selbst  innerhalb 
20  Stunden  einen  Abfall  von  40,2  auf  36,9  constatiren  können.  Das  war  ein 
Fall  von  reiner  Angina  diphtheritica , bei  der  auch  G.  Mya  7)  der  rasche 
Temperaturabfall  ganz  besonders  anffiel.  Ein  Sinken  um  */, — 1°  bereits  innerhalb 
zweier  Stunden  nach  der  Einspritzung  beobachtete  Charon  b),  und  auch  Guizetti  *) 
sah  bei  zweistündlicher  Temperaturbestimmung  das  Fieber  sich  bei  hinreichender 
Quantität  des  Mittels  ermässigen.  Einen  Temperaturabfall  innerhalb  12 — 24  Stunden 
verzeiehneten  bei  ihren  Kranken  Hkim  10)  und  Monti11),  innerhalb  24  Stuuden 
Walker  *)  und  innerhalb  24 — 36  Stunden  G.  Seitz  1S)  bei  seinen  Beobachtungen 
während  der  bösartigen  Epidemie  zu  Constanz.  Börger  **)  berichtet  aus  der  Klinik 
zu  Greifswald,  dass  zuweilen  schon  am  Tage  der  Injection  die  Temperatur  zur 
Norm  sank  und  in  einigen  Fällen  von  einem  Tage  zum  andern  von  40°  bis  zu 
37°,  allein  durchschnittlich  sei  erst  in  2 — 4 Tagen  volle  Defervcscenz  eingetreten. 
HorCiCka  **)  bemerkte  diesen  Abfall  von  einem  Tage  zum  andern  bis  auf  die 
Norm  bei  drei  bakteriologisch  als  Diphtherie  gesicherten  Fällen , welche  er  als 
schwere  bezeichnet.  Dass  der  Temperaturabfall  häufig  „kritisch“  sei , sagt  auch 
Baginsky  “),  und  Kosski.  >*)  hält  ebenfalls  seine  Behauptung,  „dass  bei  frischen 
Fällen  häufig  ein  fast  kritisches  Sinken  der  Temperatur  eintritt“,  aufrecht;  als 
Ursachen,  welche  das  Ausbleiben  des  Temperaturabfalls  verschulden,  nennt  er  er- 
hebliche DrUseninfiltrationen,  welche  nachträglich  in  Eiterung  übergehen , erheb- 
liche Betheiligung  der  Nase,  des  Nasenrachenraumes  oder  des  Kehlkopfes,  bereits 
bestehende  Nephritis  oder  endlich  Obstipation.  Wie  dem  auch  sei,  ausnahmslos 
antipyretisch  wirkt  das  Diphtherieheilsernm  nicht , und  es  giebt  Autoren  mit 
grossen  Beobachtungsreihen,  welche  die  Beeinflussung  der  Temperatur  nicht  typisch 
nennen,  so  Körte1)  und  Ganghofner  u).  Soi.tman.n  ,b)  behauptet,  zuweilen  bei 
reiner  Rachen-  oder  Nasenrachendiphtherie  auch  vor  der  Serumbehandluug  einen 
Temperatursturz  von  40  zu  38 — 37,5  gesehen  zu  haben  und  sah  bei  denjenigen 
Injicirten,  welche  so  plötzlich  entfiebert  waren,  die  Temperatur  bald  wieder  an- 
steigen,  um  dann  in  6 — 14  Tagen  lytisch  abzuklingen.  Monti11)  erwähnt,  dass 
seine  Kranken  zuweilen  ohne  nachweisbare  Ursache  am  3. — 5.  Tage  post  inject, 
abendliche  Temperatursteigerungen  bekamen,  welche  bis  zu  8 Tagen  sich  wieder- 
holten. Einen  Temperaturanstieg  unmittelbar  nach  der  Injection  des  Serums,  und 
zwar  innerhalb  der  ersten  12  Stunden,  stellte  v.  Mitralt  1B)  bei  16  Kranken  fest, 
während  die  Temperatur  von  10  anderen  Injicirten  in  derselben  Zeitpause  sank. 
Eine  ebensolche  Erhöhung  der  Körperwärme  innerhalb  12  Stunden  post  inject, 
beobachtete  Schmidt  10)  „in  fast  allen  Fällen“  (2mal  bis  zu  41,5°!  ; diesem  Anstieg 
folgte  indessen  in  abermals  12  Stunden  ein  Fall,  zuweilen  bis  zur  Norm. 

Aehnlich  wie  mit  der  Temperatur  verhält  es  sich  mit  dem  Fuls  der 
eingespritzten  Diphtheriekrauken ; cs  ist  begreiflich,  dass  namentlich  dann,  wann 
das  Serum  die  Körperwärme  günstig  beeinflusst  hatte , also  doch  wohl  in  der 
Mehrzahl  der  Fälle,  auch  der  Fuls  qualitativ  und  quantitativ  sich  besserte,  dass 
aber  die  Autoren,  welche  einen  typischen  Einfluss  des  Serums  auf  die  Temperatur 
leugnen,  auch  eine  typische  Einwirkung  auf  den  Fuls  vermissten.  Dass  freilich 
der  Grad  der  Fulsverbesserung  nicht  ganz  gleich  dem  der  Temperatnrherabsctzung, 
sondern  etwas  geringer  ist,  stimmt,  glaube  ich,  mit  den  sonstigen,  vor  der  Serum- 
periode  gewonnenen  Erfahrungen  Uber  das  Verhalten  des  Fnlses  bei  Diphtherie- 
reeonvalescenten  überein.  So  berichtet  selbst  KOSSEL1*),  dass  der  Puls  oft  einen 


DIPHTHERIEHEILSERUM. 


119 


Tag  später  als  die  Temperatur  normal  geworden  sei,  und  Rosknthal  **),  der  bei 
Larynxcroup  mit  der  Serumbehandlung  sehr  guten  Erfolg  hatte,  bemerkt  uub 
drUcklich,  dass  die  Pulszahl  lange  hoch  zu  bleiben  pflegte ; die  gleiche  Ansicht 
gewann  aus  seinen  Fällen  Soltmaxn  ”),  dessen  Kranke  nicht  nur  einen  schnellen, 
sondern  oft  anch  einen  kleinen  und  unregelmässigen  Puls  behielten.  Zu  denen, 
welche  die  günstige  Einwirkung  auf  den  Puls  rühmen,  zählen  u.  A.  BaGINSKY16), 
A.  C.  White**)  und  W.  T.  Howard”).  Widerhofkr5)  sah  „grosse  Frequenz  des 
Pulses  von  160  und  darüber  nach  einer  Injection  auf  fast  das  Normale  abfallen“ 
und  schätzt  den  nach  den  Einspritzungen  „in  der  Mehrzahl  normalen , wieder 
kräftigen  und  vollen  Puls“  prognostisch  höher,  als  den  Teuiperaturabfall.  Etwas 
einschränkender  äussern  Bich  Soxnkxburg  ”),  welcher  „in  vielen  Fällen  den  Puls 
langsamer  und  besser“  werden  sah  und  den  Eindruck  gewann,  als  ob  diese  Puls- 
verbesserung, sowie  die  Entfieberung  bei  den  Injicirten  allgemeiner  und  energischer 
eintrat  als  bei  den  Nichtinjicirten,  und  Bökai  *•),  der  bei  den  meisten  von  85  Fällen 
schon  wenige  Stunden  nach  der  Jnjection  den  Puls  langsamer,  regelmässiger, 
voller  und  gespannter  fand. 

Was  ferner  den  localen  Process  anlaugt,  so  hatte  Roux  behauptet,  dass 
24  Stunden  nach  der  Injection  die  Exsudation  stillsteht;  Hinter  Mackenzie”) 
hält  hieran  fest,  während  Vierordt  8)  die  Ueberzeuguug  gewann,  dass  der  locale 
Process  nach  durchschnittlich  36  Stunden  Halt  macht.  Fast  alle  Beobachter  stimmen 
alter  in  der  praktisch  unschätzbar  wichtigen  Thatsache  überein , dass  sie  nach 
der  Serumeinspritzung,  sofern  zur  Zeit  derselben  der  Kehlkopf  frei  gewesen  war, 
niemals  einen  I'ebergang  des  Processes  aus  dem  Bachen  in  den  Kehlkopf  er- 
lebten; ich  nenne  von  ihnen  Körte  *),  Hbubner*7),  Baginsky  **),  Okkmoxig  ”), 
C.  Seite”),  Ranke*0),  der  auch  auf  dem  XIII.  Congress  für  innere  Medicin  *>) 
betonte , dass  das  Berum  eine  gewisse  Coupirung  des  diphtheritischen  Processes 
und  besonders  des  Absteigcns  nach  den  Bronchien  erkennen  lasse  u.  A.  m.  Ranke 
widersprach  Küht.s  *■),  welcher  öfters  nach  der  Anwendung  des  BEHRixo’schen 
Mittels  die  Krankheit  in  den  Larynx  und  bis  in  die  feinsten  Bronchien  hinab- 
steigen  sah ; auf  demselben  Standpunkte  stehen  Gnändinger  und  Kassowitz.  **) 
Auch  Soltmaxn15)  giebt  an,  dass  unter  89  Fällen  13ma!  unter  der  Bernmbehand- 
lung  descendirender  Croup  bis  in  die  feinsten  Bronchien  und  in  die  Alveolen 
hinein  unter  Bildung  ansgedehnter  pulmonaler  Entzündungsherde  aufgetreten  sei. 
Es  ist  aber  entschieden  erlaubt , diese  Beobachtungen  als  wenig  beweisend  zu 
betrachten;  denn  Soltmaxn  insbesondere  pflegte  sehr  spät  einzuspritzen,  später, 
als  die  Mehrzahl  der  Autoren,  weil  er  meinte,  in  allen  Fällen  die  Resultate  der 
bakteriologischen  Untersuchung  mittels  des  Culturverfabrens  alnvarten  zu  müssen 
— welch'  kostbare  Zeit  ist  ihm  da  ungenutzt  verstrichen ! Ich  glaube,  bei  recht- 
zeitigem Eintritt  der  Behandlung,  d.  i.  sobald  als  wir  die  klinische  Diagnose 
gestellt  haben,  dürfte  die  IJescendenz  des  diphtheritischen  Processes  sich  bestimmt 
\ erliüten  lassen;  die  bakteriologische  Diagnose,  zumal  das  Culturverfahren,  hat 
der  klinischen  und  dem  Eintritt  der  Serumbehandlung  zu  folgen,  und  es  ist  dann 
noch  immer  Zeit,  zur  statistischen  Vcrwerthuug  alle  Fälle  auszumerzen,  in  denen 
sieh  klinische  und  bakterielle  Diagnose  nicht  deckten.  Diese  Forderung  ist  eine 
gerechtfertigte,  weil  cs  bekannt  ist,  wie  rasch  sieh  zuweilen  selbst  bei  minimal- 
stem Rachenbefund  der  diphtheritische  Process  auf  den  l.arynx  fortsetzt  und 
pemieiös  wird. 

Dass  im  Rachen  selbst  unter  der  Berumeinspritzung  noch  neue  Membranen 
in  den  ersten  Stunden  entstehen  können,  erklärt  »ich  wohl  ungezwungen  daraus, 
dass  das  Antitoxin  eben  erst  nach  einer  gewissen  Zeit,  seien  es  nun  24  oder 
36  .Stunden,  seine  Wirkung  entfaltet;  ich  habe  selbst  einen  lehrreichen  Kall  der 
Art  gesehen  — ich  injicirte  ein  Kind  mit  Fieber,  Schnupfen  und  gestörtem  All- 
gemeinbefinden, dessen  Rachen  massig  geröthet  war,  aber  keine  Spur  von  Belag 
zeigte,  mit  Bkhuing's  Serum  Nr.  I,  weil  ich  wusste,  dass  dasselbe  in  einer  diph- 
tbericinficirten  Wohnung  verkehrt  hatte;  nach  etwa  20  Stunden  waren  auf  beiden 


120 


DII’HTUERIEnElLSERUM. 


Mandeln  dicke  Beläge  erschienen  trotz  Temperaturabfall  und  Euphorie  des  kleinen 
Patienten,  und  erst  dann  zeigte  sich  die  Wirkung  des  Serums  darin,  dass  diese 
Belüge  nur  24  Stunden  Bestand  hatten  und  das  Kind  rasch  und  dauernd  genas. 
Von  Hecidiven  darf  inan  nur  dann  reden,  wenn  sich  nach  der  Reinigung  des  Rachens 
jenseits  des  zweiten  Tages  post  injectionem  neue  Membranen  bilden.  Ein  solches 
thatsächliches  Recidiv  erlebte  z.  B Edwin  Kuh  J5j  hei  einem  14jährigen  Mädchen, 
das  mit  Serum  II  bei  bakteriologisch  gesicherter  Diagnose  behandelt  worden  war, 
am  5.  Tage  post  injectionem.  Eine  abermalige  Einspritzung  von  Serum  I führte  rasch 
zur  Gencsuug;  da  Km  neben  der  Serumeinspritzung  Pinselungen  mit  der  Loff- 
LEli’seben  Toluollösung  vornehmen  Hess,  so  könnte  man  vielleicht  an  eine  Aato- 
infeetion  gelegentlich  einer  unbedeutenden  Verletzung  beim  Pinseln  denken.  Anders 
liegt  es  bei  den  Beobachtungen  von  Wolff-Lewin  3‘),  der  genau  5 Wochen  nach 
der  ersten  prophylaktischen  Serumeiuspritznng  von  120  I.E.  ein  Üjähriges  Mäd- 
chen an  Diphtherie  und  nach  Ablauf  dieser  auf  Serum  1 etwa  14  Tage  darauf  an 
einer  neuen,  binnen  4 Tagen  ohne  Einspritzung  ablaufenden  Attaque  erkranken 
sah  und  in  den  beiden  Fällen  Gobei.'s  s‘),  der  einmal  nach  Behandlung  mit 
1500  I.  E.  bei  einem  2jährigen  Knaben  am  40.  Tage  ein  typisches,  bakterio- 
logisch erwiesenes  Diphtheriereeidiv  und  ein  anderes  Mal  bei  einem  siebenjährigen 
Mädchen  am  28.  Tage  ein  allerdings  bakteriologisch  nicht  einwaudsfrei  er- 
härtetes Recidiv  erlebte.  Das  beweist  eben  nur,  dass  die  Schntzkraft  des  Serums 
eine  beschrankte  ist  und  die  Diphtherie  prolongie  französischer  Autoren , von 
der  auch  Hf.xoch,  Gerhardt  („öftere  Nachschübe  diphtheritischer  Häute  am 
Rachen“),  Schech  u.  A.  berichtet  haben,  nicht  verhütet.  Rückfälle  nach  Heilung 
der  Diphtherie  durch  Serum  sahen  auch  Gkkmoniö  39)  (6mal  unter  362  Fällen), 
C.  Seitz  2’)  (3mal  unter  90  Fällen),  Heubxer  2‘)  (3mal  unter  300  Fällen),  Uxtkk- 
holzxer*0)  und  Bäümler57);  Timmeh38)  verzeichnet  einen  zweimaligen  Rückfall. 
Darnach  darf  man  ein  Recidiv  nach  einer  serumbehandelten  Diphtherie  nicht 
ablcuguen,  darf  es  aber  als  einen  seltenen,  unglücklichen  Zufall  betrachten. 

Sichtbare  Veränderungen  im  Rachen  werden  häutig  beobachtet;  das 
Exsudat  erscheint  weisser  und  dichter , zuweilen  von  solchem  Aussehen , als  ob 
eine  Gerinnung  stattgehabt  hätte.  Die  beginnende  Ablösung  erfolgt  dann  am  2. 
oder  3.  Tage  in  vielen  Fällen  so,  dass  die  Peripherie  der  Membran  sich  wulstet 
und  aufrollt  und  eine  Abbröckelung  derselben  vom  Rande  her  beginnt  und  all  - 
mülig  gegen  das  Centrum  fortschreitet.  Widerhofkr6)  sah  „diese  Umwandlung 
in  eine  entschieden  milchweiss  gefärbte,  breiige  Detritusmasse  auch  in  den  Bron- 
chien der  meisten  von  mit  absteigendem  Croup  gestorbenen  Kindern“.  Zu  be- 
merken ist  dabei,  dass  solche  Veränderungen  gesehen  werden  in  Fällen,  in  denen 
keinerlei  locale  Behandlung  des  Rachens,  abgesehen  von  antiseptischen,  milden 
Gargarismen,  stattfand,  insbesondere  jede  Pinselung  und  jede  Aetzung  unterblieb. 
Bökai  26)  beschreibt  diese  Veränderungen  so : „Am  zweiten , respective  dritten 
Tage  hatte  sich  das  fibrinöse  Exsudat  auf  den  Rachengebilden  zuerst  demarkirt, 
bald  verdünnt,  die  schmutziggraue  Färbung  desselben  gewann  eine  weisse  Farbe, 
die  Verdünnung  der  Pseudomcmbranen  schritt  allmälig  weiter,  bis  dieselben 
schleierartig  wurden  und  endlich  ganz  verschwanden.“  Gvizetti  ®)  bemerkte  in 
den  ersten  Stunden  nach  der  Einspritzung  eine  deutliche  Zunahme  des  localeu 
Rachenproccsses , nachher  aber  begrenzten  sich  die  Pseudomembranen  von  eiuer 
zarten,  lebhaft  rothen  Zone,  begannen  zu  erweichen  und  waren  zwischen  dem 
dritten  und  sechsten  Tage  der  Behandlung  ganz  abgefallen.  Engel  *•)  hält  gerade 
diese  schnelle  Besserung  des  localeu  Befundes  für  charakteristische  Serumwirkung; 
Vikrordt«)  dagegen,  Heim10)  und  vanNks'0)  leugnen  den  sichtbaren  Einfluss 
des  Serums  ah.  Wann  die  Abhebung  der  Membranen  beginnt,  und  in  welcher 
Frist  sie  vollendet  ist,  wird  wohl  von  der  Intensität  der  Erkrankung  abhängen. 
Walker3)  und  Dejicth41)  sahen  bereits  am  zweiten  Tage  den  Beginn  der  Lösung 
der  Membranen  eintreten  und  sahen  die  Lösung  am  dritten  Tage  vollendet. 
K Ossel  I8)  sah  die  Rachengebilde  von  den  Membranen  völlig  befreit  18mal  air. 


1)1 1'HT  H EKI  EHEILS  ERU  U . 


121 


zweiten  Tage,  30ma)  am  dritten,  24mal  am  vierten,  lOmal  am  fünften,  9mal 
am  sechsten  und  2mal  am  aehten  Tage.  Risei.’S  4S)  Kranke  waren  am  zweiten 
bis  am  sechsten  Tage  frei  von  Membranen.  Erst  am  nennten  Tage  hatte  sich  bei 
einigen  Kranken  SchröDER’s  *3)  der  Hachen  gereinigt  und  sogar  erst  am  13.  Tage 
bei  einem  Kranken  Rörger’s.  1 *)  Bei  der  unbestimmten  Grenze,  an  weleher  wir 
vor  der  Serumbehandlung  die  Reinigung  des  Rachens  zu  sehen  gewohnt  waren, 
und  bei  diesen  weit  auseinandergehenden  Terminen , die  unter  dieser  Behand- 
lungsweise uns  den  localen  Rachenprocess  abgelaufeu  zeigen,  ist  es  schwer  zu 
sagen,  ob  w irklich  eine  Beschleunigung  der  Membranabstosaung  bei  den  injieirten 
Krauken  zu  erwarten  ist.  Heubneb  *’)  freilich  zieht  aus  einem  Vergleich  des 
Durchschnittes  seiner  sonstigen  Erfahrungen  mit  dem  seiner  jetzigen  den  Schluss, 
dass  durchschnittlich  zwei  Tage  früher  als  soust  der  Rachen  gereinigt  ist. 

Mit  der  Reinigung  des  Rachens  geht  die  Abnahme  der  Kieferdrttscn- 
Schwellungen  nebenher.  Bokai  25)  war  dieselbe  schon  kurze  Zeit  nach  der  Serum- 
cinspritzung  ersichtlich,  und  er  hält  sic  neben  der  günstigen  Aendernng  des 
Pulses  sogar  für  eines  der  ersten  Zeichen  der  Serumwirkung.  Auch  Hager“) 
hebt  die  rasche  Abnahme  der  Drüsensehwellung  hervor,  und  gleicher  Meinung  ist 
Händler44),  der  seine  Erfahrungen  nur  in  der  Landpraxis  sammelte.  Kien  be- 
richtete im  unterelsilssischen  Acrztevereiu  44),  er  habe  bereits  12  Stunden  nach  seinen 
Einspritzungen  Abnahme  der  geschw  ollenen  Lymphdrüsen  bis  zur  Hälfte  gesehen.  Für 
van  Nes  *°)  dagegen  w ar  eine  Einwirkung  des  Mittels  auf  die  Drüseuschwellungen 
nicht  nachweisbar;  da  er  hinzufügt,  dass  sie  in  seinen  52  Fallen  überhaupt  „nicht 
oft“  auftraten , wollen  seine  geringen  Erfahrungen  gegenüber  der  Summe  der 
entgegengesetzten  wenig  sagen. 

Von  hoher  Bedeutung  ist  die  Wirkung  des  Diphtherieantitoxins  auf 
Lnrvnx  und  Trachea;  denn  von  der  Stenose  dieser  lebenswichtigen  Organe  bängt 
gar  zu  oft  die  Gefährdung  unserer  Patienten  ab,  und  da  wohl  kein  einziges 
Mittel  bisher  uns  die  Sorge  um  den  Eintritt  dieser  verhängnissvollen  Complication 
nur  einigermaßen  benahm,  so  ist  es  für  uns  eine  erfreuliche  Entlastung,  dass 
wir,  worauf  ich  schon  vorher  hinwies,  unter  sofortiger  Serumbehandlung  die 
Descendenz  des  diphtheritischen  Processes  aus  dem  Rachen  in  den  Kehlkopf  und 
die  Luftröhre  mit  hoher  Wahrscheinlichkeit,  vielleicht  fast  sicher  verhindern 
können.  Ist  aber  bereits  eine  Stenose  cingetreten,  so  dürfen  wir,  im  Beginne 
wenigstens,  auf  Rückgang  hoffen;  es  mag  sein,  dass  auch  vor  der  Serumbehand- 
lung leichte , stenotische  Erscheinungen  spontan  zurückgingen , aber  unzweifel- 
haft ist  dieser  Vorgang  unter  der  Serumbehandlung  öfter  beobachtet  worden. 
Wenn  Timmkr  ,s)  sagt,  die  Beeinflussung  der  Stenose  sei  keine  frappante,  so 
steht  er  mit  seiner  Ansicht  recht  vereinsamt.  Ihm  stellen  sich  besonders  die 
zahlreichen  Zeugnisse  erfahrener  Landärzte  entgegen , welche  übereinstimmend 
berichten,  dass  die  Serumeinspritzung  die  Tracheotomie  vermieden  nud  darum, 
weil  ihneu  diese  Operation  von  den  Eltern  der  kleinen  Kranken  nimmer  zu- 
gegeben worden  wäre,  oder,  weil  sie  bei  der  leider  so  oft  ganz  aussichtslosen 
Nachbehandlung  in  engen  Arbeiterwohnuugen  oder  dumpfen  Bauernstuben  uuthun- 
lich  erscheinen  musste,  die  nach  allen  sonstigen  Erfahrungen  verlorenen  Patienten 
gerettet  habe.  Solche  Fälle  zählt  Eisenstädt  47) , der  102  seruminjicirte  Fälle 
aus  einem  bayerischen  Landbezirke  zusammenstellte,  auf;  E.  SIMON  **)  sah  ein 
Kind  von  19  Monaten  mit  Rachendiphtherie  und  beträchtlicher  Kehlkopfstenose, 
bei  welchem  ihm  die  Tracheotomie  verweigert  wurde,  auf  Einspritzuug  von  Serum  I 
innerhalb  vier  Tagen  genesen,  und  ähnlich  ist  Lev’s4*)  Fall  bei  einem  Kinde 
von  1 ’/j  Jahren;  Lissakd  60 ) behandelte  ein  Mädchen  von  5'  , Jahren,  bei  dem 
am  11.  Tage  Crouperscheinungen  und  am  13.  starke  Stenose  das  Leben  gefährdete; 
am  selben  Tage  spritzte  er  Serum  III  ein  , am  anderen  Tage  hatten  sich  die 
Stenosenerscheinungen  verringert,  und  am  IS.  Tage  war  das  Kind  genesen. 
Lbisskb41)  sah  in  seiner  Landpraxis  acht  sehr  schwere  Croupfälle  ohne  Tracheo- 
tomie genesen,  und  auch  Pfkilstickee  4a)  gelaugte  zur  Ueberzeugung,  dass  das 


122 


DIPHTHERIEHEILSERÜM. 


Serum  bei  beginnender  Stenose  den  Luftröhrenschnitt  vermeiden  lasse.  Pavlik  **) 
behandelte  auf  dem  Lande  ein  einjähriges  Kind  mit  bakteriologisch  bestätigter 
Rachen-Kehlkopfdiphtherie,  das  mit  dem  Athem  rang  und  seit  acht  Stunden  die 
Brust  nicht  fassen  mochte,  das  bei  stark  cyanotischen  Lippen  170  Pulsschläge  in 
der  Minute  hatte,  mit  Serum  II,  und  am  fünften  Tage  war  der  Säugling  genesen. 
Th.  Lange  6‘)  endlich  sah  einen  4jährigen  Bergmannssohn , dem  er  am  dritten 
Krankheitstage  bei  inspiratorischen  Einziehungen  des  Jugulums  um  2'/t — 3 Cm. 
und  bei  beginnendem  Collaps  Serum  II  injicirte,  binnen  24  Stunden  ausser  Gefahr 
und  in  sieben  Tagen  genesen;  „es  war  ein  Fall,“  sagt  er,  „der  erfahrungs- 
gemäss  ohne  Tracheotomie  letal  enden  musste“.  Doch  auch  die  Spitalserfahrung 
bestätigte  diese  auffallende  und  wichtige  Erscheinung.  Vlerordt  6)  nennt  es 
„höchst  auffällig“,  dass  von  23  mit  Stenosenerscheinungen  eingetretenen  Patienten 
9 nach  tagelanger  Dyspnoe  unter  Serumbehandlung  ohne  Tracheotomie  genasen. 
Auch  Ghrmonig  29)  erwähnt,  dass  im  Civilspitalc  zu  Triest  die  Anzahl  der  Ope- 
rationen unter  den  Diphtheriekindern  abgenommen  hat.  D’Rspine  66) , der  eine 
gemischte  Praxis  ausübt,  zählt  fünf  Laryngostenotische  auf,  bei  denen  die  Tracheo- 
tomie unvermeidlich  erschien,  und  die  dennoch  ohne  dieselbe  genasen.  Moizard 
und  Perrkgaux  6e),  die  über  231  Beobachtungen  zu  berichten  vermögen,  sagen 
ebenfalls,  dass  die  Tracheotomie  seltener  nöthig  gewesen  sei,  als  sonst,  weil  sich 
die  Stenose  oft  wenigstens  soweit  verringerte,  dass  die  Intubation  genügte. 

Kragen  wir  uns,  in  welcher  Weise  das  Diphtherieantitoxin  solche  Wirkung 
ausübt,  so  müssen  wir  dahin  antworten , dass  sich  unter  dessen  Einwirkung  die 
Croupmembranen  rascher  abstossen  und  seltener  sich  neu  bilden.  Guizktti  •), 
welcher  30  Stunden  bis  zum  Eintritt  der  Wirkung  des  Serums  auf  den  Respirations- 
tractus  rechnet , fand  bei  Leichenuntersuchungen  am  fünften  Tage  die  Pseudo- 
membranen  in  demselben  bis  zu  den  feinsten  Bronchien  hinab  „in  vollster  Auf- 
lösung“ und  zeigte  an  mikroskopischen  Präparaten,  dass  die  Begrenzung  und 
Ablösung  der  Membranen  durch  Einwanderung  von  Leukocyten  bedingt  ist,  — 
er  meint  daher,  das  Heilserum  befördere  die  locale  leukocytische  Reaction, 
während  sie  das  Diphtheriegift  verhindere.  Damit  stimmen  5 Obductionsbefunde 
von  Kf.tz  in  denen  er  eine  Erweichung  der  Croupmembranen  constatirte,  zu- 

sammen, und  1 8 Sectionen,  bei  denen  Biggs  6S)  erkannte , wie  das  Antitoxin  die 
Ablösung  der  Membranen  begünstigt.  Mit  der  Leukocyteneinwanderung  würde  sich 
die  von  Charon  8)  hervorgehobene  klinische  Thatsache  erklären  lassen,  dass  bei 
den  laryngostenotischen,  eingespritzten  Kindern  fast  regelmässig  sich  eine  reich- 
liche Expectoration  eiterigen  Sputums  und  hierauf  Besserung  einstellt.  Man  kann 
es  zuweilen  an  der  Veränderung  des  Athemgeräuscbes,  welches  aus  einem  Stridor 
in  einen  Stertor  hörbar  übergeht,  schliessen , wie  massenhaft  gelöste  Membranen 
in  den  oberen  Luftwegen  flottiren  und  sich  genöthigt  sehen,  das  Auswerfen  der- 
selben zu  befördern,  sei  es,  dass  man  ein  Emeticum  reicht,  wie  es  Altmann  tliat, 
sei  es , dass  man  im  warmen  Vollbade  kühle  Begiessungen  an  wendet , wie  es 
Lange  s‘)  zweckmässig  anordetc. 

Tracheotomie  und  Intubation  werden  natürlich  trotzdem  nicht  durchaus 
überflüssig;  die  stenotischen  Erscheinungen  können  ja  schon  bei  Eintritt  der 
Behandlung  so  hochgradige  sein,  dass  jene  Eingriffe  ihre  lebensrettende  Bedeutung 
behalten.  Aber  die  Prognose  dieser  Operationen  wird  erheblich  gebessert,  wenn 
die  Serumbehandlung  sie  unterstützt.  Dazu  wird  schon  das  raschere  Ablösen  und 
das  seltenere  Neubilden  der  verengernden  Membranen  beitragen  müssen.  Ilinzu- 
kommt,  dass  die  Operationswunde  der  Tracheotomie , wie  insbesondere  Karg  *°) 
hervorhebt , der  ehemals  so  häufigen  und  mit  Recht  gefürchteten  Diphtherie- 
infection  nicht  anheimfällt.  „Die  Wunden  granulirteu  gut  und  schlossen  sich 
schnell  nach  Entfernung  der  Canüle.“  Karg  hebt  mit  Recht  hervor,  dass  die 
Entstehung  einer  Wunddiphtherie  zur  Bildung  neuer  Mengen  von  Toxinen  führt, 
welche,  in  den  Blutkreislauf  gelangt,  auch  nach  behobener  Stenose  der  Luftwege 
den  Patienten  zum  Tode  brachten,  und  erblickt  folglich  in  der  Vermeidung  dieser 


OOgle 


DIPHTHERIEHEILSERUM. 


123 


Gefahr  einen  ausserordentlichen  Erfolg.  Endlich  wird  mit  einer  wohl  unbestrittenen 
Gewissheit  sowohl  die  Dauer  des  Cannlements  als  die  der  Intubation  bei  serum- 
injicirten  Operirten  herabgesetzt.  Schon  Kosskl  '•)  hatte  aus  seinen  Erfahrungen 
behauptet,  dass  die  Entfernung  der  Canüle  durchschnittlich  ohne  Schwierigkeiten 
am  dritten  bis  vierten  Tage  gelang  und  nachher  keine  Störungen  im  weiteren 
Heilverlanf  eintraten.  Schröder45)  gelang  das  Decanulement  bei  31  Tracheo- 
tomien in  durchschnittlich  6,4  Tagen,  W itt auf. r *•)  in  5 — 6 Tagen.  Auch  Büch- 
holz •*)  vermochte  am  vierten  Tage  die  Canüle  zu  entfernen.  Dagegen  erinnere 
man  sich,  dass  z.  B.  Lossex  »5)  sagte,  „nach  Tracheotomie  wegen  Diphtheritis 
darf  auch  im  günstigsten  Falle  die  Canüle  nicht  vor  dem  fünften  Tage  entfernt 
werden!“  Aehnlich  verhält  es  sich  mit  der  Intubation.  Während  Ranke  5<)  früher 
nur  in  8%  seiner  Fälle  den  Tubus  binnen  24  Stunden  entfernen  konnte,  gelang 
das  unter  der  Serumbehandlung  bei  1 8,5°/0  der  Intubirten.  B6kai  64)  hatte  aus  seinen 
früheren  Beobachtungen  eine  durchschnittliche  Intubationsdauer  von  79  Stunden 
berechnet;  jetzt  genügten  durchschnittlich  61  Stunden.  Dazu  kommt,  dass  bei  der 
Serumbehandlung  die  Zahl  der  während  der  ersten  48  Stunden  extubirten  Patienten 
in  auffallender  Weise  stieg,  nämlich  bis  nach  24  Stunden  auf  18,18%  der  geheilten 
Intubationsfällc  gegen  sonst  12,55%  und  bis  nach  24  weiteren  Stunden  auf  40,9% 
gegen  26,04%.  Dagegen  Btellte  Dillox  Browx,  der  Mitarbeiter  von  O’Dwykr, 
seinerzeit  die  durchschnittliche  Intubationsdauer  auf  123%  Stunden  fest,  und 
Hecbnrr  *’)  berechnete  sie  nur  kurz  vor  der  Serumperiode  immer  noch  auf 
100  Stunden.  Auf  die  Salubritätsziffer  der  Tracheotomirtcn  und  Intubirten  bei 
gleichzeitiger  Serumeinwirkung  werde  ich  später  zurückkommen. 

Es  sind  zunächst  noch  die  etwaigen  Erfahrungen  Uber  den  Einfluss  des 
Antitoxins  auf  andere  Organe,  die  diphtheritisch  erkranken  können,  zu  berichten. 

Bei  Nasendiphtherie  fand  Bökai  *6)  schon  24 — 48  Stunden  nach  der 
Einverleibung  des  Serums  eine  Verminderung  des  reichlich  fliessenden,  schmutzigen 
und  blutig  tingirten  Secretes,  und  gleichzeitig  verlor  sich  der  dem  diphtheritischen 
Nasenausfluss  anhaftende  penetrante  Geruch ; die  Membranen  lockerten  sich  rasch, 
so  dass  sie  durch  den  Strahl  der  eingespritzten,  desinficirenden  Flüssigkeit  (Bor- 
wasscr)  leicht  hcrausgeschwemmt  wurden.  Aehnliches  bemerkte  Widekhofeb  6), 
bei  desseu  Kranken  die  Nase  zufällig  recht  oft  betheiligt  war,  und  er  hatte  nie 
Gelegenheit,  einen  Patienten  durch  seine  Nasendiphtherie  gefährdet  zu  sehen. 
Auch  Ganohofnkr  ,7)  lobt  die  günstige  Beeinflussung  der  Nasendiphtherie  unter 
Serumbehandlung.  In  Blattner’s  66)  Fällen  hörte  die  Absonderung  der  Nase 
meist  am  dritten  Tage  auf. 

Bei  zwei  Fällen  von  Vulvitü  dxphtheritica  sah  Bökai  J!')  die  rasche 
Ablösung  der  pseudomembranösen  Auflagerungen  in  ganz  ähnlicher  Weise  vor  sich 
gehen,  wie  im  Rachen. 

Dass  endlich  auch  auf  die  Augendiphtherie  ein  nicht  zu  verkennender 
Einflugs  seitens  des  Serums  ausgeübt  werden  kann , beweist  z.  B.  Copper’s 
Fall;  er  injicirte  einen  Säugling,  dessen  Augen  seit  zwei  Tagen  mit  bakterio- 
logisch als  echt  diphtheritisch  erwiesenen  Pseudomembranen  bedeckt  waren,  und 
er  sah  ihn  in  nur  vier  Tagen  genesen.  Die  Abstossung  der  Auflagerungen  erfolgt 
auch  hier  ähnlich  wie  im  Rachen,  was  auch  Bökai  1!j  bei  einem  seiner  Patienten 
zu  bemerken  Gelegenheit  hatte.  Einen  sehr  interessanten  einschlägigen  Fall  hat 
Hoppe“7)  mitgetheilt;  bei  einem  zweijährigen  Knaben  hatte  der  diphtheritische 
Augenprocess,  der  eine  echte  Rachendiphtherie  complicirte,  bereits  die  Hornhaut 
ergriffen  und  bedrohte  deren  Ernährung  auf  das  schwerste  l Diphtherie  der  Gon- 
junctiva  palpebrarum  et  bulbi  und  beginnende  Infiltrationen  der  Cornea) , und 
trotzdem  war  24  Stunden  nach  Einspritzung  von  Behuno’s  Serum  Nr.  II  eine 
Lösbarkeit  der  ganzen  diphtheritischen  Einlagerung  der  Conjunctiva  paipebr. 
und  eine  röthliehere  Färbung  des  Bulbus  als  Zeichen  der  freier  gewordenen 
Circulation  eingetreten  — am  fünften  Tage  fand  sich  keine  Spur  mehr  von 


124 


DIPHTHERIEHEILSERUM. 


diphtheritisclier  Einlagerung,  und  bald  darauf  war  vollkommene  Restitutio  ad 
integrum  erzielt,  selbst  ohne  störende  Narbeubildung. 

Wenn  nun  das  Serum  die  geschilderten  Einwirkungen  auf  die  diphtheritisch 
erkrankten  Organe  hat , so  ist  es  von  vornherein  wahrscheinlich , dass  die  er- 
zielten Erfolge  einen  entsprechenden  Ausdruck  in  der  Mortalitätsziffer  der  Diph- 
therie während  der  Serumbehandlung  finden  müssen.  Es  ist  wohl  unmöglich,  die 
Thatsache,  dass  keine  Behandlung  dieser  gefürchteten  Krankheit  günstigere  Heil- 
ergebnisse  hatte,  als  die  Methode  von  Behring-Roüx  , anders  zu  erhärten , als 
dureh  eine  umfassende  Statistik , so  sehr  man  auch  zugeben  muss , dass  die 
Statistik  oft  genug  eine  Lügnerin  ist.  Ich  meine , dass  mau  auch  in  Zweifeln 
das  Leitwort  ne  nimis  beherzigen  muss,  und  wenn  z.  B.  Purjksz  •*)  sich  ganz  gut 
denken  kann,  dass  dem  Wegfall  der  mechanischen  und  toxischen  Insulte  durch 
Pinselung  und  Aetzung  des  Krankheitsherdes  und  dem  Wegfall  der  bösen  Rück- 
wirkung aller  jener  Mittel  auf  das  Nervensystem,  wie  auf  den  Gesamintorganismus 
ein  wesentlicher  oder  gar  ausschliesslicher  Anthcil  an  den  besseren  Erfolgen  der 
Serumperiode  zukommt,  so  möchte  man  ihm  wahrlich  zurufen  „ne  nimis!“  Denn 
ich  kann  sowohl  aus  meiner  Studienzeit,  alB  aus  meiner  Praxis  versichern , dass 
wenigstens  in  Deutschland  das  Pinseln  und  Aetzen  eine  zumeist  überwundene 
Periode  in  der  Behandlung  der  Diphtherie  darstellte,  und  dennoch  sind  unsere 
Resultate  schlechtere  gewesen,  als  sie  jetzt  sind.  Wenn  ferner  wiederholt  behauptet 
wurde,  es  könnten  die  Zahlen  dadurch  beeinflusst  werden,  dass  wir  jetzt  gerade 
eine  milde  Epidemiezeit  hätten,  oder  dadurch,  dass,  von  der  Hoffnung  auf  raschere 
und  sicherere  Heilung  geleitet,  mehr  Leichterkrankte  den  Krankenanstalten  zu- 
geführt  worden  seien , welche  natürlich  das  Gesammtergebniss  günstig  verändert 
hätten,  so  bleiben  diejenigen,  welche  den  ersteren  Einwand  machen,  den  Beweis 
schuldig,  dass  die  zahlreichen  Statistiken  aus  der  Zeit  vor  der  Serumbehandlung, 
besonders  die  Uber  Jahre  und  Jahrzehnte  sich  erstreckenden,  nur  aus  schweren 
Epidemien  gewonnen  wurden,  und  ihnen  gegenüber  steht  die  häufig  wiederkehrende 
Versicherung  der  jüngsten  Statistiker,  dass  es  sich  durchaus  nicht  um  leichte 
Fälle  gehandelt  habe,  — der  zweite  Einwand  aber  wird  hinfällig  dadurch,  dass 
einmal  die  Salubritätsziffer  der  Seruminjicirten  auch  dann  gestiegen  ist , wenn 
man  von  ihnen  alle  Leichterkrankten  ausschliesst,  z.  B.  nur  die  Tracheotomirten 
und  Intubirten  in  Betracht  zieht,  und  dass  andererseits  auch  die  Erfolge  ausser- 
halb der  Spitäler,  an  denen  doch  stets  alle  Grade  der  Erkrankung  naturgemäss 
Theil  hatten,  bessere  geworden  sind.  Kleinere  Differenzen  beweisen  freilich  nichts, 
und  aus  wenigen  Fällen  lässt  sich  kein  Schluss  auf  das  Ganze  ziehen.  Darum 
will  ich  nur  einige  grössere  Beobachtungsreihen  anführen.  Es  verfügen : 


Sonnenbnrg*1)  . über  104  Fälle  mit  79,4fl  „ Heilung,  davon  tracheotomirt 34 mit  62,0%  Heilung 


K ossel16)  . . . 

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n 

44 

p 

86,4, 

Das  wären  im  Ganzen  1352  seruminjicirtc  Diphtheriefälle  aller  Grade, 
da  sie  ja  von  den  verschiedensten  Gegenden,  theils  in  Spitälern,  theils  in  der 
Privatpraxis  behandelt,  herstammen,  mit  einer  durchschnittlichen  Genesungsziffer 
von  832  s0/o ; 353  von  denselben,  also  26,1%,  wurden  tracheotomirt,  und  davon 
genasen  im  Durchschnitte  67,2 . 

Diese  Ziffern  stimmen  ungefähr  mit  anderen  Sanimelstatistiken  überein, 
die  der  Deutschen  medicinischen  Wochenschrift  ’*)  ist  z.  B.  in  der  Genestings- 


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»IPHTHERIEHEILSERUM. 


125 


Ziffer  etwas  günstiger  (90,4%  bei  5833  Fällen),  in  der  Zahl  günstig  verlaufener 
Tracheotomien  etwa  gleich  (317  Fälle  mit  66, 9°.',  Heilung).  Man  würde  also 
sagen  können  , dass  von  sämmtlichen  Diphtheriepatienten  etwa  % genesen  sind, 
dass  die  Zahl  der  Tracheotomien,  welche  sich  trotz  Serums  nebenbei  noch  nöthig 
erwies,  eine  geringe  war  und  von  dieser  etwa  % >n  Genesung  ausgingen.  Stellt 
man  die  Genesungsziffern  von  früher  zusammen,  erhält  man  z.  B.  folgendes  Bild : 


Von  100  Diphtheriekranken  genasen : 
im  Spitale  zu  Triest”)  durchschnittlich  40  — 1891) 

in  der  Münchener  Kinderklinik”) 43 — 57,8  (1887 — 1893) 

im  St.  Josefspital  zu  Wien14) 49  (teknj.  Durchschn.) 

in  der  Charite  zu  Lyon  ”)  50 

im  Kinderspitale  zu  Zürich1*) 56,2  (1874—1891) 

in  der  Kinderklinik  zu  Prag”) 57  (1893  94) 

im  Olga-Hospitale  zu  Stuttgart ")  . 59,9  (1889 — 1893) 

Dagegen  von  100  Dipbthcriekranken,  ebenfalls  lediglich 

Krankcnhuusfallen,  unter  Serumbehandlung1*)  ....  85,4  (VJähr.  Zeitabschn.) 


Ich  glaube,  man  darf  da  dreist  in  der  Serumperiode  begünstigende  Momente 
annebmen,  w ic  zahlreichere  Leichterkrankte  u.  dergl.  m. , und  man  wird  den- 
noch den  Anstieg  der  Salubritätsziffer  nicht  leugnen  können ! Und  noch  günstiger 
für  das  Serum  spricht  eine  ähnliche  Tabelle  Uber  die  Heilung  der  Tracheotomien. 


Unter  592  Tracheotomien  fand  Langenbuch .22  */,  Heilung  ( — 1889) 

. 670  „ „ H.  Fischer 22,5  „ „ (—1891) 

„ 697  , „ Thiersch 24,5  „ „ (—1888) 

„ 504  , , Langenbeck 29  „ „ (—1877) 

„ 1265  . im  Krankenhaus  Bethanien,  Berlin,  waren  . 31,28,  „ ( — 1878) 

, 1UU0  „ fand  G.  Fischer  (Hannover) 37  „ „ ( — 1894) 

, 704  „ „ Küster  40  „ „ (—1886) 

, 572  , „ Hagedorn  44  , , (—1892) 


Es  bleibt  also  selbst  die  günstigste  Zahl  weit  zurück  gegen  die  jetzige, 
und  die  Heilung  der  Tracheotomie  vor  der  Serumbehandlung  würde  sich  zu  der 
unter  Scrumbehandlung  immer  noch  im  günstigsten  Falle  wie  2:3  verhalten. 

In  ähnlicher  Weise,  wie  die  Salubritätsziffer  der  Tracheotomie,  ist  end- 
lich die  der  Intubation  gestiegen.  Es  verzeiehneten  bei  dieser  Operation  z.  B. 


E.  Hose  nt  ha  l*1)  . . jetzt  84*/,  Genesnng  gegen  vorher  28  */, 

J.  Bökai“) 45,  , , „ 33V,, 

BiSgs”) ,43,  „ „ , 19  ,. 


Ranke*“)  sah  von  seinen  Intubirten  etwa  70%  genesen,  Dueyfuss  ’*) 
sogar  alle. 

Alle  diese  Erfolge  sind  um  so  beaehtenswerther,  als  sie  wesentlich  unter 
Betheiligung  der  jüngsten  Alterselassen  zu  Stande  gekommen  sind.  Der  jüngste 
Fatient,  der  mit  Diphtherieautitoxin  und  vielleicht  überhaupt  jemals  genas,  dürfte 
ein  Säugling  von  fünf  Tagen  sein,  der,  von  seinem  4jährigen  Schwesterchen  in- 
ficirt,  von  König  und  MoXTER  7“)  150  I.-E.  in  den  Oberschenkel  injicirt  bekam 
und  binnen  vier  Tagen  ohne  üblen  Zwischenfall  glatt  genas.  Von  Kindern 


im  ersten  Lebensjahre  behandelte 

j Koss e 1 *•)  . 
i Widerhofer5) 

3 und 
8 . 

heilte 

2 

3 

„ zweiten  „ „ 

1 Kussel1*)  . . 
i Widerhofer5) 
I Kürte*)  . . 

4 

24 

» 

4 

15 

15 

8 

im  ersten  und  zweiten  Lebensjahre 

Ganghofner17)  17 

13  (sämmtl.  tracheotomirt) 

behandelte . . 

Schröder4*)  . 

6 

3 ( , ) 

■ 

Sigel”)  . . 

10 

n 

» 

5 

Die  vom  kaiserlichen  Gesundheitsamt  veranstaltete  Sammclforschung  Uber 
die  Wirksamkeit  des  Diphtherieheilserums  in  den  öffentlichen  Krankenanstalten 
Deutschlands  zählt  für  das  zweite  Quartal  1895  von  Kindern  des  ersten  Lebens- 
jahres 41  mit  24  Genesungen,  von  Kindern  des  zweiten  218  mit  138  Genesungen  J7); 
das  wäre  für  die  beiden  ersten  Lebensjahre  eine  Salubritätsziffer  von  62,4%, 
während  die  Sammelstatistik  der  Deutschen  medicinischen  Wochenschrift  unter 


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126 


DI  PHTHEBIEHE1 LSERUM. 


735  Kindern  unter  zwei  Jahren  78,2%  genesen  fand.71)  Dabei  sind  an  den 
259  Kindern  der  erstercn  Statistik  169,  d.  h.  fast  % Schwerkranke  betheiligt. 

Nicht  wunderbar  kann  es  erscheinen , dass  die  Erfolge  der  Antitoxin- 
einverleibung um  bo  grössere  sind  und  sein  werden,  je  früher  die  Patienten  dieser 
Behandlung  unterworfen  werden.  Behring  selbst  hatte  die  Fälle , die  in  den 
ersten  drei  Tagen  der  Erkrankung  mit  Injcctionen  von  Heilserum  in  Angriff 
genommen  werden,  allein  als  Object  der  Serumtherapie  hingestellt.  ®)  In  der  Thal 
benennt  die  mehrerwähnte  Sammelstatistik  der  Deutschen  mcdicinischen  Wochen- 
schrift die  Salubritätsziffor  von  3353  am  ersten  oder  zweiten  Tage  Eingespritzten 
mit  95,8%,  die  aber  von  2480  später  Eingespritzten  nur  noch  mit  83,1%.  Die 
Erfahrung  lehrt  jedoch,  dass  man  in  keinem  Falle,  von  vornherein  an  einen  Erfolg 
verzweifelnd,  die  Einspritzung  unterlassen  sollte;  denn  selbst  sehr  weit  über  den 
dritten  Krankheitstag  hinaus  in  Behandlung  Gekommene  wurden  noch  geheilt. 
Pfeifer7®)  z.  B.  injicirte  einmal  am  fünften,  ein  anderesmal  am  sechsten  Tage 
erfolgreich.  Risel**)  und  Vierobdt®)  verzeichneten  noch  am  sechsten  Tage, 
Kann7*)  am  siebenten,  WotlSLKY ®°)  am  zehnten  und  Lissard80)  sogar  am 
dreizehnten  Erkrankungstage  Erfolg  von  der  Serumeinspritzung.  Foster81),  der 
2740  seruminjicirte  Diphtheriefälle  aus  der  Literatur  zusammenstellte  und  auch 
auf  diese  Frage  hin  prüfte,  fand  eine  Mortalität  = 0%,  wenn  am  ersten  Tage, 
— = 2,83%,  wenn  am  zweiten  Tage,  — = 9,99%,  wenn  am  dritten  Tage,  — 
--  20%,  wenn  am  vierten  Tage,  — = 30,33% , wenn  am  fünften  Tage,  — 
und  = 41,38%,  wenn  am  sechsten  Tage  eingespritzt  worden  war. 

Fast  ganz  ununterrichtet  sind  wir  noch  darüber,  auf  welche  Weise  das 
Serum  wirkt,  und  räthselhaft  muss  es  immerhin  erscheinen , dass  selbst  auf  die 
Diphthericbacillen  am  Krankheitsherde  nur  ein  geringer  oder,  wie  Peck  •*),  der 
gelegentlich  einer  Diphtherieendemie  im  Kinderasyl  zu  Now-York  Kinder  mit 
normalem  Verhalten,  aber  mit  Diphthericbacillen  im  Rachenschleim,  prophylak- 
tisch mit  recht  gutem  Erfolge  einspritzte,  fand,  gar  kein  Einfluss  durch  da« 
Serum  ausgeübt  wird.  Bradon  Kyle88)  freilich  behauptet,  dass  die  Bacillen 
unter  Serumbehandlung  all  malig  ihre  charakteristischen  morphologischen  Eigen- 
schaften verlieren,  und  zwar  derart,  dass  sie  von  den  HOFFMANN’schen  Pseudo- 
bacillen nicht  mehr  zu  unterscheiden  sind ; er  hält  die  Wirkung  indircct  hervor- 
gerufen durch  eine  Veränderung  des  Nährbodens.  Wenn  das  richtig  ist,  muss 
diese  Wirkung  sehr  spät  zu  erkeunen  sein ; denn  Silberschmidt  8‘)  fand  noch 
7 — 32  Tage  post  injectionem  typische  Diphthericbacillen,  die  lebensfähig  und  voll 
virulent  waren , und  damit  stimmt  Guizetti  *)  überein , der  am  29.  Tage  noch 
im  Rachenschleim  die  Bacillen  ebenso  virulent  fand,  als  am  ersten  Tage  der 
Serumbehandlung.  Nach  White  ,s)  verschwinden  die  Bacillen  durchschnittlich  am 
19.  Tage  aus  dem  Rachen;  Catlin88)  fand  bei  einem  Knaben,  der  fünf  Tage  nach 
der  Einspritzung  genesen  war , zu  dieser  Zeit  iu  seinem  Rachen  noch  virulente 
Diphthericbacillen,  und  erst  am  29.  Tage  nach  der  Erkrankung  waren  sie  ver- 
schwunden. 

Experimentell  suchten  Zagabi  und  Calabbese 8S)  die  Wirkung  des 
Serums  zu  ergründen  und  benutzten  als  Versnchsobjecte  Kaninchen,  gesunde  Kinder 
und  chronische  Nephritiker.  Meist  erhöhte  sich  die  Temperatur  um  einen  Grad, 
nur  selten  fiel  sie  etwas;  der  Puls  ward  voller  und  kräftiger,  die  Anzahl  der 
rothen  Blutkörperchen  verringerte  sich , der  Hämoglobingehalt  nahm  ab.  Nicht 
einmal  bei  den  Nephritikern  übte  die  Einspritzung  sowohl  einfachen  Serums,  als 
auch  des  Diphtherieheilserums  einen  Einfluss  auf  die  Nierenthätigkeit  aus,  und 
ein  einziger  Nephritiker  zeigte  nach  der  Einspritzung  einen  Zustand  von  Herz- 
schwäche. Diese  Nichtbeeinflussung  von  Nieren  und  Herz  durch  das  Heilserum 
bestätigten  die  mikroskopischen  Untersuchungen , welche  K AHLDEN 87)  an  den 
Organen  von  mit  Serum  1 reichlich  injicirten  Kaninchen  unstellte.  Mya88),  der 
v ier  nicht  diphthcritische  Kinder,  Reconvalescenten  von  anderen  Krankheiten, 
einspritzte,  fand  auch  keinen  Einfluss  auf  die  Blutcirculation ; die  Zahl  der  rothen 


oogle 


DIPHTHERIEHEILSERUM. 


127 


Blutkörperchen  fand  er  ebenfalls  vorhergehend  vermindert,  die  der  weissen  aber 
vermehrt.  Urobilin  suchte  er  vergebens  in  dem  harnstoffreichen  Urin  seiner  Ver- 
suchskinder,  und  er  leugnet  folglich  eine  hämolytische  Wirkung  des  Heilserums 
ab.  Mit  diesen  Versuchen  steht  ein  8elbstversuch,  den  Adae  ••)  anstellte,  in  unlös- 
barem Widerspruch ; er  spritzte  sich  experimenti  causa  Serum  I ein  und 
erkrankte  darnach  an  hämorrhagischer  Nephritis,  — erst  nach  drei  Wochen 
war  der  Urin  eiweissfrei ; diese  Erkrankung  begann  mit  Erbrechen  und  leichter 
T emperatursteigerung. 

Wir  haben  ja  im  Allgemeinen  gar  wenig  Kcnntniss  von  der  Art  der 
Wirkung  von  unseren  Verordnungen,  und  oft  genug  stehen  theoretische  Raisonnc- 
ments  und  experimentelle  Beobachtungen  mit  den  Erfahrungen  am  Krankenbett 
im  grellen  Gegensatz.  Wir  werden  uns  also  in  der  Frage  der  Wirkung  des  Diphtherie- 
antitoxins zunächst  auch  mit  den  klinischen  Thatsachen  begnügen  müssen  und  es 
einer  späteren,  gercifteren  Erkenntniss  überlassen  müssen,  die  geheimnissvollen 
Fäden  zu  entwirren , welche  die  Einspritzung  des  Serums  mit  der  Heilung  der 
verderblichen  Krankheit  verbinden.  Je  weniger  wir  aber  über  die  Art  der 
Wirkung  unterrichtet  sind,  desto  berechtigter  sind  wir,  alle  Folgen  der  Ein- 
spritzung, soweit  sie  eben  am  Körper  bemerkbar  sind,  zu  prüfen,  desto  wichtiger 
ist  also  auch  die  Frage , ob  eine  Schädigung  des  Patienten  in  irgend  welcher 
Weise  zu  erwarten  ist;  denn  primum  non  nocere! 

Hansemann  ,0)  stellte  wohl  als  Erster  mit  Entschiedenheit  die  These  auf, 
dasg  das  Heilserum  unter  Umständen  schädlich  wirken  könne,  weil  es  einen  zer- 
setzenden Einfluss  auf  das  Blut  und  eine  Schädigung  auf  die  Nieren  ausübe.  Die 
Experimente  der  nur  erstgenannten  italienischen  Forscher  widersprechen  ihm 
durchaus , und  Adae’s  Selbstversuch  mit  seiner  nierenschädigenden  Wirkung 
steht,  soweit  ich  die  Literatur  Überblicken  kann,  ganz  vereinzelt  da,  kann  also 
nichts  beweisen.  Wir  sind  folglich  wiederum  auf  die  klinische  Beobachtung  nnd 
Erfahrung  verwiesen. 

Die  verhängnissvolle  Wirkung  des  Diphtheriegiftes  auf  das  Herz  ist  eine 
allbekannte  und  genügend  gewürdigte  Thatsache , und  auch  in  sonst  scheinbar 
leichten  Fällen  kann  sie  sieh  zuweilen  ganz  plötzlich  geltend  machen,  ja,  es  ist 
bekannt,  dass  zuweilen  Diphtheriereconvalescenten , die  man  längst  ausser  aller 
Gefahr  wähnte,  noch  sehr  spät  einem  ungeahnten,  raschen  Herztode  erlegen  sind. 
Von  diesem  Gesichtspunkte  aus  muss  man  doppelt  vorsichtig  die  Frage  erörtern,  ob 
das  Antitoxin  dem  Herzen  schädlich  werden  kann.  Doch,  glaube  ich,  ist  kein  einziger 
Beleg  dafür  erbracht  worden,  dass  die  Serumbehandlung  das  Herz  gefährdet; 
denn  die  Sectionsdiagnose  „fettige  Entartung  des  Herzmuskels“  und  die  klinische 
Diagnose  „Tod  an  Herzlähmung“  beschuldigt  die  Diphtherie,  nicht  aber  das 
Serum,  so  lange  nicht  eine  besondere  Häufigkeit  beider  Diagnosen  in  der  Serum- 
penode  erwiesen  ist.  Baoinsky  ’*)  mit  seiner  reichen  Erfahrung  aus  525  Beob- 
achtungen sagt  aber  umgekehrt,  dass  zwar  vorübergehende  Ilerzstürungen  nicht 
ausblieben,  aber  tödtliche  Herzlähmung  seltener  geworden  ist.  Mukalt  ,v)  sah  in 
seinen  Fällen  nie  eine  ungünstige  Einwirkung  auf  das  Herz,  und  Ranke  ,0)  hat 
das  gleiche  Urtheil.  Bökai  “)  verlor  unter  31  letalen  Fällen  nur  drei  an  Herz- 
lähmung  und  erklärt  ausdrücklich,  „auf  Grund  seiner  vor  der  Serumperiode  er- 
worbenen Erfahrungen“  in  keinem  dieser  drei  sehr  schweren  Fälle  davon  über- 
rascht gewesen  zu  sein.  FÜRTH 71)  beobachtete  unter  100  Fällen  nur  achtmal 
leichtere  Herzstörungen.  Dass  aber  der  postdipbtheritischc  Herztod  nicht  immer 
nach  der  Abheilung  des  Krankheitsherdes  durch  die  Serumeinspritzung  verhütet 
wird,  erklärt  Heubnkr  •')  als  „halbe,  unvollständige  Wirkung  des  BKBRINO'schen 
Mittels  gegenüber  besonders  schwer  toxischen  Fällen“;  Thierexperimente  beweisen, 
„dass  Thiore  in  Folge  chronischer  Vergiftung  an  Marasmus  zu  Grunde  gehen 
können,  trotzdem  am  Orte  der  Iufection  eine  locale  Erkrankung  nicht  entsteht, 
dass  es  also  leichter  ist,  die  locale  Erkrankung  als  den  diphtheritischcn  Herztod 
zu  verhindern“.  Wenn  wirklich  diese  späte,  letale  Wirkung  des  Toxins  trotz 


128 


DIPHTIIERIEHEILERSUM. 


Antitoxins  häufiger,  als  vor  dieser  Behandlungsmethode,  zur  Beobachtung  kommen 
sollte,  so  ist  diese  Häufigkeit  eine  relative;  bedingt  durch  die  grössere  Anzahl 
von  Genesungen  gegen  ehemals;  ohne  weiteres  daraus  zu  scliliessen,  dass  in  der 
Einspritzungsflüssigkeit  herzschädigende  Bestandtheile  enthalten  sein  müssten,  wie 
z.  B.  Springorum  that,  das  dürfte  kaum  als  genügend  begründet  anerkannt  werden. 
Das  Serum  mag  wohl  unter  gewissen,  uns  unbekannten  Umständen  gegen  die 
Herzvergiftung  durch  das  Diphtherietoxin  machtlos  sein , aber  es  begünstigt 
diese  durchaus  nicht. 

Fast  noch  schwieriger  ist  die  Frage , ob  das  Heilserum  einen  üblen 
Einlluss  auf  die  Nieren  ausüben  könnte.  Auch  hierbei  muss  man  sich  erinnern, 
wie  häufig  die  Nephritis  die  Diphtherie  complicirt,  vor  Allem,  wie  gar  nicht 
selten  sie  schon  frühzeitig  auftritt  und  rasch  verderblich  wird  ; auf  die  Bedeutung 
der  parenchymatösen , foudroyant  verlaufenden  Nephritis  als  lebensgefährliche 
Frtihcomplication  der  Rachendiphtherie  hat  noch  kürzlich  Aufrecht  **)  aufmerk- 
sam gemacht.  Experimentell  ist,  wie  erwähnt,  ein  schädigender  Eiufluss  des 
Mittels  auf  die  gesunde  Niere  oder  selbst  auf  die  chronisch  entzündete  bisher 
nicht  bewiesen.  Wie  stellt  sich  die  klinische  Erfahrung  zu  dieser  Frage?  Sonn'EX- 
BURG  “*)  sowohl  als  Heim1“),  als  Sigel 7*)  sahen  die  Eiweissabsonderung  diph- 
theritischer  Kinder  nicht  häufiger  unter  Scrumeinwirkuug  auflreten , als  sonst; 
in  gleicher  Weise  bestreiten  Widekhofer  “),  Heubxkr  •*),  Ranke  *•)  und  Timmkr  *>) 
die  Existenz  einer  Serumnephritis.  Vierordt*)  urtheilt,  dass  die  Albuminurie  im 
Vergleich  zu  sonst  nur  eine  geringe  Rolle  spielt:  Kossel1“)  sah,  wenn  zurZeit 
der  Einspritzung  der  Harn  eiweissfrei  war,  denselben  zumeist  auch  frei  bleiben  ; 
wenn  aber  bereits  Eiweiss  abgeschieden  wurde,  dauerte  diese  Absonderung  auf- 
fallend kurze  Zeit.  Aehulich  äussert  sich  Borger”),  dass  Albuminurie  zwar 
durch  die  neue  Behandlungsweise  nicht  verhütet  wrird,  dass  aber  die  bereits  vor- 
handene eher  günstig,  als  ungünstig  beeinflusst  wird.  Bökai  ss)  hebt  hervor,  dass 
man  nach  Saxnk  im  Allgemeinen  beiläufig  50%  der  Diphtheriekranken  einen 
ciwcisshaltigen  Urin  zuschreiben  darf,  dass  er  aber  bei  120  serumbehnndclten 
Fällen  nur  421  .%  Albuminurie  nachweisen  konnte,  und  dass  der  vierte  Theil 
jener  Kranken  bereits  vor  der  Injection  diese  Complicntiun  darboten ; nach  seinen 
sorgfältigen  Aufzeichnungen  währte  die  Eiweissansscheidung  lCmal  1 — 3 Tage, 
bis  zu  6 Tagen  13mal,  3mal  7 Tage  und  nur  je  einmal  8,  11,  12,  13, 
22  Tage,  — also  kaum  im  vierten  Theile  der  Fälle  längere  Zeit.  Das  spricht 
doch  gewiss  für  Borger's  Meinung,  dass  das  Serum  eher  günstig,  als  ungünstig 
einw  irkt.  Französische  Autoren  sind  davon  so  fest  überzeugt,  dass  Moizakd  und 
Perregaux  *•)  z.  B.  rathen,  beim  Auftreten  von  Albuminurie,  so  lange  es  sich 
nicht  um  eine  echte  parenchymatöse  Nephritis  handelt,  eine  neue  Einspritzung 
vorzunehmen ; nach  ihren  eigenen  zahlreichen  Beobachtungen  erscheint  aber 
Albuminurie  jetzt  keineswegs  häufiger,  als  sonst.  Ja,  Silva“*)  sah  nach  seinen 
Einspritzungen  überhaupt  niemals  Albuminurie  auftreten,  und  DAMIKXO**)  nennt 
die  Einwirkung  der  Einspritzung  auf  die  bereits  kranke  Niere  deutlich  günstig. 

Diese  genannten  Autoren  repräsentiren  die  stattliche  Zahl  von  rund 
1450  Beobachtungen,  aus  denen  sie  ihre  Schlüsse  zogen.  Verschwindend  klein 
ist  ihr  gegenüber  die  Beobachtungsziffer  jener,  welche  mehr  weniger  an  eine 
Schädigung  der  Niere  durch  das  Serum  glauben ; von  ihnen  verfügt  Kraske  **) 
über  IC  Fälle,  Monti  ,l)  Uber  25,  SOLTMANN  >“)  Uber  89,  von  denen  1‘J  ,,im 
directcn  Anschluss  an  die  Injection“  Eiweiss  im  Harn  ausschieden.  Selbst,  wenn 
sich  in  der  Literatur  noch  vereinzelte  Fälle  von  scheinbarer  ungünstiger  Beein- 
flussung der  Nieren  durch  das  Diphtherieantitoxin  finden  sollten , die  mir  ent- 
gangen sind,  und,  selbst  wenn  man  als  verdächtig  die  wenigen  Fälle  hiuzurechnet, 
in  denen  zum  Zwecke  des  Diphtherieschutzes  eingespritzte  gesunde  Kinder  eine 
geringfügige  Albuminurie  für  kurze  Zeit  aufwiesen,  so  ist  die  Summe  dieser  Fälle 
gegenüber  jener,  in  denen  von  einer  Schädigung  nichts,  oder  sogar  eine  an- 
scheinend günstige  Wirkung  bemerkt  wurde,  so  erdrückend  gross,  dass  auch  der 


,ooolc 


DIPHTIIERIEHEILSERt'M. 


129 


grösste  Skeptiker  und  der  entschiedenste  Gegner  von  Statistiken  von  einer  solchen 
Majorität  überzeugt  werden  und  zngeben  muss,  dass  im  Allgemeinen  das  Diph- 
therieheilserum die  menschliche  Niere  nicht  schädigt. 

Es  ist  hier  der  Ort,  hinzuzufugen,  dass  Heckel*7)  im  Urin  der  In- 
jicirten  Pepton  nachwies  und  diese  Peptonurie  als  eine  physiologische  Wirkung 
erklärt , bedingt  durch  das  Ausscheiden  der  mit  dem  Serum  in  das  Blut  ein- 
geführten Eiweisskörper.  Simoxovic  ,s)  fand  bei  einem  dreijährigen  Kinde  und 
bei  sich  selbst  (er  hatte  sich  in  seinem  Berufe  hochgradig  inficirt)  den  Urin  reich 
an  Phosphaten;  diese  Phosphaturie  begann  bei  ihm  48  Stunden  nach  einer  ersten 
Einspritzung  von  600  I.-E.,  beziehungsweise  24  Stunden  nach  einer  zweiten  von 
gleichem  Gehalt  und  währte  drei  Tage.  Auch  Haller  114)  constatirte  einmal 
Phosphaturie,  nachdem  der  hohe  Uratgehalt  des  Harns  aufgehört  hatte. 

Die  Diphtherie  bewirkt  nun  bekanntlich  in  vielen  Fällen  nicht  nur  Herz- 
schwäche oder  Nephritis,  sondern  schädigt  auch  die  peripheren  Nervenendigungen. 
Die  diphtheritischen  Lähmungen  können  an  jeden  Fall,  sei  er  noch  so  günstig  ver- 
laufen, sich  anschliessen ; in  manchen  Epidemien  folgen  sie  fast  jedem  Falle,  in 
anderen  nur  sehr  wenigen.  Auch  in  der  Serumperiode  sind  diese  Folgezustände 
nicht  ausgeblieben,  auch  da  sind  sie  bald  häufig,  bald  selten  in  die  Erscheinung 
getreten.  Da  P.  Meyer  bereits  bei  in  den  ersten  Krankheitstagen  erlegenen 
Diphtheriekindern  mikroskopisch  beginnende  Degenerationen  in  den  peripheren 
Nerven  vorfand , so  kann  es  nicht  Wunder  nehmen , dass  in  solchen  früh  be- 
ginnenden Fällen  selbst  eine  scheinbar  frühzeitige  Serumeinspritzung  zu  spät 
kommt,  dass  die  Entartung  bereits  begonnen  hat  und  in  ihrem  Fortschreiten  nicht 
mehr  aufzuhalten  ist.  Es  erlebten,  um  eine  kleine,  beliebig  ausgewählte  Ueber- 


sicht  zu  geben : 

Kessel“) unter  104  Fällen  19  diphtheritische  Lähmungen 

Wittaner“) 35  „ 2 

Mac  Allster’“!  .....  25  , 4 „ „ 

Heim“) , 27  „ 2 „ , 

Rembold"”) „ 6,  1 „ , 


Das  wären  unter  197  Fällen  28  diphtheritische  Lähmungen,  also  nicht 
ganz  14%.  Dagegen  hatte  Monti11),  der  wohl  die  ungünstigsten  Erfahrungen 
in  dieser  Hinsicht  sammelte,  bei  48%  Beiner  Kranken  Lähmungen  zu  verzeichnen 
und  bemerke,  dass  diese  auffallend  früh  auftraten.  Im  Gegensatz  zu  letzterer 
Beobachtung  steht  ein  Fall  von  Widerhofer6),  ein  siebenjähriger  Knabe,  der 
am  dritten  Krankheitstage  zur  Behandlung  kam  und  am  31.  Tage  nach  dieser 
Injection  an  einer  ausgedehnten,  erst  am  83.  Tage  geheilten  Lähmung  erkrankte. 
Schon  diese  Verschiedenheiten  in  der  Frequenz  der  Lähmungen  machen  es  wahr- 
scheinlich , dass  die  Serumeinspritzungen  auf  diese  üble  Folgeerscheinung  über- 
haupt keinen  wesentlichen  Eindruck  ausüben.  Diese  Ansicht  vertreten  auch  gerade 
die  Autoren,  welche  über  die  grössten  Reihen  Beobachtungen  verfügen,  wie 
Bagixsky  ls),  Gf.rmosig  ss),  Sigel76)  n.  A.  Wenn  demnach  in  Zukunft  das  Auf- 
treten postdiphtheritischer  Lähmungen  gehäufter  gegen  sonst  erscheinen  sollte,  so 
wäre  bei  der  Prüfung  dieser  Thatsaehen  gerade  wie  bei  der  Beurtheilung  der 
Häufigkeit  postdiphtberitischcr  Herzlähmungen , die , nebenbei  bemerkt , ja  ätio- 
logisch auch  als  neurotische  Processe  aufzufassen,  also  den  peripheren  Lähmungen 
eng  verwandt  sind,  zu  bedenken,  dass  die  Zahl  der  Genesenen  unter  der  Serum- 
behandlung angewachsen  ist,  damit  also  gleichsam  die  Zahl  der  Angriflsobjecte 
gestiegen  ist. 

Wenn  wir  also  das  Diphtherieheilserum  nicht  allein  als  eine  segens- 
reiche Bereicherung  unserer  Waffen  gegen  den  grimmigsten  Feind  der  Kinder 
bezeichnen  dürfen,  sondern  auch  als  ein  Mittel,  dessen  Anwendung  wohl  manche 
Gefahren  nicht  völlig  ausschliesst,  aber  doch  viele  abwendet  und  bestehende  nicht 
vermehrt,  so  dürfen  wir  doch  nicht  verkennen,  dass  auch  dieses  Mittel , wie  so 
unendlich  viele  andere,  gelegentlich  mehr  weniger  Nebenwirkungen  entfalten  kann, 
die  ausser  unserer  Absicht  liegen.  Ueber  die  Neben-  und  Nachwirkungen  des 


Bacytlop.  Jahrbücher.  VI. 


9 


13U 


DIPHTHERIEHEILSERUM. 


Diphtherieautitoxins  sind  zahlreiche  Beobachtungen  veröffentlicht  worden ; es  ist  aber 
kein  einziger  Kall  bekanntgeworden,  in  welchem  eiuwandsfrei  eine  dauernde  Sehiidignng 
eines  Patienten  oder  gar  der  Eintritt  seines  Todes  nachgewiesen  worden  wäre. 

Am  häutigsten  werden  Hautausschläge  im  Anschluss  an  die  Serum- 
cinspritzung  beobachtet ; sic  gehen  nicht  selten  von  der  Einstichstelle  aus  und 
können  sich  entweder  Uber  den  ganzen  Körper  ausbreiteu  oder  nur  einzelne 
Gegenden,  z.  B.  in  einem  mir  bekannten  Falle  lediglich  die  linke  Gesichtshälfte, 
befallen.  Sie  qualificircn  sich  als  Urticaria  (G.  Seitz  **),  Moizard  und  Perregaux  6a), 
Dreyflss 74) , Möller101),  Fischer101),  oder  als  Erythem  (Gaxghofner  1J), 
Bäumlkr  *’),  Fischer  10i),  Asch  101),  Seibert  10‘),  oder  als  Herpes  (ff.  facialis 
et  auricularis , Mya  7) , II.  facialis , Muhai.t  19)  oder  endlich  als  Purpura 
(Moizard  und  Perregaux60),  Fischer101).  Zuweilen  entwickelt  sich  ein  uni- 
verselles Exanthem,  das  entweder  masernähnlich  (Seibert  106),  Hl'XXIUS  10e),  oder 
scbarlachähnlich  (Mya88)  Heim10),  aussehen  kann.  Diese  Hautausschläge  gehen 
gar  nicht  selten  mit  Fieber  von  meist  sehr  kurzer  Dauer  einher.  Bald  treten  sie 
frühzeitig  anf  — Mya107)  sah  vier  scharlachähnliche  Exantheme  von  der  Ein- 
stichstelle aus  bereits  anderen  Tages  auftreten,  Heim  10)  Aehnliches  zuweilen  am 
dritten  Tage  post  injectionem  — ; bald  kommen  sie  ziemlich  spät  zum  Vorschein  — 
in  den  Fällen  Germonig'S S8)  zwischen  dem  7.  und  13.  Tage,  im  Falle  von 
Hunxils  10°)  sogar  am  14.  Tage  und  unter  5 Beobachtungen  von  Zielenziger  ***) 
je  einmal  16,  beziehungsweise  28  Tage  nach  der  Einspritzung.  Auch  ihre  Häufig- 
keit schwankt:  denn  während  D’Espixe66)  26 %%  Exantheme  u.  dergl.  l>eob- 
achtete,  Germonig  s8)  fast  15%,  fanden  sie  Fürth71)  sowohl  als  Eisexstadt4*) 
in  etwa  10%,  Sigel76)  in  etwa  9°  0 der  Fälle  und  Wittauer  *•)  unter  einer 
allerdings  kleineren  Beobachtungsreihe  nur  in  7,3%.  Mya  107)  hält  es  für  mög- 
lich , dass  diese  Hantaffectionen  bei  besonders  empfindlichen  Menschen  durch 
directc  Einwirkung  auf  das  vasomotorische  Centrum  entstehen  ; die  Urticaria  ins- 
besondere glaubt  er  als  eine  Folgewirkung  der  lyrophtreibenden  Kraft  des  .Serums 
ansehen  zu  müssen.  Im  Allgemeinen  herrscht  die  Ansicht  vor,  dass  nicht  das 
Antitoxin,  sondern  das  Serum  ätiologisch  in  Betracht  komme,  und  BiGGS68),  der 
über  255  in  der  Armenpraxis  und  über  115  im  Spital  behandelte  Fälle  berichten 
konnte,  schien  am  ehesten  ein  Ausschlag  aufzutreten,  wenn  Leichterkraukte  eine 
grosse  Gabe  Serums  erhielten.  Mac  Allster  •*)  schien  das  Serum  freier  von 
solchen  Nebenwirkungen  zu  sein,  wenn  es  ein  gewisses  Alter  erreicht  hatte,  etwa 
zwei  Monate  alt  war.  Für  prädisponirt  zu  dieser  Nebenwirkung  aber  erklärt 
Mya  107 ) Kinder  mit  eiiier  dunklen,  blutreichen  Haut. 

Recht  häufig  sind  mit  diesen  Hantaffectionen  Gelenkschmerzen , nament- 
lich im  Kniegeleuk , verbunden ; zuweilen  treten  solche  selbstständig  auf.  Diese 
Störungen  der  Reconvalescenz  sind  zwar  belanglos  und  sind  vor  Allem  in  An- 
betracht der  Heilung  einer  Diphtherie  nichtssagend , sind  aber  doch  zuweilen, 
besonders  wenn  hohes  Fieber  auftritt,  die  Schmerzen  verschiedene  Gelenke 
la-fallcn , diese  selbst  geröthet  und  geschwollen  ausschaucn  und  die  Haut  ein 
Exanthem  bedeckt,  recht  unangenehm,  wie  die  Fälle  von  Lublixski  109),  Cxyrim  10,i, 
CollA110),  Habel111),  Mabcusb  ul),  Haller114),  A.  Seibert106)  und  einige 
andere  genügend  illustriren.  Ein  noch  schwereres  Krankheitsbild  kann  entstehen, 
wenn  Erscheinungen  seitens  des  Verdannngstraetus  hinzutreten;  bei  einem  6%- 
jährigen  Kinde  z.  B.,  das  von  Seibert  1U4)  mit  einer  im  Pasteur-Institut  zu  New- 
York  gefertigten  Antitoxinlösung  behandelt  wurde,  traten  am  9.  Tage  Fieber, 
polymorphes  Exanthem  und  Gelenkschmerzen  ein,  wozu  sieh  am  1 1.  Tage  l'ebel- 
keit  und  Kopfschmerz,  am  13.  Tage  unstillbares  Erbrechen  und  neue  Gclenk- 
und  .Muskelschmerzen  hiuzugesellten.  Zu  allen  diesen  Erscheinungen  trat  iin  Falle 
Hagexbach’s  116)  noch  Neigung  zu  Ülutuug  — am  Tage  nach  der  Einspritzung 
von  Serum  I ausgebreitete  Hautblutung;  am  dritten  Tage,  nachdem  sich  die 
Membranen  des  Rachens  abgestossen  hatten , blieben  stark  blutende  Geschwürs 
flächen  im  Rachen  zurück;  am  7.  Tage  uustillbares  Erbrechen,  am  10.  Exitus 


DJPHTHERIEHEILSERUM. 


131 


letalis  mit  der  Sectionsdiagnose : fettige  Entartung  von  Herz-  und  Rachenmuscu- 
latur,  parenchymatöse  Nephritis,  hämorrhagische  Gastroenteritis.  Das  fünfjährige 
Mädchen,  welches  Kampe118}  mit  Serum  11  behandelte,  bekam  am  8.  Tage  eine 
Urticaria,  am  13.  Tage  einen  rapiden  Anstieg  des  schon  abgefallenen  Fiebers 
bis  40,9°  mit  Schmerzen  in  den  Beinen  und  Entwicklung  ausgebreiteter  Oedeme; 
unter  Entwicklung  eines  übelriechenden  Schweisses  schwanden  bis  zum  16.  Tage 
alle  diese  beunruhigenden  Erscheinungen,  als  am  17.  Tage  Leibschmerz,  Diarrhoe 
und  Erbrechen  noch  einmal  die  Genesung  störten,  welche  mit  dem  19.  Tage  eintrat. 
Wieder  etwas  anders  ist  der  Fall,  den  Thibiebok ui)  mittheilt:  vier  Tage  post 
injectionem  Urticaria,  am  8.  Tage  wegen  Recidivs  erneute  Einspritzung;  die 
Urticaria  schwand,  aber  es  stellte  sich  kaum  stillbares  Erbrechen  ein;  nach  aber- 
mals acht  Tagen  wiederum  Urticaria , dazu  Erbrechen , Gelenk-  und  Muskel- 
schmerzen, multiple  Drüsenschwellungen  und  Oligurie,  die  sich  am  18.  Tage  zur 
completeu  Anurie  mit  begleitendem  Collaps  steigerte.  Ganz  eigentümlich  ist  die 
Krankengeschichte,  welche  Pistük  1IB)  neuerdings  mittheilt;  bei  einem  sieben- 
jährigen Mädchen  blieb  drei  volle  Monate  nach  der  Einspritzung  von  Serum  II  die 
Neigung  zu  fieberhaften  Erythemen , Appetitlosigkeit  und  Stuhlunregelmässigkeit, 
und  zu  Erkältungen  zurück  und  verband  sich  mit  Agrypnie  und  geistiger  Unlust. 

Ich  glaube , man  muss  bei  solchen  Fällen , wie  in  den  letztgenannten, 
bei  denen  sich  schwere,  ja  recht  ernste  Krankheitsbilder  dem  Beobachter  dar- 
bieten, im  Urthcilc  ausserordentlich  vorsichtig  sein  und  sich  vor  dem  post  hoc, 
ergo  propfe.r  hoc  sehr  hüten.  Warum  muss  das  Serum  daran  schuld  sein?  Es 
ist  doch  auffällig,  dass  wir  unter  ungezählten  Tausenden  von  Serumeinwirkungen 
so  selten  jene  Beobachtungen  machen  durften , dass  es  Beobachter  mit  einem 
sehr  reichen  Materiale  von  mannigfachster  Zusammensetzung  giebt,  die  niemals 
einen  schwereren  Zufall  sahen,  als  Erythem  mit  2 — 3 tägigem  Fieber  und  erträg- 
lichen Gelcnkschmerzen  in  ganz  vereinzelten  oder  gar  in  einem  einzigen  Falle! 
Könnte  da  nicht  mit  gleichem  Recht  der  Verdacht  aufsteigen,  »lass  in  jenen  Fällen  be- 
sondere Wirkungen  des  Diphthcrictoxins,  nicht  des  Antitoxins,  sich  äusserten,  wie 
eben  gelegentlich  jede  Erkrankung  nach  irgend  einer  Richtung  hin  ein  besonderes 
Gesiebt  annehmen  kann?  Dieser  Verdacht  ist  um  so  gerechtfertigter,  als  es  zu- 
weilen schon  gelang,  angebliche  Antitoxinwirkung  als  Toxinwirkung  zu  entlarven. 
Theymann  11#)  z.  B.  beschrieb  einen  „Fall  acuter  hämorrhagischer  Nephritis  nach 
Anwendung  des  BEHKlNO’schen  Heilserums“,  und  Schwalbe  iao)  stellte  ihm  unver- 
züglich ein  anaioges  Krankheitsbild  aus  der  Zeit  vor  der  Serumanwendung  gegen- 
über. Pistor’s  Krankengeschichte  erinnert  einigermassen  an  die  Erscheinungen, 
welche  Heubner“1)  als  diphtherischen  Marasmus  bezeichnet,  Erscheinungen, 
welche  H KUHN- EU  auf  eine  Fortwirkung  des  durch  das  Antitoxin  ungenügend 
paralysirten  Toxins  zurückführt,  und  welche  vielleicht  öfter  jetzt  werden  gesehen 
werden , weil  es  eben  mehr  von  Diphtherie  Genesene  giebt,  als  bisher.  Ich  will 
auch  darauf  hinweisen,  dass  schon  vor  der  Serumperiode  bei  der  Diphtherie  An- 
schwellungen der  Gelenke  und  Durchfälle,  wenn  auch  beides  sehr  selten  (efr. 
StrCmpell’s  Lehrbuch),  gesehen  wurden  — nicht,  als  ob  ich  aus  falschem 
Enthusiasmus  für  das  neue  Mittel  jede  unliebsame  Nebenwirkung  ahleugnen 
wollte,  sondern  um  darauf  hiuzuweiseu,  wie  vorsichtig  man  beim  Auftreten  unge- 
wöhnlicher Erscheinungen  mit  dem  Zurtickführeu  derselben  auf  ihre  Ursache  sein 
muss.  Wenn  aber  gar  AlföLDI  131)  einen  Todesfall  durch  acute,  foudroyant  ver- 
laufende Nephritis  in  einer,  wie  Bökai  ,s)  sagt,  „nicht  hinreichend  genauen“ 
Krankengeschichte  beschreibt  und  auf  die  unmittelbar  vorausgegangene  Serum- 
Einspritzung  zurückführcu  will,  so  kennt  er  offenbar  nicht  solche  Fälle,  wie  sie 
z.  B.  Aufrecht  #1)  in  der  schon  erwähnten  Arbeit  auch  vor  der  Serumperiode 
beschrieben  hat. 

Alles  in  Allem  dürfen  wir  heute  nicht  mehr  von  einem  „Versuch  des 
neuen  Mittels“,  der  nicht  nur  gerechtfertigt,  sondern  sogar  geboten  sei,  reden, 
»andern  wir  dürfen  es  als  feststehende  Tbatsache  bezeichnen , dass  die  sicherste 


132 


DIPHTHERIEHEILSERUM. 


Gewähr  für  die  Heilung  der  Diphtherie  in  der  Anwendung  des  Heilserums 
gegeben  ist,  und  dass,  wer  sich  seiner  Anwendung  immer  nocli  zweifelnd  ent- 
zieht, seinen  Kranken  einen  schlechten  Dienst  erweist.  Als  Gewissheit  ist  auch 
zu  betrachten,  dass  kein  Fall  so  verzweifelt  wäre,  dass  von  vornherein  auf  das 
Antitoxin  als  aussichtslos  zu  verzichten  wäre  — als  Gewissheit  auch , dass  die 
Prognose  der  Tracheotomie  und  Intubation  erheblich  gebessert  ist,  — als  Gewiss- 
heit endlich,  dass  die  Zahl  der  unvermeidlichen  Operationen  dieser  Art  unter 
der  Serumbehandlung  merklich  abgenommen  hat.  Und  wenn  in  diesem  oder  jenem 
Falle  scheinbar  ungünstige  oder  unerwünschte  Erscheinungen  im  Verlaufe  der 
Krankheit  oder  der  Keconvalescenz  eintreten  sollten,  so  darf  sich  das  ängst- 
lichste Gewissen  damit  beruhigen , dass  entweder  der  Zusammenhang  mit  der 
Serumeinspritzung  zweifelhaft  ist,  oder,  dass  es  sich  um  einen  unberechenbaren 
Unglücksfall , wie  man  ihn  bei  jedem  Krankheitsfall  und  bei  jeder  Behandlung 
erleben  kann,  handelt.  Vor  Augen  wird  man  sich  aber  halten  müssen,  um  weder 
sich , noch  das  Publicum  einer  scheinbaren  Täuschung  hinzugeben , dass  das 
Heilserum  so  wenig  wie  irgend  ein  Mittel  eine  Panacec  ist  — dass  es  eine 
kleine  Reihe  von  Fällen  giebt,  die  entweder  durch  hochgradige  und  rasch  ein- 
tretende Allgemeinintoxication  des  Körpers  oder  durch  gefährliche  Frühcompli- 
cationen,  insbesondere  Affectionen  des  Herzens  und  der  Niere,  jedes  Heilbestreben 
zunichte  machen , und  endlich , dass  die  postdiphtheritischen  Processe,  wie  peri- 
phere Ijähmungen,  später  Herztod  und  diphtheritischer  Marasmus,  nicht  aus- 
bleiben,  im  Gegentheil  sich  vielleicht  durch  die  grössere  Anzahl  von  Genesungen 
unter  der  Serumbehandlung  scheinbar  vermehren  werden. 

Soviel  über  die  Anwendung  des  Antitoxins  als  Heilmittel!  Und  nun  noch 
einige  Worte  über  Diphtherieimmunisirung  durch  dasselbe  Mittel! 

Behring  hatte  ursprünglich  geglaubt,  dass  die  subcutane  Einverleibung 
von  60  I.-E.  genügen  würden,  die  Geschwister  von  Erkrankten  vor  der  Infection 
zu  schützen.  Die  spätere  Erfahrung  lehrte,  dass  diese  Concentration  nicht  aus- 
reichend für  viele  Fälle  war,  und  Behring  1>*)  bestimmte  deshalb  eine  Dose  von 
150  I.-E.  als  ausreichenden  Schutz  gegen  die  Ansteckung  und  glaubte  damit  eine 
Immunität  bis  zu  zehn  Wochen  erreichen  zu  können.  Noch  später  zog  man  vor, 
200  I.-E.  als  Schutzdose  anzusetzen.  Nach  den  zahlreichen  Beobachtungen  scheint 
mau  hier  an  der  unter  gewöhnlichen  Umständen  ausreichenden  Grenze  angelangt 
zu  sein,  wenngleich  neuestens  Rubens18*)  über  einen  Fall  berichtet,  wo  er  aus- 
nahmsweise auch  mit  dieser  Menge  einen  Misserfolg  hatte.  Wollen  wir  uns  nach 
BEHRING ’S  1,s)  eigenen  Angaben  richten,  so  wird  es  auf  Grund  der  Thierexperi- 
mente rathsamer  sein,  mit  der  Dose  nicht  weiter  zu  steigen , sondern  lieber  der 
einen  Schutzimpfung  bald  eine  zweite  folgen  zu  lassen:  da  nämlich  um  so  mehr 
Antitoxin  (besonders  im  Urin)  ausgeschieden  wird , je  concentrirter  dasselbe  im 
Blute  vorhanden  ist,  entspricht  die  doppelte  Schutzgabe  durchaus  nicht  der 
doppelten  Schutzkraft,  sondern,  wenn  60  I.-E.  etwa  sechs  Wochen  schützen , so 
schützen  150  I.-E.  nicht  etwa  15,  sondern  eben  nur  besten  Falles  10  Wochen 
vor  der  Diplitherieerkrankung. 

Weun  ich  nun  die  Erfolge  der  Diphtherievorbeugung  durch  Einspritzungen 
des  Antitoxins  zusammenstelle,  so  sind  die  Ergebnisse  einer  solchen  Tabelle  nach 
der  guten  wie  nach  der  schlechten  Seite  hin  nur  bedingt  zu  verwerthen  — nach 
der  guten,  weil  cs  eine  allbekannte  Erfahrung  ist,  dass  keineswegs  alle,  die  sich 
einer  Infection  aussetzten , auch  wirklich  erkrankten  und  es  folglich  ein  Trug- 
schluss wäre,  wollte  man  die  Zahl  der  ohne  nachfolgende  Erkrankung  Geimpften 
identiticiren  mit  der  Zahl  der  vor  Diphtherie  Geretteten:  nach  der  schlechten, 
weil  diejenigen  von  den  Geimpften , welche  nach  der  Impfung  hinnen  einer 
gewissen  Frist  erkrankten,  also  etwa  binnen  einer  Woche , bereits  iuficirt  waren 
und  sich  im  Latenzstadium  der  Krankheit  befanden,  also  gar  nicht  mehr  geschützt 
werden  konnten. 


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DIPHTHERIEHEILSERUM. 


133 


Es  sind  präventiv  geimpft  worden: 

in  Croatien  und  Slavonien 1,<)  . . 826  Personen,  davon  erkrankten  17  (1  tijdtlick) 


von 

Peck”) 

. . 266 

y 

8 

T ho  ui  a s ,Ji) 

. . 136 

— 

Richter l16) 

. . 70 

r 

7 

To  r d a v m) 

. . 66 

n 

i 

Hilbert’*®) 

. . 64 

r 

7 

Heubner17) 

. . 64 

2 

Riael41) 

. . 57 

n 

r 

1 

Gordon  M orill  '*“)  . . 

. . 42 

— 

Leucht 13J) 

. . 41 

r 

2 

Händler44) 

. . 37 

_ 

2 

Johannessen131)  . . 

. . 30 

_ 

3 

Howard13) 

. . 31 

„ 

10 

Hager“) 

. 35 

3 

van  Schären  13*)  . . 

. . 18 

— 

Eisenstädt47).  . . . 

. . 14 

r 

„ 

1 

Schmidt16) 

. . 12 

„ 

„ 

— 

Mac  Alister“6)  . . . 

. . 9 

r 

1 

Witt  aller“) 

. . 7 

y 

1 

Davies1^1) 

. . 6 

« 

n 

IS 

— 

d.  s.  1831  Personen;  davon  erkrankten  66  oder  3.6°/»- 

WeiiD  wir  mit  Rücksicht  auf  das  oben  Gesagte  die  innerhalb  der  ersten 
Woche  nach  der  Schutzimpfung  Erkrankten  abziehen,  das  sind  je  1 Fall  Torday's, 
Risel’s,  Lkucht’s,  Mac  Alistkr’s  und  Wittaeer’s,  so  reducirt  sich  der  Procent- 
satz auf  31/,0»,  und  wenn  wir  in  gleicherweise  annehmen,  dass  von  diesen  1831 
Gefährdeten,  um  möglichst  ungünstig  zu  rechnen,  in  der  That  nur  etwa  die 
Hälfte  der  Krankheit  anheimgefallen  wäre,  so  würden  immerhin  durch  die  Schutz- 
impfung gegen  900  Personen  davor  bewahrt  worden  sein  — ich  glaube,  dass  das 
ein  äusserst  erfreuliches  Ergebnis»  ist.  Gerade  die  Erkrankungen  trotz  Einspritzung 
werfen  ein  Licht  auf  die  Frage  der  Dauer  der  Schutzkraft  des  Antitoxins.  Am 
schnellsten  versagte  sie  bei  zwei  Kranken  JOHANNKSSKN’S lal),  welche  15,  bezie- 
hungsweise 22  Tage  nach  der  Impfung  erkrankten ; in  allen  Fällen  P ECK ’s  8*) 
währte  die  Schutzkraft  vier  Wochen,  ebenso  in  dem  einen  Falle  Ledcht’s  iao); 
in  einem  Falle  Händler’«  “)  dauerte  sie  sieben,  in  einem  anderen  und  in  einem 
Falle  Jobanxessen’s  lai)  aber  acht  Wochen,  und  die  Richter' sehen  Fälle  ls*),  in 
denen  die  Geimpften  neun  Wochen  geschützt  blieben , kommen  der  Auffassung 
Behrixg's  von  der  Dauer  der  Schutzkraft  am  nächsten.  Im  Allgemeinen  scheint 
sich  die  Hoffnung  Behring'«  freilich  nicht  zu  erfüllen , sondern  die  prophylak- 
tische Wirkuug  scheint  weniger  als  zehn , vielleicht  mit  einiger  Sicherheit  nur 
4 — 6 Wochen  zu  betragen.  Für  die  Praxis  genügt  das;  denn  eine  Schutzimpfung 
wird  nur  angezeigt  sein,  wenn  es  gilt,  in  der  Privatpraxis  Geschwister  und  An- 
gehörige eines  Ersterkrankten  zu  schützen,  oder  in  der  Spitalsthätigkeit  die  Mit- 
bewohner eines  inticirton  Saales  vor  Ansteckung  zu  bewahren,  und  in  beiden  Fällen 
reicht  ein  Schutz  von  4 — 6 oder  7 Wochen  aus,  um  durch  volle  Wiederherstellung 
des  Ersterkrankten  und  entsprechende  Desinfection  aller  seiner  Utensilien  den 
Keim  zur  Krankheit  zu  ersticken.  In  diesem  Sinne  sind  die  praktischen  Erfolge, 
die  bisher  erzielt  w urden , sehr  ermuthigend ; aus  der  Privatpraxis  erwähne  ich 
einen  Fall  Händler’«,  aus  dem  Bereich  der  öffentlichen  Gesundheitspflege  den 
Bericht  Richter’.«,  aus  der  Krankenhauserfahrung  die  Endemie  im  Kinderasyl 
zu  New-York  und  im  Nursery  and  Child’s  Hospital  ebendort  als  Beispiele. 
Händler“)  erzielte  seine  guten  Resultate  auf  dem  Lande  in  Slavonien  und  er 
sagt:  „Bei  fast  allen  ausgeführten  Schutziojectionen  war  eine  Separation  der 
Kinder  durch  ungünstige  Wohnungsverhältnisse  unmöglich,  ja,  ein  Kind,  das  eine 
Srhutzinjectiou  erhielt,  schlief  sogar  mit  dem  anderen,  schwer  erkrankten  in 
einem  Bette  und  blieb  gesund.“  Richter186)  bekämpfte  mit  dem  Serum  eine 
Epidemie  im  Dörfchen  Wernersdorf ; ein  erster  Fall,  aus  einem  verseuchten  Narh- 
bardorf  eiDgcschleppt,  war  tödtlich  ausgegangen,  von  ihm  ward  die  Lehrerwohnung 


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134 


DIPHTUERIEHEILSERUM. 


und  die  Käserei  des  Dorfes  inficirt  und  zu  zwei  gefährlichen  Herden  gemacht;  es 
erkrankten  sämmtliche  fünf  Kinder  des  Lehrers  und  in  der  Käserei  von  sieben 
vier  Kinder  und  ein  vereinzelter  Fall  im  Dorfe  kam  rasch  dazu ; die  drei  noch 
überlebenden  Kinder  jener  Familie,  in  welcher  der  erste  Fall  vorgekommen  war, 
vier  Geschwister  des  vereinzelten  Falles  im  Dorfe,  die  drei  noch  nicht  ergriffenen 
Kinder  in  der  Käserei  und  vier  Kinder  einer  benachbarten  Familie  wurden 
schutzgeimpft,  dazu  alsbald  auf  Krciskostcu  56  Kinder  in  32  Familien  besonders 
des  geschlossenen,  also  am  meisten  bedrohten  Theils  der  Ortschaft.  Die  Seuche 
stand,  und  erst  neun  Wochen  später,  als  ein  Kind  aus  einem  Danziger  Kranken- 
hausc  neuen  Infectionsstoff  mit  sich  selbst  in  das  Dorf  eingeschieppt  hatte,  erkrankten 
die  sieben  Kinder  dieser  Familie,  obwohl  sie  sehutzgeimpft  waren,  an  leichter 
Diphtherie.  Einen  ähnlichen  frappanten  Erfolg  erzielte  Peck8s)  bei  einer  Endemie 
in  einer  Abtheilung  seines  Kinderasyls.  Er  injicirte  zunächst  21  sieh  normal  ver- 
haltende, aber  im  Rachenschleim  Diphtheriebacillen  bergende  Kinder;  nur  eines 
erkrankte  nach  vier  Wochen,  und  er  injicirte  jetzt  224  weitere,  noch  nicht  er- 
krankt gewesene  Kinder,  von  denen  nach  4 Wochen  nur  7 erkrankten,  und,  als 
er  da  eine  dritte  Serie  impfte,  kam  innerhalb  weiterer  -l'/j  Wochen  ein  einziger 
Fall  vor.  Fast  noch  glänzender  war  der  Erfolg  im  Nureery  and  Child’s  Hospital, 
wo  innerhalb  dreier  Monate  46  Kinder  sich  inficirt  hatten ; nun  impfte  Thomas  1,4j 
110  und  nach  zwei  Tagen  noch  46  Kinder,  darunter  77  Säuglinge,  mit  50  bis 
150I.-E. , 59  Kinder  zwischen  2.  und  4.  Lebensjahr  mit  2ü0  l.-E. , und  die 
Endemie  war  erloschen  — nur  ein  Arzt  und  eine  Wärterin,  die  nicht  schutzgeimpft 
waren,  erkrankten  noch  drei,  beziehungsweise  fünfWochen  nach  jener  Massenimpfung. 

Bei  diesen  Schutzimpfungen  kommen  zuweilen,  im  Ganzen  recht  selten, 
ähnliche  Nebenwirkungen  zur  Beobachtung,  wie  bei  den  Heilinjectionen , vor 
Allem  die  erwähnten  Hautausschläge,  und  zwar  gelegentlich  auch  mit  leichten  Fieber- 
bewegungen. So  trat  bei  einem  12jährigen  Mädchen,  das  Edison  15‘)  durch  die 
Impfung  vor  der  Ansteckung  durch  seine  Geschwister  bewahrte,  am  7.  Tage 
post  injectionem  Urticaria  , am  9.  aber  ein  papulöses  Exanthem  mit  viertägigem 
Fieber  auf.  Thomas114)  sah  siebenmal  Ausschläge  bei  seinen  Impflingen,  Howard -s) 
einmal  ein  ausgebreitetes  Erythem.  Leichte  Temperatursteigernngeu  können  auch 
ohne  Exanthem  sich  einstellen:  Gokdon  Morill  ,S4)  beobachtete  sie  bei  s/,  seiner 
Impflinge,  Thomas134)  bei  etwa  der  Hälfte  innerhalb  der  ersten  12  Stunden  post 
injectionem.  Dass  sich  zur  Urticaria  und  zum  Fieber  auch  Gelenkschmerzen 
hinzugesellten  und  so  die  Schutzimpfung  ein  wirkliches  Kranksein  hervorrief, 
beschreibt  Klipstein  •*•) ; doch  scheint  sein  Fall  ein  ganz  vereinzelter  zu  sein, 
und,  ganz  abgesehen  davon,  dass  auch  seine  kleine  Patientin  rasch  und  ohne 
Nacht  heil  genas,  beweist  ein  solcher  vereinzelter  Fall  recht  wenig. 

Bei  Erwähnung  dieser  Nebenerscheinungen  bei  Diphtherieschutzimpfungen 
will  ich  noch  einmal  darauf  hinweisen , dass  auch  diese  Beobachtungen  dafür 
zeugen  können , dass  von  allen  nach  Hcileinspritzungen  angeblich  beobachteten 
Nacherkrankungen  nur  die  llautausschlägc , seien  sie  von  Fieber  begleitet  oder 
nicht,  und  vielleicht  auch  die  Gelenkschmerzen  mit  Sicherheit  auf  das  Diphtherie- 
heilserum — gleichgiltig,  ob  auf  das  Serum  oder  auf  das  Antitoxin  — bezogen 
werden  dürfen.*) 

Wir  kommen  zum  Schlüsse,  dass  die  Immunisirung  von  noch  nicht  In- 
ficirten  mit  durchschnittlich  150 — 200  l.-E.  des  Diphtherieheilserums  in  fast  allen 
Fällen  gelingt  und  darum  besonders  unter  den  Verhältnissen  der  Praxis , wenn 

*)  (Zusatz  bei  der  Correctnr ) In  Berlin  hat  sich  inzwischen  der  Todesfall  eines 
Kindes  im  ersten  Lebensjahre  nach  einer  Diphtherieschntzimpfung  zugetragen.  der  vom  Vater, 
selbst  Arzt,  auf  diese  Impfung  zurückgeführt  wurde.  Ohne  hier  näher  darauf  eingehen  zu 
können,  weise  ich  nur  darauf  hin,  dass  die  so  vielfältigen  Erfahrungen,  wie  ich  sie  hier  zusammen- 
gestellt  habe,  nicht  eine  Spur  einer  solchen  Möglichkeit  an  sich  tragen.  Das  Bedenkliche.  Impfung 
und  Tod  nach  Art  einer  Vergiftung  in  ursächliches  Verhältnis«  zu  setzen,  wird  dadurch  erhöht, 
dass  der  Tod  blitzartig,  fast  unmittelbar  nach  der  Einspritzung  cintrat.  Wie  sollte  in  einem 


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DIPHTHERIEHEILSERUM. 


135 


eine  I soliruDg  aus  äusseren  Gründen  unangüngig  ist,  ferner  bei  localen  Epidemien 
und  bei  Spitalcndemien  berechtigt  und  geboten  ist;  leider  stösst  sich  die  Aus- 
führung dieser  Meinung  gerade  dort , wo  sie  die  äusseren  Verhältnisse  am  drin- 
gendsten verlangen , an  dem  noch  immer  viel  zu  hohen  Kostenpunkt  — eine 
Heilimpfung  und  einige  Schutzimpfungen  kann  weder  ein  Arbeiter,  noch  ein 
kleiner  Handwerker,  noch  ein  kleiner  Hauer  bezahlen,  und  für  Menschenfreunde 
öffnet  sieh  hier  ein  noch  unbebautes,  Dank  und  Segen  in  sich  tragendes,  offenes 
Feld.  Eine  allgemeine  Impfung  von  Staatswegen,  analog  unserer  Pockenimpfung, 
empfiehlt  sich  nicht,  weil  der  Impfschutz  ein  viel  zu  kurzdauernder  ist;  wer 
darum  die  BKHRiXG*sche  Methode  mit  der  jENNER’schen  vergleicht,  befindet  sich 
auf  einem  von  falschem  Enthusiasmus  geblendeten  Irrwege.  Unsere  Waffen  gegen 
die  Diphtherie  sind  geschärft,  wie  nie  zuvor;  doch  zum  Vernichtungskampfe  gegen 
sie  sind  sie  noch  immer  nicht  scharf  genug! 

Literatur:  *)  R.  Landau,  Zur  Geschichte  des  Diphtberichcilscrums  Behring1». 
München  1895,  Seit*  & Schauer.  — *)  H.  U.  Walker,  The  Lancet.  1894,  pag.  791.  — 
3)  W.  Körte,  Berliner  klin.  Wochenschr.  1894,  Nr.  40.  — 4)  Schippers,  Weekbl.  van 
het  Nederl.  Tijdsch.  voor  Geneesk.  1894,  Nr.  17.  — s)  Widerhofer,  Deutsche  med.  Wochen- 
schriit.  1895,  Nr.  2.  — •)  0.  Vierord  t,  Deutsche  med.  Wochen  sehr.  1895,  Nr.  11  — 
:)  G.  Mya,  Sperimentale.  1894,  Nr.34-  — 8)  Charon,  Journ.de  med.  et  chir.  et  pharm. 
1894,  VII,  pap  337.  — v)  P.  Guizetti,  La  Riforma  med.  1895,  pap.  152 — 155  — 10)  Heim, 
Wiener  med.  Wochenschr.  1895,  Nr.  4.  — u)  Monti,  Wiener  klin.  Wochenschr.  1895,  Nr.  3.  — 
**)  G.  Seitz,  Therup.  Monatsh.  1894  H 12.  — ia)  Börger,  Deutsche  med.  Wochenschr. 

1894.  Nr.  48  u 1895,  Nr.  52.  — 14)  Jaroslav  Horöicka,  Wiener  klin.  Wochenschr.  1894, 

Nr.  49.  — **)  A.  Baginsky,  Die  Serumtherapie  der  Diphtherie.  Berlin  1895.  — ,<!)  H. 
Kossel,  Deutsche  med.  Wochenschr.  1894,  Nr.  51.  — ,7)  Ganghofner,  Prager  med.  Wochen- 
schrift. 1895,  Nr.  1—3.  — 18)  0.  Soltmann.  Deutsche  med.  Wochenschr.  1895,  Nr.  4.  — 

W.  v.  Muralt,  Correspondenzbl.  f.  Schweizer  Aerzte.  1895,  Nr.  5.  — a0)  L.  Schmidt, 
Deutsche  med.  Wochenschr.  1894,  Nr.  52.  — 31)  E.  Rosen t ha),  Med.  News.  1895,  Nr.  23.  — 
w)  A.  C.  White,  Med.  Record.  1894,  XLUI,  20,  pag.  G09.  — ia)  W.  Th.  Howard,  Med.  News. 

1895,  Nr.  22.  — sl)  Sonnenburg.  Deutsche  med  Wochenschr.  1894.  Nr.  50.  — ,6J  J.  Bokai, 
Deutsche  med.  Wochenschr.  1895.  Nr.  15.  — *•)  II  u u ter  M ac k e n zi  e,  The  Lancet.  DJ.  Jan. 
1895.  — *’)  Heubner,  Klinische  Studien  über  die  Behandlung  der  Diphtherie  mit  Heil- 
serum ]** ipzig  1895.  — ,s)  Ernst  Ger monig,  Wiener  klin.  Wochenschr.  1895,  Nr.  21/22.  — 
*•)  C Seitz,  Münchener  med.  Wochenschr.  1895,  Nr.  29.  — ao)  v.  Ranke.  Münchener  med. 
Wochenschr.  1895,  Nr.  8.  — ai)  Originalbericht,  W icner  med.  Presse.  1895,  Nr.  14-  — M)  Max 
Kassowitz,  Wiener  med.  Presse.  1895,  Nr.  6 — 8.  — *3)  Edwin  J.  Kuh,  Med.  News.  Januar 
1895.  — **)  H Woltf-Lewin,  Deutsche  med.  Wochenschr.  1894,  Nr.  52-  — •*)  Carl 
Göbel,  Deutsche  med.  Wochenschr.  1895,  Nr.  2.  — **i  Unterholzner,  Wiener  klin. 
Wochenschr.  1895,  Nr  3.  — al)  Bäum ler,  Münchener  med.  Wochenschr.  1894,  Nr.  52  — 
a*)  H.  Ti  mm  er,  Weekbl.  van  het  Tijdschr.  voor  Geneesk.  1895,  Nr.  14.  — w)  Richard 
v.  Engel,  Prager  med.  Wochenschr.  1895,  Nr.  13.  — 40)  van  Ne 8,  Deutsche  med.  Wochen- 
schrift. 1895,  Nr.  23.  — 41)  Demutli,  Vereinsbl.  d.  Pfälzer  Aerzte.  November  1894.  — 
4#)  R i s e 1 , Deutsche  med.  Wochenschr.  1895,  Nr.  10.  — *3)  Ernst  Schröder.  Münchener 
med  Wochenschr.  1895,  Nr.  14  a/lo.  — 44)  Hager,  Centralb).  f.  innere  Med.  1894,  Nr.  48. — 
46)  B.  Händler,  Wiener  med.  Presse.  1895,  Nr.  6.  — 4a)  Sitzungsbericht,  V e r. • i nabe  i läge 
Nr.  24  zur  Deutschen  med.  Wochenschr.  1895,  Nr.  19.  — 47j  Eisen  stad  t.  Münchener  med. 
Wochenschr.  1895,  Nr.  29.  — 4i)  E Simon,  Münchener  med.  Wochenschr.  1895,  Nr.  9.  — 
4®)  H.  Lejr,  Vereinsbl.  d.  Pfälzer  Aerzte.  1895,  Nr.  1.  — *•)  A Iber t Lissard,  Berliner 
klin.  Wochenschr.  1895,  Nr.  10  — 5I)  Karl  Lennser,  Münchener  med  Wochenschr.  1895, 
Nr.  19.  — ”)  Pfeilsticker,  Württemberg  er  Correspondenzbl.  1895,  Nr.  17.  — M)Pavlik, 
Wiener  med.  Presst*.  1895,  Nr.  1.  — M)  Th.  Lange,  Dent-che  med.  Wochenschr.  1895, 
Nr.  7.  — ai)  D'Espine,  Revue  med.de  la  8uis.se  romande.  1895,  Nr.  4.  — M)  Moizard 
et  Perregaux,  Gaz.  des  höp.  1894,  LXVII,  144.  — M)  Richard  Ketz,  Wiener  klin. 
Wochenschr.  1895,  Nr.  14-  — ö#)  G.  Biggs,  New  York  med.  Record.  1895,  Nr.  Di.  — 59)  R- 
Altmann,  Deutsche  med.  Wochenschr.  1895,  Nr.  14.  — <0)  Karg,  Correspondenzbl.  d.  ärzti. 
Vereine  im  Königr.  Sachsen.  15.  Dccember  1895.  — 4I)  Wittauer,  Therap.  Monatsh.  1895, 


einzigen  Kalle  ein  Process,  der  sich  in  hunderttausenden  anderen  ohne  irgend  eine  Gefahr,  in 
ausserordentlich  wenigen  mit  vorübergehenden  Störungen  abspielte,  weit  rapider,  als  irgend 
ein  Gift,  ein  Leben  vernichten V!  Da  muss  ein  ganz  besonderer  Unfall  sich  ereiguet  haben, 
dessen  Aufklärung  leider  niemals  zweifellos  wird  bewiesen  werden  können;  am  nächsten  scheint 
mir  die  Annahme  zu  liegen,  dass  ein  Kehler  in  der  Einspritzungsart  unterlaufen  ist,  etwa  eine 
Einspritzung  in  eine  Vene  und  Tod  durch  Luftembolie.  Keinesfalls  kann  dieser  unglückliche 
Einzelfall  das  Gesammtnrtheil  über  das  Diphtherieheilserum  beeinträchtigen  oder  gar  umkehren. 


136 


DIPHTHERIEHEILSERUM. 


Nr.  2-  — at)  Buchholz,  Petersburger  med.  Wocheaschr.  1895,  Nr.  5.  — •*)  Hüter,  Grund- 
riss der  Chirurgie.  1886,  II,  2.  — Ä4)  J.  Bökai,  Deutsche  med.  Wochenschr.  1895,  Nr.  46. — 
•*)  ßlattuer,  Correspondenzbl.  f.  Schweizer  Aerzte.  1895,  Nr.  5.  — M)Copper,  Journ.de 
Bruxelles.  1895,  Nr.  4.  — i7)  J.  Hoppe,  Deutsche  med.  Wochenschr.  1895,  Nr.  12.  — •*)  Sieg- 
mund Purjesz,  Wiener  med.  Presse.  1895,  Nr.  11.  — *)  H.  Kurth,  Deutsche  med. 
Wochenschr.  1895,  Nr.  27— 29. — Tü)  Leichte  nstern  und  Wendelstadt,  Münchener  med. 
Wochenschr.  1895,  Nr.  24.  — 71)  Karl  Fürth,  Münchener  med.  Wochenschr.  1895,  Nr  30. 

— 7*)  Washhourn,  Goodall,  Card,  Brit  med.  Journ.  22.  December  1894.  — 7*)  Deutsche 
med.  Wochenschr.  1895,  Nr.  32.  — ’4)  J.  Drey  f u ss,  Lyon  möd.  1895,  Nr.  &.  — 76)  A.  Sigel, 
Württemberger  Correspondenzbl.  1895.  Nr.  11.  — T*)  König  und  Moxter , Zeitschr.  f.  prakt. 
Aerzte.  1896.  Nr.  1.  — ,7)  Deutsche  med  Wochenschr.  1896,  Nr.  2.  — ,8)  Pfeifer,  Therap. 
Monatsh.  1895,  Nr.  2.  — ’9)  M.  Kann,  Deutsche  med.  Wochenschr.  1894,  Nr.  52.  — 
*g)  Worsley,  Brit.  med.  Journ.  6.  April  1895.  — #l)  Foster,  Med.  News.  1895,  Nr.  5.  — 
81)  G.  B.  Peck,  New  York  med.  Record.  1895,  Nr.  16.  — M)  ßradon  Kyle.  Therap.  Gaz. 
1895,  Nr.  4.  — 84)  Silberschmidt,  Correspondenzbl.  f.  Schweizer  Aerzte.  1895.  Nr.  5 und 
Münchener  med.  Wochenschr.  1895,  Nr.  9.  — 8i)  Arnold  W.  Catlin,  Med.  News.  1894. 
Nr.  19.  — 8Ä)  Zagari  e A.Calabrese.  Riforma  med.  1895.  XI,  Nr  48.  — 57)  v Kahlden, 
Centralbl.  t.  allgem.  Path.  u.  path.  Anat.  1895,  Nr.  3 4.  — 8Ä)  G.  Mya,  Sperimentale.  1895, 
Nr.  11.  — ##)  M.  Adae,  Württemberger  Correspondenzbl.  1895,  Nr.  12.  — M)  D.  Hanse- 
mann, Berliner  kl  in.  Wochenschr.  1894,  Nr.  50-  — **)  0.  Heubner,  Deutsche  med.  Wochen- 
schrift. 1895,  Nr.  42.  — M)  Aufrecht,  Therap.  Monatsh.  März  1894.  — •*)  H.  Titnmer, 
Deutsche  med.  Wochenschr.  1895,  Nr.  37.  — **)  B.  Silva,  Boll.  della  Soc.  med.-chir.  di  Pavia. 
1895  — *5)  Damieno,  Riforma  med.  1895.  XI,  Nr.  39-  — v*)  Kraske,  Münchener  med 
Wochenschr.  1894,  Nr.  52-  — *’)  Heckcl,  Münchener  med.  Wochenschr.  1895.  Nr.  8.  — 

Radivoj  Simonovic,  Wiener  med.  Presse.  1895,  Nr.  6.  — *9)  Mao  Allster,  Univers. 
med.  Mag.  1895,  Nr.  8-  — t0°)  Robert  Rem  hold,  Deutsche  med.  Wochenschr.  1894,  Nr.  51.  — 
,01)  Möller,  Centralbl.  f.  innere  Med.  1894,  Nr.  48.  — IM)  L.  Fischer,  New  York  med. 
Record.  1895,  Nr.  14-  — ,ü*)  J.  Asch,  Berliner  klin.  Wochenschr.  1894,  Nr.  51.  — 1<w)  A. 
Sei  her t,  New  York  med.  Rec.  1895,  Nr.  3*  — tot)  A.  Seibert,  New-Yorker  med.  Monatsschr. 
1895,  Nr.  1.  — 10#)  H.  Hunnius,  Berliner  klin.  Wochenschr.  1805,  Nr.  10.  — 107)  G.  Mya, 
Sperimentale.  1895,  Nr.  6.  — ,os)  W.  Lublin  ski,  Deutsche  med.  Wochenschr.  1894,  Nr.  45. 

— ,09)  Y.  Cnyrim.  Deutsche  med.  Wochenschr.  1894,  Nr.  48.  — !,®)Colla,  Deutsche  med. 

Wochenschr.  1895.  Nr.  3.  — IU)  Victor  Habel,  Deutsche  med.  Wochenschr.  1895.  Nr.  1.  — 
“*)  Zielenziger,  Deutsche  med.  Wochenschr.  1895,  Nr.  35.  — *'*)  Pani  Marense, 
Deutsche  med.  Wochenschr.  1895,  Nr.  35-  — ,l4)  P.  Haller,  Berliner  klin.  Wochenschr.  1895, 
Nr.  10.  — n*)  E Hagenbach,  Correspondenzbl.  f.  Schweizer  Aerzte.  1895,  XXV.  Nr.  1.  — 
Mij  Kampe.  Berliner  klin.  Wochenschr.  1895.  Nr.  10.  — m)  Th  i bi  e rge , Revue  des  malad, 
de  Fünf.  1895,  XIII.  — “•)  M.  Pistor,  Deutsche  Aerzte-Ztg.  1895,  Nr.  24  — ,l9)  O.  Trey- 
mann.  Deutsche  med.  Wochenschr.  1894,  Nr.  51.  — 1,w)  Juli  us  Schwal  he,  Deutsche  med. 
Wochenschr.  1894,  Nr  51.  — m)  J.  Alföldi,  Gyögyäszat.  1895,  Nr.  5 (cfr.  Bökai  sub  25). 
nl)  Behring.  Deutsche  med.  Wochenschr.  1894,  Nr.  46.  — m)  Rubens,  Deutsche  med. 
Wochenschr.  1895,  Nr.  46.  — m)  Bericht  etc.  Wiener  klin.  Wochenschr.  1895,  Nr.  18.  — 
m)  Allen  M,  Thomas.  New  Yoik  med.  Record.  1895,  Nr.  24.  — 11  *)  Richter,  Deutsche 
med.  Wochenschr.  1895,  Nr.  7.  — **7)  Torday,  Deutsche  med.  Wochenschr.  1895,  Nr.  25, 
pag.  408.  — ***)  Paul  Hilbert.  Berliner  klin.  Wochenschr.  1894.  Nr.  48.  — *s9)  Gordon 
Merill,  Boston  med.  and  surg.  Journ.  1895,  Nr.  4.  — ,so)  Leucht,  Correspondenzbl.  f. 
Schweizer  Aerzte.  1895,  Nr.  5.  — ,#t)  A.  J oh  a nnessen , Deutsche  med.  Wochenschr.  1895, 
Nr.  13.  — **•)  v.  Schären.  Berliner  klin.  Wochenschr.  1895,  Nr.  10.  — m)  J.  C.  Davies. 
New  York  med.  Record.  1895,  Nr.  17.  — ia4)  Cyrus  Edison,  New  Y’ork  med.  Record.  1895. 
Nr.  14.  — Gordon  Morill,  Boston  med.  and  surg.  Journ.  1895,  Nr.  26.  — lsfl  Klip- 
stein, Deutsche  med.  Wochenschr.  1894,  Nr.  52.  Richard  Landau. 


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E. 


Elektrische  Bäder  zur  Augenmassage,  8.  A ugenheilmittel , pag.  28. 
Elektrische  Verunglückungen.  Die  mächtige  Entwicklung,  welche 

die  Elektrotechnik  in  den  letzten  zwei  Decennien  genommen,  seitdem  der  geuiale 
Werner  v.  Siemens  dag  Princip  der  elektrodynamischen  Maschinen  erfunden 
und  praktisch  ausgeführt  hat,  durch  welche  die  Erzeugung  und  technische  Ver- 
werthung  von  sehr  starken  elektrischen  Strömen  möglich  wurde , hat  auch  der 
Pathologie  ein  neues  Gebiet  eröffnet. 

Die  elektrischen  Starkstromanlagen  bringen  gewisse  Gefahren  mit  sich 
und  schon  heute  ist  die  Zahl  der  durch  elektrische  Betriebe  herbeigeführten  Un- 
glücksfälle keine  geringe.  Nach  einer  eher  zu  niedrig  als  zu  hoch  gegriffenen, 
von  mir  auf  Grund  aller  zugänglichen  Berichte  der  ganzen  bezüglichen  Literatur 
vorgenommenen  Schätzung  muss  die  Zahl  der  elektrischen  Verunglückungen  mit 
wenigstens  1000  veranschlagt  werden,  darunter  mehr  als  300  Todesfälle.  Bei  der 
immer  weiteren  Verbreitung  der  elektrischen  Betriebe  und  der  zunehmenden  Ver- 
wendung von  Starkströmen  steht  naturgemäss  eine  weitere  Vermehrung  dieser 
industriellen  Unglücksfällc  zu  gewärtigen  und  gewinnt  die  Betrachtung  der  dadurch 
bewirkten  pathologischen  Erscheinungen  auch  ein  erhöhtes  praktisches  Interesse. 

In  einer  vor  Kurzem  erschienenen  Monographie  (Khaitf.r,  Der  Tod  durch 
Elektricität,  Wien  und  Leipzig  1896)  habe  ich  nebst  eigenen  Beobachtungen 
tödtlicher  und  nicht  tödtlicher  elektrischer  Verunglückungen  von  Menschen  auch 
Versuchsergebnisse  mitgetheilt,  welche  geeignet  sind,  Einblicke  in  das  Wesen  dieser 
eigenartigen  Körperbeschädigung  zu  eröffnen,  und  welche  die  von  anderen, 
namentlich  französischen  und  amerikanischen  Autoren , wie  Bbown-Skquakd, 
D’Absonval,  Gbangk,  Brouabdel,  Gariel,  Bibaud,  Habold  P.  Bbown,  Ken- 
nelly,  Petkbson,  Clark-Bell  u.  A.  bekannt  gewordenen  Untersuchungen  in 
manchen  Richtungen  erweitern  und  vervollständigen;  ich  darf  daher  wohl  auch 
in  der  nachfolgenden  Darstellung  mich  im  Wesentlichen  auf  meine  eigenen  Arbeiten 
und  Erfahrungen  stützen. 

I.  Die  Veranlassungen  der  elektrischen  Unfälle. 

Ein  elektrischer  Strom  kann  dem  Menschen  nur  dadurch  gefährlich 
werden,  dass  derselbe  in  den  Körper  eindringt.  Dies  geschieht,  wenn  entweder 
der  Mensch  in  den  Stromkreis  eingeschaltet  wird , indem  beide  Pole  mit  der 
Körperoberfläche  in  leitende  Verbindung  gebracht  werden,  oder  wenn  er  mit 
einem  blanken  Leiter  in  Berührung  kommt,  während  er  mit  der  Erde  oder  einem 
anderen  guten  Leiter  in  Verbindung  steht.  In  letzterem  Falle  findet  ein  soge- 
nannter Kurzschluss  statt. 


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138  ELEKTRISCHE  VERUNGLÜCKUNGEN. 

Das  Eindringen  eines  elektrischen  Stromes  in  den  KOrper  ist  aber  noch 
nicht  hinreichend , schädliche  Wirkungen  zu  äussern , der  Strom  muss  eine  ge- 
wisse Kraft  besitzen.  Man  bezeichnet  diese  im  gewöhnlichen  Leben  als  die  Stärke 
des  Stromes  und  nennt  Ströme,  welche  eine  grosse  Wirkung  hervorbringen,  starke, 
die  mit  schwachen  Wirkungen  hingegen  schwache  Ströme.  Alle  elektrischen 
•Ströme , welche  die  Gesundheit  eines  Menschen  schädigen  oder  das  Leben  be- 
drohen, sind  Starkströme. 

In  Wirklichkeit  ist  aber  nicht  die  Stärke  des  elektrischen  Stromes  ent- 
scheidend fllr  die  Wirkung  auf  den  lebenden  Organismus , sondern  jene  Eigen- 
schaft, welche  als  Spannung  bezeichnet  wird. 

Wieso  vorwiegend  die  Spannung  und  nicht  die  Stromstärke  den  Effect 
bestimmt,  kann  durch  folgenden  Vergleich  anschaulich  gemacht  werden:  Wenn 
eine  grosse  Menge  von  fliessendem  Wasser,  ein  Strom,  ein  sehr  geringes  Gefälle 
hat,  dann  bewegen  sich  seine  Massen  so  wenig,  dass  der  Strom  trotz  der  enormen 
Wassermassen  an  dieser  Stelle  keine  Mühle  zu  treiben,  einen  Körper  nicht  oder 
nur  unmerklieb  zu  bewegen , kurz  nur  weuig  Arbeit  zu  leisten  im  Stande  ist. 
Wir  können  uns  in  den  Strom  hineinstellen,  ohne  umgeworfen  oder  vorwärts- 
getrieben zu  werden.  Hat  aber  eine  selbst  geringe  Wassermasse  ein  grosses  Ge- 
fälle, so  würden  wir  uns  darin  mit  aller  Kraft  nicht  aufrecht  zu  erhalten  ver- 
mögen , sondern  ulngeriBsen  und  fortgcschleudert  werden.  Dem  Gefälle  eines 
Hiessenden  Wassers  vergleichbar  ist  die  liedeutung  der  Spannung  eines  elektrischen 
Stromes  für  den  Endeffect. 

Es  werden  also  die  Wirkungen  der  Spannung  auf  den  menschlichen  oder 
thierisehen  Körper  unter  sonst  gleichen  Verhältnissen  umso  verderblicher  sein,  je 
höher  die  Spannung  ist  und  je  häufiger  sich  die  Wirkungen  wiederholen.  Letz- 
teres ist  beim  Wechselstrom  der  Kall , wo  ein  sehr  rascher  und  häufiger  Pol- 
wechsel  stattfindet.  Daher  ist  es  verständlich,  dass  Wechselströme  viel  gefähr- 
licher sind  als  Gleichströme  von  derselben  Stärke  und  Spannung  bei  vollkommen 
gleichen  Widerständen. 

Man  sollte  nun  glauben , dass  dementsprechend  die  Gefährlichkeit  der 
Wechselströme  mit  der  Wechselzahl  steigt  und  fällt.  Es  ist  dies  aber  nur  bis  zu 
einem  gewissen  Grade  zutreffend.  Steigt  nämlich  die  Zahl  der  Polweehsel  Uber 
eine  gewisse  Grenze , so  werden  die  Einzelschläge  nicht  mehr  wahrgeuominen 
und  die  Gesammtwirkung  wird  durch  diesen  Factor  nicht  weiter  vermehrt,  son- 
dern sie  wird  mit  der  zunehmenden  Häufigkeit  (Frequenz)  bei  gleichbleibeuder 
Stärke,  Spannung  und  Widerstand  sogar  geringer.  Ich  habe  dieses  Verhalten 
durch  Versuche  festgestellt , welche  im  physikalischen  Institute  der  technischen 
Hochschule  in  Graz  von  mir  unter  freundschaftlicher  Beihilfe  meines  verehrten 
Col legen  l’rof.  v.  Ettingshausen  vorgenommen  worden  sind.  Lässt  man  Wechsel- 
strom auf  sich  selbst  wirken,  so  kann  man  dieses  Verhalten  sehr  gut  beob- 
achten. Werden  während  des  Contactes  die  Umdrehungen  der  Dynamomaschine 
vermehrt,  so  dass  die  Frequenz  über  100  steigt,  so  ist  die  Empfindung  weit 
weniger  unangenehm  als  bei  einer  Zahl  von  30 , 40  oder  50  Polwechseln  in 
der  Secunde. 

Um  also  den  Gesammteftect  der  elektrischen  Einwirkung  eines  Stark- 
stromes richtig  heurtheilcn  zu  können,  genügt  es  nicht,  die  Stärke  und  die 
Spannung  anzugeben , sondern  es  muss  auch  auf  die  Frequenz,  das  heisst  die 
Zahl  der  Polwechsel  in  der  Zeiteinheit  Rücksicht  genommen  werden.  Kur  unter 
Berücksichtigung  auch  dieses  Factors  erhält  man  ein  Bild  der  jeweiligen  Ge- 
sammtwirknng,  beziehungsweise  der  Gefahrengrösse,  welche  bei  einer  elektrischen 
Starkstromanlage  besteht.  Man  kann  demnach  im  Allgemeinen  sagen : Unter  sonst 
gleichen  Verhältnissen  wird  die  Gefahr  nur  umso  grösser  sein,  wenn  die  Frequenz 
geringer  ist,  und  umgekehrt.  Es  muss  somit  als  ganz  zutreffend  bezeichnet  werden, 
wenn  bei  den  elektrischen  Hinrichtungen  nur  Wechselströme  von  niedriger 
Frequenz  (30 — 40;  in  Verwendung  kommen. 


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ELEKTRISCHE  VERUNGLÜCKUNGEN. 


130 


Ceber  die  Bedeutung  der  Erregungsart  ftlr  die  Gefährlichkeit  des 
Stromes  sei  zunächst  erwähnt,  dass  unter  sonst  gleichen  Bedingungen  Wechsel- 
ströme weit  gefährlicher  sind  als  Gleichströme. 

D’Arsonval  hat  die  Gefahrengrösse  der  verschiedenen  Elektricitäts- 
quellen  experimentell  folgendermassen  festgestellt: 

1.  Die  statische  Entladung  ist  nur  dann  absolut  tödtlich,  wenn  mittelst 
genau  localisirter  Entladungen,  deren  Energie  etwa  3 Kgrm.  entspricht,  direct 
das  verlängerte  Mark  getroffen  wird. 

2.  Mittelst  einer  Batterie  von  420  Volt  kann  man  den  Tod  nur  durch 
häutige  Unterbrechungen  und  lang  fortgesetzte  Einwirkung  hervorrnfen. 

3.  Die  GHAMME’sche  Gleichstrommaschine  ist  nur  durch  den  Extrastrom 
bei  der  Unterbrechung  gefährlich.  Die  Maschine  mit  gemischter  Wickelung  wirkt 
weniger  blitzartig  als  die  Serien-Dynamomaschiue.  Der  Extrastrom  einer  Serien* 
Dynamo,  welche  20  A.  und  25  V.  liefert,  wfirde  ein  Meerschweinchen  nieder- 
schmettern, während  derjenige  einer  Compound-Maschine,  welche  25  A.  und  110V. 
liefert,  keine  schädliche  Wirkung  hervorbringt. 

4.  Die  GRAMME'sche  Wcchselstrommaschine  führt  erst  bei  Spannungen 
über  120  V.  den  Tod  (eines  kleinen  Versuchstieres)  herbei. 

5.  Eine  Priraärrolle  ist  gefährlicher  als  eine  Inductionsrolle,  hauptsäch- 
lich, wenn  sie  mit  einem  Condensator  verbunden  ist. 

Endlich  ist  die  Wirkung  eines  bestimmten  Stromes  ganz  wesentlich  ab- 
hängig von  dem  Leitungswiderstande  des  Körpers  im  Ganzen  und  den  sehr 
wechselnden  Widerständen  der  einzelnen  Organe  und  Gewebe,  namentlich  der 
Haut.  Dass  diesbezüglich  sehr  grosse  individuelle  Verschiedenheiten  nach  Alter, 
vielleicht  Geschlecht,  Gesundheitszustand  u.  dergl.  bestehen,  ist  ganz  unzweifelhaft. 
Wir  verstehen  aus  diesem  Verhalten  die  so  oft  beobachtete  verschiedene  Wir- 
kung desselben  Stromes  auf  verschiedene  Individuen. 

Aus  diesem  Grunde  ist  es  nicht  möglich,  die  Grenze  der  Spannung  für 
den  Eintritt  unmittelbarer  oder  mittelbarer  Gefahren  anzugeben,  ebenso  wenig, 
wie  Bich  bestimmen  lässt,  von  welchem  Werthe  ab  die  Stromstärke  für  den 
menschlichen  Körper  schädlich  wirkt.  Man  muss  Grawiskel*)  vollkommen  hei- 
stiuunen,  wenn  er  sagt:  „Alle  Versuche  und  Erfahrungen  Uber  die  Wirkung  der 
Spannung  und  Stromstärke  auf  den  menschlichen  Körper  geben  nur  Aufschluss 
über  die  Einwirkungen  bei  einzelnen  Individuen  und  unter  bestimmten  Umständen, 
sie  können  nicht  verallgemeinert  werden.“ 

Dennoch  lässt  sieh  meiner  Meinung  nach  für  die  Praxis  eine  gewisse 
unterste  Gefährlichkeitsgrenze  auf  Grund  der  nun  doch  schon  vorliegenden  zahl- 
reichen Erfahrungen  annähernd  bezeichnen,  wenn  wir  unter  Gefährlichkeit  eines 
Stromes  verstehen  wollen,  dass  schwere,  das  Leben  bedrohende  Erscheinungen 
oder  selbst  der  Tod  eintreten  können.  Bisher  ist  noch  keine  schwerere  Beschädi- 
gung oder  tödtliche  Verunglückung  an  erwachsenen  Personen  bei  Spannungen 
unter  500  V.  beobachtet  worden,  wohl  aber  kennen  wir  einige  Thatsachen,  dass 
solche  Ströme  selbst  unter  erschwerenden  Umständen  ohne  Schaden  ertragen 
worden  sind.  Ich  verweise  namentlich  auf  den  von  Nordmann  **)  mitgetheilteu 
Fall,  wo  beim  Baue  der  elektrischen  Strasscnbahn  in  Budapest  ein  Arbeiter  in 
einem  Canal  mit  dem  Kopf  zwischen  die  beiden  stromführenden  Leitungen  ge- 
rielh  und  längere  Zeit  in  dieser  Stellung  verblieb.  Er  hat  ausser  einem  augen- 
blicklichen Unwohlsein  nicht  die  geriugstc  Schädigung  davongetragen.  Es  war 
Gleichstrom  von  500  V.  Spannung  in  der  Leitung.  Eine  sehr  wichtige  Erfahruugs- 
thatsache  hat  jüngst  Stricker***)  festgestellt . Er  fand,  dass  ein  Gleichstrom  von 

* ) Grawinkel,  Ueber  die  Gefahren  and  schädlichen  Einwirkungen  blanker  Strem* 
leitnngen.  Vortrag,  gehalten  in  der  Sitzung  des  elektrotechnischen  Vereines  zu  Berlin  am 
25.  October  1892.  E.  T.  Z.  1892,  pag.  043  ff. 

**)  Elektrotechu.  Zeitscbr.  1892,  pag  B37* 

***)  8.  Stricker,  lieber  strömende  Elektricität.  Wien  1894,  Schlussheft,  pag.  147. 


140  ELEKTRISCHE  VERUNGLÜCKUNGEN. 

440  V.  Spannung  bei  Ableitung  von  einem  Pole  durch  den  Menschen  zur  Erde 
eine  so  heftige  Zuckung  auslögt , dass  er  widerräth , das  Experiment  zu  wieder- 
holen, da  es  dem  Menschen  gefährlich  werden  könne. 

Wenn  man  daher  sagt,  die  untere  Grenze  der  Gefährlichkeit  elektrischer 
Ströme  für  den  erwachsenen  Menschen  liege  um  500  V.  Spannung,  so  hat  man 
damit,  fassend  auf  sicheren  Thatsachen  und  exacten  Versuchen,  ein  für  die 
Praxis  immerhin  wichtiges  Mass  zur  beiläufigen  Abschätzung  der  Gefährlichkeit 
festgestellt. 

Unter  besonderen  Umständen,  wozu  namentlich  schwere  Allgemeinerkran- 
kungen mit  hochgradiger  Abmagerung,  Anämie  und  ungewöhnliche  Erregbarkeit 
des  Nervensystems  zu  gehören  scheinen,  liegt  nach  interessanten  ärztlichen  Beob- 
achtungen die  Gefahrgrenze  noch  viel  niedriger,  so  dass  schon  Ströme,  wie  sie 
für  therapeutische  Zwecke  allgemein  verwendet  werden , den  Menschen  in  ernste 
Lebensgefahr  bringen  können , wie  dies  v.  Basch  und  Glax  beobachtet  haben. 

Die  Gefährlichkeit  scheint  gehr  rasch  zu  steigen  und  es  sind  schon 
Tödtungen  mit  Strömen  von  weniger  als  1000  V.  Spannung  beobachtet  worden. 

Man  sollte  nun  annehmen , dass  die  Gefahren  mit  der  steigenden  Volt- 
und  Wechselzahl  in  gleichem  Masse  zunehmen.  Das  ist  auch  bis  zu  einer  ge- 
wissen Höhe,  deren  Grenzen  man  jedoch  nicht  kennt,  unzweifelhaft  der  Fall.  Es 
liegt  nun  die  sehr  interessante  Thatsache  vor,  dass  Wechselströme  von  sehr  hoher 
Spannung  und  Frequenz  wieder  ganz  unschädlich  sind,  vom  Menschen  gar  uicht 
empfunden  werden.  Es  sind  dies  Spannungen,  die  zwischen  40.000 — 80.000  und 
gelbst  über  100.000  V.  liegen  und  wobei  die  Zahl  der  Wechselschläge  in  der 
Minute  10.000 — 20.000  und  mehr  beträgt.  Diese  Ströme,  welche  auch  sonst  ganz 
neue  und  hochinteressante  physikalische  Phänomene  zeigen , werden  nach  den 
ersten  Beobachtern  derselben  in  der  Regel  als  TESLA’sche  oder  HERTz’sche 
Ströme  bezeichnet.  Tesla  hat  durch  Zufall  ihre  Ungefährlichkeit  erfahren,  die 
seither  von  zahlreichen  Physikern,  Physiologen  und  Elektrotechnikern  uachgeprUft 
und  bestätigt  worden  ist. 

Man  hat  diese  fast  unbegreifliche  Thatsache  in  verschiedener  Weise  zu 
erklären  gesucht.  D’Arsonyai.  verwies  auf  die  Unerregbarkeit  der  Gehör-  und 
Sehnerven  durch  Schwingungen,  welche  eine  gewisse  Zahl  überschreiten.  Wirken 
zu  viele  Schw  ingungen  in  der  Zeiteinheit  auf  diese  Sinnesnerven  ein , so  finden 
überhaupt  keine  Wahrnehmungen  mehr  statt.  Andere  nehmen  an , dass  diese 
Ströme  gar  uicht  in  den  Körper  einzudringen  vermögen , sondern  wegen  der 
enormen  Geschwindigkeit,  mit  der  die  Einzelimpulse  aufeinanderfolgen,  die  elektri- 
schen Wellen  gleichsam  nur  Uber  die  Oberfläche  des  Körpers  hinwegbrauseu.  Die 
Einzclimpulse  sind  von  viel  zu  kurzer  zeitlicher  Dauer,  um  den  Körperwiderstand 
überwinden  zu  können. 

Kokthals  endlich  erklärt  die  Erscheinung  als  eine  Wirkung  der  elektro- 
statischen Capacitüt  des  menschliehen  Körpers.*) 


*)  W.  Korthals  (Die  Wirkung  von  Wechselströmen  anf  den  menschlichen  Körper. 
Elektrotechn.  Zeitschr.,  1892,  Heft  32,  pag.  428,  und  Lumiere  vlectrique.  September  1892, 
pag.  48Ö)  argumentirt  im  Wesentlichen  folgendermassen : Die  Wirkung  der  Elektricität  auf 
den  menschlichen  Körper  hängt , abgesehen  von  dem  Einflüsse  des  Empfindungsvermögens  des 
einzelnen  Individuums,  von  der  Stromstärke  ah.  die  den  Körper  durchfliesst.  Diese  ist  gleich 
dem  Quotienten  aus  der  Potentialdiffercnz,  die  zwischen  den  zwei  Punkten  des  Körpers,  durch 
die  der  Strom  ein-  und  austritt , herrscht . getheilt  durch  die  Summe  des  Widerstandes.  Die 
erste  Grösse,  die  Potentialdiflerenz  zwischen  Eintritts-  und  Anstrittsstelle  des  elektrischen 
Stromes  am  Körper  nennt  Korthals  die  „Körperspannung“;  der  L-'sammt widerstand  ist  zu- 
sammengesetzt aus  dem  Korperwiderstand  und  dem  Uebergangswiderstand.  Beide  Widerstände 
sind  individuell  sehr  stark  schwankende  Grössen.  Denkt  man  sich  jedoch  den  Gesammtwider- 
stand  als  eine  stets  gleichbleibende  Grösse,  dann  ist  die  Stromstärke  direct  der  Körperspan, 
nong  proportional  und  sie  kann  als  Mass  tür  die  Wirkung  eines  elektrischen  Stromes  anf  den 
menschlichen  Körper  angesehen  werden. 

Es  entsteht  nun  die  Frage,  wie  gross  bei  einer  gegebenen  Spannung  der  Stromquelle 
die  den  Körper  treffende  Spannung  ist.  Sie  beantwortet  sich  bei  Gleichstrom  einfach  dabin, 


oogle 


ELEKTRISCHE  VERUNGLÜCKUNGEN. 


141 


Nach  alledem  sind  wir  heute  noch  nicht  in  der  Lage,  eine  sichere  Er- 
klärung der  so  merkwürdigen  Erscheinung  der  Ungefährlichkeit  der  TESLA-Ströme 
geben  au  können.  Hierüber  werden  nur  neue,  physiologische  Versuche  Aufschluss 
an  bringen  vermögen. 

Die  concreten  Veranlassungen  au  den  elektrischen  Unglück sfällen 
können,  so  ausserordentlich  mannigfaltig  sie  auch  im  Einaelnen  sind  , doch  fast 
sämmtlich  auf  folgende  Geschehnisse  zurückgeführt  werden.  Entweder  es  wird 
bei  der  Arbeit  durch  Zufall  ein  Iscitungsdralit , die  Polklemmen  oder  sonst  ein 
leitender  Theil  in  der  Centralanstalt  von  einem  daselbst  Beschäftigten  berührt, 
oder  es  reisst  ein  Draht  und  berührt  dabei  einen  Menschen , oder  es  wird  ein 
Transformator  schadhaft,  so  dass  statt  eines  niedrig  gespannten  Stromes  plötz- 
lich hochgespannter  Strom  in  eine  Hansleitung  gelangt.  Dabei  genügt,  wenn  der 
Mensch  nicht  isolirt  ist,  die  Berührung  auch  nur  eines  Poles  oder  eines  Drahtes. 

II.  Die  Wirkungen  der  elektrischen  Starkströme. 

Diese  sind  in  Bezug  auf  den  Ausgang  zweifacher  Art:  der  getroffene 
Mensch  wird  entweder  getödtet  oder  er  bleibt  am  lieben ; in  letzterem  Falle 
aber  treten  sehr  beachtenswerthe,  meist  schwere  und  gefahrdrohende,  wenn  auch 
in  der  Regel  ziemlich  rasch  vorübergehende  Erscheinungen  auf,  die  wir  zunächst 
betrachten  wollen. 


a)  Nicht  tödtliche  Verunglückungen 

Bemerkenswerth  ist  vor  Allem  die  Thatsache,  dass  die  ersten  Erschei- 
nungen beim  Menschen  ebenso  wie  beim  Thier  ansserordentlich  schwere  und 
bedrohliche  sind.  In  unseren  Fällen  sind  die  Getroffenen  ausnahmslos  hingestürzt 
und  waren  augenblicklich  bewusstlos.  Die  Bewusstlosigkeit  hat  einige  Minuten  bis 
zu  mehreren  Stunden  angedauert.  Rasch  ist  aber  in  allen  Fällen  auch  die  Er- 
holung wieder  eingetreteu.  In  längstens  24  Stunden  nach  dem  Unfälle  sind  unsere 
Verletzten  wieder  herumgegangen  und  haben  zum  Theile  sogar  ihre  Beschäfti- 
gung aufgenoramen.  Angedauert  hat  in  allen  Fällen  noch  durch  Tage  hindurch 
Schwindelgcfühl,  allgemeine  Mattigkeit  und  mehr  weniger  intensiver  Kopfschmerz. 
Lähmungen  oder  Sensibilitätsstörungen  sind  in  unseren  Fällen  nicht  beobachtet 
worden.  Nur  aus  den  Angaben  eines  meiner  Verunglückten,  der  ärztlich  gar  nicht 
beobachtet  worden  ist,  scheint  hervorzugehen,  dass  im  getroffenen  Finger  längere 
Zeit  Sensibilitätsstörungen  bestanden  haben.  Bei  diesem  Manne  waren  in  der 
ersten  Zeit  auch  Herzpalpitationen  und  intensiver  Kopfschmerz  vorhanden. 

Ganz  gleiche  Erscheinungen  sind  von  amerikanischen  und  französischen 
Acrztcn  beobachtet  worden;  in  den  meisten  von  ihnen  beschriebenen  Fällen  war 
auch  anfängliche  Bewusstlosigkeit  vorhanden ; es  ist  dies  besonders  hervorgehoben 
worden  von  Hummel,  Ph.  C.  Knapp,  Dana,  Biogs  und  Biraud.  In  einigen  Fällen 
war  jedoch  das  Bewusstsein  erhalten  geblieben.  So  bei  einer  Verunglückung  in 
der  Centralstation  in  Rom,  wo  sich  zwei  Arbeiter  durch  Berührung  eines  Con- 
ductors  tiefe  Verbrennungen  an  den  Fingern  zugezogen,  ohne  das  Bewusstsein  zu 
verlieren,  dann  bei  einer  am  23.  April  1892  in  Brüssel  geschehenen  Verunglückung 
durch  einen  Gleichstrom  von  1300  V.  Spannung,  wobei  cs  gleichfalls  zu  schweren 
Verbrennungen  kam  ohne  V'erlust  des  Bewusstseins  und  bei  einem  Unfälle  im 


dass  die  Körperspannung  gleich  der  Potentialdifferenz  der  beiden  berührten  Leiter  ist,  wenn 
der  Widerstand  zwischen  Stromquelle  und  Körper  im  Verhältnis»  zum  Kürperwideratand  gering 
ist,  wie  wohl  stets  der  Fall. 

Bei  Wechselstrom  ist  jedoch  die  Antwort  nicht  so  einfach,  da  hier  zwischen  Span- 
nung der  Quelle  und  Körpcrspannnng  verwickelter»  Beziehungen  bestehen.  Um  bei  Anwendung 
von  Wechselströmen  die  Kurperspannung  zu  bestimmen,  ist  eine  Eigenschaft  des  menschlichen 
Körpers  zn  berücksichtigen,  welche  bei  Gleichstrom  nicht  in  Betracht  kommt,  nämlich  di» 
Capacität  desselben,  das  ist  die  Eigenschaft,  dass  der  Körper  wie  ein  Condensator  wirkt. 


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142  ELEKTRISCHE  VERUNGLÜCKUNGEN. 

Trocadöro  zu  Pari«  (1888)  durch  einen  Wechselstrom  von  400  V.  (Biraud, 
Beob.  X,  XII,  XV). 

Es  geht  daraus  hervor,  dass  Bewusstlosigkeit  bei  den  nicht  tödtlichen 
elektrischen  Verunglückungen  kein  unbedingt  und  ausnahmslos  auftretendes,  wohl 
aber  in  der  überwiegenden  Mehrheit  der  Fülle  beobachtetes  Symptom  ist. 

Für  die  Erkenntniss  des  Wesens  der  elektrischen  Einwirkung  ist  die 
Erscheinung  der  augenblicklichen  Bewusstlosigkeit  insofern  von  Bedeutung,  als 
daraus  im  Zusammenhalte  mit  den  Ergebnissen  der  Thierversnche  hervorgeht, 
dass  das  gesammtc  centrale  Nervensystem  hierbei  afficirt  wird:  die  motorischen 
Centren  des  Rückenmarkes,  die  Bulbusregion  und  die  Grosshirnrinde.  Die  elek- 
trische Reizwelle  trifft  also  auch  noch  die  periphersten  Thcilc  des  Central- 
nervensystems. 

Die  functioneile  Störung  der  Gehirnrinde,  die  Bewusstlosigkeit,  ist  in  der 
Regel  von  sehr  kurzer,  meist  nur  minutenlanger  Dauer;  dagegen  dauern  andere 
Reizsymptome  des  Centralnervensystems  oft  tage-  und  wochenlang  an.  so  nament- 
lich Kopfschmerz  und  Schwiudelgefühl , die  wohl  als  vasomotorische  Neurosen 
aufzufassen  und  durch  Angiospasmus  zu  erklären  sein  dürften.  Ebenso  sind  die 
Unregelmässigkeiten  der  Herzbewegung  und  des  Pulses,  namentlich  die  mitunter 
tagelang  andauernden  Herzpalpitationen,  aus  der  hochgradigen  üebererregung  des 
Circulation6centrnms  leicht  verständlich. 

Verhältuissmässig  selten  wurden  länger  andauernde  periphere  Neurosen 
beobachtet.  Nur  in  wenigen  Fällen  kam  es  zu  motorischen  Lähmungen , ähnlich 
den  so  häufig  beobachteten  Blitzlähmungen,  ln  keinem  meiner  Fülle  war  irgend 
eine  Muskellähmung  vorhanden.  Auch  Sensibilitätsstörurigen  scheinen  selten  zu 
sein.  Doch  haben  einige  andere  Autoren  sowohl  schwere  periphere  Muskel- 
lähmungen und  in  einem  Falle  auch  Krämpfe  (Roiiert  in  St.  Louis),  sowie  aus- 
gebreitetere  Sensibilitätsstörungen  in  Form  von  Hyperästhesien  und  Neuralgien 
beobachtet,  so  namentlich  Garaix  in  Dieulcfit,  Philipp  C.  Knapp  in  Boston, 
COLI.INS  in  New-York  (Paralyse  des  Deltoideus  und  traumatische  Neuritis  mit 
Verminderung  des  Wärme-  und  Muskelgefühls).  Peterson  in  New-York  endlich, 
wie  auch  Ph.  C.  Knapp  beobachteten  nach  elektrischen  Verunglückungen  länger 
andauernde  allgemeine  Neurosen  unter  dem  Bilde  der  Neurasthenie  oder  Hysterie, 
die  sie  den  traumatischen  Neurosen  wie  der  „railway-spinc“  verglichen.  Ein 
Beispiel  dieser  Art  der  Erkrankung  nach  Einwirkung  starker  elektrischer  Schläge 
bietet  offenbar  auch  ein  von  mir  mitgetheilter  Fall  (vierte  Beobachtung).  Diese 
Fälle  müssen  den  Blitzhysterien,  wie  sie  vou  Nothnagel,  Girier  de  Sa vignt, 
Onimi'S,  Charcot  und  Laveran  beschrieben  worden  sind,  an  die  Seite  ge- 
stellt werden. 

Was  schliesslich  die  Verbrennungen  anbelangt,  die  au  dcu  Berührungs- 
stellen niemals  fehlen,  so  zeigen  dieselben  sehr  bedeutende  graduelle  Unterschiede. 
Oft  sind  sie  ganz  unbedeutende  und  oberflächliche  Erytheme  und  Epithelnekrosen; 
meist  sind  es  Verbrennungen  zweiten  Grades  in  Form  von  Blasenbildung,  mit- 
unter aber  auch  ausgebreitete  und  tiefgehende,  selbst  bis  an  die  Knochen  reichende 
Zerstörungen  der  Weicbthcile,  sogenannte  Verbrennungen  dritten  Grades,  ln  einigen 
Fällen  mussten  tief  verbrannte  Finger  ainputirt  werden  oder  gelangten  umfäng- 
lichere Brandwunden  nach  Abstussung  der  nekrotischen  Theile  nur  durch  „greffc 
epidermique“  zur  Heilung. 

Es  sei  hier  nur  noch  bemerkt  , dass  nach  übereinstimmenden  Beob- 
achtungen an  Mensch  und  Thier  die  Grösse  und  Schwere  der  elektrischen  Ver- 
brennungen in  gar  keinem  Verhältnisse  stehen  zum  anderweitigen  Effect.  Bei 
tödtlichen  Fällen  kann  inan  geringfügige  Verbrennungen  und  bei  schweren  und 
ausgebreiteten  Verbrennungen  geringfügige  anderweitige  Störungen  finden. 

Dagegeu  habe  ich  durch  Thierversuchc  festgestellt: 

1.  dass  die  Contactzeit  für  den  Erfolg  der  elektrischen  Einwirkung 
von  Wesenheit  ist.  Je  länger  der  Contact,  umso  schwerer  der  Erfolg. 


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ELEKTRISCHE  VERUNGLÜCKUNGEN. 


143 


2.  Dass  die  wiederholte,  wenn  auch  nur  ganz  kurz  dauernde  Ein- 
wirkung eines  Stromes , der  einmal  von  einem  Thiere  noch  ertragen  wurde,  das- 
selbe gleichfalls  unfehlbar  tödtet. 

3.  Dass  die  Erscheinungen  bei  allen  Thieren  und  Thiergattungen 
(ich  habe  an  weisseu  Mäusen,  Kaninchen,  Meerschweinchen,  Hunden  und  Katzen 
experimentirt)  in  vollkommen  typischer  Weise  ablaufen.  Sie  bestehen  ausnahms- 
los zunächst  in  einem  hiiehstgradigen  tonischen  Krampf  der  gesummten  Musculatur 
und  in  Folge  dessen  in  augenblicklicher  Hemmung  der  Athmung;  die  Herz- 
bewegungen überdauern  den  Athmungsstillstand  oft  um  mehrere  Minuten.  Wäh- 
rend dieses  Zustandes  der  Asphyxie  kann  das  Thier  wieder  zum  Leben  zurück- 
gebracht  werden  (vcrgl.  Kratter,  a.  o.  0.,  pag.  34). 

b)  Tödtliche  Verunglückungen. 

Der  Tod  nach  starken  elektrischen  Einwirkungen  ist  in  der  Regel  ein 
plötzlicher.  Die  Menschen  stürzen  nicht  selten  unter  einem  lauten  Aufschrei  wie 
vom  Rlitze  getroffen  zusammen  und  geben  entweder  gar  kein  Lebenszeichen  mehr 
von  sich  oder  es  tritt  der  Tod  in  wenigen  Minuten,  sehr  selten  erst  nach  10 
bis  20  Minuten  oder  nach  einer  halben  Stunde  ein.  So  war  es  wenigstens  in 
allen  Fällen,  wo  die  Verunglückung  vor  Zeugen  erfolgte.  Für  die  Raschheit  des 
Verlaufes  sprechen  auch  die  Leichenbefunde,  welche  im  Wesentlichen  die  der 
Erstickung  sind,  namentlich  die  in  allen  Fällen  flüssige  Beschaffenheit  des  Blutes. 
Wir  finden  ausserdem  Hypervenosität  des  Blutes,  hochgradige  Stauung  desselben 
in  den  Organen  der  Brusthöhle  und  in  vielen  Fällen  auch  subpleurale , subperi- 
kardiale und  subendokardiale  Ekchymosen,  sowie  Blutungen  um  die  Brustaorta, 
also  durchwegs  Erstickungsbefunde.  Ab  uml  zu  wurden  auch  kleinste  Blutaus- 
tretungen  im  Gehirn  und  in  den  ßefässscheiden  vorgefunden.  In  zweifelhaften 
Fällen  können  die  nie  fehlenden,  durch  Lage  und  Form  charakteristischen  Ver- 
brennungen an  den  Contai  tstellen  die  anatomische  Diagnose  sichern. 

Ich  habe  meine  Erfahrungen  Uber  die  Leichenbefunde  in  folgenden 
Sätzen  zusammengefasst  (a.  o.  0.,  pag.  Gl): 

1.  Ausnahmslos  sind  die  der  Erstickung  zuknmmenden  Allgemeinbefunde 
in  meist  sehr  charakteristischer  Weise  vorhanden,  wobei  es  in  den  Lungen,  wie 
es  scheint  nicht  selten,  bis  zur  Entwicklung  eines  wirklichen  Oedems  kommt. 

2.  Die  Befunde  im  centralen  Nervensystem  sind  in  der  Regel  negativ; 
nur  in  einzelnen  Fällen  bekunden  kleine  punkt-  und  streifenförmige  Blutaus- 
tretungen  in  den  Wandungen  des  vierten  Ventrikels  oder  in  den  Meningen  eine 
mächtige  traumatische  Einwirkung  auf  das  Gehirn  durch  den  elektrischen  Strom. 

3.  Mitunter  ist  der  Weg,  den  der  elektrische  Strom  im  Körper  genommen 
hat,  durch  Blutungen  bezeichnet,  welche  sich  insbesondere  an  den  Scheiden  der 
grossen  Gefässe  und  Nerven  finden  können. 

4.  Ausnahmslos  sind  die  Eintrittsstellen  und  wohl  auch  immer  die  mit- 
unter mehrfachen  Ausgangsstellcu  durch  Verbrennungen  der  verschiedensten  Grade 
gekennzeichnet , von  denen  besonders  die  ersteren  durch  ihre  Lage  und  Be- 
schaffenheit die  anatomische  Diagnose  wohl  immer  sichern  und  deswegen  von 
grösster  Bedeutung  sind. 

Dazu  kommt  noch  eine  hochgradig  entwickelte  und  lang  andauernde 
Todtenstarre.  welche  sowohl  beim  Menschen  als  bei  Thieren  beobachtet  wurde, 
ln  einem  meiner  Experimeutfälle  war  die  Erstarrung  der  Musculatur  im  unmittel- 
baren Anschlüsse  au  den  während  des  Versuches  vorhandenen  Tetanus  und  in  der 
allgemeinen  Streckstellung  des  Thieres  erfolgt,  so  dass  in  diesem  Falle  die 
Todtenstarre  als  kataleptisehe  bezeichnet  werden  muss.  Dieser  unmittelbare  Deber- 
gaug  vom  Starrkrampf  in  die  Todtenstarre  ist  jedoch  nur  einmal  in  40  Ver- 
suchen beobachtet  worden. 

In  manchen  Fällen  sind  auch  schwerere  Beschädigungen  innerer  Organe, 
namentlich  Contusioneu  des  Gehirns,  sowie  suhduralc  und  iutermeningcale  Blutungen. 


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144 


ELEKTRISCHE  VERUNGLÜCKUNGEN. 


Ähnlich  wie  sie  mitunter  auch  bei  vom  Blitze  erschlagenen  Menschen  Vorkommen, 
beobachtet  worden.  (Man  vergl.  diesbezüglich  Oksterlen,  Tod  durch  Blitzschlag  in 
v.  Maschka’s  Handb.  d.  gcrichtl.  Med.  und  Hermann  Dürck,  Zur  Casuistik  des 
Blitzschlages  nebst  Bemerkungen  über  den  Tod  durch  Elcktricität.  Münchener  med. 
Wochenschr.  1895,  Nr.  31.)  Bei  einem  meiner  Versuche  kam  es  sogar  zu  einer 
Zerreissung  der  Lunge. 

Um  das  Wesen  des  elektrischen  Todes  klarzustellen,  mussten  ausser 
Beobachtungen  an  Menschen  und  Thicren  auch  noch  besondere  Untersuchungen 
angestellt  werden.  Es  lag  nahe,  zunächst  an  Veränderungen  des  Blutes  als  eigent- 
liche letzte  Ursache  des  Todes  zu  denken,  umsomehr,  als  die  Physiologie  uns 
schon  vor  mehr  als  30  Jahren  Blutveränderungen  kennen  gelernt  hat , welche 
durch  die  Einwirkung  von  Entladungsschlägen  der  Leydenerflasche  und  durch 
elektrische  Ströme  entstehen.  So  interessant  diese  von  Rollett,  Neumann  u.  A. 
herrührenden  physiologischen  Versuche,  welche  lehren,  dass  durch  elektrische 
Einwirkungen  Blutfarbstoff  aus  den  Blutkörperchen  austritt  und  diese  selbst 
schliesslich  zerstört  werden,  auch  sind,  für  die  Erklärung  des  elektrischen  Todes 
sind  sic  bcdeutunglos ; ich  konnte  weder  Blutkörperchenfragmente,  noch  ausge- 
tretenen Blutfarbstoff  (Häinoglobinümie)  nachweisen,  noch  findet  man  jene  makro- 
skopische Blntbeschaffenhcit,  nämlich  hellrothe  Lackfarbe,  welche  für  die  elek- 
trische Einwirkung  auf  Blut  von  den  Physiologen  als  so  charakteristisch  ange- 
geben wird.  Ich  muss  zu  dem  Schlüsse  kommen,  dass  es  keine,  wenigstens  nicht 
diese  Veränderung  des  Blutes  ist,  welche  den  elektrischen  Tod  veranlasst. 
Dieselbe  Anschauung  haben  auch  Tatum,  van  Gieson,  Mac  Donald  und  Bibaüd 
gegenüber  von  Philipp  Donlin  vertreten,  welcher  behauptete,  dass  der  elektrische 
Tod  primär  durch  eine  Veränderung  des  Gesammtblutes  verursacht  werde. 

Alle  beobachteten  Erscheinungen  bei  Mensch  und  Thier  weisen  zwingend 
auf  das  Centralnervcnsystem  als  den  Sitz  jener  Veränderungen  hin,  welche  den 
Tod  durch  Elektricität  bedingen.  Athmung  und  Herzbewegung  sind  in  einer  Weise 
gestört,  dass  vor  Allem  an  Veränderungen  in  jenen  Theilen  des  centralen  Nerven- 
systems gedacht  werden  muss,  welche  diesen  lebenswichtigen  Functionen  vorstehen. 
Das  verlängerte  Mark,  in  dem  die  Centren  der  Respiration  und  Circulation  sich 
befinden,  wird  daher  mit  allergrösstcr  Wahrscheinlichkeit  von  vornherein  als 
Sitz  der  eigentlichen  letalen  Veränderungen  anzusprechen  sein. 

Es  ist  dies  auch  nahezu  ausnahmslos  von  Allen  geschehen,  welche  sich 
mit  diesem  Gegenstand  befasst  haben,  insbesondere  und  zuerst  von  Brown-Skquabd 
und  D'Absonval.  Allein  über  diesen,  aus  den  Bcobachtungsthatsachen  sich  zwin- 
gend ergebenden  Schluss  hinaus  ist  bisher  noch  Niemand  in  der  wissenschaft- 
lichen Forschung  der  pathologischen  Grundlage  des  elektrischen  Todes  vor- 
gedrungen. 

Ich  hielt  es  daher  für  die  nächste  und  wichtigste  Aufgabe,  das  ver- 
längerte Mark  elektrisch  getödteter  Menschen  und  Thiere  einmal  einer  genauen 
pathologischhistologischen  Untersuchung  zu  unterziehen.  Zu  diesem  Zwecke  wurde 
eine  menschliche  und  eine  thierische  Medulla  oblongata  verwendet. 

Das  Ergebniss  dieser  langwierigen  Untersuchung  war  ebenfalls  vor- 
wiegend negativ  in  dem  Sinne , dass  durch  die  in  Anwendung  gezogenen  histo- 
logischen Methoden  weder  an  den  gangliären  Elementen  des  Bulbus,  noch  an 
den  Leitungsbahnen  dieser  Gegend  irgend  welche  Veränderungen  nachgewiesen 
werden  konnten.  In  allen  Ebenen  verhielten  sich  die  Zellen  des  verlängerten 
Markes  gegen  Färbemittel  ganz  so  wie  die  normaler  Medullen ; nur  wurden  die 
Farbstoffe  auffallend  schwer  aufgenommen,  so  zwar,  dass  man  die  Schnitte  meist 
mehrere  Stunden  in  den  Farbstofflösungen  belassen  musste,  um  schöne  Bilder  zu 
erhalten.  Dieses  Verhalten  allein  vermag  jedoch  einen  Rückschluss  auf  eine 
etwaige  pathologische  Beschaffenheit  der  Zellcomplexe  nicht  zu  begründen. 

Nur  eine  immerhin  heachtenswerthe  pathologische  Veränderung  ist  dabei 
beobachtet  worden,  nämlich  hie  und  da  ganz  kleine  Blutextravasate  in  den  peri- 


ELEKTRISCHE  VERENG  LOCKUNGEN. 


145- 


vasculären  IW  innen  der  oberflächlicheren,  peripheren  Gefiisse.  Verfolgte  man  an 
einer  lückenlosen  Schnittserie  die  Arteria  spinalis  anterior  nach  aufwärts,  so 
konnte  man  in  ihrer  Scheide  oder  an  der  abzweigenden  Arteria  sulci,  ein-  oder 
das  anderenial  wohl  auch  an  einem  zur  Vasocorona  gehörigen  Arterienzweigehen 
der  entgegengesetzten  (hinteren)  Seite  des  Bulbus,  an  der  Arteria  fissurae  poste- 
rius, Arteria  interfunicularis  und  Arteria  radicum  poster.,  kleinste  pcrivascu- 
lftre  Blutaustretungen  beobachten.  Stets  wurden  solche  nur  au  der  Peripherie 
oder  nahe  der  Oberfläche,  niemals  in  der  Tiefe  angetroffen,  und  niemals  fand  sich 
ein  Herd  in  der  Substanz  des  Markes  selbst , sondern  die  Blutungen  waren  be- 
schränkt auf  Extravasationen  um  das  Gefässrohr;  es  waren  also,  wie  bereits 
gesagt,  kleinste  perivasculäre  Blutaustritte. 

Diese  nicht  constant,  in  verschiedenen  Höhen  und  an  wechselnden  Oert- 
lichkeiten  angetroflenen  mikroskopisch  kleinen  Blutaustritte  am  verlängerten 
Mark  elektrisch  getödteter  Thiere  und  Menschen  geben  meines  Erachtens  für 
sieh  auch  noch  keine  hinreichende  Erklärung  für  das  Zustandekommen  des  Todes. 
Ich  muss  noch  hervorheben , dass  ich  gerade  an  der  bedeutungsvollsten  Stelle 
des  Markes,  an  den  Vaguskernen,  in  meinen  Fällen  niemals  eine  erkennbare  Ver- 
änderung und  da  auch  die  geschilderten  kleinen  Blutungen  nicht  gefunden 
habe.  Man  wird  diesen  au  sich  gewiss  beachtenswerthen  und  interessanten  Be- 
fanden keine  andere  Bedeutung  beilegen  dürfen  als  etwa  den  in  grösserer  oder 
kleinerer  Zahl  vorhandenen,  mitunter  aber  auch  fehlenden  Ekchymosen  des  Herzens. 
Solche  kleinste  BlutaustretuDgen  beweisen  entweder  das  Vorhandensein  eines  starken 
örtlichen  Traumas,  oder  sie  entstehen  viel  wahrscheinlicher  durch  einen  ungewöhn- 
lich starken  Gefässkrampf  und  abnorme  Steigerung  des  Blutdruckes.  Die  eigent- 
liche Causa  mortis  muss  demnach  in  feineren,  bisher  nicht  nachgewiesenen,  mit 
unseren  heutigen  Untersuchungsmitteln  vielleicht  gar  nicht  nachweisbaren  Ver- 
änderungen der  Nervenzellen  selbst  gelegen  sein. 

Von  peripheren  Nerveu  wurden  jene  an  Zupfpräparaten  und  Querscheiben 
untersucht,  bei  welchen  sich  in  den  .Scheiden  Blutungen  gezeigt  batten  (vergl. 
die  Befunde).  An  den  nervösen  Elementen  konnten  auch  hier  keinerlei  patho- 
logische Veränderungen  aufgedeckt  werden. 

Die  vorgefiihrten  Beobachtungsthatsachcn  ermöglichen  es,  wenn  auch  die 
feinsten  cellularen  Veränderungen  noch  nicht  sinnlich  wahrnehmbar  dargestellt 
werden  konnten,  gleichwohl,  uns  über  den  Hergang  nnd  das  Wesen  der  elektri- 
schen Tödtung  eine  begründete  Vorstellung  zu  machen.  Sichtlich  handelt  es  sich 
dabei  um  einen  Vorgang,  den  wir  als  eine  Keflexaction  zu  bezeichnen  pflegen. 
Reflexeentrum  ist,  soweit  es  sich  um  die  lebenswichtigeren  Störungen  handelt, 
unzweifelhaft  das  Hespirations-  und  Circulatiouscentruin  im  verlängerten  Mark.  Je 
nach  der  Grösse  der  elektrischen  Einwirkung  auf  den  Organismus  werden  diese 
fuuctioncll  so  bedeutungsvollen  und  vulnerablen  Zellcomplexc  des  centralen  Nerven- 
systems in  verschiedenem  Grade  beschädigt,  was  entweder  bei  schwerster  Be- 
schädigung augenblicklichen  Tod,  bei  weniger  starker  Tod  nach  einiger  Zeit,  bei 
noch  geringerer  nur  vorübergehende  Störungen  zur  Folge  haben  muss. 

Den  Gesnnimtefleet  der  Wirkung  der  Elektricität  auf  den  Körper  be- 
zeichne ich  als  Grösse  der  elektrischen  Einwirkung.  Diese  ist,  ausser  von  der 
jeweiligen  Stärke,  Spannung  und  Beschaffenheit  der  Elektricitätsquelle  (stehende 
oder  fliessende  Elektricität  und  in  letzterem  Falle  Gleich-  oder  Wechselstrom), 
noch  von  individuellen  Bedingungen  abhängig,  vor  Allem  vom  Leitungwiderstand 
des  menschlichen  Körpers  im  Ganzen  und  dem  besonderen  Widerstande  der  ein- 
zelnen Organe  und  Gewebe.  Die  grossen  individuellen  Verschiedenheiten  lassen 
uns  die  oft  beobachtete  Thatsaehe  erklärlich  erscheinen,  dass  Ströme  von  gleicher 
Stärke  auf  verschiedene  Menschen  ungleich  wirken,  so  dass  der  Endeft'ect  ein 
wesentlich  verschiedener  ist. 

Dieser  Reflexvorgang  wird  in  der  Regel  als  Shock  bezeichnet  und  ist 
diese  Bezeichnung  auch  für  den  elektrischen  Tod  vielfach  üblich  geworden.  Ab- 
Eneyclop.  Jahrbücher  VI. 


1-16 


ELEKTRISCHE  VERUNGLÜCKUNGEN. 


gesehen  von  der  nichtssagenden  Allgemeinheit  dieses  Ausdruckes,  der  schon  wegen 
seiner  luhaltlosigkeit  so  selten  wie  möglich  augewendet  werden  sollte,  ist  er  hier 
auch  insoferne  nicht  zutreffend,  als  wir  damit  reflectorisch  bedingten  primären 
Herzstillstand  auszudrucken  pflegen.  Der  erbrachte  Nachweis,  dass  der  Stillstand 
der  Athmung  das  Primäre  ist , der  Herzstillstand  dagegen  secundär  eintritt , im 
Zusammenhalte  mit  allen  beobachteten  physiologischen  und  pathologischen  That- 
sachen  berechtigt,  ja  nöthigt,  den  Vorgang  der  elektrischen  Tödtung  als  Er- 
stickung zu  bezeichnen.  Es  ist  eine  innere  Erstickung,  hervorgerufen  durch  deletäre 
Einwirkung  auf  die  Ganglienzellen  des  Athmungscentrums , vergleichbar  der 
Wirkung  gewisser  Gifte,  die  auch  in  unheilbarer  Weise  das  Kegpirationscentrum 
schädigen,  wofür  beispielweise  Morphin  typisch  ist. 

Worin  diese  Veränderungen  eigentlich  bestehen,  auch  das  kann  nach 
dem  Stande  unseres  heutigen  Wissens  aus  dem  Verhalten  niedriger  organisirter 
Organismen  annäherungsweise  schon  vermuthet  werden.  Da  von  mir  der  Nach- 
weis erbracht  wurde,  dass  mit  den  gewöhnlichen  Methoden  der  pathologischen 
Histologie  erkennbare  Veränderungen  in  den  fraglichen  Zellgebieten  nicht  vor- 
handen sind,  so  können  es  nur  moleculäre  Veränderungen  innerhalb  der  Nerven- 
zellen selbst  sein.  Dies  thatsächlich  nachzuweisen , wird  das  Ziel  künftiger  For- 
schungen sein  müssen.  Die  Annahme  solcher  intracellularer  Veränderungen  des 
Protoplasmas  der  Nervenzellen  bis  zur  Ertödtung  desselben  durch  elektrische  Ein- 
wirkungen ist  aber  schon  heute  durchaus  keine  willkürliche  oder  rein  hypothe- 
tische, da  eine  ganze  Reihe  von  Beobachtungen  vorliegt , dass  das  Protoplasma 
thierischer  und  pflanzlicher  Zeilen  durch  Eloktricität  bis  zur  Aufhebung  der 
Lebenseigensehafteu  thatsächlich  verändert  wird. 

Dahin  gehören  einmal  schon  die  bereits  erwähnten  Veränderungen  der 
rothen  Blutkörperchen  durch  Inductionsschläge,  die  Roulett  uns  so  genau  kenucn 
gelehrt  hat,  sowie  ähnliche  Beobachtungen  über  das  Verhalten  des  Protoplasmas 
verschiedener  anderer  Zellen  von  Brücke  und  Kühne,  endlich  zahlreiche  Beob- 
achtungen an  Pflanzcnzellcn , welche  von  Pflanzenphysiologen  gemacht  wurden. 
Durch  diese  Analogien  werden  die  anscheinend  so  unverständlichen  Vorgänge  des 
Shocks  sowohl,  wie  der  centralen  Athmungslähmung  unserem  Verständnisse  wesent- 
lich näher  gerückt. 

Ich  komme  also  zu  dem  Schlüsse,  der  Tod  durch  Elektricität  ist  eim* 
centrale  Athmungslähmung,  eine  besondere  Art  der  inneren  Erstickung. 


III.  Die  Schutzmassregeln  gegen  elektrische  Unfälle. 

Schon  zu  Anfang  der  Achtziger-Jahre  hat  man  die  Nothwendigkeit  er- 
kannt, gegen  die  sieh  häufenden  elektrischen  Verunglückungen  Schutzmassnahmen 
zu  treffen.  Diese  gehen  im  Allgemeinen  übereinstimmend  dahin,  dass  die  Errich- 
tung und  der  Betrieb  von  Elektricitätswerkon  der  staatlichen  Controle  unter- 
worfen wird.  Der  Staat  überwacht  die  Anlagen  und  ordnet  jene  Vorkehrungen 
au,  welche  zum  Schutze  der  beim  Betriebe  beschäftigten  Personen  sowohl,  wie 
zum  Schutze  der  Bevölkerung  überhaupt  nothwendig  erscheinen. 

England  hat  zuerst  im  Jahre  1882  ein  dahin  zielendes  Gesetz  beschlossen, 
die  „ Electric  Lighting  Bill “.  1888  erfloss  in  Oesterreich  eine  Verordnung, 
womit  elektrische  Anlagen  als  concessionirte  Gewerbe  erklärt  wurden.  Zugleich  ist 
die  Erlassung  eines  Irf'sonderen  Regulativs  hinsichtlich  der  Ausführung  und  des 
Betriebes  dieser  Anlagen  in  Aussicht  gestellt  worden.  Dieses  Regulativ  ist  gegen- 
wärtig in  Vorbereitung,  indem  der  elektrotechnische  Verein  in  Wien  sehr  ein- 
gehende und  fachgemässe  ..Sicherheitsvorschriften  für  elektrische  Starkstrom- 
anlagen“ in  Vorschlag  gebracht  hat  (im  Selbstverläge  des  Vereines,  Wien  1882). 
In  Deutschland  ist  ein  bezügliches  Reichsgesetz  in  Vorbereitung  und  eine  ge- 
meinsame Commission  des  Verbandes  deutscher  Elektrotechniker  und  des  elektro- 


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ELEKTRISCHE  VERUNGLÜCKUNGEN. 


147 


technischen  Vereines  in  Berlin  hat  einen  „Vorschlag  zu  Sicherheitsvorschriften  für 
elektrische  Starkstromanlagen“  ausgearbeitet  (Elektrotechnische  Zeitschr.,  1895, 

Heft  21,  pag.  319),  während  für  Bayern  „Vorschriften  für  elektrotechnische  An- 
lagen zum  Schutze  gegen  die  gefahrbringenden  Eigenschaften  des  Stromes“  schon 
seit  1884  erlassen  worden  sind,  ln  Frankreich  wurde  die  Anlage  und  der 
Betrieb  elektrischer  Werke  durch  Decret  vom  15.  Mai  1888  geregelt  und  1892 
erhielt  Italien  ein  ausgezeichnetes  Reglement  über  elektrische  Einrichtungen  und 
Schutzmassregeln  beim  Betriebe.  In  den  Vereinigten  Staaten  von  Nord- 
amerika besteht  eine  eigene  Controlbehörde  „ Board  of  electrical  control“. 

Im  Wesentlichen  laufen  alle  diese  Bestimmungen,  welche  zumeist  bis  in’s 
Einzelne  durchgeführt  sind , auf  zureichende  „Isolirungen“  der  einzelnen  Theile 
der  Anlagen  und  Leitungen  hinaus.  Die  Einzelvorschriften  Uber  die  blanken  und 
isolirten  Leitungen,  über  die  Beschaffenheit  und  Verlegung  der  Kabel,  Uber  die 
Mehrfachleitungen  , Drahtverbindungen  , Kreuzungen , Wand-  und  Deckendurch- 
gänge, 1 solirung  und  Befestigung  der  Leitungen,  Abschmelzversicherungen,  zu- 
lässige Maximalstromstärke,  Isolationswiderstand  der  ganzen  Anlage  u.  dgl.  haben 
ein  vorwiegend  technisches  Interesse. 

Von  grösserem  ärztlichen  Interesse  aber  dürfte  es  sein,  die  Hilfe- 
leistungen bei  elektrischen  Verunglückungen  noch  kurz  zu  erörtern 
(vergl.  K ratter,  Der  Tod  durch  Elektricität,  pag.  127  ff.). 

Damit  wir  uns  die  Massnahmen  klar  machen  können,  welche  zu  ergreifen 
sind,  um  elektrisch  Verunglückte  vor  dem  drohenden  Tode  zu  retten,  müssen 
wir  davon  ausgehen , dass  der  elektrische  Tod  im  Wesen  eine  Erstickung  ist. 

Der  Verunglückte  ist  entweder  bereits  definitiv  todt,  das  heisst  schon  erstickt  — 
dann  ist  selbstverständlich  jede  Hilfe  vergeblich  — oder  er  ist  in  Gefahr,  zu  er- 
sticken, es  besteht  keine  Athmung,  aber  die  Herzthätigkeit  ist  noch  im  Gange. 

Es  wird  dieser  Zustand  als  „Asphyxie“,  Erstickungsgefahr  bezeichnet.  Der 
Asphyktische  kann  nicht  selten  zum  Leben  zurückgebracht  werden. 

Es  geschieht  dies  durch  die  Anwendung  von  Mitteln,  welche  die  Athmung 
wieder  in  Gang  bringen  können.  Dahin  gehören  zunächst  starke  Reize  auf  die 
Haut , wie  man  sie  zu  Wiederbelebung  Ertrunkener  oder  Erhängter  seit  alter 
Zeit  und  oft  mit  Erfolg  angewendet  hat.  Der  elektrisch  Verunglückte  ist  diesen 
völlig  gleich  zu  erachten  und  daher  auch  gleich  zu  behandeln.  Diese  Hautreize 
werden  in  Reibungen,  Bürsten  der  Haut,  Besprengung  mit  kaltem  Wasser,  even- 
tuell vorsichtigem  Auftropfen  von  heissen  Flüssigkeiten  bestehen  können. 

Grundvoraussetzung  der  Rettung  ist  natürlich  das  Aufhören  des  elektri- 
schen Reizes,  also  Freimachen  des  Verunglückten  von  der  Leitung,  falls  er  noch 
im  Zusammenhang  wäre.  Damit  die  Athmung  in  Gang  kommen  kann,  müssen 
alle  beengenden  Kleidungsstücke  geöffnet,  namentlich  der  Hals,  die  Brust  und 
der  Unterleib  frei  gemacht  werden. 

Viel  wichtiger  und  zweckdienlicher  als  die  erwähnten  Hautreize  ist  die 
Einleitung  und  Unterhaltung  der  künstlichen  Athmuug.  Es  wäre  sehr  empfehlens- 
werth , wenn  technische  Beamte  sich  mit  den  nöthigen  Handgriffen  vertraut 
machen  würden , weil  der  Arzt  meist  nicht  rechtzeitig  zur  Stelle  sein  wird , um 
noch  mit  Erfolg  eingreifen  zu  können,  obwohl  eine  jüngste  Erfahrung  lehrt,  dass 
selbst  nach  längerer  Zeit  eingeleitete  künstliche  Respiration  noch  von  Erfolg  ge- 
krönt sein  kann.  D'Arsonval  theilte  in  der  Pariser  biologischen  Gesellschaft 
folgenden  Fall  mit:  Bei  elektrischen  Arbeiten  auf  einer  Bahnstrecke  benutzte 
man  Ströme  von  5000  V.  mit  1 10  Unterbrechungen.  Der  Strom  betrug  800  Milli- 
amperes. Ein  Arbeiter  kam  in  die  Leitung  und  bekam  den  starken  Strom.  Erst 
nach  5 Minuten  wurde  die  Leitung  abgestellt.  Nach  40  Minuten  bekam  er  Hilfe. 

Man  musste  ihn  für  tod  halten , dennoch  wurde  die  künstliche  Athmung  einge- 
leitet , erst  in  gewöhnlicher  Weise , dann  mit  Hervorziehung  der  Zunge.  Jetzt 
Btellte  sich  die  Athmuug  wieder  her.  Patient  wurde  in  ein  Krankenhaus  gebracht, 
i Deutsche  Med.-Ztg.  1894,  Nr.  63,  pag.  705.) 

10* 

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148 


ELEKTRISCHE  VERUNGLÜCKUNGEN. 


Es  kann  hier  nicht  der  Platz  sein,  die  verschiedenen  Methoden  der  künst- 
lichen Respiration  zu  besprechen;  sic  sind  ärztliches  Gemeingut,  nur  in  Bezug 
auf  die  von  Brown-Skquard  besonders  empfohlene  Methode  der  Faradisation  des 
Phrenicns  und  Vagus  sei  mir  gestattet,  die  Worte  des  Autors  selbst  anzufilhren. 

ln  Betreff  der  besten  Art  der  Wiederbelebung  von  durch  elektrische 
Schläge  hingestreckteu  Thieren  bemerkt  Brown-Sequabd  in  der  Sitzung  der 
Pariser  Akademie  der  Wissenschaften  vom  4.  April  1887  beiläufig  Folgendes: 

D’Arsonval  hätte  sagen  können,  dass  wir  schon  seit  Jahren  im  College 
de  France  eine  sehr  kräftig  wirkende  Erreguugsart  anwenden , um  die  durch 
Inhibition  zum  Stillstand  gebrachte  Respiration  wieder  in  Gang  zu  bringen.  Dieses 
Verfahren  ist  dem  der  Cauterisirung,  welche  Faurf.  und  andere  Experimentatoren 
anwenden,  entschieden  überlegen.  Es  besteht  in  der  Application  eines  faradischen 
Strome«  an  den  Seiten  der  Luftröhre  auf  die  befeuchtete  oder  oberflächlich  eiu- 
geschnittene  Haut. 

Der  Grund,  warum  gerade  diese  Art  der  Galvanisirung  sich  besonders 
zur  Wiederbelebung  Asphyktischer  eignet,  liegt  darin,  dass  bei  dieser  Art  der 
Nervus  vatjua  leicht  gereizt  wird,  was  bekanntlich  Athenen  hervorruft  und  manch- 
mal selbst  eine  beträchtliche  Vermehrung  der  Energie  des  Athmens  erzeugt. 

Es  ist  dies  nach  dem  Aussprüche  Brown-SkQUABd’s  viel  wirksamer  als 
die  Application  von  galvanischen  Strömen  auf  irgend  einen  beliebigen  Körper- 
tlieil,  wie  dies  in  deu  Laboratorien  prakticirt  wird,  um  bei  Thieren  die  Athraung 
wieder  in  Gang  zu  bringen,  wenn  sic  durch  Chloroform  oder  auf  andere  Weise 
asphyktisch  gemacht  worden  sind. 

Ausser  der  künstlichen  Atlimung,  die  zuerst  von  D’Arsonval  und  Bn  iw.v 
Sequard  empfohlen  wurde,  und  die  unzweifelhaft  stets  in  erster  Linie  anzuwenden 
sein  wird,  möchte  ich  auf  Grund  theoretischer  Ueberlegungen  einen  therapeuti- 
schen Vorschlag  machen  nnd  denselben  den  Aerzten  gewissermassen  als  ein  letztes 
noch  zu  versuchendes  Mittel  empfehlen,  das  meiner  Meinung  nach  neben  der 
künstlichen  Respiration  mit  Erfolg  angewendet  werden  könnte.  Es  ist  das  ein  in 
der  modernen  Therapie,  wie  ich  glaube,  nicht  ganz  mit  Recht  verrufenes  Mittel: 
die  Blntentziehung  in  Form  der  Vcnaesection,  der  Aderlass.*) 

Die  Verunglückten  sind  meist  jüngere,  kräftige  und  blutreiche  Individuen. 
Bei  den  Obdnctionen  war  die  Blutüberfüllung  de«  Herzens,  der  grossen  Gefässe 
und  der  Lungen  immer  eine  ganz  enorme.  Mau  hat  unwillkürlich  die  Vorstellung, 
das  Herz  habe  mit  seiner  durch  die  elektrische  Einwirkung  ja  ohuehin  sehr  ge- 
schwächten Triebkraft  nicht  mehr  hingereicht,  die  plötzlich  im  L'ebermasse  an- 
gesammelte Blutmenge  des  kleinen  Kreislaufes  zu  bewältigen.  Die  pathologischen 
Thatsachen  drängen  zu  der  Vorstellung,  dass  die  Entlastung  des  Herzens  in 
diesen  Fällen  eine  lebensrettende  Timt  sein  könnte. 

Der  folgende,  vom  „Elektro-Technikcr“  empfohlene  Vorgang  bei  der  ersten 
Hilfeleistung  ist  ganz  rationell  und  empfehlenswert!)  : 

1.  Mau  unterbreche  sofort  den  elektrischen  Strom,  wenn  ein  solches 
Mittel  nahe  zur  Hand  ist  und  man  damit  umzugehen  versteht. 

2.  Ist  dies  nicht  der  Fall,  so  hüte  man  sich,  den  Körper  des  Ver- 
unglückte» mit  der  Hand  zu  berühren.  Wenn  Gummihandschuhe  nicht  da  sind, 
so  ziehe  man  ihn  an  seinen  Rockschössen  aus  deu  Drähten.  Oder  mau  falte  seinen 
eigenen  Rock  oder  eine  trockene  Decke  in  zwei  oder  drei  dicke  Lagen  zusammen 
uiid  benutze  dies  zum  Anfassen  des  Körpers,  uin  ihn  herauszuziehen. 

3.  Wenn  es  unmöglich  ist,  den  Verunglückten  aus  den  Drähten  heraus- 
zuziehen, so  hebe  man  mit  bedeckten  Händen  den  Tbcil  des  Körpers  des  Ver- 
unglückten in  die  Höhe,  der  mit  der  Erde  oder  einem  der  Pole  in  Berührung 

* Ich  habe  diesen  Vorschlag  zuerst  im  Vereine  der  Aerzte  in  Steiermark  anlässlich 
eines  am  18.  Februar  18115  gehaltenen  Vortrages  gemacht.  (Kratter,  Her  Tod  durch  F.  1 ek - 
tricität.  Zweite  vorläufige  Mittheilung.  Mittheilungen  des  Vereines  der  Aorzte  in  Steiermark, 
1895.  Nr.  4 ) 


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ELEKTRISCHE  VERUNGLÜCKUNGEN. 


149 


8teht.  Dadurch  wird  der  elektrische  Strom  unterbrochen,  und  es  wird  gewöhnlich 
möglich,  den  Körper  herauszuziehen. 

4.  Wenn  dies  alles  nicht  gelingen  sollte,  so  mache  mau  aus  trockenem 
Tuche  noch  ein  anderes  Kissen,  welches  man  dann  unter  den  Th  eil  des  Körpers 
schiebt,  der  auf  dem  Boden  liegt.  Dann  fahre  man  fort,  den  Körper  aus  den 
Drähten,  wie  vorerwähnt,  zu  befreien. 

5.  Ist  der  Körper  vom  elektrischen  Drahte  frei , so  entferne  man  am 
Halse  alle  Bekleidung  und  behandle  den  Verletzten  wie  einen  Ertrunkenen. 

6.  Man  öffne  den  Mund  des  Verunglückten  und  erfasse  dessen  Zunge 
mit  den  Fingern,  die  mit  einem  Taschentuche  bedeckt  werden  sollen.  Dann  ziehe 
man  die  Zunge  nach  vorn  und  lasse  sie  allmiilig  wieder  zurückgehen.  Dies  wieder- 
hole man  etwa  I6mal  in  der  Minute.  Man  achte  darauf,  dass  die  Wurzel  der 
Zunge  mit  in  Thätigkeit  kommt,  also  das  Anziehen  der  Zunge  gründlich  geschieht. 
Wenn  die  Zähne  fest  zusammeugebissen  sind,  suche  man  sie  mit  einem  Stückchen 
Holz  oder  dergleichen  auseinander  zu  bringen. 

7.  Man  wehre  alle  Versuche  der  Umstehenden  ab,  dem  Verunglückten 
Branntwein  oder  dergleichen  einzugeben , sondern  behandle  ihn  so , wie  gesagt, 
bis  ein  Arzt  erschienen  ist. 

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oogle 


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Encephalitis  haemorrhagica  acuta,  i.  Feststellung  des  Krank- 

lieitsbegriffes.  Die  allgemeinpatliologische  Lehre  von  der  „Entzündung“  mit 
ihren  vielen  Sehwankungen  hat  aucli  die  specielle  Lehre  von  der  HirnentzUndung 
oder  Encephalitis  stark  beeinflusst.  Der  Begriff  der  Entzündung  gestaltet  sich 
nach  den  neuen  Lehren  (Ziegler,  Weigert)  etwa  wie  folgt : Die  Entzündung 
ist  eine  loeale  Degeneration  des  functionirenden  Gewebt»  verbunden  mit  patho- 
logischen Auswanderungen  weisser  und  zuweilen  auch  rother  Blutkörperchen  aus 
den  kleinen  Blutgefässen.  Mit  dieser  Entzündung  kann  sich  von  Anfang  an  oder 
erst  secundär  eine  Wucherung  des  Stützgewebes,  also  im  Gehirn  der  Neuroglia, 
verbinden.  Dieser  Wuchcrungsproeess  ist  vorwiegend  ein  chronischer,  während 
die  locale  Gewel  sdegeneration  und  Diapedese  bald  acut,  bald  chronisch  auftritt.  Die 
Bezeichnungen  interstitiell  und  parenchymatös  werden  für  das  Gehirn  am  besten 
ganz  bei  Seite  gelassen.  Klarer  und  priteiser  wird  die  soeben  gegebene  De- 
finition — namentlich  im  Hinblick  auf  die  Verhältnisse  des  Gehirns  — , wenn 
man  ausdrücklich  ex  definitione  ein  Mitwirken  von  Embolien  nnd  Thrombosen 
ansschliesst.  Die  Encephalitis  ist  sonach  eine  locale  Degeneration  der  Ganglien- 
zellen und  Nervenfasern,  verbunden  mit  Auswanderung  weisser  und  zuweilen  auch 
rother  Blutkörperchen  aus  den  feineren  Gcfässcu  ohne  Mitwirkung  von  Embolien 
oder  Thrombosen.  Dabei  ist  natürlich  nicht  ausgeschlossen,  dass  praktisch,  d.  h. 
im  concreten  Einzelfall,  die  entzündlichen  Veränderungen  sich  oft  mit  embolischcn, 
beziehungsweise  thrombotischen  Processen  combiniren.  Diese  Encephalitis  tritt  bald 
acut,  bald  chronisch  auf.  Sie  kann  sieh  mit  chronischer  Ncuroglia  Wucherung  sofort 
oder  späterhin  verbinden. 

Durchmustert  man  von  diesem  Standpunkt  aus  die  uns  bekannten  Fälle 
und  Formen  der  acuten  Encephalitis  — von  der  chronischen  kann  hier  abge- 
sehen werden  — nach  ihrer  pathologisch-anatomischen  Verschiedenheit,  so  grenzen 
sieh  bis  jetzt  mit  Bestimmtheit  drei  Formen  ab. 

1.  Die  Encephalitis  purulenta  oder  eiterige  Hirnentzündung:  für  diese 
ist  das  absolute  Leberwiegen  der  Leukocytenauswandcrungen  nnd  -Anhäufungen 
charakteristisch. 

2.  Die  Encephalitis  haemorrhagica  oder  hämorrhagische  HirnentzUndung: 
für  diese  ist  das  Hinzukommen  zahlreicherer  und  stärkerer  Auswanderungen  rother 
Blutkörperchen  charakteristisch.  Sie  ist  zuerst  von  Lallemand  beschrieben  worden, 
daun  aber  lange  Zeit  in  Vergessenheit  gerathen,  bis  WERNlCKK  und  Strümpell 
die  Aufmerksamkeit  wieder  auf  sie  hinlenkten. 

3.  Die  Encephalitis  hi/perplastica  (Hayem):  für  das  wesentliche  Merkmal 
derselben  halte  ich  das  frühe  Hinzukommen  einer  intensiven  Wucherung  der 
Gliaeleinente  (Leyden,  Friedmann);  man  findet  dabei  dichte  Ansammlungen  grosser 


152 


ENCEPHALITIS  HAEMORHHAGICA  ACUTA. 


activer,  sogenanuter  epitheloider  Elemente,  welche  frlllier  oft  mit  Kömchenzellen 
verwechselt  wurden.  Ich  fasse  diesen  Begriff  also  erheblich  weiter  als  Hayem, 
Friedmann  u.  A. 

Veränderungen  der  Ganglienzellen  und  der  Axeneylinder  (Schwellungen  etc.) 
kommen  bei  jeder  dieser  Formen  vor.  Zum  Theil  sind  dieselben  nekrobiotiseber 
Natur.  Meist  treten  auch  Körnchenzellcn  auf.  Zwischen  den  einzelnen  Formen 
kommen  vielfache  Uebergänge  vor. 

Während  die  Encephalitis  purulenta  zum  diffusen  oder  circumseripten 
Hirnabseess  führt,  führt  die  hämorrhagische  und  hyperplastische  Encephalitis  ge- 
wöhnlich zur  Erweichung,  zur  Encephaloraslaeic.  Diese  entzündlichen  Erweichungs- 
herde gleichen  makroskopisch  und  zum  Theil  auch  mikroskopisch  den  embolischeu 
und  thrombotischen  Erweichungsherden  in  hohem  Masse.  Die  folgende  Besprechung 
bezieht  sich  ausschliesslich  auf  die  hämorrhagische  Form  der  Encephalitis  uud 
die  aus  ihr  hervorgehenden  Erweichungen. 

2.  Pathologische  Anatomie.  Es  empfiehlt  sich,  da  der  Begriff  der 
hämorrhagischen  Encephalitis  sich  zunächst  nicht  aus  klinischer  Beobachtung, 
sondern  aus  pathologisch  anatomischen  Befunden  ergeben  hat,  die  Besprechung 
der  letzteren  vorauszuschicken  und  dann  erst  Symptomatologie  und  Verlauf 
zu  erörtern. 

Im  ersten  Stadium  der  hämorrhagischen  Encephalitis  — etwaige  Vorläufer- 
Stadien  sind  uns  noch  fast  ganz  unbekannt  — fällt  der  Erkrankungsherd  durch 
die  Verminderung  der  C'onsistenz  des  Gewebes  und  braun-röthliche  Farbe  auf.  In 
der  Peripherie  findet  man  zerstreute  feinere  und  gröbere  Blutungen  und  serösen 
Glanz  der  Schnittfläche.  Mitunter  findet  man  auch  allenthalben  im  Bereich  des 
ganzen  Herdes  auf  röthlich-grauem  Grunde  punktförmige,  n flohstichähnliche“ 
Blutungen  („Infiltration  sanguine“,  Duranh-FaRDEL).  Eine  wesentliche  Abnahme 
der  Consistcnz  scheint  mir  übrigens  wenigstens  im  ersten  Stadium  nicht  unum- 
gänglich nothwendig  zu  sein,  wie  dies  namentlich  Durand-Fardei,  für  solche 
Fälle  verlangt  (1.  c.  S.  40).  Auf  Schnitten  quillt  der  Herd  stets  etwas  vor.  Auch 
die  Abplattung  der  Windungen,  die  Verstreiehung  der  Furchen,  die  Trockenheit 
der  Hirnoherfläche  und  die  geringe  Füllung  ihrer  Gefässe  deutet  darauf,  dass 
der  Herd  einen  ranniheschränkendcn  Einfluss  austtbt.  Die  mikroskopische  l'nter- 
snehung  ergiebt  in  diesem  Stadium  Schwellung  der  Axeneylinder  und  Ganglien- 
zellen, Zerfall  der  Markscheide,  später  Untergang  des  Zellkerns  und  Verfettung 
des  Zellkörpers  wie  der  Axeneylinder,  ferner  Schwellung  und  Vermehrung  der 
Gliazellen,  endlich  Anhäufungen  von  Leukocyten  in  den  Gefassseheideu  und  rings 
um  die  Gefässe  und  namentlich  massenhaft  theils  zerstreut,  thcils  haufenweise 
angesammelte  extravasirte  Erythrocyten ; letztere  finden  sich  namentlich  auch  iu 
der  adventiticllen  Lymphscheide  der  erweiterten  Blutgefässe;  die  Kerne  der 
Blutgefässwände  sind  geschwellt  und  vermehrt.  Das  Vorkommen  von  Capillar- 
embolien  ist  zweifelhaft.  Oft  findet  man  nicht  einen,  sondern  mehrere  Herde. 
Im  letzteren  Falle  fällt  mitunter  eine  gewisse  Tendenz  zu  Symmetrie  auf 
(Leiciitknstekn). 

Diese  sogenannte  rothe  Erweichung  geht  allmälig  in  das  zweite 
Stadium,  in  die  sogenannte  gelbe  Erweichung,  über.  Die  rothen  Blutkörperchen 
zerfallen.  Ihr  Farbstoff  findet  sich,  in  Hämatoidin  verwandelt,  thcils  frei,  theils 
in  Hundzellen  eingeschlossen.  Die  Ganglienzellen  verfallen  thcils  der  pigmentösen, 
thcils  der  fettigen  Degeneration.  Entsprechend  dem  Ueberhandnehmen  der 
letzteren  — auch  Nervenfasern  und  Gliazellen  nehmen  an  ihr  theil  — finden  sich 
zahlreiche  Körnchen  zellen. 

Im  dritten  Stadium  kommt  cs  entweder  zur  Bildung  einer  Narbe  oder 
Cyste.  Beide  bilden  sich  in  Folge  einer  Glia Vermehrung  an  der  Peripherie  des 
Herdes.  Die  erweichten  Massen  werden  entweder  resorbirt,  die  peripherischen 
gewucherten  Gliazlige  treten  von  allen  Seiten  zusammen  und  verwachsen  schliess- 
lich zu  einer  plgmentirten  Narbe,  oder  die  erweichten  Massen  werden  nur  ver- 


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ENCEPHALITIS  HAEMORRHAGICA  ACL'TA.  153 

flüssigt  und  die  Gliazüge  umgeben  wie  eine  Kapsel  den  mit  trüber  Flüssigkeit 
erfüllten  Hoblramu  (Cyste);  in  letzterem  Fall  durcbzielum  oft  feine  Gliabalken 
und  obliterirte  Blutgefässe  den  Cystenraum.  Wie  weit  auch  genuines  Bindegewebe 
sich  an  der  Vernarbung  und  Abkapselung  betheiligt,  ist  noch  nicht  sicher  ent- 
schieden. Bei  oberflächlicher  traumatischer  Encephalitis  haemorrhagica  der  Hirn- 
rinde kann  mau  sieb  ohne  Schwierigkeit  überzeugen,  dass  auch  echtes  Biude- 
gewebe  bei  der  Bildung  der  Narbe  mitwirkt. 

Der  soeben  skizzirtc  schematische  Ablauf  des  pathologisch-anatomischen 
Processes  ist  übrigens  keineswegs  in  jedem  Fall  nachweisbar.  Vor  Allem  sind 
die  Veränderungen  oft  viel  diffuser,  weniger  herdförmig,  und  dem  entsprechend 
ergeben  sich  stark  abweichende  und  sehr  variable  Bilder.  Namentlich  können 
auch  secundäre  Thrombosen  das  Bild  modifieiren. 

3.  Aetiologie.  lieber  diese  wissen  wir  noch  sehr  wenig.  Gelegentlich 
scheint  die  hämorrhagische  Encephalitis  in  jedem  Alter  vorzukommen.  Jedenfalls 
spielen  Traumen,  Intoxicationen  (Alkohol)  und  iufectiöse  Mikroorganismen*)  die 
Hauptrolle.  Ob  Traumen  ohne  letztere  eine  typische  hämorrhagische  Encephalitis 
hervorrufen  können,  scheint  mir  noch  nicht  sickergestellt.  Unter  den  Infcctions- 
krankheiten  spielen  Influenza , Scarlatina  und  Endocarditis  ulcerosa  eine  be- 
sondere Rolle.  Die  Ergebnisse  der  interessanten  experimentellen  Untersuchungen 
von  Coen,  Fhiedmann  u.  A.  scheinen  mir  auf  die  pathologischen  Verhältnisse 
vorerst  noch  nicht  ohneweiteres  übertragbar. 

4.  Symptomatologie,  und  Verlauf.  Der  Verlauf  ist  in  der  Regel 
peracut.  Aus  der  geringen  Casuistik,  welche  auffällig  viele  jugendliche  weibliche 
Individuen  enthält,  ergiebt  sich,  dass  mehrere  Tage  vorher  als  Prodromal- 
erscheiu  ungen  öfter  Erbrechen  und  Kopfschmerzen  auftreten  (Leichtenstern, 
J.  Schmidt).  Die  Krankheit  selbst  setzt  mit  Bewusstseinstrübung  und  hohem 
Fieber  ein.  Meist  hat  sich  bereits  nach  einigen  Stunden  völliges  Koma  entwickelt, 
ln  dem  SCHMlDT’schen  Fall  und  einem  älteren  Abkrcrombie's  eröffueten  epileptische 
Anfälle  die  Reibe  der  schweren  Symptome;  in  dem  FtUEDMANN'schen  wurden 
choreatische  Bewegungen  in  der  gekreuzten  Körperhälfte  beobachtet,  in  den 
beiden  STROMPELL'schen  Fällen  trat  eine  gekreuzte  Hemiplegie  auf  u.  s.  f.  Offen- 
bar hängt  das  Auftreten  dieser  oder  jener  Symptome  von  dem  Umfang  und  der 
Localisation  des  Herdes  ab.  In  den  beiden  STRf.MPKl.l, 'sehen  Fällen  lag  er  in 
der  inneren  Kapsel  und  deren  Umgebung,  in  einem  Fall  von  Dance  im  Balken 
u.  s.  f.  Die  Temperatursteigerung  ist  oft  maximal.  So  constatirte  Strümpell,  in 
seinem  zweiten  Fall  bereits  am  zw’eiten  Tag  eine  Temperatur  von  42,2°.  In 
seltenen  Füllen  fehlt  Fieber  (Leichtenstern).  Der  Puls  scheint  später  stets  be- 
schleunigt zu  sein,  anfangs  kommt  auch  Verlangsamung  vor  (KÖNIGSDORF).  Meist 
erfolgt  der  Tod  bereits  am  zweiten  oder  dritten  Tag  im  Koma.  Wie  weit  die 
Fälle  der  von  Strümpell  beschriebenen  Encephalitis  acuta  der  Kinder  hämor- 
rhagisch sind,  entzieht  sich  in  Folge  des  Mangels  an  Sectionsbefunden  noch  ganz 
der  Beurtheilung  (s.  u.j. 

Nicht  in  allen  Fällen  ist  der  Verlauf  so  foudroyant  und  nicht  in  allen 
Fällen  liegt  der  Herd  im  Bereich  der  Capsula  interna.  Etwas  langsamer  ver- 
laufende Fälle  hat  z.  B.  Leichtenstern  beschrieben.  Zuweilen  beschränkt  sich 
der  Krank heitsprocess  auf  ein  verhältnissmässig  kleines  Gebiet  und  tritt  auch  in 
diesem  nur  diffus  verbreitet  auf,  ohne  Alles  zu  zerstören.  So  hat  Wernicke 
unter  dem  Namen  Poliencephalitis  superior  haemorrhagica  acuta  eine  acute 
(seltener  peracute)  hämorrhagische  Encephalitis  im  Kerngrau  der  Augemnuskel- 
nerven  beschrieben,  welche  meist  in  10 — 14  Tagen  zum  Tode  führt.  Aehnlichc 
Fälle  haben  Thomskn,  Kojewnikokk  u.  A.  beschrieben,  ln  einem  Falle  Eiskni.OHr’s 
erfolgte  der  Tod  bereits  nach  knnpp  zwei  Tagen.  Verwerthbar  für  die  Zeichnung 


*)  Der  positive  Nachweis  der  letzteren  ist  allerdings  noch  Dicht  gelungen.  Nur  Na  n- 
werck  vermochte  in  einem  Falle  lnüuenzabacillen  nacliznwcisen. 


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154 


ENCEPHALITIS  HAEMORRHAGICA  ACUTA. 


des  Kranklieitsbildes  sind  natürlich  nur  diejenigen  Fälle,  in  welchen  der  Sections- 
befnnd  keine  Embolien,  Thrombosen  oder  einfache  Hämorrhagien,  sondern  eine 
hämorrhagische  Encephalitis  ergeben  hat.  Erst  wenn  durch  Vergleichung  solcher 
Fülle  sich  ein  scharf  abgegrenztes  Krankheitsbild  ergeben  sollte,  könnte  man 
wagen,  auch  die  ähnlich  verlaufenen,  in  Genesung  tibergegangenen  Fülle  (Thomskn, 
ErlENMEYER,  SalomONSOHN,  Boedekkh)  als  Encephalitis  haemorrhagica  zu 
deuten.  Die  Zahl  der  durch  Section  und  mikroskopische  Untersuchung  erhärteten 
Fälle  von  Poliencephalitis  haemorrhagica  xuperior  ist  verschwindend  klein.  In  den 
WEBMCKE'schen  und  THOMSEN’schen  Fällen  scheint  es  sich  wenigstens  zum  Theil 
nur  um  multiple  Hämorrhagien  im  Kerngebiet  der  Angenmuskelnerven  gehandelt  zu 
haben.  Andererseits  ist  der  Gedanke  nicht  von  der  Hand  zu  weisen,  dass 
auch  multiple  Hämorrhagien  zu  einer  secundären  reactiven  Encephalitis  der 
Umgebung  führen  können,  und  dass  somit  wenigstens  in  diesem  Sinne  manche 
derartige  Fälle  zur  Encephalitis  haemorrhagica  gerechnet  werden  können. 
Das  klinische  Bild  stimmt  im  Allgemeinen  in  allen  diesen  Fällen  recht 
gut  Uberein.  Somnolenz  und  Schwindel  leiten  das  Krankheitsbild  oft  ein.  Zu- 
weilen erfolgt  Erbrechen.  Es  folgen  dann  Augenmuskellähmungen  progressiven 
Charakters.  Schliesslich  sind  oft  alle  äusseren  Augenmuskeln  gelähmt.  Nur  der 
Musculus  ciliaris  und  der  Sphindtr  iridis  bleiben  häutig  verschont.  Mehrfach  ist 
Neuritis  optica  constatirt  worden.  Delirien  (Hallucinationen,  Verwirrtheit,  mo- 
torische Unruhe)  fehlen  selten.  Puls  und  Athmung  sind  meist  beschleunigt  und 
sub  finem  unregelmässig.  Temperatursteigerungen  können  völlig  fehlen.  Zuweilen 
sind  die  Temperaturen  sogar  subnormal  (THOM8EN,  Kojkwnikoek).  Der  Tod  er- 
folgt im  Koma  nach  1 — 2 Wochen  (im  Fall  Gaykt’s  nach  fünf  Monaten).  Mehr- 
fach ist  Nystagmus  beobachtet  worden.  Gelegentlich  kommt  auch  eine  Parese  des 
Facialisgebietes  hinzu.  Sensibilitätsstömngen,  Paresen  und  Coordinatiousstörungen 
treten  oft  in  den  Beinen  auf.  Der  Gang  ist  daher  breitspurig,  schwankend,  aus- 
gesprochen paretiscb,  auch  öfter  durch  unwillkürliche  Zwischenbewegungeu  ge- 
stört. Die  Sprache  ist  meist  die  lallende  des  Deliranten.  Das  häutigste  ätiologische 
Moment  ist  der  chronische  Alkoholismus.  In  einem  Fall  Wernicke’s  lag  Schwefel- 
säurevergiftung vor. 

Ob  auch  eine  analoge  hämorrhagische  Polienencephalitis  inferior,  d.  h. 
eine  hämorrhagische  Encephalitis  im  Kerngebiet  der  letzten  (unteren)  Hirnnerven 
vorkommt,  ist  noch  nicht  sicher  festgestellt.  Es  scheint  nicht  ausgeschlossen, 
dass  einige  Fälle  der  sogenannten  acuten  Hulbärparalysc  hierherzurechnen  sind. 
Endlich  scheinen  einige  Fälle  darauf  zu  deuten,  dass  gelegentlich  auch  eine 
Poliencephalitis  haemorrhagica  corticalis,  also  eine  hämorrhagische  Encephalitis 
im  Grau  der  Hirnrinde  vorkommt  (Strümpell,  Sachs,  Pkterson,  pag.  26). 

5.  Prognose.  Nach  den  bisherigen  Erfahrungen  scheint  die  Prognose 
sehr  ungünstig,  doch  ist  nicht  ausgeschlossen,  dass  manche  in  Genesung  über- 
gegangene Fälle  bisher  fälschlich  zu  anderen  Krankheiten  gerechnet  worden 
sind,  und  dass  die  in  der  Literatur  unter  den  Namen  der  Encephalitis  haemor- 
rhagica vorliegende  Casuistik  daher  kein  richtiges  Bild  der  Prognose  giebt. 

6.  Diagnose.  Oben  wurde  bereits  erwähnt,  dass  selbst  auf  dem  Sections- 
tisch  die  hämorrhagische  Encephalitis  oft  kaum  von  einem  embolisehen  oder 
thrombotischen  Erweichungsherd  zu  unterscheiden  ist.  Namentlich  kommt  auch 
in  Betracht,  dass  Combinationen  entzündlicher  mit  embolisehen  oder  thrombotischen 
oder  hämorrhagischen  Processen  (Fall  von  Holst  n.  A.)  nicht  selten  sind.  So 
fanden  sich  z.  B.  in  dem  VlRCHOW-SEXATOn'schen  Fall  neben  der  hämorrhagischen 
Encephalitis  auch  echte  ■ grössere  Hämorrhagien  und  kleinere  Abscesse.  Die 
klinische  Diagnose  ist  unter  diesen  Umständen  natürlich  erst  recht  schwierig. 
In  den  meisten  Füllen  kann  es  sich  daher  nur  um  eine  Vermuthuug  handeln. 
Man  wird  in  folgenden  Fällen  mit  einiger  Wahrscheinlichkeit  an  Encephalitis 
haemorrhagica  denken  können: 


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ENCEPHALITIS  HAEMORRHAGICA  ACUTA.  — ENTEROL. 


155 


1.  wenn  bei  einem  Gewohnheitstrinker  sich  acut  unter  Somnolenz  oder 
Delirien  ohne  Fieber  fortschreitende  Augenrouskellähmungcn  entwickeln  (Poli- 
encephalitis  haemorrhagica  superior)  ; 

2.  wenn  nach  einer  Infectionskrankheit  (Influenza  etc.)  sich  peracut  unter 
hohem  Fieber  Sopor  einstellt  und  eine  Hemiplegie  sich  erst  im  Stadium  des 
Komas  innerhalb  einiger  Stunden,  beziehungsweise  eines  Tages  entwickelt  und 
die  gewöhnlichen  Ursachen,  beziehungsweise  Grundkrankheiten  der  Pachymenin- 
gitis  haemorrhagica , eines  Hirnabscesses,  einer  Hirnblutung,  -embolie  und  -throm- 
bose  ausgeschlossen  werden  können  und  auch  die  Cardinalsymptome  der  acuten 
Leptomcningitis*)  (Nackensteifigkeit,  Herpes  etc.)  fehlen. 

Selbstverständlich  ist  mit  diesen  beiden  Bildern  das  Gebiet  der  Ence- 
phalitis haemorrhagica  nicht  erschöpft , aber  sie  sind  die  einzigen , welche 
wenigstens  einige  Aussicht  auf  richtige  Diagnose  geben. 

7.  Therapie.  Therapeutisch  kommt  eventuell  Ergotin  und  Kalium, 
lieziehungsweise  Natrium  jodatum  in  Betracht.  In  den  deliranten  Zuständen  der 
Poliencephalitis  haemorrhagica  auperior  wird  eine  ähnliche  Behandlung,  wie 
sie  gegen  das  Delirium  tremens  üblich  ist,  am  Platze  sein,  doch  wird  man 
Chloral  wegen  seiner  Wirkung  auf  die  Gefässe  vollständig  vermeiden.  Zur  Be- 
ruhigung der  Kranken  dürften  sich  vielmehr  — neben  nicht  zu  kärglichen 
Alkoholdosen  (bei  Alkoholisten)  — namentlich  Opium  oder  Morphium  in  oft 
wiederholten  kleinen  Dosen  empfohlen;  auch  Opium-Trionalklystiere  könnten  nach 
Analogie  ähnlicher  Zustände  versucht  werden  (2,0  Trional,  0,1  Opium  2,0  Natrium 
chloratum , l Esslöffel  Amylum  auf  200  Grm.  Wasser). 

Literatur:  Boedeker,  Klinischer  Beitrag  zur  Kenntniss  der  acuten  alkoholischen 
Angenmuskellähnmng.  Charite-Annalen,  Jahrg.  17.  — Dance,  Obiervations  nur  une  forme 
particulüre  d'apoplexie.  Arch.  gen.  de  med.  1832-  — Dnrand-Fardel,  lieber  die  Hirn- 
erweichung.  Uebersetz.  von  Dr.  Eisen  mann.  Leipzig  1844,  pag.  44  ff.  (These  de  Paris 
1840)  — Eisenlohr.  Ein  Fall  von  acuter  hämorrhagischer  Encephalitis  ( Potiencephalitis 
nuperior  acuta  haemorrhagica,  Wern  icke).  Deutsche  med.  Wochenschr.  1892.  Nr.  47.  — 
Erlenmeycr,  Berliner  klin.  Wochenschr.  1890,  Nr.  13.  — Fried  mann,  Vortrag  auf  der 
Wanderversammlung  südwestdeutscher  Neurologen.  Mai  1880.  — Fried  manu,  Zur  Histologie 
und  Formeneintheilung  der  acuten  nicht  eitrigen  genuinen  Encephalitis.  Neurol.  Centralbl. 
1889.  Nr.  15.  — Fürbringer,  Deutsche  med.  Wochenschr.  1892,  Nr.  3 (Fall  1 und  2).  — 
tiavet,  Arch.  de  physiol.  1875.  — v.  Holst,  Psychosen  nach  Influenza.  Berliner  klin. 
Wochenschr.  1890,  Nr.  27.  — Koenigsdorf,  Ein  neuer  Fall  von  acuter  hämorrhagischer 
Encephalitis  während  der  jetzigen  Influenzaepidemie.  Deutsche  med.  Wochenschr.  1892,  Nr.  9. 
— Kojewnikoff,  Progrfes  med.  1887,  Nr.  36  und  37,  namentlich  pag.  190  und  197.  — 
L e ich  ten stern , Heber  primäre  acute  häiLorrbagischo  Encephalitis.  Deutsche  med.  Wochen- 
schrift. 1892,  Nr.  2.  — Leichtenstern,  Deutsche  med.  Wochenschr  1890,  NT.  23.  — 
Marie,  Progrts  med.  1885,  Nr.  36.  — Nauwerck,  Influenza  and  Encephalitis,  Deutsche 
med.  Wochenschr.  1895,  Nr.  25.  — Senator,  Berliner  klin.  Wochenschr.  1891,  Nr.  52.  Deutsche 
mel,  Wochenschr.  1891,  Nr.  49.  — J.  Schmidt,  Acute  primäre  hämorrhagische  Encepha- 
litis. Deutsche  med.  Wochenschr.  1892,  Nr.  31.  — Salomonsohn,  Deutsche  med.  Wochenschr. 
1891,  Nr.  27.  — Strümpell,  Ucber  primäre  acute  Encephalitis.  Deutsche  med.  Wochenschr. 
1889,  Nr.  42  und  Deutsches  Arch.  f.  klin.  Med.,  XLVII.  — Thomson,  Zur  Pathologie 
und  pathologischen  Anatomie  der  acuten  completen  Allgenmuskellähmung.  Arch.  f.  Psych., 
XIX.  — Thomson.  Berliner  klin.  Wochenschr.  1888,  Nr.  2.  — Trouillet  und  Esprit, 
M£ningoencephalopatice  de  nature  grippale,  Semaine  med.  1895.  — Virchow,  Vortrag  in  der 
medicinischen  Gesellschaft  in  Berlin.  Deutsche  med.  Wochenschr.  1891,  Nr.  49.  Berliner  klin. 
Wochenschr.  1891,  Nr.  52,  pag.  1220.  — Wer  nicke,  Verein  f.  innere  Med.  zu  Berlin. 
30.  Mai  1881.  — Wernicke,  Lehrbuch  der  Gchirnkrankheiten.  1881,  II,  S.  229  fl‘. 

Ziehen. 

Enterol.  Ausgehend  von  den  physiologischen  Thatsachen,  dass  bei  der 
Darmfäulniss  im  menschlichen  Organismus  ausser  Indol,  Scatol  und  Phenol,  die 
isomeren  Kresole  ständig  als  Gegenpmduct  der  Darmfäulniss  gebildet  werden, 

*)  Interessant  ist.  dass  Leichtenstern  in  der  grossen  Epidemie  1855/86  von 
Genickstarre  auch  einige  Fälle  acuter  hämorrhagischer  Encephalitis  (thcils  in  der  Hirnrinde, 
theils  in  den  Centralganglien)  beobachtet  hat,  in  welchen  die  Hirnhäute  bei  der  Section  völlig 
normal  sich  erwiesen.  Auch  Oomplication  mit  eitriger  Meningitis  ist  änderet seits  nicht  ausge- 
schlossen (Trouillet  und  Esprit). 


156 


ENTEROL.  — EPISKLERITIS  PERIOIDICA  FUGAX. 


und  dass  in  Anbetracht  der  wenig  antiseptischen  Eigenschaften  des  Indols  und 
Scatols,  ferner  der  Giftigkeit  der  Carbolsäure  unter  allen  diesen  Körpern  gerade 
die  Darm kresolc  das  wirksamste  Prineip  der  „natürlichen  Darinantiseptik“  dar- 
stellen, hat  Foss  zunächst  das  Mischungsverhältnis»  dieser  Darmkresole  bestimmt 
und  daun  aus  chemisch  reinen,  isomeren  Kresolen  das  Enterol  dargestellt, 
welches  diese  im  selben  Mischungsverhältnisse  enthalten  soll , in  dem  sie  im 
menschlichen  Organismus  Vorkommen.  Das  Enterol,  ein  sehr  Übelriechender  Stoff, 
krvstallisirt  bei  Zimmertemperatur  und  verliert  diese  Eigenschaft  erst,  wenn  es 
in  feuchter  Luft  5°/o  Wasser  aufgesogen  hat.  Es  soll  in  einer  Verdünnung  von 
mindestens  0,1  zu  100,0  genommen,  für  einen  kräftigen  Erwachsenen  in  Dosen 
von  1.0 — 2,5 — 5,0  Grm.  pro  die  absolut  ungiftig  sein,  ohne  unangenehme  Reiz- 
und  sonstige  Nebenerscheinungen.  Bei  grösseren  Dosen  tritt  eine  graugrflnliehc 
Verfärbung  des  Urins  auf,  welche  analog  der  schwarzbraunen  Färbung  des  Carbol- 
harns  darauf  hinweist,  dass  ein  Tlieil  der  das  Enterol  bildenden  Kresolc  nicht 
in  ätherschwcfelsaure  Salze  umgewandelt  wurde,  also  im  freien  Zustande  im  Blute 
und  im  Harne  vorhanden  sind.  Foss  zieht  aus  seinen  therapeutischen  Versuchen 
den  Schluss,  dass  das  Enterol  in  genügender  Gabe  ein  ganz  zuverlässiges  Mittel 
zur  Dcsinfection  des  Darminhaltes,  selbst  bei  den  schwersten  Infectionen, 
darstellt,  üeberdies  wird  der  Harn  bei  innerem  Gebrauch  de6  Enterols  in  grossen 
Dosen  leicht  antiseptisch  und  unfähig  zu  gähren.  Er  fand  es  wirksam  bei 
Cholera  nostras,  bei  Cholera  infantum,  bei  acutem  und  chronischem 
Darmkatarrh  auch  besonders  bei  der  trockenen  Form  des  letzteren,  ferner  zur 
Dcsinfection  des  Harns  bei  frischen  und  subacuten  Fällen  von  Blasen-  und  Nieren- 
beckenkatarrh. Bei  dem  durch  Stauung,  Tumoren  oder  Steine  unterhaltenen 
chronischen  Blasenkatarrh  mit  tiefen  Veränderungen  der  Schleimhaut  und  der 
Muscularis  gelang  eine  Heilung  nicht;  doch  eignete  es  sich  zu  Ausspülungen  bei 
diesen  Affectionen.  Die  von  Foss  bisher  angewendeten  Präparate  sind:  1.  Das 
Enterol  mit  Spuren  Jonon  versetzt,  welches  verdünnten  Lösungen  den  tiblen 
Geruch  nimmt.  2.  Euterolkapseln  ä 0,25.  3.  Enterolpillen  ä 0,1.  4.  Enterolabführ- 
pillen  und  Enteroleisenpillen  (die  gebräuchlichsten  Formen  mit  Enterolzusatz).  ln 
diesen  Pillen  ist  der  Enterolgerueh  durch  einen  zweckmässigen  Ueberzug  verdeckt 
und  dieselben  sind  durrhaus  angenehm  zu  nehmen.  Bei  Cholera  infantum  wurde 
es  in  Lösung  von  0,1 — 0,25:100,0  ein-  bis  zweistündlich  einen  Theelöffel  mit 
Eiweisswasser  oder  Reiswasser  verdünnt  gegeben.  Sämmtliche  Enterolpräparate 
sind  durch  Dr.  Kade’S  Oranienapotheke-Berlin  zu  beziehen.  Die  Verwerthung  der 
reinen  isomeren  Krcsole  zu  therapeutischen  und  hygienischen  Zwecken  statt  des 
Lysols  und  ähnlicher  Präparate  hat  schon  früher  Liebkkich  (Therap.  Monatsli. 
1894,  pag.  25)  empfohlen. 

Literatur:  Koss,  Ucber  die  interne  Wirkung  der  isomeren  Kresole,  besonders  das 
Enterol.  Berliner  klin.  Wochenschr.  1895,  Nr.  47.  Loebisch. 

Episkleritis  perioidica  fugax.  Unter  diesem  Namen  bespricht 
E.  Fuchs  eine  seltene  Krankheit  , die  schon  von  Manchem  beobachtet  und  be 
schrieben , aber  im  Ganzen  wenig  beachtet  wurde.  Die  Beschreibung  soll 
möglichst  in  Fuchs’  eigenen  Worten  geschehen : „Es  handelt  sich  um  eine  oft 
wiederkehrende  Entzündung,  dereu  Sitz  die  Bindehaut  des  Bulbus,  besonders  aber 
das  darunterliegende  lockere  und  gefässreiche  episklerale  Gewebe  ist.  Es  besteht  eine 
tiefe  lnjection  von  violetter  Farbe  nnd  eine  manchmal  beträchtliche  Schwellung 
des  entzündeten  Gewebes,  doch  ist  weder  eine  Absonderung  wie  beim  Katarrh, 
noch  eine  harte  Infiltration  wie  bei  der  gewöhnlichen  Episkleritis  vorhanden.  Es 
handelt  sich  daher  mehr  um  ein  entzündliches  Oedem  als  um  eine  Entzündung 
mit  Exsudation.“  ln  der  Regel  beschränkt  sich  die  Entzündung  „auf  einen  oder 
einige  Quadranten,  wandert  auch  wohl  in  einigen  Tagen  von  einer  Stelle  zur 
anderen  oder  von  einem  Auge  auf  das  andere“.  Sie  „befällt  entweder  beide 
Augen  abwechselnd,  manchmal  in  ganz  regelmässiger  Weise,  oder  es  werden  beide 


oogle 


EPISKLERITIS  PERI0ID1CA  FUGAX.  - ERYTHEME. 


157 


Augen  zugleich  von  der  Entzündung  ergriffen,  meist  so,  dass  nach  einigen  Tagen 
oder  Stunden  das  zweite  Auge  dem  ersten  folgt.“ 

„Die  Entzündung  ist  mit  Reizersclieimtngen,  wie  Schmerzen , Thränen- 
fluss  und  Lichtscheu,  verbunden.  Dieselben  sind  manchmal  gering,  anderemalo 
wieder  ziemlich  stark.  Häutig  ist  die  entzündete  Stelle  des  Augapfels  besonders 
empfindlich,  wenn  man  sie  durch  die  Lider  hindurch  berührt.  Wenn  die  Schmerzen 
stark  sind , nehmen  sie  einen  neuralgischen  Charakter  an  und  strahlen  in  die 
Umgebung  des  Auges  bis  in  das  Hinterhaupt  aus.  Sie  berauben  den  Patienten 
der  Nachtruhe  und  machen  ihn  durch  einige  Tage  arbeitsunfähig.  Von  einigen 
Patienten  wurden  die  Schmerzen  als  migräneartig  geschildert.  Die  Kegel  ist, 
dass  die  Schmerzen  schon  vor  den  üusserlich  sichtbaren  Zeichen  der  Entzündung 
auftreten  und  dieselbe  ankündigen.  Sie  verschwinden  dann  entweder  mit  dem 
Auftreten  der  Röthnng  oder  dauern  wenigstens  nicht  so  lange  wie  diese.“  Die 
hier  geschilderten  Züge  sind  mehr  oder  weniger  allen  Fällen  gemeinsam. 

ln  einzelnen  Fällen  wurde  noch  beobachtet:  Uedem  der  Lider,  punkt- 
förmige Trübungen  in  der  Hornhaut,  randständige  Hornhautgeschwürchen,  Hyper- 
ämie der  Iris,  Schmerzhaftigkeit  der  Accommodation , Accommodationskrampf, 
Schmerzhaftigkeit  der  Augenbewegungen,  Exophthalmus  (Oedem  der  TENON’sehen 
Kapsel).  Die  Dauer  der  Anfalle  beträgt  manchmal  1 — 2,  bei  anderen  6 — 8 Tage; 
besonders  schwere  können  bis  4 Woehen  dauern. 

Charakteristisch  sind  die  Recidiven.  „Nur  ausnahmsweise  treten  die  An- 
falle nur  2 — 3mal  im  Jahre  auf,  in  der  Regel  sind  sie  viel  häufiger,  so  dass 
die  Pausen  nur  2—4  Wochen  dauern.  Das  Leiden  erstreckt  sich  in  der  Regel 
über  mehrere,  oft  über  viele  Jahre.“  Unter  22  von  Fuchs  beobachteten  Fällen 
wurde  8mal  Heilung  beobachtet.  Die  Dauer  des  Leidens  betrug  in  diesen  Fällen 
1 — 20  Jahre. 

Bezüglich  der  Antiologie  weiss  man  nichts  Sicheres,  ebenso  blieben 
die  veranlassenden  Ursachen  in  den  meisten  Fällen  unbekannt.  Die  Therapie 
ist  meist  erfolglos.  Am  meisten  Erfolg  hatte  im  Allgemeinen  Chinin  und  salicyl- 
saures  Natron. 

Beobachtet  wurde  die  Krankheit  von  v.  Gi.äfe,  Hutchinson,  Nbtti.kship, 

Burnett,  Largkao,  vielleicht  Baas. 

Ich  habe  die  Krankheit  wiederholt  gesehen  und  ein  Theil  der  Patienten 
von  Fuchs  gehörte  auch  meiner  Clientei  an.  Ich  stimme  auch  vollkommen  mit 
der  Beschreibung  Fuchs’  überein.  Was  aber  die  Deutung  als  Episkleritis  betrifft, 
kaun  ich  ihm  nicht  beistimmen,  sondern  halte  sie,  trotz  der  gegen  die  Ansicht 
sprechenden  langen  Dauer  für  eine  vasomotorische  Erkrankung.  Der  Name  Epi- 
skleritis ist  jedoch  sehr  verlockend  und  man  ist  in  solchen  Fällen,  die  man  zum 
ersten  Male  sieht,  sehr  geneigt,  die  Diagnose  Skleritis  zu  stellen,  bis  man  durch 
das  Flüchtige  des  Leidens  belehrt  w ird , dass  man  es  mit  keiner  gewöhnlichen 
Skleritis  zu  thun  hat. 

Literatur:  Hirschberg,  Prof.  A.  v.  Grafe'*  klinische  Vorträge  über  Augenheil- 
kunde Berlin  1891  (Subconjnnctivitis);  Bemerkung  von  Hirschberg.  Centralbl.  f.  probt.  Augcnhk. 

1895.  pag.  342-  — Hutchinson,  Transait  of  the  Uphtlialm.  Soc.  of  the  Un.  Kingd.  1884, 

V.  — Nettloship,  Transact.  of  the  Ophthalra.  Soc.  VIII.  — Largeau,  Thhse  des  Paris. 

1895.  — Baas,  Klin.  Monatsbl.  f.  Augenbk.  1885-  — E.  Fachs,  Wiener  klin.  Wochcnschr. 

1895,  Nr.  34-  — E.  Fuchs,  Ueber  Epucleritia  perioidieu  fugax.  Arch.  f.  Ophthalm. 

1895,  XL!,  4.  Renas. 

Erysipeltoxin,  s.  Krebsserum. 

Erytheme  (insbesondere  die  polymorphen  Erytheme). 

Einleitung.  Eine  Definition  von  dem  zu  gehen,  was  in  der  Dermatologie 
unter  Erythem  verstanden  wird , ist  fast  unmöglich.  Zunächst  wird  mit  Erythem 
•m  Allgemeinen  eine  in  Röthung  ihren  Ausdruck  findende  Hyperämie  der  Haut 
bezeichnet.  Klinisch  ist  aber  diese  Definition  einerseits  viel  zn  eng,  andererseits^ 

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ERYTHEME 


viel  zu  weit.  Denn  wir  finden  als  „Erytheme“  nicht  nur  Hyperämien  der  Haut 
wieder,  sondern  auch  eine  grosse  Anzahl  durchaus  verschiedener  entzündlicher, 
mit  Röthung  einhergehender  Processe.  Andererseits  aber  vermissen  wir  in  der 
Classe  der  Erytheme  eine  ganze  Reihe  von  Affectionen , deren  hervorstechendstes 
Symptom  ebenfalls  die  Röthung  ist,  die  aber  als  klinische  Einheit,  als  Krankheit 
sui  generis,  längst  aus  der  Classe  „Erythem“  ausgeschieden  sind:  Erysipel,  Masern, 
Scharlach  u.  s.  w. 

Es  leuchtet  ein,  dass  das  Wort  „Erythem“  eine  ganz  verschiedene 
Bedeutung  hat,  wenn  man  von  einfachen  Hyperämien,  den  Erythemen  durch 
Hitze,  Kälte,  Scham,  Furcht,  Zorn  u.  s.  f.  spricht,  und  wenn  inan  — im  weitesten 
Sinne  — von  den  „polymorphen  Erythemen“  spricht.  Im  ersten  Fall  drückt  die 
Bezeiehnung  Erythem  eine  häufig  gar  nicht  pathologische  Eigenschaft  der  Haut, 
die  „Röthung“  aus;  im  zweiten  Falle  ist  das  Wort  Erythem  schon  zu  einem 
Krankhcitsbegritf  geworden,  ähnlich  wie  „Scarlatina“,  „Rubeola“. 

Eine  Definition  für  den  Begriff  Erythem , der  sich  Jedem  durch  die 
Gewalt  der  Logik  aufzwingen  liesse,  gibt  es  nicht.  Dnd  so  hat  denn  auch  jeder 
Autor  eine  andere  Classification,  jeder  Autor  eine  grössere  oder  kleinere  Anzahl 
von  Affectionen  unter  dieser  Bezeichnung  vereinigt. 

Wir  wollen  uns  in  der  vorliegenden  Abhandlung  nicht  so  sehr  mit  allen 
in  diese  Gruppe  eingereihten  Affectionen  beschäftigen,  als  vielmehr  versuchen, 
erstens  eine  schärfere  Abgrenzung  der  Gruppe  vorzuschlagen,  zweitens  kurz 
kritisch  die  Ansichten  Uber  den  Entstehungsmodus  der  Erytheme  im  weitesten 
Sinne  zu  beleuchten  und  drittens  den  Anfang  zu  machen  mit  einer  Neuordnung 
derjenigen  grundverschiedenen  Affectionen , die  unter  dem  Sammelnamen  der 
„polymorphen  Erytheme“  zusammengefasst  werden. 

A.  Echte  Erytheme.  In  seiner  Histopathologie  der  Haut ')  sagt  Unna, 
pag.  8 : „Die  Blutüberfüllungen  der  Haut  zerfallen  i#  zwei  scharf  geschiedene 
Olassen , in  die  Wallungshypcrämieu  oder  Erytheme  und  in  die  Stauungs- 
hyperämien oder  Cyanosen.“ 

Schon  diese  Definition  Unna’s  grenzt  in  bestimmter  Weise  die  Erytheme 
ab  nach  einer  Seite  bin  — die  Affectionen,  welche  als  Stauungshyperämien  zu 
bezeichnen  sind,  gehören  nicht  zu  den  Erythemen , also  vor  Allem  werden  wir 
— entgegen  Dl' H RI  KG  *) , Gaucher*)  und  vielen  Anderen  — nicht  mehr  von 
„Erythema  pernio “ sprechen. 

Weiters  heisst  es  daun  bei  Unna,  pag.  10: 

„Die  Wallungshyperämien  oder  echten  Erytheme  lassen  sich  definiren  als 
Blutüberfüllungen  der  Hautgefässe  bei  verminderten  Widerständen  und  gesteigerter 
Stromgeschwindigkeit.  Diese  anatomische  Definition  entspricht  genau  dem  klinischen 
Begriffe  der  Wallung,  insofern  sich  in  den  Augen  des  praktischen  Arztes  liiemit 
untrennbar  die  Symptome  erhöhter  Hautwärme  und  hellrother  Färbung  verbinden. 

Denn  diese  letzteren  Bind  die  natürliche  Folge  der  durch  Aufhebung  der  normalen 
Widerstände  erlangten  grösseren  Stromgeschwindigkeit.  Halten  wir  uns  streng  an 
die  einfache  obige  Definition , so  bleibt  uns  für  die  eigentlichen  Erytheme  eine 
in  sich  gleichartige  Classe  von  Erscheinungen,  die  allerdings  einen  weit  kleineren 
Umfang  besitzt,  als  gewöhnlich  angegeben  wird.  SpecieH  gehören  eine  Reihe  von 
erythematösen  und  angioneurotischen  Entzündungen  (acute  Exantheme,  toxische 
Erytheme)  nicht  hierher ; auch  eine  ganze  Anzahl  von  Hyperämien  mit  ver- 
minderter Stromgeschwindigkeit  müssen  fort  und  den  Stauungshyperämien  zu- 
gewiesen werden.  Besonders  muss  es  in  unseren  Augen  den  einfachen  Erythem- 
charakter einer  Affection  verdächtigen , wenn  sie  sich  im  weiteren  Verlauf  mit 
Oberhautveränderungen,  mit  Abschuppung  combinirt,  da  wir  sicher  wissen , dass 
die  gewöhnlichen  , in  die  physiologische  Breite  fallenden  Erytheme  niemals  eine 
solche  Folge  nach  sieh  ziehen.  Im  Begriffe  der  einfachen  Wallung  im  Gegensatz 
zur  Entzündung  liegt  eben  der  Ausschluss  jeder  secundären  Gewebsveränderung; 
die  einfache  Gefässlähmung  genügt,  um  den  schädlichen  Reiz  hinwegznspülen.  Die 

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ERYTHEME. 


159 


dergestalt  eingeschränkte  Classe  der  Erytheme  umfasst  solche  von  mehr  all- 
gemeinem und  solche  von  rein  localem  Charakter.  Erstere  antworten  auf  centrale 
oder  central  vermittelte,  diese  auf  örtliche  Reize.“ 

Diese  Definition  Unna ’s  hat  jedenfalls  den  Vorzug  grosser  Präeision 
und  Klarheit  für  sich.  Ueber  Einzelheiten,  besonders  über  Einzelheiten  in  Betreif 
des  Entstehungsmodus  dieser  echten  Erytheme  sind  ja  Meinungsverschiedenheiten 
möglich,  — darüber,  dass  die  von  Unna  hierher  gerechneten  Erytheme  diese 
Bezeichnung  zweckmässig  tragen,  und  darüber,  dass  die  Abgrenzung  der  Gruppe 
eine  logische  ist,  lässt  sich  kaum  streiten. 

Wir  werden  hier  die  Erytheme  aus  psychischer  Erregung,  Freude,  Scham, 
Zorn  einreihen ; ferner  das  Fiebererythem;  ferner  die  Erytheme  begrenzten 
Charakters,  die  man  bei  Phthisikern , während  der  Pneumonie , bei  Säuglingen 
während  der  Dentition,  bei  Frauen  während  des  Klimakteriums  und  während  der 
Periode  sieht. 

In  ihrer  Entstehungsart  nicht  so  klar  sind  dann  weiter  hier  zu  nennen 
die  toxischen  Erytheme  — die  toxische  Substanz  wirkt  hier  entweder  central 
oder  peripher  auf  die  Nervenendigungen.  Als  Typus  für  die  erstere  Gruppe 
würden  die  Erytheme  nach  Atropin,  Amylnitrit,  Chloral  zu  nennen  sein;  wahr- 
scheinlicher zur  zweiten  Gruppe  gehörig  die  Erytheme , welche  bei  acuten  In- 
fectionskrankheiten  auftreten  — Typhus  abdominalis,  exanthrmaticus,  bei  Dys- 
enterie, Diphtherie  und  Pneumonie,  bei  Recurrens,  acutem  Gelenksrheumatismus, 
Dengue  und  Grippe. 

Schliesslich  sind  hierhergehörig  die  auf  äussere  Ursachen  zurüekzu- 
filhrenden  Erytheme,  die  auf  Schlag,  Stoss,  Kratzen,  auf  Druck  von  Binden  und 
Kleidungsstücken , ferner  auf  Hitze , Kälte  (reactiv) , Acria  und  Rubefacientia, 
Sonnenlicht  und  Elektrolyse  sich  zeigenden  Erytheme. 

Diese  letzteren  Erytheme  können  allmälig  in  Entzündung  übergehen  und 
hören  damit  auf,  echte  Erytheme  zu  sein. 

Damit  ist  die  Classe  der  echten  Erytheme  nach  Unna  abgegrenzt  und 
es  würde  sicherlich  für  die  allgemeine  Verständigung  als  ein  grosser  Fortschritt 
zu  begrüssen  sein,  wenn  diese  Definition  allgemeine  Anerkennung  fände.  Es  würde 
dem  nicht  im  Wege  stehen,  dass  wir  als  Krankheitsbezeichnung  mit  einem  näher 
definirenden  Adjectivum  die  Bezeichnung  „Erythem“  für  die  ganze  Classe  von 
Erythemen  beibehielten , die  wir  im  weitesten  Sinne  als  polymorphe  Erytheme 
bezeichnen. 

• B.  Erytheme  im  weiteren  Sinne  (scarlatiniforme  und  poly- 
morphe Erytheme).  So  verhältnissmässig  einfach  Abgrenzung  und  Ein- 
thcilung  der  echten  Erytheme  ist,  so  schwer  sind  die  polymorphen  Erytheme 
abzugrenzeu  und  einzutheilen.  Die  Verwirrung  in  dieser  Classe  ist  eine  von 
Jahr  zu  Jahr  steigende  und  man  findet  kaum  zwei  Autoren,  die  nur  einigermassen 
in  ihren  Anschauungen  ilbereinstimmten. 

Es  sind  in  dieser  Gruppe  die  verschiedenartigsten , nur  durch 

gewisse  äussere  und  manchmal  klinische  Aehnlichkeiten  verbundene  Aftectionen 
zusammengebracht,  Affectionen,  die  ätiologisch,  in  der  Art  ihres  pathologisch- 
physiologischen Zustandekommens  die  allergrössten  und  radiealsten  Verschieden 
beiten  zeigen. 

Will  man  in  diese  Gruppe  Ordnung  zu  bringen  versuchen,  so  muss  man 
Besnier4)  vollkommen  beistimmen,  wenn  er  sagt,  dass  das  Studium  der  ganzen 
Gruppe  von  vorne  zu  beginnen  ist.  Es  heisst  bei  Besnier:  „Man  darf  aber  nicht 
in  den  alten  Irrthum  verfallen,  dass  man  nach  pathognomonischcn  Merkmalen 
sucht  und  diese  nur  in  dem  einen  oder  dem  anderen  der  für  die  Krankheit  in 
Betracht  kommenden  Factoren  — Ursache,  Läsionen,  Symptome,  Verlauf,  Dauer, 
Ablauf  u.  s.  w.  — finden  will.  Vielmehr  muss  mau  neue  Classen  aufstcllcn , bei 
deneu  in  jeder  alle  die  angeführten  Elemente  vollzählig  und  in  gehöriger  Reihen- 
folge ein  selbstständiges  Krankheitsindividutim  bilden ; zu  dem  Zwecke  muss 


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ERYTHEME. 


jedes  einzelne  in  Betracht  kommende  Element  einer  eingehenden  Prüfung  unter 
zogen  werden.“ 

Wir  glauben,  dass  es  uns  auf  Grund  einer  auffallend  grossen  Zahl 
eigener  Beobachtungen  möglich  sein  wird,  den  Anfang  zu  machen  mit  einer 
Neuordnung  der  Gasse  der  polymorphen  Erytheme.  Unter  strieter  Erfüllung 
der  BESNIER’schen  Forderung  vermögen  wir  aus  dem  grossen  Chaos  von 
polymorphen  Erythemen  — diesem  Syndrom  von  Aflfectionen,  die  sich  in 
der  Form  ihrer  Läsiouen  ähneln,  ätiologisch  aber  und  in  ihrem  klinischen 
Verlauf,  in  ihrer  Benignität,  Malignität,  C'omplicationen,  grundverschieden  sein 
können  — zunächst  mit  Bestimmtheit  eine  Krankheitseinheit,  ein  Krankheits- 
individuum herauszuheben,  und  damit  dürfte  der  Weg  für  weitere  Fortschritte 
gebahnt  sein. 

Besnier  hat  zunächst  in  der  erwähnten  Arbeit  scharf  auseinaudergehalten 
die  „polymorphen  Erytheme“  und  die  „scarlatiniforroen  Erytheme“. 

Die  zweite  Classe  wird  uns  nicht  weiter  beschäftigen , da  sie  nicht  so 
sehr  zu  Disrussionen  Anlass  giebt  und  wenn  auch  noch  nicht  durchweg,  so 
doch  weit  mehr  als  die  „polymorphen  Erytheme“  einer  einheitlichen  Auffassung 
begegnet. 

Ehe  wir  zum  klinischen  Theile  unserer  Arbeit  übergehen,  der  sicli  aus- 
schliesslich mit  den  polymorphen  Eythemen  beschäftigen  soll,  ist  es  vortheilhaft, 
über  die  pathologische  Anatomie  und  Physiologie  dieser  Affectionen  die  gegen- 
wärtigen Ansichten  mitzutheilen. 

Vornussehicken  wollen  wir  noch  die  Definitionen,  die  Besnier  (1.  c. 
pag.  1 und  pag.  12)  von  den  hier  in  Betracht  kommenden  Erythemen  giebt. 

Vom  „Erythhne  multiforme “ heisst  es:  „Der  individnalisirte  Typus 
des  Erythems,  das  Erythema  multiforme  Hebrae,  kann  heute  nicht  mehr  auf 
die  Grenzen  beschränkt  bleibeu , die  ihm  der  berühmte  Lehrer  der  Wiener 
Schule  gezogen  hat.  Er  erstreckt  sich  nicht  nur  auf  die  einfachen  oder 
primitiven  Formen  der  papulösen,  nodulösen  Erytheme  und  des  Erythema  iri 's 
oder  auf  einige  zugehörige  phlvktänoide  Formen,  sondern  noch  auf  eine  ganze 
Serie  von  Erythemen  der  gleicheu  Art  und  identischer  Entstehung,  die  aber 
von  ausserhalb  liegendem  toxischem  oder  deuteropathischen,  infeetiösen  Ursprungs 
sein  können.  “ 

Wir  betonen  absichtlich  diesen  Hauptpunkt:  „Die  gleiche  Form  des 
Erythems  kann  primitiv,  autogen  sein,  oder  ihre  unmittelbare  Entstehungsursache 
kann  ein  von  aussen  eingeführtes,  toxisches  Agens  sein,  ein  infectiüses  Element, 
das  sich  im  Verlaufe  eines  protopathischen  Krankheitszustandes  entwickelt.“ 

Und  weiter  definirt  Besnier  die  scarlatiniformeu  Erytheme  folgendermassen : 

„Mit  der  Bezeichnung  Erythema  scarlatiniforme  beabsichtige  ich  Derma- 
tosen von  erythematösem  Typus  zu  bezeichnen,  die  während  eines  Abschnittes 
oder  während  der  ganzen  Zeit  ihres  Verlaufes,  wenn  sie  von  kurzer  Dauer  sind, 
pyretol'd  verlaufen.  Meist  ist  ihr  Verlauf  subacut,  manchmal  ziehen  sie  sich  durch 
mehrere  Wochen,  ja  selten  sogar  durch  Monate  hin.  Sie  werden  als  scarlatini- 
forme Erytheme  bezeichnet,  weil  sie  meist,  allerdings  nicht  immer,  den  Typus 
der  Scarlatina  haben,  mit  dem  sie  selbst  in  den  Fällen  abschliessen.  in  denen  es 
zu  Antang  fehlte.  Wir  bezeichnen  sie  als  recidivirende , weil  eine  ihrer  Eigen- 
heiten die  häufige  Neigung  zu  Rccidiven  ist. 

„ln  ihren  acuten  Formen  und  während  der  ersten  Phasen  ihrer  sub- 
acuten  und  langsam  verlaufenden  Formen  nähern  sie  sich  den  fieberhaften, 
exanthematischen  Krankheiten  durch  die  sie  begleitende  Allgemeinreaction.  Der 
Scarlatina  ähneln  sie  durch  die  Form  des  Exanthems,  manchmal  auch  durch  die 
Localisation  und  durch  die  Complicationen.  durch  die  manchmal  die  Differential- 
diagnose  ausserordentlich  erschwert  werden  kann. 

Aber  die  Nichtspecificität  ihrer  Aetiologie,  die  wechselnde,  manchmal 
lange  Dauer,  das  Gleichzeitig-  und  Nebeneinanderbestehen  der  Eruption  uud  der 


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ERYTHEME. 


161 


Abschuppung-,  die  Nichtcontagiosität,  ihr  recidivirender  Charakter  u.  8.  w.  weisen 
diesen  Affectioneu  ihre  Stellung  bei  den  Erythemen  im  eigentlichen  Sinne  an. 

Von  diesen  scarlatiuiformen  Affectioneu  ist  scharf  zu  trennen  eine 
Varietät  pseudopyrctischer  Erytheme,  die  den  fieberhaften  Exanthemen  — Schar- 
lach, Masern,  Kötheln  u.  s.  w.  — während  ihres  Verlaufes  noch  mehr  ähneln 
und  die  wir  als  „scarlatinoide“  und  „rubeloide“  Erytheme  bezeichnen  wollen. 

Die  letzteren  Affectioneu  sind  wirkliche  „Simili-Masern“  oder  „Simili- 
Scharlach“ , die  sich  von  den  recidivirenden  scarlatiniformeu  Erythemen  durch 
ihren  stets  deuteropathischen  Charakter,  ihren  rapiden  Verlauf,  von  den  wirk- 
lichen Exanthemen  durch  ihre  NHitspecificität,  Nichtübertragbarkeit  und  der  Un- 
möglichkeit ihrer  Verhütung  unterscheiden.“ 

In  unseren  weiteren  Ausführungen  haben  wir  nun  im  Wesentlichen  immer 
die  besonders  interessante  und  durchaus  einer  Neuordnung  bedürfende  Classe  der 
polymorphen  Erytheme  im  Auge. 

C.  Pathologische  Anatomie  und  Physiologie. 

Seit  KöBXsr’s  und  Lkwin’s 7)  Publicationen  in  den  Siebziger-Jahren  be- 
zeichnet man  die  Erytheme  mit  einem  von  A.  Ei  lk.nbl'EG  zuerst  gebrauchten 
Ausdruck  als  Angioneurosen.  Man  darf  den  Begriff  „Angioneurosen“  aber 
nicht,  wie  viele  Autoren,  und  in  gewissem  Sinne  auch  Lewix,  es  thun,  als  ätio- 
logischen Begriff  fassen , sondern  es  ist  damit  nur  der  physiologische  Ent- 
stehungsmodus der  Uautliisinnen  ausgedrückt. 

Welche  Ursachen  dabei  wirken,  äussere  oder  innere,  mechanische  oder 
chemische,  kurz,  die  ganze  Aetiologie  findet  durch  die  Bezeichnung  Angioneurose 
nicht  die  mindeste  Erklärung. 

Wir  wcdlen  uns  — da  wir  Neues  nicht  zu  bringen  haben  — über  die 
pathologische  Anatomie  der  Erytheme  kurz  fassen. 

Der  Befund  ist  stets  der  gleiche,  nur  in  der  Ausdehnung  und  Locali- 
sation,  je  dem  Grade  der  Affcction  nach  differirend , und  besteht  hauptsächlich 
in  Gefässcr  Weiterung,  Zellenproliferation  um  die  Gefässwünde , Emigration  und 
Oedem  der  Epidermis,  respective  der  Cutis. 

Für  die  Entscheidung  der  Frage,  ob  sich  überhaupt  und  inwieweit  sieh 
Veränderungen  an  den  Hautnerven  finden  bei  den  verschiedenen  Erythem  formen, 
genügen  unsere  heutigen  Hilfsmittel  nicht. 

Eingehend  aber  müssen  wir  uns  mit  dem  physiologischen  Vorgang 
beschäftigen,  der  zum  Zustandekommen  der  verschiedenen  Erythemformen  führt. 

Wenden  wir  uns  zunächst  zu  der  Definition  der  Begriffes  „Angioneurose“. 

Lewix  (1.  c.  pag.  670 ff.)  sagt,  dass  bei  der  Auffassung  des  Erythems 
in  Betracht  zu  ziehen  sei,  dass  „dasselbe,  wie  anatomisch  nachgewiesen,  ursprüng- 
lich auf  einer  Erweiterung  der  Blutgefässe  und  deren  Folgezuständen , Trans- 
sudation und  Exsudation  beruht“,  und  er  erklärt  es  deshalb  als  eine  Angioneurose. 

„Mit  diesem  Namen ,“  fährt  Lewix  fort , „belege  ich  die  Gesammtheit 
aller  der  Krankheiten,  deren  wesentliche  Symptome  von  einer  Alteration  der  den 
Gefässtonus  regulirenden  Nerven  erzeugt  werden.“ 

Achnlich  definirt SCHWIMMER 4S) : „Als  vasomotorische  und  angioneurotische 
Affectioneu  bezeichnet  mau  alle  durch  die  Innervation  der  Blutgefässe  veranlassteu 
pathologischen  Veränderungen.“ 

Nach  diesen  Definitionen  dürfte  es  kaum  eine  Hyperämie,  arterielle  oder 
venöse,  vorübergehende  oder  länger  persistirende,  keine  Entzündung,  acute  oder 
chronische,  welcher  Art  sie  sei,  geben,  die  man  nicht  als  Angioneurose  defi- 
niren  könnte. 

Bei  jeder  Entzündung,  chronischer  oder  acuter,  wenig  oder  stark  aus- 
gesprochen, mehr  oder  minder  dauernd  oder  vorübergehend,  besteht  eine  Gefäss- 
dilatation.  Diese  Gefässdilatation  kauu  immer  nur  die  Folge  sein  eines  — durch 
verschiedene , eentrnl  (cerebral  oder  medullär)  oder  peripher  (auf  die  Gefäss- 
Fncyclop.  Jahrbücher.  VI  11 

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162 


ERYTHEME. 


ganglien)  wirkende  Ursachen  aufgelösten  — erhöhten  Tonus  der  gcfässerweitem- 
den  oder  einer  Lähmung  der  gefilssverengernden  Nerven. 

Für  eine  länger  dauernde  Erweiterung  der  Gefässe  kommt  nur  eine 
Lähmung  der  Vasoeonstrictoren  in  Betracht,  da  ein  andauernder  spastischer  Zustand 
der  Dilatatoren  nicht  angenommen  werden  kann. 

Ein  nervöser  Einfluss  ist  zunächst  unbedingt  anzunehmen  zum  Zustande- 
kommen jeder  acuten  Hyperämie,  setze  dieser  Einfluss  nun  ceutral  oder  peripher  ein. 

Erröthen  vor  Scham,  Zorn,  Freude  setzt  eine  vom  Centrum  ausgehende 
Erregung  der  Vasodilatatoren  oder  eine  vorübergehende  Lähmung  der  Vaso- 
constrietoren  voraus. 

Röthung,  Hyperämie  in  Folge  der  Einwirkung  der  Sonne,  hoher  Tempe- 
raturen, der  Kälte  setzt  ebenfalls  eine,  wahrscheinlich  peripher  wirkende  Reizung, 
resp.  Lähmung  der  betreffenden  Nervengruppe  voraus. 

Wie  gesagt,  nach  der  von  Lewix  gegebenen  Definition  ist  die  Classe 
der  Angioneurosen  unendlich  gross.  Darnach  gehören  auch  die  acuten  Exantheme 
hierher,  die  ja  Auspitz  in  der  That  zu  den  Angioneurosen  rechnet. 

Auspitz  *)  (1.  c.  pag.  41  ff.),  von  dessen  Auffassung  die  unserige  im 
Uebrigcn  weit  abweicht,  sagt  dem  Sinne  naeh  dasselbe,  was  wir  eben  aus- 
geführt haben  : 

„Veränderungen  im  Gefässtonus  stellen  sich  freilich  bei  durch  Ent- 
zündungsreize  hervorgerufenen  Wallungen  ebenfalls  ein;  ja  solche  Wallungen 
können  ohne  active  oder  passive  Erregung  der  Gefässmusculatur  im  Bereiche  des 
entzündeten  Theiles  und  um  denselben  gar  nicht  zu  Stande  kommen.  Und  weiter- 
hin ist  nicht  zu  vergessen , dass  im  Gefolge  und  während  des  Verlaufes  der 
Entzünd  ungsprocesse  sich  Alterationen  des  Gefässtonus  leicht  entwickeln  und  in 
chronischen  Störungen  der  Cireulation  und  der  Aufsaugung  ihren  Ausdruck  finden.“ 

Die  Angioneurosen  definirt  Auspitz  dann  folgendennassen: 

„Die  hierhergehörigen  Hautafleetionen  entsprechen  sämmtlich  der  nach- 
folgenden nosologischen  Verstellung: 

„Ein  auf  welchen  Punkt  des  Organismus  immer  eiuwirkcnder,  eigeu- 
thümlicher  Reiz  wirkt  auf  ein  Centrum  von  Gcfässnervenanshreitungen  in  der 
Haut  entweder  direct  oder  auf  reflectorischem  Wege  dergestalt  ein,  dass  eine 
Aenderung  im  Tonus  der  ihnen  ungehörigen  Gefässzweige  eintritt.“ 

In  grösserer  Ausführlichkeit  müssen  wir  auf  die  Anschauungen  Uxka’s 
eingehen,  da  sie  einen  entschiedenen  Fortschritt  bedeuten.  Wenn  wir  auch  in  einigen 
nebensächlichen  Punkten  nicht  ganz  seine  Ansichten  theilen , so  können  w ir  im 
Wesentlichen  dieselben  durchaus  zu  unseren  eigeuen  machen. 

Unna  (pag.  10)  bezeichnet  als  „echte  Erytheme“  die  Wallungs- 
hyperiimien  der  Haut  und  definirt  dieselben  als  Blutüberfüllungen  der  Hautgefässe 
bei  verminderten  Widerständen  und  gesteigerter  Stromgeschwindigkeit.  Diese  ana- 
tomische Definition  entspricht  genau  dem  klinischen  Begriffe  der  Wallung,  inso- 
fern sich  dem  Auge  des  praktischen  Arztes  hiermit  untrennbar  die  Symptome 
erhöhter  Hautwiirmc  und  hellrother  Färbung  verbinden.  Halten  wir  uns  streng 
an  die  einfache  obige  Darstellung , so  bleibt  uns  für  die  eigentlichen  Erytheme 
eine  in  sieh  gleichartige  Gasse  von  Erscheinungen , die  allerdings  einen  weit 
kleineren  Umfang  besitzt,  als  gewöhnlich  angegeben  wird.  Speciell  gehören  nach 
dieser  Definition  eine  Reihe  von  erythematösen  Entzündungen  (acute  Exantheme, 
toxische  Erytheme  nicht  hierher;  auch  eine  ganze  Anzahl  von  Hyperämien  mit 
verminderter  Strorogesehwindigkeit  müssen  fort  und  den  .'stanuugshyperUmicn  zu- 
gewiesen werden. 

Unna  (I.  c.  pag.  21)  definirt  dann  die  Angioneurosen  der  Haut  als  eine 
„Gruppe  von  Hauteruptionen,  die  unter  einander  bedeutende  Verschiedenheiten 
aufweisen,  aber  sämmtlich  auf  eine  abnorm  hohe  Reizbarkeit  des  Muskel- 
tonus als  wesentliche  Bedingung  ihrer  Existenz  hinweisen“. 


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ERYTHEME. 


163 


Dieser  Definition  ist  nichts  mehr  hinzuzufügen , sie  grenzt  die  Gruppe 
der  Angioneurosen  durch  Hervorhebung  des  wesentlichen  pathologischen 
Merkmales  deutlich  ab. 

Diese  abnorm  hohe  Reizbarkeit  des  Muskeltonus  besteht  latent,  die 
Angioneurose  besteht  latent  dauernd,  um  bei  Einsetzen  eines  Reizes,  der  in 
keiner  Weise  etwas  Specifisches  hat  (Besnihb),  sofort  manifestirt  zu  werden. 

Der  Typus  einer  solchen  Angioneurose  ist  die  Urticaria(|uaddel.  Für  das 
Zustandekommen  der  Quaddel  nimmt  Unna  eine  spastische  Contraction , einen 
erhöhten  Tonus  der  Venenwandungen,  an. 

Obgleich  es  etwas  von  dem  Zwecke  unserer  Arbeit  abführt,  können  wir 
uns  nicht  versagen,  auf  die  Unna 'selten  Ausführungen  deshalb  näher  einzugehen, 
weil  wir  uns  mit  seinen  Ansichten  über  die  Entstehung  der  Urticariaquaddel 
nicht  im  Einklang  befinden. 

Die  Theorie  eines  venösen  Spasmus  berührt  schon  Vl'LPlAN 10)  (I.  c. 
Bd.  II,  pag.  603);  er  lässt  sie  aber  fallen,  da  keine  physiologische  Thatsache 
vorliegt , auf  die  man  eine  derartige  Hypothese  gründen  könnte.  Aber  selbst 
wenn  wir  die  Möglichkeit  einer  isolirten  spastischen  Contractur  der  Venen- 
wandungen annehmen,  so  vermögen  uns  die  Ausführungen  Uxna’s  nicht  von  der 
Richtigkeit  seiner  Hypothesen  zu  überzeugen.  Wir  lassen  zunächst  Unxa's  Aus- 
führungen folgen.  Es  heisst  1.  c.  pag.  33 : 

„Wenn  das  Hinderniss  für  die  normale  Aufsaugung  der  Lymphe  durch 
die  venösen  Capillaren  plötzlich  eintritt,  wie  bei  der  Urticaria,  so  kommt  es  im 
ganzen  von  dem  betreffenden  Gefüsskegel  versorgten  Terrain  zu  einer  Schwellung, 
die  ihrerseits  bei  einer  gewissen  Stärke  noch  dazu  beiträgt,  den  venösen  Abfluss 
zu  erschweren,  indem  durch  den  wachsenden  Druck  innerhalb  der  prall-elastisch 
gespannten  Haut  die  Veneu  stärker  comprimirt  werden  als  die  Arterien.  Dadurch 
steigt  die  Filtration  der  Lymphe  beständig,  bis  die  Elasticitätsgrenze  der  Haut 
und  damit  ein  Gleichgewichtszustand  erreicht  ist , indem  nun  jede  durch  die 
Lymphgefässe  abfliessende  Portion  Lymphe  durch  eine  gleich  grosse  Quantität 
uachfiltrirender  Lymphe  gerade  ersetzt  wird.  Der  ödematöse  Bezirk  grenzt  sich 
genau  mit  dem  Gebiete  der  spastisch  verengten  Gefässe  ab.“ 

Gegen  diese  mechanische  Erklärung  erheben  sich  schwere  Bedenken. 

Zunächst  haben  wir,  weder  pathologisch  noch  experimentell,  nirgend  ein 
Analogon , das  uns  das  Verständniss  eröffnete  für  ein  so  plötzlich  durch  Venen- 
verschluss in  solcher  Mächtigkeit  auftretendes  Ocdcm. 

Unna11)  selbst  nimmt  ja  mit  KlemensiKWICZ  an,  dass  die  Druck- 
schwankungen an  der  Peripherie  als  directer  Reiz  auf  die  musculo-nervöscn 
Apparate  der  grösseren  Gefässe  wirken.  Wir  könnten  also  dementsprechend  auch 
eine  Ausgleichung,  eine  Verengerung  des  arteriellen  Strombettes , eine  geringere 
Blutzufuhr  zu  dem  relativ  verstopften  Gebiete  erwarten. 

Weshalb  soll  aber  wirklich  die  Verlegung  der  venösen  Hälfte  eines  so 
kleinen  Gebietes,  wie  das  eines  Gefässbaumes  ist,  ein  so  mächtiges  Oedem  hervor- 
rufen,  wo  doch  die  Unterbindung  der  Hauptvenen  kein  Oedem  zur  Folge  hat? 
Anatomisch , rein  mechanisch , ist  für  dieses  begrenzte  Oedem  kein  Grund  vor- 
handen. Zwischen  den  als  „anatomische  Einheit“  zu  bezeichnenden  Gefässbäumen 
(Flächenelementen  haben  wir  doch  ein  intermediäres  Capillarnetz,  dessen  Venen 
nicht  in  spastischer  Contraction  sich  befinden ; weiter  ist  doch  das  übrige, 
mit  Ly mphge fassen  und  Lymphräumen  versehene  Gewebe  in  keiner  Weise 
mechanisch  in  Bezirke  getheilt.  Weshalb  wird  nun  z.  B.  die  ausgeschiedene 
Lymphe  nicht  von  dem  benachbarten  venösen  Capillarnetz  aufgenommen  ? Oder 
weshalb  weicht  dieselbe  nicht  in  den  doch  continuirlich  sich  fortsetzenden  Ly mph  - 
räumen  seitlich  aus?  Warum  ist  nicht  die  Erhebung  der  Haut,  die  Form  der 
Quaddel,  eine  mehr  dem  ausweichendem  Geilem  entsprechende  abgeflachte?  Warum 
bleibt  sie  auf  die  anatomische  Einheit  des  Flächenelementes  beschränkt?  Jeden- 
falls scheint  uns  die  rein  mechanische,  spastische  Contractur  des  Flächenelementes 

11* 


ERYTHEME. 


164 

nicht  in  vollem  l’mfange  die  physiologische  Erklärung  für  die  Form  der  Urticaria- 
quaddel  zu  geben. 

Uxxa  begründet  die  Unmöglichkeit , eine  acut  entstandene  Quaddel 
«elastisches  Oedem)  wegzudrücken , damit , dass  offenbar  die  noch  vollständig 
erhaltene  Elasticität  der  benachbarten  Haut  es  ist,  welche  die  Erweiterung  der 
allseitig  frei  comniunicirendcn  Lymphspalten  daselbst  erschwert  und  damit  zur 
scharfen  Umgreuzung  der  Quaddel  beiträgt. 

Uns  scheint  diese  Erklärung  nicht  genügend.  Eine  normale  Lymphe 
würde  zweifellos  ausweichen.  Es  scheint  uns  unbedingt  uüthig,  noch  eiu  weiteres 
■behindernde»  Moment  für  den  Abfluss  dir  Lymphe  zu  suchen  und  dieses  dürfte 
vielleicht  in  der  Beschaffenheit  der  Lymphe  selbst  zu  suchen  sein.  Im  Hüne 
Tigerstedt-Saxtesson-Heiüexhaix’s  wäre  vielleicht  an  eine  active  Thätigkeit 
der  Endothelzellen  der  Capillargefässe  zu  denken,  durch  deren  Sec  re  t eine  (viel- 
leicht zähere,  schwerflüssige)  Lymphe  gebildet  wird,  die  in  die  Lympbbahnen 
unter  dem  vorhandenen  Gewebsdruck  nicht  answeichen  kann.  Ich  kann  hier 
Uxxa’s  Ansicht  nicht  genügend  finden  zur  Erklärung  des  Zustandekommens  der 
spastischen  Oedeme. 

Darin  ist  aber  Uxxa  beizustimmen , wenn  er  unter  der  Bezeichnung 
„Angioneurosen“  nur  die  spastischen  Oedeme  — das  circnmscripte  Oedem 
Qiixcke’s  und  die  Urticaria  factitia  — und  die  Erythantheme  verstanden 
wissen  will. 

Wir  wollen  au  dieser  Stelle  uns  in  eine  Erörterung  über  die  Nomen  - 
datur  nicht  einlassen.  Ob  gut  oder  schlecht,  — wenn  die  Bezeichnung  „Ery- 
thantheme“, die  doch  schon  bekannt  ist , allgemein  acccptirt  würde  zur  Unter- 
scheidung der  von  Uxxa  hier  sehr  glücklich  vereinigten  Affectionen , so  wäre 
für  die  Verständigung  damit  ein  grosser  Gewinu  erzielt. 

Es  ist  jedenfalls  für  uns  sehr  wesentlich , dass  wir  — wie  wir  weiter 
unten  zeigen  werden  — zu  der  gleichen  Auffassung  der  „polymorphen  Erytheme“ 
im  weitesten  Sinne  auf  rein  klinischem  Wege  gekommen  sind,  zu  der  Uxxa  als 
pathologischer  Anatom  kommt. 

Unter  der  Uebcrschrift  „Erythantheme“  (Arsmz-UxxA)  sagt  Uxxa  (1.  c- 
pag.  25):  „Wohl  die  interessanteste  Abtheilung  der  Angioueurosen  bilden  Erup- 
tionen von  maculo-papulöser  Grundform,  hei  denen  der  Bau  der  Einzeleftiorescenz 
und  die  Gruppirung  derselben  keinen  Zweifel  über  ihr  Gebundensein  an  die 
circulatorisehen  Flächenclemcnte  der  Haut  aufkotnmen  lässt.  Sie  zeigen  eine 
Fortentwicklung  dieses  Grundtypns  nach  zwei  Richtungen.  Entweder  wird  die 
Olierhaut  in  Mitleidenschaft  gezogen,  es  kommt  zum  Aufschiessen  von  Bläschen 
und  Blasen,  oder  der  Prucess  gipfelt  in  einem  umschriebenen,  starken  Oedem  der 
Cutis,  in  der  Quaddelbildung.  Bei  bullöser  Abwandlung  der  hier  in  Betracht 
kommenden  Exantheme  wurden  dieselben  meist  zum  Pemphigus  oder  zur  Bläschen- 
abwandlung des  Erythnua  multifonue  — zum  Herpes  i-is  gestellt  — beides  mit 
Unrecht.  Die  quaddelförmigen  Erythantheme  besitzen  dagegen,  da  sie  weniger 
individuellen  Schwankungen  unterliegen , bereits  seit  langer  Zeit  eineu  Special- 
namen in  der  Nosologie : Urticaria.  Die  verschiedenen  Urticariaarten  (mit  Aus- 
nahme der  Urticaria  factitia j bilden  jedoch  mit  den  Angioneurosen  maculo- 
papulöser  Grundform  mit  oder  ohne  bullöse  Abwandlung  zusammen  eine  wohldefinirte 
Gruppe,  welcher  ich  mit  Rücksicht  auf  ihren  Grundtypus  den  ArswTz’schen 
Namen  der  Erythantheme  gegeben  habe.  Besonders  bei  dieser  ist  vor  einer  Ver- 
wechslung mit  dem  Erythema  mu/tiforme  Ilebrae  zu  warnen,  andererseits  aber 
auch  vor  einer  solchen  mit  der  bullösen  neurotischen  Dermatitis  i Hydroa).“ 

Die  beiden  Affectionen,  das  Erythema  exsudativum  multifonue  und  das 
Erythema  nodosum,  bringt  Uxxa  dann  als  „infectiöse  Entzündungen,  welche  durch 
einzelne  nngionourotische  Symptome  allerdings  eine  olierflächliche  Aehnlichkeit 
mit  den  wahren  Angioneurosen  gewinnen“  (I.  r.  pag.  21). 


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ERYTHEME. 


lt>5 


Für  uns  gehören  diese  beiden  Affectionen  (s.  unten)  zu  den  acuten  Exan- 
themen , zu  den  allgemeinen  Infectionskrankheiten  mit  symptomatischen  Haut- 
erkrankungen. 

Das  neurotische  Element  tritt  jedenfalls  sehr  in  den  Hintergrund  bei  der 
Entstehung  der  l’apeln  und  der  Knoten. 

Anf  ..angioneurotischem“  Wege  lässt  sieh  die  Ausbreitung  und  die  Dauer 
einer  Papel  des  Erythema  txnudalicum  multifurme  nicht  erklären.  Vielleicht 
noch  das  Entstehen  der  Papel.  Aber  wie  will  man  die  periphere  Ausbreitung 
bei  centraler  Abflachung  erklären,  die  doch  sichtlich  vollständig  unabhängig  von 
jeder  anatomischen  Anordnung,  unabhängig  vom  (iefässbnnm,  von  Flächenelementen 
erfolgt?  Soll  die  spastische  Contraction  — ohne  sich  an  die  anatomische  An- 
ordnung des  Gefässlianmes  zu  halten,  an  dem  sich  zuerst  die  Wirkung  der 
spastischen  Contraction  gezeigt  hat  — jeden  Tag  etwas  weiter  gehen?  Diese 
Annahme  ist  fast  widersinnig.  Wohl  aber  lässt  sich  Form,  Ausbreitung  und 
Dauer  erklären,  wenn  man  neben  dem  mechanischen  auch  einen  chemischen  Factor 
bei  der  Ausbreitung  der  Papeln  annimmt , wenn  man  entweder  eine  Mikroben- 
embolie mit  langsamer  peripherer  Ausbreitung  oder  eine  durch  toxischen  Reiz  der 
Gefässendothelien  (im  Sinne  Heidexhain’s)  angeregte  Secretion  der  Endothel- 
zellen annimmt. 

Wir  glauben,  dass  wir  uns  über  diese  Abweichung  von  der  UNXA’schen 
Auffassung  leicht  mit  diesem  Autor  verständigen  werden.  Denn  dass  das  Ery- 
thema exsudativum  multiform e und  das  Erythema  nodo*itm  keine  Angioneurosen 
sind,  damit  stimmen  wir  vollständig  überein.  Die  Zutheilung  zu  den  neurotischen 
Entzündungen  erfolgt  nur  sehr  zögernd.  „Unter  diesem  Namen“  (1.  c.  pag.  75),  sagt 
Unna,  „vereinige  ich  eine  kleinere  Anzahl  von  entzündlichen  Krankheiten  der 
Haut,  welche  eine  gewisse  Beziehung  zum  Nervensystem  aufweisen,  oder  besser 
gesagt,  deren  Eigentümlichkeiten  wir  uns  bisher  nur  durch  die  Annahme  eines 
specifisehen  Nerveneinflusses  auf  den  Ablauf  der  Entzündung  erklären  können. 
Aus  diesem  Grunde  lassen  sie  sich  nicht  einfach  nnd  vollständig  wie  die  infec- 
tiösen  Entzündungen  . . . durch  die  blosse  Anwesenheit  eines  Entzündungserregers 
in  der  Haut  begreifen,  obwohl  die  meisten  derselben  (wenn  nicht  alle)  ebenfalls 
anf  infectiöse  Ursachen  zurückgeführt  werden  können,  sondern  in  irgend  einer 
noch  näher  zu  erforsrhendeu  Wei6e  bedarf  dirse  Ursache  der  Mithilfe  oder  der 
alleinigen  Vermittlung  des  Nervensystems  und  diese  letztere  prägt  nicht  nur  dem  klini- 
schen, sondern  auch  dem  anatomischen  Bilde  dieser  Affectiou  Eigentümlichkeiten 
auf,  welche  eine  Sonderstellung  der  betreffenden  Krankheit  zu  erfordern  scheinen. 
Uebrigens  verhehle  ich  mir  keinen  Augenblick,  dass  die  Schöpfung  dieser  ('lasse 
von  neurotischen  Entzündungen  einen  sehr  provisorischen  Charakter  besitzt,  und 
hoffe,  dass  dieselbe  durch  theilweises  Aufgehen  in  die  Classe  der  infectiösen  Ent- 
zündungen mit  der  Zeit  besser  zu  begrenzen  und  zu  definiren  sein  wird.“ 

Wenn  wir  für  einen  Tlieil  der  als  „polymorphe  Erytheme“  bezeichneten 
Erkrankungen,  und  zwar  für  die  von  Unna  „Erythantheme“  genannten  eine 
Angioneurose  als  bedingenden  Factor  für  die  Entstehung  annehmen  müssen, 
so  ist  für  einen  anderen  Theil  derselben  ein  ganz  andersartiger  Entstehungsmodus 
Bchon  bewiesen. 

Es  liegen  schon  eine  Reihe  von  Beobachtungen  vor,  welche  die  embolische 
Entstehung  der  Papeln  und  Knötchen  des  Erythems  beweisen.  Meist  werdeirdiese 
Fälle  unter  der  Bezeichnung  „ Erythema  nodouum“  zu  Anden  sein;  aber  auch 
unter  der  Bezeichnung  „multiformes  Erythem“  finden  sich  solche  embolische, 
metastatische  Erytheme.  Dies  trifft  zu  für  einen  Fall  von  Finger15),  dessen 
mikroskopischen  Befund  wir  hier  in  extenso  folgen  lassen. 

Die  mikroskopische  Untersuchung  der  Erythempapeln  ergab:  Ocdem  des 
Papillarkörpers  und  der  Cutis  mit  Rundzellen,  ebenso  in  der  Wand  der  Blut- 
gefässe: im  Stratum  reticidare,  in  den  Sehweissdrüsen  und  im  subeutanen  Fett- 
gewebe lockere  Rundzelleninfiltration.  Grosse  Mengen  von  Kokken,  ausschliesslich 


16t> 


ERYTHEME 


in  den  Blutgefässen , erfüllten  derartig  die  C'apillarschlingen  der  Papillen , dass 
sie  das  Bild  injicirler  Papillären  gaben.  Sie  sassen  in  Klumpen  meist  wand- 
ständig  in  den  grosseren  Gefässen  des  Stratum  reticulare , in  den  Gefässen  der 
Schweissdrüsen  und  waren  aueh  im  Inhalte  der  grösseren  Arterien  und  Venen 
des  subepidermidalen  und  des  Fettgewebes  nachweisbar,  l ehcrall , so  auch  ira 
Myokard  und  Nieren  fanden  sieh  Streptokokken.  Das  Erythema,  sehiiesst  das 
Referat,  sei  daher  in  diesem  Falle  nicht  Angioneurose,  sondern  bakterielle  Meta- 
stase, durch  Verschleppung  von  Streptokokken  in  die  Hautgefüsse  bedingt. 

Diese  Beispiele  Hessen  sieh  noch  leicht  vermehren.  Ich  weise  hin  auf  die 
Fälle  von  Lkwix  '*),  ferner  auf  einen  Fall  von  Orii.lard  und  SaBOERand  >‘) 
und  besonders  auf  die  These  von  Jortu.E. IS) 

D.  Klinischer  Theil.  Das  polymorphe  Erythem. 

Was  heute  als  Erythema  polymurphon  beschrieben  wird,  aueh  in  Kaposi’s 
Lehrbuch,  ist  durehans  verschieden  von  dem,  was  Hkbra  seinerzeit  als  ErytI.ema 
exsudativum  multiforme  beschrieben  hat.  In  ganz  wesentlichen  Punkten  weichen 
beide  Beschreibungen  von  einander  ab.  Ich  weise  nur  hin  auf  die  wenigen  Punkte, 
dass  Hkbra  *)  z.  B.  örtliche  Reizzustände  als  I'rsaclie  fiir  die  Entstehung  des 
Erythema  exsudativum  multiforme  vollständig  anssehliesst , während  Kaposi  •) 
sic  zulässt;  dass  Hkbra  erklärt,  bedeutendere  Z fälle  oder  Naelikrankeiten  habe 
dieses  Uebel  nie  in  seinem  Gefolge,  während  Kaposi  erklärt,  dass  „an  Compliea- 
tionen  und  Folgen  des  Erythema  multiforme , allerdings  vorwiegend  des  Erythema 
nodosum , noch  angeführt  werden  Endo-  und  Perikarditis,  Meningitis,  Tuberkulose, 
Klappenfehler,  Pleuro-  und  Pneumonie,  und  es  ist  in  einer  beträchtlichen  Zahl 
(unter  70  von  Lewix  aus  der  Literatur  angeführten  Fällen  10}  der  Tod  ein- 
getreten“. 

Der  wichtigste  Punkt,  der  uns  zunächst  am  meisten  interessirt,  ist  der, 
dass  Hebha  — ohne  bei  dem  damaligen  Stande  der  klinischen  Kenntnisse  von 
den  Erythemen  dieser  Frage  principiell  näher  treten  zu  können  — im  Wesent- 
lichen die  Krankeit  „ Erythema  exsudativum  multiforme * als  eine  idiopathische 
Hauterkrankung  ansieht. 

Kaposi  fasst  unter  polymorphen  Erythemen  aber  alle  Erytheme  zusam- 
men. welche  eine  gewisse  Polymorphie  darbieten  und  sich  untereinander  durch 
die  Läsionen  ähneln,  und  sagt  von  den  mit  Complicationen  verlaufenden  Fällen  : 

rOffenbar  hat  in  all  diesen  Fällen  das  Erythem  nicht  die  Bedeutung 
des  wesentlichen  Proeesses,  sondern  nur  einer  symptomatischen  Erscheinung,  wie 
auch  viele  Roseolen.  Man  kann  deshalb  auch  nicht  dem  Erythem  den  unglück- 
lichen Ausgang  zuschreiben.“  In  dieser  principiellen,  aber  nicht  radical  durch- 
geführten  Abweichung  von  dem  HKBKA'schen  Standpunkt  liegt  auch,  scheint  es 
uus,  die  Erklärung,  dass  das  Erythema  nodosum  eine  so  eigenartige,  unbestimmte 
Stellung  bei  Kaposi  einnimmt.  Während  Hkbra  sagt  (I.  c.  pag.  *J01):  „Different 
von  den  eben  beschriebenen  Erythemen,  sowohl  in  Bezug  auf  die  Form,  den  Sitz 
und  Verlauf,  als  aueh  bezüglich  der  begleitenden  Erscheinungen,  müssen  wir  das 
Erythema  nodosum  s.  Dermatitis  contueiformis  als  ein  selbständiges  l ebel 
anführen“,  äussert  sich  hier  Kaposi'7)  folgendennassen: 

„Redner  möchte  bei  Gelegenheit  des  Vorkommens  von  Fällen  einer  Combi- 
nation  von  Erythema  nodosum  mit  gewöhnlichen  Formen  von  Erythema  multi- 
forme, wie  bei  der  vorgestellten  Kranken,  gegenüber  anderen  Meinungen  con- 
statiren , dass  er  für  seine  Person  das  Erythema  nodosum  wie  die  Purpura 
rheumatica , obgleich  er  sie  wegen  ihres  Typus  klinisch  anseiuanderbält , doch 
für  wesentlich  identisch  und  der  Gruppe  des  Erythema  exsudativum  multiforme 
zugehörig  erklärt.  Sie  kommen  zu  derselben  Jahreszeit  vor,  haben  dieselben  Fol- 
gen am  Herzen,  machen  dieselben  Metastasen  n.  s.  w.  — Nepmaxx  ,ä)  meint,  dass 
das  überhaupt  die  Ansicht  der  Wiener  Schule  sei.“  Darnach  muss  Nepmaxx  seine 


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Meinung  in  den  letzten  Jahren  gelindert  haben.  Im  Jahre  1870  '•)  war  er  der 
Ansicht,  dass  das  Erythema  nodosum  eine  selbständige  idiopathisehe  Erkran- 
kung sei,  welche  mit  dem  Erythema  multiforme  nur  den  Namen  theile. 

Trotz  der  eben  angeführten  KAPOSl’srhen  Aeusserung  werden  aber  in 
seinem  Lehrbuch  (1887)  Erythema  polymorphem  und  Erythema  nodosum  voll- 
ständig getrennt  abgehandelt. 

Aus  dem  oben  Mitgetheilten  — darum  ist  es  uns  zu  thun  — geht  nun 
doch  wohl  mit  Sicherheit  hervor,  dass  sich  die  Ansichten  der  Wiener  Schule 
wesentlich  gewandelt  haben. 

KÜHN50)  dürfte  den  Nagel  auf  den  Kopf  treffen,  wenn  er  meint,  dass 
die  Verwirrung  in  dieser  Gruppe  wesentlich  dadurch  herbeigeführt  sei,  dass  man 
an  der  von  Hebra  fixirten  symptomatologischen  Krankheitseinheit  festhaltend, 
unter  obigem  Namen  die  Folgezustände  ätiologisch  ganz  verschiedener  Dinge 
zusammengefasst  und  sieh  nun  vergebens  ahmülit , für  differente  Krankheitsvor- 
gänge, weiche  zu  einander  ähnlichen  Hautverändemngen  führen  können,  einheit- 
liche Gesichtspunkte  zu  gewinnen. 

Ist  aber  die  von  Hebra  fixirte  Krankheitseinheit  nnr  symptomatisch 
von  ihm  als  solche  aufgefasst  worden?  Mit  anderen  Worten,  hat  Hebra  schon 
eine  ganze  Reibe  verschiedener,  nur  in  den  äusseren  Symptomen  ähnliche  Affcc- 
tionen  als  Erythema  exsudativum  multiforme  zusammengefasst,  ohne  sich  dessen 
bewusst  zu  sein?  Oder  hat  Hebra  eine  wirklich  in  Aetiohgie,  Pathogenese, 
Verlauf,  Ausgang  u.  s.  w.  einheitliche  Erkrankung  beobachtet  und  nur  — haupt- 
sächlich aus  Unkenntniss  der  Aetiologie  und  weil  eine  umfassende  Erfahrung 
noch  fehlte  — einige  ähnliche  Erkrankungen , ohne  sich  tlher  die  Bedeutung 
dieses  Schrittes  Rechenschaft  ablegen  zu  können,  hier  angereiht? 

Wir  möchten  dafür  halten,  dass  die  in  der  zweiten  Frage  enthaltene 
Auffassung  der  Wirklichkeit  am  nächsten  kommt,  ln  so  bestimmter  Weise  dürfte 
die  Fragestellung,  ob  es  sieh  um  idiopathische  oder  um  symptomatische  Erytheme 
handelt,  Hebra  noch  fern  gelegen  haben.  Er  sagt  (1.  c.) : „Es  ist  uns  keine 
Krankheit  bekannt,  in  deren  Gefolge  solche  Erytheme  regelmässig  auftreten 
würden,  die  Cholera  vielleicht  ausgenommen.“  Es  ist  aber  Hebra  durchaus  nicht 
entgangen,  dass  im  klinischen  Verlaufe  dieses  Choleraerythems  etwas  liegt , wo- 
durch cs  sich  von  dem  eben  von  ihm  beschriebenen  Erythem  unterscheidet.  Er 
stillt  von  dem  „oft  als  Erythema  papulatum  auftretenden  Choleraerythem“  den 
Unterschied  fest,  „dass  cs  die  eigentlichen  Choleraerschein nngen  überdauerte,  ohne 
seine  Form  in  die  des  annulare,  iris,  gyratum  u.  s.  w.  zu  verändern,  sondern 
immer  als  Erythema  papulatum  verharrend“. 

Auch  Besnier  hat  seine  Anschauungen  mehrfach  geändert.  Wir  führten 
oben  die  Definition  an,  welche  Besnier  vom  polymorphen  Erythem  giebt;  die 
alte  Hebra ’sche  Definition  genügt  nicht  mehr,  die  gleiche  Form  findet  sich  hoi 
primären  und  seeundüren  Erythemen  wieder,  die  alle  zunächst  in  die  gleiche 
('lasse  gehören. 

Ganz  abgesehen  von  den  in  seinem  Artikel  „Etüde  sur  le  Ithumutisme 
bleunorrhagiqut“  Sl)  niedergelegten  Anschauungen  scheint  Besnier  im  Jahre  1884 
unserer  weiterhin  zu  entwickelnden  Auffassung  der  polymorphen  Erytheme  näher 
gestanden  zu  haben  als  heute,  ln  einer  Monographie  von  MOLENEs  Mahon  :i),  in 
der  zum  grossen  Theil  Besnikr’s  Anschauungen  wiedergegeben  sein  dürften,  heisst 
es  in  den  Conclusions : 

„5.  Für  die  meisten  französischen  Autoren  ist  das  polymorphe  Erythem 
rheumatischer,  für  einige  deutsche  angioneurotischer  Natur.  Man  sieht  es  häufig 
secundär  auftreten  in  einer  grossen  Zahl  von  Iufectionskrankheiten.  Oft  beob- 
achtet man  es  aber  auch  als  Effect  einer  noch  nicht  classificirten 
Infeotion  mit  einer  Reihe  bestimmt  abgegrenzter  Symptome.  Für 
diese  Fälle  schlagen  wir  den  Namen  polymorphe  Erytheme  im  enge- 
ren Sinne  vor.“ 


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ERYTHEME. 


Während,  wie  gesagt,  diese  ältere  Auffassung  unseren  Erfahrungen  un- 
gefähr entspricht,  widersprechen  dieselben  durchaus  den  Ansichten,  die  Besnier 
in  dem  oben  erwähnten  Artikel  niedergelegt  hat. 

Wir  betonen  ausdrücklich,  dass  wir  unbedingt  zu  trennen  haben  die  idio- 
pathischen einfachen  oder  primitiven  Formen  der  papulösen  oder  nodulösen 
Erytheme,  des  Erythema  iris  oder  einiger  weiterhin  blasig  werdender  Erytheme 
von  einer  ganzen  Reihe  von  Erythemen,  die  im  Entwicklungsmodus  und  -Proeess 
jenen  vielfach  ähneln,  aber  durchaus  nicht  mit  ihnen  identisch  sind.  Die  zur  ersteren 
Gruppe  gehörigen  Affectioneu  haben  — das  hoffen  wir  nachzuweisen  — , wie 
BESNIER  es  fordert,  etwas  so  Einheitliches  in  allen  für  die  Krankeit  in  Betracht 
kommenden  Factoren:  Ursache,  Läsionen,  Symptome,  Verlauf,  Dauer,  Ablauf 
u.  s.  w.,  dass  sie  unbedingt  von  den  zur  zweiten  Gruppe  gehörigen,  nur  äusser- 
lich  ihnen  ähnelnden  polvmorpen  Erythemen  zu  trennen  sind. 

Wenn  Besnier  sagt,  „dass  eine  und  dieselbe  Form  des  Erythems  idio- 
pathisch, primär,  autogen  sein  oder  ihre  pathogenetische  Entstehungsbedingung 
in  einem  von  aussen  hinzutretenden  toxischen  Agens,  in  einem  infectiösen  Ele- 
ment haben  kann , das  sich  im  Verlaufe  einer  primären  Erkrankung  entwickelt 
hat,“  so  müssen  wir  dem  auf s Allerbestimmteste  unsere  gegentheiligen  Erfah- 
rungen entgegenstellen. 

Aehncln  können  sich  das  von  uns  zu  beschreibende  idiopathische 
Erythema  multiforme  mit  vielen  polymorphen  Erythemen  in  der  Form  der 
Läsionen,  vielleicht  — so  weit  unsere  Kenntnisse  hier  zu  unterscheiden  vermögen  — • 
in  der  pathologisch-anatomischen  Structur  der  Elemente  — in  allen  anderen 
Factoren:  Ursache,  Constanz  der  localen  und  allgemeinen  Symptome.  Verlauf, 

Dauer,  Ablauf,  das  heisst  mit  einem  Wort,  iu  dem  ganzen  klinischen  Bilde  sind 
diese  Affectionen  grundverschieden. 

Wir  behalten  deshalb  für  die  Affcction , die  wir  zunächst  beschreiben 
wollen,  die  Bezeichnung  Hehra’s:  Erythema  multiforme  exsudativum  bei.  Denn 
gestutzt  auf  eine  der  Zahl  nach  von  keinem  Beobachter  erreichte  Menge  von 
Fällen  müssen  wir  sagen , dass  Hehra  sicher  ursprünglich  und  hauptsächlich 
diese  Fälle  gesehen  und  diese  Fälle  seiner  Beschreibung  zu  Grunde  gelegt  hat. 

Späteren  Beobachtern  kamen  zufällig  oder  vielleicht,  weil  die  ursprüng- 
liche llEBRA’schc  Form  in  vielen  Gegenden  wenig  oder  gar  nicht  vorkommt, 
Erytheme  polymorphen  Charakters  zu  Gesicht,  auf  welche  die  HehkaVIic  Be- 
schreibung ira  Grossen  und  Ganzen  passte.  Sie  theilten  sie  als  Erythema  exsuda- 
tivum multiforme  mit,  bemerkten  aber  oft  ganz  gut  dabei  die  Abweichungen. 

Hkbra  selbst  hat  vielleicht  — unklar  über  die  Aetiologie  — sieh  später  in 
gleicher  Lage  befunden. 

So  wird  eine  Masse  von  Einzelbeobachtungen , Erkrankungen,  die  iu 
ihren  äusseren  Erscheinungsformen  dem  ursprünglichen  Typus  des  Erythema 
multiforme  ähnelten,  in  Aetiologie,  Verlauf,  Prognose,  Complicationen  aber  ganz 
verschieden  waren,  einfach  zum  Erythema  multiforme  hinzugerechnet. 

Man  vergleiche  nur  das,  was  Hekha  1860  als  Erythema  exsudativum 
multiforme  beschreibt,  mit  der  LKWlN’schen  *')  Monographie  von  1876. 

Die  in  der  LEWiN’sehen  Monographie,  ferner  seither  iu  den  sehr  zahl- 
reichen casuistischen  Mittheilungen  der  verschiedenen  dermatologischen  Gesell- 
schaften, Dissertationen,  Thfcscs  u.  s.  w.  niedergelegten  Beobachtungen  zeigen 
unter  der  gleichen  Bezeichnung  eine  Fülle  der  klinisch  grundverschiedensten 
Affectionen;  Krankheiten,  die  nur  die  „Röthe“  gemeinsam  haben  und  Bich  im 
Uebrigen  so  ähnlich  sind,  wie  z.  B.  Stiefeldruck  und  ein  Erysipel ! 

Bei  der  Besprechung  der  Dilferentialdiagnose  werden  wir  Gelegenheit 
haben,  aus  der  Fülle  der  Beweise  eine  kleine  Auswahl  zu  treffen. 

ln  der  nachfolgenden  Untersuchung  wollen  wir  zu  beweisen  suchen,  ge- 
stützt auf  eigene  Beobachtungen,  dass  es  eine  ganz  selbständige,  acute,  exanthema- 

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tische  Infeetionskrankheit  giebt,  auf  die  im  Wesentlichen  die  von  Hkiiua  für  da» 

Erythema  exsudativum  multiforme  gegebene  Beschreibung  passt. 

Unsere  Stellung  zu  der  Frage,  oh  das  Erythema  exsudativum  multi- 
forme  und  das  Erythema  nodottum  im  Wesen  gleiche,  nur  klinisch  verschiedene 
Erkrankungen  seien,  ist  damit  eigentlich  schon  gegeben.  Ein  Anderes  ist  es,  ob  man 
das  Erythema  nodosum  als  idiopathische  Erkrankung  gelten  lassen  will , oder 
ul>  man  dasselbe  nur  als  eine  Form  der  mannigfaltigen,  symptomatischen,  deutero- 
pathisclien,  polymorphen  Erytheme  aufzufassen  hat. 

Unsere  Ansicht  ist,  dass  auch  das  Erythema  nodosum  eine  selbständige 
acute  exanthematische  Infeetionskrankheit  ist. 

Wir  gehen  nun  an  die  Beschreibung  des  Eythema  exsudativum  multi- 
forme Hebrae  und  werden  unsere  Ansichten  Uber  die  Übrigen  polymorphen 
Erytheme  in  der  Diflerentialdiagnose  darzulegen  versuchen. 

1.  Erythema  exsudativnm  multiforme  Hebrae. 

(seit  dem  Jahre  1890  beobachtete  ich  in  jedem  Herbst  — beginnend  im 
September,  mit  fast  gleichmässiger  Intensität  dauernd  bis  zum  Januar,  dann  noch 
einmal  ansteigend  im  März  und  April,  nur  während  des  Sommers  meist  fast  ver- 
schwindend — eine  typisch  verlaufende  exanthematische  Erkrankung. 

Während  der  ersten  Jahre  war  mein  ’ auf  die  Privatpraxis  und  Poliklinik 
beschränktes  Material  doch  nur  so  gross,  dass  die  Krankheit  meine  Aufmerk- 
samkeit wohl  erregen,  aber  nicht  zu  Untersuchungen  zu  dienen  vermochte,  die  eine 
entscheidende  Stellungnahme  und  Aufklärung  in  principielleu  Fragen  erlaubt 
hätte.  Ausserdem  war  ich  in  meiner  Auffassung  der  mir  zur  Beobachtung  kommen- 
den Fälle  vollständig  durch  die  in  dem  schon  erwähnten  BEsxiKK'schen  Artikel 
niedergelegten  Anschauungen  bestimmt.  Erst  mit  Uebernahme  der  dermatologi- 
schen Abtheilung  des  Hospitals  in  Huidar-Paseha  wurde  mir  seit  1894  ein  grösseres 
stationäres  Material  zugänglich. 

Der  Abtlieilung  für  Dermatologie  und  Syphilis  des  Hospitals  mit  einem 
mittleren  Bestände  von  140  Kranken  gehen  Soldaten  aus  allen  Kasernen  der 
Hauptstadt  zu,  Kasernen,  die  auf  beiden  Seiten  des  Bosporus  liegen;  auf  der 
europäischen  Seite  giebt  es  Kasernen  sowohl  auf  der  nördlichen  (Peru),  wie 
der  südlichen  (Stambul)  Seite  des  Goldenen  Horn. 

Unserem  klinischen  Material  ist  eine  gewisse  Einseitigkeit  nicht  ahzu- 
sprechcn,  da  es  sich  nur  um  Männer  eines  bestimmten  Lebensalters  handelt. 

Andererseits  bietet  aber  gerade  dieses  Material  gewisse  Vortheile.  Besonders 
betone  ich  das  gegenüber  dem  Material , das  Lewin's  Arbeit  zu  Grunde  lag. 

Dasselbe  setzte  sich  zum  grossen  Theile  aus  specifisch  inticirten  Mädchen , meist 
wohl  Pucllis  publicis  zusammen.  Es  bestanden  also  bei  diesen  Patienten  schon 
vorher  anderweitige  Erkrankungen  und  weiter  kann  man  wohl,  ohne  Gefahr  des 
Widerspruches,  eine  gewisse  „Anlage  zur  Nervosität“  bei  diesen  weiblichen  Patienten 
a priori  annehmen. 

Unsere  Patienten  sind  durchwegs  stramme,  gesunde  Männer,  von  vor- 
handenen Krankheiten  kann  meist  nicht  die  Rede  sein.  Nervosität  wird  man  bei 
diesen  vollkommenen  Natnrkindern  vergeblieh  suchen. 

Ehe  wir  in  die  Details  unserer  Beobachtungen  eingehen,  sei  noch  eine 
hier  unmittelbar  interessirende  Abschweifung  gestattet. 

Hkbka')  (1.  c.  pag.  200,  Anmerkung)  sagt  unter  Erythema  exsudativum 
multiforme:  „Nach  den  Angaben  von  RlGl.KR  und  Gdstav  v.  Gaai,  soll  dieses 
Erythem  in  den  Provinzen  der  europäischen  Türkei  endemisch  Vorkommen.“ 

Mit  der  Abfassung  dieser  Arbeit  beschäftigt,  musste  uns  natürlich  diese 
Angabe  von  Werth  sein,  und  wir  lassen  hier  den  RlGLER’schcn  Text  folgen5'): 

„Unter  den  acuten  nicht  contagiösen  Exsudaten  in  der  Haut  betrachten 
wir  das  Erythema  papulatum.  Eine  unter  den  Truppen  im  Frühjahr  sehr  häutig 
verkommende  Hautkrankheit  ist  das  Erythema  papulatum ; es  erscheint  in  einer 

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Heftigkeit  und  Verbreitung,  welche  uns  überraschte.  Unter  den  in  Constantinopel 
lebenden  Europäern  sahen  wir  es  jedoch  nie,  desgleichen  nicht  bei  Personen 
dunkler  Hautfarbe.  Pbi'NER’s51)  Mittheilungen  über  die  Urticaria  lassen  mit  Recht 
mutbmassen , dass  viele  der  von  ihm  beobachteten  Falle  dieser  Hautform  ange- 
hören, jedoch  wirft  er  sie  zusammen.“ 

Rigi.ki;  giebt  dann  eine  ganz  vorzügliche  Beschreibung  des  Erythems. 

Die  hiesigen  Aerzte,  besonders  die  im  Hospitaldienst  seit  langen  Jahren 
beschäftigten  (meist  im  Auslande  ausgebihleten)  Collegen  versichern  ebenfalls, 
dass  sie  das  Erythema  exsudativum  muttiforme  besonders  im  Herbst  und  Früh- 
jahr jedes  Jahres  in  grösserer  Anzahl  zn  beobachten  Gelegenheit  gehabt  haben. 

Der  folgenden  Beschreibung  des  Exanthems  liegen  Beobachtungen  zu 
Grunde  von  17  in  der  Privatpraxis  und  Poliklinik  innerhalb  5 Jahren  und  von 
102  in  der  Klinik  vom  September  1894  bis  Januar  1896  beobachteten  Fällen. 

Die  Fälle  aus  der  Privatpraxis  vertheilen  sich  auf  4 Personen  weiblichen, 
13  Personen  männlichen  Geschlechts.  Die  Erkrankungen  fallen  fast  zu  gleichen 
Thcilen  für  jedes  Jahr  auf  die  Monate  October,  November  März,  April. 

Die  105  klinischen  Fälle,  die  natürlich  sämmtiieh  Männer  betreffen,  ver- 
theilen sich  in  folgender  Weise  auf  die  Monate  von  August  1894  bis  December 
1 895  (inclusive) : 

1894  : 

August 2 Fälle 

September 6 „ 

October 2 „ 

November 4 „ 

December 6 „ 

1895: 

Januar II  Fälle 

Februar 1 „ 

März 11« 

April 12  „ 

Mai 3 „ 

Juni 7 „ 

Juli 5 „ 

August „ 

September 9 „ 

October 9 „ 

November 9 „ 

December 5 „ 

Zusammen  . . 105  Fälle 

Die  Monate  mit  den  höchsten  Zahlen  sind  also  Januar,  März,  April. 
Diese  Statistik  wird  durch  die  nächsten  Jahre  fortgesetzt  werden  und  so  zuver- 
lässige Zahlen  ergeben. 


A.  Beschreibung  des  Exanthems. 

Nach  unbestimmter  lncuhation , meist  deutlicher  Invasion  pflegt  am  2. 
oder  3.  Tag  der  Erkrankung  folgendes  Exanthem  aufzutreten. 

Es  bilden  sich  in  den  oberflächlichen  Schichten,  nicht  in  das  Unterhaut- 
ztllgcwcl  e üqergreifcnd,  — der  Häufigkeit  nach  aufgezählt  — auf  Handrücken, 
Gesicht  (besonders  Stirn),  Stcrnoclaviculargegend,  Nacken,  Hals  (seitliche  Partien), 
Knien,  Unterschenkeln,  Fussrücken,  höchst  selten  auch  am  Thorax  die  gleich 
näher  zu  beschreibenden  Efflorescenzen. 

ln  der  Mehrzahl  der  Fälle  sind  die  Conjunetiven  und  die  dem  Gesichte 
zugänglichen  Schleimhäute  befallen.  Ja,  die  ganz  charakteristische  Conjunctivitis 
ist  häufig  das  erste  Symptom ; der  beste  Beweis  dafür  ist , dass  mir  viele  der 


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betreffenden  Patienten  von  der  Abteilung  meines  sehr  verehrten  Colleger.,  des 
Chefarztes  der  ophthalmologischen  Abtheilung,  des  Dr.  Dikran  Bf.y  Adjemian,  zu- 
gehen, der,  ein  in  Wien  als  Sehfiler  Aki.t’s  ausgebildeter  Oculist,  meinen  Beob- 
achtungen durch  l'ebersendung  der  betreffenden  Fülle  und  durch  die  weiter  unten 
folgende  Beschreibung  der  Cobjunctivalveränderungen  eine  Unterstützung  hat  an- 
gedeihen lassen,  die  mich  ihm  zu  grossem  Dank  verpflichtet. 

Die  Efflorescenzen  bieten  eine  grosse  Polymorphie,  sowohl  was  die 
Formen  und  Farbe  derselben  nebeneinander  als  ihre  Aufeinanderfolge  betrifft. 

Die  hauptsächlichsten  Grundformen  wollen  wir  als  die  papulöse  und  als 
die  vesieulöse  bezeichnen. 

Ks  bilden  sich  z.  B.  auf  dem  Handrücken  0,3 — 1 Cm.  Durchmesser 
habende,  bald  hochrothe,  bald  etwas  linde,  bald  — besonders  bei  dunkler  Haut- 
farbe — rothbraune  runde  Erhabenheiten  von  oberflächlichem  Sitz.  Die  Zahl 
derselben  ist  meist  nicht  gross. 

Innerhalb  24  Stunden  wachsen  diese  oberflächlichen  Knötchen  peripher; 
gleichzeitig  flacht  sich  ihr  Centrum  leicht  ab  und  nimmt  eine  zu  Beginn  nur  eben 
angedentetc  cyanotische  Färbung  an. 

In  den  nächsten  2 — 3 Tagen  hält  das  periphere  Wachsthum  an  und 
die  centrale,  nunmehr  meist  ausgesprochen  cyanotische,  ungefähr  auf  das  normale 
Niveau  der  Haut  eingesunkene  Partie  macht  den  bei  weitem  grösseren,  von  einem 
rotlien  Saum  umrahmten  Tlieil  der  Läsion  aus:  manchmal  begegnen  sich  solche 
Läsionen  und  der  rothe  Wall  verschwindet  zum  Tlieil  da , wo  zwei  Kreise  auf- 
einander 8tossen.  Die  Begrenzung  dieser  Kreise  ist  meist  ziemlich  regelmässig 
oval,  rund,  jedoch  kommen  kleine  Unregelmässigkeiten , Ausbuchtungen  an  den 
Rindern  vor.  In  den  eben  beschriebenen  Phasen  der  Entwicklung  Anden  wir  die 
Formen  des  sogenannten  Erythema  papulatum,  viarginatum,  gyratum  wieder. 

Manchmal  — nicht  häuflg  — tritt  in  den  ersten  Tagen  innerhalb  des 
blau  verfärbten  Centrums  ein  neues  Knötchen  auf  mit  demselben  Verlauf  — wir 
halien  dann  die  Formen  des  Erythema  tri». 

In  anderen  Fällen  bilden  sich  — am  besten  ist  dies  im  Allgemeinen 
auf  der  Stirne  zu  beobachten  — Läsionen,  die  man  als  „Herpes“  bezeichnet  hat. 
Ganz  selten  ähneln  diese  Läsionen  wirklich  dem  Herpes,  ln  den  meisten  Fällen 
haben  sie  nicht  die  abfallenden  Ränder  der  Herpesbläscben , sondern  ähneln 
grossen  Blasen  dyshidrotischer  Affectionen,  mit  dem  Unterschiede,  dass  die  be- 
deckende Homschieht  bei  dem  Erythemherpes  bedeutend  dicker,  der  Inhalt  der 
Blasen  bedeutend  weniger  fltissig  erscheint.  Mit  den  beiden  letzten  Merkmalen 
sind  die  Epidermiscrhebungen,  die  an  Stelle  des  Erythemknötchens  treten,  unserer 
Ansicht  nach  am  besten  charnkterisirt.  Sie  stehen  oft  vereinzelt,  oft  in  Gruppen, 
haben  einen  Durchmesser  ven  0,2 — 0,5  C'm.,  selten  grösser,  sind  von  grauer, 
gequollener,  stärkt  ähnlicher,  graugelblicher,  manchmal  mit  einem  leichten  violetten 
Ton  vermischter,  durchscheinender  Farbe.  Durchwegs  haben  sie  gar  keinen  Ent- 
zflndungshof  — besonders  auf  der  Stirn ; selten  sitzen  sie  einem  rotlien  Ent- 
ztmdungsliof  auf.  Aeussorst  selten  ist  dieser  Entztlndnngshof  sehr  ausgesprochen 
und  die  Epidermisahhebung  mehr  einer  wirklichen  Blase  ähnlich ; in  diesen  Fällen 
ist  der  durchscheinende  Inhalt  der  Blasen  ausgesprochener  gelblich  gefärbt,  doch 
ist  immer  noch  ein  bedeutender  Unterschied  zwischen  der  graugelben  Farbe  dieser 
Erythemherpes  und  der  eitergelben  Partie  einer  Pustel.  Grosse,  als  „Bullae“  zu 
bezeichnende  Blasen  haben  wir  in  keinem  Falle  angetroffen. 

Die  oben  beschriebenen  llerpesformen  machen  nun  ganz  ähnliche  Ver- 
änderungen durch  wie  die  früher  beschriebenen  Knötchen.  Ihr  Centrum  flacht 
»ich  ab,  selten  jedoch  nur  kommt  es  zur  Bildung  einer  feinen  Kruste,  der  Rand 
breitet  sich  aus.  Dieser  Rand  hat  meist  ein  eigenartiges  Aussehen.  Am  besten 
entspricht  seinem  häufigsten  Aussehen  wohl , wenn  man  ihn  als  erhabenen,  ge- 
rötheten  Rand  bezeichnet,  auf  dem  die  Blasenbildung  mehr  angedeutet  als  zur 
Ausbildung  gekommen  ist. 


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172 


ERYTHEME. 


Die  Farbenveränderung  des  Centrums,  der  weitere  Ablauf,  das  bin  und 
wieder  beobachtete  Aufschiessen  neuer  Blasen  im  Centruin,  wobei  es  vollständig 
zur  Cocardenform  kommt,  entspricht  im  Ganzen  den  oben  beschriebenen  Ver- 
änderungen der  Knötchen  (Herpes  irfs  [WlLLAN,  Raykh]). 

Die  mehr  ausgesprochene  Bläschenform  zeigt  in  der  Entwicklung  wenig 
Unterschied.  Entsprechend  der  stärkeren  Abhebung  der  Hornschicht  ist  die  cen- 
trale Abdachung  in  Form  und  Farbe  etwas  verschieden  von  den  eben  beschrie- 
benen Läsionen.  Wie  es  übrigens  schon  bei  der  schwächer  ansgebildeteu  Bläsehen- 
form  zu  beobachten  ist,  zeigt  das  Centrum  häutig  eine  weniger  eyanotisch  als 
bräunlich  pigmentirte  Färbung  und  die  bedeckende  Homschicht  ist  runzelig,  ge- 
fältelt ; die  Blasenform  bleibt  überdies  länger  erhalten , die  centrale  Abdachung 
also  tritt  langsamer,  weniger  ausgesprochen  ein  als  bei  den  anderen  Formen. 

Alle  Formen  können  sich  auf  demselben  Individuum  finden ; sowohl  der 
Form  als  der  Farbe  nach  ist  dann  eine  grosse  Mannigfaltigkeit  zu  beobachten. 

Noch  grösser  wird  diese  Mannigfaltigkeit,  wenn  nach  Ablauf  des  ersten  Exan- 
thems am  10. — 12.  Tage  ein  neuer  Nachschub  eintritt.  Wie  erwähnt,  kommen 
während  der  ersten  Eruption  solche  Nachschübe  wohl  vor,  sie  sind  aber,  so  weit 
ich  beobachtet  habe,  im  Ganzen  selten,  worin  ein  Unterschied  gegen  das  Erythema 
nod'isum  liegt,  bei  dem  die  Eruptionen  in  den  ersten  Tagen  fortgesetzt  einauder 
folgen.  Dagegen  sind  die  Nachschübe  mit  Ablauf  der  ersten  Eruption  nicht  gar 
selten : ja  es  werden  sogar  3.  und  4.  Nachschübe  beobachtet.  Dann  bieten  aller- 
dings die  blaugrauen , bräunlichen , manchmal  desquamirenden  alten  Flecke  mit 
den  hochrothen  oder  vesiculösen,  im  Centrum  cyanotischen  neuen  Flecken  ein 
sehr  scheckiges,  vielgestaltiges  Aussehen. 

Nach  11  — 12  Tagen  ist,  wie  erwähnt,  die  Eruption  abgelaufen.  Der 
erhabene  rothe  Rand  oder  Bläschenrand  verschwindet,  die  von  der  Eruption  ein- 
genommene Hautpartie  ist  auf  das  normale  Niveau  zurückgeführt.  Aber  Form 
und  Ausdehnung  der  Läsionen  ist  noch  sehr  deutlich,  zuweilen  wochenlang  sicht- 
bar. Wo  es  nur  zur  Knötchenbildung  gekommen  ist,  sieht  man  meist  eine  glatte 
Haut,  deren  Farbe  aber  sich  langsam  vom  Blau  zum  Braun  und  zum  Grau  ab- 
wandelt; in  denjenigen  Fällen,  in  denen  es  zur  Bläsehenbildung  gekommen  ist, 
erscheint  die  Hornschicht  zunächst  gefältelt,  später  kommt  es  zu  starker,  kleien- 
förmiger, manchmal  aber  auch  lamellöser  Abschnppung, 

Wenn  es  sich  um  Nachschübe  gehandelt  hat,  wenn  im  Centrum  einer 
abgelaufenen  Läsion  sich  eine  neue  Läsion  entwickelt  hatte,  so  können  auch  diese 
znrtirkbleibenden  pigmentirten  Stellen  eine  vollständige  Cocardenform  haben,  wie 
ich  cs  ganz  besonders  scharf  ausgesprochen  am  Halse  in  einem  Falle  mit  starken 
localen  und  Allgemeincrscheinungen  constatiren  konnte. 

Die  Pigmentation  besteht  oft  sehr  lange;  ich  habe  in  vielen  Fällen,  die 
wegen  langsamer  Reconvaleseenz  im  Hospital  verweilen  müssten,  noch  nach  sieben 
Wochen  deutlich  den  Platz  und  Ausdehnung  jeder  einzelnen  Läsion  feststellen 
können.  In  den  meisten  Fällen  verschwinden  indessen  alle  Spuren  innerhalb  der 
ersten  vier  Wochen. 


Besonderheiten  des  Exanthems  nach  den  einzelnen  Regionen. 

Entgegen  den  Angaben  vieler  Autoren  müssen  wir  betonen , dass  nicht 
„fast  ausnahmslos  Handrücken  und  Fussrückeu“  befallen  sind.  Verhältnissmässig 
häutig  ist  auch  der  Fussrticken  befallen  — bedeutend  häufiger,  fast  ausnahmslos 
aber  der  Handrücken.  Dagegen  ist  häufiger,  als  man  nach  den  meisten  Angabeu 
annehmen  sollte,  das  Gesicht  befallen,  nämlich  fast  genau  so  regelmässig  wie 
die  Hände. 

An  den  Händen  finden  sich  alle  Formen , jedoch  häufiger  die  papulöse 
als  die  vesiculöse  Form.  Vorzugsweise  ist  der  Handrücken  befallen,  in  einigen 
Fällen  auch  die  Finger,  sehr  selten  das  Innere  der  Handfläche  und  dann  nur 


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ERYTHEME. 


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der  Daumen-  und  Kleinfingerballen.  Der  Vorderarm  zeigt  seltener  und  spärlicher 
Usiunen,  der  Oberarm  äusserst  selten,  fast  nie. 

Die  Einzelläsionen  auf  dem  Handrücken  können  sehr  isolirt  oder  sehr 
zahlreich  und  gruppirt  sein.  Gerade  an  den  Händen  kommt  es  in  Fällen  mit 
sehr  ausgebreiteten  Läsionen  und  ausgesprochenen  Allgemeinsymptomen  manchmal 
zu  ganz  bedeutenden,  ödematösen,  phlegmonösen  Processen  ähnelnden  Schwellun- 
gen, jedoch  sind  derartige  Fälle  immerhin  selten. 

An  den  Händen  habe  ich  in  einigen  Fällen  (im  Ganzen  3mal)  folgende 
interessante  Beobachtung  machen  können.  Es  handelte  sich  um  eine  in  einem 
Oval  ungeordnete,  aus  5 — 10  Elementen  bestehende  Gruppe  von  Vesikeln;  das 
('«ntrum  war  schon  etwas  abgeflacht  und  bläulich  verfärbt.  Mitten  durch  dieses 
Ontrum  hindurch  sah  man  eine  ganz  obertlächliche,  sich  dunkelblau  abzeichnende, 
inder  Karbe  auffallend  mit  der  Localität  übereinstimmende , gegen  alle  übrigen 
gleichartigen  Gefässe  abstechende,  verhältnissmiissig  bedeutende  Vene. 

Während  an  der  Hand,  wie  erwähnt,  die  papulöse  Form  gegen  die 
vcsicnlöse  vorwiegen  dürfte , scheinen  im  Gesicht  beide  Formen  gleich  häutig, 
auf  der  Stirn  dagegen  die  vcsicnlöse  Form  vorwiegend  zu  sein.  Auf  der  Stirn 
findet  man  am  häufigsten  die  gruppirten,  hemisphärischen  Bläschen,  die  den  Ein- 
druck machen,  als  seien  sie  sehr  dickwandig  und  hätten  einen  dickflüssigen  In- 
hilt.  Wenn  man  solche  Bläschen  ansticht,  so  entleert  sich  in  der  That  kaum 
Flüssigkeit.  Auch  das  Fehlen  jeder  Entzündnngsröthe  wird  an  der  Stirn  am  häufig- 
sten beobachtet. 

Auf  den  Wangen  finden  sich  oft  wenige,  symmetrisch  angeordnete  Ele- 
mente. Auch  auf  den  Augenlidern  trifft  man  Papeln  und  Vesikeln;  es  kann  dann 
wohl  zu  recht  beträchtlichen  Schwellungen  der  Lider  — besonders  der  oberen  — 
kommen. 

Wie  erwähnt,  ist  das  Gesicht  fast  regelmässig , jedenfalls  häufiger  als 
die  unteren  Extremitäten  befallen.  *) 

Die  gi'össte  Symmetrie  zeigen  die  an  den  seitlichen  Halspartien  auf- 
tretenden, häufig  vesiculösen  Läsionen.  Die  Mittellinie  ist  fast  nie  befallen. 

Am  seitlichen  Hals  kommt  es  manchmal  zu.  ausgedehnteren,  durch  Con- 
tlucuz  zahlreicher  Papeln  entstandenen,  fast  erysipelartigen  Flecken.  Die  Ober- 
fläche dieser  Infiltrate  ist  chagriuirt,  der  gemeinsame  Hand  leicht  erhaben.  Man 
kann  am  Rande  häufig  das  Hineinbeziehen  neuer  Papeln  beobachten. 

Auf  der  Brust  und  am  Nacken  zeigen  gerade  die  Tlieile,  die  — bei 
den  vom  Lande  kommenden  Recruten  — für  gewöhnlich  unbedeckt  getragen 
werden,  die  Melirzahl  der  Elemente,  ja  diesellien  sind  meist  fast  genau  auf  diese 
Märker  pigmentirten  Flächen  beschränkt. 

Einmal  unter  allen  beobachteten  Fällen  konnten  wir  das  Auftreten  von 
Eruptionen  in  grösserer  Ausdehnung  auf  dem  Thorax,  aucli  auf  den  Seitontheilen 
und  tiefer  am  Rücken  herunter  beobachten.  Die  Läsionen  unterschieden  sich  in 
nichts  von  den  übrigen  und  die  Affection  lief  auch  hier  in  der  gewöhnlichen  Zeit  ab. 

Eigent  liümlieh  ist  es,  dass  so  viele  Beobachter  von  dem  häutigen  oder 
fast  ausnahmslosen  Befallensein  des  Fugsrückens  reden.  Häufig  zeigt  allerdings 
auch  dieser  Theil  Eruptionen,  aber  doch  ungefähr  nur  in  der  Hälfte  der  Fälle. 
Die  unteren  Extremitäten  sind  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  neben  Händen , Brust 
und  Gesicht  befallen,  niemals  aber  sahen  wir  die  Affection  auf  die  unteren 
Extremitäten  beschränkt. 

An  den  unteren  Extremitäten  sind  — der  Häufigkeit  nach  — befallen  : 
I ntcrselienkel  (vorderer  Theil),  Knie,  Fnssrüekeu,  Oberschenkel. 


*)  Bestimmte  Zahlenangaben  Wullen  wir  nicht  gehen,  da  unter  den  besonderen  hiesigen 
\ erhältnissen  zu  so  eingehenden  statistischen  Vergleichungen  zu  benützende  Eintragungen  erst 
»eit  Beginn  dieses  Semesters  gemacht  sind.  — ■ Ri  gier,  t.  c.,  erwähnt  auch  das  häutige  Hefallen- 
»trden  des  Gesichtes. 


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ERYTHEME. 


Die  Läsionen  an  der  unteren  Extremität  haben  eine  Reihe  von  sehr 
beachtenswerthen,  wohl  durch  örtliche  Disposition  bedingten  Eigenthümlichkeiten. 
Würden  sich  solche  Affectionen  beschränkt  auf  die  untere  Extremität  finden  , so 
wllrde  man  in  Verlegenheit  kommen  können  wegen  der  Diagnose  — wie  gesagt, 
sahen  wir  ein  Befallensein  der  unteren  Extremität  stets  nur  neben  Läsionen  an 
Händen  und  Gesicht,  die  jeden  Zweifel  von  vornherein  aussch'ossen. 

Am  Unterschenkel  sind  die  Papeln  oft  so  gross , dass  man  sie  eher 
Knoten  nennen  könnte;  ihr  Sitz  ist  zu  beiden  Seiten  oder  auf  der  Tibia.  Die 
Farbe  ist  von  vornherein  eine  mehr  cyatiotische,  sie  durchlaufen  nicht  so  typisch 
die  Entwicklungsphasen,  wie  wir  sie  für  den  übrigen  Körper  beschrieben  haben. 
Mauchmal  finden  sich  nur  2 — 3,  dann  aber  haudtellergrosse,  gar  nicht  scharf 
begrenzte , im  Aussehen  vielmehr  einer  phlegmonösen  Infiltration  als  einem 
Erythemknoten  gleichende  Läsionen.  Diese  sind  dann , was  wir  von  subjectiveu 
Symptomen  vorweg  nehmen  wollen,  äusserst  schmerzhaft.  Die  vesiculäre  Form  ist 
an  den  unteren  Extremitäten  viel  seltener.  Auf  dem  Fussrücken  ähneln  die  Eiuzel- 
elemente  und  ihre  Entwicklung  wieder  mehr  dem  gewöhnlichen  Typus. 

Häufiger,  als  es  nach  den  Angaben  der  Autoren  scheinen  könnte,  sind 
die  Knie  befallen.  Hier  finden  sich  meist  zahlreichere,  gewöhnlich  stärker  cyano- 
tisch  gefärbte  Infiltrate,  aber  auch  hier  sind  Formen  und  Entwicklung  weniger 
multiform  als  an  den  oberen  Extremitäten  und  am  Gesicht. 

B.  Schleimhäute. 


a)  Schleimhaut  des  Mundes  und  des  Rachens. 


Die  Schleimhäute  des  Mundes  sind  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  befallen, 
die  des  Rachens  selten.  An  der  Mundschleimhaut  sind  es  besonders  Schleimhaut 
der  Ober-  und  Unterlippe  mit  angrenzenden  Theilen  der  Wangenschleimhaut, 
manchmal  auch  der  Gaumen. 

Meist  bestehen  die  Veränderungen  auf  der  äusseren  Haut  und  den  Schleim- 
häuten gleichzeitig;  in  einigen  Fällen  jedoch  waren  die  Schleimhautaffectionen 
vor  denen  der  äusseren  Haut  zu  constatircn. 

Die  Veränderungen  der  Schleimhaut  können  sein  a)  rein  hyperämiseber 
(„erythematöser“)  Art;  b)  es  bilden  sich  begrenzte  (papulöse)  Infiltrate;  c)  es  kann 
zur  Bläschenbildung  kommen;  d)  endlich' werden  auch  Ulcerationen  beobachtet. 

Die  häufigste  Form  der  Schleimhautläsionen  ist  die  zweite,  die  der  be- 
grenzten papulösen  Infiltrate. 

Dieselben  finden  sich  in  grosser  Constanz  besonders  deutlich  an  der 
Lippcnschleimhaut , in  begrenzter  Anzahl  auftretende  linsengrosse , meist  isolirt 
stehende,  älteren  Hätnorrhagien  ähnliche  Infiltrate,  leicht  über  das  Niveau  der 
umgebenden  .Schleimhaut  hervorragend.  Die  Farbe  ist  weinroth , dunkelviolett, 
manchmal  fast  blauschwarz.  Selten  confluiren  mehrere  Infiltrate.  Diese  Läsionen 
vergehen  gleichzeitig  mit  den  Eruptionen  der  äusseren  Haut,  ohne  Spuren  zu 
hinterlassen. 

Die  rein  erythematöse,  die  vesiculöse  und  besonders  die  ulccrirte  Form 
sind  bedeutend  seltener. 

Zweifellos  kommen  diffuse  Röthungen  der  Gaumenbögen  und  des  Zäpf- 
chens als  Sehleimhauteraeheinungen  unserer  Affcction  vor.  Jedoch  ist  cs  häufig 
schwer,  über  die  Art  dieser  Hyperämie  ein  sicheres  Crtheil  abzugeben. 

Blasenbildung  kommt  bin  und  wieder,  meist  auf  der  Schleimhaut  der 
Ober-  und  Unterlippe  vor.  Dass  diese  Bläschen , ebenso  wie  die  der  äusseren 
Haut,  eine  besonders  starke  bedeckende  Epidermis  und  sehr  schwerflüssigen  In- 
halt haben , ergiebt  sich  daraus , dass  Ulcerationen  ausserordentlich  selten  sind ; 
übrigens  entleert  sich  beim  Anstechen  dieser  Bläschen  wenig  oder  gar  kein  In- 
halt. Die  Bläschen  sitzen,  rund  oder  oval,  einem  bläulichen  oder  rothen  Grunde 
auf,  sind  meist  kaum  grauroth,  selten  mit  einem  Stich  in’s  Gelbliche,  von  Farbe. 


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Ulcerationen  haben  wir  im  Ganzen  nur  viermal  beobachtet , und  zwar  alle  in 
kurzer  Zeit,  bei  sehr  verbreitetem  Exanthem  auf  der  äusseren  Haut  und  heftigeren 
Allgemeinerscheinungen.  Einmal  waren  die  l’lcerationen  verhältnissmitssig  zahl- 
reich : es  bestanden  5 längliehe,  unregelmässig  gerundete,  mit  gelblichem  Seerete 
bedeckte,  ziemlich  flache,  mit  schmalem  rothen  Kntzflndungshof  umgebene  Snb- 
stanzverluste  uud  dabei  war  ttarke  Salivation  vorhanden. 

Wenn,  wie  es  in  dieser  letzterwähnten  Beobachtung  der  Fall  war,  diese 
Ulcerationen  vor  den  übrigen  Symptomen  zur  Ausbildung  kommen,  so  ist  eine 
Verwechslung  mit  syphilitischen  Ulcerationen , speciell  aber  mit  den  Substanz- 
verlusten der  Hydroa  leicht  möglich.  Die  Ulcerationen  des  Erythems  sind  meist 
kleiner  und  regelmässiger,  weniger  schmutzig  gefärbt  als  die  syphilitischen, 
weniger  regelmässig  und  mit  weniger  scharfem  Hand  als  die  der  Hydroa.  Ausser- 
dem muss  das  Gesammtbild,  das  Fehlen  anderweitiger  luetischer  Symptome,  der 
weitere  Verlauf  der  Affection  die  Diagnose  klären. 

Behrexd j‘)  will  eine  ähnliche  Affection  — „kleine,  seharlacbrothc, 
papulöse  Erhabenheiten  von  Stecknadelkopfgrösse,  welche  an  den  Genitalien  eine 
profuse  Blennorrhoe  veranlassten  und  unter  dem  Einfluss  der  letzteren  leicht 
■ ulccrirten“  — an  den  weiblichen  Genitalien  beobachtet  haben.  Ulcerationen  auf 
|der  Mundschleimhaut  hat  auch  Lipp**),  Betheiligung  der  Mundschleimhaut  haben 
viele  Autoren  constatirt. 

bj  Conjunctivitis  e x an t h em a t ica. 

Gar  nicht  oder  nur  ganz  beiläufig  erwähnt  ist  in  der  Literatur  ein  sehr 
richtiges  und  coustantes  Symptom  des  Erythema  exsudativum  multiforme 
riebrae  — die  Conjunctivitis  exanthematica , die  man  sehr  wohl  als 
■unjunctivitis  papulo-vesiculosa  bezeichnen  könnte. 

LlPP**j  erwähnt,  dass  „in  zwei  Füllen  die  Bindehaut  des  Auges  (ohne 
Erkrankung  der  Haut  der  Lider)  gcröthet  war,  einmal  in  Form  eines  umschrie- 
benen rothen  Fleckens“. 

Rigler  (1.  c.  pag.  451  hat,  was  natürlich  für  uns  von  besonderem  Interesse 
)t,  hier  in  Cunstantinopel  vor  50  Jahren  die  Conjunctivitis  sehr  gut  beschrieben : 
Jie  Conjunctiva  beider  Augen,  besonders  am  inneren  Augenwinkel,  zeigt  sich 
dem  Erythema  pnpnlatum  constant  leidend,  ein  oberflächlich  liegendes,  breit- 
»schiges,  saturirt  geröthetes,  in  Spitzen  von  der  Peripherie  der  Bindehaut  gegen 
Hand  der  Cornea  zulaufendes  Gefässnetz,  das  sich  um  die  hin  und  wieder 
^bildeten  kleinen  Abseesse  dichter  anhäuft.“ 

Eine  These  de  Paris  von  Beaüdoxxet*1),  in  der  übrigens  die  verschieden- 
artigsten Erytheme  unter  einer  Etiquette  abgehandelt  werden , beschreibt  ziem- 
lich ungenügend  Coujunetivalaflectionen.  Ein  sicher  hieher  gehöriger  Fall  ist  der 
von  Fi  chs  als  Herpes  iiis  conjunctivae  beschriebene. 

Wie  oben  erwähnt,  ist  diese  Conjunctivitis  häufig  das  erste  Symptom 
der  Eruptionsperiode.  Man  sieht  in  der  Lidspalte,  auf  den  horizontalen  Durch- 
messer des  Auges  beschränkt,  einen  Kegel  injicirter  Gefässe,  meist  von  dreieckiger 
Gestalt,  mit  der  Basis  am  Conjunctivalrande  und  der  Spitze  in  den  Augenwinkeln. 
Auf  diesem  Injeetionskegel  aufsitzeud,  finden  sich  kleinlinsengrosse,  leicht  erhabene, 
mit  starkem  Gefässnetz  umgebene,  theils  isolirt,  theils  gruppirt  stehende  und 
confluiremle  rothe  Papelchen  oder  vollständig  transparente  Bläschen.  Ich  gehe  im 
Nachstehenden  die  Beschreibung,  welche  mir  mein  verehrter  College  Herr 
Dr.  Hieran  Bey  Ai>.i emi an  gütigst  deutsch  niedergeschrieben  hat. 

„Ueber  Conjunctivitis  beim  polymorphen  Erythem. 

Die  hier  zu  beschreibende  »Form  der  Conjunctivitis  gehört  in  der  Mehr- 
zahl der  Fälle  zu  den  ersten  Erscheinungen  der  Krankheit,  und  zwar  kommen 
die  Augensymptome  bisweilen  einige  Tage*)  vor  und  spätestens  3 oder  4 Tage 


In  dem  Fuchs'scken  Falte  7 Tage  (I.  c.). 


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ERYTHEME 


nach  dem  Auftreten  der  Hautausschläge  zum  Vorschein.  Man  bemerkt  zuerst  auf 
der  Conjunctiva  bulbi  mehr  oder  weniger  umschriebene  Flecken,  welche  durch 
Infiltration  der  betreffenden  Conjunctiva,  sowie  auch  des  subconjunctivalen  Binde- 
gewebes entstanden  sind.  Form  und  Ausdehnung  dieser  Flecke  ist  verschieden. 
Sie  zeigen  meistens  dreieckige , in  anderen  Fällen  auch  viereckige  oder  rund- 
liche Formen;  ihre  Ausdehnung  kann  in  verticaler  Richtung  5 Mm.  Bis  2 Cm. 
und  noch  darüber  sein,  während  in  horizontaler  Richtung  diese  Ausdehnung  noch 
etwas  mehr  ist.  Der  infiltrirte  Theil  ist  etwas  über  die  Oberfläche  der  übrigen 
Bindehaut  erhallen  und  zeigt  ausserdem  mehrere  kleine  stecknadelkopfgrossc  oder 
hirsekorngrosse  Erhabenheiten , welche  wahrscheinlich  durch  subepitheliale  um- 
schriebene Infiltrate  zu  Stande  gekommen  sind;  sie  haben  gelbliches  oder  leicht 
grauliches  Aussehen.  Die  conjonctivalcn,  sowie  die  subconjunctivalen  Gefässe  sind 
auf  dem  infillrirten  Theil  stark  injicirt,  wodurch  derselbe  eine  rothgclhliehe  Farbe 
bekommt.  Der  Lieblingssitz  der  Krankheit  ist  jener  Theil  der  Conjunctiva,  wel- 
cher aus  der  Lidspalte  gesehen  werden  kann,  wo  der  Krankheitsherd  sich  immer 
bis  zur  Grenze  der  Hornhaut  ausdebnt.  Die  äussere  Seite  der  Conjunctiva  bulbi 
ist  Öfters  als  die  innere  befallen,  nur  selten  sieht  man  das  Auftreten  der  Krank- 
heit auf  dem  oberen  oder  unteren  Thcile  der  Bindehaut.  Die  übrige  Conjnnetiva 
bietet  meistens  die  Erscheinungen  einer  ziemlich  starken  Hyperämie  dar;  in 
einigen  Fällen  kommt  noch  hinzu  ein  katarrhalischer  Zustand.  Die  subjeetiven 
Symptome  bestehen  darin,  dass  die  Kranken  über  Brennen,  Jucken  und  Thränen 
der  Augen  klagen ; Lichtscheu  ist  in  sehr  massigem  Grade  vorhanden.  Conjunc- 
tivalabsonderung  besteht  entweder  gar  nicht  oder  nur  sehr  wenig;  seltener  beob- 
achtet man  eine  reichliche  schleimige  oder  schleimig-eiterige  Secretion.  Endlich 
soll  noch  erwähnt  werden,  dass  die  Krankheit  meistens  auf  den  beiden  Augen 
zugleich  auftritt,  nur  sehr  selten  kommt  sie  einseitig  vor. 

Die  Diagnose  kann  aus  dem  oben  Gesagten  mit  Sicherheit  und  ohne 
Verwechslung  mit  einer  anderen  Bindehautkrankbeit  gestellt  werden.  Dazu  trägt 
noch  bei  das  Vorhandensein  einer  erythematösen  Eruption. 

Der  Verlauf  ist  immer  acut.  Die  Augeuerscheinungen  gehen  mit  dem 
Verschwinden  des  allgemeinen  krankhaften  Zustandes  zurück,  und  zwar  in  zwei 
bis  drei  Wochen.  Doch  ist  diese  Krankheit  Afters  recidivircnd.“  (NB.  Meist  am 
12. — 14.  Tage  sah  ich  die  Nachschühe.  Der  Verf.)  „Die  Prognostik  ist  gün- 
stig, namentlich  wenn  mau  die  Kranken  unter  zweckmässiger  Behandlung  und 
regelmässigen  hygienischen  Massregelu  hält. 

Was  die  Behandlung  anbelangt , so  bat  man  meist  rein  exspertativ  zu 
verfahren.  Lauwarme  antiseptische  Waschungen  der  Augen  können  unter  Um- 
ständen  nützlich  werden.  Die  Kranken  füllen  grelles  Lieht,  starken  Wind  und 
Staub  vermeiden.  Gute  und  regelmässige  Kost  ist  vortheilhaft,  geistige  Getränke 
sind  den  Kranken  ganz  verboten.“ 

Gerade  wenige  Tage,  nachdem  ich  vorstehende  Beschreibung  von  meinem 
verehrten  Collegen  erhalten  hatte , zeigte  derselbe  mir  die  erste  Complieation 
einer  Conjunctivitis  exantbeinatica.  Es  handelte  sich  um  einen  Patienten , der 
Mitte  November  mit  Conjunctivitis  exanthematica  auf  meine  Abtheilung  nach 
Ausbruch  des  Exanthems  überführt  worden  war.  Am  20.  December,  nach  Heilung 
des  Erythems , sandte  ich  den  Patienten  mit  einem  Recidiv  der  Conjunctivitis, 
das  etwas  heftigere  Reizerscheinungen  zeigte,  auf  die  ophthalmologische  Ab- 
theilung zurück.  Am  26.  December  zeigte  mir  der  College  folgenden  Status: 
Auf  der  rechten  Cornea,  besonders  auf  dem  Cornealrand,  neben  der  exanthemati- 
sehen  Conjunctivalintiltration , ist  eine  aus  drei  gelben  Infiltraten  bestehende 
Keratitis  exsudativa  zu  eonstatiren.  Bei  seitlicher  Beleuchtung  sieht  man , dass 
diese  Knötchen  deutlich  erhaben  sind  über  die  Oberfläche.  Sie  zeigen  grosse 
Aehnliehkeit  mit  Keratitis  phlyctaenulosa.  Der  Kranke  ist  vollständig  geheilt 
entlassen. 

Mindestens  75°/»  aller  Kranken  zeigen  diese  Conjunctivitis. 


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ERYTHEME. 


177 


2.  Symptomatologie. 

Nach  der  Beschreibung  des  Exanthems  gehen  wir  nun  zur  Symptomato- 
logie des  Erythema  exsudativum  multiforme  Hebrae  über.  Wir  haben  dasselbe 
für  eine  acute  exanthematisehe  lufeetionskrankheit  erklärt  und  haben  nun  nach- 
zuweisen, dass  in  denjenigen  Fällen,  in  denen  das  von  uns  beschriebene  Exanthem 
bestand,  auch  die  übrigen  Zeichen  einer  Infectionskrankhcit  bestanden,  dass  wir 
einen  cyklischen  Ablauf  dieser  Krankheit,  Incubation,  Invasion,  Eruption  und  in 
bestimmter  Zeit  einen  Ablauf  des  Exanthems,  sowie  die  objectiven  und  snbjeetiven 
Allgemeinerscheinungen  einer  Infection  beobachten  können. 

a)  Incubation. 

Es  ist  von  grosser  Wichtigkeit,  über  die  Periode  der  Incubation  aus- 
drücklich zu  sprechen  , wenn  wir  auch  weder  ihre  Dauer,  noch  ihre  Symptome 
genau  tixiren  können.  Wichtig  aber  ist  es  im  Hinblick  auf  eine  Aeusserung 
Bk^xikr’s  (I.  c.  pag.  5).  Nachdem  Besnier  dargelegt  hat,  dass  das  „polymorphe 
Erythem“  stets  eine  individuelle  Prädisposition  voraussetzt  und  nachdem  er  Uber 
die  Ursachen  gesprochen  hat,  welche  diese  Anlage  „auslösen“,  sagt  er: 
„Es  giebt  keine  Epidemien  von  polymorphem  Erythem.  Alles,  was  in  der  Hin 
sicht  vorgebracht  ist,  ist  unbegründet  und  bezieht  sieh  nur  auf  seeundäre  Ery- 
theme nach  zymotisehen  Krankheiten,  Cholera,  Influenza,  Dysenterie  u.  s.  w., 
oder  eB  bezieht  sich  auf  wirkliche  fieberhafte  Krankheiten,  die  wegen  ihres  abor 
tiven  Charakters  oder  der  nicht  nachweisbaren  Contagiosität  verkannt  worden 
sind,  wie  z.  B.  Masern,  oder  endlich,  es  handelt  sich  um  Einführung  von  Nahrungs- 
mitteln, die  sich  nur  auf  eine  bestimmte  Gruppe,  auf  eine  genau  begrenzte  Zeit 
beschranken;  die  Erytheme  verschwinden,  wenn  diese  zufällige  Ursache  sieh 
nicht  wiederholt.“ 

Den  grösseren  Theil  der  hier  erwähnten  Punkte  haben  wir  zu  be- 
sprechen, wenn  wir  uns  zu  der  Aetiologie  des  uns  beschäftigenden  Erythems 
wenden.  Aber  es  geht  aus  diesem  Passus  der  BESxiER’schen  Arbeit  zur  Genüge 
hervor,  dass  wir  genau  darauf  Acht  zu  geben  haben,  ob  wir  in  der  Zeit,  in  welche 
wir  die  Incubation  zu  verlegen  haben,  oder  in  der  Zeit,  welche  dieser  Periode 
vorhergeht,  irgendwelche  krankhafte  Symptome  subjectiver  oder  objectiver  Art 
feststellen  können.  Wenn  wir  solche  Symptome,  besonders  objectiver  Art,  finden, 
wäre  noch  festzustellen , ob  es  Ineubationssymptome  sind , oder  ob  wir  es  mit 
Krankheiten  sui  generis  zu  thun  haben,  die  als  Secundürerscheinungen  das  Ery- 
them verursachen, 

Wir  haben  diesem  Punkte  unsere  ganz  besondere  Aufmerksamkeit  ge- 
schenkt, vorzüglich  schon  deshalb , weil  wir  an  die  Beobachtung  unserer  Fälle 
herangingen,  vollständig  überzeugt  von  der  Richtigkeit  der  BüäNiEK’schen  An- 
sichten. Da  uns  zunächst  keine  Symptome  in  auffallender  Weise  anfstiessen, 
haben  wir  in  jedem  einzelnen  Falle  ausdrücklich  unsere  Nachforschungen  auf 
diesen  Punkt  gerichtet.  Erleichtert  wurden  uns  diese  Nachforschungen  dadurch, 
dass  eine  Anzahl  von  Patienten  mit  Favus  und  chronischem  Ekzem  auf  unserer 
Abtheilung  erkrankten , nachdem  sie  zum  Theil  schon  wochenlang  in  Behand- 
lung waren. 

Fast  ausnahmslos  geben  die  Kranken  an,  bis  2 — H Tage  vor  Ausbruch 
des  Exanthems  vollständig  gesund  gewesen  zu  sein.  Die  Fälle  z.  B.  — zwei  im 
Ganzen ! — , in  denen  eine  Diarrhoe  in  den  letzten  14  Tagen  angegeben  wurde, 
beweisen  gerade  durch  die  Zahl  so  Bicher  ein  zufälliges  Zusammentreffen , dass 
sie  vernachlässigt  werden  können.  Wir  haben  also  weder  Diarrhoe,  noch  Bron- 
chitis, noch  irgendwelche  fieberhafte,  mit  oder  ohne  Exanthem  verlaufende  Krank- 
heit auffinden  können , die  mit  dem  Erythem  in  irgend  welchen  ursächlichen 
Zusammenhang  hätte  gebracht  werden  können.  Die  Incubationsperiode  ver- 
läuft demnach  ohne  jedwede  objective  Symptome. 

Encvclop.  Jahrbücher.  VI.  12 


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178 


ERYTHEME. 


Die  Angaben  über  subjective  Symptome  sind  selir  verschieden,  unwesent- 
licher und  allgemeiner  Natur  — sehr  häufig  wohl  durch  Postsuggestion  ein- 
gegeben. Die  meisten  Kranken  gehen  direct  an,  vollständig  wohl  gewesen  zu 
sein.  Einige  klagen  über  ganz  allgemeines,  nicht  bedeutendes  Unbehagen,  Schwere 
in  den  Gliedern,  Kopfschmerz,  Appetitlosigkeit.  Die  meisten  Soldaten  tliaten  bis 
zum  letzen  Augeublick  ihren  Dienet. 

b)  Invasion. 

Wenn  wir  im  Gegensatz  zum  Exanthem  der  äusseren  Haut  die  Erup- 
tionen der  Schleimhäute  als  Enantheme  bezeichnen  wollen,  so  können  wir  sagen, 
dass  in  der  Invasionsperiode  Enanthem , Fieber  und  AUgemeinsymptome  beob- 
achtet werden. 

Es  ist  schwer  festzustellen,  in  wie  vielen  Fällen  und  wie  viele  Tage 
exact  das  Fieber  der  Invasionsperiode  der  Eruption  vorhergeht,  da  ja  die  meisten 
Kranken  erst  dann  in  unsere  Deobachtung  kommen,  wenn  sie  sich  schon  wirk- 
lich krank  fühlen,  also  meist  schon  einige  Tage  krank  sind,  oder  wenn  sie  gar 
schon  das  Exanthem  haben.  Wenn  wir  jedoch  das  ,. Enanthem“,  die  Eruptionen 
auf  den  Schleimhäuten , ohne  Exanthem  auf  der  äusseren  Haut  zur  Invasions- 
periode hinzurechnen  und  diejenigen  Fälle  hinzunehmen,  die  zufällig,  wie  erwähnt, 
auf  unserer  Abtheilung  am  Erythem  erkrankten,  so  können  wir  aus  diesen  Daten 
und  aus  den  anamnestischen  Angaben  der  übrigen  Fälle  mit  ziemlicher  Bestimmt- 
heit sagen,  dass  die  Invasionsperiode  2 — 3 Tage  dauert. 

Hkbba*)  spricht  überhaupt  nicht  von  Fieber,  während  die  Mehrzahl  der 
späteren  Autoren  das  Fieber  erwähnt  (z.  B.  auch  Rigler  1.  c.i. 

ln  vielen  Fällen  kann  man  nur  von  subfebrilen  Temperaturen  sprechen  ; 
die  Temperatur  steigt  Abends  bis  37,7,  37,8°.  lu  anderen  Fällen  dagegen  — 
und  zwar  nach  unseren  Beobachtungen  müssen  wir  das  ausdrücklich  betonen  — 
ist  das  Fieber  ziemlieh  bedeutend  und  steht  in  directem  Vcrhältniss  zur 
Ausdehnung  des  später  auftretenden  Exanthems. 

Wenn  wir  eine  Abendtemperatur  von  37,3°  C.  als  die  Grenze  des  Nor- 
malen annehmen  und  alle  höheren  Temperaturen  (Messung  in  der  Achselhöhle  i 
als  fieberhafte  bezeichnen,  so  dürfte  ungefähr  in  30%  der  Fälle  in  der  [nvasions- 
periode  Fieber  nachzuweisen  sein. 

Die  Erscheinungen  des  Enanthems , soweit  Conjunctiva,  Schleimhaut  des 
Mundes  und  Rachens  in  Betracht  kommen,  haben  wir  schon  erwähnt.  Wir  be- 
tonen hier  uur  noch  einmal  ausdrücklich , dass  nach  den  Erfahrungen  unseres 
Collegen  Dikran  Bky  Adjkmiak  und  nach  den  eigenen  Erfahrungen  die  Eruption 
auf  der  Conjunctiva  dem  Exanthem  bestimmt  oft  um  2 — 3 Tage  vorausgebt  'in 
dem  oben  erwähnten  Fall  von  Fcchs  um  7 Tage),  dass  wir  ferner  dasselbe  für 
die  Eruptionen  auf  der  Schleimhaut  des  Mundes  feststellen  konnten  und  dass 
man  demgemäss  diese  Eruptionen  auf  der  Schleimhaut  sehr  wohl  der  Invasions- 
periode zuree.hnen  kann. 

An  subjeetiven  Symptomen  bietet  die  Invasionsperiode  Kopfschmerzen, 
Gliederschmerzen,  Abgeschlagenheit , Appetitlosigkeit.  Wir  betonen  auch  hier 
wieder  ausdrücklich,  dass  Höhe  der  Temperatur,  ausgesprochene  subjective  Sym- 
ptome stets  im  directen  Vcrhältniss  zur  Schwere  des  weiteren  Verlaufes  standen. 

Die  Kopfschmerzen  können  ganz  fehlen , können  aber  auch  sehr  heftig 
sein.  Der  Schlaf  ist  meist  unruhig,  aber  eigentliche  Schlaflosigkeit  ist  eine  selten 
gehörte  Klage. 

Die  Gliederschmerzen  sind  vielmehr  Muskelschmcrzeu,  Schmerzen  in  den 
langen  Röhrenknochen  als  Gelenkschmerzen.  Sie  fehlen  oft  ganz. 

Die  Abgeschlagenheit , eine  gewisse  Müdigkeit,  ist  meist  recht  aus- 
gesprochen. 


*)  L c.  (AuS.  von  18Ö0). 


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ERYTHEME 


179 


e)  Eruptionsperiode. 


Die  Eruption  erscheint  meist  sehr  plötzlich,  die  Papeln  entwickeln  sich 
in  wenigen  Stunden,  sind  dann  aber,  was  ganz  besonders  zu  betonen  ist,  stationär, 
das  heisst  sie  verschwinden  niemals  innerhalb  weniger  Stunden  oder  Tage,  son- 
dern machen  den  Verlauf  durch,  dessen  „Multiformitäf1  wir  weiter  oben 
beschrieben  haben,  ln  den  ersten  Tagen  sehiessen  manchmal  noch  neue  Elemente 
auf,  aber  meist  hört  diese  Verbreitung  am  3.  oder  4.  Tage  auf.  Das  Exanthem 
besteht  ungefähr  11  — 12  Tage. 

Die  Ausdehnung  des  Exanthems  kann  eine  sehr  verschiedenartige  sein. 
Wir  erinnern  uns  keines  Falles,  wo  der  Handrücken  gar  nicht  befallen  gewesen 
wäre ; dagegen  finden  wir  verschiedentlich  vermerkt,  dass  das  Exanthem  auf  der 
Stirne,  im  Gesicht,  auf  der  Brust  schon  2 — 3 Tage  bestand  und  erst  dann  die 
Handrücken  befallen  wurden.  Immerhin  sind  aber  diese  Fälle  selten  und  mau 
kann  sagen,  dass  fast  immer  der  zuerst  befallene  Theil  der  Handrücken  ist  und 
dass  meistens  das  Erythem  gleichzeitig  auf  Handrücken , .Stirne  und  Thorax 
erscheint. 

Am  zahlreichsten  sind  die  einzelnen  Elemente  meist  auf  der  Stirn  ver- 
theilt , dann  kommen  Hände , Sternalgegend , Gesicht , untere  Extremitäten.  Zu 
Beginn  ist  die  zwischenliegende  Haut  meist  normal,  selten  zeigt  sie  eine  teigige 
Schwellung.  Nur  ausnahmsweise  (ich  finde  nur  5 Fälle  in  meinen  Notizen)  tritt 
eine  sehr  bedeutende  Schwellung  ein,  besonders  der  Hände;  die  Besonderheiten 
der  Eruptionen  au  den  Unterschenkeln  sind  weiter  oben  besprochen. 

lieber  Entwicklung,  Verlauf  und  Verschwinden  des  Exanthems  haben 
wir  schon  bei  der  Beschreibung  des  Exanthems  des  Erythema  multiforme  exsuda- 
tivum Hebrae  ausführlich  gesprochen. 

Wir  wollen  hier  nur  betonen , dass  wir  zwei  verschiedene  Arten  von 
Nachschüben  zu  verzeichnen  haben.  Die  erste  Art  von  Nachschüben  tritt  wäh- 
rend des  Verlaufes  der  ersten  Eruption  am  4.  oder  5.  Tage,  manchmal  sich  nach 
einigen  Tagen  wiederholend  ein  und  verzögert  so  den  Verlauf  der  Erkrankung. 
Diese  Fälle  bieten  die  grösste  Polymorphie,  da  man  alle  Entwicklungsphasen  und 
alle  möglichen  Formen  nebeneinander  beobachten  kann. 

Die  zweite  Art  von  Nachschüben  ist  vielleicht  mit  ebenso  viel  Recht  als 
Rückfall  zu  bezeichnen. 

Wenu  das  erste  Exanthem  in  der  Resorption,  respective  in  der  Ab- 
schuppung ist , bilden  sich  meist  auf  dcu  schon  vorher  befallenen , manchmal 
aber  auch  auf  vorher  nicht  befallen  gewesenen  Theilen  neue  Eruptionen  mit 
dem  gleichen  cyklischen,  manchmal  allerdings  etwas  weniger  acuten  Verlauf  — 
geringere  Ausdehnung,  minder  lebhafte  Färbung,  schnellere  Resorption  der 
Läsionen. 

d)  Die  Allgemeinsymptome 


der  Eruptionsperiode  können  sehr  unbedeutend  sein,  sind  in  anderen  Fällen  da- 
gegen recht  heftige. 

Das  Fieber  ist  meist  nicht  hoch,  zeigt  geringe  Morgenremissionen  und 
abendliches  Ansteigen.  Ungefähr  in  der  Hälfte  der  Fälle  sind  selbst  die  Abend- 
temperaturen noch  normal  oder  übersteigen  kaum  37,6“  C.  In  anderen  Fällen 
dagegen  erhebt  sieh  die  Temperatur  während  10 — 12  Tagen  Abends  auf  über 
38,5*  C.  und  fällt  nach  dieser  Zeit  ab,  bleibt  aber  noch  längere  Zeit  Abends 
subfebril.  Im  Nachstehenden  geben  wir  einige  Curven  der  Abendtemperaturen. 

1.  Salihmkh  Mehmed:  37,4,  37.4,  37,6,  37,5,  37,1,  37,5,  37,3,  37,5, 

37,6,  37,4,  37,4,  37,1,  37,1,  37,0,  36,8,  36,7,  36,6.  36,9,  36,8,  36,9,  37,0, 

37,0,  36,8.  — Entlassung. 

Also  ein  23tägiger  llospitalaufenthalt.  Vom  Tage  des  Eintritts  (ohne 
Exanthem)  bis  zum  Ausbruch  des  Exanthems  (3.  Tag)  ist  im  Vergleich  zu  den 
Temperaturen,  welche  am  Schlüsse  als  Norm  sich  ergaben,  immerhin  eine  Er- 

12* 

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ERYTHEME. 


höhung  vod  0,5 — 0,6  Centigrade  zu  constatiren,  die  sich  8 Tage,  bis  zum  Ablauf 
des  Exanthems,  erhält. 

2.  Salih  Hamze:  37,5,  37,4,  38,3,  38,0,  37,7,  37,1,  37,1,  37,2  36,9, 
37,0  fortlaufend  bis  zum  30.  Tage. 

Also  leichte  Temperatursteigerung  circa  0,5  Centigrade  in  der  Invasions- 
periode,  1 — 1,5  Centigrade  Temperaturerhöhung  bei  Ausbruch  des  Exanthems, 
aber  rasche  Rückkehr  zur  Norm. 

3.  Mehmed  Hassan:  Eintritt  mit  ausgebreitetem  Exanthem.  38,4,  38,5, 

38,1,  38,0,  37,8,  38,1,  38,6,  38,9,  38,8,  38,4,  38,3.  38,1,  37,9,  37,5,  37,5, 

37.6,  37,4,  37,3,  37,4,  37,5,  37,6,  37,8,  37,7,  37,7,  37,6,  37,6,  37,5,  37,6, 

37.7,  37,6,  37,4,  37,2,  37,3. 

Am  6.  Tage  war  ein  Nachschub  zu  constatiren ; am  20.  Tage  ein 

Rückfall. 


4.  Meemed  Mehmed:  Trat  ein  mit  beginnendem  Exanthem,  starker  Con- 
junctivitis, Eruptionen  auf  der  Mundschleimhaut.  38,0,  37,8,  38,1,  38,4,  39,0, 

38.7,  38,9,  38,5,  38,6,  38,2.  38,0,  38,0,  38,0,  37,7,  38,0,  37,8,  37,5,  37,4, 

37,5,  37,4,  37,3,  37,3,  37,1,  37,1,  37,0,  37,0,  37,1,  37,0. 

5.  Abdullah  Salih:  Trat  ein  mit  voll  ausgebrochenem  Exanthem, 
starker,  fast  phlegmonöser , schmerzhafter  Schwellung  des  rechten  Handrückens. 

39.1,  39,0,  39,0,  39,1,  38,8,  38,9,  38,5,  38,4,  38,1,  37,8,  37,5,  37,5,  37,6, 

37.7,  37,6,  37,8,  37,5,  37,6,  37,5,  37,3,  37,4,  37,5,  37,4,  37,2,  37,0,  37,0. 

Dauer  der  Krankheit  vor  Eintritt  — von  der  Augenabtheilung  auf  die 
Hautabtheilung  verlegt  — 4 Tage.  Am  11.  Tage  Rückfall.  Die  Abendtemperatur 
während  des  Rückfalles  ist  circa  0,5  Centigrade  ültcr  der  Norm. 

6.  Ibrahim  Mehmed:  Wenig  ausgebreitetes  Exanthem,  das  beim  Ein- 
tritt schon  vorhanden  ist.  Verlauf  mit  ganz  unwesentlicher,  sich  in  den  Grenzen 
der  Norm  liewegender  Temperaturerhöhung.  37,8,  37,5,  37,0,  36,8,  37,1,  37,2, 
37,5,  37,5,  37,2,  37,0,  37,0,  36,8,  36,9,  36,8,  37,0,  37,0,  36,9,  37,0,  36,9, 
36,9,  37,1,  37,1,  37,0,  37,0,  36,8,  37,3,  37,4,  37,3  37,1,  37,2. 

Am  8.  und  am  21.  Tage  Rückfall. 

7.  Osman  Reschid:  Eintritt  mit  beginnendem  massig  starkem  Erythem. 

37.2,  37,1,  37,0,  37,1,  37,0,  37,0,  37,0,  37,1,  37,0,  37,0,  36,7,  37,0,  37,0, 

36,9,  37,0,  37,0,  36,9,  37,0,  36,8,  37,3,  37,4,  37,2,  37,1,  37,2,  37,1,  37,0, 


37.1,  37,1,  37,2,  37,0. 

Der  Beginn  der  Erkrankung  ist  um  2 — 3 Tage  vor  den  Eintritt  zurück- 
zudatiren.  Am  8.  Tage  und  am  20.  Tage  Rückfall ; wie  ersichtlich,  sind  fieber- 
hafte Temperaturen  überhaupt  nicht  vorgekommen. 

8.  Mustafa  Ismail:  Auf  der  Abtheilung  wegen  eines  Ekzems.  Klagt 
über  Unwohlsein,  Kopfschmerz,  Gliederschmerz  und  wurde  deshalb  gemessen  und 
genau  beobachtet.  37,9,  37,8,  37,8,  37,7,  38,0,  38,2,  38,5,  38,7,  38,1,  38.0, 

38.2,  38,1,  38,2,  38,1,  38,0,  38,0  37,8,  37,7. 

Am  zweiten  Tage  Conjunctivitis,  am  5.  Tage  ausgebreitetes  Exanthem, 
das  mehrfache  Nachschübe  zeigt. 

Es  ergiebt  sich  aus  diesen  typischen  Curven,  dass  die  Temperatursteige- 
rung sehr  gleichmässig  auf  derselben  Höhe  bleibt  und  sehr  typisch  circa  am  11. 
und  12.  Tage  zur  Norm  zurückkehrt;  dass  ferner  die  Temperatur  mit  Nach- 
schüben und  Rückfällen  wieder  eine  leichte  Steigerung  zeigt. 

Wir  müssen  hier  nochmals  betonen , dass  die  Schwere  des  Allgemein- 
zustandes, Höhe  des  Fiebers  und  das  Exanthem  stets  in  geradem  Verhältniss  zu 
einander  stehen.  Es  ist  uns  kein  Fall  vorgekommen , der  bei  ausgebreitetem 
Exanthem  niedere  Temperaturen,  kein  Fall , der  bei  massigem  Exanthem  hohe 
Temperaturen  gezeigt  hätte. 

Nur  ein  Symptom  macht  hier  eine  Ausnahme  nach  einer  Seite. 

Ganz  auffallend  ist  bei  dem  Erythema  multiforme  exsudativum  Hebrae 
die  rasch  und  stark  sich  entwickelnde  Anämie  und  Schwäche. 


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ERYTHEME. 


181 


Selbst  in  Fällen,  welche  mit  Temperaturerhöhungen  verlaufen,  die  unter 
der  Fiebergrenze  liegen , bildet  sieh  schon  in  den  ersten  Tagen  eine  auffallende 
Blässe  aus.  Alle  sichtbaren  Schleimhäute  sind  hochgradig  blass,  wie  es  nur  nach 
schweren,  z.  B.  septischen  Erkrankungen  oder  bei  Malaria  vorkommt.  Weiter 
erwähnen  schon  frühere  Beobachter  ausdrücklich  das  eigenthümlich  melancholische, 
leidende,  etwas  stumpfsinnige  Aussehen  der  Kranken.  Der  leidende  Ausdruck  des 
blassen  Gesichtes,  die  psychische  Depression  der  Kranken  — wir  nehmen  dieses 
ebenso  sehr  snbjective  wie  objective  Symptom  hier  vorweg  — , die  ihren  Aus- 
druck in  der  melancholischen  Physiognomie  findet,  ist  ein  typisches,  regelmässiges, 
höchst  eigenartiges  Symptom.  Ohne  besondere  Klagen  sind  die  Kranken  sehr 
theilnahmslos ; die  Blässe,  der  melancholische  Gesichtsausdruck,  die  Theilnahms- 
losigkeit  machen  den  Eindruck,  als  habe  man  einen  Schwerkranken  vor  sieb! 

Das  Blot,  welches  man  solchen  Kranken  entnimmt,  besonders  das  Blnt 
aus  Nadelstichen,  ist  auffallend  blass,  dünnflüssig,  tleischwasserähnlich.  Die 
Kesnltate  der  bis  jetzt  angestellten  Blutuntersuchungen  ergaben  nicht  derart  con- 
stante  Befunde , dasB  man  daraus  schon  Schlüsse  zu  ziehen  berechtigt  wäre. 
Eventuelle  positive  Ergebnisse  dieser  Untersuchungen  müssen  wir  einer  späteren 
Veröffentlichung  Vorbehalten. 

Die  Lymphdrüsen,  besonders  die  Cervicaldrüsen  sind  oft  etwas,  in 
einigen  Fällen  sogar  recht  bedeutend  angeschwollen. 

Die  Milz  ist  meistens  percutorisch  als  vergrössert  nachzuweisen ; nicht 
seiten  ist  auch  ein  Milztumor  durch  die  Palpation  festzustellen. 

Der  Stuhlgang  ist  eher  etwas  träge.  Diarrhoe  besteht  fast  nie. 

Albuminurie  besteht  niemals;  selbst  in  den  mit  IStägigem  Fieber  und 
heftigen  Allgemcinerscheinungcn  einhergehenden  Fällen  war  niemals  Eiweiss  im 
Urin  nachzuweisen. 

Die  Urinmenge  ist  normal;  bei  höherem  Fieber  ist  der  Urin  etwas 
hochgestellt  und  spärlicher. 

Subjective  Allgemeinsymptome. 

Die  Läsionen  auf  der  Haut  können  vollständig  symptomlos  verlaufen ; 
dies  ist  die  Regel.  Die  meisten  Kranken  erklären  ausdrücklich , dass  sie  weder 
Jucken,  noch  Brennen,  noch  Spannung,  noch  Schmerz  empfinden. 

Etwas  häutiger  wird  leichtes  Brennen  und  etwas  Spannung,  selten 
Jucken  angegeben. 

Nur  selten  wird  Uber  wirkliche  Schmerzhaftigkeit  der  Knötchen  geklagt. 
Dann  aber  sind  es  immer  stärkere  Schwellungen,  grössere  Knötchen,  bedeutendere 
allgemeine  Schwellungen,  welchen  die  Läsionen  aufsitzen,  oder,  wie  an  den  Unter- 
schenkeln, diffusere,  einer  phlegmonösen  Eutzünduug  ähnelnde  Infiltrate,  die  dann 
recht  schmerzhaft  sein  können.  Die  Empfindlichkeit  stebt  also  meist  in  directem 
Verhältniss  zur  Heftigkeit  der  localen  Erscheinungen.  Schmerzhaftigkeit  der 
Gelenke  wird  wohl  hin  und  wieder  angegeben,  jedoch  haben  wir  eine  Schwellung 
der  Gelenke  nicht  beobachtet.  Die  hauptsächlichste  Klage  der  Kranken  ist  die 
Uber  Mattigkeit,  Abgeschlagenheit , Gliederschmerzen.  Kopfschmerzen  sind  im 
Beginne  der  Eruptivperiode  manchmal  sehr  heftig,  hin  und  wieder  wird  auch 
über  Schwindel  geklagt.  Der  Appetit  ist  sehr  gering,  die  Zunge  belegt,  zeigt 
aber  keine  erythematöse  Röthung  am  Rande.  Der  Durst  ist  mässig.  Die  Schwäche 
der  Kranken,  auch  solcher,  die  kein  Fieber  hatten,  ist  oft  recht  gross,  ihre 
Iieconvalescenz  eine  langsame;  besonders  hält  das  anämische  Aussehen  merk- 
würdig lange  an,  so  dass  wir  gezwungen  sind,  unsere  Patienten  meistens  mindestens 
drei  Wochen,  nicht  selten  fast  zwei  Monate  im  Hospital  zu  behalten. 

3.  Complicationen. 

Herba  sagt,  wie  wir  in  der  Einleitung  erwähnten,  dass  das  Erythema 
exeujativum  multiforme  ohne  Complicationen  verlaufe,  während  die  Autoren 


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ERYTHEME. 


nach  Hebra  — wir  verweisen  speciell  auf  Kaposi  — von  Complicatiouen  beim 
polymorphen  Erythem  sprechen. 

In  einer  kleinen  Reihe  von  Fällen  konnten  wir  Bronchitis  constatiren. 
Es  ist  ja  sehr  wohl  möglich,  dass  das  Enanthem  , das  wir  auf  der  Schleimhaut 
des  Mundes  beobachten , sich  ebenso  auf  der  Schleimhaut  der  Bronchien  findet 
und  so  Ursache  der  Bronchitis  ist.  Uebrigens  werden  wir  der  Bronchitis  noch 
weiter  unten  Erwähnung  thun,  wenn  wir  den  Zusammenhang  zwischen  Erythem 
nnd  Tuberkulose  erörtern  werden.  Wir  können  nun  ausdrileklichst  betonen,  dass 
wir,  ausser  der  Bronchitis , unter  den  mehr  als  hundert  Fällen  von  Erythema 
exsudativum  multiforme , die  wir  beobachtet  haben , auch  nicht  eine  einzige 
Complication  oder  Folgen  gesehen  haben,  die  auf  Rechnung  des  Erythems  hätten 
gesetzt  werden  können.  Weder  Endo-  und  Perikarditis,  noch  Meningitis,  noch 
Tuberkulose,  noch  Klappenfehler,  noch  Pleuro-  und  Pneumonie  haben  wir  beob- 
achtet, weder  als  Complication,  noch  als  Folgekrankheit,  noch  als  symptomatische 
Erscheinung. 

In  einem  einzigen  Falle  — dadurch  gerade  verliert  er  wohl  seine  Be- 
deutung — haben  wir  bei  einem  Pompier  ein  blasendes  systolisches  Geräusch 
Uber  der  Tricuspidalis  gehört.  Es  ist  aber  mindestens  ebenso  wahrscheinlich,  dass 
dieser  Herzfehler  schon  früher  bestanden  hat. 

Ganz  besonderes  Interesse  ist  zwei  weiteren  Punkten  zuzuwenden,  Uber 
die  wir  heute  keine  abschliessende  Meinung  zu  geben  vermögen. 

Einmal  der  Punkt,  ob  diejenigen  Individuen,  welche  einmal  diese 
Krankheit  gehabt  haben,  disponirt  sind,  sie  ein  zweitesmal  zu  acquiriren  -—  ob 
also  durch  einmaliges  Ceberstehen  die  von  Besnier  postulirte  individuelle  Dis- 
position erworben  werden  kann. 

Hkrka  (1.  c.  pag.  199)  sagt:  „Die  Recidivcn  sind  an  einen  Typus 
annuus  geknüpft,  und  es  giebt  Individuen,  bei  denen  der  Ausbruch  eines  solchen 
Erythems  viele  Jahre  hintereinander  in  denselben  Monaten  beobachtet  wird.“ 

Wir  vermögen  zu  dieser  Frage  noch  keine  definitive  Stellung  zu  nehmen. 
Es  ist  uns  in  diesem  Jahre  noch  kein  Fall  zugegangen  von  solchen  Patienten, 
die  im  vorigen  Jahre  auf  unserer  Abtheilung  gelegen  haben.  Es  wäre  ja  nun 
möglich,  dass  gerade  diejenigen  Individuen,  welche  etwa  in  diesem  Jahre  wieder 
erkrankt  wären , inzwischen  die  Hauptstadt  verlassen  haben.  Aber  wahrschein- 
lich ist  das  nicht.  Unter  allen  meinen  Notizen  finde  ich  nur  drei  Beobachtungen 
von  recidivireudem  Erythema  exsudativum  multiforme,  und  von  diesen  habe  ich 
eine  frühere  inzwischen  als  irrthUmlich  berichtigen  müssen. 

Die  Beobachtung  stammte  aus  der  Periode,  als  wir  die  polymorphen 
Erytheme  noch  als  eine  grosse  zusammengehörige  Gruppe  ansahen.  Inzwischen 
hat  sich  der  Patient  mit  einem  seiner  Angabe  nach  mehr  als  zwölften 
Recidiv  — die  genaue  Zahl  wusste  er  nicht  — vorgestellt;  ich  muss  feststellen, 
dass  meine  frühere  Diagnose  insofern  falsch  war,  als  es  sich  um  ein  polymorphes 
Erythem  zwar  handelt,  aber  dass  dasselbe  dennoch  in  Form  und  Verlauf  erheb- 
liche klinische  Differenzen  zeigt  von  dem  Erythema  exsudativum  multiforme. 
In  einem  anderen  Falle  finde  ich  fünf  Recidive,  weiter  dann  in  einem  Falle  zwei 
Recidive  — in  verschiedenen  Jahren  notirt.  Das  ist  auf  mehr  als  hundert  Fälle 
eine  so  kleine  Zahl,  dass  es  nöthig  erscheint , jetzt  mit  grösserer  Erfahrung  auf 
diesen  Punkt  in  den  nächsten  Jahren  die  grösste  Aufmerksamkeit  zu  lenken. 
Vorläufig  muss  unsere  Ansicht  in  dieser  Hinsicht  sehr  reservirt  bleiben.  Es  würde 
aber  in  nichts  gegen  unsere  Auffassung  des  Erythema  exsudativum  als  infectiöse, 
cxanthcmatischc  Krankheit  sprechen,  wenn  die  Krankheit  acquirirt  werden  könnte. 

Polotebnoff  s*)  weist  schon  darauf  hin,  „dass  einige  Infectionskrank- 
heiten,  z.  B.  Diphtherie,  Dysenterie,  croupöse  Pneumonie,  Typhen,  sogar  Masern, 
Scharlach  und  Variola  denselben  Menschen  mehreremale  heimsueheu  können“. 
. . . „Einige  Infcctionskrankheiten  haben  die  unerklärliche  Neigung,  bei  gewissen 
Leuten  zu  einer  gewissen  Zeit  mehrere  Jahre  hindurch  wiederzukehren.“  Er 


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erwähnt  dann  Intermittens,  ja  citirt  sogar  einen  Fall  von  Diphtherie,  die  mehrere 
.fahre  hintereinander  zur  gleichen  Zeit  auftrat. 

Wir  können  hier  weiter  noch  hinweisen  auf  die  Neigung  des  Erysipels 
zu  Recidiveu. 

So  kann  man  auch  annehmen,  dass  das  Erythem  eine  Infectionskrankheit 
ist,  deren  einmaliges  Ueberstehen  keine  Immunität  giebt,  dass  im  Gegentheil  die 
Individuen,  welche  sich  der  Infection  mehrfach  aussetzen,  mindestens  die  Krank- 
heit ebenso  leicht  — vielleicht  sogar  (durch  erworbene  individuelle  Disposition) 
leichter  erwerben  als  solche  Individuen,  welche  die  Krankheit  noch  nicht  gehabt 
haben.  Aber,  wie  gesagt,  die  Entscheidung  Aber  diesen  Punkt  müssen  wir  späteren 
Beobachtungen  Vorbehalten. 

Ein  anderer  Punkt , den  wir  an  dieser  Stelle  erörtern  wollen , ist  der, 
ob  ein  Zusammenhang  zwischen  Erythem  und  Tuberkulose  festzustellen  ist.  Die 
Meinung  vieler  hiesiger  Aerzte  geht  dahin : 

Es  liegen  über  die  Beziehungen  zwischen  Erythem  und  Tuberkulose 
Beobachtungen  vor  von  Oehme  *•)  und  von  Uffelmann,  von  denen  mir  nur  die 
erstere  im  Original  vorliegt;  es  handelt  sich  hier  aber  um  Erythema  nodosum 
und  der  Verfasser  kommt  zum  Schlüsse,  dass  bei  hereditär  belasteten  Personen  das 
Erythema  nodomtm  vielleicht  eine  anslösende  Gelegenheitsursache  abgeben  könne. 

Auch  zur  Entscheidung  dieser  Frage  gehört  eine  Jahre  lang  genau 
durchgeftihrte  Erfahrung.  Wir  mtissen  uns  der  Annahme  eines  Zusammenhanges 
zwischen  Erythema  exsudativum  multiforme  und  Tuberkulose  gegenüber  zunächst 
ablehnend  verhalten.  Wir  haben  hin  und  wieder  leichte  Schalldiffercnzeu  über 
den  Spitzen  und  Rasselgeräusche  eonstatirt.  Da  aber  das  Erythema  multiforme 
manchmal  als  Complication  eine  Bronchitis  zeigt,  so  dürften  die  katarrhalischen 
Erscheinungen  ebensogut  auf  diese  zu  beziehen  sein  als  auf  eine  Infiltration  der 
Lunge.  Heftigere  Erscheinungen  von  Seiten  der  Kespirationsorgane,  speciell  Husten 
mit  Auswurf,  so  dass  man  eine  Untersuchung  der  Sputa  auf  Bacillen  hätte  an- 
stellen können,  haben  wir  nicht  beobachtet. 

Wenn  nun  wirklich  bei  einem  Individuum , das  ein  Erythema  multi- 
forme durchgemacht  hat , sieh  im  Laufe  des  nächsten  Jahres  eine  Lungentuber- 
kulose entwickelt , so  ist  das  mindestens  mit  gleichem  Rechte  als  ein  zufälliges 
Zusammentreffen,  wie  als  Folge  aufzufassen.  Denn  die  Mehrzahl  der  in  Betracht 
kommenden  Individuen  und  besonders  unser  Material  steht  in  dem  Alter,  in  dem 
Tuberkulose  Überhaupt  nicht  selten  ist,  im  Anfang  der  Zwanziger-Jahre!  Anderer- 
seits wäre  es  ja  auch  immerhin  möglich . dass  die  auffallend  schwere  Anämie, 
die  bei  einigen  Kranken  in  der  Reconvalescenz  zur  Beobachtung  kommt , die 
Entwicklung  einer  latenten , aber  mit  dem  Erythem  keineswegs  in  Beziehung 
stehenden  Tuberkulose  begünstigte. 

4.  Aetiologie. 

Nach  unseren  Erfahrungen,  die  mit  RlGLEB  und  Gaal*)  Ubereinstimmen 
und  von  den  hiesigen  Aerzten  bestätigt  werden , so  weit  dieselben  in  dieser 
Hiusicht  eigene  Erfahrungen  besitzen  , tritt  — in  der  Türkei  zunächst  — eine 
Krankheit  epidemisch  auf,  die  sich  durch  ihre  Symptome : Invasion  mit  Enanthem, 


•)  Die  von  Gaal  in  Bosnien  beobachtete  Epidemie  ist  für  uns  besonders  inter- 
essant : er  sagt . dass  die  Erkrankung  zu  Beginn  des  Jahres  1857  unter  einer  Gruppe  von 
80  Menschen  auftrat,  die  aus  Anatolien  und  Kurdistan  stammten.  Die  Männer  waren  gefangene 
Räuber,  welche,  bevor  sie  nach  Bosnien  gebracht  wurden,  lange  Zeit  hindurch  iu  Gefängnissen 
und  auf  Schiffen  internirt  und  daher  in  ihrer  Ernährung  heruntergekommen  waren.  Ohne 
Hoffnung,  in  die  Heimat  zurückzukehren,  waren  sie  psychisch  sehr  gedrückt.  Nach  den  Asiaten 
begannen  die  Arnanten  zu  kränkeln,  die  ebenfalls  lange  in  Gefängnissen  geschmachtet  batten. 
Noch  später  kamen  die  tüchtigen  Soldaten  an  die  Reihe,  die  vorzüglich  genährt  waren  und 
sich  stramm  hielten.  Die  Epidemie  verfloss  langsam  — vom  Januar  bis  September;  der  Sep- 
tember und  October  waren  frei  von  Erkrankungen ; im  November  jedoch  traten  dieselben 
wieder  auf. 


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ERYTHEME. 


Eruption  mit  Exanthem , typischem  Fieber , subjective  Erscheinungen  und  cykli- 
schen , typischen  Ablauf  als  exanthematische  Infectionskrankbeit  erweist  und  die 
in  ihrem  Exanthem  ganz  wesentlich  mit  der  von  Hebra  als  Erythema  exsuda- 
tivum multiforme  beschriebenen  Krankheit  übereinstimmt. 

Wir  haben  schon  oben,  als  wir  von  der  Incubation  sprachen , erwähnt, 
dass  Besnier  direct  erklärt  : Es  giebt  keine  Epidemien  von  polymorphem  „Erv- 
tbem ; alles,  was  in  dieser  Hinsicht  vorgebracht  ist,  ist  unbegründet  und  bezieht 
sich  nur  auf  secundäre  Erytheme  nach  zvmotischen  Krankheiten  . . . oder 
auf  fieberhafte  Krankheiten,  die  wegen  ihres  abortiven  Charakters  oder  wegen 
ihrer  nicht  nachweisbaren  Contagiosität  verkannt  worden  sind,  wie  z.  B.  Masern; 
oder  endlich  es  handelt  sich  um  Einführung  von  Nahrungsmitteln , die  sich  nur 
auf  eine  bestimmte  Gruppe,  auf  eine  genau  begrenzte  Zeit  beschränken  und  die 
verschwinden,  wenn  die  zufällige  Ursache  sich  nicht  wiederholt“. 

Dass  es  sich  um  secundäre  Erytheme  nicht  handelt,  glauben  wir  zur 
Genüge  bewiesen  zu  haben.  Die  Krankheit  ist  hier,  wenn  man  will,  endemisch 
und  zeigt  von  Zeit  zu  Zeit  epidemisches  Anschwellen  der  Frequenz.  Dafür  sprechen 
alle  eben  citirten  Beobachtungen , die  sich  fast  über  ein  halbes  Jahrhundert 
vertheilen. 

Sollte  aber  vielleicht  der  zweite  Theil  der  Besnier’ scheu  Behauptung 
für  unsere  Fälle  zutreffen , sollten  vielleicht  bestimmte , zu  gewissen  Zeiten  ein- 
geführte  Nahrungsmittel  ein  epidemisches  Auftreten  unseres  Erythems  Vortäuschen  ? 
Gerade  bei  einem  so  einseitigen  Material,  wie  es  das  unsere  ist,  haben  wir  genau 
zu  prüfen,  ob  hier  nicht  Besnier’S  Einwürfe  gegen  unsere  Auffassung  des  Ery- 
thema exsudativum  multiforme  als  epidemisch  auftretende  Infectionskrankbeit 
geeignet  sind,  uns  eines  grossen  Irrthums  zu  überfuhren.  Wir  müssen  hier  fast 
Satz  für  Satz  Besnier’s  Ausführungen  folgen  und  dieselben  im  Einzelnen  auf 
ihre  Giltigkeit  prüfen. 

„Es  leuchtet  ein,“  sagt  Besnier  , „dass  nicht  alle  Individuen  sieh  dem 
Erythem  gegenüber  gleich  verhalten , wie  sie  sich  z.  B.  gegenüber  den  fieber- 
haften Exanthemen  verhalten.“ 

Hier  bemerken  wir,  dass  in  einer  Masern-Scharlachepidemie  z.  B.  oft 
einzelne  Geschwister  verschont  bleiben , dass  diese  Geschwister  häufig  in  einer 
späteren  Epidemie  erkranken;  dass  man  also  auch  hier,  allerdings  in  einem 
anderen  Sinne  als  Besnier  es  thut,  von  einer  vorhandenen  oder  fehlenden  Dis- 
position reden  kann. 

„Weiter  behalten  diejenigen  Individuen,  die  einmal  eine  Disposition  für 
das  Erythem  gezeigt  haben,  eine  grosse  Neigung  für  dasselbe.  Das  beweisen  die 
Nachschübe  und  Recidive,  denen  sie  regelmässig  unterworfen  sind.“ 

Für  die  dem  Erythema  multiforme  Hebrae  ähnlichen  polymorphen 
Erytheme  allerverschiedenster  Ursache  hat  Besnier  recht;  für  das  infectiöse, 
epidemische  Erythema  multiforme  wäre  aber,  wenn  dasselbe  wirklich  häufige 
Recidive  zeigte,  eine  andere  Erklärung  sehr  möglich.  Befällt  nicht  das  Malaria- 
fieber spontan , oder  bei  neuer  Infectionsgelegenheit , und  hier  mit  besonderer 
Vorliebe  diejenigen,  welche  schon  einmal  Malaria  gehabt  haben?  Setzen  wir 
deshalb  eine  besondere  persönliche  Disposition  für  die  Malaria  voraus?  Gewiss  nicht. 

„In  der  Pathogenie  der  Erytheme  erscheint  also  die  individuelle  An- 
lage, die  Disposition  von  vorneherein  als  ein  wesentliches,  in  erster  Linie  stehen- 
des Moment.  Dieses  Moment  gewinnt  noch  an  Bedeutung,  wenn  man  näher  auf 
die  gegenseitigen  Beziehungen  der  in  Betracht  kommenden  Factoren  eingeht. 

Es  ist  klar,  dass  diese  Krankheitsdispositiou  sieh  vollkommen  mit  dem 
deckt,  was  mau  bei  denjenigen  Individuen  antrifft,  die  gewisse  Gifte,  gewisse 
Medicamente,  gewisse  Nahrungen  nicht  gemessen  können,  ohne  dass  sich  ein 
ganz  bestimmter  Reizzustaud  auf  ihrer  Haut  entwickelt.  Und  zwar  ist  dieser 
Reizzustand  immer  der  gleiche  für  das  gleiche  Individuum  und  wird  viel  mehr 
beeinflusst  durch  das  Individuum  als  durch  die  Nahrung,  die  Medicamente,  die 


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Gifte;  diese  drei  Factoren  werden  bei  anderen,  unter  der  gleichen  Intoleranz 
stehenden  Individuen  ganz  andersartige  Erscheinungen  auf  der  Haut  hervorrufen.“ 

Dass  Besnier  das  letztere  selbst  sagt,  ist  von  der  grössten  Wichtigkeit 
für  uns.  Man  Überzeugt  sich  nur , z.  B.  in  den  Zusammenstellungen , wie  sie 
L.  Lewin  }j)  giebt , wie  verschiedenartig  die  Nebenwirkungen  der  Arzneimittel 
auf  der  Haut  sein  können;  man  halte  sich  gegenwärtig,  wie  ein  Individuum 
z.  B.  auf  einen  Wanzenstich  gar  nicht  reagirt,  während  bei  einem  anderen  In- 
dividuum der  Wanzenstich  der  Ausgangspunkt  einer  ausgebreiteten  scharlach- 
artigen Röthung  oder  einer  Urticaria  sein  kann.  Gehen  wir,  unter  Festhaltung 
der  eben  entwickelten  Ansichten  nun  zu  unseren  Fällen  von  Erythema  exsuda- 
tivum multi/orme  zurück , so  müsste  bei  allen  befallenen  Individuen  eine  indi- 
viduelle Disposition  vorhanden  sein.  Es  käme  dann  in  Betracht,  ob  nach  Besnier 
diese  Disposition  durch  gelegentliche  Factoren,  z.  B.  Nahrungsmittel,  die  sieh  nur 
auf  eine  bestimmte  Gruppe , eine  genau  begrenzte  Zeit  beschränken , ausgelöst 
worden  ist.  Als  wir  die  erste  grössere  Serie  von  Erkrankungen  im  September- 
October  beobachteten,  konnten  wir  eine  vielgenannte  Gelegenheitsursache,  ein 
auslösendes  Moment  (condition  i’tiologigue)  ausschliessen : Kälte  und  Feuchtig- 
keit. Denn  um  diese  Zeit  herrscht  hier,  nach  einem  kurzen,  höchstens  acht  Tage 
anhaltenden  Regen  etwa  Ende  August,  meist  das  schönste  wärmste  Sommerwetter 
(bis  SO“  C.).  Allerdings  bringen  die  Monate  mit  grösster  Nässe:  Januar,  März, 
April  höhere  Ziffern.  Aber  zu  diesen  Jahreszeiten  sind  ja  meist  eianthcmatische 
Krankheiten  überhaupt  häufiger.  Dies  konnte  also  nicht  genügen.  Wir  richteten 
dann  unserer  Augenmerk  auf  die  Nahrung.  Die  Nahrung  des  Hauptantheiles 
unseres  Materials  ist  nun  eine  so  gleichmässige  während  des  ganzen  Jahres  und 
für  alle  in  Betracht  kommenden  Individuen,  dass  man  höchstens  etwaige  Extra- 
gaben, der  Jahreszeit  entsprechend,  in’s  Auge  fassen  musste. 

Zunächst  drängte  sich  der  Gedanke  auf,  ob  hier  vielleicht  Weintrauben 
oder  Melonen  in  Betracht  kämen  und  durch  diese  die  persönliche  Anlage  aus- 
gelöst würde.  Allerdings  lebt  fast  das  ganze  Volk  hier  von  September  bis 
November  zum  grossen  Theile  von  Brot,  Käse,  Melonen  und  Weintrauben;  die 
Soldaten  bekommen  ebenfalls  Trauben , aber  ausserdem  doch  stets  ihr  Hammel- 
fleisch und  Reis.  Es  stünde  also  das  ganze  Volk  zu  dieser  Saison  in  der  gleichen 
„condition  etiologique“ . In  der  Bevölkerung  ist  unser  Erythema  multiforme  exsu- 
dativum Hebrae  aber  zunächst  sicher  nicht  häufiger,  sondern  entschieden  weniger 
verbreitet  als  unter  den  Soldaten.  Weiter  aber  nimmt  die  Krankheit  zunächst 
mit  dem  Aufhören  der  Traubenzeit  durchaus  nicht  ab,  steigt  ferner  im  Frühjahr 
ganz  bedeutend  wieder  au  zu  einer  Zeit,  wo  von  irgend  einer  besonderen  Nahrung 
nicht  die  Rede  ist. 

Nehmen  wir  aber  trotzdem  einmal  an,  dass  in  der  Nahrung  ein  aus- 
lösendcs  Moment  läge,  das  die  Häufung  der  Erytheme  zu  erklären  vermöchte  — 
eine  Erscheinung  bleibt  unerklärt,  und  damit  fällt  jede  Möglichkeit,  die  BESNiEK'sche 
Voraussetzung  gelten  zu  lassen: 

Es  ist  doch  unmöglich  anzunehmen,  dass  alle  Individuen  hier 
bei  uns  gerade  nur  für  eine  Form  des  polymorphen  Erythems  prä- 
d isponirt  sein  soll ten.  Besnier  sagt  ausdrücklich,  dass  die  Form  des 
Erythems  viel  mehr  durch  das  Individuum  als  durch  den  auslösen- 
den Factor  (Medicament,  Gift,  Nahrung)  bestimmt  werde,  und  dass 
der  gleiche  Factor  bei  verschiedenen  Individuen  ganz  verschieden- 
artige Erscheinungen  auf  der  Haut  hervorrufen  könne. 

Unsere  Kranken  bieten  alle  ohne  Ausnahme,  nur  in  der' 
Intensität  etwas  verschieden,  die  absolut  gleiche  Form  des  Ery- 
thems, mit  typischem  Beginn,  cyklischem  Verlauf,  typischen  All- 
gemeinerscheinungen,  typischem  Ablauf. 

Hier  eine  ausgebreitete  individuelle  Disposition  anzunehmen , die  durch 
eine  sich  häufende  Gelegenheitsursache  ausgelöst , eine  Epidemie , und  zwar 


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ERYTHEME. 


mit  regelmässiger  Wiederkehr , vortäuscht , das  heisst  den  Thatsaehen  Ge- 
walt anthun. 

Wir  glauben,  unbedingt  daran  festhalteu  zu  müssen , dass  es  sich  um 
wirkliche  Epidemien  einer  exantbematischen  lufectionskrankheit  handelt. 

Dieser  Auffassung  widerspricht  durchaus  nicht  das  endemische  Vor- 
kommen des  Erythems.  Wir  müssen  aunchmen  , dass  die  infeetiöse  Ursache  zu 
jeder  Zeit  besteht  und  sporadische  Fälle  hervorruft;  aber  vou  Zeit  zu  Zeit  unter 
bestimmten,  uns  unbekannten  Bedingungen  tritt  eine  plötzliche  Verallgemeinerung, 
eine  Epidemie  ein  — ebenso  wie  wir  es  für  eine  ganze  Reihe  von  Infections- 
krankheiten  kennen. 

Weshalb  nun  die  Epidemien  in  den  Kasernen  häutiger,  zahlreicher  sind 
als  anderswo , entzieht  sieh  mindestens  so  lange , als  wir  das  infeetiöse  Agens 
nicht  bestimmt  kennen,  unserer  Kenntniss.  Es  scheint,  dass  Anhäufung  von 
Menschen  in  disponirtem  Alter,  in  Kasernen,  Lagern  die  Entwicklung  der  viel- 
leicht miasmatischen  Ursache  dcB  Erythema  exsudativum  multiforme  begünstigt. 
Das  Alter  von  18 — 24  Jahren  etwa  ist  anscheinend  für  diese  Infeotiou  besonders 
veranlagt.  Ob  das  Geschlecht  eine  besondere  Anlage  zur  Erkrankung  bietet,  ist 
nach  unserem  Material  ebensowenig  zu  entscheiden,  wie  z.  B.  Lewis  aus  dem 
seinigen  darauf  einen  Schluss  machen  darf.  Ob  das  Erythema  exsudativum 
multiforme  contagiös  ist  oder  nicht,  wage  ich  nicht  zu  entscheiden.  Meine  Ansicht 
darüber  ist  schon  verschicdentliehen  Schwankungen  unterworfen  gewesen. 

Die  Kranken  kommen  aus  den  verschiedensten  Kasernen  zu  uns.  Das 
würde  eher  gegen  eine  miasmatische  Infection  sprechen,  denn  die  Kasernen  liegen 
an  den  verschiedensten  Orten,  meist  allerdings  hoch,  auf  freien  Hügeln.  Anderer- 
seits könnte  man  aber  auch  einwerfen,  dass,  wenn  die  Krankheit  contagiös  wäre, 
die  Zahl  der  Erkrankten  bedeutend  grösser  sein  müsste,  lieber  den  letzten  Punkt 
kann  eine  sichere  Angabe  nicht  gemacht  werden,  da  die  Kranken  auf  die  ver- 
schiedensten Hospitäler  vertheilt  werden , zum  Theile  sich  das  Hospital  selbst 
wählen  können.  Es  kann  also  möglicherweise  die  Erkrankungsziffer  weit  grösser 
sein,  als  es  uns  scheint. 

Für  die  Contagiosität  spräche,  dass  wir  in  dem  Saale,  in  welchem  die 
Erytheme  untergebracht  waren , 3 Fälle  von  Erythem  auftreten  sahen  bei 
Favus  etc.;  spontane  Erkrankungen  auf  anderen  Sälen  sind  auch  vorgekommen, 
sprechen  aber  nicht  gegen  die  Contagiosität,  da  die  Kranken  nach  der  Visite 
frei  mit  einander  verkehren  können.  Auch  die  GAAL’schen  Angaben  (s.  oben) 
sprächen  vielleicht  für  Contagiosität,  — sie  sind  aber  nicht  genügend  zu 
controliren. 

Dennoch  sind  wir,  wenn  wir  unsere  bisherigen  Erfahrungen  zusammen- 
stelleu,  eher  geneigt,  eine  Nichtcontagiosität  anzunehmen. 

Unsere  Untersuchungen  richten  sich  darauf  hin  , im  Blute  den  inficiren- 
den  Mikroorganismus  zu  suchen.  Die  auffallende  Anämie  fordert  direct  dazu  anf, 
nachzuforschen,  ob  nicht,  wie  bei  der  Malaria,  Parasiten  in  den  rothen  Blut- 
körperchen zu  linden  sind,  die  die  letzteren  zerstören.  Es  bedarf  dazu  aber  lange 
durchgeführter  und  schwieriger  Untersuchungen.  Wir  enthalten  uus  deshalb  noch 
jeder  weiteren  Angaben  und  Schlüsse  Uber  die  bis  jetzt  gemachten  Befunde. 

Zusammenfassend  sagen  wir  also,  dass  das  Erythema  exsu- 
dativum multiforme  eine  wahrscheinlich  nicht  contagiöse,  vielleicht 
miasmatische,  acute  exanthematische  Infectionskrankheit  ist,  die 
mit  Vorliebe  das  jugendliche  Alter  befällt,  überall  sporadisch,  in 
einigen  Ländern  endemisch  vorkommt  und  zu  gewissen  Jahreszeiten, 
Herbst  und  Frühjahr,  epidemisch  wird.  Anhäufung  von  Menschen  in 
dem  disponirten  Alter  scheint  die  Entwicklung  des  Infectionsstoffes 
in  hervorragendem  Masse  zu  begünstigen. 


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ERYTHEME. 


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5.  Differentialdiagnose. 

Dass  es  sich  beim  Erythema  exsudativum  multiforme  Hebrae  um  eino 
durch  1‘rsachen,  Läsionen,  Symptome,  Verlauf,  Dauer,  Ablauf  u.  s.  w.  — wie 
Besnif.r  (s.  oben)  es  fordert  — ausgezeichnete  Krankheit  handelt,  glauben  wir 
bewiesen  zu  haben. 

Der  Zweck  unserer  folgenden  Auseinandersetzungen  ist  nun  weniger  der, 
wirklich  diejenigen  Merkmale  anzuftihren,  durch  die  sieh  das  Erythema  exsuda- 
tivum multiforme  Hebrae  von  den  übrigen  polymorphen  Erythemen  unterscheidet. 
Die  ^Polymorphie“,  die  Menge  der  Casuistik  ist  so  gross,  dass  das  ein  fast  un- 
mögliches Beginnen  ist.  Vielmehr  wollen  wir  versuchen,  in  grossen  Zügen  die 
übrigbleibenden  polymorphen  Erytheme  zu  gruppireu.  Wenn  wir  sehen , wie 
grundverschiedene  Dinge  unter  dieser  Bezeichnung  zusammengebracht  sind,  und 
wie  vielleicht  eine  Trennung  derselben  in  grosse  Gruppen  möglich  ist,  so  wird 
sich,  glauben  wir,  dadurch  das  Erythema  exsudativum  multiforme  Hebrae  am 
besten  differential-diagnostisch  herausheben. 

a)  Erythema  nodosum. 

Dass  nach  den  vorhergehenden  Ausführungen  selbstverständlich  das  Ery- 
thema nodosum  für  uns  etwas  in  Ursache,  Localisation,  Läsionen,  Verlauf,  .Sym- 
ptomen, im  ganzen  klinischen  Bilde  Verschiedenes  ist,  bedarf  wohl  kaum  noch  der 
Ausführung. 

Worauf  es  vielmehr  ankäme,  wäre  zu  untersuchen,  ob  das  Erythema 
nodosum  nur  eine  der  Erscheinungsformen  der  vielen  in  Ursache,  Verlauf,  klinischem 
Bilde  u.s.  w.  so  verschiedenen  polymorphen  Erytheme  ist;  ob  verschiedene  Ursachen 
bei  pritdisponirten  Individuen  in  einem  Kalle  ebenso  gut  ein  noduläres  wie  in 
einem  anderen  Falle  ein  scarlatiniformes  oder  in  einem  dritten  Falle  ein  ganz 
polymorphes  Erythem  hervorrufen  können ; oder  ob  wir  noch  weiter  aus  dem 
grossen  Haufen  der  polymorphen  Erytheme  eine  weitere  Kranklieilseinhcit,  ein 
Krankheitsindividuum  isoliren  können,  das  Erythema  nodosum,  eine  Krankheit 
mit  bestimmter  Aetiologie,  Localisation,  Läsionen,  Verlauf,  Symptomen,  Com- 
plicationen. 

Wenn  das  der  Fall  ist,  so  würden  nach  Ausscheidung  der  zwei  acuten 
eianthematiseben  lufectionskrankheiten,  des  Erythema  exsudativum  multiforme 
und  des  Erythema  nodosum,  unter  den  polymorphen  Erythemen  alle  die  aus 
den  verschiedensten  Ursachen  abzuleitenden,  iu  Verlauf,  klinischem  Bilde  ganz 
differenten,  nur  durch  die  Läsionen  bald  mehr  dem  Erythema  exsudativum 
multiforme  Hebrae,  bald  mehr  dem  Erythema  nodosum  ähnelnden  Erytheme 
übrig  bleiben,  deren  Gruppirung  noch  grosse  Schwierigkeiten  bietet. 

Unsere  Ansicht  ist  es,  dass  es  eine  Krankheit  sui  generis,  Aas  Erythema 
nodosum,  eine  acute,  wahrscheinlich  contagiöse,  exanthematisehe  Infections- 
krankheit  giebt. 

Wir  wollen  diese  Form  des  Erythems  nicht  in  derselben  Ausführlichkeit 
behandeln  wie  das  Erythema  exsudativum  multiforme  Hebrae.  Unsere  eigene 
Beobachtungsreihe  ist  auch  nicht  entfernt  so  gross  für  diese  zweite  Form  wie 
für  die  erste.  Es  ist  dem  Bilde,  wie  Hebra  es  beschrieben  hat,  wie  es  besonders 
gut  in  einer  französischen  These  von  Amiaud**)  dargestellt  ist,  kaum  etwas  hiu- 
znzu  fügen. 

Auch  hier  haben  wir  eine  Invasion,  ein  Eruptionsstadium,  eine  Resolution 
zu  unterscheiden  wie  bei  allen  lufectionskrankheiten. 

Die  Läsionen,  wie  mau  sie  in  den  typischen  Fällen  von  Erythema  nodosum 
sieht,  habe  ich  in  meinen  circa  120  Fällen  von  Erythema  multiforme  nicht 
einmal  getroffen. 

Aussehen,  Form,  Art  der  Ausbreitung  und  Veränderung  der  Einzelefflore- 
scenz  unterscheiden  beide  Affectionen  durchaus  von  einander. 


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ERYTHEME. 


Die  Localisation,  immer  auf  den  unteren  Extremitäten,  mit  ganz  geringer 
Betheiligung  anderer  Körpertheilc,  hatte  in  meinen  Füllen  etwas  so  Typisches 
gegenüber  den  Fällen  von  Erythema  multifome,  dass  sie  sieh  mir  stets  sofort 
als  etwas  von  jenen  Verschiedenes  darstellten. 

Die  Allgemeinerkrankung  beim  Erythema  n odosum  ist  eine  viel  schwerere ; 
der  Allgemeinzustand  ist  ein  viel  mehr  typhöser,  respective  macht  vielmehr  den 
Eindruck  einer  schweren  Intoxication. 

Und  am  allcrwichtigsten  — fast  alle  Fälle  von  Erythema  nodosum  sind 
durch  Pleuritis,  Peri-  oder  Endokarditis  und  durch  Diarrhoen  complicirt. 

Das  ganze  klinische  Bild,  mit  Einschluss  der  Läsionen,  ist  also  ein  von 
dem,  was  wir  oben  beschrieben  haben,  so  verschiedenes,  dass  es  uns  bei  der 
grossen  Zahl  der  Beobachtungen  von  multiformem  Erythem  keinen  Augenblick 
zweifelhaft  sein  kann , dass  wir  diese  Fälle  von  dem  Erythema  multiforme 
exsudativum  Uebrae  unbedingt  zu  trennen  haben. 

Viel  schwieriger  ist  die  weitere  Untersuchung,  ob  es  sich  wirklich  um  eine 
Krankheitseinheit,  um  eine  idiopathische,  acute  Infectionskrankheit  oder  um  secun- 
däre  Erscheinungen  verschiedenartiger  Ursachen  handelt. 

Zur  Entscheidung  dieser  Frage  weisen  wir  auf  eine  ganz  eigenartige,  aber 
sehr  überzeugende  Arbeit  von  Schulthess  **)  hin. 

Er  sagt,  dass  unter  den  Erythemen  das  Erythema  nodosum  wegen  seines 
verhültnissmä8sig  häufigen  Vorkommens  (in  der  Schweiz),  wegen  der  schweren 
Allgemeinerkrankung  und  der  bei  ihm  am  ehesten  zu  beobachtenden  schweren 
Complicationen  daB  meiste  Interesse  gefunden  habe.  Auf  den  verschiedensten 
Wegen  hat  man  seine  Natur  zu  ergründen  gesucht,  um  ihm  den  richtigen  Platz 
im  System  der  Krankheiten  anzuweisen,  und  man  ist  dabei  zu  den  verschiedensten 
Ansichten  gelangt. 

Unter  den  zur  Lösung  der  Frage  zu  Hilfe  genommenen  Methoden  ver- 
misst der  Verfasser  die  statistische.  Er  sagt  (1.  c.  pag.  67):  „Wenn  man  die 
einfache  Thatsaehe  des  jeweiligen  Auftretens  einer  Krankheit  auf  einem  bestimmt 
umgrenztet:  Gebiet  während  eines  bestimmten  längeren  Zeitraums  zur  Grundlage 
der  Untersuchung  macht,  so  wird  mau  ans  dem  so  festgestellten  Gang  der  Krank- 
heit durch  die  einzelnen  Jahre,  die  Jahreszeiten,  aus  dem  Befallen  der  verschiedenen 
Altersstufen  und  Geschlechter  gewisse  Schlüsse  auf  die  Natur  der  untersuchten 
Krankheit  ziehen  können ; man  wird,  w enn  mir  das  Bild  gestattet  ist,  auf  diese 
Weise  in  den  Stand  gesetzt  sein  zu  erkennen,  wie  die  Krankheit  ihren  Namens- 
zug selbst  schreibt.  Natürlich  wird  Niemand,  auf  diese  Resultate  allein  gestützt, 
einer  Krankheit  ihren  Platz  anweisen  wollen,  aber  sie  bilden  eine  nothwendige 
Ergänzung  des  auf  anderen  Wegen  gewonnenen  Bildes  und  sind  geeignet,  gewisse 
Ansichten  zu  stützen,  andere  als  unhaltbar  zurückzuweisen.u 

Wir  können  nun  dem  Verfasser  nicht  durch  alle  Einzelheiten  der  vor- 
züglich durchgeführteu  Untersuchungen  folgen.  Er  weist  zunächst  nach,  dass  die 
Curve,  welche  das  Erythema  nodosum  durch  die  Jahre  beschreibt,  in  keiner 
Weise  der  Curve  derjenigen  Krankheiten  gleicht,  bei  denen  dasselbe  gewöhnlich 
in  den  Lehrbüchern  abgehandelt  wird  — den  Hautkrankheiten. 

Verf.  zieht  dann  die  Curve  des  Erythema  exsudativum  multiforme  Eebrae 
zum  Vergleich  heran.  „Die  Curve  dieser  Krankheit  folgt  (pag.  711.  c.)  offenbar 
dem  Typus  der  Infectionskrankheiten,  aber  sie  unterscheidet  sich  von  der  des 
Erythema  nodosum,  wenn  ich  diese  Ausdrücke  der  Physik  entlehnen  darf,  durch 
die  kürzere  Wellenlänge  und  die  kleineren  Schwingungsamplituden,  woraus  man 
wohl  den  Schluss  ziehen  kann,  dass  die  Bedingungen  für  das  Erythema  multi- 

fortne  gleicbmässiger  vorhanden  sind  als  für  unsere  Krankheit 

....  Masern,  Erysipel  und  Varicellen  zeichnen  Curvenbilder,  welche  nur  den 
allgemeinen  Typus  und  die  mehr  oder  weniger  scharf  ausgeprägten  Gipfel  der 
Curve  der  Infectionskrankheiten  mit  Localisation  auf  der  Haut  mit  Erythema 
nodosum  gemeinsam  haben Aber  der  Scharlach  liefert  eine  Curve,  die 


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189 


frappante  Aehnlichkeit  mit  der  von  Erythema  nodosum  hat.  Beide  Krankheiten 
halH-n  also  durch  die  Berichtsjahre  (zwölf  Jahre)  hindurch  völlig  Schritt  gehalten, 
eine  Thatsache,  die  nicht  auf  blossem  Zufall  beruhen  kann.“ 

Yerf.  kommt  dann  zu  folgenden  Schlüssen  (1.  c.  pag.  74  ff.). 

„Das  Erythema  nodosum  richtet  sich  sowohl  in  seinem  Gange  durch  die 
einzelnen  Jahre  und  Jahreszeiten,  als  auch  im  vorzugsweisen  Befallen  eines  be- 
stimmten Lebensalters,  der  Jugendzeit,  wobei  die  Geschlechter  in  verschiedenen 
Altersclassen  verschiedenen  Antheil  nehmen,  getreulich  nach  den  acuten  allge- 
meinen Infectionskrankheiten,  namentlich  denjenigen  mit  typischer  Localisation  auf 
der  Haut,  während  es  durchaus  abweicht  von  dem  durch  die  sogenannten  Haut- 
krankheiten dargestellten  Typus. 

Diese  Resultate  sind  gewiss  geeignet,  die  Meinung  derjenigen  zu  stützen, 
welche  in  unserer  Krankheit  eine  acute  allgemeine  Infectionskrankheit  sehen.  Die 
wohlcharakterisirten  Curvenbilder,  die  uns  Erythema  nodosum  lieferte,  sprechen 
überdies  sehr  dafür,  dass  wir  es  mit  einer  selbständigen  Krankheit  zu  thun 
haben.  Nicht  einmal  mit  dem  Erythema  exsudativum  multiforme  llebrae , sofern 
man  dieses  überhaupt  als  selbständige  Krankheit  gelten  lassen  will,  steht  es  in 
mgeren  verwandtschaftlichen  Beziehungen.“ 

Schliesslich  meint  Verf.,  dass  sich  die  Wahrscheinlichkeit  einer  nahen 
Verwandtschaft  zwischen  Erythema  nodosum  und  Scharlach  aufdränge. 

„Beide  haben  klinisch  sehr  viel  Achnliches  — man  denke  nur  an  den 
Ausschlag,  der  ans  Vorliebe  die  Streckseiten  der  Glieder  und  die  Gelenkgegenden 
befällt,  an  die  Betheiligung  der  Schleimhäute  des  Auges,  der  Nase,  des  Rachens, 
seltener  der  Bronchien,  ferner  der  serösen  Häute  der  Brustorgane,  die  bei 
beiden  mehr  oder  weniger  häutig  beobachtet  wird,  endlich  an  das  lytisch  ab- 
fallende Fieber. 

Trotzdem  behauptet  jedes  seine  selbständige  Stellung,  die  schon  durch 
die  hochgradige  Coutagiositüt  der  einen,  die  geringe  oder  fehlende  der  anderen 
garantirt  ist.“ 

Stolzenberg  *5),  auf  Tkousseau  fassend,  unterscheidet  streng  ein  primäres 
Erythema  nodosum  vom  secundären.  Er  kommt  ebenfalls  zu  dem  Schlüsse  auf 
Grund  eigener  Beobachtungen,  dass  es  sieh  beim  Erythema  nodosum  um  eine 
acute  Infectionskrankheit  handle.  Dieselbe  Ansicht  vertritt  eine  These  von 
Joitlle  die  unter  Debovk’s  Präsidium  gearbeitet  ist. 

Wir  selbst  haben  Gelegenheit  gehabt,  eine  immerhin  genügende  Zahl  von 
Fällen  — neun  — zu  beobachten,  die  mit  der  HEBRA’schen  Beschreibung  und  mit 
Amiaud’s  **)  Darstellung  übereinstimmen.  Wir  dürfen  aber  nicht  vergessen,  dass 
IIebra  das  Erythema  nodosum  als  Hautkrankheit,  nicht  als  Allgemeinerkrankong 
auffasste,  und  dass  Amiacd  an  eine  klinische,  symptomatologische,  aber  nicht 
ätiologische  Krankheitseinheit  dachte.  Wenn  wir  die  so  gewonnenen  Erfahrungen 
zusammenstellen , so  kommen  wir  zu  dem  gleichen  Schluss  wie  Schit.thkss, 
dass  das  Erythema  nodosum  eine  ätiologisch  und  klinisch  vom  Erythema  exsu- 
dativum multiforme,  Hebrae  durchaus  verschiedene  acute  allgemeine  Infections- 
krankheit ist. 

In  kurzen  Zügen  wäre  dieselbe  folgendermassen  zu  beschreiben : 

Nach  einer  circa  8tägigen  Incuhation  haben  wir  während  2 — 3 Tagen 
die  Symptome  der  Invasion  der  Krankheit.  Dieselbe  äussert  sich  durch  mehr 
oder  weniger  heftiges  Fieber  (bis  zu  39°),  welches  aber  auch  fehlen  kann,  all- 
gemeine Abgeschlagenheit,  Schwere  in  den  Gliedern  und  manchmal  sehr  heftige 
Kopfschmerzen.  Der  Appetit  fehlt,  die  Zunge  ist  häufig  belegt,  trocken,  der 
Durst  gross. 

Am  vierten  Tage  etwa  zeigt  sich  die  Eruption.  Es  bilden  sich  stets  zunächst 
auf  den  Unterschenkeln  nicht  sehr  zahlreiche  (circa  4 — 25)  kirsch-  bis  wallnnss- 
grosse  Knoten,  manchmal  diffusere  und  noch  grössere  Infiltrate  von  fast  phleg- 
monösem Aussehen.  Die  Knoten  sind  von  bunter,  gelbrother,  bläulichrother  Farbe; 


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ERYTHEME. 


sie  erscheinen  mit  ihrem  grössten  Volumen  in  die  Haut  eingelassen,  überragen 
aber  das  Niveau  der  Haut  deutlich. 

In  einigen  Fällen  bleibt  die  Affection  ganz  auf  die  untere  Extremität 
beschränkt,  wo  sie  ausser  an  der  vorderen  inneren  Seite  des  stets  hervorragend 
befallenen  Unterschenkels  am  Fussrücken  und  um  das  Kniegelenk,  wenig  am 
Oberschenkel  getroffen  wird.  Weiter  zeigen  sich  Eruptionen,  aber  weit  seltener, 
an  den  oberen  Extremitäten,  besonders  an  der  Hinterseite  des  Ellbogengelenkes, 
an  der  hinteren  iuneren  Fläche  des  Vorderarmes. 

Anf  den  Schleimhäuten  finden  sich  ebenfalls  Knoten.  Auf  der  Conjunetiva 
sollen  Knoten  beobachtet  sein  von  Tkocsseait  und  Amiaid.  Sicher  kommen 
Knoten  vor  auf  der  Schleimhaut  der  Lippen,  der  Wangen,  des  Gaumens,  des  Rachens. 

Die  Knoten  verharren  3 — 4 Tage  in  dem  Zustande  der  derben,  fast 
harten  Infiltration,  die  sie  zu  Beginn  zeigen.  Dann  werden  sie  durch  die  Rück- 
bildung weich,  manchmal  fast  fluctuirend  — aber  niemals  kommt  es  zur  Absce- 
dirung.  Die  Knoten  zeigen  weder  eine  centrale  Resorption,  noch  ein  peripheres 
Wachstbum.  So,  wie  sie  am  ersten  Tage  aufgeschossen  sind,  abgesehen  von  den 
Erscheinungen,  welche  ihre  Rückbildung  begleiten,  verharren  sie  während  der 
Zeit  ihres  Bestehens.  Während  derselben  durchlaufen  sie  in  ihrer  Färbung  die 
ganze  Scala,  die  mau  bei  Coutusionen  sieht : sie  werden  manchmal  duukelviolett, 
dann  werden  sie  heller  blau,  dann  grünlichgelb,  bräunlich,  gelblich,  um  schliesslich 
ganz  zu  verschwinden,  ohne  eine  Spur  zu  hinterlassen.  Die  Eruption  erscheint 
nicht  überall  auf  einmal,  vielmehr  sehicssen  in  den  ersten  8 — 10  Tagen  häufig 
noch  neue  Knoten  auf. 

An  Allgemeinerscheinungen  ist  zunächst  das  Fieber  zu  nennen,  das  fast 
ausnahmslos  sehr  bedeutend  ist.  Die  Temperatur  steigt  selbst  bis  11°,  in  fast 
allen  Fällen  bis  39°.  Mit  dem  Beginn  der  Ernptionsperiode  ist  das  Fieber  am 
höchsten,  um  dann  allmälig  zu  fallen  und  innerhalb  zehn  Tagen  etwa  zur  Norm 
aurückzukehren ; oft,  besonders  durch  die  gleich  zu  erwähnenden  Complicationen, 
dauert  es  länger. 

Die  Zunge  ist  dick  weisslich  belegt,  trocken,  der  Geschmack  schlecht, 
pappig , der  Durst  sehr  stark.  Fast  stets  besteht  Diarrhoe.  Amiacd  dürfte  Recht 
haben,  wenn  er  diese  Diarrhoe  auf  ein  Kn  aut  hem  besieht. 

Die  subjectiven  Klagen  beziehen  sich  meist  auf  allgemeines,  bedeutendes 
Gefühl  des  Krankseins,  Gelenk-  und  Muskclschmerzcu,  Kopfschmerzen,  Schlaf- 
losigkeit. Die  Kranken  sind  sehr  theilnahmslos. 

Die  Krankheit  kann  so  mit  einigen  durch  Nachschübe  bedingten  Tem- 
peraturerhebungen in  3 — 4 Wochen  vollständig  ablaufen.  Von  der  Mitte  der 
zweiten  Woche  ab  sind  die  Kranken  fieberfrei,  Beldaf  und  Appetit  kehren  zurück 
und  die  Kranken  erholen  sich  im  Gegensatz  zum  Erythema  exsudativum  multi- 
furme  verhältnissmässig  schnell;  nur  in  einigen  Füllen  ist  sie  vergrössert,  wie 
z.  B.  nach  Typhus.  Amiaid  giebt  allerdings  auch  für  das  Erythema  nodosum 
Anämien  an,  wie  wir  sie  beiin  multiformen  Erythem  beobachtet  haben  — wir 
haben  keine  solche  Beobachtung  zu  verzeichnen. 

Complicationen  sind  sehr  häufig.  Besonders  sind  es  Endokarditis, 
Perikarditis,  Pleuritis  und  Pneumonien,  die  im  Laufe  der  zweiten,  respective 
dritten  Woche  auftreten.  Diese  Complicationen  verzögern  natürlich  den  Verlauf 
der  Krankheit  sehr,  im  allgemeinen  verlaufen  sie  aber  günstig,  mit  vollständiger 
Resorption. 

ln  meinen  neun  Fällen  von  Erythema  nodosum  habe  ich  füufmal  Endo- 
karditis, dreimal  Perikarditis  (zweimal  mit  Endokarditis  zusammen),  dreimal 
Pleuritis  (einmal  mit  Perikarditis  und  Endokarditis)  und  einmal  Pneumonie  (mit 
Pleuritis,  Perikarditis  und  Endokarditis)  beobachtet.  In  diesem  Falle  handelte 
es  sich  tim  einen  siebenjährigen  Knaben  und  der  Fall  verlief  in  der  fünften 
Wochen  letal. 

Gelenkaffectionen  habe  ich  nicht  beobachtet. 


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ln  den  übrigen  acht  Fällen  trat  völlige  Genesung  ein. 

In  allen  neun  Fällen  handelte  es  sich  um  Individuen  unter  20  Jahren, 
sechs  Mädchen  und  drei  Knaben.  Der  letal  verlaufene  Fall  war  bei  dem  jüngsten 
Patienten;  ein  junges  Mädchen  war  19  Jahre  alt,  die  übrigen  waren  zwischen 
10 — 15  Jahren.  Im  Hospital  habe  ich  noch  keinen  Fall  beobachtet.  Der  Jahres- 
zeit nach  waren  alle  Fülle  im  Frühjahre,  Februar,  März,  April. 

ln  allen  Fällen  wurde  mit  der  grössten  Aufmerksamkeit  nach  einem 
protopathischen  Leiden  gesucht,  besonders  nach  septischen  Erkrankungen,  es  war 
jetloch  nichts  aufzutinden. 

Drei  von  den  Patienten  sind  schon  mehrfach  erkrankt : ein  Knabe  zum 
dritten  Mal,  ein  Mädchen  zum  zweiten  Mal  und  die  Patientin  von  19  Jahren 
hatte  dasselbe  Leiden  — immer  im  Frühjahr  — zum  dritten  Mal. 

Der  ganze  Verlauf  der  so  beschriebenen  Erkrankung  ist  der  einer  acuten, 
exant bematischen  lnfeetiouskrankhcit. 

Was  die  Aetiologie  des  Erythema  n odosum  angeht,  so  vermögen  wir  hier 
ebensowenig  eine  genügende  Antwort  zu  geben  wie  heim  Erythema  exsudativum 
multiforme. 

In  der  französischen  Literatur  finden  sich  einige  Mitthellungen  Uber 
Contagiosität  des  Erythema  nodosum.  Es  ist  aber  in  der  Auffassung  aller  dieser 
Mittheilungen  die  grösste  Vorsicht  geboten,  da  es  nach  der  allgemein  herrschenden 
Ansicht  über  die  Natur  der  Erytheme  natürlich  sehr  schwer  oder  gar  nicht  zu 
entscheiden  ist,  ob  die  Verf.  eine  idiopathische  oder  eine  symptomatische,  respective 
deuteropathische  Erkrankung  vor  sich  gehabt  haben. 

Lannois  S6)  giebt  eine  Heilte  von  Beobachtungen.  Seine  Untersuchungen 
nach  Mikroben  sind  resultatlos  geblieben.  Das  Ergebniss  seiner  Beobachtungen 
fasst  er  selbst  folgendermassen  zusammen : 

„Eine  Kranke  wird  im  Hospital  zugelassen  mit  Erythema  nodosum  und 
nach  Verlauf  von  acht  Tagen  zeigt  sich  bei  drei  anderen  Kranken  dieselbe  Krank- 
heit. In  der  ganzen  Vergangenheit  dieser  Kranken,  mindestens  unbedingt  bei 
zweien  von  ihnen,  findet  sich  nicht  der  geringste  Anhalt,  dass  sie  für  diese 
Krankheit  irgendwie  prüdisponirt  seien.  Ueberdies  ist  zu  bemerken,  dass  alle 
drei  Patienten  schon  längere  Zeit  im  Hospital  waren  und  dass  sie  kein  Medi- 
rameut  entnahmen,  das  etwa  die  Ursache  des  Erythems  hätte  abgeben  können.“ 

„Ftir  diejenigen,  welche  das  Erythema  nodosum  als  Infectionskrankhcit 

betrachten  — mir  scheint  sich  diese  Ueberzeugung  bei  den  meisten  Fällen  auf- 
zudrängen — dürfte  die  natürlichste  Erklärung  für  die  Aetiologie  unserer  Fälle 
die  Contagion  sein.  Diese  Contagion  ist  zweifellos  daun  auf  sehr  geringe  Grenzen 
beschränkt  und  bildet  die  Ausnahme;  es  giebt  aber  genug  zweifellos  infectiöse 
Krankheiten,  die  sich  nicht  anders  verhalten,  wie  z.  B.  die  Cerebrospinalmcningitis, 
der  Typhus  und  in  gleicher  Weise  auch  das  Erysipel." 

Eine  andere  Beobachtung  ist  die  vom  Para  he  la  Fkrte-Alkas.  *■) 

Ein  Kind  von  12  Jahren  erkrankt  an  Erythema  nodosum.  Die  jüngere 
Schwester,  welche  seit  neun  Tagen  im  gleichen  Bett  schlief,  wird  von  derselben 
Affection  befallen. 

Jedenfalls  spricht  dieser  Fall  — da  nichts  von  anderweitigen  Erkran- 
kungen angegeben  ist  — für  eine  idiopathische  Erkrankung.  Ob  cs  sieh  um 
Contagion  handelt,  oder  ob  nicht  beide  Schwestern  anderweitig  unter  gleichen 
Infectionsbedingungen  gestanden  haben,  ist  schwer  zu  entscheiden. 

b)  Polymorphe  Erytheme  im  engeren  Sinne. 

Mit  Ausscheidung  zw'eier,  als  selbständige  Krankheitsindividnen , als 
Allgemcininfeetionen  mit  symptomatischer  Hauterkrankung  ebarakterisirter  Krank- 
heitsgruppen aus  der  Classe  der  polymorphen  Erytheme  ist  für  die  Klinik  ein 
grosser  Schritt  voraus  gethan. 


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ERYTHEME. 


Was  an  polymorphen  Erythemen  übrig:  bleibt,  ist  aber  immer  noch  eine 
vorläufig;  jeder  sicheren  Classificirung  spottende  Grnppe  von  Affectionen , die 
einerseits  sich  in  ihren  klinischen  Erscheinungsformen  ähneln,  die  trotz  vieler 
Verschiedenheiten  viel  Verwandtschaftliches  haben,  auf  der  anderen  Seite  ätio- 
logisch und  in  ihrem  physiologischen  Entstehungsmodus  die  allerheterogensten 
Dinge  sind. 

Wenn  wir  eine  kleine  Auslese  in  der  Casuistik  machen  von  dem,  was  als 
polymorphes  Erythem  bezeichnet  ist,  so  werden  wir  sehr  bald  sehen,  wie  ausser- 
ordentlich heterogene  Affectionen  unter  dieser  Bezeichnung  nntergebracht  werden, 
und  die  Berechtigung,  unser  Erythema  exsudativum  multiforme  Hebrae  und 
auch  das  Erythema  nculosum  als  selbständige  Krankheiten  aufzustellen,  wird 
sich  dadurch  nur  um  so  logischer,  mit  um  so  zwingenderer  Nothwendigkeit  ergeben. 

Wir  sagen  es  hier  ausdrücklich,  dass  die  meisten  Fälle  von  polymorphem 
Erythem  mit  dem  Erythema  exsudativum  multiforme  (respective  dem  Erythema 
nodosum)  ebensoviel  gemein  haben  wie  ein  z.  B.  in  Folge  von  Quecksilber- 
Einführung  oder  -Anwendung  entstehendes  Erythema  scarlatiniforme  mit  der 
Scarlatina;  dass  ein  Fall  von  knotiger,  erythematöser  Eruption  im  Verlaufe  des 
Puerperalfiebers  in  allen  Beziehungen,  mit  Ausnahme  der  Form  der  Läsionen, 
jenem  scarlatinilormcn  Quecksilbererythem  weit  näher  stehen  dürfte  als  der 
exantbematischen  Infectionskrankheit  Erythema  nodosum ; dass  ebenso  ein  Fall 
von  polymorphem  Erythem  (mit  dem  papulösen  Typus),  das  in  Folge  des  Ge- 
nusses von  Hummern,  Austern,  Himbeeren  entstanden  ist,  jenem  scarlatiniformen 
Quecksilbererythem  weit  näher  stellt  als  der  exanthematischen  Infectionskrankheit 
Erythema  exsudativum  multiforme  Hebrae. 

Unsere  eigenen  Fälle  der  verschiedenartigsten  polymorphen  Erytheme, 
die  neben  jenen  Infectionskrankheiten,  besonders  neben  der  grossen  Zahl  des 
Erythema  exsudativum  multiforme  beobachtet  wurden,  haben  uns  mit  zwingender 
Gewalt  von  den  BESXlEU’schen  Anschauungen  fort,  zu  der  eben  ausgesprochenen 
Ansicht  geführt. 

Auch  unter  dem  übrigen  Chaos  der  polymorphen  Erytheme  lassen  sich 
einige  grosse  Scheidungen  vornehmen,  zunächst  gerade  wieder  entgegen  den  An- 
sichten Bxsnirb’s. 

Wie  wiederholt  betont,  ist  für  Besxleb  das  erste  Postulat  für  das  Zu- 
standekommen der  polymorphen  Erytheme  (die  „condition  pathoydnSlique “)  die 
persönliche  Disposition. 

Nun  giebt  es  aber  eine  grosse  Gruppe  von  polymorphen  Erythemen,  bei 
denen  diese  persönliche  Disposition  entweder  sicher  keine  Rolle  spielt , oder 
wenigstens  die  Annahme  einer  solchen  durchaus  nicht  gerechtfertigt,  ja  ohne 
einen  gewissen  logischen  Zwang  gar  nicht  möglich  ist. 

Sicherlich  ausgeschlossen  ist  eine  persönliche  Disposition  beim  Zustande- 
kommen der  nachweislich  auf  bakteriellen , embolischen  Processen  beruhenden 
Reihe  von  Erythemen. 

Weiter  durchaus  unwahrscheinlich  ist  das  Bestehen  einer  persönlichen 
Disposition  bei  allen  jenen  deuteropathischen,  im  Verlaufe  von  Typhus,  Scharlach, 
Masern,  Diphtherie,  Angina,  Cholera  auftretenden  Erythemen. 

(Le  Ge.ndhe  >h),  Hütixel *»),  Maxxixg40),  Mussy4'),  Peter41)  u.  s.  f., 
um  nur  Fälle  der  neuesten  Literatur  zu  nennen.) 

Ob  wir  hier  ein  Becundäres,  vielleicht  auf  Streptokokken-Embolie  be- 
ruhendes, oder  ein  toxisches  Erythem  anzunehmen  haben,  oder  ob  auch  hier 
äusserlich  ganz  ähnliche  Erytheme  sowohl  auf  die  eine  wie  auf  die  andere 
Weise  entstehen  können,  lassen  wir  unerörtert.*)  Nur  scheint  uns  das  Postulat 
einer  persönlichen  Disposition  hier  ganz  überflüssig. 

*)  S.  eine  hierauf  bezügliche  Diacusoon  in  «1er  Societi  medicale  des  höpitaux  de 
Paris  zwischen  Siredey,  Galliard,  Renda,  Le  Gendre  und  Hayem,  ref.  Annal.  de 
denn,  et  syph.,  1895,  pag.  894. 


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ERYTHEME. 


193 


Dem  gegenüber  stehen  dann  die  Erytheme,  deren  Entstehung  ganz  un- 
klar ist,  bei  denen  eine  persönliche  Disposition  möglich,  aber  nicht  unbedingt 
zur  Erklärung  erforderlich  ist.  Hier  wären  besonders  jene  zweifelhaften  Erytheme 
zu  nennen,  die  auch  Besnikr  berührt,  bei  denen  es  schwer  zu  sagen  ist,  ob  sie 
medieamentösen,  reflectorischen,  toxischen  oder  infectiösen  Ursprungs  sind,  z.  B. 
die  sogenannten  „Urethralerytheme“  — von  denen  ich  Belbst  noch  keinen  Fall 
zu  beobachten  Gelegenheit  hatte.  Handelt  es  sich  bei  einem  Individuum  mit 
Blennorrhoe,  bei  dem  eine  urethrale  Aetzung  vorgenommen  wird,  gegebenen  Falles 
um  ein  toxisches  Erythem  durch  die  Blennorrhoe,  oder  um  ein  infectiöses  Erythem 
durch  eine  secundäre  Infection,  oder  um  ein  reflcctorisches  Erythem  von  Seiten 
der  sensiblen  Urethralschleimhaut,  oder  um  eine  Idiosynkrasie  gegen  das  Medi- 
rament  (Sublimat,  Chlorzink,  Höllenstein)? 

Jede  Erklämngsart  hat  ihre  Berechtigung,  die  erstereu  zwei  Möglich- 
keiten erfordern  eine  persönliche  Disposition  nicht,  während  sie  bei  den  beiden 
folgenden  Möglichkeiten  nicht  entbehrt  werden  kann. 

Schliesslich  wären  dann  die  Erytheme  zu  nennen,  die  ohne  eine  per- 
sönliche Disposition  oder  ohne  eine  Idiosynkrasie  nicht  zu  erklären  sind:  die 
Erytheme  nach  Resorption  von  bestimmten  Medicamenten  oder  nach  Einführung 
von  bestimmten  Nahrungsmitteln. 

Nicht  näher  erörtern  können  wir  hier,  ob  diese  Erytheme  als  reflectnrische 
oder  toxische  aufzufassen  sind.  Vielleicht  sind  beide  Möglichkeiten  vorhanden, 
und  es  ist  nicht  unmöglich,  dass  z.  B.  einmal  der  Genuss  von  Austern  eine 
wirkliche  Angioneurose  hervorruft  durch  Reizung  centraler  oder  peripherer  Ge- 
fassganglien,  und  dass  wir  cs  dann  mit  mehr  urticariellcn  Erythemen  zu  thun 
haben;  dass  dagegen  ein  anderes  Mal  das  Erythem  auf  die  Wirkung  von  z.  B.  im 
Darm  gebildeten  Toxinen  zurückzuführen  ist,  und  dass  wir  es  dann  mit  mehr 
polymorphen  oder  scarlatiniformen  Erythemen  zu  thun  haben. 

Unter  den  polymorphen  Erythemen,  die  wir  zu  beobachten  Gelegenheit 
hatten  — Notizen  liegen  vor  über  15  Fälle  — , wollen  wir  nur  drei  anführen  aus 
der  letzten  Zeit,  weil  sie  uns  so  recht  deutlich  einmal  die  Möglichkeit  der  Ver- 
wechslung mit  dem  Erythema  exsudativum  multiforme , andererseits  aber  auch 
die  grosse  klinische  Verschiedenheit  dieser  mannigfaltigen  Formen  zeigen. 

Im  ersten  Falle  handelte  es  sich  um  einen  56jährigen  Herrn,  den  wir 
schon  seit  mehreren  Jahren  kennen,  und  der  vor  zwei  Jahren  auf  einer  Reise  im 
Innern  von  Klein-Asien  zuerst  von  Intermittens  befallen  wurde. 

Im  Cebrigen  ist  der  Patient  ein  hervorragend  gesunder,  kräftiger  Mann, 
der  nie  Hautaffectionen  irgendwelcher  Art  gehabt  hat. 

Auch  Fieberanfälle  waren  seit  circa  sechs  Monaten  nicht  aufgetreten. 

Am  15.  November  liess  mich  Patient  rufen  wegen  einer  Hautaffection, 
die  er  am  Morgen  des  gleichen  Tages  zufällig  entdeckt  hatte.  Er  fühlte  sich 
seit  einigen  Tagen  nicht  wohl,  hatte  Kopfschmerzen,  Neuralgien,  schlief  schlecht. 

Er  war  der  Ansicht,  dass  wieder  ein  Malariaanfall  im  Anzuge  sei,  hatte  jedoch 
noch  kein  Medicameut,  weder  Chinin  noch  Arsenik  genommen. 

Auf  den  Handrücken,  auf  beiden  Vorderarmen,  auf  beiden  Unterschenkeln 
und  Fussrücken  zeigten  sich  nicht  sehr  zahlreiche  kirschkerngrosse,  hcllrothe, 
leicht  erhabene  Papeln,  die  ziemlich  derb  anzufühleu  waren,  aber  nicht  bis  in  die 
tieferen  Hautschichten  sich  erstreckten.  Subjeetive  Symptome  von  Seiten  der  Haut 
gab  Patient  gar  nicht  an. 

Am  übrigen  Körper,  besonders  am  Gesicht,  war  nichts  zu  bemerken, 
die  Schleimhäute  waren  ebenfalls  frei. 

Die  Temperatur  war  38,5°.  Die  Milz  war  etwas  vergrössert. 

Leider  habe  ich,  da  es  sich  um  einen  Patienten  in  der  Stadt  handelte,  eine 
Blntuntersuchung  unterlassen. 

Da  gerade  zu  jener  Zeit  im  Hospital  sehr  viele  Fälle  von  Erythema 
exsudativum  multiforme  Hebrae  und  auch  in  der  Stadt  solche  vorkamen, 

Eary<*Joj».  Jahrbücher.  VI  13 

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ERYTHEME. 


dachte  ich  zunächst  an  dieses.  Trotzdem  verordnte  ich  1 1 2 Grm.  Chin.su/furic. 
pro  Tag,  da  ich  wusste,  dass  Patient  an  Malaria  litt. 

Am  nächsten  Tage  zeigten  sich  einige  neue  Papeln , einige  an  den 
Schultern,  zwei  im  Gesichte  und  einige  Papeln  an  den  Oberschenkeln.  Die  Papeln 
vorn  vorhergehenden  Tage  zeigten  keine  Veränderung. 

Die  Fieberanfälle  waren  bei  den  früheren  Intermittensattaquen  immer 
Vormittags  eingetreten. 

Am  dritten  Tage  blieb  das  Fieber  schon  aus.  Im  Verlauf  von  sechs 
Tagen  war  das  Erythem  vollständig  verschwenden,  ohne  irgend  eine  Spur  zu  hinter- 
lassen, und  ohne  dass  die  Papeln  irgend  eine  Veränderung  in  Form  uud  Farbe 
durchgemaeht  hätten. 

Ein  Erythema  polymorphon  lag  also  jedenfalls  vor.  Aber  welcher  Natur  ? 
Dass  es  nicht  zum  Erythema  exsudativum  multifomie  gehöre  — darüber  konnte 
für  mich  kein  Zweifel  bestehen.  Medicamentös  war  es  auch  nicht,  denn  Patient 
hatte  kein  Medicament  genommen. 

Moxcorvo4*)  hat  polymorphe  Erytheme  (er  nennt  es  allerdings  Erythime 
noiteux)  bei  Malaria  beobachtet,  bei  Kindern,  die  prompt  auf  Chinin  reagirten. 

Es  ist  ja  möglich,  dass  es  sich  bei  unseren  Patienten  um  ein  solches 
polymorphes  Erythem  handelt.  In  diesem  Falle  ist  wohl  anzunehmen,  dass  er 
jetzt  eine  persönliche  Disposition  für  das  Erythem  erworben  hat,  und  dass  bei 
späteren  Malariaanfällen  dieselbe  Erscheinung  sich  zeigen  wird.  Das  weiss  ich 
aber  bestimmt,  dass  ich  zu  jener  Zeit,  ehe  ich  die  grosse  Zahl  epidemisch  auf- 
tretender Fälle  von  Erythema  exsudativum  mulliforme  Ilebrae  gesehen  hatte, 
Fälle  der  letzteren  Art,  dann  der  eben  beschriebenen  und  der  sogleich  zu  be- 
schreibenden ganz  im  Sinne  der  BftsxiKR’schen  Auffassung  als  polymorphe  Ery- 
theme bezeichnet  haben  würde. 

Im  anderen  Falle  handelt  es  sieh  um  einen  Mann  in  den  Dreissiger- 
Jahren,  einen  Bulgaren,  von  schmächtigem  Aussehen,  etwas  blass  und  nervös. 
Patient  sagte  mir,  dass  er  seit  vier  Monaten  zum  vierten  Mal  an  der  Hautaflertion 
leide,  die  sich  am  Abend  vorher  wieder,  d.  h.  zum  vierten  Male,  eingestellt  hatte. 
Belästigungen  irgendwelcher  Art  bereite  ihm  dieselbe  nicht,  jedoch  fürchte  er  sich, 
dass  es  sich  um  eine  ansteckende  Krankheit  handle,  die  er  eventuell  auf  seine 
Kinder  übertragen  könne. 

Patient  zeigte  auf  den  Handrücken,  Vorderarmen,  Stirn,  Unterschenkeln, 
Fussrücken  ein  papulöses  Erythem  ziemlicher  Ausdehnung.  Xuch  seiner  Angabe 
änderte  dieses  Erythem  sein  Aussehen  nicht  und  verschwand  in  den  früheren 
Fällen  nach  3 — 4 Tagen. 

Patient  stellte  sich  mir  nun  täglich  vor  — und  der  Verlauf  war  wie 
früher.  Da  Patient  sehr  nervös  war  und  mich  bat,  das  Wiederkehren  der  Anfälle 
zu  verhüten,  gab  ich  ihm  Chinin,  bromat.,  Eisen  und  Arsenik  — fünf  Wochen 
später  trat  ein  neuer  Anfall  auf,  der  ebenso  verlief  und  dem  nach  einigen  Wochen 
ein  sechster,  bald  ein  siebenter  Anfall  folgte.  Ich  hatte  mehrfach  den  Patienten 
untersucht,  aber  kein  Anzeichen  einer  constitutionellen  Krankheit  tiuden  können. 
Beim  siebenten  Anfall  wurde  ich  durch  seinen  übelriechenden  Athem  auf  den 
Zustand  seiner  Verdauung  aufmerksam.  Er  hatte  stets  angegeben,  dass  er  gut 
esse,  gut  verdaue  und  keinerlei  Beschwerden  habe.  Bei  genauer  Nachfrage  gab 
er  zu,  dass  er  theilweise  ziemlich  stark  an  Darmgasen  litte,  auch  sei  ihm  in 
der  letzten  Zeit  schlechter  Geschmack  und  Geruch  aus  dem  Munde  selbst 
anfgcfallcn. 

Ich  schrieb  ihm  nur  eine  einfache  Diät  vor  und  Hess  ihn  unmittelbar  nach 
dem  Essen  15  Grm.  gesättigtes  Chloroformwasser,  eine  Stunde  später  1 Grm. 
Natron  bicarbonicum  nehmen.  Seit  fünf  Monaten  sind  bis  jetzt  diese  Anfälle 
nicht  wiedergekehrt. 

Der  dritte  Fall  gleicht  dem  eben  mitgetheiltcn  sehr.  Es  handelt  sieh 
um  einen  23jährigen  Soldaten , der  mit  der  Diagnose  Erythema  exsudativum 


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multiforme  von  meinem  Assistenten  aufgenoramen  war.  Au  dem  ersten  Tage  fiel 
mir  nichts  Besonderes  auf,  ich  acceptirte  die  Diagnose.  Es  handelte  sieh  allerdings 
um  sehr  wenige  und  auffallend  sphärische,  harte  Papeln  oder  Knötchen.  Die 
eigentümliche  Form  und  das  Ausbleiben  jeder  Veränderung  veranlagten  mich 
am  dritten  Tage  zu  einer  eingehenden  Untersuchung.  Bei  dieser  Gelegenheit  sagte 
mir  Patient,  dass  er  diese  Affection  jetzt  vielleicht  zum  zwanzigsten  Male,  und 
zwar  seit  drei  Jahren,  aber  immer  nur  im  Herbst  und  Winter  habe.  Ich  habe 
jetzt  unter  meinen  Augen  mindestens  den  fünften  Nachschub  gesehen  — es  ist 
ein  Fall  von  polymorphem  Erythem,  dessen  Aetiologie  mir  vollständig  unklar 
ist,  der  aber  von  den  im  selben  Saale  liegenden  multiformen  exsudativen  Ery- 
themen sich  ebenso  unterscheidet  wie  etwa  ein  Kranker  mit  Aknepusteln  von 
einem  Kranken  mit  schwerer  Lues  und  einem  pustulösen  aknei'formen  Syphilid  — 
in  dem  einen  Falle  handelte  es  sich  um  einen  kräftigen,  gesunden  Mann,  der 
trotz  seiner  vielen  Erythemnachschübe  nichts  weniger  als  elend  anssieht,  in  den 
übrigen  Fällen  resultirt  aus  einer  kurzen  Erythemattaque  ein  mehr  oder  minder 
ausgesprochen  kachektischer  Zustand. 

Wenn  ich  nun  die  eigenen  Fälle  verlasse  und  mich  der  Casuistik  zu- 
wende, so  kann  ich  nur  in  grossen  Zügen  einige  wenige  Beispiele  bringen;  die 
zeigen  sollen,  wie  weit  sich  das,  was  man  der  von  Hf.bba  geschaffenen  Gruppe 
anreilit,  von  der  ursprünglichen  Auffassung  entfernt. 

Auch  hier  werde  ich  möglichst  nur  einige  Beispiele  aus  der  neuesten 
Zeit  wählen  — nur  eine  ältere  Arbeit,  die  viel  Schuld  trägt  an  der  eingerissenen 
Verwirrung,  muss  ich  citiren  — es  ist  die  LEWix’sche  Arbeit. 

Zunächst  muss  betont  werden,  dass  das  Lkw!.\’sc1k‘  Material  von  vorne- 
herein  dazu  wie  geschallen  ist,  irrthümliche  Anschauungen  zu  erwecken.  Es 
handelt  sieh  durchweg  um  anderweitig  Kranke.  Fast  säramtliche  Kranke  sind 
luetische  Frauenzimmer.  Fast  keine  der  gegebenen  Beobachtungen  entspricht  dem 
HXBKA’schen  Typus.  Fast  sämmtliche  Fälle  lassen  sich  nach  unserer  heutigen 
Anschauung  als  dcuteropathische , toxische  oder  infectiöse  Erytheme  auffassen. 

Von  den  Fällen,  die  keine  anderweitigen  Erkrankungen  aufweisen  (8,  13,  2 6, 

27,  38  bei  den  weiblichen.  2,  5,  6),  wäre  es  vielleicht  in  den  Fällen  38,  2, 

5,  6 möglich , au  eine  Form  des  HEBBA’schen  Erythems  zu  denken  — alle 
übrigen  Fälle  entsprechen  in  nichts  unseren  120  eigenen  Beobachtungen,  auf  die 
Hebbas  Beschreibung  passt. 

Weiter  verweisen  wir  an  neueren  Publicationen  auf  diejenige  von  Polo- 
tkbxoff  a“),  die  wir  zur  Illustration  unserer  Ansicht  in  extenso  bringen  könnten. 

Von  der  neueren  Casuistik  will  ich  ganz  beliebig  aus  meinen  Notizen 
einige  Fälle  herausgreifen. 

FlN'üKR  '*)  beschreibt  als  Enjthema  multiforme  einen  Fall  einer  acuten 
Infectionskrankheit , die  mit  einem  sehr  verbreiteten  Erythem  einherging,  dem 
die  Patientin  unter  septischen  Erscheinungen  erlag.  Die  Section  ergab  diphtheritische 
Proeesse  im  Rachen , bis  in  den  Magen,  und  Perikarditis  und  Pleuritis,  ln  den 
Knoten  (s.  oben)  wurden  in  den  Gefässeu  Kokken  nachgewiesen. 

Lkwi.y  >*)  stellte  im  Verein  für  innere  Medicin  (am  30.  November  1891) 
einen  Fall  von  Erythema  exsudativum  multiforme  vor.  Dieser  Fall , sowie  die 
sich  anschliessende  Discussion  beweisen  besser  als  alle  Citate,  wie  weit  man  sieh 
von  dem  HRBRA’schen  Erythema  exsudativum  multiforme  entfernt  hat,  und  dass 
meine  Behauptung  gerechtfertigt  ist , dass  man  unter  der  gleichen  Etiquette 
Affeclionen  vereinigt , die  genau  so  eng  zu  einander  oder  so  weit  auseinander 
zu  halten  sind  wie  eine  searlatiniforme  Quecksilbereruption  und  Scharlach  und 
ein  scarlatiniformes  Erythem  bei  schwerer  Sepsis ! 

Es  heisst  (pag.  79): 

„Herr  G.  Lewix  stellt  eine  Patientin  mit  Erythema  exsudativum  multi- 
forme vor.  Dieselbe  litt  vorher  an  Kehlkopfsvpliilitis,  welche  durch  l’nterhaut- 
einspritzungen  beseitigt  wurde;  auch  war  sie  früher  bereits  mit  Erythema  exsu- 

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ERYTHEME. 


dativum  behaftet  gewesen.  Redner  hat  als  Erster  auf  ein  Erythema  exsudativum 
multiforme  malignum  aufmerksam  gemacht,  welches  einem  Typhus  ähnlich  ver- 
läuft. Im  ersten  Stadium  bestellt  Schlaflosigkeit,  Aufregungszustände.  Im  Eruptions- 
Stadium  entstehen  unter  Schmerzen  Flecken,  Schuppen,  Pusteln  mit  Fieber,  Rilcken- 
schmerzen  ähnlich  wie  Pocken.  Gleichzeitig  kann  sich  ein  Gelenkrheumatismus 
mit  folgenden  Ankylosen  entwickeln.  Es  können  sich  Knoten  in  der  Gegend  der 
Tibia  mit  dem  Eindruck  von  Tophi , Geschwüre  im  Pharynx , symmetrische 
Gangrän,  Drtlsenschwellung  bilden.  Als  Nachkrankheiten  können  Herzfehler, 
Tuberkulose,  Neuralgien  anftreten.  Mikroorganismen  wurden  bei  der  Erkrankung 
bisher  nicht  gefunden.  Redner  sieht  dieselbe  als  Angioneurose  an.  Die  meisten 
Kranken  litten  an  Urethritis  und  Erosionen  am  Uterus.  Verfasser  konnte  durch 
Reizung  der  Portio  mit  Argent.  nitric.  und  der  Harnröhre  mit  Sabinasalbe  einen 
Rückfall  der  Erkrankung  erzeugen , der  sich  nach  24  Stunden  unter  geringem 
Fieber  nicht  so  stark  wie  der  erste  Anfall  cinstellte  und  auch  schneller  wieder 
verschwand.“ 

Jeder  Commentar  würde  den  Eindruck  schwächen. 

Duhking  *4)  giebt  als  universelles  multiformes  Erythem  folgen  Fall: 

„Patient,  ein  29jähriger  Mann,  robust,  stets  gesund,  hatte  einseitigen 
Rheumatismus  im  Fuss-  und  Kniegelenk.  Temperatur  38.4.  Appetitlosigkeit  Kopf- 
schmerz, Verstopfung,  eiweisshaltiger  Urin.  In  der  folgenden  Nacht  plötzlicher 
Ausbruch  erythematöser  Flecken  auf  der  Beuge-  und  Streckseite  der  Arme , auf 
Gesicht,  Brust,  Rücken  und  den  Handflächen,  aber  nicht  auf  dem  Handrücken. 
Die  Flecken  erbsengross,  sehr  zahlreich,  undeutlich  begrenzt,  verursachten  heftiges 
Jucken.  Eruption  wird  intensiver  und  ausgedehnter,  vorzüglich  auf  Brust  und 
den  Beinen.  Halssehmerzen,  trockene  rothe  Zunge,  Pharynx  mit  rothen  Flecken, 
Schlingbeschwerden.  Der  ganze  Körper  ist  ergriffen,  die  Flecken  gehen  ineinander 
über:  das  ganze  Gesicht  diffus  roth.  Rheumatische  Schmerzen  nachgelassen.  Am 
Handrücken  Papeln  mit  Vesikeln , auch  auf  der  übrigen  Haut  entwickelten  sich 
kleine,  zahlreiche  gelblichgraue  Vesikel  wie  beim  Scharlach.  Es  fand  allgemeine 
Abschuppung  statt  und  Heilung  nach  3 Wochen.  Es  war  ein  Erythema  multi- 
forvie  mit  Abschuppung,  was  ungewöhnlich  ist.“ 

Auch  hier  ist  ein  weiterer  Commentar  nicht  nöthig  — ein  Erythema 
exsudativum  multiforme  Hebrae  ist  dieser  Fall  nicht! 

SBKRWELL  “)  bringt  einen  tödtlich  verlaufenden  Fall,  der  als  einfaches 
Erythem  begann  und  unter  schweren  Complicationen  und  Purpura  tödtlich  verlief  — 
auch  dieser  Fall  muss  sich  die  Bezeichnung  „Erythem“  gefallen  lassen. 

FOBDYCE  iC)  stellt  einen  Fall  von  Erythema  multiforme  universale  vor 
wegen  der  Ausbreitung  der  Läsionen.  Man  sieht  gyrirte  und  circinnäre  Flecken 
und  auch  Urticariaquaddeln.  Die  Eruption  recidivirt  und  ist  stark  juckend.  Der 
Referent  (L.  Broch;  fügt  hinzu,  es  scheine  sieh  mehr  um  eine  Dermatitis  herpeti- 
formis  zu  handeln. 

Und  so  könnten  wir  noch  eine  grosse  Zahl  von  Belegen  bringen  *'),  dass 
man  die  Bezeichnung  multiformes  oder  polymorphes  Erythem  derartig  allgemein 
gebraucht,  dass  das  Wort  bald  gar  nichts  mehr  bedeutet,  als  dass  man  eine 
Röthung  auf  der  Haut  sieht. 

ln  den  meisten  Fällen  handelt  es  sich  um  secundäre  Erkrankungen  und 
mau  sollte  sagen,  die  ursächliche  Krankheit,  z.  B.  Sepsis,  acuter  Gelenkrheuma- 
tismus, Nephritis,  Malaria  u.  s.  f.  mit  erythematösen  Eruptionen. 

Jedenfalls  aber  wird  Niemand  mehr  die  Berechtigung  bestreiten,  wenn 
man  gegenüber  solchen  Fällen  sagt,  dass  unsere  oben  mitgetheiltcu  120  Fälle 
eiu  einheitliches  Krankheitsbild  geben,  das  mit  den  citirten  Fällen  nichts  gemein 
hat  als  vielleicht  die  Form  der  Kffloreseenzen  und  die  Itöthe. 

Mit  wenigen  Worten  müssen  wir  hier  noch  das  Erythema  Itullosum 
berühren.  Wir  haben  von  dieser  Affection  erst  einen  Fall  beobachtet.  Mit  dem 
Erythema  exsudativum  multiforme  Hebrae  hat  diese  Erkrankung  nur  eines 


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gemeinsam:  eine  allerdings  auffallende  Uebereinstimmung  der  ursprünglichen 
Läsionen.  Im  Uebrigen  giebt  es  aber  weder  in  Ausbreitung,  noch  in  Dauer,  noch 
im  Verlauf,  kurz  im  ganzen  Krankheitshilde  auch  nicht  einen  Punkt,  in  dem 
sich  diese  beiden  Affectionen  ähnelten.  Das  Erythema  bullosum  gehört  ebenso- 
wenig in  die  Classe  der  polymorphen  Erytheme  überhaupt  hinein  wie  die  Der- 
matiti < herpetiforinis  Dl.'HRlXG’S  z.  B. 

Wenn  wir  nun  zusammenfassen , so  müssen  wir  sagen , dass  in  der 
Gruppe  „ Erythema  polymorphun “ im  weitesten  Sinne,  sowie  Besnier  dieselbe 
fasst , sicherlich  dreierlei  grundverschiedene  Gruppen  von  Affectionen  enthalten 
sind , auf  deren  weitere  eventuelle  Unterabtheilmigen  wir  an  dieser  Stelle  nicht 
eingehen  wollen. 

Wir  haben  auszusrheiden : 

I.  Allgemeine  Infcctionskrankheiten  mit  symptomatischer  Hauterkrankung: 
a)  das  Erythema  rxsuda’ivum  multiforme  Hebrae , so  wie  es  in  vor- 
liegender Arbeit  aufgefasst  und  beschrieben  ist; 

h)  das  Erythema  nodosum. 

Von  einer  individuellen  Prädisposition  für  diese  Krankheiten  kann  eben- 
sowenig und  ebensoviel  die  Rede  sein  wie  von  einer  solchen  fitr  .Scharlach, 
Blattern,  Masern,  Intermittens  etc. 

II.  Angioneurosen  (Erythantheme  Auspitz-üxna). 

Dazu  gehört , eine  grosse  Reihe  der  urticariellen  oder  maculo-papulösen 
Affectionen,  die  den  obigen  Infectionskrankheiteu  ähneln. 

Bei  dieser  Gruppe  kommt  die  Frage  der  individuellen  Disposition  in 
Betracht.  Kür  sehr  viele  der  hierhergehörigen  erythematösen  Affectionen , z.  B. 
für  die  toxischen  Erytheme,  welche  durch  den  Genuss  von  bestimmten  Nahrungs- 
mitteln, durch  bestimmte  Medicamente  hervorgerufen  werden,  muss  eine  individuelle 
Disposition  angenommen  werden.  Es  sind  dies  die  idiopathischen  Erythan- 
theme Uxxa’s. 

Für  andere,  secundäre  Erytheme  toxischer  Natur  (z.  B.  das  Cholera-, 
Typhus-Erythem)  ist  die  Annahme  einer  individuellen  Disposition  nicht  erforder- 
lich. Vielleicht  gehören  dieselben  aber  auch  gar  nicht  zu  den  Angioneurosen, 
sondern  sind  alle  der  dritten  Gruppe  zuzutheilen,  nämlich : 

III.  den  durch  Embolie  hervorgerufenen  erythematösen  Eruptionen.  Hier- 
her gehören  sicherlich  sehr  viele  der  sogenannten  „malignen  polymorphen  Ery- 
them eu,  meist  bei  septischen  Processen  vorkommende  Hautmetastasen. 

Literatur:  ')  Unna,  Die  Histopathologie  der  Hautkrankheiten.  Berlin  1891  , 
Hirschwald.  — *)  Duhring,  Traite  pratique  des  maladies  de  la  peau.  Trad.  par  Barth  f- 
Irmtj  et  Colson.  Paris  1*83,  Masson.  — *)  Gaucher,  Le^ons  sur  les  maladies  de  in  peau. 
Paris  1895,  Doin.  — 9 Besnier,  Pathogenie  des  frythemes.  Annal.  de  dermat.  et  syph. 
189U,  Nr.  1.  — i)  Hehra,  Hautkrankheiten.  1880,  pag.  198ff  — *)  Kaposi,  Lehrbuch. 
1887,  3.  Aufl.  — ;)  Lewin,  Erythema  exsudativum  multiforme.  t'haritü-Annalen.  III, 
1870  — “)  Auspitz,  System  der  Hautkrankheiten.  Wien  1881.  — Vulpian,  Lefons 
sur  l’apparei!  vasomoteur.  Paris  1875.  — - ")  Unna.  Die  nichtentzündlichen  Oedeme  der 
Haut.  Monatsh.  f.  prakt.  Dermat.  1889,  VIII,  pag.  495.  — '*)  Heidenhain,  Versuche  und 
Fragen  zur  Lehre  von  der  Lymphbildung.  Ptlüger's  Archiv.  1*91,  XLIX,  pag.  909-  — 
li ) E.  Finger,  Beitrag  zur  Aetiologie  nnd  pathologischen  Anatomie  des  Erythema  multi • 
forme.  Wiener  med.  Presse.  1899.  Nr.  39,  ref.  in  Virchow-Hirsch's  Archiv.  1899.  II,  pag.  596.  — 
’*)  Lewin,  Vorstellung  eines  Falles  von  Erythema  exsudativum  multiforme  im  Verein  für 
innere  Mcdicin  (30.  November  1891).  Berliner  klin.  Wochensc.hr.  1899,  pag.  79.  — “)  Oril- 
1 a r d u.  Sabonrand,  Ein  Fall  von  Erythema  nodosum  mit  thrumbosirten  Venen.  Annal.  de 
dermal  et  syph.  1893,  pag.  495.  — l<)  Jonillü,  Oe  V4rythime  noueux  seconduire.  Thüse. 
Paris  1893.  — ")  n.  ■’)  Kaposi  und  Nenmann,  Iliscussion  der  Wiener  dermatologischen 

Gesellscbalt.  Arcb.  f.  Dermat.  n.  Syph.  1893.  pag.  333.  — '*)  Neu  mann,  Beitrage  zur 
Kenntniss  des  Erythema  nodosum.  Wiener  med.  Wochenschr.  1879,  Nr.  44.  — ,0)  Kühn,  Zur 
Lehre  vom  Erythema  exsudativum  multiforme.  Berliner  klin.  Wochenschr.  1880,  Nr.  4, 
pa*  49  — *‘)  Besnier,  Etüde  sur  h Ifheumatisme  blennorrhagique.  Annal.  de  dermat. 

1876  77,  VIII,  pag.  £1.  — **)  M o 1 e n es- M a h o n , Contribution  ä Vetude  des  malad i es  in • 
f ertön*  tu ; de  Virythhne  polymorphe.  Paris  1884.  — **)  Ri  gier,  Die  Türkei  und  deren  Be- 
wohner. Wien  1852,  II.  pag.  44,  Gerold.  — a4j  Pruner,  Die  Krankheiten  des  Orients.  Er- 
langen 1847,  Palm  u.  Enke.  — n)  Li  pp,  Beitrag  zur  Kenntniss  des  Erythema  exsudativum 


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ERYTHEME.  — EUCAIN. 


Hebrae.  Arch.  f.  Dermat.  u.  Syph.  1871,  pag.  223.  — u)  Kehrend,  Art,  „Eni hem“.  Eulenbnrg'* 
Real-Encyclopädie.  3-  Aufi.,  Vll,  pag.  353.  — *;)  Beaudonnet,  Contribution  d Vitude  des 
manifestations  oculaires  dang  V irythbne  polymorphe.  These  de  Paris.  1894.  — li)  Fuchs, 
Vierteljahrschr.  f Dermat.  u.  Syph.  1877,  pag.  244  — ,v)  Polotebnoff.  Zur  Lehre  von  den 
Erythemen.  (In  Unna’s  dermatologischen  Studien.)  Hamburg  1887,  Leop.  Voss.  — *°)Oehrae, 
Ueber  Erythema  nodosum  und  seine  Beziehungen  zur  Tuberculosis.  Arch.  f.  Heilk.  1877.  H.  9, 
pag.  426-  — **)  Gaal  (Vele  Bey),  Epidemie  von  Erythema  papulatum.  Zeitschr.  d.  Gesellsch. 
d.  Aerzte  in  "Wien.  1858  (citirt  nach  Polotebnoff).  — **)  Lewin,  Die  Neben  wirk  ungen  der 
Arzneimittel.  Berlin  1893,  Birechwald.  — **)  Amiaud,  Lf Erytheme  uoueux  et  ses  rompli - 
cation * viscerales.  These  de  Paris.  1879-  — M)  Schulthess,  Statistischer  Beitrag  zur 
Kenntniss  des  Erythema  nodosum.  Correspondenzhl.  f.  Schweizer  Aerzte.  1.  Februar  1895, 
XXV.  Jahrg.,  Nr.  3.  — *•)  Stol zen berg , Charite-Annalen,  XIX.  Jahrg.,  ref.  in  Virchow- 
Hirsch's  Arch.  1894.  II,  pag.  643.  — :*)  Lannois.  L’t-rytheme  tioueux,  peut  il  etre  con- 
tayieux 9 Annal.  de  dermat.  et  syph.  1892,  pag.  585 ff.  — *7)  Para,  Deux  ca*  de  eonfayion 
de  Verythemc  noueux.  Gaz.  hebdom.  de  med.  et  chir.  23.  Juli  1892,  Nr  30.  — 3S)  Le 
Gendre,  Centralbl.  f.  allgem.  Pathol.  u.  pathol,  Anat.  1894.  V,  pag.  45.  — *9)  Hutine  l, 
Annal.  de  dermat.  et  syph.  1893,  pag.  492.  — 40)  Manning,  Brit.  med.  Journ.  1893.  pag  691.  — 
41)  Mussy,  Les  t'rythemes  infectieux  dam  la  diphth/rie.  These  de  Paris,  1892.  — 41)  Peter, 
Semaine  med.  1891,  Nr.  35,  pag.  281.  — °)  Mnncorvo,  Annal.  de  dermat.  et  syph.  1893, 
pag.  58.  — 44)  Duhring.  A case  of  universal  Erythema  multiforme.  Virchow-Hirsch's 
Archiv.  1892.  II,  pag.  52^*.  — 46)  Sherwell.  Annal.  de  dermat.  et  syph  1893,  pag.  775.  — 
4 *)  Fordyce,  Annal.de  dermat.  et  syph.  1893,  pag.  1048.  — 4;)  Hallopeau,  Annal.  1894, 
pag.  1105-  — Wen  dl  er,  Beitrag  zur  Lehre  vom  Erythema  exsudatirum  multiforme  und 
nodosum.  Dissertnt.  Berlin  1893.  — 4#)  Schwimmer,  Die  neuropathisehen  Dermatosen. 
Wien  1883.  v.  Darin  g. 

Erythrasma,  s.  Dermatomykosen.  pag.  113. 

Erythrophleinum  hydrochloricum  purissimum.  Das  von  e.  mkrck 

vor  12  Jaliren  ans  der  Sassyrinde  (Sassv-Bark),  einer  aus  Westafrika  imporlirten 
Drogue,  dargestellte  ErythrophleVn  war  ein  syrupförtniges  Präparat,  welch,«  nach 
der  toxikologischen  Prüfung,  die  Haknack  und  Zabrocki  damit  ausflihrten,  neben 
der  Herzwirkung  zugleich  pikrotoxinartige  Krämpfe  bei  den  Versuelisthieren 
erzeugte.  Auch  lieferte  das  ErytliropbleVn  beim  Kochen  mit  Salzsäure  eine  stick- 
stofffreie, unwirksame  Säure  und  einen  ähnlich  dem  Pyridin  wirkenden  basischen 
Körper.  Das  neuerdings  von  E.  Mkkck  als  Eryth  rnphlein  um  hyd  rocht oricum  ein- 
gefuhrte  Präparat  unterscheidet  sich  nach  den  Untersuchungen  von  E.  Haknack 
von  dem  obigen  dadurch,  dass  es  ein  gelbliches,  pulverförmiges,  amorphes  Salz 
bildet  und  dass  es  nur  die  reine  Digitaiiswirkung  und  nicht  auch  die  des  Pikro- 
toxins mehr  zeigt.  Die  Spaltung  durcli  Kochen  mit  Salzsäure  vollzieht  sieh  viel 
schwieriger.  Die  Giftigkeit  der  Substanz  ist  sehr  bedeutend ; 3 Mgrm.  subeutan 
erwiesen  sich  bei  der  Katze  als  letal,  10  Mgrm.  subeutau  tödteteu  etwa  binnen 
15  Minuten.  Das  verschiedene  Verhalten  des  dermaligen  und  des  früheren 
Präparates  möchte  Haknack  davon  herleiten,  dass  die  betreffenden  Droguen  von 
verschiedenen  Arten  der  Stammpflanze  Mimoseae)  herstammen. 

Literatur:  Harnack  und  Zabrocki.  Arch.  f.  experim.  I’ath.  u.  Pharm.  XV, 
pap.  403;  Harnack,  Berliner  klin.  Wochenscl.r.  .895,  Nr.  34.  Loebiech 

Eucain.  ein  ganz  kürzlich  als  Ersatz  fUr  Cocain  empfohlenes  locales 
Anästhetieum . ist  wie  Cocain  der  Methylester  einer  beuzoylirten  Oxypiperidin- 
carbousäure  von  der  Constitutionsformel  C6H5 — CO — O — COOCH,. 

Die  Eueainbase  ist  gleich  der  Cocainbase  in  Wasser  fast  unlöslich ; sie 
kommt  daher  in  der  Form  des  löslichen  salzsauren  Salzes  (Eucainmn  hydro- 
cklori cuwj  zur  therapeutischen  Verwendung, und  zwar  in  dem  Lösungsverhältnisse 
von  1 : ti1/,  Wasser.  In  dieser  Form  soll  sich  das  Mittel  zu  Schleimhaut- 
anästhesirnngen , hei  Hals-  und  Nasenkrankheiten,  mich  in  der  zahnärztlichen 
Praxis  bewährt  haben : es  soll  ungiftiger  als  Cocain,  insbesondere  indifferent 
gegen  das  Herz  sein:  auch  soll  es  vor  dem  Cocain  noch  den  Vorzug  besitzen, 
dass  es  beim  Kochen  mit  Wasser  nicht  zersetzt  wird  und  in  Folge  dessen  bei 
Sterilisation  der  Lösungen  nicht  leidet , während  das  Cocain  sieh  dabei  in 


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EÜCAIN.  — EUDOXIN. 


199 


Benzoylekgonin  and  Methylalkohol  spaltet  und  dadurch  seine  local-anästhesirende 
Wirkung  auf  Schleimhäute  einbttsst.  Weitere  Bestätigungen  sind  abzuwarten. 
Das  „Eueain“  wird  von  der  Schering’schen  Fabrik  in  den  Handel  gebracht,  der 
Fabrikspreis  beträgt  zur  Zeit  300  bis  325  Mark  für  das  Kilo.  — Vergl.  KIESEL, 
„Eueain,  ein  neues  locales  Anästheticum“,  Zahnärztliche  Rundschau,  1896,  pag.  196. 

Eucasin.  Ein  neuerdings  in  den  Handel  gebrachtes  Milchpräparat, 
ein  saures  Ammoniaksalz  des  Caseins;  weisses,  fast  geschmackloses,  in  warmem 
Wasser  vollständig  lösliches,  griesartiges  Pulver,  zu  Ernährungszwecken  empfohlen. 
Man  giebt  es  in  Hafer-  oder  Gerstensuppe,  Fleischbrühe  oder  mit  Cacao  und 
Choeolade,  bei  Erwachsenen  zu  28 — 40  Grm.  pro  die.  Das  Mittel  soll  auch 
von  empfindlichen  Personen  gern  genommen  werden  und  sich  bei  chronischen 
Verdauungsstörungen,  bei  Phthisikern , Gichtischen  u.  s.  w.  als  Ernährungsmittel 
nützlich  gezeigt  haben. 

Literatur:  E.  S a 1 k o wski , Deutsche  med.  Wochenschr.,  1896,  Nr.  15:  Feustell, 
it'id.  Nr.  20. 

Eudoxin.  Das  Wismuthsalz  des  Xosophen,  s.  Xosophen. 


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Favus,  8.  Dermatomykosen,  pag.  90  ff. 

Ferrocyankalium,  Vergiftungen,  8.  Cyan  Verbindungen,  pag.  85. 

Flagellaten,  im  Darmcanal,  s.  Darm,  pag.  89. 

Fettleibigkeit.  Seitdem  Leichtenstern  und  NVexdei.stadt  bei  Fett- 
leibigen eine  Entfettung  mittelst  Schilddrüsenfütterung  empfohlen  haben  ('s.  Ency- 
clopädiscbe  Jahrbücher,  1895,  V.  Jahrg.,  pag.  420),  ist  dieses  Verfahren  mehrfach 
Gegenstand  eingehender  Untersuchungen  gewordeu.  Leichtexstern  hatte  die 
Hypothese  aufgestellt,  dass  die  Thyreoidea  einen  Stoff  bereitet,  der  für  das  Leben 
und  die  Gesundheit  des  Organismus  von  grosser  Bedeutung  ist,  der  einen  regu- 
lirenden  Einfluss  auf  die  Ernährung  der  Haut  und  den  Fett-  und  Wassergehalt 
des  Panniculu * adijwsu»  ausübt.  Gesteigerte  secretorische  Thätigkeit  der  Schild- 
drüse bewirke  gesteigerte  Verbrennung  des  Fettes,  verminderte  Drüsenseeretion 
begünstige  den  Fettansatz , dauernder  gänzlicher  Mangel  des  Secretes  rufe  den 
höchsten  Grad  der  Wucherung  des  ödematösen  Fettgewebes  hervor,  wie  dies  bei 
Myxödem  der  Fall  ist. 

A.  DKNNIU  hat  es  sieh  zur  Aufgabe  gestellt,  zu  ermitteln,  ob  durch 
Schilddrüsenfütterung  der  Stoffwechsel  Xoth  leidet,  namentlich  ob  Eiwcisszerfall 
in  bedeutenderem  Grade  statt  hat.  Beruht  die  Gewichtsabnahme  nur  auf 
Wasserentziehung  und  Fettverbrennung , so  schadet  die  Thyreoidinbehandlung 
nicht , wohl  aber  ist  das  letztere  der  Fall , wenn  damit  vermehrte  Stickstoffaus- 
scheidung bei  gleichbleibender  Zufuhr  verbunden  ist.  Die  diesbezüglichen  Unter- 
suchungen erstreckten  sich  auf  drei  Personen.  Im  ersten  Falle  erfolgte  während 
der  Schilddrüsenfütterung  eine  geringe  Erhöhung  der  N- Ausscheidung ; iro  zweiten 
Falle , der  nur  kurze  Zeit  zur  Beobachtung  kam , ging  bei  der  Schilddrüsen- 
fütterung die  Harustoffmenge  stark  in  die  Höhe.  Der  dritte  Fall  zeigte  ganz 
bedeutende  Abweichungen  in  Bezug  auf  Harnstoff-  und  Stickstoffangabe.  Die  X- 
Ausscheidung  erhob  sich  am  Tage  der  Schilddrüsendarreichung  um  Weniges,  fiel 
am  folgenden  Tage  und  stieg  hierauf  jäh  an , sank  an  den  folgenden  Tagen, 
sich  aber  weit  über  der  Norm  haltend , um  dann  abermals  einen  jähen  Anstieg 
während  dreier  Tagen  aufzuweisen,  fällt  hernach  langsam,  dann  ausserordentlich 
rapid  , so  dass  in  den  beiden  letzten  Tagen  Werthe  erreicht  wurden , die  weit 
unter  denjenigen  der  Eiweisszufuhr  stehen ; ähnlich  wie  die  Stickstoffabgabe  ver- 
hält sich  die  des  Harnstoffes.  In  diesen  Füllen  tritt  auch  eine  vermehrte  tägliche 
Wasserausscheidung  zu  Tage,  während  eine  solche  in  den  beiden  vorhergehenden 
Fällen  fehlte.  Dexxk;  hebt  hervor , dass  aus  diesen  drei  Beobachtungen  ersicht- 
lich ist , dass  bezüglich  der  Wirkung  der  Schilddrüsenfütterung  Unterschiede  im 
Körperhaushalte  einzelner  Individuen  bestehen.  Während  der  Eine  grössere  Mengen 


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FETTLEIBIGKEIT. 


ÜÜl 

Thyreoideasubstanz  täglich  nehmen  kann,  ohne  dass  sein  Eiweissbestand  wesent- 
lich herabgedrUckt  wird,  kommt  es  beim  Anderen  zu  erheblichen  Schwankungen 
im  Stoffwechsel , die  doch  zur  Vorsicht  mahnen,  denn  wenn  ein  Mensch  35  bis 
40  Grm.  Eiweiss  täglich  verliert  (im  3.  Falle),  so  ist  dies  von  Belang.  Dennig 
fand  ferner  an  sich  und  bei  einem  Anderen  nach  Gebrauch  der  Schilddrüsen- 
tabletteu,  dass  der  Harn  noch  einen  Monat  nach  Einnahme  derselben  deutlich 
Metalloxyde  reducirtc  (Ewald  hat  in  einem  Falle,  welcher  eine  myxOdematösc 
Frau  betraf,  schon  drei  Wochen  nach  Darreichung  von  Schilddrtlseutaliiettcn 
Klagen  über  unstillbaren  Durst  beobachtet  und  dabei  4%  Zucker  im  Harne 
nachgewiesen).  Jedenfalls,  so  sagt  DENNIO  zum  Schlüsse,  dürfte  es  gerathen  sein, 
Vorsicht  bei  der  Schilddrüsenverabreichung  walten  zu  lassen  und  es  sollten  die 
Thyreoidaltabletten  nicht  Jedermann  zugänglich  sein. 

Yorke  Davies  betont  die  Bedeutung  der  Sehilddrüsentabletten  als  Mittel 
zur  Entfettung.  Er  hat  diesbezügliche  Versuche  derart  angestellt,  dass  er 
zunächst  eine  Zeit  lang  eine  Entfettungsdiät  befolgeu  liess  und  dann  derselben 
iu  einer  zweiten  Periode  Thyreoidtabletten  hinzufügte.  Dabei  zeigte  sich , dass 
die  Gewebsabnahme  in  der  zweiten , durch  Schilddrllsenfütterung  beeinflussten 
Periode  eine  wesentlich  bedeutendere  war. 

Bleibtreu  und  Wesdelstadt  suchten  iu  einem  Stoffwechselversuchc 
hauptsächlich  die  Frage  zur  Entscheidung  zu  bringen,  ob  bei  der  Fütterung  von 
Schilddrilsenbestaudthcilen  der  zu  beobachtende  Gewichtsverlust  ausser  durch 
vermehrte  Wasserabgabe  und  Schwund  des  Fettgewebes  nicht  auch  mit  bedingt 
ist  durch  Abgabe  von  Eiweisssubstanz,  ob  also  die  Stickstoffausfuhr  zur  Stickstoff- 
einfuhr sich  so  gestaltet,  dass  eine  negative  Bilanz  zu  .Stande  kommt.  Es  stellte 
sich  heraus,  dass,  nachdem  an  drei  Tagen  ein  annäherndes  Stickstoffgleichgewicht 
hergestellt  worden  war,  mit  dem  Einsetzen  der  Schilddrüsenfütterung  eine  Steige- 
rung der  Stickstoffausfuhr  beginnt,  welche  sich  in  dem  Auftreten  einer  negativen 
Stickstoffbilanz  documentirt.  Die  negative  Stoffwechselbilanz  weist  bei  längerer 
Dauer  der  Thyreoideaeinfuhr  immer  grossere  Zahlen  auf  und  hält  noch  an,  nach- 
dem die  Tabletten  ausgesetzt  wurden.  Am  auffallendsten  ist  dabei  die  Thatsache, 
dass  die  negativen  Bilanzwerthe  nicht  einmal  die  Neigung  zeigen , kleiner  zu 
werden,  nachdem  eine  L'eberernährung  durch  eine  ziemlich  bedeutende  Zulage 
von  Fett  und  Kohlehydraten  herbeigeführt  worden.  Die  Summe  der  negativen 
Bilanzwerthe  seit  Beginn  der  Thyreoideafütterung  bis  zum  Schlüsse  des  Versuches 
ergiebt  15,97  Grm.  Stickstoff  oder  fast  100  Grm.  Eiweiss.  Es  würde  das  einem 
Zerfall  von  500  Grm.  Muskeltlcisch  gleiclikommen , so  dass  ein  Sechstel  des 
beobachteten  Gewichtsverlustes  auf  den  Schwund  stickstoffhaltiger 
K Orpersubstanz  zurückzu  füll  ren  wäre.  Verfasser  haben  zugleich  nach- 
gewiesen, dass  durch  die  Schilddrüsenfütterung  eine  Störung  der  Resorption  von 
Seite  des  Darmcanales,  also  eine  veränderte  Ausnützung  der  Nahrung  nicht  eiu- 
getreten  war. 

Ist  durch  obige  Versuche  bei  Darreichung  von  Sehilddrüsentabletten 
auch  bei  Fettleibigkeit  eiu  vermehrter  Eiweisszerfall  bei  gleichbloibender  Er- 
nährung sichergestellt,  ein  grosserer  Wnsserverlust  wahrscheinlich,  wenn  auch 
noch  nicht  zahlenmässig  erwiesen,  so  strebte  A.  MaoNUS-Lf.VY  durch  Respiratious- 
versuche  die  Frage  zu  Iflsen,  ob  neben  diesen  beiden  Wirkungen  auch  noch  ein 
Fettverlust  statttiudet,  eine  Mchrproduction  von  Wärme  und  Kraft.  Sein  dies- 
bezüglicher Versuch  spricht  zu  Gunsten  eines  erhöhten  Umsatzes  unter  dem 
Einfluss  der  Schilddrüsenfütterung.  Die  absoluten  Sauerstoff-  und  Kohlcnsäure- 
zahleu  . wie  die  pro  Körperkilo  berechneten,  sind  während  des  Gebrauches  von 
Thyreoidea  durchwegs  gegen  die  Ausgangswerthe  erhöht;  im  Allgemeinen  nur 
massig,  doch  zeigt  sich  zum  Schlüsse  ein  stärkerer  Anstieg  des  Umsatzes. 

Auf  die  mit  dem  Gebrauche  der  Thyreoidintabletten  verbundenen  Ge- 
fahren macht  El'LENBCBg  aufmerksam.  Er  warnt  vor  dem  mit  Schilddrüsen- 
fütterung  getriebenen  Entfettnngssporte.  In  einem  von  Eulkxbcrg  erwähnten  Falle 


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FETTLEIBIGKEIT.  — FLUOROL. 


202 

hatte  eine  Dame  die  Thyreoidintahletten  gekauft  und  auf  Anrathen  des  Apothekers 
über  einen  Monat  liindurch  fi  Stück  davon  täglich  genommen.  In  Folge  dessen 
waren  äusserst  schwere  Störungen  der  Herz-  und  Nerventhätigkeit  eiugetreten 
und  cs  hatten  sich  bei  ziemlich  bedeutender  Abmagerung  Erscheinungen  einer 
offenbar  hvdrilmischen  Blutbescliaffenheit  ohne  sonstige  organische  Ursache  rapid 
entwickelt.  Das  Mindeste,  was  in  dieser  Richtung  geschehen  könnte,  wäre  wohl, 
dass  der  Vertrieb  der  Thyreoidintahletten  und  ähnlicher  aus  Schilddrüsensubstauz 
gefertigter  Präparate  dem  Handverkaufe  völlig  entzogen  und  nur  auf  ärztliche 
Verordnung  (EüLEXBURG  geht  nicht  über  2 Stück  Thyreoidintahletten  täglich  bei 
sorgfältiger  Controle  hinaus)  fortan  gestattet  würde. 

Bei  fettleibigen  Individuen,  bei  denen  selbst  durch  die  grössten  Mengen 
von  mehlhaltigen  Nahrungsmitteln  (300 — 500  Grm.  pro  die)  keine  Spur  von 
Glykosurie  hervorgerufen  werden  konnte,  hat  v.  NoOKIiEX  in  einigen  Fällen 
gefunden,  dass  sie  (4  unter  15  Fettleibigen),  wenn  man  ihnen  100  Grm.  Trauben- 
zucker Morgens  nüchtern  verabreichte,  Zucker  ausschieden.  Er  schliesst  daraus, 
dass  bei  manchen  Diabetikern  in  lange  sich  hinziehendeu  Frühstadien  des  Leidens 
eine  Periode  vorkommt,  welche  sich  durch  auffallende  Intoleranz  gegen  Trauben- 
zucker auszeichnet , während  andere  Kohlehydrate  selbst  in  grossen  Mengen 
noch  vertragen  werden.  Derselbe  Autor  (V.  Noobdex)  betont  den  Einfluss  der 
neueren  Stoffwechseluntersuchungen  auf  die  Therapie  der  Fettleibigkeit. 
Der  alte  Streit,  ob  man  mit  Harvey-Baxtixg  die  Kohlehydrate  und  das  Fett 
gemeinsam  beschneiden  solle,  das  Eiweiss  häufen  solle,  oder  ob  man  mit  Okrtei. 
vorzugsweise  das  Fett  oder  mit  Ebstein  vorzugsweise  die  Kohlehydrate  ver- 
mindern sollte , klingt  allmälig  aus.  Es  ist  erkannt , dass  die  Verminderung  der 
Gesammtnahrung,  die  Verminderung  der  f'alorienzufuhr  jedenfalls  die  erste  Be- 
dingung für  die  Entfettung  ist  und  dass  es  eine  Frage  zweiter  Ordnung  sei,  bei 
welchem  der  Hauptnahrungsmittel  die  Beschränkung  am  weitesten  gehen  soll.  In- 
dividuelle Verhältnisse  sind  dafür  massgebend.  Es  ist  ferner  erkannt,  dass  die 
Beschränkung  des  Wassers  zwar  starke  Gewichtsverluste  (durch  Wasservcrarmung 
des  Körpers),  aber  durchaus  keine  Fettvefluste  bringen  kann.  Man  erzielt  mit 
ihr  nur  Scheinerfolge , wenn  nicht  die  Beschränkung  der  oxydablen  Substanzen 
(Eiweiss,  Fett,  Kohlehydrate,  Alkohol)  Hand  in  Hand  geht. 

Literatur:  Adolf  Dennig,  Ueber  das  Verhalten  des  Stoffwechsels  bei  der 
Sehilddrüseutherapie  Münchener  mcd.  Wochenschr.  1895.  Nr.  17.  — C.  A.  Ewald,  üeber  einen 
durch  Schilddrüs-  ntherapie  geheilten  Fall  von  Myxödem,  nebst  Erfahrungen  über  anderweitige 
Anwendung  von  Thyreoideapräparaten.  Berliner  klin.  Wochenschr.  1805,  Nr.  2 u.  3.  — Yorks 
Davis,  Thyreoid  tnbloid«  in  nbesity.  Brit.  med.  Journ.  18  *4 , Nr.  1749.  — L.  Bleibtreu 
u.  H.  Wendelstadt,  Stoffwechselvcrauch  bei  SchilddrüsenfUtteruug.  — A d ol  f M agil  na- 
he vv,  Ueber  den  respiratorischen  Gaswechsel  unter  dem  Einfluss  der  Thyreoidea,  sowie  unter 
verschiedenen  pathologischen  Zuständen.  (Aus  dem  stadt.  Krankenhause  r.u  Frankfurt  a.  M.. 
Abth,  Prof.  v.  Noorden. 1 — A.  Eulenburg,  Vetter  den  Missbrauch  der  Thyreoidintahletten. 
Deutsche  med.  Wochenschr.  1895,  Nr.  33.  — C.  v.  Noorden,  l'eber  die  Frühdiagnose  der 
Zuckerkrankheit.  Verband!,  d.  Congr.  f.  innere  Med.  in  München;  Zeitschr.  f.  äiztl.  lumdpravis. 
1895,  Nr.  6;  ferner:  l’eber  die  Bedeutung  der  Stoffwei  hseluntersnchnngen  für  die  Therapie 
Arch.  f.  Verdannngskrankheiten.  1895.  Kisch. 

Fleischsäure,  vergi.  Carniferrin,  pag.  t?9. 

Fluorol,  Na  Fl , NatriumHuorid,  Natrium  ßuoratum ; ein  weisses,  in 
Wasser  lösliches  Pulver,  wurde  von  Drci.OS  als  Autisepticuni  empfohlen.  Schon 
in  1°  0iger  Lösung  hebt  es  die  Wirkung  der  organisirten  Fermente  auf.  während 
die  der  Enzyme  nicht  beeinflusst  wird.  Bei  Dakryocystitis  wirkte  es  in 
0,5°  „iger  Lösung  besser  als  Sublimat.  Bei  Cystitis  ca tarr/i a! in  bewährte  es 
sieb  Tvffier)  in  0,25 — 1 0 oaiger  Lösung  zur  Ausspülung  der  Blase,  in  0,5  bis 
1°  „iger  Lösung  wendet  es  Bi.ai/.OT  zu  Waschungen  bei  Erythem  der  Neugeborenen 
an,  ferner  zu  Ausspülungen  des  Mundes,  sowie  bei  Vagiuitis  Lösungen  derselben 
Stärke.  Bourgeois  empfiehlt  Natriumfluorid  innerlich  bei  Tuberkulose  der  Kinder 
in  Tagesdosen  von  0,1 — 5 Mgrm. 


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FLUOROL.  — FRACTURYERBÄNDE.  203 

Literatur:  Duclos,  Nouv.  remed.  1895.  pag.  447.  — Tuffier,  Semaine  inöd. 
1894,  Nr.  71.  — Blaizot.  Semaine  med.  1895.  Nr.  15.  — Bourgeois.  Bull,  de  l'Acad.  roy. 
de  Med.  de  Belg.  1895.  pag.  874.  — E.  Merck,  Bericht  über  das  Jahr  1895. 

Loeb  isc  h. 

Formaldehyd,  s.  au  genheilmittel,  pag.  27. 

Formin  — Urotropin. 

Fracturverbände.  in  der  Behandlung  der  Knochenbrüche  stehen  die 
Gehverbändc  zwar  noch  immer  im  Vordergründe  des  Interesses,  aher  das  bis- 
herige Für  und  Wider  ist  einstweilen  zu  dem  Abschlüsse  gelangt,  dass  die  Geh- 
verbände  für  die  Krankenhäuser  vollauf  berechtigt  sind.  Bezüglich  der  Frage 
freilich,  wie  weit  diese  Behandlung  auszudehnen,  welcher  Art  der  Verbände  der 
Vorzug  zu  geben  sei , machen  sich  abweichende  Meinungen  geltend.  Die  Einen, 
wie  Kobsch,  Albf.rs,  Doi.i.inubr , wallen  alle  Fracturen  des  Unter-  und  Ober- 
schenkels, Andere,  wie  Kbacsk.  nur  die  Brüche  von  den  Malleolen  bis  zum  unteren 
Ende  des  Oberschenkels  mit  dem  Gypsverbande  behandeln ; wieder  Andere,  wie 
Kt'MMKL,  lassen  den  Gypsverband  überhaupt  nicht  zu.  Sie  verwerfen  nicht  den 
Gehverband,  sondern  nur  den  Gypsverband  und  bedienen  sieb  an  seiner  Stelle 
der  Apparate  von  Bbuks,  Heusner  u.  A.  Schede  endlich  ist  von  den  gesummten 
Gehverbänden  kein  Freund ; er  will  zumal  bei  Oherschenkelhrüchen  von  ihnen 
nichts  wissen,  sondern  empfiehlt  den  altbewährten  Zugverband.  Wer  die  Methode 
anwenden  will , der  versuche  sie  zuerst  bei  einfachen  Querbrüeheu  des  Unter- 
schenkels oder  auch  hei  ScbrägbrUehen,  die  keine  Neigung  zur  Dislocation  haben. 
Bei  Obersehenkelbrücben  soll  man  in  der  Praxis  vom  Gehverbande  am  besten 
Abstand  nehmen. 

Babdklkbkx  ')  giebt  einen  Gesammtbericlit  Uber  alle  bis  zum  Frühjahr 
1895  in  der  Charite  mit  dem  Gehverbande  behandelten  Fälle.  Es  sind  im  Gauzen 
181,  und  zwar  135  Untersehenkelbrücbe , 7 Kniescheiben-,  38  Oberschenkel- 
brüehe  und  1 complicirte  Fractur  des  Ober-  und  Unterschenkels  bei  demselben 
Kranken. 

Bei  den  im  letzten  Jahre  behandelten  39  Unterschenkelbrüehen  war  das 
Verfahren  im  Allgemeinen  das  im  vorigen  Bande  geschilderte  (nach  Ai.Bers): 
das  Bein  wurde  zunächst  auf  eine  Schiene  gelagert  und  das  Verhalten  det 
Bruchgesch wulst  abgewartet.  Bei  10  Kranken  geschah  das  Anlegen  des  Ver- 
bandes am  ersten;  bei  17  am  zweiten;  bei  5,  darunter  1 complicirte  Fractur,  am 
dritten ; bei  6 (zweimal  starker  Bluterguss,  einmal  liandtellergrosser  Lyrnpberguss 
am  vierten  Tage.  Zweimal  wurde  bei  offenen  Brücheu  die  Heilung  der  Haut- 
wunden abgew  artet  und  einmal  am  dritten  Tage , nach  eben  überstaudenem 
Delirium,  der  Verband  angelegt. 

Das  Kniegelenk  wurde  nur  bei  Brüchen  im  oberen  Drittel  mit  ein- 
geschlossen, oder  wenn  der  Bluterguss  bis  in  das  Gelenk  reiehte,  beziehungsweise 
das  Gelenk  selbst  betheiligt  zu  sein  schien.  Bei  Hämarthron  wurde  der  Erguss 
durch  Punction  uud  Aspiration  entleert. 

Alle  Kranken  verliesseu  am  Tage  der  Verbandanlegung  das  Bett;  um 
üble  Zufälle  zu  vermeiden,  ist  es  rathsam,  die  Gehversuche  nicht  vor  dem  zweiten 
oder  dritlen  Tage  beginnen  zu  lassen.  Der  Verband  bleibt  durchschnittlich  bis 
zur  Heilung  liegen ; ein  Wechsel  findet  nur  statt,  wenn  der  Verband  sich  lockert, 
beziehungsweise  schadhaft  wird , oder  wenn  Decubitus  zu  befürchten  ist.  Der 
zweite  Verband  ist  in  der  Kegel  ein  Gyps-Leimverband,  der,  aufgeschnitten, 
leicht  alinelirobare,  federnde  Kapseln  giebt.  Der  Geliverband  war  bei  den  Kranken 
sehr  beliebt  und  lieferte  durchaus  befriedigende  Ergebnisse.  Das  unverletzte  Knie-, 
beziehungsweise  Fussgelenk  war  nach  der  Consolidation  des  Bruches  frei  und 
ohne  besondere  Schmerzen  beweglich.  Bei  mitbetroffenen  Gelenkeu  fanden  sich 
erhebliche  Bewegungsstörungen,  die  sich  erst  allmälig  verloren.  Muskelschwund 
kam  vereinzelt,  aber  nicht  in  messbarem  Grade  vor.  Verkürzungen  waren  sehr 


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204 


FRACTUR  VERBÄNDE. 


selten  und  betrugen  höchstens  l1,'.  Cm.  Die  Säufer  entgingen,  bis  auf  einen, 
dem  Delirium. 

Schliesst  man  einzelne , ganz  ungewöhnliche  Fälle  aus , so  erfolgte  die 
Heilung , d.  h.  die  Consolidation  bei  Brüchen  beider  Unterschenkelknochen  in 
2f> — 45,  bei  Knöchelbrüchen  in  18 — 31  und  bei  Brüchen  der  Fibula  in  15  bis 
35  Tagen. 

Bei  den  bis  zur  Consolidation  behandelten  Brüchen  des  Oberschenkel- 
schaftes (10)  wurde  der  Verband  vom  ersten  bis  dritten  Tage  angelegt. 
Die  Gehversuche  begannen  in  der  Regel  am  Tage  nach  dem  Anlegen  des  Ver- 
bandes, und  zwar  zunächst  im  Laufstuhle,  nach  2 — 3 Tagen  mit  Krücke  und 
Stock,  nach  6 — 7 Tagen  mit  einem  Stocke  oder  auch  ohne  solchen.  Die  Beweg- 
lichkeit der  Kranken  war  natürlich  beschränkter  als  bei  Unterscheukelbrüchen, 
aber  einige  vermochten  immerhin  Treppen  zu  steigen  und  im  Garten  herumzu- 
gehen. Die  Consolidation  erfolgte  durchschnittlich  in  30  Tagen;  der  C'allus  war 
meist  sehr  stark;  Verkürzungen  in  der  Ausdehnung  von  0,75 — 2 Cm.  kamen 
unter  1 1 Füllen  5mal  vor,  das  Kniegelenk  war  sofort  bis  zu  15°  beweglich. 

Von  Schenkelhalsbrüchen  erhielten  fünf  einen  Gehverband  (2  ein- 
gekeilt, 3 nicht);  vier  wurden  erst  11 — 15  Tage  mit  Eitension  behalten;  nur 
bei  einem  wurde  der  Gehverband  schon  am  zweiten  Tage  angelegt.  Die  Con- 
solidation erfolgte  durchschnittlich  in  38  Tagen;  Verkürzung  (3  Cm.)  trat  nur 
bei  einem  Kranken  ein. 

Auch  praktische  Aerzte  haben  augefangen,  vom  Gehverbando,  und  zwar 
vorzugsweise  bei  Untersehenkelbrücheu,  Gebrauch  zu  machen.  NäuKU-Akkrbmjm  ’) 
bedient  sich  ausschliesslich  des  Gypsverbandes,  den  er  über  einer  Flanell!. inden- 
einwicklnng  anlegt  und  am  Steigbügel,  sowie  an  der  Fracturstelle  verstärkt  und 
an  der  Fusssohle  gut  unterpolstcrt.  Der  Fuss  steht,  leicht  supinirt,  im  rechten 
Winkel.  Der  Verband  besteht  aus  5 — 0 Binden  von  8 Ctm.  Breite  und  2'/s  Meter 
Länge  und  reicht  bis  zu  den  Condylen  der  Tibia.  Sofort  nach  Anlegung  des 
Verbandes  ergreift  Nagem  den  Fuss,  bringt  ihn  in  die  richtige  Stellung  und 
überschüttet  den  Gypsverband  mit  etwas  Schwefeläthcr , um  die  Erhärtung  zu 
beschleunigen.  Gewöhnlich  wird  der  Verband  12 — 24  Stunden  nach  der  Ver- 
letzung angelegt  und  vom  zweiten  Tage  an  mit  den  Gehübungen  begonnen,  ln 
den  Verbänden,  die  3 — 6 Wochen  getragen  wurden,  konnten  sich  die  Kranken 
gut  bewegen  ; Schwellung  wurde  nie  beobachtet,  und  Massage  war  nach  Verhand- 
abuahme  nicht  erforderlich. 

Wotruba  *)  fettet  nach  der  Reposition  den  Unterschenkel  mit  Vaselin 
ein  und  rollt  dann  die  Gypsbinden  (von  5 Meter  langen  Binden  reichen  3 — 4 
für  einen  kräftigen  Mann  aus)  einfach  auf  der  Haut  ab.  Sobald  der  Verband 
erhärtet  ist , lernen  die  Kranken  mit  Hilfe  eines  Wärters  zunächst  das  Stehen, 
und  dann  beginnen  die  Gehversuche.  Nicht  allzu  ängstliche  Kranke  werden  in 
2 — 3 Tagen  so  weit  gebracht,  dass  sie  an  zwei  Stöcken  umhergehen.  Der  Verband 
wird  nur  gewechselt,  wenn  er  schadhaft  oder  locker  wird  und  also  seinen  Zweck 
nicht  mehr  erfüllt.  Meist  genügen  zwei  Verbände.  Die  Consolidation  erfolgt  in 
4 — 5 Wochen,  je  nach  dem  Alter  des  Patienten.  Bei  stärkeren  Blutergüssen, 
zumal  in  das  Knie-  oder  Sprunggelenk,  wird  zunächst  auswattirt  und  eingegvpst. 
Der  Gypsverband  folgt  erst,  wenn  die  Schwellung  zurückgcgangen  ist , d.  h.  in 
der  Kegel  nach  8 Tagen. 

Auch  für  die  Diatomit) pedia  ist  ein  Gehverband,  und  zwar  in  der  Form 
des  Heftpfiastcrverbaudes  nach  Giuxkv,  von  Hofka  *)  auf  das  wärmste  empfohlen. 
Der  Verband  gestattet  den  sofortigen  Gebrauch  des  Fusses  und  liefert  geradezu 
„wunderbare“  Erfolge.  Er  besteht  aus  etwa  10  längeren  und  10  kürzeren, 
daumenbreiten  Streifen  von  Kautschukpflaster.  Die  Streifen  werden  genau  nach 
Mass  zugeschnitten  und  so  Uber  eine  Stuhllehne  gehängt.  Die  längeren  Streifen 
müssen  von  der  Grenze  des  mittleren  und  oberen  Drittels  des  Unterschenkels  ans, 
längs  der  Aussenseite  herab,  über  die  Fusssohle  hinweg  zur  inneren  Beite  des 


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FR  ACTURVERBÄN  DK  g05 

Fussrückens,  in  Knöchelhöhe,  die  kleineren  von  der  kleinen  Zelie,  an  dem  äusseren 
Fussrandc  entlang,  um  die  Ferse  herum,  längs  des  inneren  Fussrandes  bis  zur 
Wurzel  der  grossen  Zelie  reichen. 

Der  Fuss  steht  genau  recht  winkelig  zum  Unterschenkel.  Der  erste 
Streifen  wird  in  der  angegebenen  Höhe  am  Rande  der  Tibia  angeklebt , vom 
Kranken  festgedrückt  und  straff  angespannt,  gerade  herabgeführt  zum  äusseren 
Fussrande,  von  da  über  die  Fusssohle  fort  zum  inneren  Rande  des  Fussrückeus, 
wo  er  etwa  fingerbreit  vor  dem  Malleolus  int.  endet.  Dieser  erste  lange  Steifen 
wird  befestigt  durch  den  ersten  kurzen  Streifen,  der  am  Aussenrande  des  Kusses 
entlang  laufend,  die  Ferse  umfasst  und  an  der  Wurzel  der  grossen  Zehe  endet. 
Ganz  so  werden  die  (ihrigen  Streifen  angelegt , und  zwar  in  der  Art , dass  der 
folgende  den  vorhergehenden  dachziegelartig  deckt , und  so  lange  fährt  man 
damit  fort,  bis  der  Rand  der  Achillessehne  erreicht  und  so  das  ganze  Verletzungs- 
gebiet bedeckt  ist.  (Fig.  34).  Zur  Verstärkung  können  noch  einige  diagonale 
Streifen  hinzugeftihrt  werden.  Ueber  das  Ganze  legt  man  eine  Cambrik- , be- 
ziehungsweise steife  Gazebinde.  Der  Kranke  zieht  Strumpf  und  Schuh  an  und  kann, 

selbst  bei  schwerer  Distorsion,  den  Fuss  sofort 
gebrauchen , wenn  schon  anfänglich  mit  Hilfe 
eines  Stockes.  Zur  Vermeidung  von  Kreislaufs- 
störungen dürfen  die  lleftpflasterstreifen  den  Fuss 
nicht  völlig  ringsum  einschnüren.  In  leichteren 
Fällen  genügt  ein  8 Tage  liegenbleibender  Ver- 
band; dann  eine  Woche  hindurch  tägliche  Mas- 
sage. Bei  schwereren  Fällen  folgt  nach  6 bis 
8 Tagen  ein  zweiter  Verband,  der  8 — 1U  Tage 
liegen  bleibt;  dann  Massage.  Tritt  der  Kranke 
erst  einige  Zeit  nach  der  Verletzung  in  Behand- 
lung, und  ist  bereits  stärkere  Schwellung  vor- 
handen , so  beseitigt  inan  diese  durch  Hoch- 
lagerung , elastische  C’ompression  und  Massage 
und  legt  nach  24  Stunden  den  Verband  an. 

Vor  anderen  Brüchen  haben  die  der 
Kniescheibe  die  Aufmerksamkeit  der  Chirurgen 
auf  sich  gelenkt ; nirgends  auch  springt  der 
Wandel  in  der  Fraeturenbehandlung  mehr  in 
die  Augen  als  hier.  Während  man  früher  vor 
allen  Dingen  die  knöcherne  Vereinigung  der 
Fragmente  austrebte  uud  die  Weichthcile  ausser 
Acht  lies»,  ist  jetzt  nahezu  das  Umgekehrte  der 
Fall : Man  weiss,  dass  keine  der  bisher  üblichen 
Behandlungsweiseu  für  die  knöcherne  Vereinigung 
auch  nur  einigermassen  Gewähr  leisten  konnte  und  dass  auch  bei  breiter  binde- 
gewebiger Zwischeulagerung  gute  Gebrauchsfähigkeit  eintritt.  Man  legt  daher  auf 
die  knöcherne  Verwachsung  verhältnissroässig  weniger  Gewicht,  dagegen  sucht 
man  in  erster  Linie  den  Muskelschwund  zu  verhüten.  Zur  Erreichung  dieses 
Zieles  hat  man  im  Wesentlichen  zwei  Wege  eingeschlagen : die  sofortige  Massage 
und  möglichst  frühzeitiger  Gebrauch  des  Beines,  sei  es  mit  oder  ohne  Verband. 

Laxhebeb  5)  lagert  das  verletzte  Bein  hoch  auf  einer  V’OLKM  an. \ 'scheu 
Schiene  und  zieht  die  Fragmente  mit  einer  Heftpflastertestudo  zusammen.  Schon 
nach  24  Stunden  raassirt  er  täglich  zweimal,  zu  welchem  Zwecke  der  Heftpllaster- 
verband  abgenommen  wird.  Das  Gelenk  selbst  wird  anfangs  nur  schonend 
gestrichen,  gerieben  und  geknetet;  die  Oberschenkelmuseulatur  geknetet  und 
gestrichen,  vom  3. — 4.  Tage  an  auch  geklopft.  Am  (i. — 8.  Tage  stehen  die 
Kranken  auf  mit  einem  Verbände,  der  die  Bewegung  hindert;  Ende  der  zweiten 
Woche  gehen  sie  mit  einem  Stock  und  Verbände.  Knöcherne  Vereinigung  wird 


Fi*,  bi. 


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20t» 


FRACTCRVERBÄNDE. 


mit  dein  Verfahren  zwar  auch  nicht  sicher  erreicht,  aber  der  Qnadrieeps  atrophirt 
nicht,  und  die  Gebrauchsfähigkeit  des  Beines  kehrt  frtili  zurück. 

Das  von  zum  Busch  *)  beschriebene  Verfahren  Kraske's  geht  noch  einen 
Schritt  weiter.  Die  Massage  beginnt  womöglich  gleich  nach  der  Verletzung:  man 
entfernt  durch  sanftes  Streichen  mit  beiden  Händen  den  Bluterguss  aus  dem 
Gelenke  und  bearbeitet  dann  die  Muskeln  in  gewohnter  Weise.  Das  Bein  wird 
auf  eine  Schiene  gelagert,  das  Knie  eingewickelt  und  mit  einem  Eisbeutel  bedeckt. 
Täglich  wird  die  Massage  zweimal  wiederholt.  Schon  am  Nachmittag  des  zweiten 
Tages  steht  der  Kranke  auf;  wenn  nöthig,  wird  das  Gelenk  mit  einer  Flanell- 
binde cingewickelt  und  1 — 2 Tage  eine  Krücke  benützt.  Meist  gehen  die  Kranken 
schon  am  zweiten  Tage  mit  einem  Stocke;  in  der  zweiten  Woche  müssen  sie 
Treppen  steigen.  Dabei  verringern  sich  schnell  Bluterguss  und  Diastasc  : Muskel- 
schwund tritt  nicht  ein.  Nach  4 Wochen  sind  die  Kranken  arbeitsfähig,  obwohl 
unter  11  Fällen  nur  einmal  die  Vereinigung  der  Fragmente  eine  knöcherne  war. 

Die  Behandlung  in  der  v.  BABDEl.EBEN’schen  Klinik  geschah  im  Wesent- 
lichen in  der  von  Alkers  7)  beschriebenen  Weise:  ln  einem  Falle  Entleerung  von 
t>0  Ccm.  flüssigen  Blutes  durch  Function  mit  weitem  Troicart  am  2.  Tage;  An- 
legung eines  von  den  Knöcheln  bis  handbreit  über  die  Mitte  des  Obersehenkels 
reichenden  Gypsleimverbandes,  in  den  am  dritten  Tage  ein  grosses,  die  Vordcr- 
fläche  des  Knies  freigebendes  Fenster  eingeschnitten  wird;  Vereinigung  der  Frag- 
mente durch  eine  Heftpflastertestudo.  Mit  diesem  Verbände  geht  der  Krauke  sofort 
ohne  Stütze.  Nach  S Tagen  Wechseln  des  Heftpflasterverbandes  und  Bewegung 
der  Patella.  Consolidation  Ende  der  dritten  Woche.  Nun  wird  das  Heftpflaster 
fortgelassen,  der  Gypsleimvcrband  vorn  gespalten  und  abgenommen.  Der  Streck- 
muskel ist  so  erheblich  geschwunden , dass  die  Umfangsdiflerenz  2 Cm.  beträgt. 
In  Folge  dessen  täglich  zweimalige  Massage  und  vorsichtige  Bewegungen,  activ 
wie  passiv.  Nach  Ausführung  dieser  Massnahmen  wird  die  Gypsleimkapsel  wieder 
angelegt  und  der  Krauke  geht  in  ihr  umher.  Ende  der  5.  Woche  wird  die 
Kapsel  weggelassen,  mit  der  Massage  aber  fortgefahren  bis  zur  völligen  Wieder- 
herstellung. — Bemerkenswertli  ist,  dass  in  zwei  anderen,  nach  Ceci  genähten 
Fällen  die  Atrophie  des  Quadriccps  ausblieb. 

Besonders  lehrreich  ist  die  Geschichte  Fi*- 3S- 

eines  veralteten  Falles  mit  völligem  Schwunde  des 
Quadriceps  und  einer  Diastase  der  Fragmente,  bei 
gestrecktem  Knie,  von  7 — 8 Cm.  Es  wurde  ein 
künstlicher  Streckmuskel  angebracht,  der  den 
nicht  functionirenden  Qnadrieeps  ersetzte.  Von 
den  Knöcheln  bis  zu  den  Condylen  der  Tibia 
umsehlicsst  den  Unterschenkel  eine  abnehmbare, 
mit  Schnürvorrichtung  versehene  Gypsleimkapsel 
(Fig.  35) , die  durch  einen  Steigbügelriemen  in 
richtiger  Lage  erhalten  wird.  Vorn  trägt  die 
Kapsel  einen  Telegraphendrahtbügcl  (8  Cm.  hoch, 

6 Cm.  lang),  der  mittelst  leimgetränkter  Flanell- 
binden  an  der  Kapsel  befestigt  ist.  Der  künst- 
liche Streckmuskel  nimmt  seinen  unteren  Stütz- 
punkt an  eben  diesem  Bügel , den  oberen  an 
einer  über  die  gesunde  Schulter  geführten  Schärpe. 

Zu  diesem  Zwecke  wird  durch  den  Bügel  ein 
elastischer  Gurt  geführt,  der  oben  in  einen  Leder- 
riemen ausläuft , mit  dem  er  an  dem  unteren 
Ende  der  Schärpe,  unterhalb  der  Sehenkelbeuge 
festgeschnallt  wird.  Eine  den  Oberschenkel  um- 
fassende Manschette  hält  das  untere  Ende  der  Schärpe  in  seiner  Lage  an  der 
Vorderfläche  des  Oberschenkels  fest.  Der  künstliche  Muskel  kann  mehr  oder 


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FRACTCRVERBÄNDE. 


207 


weniger  angezogen  und  somit  in  jede  beliebige  Spannung  gebracht  werden.  Mit 
diesem  unter  tlen  Kleidern  getragenen  Apparate  ging  der  Kranke  sofort  ohne 
Stock  herum;  das  Kniegelenk  konnte  gestreckt  und  gebeugt  werden  und  nach 
S Wochen  hatte  sich  ein  Reservestreckapparat  • — Tensor  fasria  latae  s.  Vastns 
internus  mit  Faserzügen  iu  die  Cruralfaseie  — gebildet , so  dass  die  künst- 
liche Vorrichtung  nur  noch  beim  Treppensteigen  und  zu  langdauerndein  Gehen 
benutzt  wurde. 

Hier  in  diesem  Falle  hatte  sich  der  Ueservestreckapparat  entwickelt; 
geschieht  das  aber  nicht,  so  hängt  nach  Hakxel 8j  Alles  ab  von  der  Festigkeit 
der  bindegewebigen  Zwischenmasse.  Fehlt  sie,  oder  ist  sie  nicht  genügend  leistungs- 
fähig, dann  ist  die  blutige  Naht  der  Kniescheibe  angezeigt.  Sie  nützt,  auch  wenn 
die  Reservestreekvorrichtung  zerrissen  ist , und  führt  bei  zweckentsprechender 
Behandlung  zu  völliger  Gebrauchsfähigkeit  des  Beines. 

Zur  Nachbehandlung  der  frischen  l’atellafractnr  hat  Albebs  den  Streck- 
apparat noch  erheblich  dadurch  vereinfacht,  dass  er  den  unteren  Angriffspunkt 
des  Zuges  unter  die  Fusssohle  verlegte.  Dieser  Streck- 
apparat ist  genau  das  Gegenstück  des  Beugeapparates 
und  besteht  aus  zwei  Rindestücken  und  einem  Kautschuk- 
schlauche. Die  Enden  des  einen  Stückes  werden  zusammen- 
geknüpft, so  dass  das  Ganze  eine  grosse  Schleife  bildet 
(Fig.  36),  die  nach  Art  einer  Schärpe  über  die  Schulter 
der  gesunden  Seite  geführt  wird.  Die  Enden  des  zweiten 
Stückes  werden  so  geknüpft,  dass  jedes  Ende  eine  Schleife 
bildet.  In  die  untere  Schleife  setzt  der  Kranke,  wie  in 
einen  Steigbügel,  den  mit  einem  Pantoffel  oder  Schuh 
bekleideten  Fuss.  Die  obere  Schleife  liegt  in  der  Gegend 
der  Schenkelbeugc  und  wird  mit  der  Schärpe  durch 
den  Kautschukschlauch  verbunden. 

Der  v.  BRAMAXX’sche  Sch mettcrl in gs ver- 
band für  Querfraeturen  der  Patella  besteht  aus  zwei 
gleichen  Stücken,  die  beide  einem  Schmetterling  mit  aus- 
gebreiteten Flügeln  ähneln.  An  ein  etwa  5 Cm.  langes 
und  4 Cm.  breites,  starkes,  aber  gut  dehnbares  Gummi- 
stück ist  an  jeder  Schmalseite  unter  einem  Winkel  von 
etwa  160 — 170“  je  ein  etwa  25  Cm.  langer,  sich  peri- 
plierwärts  etwas  verbreiternder  lleftptiasterstreifen  nn- 
genäht.  Das  eine  dieser  beiden  Stücke  wird  oberhalb 
des  oberen  Bruchstückes  angelegt,  stark  angezogen  und 
so , das  obere  Fragment  umfassend  und  nach  unten 
drückend,  befestigt.  Zu  diesem  Zwecke  laufen  die  Ileft- 
ptiasterstreifen  wie  die  Gänge  eines  Achterverbandes  schräg  nach  unten  uud 
krenzen  sich  auf  der  Wade.  Der  andere  Schmetterling  wird  ganz  in  der- 
selben Art  an  das  untere  Bruchstück  gelegt , nur  mit  dem  Unterschiede , dass 
er  dieses  nach  oben  drückt  und  die  Hefiptiastertlügel  sich  ungefähr  in  der 
Mitte  der  Hinterdäche  des  Oberschenkels  kreuzen.  Darauf  werden  beide  Schmetter- 
linge mit  einer  Bindeneinwicklung  befestigt,  das  Bein  wird  in  eine  VOLKMANN’sche 
Schiene  gelegt  uud  aufgehängt.  Anfangs  vollkommene  Ruhe,  bald  aber  Massage 
und  Elektrieität , und  da  ist  es  ein  Vorlheil  des  Verfahrens,  dass  man  nach  Ent- 
fernung der  Schiene  deu  Quadrtceps  femoris  und  die  Wadenmusculatur  bearbeiten 
kann,  ohne  den  Schmetterlingsverband  selbst  abnehmen  zu  müssen. 

Wie  bei  allen  ähnlichen  Verbänden  muss  man  auch  beim  Schmetterlings- 
verbände  darauf  achten,  dass  bei  den  Bemühungen,  die  Fragmente  durch  kräftigen 
Druck  oder  Zug  einander  zu  nährru,  sieh  über  der  Lücke  keine  Hautfalten 
bilden  oder  zwischen  die  Bruchstücke  liineinstülpeu , weil  sonst  leicht  Decubitus 
entsteht. 


Eig.  3«. 


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m 


FBACTDH  V ER  BÄN  DE. 


Im  Allgemeinen  fordern  Querfraeturen  einen  blutigen  Eingrift'  nicht ; ist 
das  Hämartliron  bedeutend,  dann  frühzeitige  Punction,  Druckverband,  Suspension. 
Während  v.  Bkamaxn  auch  frühzeitig  massircn  tmd  elcktrisiren  lässt , soll  man 
mit  Bewegungen  erst  nach  der  Consolidation  der  Fragmente  beginnen.  Hat  die 
Behandlung  mit  Verbänden  in  zwei,  höchstens  drei  Wochen  keinen  oder  doch 
allzu  mangelhaften  Erfolg,  dann  Vereinigung  der  Bruchstücke  durch  die  Naht. 

Heusxer  ,0)  zieht  die  beiden  Fragmente  mittelst  zweier  elastischer  Riemen 
(Fig.  37)  aneinander,  deren  Enden  kreuzweise  gegen  die  Hinterfläche  des  Beines 
geführt  und  hier  an  Stahlstäbchen  angeknüpft  werden,  die  auf  Filzplatten  aufgenäht 
sind.  Die  Filzplatte  ist  am  Ober-  und  Unterschenkel  mit  einer  Klebemasse  und  einer 
Bindeneinwicklnng  befestigt.  An  ihrer  äusseren  Fläche  trägt  die  Filzplatte  fünf 
entsprechend  lange,  mit  Heftknöpfchen  versehene  Stäbchen  aus  f’rinolinreifenstahl. 
Die  vordere  Knicgelenkgegend  bleibt  frei.  Die  Riemen  werden,  um  ein  Hinab-, 


Fl*.  37. 


Fig.  so. 


beziehungsweise  Hinaufgleiten  vor  der  Kniescheibe  zu  verhüten,  mit  einer  elastischen 
Schlinge  nach  oben  und  unten  hin  festgehaltcn.  Zum  Schutze  gegen  ein  l'eber- 
cinanderschicben  der  Bruchenden  ist  noch  ein  Filzstreifen  quer  Uber  die  Brucli- 
fläche  gespannt,  von  dessen  Zipfeln  elastische  Riemchen  ausgehen  , die  ebenfalls 
an  den  Knüpfchcn  der  Rückseite  angeheftet  werden.  Der  zum  Umhergehen 
bestimmte  Verband  gestattet  eine  geringe  Beugung  im  Gelenke. 

Der  Verband  ist  hervorgegangen  aus  den  HsssiKn’gehen  Kniescheiben- 
verbänden : von  zwei  Stahlbügcln,  die  von  oben  und  unten  her  die  Bruchstücke 
umfasseu,  werden  Gummizügel  nach  hinten  geführt  und  hier  an  einer  die  Knie- 
beuge bedeckenden  Lederkappe  angeknüpft.  Zwei  ringförmig  von  den  Stahlbügeln 
zur  Lederkappe  geführte  Gummiringe  sollen  seitliche  Verschiebungen  verhüten. 

Denselben  Prineipien  folgt  der  für  den  Bruch  des  Processus  atico- 
naeus  bestimmte  Verband  (Fig.  38):  das  abgebrochene  Knochenstückchen  wird 
mit  Hilfe  eines  hufeisenförmigen,  mit  Filz  unterpolsterten  Stahlstäbchens,  an  dessen 


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FRACTURVERBÄNDE.  209 

Hörnern  Gummizüge  angeknüpft  sind,  nach  unten  gezogen.  Die  Gummizüge  sind 
nach  vorne  nnd  unten  herumgespannt,  wo  sie  an  einer  Filzplatte  angeheftet  sind. 
Die  Filzplatte  reicht  herab  bis  zum  Handteller,  hat  hier,  um  das  Hinaufgleiten  zu 
verhüten,  eine  Oeffnung  zum  Durchstechen  des  Daumens  und  ist  ausserdem  durch 
einen  Klebestoff  und  eine  Bindeneinwickelung  am  Vorderarme  befestigt.  Vom 
Scheitel  des  Hufeisens  erstreckt  sich  ein  10  Cm.  langes  Stahlstübchen  an  der 
hinteren  Fläche  des  Oberarmes  aufwärts;  es  trügt  am  oberen  Ende  ein  Knöpf- 
chen,  an  dem  ein  um  den  Oberarm  herumlaufender  Kiemen  zum  Schutze  gegen 
seitliche  Verschiebung  angeknüpft  wird. 

Das  Ankleben  von  Filzplattcn , wie  es  in  den  eben  beschriebenen  Ver- 
bänden geschieht,  brachten  Hkcsxer  auf  den  Gedanken , das  Verfahren  auf  die 
Zugverbände  zu  übertragen  und  die  sonst  hier  üblichen  Heftptlasterstreifen 
durch  handbreite  Filzstreifen  zu  ersetzen.  Der  etwa  ’/,  Cm.  dicke  Filz  ist  weich, 
aber  stark,  sogenannter  Clavierfilz  aus  der  Dittersdorfer  Filz-  und  Kratzentuch- 
fabrik in  Sachsen.  Die  Filzstreifen  werden  zum  Verhindern  der  Dehnung  auf 
der  einen  Seite  mit  fester  Leinwand  Ubernäht  und  und  naeh  dem  Anlegen  mit 
Spreizbrett  und  Zugschnur  ausgerüstet.  Die  Vorschrift  für  den  Klebestoff  ist 
folgende:  Cerae  flavae,  Resinae  Dammar.,  Coloph.  aa.  10,0,  Terebinth.  1,0,  Acther, 
Spir.,  01.  Terebinth.  aa.  55,0.  Filtra. 

Mit  Hilfe  eines  Zerstäubungsröhrchens,  das  mit  dem  Munde  geblasen 
wird  (oder  eines  blechernen  Blumensprühers)  bestäubt  man  die  Haut  der  Ex- 
tremität mit  dem  Klebestoffe,  legt  den  Filzstreifen  mit  der  freien  Seite  an  und 
wickelt  ihn  erst  mit  einer  trockenen,  dann  mit  einer  feuchten,  gestärkten  Gaze- 
binde sorgfältig  fest.  Der  Verband  trägt  ungeheure  Belastung  und  ist  für  den 
Kranken  frei  von  den  Unannehmlichkeiten  der  Heftptlasterstreifen.  Schützt  man 
vorspringende  Knochentheile  mit  Watte,  so  kommt  auch  bei  starker  Belastung 
Drnekbrand  nicht  leicht  vor;  Ekzeme  wurden  nicht  beobachtet.  Nach  Entfernung 
der  Binden  lässt  sich  der  Filz  mühelos  und  ohne  Schmerzen  von  der  Haut  ab- 
ziehen  und  die  zurückbleibende  Klebrigkeit  leicht  mit  Seife  oder  Spiritus  ab- 
waschen.  Die  Filzstreifen  können  wiederholt  benutzt  werden. 

Das  von  Max  Schmidt11)  beschriebene  neue  Verfahren  bei  subcutanen  und 
complieirten  Fractnreu  von  Fingern  und  Zehen  ist  ein  Zugverband,  bei  dem  als 
Angriffspunkt  des  Zuges  der  Finger-,  beziehungsweise  Zehennagel  dient.  Mit  einem 
Drillbohrer  bohrt  man  von  unten  her  durch  den  Nagel , an  dessen  Uebergangs- 
stelle  zur  Haut,  zwei  zur  Nagelmitte  symmetrisch  liegende  Löcher.  Durch  jedes 
dieser  Löcher  führt  man  mit  Hilfe  einer  Nähnadel  von  der  Rückenfläche  aus 


einen  starken  Zwirn-  oder  Seidenfaden.  Ist  das  geschehen,  dann  legt  man  die 
Hand  (beziehungsweise  den  Fuss)  auf  ein  gepolstertes  Brettchen , das  für  den 
gebrochenen  Finger  einen  entsprechend  langen  Fortsatz  hat,  sonst  aber  nur  bis 
zu  den  Fingerwurzeln  reicht,  damit  sich  die  gesunden  Finger  frei  bewegen  können. 

Da»  hintere  Ende  der  Schienen  wird  mit  zwei  Heftpflasterstreifen  am  Arme  be- 
festigt : der  obere  umfasst  mit  seiner  Mitte  den  Rand  des  Brettes  (Fig,  39), 

Enryclop  Jahrbücher.  VI.  14 

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2 Hl 


FRACTÜRVER  BÄNDE. 


während  die  Enden  sich  auf  dem  Handrücken  kreuzen ; der  zweite  wird  kreis- 
förmig über  den  Handrücken  geführt.  Eine  Mullbinde  vervollständigt  die  Be- 
festigung. An  dem  freien  Ende  des  Schienenfortsatzes  befindet  sieh  ein  Haken: 
hier  befestigt  man  ein  doppelt  zusammeugelegtes  Gummirohr  und  setzt  dasselbe, 
während  es  von  einem  Gehilfen  gedehnt  wird,  mit  den  Nagelfäden  in  Verbindung 
(Fig.  40).  In  den  ersten  beiden  Tagen  massiger,  vom  dritten  Tage  an  verstärkter 
Zug  durch  Verkürzung  des  Fadens.  Auch  kurze  Nägel  f»/4 — 1 Mm.)  gestatten 
die  Durchbohrungen.  Der  Verband  wird  2 — 3 Wochen  getragen.  Bisweilen  zeigte 


sich  ein  Weichwerden  der  Nagelwurzelgegend,  das  jedoch  nach  beendeter  Ex- 
tension bald  verschwand.  In  2 Fällen,  unter  25,  löste  sieh  später  der  Nagel. 

Filzplatten  und  Stnhlstäbchco  geben  auch  ohne  KlebestofT  bei  Verletzungen 
des  Vo  rderarmes  (Fig.  4 1)  und  Unterschenkels  (Fracturen,  Distorsionen,  t'ontu- 
sionen)  ein  vortreffliches  Verbandmaterial  ab:  es  ist  fest  und  schmiegsam,  lässt  sich 
rasch  anlegen  und  gewährt  doch  sicheren  Halt.  Man  schneide  nach  einem  Papier 
oder  Zeugmuster  die  Filzplatte  zurecht  und  lasse  die  Stäbchen  mit  Baumwollen- 
oder Leinenstoff  aufnähen.  Die  Stäbchen  bestehen  ans  übersponuenem  Crinolin- 
reifenstahl , der  in  jedem  Kurz- 
w aarengeschäft  zu  haben  ist.  Der 
so  fertiggestellte  Verband  wird 
einfach  um  das  verletzte  Glied 
liern mgelegt  und  mit  nassen  Stärke- 
bindeu  befestigt. 

Der  Heüsneu’scIic  Ver- 
band für  den  Schlüsselbein- 
bruch  ist  geradizu  ingeniös  er- 
funden und  erreicht  mit  ver- 
hältuissmässig  einfachen  Mitteln 
das  so  lange  erstrebte  Ziel , die 
Schulter  der  verletzten  Seite  nach 
oben  und  hinten  zu  drängeu  und 
gleichzeitig  zu  extendiren,  ohne 
Druck  oder  erhebliche  Unbequemlichkeiten  zu  verursachen.  Der  Verband  besteht 
im  Wesentlichen  aus  3 Theilen : 1.  eine  um  die  Brust  und  gesunde  Schulter 

gelegte  Umgürtelung  als  Unterlage  für  die  Extensionsbelastung:  2.  eine  aus 
Filz,  Leder  und  Stahlstäbchen  bestehende  Umkapselung  des  Armes  der 
kranken  Seite  zur  Vertheilung  des  Gegendruckes  auf  Ober-  und  Unterarm ; 3.  ein 
zwischen  beiden  angebrachter  Winkclhebel,  der  sich  mit  dem  einen  Ende  auf 
einen  Fortsatz  des  Brustgürtels  stützt  und  mit  dem  anderen  Ende  die  Armkapsel 
nebst  Schulter  emporhebt  (Fig.  42  und  43). 

Der  Stahlreif  der  Brnstumxürlelung  umfasst  nur  die  Thoraxhälfte  der 
verletzten  Seite  und  biegt  danu  stumpfwinkelig  hinauf  zur  gesunden  Schulter, 
die  einen  Theil  der  Last  mittragen  muss.  Unten  wird  der  Stahlreif  zu  einem 
Hinge  ergänzt  durch  einen  Lederriemen , dessen  beide  Endköpfe  vorn  an  dem 


Fig.  41 


V 


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FR  ACTUR  VERBÄNDE. 


211 


aufsteigenden  Stahlschenkcl  angekuüpft  werden.  Der  Stahlreif  ist  genau  der 
K Arperobe rfläche  augebogen,  tiberbrtlekt  bügelartig  das  gesunde  Schlüsselbein 
und  wird  zunächst  mit  Leder,  dann  noch  mit  Filz  gefuttert.  An  der  Vorderseite 
steigt  aus  der  Spitze  des  stumpfen  Winkels  ein  flacher  Stahlstab  schräg  über  die 
lirnst  hinauf  bis  zum  Sternalende  des  gebrochenen  Schlüsselbeines.  Aufgabe  dieses 
Strebepfeilers  In)  ist,  mit  seinem  oberen  Ende  dem  Winkelhebe)  zum  Stutz- 
punkte zu  dienen.  Die  am  Ellenbogen  rechtwinkelig  gebogene  Armkapsel  um- 
fasst nur  die  Vorderseite  von  Ober-  und  Unterarm  und  ist  hinten  mit  Schnallen- 
gurten geschlossen  ; der  obere  Hand  bleibt  etwas  von  der  Achselhöhle  fern.  Die 
mit  einer  Ausbiegung  vor  dem  Oberarmkopfe  emporsteigende  Schiene  ist  an  dem 
Winkelhebel  durch  Schrauben  befestigt.  Der  obere  Arm  des  Winkelhebels  (b) 
läuft  wie  ein  künstliches  Schlüsselbein  vor  dem  gebrochenen  Knochen  einher  und 
ist  innen  mit  dem  Strebepfeiler,  sowie  aussen  mit  der  Armschicue  gelenkig  ver- 
bunden. Der  untere  Hebelarm  (c)  läuft  frei  herab  zum  llrustgfirtel  und  ist  unten 
mit  einem  Metallknopfe  versehen.  Zieht  man  nun  das  untere  Hebelende  gegen 

Fig.  42.  Fig.  43. 


die  Achsel  der  verletzten  Seite  an  und  stellt  es  mittels  eines  am  Brustreife  an 
geknüpften  Riemens  fest,  so  steigt  der  andere  Hebelarm  mit  der  Schulter  empor. 
Diese  wird  auch  gleichzeitig  nach  rückwärts  gedrängt,  indem  der  der  Brustwand 
nach  auf-  und  rückwärts  folgende  Tragpfeiler  dem  oberen  Hebelarme  seine  eigene 
Richtung  aufzwingt.  Da  aber  das  künstliche  Schlüsselbein  länger  ist  als  das  natür- 
liche , so  findet  eine  umso  kräftigere  Extension  statt , je  höher  die  Schulter 
emporgehohen  wird. 

Braatz'*)  ging  von  der  Absicht  aus,  den  SAYRE’schen  Heftpflasterverband 
bei  Schlttsselheinhrüchen  von  seinen  Fehlern , dem  Drücken  und  Abglcitcn  der 
Streifen,  zu  befreien,  und  schuf  so  seinen  „Epaulettenverband“ ; d.  h.  er  legte 
sowohl  an  den  Ellenbogen  der  kranken  Seite,  wie  an  die  Schulter  der  gesunden 
Seite  eine  Gvpskapscl  und  darüber  die  entsprechenden  Bindentouren  (Nkssel- 
oder  Cambrik-Binde)  an.  Die  Kapseln  bereitet  er  aus  einer  dreifachen  Lage  Hessin», 
(einer  Art  Sackleinwand)  und  (iypsbrei.  Die  Schultcrkappe  verstärkt  er,  zum 
festeren  Halt  der  Binde,  durch  einen  etwa  fingerlangen  und  zweifingerdieken  Gyps- 
zeugstreifen,  die  Epaulette.  Ist  der  Gyps  erhärtet,  dann  folgen  die  Bindengänge: 

14* 


212 


FR  ACT  UR  VERBÄNDE. 


zuerst  schiebt  man  die  Biude  doppelt,  als  Schlinge,  um  den  Oberarm,  lässt  dann 
die  Schulter  hoch  und  nach  hinten  halten  und  wickelt  nun  eine  Zeugbinde  um 
Schulter  und  Ellenbogen.  Dann  wird  das  freie  doppelte  Ende  der  um  den  Ober- 
arm geführten  Schlinge  unter  ziemlich  kräftigem  Zuge,  vorn  auf  der  Ilrust  an 
die  erste  schräge  Binde  festgesteckt.  Nun  folgen  einfache  Kreisgänge  zur 
Sicherung  des  Verbandes  und  schliesslich  wird  der  Arm  in  eine  Schlinge  gehängt, 
die  Uber  die  mit  Watte  gepolsterte  Bruchstelle  läuft.  Der  Verband  hält  die 
erhobene  Schulter  dauernd  und  sicher  in  dieser  Stellung  fest.  Durch  eingegypste 
Drahtösen  oder  Bügel  Messe  sich  das  Abgleiten  der  Binden  leicht  ganz  unmög- 
lich machen. 

Die  zur  Behandlung  von  Oberarmbrüchen  bestimmte  At.BERS'sche 
„Kragenschiene“ IS)  (Fig.  44  u.  45)  wird  wie  Bf.f.ly’s  Gypshanfschienen  auf  dem 
Körpertheile  selbst,  und  zwar  aus  Gypsmullbinden  hergestellt.  Die  4 Meter  langen 
und  12  Cm.  breiten  Binden  (ohne  Weberkante)  werden  vor  dem  Anlegen  in  heisses 
Wasser  getaucht.  Der  Kranke  befindet  sich  am  besten  in  sitzender  Stellung:  der  ge- 
brochene Oberarm  hängt  senkrecht  herab,  der  Vorderarm  ist  rechtwinkelig  gebeugt 
und  supinirt.  Ein  Gehilfe  stutzt  Ellenbogen  und  Hand  und  verhindert  gleich- 
zeitig durch  Zug  am  Ellenbogen  eine  Lageveränderung  der  eingerichteten  Bruch- 
stücke. Wenn  nöthig,  müssen  fehlerhafte  Stellungen  durch  Bindenzügel  ausgeglichen 


Fif?.  44. 


Fig.  45. 


werden.  Ein  zweiter  Gehilfe  steht  hinter  dem  Kranken  und  ein  dritter  an  der 
Hand  des  gebrochenen  Armes.  Die  feuchte  Binde  wird  auf  der  leicht  geölten 
Haut  so  abgerollt,  dass  sie  in  Längsstreifeu  von  der  Mitte  des  Halses,  wo  sie 
von  dem  zweiten  Gehilfen  festgehalten  wird,  über  die  Schulter,  die  Streckseite 
des  Ober-  und  Unterarmes  und  den  Handrücken  hinweg  bis  zu  den  Fingerwurzel u 
reicht;  hier  wird  sie  umgeschlagen,  durch  den  dritten  Gehilfen  festgehaltcn  und 
wieder  hinauf  zur  Mitte  des  Halses  geführt.  Dieses  Hinab-  und  Hinaufführen  der 
Binde  wird  so  oft  wiederholt,  bis  die  Hälfte  des  Halses,  die  ganze  Schulter,  die 
äussere  Hälfte  des  Ober-  und  Unterarmes,  sowie  der  Handrücken  mit  einer  8-  bis 
lOfachen  Gypsbindenschicht  bedeckt  sind,  wozu  gewöhnlich  zwei  Binden  ausreichen. 
Der  untere  Theil  der  Bindenlagen  wird  nun  mit  der  Hand  glatt  gestrichen  und 
durch  Kreisgänge  einer  Cambrikbinde  der  Mittelhand,  dem  Unter-  und  Oberarm 
angedrückt,  während  der  obere  Theil  mit  einigen  durch  die  gesunde  Achselhöhle 
und  über  die  Oberschlüsselbcingrube  der  verletzten  Seite  hinweggeführten  Gängen 
festgchalten  wird.  Der  am  Halse  in  die  Höhe  geführte  Theil  der  Gypsbinde 
wird  als  Kragen  nach  aussen  umgeschlagen , eine  Mitella  angelegt  und  der 
Oberarm  durch  geeignete  Unterstützung  des  Ellenbogens  in  richtiger  Lage  erhalten, 
bis  der  Gyps  erstarrt  ist,  d.  h.  etwa  10  — 12  Minuten  lang.  Dann  wird  die  Schiene 
abgenommen,  am  Hände  gerade  geschnitten  und  etwas  aufgebogen,  dann  mit 


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FRACTÜRVERBANDE. 


213 


dünner  Watteschicht  gepolstert,  vieder  angelegt  und  mit  einer  Bindeneinwicklung 
befestigt.  Die  letzten  Glinge  greifen  in  den  Halskragen  ein , gehen  durch  die 
gesunde  Achselhöhle,  halten  so  den  oberen  Theil  der  Schiene  fest  nnd  verhüten 
ein  Verrutschen  nach  oben.  Die  zur  Stütze  des  Vorderarmes  angelegte  Mitelia 
darf  nur  so  stark  angezogen  werden,  dass  der  Arm  bequem  in  ihr  ruht,  sonst 
könnte  die  Wirkung  der  Schiene  aufgehoben  werden.  Die  Schiene  wirkt  erstens 
distrahirend  auf  die  Bruchstücke  und  zweitens  als  feststellender  Verband,  da  die 
Bruchstücke  gegen  den  Oberarmtheil  angezogen  werden. 

Die  Schiene  lässt  sich  sehr  leicht  abnehmen  und  wieder  anlegen ; Massage 
und  Bewegungen  können  also  jederzeit  vorgenommen  werden.  Etwaige  durch 
Resorption  herbeigeführte  Formveränderungen  werden  durch  entsprechende  Unter- 
polsterung ausgeglichen,  so  dass  die  Behandlung  meist  mit  einer  Schiene  dnreh- 
zu  fuhren  ist.  Schon  nach  Vollendung  des  Verbandes  gehen  die  Kranken  herum. 


Fig.  46.  Fig.  47. 


Bewegungen  und  Massage  werden  in  der  zweiten  Woche  anfangs  alle  3 — 4 Tage, 
später  täglich  vorgenommen.  Die  C'onsolidation  erfolgte  durchschnittlich  in 
22  Tagen. 

Der  einzige  Nachtheil  des  Verfahrens  sind  die  drei  Gehilfen ; aber  die 
an  sie  gestellten  Anforderungen  sind  so  gering,  dass  jeder  Laie  sie  erfüllen  kanu. 

Zur  Behandlung  von  Oberschenkelfracturen  bei  Kindern,  wo  die 
„verticale  Suspension“  nicht  durchführbar  ist,  hat  Deotsch  u)  ein  Stchbett  im- 
provisirt,  das  sich  vortrefflich  bewährte. 

Die  ganze  Vorrichtung  besteht  im  Wesentlichen  aus  einem,  nach  den 
Umrissen  des  Körpers  zugeschnittenem  Brette,  an  dem  für  Hinterhaupt  und  Anal- 
gegend ein  runder  Ausschnitt  angebracht  ist  ( Fig.  4b).  Die  Schultertheile  springen 
stark  hervor,  das  Fussende  des  dem  kranken  Beine  entsprechenden  Theiles  trägt 
ein  Qucrbretlchen  mit  einem  Haken  an  der  Innenseite.  Auf  der  mit  Holzwolle  und 
Filz  wohl  gepolsterten  Lagerungsschiene  wird  das  Kind  so  befestigt,  dass  an  dem 
gebrochenen  Bein  ein  Zug  nach  unten  ausgeübt  werden  kann  (Fig.  47),  während  der 


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214  FRACTUR VERBÄNDE. 

Gegenhalt  durch  Befestigung  des  Rumpfes  bewerkstelligt  wird.  Zu  diesem  Zwecke 
wird  in  üblicher  Weise  eine  Heftpflasterschlinge  mit  Spreize  und  Haken  angelegt 
und  durch  eine  Fhmcllbindc  gesichert.  Nun  wird  das  nackte  Kind  auf  der 
Schiene  passend  gelagert,  die  Brust  mit  einer  Lage  Watte  geschützt  und  der 
Oberkörper  durch  Bindengänge,  die  die  untere  Thoraxgegend  fest  umgreifen  und 
kreuzweise  um  die  Bchultertheile  des  Brettes  gehen,  angebunden.  Hals  und 
Achselhöhlen  bleiben  frei.  Die  Feststellung  des  Rumpfes  wird  durch  eine  Spien 
coxae  duplex  noch  mehr  gesichert.  Die  Schenkelfalten  werden  ansgcpolstert, 
Genitale  und  Anus  bleiben  frei.  Die  Extensicp  in  der  Längsachse  des  Beines 
wird  durch  einen  zwischen  Spreize  und  Fusshrctt  ausgespannten  Gummistrang 
bewirkt.  Das  Kind  wird  mit  Hemd  und  Jacke  bekleidet  und  das  Ganze  mit  einer 
Decke  umhüllt. 

Da  das  Stehbett  noch  nicht  die  allgemeine  Beachtung  gefunden,  die  es 
verdient,  so  sei  hier  nochmals  kurz  auf  die  durch  dasselbe  gewährten  Vortheile 
hingewiesen.  Mit  sicherer  Feststellung  des  gebrochenen  Beines  hisst  sich  die 
Extension  leicht  verbinden.  Die  Fraeturstelle  lässt  sieh  stets  überwachen : Massage 
und  Bewegungen  können  jederzeit  ausgeführt  werden.  Die  Pflege  der  Kiuder  ist 
ausserordentlich  erleichtert ; man  kann  sie  niederlegen  oder  aufrecht  hinstellen ; 
sie  können  mit  und  auf  ihrem  Bette  in’s  Freie  gebracht  werden.  Die  natürlichen 
Entleerungen  gehen  ohne  erhebliche  Beschmutzung  vor  sich  und  die  Reinhaltung 
des  Körpers  ist  leicht  zu  ermöglichen.  Je  nach  Bedarf  wird  die  Einwickelung 
gewechselt,  der  Körper  gewaschen  und  auf  etwaige  Druckstellen  untersucht. 

Literatur:  l)  v.  Barde  leben,  Weiter»*  Erfahrungen  über  frühzeitige  Bewegungen 
gebrochener  Glieder  mit  besonderer  Rücksicht  auf  die  untere  Extremität.  Arch.  f.  klin  Chir. 
1895,  Hl.  — *)  H.  N aegeli* A kerblom,  Zur  Behandlung  der  Knocheuhruche  des  Unter- 
schenkels im  Umhergehen.  Allg.  med.  Central-Ztg.  1895,  Nr.  2 — *)  Wotruba,  B- handlang 
von  Unterschenkelt'raeturen.  Oorrespondenbl.  d.  Vereines  deutscher  Aerxte  in  Reiehenberg 
L».  Sept.  189>.  — M Albert  Hoffa,  Zur  Behandlung  der  Distnrsion  im  Fussgelenk. 
Münchener  med.  Wochensehr.  i>96.  Nr.  10-  — 5)  Länderer.  Ueber  nenere  Methoden  der  Fractur- 
behandlung.  Münchener  med.  Wochensehr.  18144 , Nr.  50.  — *)  J.  P mm  Busch  (London 
Gennan  Hospital Zur  ambulatorischen  Massagebehandlung  der  Kniescheibenbrüche.  Centralbl. 
f,  Chir.  1895,  Nr.  19  — *>  A Ibers,  Gesellsch.  d Charite-Aerzte.  7.  Februar  1895:  Berliner 
kliu.  Wochenschr.  18^5,  Nr.  2»»  — •)  F.  Haenel,  Indicationen  für  die  Naht  der  Patella  bei 
tjuerbruohen.  Muncheuer  med  Wochenschr.  181*4.  Nr.  47-  — *)  Otto  Schräder.  Die  snb- 
cutanen  Vjuerfractaren  der  Patella  und  ihre  Behandlung.  In.iug  -Dis*ert.  Halle  a d.  S.  1895.  — 
•*)  He us n er.  l>ber  einige  neuere  Verbände  an  den  Extremitäten.  Bericht  aber  die  Ver- 
handlungen der  Abtheilung  .Chirurg1  e~  aut'  der  67.  Versammlung  deutscher  Naturforscher  nnd 
Aente  in  Lübeck.  Centralbl  f.  Chir.  1895.  Nr.  41 : Deutsche  med.  Wochenschr  1895,  Nr.  52.  — 
u)  Max  Schmidt.  Au*  dem  Knappschaffcs-Laxareth  xu  Völklingen  a.  d Saar.  Ein  neues 
Verfahren  *ur  Behandlung  subontaner  und  complieiner  Fracturen  von  Fingern  und  Zehen. 
Münchener  med.  Wochenschr.  1>95.  Nr  A9.  — ’*)  Egbert  Braatx.  Zur  Behandlung  des 
Schlu'selheinbruches.  Epaulettenverhand.  Centralbl  f.  Chir.  l^Vri.  Nr  1 — ,T4  A Ibers.  Eine 
Kragenschiene  *ur  Pehandturr  von  Oberarm  brachen.  Aus  der  Klinik  des  Grh_  Oberdäedicinab 
rathes  v.  Bardel  eben.  Cectralbl.  f.  Chir.  18;»4.  St.  26  — :4  A.  Deutsch.  Zur  hauJlar.g 
der  Obererheakelbrui  he  kleiner  Kinder.  Zeitsehr.  f.  ant . Lanipravs.  1895.  Nr.  9. 

W ol  xendorff. 


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G. 


COUCH 3 

Gallicin,  Methyläther  <ler  Gallussäure,  C()  IIa  > weisse  rhombische 

N'OH 

Prismen  oder  feine  Nadeln  vom  Schmelzpunkt  202°  C.,  löslich  in  heissem  Wasser, 
im  warmen  Methyl-  und  Aethylalkohol,  sowie  in  Aether;  wurde  von  C.  Mei.i.ixger 
bei  Katarrhen  der  Conjunctiva,  die  mit  chronischer  Schwellung-  der  Schleimhäute, 
geringer  oder  zäher  schmieriger  Secretion  und  Ekzemen  der  Lidränder  verlaufen, 
mit  Erfolg  verwendet ; ebenso  bei  acutem  und  chronischem  Follicularkatarrh, 
sowie  bei  der  sich  oft  so  langsam  zurtickbildenden  Keratitis  superficialis  und 
bei  der  phlyktänulären  AugenentzUudung;  in  letzterem  Falle,  wenn  wegen  ver- 
mehrter Secretion  die  Anwendung  des  Calomels  vermieden  werden  musste.  Das 
Galliern  wird  mittels  Haarpinsels  1 — 2mal  täglich  in  den  Conjunctivalsaek  ein- 
gestäubt: in  einigen  Fällen  macht  sich  nachher  ein  leichtes  Brennen  fühlbar, 
dieses  verschwindet  jedoch  unter  kühlenden  Umschlägen  nach  einigen  Minuten. 

Literatur:  C.  Mellinger,  Gallicin  (Aus  der  ophtbahu.  Klinik  d.  Prof.  Sc k i e ss 
in  Pasel. I Corresjiondenzbl.  f.  Schweizer  Aerzte.  1895,  Nr.  8.  — E.  Merck,  Bericht  über  das 
Jahr  1895.  Loebisch, 

Gefässgifte.  Nach  dem  jetzigen  Standpunkte  unserer  Kenntnisse  müssen 
wir  die  pharmakologischen  Agentien  hinsichtlich  ihres  Verhaltens  zum  Gefäss- 
system  in  vier  Gruppen  einthcilen: 

1.  Agentien,  welche  das  vasomotorische  Hauptcentrum  in  der 
Medulla  oblontjat«  beeinflussen.  Neben  diesem  Hauptcentrum  giebt  cs  unter- 
geordnete vasomotorische  Centren  im  ganzen  RUekenmarke,  welche  von  den 
genannten  Agentien  stets  mit  beeinflusst  werden.  Die  Wirkung  kann  reizend  und 
lähmend  sein.  Meist  prüft  man  ein  Mittel  hinsichtlich  seiner  reizenden  Einwirkung 
auf  das  vasomotorische  Centrum  in  der  Weise,  dass  man  feststcllt,  ob  es  nach 
Halsmarkdurchschueidung  noch  den  Blutdruck  erhöht  oder  nicht.  Falls  es  ihn 
jetzt  nicht  mehr  erhöht,  kann  die  vorher  beobachtete  Erhöhung  nur  auf 
Reizung  des  vasomotorischen  Hauptcentrums , welches  jetzt  ja  ausgeschaltet  ist, 
bezogen  werden. 

2.  Falls  es  ihn  jetzt  doch  noch  erhöht,  ist  jedoch  die  Möglichkeit  vor- 
handen , dass  dies  durch  Reizung  der  vasomotorischen  RUckenmarks- 
eentren  zu  Staude  kommt.  Um  auch  diese  Möglichkeit  auszuschalten,  bedarf 
mau  des  sogenannten  Durchströmungsversuches,  hei  welchem  ein  aus  dem  Thier- 
körper geschnittenes  lebenswarmes  Organ  extra  corpus  unter  dem  glcichbleiben- 
den  Drucke  mit  lebenswarmem  verdünnten  Blute  desselben  Thieres  im  Wärme- 
kasten dnrehströmt  wird.  Die  aus  der  Hauptvene  diesi  s Organes  ausströmende 


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216 


GEFÄSSGIFTE.  — GEHEIMMITTEL. 


Blutmenge  wird  von  Minute  zu  Minute  gemessen.  Falls  die  in  der  Zeiteinheit 
ausströmendeu  Blutmengen  nach  Zusatz  der  zu  prüfenden  Substanz  zum  Blute 
sofort  abnehmen,  handelt  es  sich 

3.  um  eine  von  den  vasomotorischen  Centren  des  verlängerten 
Markes  und  des  Rückenmarkes  unabhängige  Gefässcoutraction.  Nehmen 
die  ausfliessenden  Blutmengen  dagegen  zu,  so  handelt  es  sich  um  eine  von  den 
genannten  Centren  unabhängige  GcfHssdilatatiou.  Diese  Verengerung,  beziehungs- 
weise Erweiterung  der  Gefässe  kann,  falls  wir  von  Giften,  welche  das  Blut  physi- 
kalisch oder  chemisch  verändern,  nbsehen,  wieder  zweierlei  Art  sein: 

a)  Die  Gefässealiberäuderung  kommt  zu  Stande  durch  Lähmuug  oder 
Reizung  der  in  den  Wandungen  der  Gefässe  gelegenen  peripheren 
vasomotorischen  Nervenapparate.  Falls  dies  der  Fall  ist,  gelingt  der 
Versuch  natürlich  nur  in  den  ersten  Stunden  nach  dem  Schlachten  des  Thieres, 
weil  erfahruugsgemüss  die  Nerven  überlebender  Organe  rasch  absterbeu. 

b)  Die  Gefüsscaliberveränderung  kommt  zu  Stande  durch  Lähmung  oder 
Reizung  der  Muskelschicht  der  Gefässwandungen.  Namentlich  wenn  das 
letztere  der  Fall  ist,  gelingt  es,  den  Versuch  noch  zu  einer  Zeit  anzustellen, 
wo  die  nervösen  Elemente  längst  abgestorben  sind.  Man  hat  früher  derartig 
wirkende  Ageutien  nicht  gekannt;  durch  Kobebt  und  seine  Schüler  ist  aber 
nachgewiesen  worden , dass  namentlich  die  Substanzen  der  Digitalingruppe  eine 
ganz  ausserordentlich  starke  Reizwirkung  auf  die  Muscularis  der  Gefässe , und 
zwar  hauptsächlich  der  Arterien  austtben.  Dass  manche  Gifte,  wie  Phosphor, 
Degeneration  und  Ruptur  der  Gefässe  bedingen  können,  sei  hier  nur  beiläufig 
bemerkt,  da  diese  Wirkung  natürlich  nur  subacut  oder  chronisch  vor  sich  gehen 
kann , niemals  aber  im  Laufe  einer  Stunde , wofern  man  nicht  Ubermaximale 
Dosen  verwendet  hat. 

4.  Natürlich  können  die  Blutgefässe  aber  auch  unabhängig  von  allen 
bisher  aufgezahlten  Momenten  vom  Herzen  aus  beeinflusst  werden.  Man  ver 
gleiche  darüber  das  unter  Herz  und  Ilerzgifte  Gesagte. 

Eine  vollständige  Uebersicht  alles  bis  jetzt  über  die  Einwirkung  pharmako- 
logischer Agentien  auf  die  Gefässe  überlebender  Organe  Gesagten  bietet  die  nach- 
stehende Literatur. 

Literatur:  R.  Robert,  lieber  den  Einfluss  pharmakologischer  Agentien  auf 
die  Gefässe isolirter  Organe.  Aich.  f.  experim.  Patb,  u.  Pharm.  1867,  XXII.  pag. 77.  — R.  Robert, 
( rit-ail  Observation*  and  ejriKrimental  Studie*  of  the  inßuence  of  pharmacological  agents 
on  pcripheral  resset*.  Therap.  Gaz.  1887,  pag.  ju,  82,  37U.  — H.  Thomson.  Heber  die 
Beeinflussung  der  peripheren  Gefässe  durch  phnrmakologische  Agentien.  Dissertat.  liorpat  18-iti. 
— H.  Thomson,  Ein  weiterer  Beitrag  zur  selben  Frage.  Petersburger  med.  Wochenscbr.  1887, 
Nr.  27  u.  28.  ■ — Al.  Paldroek,  Heber  die  Beeinflussung  der  Gefasst*  überlebender  Organe 
durch  pharmakologische  Agentien.  Arbeiten  aus  dem  pharmakologischen  Institut  zu  Dorpat. 
Herausgegeben  von  R.  Robert,  1896,  XIII,  pag.  1 (mit  9 Abbildungen).  Robert. 

Geheimmittei  (Specialitätenl,  Die  in  den  von  dem  Gehcimmittel- 
nuwesen  betroffenen  Kreisen  schon  lange  gewünschte  einheitliche  Regelung  im 
Deutschen  Reiche  ist,  allerdings  nur  auf  einem  Umwege,  hinsichtlich  des  aller- 
wichtigsten Punktes,  des  Verbotes  der  öffentlichen  Ankündigung,  endlich  zu 
Stande  gekommen.  Indem  man  wegen  der  in  der  Sache  liegenden  Schwierigkeit 
von  reichsgesetzlicher  Regelung  absah,  hat  der  Bundesrath  sich  darauf  beschränkt, 
den  einzelnen  Bundesstaaten  die  Erlassung  gleichtnässiger  Polizeiverordnungen 
zu  empfehlen,  wonach  die  öffentliche  Ankündigung  von  Geheimmitteln,  welche 
dazu  bestimmt  sind,  zur  Verhütung  oder  Heilung  menschlicher  Krankheiten  zu 
dienen,  mit  Geldstrafen  bis  zu  150  Mark  oder  Haft  bis  zu  sechs  Wochen  be- 
straft wird.  Diese  Verordnung  wurde  rauf  Grund  eines  im  Bundesrathe  ge- 
fassten Beschlusses“  zuerst  am  29.  Mai  1895  in  Sachsen  erlassen,  worauf  später 
Braunschweig,  Mecklenburg,  Oldenburg,  Lippe  und  die  Thüringischen  Staaten, 
sowie  die  preussischeu  Provinzen  Schlesien,  Rheinprovinz,  Westphalen,  Branden- 
burg, Posen  und  der  Regierungsbezirk  Sigmariugeu  folgten.  Völlig  einheitlich 


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GEHEIMMITTEL. 


217 


ist  die  Gesetzgebung  insofern  nicht  geworden,  als  man  in  preussiseben  Provinzen 
die  Alleren  Verordnungen  als  noch  zu  Recht  bestehend  bezeiehuete.  Die  Aus- 
stellung, welche  gegen  diese  Verfügungen  erhoben  ist,  dass  sie  nicht  wirksam 
durchführbar  seien,  so  lange  nicht  dem  Begriffe  des  Gehcimmittels  eine  gesetz- 
liche Definition  gegeben  wäre,  Hesse  sich  am  einfachsten  dadurch  beseitigen,  dass 
man,  wie  in  Frankreich,  überhaupt  die  öffentliche  Ankündigung  von  Arznei- 
mitteln untersagte  oder  auf  medicinisehe  oder  phannaceutische  Zeitschriften  be- 
schränkte. 

Dass  bei  einem  solchen  Verfahren  ein  grosser  Thcil  der  sogenannten 
Spccialitäten  in  seinem  Absatzgebiete  wesentlich  geschmälert  werden  wird,  ist  in 
keiner  Weise  zu  beklagen.  Die  Mehrzahl  dieser  sind  vom  wissenschaftlichen 
Standpunkte  aus  als  unnütze  Dinge  zu  bezeichnen;  eine  kleinere  Anzahl  ist  zwar 
nicht  wcrthlos,  aber  doch  auf  ärztliche  Verordnung  der  einzelnen  Componenten  in 
einfachster  Weise  in  Apotheken  herzustellen.  Als  ein  erläuterndes  Beispiel  mag 
die  nordamerikanische  Spccialität  Antikamnia  genannt  werden , von  welchen 
Probesendungen  an  30.000  englische  Aerzte  vcrthcilt  wurden.  Es  ist  eine  Mi- 
schung von  Antipyrin,  Natriumcarbonat  und  Coffein  im  Verhältnisse  von  75:20:1, 
wie  es  kaum  einfacher  gedacht  wird,  von  jedem  nur  halbwegs  in  Reeeptabfassen 
geübten  Arzte  verschrieben  und  von  jeden  Apothekeraspiranten,  der  ein  Jahr  in 
der  Lehre  gew  esen  ist,  angefertigt  werden  kann.  Der  Arzt,  der  ein  solches  Prä- 
parat als  Anticamnin  verschreibt , stellt  sich  zweifellos  ein  Testimonium  pauper- 
tatis  aus,  und  noch  aus  diesem  Grunde  haben  die  englischen  Aerzte  vollkommen 
recht,  wenn  sie  neuerdings  darauf  dringen,  dass  daB  bei  ihnen  cingerissene  Ver- 
fahren, Specialitätcn  zu  verschreiben,  aufhören  müsse.  Ein  anderer  Grund,  der 
für  Deutschland  allerdings  wegfüllt,  da  das  Anticamnin  und  andere  Mischungen 
bei  uns  nur  in  Apotheken  verkauft  werden  dürfen,  ist  der,  dass  zu  Gunsten 
einer  Privatperson  oder  einer  Compagnie,  die  durch  den  Verkauf  der  Specialität 
Geschäfte  machen  will,  dem  Apotheker,  der  nur  beim  Prospcriren  seines  Geschäftes 
dies  mit  der  zum  Wohle  der  Patienten  nothwendigen  Accuratesse  führen  kann, 
die  Einnahmen  geschmälert  werden.  Schliesslich  schädigt  der  Arzt  sich  selbst, 
indem  er  die  Patienten  veranlasst,  sich  ohne  Rath  des  Arztes  die  Specialität  zu 
verschaffen  und  sich  unter  genauer  Befolgung  der  Gebrauchsanweisung  vielleicht 
zu  curiren,  mitunter  auch  bei  Nichtbeachtung  dieser,  wie  es  bei  uns  durch  den 
Liqueur  de  Laville  geschehen,  ein  verfrühtes  Lebensende  zu  finden. 

Die  Beseitigung  des  Gehcimmittelunwesens  oder  dessen  Beschränkung  auf 
dos  Mindestmass  ist  die  gemeinsame  Aufgabe  der  Aerzte  und  Apotheker. 
Der  Vorschlag  L.  Lkwin’s,  die  Geheimmittel  aus  den  Apotheken  zu  entfernen  '), 
ist  nichts  Neues:  in  einzelnen  deutschen  Kleinstaaten  ist  der  Versuch  gemacht 
und  den  Apothekern  verboten,  Geheimmittel  abzugeben.  Erreicht  wird  dadurch 
nichts,  so  lange  die  Aerzte  selbst  fortfahren,  die  schlimmsten  aller  Geheimmittel- 
fabrikanten durch  Atteste  zu  unterstützen.  In  welcher  enormen  Weise  dies  in 
Deutschland  geschieht,  bezeugt  aufs  Neue  die  Myrrholinseife,  die  an  alle  irgendwie 
bekannten  Arzte  zum  Zwecke  des  Erhaltene  von  Attesten  versendet  wurde.  Unter 
der  Anzahl  der  Attestirenden,  von  denen  mehrere  es  sich  gefallen  lassen  mussten, 
dass  bei  dem  Abdrucke  ihrer  Atteste  die  Bemängelungen  der  Seife  fortblieben, 
finden  sich  8 Generalärzte,  6 Hofräthe,  eine  Menge  Geheimer  Mcdicinalräthc  und 
nicht  weniger  als  19  Professoren.  Dass  das  preussische  Cultusministerium  die 
ihm  unterstehenden  Aussteller  der  Atteste  wegen  dieser  amtlich  befragt  hat,  mag 
vielleicht  dazu  dienen,  jene  in  Zukunft  etwas  vorsichtiger  zu  machen  und  sich 
bei  ähnlichen  Aufforderungen  zu  Attesten  zuerst  darüber  zu  informiren,  ob  nicht 
ebenso  gute  und  angenehmer  parfumirte  Kernseifen  für  billigeren  Preis  zu  haben 
s«ien  und  ob  es  sich  nicht  um  die  Förderung  einer  Geschäftsreelame  handelt. 
Dass  die  Atteste  von  Frebichs,  Vibchow  und  Ebstmn  wesentlich  den  Grund- 
stein für  das  Geschäft  mit  den  Schweizer  Pillen  gebildet  haben,  hätten  die  Patrone 
der  Myrrholinseife  nicht  vergessen  sollen.  Fast  scheint  es,  als  ob  diesen  verborgen 


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GEHEIMMITTEL.  — GLAUKOM. 


geblieben  sei,  dass  die  gefährlichste  Sorte  von  Geheimmittclfabrikanten  Capitalislen 
darstellen,  die,  wie  Lewin  sagt,  „ungeheure  Summen  für  Reelame  und  Begut- 
achtung ausgeben  und  sieh  durch  ihren  Großbetrieb  vor  Verfolgung  sichern11. 
Dass  übrigens  Gcheimniittel  oder  Specialitäten  nicht  absolut  nothwendig  in  den 
Apotheken  sind,  braucht  nicht  erörtert  zu  werden;  es  könnte  dies  höchstens  für 
Länder,  die,  wie  Mexiko  und  die  lateinischen  Staaten  von  Amerika,  durchgängig 
schlecht  verwaltete  unzuverlässige  Apotheken  besitzen,  gelten,  wo  allerdings  der 
Consum  von  nordamcrikanischcn  und  englischen  Patentinedieiuen  einen  Werth  von 
200  Millionen  Mark  im  Jahre  beträgt. 

Dass  neu  auftauchende,  bei  uns  dem  Handverkäufe  und  selbst  der  Ab- 
gabe in  Droguenhandlungen  unter  gewissen  Bedingungen  nicht  entzogene  Speciali- 
täten besondere  Gefahren  haben,  hat  EI’I.ESBL'Kc  2)  von  den  Thyreoidintabletten 
dargethan.  Diese  Gefahren  werden  sich  stets  am  leichtesten  bei  directer  Abgabe  an 
Patienten  geltend  machen,  können  aber  auch  bei  ärztlicher  Verordnung,  besonders 
durch  die  Ueberschreitung  der  Gaben  seitens  der  Patienten,  Vorkommen.  Gerade 
die  Thyreoidintabletten  geben  aber  ein  Beispiel,  wie  derartige  neue  Specialitäten 
auch  von  den  Aerzteu  nur  mit  grösster  Vorsicht  zu  verordnen  sind  und  unge- 
säumt Gegenstand  der  medieinalpolizeilichcn  Ueherwachung  werden  müssen.  Nach 
den  neuesten  Untersuchungen  von  Kocher  und  Lan<;  ®)  bringt  der  Arzneihandel 
theils  aashaft  riechende  und  ohne  Zweifel  aus  faulen  Schilddrüsen  bereitete 
Thyreoidintabletten,  theils  solche  von  unangenehmem  Geschmack,  die,  vermuthlich 
durch  Bildung  eines  Ptomains  in  den  ersten  Stadicu  der  Zersetzung,  weit  giftiger 
als  frisch  getrocknete  Schilddrüse  oder  aus  frischer  Schilddrüse  getrocknetes 
Extract  sind  und  schon  nach  wenigen  Tagen  Uebelkeit,  Erbrechen,  Herzklopfen, 
Schwindelgefübl  und  gestörten  Schlaf  hervorrufen,  während  fast  die  zehnfache 
Dosis  frischen  Glyeerinextracts  der  Schilddrüse  diese  sogenannten  Thyreoidismus- 
erseheinnngeu  nicht  macht.  Dass  solche  wechselnde  Präparate  keine  angemessenen 
Handverkaufsartikel  für  Apotheker  sind,  liegt  klar  zu  Tage. 

Eine  besondere  Zunahme  der  Geheinmiittel  in  Deutschland  kann  in  den  letzten 
Jahren  nicht  constatirt  werden.  Die  Wa  s m u t h 'sehen  H ii lin e rauge n r i nge  und  das  Odol 
sind  am  meisten  angepriesen  worden.  Das  letztere  ist  nach  der  neuesten  Untersuchung  von 
B.  Fischer  eine  alkoholische  Lösung  von  0.5  Salol  in  97  Alkohol  (80%),  m'*  0.1X14  Saccharin, 

0. 5  Pfelterminaöl  und  Spuren  von  Nelken-  und  Kümmelöb  Die  Wundermittel  des  Schäfer  Ast 
in  Radhruch4),  der  die  Krankheiten  aus  den  Kaekenhaaren  diagnosticili,  sind  Spiritus  Melissas, 
Hienff  boe,;- Essenz,  Tinctura  a/hara,  wässerige  Rhaharhertinctur,  eine  Mischung  von  Aloe- 
und  Sennatinctur,  eine  Mischung  ans  Aloe,  Möhren  und  Urocus,  eine  Isisung  von  Ul.  Citri, 

01.  Foeniculi,  Ol.  Bosmarini  und  Peruhalsam  in  Spiritus,  eine  Mischung  aus  Baisamum 
Pcritcianum , Tr.  Pimpincllae  und  hiq.  Ammonii  unisatus , Jerusalemer  Halsam  ( Tinctura 
Benzoes  cumposita ),  mit  Alcnnna  gefärbtes  Olivenöl . eine  Mischung  von  Spir.  camphoratus 
und  Tinctura  Capsici,  ein  Hurzpliaster  gegen  Rheumatismus  und  itergöl. 

Literatur:  ')  I,.  Lewin.  Geheimmittel  in  Apotheken.  Deutsche  med.  Wochenschr., 
Nr.  47-  — *)  Eulenbnrg.  Ueber  den  Missbrauch  der  Thyreoidintabletten.  Ebendas.  Kr.  3t, 
pag.  559.  — *)  Lang,  Ueber  Thyreoidismus  Ebendas.  Kr.  37.  — ')  Geheimmittelwcsen. 
Pharm.  Ztg.  Nr.  13,  pag.  /8.  Husemann. 

Glaukom,  in  der  Berliner  klinischen  Wochenschrift,  1895,  Kr.  21, 
redet  Cohn  der  Eserinbehandlung  des  Glaukoms  das  Wort.  Dem  gegenüber  vertritt 
Silex  energisch  die  Ansicht  Schweiuger’s,  dass,  sobald  einmal  die  Diagnose 
Glaukom  siohergcstellt  ist , auch  in  den  frühesten  Stadien  die  Iridektomie  aus- 
geführt  werden  müsse.  Die  Fälle , wo  nach  einer  regelrecht  ausgeführten  Iri- 
dektomie noch  einmal  Glaukom  auftrete  oder  die  sonst  deletäre  Abweichungen 
im  Heilverlaufe  zeigen,  sind  gegen  die  glatt  verlaufenden  Fülle  recht  selten. 
Das  Eserin  soll  man  auf  solche  Fälle  beschränken,  wo  man  aus  äusseren  Gründen 
nicht  oder  nicht  sofort  operiren  kann,  und  operire  gleich,  sobald  Glaukom  nacb- 
gewiesen  ist.  Zögere  man,  so  komme  es  endlich  doch  zur  Operation , dann  aber 
nur  mit  mittelmässigcr  Prognose. 

0.  Walter  (Odessa)  beobachtete  zwei  Fälle,  in  welchen  nach  dem  Ein- 
t räufeln  von  Skopolamin  in  einem  Auge , welches  an  Chorioiditis  litt  und  in 


sie 


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GLAUKOM. 


219 


einem , wo  ein  glankomverdächtiger  Anfall  vorhergegangen  war , deutliche  ent- 
zündliche Glankomanfälle  eintraten.  Das  Skopolamin  ist  demnach  ebenso  wie 
andere  Mydriatica  bei  Glankomverdacht  zu  vermeiden. 

Bei  dem  letzteren  Falle  hatte  Piperazin  einen  guten  Erfolg.  Ange- 
wendet wurden  5- — 6 Grm.  (1  Grm.  pro  die),  obwohl  keine  sicheren  Zeichen  einer 
Harnsüurediathese  Vorlagen.  In  einem  Falle  mit  ausgesprochener  Gicht  traten 
nach  längerem  Aussetzen  des  Piperacin  asthenopische  Beschwerden  bei  der  Nahe- 
arbeit auf.  die  sofort  versehwanden , als  Patient  einige  Tage  die  Cur  gebraucht 
hatte ; es  deutet  dies  auf  einen  Zusammenhang  von  Sehstörungen  und  Harnsäure- 
diathese  hin  s.  Evkrsiusch  , Die  neue  Universitäts-Heilanstalt  für  Augenkranke 
zu  Erlangen,  1894). 

Knies  empfiehlt,  statt  der  Iridcktomie  bei  Glaukom  mit  dem  GRÄKK’schen 
Messer  die  Iris  an  ihrem  Ansätze  zu  durrhschneiden ; es  ist  dann  nicht  noth- 
wendig,  den  Schnitt  zu  vollenden,  sondern  mau  kann  eine  Brücke  der  Sklera 
oder  auch  nur  der  Conjunctiva  stehen  lassen.  Die  Iris  selbst  wird  nicht  exeidirt, 
sondern  eigentlich  nur  eine  partielle  Iridodialyse  gemacht.  Er  nennt  die  Operation 
Iridosklerotomie. 

Betreffs  Glaukoms  nach  Staaroperationen  berichtet  Hermann 
Pagenstecher.  Glaukomatöse  Symptome  können  eiutreten  während  des  Heilungs- 
verlaufes nach  der  Extraction , und  zwar  schon  am  1.  — 8.  Tage,  aber  auch  erst 
in  der  2. — 4.  Woche.  Trockene  warme  Umschläge  und  Natrium  salicylicum 
bringeu  gewöhnlich  Heilung.  Wegen  Gefahr  von  Kecidiven  soll  man  noch  längere 
Zeit  das  Natrium  salicylicum  2 — 5 Grm.  pro  die  fortgebrauehen  lassen.  Auch 
Pilocarpineinträufelungen  können  nothwendig  werden.  Keine  Seltenheit  ist  Druck- 
erhöhung nach  Discission  der  Cataracta  secundaria.  Leichtere  Anfälle,  die  in 
24  Stunden  vorübergehen,  mag  man  oft  übersehen.  Stärkere  Anfälle  treten  oft  schon 
mehrere  Stunden  nach  der  Operation  mit  Schmerzen  und  diffuser  Hornhaut- 
trübung auf.  Manchmal  sind  alle  Symptome  eines  fulminanten  Glaukoms  da. 
Therapie:  Pilocarpin,  Vermeidung  der  Mydrotica,  intern  Natrium  salicylicum , 
eventuell  Punction  der  vorderen  Kammer.  Iridektomie  ist  nicht  auzurathen  wegen 
der  Gefahr  des  Glaskörpervorfalles.  Ausserdem  können  an  aphakischeu  Augen 
noch  alle  Formen  von  Glaukom  auftreten.  Knapp  beschäftigt  sich  speciell  mit 
den  Glaukomanfällen  nach  Discission,  von  denen  er  meint,  dass  sie  durch  Zerren 
an  den  Ciliarfortsätzen  entstehen.  Er  räth , prophylaktisch  unmittelbar  nach  der 
Discission  Pilocarpin  einzuträufeln,  und  wenn  die  Spannung  in  der  Folge  erhöht 
ist,  Eserin  anzuwenden  und  Morphium  (0,01)  unter  die  Schläfenhaut  einzuspritzen. 
Tritt  der  Glaukomanfall  trotzdem  ein,  dann  macht  er  Iridektomie,  holt  die  Iris 
mit  dem  stumpfen  Häkchen  und  kümmert  sich  um  den  regelmässig  eintretenden 
Glaskörpervorfall  nicht. 

Literatur:  Silex,  Deutsche  Aeizte-Ztg.  1895.  Nr.  14.  — 0.  Walter,  Zur 
Aetiolngie  und  Therapie  des  Glaukoms.  Klin.  Monatsbl.  f Augenhk  Jänner  1895.  XXXIII.  — 
Knies.  Ueber  eine  neue  Behandlung  des  Glaukoms.  Bericht  aber  die  23.  Ophtbalmologen- 
versanimlung.  Heidelberg  1994.  — Pagenstecher,  Ueber  Glaukom  nach  Staaroperationen. 
Klin  Munatsbl.  f.  Augenhk.  August  1S95,  XXXIII.  — Knapp,  Ueber  Glaukom  uach  Dis- 
cission des  Nachstaars  und  seine  Heilung.  Areh  f.  Augenhk.  1894,  XXX.  Reuss. 


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H. 

Haematokele  intraperitonealis  (retrouterina,  anteuterina, 
periuterina).  Haematokele  extraperitonealis  *.  Ilaematoma  periuterinum 
s.  Thrombus  lig.  lati.  Thrombus  vaginae  et  vulvae.  Gemeinschaftlich 

den  drei  Erkrankungen , welche  in  diesem  Abschnitt  gemeinsam  besprochen 
werden,  ist  nur  die  Blutung,  welche  in  die  Umgehung  des  Genitalcanals  erfolgt. 
Das  anatomische  Verhalten  im  Einzelnen,  die  Genese,  ihre  ganze  Pathologie 
sind  aber  so  verschieden,  dass  eine  getrennte  Bearbeitung  nöthig  ist.  Nur  vom 
Standpunkt  der  Therapie  könnte  man  eine  gewisse  Gemeinschaftlichkeit  be- 
haupten, insofern  als  man  .im  Allgemeinen  auf  die  Resorption  des  ergossenen 
Blutes  rechneu  kann  und  daher  nur  unter  bestimmten  weiteren  Anzeigen  ein- 
schreiten  darf. 

Die  Haematokele  retrouterina  ist  zuerst  von  NTxaton  ira  Jahre  1850 
beschrieben  als  ein  hinter  dem  Uterus  gelegener,  durch  eine  Blutansammlung 
gebildeter  Tumor,  welcher  auf  die  im  kleinen  Becken  liegenden  Organe  eine 
mehr  oder  weniger  bedeutende  Druckwirkung  ausllbt.  Dieselbe  sitzt  seiner  De- 
finition nach  intraperitoueal,  aber  abgekapselt;  sie  verdankt  menstruellen  Vor- 
gängen, speciell  der  Ovulation,  ihre  Entstehung. 

Als  einmal  die  Aufmerksamkeit  auf  dieses  Vorkommniss  gelenkt  war, 
häufte  sich  in  kurzer  Zeit  die  Zahl  der  Beobachtungen  desselben  zu  einem 
guten  Theil  deswegen,  weil  man  eine  jede  Blutanummlung  im  kleinen  Becken 
(in  das  sich  jede  Flüssigkeit  in  der  Bauchhöhle,  dem  Gesetze  der  Schwere  folgend, 
naturgemäss  als  nach  dem  tiefsten  Punkte  senken  muss)  ohne  Unterschied  als 
llämatokele  bezeichnetc,  ja  es  kann  keinem  Zweifel  unterliegen,  dass  damals  wie 
auch  jetzt  mancher  Kall  von  peritonitischem  Exsudat,  Tubensack,  Ovarialtumor 
mit  unter  diesen  Namen  unterlief.  Liegt  es  doch  zu  sehr  in  der  Natur  der  Dinge, 
dass  man  neue,  bis  dahin  unbekannte  Erkrankungen  gern  in  eigener  Beobachtung 
gesehen  haben  möchte.  Hier  liegt  nun  diese  Annahme  um  so  näher,  als  fast 
immer  die  Diagnose  allein  nach  dem  klinischen  Bilde,  ohne  dass  sie  durch 
Troikar  oder  Messer  bestätigt  wurde,  gestellt  ist. 

ln  neuerer  Zeit  ist  man  wieder  zu  der  strengeren  Nix  ATOK 'sehen  De- 
finition zurückgekehrt,  und  werden  auch  wir  deshalb  diejenigen  Blutergüsse, 
die  keinen  Tumor  bilden  und  nicht  intraperitoueal  sitzen , hier  unberück- 
sichtigt lassen. 

Ueher  das  Verhältnis  des  Tumors  zum  Peritonealsack  erhob  sich  übrigens 
bald  ein  lebhafter  Streit ; VlGl'ES  z.  B.,  der  N'ELATON’s  erste  Fälle  veröffentlichte, 
trat  seinem  Lebrer  entgegen  für  den  extraperitonealen  Sitz  der  Geschwulst  ein. 
Die  Schwierigkeit  der  Erkennung  desselben  ist  in  der  That  selbst  bei  anatomischer 
Untersuchung  in  Folge  der  Menge  von  Pseudomembrauen.  Fäden-  und  Balken-, 
lvysten-  und  Gerinnselbildungen,  die  ein  solcher  alter  Blutherd  aufweist,  eine 


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HAEMATOKELE.  221 

überaus  schwierige.  Doch  machten  Voisin  >)  und  später  besonders  Schröder  *) 
es  im  höchsten  Grade  wahrscheinlich,  dass  Nf.laton  im  Hecht  sei,  und  so  war 
lange  Zeit  hindurch  nur  ein  unzweifelhafter  Fall  von  Haematokele  extraperi- 
tonealis  ausserhalb  des  Puerperiums  bekannt  (Ott),  die  zufällig  bei  der  An- 
fertigung des  sagittalen  Beckendurchsehnittes  einer  an  Typhus  Verstorbenen 
gefunden  wurde.  Erst  1874  hat  Kühn15)  einige  (2)  intra  vitam  diagnosticirte 
und  durch  die  Obdnction  bestätigte  Fälle  davon  veröffentlicht  und  damit  nicht 
nur  ihr  Vorkommen  erwiesen,  sondern  auch  klinische  Merkmale  für  ihre  Er- 
kennung beigebracht.  Mit  ihr  wollen  wir  uns  weiter  unten  beschäftigen  und 
zunächst  zur  Betrachtung  der  intraperitonealen  Hämatokelen  übergehen. 

Dieselben  sind  eine  Erkrankung  des  Blüthealters  des  Weibes  und 
kommen  am  häufigsten  in  der  Zeit  vom  25. — 36.  Lebensjahre  vor,  doch  sind 
auch  im  späteren  Alter  Fälle  beobachtet  worden,  woraus  ohneweiters  schon 
hervorgeht,  dass  der  von  NElaton  so  sehr  urgirte  Einfluss  der  Menstruation 
anf  die  Entstehung  von  Hämatokele  kein  ganz  unbedingter  ist.  Von  43  Kranken 
hatten  nach  Schröder  41  nachweislich,  1 wahrscheinlich  geboren  und  befand 
sich  somit  nur  1 Nulliparn  unter  ihnen.  Die  grössero  Mehrzahl  derselben  war 
jedoch  längere  Zeit  vor  dem  Eintritt  der  Erkrankung  steril  gewesen  oder  hatte 
wenigstens  an  Menstruationsanomalien  gelitten,  so  dass  man  bei  ihnen  allen  mit 
grosser  Wahrscheinlichkeit  schon  vorher  bestehende  Veränderungen  des  Uterus 
und  seiner  Adneia  — wohl  meist  durch  entzündliche  Störungen  im  Puerperium, 
gonorrhoische  Infection,  in  specie  Perimetritis  entstanden  — vermuthen  darf. 

Die  Häufigkeit  des  Vorkommens  von  Hämatokele  wird  von  den  ver- 
schiedenen Beobachtern  ausserordentlich  abweichend  beurtheilt.  Die  Ursache  davon 
liegt  in  der  oft  sehr  grossen  Schwierigkeit,  an  der  Lebenden  Hämatokele  von 
reiner  Perimetritis  exsudativa  zu  unterscheiden,  und  in  dem  Umstand,  dass  bei 
der  günstigen  Prognose  der  ersteren  selten  Gelegenheit  gegeben  ist,  die  Diagnose 
anatomisch  zu  verificiren.  Ich  verzichte  daher  hier  ganz  auf  eine  statistische  An- 
gabe; sie  besitzt  meines  Erachtens  gar  keinen  Werth,  weil  man  mit  anatomischer 
Exactheit  nur  die  Fälle  als  Hämatokele  bezeichnen  dürfte,  die  bei  der  Scction 
oder  Operation  direct  das  Blut  nachwiesen. 

Da  Blutergüsse,  die  zur  Bildung  einer  typischen  Hämatokele  führen,  wie 
wir  eben  anführten,  fast  niemals  das  Lehen  direct  gefährden,  der  Tod  vielmehr, 
wo  er  erfolgt,  stets  mehr  oder  weniger  spät  durch  secundäre  Zufälle  (Verjauchung, 
Perforation  in’s  Peritoneum)  verursacht  wird,  so  beschränkt  sich  unsere  ana- 
tomische Kenntniss  der  betreffenden  Affection  auf  Fälle,  in  denen  die  ursprüng- 
lichen Verhältnisse  meist  nicht  mehr  völlig  klar  zu  erkennen  sind,  und  weiterhin 
auf  diejenigen  Beobachtungen,  welche  wir  bei  Laparotomien  machen. 

Gerade  die  letzteren  haben  uns  neuerdings  in  den  Stand  gesetzt,  das 
Bild,  welches  zum  Theil  theoretisch  nach  einzelnen  Sectionsbefuuden  allmälig  ent- 
standen war,  in  zweckmässiger  Weise  zu  ergänzen.  Auf  diese  Weise  ist  je  länger 
desto  mehr  Klarheit  in  die  Genese  gekommen. 

Durch  den  Genitalcanal  hindurch  gelangen  Infectionskeime  leicht  in  die 
Tube  und  damit  in  die  Bauchhöhle.  Sie  erregen  hier  eine  Entzündung,  und  wenn 
dieselbe  umschrieben  bleibt,  kommt  es  zur  Bildung  von  Pseudomembranen  und 
Adhäsionen.  Sich  öfters  wiederholende  Infectioncn  bewirken  einen  chronischen 
Reizzustand  des  Peritoneum  in  der  Umgebung  des  Fimbrienendes,  also  im  DOUGLAS- 
schen  Raume.  Langsam  sich  verdickend,  schwielig  werdend,  mit  zahlreichen 
Verwachsungen  bedeckt,  ist  das  Bauchfell  dieser  Theile  sehr  geeignet,  auf  die 
geringsten  Reize  hin  mit  einer  subacuten  Entzündung  oder  auch  bei  Ein- 
wirkung irgendwelcher  Traumen  mit  Blutung  in  Folge  von  ZerreisBung  zu  ant- 
worten. VlRCHOW  bezeiehnetc  diese  Veränderung  des  Bauchfells  mit  dem  Namen 
der  Pelveoperxtonitis  haetnorrhagica ; in  dieser  Erkrankung  kann  man 
eine  der  Ursachen  finden,  durch  die  es  zur  intraperitonealen  Haematokele 
kommen  kann. 


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222 


HAEMATOKELE. 


Mehr  ist  zur  Zeit  nicht  zu  sagen : der  exaete  Beweis,  dass  in  einem 
auch  irgend  erheblichen  Bruchtheil  von  Fällen  diese  Entstehung  wirklich  statt- 
fand, ist  jetzt  ausserordentlich  schwer.  Es  haben  sich  die  Verhältnisse  insofern 
umgekehrt,  als  man  früher  die  Pelveoperitonitis  baemorrhngica  als  Ursache  der 
Hämatokele  ansah  und  nun  den  Nachweis  erbrachte,  dass  mindestens  in  einem 
bestimmten  Bruchtheil  von  Fällen  eine  andere  Genese  zutritl't.  Diese  andere 
Genese  hat  sich  in  der  Lehre  Von  der  Aetiologie  so  sehr  Anerkennung  verschafft, 
dass  es  jetzt  fast  so  angesehen  wird,  dass  die  Pefveoperilonitis  haemorrhagiea 
ätiologisch  bedeutungslos  ist.  Diese  anderweite  Ursache  ist  die  Extrauterin-, 
speciell  die  Tubensch wangerschaft. 

Die  Stellung  derselben  zur  Pclveoperitonitis  bietet  insofern  einen  ge- 
wissen Zusammenhang,  als  eine  der  Ursachen  der  Tubenschwangerschaft  auch 
Infection  ist,  die  den  Genitalcanaf  trifft,  und  dass  oft  bei  ihr  Adhäsionshildung 
im  Becken  vorkommt.  Der  Grund,  aus  dem  die  Mehrzahl  der  Gynäkologen  so 
ungern  jetzt  noch  die  Felvcopcritonitis  als  Ursache  anschen,  liegt  in  der  That- 
sache,  dass  man  bei  Laparotomien  wegen  Tnbenerkrankungen  zwar  vielfach  Ad- 
liäsionsbildungen.  aber  äusserst  selten  Blutungen,  wenigstens  völlig  abgekapselte, 
zwischen  ihnen  findet. 

Liest  man  ferner  die  alten  Krankengeschichten  von  Nelatox  und  Voisix, 
so  kann  man  in  der  Anamnese  nicht  selten  die  Angabe  finden,  dass  die  Men- 
struation vor  Eintritt  der  Erkrankung  längere  Zeit  ausgeblieben  sei  oder  unregel- 
mässig war.  Ist  hierdurch  die  Annahme  einer  Schwangerschaft  nahegelegt,  so 
sprechen  die  Fälle,  in  denen  die  Menstruation  regelmässig  war,  keineswegs 
sicher  gegen  Schwangerschaft;  die  neuere  Erfahrung  Uber  frühzeitige  Extrauterin- 
schwangerschaft lehrt  in  dieser  Beziehung,  dass  man  nicht  immer  die  Angabe 
der  ausgebliebcnen  Menstruation  findet. 

Weiter  lehrt  die  Erfahrung,  dass  die  Huptur  mit  plötzlichem  Austritt 
von  Blut  keineswegs  der  einzige  Ausgang  einer  Tubenschwangerschaft  ist.  Viel- 
mehr lässt  sich  nicht  leugnen,  dass  neben  der  vielleicht  relativ  seltenen  Huptur 
der  langsamere  Blutaustritt  in  Folge  einer  Ablösung  des  Eies  von  seiuer  Insertion 
und  die  unter  Blutung  erfolgende  Ausstossung  des  ganzen  Eies  durch  das  Fint- 
brieneude  in  die  Bauchhöhle  hinein  Vorkommnisse  sind,  denen  man  hei  Tubar- 
graviditäten  alltäglich  begegnen  kann. 

Wir  können  vielleicht  noch  nicht  so  weit  gehen,  dass  wir  das  Vorkommen 
einer  llaematokele.  intrauterine  allein  auf  Tubensch waugersebaft  zurtlckfüliren, 
damit  muss  man  aber  rechnen,  dass  alle  anderen  Ursachen  äusserst  selten  sind. 
Hierbei  ist  es  bemerkenswerth,  dass  schon  VlfiCES  und  Gallard  die  Graviditas 
extrauterina  als  fast  einzige  Ursache  der  Hämatokele  ansahen. 

Der  Tubenschwangerschaft  gleich  steht  natürlich  die  Schwangerschaft  im 
rudimentären  Horn  des  Uterus  bicornis,  nur  ist  zu  bedenken,  dass  in  Folge  der 
kräftigeren  Entwicklung  der  Wände  einerseits  und  andererseits  des  weiten  Weges 
von  der  Placentarstelle  bis  zum  Fimbrienende  viel  häufiger  die  Huptur  mit  tödt 
liebem  Ausgang  als  die  langsamere  Blutung  erfolgt. 

In  Bezug  auf  die  anderen  — hiernach  also  seltenen  — Ursachen  muss 
man  dann  feststellen,  dass  die  VlRCHOw’sche  Peheopen'tonitis  haemorrhagiea  (die 
Pacbypelveoperitonitis  von  Bkrxttz)  am  wahrscheinlichsten  mit  liera n gezogen 
werden  muss. 

VlRf'itow  betont  die  Häufigkeit  peritonitiselier,  stark  vascularisirter,  den 
Douglas’ sehen  Haut»  überbrückender  Pseudomcmhrnneu,  aus  denen  bei  tiuctionärer 
Hyperämie  sieli  leicht  Blut  in  die  durch  ihre  Theilnahtne  gebildete  retroutcrine 
Ilölile  ergiessen  müsse ; er  hebt  dabei  besonders  die  Aehnliehkeit  dieses  Vor- 
kommnisses mit  dem  Hämatom  der  l>nra  mater , der  Folge  einer  Pachymenin- 
gitis  haemorrhagiea,  hervor.  Da  mau  den  Blutherd  meist  durcli  Pseudomembranen 
aligekapselt  findet,  so  ist  diese  Möglichkeit  jedenfalls  stets  in  Erwägung  zu  ziehen. 
Ein  von  CREDE  beobachteter  Fall  beweist  übrigens  sicher,  dass  nach  Entfernung 


HAEMATOKELE 


223 


eines  (retronterinen)  perimetritischen  Exsudates  (durch  Function)  eine  Blutung  in  die 
dasselbe  bergende  Höhle  nachträglich  zur  Entstehung  einer  Hämatokele  führen  kann. 

Ob  ausser  der  Pelveoperitonitis  noch  andere  Ursachen  die  Hämatokele 
bedingen,  lassen  wir  dahingestellt.  Natürlich  können  die  verschiedensten  Ursachen 
zu  iutraperitoncalen  Blutungen  fuhren,  aber  ob  daraus  in  Folge  von  Abkapselung 
das  Bild  der  Hämatokele  entsteht,  ist  zum  Mindesten  zweifelhaft. 

Die  Ovarien  machte  bereits  X F.I.aTOX  für  die  Entstehung  von  Hämato- 
kelen  verantwortlich ; er  glaubte,  dass  bei  der  normalen  Ovulation  das  aus  dem 
platzenden  Follikel  sich  ergiessende  Blut  unter  Umständen  nicht  wie  gewöhnlich 
mit  dem  Ei  in  die  Tube  und  von  dort  in  den  Uterus  gelange,  sondern  in  den 
Dot'OLAs’schen  Raum  abfliesse.  Die  dieser  Ansicht  zu  Grunde  liegende  Hypothese 
über  die  Menstruation  ist  jedoch  als  irrig  erkannt,  und  ist  durch  Beobachtungen 
sicbcrgestellt,  dass  unter  normalen  Verhältnissen  der  in  den  Follikel  stattfindende 
Blutaustritt  ein  sehr  geringer  ist : wohl  aber  kann  derselbe  unter  pathologischen 
Bedingungen  ein  bedeutender  werden.  Das  von  Dkxoxvii.uer  als  Ursache  stärkerer 
Blutung  supponirte  Klaffen  der  Rissöffnnng  des  Follikels  ist  freilich  eine  durch- 
aus unbewiesene  und  unwahrscheinliche  Hypothese,  jedoch  auch  ohnedies  muss 
eine  jede  entzündliche  Aflection  des  Ovariums  und  seiner  Umgebung,  Bildung 
von  Tumoren  in  demselben,  ja  jede  Kreislaufstörung  die  Hyperämie  desselben 
und  damit  die  Stärke  der  menstruellen  Ausscheidung  vermehren.  Ein  jeder  Reiz, 
der  ein  so  verändertes  Organ  trifft  und  seinen  Bintgebalt  zu  vergrössern  im 
.Stande  ist,  sei  es  die  menstruelle  Fluxion,  sei  es  geschlechtliche  Erregung,  oder 
beide  gleichzeitig,  werden  natürlich  auch  vielleicht  zur  Ruptur  von  zuweilen 
varicös  entarteten  und  durch  das  gelockerte  Gewebe  schlecht  gestutzten  Gefüssen 
führen  können,  die  ihr  Blut  entweder  direct  in  den  Peritonenlsack  oder  in  das 
Gewebe  ergiessen ; so  entsteht  entweder  sofort  eine  Hämatokele  oder  zunächst 
eine  Apoplexie  GHAAF'scher  Follikel  oder  ein  Hämatom  des  Ovariums,  das  dann 
bei  irgend  einer  Gelegenheit  (Trauma  oder  erneute  Blutung)  berstet  und  seinen 
Inhalt,  zu  dem  sich  noch  das  aus  der  Rissstelle  ergosseue  Blut  gesellt,  ebenfalls 
in  den  Banchfellsack  entleert.  Inwieweit  hier  kachektische  Zustände  des  Gesammt- 
organismus  etwa  eine  Rolle  spielen,  ist  noch  fraglich. 

Wie  weit  nicht  schwangere  Tuben  zu  Blutungen  führen  können,  ist 
keineswegs  klar.  Man  fand  bei  gewissen  Allgemeinkraukheiten,  Morbilli,  Typhus, 
Hämophilie,  zuweilen  ganz  kolossale  Blutmengen  aus  der  Tube  in  die  Bauchhöhle 
gelangt  (fsCANZON'I  *).  Auch  ohnedies  ist  es  denkbar,  dass  bei  Verschluss  der  Utcrin- 
öffnung  oder  anderen  abnormen  Verhältnissen  der  Tube  (z.  B.  wenn  sie  theilweise 
im  versenkten  Stil  eines  operirteu  Ovarialtumors  zurückgeblieben  ist)  das  Men- 
strualbiut  derselben  in’s  Peritoneum  sieh  ergiesst.  Sie  vermittelt  auch  vielleicht 
manchmal  (mehr  passiv)  nur  den  Blutübertritt  aus  dem  Uterus  (bei  Hämatometrn; 
in  den  Peritonealsack.  Freilich  kommt  es  in  letzterem  Falle  meist  zu  Hämatosal- 
piux,  deren  Bersten  natürlich  dieselben  Folgen  haben  muss  wie  das  der  oben 
erwähnten  ovariellen  Hämatome.  Auch  die  Ruptur  einer  sonst  normalen  schwan- 
geren t ebärmutter  kann  natürlich  eine  intraperitoneale  Blutung  veranlassen.  Doch 
stellt  hier  das  Trauma  und  die  Eröffnung  des  Peritonealsackes  für  die  Betrachtung 
entschieden  im  Vordergrund.  Fritsch  ,0)  hat  in  einem  Falle  todtlieher  Blutung 
intrn  i/ratiditolem  eine  Usur  des  Bauchfellüberzuges  des  Uterus  lind  Eröffnung 
dicht  unter  demselben  verlaufener  Venen  gefunden  und  dabei  die  Vermuthung 
ausgesprochen,  dass  hierin  häutiger  eine  Veranlassung  zur  Hämatokelcnbildung 
gegeben  sein  dürfte.  Ganz  ebenso  können  aueli  die  nicht  selten  varicös  entarteten 
Veneugeflechte  der  Liyamenta  lata  verantwortlich  gemacht  werden,  die  an  jeder 
Fluxion  zu  den  Geschlechtsorganen  (sei  sie  menstruell  oder  nicht)  Antheil  nehmen. 
Platzt  ein  Varix,  so  kann  auch  hier,  wie  vorher  bei  den  Ovarien  erwähnt,  ent- 
weder primär  oder  nach  Bildung  eines  Hämatoms  und  späterer  Ruptur  desselben 
secundär  eine  intraperitonenle  Blutung  entstellen.  Für  eine  Hämatokele  nacli- 
gewieseu  ist  aber  keine  dieser  Ursachen. 


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HAEMATOKEEE. 


Die  directe  Ursache  ihrer  Entstehung  ist  angeblich  meist  eine  solche, 
die  eine  mehr  oder  weniger  starke  Flusion  zu  denselben  hcrbeizuftihren  im  Stande 
ist.  Von  den  französischen  Autoren  wird  hier  besonders  der  während  der  Menses 
ausgellbte  Coitus  als  ätiologisches  Moment  hervorgehoben ; ebenso  übermässige 
und  stürmische  Ausübung  desselben ; überhaupt  gehören  hierher  alle  Schädlich- 
keiten und  Fehler  der  Lebensweise,  die  während  der  Menses  einwirken : körper- 
liche Anstrengungen  (Tanzen),  Erkältungen,  Traumen,  Anwendung  von  Quell- 
stiften kurz  vor  oder  während  der  Menses  ete.  Sind  Blutkysten  oder  Varicen 
vorhanden,  so  kann  auch  ausserhalb  der  Katamenien  ein  Trauma  oder  eine  Er- 
höhung des  abdominellen  Blutdruckes  eiue  Beratung  bewirken.  Bei  extrauteriner 
Gravidität  erfolgt  sie  gewöhnlich  in  Folge  des  Wachsthums  des  Eies. 

Schliesslich  sind  unter  den  Ursachen  von  intraperitonealen  Blutungen  noch 
zu  nennen  Dyskrasien  (Purpura,  Morbus  mnculosis  Werlhofii,  Scorbut,  Icterus  gravi»), 
Infectionskrankheiten  (Morbilli,  Scarlatina,  Variola,  Typhus  ),  Vergiftung  mit  Phosphor. 

Aetiologisch  ist  zur  Entstehung  einer  Hämatokele  aber  mehr 
nöthig  als  einfach  ein  Austritt  von  Blut  in  die  Bauchhöhle.  Erfolgt 
nämlich  ein  solcher  langsam,  so  wird,  wie  man  sich  bei  Laparotomien  über- 
zeugen kann,  durch  die  Darmbewegung  das  Blut  in  der  ganzen  Peritonealhöhle 
vertheilt,  die  Oberfläche  der  Därme  sieht  wie  mit  einer  dünnen  Schicht  Blut  be- 
schmiert aus,  das  Peritoneum  parietale,  besonders  die  peritoneale  Bekleidung 
des  Diaphragma,  scheint  sugillirt,  weil  die  Lymphbahnen  das  Blut  in  sich  auf- 
nehmen und  zur  Resorption  gelangen  lassen.  Erfolgt  eine  plötzliche,  sehr  starke 
Blutung,  so  kann  ohneweiters  der  Tod  erfolgen. 

Daher  muss  zu  der  Blutung  noch  ein  Zweites  kommen:  das  ist 
die  Abkapselung.  So  wichtig  ich  die  Aufzählung  der  einzelnen  Möglichkeiten 
der  Blutung  in  die  Bauchhöhle  auch  halte,  so  sehr  betone  ich,  dass  der  Nach 
weis,  dass  aus  ihnen  eine  Hämatokele  entsteht,  fehlt. 

Hier  liegen  drei  Möglichkeiten  vor: 

1.  Blutung  in  eine  allseitig  abgeschlossene,  vollständig  prä- 
formirte  Stelle. 

2.  Blutung  in  die  Bauchhöhle,  welche  schon  vorher  mehr 
oder  weniger  zahlreiche  Adhäsionen  besass. 

3.  Blutung,  welche  bei  ihrer  Entstehung  Veranlassung  zur 
Adhäsionsbildung  wird. 

Ob  jemals  eine  Blutung  in  eine  allseitig  abgeschlossene,  also  voll- 
kommen präformirte  Höhle  zu  dem  klinischen  Bilde  der  Hämatokele  führt, 
kann  ja  aus  dem  Grunde  zweifelhaft  erscheinen,  weil  man  mit  der  Möglichkeit 
rechnen  muss,  dass  dann  unter  dem  Einfluss  des  in  die  Höhle  strömenden  Blutes 
eine  Zerreissung  der  Adhäsionen  zustande  kommt. 

Immerhin  muss  man  sich  aber  in  der  Bauchhöhle  die  Verhältnisse  nicht 
so  vorstellen,  dass  eine  starrwandige  Höhle  nothwendigerweise  bestände.  Ein  Theil 
der  Wand  muss  stets  von  Dannschlingcn  gebildet  sein.  Diese  können  natürlich 
einem  Drucke  in  gewissem  Grade  nachgeben.  Ein  anderer  Theil  wird  von  dem 
intacten  parietalen  oder  visceralen  Blatte  des  Peritoneums  dargestellt.  Weil  nun 
das  parietale  Blatt  auf  seiner  Unterlage  verschieblich  ist,  so  kann  auch  hier  in 
gewisser  Ausdehnung  ohne  Ruptur  ein  Nachgeben  der  Wand  erfolgen.  Wie  die 
Tubenschwangerschaft  sich  zu  einer  solchen  Höhle  verhält,  ist  ohneweiters  nicht 
gegeben.  Es  kann  ja  sehr  gut  sein,  dass  entsprechend  der  Herkunft  der  Keime 
für  die  Peritonitis  gerade  in  der  Umgebung  der  Tube  das  Ovarium  und  das  Fim- 
brienende in  eine  solche  abgekapselte  Höhle  hinoinmünden,  und  an  sich  können 
wir  es  daher  theoretisch  für  wohl  möglich  erklären , dass  eine  unter  diesen  Um- 
ständen eingetretene  Tubenschwangerschaft  nach  ihrem  Absterben  zu  einer  der- 
artigen Ilämatokelenbilduug  Veranlassung  wird. 

So  klar  hier  die  beiden  Vorbedingungen  der  Hämatokele,  die  Blutung  und 
die  Abkapselung,  sind , und  so  sicher  man  auch  annehmen  darf,  dass  starre 


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HAEMATOKELE. 


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Adhäsionen  dem  Contractionsdruck  der  das  Blnt  aus  der  Tube  treibenden  Tuben- 
peristaltik  gewachsen  sein  können,  so  sehr  muss  doch  betont  werden,  dass  jedenfalls 
auch  ohne  strenge  Abkapselung  eine  llümatokelenbildung  erfolgen  kann.  Finden 
sich  nämlich  mehr  oder  weniger  zahlreiche  Adhäsionen  auf  dem  Hcekenperitoneum, 
und  erfolgt  nunmehr  unter  geringem  Drucke  langsam  und  in  Schüben  eine  Blutung 
in  die  Bauchhöhle,  so  wird  nothweudigerweise  ein  Tlieil  des  Blutes  auf  den  Ad- 
häsionen coaguliren  und  damit  die  Communieation  mit  der  übrigen  freien  Bauch- 
höhle verringern.  So  kommt  es  dann  dazu,  dass  die  weiteren  Nachschübe  der 
Blutung,  indem  sie  sich  wieder  au  denselben  Stellen  niedersehlagen,  schliesslich 
nur  noch  eine  ganz  enge  und  demnächst  verschwindende  f'ommunication  mit  der 
freien  Bauchhöhle  übrig  lassen.  So  entsteht  unter  der  alleinigen  Voraussetzung, 
dass  der  Blutdruck  kein  excessiv  grosser  ist  und  dass  die  Blutung  langsam  erfolgt, 
schliesslich  eine  Abkapselung  des  Blutes  zu  eiuem  vollkommenen  Sack,  dessen 
Wandungen  wohl  im  Stande  sind,  einem  enteilten  Nachschub  einen  gewissen 
Widerstand  entgegenzusetzen. 

Wenn  nun  auch  die  klinische  Erfahrung  lehrt,  dass  die  Hämatokele  in 
der  Mehrzahl  der  Fälle  plötzlich  entsteht,  so  ist  trotzdem  die  eben  geschilderte 
Entstehung  nicht  ausgeschlossen,  ja  vielmehr  sehr  wahrscheinlich.  Oft  genug  sieht 
man  bei  Laparotomien  wegen  Tubensehwangersehatt  ohne  jedes  ernste  Allgemein- 
zeichen reichliches  Blut  in  der  Bauchhöhle.  Es  ist  mir  daher  vollkommen  ver- 
ständlich, dass  die  ersten  Vorboten  einer  Hämatokele  symptomlos  sich  darstellcn, 
und  dass  erst  die  stärkere  Blntung  dann  die  charakteristischen  Erscheinungen 
bedingt.  Ist  man  mit  dem  anatomischen  Verhalten  der  Tubenschwangerschaft  ver- 
traut, so  wird  man  die  langsamen  Blutungen  durch  die  Ablösung  des  Eies  von 
der  Tubenwand  erklären,  wird  die  stärker  erfolgenden  Nachschübe  entweder  durch 
die  Austreibung  des  ganzen  Eies  oder  durch  die  Ruptur  der  Tube  nach  einzelnen 
Vorboten  erklären.  Auch  wiril  es  anatomisch  ohneweiters  verständlich,  dass  Nach- 
schübe bei  einer  Hämatokele  keineswegs  ausgeschlossen  sind,  sei  es,  dass  die 
ersten  Blutungen  bei  Ablösung  des  Eies  schon  die  Hämatokele  herbeigeführt  haben 
und  nunmehr  die  späteren  die  Nachschübe  bedingen,  oder  sei  es,  dass  erst  die 
späteren  Blutungen  zur  Hämatokele  führten,  und  die  Ruptur  oder  Ausstossung 
den  Nachschub  darstellt. 

Am  schwierigsten  zu  erklären  sind  natürlich  diejenigen  Fälle  von  Häma- 
tokele, bei  denen  man  anzunehmen  hat,  dass  bis  zum  Eintritt  der  Erkrankung 
die  Bauchhöhle  völlig  intact  war.  Man  nimmt  im  Allgemeinen  mit  Recht  an,  dass 
die  unter  solchen  Umständen  eintretende  Blutung,  wenn  sie  geringfügig  ist,  von 
dem  gesunden  Peritoneum  spurlos  resorbirt  wird,  oder  wenn  sie  erheblich  ist, 
das  Leben  bedroht  oder  znm  Ende  bringt.  Man  weiss  aber,  dass  in  einzelnen 
Fällen  infectiöser  Tubenkatarrh  zur  Tubensehwangerschaft  die  Veranlassung  war, 
und  es  ist  mir  gelungen,  in  einzelnen  Fällen  nachzuweisen,  dass  ein  derartiger 
Katarrh  auch  nach  Eintritt  der  Schwangerschaft  noch  weiter  besteht;  ich  fand 
mehrfach  zwischen  dem  Ei  und  dem  Uterus  die  Tube  durch  eiteriges  Secret  aus- 
gedehnt. Die  Annahme  liegt  daher  nicht  sehr  fern,  dass  mit  dem  Blut,  welches 
aus  der  Tube  stammt,  infeetiöses  Material  direct  in  die  Bauchhöhle  austritt,  und 
nimmt  man  wiederum  an,  dass  ein  derartiger  Vorgang  in  verschiedenen  Schüben 
passirt,  so  ist  es  gar  nicht  ausgeschlossen,  dass  bei  den  ersten  geringen  Blutungen 
Adhäsionen  erregende  Keime  mit  austraten  und  diese  dann  zur  Bildung  der  Grenzen 
der  Hämatokele  führten. 

Eine  foudrovante  Blutung  in  die  völlig  freie  Bauchhöhle  führt  niemals 
zu  dem  Bilde  der  Hämatokele,  ebensowenig  eine  gleiche  Blutung  in  die  nur  mit 
wenigen  Adhäsionen  ausgestattete  Bauchhöhle,  wenn  eben  nicht  durch  die  sym- 
ptomlosen Vorboten  die  Adhäsionen  in  günstiger  Weise  zur  Abkapselung  vor- 
bereitet wurden. 

Adhäsionsbildungen  entweder  vor  oder  bei  der  Blutuug  sind  als  die 
notbwendigen  Vorbedingungen  für  Hämatokele,  uutl  langsame  schubweise  Blutung, 

EQcyclsp,  Jahrbücher.  VI  15 

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HAKMATOKELE. 


wenn  es  sich  nicht  um  Blutung  in  eine  völlig  abgekapselte  Höhle  handelt,  die 
weitere  Voraussetzung.  Am  einfachsten  sind  die  anatomischen  Verhältnisse  bei 
Tubenschwangerschaft  gegeben,  und  wenn  ich  früher  nur  einen  Bruchtheil  aller 
Fälle  von  Hämatokele  auf  Tubengravidität  zurUckführto,  so  muss  ich  sagen,  dass 
die  bisherige  Beobachtung  mir  gezeigt  hat,  dass  die  überwiegende  Mehrzahl  von 
Fällen  diese  Aetiologie  hat,  und  dass  nur  ganz  ausnahmsweise  die  Pelveoperitoniti » 
haemorrhagica  und  noch  seltener  die  anderen  Blutungen  die  Hämatokele  herbei- 
führen. Es  müssen  da  stets  exeeptionelle  Verhältnisse  vorliegend  ganz  völlig  aus- 
schliessen  können  wir  immerhin  die  anderen  Ursachen  nicht,  aber  sie  sind  so 
selten,  dass  man  nicht  damit  zu  rechnen  hat. 

Das  anatomische  Verhalten  einer  Hämatokele  ist  hiernach  unschwer 
verständlich.  Man  findet  für  gewöhnlich  den  Doi’GLAS’schen  Baum  stark  ausge- 
dehnt durch  flüssiges  und  eoagulirtes  Blut.  Die  obere  Wand  der  Hämatokele  wird 
nach  der  freien  Bauchhöhle  zu  von  Darmschliugen  gebildet,  die  unter  einander 
fest  verwachsen  sind.  In  der  Höhle  der  Hämatokele  mündet  die  Tube.  Nicht 
immer  ist  es  möglich,  in  dem  Inhalt  des  Sackes  noch  das  Ei  deutlich  uachzuweiseu. 
Verschiedene  Adhäsiousstränge  ziehen  durch  den  Sack  hindurch,  bilden  oft  mehr- 
fache Unterabtheilungen  in  ihm,  so  dass  scheinbar  mehrere  Hämatokelen  über- 
einander vorhanden  sind.  Besondere  Abweichungen  von  dem  allgemeinen  Verhalten 
finden  sich  dann,  wenn  lange  Zeit  die  Hämatokele  bestand  und  besonders,  wenn 
ausser  dem  Blut  auch  entzündliche  Keime  mit  in  die  Bauchhöhle  austraten. 
Dann  kann  es  zur  Vereiterung  der  Hämatokele  kommen,  und  nur  schwer  ist 
es  möglich,  ein  derartiges  Bild  von  einer  abgekapselten  Peritonitis  zu  unter- 
scheiden. Weitere  Complicationen  entstehen  dann,  wenn  der  Hämatokelensaek  iu 
den  Darm  oder  die  Scheide  oder,  seltener,  in  die  Blase  durchbricht.  Bemerkens- 
werth ist  es  nur,  dass  secuudär  ein  Durchbruch  in  die  freie  Bauchhöhle  relativ 
selten,  meist  durch  Traumen,  Untersuchungen  oder  ärztliche  Eingriffe  bedingt  ist. 

Verschiedene  präexistente  Veränderungen  können  den  gewöhnlichen  Sitz 
der  Hämatokele  im  DouGl.AS’schen  Baum  verändern. 

Am  häufigsten  ist  der  stark  seitliche  .Sitz  des  Tumors.  Liegt  die  eine 
Tube  fest  in  Adhäsionen,  und  ist  nur  die  andere  noch  relativ  frei,  so  ist  ein 
derartiges  Verhalten  ohueweiters  erklärlich,  ja  man  muss  betonen,  dass  bei  der 
uothwendigerweise  gewöhnlich  anzunehmenden  vorherigen  Veränderung  in  der 
Bauchhöhle  ein  derartiger  seitlicher  Sitz  keineswegs  selten  sein  wird.  Relativ 
selten  ist  dagegen  die  Haematokele  anteuterina , auf  deren  Vorkommen 
eigentlich  zuerst  Schröder  hingewiesen  hat.  Die  Voraussetzung  derselben  ist  völlig«* 
Obliteration  des  Dot'GLAS’schen  Raumes.  Die  Tube  muss  dann  ausserhalb  des  ehe- 
maligen DouGLAS’scheu  Baumes  liegen  und  damit  die  Möglichkeit  gegeben  sein, 
dass  der  Blutaustritt  in  die  immerhin  veränderte,  aber  auch  relativ  freie  Bauch- 
höhle erfolgen  kann. 

ln  Schröder  s Fall  fand  sich  der  ganze  Beckeneingang  von  dicken  Lagen 
trockener,  dunkclkirschrother  Blutgerinnsel  erfüllt;  nach  ihrer  Entfernung  kam 
inan  in  eine  faustgrosse  Höhle,  deren  Grund  mindestens  bis  zur  Höbe  des  äusseren 
Muttermundes  hiuabrciehte,  deren  hintere  Wand  von  dem  nach  hinten  unil  unten 
liegenden  Uterus,  rospective  den  breitcu  Mntterbändern,  deren  vordere  von  der 
hinteren  Wand  der  collabirten  und  der  Symphyse  eng  anliegenden  Blase  gebildet 
wurde.  Nach  oben  war  die  Höhle  auf  keine  Weise  durch  eine  Membran  begrenzt, 
sondern  die  Bluteoagnla  lagen  frei  da.  Der  Uterus  selbst  war  durch  mehrere 
Pseudomembranen  dicht  an  die  hintere  Beckenwand  angelöthet,  die  zwischen  deu 
breiten , fibrösen  Bändern  befindlichen,  miteinander  zum  Theil  communicirenden 
Hohlräume  waren  mit  Blut  erfüllt,  aus  dem  sieb  theilweise  hellbraune,  feste  Fibriu- 
eoagula  auf  die  Wände  niedergeschlagen  hatten.  Der  Boden  des  DoiGl.AS'sehen 
Baumes  war  schiefergrau  gefärbt. 

Für  alle  diese  anatomischen  Möglichkeiten  wäre  keineswegs  nothwendig, 
dass  die  Tubenschwangerschaft  die  Ursache  ist,  sondern  das  ganze  anatomische 


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HAEMATOKELE. 


m 

Vcrbalten  ist  dasselbe,  wenn  ganz  ausnahmsweise  unter  den  genannten  Vorbe- 
dingungen aus  anderer  Ursache  der  Hlutcrguss  erfolgte. 

SÄNGER  hat  neuerdings  die  Wand  von  älteren  Hämatokeieu  untersucht. 
Die  innere  Schicht  derselben  wird  durch  feinfaseriges  Fibrin  dargestellt;  in  der 
Mittelschicht  liegt  ein  breites,  an  Netzknorpel  erinnerndes  Maschenwerk,  und  in 
den  äusseren  Schichten  kann  mau  wellige,  bandartige  Züge  unterscheiden.  Von 
der  lockeren  Zwischensubstanz  beginnt  Gefässbilduug,  die  bis  zur  Innenschicht 
vordringt.  Es  zeigt  sich  hieraus  deutlich  die  langsame  Entstellung  des  Blutergusses 
und  die  fortschreitende  Gerinnung  von  aussen  nach  innen.  Allmälig  verdickt  sich 
die  Kapsel  durch  weitere  Fibrinniederschläge  auf  der  Innenseite.  Die  neu  ein- 
dringenden Gefässe,  welche  aus  den  umgebenden  Organen  entstehen,  führen  zur 
langsamen  Resorption  und  schliesslich  zur  Vernarbung. 

SÄNGER  unterscheidet  übrigens  weitere  solitäre  von  diffusen  Ilämatokelen, 
doch  halten  wir  diesen  Unterschied  nicht  für  so  wichtig,  um  auf  ihm  besondere 
anatomische  oder  genetische  Unterschiede  zu  construiren.  Die  solitären  llämato- 
kelen  sind  späte  Folgezustände  früherer  ditfuser. 

Ausnahmsweise  wird  man  übrigens  auch  ilämatokelen  finden  können,  in 
denen  freie  Blutung  in  die  Bauchhöhle  neben  einer  wenigstens  grösstentheils  ab- 
gekapselten Höhle  vorhanden  ist. 

Das  klinische  Bild  einer  Hämatokele  ist  hiernach  ohneweiters  ver- 
ständlich. Die  Kranken  sind  früher  relativ  gesund  gewesen  und  plötzlich  en t- 
steht  die  Hämatokele.  Irgend  eine  Veranlassung  wird  natürlich  von  jeder  Patientin 
angegeben,  und  die  Symptome  charakterisiren  sich  durch  die  Anämie,  den  Druck 
der  plötzlich  entstandenen  Geschwulst  auf  die  Nachbarorgane  und  den  Schmerz 
durch  die  Spannung  in  der  Höhle.  Von  diesen  Zeichen  bleibt  am  längsten  bestehen 
die  Anämie  und  der  Druck  auf  die  Nachbarorgane,  der  dauernde  Schmerz  ver- 
schwindet immer  mehr  und  mehr,  ln  dem  weiteren  Verlaufe  beobachtet  man  all- 
mälig eine  Abnahme  aller  Erscheinungen , die  Patientinnen , welche  zuerst  Uber 
Schwindel,  Ohnmacht,  Uebelkeit  u.  s.  w.  klagten,  erholen  sich,  ja  man  kann  sie 
oft  schwer  im  Bett  halten,  die  weitere  Resorption  des  ergossenen  Blutes  erklärt 
diese  Verringerung  der  Symptome. 

Abweichend  hiervon  kann  man  in  anderen  Fällen  nicht  verkennen,  dass 
schmerzhafte  Zwischenfälle  die  Erkrankung  compliciren.  Entsprechend  dem  oben 
Angedeuteten  wird  man  eine  Peritonitis  circumscripta  in  Folge  gleichzeitigen  Eiter- 
austrittes  vollkommen  erklärlich  finden  und  gleichzeitig  dabei  die  Auftreibung  des 
Bauehes , die  Schmerzhaftigkeit  desselben , das  Erbrechen  und  unregelmässiges 
Fieber  beobachten  können.  Sicher  kommt  es  bei  Hämatokele  zu  dieser  Compli- 
ration.  Im  Allgemeinen  rechnen  wir  auch  diese  Erscheinungen  noch  zu  dein 
klinischen  Bilde  der  Hämatokele.  Besser  thut  man,  von  einer  Combination  der 
Hämatokele  mit  Perimetritis  oder  Peritonitis  zu  sprechen. 

Von  grosser  Wichtigkeit  ist  es,  dass  fast  bei  allen  Fällen  der  Erkrankung 
eine  mehr  oder  weniger  starke  Blutung  aus  dem  Genitalcanal  mit  dem 
Beginn  der  Erkrankung  einsetzt.  Während  man  früher  diese  Erscheinung  durch 
Stauung  in  Folge  des  Druckes  des  Tumors  zu  erklären  versuchte,  hat  sich  all* 
mälig  unsere  Ueberzeugung  von  der  Wichtigkeit  der  Tubenschwangerschaft  in 
der  Aetiologie  bewährt.  Die  Blutung  erfolgt  in  erster  Linie  durch  die  Ausstossung 
der  regelmässig  bei  Extrauterinschwangerschaft  sich  bildenden  Decidua  uterina. 
Nicht  immer  kann  man  die  Haut  reconstruiren,  nicht  immer  die  einzelnen  Fetzen 
noch  nachweisen,  auch  kann  nach  Ausstossung  eines  grossen  Theiles  der  Decidua 
die  Blutung  noch  andauem.  Die  sich  wiederbildende  Schleimhaut  des  Uterus  ist 
eben  krank.  Eine  zweite  Quelle  der  Blutung  ist  aber  auch  hier  die  Tube  selbst. 
Wenn  mau  länger  bestehende  Tnbensehwangerschafteu  genau  untersucht,  so  findet 
man  gar  nicht  selten  zwischen  Ei  und  Uterus  die  Tube  durch  Blut  ausgedehnt 
und  kann  direct  die  Fortsetzung  bis  in  den  Uterus  verfolgen.  Besondere  Sym- 
ptome werden  natürlich  bei  abweichendem  anatomischen  Verhalten  der  Hämato- 

15* 


228 


HAEMATOKELE. 


kele  erklärlich,  so  insbesondere  die  Nachschübe  der  Erkrankung,  das  häutige 
Auftreten  von  Frösteln,  wenn  eben  Peritonitis  dabei  ist,  die  Tenesmuserscheinungen, 
die  vorübergehende  Erleichterung  im  Befinden,  wenn  ein  Durchbruch  erfolgt,  die 
Verschlechterung  in  dem  Zustand,  wenn  dann  der  Abfluss  stockt,  doch  sind  alle 
diese  Zeichen  relativ  von  geringer  Bedeutung,  und  man  muss  daran  fcsthalten, 
dass  in  diesen  abweichenden  Symptomen  sich  irgend  eine  wichtige  Complication 
darstellt,  die  zu  eruiren  Sache  der  exacten  Diagnose  ist. 

Aus  alledem  geht  aber  hervor,  dass  im  Allgemeinen  mit  der  Iläraatokele 
fieberhafte  Erscheinungen  nicht  verbunden  sind.  Der  Heilungsverlauf  bei  einer 
Hämatokele  zieht  sieh  gewöhnlich , selbst  wenn  keine  erheblichen  Nachschübe 
störend  einwirken,  Uber  6 — 10  Wochen  hin.  Als  Residuen  bleiben  Verlöthungen 
der  Tube  übrig,  Adhäsionsbildungen  des  Uterus  mit  der  hinteren  Wand  des 
DODGLAS’scben  Raumes,  Tubenverschluss  etc.  Man  kann  es  erleben,  dass  chronisches 
Siecht  bum  oder  wenigstens  mancherlei  Beschwerden  von  der  überstandenen  Krank- 
heit datiren. 

Diagnose.  Wie  überhaupt  in  der  Gynäkologie,  so  auch  bei  dieser  Er- 
krankung, soll  man  im  Wesentlichen  aus  dem  objectiven  Untersuchungsbefunde 
die  Diagnose  stellen  und  die  Anamnese  der  Patientin  höchstens  zur  Unterstützung 
der  angenommenen  Erkrankung  mit  heranziehen.  Letzteres  ist  gerade  deshalb 
besonders  wichtig,  weil  die  der  Erkrankung  vorangegangene  Extrauterinschwanger- 
schaft keineswegs  regelmässig  aus  den  Angaben  über  die  Vorgeschichte  der  Er- 
krankung zu  entnehmen  ist.  Allerdings  findet  sich  schon  in  den  ersten  Beob- 
achtungen Nelaton’s  vielfach  die  Angabe,  dass  Unregelmässigkeiten  in  der 
Menstruation  dem  plötzlichen  Ausbruche  der  Erkrankung  vorangegangen  sind. 
Aber  wenn  man  diesen  Angaben  allein  nur  folgt  und  allein  hieraus  die  An- 
nahme der  Genese  aus  Extrauterinschwangerschaft  begründen  will,  so  wird  die 
Zahl  der  hieraus  entstandenen  llämatokelen  relativ  zu  gering.  Des  weiteren 
findet  sich  in  der  Anamnese  der  llämatokelen  oft  genug  die  Mittbeilung,  dass  die 
Erkrankung  plötzlich  entstanden  ist.  Dies  stimmt  aber  nicht  für  alle  Fülle  und 
kann  sowohl  für,  wie  gegen  die  Diagnose  Hämatokele  verwerthet  werden. 

Weiterhin  findet  sich  in  der  Angabe  oft  genug  ein  Trauma  verzeichnet. 
Auch  aus  dieser  Mittheilung  ist  ein  sicherer  Schluss  auf  die  Erkrankung  selbst 
nicht  zu  entnehmen,  ln  der  Genese  haben  wir  überhaupt  das  Trauma  nicht  er- 
wähnt. Es  ist  ja  klar,  dass,  so  gut  wie  eine  beliebige  Blutung  in  die  Bauchhöhle 
ausnahmsweise  einmal  eine  Hämatokele  herbeifuhren  kann , auch  ein  Trauma, 
welches  die  Sexualorgane  trifft,  hierfür  Veranlassung  sein  kann.  Jedenfalls  aber 
darf  man  aus  der  einfachen  Angabe,  dass  ein  Trauma  der  Erkrankung  voraus- 
gegangen ist,  nicht  ohneweiters  schliessen  wollen,  dass  wirklich  dieses  Trauma 
die  Ursache  gewesen  ist.  Wenn  man  noch  so  sehr  geneigt  ist,  die  Aetiologie  durch 
Trauma  anzunehmen,  so  wird  man  jedenfalls  zur  Entstehung  der  Hämatokele 
durch  dasselbe  bestimmte  anatomische  Veränderungen  als  gleichzeitig  voraus- 
bestehend annehmcu  müssen.  So  wenig  wie  allein  ein  Bluterguss  in  die  Bauch- 
höhle ohne  besondere  Voraussetzung  zur  Hämatokele  führt,  so  wenig  ist  dies  beim 
Trauma  der  Fall.  Es  kommt  hinzu,  dass  die  Bedeutung  des  Traumas  von  den 
Patientinnen  meist  sehr  gern  angenommen  wird,  ohne  dass  man  recht  einsieht, 
wie  das  Trauma  zu  einer  Gefässzerreissung  bei  ganz  normalen  Genitalien  hat 
führen  können. 

Es  ist  ja  ohneweiters  sicher,  dass  die  eombinirtc  Untersuchung  z.  B. 
bei  einer  Extrauterinschwangerschaft  der  frühen  Zeit  einmal  zur  Zerreissung  des 
Sackes  führen  kann,  aber  abgesehen  von  diesem  Trauma  wird  es  sich  in  der 
Anamnese  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  um  Cohabitationen  handeln,  welche  gern 
deshalb  von  den  Frauen  angeschuldigt  werden,  weil  dieselben  bei  schon  be- 
gonnener, aber  noch  nicht  erkannter,  weil  noch  symptomenloser  Erkrankung 
durch  abnorme  Sebmerzempfiudungen  als  Schädlichkeit  empfunden  werden.  Aus 
diesem  Grunde  findet  sich  nicht  selten  die  Angabe,  dass  stürmische  oder  zur 


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HAEMATOKELE. 


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Zeit  der  Menstruation  ausgeübte  Cohabitation  die  Ursache  der  Hämatokelen  ge- 
wesen sind. 

Trotzdem  ist  die  Bache  meist  so  aufzufassen,  dass  auch  hier  die  Er- 
krankung schon  im  Beginn  ihrer  Ausbildung  war , und  jedenfalls  wird  für  die 
differentielle  Diagnose  zwischen  Ilämatokele  und  anderen  weiteren  Erkrankungen 
die  Angabe  eines  Traumas  niemals  von  entscheidender  Bedeutung  werden  können. 

Aus  all  diesen  Darlegungen  geht  der  Werth  der  objectiven  Untersuchung 
hervor.  Man  findet  bei  den  reinsten  Formen  der  Haematokele  retrouterina  den 
Uterus  durch  den  Bluterguss  stark  nach  vorn  verlagert. 

Die  ursprüngliche  Meinung  war  zwar,  dass  das  in  das  Cavum  Douglami 
ergossene  Blut  den  Uterus  nach  vorn  vordränge  und  dann  durch  periton itische 
Membranen  abgekapselt  werde.  Schröder  wendete  hiergegen  Folgendes  ein : Ein 
DouGLAS'scher  Raum  existirt  eigentlich  nur  ideell,  da  unter  normalen  Verhältnissen 
der  untere  Uterinabschnitt  dem  Rectum  anliegt ; eine  nennenswerthe  Capacität 
erlangt  er  erst  dann,  wenn  Rectum  und  Blase  völlig  leer  sind  und  der,  der 
hinteren  Blasenwand  stets  folgende  Uterus  sich  von  der  vorderen  Mastdarmwand  ent- 
fernt. Nur  im  letzteren  Falle  werden  in  die  Bauchhöhle  ergossene  Flüssigkeiten 
— die  dorthin  als  dem  beim  Stehen  und  Liegen  tiefsten  Punkt  derselben  gravi- 
tiren  — dort  in  grösserer  Menge  eindringeu  können.  Dieselben  sind  niemals 
als  Tumor  fühlbar,  weil  sie  dem  andriingenden  Finger  ausweichen; 
genau  dasselbe  thun  sie  auch,  wenn  Blase  und  Mastdarm  sich  wiederum  füllen. 
Nur  wenn  das  Blut  bereits  coagulirt  und  völlig  abgekapselt  ist,  ist  ein  Ausweichen 
unmöglich,  und  wird  dann  das  Coagulum  allerdings  als  Resistenz  hinter  dem 
Uterus  zu  fühlen  sein ; da  dieses  jedoch  niemals  mehr  Raum  einnchmen  kann 
als  das  Fluidum,  aus  dem  es  sich  abgeschieden,  so  kann  dadurch  unmöglich  eine 
Kaumbeschränkung  im  kleinen  Becken  und  Dislocation  der  in  demselben  befind- 
lichen Organe  hervorgebracht  werden.  Der  grössere  Antheil  des  Ergusses  bildet 
im  Becken  eine  Lache,  die  bei  starker  Blutung  und  tiefer  Stellung  des  Uterus 
seinen  Fundus  überragen  und  sogar  in  die  Excavatio  vesicouterina  Ubertliessen 
kann.  Auf  dieser  Lache  schwimmen  die  Därme,  die  mit  einander  verklebt  sind 
und  im  Verein  mit  Pseudomembranen , die  dann  natürlich  auch  vom  Rectum 
au  die  vordere  Rauchwand  ziehen  können,  das  Dach  einer  Höhle  bilden,  die 
den  Bluterguss  enthält.  Erst  in  diesem  Moment  wird  derselbe  auch  von  aussen 
oder  bei  der  combinirten  Untersuchung  als  Tumor  fühlbar,  während  er  vorher 
nicht  nachweisbar  war.  Ist  der  DotJGLAS'sche  Raum  aber  einmal  von  der  übrigen 
Bauchhöhle  abgeschlossen,  und  tritt  nun  ein  Nachschub  der  Blutung  ein,  oder 
war  die  Ueberbrückung  in  Folge  älterer  Perimetritis  bereits  primär  vorhanden 
und  erfolgte  gleich  der  erste  Erguss  in  die  so  gebildete  Höhle  oder  in  einen 
schon  bestehenden  retrouterinen  Tumor  (perimetritisehes  Exsudat),  dann  wird  er 
sich,  da  er  nicht  entweichen  kann,  durch  Dehnung  der  deckenden  Membran,  Com- 
pression  des  Rcctums  und  besonders  Vordrängung  des  Uterus  nach  vorn  und 
oben  Raum  schaden  und  so  den  typischen  klinischen  Befund  der  Haematokele 
retrouterina  hervorrufen.  Erfolgt  eine  neue  Blutung  über  der  Decke  des  Tumors, 
so  w ird  diese  in  gleicher  Weise  sich  abkapseln  und  werden  auf  diese  Weise  inehr- 
ftcherige  Blntkysten  gebildet  werden  können. 

Die  Verdrängung  des  Uterus  nach  vorn  ist  also  ohneweiters  ein  sicheres 
Zeichen  für  die  völlige  Abkapselung  der  Hämatokele.  Von  der  Vagina  aus  fühlt 
man  die  Portio  in  die  Höhe  geschoben  und  dicht  hinter  der  Symphyse  liegend, 
und  die  combinirte  Untersuchung  zeigt  den  Uterus  dicht  hinter  der  vorderen 
Baucbwand  gelagert,  meist  nach  einer  oder  der  anderen  Beite  leicht  abgewichen 
und  meist  so,  dass  die  eine  Kante  des  Uterus,  welche  der  erkrankten,  respective 
schwangeren  Tube  entspricht,  etwas  tiefer  steht,  als  die  gesunde  Beite.  Die  untere 
Peripherie  des  Tumors,  der  hinter  dem  Uterus  liegt,  wölbt  sich  als  ein  praller, 
völlig  glatter  Tumor  in  die  Scheide  vor,  die  Wand  fühlt  sich  meist  ganz  glatt 
an,  und  erst  wenn  Resorptionsvorgänge  oder  die  geschilderten  Niederschläge  der 


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HAEMATUKELE. 


Coagula  auf  der  unteren  Peripherie  zu  Stande  kommen,  fühlt  man  die  für  den 
Uebergang  in  das  Bindegewebe  und  die  Vernarbung  charakteristischen  diffusen 
Infiltrationen.  Die  obere  Begrenzung  der  Häznatokele  fühlt  sich  im  Gegensatz 
dazu  uneben  und  relativ  unklar  an,  d.  h.  je  nach  dem  Füllungszustand  der  den 
Tumor  begrenzenden  Darmschlingcn  erscheint  er  vergrössert  oder  etwas  ver- 
kleinert. Nicht  selten  überragt  die  obere  Kuppe  des  Tumors  den  Uteruskürper, 
auch  ist  an  derselben  ein  oder  ein  anderer  härterer  Körper  palpabel,  der  sich 
als  leicht  knollige  Unebenheit  darstellt.  Man  muss  sich  vorstellen,  dass  hier  die 
Tube  oder  das  vergrösserte  Ovarium  die  anatomische  Grundlage  der  Erschei- 
nung bildet. 

Gleichzeitig  findet  man  den  Uterus  mehr  oder  weniger  vergrössert,  auch 
geht  aus  den  Genitalien  deutlich  Blut  ab. 

Dieser  Untersuchungsbefund  kann  natürlich  in  verschiedener  Weise 
variiren.  Es  kommt  vor,  dass  der  Tumor  nur  seitlich  sitzt,  dass  der  Boden  des 
DouGGAS’schen  Raumes  nicht  so  stark  vorgewölbt  wird,  weil  alte  Verlöthungen 
bestanden,  oder  weil  der  erste  Bluterguss  schon  in  der  Resorption  begriffen  war, 
als  ein  stärkerer  Nachschub  die  Veränderungen  bedingte.  Auch  kann  die  obere 
Peripherie  des  Tumors  an  einzelnen  Stellen  ganz  glatt  und  scharf  begrenzbar 
erscheinen.  Das  kommt  dadurch  zu  Stande,  dass,  sei  es  die  vergrösserte  Tube 
oder  eine  zufällig  bestehende  gleichzeitige  Ovarialschwellung,  von  dem  Bluterguss 
nach  oben  geschoben  wird  und  durch  diese  Gebilde , anstatt  von  den  Darm- 
schlingen,  die  Wand  begrenzt  wird.  Noch  weiter  kann  das  Bild  der  Hämatokele 
sich  dann  ändern,  wenn  bei  früherer  Obliteration  des  Doi'GLAS’schen  Raumes  der 
Bluterguss  nur  auf  und  vor  dem  Uterus  liegt  (Haematokele  anteuterina).  Je 
länger  der  Proccss  bestanden  hat,  um  so  schwieriger  wird  natürlich  die  Diagnose, 
ja  es  kann  schliesslich  unmöglich  sein,  ein  in  der  Resorption  begriffenes  intra-peri- 
toneales Exsudat  oder  einen  tubo-ovaricllen  Tumor  mit  Adhäsionsbildungen  mit 
Sicherheit  von  einer  Hämatokele  zu  unterscheiden.  Auch  können  alle  Oompli- 
cationcn,  welche  vor  dem  Ausbruch  bestanden,  mehr  oder  weniger  den  Unter- 
suchungsbefund ändern.  Eine  klare  Diagnose  der  Hämatokele  wird  daher  nur  im 
Beginn  der  Erkrankung  und  bei  ganz  typischem  Sitz  mit  Sicherheit  möglich  sein. 
Will  man  mehr  erreichen  in  zweifelhaften  Fällen,  so  ist  theoretisch  die  Probe- 
pnnction  gewiss  ein  zweckmässiges  Mittel.  In  praktischer  Beziehung  dagegen  be- 
währt sich  diese  Methode  nicht  so,  wie  man  denken  sollte.  Die  Vorwürfe,  welche 
man  derselben  nämlich  stets  machen  muss,  gründen  sich  darauf,  dass  schliesslich 
doch  nur  die  Unterscheidung  von  flüssigen  oder  eiterigen  Exsudaten  in  Frage 
kommt;  wenn  man  aber  die  Anatomie  gerade  der  complicirtcn  Fälle  von  Exsu- 
dationen sich  vor  Augen  führt,  so  sind  es  doch  diejenigen  Fälle,  in  denen 
Schwielenbildung  die  untere  Wand  des  Tumors  begrenzt,  und  hier  wird  die  in 
den  Tumor  eindringende  Nadel,  selbst  wenn  die  Hauptmasse  des  Tumors  von 
Eiter  gebildet  wird,  einmal  Blut  ergeben  können,  und  ebenso  wird  es  möglich 
sein,  dass  selbst  bei  einer  Hämatokele  durch  die  Canüle  nichts  sich  entleert,  weil 
man  nur  in  den  coagulirten  Theil  der  Hämatokele  gelangt.  Weiter  muss  man  be- 
denken, dass  in  der  Probepunction  bei  Hämatokele  ein  nicht  ganz  gleichgiltiger 
Eingriff  vorliegt.  Es  ist  oft  genug  vorgekommen,  dass  an  die  Punction  sich  Fieber 
anschloss  und  eine  Vereiterung  oder  Verjauchung  des  Tumors  entstand,  sei  es, 
dass  Infectionskeimc  mit  dem  Troicar  cingeführt  wurden,  sei  es,  dass  derselbe 
im  Tumor  einen  von  der  Blutmasse  noch  abgekapselten  Eiterherd  traf.  Wenn  man 
daher  zur  Probepunction  sich  entschliesst,  so  soll  man  sich  darüber  klar  sein, 
dass  man  eventuell  durch  die  diagnostische  Operation  eine  Schädlichkeit  der 
Patientin  zufügt,  welche  dann  die  Indication  abgiebt  für  operative  Eingriffe,  welche 
an  sich  durch  die  Erkrankung  vielleicht  noch  nicht  indicirt  waren.  Wenn  man 
aber  überhaupt  in  der  Erkrankung  eine  Indication  zum  Einschreiten  erblicken 
muss,  so  ist  die  Frage,  ob  der  Tumor  aus  eitrigem  oder  blutigem  Inhalt  besteht, 
relativ  von  geringfügigem  Werth,  und  nur  für  bestimmte  Fälle,  in  denen  die 


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HAEMATOKELE. 


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Frage  zur  Entscheidung  steht,  ob  man  durch  Laparotomie  oder  durch  Incision 
von  der  Scheide  die  Erkrankung  angreifen  soll,  wird  daher  die  Probepunction 
von  Itedeutung  werden.  Hier  ist  sie  aber  dann  mehr  ein  Theil  der  operativen 
Therapie  als  der  allgemeinen  Diagnostik. 

Man  hat  in  neuerer  Zeit  ferner  versucht,  durch  die  Urobilinuric  die  Ent- 
scheidung zu  geben,  ob  in  dem  vorliegenden  Fall  der  Inhalt  des  Tumore  Blut 
oder  Eiter  ist.  Die  Schwierigkeit  des  chemischen  Nachweises  gerade  von  Urobilin 
macht  es  erklärlich,  dass  das  Verfahren  bisher  wenig  Anklang  fand,  und  von 
besonderer  Bedeutung  ist  es,  dass  neuerdings  insbesondere  von  Maxdky  gezeigt 
wurde,  dass  keineswegs  regelmässig  bei  Ilämatokelen  Urobilinurie  besteht.  Wir 
sind  damit  schon  in  die  differentielle  Diagnostik  gekommen.  In  dieser  Be- 
ziehung ist  es  natürlich  klar,  dass  eine  grosse  Zahl  von  Erkrankungen  hierbei 
mit  berücksichtigt  werden  könnte.  Gewiss  ist  diesem  oder  jenem  der  Irrthum  vor- 
gekommen, dass  eine  Hämatokele  als  Retroßexio  uteri  gravidi  angesehen  wurde, 
auch  wird  ein  im  Dol'GLAS’seheu  Kaum  liegender  Ovarientumor  einmal  als  Häma- 
tokele angesprochen  werden. 

Es  kann  aber  unseres  Erachtens  nach  nicht  die  Aufgabe  der  differentiellen 
Diagnose  sein,  alle  diejenigen  Ffdle  zu  besprechen,  welche  durch  genügende  Technik 
in  der  combinirten  Untersuchung  fortfallen.  Von  Bedeutung  ist  die  Untersuchung 
zwischen  exsudativen  Ergüssen  gegenüber  der  Hämatokele.  Auch  hier  ist  für  die 
Unterscheidung  der  objective  Befund  oft  am  wichtigsten.  Je  mehr  die  ganze  Um- 
gebung und  nicht  blos  die  obere  Peripherie  des  Tumors  die  für  Exsudate 
charakteristischen  diffusen  Grenzen  darbietet,  umsomehr  wird  man  an  Ent- 
zündungen denken.  Der  gleichzeitige  Blutabgang  aus  den  Genitalien  ist  ferner 
bedeutungsvoll,  und  bei  längerer  Beobachtung  muss  die  Entscheidung  aus  der 
Temperaturbewegung  mit  entnommen  werden.  Ein  grosses  Exsndat,  welches  den 
Uterus  in  der  Weise  nach  oben  verdrängt,  wie  für  die  Hämatokele  geschildert, 
wird  kaum  jemals  ohne  Fieber  bestehen.  Besonders  trifft  dies  dann  zu,  wenn 
man  häutig  genug  die  Temperatur  der  Patientinnen  bestimmt.  Aber  eine  völlig 
sichere  Entscheidung  kann  deshalb  nicht  getroffen  werden,  weil,  wie  erwähnt,  die 
Hämatokele  in  Folge  von  Austritt  ficbcrerregender  Keime  aus  der  Tube  auch 
Fieber  bewirken  kann ; ja  die  Hämatokele  ist  ja  in  gewissem  Sinne  regelmässig 
combinirt  mit  Peritonitis,  und  wenn  man  daher  bei  einem  fieberhaften  Process 
blutiges  Exsudat  entleert,  so  hat  man  eine  Oomhination  von  Hämatokele  mit  Peri- 
tonitis, sei  es,  dass  mit  der  Bildung  des  Blutergusses  auch  Peritonitis  begann,  sei 
es,  dass  in  ein  Exsudat  hinein  eine  Blutung  erfolgte. 

Wichtiger  als  diese  Unterscheidung  ist  die  Trennung  von  der  frühzeitigen 
extrauterinen  Schwangerschaft.  Sie  ist  deshalb  so  schwer,  weil  ja  schliesslich  in 
der  grossen  Mehrzahl  von  Fällen  die  Hämatokele  auf  Extrauterinschwangerschaft 
zurückgeführt  werden  musste,  und  wir  daher  nicht  zwei  ganz  verschiedene  Pro- 
cesse  von  einander  zu  unterscheiden  haben,  sondern  in  gewissem  Siune  nur  zw’ci 
Stadien  derselben  Erkrankung.  So  lange  aber  die  Extrauterinschwangerschaft  noch 
in  der  Tube  oder  auch  im  Ovarium  sitzt,  wird  sich  ein  Unterschied  geltend 
machen  können.  Exsudat  und  präformirter  Tumor  geben  eben  bei  der  combinirten 
Untersuchung  einen  ganz  verschiedenen  Befund,  und  die  meisten  .Schwierigkeiten 
entstehen  doch  nur  dann,  wenn  nach  dem  Tode  der  Frucht  zu  relativ  frühen 
Zeiten  der  Schwangerschaft  Processe  in  der  Umgebung  sich  abspielen,  die  im 
Wesentlichen  mit  Bluterguss  einhergehen.  So  hat  man  es  auch  hier  mit  Com- 
binationen  der  beiden  Vorgänge  zu  thun,  bei  denen  man  nicht  ohneweiters  sagen 
kann,  was  als  Hauptkrankheitsbild  gelten  soll,  ob  die  noch  iu  der  Tube  befind- 
liche Schwangerschaft  oder  der  das  Fimbrienende  umgebende  Bluterguss. 

Die  Schwierigkeiten  der  differentiellen  Diagnose  werden  um  so  grösser, 
je  mehr  sich  die  Extrauterinschwangerschaft  in  ihrem  Verlauf  mit  Adhäsions- 
bildungen in  der  Umgebung  vergesellschaftet.  Auch  die  Schnelligkeit  der  Ent- 
stehung, die  dringenden  Symptome  werden  nicht  immer  zur  Entscheidung  heran- 


232 


HAEMATOKELE. 


gezogen  werden  können;  in  einen  cxtranterinen  Fruchtsack  kann  es  hineinbluten 
und  dadurch  eine  plötzliche  Vergrösserung  des  Fruchtsackes  zu  Stande  kommen, 
welche  die  Annahme  der  Hämatokele  veranlassen  könnte.  So  klar  der  Unterschied 
daher  hei  ausgebildeter  Hämatokele,  respective  bei  noch  in  der  Tube  sitzender 
Schwangerschaft  ist,  so  schwierig  kann  bei  Complicationen  einer  Extrauterin- 
schwangerschaft die  Trennung  werden. 

Der  frühere  Versuch , in  diesen  Fällen  durch  die  Untersuchung  der 
Schleimhaut  des  Uterus  zu  entscheiden , ob  eine  Hämatokele  oder  Extrauterin- 
schwangerschaft vorliegt,  ist  deshalb  mit  Recht  aufgegeben  worden,  weil  eben  in 
beiden  Fällen  das  Endometrium  Schwaugerschaftsveränderungen  zeigen  kann. 
Wir  begrtlssen  das  Anlgeben  der  diagnostischen  Auskratzung  zu  diesen  Zwecken 
deshalb  mit  besonderer  Befriedigung,  weil  die  Auskratzung  bei  Hämatokelen  wie 
bei  Extrauterinschwangerschaft  keineswegs  gefahrlos  ist.  Möglich  ist  weiterhin 
eine  Verwechslung  mit  retrouterinen  Tumoren : Fibroiden  am  Cervix  Uteri, 
kleinen  Ovarienkvsten  und  Carcinomen , die  im  DoüGLAS'schen  Raume  sitzen. 
Die  ersten  beiden  können  durch  Hyperämie  oder  bei  Intercurrenz  von  Entzündung 
die  Kysten  auch  durch  Blutung  in  ihre  Höhle  plötzlich  stark  schwellen,  oder  sich 
unter  der  Einwirkung  irgend  welcher  Reize  schnell  entwickeln ; doch  giebt  die 
Consistcnz,  der  Verlauf  der  Atfection,  der  Nachweis  anderer  Fibroide  am  Uterus, 
das  Auftreten  von  Kachexie  gewöhnlich  genügende  diagnostische  Momente  an 
die  Hand. 

In  Frage  kommt  auch  die  Retention  von  Blut  im  verschlossenen  Ab- 
schnitt eines  doppelten  Genitalcanals.  Der  seitliche  Sitz  des  Tumors  in  diesem 
Falle ; sein  tiefes  Herabtreten,  besonders  wenu  Duplicitüt  der  Vagina  besteht ; das 
charakteristische  Aufgehen  der  einen  Muttermundslippe  in  der  Wand  desselben ; 
die  dadurch  bedingte  Veränderung  des  Muttermundes,  der  in  eine  sagittal  stehende, 
halbmondförmige,  mit  der  t'oncavitüt  nach  der  Geschwulst  gerichtete  Spalte  ver- 
wandelt wird;  der  Nachweis,  dass  der  offene  Uterus  alle  Charaktere  eines 
Uterus  unicomis  hat,  können  die  Diagnose  ermöglichen.  Auch  die  Anamnese 
ergiebt  meist  in  regelmässigeu  Perioden  erfolgendes,  schubweises  Wachsen  des 
Tumors  unter  wehenartigen  Schmerzen  zur  Zeit  der  Katamenien  ■ cf.  Uterus). 
Wenn  man  nur  die  Möglichkeit  des  Vorhandenseins  einer  Bildungsanomalie  sich 
vergegenwärtigt,  wird  es  bei  aufmerksamer  Untersuchung  wohl  stets  gelingen, 
Irrthllmer  zu  vermeiden. 

Endlich  kann  die  unten  zu  besprechende  Blutung  in  das  Beckenbinde- 
gewebe mit  der  Hämatokele  verwechselt  werden,  doch  wollen  wir  auf  diesen 
Punkt  bei  der  Besprechung  des  Hämatoms  eingehen. 

Man  verwerthet  übrigens  gern  für  die  differentielle  Diagnose  von  nicht 
Blut  enthaltenden  Tumoren  und  der  Hämatokele  die  bei  letzterer  verkommende 
Anämie.  Wir  rathen  in  dieser  Beziehung,  auf  dieses  Symptom  nicht  zu  viel  Werth 
zu  legen.  Im  Beginn  der  Erkrankung  trifft  es  ja  zu,  doch  kann  bei  Hämatokele 
die  plötzliche  Entstehung  fehlen,  und  so  stelle  ich  die  Anämie  nur  daun  als  ein 
werthvolles  Symptom  hin.  wenn  schon  ohneweiters  das  ganze  Krankheitsbild  klar 
ist.  Zur  differentiellen  Diagnose  aber  soll  man  nicht  zu  viel  Werth  darauf  legen,  weil 
die  Zeichen  der  Anämie  von  fieberhaften  Schwächezuständen  sich  nicht  immer 
trennen  lassen. 

Für  die  differentielle  Diagnose  bei  Beginn  der  Hämatokele  kommt  noch 
die  Frage  in  Betracht,  wie  weit  der  eclatant  vorhandene  Bluterguss  als  ein  frei 
in  die  Bauchhöhle  erfolgter  und  daher  sich  nicht  begrenzender  anzusehen  ist,  und 
wieweit  mau  es  bei  den  schweren  shockartigen  anämischen  Erscheinungen  mit  dem 
Beginn  einer  sich  abkapselnden  Blutung  zu  thun  hat.  Die  Entscheidung  wird  zum 
Thcil  durch  den  gynäkologischen  Untersuchungsbefund,  zum  Theil  nach  allge- 
meineren Gesichtspunkten  zu  treffen  sein.  Bei  einer  typischen  Haematolcele  retro- 
uterina  findet  man  stets  einen  abgekapselten  Tumor.  Im  Gegensatz  dazu  ergiebt 
sich  ein  völlig  negativer  Befund  bei  freiem  Erguss.  Man  kann  eben  das  Blut,  so 


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lange  es  dem  untersuchenden  Finger  noch  nusweichen  kann,  nicht  als  Tumor  er- 
kennen. Findet  man  den  letzteren,  so  soll  man  auch  bei  schweren  Erscheinungen 
eine  Hämatokele  aunehmen;  findet  man  hierbei  aber  nichts,  so  liegt  ein  freier 
Bluterguss  vor.  Auch  die  Schwierigkeiten,  die  daun  erwachsen,  wenn  zwar  ein 
kleiner  Tumor  palpahcl  ist,  können  wir  heutzutage  nicht  mehr  sehr  gross  an- 
schlagen. Man  muss,  wenn  man  bei  schweren  Erscheinungen  eine  Iläinatokele 
annehmen  will,  einen  einigermassen  so  grossen  Tumor  fühlen  können,  dass  durch 
die  Grösse  des  Tumors  die  Anfimie  erklärlich  wird. 

Die  allgemeinen  Gesichtspunkte,  welche  bei  dieser  differentiellen  Diagnose 
in  Frage  kommen,  würden  wir  so  formuliren  können,  dass  bei  der  Annahme  einer 
Hämatokele  die  Patientin  sich  nicht  verbluten  darf.  Liegt  also  nach  dem  ruhigen 
Urtheil  des  beobachtenden  Arztes  in  dem  Verlauf  eine  direct  das  Leben  bedrohende 
Anämie  vor,  so  soll  man  einen  freien  Bluterguss  annchmen.  Ist  ärztliche  Hilfe 
von  vornherein  bei  einem  derartigen  Fall  vorhanden,  so  muss  man  verlangen, 
dass  unoperirt  eine  Frau  an  einem  freien  Bluterguss  heutzutage  nicht  mehr  sterben 
darf.  Droht  das  letztere,  so  muss  man  trotz  scheinbarer  Abkapselung  eine  freie 
Blutung  annehmen. 

Am  unwichtigsten  in  der  Diagnose  ist  die  Frage,  aus  welcher  Quelle  die 
Blutung  stammt.  Liegt  eine  Hämatokele  wirklich  vor,  so  thut  man  am  besten, 
eine  Extrauterinschwangerschaft  als  anatomische  Ursache  anzunehmeu. 

Die  Prognose  der  Haematokele  retrouterina  ist  im  Allgemeinen  als 
günstig  zu  bezeichnen.  Das  ansgetretene  Blut  wird  resorbirt  und  die  Residuen 
der  Erkrankung  brauchen  keine  Symptome  zu  machen. 

Immerhin  muss  man  wissen,  dass  fieberhafte  Störungen  eine  Vereiterung 
oder  Verjauchung  des  Tumors  nndeuten  können,  durch  welche  die  Prognose 
völlig  geändert  wird.  Zwar  kommt  es  auch  zur  Resorption  eiteriger  Exsudate;  da 
es  sich  aber  hierbei  dann  um  recht  differente  Substanzen  handelt,  da  dann  der 
Durchbruch  in  die  Nachbarorgane  möglich  ist,  so  muss  man,  sobald  fieberhafte 
Processe  sich  mit  einer  Hämatokele  vergesellschaften,  den  spontanen  Heilungsvor- 
gang nicht  mehr  mit  der  Sicherheit  erwarten,  wie  es  bei  einem  Bluterguss  sonst 
berechtigt  wäre. 

Das  Auftreten  auch  wiederholter  Nachschübe  ist  für  die  Prognose  nicht 
weiter  bedenklich.  So  lange  es  sich  nur  um  Blutung  handelt,  und  so  lange  nur 
bei  ausgebildeter  Hämatokele  äussere  Schädlichkeiten  abgehalten  werden,  wird 
die  Prognose  nicht  alterirt.  Richtig  ist  es,  dass  die  Resorption  des  ergossenen 
Blutes  langsam  erfolgt,  und  für  die  arbeitende  Classe  der  Bevölkerung  kann 
hierin  eine  so  erhebliche  materielle  Schädigung  liegen,  dass  auf  alle  Weise  eine 
Abkürzung  des  I’rocesses  erwünscht  wäre.  Das  Gleiche  wünscht  Arzt  und  Patientin 
in  der  heutigen  Zeit  nur  allzu  leicht  Die  glänzenden  Erfolge  der  operativen 
Gynäkologie  sind  die  Ursachen,  aus  denen  in  solchen  Fällen  immer  weiter  gehende 
Forderungen  an  die  Operateure  gestellt  werden.  Wenn  wir  derartige  Ansprüche 
auch  nicht  vollständig  zurückweisen  können,  so  muss  die  Operation  gerade  bei 
der  Hämatokele  nur  in  einem  Eingriff'  bestehen  können,  der  an  sich  die  Prognose 
nicht  beeinträchtigt. 

Durch  die  zufälligen,  vielleicht  recht  unbequemen  Erscheinungen  der  Com- 
pression  der  Nachbarorgane  wird  übrigens  der  schliessliche  günstige  Ausgang 
nicht  irgendwie  alterirt. 

Für  die  Therapie  hat  man  entsprechend  der  oben  auseinandergesetzten 
Prognose  daran  festzuhalteu,  dass  an  sich  bei  klarer  Diagnose  „ Hämatokele“  die 
Aufgabe  nur  darin  besteht,  die  Schädlichkeiten  von  der  Patientin  feruzuhalten 
und  die  langsame  Resorption  zu  unterstützen,  sowie  die  subjcctiven  Beschwerden 
zu  lindern.  Ruhige  Bettlage,  Eisblase  auf  den  Leib  und  die  Darreichung  von 
Opiaten  sind  daher  die  Ilauptvorsehriften.  Je  besser  das  Allgemeinbefinden  nach 
dem  zuerst  stürmischen  Beginn  wird,  desto  schwerer  ist  es  oft,  die  Patientin  so 
ruhig  zu  halten,  wie  geboten  ist;  dass  hier  im  einzelnen  Fall,  schon  um  die  Ge- 

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duld  der  Patientin  nicht  auf  eine  zu  harte  Probe  zu  stellen,  dieses  oder  jenes 
interne  Mittel  oder  ein  oder  das  andere  Medicament,  von  der  Scheide  angewendet, 
nothwendig  werden  kann,  ist  klar;  im  Beginn  wird  es  sich  innerlich  wesentlich 
um  die  Darreichung  von  Säuren  handeln,  in  die  Vagina  wird  man  Suppositorien 
aus  Opium,  Morphium,  Ichthyol,  Jodoform  etc.  eiufiihren  lassen.  Ein  erheblicher 
Erfolg  dieser  Therapie  ist  wohl  nur  selten.  Das  Bett  darf  die  Patientin  erst  ver- 
lassen, wenn  der  Tumor  im  Wesentlichen  resorbirt  ist.  Zieht  sich  dieser  Process 
auch  sehr  lange  hin,  so  ist  diese  Vorsicht  doch  dringend  geboten.  Nur  zu  leicht 
benutzen  die  Patientinnen  die  relative  Freiheit,  um  sich  Schädlichkeiten  anszu- 
setzen,  welche  einen  neuen  Nachschub  der  Blutung  bedingen  können,  oder,  wie 
wir  es  selbst  erlebt  haben,  noch  nachträglich  zu  Ruptur  in  die  freie  Bauchhöhle 
führen.  Die  schliesslich  übrig  bleibenden  Residuen  einer  Hämatokele  wird  man 
nicht  anders  behandeln,  wie  die  Reste  einer  Beckenperitonitis.  Schwere  Symptome, 
welche  sich  hier  geltend  machen,  können  noch  nachträglich  die  Indieation  zur 
Entfernung  der  Anhänge  darstellen,  doch  handelt  es  sich  dann  nicht  mehr  um 
eine  für  Hämatokele  specifische  Therapie. 

Es  ist  ohneweiters  klar,  dass  bei  dem  so  langsamen  Verlauf  der  Re- 
sorption der  Hämatokelen  die  verschiedensten  Versnche  gemacht  sind,  die  Heilungs- 
dauer abzukürzen.  Die  Erfolge,  welche  wir  selbst  ebenso  wie  Andere,  insbesondere 
Zweifel  und  Küstner,  erreicht  haben,  haben  uns  aber  nicht  überzeugt,  dass 
an  sich  in  der  Haematokele  retrvuterina  eine  Erkrankung  vorliegt, 
welche  operatives  Einschreiten  erheischt.  Erfolge,  welche  der  einzelne 
geübte  Operateur  hier  erzielt,  würden  sich  bei  allgemeiner  Anwendung  direct  in 
das  Gegenthcil  umwandeln,  und  auch  jetzt  noch  können  wir  SchbÖder’S  Urtheil 
nur  unterschreiben,  dass  durch  die  Ineision  von  der  Vagina  z.  B.  die  Heilungs- 
dauer nicht  wesentlich  abgekürzt  wird,  und  die  Technik  der  Laparotomie,  »enn 
man  sie  principiell  bei  jeder  Hämatokele  anwenden  wollte,  kann  recht  erhebliche 
Schwierigkeiten  darbieten,  so  dass  trotz  der  sonst  guten  Prognose  des  Baneh- 
schnittes  in  ihm  gerade  hier  eine  Gefährdung  vorliegt.  Ganz  anders  steht  es 
natürlich,  wenn  Complicationen  das  Krankheitsbild  stören.  Dann  ist  nicht  der 
Hämatokele  wegen,  sondern  in  Folge  der  eingetretenen  Störungen  das  operative 
Einschreiten  dringend  geboten. 

Der  Weg,  auf  dem  man  hierbei  vorzugehen  hat,  ist  von  den  Symptomen 
abhängig.  Muss  man  aus  dem  dauernden  Fieber  darauf  schliessen,  dass  Ver- 
eiterung oder  Verjauchung  droht  und  deshalb  einschreiten,  so  ist  die  Eröffnung 
der  Hämatokele  von  der  Vagina  aus  das  sicherste  Verfahren.  Man  macht  auf  der 
Sebeidenschleimhaut  dort,  wo  der  Tumor  sich  am  meisten  vorwölbt,  eine  breite 
Incision  durch  die  ganze  Wand  der  Scheide.  Dann  gelingt  cs  leicht,  stumpf  mit 
dem  Finger  bei  combinirter  Operation,  indem  die  äussere  Hand  auf  der  Kuppe 
des  Tumors  liegt,  in  denselben  hineinzugelangen.  Die  so  gesetzte  Oeffnuug  erhält 
man  durch  die  Einlegung  eines  Drainrobrcs  oder  Jodoformgaze  offen.  Muss  man 
dagegen  zu  früher  Zeit  die  Hämatokele  wegen  schwerer  Anämie,  die  immer  wieder 
folgenden  Nachschüben  ihre  Eutstchung  verdankt,  also  wegen  Blutung,  sich  zum 
Einschreiten  cntschliessen,  so  ist  die  Laparotomie  das  beste  Verfahren,  ebenso 
wie  wir  sie  ja  für  nothwendig  erklärten,  wenn  nicht  sicher  die  Abkapselung  des 
Blutergusses  im  Beginn  sich  ergiebt. 

Die  Laparotomie  ist  ferner  dann  als  das  richtigere  Verfahren  anzusehen, 
wenn  man  wegen  der  zu  langsamen  Resorption  oder  wegen  zu  häufiger  Recidive 
oder  wegen  bedrohlieher  Allgemeinerseheinnngen  bei  Hämatokele  überhaupt  eine 
Operation  für  angezeigt  hält.  Die  Laparotomie  ergiebt  dann  ohneweiters  völlig 
klare  Verhältnisse,  sie  setzt  uns  in  den  Stand,  mit  Sicherheit  die  Quelle  der 
Blutung  in  der  erkrankten  Tube  zu  entfernen,  und  führt  voraussichtlich  in  der 
kurzen  Zeit  von  14  Tagen  zu  völliger  Heilung.  Die  Gefahr  des  Eingrilies  ist  bei 
sicherer  Durchführung  der  Aseptik  nicht  übermässig  hoch  anzuschlagen,  und 
jedenfalls  lallt  die  Schwierigkeit  der  Incision  von  der  Scheide  vollkommen  weg. 


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welche  darin  besteht,  dass  man  einen  Theil  der  Hämatokele  etwa  nicht  mit- 
eröffnet, und  dass  man  zu  Nachoperationen  schliesslich  gezwungen  wird,  welche  sich 
aus  der  unvorhergesehenerweise  mit  der  Ineision  von  der  Scheide  verbundenen 
Heilung  vergesellschaften  können.  Die  Eröffnung  des  Peritoneums  von  dem  Septum 
vesico-nterinum  ans,  wie  sie  neuerdings  DOhrssen  vorschlägt,  ist  gerade  für  diese 
Fälle  nicht  sehr  zweckmässig.  Die  Voraussetzung  ftir  derartige  Operationen  ist 
doch  die  Möglichkeit,  die  erkrankten  Theile  sich  gut  zugänglich  zn  machen.  Dies 
mag  mit  dem  Uterus,  wenn  auch  mühsam,  bei  der  Hämatokele  gelingen,  ist  da- 
gegen mit  der  Tube  au  allen  seitlichen  Theilen  mit  Sicherheit  nicht  möglich. 
Hier  kommt  es  aber  gerade  auf  die  Sicherheit  und  Schnelligkeit  der  Operation 
besonders  an,  und  wenn  anders  man  überhaupt  sich  zum  Kingriff  entschliesst,  so 
soll  man  wenigstens  den  Weg  wählen,  der  eine  gute  Cebersicht  der  erkrankten 
Gewebe  ermöglicht. 

Aus  dem  Gesagten  geht  aber  hervor,  dass  wir  die  Laparotomie  jedenfalls 
nur  in  ausnahmsweisen  Fällen  für  angezeigt  halten  können. 

Die  Therapie  der  uncomplicirten  Hämatokele  sei  expectativ. 
Tritt  Fieber  hinzu  und  erreicht  dasselbe  einen  bedrohlichen  Grad,  so 
eröffne  man  mit  dem  Messer  die  Hämatokele  von  der  Scheide.  Liegt 
in  der  Anämie  oder  in  den  steten  Nachschüben  die  Bedrohung  des 
Lebens,  so  ist  die  Laparotomie  geboten. 

Als  Hämaton  bezeichnet  man  im  Gegensatz  zur  Hämatokele 
den  Bluterguss  in  das  Ligamentum,  latum. 

Der  frühere  Streit,  ob  man  alle  Hämatokelen  als  primär  subperitoneal 
aufzufassen  habe,  kann  jetzt  als  erledigt  betrachtet  werden.  Wir  wissen,  dass 
in  der  überwiegenden  Mehrzahl  der  Fälle  die  Blutergüsse  intraperitoneal  sitzen, 
dass  aber  ausnahmsweise  ein  Bluterguss  auch  einmal  in  das  Bindegewebe  des 
Ligamentum  latum  erfolgen  kann.  Der  erste  durch  die  Seetion  nachgewiesene 
Fall  dieser  Art  stammt  von  KUBX.  Das  Peritoneum  wird  hierbei  von  seiner 
Unterlage  in  weiter  Ausdehnung  abgehoben.  Das  Extravasat  verhält  sich  völlig 
analog  einem  parametritischen  Exsudat.  Auch  von  der  hinteren  Fläche  des  Uterus 
kann  das  Peritoneum  abgehoben  werden ; von  der  einen  Seite  kann  der  Bluterguss 
auf  die  andere  übergehen,  er  kann  sich  in  den  paravaginalen  Kaum  hineinsenken, 
auch  auf  die  Fo&sa  iliaca  hinaufreichen.  Die  Wandungen  derartiger  Höhlen  sind 
natürlich  viel  dünner,  als  die  der  Hämatokele,  weil  sie  nur  aus  dem  unveränderten 
Peritoneum  selbst  zu  bestehen  brauchen.  Die  Erklärung  der  extraperitonealen 
Blutergüsse  geht  gleichfalls  in  vielen  Fällen  auf  die  Tubenschwangerschaft  zurück. 
Bekanntlich  liegt  ja  die  untere  Fläche  der  Tnbe  so  unter  dem  Peritoneum,  dass 
sie  bindegewebig  begrenzt  wird.  Erfolgt  daher  die  Verletzung  der  Wand  der 
schwangeren  Tube  an  dieser  Stelle,  so  ist  es  ohneweiters  klar,  dass  der  Erguss 
in  das  Bindegewebe  erfolgt.  Der  Process,  durch  den  die  Tubenschwangerschaft 
das  Bindegewebe  erreicht,  braucht  nicht  jedesmal  die  Ruptur  zu  sein,  es  kann 
ebenso  gut  bei  dem  Wachsthum  die  Wand  auseinanderweichen,  also  eine  Usur 
zn  Stande  kommen ; während  am  Peritoneum  dann  oft  eine  Sicherung  dadurch 
erfolgt,  dass  mit  der  Schwangerschaftshypertrophie  auch  das  Peritoneum  wächst, 
weicht  das  Bindegewebe  sehr  viel  leichter  auseinander,  ja  wir  kennen  direct  in 
der  intraligamentären  Entwicklung  der  Tubenschwangerschaft  eine  Wachsthums- 
richtung, welche  direct  als  zur  Hämatombildung  disponirend  angesehen  werden 
muss.  Wie  weit  ausser  der  Tubenschwangerschaft  anderweite  Processe  als  ätio- 
logisch wichtig  für  das  Hämatom  aufgefasst  werden  müssen,  lasse  ich  dahin- 
gestellt. Es  ist  ja  sehr  leicht,  hier  theoretisch  eine  Hyperämie  zur  Zeit  der  Men- 
struation, Varicositäten  in  den  breiten  Mutterbändern,  Hämatome  der  Ovarien  als 
disponirend  zu  bezeichnen,  auch  ist  es  gewiss  stets  möglich,  in  der  Anamnese 
ein  Trauma  zu  erfahren,  sei  es,  dass  eine  übermässige  Anstrengung  der  Bauch- 
presse Ihm  schwerer  Defäcation  oder  sexuelle  Excesse  diese  darstellen  sollen.  Der 
anatomische  Nachweis  des  Schwangcrschaftsproduetes  in  einem  Bluterguss  ist 


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HAEMATOKELE. 


keineswegs  immer  leicht;  besonders  wenn  derselbe  längere  Zeit  bestanden  bat, 
wird  in  dem  Coagulnra  eine  Chorionzotte  sieb  schwer  nachweisen  lassen,  ln 
dieser  Beziehung  ist  es  immer  bedeutungsvoll,  dass  auch  das  Hämatom  der  Tube 
nicht  ohneweiters  anatomisch  sich  als  Schwangerschaftsproduct  ergiebt.  Die 
Coagulationsbildungen  und  Fibrinniederschläge  können  gewiss  die  Form  der 
Chorionzotten  vortiiuschen  und  zu  falschen  Schlüssen  Veranlassung  werden.  Viel 
wichtiger  aber  ist  es,  dass  die  Chorionzotten  selbst  sehr  weit  auseinandergedrängt 
werden,  und  dass  ihr  Auffinden  in  einem  grossen  Bluterguss  wirklich  auf  Schwierig- 
keit stossen  kann.  Die  Oeffnung  in  der  Tube  endlich  kann  sich  nach  gewisser 
Zeit  vollkommen  schlicssen,  und  auch  dieser  Nachweis  fällt  dann  fort.  Aul  alle 
Weise  ist  der  exacte  Nachweis  der  Tnbenschwangerschaft  bei  Hämatomen  noch 
schwieriger  als  bei  Hämatokelen,  und  wenn  schon  für  die  letzteren  der  Nachweis 
so  viel  Mühe  machte,  so  wird  man  es  verstehen,  dass  auch  bei  Hämatomen  der 
gegründete  Verdacht  besteht,  dass  sie  auf  Schwangerschaft  beruhen,  wenn  auch 
der  genaue  Nachweis  sich  nicht  in  allen  Fällen  erbringen  lässt. 

Hämatome  sind  bis  jetzt  selten  der  Gegenstand  exacter  anatomischer 
Untersuchungen  geworden,  sie  sind  meist  ein  zufälliger  und  unerwarteter  Befund 
gewesen  in  Fällen,  in  denen  man  aus  anderen  Gründen  eine  Laparotomie  vor- 
nahm. Sie  haben  bisher  principiell  nur  Wenigen  die  Veranlassung  zur  Lapa- 
rotomie gegeben.  A.  Martin  hat  in  einzelnen  Fällen  die  Laparotomie  vorge- 
nommen, doch  gerade  in  diesen  Fällen  vermissen  wir  eine  genauere  anatomische 
Untersuchung.  Wir  bleiben  daher  bei  allen  Fällen  von  Hämatokele  wie  Hämatom 
geneigt,  in  der  Extrauterinschwangerschaft  ein  sehr  wichtiges,  wenn  nicht  das 
einzige  ätiologische  Moment  zu  erblicken.  In  beiden  Fällen  kann  man  nicht  leugnen, 
dass  auch  eine  andere  Entstehung  möglich  ist.  Hier  wie  da  aber  betonen  wir, 
dass  der  Nachweis  anderer  Ursachen  einwandsfrei  nicht  erbracht  ist. 

Der  Verlauf  des  Blutergusses  in  das  Ligamentum  latum  ist  im  Wesent- 
lichen derselbe,  wie  der  der  Hämatokele.  Die  Resorption  geht  ebenfalls  vor 
sieb  und  kann  ausnahmsweise  ebenso  durch  zufällig  hinzutretende  Keime  ge- 
stört werden. 

Für  die  Diagnose  müssen  wir  betonen,  dass  die  Erkenntniss,  dass  es 
sich  um  einen  Bluterguss  handelt,  relativ  leicht  gelingt.  Sicher  aber  den  Nach- 
weis zu  erbringen , dass  der  Tumor  extraperitoneal  gelagert  ist,  wird  nur  in 
einzelnen  Fällen  möglich  sein.  Aus  dem  seitlichen  Sitze  des  Tumors  darf  man 
nicht  schlicssen  wollen,  dass  es  ein  Hämatom  ist.  Auch  Hämatokelen  können  in 
Folge  vorheriger  Abkapselung  der  Bauchhöhle  anders  als  in  der  Mittellinie  ihren 
Sitz  haben.  Für  ganz  klare  Verhältnisse  ist  ein  Zeichen  des  Untersuchungsbefundes 
vielleicht  von  Werth,  welches  sich  uns  überhaupt  bei  der  Frage,  ob  ein  Erguss 
oder  Exsudat  intraligamentär  oder  iutraperitoueal  sitzt,  bedeutungsvoll  erwies. 
Die  untere  Fläche  jedes  intraperitonealen  Ergusses  muss  wenigstens  im  Beginn 
eine  glatte  Vorwölbung  zeigen,  die  obere  Fläche  unklare  Grenzen  darbieten  in 
Folge  von  Darmadhäsionen;  im  Gegensatz  dazu  hat  das  Hämatom,  wie  übrigens 
auch  das  parametritische  Exsudat,  wenn  cs  ohne  Adhäsionsbildung  besteht,  die 
glatte,  deutlich  palpirbare  peritoneale  Oberfläche  nach  oben ; nach  unten  zu  ist 
aber  der  Uebergang  in  das  Bindegewebe  dift'us,  undeutlich,  mit  Ausläufern  in  das 
Gewebe  etc.  Es  trifft  dies  natürlich  nur  für  einfache  Fälle  zu,  ist  aber  in  solchen 
ein  werthvoller  Hinweis  für  die  Diagnose. 

Auch  beim  Hämatom  ist  die  Prognose  gut.  Der  regelmässige  Ausgang 
ist  die  Resorption.  Eine  nachträgliche  Ruptur  in  F’olge  erneuter  Blutung  ist 
selten,  eine  Vereiterung  oder  Verjauchung,  welche  sich  natürlich  in  fieberhaften 
Bewegungen  kundgiebt,  ist  entschieden  seltener  als  bei  der  Hämatokele. 

Dem  entsprechend  soll  man  auch  beim  Hämatom  nur  weitere  Schäd- 
lichkeiten von  der  Patientin  fernhalten,  die  Symptome  zu  lindern  versuchen  und 
im  Wesentlichen  abwarten.  Ein  Grund  zum  Einschreiten  findet  sich  in  erster 
Linie  wieder  in  der  Vereiterung,  liier  wird  die  lucision  vou  der  Vagina  in  den 


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HAEMATOKELE. 


237 


meisten  Fällen  das  richtige  Verfahren  darstellen,  weil  die  Blutung  sich  nach  der 
Scheide  zu  senkt  und  je  nach  dem  Sitz  von  der  vorderen  oder  hinteren  Fläche 
erreichbar  wird.  Nur  ausnahmsweise  sitzt  der  Erguss  -sehr  hoch.  Linun  wird 
mau  oberhalb  des  Ligamentum  Pouparti  subperitoncal  (Pozzi  beschreibt  diese 
Operation  als  Laparotomie  sousptritoniale , ich  als  typische  Parametritisoperation) 
zum  Erguss  Vordringen  und  ihn  eventuell  nach  der  Scheide  drainiren.  Findet 
sich  ohne  Fieber  in  der  prallen  Füllung,  in  dem  starken  Wachsthum,  in  den 
wiederholten  Nachschüben  oder  in  der  Blutung  in  die  freie  Bauchhöhle  ein 
Grund  zum  Einschreiten,  so  ist  auch  die  Laparotomie  der  Incision  von  der 
Scheide  aus  bei  weitem  vorzuziehen.  Die  Klarheit  der  Uebcrsicht  vereinigt  sich  mit 
der  schnellen  Möglichkeit  der  radiealen  Heilung  und  dem  kurzen  Heilungsprocess. 
Immerhin  aber  ist  auch  beim  Hämatom  der  operative  Eingriff  nur  die  Ausnahme. 

Als  Thrombus  vulvae  et  vaginae  bezeichnet  man  den  Bluterguss, 
der  in  das  Bindegewebe,  welches  die  Scheide  umgiebt,  oder  in  die  grosse  Labie 
erfolgt.  Die  Entstehung  dieses  Blutergusses  geht  in  der  überwiegenden  Mehrzahl 
der  Fälle  auf  die  Geburt  zurück.  Varicen,  welche  sich  in  der  Vulva  gebildet 
haben,  die  reichlichen  Venengeflechte  in  der  Umgebung  der  Scheide,  zerreissen 
unter  der  Schleimhaut  in  Folge  des  vermehrten  Druckes  durch  die  Anwendung 
der  Bauchpresse.  Nur  ausnahmsweise  wird  ein  operativer  Eingriff  die  Ver- 
anlassung hierfür  darstellen.  Die  Quetschung,  welche  etwa  die  Zange  ansübt,  und 
welche  wohl  zu  submucösen  Venenzerreissungen  Veranlassung  werden  kann,  wird 
im  Allgemeinen  wohl  auch  die  Oberfläche  der  Schleimhaut  zerstören,  so  dass  das 
Blut  nach  aussen  abfliesst.  Immerhin  aber  kommt  es  vor,  dass  die  äussere  Ver- 
letzung mit  der  inneren  nicht  Uhereinstimmt,  so  dass  mit  einer  Verletzung  auch 
einmal  ein  Thrombus  sich  vergesellschaften  kann.  Uebrigens  sind  dies  gerade 
Fälle,  in  denen  es  nachträglich  noch  zur  Vereiterung  kommen  kann,  weil  langsam 
von  der  äusseren  Wunde  aus  die  Keime  zum  Thrombus  gelangen. 

Die  Entstehung  erfolgt  übrigens  hier  meist  direct,  so  dass  schon 
während  der  Geburt  der  Erguss  sich  ausbildet;  seltener  ist  der  Verlauf  der, 
dass  die  vielleicht  kleine  Vcnenverletzung  erst  nachträglich  zur  Ausbildung  des 
Ergusses  führt. 

Ausserhalb  der  Geburt  ist  ein  Thrombus  der  Vagina  und  der  Vulva  nur 
sehr  selten.  Die  Ursache  bestellt  wohl  jedesmal  in  einem  directen  Trauma,  sei 
es,  dass  dasselbe  mit  sexuellen  Excessen,  besonders  in  Folge  von  solchen  bei 
sexuellen  Psychosen  der  Männer,  in  Verbindung  steht,  sei  es,  dass  eine  grobe 
Gewalt  ausnahmsweise  einmal  die  Vulva  trifft.  Manche  Angabe  über  ein  Trauma 
erweist  sich  bei  näherer  Nachforschung  hier  wie  überall  als  erfunden.  Sexuelle 
Excesse  werden  selbst  von  einer  Puella  publica  ungern  zugegeben,  doch  ist  es 
schon  möglich,  dass  unter  besonderen  Verhältnissen  einmal  ein  directes  Trauma 
die  Vagina  trifft. 

Anderweite  Ursachen  für  die  nicht  puerperalen  Thromhen  liegen  in 
vorher  bestehenden  anatomischen  Veränderungen.  Am  wichtigsten  in  dieser  Be- 
ziehung sind  Tumoren  des  Ovarium,  die  einmal  tief  in  das  Beckenbindegewebe 
hinein  entwickelt  sind,  Kysten  der  Scheide  oder  auch  malignere  Formen  der 
Tumoren. 

Diagnostisch  bieten  alle  diese  Formen  der  Blutergüsse  wenig  Schwierig- 
keiten dar.  Ein  Bluterguss  neben  die  Scheide  kann  allerdings  in  einem  präfor- 
mirten  Raum  existireu,  wenn  es  sich  nämlich  um  die  einseitige  Hämclythrometra 
handelt,  hier  muss  aber  die  combinirte  Untersuchung  ohne  Schwierigkeit  den 
Unterschied  machen.  Ein  Bluterguss  in  das  Bindegewebe  zeigt  immer  diffuse 
Grenzen;  der  durch  Retention  von  Menstrualblut  entstandene  Tumor  ist  überall 
glattwandig  und  scharf  begrenzt.  Beim  Thrombus  vulvae  kommt  zur  Diagnose 
als  Unterstützungsmittel  noch  die  livide  Farbe  der  Haut  hinzu. 

Therapeutisch  ist  alleiu  Ruhe  geboten.  Nur  für  die  seltenen  Fälle, 
in  denen  es  zur  Vereiterung  kommt,  darf  man  an  die  Incision  denken. 


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HAEMATOKELE.  — HARN. 


Literatur:  *)  Voisin,  Die  Haematokelc  retrouterina  und  die  freien  Blutextra- 
vasate in  die  Beckenhöhle.  Thöse.  Paris  1858.  Uebersetzt  von  Langenbeck.  Göttingen  1862. — 
*)  Schröder.  Kritische  Untersuchungen  über  die  Diagnose  der  Haematokelc  retrouterina. 
Bonn  1866. — *)  Schröder,  Ueber  die  Bildung  der  Haematokelc  retrouterina.  Arch.  f.  Gyn. 
V.  — 4)  Klob,  Pathologische  Anatomie  der  weiblichen  Geschlechtsorgane.  Wien  1864.  — 
*)  Virchow,  Die  krankhaften  Geschwülste.  Berlin  1868,  I.  — B)  Scanzoni,  Lehrbuch  der 
Krankheiten  der  weiblichen  Sexualorgane.  Wien  1875,  5.  Aufl.  — 7)  Schröder,  Krankheiten 
der  weiblichen  Geschlechtsorgane.  1884.  6.  Aufl.  — *)  Ban  dl,  itandbuch  der  Frauenkrank- 
heiten. Stuttgart  1885,  II,  2.  Aufl.  — ®)  Olshausen,  Ueber  Hämatokele  und  Hämatoinetra 
Arch.  f.  Gyn.  V.  — I0)  Fritsch,  Die  retronterine  Hämatokele.  Volkmann’s  Hefte  56.  — 
“)  Bernutz,  Hämatokele  etc.  Arch.  de  Tocol.  März,  April,  Mai  1880.  — **)  J.  Veit,  Die 
Eileiterschwangerschaft.  Stuttgart  1884-  — '*)  Kuhn,  Ueber  Blutergüsse  in  die  breiten 
Mutterbänder.  Zürich  1874.  — u)  Schlesinger,  BlutgeschwülRte  des  Beckens.  Wiener  med. 
Blätter.  1884,  Nr.  27,  28,  29,  31,  32,  33,  38,  43,  44,  46.  — “)  A.  Martin.  Das  extra- 
peritoneale periuterine  Hämatom.  Zeitschr.  f.  Geb.  u.  Gyn.  1884,  VIII.  — **)  Zweifel,  Die 
Behandlung  der  Blutung  hinter  der  Gebärmutter.  Arch.  f.  Gyn.  1883,  XXII,  2;  1884,  XXIII, 
3.  — n)  Düvelius,  Beitrag  zur  Lehre  von  der  operativen  Behandlung  der  Haematokelc 
extrap.  periut.  Archiv.  1884,  XXIII,  I.  — ,B)  Regnier,  Centralbl.  f.  Gyn.  1893,  pag.  849. 

— **)  Sänger,  Verhandl.  d.  deutschen  Gesellsch.  f.  Gyn.  V,  pag.  281.  — *#)  Rosen- 
wasser, Amer.  Journ.  of  Obstetr.  XXVIII,  pag.  412.  — **)  J.  Veit,  Samml.  klin.  Vortr. 
Leipzig,  N.  F.  Nr.  15.  — *s)  Riedinger,  Hämatokele.  Brünn  1888.  — **)  Himmelfarb. 
Centralbl.  f.  Gyn.  1888,  Nr.  9.  — J4)  Besselhagen,  Arch.  f.  klin.  Chir.  XXXVIII.  pag.  277. 

— ,6)  v.  Strauch,  Petersburger  med.  Wochenschr.  1889,  Nr.  52.  — S.  übrigens  die  Jahres- 
berichte über  die  Fortschritte  auf  dem  Gebiete  der  Geburtshilfe  und  Gynäkologie  von  Frommei. 

J.  Veit. 

Harn.  Zur  Lehre  von  der  Harnab Sonderung:,  ferner  Ober  den  Zu- 
sammenhang zwischen  der  quantitativen  Zusammensetzung  des  Blutes  und  des 
Harnes,  sowie  Uber  die  quantitativen  Verhältnisse  der  ausser  dem  Kochsalz  im 
Harn  gelüst  enthaltenen  festen  Substanzen  wurden  Untersuchungen  von  Ai.kx. 
v.  Koränyi  *)  und  seinen  Schülern  A.  Fisch*),  Fr.  Taoszk  *)  und  J.  Kovacs  *) 
ausgeführt,  welche  nach  der  Methode  an  die  Untersuchungen  von  Dreser '-)  Ubt*r 
die  osmotischen  Verhältnisse  der  thierischen  Säfte  anknüpfen.  Die  Grundlage 
dieser  Arbeiten  bildet  die  von  van’t  Hoff  nachgewiesene  Thatsaehe,  dass  gleich 
wie  die  Verhältnisse  der  Spannung  der  Gase  im  Gesetz  von  Boylk-Mariottk 
ihren  Ausdruck  finden , in  Bezug  auf  Flüssigkeiten  der  osmotische  Druck  den 
gleichen  Sinn  hat.  Dreser  ging  nun  beim  Studium  der  osmotischen  Verhältnisse 
im  thierischen  Organismus  anstatt  vom  osmotischen  Druck  von  der  hiermit  pro- 
portionalen Gefrierpunktseruiedrigung  derselben  aus.  Er  fand,  dass  der  Gefrier- 
punkt des  Harnes  niedriger  liegt  als  der  des  Blutes , er  bestimmte  aus  dem 
Unterschiede  beider  den  der  Harnabsonderung  entsprechenden  Druck.  Hierbei 
gelangte  er  zu  dem  Resultate , dass  der  Druck  des  Harnes  viel  grösser  ist  als 
jener  des  Blutes , dass  also  bei  der  Iiarnseeretion  die  Niere  eine  Arbeit  leistet, 
die  nach  seinen  Versuchen  bei  einem  gesunden  Menschen  innerhalb  24  Stunden 
bis  zu  241  Meterkilogramm  ausmachen  kann.  v.  Koranyi  verwerthete  die  Gefrier- 
pnnkthestiinmung  des  Harnes,  weil  sie  eben  einen  tiefen  Einblick  in  die  Wir- 
kungsweise des  Harnabsonderunggapparates  gestattet.  Bezüglich  der  Details  und 
der  an  grundlegenden  Thatsachen  reichen  Ergebnisse  dieser  die  physiologischen 
und  pathologischen  Verhältnisse  des  Menschen  umfassenden  Versuche  müssen  wir 
auf  die  eingangs  angeführten  Veröffentlichungen  binweisen. 

Schon  Thomson  (du  Bois-Reymond’s  Arch.  f.  Physiol.,  1894,  pag.  117) 
zeigte,  dass  das  Atropin  ebenso  wie  die  Secretion  der  Drüsen  überhaupt  auch 
die  secretorische  Thätigkeit  der  Nieren  herabzusetzen  im  Stande  ist.  Ludwig 
Walti  #)  hat  nun  diese  letztere  Thatsaehe  einer  erneuerten  Prüfung  unterzogen. 
Es  ergab  sich,  dass  das  Atropin  (unabhängig  vom  Blutdruck)  die  Absonderung 
der  Niere  lierabsetzt ; auch  dann,  wenn  die  Diurese  durch  Einspritzung  von  Harn- 
stoff in  einer  den  normalen  Verhältnissen  entsprechenden  Weise  angeregt  wurde, 
trat  diese  Wirkung  hervor , ebenso  wenn  die  Diurese  durch  Theobromin  oder 
Uoffeiusulfosäure  hervorgerufen  wurde.  Wenn  das  Diiireticum  jedoch  dem  Thiere 
wälirend  des  ganzen  Versuches  continuirlich  durch  Eindiesseniassen  in  die  Vene 
beigebraeht  wurde,  zeigte  sieh  die  Atropinwirkung  nicht  so  deutlieh  und  kam 


sie 


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HABN. 


239 


erst  zum  Vorschein,  wenn  das  Einfliesscn  ansgesetzt  wurde.  Bei  der  Controlirung 
der  Harnstüffwirkung  zeigte  es  sich , dass  bei  Anwendung  verdünnter  Losung 
zwar  die  Diurese  mit  dem  Blutdruck  Hand  in  Hand  geht,  bei  concentrirten 
Lösungen  jedoch  war  das  Maximum  der  Diurese  gleich  nach  der  Injection  von 
beträchtlichem  Sinken  des  Blutdrucks  begleitet.  Bei  diesen  Versuchen  zeigte  es 
sich  nun,  dass  auch  bei  starker  Harnstoffdiurese  — ähnlich  wie  cs  JaCoby  fllr 
die  Coffeinsulfosäure  nachgewiesen  hat  — Zucker  in  den  Harn  Übertritt.  Diese 
Zuckerausschcidung  ist  direct  abhängig  von  der  Stärke  der  Diurese : wenn  jedoch 
ein  Thier  bei  einer  ersten  Injection  Zucker  schon  ausgeschieden  hatte,  brachten 
auch  weitere  Injectionen  trotz  gesteigerter  Harnausscheidung  doch  keine  ent- 
sprechende Vermehrung  des  Zuckers  mit  sich.  Auch  bei  länger  dauernder  Diurese 
verschwand  der  Zucker  allmälig  aus  dem  Harn.  Atropin  verminderte  wie  die 
Harnsecretion  so  auch  die  Zuckerausscheidung.  Walti  nimmt  mit  Jacoby  einen 
echten  Nierendiabetes  an.  Die  Lebern  der  Versuchsthiere  erwiesen  sich  auch  hier 
nach  dem  Versuche  als  zucker-  und  glykogenfrei. 

Auf  Veranlassung  von  Kosskl  hat  Schmied  *)  die  von  Cazbneuve  und 
Hegounf.nq,  ferner  die  von  Mörner  und  SJÖQVisr  und  von  Gumlich  angegebenen 
Methoden  der  Harnstoffbestimmung  mit  einander  verglichen;  hierbei  gelangte 
er  zu  folgendem  vereinfachten  Verfahren:  10  Ccm.  Ham  werden  nach  Zusatz  von 
Baryumcarbonat  in  eine  Natronglasröhre  eingeschmolzen,  langsam  im  Schiessofen 
auf  ISO“  erhitzt  und  dann  eine  volle  Stunde  auf  dieser  Temperatur  erhalten.  Nach 
dem  Ahkühlen  und  Oeffnen  der  Röhre  wird  der  Inhalt  in  einen  Destillirkolben  ge- 
spült, das  Rohr  mit  Salzsäure  und  Wasser  nachgewaschen,  sodann  die  Flüssigkeit 
mit  Baryt  alkalisch  gemacht , das  übergehende  Ammoniak  in  '/jo  Normalsäure 
aufgefangen  und  darin  durch  Titration  bestimmt.  Daneben  wird  eine  Ammoniak- 
bestimmung in  dem  ursprünglichen  Harn  nach  SCHLüsing  vorgenommen  uud  die 
auf  10  Ccm.  entfallende  Menge  von  dem  durch  Destillation  erhaltenen  Ammoniak 
in  Abzug  gebracht.  Durch  vergleichende  Prüfung  dieses  Verfahrens  und  der  drei 
oben  angeführten  an  künstlichen  Mischungen  von  Harnstoff,  Ammoniumchlorid 
und  Extractivstoffen,  an  normalem  Harn,  sowie  an  Lösungen  von  gewissen  nor- 
malen und  pathologischen  Harnbestandtheilen  ergab  sich  völlige  Uebereinstiinmung 
in  den  Resultaten  des  GUMMCH’schen  und  des  SCHMlED'sehen  Verfahrens. 
Mörner-Sjöiivist’s  Methode  lieferte  etwas  höhere,  jene  von  Cazknecve  und 
Hugodnenq  etwas  niedrigere  Werthe.  Anwesenheit  von  Pepton  beeinflusst  Schmied ’s 
und  Gumlich’s  Verfahren  nicht. 

Rumpf8)  machte  die  Beobachtung,  dass  während  des  Stadium  algidum 
der  Cholera  die  Ammoniakausscheidung  im  Harn  relativ  und  absolut 
beträchtlich  gesteigert  ist.  Dies  Ergebniss  war  für  ihn  die  Veranlassung,  die 
Infectionskrankheiten  überhaupt  auf  die  Ausscheidung  von  Stickstoff  und  Am- 
moniak zu  untersuchen.  Dabei  zeigte  es  sich  nothwendig,  eine  grössere  Reihe  von 
Tagen  zur  Untersuchung  heranzuziehen,  da  einmalige  Bestimmungen  völlig  nor- 
male Werthe  ergeben  können.  Im  Ganzen  fand  sich  im  fieberhaften  Stadium  eine 
durchschnittliche  tägliche  N-Ausscheidung  in  NH,  von  1,85  Grm.,  während  als 
Durchschnittswert!!  von  Normalen  und  Reconvalescenten  0,6646  gefunden  wurden. 
Es  ergiebt  sich  daraus  eine  Steigerung  der  Ammoniakausscheidung  um  88%, 
während  eine  auf  die  gleiche  Weise  angestellte  Untersuchung  nnd  Berechnung 
der  Ausscheidung  des  gesammten  Stickstoffs  nur  eine  Steigerung  von  13,625  auf 
18,416  Grm.  = 35%  ergab.  Es  findet  also  nicht  allein  eine  absolute,  sondern 
auch  eine  relative  Vermehrung  des  NH3  statt,  welche  zu  einer  Erhöhung  des 
Quotienten  führt , in  'welchem  die  Ausscheidnng  des  Ammoniakstickstoffs  zum 
Gesammtstickstoff  steht. 

Rumpf  untersuchte  weiterhin,  ob  die  Vermehrung  der  Ammoniakaus- 
scheiduug  bei  Infectionskrankheiten  auf  einer  Bildung  von  Ammoniak  durch  die 
Infectionserreger  beruht,  aber  von  den  zahlreichen  in  dieser  Hinsicht  untersuchten 
Mikroorganismen  wurde  nur  von  Staphylokokken,  Streptokokken  und  von  den 


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HARN. 


Cholerabacillen  Ammoniak  gebildet.  Eine  Vermehrung  der  NHS-Ausscheidung  im 
Harn  bei  Fieber  bat  schon  IIallervorden  nachgewiesen , er  hat  dieselbe  als 
eine  Folge  der  Säureproduction  im  Organismus  aufgefasst.  Dieser  letzteren  Auf- 
fassung stimmt  jedoch  Kumpf  nur  bezüglich  der  NH3-Vermehrung  im  Harn  bei 
Diabetes  mellitus  zu,  für  die  Infectionskrankheiten  hält  er  gegenüber  Minkowski, 
welcher  eine  vermehrte  NH3- Ausscheidung  nur  als  Folge  der  Säureüberproduction 
des  Organismus  auffasst,  den  sicheren  Beweis  hierfür  noch  nicht  erbracht. 

Die  Abhängigkeit  der  Harnsäureausscheidung  vom  Eiweissstoffwechsel 
im  Allgemeinen  wurde  durch  die  Untersuchungen  nicht  bestätigt.  Nach  neueren 
Forschungen  wird  als  Hauptquelle  der  Harnsäure  das  Nuclein  angesehen; 
hiervon  ausgehend  futterte  W.  WeintraI'D*)  verschiedene  Personen  mit  Thymus, 
einem  bekanntlich  sehr  nucleinreichen  Organe.  Hierbei  gelang  es  ihm  thatsächlich, 
die  Harnsäureausscheidung  bis  2,5  Grm.  pro  Tag  zu  steigern,  er  lässt  es  unent- 
schieden , ob  dieses  Plus  direct  auf  Bildung  aus  Xuclein  zu  beziehen  ist  oder 
auf  einen  durch  Xuclein  bedingten  vermehrten  Leukoeytenzerfall. 

Als  Reagens  auf  Harnsäure  empfiehlt  Th.  R.  Offer  ,0)  Phosphor- 
molybdftnsäure  in  alkalischer  Lösung.  Versetzt  man  eine  auf  Harnsäure  zu 
prüfende  Flüssigkeit  mit  einigen  Tropfen  einer  Lösung  von  Phosphormolybdän- 
säure und  einigen  Tropfen  Kalilauge,  so  entsteht  ein  dunkelblauer  Niederschlag 
von  molybdänsaurem  Molybdänoxyd.  Wird  die  Reaction  unter  dem  Mikroskope 
gemacht,  so  treten  dunkelblaue  scchstheilige  Prismen  auf.  Die  Reaction  tritt 
noch  bei  1 Ccm.  Harnsäurelösung  mit  einem  Gehalt  von  */,  Mgrm.  Harnsäure 
auf.  Sie  ist  indessen  nur  zu  verwerthen , wenn  die  Anwesenheit  von  Eiweiss, 
Alkaloiden  und  Gerbsäure  ausgeschlossen  ist. 

Das  gegen  uratisehe  Diathese  therapeutisch  empfohlene  Piperazin 
empfiehlt  E.  Salkowski  **)  für  viele  Fälle  als  bequemer  zur  Lösung  von 
Harnsäurekrystallen,  insbesondere  auch  unter  dem  Mikroskope  als  die  Natron- 
lauge. Ausser  der  Harnsäure  erwiesen  sich  als  löslich  in  Piperazinlösungcn : 
Xanthin  und  Hypoxanthin,  Allantoin,  Leucin  und  Tyrosin,  auch  Hippur-,  Benzoe-, 
Asparagin-,  Kynuren-,  Gallen-  und  Fettsäure.  Auffallenderweise  erwies  sich  Gnanin 
als  unlöslich , wodurch  es  sich  deutlich  von  der  Harnsäure  unterscheidet ; auch 
Coffein  und  Theobromin  wurden  durch  Piperazin  nicht  gelöst. 

Die  neuen  Arbeiten  über  die  semiotischc  Bedeutung  der  Harnsäureaus- 
scheidung als  solcher  und  iu  ihrem  Verhältnisse  zur  Ausscheidung  der  Alloxur- 
basen  lassen  den  Wunsch  nach  expeditiven  Methoden  zur  Bestimmung  der  ge- 
nannten Ausscheidungsproducte  gerechtfertigt  erscheinen , demgemäss  begegnen 
wir  auch  häufigen  Versuchen,  um  die  bezüglichen  Wägungsmethoden  iu  titri- 
metrische  umzuwandeln.  G.  v.  Ritter  *’j  fällt  die  Harnsäure  als  Ammoniumurat, 
was  vorteilhaft  durch  Zusatz  von  30  Grm.  Chlorammonium  zu  je  100  Ccm.  Ham 
geschieht.  Die  durch  Zerlegung  des  Niederschlages  mit  Salzsäure  ausgefälltc  Harn- 
säure kann  nun  anstatt  gewogeu  durch  Titration  mit  einer  Lösung  von  übermangan- 
saurem Kali  von  bekanntem  Wirkungswerthe  bestimmt  werden.  Es  entsprechen 
3,61  Mgrm.  reiner  Harnsäure  je  einem  Centimeter  einer  normalen  Chamäleon- 
lösung. Bezüglich  der  Einzelheiten  des  Verfahrens  verweisen  wir  auf  das  Original. 

Nach  E.  Riegi.ER1*)  kann  das  aus  dem  Harn  ausgefällte  Ammonium- 
urat auch  mit  überschüssiger  FEHLtNG’scher  Lösung  behandelt,  das  ausgeschiedene 
Kupferoxydul  gesammelt  und  nach  einer  von  ihm  angegebenen  titrimetrischen 
Methode  bestimmt  werden.  Rieglek  fand  für  1 Grm,  Harnsäure  in  directen  Ver- 
suchen im  Mittel  0,8  Grm.  Kupfer;  bei  der  Annahme,  dass  1 Molectll  Harnsäure 
2 Molecülc  schwefelsaures  Kupfer  rcducirt,  würde  1 Grm.  Harnsäure  0,7556  Grm. 
Kupfer  entsprechen. 

Bekanntlich  hält  Horbaczkwski  die  Harnsäure  für  ein  Product  des 
Leukocytenzerfalls  im  Organismus.  Dieser  Annahme  entsprechend  soll  die  Menge 
der  ausgeschiedenen  Harnsäure  in  erster  Linie  der  Vermehrung  oder  Verminde- 
rung der  Leukocyten  parallel  gehen.  Die  zahlreichen  Versuche , welche 


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)k 


HARN, 


24 1 


P.  F.  Richter14)  zur  Prüfung  dieser  Ansicht  hei  Infeetionskrankheiten  und 
Krankheiten  des  Blutes  anstellte,  ergaben  diesbezüglich  ein  zweifelhaftes  Resultat, 
und  gleicher  Weise  auch  die  künstliche  Verminderung  der  Leukocyten  durch 
Darreichung  von  Chinin  und  Spermin.  Nur  die  durch  Darreichung  vou  Nuclcin 
erzeugte  Hyperleukocytose  führte  zu  einem  Resultat  im  Sinne  von  Horbaczkwski, 
indem  sich  hierbei  eine  starke  Harnsäurevermehrung  einstellte.  Richter  kommt 
zu  dem  Resultate,  dass  zwar  Beziehungen  zwischen  HarnsäureansscheiduDg  und 
Leukocytose  wahrscheinlich  bestehen,  dass  aber  der  Zusammenhang  nur  ein  be- 
schränkter ist. 

In  gleicher  Richtung  bewegen  sich  auch  die  experimentellen  und  klini- 
schen Untersuchungen  von  Kühnaü  **)  in  drei  Versuchsreihen.  Er  erzeugte  erstens 
durch  subcutane  Injection  von  Bakterienextracten  und  BakterienproteineD,  von 
Terpentinöl  und  Milzextract  künstliche  Leukocytosen , zweitens  prüfte  er  den 
Einfluss  directer  subcutaner  und  subperitonealer  Einverleibung  von  Leukocyten. 
unter  Umgehung  von  Leukocytose,  anf  die  Harnsäureausscheidung,  endlich  drittens 
den  Einfluss  der  Injection  von  Nudeln  in  der  gleichen  Richtung.  Nach  Kühnau 
erfolgt  eine  Steigerung  der  Harnsäure:  1.  bei  einigen  Krankheiten  mit  Leuko- 
cytose; 2.  sie  kann  nicht  allein  durch  das  Fieber  bedingt  sein,  da  sic  sich  auch 
bei  Krankheiten , die  fieberlos  verlaufen , findet ; 3.  entspricht  sie  dem  raschen 
Absinken  einer  Leukocytose;  4.  erfolgt  bei  experimentell  erzeugter  Leukocytose 
und  erreicht  ihren  Gipfel  erst  beim  Verschwinden  der  Leukocytose ; 5.  wird 
erzielt  auch  ohne  das  Zwischenglied  der  Leukocytose,  durch  Einverleibung  von 
leukocytenhaltigem  Material  (Eiter,  Thymus);  6.  entsteht  durch  Injection  von  Nudeln, 
ohne  ausschliesslich  durch  die  gleichzeitig  auftretende  Leukocytose  bedingt  zu 
sein;  7.  die  Leukocyten  sind,  wenn  auch  nicht  ausschliessliche,  so  doch  eine 
hauptsächliche  Quelle  des  Bildungsmaterials  für  die  Harnsäure. 

Wie  schon  in  unserem  vorjährigen  Bericht  kurz  erwähnt,  haben  A.  Kossei, 
und  M.  Krüger  sowohl  für  die  Harnsäure  als  auch  für  jene  Xanthinbasen,  welche 
nach  ihrer  Constitution  einen  Alloxan-  und  llarnstoffkern  haben , wie  es  das 
folgende  Schema  zeigt 


N- 


< 


-C 
l 

c 

N-i 


Alloxan 


— N 
— N 

Harnatoffkern 


den  gemeinschaftlichen  Namen  rAlloxnrbaseD:t  vorgeschlagen.  Als  regelmässige 
Restandtheile  des  Harnes  sind  bis  jetzt  folgende  Alloxurbasen  bekannt : Harn- 
säure, Xanthin,  Guanin,  Hypoxanthin,  Carnin,  Paraxanthin  und  Heteroxanthin. 
Bekanntlich  stammen  nach  IIorbaczewski  sowohl  die  Harnsäure  als  auch  die 
Xanthinbasen  aus  einer  in  den  Leukocyten  vorkommenden  nudeln  haltigen  Atom- 
gruppe, welche  einmal  bei  genügender  Oxydation  Harnsäure  liefert,  andererseits 
bei  der  Abhaltung  der  Oxydation,  durch  einfache  Spaltung  nur  zur  Bildung  vou 
Xanthinbasen  führt.  Die  Beziehung  von  Harnsäure  und  Xanthinbasen  ist  in  Bezug 
auf  ihre  Entstehung  nach  Horbaczkwski  experimentell  dadurch  gegeben,  dass 
die  ans  der  gleichen  Menge  Milzpulpalösung  gebildete  Harnsäure  derselben 
Qnantität  Stickstoff  entspricht  als  die  bei  Abhaltung  der  Oxydation  durch  ein- 
fache Spaltung  aus  der  gleichen  Menge  Milzpulpa  gebildeten  Xanthinbascu.  Stellt 
man  nnn  der  Harnsäure  als  sauren  Alloxurkörper  die  oben  genannten  Basen  als 
Alloxurbasen  gegenüber,  dann  ergiebt  sich  für  den  Kliniker  die  Frage:  unter 
welchen  pathologischen  Verhältnissen  des  Organismus  sind  die  Alloxurbasen  auf 
Kosten  der  Harnsäure  vermehrt?  giebt  es  Zustände,  bei  welchen  die  Ausschei- 
dung der  Alloxurbasen  durch  die  Niere  gehindert  ist  und  die  der  Harnsäure 
nicht?  In  welchem  Lichte  erscheint  die  Lehre  von  der  sogenannten  Harnsäure- 
retention vom  Standpunkte  der  obigen  Frage?  Die  Lösung  dieser  Fragen  der 

Encvclop.  Jahrbücher.  VI. 


242 


HARN. 


klinischen  Medicin  (s.  lieber  Wesen  und  Behandlung  der  uratischeu  Diathese 
von  Dr.  Rudolf  Kolisch  aus  der  II.  med.  Klinik  [Prof.  Neuss  er]  in  Wien. 
Stuttgart.  Verlag  von  Ferd.  Enke,  1895)  konnte  jedoch  nur  dann  in  Angriff 
genommen  werden,  wenn  eine  Methode  zur  getrennten  Bestimmung  der  Harn- 
säure und  der  Alloxurbasen  im  Harne  gegeben  war.  Eine  solche  Methode  boten 
Krüger  und  Wulff  >•)  dar.  Sie  beruht  auf  der  Eigenschaft  der  im  Harn  vor- 
kommenden Alloxurkörper,  mit  Kupfersulfat  nach  vorheriger  Reduction  unlös- 
liche Verbindungen  zu  bilden.  Bestimmt  mau  nun  in  einer  Portion  des  Harns 
die  Menge  des  den  Alloxurkörpern  entsprechenden  Stickstoffs,  in  einer  anderen 
Portion  des  Harns  die  der  Harnsäure  allein  entsprechende  N-Menge,  so  giebt  die 
Differenz  die  in  den  Alloxurbasen  enthaltene  N-Menge,  beziehungsweise  die  der 
Alloxurbasen  selbst  verglichen  mit  der  der  Harnsäure. 

Die  Ausführung  der  Methode  im  Harn  ist  in  ihren  GrundzUgeu  folgende: 

100  Ccm.  des  eiweissfreien  Harns  werden  zum  Sieden  erhitzt  und  hierauf 
mit  10  Cm.  einer  concentrirten  Lösung  von  Natriumbisulfit  und  10  Ccm.  einer 
13°  „igen  Lösung  von  Kupfersulfat  versetzt.  Nach  dem  Zusatz  der  beiden 
Reagentien  wird  die  Flüssigkeit  noch  einige  Minuten  im  Sieden  erhalten.  Nach 
dem  Abkuhlen  (nicht  vor  2 Stunden)  wird  von  dem  entstandenen  Niederschlag 
abfiltrirt,  und  zwar  am  besten  über  ein  Faltenfilter  aus  schwedischem  Filtrir- 
papier.  Der  Niederschlag  wird  fünfmal  mit  frisch  ausgekochtem  destillirten  Wasser 
von  50 — 60°  gewaschen  und  dann  feucht  in  einem  Kjeldahlkolben  zur  Stick- 
stoff bestimraung  weiter  verarbeitet.  Der  Stickstoffgehalt  des  Niederschlages  ent- 
spricht der  Summe  der  Alloxurkörper.  Der  Basenstickstoff  wird  durch  die  Diffe- 
renz aus  der  Summe  weniger  Harnsäurestickstoff  berechnet.  Die  Harnsäure  wird 
nach  der  üblichen  Methode  von  SalkOwsKI-Ludwig  bestimmt  (s.  auch  Encyclop. 
Jahrb.,  V,  pag.  254). 

Es  lag  nahe,  die  eben  geschilderte  Methode  von  Krüger  und  Wulff 
auch  zur  Bestimmung  der  Harnsäure  allein  in  der  Weise  zu  benützen , dass  iu 
einer  2.  Probe  des  zu  untersuchenden  Harns  vor  der  Fällung  der  Alloxurkörper 
die  Harnsäure  durch  Oxydation  entfernt  wird ; eine  auf  diesem  Princip  beruhende 
Methode  bat  M.  Krüger17)  ausgearbeitet  und  cs  sei  bezüglich  deren  Ausführung 
auf  das  Original  verwiesen. 

R.  Kolisch  und  H.  Do.stal13)  betrachten  die  Ausscheidungsverhältnisse 
der  Alloxurkörper  im  Harn  unter  folgenden  zwei  klinischen  Gruppen:  1.  Ver- 
mehrung der  Menge  der  Alloxurkörper  in  toto.  2.  Normale  Menge  der  Alloxur- 
körper,  aber  die  Menge  der  Buseu  auf  Kosten  der  Harnsäure  vermehrt.  Der 
erste  Fall  findet  sich  bei  der  Leukämie  als  Folge  des  Zerfalles  der  vermehrten 
Leukocyten,  ferner  bei  der  uratischen  Diathese;  hier  noch  nicht  aufgeklärt. 
Den  zweiten  Fall  constatirten  Kolisch  und  Dostal  bei  schwerer  Auämie  mit 
acutem  Blutzerfall  (s.  auch  „Ueber  die  durch  acuten  Blutzerfall  bedingten  Ver- 
änderungen des  Harns“  von  Kolisch  und  Stejskal,  Zeitschr.  f.  klin.  Med.  XXVII), 
sowie  bei  allen  Nephritiden.  Bei  dem  raschen  Blutzerfall  wird  die  verminderte 
Harnsäuremenge  durch  ungenügende  Oxydation  bedingt ; bei  der  Nephritis  wird 
dies  dadurch  erklärt,  dass  das  Nierengewebe  eine  der  llauptbildungsstätten  der 
Harnsäure  darstellt. 

Nach  Verfütterung  von  Theobromin  (Dimethylxanthin)  und  Coffein 
Trimethylxanthin)  an  Thieren  und  auch  an  Menschen  fanden  St.  Bondzynski 
und  R.  Gottlieb  *’)  eine  Substanz  im  Harn,  die  sich  durch  die  Analyse  als 
Methylxanthin  erwies.  Es  würden  also  im  Organismus  von  dem  Molecüle  des  Theo- 
bromius  und  Coffeins  Metbylgruppen  abgespaltct.  Die  Verfasser  vermnthen,  dass  auch 
das  von  Salomon  im  Harne  aufgefundene  Heteroxanthin,  welchem  die  Formel 
des  Mctbylxanthins  zukommt,  einen  ähnlichen  Ursprung  habe,  das  heisst,  dass  die 
Muttersubstanz  desselben,  welche  bisher  unter  den  Xanthinkörperu  der  Zellkerne 
nicht  aufgefundeu  werden  konnte,  unter  den  höher  methylirten  Xanthinderivaten 
der  Pfianzrntiahrung  zu  suchen  sei. 


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HARN. 


243 


In  einem  Falle  von  lvmphatisch-lienaler  und  myelogener  Leu- 
kämie bestimmten  8t.  Bondzynski  und  R.  Gottlieb  20)  die  im  Harn  ausgeschie- 
denen Xanthinbasen  und  fanden  dieselben  bis  auf  das  3-  und  4fnche  des 
normalen  Werthes  vermehrt , so  dass  Bie  häufig  den  Werth  der  Harnsäureaus- 
scheidung erreichten.  Versuche,  bei  denen  der  Kranke  1 — 2,5  Grm.  Theobromin 
eingefttbrt  erhielt  und  die  er  entweder  als  solches  oder  in  Form  von  Methyl- 
xanthin beinahe  in  gleicher  Menge  wieder  ausschied,  deuten  diese  Forscher  dahin, 
dass  die  gesteigerte  Ausscheidung  der  Xanthinkörper  nicht  etwa  auf  einer  ge- 
hinderten Zerstörung  derselben  im  Organismus  beruht,  sondern  dass  sie  von  dem 
Kernzerfall  der  Leukocyten  im  Körper  herrilhrt.  Die  aus  diesem  Zerfall  hervor- 
gehenden Xanthinkörper  verhalten  sich  offenbar  in  anderer  Weise  als  die  vom 
Darme  aus  resorbirten.  Gleichzeitig  nehmen  sie  bei  der  Leukämie  eine  Herab- 
setzung der  Oxydation  in  den  Geweben  an,  wie  das  auch  das  Auftreten  grosser 
Mengen  flüchtiger  Fettsäuren  im  Harne  beweist. 

Das  Vorkommen  einer  neuen  stickstoffhaltigen  Säure  im  Harn  der 
Fleischsäure  hat  Max  Siegfried21)  nachgewiesen.  Auch  C.  W\  Rockwood2*) 
fand  dieselbe  im  Harn,  zugleich  beobachtete  er,  dass  sie  theilweise  als  Phosphor- 
fleischsäure darin  auftritt,  damit  sind  eine  neue  stickstoffhaltige  Säure  und 
eine  neue  Art  des  organisch  gebundenen  Phosphors  im  Harn  gegeben.  M.  SIEGFRIED 
isolirte  die  Fleischsäure  aus  der  von  ihm  aus  der  wässerigen  Fleischextractlösung 
dargestellten  Eisenverbindung  der  Phosphorfleischsänre,  welche  er  als  Carni- 
ferrin  (s.  d.)  beschrieb.  Er  hält  die  Fleischsäure  identisch  mit  dem  bei  der 
Trypsinverdauung  der  Eiweisskörper  entstehenden  Antipepton  von  Kühne. 

Die  Bestimmung  des  Kreatinins  im  Harn  mit  Verwendung  der 
K.iELDAHL’schen  Methode  führt  R.  Kolisch  **)  in  folgender  Weise  aus.  Man 
fallt  200  Ccm.  Harn  mit  so  viel  Kalkmilch  und  Chlorcalcium,  dass  das  Gesammt- 
volum  220  Ccm.  beträgt,  filtrirt,  säuert  200  Ccm.  des  Filtrats  mit  Essigsäure  an 
und  lässt  zum  Syrup  eindunsten.  Den  Rückstand  extrahirt  man  noch  heiss  4- 
bis  5 mal  mit  Alkohol,  bringt  diesen  in  ein  Kölbchen,  das  die  Marken  100  und 
110  Ccm.  trägt,  füllt  bis  zur  2.  Marke  auf  und  filtrirt.  Zu  100  Ccm.  des  Filtrats 
setzt  man  nun  eine  Lösung  von  30  Grm.  Sublimat,  1,0  Grm.  cssigsaurem  Natron 
und  3 Tropfen  Eisessig  in  125  Ccm.  absolutem  Alkohol  so  lange  zu,  als  noch 
Fällung  eintritt.  Der  sich  rasch  absetzende  Niederschlag  wird  abfiltrirt  und  mit 
absolutem  Alkohol,  dem  etwas  Natriumacetat  und  Essigsäure  zugesetzt  sind , so 
lange  gewaschen,  bis  das  Filtrat  beim  Neutralisircn  keine  Trübung  (von  Harn- 
stoffquecksilber) mehr  zeigt.  Durch  Bestimmung  des  Stickstoffs  nach  Kjeldahl 
wird  der  Stickstoffgehalt  des  Niederschlages  ermittelt. 

Bezüglich  des  Verhältnisses  der  pathologischen  Acetonausschei- 
dung  zur  Gesammtstickstoffausscheidung  gelangt  P.  Palma24)  auf  Grund  der 
Untersuchung  von  einschlägigen  Harnen  ( Diabetes  mellitus,  Typhus,  Phosphor- 
vergiftung, Careinom  etc.)  zu  dem  Schlüsse,  dass  zw-ar  das  Aceton  in  jenen  Fällen, 
wo  gesteigerter  Eiweisszerfall  vorliegt,  vermehrt  erscheint , dass  jedoch  ein 
Parallelismus  zwischen  Eiweisszcrfall  und  Acetongehalt  nicht  zu  constatiren  ist. 
Doch  scheinen  ihm  in  Anbetracht  auf  die  leichte  Zersetzlichkeit  des  Acetons 
diese  Resultate  nicht  gegen  die  Theorie  der  Entstehung  des  Acetons  durch 
Oxydation  von  Eiweiss  zu  sprechen. 

Gegen  die  allgemein  herrschende  Theorie,  nach  welcher  Acetonurie 
durch  gesteigerten  Eiweisszerfall  bedingt  ist,  nimmt  IIikschkeld  28)  Stel- 
lung. Er  fand  stets  vermehrte  Acetonausscheidung  bei  Ausschluss  der  Kohlen- 
hydrate aus  der  Nahrung,  und  zwar  steigend  bis  zum  8.  Tage,  um  sich  von  da 
an  im  Wesentlichen  auf  der  gleichen  Höhe  zu  erhalten,  ferner  dass  die  Aceton- 
urie bei  reichlicher  Eiweisszufuhr  geringer  wird  als  bei  massiger  und  dass  beim 
Hunger  annähernd  ebenso  viel  Aceton  ausgeschieden  wurde  als  bei  Deckung  des 
Sloffbedarfes  durch  mässige  Mengen  von  Eiweiss  und  reichliche  Fettzufuhr,  so 
dass  also  die  Acetonurie  nicht  aus  einem  Zerfall  von  Eiweiss  resultiren  kann. 


244 


HA  KN. 


Eine  durch  das  Wegfallen  der  Kohlehydrate  aus  der  Nahrung  erzeugte  Aceton- 
ausscheidung kann  durch  einen  Zusatz  von  50 — 100  Grm.  Kohlehydrate,  haupt- 
sächlich Stärke,  verschiedene  Zuckerarten  und  Glycerin  wieder  zum  Verschwinden 
gebracht  werden,  während  Alkohol,  angestrengte  Muskelthätigkeit  und  gewisse 
Medicamente,  wie  Karlsbader  Salz,  Natrium  ttalicyl..  Antipyrin,  die  Acetonarie 
nicht  beeinflussen.  Auch  das  Bestehen  einer  besonderen  febrilen  Acetonurie  weist 
HirhCHFEI.Ii  zurück ; auch  die  Acetonurie  bei  Kranken  lässt  sich  durch  Dar- 
reichung kohlehydrathältiger  Nahrung  verringern. 

Von  Interesse  ist  auch  das  von  Ernst  Becker  **)  constatirte  Vorkommen 
einer  Acetonausscheidung  im  Harne  bei  gesunden  narkotisirten  Personen, 
und  zwar  stunden-  oder  tagelang  nach  der  Narkose.  Diese  Acetonurie  trat  in 
etwa  zwei  Dritteln  der  Narkosen  mit  Aethcr,  Aethylbromid,  Chloroform,  Aether- 
chloroform  auf;  schon  vorhandene  Acetonurie  wurde  durch  die  Narkose  erheb- 
lich vermehrt.  Becker  ist  geneigt,  diese  Art  der  Acetonurie  in  gleicher  Weise 
wie  die  bei  Diabetes,  Carcinose,  Inanition  , Psychosen  vorkommende,  als  Zeichen 
eines  vermehrten  Eiweisszerfalles  anzusehen.  — Eine  Methode  zur  Bestimmung 
des  Acetons  im  Harndestillat  mittelst  des  Vaporimeters  (durch  Bestimmung  der 
Dampftension)  hat  Euilio  Parlato  ,!)  angegeben. 

Bei  der  Bestimmung  des  Acetons  im  Harn  durch  die  Destillation 
macht  E.  Salkowski  *»)  die  Beobachtung , dass  bei  Verwendung  von  reichlicher 
Schwefelsäure  grössere  Mengen  von  Jodoform  erhältlich  sind  als  bei  Verwendung 
von  Essigsäure.  Wahrscheinlich  ist  als  Ursache  dieser  Erscheinung  die  Bildung 
von  Aldehyd  aus  den  Kohlehydraten  des  Harnes  zu  betrachten.  Es  wurden 
nämlich  bei  der  Destillation  von  Traubenzucker  und  anderer  Kohlehydrate  mit 
Schwefelsäure  reichliche  Mengen  Jodoform  liefernder  Substanz  erhalten,  und  zwar 
auch  dann,  wenn  unter  Verhältnissen,  respective  Verdünnungen  gearbeitet  wurde, 
wie  sie  im  Harn  vorliegen ; die  Menge  dieser  Substanz  hing,  wie  auch  im  Harne, 
von  der  verwendeten  Schwefelsäuremenge  ab.  Die  Substanz  gab  alle  Reactionen 
des  Acetons,  auch  die  REiNOLD-GuxNlNß’sche  Probe.  Bei  Anstellung  dieser, 
welche  Salkowski  in  der  Weise  ausführt,  dass  er  die  alkoholische  Qucck- 
silberoxydsuspension  tropfenweise  der  zu  prüfenden  Flüssigkeit  zufttgt,  wobei  dann 
nach  Massgabe  der  vorhandenen  Acetonmengen  mehr  weniger  reichliche  Lösung 
erfolgt,  zeigte  sich,  dass  in  der  klaren  Lösung  allmälig  metallisches  Quecksilber 
ausgeschieden  wurde ; auch  Silberlösungen  wurden  in  der  für  Aldehyde  charak- 
teristischen Weise  rcducirt.  Salkowski  leitet  hierans  die  Regel  ab,  bei  der  De- 
stillation des  Acetons  aus  dem  Harne  nur  schwach  (mit  Essigsäure)  anzusäuera 
und  die  Destillation  nicht  zu  weit  zu  treiben. 

Malkrba  *»)  fand  im  Dimethylparaphenylendiamin  oder  Paramido- 
dimet  hv  lanil  in , NH,C,H4N(CHS)„  ein  neues  Reageus  auf  Aceton  und  auf  Harn- 
säure. Es  wird  in  1 — 2%igcr  wässeriger  Lösung  angewendet.  Die  Acetonreaction 
muss  mit  dem  Destillate  des  Harns  gemacht  werden.  Das  Reagens  bewirkt  zunächst 
rosige  bis  röthliche  Färbung,  die  sich  im  Laufe  einiger  Stunden  mehr  in’s  Violette 
zieht  und  in  den  nächsten  Tagen  in  Blutroth  übergeht.  Bei  Zusatz  von  Alkali 
verschwindet  das  Roth,  durch  concentrirte  Mineralsäure  entsteht  violette  Färbung. 
Merkwürdig  ist  dabei,  dass  die  gefärbte  Flüssigkeit  fast  genau  das  Spectrum  des 
Oxyhämoglobins  zeigt.  Lässt  man  die  Flüssigkeit  einige  Tage  unter  Luftabschluss 
stehen,  so  geht  daB  Blutroth  in  röthliches  Gelb  über,  wobei  die  beiden  Absorptions- 
streifen fast  völlig  verschwinden.  Schüttelt  man  dann  mit  Luft,  so  kehren  Farbe 
und  Absorptionsstreifen  wieder. 

Auf  Harnsäure  reagirt  man  in  der  Weise,  dass  man  die  zu  prüfende 
Substanz  in  conrentrirter  Salpetersäure  löst  und  znr  Trockne  verdampft.  Dem 
nun  entstehenden  gelbrothen  Fleck  setzt  man  einige  Tropfen  des  Reagens  hinzu, 
wobei  ein  spiegelndes  Blauviolett  entsteht,  das  beim  Erkalten  wieder  verschwindet 
und  beim  Erwärmen  wieder  auftritt.  Bezüglich  der  näheren  Details  verweisen  wir 
auf  das  Original. 


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HARN. 


245 


lieber  den  Zusammenhang  der  Ausscheidung  von  Aceton, 
Diacetsäure  und  £i-Oxy  buttersä  urc  mit  den  Stoffwechselvorgängen  bei 
Diabetes  mellitus  ist  bis  nun  wenig  bekannt.  B.  Weintraud  so)  schildert  zunächst 
einen  Fall  von  schwerem  Diabetes,  in  welchem  nach  lOOtägiger  Entziehung  der 
Kohlehydrate  und  Einschaltung  eines  Hungertages  endlich  Zuckerfreiheit  des 
Harnes  erzielt  worden  war  und  in  welchem  sich  der  Kranke  in  Folge  grosser 
Toleranz  gegen  Fette  vollständig  im  Stoffwechselgleichgewichte  erhielt,  dabei  aber 
beständig  Aceton,  Diacet-  und  j-Oxy  buttersäure  ausschied.  Die  Versuche,  durch 
Anwendung  von  Arzneikörpern  und  durch  diätetische  Massnahmen  die  Ausschei- 
dung der  obengenannten  Substanzen  zu  beeinflussen,  ergaben  unter  Anderem,  dass 
Zufuhr  von  Alkali  in  Form  von  milchsaurem  und  kohlensaurem  Natron  die 
Acetonausscheidung  gewaltig  erhöhte,  ohne  gleichzeitig  die  Js-Oxybuttersäure- 
ausscheidung  zu  erniedrigen  (Milchsäure  trat  dabei  nicht  in  den  Harn  über); 
Nahrungsaufnahme,  und  zwar  nicht  nur  Aufnahme  von  Kohlehydraten,  sondern 
auch  solche  von  Fleisch  und  Fett,  brachte  eine  Herabsetzung  der  Acetonmengen 
hervor.  Bezüglich  des  täglichen  (langes  der  Acetonausscheidung  fand  sich  der 
Nachturin  am  reichsten  an  Aceton  und  auch  an  Oxybuttersäure ; im  Vormittags- 
urin, der  relativ  am  meisten  Ammoniak  enthielt,  war  am  wenigsten  Aceton  vor- 
handen. Aehnlich  verhält  es  sich  bei  der  physiologischen  Acctonurie,  wie  sie 
nach  Entziehung  von  Kohlehydraten  auftritt.  Die  Eingabe  organischer  Säuren, 
auch  der  optisch  inactiven  Oxybuttersäure,  auch  der  Lävulinsäure,  hatte  keine 
Veränderung  der  Harnbefunde  zur  Folge;  nur  bei  subcutaner  oder  intravenöser 
Anwendung  sehr  grosser  Dosen  von  Lävulinsäure  trat  bei  Hunden  vorübergehend 
eine  geringe  Acctonurie  auf. 

Die  bei  verschiedenen  Krankheiten  zur  Ausscheidung  gelangenden  Mengen 
von  Phenolen,  der  gepaarten  und  präformirten  Schwefelsäure  und  des 
Indicans  untersuchte  Alois  Strasser.  *')  Für  die  Bestimmung  der  Phenole  be- 
nützte er  die  Methode  von  Kossler  und  Penny.  Er  fasst  seine  Resultate  dahin 
zusammen,  dass  Vermehrung  der  Phenole  auftritt:  bei  acuten  Infectionskrankheiten 
(Typhus  in  der  ersten  und  zweiten  Woche)  Pleuropneumonie,  Pneumonie  in  Lösung, 
weiter  in  allen  Fällen  von  localen  Eiterungen  und  Jauchungen  (Pyopneumothorax, 
Bronchitis  putrida,  Gangrän,  Peritonitis),  endlich  bei  Diabetes  mellitus ; normale 
Mengen  bei  Cystitis,  Leukämie  und  bei  Typhus  8 Tage  nach  der  Entfieberung; 
verringerte  Mengen  bei  chronischer  Anämie,  bei  Typhus  während  der  Entfieberung, 
bei  Ileus  mit  lange  dauerndem  starken  Kotherbrechen , bei  acuter  Phosphor- 
vergiftung und  bei  hypertrophischer  Lebercirrhose.  Die  Resultate  stehen  im  grossen 
Ganzen  mit  den  früher  bekannten  im  Einklänge,  nur  sind  die  absoluten  Werthe 
in  Folge  der  verwendeten  genaueren  Methode  grösser.  Die  Indicanausscheidung, 
sowie  die  Aenderung  des  Verhältnisses  der  Aetherschwefelsäuren  gegenüber  der 
präformirten  Schwefelsäure  zeigte  keine  Regelmässigkeit  mit  den  Schwankungen 
der  I’hcnolmengen. 

Bruno  Opplers>)  hat  in  Rücksicht  auf  die  prognostische  Bedeu- 
tung des  Auftretens  der  Acetessigsäure  im  Urin  insbesondere  bei  Diabetes 
mellitus  ein  Verfahren  zur  Feststellung  der  Intensität  der  sogenannten  Gerhardt- 
schcn  Reaction  (Burgunderrothfärbung  des  Harnes  auf  Zusatz  von  Eisenchlorid) 
angegeben.  Das  Princip  der  Methode  beruht  darauf,  dass  die  durch  Eisenchlorid 
hervorgerufene  Bordeauxfärbung  des  Harns  durch  Mincralsäuren  wieder  zum 
Schwinden  gebracht  wird  und  demgemäss  die  zu  diesem  Zwecke  verbrauchte 
Mineralsäure  als  Mass  der  vorhandenen  Acetessigsäure  dienen  kann.  Zur  Aus- 
führung dient  folgendes  Verfahren: 

In  zwei  Reagensgläser  werden  je  5 Ccm.  des  zu  untersuchenden  l’rins 
mit  der  Pipette  eingefüllt,  dann  zu  beiden  gleichmässig  so  lange  tropfenweise 
Liquor  ferri  sesquichlorati  zugesetzt,  als  die  Rothfarbung  noch  an  Intensität 
zuzunehmen  scheint,  wozu  im  Allgemeinen  5 — 8 Tropfen  genügen.  Dann  fügt 
man  tropfenweise  zu  den  einen  5 Ccm.  Harn  so  viel  officinelle  Salzsäure,  bis 


gle 


24ö 


HARN. 


jede  Spur  von  Rothfärbung  gerade  verschwunden  ist  (4  — 10  Tropfen)  und  nun 
nur  noch  die  aus  der  Eigenfarbe  des  Urins  und  der  des  Liquor  ferri  sesqui- 
chlornti  resultirende,  mehr  oder  weniger  starke  Gelbfärbung  vorhanden  ist.  Dabei 
löst  sich,  falls  das  nicht  schon  vorher  im  Ueberschuss  des  Eisenchlorids  geschehen 
ist,  der  anfangs  gebildete  Phosphatniederschlag  wieder  auf.  Nun  titrirt  man  die 
zweiten  5 Ccm.  Harn  mit  Normalsalzsäure,  bis  die  Farbe  der  der  ersten  Probe 
genau  entspricht  und  hat  nun  in  der  Anzahl  der  verbrauchten  Cubikcentimeter 
Normalsalzsäure  einen  zahlenniässigen  Ausdruck  für  die  Intensität  der  Reaction. 
Die  für  die  Titration  nothwendigen  Mengen  Normalsäure  schwanken  meist  zwischen 
0,6  und  3,0  Ccm.  Statt  Salzsäure  lässt  sich  wohl  ebensogut  Normalschwefelsäure 
verwenden. 

Salpetrige  Säure  im  Ham  fand  P.  Richter**)  in  vier  Fällen  von 
Mngendarm  erkrankung.  Auf  diesen  Befund  lenkte  der  Umstand  hin,  da>s 
die  Indicanreaction  im  Harn  bereits  auf  Zusatz  von  Salzsäure  auch  ohne  Zusatz 
von  Chlorkalk  auftrat.  Die  oxydirende  Substanz,  welche  die  Reaction  hervorrief, 
wurde  als  salpetrige  Säure  im  Harn  identificirt.  Zwei  weitere  Fälle,  bei  denen 
salpetrige  Säure  im  Harn  auftrat,  ein  Carcinom  der  Bauchorgane  und  eine  acute 
gelbe  Leberatrophie  wurden  bakteriologisch  untersucht.  Bcidemale  konnte  auf 
Agar  der  gleiche  Coccus  gezüchtet  werden,  der  im  Stande  war,  im  sterilen  Harn 
nach  24  Stunden  intensive  salpetrige  saure  Reaction  hervorzurufeu,  auch  Nitrate 
der  Nährböden  zu  Nitriten  zu  reduciren. 

Wie  S.  Lang  *‘)  nachweist , erhält  der  nach  Einnahme  von  Blausäure, 
ferner  der  Nitrile,  der  Essig-,  Propion-,  Butter-  und  Capronsäure,  nicht  aber 
von  Benzonitril  ausgeschiedene  Harn  die  Eigenschaft,  mit  Eiscnchlorid  eine  rothe, 
gegen  Mineralsäure  beständige  Färbung  anzunehmen.  Diese  Reaction  wird,  wie 
S.  Lang  zeigt,  durch  die  Anwesenheit  von  Rhodan  Verbindungen  bedingt.  Es 
wird  also  die  CN  Gruppe  im  Organismus  mit  der  Sulfhydrylgruppe  gepaart  und  auf 
diese  Weise  eutgiftet,  der  grösste  Theil  des  gebildeten  Rhodans  wird  im  Körper 
weiterverbrannt  und  nur  ’/s — '/«  desselben  gelangt  im  Verlaufe  mehrerer  Tage 
zur  Ausscheidung.  S.  Lang  nimmt  an , dass  auch  bei  der  Bildung  von  Aether- 
schwefelsäuren  im  Organismus  zuerst  die  SH-Gruppe  an  das  Phenol  angelagert 
wird,  welche  dann  zu  SO,  H oiydirt  wird.  Auch  das  von  Salkowski  beobachtete 
Auftreten  von  unterschwefliger  Säure  bei  Eingabe  von  Isäthionsäure  ist  eine  solche 
Sulfhydrirung.  Es  ist  in  dieser  Beziehung  von  Interesse,  dass  man  durch  Er- 
leichterung dieses  Processes  — Eingabe  von  Schwefelnatrium  oder  noch  besser 
von  unterschwefligsaurem  Natron  — die  Giftigkeit  der  Blausäure  bei  Kaninchen 
um  das  Doppelte  herabsetzen  kann.  Nach  W.  Pascheles*6)  ist  es  der  locker 
gebundene  Schwefel  der  Kiweisskörper,  auch  der  überlebenden  Organe,  ja  selbst 
des  coagulirten  Eiweisses,  welcher  die  Sulfhydrirung  der  Cyangruppe  bewirkt. 

Der  gesammte  Schwefel  des  Harnes  wird  zumeist  nach  L'Ebig  durch 
Schmelzen  mit  Salpeter  und  Kalihydrat  oder  nach  Carids  durch  Erhitzen  des 
Harnes  mit  coneentrirter  Salpetersäure  im  zugeschlossenen  Rohr  bestimmt.  Bei 
letzterer  Methode  wird  leicht  aus  dem  Glase  Schwefelsäure  aufgelöst  (0,00040  Grm. 
schwefelsaurer  Baryt  für  jede  Operation,  wenn  nur  Salpetersäure  ohne  Harn  an- 
wendet wurde);  die  erstere  Methode  stellt  sehr  hohe  Anforderungen  an  die 
Reinheit  der  Reagentien,  besonders  des  Aetzkalis.  P.  Mohr  *■’•)  schlägt  darum  fol- 
gendes Verfahren  vor:  10  Ccm.  Harn  werden  in  einer  Porzellanschale  auf  dem 

Wasserbad  mit  10 — 15  Ccm.  reiner  rauchender  Salpetersäure  eingedampft,  wobei 
es  gut  ist,  anfangs  einen  Glastrichter  dartiberzustellen,  um  Verluste  durch  Ver- 
spritzen zu  vermeiden.  Der  Abdanipfrttckstand  wird  zur  Abscheidung  der  Kiesel- 
säure mehrmals  mit  coneentrirter  Salzsäure  abgedampft,  gelöst,  filtrirt,  und  dann 
in  üblicher  Weise  mit  Chlorbarium  gefällt.  Die  angeführten  Analysen  zeigen  sehr 
gut  stimmende  Wertlie;  die  neue  Methode  lieferte,  besonders  häufig  bei  Thier- 
harnen, etwas  niedrigere  Werthe  als  jene  nach  Liebig  oder  Carius,  doch  beträgt 
die  Differenz  der  in  Procenten  ansgedrückten  Resultate  nur  0,005 — 0,01, 


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welche  von  MOHR  auf  die  obengenannten  Fehlerquellen  letzterer  Methoden  zurück- 
gefuhrt  wird. 

Die  Uber  die  Ausscheidung  des  Calciums  und  Magnesiums  unter 
normalen  Verhältnissen  ausgeführten  Untersuchungen  von  Siegfried  Neu  mann 
und  Bernhard  Vas,#)  ergaben  bei  einem  Manne  im  mittleren  Alter  eine  Aus- 
scheidung im  Harn  von  täglich  im  Durchschnitt  0,39  Grm.  C'alciumoxyd  und 
0,18  Grm.  Magnesiumoxyd,  dabei  war  der  Nachtharn,  besonders  der  von  4 bis 
8 Uhr  Früh,  am  reichsten  an  diesen  Bestandteilen,  der  von  4 — 8 IThr  Abends 
am  ärmsten.  Von  dem  in  der  Nahrung  eingeführten  Kalk  erschienen  in  einem 
Falle  durchschnittlich  '/»,  von  der  Magnesia  etwa  t/4  wieder,  ln  pathologischen 
Verhältnissen  war  vermehrte  Ausscheidung  der  beiden  Erdalkalien  nur  bei  einem 
Falle  von  Diabetes  vorhanden;  in  einem  Falle  von  pleuritischem  Exsudat 
stieg  die  anfangs  geringe  Ausscheidung  gleichzeitig  mit  der  Aufsaugung  des 
Exsudates.  Siegfried  Nedmann  ”)  studirte  die  Ausscheidung  der  Erdphosphate 
in  einem  Falle  von  Osteomalacie.  Es  wurden  je  zwei  siebentägige  ganz  genaue 
Stoffwechseluntersuchungen  vorgenommen.  Die  erste  davon  entspricht  noch  der 
schweren  Erkrankung,  die  zweite  fällt  in  das  Stadium  der  rasch  fortschreitenden 
Besserung.  Die  auffallendsten  Verhältnisse  zeigt  die  Phosphorsäureausscheidung. 

Dieselbe  war  für  den  Harn  normal  oder  wenig  gesteigert,  in  Harn  und  Koth 
zusammen  jedoch  wurden  während  der  ganzen  ersten  Periode  um  15  Grm.  PS0S 
mehr  entleert,  als  mit  der  Nahrung  aufgenommen , in  der  zweiten  (Besserungs-) 

Periode,  wo  der  Harn  nur  etwa  die  Hälfte  der  normalen  Phosphormenge  enthielt, 
zeigte  sich  eine  Retention  derselben  von  14,78  Grm.  (der  Koth  dieser  sieben- 
tägigen Periode  enthielt  nur  2,7  Grm.  P208).  Die  Calciumansscheidung  durch  die 
Niere  war  während  der  ersten  Periode  gegen  die  Norm  nicht  verändert,  in  der 
zweiten  Periode  zeigte  sie  sich  vermindert.  Bei  Beobachtung  der  Gesammtaufnahme 
au  Kalk  zu  seiner  Entleerung  ergab  sich  eine  Retention  desselben  im  Organismus 
in  der  ersten  Periode  von  5,5,  in  der  zweiten  von  3,8  Grm.  Von  der  Magnesia 
w urde  in  der  ersten  Periode  ein  Mehr  von  1,9  Grm.  ausgeschieden,  in  der  zweiten 
Periode  aber  0,36  Grm.  im  Organismus  zurückgehalten.  Dabei  zeigte  sich  die 
Menge  des  Magnesiums  im  Harne  im  Verhältniss  zu  der  des  Calciums  sehr 
herabgedrückt,  ein  Vorkommen,  wie  es  auch  im  Ilungerzustande  beobachtet  wird. 

Den  im  normalen  Menschenharn  vorkommenden  Proteinstoffen 
hat  K.  A.  II.  Mörneus,>)  eine  eingehende  Untersuchung  gewidmet,  welche,  wie  alle 
Arbeiten  dieses  gediegenen  Forschers,  die  vollste  Würdigung  beansprucht.  Doch 
müssen  wir  uns  bei  dem  grossen  Umfange  der  Arbeit  darauf  beschränken,  nur 
die  Resultate  mitzutheilen.  Er  zeigt  zunächst,  dass  im  Sediment  des  normalen 
Harns,  in  der  sogenannten  Nubecula,  ein  llarnmucold  in  ungelöster  Form  vor- 
kommt. Dasselbe  findet  sich  schon  in  der  Harnblase  vor  und  sein  Ursprung  ist 
auf  die  Schleimhaut  der  Harnleiter  und  die  Blase  zurüekzuführen.  Dieses  Mucold 
kann  im  Harne  soweit  verändert  werden,  dass  es  sich  löst.  Es  kann  durch  Essig- 
säure gefällt  werden.  Die  Gegenwart  von  Salzen  verhindert  oder  verzögert  die 
Fällung.  Schütteln  mit  Chloroform  befördert  die  Fällung  oder  ruft  dielbe  beziehungs- 
weise hervor,  ln  einem  Ucberschuss  von  Essigsäure  (oder  einer  anderen  Säure) 
ist  der  Niederschlag  nicht  besonders  schwer  löslich.  Das  llarnmucold  kann  durch 
schwaches  Ammoniak  leicht  in  eine  lösliche  Form  tibergeführt  werden.  Die  übrigen 
im  (durch  Weingeist  conservirten)  Sedimente  vorhandenen  Protelnsfoffe  werden 
durch  schwaches  Ammoniak  in  nur  geringer  Menge  gelöst.  Das  von  K.  A.  H. 

Murner  analysirte  typische  llarnmucold  steht  in  seiner  elementaren  Zusammen- 
setzung dem  Sehnenmucin  von  Loebisch  und  dem  Schneckcnmucin  von  Ham.mak.sten 
nahe.  Doch  ist  es  reicher  an  Schwefel  wie  diese,  es  steht  am  nächsten  dem  Ovo- 
mucold  von  C.  Th.  Mürner  wegen  seines  hohen  Schwefelgehaltcs.  Es  wäre  daher 
das  llarnmucold  als  ein  Kcratomucold  zu  bezeichnen.  Das  llarnmucold  giebt  die 
Farben reactionen  des  Eiweisses.  Die  Lösung  des  Harmnucolds  ist  linksdrehend 
(xD  = — 62 — 67,1“  . Mit  einer  alkalischen  Kupferoxydlösung  wirkt  es  nur  sehr 

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schwach  redueirend.  Nach  dem  Kochen  mit  Salzsäure  reducirt  es  dagegen  stark, 
wenn  auch  nicht  rascher.  Ausser  diesem  ProteKnkörper  gelang  es  nun  K.  A.  H. 
Mörser,  im  normalen  dialysirten  Harn  durch  Essigsäure  und  Schütteln  mit  Chloro- 
form eine  Fällung  zu  erzeugen,  welche  aus  Eiweisg,  und  zwar  zum  grössten 
Theile  aus  Serumalbumin  bestand.  Dieser  Eiweisshörper  wird  aus  dem  Harn  nach 
Zusatz  von  Essigsäure  ausgefällt,  indem  bei  Zusatz  von  Essigsäure  eine  Verbin- 
dung des  Eiweisses  mit  den  im  Harne  vorhandenen  eiweiss fällenden  Substanzen 
gebildet  wird.  Verbindungen  dieser  Art  sind  es,  welche  unter  dem  Namen  „aufge- 
löstes Muciu“,  „mueinähnliehe  Substanz“,  „Nucleoalbumin“  beschrieben  worden 
sind.  Letzterer  Name  ist  insofern  berechtigt,  als  Nucle'insäure  ziemlich  constant 
in  der  Fällung  vorzukommen  scheint,  was  durch  den  Nachweis  von  Phosphor 
und  von  Nucletnbasen  ermittelt  werden  konnte.  Unter  den  ei  weissfällenden  Sub- 
stanzen des  Harnes  ist  jedoch  die  Nuclelnsäure  normal  von  ganz  untergeordneter 
Bedeutung,  indem  das  Nucleoalbumin  — NucleoproteVd  — nur  einen  geringen 
Theil  der  Fällung  ausmacht.  Im  normalen  Harn  nimmt  die  von  C.  Th.  MÖRXER 
zuerst  isolirtc  Chondroltinschwefelsäure  unter  den  eiweissfällendeu  Substanzen 
des  Harns  den  ersten  Rang  ein.  In  allen  Versuchen  wurde  sie  im  normalen  (und 
in  dem  schwach  eiweisshaltigen)  Harne  nachgewiesen.  Sie  wurde  sogar  fast  rein 
dargestellt,  so  dass  ihre  Eigenschaften  sicher  dargethan  werden  konnten.  Die 
Analyse  der  Fällungen  zeigte,  dass  es  hauptsächlich  diese  Säure  ist,  welche  im 
normalen  Harn  ciweissfällend  wirkt.  Möglicherweise  kann  auch  unter  normalen 
Verhältnissen  die  Taurocholsäure  in  der  Fällung  vorhanden  sein . aber  nur  in 
sehr  geringer  Menge.  Im  pathologischen  Harne  kann  sie  aber  als  eiweissfällende 
Substanz  eine  hervorragende  Bedeutung  gewinnen.  Die  Eigenschaften  der  Eiweiss- 
verbindung  wechseln  je  nach  der  Menge  der  vorhandenen  Salze,  der  relativen 
Menge  des  Eiweisses  und  der  eiweissfällendeu  Substanzen.  Je  grösser  die  relative 
Menge  der  eiweissfällenden  Substanz  ist,  desto  mehr  werden  die  Eigenschaften  des 
Eiweisses  verdeckt.  Die  Eigenschaft,  beim  Kochen  zu  coaguliren,  die  Löslichkeit 
und  die  Fällbarkeit  werden  verändert.  Gewöhnlich  hat  die  Verbindung  iu  ihrem 
Verhalten  gegen  Säuren  (wie  Essigsäure,  Salzsäure!  Aehnlichkeit  mit  einem  Nucleo- 
albumin oder  mit  einem  Muciu.  Wenn  im  Harn  die  Eiweissmenge  gesteigert  wird, 
werden  zuerst  Reactioncn , die  an  Mucin  erinnern , erhalten.  Bei  einem  noch 
grösseren  Gehalt  an  Eiweiss  treten  die  Reactionen  des  Eiweisses  hervor  und 
werden  schliesslich  ganz  vorherrschend.  K.  A.  H.  Mörneb  hält  es  für  sehr  wahr- 
scheinlich oder  fast  sicher , dass  das  Serumalbumin  in  freier  Form  abgesondert 
wird,  oder  mit  anderen  Worten,  dass  die  Absonderung  des  Eiweisses  und  der 
im  normalen  Harn  stets  vorkommenden  Chondroltinschwefelsäure  zwei  verschiedene 
von  einander  unabhängige  Processe  sind.  Den  Ursprung  der  Chondrol'tinsehwefel- 
säurc  sucht  Verfasser  in  den  Nieren , nachdem  er  in  den  Nieren  von  Rindern 
diese  Säure  nachgewieseu  hat ; im  Blute  konnte  er  sie  nicht  wieder  finden. 

Bei  der  Prüfung  auf  Nucleoalbumin  erhielt  A.  Ott*»)  durch  blossen 
Essigsäurezusatz  zum  Harn  nur  selten  ein  positives  Resultat.  Er  bediente  sich 
daher  zu  diesem  Zwecke  nach  Versetzen  des  Harns  mit  eoncentrirter  Kochsalz- 
lösung der  ALMEN’schen  Tauninlösung.  Mit  diesem  Reagens  entstand  in  jedem 
Harn,  auch  in  dem  von  Gesunden,  Trübung.  Der  Versuch,  die  durch  die  Koeh- 
salztanninlösuug  gefüllte  Substanz  zu  isoliren,  ergab  ein  negatives  Resultat. 

Für  die  Untersuchung  des  Harns  auf  Eiweiss  und  Zucker  empfiehlt 
H.  Zeehuisen4®)  eine  starke  Verdünnung  des  Urins  mit  Wasser.  Es  soll  da- 
durch eine  Ausschaltung  zufälliger  Harnbestandtheile , die  einen  positiven  Aus- 
fall der  betreffenden  Reaction  Vortäuschen  könnten , erreicht , andererseits  die 
Schärfe  der  Reaction  nicht  beeinträchtigt  werden.  Für  den  Nachweis  des  Gallen- 
farbstoffes bestätigt  ZEEHltlSEX  die  Brauchbarkeit  der  von  Jom.es  empfohlenen 
Einengung  durch  Chlorbaryum  an  pathologischen  Harnen. 

Von  der  Thatsacbe  ausgehend , dass  die  Injection  bakterieller , sowie 
nicht  bakterieller  Eiweisskörper  bei  Menschen  und  bei  Thieren  Fieber  zu  erzeugen 


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vermag,  untersuchten  Kbf.te  lind  Matthes  *')  eine  Anzahl  von  Harnen  fiebernder 
Menschen  in  der  Richtung,  ob  in  diesen  höhere  Hydrationsstufen  von  Eiweiss- 
körpern vorkämen.  Es  gelang  ihnen,  im  Harn  fiebernder  Kranker  zwei  solche 
Körper  nachzuweisen;  einmal  Deu t eroalbumose , sodann  eine  histonähn- 
liche  Substanz,  entweder  einzeln  oder  zusammen.  Das  Auftreten  dieser  beiden 
Eiweisskörper  ist  als  ein  Beweis  für  eine  Eiweissspaltung  durch  Bakterien  auf- 
znfassen,  und  es  liegt  nahe,  namentlich  den  Deuteroalbumosen  einen  Antheil  an 
der  Erzeugung  der  Temperatursteigerung  zuzuschreiben.  Die  aus  dem  Harn  ge- 
wonnene eiweissartige  Substanz  erzeugte , Meerschweinchen  eingespritzt , Fieber. 

Nach  Arthub  Edmunds  4ä)  ist  ein  Niederschlag,  den  inan  durch  Sätti- 
gung des  Harns  mit  gewissen  Salzen  erhält,  nicht  stets  als  Eiwciss  zu  betrachten, 
denn  auch  normaler  Urin  giebt  solche  Niederschläge.  So  fällt  beim  Sättigen 
mit  Ammoniumsulfat  harnsaures  Ammoniak  aus;  beim  Sättigen  mit  Magnesiuin- 
sulfat  entsteht  ein  Niederschlag  von  Calciumsulfat  und  Magnesiumphosphat.  Koch- 
salz sowie  Natriumsulfat  erzeugen  im  normalen  Harn  keinen  Niederschlag. 

A.  Ott“)  hat  16  der  gebräuchlichsten  Ei wcissreactionen  auf  ihre 
Brauchbarkeit  in  Bezug  auf  den  Harn  geprüft.  Als  zuverlässigstes  Reagens,  wel- 
ches selbst  die  minimalsten  Mengen  von  Alhuuieu  am  sichersten  und  intensivsten 
nachweist,  hat  sich  das  SPIEOLER’sche  Reagens  ( Hydrarg . bichlorat.  8,0,  Acid. 
tartaric.  4,0,  Aq.  dest.  200,0,  Sacch.  alb.  20,0)  bewährt.  Denselben  Werth  bean- 
sprucht die  Sulfosalicylsäure,  welche  den  Vortheil  bietet,  dass  sie  sehr  leicht  an- 
wendbar ist  und  zugleich  zur  Dift'erenzirung  von  Pepton  und  Albumosen  dient.  Als 
ausserordentlich  empfindlich  muss  auch  das  Mn.LON’sche  Reagens  (Acid.  phenic. 
cryst.  7,70,  Acid.  acet.  pur.  27,21,  Liq.  Potass.  85,53)  bezeichnet  werden, 
welches  empfindlicher  >st  als  das  Reagens  von  Taxret  (3,32  Jodkalium  und 
1,35  Quecksilberchlorid  in  20  Ccm.  Essigsäure  gelöst  und  die  Lösung  auf  60  Ccm. 
verdtlnut).  Beide  haben  den  Nachtheil,  dass  bei  grösserem  Urat-  und  Pepton- 
gehalt des  Harns  anch  ohne  die  Anwesenheit  von  Albuinen  eine  Trübung  ent- 
steht, welche  beim  Erwärmen  verschwindet. 

Zur  Frage  der  alimentären  Albuminurie  bestätigt  Ott  neuerdings, 
dass  die  Einfuhr  von  Eiweiss  in  den  Magen  eine  Eiweissausscheidung  im  Harne 
herbeiführen  kann,  und  zwar  bewirkt  dies  — wie  schon  Stokvis,  Prior  u.  A. 
angeben  — die  Einführung  von  rohem  Eieralbumin  früher  als  die  von  gekochtem 
Eiweiss.  Einen  Fall  von  intermittirender  Albuminurie,  den  Ott  beobachtete, 
deutet  er  als  eine  chroniscb-nephritische  Erkrankung,  welche  sich  durch  inter- 
mittireude  Albuminurie  und  zeitweises  Auftreten  von  Formelementen  aus  der 
Niere  auszeichnet.  Die  Menge  des  ausgeschiedenen -Eiweisses  ist  ausserordentlich 
wechselnd  und  verläuft  unregelmässig;  ebenso  wechseln  mit  den  Eiweissmengen 
die  gefundenen  Formelemente,  die  Bewegung  hat  einen  deutlichen  Einfluss  auf 
die  Ausscheidung  des  Albumen,  während  die  Nahrungsaufnahme,  selbst  der 
Genuss  einer  grösseren  Eiweissmenge,  keine  Veränderung  erkennen  lässt. 

Als  cy  klische  Albuminurie  bezeichnete  Pavy  (1885)  solche  Fälle,  deren 
Eiweissausscheidung  einen  bestimmten,  immer  wiederkehrenden  Cyklus  innebielt. 
K.  Osswald  “)  beobachtete  9 solcher  Albuminurien  und  gelangt  zu  dem  Resultat, 
dass  hier  keine  functionelle  Albuminurie,  sondern  eine  wirkliche  Nierenläsion  zu 
Grunde  liegt:  es  handelt  sich  um  abklingende  Nephritiden.  In  allen  Fällen  ausBer 
einem  fanden  sich  bei  öfteren  Untersuchungen  hyaline,  einige  Male  auch  epitheliale, 
Cylinder  mit  verfetteten  Epithelien. 

Die  noch  immer  strittige  Frage  der  mercuriellen  Albuminurie  hat 
Heller“)  einer  neuerlichen  Prüfung  unterworfen.  Mit  5130  Einzeluntersuchungen 
an  315  Kranken  fand  er  bei  den  Männern  in  72%  der  Fälle  nicht  die  geringste 
Spur  von  Eiweiss,  bei  58  Kranken  = 28%  fand  er  Abnormitäten  im  Harn, 
aber  nur  iu  15  Fällen  echte  Albuminurien,  sämmtlich  von  geringer  Intensität. 
Dabei  zeigte  sich,  dass  nach  Sublimatinjectionen  der  Procentsatz  der  Albuminurien 
am  geringsten  war,  bei  Schmiercuren  am  grössten.  Durchschnittlich  begann  die 


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Albuminurie  am  12.  Tage  der  Behandlung.  Bei  deu  Fraueu  war  in  ähnlicher 
Weise  in  85%  kein  Albumin  während  der  C'ur  zu  constatireu.  Von  den  Albu- 
minuriefällen  kamen  auf  die  Sclimiercur  25°/o,  auf  die  Injectionscur  2,9 Die 
Albuminurie  selbst  ist  als  eine  mercurielle  anzusehen,  nicht  als  eine  physiologische 
oder  syphilitische,  wofür  auch  das  gleichzeitige  Auftreten  von  Stomatitis  und 
Enteritis  spricht. 

Für  die  densimetrische  Bestimmung  des  Eiweisses  in  thierisehen 
Flüssigkeiten,  bei  welcher  die  Dichte  der  eiweisshaltigen  Flüssigkeit  vor  und  nach 
der  Coagulation  verglichen  und  die  ermittelte  Abnahme  der  Dichte  zur  Berech- 
nung der  gelüst  gewesenen  Eiweissmenge  benützt  wird,  empfiehlt  Th.  Lohnstein**) 
sein  gegenüber  den  bisherigen  Methoden  vereinfachtes  Verfahren  mit  Hilfe  des 
von  ihm  angegebenen  empfindlichen  Gewichtsaräometers  (s.  Bd.  V der  Encyclop. 
Jabrb.,  pag.  252).  Indem  wir  bezüglich  der  Begründung  der  Methode  und  der 
von  Lohnsteix  aufgestellten  Constante , welche  als  Factor  mit  dem  ermittelten 
Dichtigkeitsunterschiede  mult'plicirt  werden  muss,  um  den  Eiweissgehalt  zu  er- 
halten, auf  das  Original  verweisen , wrollen  wir  einige  der  angegebenen  Bestim- 
mungsverfahren, welche  gegenüber  der  Wägungsmethode  durch  die  Raschheit  der 
Ausführung  bei  genügender  Genauigkeit  den  Vorzug  haben,  hier  anführen. 

Es  werden  von  dem  zu  untersuchenden  Harn  2 Proben  zu  je  125  Ccm. 
genommen.  Die  eine  wird  im  Wasserbad  bis  zur  beginnenden  Trübung  erwärmt, 
dann  tropfenweise  mit  eoncentrirter  Essigsäure  bis  zur  grobtloekigen  Gerinnung 
verselzt.  Setzt  man  nach  5 Minuten  1 oder  2 Tropfen  eoncentrirter  Essigsäure 
hinzu  und  lässt  man  noch  5 — 10  Minuten  im  kochenden  Wnsserbad  stehen,  so 
ist  meist  die  Eiweissabscheidung  eine  vollständige.  Man  filtrirt,  spült  den  Nieder- 
schlag mit  wenig  Wasser  nach,  bringt  ihn  sammt  Filter  in  das  zur  Coagnlation 
benützte  Becherglas  zurück,  zieht  ihn  mit  etwa  100  Ccm.  Wasser  »der  in  zwei 
Fractionen  zu  50  Ccm.  auf  dem  Wasserbade  aus  und  vereinigt  sämintliche  Filtrate. 
Dieselben  sollen  zusammen  vorläufig  etwas  weniger  als  250  Ccm.  ausmachen.  Die 
andere  nicht  coagulirte  Harnprobe  wird  nun  mit  genau  ebenso  viel  Tropfen 
Essigsäure,  als  bei  der  ersten  Portion  verbraucht  worden  war,  versetzt  und  eben- 
falls mit  destillirtem  Wasser  auf  nahe  250  Ccm.  gebracht.  Beide  Harnproben 
werden  in  einem  Gefäss  mit  Wasser  auf  gleiche  Temperatur  gebracht  und  mit 
Wasser  auf  genau  250  Ccm.  aufgefüllt,  die  Differenz  der  jetzt  mit  LoHXSTKrx’s 
Aräometer  ermittelten  Dichten  mit  720  (=  2 X 360)  multiplicirt,  ergiebt  den 
Eiweissgehalt. 

Das  folgende  in  etwa  einer  halben  Stunde,  ausführbare  Verfahren  ver- 
meidet die  Verdampfung  der  Flüssigkeit  durch  die  Congulirung  unter  Oelabschluss. 
Es  wird  eine  Probe  von  250  Ccm.  Harn  in  einen  etwa  300  Ccm.  haltenden, 
am  oberen  Ende  mit  einer  Erweiterung  versehenen  Kolben  gebracht  und  mit 
etwa  20  Ccm.  Olivenöl  bedeckt.  Der  Kolben  wird  im  Wasserbad  erhitzt.  Ist 
Trübung  eingetreten , so  wird  mit  einigen  Tropfen  Eisessig  völlige  Coagulation 
erzielt.  Dieselbe  Menge  Eisessig  wird  einer  zweiten  Probe  der  Flüssigkeit  von 
250  Ccm.  zugefügt.  Man  bringt  nun  beide  Flüssigkeiten  auf  gleiche  Temperatur, 
filtrirt  die  erste  Probe  und  bestimmt  im  Filtrat  wie  in  der  zweiten  Portion  die 
Dichte  bis  auf  5 Decimnlcn.  Die  Differenz  mit  360  multiplicirt,  giebt  den  Ei- 
weissgehalt. 

Eine  weitere  von  Lohxstkin  empfohlene  Modification  verwertbet  das 
Princip,  das  abgeschiedene  Eiweiss  in  einer  Flüssigkeit  von  bekanntem  specifi- 
seben  Gewicht  zu  lösen  und  die  Eiweissmenge  aus  der  Dichtigkeitszunahme  zu 
berechnen.  Nach  Lohxstein's  Bestimmungen  muss  diese  Differenz  mit  dem  Factor 
402,45  multiplicirt  werden,  um  den  Eiweissgehalt  in  100  Ccm.  zu  erfahren. 

Bei  allen  diesen  Verfahren  ist  es  vor  der  Wahl  des  Volums  der  Eiweiss- 
lösung  wünschenswerth , eine  Vorstellung  vom  Eiweissgehalt  der  Flüssigkeit  zu 
haben.  Lohnsteix  empfiehlt  zum  Zwecke  der  vorläufigen  Orientirung  in  folgender 
Weise  vorztigrhen.  Man  bringt  Hülinereiweiss,  das  regelmässig  11 — 13"/,  coagu- 


ole 


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HARN. 


251 


lablc  Eiweissstoffe  enthält,  mit  Wasser  auf  das  sechsfache  Volum  und  filtrirt. 
Wird  das  Filtrat  auf  das  165fache  verdünnt,  so  erhält  man  eine  nahe  0,01°  0ige 
Eiweisslösung.  Diese  dient  als  Vergleichsflüssigkeit.  Man  braucht  nun  blos  eine 
Probe  des  Harns  so  zu  verdünnen,  dass  ein  kleiner  Theil  davon,  im  Reagensglas 
mit  ’/,  Volum  concentrirter  Essigsäure  und  1 Tropfen  5%iger  Ferrocyankalium- 
lösnng  versetzt,  die  gleiche  Opalescenz  giebt  wie  unter  genau  gleichen  Bedin- 
gungen dieselbe  Menge  der  0,01%igen  VergleichslöBung.  Die  Berechnung  des 
annähernden  Eiwcissgehaltes  ist  durch  die  benöthigte  Verdünnung  gegeben.  Die 
mitgetheiltcn  Belegsbestimmungen  stehen  den  durch  Wägung  gefundenen  Werthen 
Behr  nahe  und  es  dürfte  das  in  etwa  15  Minuten  ausführbare  Verfahren  für 
klinische  Zwecke  grössere  Genauigkeit  darbieten  als  das  ESHACH’sche  Albuminimeter. 

Das  Vorkommen  des  Peptons  im  Harn  bei  verschiedenen  Krankheiten 
hat  Wilh.  Robitschek*7)  neuerdings  auf  Anregung  von  v.  Jaksch,  und  zwar 
theils  nach  der  Methode  von  Hofmeister,  theils  nach  der  von  Devoto  geprüft. 
Bei  24  von  den  untersuchten  49  verschiedenen  Krankheitsarten  fand  sich  Pepton, 
wobei  auch  bei  der  gleichen  Erkrankung  bald  Pepton  vorhanden  war,  bald  nicht. 
Auch  bei  Phosphorvergiftung  war  Pepton  unter  12  Fällen  nur  5mal,  7mal  nicht; 
bei  Pneumonie  hingegen  unter  12  Fällen  llmal,  lmal  nicht  vorhanden,  so  dass 
auch  fernerhin  nur  schon  bisher  bekannte  Anhaltspunkte  für  die  Beurtheilung 
einer  Peptonurie  geboten  sind.  Robitschek  hat  häufig  dieselben  Harne  nach  den 
beiden  genannten  Methoden  bestimmt  und  cs  zeigte  sich  gewöhnlich  bis  auf  ge- 
ringfügige Differenzen  Uebereinstimmung,  nur  in  einem  Falle  (Phosphorvergiftung) 
ergab  die  HOFMEisTEu’sche  Methode  positives  Resultat,  die  nach  Devoto  ent- 
schieden negatives ; es  handelt  sich  dabei  wohl  um  eine  durch  Phosphorwolfram- 
säure,  nicht  aber  durch  Ammoniumsnlfat  fällbare  Albumose. 

Auch  Senator  hat  mit  der  von  Salkowski  *8)  für  den  Nachweis  von 
Pepton  angegebenen,  leicht  ausführbaren  Methode  das  Vorkommen  von  Peptonurie 
bei  verschiedenen  Krankheiten  untersucht.  Er  fand,  dass  Peptonurie  so  gut  wie 
regelmässig  vorkommt  bei  croupöser  Pneumonie  kurz  vor  oder  nach  der  Krise, 
bei  eiteriger  Meningitis  und  Peritonitis  und  bei  Empyem , viel  seltener  bei  Ge- 
lenksrheumatismus und  niemals  hei  Leukämie.  Besonders  für  die  Diagnose  der 
eiterigen  Meningitis  kann  dies  Verhalten  von  Werth  werden.  Er  schliesst  sich 
der  Ansicht  Stadklmann’s  und  V.  Noordex’s  an,  dass  es  eine  Peptonurie  über- 
haupt nicht  giebt,  weil  im  Harn  kein  Peptou  im  Sinne  KOhne's  vorkommt,  son- 
dern eine  Vorstufe  desselben,  Propepton  oder  Albumose.  Man  darf  also  nur  von 
einer  Albumosurie  sprechen. 

Die  oben  erwähnte  expeditive  Methode  Salkowski’S  zum  Nachweis  von 
Pepton  im  Harn  ist  folgende:  Man  versetzt  20 — 50  Ccm.  eiweissfreien  Urins  mit 
Salzsäure,  fällt  ihn  mit  Phosphormolybdänsäure  aus  und  erwärmt.  Der  Nieder- 
schlag zieht  sich  rasch  zu  einer  am  Boden  des  Glases  haftenden  harzigen  Masse 
zusammen,  die  sich  leicht  durch  Decantation  von  der  Flüssigkeit  trennen  und 
auswaschen  lässt;  nun  löst  man  ihn  durch  Zusatz  von  etwas  Wasser  (etwa  8 Ccm.) 
und  wenig  Natronlauge.  Es  entsteht  eine  tiefblaue  Lösung,  die  durch  Erwärmen, 
nöthigenfalls  neuerlichen  Zusatz  von  einigen  Tropfen  Natronlauge  entfärbt  wird, 
worauf  man  mit  Kupfersulfatlösung  die  Biuretreaction  anstellt,  deren  Rothfärbnng 
besonders  schön  nach  dem  Filtriren  sichtbar  wird.  Die  ganze  Procedur  nimmt 
nicht  mehr  als  etwa  5 Minuten  in  Anspruch.  Wegen  der  geringen  zur  Verwen- 
dung gelangenden  Harnmengen  ist  der  Einfluss  der  Schleimkörper  des  Harns 
nur  von  geringem  Einfluss;  schleimreichere  oder  ei  weisshaltige  Harne  müssen  vor- 
her in  üblicher  Weise  behandelt  werden.  Die  Empfindlichkeitsgrenze  für  die 
Reaction  liegt  bei  0,1%,. 

Die  Titration  des  Zuckers  im  Harne  nach  Fehmng  bietet  bekanntlich  in 
Bezug  auf  Erkennung  des  Endpunktes  grosse  Schwierigkeiten,  die  schon  von 
Pa  VT  vorgeschlagene  Modification,  nämlich  Zusatz  von  Ammoniak,  lässt  den  End 
punkt  genauer  erkennen,  hat  aber  Unsicherheiten,  hauptsächlich  durch  das  Ver- 


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252 


HARN. 


dampfen  des  Ammoniaks  und  durch  die  Oxydation  des  Kupferoxyduls  durch  den 
Sauerstoff  der  Luft.  Zdenek-Peska  **)  vermeidet  diese  beiden  Fehler  dadurch,  dass 
er  eine  etwa  >/,  Cm.  dicke  Schichte  reinen  Paraffinöies  über  das  Reactionsgemisoh 
schichtet.  Dieses  letztere  wählt  Pkska  5mal  so  verdünnt  wie  die  FEHLiNG’sche 
Lösung  (6,927  Grm.  krystallisirtes  Kupfersulfat  in  Wasser  lflseD,  160  Ccm.  25%iges 
Ammoniak  dazu  und  auf  500  Ccm.  anffüllen,  andererseits  34,5  Grm.  Seignette- 
salz  und  10  Grm.  Natronhydrat  auch  auf  500  Ccm.,  50  Ccm.  von  jeder  Flüssig- 
keit vor  der  Operation  zusammenmischen).  Die  Titration  wird  bei  80 — 85°  unter 
den  auch  sonst  üblichen  Vorsichtsmassregeln  vorgenommen.  Der  WirkuDgswerth 
des  Gemisches  ist  wie  der  der  FEHLINo’schen  Lösung,  abhängig  von  dem  Zucker- 
gehalte der  zu  untersuchenden  Flüssigkeit.  Es  entsprechen  nämlich  100  Ccm. 
dieser  Lösung  80,1  Mgrm.  Traubenzucker,  wenn  8,02  Ccm.  einer  l°/0igen  Zucker- 
lösung zur  Bestimmung  verwendet  wurden,  hingegen  82,1  Mgrm.  Traubenzucker, 
wenn  82,1  Ccm.  einer  nur  0,l%igen  Lösung  zur  Titration  gelangen.  Bei  Unter- 
suchung einer  0,5°/0igen  Lösung  würden  16,12  Ccm.  derselben  verbraucht  und 
entsprechen  86,60  Mgrm.  Traubenzucker.  Die  Tabelle,  aus  welcher  diese  Zahlen 
genommen  sind,  ist  für  Harn,  der  ja  wechselnde  Salzmengen  enthält,  jedenfalls 
nicht  vollständig  zutreffend,  aber  immerhin  genügend. 

Friedrich  Lanz  60)  beobachtete  bei  Graviden  ein  häufiges  Vorkommen 
von  alimentärer  Glykosurie,  also  eine  Verminderung  der  Assimilationsfähig- 
keit des  Traubenzuckers.  Unter  30  Fällen  fanden  sich  19,  bei  welchen  100  Grm. 
Traubenzucker  in  Thee  mit  Cognac  eingegeben,  eine  deutliche  Glykosurie  wäh- 
rend der  nächsten  6 Stunden  hervorriefen.  In  einem  Falle  wurden  29,5  Grm., 
ein  anderes  Mal  7,7  Grm.  ausgeschieden , in  9 Fällen  weniger  als  3 Grm..  in 
8 Fällen  nur  Spuren.  Diese  Herabsetzung  der  Assimilationsgrenze  zeigte  sich 
häufiger  und  stärker  in  den  späteren  Stadien  der  Schwangerschaft,  doch  wurde 
sie  einmal  schon  im  4.  Monat  beobachtet,  nach  der  Entbindung  verschwindet  sie 
wieder.  Der  ausgeschiedene  Zucker  war  Traubenzucker,  nicht  Milchzucker.  Die 
Erscheinung  scheint  analog  zu  sein  der  von  Bunge  aufgefundenen  Thatsache, 
dass  der  Organismus  der  schwangeren  Frau  aus  der  Nahrung  Eisen  aufspeichert 
und  dann  nieht  mehr  im  Stande  ist,  gereichtes  Eisen  aufzunehmen. 

Lafoxm)  fand  in  zahlreichen  Fällen,  bei  denen  Sulfonal  in  Dosen 
von  0,75 — 1,0  pro  die  gegeben  worden  war,  dass  der  Urin  Fehling 'sehe 
Lösung  reducirt;  im  Polarimeter  fehlt  jedoch  die  Rechtsdrehung.  Die  Reduction 
ist  nicht  durch  transformirte  Producte  des  Sulfonals  bedingt,  sondern  durch  letz- 
teres selbst,  indem  Urin  mit  Sulfonal  versetzt  (1  : 1000)  das  Vermögen  besitzt. 
FEHUNG’schc  Lösung  zu  reduciren. 

Zur  Entfärbung  des  Harns  behufs  polarimetrischer  Bestimmung  des  Zuckers 
benützt  man  bekanntlich  Bleizuckerlösung  oder  Thierkohle.  Bei  Anwendung  der 
letzteren  erhält  man  ungenaue  Resultate,  weil  die  Thierkohle  Zucker  zurückhält. 

Th.  Lohxstein  m)  hat  zum  genaueren  Nachweis  dieses  Verhaltens  Ver- 
suche augestellt,  und  zwar  mit  Blutkohle  und  Beinschwarz,  das  ist  durch  Glühen  bei 
Luftabschluss  gewonnenem  Knochenmehl.  Er  kommt  nach  genaueren  Untersuchungen 
mit  dem  von  ihm  construirtcn  Urometer  zu  dem  Resultate,  dass  das  billigere 
Beinschwarz  zur  Entfärbung  diabetischer  Urine  benützt,  nur  Spuren  von  Trauben- 
zucker zurückhält  und  daher  zu  erheblichen  Fehlerquellen  keine  Veranlassung 
entsteht;  er  empfiehlt  deshalb  das  Beinschwarz  zur  Entfärbung  diabetischer 
Urine  zwecks  polarimetrischer  Bestimmung  des  Zuckergehaltes. 

Anknüpfend  an  die  von  Roberts  vor  34  Jahren  bearbeiteten  Methode, 
den  Zuckergehalt  des  Harnes  durch  die  Vergleichung  der  specifischen  Gewichte 
des  Harnes  vor  und  n ach  der  Gährnng  zu  bestimmen,  schlägt  Tu.  Lohnstein5*) 
auf  Grund  des  von  ihm  construirtcn  Gewichtsuromcters  und  eingehender  Unter- 
suchungen (s.  Encyclopäd.  Jahrb.,  V,  pag.  252)  neuerdings  die  densimetrische 
Zuckerbestimmung  im  Harne  nach  einer  von  ihm  gegenüber  der  von  Robfrts 
vereinfachten  Methode  vor.  Vor  Allem  bedarf  es  eines  sicheren  Promoters , da 


HARN. 


253 


die  Genauigkeit  unserer  gewöhnlichen  Uromcter  durch  die  Fehlerquelle  der 
Capillarität  begrenzt  ist.  Diese  Unsicherheit  betrügt  2 — 3 Scalenstriche ; eine 
Differenz  der  gpecifischen  Gewichte  von  0,002  entspricht  aber  einem  Zucker- 
gehalt von  0, 5 °/0.  Das  neue  Gewichtsurometer  Lohnstkin’s  beseitigt  nun  diese 
Fehlerquellen.  In  seiner  kleineren  Form  (Volumen  des  Schwimmkörpers  20  oder 
30  Ccm.)  gicbt  dieses  Instrument  die  specifischen  Gewichte  bis  einschliesslich 
der  4.  Decimalstelle  an.  Durch  Verwendung  einer  scharfen  Kante  als  Einstellungs- 
marke ist  die  Fehlerquelle  der  Capillaritüt  vollständig  eliminirt.  Die  zur  Be- 
stimmung nötbige  Fltlssigkeitsmenge  beträgt  etwa  50  Ccm.  Bei  diesem  Verfahren 
ist  auch  die  Filtration  des  Urins  nach  stattgehabter  Gährung  — was  ebenfalls 
viele  Fehlerquellen  erzeugte  — unnöthig,  da  Lohnstein  die  beiden  für  diu 
Methode  erforderlichen  Bestimmungen  des  specifischen  Gewichtes 
an  Hefesuspensionen  ausführt.  Der  Anfänger  gebraucht  zur  Vollendung 
einer  Bestimmung  5 Minuten,  der  Geübtere  2 Minuten.  (Das  Urometer  wird  von 
L.  Reimann,  Berlin  SO.,  Schmidtstrasse  32,  geliefert.)  Zu  50  Ccm.  Harn  setzt 
man  2 — 5 Grm.  Hefe  je  nach  dem  Zuckergehalt  des  Harns,  sorgt  dafür,  dass  im 
Anfang  eine  Temperatur  von  30  — 35°  herrscht;  dann  kommt  die  Gährung 
schnell  in  Gang  und  schreitet  dann  auch  bei  Zimmertemperatur  rasch  vorwärts. 
Unter  diesen  Umständen  ist  auch  bei  recht  grossen  Procentgehalten  (über  8%)  der 
ganze  Zucker  bis  auf  einen  unbedeutenden  Rest  nach  6 Stunden  zerlegt,  anderer- 
seits konnte  Lohnstein  mit  seinem  Verfahren  Zuckergehalte  von  0,1%  ab 
mit  hinlänglicher  Schärfe  bestimmen. 

Das  Verfahren  gestaltet  sich  folgendermassen : 60  Ccm.  des  zu  unter- 
suchenden Harns  werden  in  einem  graduirteu,  100  Ccm.  haltenden  Mcsscylindcr 
gefüllt,  und  so  viel  Hefe  hinzugegeben,  dass  das  Niveau  der  Flüssigkeit  um  3 
bis  6 Ccm.  steigt  (je  mehr  Hefe  genommen  wird,  umso  schneller  läuft  die  Gährung 
ab).  Das  neue  Niveau  wird  notirt.  Der  Urin  mit  der  Hefe  wird  nun  in  ein 
Becherglas  gegossen  und  zu  einer  gleichmässigen  Suspension  verrührt.  Von  dieser 
wird  das  specifische  Gewicht  bestimmt.  Hierauf  wird  die  Flüssigkeit  in  ein  Kölb- 
chen gegossen,  das,  um  das  Trocknen  zu  ersparen,  vorher  mit  der  Harnhefe- 
mischung gespült  wird.  Der  Kolben  wird  mit  einem  Wattepfropf  geschlossen  und 
in  ein  Gefäss  mit  Wasser  von  30 — 40°  gesetzt.  Nachdem  die  Gährung  in  Gang 
gekommen,  wird  der  Kolben  herausgenommen  und  an  einen  nicht  zu  kühlen  Ort 
gesetzt.  Nach  Ablauf  der  Gährung,  die  sich  durch  die  Bildung  eines  dichten 
Bodensatzes  kundgiebt,  wird  durch  Schüttelu  wieder  eine  homogene  Suspension 
erzeugt,  dieselbe  in  den  zur  Bestimmung  des  specifischen  Gewichtes  dienenden 
Cylinder  gegossen  und  nun  neuerdings  das  specifische  Gewicht  bestimmt. 

Die  Berechnung  des  Zuckergehaltes  ist  folgende:  Man  nimmt 
als  constanten  Multiplicator  den  von  Lohnsteix  berechneten  Mittelwerth 
von  2 34;  nimmt  dann  die  Urinmenge  (Harnvolumen)  und  die  durch  Ilcfezusatz 
gestiegene  Urinmenge  (das  Volumen  der  durch  den  Hefezusatz  entstehenden  Sus- 
pension) und  endlich  das  specifische  Gewicht  der  zu  untersuchenden  Flüssigkeit 
und  des  specifischen  Gewichtes  nach  beendeter  Gährung.  Die  Differenz  zwischen 
beiden  wird  wieder  als  Multiplicator  genommen.  Es  werden  z.  B.  70,5  Ccm.  Urin 
genommen,  diese  Menge  steigt  durch  Hefezusatz  auf  80,7  Ccm.;  das  specifische 
Gewicht  der  Hefeharnlösung  betrügt  1,0387  (bei  21,7°)  — nach  beendeter  Gäh- 
rnng  (nach  6,  8,  eventuell  12  .Stunden)  beträgt  das  specifische  Gewicht  1,0066 
{bei  20,4°)  — , die  Differenz  beträgt  also  0,0321.  Die  Rechnung  stellt  sich  nun 
folgendermassen : 

(Der  constante  Multiplicator  =)  234  X X 0,0321  = 8, 651°/. , also  8,6%. 

Allerdings  ist  der  RoHERTS’sche  Factor  nur  annähernd  eine  Constante. 
Seine  Abhängigkeit  von  der  Temperatur,  dem  Procentgehalt  des  Harns  an  Zucker 
und  dem  specifischen  Gewicht  des  entzückerten  Harns  lässt  sich  unter  Berück- 
sichtigung der  hauptsächlichsten  bei  der  Gährung  stattfindenden  Vorgänge  durch 


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HARN 


einfache  Formeln  (larstellen,  welche  mit  der  Erfahrung  in  vollem  Einklang  stehen. 
Bezüglich  dieser  Formeln  und  deren  Anwendung  verweisen  wir  auf  das  Original. 

Lohnsteix  hält  cs  für  zweckmässig,  ein  Stück  Presshefe  mit  etwa  dem 
gleichen  Volumen  Wasser  zu  einem  Brei  zu  verrühren  und  von  diesem  natürlich 
die  doppelte  der  oben  angegebenen  Menge  dem  Urin  hinzuzugeben,  da  die  käuf- 
liche Presshefe  sich  öfters  der  Wand  des  Cylinders  so  fest  ausetzt,  dass  sie 
aus  dem  Messcylinder  nur  schwer  vollständig  in  das  Becherglas  (ibergespült 
werden  kann. 

Ueber  Pentosurie,  eine  neue  Anomalie  des  Stoffwechsels,  berichtet 
E.  Salkowski.  6S*)  Bekanntlich  hat  dieser  im  Verein  mit  M.  Jastrowitz  1892) 
in  einem  stark  reducirenden , aber  nicht  gälirungs fähigen  Harn  ein  Kohlen- 
hydrat mit  5 Atomen  Kohlenstoff  — eine  Pentose  gefunden,  deren  Phenylhydra- 
zinverbindung in  citronengelben  Nadeln  vom  Schmelzpunkt  159°  krystallisirte. 
Dieses  Phenylpentosazon  unterschied  sich  von  der  analogen  Verbindung  des 
Traubenzuckers  überdies  durch  seine  Löslichkeit  im  heissen  Wasser,  und  sehr 
bedeutenden  Schwerlöslichkeit  in  kaltem  Wasser.  Auch  gab  der  betreffende  Harn 
die  TOLLENS’sche  Rcaction  auf  Pentosen  mit  Phloroglucin  und  Salzsäure.  Seitdem 
hat  E.  Salkowski  zwei  neue  Fälle  von  Pentosurie  beobachtet.  Er  führt  die 
Prüfung  auf  Pentose  im  Harn  auf  folgende  Weise  aus : Zunächst  nimmt  er  für 
100  Ccm.  Harn,  2,5  Grm.  Phenylhydrazin,  und  zwar  die  Base  selbst,  nicht  das 
Chlorhydrat.  Dieses  wird  mit  soviel  Essigsäure  gelöst,  dass  die  Lösung  deutlich 
sauer  rcagirt.  Sie  wird  dann  dom  zu  untersuchenden  Harn  (100 — 200 — 500  Ccm.) 
zugesetzt , die  Mischung  bis  zum  beginnenden  Sieden  erhitzt,  dann  noch  1 bis 
l*/j  Stunden  in  ein  im  Sieden  erhaltenes  Wasserbad  eingesetzt.  Enthält  der 
Harn  Pentose,  so  findet  man  nach  dem  Erkalten  einen  dünnen  Brei  von  Krystallen, 
Der  krystallinische  Niederschlag  wird  abfiltrirt,  gewaschen,  durch  Abpressen 
mit  Filtrirpapier  getrocknet  und  aus  heissem  Wasser  unter  ZuBatz  von  etwas 
Alkohol  umkrystallisirt.  Beim  Erkalten  der  heiss  filtrirten  Lösung  scheiden  sich 
schön  gelb  gefärbte  Nadeln  vom  oben  erwähnten  Schmelzpunkt  aus.  Die  bisherigen 
Bestimmungen  der  Pentosazone  in  den  verschiedenen  Harnen  ergaben  Mengen 
von  0,181 — 0,353  Procent. 

Die  Tolle  ns 'sehe  Reaction  auf  Pentose  wird  in»  Ham  nach  der  Vorschrift  von  Sal- 
kowski in  folgender  Weise  ausgeführt:  Man  lost  etwas  Phloroglucin  unter  Erwärmen  in 

5 — (i  Ccm.  rauchender  Salzsäure,  so  dies«  ein  kleiner  Uehersclmss  ungelöst  bleibt,  theilt  die 
Lösung  in  zwei  annähernd  gleiche  Theile.  setzt  zu  der  einen  Hälfte  im  Reagcnsglas  circa 
*/,  Ccm.  des  zu  prüfenden  Harns,  zu  der  anderen  ebensoviel  eines  normalen  Harns  von  un- 
gefähr derselben  Concentration.  Nunmehr  stellt  man  die  Reagensgläser  in  ein  Becherglas, 
welches  im  Sieden  erhaltenes  Wasser  enthält:  in  wenigen  Augenblicken  zeigt  der  pentose- 
haltige  Hum  einen  intensiv  rothen  oberen  Saum . von  dem  sich  allmälig  die  Färbnng  weiter 
nach  unten  uushreitet.  während  der  normale  Ham  seine  Färbnng  nicht  merklich  oder  nur  sehr 
unbedeutend  verändert.  Man  nimmt  die  Gläser  heraus,  sobald  die  Färbnng  deutlich  entwickelt 
ist,  da  durch  zu  langes  Erwärmen  die  Reinheit  der  Reaction  beeinträchtigt  wird,  auch  könnten 
hei  zuckerhaltigem  Ham  Irrthümer  durch  die  bei  der  Einwirkung  von  Salzsäure  auf  Zucker 
sich  bildenden  Huminsnbstanzen  entstehen. 

Der  pentosehältige  Harn  verhält  sieh  bei  der  Anstellung  der  Trommkr- 
schen  Probe  manchmal  in  der  Weise,  dass  Verdacht  auf  Gegenwart  von  Zucker 
entstehen  könnte.  Beim  Erhitzen  mit  FEHLlNG’scher  Lösung  färbt  sieh  der  Harn 
erst  grün , dann  gelblich , die  Flüssigkeit  zeigt  starke  Opalescenz , eine  Aus- 
scheidung von  Oxydul  tritt  jedoch  nicht  ein.  ln  den  bisher  beobachteten  Fällen 
wurde  das  Vorhandensein  der  Pentose  im  Harn  bei  mehrmaligem  Untersuchen 
immer  wieder  constatirt , vielleicht  bandelt  es  sieh  dabei  um  eine  Anomalie  des 
Stoffwechsels.  Ein  directcr  Zusammenhang  der  Pentosurie  mit  krankhaften  Pro- 
cessen, auch  mit  dem  Diabetes  konnte  bisher  nicht  erkannt  werden.  In  einem  der 
beobachteten  Fälle  war  früher  hochgradige  Nervosität,  auch  Ischias  vorhanden. 
Würden  Diabetes  und  Pentose  in  einem  Individuum  auftreten,  dann  könnte  man 
letztere  ebenfalls  diagnosticiren , und  zwar  durch  Darstellung  der  Osazone  der 
betreffenden  Kohlehydrate,  die  sich  durch  ihre  verschiedene  Löslichkeit  in  heissem 


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HARN. 


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Wasser  von  einander  trennen  lassen  und  durch  die  Verschiedenheit  ihrer  Schmelz- 
punkte identificirt  werden.  Bezüglich  des  Ursprunges  der  Pentose  hat  Sai.kow.ski 
im  Anschluss  an  die  Angaben  von  Hammarstex  über  das  Vorkommen  eines  eine 
Pentose  liefernden  NucleoprotcVds  im  Pankreas  nachgewiesen,  dass  die  im  Haru 
vorkummende  Pentose  identisch  ist  mit  der  aus  dem  Pankreas  stammenden. 

Ferdinand  Blumenthal  6 *1*),  der  an  den  von  Salkowski  untersuchten 
Fällen  weitere  Beobachtungen  anstellte,  fand  in  dem  Urin  des  einen  Kranken 
periodisch  neben  Pentose  auch  Glykose , bei  dem  anderen  war  dies  nicht  der 
Fall , fernerhin  aber  auch , dass  die  Pentosurie  von  etwa  mit  der  Nahrung  eiu- 
geführten  Kohlehydraten  (Xylose,  Arabinose)  unabhängig  war.  Während  beim 
Diabetiker  der  Indicangehalt  des  Harns  stets  vermehrt  ist , war  in  den  Fällen 
von  Pentosurie  die  Indicanmenge  sehr  gering.  Es  wird  sich  also  die  im  Körper 
kreisende  Pentose  den  Mikrobien  des  Harnes  gegenüber  in  anderer  Weise  ver- 
halten wie  Glykose. 

Bezüglich  der  Entstehung  des  Urobilins  giebt  es  nach  der  Dar- 
stellung von  Beck  e4t  fünf  Theorien : die  eine  betont  den  intestinalen  Ursprung 
des  Urobilins  (Urobilinuria  enterogenes),  bei  einer  zweiten  wird  es  durch  krank- 
haft geänderte  Function  der  Leberzcllen  (Insufßsance  h&paiique)  gebildet,  ferner 
wird  eine  Urobilinuria  haematogenes , histogenes , nephrogenes  erwähnt.  Beck 
untersuchte  nun,  ob  und  unter  welchen  Bedingungen  Bakterien  normale  Gallen- 
farbstoffe  reduciren  und  ob  das  dabei  gebildete  Hydrobilirubin  mit  Urobilin  iden- 
tisch ist.  Dabei  ergab  sich,  dass  unter  Einfluss  last  aller  Bakterien,  also  auch  unter 
dem  Einfluss  der  Bakterien  im  Darme  aus  normalen  Gallenfarbstoffen  Hydrobili- 
rubin entsteht.  Das  in  der  Galle  vorkommende  Urobilin  entsteht,  wie  die  Versuche 
Bkck’s  an  einem  Gallenfistelhuude  zeigen,  aus  dem  Urobilin  des  Kothes,  dieser 
Farbstoff  ist  in  der  Galle  nie  vorhanden,  wenn  er  nicht  im  Darminhalt  ist.  Nur 
ein  kleiner  Theil  des  Urobilins  wird  auch  im  Blute  oder  in  den  Geweben  aus 
Blutfarbstoff  gebildet. 

Das  Studium  der  Oxydationproducte  des  Bilirubins  und  der  normalen 
Harnfarbstoffe  führte  Adolf  Jolles  66)  zur  Ansicht,  dass  die  normalen  Harn- 
farbstoffe mit  grösster  Wahrscheinlichkeit  als  identisch  mit  den  höheren  Oxy- 
dationsproducten  des  Bilirubins  angesehen  werden  können.  Die  scheinbar  ver- 
schiedenen Farbstoffe  des  normalen  Harns  unterscheiden  sich  von  einander  häufig 
nur  durch  ihren  Sauerstoffgehalt.  Um  die  relative  Oxydatiousfiihigkeit  der  einzelnen 
Harnfarbstofle  festzustellen,  wurde  eine  gewisse  Menge  der  Farbstoffe  mit  einer 
bestimmten  Menge  HÜBL’scher  Jodlösung  versetzt  und  das  überschüssige  Jod  mit 
Natriumthiosulfatlösung  zurücktitrirt  (s.  die  ausführliche  Methode  im  Original). 
In  weiterer  Verfolgung  der  Versuche  ergab  sich,  dass  das  Reductionsproduct  des 
Bilirubins,  das  Urobilin,  durch  IIÜBL’scbe  Jodlösung  nicht  oxydirt  wird.  Jolles 
gelangt  bezüglich  des  Auftretens  und  des  Nachweises  von  Urobilin  im  normalen 
Ham  auf  Grund  seiner  Untersuchungen  zu  folgenden  Schlüssen:  Die  Harnfarbstofle, 
welche  nach  ihrem  spectroskopischen  Verhalten  und  nach  ihrer  chemischen  Reaction 
als  Urobiline  bezeichnet  werden,  lassen  sich  in  physiologische  und  pathologische 
Urobiline  treunen.  Die  unvollständig  oxydirten  Harnfarbstofle  gehören  zu  den 
physiologischen  Urobilinen.  Zu  den  physiologischen  Urobilinen  gehört  auch  jener 
Farbstoff,  der  sich  beim  Stehen  normal  gefärbter  Harne  durch  das  Nachdunkelu 
des  Harns  bemerkbar  macht.  Beide  Urobilinarten  unterscheiden  sich  wesentlich 
dadurch  , dass  die  physiologischen  Urobiline  nach  erfolgter  Oxydation  mit  einer 
alkoholischen  Jodlösung  oder  Salpetersäure  weder  Fluorescenz  noch  ein  charakte- 
ristisches Spectrum  zeigen , während  die  pathologischen  Urobiline  nach  der 
gleichen  Behandlung  ihr  optisches  Verhalten  und  ihre  Fluorescenz  beibehalten. 
Cm  Verwechslungen  der  physiologischen  und  der  pathologischen  Urobiline  hint- 
anzuhalten, ist  cs  nothwendig,  das  Urobilin  aus  dem  Harne  zu  isoliren  und  dann 
genau  zu  untersuchen.  Dies  geschieht  am  besten  wie  folgt : 


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256 


HARN. 


In  einem  entsprechend  geformten  Schüttelcylinder.  eventuell  auch  Scheidetrichter, 
fügt  man  zu  50  Ccm.  Harn  5 Ccm.  einer  verdünnten,  frisch  bereiteten  Kalkmilchlosung  und 
nnd  10  Ccm  Chloroform  hinzu  und  schüttelt  das  ganze  mehrere  Minuten  kräftig  durch.  Als- 
dann lässt  man  den  Cylinder  einige  Minuten  stehen,  wobei  sich  das  Chloroform  und  der 
Niederschlag  zu  Roden  setzen.  Letzteren  lässt  man  in  eine  kleine  Porzellan  schale  abfiiesaen, 
dampft  auf  dem  Wasserbade  zur  Trockne  ein , verreibt  den  Rückstand  mit  circa  5 Ccm.  ver- 
dünnten Alkohol  (circa  30  Volumprocent)  unter  Zusatz  einiger  Tropfen  concentrirter  Salpeter 
säure  und  tiltrirt.  Bei  Gegenwart  von  pathologischem  Urobilin  erscheint  das  Filtrat  braunroth 
bis  granatrot h.  zeigt  bei  passender  Verdünnung  das  charakteristische  Spectrum  zwischen  den 
Frau nhof ersehen  Linien  b und  F,  und  zwar  näher  an  F und  grüne  Fluorescenz  der 
ammoniakalfechen,  mit  Chlorzink  versetzten  Lösung.  Schüttelt  man  einen  Theil  des  Filtrates 
mit  Amylalkohol,  so  nimmt  letzterer  den  Farbstoff  auf  und  zeigt  ebenfalls  das  scharf  begrenzte 
Absorption»»  pectrum. 

Als  Quelle  des  pathologischen  Urobilins  sind  der  Gallenfarbstoff  ("Bili- 
rubin) und  der  Blutfarbstoff  anzusehen. 

Zur  Pathogenese  der  Hämatoporphyrinurie  liefert  B.  I.  Stokvis66) 
Beiträge.  Er  fand  das  llilmatoporphvrin  im  Harn  nicht  nur  bei  Sulfonalintoxica- 
tion , sondern  auch  bei  Magen-  und  Darmblutungen  und  bei  Bleikolik.  Durch 
Experimente  am  Kaninchen  stellte  Stokvis  fest , dass  die  gemeinsame  Ursache 
für  das  Auftreten  dieser  Substanz  im  Harne  die  Bildung  von  Hämatoporphyrin 
ans  dem  in  Magen-  und  Darmschleimhaut  ergossenen  Blut  ist;  auch  das  Sulfonal 
erzeugt  derartige  Blutungen.  Wird  das  Hämatoporphyrin  resorbirt , so  kaun  es 
von  der  lieber  zurückgehalten  oder  von  den  Nieren  ausgesehieden  werden;  man 
findet  daher  bei  SulfoDaüutoxication  nicht  immer  Hämatoporphyrinurie,  selbst  nicht 
bei  tödtlichem  Ausgange. 

Anschliessend  an  die  Berichte  von  Litten  nnd  Glaser,  Senator67) 
über  das  Auftreten  von  Cylindern  im  Harn  gesunder  und  nur  leicht  kranker 
Menschen  hat  auch  Daiber  öfter,  besonders  bei  Amyloiddegeneration  und  Circu- 
lationsstörungcn , niemals  aber  im  albnmenfreien  Harn  zeitige  Gebilde  trageude 
oder  einschüessende  Cylinder  angetroffeu.  Er  bezieht  dieses  Vorkommen  auf 
eine  eventuell  vorübergehende  Anomalie  im  Sccretionsapparate  der  Niere  und 
betont,  dass  dasselbe  häufig  einer  eigentlichen  Albuminurie  vorangehe.  Zu  dem- 
selben Resultate  gelangt  Radomyski  67*),  der  die  Cylindrnrie  ganz  besonders  bei 
denjenigen  Krankheiten  antraf,  die  in  irgend  einer  Weise  mit  Cirenlationsstörungen 
Zusammenhängen,  ganz  besonders  bei  Herzkrankheiten,  jedoch  auch  hei  ander- 
weitigen Erkrankungen,  Lungentuberkulose,  Kachexien.  Erkrankungen  des  Central- 
nervensystems u.  s.  w.  Bei  Gesunden  fanden  sich  im  durch  Centrifugiren  ge- 
wonnenen Sedimente  des  Harns  niemals  Cylinder.  Radomyski  nimmt  als  die  Ent- 
stehuugsursachc  der  Cylinder  die  Coaguiation  kleiner  ansgeschiedener  Eiweiss- 
mengen  in  den  Nierencunälchen  an  und  verwirft  jene  Annahme,  welche  das 
Entstehen  der  Cylinder  auf  einen  Secretionsvorgang  aus  den  Epithclien  zurückführt. 
Zur  entgegengesetzten  Anschauung  kommt  Kossler.  6,b)  Er  fand  in  einer  Reihe 
von  Fällen  Cylindrurie  bei  gleichzeitigem  Fehlen  von  Serumeiweiss  hei  den  ver 
schicdensten  Erkrankungen,  besonders  häufig  bei  chronischer  Lungenschwindsucht, 
ferner  bei  Endocardüis  rheumatica , bei  Scarlatina  nnd  Typhv t abdominalis, 
bei  acuten  Lungenerkrankungen  und  in  zwei  Fällen  von  Phosphorvergiftung. 
Die  gefundenen  Cylinder  zeigten  alle  vorkommenden  Typen,  selbst  Blutcylinder 
wurden  beobachtet,  ln  den  meisteu  Fällen  nun  zeigte  sich  ein  Zusammenfällen 
dieser  Erscheinung  mit  dem  Auftreten  von  Nucleoalbnmin  im  Harn,  und  da  letz- 
teres als  Ausdruck  einer  Schädigung  des  Nierengewebes  betrachtet  werden  muss, 
so  bezieht  Kossler  das  Auftreteu  beider  Erscheinungen  bei  Icterus,  acuten  In- 
fectionskrankheitcn,  Intoxieationcn  etc.,  auf  eine  solche.  Dafür  spricht  auch  die 
mikroskopische  Untersuchung  der  zur  Obduction  gelangenden  Fälle,  welche  deut- 
lich degenerative  Veränderungen  aller  Art  bis  zur  vollständigen  Nekrose  an  den 
Epithelien  der  Harncanälchen  gewöhnlich  herdförmig  umschriebener  Nieren- 
abschnitte  erkennen  Hess. 

(Jeher  den  Werth  der  Leukocytenzählungen  im  Harne  für  die 
Diagnostik  bat  Reinecke68)  auf  der  medicinischen  Klinik  in  Jena  Untersuchungen 


gle 


mit  Hilfe  des  THuMA-ZKtss’schen  Apparates  ausgeführt.  Die  Sicherheit  der  Methode 
leidet  dadurch,  dass  eine  vollkommen  gleichmässige  Mischling  des  Sedimentes  mit 
dem  Harn  auch  durch  lSnger  dauerndes  Umschütteln  nicht  erreicht  wird : auch 
können  die  sich  bildenden  Eilerklumpen  unter  Umstünden  die  Zählung  über- 
haupt unmöglich  machen.  Immerhin  erhält  man  durch  die  Zählungen  ein  an- 
schauliches Bild  von  dem  Krankheitsverlauf.  Sie  können  auch  zur  Entscheidung 
der  Frage  beitragen,  ob  eine  Pyelitis  mit  Nephritis  complicirt  ist,  wenn  man  zu 
gleicher  Zeit  Eiweissbestimmnngen  an  filtrirtem  Harn  ausfuhrt;  wobei  man  nach 
den  Untersuchungen  Goldberg ’s  für  100.000  Eiterzellen  einen  Eiweissgehalt  von 
l°/oo  annimmt.  Doch  ist  man  auch  hier  nicht  in  jedem  Falle  berechtigt,  eine 
Nephritis  anzunchmen,  wenn  der  Eiweissgehalt  etwas  grösser  ist,  als  den  Leukocyten- 
zablcn  entspricht.  Reixeckk  macht  zugleich  auf  diecolossnle  Zellmenge  aufmerksam, 
die  der  Körper  bei  schweren  Pynrien  verliert.  Er  zählte  in  einem  Falle  57  Milliarden 
Leukocyten  in  24  Stunden  , also  mehr  als  Leukocyten  im  Blute  vorhanden  sind. 

Auch  GOhDBERG *»)  betont  neuerdings  den  Nutzen  der  Leukocyten- 
zählung  im  Harn  für  die  Beurtheilung  des  Verlaufes  eines  Entzllndungsprocesses 
und  seiner  Beeinflussung  durch  die  Therapie.  Er  hält  seine  Ansicht  aufrecht, 
dass  mehr  Eiwciss  als  1%„  im  Filtrat  auf  50.000  Eiterzellen  als  primäres, 
renales  Hameiweiss  anzusehen  ist.  GOLDBERG  hat  auch  bei  Hämaturie  Zellen- 
zählungen  gemacht.  Die  rothen  Blutkörperchen  müssen  im  frisch  gelassenen  Urin 
gezählt  werden , da  sie  sehr  bald  ausgelaugt  werden  und  im  Gegensatz  zu  den 
Leukocyten  rasch  zerfallen ; auch  wirkt  die  Beimengung  von  Gerinnsel  als  Fehler- 
quelle. Um  die  flüssigen  Bestandtheile  eines  Blutharnes  von  seinen  festen  zu 
trennen,  ist  das  Filtriren  die  geeignetste  Methode.  Die  Grösse  des  Blutverlustes 
kann  leicht  durch  Rechnung  ermittelt  werden , womit  zugleich  die  Bestimmung 
der  Eiweissmenge , welche  auf  Rechnung  des  Blutes  kommt,  ermöglicht  wird. 
Goldberg  gelangt  zum  Schluss,  dass,  wenn  ein  Blutharn  weniger  als  1 — 8000 
Blutkörperchen  im  Cubikcentimeter  enthält,  eine  nach  den  gewöhnlichen  Methoden 
nachweisbare  Eiweissansscheidung  im  Filtrat  Beweis  einer  renalen,  wahren  Albu- 
minurie ist.  Ferner,  wenn  der  Bruch,  den  man  erhält,  wenn  man  den  Promille- 
Gehalt  des  Filtrats  an  Eiwciss  in  die  Zahl  der  Blutkörperchen  dividirt,  grösser 
ist  als  ’/joooo  > 80  bestellt  neben  der  falschen  eine  wahre  Albuminurie,  ist  er 
kleiner,  so  besteht  entweder  keine  oder  nur  eine  geringe  wahre  Albuminurie. 

Zur  Conservirung  von  organisirten  Harnsedimenten  empfiehlt 
Fisch  KL  Centrifugirung,  darnach  Auswaschen  des  Sedimentes  bis  zur  Entfärbung 
mit  physiologischer  Kochsalzlösung.  Nach  Decantiren  der  überstehenden  Flüssig- 
keit wird  eine  Mischung  von  gleichen  Theilen  Glycerin  und  Wasser,  welcher 
man  auch  eine  2°  Qige  gesättigte,  alkoholische  Thymollösung  hinzufUgcn  kann, 
auf  das  Sediment  geschichtet  und  dieses  verschlossen  aufbewahrt.  Das  so  conser- 
virtc  Sediment  lässt  sich  nach  der  von  KXOLL  angegebenen  Methode  leicht  färben; 
durch  Lackcinkittung  des  Deckglases  lassen  sich  Dauerpräparate  herstellen. 

Die  von  E.  Ludwig  zum  Nachweis  von  Quecksilber  im  Harne  zu- 
erst mit  Hilfe  von  Zinkstaub  angegebene  Amalgamirungsmethode  hat  bekanntlich 
trotz  und  wegen  ihrer  Verwendbarkeit  zahlreiche  Modificationen  in  der  Richtung 
erfahren , dass  statt  des  Zinks  andere  Metalle  und  Metalllegirungcn  vorge- 
schlagen wurden.  So  haben  n.  A.  FCrbkixgek  Messingpulver,  ALMEN’  frisch  ge- 
glühten Kupferdraht  empfohlen.  Auf  Grund  der  Erfahrung,  dass  körniges  Gold 
eine  sehr  bedeutende  Amalgamationsfähigkeit  besitzt,  schlägt  nun  A.  JOLLES6') 
körniges  Gold  zum  qualitativen  und  quantitativen  Nachweis  des  Quecksilbers 
im  Harn  vor.  Dabei  wird  überdies  Zinnchlorid  zur  Zerlegung  der  im  Harne 
enthaltenen  Quecksilberverbindung  benützt.  Der  Nachweis  des  Quecksilbers  wird 
in  folgender  Weise  geführt:  100  — 300  Ccm.  Harn  je  nach  der  Menge  des  Queck- 
silbers, welche  im  Harne  enthalten  ist,  werden  mit  2 Grm.  reinem,  körnigem 
Golde  versetzt,  mit  1 — 3 Ccm.  coneentrirter  Salzsäure  angesäuert,  erwärmt  und 
dann  zunächst  mit  2 — 3 Ccm.  einer  gesättigten,  frisch  bereiteten  Zinnchlorürlösung 
Rocydop.  JaUrlmcher.  VC.  J7 


258 


HARN. 


versetzt.  Entsteht  eine  flockige  Ausscheidung  von  Zinnhydroxyd,  so  war  zu  wenig 
Salzsäure  zugesetzt  worden,  was  sich  nachträglich  corrigiren  lässt.  Nun  wird 
unter  Umrflhren  in  die  auf  circa  70 — 80°  C.  erwärmte  Flüssigkeit  circa  30  bis 
50  Ccm.  der  frisch  bereiteten  Zinnchlorfirlösung  zugesetzt,  weitere  5 Minuten  unter 
Unirühren  erwärmt  und  dann  einige  Minuten  in  Ruhe  gelassen.  Nunmehr  giesst  man 
die  über  dem  Amalgam  stehende  Flüssigkeit  ab,  was  sehr  leicht  ohne  Verluste  vor 
sich  geht,  nachdem  das  Amalgam  in  Folge  seines  hohen  specifischen  Gewichtes  stets 
am  Boden  verbleibt.  Man  wäscht  auf  diese  Weise  mehrmals  das  Amalgam  mit  destil- 
lirtem  Wasser  aus,  bis  das  Wasser  keine  Chlorreaction  zeigt,  was  in  einer  Minute 
zu  erreichen  möglich  ist.  Hierauf  wird  das  reine  Amalgam  in  demselben  Gefässe 
mit  3 — 4 Tropfen  einer  warmen  coneentrirten  Salpetersäure  versetzt,  diese  durch 
Schwanken  des  Gefässes  mit  dem  Amalgam  in  innige  Berührung  gebracht,  dann  in 
ein  Reagensglas  abgegossen,  mit  einigen  Tropfen  destillirtem  Wasser  verdünnt,  ab- 
ktlhlen  gelassen  und  dann  die  gleiche  Menge  der  Zinchlortlrlösung  zugesetzt.  Waren 
in  dem  zu  untersuchenden  Harne  nur  0,0002  Grm.  Quecksilber  vorhanden , so 
zeigt  sich  noch  eine  sehr  deutliche  Trübung  und  lassen  sich  auch  noch  geringere 
Quecksilbermengen  nachweisen,  wenn  man  neben  der  Probe  ein  Rcagensglas  hält, 
welches  gleich  hoch  mit  destillirtem  Wasser  gefüllt  ist.  Will  man  den  Nachweis 
des  Quecksilbers  durch  den  Beschlag  führen , so  wird  das  erhaltene  Amalgam 
mit  Wasser  gewaschen,  hierauf  mit  Alkohol  und  dann  mit  Aethcr  behandelt  und 
in  ein  Röhrchen  von  schwer  schmelzbarem  Glase  von  circa  10  Cm.  Länge  und 
1 Cm.  Durchmesser  gebracht.  Das  Amalgam  wird  nunmehr  im  Trockenkasten 
bei  circa  40°  C.  etwa  5 Minuten  getrocknet  und  dann  schwach  geglüht,  wobei 
der  Quecksilberbeschlag  bei  den  geringsten  Spuren  von  Quecksilber  sichtbar  wird. 
Letztere  Art  des  Nachweises  kann  auch  aualog,  wie  dies  E.  Ludwig  bei  dem 
Quecksilberamalgam  in  Anwendung  brachte,  zur  quantitativen  Bestimmung 
benützt  werden.  Man  braucht  blos  das  Quecksilber  vollständig  aus  dem  Röhrchen 
auszutreiben.  Hat  man  vorher  das  Gewicht  des  Röhrchens  + Amalgam  bestimmt  und 
nach  dem  Vertreiben  des  Quecksilbers  die  Wägung  wiederholt,  so  ergiebt  die 
Ditferenz  direct  die  Menge  des  Quecksilbers  in  der  verwendeten  Flüssigkeits- 
meuge.  Das  bei  der  Methode  auf  nassem  Wege  zurüekhleibende  Gold  kaun,  nach- 
dem es  gewaschen  und  ebenso  das  geglühte  Gold  sofort  zu  einer  weiteren 
Analyse  benützt  werden. 

Einen  Fall  von  Hydrothionurie  beobachtete  Sa  vor  ss)  bei  einer  Eklam- 
ptischen,  die  längere  Zeit  comatös  war.  Der  mittels  Katheter  entleerte  Harn 
hatte  einen  intensiven  Geruch  nach  Schwefelwasserstoff;  nach  einigen  Tagen  trat 
ausserdem  eine  Pneumaturie  auf,  die  in  kurzer  Zeit  verschwand , während  der 
Schwefelwasserstoffgehalt  noch  einige  Tage  I »esteheu  blieb.  Der  frisch  entleerte 
Harn  enthielt  reichliche  Mengen  von  Baclerium  coli,  welches,  wie  Savor  nach- 
weiseu  konnte,  fällig  ist,  im  Harne  Schwefelwasserstoff  zu  entwickeln,  wenn  dem- 
selben 2%  Pepton  oder  0,5°  0 schwefelsaures  Natron  beigemischt  wurde.  Es 
dürfte  sich  also  um  eine  Peptonurie  im  Wochenbette  gebandelt  haben  und  die 
Infeetion  des  Harns  mit  Bacterium  coli  durch  den  Katheterismus,  den  das  Coma 
nöthig  machte,  vermittelt  worden  sein. 

In  einem  von  M.  Wolff  ,s)  in  der  Berliner  med.  Gesellschaft  demon- 
strirten  Fall  von  Bacteriurie  bei  einem  Mann  wurde  der  Kranke  niemals  mit 
Sonden  oder  Katheter  behandelt;  der  Harn  mit  fötidem  Geruch  wurde  stets  trübe 
entleert.  Die  Trübung  war  verursacht  durch  zahllose  Mengen  von  Bacterium 
coli  ■ Eiterkörperchen  waren  fast  nicht  vorhanden.  Am  wahrscheinlichsten  ist  es, 
dass  die  Mikroorganismen  vou  unten  herauf  in  die  Blase  gelangt  sind,  wenn  man 
bedenkt,  dass  sieh  das  Bacterium  coli  am  Präputium,  sowie  an  der  Vulva  und  Vagina 
vorfindet.  Infeetion  von  aussen  oder  vom  Darm  her  war  in  dem  Fall  ausgeschlossen. 

In  einem  ähnlichen  Falle  fand  B.  Goldbkrg  *•)  im  Drin  zahllose  Kokken 
mit  geringer  Eigenbewegung,  während  sonst  keine  weiteren  körperlichen  Elemente 
vorhanden  waren.  Die  Kokken  waren  etwa  a/j  so  gross  als  Gonokokken  und  lagen 
in  Ketten  und  Haufen.  Der  Urin  war  gelblich  undurchsichtig  und  roch  etwa  wie 


gle 


HAHN. 


259 


ein  angebrannter  Fisch ; auch  nach  stundenlangem  Stehen  iin  Spritzglase  trat  keine 
Sediinentirung  ein.  Nach  5,0  Salol  täglich  verschwanden  die  Bakterien  in  4 Tagen. 

Die  Existenz  des  Typhus  lässt  sich  nach  Baakt  e4)  bakteriologisch 
aus  dem  Urin  nicht  vor  der  klinischen  Diagnose  erweisen.  In  4 von  27  Fällen 
wurden  Typhusbacillen,  in  weiteren  4 Fällen  das  Bakterium  coli  com . gefunden. 

Andererseits  konnten  Wbight  und  Semple*4)  unter  7 Fällen  von  Abdominaltyphus 
die  Typhusbacillen  sechsmal  im  Urin  auffinden.  Sie  folgern  daraus  die  Noth* 

Wendigkeit,  den  Urin  der  Typhuspatienten  unschädlich  zu  machen. 

Literatur.  ')  A.  v.  Koränyi,  Untersuchungen  über  die  Harnabsonderungen  bei 
Gesunden  und  Kranken.  Ungar.  Arch.  f.  Med.  III.  Jahrg.  Ref.  nach  Jahresber.  f.  Thier- 
Cheiuie.  XXIV.  — a)  A.  v.  Koränyi  u.  A.  Fisch,  Ueber  den  Zusammenhang  zwischen  der 
quantitativen  Zusammensetzung  des  Blutes  und  des  Harnes.  Ibidem.  — *)Fr.  Tauszk, 
Untersuchungen  in  Bezug  auf  die  quantitativen  Verhältnisse  der  ausser  dem  Kochsalz  ira 
Haru  gelöst  enthaltenen  festen  Substanzen.  Ibidem.  — 4)  A.  Fisch  u.  J.  Koväcs,  Beiträge 
zur  Tagesschwankung  der  Nierenfunction.  Ibidem.  — &)  Drescr,  Arch.  f.  experim.  Path.  u. 

Pharm.  XXIX.  — •)  Ludwig  Waltif  Ueber  die  Einwirkung  des  Atropins  auf  die  Harn- 
•ecretion.  Arch.  f.  experim.  Path.  u.  Pharm.  XXXVI,  pag.  411.  — 0 Schmied,  Zur  quanti- 
tativen Bestimmung  des  Harnstoffes  im  Harn.  Arch.  f.  Pbyiiol.  von  du  Bois-Reymofld.  1894, 
pag.  52.  — ®)  Rumpf  (Hamburg),  Klinische  und  experimentelle  Untersuchungen  über  die 
Ausscheidung  und  Bildung  von  Ammoniak.  Vortrag,  gehalten  bei  der  67.  Versammlung  der 
Gesellscb.  deutscher  Naturforscher  u.  Aerzte  in  Wien.  Abth.  f.  innere  Med.  — •)  W.  Wein- 
traut], Ueber  den  Einfluss  des  Kucleins  der  Nahrung  auf  die  Harnsäurebildung.  Berliner 
klin.  Wockenschr.  1895,  Nr.  19.  — ,0)  Th.  R.  Offer,  Phosphormolybdänsaure  als  Reagens 
auf  Harnsäure.  Centralbl.  f.  Phvsiol.  1895,  VIII.  pag.  25.  — ll)  E.  Salkowski,  Ueber  die 
Anwendbarkeit  des  Piperazins  zu  physiologisch-chemischen  Zwecken.  Pflüger'»  Arch.  f.  d.  ge s. 

Physiol.  LVI,  pag.  349.  — ,f)  Gottfried  v.  Ritter.  Ueber  die  titrimctrische  Bestimmung 
der  Harnsaure  im  Harn.  Zeitschr.  f.  phvsiol.  Chemie.  XXI,  pag.  288.  — 13)  E.  Riegler, 

Eine  Methode  zur  Bestimmung  der  Harnsäure,  beruhend  auf  der  Eigenschaft,  Fehling’s  Lösung 
in  der  Wärme  zu  rothem  Kupferoxydul  zu  reduciren.  Zeitschr.  f.  analvt.  Chemie  XXXV, 
pag.  31.  — ,4)  P.  F.  Richter.  Ueber  Harnausscheidung  der  Leukocvtose.  Centralbl.  f.  innere 
Med.  1895,  Nr.  35-  — '*)  Kühn  au,  Experimentelle  und  klinische  Untersuchungen  über  das 
Verhältniss  der  Harnsäureausscheidung  zu  der  Leukocytose.  Zeitschr.  f.  klin.  Med  XXVIII, 

Heft  5—6,  pag.  534  u.  ff.  — u)  M.  Krüger  u.  C.  Wulff,  Ueber  eine  Methode  znr  quanti- 
tativen Bestimmung  der  sog.  Xanthinkörper  int  Harne.  Ibidem,  pag.  176.  — ie*)  Martin 
Krüger,  Das  Verhalten  von  Harnsäure,  Adenin  und  Hypoxanthin  zu  Kupfersulfat  und 
Xatrinmsulflt,  respective  Natriumthiosulfat.  Zeitschr.  f.  phvsiol.  Chemie  XX.  pag.  170.  — 

IT)  M.  Krüger,  Eine  neue  Methode  zur  Bestimmung  der  Harnsäure  im  Harn.  Zeitschr.  f. 
phvsiol.  Chemie.  XXI,  pag.  311.  — **)  Rudolf  Kolisch  u.  Hermann  Dostal,  Das  Ver- 
halten der  Alloxurkörper  int  pathologischen  Harne;  niitgetheilt  von  Dr.  Kolisch.  Wiener  klin. 

Wochenschr.  1895,  Nr.  24-  — ,,l  St.  Bondzynski  u.  R.  Gott  lieb,  Ueber  Methylxanthin, 
ein  Stoffwcchstdproduct  des  Theobromina  und  Coffeins.  Bericht  d,  Deutschen  ehern.  Gesellsch. 

1895.  pag  1113.  — ,#)  St.  Bondzynski  u.  R.  Gott  lieb,  Ueber  Xanthinkörper  im  Harn 
des  Leukämikers.  Arch  f.  experim.  Path.  u.  Pharm.  XXXVI,  pag  127.  — **)  Max  Sieg- 
fried. Ueber  Fleiachsänre.  Arch.  f Anat.  u.  Physiol.  Physiol.  Abth.  1894,  pag.  401.  — 

**)  C.  W.  Rockwood,  Ueber  das  Vorkommen  der  Fleischsäure  ira  Harn  Arch.  f.  Anat.  u. 

Physiol.  Physiol.  Abth.  1895,  pag.  1.  — **)  R.  Kolisch,  Zur  Bestimmung  des  Kreatinins 
im  Ham.  Centralbl.  f.  innere  Med.  1895,  Nr.  11.  — *4)  P.  Palma  (Prag),  Ueber  das  Ver- 
hältnis« der  pathologischen  Acetonausscheidung  zur  Gesainratstickstoffaussrheidung.  Zeitschr.  f. 

Heilkunde.  XV,  pag.  463.  — 2t)  Hirschfeld,  Ueber  Acetonurie.  Deutsche  med.  Wochenschr. 

1895,  Nr.  43.  — **)  Ernst  Becker,  Ueber  Acetonurie  nach  der  Narkose.  Virchow’s  Arch. 

CXL.  pag.  1.  — *7)  Emilio  Parlato,  Ueber  eine  neue  Methode  der  quantitativen  Aceton- 
bestimmung im  Harne.  Ibidem.  CXL,  pag.  1.  — s8)  E.  Salkowski,  Ueber  die  Untersuchung 
de«  Harns  auf  Aceton.  Pflügers  Arch.  f.  d.  ges.  Physiol.  LVI,  pag.  339.  — 2*)  Maler ba, 

Un  nouveau  reactif  pour  reconnaitre  Vacetone  et  l’acide  urique.  Arch.  ital.  de  Biol.  XXIII, 
pag  329.  — ,0)  Wein  traud,  1.  Ueber  die  Ausscheidung  von  Aceton,  Diacetsänre  und  £-Oxy- 
b attersäure  beim  Diabetes  mellitus ; 2.  Ueber  die  Beziehungen  der  Lävulinsaure  zur  Acetonurie. 

Arch.  f.  experim.  Path.  n.  Pharm.  XXXIV,  pag.  109  u.  368.  — **)  Alois  Strasser,  Ueber 
die  Phenolausscheidung  bei  Krankheiten.  Zeitschr.  f.  klin.  Med  XXIV,  pag.  543.  — J,l  Bruno 
Oppler,  Ueber  ein  Verfahren  zur  Feststellung  der  Intensität  der  sogenannten  Gerhardl'schen 
Reaction.  Centralbl.  f.  innere  Med.  1895.  Nr.  29.  — M)  G.  Richter,  Ueber  den  Befund  von 
salpetriger  Saure  im  frischen  Harn.  Fortschritte  der  Medicin.  1895.  — 34)  8.  Lang,  Ueber 
die  Umwandlung  des  Acetonitrils  und  seiner  Homologen  im  Thierkörper.  Arch.  f.  experim. 

Path.  u.  Pharm.  XXXIV,  pag.  247.  — 3*)  W.  Paschel  es.  Ibidem,  pag.  281.  — 3Sft)  P.  Mohr, 

Ueb«r  Schwefelbestimmung  im  Harn.  Zeitschr.  f.  phvsiol.  Chemie.  XX,  pag.  556.  — **)  Sieg- 
fried Ne  umann  u.  Bernhard  Vas,  Ueber  die  Ausscheidung  des  Calciums  und  Magnesiums 
unter  physiologischen  und  pathologischen  Verhältnissen.  Ungarisches  Arch.  f.  Med.  III, 
pag.  3u7.  — *7)  Siegfried  Neumann,  Ueber  die  Verhältnisse  der  Ausscheidung  von  Cal- 

17* 

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260 


HARN.  — H Y DROTH  IONURI  E. 


cium,  Magnesium  und  Phosphorsäure  bei  Osteomalncie.  Ibidem,  pag.  276.  — *8)  K.  A.  H Mör- 
n er  (Stockholm),  Uni  ersuch  un  gen  Uber  die  Proteins!  uffe  und  die  eiweissfällenden  Substanzen 
des  normalen  Memchenliarns.  Skandinavisches  Aich.  f.  Physiol.  1895,  VI,  pag.  332 — 437.  — 
3B)  Olt,  Ueber  Nucleoalbumin  im  menschlichen  Ham.  Zeitschr.  f.  Heilkunde  XVI.  pap.  177-  — 

40)  H.  Zeehuiseu,  Ueber  die  Bedeutung  der  Verdünnung  des  Harns  bei  der  Untersuchung 
auf  Eiweis?,  Zucker  und  Gallenfarbstoff  Zeitsehr  f.  klin  Med.  XXVI,  Heft  1 und  2.  — 

41)  Krete  u.  Matth  es,  Ueber  febrile  Albuniosurie.  Centralbl.  f.  innere  Med.  Is95,  Nr.  öl.  — 
4f)  Arthur  Edmunds,  The  effiect  of  saturatiny  normal  urine  with  certain  neutral  »alte. 
Journ.  of  Physiol.  XVII,  pag.  451.  — 4*)  A.  Ott,  Beiträge  zur  Lehre  von  der  Albuminurie. 
Deutsches  Arcb.  f.  klin.  Med.  LIII,  Heft  5 u.  6.  — 4I)  K.  Osswald,  Cyklische  Albuminurie 
und  Nephritis.  Zeitschr.  f.  klin.  Med.  XXVI,  Heft  1 n.  2.  — 4*l  Heller,  Uela*r  mercurielle 
Albuminurie.  Vortrag  in  der  Berliner  med.  Gesellsch.  Berliner  klin.  Wochenschr.  1895,  Nr.  45. 
— 4e)Th.  Lohnstein,  Die  densimetrische  Bestimmung  de«  Eiweisses  in  thierischen  Flüssig- 
keiten. Pflfiger’s  Arch.  f.  d.  ges.  Physiol.  LIX,  ]>ag.  479  und  LX.  pag.  136.  - Wilhelm 
Robitschek.  Das  Pepton  und  sein  Vorkommen  im  Harn  bei  verschiedenen  Krankheiten. 
Zeitschr.  f.  klin.  Med.  XXIV.  pag.  556.  — 48l  E.  Salkowski,  Ueber  den  Nachweis  dea 
Peptons  im  Harn.  Centralbl.  f.  d.  med.  Wissenschaften.  1894,  Nr.  7.  — 4#)  Zdenek  Peska, 
Zur  volumetrischen  Bestimmung  des  Zuckers.  Zeitschr.  f.  Rübenzuckerindustrie.  XXXIV, 
pag.  165;  Zeitschr.  f analyt.  Chemie  XXXV,  pag.  93.  — w)  Friedrich  Lunz,  Ueber 
alimentärt*  Glykosurie  bei  Graviden.  Wiener  med.  Presse.  1895,  Nr.  49.  — 4I)  Lafon,  Fedue- 
tion  de  la  liqueur  de  Fehling  par  lee  urine s renferment  du  mdfonal.  La  med.  moderne.  Mai 
1895,  pag.  170.  — **)  Th.  Lohn  stein,  Ueber  die  Entfärbung  zuckerhaltiger  Urine  mit 
Thierkohle.  Allg.  med.  Central-Ztg.  1895,  Nr.  74.  — M)  Th.  Lohnstein,  Ueber  die  densi- 
metrische  Bestimmung  des  Traubenzuckers  im  Harne.  Pflüger'»  Arch.  f.  d ges.  Physiol.  LXII, 
pag.  82.  — M»)  E.  Salkowski,  Ueber  die  Pentosurie,  eine  neue  Anomalie  des  Stoffwechsels. 
Berliner  klin.  Wochensehr.  1895.  Nr.  17,  pag  364.  — J*b)  Ferdinand  Blumenthal, 
Klinische  Beobachtungen  über  Pentosurie  Ibidem.  Nr.  26.  pag.  567.  — M)  Beck,  Ueber 
Entstehung  des  Urobilins.  Wiener  klin.  Wochenschr.  1895,  Nr.  35.  — 5S)  Adolf  Jo  11  es, 
Ueber  den  Nachweis  von  Urobi  in  im  Harne.  Arch.  f.  d.  ges.  Physiol.  LX1,  pag.  623.  — 
*8)  B I.  Stokvis.  Zur  Pathogenese  der  Hämatoporpbvnorie.  Zeitschr  f klin.  Med  1895, 
XXVIII,  pag.  1— 10.  — 4;)  A.  Da i her,  Beitrag  zum  Auftreten  von  Cylindern  im  Harn. 
Correspondenzbl.  f.  Schweizer  Acrzte.  1894.  — t7a)  Radom yski,  Die  Harncylinder  im 
eiweissfreien  Harn.  Unverrichts  ges.  Abhandl.  aus  der  med.  Klinik  zu  Dorpat.  1894, 
pag.  24 1.  — i7b)  A.  Kosslcr.  Ueber  das  Vorkommen  von  Cylindern  im  Harne  ohne  gleich- 
zeitige Ausscheidung  von  Serumeiweiss.  Berliner  klin.  Wochenschr.  1895.  Nr.  14  und  15  — 
Ä*)  K.  R ei  necke,  Leukocytenzählongcn  im  Harn  nnd  ihr  Werth  für  die  Diagnostik. 
Berliner  klin.  Wochenschr.  1895.  — B.  Goldberg,  Zur  Kenntniss  der  Pvnrie  und 
Hämaturie.  Ibidem.  — Ä0)  Fi  sc  hei.  Notiz  zur  Conservirung  «rganisirter  Harn  Sedimente. 
Prager  med.  Wochenschr.  1>95,  Nr.  12-  — 4>)  A dolf  Jo II es.  Ueber  eine  eiufacbe  und 
empfindliche  Methode  zum  qualitativen  und  quantitativen  Nachweis  von  Quecksilber  im  Ham. 
Monatsh.  f.  Chemie  1895.  pag.  684.  — **)  Senator,  Ueber  Peptonurie.  Deutsche  med. 
Wochenschr.  1895.  — 83)  8a vor,  Ein  Fall  von  Hydrotliionurie  nach  lang  andauerndem 
Coma  eclampticum.  Wiener  klin.  Wochenschr.  1895,  Nr.  8 u.  9.  — 44 ) M Wolff.  Mittbei- 
lungen über  Bacteriurie.  Berliner  klin.  Wochenschr.  1895,  Nr.  7.  — 6i)  B.  Goldberg.  Ueber 
Bacteiiurie.  Centralbl.  f.  d.  Kranklieiten  d.  Harn-  n.  Sexualorgane.  1895,  Heft  7.  — <s)  Haart, 
Bakterien  im  Ham  bei  typhösem  Fieber.  Inaug.-Dis^ert.  Utrecht  1-95.  — 6T)  W right  and 
S e nt  p 1 e , On  the.  preeence  of  typhoid  bucilli  in  the  urine  of  patients  sujfering  front  typhoid 

fever , Centralbl.  f.  innere  Med.  1S95.  Nr.  46  Loebiscli. 

Heilserum.  s.  Diphtherieheilserum,  pag.  1 1 G. 

Herpes  tonsurans,  s.  Dermatomykosen,  pag:.  111. 
Heteroxanthin,  «.  Harn,  pag.  242. 

Holigarna.  Alle  Arten  der  in  Vorder-  und  llinterimlien  verbreiteten 
Anacardiaceen-Gattung  Holigarna  schwitzen  in  trockener  Jahreszeit  einen  schwarzen 
Firniss  aus,  der  zum  Schwarzfärben  von  Holz  und  zum  Zeichnen  der  Wäsche 
benutzt  wird  und  ausserdem  auf  der  Haut  FntzUndung  und  Blasenhildnng  hervor- 
ruft. Aus  dem  Fruchtfleische  von  Holigarna  ferrv ginea  lloxb. , einer  hinter- 
indischen Art,  gewann  Hoopkr  ein  dem  Cnrdol  nahestehendes  oder  damit  identisches 
irritirendes  Oel,  das  vermnthiieh  auch  in  anderen  Species  vorhanden  ist. 

Literatur:  David  Hooper,  Holigarna  and  its  blielerintf  prnmplr.  l'tianu. 
Journ.  29.  Juni  1895.  pag.  119“.  Huseiuann. 

Huntington’sche  Krankheit,  s.  Chorea  hereditaria,  pag.  71. 

Hydrotliionurie,  s.  Ham,  pag.  258. 


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I.  J. 


Immunität.  Wenn  unter  genau  denselben  Bedingungen  ein  Individuum 
von  einem  1\ ra n khei tsprocess  befallen  wird,  ein  anderes  aber  gesund  bleibt,  so 
nennen  wir  das  erstere  empfänglich  und  das  andere  immun. 

Wir  wenden  den  Immunitätsbegriff  in  der  modernen  Medicin  vorzugs- 
weise an  auf  die  Infectionskrankheiten , welche  durch  von  aussen  stammende 
materielle  Agentien  (Infectionsstoffe)  hervorgerufen  werden.  Sowohl  das 
Studium  der  beichten  Infectionsstoffe  /Parasiten)  wie  das  der  nicht  belebten 
(Gifte)  hat  ergeben,  dass  eine  absolute  Immunität  nicht  existirt.  Weiase  Mäuse 
gelten  z.  B.  als  tuberkuloseimmun  , weil  solche  Quantitäten  von  dem  Infections- 
stoff  für  diese  Thiere  unschädlich  sind,  durch  welche  audere  Mäuseracen  und 
andere  viele  grössere  Thierspeeies  sicher  krank  gemacht  werden;  Hühner  gelten 
mit  Recht  als  tetanusimmun.  Man  kann  aber  auch  weisse  Mäuse  durch  Tuberkel- 
bacillen und  Hühner  durch  das  Tetauusgift  krank  machen,  wenn  sehr  stark 
wirksame  und  grosse  Mengen  dieser  Infectionsstoffe  incorporirt  werden. 

Wie  es  eine  absolute  Immunität  nicht  giebt,  ebenso  wenig  giebt  es 
einen  absoluten  Mangel  derselben.  Sowohl  bei  der  Incorporation  von  lebenden 
Mikroorganismen  (parasitäre  Infection),  wie  von  nicht  belebten  lnfections- 
stoffen  (toxische  Infection)  kann  eine  .Minimaldosis  auch  für  die  empfäng- 
lichsten Individuen  herausgefunden  werden,  unter  welche  nicht  heruntergegangen 
werden  darf,  wenn  eine  krankmachende  Wirkung  erreicht  werden  soll. 

Immunität  und  Empfänglichkeit  sind  also  in  Wirklichkeit  keine  conträren 
Gegensätze,  sondern  diese  Ausdrücke  bezeichnen  nur  einen  höheren  oder  geringem 
Grad  der  Widerstandsfähigkeit  gegenüber  einem  Iufectionsstoff.  Sehr  genau  ist 
durch  experimentelle  Studien  die  Widerstandsfähigkeit  verschiedener  Thierarten 
gegenüber  einigen  Bakteriengiften,  namentlich  gegenüber  dem  Diphtlicriegift  und 
dem  Tetanusgifl,  dem  Choleragift  und  dem  Tuberkulosegift  festgestellt  worden. 
Es  hat  sich  dabei  eine  auffallende  Gleichmässigkeit  in  dem  Verhalten  der  In- 
dividuen innerhalb  der  einzelnen  Thierspecies  ergeben,  so  dass  mit  grosser  Sicher- 
heit die  unschädliche,  die  krankmachende  und  tüdtliche  Dosis  im  Einzelversuch 
vorausgesagt  werdet!  kann. 

Zwischen  der  Widerstandsfähigkeit  gegenüber  den  krankheiterzeugenden 
Bakterien  (Bakterien  lmmunität)  und  gegenüber  den  von  den  Bakterien  er- 
zeugten Giften  (G ift-Immun ität)  besteht  im  Allgemeinen  ein  derartiges  Ver- 
hältniss,  dass  die  Empfänglichkeit  für  die  Bakterieuinfeetion  mit  der  Giftempfind- 
lichkeit steigt  und  fällt.  Jedoch  erleidet  dieser  Satz  mancherlei  Ausnahmen.  So 
sind  beispielsweise  gegenüber  dem  Diphtherie  g i f t Kaninchen  empfindlicher  als 
Meerschweinchen,  während  sich  die  Sache  umgekehrt  verhält  gegenüber  den 
lebenden  Diphtherie bacilleu. 

Sowohl  die  Bakterien-Immunität  wie  die  Gift-Immunität  kann  angeboren 
oder  im  Individuallebeu  erworben  sein. 

Gift-Immunität.  Der  Mechanismus  des  Zustandekommens  der  Immunität 
ist  gegenwärtig  bis  zu  einem  gewissen  Grade  verständlich  geworden  bei  der  Gift- 
immunität;  und  zwar  haben  wir  da  die  besten  positiven  Kenntnisse  über  er- 


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262 


IMMUNITÄT. 


worbene  Giftimmunität.  Alle  giftigen  Infectionsstoffe,  die  wir  bis  jetzt  kennen 
(Diphtheriegift,  Tetanusgift,  Tuberkulosegift,  Pneumoniegift,  Choleragift.  Typhus- 
gift, Schlangengift  u.  s.  w.),  haben  die  Eigenschaft,  dass  sie  in  solcher  Dosis,  in 
welcher  sie  für  ein  Individuum  noch  nicht  tödtlieh  sind,  einen  mit  Störungen 
der  Wärmeregulirung  und  localen  EntzUndungserscheiuungen  einhergehenden 
Krankhcitsprocess  anslflsen.  Nach  dem  l eberstoheu  desselben  findet  man  bei  den 
giftbehandelten  Individuen  den  Grad  der  Giftempfindlichkeit  verändert,  vermehrt 
oder  vermindert.  Ob  das  eine  oder  das  andere  der  Fall  ist,  hängt  von  der  Do- 
sirung  des  Giftes  ab.  Bei  geeigneter  Dosirung  lässt  sich  mit  Sicherheit  die  Gift- 
empfindlichkeit vermindern,  und  wenu  dann  methodisch  mit  immer  grösseren  Gift- 
dosen die  Behandlung  wiederholt  wird,  so  werden  auch  die  empfindlichsten  In- 
dividuen immun  gegen  die  allergrössten  Giftdosen.  Das  bekannteste  Beispiel  einer 
solchen  Immunisirung  ist  die  linmunisirung  gegenüber  dem  durch  Tuberkulin 
repräsentirten  Tuberkulosegift,  Das  Schema  der  von  R.  Koch  durchgeftihrten 
Tuberkulinbehandlung  des  Menschen  kann  gleichzeitig  als  das  Vorbild  jeder 
anderen  Giftimmunisirung  bezeichnet  werden.  Diese  willkürlich  erzeugte  Gift- 
immunität beruht  nun  ausnahmslos  auf  der  Entstehung  eines  Gegengiftes  (An- 
titoxin) im  Organismus  des  immunisirten  Individuums.  Gradweise  mit  der  immer 
weiter  gehenden  Giftgewöhnnng  nimmt  auch  das  Antitoxin  an  Menge  zu.  Jede 
Giftbehandluug  hat  nur  die  Entstehung  eines  einzigen  Antitoxins  zur  Folge:  die 
Angaben,  nach  welchen  durch  ein  Gift  mehrere  Antitoxine  entstanden  sein  sollen, 
haben  sich  bisher  nicht  bestätigt ; und  wo  scheinbar  etwas  derartiges  beobachtet 
ist,  da  handelt  es  sich  um  kein  reines  Experiment.  .So  ist  nach  Behandlung  von 
Pferden  mit  Diphtheriegift  ein  Streptokokkengegengift  gefunden  worden.  Nun 
bekommen  nicht  selten  die  mit  Diphtheriegift  behandelten  Pferde  Abscesse,  in 
welchen  sich  Streptokokken  nachweiseu  lassen.  Solche  Pferde  stehen  also  unter 
dem  Einfluss  einer  Strcptokokkeninfection  und  können  auf  diese  Weise  Strepto- 
kokkenantitoxin nach  dem  Ueberstehen  der  Infection  producirt  haben. 

So  lange  als  nicht  einwandsfreie  Beweise  für  das  Gegentheil  lu-ige- 
bracht  sind,  müssen  wir  daran  festhnlten,  dass  ein  durch  die  Immunisirung  im 
lebenden  Körper  entstehendes  Antitoxin  immer  nur  gegenüber  einem  einzigen 
Gifte  wirksam  ist. 

Wir  kennen  bis  jetzt  ein  Diphtherieantitoxin,  ein  Tetanusantitoxin,  ein 
Choleraantitoxin,  ein  Typhusantitoxin,  ein  Pneumonieantitoxin,  ein  Tuberkulose- 
antitoxin (Antituberkulin)  und  ein  Antitoxin  für  das  Schlangengift.  Ausserdem  sind 
Antitoxine  für  mehrere  Pflanzengifte  nachgewiesen  worden  (Antiriein,  Antiabrin ). 

Die  Antitoxine  sind  in  der  Blutflüssigkeit  « Blutantitoxin)  der  immuni- 
sirten Individuen  gelöst  und  werden  am  besten  gewonnen  aus  dem  nach  der 
Blutgewinnung  sich  abscheidenden  Serum.  Sie  werden  nachgewiesen  durch  das 
Thierexperiment.  Dasjenige  Gift,  gegenüber  welchem  ein  Antitoxin  wirksam  sein 
soll,  wird  in  tödtlieher  Dosis  einem  geeigneten  Versuchsthier  einverleibt ; wird 
dann  nach  snbeutaner  Iujection  der  auf  Antitoxin  zu  prüfenden  gelösten  Suit- 
stanz der  Vergiftungstod  verhütet,  so  gilt  «las  als  ein  Beweis  für  das  Vorhanden- 
sein von  Antitoxin.  Quantitativ  werden  die  Blutantitoxine  nicht  nach  Gewicht  oder 
Volum , sondern  nach  der  antitoxischen  Wirksamkeit  bestimmt.  Sehr  genaue 
Werthe  erhält  man  bei  Anwendung  der  Mischungsmethode.  Eine  genaue  titrirte 
Giftmenge,  d.  h.  eine  genau  bekannte  Zahl  von  tödtliehen  Minimaldoscn  des 
Giftes,  werden  mit  der  auf  Antitoxin  zu  prüfenden  Substanz  in  verschii'deneu 
Verhältnissen  gemischt  und  Versuchsthiereu  unter  die  Haut  gespritzt.  Durch  die 
Zahl  von  tödtliehen  Minimaldosen,  welche  von  einem  bestimmten  Volum  oder 
Gewicht  der  zu  prüfenden  Substanz  gerade  noch  vollkommen  unschädlich  ge- 
macht  werden,  wird  der  Gehalt  der  letzteren  an  Antitoxin  angegeben.  Zur  Ver- 
einfachung des  Ausdruckes  für  die  Werthbestinunung  bedient  man  sieh  auch  der 
Ausdrücke  Normalgift  und  Normalantitoxin.  Der  Titer  für  das  Diphtherie- 
Normalgift  und  Diphtherie-Normalantitoxin  wird  aufbewahrt  im  Reichs- 


IMMUNITÄT 


‘4H3 

gesundheitsamt  in  Berlin  und  dient  ftlr  die  preussische  Controlstation  als  Aus- 
gangspunkt fiir  die  staatliche  Prüfung  des  Diphtherieheilserums. 

Dass  nicht  blos  bei  Laboratoriumsthiereu,  sondern  aucli  beim  Menselien 
die  erworbene  Giftimmunität  auf  eine  Antitoxinproduction  zurück zufithren  ist,  hat 
zum  Theil  direct  bewiesen  werden  können,  zum  Theil  wird  dies  ohne  direkten 
Beweis  als  Thatsache  angenommen. 

Die  erworbene  Giftimmunität  geht  allmäiig  wieder  verloren,  wenn  nicht 
von  Zeit  zu  Zeit  durch  Giftzufuhr  erneute  Keactionen  nach  dem  Schema  der 
Tuberknlinbehandlung  erzeugt  werden.  Der  Verlust  der  Immunität  beruht  darauf, 
dass  durch  die  Nieren,  den  Darm  und  die  Ausführungsgänge  von  Drüsen  das 
die  Immunität  bedingende  Antitoxin  ausgeschieden  wird. 

Ohne  voraufgegangene  Giftbehandlung  kann  eine  Giftimmuuität  will- 
kürlich hergestellt  werden  durch  Einverleibung  von  fertigem  Antitoxin. 

Die  Antitoxin-Immunität  ist  als  eine  hämatogene  Gift-Immunität 
zu  bezeichnen,  da  sie  unabhängig  ist  von  dem  Zustande  der  lebenden  Körper- 
theile.  Die  Production  des  Antitoxins  ist  zwar  eine  Function  lebender  Körper- 
zellen, aber  das  fertige  Antitoxin  übt  seine  immunisirendc  Wirkung  aus  ohne 
irgend  welche  Beeinflussung  der  organisirten  Körpereleincnte,  einzig  und  allein 
dadurch,  dass  es  das  Gift  neutralisirt  und  unschädlich  macht.  Es  ist  ein  Speci- 
ficuni  im  strengsten  Sinne  des  Wortes,  denn  von  allen  Dingen  in  der  Welt  hat 
nur  das  Gift,  welchem  gegenüber  es  ein  Gegengift  ist,  eine  Affinität  zu  ihm, 
und  seine  Existenz  kann  auf  keine  andere  Weise  wahrgenommen  werden,  als  durch 
die  Aufhebung  der  Giftwirkung. 

Insofern  als  mit  der  Aufhebung  der  Wirkung  eines  Giftes  durch  das 
zugehörige  Antitoxin  einer  krankmachenden  Wirkung  vorgebeugt  wird,  ist  das- 
selbe als  Immunisirungsmittel  zu  bezeichnen.  Wird  nach  dem  Ausbruch  von  Ver- 
giftungserscheinungen das  im  vergifteten  Organismus  noch  vorhandene  Gift  durch 
das  Antitoxin  unschädlich  gemacht,  so  nimmt  die  Krankheit  einen  günstigeren 
Verlauf  und  das  Antitoxin  wird  damit  zu  einem  Heilmittel. 

Die  Antitoxin-Immunität  ist  nicht  vererbbar.  Es  kann  eine  Vererbbarkeit 
vorgetäuseht  werden,  wenn  das  Blutantitoxin  von  der  Mutter  durch  den  fötalen 
Kreislauf  an  den  Fötus  mitgethcilt  oder  nach  der  Geburt  mit  der  Milch  an  das 
Junge  abgegeben  wird.  Es  entsteht  dabei  eine  passagere  Antitoxinimmunität, 
die  nach  Ausscheidung  des  Antitoxins  verloren  geht.  Vom  antitoxin  immunen 
Vater  wird  Immunität  nicht  auf  die  Deseendenten  übertragen. 

Anders  liegen  die  Verhältnisse  bei  derjenigen  Giftimmunität,  welche  ieli 
als  histogene  bezeichnet  habe;  sie  ist  von  Natur  bei  einem  Individuum  vor- 
handen und  wird  von  Generation  zu  Generation  fortgeerbt.  Durch  Krankheiten, 
durch  die  Ernährungsweise,  durch  Alter  und  Grösse,  vor  Allem  aber  durch  Auf- 
nahme eines  Giftes  kanu  der  Grad  dieser  Giftimmunität  vorübergehend  vermehrt 
oder  vermindert  werden.  Immer  wieder  aber  kehrt  er  schon  im  Individualleben  und 
noch  sicherer  bei  den  Deseendenten  zu  der  für  jede  Thierspecies  zu  findenden 
Norm  zurück.  Es  ist  erstaunlich,  wie  gering  bei  gesunden  gleichaltrigen  Thieren 
derselben  Hace  die  individuellen  Differenzen  sind. 

Es  muss  jedoch  ausdrücklich  betont  werden,  dass  diese  Gleiclimässigkeit 
in  der  Giftempfindlichkeit  nur  für  Thicre  derselben  Raee  gilt.  So  sind  es  nur 
die  weissen  Mäuse,  die  mau  untereinander  vergleichen  darf,  wenn  man  auf 
denselben  Grad  der  Widerstandsfähigkeit  gegenüber  dem  Tetanusgift,  dem  Tuber- 
kulosegift, dem  Rotzgift,  dem  Typhusgift  rechnet.  Beispielsweise  sind  auch  die 
grössten  Giftmengen  des  bis  jetzt  hergcstellten  Tuberkulosegiftes  fiir  weisse 
Mäuse  ganz  indifferent,  während  eine  Spielart  grauer  Feldmäuse  (Spitzmäuse) 
schon  auf  verhältnissmässig  kleine  Tuberkulosegiftdosen  mit  tödtlich  endender 
Krankheit  reagirt.  Ausserordentlich  verschieden  ist  die  Giftempfindlichkeit  bei 
Thieren,  welche  verschiedenen  Thierspecies  angehören.  Als  Beispiel  will  ich  blos 
das  Verhalten  gegenüber  dem  Diphtheriegift  anführen.  Wenn  man  als  Diphthcrie- 


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IMMUNITÄT. 


2*14 

normalgift*)  ein  solches  bezeichnet,  welches  in  0,04  Ccm.  die  teilt  liehe  Dosis  für 
1 Kgrm.  lebend  Meerschweinrhengewicht  enthalt,  so  rcprSsentircn  für  1 Kgrm. 
lebend  Mäusegewiebt  erst  1000  Ccm.  Diphthericnormalgift  die  tOdtliche  Minimal- 
dosis. Für  eine  Maus  von  10  Grm.  ist  diese  Giftmenge  in  0,1  Ccm.  meines 
hundertfachen  Normalgiftes  enthalten. 

Diese  kolossalen  Unterschiede  in  der  angeborenen  Giftempfindlichkeit 
müssen  wir  auf  eine  besondere  Einrichtung  der  helebten  Körpertlieile  zurück- 
ftthreu.  Sie  sind  wahrscheinlich  das  Resultat  von  Lebensbedingungen,  welche  un- 
zählige Generationen  hindurch  in  Kraft  waren  und  einen  allmäligen  Einfluss 
auf  die  Structur  der  organisirten  Körperelemente,  insbesondere  auch  auf  die  Forc- 
pfianznngsorgane,  ausgeübt  haben.  Antitoxin  finden  wir  im  Blute  der  von  Natur 
immunen  Individuen  nicht. 

Ob  bei  lange  Zeit  andauernder  und  sehr  buch  getriebener  Antitoxin- 
Immunität  schliesslich  auch  eine  vererbbare  Immunität  entstehen  kann,  welche 
eine  verminderte  Giftempfindlichkeit  der  Gewebe  zur  Voraussetzung  hat,  diese 
Frage  lässt  sich  bis  jetzt  nicht  mit  Sicherheit  beantworten.  Einige  bei  tetanus- 
immunisirten  Pferden  beobachtete  experimentelle  Thatsachen  glaubte  ich  früher 
im  bejahenden  Sinne  verwerthen  zu  können ; indessen  durch  das  fortgesetzte  Studium 
ist  diese  Anschauung  als  nicht  zutreffend  erwiesen  worden.  Die  Abnahme  der 
Giftempfiudlichkeit  fand  schliesslich  Btets  durch  den  Nachweis  von  Antitoxin  in 
den  Körpertlüssigkciten  vollständig  ausreichende  Erklärung. 

Demgegenüber  lässt  sich  mit  voller  Sicherheit  eine  vorüber- 
gehende Zunahme  der  Giftempfindlichkeit  willkürlich  erzeugen.  Nach 
der  Application  einer  krankmachenden  Giftdosis  ist  für  kürzere  oder  längere  Zeit 
eine  Herabsetzung  der  angeborenen  histogenen  Immunität  zu  constatiren,  welche 
dadurch  zum  Ausdruck  kommt,  dass  kleine  Bruehtheile  der  ursprünglichen  tödt- 
lichen  Minimaldosis  den  Vergiftuugstod  herbeiführen. 

Abgesehen  von  demjenigen  Giftschutz,  welcher  durch  die  angeborene 
Giftunempfindlichkeit  und  durch  den  vorübergehenden  Gehalt  der  Körpcrfiüssig- 
keit  an  Antitoxin  zu  Stande  kommt,  haben  wir  noch  zu  berücksichtigen  die  Schutz- 
vorrichtungen, welche  die  Aufnahme  von  wirksamem  Gift  in  die  Cireulation  ver- 
hindern. Es  sind  das  locale  Schutzmittel,  welche  beispielsweise  durch  die  äussere 
Haut,  durch  die  Epitheldeckc  der  inneren  Körperoberflächen,  durch  die  chemischen 
Kräfte  des  Magendarminhaltes  und  der  Secretionsorgane  repräsentirt  werden. 
Daneben  können  wir  noch  die  Giflausscheidung  mit  Koth  und  Urin  nennen. 

Baktcrien-I mmunität.  Die  zuletzt  genannten  Schutzmittel  spielen 
gegenüber  den  löslichen  Giften  nur  eine  untergeordnete  Rolle.  Viel  wichtiger 
sind  sie  für  die  Unschädlichmachung  corpuscnliirer  heterogener  Schädlichkeiten, 
zu  welchen  wir  auch  die  Bakterien  rechnen  müssen.  Im  Verein  mit  den  evacua- 
torischcn , bakteriolytischeu  und  baktcriciden  Kräften  des  Entzünduugsprocesses 
sind  jene  Schutzmittel  im  Stande,  die  übergrosse  Mehrzahl  der  in  der  Natur  sich 
vortindeudeu  Bakterien  unschädlich  zu  machen.  Nur  insoweit  als  ein  pflanzlicher 
Mikroorganismus  gleichzeitig  als  ein  Giftproducent  im  thierischen  Körper  auftritt, 
gewinnt  er  die  Fähigkeit,  demselben  verderblich  zu  werden. 

Von  denjenigen  Schutzvorrichtungen,  welche  in  den  letzten  Jahren  be- 
sondere Würdigung  erfahren  haben,  sind  namentlich  aufzuführen  die  unter  dem 
Einfluss  eingedrungener  Bakterien  zu  beobachtenden  Reactioneu,  welche  sich  in 
einer  veränderten  Thütigkeit  der  lebenden  Gewebe  und  cellulären  Elementartheile 
äussern.  Sehr  eingehend  ist  durch  METSCHKIKOFF  die  phagoeytüre  Thätigkeit 
gewisser  Zellen  studirt  worden,  welche  in  vielen  Fällen  zweifellos  den  Eindruck 
der  Zweckmässigkeit  macht.  Auch  die  exsudativen  Proeesse,  die  man  früher  als 
unerwünschte  Krankheitssymptome  zu  verhindern  und  zu  beseitigen  suchte, 

Gegenwärtig  bezeichne  ich  aus  hier  nicht  zu  erörternden  Gründen  als  Diphtherie- 
Normalgift  ein  solches  Gift,  welches  lomal  starker  wirksam  ist,  wie  das  in  meinem  Buche 
„Infection  und  Desinfection*  charakterisirte  Normalgift. 


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IMMUNITÄT. 


265 


lernen  wir  jetzt  als  unter  Umständen  nützliche  Einrichtungen  schützen.  So  hat 
R.  Pfejffkk  gezeigt , dass  das  durch  eine  Bakterienart  erzeugte  Exsudat  iu 
der  Peritonealhöhle  die  Fähigkeit  haben  kann , lebende  Bakterien  derselben  Art 
aulzulösen  und  dadurch  abzutödten. 

Selbst  katarrhalische  Eiterungen , Abscedirungen  und  Nekrosen  erweisen 
sich  als  geeignet,  aus  dem  Organismus  krankmnehende  Bakterien  zu  beseitigen. 
Auch  die  im  Fieber  sich  äussernde  Allgeincinreaction  sehen  wir  jetzt  nicht 
mehr  als  eine  mit  allen  Mitteln  zu  bekämpfende  Krankheitserscheinung  an,  sondern 
als  ein  Zeichen  dafür,  dass  der  thierische  Organismus  sieb  durch  eine  qualitativ 
geänderte  und  quantitativ  gesteigerte  Thfttigkeit  abmüht,  eingedrungener  Schäd- 
lichkeiten Herr  zu  werden. 

Wie  durch  eine  sachverständige  Dosirung  entzünduugs-  und  lieber- 
erregender Bakterienculturen  und  Bakteriengifte  alle  dauernden  Nachtheile  ver- 
mieden und  nur  der  nützliche  Effect  eines  Baktcrienschutzes  erzielt  werden  kann, 
haben  die  für  praktische  Zwecke  unternommenen  Immunisirungen  an  grossen 
Thieren  und  die  Tuberkulinbehandlung  des  Menschen  zur  Genüge  bewiesen. 

Immerhin  muss  es  mit  Freude  hegrüsst  werden,  wenn  die  Möglichkeit 
geboten  wird,  ohne  Entzüudungsprocesse  und  ohne  Fieber  Bakterienschutz  zu  erlangen. 
Diese  Möglichkeit  ist  nun  in  der  Tliat  vorhanden.  Wenn  wir  die  Uiftwirkung  der 
Bakterien  vollständig  eliminiren,  dann  verhalten  sich  die  Leiber  derselben  nicht  anders 
wie  organische  Fremdkörper,  welche  reactionslos  einheilen  und  den  Wirthsorga- 
nismus  noch  weniger  belästigen,  als  wie  Farbstoffpartikel  oder  feinste  Koldetheilchen. 

Auf  dieser  Erkenntuiss  beruht  die  willkürliche  Immunisirung  gegenüber 
den  Diphtheriebacillen  und  Tetanusbacillen  durch  das  Diphtherie-  und  Tetanus- 
antitoxin. Das  Thierexperiment  lehrt  da,  dass  diese  für  empfängliche  Thiere  so 
sehr  verderblichen  Bakterien,  selbst  in  grossen  Mengen  unter  die  Haut  oder  auch 
in  seröse  Höhlen  und  direct  in  die  Blutbahu  eingeführt,  keine  Spur  von  Krank- 
heitserscheinungen auszulösen  im  Stande  sind,  so  dass  sie  für  die  giftimmun 
gemachten  Iudividucn  als  weniger  schädlich  zu  betrachten  sind,  wie  die  als 
harmlos  geltenden  saprophytischen  Bakterien.  Weder  phagocytäre  noch  exsudative 
Processe  lassen  sich  bei  sorgfältiger  Untersuchung  als  Folgewirkung  erkennen, 
und  wir  müssen  annehmen,  dass  die  Beseitigung  der  Bakterienleiber  in  ähnlicher 
Weise  erfolgt,  wie  bei  einem  organischen  Körper,  der  in  leicht  verdaulicher  Form 
dem  thierisclien  Körper  zugeführt  und  von  ihm  assimilirt  wird. 

Diese  Erfahrung  hat  dazu  geführt,  dass  wir  von  dem  Moment  ab,  wo 
die  Giftwirkung  eines  Mikroorganismus  gänzlich  eliminirt  ist,  uns  um  das  Schicksal 
desselben  nur  insoweit  kümmern,  als  er  für  andere  nicht  giftgeschützte  Individuen 
eine  Gefahr  darstellt.  Wir  wissen,  dass  Diphtheriebacillen  und  Pneumoniebakterieu 
mit  dem  Mundsecret,  Cholera-  und  Typhusbacillen  mit  den  Darmentleerungeu 
immuner  Menschen  nach  aussen  gelangen  und  eine  Infectionsquelle  für  andere 
nicht  immun  gemachte  Menschen  werden  können. 

Es  darf  jetzt  als  allgemein  giltiges  Gesetz  angesehen  werden,  dass 
jede  Immunität  bedeutenderen  Grades  auf  eine  Giftimmunität  zurückzufUhreu 
ist.  Dieselbe  ist,  wie  wir  oben  gesehen  haben,  eine  histogene,  wenn  sie 
vererbt  auftritt,  eine  hämatogene  dagegen,  wenn  sie  erworben  wird.  Eine 
weisse  Maus  ist  deswegen  tuberkulöse- immun , rotz- immun  und  diphtherie- 
immun, weil  sie  das  Tuberkulosegift , das  Kotzgift  und  das  Diphtheriegift 
auch  in  grossen  Mengen  anstandslos  verträgt;  aus  demselben  Grunde  ist  ein 
Huhn  tetanus-immun.  Meerschweine  werden  durch  die  Einspritzung  des  Serums 
von  immunisirten  Thieren  deswegen  diphtheric-,  tetanus-  und  cholera-immun, 
weil  das  Serum  solche  Körper  enthält,  welche  die  Giftwirkung  der  Diphtherie-, 
Tetanus-  und  Cholerabacillen  aufheben.  Sind  bet  den  giftimmun  gemachten  Thieren 
nach  der  Einverleibung  von  lebenden  Bakterien  noch  phagocytäre  und  exsudative 
Erscheinungen  erfolgt,  dann  war  eben  die  Giftimmunität  noch  nicht  genügend 
hoch,  um  das  Gift  ganz  unwirksam  werden  zu  lassen;  die  unbeeinflussten  Gift- 


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IMMUNITÄT.  - IMPETIGO. 


üöti 


reate  konnten  zwar  nicht  mehr  den  Tod  und  auch  nicht  namhafte  Gesundheits- 
störungen hervorrufen,  sie  reichten  aber  aus,  um  noch  einen  Keiz  auf  die 
lebenden  Körperzellen  und  auf  Organe  auszutlhen.  Dieser  Reiz  löst  exsudative 
Processe  aus  und  im  Exsudat  kann  man  dann  Zellen  linden,  welche  Bakterien  in 
sich  aufnehmen  iMetschnikoff’s  Phagocytcn),  und  gelöste  Körper,  welche 
durch  Auflösung  Bakterien  zum  Verschwinden  bringen  (R.  Pfeiffkr's  Ba kterio- 
ly  Hi  ne)  oder  Bakterien  klebrig  machen  und  ein  Zusammenballen  derselben  ver 
anlassen  (GbubERs  Agglutinine). 

Die  Bakteriolysine  im  peritonealen  Exsudat  choleraimmunisirter  und 
typhusimmunisirtcr  Thiere  sind  nur  gegenüber  den  Choleravibrionen,  beziehungs- 
weise gegenüber  den  Typhusbacillen  wirksam,  und  sie  sind  wegen  dieses  speci- 
lischen  Verhaltens  ein  sehr  werthvolles  diagnostisches  Hilfsmittel  geworden 
(R.  Pfeiffer).  Im  Blutserum  der  immunisirten  Thiere  findet  man  die  Bakteriolysine 
nicht.  Dagegen  enthält  das  Blutserum  choleraimmun  gemachter  Meerschweine  ein 
Agglutinin,  welches  von  GRUBER  zur  Differentialdiagnose  der  Choleravibriouen 
empfohlen  ist,  da  es  einzig  und  allein  diese  Mikroorganismen  agglutinirt. 

E.  Behring. 

Impetigo  (von  in-petere,  angreifen,  plötzlich  ergreifen  i findet  sich  aU 
Krankheitsbegrifl'  zuerst  bei  CELSUS  (lib.  V,  cap.  281,  welcher  darunter  wer 
verschiedene,  tlieils  pustulöse,  theils  schuppende  l’ebel  versteht.  Bei  den  Griechen 
scheinen  diese  theils  als  'iwpx,  theils  als  )iiyr(v  figurirt  zu  haben.  Peter  und 
JOSEPH  Frank  nannten  alle  chronischen  Hautausschläge  Impetigeues,  im  Gegen- 
satz zu  den  als  Exanthemata  bezeichneten  acuten.  SCHöXbEIX  schloss  sich  dieser 
Definition  an.  Die  erste  klarere  Begriffsbestimmung  für  Impetigo  giebt  VVillax. 
der  damit  eine  Eruption  kleiner,  gelber,  juckender  Pusteln  bezeichnet,  welche  in 
Gruppen  erscheinen  und  mit  einer  gelben,  dünnen,  schuppigen  Borke  endigen. 
Die  Krankheit  ist  nach  ihm  fieberlos,  nicht  ansteckend  und  kommt  hauptsächlich 
an  den  Extremitäten,  bisweilen  im  Gesiebt  vor.  WlLLAX  unterscheidet  5 Arten: 
Impetigo  figurata.  sparsa,  erysipelatodes,  scabida  und  roden»,  welche  fast  alle 
Autoren,  wie  Ambert,  Raver  etc.,  theils  acceptirten,  theils  noch  um  neue  Arten, 
wie  Impetigo  larvalis,  favosa,  vermehrten.  Auch  neuere  französische  Autoren, 
wie  Gcibout,  behalten  die  Wn.LAx’schen  Arten  hei. 

IIebra  erkannte,  dass  die  vier  ersten  Arten  der  Wiu.AX  schen  Impetigo 
verschiedenen  Zuständen  des  Ekzems  entsprachen  und  ordnete  dieselben  daher 
dem  Ekzem  unter,  welcher  Begriff  dadurch  einen  ungemein  viel  grösseren  Einfang 
erhielt,  als  er  ihn  bei  WlLLAN  besessen  hatte.  IIebra  ging  aber  noch  weiter: 
er  sprach  der  Impetigo  überhaupt,  wie  allen  Pusteleruptionen  (auch  dem  Ekthyma, 
der  Porrigo),  den  Charakter  als  Morbus  sui  generis  ganz  ab  und  erklärte  sie 
theils  für  begleitende,  theils  für  Folgeerscheinungen  anderer  Hautkrankheiten 
(Ekzem,  Scabies,  Prurigo,  Pruritus,  Pediculosis).  Dieser  Anschauung  hat  sieh 
die  jetzige  Wiener  Schule  ganz  angeschlossen,  obgleich  eigentlich  schon  der 
ältere  Meura  gegen  sein  mit  grosser  Wärme  vertheidigtes  Prineip  zweimal  selbst 
verstossen  hatte,  indem  er  nicht  allein  primäre  Eiterblasen  in  der  Form  metastalischer 
Obcrhautabscesse  zuliess,  sondern  sogar  eine  neue  Krankheitsspeoies  schuf,  die 
Impetigo  herpetiformis,  welche  durch  primäre  Eiterblasen  charakterisirt  ist.  Dazu 
kam  noch,  dass  1872  Tü.bi'RY  Fox  eiue  Form  der  Impetigo  beschrieb,  Impetigo 
contagiosa,  welche  mit  dem  Ekzem  gar  nichts  zu  thun  hatte  uud  von  Hebra 
und  seiner  Schule  auch  als  selbständige  Erkrankung  anerkannt  wurde.  Trotz- 
dem bewirkte  seine  Autorität,  dass  bis  zum  Jahre  1887  alle  Schriftsteller  an 
der  unrichtigen  Doctrin  festhielten , dass  es  keine  selbständigen  und  primären 
Pustelerkrankungen  gäbe.  Erst  die  in  jenem  Jahre  erschienene  Arbeit  von 
Bockhart  führte  auf  Grund  von  Impfexperimenten  (am  eigenen  Körper  mit 
Keinculturen  den  Nachweis,  da-s  es  eine  selbständige  Pustelerkrankung  giebt, 
welche  durch  den  weissen  und  gelben  Traulieneoceus  erzeugt  wird  und  sieh  durch 
eine  Reihe  ihr  specitisch  zukonunender  Symptome  sowohl  von  den  Ekzemen  wie 


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IMPETIGO. 


2<i~ 

von  anderen  Pustelerkrankungen  unterscheidet.  Hiermit  war  der  Bann  gebrochen, 
der  bisher  auf  der  klinischen  Erkenntniss  einer  grossen  Reihe  von  serösen,  serös- 
fibrinösen  und  eiterigen  Blasenerkrankungen  der  Haut  gelastet  hatte.  Das  genauere 
histologische  Studium  der  durch  die  gewöhnlichen  Kiterkokken  erzeugten  Eiter- 
blasen (Oberhautabscessei  ermöglichten  es  nunmehr  Unxa  schon,  eine  ganze  Anzahl 
derartiger  Blasenerkrankungen  von  im  Allgemeinen  gleichen  histologischen  Bau 
wie  die  staphylogene  Impetigo  nachzuweisen  und  sicher  wird  sieh  das  Gebiet 
dieser  bullös-pustulösen  Oberliauterkrankungen,  welche  bisher  alle  fälschlich  mit 
dem  Ekzem  identificirt  wurden,  in  nächster  Zeit  durch  histologische  und  bakterio- 
logische Studien  beträchtlich  erweitern. 

Seitdem  wir  wissen,  dass  es  nicht  blos  eine  (staphylogene)  Impetigo 
neben  dem  Ekzeme  giebt,  sondern  dass  viele  Mikroorganismen  ähnliche,  aber 
ätiologisch,  histologisch  und  klinisch  dennoch  unterschiedene  llautaft'ectionen  er- 
zeugen, bedürfen  wir  eiues  Gruppennamens,  welcher  ihren  Gegensatz  zum  Ekzem 
ebenso  gut  ausspricht,  wie  ihre  klinische  und  sonstige  Verwandtschaft  unter  einander. 
Historisch  berechtigt  wäre  der  Name:  Porrigo,  denn  unter  Porrigo  favosa  hat 
bereits  Willan  das  Bild  der  primären  und  reincu  Pustelerkrankung  unverkennbar 
gezeichnet.  Aber  einerseits  hat  sich  mit  dem  längst  veralteten  Ausdruck : Porrigo 
zu  sehr  die  Idee  einer  schuppigen  Erkrankung  des  behaarten  Kopfes  (Porrigo 
ist  auch  = Trichophytie,  Favus  etc.  bei  WlLLAX)  verquickt,  andererseits  ist 
durch  die  seit  Rayer  nie  ausser  Gebrauch  gekommene,  wenn  auch  missbräuch- 
liche Anwendung  des  Misch  begriffest  „Ekzema  impetiginosum “ für  pustulöse 
und  borkige  Ekzeme  der  Ausdruck : impetiginös  so  sehr  mit  dem  Begriffe  der 
zu  Krusten  eintrocknenden  Pusteln  verknüpft,  dass  der  Name:  Impetigo  bei  der 
Schöpfung  eines  Gruppennamens  für  bullös-pustulöse  Oberhauterkrankungen  nicht 
umgangen  werden  kaun. 

Unna  hat  deshalb  in  seiner  kürzlich  erschienenen  Histopathologie  der 
Haut  folgende  neue  Definition  für  den  alten  Namen  Impetigo  vorgesehlagen : 

Mehr  oder  minder  infectiöse,  autoinoculabl e Bläschen- 
erkrankung der  Haut,  insbesondere  der  Kinderjahre,  aus  zer- 
streuten oder  gruppirten,  isolirten  Bläschen  und  Blasen 
bestehend,  welche  sich  rasch  in  Krusten  u m w a n d e 1 n , mit  A b- 
stoss u n g der  letzteren  ohne  Narben  heilen  und  zu  keiner  f lUe  h e n- 
haften,  diffus  sich  ausbreitenden  Erkrankung  der  Oberhaut 
Anlass  geben. 

Unter  diesen  Begrilf  fallen  ausser  der  Bot'KHART’sehen  Impetigo 
sta  ph  plog  enes , der  HEBRA'schen  Impetigo  herpeti formte  und  den 
bisher  nur  von  Unxa  klinisch  und  histologisch  untersuchten  selteneren  Formen  : 
Impetigo  serosa,  Imp  et  i go  protuberans,  Impetigo  streptogenes, 
Impetig  o leukofibri  nosa , I mpeti  go  multilocula  ris , vor  allem  die 
beiden  sehr  gewöhnlichen  und  überall  endemischen  Kinderkrankheiten:  Impetigo 
vulgaris  und  Impetigo  circinata,  sowie  eudlich  die  in  verschiedenen 
Epidemien  (zuletzt  in  Rügen  1885)  aufgetretenen  impetiginösen  Er- 
krankungen, welche  wahrscheinlich  unter  sich  auch  nicht  identisch  gewesen 
sind.  Mit  Ausnahme  der  staphylogenen  und  herpetiformen  Impetigo  sind  alle 
diese  verschiedenen  Arten  in  den  letzten  beiden  Jahrzehnten  meistens  als: 
Impetigo  contagiosa  diagnostieirt  worden,  seitdem  Tilbuhy  Fox  1872 
unter  diesem  Namen  eine  eigenartige  krustenbildende  Blasenerkrnnkung  der 
Kinder  beschrieb;  dieselbe  ist  der  Hauptsache  nach  identisch  mit  unserer  jetzigen : 
Impetigo  vulgaris.  Der  Name:  Impetigo  contagiosa  sollte  nur  andenten  dass 
diese  Krankheit  sich  leicht  von  Kind  zu  Kind  fortpflanzt  und  autoinoculabel  ist. 
Seitdem  wir  a!  er  wissen,  dass  alle  Impetiginesarten  autoinoculabel  sind  und  die 
meisten  als  Gruppenerkrankungeu  auftreten , hat  es  keinen  Sinn,  eine  Form 
durch  das  Beiwort:  contagiosa  auszuzeirhneu : cs  würde  dadurch  nur  der  Irrthum 
wachgerufen  werden,  als  ob  die  anderen  Impetigoarten,  in  deren  Studium  wir 


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IMPETIGO. 


26S 

uns  jetzt  betiniien,  nicht  coutagiös  wären.  Höchstens  könnte  man  deu  Namen : 
Impetigo  contagiosa  für  die  exquisit  contagiösen , epidemischen  Impctigines 
reserviren ; aber  auch  da  tliut  mau  nach  meiner  Ueberzeugung  besser,  den 
Namen : Impetigo  epidemica  zu  substituiren,  wodurch  aller  Irrthum  hinsichtlich 
der  Contagiosität  der  übrigen  Formen  ausgeschlossen  ist. 

Im  Folgenden  sollen  die  vier  wichtigsten  Formen  der  Impctigines : 
die  Impetigo  staphylogenes , Impetigo  vulgaris,  Impetigo 

circinata  und  Impetigo  her  p et  ifo  rmis  Ile  bra  kurz  besprochen  werden. 

Impetigo  staphylogenes.  Die  durch  die  weissen  und  gelben 
Eiterkokken  erzeugten  Eiterblasen  sind  als  selbständige,  primäre  Erkrankung 
durchaus  selten  und  jedenfalls  lange  nicht  so  häutig,  wie  die  meisten,  auch 
dermatologisch  geschulten  Aerzte  heutzutage  auneluncn;  in  vielen  Fällen  liegt 
eine  Verwechslung  mit  auderen  Arten  der  Impetigo,  speciell  mit  der  viel  häutigeren 
Impetigo  vulgaris  vor.  Meistens  schliessen  sich  die  staphylugenen  Jmpetigines 
an  andere  eiterige  Affcctionen  (Ulcera,  Wunden)  oder  an  die  Abheilung  nässender 
oder  snppurirender , anderer  Hautkrankheiten  (Ekzeme,  Variola,  Varicellen) 
scrundär  als  Complication  an  oder  sic  gehen  direct  als  eine  neue  Form 
staphylogener  Erkrankung  aus  anderen  .Staphylokokkenkrankheiten  der  Haut 
(Furunkel,  Sykosis)  hervor.  Stets  schliessen  sich  bei  längerem  Bestehen  der 
staphylogeneu  Impetigines  Furunkel  an  dieselben  an.  Eine  impetiginösc  Er- 
krankung der  Haut,  welche  längere  Zeit  sich  seihst  überlass«  n besteht,  ohne  an 
einer  Stelle  in  Furunkel  Uberzugehen,  bezeugt  dadurch  mit  grosser  Sicherheit, 
dass  sie  nicht  durch  die  weissen  und  gelben  Staphylokokken  erzeugt  worden  ist. 
Aber  auch  ohne  dieses  klinische  Merkmal  von  fundamentaler  Wichtigkeit  lassen 
sich  die  echten  staphylogenen  Impetigines  ziemlich  leicht  erkennen.  Sie  sitzen  — 
im  Gegensatz  zur  Impetigo  vulgaris  mit  ihrer  Prädilection  für  Gesicht  und 
Hände  — am  häufigsten  dort,  wo  die  Furunkel  sitzen,  an  Orten  der  Kleidcr- 
rcibung  (Hals,  Vorderarme,  Unterschenkel)  und  in  der  Umgebung  eiternder 
Affcctionen,  im  Uebrigen  aber  ist  die  l.ocalisation  unbeschränkt  und  hängt  im 
Einzelfalle  von  dem  Uebertragungsmodus  ab.  Universelle  Ausbrüche  können  unter 
Umständen  bei  schon  vorhandenen  staphylogenen  Impetigines  oder  Furunkeln, 
durch  feuchte  Einpackungen  oder  Abreibungen,  ja  selbst  durch  Bäder  mit  nacb- 
heriger  Frottirnug  erzeugt  werden.  Die  Effloresccuzen  sind  von  vornherein 
eiterig  und  bleiben  es  bis  zur  Eintrocknung;  nur  in  einzelnen  Fällen  habe  ich 
an  grossen  staphylogenen  Impetigines  eine  secundäre  Aufhellung  bemerkt,  so  dass 
der  Inhalt  ein  molkiger,  scröseiteriger  wurde.  Sie  sitzen  wie  g rü  n 1 i c h ge  1 h e 
Tropfen,  als  stark  hervorragende,  halbkugelige  Prominenzen  der  Haut  auf  und 
sind  von  einem  oft  nur  schmalen  rotheu  Saume  eingefasst,  dessen  geringe  Aus- 
dehnung häutig  in  auffallendem  Contrast  zu  dem  starken  Eitergehalt  der  Blase 
steht.  Meistens  sehiessen  sie  ziemlich  plötzlich,  z.  B.  in  einer  Nacht  auf  und 
dehnen  sieh  rasch  von  Kiibsamcn-  bis  Erbsengrösse  aus,  um  sodann  langsam  ein- 
zutrocknen oder  sich  in  einen  Furunkel  zu  verwandeln.  Wo  man  bei  der  Palpation 
der  Blase  eine  erhcbliehe  Härte  der  Basis  constatiren  kann,  ist  schon  die  Um- 
wandlung der  Impetigo  in  eine  Folliculitis  oder  Perifolliculitis  vor  sich  gegangen, 
d.  h.  der  l’ebergang  zum  Furunkel  steht  bevor.  Je  umfangreicher  die  Blase  ist, 
desto  höher  ist  sie  auch;  sie  bat,  mit  anderen  Worten,  eine  Neigung,  ihre  an- 
fängliche II  a 1 b k u ge  1 fo  r m beizubehalten,  was  damit  zusammenhängt,  dass  die 
Blasendecke  dünn  ist  und  nur  aus  der  llornschicht  besteht,  ohne  dass  sich  an  die- 
selbe gerinnende  Serumscliichten  (wie  bei  der  Impetigo ■ vulgaris)  anlegen  und  sie 
verdicken.  Der  Blasenraum  ist  daher  auch  immer  eiukammerig  und  die  Blase 
niemals  gcdellt.  Mit  der  Abwesenheit  von  Gerinnungsprocessen  hängt  es 
auch  zusammen , dass  die  staphylogenen  Impetigines,  wenn  sic  ausnahmsweise 
platzen,  die  Haare  nicht  verkleben  (wie  Ekzeme  und  Impetigo  vulgaris). 
Nach  2-  bis  höchstens  ITtägigem  Bestände  pflegt  das  uucomplicirte  staphylogene 
Impetigobläschen  abzaheileu,  indem  sich  ans  der  llornschicht,  dem  eiugctrockneten 


IMPETIGO. 


Eiter  des  Blascnraumes  und  einigen  verhornenden  Lagen  des  Blaseubodcns  eine 
braune  Borke  bildet,  welche  später,  ohne  eine  Narbe  zu  hinterlassen, 
abfällt.  Snbjective  Empfindungen  verursachen  sie  während  ihres  ganzen  Bestandes 
kaum : bei  l'cbergaug  in  Furunkel  tritt  jedoch  eine  schmerzhafte  Spannung, 
stärkere  Röthe  und  fühlbare  Wärme  auf. 

Wie  die  mikroskopische  Untersuchung  nachweist*),  entstehen  die  staphy- 
logenen  Eiterblasen  dadurch,  dass  die  Staphylokokken  durch  einen  Riss  der  Horn- 
schicht unter  diese  letztere  gelangen  und  sofort  einen  sich  mehr  und  mehr  ver- 
grössernden  Eiterlropfen  aus  den  Gefässcn  des  Papillarkörpers  anlocken ; dieser 
breitet  sich  zwischen  Hornschicht  und  Stachelsrhicht  der  Oberhaut  aus  und  wird  von 
aussen  nach  innen  von  den  Trauben  des  Eitercoccus  durchwachsen,  wobei  die 
Eiterzellen  absterheu,  ohne  die  Eiterkokken  in  Bich  anfzunehmen.  Dnrcli  den  sich 
vergrössernden  Eitertropfen  wird  die  Stachelschicht  und  der  Papillarkörper  zur 
Fläche  ausgeglichen.  Die  subpapillaren  und  papillären  Blutgefässe  lassen  eigent- 
liche Entztlndungsphänomene  fLeukocytenmäntel,  Anschwellung  von  Bindegewebs- 
zellen,  serös-eiteriges  Exsudat)  vollkommen  vermissen;  mit  der  vorübergehenden 
„leukotaktischen1“  Anlockung  ist  der  ganze  Process  beendigt.  Der  Uebergang  von 
der  Impetigo  zum  Furunkel  stellt  sich  mikroskopisch  in  der  Weise  dar,  dass  die 
Staphylokokken  in  einem  in  die  Pustel  eingeschlossenen  Haarbalge  zwischen  Haar- 
wurzelscheide  und  Stachelschicht  des  Haarhalgs  in  die  Tiefe  wachsen  , welchem 
Einbrüche  eine  starke  perifolliculäre  Ansammlung  von  Leukocyteu  antwortet. 
Dieser  perifolliculäre  Abscess  bildet  den  Anfang  des  Furunkels. 

Die  Prognose  ist  sehr  günstig,  wenn  man  die  Natur  der  Affection 
frühzeitig  erkennt,  ehe  dieselbe  sich  in  eine  Furunkulose  verwandelt  hat  und 
demgemäss  behandelt.  Andernfalls  wird  die  Behandlung  langwieriger,  ohne  übrigens 
die  Prognose  zu  verschlimmern. 

Die  Behandlung  besteht  im  Aufstechen  der  Eiterblasen  und  der  gründ- 
lichen Desinficirung  des  Blasenbodens  mit  einem  in  l°/0iger,  wässeriger  Sublimat  - 
lösuug  getränkten  Wattebausch.  Hierauf  wird  am  besten  eine  stark  eintrocknende 
Zinkoxyd-  (10%),  Schwefel-  (10%),  Kieselgur-  (10%)  Paste  applicirt.  Weniger 
eingreifend  und  doch  meistens  genügend  ist  die  Application  letzterer  Paste  allein 
oder  besser  mit  Zusatz  von  2 — 5%  Ichthyol  oder  selbst  nur  das  einfache  Auf- 
pinselu  von  purem  Ichthyol  und  die  sorgfältige  Entfernung  der  kokkenhaltigen 
Krusten  nach  der  Eintrocknung.  Beginnende  Furunkel  erfordern  den  Quecksilber- 
(’arbol-Pflastermull. 

Impetigo  vulgaris.  Die  Impetigo  vulgaris  ist  im  Gegensatz  zur 
staphylogenen  Impetigo  auf  bestimmte  Lebenskreise  und  Altersstufen  beschränkt, 
innerhalb  dieser  Grenzen  aber  eine  sehr  viel  häutigere  Erkrankung  als  die  letztere. 
Sie  beschränkt  sich  nämlich  hauptsächlich  auf  die  Kinder  der  ärmeren  Bevölkerung 
und  ist  hier  mit  periodischen  Schwankungen  innerhalb  der  Jahreszeiten  — ein 
Maximum  der  Fälle  fällt  gewöhnlich  auf  den  Sommer  — geradezu  endemisch. 
Die  die  Impetigo  vulgaris  verursachenden  Organismen  müssen  daher  ubiquitär 
sein  und  nur  geringer  Gelegenheitsursachen  zum  Haften  auf  der  Haut  bedürfen, 
wie  sie  etwa  in  dem  Mangel  an  Reinlichkeit  und  der  Befeuchtung  mit  natürlichen 
Secreten  (Thränen,  Nasenschleim,  Speichel)  bei  den  Kindern  der  Armen  schon 
gegeben  sind.  Auf  die  hervorragende  Wirksamkeit  dieser  Gelegenheitsursachen 
mag  auch  die  eigenthtlmliche  constante  Topographie  der  Efflorescenzen  zurtlck- 
zufübren  sein.  Dieselben  kommen  nämlich  hauptsächlich  und  zuerst  in  der  Um- 
gebung des  Mundes,  der  Nase  und  Augen  vor,  an  den  Lippen,  in  der  Nasolabial- 
falte,  den  Augenlidern.  Von  hier  verbreiten  sie  sich  leicht  durch  Autoinoculatioii 
auf  die  Wangen,  Stirn,  Ohren,  Kinn  und  auf  den  Rücken  der  Hände,  Finger 
und  Vorderarme.  Des  weiteren  findet  man  sie  auch  am  behaarten  Kopf,  an  den 
Unterschenkeln,  besonders  in  der  Gegend  der  Fussknöchel  und  endlich  viel  seltener 

*)  Vergl.  hierzu  die  Tafel,  Fi(?.  1 n.  ii. 


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IMPETIGO. 


am  übrigen,  bekleidet  getragenen  Körper.  Weiter  kommt  sie  atteh  als  seeundäre 
Erkrankung  in  der  Umgebung  von  Geschwüren,  Nasen-  und  Augenleiden  vor, 
hauptsächlich  bei  Bedeckung  letzterer  mit  unsauberen  Verbandmitteln,  sowie  hei 
Scabies,  Lichen  urtieatus  und  anderen  juckenden  Dermatosen  der  Kinder. 

Die  Einzelcfflorescenz  beginnt  mit  einem  pfefferkorn-  bis  erbsengrossen, 
unregelmässig  begrenzten,  rothen  Flecke,  in  dessen  Mitte  nach  12 — 21  Stunden 
ein  sehr  kleines,  au  einem  Follikel  gelegenes,  durchsichtiges  Bläschen  aufsehiesst. 
Dasselbe  juckt  gewöhnlich  etwas,  wird  zerkratzt  und  bildet  sich  dann  nicht 
wieder,  sondern  hinterlässt  eine  Erosion , welche  sieh  alsbald  mit  einem  rasch 
gerinnenden,  grossen  Serumtropfen  bedeckt.  Die  auf  diese  Weise  entstehenden, 
honiggelben,  dicken  Krusten  haben  meistens  die  Grösse  der  hyperümischen  Flecke, 
werden  aber  nach  öfterem  Abkratzen  etwas  grösser,  linsen-  bis  50-Pfennigstück- 
gross,  wiedergebildet.  Sie  dehnen  sich  aber  — im  Gegensatz  zur  Impetigo 
circinata  — nicht  erheblich  weiter  aus  und  heilen  auch  nicht  im  Centrum  ab, 
eonfluiren  jedoch  oft  mit  benachbarten  Efflorescenzen  zu  grösseren  Krustenseheiben 
mit  polycyklischeu  Conturen.  Nach  mehreren  Tagen  nehmen  die  Krusten  durch 
Eintrocknung  eine  bräunliche  Farbe  an  und  fallen  schliesslich  bei  einem  unbe- 
deutenden Stosse  oder  Zuge  ab,  ohne  eine  blutende  Fläche  zu  hinterlassen.  Ent- 
fernt man  sie  in  den  ersten  Tagen , so  sickert  sofort  eine  bedeutende  Serum- 
menge aus  der  der  Horuschieht  beraubten,  feinen  Epitheldecke  nach  und  bildet 
nach  kurzer  Zeit  eine  neue  Kruste.  Nach  Abheilung  der  Krusten  hinterbleiben 
längere  Zeit  etwas  blaurüthliche  Stellen  vom  Umfange  der  Krusten  mit  glatter 
Oberfläche  und  einer  eben  wahrnehmbaren  Depression;  doch  nie  entstehen  Narben 
und  niemals  geht  eine  Impetigo  vulgaris  - Efflorescenz  in  eine  Folliculitis  oder 
einen  Furunkel  über.  Ebensowenig  entsteht  aus  der  Inijtetigo  vulgaris  eine 
flächenhaft  sich  ausbreitende,  ekzematöse  Oberhauterkrankung. 

Die  Gesammternährung  der  betreffenden  Kinder  leidet  durch  das  Be- 
stehen der  Impetigo  vulgaris  nicht  im  Mindesten;  in  der  Mehrzahl  der  Fälle 
handelt  es  sich  um  gut  genährte  Individuen  auch  bei  sehr  langem  Bestände  der 
sich  fort  autoinoculirenden  Dermatose.  Jedoch  findet  man  ziemlich  häufig  eine 
mehr  oder  weniger  ausgeprägte,  regionäre  Lymphdrtlsenschwellung , insbe- 
sondere an  den  l'nterkieferwiukcln  bei  Gesichtsimpetigo.  Es  hat  mir  geschienen, 
als  ob  dieselbe  immer  erst  dann  auftrete,  wenn  etwas  Secret  unterhalb  der  Krusten 
sich  staut  und  die  Kinder  sehr  unreinlich  gehalten  sind.  In  solchen  Fällen  ist 
das  naehsickernde  Secret  auch  meisens  nicht  rein  serös,  wie  Anfangs  stets,  sondern 
seröseitrig.  Es  bleibt  zu  untersuchen,  oh  die  Lymphdrüsenschwellung  und  der 
seeundäre  eiterige  Charakter  mancher  Efflorescenzen  zum  einfachen  Bilde  der 
Impetigo  vulgaris  gehören  oder  die  Folge  von  secundärer  Einnistung  anderer 
Organismen  sind.  Sichere  Abweichungen  vom  typischen  Bilde  kommen  vor,  wo 
die  Impetigo  vulgaris  sich  am  Rumpfe  und  an  den  Oberschenkeln  einnistet  und, 
wie  das  allerdings  selten,  aber  sicher  vorkommt.  Erwachsene  befällt.  Die  für  die 
Impetigo  vulgaris  des  Kindergesichtes  so  charakteristischen  gelbbraunen,  dicken 
Borken  pflegen  dann  dünneren,  weniger  charakteristischen  Platz  zu  machen,  ln 
solchen  Fällen  beruht  die  Diagnose  auf  derjenigen  der  begleitenden  Kinder- 
erkrankung und  auf  dem  histologisch  und  culturell  erbrachten  Nachweis  der 
specifischen  Organismen. 

Diese  letzteren*)  finden  sich  constaut  und  meistens  in  bedeutender  An- 
zahl in  den  Krusten  der  Impetigo  vulgaris,  .in  dem  Serum  nach  Abhebung  der 
Krusten  und  in  den  primären,  sehr  hinfälligen  und  darum  seltener  zur  Beob- 
achtung gelangenden  Bläschen.  Es  sind  kleine  Kokken  von  etwas  länglicher, 
ovaler  Form  und  ziemlich  gleicher  Grösse  (durchschnittlich  0'8  o.  im  längeren 

•)  Die  kurzen,  hier  gegebenen  .Mittheilungen  über  die  Impetigo  ri/ö/nrie-Organismen 
sind  ein  Auszug  au-  einer  grösseren  Arbeit  über  denselben  Gegenstand,  welche  die  Resn  t»t« 
der  in  den  drei  letzten  Jahren  an  der  Unna  sehen  Poliklinik  in  Hamburg  durchgeführten 
Untersuchungen  zusammenfasst  nnd  im  Laufe  dieses  Jahres  in  den  Monatsb.  f.  prakt.  Dermat. 
arscheinen  wird. 


IMPETIGO. 


271 


Durchmesser).  Sie  besitzen  keine  auffallende  Hülle  und  daher  auf  Culturpräparaten 
kein  regelmässiges  „Korn“  (hierin  unterschieden  von  den  Morokokken  des  Ekzems), 
sondern  ähneln  in  dieser  Beziehung  und  in  Bezug  auf  die  Form  mehr  dem 
Üaphylococcus  aureus  et  albus,  von  dem  sie  sich  wieder  in  den  Cultoren  durch 
ihr  viel  geringeres  peptisches  Vermögen  und  die  nie  goldgelbe,  stets  weisse  Farbe 
unterscheiden.  In  den  Krusten  bilden  die  Kokken  weder  Trauben  (Staphylococcus) 
noch  Drusen  (Morococcus),  sondern  lose  gebaute  Gruppen  mit  sparrig  abstehenden 
Ansläufern,  ähnlich  einer  Hand  mit  gespreizten  Fingern.  Häufiger  sind  kurze 
Ketten  von  3 — 6 Gliedern,  die  theils  durch  ihre  Kürze,  theils  durch  die  scharf- 
winkeligen Biegungen,  theils  durch  die  längliche  Form  und  die  Unregelmässigkeit 
der  Einzelglieder  mit  den  sehr  verschieden  langen,  rund  gebogenen  und  regel- 
mässig gliederigen  Ketten  des  Streptococcus  pyogenes  nicht  leicht  zu  verwechseln 
sind.  Ausser  in  kurzen  Ketten  und  handförmigen  Haufen  trifft  man  sie,  aller- 
dings seltener,  einzeln  verstreut  oder  in  grossen  Schwärmen.  In  Reincultur  auf 
der  Haut  verrieben,  gaben  dieselben  in  einem  Falle  Anlass  zur  Entstehung  einer 
typischen  Impetigo  vulgaris  (beim  Erwachsenen). 

Die  histologische  Untersuchung  der  Krusten  ergieht,  wie  die  klinische 
Beobachtung,  dass  diesem  Organismus  nicht  die  Fähigkeit  einer  primären  Eiter- 
anlockuug  (wie  den  Staphylokokken)  zukommt.  In  reinen  und  frischen  Fällen 
bestehen  die  dicksten  Krusten  fast  aus  reinem  geronnenen  Serum;  Blutungen 
durch  leichte  Traumata  bedingen  Fibrinabscheidung,  sehr  lange  Dauer  eine  geringe 
Eiterbeimischung  der  Krusten.  Erstgebildete  Krusten  tragen  an  der  Oberfiäcbc 
eine  zarte  Hornschicht,  später  gebildete  nicht;  eine  reichliche  Hornbeimischung 
wie  bei  Ekzem;  kommt  den  Krusten  der  Impetigo  vulgaris  nicht  zu.*) 

Die  Behandlung  der  Impetigo  vulgaris  ist  leicht , wenn  man  sich  eine 
energische  ein-  oder  mehrmalige  Desinfection  aller  einzelnen  Herde  zur  Pflicht 
macht.  Durch  eine  Abreibung  der  von  den  Krusten  entblössten  Stellen  mit  einer 
1°  „igen  wässerigen  Sublimatlösung,  wodurch  die  in  den  Follikelmündungen 
nistenden  Kokken  getödtet  werden  und  darauf  folgende  Application  einer  die 
Erosionen  rasch  abtrocknenden  Zinkschwefel-Kieselgurpaste  erzielt  man  leicht 
Heilung,  während  eine  oder  die  andere  Massnahme  allein  gewöhnlich  nicht  zum 
Ziele  führt.  Unvollständig  geheilte  Fälle  können  sich  durch  Autoinoculationen 
Monate  lang  hinausziehen.  .Salben,  auch  mit  antimykotischen  Zusätzen,  helfen 
noch  weuiger,  als  Pasten  allein. 

Impetigo  circinata.  Die  circinäre  Form  der  Impetigo  scheint 
nach  der  Impetigo  vulgaris  die  häufigste  zu  sein,  kommt  aber  immerhin  beträcht- 
lich viel  seltener  vor  als  die  letztere.  Dagegen  ist  sie  nicht  wie  diese  auf  die 
Kinderjahre  vorzugsweise  beschränkt ; etwa  die  Hälfte  der  Fälle  sieht  man  bei 
Erwachsenen.  Auch  hier  ist  das  Gesicht  der  hauptsächlich  und  gewöhnlich  zuerst 
befallene  Körpertheil ; Ueberimpfungen  der  Effloreseenzen  auf  den  Rumpf  und 
die  Extremitäten  sind  häufig.  Die  Impetigo  circinata  beginnt  mit  einem  rothen 
Flecke,  auf  welchem  alsbald  sich  ein  rein  seröses,  sehr  kleines,  centrales  Bläschen 
zeigt,  welches  aber  rasch  eintrocknet,  ohne  eine  dickere  Kruste  zu  hinterlassen, 
während  eine  periphere  Randzone  anschwilit,  sich  stärker  röthet  und  hier  uud 
da  selbst  einen  Bläschenwall  oder  einen  Kranz  von  sehr  kleinen  Bläschen  bildet, 
die  dann  meistens  Follikelmündungen  entsprechen.  Inzwischen  hat  sich  das  Centrum 
abgeflacht  und  mit  einem  ziemlich  glatten,  grauweissen  Schüppchen  bedeckt.  Durch 
dieses  circinäre  Fortkriechen  entstehen  Flecke  von  Mark-  und  selbst  Thalergrösse, 
die  auch  confluiren  können,  mit  einem  frisch  entzündlichen,  zuweilen  Bläschen 
tragenden  oder  erodirten,  5 — 7 Mm.  breiten  Rande  und  einem  abgeheilten,  Schüppchen 
tragenden  Centrum.  Eine  starke,  seröse  Absonderung  und  dicke,  gelbe  Krusten 
fehlen  bei  dieser  Aflection ; sie  ist  ein  trockenerer  Hautkatarrh  als  die  Impetigo 
vulgaris.  Auch  bei  ihr  ist  eine  regionäre  Lymphdrüsenanschwellnng  beobachtet. 

•)  Die  histologische  Untersuchung  der  excidirten  Bläschen  s.  Unna.  Histopathologie 
der  Haut.  pag.  190.  Vergl.  hier  die  Tafel.  Fig.  ?,  n.  -1. 


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272 

Als  wahrscheinliche  Erreger  dieser  Impetigo  - Art  fand  Uxxa  in  den 
Scliiiitteu  einer  excidirten  Efflorescenz*)  runde  Kokken,  deren  Haufen  Drusenform 
besassen  und  an  die  Drusen  der  Ekzemkokken  erinnerten.  Die  seither  in  mehreren 
Füllen  erhaltenen  Keinculturen,  sowie  die  Krustenuntcrsuehungen  ergaben  in  der 
Mehrzahl  der  Fülle  ebenfalls  einen  runden  Coccus  (im  Gegensatz  zu  den  Kokken 
der  Impetigo  vulgaris).  Positive  Impfresultate  mit  demselben  liegen  noch  nicht  vor. 

Impetigoherpet  ifo  rmis.  Diese  zuerst  von  F.  Hebka  ( Wiener  ined. 
Woehcnschr.,  1872)  beschriebene  Eiterpustelerkrankung  kommt  fast  ausschliesslich 
bei  Frauen  vor,  und  zwar  meistens  gegen  Ende  der  Schwangerschaft ; seltener  im 
Puerperium  oder  im  Anschluss  an  Uterinleiden.  Von  12  sicheren  Fällen,  welche 
Dubeeuilh  1894  zusammenstellte,  endeten  13  letal  und  betrafen  nur  2 männ- 
liche Individuen.  Die  Erkrankung  loralisirt  sich  zunächst  an  der  hauptsächlichsten 
Prüdilectionsstelle,  der  Genitocruralregion,  und  breitet  sich  von  hier  aus  alhuälig 
in  Schoben  Uber  den  ganzen  Körper  aus,  besonders  auch  in  der  Mammargegend 
und  auf  der  Mundschleimhaut.  Dabei  liegt  das  Allgemeinbefinden  sehr  darnieder 
und  ein  intensives  Fieber  mit  Schüttelfrösten  begleitet  jeden  neuen  Pustelausbruch. 
Bei  günstigem  Verlaufe  kann  noch  nach  vielen  Jahren  ein  tödtliches  Iteeidiv  eiu- 
treten,  insbesondere  bei  erneuter  Schwangerschaft.  Nach  Kaposi  treten  die 
Blasen  stets  gleich  als  Eiterblasen  auf,  welche  in  Gruppen  angeordnet  sind  und 
sich  circinär  in  kreisförmigen  Reihen  weiter  ausbreiten.  Auf  der  Höhe  der 
Aflection  ist  der  Körper  bedeckt  mit  grossen , aus  den  Eiterpusteln  confluirten 
Herden , deren  Centrnm  bereits  wieder  normal  überhornt  oder  — in  den  Uon- 
taetstellen  — mit  matschem,  stinkendem  Epithel  bedeckt,  nie  aber  ulccrirt  ist, 
wie  deun  die  Einzeleftloresceuz  auch  stets  ohne  Narbenbildung  abschliesst.  Nach 
I)l'  Mfsxii.  ist  die  Stachelschicht  selbst  in  den  meisten  Fällen  Sitz  der  Eiterblase, 
wobei  mehr  oder  weniger  Stachelzellen  auf  dem  Blasenboden  Zurückbleiben:  der 
Papillarkörper  und  die  obere  Cutisschicht  ist  stark  entzündlich  verändert , die 
untere  Cutis  relativ  normal.  Obwohl  schon  Hebka  den  pyämischen  Charakter 
der  Atfection  betonte,  die  Schwangerschaft,  der  Beginn  in  der  Genitalregion  und 
die  circinärc  Verbreitung  sogar  bestimmt  für  eine  äussere  infectiöse  Ursache 
sprechen,  ist  bisher  noch  kein  Mikroorganismus  mit  Sicherheit  als  InfectioDstrtger 
nachgewiesen  und  sogar  die  infectiöse  Natur  der  Affeetioti  von  einigen  Autoren 
stark  in  Zweifel  gezogen  zu  Gunsten  einer  neuro-reflectorischen  (Df  Mtcsxil.j. 
Wesentlich  für  die  Diagnose  einschlägiger  Fälle  ist  in  Zukunft  die  sichere  Aus- 
schliessung anderer  Bläschen-  und  Eiterblasenerkraukungen,  vor  allem  der  pnstu- 
lösen  Form  von  Dermatitis  herpeliformi*  Diihring  und  aller  Blasenerkrankungen 
innern,  toxischen  Ursprungs.  Der  oberflächliche  Sitz  und  die  serpiginöse  Ver- 
breitung des  Uebela,  zusammengehalten  mit  den  Schüttelfrösten  und  dem  letalen 
Ende,  machen  die  Anschauung  am  wahrscheinlichsten , dass  es  sieh  um  einen 
Epithe'parasiten  handelt,  welcher  befähigt  ist,  in  den  Körpersäften  zu  vegetiren 
— analog  dem  Staphylococcu*  aureus  und  Streptococcus  pyogene*. 


Erklärung  der  Farbendrucktafel  zum  Artikel  »Impetigo*. 

71g.  1 und  Fig.  2 Impetigo  staphylogenea ; Fig.  1 senkrechter  Schnitt  durch  eine  Eiterbia**; 
Fig.  2 oberster  Theil  einer  solchen  bei  stärkerer  Vergrösserung;  & = Staphylokokken ; H — Hirn- 
schidit  (Hlneeodccke);  t>p  = platt  gedrückte  Stachelschicht  (Klasenboden) ; £*  = Eiter;  /*  = Papiil* 
Fig.  3 tiod  Fig.  4.  Impetigo  vulgaris;  Fig- 3 Kroate.  Fis:.  4 ein  Theil  einer  Kraute  bei  stäfkerer 
Vergrößerung;  K — Kokken ; Kt  ss  netzförmig  geronnene*  Serum ; //«=  homogen  geronnene*  Serum- 


Literatur:  F.  Hebra,  Wiener  tned.  Wochensehr.  1872.  — Kaposi,  An  spitz’ 
Archiv.  1887. — 1>  u Mesnil  und  Marx,  Ebenda,  1889.  — i>u  Mesnil,  Ebenda.  1891-  — 
Dauber,  Ebenda,  181*4.  — Dubreuilli,  Annale*  de  liermatologie.  1892.  — Dreier, 
Dermatol.  Zeitsuhr  1894.  Unna. 

*)  Die  histologischen  Details  s.  bei  Unna,  Histopathologie  der  Haut.  pag.  192. 


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Tt'i 


IMPETIGO. 


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A>;n ’rittpädisriir  Jahttoiichrr ti  tff*  UriHntnilr  ChromcIitJt  //  Ih-vrl-  v 77i  1‘nn/irvnriA  H’trn 

IVbanu  Sh  Invar Ronbonj  U'n*nu  l»*ipxi«i 


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INGESTOL.  — INHALATIONSTUERAPIE. 


'm 


Ingestol,  ein  Präparat,  dessen  Hauptbestandteile  „Sulfate,  einige  Salze, 

Ferrum  und  aromatische  Substanzen  sind.  Wirkt  als  Abführmittel. 

Literatur:  Dr.  Goliner,  Erfurt,  Zur  therapeutischen  Wirkung  des  Ineestol 
(Zi  m me rm  a n n).  Heidi-mediein.  Anzeiger.  1895.  Nr.  8 und  9.  Loefaisch. 

Inhalationstherapie  nennt  man  diejenige  Heilmethode,  bei  welcher 
die  Heilmittel  auf  dem  Wege  der  Athmungsorgane  dem  Körper  zugeführt  werden, 
ln  erster  Reihe  ist  dahei  die  Behandlung  von  Krankheiten  in’s  Auge  zu  fassen, 
welche  die  Athmungswege  Belbst  befallen  haben , also  Nase , Rachpn . Larynx, 

Luftwege  und  Lungen.  In  zweiter  Reihe  steht  die  Frage,  inwieweit  eingeathmete 
Stoffe  in  den  Blutkreislauf  gelangen  und  durch  Vermittelung  desselben  auf  ent- 
fernte Organe  ihre  Wirkung  ausüben.  Bisher  hat  die  Frage  nach  der  Fernwir- 
kung  inhalirter  Heilmittel  noch  keine  besonders  eingehende  Würdigung  erfahren. 

Die  Wirkung  von  Chloroform,  Aether,  Amylnitrit  erweisen  zur  Genüge  die  Leistung 
der  Einathmnng  für  die  Erzielung  einer  Fernwirkling. 

An  dieser  Stelle  kann  nur  die  örtliche  Wirkung  des  inhalirten  Mittels, 
von  der  Eintrittstelle  durch  den  Mund  oder  die  Nase  bis  in  die  Lungenalveolen 
in  Betracht  gezogen  werden.  Der  Weg  durch  den  Mund  wird  fast  immer  ge- 
wählt, wenn  nicht  eine  locale  Wirkung  auf  die  Nasenschlcimhaut  beabsichtigt  wird. 

Vor  Allem  aber  ist  zu  betonen,  dass  die  locale  Einwirkung 
inhalirter  Stoffe  nur  auf  die  luftzuführenden  Wege  beschränkt  ist 
und  dem  kianken  Lnngengewcbe  direct  nicht  zu  gute  kommen  kann. 

Stoeuck  ( pag.  451)  erklärt  unter  Herbeiziehung  der  experimentellen  Ergebnisse 
von  Dkmakqi  av,  Bataille,  Fourxie,  Poggialk,  Fieber,  Stoerck  und  Schnitzler, 
Waldenburg,  Lewix,  Siegle:  Es  geht  aus  der  Summe  aller  Experimente  her- 
vor, dass  die  inhalirte  Flüssigkeit  mit  Sicherheit  den  Larynx  und  die  Trachea 
t>espült , docli  beweisen  die  Versuche  keineswegs  mit  der  gleichen  Bestimmtheit, 
dass  ein  zur  medicamentüsen  Wirkung  genügender  Theil  der  InhalationstlUssigkeit 
bis  in  die  feinsten  Verzweigungen  der  Bronchien  gelangt.  Es  lasse  sicli  vielmehr 
annchmen,  dass  bei  der  vielfachen  Verzweigung  der  lironchialäste  nur  verschwin- 
dend geringe  Quantitäten  der  eingeathmeten  Flüssigkeit  die  tieferen  Partien  er- 
reichen und  wenn  der  Zufall  ein  grösseres  Quantum  auf  eine  Stelle  gelangen 
lässt,  so  werden  eben  aus  dem  bis  dahin  dunstförmigen  Medicament  ein  oder 
mehrere  Tropfen  gebildet  und  die  unmittelbare  Folge  ist,  dass  dieser  Tropfen 
dureli  üetlexactioii  wieder  entfernt,  ausgelinstet  wird.  Stokhck  nimmt  auf  (»rund  der 
dureli  das  Experiment  in  gleicher  Weise  wie  durch  die  klinische  Erfahrung  ge- 
stützten Thatsachen  bezüglich  des  Wertlies  der  lnhalationstherapie  als  feststellend 
an,  dass  die  Anwendung  derselben  bei  Erkrankungszuständen  der  Lunge  bedeu- 
tungslos ist,  während  dieselbe  hei  den  Kehlkopferkrankungen,  so  lange  nur  eine 
allmilligc  nicht  intensive  Einwirkung  verlangt  wird,  immer  ilire  Berechtigung  hat. 

Bezüglich  der  Lungen  habe  ich  die  gleiche  Ansicht  ausgesprochen  unter 
Berufung  auf  die  Thatsache,  dass  bei  der  Tuberkulose  der  Lungen  die  behufs 
Heilung  der  erkrankten  Stellen  zu  inhalirenden  Stoffe  in  diese  Stellen  gar  nicht 
hinein  gelangen  können.  Denn  das  Eindringen  eingeathnieter  Stoffe  in  die  tieferen 
Abschnitte  der  Lunge  gehe  ausschliesslich  mit  dem  durch  die  Ausdehnung  der 
Alveolen  ermöglichten  Vorrflcken  der  Luftsäule  gleichen  Schritt.  Da  aber  die 
Alveolen  kranker  Lungenabschnittc  mit  festen  Stoffen  ausgefüllt  sind,  also  gar 
nicht  mehr  fungiren,  so  wird  keine  Luft  mehr  in  dieselben  eingesaugt,  also  kann 
auch  die  inhalirte  Substanz  nicht  bis  zu  der  Stelle  gelangen,  wo  sie  wirken  soll. 

Bei  der  Tuberkulose  der  Lungen  also  könne  der  Inhalation  von  Medieamenten 
eine  direete  Wirkung  nicht  zngesprochen  werden. 

Die  Richtigkeit  dieser  Ansicht  kann  keineswegs  durch  die  Thatsache 
entkräftet  werden,  dass  inhalirte  Stoffe,  selbst  Partikelchen  von  verschiedenen 
Substanzen  (besonders  Kohle)  inlialirt  werden  und  bis  in  die  Alveolen  gelangen, 
wo  sie  liegen  bleiben,  respeetive  entzündungserregend  wirken  und  von  wo  aus 
Fncyf*lop.  Jahrhnrher.  VI.  18 

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274 


INHALATIONSTHERAPIE. 


sie  in  das  interstitielle  Gewebe  hineingelangen  können.  Hier  konnte  eben  der 
Luftstrom  bis  in  die  bei  der  Inspiration  sich  aasdehnenden  Alveolen  eindringen 
and  seine  Contenta  importiren. 

ln  dieser  Beziehung  verdienen  die  experimentellen  Untersuchungen  von 
Schreiber  besondere  Beachtung.  Derselbe  erzeugte  bei  Thieren  Lungeninfiltra- 
tionen, Abseesse,  Atelektasen  durch  pleuritische  Exsudate,  Miliartuberkulose  etc. 
und  liess  dieselben  hinterher  Kohlenstaub  inhaliren.  Es  ergab  sich,  dass  in  den 
Krankheitsherden  keine  Kohle  zu  finden  war,  während  dieselbe  sich  in  den  ge- 
sund gebliebenen  Lungenpartien  zu  grösseren  Klumpen  angehäuft  hatte.  Beson- 
ders hervorgehoben  zu  werden  verdient,  dass  in  mehreren  Fällen  von  Lungen- 
abscess  weder  im  Secret,  noch  in  der  Abscesswand  Kohle  nachweisbar  war  oder 
wie  in  einem  Falle  in  so  geringer  Menge  und  Grösse,  dass  sie  mikroskopisch 
nur  mit  Hilfe  stärkerer  Objective  entdeckt  werden  konnte. 

Schreiber  schliesst  mit  Hecht  aus  seinen  Versuchen,  dass  in  Fällen  von 
einseitiger  oder  einceitig  umschriebener  Lungenerkrankung  die  Möglichkeit  der 
Aspiration  von  Arzneistoffen  in  den  Herd  der  Erkrankung  absolut  ausge- 
schlossen ist. 

Wenn  derselbe  aber  bei  einer  Reihe  von  Krankheitszustilnden  der  Lunge, 
wie  bei. Katarrh  der  grösseren  und  kleineren  Bronchien  des  einen  unteren  oder 
oberen  Lappens,  resp.  der  einen  Seite;  in  Fällen  von  Bronchiektasie  und  putrider 
Bronchitis : in  Fällen  von  chronisch  tuberkulösen  Processen ; von  Abscess  oder 
Gangrän  der  einen  Seite  sich  mehr  Erfolg  von  einer  combinirten  Methode  ver- 
spricht, welche  darin  besteht,  dass  die  entgegengesetzte  Seite  comprimirt,  respec- 
tive,  wenn  die  oberen  Lappen  in  beiden  Lungen  affieirt  sind , die  C'ompression 
des  unteren  Thoraxabschnittes  vorgenommen  wird,  somit  der  inbalirte  Arznei- 
dampf eine  mehr  dem  Krankheitsherde  zugewandte  Richtung  erhält,  so  ist  zu 
befürchten,  dass  er  hierin  keine  lebhafte  Nachfolge  finden  wird.  Soweit  bekannt 
ist,  hat  nur  Günther  in  diesem  Sinne  sich  beifällig  ausgesprochen. 

Die  zur  Inhalation  angewendeten  Mittel  sind  entweder  gas- 
förmig oder  flüssig  — letztere  mlissen  zerstäubt  werden  oder  sie 
werden,  nach  geeigneter  Präparation,  als  Rauch  eingeathmet. 

1.  Die  gasförmigen  Mittel  bedürfen  — abgesehen  von  ihrer  Her- 
stellung — behufs  Aufnahme  in  die  Luftwege  keiner  besonderen  Hilfsapparate. 
Der  Patient  braucht  sich  nur  in  einem  geschlossenen  Raume  zu  befinden,  in  wel- 
chem die  Gase  enthalten  sind. 

Für  die  Wirkung  der  Inhalation  von  Gasen  fehlt  annoeh  jede  rationelle 
Begründung.  Die  Einathmung  von  Kohlensäure,  Slickstoff,  Wasserstoff,  Schwefel- 
wasserstoff, Sauerstoff  soll  nach  Empfehlung  der  betreffenden  Fachmänner  für 
die  gleiche  Krankheit,  nämlich  die  Lungenschwindsucht,  übereinstimmend  ausge- 
zeichnete Heilresultate  bieten. 

Kohlensäure  sollte  eingeathmet  werden,  indem  Phthisiker  Uber  frisch 
aufgegrabene  Ackererde  gingen  oder  in  Kuhställe  gesperrt  wnrden.  Heutzutage 
dürfte  derartiges  kaum  mehr  empfohlen  werden. 

Stickstoffhaltige  Luft  wurde  angewendet  in  der  Annahme,  dass 
solche  Luft  weniger  reizend  wirke,  den  Stoffumsatz  und  die  Körpertemperatur 
vermindere , sowie  die  Fettbildung  erhöhe.  Gelegenheit  zu  derartigen  Inhalationen 
finden  sich  im  Inselbad  bei  Paderborn,  in  I.ippspringe  in  Neu-Rakoczy  bei  Halle  a.  S. 
unter  Benützung  der  Stickstotfentwicklung  dortiger  Quellen.  Treuti.er  hatte 
eine  eigene  Anstalt  für  solche  Inhalationen  in  Blasewitz  bei  Dresden  und  stellte 
stickstoffreiche  Luft  her,  indem  er  der  atmosphärischen  Luft  auf  kaltem  Wege 
den  Sauerstoff  bis  zu  einem  gewissen  Procentsatz  entzog  und  dieselbe  mit  einem 
transportablen  pneumatischen  Apparat  unter  massigem  Drucke  einathmen  liess 
(Kxalthk). 

Sauerstoff  wurde  schon  von  seinem  Entdecker  Priesti.ky  zu  therapeuti- 
schen Zwecken  empfohlen,  ln  neuerer  Zeit  haben  Demarqi  ay  und  Lenuer  diesem 


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INHALATIONSTHERAPIE. 


275 


Stoffe  das  Wort  geredet.  Nach  Ansicht  des  Letzteren  soll  das  Ozon  noch  wirk- 
samer sein,  wie  der  Sauerstoff.  Im  Gegensatz  hierzu  fand  Filipow  auf  experi- 
mentellem Wege,  dass  die  Einathmung  reinen  Sauerstoffs  keinen  Vorzug  vor  der 
Einathmung  gewöhnlicher  reiner  Luft  hat,  wenigstens  in  Bezug  auf  Herzcontrac- 
tionen , Atbmung  und  Körperwärme;  dass  bei  Vergiftungen  mit  Chloroform, 
Aethylalkohol,  Schwefelwasserstoff,  Kohlenoxyd  die  Einathmung  reinen  Sauerstoffs 
keinen  grösseren  Nutzen  bringt,  als  die  Einathmungen  reiner  gewöhnlicher  Luft, 
dass  die  Einathmungen  verdünnten  Ozons  nicht  als  einschläferndes  Mittel,  wie 
Binz  annimmt,  betrachtet  werden  können,  dass  die  Einathmungen  reinen  Ozons 
eine  starke  Reizung  der  Schleimhaut  hervorrufen  und  für  Thiere,  sowie  für  Men- 
schen schädlich  sind,  endlich,  dass  die  Aufnahme  von  Ozon  in  das  Blut  auf  dem 
Wege  der  Respirationsorgane  als  unerwiesen  zu  betrachten  ist. 

Schwefelwasserstoff  — ein  sehr  toxisches  Gas  — wird  dort,  wo 
solche  gashaltige  Quellen  sind , zu  Inhalationen  verwendet.  Diese  Inhalationen 
sollen  reizmildernd , im  Allgemeinen  beruhigend  und  secretionshemmend  wirken. 

Auch  die  Luft  in  Gasanstalten,  welche  aus  Leuchtgas,  vielleicht 
auch  einer  anderen  Kohlenstoffverbindung , aus  Ammoniak  und  Schwefelwasser- 
stoff, aus  Dämpfen  von  Carbolsäure  und  Benzin  zusammengesetzt  ist,  wurde  früher 
als  heilbringend  empfohlen. 

2.  Die  flüssigen  Inhalationsmittel  mit  Einschluss  der  in  verschiedenen 
Flüssigkeiten  aufgelösten  festen  Stoffe  müssen  entweder  zur  Verdunstung,  respec- 
tive  zur  Verdampfung  und  zur  Verstaubung,  meist  mit  Hilfe  besonderer  Apparate 
hergerichtet  sein,  um  in  die  Luftwege  eingeathmet  zu  werden. 

Eine  Reihe  von  Mitteln  verdunstet  bei  gewöhnlicher  Zimmertemperatur. 
So  u.  A.  die  Carbolsäure.  Man  tränkt  Tücher  mit  5°  „igem  Carbolwasser  und 
hängt  dieselben  im  Zimmer  auf.  Für  Kinder,  welche  an  Stickhusten  leiden,  wird 
solches  Carbolwasser  auf  die  leinenen  oder  wollenen  Kinderwagendächer  gegossen, 
unter  denen  die  Kinder  liegen. 

Auch  Pyridin  kann  in  analoger  Weise  angewendet  werden.  Man  giesst 
2 — 5 Grm.  auf  einen  Teller  im  Zimmer  des  Kranken,  lässt  die  Flüssigkeit  bei 
Zimmerwärme  verdampfen,  die  Luft  20 — 30  Minuten  einathmeu  und  wiederholt 
diese  Procedur  1 — 3mal  täglich.  Der  Geruch  dieses  Mittels  ist  ein  widerlich 
penetranter  und  wird  von  manchen  Kranken  nicht  vertragen.  Auch  lässt  es  sich 
bei  sehr  heruntergekommenen  Personen,  bei  sehr  schwacher  Herzkraft,  beim  Vor- 
handensein von  Stauungserscheinungen  nicht  gut  anwenden;  es  tritt  dann  sehr 
leicht  Uebelkeit,  Erbrechen,  Kopfschmerz,  Ohnmachtsan Wandlung,  Gliederzittern 
und  allgemeine  Muskelerschlaffung  ein. 

Andere  Mittel  verdunsten , respective  geben  einen  Theil  der  in  ihnen 
enthaltenen  ätherischen  Oele  ab,  wenn  sie  erwärmt  sind.  Dies  geschieht  am  ge- 
eignetsten durch  Vermischung  mit  heissem  oder  kochendem  Wasser  oder  durch 
Aufgiessen  auf  dasselbe.  In  solcher  Weise  wird  vornehmlich  das  Terpentinöl 
verwendet.  Man  giesst  in  einen  weit  offenen,  zur  Hälfte  mit  möglichst  heissem 
Wasser  gefüllten  Topf  1 Esslöffel  Terpentinöl,  stülpt  einen  entsprechend  grossen 
Glastrichter  darüber,  ohne  denselben  am  Topfrande  dicht  anliegen  zu  lassen  und 
athmet  den  aus  dem  dünnen  Ende  des  Trichters  aufströmenden  Dampf  ein.  Be- 
quemer ist  es,  an  den  gebogenen  Trichterhals  einen  kurzen  Gummisehlauch  anzu- 
ftlgen  und  das  freie  Ende  in  den  Mund  zu  nehmen. 

Ein  bequemes  Hilfsmittel  zur  Inhalation  der  zum  Theil  bei  gewöhnlicher 
Zimmertemperatur  verdunstenden  Stoffe  ist  die  Maske  (Fig.  48),  welche  von  CURSCH- 
MA.VN  im  Jahre  1879  zu  allgemeiner  Anwendung  gebracht  worden  ist.  Sie  gleicht 
in  Form  und  Grösse  der  am  Waldenburg’sclien  Apparate  angebrachten  Maske. 
Ihre  Kuppel  trägt  einen  runden,  mit  Drahtgeflecht  überspannten  Ausschnitt  von 
6 Cm.  Durchmesser.  Dieser  bildet  den  Boden  einer  der  Maske  aufgelötheten,  etwa 
1 ’/,  Cm.  hohen  Kapsel,  welche  mit  einem  gleichfalls  aus  einein  Drahtgeflecht  ge- 
bildeten Deckel  geschlossen  wird.  Die  Kapsel  ist  mit  einem  Schwamm  ausgefüllt, 

18* 


276 


INHALATIONSTHERAPIE. 


welcher  nach  GutiHinkcn  mit  dem  zu  inhalirendeu  Mcdicament  befeuchtet  wird. 
Der  Rand  der  Maske  ist,  um  einen  möglichst  guten  Anschluss  an  das  Gesicht 
zu  erzielen,  mit  einem  weichen,  elastischen,  lufthaltigen  Gmntnirande  besetzt.  Be- 
festigt der  Patient  diese  Maske  vor  der  Mundötfnung  (meist  mit  Einschluss  der 
Nase),  so  muss  der  Respirationsstrom  sich  mit  dent  von  dem  Schwamm  ver- 
dunstenden Medicameut  erfüllen.  Mit  Hilfe  dieser  Maske  wurden  hauptsächlich 
Terpentinöl  lind  Carbolsäure,  seltener  Thymol  angewendet.  Ersteres  wurde  ohne 
weitere  Präparation  auf  den  Schwamm  aufgeträufelt  und,  so  weit  es  verdunstete, 
ergänzt.  Carbolsäure  wurde  nach  vorheriger  Er- 
wärmung unverdünnt  auf  den  Schwamm  auf- 
geträufelt. Dieselbe  führte  niemals  eine  örtliche 
reizende  Wirkung  herbei.  Nur  vereinzelt  kamen 
im  Gesicht,  da  wo  der  Gummirand  der  Maske 
auflag,  Röthuugcn  oder  leichte  Excoriationcn  vor. 

Sie  können  fast  sicher  vermieden  werden , wenn 
man  den  feucht  gewordenen  Gummiraud  häutig 
abtrocknet  und  die  Umgebung  von  Mund  und 
Nase  mit  irgend  einem  Fett  bestreichen  lässt.  — 

Bei  nicht  sehr  schweren  Erkrankungsfällen  wurde 
Carbolsäure  ebenso  wie  Thymol  in  alkoholischer 
Lösung  (entweder  aa  oder  1 zu  2 — 3 Alkohol* 
angewendet.  — Anfangs  hatten  die  Patienten  Curschmso^n's^ursprßBKlicher 
die  mit  den  zu  inhalirendeu  Mitteln  versehene 

Maske  mehrmals  am  Tage  nur  1 — 2 Stunden  (mit  ebeuso  langen  Pausen)  zu 
tragen.  Fast  alle  Patienten  aber  gewöhnten  sich  bald  daran,  halbe,  ja  ganze  Tage 
das  Instrument  nicht  abzusetzen.  In  besonders  dringenden  Fällen  wurde  von  vorn 
herein  eine  solche  ununterbrochene  Anwendung  angeordnet  und  ohne  wesentliche 
Schwierigkeit  durchgeführt.  Angewendet  wurde  die  Maske  von  Ct'RSCHMAXX  bei 
putrider  Bronchitis,  Bronchiektasieu  und  verwandten  Krankheiten.  Schon  nach 


Fig.  4» 


Fig.  V«. 


Fig.  4:*'-. 


3 — 4 Tagen  konnte  eine  Beseitigung  der  putriden  Beschaffenheit  der  Hecretc  con- 
statirt  werden  und  damit  auch  ein  Nachlassen  des  Fiebers,  weil  mit  Entfernung 
der  staguirenden  putriden  Stoffe  eine  Resorption  fiebererregender  Stoffe  in  das 
Blut  sich  verhüten  Hess. 

Ein  analoger  Apparat  (Fig.  49)  ist  von  Hai'smaxx  empfohlen  worden. 
Derselbe  ist  bequem  und  ebenso  wie  der  CfRSsi’HMAXx'sche  zu  handhaben.  Ange- 
wendet wurden:  gereinigter  Holztheer,  Carbolsäure  höchstens  8 — 10°  „ig,  Ter- 
pentinöl. 


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INHAI.ATIONSTHERAPIE. 


277 


Von  gleichem  Princip  waren  schon  früher  Oliviek,  Langkkhkck,  Bäsch- 
lix  (vergl.  Fkakxkki.  in  Zikmsskn's  Handbuch),  Sigg,  Jakorson,  Yeo  Cousins 
u.  A.  ausgegangen. 

Kinen  Naseninhalator  (Fig.  SO)  hat  FeldbacSCH  angegeben.  Zwei  kleine 
Kapseln,  welche  in  die  Nase  geklemmt  werden,  dienen  zur  Aufnahme  des  auf 
eine  kleine  Papierrolle  gegossenen  Medieamentes.  Inwieweit  bei  diesem  Apparat 
die  Einmengung  der  Nasenoffnu ng,  also  die  Verringerung  des  eintretenden  Luft- 
quautums  mit  in  Betracht  kommt,  muss  hier  unentschieden  bleiben.  Hat  doch 

Eia.  so. 


Sang  Kit  mit  Hilfe  seines  Apparates  (vergl.  Fig.  51)  durch  mechanische  Verenge- 
rung des  Nasenganges  sehr  gute  Erfolge  erzielt. 

Auch  die  Wrt.F’sche  Flasche  (Fig.  52),  die  man  sieh  billig  und  schnell 
selbst  herstellen  kann,  eignet  sich  iiusserst  bequem  zum  Inhaliren.  Man  kann  jede 
grossere  Flasche  mit  weitem  Halse  benutzen , durchbohrt  den  Stöpsel  doppelt, 
srhiebt  eine  recht  lange  weite  Glasröhre  durch  bis  zum  Boden  der  Flasche,  eine 


Eia  51 


zweite  biegt  man  über  der  Spiritustiamme  und  schiebt  sie  so  weit  durch  den 
Pfropfen,  dass  sic  etwas  unter  denselben  durchreicht.  In  die  Flasche  giesst  man 
das  Medicament  allein  oder  in  Mischung  mit  Wasser  (c).  Die  Röhre  n wird  tief 
in  den  Mund  gesteckt  und  durch  dieselbe  inspirirt  (nicht  gesaugt!).  Die  Luft 
dringt  durch  die  Röhre  b ein,  geht  durch  das  Medicament  c und  entweicht  als 
medieamentöse  Luft  bei  der  Inspiration  durch  Röhre  a.  Man  hüte  sich  jedoch  in 
die  Flasche  zu  exspiriren.  In  diesem  Falle  wird  das  Medicament  durch  Röhre  h 


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278 


IN  HA  I.ATIONSTHERA  PIE 


nach  aussen  getrieben,  wodurch  bei  ätzenden  Medicamenten  Unannehmlichkeiten 
entstehen  kfinnen.  Eine  recht  lange  Röhre  b schützt  etwas  gegen  die  Folgen 
eines  solchen  Versehens.  Die  Flasche  kann  man  wie  eine  Pfeife  gebrauchen  und 
täglich  durch  dieselbe  die  vorgeschriebene  Zahl  der  Athraungcn  machen. 

Man  kann  die  Flasche  auch  an  einen  warmen  Ort  stellen,  um  die  Ver- 
dampfung des  darin  enthaltenen  Mittels  zu  fördern. 

Den  bedeutsamsten  Theil  der  Inhalationstherapie  beansprucht 
die  Einathmung  zerstäubter  Flüssigkeiten,  respective  zerstäubter 
aufgelöster  Mcdicameute. 

Sales  GikOXS  gebührt  das  Verdienst,  den  ersten  transportablen  Apparat 
für  zerstäubte  Flüssigkeiten  angegeben  zu  haben.  Sein  Apparat  beruht  auf  dem 
Prineip  der  Zerstäubung  eines  Flüssigkeitsstrahles 
durch  Anprallen  gegen  eine  feste  Platte.  Mit 
Hilfe  einer  Handdruckpumpe  wird  die  raedica- 
mentöse  Flüssigkeit  aus  einem  geschlossenen  Ge- 
fäss  durch  ein  Haarröhrchen  so  kräftig  gegen 
eine  convexe  Scheibe  getrieben , dass  ein  feiner 
Flüssigkeitsnebel  entsteht.  Dieser  Nebel  wird 
durch  ein  vor  den  Mund  des  Kranken  gebrachtes 
Rohr  inhalirt.  Die  Luftcompression  wird  durch 
ein  Manometer  regulirt. 

Diese  Zerstäubungsart  wird  nur  noch 
in  Inhalirsälen  mit  Hilfe  einer  grösseren  Wasser- 
oder Dampftriebkraft  benutzt,  wie  dies  schon 
von  A ITH  an  geschehen  ist  (vergl.  Schmied). 

Hei  Matthieu’s  Apparat  trifft  die 
ausströmende  comprimirte  Luft  mit  der  Flüssig- 
keit zusammen,  reisst  diese  mit  fort  und  zerstäubt 
dieselbe.  Die  mit  einer  Handdruckpurape  in  einem 
Glasballon  comprimirte  Luft  entströmt  durch  ein 
Haarröhrchen,  über  dessen  Ausgangsmündung  das 
Gefäss  mit  der  zu  inhalirenden  Flüssigkeit  derart 
angebracht  ist,  dass  dieselbe  in  geringer  Menge 
sich  fortgesetzt  mit  der  ausströmenden  Luft  mischt.  lnhaHrflascbf. 

Bei  den  neueren  auf  demselben  Prineip  be- 
ruhenden Apparaten  wird  die  Luftcompression  mit  Hilfe  eines  Gummidoppel- 
gcbläses  bewerkstelligt.  Apparate  dieser  Art  sind  von  Schnitzlek  , Tköltsch, 
RichakdsüX,  Lister  angegeben.  Am  meisten  in  Gebrauch  ist  Tköltsch’s  Zer- 
stäuber (Fig.  53). 

Derselbe  besteht  aus  einer  Flasche,  in  der  sich  die  zu  zerstäubende 
Flüssigkeit  befindet.  In  dieselbe  taucht  bis  nahezu  an  den  Boden  der  Flasche 
ein  dünnes  Röhrchen,  das  Steigrohr  c.  Ein  zweites  etwas  dickeres  Röhrchen,  der 
Luftcanal,  durchbohrt  den  Korkstöpsel  bis  au  das  untere  Ende  desselben  und 
theilt  sich  oberhalb  des  Pfropfes  in  zwei  Arme,  einen  kurzen  n,  an  welchem  das 
Gummigebläse  angebracht  wird,  und  einen  längeren  b,  der  erst  spitzwinklig  ab- 
geht und  dann  horizontal  wird.  Das  Steigrohr  ist  vom  unteren  Ende  des  Stöpsels 
an  eoncentrisch  sowohl  in  den  verticalen,  als  in  den  horizontalen  Theil  des 
Lufteanals  eingefügt.  Comprimirt  man  nun  die  Luft  im  Kautscbukgebläse,  so  tritt 
sie  in  fortdauerndem  Strome  durch  den  kürzeren  Arm  des  Luftcanals  zum  Theil 
nach  unten  in  die  Flasche  und  treibt  die  Flüssigkeit  durch  das  Steigrohr  in  die 
Höhe,  zum  Theil  sogleich  in  den  horizontalen  Arm,  wo  sie  beim  Austritt  aus 
der  feinen  Uelfnung  d die  gleichzeitig  austretende  Flüssigkeit  in  einen  feinen 
Nebel  zerstäubt. 

Das  erwähnte  Doppelgebläse  besteht  aus  zwei  Ballons.  Der  nicht  uetz- 
umhüllte Ballon  wird  in  die  volle  Hand  genommen  und  zusammengedrüekt.  Die 


Fi*,  st. 


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INHALATIONSTHERAPIE. 


*79 


darin  befindliche  Luft  kann  in  Folge  eines  Schluseventils  nach  dem  Ende  nicht 
entweichen,  sondern  muss  nach  dem  netzumsponnenen  Ballon  dringen.  Lässt  mau 
mit  der  Handcompression  nach,  so  strömt  die  Luft  in  den  Ballon  wieder  ein  und 
wird  gefallt.  Durch  dieses  wechselnde  Leeren  und  Fallen  des  Ballons  wird  die 
Luft  bald  in  dem  umsponnenen  Ballon  comprimirt  und  übt  weiter  dringend  ihre 
Wirkung  auf  die  Flassigkeit  in  der  Flasche  aus. 

Um  die  Zerstäubung  der  Flüssigkeiten  dem  Larynx  näher  bringen  zu 
können,  brachte  man  verschiedene  Modificationen  an  der  Röhre  b an , und  zwar 

Fi*.  63. 


Troeltsch's  Zerstäuber. 

« Zaleitongsrobr  der  Luft.  1 lange  Röhre,  in  welcher  die  Fortsetzung  des  Steigrohres 
für  Flüssigkeit  e enthalten  ist. 


derart,  dass  man  sie  verlängerte  und  katlieterartig  krümmte,  oder  dass  man  die 
vordere  gemeinsame  Ausgangsöffnung  an  die  Seite  der  Röhre  nach  unten  ver- 
legte, wodurch  der  Zerstäuhungsstrahl  eine  rechtwinklig  von  der  Röhre  h abgehende 
verticale  Richtung  nach  unten  bekommt. 

Eine  sehr  bedeutsame  Modification  erfuhren  die  Inhalations1- 
apparate  durch  Bkrgsox,  welcher  die  Hebung  der  zu  zerstäubenden  Flüssig- 
keit nicht  durch  Druck,  sondern  durch  Aspiration  bewerkstelligte  Fig.  54). 


Fig.  M. 


Bergaon's  Hydrokonion. 


Bei  seinem  Apparat,  genannt  Hydrokonion.  taucht  in  ein  offenes,  die  zu 
zerstäubende  Flüssigkeit  enthaltendes  Gefäss  o eine  an  beiden  Seiten  offene  und 
oben  spitz  znlanfende  Röhre  c.  Reehtwlnkelig  zu  dieser  Röhre,  also  horizontal, 
verläuft  eine  andere  spitz  zulaufende  Röhre  </  derart,  dass  die  Mündungen  ein- 
ander treffen.  Wird  nun  durch  diese  horizontale  Röhre  vermittels  des  Gummi- 


INH  A LATI<  »NSTHERA  PI  E. 


28u 

gebläses  eb  ein  starker  Luftstrom  getrieben,  so  wird  in  dem  senkrechten  Röhrehon  c 
ein  luftverdünnter  Raum  hervorgebracht,  in  Folge  dessen  die  Flüssigkeit  aspirirt 
und  beim  Austritt  aus  der  engen  Oeffnung  durch  den  nndringenden  Luftstrom 
zerstäubt  wird. 

Die  höchste  Vervollkommnung  der  Inhalationsapparate  aber 
danken  wir  Siegle.  Sein  Apparat  (Fig.  55)  besteht  aus  einem  Dampfkesseln, 
dessen  Oeffnung  zum  Einfüllen  des  Wassers  durch  einen  Kork  verschlossen  ist, 
aus  welchem  eine  mit  feiner  Oeffnung  endigende,  horizontal  sich  umbiegende 
Röhre  b hinausfuhrt.  Am  Ende  der  Röhre  befindet  sich,  wie  am  BEROSOx’scben 
Apparat,  eine  verticale  Glasröhre  c,  die  nach  unten  in  ein  mit  der  medieamen- 
tösen  Flüssigkeit  gefülltes  Glas  hineinreicht,  nach  oben  mit  ihrer  feinen  Mündung 
gerade  die  Oeffnung  der  Röhre  b berührt.  Wird  der  Dampfkessel,  der  nur  halb 
mit  Wasser  zu  füllen  ist,  durch  eine  darunter  stehende  Spiritusfinmme  erhitzt,  so 
geräth  das  in  demselben  befindliche  Wasser  in’s  Sieden  und  der  sich  bildende 
Dampf  hat  keinen  anderen  Ausweg  als  die  Röhre , durch  deren  enge  Oeffnung 
er  unter  einem  gewissen  Druck  hinausgctricben  wird.  Durch  diese  hart  Uber  der 
zweiten  Röhre  entstehende  Strömung  bildet  sich  in  ihr  ein  luftverdüniiter  Raum, 
durch  welchen  die  medieamentösc  Flüssigkeit  aus  dem  Gefässe  aspirirt  wirJ.  Die 
hinaufgestiegene  Flüssigkeit  mischt  sich  nun 
mit  dem  ausströmemlen  Dampfe  und  wird  von  Fig.  55. 

diesem  zerstäubt.  Der  Dampfnebel  wird  durch 
einen  Glastubus  eingeathmet.  Siegle  brachte 
noch  an  seinem  Apparat  ein  sogenanntes 
Thermoharometer  f an , das  als  Sicherheits- 
Vorrichtung  und  Druckmesser  gegen  das  Zer- 
platzen des  Kessels  durch  überspannten  Dampf 
dienen  sollte.  Jetzt  fertigt  man  den  Kessel 
aus  Metall  an;  als  Kork  benützt  mau  bei 
den  billigen  Apparaten  auch  gewöhnlichen 
Kork,  bei  anderen  Metall;  die  Röhre  b wird 
dann  auch  von  Metall  gefertigt.  Der  Metall- 
kork wird  durch  Sehiebevorrichtung  an  dem 
Kessel  befestigt  und  ausserdem  findet  sich  an 
den  meisten  Kesseln  noch  ein  kleines  Sicher- 
heitsventil, welches  bei  zu  starkem  Dampfdruck 
gehoben  wird,  so  dass  ein  Bersten  des  Kessels 
verhütet  werden  kann. 

Der  SlEGLE’sche  Apparat  hat  unendlich  viele  Modificationen  c rhalten, 
die  sieh  theils  auf  das  Material,  aus  welchem  der  Kessel  bestellen  soll,  beziehen, 
theils  die  Art  der  Oefi'nung  für  die  Röhren,  die  Art  der  Ventile,  die  Lage  und 
Form  der  Röhren  etc.  betreffen.  Manche  Apparate  sind  so  coustruirt,  dass  sie 
mit  einer  Handhabe  versehen  auch  bei  bettlägerigen  Kranken  benützt  werden  können. 

Besondere  Erwähnung  verdient  der  von  MOKITZ  Schon  in  C'rimmitzscbau 
construirte  Apparat  (Fig.  56),  weil  die  Zerstäubung  mittels  Wasserdampfes  — 
mit  Hilfe  einer  gewöhnlichen  SpiritusHamme  — ohne  Unterbrechung  stundenlang 
ausgeführt  werden  kann.  Dies  wird  ermöglicht  durch  automatische  Zufuhr  von 
Wasser  zum  Dampfkessel.  Dasselbe  strömt  aus  einem  um  2 Meter  höher  stehen- 
den Gefässe  durch  einen  Gummisehlaueh  dem  Wasserkessel  zu.  Dieser  ruht  auf 
einer  wageartigen  Vorrichtung  und  wird , wenn  kein  Wasser  in  demselben  ist, 
von  dem  Gegengewicht  oder  von  der  Elasticitftt  des  Gummischlauches  gehoben; 
sobald  aber  circa  20  Grm.  Wasser  in  den  Kessel  geströmt  sind , senkt  sieh  der- 
selbe und  drückt  dabei  den  wasserzuführenden  Schlauch  so  zusammen , dass  der 
Zufiuss  steht.  Verdampft  nun  Wasser  aus  dem  Kessel,  dann  w ird  derselbe  leichter 
und  die  Wasserzufuhr  findet  wieder  so  lange  statt , bis  durch  die  Schwere  des 
Kessels  der  Schlauch  von  Neuem  dicht  zusammeugequetscht  wird.  Es  bleibt  demnach. 


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I N HA  LATIOKSTHERA  l’I  E. 


281 


so  lange  Wasser  in  dem  höher  hängenden  Irrigator  vorhanden  ist , der  Wasser- 
stand im  Kessel  stets  derselbe,  gleichviel  oh  der  Apparat  in  Thätigkeit  ist  oder  nicht. 

Oie  Zerstäubungen  von  medicamentösen  Flüssigkeiten  im  Grossen  für 
Inhalirside,  also  namentlich  die  Soolzerstaubungcn  in  den  betreffenden  Soolbädern, 
werden  meist  nach  den  MATHIEl’scheu,  die  Coniferenreisigdampfinhalationen  nach 
dem  SlEGl.E'schen  Princip  bergestellt  und  als  treibende  Kraft  wird  hier  die 
Dampfmaschine  benützt  (vergl.  Schmied).  Einen  transportablen  Apparat,  bei 
welchem  «1er  Dampfkessel  mit  mehreren  Zerstäubungsröhrchen  versehen  ist  und 
sich  während  der  Zerstäubung  durch  eigene  Kraft  im  Kreise  dreht,  wodurch  dann 
jedes  grosse  Zimmer  mit  den  mctlicamentösen  Dämpfen  anhaltend  gefüllt  und  in 
einen  Inhalirsaal  verwandelt  werden  kann,  erdachte  S.  Gcttmax.V. 

Bezüglich  der  Frage,  welches  System  von  Iuhalationsappa- 
raten  zu  verwenden  ist,  kann  meiner -Meinung  nach  heutzutage  kei  u 
Zweifel  bestehen.  Nur  solche  Apparate  sollten  benutzt  werden,  bei 
denen  die  Zerstäubung  mittels  Wasserdampfes  erreicht  wird. 


Kig.  ss. 


ln  erster  Reihe  verdienen  diese  Apparate  den  Vorzug,  weil  iu  allen 
Fällen,  wo  statt  des  Wasserdampfes  comprimirte  Luft  verwendet  wird,  die  in  der 
Luft  selbst  suspendirten  Stanhtlieilchen  mitsammt  der  zerstäubten  Flüssigkeit  in 
den  Respirationstractus  gelangen  und,  selbst  wenn  nur  anorganische  eorpuseulüre 
.Stoffe  darin  enthalten  sind,  auf  mechanischem  Wege  die  Schleimhaut  reizen  können. 
Ein  weiterer  Vortheil  der  Dampfzerstäuber  liegt  in  der  Erwärmung  der  zer- 
stäubten Flüssigkeit.  Eine  Erwärmung  derselben  darf  aber  als  wesentliches  Desi- 
derat angesehen  werden.  Denn  während  die  Einathmung  der  Luft  unter  normalen 
Verhältnissen  durch  die  Nase  statttiudet,  also  hier  eine  Vorwärmung  ausgeführt 
wird,  bevor  die  Luft  in  den  Larynx  und  die  Trachea  gelangt,  wird  die  vom 
Inlialationsapparat  gelieferte  zerstäubte  Flüssigkeit  durch  den  Mund  direct  iu 
«len  Larvnx  geleitet  und  kann  bei  niedriger  Temperatur  um  so  mehr  Nacb- 
tlieile  bringen,  weil  im  Allgemeinen  bei  den  Inhalationen  tiefere  Inspirationen 
ausgeführt  werden,  wie  unter  normalen  Verhältnissen.  Nur  Dainpf-Inhalations- 


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282 


INHALATIONSTHERAPIE 


apparate  können  bei  einer  Entfernung  des  inhaürenden  Mundes  nm  etwa  10  bis 
15  Cm.  von  der  Ausströmungsstelle  dem  Spray  eine  Temperatur  von  20 — 30° 
verleihen,  wie  sie  wohl  als  geeignet  angesehen  werden  darf,  um  eine  uner- 
wünschte Schleimhautreizung  oder  die  Auslösung  unnöthiger  Hustenstösse  zu 
verhüten. 

Soll  aber  ein  voller  Nutzen  der  inhalirten  Flüssigkeit  erzielt 
werden,  dann  muss  auch  die  Methodik  des  Inhalirens  sorgfältig  ge- 
handhabt,  respective  dem  Patienten  demonstrirt  werden.  In  dieser 
Beziehung  geschieht  häufig  zu  wenig,  nicht  selten  wird  durch  eine  Versäumniss 
nach  dieser  Richtung  hin  der  ganze  Erfolg  der  Mediation  in  Frage  gestellt. 
Nicht  mit  Unrecht  legen  die  bewährtesten  Fachmänner  hierauf  besonderes  Gewicht. 

Türck  (pag.  561).  hat  beobachtet,  dass  manche  Individuen  mehr  Flüs- 
sigkeit inhalirten  (was  sich  durch  den  erzeugten  Husten  kundgab),  wenn  die 
Zunge  weit  hervorgestreckt  und  in  das  Rohr  des  Sales  GiROx’schen  Zerstäubers 
gelegt  wurde  oder  mit  dem  von  ihm  angegebenen  Zungenspatel  niedergehalten 
wurde.  Bei  anderen  nützte  dies  nichts  oder  hatte  die  entgegengesetzte  Wirkung. 

SCH  KÖTTER  sagt:  „Es  ist  durchaus  nothwendig,  dass  sich  der  Arzt  die 
Mühe  nimmt,  dem  Patienten  die  Anwendung  des  Apparats  1 — 2mal  zu  zeigen. 
Der  Kranke  muss  den  Mund  gut  öffnen , die  Zunge  nach  rückwärts  möglichst 
abfiachcn;  kann  er  dies  nicht  oder  zieht  er  dieselbe  beim  ersten  Flüssigkeits- 
Strahle  zurück,  dann  muss  die  Zunge  mit  einem  Kniespatel  — am  besten  d*-m 
Tt'UCKSehcn  — niedergedrückt  werden.  Wenn  nun  ruhig  und  hinreichend  tief 
geathmet  wird,  so  erfolgt  schon  nach  wenigen  Athemzügen  ein  Hustenstoss  als 
Zeichen , dass  die  Flüssigkeit  eingedrungen  ist.  Erzählt  der  Patient . dass  er 
während  der  ganzen  14  Tage,  die  er  einathmete,  auch  nicht  ein  einziges  Mal 
gehustet  hat,  so  weiss  man  mit  Bestimmtheit,  dass  er  die  Procedur  schlecht  aus- 
führte.  An  den  Reiz  gewöhnt  sich  der  Patient  übrigens  bald , ausserdem  aber 
fühlt  er  ein  Gefühl  des  Kitzelns , Rauhseins  oder  Brennens  nicht  nur  in  der 
Gegend  des  Kehlkopfes,  sondern  auch  noch  tiefer  hinunter  hinter  dem  Sternum 
als  Beweis  dafür,  dass  die  Flüssigkeit  selbst  in  die  Trachea  gelangt  ist. 

Die  Nachlässigkeit,  mit  der  die  Inhalationen  gewöhnlich  von  den  Patienten 
ansgeführt  werden,  trägt  wohl  zum  Theil  mit  die  Schuld,  dass  viele  Aerzte,  ab 
geschreckt  durch  den  Misserfolg,  ihr  anfängliches  Vertrauen  zu  dieser  Heil- 
methode verloren  haben.“ 

Im  Allgemeinen  dürften  bezüglich  der  Haltung  des  Kranken 
beim  Inhaliren  folgende  Massregeln  zu  empfehleu  sein.  Der  offene 
Mund  des  Patienten  muss  sich  in  gleicher  Höhe  mit  der  Ausstrümuugsriehtung 
der  zerstäubten  Flüssigkeit  befinden  und  kann  10 — 15  Cm.  von  der  Ausströmungs- 
öffnung des  Apparates  abstehen.  Die  Zunge  muss  möglichst  flach  auf  dem  Mund- 
boden liegen.  Bei  solchen  Patienten,  welche  die  Zunge  so  hoch  wölben,  dass  sie 
fast  den  Gaumen  berührt,  ist  der  Nutzen  des  Inhalirens  ein  sehr  problematischer. 
Die  Zunge  muss  dann  mit  einem  geeigneten  Mundspatel  niedergehalten  werden. 
Wird  aber  dabei  die  Zunge  zu  stark  gegen  die  hintere  Rachenwand  gedrängt,  so 
muss  sie  aus  dem  Munde  herausgestreckt  und  nöthigenfalls  festgehalten  werden. 
Am  besten  befindet  sich  der  Patient  in  sitzender  Haltung.  Falls  dies  wegen  der 
Schwere  der  Erkrankung  nicht  möglich  ist,  muss  der  Oberkörper  möglichst  hoch 
gelagert  sein  und  der  Apparat  auf  einem  sogenannten  Betttische  stehen,  dessen 
Platte  — vor  dem  Umklappen  gesichert  — ■ quer  über  das  Bett  hinweggeschoben 
werden  kann.  Die  Inhalationen  müssen  möglichst  gleichmässig  tief,  nicht  rasch  und 
ziemlich  kräftig  ausgeführt  werden,  damit  der  Inhalationsstrahl,  welcher  auf  die 
hintere  Rachenwand  direct  auftrifft,  von  seiner  Richtnng  ab  nach  dem  Kehlkopf 
hingeleitet  wird.  Die  Nasenöffnung  schliessen  zu  lassen,  hat  keinen  Zweck.  Eine 
bestimmte  Zeitdauer  für  die  Inhalation  zu  bestimmen  ist  unnöthig;  ausschliess- 
lich richtig  ist  die  Bestimmung  des  zu  verstäubenden  Quantums.  TCkck  empfiehlt 
etwa  30  Grm.  zu  verwenden.  Dies  würde  dem  Inhalt  des  Glases  entsprechen, 


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INHALATIONSTHERAPIE. 


283 

welches  zu  den  kleinen  Inhalationsapparaten  gehört.  Doch  kann  dies  nur  fiir  die 
Anwendung  differenterer  Heilmittel  gelten;  in  anderen  Fällen  ist  die  Inhalations- 
zeit, sowie  die  Verwendung  des  zu  inhnlirenden  Quantums  eine  weit  beträcht- 
lichere und  von  dem  Ermessen  des  Arztes  abhängig. 

In  besonderem  Masse  gilt  die  unbesehränkt  lange  Anwen- 
dung für  die  Inhalation  reinen  Wasserdampfes,  welche  jetzt  vielfach  in 
Gebranch  ist.  Für  diesen  Zweck  dürfte  im  Privathause  der  oben  beschriebene 
Sehön'sche  Apparat  gut  verwendbar  sein.  In  Krankenanstalten,  wo  Dampfkessel 
vorhanden  sind,  kann  der  Dampf  direct  vom  Dampfkessel  bezogen  werden.  Eine 
besonders  zweckmässige  Einrichtung  dieser  Art  hat  Baginsky  im  Kaiser  und 
Kaiserin  Friedrich- Krankenhause  getroffen. 

Sehr  raseh  historisch  geworden  ist  die  Einathmung  heisser  Luft,  wie  sie 
von  Halter  und  Weigert  empfohlen  worden  ist.  Auch  die  Einathmung  warmer 
Luft  (Kbcll)  ist  zu  allgemeiner  Verwendung  nicht  gelangt.  Bei  der  weiterhin 
zu  erörternden  Inhalatioustherapie  der  Lungenschwindsucht  ist  hierüber  Eingehen- 
deres bemerkt. 

3.  Die  Räucherungen  gehören  zu  den  ältesten  Inhalationsmethoden. 
Sie  werden  auch  heutzutage  noch  vielfach , meist  ohne  Verordnung  des  Arztes 
angewendet.  Das  Princip  beruht  auf  der  Thatsache,  dass  der  Rauch,  welcher 
bei  entsprechender  Verbrennung  mancher  Medicamente  entsteht , noch  wirksame 
Bestandteile  derselben  enthält.  Zum  Zwecke  der  leichteren  Brennbarkeit  wählt 
man  die  Pulver-Papierkerzehen-  oder  Cigarettenforin. 

Viel  angewendet  ist  die  Räucherung  mit  Salpeterpapier: 
Fliesspapier,  welches  mit  einer  Lösung  von  Kalisalpeter  (1:5)  getränkt  ist.  Man 
brennt  ein  grösseres  Stück  dieses  Papieres  bei  Beginn  eines  Asthmaanfalles  ab 
und  lässt  den  Dampf  einathmen;  andere,  die  allnächtlich  oder  oft  Nachts  an 
asthmatischen  Zuständen  leiden,  brennen  prophylaktisch  jeden  Abend  im  Zimmer 
ein  Stück  Papier  ab.  Nach  einer  Analyse  von  Ei'LEXBURG  soll  der  Rauch  vor- 
nehmlich Ammoniak  und  Kohlensäure,  ferner  C'yan,  Cyankalium  und  geringe  Men- 
gen Kohlenoxyd  und  freies  -Kali  enthalten.  Kochs  dagegen  fand  weder  Cyan  und 
Cyanverhindungen , noch  kohlensaures  uud  salpetersaures  Kalium.  Nach  seinen 
Untersuchungen  enthält  der  Rauch  etwas  feinvertheilte  Kohle,  reagirt  durch  den 
Gehalt  an  reichlichen  Mengen  kohlensauren  Ammoniaks  intensiv  alkalisch  und 
enthält  beträchtliche  Mengen  von  Kohlensäure  und  Wasser.  Ausserdem  fand  er 
eine  grosse  Menge  von  Brenzproducten,  unter  denen  zweifellos  aromatische  Sub- 
stanzen vorhanden  waren , und  durch  Oxydation  in  einen  dem  Geruch  nach 
kumarinartigen  Körper  übergingen.  Er  stellt  sich  die  Wirkung  des  Rauches 
(ebenso  wie  die  aller  anderen  bei  Asthma  empfohlenen  Riechmittel)  so  vor,  dass 
derselbe  durch  seine  Wirkung  auf  die  Nase  eine  „Umstimmung  des  Reflexmecha- 
nismus“  hinsichtlich  der  Atlunung  bewirkt,  weil  als  primäre  Ursache  des  Asthma 
eine  Neurose  des  Vagus  und  die  Lungeuerscheinungen  als  secundäre  anzu- 
aehen  seien. 

Strammoniumblätter  sind  unter  den  narkotischen  Mitteln  die  um 
meisten  verwendeten.  Man  lässt  dieselben  rein  oder  mit  Tabak  vermischt  1:2) 
aus  gewöhnlichen  Thoupfeifen  bei  Beginn  oder  wenn  möglich,  während  des 
Asthmas  rauchen.  Manche  Kranke  ziehen  der  Tabakpfeife  die  Straromoniumciga- 
retten  vor.  Die  Cigarette#  pectorale s d'Espic.,  welche  in  Apotheken  vorräthig 
sind,  bestehen  aus  Fol.  Ilel/ad.,  Fol.  Ilyoscy.,  Fol.  Strammonii,  welche  mit 
Extr.  (Jpii  in  Arg.  Laurocera-i  getränkt,  dann  getrocknet  und  in  ein  mit  der- 
selben Opiumlösung  getränktes  Cigarettenpapier  gefüllt  werden. 

Cocacigaretten  werden  in  der  jüngsten  Zeit  von  einer  Stuttgarter 
Firma  in  den  Handel  gebracht.  Man  will,  wie  es  scheint,  das  Angenehme  (des 
Rauchens)  mit  dem  Nützlichen  (der  t'ocawirkung)  verbinden.  Das  Publicum  wird 
wohl  davon  Gebrauch  machen. 


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284 


INHALATIONSTHERAPIE. 


Aurli  zu  Räucherpulvern  — Asthmaräueherpulvern  — werden  die  ge- 
nannten narkotischen  Mittel  benutzt  oder  mit  Zuhilfenahme  von  Holzkohle  Asthma- 
räneherkerzchen  aus  denselben  gefertigt. 

Viele  Aerzte  dürften  ohne  Räucherungen  ausgekommen  sein. 

Als  die  wichtigsten  Krankheiten,  gegen  welche  Inhalationen  — 
meist  als  Adjuvantien  bei  der  Behandlung  — zu  empfehlen  wären, 
können  genannt  werden:  die  Lungenschwindsucht.  Bezüglich  des  Werthes 
der  Inhalationen  bei  dieser  Krankheit  ist  schon  oben  erwähnt,  dass  ein  beson- 
derer Einfluss  auf  die  Krankheitsherde  selbst  kaum  zu  erhoffen  ist,  weil  die  ein- 
geathmeten  Stoffe  gar  nicht  bis  zu  ihnen  gelangen.  Immerhin  bleibt  die  Mög- 
lichkeit: 1.  auf  tuberkulöse  Erkrankungen  der  Luftw'ege,  insbesondere  des  Larynx 
einzuwirken ; 2.  der  Ausbreitung  der  tuberkulösen  Erkrankung  einzelner  Lungen- 
absehnitte  auf  ihre  Eingebung  entgegenzuwirken ; 3.  die  begleitenden  katarrhali- 
schen Zustände  zu  beseitigen.  Grund  genug,  den  Inhalationen  bei  der  Behandlung 
der  Tuberkulose  einen  Platz  zu  gönnen. 

Carbolsäure  wird  bei  Kehlkopfphthise  empfohlen.  Absehwellung  der 
Infiltration , Reinigung  und  Abflachung  der  Geschwüre,  selbst  Heilung  flacher 
Geschwüre  ist  beobachtet  worden.  — Auch  Thymol  ist  angewendet,  aber  bis- 
weilen nicht  vertragen  worden.  — Menthol  und  Kreosot  besitzen  keinen  be- 
sonderen Vorzug  vor  den  genannten  Mitteln  und  sind  schon  wegen  der  Unbe- 
quemlichkeit bei  der  Anwendung  nicht  cmpfehlenswerth.  — Naphtalin  und 
Naphtol  gab  de  Rexzi  innerlich  zu  1,0,  respective  1 — 5,0  täglich  und  Hess 
beide  Mittel  auch  täglich  zu  0,5  — 1,0:  100  in  Lösung  inhaliren.  — Guajakol  25 
bis  30  Tropfen  auf  1000,0  Wasser  Hess  Schüller  wochenlang  hei  Tuberkulose 
inhaliren  und  hatte  anscheinend  gute  Erfolge.  — Camphersänre  in  */*  bis 
6°  0iger  Lösung  zu  Inhalationen,  welche  überdies  etwas  adstringirend  wirkte, 
wurde  von  Reichert  bei  verschiedenen  katarrhalischen  Erkrankungen  der  Ath- 
mungsorgane,  sowie  bei  Lungentuberkulose  mit  günstigem  Erfolge  verwendet. 
Sokmani  und  BL'OXATEI.i.i  fanden,  dass  die  Cnmphersäure  bacillentödtcnde  Eigen- 
schaften hat.  — In  jüngster  Zeit  sind  Versuche  mit  Aethrr  camphoratu*  von 
Pktrüschky  vorgenommen  worden.  Er  fand  nach  langdauernder,  fast  während 
des  ganzen  Tages  vorgenommener  Inhalation  von  Aethrr  « amphoratu s mit 
Hilfe  der  CCRseHMAXN  schen  Maske  in  der  Hälfte  der  Fälle  einen  Abfall  des 
Fiebers,  so  dass  nachher  eine  erfolgreiche  Tuberknlineur  vorgenommen  werden 
konnte.  — LEYDEN,  welcher  dreimal  täglich  je  1 , Stunde  inhaliren  Hess,  hat 
keinen  Erfolg  gesehen. 

Fluorwasserstoffsäure  wurde  auf  Grund  der  Thatsache,  dass  plithi- 
sischc  Arbeiter  in  Glasfabriken,  wo  die  genannte  Säure  in  grösserem  Massstabe 
verwendet  wird , sich  in  den  Dämpfen  derselben  sehr  wohl  befinden  und  dass 
auch  phthislsche  Glasschleifer  sich  in  die  Aetzrüume  versetzen  lassen,  therapeu- 
tisch 1862  von  Basti  ex  und  später  auch  von  Chakcot  und  Beuseox  verwert  het ; 
man  verliess  aber  das  Mittel,  weil  es  keine  1 esonders  glänzenden  Erfolge  bei  der 
Behandlung  von  Phthisikern,  Asthmatikern,  Diphtheritischcn,  Keuchhustenkranken 
lieferte.  1885  lenkte  Seiler  und  etwas  später  Garcix  die  allgemeine  Aufmerk- 
samkeit auf  die  Säure,  deren  Dämpfe  in  Form  von  Inhalationen  lei  Behandlung 
der  Phthise  den  ersten  Rang  einnehmen  sollten.  Die  Wirkungen  dieser  Inhala- 
tionen wurden  von  Seiler,  Garcix  u.  A.  als  höchst  günstig  wirkend  bei  Lungen- 
tuberkulose angewendet  und  cs  fehlt  kein  einziges  Symptom  in  den  diversen 
Krankenberichten,  welches  nicht  gebessert  wurde,  allein  die  C’ontrolvcrsuche  von 
Gkaxthek  und  Chaifakd,  sowie  Jaccaid  ergaben,  dass  diese  Säuredämpl'e  die 
Lebensfähigkeit  des  Tnberkelbacillus  nicht  im  Mindesten  beeinflussen  und  die 
therapeutischen  Versuche  Anderer  (Polyak)  bestätigen  auch  weiterhin , dass  die 
Lungentuberkulose  in  keiner  Weise  durch  die  Inhalation  güustig  beeinflusst  wird. 

Schweflige  Säure  wurde  wegen  ihrer  antibarillären  Wirkung  zu  In- 
halationen ausser  bei  Diphtheritis  und  Keuchhusten  'BÖHM,  Il.t.tXGwoRTH  u.  A.) 


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INHALATIONSTHERAPIE 


285 


auch  bei  Lungentuberkulose  verwendet.  Man  liess  die  Kranken  2 Stunden  täglich 
in  einem  Raume  athmen,  in  welchem  für  den  Cnbikmeter  Rauminhalt  1 •/.  Grm. 
Schwefel  abgebrannt  wurden  (Dl’jardin-Bf.aumktz,  Dariex),  oder  3 — 6 Stunden 
täglich  in  einem  Raum,  in  welchem  5 — 10,0  Schwefel  für  den  Raummeter  ver- 
brannt wurden  (Sohi.aM),  Lky,  Bai.bau.Y  n.  A.t.  — Dt'JARDIN-RKAt'M ETZ  ver- 
wendete zur  Erzeugung  von  schwefligen  Säuredämpfen  auch  die  Sehwefelkohlen- 
stofflampen  oder  die  Schwefelkerzen  von  Dkschiexs,  die  aus  Kal.  nitr.  und 
Schwefel  bestehen.  Die  Dämpfe  der  schwefligen  Säure  gellen  auf  fast  sämmtliehe 
Symptome  bei  Lungentuberkulose  günstig  einwirken.  Doch  hat  in  jüngster  Zeit 
Nietxer  diese  Anschauung  gründlich  widerlegt.  Auf  Grund  seiner  Versuche, 
welche  unter  möglichst  genauer  Dosirung  der  Zimmerluft  an  schwefliger  Säure 
vorgenommen  wurden,  kommt  er  zu  folgendem  Resultat:  „Die  Inhalationen  mit 
schwefliger  Säure  haben  einen  scheinbaren  Einfluss  auf  die  die  Mischinfection 
bedingenden  Mikroorganismen  im  Sputum  und  das  hektische  Fieber  der  Phthisiker 
nur  in  einem  Falle  gehabt.  Die  Besserung  des  Allgemeinbefindens  bei  6 Kranken 
ist  wohl  nicht  der  Einwirkung  der  schwefligen  Säure  zuzuschreiben , da  bei  4 
von  diesen  6 Kranken  die  Besserung  schon  vor  Beginn  der  Inhalationen  einge- 
setzt hatte  und  da  diese  ausserdem  gleichzeitig  mit  Tuberkulin  behandelt  wurden. 
Von  einem  Mittel  gegen  die  Mischinfection  müssen  wir  aber  verlangen , dass  es 
in  jedem  einzelnen  Falle  in  einer  gewissen  Zeit  das  Fieber  und  die  Bakterien 
aus  dem  Sputum  beseitigt.  Das  zu  leisten,  ist  die  schweflige  Säure  nicht  im 
Stande  und  deshalb  ist  sie  für  die  Phthiseotherapie  nicht  brauchbar.“ 

Formaldehyd-Inhalationen  hat  ebenfalls  Nietner  vorgenommen. 
Das  Ergebniss  war  ein  durchaus  uugünstiges.  Diese  Inhalationen  verursachen  bei 
den  zu  Fieber  neigenden,  beziehungsweise  bei  den  schon  fiebernden  Phthisikern  deut- 
liche Teroperatursteigerung. 

Heisse  Luft  als  Heilmittel  gegen  Lungentuberkulose  in  Form  von  In- 
halationen wurde  zuerst  von  Halter  empfohlen.  Derselbe  hatte  beobachtet,  dass 
die  Ausriiumer  von  KalkOfcn  nie  an  Schwindsucht  erkranken,  nimmt  deshalb  als 
Schutzmittel  die  dabei  anhaltend  eingeathmete  heisse  trockene  Luft  an  und 
empfiehlt  Lufteinathmungen  von  4-  120 — 190“  C.  Diese  heisse  Luft  soll  die 
Tuberkelbacillen  in  der  Lunge  tödten,  da  ihr  Optimum  bei  37,5“  C.  ist,  dieselben 
bei  + 38,5°  C.  nur  noch  kümmerlich  wachsen,  bei  4-  42"  C.  aber  gänzlich  auf- 
hören , sich  zu  entwickeln , bei  Einwirkung  einer  Luft  von  + 50“  C.  innerhalb 
eines  Munates  a l.st erben  und  einmaliges  Aufkochen,  d.  h.  4-  100“  C.  sie  gänzlich 
vernichtet.  — Weigert  stellte  fest,  dass  trockene  Luft,  bis  zu  150 — 180“  C. 
erhitzt,  beschwerdelos  mehrere  Stunden  eingeathmet  werden  kann,  dass  sie  in 
den  ersten  Minuten  Beschleunigung  des  Pulses,  eine  Verminderung  der  Respira- 
tionsfrequenz  mit  gleichzeitiger  Vertiefung  der  Inspirationen,  eine  Erhöhung  der 
allgemeinen  Körpertemperatur  um  1 2 — 1“C.  bewirkt  nnd  dass  die  eingeathmete 
Luft  eine  Temperatur  von  mindestens  4-  45“  C.  aufweist , dass  innerhalb  einer 
Stunde  naeh  beendigter  Inhalation  die  Körpertemperatur  wieder  zur  Norm  zurück- 
kehrt und  dass  das  Allgemeinbefinden  ungestört  bleibt.  Es  wurde  jedoch  bald 
auf  exactem,  experimentellem  Wege  festgestellt,  dass  die  Inhalationen  lieisser 
trockener  Luft  (von  180*  C.)  wirkungslos  sind,  gar  nicht  als  solche  zur  Geltung 
kommen  und  die  heisse  Luft  sieh  schon  innerhalb  des  Larynx  nnd  der  Faneos  so 
ahkühlt,  dass  sie  nie  höher  ist  als  im  Rectum,  dass  die  erhöhte  starke  Wasser- 
verdunstung die  ganze  Wärme  einfach  absorbirt  (Mosso  nnd  Roxdei.i.i,  Nykamp, 
Sehrwalu).  Mit  Recht  sagt  Sehrwai.d:  „Wäre  die  ll.ALTER’sche  Deduetiou  Uber 
die  Einwirkung  der  heissen  Athmungsluft  auf  die  tuberkulös  erkrankten  Luft- 
wege richtig,  so  müsste  es  vor  Allem  ja  die  Tuberkulose  des  Kehlkopfes  sein, 
welche  durch  dieselbe  günstig  beeinflusst  werden  müsste,  denn  in  den  Kehlkopf 
gelangt  die  Luft  noch  wesentlich  heisser  als  in  die  Lungen.  Von  einer  Heil- 
wirkung der  Hai.ter-Weigert’ sehen  Methode  auf  die  Kehlkopftuberkulose  hat  sieh 
aber  bisher  nichts  naehweisen  lassen.“ 


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28t; 


INHA  LATION^THERA  PIE. 


Feuchte,  warme  Luft  als  Inhalation  wird  von  Krull  als  ausser- 
ordentliche« Heilmittel  gegen  Lungentuberkulose  empfohlen.  Nach  diesem  Autor 
werden  durch  wiederholte  feuchte,  warme  Luftinhalationen  die  Ernährungsgefässe 
der  Lunge,  ähnlich  wie  Blutgefässe  der  Haut  durch  oft  wiederholte  Einwirkung 
warmer  Bäder  auf  dieselbe,  alltnälig  dauernd  reichlicher  mit  dem  ‘durch  den  an- 
geregten Stoffwechsel  üppiger  bereiteten  Blute  versehen  und  der  Ernährungszu- 
stand des  Lungengewebes  gehoben.  Da  nun  ein  Mensch , der  von  Tuberkulose 
befallen  wird,  schon  eine  geschwächte  Lunge  hat,  die  zu  Tuberkulose  disponirt, 
so  wird  diese  Schwäche  durch  obige  Wirkungen  aufgehoben  ; der  in  der  bereits 
ergriffenen  Lunge  noch  nicht  erkrankte  Theil  wird  gegen  das  Vordringen  des 
Tuberkelbacillus  widerstandsfähiger  gemacht  und  es  werden  Bedingungen  ge- 
schaffen, den  erkrankten  Theil  einerseits  durch  Resorptionsvorgänge  zur  Norm 
zurückzuführen,  andererseits  die  Erkrankung  durch  Gefäss-,  respective  Binde- 
gewebsneubildnng  zum  Abschluss  zu  bringen.  Bei  dieser  Thätigkeit  wird  die 
Lunge  unterstützt  durch  den  mit  der  warmen  Luft  eindringenden  Wasserdampf, 
welcher  die  Erweichung  und  Ausstossung  der  käsigen  Depots  wesentlich  fördert. 
Schädliche  Einflüsse  wurden  bei  den  Inhalationen  nicht  beobachtet.  Dem  gegenüber 
sind  die  Untersuchungen  Sehrwald’s  freilich  sehr  ungünstig.  Er  kommt  zu  dem 
Resultat , dass  man  mit  Hilfe  dieser  Vornahme  weder  die  Lungenluft  erwärmen, 
noch  die  Lunge  blutreicher  machen  könne. 

Bei  Hämoptoe,  gleichviel  ans  welcher  Läsion  des  Lungengewebes  die- 
selbe hervorgegangen  ist,  linden  Inhalationen  heutzutage  wohl  nirgends  mehr 
Verwendung.  Wenn  sie  nicht  schädlich  sind , haben  sie  zum  mindesten  keinen 
Wertb.  Angewendet  und  empfohlen  wurden  früher  (Siegle,  Waldenburg  u.  Ä.) 
Lirju.  ferri  sesi/uiclil.,  Tannin,  Alaun,  Flumbum  nceticum. 

Bei  putrider  Bronchitis,  Bronchiektasen,  Lungenabscess, 
Lungengangrän  können  Inhalationen  medicamentöser  Stoffe  von  Erfolg  begleitet 
sein.  Doch  ist  nicht  ausser  Acht  zu  lassen,  dass  die  bei  allen  diesen  Zuständen 
vorhandene  Bronchitis  in  erster  Linie  beeinflusst  wird , da  nach  dem  oben  Mit 
getheilten  wohl  nur  ein  minimaler  Theil  der  inhalirten  Stoffe  in  die  Lungen- 
hohlräume, respective  in  das  kranke  Lungengewebe  eindringt,  ln  erster  Reihe 
kommt  auch  hier  die  Carbolsäure  in  Betracht,  welche  man  in  2- — 3°  „iger 
Lösung  dreimal  täglich  inhaliren  lässt.  — Einen  nicht  zu  unterschätzenden  Werth 
hat  bei  diesen  Krankheiten  auch  das  Terpentinöl.  Sowohl  die  expeetorirende 
als  auch  die  zur  Resorption  chronischer  exsudativer  Schwellungen  der  Schleim- 
haut beitragende  Wirkung  wird  hier  betont ; demnächst  auch  die  fäulniss-  und 
gährungswidrigen  Eigenschaften  dieses  Mittels,  ebenso  sein  Einfluss  auf  Herab- 
setzung des  Fiebers , Verlangsamung  der  Respiration  und  Verminderung  der 
Sensibilität.  Die  resorptionsbefördernde  Wirkung  leitet  Rohkbach  daher,  dass 
Terpentinöl,  wie  er  experimentell  feststellte,  durch  eine  ihm  eigcnthüinliche  Reiz- 
wirkung die  Blutgefässe  zur  Contraction  bringt,  die  Schleimhaut  blutleerer  macht 
und  demnach  die  Absonderung  anregt.  Die  Wirkungen  der  Inhalationen  der 
Dämpfe  von  Coniferenreisigaufgüssen  (Tannen,  Kiefern,  Fichten  und  Latschen- 
kieferreisig) gehören  zum  grössten  Theil  dem  ätherischen  Oelgehalt  dieser  Coni- 
feren  an.  Derartige  Inhalationen  werden  zumeist  in  allgemeinen  Inhalationssälen 
der  Bäder  verwendet. 

Der  acute  Larynx-  und  Bronchialkatarrh  darf  mit  besserem 
Rechte  als  eine  Domäne  der  Inhalationstherapie  angesehen  werden.  Wenn  trotz- 
dem bei  diesen  Affeetionen  nicht  allzuhäufig  von  den  Inhalationen  Gebrauch  gemacht 
wird,  so  hat  dies  seinen  Grund  in  dem  Umstande,  dass  einestheils  Narcotica  für 
sehr  viele  Patienten  ein  bequemeres  Hilfsmittel  sind  und  in  Anbetracht  der 
kurzen  Dauer  des  Krank  heitszustandes  ohne  Furcht  vor  Gewöhnung  an  Narcotica 
verabfolgt  werden  dürfen,  anderntheils  sehr  oft  die  Belästigung  durch  die  Krank- 
heit lieber  hingenommen  wird,  wie  die  Mühe  und  die  Umstünde  bei  der  In- 
halationsvornahme. Immerhin  wird  man  bisweilen  gut  thun,  bei  sehr  empfindlichen 


INHALATIONSTHERAPIE. 


287 


and  durch  Husten  besonders  belästigten  Patienten  gelegentlich  Aufgüsse  aromati- 
scher, ätherische  Oele  enthaltender,  und  narkotischer  Kräuter  anznwenden.  Die  in 
diesen  Kräutern  enthaltenen  ätherisch-öligen  und  narkotischen  Bestandtheile  sind 
hier  das  Wirksame  neben  den  Wasserdämpfen.  Am  beliebtesten  sind  die  Camillen- 
theedämpfe,  welche  gelind  reizend  wirken  und  deshalb  bei  Katarrhen  mit  torpider 
Schleimhaut  indicirt  sind.  Unter  den  Aufgüssen  der  narkotischen  Kräuter  sind  am 
meisten  angewendet  die  von  Belladonna , Bilsenkraut , Schierling , Strammonium. 
Ebenso  eignen  sich,  besonders  im  Anfang  des  Katarrhes,  Inhalationen  von  Lösungen 
doppeltkohlensauren  Natrons  oder  eines  alkalischen  Brunnenwassers. 

Beim  chronischen  Larynx-  und  Bronchialkatarrh  sind  die 
Patienten  schon  eher  geneigt , sich  mit  der  Procedur  zu  bemühen.  Hier  sind 
meist  adstringirende  Mittel,  besonders  Tannin  am  Platze.  Alaun  und  Liquor  ferri 
stsquichl.  werden  seltener  angewendet. 

Auch  bei  Stickhusten  sind  die  Inhalationen  beliebt  und  erwünscht. 
Schade  nur,  dass  ein  augenfälliger  Erfolg  keinem  Medicamente  zuzuschreiben  ist. 
Unter  anderen  haben  sich  Benzindämpfe  einen  Ruf  erworben.  Man  lässt  auf 
die  Betten  der  Patienten  Nachts  Benzin  aufträufeln , so  dass  die  Patienten  sich 
dauernd  in  einer  Benzinatmosphäre  befinden,  oder  man  giesst  in  den  Dampftopf 
einen  Esslöffel  voll  Benzin  und  lässt  die  Dämpfe  mehrere  Male  täglich  fünf 
Minuten  laug  einathmen  oder  man  benützt  die  Papierdüte  mit  Watte  oder  man 
begiesst  einen  in  siedendes  Wasser  getauchten  Schwamm  reichlich  mit  Benzin 
und  hält  ihn  eine  Viertelstunde  vor  Mund  und  Nase  der  Kinder,  oder  ein  aus 
Gaze  hergestelltes  Säckchen,  welches  einen  in  Benzin  getränkten  Schwamm  enthält, 
wird  vor  die  Brust  gehängt.  Auch  schweflige  Säuredämpfe  werden  in  der 
jüngsten  Zeit  gegen  Keuchhusten  empfohlen  (Schlief)  Des  Versuches  werth  ist 
auch  die  Carbolsäure,  vorausgesetzt,  dass  die  Kranken  erwachsen  genug  sind, 
um  inhaliren  zu  können  (Bvrchardt). 

Bei  Asthma  wurde  von  See  das  Pyridin  empfohlen.  Ueber  dio  An- 
wendungsweise desselben  ist  oben  Ipag.  275)  Näheres  angegeben.  Chloroform, 
Amylnitrit , Jodäthvl  sind  ebenfalls  beliebte  InhaiationBmittel  bei  asthmatischen 
Zuständen  und  cs  gilt  von  ihnen  dasselbe  hinsichtlich  der  Wirkung  und  der  In- 
dicationen,  was  beim  Pyridin  gesagt  ist.  Der  Räucherungen  beim  Asthma  ist  oben 
schon  Erwähnung  gethnn. 

Bei  Diphtheritis  und  Croup  wird  von  Inhalationen  ausgiebiger 
Gebrauch  gemacht.  Carbolsäure,  Milchsäure,  Kalkwasser  sind  viel  em- 
pfohlen. Stoekck  spricht  dem  Kalkwasser  jeden  Werth  ab  und  Gottsteix  sagt: 
„Ein  Medicament  wie  Kalkwasser  oder  Milchsäure  könne  auf  dem  Wege  der  In- 
halation unmöglich  Croupmembranen  auflösen.  Wenn  diesen  Inhalationen  einiger 
Nutzen  zugeschrieben  wird,  so  ist  derselbe  auf  Rechnung  der  Anfeuchtung  der 
Larvnxwände  zu  setzen  wie  bei  der  Einathmung  heisser  Wasserdämpfe,  denn 
niemals  sammle  sich  auch  nur  annähernd  so  viel  LösungsflUssigkeit  nach  den 
Inhalationen  im  Larynx  an,  als  nothwendig  ist,  um  kleine  Membranstückchen  im 
Reagensglas  zur  Lösung  zu  bringen.“ 

Neuerdings  wird  überhaupt  der  anhaltenden  Inhalation  von  Wasser- 
dainpf  sehr  eifrig  das  Wort  geredet.  Nach  dem  Vorgänge  von  Okktel,  Mackenzie 
benutzt  Variot  den  Wasserdampf  als  Unterstützungsmittel  der  Serumtherapie. 
Er  legt  die  Kinder  mit  Croup  in  Zimmer,  deren  Luft  Tag  und  Nacht  mit 
Wasserdampf  gesättigt  ist.  Derselbe  hat  nach  seiner  Ansicht  eine  auflöseude 
Wirkung  auf  die  Membranen  und  übt  eine  sedative  Wbkung  auf  die  Larynx- 
nerven  aus. 

Auch  Bromdämpfe  sind  wegen  ihrer  antiseptischen  und  desinficirenden 
Eigenschaften  bei  Diphtherie  und  Croup  empfohlen.  Man  benutzt  die  aus  Brom 
und  Kieselguhr  (5 : 1 ) geformten  Platten  — Brornum  solid ijicatum  — die  als 
Patent  von  Dr.  Frank  in  den  Handel  kommen.  Letzterer  hat  auch  einen  Apparat 
angegeben,  in  welchen  diese  Platten  zur  Entwicklung  der  Dämpfe  gelegt  werden 


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INHALATIONSTHERAPIE. 


288 


sollen  und  mittels  welcher  man  direct  an  die  diphtheritisch  erkrankten  Stellen 
die  Dämpfe  dirigiren  kann. 

Bei  Ozaena  ist  die  Kinathmung  zerstäubter  Carbollösung-  durch  die 
Nase  empfehlenswerth.  Auch  der  oben  erwähnte  Apparat  von  Feldbai'sch  kann 
mit  Nutzen  angewendet  werden. 

Für  die  Eintheilung  und  Dosirung  der  zu  Inhalationen  ver- 
wendeten Medicamente  besitzen  wir  grundlegende  Angaben  durch  Walden- 
burg, Siegle,  Frankel  u.  A.  m. 

Im  Gebrauche  sind:  1.  als  Adstringentia:  Tannin  in  */4 — 2°  „igen 
Lösungen.  Doeh  ist  es  recht  unpraktisch , dem  Patienten  die  rein  wässerigen 
Lösungen  einzuhändigen.  Denn  bevor  das  Quantum  verbraucht  ist,  hat  sich  in 
demselben  schon  reichliche  Pilzbildung  eingestellt.  Am  besten  verordnet  man 
Tannin  in  Glycerin  (etwa  2:20)  und  lässt  davon  10 — 20  Tropfen  dem  zu  in- 
halirenden  Wasserqunntum  hinzufUgcn.  Bei  Bronchialkatarrhen  lässt  man  das 
angegebene  Quantum  2 — 3mal  täglich  inhaliren.  Weniger  in  Gebrauch  ist  Alaun 
in  */, — 2%iger,  Zincum  su/furicum  in  1 — 2%iger,  Liquor  ferri  sesquichlor. 
in  2 — if’/oiger  Lösung.  Von  Höllcnsteinlösungen  wird  zu  Inhalationen  wohl  kaum 
mehr  Gebrauch  gemacht. 

2.  Emollientia.  Hierzu  gehört  vor  Allem  der  reine  Wasserdampf, 
welcher  auch  bei  der  Anwendung  von  Infusen  und  Decocten  schleimhaltiger 
Mittel,  wie  Rad.  Ahhatae,  Fl.  verband , Species  pectoral.  wesentlichen  Antheil 
an  dem  Erfolge  hat. 

3.  Kesolventia.  Am  meisten  im  Gebrauch  sind  Katr.  chlor,  und  Satr, 
bicarh.  in  2 — 30/0igen  Lösungen,  ferner  die  Mineralwässer  von  Ems,  Salz- 
brunnen u.  A.  m. ; seltener  werden,  in  gleicher  Lösung  wie  die  oben  erwähnten. 
Ammon,  h i/drochl. , Kali  corbonicum  depurat. , Kali  chlor.,  Kali  bromat. 
angewendet. 

4.  Narcotica:  Morphium,  Belladonna,  Cocain  sind,  inhalirt , weniger 
wirksam,  wie  per  os  oder  subcutnn  aufgenoromen , weil  die  Dosirung  unsicher 
und  das  angewendetc  Quantum  gewöhnlich  zu  gering  ist , indem  bei  der  Zer- 
stäubung ein  zu  grosser  Theil  des  Medieameutes  verloren  geht. 

5.  Desi  nficient  in  und  Anti  mycotica.  Hier  steht  die  Carbolsäure 
in  I — 3°  0iger  Lösung  obenan.  Nächstdem  das  Thymol  (1  : 1000).  In  minderer 
Gunst  steht  Aqua  rhlori  (1  — 10:100).  Acidum  nalirt/hcum  (1:1000)  und 
Resorcin  (1  : 100). 

Literatur:  Aufrecht,  Oie  Lungenschwindsucht  mit  besonderer  Rücksicht  auf 
die  Behandlung  dersellien.  Magdeburg  l." 87.  — Brägel ni an n,  Oie  Inhalationstherapic. 
Köln  1S8U  — Burchardt,  Erber  die  Behandlung  des  Keuchhustens  mittels  Inhalation  von 
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klinische  und  therapeutische  rntersuehungen  älter  die  Gase.  Oeutsch  von  O.  R ey  h er.  Leipzig 
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111.  Anll.  — Günther,  Oie  Fnndamentnlbedingung  der  Inhalationstherapie.  Deuts-  he  med. 
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Wochenschr.  1K83,  IX,  pag.  öl.  — Halter,  Uelter  die  Immunität  von  Kalkofenarbeitern 
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Berliner  klin.  Wochensehr.  1880,  Nr.  34  — Knauthe,  Bericht  über  die  Arheiien  von 

Treutier,  Steinbruck.  Brügelmaun . Krall  über  Stickstollinhalationen.  Schmidt  s Jahrbücher. 
CLVI1.  pag.  97 ; OLXXXVI.  pag.  i90  — Knauthe,  Ueber  den  thcrai>eutischcn  Werth  des 
Ozons.  Bericht  ans  den  Arbeiten  von  Binz.  Meyer,  Filipow.  Eyseleln,  Stabei.  Schmidt's  Jahr- 
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pag.  40.  — Krull,  Die  Heilung  der  Lungenschwindsucht  durch  Einathinnng  feuchtwarmer 
Luft  von  bestimmter  gleit hbleilrender  Temperatur.  Berliner  klin.  Wnchensrhr.  1 s.Cs , XXXV, 


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INHALATIONSTHERAPIE.  — J ODQU  ECKSIL  BERHA  MOL. 


289 


Nr.  39,  40.  — Krull,  Weitere  Mittheilungen  über  die  Behandlung  der  Lungenschwindsucht 
mittels  Einathmung  fenchtwarmer  Luft.  Berliner  klin.  Wochenschr.  1889,  XXXVI,  Nr.  27-  — 
Leyden,  Deutsche  med.  Wochenschr.  1893,  pag.  898-  — Morell  Mackenzie,  I)io  Krank- 
heiten des  Halses  und  der  Nase.  Deutsch  von  Semon.  Berlin  1880.  — Matthieu,  Gaz.  des 
hop.  1859,  pag.  207.  — Nietner,  Inhalationen  mit  schwelliger  Saure.  Cuarite-Aunalen.  1894, 
19-  Jahrg.,  pag.  570  (mit  Literatur- Angaben).  — Nietner,  Versuche  mit  Inhalationen  von 
Formaldehyd.  Charite  Annalen.  1894,  XIX.  — Nykamp,  Versuche  über  die  Wirkung  der 
heissen  Luft  nach  Weigert  bei  Larynxtuberkulose.  Deutsche  med.  Wochenschr.  1890,  Nr.  18.  — 
Nykamp,  Versuche  über  die  Wirkung  der  heissen  Luft  nach  Weigert  bei  Kohlkopftuber- 
culose.  Discussion:  Rieth  (San  Remo),  Lazarus  (Berlin),  B.  Frankel  (Berlin),  Rosenfeld  (Stutt- 
gart). Tageblatt  der  62.  Versammlung  deutscher  Naturforscher  und  Aerzte  in  Heidelberg.  Ab- 
theilung für  Laryngologie  und  Rhinologie.  — Oertel,  Respirationstherupie.  Leipzig  1882.  — 
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pag.  303.  — Sehrwald,  Die  KrulPsche  Methode.  Berliner  klin.  Wochenschr.  1888,  p.  787; 
1889.  pag.  607;  Deutsche  med.  Wochenschr.  1890,  Nr.  45,  pag.  889;  Nr.  46,  pag.  1017.  — 
Siegle,  Die  Behandlung  der  Hals-  und  Lungenleiden  mit  Inhalationen.  Statteart  1869, 
3.  Aufl.  — Stoerck.  Klinik  der  Krankheiten  des  Kehlkopfes.  Stuttgart  1880.  — Treutlor, 
Die  Herstellung  und  Anwendung  von  Stickstotfinhalationcn  gegen  Lungenkrankheiten.  Dresden 
1879.  — v.  Tröltsch,  Apparat  zur  Zerstäubung  von  Flüssigkeiten.  Arch.  f.  Ohrenhk.  1878, 
XHI,  2,  3.  — Türck,  Klinik  der  Krankheiten  des  Kehlkopfes  und  der  Luftröhre  Wien 
1866.  — Variot,  Journ.  de  clin.  et  de  therap.  infantile.  1895,  Nr.  16.  — Waldenburg, 
Die  locale  Behandlung  der  Krankheiten  der  Athmungsorgane.  Berlin  1872,  2.  Aufl.  — W eigert, 
Zur  Heilung  der  bacillaren  Phthise.  Internat.  Rundschau.  1888,  Nr.  51.  Aufrecht. 

Jodhämol,  vergl.  pag.  64. 

Jodoformin  (geruchlose,  Jodoform).  Eine  von  der  chemischen  Fabrik 
L.  C.  Marquart  dargestellte  Verbindung  des  Jodoforms  mit  einem  schwach  anti- 
septischen  Körper  (Hexamethylentetramin?).  Ein  geruchloses,  fein  vertheiltes, 
weisscs  Pulver,  welches  sich  durch  Einwirkung  des  Lichtes  leicht  gelb  färbt,  mit 
einem  Jodoforrogehalt  von  75°, 0,  in  Wasser  unlöslich,  schmilzt  unter  plötzlicher 
Zersetzung  bei  178°  C.,  spaltet  bei  Einwirkung  von  Säuren  nnd  Alkalien  Jodo- 
form ab,  lässt  sich  mit  Glycerin  zur  Emulsion  und  mit  wasserfreien  Materialien 
zu  Salben  verarbeiten.  Wie  EichkngrÜN  und  Ivex  ausführen,  zersetzen  dieWund- 
secrcte  das  Jodofurmin,  so  dass  sich  Jodoform  abspaltet,  wonach  jenes  dem  Jodo- 
form antiseptisch  vollständig  gleiehwerthig  wirkt.  Die  Abspaltung  des  Jodoforms 
hört  mit  Ablauf  der  Secretion,  also  bei  eintretender  Heilung  auf,  weshalb  der 
Geruch  nach  Jodoform  stets  nur  ein  minimaler  ist.  Trostorff  fand  es  bei  Ulcus 
molle  von  guter  Wirkung,  der  Jodoformgeruch  trat  erst  heim  Wechsel  der  Watte 
um  die  Eichel  herum  und  beim  Waschen  der  erkraukten  Theile  auf;  aurli  er 
hebt  deu  Mangel  an  Reizerscheinungen  bei  Anwendung  des  Mittels  hervor. 
Trostorff  wendet  es  bei  chronischer  Gonorrhoe  an,  um  damit  nach  voraus- 
gegangener anderweitiger  Behandlung  im  Urethroskop  die  Schleimhaut  der  Harn- 
röhre — Epithcldefecte,  Infiltrate  im  submucösen  Bindegewebe  — durch  Ein- 
pudern der  Partien  zur  Heilung  zu  bringen. 

Literatur:  A.  Eic he ngrü n,  Jodoformin  (geruchloses  Jodoform).  Therap  Monatsh. 
1895,  pag.  487.  — Ibidem,  pag.  669.  — Iven,  Deutsche  med.  Wochenschr.  1895,  Nr.  36.  — 
Trostorff,  ibidem  Nr.  50.  Loebisch. 

Jodquecksilberhämol.  Neben  der  Immctionscur  und  der  Subcutancur 
der  Syphilis  bleibt  die  innerliche  Behandlung  mit  Mercurialien  trotz  aller  An- 
griffe, welche  sie  erfahren  hat,  für  gewisse  Fälle  unzweifelhaft  zu  Recht  bestehen. 

Kneyclop.  Jahrbücher.  VI.  JIJ 


JODQUECKSILBF.RHAMOL.  — JODSÄCRE. 


29<i 

Weitaus  das  häufigste  interne  antisyphilitische  Quecksilbcrmittel  war  bis  vor 
Kurzem  das  Calomel;  jetzt  jedoeh  scheint  es  seine  Kollo  in  dieser  Beziehung 
wenigstens  für  Erwachsene  ziemlieh  ansgespielt  zn  haben.  So  iiussert  sieh  ein 
Syphilidolog  vom  Fach,  J.  P.  Rille,  über  dasselbe  soeben  folgendermassen : „Das 
Calomel  wirkt  stark  diarrhoisch,  hat  am  rasehesten  Stomatitis  zur  Folge  und  ist 
als  Antisvpkiliticum  zum  internen  Gebrauche  gegenwärtig  wohl  nur  auf  die  Kinder 
praxis  beschränkt.“  Das  Sublimat  hat  zu  innerlicher  Verwendung  nur  sehr  vorüber- 
gehend gedient.  Die  auf  das  LrSTGAETEN’sche  Tannin  Quecksilber  gesetzten  Er- 
wartungen haben  sich  nach  Rille  nicht  vollständig  erfüllt.  Auch  das  gallensaure 
Quecksilber  und  das  Peptonquecksilber  haben  sich  nicht  bewährt.  Man  sieht  sieh 
also  gezwungen,  seine  Zuflucht  zu  den  Jodverhiudungen  des  Quecksilbers  zu 
nehmen , die  für  spätere  Stadien  dieser  Krankheit  ja  auch  den  nicht  zu  unter- 
schätzenden Vortheil  bieten,  gleichzeitig  Jod  dem  Organismus  zuzuführen.  Neben 
dem  PrutojoJuretum  und  Deutojoduretum  Hydrargyri , welche  namentlich  in 
Frankreich  ausserordentlich  viel  verwendet  worden  sind,  hat  sich  nun  nach  Rille 
und  nach  DlXOX  Mann  neuerdings  das  Jodquccksilberhämol  eingebürgert.  Es 
bildet  ein  in  Wasser  unlösliches  braunes  Pulver,  welches  durch  Füllen  von  in 
Wasser  gelöstem  Blutfarbstoff  mit  Quecksilberjodidjodkalium  hergestellt  wird  und 
einen  Quecksilbergehalt  von  12 — 13%,  sowie  einen  Jodgehalt  von  28,68°  0 
besitzt.  Es  kommt  als  Baemolum  H ydrargyro- jodatum  von  der  Firma 
E.  Merck  aus  in  den  Handel  und  wird  am  besten  in  Pillen  verordnet  nach 
folgender  Formel:  Rp.  Haemoli  hydrargyri-jodati  10,0,  Succi  Liquiritiae 
depurati  quant.  sat  ut  fiant  lege  artis  pilulae  Nr.  50.  D.  S.  3mal  täglich 
3 Stück  während  oder  nach  der  Mahlzeit  zu  nehmen. 

Die  nach  dem  Gebrauche  des  Mittels  auftretenden  mercuricilen  Neben- 
wirkungen sind  relativ  gering  und  nöthigen  nicht  zum  Aussetzen  der  Cur.  Die 
Magenthätigkeit  wird  davon  gar  nicht  gestört.  Die  Resorption  erfolgt  prompt, 
wie  man  am  Schwinden  der  syphilitischen  Erscheinungen , sowie  an  der  Aus- 
scheidung durch  den  Harn  naehweisen  kann.  Der  Vorzug  des  Präparates  gegen- 
über anderen  Mercurialien  besteht  darin,  dass  es  bei  leichter  Verträglichkeit  auf 
heruntergekommene  Syphilitiker  durch  seinen  Eisengehalt  gleichzeitig  tonisirend 
wirkt.  So  äussert  sich  Rille:  „Der  Versuch,  im  Jodquecksilherhämol  eine  toni- 
sirend wirkende  Substanz  in  Verbindung  mit  einem  Antisyphiliticum  herzustellen, 
gelang  auf's  Beste.“  Und  an  anderer  Stelle  sagt  er:  „Das  Jodquecksilherhämol 
ist  das  einzige  Präparat , welches  Jod  und  Quecksilber  zusammen  mit  Eisen 
enthält  und  so  neben  specifischen  Heilwirkungen  auch  eine  tonisirendo,  den  all- 
gemeinen Kräftezustand  hebende  Einwirkung  gestattet.  Das  längst  eingebürgerte 
Ferrum  jodatum  kann  dasselbe  auch  nicht  annähernd  erreichen  und  ist  leicht 
zcrsetzlich.  Das  Jodquccksilberhämol  dürfte  demnach  bei  mit  Blässe  der  Haut, 
herahgekommenem  Ernährungszustände  einhergehenden,  gleichwie  mit  Scrophulose 
combinirtcn  Syphilisfällen  seine  Hauptanwendung  finden.“  Ganz  unabhängig  davon 
kommt  Dixon  Maxx  in  Manchester  zu  dem  Ergebniss : „Jodquecksilherhämol 
scheint  schneller  antisyphilitisch  zu  wirken  als  blaue  Pillen  und  Calomel.  Ich 
hin  geneigt,  das  Jodquccksilberhämol  jedem  anderen  Quecksilberpräparate  vorzu- 
zielien,  wo  es  sich  um  anämische,  schwache,  heruntergekommene  Patienten  handelt.11 

Literatur:  J.  H.  Rille,  Leiter  Behandlung  der  Syphilis  mit  Jodquecksilberhämol. 
Arcli  f l)erm»t.  u.  Syph.  1897,  XXXIV,  Heft  2.  — J.  Dixon  Mann,  CUnical  Sote  on  the 
actum  of  Jodide  and  Mer  cur y Haemol.  The  Med.  Chronicle.  Februar  1896,  Nr.  5,  pag.  3-16. 

Robert. 

Jodsäure  und  jodsaure  Salze.  Schon  im  Jahre  1881  hat  Bixz 

darauf  hingewöesen,  dass  die  Jodsäure  wegen  ihrer  Eigenschaft,  Jod  leicht  abzn- 
spalten,  sowohl  bei  innerlicher  als  äusserlicher  Anwendung  als  Ersatzmittel  des 
Jodoforms  dienen  könnte.  Erst  1894  stellte  J.  Rühemann  Versuche  mit  Jodsäure 
und  jodsaurem  Natron  an , welche  die  Brauchbarkeit  dieser  in  dem  eingangs 
erwähnten  Sinne  bestätigen.  Wohl  ist  die  äussere  Anwendung  der  reinen 


.TODSÄURE. 


291 


Säure  wegen  Schmerzhaftigkeit  zu  vermeiden.  Sie  lässt  sich  auf  der  äusseren  Haut 
und  auf  Schleimhäuten  nur  in  der  Form  des  Aetzstiftes , ferner  in  5 — 10%igen 
wässerigen  Lösungen  oder  ebenso  starken  Lanolinsaloen  anwenden.  Die  Nasen- 
schleimhaut verträgt  eine  10°/0ige  Lösung  oder  gleichstarke  Salbe  ausgezeichnet, 
der  Kehlkopf  noch  eine  aus  1 Thcil  Jodsüure  mit  3 — 4 Theilen  Borsäure,  weit 
empfindlicher  sind  dagegen  die  Schleimhäute  der  Vagina  und  des  Uterus,  bei 
deren  Behandlung  '/, — 1 %ige  Vaginalktigeln  empfohlen  werden.  Der  Jodsäure  ist 
auch  eine  l>edeutende  hämostyptisehe  Wirkung  eigen , besonders  wenn  man  mit 
der  Anwendung  der  5 — 6°/0igen  Lösung  einen  gewissen  Druck  verbindet. 

Innerlich  zeigte  sich  dag  jodsanre  Natron  von  guter  Wirkung  hei 
semphulösen  Affectionen  und  Drüsenanschwellungen;  beim  chronischen  Bronchial- 
asthma trat  nach  fortgesetztem  langen  Gebrauch  vorzügliche  Wirkung  ein. 
Drtisenschwellungen  schwanden  überdies  rasch  nach  suheutanen  Injectionen  von 
Natrium  jodicum  in  Dosen  von  0,05 — 0,2  Grm.  Intern  giebt  man  dieses  pro  die 
1 Grm.  am  zweckmässigsten  in  Pillenform;  wässerige  Lösungen  gebe  man  in 
Milch  nach  den  Mahlzeiten. 

In  jüngster  Zeit  hat  Ruhemann  überdies  die  jVerhindungcn  der  Jod- 
säure mit  Lithium , Silber , Quecksilber , ferner  mit  einigen  Alkaloiden  , Atropin, 

Chinin,  Codel'n,  Scopolamin  (Hyoscin)  und  Strychnin  an  Thioren  und  in  der 
klinischen  Praxis  versucht.  Das  Lithium  jodicum , Li  JO„  + '/2  Hj  0 , ein 
weisses,  in  Wasser  sehr  leicht  lösliches  Pulver,  wurde  in  Form  von  subcutaner 
lnjection  zu  0,1  Grm.  bei  harnsaurer  Diathese  und  bei  Nierenkoliken  gereicht. 

Nach  einigen  Injectionen  hörte  die  massenhafte  Ausscheidung  der  krystallinischen 
Harnsäure  auf.  Innerlich  versuchte  er  das  Mittel  bei  alter  Gicht  in  Gabeu  von 
0,15 — 0,2  Grm.  in  Pillenform  dreimal  täglich.  Argentum  jodicum,  AgJOs, 
ein  weisses , in  kochendem  Wasser  schwer  lösliches  Pulver,  soll  in  Gaben  von 
0,005 — 0,01  Grm.  als  Darmadstringens  sowohl  bei  acuten,  als  auch  bei  chroni- 
schen Enteritiden  und  Darmblutungen  rasch  wirken.  Bei  Kindern  ist  die  Dosis 
entsprechend  zu  verringern.  Das  H ydrarg yrum  jodicum  oxydatum, 

Hg(J03),,  ein  weisses,  amorphes  Pulver,  fast  unlöslich  in  reinem  Wasser,  löslich 
in  Wasser,  dem  etwas  Kochsalz  oder  Jodkalium  zugesetzt  ist,  wurde  bei  Lues 
in  Form  iutrapareuchy matöser  lnjection  angewendet.  Schädliche  Neben- 
wirkungen, namentlich  auf  die  Niere,  wurden  nicht  beobachtet.  Auch  die  Reaction 
von  Seite  der  Mundschleimhaut  war  nur  geringfügig.  Ruhemann  verordnet: 

Rp.  Hydrargyri  jodici  oxydati  0,12,  Katii  jodati  0,08,  Aq.  destillatae  10,0. 

I).  S.  Zu  intraparenchymatösen  Injectionen  1 — l'/i  PftAVAZ-Spritze  jeden  2. — 4.  Tag 
zu  applicircn.  Für  eine  Cur  sind  gewöhnlich  20,  in  hartnäckigen  Fällen  30  In- 
jectionen nöthig. 

Bezüglich  der  Verbindungen  der  Jodsäure  mit  den  Alkaloiden  zeigt 
sich  in  einigen  Fallen  eine  Steigerung  der  eigentümlichen  Wirkung  der  letz- 
teren. Chininum  jodicum,  C2n  Htl Na 02 . 11JO, , ein  weisses.  in  Wasser  lös- 
liches Krystall , zeigt  sowohl  subctitan  als  per  os  genommen  einen  deutlich 
ueurotonischen  Einfluss  und  wäre  daher  bei  Neuralgien  zu  versuchen.  Die  In- 
jectionsstelle  bleibt , wie  auch  bei  den  übrigen  subctitan  einverleibten  jodsauren 
Alkaloiden , einige  Tage  lang  auf  Druck  empfindlich.  Zur  subcutanen  lnjection 
0,1  pro  dosi.  Codeinum  jodicu  m,  C)s  Hai  N0S . (H  JO»)i , weisse  Nadeln,  schwer 
löslich  in  Wasser  und  Weingeist.  Bei  längerer  Aufbewahrung  zersetzt  sich  das 
Salz  unter  Brauafärbung  und  Ausscheidung  von  Jod.  Die  antineuralgische  und 
schmerzstillende  Wirkung  des  jodsauren  Codeins  ist  bei  subcutaner  Einführung 
bedeutend  energischer  ausgeprägt  als  bei  den  bisher  in  der  Medicin  gebrauchten 
löslichen  Codeinsalzen ; in  einem  grossen  Procentsatz  von  Fällen  kann  es  auch 
das  Morphin  vollkommen  ersetzen.  Es  zeigte  sich  auch  bei  heftigem  Hustenreiz 
der  Kinder  und  der  Phthisiker  wirksam.  Rp.  Codein i jodici  Oß , Aq.  de 
etilfatae  10,0.  D.  S.  1 — 1 */,  PRAVAZ-Spritze  zur  subcutanen  lnjection.  Für 
Kinder  verordnet  man  in  obiger  Formel  so  viel  Ceutigramme  Alkaloidsalz,  als 

19* 

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292  JODSÄURE.  — IRIDOSKLEROTOMIE. 

dieselben  Jahre  zählen.  Atropinum  jodicum,  C17  H33  NO, . H JO, , farblose, 
in  Wasser  und  Alkohol  lösliche  Krystallnadeln.  Die  Lösungen  dieses  Salzes  halten 
sich  lange  keimfrei.  Nach  Ruhemakx  tritt  sowohl  beim  jodsauren  Atropin  als 
beim  jodsauren  Scopolamin  die  Mydri&sis  schneller  ein  und  läuft  rascher  ab 
als  bei  den  anderen  Salzen  dieser  Alkaloide;  ftlr  die  augenärztliche  Praxis 
empfehlen  sich  */, — 1 Vs '/•■£*  Lösungen  des  Atropinsalzes.  Scopolaminum 
(Hyoscinum)  jodicum  i C17  H„  NO,  .HJO,,  bildet  farblose,  in  Wasser  und 
Weingeist  lösliche  Krystalle.  Es  zeigt  sowohl  bei  interner  als  auch  bei  snbeutaner 
Einverleibung  eine  doppelte,  ja  dreimal  so  starke  Wirkung  als  die  entsprechen- 
den halogensauren  Verbindungen.  Es  sind  daher  wesentlich  geringere  Dosen  anzn- 
wenden  als  von  den  letztgenannten  Verbindungen.  So  dürfen  intern  beim  Jodat 
Dosen  von  0,5  Mgrm.  nicht  überschritten  werden ; bei  subcutaner  Injection  soll 
0,0002  als  maximale  Dosis  gelten;  für  gewöhnlich  reicht  man  von  0,0001  bis 

0. 00015  Grm.  des  jodsauren  Salzes.  Bei  Iritis  und  Keratitis  wirkt  das  Mittel  als 
sicheres  und  reizloses  Mydriaticum.  Strychninum  jodicum,  C,,  H,,  0, . II  J0„ 
farblose,  in  Wasser  lösliche  Krystallnadeln;  ist  gleich  den  gebräuchlichen  Strychnin- 
salzen als  Tonicum,  ferner  bei  gewissen  Lähmungen  und  Anästhesien  anzuwenden. 
Bei  der  subcutanen  Injection  darf  die  Dosis  von  6 Mgrm.  nicht  überschritten 
werden,  da  sonst  toxische  Wirkungen  eintreten. 

Literatur:  Binz,  Arch.  f.  experim.  Path.  u.  Pharm.  1881,  XIII,  pag.  131.  — 

1.  Ruhemann,  Therap.  Monatsh.  Marz  u.  April  1894.  — Idem,  Untier  die  klinische  Ver- 

werthbarkeit  der  jodsauren  Verbindungen.  Deutsche  med.  Wochenschr.  1895,  Nr.  37.  — 

E.  Merck,  Bericht  über  das  Jahr  1894  und  über  das  Jahr  1895.  Loebisch. 

Iridosklerotomie,  s.  Glaukom,  pag.  219. 


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K. 


Kartoffelvergiftung.  Die  Existenz  durch  den  Genuss  von  Kartoffeln 
herbeigeföhrter  Vergiftungen  beim  Menschen  ist  durch  eine  grössere  Anzahl  in 
der  Literatur  zerstreuter  Beobachtungen  sichergestellt.  Diese  gehen  bis  in  das 
vorige  Jahrhundert  zurück.  Die  Hiteste  Intoxieation,  die  12  Personen  betraf,  kam 
1784  in  Basel  vor1);  mehrere  Hhnliche  Fälle  von  Intoxieation  dieser  Art,  darunter 
einen  tödtlich  verlaufenen,  beschrieb  Heim  1808.  *)  Interessanter  als  diese  Einzel- 
fälle aus  der  älteren  Literatur  sind  die  der  neueren  Zeit  ungehörigen  Massen- 
vergiftungen in  Kasernen,  die  theils  in  Lyon3),  theils  im  Eisass4)  beobachtet 
wurden.  Diese  vervollständigen  nicht  allein  die  Symptomatologie  der  fraglichen 
Intoxieation,  sondern  haben  auch  eigentlich  erst  durch  die  an  die  auf  drei  ver- 
schiedene. Massenerkrankungeu  sich  vertheilenden  Elsässer  Fälle  sich  anreihenden 
Untersuchungen  die  wissenschaftliche  Grundlage  sowohl  für  die  Theorie  als  für 
die  Prophylaxe  der  Kartoffelvergiftung  geschaffen. 

Schon  aus  den  älteren  Beobachtungen  geht  das  mit  Bestimmtheit  hervor, 
dass  es  sich  um  ein  aus  einer  Affcction  des  Magens  und  Darmcanals  und  aus 
davon  unabhängigen  Störungen  des  Centralnervensystems  zusammengesetztes 
Krankheitsbild  handelt.  Zu  diesen  treten  nach  den  neueren  Beobachtungen  auch 
Störungen  der  Circulation  und  der  Temperatur  hinzu,  ln  den  leichtesten  Fällen 
beschränken  sich  die  Erscheinungen  auf  Kopfschmerz,  Empfindlichkeit  des  Unter- 
leibes, Uebelkeiten,  Abgeschlagenheit  und  Schwindel , der  einige  Tage  anhalten 
kann ; bei  schwererer  Intoxieation  kommt  es  zu  heftigem  Leibschmerz,  Erbrechen 
und  Diarrhoe  mit  Steigerung  der  Temperatur  auf  39°  und  darüber  und  häufig 
mit  stark  beschleunigtem  Pulse,  der  später  retardirt  sein  kann,  auch  mit  Trocken- 
heit der  Zunge.  Nicht  selten  kommen  auch  bei  den  leichter  Erkrankten  Frösteln 
und  reichliche  Schweisse  vor,  ausserdem  die  schon  von  Munckk  beobachtete 
Pnpillenerweiterung,  die  z.  B.  bei  */,  aller  Erkrankten  in  Lyon  beobachtet  worden 
sein  soll,  wogegen  sie  im  Eisass  nur  in  einzelnen  Fällen  zu  constatiren  war.  ln 
schwereren  Fällen  können  Ohnmächten  oder  Collapserscheinuugen  mit  Facies 
hippocratica , Wadenkrampf,  kleinem  beschleunigten  Pulse,  tiefliegenden  Augen, 
Kälte  des  ganzen  Körpers  und  bedeutender  Störung  des  Bewusstseins  zu  den 
Diarrhöen  hinzutreten  (MüN'CKe).  Bei  */3  der  Erkrankten  in  Lyon  waren  Ohren- 
sausen, Lichtscheu  und  Krämpfe  zugegen. 

Die  Dauer  der  Erkrankung  beträgt  4 — 5,  in  einzelnen  Fällen,  wo  die 
Diarrhoe  länger  anhält,  7 — 8 Tage.  Der  Verlauf  ist  sehr  günstig;  abgesehen 
von  einem  sehr  zweifelhaften  Falle  von  Heim  ist  tödtliehcr  Ausgang  überhaupt 


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294 


KARTOFFEL  VERGIFTUNG. 


nicht  vorgekommen.  Die  Diagnose  des  Leidens  beruht  wesentlich  auf  der  Er- 
mittelung der  der  Erkrankung  vorhergegangenen  Umstände.  Häufig  führte  das 
Erbrochene  oder  die  Darmentleerungen  durch  die  darin  enthaltenen  unverdauten 
Kartoffelstucke  zu  der  Erkenntniss  von  deren  Ursache.  Bei  Massenerkrankungen 
wird  es  meist  nicht  schwer  sein,  das  ätiologische  Moment  anfzufinden  und  au 
den  verdächtigen  Kartoffeln  abweichende  Beschaffenheit  zu  eonstatiren.  Bei  der 
ältesten  Vergiftung  findet  sich  angegeben,  dass  man  in  Basel  eine  besondere 
Sorte,  die  „Schweinekartoffel“,  für  giftig  halte,  doch  ist  auch  hier,  wie  bei  den 
übrigen  Intoxicationcn,  bemerkt,  dass  die  die  Vergiftung  veranlassenden  Kartoffeln 
unreif  gewesen  sind.  Von  vornherein  ist  es  auffällig,  dass  alle  Vergiftungen,  mit 
Ausnahme  einer  Massenerkrankung  im  Eisass,  in  eine  Zeit  fallen,  wo  die  Ernte 
der  Spätkartoffeln  noch  nicht  begonnen  hatte  und  diese  bestimmt  noch  nicht  reif 
und  ausgewachsen  waren,  nämlich  im  Anfänge  des  Monats  Augnst.  Bei  der  einen 
Elsässer  Masseuvergiftung,  der  grössten,  auf  357  Mann  sich  erstreckenden,  werden 
die  Kartoffeln  als  noch  nicht  geniessbare  Spätkartoft'eln  von  weicher  Consistenz 
bezeichnet.  In  der  zweiten  Elsässer  Vergiftung  sollen  die  Kartoffeln  im  Allgemeinen 
reif,  aber  weich  und  wässerig  gewesen  sein.  In  der  dritten  Epidemie  'Mitte 
Juli  1893)  waren  vorjährige  Kartoffeln  von  nicht  näher  angegebener  Beschaffen- 
heit die  Ursache  der  Erkrankung,  in  Lyon  reichlich  ausgekeimte  alte  und  neue, 
unter  diesen  sehr  viele  kleine,  durch  Luftkeimung  der  alten  entstandene.  Nach 
dem  Atifhören  des  Consums  der  neuen  Kartoffeln  kamen  hier  weitere  Krank- 
heitsfälle nicht  vor. 

Es  kann  nach  der  Symptomatologie  kein  Zweifel  darüber  bestehen,  dass 
es  sich  um  leichte  acute  Vergiftungen  durch  Solanin  handelt,  das  nach  den  bis- 
her vorliegenden  Intoxicationsfallen  ebenfalls  bald  vorwaltend  gastrointestinale 
Reizung,  bald  mehr  cerebrale  Erscheinungen  herbeifuhrt.  Das  Auftreten  intensiverer 
Diarrhoe  bei  Kartoffelvergiftung  erklärt  sich  leicht  dadurch , dass  das  Solanin 
mit  dem  gequollenen  Stärkemehl  der  Kartoffeln  tiefer  in  den  Dartntraetus  gelangt 
als  bei  directer  Einführung  von  Solanin  in  den  Magen.  Dass  es  sich  nicht  um 
Zersetzungsgifte  wie  bei  Fleischvergiftungen  handelt,  lehrt  der  ausserordentlich 
günstige  Verlauf  der  Intoxication.  Dass  sich  Solanin  nicht  blos,  wie  man  früher 
meinte,  in  den  Kartoffelkeimen,  sondern  auch  in  den  Kartoffeln  selbst  findet,  ist 
schon  1843  durch  Wackexroder,  der  aus  1 Kgrm.  Kartoffeln  5 Mgm.  Solanin  ge- 
wann, festgestellt  worden.  Später  hat  Haaf  (1864)  in  rohen,  von  den  Keimen 
befreiten  Kartoffeln  im  Mai  0,032 , im  Juli  0,042%  Solanin  aufgefundeu. 
Nach  G.  Meyer6)  ist  der  Gehalt  roher  (eisässischer)  Kartoffeln  vom  November 
bis  zum  Februar  gleich  und  beträgt  im  Kilo  0,042 — 0,046%  (Maltakartoffeln 
vom  März  enthalten  wenig  mehr,  0,045%),  steigt  aber  im  März  und  April  auf 
das  Doppelte  (0,078  — 0,096%)  und  im  Mai,  Juni  und  Juli  noch  weiter  bis 
0,1 — 0,115.  Iin  Juli  geerntete,  nicht  ganz  ausgewachsene,  sehr  dünnschalige 
Kartoffeln  enthielten  0,236,  im  August  geerntete  noch  0,201  %„  Solanin. 
Noch  weit  grösser  aber  ist  der  Gehalt  gekeimter  Kartoffeln  und  insonderheit 
der  an  den  Keimen  entstehenden  kleinen  Kartoffeln,  von  denen  1 Kgrm. 
nicht  weniger  als  0,580  Grm.  Solanin  lieferte,  ln  alten  mit  Pilzwucherungen 
durchsetzten  Kartoffeln  wurde  sogar  1,34  per  Kilo  gefunden.  Die  Möglichkeit 
einer  Solaninvergiftung  durch  Kartoffeln  von  eiuem  solchen  Solaningehaltc  ist 
gewiss  nicht  abzustreiten,  selbst  wenn  nicht,  wie  in  einzelnen  Fällen  geschehen, 
20 — -30  Kartoffeln  verzehrt  wurden.  Allerdings  wird  durch  Schälen  der  Kartoffeln 
auch  ein  Theil  des  Solanins  entfernt,  da  auch  iu  der  Schale  selbst,  nicht  allein 
in  den  Schichten  unter  der  Schale,  das  Alkaloid  vorhanden  ist. 

Prophylaktisch  wird  man  bei  Ankäufen  von  Kartoffeln  zur  Verpflegung 
im  Sommer  besonders  die  an  den  Keimen  entwickelten  jungen  Kartoffeln  per- 
horresciren.  Durch  Aussuchen  dieser  kleinen  Kartoffeln  wurde  ein  Bataillon  in 
Lyon  vor  Erkrankungen  bewahrt.  Am  schädlichsten  erscheint  der  Genuss  m der 


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KARTOFFELYERGIFTUNG.  — KOHLENOXYDVERGIFTUNG.  295 

Schale  gekochter  Kartoffeln,  da  nach  Meyer’s  Untersuchung  kein  Solanin  in 
das  Kochwasser  übergeht , das  beim  Kochen  geschälter  Kartoffeln  stets  solanin- 
hültig  ist. 

Literatur:  *)Rahn,  Gazette  de  Sante.  1785,  IV,  Heft  6,  pag.  565.  — *)  Heim, 
Horn's  Archiv.  1808,  XIII,  Heft  2,  pag.  311.  — *)  Muncke,  Ein  Fall  von  Vergiftung  durch 
den  Genuss  von  unreifen  Kartoffeln.  Hecker's  med.  Annalen.  XI,  pag.  298-  — 4)  Cortial, 
Accidtntn  d' intoxication  surcenus  au  139e  d'infunterie  u Lyon  et  imputes  a la  conxornmation  de 
pomnus  de  ttrre  de  mauvaise  qualitd.  Arch.  de  med.  milit.  1889,  IV,  pag. 3.  — 6)  0.  Schmiede- 
berg, Ueber  die  toxikologische  Bedeutung  des  Solaningehaltes  der  Kartoffeln.  Arch.  f.  cxperim. 
Rath.  u.  Pharm.,  XXXVI.  png.  372.  — §)  Gustav  Meyer,  lieber  den  Gehalt  der  Kartoffeln  an 
Solanin  und  über  die  Bildung  desselben  während  der  Keimung.  Ebenda  1895,  pag.  360. 

II  u s o m a n n. 

Kobaltnitrat,  bei  Blausäurcvergiftung,  pag.  63. 

Kohlenoxydvergiftung.  Zur  Theorie  des  Todes  durch  Kohlen- 
oxydvergiftung ist  neuerdings  eine  Reihe  experimenteller  Untersuchungen  aus- 
gefuhrt,  die  neue  Argumente  für  die  Ansicht  Geppert’s  (Encyclopäd.  Jahrh.,  III, 
pag.  -152)  bringen,  dass  Kohlenoxyd  directe  Wirkung  auf  die  Nervencentreu  und 
speciell  auf  das  Athmungscentrum  besitze  und  die  Vergiftung  nieht  einfach 
Asphyxie  infolge  von  Saoeratoffverarmung  der  Gewebe  durch  Speisung  mit 
einem  vermöge  der  Bindung  des  Kohlenoxydes  an  Hämoglobin  sauerstoffarmen 
Blute  sei.  Ein  italienischer  Forscher,  Bobki  *),  will  sogar  sümmtliehe  gasförmige 
Gifte,  die  sich  mit  Ilitmoglobin  chemisch  verbinden , wie  Kohlenoxyd,  Schwefel- 
wasserstoff und  Blausäure,  nieht  als  Blutgifte,  sondern  als  gleichartige,  nur  grad- 
weise verschiedene  Nervengifte,  deren  Hauptangriffspunkt  das  verlängerte  Mark 
bildet,  angesehen  wissen,  die  nach  Art  der  Aniisthetira  zuerst  kurzdauernde  Er- 
regung, später  Lähmung  des  Gehirns  hervorbringen.  Die  für  eine  solche  An- 
schauung in’s  Treffen  geführte,  thatsächlich  allerdings  erwiesene  Giftigkeit  des 
Kohlenoxydes  für  Thiere,  die  kein  Hämoglobin  in  sieh  haben,  beweist  indessen 
nieht,  dass  die  Bindung  des  Hämoglobins  dureii  Kohlenoxyd  bei  der  Vergiftung 
von  Warmblütern  gar  keine  Rolle  spielt ; ja  bei  genaueren  Versuchen  darüber  wird 
man  sich  leicht  überzeugen  können , dass  zwischen  der  Einwirkung  auf  roth- 
und  nicht  rothblütige  Thiere  ein  ganz  enormer  Unterschied  besteht.  Nimmt  man 
die  Zeit,  in  welcher  der  Tod  durch  Kohlenoxyd  hei  warmblütigen  Thieren  her- 
beigeführt  wird,  als  Einheit  an,  so  stellt  sieh  die  für  Frösche  und  Kröten  auf 
1000,  bei  Schnecken  aber  auf  100.000.  Dass  manche  Insectcn  nicht  von  Kohlen- 
oxyd getödtet  werden,  ist  eine  längst  bekannte  Thatsache ; auf  die  Eier  der 
Seidenraupe  hat  die  48  Stunden  fortgesetzte  Einwirkung  von  Leuchtgas  keinen 
schädigenden  Einfluss.“)  Auf  die  Keimung  von  Samen  übt  Kohlenoxyd  nur  einen 
retardirenden  Einfluss,  hebt  sie  aber  nicht  auf.3) 

Von  Makcacci,  der  zuerst  auf  die  Analogie  der  Wirkung  des  Kohlen- 
oxydes mit  der  der  Anästhetica  hinwies,  ist  besonders  die  Thatsache  hervorge- 
lioben,  dass  die  Erscheinungen  der  Vergiftung  sich  wesentlich  ändern,  wenn  man 
das  Kohlenoxyd  oder  die  es  enthaltenden  Gasgemenge  durch  die  Nase  inhaliren 
oder  wenn  mau  sie  von  der  Bauchhöhle  aus  oder  nach  der  Tracheotomie  durch 
eine  Canülc  athmen  lässt.  Bei  den  beiden  letzteren  Arten  der  Gaszufuhr  fallen 
die  Erregungszustände,  insbesondere  die  bei  Thierversucheu  häufigen  Krämpfe 
völlig  weg,  und  cs  kommt  dann  allerdings  zu  einem  Krankhcitshilde,  das  mit 
der  Chloroformnarkose  ausgeprägte  Aehnlichkeit  besitzt,  zu  anfänglichem  Schlafe 
und  Abschwftchung  sämmtlieher  Lebeusfunetionen  unter  starker  Abnahme  der 
Körpertemperatur,  die  in  Fällen  von  Genesung  bis  35°,  bei  letalem  Ausgaage, 
wo  es  zu  Sopor  und  Somnolenz  kommt,  bis  unter  30,  ja  seihst  unter  21°  sinken 
kann.1)  Ob  man  eine  directe  Wirkung  des  Kohlenoxydes  auf  die  Wärmecentrcn 
oder  auf  das  Protoplasma  als  Ursache  dieser  niedrigen  Temperaturen  anzuscheu 
hat,  bedarf  noch  des  experimentellen  Nachweises ; jedenfalls  aber  liegt  bis  jetzt 


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296 


KOHLEXOXYDVERGIFTUNG. 


kein  Grund  vor,  anzunelunen,  dass  nicht  wenigstens  ein  Theil  dieser  Wirkung 
auf  die  Veränderung  der  Sauerstoffaufnahme  der  rothen  Blutkörperrhen  zuriiek- 
zuführen  ist.  Marcacci  hat  die  von  ihm  bei  Kohlenoxydvergiftung  durch  Inhalation 
beobachtete  Athembeschleunigung  und  Verlangsamung  des  Herzschlages,  ebenso 
wie  die  bei  Thieren  vorkommenden  tetanischen  Krämpfe  als  Reflexphänomene 
gedeutet,  die  auf  einer  reizenden  Einwirkung  auf  die  Schleimhaut  der  Nase  be- 
ruhen sollen.  Es  ist  aber  keinem  Zweifel  unterworfen,  dass  Hyperpnoe  und  llerz- 
palpitationen  als  Folge  von  Sauerstoffmangel  des  Blutes,  ohne  dass  irgend  ein 
fremdea  Gas  zur  Einwirkung  gelangt.  Auftreten.  Wie  Haldane  6)  richtig  bemerkt 
hat,  sind  diese  beiden  Erscheinungen  mit  einem  Gefühle  von  \rollsein  im  Kopfe, 
Beeinträchtigung  des  Sehens  und  Hörens,  Verwirrung  der  Gedanken  und  Un- 
sicherheit des  Ganges  die  Erscheinungen,  welche  bei  Bergsteigern  und  Luft- 
schiffern durch  Einathmen  verdünnter  Luft  in  grosser  Höhe  eintreten  und  genau 
die  nämlichen  Phänomene  sind,  wie  sieh  HALDANE  durch  interessante  Selbstver- 
suche zu  überzeugen  Gelegenheit  hatte,  die  Erscheinungen  der  leichtesteu  Ver- 
giftung, wie  sie  eintreten , wenn  die  Atmosphäre  nur  0,05%  Kohlenoxyd  ent- 
hält, durch  welche  jeder  irritative  Effect  auf  die  Nasenschleimhaut  selbstverständlich 
ausgeschlossen  ist.  Andererseits  ist  bei  gewissen  Fällen  von  höchst  acuter  Kohlen- 
oxydvergiftung die  Annahme  einer  Reflexsynkope  nicht  auszuschliessen,  besonders 
bei  dem  Einathmen  unter  starkem  Drucke  ausströmenden  Leuchtgases,  wo  übrigens 
auch  noch  andere  gasförmige  Stoffe  theils  irritativ  auf  die  ersten  Luftwege  ein- 
wirken, theils  in  bedenklicher  Weise  den  Zutritt  des  Sauerstoffes  zum  Blute  er- 
schweren können.  Es  handelt  sich  in  den  allerdings  seltenen  Fällen  von  plötz- 
lichem Tode  durch  entweichendes  Leuchtgas  vielleicht  manchmal  nicht  um  eine 
eigentliche  höchst  acute  Kohlenoxydvergiftung,  sondern  um  Combination  von 
Asphyxie  und  Synkope,  und  man  wird  nicht  überrascht  sein,  wenn  man  in  solchen 
Fällen  einerseits  exquisite  Krämpfe  auftreten  sieht,  andererseits  die  Beschaffen- 
heit des  Blutes  nicht  vollständig  in  Harmonie  mit  der  bekannten  ziegelrothen 
Farbe  bei  langsam  verlaufender  Kohlcndunst-  oder  Leuchtgasvergiftung  flndet. 
Man  wird  in  solchen  Fällen,  ebenso  wie  da,  wo  die  Vergifteten  erst  längere  Zeit 
nach  der  Vergiftung  gestorben  sind,  nachdem  sie  bereits  Stunden  lang  wieder 
kohlenoxydfreie  Luft  gcathmet  haben , auch  das  spectroskopische  Verhalten  des 
Kohlcnoxydhümoglohins  nicht  eonstatireu  können.  Dasselbe  Verhalten  hat  Rai- 
MONDI  auch  bei  rapide  mit  Leuchtgas  getödteten  Thieren  constatirt. 

Bei  leichten  Vergiftungen  geht  zweifelsohne  die  charakteristische  Blut- 
veränderung parallel  der  Schwere  der  Erscheinungen.  Nach  Haldane  wird  beim 
Einathmen  kohlenoxydhaltiger  Luft  die  Hälfte  des  inhalirten  Kohlenoxydes 
absorbirt.  Die  für  die  Herbeiführung  erheblicher  Erscheinungen  nothwendige 
Zeit  beim  Erwachsenen  hängt  von  der  Zeit  ab,  welche  die  Inhalation  von  etwa 
660  Ccm.  oder  die  Absorption  von  circa  330  Ccm.  des  reinen  Gases  erfordert. 
Sie  wird  daher  bedingt  einerseits  durch  den  Procentgehalt  der  Luft,  andererseits 
durch  die  Tiefe  der  Inspirationen  und  die  Menge  der  rothen  Blutkörperchen. 
Das  Verschwinden  der  Symptome  ist  direct  proportional  dem  Verschwinden  des 
Kohlenoxydes  aus  dem  Blute  durch  Dissodation  des  Kohlenoxydhämoglobins  unter 
dem  Masseneinflnsse  des  Sauerstoffes  in  den  Lungencapillarcn  und  die  Diffusion 
des  Gases  durch  die  Epithelien  der  Alveolen  nach  aussen.  Die  Elimination  ge- 
schieht sehr  langsam,  so  dass  nach  Sättigung  von  % — */»  noch  nach  3 Stunden 
10,  bezw.  20%  Kohlenoxyd  im  Blute  vorhanden  sind.  Zu  Intoxicationssymptomen 
kommt  es  erst  heim  Menschen,  wenn  die  Luft  0,05%  enthält,  schwerere  Er- 
scheinungen treten  erst  auf.  wenn  0,2%  vorhanden  sind.  Der  Maximumbetrag, 
den  das  Blut  aus  einer  geringe  Mengen  Kohlenoxyd  enthaltenden  Atmosphäre  zu 
entnehmen  vermag,  hängt  nach  Haldane  fast  ganz  von  der  relativen  Affinität 
des  Kohlenoxydes  und  des  Sauerstoffes  für  Hämoglobin  und  von  der  relativen 
Spannung  beider  Gase  im  Blute  ab.  Die  Affinität  des  Kohlenoxydes  zum  llämo- 


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KOHLENOX  YDVERGIFTUNG . 


297 


globin  ist  ungefähr  140mal  so  gross  wie  die  des  Sauerstoffes.  Bei  einer  ge- 
gebenen Menge  von  Kohlenoxyd  in  der  Luft  wird  eine  bestimmte  Sättigung  des 
Blotes  mit  Kohlenoxyd  in  etwa  21/,  Stunden  erreicht  und  später  nicht  über- 
schritten , wenn  auch  die  Inhalation  der  verdorbenen  Luft  noch  lange  Zeit  fort- 
gesetzt wird  (Haldank). 

Auf  der  relativen  Atbemgrösse  beruht  die  ausserordentliche  Empfindlichkeit  mancher 
kleiner  Thiere  gegen  Kohlenoxyd.  Jlause  werden  durch  I-uft  von  gleichem  Kohlenoivdgehalt 
2l>mal  eher  als  der  Mensch  afficirt.  auch  die  Restitution  erfolgt  weit  rascher. 

Dass  auch  bei  dem  «tätlichen  Ausgange  der  Vergiftung  die  Blutver- 
änderung ein  mitwirkender  Factor  ist,  kann  wohl  kaum  einem  Zweifel  unterliegen. 
Kg  ist  ein  bekanntes  Factum,  dass  bei  der  Intoxication  niemals  das  gesammte 
Hämoglobin  an  Kohlenoxyd  gebunden  wird.  Die  mittels  des  Hüfner 'sehen 
Spectrophotometers  von  Drkser“)  ausgeführten  l'ntersuehungen  Jiaben  ergeben,  dass 
der  Tod  bei  Kaninchen  und  beim  Menschen  in  einer  ohne  Convulsionen  verlaufenden 
Kohlenoxydvergiftung  in  der  Regel  eintritt,  wenn  die  respiratorische  Capacitiit 
des  Blutes  etwa  auf  1 s gesunken  ist,  dass  diese  aber  bei  besonders  langsamer 
Vergiftung  bis  zum  Eintritte  des  Todes  auf  20%  sinken  kann.  Schwere  Ver- 
giftung erfolgt  schon  bei  einem  Oxyliämoglobingehalte  von  50%.  Dass  in  einzelnen 
Fällen  der  Tod  früher  eintritt,  ist  eine  unzweifelhafte  Thatsaehe,  nicht  nur  wenn 
Krämpfe  eintreten,  wo  es  sich  um  einen  eigentlich  asphyktischen  Tod  bandelt, 
sondern  auch , wenn  solche  z.  B.  durch  Einathmcn  durch  eine  Trachealcanflle 
verhütet  werden.  Es  ist  kaum  zweifelhaft,  dass,  wenn  z.  B.  Borri  bei  einem 
tracheotomirten  Hunde , der  in  einer  Atmosphäre  mit  2°  0 Kohlenoxyd  in  einer 
Viertelstunde  zu  Grunde  ging,  spectrophotometrisch  nur  % des  Hämoglobins 
an  Kohlenoxyd  gebunden  fand,  dies  ein  Ausnahmsfall  ist  und  der  Tod  als 
die  Folge  besonderer,  für  den  Einzelfall  nicht  eruirter  Umstände  angesehen 
werden  muss. 

Wird  man  somit  bei  der  Kohlenoxydnarkose  den  Zustand  des  Blutes  als 
einen  wesentlichen  Factor  anzusehen  haben  und  den  in  die  Augen  fallenden 
Unterschied  gegenüber  der  Einwirkung  der  Auästhetica  (mit  Ausnahme  des 
Schwefelkohlenstoffes),  die  ausserordentlich  lange  Dauer  des  Sopors  und  das  lang- 
same Erwachen  mit  der  Blutveränderung  in  Zusammenhang  zu  bringen  geueigt 
sein,  so  wird  man  auch  die  auf  Veränderungen  der  Nervencentren  zu  beziehenden 
nervösen  Folgekrankbeiten  der  Kohlendunst-  und  Leuchtgasvergiftung  von  der 
durch  das  pathologisch  veränderte  Blut  resultirendeu  ungenügenden  Ernährung 
der  Centren  abzuleiten  berechtigt  sein.  Die  in  vielen  Fällen  beobachteten  Er- 
weiehungsberde  im  Gehirn,  wie  sie  bei  zahlreichen  Scctionen  nach  länger  währender 
Kohlenoxydvergiftung  gefunden  werden  7)  und  die  in  einzelnen  Fällen  zweifellos 
mit  pathologischen  Veränderungen  der  Arterien  im  Zusammenhänge  stehen  8),  wird 
wohl  kaum  Jemand  als  directc  Kohlenoxydwirkung  aufzufassen  geneigt  seilt. 
Jedenfalls  bleibt  die  Existenz  einer  derartigen  directen  Veränderung  der  Nerven- 
substauz  durch  CO  noch  zu  erweisen. 

Einen  Beweis  für  die  directe  Wirkung  des  Kohlenoxydes  auf  die  Medulla 
obUmqata  hat  man  in  der  gflpstigen  Wirkung  gewisser,  in  der  neuesten  Zeit  in 
Anwendung  gebrachten  Mittel  bei  Kohlenoxydvergiftungeu  gefunden.  So  be- 
sonders des  Atropins,  von  welchem  zuerst  Marcacci  angab,  dass  man  dadurch  die 
bei  Inhalation  durch  die  Nase  entstehenden  Reflexe  verhüten  könne.  Später  hat  Borri 
vom  Atropin  nicht  nur  bei  Kohlenoxyd-,  sondern  auch  bei  Schwefelwasserstoffver- 
giftung einen  lebensverlängernden  Einfluss  gesehen , den  er  auf  Erregung  der 
Medulla  oblongata  bezieht.  Das  Resultat  beruht  aber  durchaus  nicht  auf  einem 
directen  Antagonismus  des  Atropins  und  Kohlenoxydes  in  Bezug  auf  ihre  Action 
auf  das  verlängerte  Mark,  sondern  ist  weit  einfacher  davon  abzulciten,  dass  durch 
die  aus  der  Erregung  des  Atbemcentrums  hervorgehende  Verstärkung  der  Zahl 
und  Tiefe  der  Athembeweguugen  die  Masse  des  zu  den  Luugencapillaren  tretenden 


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29» 


KOHLENOXYDVERGIFTUXG. 


Sauerstoffes  erheblich  vermehrt  und  infolge  davon  auch  das  Entweichen  dissociirten 
Kohlenoxyds  nach  aussen  erheblich  gefördert  wird.  Eine  von  vasomotorischen 
Ceutren  ausgehende  gleichzeitige  Drucksteigerung  kann  auf  die  Elimination  des 
giftigen  Gases  ebenfalls  fördernd  wirken,  ln  der  gleichen  Weise  wirkt  auch  die 
zuerst  von  Rinne  und  Gobdon  e)  beim  Menschen  versuchte,  von  Borbi  nach 
Thierversuchen  gerühmte  intravenöse  Kochsalzinfusion  nach  vorgängigem 
Aderlass.  Schon  der  Aderlass  allein  wirkt  nach  Bokri  auf  die  Circulation  be- 
lebend. Jedenfalls  ist  nach  unseren  Kenntnissen  über  die  physiologische  Wirkung 
des  Kohlenoxydes  die  von  Haldaxe  nach  dem  Vorgänge  von  Dreskr  empfohlene 
Sauerstoffinhalation  oder  in  Ermangelung  von  Sauerstoff  die  fortgesetzte  künst- 
liche Respiration  das  rationellste  Verfahren.  Ob  der  Sauerstoff  ausser  der  Aus 
treibung  des  Kohlenoxydes  noch  zur  Verbrennung  eines  Theiles  des  Kohlenoxydes 
im  Blute,  wie  solche  noch  von  verschiedenen  Aerzten10)  angenommen  wird,  bei 
trägt,  kann  dabei  unberücksichtigt  bleiben.  Raimos'DI  befürwortet  die  von  Spica 
und  MENEGAZZI  “)  offenbar  zur  Oxydation  des  Kohlenoxydes  empfohlene  subcutane 
Injection  von  Aqua  oxygenata,  0,75 — 1%  >n  der  Dosis  von  1 — 2 PHAVAZ’sehen 
Spritzen  (1,0)  mehrmals  im  Laufe  von  2 — 3 Stunden,  jedoch  erst  nach  vorheriger 
Anwendung  der  künstlichen  Athmung.  Auch  die  Hypodermoklyse  mit  physiologischer 
Kochsalzlösung  hat  Rajmondi  nach  vorheriger  künstlicher  Athmung  bei  Leueht- 
gasvergiftung  von  Thicren  anscheinend  günstige  Resultate  gegeben. 

Nach  H a I d ane  soll  man  die  Sauerstoffinhalation  oder  die  künstliche  Respiration  so  lange 
fortseizen  bis  die  hellrothe  Färbung  des  Blutea  schwindet.  Dass  sie  mitunter  sehr  lange  nothig 
ist,  beweist  ein  ans  Rom  mitgctheilter  Fall,  in  dem  artellcielle  Athmung  15  Stunden  nüthig 
war.")  Das  mitunter  ausserordentlch  starke  Sinken  der  Temperatur  macht  die  von  Haloakk 
befürworteten  warmen  Bäder  sehr  rationell,  zumal  da  bei  Mäusen  warme  Temperaturen 
ausserordentlich  günstig  wirken. 

Auch  die  chronische  Vergiftung  durch  Kohlenoxyd  weist  darauf  hin, 
dass  bei  ihr  die  Wirkung  des  Kohlenoxydes  auf  das  Blut  ein  wesentlicher  Factor 
ist,  wie  schon  der  ihr  in  Frankreich  gegebene  Name  „Aru'mie  des  cuisiniert“ 
andeutet.  Durch  die  Benützung  des  Wassergases  zum  Kochen  ist  dies  Leiden 
besonders  in  den  Vereinigten  Staaten  sehr  häufig  geworden.  Meistens  werden 
Personen  betroffen,  die  in  unmittelbarer  Nähe  von  Undichtigkeiten  der  Röhren 
sich  aufzuhalten  genöthigt  sind.  Das  hauptsächlichste  Symptom  ist  Anämie,  die 
meist  mit  sehr  intensiven  Kopfschmerzen  einhergeht  und  unter  Eisenbehandlung 
sich  nur  dann  bessert,  wenn  die  Patienten  die  gewohnte  Stätte  ihrer  schädlichen 
Beschäftigung  aufgeben.  In  anderen  Fällen  kommt  es  zu  Gefühl  von  Völle  im 
Kopfe,  Schwindel,  Hitzegefühl  im  Gesichte  und  mitunter  zu  Parästhesien  in  den 
Armen;  manchmal  kommt  auch  Irritation  der  Bronchialschlcimhaut  vor,  die  in- 
dessen wohl  nicht  als  Kohlenoxydwirkung  aufzufassen  ist.1*) 

Für  die  grosse  Gefährlichkeit  des  als  Wassergas  bczeichneten  koblen- 
oxydhaltigen  Gasgemenges  (Encyelopäd.  Jalirb.,  I,  pag.  435)  sprechen  eine  Anzahl 
neuer  amerikanischer  acuter  Vergiftungsfälle.  Etwas  Wunderbares  hat  weder  die 
Gefährlichkeit,  wenn  wir  den  hohen  Procentgehalt  von  CO  in  den  einzelnen  analysirten 
Wassergasarten  in's  Auge  fassen,  noch  die  Häufigkeit  des  Vorkommens,  wenn  wir 
das  ausserordentlich  grosse  Diffusionsvermögen  des  Wassergascs  berücksichtigen, 
vermöge  dessen  dieses  schon  bei  unerheblichen  Dichtigkeiten  der  Leitung  in 
grossen  Mengen  auszuströmen  vermag.  Auch  die  sogenannten  Halbwassergase, 
die  man  durch  Vermengen  der  gewöhnlichen  Generatorgase  mit  Wa-serstoffgus 
darstellt  und  vorwaltend  für  Motoren  verwendet,  weshalb  sie  auch  als  Motoren- 
gase  bezeichnet  werden , enthalten  zum  grössten  Thcile  noch  Kohlenoxyd- 
proccnte,  die  über  denen  des  Leuchtgases  stehen.  Eine  von  Stoermek’*)  aus- 
gearbeitete Tabelle  der  Zusammensetzung  derartiger  Gase  mag  hier  zur  Orientirung 
Platz  finden: 


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KOHLENOXYD  VERGIFTUNG. 


299 


enthalten  HW  Tbrile 

Schwere 

Kohlen 

..  . wasser- 

Na'ue  d»>  « assergascs  .toffernip. 

andere 
1 licht* 
gebende 

\t  TheUe 

Kohlen- 

säure 

Kohlen- 

oxyd 

Wasser- 

stoff 

Methan 

Stick-  Sauer- 
stoff Stoff 

1.  Durchschnittliche 

Züsammensetaun  g 1 

1 

t.  Waasergas  nach 

Sedgwick  und 

Nichola  . . . 12 

04 

27 

36 

21 

8 0,2 

2.  Wasscrga«  aus  1 

amerikanischem  | 

Antbracit  . . . keine 

0 

“ 

35 

53 

4 

4 0,7 

3.  In  Stockholm  ver- 

1 

suchsweise  dar  ge- 

'  j 

stelltes  Wassergas  keine 

3-  0 

33-10 

57- 

-"öl 

0,5-3 

4.  Lowe-Gas  . . 13—25 

0.3-4 

18-29 

24—35 

21—26 

1,5—4  Spuren 

5.  New*  York  er  Muni- 

cipalgas . . . . 15—18 

0,2 — 3 

25-27 

26-28 

21-29 

1 —1.5  0,5 

6.  Oranger  Wasser- 

gas   13—15 

0.2 

23  28 

35-37 

19-21 

3 — 4 Spuren 

1 7.  W h i t e-  Wassergas  11 

— 

15 

47 

27 

1 8.  Lep  r i n ce- 

Wassergas  ...  9 

0,3 

6 

25 

58 

9.  Gilla  rd‘s  Platin* 

gas 1 

0.5 

■1 

91 

0,5 

10*  ha  wson-Gas  . 0—4 

5-7 

22  2-1 

16-18 

— 

q.sadlOOl  — 

11.  SiemensRegeue- 

ratorgas.  . . . ? 

V 

30 

? 

? 

? I ? 

12.  Wilson-tias  .1  — 

6 

21 

* 

2 

59 

13.  Generatorgas  aus  ji 

Coaks  — 

2—6 

23—2* 

1 

— 

70 

In  Amerika  wird  übrigens 

das  Wassergas  vielfach  aus  Rohpetrolenm 

bereitet,  wohin  auch  das  in  der  Tabelle  erwähnte  Lowe-Gu  gehfirt.  Ein  nach 
einem  anderen  Procesae  (Wilkinson)  iiereitetes  Wassergas,  das  z.  B.  in  Baltimore 
Verwendung  findet,  enthält  in  IOO  Theilen  24  Methan,  32  Wasserstoff,  25  Kohlen- 
oxyd, 15  schwere  Kohlenwasserstoffe  und  4 Kohlensäure  und  Stickstoff.  Angeb- 
lich soll  derartiges  Wassergas  aus  Petroleum,  das  sich  durch  grosse  Leuchtkraft 
auszeichnet,  wegen  seines  schon  heim  Entweichen  kleiner  Gasmongen  charakte- 
ristischen Geruches  die  in  amerikanischen  Städten  vielfach  eingeführten  Bepressiv- 
massregeln  Überflüssig  machen. 

ln  Europa  ist  die  Zahl  der  Kollcnuxydvergiftungen  und  spcciell  ihrer 
häufigsten  Art,  der  Kohlendunstvergiftung,  wesentlich  durch  das  Verbot  der  Ofen- 
klappen heruntergegangen.  Als  neue  Ursache  zu  solchen  ist  der  Gebrauch  der  sogen, 
transportablen  Ot-feri  zu  nennen,  die  nach  MOISSAN 1()  beim  Heizen  mit  Anthrucit- 
kolilen  Gasgemenge  von  15  — 16%  Kohlenoxyd  und  16  — 12%  Kohlensäure 
liefern  und  selbst  bei  gutem  Zuge  6%  Kohlenoxyd  bei  14%  Kohlensäure  pro* 
dueiren,  somit  ein  wesentlich  giftigeres  Gas  als  das  des  Kohlenfeuers  im  Kamin, 
da*  nur  1.27%  Kohlenoxyd  und  höchstens  3,22%  Kohlensäure  gebe.  Auf  die 
Gefahren  der  Natron  Carbonöfeu  in  geschlossenen , zum  dauernden  Aufenthalte 
von  Menschen  bestimmten  Räumen  ist  in  Deutschland  durch  verschiedene  polizei- 
liche Warnungen  ( Berlin,  Breslau,  Oppeln  u.  s.  w.)  aufmerksam  gemacht  worden. ' *) 
In  Paris  hat  das  Heizen  von  Fuhrwerken  mittels  eines  Apparates  aus  gnlvani- 
Birteni  Eisenblech,  in  welchem  Bri<|uettes  langsam  verbrannten,  Anlass  zu  Ver- 
giftungen bei  geschlossenen  Fenstern  gegeben.1") 

Zar  ätatistikderKohlenoxydvergiftnng  hat  Stoermcr  einen  interessantin 
Beitrag  durch  eine  tabellarische  Ucbersicht  der  Intoxicatium  n , die  in  Preusseo  «ährend  der 


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300  KOHLENOXYDVERGIFTUNG. 

Jahre  1880— 1891  vorkamen,  geliefert.  Von  den  in  dieser  Periode  vorgekommenen  911  Ver- 
giftungen waren  243  durch  Kohlenoxyd  veranlasst,  davon  199  durch  Kohlendunst  und  4 t durch 
Leuchtgas.  Es  bildeten  somit  die  Kohlenoxyd  Vergiftungen  26®/o  ßämmtlicher  Intoxicationen.  Geht 
man  von  den  Todesfällen  durch  Gift  aus,  so  ist  das  Procentverhältniss  noch  ungünstiger,  indem 
von  610  tödtlieh  verlaufenen  Vergiftungen  352,  entsprechend  58#/o*  auf  Kohlendnnst  und 
Leuchtgas  kamen. 

Wie  ausserordentlich  stark  fördernd  die  kalte  Jahreszeit  anf  das  Vorkommen  von 
Kohlenoxydvergiftunge n ist,  lehrt  eine  von  Stoermer  gemachte  tabellarische  Uebersicht  der 
in  Berlin  von  1876 — 1890  vorgekommenen  Verunglückungen  und  Selbstmorde  durch  Kohlen- 
oxyd und  Leuchtgas,  nach  den  Monaten  vertheilt.  Von  283  Fällen  dieser  Art  fallen  auf 

Januar  . . 45  April.  . . 16  Juli  ...  6 October.  „ 13 

Februar  . 41  Mai  ...  17  August.  . 6 November  36 

März  ...  33  Juni  . . . 9 September  6 December.  56 

Es  haben  somit  die  drei  Monate,  in  denen  die  Kälte  am  intensivsten  ist,  December. 
Januar  und  Februar,  fast  genau  50°  0l  die  vier  heizfreien  Monate  Juni  bis  September  27  Fälle, 
d.  h.  zusammen  nicht  einmal  so  viele  wie  ein  Wintermonat  geliefert.  Die  Tabelle  stellt  ins- 
besondere auch  den  beschränkenden  Einfluss  des  Verbotes  der  Ofenklappen  in  Berlin  auf  die 
Kohlenoxydvergiftung  klar.  Während  der  Durchschnitt  der  jährlichen  Todesfälle  durch  Kohlen- 
oxyd sich  in  den  Jahren  1876 — 1880  auf  40  stellt,  beträgt  er  für  das  Decennium  1881 — 1890 
nur  8,1,  und  die  sich  früher  in  einzelnen  Jahren  auf  47  hebende  Maximalzahl  ist  über  12 
nicht  gestiegen. 

Zum  Nachweise  von  Kohlenoxyd  in  verdächtigen  Zimmern  hat  schon 
1888  KUNKEL  die  Mäuse  als  besonders  empfindliche  Thiere  empfohlen.  Haldane 
empfiehlt  sie  auch  prophylaktisch  als  Indicator  von  CO  in  Kobleuminen,  in  denen 
die  Sicherheitslampe  wohl  vor  schlagenden  Wettern,  aber  nicht  vor  Kohleuoxyd- 
vergiftung  schützt. 

Nach  den  Versuchen  Haida  no’s  zeigt  die  Maus,  deren  Kohlensäureproduction  in 
1 Stunde  4ü  Grm.  per  Kilo  beträgt,  während  der  Mensch  in  derselben  Zeit  nur  % Grm.  pro- 
ducirt,  bei  einer  Atmosphäre  von  0,39%  CO  schon  in  1*/,  Minuten,  der  Mensch  dagegeu  erst 
in  % Stunde  Vergift ungserscheinuDgen,  und  im  Allgemeinen  kann  die  Wirkung  bei  Mäusen 
als  20mal  früher  eintretend  angesehen  werden.  Da  selbst  bei  5%  Kohlenoxyd  das  Eintreten 
der  Vergiftung  beim  Menschen  erst  in  20  Minuten  geschieht,  ist  die  Methode  nicht  abzuweisen, 
die  jedenfalls  das  Minimum  des  Procentgehaltes  von  CO  angiebt , der  für  den  Menschen  ge- 
fährlich weiden  kann. 

Von  Haldane18)  ist  auch  eine  neue  Methode  zur  quantitativen 
Bestimmung  von  Kohlenoxyd  in  der  Luft  angegeben,  die  auf  dem 
Factum  beruht,  dass,  wenn  eine  Hämoglobinlösuug  mit  Luft  gut  geschüttelt  wird, 
das  Verhältnis»  des  Hämoglobins,  das  sich  schliesslich  mit  dem  Kohlenoxyd  ver- 
bindet, mit  den  in  der  Loft  vorhandenen  Procenten  CO  wechselt,  und  dass  man 
somit  durch  coloriraetrische  Bestimmung  des  Verhältnisses  des  mit  CO  verbundenen 
Hämoglobins  auf  den  Proeentgehalt  des  CO  in  der  Luft  schliessen  kann.  Man 
kann  mittels  des  von  Haldane  angegebenen  Verfahrens  selbst  Mengen  CO  ent- 
decken, die  lebensgefährliche  Wirkung  nicht  haben,  nämlich  0,01%  CO,  ent- 
sprechend 0,2%  Kohlengas  oder  0,03%  Wassergas,  und  erhält  so  selbst  da 
noch  positive  Resultate,  wo  die  Vergiftungsprobe  mit  der  Maus  oder  die  spectro- 
skopische  Untersuchung  im  Stiebe  lässt. 

Haldane’s  Verfahren  besteht  darin,  dass  man  2 — 3 Liter  Luft  durch  Eiusaugen 
in  einer  reinen  und  trockenen  Flasche  sammelt,  diese  mittels  eines  doppelt  tubulirten  Korkes 
und  die  Rökrenöffnungen  mit  einem  aus  einer  Kautschnkröhre  gemachten  Stopfen  verschliefst, 
in  dessen  einem  Ende  ein  Glasstab  sich  befindet.  In  diese  Flasche  werden  vorsichtig  mittels 
einer  Pipette  5 Ccm.  defibrinirtes  Ochsenblut  mit  Wasser  (1 : 100)  gebracht  und  10  Minuten 
lang  gelinde  geschüttelt.  Kräftigeres  Schütteln  beschleunigt  zwar  die  Sättignng,  macht  aber 
durch  mechanische  Coagulation  des  Ei weisses  die  Blutlösung  trttle.  Bei  10 — 12  Sehüttelstössen 
in  5 Secundeu  reichen  4 Minuten  nicht,  wohl  aber  6 Minuten  zur  völligen  Sättigung  aus. 
Nach  vollendetem  Schütteln  wird  die  Lösung  mittels  einer  Pipette  in  1 — 3 schmale  Probe- 
röhrchen von  genau  dem  nämlichen  Durchmesser,  welche  mindestens  12  Ccm  fassen,  gebracht 
In  ein  anderes  Proberöhrchen  werden  genau  5 Ccm.  der  ursprünglichen  Blutlöaung  mittels  einer 
Pipette  gebracht.  Ein  drittes  wird  mit  der  nämlichen  Blutlösung  gefüllt,  deren  Hämoglobin  schon 
mit  CO  durch  Schütteln  mit  reinem  CO  gesättigt  wurde.  Man  vergleicht  dann  die  Farben  der 
drei  Lösungen.  Ist  mehr  als  0,1  CO  in  der  mit  der  verdächtigen  Luft  geschüttelten  Losung 
vorhanden,  so  ist  dieselbe  deutlich  heller  roth  als  die  nicht  geschüttelte  Blutlösung;  wenn 
mehr  als  3°/0  vorhanden,  so  entspricht  die  Farbe  nahezu  oder  ganz  derjenigen  der  mit  CO 
gesättigten  Blutprobe.  Man  fügt  dann  von  einer  Bürette  so  lange  Normalcarminlösung  zu. 


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Digiti; 


d Dy 


KOHLENOXYDVERGIFTUNG. 


301 


bis  sie  die  Farbe  der  mit  Luft  geschüttelten  Blutlösung  zeigt.  Sind  die  Farben  fast  gleich, 
so  werden  nicht  mehr  als  0,25%  Carminsolution  auf  einmal  zugefägt.  Man  notirt  die  Paukte, 
wo  eben  nicht  genug  und  eben  zu  viel  Carmin  vorhanden  ist  und  nimmt  das  Mittel  als  rich- 
tiges Resultat.  Zur  Darstellung  der  Normalcarminlösung  wird  1 Grm.  reines  Carmin  mit  ein 
Paar  Tropfen  Ammoniak  in  100  Tropfen  Glycerin  aufgelöst  und  bei  der  Benutzung  5 Ccm. 
mit  Wasser  auf  500  verdünnt.  6 Ccm.  dieser  Nonnallösung  geben,  zu  5 Ccm.  verdünntem 
Ochsenblut  (1 : 100)  gesetzt,  eine  Solution,  die  der  Farbe  der  mit  CO  gesättigten  Blutlösung 
entspricht.  Man  thut  wohl,  sich  vor  dem  Versuche  von  diesem  Thatbestandc  zu  überzeugen  und 
stets  frische  Lösung  zu  verwenden,  da  die  Stärke  der  Carminlösung  bei  längerem  Stehen  ab- 
nimmt. Man  berechnet  die  procentige  Sättigung  des  Blutes  mit  CO  nach  folgendem  Schema  : 
Zu  5 Ccm.  Blutlösnng  sind  6,2  Ccm.  Normalcarmin  nöthig,  um  die  Sättigungsfarbe  hervorzu- 
bringen.  Die  ursprüngliche  Blutlösung  bedarf  auf  5 Ccm.  2,2  Ccm.  Normalcarmin,  um  die 
Färbung  der  mit  der  verdächtigeu  Luft  geschüttelten  Blutlösung  zu  erhalten.  Im  ersten  Falle 
ist  das  Verhältniss  des  Carmins  26,2:11,2,  im  zweiten  2,2 : 7,2.  Die  procentige  Sättigung 

in  dem  geschüttelten  Blute  war  somit  ’ . X -A77  X 100  = 55,2.  Zur  Bestimmung  des  Verhält- 

i .2  b,2 

nisses  des  Procentgehaltes  der  CO  Blutlösung  zu  dem  Gehalte  der  Luft  an  CO  hat  Haida  ne 
eine  Reihe  von  Versuchen  gemacht,  deren  Hauptergebnisse  die  folgenden  sind.  Es  ent- 
sprechen einander 

Sättigung  der  Blutlösung  Kohlenoxydgehalt  der  Luft 

in  Procenten  in  Procenten 

10 0,015 

20 0,04 

30 0,08 

40 0,12 

50 0,16 

60 0,22 

70 0,30 

80 0,60 

90 1,2 


Das  Resultat  ändert  sich  nur  unwesentlich  , wenn  die  Luft  2 oder  3%  weniger 
Sauerstoff  enthält,  wohl  aber,  wenn  5°/0  nn(^  mehr  O fehlen.  Das  Resultat  fällt  dann  um  fast 
*/,  zu  hoch  ans,  und  halbe  Sättigung  des  Blutes  zeigt  dann  in  Wirklichkeit  nur  0,11,  nicht 
die  vorhandenen  0,15#/o  an*  der  Procentgehalt  der  Luft  an  Sauerstoff  bekannt,  so  lässt 
Rieh  eine  Correction  in  der  Weise  ausführen,  dass  man  von  dem  scheinbar  vorhandenen 
CO-Procent  dasselbe  Verhältnis«  abzieht,  in  dem  O verringert  ist.  Wäre  z.  B.  der  Sauerstoff  um 
*/,  vermindert  (auf  14°/0),  so  müsste  auch  ein  Drittel  von  der  Procentzahl  des  C O abgesetzt 
werden.  Für  Procente  unter  0,01  trifft  dies  aber  nicht  zu. 

Die  Frage,  ob  es  Umstände  giebt,  durch  welche  man  die  Leuchtgas- 
vergiftung von  der  Kohlendunstvergiftnng  zu  unterscheiden  vermöge,  ist  mit  Be- 
stimmtheit zu  bejahen , und  selbst  die  Beobachtung  der  Vergifteten  kann  ein 
absolut  sicheres  Merkmal  für  erstere  enthüllen.  Das  ist  der  Geruch  der  Athem- 
lnft  und  der  Kleidungsstücke  der  Vergifteten  nach  Gas,  bezw.  den  im  Leuchtgase 
enthaltenen  riechenden  Kohlenwasserstoffen.  Stoermer  legt  besonderes  Gewicht  auf 
die  Analyse  der  Lnft  der  Räume,  in  denen  die  Intoxication  stattfand,  sowie  auf  die 
chemische  Untersuchung  der  Blutgase.  Sicherlich  ist  die  Möglichkeit  in  manchen 
Fällen  gegeben,  von  den  Gasen,  deren  Gemisch  das  Leuchtgas  darstellt,  während 
sie  in  Leuchtgas  fehlen,  in  der  Zimmerluft  eines  oder  das  andere  nachzuweisen, 
aber  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  wird  auch  der  Geruch  keinen  Zweifel  lassen. 
Ob  die  Blntgase  von  den  in  Frage  stehenden  Gasen  so  viel  enthalten,  dass  sie 
chemisch  nachzuweiseu  sind,  ist  allerdings  problematisch  und  bedarf  noch  der 
Feststellung  durcli  den  Versuch.  Man  hat  hier  an  den  Nachweis  des  Benzols, 
auch  des  Acetylens,  das  mit  ammoniakalischer  Kupfercldorürlösung  einen  explosiven 
Niederschlag  giebt,  oder  des  Sumpfgases  zu  denken.  Günstige  Chancen  bietet 
jedenfalls,  und  ganz  besonders  bei  Vergiftungen  durch  Wassergas,  das  Aufsnchen 
des  Wasserstoffes,  der  oft  Uber  die  Hälfte  des  Gasgemenges  bildet  und  den  mau 
spectralanaiytisch  in  einem  GElsi.ER’schen  Rohre  durch  drei  scharf  begrenzte 
Linien  in  Roth,  Grün  und  Blau  erkennt.  Der  Nachweis  dieses  Gases  neben  CO 
im  Blute  kann  da,  wo  es  sich  um  differentielle  Diagnose  der  Leuchtgas-  und 
Kohlenduustvergiftung  handelt,  von  wesentlichster  Bedeutung  sein.  Stoermer  rätli 
auch  Untersuchung  des  Harnes  auf  Verwandlungsproducte  des  Benzols  und  auf 
Naphthalin  an,  doch  ist  der  positive  Ausfall  auch  hier  zweifelhaft.  Für  Leucht- 


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302 


KOHLENOXYDVERGIFTUNG. 


gaavergiftung  will  man  auch  erdfahle  Blässe  des  Gesichtes,  Exophthalmus,  Nystagmus 
und  heftige  Beugekrämpfe  als  diagnostisch  wichtig  ansehen;  es  ist  kein  Zweifel, 
dass  erstere  hei  Kohlendunstvergiftung  nicht  selten  ist.  und  dasselbe  dürfte  von 
den  übrigen  Symptomen  gelten.  Stoermer  weist  auch  auf  die  grössere  Intensität 
der  Leichenerscheinungen,  namentlich  die  Hyperämie  des  Rückenmarkes  und  seiner 
Häute,  die  starke  Blutüberfüllung  der  Lungen  und  die  hellrothe  Farbe  des  Blutes 
hin;  doch  kommt,  wenn  auch  ausnahmsweise,  bei  Leuchtgasvergiftung  duukle 
Blutfärbung  vor,  die  sich  leicht  durch  die  Anwesenheit  von  H2S,  NHa  oderCS* 
im  Leuchtgase  erklärt. 

Bei  den  vielen  und  inhaltsreichen  Studien  zur  Diagnostik  der  Kohlen- 
oxydvcrgiftung  und  den  ausserordentlich  prägnanten  Symptomen  sollte  man  kaum 
denken,  dass  in  gerichtlich  medicinischen  Fällen  noch  jetzt  fehlerhafte  Diagnosen 
gestellt  werden  können.  Nichtsdestoweniger  ist  in  Frankreich  neuerdings  ein 
derartiger  Fall  vorgekommen,  der  recht  wohl  zur  Hinrichtung  eines  Unschuldigen 
hätte  führen  können,  weil,  was  zwar  kaum  glaublich  erscheint,  aber  unbestreitbar 
wahr  ist,  der  Gerichtsarzt  die  tödtlicbe  Vergiftung  zweier  Menschen  für  eine 
Cantliaridenvergiftung  erklärte.  Von  einer  spectroskopischen  Untersuchung  des 
Blutes  war  in  diesem  Falle  selbstverständlich  keine  Rede  und  Cantharidin  war 
in  den  Leichen  nicht  aufgefundeu  worden. 

Der  von  Bro u a rd el , Descourt  und  Ogier1")  ausführlich  erörterte  Fall  betrifft 
eine  Frau,  die  1887  wegen  Vergiftung  ihres  Mannes  und  Bruders  angeklagt  vrar.  zu  deren 
Leichen  sie  kurze  Zeit  nach  dem  Tode  in  einem  aufgeregten,  rauschähnlichen  Zustande  Passanten 
herbeiholte.  Die  Unschuld  der  auf  Grund  des  gerichtsärztlichen  Gutachtens  zu  lebenslänglichem 
Gefängnisse  verurtheilten  Frau  stellte  sich  aber  heraus,  als  in  derselben  Wohnung  spater  eine 
Frau  todt  am  Bodeu  gefunden  und  noch  später  mehrere  Personen  in  bewusstlosem  Zustande  und 
eine  Katze  todt  aufgefunden  wurden  und  man  nun  entdeckte,  dass  Gase  zu  der  Wohnung  von 
einem  benachbarten  Kalkofen  gelangen  konnten,  nach  dessen  Verlegung  weitere  Vergiftungen 
nicht  eiutraten.  Der  Arzt  hatte  die  hellrothe  Färbung  der  Gedärme  für  Gastroenteritis  gehalten, 
die  er  auf  Cantharidismus  (!)  bezog.  Im  Gegensätze  hierzu  wurde  neuerdings  in  einem  deutschen 
Falle*)  Kohlendunstvergiftung  angenommen,  wo  eine  Bauernfrau  todt  und  ihr  Mann  in  ver- 
wirrtem Zustande,  in  dem  er  sich  des  Mordes  seiner  Frau  anklagte,  vorgefundeo  wurde , da 
Verletzungen  nicht  Vorlagen  und  die  später  gemachte  Angabe  des  Mannes  zum  Theil  in  ihn 
hineinsuggerirt  war  zum  Theil  durch  die  lntoxicationsdelirien  ihre  Erklärung  fand.  In  einem 
von  Tr6nelsl)  erwähnten  Pariser  Falle  wurde  ein  zusammen  mit  seiner  Maitresse  betäubt 
aufgefundener  Mann  des  Mordes  beschuldigt  und,  da  er  an  vollständiger  Amnesie  litt,  erst 
freigegeben,  als  das  Gedächtnis  wiederkehrte  und  er  Aufklärungen  geben  konnte. 

Literatur;  *)  Loren zo  Borri,  Contributo  allo  Studio  del  mtccanismo  d't'n- 
tossicazione  per  quei  re/eni  che  contraggono  mmo  combinazione  chimica  con  la  materia  colo- 
raute  del  sangue.  Lo  Sperimentale.  1895,  Sez.  Biol.  I,  pag.  95.  — *)C.  Raimondi  und 
U.  Rossi,  Süll  asßssia  e veneftcio  per  gaz  illuminante  c dei  susttidi  terapeutici  utili  in 
sxffatti  casi.  Atti  della  R.  Accad.  dei  Fisiocrit.  Siena  1895,  Ser.  IV,  Vol.  7.  — *)  A.  Mar- 
cacci,  II  meccanismo  Hella  morte  nelV  awelenamento  per  ossido  di  carbonio.  Atti  della 
Soc.  Toscana  di  Sc.  nat.  1892,  Vol.  12.  — 4)  Ed.  Richter,  Kohlenoxyd  durch  Resorption 
von  der  Leibeshöblc  aus.  Deutsche  mcd.  Wochenschr.  1895,  Nr.  32.  — *)  John  Hai  da  ne, 
The  action  of  carbonic  oxide  on  mau.  Journ.  of  Phyaiol.  1895,  Vol.  18.  pag  430.  — 
•)  H.  1) roser,  Zur  Toxikologie  des  Kohlenoxyds.  Arch.  f.  experim.  Path.  und  Pharm.  1891, 
XXV,  pag.  119.  — 7)  Vergl.  z.  K.  Broadbent,  Notes  on  a rase  of  coal  gas  poisoning. 
Brit.  med.  Journ.  13.  Mai  1893,  pag.  1 004 ; Posselt,  Ein  Fall  von  KohlendQnstvergirton£. 
Wiener  klin.  Wochenschr.  1893,  Nr.  21.  — •)  Ernst  Koch,  Zur  Encephalomalacie  nach 
Kohlenoxydvergiftung.  Greifswald  1892.  — ®)  Max  Gordon,  Beiträge  zur  Kochsalzinfusion 
bei  Vergiftungen.  Deutsche  med.  Wochenschr.  1893,  Nr.  12.  — ,w)  Z.  B.  von  Sai  nt  -M  ar  t i n, 
Sur  le  mode  d*ilimination  de  V oxyde  de  carbone.  Compt.  rend.  1893,  CXVI,  pag.  260.  — 
1 ')  S p i c a und  Menegazzi,  SulV  azione  della  acqua  ossigenata.  Riforma  med.  1893,  Nr.  284- 
Arch.  di  Farmacol.  e Terap.  1893,  XXIII.  — la)  Wild,  Zwei  Fälle  von  Kohlenoxydver- 
giftung. Correspondenzbl.  f.  Schweizer  Aerzte.  1895,  Nr.  4.  — *•)  A.  Edwin  Down,  Some 
ubsercations  on  water  gas.  Mcd.  Record.  5.  Mai  1894.  — **)  In  dessen  ausführlicher  Arbeit 
über  Kohlenoxydvergiftung  in  Vierteljahrschr.  f.  gerichtl.  Med.  1896.  — l6)  Moissan,  Sur 
Vempoisonnement  par  Voxgde  de  carbone.  Ball,  de  l’Ac&d.  de  Med.  Paris  1894,  XXXI, 
pag.  249.  — ,6)  E.  Becker,  Die  Kohlenoxydvergiftung  und  die  zu  deren  Verhütung  geeigneten 
sanitätspolizeilichen  Maas  regeln.  Vierteljahrschr.  f.  gerichtl.  Med.  1893.  — n)  Mot  et.  In - 
toxieaiion  par  Voxgde  de  carbone.  Annal.  d’bygiöne  publ.  März  1894,  pag.  258.  — IB)  H a Liane, 
A method  of  detecting  and  estimating  carbonic  oxide  in  air.  Journ.  of  Physiol.  1895,  XVIII. 
pag.  463  — *•)  Bronardel,  Descourt  und  Ogier,  Un  cas  d’empoisonnement  jxtr 


KOHLENOXYDVERGIFTUNG.  — KRANKENPFLEGE. 


303 


Voxyde  de  cavbone . Aunal.  d'hygiene  publ.  1894,  XXXI,  pag.  258.  — n)  Landgraf,  Aus 
der  gerichtsürztlichen  Praxis.  Blätter  f.  gerichtl.  Med  1894,  pag.  458.  — *l)  Trenel.  Ih 
quelque s symptömes  consecutifs  ä V in toxica t io n aigut  par  Voxyde  de  curbotte.  Gaz.  hebdom. 
de  med.  et  chir.  1895,  Nr.  30—32.  Husemann. 

Krankenpflege.  Die  Krankenpflege  ist  der  Zweig  der  Heilkunde, 
dessen  weiterer  Ansbau  in  der  Neuzeit  in  hervorragendem  Masse  gefördert  worden 
ist.  Die  Forschungsergebnisse  auf  dem  Gebiete  der  Gesundheitspflege  sind  für 
die  Krankenpflege  von  ganz  besonderer  Bedeutung  gewesen  und  haben  in  der 
gesammten  Krankenbehandlung  eine  Umwälzung  hervorgerufen , welche  für  die 
Zukunft  entscheidend  zu  werden  verspricht.  Im  Vordergrund  des  ärztlichen  Inter- 
esses steht  der  kranke  Mensch,  das  kranke  Individuum,  dessen  Eigenthümlich- 
kcitcu,  Gewohnheiten,  Sinnen  und  Trachten  aufmerksam  beobachtet  und  zum 
Zielpunkt  ärztlichen  Handelns  und  Eingreifens  gemacht  werden  müssen.  Die 
Krankenpflege  umfasst  nach  den  jetzigen  Begriffen  nicht  nur  die  sorgsamste 
Behütung  und  Aufwartung  seitens  eines  vorzüglich  geschulten  und  erfahrenen 
Wartepcrsonales , sondern  auch  ganz  besonders  die  Sorge  und  Aufmerksamkeit 
des  Arztes  für  alle  Einzelheiten , die  nach  irgend  einer  Richtnng  hin  für  den 
Kranken  von  Wichtigkeit  sein  können.  Alle  Erfahrungen,  welche  auf  dem  Gebiete 
der  Unterbringung  von  Kranken  — in  besonderen  Heilanstalten  oder  eigenen 
Behausungen  — , der  Lagerung  der  Kranken , der  Beschaffenheit  des  Kranken- 
zimmers in  Bezug  auf  alle  Verhältnisse  — Lage,  Lüftung,  Heizung  — , seiner 
Bekleidung,  Ernährung  u.  s.  w.,  also  auf  dem  Gebiete  der  Gesundheitspflege  über- 
haupt gemacht  worden  sind  und  durch  Versuche  und  Untersuchungen  von  Physio- 
logen und  Hygienikern  erzielt  werden , müssen  für  den  erkrankten  Menschen 
nutzbar  gemacht  werden. 

Die  Krankenzimmer  waren  in  den  Familien  früher  genau  ebenso  ungeeignet 
zur  Pflege  von  Kranken,  wie  sie  es  häufig  heute  sind.  Sabattia  Joseph  Wolfe 
spricht  sich  in  seinem  Buche:  „Die  Kunst  krank  zu  seyn“  folgendermassen  über 
diesen  Gegenstand  aus: 

„Ich  würde  mir  es  nicht  verzeihen  können , wenn  ich  hier  eine  Unge- 
inäcblichkeit  nur  so  obenhin  erwähnt  hätte,  die  doch  vermöge  ihres  Einflusses 
von  solcher  Wichtigkeit  ist,  dass  sie  es  wohl  verdiente,  dnBs  man  sich  dahei 
etwas  verweilte;  ich  meine  die  Ungemächliehkeit,  so  die  gewöhnlichen  Kranken- 
zimmer in  grossen  Städten  besonders  zu  haben  pflegen , und  wie  man  an  nichts 
weniger,  als  an  das  denkt,  was  sich  allenfalls  noch  dabei  verändern  und  bessern  liessc. 

Nicht  nur  im  Mittelstand,  dem  es  noch  eher  zu  verzeihen  wäre,  sondern 
selbst  bei  Reichen , wird  an  Alles  eher  bei  Miethung  einer  Wohnung  gedacht 
werden,  als  an  ein  bequemes  Zimmer,  das  sich,  im  Falle  Jemand  erkrankte,  zu 
einem  Krankenzimmer  qnalifleirte.  Wohl  denkt  man  an  eine  schöne  lebhafte 
Gegend , der  schönen  Aussicht  wegen ; wohl  überlegt  man , ob  es  für  Geschäft 
und  Gewerbe  passend  sey,  man  vergisst  nicht  ein  bequemes  Comptoir  und  Kabinet, 
Entree,  Wohn-  und  Speisestube,  Visitenzimmer,  am  allerwenigsten  für  Küche  und 
Speisekammer  zu  sorgen:  man  denkt  aber  weniger  daran,  ob  die  Wohnung  der 
Gesundheit  zuträglich  sey,  weniger  an  eine  gesunde  Kinderstube,  am  allerwenigsten 
aber  an  ein  bequemes  Krankenzimmer. 

Daher  kommt  es  denn  auch,  dass  man  sich  heute  oder  morgen  in  der 
grössten  Verlegenheit  sieht,  dass  man  kein  anderes  Zimmer,  als  etwa  vorn  heraus, 
dem  Kranken  einzuräumen  hat,  wo  das  ewige  Gerassel  der  Wagen  und  Kutschen, 
das  Schreien  uud  Lärmen  dem  armen  Leidenden  auch  keinen  ruhigen  Augenblick 
gemessen  lässt , oder  wo  die  Nachbarn  von  allen  Seiten , von  oben  und  unten, 
durch  ihre  Profession,  oder  auch  durch  ihre  Kunst,  als  Musik,  Singen,  Tanzen  u.  s.  w., 
dem  Kranken  die  ihm  so  nöthigen  ruhigen  Stunden  rauben , ja  wohl  gar  ihm 
selbst  des  Nachts  den  so  erquickenden  Schlaf  nicht  lassen. 

Daher  kömmt  es  dann  , dass  der  Kranke  auch  selbst  so  ein  schlechtes 
Zimmer  nicht  einmal  für  sich  allein  haben  kann,  dass  Mehrere  darin  seyn  müssen 


304 


KRANKENPFLEGE. 


oder  doch  beständig  darin  etwas  zu  thun  haben,  bald  etwas  holen  oder  bringen, 
oder  ihre  Geschäftsstrasse  durch  dieses  Zimmer  haben;  dass  es  bald  zu  gross, 
bald  zu  klein,  zu  hoch  oder  zu  niedrig,  zu  hell  oder  zu  dunkel,  im  Winter  nicht 
zu  erwärmen,  im  Sommer  nicht  vor  der  Sonne  zu  schätzen  möglich  ist;  daher 
kommt  es , dass  man  nicht  einmal  ein  bequemes  Plätzchen  für  das  Bette  des 
Kranken  Anden  kann,  was  besonders  im  Winter  mit  grossen  Schwierigkeiten 
verknüpft  zu  seyn  pflegt,  wo  es  entweder  der  zu  schnellen  Wirkung  der  Stuben- 
wärtne,  oder  der  Wirkung  der  Kälte,  wo  nicht  gar  der  Zugluft  ausgesetzt  ist. 
Und  wie  sehr  wird  nicht  selten  die  Wiederherstellung  dadurch  erschwert;  wie 
oft  ganz  unmöglich  gemacht.  Vergebens  sucht  man  die  Ursache  in  der  Krank- 
heit, der  Kunst  und  dem  Künstler.“ 

Wie  vollkommen  passen  diese  im  Jahre  1811,  also  vor  85  Jahren, 
niedergeschriebenen  Worte  auch  auf  unsere  jetzigen  Wohnnngsverhältnisse! 

Die  Pflege  in  der  Wohnung  des  Kranken  und  in  einem  Krankenhause 
soll  nach  genau  gleichen  Grundsätzen  erfolgen,  welche  durch  die  genannten,  auf 
wissenschaftlicher  Basis  beruhenden  Regeln  festgelegt  sind.  Im  Besonderen  ergeben 
sich  durch  die  Verschiedenheiten  der  Wohnungen  allein  bereits  zahlreiche  indi- 
viduelle Unterschiede , die  der  erfahrene  Blick  des  Arztes  im  Einzelfalle  schnell 
zu  erfassen  hat , um  hiernach  seine  eigenen  Massnahmen  einzurichten  und  An- 
ordnungen für  die  vorhandenen  Pfleger  anzugeben.  Im  Krankenhause,  in  welchem 
für  Krankenpflege  besser  vorgesorgt  zu  sein  pflegt  als  im  Haushalte  des  Ein- 
zelnen, wird  sich  dieselbe  in  einfacherer  Weise  herstellen  und  besorgen  lassen. 
Die  Krankenhäuser  werden  so  angelegt,  dass  Lüftung,  Heizung,  Wasserversorgung, 
Beleuchtung  und  sonstige  Einrichtung  der  Aufenthaltsräume  und  die  für  die 
besonderen  Bedürfnisse  des  einzelnen  Kranken  nothwendigen  Einrichtungen  Dach 
Möglichkeit  vorhanden  sind. 

Es  muss  also  der  Arzt  mit  allen  Theilen  der  Krankenpflege  vollkommen 
vertraut  sein  und  seine  Kenntnisse  der  Gesundheitspflege  für  seine  Thätigkeit  in 
vollem  Umfange  mit  verwerthen.  Das  Studium  der  Hygiene  ist  daher  nicht  nur, 
wie  man  noch  vor  Kurzem  vielfach  aunahm , für  den  beamteten  Arzt  von 
Wichtigkeit,  sondern  jeder  Arzt  muss  in  jedem  Falle  die  Gesundheitspflege,  soweit 
es  die  umgebenden  Verhältnisse  gestatten , bei  der  Krankenpflege  zur  vollsten 
Geltung  zu  bringen  versuchen.  Leider  stellen  sich  dieser  Absicht  häufig  unüber 
windliche  Schwierigkeiten  entgegen,  und  in  diesen  Fällen  wird  der  Arzt  zunächst 
den  Rath  ertheilen,  den  Kranken  in  ein  Spital  überzuführen.  Wird  dieses  nicht 
befolgt,  so  muss  daun  in  dem  betreffenden  Haushalte,  so  gut  es  eben  angeht, 
Alles,  was  die  Gesundheitspflege  für  die  Krankenpflege  vorschreibt,  vorgesehen 
werden,  und  besonders  gross  ist  da  die  Schwierigkeit , weil  in  diesen  Familien 
die  für  den  gesunden  Menschen  nöthigen  ünterkuuftsräume  und  Nahrung  in 
traurigen  Verhältnissen , für  Kranke  also  eigentlich  ganz  unerträglich  zu  sein 
pflegen,  und  an  höhere  Ansprüche  von  Pflege  überhaupt  nicht  gedacht  werden  kann. 

Gerade  diese,  welche  man  jetzt  mit  dem  Ausdrucke  des  „Comforts“ 
zusammengefasst  hat,  müssen  beim  Kranken  in  viel  höherem  Masse  als  es  bis- 
her gewöhnlich  geschah,  erfüllt  werden.  Der  Gedanke,  auch  für  Kranke  eine 
möglichst  grosse  Behaglichkeit  zu  schaffen,  ist,  wie  wir  noch  sehen  werden, 
ein  bereits  alter,  aber  durch  verschiedene  Richtungen  der  Mcdicin  etwas  ver- 
drängt worden.  Erst  in  neuester  Zeit  hat  sich  derselbe  wieder  Bahn  gebrochen 
und  vornehmlich  v.  Leyden  trat  in  Wort  und  Schrift  in  seinen  klinischen  Vor- 
lesungen , Vorträgen  und  Arbeiten  für  ihn  ein.  Nicht  nur  jene  genannten  An- 
forderungen der  Hygiene  in  Bezug  auf  Lufträume,  Wandanstrich,  Fussboden- 
belag , Bettstellen , Kleidung  des  Kranken  sollen  Berücksichtigung  bei  der 
Krankenpflege  Anden,  sondern  auch  der  Bequemlichkeit  soll  bei  den  Bedürfnissen 
des  Einzelnen  mehr  Rechnung  getragen  werden.  In  England  und  Amerika  geht 
man  in  dieser  Richtung  noch  weiter  und  richtet  z.  B.  öffentliche  Krankenhäuser 
sogar  möglichst  mit  Geschmack  ein.  Grüne  Blattpflanzen  im  Krankenzimmer 


KRANKENPFLEGE. 


3u5 


erfreuen  das  Auge  des  Kranken  und  gute  Bilder  an  den  Wanden  der  bei  uns 
sogenannten  „Tageräume“ , welche  nach  den  Abbildungen  aus  Amerika  hilulig 
mehr  den  Eindruck  von  Gesellschaftssäleu  erregen,  bieten  für  diejenigen,  welche 
sieh  nicht  im  Freien  aufhaltcn  können,  einige  Abwechslung,  während  man  in 
Deutschland  mehr  den  strengen  Gesetzen  der  Hygiene  huldigt  und  von  den 
Wänden  der  Krankenzimmer  alle  nicht  genau  zur  Krankenbehandlung  noth- 
wendigen  Gerätschaften  fern  hält. 

Besonders  bei  Kranken , welche  in  gesunden  Tagen  höhere  Ansprüche 
an  des  Lebens  Genüsse  zu  stellen  gewöhnt  sind,  muss  die  Pflege  auf  den  Comfort 
Bedacht  nehmen.  Gerade  bei  diesen  spielen  die  „Nerven“  eine  grosse  Rolle  und 
selbst  anscheinend  ganz  unwichtige  Dinge,  wie  z.  B.  das  Rauschen  des  Kleides  der 
Pflegerin,  können  nervös  angelegte  Kranke  in  Unruhe  versetzen.  Leider  hat  sich 
die  Neurasthenie  anoh  unter  der  arbeitenden  Bevölkerung  jetzt  sehr  ausgebreitet. 
Auch  für  diese  Kranken  muss  der  Grundsatz  gelten,  jede  nur  irgend  anwendbare 
Bequemlichkeit  nach  den  sonstigen  Lebensgewohnbeiten  des  einzelnen  kranken 
Individuums  platzgreifen  zu  lassen.  Das  bisweilen  geäusserte  Bedenken,  dass, 
wenn  die  Kranken  in  den  Krankenhäusern  zu  sehr  verwöhnt  würden , eine 
Zunahme  des  Simulantenthums  eintreten  würde,  und  auch  die  in  ihre  Familie 
zurückgekehrten  Geheilten  sich  dort  unbehaglich  fühlen  würden , weil  sie  ja 
wieder  die  ärmlichen  Verhältnisse  anträfen  und  dadurch  Misstimmung  und  Un- 
zufriedenheit hervorgerufen  würde , ist  nicht  zutreffend.  Als  oberstes  Gesetz  für 
die  Krankenbehandlung  und  deren  vornehmsten  Theil , die  Krankenpflege,  muss 
gelten , dass  jeder  Kranke  während  der  Dauer  seines  Leidens  unter  möglichst 
günstige  Verhältnisse  versetzt  werde.  Und  gerade  die  ausgiebigste  Krankenpflege, 
gepaart  mit  dem  höchsten  erreichbaren  „Comfort“,  beschleunigt  die  Heilung,  ja 
führt  sie  in  vielen  Fällen  sogar  ausschliesslich  herbei.  Noch  vor  ganz  kurzer  Zeit, 
am  14.  Februar  1896,  betonte  v.  Leyden  in  einem  Vorträge  in  der  Deutschen 
Gesellschaft  für  öffentliche  Gesundheitspflege  den  Werth  der  Krankenpflege  gegen- 
über der  specifischen  uud  medicamentösen  Behandlung.  Der  Redner,  welcher  „die 
Aufgaben  des  Berlin- Brandenburger  Heilstättenvereines  für  Lungenkranke“ 
schilderte,  legte  die  Bedeutung  der  hygienisch-diätetischen  Behandlungsweise  der 
Longcnschwindsüchtigen  dar,  bei  welchen  die  Pflege  Hervorragendes  leistet.  Die 
hygienisch-diätetischen  Verfahren  sind  nach  der  eingangs  gegebenen  Definition 
als  der  Hauptbestandteil  der  heutigen,  auf  wissenschaftlichen  Grundsätzen  auf- 
gebauten Krankenpflege  anzusehen.  Ja,  sogar  es  ist  diese  Pflege  eigentlich  als 
das  Einzige,  was  bei  einer  erfolgreichen  Behandlung  der  Schwindsüchtigen,  d.  h. 
der  Kranken  im  ersten  Stadium,  in  Frage  kommen  kann,  zu  betrachten.  Die  spe- 
cifiscbe  Theorie  hat  leider  bis  jetzt  auf  diesem  Gebiete  noch  keine  glänzenden  Er- 
gebnisse erzielt,  und  noch  heute  gelten  die  zuerst  von  Brehmkk  aufgestellten  Grund 
sätze  für  die  Behandlung  der  Lungenkranken,  welche  darin  gipfeln,  den  Kranken 
zu  pflegen  und  zu  ernähren,  möglichst  zu  kräftigen  und  dadurch  in  den  Staud  zu 
setzen,  siegreich  aus  dem  Kampfe  mit  seinem  Gegner,  der  Krankheit,  hervorzugehen. 

Es  ist  ein  Leichtes,  den  Antheil  einer  rationellen  Krankenpflege  an 
der  Behandlung  einer  ganzen  Reihe  von  Erkrankungen , besonders  denjenigen, 
welche  mit  schweren  Ernährungsstörungen  in  Erscheinung  treten,  darzuthun.  Die 
leiden,  bei  welchen  die  Ernährungstherapie  hervorragende  Dienste  leistet,  können 
nur  dann  günstig  beeinflusst  werden,  wenn  die  Pflege  in  zielbewusster  Weise  ge- 
leitet wird.  Als  Beispiel  seien  die  krebsigen  Verengerungen  der  Kardia  genannt, 
bei  welchen  durch  systematische  Erweiterung  Besserung  der  Möglichkeit  der  Er- 
nährung und  damit  längere  Erhaltung  des  Lebens  erzielt  wird.  Eine  andere 
Gruppe  von  Leiden , an  deren  erfolgreicher  Behandlung  die  Pflege  bedeutend 
betheiligt  ist,  betrifft  die  Erkrankungen  des  Herzens.  Bei  den  Herzkranken  ist 
die  Ernährung  von  grosser  Wichtigkeit,  wie  dies  OEBTEL  wohl  zuerst  in  neuerer 
Zeit  betont  hat;  die  Pflege  hat  bei  diesen  Kranken  besonders  diese  zu  berück- 
sichtigen. Ganz  erheblichen  Antheil  hat  die  Pflege  bei  einer  Ernährungsbehand- 

KncycJop.  Jahrbücher.  VI.  20 


306 


KRANKENPFLEGE. 


lung,  welche  in  der  Neuzeit  eine  grosse  Verbreitung  gewonnen  hat,  bei  der 
Mastcur.  Bei  dieser  rein  diätetischen  Cur  ist  gerade  eine  ausserordentlich  sorg- 
same Pflege  nothwendig,  welche  alle  Einzelheiten  der  Behandlung  von  Stunde 
zu  Stunde  zu  überwachen  hat.  Weir-Mitchkl  und  Playfair  haben  die  Schwierig- 
keiten bereits  hervorgehoben  , welche  die  Auswahl  des  richtigen  Pflegepersonals 
gerade  bei  der  von  ihnen  eingeführten  Cur  bedingt,  da  ja  bei  dieser  der  Kranke 
ganz  allein  auf  seinen  Pfleger  angewiesen  und  es  daher  dringend  erforderlich  ist, 
dass  derselbe  sowohl  mit  allen  Theilen  der  Pflege  vertraut,  als  auch  gebildeten 
und  angenehmen  Wesens  ist. 

Noch  bei  einem  Zustande,  welcher  allerdings  bei  normalem  Verlaufe  nicht 
als  krankhafter,  sondern  als  physiologischer  anzusehen  ist,  ist  eine  gute  Pflegerin 
nicht  zu  unterschätzen:  im  Wochenbett.  Gewöhnlich  beschäftigen  sich  diese  Pflege- 
rinnen ausschliesslich  mit  der  Wochenpflege,  damit  sie  nicht  durch  Wartung 
anderer  Kranken  Veranlassung  zur  Ansteckung  der  Wöchnerinnen  abgeben.  Da 
die  Pflegerin  gleichzeitig  die  Aufwartung  des  Neugeborenen  übernimmt , so  ist 
die  Annahme  einer  solchen  keineswegs,  wie  vielfach  angenommen  wird,  eine  über- 
flüssige Verschwendung.  Die  Wöchnerin  selbst  ist  in  den  ersten  Tagen  des 
Wochenbettes  nicht  im  Stande,  das  Kind  zu  versehen;  die  Angehörigen  haben 
vielfach  unrichtige  Ansichten  Uber  die  Bekleidung,  das  Baden,  die  Ernährung  des 
Kindes,  so  dass  bei  demselben  ohne  Pflegerin  Manches  in  unrichtiger  und 
gesundheitswidriger  Weise,  ausgeführt  wird. 

Einzelne  der  Wochenpflegerinnen  stehen  auf  keiner  sehr  hohen  Bildungs- 
stufe, und  auch  diejenigen  Frauen,  deren  Thätigkeit  eine  gewisse  Verwandt- 
schaft mit  der  der  Woehenpflegerinnen  hat  und  derselben  eigentlich  voraufgeht, 
die  Hebammen,  entstammen  noch  nicht  alle  den  weiten  Kreisen  des  Mittelstandes, 
deren  weibliche  Angehörige  so  zahlreich  unbeschäftigt  am  Wege  des  Lebens 
stehen , falls  sic  nicht  das  hohe  Glück  hatten  — — geheiratet  zu  werden,  ln 
den  Ständen,  in  denen  es  schon  als  etwas  Merkwürdiges  gilt,  dass  ein  junges 
Mädchen  sich  dem  Pflegeberuf  widmet,  erscheint  es  natürlich  noch  unbegreiflicher, 
wenn  gar  eine  Dame  Hebamme  wird.  Und  doch  erfordert  diese  Beschäftigung 
ansser  den  noch  später  zu  besprechenden  körperlichen  und  geistigen  Eigenschaften 
und  erlernten  Handfertigkeiten  ausserordentliche  Bildung  von  Gemüth  und  Herz. 
Wie  wenig  gemüthvoll  ist  es  beispielsweise,  eine  Kreissende  dureh  Erzählung 
haarsträubender  Fälle  aus  der  Praxis  aufzuregen ! Wohl  jeder  Arzt  würde  es 
mit  Freude  begrüssen , wenn  in  Zukunft  Damen  aus  den  besten  Gesellschafts- 
elassen  sieh  den  genannten  Berufen  widmen  würden. 

Ueber  die  geschilderten  Verhältnisse  sind  eine  Reihe  trefflicher  Veröffent- 
lichungen in  den  letzten  Jahren  erschienen.  Vorzüglich  sind  in  der  von  M.  Mkxpki,- 
sohn  geleiteten  „Zeitschrift  für  Krankenpflege“  zahlreiche  Aufsätze  über  die 
Pflege  der  Kranken  bei  einzelnen  Leiden  und  Uber  die  Ausbildung  des  Pflege- 
personales niedergelegt.  Die  Thatsache,  dass  jetzt  eine  Fachzeitschrift  besteht, 
welch  das  Princip  der  Pflege  des  Kranken  als  Ergänzung  und  wichtigsten  Theil 
der  gesammten  Behandlung  darstellt,  ist  von  hervorragender  Bedeutung.  Der  vom 
Herausgeber  der  Zeitschrift  ausgesprochene  Satz : „So  ist  die  Krankenpflege  bei 
näherem  Zusehen  fast  identisch  mit  einem  erheblichen  Tlieile  der  eigentlichen 
Krnnkenbehandluug.  Sie  ist  angewandte  Therapie“  kann  als  Programm  derselben 
gelten.  Dieser  in  der  heutigen  Heilkunde  wieder  mehr  zur  Geltung  gelangte 
Grundsatz  ist  allerdings  bereits  vor  längerer  Zeit  geäussert,  wenn  er  auch  durch 
die  zeitweilig  beliebten,  aus  zwanzig  bis  dreissig  Mittel  bestehenden  Recept- 
verordnungen  etwas  in  den  Hintergrund  gedrängt  worden  war.  In  der  Vorrede 
jener  erwähnten  Schrift  von  S.  J.  WoLKF  findet  sich  folgender  Ausspruch : „Mai 
in  seinen  Vermischten  Schriften  sagt:  Nicht  die  Arzeneyen  allein,  sondern  die 
gute  Pflege  in  der  Krankheit  und  die  sehiekliehe  Labung  in  dem  Zeitpunkte 
der  Wiedergenesung  sind  die  Hülfsmittel , die  verlohrene  Gesundheit  herzu- 
stellen.“ In  ganz  ähnlicher  Weise  spricht  sich  FLORENCE  Nightingalk  , welche 


KRANKENPFLEGE. 


307 


wohl  den  Anspruch  erheben  kann,  als  die  bedeutendste  Krankenpflegerin  aller 
Zeiten  zu  gelten,  aus : „Eine  weitere  Berichtigung  gilt  der  Üblichen  Vorstellung 
von  dem,  was  man  sich  bei  dem  Ausdrucke  „etwas  gegen  die  Krankheit  zu  thun“ 
denkt,  nämlich:  Medicineingeben;  wogegen  die  meisten  es  „nichts  thun“  nennen, 
wenn  blos  frische  Luft,  Reinlichkeit  u.  dcrgl.  verordnet  wird,  ln  Wahrheit  steht 
die  Sache  so , dass  wir  uns  von  dem  Einnehmen  von  Arzneien  und  ähnlichen 
künstlichen  Cnren  niemals  sicheren  Erfolg  versprechen  können,  wogegen  die  all- 
gemeine Erfahrung  der  richtigen  Pflege  einen  massgebenden  Einfluss  auf  Dauer 
und  Verlauf  der  Krankheit  zuschrcibt.  Einnehmen  ist  also  eine  grosse  Neben- 
sache, richtige  allgemeine  Pflege  die  Hauptsache  !u 

Zur  Ausübung  der  Krankenpflege  selbst  ist  ein  gutes  Personal  erforder- 
lich, und  die  in  den  letzten  Jahren  erschienenen  Schriften  über  diesen  Gegenstand 
sind  der  beste  Beweis  dafür,  dass  auf  diesem  Gebiete  noch  ein  grosser  Mangel 
herrscht.  Zwar  ist  die  Zahl  der  sich  dem  Pflegeberufe  widmenden  Personen  im 
Ganzen  nicht  gering,  auch  eignet  sich  eine  Mehrzahl  derselben  recht  gute  Kennt- 
nisse und  Fähigkeiten  für  das  schwere  und  verantwortungsvolle  Amt  an;  immer 
aber  bleibt  vorläufig  noch  die  Klage  zu  Recht  bestehen,  dass  viel  zu  wenig  Indi- 
viduen aus  gebildeten  Kreisen  Pfleger  werden. 

Die  Krankenpflege  ist  ein  echt  weiblicher  Beruf.  Es  werden  zwar  noch 
in  Deutschland  und  auch  anderen  Ländern  Männer  zu  Pflegern  ausgebildet,  aber 
die  Meinungen  aller  Sach\  erständigen  und  Kranken  einigen  sich  wohl  in  dem 
Wunsche  nach  weiblichen  Krankenpflegern.  Die  gesummte  Sorge  um  den  Kranken 
während  der  langen  Zeit  des  Tages,  wo  der  Arzt  den  Kranken  nicht  sieht,  liegt 
in  der  Hand  des  Pflegepersonalcs.  Der  Arzt  giebt  alle  nothwendigen  Verord- 
nungen, medicamentöse , diätetische,  hygienische,  und  Aufgabe  des  Pflegers  ist 
es.  alle  diese  mit  Vcrständniss  und  individualisirend  auszuführen.  Gerade  diese 
für  die  Einzelperson  bestimmte  Pflege,  welche  in  einer  wohlhabenden  Familie 
gewöhnlich  nicht  mit  allzugrosser  Schwierigkeit  verbunden  ist,  bedingt  im  Kranken- 
hause und  noch  mehr  in  der  noch  zu  besprechenden  Gcmeindekrankeupflege 
grosse  Anforderungen  an  die  selbstlose  Hingabe  des  Pflegenden.  Denn  wenn  auch 
im  Spital  für  Kranke  gleicher  Gruppen  anscheinend  gleiche  oder  ähnlich  lautende 
Diätzettel  oder  Verordnungen  vorhanden  sind , wie  dieses  für  den  Dienst  einer 
Anstalt  erforderlich  wird,  — das  frühzeitige  Tagmachen  in  den  Krankenhäusern 
mag  ja  für  den  Dienst  von  Wichtigkeit  sein,  dürfte  aber  Schwerkrankc,  welche 
bisweilen  erst  in  den  Morgenstunden  Schlaf  finden , doch  empfindlich  stören  — 
so  wird  durch  die  Person  des  Pflegers,  welcher  je  nach  seiner  Befähigung  in 
kürzerer  oder  längerer  Zeit  die  Eigenschaften  eines  jeden  Kranken  kennen  lernt, 
der  Ausführung  der  ärztlichen  Anordungen  und  der  Darreichung  der  Speisen  und 
Getränke  ein  individuelles  Gepräge  aufgedrUckt.  Es  liegt  ganz  besonders  die 
Fähigkeit,  anspruchslos  und  sanft , ohne  Streben  nach  äusseren  Anerkennungen 
und  äusserlich  sichtbaren  Zeichen  von  Ruhmestiteln  die  Pflicht  zu  erfüllen,  im 
Charakter  des  Weibes.  Die  volle  Hingabe  an  eine  edle  Sache,  das  Aufgehen  in 
dem  einen  Beruf  ohne  Gedanken  an  weitere  Neben thätigkeit , die  stille  leiden- 
schaftslose Gleichmässigkeit  des  Charakters  sind  ja  besondere  Vorzüge  des  weib- 
lichen Naturells  vor  dem  männlichen.  Gerade  im  Pflegerberuf  zeigen  sich  diese 
Unterschiede  mit  ganz  besonderer  Deutlichkeit,  und  wenn  auch  nicht  geleugnet 
werden  soll,  dass  auch  männliche  Pfleger  Treffliches  leisten  und  anscheinend  z.  B. 
heim  Heere  vorläufig  noch  nicht  entbehrlich  sind , so  wird  doch  immer  die 
Pflegerin  vor  dem  Pfleger  den  Vorzug  verdienen.  Für  unruhige  Geisteskranke 
wird  ein  Wärter  nicht  gnt  zu  entbehren  sein,  während  bei  allen  anderen  Kranken 
die  Pflegerin  mit  ihrer  weiblichen  Milde  und  ihrem  warmempfindenden  Gemüth 
am  besten  ihren  Platz  ausfüllt.  Das  Weib  eignet  sich  auch  aus  dem  Grunde 
besser  zum  Pflege  beruf  als  der  Mann,  weil  es  in  den  meisten  Fällen  nüchterner 
und  anspruchloscr  ist.  Selbst  die  rohesten  und  ungebildetsten  Menschen  betrachten, 
auch  wenn  sie  gesund  sind , mit  einem  gewissen  Gefühl  von  Ehrfurcht  die 

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KRANKENPFLEGE. 


Krankenpflegerinnen.  In  schwerer  Krankheit,  wo  das  Gemüth  eines  jeden  Menschen 
weicher  und  lenksamer  wird  — allerdings  kommen  hier  Ausnahmen  vor  — bringt 
selbst  ein  verkommenes  Individuum  seinem  Pfleger  Achtung  und  sogar  Zuneigung 
entgegen,  indem  es  in  diesem  den  Helfer  und  Linderer  seiner  Schmerzen,  den 
Erretter  aus  seineu  Leiden  erblickt. 

Noch  am  Anfänge  dieses  Jahrhunderts  war  man,  wie  aus  S.  J.  Wolff’s 
bereits  angeführter  Arbeit  ersichtlich,  über  die  Brauchbarkeit  der  weiblichen 
Pfleger  vor  den  männlichen  noch  sehr  getheilter  Ansicht.  Unter  Kaiser  Joseph 
waren  nur  Pflegerinnen  thätig,  aber  es  sollen  dabei  die  guten  Sitten  gelitten 
haben,  indem  die  Genesenden  „die  weibliche  Bedienung  nicht  gut“  vertrugen. 
Stoll  fand  Männer  brauchbarer  zum  Pflegen  als  Frauen. 

In  noch  höherem  Masse  aber  tritt  der  bedeutsame  Einfluss  der  Pflegerin 
auf  ihre  Schutzbefohlenen  und  auch  durch  ihre  Thätigkeit  auf  den  Verlauf  de* 
Leidens  in  die  Erscheinung,  wenn  dieselbe  höheren  Gesellschaftsclassen  entstammt. 
In  dieser  Hinsicht  ist  man  in  Deutschland  noch  nicht  genügend  fortgeschritten, 
denn  leider  wenden  sich  noch  immer  nicht  gebildete  Damen  in  genügender  Zahl 
dem  Pflegerberufe  zu.  Dass  eine  gebildete  Person  eben  durch  ihre  Bildung  auf 
Ungebildete  einen  heilsamen  Einfluss  auszuüben  im  Stande  ist,  dass  sie  durch 
ihre  Bildung  besser  in  die  Lage  versetzt  ist,  die  Launen  des  Kranken  mit  stets 
glcichmässiger  Ruhe  des  Gemüths  zu  ertragen  und  auf  alle  seine  Wünsche  ein- 
zugehen , als  eine  geistig  ungebildete  Pflegerin , liegt  klar  auf  der  Hand.  Der 
Ueberlegenheit , welche  das  Bewusstsein  guter  Sitte,  das  Gefühl  der  Menschen- 
liebe und  höheren  geistigen  Bildung  der  Pflegerin  verleihen,  fügen  sich  auch 
geistig  rohe  Menschen  schnell,  besonders  wenn  sich  die  Pflegerin  in  das  Gemüths- 
leben  des  Kranken  hineinzudenken  versteht.  Natürlich  kommen  auch  hier  zahl 
reiche  Ausnahmen  vor,  wahre  Herzensbildung  und  Tiefe  des  Gemüths  ist  häutig 
gerade  bei  denjenigen  wenig  vorhanden,  welche  als  besonders  gebildet  gelten  uud 
umgekehrt  auch  in  hohem  Masse  bei  solchen  Leuten  zu  Anden,  wo  man  sie  nicht 
vermuthet.  Aber  dies  trift't  für  die  grosse  Menge  der  Menschen  nicht  zu , und 
ebensowenig  ist  anzuerkennen,  was  auch  häufig  angeführt  wird,  dass  ungebildetere 
Menschen  einander  besser  verstehen  und  daher  auch  das  Pflegerpersonal  für  diese 
den  Ungebildeten  entnommen  werden  solle.  Noch  ein  anderer  Grund  spricht 
dafür,  die  Pflegerinnen  aus  den  gebildeten  Kreisen  vorzuziehen,  welchen  Zimmkr 
(Herborn)  in  einem  ausgezeichneten  Aufsatze:  „Wie  gewinnen  wir  gebildete  Kranken- 
pflegerinnen?“ in  treffender  Weise  dargelegt  hat.  Ueber  4 1 c/0  der  weiblichen 
Bevölkerung  im  durchschnittlichen  heiratsfähigen  Alter  (von  18 — 50  Jahren)  sind 
nach  der  letzten  Volkszählung  in  Deutschland  unverheiratet.  Da  in  den  unteren 
Volkskreisen,  was  statistisch  allerdings  nicht  genau  festzustellen  ist,  bedeutend 
mehr  Ehen  eingegangen  werden  , als  in  den  mittleren  und  höheren , so  ergiebt 
sich,  dass  von  zehn  den  letzteren  angehörigen  Jungfrauen  höchstens  vier  Aussicht 
haben,  sich  zu  verheiraten.  Es  bietet  sich  also  gerade  hier  ein  Beruf,  für  welchen 
zahlreiche  Frauen  und  Mädchen  in  trefllicher  Weise  geeignet  sind.  Mit  Recht 
wird  die  Frage  von  allen  Bearbeitern  dieses  Gegenstandes  aufgeworfen , aus 
welchem  Grunde  viele  Mädchen  Gesellschafterinnen , Stützen  der  Hausfrau , Er- 
zieherinnen werden  und  in  dieser  Zwitterstellung,  welche  sie  weder  materiell 
noch  ideal  befriedigt,  verbleiben,  oder  ohne  Talent  sich  der  Malerei  oder  Musik 
meisten«  nur  zum  Entsetzen  ihrer  Angehörigen  und  Nachbarn  widmen,  während 
der  edelste  Beruf,  welcher  den  Unverheirateten  die  Ehe  ersetzen  kann , die 
Krankenpflege , noch  immer  viel  zu  selten  von  den  Frauen  ergriffen  wird. 
Gerade  in  der  Krankenpflege  erwächst  den  Männern  durch  die  Frauen  keine 
Concurrcnz,  denn  die  Thätigkeit  der  Männer  ist  auf  diesem  Gebiete  meistens  nur 
ein  Nothbehelf,  und  auch  immer  ein  so  erheblicher  Mangel  an  tüchtigen  Pflegern 
vorläufig  vorhanden,  dass  der  Wettbewerb  der  Frauen  hier  für  die  Männer  nicht 
von  Belang  ist.  Und  es  wird  auch  die  Beantwortung  jener  Frage  von  verschie- 
denen Seiten  versucht  und  iu  verschiedener  Weise  gegeben,  ohne  dass  bis  jetzt 


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eiue  befriedigende  Lösung  dieses  für  die  gesammte  sociale  Stellung  der  Frau 
wichtigen  Verhältnisses  vorhanden  wäre.  Ein  erheblicher  Theil  der  socialen  Frage 
überhaupt  harrt  hier  seiner  Lösung.  I'nd  auch  noch  in  anderer  Hinsicht  berührt 
die  Krankenpflege,  wie  wir  sehen  werden,  bedeutende  Theile  des  socialen  Lebens. 

Vor  Allem  gehört,  wie  Billhoth  mit  Recht  hervorhebt,  eine  besonders 
starke  Neigung  zu  dieser  Art  praktischer  Hilfeleistung.  Die  Pflegerin  muss  den 
Trieb  in  sich  verspüren,  Leidenden  wohl  zu  thun,  und  zur  Erkenntniss  gelangen, 
dass  in  dieser  Art  des  persönlichen  Wohlthuns  eine  Quelle  höchsten  Glückes  ge- 
legen ist.  Diese  Neigung  muss  genügend  stark  sein,  um  die  Beschwerden,  Gemüths- 
bewegungen  und  auch  Gefahren  des  Berufes  dauernd  zu  überwinden.  Empfindet 
die  Pflegerin  während  der  Lehrzeit  bei  der  praktischen  Ausübung  das  Glück  ihres 
Berufes,  und  überwindet  sie  jene  unangenehmen  Seiten  leicht,  so  soll  sic  bei  dem 
Berufe  bleiben,  aber  einen  anderen  wählen,  wenn  sie  fühlt,  dass  sic  sich  über  die 
Stärke  ihrer  Neigung  getäuscht  hat.  Billhoth  führt  ferner  an,  dass  Frauen  von 
leidenschaftlicher  Natur  sich  nicht  zu  Pflegerinnen  eignen,  sondern  ruhigere,  welche 
weniger  mit  der  Bekämpfung  ihrer  eigenen  Empfindungen  zu  thun  haben.  Aber 
sie  dürfen  nicht  so  phlegmatisch  und  gleichgiltig  sein , so  langsam  denken  und 
handeln,  dass  dadurch  der  Kranke  ungeduldig  gemacht  wird.  Der  Kranke  und 
sein  Pfleger  müssen  an  einander  Wohlgefallen  finden,  damit  der  nahe  Verkehr, 
in  welchen  beide  treten , ein  für  den  Kranken  erspriesslicher  und  segensreicher 
wird,  was  ohne  die  erste  Voraussetzung  eine  Unmöglichkeit  ist.  Besonderes  Talent 
zur  Krankenpflege  muss  vorhanden  sein  und  sich  hauptsächlich  in  guter  Beobachtungs- 
gabe äussern,  ausserdem  sind  Wahrheitsliebe,  Ordnungssinn,  zuverlässige  Treue 
im  Berufe,  Folgsamkeit  gegen  die  ärztlichen  Anordnungen , Fügsamkeit  auch  in 
schwierigen  Verhältnissen , Anstand  und  Sittlichkeit  unerlässliche  Eigenschaften 
einer  Pflegerin.  Gesundheit  ist  für  den  aufreibenden  Beruf  im  Interesse  der 
Pflegerin,  aber  auch  des  Kranken  Nothwcndigkeit. 

Die  Zahlen,  welche  Cornet  für  die  Tuberkulose  in  dem  Krankenpflege- 
ordeit  ermittelt  hat,  sprechen  deutlich  dafür,  dass  gerade  dieser  Krankheit  die 
Pfleger  in  erheblichem  Masse  ansgesetzt  sind  und  daher  gute  Gesundheit  eines 
sich  dem  Pflegerdienste  widmenden  Individuums  als  erste  Bedingung  für  den  Eintritt 
zur  Ausbildung  angesehen  werden  muss.  Andererseits  werden  die  Ziffern  auch 
vielfach  benutzt,  um  hcrzuleiten,  dass  das  PflegerperBonal  durch  schwere  Arbeit 
und  zu  häufige  Nachtwachen  überbürdet  und  dadurch  frühzeitigem  Siechthum  näher 
gebracht  wird.  Auf  diese  Verhältnisse  wird  noch  später  eingegangen  werden 
müssen.  Von  jenen  CoitNKT’schen  Zahlen  seien  einige  angeführt.  Im  Jahre  1885 
waren  in  Preusseu  11.048  Krankenpflegerinnen  und  3162  Krankenpfleger  vor- 
handen. Von  38  katholischen  Orden,  deren  Mitglieder  nicht  zu  beliebiger  Zeit 
anstreten  können,  sondern  stets  im  Orden  bleiben,  deren  jährliche  Durehschnitts- 
frequenz  4028  betrug,  starben  in  25  Jahren  2099,  und  zwar  an  Tuberkulose 
1320,  d.  h.  i!2-88°/0  aller  Gestorbenen.  Das  Durchschnittsalter  dieser  betrug  nur 
36'27  Lebensjahre,  die  höchste  Sterblichkeit  war  vom  20.  50.  Lebensjahre.  Die 

relative  Sterblichkeit  der  Personen  von  15-  20  Jahren  in  Klöstern  übertraf  die- 
jenige in  Preussen  um  das  Vierfache,  und  die  relative  Sterblichkeit  der  Personen 
von  20 — 30  Jahren  diejenige  in  Preussen  um  das  Dreifache.  Die  Sterblichkeit 
der  Mitglieder  von  Krankenpflegerorden  war  im  ersten  halben  Jahre  nach  der 
Aufnahme  eine  geringe,  stieg  aber  dann  sehr  bedeutend  an,  betrug  im  ersten 
Jahrfünft  der  Thätigkeit  ein  Drittheil  der  Gesamnitsterbliehkeit,  im  ersten  Jahr- 
zehnt der  Thätigkeit  verstärken  beinahe  zweimal  so  viel  als  in  der  ganzen  übrigen 
Zeit,  vom  Anfänge  des  dritten  Thätigkeitsjahres  erreichte  die  Tuberkulose  ihren 
Höhepunkt. 

Zur  Erhaltung  der  Gesundheit  der  Pflegerin  gehört  grösste  Sauberkeit, 
welche  dieselbe  an  ihrer  eigenen  Person  und  an  Allein,  was  mit  dem  Kranken  in 
Berührung  tritt,  wahrzunehmen  hat.  Die  Pflegerin  muss  am  eigenen  Körper  im 
eigenen  und  Interesse  des  Kranken  sauber  sein  und  muss  diesen  und  seine  ganze 


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KRANKENPFLEGE. 


Umgebung,  Zimmer,  Bett,  Kleider  u.  8.  w.  so  erhalten.  Bewegung  in  frischer  Luft 
und  Ruhe  am  Tage  nach  durchwachter  Nacht  sind  wichtige  Erfordernisse.  Be- 
sonders werthvoll  ist  es  für  den  Kranken,  wenn  die  Pflegerin  eine  leichte,  sanfte 
Hand  hat , welche  allerdings  nicht  jedem  Menschen  gegeben  ist , und  als  eine 
selbstverständliche  Eigenschaft  für  jedes  Individuum,  welches  sich  mit  Kranken- 
pflege befasst,  ist  die  Verschwiegenheit  anzuschen ; Neugierde  und  Schwatzhaftigkeit 
sind  für  eine  Pflegerin  nicht  am  Platze. 

Es  erscheint  nicht  uninteressant,  die  von  Wolff  vor  mehr  als  80  Jahren 
als  nothwendig  für  einen  Krankenwärter  angeführten  Eigenschaften  aufznzählen: 

Man  kann  diese  Eigenschaften  in  physische  und  moralische  eintheilcn. 
Physische  sollten  folgende  sein : 

1.  Einen  gesunden,  robusten  Körper,  weder  zu  stark,  noch  zu  schwach, 
weder  zu  gross,  noch  zu  klein,  keine  Fehler  au  den  Gliedmassen  oder  sonst  ver- 
borgene Fehler,  als  Brüche,  aus  dem  Halse  riechend  u.  s.  w.  Besonders  müssen 
seine  äusseren  Sinne,  als:  Gesicht,  Gehör,  Geruch,  Geschmack  und  Gefühl,  so  voll- 
kommen als  möglich  sein.  Eine  deutliche  angenehme  Aussprache,  nicht  zu  schnell 
oder  zu  langsam,  weder  eine  zu  starke,  noch  zu  leise  Stimme,  am  wenigsten  eine 
stammelnde  Aussprache. 

2.  Eine  gute  freundliche  Physiognomie.  Ob  sich  gleich  hierüber  schwer 
lieh  etwas  Bestimmtes  sagen  lässt,  weil  eine  Physiognomie  nicht  für  alle  gleich 
behaglich  sein  kann,  so  ist  doch  so  viel  gewiss,  dass  mürrische  und  verdriessliche 
Gesichter  den  wenigsten  Menschen  behagen  werden , am  wenigsten  aber  einem 
Kranken. 

3.  Sein  Alter  nicht  unter  20,  noch  viel  über  50  Jahren. 

4.  Wachsam,  rasch  und  doch  behutsam.  Dies  mögen  die  vorzüglichsten 
Eigenschaften  sein,  welche  man  unter  die  physischen  zählen  kann. 

Zu  den  moralischen  Eigenschaften  gehört  zuvörderst: 

1.  Ein  guter  Charakter  überhaupt. 

2.  Gelassenheit,  Sanftmut!),  Theilnahme,  jedoch  ohne  Weichlichkeit,  Gut- 
müthigkeit  und  Geduld,  Festigkeit,  beharrend  und  doch  nachgiebig,  standhaft  und 
doch  unerschrocken,  Entschlossenheit  und  Gegenwart  des  Geistes. 

3.  Religiös  ohne  Aberglauben,  und  tolerant  dabei. 

4.  Ich  werde  unter  dieser  Nummer  Alles,  was  ich  noch  für  nöthig  halte, 
aufnehmen,  wenngleich  nicht  Alles  hierher  gehören  sollte,  denn  viele  Eigenschaften 
eines  Wärters  sind  vou  der  Art,  dass  ihre  Ermangelung  wohl  Laster  heissen 
kann,  wenn  sie  bei  einem  solchen  Geschäft  gefunden  wird,  als  z.  B.  die  Nüchtern- 
heit u.  s.  w.  Er  muss  sich  nicht  ekeln  oder  fürchten , etwa  selbst  angesteckt  zu 
werden,  sich  selbst  reinlich  halten,  damit  der  Kranke  sich  nicht  scheue,  sich  von 
ihm  anfassen  zu  lassen,  er  muss  nicht  schwatzhaft  sein  und  dem  Kranken  dadurch 
lästig  werden,  besonders  muss  seine  Unterhaltung  nicht  etwa  sein,  wie  sie  nicht 
selten  bei  Kranken  zu  deren  Verderben  stattfindet,  da  man  ihnen  nämlich  Mord- 
geschichten oder  schreckliche  Krankheitsgeschichten  erzählt,  die  ein  trauriges  Eude 
nehmen,  und  die  Kranken  in  die  heftigste  Gemüthsbewegung  versetzen,  oder  sie 
mit  Klatschereien  unterhält , und  eine  gedeihliche  Aergerniss  dadurch  bei  ihnen 
veranlasst,  die  sie  auf  dem  allerkürzesten  Wege  auf  den  Kirchhof  befördert.  Der 
Wärter  muss  verschwiegen,  nicht  geldgeizig,  eigennützig,  nicht  näschig  sein,  er 
muss  wenigstens  etwas  schreiben  und  lesen  können , so  wie  er  überhaupt  kein 
ganz  roher  und  ungebildeter  Mensch  sein  darf,  und  selbst  Mcnschenkenntniss  be- 
sitzen muss. 

Wer  alle  diese  Eigenschaften  mehr  oder  weniger  besitzt,  der  ist  ungefähr 
das,  was  er  sein  muss,  um  ein  guter  Krankenwärter  werden  zu  können.  Hiernach 
wird  man  die  Subjecte  zu  suchen  haben,  die  man  dazu  machen  will. 

Da  ja  gerade,  wie  von  allen  Seiten  anerkannt  wird,  die  Frauen  am 
meisten  mit  den  für  den  Pflegerdienst  nothwendigen  Eigenschaften  ausgestattet 
sind,  so  müssen  die  Gründe,  dass  sich  nicht  eine  genügende  Zahl  gebildeter  Frauen 


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KRANKENPFLEGE. 


311 


diesem  Berufe  widmet,  auf  anderem  Gebiete  liegen.  Mathilde  Weber  hat  die- 
selben in  einer  bemerkenswertheu  Schrift  näher  beleuchtet  und  eine  Anzahl  von 
ürtheilen  Uber  diesen  Gegenstand  zusammengestellt.  Dieselben  beziehen  sich  auf 
die  geistlichen  und  weltlichen  Pflegervereine,  welche  sieh  mit  der  Ausbildung  von 
Krankenpflegern  beschäftigen,  nnd  geben  im  massvollcr  Weise  als  Gründe  für  den 
Mangel  an  Pflegerinnen  Ceberbürdung,  die  untergeordnete  gesellschaftliche  Stellung 
der  Schwestern  besonders  auch  den  Aerzten  gegenüber,  die  nicht  genügende  Sorge 
für  den  Fall  der  Erwerbsunfähigkeit,  im  Alter  und  der  Invalidität  und  die  zu 
sehr  hervorgekehrte  „fast  mittelalterliche  religiöse  Schroffheit,  die  ohne  Zusammen- 
hang mit  der  eigentlichen  Krankenpflege  den  Schwestern  nur  um  der  Selbst- 
kasteiung willen  peinliche  Erschwerungen  in  einzelnen  Mutterhäusern  auferlegt“, 
au.  Von  allen  angeführten  Gründen  scheint  die  noch  heute  ira  gesellschaftlichen 
Leben  in  Deutschland  geltende  Geringachtung  eines  Mädchens,  welches  sich  dem 
Ptlegerberuf  widmet,  der  wichtigste  zu  sein.  Vielleicht  ist  der  Ausdruck  „Gering- 
achtung“ ein  etwas  zu  starker.  Sicher  ist,  dass  — wenigstens  in  den  breiten  Schichten 
des  gewöhnlichen  Bürgerstandes  — ein  Mädchen,  welches  Krankenpflegerin  wird, 
stets  mit  sonderbaren  Blicken  betrachtet  wird.  Auch  die  Stellung  der  Pflegerinnen 
den  Aerzten  gegenüber  bedarf  weiterer  Erörterung.  Es  mögen  hier  die  diesbe- 
züglichen englischen  Verhältnisse  zum  Vergleiche  herangezogen  werden,  welche  in 
einem  Aufsatze  von  W.  Croxeb  geschildert  sind.  Kr  führt  aus:  „Aus  dem  oben  Ge- 
sagten gebt  auch  hervor,  dass  in  englischen  Krankenhäusern  die  Wärterinnen 
nicht  die  Herrinnen  des  Hauses  sind,  die  auch  den  Aerzten  gegenüber  ihre  Stel- 
lung geltend  machen.  Das  Verhältniss  zwischen  letzteren  und  den  Pflegerinnen 
ist  vielmehr  ein  sehr  gutes.“  Die  Krankenhäuser  sind  auch  zugleich  die  Lchr- 
stätte  für  die  Schwestern,  welche  sehr  häufig  den  gutsituirten  Ständen  angehören, 
so  dass  junge  Damen  aus  guten  Häusern  und  mit  gutem  Auskommen  sich  dem 
Ptlegerberuf  widmen.  Auch  in  England  werden  wie  in  Deutschland  in  körperlicher 
und  sittlicher  Beziehung  sehr  hohe  Ansprüche  an  die  PHegersehüleriunen  gestellt, 
welche  in  der  ersten  Zeit  alle  selbst  niedrigsten  Arbeiten  verrichten  müssen. 

Während  also  Weber  Urtheile  verschiedener  Damen  anfuhrt,  welche  über 
ihnen  von  — besonders  jungen  — Aerzten  zu  Theil  gewordene  Behandlung  Klage 
führen,  hat  man  in  ärztlichen  Kreisen  doch  auch  häutig  Gelegenheit,  Beschwerden 
über  anmassendes  Benehmen  der  Pflegerinnen  zu  hören.  Einzelne  Krankenanstalten 
sollen  sich  sogar  in  dieser  Hinsicht  ganz  besonders  auszeichnen.  Vorzüglich  jenes 
Vorurtheil , welches  in  weiten  Kreisen  der  Gebildeten  Deutschlands  gegen  den 
Ptlegerberuf  herrscht  und  welches  hauptsächlich  darin  begründet  ist , dass  man 
eine  Pflegerin  nur  als  eine  Art  von  besserer  Dienstmagd,  welche  mit  Kranken 
umgeht,  ansieht,  hat  dazu  geführt,  dass  beinahe  stets  nur  Frauen  einzelner  Stände 
sich  zu  Pflegerinnen  ausbilden  liessen.  Erst  in  den  letzten  Jahren  beginnt,  aber 
sehr  langsam,  eiu  Umschwung  auf  diesem  Gebiete  sich  zu  vollziehen,  und  unter 
den  weltlichen  Krankenpflegervereinen  sind  jetzt  gerade  gebildete  Frauen  aus  den 
besten  Gescllschaftsclassen  in  grösserer  Menge  vorhanden , ohne  dass  aber  das 
Bedürfnis  bis  jetzt  auch  nur  einigermassen  gedeckt  wäre. 

Als  dritter  Grund,  welcher  gebildete  Frauen  noch  vielfach  abschreckt, 
Pflegerinnen  zu  werden , wird  von  einigen  Seiten  die  nicht  genügende  Sicher- 
stellung gegen  Arbeitsunfähigkeit,  Invalidität  nnd  Alter  angenommen,  ln  der 
bereits  mehrfach  angegebenen  Schrift  von  Weber  findet  sich  hierfür  eine  Anzahl 
Belegen,  aus  denen  besonders  hervorgeht,  dass  die  Aussicht  auf  Verbleiben  in  dem 
„einförmigen  Altersheim“  für  einzelne  Mädchen,  die  sich  dem  Diakonissenberufe 
widmen  wollen,  wenig  Verlockendes  bietet.  Gemberg  dagegen  hält  die  sociale 
Stellung  der  Diakonissin  für  eine  sehr  ideale.  „Bei  Hoch  und  Niedrig  steht  die 
Schwester  in  Ansehen  und  Achtung.  Jede  Sorge  für  ihr  Alter,  für  ihre  Zukunft 
ist  von  ihr  genommen.“ 

Für  die  in  den  weltlichen  Vereinigungen  ausgebildeten  und  verbleibenden 
Pflegerinnen  sind  bis  jetzt  auch  nicht  gerade  reichliche  Vorkehrungen  für  Alter 


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KRANKENPFLEGE. 


und  Invalidität  getroffen,  während  natürlich  Privatkrankenpflegerinnen,  über 
welche  noch  weiter  unten  zu  berichten  »ein  wird,  auf  irgend  welche  ihnen  zu- 
stehenden Unterstützungen  für  den  Fall  ihrer  Erwerbsunfähigkeit  mit  Ausnahme 
der  nicht  sehr  bedeutenden  staatlichen  Invalidenrente,  gar  keinen  Anspruch  haben. 

8.  J.  Wolff  bat  Vorschläge  zur  Errichtung  und  Erhaltung  von  Pfleger- 
anstalten gemacht,  welche  sich  grösstentheils  heute  in  diesen  Vereinigungen  aus- 
geführt  linden,  und  welche  daher  am  besten  zum  Vergleich  hier  wörtlich  wieder- 
gegeben werden : 

„Nach  diesem  theoretischen  Unterricht  sollten  sie  nun  zur  praktischen 

Uebung  ein  Jahr  lang  in  der  hiesigen  Charite  zubringen Nach  Vollendung 

dieses  Jahres  zur  praktischen  Uebung  würden  solche  Subjecte,  wenn  sie  sich 
brauchbar  bewiesen,  erst  Krankenpfleger  genannt  werden  und  in  der  Privatpraxis 
zu  benutzen  sein  ; sie  müssen  beständig  unterhalten  werden,  dass  sie  gemächlich 
leben  können.  Bei  den  Kranken,  wohin  sie  zur  Pflege  gesandt  werden,  bekommen 
sie,  ausser  ihrem  Lebensunterhalt,  nichts  als  höchstens  ein  freiwilliges  Geschenk. 
Die  Bezahlung  würde  dem  Vorsteher  des  Institutes  übergeben , damit  er  es  zur 
Unterhaltung  und  etwa  zu  einem  Unterstützungsfond,  wenn  die  Mitglieder  selbst 
krank  werden  sollten,  oder  Alters  halber  nicht  mehr  Dienste  leisten  können,  auf- 
sammlc“.  Die  Mitglieder  des  Institutes  sollen  eigene  Anzüge  tragen,  welche  mit 
Bändern  und  Schleifen  geschlossen  werden,  nicht  mit  Knöpfen,  um  den  Kranken 
beim  Anfassen  nicht  zu  drücken.  Die  Kleidungsstücke,  die  „in  einer  bösartigen 
Krankheit  gebraucht  worden  sind“ , dürfen  erst  nach  gehöriger  Lüftung  und 
Reinigung  bei  der  Pflege  anderer  Kranker  gebraucht  werden.  Die  Hauptschwierig- 
keit , ein  solches  Institut  einzurichten , scheint  Wolff  in  der  Aufbringung  eines 
Fonds  auf  die  ersten  Jahre  zu  liegen. 

Es  sollen  jetzt  die  bedeutenderen  in  Deutschland  vorhandenen  Vereini- 
gungen zur  Ausbildung  von  Krankenpflegern  in  Kürze  hier  zusammengestellt 
werdeu,  deren  Einrichtung  in  ausführlicherer  Weise  von  Gurlt  ' Real-Encyclopädie 
der  gesummten  Heilkunde.  XI)  und  Schwalbe  (Encyclopädische  Jahrbücher.  III) 
beschrieben  ist.  Eine  der  geschichtlich  ältesten  Vereinigungen,  welche  sieh  mit  der 
Krankenpflege  befassten,  ist  der  Johanniterorden,  welcher  eine- Anzahl  von 
Krankenhäusern  besitzt  und  unterhält.  Besonders  während  des  Krieges  1870/71 
entfaltete  der  Orden  eine  segensreiche  Thätigkeit.  Auch  die  Malteserritter 
thaten  sich  rühmlich  in  diesem  Kriege  hervor  und  verpflegten  eine  grosse  Anzahl 
Verwundeter  und  Kranker. 

Die  Thätigkeit  des  Krieges  bildete  wohl  den  Hauptanstoss  zur  «eiteren 
Entfaltung  der  freiwilligen  Krankenpflege.  Da  ja  für  einen  Krieg  niemals  die 
staatlieh  zur  Pflege  der  Verwundeten  und  Kranken  vorhandenen  Hilfskräfte  aus- 
reichen können,  so  muss  private  Hilfe  eiugreifen , welche  jetzt  bereits  während 
des  Friedens  wohlgeordnet  und  vorbereitet  und  nach  bestimmten  Grundsätzen  im 
Kriege  der  Heeresverwaltung  zur  Verfügung  gestellt  wird,  so  dass  alles  Material  von 
einem  Mittelpunkte  aus  an  die  Stellen,  wo  ein  Mangel  vorhanden,  entsendet  werden 
kann.  Der  Organisationsplan  der  freiwilligen  Kriegskrankeupflege  ist  für  Preusseu 
durch  die  Anlage  II  zur  Kriegsetappenordnung  vom  3.  September  1887  geregelt. 

Es  erscheint  nicht  uninteressant,  den  Aufruf  vom  23.  März  1813,  der 
sich  in  der  Nr.  38  vom  Donnerstag,  den  1.  April  1813  der 

Berlinische  Nachrichten.  Von  Staats-  und  gelehrten  Sachen.*) 
vorfindet  und  welcher  mit  einen  Anstoss  zur  Bildung  von  Vereinigungen  für  frei- 
willige Kriegskraukcnpllege  gegeben  hat,  an  dieser  Stelle  wieilcrzugeben : 

Aufruf  an  die  Frauen  im  Preussiachen  Staate. 

I»aa  Vaterland  ist  in  Gefahr!  so  sprach  der  König  zu  seinen  treuen,  ihn  liebenden 
Unterthanen,  und  Alles  eilt  herbei,  um  es  dieser  Gefahr  zu  eutreissen.  Männer  ergreifen  das 
Schwert,  und  reissen  sich  los  aus  dem  Kreise  ihrer  Familien;  Jünglinge  entwinden  sich  der 

*)  im  Verlage  der  Haude-  u.  Siiener'schen  Buchhandlung. 


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KRANKENPFLEGE. 


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zärtlichen  Umarmung  liebender  Mütter,  und  diese  — voll  edlen  Gefühls  — unterdrücken  die 
heilige  Muttertbräne.  Alles  strömt  zu  den  Fahnen,  rüstet  sich  zu  dem  blutigen  Kampfe  für 
Freiheit  und  Selbständigkeit;  die  Flamme,  die  in  dem  Busen  eines  Jeden  lodert,  sichert  den 
glücklichen  Ausgang.  Aber  auch  wir  Frauen  müssen  mitwirken . die  Siege  befördern  helfen, 
auch  wir  müssen  uns  mit  den  Männern  und  Jünglingen  einen,  zur  Rettung  des  Vaterlandes. 
Darum  gründe  sich  ein  Verein,  er  erhalte  den  Namen: 

Der  Fr  auen- Verein  zum  Wohle  des  Vaterlandes. 

Gern  stellen  Wir  uns,  die  Wir  dem  Vaterlande  angehören,  an  die  Spitze  dieses 
Vereines.  Wir  hegen  das  feste  Vertrauen,  es  wollen  die  edelmüthigen  Frauen  und  Töchter  jedes 
Standes  mit  Uns  dazu  beitragen,  dass  Hilfe  geleistet  werde  den  Männern  und  Jünglingen,  die 
für  das  Vaterland  kämpfen,  damit  es  wieder  in  der  Reihe  der  glücklichen  Staaten  stehe,  in 
welcher  der  Friede  seine  Segnungen  ausströmen  könne. 

Zu  diesem  Zweck  wird  gegen  eine  mit  einem  Siegel  versehene  und  von  Einer  Com- 
mission, welche  wir  ernennen  werden,  Unterzeichnete  Quittung  in  einem  Locale,  welches  noch 
näher  angezeigt  werden  wird,  jede  Gabe,  jedes  Geschenk  nicht  nur  dankbar  angenommen, 
sondern  auch  gesammelt,  verzeichnet,  in  einem  der  Tugend  und  Vaterlandsliebe  geheiligten 
Blatte  genannt  und  wöchentlich  aufgeführt  werden. 

Diese  Gaben  und  Geschenke  geben  fortan  das  Recht,  sich  Theilgenossin  des  Frauen- 
Vereines  zum  Wohle  des  Vaterlandes  zu  nennen,  und  vorzugsweise  das  zur  Ausrüstung  vor- 
zustellende Individuum  der  Commission  zu  empfehlen. 

Nicht  blos  baares  Geld  wird  dieser  Verein,  als  Opfer  dargebracht,  annehmen,  sondern 
jede  entbehrliche  werthvolle  Kleinigkeit,  — das  Symbol  der  Treue,  den  Trauring,  die  glän- 
zende Verzierung  des  Obres,  den  kostbaren  Schmuck  des  Halses.  Gern  werden  monatliche  Bei- 
träge, gern  Materialien,  Leinwand,  gesponnene  Wolle  und  Garn  angenommen  und  selbst  unent- 
geltliche Verarbeitung  dieser  rohen  Materialien  als  Opfer  angesehen  werden. 

Alles , was  auf  diese  Weise  gesammelt  wird,  gehört  dem  Vaterlande.  Diese  Opfer 
dienen  dazu,  die  Vertheidiger,  die  es  bedürfen,  zu  bewaffnen,  zu  bekleiden,  auszurüsten,  und 
wenn  die  reiche  Wolilthätigkeit  der  Frauen  Uns  in  den  Stand  setzt,  noch  mehr  zu  thun,  dann 
sollen  die  Verwundeten  auch  gepflegt,  geheilt  und  dem  dankbaren  Vaterlande  wiedergegeben 
werden,  damit  auch  von  un>erer  Seite  erfüllt  werde  das  Grosse,  das  Schöne,  damit  das  Vater- 
land, das  in  Gefahr  ist,  auch  durch  unsere  Hilfe  gerettet  werde,  sich  neu  gestalte  und  durch 
Gottes  Kraft  aufhlühe. 

Marianne,  Prinzessin  Wilhelm  von  Prenssen. 

Wilhelm  ine,  Prinzessin  von  Oranien. 

Auguste,  Kurprinzessin  von  Hessen. 

W i 1 h e 1 n>  i n e , verwitwete  Prinzessin  von  Oranien. 

Prinzessin  Ferdinand  von  Preusseo. 

Louise,  Prinzessin  von  Preussen-Radziwill. 

Louise,  verwitwete  Erbprinzessin  von  Braunstliweig. 

Carolina,  Prinzessin  von  Hessen. 

Marie,  Prinzessin  von  Hessen. 

Berlin,  den  23.  März  1813- 

Auf  Grundlage  des  in  jenem  Aufrufe  genannten  Vereines  entstanden 
285  Vereine,  deren  Mitglieder  sich  mit  Aufopferung  einer  hingebenden  Thiitig- 
keit  unterzogen. 

In  einem  zweiten  Aufrufe,  welcher  einige  Tage  später,  iu  der  Nr.  41 
vom  Dienstag,  den  6.  April  1813  der  genannten  Zeitung  sich  veröffentlicht  findet, 
wird  zur  Beisteuer  zu  einer  Verpflegungsanstalt  für  Verwundete  aufgefordert: 

Unter  dem  höchsten  Schutze  in  der  obersten  Leitung  Ihrer  Königlichen  Hoheit  der 
Prinzessin  Wilhelm  von  Preusseo  und  unter  dem  erhabenen  Beistände  Ihrer  Königlichen  Ho- 
heiten der  übrigen  Prinzessinnen  des  Königlichen  Hauses  haben  sich  mehrere  Frauen  in  Berlin 
zu  Errichtung  einer  Verpflegsanstalt  für  die  kranken  und  verwundeten  Krieger  vereinigt. 

Die  Verpflegung  geschieht  in  einem  besonders  dazu  eingerichteten  Verpflegungshaose. 
Die  Zahl  der  Aufzunehmenden  wird  auf  40  gesetzt.  Die  Anstalt  wird  durch  mehrere  Aerzte 
Berlins  besorgt.  Zwei  Vorsteherinnen  w«  rden  im  Hause  wohnen  und  die  ökonomischen  Ange- 
legenheiten desselben  besorgen.  Zwei  andere  werden  den  ganzen  Tag  gegenwärtig  sein  und 
darüber  wachen , das»  die  Kranken  nicht  blos  die  nöthigen  Arzneien  und  Nahrungsmittel, 
sondern  auch  Alles,  was  zu  ihrer  Erquickung  gereicht,  erhalten. 

Dringt  die  Armee  so  weit  vor,  dass  die  Verwundeten  und  Kranken  nicht  mehr  nach 
Berlin  gebracht  werden  können,  so  wird  man  dafür  sorgen . dass  die  eingesendeten  Gelder  an 
einem  anderen,  der  Armee  näher  belegencn  Orte  zu  ihrer  Verpflegung  verwendet  werden.  Die 
Bedürfnisse  einer  solchen  Anstalt  sind  gross.  Man  wünscht  ihre  Dauer  gesichert  zu  sehen  und 
bittet  deswegen  um  8ubscription  zu  monatlichen  Beiträgen.  Diese  werden  nicht  eher  ein- 
gesendet, als  bis  die  Anstalt  zu  Stande  gekommen  ist,  dann  aber  ersucht  man  um  jedesmalige 
Vorausbezahlung  auf  zwei  Monate.  Man  unterzeichnet  sich  mit  Angabe  der  Wohnung  beim 


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KRANKENPFLEGE. 


Herrn  Commerzienratho  Matzdorff  unter  der  Stechbahn,  auch  ist  der  Herr  Hofprediger 
Elirenberg,  Oberwallstrasai'  Nr.  7,  der  Buchhändler  Reimer  in  der  Realschul-Bnclihandlung. 
Kochstras.se  Nr.  16,  erbötig.  Subscriptionen  anzunehmen 

Die  Söhne  des  Vaterlandes  kämpfen  für  Freiheit,  Ehre  und  Glück,  für  jedes  Ein- 
zelnen Wohl.  Das  Geringste,  was  die  Zurückhleihenden  für  sie  tliun  können,  ist,  denen,  die  für 
Alle  bluten,  Erleichterung,  Erquickung  und  liebreichen  Beistand  zu  verschaffen.  Väter,  Mntter, 
Schwestern,  welch  ein  Trost  für  Euch,  wenn  für  die  leidenden  Söhne  und  Brüder  so  gesorgt 
wird,  wenn  eine  sanfte  Hand  die  schmerzende  Wunde  verbindet,  die  Schwachen  unterstützt 
und  aufrichtet.  Eilet  zu  geben,  was  Ihr  vermögt.  Die  Zeitgenossen  werden  Euch  segnen ; Euer 
schönster  Lohn  wird  der  stille  Dank  des  geretteten  Bruders  sein. 

Marianne,  Prinzessin  von  Preussen,  als  Obervorsteherin. 

Auguste,  Kurpriuzessin  von  Hessen. 

Wilhelm  ine,  Prinzessin  von  Oranien. 

Wilhelmine,  verwitwete  Prinzessin  von  Oranien 

Louise,  verwitwete  Erbprinzessin  zu  Braunschweig. 

Louise,  Prinzessin  von  Prenssen-Radziwill. 

Mehr  als  50  Jahre  später,  im  Februar  1864,  begründeten  die  Nach- 
kommen jener  Krauen  und  Männer  den  Preussischcn  Verein  zur  Pflege 
im  Felde  verwundeter  und  erkrankter  Krieger,  und  am  20.  April  1869 
einigten  sich  die  unter  verschiedener  Bezeichnung  bestehenden  Landesvereine 
dahin,  ihre  gemeinsamen  Angelegenheiten  durch  das  Central-Comit6  der 
Dcntschen  Vereine  vom  Kothen  Kreuz  besorgen  zu  lassen.  Als  gemein- 
schaftliche Aufgabe  wurde  bezeichnet: 

1.  Durch  ihre  Thiitigkeit  und  ihre  Mittel  die  fllr  einen  Kriegsfall  zur 
Aufnahme,  Pflege  und  Heilung  der  im  Felde  Verwundeten  und  Erkrankten 
geeigneten  Einrichtungen  an  Personal  und  Material  vorbereitend  zu  vervollkommnen 
und  zu  verstärken  und 

2.  bei  ausbrccheudem  Kriege  die  militärischen  Sanitätsbehörden  und 
Anstalten  mit  allen  ihnen  zu  Gebote  stehenden  Kräften  und  Mitteln  zu  unterstützen. 

Das  Central  Comit6  verfügte  1894  neben  den  Leistungen  der  Vereine  auf 
dem  Gebiete  der  freiwilligen  Krankenpflege  und  persönlichen  Hilfeleistungen  über 
1402  Pflegerinnen  und  251  Pfleger,  welche  von  Vereinen  und  Körperschaften 
ausserhalb  der  Organisation  auf  besondere  Verpflichtung  gestellt  werden.  Hierzu 
kommen  (für  1895)  5276  Mitglieder  der  Genossenschaft  freiwilliger  Krankenpfleger 
im  Kriege,  von  denen  1529  in  der  Verwundeten-  und  Krankenpflege  vollkommen 
ausgcbildet  sind , und  die  Mitglieder  der  Sanitäts-Colonnen  der  Kriegervereine. 
Die  Gesammlzahl  der  Sanitäts-Colonnen  betrug  Anfang  1895  in  Preussen  319  mit 
4126  zur  Verfügung  des  Ceutral-Comitös  stehenden  Mitgliedern;  in  den  anderen 
deutschen  Ländern  waren  1118  Colonnen  mit  1805  verfügbaren  Mitgliedern. 

Von  den  übrigen  Verbänden  ist  zu  erwähnen  der  am  12.  April  1867 
errichtete  Preussisohe  Vaterländische  Frauenverein,  welcher  in  Verbin- 
dung mit  und  als  Bestandteil  des  Prenssischen  Vereines  zur  Pflege  im  Felde 
verwundeter  und  erkrankter  Krieger  im  Kriege  seine  Fürsorge  auf  die  im  Felde 
Verwundeten  und  Erkrankten  richtet,  im  Frieden  bei  der  Linderung  ausserordent- 
licher Nothstände  Hilfe  leistet  und  durch  Ausbildung  von  Pflegerinnen,  Sorge  für 
Krankenhäuser  die  Krankenpflege  fördert. 

ln  den  ausserpreussischen  Landestheilen  sind  folgende  Vereine  vorhanden: 
der  Bayerische  Frauenverein,  der  sächsische  Albertverein,  der  Württem- 
bergische  Wohl  t hätigk  eits verein,  der  Badische  Fr auen verein , der  Hessische 
Alice- Frauen  verein , der  Frauenverein  für  das  Grossherzogthum 
Sachsen- Weitn ar  Eisenach,  der  Mecklenburgische  M arien -Fra uen verein, 
welche  am  12.  August  1871  in  Würzburg  zum 

Verband  der  Deutschen  Fraucn-Hilfs-  und  Pflegevereine 
zusammentraten; 

der  Frauen- Lazareth verei u zu  Berlin,  welcher,  seit  1866  bestehend, 
im  Kriege  die  Militärverwaltung  in  der  Pflege  verwundeter  und  erkrankter  Krieger 
unterstützt,  im  Frieden  freiwillige  und  bezahlte  Pflegerinnen  ausbildet,  haupt- 
sächlich das  am  6.  April  1870  eröflnete  Augusta-llospital  verwaltet; 


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KRANKENPFLEGE. 


315 


das  am  1.  Januar  1863  begründete  Victoriahaus  in  Berlin.  Die 
Anstalt  bezweckt  Ausübung  der  Armenkrankenptiege  und  der  Hospitalpflege.  Die 
Ausbildung  der  Pflegerinnen,  welche  in  den  städtischen  Krankenhäusern,  in  der 
chirurgischen  und  Universitäts-Frauenklinik  und  mehreren  anderen  Anstalten  in 
Berlin  und  auch  ausserhalb  der  Hauptstadt  thätig  sind,  geschieht  zum  Theil  im 
städtischen  Krankenhaus  in  Friedrichshain , wo  ein  besonderes  Pflegerinnenhaus 
vorhanden  ist.  Die  Anregung  zur  Errichtung  dieser  Anstalt  wurde  von  Rudolf 
VlRCHOW  gegeben,  welcher  empfahl,  in  dem  neuen  im  Oetober  1874  eröffneten 
städtischen  Krankenhause  (am  Friedrichshain)  Einrichtungen  zu  schaffen,  um  die 
Krankenpflege  entsprechend  den  modernen  Formen  des  Oesellschaftslebcns  in 
weltliche  Formen  einzuführen,  den  grössten  Theil  der  Krankenpflege  in  weibliche 
Hände  zu  legen  und  das  für  diesen  Zweck  nothwendige  Personal  selbst  auszubilden. 
Um  für  die  ganze  Stadt  eine  genügende  Zahl  von  Pflegerinnen  zu  erhalten,  sollte, 
da  diese  nur  in  einem  grösseren  Krankenhause  auszubilden  seien,  eine  Schule  für 
Pflegerinnen  bei  dem  neuen  Krankenhause  eingerichtet  werden.  Der  erste  Curaus 
fand  1877  statt.  Das  Viktoriahans  wurde  am  1.  Januar  1883  begründet.  Die 
Oberin  dieser  Anstalt  ist  gleichzeitig  Oberschwester  in  Friedrichshain  und  Vor- 
gesetzte der  daselbst  beschäftigten  Victoriaschwestern. 

Im  städtischen  Krankenhause  Moabit  werden  augenblicklich  Schwestern 
ansgebildet,  damit  in  späterer  Zeit  der  Bedarf  an  Pflegerinnen  in  den  städtischen 
Krankenanstalten  mit  „Städtischen  Schwestern“  gänzlich  gedeckt  werden  kann. 

Der  Hilfsschwesternverein  zu  Berlin  wurde  1875  von  der  Gräfin 
Rittberg,  welche  vor  wenigen  Wochen  aus  dem  Leben  geschieden,  begründet. 
Die  Stiftung  stellt  sich  die  Pflege  von  Kranken  ohne  Unterschied  des  Standes  und 
der  Confession  zur  Aufgabe.  Arme  werden  unentgeltlich  gepflegt.  Ein  Curatorium, 
welches  aus  vier  bis  acht  Herren  und  der  Oberin  des  Vereines  besteht,  vertritt 
die  Stiftung.  Der  Stiftung  wurden  1882  die  Rechte  einer  juristischen  Person  ver- 
liehen. Am  22.  September  1886  wurde  das  Schwesternheim  in  Neu-Babelsberg  für 
invalide  Schwestern  des  Vereines  eingeweiht.  In  den  Verein  werden  nur  ausge- 
bildete Pflegerinnen  nach  einer  Probezeit  von  sechs  Monaten  aufgenommen. 

Das  Märk  ische  Hans  für  Krankenpflege  in  Berlin  bezweckt  eine 
möglichst  grosse  Zahl  von  Pflegerinnen  auszubilden,  dieselben  in  einem  geschlossenen 
Verbände  zusammenzulialten  und  der  Bevölkerung  aller  Confessionen  und  Stände, 
jedes  Altera  und  beiderlei  Geschlechts  zur  Verfügung  zu  stellen,  der  Regel  nach 
gegen  Entgelt,  nöthigenfalls  aber  auch  ohne  Entschädigung  Die  Tbätigkeit  der 
Schwestern  bleibt  auf  die  Krankenpflege  beschränkt,  kann  jedoch  bei  der  ärmeren 
Bevölkerung  auf  eine  gleichzeitige  Unterstützung  in  der  Führung  des  Haushaltes 
ausgedehnt  werden.  Die  Pflege  in  Krankenhäusern  und  Kliniken  wird  nur  dann 
von  der  Schwesternschaft  übernommen,  wenn  diese  Anstalten  zugleich  als  Schule 
für  die  Pflegerinnen  dienen.  Ihre  Ausbildung  findet  im  städtischen  Krankenhause 
in  Hirechbcrg  in  Schlesien  statt,  jedoch  werden  auch  bereits  ausgebildete  Pflege- 
rinnen aufgenommen.  Letztere  heissen  Probeschwestern , erstere  Schülerinnen, 
während  die  Schwestern  die  nach  Beendigung  der  Lehr-  oder  Probezeit  Ange- 
stellten sind.  Invalide  Schwestern  erhalten  eine  Pension,  indem  die  ausgebildeten 
Schwestern  bei  der  Kaiser  Wilhelmsspende  mit  Vorbehalt  der  Rückzahlung  der 
Einlage  für  den  Fall , dass  eine  Schwester  vor  dem  Bezüge  einer  Rente  stirbt 
oder  lebend  ausscheidet,  eingekauft  werden.  Im  Jahre  1891  hatten  auf  der  Krankeu- 
abtheilung  des  Instituts  für  Infectionskrankheiten  zu  Berlin  Märkische  Schwestern 
die  Pflege  übernommen,  schieden  aber  zu  Ende  des  Jahres  aus  dem  Dienste  aus, 
um  sich  der  Privatkrankenpflege  zuzuwenden. 

Ausser  diesen  sind  noch  mehrere  andere  weltliche  Krankenpflegervereine 
und  Genossenschaften  vorhanden,  welche  besonders  Krankenpflegerinnen  für  private 
Pflegen  an  Familien  stellen. 

Die  katholischen  Orden  batten  1885  in  Deutschland  in  710  Nieder- 
lassungen 5470  barmherzige  Schwestern  und  383  barmherzige  Brüder. 


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316 


KRANKENPFLEGE. 


Die  evangelischen  Diakonissen  and  Diakone  haben  in  Deutschland  ihre 
bedeutendste  Verbreitung.  Die  erstcren  verrichten  nicht  alle  Dienste  als  Kranken- 
pflegerinnen, sondern  auch  als  Lehr-  und  Missionsschwestern. 

Der  rhcinisch-westphälische  Diakonissenverein,  die  wichtigste  Diakonissen- 
anstalt zu  Kaiserswerth,  hat  nach  § 1 seiner  „Grundgesetze,  auf  Grund  deren  er 
laut  Cahinetsordre  vom  20.  November  1846  die  Rechte  einer  moralischen  Person 
erhalten  hat.  den  Zweck:  „zum  Diakonissenamtc  im  apostolischen  Sinne 
evangelische  Christinnen  zu  bilden  und  dieselben  zur  Pflege  von  Kranken,  Armen, 
Kindern,  Gefangenen,  entlassenen  Sträflingen  und  ähnlichen  Hilfsbedürftigen,  zu- 
nächst in  den  rheinisch-westphälischen  Provinzen,  zu  verwenden.“  Es  ist  also  sein 
Bestreben,  die  vielfach  brach  liegenden  weiblichen  Kräfte  zu  allgemeinem  Nutz 
und  Frommen  in  den  Dienst  der  evangelischen  Gemeinde  zu  ziehen.  Die  Liebea- 
arbeit der  Diakonissen  erstreckt  sich  ohne  Unterschied  auf  Hilfsbedürftige  aller 
Confessionen,  soll  aber  nicht  Angehörige  andererer  Confessionen  zu  Proselyten  der 
evangelischen  Kirche  machen.  Kein  Gebiet  menschlicher  Noth,  auf  welchem  weib- 
liche Kräfte  überhaupt  helfen  können,  ist  von  der  DiakoniBsenarbeit  ausgeschlossen. 
Der  Natur  der  Sache  nach  theilt  sie  sich  in  zwei  Hauptgebiete,  in  die  Pflege 
Kranker  und  Armer,  und  den  Unterricht  und  die  Erziehung  von  Kindern.  Anf 
dem  erstcren  arbeiten  die  Pflege-,  auf  dem  anderen  die  Lehrdiakonissen. 

Der  Verein  steht  unter  der  Obhut  der  rheinischen  und  der  westphälischen 
Provinzialsynode,  deren  Präsides  oder  Assessoren  als  solche  Glieder  des  Vorstandes 
sind.  Unter  den  Vorstandsgliedern  muss  sich  stets  ein  praktischer  Arzt  befinden. 
Der  Vorstand  vertritt  den  Verein  nach  aussen  und  übt  alle  seine  Rechte  ans. 
Unter  ihm  wird  das  ganze  Werk  von  der  „Direction  der  Diakonissenanstalt“  ge- 
leitet, d.  h.  von  dem  Inspector,  der  ein  evangelischer  Geistlicher  ist,  und  der 
Vorsteherin , welche  beide  von  dem  Vorstand  des  Vereines  ernannt  werden  und 
ihr  Amt  laut  einer  ihnen  vom  Vorstand  ertheilten  Dienstanweisung  verwalten. 
Ankäufe  und  Veräusserungen  von  Grundstücken,  Neubauten,  Anstellung  von 
Beamten,  Uebernahme  neuer  oder  Kündigung  alter  Arbeitsfelder,  sowie  alle  nene 
Einrichtungen  unterliegen  der  Entscheidung  des  Vorstandes.  Der  Pastor  (Inspector) 
und  die  Vorsteherin  sind  die  Hauseltern  für  alle  Diakonissen.  Unter  ihnen  aber 
hat  sowohl  das  Mutterhaus,  wie  jedes  Toehterhans  oder  sonstiges  Arbeitsfeld  seine 
vorstehende  Diakonissin,  die  iudess  auch  nur  Schwester,  nicht  Oberin  genannt  wird, 
weil  man  sie  wie  die  ältere  Schwester  in  einem  Familienkreise  ansieht.  Sie  leitet 
nach  einer  Dienstesanweisung  und  einer  bestimmten  Haus-  und  Tagesordnung  die 
ihr  anvertrante  Anstalt  oder  Station,  so  dass  das  grosse  Ganze  sich  in  mehrere 
selbständige  Familien  oder  Haushaltungen  gliedert  und  doch  von  einem  Geiste 
beseelt  bleibt. 

Zur  Uebernahme  des  Diakonissenberufeg  im  Dienste  des  Vereins  sind  nur 
Jungfrauen  und  kinderlose  Witwen  evangelischen  Glaubens,  christlichen  Sinnes  und 
sittlichen  Wandels  fähig,  welche  das  18.  Lebensjahr  zurüeklegt  und  das  40.  nicht 
überschritten  haben.  Der  Uebernahme  des  Diakonissenamtes  geht  eine  nach  An- 
lagen, Kenntnissen  und  Erfahrungen  verhältnissmässig  kürzere  oder  längere  Probe- 
zeit vorher,  bei  welcher  der  frühere  Bildungsgang,  Anlage  und  Fähigkeit  jeder 
einzelnen  gewissenhafte  Berücksichtigung  findet.  Durchaus  freie  Selbstbestimmung 
und  schriftliche  Einwilligung  der  Eltern  oder  Vormünder  ist  Grundbedingung  der 
Aufnahme  in  die  Probezeit. 

Um  den  neuankotnmenden  Schwestern  in  unserem  grossen  Anstaltswesen 
das  verlassene  Familienleben  einigermassen  zu  ersetzen,  wohnen,  essen  und  schlafen 
sie  anfangs  in  der  sogenannten  Vorprobe  in  einem  kleineren,  trauten  Kreise  unter 
einer  älteren  Diakonisgin  als  ihrer  mütterlichen  Freundin  zusammen , bis  sie  in 
dem  neuen  Boden  Wurzel  geschlagen  haben  und  unter  uns  heimisch  geworden 
sind.  Die  praktische  und  theoretische  Vorbildung  der  Probeschwestern  geht  Hand 
in  Hand.  Sie  werden  in  ihrer  christlichen  Erkcnntuiss  vertieft  und  zu  allen  techni- 
schen Fertigkeiten  des  Berufes  augeleitct.  Freiwillige  Liebe  ist  die  Triebfeder, 


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KRANKENPFLEGE. 


317 


wodurch  jede  einzelne  dein  grossen  Anstaltsorganismus  gehorsam  und  willig  sich 
eingliedert.  Besondere  Geheimmittel  oder  methodistische  Veranstaltungen,  den  Willen 
zu  brechen  und  das  GemUth  gefügig  zu  maeben , von  denen  vielleicht  gefabelt 
wird,  existiren  nicht  und  taugen  auch  nicht.  Eine  Probeschwester,  welche  durch 
den  Geist  der  Kraft  und  Liebe  und  Zucht  sieh  nicht  regieren  lässt , würde,  als 
für  das  Diakonissenamt  nicht  geeignet,  von  uns  scheiden  müssen.  Hat  sie  dagegen 
im  Mutterhaus  angefangen,  sich  zu  bewähren,  so  wird  sie  zu  weiterer  und  all- 
seitiger Ausbildung,  zunächst  versuchsweise,  auf  verschiedene  auswärtige  Arbeits- 
felder gesandt,  wo  sie  beweisen  muss,  dass  sie  durch  ihren  Glauben  und  ihre  Liebe 
inneren  Halt  genug  hat,  um  auch  fern  vom  Mutterhaus  würdig  ihres  Berufes  zu 
wandeln.  Vor  der  Aufnahme  in  den  Kreis  der  eingesegneten  Schwestern  werden 
alle  in  Kaiserswerth  anwesenden  Diakonissen  um  ihre  Einwilligung  gefrngt.  Sie 
haben  das  Recht,  sich  mit  Gründen  gegen  die  Aufnahme  zu  erklären.  Bei  der 
Einsegnung  in  das  Amt  giebt  die  Diakonissin  das  Versprechen,  die  Pflichten  des 
Amtes  treu,  in  der  Furcht  Gottes  und  nach  seinem  heiligen  Wort  zu  erfüllen.  Ein 
Gelübde  findet  nicht  statt.  Mit  vollster  Freiheit  kann  jede  Diakonissin  zur  Pflege 
alter,  kranker  Eltern  zurückkehren,  wenn  diese  es  als  nothwendig  verlangen,  auch 
jederzeit  in  die  Ehe  treten.  Nur  wird  erwartet,  dass  sie  vor  einem  bindenden 
Verlöbnisse  dem  Mutterhause  offene  Mittheilung  macht. 

Jede  Diakonissin  ist  dem  betreffenden  Arzte  in  allen  medicinischen,  chirur- 
gischen und  diätetischen  Vorschriften  pünktlichsten  Gehorsam  schuldig.  Bei 
Männerkranken  übernimmt  sie  nur  diejenigen  Pflegeacte,  welche  für  ihr  Geschlecht 
sich  geziemen,  weshalb  ihr  ein  Hilfswärter  beigegeben  wird.  Bei  Sectionen  von 
Leichen  ist  sie  nicht  zugegen.  — Wie  die  Diakonissin  die  Helferin  des  Arztes 
in  den  leiblichen  Bedürfnissen  des  Kranken,  ist  sie  die  Gehilfin  des  geordneten 
Pfarramtes  in  den  geistlichen  Bedürfnissen  der  Pflegebefohlenen.  Wenu  ein  Kranker 
geistlichen  Trost  von  Seiten  der  Diakonissin  nicht  wünscht,  so  hat  diese  die  Weisung, 
ihren  Glauben  ohne  Worte  durch  den  Wandel  zu  beweisen. 

Die  Diakonissin  verwaltet  ihr  Amt  unentgeltlich.  Sie  erhält  aber  vom 
Mutterhause  Nahrung  und  Amtskleidung;  zur  Anschaffung  der  nothwendigen,  nicht 
zur  Amtstracht  gehörigen  Kleidungsstücke  empfängt  sie  ein  kleines  Taschengeld. 
Persönliche  Geschenke  von  Pflegebefohlenen  nimmt  die  Diakonissin  nicht  an.  Bei 
Arbeitsunfähigkeit  wird  sie  im  Falle  der  Mittellosigkeit  vom  Mutterhause  verpflegt, 
zu  welchem  Zwecke  schon  frühe  das  Feierabendhaus  gegründet  ward. 

Jede  Diakonissin  behält  vollständig  freie  Verfügung  über  ihr  Privatver- 
mögen , welches  nach  ihrem  Tode  auf  die  rechtmässigen  Erben  übergeht.  Mit 
ihren  Angehörigen  bleibt  die  Diakonissin  in  freier  Verbindung.  Alle  zwei  bis  drei 
Jahre  erhält  sie  vom  Mutterhause  die  Mittel,  zu  den  Ihrigen,  namentlich  zu  den 
Eltern,  zu  reisen. 

Jede  Diakonissin  übernimmt  freiwillig  den  Arbeitsposten,  welcher  ihr  vom 
Mutterhanse  angewiesen  wird.  Bei  ansteckenden  Seuchen  wird  sie  gefragt,  ob  sie  die 
gefahrdrohende  Arbeit  übernehmen  wolle.  Es  muss  constatirt  werden,  dass  noch  keine 
unserer  Diakonissen  gezagt  hat,  bei  ansteckenden  Krankheiten  ihre  Hilfe  anzu- 
bieten. Zur  Pflege  Geistes-  und  Gemlithskranker  wird  keine  Diakonissin  bestimmt, 
welche  Bedenken  tragen  sollte,  auf  diesem  Gebiete  thätig  zu  sein : ebenso  wird 
keine  Diakonissin  ohne  ihre  freie  Zustimmung  und  die  Erlauhniss  der  Eltern  in 
das  Ausland  gesendet.  Als  Lehrdiakonissen  werden  nur  diejenigen  ausgebildet, 
welche  sich  zum  Unterrichten  und  Erziehen  selbst  berufen  fühlen“. 

Nach  der  statistischen  Aufnahme  am  X.  April  1887  befanden  sich  im 
Deutschen  Reich  5450  staatlich  geprüfte  Heilgehilfen,  1614  männliche  Kranken- 
pfleger und  12.1*71  Krankenpflegerinnen,  von  denen  10.544  geistlichen  Genossen- 
schaften angehörten ; ausserdem  wurden  36.046  Hebammen  gezählt. 

Eine  neue  Vereinigung,  welche  die  oben  erwähnten  Nachtheile  der  bis 
berigen  Krankenpflegeverbände  in  glücklicher  Weise  zu  vermeiden  sucht,  und  deren 
Satzungen  und  Einrichtungen  in  vielen  Stücken  erheblich  von  denen  der  anderen 


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KRANKENPFLEGE. 


Verbünde  ab  weichen,  ist  der  Evangelische  Diakonie  verein  zu  Elberfeld,  an 
dessen  Spitze  der  bereits  genannte  Prof.  Zimmer  (Herborn)  steht.  Er  erkannte  mit 
richtigem  Blick,  dass  sowohl  für  den  Kranken,  die  Krankenanstalten,  wie  für  den 
Arzt  und  die  Kirche  gute  Krankenpflegerinnen  von  entscheidender  Bedeutung  sind, 
wie  er  dieses  in  einem  Aufsätze:  „Wie  gewinnen  wir  gebildete  Krankenpflege- 
rinnen ?“  treffend  auseinandergesetzt.  Er  suchte  durch  eine  geschickte  Vereinigung 
des  kirchlichen  mit  dem  weltlichen  Elemente  in  seinem  Krankenpflegerverbande 
allen  den  Interessen  zu  genügen , welche  in  den  bisher  bestehenden  Kranken- 
pflegegenossenschaften anscheinend  nicht  genügend  berücksichtigt  waren. 

Die  Interessen  des  „Verein  zur  Sicherstellung  von  Dienstleistungen  der 
evangelischen  Diakonie,  e.  Gen.  m.  b.  H.u,  wie  derselbe  mit  vollem  Namen  be- 
zeichnet wird,  befinden  sich  nicht  im  Widerspruch  mit  den  Interessen  der  die 
Schwestern  anstellenden  Krankenanstalten,  Kirchengemeinden  oder  Einzelpersonen. 
Die  Ausbildung  der  Schwestern  geschieht  nicht  in  eigenen,  selbständigen,  sondern 
in  vorhandenen  Krankenhäusern.  Der  Verein  w urde  am  11.  April  1894  in  Ellier- 
feld  begründet  und  besitzt  einen  Vorstand  und  Aufsichtsratb. 

Das  Töchterheim  des  evangelischen  Diakonievereines  will  Töchter  ge- 
bildeter Stände  zu  sittlich  und  wirthschaftlich  selbständigen  Persön- 
lichkeiten heranbilden.  „Unsere  Töchter  müssen  mit  klarem  Bewusstsein  zu 
sittlicher  und  wi rt hschaftlicher  Selbständigkeit  erzogen  werden  nach 
den  Grundsätzen : „Jeder  Mensch,  auch  die  unverheiratete  Frau,  muss  einen  Beruf 
haben11  und  : Mädchen  müssen  so  erzogen  werden,  dass  sie  tüchtige  Hausfrauen 
und  Mütter  sein  können,  aber  auch  zu  selbständigem  Berufsleben  befähigt  sind.“ 
Hoffentlich  gelangen  diese  Grundsätze  in  allen  Bevölkerungskreisen  zur  Aner- 
kennung und  Durchführung,  ln  Folgendem  sollen  die  Ziele  und  Zwecke  der  Anstalt 
genauer  dargelegt  werden. 

Das  Institut  erstrebt  eine  Sicherstellung  von  Dienstleistungen  der  ev.  Diakonie.  Die 
Genossenschaft  will  durch  ihre  Veranstaltungen  sichern  (§.  11  der  Vereins- Statuten) 

1.  „allen  ihren  Mitgliedern  für  den  Krankheit*-  oder  sonstigen  Bedürfnisslall  die 
Dienste  zuverlässiger  und  geschulter  evangelischer  Pflegerinnen); 

2.  denjenigen  ihrer  Mitglieder,  die  als  Pflegerinnen)  der  Genossenschaft  ihren  Beruf 
in  dem  evangelischen  Sinne  dienender,  barmherziger  Liebe,  ohne  Eigennutz,  Selbstgefälligkeit 
und  Unduldsamkeit  nach  dem  Beispiele  des  barmherzigen  Samariters  üben,  gesicherten  Lebens- 
unterhalt, Pension  und  in  Kranklieits-  oder  sonstigen  Bedürfnissfällt-n  als  Berechtigung  anzu- 
sprechende Unterstützung.“ 

Dem  ersteren  Zwecke  dient  die  Gewinnung,  Ausbildung  und  Tüchtigerhaltung  ge- 
eigneter Kräfte,  dem  zweiten  die  genossenschaftliche  Organisation  derselben  mit  ihrem  ideellen 
und  materiellen  Rückhalt. 

I.  Gewinnung  und  Ausbildung  für  Diakoniedienste. 

Die  Diakonissenhäuser  haben  im  letzten  Jahrzehnt  etwa  dieselbe  Zahl  an  Schwestern 
erreicht,  zu  der  vorher  ganze  vier  Jahrzehnte  erforderlich  waren.  Das  ist  ein  grossartiger 
Aufschwung.  Und  doch  steht  die  Zahl  der  vorhandenen  Diakonissen  in  gar  keinem  Verhältnis» 
zu  dem  Bedürfnisse.  Das  ist  Thatsache.  Und  es  ist  ferner  Thatsache,  dass  es  wesentlich  die 
Organisation  des  Mutterhauses  ist,  in  die  so  viele,  sonst  für  dienende  Liebesthätigkeit  wohl 
geeignete  und  bereite  Jungfrauen  sich  nicht  finden  können.  Es  ist  nicht  der  religiöse  Ernst 
der  Diakon issenhänser.  an  dem  man  sich  im  allgemeinen  stüsst ; im  Gegeotheil,  die  interkon- 
fessionellen Vereine  gestalten  sich  in  Wirklichkeit  immer  mehr  in  religiös  bestimmter  Richtung 
aus.  einfach  weil  die  tägliche  Pflege  von  Kranken  und  Sterbenden  nothwendig  das  religiöse 
Empfinden  wachruft.  Aber  die  mit  der  Mutterhausorganisation  nothwendig  verbundene  Be- 
schränkung der  Bewegungsfreiheit  und  Selbständigkeit  findet  Widerspruch;  je  grösser  die 
Mutterhäuser  werden,  je  weniger  also  sie  ihrem  Vorbilde,  der  Familie,  gleichen,  um  so  mehr 
wird  diese  Eigentümlichkeit  von  vielen  als  ein  Mangel  empfunden,  über  dem  man  daa  gross- 
artige Verdienst  dieser  Häuser,  die  Krankenpflege  zur  Diakonie,  zu  wirklicher  Liebesthätigkeit 
erhoben  zu  haben,  oft  ganz  vergisst.  Das  ist  bedauerlich,  aber  es  ist  eine  Thatsache,  mit  deT 
man  rechnen  muss. 

Hier  ist  nun  der  Ev.  Diakonieverein  eingetreten,  nicht  als  Gegner  der  bestehenden 
Mutterhäuser  — dies  wäre  Wahnsinn  und  Verbrechen  zugleich  — , sondern  zu  ihrer  Ergänzung 
und  Entlastung.  Wir  suchen  die  Kreise,  bei  denen  die  Mutterhäuser  im  grossen  Ganzen  ver- 
geblich angeklopft  haben,  in  einer  ihnen  vielleicht  zusagenderen  Weise  für  die  Diakonie  zu 
gewinnen  und  in  derselben  tüchtig  zu  erhalten.  Dies  ist  in  erfreulicher  Weise  gelungen  Wir 
haben  mehr  Anmeldungen,  und  die  in  unsere  Anstalten  Aufgenommenen  haben  sich  bisher  besser 


oogle 


KRANKENPFLEGE. 


319 

bewährt,  als  wir  je  zu  hoffen  gewagt  hätten.  Dabei  sind  die  Anforderungen  in  unseren  Anstalten 
für  Erlernung  der  Krankenpflege  nicht  geringe,  nicht  blos  im  Interesse  der  Krankenpflege 
selbst,  sondern  anch  im  Interesse  der  Ausbildung  zur  Pflegerin;  denn  gründliche  Ausbildung 
fängt  von  der  Pike  an,  wenn  sie  auch  natürlich  nicht  bei  der  Pike  bleibt.  Und  gründlich 
muss  und  soll  die  technische  Ausbildung  unserer  Schwestern  werden;  sie  kann  es  aber  um  so 
mehr  sein,  je  mehr  sie  in  die  volle  Arbeit  einführt. 

Gewinnung  und  Ausbildung  geeigneter  Kräfte  für  die  Diakonie  ist  die  erste  Bedingung, 
soll  der  Ev.  Diakonieverein  seinen  Mitgliedern  für  den  Krankheit«-  oder  sonstigen  Bedürfnissfall 
die  Dienste  zuverlässiger  und  geschulter  Pflegerinnen)  sichern. 

Die  gewonnenen  und  ausgebildetcn  Persönlichkeiten  sind  ferner,  wenn  sie  in  den 
Schwesternverband  eintreten,  verpflichtet,  gegen  Entgelt  im  Allgemeinen  nur  bei  Mitgliedern 
der  Genossenschaft  Pflege  anszuüben ; im  Einzelnen  muss  ihnen  natürlich  die  volle  Freiheit 
bleiben,  innerhalb  dieser  Schranken  ihre  Arbeit  zu  thnn  nach  ihrer  eigenen  Wahl.  So  weit 
als  möglich  sind  damit  den  Interessenten  die  persönlichen  Kräfte  gesichert. 

II.  Die  Tüchtigerhaltung  im  Di  ako n ie  d i en st. 

Der  grösste  Beweis  für  die  Tüchtigkeit  der  Leistungen  der  Mutterhäuser  ist  es,  dass 
es  in  weiten  Kreisen  kaum  für  möglich  angesehen  wird,  ausserhalb  des  Mutterhaus- Verbandes 
wirklich  Diakonie  zu  üben.  Man  stellt  gern  den  den  Mutterhäusern  angehürigen,  „ohne  Entgelt“ 
arbeitenden  Schwestern  die  ..Lohn Wärterinnen“  gegenüber.  Aber  jeder  Arbeiter  ist  seines  Lohnes 
werth.  auch  wenn  er  die  Arbeit  ganz  ohne  Rücksicht  auf  Gewinn,  nur  aus  barmherziger 
Liebe  gethan  hat,  und  auch  in  den  Mutterhäusern  wird  die  Arbeit,  wie  es  Pflicht  ist,  gelohnt. 
Nicht,  wie  man  oft  zu  denken  scheint,  die  geringe  Bezahlung  macht  die  Krankenpflege  zur 
Diakonie,  sondern  das  Herz,  mit  dein  dieselbe  geübt  wird.  Das  Herz  aber  können  Institutionen 
nicht  machen  und  nicht  umwandcln.  Auch  die  Diakonissinnen  bleiben  Menschen ; das  wissen 
sie  selbst  gar  wohl  Ist  nach  dieser  Richtung  ein  Unterschied  zwischen  Mutterhäusern  und 
uns.  so  ist  es  der,  dass  dort  mehr  der  Gehorsam,  bei  uns  mehr  die  Selbstentacheidung  und 
Selbstverantwortlichkeit  betont,  und  dass  in  den  Diakonissenhänsern  der  Glaube  von  vornherein 
gefordert,  von  uns  mehr  gesucht,  von  beiden  Seiten  aber  gefördert  wird.  Liebe  kann  hier 
wie  dort  und  dort  wie  hier  gedeihen.  Denn  sie  wird  gedeihen,  wo  irgend  Menschen  sind,  die 
die  ewige  Liebe  an  sich  erfahren,  die  Liehe,  die  den  Sünder  sucht  und  zurechtbringt, 
mag  man  nun  von  diosem  Glauben  des  Herzens  gern  fröhlich  in  grösserem  Kreise  Zengniss 
ablegen  oder  ihn  lieber  still  in  seines  Herzens  Schrein  verschliessen  und  ihn  nur  durch  Thaten 
der  Liebe  bekunden. 

Allerdings  ist  die  Stellung  der  Krankenpflegerin,  wenigstens  in  der  Form  der  freien 
Privatpflege,  so  mannigfach  gefährdet,  dass  ein  Vergleich  mit  der  durch  amtliche  Anstellung 
nach  innen  und  aussen  gesicherten  Lehrerin  nicht  Stich  hält.  Die  alleiustehenden  Pflegerinnen 
haben  und  empfinden  am  lebhaftesten  selbst  das  ßedürfuiss,  einem  grösseren  genossenschaftlichen 
Ganzen,  das  sie  trägt,  anzugehören,  nicht  blos.  um  sich  materiell  sicher  zu  stellen,  sondern 
auch  um  sich  innerlich  tüchtig  zu  erhalten. 

Diesem  Zwecke  soll  der  Sch  Western  verband  des  Ev.  Diakonievereins  dienen.  Ihm 
fehlt  allerdings  der  örtliche  Mittelpunkt  des  „Mutterhauses“,  welcher  durch  die  Ausbildungs- 
stätte nur  theil weise  ersetzt  werden  kann.  Aber  die  Gemeinsamkeit  der  religiösen  Grundlage 
des  Bildungsgrades,  der  Ausbildung,  des  Berntes  und  der  Selbständigkeit  im  Beruf,  ganz  zu 
geschweigen  der  Gemeinschaft  der  materiellen  Interessen,  wird  aller  Psychologie  und  Geschichte 
nach  genügen,  den  genossenschaftlichen  Geist  zu  schaffen,  der  doch  auch  in  den  Mutterhäusern 
das  eigentlich  Tragende  ist,  und  der  durch  regen  persönlichen  und  brieflichen  Verkehr 
gepflegt  werden  wird. 

III.  Die  Sicherstellung  im  Diakoniedienst. 

Wiederholt  Lst  an  uns  die  Frage  gestellt  worden,  ob  wir  den  von  uns  ausgebildeten 
Krankenpflegerinnen  etc.  dauernde  Arbeit  nnd  lebenslängliche  Versorgung  verbürgen  können? 
Die  Antwort  darauf  giebt  die  einfache  Erwägung  unserer  Organisation.  Das  Diakonie-Seminar 
ist  lediglich  eine  Ansbildungastätte ; es  kann  seine  Schülerinnen  wohl  empfehlen,  wenn  es  sie 
als  empfehlenswert h gefunden  hat,  aber  anstcllen  kajin  es  sie  so  wenig,  wie  ein  Lehrerinnen- 
Seminar  die  von  ihm  aasgebildeten  Lehrerinnen  anznstellen  vermag.  Auch  der  Diakonie-Verein 
kann  keine  Anstellung  gewährleisten;  denn  er  unterhält  keine  eigenen  Krankenhäuser  u.  dgl., 
sondern  ist  lediglich  der  ehrliche  Makler  zwischen  zwei  auf  einander  angewiesenen  Bedürfnissen, 
indem  er  vermittelt,  dass  diejenigen,  die  Pflegerinnen  etc.  bedürfen,  wie  Krankenhäuser,  Asyle. 
Kindergärten,  Gemeinden,  Private,  mit  denjenigen,  die  Diakoniodienste  tüchtig  gelernt  haben 
nnd  zu  leisten  gewillt  sind,  bekannt  und  einig  werden.  Wie  gross  das  Bedürfniss  nach  tüchtigen 
und  durchgebildeten  Pflegerinnen  und  wie  gross  der  dafür  gewährte  Entgelt  ist.  lässt  sich 
von  keiner  Seite  verbürgen  ; auch  die  Mutterhäuser  können  lebenslängliche  Versorgung  selbst- 
verständlich nur  unter  der  Voraussetzung  versprechen,  dass  sie  dauernd  Arbeit  und  Einnahmen 
ha!>en.  Noch  für  lange  Zeit  aber  fehlt  es  nicht  an  Nachfrage,  wohl  aber  an  Angebot  von 
Pflegerinnen,  wenigstens  von  solchen,  die  durch  genossenschaftlichen  Halt  die  Gewähr  dafür 
zu  gel*en  scheinen,  dass  sie  aus  Liebe,  nicht  des  Erwerbes  wegen  ihren  Beruf  ausüben ; Krank- 
heiten werden  überhaupt  nicht anfhören,  und  Kinder,  die  erzogen  und  gepflegt  werden  müssen, 
wird  es  ja  wohl  auch  dauernd  geben.  An  Arbeit  also  fehlt  es  nicht,  und  je  mehr  die  Kranken- 


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320  KRANKENPFLEGE. 

pflege  und  die  Kleinkindererziehung,  Haushaltung*-  und  Handarbeitsunterricht  etc.  kunstmassig 
betrieben  wird  und  also  gelernt  werden  muss,  um  so  grosser  wird  die  Zahl  derjenigen  werden, 
die  in  diesen  Thätigkeiten  ihren  dauernden  Lebensheruf  Anden  können.  Aufgabe  unseres 
Sch western- Verbandes  ist  es  zunächst,  für  die  Tüchtigkeit  seiner  Angehörigen  zu  sorgen;  damit 
aber  ist  — es  müssten  denn  unsere  ganzen  Verhältnisse  von  Grund  aus  andere  werden  — 
auch  für  ihre  dauernde  Beschäftigung  und  ihren  Unterhalt  gesorgt. 

Aber  die  Frage  ist: 

1.  Werden  dieselben  immer  die  für  sie  passende  Arbeitsstätte  finden? 

2.  Wie  erhalten  sie  sich  die  nöthige  Kraft  uud  Frische  in  der  Arbeit? 

3.  Wie  wird  für  sie  in  den  Zeiten  der  Noth  und  des  Alters  gesorgt? 

Am  einfachsten  ist  das  erste  Problem  gelöst,  nämlich  durch  die  Stellenvermittelungs- 
einrichtungen  des  Vereins. 

Ungleich  schwieriger  ist  die  Lösung  der  zweiten  Aufgabe.  Es  fehlt  zwar  noch  an 
statistischen  Grundlagen  zu  zahtenmässigem  Nachweis,  aber  es  scheint  kein  Zweifel,  dass  die 
Krankenpflege  durch  allerlei  körperliche  und  seelische  Anforderungen  bei  allem  unaussprech- 
lichen Glück,  das  sie  gewährt,  doch  die  Kräfte  oft  vorzeitig  aufbraucht.  Wir  geben  deshalb 
schon  unseren  Pflegeschülerinnen  die  Gelegenheit  und  den  Antrieb,  neben  der  Krankenpflege 
(der  Pflege  sowohl  körperlich  wio  psychisch  Kranker)  noch  einen  anderen  Zweig  der  Diakonie 
zu  lernen,  um  mit  demselben  in  ihrer  Diakoniethätigkeit  abwechseln  zu  können ; denn  unnöthig 
sich  aufreiben  ist  nicht  nach,  sondern  gegen  Gottes  Willen.  Die  Curse,  die  wir  zur  Ergänzung 
bieten,  sind  solche,  für  die  auch  ohjectiv  Bedürfnisse  sich  Herausstellen : in  der  Pflegediakouie 
die  Geburtshilfe  und  Frauenpflege,  in  der  Lehrdiakonie  die  Leitung  des  Kindergartens  und 
die  Ertheilung  des  Haushalts-,  des  Handarbeit«-  und  des  GesundheitslehrunterrichteM  durch 
eine  durchgebildete  Lehrschwester,  endlich  in  der  Wirthschaftsdiakonie  die  Leitung  von  An- 
stalts-  oder  Privatwirtschaften  durch  Damen  mit  weiterem  Blick  und  reicherer  Erfahrung. 

Ausser  der  Möglichkeit  der  Abwechslung  in  der  Arbeit  sieht  der  Verband  aber  ancb 
eine  Sicherstellung  seiner  Mitglieder  gegen  Ausnutzung  und  Abnutzung  seiner  Kräfte  vor.  So 
verwunderlich  es  ist,  so  unzweifelhaft  ist  es  doch,  dass  viele,  auch  sonst  verständige  Leute 
von  einer  Krankenpflegerin  fast  anzunehmen  scheinen,  sie  brauche  überhaupt  keine  Nachtruhe, 
und  auch  in  Krankenhäusern  können  wohl  tüchtige  Schwestern  Über  alle  Massen  angestrengt 
werden.  Hier  tritt  der  Verband  ein.  indem  er  seine  Mitglieder  verpflichtet,  ihrerseits  sich  nur 
nach  den  von  ihm  gutgeheissenen  Allgemeinen  Bestimmungen  anstellen  zu  lassen  und  andrerseits 
nach  längerer  ununterbrochener  Pflegethätigkeit  längeren  Urlaub  zu  nehmen  oder  mit  der  Art 
der  Thätigkeit  abzuwechseln.  Was  wir  seitens  des  Vereins  thun  können,  geschieht  somit,  um 
die  Gefahren  einer  dauernden  und  wechsellosen  Ansübung  der  Krankenpflege  zu  beseitigen. 

Die  letzte  Aufgabe  ist  die  Sorge  für  Zeiten  der  Noth  und  des  Alters.  Das  Princip 
ist  das  der  Selbsthilfe  in  der  Genossenschaft,  das  Hauptmittel  die  Hilfscasse  des  Vereins. 

Die  Höhe  der  Beiträge  für  dieselbe  — mindestens  100  Mark  jährlich  — mag  allerdings 
im  ersten  Augenblick  für  solche,  die  mit  der  Versicherungstechnik  nicht  vertraut  sind,  exorbitant 
erscheinen.  Aber  man  beachte  Folgendes:  Erstlich  ist  die  Summe  gering  gegenüber  derjenigen, 
die  man  seitens  der  eine  Pensionsberechtigung  zugestehenden  Krankenanstalten  für  den  Pensions- 
fonds rechnet.  Eine  grosse  norddeutsche  Staats-Krankenanstalt  z.  B.  zahlt  jährlich  200  Mark 
für  jede  Pflegerin  in  den  Pensionsfonds;  diese  Summe  aber  ist  für  die  Versicherte  ganz  ver- 
loren, wenn  sie  aus  der  betreffenden  Anstalt  ausscheidet.  Nicht  anders  bei  der  Rentenver- 
sicbernng  Ein  30jähriger  z.  B.  der  sich  eine  Leibrente  von  500  Mark  sichern  will,  muss  bei 
dem  u.  W.  billigsten  Versicherung« insti tut  (dem  Preussischen  Beamtenverein)  jährlich  85,50  Mark 
Prämie  zahlen,  wenn  er  die  Rente  vom  (>0.  Lebensjahre  an,  und  gar  221,50  Mark,  wenn  er 
sie  vom  50.  Lebensjahre  an  erhalten  will;  und  bei  vorzeitiger  Invalidität  oder  sonstigen  Unfällen, 
die  ihn  die  Prämienzahlung  einzustellen  zwingen,  erhält  er  höchstens  die  eingezahlten  Prämien 
ohne  Zinsen  und  mit  Abzug  von  5°/0  zurück.  Dagegen  ist  die  Einzahlung  in  die  Hilfscasse, 
wie  sie  von  den  Verbacdsmitgliedern  gefordert  wird,  gering,  und  der  für  den  Pensionsfonds 
bestimmte  Tkeil  derselben  verbleibt  überdies  ganz  und  mit  vollen  Zinsen  dem  Mitgliede  selbst. 
Es  sind  nur  &ll9% 0 des  Baargehaltes  (mindestens  10  Mark  jährlich),  die  der  Hilfscasse  verfallen, 
eine  Versicherungsprämie,  wie  die  Prämien  in  der  Krankencasse,  der  Feuerversicherung  u.  dgl. 
30°/§  (mindestens  DO  Mark)  sind  nichts  anderes  als  Ersparnisse,  an  denen  man  das  unbe- 
schränkte Eigenthnmsrecht  behält,  und  die  man  nur  gezwungen  wird  zu  sparen  und  zur  Er- 
zielung eines  höheren  Zinsertrages  in  der  Hilfscasse  anzn legen  Eine  Verbandsschwester,  die 
aus  dem  Verbände  ausscheidet,  erhält  ihr  ganzes  Guthaben  unverkürzt  und  mit  Zinsen  und 
Zinseszinsen  zurück,  ganz  so.  als  hätte  sie  in  eine  andere  Sparcasse  eingezahlt,  und  nur  mit 
dem  Unterschiede,  dass  sie  über  die  Belegung  ihrer  Ersparnisse  bei  der  Hilfscasse  selbst  mit 
zu  bestimmen  hat,  bei  einer  anderen  Sparcasse  nicht. 

Bei  Mutterhäusern,  pensionsberechtigten  Krankenhäusern  und  Schwesternverbänden 
erlöschen  mit  dem  Austritt  aus  dem  betreffenden  Hause  oder  Verbände  alle  Rechte  an  den 
Pensionsfonds.  In  solchen  Vereinigungen  kann  also  eine  Schwester  nicht  nach  freier  Wahl 
nnd  eigenem  Bedürfniss  ihre  Arbeit  sich  suchen.  Dem  Schwesternverbande  des  Ev.  Diakonie- 
vereines dagegen  ist  es  völlig  gleichgiltig,  wo  und  in  welcher  Arbeit  eine  Schwester  thätig 
ist,  wenn  sie  nur  überhaupt  Diakoniedienste  leistet ; wenn  der  Verhand  ein  Interesse  hat,  so  ist  es 
lediglich  das,  dass  seine  Mitglieder  gerade  da  arbeiten,  wo  sie  selbst  am  liebsten  arbeiten,  weil  dies 
im  Allgemeinen  die  beste  Gewähr  dafür  giebt,  dass  sie  die  Arbeit  dort  am  besten  aushalten. 


KRANKENPFLEGE. 


321 


Deshalb  kann  der  Ev.  Diakonieverein  auch  solchen  seiner  Mitglieder,  die  sich  einem 
Mutierhause  oder  Schwestern  verbände  anschliessen.  einigermassen  die  Vergünstigungen  seiner 
Hilfscasse  zugänglich  machen.  Zwar  wird  es  di©  Mutterhaus-  und  Schwestcrnverbands-Organi- 
sation  im  allgemeinen  nicht  znlassen,  dass  ihnen  ungehörige  Glieder  zugleich  Mitglieder  unseres 
Verbandes  sind,  wohl  aber  können  sie  als  Vcreinsmitglieder  ihre  Ersparnisse  in  den  Sparfonds 
der  Hilfscasse  einzahlen,  und  die  Einzahlungen  werden  ihnen  innerhalb  der  auch  für  die  Ver* 
handssch' Western  gütigen  Grenzen  von  da  an  als  Pensionsfonds-Guthaben  gerechnet  und  verzinst, 
wo  sie  als  Verbandsmitglieder  aufgenommen  werden.  Wir  ermöglichen  auf  diese  Weise  den  von 
uns  ausgebildeten  Schwestern  in  andere  Verbände  zu  treten,  ohne  durch  deren  Pensionsbe- 
rechtigung an  dieselben  dauernd  wider  ihr  eigenes  Interesse  gebunden  zu  sein. 

Auch  Heimstätten  haben  wir  für  unsere  Verbandsschwestern  geschaffen,  vorerst, 
dem  gegenwärtigen  Bedürfnisse  entsprechend,  nur  für  vorübergehenden  Aufenthalt  dienstfreier 
Schwestern  in  unsein  beiden  Töchterheimen.  Spater  sollen  solche  auch  für  dauerndes  Bleiben 
iolgen.  Im  Uebrigen  soll  auch  in  dieser  Beziehung  den  Schwestern  volle  Selbständigkeit  ver- 
bleiben, die  Tage  ihres  Alters  zuzubringen,  wo  und  wie  sie  wollen,  nur  geschützt  vor  Ent- 
behrung und  Noth  durch  die  Gemeinschaft. 

Satzungen  des  Schwesternverbandes  des  Ev.  Diakonievereines. 

§ I.  Der  Schwesternverband  des  Ev.  Diakonievereines  („Diakonieverband“)  soll 
seinen  Mitgliedern  den  Halt  einer  durch  ideelle  und  materielle  Interessen  eng  mit  einander 
verbundenen,  aber  die  persönliche  Freiheit  nicht  beschränkenden  Gemeinschaft  geben.  Er  soll 
den  Verbandsschwestern  („Herborner  Diakoniesch Western“)  ermöglichen,  ohne  Sorge  um  das 
tägliche  Brot  und  um  die  Zukunft  sich  den  Liebesdiensten  der  Ev.  Diakonie  zu  widmen.  Und 
andererseits  soll  er  durch  Zuchtübung  innerhalb  der  Gemeinschaft  selbst  dieselbe  fleckenloserhalten. 

§.  2.  Allen  Diakonieschwestern  gemeinsam  ist  der  Wunsch  und  das  gegenseitige 
Versprechen,  Diakoniedienste  im  evangelischen  Sinne  dienender,  barmherziger  Liebe  ohne 
Eigennutz,  Selbstgefälligkeit  und  Unduldsamkeit  nach  dem  Beispiele  des  barmherzigen  Sama- 
riters zu  üben.  Sie  stellen  sich  sainmtlich  unter  die  stete  eigene  und  gegenseitige  Prüfung 
ihres  Handelns  und  Wandeins  nach  der  Richtschnur  des  Evangeliums.  Jede  Schwester  wird 
nach  bestem  Wissen  und  Gewissen  jeder  nndern  schwesterliche  Helferin  und  Seelsorgerin  sein, 
ihr  bei  etwaiger  Verfehlung  wrie  bei  Bekämpfung  von  Charaktorfchlern  in  Sanftmuth  und 
Geduld  zurecht  helfen,  wo  aber  wiederholte  private  Ermahnungen  vergeblich  gewesen  sein 
sollten,  oder  wo  eine  Ausschreitung  die  ganze  Schwesternschaft  entehren  würde,  furchtlos  und 
wahrheitsgetreu  und  mit  vollem  Eintreten  ihrer  ganzen  Person  dem  Ausschüsse  Anzeige  erstatten. 

§.  3.  Im  l’ebrigen  verbleibt  den  Diakonieschwestern,  soweit  sie  nicht  durch  Gewissen. 
Gesetz  und  diese  Satzungen  beschränkt  sind,  die  volle  Freineit  und  Selbsteutscheidung,  wie 
die  volle  Verantwortlichkeit.  Insonderheit  kann  keine  Diakonieschwester  durch  den  Schwestern 
verband  genöthigt  werden,  wider  ihren  Willen  eine  Stelle  anzunehmen  oder  aufzugehen  (doch 
vergl.  §.7,  b,  3;  9 und  10). 

§.  4.  Als  Diakoniescliweßtern  sind  nur  evangelische  Jungfrauen  oder  Witwen  von 
durchaus  makellosem  Wandel  und  Ruf,  von  voller  Gesundheit,  von  tüchtiger  Allgemeinbildung 
und  von  genügender  Kenntnis«  und  Uebung  in  wenigstens  einem  Diakoniefache  aufnehmb&r, 
wenn  sie  Mitglieder  des  Ev.  Diakonievereines  sind  und  nicht  bereits  einem  anderen  Schwestern- 
verbande  oder  Mntterhause  angehören. 

Ihre  Aufnahme  können  diejenigen  Diakonieschülerinnen  beantragen,  die  nach  wenigstens 
einjähriger  Lernzeit  in  Abtheilungen  des  Diakonieseminars  ein  ohne  Einschränkung  befriedigendes 
Examen  in  der  Pflegediakonie  (1.  allgemeine  Krankenpflege,  2.  psychische  Krankenpflege, 
3.  Geburtshilfe  und  Frauenpflege)  oder  in  der  Lehr-  oder  Wirtschaftsdiakonie  abgelegt,  haben, 
deren  Zulassung  nicht  seitens  des  Vorstandes  ihrer  Ausbildungsstättc  Widerspruch  erfährt,  und 
die  bei  eingehender  ärztlicher  Untersuchung  gesund  befunden  werden. 

Wie  weit  bei  einer  anderweitig  genossenen  Ausbildung  ein  Antrag  auf  Aufnahme 
iu  den  Schwesternverband  zulässig  ist,  bestimmt  in  jedem  einzelnen  Falle  der  Ausschuss.  Als 
Grundsatz  gilt  dabei,  dass  Schwestern  aus  Mutterhäusern  (Diakonissinnen  oder  Schwestern 
des  Vereines  zum  rothen  Kreuz  ctc.),  auch  wenn  sie  aus  ihren  Mutterhäusern  bereits  ausge- 
treten sind,  nnr  im  Einverständnis.«  mit  diesen  Aufnahme  finden. 

S-  5.  Jeder  Antrag  auf  Aufnahme  in  den  Schwesternverband  wird  innerhalb  Monats- 
frist nämmtlichen  Diakonieschwestern  vorgelegt.  Jede  von  diesen  hat  das  Recht  und,  soweit 
sie  die  beantragende  Persönlichkeit  kennt,  die  Verpflichtung,  binnen  einem  Monat  ihr  Urtheil 
über  dieselbe  rückhaltlos  abzugehen.  Auf  Grund  dieser  Gutachten,  die  er  streng  vertraulich 
zu  behandeln  hat,  lochliesst  der  Ausschuss  über  die  Zulassung.  Die  Zngclassenen  werden 
beim  nächsten  Schwestemtage  in  festlicher  Handlung  in  den  Schwestern  verband  aufgenommen. 

Ohne  weiteres  werden  auf  ihren  Antrag  die  Oberinnen  der  Aushildungsstatten 
des  Vereines  als  Diakonieschwestern  zugelassen;  nur  der  ärztlichen  Untersuchung  müssen 
sie  genügen. 

$.  G.  Nicht-Aufgenommene,  sowie  diejenigen  für  die  Diakonie  ausgebildeten  Persön- 
lichkeiten. die  nach  §.  4 ihre  Aufnahme  in  den  Schwesternverband  überhaupt  nicht  erwarten 
dürfen,  haben,  so  lange  sie  Mitglieder  des  Vereines  sind,  Anrecht  auf  die  Benutzung  des 
Sparfonds,  sowie  — in  Concurrenz  mit  Diakonieschwestern  diesen  nachstehend  — des  Da  rieh  ns- 
funds,  der  Stellenvermittlung  und  der  Heimstätten  (§.  8,  a,  1 — 3). 

Encyclop.  Jahrbücher.  VI. 


21 


322 


KRANKENPFLEGE. 


Werden  solche  später  in  den  Sch western verband  aufgenommen,  so  «erden  ihre 
etwaigen  in  den  Sparfonds  eingezahlten  Einlagen  auf  ihren  Antrag  innerhalb  der  §.  8.  c.  2 
gesetzten  Grenzen  als  Pensionsfonds-Gut  haben  behandelt. 

§.  7.  Oer  Austritt  aus  dem  Verbände  geschieht 

a)  freiwillig  unter  einfacher  Anzeige  an  den  Ausschuss; 

b)  ohne  weiteres 

1.  beim  Austritt  oder  Ausschluss  aus  dem  Ev.  Diakonieverein;  2 wenn  eine  Diakonie- 
schwcster  ohne  besondere  Genehmigung  des  Ausschusses  länger  als  ein  Jahr  die  geregelte 
Ausübung  der  Diakoniethätigkeit  (als  Kranken*,  Asyl-,  Frauen-,  Lehr-,  Wirthschafts-.  Gemeinde- 
oder  Missionsschwester)  oder  ihre  Beiträge  für  die  Hilf9rasse  einstellt;  3.  wenn  eine  Kranken- 
oder Asylschwester,  die  10  Jahre  hindurch  ohne  längere  Unterbrechung  gepflegt  hat,  oder  dir 
nach  begründetem  Urtheil  des  Ausschusses  durch  ihre  Pflegethätigkeit  unverhältnissmassig 
angestrengt  wird,  der  Aufforderung  des  Ausschusses,  sich  (durch  Abwechselung  mit  einer 
anderen  Diakoniethätigkeit,  wie  Geburtshilfe,  Lehr-,  Wirthschafts-  oder  Missionsdiakonie,  oder 
durch  Wechsel  der  Stellung,  oder  durch  mehrmonatliches  völliges  Ausrohen}  vor  vorzeitiger 
Ermüdung  zu  bewahren,  nicht  Folge  leistet, 

c)  als  letztes  Disciplinarmittel,  durch  den  Ausschuss  verhängt,  in  Fallen  grober 
Pflichtverletzung  — wozu  für  Pflegeseh  Western  namentlich  auch  eigenwillige**  Hinwegsetzen 
über  die  Anweisungen  der  Aerzte  und  Kurpfuscherei  gehört  — bei  anstössigem  Lebenswandel 
und  wenn  aus  sonstigen  Gründen  eine  Schwester  allgemein  das  Vertrauen  der  Schwesternschaft 
verloren  hat  Gegen  eine  derartige  Disciplinarentschcidung  steht  der  davon  Betroffenen  Berufung 
an  die  Generalversammlung  zu. 

Die  Ausgeschiedenen  verlieren  Namen,  Rechte  und  Abzeichen  der  Diakonieschwestem  : 
ihr  Pensionsfondsguthaben  wird  ihnen  nach  §.  H,  c,  2 unverkürzt  und  mit  Zinsen  zurückgegeben. 

§ 8.  Alle  Diakonieschwestern  sind  in  gleicher  Weise 

r?>  berechtigt  zur  Benutzung  aller  Wohlfahrtseinrichtungen  des  Sch  Western  verbände« 
nach  deren  besonderen  Bestimmungen,  nämlich  1.  der  Stellenvermittlungseinrichtungen  ; 2.  der 
Hilfscasse,  und  zwar  a)  des  Sparfonds  für  Anlegung  ihrer  Ersparnisse;  b)  des  Darlebnsfond« 
für  Entnahme  von  Darlehen,  c)  des  Penriousfonds  zur  Altersversorgung;  d)  des  Unterstützungs- 
fonds, aus  dem  sie  bei  vorzeitiger  Invalidität  und  bei  sonstigen  Xotbstanden  nach  Massgabe 
des  Bedürfnisses  und  der  verfügbaren  Mittel  Unterstützung  zu  beanspruchen  haben;  3 der 
für  erholungsbedürftige  und  dienstfreie  Schwestern  geschaffenen  Heimstätten , sowie  zur  Theil* 
nähme  an  den  Schwesterntagen  und  an  den  Schwestern-Rundbriefen ; 

b)  verpflichtet  zur  ideellen  und  materiellen  Förderung  des  Schwestern  verbände?, 
indem  sic  1.  in  ihrer  Diakoniethätigkeit  sich  nach  den  vom  Scliwesterutage  beschlossenen 
Allgemeinen  Bestimmungen  richten,  besonders  sich  nur  nach  diesen  bei  entgeltlichen  Leistungen 
anstellen  lassen ; 2.  wenn  sie  Tracht  tragen,  was  ihnen  von  Seiten  des  Sch western Verbandes 
frei  gestellt  wird,  ohne  besondere  Genehmigung  des  Ausschusses,  nur  die  Tracht  des  Schwestern- 
verbände«  anlegen;  3.  für  den  Unterstützungsfonds  der  Hilfscasse  3*/,%  ihres  Baargeli altes 
(freie  Dienstkleidung  eingerechnet),  mindestens  aber  jährlich  10  Mark  beitragen;  4-  für  die 
eigene  Person  bestimmte  Geschenke  von  Geld  und  Geldeswerth  ablehnen  und  der  Hilfscasse  zuführen  ; 

c)  berechtigt  und  verpflichtet  zugleich  1.  das  durch  Eintraguug  in  die  Zeichenrolle 
gesetzlich  geschützte  Verbandsabzeichen  — eine  silberne  Brocke  mit  stilisirter  Rose  und 
kleinem  Krenz  in  deren  Mitte  — zu  tragen  das  sie  beim  Austritt  zurück  zügele  n haben  : 
2.  falls  nicht  anderweitig  ihre  Altersversorgung  nach  dem  Urtheile  des  Vereinsvorstandes  aus- 
kömmlich gesichert  ist,  in  den  Pensionsfonds  307#  ihres  Baargehaltea  (freie  Dienstkleidung 
eingerechnet),  mindestens  aber  jährlich  90  Mark,  höchstens  180  Mark  einzuzahlen,  die  durch 
die  von  der  Generalversammlung  festgesetzten  Antheile  vermehrt  und  bei  der  Pension irung 
zur  Beschaffung  einer  Leibrente  verwendet,  bei  früherem  Ausscheiden  aber  auf  Antrag  der 
Ausscheidenden,  wenn  der  Antrag  innerhalb  0 Monaten  nach  dem  Austritt  gestellt  und  das 
Verbandsabzeichen  zurückgeliefert  ist,  unverkürzt  und  mit  der  Verzinsung  des  Sparfonds 
zuruckgegeben  werden. 

§.  9 Alle  in  der  Krankenpflege  ausgebildeten  deutschen  Diakonieschwestern  sind  bei 
Krieg  und  Seuchen,  soweit  s;e  irgend  abkömmlich  sind,  zum  Dienste  des  Vaterlandes  bereit 
und  werden  einem  dahingehenden  Rufe  des  Directors  des  Ev.  Diakonie  vereinen  ungesäumt  folgen. 

§.  10.  Nur  diejenigen  Diakonieschwestern,  die  fünf  Jahre  hindurch  Mitglieder  des 
Schwestern  verbände»  gewesen  sind,  haben 

a)  das  active  und  passive  Wahlrecht  zum  Ausschüsse; 

b)  das  Recht,  ohne  besonderer  Genehmigung  des  Ausschusses  sich  als  selbständige 
Pflegerin  etc.  (ohne  amtliche  Anstellung)  niederzulassen. 

Für  die  Gemeinde-  und  die  Privatpflege  dürfen  sich  nur  solche  Diakouiescbvrestern 
melden,  die  einen  Cursus  in  der  Wochenpflege  durchgetnacht  haben. 

11.  Die  Organe  des  Sch  Western  verbandes  sind  1.  der  Ausschuss,  2.  der  Schwestern  tag. 

§-  12.  Der  Ausschuss  besteht  aus 

a)  dem  (durch  einen  Stellvertreter  vertretbaren)  Directordes  Vereines  als  Vorsitzendem  ; 

b)  zwei  vom  Vereinsvorstande  abzuordnenden  Mitgliedern; 

c)  drei  vom  Schwesterntage  für  3 Jahre  gewählten  Diakonieschwestern,  von  denen 
jährlich  je  eine  ausscheidet,  der  Reihe  nach,  in  den  beiden  ersten  Jahren  nach  dem  Lose. 
Die  Ausscheidenden  sind  erst  nach  einem  Jahre  wieder  wählbar.  Während  der  ersten  fünf 


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Jahre  sind  diene  Ausschussmitglieder  die  gegenwärtigen  Oberinnen  der  ältesten  drei  Anstalten 
( Anna  Margarethe  van  Helden- El herfeld  , Marie  Bruns- Bremen,  Katharina  Wittenburg-Cassel), 
die  den  Stamm  der  Diakonieschwestern  bilden. 

§.  13.  Hem  Ausschuss  liegt  die  Besorgung  der  laufenden  Geschäfte  des  Schwestern- 
verbandes ob,  insonderheit  die  Aufnahme  von  Diakonieschwestern,  wozu  sie  die  Personalien 
sorgfältig  zu  prüfen  und  vertrauliche  Erkundigungen  bei  Vorgesetzten  und  Verbandsschwestern 
einzuziehen  haben,  und  die  Disciplin  innerhalb  des  Verbandes,  ferner  die  Oberleitung  der 
Stellenvermittelungs-Einrichtungen,  die  Prüfung  und  Entscheidung  bei  Gesuchen  um  Unter- 
stützungen oder  Darlehen  aus  der  Hilfscasse  u*  dergl.  Gegen  Mehrheitsbeschlüsse  des  Aus- 
schusses steht  dem  Vorsitzenden  ein  suspensives  Veto  bis  zur  Entscheidung  durch  die  General- 
versammlung des  Vereines  zu. 

§.  14.  Der  Schwesterntag,  der  durch  den  Ausschuss  nach  Bedürfnis«  berufen  wird, 
dient  persönlicher  Berührung  und  der  gemeinsamen  Besprechung  der  Angelegenheiten  des 
Schwesternverbandes.  Er  hat  ferner  den  Ausschuss  zu  wählen  (§.  10)  und  die  ncuanfgenommenen 
Verbandsschwestem  in  die  Schwesternschaft  einzuführen  (§.  5). 

Neben  diesen  beiden  Abtheilungen  des  Diakonievereines  besteht  das 
Diakonieseminar , in  dessen  erster  Hauptabtheilung  für  Pflegediakonie  die  Aus- 
bildung der  Schwestern  in  allen  Zweigen  der  Krankenpflege  geschieht.  Es  sollen 
die  leitenden  Grundsätze  auch  dieser  Abtheilung  hier  im  Wortlaut  angeführt  werden. 

Hauptabtheilung  fiir  Pflegediakonie. 

A.  Ahtheilung  für  allgemeine  K rankenpflege. 

I.  Eigene  Ausbildung*  Stätte  des  Ev.  Diakonie  Vereines  in  den  städtischen 
Krankenanstalten  zu  Elberfeld  ( Arrenhergerstrasse,  nahe  dem  Bahnhöfe  Elberfeld-Steinbeck). 

1.  Das  Diakonie-Seminar  steht  unter  der  Aufsicht  eines  eigenen  (Kuratoriums  (folgen 
Namen)  und  unter  unmittelbarer  Leitung  einer  Oberin,  die  zugleich  Oberin  der  städtischen 
Krankenanstalten  und  Mitglied  des  (Kuratoriums  ist. 

2.  Die  Schülerinnen  des  Diakonie-Seminars,  Schwestern  angeredet,  haben  allen 
Unterricht  unentgeltlich,  ebenso  Wohnung,  Beköstigung  und  Reinignog  der  Wäsche  gleich  den 
angestellten  Schwestern  der  Krankenanstalten.  Unter  Anleitung  der  Stationsschwestern  und 
mit  denselben  haben  sie  sich  allen  Dienstleistungen  und  Verrichtungen,  welche  mit  der  Kranken- 
pflege verbunden  s»nd  (wozu  auch  das  Reinhalten  der  Krankenzimmer  und  der  Geschirre  ge- 
hört) zu  unterziehen.  Sie  haben  während  ihres  Lernjahres  in  und  ausser  dem  Hause  die  von 
den  städtischen  Krankenanstalten  vorgeschriebene  (und  gegen  Bezahlung  von  ca.  20  Mark 
für  zwei  Kleider  gelieferte)  Tracht  zu  tragen.  Die  Haare  werden  glatt  gescheitelt  getragen. 

Zu  geeignetem  Familienanschluss  wird  Gelegenheit  geboten. 

3.  Die  Ausbildung  erstreckt  sich  auf  die  allgemeine  Krankenpflege  in  Theorie  und 
Präzis  (hierin  wird  der  Unterricht  von  Aerzten  der  städtischen  Krankenanstalten  ertheilt), 
die  Gesundheitsichre,  Religion  und  die  Grundziige  der  Bürgerkunde,  der  Psychologie  und  der 
Pädagogik. 

4-  Eine  Probezeit  von  b Wochen  geht  der  Aufnahme  voraus.  Nach  Ablauf  derselben 
entscheidet  das  (Kuratorium  über  die  Aufnahme.  Schon  vorgebildeten  Schwestern  kann  durch 
das  Curatorium  die  Probezeit  auf  die  Lernzeit  angerechnet  werden. 

5.  Die  Lern-  und  Uebungsseit,  die  für  die  Aufgeuommenen  nach  der  Probezeit  folgt, 
währt  in  der  Regel  1 Jahr.  Fiir  tägliche  ausreichende  Erholung  und  Bewegung  im  Freien  ist 
gesorgt,  und  die  zweckmässige  Ausnutzung  der  Erholungszeit  den  Diakonieschülerinnen  zur 
Pflicht  gemacht.  Jeden  zweiten  Sonntag  Nachmittag  haben  sie  zu  ihrer  Verfügung.  Regelmässiger 
einmaliger  Kirchgang  an  Sonn-  und  Feiertagen  wird  gewährleistet  und  erwartet,  aber  nicht 
erzwungen. 

(i.  Nach  der  einjährigen  Lernzeit  haben  die  Diakoniescbülerinnen  das  Examen  für 
allgemeine  Krankenpflege  abzulegen,  worüber  ein  Zeugnis*  ausgestellt  wird. 

7.  Der  Austritt  aus  dem  Seminar  ist  jederzeit  gestattet,  muss  aber  dein  Curatorium 
mindestens  14  Tage  vorher  angezeigt,  werden. 

II.  Fremde  Ausbildungsstätten,  die  dem  Ev.  Diakonie  verein  orten  stehen. 
Mitglieder  des  Ev.  Diakonievereines  werden  durch  unsere  Vermittlung  unter  den  Bedingungen 
der  Elberfeld  er  Seminarahtheilung  (unentgeltliche  Ausbildung  in  einjährigem  (Kursus  ohne 
Verpflichtung  für  die  Zukunft  und  mit  der  Freiheit,  jederzeit  auszutreten)  auch  in  die 
Pflegerinnonschule  des  Augustahospitals  in  Berlin  uud  in  die  Pflcgcrinnensclmle  des  Neuen 
Allgemeinen  Krankenhauses  in  Hamburg-Eppendorf  aufgenommen.  Jedoch  haben  diese  Anstalten 
das  Interesse,  die  von  ihnen  ausgebildeten  Schülerinnen  gegen  entsprechendes  Honorar  längere 
Zeit  noch  in  ihrem  eigenen  Dienst  zu  behalten ; sie  bieten  deshalb  bereits  den  Schülerinnen 
im  zweiten  Halbjahr,  wenn  sie  dieselben  zn  längerem  Bleiben  verpflichten,  ein  Taschengeld, 
und  umgekehrt  sind  wir  nicht  wohl  in  der  Lage,  ihnen  solche  Schülerinnen  zuzuweisen,  die 
von  vornehcrein  entschlossen  sind,  nur  das  Lernjahr  in  der  Anstalt  zuzubringen.  Nur  denjenigen 
j tarnen,  die  die  Krankenpflege  zum  Lcbensberufo  machen  wollen,  können  wir  also  empfehlen, 
«ich  für  eine  dieser  beiden  Pflegerinnenschulen  anzumelden.  Die  näheren  Bedingungen  sind 
durch  den  Vorstand  des  Ev.  Diakonievereines  zu  erfragen;  für  diejenigen,  die  «ich  nach 

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KRANKENPFLEGE. 


einem  halben  Jahre  nicht  binden  wollen,  bleiben  es  die  Bedingungen  von  Elberfeld.  Diese 
beiden  Ausbildungsstätten  stehen  übrigens  auch  Katholikinnen  offen.  — Nur  auf  der  Frauen- 
und  Kinderstation  werden  Mitglieder  des  Ev.  Diakonievereines  in  unentgeltlichem  Curaus  im 
Frauen  krankenhause  der  Diakonenstalt  zu  Duisburg  ausgebildet. 

B.  Abtheilung  für  psychische  Krankenpflege. 

Fast  jede  acute  Krankheit  kann  mit  Seelenstorungen  verbunden  sein;  namentlich 
bei  hohem  Fieber  und  bei  Blutvergiftungen  sind  oft  die  Kranken  wie  körperlich,  so  auch 
geistig  ganz  besonders  reizbar,  und  Fieberdelirien  geben  vorübergehend  bei  sonst  geistig  Gesunden 
dasselbe  Krankheitsbild,  unter  welchem  allein  sich  der  Laie  den  Irrsinn  vorzustellen  pflegt. 
Die  psychische  Erkrankung  erfordert  aber  eine  psychische  Behandlung.  Und  so  gehört  zor 
völligen  Durchbildung  in  der  körperlichen  Krankenpflege  genau  genommen  auch  die  Kenntnis* 
und  Ucbung  psychischer  Krankenhehandlung 

Noch  weniger  fast  kann  die  Gemeindcpflegerin  eine  solche  missen.  Rechnet  man 
doch  auf  1000  Einwohner  3 — 5 Geisteskranke,  die  zum  grössten  Theile  nicht  in  Anstalten 
Aufnahme  finden,  sondern  im  bürgerlichen  Leben  bleiben,  als  Sonderlinge  verlacht,  als  Träumer 
verspottet,  als  gutmüthige  Schwachköpfe  ausgenützt,  als  unzuverlässige  Charaktere  verurtbeilt. 
als  unleidliche  Nachbarn  gemieden  oder  ausgcscholten,  und  erst,  wenn  Vergehen  gegen  Sitte 
und  Sittlichkeit  sie  mit  dem  Volksbewnsstsein  oder  mit  dem  Strafgesetzbuch  in  Conflict  ge- 
bracht haben,  als  das  erkannt,  was  sie  sind : arme,  bedauernswerthe  Kranke.  Wie  viel  Hysterische 
- um  nur  ein  Beispiel  anzuführen  — vergällen  ihren  Angehörigen  das  Leben,  weil  diese  die 
Krankheit  nicht  als  solche  erkennen,  und  gerathen  durch  den  fortdauernden  Widerspruch,  den 
ihr  Verhalten  hervorruft,  nur  immer  tiefer  in  ihr  Leiden  hinein  ! 

Je  weniger  diese  Erkenntnis*  zur  Zeit  noch  Allgemeingut  ist,  um  so  mehr  muss  cs 
sich  der  Ev.  Diakonieverein  angelegen  sein  lassen,  die  Gelegenheit  zur  gründlichen  Aneignung 
der  psychischen  Krankenpflege  zu  bieten  und  dazu  einladen,  dass  dieselbe  auch  seitens  geistig 
geforderter  Damen  benutzt  wird. 

Gelernt  werden  kann  die  psychische  Krankenpflege  nur  in  den  Anstalten  für  Psychisch- 
Kranke,  weil  hier  die  ganze  Aufmerksamkeit  auf  die  psychische  Behandlung  gerichtet  wird. 
Nur  hier  und  nur  in  längerer  Ucbung  wird  man  lernen  ruhig  und  scharf  beobachten,  psychische 
Leiden  wie  Reizbarkeit.  Melancholie,  gesteigerte  Atfecte  nml  Triebe  als  Krankheit  verstehen 
und  sich  selbst  in  der  Gewalt  haben,  ohne  je  die  Ruhe  zu  verlieren.  Man  fürchte  sich  nicht 
vor  der  Pflege  in  solchen  Anstalten.  Eine  wirklich  modern  eingerichtete  Irrenanstalt  hat 
keinerlei  Aehnlichkeit  mit  einem  Gefängniss,  wie  man  gemeinhin  glaubt,  sondern  ist  ihrem 
Wesen  und  ihrem  Aussehen  nach  nichts  anderes  als  ein  Krankenhaus. 

Unsere  Ausbildungsstättcn  für  psychische  Krankenptlege  sind  das  städtische  Sanct 
Jürgen-Asyl  zu  Bremen  (Director  I)r.  Scholz)  und  die  Privatanstalt  von  Dr.  J.  Waldschmidt 
zu  Westend  bei  Berlin. 

Die  Ausbildung  erstreckt  sich  auf  die  psychische  Krankenpflege  in  Theorie  und 
Praxis  nnd  auf  die  Elemente  der  Psychologie,  zugleich  auf  eine  allgemeine  Krankenpflege  und 
Gesundheitslehre. 

Eine  Probezeit  von  6 Wochen  geht  der  Aufnahme  voraus.  Nach  Ablaaf  derselben 
entscheidet  die  Anstaltsdirection  über  die  Aufnahme. 

Die  Lern-  nnd  Uebnngszeit,  die  für  die  Aufgenommenen  nach  der  Probezeit  folgt, 
währt  in  der  Regel  1 l/*  Jahr,  für  Schülerinnen,  die  bereits  die  allgemeine  Krankenpflege 
erlernt  haben,  1 Jahr. 

Nach  der  Lernzeit  haben  die  Schülerinnen  ein  Examen  für  psychische  Krankenpflege 
abznlegen  und  können  dann  aus  der  Anstalt  ausscheiden  oder,  wenn  Platz  ist,  in  ihrem 
Dienste  verbleiben. 

Sonstiger  Anstritt  aus  der  Anstalt  ist  jederzeit  gestattet,  sobald  seitens  des  Diakonie- 
Vereines  für  Ersatz  gesorgt  ist,  was  voraussichtlich  stets  in  einigen  Tagen  geschehen  kann. 

Nach  der  Probezeit  erhalten  die  aufgenommenen  Schülerinnen  an  Gebalt  (ausser 
völlig  freier  Station): 

1.  In  Bremen  jährlich  24(3  Mark,  steigend  jährlich  um  20  Mark  bis  zum  Höchst  - 
betrage  von  400  Mark,  wobei  die  bereits  ira  Krankendienst  erworbene  Altersstufe  angerechnet 
wird,  and  Anspruch  auf  Pensionirung. 

2.  In  Westend  im  ersten  Jahre  eine  monatliche  Vergütung  von  20  Mark,  für  die 
erste  Hälfte  des  zweiten  Jahres  Ü4  Mark  monatlich,  nach  dieser  Lernzeit  bei  längerem  Ver- 
bleiben in  der  Anstalt  ein  entsprechendes,  bis  zn  45  Mark  für  den  Monat  steigendes  Gehalt. 

Im  übrigen  gelten  die  besonderen  Bestimmungen  der  Hausordnung  jeder  Anstalt, 
die  auf  Wunsch  von  den  Directoren  derselben  mitgethuilt  werden.  — 

Gleich  der  Gemeindepflegerin  sollte  auch  die  Erzieherin  (Lehrerin,  Kindergärtnerin. 
Kinderfräulein  und  vielleicht  auch  die  zukünftige  Mutter)  sich  einige  Kenntniss  psychischer 
Krankenbehandlung  aneignen.  Denn  abnorme  Seelenzustände  treten  auch  schon  im  Kindesalter 
sehr  häutig  anf,  werden  aber  häutig  in  Haus,  Kindergarten  und  Schnle  gar  nicht  erkannt  und 
erfahren  dann  eine  durchaus  verkehrte  und  darum  verfehlte  Behandlung.  Psychopathisch  dis- 
ponirte  Kinder,  zumal  wenn  schon  die  Eltern  nervös  oder  sie  anderweit  erblich  behaftet  sind, 
können  jedoch  nur  durch  frühzeitige  sorgfältige  und  sachkundige  Behandlung  vor  Nervosität 
und  Schlimmerem  bewahrt  werden.  Wo  aber  finden  sich  bisher  Erzieherinnen,  die  solche  psy- 


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KRANKENPFLEGE. 


cbische  Kinderpflege  gelernt  haben?  Wir  sind  nun  in  der  Lage,  auch  in  dieser  zwischen  Pflege- 
nnd  Lehrdiakonie  mitten  innesteher den  Specialität  für  eine  beschränkte  Anzahl  Schwestern 
eine  Gelegenheit  zu  wirklich  fachgemässer  Ausbildung  zu  bieten.  Je  nach  Vorbildung  und  Be- 
fähigung Anden  sie  unter  ähnlichen  Bedingungen,  wio  die  der  Elberfclder,  Bremer  und  West- 
ender  Anstalten,  Aufnahme  in  der  Erziehung«-  und  Heilanstalt  für  Knaben  und  Mädchen  mit 
geschwächter  oder  fehlerhafter  Veranlagung  auf  der  Sophienhöhe  bei  Jena. 

C.  Abtheilung  für  Frauenpflege. 

Es  ist  Thatsache,  dass  ein  grosser  Theil  der  so  häufigen  Frauenkrankheiten  zu  spät 
zu  ärztlicher  Kenntnis»  kommt,  erst  dann,  wenn  eine  Heilung  nur  schwer  oder  gar  nicht  mehr 
möglich  ist.  Die  Gründe  liegen  theils  in  der  Unbekanntschaft  mit  dem  Sitze  der  Krankheit,  theils 
in  der  natürlichen  Schamhaftigkeit,  die  in  diesen  Fragen  die  Hilfe  des  Arztes  scheut,  theils 
io  der  Mittellosigkeit,  die  oft  genug  am  Wichtigsten  zu  sparen  zwingt,  namentlich  wenn  dessen 
Werth  noch  nicht  genügend  erkannt  ist. 

Es  ist  ferner  Thaisache,  dass  die  Ursache  vieler  schwerer  Frauenkrankheiten  in  den 
ärmeren  Volkskreisen  nur  der  Mangel  einer  gesunden  Geburt«-  und  Wochenbetthygiene  ist. 
Sterben  doch  selbst  am  Kindbettfieber,  das  durch  Sauberkeit  und  aseptische  Behandlung  nahezu 
gänzlich  zu  beseitigen  wäre,  in  Preussen  allein  noch  jährlich  7000—8000  Wöchnerinnen,  und 
wie  gross  und  zahlreich  die  Schäden  sind,  die  durch  mangelnde  Pflege  der  Wöchnerin,  durch 
za  frühes  Aufstehen  etc.  hervorgerufen  werden,  spottet  der  Beschreibung. 

Hier  liegen  für  die  Diakonie  überaus  wichtige  Aufgaben  vor. 

Der  Punkt,  an  dem  wir  unsererseits  glauben  helfend  eingreifen  zu  können,  ist  eine 
gründlichere  Ausbildung  unserer  Pflegerinnen.  Wir  streben  darnach,  dass  wenigstens  alle  die- 
jenigen Pflegerinnen,  welche  sich  der  Privatpflege  widmen,  auch  einen  Curaus  für  Wochenpflege 
durchmachen , und  dass  ein  Theil  der  Pflegeschwestern  auch  die  Frauenpflege  und  Geburts- 
hilfe erlernt. 

1.  Die  Wochenpflege.  Wir  bieten  zur  Erlernung  der  Wochenpflege  eine  doppelte 
Möglichkeit : eine  Vierteljahrsansbildung  in  einer  Universitätsklinik  (Giessen),  die  denjenigen, 
namentlich  älteren,  Damen  empfohlen  sein  mag,  die  sich  auf  die  Wochenpflege  überhaupt  be-  N 
schlanken  wollen  oder  müssen,  urd  einen  Sechswochencursus  in  mehreren  Wöchnerinnenasylen 
(Magdeburg.  Düsseldorf  u.  x.  w.),  der  der  Ausbildung  in  der  allgemeinen  Krankenpflege  folgt 
oder  für  diese  als  Vorcuraus  dient,  in  welch  letzterem  Falle  er  nicht  nur  den  Pflegeschülerinnen 
selbst  wie  dem  Verein  rasch  ein  einigermassen  zutreffendes  Urtheil  über  die  Fähigkeit  der 
Bewerberinnen  zur  Krankenpflege  gestattet,  sondern  zugleich  ihnen  den  Blick  öffnet  für  die 
Wichtigkeit  der  Wochenbetthygiene. 

Die  Bedingungen  sind  im  Allgemeinen  die  folgenden: 

Die  Ausbildung  erstreckt  sich  auf  die  gesammte  Wocbenbettbygiene  und  die  prak- 
tische Hebung  in  der  Wochen-  und  Säuglingspflege.  Für  Wohnung,  Kost  und  Wäsche  ist  eine 
Entschädigung  von  1 Mark  pro  Tag,  in  Giessen  bei  dreimonatlichem  Curaus  etwas  weniger 
zu  entrichten. 

Die  Schülerinnen,  Pflt gerinnen  genannt,  tragen  im  Pflegedienste  einfache  (am  liebsten 
helle)  Waschkleider  und  weisse  Schürzen,  die  sie  selbst  zu  stellen  haben.  Das  Haar  soll  einfach 
gescheitelt  sein. 

Nach  Ablauf  der  Lehrzeit  unterzieht  der  Director  der  Anstalt  die  Schülerin  einer 
Prüfung  nnd  fertigt  ein  Zeugniss  aus. 

Genügt  einer  Pflegerin  die  so  gefundene  Thätigkeit , so  steht  es  ihr  durchaus  frei, 
sich  derselben  ohne  jede  Rücksicht  auf  den  Diakonieverein  zu  widmen.  (Der  Magdeburger  Aus- 
bildungsstätte  gegenüber  übernimmt  sie  nur  die  Verpflichtung,  als  berufsmässige  Wochen pflegerin 
sich  entweder  im  Verbände  der  Asylgenossenschaft  in  oder  bei  Magdeburg  oder  bei  freier 
Stellung  ohne  besondere  Genehmigung  seitens  des  Asylvorstandes  nicht  innerhalb  der  Provinz 
Sachsen  niederzulassen.  Der  Anschluss  an  die  Asylgenossenschaft  gewährt  eine  feste  Lebena- 
stellung;  die  Bedingungen  sind  durch  Dr.  Brennecke  in  Magdehurg-S.  zu  erfahren.) 

2.  Die  Geburtshilfe  und  Frauenkrankenpflege.  Dass  ein  grösserer  Bruch- 
tbeil  unserer  Pflegerinnen  die  Geburtshilfe  lernt,  wünschen  wir  vor  Allem  deshalb,  damit  mög- 
lichst überall  auch  in  kleineren  Orten  und  selbst  auf  dem  Lande,  mit  der  Gemeinde-  und  Privat- 
plieüestation  ein  Wöchnerinnen-Asyl  verbanden  werden  kann , wie  dies  immer  mehr  als  Be- 
dürfnis« der  Geburt«-  nnd  Woehenbetthygiene  erkannt  wird.  So  ansgebildete  Diakonieschwestern 
werden  neben  ihrer  sonstigen  Gemeindepflegethätigkeit  die  Wöchnerinnen-Asylo  als  Oberinnen 
leiten  nnd  dem  in  erfreulicher  Arbeit  an  seiner  Selbst bessemng  begriffenen  Hebammenstande 
als  moralischer  und  technischer  Rückhalt  dienen,  sein  Vertrauen  umso  leichter  gewinnend  und 
sich  erhaltend,  als  sie  gar  nicht  in  die  Lage  kommen,  ihm  sein  Brod  irgend  zu  schmälern. 

Wir  wünschen  aber  auch,  dass  unsere  Pflegerinnen  mehr  lernon,  als  die  Geburtshilfe  Sie  sollen 
durch  sorgfältige  theoretische  Unterweisung  und  durch  genügende  Uebung  dahin  gebracht 
werden,  dass , indem  sie  einen  gewissen  Blick  für  Frauenkrankheiten  erhalten  und  gewisse 
Fragen  bei  Frauenleiden  zu  stellen  und  zu  beantworten  gelernt  haben,  sie  gerade  durch  ihre 
gründlichere  Bildung  die  Noth Wendigkeit  des  rechtzeitigen  Eingreifens  des  Arztes  erkennen, 
durch  ihr  moralisches  Uebergewicht  für  diese  Ueberzeugung  auch  die  Leidenden  gewinnen  und 
diesen  durch  ihre  Begleitung  den  gefürchteten  Schritt  zum  untersuchenden  Arzte  erleichtern. 

So,  glauben  wir,  wird  der  Gefahr  zahlreicher  Frauenleiden  zeitig  und  wirksam  vorgebeugt 


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KRANKENPFLEGE. 


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werden,  indem  der  im  Gebiet  der  Behandlung  von  Frauenleiden  besonders  nahe  liegenden  Car- 
pfuscherei  entgegengearbeitet  wird. 

Denjenigen  Damen,  die  als  Evangelistinnen  und  zugleich  als  Pflegerinnen  und  Frauen- 
ärztinnen in  die  Mission,  namentlich  im  Orient,  zu  gehen  beabsichtigen,  werden  ausserdem, 
soweit  dies  möglich  ist,  die  noth wendigsten  frauenärztlichen  Kenntnisse  mitgegeben  werden 

Ausser  den  natürlich  auch  für  unsere  Schülerinnen  zugänglichen  öffentlichen 
Hebammenschulcn  bietet  eine  spectell  für  Diakon iesch Western  eingerichtete  Ausbildnngsstätte 
an  der  gynäkologischen  Klinik  in  Bonn  — und  zwar  diese  unentgeltlich  — Gelegenheit  znr 
Erlernung  der  Geburtshilfe. 

Aus  den  Satzungen  des  Diakonievereines  lauten  die  wesentlichsten 
Paragraphen : 

§.  1.  Der  unter  dem  heutigen  Tage  begründete  „Evangelische  Diakonieverein“,  rechts- 
verbindlich zeichnend  unter  der  Firma  „Verein  zur  Sicherstellung  von  Dienstleistungen  der 
evangelischen  Diakonie,  eingetragenene  Genossenschaft  mit  beschränkter  Haftpflicht"*,  regelt 
seine  Angelegenheiten,  soweit  dies  nicht  durch  das  Genossenschaftsgesetz  vom  1.  Mai  1889 
geschieht,  durch  folgende  Bestimmungen. 

§.  2 Der  Sitz  der  Genossenschaft  ist  Herborn. 

§.  3.  Gegenstand  des  Unternehmens  sind  Veranstaltungen,  durch  welche  die  Mitglieder 
theils  Dienste  der  evangelischen  Diakonie  sich  sichern,  theils  in  solcher  Dienstleistung  sicher- 
gestellt werden. 

§.  4-  Zur  Mitgliedschaft  sind  juristische  und  Einzelpersonen,  sowie  auch  Anstalten 
und  Vereine  für  evangelisch-kirchliche  und  für  humanitäre  Zwecke  berechtigt,  die  die  Dienst« 
einer  im  Sinne  von  §.11  geübten  Diakonie  sich  sichern  oder  ausüben  wollen. 

Die  Mitglieder  sind  berechtigt  : 1.  bei  den  Genossenschaftsbeschlüssen  und  Wahlen 
in  der  Generalversammlung  zu  stimmen  ; 2.  an  den  Vortheilen  der  Veranstaltungen  (§.  11)  der 
Genossenschaft  nach  Massgabc  der  Statuten  derselben  theilzunehmen ; 3-  für  ihre  Einlagen  (§.  5) 
den  auf  dieselben  entfallenden  Gewinnanteil  (§.  16)  zu  beanspruchen.  Verpflichtet  sind  sie 
1.  zu  einem  Jahresbeitrag  von  mindestens  2 Mark;  Gemeinden,  Anstalten  und  Gemeinschaften 
sind  verpflichtet,  einen  Jahresbeitrag  von  so  viel  Mark  zu  zeichneu,  als  ihre  Mitgliedereabl 
volle  oder  angefangene  Tausende  beträgt,  mindestens  aber  sechs  Mark ; 2.  zu  der  statutarischen 
Einlage  (§.  ft)  und  3.  zur  Haftung  für  die  Verbindlichkeit  der  Genossenschaft  sowohl  dieser 
wie  unmittelbar  den  Gläubigern  gegenüber  bis  zur  Höhe  der  Haftsumme  <§.  6). 

Jedes  Mitglied,  das  seine  Einlage  voll  eingezablt  hat,  kann  durch  eine  mindestens 
3 Monate  vor  Abschluss  des  Rechnungsjahres  (§.  12)  an  den  Vorstand  schriftlich  eineereichte 
Austrittserklärung  aus  der  Genossenschaft  ausscheiden.  Die  Einlage  der  Ansscheidenden  ver- 
fällt der  Hilfscasse  (§.  11),  wenn  sie  nicht,  binnen  sechs  Monaten  nach  dem  Ausscheiden  zurück- 
gefordert  ist. 

Freunde  der  evangelischen  Diakonie,  die  nicht  Mitglieder  des  Vereines  zu  werden, 
aber  seine  Arbeit  zu  unterstützen  wünschen , sind  als  Förderer  des  Vereines  (mit  beratender 
Srinnm*  in  den  Generalversammlungen)  aufzunehmen;  die  Bestimmung  ihrer  einmaligen  oder 
jährlichen  Beiträge  ist  ihnen  selbst  überlassen. 

§.5.  Die  Einlage  (Geschäftsantheil)  jedes  Mitgliedes  beträgt  10  Mark,  welche  voll 
oder  innerhalb  fünf  Jahren  in  jährlichen  Raten  von  je  2 Mark  einzuzahlen  sind. 

Jedes  Mitglied  kann  sich  mit  mehreren  Einlagen  bis  zur  Gesammtzahl  von  deren 
HOCH)  l«;theiligen.  Wer  einen  weitern  Geschäftsanteil  zeichnet , hat  darüber  eine  von  ihm  zu 
unterzeichnende  unbedingte  Erklärung  abzugelten. 

Am  Gewinn  (§.  16)  nehmen  nur  diejenigen  Einlagen  teil,  welche  die  volle  Höhe 
von  10  Mark  erreicht  haben. 

Die  Jahresbeiträge  und  Zuwendungen  der  Mitglieder  und  Förderer  sind  (soweit  sie 
nicht  als  Betriebscapital  notwendig  sind)  der  Hilfscasse  (§.  11)  zuzuweisen.  Jahresbeiträge, 
die  nicht  bis  zum  1.  Juni  eingehen,  sind  durch  Postauftrag  einzuziehen. 

§.  6-  Die  Haftpflicht  beträgt  für  jede  Einlage  10  Mark. 

§ 7.  Die  Genossenschaft  ordnet  ihre  Angelegenheit*?«  selbständig  unter  Theilnahnie 
aller  ihrer  Mitglieder. 

Ihre  Organe  sind:  1.  der  Vorstand  (§.  8),  2.  der  Aufsichtsrath  (§.  9),  3.  die  General- 
versammlung (§.  10). 

Willenserklärungen  und  Zeichnungen  der  Genossenschaft  erfolgen  unter  deien  Firma 
durch  Unterschrift  zweier  Mitglieder  des  Vorstandes,  unter  denen  der  Director  sein  muss. 

Die  Vereinsconvspondenz , soweit  sie  keine  Verbindlichkeit  enthalt,  wird  nur  vom 
Director  oder  seinem  Stellvertreter  unterzeichnet,  ln  dieser  nicht  verbindlichen  (Korrespondenz 
darf  die  Genossenschaft  abgekürzt  als  „Evangelischer  Diakonieverein“  gezeichnet  werden. 

§.8.  Der  Vorstand  führt  die  Geschäfte  der  Genossenschaft  selbständig,  soweit  er 
nicht  durch  das  Gesetz  oder  durch  dieses  Statut  darin  beschränkt  ist.  Er  besteht  aus  dem 
Director  und  2 — 4 Mitgliedern,  die  von  der  Generalversammlung  auf  fünf  Jahre  gewählt  werden 

Die  Vertheilung  seiner  Aufgaben,  sowie  die  Anstellung  von  Hilfsktaften  steht  dem 
Vorstand  selbst  zu. 

§§.  9 und  IO  betreffen  Aufsichtsrath  und  Generalversammlung. 


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KRANKENPFLEGE. 


327 


§.  11.  Die  Unternehmungen  der  Genossenschaft  sollen  in  erster  Linie  persönliche 
Dienstleistungen  sicherstellen.  Sie  sollen  also  zunächst  sichern:  1.  allen  ihren  Mitgliedern  für 
den  Krankheit«-  oder  sonstigen  Bedürfnissfall  die  Dienste  zuverlässiger  und  geschulter  evan- 
gelischer Pflegerinnen),  2.  denjenigen  ihrer  Mitglieder,  die  als  Pfleger(innen)  der  Genossen- 
schaft ihren  Beruf  in  dem  evangelischen  Sinne  dienender,  barmherziger  Liebe  ohne  Eigennutz, 
Selbstgefälligkeit  und  Unduldsamkeit  nach  dem  Beispiele  des  barmherzigen  Samariters  üben, 
gesicherten  Lebensunterhalt , Pension  und  in  Krankheit*-  oder  sonstigen  Bedürfnis* fällen  als 
Berechtigung  anzusprechende  Unterstützung. 

Pfleger( innen)  im  Sinne  dieser  Bestimmung  sind  auch  diejenigen  Personen,  die  nur 
sine  einzelne  Seite  der  Diakonie  ausüben. 

Diesen  Zwecken  dient  zunächst  die  Hilfscasse,  die  nach  einer  vom  Vorstande  fest- 
znsetzen  len  und  von  der  Generalversammlung  zu  genehmigenden  Geschäftsanweisung  verwaltei 
wird,  das  Töchterheini  zur  Gewährung  der  grundlegenden,  das  Diakonie-Seminar  zur  Aueignung 
der  Fachbildung  für  den  Diakoniedienst  und  der  Diakonieverband  zur  Tüchtigerhaltung  und 
.Sicherstellung  der  Pflegerinnen.  Pflegerinnen  des  Diakonioverbande*  dürfen  gegen  Entgelt  im 
Allgemeinen  nur  bei  Mitgliedern  der  Genossenschaft  Pflege  ausüben;  doch  kann  ein  vom  Vor- 
stande bevollmächtigtes  Mitglied  vou  dieser  Verpflichtung  entbinden. 

Ueber  weitere,  der  Förderung  des  Genossenschaftszweckes  dienende  Veranstaltungen 
beschliesst  die  Generalversammlung  auf  Vorschlag  des  Vorstandes. 

5§.  12—17  betreffen  Rechnungsführung,  Bilanz  u.  s.  w. 

18.  Im  Falle  der  Auflösung  des  Vereines  sind  Uebarschnsse,  welche  sich  über  den 
Gesammtbetrag  der  Einlagen  ergeben,  der  Hilfscasse  zur  Sicherstellung  von  Altersrenten  für 
die  der  Genossenschaft  Angehörigen  Pfleger(innen)  zu  überweisen.  In  welcher  Weise  die  Hilfs- 
casse weiterbesteht,  beslbliesst  die  Generalversammlung. 

Die  Mitgliederzahl  des  Diakonie  verein  es  ist  von  seiner  Begründung  an 
im  steten  Wachsen  begriffen,  wie  folgende  Tafel  erweist: 


1894 

1895 

1.  Juli 

Octobtr 

lanuar 

April 

l.  Juli 

Pflegediakonie : 

1.  Allgemeine  Krankenpflege 

2.  Psychische  Krankenpflege: 

10 

15 

2fi 

01 

82 

« ) dnreh  Schwestern  .......... 

— 

5 

17 

10 

21 

b)  durch  Brüder  (Candidaten) 

— 

* 

— 

— 

5 

3.  Idiotenpflege  und  Erziehung  Psychopathischer  j 

— 

— 

— 

3 

4.  Frauenpflege 

— 

1 

13 

9 

7 

5.  Gemcindepflege 

— 

— 

— 

1 

10 

21 

56 

89 

119 

Lehrdiakonie  . . . 1 einschliessl. Töchterheim  [ 
I.  Wirtschaltsdiakome  | 

= 

12 

14 

8 

18 

13 

18 

Insgesammt  . . . 

10 

33 

70 

115 

150 

Vereinsmitglieder.  . . 

36 

100 

182 

246 

364 

Die  Unterschiede  der  Organisation  dieses  Verbandes  von  den  bisher  be- 
stehenden gehen  aus  den  absichtlich  in  der  vorstehenden  Ausführlichkeit  wieder- 
gegebenen Satzungen  und  Verbaltungsregeln  klar  hervor.  Audi  die  Ueberhürdung 
der  Pflegerinnen,  über  welche  vielfach  Klage  geführt  wird,  wird  im  Diakonieverein 
nach  Möglichkeit  vermieden.  Eine  Pflegerin  kann  unmöglich  mehrere  Nächte  hinter- 
einander wachen,  ohne  dass  sie  am  Tage  genügende  Kühe  hat;  auch  scheint 
die  Art  der  Ausbildung  im  Diakonievereiu  eine  von  der  bisherigen  der  Diakonissen 
abweichende  zu  sein.  Es  dürfte  kaum  nothwendig  sein,  eine  Krankenpflegerin  zur 
Verrichtung  der  gröbsten  Arbeiten  im  Hause  anzuhalten.  Dass  sie  auch  in  solchen 
eine  kurze  Zeit  geübt  wird,  um  nachher  die  Beaufsichtigung  über  dieselben  in 
richtiger  Weise  zu  führen,  ist  gerechtfertigt,  andauernde  Beschäftigung  mit  den- 
selben ist  aber  zu  widerrathen,  da  eine  Pflegerin,  welche  Fenster  putzt  und 
Fassböden  aufwischt,  auf  die  Dauer  wohl  kaum  in  der  Lage  sein  dürfte,  ihre 
Hände  derartig  zu  erhalten,  um  damit  Verbände  anzulegen  oder  einen  Arzt  bei 
Operationen  zu  unterstützen.  Eine  Ausnahme  wäre  für  die  Gemeindeschwestern 
zuzugeben,  d.  h.  die  in  der  Armenkrankenpflege  in  Familien  beschäftigten 
•Schwestern,  welche  auch  wohl  seltener  in  die  Lage  kommen  werden,  als  Helfe- 


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KRANKENPFLEGE. 


rinnen  bei  Operationen  zu  fungiren.  Für  alle  anderen  Fülle  sollten  zur  Ausübung: 
der  gröberen  Arbeiten  nur  Dienstboten  heraugezogen  werden.  Denn  es  erhöbt 
gerade  auch  nicht  die  Achtung  des  Kranken  vor  seiner  Pflegerin,  wenn  er  im 
Krnnkenhause  zu  beobachten  Gelegenheit  hat,  dass  dieselbe  Arbeiten  verrichtet, 
welche  sonst  gewöhnlich  den  Dienstmügden  zufallen.  Auch  wird  in  einigen  Kranken- 
häusern auf  die  Ausführung  dieser  Arbeiten  der  Pflegerinnen  ein  so  grosses  Ge- 
wicht gelegt , dass  die  eigentliche  Pflege  entschieden  Einbusse  erleidet.  Eine 
„Wärterin“  kann  ja  wohl  gleichzeitig  diese  niederen  Verrichtungen  und  Kranken 
Wartung  besorgen;  nur  kann  diese  nicht  auf  den  Kamen  einer  „Pflegerin“  oder 
„Schwester“  Anspruch  erheben,  und  vor  allen  Dingen  ist  nicht  zu  verlangen,  dass 
gebildete  Damen  sich  diesem  Berufe  zuwenden,  wenn  dieselben  Dienstbotenarbeit, 
welche  gar  nichts  mit  der  eigentlichen  Krankenpflege  zu  thun  hat,  verrichten  sollen. 

Andererseits  ist  der  von  einigen  Seiten  erhobenen  Forderung,  den 
Pflegerinnen  eingehenden  Unterricht  in  der  Anatomie  und  Physiologie  zu 
ertheilcn,  nicht  zuzustinimcn.  Selbstverständlich  erhält  jedes  Individuum,  welches 
sich  mit  Pflege  und  Wartung  von  Kranken  beschäftigen  will , allgemeine  Be- 
lehrung Uber  den  Bau  und  die  Verrichtungen  des  menschlichen  Körpers,  welche 
ja  auch  den  Samaritern,  die  nur  zur  ersten  Hilfeleistung  bei  Unglücksfälleu  und 
plötzlichen  Erkrankungen  ausgebildet  werden,  zu  Theil  wird.  Speciellere  Kennt- 
nisse in  jenen  Fächern  sind  aber  für  das  Pflegepersonal  nicht  erforderlich  und 
auch  keineswegs  geeignet,  die  Pflegerinnen  auf  ein  höheres  und  den  Acrr.teu 
mehr  ebenbürtiges  Niveau  zu  erheben.  Das  Verhalten  von  Arzt  und  Pflegerin 
zu  einander  hängt  von  ganz  anderen  Dingen  ab,  als  von  den  Kenntnissen  der 
letzteren  in  Anatomie  und  Physiologie.  Das  anmassende  Wesen,  welches  einzelne 
Pflegerinnen  zur  Schau  tragen,  ist  sicher  nicht  durch  ihre  medieinische  Halbbildung 
bedingt.  WoLFF  verlangte  bereits,  dass  man  dem  Pfleger  oberflächliche  Kenntnisse 
aus  sämmtlicheu  Fächern  der  gesammten  Arznei  Wissenschaft  beibriuge. 

Die  Schwestern,  welche  in  der  Gemeindekrankenpflege  beschäftigt  sind, 
müssen,  wie  erwähnt,  alle  vorkommendeu  Arbeiten  verrichten.  Die  Diakonissen, 
welche  diesen  Missionsdienst  übernehmen,  haben  sicherlich  wohl  den  allerschwersten 
Beruf  von  Allen.  Die  Gemeindeschwestern  üben  die  Krankenpflege  bei  armen  freuten 
aus,  wo  eine  Aufnahme  in  das  Krankenhaus  aus  irgend  einem  Grunde  unmöglich 
ist;  ferner  vertheilen  sie  Geld  und  Unterstützungen  von  Vereinen  und  Armenver- 
waltungen und  haben  Uber  diese  Thätigkeit  genau  Buch  zu  führen.  Ausserdem 
stehen  sie  wohl  noch  Sonntagsnachmittagseursen  für  Dienstmädchen  oder  christlichen 
Jungfrauenvereinen  vor.  Während  sich  in  kleineren  Städten  auf  je  10.000  Ein- 
wohner eine  Gemeindeschwester  findet,  sind  in  Berlin  im  Ganzen  nur  etwa  70 
vorhanden.  Die  Gemeindediakonie  steht  in  Berlin  unter  der  Leitung  des  Evangelisch- 
kirchlichen  Hilfsvereins  (Localverein  Berlin).  Es  sind  1 1 Krankenpflegstationen 
vorhanden,  deren  jede  mit  drei  bis  acht  Schwestern  unter  Leitung  einer  Oberin 
aus  verschiedenen  Mutterhäusern  besetzt  ist.  Jede  Station  hat  einen  bestimmten 
Arbeitsbezirk,  steht  unter  Aufsicht  eines  geistlichen  Curators  und  einer  Vorstands- 
dame des  Vereins  „Franenhilfe“.  Die  Kaiserin  hat  das  Protectorat  der  Anstalten 
übernommen  und  bringt  denselben  ein  besonderes  hochherziges  Interesse  entgegen. 

Einige  Zahlen  über  die  Leistungen  der  Stationen,  welche  Eglenburg 
anführt,  gehen  Zeugniss  von  der  umfassenden  Thätigkeit,  welche  dieselben  ent- 
faltet haben.  1893  wurden  13.623  Tages-  und  36-18  Nacbtpflegen  ausgeführt, 
von  den  12.714,  hezw.  3458  durch  die  Diakonissen  erfolgten.  Verpflegt  wurden 
111  Mäuuer,  1348  Frauen,  174  Kinder  unter  15  Jahren  aller  Bekenntnisse; 
659  Gesuche  mussten  aus  Mangel  an  Kräften  abgewiesen  werden,  also  mehr  als 
4 0%  der  Familien  (1620).  auf  die  sich  die  Krankenpflege  erstreckte.  Die  Ge- 
meiudekrankenpflege  hat  sieh  die  Aufgabe  gestellt , die  Nothstände  unter  den 
Armen  und  Kranken  zu  lindern  und  dadurch  tritt  sie  in  eine  Keihe  mit  den 
Vorsorgen , welche  zur  Abhilfe  socialer  Noth  allerorts  getroffen  werden  und  für 
welche  wohl  niemals  eine  genügende  Anzahl  von  Hilfskräften  vorhanden  sein  wird. 


KRANKENPFLEGE. 


329 


Neben  den  bisher  erwähnten  Genossenschaften  mit  vorherrschend  kirch- 
lichen) Gepräge,  welche  nur  Angehörige  des  betreffenden  Glaubensbekenntnisses  bei 
sich  aufnehmen,  und  den  weltlichen  Vereinigungen,  welche  gleichfalls  nur  christliche 
Pflegerinnen  ausbilden,  sind  einige  auch  bereits  erwähnte  Anstalten  vorhanden, 
in  denen  Damen  ohne  Unterschied  des  religiösen  Bekenntnisses  zur  Ausbildung  in 
der  Krankenpflege  zugelassen  werden,  wie  z.  B.  im  Victoriahaus  zu  Berlin. 

In  neuerer  Zeit  ist  in  Berlin  ein  Verein  für  jüdische  Krankenpflegerinnen 
begründet  worden,  welcher  trotz  der  kurzen  Dauer  seines  Bestehens  seit  1894 
eich  reger  Betheiligung  zu  erfreuen  hat.  Der  Verein  bezweckt: 

1.  jüdische  Frauen  und  Mädchen  zu  Krankenpflegerinnen  auszubilden; 

2.  unter  seiner  Leitung  oder  auch  anderwärts  ausgebildete,  beziehungs- 
weise geprüfte  jüdische  Krankenpflegerinnen  (Schwestern)  gegen  Honorar,  auf 
Erforderniss  aber  auch  unentgeltlich,  als  Armen-Krankenpflegerinnen  dem  Publicum 
ohne  Unterschied  der  Coufession  zur  Verfügung  zu  stellen; 

3.  die  Begründung  von  Einrichtungen  zur  Fürsorge  für  seine  Kranken- 
pflegerinnen bei  Erwerbsunfähigkeit  in  Krankheitsfällen  und  im  Alter. 

Die  Ausbildung  der  Schwestern  erfolgt  im  jüdischen  Krankenhause  und 
in  der  Königlichen  Charitö  zu  Berlin. 

Als  Schülerinnen  des  Vereines  werden  Personen  im  Alter  von  20  bis 
30  Jahren  nufgenommen,  die  nach  Ablauf  des  Ausbildungsjahres  noch  mindestens 
drei  Jahre  dem  Vereine  als  Pflegerinnen  thiltig  sein  müssen,  wofür  eine  Bttrg- 
schaflssuinme  von  100  Mark  hinterlegt  wird.  Die  Pflegerinnen  erhalten  Gehalt 
vom  Vereine,  das  Honorar  für  Privatkrankenpflege  wird  an  die  Vereinscasse  ge- 
zahlt. Die  Dienstordnung  der  Pflegerinnen  weicht  im  Uebrigen  nicht  wesentlich 
von  der  in  anderen  Krankenpflegervereinen  üblichen  ab. 

Im  Anfang  des  Jahres  1896  waren  bereits  10  Schwestern  und  11  Schüle- 
rinnen vorhanden,  welche  im  Schwesternheim  wohnen.  Der  Verein  hat  seit  dem 
IV.  September  1895  die  Rechte  einer  juristischen  Person  erhalten. 

Es  war  bereits  vor  mehr  als  achtzig  Jahren  der  Gedanke  aufgetaucht, 
eine  Schule  für  jüdische  Krankenpflege  zu  gründen , wie  sich  aus  dem  Schlüsse 
der  Vorrede  von  S.  J.  WOLFF’s  Werk  ergiebt.  Es  heisst  daselbst: 

„Von  ganzer  Seele  wünschte  ich,  dass  die  so  würdigen  Vorsteher  der 
Krankenpflege  der  jüdischen  Gemeinde  das  Capitel  vom  Krankenwärter  besonders 
beherzigen  möchten,  und  besonders  rufe  ich  unter  ihnen  die  so  achtungswerthe 
Gesellschaft  der  Freunde  an;  sie  haben  zu  einer  solchen  Verbesserung,  zu  einem 
soleheu  zu  stiftenden  Institute  die  Mittel  — in  Händen.“ 

Dass  Krankenpflegerinnen  zu  besolden  sind , ist  auch  eine  nicht  von 
allen  Genossenschaften  anerkannte  Forderung.  Und  gerade  entstammen  viele  der 
den  kirchlichen  Vereinigungen  angehörendeu  jungen  Mädchen  recht  dürftigen 
Verhältnissen,  so  dass  sie,  statt  elterliche  Unterstützungen  — falls  sie  noch 
Eltern  haben  — gemessen  zu  können,  im  Gegentheil  noch  Verpflichtungen  nach 
dieser  Richtung  gegen  Angehörige  haben.  Das  monatliche  Kleidergeld  ist  in  der 
Regel  kein  sehr  bedeutendes,  so  dass  nicht  viel  von  demselben  zu  erübrigen  ist. 

Die  Kleidung  der  Krankenpflegerinnen  erfordert  einige  Beachtung.  Mit 
Recht  w ird  in  den  Satzungen  aller  Genossenschaften  und  Vereinigungen  gefordert, 
dass  die  Kleidung  der  Schwestern  einfach  und  sauber  sei.  Dennoch  ist  kein 
Grund  einzusehen,  dass  die  Tracht  eine  möglichst  geschmacklose  sei.  Für  den 
Kranken  ist  es  angenehmer,  wenn  die  ihn  für  gewöhnlich  umgebenden  Personen 
kleidsam  angezogen  sind,  was  gar  nicht  hindert,  dass  die  betreffenden  Anzüge 
allen  Anforderungen  einer  weitgehenden  Anti-  und  auch  Asepsis  genügen.  Am 
besten  ist  es,  dass  die  Schwestern  helle,  bis  zum  Halse  schliessende  Kleider  aus 
waschbaren  Stoffen  tragen.  Diejenigen,  welche  auf  chirurgischen  Stationen  oder 
bei  Operationen  thätig  sind,  haben  kurze,  bis  zum  Ellbogen  reichende  Acnnel. 
Grosse  weisse  Schürzen  hüllen  die  Vorderseite  des  Anzuges  vollständig  ein.  Die 
gleichen  Regeln  gelten  für  die  Kleidung  der  männlichen  Pfleger. 


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m 


KRANKENPFLEGE. 


Aufmerksamkeit  erheischt  auch  die  Kopfbedeckung  der  Pflegerinnen. 
Die  Diakonissen  tragen  gewöhnlich  Hauben,  andere  Wärterinnen  vielfach  kleine 
Häubchen,  welche  wohl  keinen  anderen  Zweck  liabeu , als  ihrer  Trägerin  ein 
möglichst  niedliches  Aussehen  zu  verleihen.  Auch  die  katholischen  barmherzigen 
Schwestern  haben  Hauben,  welche  zum  Theil  noch  mit  Stirnbinden  versehen  sind 
und  beim  Ausgang  noch  mit  einer  weiteren  steifen  Bedeckung  versehen  werden. 
Der  eigentliche  Zweck  dieser  Bekleidung  lag  wohl  ursprünglich  in  der  Absicht, 
Veranlassung  zur  Weiterverbreitung  von  ansteckenden  Krankheiten  durch  die 
Haare  der  Pflegerinnen  zu  verhüten,  liegen  eine  solche  Absicht  ist  nichts  einzu- 
wenden, vorausgesetzt,  dass  die  Tracht  nicht  entstellend  wirkt.  Es  können  gleich- 
zeitig beide  Zwecke  erfüllt  werden.  Grosser  Werth  ist  auf  die  Kleidung  der  in 
Privatkrankenpflege  thätigen  Personen  zu  legen,  besonders,  wenn  sich  dieselben 
der  Pflege  von  ansteckenden  Kranken  widmen.  In  dieser  Beziehung  ist  eine 
besondere  Beaufsichtigung  der  hauptsächlich  in  grossen  Städten  errichteten  Privat 
krankenpflegestationen  not h wendig,  bei  denen  eine  Pflegerin  oder  auch  sonstige 
Unternehmerin  als  „Oberin“  mehrere  Pflegerinnen  mit  festem  Gehalt  und  freier 
Station  anstellt,  welche  dann  auf  Verlangen  in  Familien  gesendet  werden;  die 
Bezahlung  der  Pflegedienste  geschieht  an  die  Unternehmerin.  Es  muss  hier  streng 
beachtet  werden , dass  nicht  eine  Pflegerin  an  einem  Tage  einen  Kranken  mit 
einer  ansteckenden  Krankheit  pflegt  und  am  nächsten  bereits  vielleicht  mit  der- 
selben Kleidung  sich  in  eine  andere  Familie  begiebt. 

In  Bezug  auf  die  Krankenpflege  ist  der  Mittelstand  eigentlich  am 
schlechtesten  gestellt,  das  heisst  die  grosse  Anzahl  von  Familien,  welche  nicht 
zu  Armen-  oder  Krankencassenverbändeu  gehören,  aber  doch  auch  nicht  wohl- 
habend sind.  Für  diese  ist  am  wenigsten  gesorgt;  in  die  öffentlichen  oder  privaten 
Krankenhäuser  wollen  die  Angehörigen  dieses  Standes  sich  aus  verschiedenen 
Gründen  nicht  gern  aufuehmen  lassen,  zur  Beschaffung  der  nöthigen  Pflege  bei 
länger  dauernden  Krankheiten  fehlt  es  au  Mitteln.  Dieser  Mangel  ist  auch  bereits 
vor  langer  Zeit  erkannt  worden  und  auch  S.  J.  Wolff  hat  auf  dieses  Missver 
hältniss  des  Mittelstandes  ausdrücklich  hiugcwicseu.  Mau  hut  in  neuerer  Zeit  deu 
Vorschlag  gemacht,  eine  besondere  Krankensteuer  zu  erheben,  um  aus  deren 
Mitteln  die  für  die  besondere  Krankenpflege  nothweudigen  Ansgaben,  welche  Staat 
und  Gemeinde  nicht  aufbringcu  könnten,  zu  bestreiten,  das  heisst  Mittel  für 
Reconvalescentenpflege,  Errichtung  von  Heilstätten  für  Brustkranke,  Heimen  für 
Invalide  und  Aehnliches.  Auch  dieser  Vorschlag  ist  nicht  neu,  wie  sich  aus  fol- 
gendem Satze  bei  Wolff  ergiebt : 

Dieser  Mittelstand  müsste  in  sich  selbst  noch  eine  gemeinschaft- 
liche Anstalt  einrichten  und  durch  einen  immerwährenden  monatlichen  Beitrag, 
der  in  der  That  nur  klein  sein  dürfte,  würde  sich  gar  bald  ein  Fond  sammeln 
lassen  und  vou  unserer  Regierung,  die  so  willig  alles  Gute  unterstützt,  lässt  sich 
wolilthälige  Mitwirkung  hülfen;  warum  denn  nicht  so  gut  hier  einen  monatlichen 
Beitrag,  als  zur  Feuereasse  oder  Asseeuranz  der  Möbel  V“ 

Einen  Fortschritt  naeli  dieser  Richtung  glaubt  v.  Reitzenstkix  in  der 
Errichtung  von  Anstalten  zur  Verleihung  von  Krankenpflegegeräthsehaften  zu 
sehen , welche  besonders  in  der  Schweiz  in  ausgedehntem  Masse  entwickelt 
sind.  Er  meint,  dass  alle  für  die  Krankenpflege  erforderlichen  Mittel  mit  Aus- 
nahme der  Versorgung  der  Kranken  mit  den  nothwendigen  Gerätschaften  heute 
in  hohem  Masse  vorhanden  seien.  Ihre  Anschaffung  erfordert  bisweilen  erheb- 
liche Ausgaben,  welche  von  Unbemittelten  nicht  getragen  werden  können,  so  dass 
die  Behandlung  Abbruch  erleidet,  oder  der  Kranke  Anstaltspticge  aufsuchen  muss, 
wodurch  die  Kraukenhäuser  überlastet  werden. 

Das  älteste  und  grösste  Kranken». obilienmagazin , in  welchem  die  be- 
treffenden Geräthe  gegen  geringes  Leibgeld  zur  Verfügung  stehen , entstand  in 
Zürich  1804.  8.  J.  Wolff  bat  wohl  gleichfalls  solche  Magazine  im  Sinne,  wenn 
er  meint,  dass  in  den  Instituten , welche  zur  Unterrichtung  und  Aufnahme  von 


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KRANKENPFLEGE. 


331 


Krankenpflegern  eingerichtet  werden  sollen,  „ein  ganz  eigener  Apparat,  welcher 
Alles  auf's  Reinlichste  enthält,  was  zum  Gebrauch  beim  Kranken  nöthig  ist,“ 
gefunden  werden  mtisse. 

Im  Jahre  1885  waren  in  der  ganzen  Schweiz  nur  18  solcher  Anstalten, 
aber  1890  waren  bereits  von  119  Gemeinden  des  Cantons  Zürich  95  mit  einem 
Magazin  versehen,  v.  Reitzexstein  beklagt  auch  die  ablehnende  Haltung,  welche 
Wasserfuhr  in  der  Versammlung  deutscher  Naturforscher  und  Aerzte  1883  in 
Freiburg  der  Mittheilung  von  Bf.ck  gegenüber  eingenommen,  wahrend  Roth  sich 
für  die  betreflende  Einrichtung  ausgesprochen.  Die  Anstalten  stehen  unter  städtischer 
Verwaltung  oder  werden  durch  Vereinswohlthätigkeit  unterhalten.  In  Deutschland 
findet  sieh  die  Einrichtung  bei  einzelnen  Vereinen  vom  Rothen  Krenz,  so  beim 
Vaterländischen  und  Badischen  Frauenverein;  auch  in  der  Gemeindekrankenpflege 
werden  Krankenpflegegeräthe  vielfach  ohne  Entgelt  verliehen. 

Die  Geräthsehaften , welche  in  den  Anstalten  vorräthig  zu  halten  sind 
(für  Fälle  besonderen  Bedürfnisses  auch  üettstüeke  und  Leinenzeug),  sind : 

1.  Badeapparate:  Badewannen  für  Erwachsene,  für  Kinder,  für 
Sitzbäder,  für  Arm-  und  Fussbäder. 

2.  Betten  und  Bettstflcke:  Bettstellen  (nur  von  Eisen,  nicht  von 
Holz),  Bett  rahmen  (zur  Lagerung  für  besondere  Zwecke),  Bettschirme,  Bett- 
bogen, Spiegel,  Ruckenstützen  zum  Verstellen  in  verschiedene  Hohe;  Rosshaar- 
matratzen, insbesondere  gespellte;  Rosshaarkissen;  Wolldecken  zu  Ent- 
wickelungen; wasserdichte  Unterlagen. 

3.  Bettwäsche:  Leintücher,  Kissenüberzüge. 

4.  Bettgeschirre:  Wärmflaschen,  Uringläser  (nur  als  Verbrauchs- 

gegenstand); Steckbecken  und  Leibstuhle. 

5.  Eisbeutel. 

6.  Inhalationsapparate. 

7.  Irrigatoren  von  Blech  mit  Guramischlauch  und  Glasansätzen  (dienen 
als  Wundspritzen,  sowie  für  Eingiessungen  und  Ausspülungen  aller  Art). 

8.  Krücken. 

9.  Krankenheber:  Lufttüeher  mit  Handhaben. 

10.  Lagerungsapparate:  Arm-  und  Beinschienen  (aus  Blech  oder 
Telegraphcndraht,  nicht  von  Holz);  Luft-  und  Wasserkissen,  beziehungsweise 
Ringe:  Spreusäckchen,  viereckige  und  ringförmige. 

11.  Sitzgeräthe:  Lehnstühle,  Tragsessel,  Fahrstühle. 

12.  Thermometer:  Fieber-  und  Badethermometer. 

Bemerkung:  Die  uuter  Ziffer  1,  7 und  12  durch  fette  Schrift  hervor- 
gehobenen Gegenstände  wären  als  die  nothwendig6teu  in  erster  Reihe  zu  be 
schaffen,  die  mit  gesperrter  Schrift  bezeiehneten  in  zweiter  Linie , die  übrigen 
beim  Vorhandensein  reichlicherer  Mittel. 

Jedenfalls  wäre  ein  Versuch  mit  solchen  Anstalten,  welche  durch  private 
Wohlthätigkeit  einzuriehteii  wären,  auch  in  Deutschland  in  grösserem  Masse  als 
bisher  wohl  zu  machen,  um  zu  erkennen,  ob  dieselben  lebensfähig  sein  würden. 

Für  etwas  bemitteltere  Familien  hat  I1.  Jacobsohn  die  am  häufigsten  zu 
gebrauchenden  Gegenstände  als  „Hanitätscollection  für  häusliche  Krankenpflege“ 
zusammengestellt,  ln  einem  hölzernen  Kasten  sind  vereinigt:  Steckbecken,  Eis- 
blase, Irrigator  mit  Mutterrohr  und  Klystierrohr,  Inhalationsapparat,  der  auch 
zum  Spray  verwendet  werden  kann,  graduirtes  Kinnchmcglas , Maximallicber- 
thermometcr,  Badethermometer,  I’ulsnhr,  Zungenspatel,  Gummibettunterlage  und 
Gebrauchsanweisung  für  diese  Dinge.  Gleichzeitig  könnten  wohl  in  demselben 
Kasten  gut  verpackt  auch  die  als  Inhalt  eines  Verbandkastens  von  Jacobsohn 
aufgezählten  Dinge  untergebracht  werden : 2 Cambricbinden , ein  Packetchcn 
steriler  Watte,  Jodoformgaze  und  ein  Fläschchen  mit  2°  „iger  Carbollösung.  Die 
Bereithaltung  dieser  Dinge  im  Hausstände  ist  für  viele  Fälle  als  grosse  Annehm- 
lichkeit auch  für  den  behandelnden  Arzt  anzusehen.  Aber  es  erfordert  das  Vor- 


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332 


KRANKENPFLEGE. 


handenscin  derselben  auch  beim  Besitzer  einen  gewissen  Grad  von  Verständniss 
für  die  Krankenpflege  überhaupt,  welcher  leider  nicht  in  sümmtlichen  Familien 
vorhanden  ist. 

Eine  Ausbreitung  der  Kenntnisse  in  der  Krankenpflege  wäre  eine  drin- 
gende Notwendigkeit.  Sie  kannte  nur  durch  iiffentlir.be  Unterweisung  e rfolgen 
und  müsste  bereits  in  der  Schule  geschehen.  Es  müsste  damit  Unterricht  in  der 
Gesundheitspflege  in  den  Schulen  verbunden  werden  und  auch,  wie  v.  Esmarch 
verlangt.  Unterricht  in  der  ersten  Hilfe  bei  Unglücksfällen.  Jacobsohn  hat  in 
einem  Vortrage  am  9.  December  1895  in  der  deutschen  Gesellschaft  für  öffent- 
liche  Gesundheitspflege  dargelegt,  dass  öffentlicher  Sanitätsunterricht  erforderlich 
sei,  welchen  er  zunächst  in  Berlin  in  allen  Stadttheilen  erthcilen  lassen  will. 
Der  Verfasser  schlug  in  der  Discussion  vor,  den  Unterricht  im  Anschluss  an 
den  Unterricht  in  den  Fortbildungsschulen  einzurichten.  Sicherlich  würde  durch 
von  Aerzten  ertheilte  Unterweisung  in  Gesundheits-  und  Krankenpflege  dem  Volke 
erheblicher  Nutzen  geschaffen  werden.  Eine  Ausbreitung  des  Curpfuseherthums, 
welche  durch  volkstbümlich  gehaltene  Vorträge  über  Gesundheits-  und  Kranken- 
pflege angeblich  befördert  werden  soll,  ist  nicht  dadurch  zu  befürchten.  Die  Auf- 
klärung des  Volkes  in  allen  diesen  Dingen  kann  nur  viel  eher  geeignet  sein,  der 
Curpfuscherei  Abbruch  zu  thun.  Bereits  v.  Es  MARCH  hatte  bei  Begründung  des 
deutschen  Samaritervereins  in  Kiel  1882  betont,  dass  die  Ausbreitung  der  Kennt- 
nisse der  ersten  Hilfe  bei  Unglücksfällen  segenbringend  fttr’s  Volk  wäre,  und 
dass  das  Curpfuseherthum  durch  eine  solche  nicht  gefördert  würde.  Man  kann 
im  Gegentheil  wohl  behaupten , dass  das  wirksamste  Schutzmittel  gegen  jene 
Bestrebungen  in  einer  Vermehrung  der  Kenntnisse  aller  Menschen  in  allen  die 
Medicin  betreffenden  Fragen  zu  suchen  ist.  ln  der  Discussion  des  Vortrages  von 
Jacobs  (ihn  wurde  vollständig  richtig  von  einem  Redner  hervorgehoben,  dass 
Vorträge  über  Lüftung  des  Krankenzimmers  und  Lagerung  des  Kranken  uud 
die  Kenntnisse  ähnlicher  Verhältnisse  doch  wohl  nicht  Veranlassung  geben 
könnten,  dass  ein  Zuhörer  später  sich  z.  B.  mit  Behandlung  von  Nierenkrank- 
heiten  befasse.  Das  Wachsen  der  Curpfuscherei  int  zu  einem  grossen  Theil  da- 
durch bedingt,  dass  die  Curpfuscher  sich  in  öffentlichen  Vorträgen  an  das  Volk 
wenden  und  dieses  dadurch  für  ihre  Lehren  zu  gewinnen  suchen  und  auch  ge- 
winnen, da  sie  für  den  Laien  leicht  fassliche  — wenn  auch  meistens  unrichtige  — 
Deutungen  der  Krankheitsvorgänge  und  ihrer  Behandlung  ohne  unverständliche 
Fremdworte  vortragen.  Dass  Aerzte  öffentliche  Vorträge  halten,  gilt  gewöhnlich 
als  etwas  nicht  ganz  mit  den  Gebräuchen  Uebereinstimmendes.  Es  ist  angebracht, 
diesem  Vorurtheil  entgegenzutreten,  denn  allein  wissenschaftlich  gebildete  Aerzte 
sind  berechtigt  und  im  Stande,  Gesundheits-  und  Krankenpflege  auf  wissenschaft- 
licher Grundlage  in  volkstümlicher  Weise  zu  lehren.  Allerdings  muss  auch  die 
Vorbildung  der  Aerzte  nach  dieser  Richtung  mehr  erweitert  werden,  als  es  bis- 
her geschah.  Es  muss  der  Krankenpflege  beim  Studium  der  ihr  gebührende 
Werth  zuerkannt  werden ; in  den  Schulen  sind  von  Schulärzteu  die  Grundzüge 
der  Gesundheits-  und  Krankenpflege  und  ersten  Hilfe  in  leichtfasslicher  Form 
darzustellen  und  dadurch  bereits  der  Jugend  die  nötigen  Grundregeln  für  das 
spätere  Leben  zu  ortheilen.  Wenn  diese  beiden  Bedingungen  erfüllt  sind , wird 
der  Curpfuscherei  sicherer  als  durch  irgend  ein  Gesetz  der  Boden  entzogen 
werden.  Die  Aerzte  werden  die  Regeln  der  auf  wissenschaftlicher  Grundlage  be- 
ruhenden Krankenpflege  mehr  wie  früher  beherzigen  und  dadurch  sich  mehr  mit 
den  wichtigsten  Abschnitten  des  sogenannten  „Naturheilverfahrens“  zu  beschäftigen 
haben.  Die  Jugend  wird  in  den  Stand  gesetzt , in  allgemeinen  Fragen  über  Ge- 
suudheits-  und  Krankenpflege  sich  ein  einigermassen  richtiges  Urteil  zu  bilden. 
Man  hat  übrigens  auch  früher  gefürchtet , durch  Vorträge  über  Krankenpflege 
Curpfuscherei  auszuhilden.  Und  schon  S.  J.  Wolff  bestreitet  dieses  und  meint, 
das  Publicum  würde  wohl  einscheu , dass  ein  Arzt  etwas  mehr  als  solche  ober- 
flächlichen Kenntnisse  besitzen  müsse. 


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KRANKENPFLEGE.  333 

Die  bereits  mehrfach  erwähnte  „erste  Hilfe“  bildet  eine  Ergänzung  zum 
Capitel  der  Krankenpflege,  v.  Esmarch  hat  den  letzten  Abschnitt  seines  rtthm- 
lichst  bekannten  Leitfadens : „Die  erste  Hilfe  bei  plötzlichen  Ungltleksfällen“  der 
Besprechung  der  Krankenpflege  gewidmet.  Der  Samariter,  welcher  bei  plötzlichen 
Erkrankungen  und  Ungltleksfällen  erste  Hilfe  leistet,  muss  mit  den  Grundzflgen 
der  Krankenpflege  vertraut  sein;  im  Uebrigen  hat  der  Samariter  als  Nothhelfer 
mit  der  „Pflege“  des  Kranken,  welche  doch  stets  eine  längere  Dauer  voraus- 
setzt,  nichts  zu  thun.  Aber  ein  Gegensatz  zu  denjenigen  Bestrebungen , welche 
hauptsächlich  der  Krankenpflege  dienen , kann  bei  den  Samaritern  nicht  vor- 
handen sein.  Wenn  sich  auch  ein  solcher  bei  Gelegenheit  der  ersten  Samariter- 
versammlung  zu  Cassel  1895  herauszustellcn  schien , so  besteht  derselbe  bei 
näherer  Betrachtung  nicht.  Denn  es  haben  gerade  die  Vereinigungen,  welche  als 
ihre  Hauptthätigkeit  satzungsgemäss  und  nach  ihrem  Namen  „die  Pflege  der 
im  Felde  verwundeten  und  erkrankten  Krieger“  zu  Übernehmen  haben,  als  kriegs- 
vorbereitende Thätigkeit  sich  jetzt  zwei  grosse  neue  Gebiete  ausgewählt.  Die 
erste  Hilfe  wurde  allerdings  von  einzelnen  zum  „Rothen  Kreuz“  gehörigen 
Vereinen  auch  früher  betrieben.  Sie  ist  in  neuerer  Zeit  als  eine  zur  Erhaltung 
der  Kriegstüchtigkeit  der  Vereine  nothwendige  Thätigkeit  erachtet  worden. 

Da  die  Berufsgenossenschaften  an  einer  guten  Ausbildung  der  für  die 
erste  Hilfe  erforderlichen  Einrichtungen  grosses  Interesse  haben , so  sollen  jetzt 
mit  Hilfe  der  in  den  einzelnen  Städten  vorhandenen  Ortsvereine  vom  Kothen 
Kreuz  (Sanitätscolonnen  u.  s.  w.)  Anstalten  für  die  erste  Versorgung  von  Ver- 
letzten, Verunglückten  und  plötzlich  Erkrankten  eingerichtet  werden. 

Auch  noch  an  einer  anderen  tief  das  sociale  Leben  berührenden  Frage 
nimmt  das  Rothe  Kreuz  jetzt  thatkräftigen  Anthoil.  Während  auf  jener  Seite  die 
durch  die  neue  sociale  Gesetzgebung  geschaffenen  Berufsgenossenschaften  als 
Bundesgenossen  an  der  Bethätigung  einer  grossen  humanen  Aufgabe  sich  anzu- 
sehlicssen  streben,  ist  an  der  Lösung  der  zweiten  die  gleichfalls  als  eine  segensreiche 
Frucht  der  socialen  Politik  der  Regierung  hervorgegangene  Alters-  und  Invaliditäts- 
Versicherung  betheiligt.  Im  Vereine  mit  den  Versicherungsanstalten  der  einzelnen 
Landestheile  wird  das  Rothe  Kreuz  bei  der  Errichtung  von  Lungenheilstätten  in 
Deutschland  thätigen  Antheil  nehmen , ohne  die  bereits  zu  diesem  Zwecke  be- 
stehenden Vereinigungen  in  ihrer  Arbeit  zu  hindern;  es  besteht  vielmehr  die 
Absicht,  alle  diesbezüglichen  Bestrebungen  unter  dem  Banner  des  Rothen  Kreuzes 
zu  vereinigen.  In  Berlin  hat  sich  ein  „ V olkshcilstätten verein  vom  Rothen  Kreuz“ 
gebildet,  welcher  am  1.  Mai  d.  J.  eine  Heilstätte  für  120  Kranke  bei  Berlin  io 
Betrieb  gesetzt  hat.  Die  Unterkünfte  für  diese  — DöCKKit’sche  Baracken  — hat 
das  Central- Coinitö  der  Deutschen  Vereine  vom  Rothen  Kreuz  zur  Verfügung  gestellt. 

Der  Berlin  Brandenburger  Heilstättenverein  für  Lungenkranke  beabsichtigt 
unabhängig  vou  diesem  Verein  die  Errichtung  einer  ständigen  Anstalt  für  weniger 
bemittelte  Lungenkranke. 

Diese  segensreiche  Thätigkeit,  welche  beitragen  soll,  der  furchtbaren 
Geissei  der  Menschen  einen  grossen  Theil  ihrer  Opfer  zu  entringen,  wird  auf  der 
anderen  Seite  die  Kriegstüchtigkeit  der  Vereine  vom  Rothen  Kreuz  durch  die 
beständige  üebung  und  Anspannung  im  Frieden  auf  der  für  einen  — hoffentlich 
in  absehbarer  Zeit  nicht  bevorstehenden  — Feldzug  erforderlichen  Höhe  erhalten. 
Auch  der  Gedanke  der  Anlehnung  des  gesummten  Rettuugswesens  im  Frieden  an 
das  Rothe  Kreuz,  welchen  Verfasser  bereits  vor  längerer  Zeit  geäussert,  ist  als 
ein  sehr  glücklicher  anzusehen.  Verbindet  sich  das  Rothe  Kreuz  zur  Erreichung 
dieses  Zweckes  mit  den  bereits  vorhandenen  auf  dem  Rettungsgebiete  und  der 
Krankenpflege  thätigen  Factoren,  also  der  Feuerwehr,  welche  in  ganz  Deutsch- 
land, auch  in  kleinen  Ortschaften , Uber  gut  ausgebildete  Samaritermauuscliaften 
verfügt,  und  den  Krankenanstalten,  so  wird  es  möglich  sein,  ein  vortreffliches 
Rettougswesen  herzustellen.  Ob  hierzu  die  Errichtungen  neuer  Stationen  erforderlich, 
w-ird  von  den  verschiedenen  Ortsverhältnissen  ubhängen  und  natürlich  nur  an 


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334  KRANKENPFLEGE. 

solchen  Stellen  erforderlich  sein,  in  deren  Nähe  sich  keine  Krankenhäuser,  Feuer- 
oder Polizeiwachen  u.  s.  w.  befinden. 

Der  Plan  der  Errichtung  von  besonderen  Heilstätten  fllr  Brustkranke  ist 
in  Deutschland  noch  nicht  sehr  alt,  andere  Länder,  besonders  England,  waren 
mit  gutem  Beispiel  in  dieser  Hinsicht  vorangegangen.  Auch  besondere  Anstalten 
zur  Pflege  von  Erholungsbedürftigen  und  hauptsächlich  Genesenden  sind  erst  in 
den  letzten  25  Jahren  und  wiedeium  vorzüglich  iu  England  eröffnet  worden,  ob- 
wohl in  Paris  die  erste  derartige  Anstalt  errichtet  zu  sein  scheint.  Gerade  die 
Genesungszeit  ist  für  den  Kranken  von  besonderer  Wichtigkeit.  Ist  der  eigent- 
liche Krankheitsvorgang  beendigt,  so  ist  das  Krankenhaus  nicht  mehr  als  günstiger 
Aufenthaltsort  für  den  Kranken  bis  zu  seiner  vollständigen  Erwerbsfähigkeit  an- 
zusehen. v.  Zikmssen  tadelt  mit  Recht,  dass  die  Kranken  zu  wenig  in  die  Luft 
kommen , nicht  genügend  Bewegung  iin  Freien  haben  und  daher  häufig  des 
richtigen  Reconvaleseentenappetites  ermangeln.  Ferner  sind  die  Genesenden  der 
Gefahr  neuer  Ansteckung  im  Krankenhausc  ausgesetzt,  wozu  sie  in  besonders 
erheblicher  Weise  disponiren.  Eine  Anzahl  von  Genesenden  erliegt  dann  erfahrungs- 
gemäss  häufig  der  neuen  Krankheit.  Ferner  wird  durch  die  Genesenden  der  Platz 
tür  die  Kranken  selbst  beschränkt.  Werden  aber  erstere  in  ihre  Behausungen  ent- 
lassen, so  erleidet  die  Genesung  häufig  empfindliche  Störungen,  nicht  selten  sind 
Verschlimmerungen  oder  Wiederaufflackern  des  früheren  Leidens.  Die  Beköstigung, 
die  Nahrung  selbst  ist  so  maugelhaft,  dass  eine  Erholung  nur  sehr  langsam  statt- 
findet.  Da  inzwischen  kein  Verdienst  vorhanden,  und  die  während  der  Krankheits- 
dauer geleisteten  Beihilfen  naturgemäss  nicht  zur  Deckung  der  Lebensbedürfnisse 
der  Familie,  geschweige  noch  eines  einer  ausgiebigeren  Pflege  bedürftigen  Ge- 
nesenden ausreichen , so  wird  vielfach  die  Arbeit  zu  früh  wieder  mitgenommen, 
und  schwere  Schädigung  des  Gesundheitszustandes  herbeigeführt.  Für  die  Zwischen- 
stufe zwischen  Krankheit  und  Arbeitsfähigkeit  ist  also  eine  Lücke  vorhanden. 

In  Paris  wurde  nach  Häolkr’s  Darstellung  1628  eine  Reconvalescenten- 
anstalt  zur  Aufnahme  von  22  Männern  eingerichtet,  im  vorigen  Jahrhundert  waren 
alle  Pariser  Lazarethc  durch  ausgesetzte  Legate  mit  solchen  Anstalten  versorgt. 
Die  Anstalt  zu  Vincennes  gewährt  522  Männern,  die  in  Vösiuet  350  Frauen  und 
50  Kindern  Aufnahme;  die  Anstalten  wurden  1857,  beziehungsweise  1852  von 
Napoleon  III.  errichtet,  werden  durch  Staatsmittel  erhalten,  und  gewähren  jähr- 
lich etwa  18.000  Genesenden  14tägigen  oder  auch  ausnahmsweise  längeren  Auf- 
enthalt. Ausserdem  sind  noch  in  Frankreich  andere  private  und  öffentliche  An- 
stalten vorhanden. 

ln  England  waren  1882  bereits  157  Convalescent  homes  mit  5248  Betten 
vorhanden , welche  privater  Wohlthätigkeit  ihre  Entstehung  verdanken.  In 
Deutschland  hatte  München  die  erste  Anstalt  für  Genesende  1861  errichtet, 
Frankfurt  a.  M.  begründete  Ende  der  Sechziger  Jahre  die  Anstalt  rMainkuru, 
in  Loschwitz  bei  Dresden  ist  eine  Privatanstalt  mit  50  Betten  vorhanden,  in 
Währing  bei  Wien  ist  vor  sieben  Jahren  eine  Anstalt  auf  Staatskosten  eröffnet, 
in  der  Rnpprechtsnu  bei  Strassburg  i.  E.  besteht  seit  1879  die  „Lovisa“,  welche 
ihre  Entstehung  einem  Legate  eines  Privatmannes  verdankt. 

Seit  1886  besitzt  Berlin  eine  von  den  Johannitern  errichtete  Heimstätte 
für  Genesende  und  seit  1887  zwei  Anstalten  auf  den  Rieselgütern  Heineredorf 
für  50  Männer  und  in  Blankenberg  für  50  Frauen. 

Die  Stadt  Genf  hat  drei  Reconvalescentenheime:  Das  Hospice  des  con- 
valescents  au  Petit-Sacconex  mit  50  und  die  Convalescence  de  Colovrex,  das 
Asyle  de  Pressy  mit  je  30  Betten , ausserdem  sind  drei  Erholungsstätten  für 
Kinder  vorhanden.  Lausanne  verfügt  im  Asile  lioissonet  Uber  35,  Naueuhurg  iu 
Beausite  über  10  Betten;  die  Sociöte  des  convalescents  ä Ncuchätel  bietet  Gene- 
senden Mittel  zu  Erholungseuren.  In  Zürich  besieht  im  Röslibad  ein  cautonalea 
Institut,  die  Reconvalesceuten-Anstalt  des  freiwilligen  Armenvereines  in  Zürich  ist 
nur  für  Genesende  bestimmt,  in  Fluntern  verdankt  Zürich  einem  Wohlthäter  die 


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KRANKENPFLEGE. 


335 


Reconvalcsceotenanstalt  für  unbemittelte  erwachsene  Personen.  Für  Basel  ist  in 
Brfiglingen  seit  1889  eine  Anstalt  mit  10  Betten  errichtet. 

In  allen  Ländern  unterstützt  die  private  Wohlthätigkeit  durch  Errichtung 
von  Vereinen  und  Begründung  von  Anstalten  den  Staat  in  der  Fürsorge  für  die 
Pflege  von  Kranken,  Schwächlichen  und  Erholungsbedürftigen.  Der  Kampf  gegen 
die  Schwindsucht  ist,  wie  bereits  oben  dargelegt,  besonders  in  den  letzten  Jahren 
in  Deutschland  mit  Eifer  aufgenommen  worden.  Aber  auch  die  als  Vorläufer  der 
Tuberkulose  gefürchtete  Skrophulose  der  Kinder  ist  seit  Jahren  in  thatkräftiger 
und  zielbewusster  Weise  zum  Gegenstand  einer  weitgehenden  Fürsorge  geworden. 
Die  Pflege  kränklicher  Kinder  ist  besonders  in  den  Seehospizen  in  Italien , in 
Mautua,  Cremona,  Bergamo,  Bologna,  Padua,  Palermo,  Rom,  Neapel,  Florenz  von 
Bedeutung,  obwohl  die  erste  Heilstätte  für  skroplmlöse  Kinder  1796  in  England 
gegründet  wurde,  während  die  zeitlich  nächste  Anstalt  erst  1845  in  Turin  er- 
richtet wurde.  In  Berlin  beschäftigen  sich  besonders  zwei  Vereinigungen  mit  der 
Verpflegung  schwächlicher  Kinder,  der  Verein  für  Kinderheilstätten  an  den 
deutschen  Seeküsten,  welche  über  ganz  Deutschland  verbreitet  ist  und  das  Comite 
für  Feriencolonien  des  Berliner  Vereins  für  häusliche  Gesundheitspflege. 

Die  Pflege  kranker  Kinder  erfordert  von  Seiten  der  Pfleger  erhebliche 
Aufopferung  und  Geduld.  Bei  der  Pflege  eines  Kindes  zeigt  sich  erst  die  Brauch- 
barkeit einer  Wärterin,  aber  die  Dankbarkeit  des  Kindes  gegen  diejenigen,  welche 
cs  in  Noth  und  Gefahr  behütet,  ist  dafür  auch  um  so  hingehender  und  herz- 
erfreuender. Sie  ist  es  ja  überhaupt,  welche  den  Pfleger  — und  auch  den  Arzt  — 
für  viele  entsagungsreiche  Stunden  im  dornenvollen  Berufe  entschädigt  und  ihn 
über  die  Mühseligkeiten  des  schweren  Daseins  erhebt.  So  fusst  die  Krankenpflege 
in  dem  Tlieil  der  ärztlichen  Thätigkeit,  welcher  häufig  die  äusserlich  sichtbarsten 
Erfolge  darbietet  und  auch  aus  diesem  Grunde  hat  sie  Anspruch  auf  die  volle 
Aufmerksamkeit  des  Arztes. 

Literatur:  Sabuttia  Joseph  Wolff,  Die  Kunst  krunk  zu  aeyn  nebst  einem 
Anhänge  von  Krankenwärter»  wie  sie  sind  und  seyn  sollten.  Berlin  1811.  — Niese,  Einige 
Worte  über  Geschichte,  Bedeutung  und  Aufgaben  der  Krankenpflege  für  Erweiterung  der 
Diakonissen-Anstalt  in  Altona.  Altona  1870.  — Florence  S.  Leos,  Handbnch  für  Kranken- 
pflegerinnen. In  deutscher  Sprache  herausgegeben  von  Schliep.  Berlin  1874*  — Mayer, 
Vorlesungen  über  weibliche  Krankenpflege.  München  1877.  2.  Aufl.  — Florence  Nightin- 
gale,  Rathgeber  für  Gesundheit*-  und  Krankenpflege.  Gebers,  von  P.  Niemeyer.  Leipzig 
1878,  2.  Aufl.  — Guttstadt,  Die  freie  Liebest hätigkeit  auf  dem  Gebiete  der  Krankenpflege 
und  die  Ausbildung  des  Kranken  pflegerpersonales.  Berlin  1886.  — Com  et.  Die  Sterblichkeits- 
Verhältnisse  in  den  Krankenpflegerorden.  Zeitschr.  f.  Hygiene.  1889,  VI,  I.  Heft.  — Die  öffent- 
liche Gesundheit»-  und  Krankenpflege  der  Stadt  Berlin.  Festschrift.  Berlin  1890.  — Pistor, 
Deutsches  Gesundheitswesen.  Festschrift.  Merlin  1890.  — Piator,  Anstalten  und  Einrichtungen 
das  Öffentlichen  Gesundheitswesens  in  Preussen.  Festschrift.  Berlin  1890.  — C huchul,  Das 
Rothe  Kreuz.  Vortrag.  Cassel  1891.  — H agier,  Die  verschiedenartigen  Bestrebungen  unserer 
Zeit  zur  Vorsorge  für  Erholungsbedürftige.  Zwei  Vorträge.  Basel  1891-  — v.  Criegern- 
Th  uinitz,  Lehrbuch  der  freiwilligen  Kriegs-Krankenpflege.  Leipzig  1891,  2.  Aufl.  — Bill- 
roth,  Die  Krankenpflege  im  Hause  und  im  Hospitale.  Wien  1892,  IV.  Aufl.  — Mendel- 
sohn, Der  Comfort  des  Kranken.  Berlin  1892,  2.  Aufl.  — Croner,  Reiseskizzen  aus  England. 
Deutsche  rned.  Wochensclir.  1893,  Nr.  1 — 6.  — Rechenschaftsbericht  des  Preußischen  Vereins  zur 
Pflege  im  Felde  verwundeter  und  erkrankter  Krieger  für  das  Jahr  1893  und  des  Central- 
Comit£s  der  deutschen  Vereine  vom  Rotheu  Kreuz.  Berlin.  — Dissel  hof,  Das  Diakonissen-Mntter- 
haus  zu  Kaiserswerth  am  Rhein  und  seine  Tochterhäuser.  Kaiserswerth  a.  Rh.  1893,  Neue 
Ausgabe.  — Weber,  Warum  fehlt  es  au  Diakonissen  und  Pflegerinnen?  Berlin  1894-  — 
Zimmer,  Wie  gewinnen  wir  gebildete  Krankenpflegerinnen?  Zeitschr.  f.  Krankenpflege.  J894, 
Nr.  8.  — Gemberg,  Die  evangelische  Diakonie.  Berlin  1894.  — Märkisches  Haus  für 
Krankenpflege.  Bericht  für  1891  — 1894;  Bedingungen;  Pflegerinnen-Ordnung.  — Hilfs- 
»ch  wester verein.  Jahresberichte  1875 — 1894;  Aufnahmebedingungen;  Statut.  — Eulen- 
burg. Die  Krankenpflegestationen  des  evangelisch-kirchlichen  Hilfsvereines  zu  Berlin.  Deutsche 
rned.  Wochenschr.  1894,  Nr.  28.  — Rechenschaftsbericht  des  Prenssischen  Vereins  zur  Pflege 
im  Felde  verwundeter  und  erkrankter  Krieger  für  das  Jahr  1895  und  des  Central-Comites 
der  Deutschen  Vereine  vom  Rothen  Kreuz.  Berlin.  — v.  Reitzenstein,  Ueber  Anstalten 
zur  Verleihung  von  Krankenpflegegeräthschaften.  Deutsche  rned.  Wochenschr.  1895.  Nr.  6.  — 
Mendelsohn,  Zeitschr.  f.  Krankenpflege.  1895,  Nr.  1 — 12.  — Verein  für  jüdische 
Krankenpflegerinnen.  Satzungen;  Regulativ;  Jahresberichte.  1894,  1895.  — Jacob- 
sohn, Geber  öffentlichen  Sanitatsuntcrricht.  Hyg.  Rundschau.  1896,  Nr.  4.  — v.  Strantz, 
Das  internationale  Rothe  Kreuz.  Berlin  1896-  George  Meyer. 


336 


KRANKENTRANSPORT. 


Krankentransport.  Die  grosse  Bedeutung,  welche  das  Krankentransport- 
wegen als  ein  wesentlicher  Bestandteil  der  KrankenpHege  besitzt , da  es  häufig 
den  Beginn  derselben  darstellt,  ist  zwar  seit  Erscheinen  des  ersten  Aufsatzes  des 
Verfassers  Uber  diesen  Gegenstand  im  Band  IV  der  ..Encyclopädischen  Jahrbücher“ 
zu  weiterer  Anerkennung  gelangt,  aber  leider  wird  demselben,  d.  b.  dem  nicht 
militärischen  Theil , noch  nicht  von  allen  massgebenden  Stellen  die  verdiente 
Beachtung  entgegengebraeht.  Es  hat  dieser  Umstand,  wie  wir  selten  werden,  in* 
sofcrne  Wichtigkeit,  als  ein  so  wesentliches  Glied  der  öft'entlichen  Gesundheits- 
pflege nicht  in  genügender  Weise  gefördert  werden  kann,  wenn  nicht  die  betheiligten 
Kreise,  d.  h.  die  Behörden,  von  der  grossen  Tragweite  überzeugt  sind,  welche  die 
Organisation  des  Krankentransportwesens  für  das  Allgemeinwohl  hat.  Während 
beim  Heere,  vorzüglich  in  Deutschland,  die  Beförderung  der  Kranken  und  Ver- 
wundeten in  mustergiltiger  Weise  geregelt  ist,  so  dass  für  den  Fall  eines  Krieges 
die  weitgehendsten  Vorsorgen  nach  dieser  Hinsicht  getroflen  sind,  welche  durch 
die  im  Frieden  nach  feststehendem  Plane  geordneten  Massnahmen  der  freiwilligen 
Hilfe  wirksam  unterstützt  werden , ist  das  Krankentransportwesen  für  die  Civil- 
verhältuisse  in  den  meisten  Tbeilen  Deutschlands  noch  recht  wenig  eingehend 
berücksichtigt  worden;  es  sind  daher  auch  literarische  Veröffentlichungen  anf 
diesem  Gebiete  noch  nicht  sehr  häufige. 

Das  Krankentransportwesen  gehört  aber  nicht  allein  in  das  Gebiet  der 
Krankenpflege,  sondern  vor  allen  Dingen  auch  muss  es  bei  der  öffentlichen 
Gesund  lieits  pfl  ege  Berücksichtigung  finden.  Es  darf  jedoch  eine  Scheidung  nach 
dieser  Hinsicht  uicht  geschehen,  sondern  beide  Theile  sind  gleichzeitig  und  als 
gleich werthig  bei  der  Krankenbeförderung  in’s  Auge  zu  fassen.  Da  diese  letztere 
Nothwendigkeit  immer  noch  nicht  allgemeine  Anerkennung  gefunden  hat,  ist  eine 
kurze  Auseinandersetzung  über  diesen  Punkt  nothwendig.  Es  wird  gewöhnlich 
bei  der  Besprechung  des  Krankentransportes  eine  Trennung  nach  der  Hinsicht 
vorgenommen , dass  Kranke  mit  ansteckenden  Krankheiten  in  anderer  Weise 
befördert  werden  sollten  oder  könnten  als  nicht  ansteckende  Kranke  oder  Ver- 
letzte. Eine  solche  Scheidung  ist  nicht  zutreffend.  Auf  dem  Lande  und  in 
kleinen  Ortschaften  muss  die  Krankenbeförderung  mit  anderen  Mitteln  geschehen 
als  in  den  Mittel-  und  Grossstädten.  In  ersteren  ist  eine  Trennung  wie  die 
geschilderte  gar  nicht  durchzuführen , da  meistens  die  Geräthe  zum  Transport 
sehr  unzureichende  sind  und  daher  die  gerade  vorhandenen  eben  benutzt  werden 
müssen,  gleichviel  ob  ein  Verletzter  oder  mit  einer  ansteckenden  Krankheit  Behafteter 
zu  transportiren  ist.  Natürlich  kann  und  muss  dabei  für  möglichste  Reinigung 
nnd  Desinfection  der  Transportmittel  Sorge  getragen  werden.  Ueber  die  Ein- 
richtung des  Krankentransportwesens  auf  dem  Lande  sind  bisher  überhaupt  wenig 
Vorschläge  erfolgt,  so  dass  eine  Erörterung  desselben  geboten  erscheint,  welche 
auch  von  mir  soeben  im  „Samariter“  erfolgt  ist.  ln  deu  Mittel-  und  Grossstädten, 
welche  Uber  geordnete  Krankentransportverhältnissc  verfügen  oder  wenigstens  ver- 
fügen sollten,  was  nicht  in  allen  der  Fall  ist,  ist  eine  Scheidung  nach  geuannten 
Grundsätzen  gleichfalls  uicht  am  Platze.  Ich  werde  zunächst  die  letzteren 
Verhältnisse  beleuchten , welche  ich  in  einem  im  „Verein  für  innere  Mt-dicin" 
in  Berlin  gehaltenen  Vortrage:  „Ueber  den  Transport  von  Personen  mit 
inneren  Erkrankungen“  dargelegt  habe. 

Das  beste  Beförderungsmittel  für  Kranke  sind  bis  jetzt  Transportwagen, 
welche  allen  an  sie  zu  stellenden  Anforderungen  für  die  Sicherheit  und  Beiiuem- 
lichkeit  der  Kranken , sowie  für  Sicherheit  seiner  Umgebung  genügen  müssen. 
Hauptbedingungen  hierfür  sind,  dass  der  Wagen  so  gebaut  und  eingerichtet  ist, 
dass  die  ihn  treffenden  Erschütterungen  und  Stösse  den  Kranken  möglichst  wenig 
belästigen , dass  er  genügend  hoch  und  geräumig , hell , zu  erleuchten  und  zu 
erwärmen,  mit  einem  Raum  im  Innern  zur  Unterbringung  von  Erfrischungs-  und 
ßelebnngsmitteln  zur  Benutzung  während  der  Fahrt,  mit  zu  öffnenden  Fenstern 
zur  Lüftung,  falls  nicht  Dachrciterlüftung  vorzuziehen,  versehen  ist.  Auch  müssen 


KRANKENTRANSPORT. 


337 


Plätze  für  mitfabrende  Wärter  oder  Begleiter  vorhanden  sein , auf  denen  iin 
Nothfalle  Leiehtkranke  sitzen  können.  Neben  diesen  das  Innere  des  Kranken- 
wagens betreffenden  Vorrichtungen  für  die  Bequemlichkeit  des  Kranken  ist  der 
»nsscre  Bau  des  Fuhrwerks  zu  beachten.  Der  Wagenkasten  darf  nicht  zu  hoch 
vom  Erdboden  entfernt  sein , da  das  Emporheben  des  Kranken  auf  seinem 
Lager  und  Ilineinheben  in  den  Wagen  auch  bei  grösster  Umsicht  und  Sorgfalt 
mindestens  unangenehme  Erschütterungen  verursacht.  Andererseits  ist  der  Wagen- 
boden nicht  zu  tief  von  der  Erde  anzulegcn , da  dadurch  das  Aeussere  des 
Wagens  unangenehm  auffällt,  was  zu  Gunsten  des  Krankencomfort  zu  ver- 
meiden ist.  Das  Aeussere  des  Wagens  soll  möglichst  wenig  an  seine  Bestim- 
mung erinnern , damit  der  Kranke , wenn  er  desselben  ansichtig  wird , nicht 
nnnöthiger  Weise  erregt  wird.  Ausserdem  werden  durch  die  auffallend  gebauten 
Wagen , wie  man  in  Berlin  täglich  beobachten  kann , die  Vorübergehenden  auf 
den  Transport  aufmerksam  gemacht,  sammeln  sich  an  der  Ein-  und  Aussteige- 
stelle des  Kranken  an  und  tragen  auch  zu  seiner  Aufregung  bei.  Die  Wagen  in 
Hamburg,  Wien,  Budapest,  welche  kutschenartig  gebaut  sind,  vermeiden  diesen 
Uebelstand , haben  dagegen  im  inneren  Bau  mancherlei  nicht  allgemein  anzu- 
erkennende Einrichtungen.  Es  könnten  coupeartig  gestaltete  Wagen  gebaut  werden, 
deren  Inneres  z.  B.  mit  Ledertuchpolsterung  auszustatten  wäre.  Es  würde  dadurch 
Bequemlichkeit  für  Kranke  in  sitzender  Stellung  geschaffen,  und  der  Wagen 
könnte  ausgiebig  gereinigt  werden , besonders  wenn  alle  Polster  herausnehmbar 
sind.  Es  ist  dies  sehr  zu  berücksichtigen , da  viele  Kranke  sitzend  befördert 
werden  können.  Nach  der  hamburgischen  Polizeiverordnung  vom  Jahre  1890 
(s.  u.)  ist  sogar  die  Beförderung  der  Kranken  im  Liegen  die  ausnahmsweise  er- 
folgende. Auch  für  Beförderung  kranker  Kinder  würden  sich  solche  Wagen  besser 
eignen  als  die  sonst  gebräuchlichen  grossen  Kasten,  ln  dem  von  aussen  zu 
öffnenden  Raum  unter  dem  Kutschersitz  wird  der  Verbandkasten  untergebracht, 
was  bequemer  ist,  als  wenn  dieser  Raum  mir  vom  Innern  des  Wagens  aus  zu 
erreichen  ist.  Gerade  wenn  ein  Verunglückter  auf  der  Strasse  oder  am  Orte  seiner 
Beschäftigung  sich  befindet,  kann  er  mit  den  aus  dem  Wagen  in  leicht  erreichbarer 
Weise  herbeigeschafflen  Verhandmitteln  versorgt  und  dann  schnell  weiterbefördert 
werden.  Es  wäre  vielleicht  zu  empfehlen,  den  Raum  unter  dem  Kutschbock  so  za 
gestalten,  dass  derselbe  sowohl  von  aussen  wie  von  innen  leicht  zu  öffnen  wäre. 

Die  Anbringung  des  Lagers  im  Innern  der  Wagen  wird  noch  immer  in 
verschiedener  Weise  ausgeführt,  aber  die  betreffenden  Vorrichtungen  leiden  an 
einer  gewissen  Einseitigkeit.  Ich  habe  die  Arten  der  Erschütterungen,  denen  der 
W ägen,  beziehungsweise  sein  Inhalt,  durch  Unebenheiten  des  Weges  und  ungleich- 
mä8sigc  Bewegung  der  treibenden  Kräfte  ausgesetzt  ist,  bereits  an  verschiedenen 
Stellen  erörtert  und  will  hier  nur  kurz  das  Wichtigste  hervorheben. 

Die  Bewegungen  eines  Körpers  im  Raume  verlaufen  im  Allgemeinen  als 
geradlinige  und  als  Drehbewegungen.  Die  beim  Krankentransport  vorkommenden 
Erschütterungen  des  Kranken  setzen  sich  aus  diesen  Bewegungen , beziehungs- 
weise deren  Resultanten  (nach  dem  Gesetze  des  Parallelogramms  der  Kräfte)  zu- 
sammen. Die  geradlinigen  Bewegungen  finden  in  der  Richtung  der  drei* 

Coordinaten  des  Raumes  statt.  Die  bei  Krankentransportwagen  vorkommenden 
Bewegungen  setzen  sich  zusammen  aus: 

1.  senkrecht  gerichteten  (Bewegung  der  Blattfedern),  technisch  Wogen 

genannt ; 

2.  wagerechten  Bewegungen  (Zucken); 

3.  horizontalen  Bewegungen,  senkrecht  zur  Richtung  der  vorigen 
(Wanken). 

Die  Drehbewegungen  finden  um  die  drciCoordinatcnachsen  des  Raumes  statt: 

n)  Um  die  Längsachse; 

b)  um  die  auf  dieser  senkrecht  stehende  Wagerechte  (Nicken); 

c)  um  die  auf  der  Längsachse  senkrecht  stehende  Verlirale  (Schlingern). 

Encyclop.  Jahrbücher.  VI.  #£ 

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338 


KRANK EXTRANSPORT. 


Man  verhütet  die  Uebertragung  der  Erschütterungen  des  Wagens  tuf 
den  zu  befördernden  Kranken  durch  entschieden  elastische  Anbringung  seines 
Körpers  im  Kaum,  und  zwar  möglichst  im  Schwerpunkt  des  Wagens.  Die  bisher 
zur  Verringerung  der  Erschütterungen  bekannten  Mittel  bezweckten  meistens  die 
Milderung  der  geradlinig  erfolgenden  Bewegungen,  und  zwar  durch  die  senkrecht 
wirkenden  Blattfedern.  Kaum  jemals  hatte  man  Verfahren  für  die  Abschwächnng 
anderer  Stfisse  angebracht,  mit  Ausnahme  vielleicht  der  in  den  Sanitätszllgen  für 
Kriegszwecke  vorgesehenen  Einrichtungen  zur  Aufhängung  der  Verwundeten- 
tragen, sowie  der  in  gewöhnlichen  Feldwagen  vorgesehenen  Improvisationen. 

Merke  hat  eine  Neueinrichtung  in  dieser  Hinsicht  geschaffen.  Er  setzt 
nämlich  das  Transportmittel  mit  dem  darauf  oder  darin  befindlichen  Kranken 


Fig.  57. 


auf  eine  im  Wagen  schwebende  Bühne,  welche  an  Federn  enthaltenden  Drähten 
hängt , während  an  den  Seiten  angebrachte  Puffer  die  nach  den  verschiedenen 
geraden  Dichtungen  erfolgenden  Stösse  mildern.  Wiewohl  diese  Bauart  besser  als 
die  sonstigen  die  Erschütterungen  für  den  Beförderten  abschwächt,  so  sind  doch 
dabei  nicht  die  Drehbewegungen  berücksichtigt,  und  ich  kann  nur  sagen,  dass 
bisher  bei  keiner  einzigen  Vorrichtung  an  Transportwagen  dieses  genügend  oder 
überha  :pt  geschehen  ist.  Ich  habe  daher  den  Tragboden  im  Innern  des  Wagens 
federnd  auf  hohlen  Gummikugeln  von  beträchtlicher  Wandstärke  aufgestellt.  Die 


Fig  a*. 


Der  Boden  ist  vom  Rahmen  durch  Stäbe  entfernt,  um  die  Lagernug  der  Kugeln  und  Federn  xu 

veranschaulichen. 


Kugeln  (Fig.  57  und  581  ruhen  in  flachen  Schalen  und  bewegen  sich  gegen  gleich- 
grosse,  an  den  Ecken  des  Tragbodens  angebrachte  Schalen.  In  der  Richtung  der  Dia- 
gonalen des  Tragbodens  sind  an  seinen  vier  Ecken  Zugfedern  angebracht,  welche 
sieh  in  einem  gemeinsamen  Mittelpunkt  unterhalb  des  Tragbodens  am  Wagenhoden 
vereinigen.  Sie  verhüten  ein  Emporkippen  des  Tragbodens  auf  einer  Seite  bei  in 
starker  Belastung  der  anderen  und  bewirken,  dass  die  Kugeln  nach  jeder  Ent- 
fernung aus  ihrer  Gleichgewichtslage  wieder  an  den  tiefsten  Punkt  der  Schalen 
zurückkchren.  Durch  Befestigung  der  Schalen  und  der  vier  Federn  (wie  aus  den 
Abbildungen  ersichtlich)  auf  einem  unteren  Kähmen  kann  die  elastische  Lagerungs- 
vorrichtung in  beliebigen,  z.  B.  Eisenbahn-,  Last-,  Leiter-,  Landwagen,  Aufstellung 


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KRANKENTRANSPORT. 


339 


finden  und  dient  daher  besonders  auch  zur  Bereithaltung  in  kleinen  Ortschaften 
auf  dem  Lande  und  bei  MassenunglUcksfällen.  Der  Kranke  wird  in  oder  mit 
seinem  Lager  auf  dem  oberen  Brett  aufgestellt.  Bringt  man  in  einem  Kranken- 
wagen mehrere  Tragböden  zu  einer  Unfallstelle , so  können  nach  Anbringung 
des  einen  in  bereit  stehendem  Wagen  mit  den  übrigen  andere  gerade  vorhandene 
Fuhrwerke  ausgerüstet  werden.  Befestigt  man  letztere  dann  an  dem  ersteren,  so 
können  mit  der  Bespannung  dieses  gleiehzeitig  mehrere  Verletzte  befördert  werden. 

Wie  furchtbar  die  Erschütterungen  eines  schlecht  gebauten  Wagens  auf 
einen  Kranken  wirken , hat  man  vielfach  in  Berlin  zu  hören  Gelegenheit.  Die 
schmalen,  kastenartig  gebauten  Krankentransportwagen , an  deren  Seitenwänden 
zwei  kleine  Fensterchen  als  Eingangspforten  für  Luft  und  Licht  dienen  sollen, 
sieht  man  noch  vielfach.  Ausser  wenig  wirkenden  Blattfedern  sind  keine  Ein- 
richtungen zur  Linderung  der  Stösse  vorgesehen ; die  Bahre  wird  vielfach  nur 
auf  dem  Boden  des  Wagens  aufgestellt,  jeder  Bewegung  dieses  folgend  und  den 
Kranken  selbst  bei  kürzeren  Entfernungen  schwer  schädigend.  Das  Leben  gefähr- 
dend kann  solcher  Transport  werden  bei  Blutungen  aus  lebenswichtigen  Organen, 

Fig.  59. 


Wagen  der  (iamewell  Sire  Alarm  Telegraph  Company. 

Gehirn.  Lungen,  Magen,  Nieren  und  im  Bereiche  der  Gesehlechtswcrkzeugc. 
Ausserdem  muss  der  Kranke  beim  Transport  besonders  sorgsam  vor  Erschütte- 
rungen bewahrt  werden  bei  allen  Erkrankungen , bei  denen  Durchbrüche  von 
Eiter,  Blut,  Steinen  in  oder  von  Organen  drohen , z.  B.  den  tvphlitischen , peri 
tonitischcn  Aflectionen , eiterigen  Ergüssen  in  seröse  und  andere  Körperhöhlen. 
Auch  die  in  Wien  geübte  Aufhängung  der  Tragen  im  Wagen  mildert  keineswegs, 
wie  sich  aus  meinen  Ausführungen  ergiebt,  die  Erschütterungen  in  sehr  wirk- 
samer Weise,  wenn  auch  daselbst  noch,  wie  Charas  in  einem  Vortrage  hervor- 
hebt, die  Aufhängungsriemen  mit  Gummiringen  und  die  der  Seitenwand  des 
Wagens  zugekehrten  Theile  der  Tragbahre  mit  Gummiwülsten  ausgestattet  sind. 

Ganz  eigenartig  ist  die  Aufhängung  der  Krankentragen  in  den  in  ver- 
schiedenen nordamerikanischen  Städten  gebräuchlichen  polizeilichen  Rettungs- 
wagen der  Gamewell  Fire  Alarm  Telegraph  Company  zu  New-York-  Die  Tragen 
werden,  wie  aus  den  Zeichnungen  ersichtlich,  in  Höhe  der  Sitzbänke  an  Ständern 
vermittels  federnder  Haken  aufgehängt. 

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340 


KRANKENTRANSPORT. 


In  Bezug  auf  die  äussere  Gestaltung  der  Krankenwagen  ist  immer  wieder 
darauf  hinzuweisen,  dass  die  feste  Anbringung  des  rothen  Kreuzes  an  denselben 
— für  Civilverhältnisse , um  welche  es  sich  stets  nur  bei  dieser  Besprechung 
handelt  — zum  mindesten  entbehrlich  ist.  Sollen  andere  dem  Wagen  entgegen- 
kommende Fuhrwerke  zum  Ausweichen  oder  Anhalten  bestimmt  werden,  so  genügt 
ein  weisses  Metallschild  mit  rothem  Kreuz,  welches,  sobald  der  Kranke  sich  im 
Innern  befindet , durch  einfachen  Zughebel  aussen  auf  dem  Dache  des  Kranken- 
wagens emporgehoben  und  beim  Ausladen  des  Kranken  wieder  niedergesenkt 
wird,  so  dass  dieser  selbst  des  Zeichens  gar  nicht  ansichtig  wird.  Dass  die 
äusseren  Hinweisungen  auf  die  Bestimmung  des  Wagens  für  seine  Thätigkeit 
unnöthig  sind,  ergiebt  sich  z.  B.  aus  der  Gestaltung  der  Wagen  in  den  drei 
obengenannten  ßtädten,  von  denen  erstere  ohnes  jedes  Zeichen  sind,  während  die 
Wagen  in  Wien  und  Budapest  das  Wappen  ihrer  Rettungsgesellschaften  tragen. 
Auch  die  Kutscher  und  mitfahrenden  Wärter  können  ohne  dieses  Zeichen  ihren 
Dienst  verrichten  — wenn  sie  sich  sonst  nur  immer  der  hohen  und  wichtigen 
Aufgaben  bewusst  sind,  welche  sie  unter  diesem  Zeichen  zu  erfüllen  haben. 


Fir.  60. 


Wagon  mit  Trage  der  Qamewell  Fire  Alarm  Telegraph  Company. 


Auch  die  Beleuchtung  des  Wagens  erfolgt  am  besten  von  aussen  her. 
Zwar  ist  es  für  den  ersten  Augenblick  sehr  verlockend , wenn  im  Innern  des 
Wagens  ein  mit  Reflector  versehenes  elektrisches  Glühlämpchen  auf  einen  Finger- 
druck erstrahlt,  aber  man  darf  nicht  übersehen,  dass  Stromsammlcr,  welche  hierzu 
nothwendig  sind , nicht  in  allen  Orten  wieder  geladen  werden  können , wenn 
letztere  keine  elektrischen  Anlagen  besitzen.  Ferner  findet  auch  leicht  ein  Ver- 
sagen der  Apparate  statt,  und  wenn  keine  andere  Beleuchtung  vorhanden,  könnte 
hierdurch  eine  für  manche  Fälle  verhängnissvolle  Dunkelheit  im  Wagen  ent- 
stehen. Auch  an  den  Wagen  in  Hamburg  ist  die  Beleuchtung  aussen  angebracht 
und  wirft  ihr  Licht  in  das  Innere  des  Wagens,  d.  h.  der  Kasten  mit  der  Laterne 
ist  ausserhalb  des  Wagens,  während  die  eine  vorhandene  Glasscheibe  derselben 
in  der  Wagenwand  eingelassen  ist.  Die  drei  anderen  Wände  der  Laterne  sind 
aus  Metall  hergestellt.  Es  erscheint  zweckmässig,  zwei  Laternen  am  Kraukcn- 
wagen  anzubringen,  eine  an  der  Vorder-,  eine  an  der  Rückwand  und  dieselben 
gleichzeitig  als  Signallaternen  nach  aussen  zu  iienutzen,  wie  dies  bei  den  Strassen- 
bahnwagenlateruen  der  Fall  ist,  indem  die  dem  Wagen  gegenüberliegende  Wand 
des  Laternenkastens  mit  weithin  sichtbarer  rother  Glasscheibe  versehen  wird. 


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KRANKENTRANSPORT. 


341 


Wenn  das  Lieht  für  den  Kranken  unangenehm , so  könnte  dessen  Stärke  durch 
eine  von  aussen  noch  in  den  Latemenkasten  einzuschiebende  grüne  Scheibe 
gedämpft  werden. 

Ich  lege  Werth  auf  die  von  aussen  erfolgende  Einschiebung  der  Scheibe, 
da  die  zur  Laterne  selbst  gehörige  Scheibe  vollkommen  glatt  in  die  Wagenwand 
eingelassen  sein  soll.  Desgleichen  müssen  die  an  den  beiden  Seitenwänden  vor- 
handenen Fenster  sich  in  gleichem  Niveau  mit  der  Innenwand  befinden  und  am 
besten  fest  in  die  W linde  eingefügt,  also  nicht  zum  Oeffnen  eingerichtet  sein. 
Die  Lüftung  des  Wagens  geschieht  entweder  durch  die  erwähnten  Dachreiter, 
oder,  falls  solche  nicht  vorhanden,  durch  in  der  Thür  vorhandene  Fenster,  welche 
am  besten  durch  am  Dnterrand  angebrachte  Cbarniere  schräg  gestellt  werden 
können,  während  seitwärts  befestigte  Stangen  sie  in  beliebiger  Stellung  festhalten. 
Auf  solche  Weise  ist  es  möglich,  einigermassen  glatte  Wandungen  im  Wagen 
herzustellen.  Auch  die  Decke  soll  glatt,  ihr  Uebergang  zu  den  Wänden  ab- 
gerundet sein.  Der  Fussboden  wird  mit  Linoleum  belegt  und  enthält  Oeffnungen, 
durch  welche  zur  Reinigung  benützte  Flüssigkeiten  abfliessen  können.  Das  ge- 
sammte  Innere  des  Wagens  wird  mit  Oel-  oder  Emailfarbe  gestrichen,  wodurch 
der  Zinkbeschlag  der  Wagen , wie  in  anderen  Städten , überflüssig  wird.  Alle 
diese  Verhältnisse  gestatten  eine  möglichst  ausgiebige  Desinfection  des  Wagens, 
und  diese  ist  für  die  Umgebung  des  Kranken  von  Wichtigkeit.  Findet  die  Des- 
infection im  Krankenhause,  und  zwar  möglichst  nach  jeder  Benützung  des  Wagens 
statt,  so  ist  eine  Uebertragung  von  Krankheiten  auf  diesem  Wege,  soweit  dieB 
angängig  ist , verhütet  oder  doch  eingeschränkt.  Am  meisten  wird  es  sich  ja 
empfehlen,  das  Lager  des  Kranken,  die  Trage,  nach  jedem  Transport  zu  des- 
inficiren  und  den  Wagen  zu  reinigen,  eine  Desinfection  dieses  aber  nach  jedem 
Transport  eines  ansteckenden  oder  verdächtigen  Kranken  vorznnehmen.  Es 
empfiehlt  sich  in  den  meisten  Fällen  nicht,  den  Kranken  in  seinem  eigenen  Bette 
zu  transportiren,  weil  hierdurch  die  Uebertragung  von  ansteckenden  Krankheiten 
gefördert  wird.  Nur  bei  solchen  Kranken , wo  jede  Erschütterung  schmerzhaft 
oder  gefährlich  ist,  könnte  die  Umbettung  unterbleiben.  In  allen  anderen  Fällen 
soll  der  Patient  auf  einer  Trage  gebettet  werden , welche  mit  den  nöthigen 
Flanelldecken  und  Kissen  versehen  ist,  welche  nach  dem  Transport  sofort  gereinigt, 
beziehungsweise  desinficirt  werden  können,  während  die  Trage  dem  gleichen  Ver- 
fahren unterworfen  wird.  Auch  der  von  mir  angegebene,  oben  abgebildete  Trag- 
boden kann  vollkommen  desinficirt  werden. 

Da  wir  jetzt  bei  den  meisten  Infectionskrankhciten  die  Ursprungsstelle 
und  den  Aufenthaltsort  der  betreffenden  Keime  kennen , so  ist  es  nothwendig, 
nach  dieser  Kenntniss  auch  die  Ausführung  der  Desiufection  der  Transportmittel 
einzurichten,  was  ökonomisch  von  grosser  Bedeutung  ist.  Es  werden  ja  diejenigen 
Vorschläge  am  meisten  Aussicht  haben,  Gehör  bei  den  zuständigen  Stellen  zu 
findeu,  deren  Verwirklichung  nicht  mit  so  hohen  Kosten  verbunden  ist,  dass  der 
dadurch  gestiftete  Nutzen  in  keinem  Verhältnisse  zu  jenen  steht.  Und  wenn  man, 
was  noch  unten  zu  besprechen,  die  Uebernahme  des  Krankentrausportwesens  in 
den  Städten  seitens  der  Behörden  befürwortet,  so  darf  auch  der  Geldaufwand 
kein  so  erheblicher  sein , dass  die  Behörden  ohne  Weiteres  durch  dessen  Höhe 
abgeschreckt  werden,  einem  solchen  Plane  näher  zu  treten. 

Sehr  grosse  Aufmerksamkeit  wird  diesen  Verhältnissen  in  Frankreich  zu- 
gewendet.  Rodssei.et  veröffentlicht  folgenden  Fall.  Ein  Vater  fuhr  mit  zwei 
Kindern  in  einer  Droschke;  ein  Kind  fand  unter  der  Sitzbank  ein  Stück  Papier 
und  nahm  dasselbe  mit  nach  llause.  Wie  sich  später  ergab,  enthielt  das  Papier 
die  Bescheinigung  zur  sofortigen  Aufnahme  eines  diphtherickranken  Kindes  in’s 
Krankenhaus.  Drei  Tage  nach  der  Fahrt  starb  das  eine  und  kurze  Zeit  später 
das  zweite  Kind  an  Diphtherie.  Wenn  auch  nicht  sicher  erwiesen  ist,  dass  die 
Kinder  durch  die  Benützung  des  Wagens  erkrankten,  so  zeigt  sich  doch,  dass 
dem  Krankentransportwesen  in  Frankreich  grosse  Bedeutung  bcigelegt  wird. 


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Mi 


KRANKENTRANSPORT. 


Allerdings  darf  man  diese  Forderungen  nicht  übertreiben  und  sogar  die  Des- 
infection  der  Pferde  nach  dem  Transport,  wie  sie  in  Paris  nach  Rousselet’s 
Darlegung  ausgeführt  wird,  als  erwünscht  betrachten. 

Für  Aerzte  und  Publicum  wäre  das  Vorhandensein  behördlicher  Vor- 
schriften in  Deutschland , welche  die  Meldepflicht  and  Transport  bei  und  Dcs- 
infection  nach  ansteckenden  Krankheiten  nach  einheitlichen  Grundsätzen 
regelten,  von  grossem  Nutzen.  Da  der  Entwurf  eines  Reichsgesetzes,  betreffend 
die  Bekämpfung  gemeingefährlicher  Krankheiten,  vom  Jahre  1893  keine  Giltig- 
keit erlangt  hat,  so  ist  vorläufig  bis  nach  Inkrafttreten  eines  Reichs-Seuchen- 
gesetzes nach  den  bisherigen  Verordnungen  zu  verfahren. 

Für  die  Verhältnisse  der  Grossstadt  ist  es  als  besonders  nothwendig 
hervorznheben , dass  jeder  Kranke,  welcher  nicht  zu  Fuss  gehen  kann , sowie 
alle  Kranken  mit  ansteckenden  Krankheiten  in  besonderen  Krankenwagen  be- 
fördert werden.  Kranken  der  ersten  Gruppe,  welche  als  schwerer  krank  anzu- 
sehen sind,  kann  nicht  zugemuthet  werden,  in  einer  gewöhnlichen  Droschke 
zu  fahren , da  deren  Innenraum  meistens  nicht  so  gross  ist , dass  der  Kranke 
bequem  gelagert  werden  kann  und  die  Erschütterungen  für  den  Patienten  znm 
Mindesten  unangenehm , häutig  aber  gefahrvoll  sind.  Selbstverständlich  müssen 
ansteckende  Kranke  gehalten  sein,  sich  der  Krankenwagen  zu  bedienen,  wozu 
allerdings  gehört , dass  sie  selbst  ihren  Zustand  kennen.  Da  ein  Theil  von 
Kranken  aber  auch  ohne  ärztliche  Anweisung  das  Krankenhaus  aufsucht , so 
ist  von  diesen  nicht  gut  zu  erwarten , dass  sie  wissen , an  welcher  Krankheit 
sie  leiden.  Auch  aus  diesem  Grunde  und  dem  schon  vielfach  angeführten, 
dass  auch  ein  Arzt  häufig  nicht  auf  den  ersten  Blick  über  den  Charakter 
einer  Krankheit  im  Klaren  sein  kann,  ist  es  nothwendig,  dass  so  viel  Kranken- 
wagen in  jeder  Stadt  vorhanden  sind , dass  sich  jeder  Kranke  derselben  ohne 
grosse  Umstände  bedienen  kann.  Hierzu  ist  es  weiter  nothwendig,  dass  die- 
selben an  Orten  stehen , wo  sie  leicht  erreichbar  sind  und  dass  der  Transport 
nicht  von  der  Bezahlung  abhängig  gemacht  wird,  d.  h.  dass  er  nicht  ein  geschäft- 
liches Unternehmen  wird.  Nur  für  weiter  unten  noch  zu  erwähnende  Fälle  könnten 
Privatunternehmer  eintreteu.  Es  müsste  also  das  Krankentransportwesen  behörd- 
licherseits eingerichtet  und  verwaltet  werden,  was  auch  wegen  der  Beaufsichti- 
gung der  Desinfection  von  hohem  Werth  wäre.  Die  Krankenwagen  werden  am 
besten  in  grösseren  Krankenhäusern  oder  Feuerwachen  untergebracht , und  aus 
den  letzteren  besonders  bei  Unglücksfällen  herbeigeholt,  falls  nicht  ein  Kranken- 
haus näher  an  der  Unfallsstelle  liegt.  Durch  diese  Einrichtung  ist  dann  gleich- 
zeitig eine  werthvolle  Grundlage  für  das  Rettnngswesen  gegeben,  indem  aus  dem 
Krankenhaus  ein  Arzt  ohne  Weiteres,  bei  Herbeiholung  aus  einer  Feuerwache 
ein  vorher  bestimmter,  in  der  Nähe  der  Wache  wohnender  Arzt,  der  abgeholt 
würde,  mit  zur  Stelle  des  Unfalles  oder  der  plötzlichen  Erkrankung  eilen  könnte. 
Ferner  würde  das  Rettungswesen  durch  die  Anwesenheit  der  Wagen  in  den 
Krankenhäusern  gewinnen,  wenn  ausserdem  für  erste  Versorgung  von  Verun- 
glückten und  Verletzten  im  Krankenhause  ein  besonderer  Raum  in  möglichster 
Nähe  des  Einganges  eingerichtet  und  hierdurch  die  Möglichkeit  gegeben  würde, 
den  Kranken  nach  der  ersten  Hilfeleistung  entweder  sogleich  in  das  eigentliche 
Spital  oder  seine  Behausung  überzuführen.  Die  Einrichtung  des  Rettungswesens 
in  einer  Stadt  muss  hauptsächlich  auf  der  Grundlage  eines  zweckmässig  her- 
gestellten  Krankentransportdienstes  beruhen.  Ein  auf  der  Strasse  Verunglückter 
muss  so  schnell  als  möglich  — wenn  nöthig  nach  Anlegung  eines  Nothverbandes  — 
von  der  Unfallsstelle  fortgeschafft  und  in  ein  Krankenhaus  oder  seine  Wohnung 
gebracht  werden.  Die  Beförderung  ist  jedenfalls  ganz  erheblich  wichtig,  vielleicht 
häufig  das  Wichtigste  für  den  Rettungsdienst,  denn  ein  Nothverband  ist  gewöhn- 
lich mit  so  goringen  Mitteln  herzustellen,  dass  ein  einigermassen  gewandter  Mensch 
mit  den  erforderlichen  Vorkenntnissen  einen  solchen  ohne  grosse  Vorbereitung  her- 
stellen  kann.  Allerdings  gilt  dies  nur  für  die  am  häufigsten  vorkommenden  kleineren 


KRANKENTRANSPORT. 


343 


Einzeluufälle ; für  bedeutendere  Verletzungen,  Masse nunfälle  n.  s.  w.  müssen  auch 
andere  Vorbereitungen  getroffen  sein,  deren  Auseinandersetzung  nicht  an  dieser  Stelle 
zu  erfolgen  hat.  Immer  ist  aber  festzuhalten , dass,  ebenso  wie  im  Gefecht  in 
der  Feuerlinie,  nicht  endgiltigc,  sondern  nur  vorläufige  Verbände  angelegt  werden 
können,  und  die  Verletzten  dann  schleunigst  transportirt  werden  müssen , auch 
bei  einem  Unglttcksfalle  der  Transport  höchste  Bedeutung  hat.  Der  erste  Ver- 
band entscheidet  nicht  allein  das  Schicksal  des  Verletzten,  da  er 
eben  häufig  nur  ein  Nothverband  ist , welcher  nach  kurzer  Zeit  wieder  entfernt 
wird.  Wenn  wirklich  der  erste  Verband  bei  Verletzungen  so  entscheidend  sein 
würde , wie  dies  von  gewissen  nicht  sachverständigen  Seiten  behauptet  wird , so 
müsste  bei  weitem  mehr  Unheil  durch  die  zahllosen  Verbände  von  Laien,  welche 
in  Xothfällcn  angelegt  werden , herbeigeführt  werden.  Ich  habe  daher  den  er- 
wähnten Satz  umgeändert  in:  Der  erste  Transport  und  erste  Verband 
entscheiden  das  Schicksal  der  Verletzten.  Auch  diese  Verhältnisse  sollten 
hier  nur  kurz  berührt  werden,  da  ihre  ausführliche  Darlegung  im  Capitel 
„Rettungswesen“  geschehen  wird. 


Fig.  «1. 


Elastischer  Krankenfransportwa^en  von  der  Seite. 
a Kasten  zum  Aufbewabren  dea  Schraubenziehers,  der  Vorrathsfeder  und  Holzen,  sowie  anch 
für  Hineinlege»  des  Gepückes  von  den  in  den  Wagen  kommenden  Verwuudeten;  b Brvtt,  auf 
welchem  dasTutter  für  die  Prerde  aufbewahrt  wird  ; r—k  Vorrichtung  zum  Aus-  und  EiDschlebeu 
der  S^hwerverwundeten  mittels  der  Pritschen,  sowohl  am  Vordertheil  als  auch  am  Hlnter- 
theil  des  Wagens.  Die  Kettenhaken  (e)  werden  von  den  Ketten  (d)  loag-hakt,  w-uauf  die  Sitze 
(<e)  für  die  Leichtverwundeten,  nebst  deren  Fuasbretter  (/),  vermittels  ihrer  Schwere  (g)  sich 
nach  unten  senken,  wo  dann  die  Einsatzthüren  (h)  aus  ihren  Befestigungen  (•)  und  Lagen  (k) 
herausgenommen  und  so  die  Pritschen  ans-  und  eingeschoben  werden  können. 

Verunglückte  und  Verletzte  bedürfen  gleichfalls  beim  Transport  des 
höchsten  Comforts.  Das  Beispiel  des  einfachen  Kochenbruehs , der  sich  unter- 
wegs bei  mangelhaftem  Transport  in  einen  eomplicirten  verwandelt,  ist  all- 
gemein bekannt.  Auch  bereits  zu  Anfang  dieses  Jahrhunderts  wurde  die  Wichtig- 
keit des  Transportes  für  (im  Kriege)  Verletzte  hervorgehoben.  Es  mögen  die 
Worte  des  damaligen  General-Stabs-C'hirnrgus  der  preussischen  Armee,  Joh. 
Goerckk,  an  dieser  Stelle  wiedergegeben  werden.  Er  beschreibt  einen  „elastischen 
Krankentransportwagen“  (mit  elastischen  Federn),  dessen  Abbildung  hier  gezeichnet 
zu  werden  verdient,  und  rühmt  dessen  Vorzüge: 

„Die  Vortheile  eines  so  construirten  Wagens,  welcher  damals  250  Rcichs- 
tbaler  kostete*),  sind  einleuchtend.  Da  der  Wagen  12  Fuss  (also  zwei  Menschen- 

*)  Eino  in  Bezug  auf  die  Vielheit  der  nöthigen  Wagen  zwar  bedeutende  Summe, 
die  aber  doch  in  gar  keinem  Verhältnisse  steht  zu  den  unendlichen  Qualen  und  nur  zn  oft 
tüdtlichen  Folgen,  mit  welchen  der  Transport  schwer  verwundeter  Vaterlandsvertheidigcr  auf 
gewöhnlichen  heftig  stossenden  Wagen  unvermeidlich  begleitet  ist:  besonders  da  es  durch  eine 
laoge  Erfahrung  sich  als  Grundsatz  bewährt  hat,  dass  bei  der  Hälfte,  ja  selbst  bei  zwei  Dritt- 


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344 


KRANKENTRANSPORT. 


längen)  hat , 80  sind  znr  Verkürzung  des  Wagens  die  elastischen  Federn  sehr 
ingeniös  auf  den  Achsen  unter  dem  Kasten  angebracht  worden,  wodurch  zugleich 
der  Vortheil  bewirkt  wird , dass  der  Kasten  Ober  die  Räder  hinaus  zu  stehen 
kommt,  und  also  nach  allen  Seiten  hin  schwingen  kann,  ohne  dnrch  Widerstand 
Stösse  zu  erleiden,  die  den  zerschmetterten  Gliedern  so  höchst  nachtheilig  werden, 
und  auch  selbst  bei  den  in  nicht  nachgebenden  Riemen  hangenden  Wagenkasten 
nicht  verhütet  werden  können.“ 

Es  scheint  dieser  Wagen  gegen  andere  in  damaliger  Zeit  gebräuch- 
liche allerdings  ganz  ausgezeichnete  Vorzüge  besessen  zu  haben,  denn  Wen  dt 
schildert  1816  dänische  Transportwagen,  deren  Gestaltung  keine  für  die  Kranken 
sehr  angenehme  gewesen  zu  sein  scheint.  Er  sagt: 

„3.  Es  würde  für  zwei  Kranke  oder  Verwundete  beschwerlich  and 
selbst  gefährlich  seyn,  besonders  in  den  heissen  Sommer-Monaten,  lange  in  diesen 
3 Ellen  langen  uud  halb  so  breiten  und  tiefen  Raum  eingeschlossen  zn  seyn, 
dessen  Seiten  keine  Polster  haben. 

Schon  im  2-  April  1801  suchte  ich  mir  näheren  Unterricht  Uber  die  Einrichtung 
der  dänischen  Krankentransportwagen  zn  verschaffen,  die  damals,  vorkommender  Fälle  wegen, 
in  den  Hof  des  allgemeii.en  Hospitales  in  Kopenhagen  gebracht  waren,  ich  legte  mich  in  einen 
dieser  Wagen,  liess  alles  zumachen  und  mich  ungefähr  eine  Viertelstunde  im  Hofe  herumziehen. 
Länger  konnte  ich  es  aber,  obgleich  vollkommen  gesund,  in  diesem  engen  Raume  nicht  aushalten." 

Aus  den  soeben  erfulgten  Darlegungen  ergieht  sich,  dass  jene  oben 
erwähnte  Scheidung  des  Krankentransportwesens  in  ein  solches  für  ansteckende 
Kranke  und  Verletzte  am  besten  fallen 
gelassen  wird.  Bedient  sich  jeder  Kranke 
oder  Verletzte,  der  nicht  gehen  kann,  und 
jeder  mit  ansteckender  Krankheit  Behaftete 
eines  besonderen  Krankenwagens  — zu 
welchem  Zwecke  allerdings  ihre  Zahl  zu 
vermehren  wäre  — welcher  nach  jeder 
Benutzung  gründlich  gereinigt,  nach  jedem 
Transporte  eines  verdächtigen  und  jedes 
ansteckenden  Kranken  desinficirt  wird , so 
wäre  für  die  Gesundheits-  und  Kranken- 
pflege viel  gewonnen.  Der  Wagen  muss 
dann  aber  so  gefertigt  sein,  dass  er  ausser 
eingehender  Reinigung  und  Desinfection 
eine  bequeme  Lagerung  des  Kranken  oder 
Verletzten  zulttsst,  welche  denselben  ausser- 
dem vor  Erschütterungen  möglichst  bewahrt. 

Neben  dem  von  den  Behörden  ein- 
zurichtenden Krankentransportwesen  muss 
ein  von  privater  Seite  unterhaltenes  bestehen. 

In  Wien  besorgt  die  Freiwillige  Rettungsgesellschaft  einen  sehr  grossen 
Theil  aller  Krankentransporte  und  hat  seit  ihrem  Bestehen  bis  zum  31.  Mai  1836 
41.703  ausgeführt.  Ausserdem  besorgt  auch  die  Polizei  einen  Theil  der  verfallenden 
Krankentransporte,  und  noch  mehrere  Privatunternehmer  sind  für  dieselben  thätig. 
In  Hamburg,  wo  bekanntlich  das  Krankentransportwesen  anf  musterhafter  Höhe 
steht,  ist  nur  der  von  der  Polizeibehörde  organisirte  Dienst  für  diese  Zwecke 
vorhanden  und  genügt  dort  auch  verwöhnten  Ansprüchen.  Jedenfalls  müssen  für 
die  privaten  Transporte  gleichfalls  strenge  Bestimmungen  und  Aufsicht  bestehen. 
Für  Pcrsouen,  welche  sehr  hohe  Ansprüche  in  Bezug  auf  Bequemlichkeit  zn 
stellen  gewohnt  sind , z.  B.  bei  einem  Transport  von  erkrankten  Fremden  aus 
einem  Gasthofe  zur  Eisenbahn  oder  in  eine  Privatbehausung , ist  es  angebracht, 

theilen  der  uach  Verwundung  gestorbenen  Krieger  der  Tod  nicht  sowohl  die  Folge  der  Verwundung 
an  eich,  als  vielmehr  der  nachher  eingewirkten  schädlichen  Einflüsse  war,  unter  denen  der  Trans- 
port auf  schlecht  eingerichteten  Wagen  immer  zunächst  in  Anrechnung  gebracht  werden  kann. 


Flg.  SS 


Klastischer  Krankeutransportwagen  von 
vorne. 


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KRANKENTRANSPORT. 


345 


sich  privater  Hilfsmittel  zu  bedienen,  da  die  von  den  Behörden  zu  stellenden  ja 
wohl  auch  möglichst  grosse  Bequemlichkeiten  bieten , aber  uaturgcmäss  nicht  so 
ausgestattet  sein  können  wie  das  Prunkzimmer  eines  reichen  Mannes.  Ferner 
sind  die  Transportwagen  der  Privatunternehmer  von  solchen  Personen  zu  benutzen, 
deuen  der  Gebrauch  der  für  Viele  dienenden  Transportmittel  nicht  zusagt. 


Fi*.  63. 


Krankentransportwagen  in  Hamburg  1850,  geschlossen. 


Bei  einem  jeden  Krankentransport  muss  filr  die  Mitnahme  verschiedener 
Gegenstände  gesorgt  werden,  welche  nicht  nur  für  den  Verband  von  Verletzten 
und  für  die  Lagerung  wichtig  sind,  sondern  auch  zur  Erquickung  und  Erfrischung 


Fi*.  64. 


Kranken tranwportu ttgen  in  Hamburg  1850.  geöffnet. 


bei  anstrengender  Fahrt  dienen.  Morphium  und  Aether  besonders  bei  länger  dauern- 
den Eisenbahntransporten,  Wein,  Cognac,  Sect,  Eis,  Wärmflasche  und  einige  Ess- 
waaren  sind  Dinge,  deren  für  bequem  auszufUhrende  Transporte  nicht  zu  entrathen  ist. 


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346 


KB ANKENTKANS PORT. 


Wie  bereits  erwähnt,  ist  in  Hamburg  das  Krankentransportwesen  vor- 
trefflich geordnet,  indem  dasselbe  amtlich  von  der  Polizei  geregelt  ist  und  ver- 
waltet wird.  Bereits  im  Jahre  1850  hatte  Hambnrg  einen  besonderen  Kranken- 
wagen, welchem  äusserlich  seine  Bestimmung  nicht  anzusehen  war. 

Das  Aeussere  des  Wagens  gleicht  den  Staatscarossen  vornehmlich  durch 
die  C-Federn,  in  denen  des  Wagen  aufgehängt  ist,  welche  aber  keine  federnde, 
sondern  schaukelnde  oder  pendelnde  Bewegung  verursachen.  Im  Innern  ist  der 
Wagen  mit  einem  Bett  versehen,  so  dass  der  Kranke  in  den  ziemlich  hohen 
Wagen  emporgehoben  werden  musste.  Der  Wagen  gentlgte  bald  den  gesteigerten 
Anforderungen  nicht  mehr,  und  es  wurden  daher  1889  mehrere  Wagen  nach 
Muster  der  Wiener  in  Landauer-  und  Berline-Form  angeschaftt,  welche  mit 
Gummirädern  und  von  der  Decke  herabhängenden  Kiemen  versehen  waren , an 
denen  die  Bahren  angehängt  wurden.  Da  letztere  gleichfalls  nur  pendelnde  Be- 
wegungen erlauben , so  hat  man  jetzt  die  Gurte  entfernt  und  stellt  die  Bahren 
ohne  weitere  Vorrichtung  in  den  an  der  Seite  nach  oben  und  unten  aufgeklappten 
Wagen.  Die  letzteren  können  nicht  nur  bei  der  Centralstelle  im  Stadtbause, 
sondern  auch  bei  allen  Polizeiwachen  der  Stadt,  die  an  den  Hambnrgischen  Feucrtele- 
graphen  angeschlossen  sind,  bestellt  werden.  Für  besonders  dringliche  Fälle  befinden 


Fier  «S. 


sich  auf  fast  allen  Wachen  Räderbahreu , welche  von  der  Wachmannschaft  be- 
dient unverzüglich  ausrücken  können.  Hauptsächlich  werden  die  Räderbahren 
bei  Transporten  in  nahe  gelegene  Krankenanstalten  oder  in’s  nächste  Wach- 
local benutzt.  Die  Polizeiwachen  auf  dem  südlichen  Elbeufer  haben  theilweise 
noch  Krankenkörbe.  Auf  dein  Hauptpolizeiamte  im  Stadthause  befindet  sich  eine 
besondere  Meldestelle,  auf  welcher  Tag  und  Nacht  die  aus  acht  Mann  bestehende 
Sanitätscolonne  in  Dienst  ist,  um  bestellte  Krankentransporte  sofort  auszuftthren. 
Die  Ausführung  des  Transportes  wird  niemals  von  vorheriger  Bezahlung  abhängig 
gemacht.  Geisteskranke  werden  in  gewöhnlichen  Kutschen,  nicht  in  besonders  ge- 
bauten Wagen  befördert.  Es  wird  dadurch,  was  ich  gleichfalls  bereits  als  wichtig 
hervorgehoben,  jedes  Aufsehen  für  den  Kranken  vermieden.  Nur  dürfte  cs  zweck- 
mässig sein,  die  Polsterung  dieser  Wagen  mit  Wachstuchbezug  herzustcllen. 

Besonderes  Augenmerk  hat  man  auch  in  Hamburg  auf  die  Beförderung 
von  ansteckenden  Kranken  gerichtet.  Der  Transport  von  diesen  in  öffentlichen 
Fuhrwerken  ist  gänzlich  untersagt;  es  sind  zur  Benutzung  für  solche  Kranke 
Wagen  vorhanden,  welche  nur  aus  Eisen , Holz  und  Glas  bestehen , welche  aus- 
reichende Dcsinfection  znlasscn  und  in  genügender  Zahl  an  verschiedenen  Orten 
der  Stadt  aufgestellt  sind. 


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KRANKENTRANSPORT. 


347 


Die  „Verordnung,  betreffend  die  Beförderung  von  Personen,  welche  mit 
einer  ansteckenden  Krankheit  behaftet  sindu,  lautet: 

II. 

Zar  Beförderung  von  Personen , welche  an  den  im  § 2 bezeichnten  ansteckenden 
Krankheiten  leiden,  werden  an  den  von  der  Polizeibehörde  öffentlich  bekannt  zu  machenden 
Orten  Krankenwagen  anfgestellt.  Die  Benutzung  des  öffentlichen  Fuhrwerks  (Droschken,  Pferde- 
bahnen, Omnibus)  zur  Beförderung  solcher  Personen  ist  verboten. 

Für  die  Benutzung  der  Krankenwagen  sind  die  Bespannungs-  und  Bedienungskosten 
der  Polizeibehörde  zu  vergüten.  Die  letztere  ist  jedoch  befugt,  den  Umstanden  nach  diese 
Kosten  ganz  oder  theilweise  zu  erlassen. 

§2. 

Zu  den  ansteckenden  Krankheiten  im  Sinne  des  § 1 gehören: 

Pest,  Cholera.  Fleckfieber  (Typhus  fxunthematicus  Blattern,  Scharlach  und  Diph- 
tberitis  Der  Senat  ist  jedoch  befngt,  in  gegebener  Veranlassung  das  im  § 1 enthaltene  Verbot 
vorübergehend  auch  auf  andere  als  die  vorstehend  aufgeführten  Infectionskrankheiten  (wie 
Masern,  Keuchhusten,  Unterleibstyphus)  auszudehnen. 

Die  bei  den  aussergewöhnlichen  Infectionskrankheiten : Pest,  Cholera  und  Flcckfieber 
1 Typhus  exanthematicus)  im  Falle  einer  Epidemie  etwa  erforderlich  werdenden  ausserordent- 
lichen Massnahmen  sollen  durch  die  Vorschriften  dieser  Verordnung  nicht  beschränkt  werden. 

§3. 

Aerzte,  welche  die  Beförderung  von  Kranken  anordnen,  haben  hierüber  eine  schrift- 
liche Bescheinigung  zu  ertheilen.  die  einen  Vermerk  darüber  enthalten  muss,  oh  es  sich  um 
einen  ansteckenden  Kranken  handelt , für  welchen  die  Benutzung  öffentlichen  Fuhrwerks  aus- 
geschlossen ist,  oder  nicht. 

Die  Scheine  für  ansteckende  Kranke  sind  durch  ein  bestimmtes  Merkmal  leicht 
kenntlich  zu  machen. 

§4. 

Oeftentliches  Fuhrwerk,  welches  den  vorstehenden  Bestimmnngen  zuwider  zur  Be- 
förderung von  ansteckenden  Kranken  gedient  hat,  ist  einer  gründlichen  Desinficirnng  zu  unter- 
werfen. Für  den  durch  diese  Mussregel  entstehenden  Schaden  wird  aus  der  Staatscasse  nur 
dann  Ersatz  geleistet,  wenn  den  Führer  (Schaffner)  des  Fuhrwerkes  hei  der  Aufnahme  des 
Kranken  kein  Verschulden  trifft.  Ein  Verschulden  gilt  schon  als  erwiesen,  wenn  der  betreffende 
Wagen lüh rer  (Schaffner),  obwohl  ihm  bekannt  war,  dass  es  sich  um  eine  Krankenbeförderung 
handelte,  es  unterlassen  hat , die  Vorzeigung  der  im  § 3 gedachten  ärztlichen  Bescheinigung 
zu  verlangen. 

Die  Höhe  des  zu  leistenden  Ersatzes  bestimmt  die  Polizeibehörde  vorbehaltlich  der 
Beschreitung  des  Rechtsweges  durch  den  Geschädigten. 

§5. 

Zuwiderhandlungen  gegen  das  in  den  1 und  2 enthaltene  Verbot,  sowie  gegen 
etwaige,  auf  Grund  des  §2  erlassene,  die  Ausdehnung  des  Verbotes  betreffende  Anordnungen 
des  Senates  werden , wenn  sie  vorsätzlich  begangen  sind , mit  Gefängnissstrafe  bis  zu  drei 
Monaten  oder  mit  Geldstrafe  bis  zu  IGOO  Mark,  wenn  sie  fahrlässig  begangen  sind,  mit  Geld- 
strafe bis  zu  lf>0  Mark  und  im  Unvermögensfalle  mit  Haft  geahndet. 

Die  Verantwortung  trifl't  sowohl  denjenigen,  welcher  den  Kranken  auf  den  Transport 
giebt,  beziehungsweise  den  Kranken  seihst , als  auch  den  Führer  (Schaffner)  des  betreffenden 
öffentlichen  Fuhrwerkes. 

Uelwrtretungen  des  § 3 werden  mit  Geldstrafe  bis  zu  150  Mark  bestraft. 

§6. 

Wer  wegen  Zuwiderhandlung  gegen  das  Beförderungsverbot  rechtskräftig  zu  einer  Strafe 
vernrtheilt  ist,  kann  im  Verwaltungswege  von  der  Polizeibehörde  zum  Ersätze  der  gemäss 
§ 4 aus  der  Staatscasse  etwa  zu  zahlenden  Entschädigung  angehalten  werden. 

§ 7. 

Diese  Verordnung  tritt  an  einem  vom  Senate  festzusetzenden  Tage  in  Kraft. 

Gegeben  in  der  Versammlung  des  Senats,  Hamburg,  den  7.  Mai  1890. 

Die  für  diese  Transporte  erforderlichen  sogenannten  Desinfectionawagen 
wurden  iiuaaerlich  von  genau  gleicher  Gestalt  wie  die  übrigen,  im  Innern  jedoch 
ohne  Polsterung,  mit  Eisenbleehbesehlag  hergestellt,  und  von  der  Polizeibehörde 
folgende  AusfUhrungsbekanntmuebung  erlassen. 

Mit  dem  1.  Juli  d.  J.  tritt  die  Verordnung  vom  7.  Mai  1690*  betreffend  die  Beförde- 
rung von  Personen,  welche  mit  einer  ansteckenden  Krankheit  behaftet  sind,  in  Wirksamkeit. 

Von  diesem  Tage  ab  ist  die  Benutzung  des  öffentlichen  Fuhrwerks  (Droschken,  Pferdebahnen, 

Omnibus)  zur  Beförderung  von  Personen , welche  an  den  in  der  Verordnung  genannten  an- 

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KRANKENTRANSPORT. 


steckenden  Krankheiten : Pest,  Cholera,  Fleckfieber  (Typhus  tjranthematicus),  Blattern,  Schar- 
lach und  Diphtheritis  leiden , verboten.  Zur  Beförderung  solcher  Personen  sind  von  dem  ge- 
dachten Tage  ab  in  den  nachstehenden  Depots  der  Finna  J.  A.  Schlüter  Söhne: 

1.  bei  der  Petrikirche  2, 

X.  ABC-Strasse,  Platz  54, 

3.  St.  Georg,  an  der  Koppel  63/64, 

4.  Harvestehude,  Mittelweg  hinter  171 

besondere  Krankenwagen  aufgestellt,  welche  nach  jedesmaliger  Benutzung  desinficirt  werden. 
Diese  Krankenwagen,  welche  auf  ärztliches  Verlangen  auch  für  besonders  unreine  Kranke  zur 
Verfügung  stehen,  können  nicht  allein  in  den  genannten  Depöts,  sondern  auch  in  allen  Polizei- 
wachen, soweit  dieselben  an  den  Ham  burgischen  Feaer-Telcgrapben  angeschlossen  sind,  bestellt 
werden.  Ausser  dem  Wagenführer  wird  in  der  Regel  eine  Begleitmannschaft  nicht  mitgegeben. 
Nur  wenn  der  Kranke  ausnahmsweise  liegend  befördert  werden  muss,  sind  Krankenträger  er- 
forderlich, welche  mit  der  Handhabung  des  Wagens  nebst  Zubehör  vertraut  sind.  In  solchem 
Falle  ist  bei  Bestellung  des  Wagens  eine  bezügliche  Angabe  zu  machen,  worauf  das  Kranken- 
trägerpersonal mit  erscheint. 

Die  Kosten  der  Bespannung  und  Bedienung  werden  abseiten  der  Polizeicasse 

eingezogen. 

Die  Herren  Aerzte  werden  darauf  hingewiesen,  dass  sie  gemäss  § 3 der  Verordnung 
vom  1.  Juli  d.  J.  ab  in  allen  Fällen,  in  welchen  sie  die  Beförderung  von  Kranken  anordnen, 
eine  schriftliche  Bescheinigung  zu  ertheilen  haben,  die  einen  Vermerk  darüber  enthalten  muss, 
ob  es  sich  um  einen  ansteckenden  Kranken  handelt , für  welchen  die  Benutzung  öffentlichen 
Fuhrwerks  ausgeschlossen  ist  oder  nicht.  — Formulare  zu  diesen  Bescheinigungen  werden  ihnen 
rechtzeitig  zugehen  und  sind  später  jederzeit  im  Medicinal-Bureau  erhältlich.  — Die  Ver- 
pflichtung ist  nicht  auf  die  Krankenbeförderung  nach  den  Heilanstalten  beschränkt , sondern 
gilt  für  alle  Krankentransporte,  auch  von  Haus  zu  Haus. 

Eine  ähnlich  lantende  „Instruction  für  die  Führer  öffentlichen  Fuhrwerks, 
betreffend  Krankentransport“,  wurde  an  sämmtliche  betheiligten  Unternehmer  und 
Institute  ertheilt.  Die  Führer  öffentlichen  Fuhrwerks  haben  sich  bei  allen  Kranken- 
beförderungen eine  ärztliche  Bescheinigung  vorzeigen  zu  lassen , aus  der  sich 
ergeben  muss , ob  eine  Benützung  öffentlichen  Fuhrwerks  geschehen  darf.  Hat 
eine  solche  dennoch  bei  ansteckenden  Kranken  stattgefunden,  so  muss  das  Fuhr- 
werk desinficirt  werden.  Hierfür  Bind  besondere  Formulare,  roth  für  ansteekende, 
weiss  für  nicht  ansteekende  Kranke  vorhanden , deren  Aufdruck  folgender- 
raassen  lautet: 

(Weieses  Papier.) 

Hamburg,  den 


Inhaber  des  Mitgliedsbuchs  Nr.  der 


wohnhaft 

bedarf  wegen 

der  Aufnahme  in  d 


Die  Benutzung  öffentlichen  Fuhrwerks  (Droschken,  Pferdebahnen, 
Omnibus)  zur  Beförderung  d Kranken  ist  nach  der  Verordnung  vom  7.  Mai  1890 
gestattet. 

Unterschrift : 


Für  die  vorliegende  Kraukheit  gewährt  die 
freie  Verpflegung  im  Krankenhause  eventl.  bis 

Hamburg,  den  *'n  189 


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KRANKENTRANSPORT. 


349 


(Rothes  Papier.) 

Hamburg,  den 


Inhaber  des  Mitgliedsbuchs  Nr.  der 


wohnhaft 
bedarf  wegen 
der  Aufnahme  in  d 


Oeffentliches  Fuhrwerk  (Droschken,  Pferde- 
bahnen. Omnibus)  darf  zur  Befdrderung  d Kranken  nach 
der  Verordnung  vom?.  Mai  189U  nicht  ben  u tat  w er  d e n, 
da  es  sich  nm  eine  ansteckende  Krankheit  handelt. 

Unterschrift : 


Für  die  vorliegende  Krankheit  gewährt  die 


freie  Verpflegung  im  Krankenhanse  eventl.  bis 


Hamburg,  den  -189 

Diese  Formulare  wurden  allen  Aerzten,  beziehungsweise  bei  der  Nieder- 
lassung übersendet  und  dienen  zugleich  als  Aufnahmcscheine  für  die  Kranken- 
häuser. Zuwiderhandlungen  gegen  diese  Bestimmung  erfolgen  in  Hamburg  sehr  selten. 

Zum  Transport  Verunglückter  bei  Massenunfallen  ist  ein  nach  dem  Muster 
der  Wiener  Rettungswagen  erbautes  Fuhrwerk  vorgesehen,  in  welchem  vier  Trag- 
bahren für  liegende  Personen  hängen.  Durch  Herausnahme  der  Tragen  und  Ein- 
stellung von  Sitzbänken  ist  aer  Wagen  auch  für  10  Sitzende  einzuriehten. 

Durch  beständige  Fernsprechverbindung  des  Postenzimmers  der  Sanitüts- 
colonne  der  Polizei  mit  dem  Hauptdepot  des  Fuhrgesehäftes,  in  dessen  Anstalten 
die  Wagen  untergebracht  sind,  und  welches  die  Bespannung  für  die  Wagen  stellt, 
und  mit  der  Feuerwehr  können  Tag  und  Nacht  in  kürzester  Zeit  die  Wagen 
nach  allen  Stadtgegenden  ausrücken. 

Dem  Hauptdepot  gegenüber,  welches  gleichfalls  eigene  Tclcphonstation 
besitzt,  befindet  sich  ein  Stall  mit  17  vollständig  angeschirrten  Pferden,  wodurch 
es  ermöglicht  wird,  dass  nach  Meldung  des  Transportes,  wie  ich  selbst  beob- 
achtete, der  Wagen  binnen  einer  Minute  zur  Abfahrt  bereit  steht. 

Auch  die  Transportverhältnisse  in  Dresden  sind  recht  gut  geordnete 
und  sollen  in  Kürze  geschildert  werden.  Auch  in  Dresden  liegt  das  Kranken- 
transportwesen hauptsächlich  in  den  Händen  der  städtischen  Wohlfahrtspolizei, 
beziehungsweise  der  14  Wohlfahrtspolizeiinspeetionen,  welche  untereinander  Fern- 
sprechverbindung und  Nachtdienst  haben ; hierzu  kommen  die  beiden  städtischen 
Feuerwehranstalten,  die  Wache  der  Chaisenträger  im  Schloss  und  der  Raths- 

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350 


KRANKENTRANSPORT. 


chaisenträger.  Bei  der  Polizei  sind  14,  bei  den  Chaisenträgen  4,  bei  der  Feuer- 
wehr 3 zusammenlegbare  und  eine  feste  Krankentrage  vorhanden,  von  denen  erstere 
jedesmal  beim  Brande  mitgeführt  werden.  Der  Transport  ansteckender  Kranken  hat 
pflichtgemäss  in  den  acht  städtischen  Krankenwagen  stattzufinden  und  ist  unent- 
geltlich. Fünf  der  Wagen  haben  die  Gestalt  eleganter  Coupes,  drei  gewöhnlicher 
Droschken.  In  Privatbesitz  sind  noch  zwei  Krankentragen  und  ein  Wagen  in  Omnibus- 
form ; ferner  sind  Tragen  in  grösseren  Fabriken  und  in  jedem  Bahnhof  vorgesehen. 

In  Berlin , wo  das  Krankentransportwesen  besonders  für  ansteckende 
Kranke  noch  immer  nicht  auf  der  für  eine  Grossstadt  erforderlichen  Höhe  steht, 
werden  trotz  der  weitgehendsten  Polizeiverordnnngen  noch  in  zahlreichen  Fällen 
öffentliche  Fuhrwerke  zur  Beförderung  ansteckender  Kranken  benutzt.  Mütter 
fahren  mit  ihren  kranken  Kindern  auf  dem  Schoss  in  der  Pferdebahn  oder  Omnibus 
zum  Krankcnhause  oder  zur  Poliklinik , Erwachsene  benützen  Droschken.  Der 
Grund  hierfür  ist  darin  zu  suchen,  dass  der  Transport  der  Kranken  in  Berlin  sehr 
theuer  ist , da  er  eine  Einnahmequelle  für  Privatunternehmer  bildet , und  auch 
sonst  mit  Unzuträglichkeiten  verbunden  ist,  welche  im  Laufe  der  Erörterungen 
auch  schon  gestreift  wurden.  Würde  eine  einheitliche  Regelung  der  Angelegenheit 
seitens  der  Behörden  erfolgen,  so  könnten  die  Transporte,  wie  cs  z.  B.  in  Hamburg 
stattfindet,  gegen  Rückerstattung  der  Fuhrkosten  oder  sogar  ganz  kostenlos  erfolgen, 
wenn  der  beförderte  Kranke  nicht  selbst  in  der  Lage  ist,  den  Transport  zn  bezahlen 
und  keiner  Vereinigung  (Krankencassen-  oder  Armenverband)  angehört,  welche  die 
Kosten  deckt.  Auch  hier  sind  gerade  die  Minderbemittelten,  wie  bei  vielen  Verhält- 
nissen in  der  Krankenpflege,  am  meisten  und  viel  mehr  als  bisher  zu  berücksichtigen. 

Der  einfache,  von  mir  bereits  mehrfach  geäusserte  Vorschlag,  Kranken- 
wagen in  den  Krankenhäusern  selbst  eiuzustcllcn , wie  dies  in  vielen  Staaten 
Amerikas,  England,  Frankreich,  Norwegen  etc.  der  Fall  ist,  ist  in  Berlin  noch 
nicht  allgemein  befolgt.  Im  Krankenhause  der  jüdischen  Gemeinde  war  vor 
mehreren  Jahren  ein  solcher  Wagen  vorhanden,  wurde  aber  wegen  zu  geringer 
Inanspruchnahme  wieder  aufgegeben.  Auch  das  königliche  Charite-Kranken  haus 
hat  einen  Krankenwagen  eingestellt , jedoch  soll  auch  dieser  nicht  sehr  häufig 
benutzt  werden.  Es  beweist  dies  natürlich  nichts  gegen  meine  erhobene  Forderung 
der  Unterbringung  der  Krankentransportwagen  in  allen  grösseren  Hospitälern. 
Wenn  in  einem  Krankenhausc  ein  Krankenwagen  vorhanden,  so  gelangt  dies  natür- 
lich nicht  zur  Kenntniss  des  grösseren  Publicums,  während  dies  sehr  wohl  der  Fall 
ist,  wenn  sämmtlielie  Krankenhäuser  mit  solchen  Wagen  versorgt  sind  und  die 
Ausführung  des  Transportes  nicht  von  Bezahlung  abhängig  gemacht  wird. 

Um  einmal  zu  ermessen,  ob  und  wie  häufig  in  Berlin  die  Beförderung 
von  Kranken  in  ungeeigneten,  beziehungsweise  verbotenen  Gefährten  stattfindet, 
habe  ich  die  betretlenden  Zahlen  aus  den  drei  städtischen  Krankenhäusern  in 
Berlin  zusammengestellt,  welche  sich  auf  die  Jahre  1892 — 1894  beziehen. 

Es  kamen  in  das  städtische  Krankenhaus: 


a)  Im 

Fricdrich8hain 

Kranke  mit 
Infectiona 
krankheiten  ') 

Kranke  mit 
anderen  inneren 
Krankheiten 

Verletzte  und 
Verunglückte 

1892 

1893 

18)4 

1892 

1893 

1894 

1892 

18*3 

1894 

Zu  Fusa 

In  Öffentlichen  Fuhrwerken,  und 

571 

7(52 

732 

5230 

5997 

5550 

604 

506 

440 

zwar  Droschken | 

18 

28 

56 

1387 

1784 

1631 

316 

355 

379 

In  besonderen  Kranken wagen 

107 

106 

105 

4*5 

3.80 

633 

120 

10» 

130 

Mit  anderen  Transportmitteln 

28 

44 

43 

187 

152 

2'i6 

74 

06 

57 

Stimme  . . 

724 

940 

936 

7289 

8313 

8020 

1014 

1036 

1006 

')  d.  h.  Cholera,  Pocken.  Unterleibs-  und  Flecktyphus,  Masern.  Scharlach,  Diph- 
therie, Wochenbetttleber,  Hirnhautentzündung,  Rose,  Keuchhusten. 


KRANKENTRANSPORT. 


351 


Kranke  mit 
Infec  Lions* 
kraukbeiteu 


Kranke  mit 
anderen  inneren 
Krankheiten 


1 

189* 

1899 

1894 

1892 

181,8 

1894 

1H98 

1891)  i 

1894 

1 Zn  Fuss 

lt  479 

457 

672 

3118 

2766 

4402 

232 

143 

252 

ln  öffentlichen  Fuhrwerken  . 

27 

38 

37 

615 

747 

698 

99 

117 

115 

1 In  besonderen  Krankenwagen 

219 

71 

60 

331 

350 

324 

20 

30 

29  ! 

; Mit  anderen  Transportmitteln 

7 

3 

1 

71 

4K 

48 

17 

23 

16  I 

Summe  . 

732 

569  770 

4135 

3911 

5472 

368 

312 

412 

c)  Am  Urban. 


Kranke  mit 
Infektions- 
krankheiten 

Kranke  mit 
anderen  inneren 
Krankheiten 

Verletzte 

1808 

1891  1894 

1892 

1898 

1891 

1892 

1893  I 

1891  1 

i ln 

öffentlichen  Fuhrwerken  . . 

ll  27 

33  23 

1306 

1343 

1272 

279 

185  | 

206 

ln 

besonderen  Krankenwagen  . 

h 73 

120  122 

443 

666 

563 

6 8 

56 

65 

Mit  anderen  Transportmitteln  . 

52 

17  ! 25 

128 

145 

121 

59 

47 

32 

1 

Summe  . . 

152 

170  17U 

1877 

2154 

1956 

406 

288 

303 

Aus  den  Zahlentnfeln  ergiebt  sieb,  dass  weit  über  die  Hälfte  der  ge- 
summten Kranken  die  Krankenhäuser  zu  Fuss  aufsuchen.  Von  den  rund  08.000 
in  jenen  drei  Jahren  aufgenommenen  Kranken  kamen  287,  d.  h.  mehr  als  vier 
vom  Tausend  Infectionskranke  in  gewöhnlichen  Fuhrwerken,  meistens  Droschken, 
in’s  Krankenhaus.  Dies  beträgt  durchschnittlich  32  für  jedes  Krankenhaus  und 
für  das  Jahr,  also  eine  recht  erhebliche  Zahl,  welche  sieh  noch  grösser  stellt, 
wenn  hierzu  alle  jene  Fälle  innerer  Krankheiten  gerechnet  werden , welche  sich 
später  als  ansteckende  Krankheiten  erwiesen.  Berechnet  man  diese  287  auf  die 
Summe  der  Infectiouskrankheiten  allein,  so  ergiebt  sich,  dass  mehr  als  vier  vom 
Hundert  der  Infectionskranken  mit  verbotenen  Transportmitteln  in  die  Kranken- 
häuser kamen.  Die  Zahl  der  in  unzweekmässigen  Transportmitteln  zurückgelcgten 
Transporte  wird  aber  noch  viel  grösser,  wenn  man  alle  chirurgischen  Fälle  hiuzu- 
reehnet,  welche  besonderer  Transportmittel  bedurft  hätten,  aber  in  gewöhnliehen 
Fuhrwerken  befördert  wurden.  Die  Gründe  hierfür  in  Berlin  sind  sehr  mannig- 
faltige. In  den  meisten  Fällen  ist  der  Breis  der  Beförderung,  häufig  aber  auch 
die  unbequeme  Art,  wie  die  Beförderungsmittel  zu  beschaffen  und  die  Abneigung  gegen 
die  vielen  mit  einem  Transport  in  Berlin  verbundenen  Unzuträglichkeiten  die  Ursache. 

Ich  habe  nun  aus  deu  mitgctheilten  Zahlen  die  Summe  der  Transporte 
von  Kranken  mit  inneren  und  Infectionskrankheiten  und  Verletzten  in  den  einzelnen 
Krankenhäusern  für  die  einzelnen  Jahre  wie  folgt  berechnet : 

, I. 


*)  dff.  F.  = Transporte  im  öffentlichen  Fuhrwerk.  — !)  bcs.  T.-M.  = Transporte 
in  besonderen  Transportmitteln.  — ’)  8uuinie  = Gesnmmtzahl  der  im  Laufe  des  Jahre»  Auf- 
gcnommenen.  — *)  Da  nur  nur  die  Zihlen  bis  zum  31.  März  1893  zur  Vertäuung  standen,  habe 
ich  die  Zahlen  der  übrigen  Monate  nach  dem  Durchschnitte  der  einzelnen  Monate  der  früheren 
Jahre  berechnet. 

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352 


KRANKENTRANSPORT. 


In  allen  drei  Krankenhäusern  wurden  aufgenommen  : 

Summe  68.146  Patienten;  von  diesen  waren  befördert  in: 
öff.  F.  11.070  = 16%  der  Aufgenommenen, 

bea.  T.-M.  7367  = 11%  der  Aufgenommenec. 

n. 


Städtische  Krankenhäuser 


Jahre 

Moabit 

ürban 

Fiiedricbahain 

otr.F.  **■ 

Summe 

öff.  F.  , T 

Somme 

öff  F. 

bes. 

TM 

Summe 

1892 

1893 

1894 

741  , 665 
902  525 
850  478 

5235 

6293 

6899 

1612  950 
1561  1154 
1501  ! 1025 

6444 

7181 

6616 

1721 

2167 

1361 

1195 

1032 

2066 

9027 

10289 

9962 

2493  1668  | 18427 

Summe.  . 135%:  9%  j 

In  allen  drei  Krankenhäusern  w 
Summe  68.146  Patienten 

off.  F.  18.121  = 197« 

bes.  T.-M.  8.385  = 12®  0 

4674  3129  1 2l>441 

22%  15°/0  | 

urden  aufgenommen  : 
von  diesen  wurden  befo 
der  Aufgenommeneu, 
der  Aufgenommenen. 

5954 

207. 

rdert  ic 

3588 

12% 

29278 

Es  kamen  also  in  öffentlichen  Fuhrwerken  16%,  mit  besonderen 
Transportmitteln  1 1%  der  Aufgenommenen  in  die  drei  städtischen  Krankenhäuser, 
so  weit  es  sich  nm  innere  nnd  Infectionskrankheiten  (Tafel  I)  handelt.  Zieht  man 
die  Zahlen  der  Verletzten,  welche  besonders  häutig  in  besonderer  Weise  zn  be- 
fördern sind,  hinzu  (Tafel  II),  so  erhöhen  sich  jene  Zahlen  auf  19,  beziehungs- 
weise 12%.  Durchschnittlich  wurden  in  den  drei  Krankenhäusern  zusammen 
jährlich  rund  22.000  Kranke  aufgenommen , das  heisst  etwas  weniger  als  der 
dritte  Theil  der  überhaupt  in  sämmtlichen  Krankenanstalten  Berlins  zur  Auf- 
nahme gelangenden  Kranken.*)  Berechnet  man  also  jene  11%  der  Aufgenommenen, 
welche  jetzt  in  besonderen  Transportmitteln  in  die  Anstalten  kamen,  auf  die 
Gesammtsumme  in  allen  Krankenhäusern  in  Berlin,  so  ergiebt  sich,  dass  jährlich 
7100  Menschen  (mit  inneren  Erkrankungen)  in  Berlin  besonderer  Transportarten 
schon  unter  jetzigen  Verhältnissen  bedürftig  sein  würden , eine  Zahl , welche 
sicherlich  die  hohe  Wichtigkeit  des  Krankentransport  wesens  kennzeichnet.  Dass 
jene  genannten  Kranken  eines  besonderen  Transportes  wirklich  bedürftig  waren, 
ist  für  jeden  Kenner  Berliner  Verhältnisse  klar,  da  iit  Berlin  kein  Kranker,  welcher 
nicht  muss,  sich  in  besonderen  Krankenwagen  u.  s.  w.  befördern  lässt. 

Diese  Zahlen  stehen  im  Widerspruch  zu  denen,  welche  Rubneb  anführt. 
Er  sagt  in  seinem  im  preussischen  Abgeordnetenhause  gehaltenen  Vortrage,  dass 
5 — 6 von  100  aller  Kranken  eines  besonderen  Transportes  bedürften , und  er 
hat  die  gleichen  Ziffern  in  einem  Aufsatze  an  anderer  Stelle  wiederholt. 

Die  Reinigung  und  Desiufection  der  Krankenwagen  erfolgt  am  besten 
in  dem  Krankenhause,  zu  welchem  sie  fahren  oder  gehören.  Der  erste  re  Fall 
tritt  dann  ein,  wenn  die  Wagen  beispielsweise  bei  der  Feuerwehr  untergebracht 
sind.  In  kleinen  Orten,  auf  dem  Lande , wo  Krankenhäuser  bisweilen  sehr  weit 
entfernt  liegen,  .Spritzenhäuser  hingegen  sehr  zahlreich,  meistens  in  jedem  grösseren 
Dorfe  vorhanden  sind,  empfiehlt  sich  die  Aufstellung  der  Wagen  in  diesen  be- 
sonders. Es  ist  allerdings  schwierig,  in  bereits  vorhandenen  Feuerwachen 
in  Gressstädten  für  Krankenwagen  Platz  und  Bespannung  zu  beschaffen.  Bei 
Um-  und  Neubauten  von  Feuerwachen , welche  jetzt  mehrfach  z.  B.  in  Berlin 


*)  Es  wurden  in  allen  Berliner  Krankenhäusern  anfgenommen : 


1889  

rund 

58.1  HM)  Kranke 

1890  

60.t«Xl  , 

1891 

61.000 

1892  

. „ 

66.UOU 

also  durchschnittlich  . 

61.250  Kranke 

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KRAN  KENTRA  NSPORT. 


353 


bevorstehen,  sollte  diese  Frage  in  ernste  Erwägung  gezogen  werden.  Gerade  die 
Verbindung  auch  dieses  Zweiges  des  Sanitätsdienstes  mit  der  Feuerwehr  würde 
segensreiche  Folgen  haben , da  in  Deutschland  und  Oesterreich  hei  den  meisten 
Feuerwehren  Sanitätscolonnen  und  Samariter  ausgebildet  sind,  denen  die  Ausübung 
der  ersten  Hilfe  der  „Rettung-1  bei  allen  erdenklichen  Unglücksfällen  obliegt.  Auch 
bei  den  freiwilligen  Feuerwehren  besteht  eine  vortreffliche  Mannszucht,  welche  für 
den  Krankentransportdienst,  besonders  wenn  derselbe  bei  Massennnglüeksfällen  in 
Thätigkeit  tritt,  unerlässlich  ist. 

Es  werden  daher  die  am  Schlüsse  meines  Vortrages  im  Verein  für  innere 
Medicin  zu  Berlin  aufgestellten  Sätze , gegen  welche  sich  in  der  betreffenden 
Sitzung  kein  Widerspruch  erhob,  auch  an  dieser  Stelle  zu  erwähnen  sein : 

1.  Das  Krankentransportwesen  einer  Grossstadt  ist  behördlicherseits 
einzurichten  und  zu  verwalten. 

2.  Die  Krankeutransportwagen  sind  am  besten  in  den  grösseren  Kranken- 
häusern und  Feuerwachen  unterzubringen. 

3.  Die  Bestellung  der  Krankentransportwagen  erfolgt  direet  von  deren 
Unterkunftsplätzen,  durch  Vermittlung  der  Rettungswachen  oder  der  Polizeiwachen. 

4.  Bei  der  Bestellung  der  Krankentransportwagen  sind  den  Bestellern 
sogleich  Nachrichten  über  die  in  dem  gewünschten  Krankenhause  verfügbaren 
Plätze  zu  geben. 

5.  Die  Beförderung  von  ansteckenden  und  solchen  innerlich  Erkrankten, 
welche  nicht  gehen  können,  in  den  öffentlichem  Verkehr  dienenden  Fuhrwerken 
ist  zu  verbieten. 

6.  Die  Krankentransportwagen  werden  nach  jeder  Benutzung  im  Kranken- 
bause, zu  welchem  sie  fahren  oder  gehören,  gereinigt,  beziehungsweise  desinficirt. 

7.  Die  den  Krankentransport  ausfuhrenden  Träger  haben  nach  jedem 
Transport  ihre  Kleider  zu  reinigen,  beziehungsweise  zu  desinficiren. 

8.  Die  Ausführung  eines  Krankentransportes  darf  niemals  von  der  Be- 
zahlung abhängig  gemacht  werden. 

Nicht  allein  die  Sanitätscolonnen  der  Feuerwehr,  sondern  auch  die  frei- 
willigen Sanitätscolonnen,  welche  aus  der  Zahl  der  Kriegervereine  hervorgehen, 
pflegen  das  Krankentranaportwesen  in  besonderer  Weise.  Bei  den  meisten 
L'ebungen,  welche  das  Rothe  Kreuz  veranstaltet,  wird,  wie  aus  den  Jahres- 
berichten des  Central-C'emites  der  Deutschen  Vereine  vom  Rothen  Kreuz  hervor- 
geht, zu  Land  und  zu  Wasser  gerade  die  Beförderung  von  Kranken  in  hervor- 
ragender Weise  geübt.  Der  Krankentransportdienst  bildet  wohl  einen  der 
wichtigsten  Theile  der  kriegsvorbereitenden  Friedensthätigkcit  jeuer  Vereine, 
welchen  die  der  Wichtigkeit  des  Gegenstandes  entsprechende  hohe  Aufmerk- 
samkeit gewidmet  wird. 

Diese  letztgenannten  Vereinigungen  sind  auch  berufen , das  Kranken- 
transportwesen auf  dem  Lande  und  in  kleinen  Ortschaften  in  zweckentsprechender 
Weise  einzuriehten  und  zu  erhalten.  Bei  einem  grösseren  Unglücksfalle  werden 
die  in  allen  Orten  wohnenden  Mitglieder  der  genannten  Vereinigungen,  zu  denen 
auch  noch  au  zahlreichen  Plätzen  die  Mitglieder  der  Genossenschaft  freiwilliger 
Krankenpfleger  nud  der  Samaritervereine  kommen,  sich  sofort  zu  gemeinsamem 
Vorgehen  vereinigen  und  unter  Zuhilfenahme  improvisirter  Beförderungsmittel, 
falls  andere  nicht  vorhanden , wirksame  Unterstützung  gewähren  können.  Auch 
bei  Einzeltransportcn  erkrankter  Personen  werden  sich  die  Improvisationen  erfolg- 
reich erweisen,  indem  besonders  die  auf  dem  Lande  gebräuchlichen  Leiterwagen  — 
auch  unter  Benützung  meines  oben  abgebildeten  Tragbodens  — in  kurzer  Zeit 
zu  brauchbaren  Krankeutransportwagen  umgestaltet  werden  können,  wie  dies 
Port  durch  zahlreiche  Angaben  gelehrt  hat.  Die  Improvisationen  dieses  Meisters 
der  Technik  eignen  sich  ganz  besonders  auch  für  die  nichtmilitärischen  Verhält- 
nisse im  Frieden,  während  die  von  Ellbogen  (Iglau)  vorgeschlageuen  Abände- 
rungen von  gewöhnlichen  Arbeitswagen  zu  Krankentransportwagen,  welche  auf  der 
Encyclop.  Jahrbücher.  VI.  23 

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354 


KRANKENTRANSPORT. 


Ausstellung  des  internationalen  Hygiene-Congresscs  in  Budapest  1894  zu  selten 
waren , sich  hauptsächlich  für  Kriegszwecke  eignen  dürften. 

Für  den  Transport  auf  dem  Lande  und  in  kleineren  Städten  wird  man 
auch  vielfach  auf  die  Benützung  von  Tragen  allein  oder  von  Räderbahren  ange- 
wiesen sein , da  für  diese  die  Aufstellung  von  Krankenwagen  ja  auch  als  zu 
ersehnendes  Ziel  zu  betrachten,  aber  doch  wohl  zn  kostspielig  sein  dürfte. 

Auch  die  Tragen  und  Räderbahren  müssen  nach  dem  oben  Gesagten 
für  den  Kranken  möglichste  Bequemlichkeit  bieten  und  gut  desinficirt  werden 
können.  Es  sind  seit  Erscheinen  meiner  ersten  Arbeit  an  dieser  Stelle  mehrere 
recht  brauchbare  Modelle  von  Krankentragen  veröffentlicht  worden , welche  für 
den  Patienten  bequem,  zum  Theil  zusammenlegbar  sind  und  auch  meistens  die 
Forderung  der  Desinfectionsfähigkeit  erfüllen. 

Geschichtlich  bemerkenswerth  ist  das  „englische  hängende  Tragbett4, 
welches  der  dänische  Obermedicus  Wendt  1810  beschreibt  und  welches  eine 
genaue  Wiedergabe  verdient  (Fig.  66). 

Der  unterste  Rahmen  ist  von  Holz  7'  lang,  4*/«'  breit  und  mit  vier 
Handgriffen  versehen. 

Das  Hängebett  ist  mit  Stroh,  Werg  oder  Tangmatratze,  Kopfkissen 
und  Decke  versehen. 


Fig.  o«. 


Englisches  hängendes  Tragbrtt  181B. 


Ucbcr  die  halbrunden  hölzernen  halben  Reifen  wird  ein  Stück  Segeltuch 
oder  desgleichen  gelegt,  um  den  Kranken  gegen  böse  Witterung  zu  schützen. 

Bereits  seit  längerer  Zeit  ist  beim  Leipziger  Samaritervercin  eine  Trage 
im  Gebrauch,  deren  genauere  Beschreibung  im  vorigen  Jahre  im  Mai  in  „Der 
Samariter“  erfolgte.  Die  Tragstangen  sind  durch  in  Charnieren  gehende  Quer- 
balken verbunden,  welche  gemeinschaftlich  und  gleichzeitig  durch  eine  in  ihrer 
Mitte  angebrachte  Leitstange  genähert  und  entfernt  werden  können. 

Die  Trage  wiegt  10  Kgrm.,  ihre  Anwendung  ergiebt  sich  aus  den  bei- 
gefügten Abbildungen  (Fig.  67 — 69). 

Eine  Räderbahre,  welche  auf  dem  internationalen  mediciniscben  Congress 
in  Rom  preisgekrönt  wurde , hat  Soltsiek  (Altona)  angegeben.  Die  Achse  ist 
13  Cm.  lang,  die  Räder  je  65  Cm.  hoch. 

Eigenartig  und  ursprünglich  ist  der  Gedanke,  welchen  Ingenieur  Hei.i.- 
dohfer  (Würzburg)  bei  der  Construction  seines  „Tragbahren-Vehikels“  verfolgte. 
Diese  fahrbare  Tragbahre,  welche  eigentlich  Kriegszwecken  dienen  soll,  aber 
auch  gerade  für  kleinere  Ortschaften  im  Frieden  nutzbringend  sein  dürfte,  kann, 
wie  die  Abbildung  zeigt,  auf  sehr  kleinen  Raum  zwecks  bequemen  Verpackens 
auf  Fahrzeugen  zusamtnengclegt  werden.  Jede  Tragbahre  ist  mit  einem  umklapp- 
baren Rade  ausgerüstet,  welches  eine  augenblickliche  Verwandlung  in  eine  ein- 


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KRANKENTRANSPORT. 


355 


räderige  Fahrbahre  zulässt  und  vermöge  des  Einrades  Befahren  selbst  schmälster 

Fig.  67. 


Tragbahre  de*  Leipziger  Samaritervereins. 

Wege  gestattet.  Jede  Bahre  kann  auch  durch  Anbringung  des  Radgabe lschaftes 
in  einer  mit  Federn  ausgerüsteten  Hülse  federnd  hergestellt  werden.  Sind  bessere 

23* 

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356 


KRANKENTRANSPORT. 


Wegeverhältnisse  vorhanden,  so  werden  zwei  Bahren  nebeneinander  verkuppelt, 
und  es  entsteht  eine  zweiräderige  Fahrbahre,  welche  die  Beförderung  von  zwei 


Räderbahre  nach  Soltsien. 


Verwundeten  durch  einen  Mann  gestattet.  Es  können  auch  drei  Bahren  neben 

Fig.  71. 


Tragbahren-Vebikel  nach  Helldurfer. 

einander  gestellt  werden,  so  dass  dann  drei  Verletzte  durch  zwei  Mann  be- 
fördert werden  können,  was  bei  grösseren  Unglücksfällen  in  Fabriken  in  kleinen 


Tragbahreu-Vehikel.  Rad  und  Fusastutzen  heruntcrgeklappt. 


Städten  hohen  Werth  hat.  Die  Kadanbringung  ist  derartig  hergestellt , dass  ein 
einziger  Handgriff  genügt , um  das  Rad  nach  allen  Richtungen  fest  versteift  in 


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KRANKENTRANSPORT. 


357 


Fahrstellvng  zu  bringen.  Am  Hinterl heil  der  Tragbahre  sind  zwei  Fussstützen 
angebracht,  deren  Herablassung  eine  wagereehte  Stellung  der  im  Ruhezustand 


2 Tragbahren-Vebikel  nebeneinander  verkoppelt. 

befindlichen  fahrbar  gemachten  Tragbahre  bewirkt.  In  dieser  Stellung  kann  die 
Trage,  welcLe  Tischhöhe  hat,  nötbigenfalls  als  Operationstisch  benützt  werden. 


Fi*.  -4. 


Zusammengelegt. 

Die  beschriebene  Einrichtung,  Rad,  Fussstützen  und  Verkuppelungsvor- 
richtung, kann  auch  au  beliebigen  anderen  Tragen  angefügt  werden  (Fig.  75 — 77). 


Gewöhnliche  Tragen,  mit  Bad,  Fussstützen  und  Verkuppelung  versehen. 


Eine  zusammenklappbare  Tragbahre,  welche  durch  einen  Handgriff 
gebrauchsfähig  zu  machen  ist , war  auf  der  deutsch  nordischen  Handels-  und 


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358  KRANKENTRANSPORT. 

Industrieausstellung  in  Lübeck  1895  von  Si  ff  (Hamburg)  ausgestellt.  Dieselbe 
zeichnet  sich  durch  Leichtigkeit  nnd  Kaumersparniss  aus  (Fig.  78  und  79). 


Flg.  7«. 


Tragbahre  nach  Siff. 


Die  Beförderung  von  Kranken  auf  Eisenbahnen  ist  in  einzelnen  Staaten, 
z.  B.  Deutsehland,  noch  nicht  in  einer  allen  Anforderungen  genügenden  Weise 
geordnet.  Auf  den  preussischen  Bahnen  sind  sechs  Salonkrankenwagen  vorhanden, 


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KRANKENTRANSPORT. 


359 


Fig.  7s*. 


ftlr  deren  Benützung  Fahrkarten  I.  Classe  für  jede  Person,  mindestens  jedoch 
zwölf  Karten  zu  lösen  sind.  Bei  Einstellung  von  Gepäck-  und  Güterwagen,  sowie 
von  Personenwagen  III.  und  IV.  Classe  (insofern  aus  ersterer  die  Sitze  heraus- 
genommen sind)  sind  sechs  Fahrkarten  I.  Classe  der  betreffenden  Zuggattung  zu 
lösen.  Die  Kosten  für  eine  Krankenheförderung  sind  also  sehr  hohe  und  die 
Benützung  der  Wagen  nur  für  begüterte  Menschen  erreichbar, 
was  auch  v.  Leyden  hei  Gelegenheit  der  Discussion  meines 
Vortrages  im  Verein  für  innere  Medicin  bestätigte. 

Die  Anbringung  von  Spueknäpfen  in  sämmtlichcn 
Abtheilungen  der  Eisenbahnwagen  wäre  dringend  erforderlich. 

Auch  der  Transport  von  Kranken  auf  Schiffen  ist  von 
Bedeutung,  da  derselbe  als  sehr  schonender  angesehen  wer- 
den muss.  In  Hamburg  ist  für  diesen  Zweck  ein  besonderes 
Boot  mit  einer  Cajüto  vorhanden,  welche  zwei  Abtheilungen, 
für  ansteckende  und  nicht  ansteckende  Kranke,  enthält.  Es 
dient  dazu,  Kranke  von  den  im  Hafen  liegenden  Schiffen 
aufzunehinen  und  an's  Land  zu  bringen,  wo  dieselben  dann 
im  Krankenwagen  weiter  befördert  werden. 

Gerade  in  den  letzten  Jahren  sind  die  Vereine  vom  Kothen 
Kreuz  der  Frage  des  Wassertransportes  Kranker  näher  getreten, 
da  derselbe  ja  besonders  in  Kriegszciten  treffliche  Dienste  zu 
leisten  im  Stande  ist,  wie  sich  dieses  in  mehreren  Feldzügen 
auch  bereits  gezeigt  hat.  Von  früheren  Versuchen  nach  dieser 
Richtung  ist  das  auf  der  internationalen  Ausstellung  1876 
für  Gesundheitspflege  und  Rettungswesen  in  Brüssel  ausge- 
stellt gewesene  Kraukentransportscliiff  zu  bemerken,  welches 
von  der  schwedischen  Gesellschaft  des  Rothen  Kreuzes  hergerichtet  worden  war. 
Seine  Einrichtung  ergiebt  sieh  aus  den  Abbildungen  (Fig.  81 — 84). 

ln  Bayern  wurden  Uebungeu  mit  Mainschiflen,  welche  eine  Breite  von 
3 Meter,  Höhe  von  80  Cm.  und  Länge  von  18  Meter  besitzen,  angestellt.  In  einem 


-d 

Tragbahre,  zusammen- 
geklappt. 


Fig.  SO. 


Englisches  Krankentransport-Fahrrad. 


solchen  Schiff  sind  24  Krankentragen  unterzubringen,  wobei  noch  genügender  Raum 
für  Ess-  und  Waschtisch,  Nachtstuhl  und  Verbandkasten  übrig  bleibt.  Die  Bahren 
werden  in  Gestelle  eingelegt , von  denen  siebeu  Stück  benöthigt  sind.  Die  Ge- 
stelle sind  aus  Brettern  von  etwa  12  Cm.  Breite  zusammengesetzt.  Die  schrägen 


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KRANK  ENTRANSPORT. 


Bretter  dd  (Fig.  85)  kreuzen  sich  mit  ihren  oberen  Enden : im  Kreuzungswinkcl  liegt 
die  Firststange  a.  Von  ihren  unteren  Enden  gehen  die  schrägen  Bretter  re  nach 
aussen  gegen  den  Schiffsrand  und  tiberragen  denselben  um  etwa  40  Cm.  Die 
schrägen  Bretter  dd  und  ee  werden  jederseits  durch  die  wagereebteu  Bretter  bh 


und  cc  verbunden , welche  die  Bahrengriffe  tragen  und  von  denen  erster?  mit 
dem  äusseren  Ende  auf  dem  Schiffsbord  aufruhen.  Die  -3  Cm.  breiten  Bretter  ft'tt- 
die  die  2,  3 Meter  von  einander  entfernten  Gestelle  verbinden , bilden  für  die 
oberen  Bahren  eine  Art  Bettkasten  zur  Sicherung  gegen  das  Herausfallen  des 


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KRANKENTRANSPORT. 


361 


Kranken.  Das  stumpf  anf  dem  Schiffsrand  aufgesetzte  Brett  gg  trägt  die  seit- 
lichen Längsstangen  hh,  Uber  welche  der  Sehiffsplan  herabhängt.  Schwerkranke 
befinden  sich  in  den  oberen  Bahren,  Leichtkranke  und  Wärter  in  den  unteren. 

Bemerkenswerth  sind  auch  die  bei  der  Hamburger  Colonne  vom  Rothen 
Kreuz  zum  Transport  von  Kranken  in  Schuten  angegebenen  Methoden  iFig.  86). 


Fig.  sä. 

I 


Schnitt  nach  Ä. 


An  den  Längsseiten  des  Schiffes  wird  in  der  Höhe  des  anzubringenden  Gestells  ein 
Brett  angenagelt  und  an  dieser  Latte  eine  Art  Leiter  mit  zwei  Sprossen  befestigt. 
Der  Leiter  gegenüber  wird  ein  Gestell  in  Sägebockform  aufgerichtet  und  Uber  beide 
Theile  oben  und  unten  ein  Querholz  mit  zwei  Knacken  gelegt,  durch  die  zur 

Fig.  8«. 


1 

Schnitt  nach  B. 


Befestigung  ein  Holzpllock  gesteckt  wird.  Nach  Aufstellung  eines  zweiten  gleichen 
Geräthes  können  vier  Tragen,  zwei  oben  und  zwei  unten,  untergebracht  werden. 

Auch  in  Frankfurt  a.  M.  bewährte  sich  bei  einer  im  Mai  1894  von  der 
dortigen  Sanitätscolonne  abgehaltenen  Uebung  die  Beförderung  der  Kranken  auf 
einem  Flussschiff  vortrefflich.  Die  Holzconstruction  zur  Aufnahme  der  Tragbahren 


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362 


KRANKENTRANSPORT. 


scheint  nach  dem  Bericht  Aehnlichkeit  mit  der  auf  den  bayrischen  Schiffen  ge- 
habt zu  haben. 

Fig.  84. 


Bett  auf  dem  Transportschiff  in  Brüssel. 

Die  allgemeine  Anerkennung,  welche  bei  allen  vorgekommenen  Gelegen- 
heiten , auch  bei  zahlreichen  anderen  als  den  geschilderten  Gelegenheiten , der 

Fig.  8». 


A 


c e 

Krankentransport  anf  Mainschiffen. 


Krankenbeförderung  in  Flussschiffen  zu  Theil  geworden,  haben  das  Central-Comite 
der  deutschen  Vereine  vom  Kothen  Kreuz  veranlasst,  auf  der  diesjährigen  Gewerbe- 

Fig.  88. 


Krankentransport  in  Sehnten  (Hamburg). 

Ausstellung  in  Berlin  eine  vollständig  für  Krankentransport  ausgerüstete  Zille 
zur  Anschauung  zu  bringen.  Mehrere  derselben  können  miteinander  verbunden 


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KRANKENTRANSPORT.  — KREBSSERUM 


363 


von  einem  Schleppdampfer  befördert  werden  und  bilden  dann  einen  Saoitiltszug 
auf  dem  Wasser.  Vor  einigen  Tagen  fand  eine  Hebung  der  freiwilligen  Sanitäts- 
Colonne  Berlin  mit  diesem  Schiff  statt,  welche  die  erheblichen  Vorzüge  des 
Wassertransportes  auf  Flusslilufen  besonders  gut  erkennen  licss. 

Die  Vereine  vom  Rothen  Kreuz  sind  ganz  besonders  dazu  berufen  lind 
geeignet , in  Gemeinschaft  mit  den  übrigen  für  die  Ausübung  der  ersten  Hilfe 
bestehenden  Körperschaften,  Samaritervereinen,  Sanitätscolonnen  der  Feuerwehren 
u.  s.  w.  das  Krankentransportwesen  thatkriiftig  zu  fördern,  wie  dies  auch  an  vielen 
Orten  geschieht.  Es  steht  zu  hoffen,  dass  in  Deutschland  alle  diese  gemeinnützigen 
Zwecken  dienenden  Vereinigungen  sich  um  einen  Mittelpunkt  schaaren  und  eine 
gemeinsame  Organisation  für  ihr  segensreiches  und  humanes  Wirken  schaffen. 

Literatur:  Goercke,  Kurze  Beschreibung  der  bei  der  königl.  preussischen 
Armee  stattfindenden  Krankentransportmittel  für  die  auf  dem  Schlachtfelde  schwer  Ver- 
wundeten. Berlin  1814.  — Wen  dt,  Ueber  Transportmittel  der  verwundeten  und  kranken 
Krieger.  Kopenhagen  1816.  — Peltzer,  Das  Militär • 8 an  i tat  s wesen  auf  der  Briissele  inter- 
nationalen Ausstellung  für  Gesundheitspflege  und  Rettungswesen.  Berlin  1877.  — Dag  Kranken- 
transportwesen in  Hamburg,  seine  Entwicklung  und  Organisation.  Hamburg  1892.  — Rousse- 
let,  Le#  *ecourn  public#  en  ca#  d'accideut«.  Paris  1882.  — Rousselet,  Le  trän  spart  de# 
waUtde#  dan#  le#  höpitaux.  Progres  m6d.  1892,  Nr.  9.  — George  Meyer,  Krankentrans- 
port. Encvclopädische  Jahrb.  1894,  IV.  — George  Meyer,  Der  Krankentransport  in  Berlin. 
Zei'schr.  f.  Krankenpflege.  1894,  Nr.  4 und  Berliner  klin.  Wochenschr.  1894,  Nr.  44.  — 
Rubner,  Leitende  Grundsätze  für  die  Anlage  von  Krankenhäusern  und  üb  r nothwendige 
Reformen  der  Zukunft.  Vortrag.  Leipzig  1895.  — Krankentransportfahrrad.  Brit.  med.  Journ. 
27.  April  1895-  — Die  neue  Leipziger  zusammenlegbare  Krankentrage.  Der  Samariter.  1895, 
Nr.  10.  — Soltsien.  Eine  Wasserübung  der  Hamburger  Colonne  des  Rothen  Kreuzes.  Der 
Samariter.  1895,  Nr.  16.  — George  Meyer.  Rettnnggwesen.  Encvclopädische  Jahro.  1895, 
V.  — Helldörfer,  Tragbahrenvehikel.  Der  Samariter.  1895,  Nr.  21.  — Einrichtung  von 
Fl os«-  und  Canalschiffen  für  den  Verwundetentransport.  Der  Samariter.  1896,  Nr.  3.  — George 
Meyer,  Ueber  den  Transport  von  Personen  mit  inneren  Erkrankungen.  Vortrag.  Deutsche  med. 
Wochenschr.  1896,  Nr.  4.  — Charas,  Ueber  Krankentransportwesen  in  Städten  und  auf  dem 
flachen  Lande.  Vortrag  Wien  1896.  — George  Meyer,  Eine  neue  Lagcrungsvorricktung  für 
Krankentransport.  Zeitscbr.  f.  Krankenpflege.  1896,  Nr. 5 — George  Meyer,  Krankentransport 
und  Rettungswesen  auf  dem  Lande.  Der  Samariter.  1896,  Nr.  11.  George  Meyer. 

Kreatinin,  Bestimmung  im  Harn,  8.  pag.  243. 

KrebSSerum  (Krysipelserum).  Die  mehrfache  Beobachtung  rascher 
Heilung  von  Krebs  und  Sarkom  durch  intercurrentes  Erysipel  regte  dazu  an,  die 
Toxine  des  Erysipels  als  Heilmitte.I  gegen  Krebs  zu  versuchen.  Schon  Fkhl- 
eiskx  und  N Kl ss ku  haben  virulente  Reincnltnren  von  Erysipclkokken  hei  hoff- 
nungslosen Füllen  von  Krebs  mit  Erfolg  eingeimpft,  jedoch  dieses  Mittel  wurde 
als  zu  gefährlich  bald  aufgegeben.  William  B.  Colkv  wollte  aus  Cnlturcombi- 
nationen  von  Strcptoeoecus  mit  Bacillus  -pruditjiosus  Toxine  gewinnen , deren 
suhcutanc  oder  parenchymatöse  Application  auf  maligne  Tumoren  heilend  cinwirken 
sollen.  Emmerich  constatirte  1886,  dass  das  Erysipel  nicht  nur  den  Krebs, 
sondern  auch  Milzbrand  heile,  und  stellte  schon  vor  den  Veröffentlichungen  Bkuring’s 
Uber  das  Diphtlicriescrum  ein  Heilserum  gegen  Milzbrand  dar.  Er  versuchte  nun 
dieses  Heilserum,  nachdem  er  es  von  den  giftigen  Stoffwccliselproducten,  Toxinen 
der  Erysipelkokken,  im  Organismus  des  Schafes,  welche  diese  im  Harn  aus- 
scheiden,  befreite,  im  Vereine  mit  Hermann  Scholl  auch  gegen  Krebs  beim 
Menschen  anzuwenden.  Das  Krebsseruin  ist  kein  Immnnserum  wie  das  Diphthcrie- 
heilserum.  Bei  der  Darstellung  desselben  werden  die  Thiere  nicht  durch  Bchnclle 
Steigerung  der  anfangs  injieirten  kleinen  Dosen  baktcrienhaltiger  Culturen 
immunisirt,  sondern  es  wird  gleich  mit  der  Injeetiou  einer  ziemlich  grossen 
Quantität  von  Erysipelculturen  begonnen.  Diese  Quantität  lässt  nur  eine  geringe 
Steigerung  zu  und  erzeugt  hei  den  Thieren  eine  Art  chronischen  Krankheitsprocess, 
der  häufig  mit  localen  Eiterungen  verbunden  ist.  Es  kann  hier  demgemäss  die 
Höhe  der  Wirkung  nicht  in  Immunisirung  ausgedruckt  werden.  Dm  jedoch  das 
Krebsscrum  möglichst  gleichartig  zu  gestalten,  ist  es  nöthig,  dass  zur  Infectiou 
möglichst  gieichwerthiger  Thiere  immer  auch  Culturen  von  demselben  Orad  der 
Virulenz  benützt  werden.  Diese  Cultureu  werden  aus  dem  Herzblut  iutraperitoneal 


KRERSSERUM. 


364 

inlicirter  Kaninchen  gewonnen.  Zur  Gewinnung  des  Krebssernms  lässt  man 
die  mit  Erysipeleultur  inficirten  Schafe  verbluten  und  fängt  das  Blut  in  sterili- 
sirten  Gefässen  auf.  Nach  einer  bestimmten  Zeit  wird  das  Serum  alipipettirt 
und  durch  ChaMBERLAKD-  oder  d’Ahsoxval  ■ Filter  von  Erysipelkokken  befreit. 
Das  auf  diese  Weise  kalt  sterilisirte  Serum  wird  in  10  Ccm.  fassende,  sterilisirte 
Kollfläschchen  gefüllt,  welche,  mit  sterilisirtem  Kitt  verschlossen,  bis  zum  Gebrauch 
kühl  und  im  Dunkeln  aufbewahrt  werden.  Die  Dosis  des  Serums  richtet  sich  nach 
der  Grösse  des  Tumors  und  nach  dem  Körperzustande  des  Kranken.  Bei  jüngeren 
kräftigen  Individuen  kann  mau  so  viel  als  möglich  injiciren;  bei  Tumoren  bis 
Taubeneigrflsse  genügt  meist  die  Injection  von  1 — 4 Ccm.,  täglich  wiederholt. 
Bei  grösseren  Tumoren  kann  man  10 — 25  Ccm.  Serum  auf  einmal  an  verschiedenen 
Stellen  der  Geschwulst  einspritzen.  Nach  der  lujection  tritt  oft  erysipelartige 
Schwellung,  aber  kein  oder  nur  massiges  Fieber  auf.  Tritt  keine  Verkleinerung 
des  Tumors  ein,  so  kann  man  die  Injectionen  immerhin  fortsetzen.  Geschieht 
dies  längere  Zeit,  so  hat  man  den  Nachtheil , dass  eine  Art  Immunisirung  ent- 
steht. Es  soll  daher  eventuell  die  Behandlung  nach  mehrwöchentlichem  Aussetzen 
wieder  von  Neuem  begonnen  werden.  Bei  schweren  bedrohlichen  Fällen  (Sehluck- 
und  Athcmnoth  infolge  des  Tumors)  versuchten  Emmerich  und  Scholl  nach 
mehreren  energischen  Seruminjectionen  überdies  die  Einimpfung  von  viru- 
lenten Erysipelstreptokokken,  da  nach  ihren  Beobachtungen  die  Seruminjeetion 
den  Verlauf  des  Erysipels  gefahrlos  zu  gestalten  vermag. 

Emmerich  und  Scholl  theilten  6 Fälle  von  Krebskranken  mit,  bei  denen 
das  Erysipelserum  stets  Heilerfolge  erzielte,  wo  noch  kein  ausgedehuter  eiteriger 
Zerfall  der  Geschwulst  eingetreten  war.  Die  Geschwulstknoten  verkleinerten  sich 
in  einigen  Tagen  um  die  Hälfte  und  schwanden  nach  weiteren  wenigen  Tagen 
ganz.  Je  jünger  das  Carcinom  zur  Behandlung  kommt,  um  so  sicherer  soll  die 
Heilung  sein.  Nach  Analogie  der  Wirkung  dieses  Serums  gegen  Milzbrand 
nehmen  Emmerich  und  Scholl  an,  dass  Krebsparasiten  vorhanden  sein  müssen, 
gegen  die  das  Erysipelserum  seine  Wirksamkeit  entfaltet. 

Die  Nachprüfungen  der  von  Emmerich  und  Scholl  mitgetheilten  Resul- 
tate stimmten  die  Aussichten  auf  eine  auf  diesem  Wege  mögliche  Heilung  des 
Krebses  bedeutend  herab.  Wohl  berichtet  auch  Mynter  über  die  Heilung  eines 
Sarkoms  der  Bauchhöhle  durch  lujection  von  Erysipeltoxinen.  Bruns  konnte 
jedoch  in  seinen  Fällen  (Carcinome , Sarkome  und  maligne  Lymphome)  keine 
Einwirkung  der  Injectioneu  auf  das  Waehsthum  der  Neubildungen  beobachten. 
Als  üble  Nebenwirkungen,  die  wohl  auf  den  nicht  sterilen  Zustand  des  be- 
treffenden Serums  zurückzuführen  sein  dürften,  stellten  sich  in  einigen  Fällen 
plötzlich  hochgradige  Störnngen  der  Athmung  und  Herzthätigkeit  ein,  in  allen 
Fällen  trat  eine  mit  der  Menge  des  eingespritzten  Serums  zunehmende  Temperatur- 
steigerung auf.  Reineboth  versuchte  es  bei  einem  Endotheliom  ebenfalls  mit 
negativem  Erfolg.  Bei  einem  Kranken  von  Freymuth  mit  recidivirender  sarkomatöscr 
Epulis  am  rechten  Oberkiefer,  dem  in  mehrtägigen  Intervallen  0,5  Serum  in  die 
rechte  Wange  injieirt  wurde,  trat  hierauf  ein  heftiges  Erysipel  auf,  welches  sich 
Uber  das  ganze  Antlitz  aUBbreitete  und  sich  auf  die  Gattin  des  Patienten  übertrug. 

Czerxy  berichtet  über  ein  mit  Coley’s  sterilisirten  Erysipelkokken- 
Prodigiosusculturen  erfolgreich  behandeltes  Parotiscarcinom.  Trotz  oder  vielleicht 
wegen  der  heftigen  Nebenwirkungen,  die  dabei  auftraten,  habe  cs  mehr  geleistet 
als  das  EMMERiCH-SCHOLL  sche  Heilserum.  P.  L.  Friedrich  studirtc  gelegentlich 
von  Heilvcrsucheu  nach  Coley’s  Methode  die  Wirkung  der  Streptokokken  und 
der  Prodigiosustoxine  auf  den  menschlichen  Organismus,  speciell  auf  die  Körper- 
temperatur. Kr  kam  dabei  zu  dem  interessanten  Resultate,  dass  die  den  Ein- 
spritzungen folgenden  Fieberbewegungen  einen  typischen  Charakter  zeigten ; nach 
Injection  von  reinen  Streptokokkentoxinen  erfolgte  ein  relativ  langsamer  Anstieg 
und  entsprechend  langsame  Remission  des  Fiebers.  Je  nach  der  Widerstands- 
fähigkeit der  behandelten  Personen  bedurfte  es  verschieden  hoher  Dosen  von 
Toxinen,  um  dieselbe  Reaction  zu  erzielen,  welche  jedoch  zu  dem  Umfange 


KREBSSERUM. 


KROPFBEHANDLUNG. 


365 


der  Neubildung  in  keiner  nachweisbaren  Beziehung  stand.  Andererseits 
zeigte  sich  kein  Parallelismns  zwischen  der  Toxicität  der  Cultur  für  den 
Körper  von  Thieren  und  fltr  den  vom  Menschen ; so  wurden  Toxine  einer 
ftir  Tliiere  hochvirulenten  Streptokokkencultur  vom  Menschen  in  sehr  hohen 
Dosen  fast  reactionslos  vertragen.  Die  Injeetion  unfiltrirter  Cultursterilisate 
der  Mischculturen  von  Streptococcus  und  Bacillus  prodigiosys  erzeugten  beim 
Thiere  keine  schweren  Erscheinungen , dagegen  beim  Menschen  die  schwersten 
Intoxicationswirkungcn  — Muskelschinerz , Schüttelfröste,  unzählbaren  Puls, 
frequenteste  Athmung  — , die  schon  15  Minuten  nach  der  Einspritzung  auftraten 
und  mit  bedeutender  Temperatursteigerung  nach  2 — 4 Stunden  ihren  Höhepunkt 
erreichten.  Hingegen  bewirkten  Filtrate  des  reinen  Streptococcus , sowie  der 
obigen  Mischcultur  keine  wesentliche  Reaction.  Es  finden  sich  also  die  wirksamen 
Giftkörper  an  die  Bakterienzelle  gebunden  und  gehen  in  die  im  Filtrat  vor- 
handenen löslichen  Stotfwecliselproducte  nicht  Uber. 

Einen  anderen  Weg  zur  Gewinnung  eines  Krebs  heilserums  schlugen 
Richet  und  Hericourt  ein.  Sie  spritzten  Eseln  und  Hunden  den  filtrirten  wässerigen 
Extraet  eines  malignen  Tumors  ein  und  entnahmen  10 — 14  Tage  später  das 
Blut  des  Versuehsthieres.  Von  dem  so  gewonnenen  Serum  wurden  in  die  Nach- 
barschaft der  behandelten  Tumoren  (Fibrosarkom  der  Brustwand,  inoperabler 
Magenkrebs)  täglich  3 Ccm.  mehrere  Wochen  hindurch  eingespritzt.  Erfolge: 
angeblich  Verkleinerung  der  Geschwulst  und  Besseruug  des  Allgemcinzustandes. 
ClMIXO  modificirte  dieses  Verfahren  in  der  Weise,  dass  er  Hunden,  Eseln  und 
Ziegen  40  Tage  hindurch  abwechselnd  Streptokokkenculturen  und  wässerigen 
Krebsextract  injicirte.  Mit  dem  nach  weiteren  40  Tagen  aseptisch  entnommenen 
Blutserum  wurden  den  Krebskranken  Einspritzungen  gemacht  von  zuerst  1 Cem., 
dann  2 Ccm.  täglich,  wenn  keine  zu  heftige  Reaction  auftrat.  Auch  diese  Methode 
soll  vorzügliche  Erfolge  geliefert  haben.  (Literatur  s.  bei  P.  Barlerix.) 

Literatur:  R.  Emmerich  im  Vereine  mit  Most.  Scholl  nnd  Tsuboi.  Blut- 
serum gegen  Milzbrand.  Münchener  med.  Wochenschr.  1894,  Nr.  28.  — Coley,  Treatment 
of  inoperables  malignes  Tumours  by  the  toxines  of  Erysipelcocrus  and  of  Bacillus  pro- 
digiosus.  Amer.  Journ.  of  the  med.  Science«.  1894,  Juiy  und  Amer.  medico  - aurgical  ltuliet. 
1.  December.  — R.  Emmerich  und  H.  Scholl,  Klinische  Erfahrungen  über  die  Heilung 
des  Krebses  durch  Krebsserum  (Erysipelserum).  Deutsche  med.  Wochenschr.  1895,  Nr.  17.  — 
P.  Bruns,  Zur  Krebsbehandlung  mit  Erysipelserum.  Deutsche  med.  Wochenschr.  1895,  pag.  313. 
— W.  Pctersen.  Einige  kritische  Bemerkungen  zur  Krebsheilserumtherapie  von  Emmerich 
und  Scholl.  Deutsche  med.  Wochenschr.  1895,  Nr.  20.  pag.  314.  — Freymuth  (Danzig), 
Zur  Behandlung  des  Krebses  mit  Krebsserum.  1895,  Nr  21.  — ■ Mynter,  Sarcome  of  the 
abdominal  cavity  treated  by  injections  of  Erysipel  toxines.  Med.  Record.  18115-  — De  Witt, 
Malignes  Tumours  treated  by  Erysipel  toxines.  Northwestern  Lancet.  13.  März  1895.  — 

H.  Scholl,  Mittheilung  über  die  Darstellung  von  Krebsserum.  Deutsche  med.  Wochenschr. 

1895,  Nr.  46.  — Czerny,  L'ebcr  Theilversucke  bei  malignen  Geschwülsten  mit  Erysipeltoxincn. 
Münchener  med.  Wochenschr.  1895,  Nr.  36.  — Emmerich  und  Zimmermann,  Leber  einige 
mit  Krebsserum  behandelte  Fälle  von  Krebs  und  Sarkom.  Deutsche  med.  Wochenschr.  1895, 
Nr.  43-  — Czerny  (Heidelberg),  Entgegnung  auf  vorstehende  Mittheilung.  Ibidem.  — Reine- 
both,  Injectionen  in  ein  Endotheliom  mit  Emmerich'schem  r Krebsserum  * . Aus  der  medi- 
cinischen  Universitätsklinik  zu  Halle.  Deutsche  med.  Wochenschr.  1895,  Nr.  48.  — P.  L.  F ried- 
rieh,  Heilversuche  mit  Bakteriengiften  bei  inoperablen  bösartigen  Neubildungen.  Arch.  f.  klin. 
C'hir.  L,  pag.  709.  — P.  Barlerin,  Traitement  du  cancer  par  la  Bfrumtherapie.  Linde- 
pendance  medicale.  1896,  Nr.  5.  Loebisch. 

Kropfbehandlung  mittelsSchilddrüsenpräparate.  Gelegentlich  der 
Versuche,  welche  Prof.  Emmixghaus  und  Dr.  Reinhold  im  Jahre  1894  in  der  psychia- 
trischen Klinik  zu  Freiburg  i.  B.  an  kropfigen  Geisteskranken  anstellten,  um  dadurch 
nach  Analogie  der  günstigen  Erfolge  bei  den  als  Complication  der  Entkropfungs- 
kachexie  auftretenden  Geistesstörungen  die  psychopathischen  Vorgänge  zu  beein- 
flussen, ergab  sieh  der  zufällige  Befund,  dass  diese  Behandlung  eine  erhebliche 
Einwirkung  auf  die  gleichzeitig  bestehende  Anschwellung  der  Schilddrüse  zeigte. 
Bei  4 unter  5 Kranken  nahm  der  Halsumfang  während  der  Behandlung  tim 

I, 5 — 4 Cm.  ab:  der  eine  trotz  Behandlung  persistirende  Kropf  erwies  sich 
als  ein  Cystenkropf.  — Die  Veröffentlichungen  der  beiden  Freiburger  Psychiater 
veranlassten  Prof.  BRCXS  in  Tübingen  , die  gleiche  Methode  bei  gewöhnlichen 


366 


KROPFBEHANDI.UNG. 


Strumen  in  Anwendung  zu  ziehen.  Der  erste  Bericht,  den  BRUNS  auf  der  Natur- 
forscher-Versammlung in  Wien  1894  über  seiue  diesbezüglichen  Beobachtungen 
gab,  brachte  eine  Bestätigung  der  vorstehenden  Beobachtungen.  Auf  Grund  von 
12  mit  Schilddrüseningestion  behandelten  Fällen  kam  Bruns  zu  dem  Schlüsse, 
dass  „die  Schilddrüsenfüttcrung  auf  manche  Strumen  eine  speeifische  Wirkung 
ausübe  und  deren  rasche  Verkleinerung  oder  vollständige  Beseitigung  bewirke“. 
Von  den  12  Kranken  wurden  4 Kinder  im  Alter  von  4 — 12  Jahren  innerhalb 
4 Wochen  vollständig  von  ihrem  Kropfe  befreit;  der  Halsumfang  nahm  om 
2,5  Cm.  ab.  ln  einem  5.  Falle  ging  der  Halsumfaug  um  7 Cm.  zurück,  es  blieb 
nur  ein  cystischer  Rest  übrig.  In  einem  6.  Falle  ging  ein  rechtsseitiger  klein- 
faustgrosser Knoten  zurück  und  ein  hühnereigrosser  Knoten  der  anderen  Seite 
blich  bestehen.  In  3 Fällen  fand  eine  Verkleinerung  des  Halses  um  3 Cm.  statt 
und  in  weiteren  3 Fällen  war  die  Behandlung  resultatlos.  — Auf  Anregung  von 
Bruns  versuchte  sodann  l’rof.  Kocher  an  12  Patienten  jflnglichcn  Alters  die 
gleiche  Behandlung.  In  3 Fällen  war  der  Erfolg  gleich  Null,  in  den  übrigen 
9 war  eine  merkliche  Verkleinerung  des  Kropfes  zu  constatiron,  hauptsächlich 
im  Dickendnrchmesser,  weniger  im  Breiten-  und  am  geringsten  im  Längsdnrch- 
messcr.  Ein  vollständiger  Schwund  der  Struma  trat  nicht  ein. 

REINHOLD  und  Bruns  traten  bald  mit  weiteren  Versuchen  in  die  Oeffent- 
lichkcit.  Der  erstere  hatte  12  weiteren  kropfigen  Geisteskranken  Schilddrüsen- 
präparate verabreicht.  Bei  keinem  derselben  blieb  der  Erfolg  aus:  cs  liess  sich 
immer  eine  Verminderung  des  Halsumfanges  um  1 — 3,  einmal  sogar  um  6 Cm. 
(innerhalb  30—40  Tagen  Behandlung)  nachweisen.  Brcns  verfügte  zur  Zeit  seiner 
zweiten  Veröffentlichung  Uber  60  Beobachtungen.  Von  diesen  60  behandelten 
Fällen  bezeiehnete  er  14  als  vollständig  geheilt,  20  von  ihrer  Struma  als  zum 
grössten  Theile  und  von  ihren  Beschwerden  gänzlich  geheilt,  9 als  erheblich 
gebessert  uud  17  als  erfolglos  behandelt.  Die  weitaus  günstigsten  Resultate 
hatte  er  bei  jugendlichen  Individuen  erreicht ; sümmtliche  im  ersten  Jahrzehnte 
stehenden  7 Kranken  wurden  vollständig  geheilt.  Von  den  28  im  2.  Jahrzehnt 
stehenden  Kranken  traf  dieses  Resultat  nur  für  7 zu,  14  galten  als  grössten- 
theils  geheilt,  4 als  gebessert  und  3 als  erfolglos  behandelt.  Das  3.  Jahrzehnt 
gab  ungleich  schlechtere  Chancen;  von  14  Kranken  waren  4 mit  gutem,  3 mit 
massigem  und  7 ohne  Erfolg  behandelt  worden ; vollständige  Heilung  war  hier 
nicht  zu  verzeichnen.  Von  11  weiteren  Kranken  im  4.  — 6.  Jahrzehnt  war  bei 
2 das  Resultat  ein  gutes,  bei  2 ein  massiges  und  bei  7 ein  negatives. 

Nach  der  von  Bruns  jüngst  auf  dem  letzten  Congresse  für  klinische 
Medicin  gegebenen  Zusammenstellung  hat  die  Zahl  der  von  ihm  behandelten  Fälle 
die  stattliche  Zahl  350  erreicht.  Ein  Viertel  derselben  blieb  von  dem  Verfahren 
überhaupt  unbeeinflusst,  ein  Drittel  erfuhr  eine  bedeutende  Abnahme  des  Kropfes 
bis  auf  kleine  Knoten,  ebenfalls  ein  Drittel  erfuhr  eine  nur  mässige  Besserung 
und  nnr  8%  erfuhren  eine  vollständige  Rückbildung.  Von  den  erfolgreich  behan- 
delten Fällen  machte  sich  bei  60%  bereits  nach  1 — 2 Wochen,  hei  40%  nach 
3 — 4 Wochen  eine  Verkleinerung  bemerkbar.  Leider  aber  war  der  Erfolg  bei 
der  grössten  Mehrzahl  der  Fälle  kein  anhaltender ; denn  in  mehr  als  drei  Viertel 
derselben  wuchs  der  Kropf  wiederum  uacli.  Das  Recidiv  pttegte  schon  nach 
1 — 2,  zuweilen  auch  erst  nach  3 — 4 Monaten  ciuzutreten.  Jedoch  machte  BRUNS 
gleichzeitig  die  Erfahrung,  dass  man  durch  eine  Wiederaufnahme  der  Cur  schon 
für  nur  kurze  Zeit  in  bestimmten  Zwischenräumen  einem  Recidiv  Vorbeugen  könnte. 

Auch  in  der  kgl.  chirurgischen  Poliklinik  in  Berlin  sind  seit  1894  eine 
Reihe  von  Fütterungsversuehcn  mit  Schilddrüsen präparaten  angestellt  worden, 
Uber  die  Stabki,  jüngst  ein  Rcsume  gegeben  hat.  In  allen  Fällen,  die  mindestens 
4 Wochen  lang  in  Behandlung  waren,  d.  i.  in  25,  wurde  ein  positives  Resultat 
erzielt,  jedoch  auch  fast  immer  nur  eine  Besserung.  Eine  complete  Heilung  liess 
sich  nur  in  2 Fällen  (%  Jahr  lang  ohne  Recidiv)  feststellen,  zwei  weitere  an- 
fänglich als  Heilung  aufgefasste  Fälle  recidivirten.  Aber  auch  die  92%  Ge- 
besserten blieben  nicht  stationär,  sondern  zeigten  allmälig  wieder  eine  Zunahme 


KROPFBEHANDLUNG. 


367 


des  Halsttmfanges,  in  der  Regel  4 — 6 Woclien  nach  Aussetzen  der  Behandlung. 
Nur  eine  einzige  von  den  23  gebesserten  Strumen  war  stationär  geblieben ; es 
war  dieses  aber  gerade  die  am  wenigsten  stark  entwickelte  mit  der  geringsten 
Neigung  zum  Waehsthum.  Stabei.  machte  ferner  die  Beobachtung,  dass,  je 
schneller  eine  Struma  sich  zuriickbildete,  um  so  schneller  sie  im  Allgemeinen  auch 
wieder  wuchs , wenn  die  Fütterung  in  den  ersten  Wochen  ausgesetzt  wurde. 
Dieses  Resultat  muss  auffallen  gegenüber  den  Angaben  Bruns,  dass  sich  unter 
seinen  60  Füllen  nur  3mal  ein  leichtes  Recidiv  nach  Ablauf  einiger  Monate  ein- 
gestellt habe.  — Weiter  sei  erwähnt,  dass  auch  Angerer  Erfahrungen  über  ein 
verhültnissmässig  grosses  Krankenmatcrial  veröffentlicht  hat.  Von  ihm  wurden 
78  Kropfkranke  mittels  Schilddrüsenpräparate  behandelt.  Von  4 — 6 Fällen  ab- 
gesehen, die  wegen  Beschwerden  oder  Widerwillen  die  Behandlung  vorzeitig  ab- 
brachen , wurde  bei  allen  Kröpfen  eine  entschiedene  Rückbildung  erreicht.  Der 
Erfolg  war  bis  auf  2 Fälle  ein  dauernder. 

Im  Auslande  hat  schliesslich  Fletcher  Ingals  50  Fälle  aus  seiner  und 
befreundeter  Collegen  Clientei  gesammelt.  In  38  Fällen  nahm  die  Geschwulst  ab, 
in  1 1 blieb  sic  unverändert  und  in  einem  Hess  sich  Uber  den  Ausgang  nichts 
Genaueres  in  Erfahrung  bringen. 

Ausser  Reixhold,  Bruns,  Kocher,  Stabel  und  Angerf.r  haben  noch 
Ewald  und  Kuttner  — 8 Fälle,  die  säinmtlich  eine  Abnahme  des  Halsumfanges 
um  2 — 4,5  Cm.  aufzuweisen  hatten  — , Epelbaum  — 1 Fall  mit  erheblicher 
Besserung  — , Heixsheimkr  — 2 Fälle  mit  Rückgang  um  3 Cm.  — , HKRZEL 
und  Irsai  — eine  Reihe  von  Fällen  mit  Erfolg  — , Marie  — 1 Fall  mit  beträcht- 
licher Abnahme  — , MC  Claughry  — 1 Fall  mit  vollständigem  Schwinden  der 
Struma,  ein  zweiter  mit  Verkleinerung  um  */,  Zoll  — , Mc  Dowall  — 1 Fall  von 
enormem  Kropf  mit  beträchtlicher  Besserung  — , MÜNZ  — 2 Fälle  mit  ausge- 
zeichnetem Erfolg,  darunter  bei  einem  Heilung  — , Sabrazis  und  Cabannis  — 
1 Fall  mit  Heilung  — , SENK  — 1 Fall  mit  ausgezeichnetem  Erfolg  — , Sserapin  — 
von  12  Fällen  erfuhren  7 eine  Verkleinerung  des  Umfanges  um  1 — 3,5  Cm.  — 
und  Thomas  — 1 Fall  bei  einem  Kinde  mit  gutem  Resultate  — diesbezügliche 
Beobachtungen  über  Schilddrüsentherapie  bei  genuinem  Kropf  veröffentlicht. 

Was  die  Präparate  betrifft,  so  verabreichten  Bruns,  Emminghaus-Rein- 
hoi.d,  Kocher  und  Stabel  im  Anfänge  frische  rohe  Schilddrüse  vom  Kalb  oder 
Hammel,  fein  zerhackt,  in  Oblaten  oder  als  Sandwichs  genossen,  in  einer  Dosis 
von  6 — 8 — 10,  vereinzelt  auch  bis  15  Grm.,  anfänglich  alle  2 — 3 Tage,  später 
alle  8 — 14  Tage  (bei  Kindern  je  nach  dem  Alter  4 — 10  Grm.),  bei  späteren  Ver- 
suchen, desgleichen  Ewald  getrocknete  Schilddrüsensubstanz  in  Form  der  bekannten 
Tabletten  (cf.  weiter  unten  den  Artikel  „Sehiiddrüsenbehandlung“)  in  der  Dosis 
1 — 2,  ansteigend  bis  7mal  0,3  Grm.  Stabel  will  beobachtet  haben,  dass  mit 
Tabletten,  wenigstens  mit  denen  der  Dresdener  Hofapotheke,  nicht  das  gleiche 
günstige  Resultat  erzielt  werden  konnte  wie  mit  Fütterung  der  frischen  Drflseu- 
substanz.  Als  möglichen  Grund  für  diese  Erscheinung  führt  er  an,  dass  es  nicht 
möglich  ist,  hier  die  absolut  gleiche  Menge  der  wirksamen  Substanz  der  frischen 
Drüse  einzuführen,  ohne  eine  zu  grosse  Alteration  der  Herzthätigkeit  zu  bewirken; 
denn  der  Versuch,  die  Dosis  Tabletten  zu  erhöhen,  nöthigte  wegen  des  un- 
günstigen Einflusses  auf  das  Herz  mehrfach,  die  Therapie  für  eine  Zeit  auszusetzen. 

Im  Allgemeinen  wurden  von  den  angeführten  Autoren  direct  unange- 
nehme Erscheinungen  niemals  beobachtet,  d.  h.  solange  die  Dosis  sich  inuerhalb  der 
oben  angeführten  Grenzen  bewegte.  Wenn  ja  einmal  solche  sich  bemerkbar  zu  machen 
begannen,  dann  genügte  ein  kurzes  Aussetzen,  um  dieselben  sogleich  zum  Ver- 
schwinden zu  bringen.  Mässige  Steigerung  der  Pulsfrequenz  war  nach  Staiiel 
jedoch  eine  constante  Erscheinung , ohne  dass  dabei  die  Kranken  über  Kopf- 
schmerzen, Herzklopfen  u.  s.  w.  geklagt  hätten.  Acute  Dilatation  des  Herzens 
vermochte  er  auch  bei  der  höchsten  Pulsfrequenz  niemals  zu  beobachten.  Zucker 
im  Urin  zeigte  sich  nur  einmal,  und  dieses  nur  vorübergehend.  War  einmal  eine  so 
hochgradige  Herzthätigkeit  eiugetrcten,  resp.  Uberseben  worden,  dann  hielt  die- 


K RO  t‘F  B K HANDLUNG- 


3G8 

selbe  infolge  der  cumulativen  Wirkung  des  Thyreoidins  allerdings  noch  wochen- 
lang an.  Rkinhold,  Ewald  und  Bruns  sahen  ebensowenig  bedrohliche  Er- 
scheinungen. — Dagegen  erwähnt  Angerer,  dass  er  in  einem  Falle,  wo  sich  an 
die  Schilddrüsenbehandlung  die  Strumektomie  anschloss,  einen  tödtlichen  Ausgang 
infolge  von  Herzlähmung  erlebte,  und  warnt  daher,  dieser  Methode  den  opera- 
tiven Eingriff  unmittelbar  folgen  zu  lassen. 

lieber  das  Verhalten  des  Körpergewichtes  während  der  Schilddrüsen- 
fütterung  gehen  die  Angaben  der  Beobachter  auseinander.  Kocher  will  in  keinem 
seiner  12  Fälle  eine  Gewichtsabnahme,  bei  7 ein  Gleichbleiben  und  bei  5 sogar 
eine  Zunahme  um  200  bis  3200  Grm.  beobachtet  haben.  Reinhold  sah  bei  weit- 
aus den  meisten  Fällen  eine  deutliche  Abmagerung,  bei  3 jedoch  auch  eine  Zunahme. 

Bezüglich  der  Indicntion  für  die  SchilddrUsenbehandlung  hatte  bereits 
Bruns  gelegentlich  seiner  ersten  Versuchsserie  gefunden,  dass  bei  Cystenkröpfen 
wenig  oder  gar  nicht  auf  einen  Erfolg  zu  rechnen  sei;  am  günstigsten  wtlrden 
einfache  Strumen  ohne  Complication,  und  zwar  ausschliesslich  Parenchymkröpfe, 
desgleichen  relativ  frische  Strumen  jugendlicher  Individuen  beeinflusst.  Auch  bei 
seinen  späteren  Versuchen  erzielte  Bauxs  die  günstigen  Erfolge  an  jugend- 
lichen Personen,  wie  aus  der  obigen  Zusammenstellung  ersichtlich.  Kocher  hin- 
gegen konnte  nicht  finden,  dass  das  Alter  für  die  Wirksamkeit  oder  Unwirksam- 
keit der  Schilddrüsenbehandlung  massgebend  sei,  sondern  vielmehr  die  Natur  des 
Kropfes.  Cystische  Kröpfe  bleiben  unbeeinflusst,  wie  auch  Reinhold  gesehen 
hatte.  Auch  grosse  C’olloidknoten  längerer  Dauer,  wo  man  bei  Operationen  starke 
Bindegewebsentwicklnng,  Blutergüsse  und  diffuse  Colloidentartung  von  Gefäss- 
wänden  und  interstitiellem  Gewebe  neben  der  follicnlären  Hyperplasie  und  der 
Colloidansammlung  in  den  Follikeln  antriflt,  scheinen  der  diesbezüglichen  Behand- 
lung nicht  zugänglich  zu  sein.  Bruns’  und  Kocher's  Ansichten  dürften  sich  in- 
dessen in  dem  Punkte  begegnen , dass  diejenigen  Kröpfe  die  meiste  Reduction 
erfahren,  die  zum  grössten  Theile  aus  einfachem,  die  Kropfknoten  verbindendem 
und  einleitendem  hyperplastischcn  Gewebe  bestehen,  was  ja  auch  für  die  jugend- 
lichen Kröpfe  zumeist  zutrifft.  Dieser  Theil  der  Struma  wird  zum  Schwinden 
gebracht,  und  nur  die  Kropfknoten  bleiben,  wie  beide  Autoren  übereinstimmend 
betonen.  Die  Struma  erhält  dadurch  eine  feste,  derbe  Consistenz. 

Auch  Herzel,  Flktcher  Ixgals  und  Andere  machten  die  Erfahrung,  dass 
einfach  hyperplastische  und  womöglich  jugendliche  Kröpfe  die  günstigsten  Chancen 
bieten.  Ponset  ferner  betont,  dass  die  Statistik  gezeigt  habe,  dass  unter  10  Kröpfen 
8 — 9 eystischer  Natur  und  nur  1 — 2 parenchymatöser  Natur  zu  sein  pflegen 
und  verspricht  sich  daher  von  der  Schilddrüsenbehandlung  bei  Kropf  im  Allge- 
meinen keinen  grossen  Werth.  Er  meint  sogar,  dass  diese  Methode  hinter  der 
Jodbehandlung  zurückstche. 

Für  die  Dauer  der  Behandlung  werden  im  Durchschnitt  einige  wenige 
Wochen  genügen.  Bruns,  Ewald  und  Reinhold  beobachteten  nämlich  überein- 
stimmend, dass  der  Erfolg  sich  bereits  nach  den  ersten  Dosen  bemerkbar  zu 
machen  beginnt,  nach  8 — 14  Tagen  sein  Maximum  erreicht,  und  dass  von  dann 
an  eine  weitere  Abnahme  des  llalsumfanges  wohl  kaum  mehr  stattfindet. 

Ob  der  Schilddrüsenbehandlung  des  primären  Kropfes  eine  so  grosse 
Bedeutung  zukommt,  wie  Bruns  auf  Grund  seiner  umfangreichen  Versuche  be- 
hauptet, oder  ob  sie  nur  von  temporärem  Wcrthe  ist , wie  Stabel  behauptet, 
muss  die  Zukunft  entscheiden.  Möglicher  Weise  war  die  Beobachtungszeit  von 
Bruns  eine  zu  kurze.  Dessenungeachtet  bietet  das  Verfahren  zweierlei  Vortheile, 
einmal , dass  es  bei  Luflröbrenstenose  infolge  zu  grossen  Schilddrüscnvolumens 
die  sonst  unausbleibliche  Tracheotomie  vermeiden  lässt,  und  zum  zweiten,  dass 
es,  worauf  Bruns  mit  Recht  hinweist,  in  Fällen  mit  unvollständiger  Rückbildung 
der  Struma  die  nachträgliche  Enuclration  der  einzelnen,  nunmehr  leicht  abzu- 
tastenden Knoten  sehr  erleichtert. 

Es  erledigt  sich  noch  die  Beantwortung  der  Frage , auf  welche  " eise 
der  Rückgang  des  Kropfes  zustande  kommt.  Geht  mau  von  der  Voraussetzung 


KROPFBEHANDLUNG.  — KUPFER. 


m 


aus,  dass  beim  Entstehen  eines  Kropfes  ein  Theil  der  spezifischen  Drüsenelemente 
infolge  der  kropfigen  Veränderungen  fnnetionsuntüchtig  wird,  und  dass  andere 
Theile  den  Ausfall  der  Function  mit  übernehmen  müssen  und  daher  hypertrophiren, 
so  wird  leicht  verständlich,  warum  in  dem  Falle,  dass  normales  Schilddrüsen- 
secret  von  aussen  dem  Organismus  hinzugeführt  wird,  die  physiologische  Hyper- 
trophie sich  wieder  zurückbildct.  Sie  ist  überflüssig  geworden ; es  bedarf  keiner 
Compensation  mehr. 

Literatur:  Angerer,  Ueber  die  Behandlung  de«  Kropfes  durch  Schilddrüsensaft. 
Münchener  med.  Wocbenschr.  1896,  Nr.  4 — P.  Bruns,  Ueber  die  Kropfbehandlung  mit 

ächilddrüsenftitterung.  Deutsche  med.  Wochenschr.  1894,  Nr.  41.  — P.  Bruns,  Weitere  Er- 
fahrungen über  die  Kropfbehandlung  mit  Schilddrüsenfütterung.  Beitr,  zur  klin.  Chir.  XIII, 
Heft  1.  — Bruns,  Deutsche  med.  Wochenschr.  1896.  Ver.-Beil.,  pag.  85.  — A.  Epelbaum,  De 
V organoth^rapie.  Tb£se  de  Paris.  1896.  — C.  A.  Ewald,  Ueber  einen  durch  Schilddrüsentherapie 
geheilten  Fall  von  Myxödem  nebst  Erfahrungen  über  anderweitige  Anwendungen  von  Thyreoidea- 
präparaten. Berliner  klin.  Wocbenschr.  21.  Januar  1895.  — Gaide,  Du  traitement  thyroidien 
dann  le  goitre , le  myxoedbne  et  le  crJtinisme.  Th6se  de  Bordeaux,  1895.  — Fr.  Heinsheime  r, 
Entwicklung  und  jetziger  Stand  der  Schilddrüsenbehandlung.  J.  F.  Lehmann,  München  1895.  — 
A.  Hennig,  Ueber  Thyrojodin.  Münchener  med.  Wochenschr.  1896,  Nr.  14.  — Herzei  und 
Irsai,  Versuche  und  Heilbeiträge  über  den  Einfluss  der  Schilddrüse  auf  Gesunde  und  Struma- 
kranke.  Pester  med.-chir.  Presse.  1896,  Nr.  12.  — Fletcher  lngals.  The  tveatment  of  the 
goitre  and  the  exophtalmic  goitre  by  thyroid  extract.  New  York  med.  Journ.  7.  Sept.  1895.  — 
Kocher,  Die  Schilddrüsenfunction  im  Lichte  neuerer  Beobachtungsmethoden  verschiedener 
Kropfformen.  Correspondenzbl.  f.  Schweizer  Aerzte.  1895.  Nr.  1.  — Lanz,  Die  Schilddrüsen- 
therapie des  Kropfes.  Correspondenzbl.  f.  Schweizer  Aerzte.  1895,  Nr.  2.  — P.  Marie,  De  la 
medicatiun  thyrotdienne  dann  Je  goitre  vulgaire.  Semaine  mW.  1895,  Nr.  56.  — Th.  S.  Mc 
Claughry,  Ttro  cases  of  insanity  u'ith  yoitrt  treated  irith  thyroid  extract.  Journ.  of  ment, 
science.  XL,  Nr.  171,  pag.  635.  — Mc  Dowall,  Journ.  of  ment.  Science.  Jan.  1895,  pag.  171.  — 
Münz,  Die  Schilddrüsenbehandlung  des  Kropfes.  Münchener  med.  Wechenschr.  1896,  Nr.  3.  — 
Poncet  und  Boudet,  Sur  la  raleur  de  la  mMication  thyroidienne.  Lyon  m6d.  1896. 
Nr.  7. — G Reinhold,  Ueber  Schilddrüsentherapie  bei  kropfleidenden  Geisteskranken.  Münchener 
med.  Wochenschr.  31.  Juli  1894.  — G.  Rein  hold,  Weitere  Mittheilungen  über  Schilddrüsen- 
therapie bei  kropfleidenden  Geisteskranken.  Münchener  med.  Wochen-chr.  1895,  Nr.  52.  — 
Sabrazis  und  Cabannis,  Gutrison  rapide  d'un  goitre  simple  etc.  Gaz.  hebdom.  1896, 
Nr.  28.  — Sen 6,  Gucrison  d’un  goitre  rolumineux  par  Vingestion  de  corpo  thyroXdc  de 
mouton.  Jonrn.  de  med.  et  de  chir.  prat.  25.  Mai  1895.  — Sse rapin,  Zur  Frage  der  Behand- 
lung der  verschiedenen  Kropfarten  mittels  Schilddrüsenpräparalen.  (Russ.)  Wratsch.  1896, 
Nr.  5.  — H.  Stabei,  Zur  Schilddrüsentherapie.  Berliner  klin.  Wochenschr.  1896,  Nr.  5.  — 
Thomas,  Deutsche  med  Wochenschr.  1896.  Ver.-Beil.,  S.  86.  G.  ßuschan. 

Kupfer.  Gegenüber  der  allgemein  verbreiteten  Ansicht  von  der  Un- 
schädlichkeit kleiner  Mengen  von  Kupferverbindungen  im  Allgemeinen  vindicirt 
Filkhne  l)  nach  Versuchen  an  Kaninchen  und  Hunden  dem  K 11  p f e r k a 1 i u m- 
tartrat  gesandheitsgcfährliche  Wirkung,  die  sich  auch  schon  bei  Gaben  üussert, 
die  nicht  brechenerregcnd  wirken.  Zum  Genüsse  für  Menschen  bestimmte  Lösungen 
von  Weinsäuren  Salzen  und  in  specie  von  Kaliumtartrat,  besonders  also  auch 
Weine,  müssen  vor  nachträglicher  Berührung  mit  Kupfer  oder  Messing  oder  mit 
Kupfersalzen  behütet  werden,  nnd  Weine , die  infolge  solcher  Berührung  in 
Betracht  kommende  Mengen  durch  Schwefelwasserstoff  nachweisbaren  Kupfers 
enthalten,  müssen  unter  allen  Umständen  gemieden  werden.  Mit  diesen  Vcrsuchs- 
resultaten  harmonirt  auch  das  neuerdings  constatirte  Vorkommen  von  Vergiftung 
durch  Wein,  der  durch  innen  stark  grünspanhaltige  Messingkrahne  abgezogen 
wurde  und  in  welchen  man  starken  Kupfergehalt  nachweisen  konnte,  wobei  sich 
charakteristische  Cnprismussymptome  (Ohnmacht,  Tenesmus,  Muskelzuckungen 
und  Icterus)  nachweisen  lassen.*)  Solche  Fälle  sprechen  natürlich  nicht  für  ein 
Verbot  des  Kupfcrns  von  Weinstftcken  zur  Verhütung  der  Traubenkrankheit, 
da  hier  höchstens  dann  Kupferkaliumtartrat  in  den  Wein  gelangt,  wenn  die 
Trauben  vor  dem  Keltern  nicht  von  dem  mechanisch  anhaftenden  Kupfersalz- 
überzuge  befreit  wurden.  Das  aus  dem  Boden  aufgenommene  Kupfer  ist  im  Weine 
nur  in  Mengen  vorhanden . die  schädliche  Wirkung  nicht  voraussetzen  lassen. 
Auffallend  ist  dio  Differenz  der  Giftigkeit  des  Kupfernatrium-  und  Kupferkalitiin- 
tartrats,  insofern  doppelt  so  grosse  Gaben  von  Cu  in  Form  des  Kaliumdoppel- 
Encyclop  Jahrbücher.  VI.  24 


370 


KUPFER. 


salzcs  ertragen  werden  als  vom  Natriumdoppelsalze.  Die  Verhältnisse  der  Aus- 
scheidung durch  die  Nieren  bieten  dafür  keine  Erklärung.  Denn  obsehon  das 
Kaliumsalz  sich  wesentlich  diffusibler  als  das  Natriumsalz  erweist,  wird  es  in 
geringeren  Mengen  und  weit  langsamer  durch  die  Nieren  eliminirt,  so  dass  das 
Maximum  der  Ausscheidung  bei  letzteren  auf  die  60.,  bei  der  Natriumverhinduug 
erst  auf  die  108.  Stunde  fällt.  Der  Grund  ist  darin  zu  suchen,  dass  ungeachtet 
seiner  grösseren  Diffusibilität  das  Kaliumdoppelsalz  langsamer  resorbirt  wird, 
so  dass  zu  derselben  Zeit  sich  nur  ,/4  der  Cu  - Menge  in  der  Leber  deponirt 
befindet  als  bei  Vergiftung  mit  dem  Natriumdoppelsalze.  Bei  intravenöser  Ein- 
führung ist  das  Kaliumdoppelsalz  giftiger.  Ucbrigens  ist  die  Giftigkeit  des  Kupfers 
bei  Application  der  Doppelsalze,  soweit  es  sich  um  acute  Intoxicationeu  handelt, 
grösser,  als  man  nach  den  früheren  Untersuchungen  IIarnack’s  annimmt.  So 
resnltirt  nach  Ft  LEHNE  tödtliche  Vergiftung  von  Kaninchen  nach  2 — 4 Mgrm.; 
subcutan  ist  die  7 — 14faehe  Menge  erforderlich,  intern  das  etwa  löfacbe  der 
minimal  letalen  subcutanen  Dosis. 

Hinsichtlich  der  Theorie  der  acuten  Kupfervergiftung  ist  durch  die  neueu 
Untersuchungen  ermittelt,  dass  neben  der  Muskellähmnng,  in  der  man  meist  nach 
Harxack's  Vorgänge  das  Wesen  des  Cuprismus  acutus  erkennt,  auch  Lähmung  der 
Nervencentra  existirt.  Man  darf  nicht  blos  an  functionellc  Lähmung  denken,  denn 
es  finden  sieb  bei  etwas  länger  dauernder  acuter  Vergiftung  stets  materielle  Ver- 
änderungen des  Blutes  und  der  Organe,  die  in  ihren  geringsten  Anfängen  sich 
nach  Filehxe  durch  die  für  Blutgifte  charakteristischen  kleinen  Blutungen  in 
der  Magenschleimhaut  und  in  fettiger  Degeneration  der  Leberzellen  der  Aeinus- 
peripherie,  in  weiter  vorgeschrittenen  Fällen  durch  schwere  Anämie  und  ausge- 
dehntere Veränderung  der  Leber,  die  bald  das  Bild  der  biliösen  Cirrhose  mit 
fettiger  Degeneration,  bald  das  der  atrophischen,  fettig  degeuerirten  Leber  dar- 
bietet, der  Nebeunieren,  die  intensiv  fettig  degenerirt  sind,  und  der  Nieren 
(Metallniere)  charakterisirt.  Auch  Klemptner*)  hebt  als  constanten  Leichen- 
befund bei  Vergiftung  mit  Kupfernatriumtartrat  Blutungen  hervor,  die  von  ihm 
in  fast  allen  Organen,  mit  Ausnahme  von  Milz  und  Speicheldrüsen,  sehr  verbreitet 
auch  in  den  Muskeln  aufgefunden  wurden.  Als  besonders  auffällig  erschien  in 
Ki.EMPTCEr’s  Versuchen,  besonders  bei  rascher  Vergiftung  durch  intravenöse  oder 
subeutane  Application,  die  hämorrhagische  Schwellung  des  Darmes,  die  stets  am 
intensivsten  im  Dickdarm  war,  aber  auch  bis  in  den  oberen  Theil  und  selbst  bis 
in  den  Magen  hinaufreichte. 

Dass  es  sich  hei  den  fraglichen  Vergiftungen  auch  da,  wo  das  Mittel  inner- 
lich gegeben  wird,  um  die  Wirkung  des  resorbirten  Kupfers  handelt,  ergiebt  sich 
daraus,  dass  die  Magenschleimhaut  intact  ist  oder  nur  wenig  betroffen  wird.  Auch 
bei  Thiercn,  welche  erbrechen,  können  durch  nicht  brechenerregende  Gabeu  von 
Kupferdoppelsalz,  wenn  solche  monatelang  mit  dem  Futter  verabreicht  werden, 
die  bezeichneten  Veränderungen  in  Leber  und  Niere  hervorgerufen  werden. 

Von  Interesse  erscheint  auch,  dass  die  „Fetttröpfchen“  in  der  veränderten 
Leber  sich  häufig  nach  Osmiumeinwirkung  nicht  schwarz,  sondern  dunkelbraun 
färben.  Da  in  ungefärbten  Präparaten  Tröpfchen  mit  geringerem  Lichtbrechungs- 
vermögen von  dem  Aussehen  des  Myelins  verkommen,  die  sich  mit  Osmium 
ebenfalls  braun  färben,  handelt  es  sich  dabei  wahrscheinlich  um  Vorstufen  des 
Fettes  oder  ein  für  die  frühen  Stadien  fetter  Degeneration  charakteristisches  Fett. 
Im  Harne  nicht  tödtlich  vergifteter  Thiere  ist  anfangs  kein  Eisengehalt  nach- 
weisbar, später  aber  wird  der  Urin  dunkler  und  ergiebt,  offenbar  infolge  des 
Zugrundegehens  von  Erythrocyten , mehrere  Tage  mit  Rhodankalium  zu  consta- 
tirenden  erheblichen  Eisengehalt. 

Eine  vollständige  Ungiftigkeit  kupferorganischer  Verbindungen,  in  denen 
das  Cu  maskirt  ist , kann  wohl  nicht  zugegeben  werden , da  die  dem  Ferratiu 
entsprechende,  neuerdings  von  Schwarz *)  dargestellte  Cuprialbumin säure, 
die  durch  Reduction  in  Cuproalhuminsäure  übergeht,  toxische  Action  liesitzt. 
Allerdings  tritt  der  giftige  Effect  erst  sehr  spät  ein,  und  die  am  Froschherzen 


KUPFER. 


371 


im  WiLLlAMsVhen  Apparate  bei  stärkerer  Concentration  resultirende  Schädigung 
des  Herzmuskels  mit  schliesslichem  systolischen  Herzstillstände  bleibt  bei  einer 
Concentration  von  */4  Mgrm.  auf  50  Ccm.  Nährflüssigkeit  nicht  allein  ans,  sondern 
es  kommt  zur  Verstärkung  der  Systolen  und  Diastolen , wogegen  Kupfersulfat 
und  Kupfernatriumtartrat  in  gleicher  Concentration  noch  Herzstillstand  bewirken. 
Dieser  Umstand  und  die  von  Tschirch  *)  durch  weitere  Versuche  bei  Wasser- 
culturen  von  Phaaeolus  multiflorua  constatirte  Thatsache,  dass  bei  Aufnahme  von 
Kupfer  die  Vegetation  viel  üppiger  vor  sich  geht  als  ohne  Cu  0,  scheinen 
die  tonisirende  Action  der  kleinen  Knpferdosen  zu  bestätigen.  Ob  aber  für  die 
therapeutische  Verwendung  die  kupferorganischen  Verbindungen , von  denen 
Robert6)  die  unter  dem  Namen  Knpferhämol  in  den  Handel  gebrachte  Ver- 
bindung mit  Hämoglobin  vorgeschlagen  hat,  zu  benutzen  seien,  erscheint  fraglich, 
da  nach  den  Versuchen  von  Ki.emptner  das  Kupferhämol  wegen  seiner  rascheren 
Resorption  im  Tractus  sogar  giftiger  als  das  weinsaure  Kupferdoppelsalz  wirkt. 
Während  das  Kupfernatriumtartrat  713  Mgrm.  Kupferoxyd  bei  Verfütterung 
nöthig  hatte,  um  eine  Katze  zu  tödten,  ging  eine  solche  schon  nach  einer  100  Mgrm. 
CuO  entsprechenden  Menge  von  Kupferhämol  zu  Grunde.  Allerdings  harmonirt 
dies  nicht  mit  den  Resultaten,  die  Filehne  mit  einem  dem  Fcrratin  nachgeahmten 
Kupfereiweiss  erhielt,  das  in  seiner  Giftigkeit  hinter  dem  Doppeltartrat  zurück- 
blieb.  Die  auf  Kupferoxyd  bezogene  letale  Gabe  stellt  Bich  bei  Cuprialbumiu- 
säure  und  Tartrat  gleich,  dagegen  erfolgt  der  Tod  bei  ersterer  stets  nach 
mehreren  Stunden,  bei  Subcutanapplication  in  2 — 3 Tagen. 

Man  wird  bei  Kupfervergiftungen  wohl  annehmen  müssen,  wie  dies 
Ködert6)  neuerdings  für  alle  Metallvergiftungen  plausibel  gemacht  hat,  dass  die 
nächste  Veränderung  der  Kupferverbindungen  nach  der  Resorption  in  der  Ver- 
bindung mit  Hämoglobin  besteht.  Von  dieser  Verbindung  befreit  sich  der  Organis- 
mus theils  durch  Deposition  in  gewisse  Organe,  insbesondere  Leber  und  Milz, 
theils  durch  Elimination,  wobei  sich  in  erster  Linie  Darmschleimhaut  und  Nieren 
betheiligen.  Wie  Filehne  und  Klemptner  übereinstimmend  fanden,  lässt  sich 
Kupfer  mikrochemisch  in  gehärteten  Schnitten  des  Leberparenchyms  nicht  nach- 
weisen.  Dagegen  findet  sich  nach  Ki.emptner  in  einigen  Fällen  eine  Menge 
dunkler  Pünktchen  in  den  Zellen  der  Leber  und  makrochemisch  lässt  sich  durch 
II,  8 constant  dunklere  Färbung  der  Leber  erzielen.  Die  gelbbraunen  Massen 
und  die  Schwarzfärbung  durch  H.  8 kommen  auch  der  Milz  zu,  und  erstere,  die 
auch  auf  der  Magendarmschleimhaut  und  in  dem  Harncanälchen  nngetroflen 
werden,  stehen  vermuthlich  mit  der  Elimination  im  Zusammenhänge.  Neben  dem 
Darme  und  den  Nieren  kommen  auch  die  Leber  selbst,  die  Speicheldrüsen  und 
das  Pankreas  für  die  Elimination  in  Betracht.  Die  IlauptauBscheidungsstätten 
und  die  Organe  der  Deposition  sind  auch  der  Sitz  der  ausgedehntesten  pathologischen 
Veränderungen,  die  sich  durch  starke  Erweiterung  der  Gefässe  und  Ekchvmosen, 
in  den  schwersten  Fällen  als  hämorrhagische  Enteritis  und  Nephritis  charakterisiren. 
Auch  das  Pankreas  ist  oft  Sitz  degenerativer  Veränderungen.  Im  Darme  sind  nach 
Klemptner  besonders  die  Zotten  verändert,  an  denen  sich  starke  Hypertrophie, 
massenhaftes  Vorhandensein  von  Lymphköruchen  und  schliesslich  Epitheldegeneration 
eonstatiren  lassen.  Die  Zotten  erscheinen  keulenförmig  oder  bandförmig  ausge- 
zogeri,  die  äusserste  Spitze  homogen,  und  schliesslich  drängt  sich  die  ganze  die 
Zotte  ausfüllende  Masse  in  das  Innere  des  Darmlumens. 

Literatur:  ')  Filehne.  Beiträge  zur  Lehre  von  der  aenten  nnd  chronischen 
Knpfervergiftnng.  Deutsche  med.  Wochensthr.  1895.  Nr.  19.  — *)  K le m p tner,  Zur  Wirkung 
des  Kupfers  auf  den  thierischen  Organismus.  Jürgen-  1894.  — 3)  Leo  Schwarz,  Ueber  die 
Wirkung  der  Kupferalbnminsäure.  Arch.  f.  experim.  Path.  u.  Pharm.  XXXV,  pag.  437.  — 
*)  A.  Tschirch.  Weitere  .Mittheilungen  über  das  Kupfer  vom  Standpunkte  der  Toxikologie. 
Schweizer  Wochenschr.  f.  Pharm.  1895,  Nr.  13.  — ) R Kobert,  Ueber  den  gegenwärtigen 
Stand  der  Frage  nach  den  pharmakologischen  Wirkungen  des  Kupfers.  Deutsche  med. 
Wochenschr.  1895.  Nr.  1 u.  3.  — CJ  Kobert.  Ueber  die  Beziehungen  der  Schwermetalle 
zum  Blute.  Arch.  f.  llerraat.  n.  Syph.  XXXI,  pag.  33.  IlnsemaDn. 


Leucocyten,  Züchtung  im  Harn,  pag.  256,  257. 

Lignosulflt.  Eine  von  Franz  Hartmann  gegen  verschiedene  Erkran- 
kungen der  Respirationsorgane  empfohlene  Inhalationsflüssigkeit.  Sie  wird  bei  der 
Gewinnung  der  Cellulose  aus  Tannenholz  nach  dein  sogenannten  „Sulfitverfahren’* 
erhalten.  Hierbei  wird  das  zerkleinerte  Nadelholz  in  einer  Lösung  von  Kalk- 
milch und  schwefeliger  Säure  bei  Ueberscbuss  der  letzteren  — Calciumbisullit  — 
gekocht.  Die  Kochfltissigkeit  enthält  nach  längerer  Einwirkung  die  aus  dem 
Holze  extrahirten  Salze,  ätherischen  Oele  und  Harze  nebst  organischen  flüchtigen 
Verbindungen,  die  durch  Einwirkuug  der  schwefeligeu  Säure  auf  diese  während 
des  Kochens  entstanden  sind,  und  schliesslich  etwas  freie  schwefelige  Säure.  Letz- 
tere dürfte  wohl  das  wirksame  Agens  der  Lignosultitinhalationen  sein.  Die  ersten 
Angaben  Uber  die  Wirksamkeit  der  besagten  Dämpfe  von  Cellulosefabriken  gegen 
Tuberkulose  stammen  aus  Laienkreisen  (s.  bei  I.  A.  Rosenberger).  Hartman* 
lässt  das  Lignosulflt  im  Krankenraume  durch  einen  den  Gradirwerken  ähnlichen 
Apparat  verdunsten,  eventuell  wird  es  auf  Tannenzweige  oder  auf  einer  flachen 
Schüssel,  also  auf  eine  möglichst  grosse  Fläche  vertheilt.  Auch  kann  man  einige 
Löffel  Lignosulflt  je  nach  der  gewünschten  Concentration  mit  Wasser  gemischt 
in  eine  Wt'LFF’sche  Flasche  bringen  und  die  durch  diese  gesaugte  Luft  mit 
Hilfe  eines  Schlauches  einathmen;  auch  Taschenapparate  nach  diesem  Princip 
wurden  hergestellt.  Hartmann’  empfahl  die  Lignosulfltdämpfe  zur  Anwendung 
bei  Lungenemphysem,  Katarrh  der  Luftwege  und  bei  Lungenpbthise  , äusscrlich 
sollte  es  sich  bei  tuberkulösen  Hautleiden  bewähren.  Inhalatorien  sind  bis  nun 
in  Hallein  bei  Salzburg,  im  Wiener  allgemeinen  Krankenhause,  in  der  Wiener 
Poliklinik,  zu  Meran  und  Reichenhall  eingerichtet.  Nach  A.  Heixdl’s  Erfahrun- 
gen auf  der  Abtheilung  von  Chiari  an  der  Wiener  Poliklinik  ist  Lignosulfit 
wohl  kein  directes  Heilmittel  gegen  Tuberkulose,  aber  es  desinflcirt  die  Luftwege, 
erleichtert  die  Expectoration  und  scheint  hierdurch  die  Resorption  von  Zersetzungs- 
producten  zu  verhindern.  So  lange  der  Kranke  an  die  Dämpfe  nicht  gewöhnt 
ist,  stellt  sich  mehr  Hustenreiz  ein,  derselbe  lässt  in  kurzer  Zeit  nach.  Wo  be- 
sondere Vorsicht  geboten , kann  man  zu  Beginn  das  Lignosulfit  mit  gleichen 
Theilen  Wasser  verdünnen , durch  Entfernen  von  der  Verdunstungsstelle  wird 
die  Wirkung  der  mit  Luft  gemischten  Dämpfe  ebenfalls  abgeschwächt.  Sobald 
der  Kranke  an  die  Einathmung  der  Lignosulfltdämpfe  gewöhut  ist,  kann  der 
Apparat  öfter  beschickt  werden.  Die  Dauer  der  Inhalation  und  der  Sättigungs- 
grad der  Dämpfe  können  nach  individuellen  Verhältnissen,  wie  ersichtlich , sehr 
gut  geregelt  werden.  Um  beim  Patienten  tiefes  Einathmen  anzuregen,  kann  man 
im  Inhalationsraume  auch  Turnübungen  ausführen  lassen. 


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LIGNOSULFIT.  — LOCHIEN. 


373 


K.  Eblich  halt  auf  Grund  von  Erfahrungen  an  einem  grösseren 
Krankenmateriale  die  Lignosulfitinhalation  bei  schweren  Phthisikern  wegen  der 
eintretenden  Reizerscheinungen  nicht  angezeigt , auch  hei  echtem  Asthma  bron- 
chiale und  bei  Emphysem  der  Lungen  wurde  das  Auftreten  solcher  während 
der  Inhalationen  beobachtet.  Andererseits  konnte  er  bei  den  leichten  katarrhali- 
schen Formen  entschiedene  Besserung  des  localen  Processes , Aufhören  der 
Nachtschweisse , Verschwinden  des  Hustens  und  Auswurfs  und  Zunahme  des 
Körpergewichtes  während  einer  l1/, monatlichen  Behandlung  beobachten.  Ohne 
den  I.ignosul  fitinhalationen  ihre  nunmehr  von  mehreren  Aerzten  bestätigte 
günstige  Wirkung  bei  den  Anfangsstadien  der  Tuberkulose  abzusprechen , ist 
I.  A.  RoSE.NBF.RGER  der  Ansicht , dass  die  Errichtung  von  öffentlichen  Sanatorien 
zur  Behandlung  von  Lungenkrankheiten  jeder  Art  mit  den  Lignosultitdämpfeu 
so  lange  unterbleiben  möge,  bis  dessen  sichere  Wirkung  durch  weitere  Beob- 
achtungen unumstösslich  festgestellt  sein  wird. 

Literatur:  Franz  Hartmann  (Hallein),  Die  neue  Behandlungsweiae  zur  Hei- 
lung von  Lungentuberkulose  durch  Inhalationen  von  Lignosulfit.  Wien  18B5.  — A.  Heindl, 
Vorläufige  Mittheilungen  über  die  Wirkung  von  Lignosulfitinhalationen.  Wiener  klin.  Wochen- 
schrift. 1895,  Nr.  39  u.  40.  — K,  Eh  lieh,  Einige  Beobachtungen  über  die  Lignosulflt- 
inhalationen  bei  Tuberkulose.  Aus  der  medicinischen  Klinik  des  Prof.  v.  Schrötter.  Wiener 
klin.  Wochensehr.  1696,  Nr.  15-  — I.  A.  Rosenberger  (Würzburg),  Errichtung  von  Heil- 
anstalten zur  Behandlung  von  Lungenkranken  jeder  Art,  speclel!  aber  der  Tuberkulose  mit 
den  bei  der  Cellulosefabrication  sich  ergehenden  Gasen  und  Dampfen  in  den  Cellnlosefabriken. 
Münchener  med.  Wocheuschr,  1896,  Nr.  7 Loebisch. 

Lochien,  Wochenfluss,  Wochenreinigung,  nennen  wir  jenen 
Ausfluss  aus  dem  Uterus,  der  sich  nach  der  Geburt  einstellt  und  3 — 6 Wochen 
andauert. 

Dieser  Ausfluss  ist  nichts  anderes  als  ein  Wundsecret.  das  Secret  der 
Placentarstelle  und  der  übrigen  Uterusinnenwand,  die  durch  die  Geburt  der  oberen 
Schleimhautschichten  beraubt  wurde. 

Während  des  Lochialflusses  findet  die  Involution  des  puerperalen  Uterus 
statt , d.  h.  die  Verfettung  und  Resorption  der  nun  überflüssigen  Muskelmasse 
unter  gleichzeitiger  Bildung  neuer  Muskelelemente.  Inwieweit  der  Lochialfluss  an 
der  Thütigkeit  des  ersten  dieser  zwei  Vorgänge  mitbetheiligt  ist,  ist  bisher  noch 
nicht  genau  bekannt. 

Die  Lochialflüssigkeit  enthält  intacte  und  zerfallene  rothe  Blutkörperchen, 
weissc  Blutkörperchen.  Plattenepithel,  junges  und  altes,  im  Zerfalle  begriffene 
Cylinderepithelzcllen,  Schleimkörperchen,  Detritus,  Fett,  braunes  Pigment,  Körner- 
aggregate, Mikroorganismen  verschiedener  Art , nicht  selten  auch  Deciduafetzcn, 
Placentar-  und  Eihautpartikel,  ferner  Cholestcarinkrystalle , das  Infusorium  Tri- 
chomonas vaginalis  u.  dergl.  m.  Die  Reaction  ist  eine  neutrale.  Alkalisch  und 
übelriechend  wird  die  Lochialflüssigkeit,  wenn  sie  sich  anstaut  und  dann  zersetzt. 
Die  chemische  Untersuchung  ergiebt  die  Gegenwart  von  Albumin,  Mucin,  verseif- 
baren Fetten,  Peptou,  Chlor-  und  Phosphorverbindungen,  sowie  die  von  Eisen 
(Scherer1),  Wertheimer5),  Rokitansky  jun.  *),  Kehrer4),  Marchioneschi 8), 
Karewski“),  Eustachb  '),  Fischel8).  Der  normale  Lochialfluss  besitzt  einen  faden 
üblen  Geruch. 

Die  ersten  Tage  nach  der  Geburt  tiberwiegt  der  Gehalt  an  rothen  Blut- 
körperchen, so  dass  der  Lochialfluss  eine  braune  Farbe  besitzt,  sogenannte 
Lochia  cruenta  s.  rubra.  Vom  dritten  Tage  an,  zuweilen  erst  später,  nimmt 
der  Blutgehalt  ab  und  treten  mehr  jene  Bestandtheile  in  den  Vordergrund , die 
bei  der  Regeneration  der  Uterusmucosa  eine  Rolle  spielen.  Gleichzeitig  nimmt 
die  Menge  der  Mikroorganismen  zu.  Um  diese  Zeit  spricht  man  von  Lochia 
serosa.  Vom  6. — 7.  Tage  an  nimmt  die  Flüssigkeit  eine  rahmartige  Beschaffen- 
heit an,  Lochia  alba,  da  sie  nun  namentlich  aus  Eiterzellen,  aus  Epithelzellcn 
in  den  verschiedensten  Stadien  der  Entwicklung,  aus  jungen,  spindelförmigen 
Bindegewebszellen  mit  Fettkörnchen,  freiem  Fett,  Cholestearin  u.  dergl.  m.  besteht. 


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374 


LOCHIEN. 


Nach  und  nach  nimmt  der  Ausfluss  an  Menge  ah,  wird  heller,  glasig  nnd  nähert 
sich  immer  mehr  dem  nicht  puerperalen,  chronisch-katarrhalischen  Uterussecrete, 
um  schliesslich  nach  3 — G Wochen  gänzlich  zu  verschwinden.  Nach  Gassxkr  •) 
soll  die  Menge  der  Lochia  cruenta  bis  zum  4.  Tage  1 Kgrm. , die  der  Lochia 
serosa  bis  zura  6.  Tage  280  Grm.  und  die  der  Lochia  alba  bis  zum  9.  Tage 
205  Grm.  betragen.  Giles  ,0)  dagegen  beziffert  die  Menge  der  Lochialflüssigkeit 
nur  auf  300  Grm. , meint  aber , die  Differenz  zwischen  seiner  Ziffer  und  der 
Gassxer’s  beruhe  zum  guten  Theilc  darauf,  dass  in  seinen  Fällen  desinficirende 
und  adstringirendc  Irrigationen  vorgenommen  wurden. 

Das  Verhalten  der  Lochien  hat  insoweit  eine  prognostische  Bedeutung, 
als  man  aus  deren  längerer  Dauer  auf  eine  langsamere  Involution  des  Uterus 
schliessen  kann.  Aus  dem  Grunde  dauert  der  Lochialfluss  bei  Nichtstillenden 
(was  öbrigens  von  Giles  geleugnet  wird)  und  bei  gewissen  puerperalen  Erkran- 
kungsformen länger  als  sonst.  Nach  Giles  ist  der  Lochialfluss  bei  Frauen  bis 
zum  25.  Lebensjahre  profuser  und  ebenso,  wenn  die  Placenta  grösser  war.  Die 
Menge  steht  nach  ihm  in  gleichem  Verhältnisse  zum  Blutverluste  bei  der  Geburt 
und  sie  ist  eine  grössere  bei  Frauen , die  früher  profus  menstruirten  und  bei 
solchen  mit  dunkler  Hautfarbe.  Ein  ungewöhnlich  bedeutenderer  oder  abnorm 
lange  andauernder  Blutgehalt  der  Lochien  zeigt  Erkrankungen  an.  Bei  puerpe- 
raler Septikämie  sind  die  Lochien  sehr  häufig  putride  und  sind  ein  Symptom  der 
gangränösen  Endometritis. 

Uebelriechend  und  gleichzeitig  alkalisch  reagirend  wird  der  Lochialfluss, 
wenn  sein  Abfluss  behindert  wird  und  sieh  die  Flüssigkeit  im  Uteruscavum  zer- 
setzt. Diese  Stauung  der  Lochialflüssigkeit,  die  Locliiometra,  kommt  dann  zu- 
stande, wenn  der  Uterus  stärker  nach  einer  Seite  hin  verlagert  ist,  wodurch  der 
Cervicalcanal  geknickt  und  verlegt  wird  (Schrokder  *'),  Crede**),  PFANNKCCH  ”), 
Boerxkr  '*),  Jakobs  EX 16).  Man  beobachtet  sie  namentlich  bei  verlangsamter  In- 
volution, bei  der  der  Uterus  grösser  und  schlaffer  bleibt,  als  er  es  der  Zeit  des 
Puerperiums  entsprechend  sein  sollte.  Die  Therapie  besteht  im  Aufstellen  des 
Uterus  und  eventuellen  nachfolgenden  desinficirenden  Ausspülungen  seiner  Höhle, 
um  einer  allfälligen , sogenannten  Selbstinfection  vorzubeugen.  Angezeigt  ist  es, 
der  Entleerung  und  Desinfection  der  Uterushöhle  einige  Dosen  Ergotin  folgen  zu 
lassen.  Bei  einer  gehörigen  Behandlung  des  Puerperiums  kommt  cs  nicht  leicht 
zur  Entstehung  einer  Lochiometra. 

Der  Lochialfluss  folgt  auch  einem  Abortus  und  einer  Frühgeburt,  doch 
dauert  er  hier  nicht  so  lange  wie  nach  einer  rechtzeitigen  Geburt. 

Mikroorganismen  finden  sich,  wie  erwähnt,  regelmässig  im  Lochialflusse, 
und  zwar  während  der  ersten  Woche  in  zunehmender  Menge.  Der  Gehalt  des 
Lochialtlusses  an  denselben  ist  verschieden , je  nach  den  einzelnen  Abschnitten 
des  Genitalrohres.  Nach  Dödkrlein  10)  ist  der  Uterus  frei  von  Mikroorganismen 
nnd  sind  sie  erst  abwärts  vom  inneren  Muttermunde  zu  treffen.  Nach  Thomex1«) 
enthalten  die  Lochien  der  Vagina  unter  normalen  Verhältnissen  zahllose  Keime 
der  verschiedensten  Art , wie  Diplo-,  Tafelkokken,  Kurzstäbchen , relativ  häufig 
Strepto-,  aber  keine  Staphylokokken.  Im  oberen  Drittel  der  Vagina  finden  sich 
weniger  Mikroorganismen  als  in  den  zwei  unteren.  Die  Lochialflüssigkeit  der 
Cervix  fand  er  nur  in  einem  Falle  reich  an  Mikroorganismen.  In  den  Lochien 
der  Uterushöhlc  fand  er  zweimal  Streptokokken.  Die  Lochialflüssigkeit  stellt 
bekanntlich  einen  günstigen  Nährboden  für  das  Wuchern  der  Mikroorganismen 
dar,  ein  Umstand,  der  insoweit  von  Bedeutung  ist,  als  sich  häufig  schon  von 
früher  her  pathogene  Keime  im  Scheideneingange  oder  im  Scheidensecrete  befinden. 

Literatur:  *)  Scherer,  Chemische  und  mikroskopische  Untersuchungen  zur 
Pathologie.  Heidelberg  1873.  — T)  Wertheimer,  Virchow’s  Archiv.  XXI,  pag.  319.  — 
*)  Rokitansky  jan.,  Stricker's  med.  Jahrli.  1874,  H.  2,  pag  161.  — 4)  Kehrer,  Beitrage 
zur  vergleichenden  nnd  experimentellen  Geburtskunde.  1875,  H.  4.  — *)  M archionesch  i, 
Annal.  di  Ostetr.  November  u.  Januar  1882.  — *)  Karewski,  Zeitscbr.  f Geburtsh.  n.  Gyn. 
1882,  VII,  pag.  331.  — ’)  Eustache,  Journ.  d'Acc.  1884,  Nr.  3;  Centralbl.  f.  Gyn.  18S4. 


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LOCHIEN.  - LUMBALPÜNCTION. 


375 


pajf.  391.  — *)  Fischei,  Central  bl.  f.  Gyn.  1884,  pag.  725;  Arch.  f.  Gyn.  1884.  XXIV, 
pag.  440;  1885,  XXVI,  pag.  12  ».  — *)  Gassner,  Monatsehr.  f.  Gebnrtsk  n.  Frauenkli.  1862, 
XIX.  pag.  51.  — ,#)  Gilea,  Transact.  of  the  Obstet r.  Soc.  of  London.  1894,  XXXV,  pag.  190.  — 
**)  Schroeder,  Schwangerschaft,  Geburt  und  Wochenbett.  Bonn  1867,  pag.  119.  — Crede, 
Arch.  f.  Gyn.  1870,  I,  pag.  84.  — **)  Pfannkuch,  Arch.  f.  Gyn.  1871.  III,  pag.  327.  — 
,4)  Buerner,  Ueber  den  puerperalen  Uterus.  Graz  1875.  — ,6)  Jakobson,  Central  bl.  f.  Gyn. 
1893,  pag.  284.  - *•)  Döderlein,  Arch.  f.  Gyn.  1887,  XXXI,  pag.  412.  — w)  Thomen, 
Arch  f.  Gyn.  1889,  XXXVI,  pag.  231.  — Vergl.  ausserdem  noch  Ott,  Arch.  f.  Gyn.  1888, 
XXXII,  pag.  436.  — Artermieff,  Zeitscbr.  f.  Geburtsh.  u.  Gyn.  1889,  XVII,  pag.  171. 

Kleinwächter. 

Losophan.  Metakresoltrijodid  C6  HJ3  <S$y  von  E'8AALFKLD 

wegen  seiner  Eigenschaft,  auf  «ier  schon  entzündeten  Haut  die  entzündliche  Reizung 
noch  zu  steigern,  zur  Anwendung  insbesondere  hei  chronischen  Hautkrankheiten 
empfohlen,  zeigte  günstigen  Einfluss  bei  der  Behandlung  von  Prurigo,  von  chro- 
nisch infiltrirten  Ekzemen,  Sycosis  vulgaris,  Acne  vulgaris  und  rosacea.  Auf 
die  entzündete  Haut  wirkt  das  Mittel  sehr  heftig,  so  dass  es  in  solchen  Fällen 
vermieden  werden  muss.  Bei  syphilitischen  Schankcrn  beschleunigt  das 
reine  Losophan  als  Streupulver  die  Vernarbung  (Descottes).  5 — 10%  Losophan- 
salbe  wirkte  gegen  das  Jucken  bei  Lichen  simplex,  in  5 — 10 — 20%iger  Salbe 
gegen  Dermatomykosen  und  Epizoen. 

Das  Losophan  bildet  farblose  Krystalluadeln  (78,39%  Jod)  vom  Schmelz- 
punkt 121, 5°C.,  unlöslich  in  Wasser,  in  Alkohol  schwer,  in  Aether,  Benzol, 
Chloroform  leicht  löslich.  Kette  Oele  lösen  es  nur  in  der  Wärme.  In  verdünnter 
Natronlauge  ohne  Veränderung  löslich,  durch  concentrirte  Kalilauge  wird  es  zu 
einem  grünlich-schwarzen  amorphen  Körper,  der  in  Alkohol  unlöslich  ist. 

Dosirung:  Ansserlicb  als  1 — 5%iges,  auch  als  reines  Pulver;  mit 
Traumaticin  1:10,  als  1 — 3 — 5%ige  Lösung,  als  5 — 10 — 20°  oige  Salbe. 

Literatur:  E.  Saatfeld,  Ueber  Losophan.  Thcrap.  Monatsh  1892,  pag.  544. — 
Felix  Descottes,  Etüde  sur  le  Losoplnnt.  These  de  Paris.  1893  — Waugh,  Times  and 
Register.  3.  Jnni  1893.  Loebisch. 

Lumbalpunction.  Spinalpunction. 

I.  Geschichte  der  Spinalpunction. 

Auf  dem  Congress  für  innere  Medicin  in  Wiesbaden  1891  machte 
II.  Quincke  die  erste  Mittheilung  *)  Uber  eine  neue,  von  ihm  erfundene  Methode, 
(Zerebrospinalflüssigkeit  aus  dem  Körper  des  lebenden  Menschen  zu  entnehmen. 
Bis  dahin  kannte  man  nur  die  Punction  der  Hirnventrikel , welche  hei  Hydro- 
cephalus  oft  ausgeführt  worden  ist.  Bei  einem  Kalle,  welcher  wahrscheinlich  einen 
frisch  entstandenen  hydrocephalischen  Erguss  betraf,  wünscht  Quincke  eine  Ent- 
lastung durch  Ablassung  von  Ccrebrospinalflüssigkeit  zu  bewirken.  Eine  Punction 
der  Hiniventrikel  jedoch  schien  ihm  nicht  gersthen.  Quincke  erinnerte  sich  aus 
seiner  früheren  Arbeit  „Zur  Physiologie  der  Cerebrospinalflüssigkeit“  *),  dass  er 
beim  Hunde  und  Kaninchen  mittels  Pravazspritzc  ohne  Eröffnung  des  knöchernen 
Wirbelcanales  Flüssigkeit  in  den  Dnralsaek  gespritzt  hatte.  Er  punktirte  deshalb 
hei  dem  in  Rede  stehenden  (1*  Jiihrigen)  Patienten  den  Durasaek  in  der  Höhe 
der  Lendenwirbel,  indem  er  zwischen  dem  III.  und  IV.  Wirbclbogen  2 Cm.  tief 
einging;  es  entleerten  sieh  tropfenweise  einige  Cubikcentimeter  wasserklarer 
Cerebrospinalflüssigkeit;  an  den  Tropfen  konnte  er  deutlich  exspiratorische  Be- 
schleunigung und  inspiratorische  Verlangsamung  beobachten.  Die  Punction  schien 
einen  günstigeu  Einfluss  auf  das  Befinden  des  Kindes  zu  haben  und  wurde  des- 
halb in  mehrtägigen  Pausen  noch  2mul  wiederholt.  Bei  der  dritten  Punction  ging 
Quincke  unterhalb  des  IV.  Lendenwirbels  ein,  gleichfalls  mit  Erfolg,  und  vervoll- 
kommnete  das  Verfahren,  indem  er  mit  der  Punction  zugleich  eine  manometrische 
Druckmessung  verband.  Es  trat  schliesslich  eine  fast  völlige  Genesung  des 
Kindes  ein. 


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376 


LUMBALPUNCTION. 


Es  ist  anatomisch  und  experimentell  erwiesen,  dass  die  Arachnoidalräuine 
des  Rückenmarks  mit  den  Hirnventrikeln  coutinuirlich  Zusammenhängen  ( Foramen 
Magendii  und  Aperturae  laterales  des  IV.  Ventrikels).  Daher  erwartete  QUINCKE 
von  der  Lumbalpunction  eine  Herabsetzung  des  Hirndruckes;  nur  in  solchen 
Füllen , wo  durch  Sklerose  des  Arachnoidalgewebes  oder  durch  Verschluss  des 
Aquaeductus  Si/lvii  die  Communication  aufgehoben  ist,  wird  dieselbe  nicht  zu- 
stande kommen.  Der  erste  Fall , bei  welchem  Quincke  die  Lumbalpunction  au- 
wandte,  gab  ihm  sofort  Recht,  und  so  lag  es  für  ihn  nahe,  seinen  glücklichen 
Gedanken  weiter  zu  verfolgen. 

Quincke  giebt  folgende  Vorschrift  für  die  Ausführung  der  Func- 
tion: Der  Patient  wird  auf  die  flinke)  Seite  gelagert  mit  stark  nach  vorn  ge- 
beugter Lenden  Wirbelsäule  und  angezogenen  Beinen.  Die  Punction  geschieht  mit 
einer  dünnen  Hohlnadel  unterhalb  des  III.  oder  IV.  Lendcnwirbelbogens. 

„Bei  jüngeren  Kindern  kann  man  etwa  in  der  Mitte  zwischen  zwei 
Dornfortsätzen  eingehen , wegen  des  starken  Lig.  interspinale  sticht  inan  aber 
besser  einige  Millimeter  seitlich  von  der  Mittellinie  ein  und  richtet  die  Nadel  so, 
dass  sie  an  der  Hinterfläche  des  Durasackes  die  Medianlinie  trifft.  Bei  Erwachsenen 
(und  zum  Theil  wohl  6chon  hei  älteren  Kindern)  sind  die  Dornfortsätze  etw:  s 
nach  abwärts  gerichtet,  so  dass  sie  einen  Theil  des  Zwischeubogenraumes  decken 
und  man  diesen  am  besten  trifft , wenn  man  in  der  Hohe  des  unteren  Drittels 
des  Dornfortsatzes  und  etwas  seitlich  (circa  1 Cm.  seitlich  von  der  Mittellinie) 
davon  in  der  eben  beschriebenen  Weise  eingeht  und  die  Nadel  etwas  aufwärts 
richtet.  Uebrigens  variiren  bei  Erwachsenen  diese  Dinge  individuell.  Etwas  muss 
man  sich  bei  der  Punction  durch  das  Gefühl  leiten  lassen.  Beim  Heransziehen  der 
Nadel  ist  — vermuthlich  wegen  der  Structur  der  Fascien  — zuweilen  recht  er- 
heblicher Widerstand  zu  überwinden,  mehr  als  heim  Einstechen.“ 

Die  Entfernung  der  Dura  von  der  Hautoberfläche  an  der  gedachten 
Stelle  ist  vom  Alter  (KürpergrOsse)  und  der  Constitution  der  Muskeln  und  des 
Fettpolsters  abhängig  und  schwankt  zwischen  2 — 6 Cm.  Narkose  hielt  QuiNCKK 
bei  einiger  Benommenheit  nicht  für  erforderlich. 

Die  QuiNCKE’sche  Punction  ist  für  das  Rückenmark  ganz  ungefährlich  ; 
beim  Erwachsenen  reicht  das  Rückenmark  bis  zum  oberen  Ende  des  II.  Lenden- 
wirbels herunter,  bei  Kiudern  weiter,  aber  nicht  unter  den  III.  Lendenwirbel 
herunter.  Nach  Ravenel  reicht  der  Conus  medullaris  schon  beim  Neugeborenen 
nur  bis  zum  III.  Lendenwirbel.  Quincke  fand  bei  der  Untersuchung  von  8 Kinder- 
leichen das  Ende  des  Conus  bis  zum  Ausgang  des  1.  Lebensjahres  in  der 
Höhe  des  III.  Lendenwirbels,  vom  Ausgang  des  3.  Jahres  ab  in  der  Hohe  des 
II.  Lendenwirbels;  nur  einmal  bei  einem  4jährigen  Kinde  in  Hohe  des 
IV.  Lendenwirbels. 

Auch  eine  Verletzung  der  Cauda  equina  ist  so  gut  wie  ausgeschlossen, 
weil  die  in  der  Flüssigkeit  schwebenden  Nervenwurzeln  der  Nadel  ausweichcn. 

In  demselben  Jahre  (18'Jll  veröffentlichte  Quincke  eine  ausführlichere 
Arbeit 4)  in  der  Berliner  klin.  Wochenschr.,  in  welcher  er  genauere  und  weiter- 
gehende Angaben  mittheilte.  Dieselben  bezogen  sich  auf  die  physiologischen  und 
pathologischen  Druckverhültnisse  im  Cerebrospinalraume , auf  die  physikalische 
und  chemische  Beschaffenheit  der  durch  Punction  entleerten  Cerebrospinalflüssig- 
keit  bei  verschiedenen  Krankheitsfällen.  Auch  einige  therapeutische  Erfolge  hat 
Quincke  aufzuweisen.  Als  Iudication  für  den  Eingriff  stellt  er  auf: 

1.  Lebensgefährliche  Höhe  des  Hirndruckes. 

2.  Chronische  Exsudation  der  Cerebrospinalflüssigkeit. 

Ausgeführt  hatte  Quincke  die  Punction  bis  dahin  22mal  bei  10  Patienten. 

Im  Jahre  1893  kommt  Quincke  in  seiner  Schrift  über  Meningitis 
serosa  *)  auf  die  Lumbalpunction  zurück,  über  welche  er  jetzt  schon  reichere  Er- 
fahrungen gesammelt  hat,  und  macht  Angaben  über  die  verschiedene  Beschaffen- 
heit der  Flüssigkeit  und  der  Druckverhältnisse  unter  pathologischen  Bedingungen  ; 


LUMBALPDNCTION. 


377 


ferner  empfiehlt  er  die  Punctiou  als  therapeutischen  Eingriff  bei  der  von  ihm  in 
der  betreffenden  Schrift  beschriebenen  Meningitis  serosa , namentlich  fflr  die  acuten 
Fälle  derselben.  Auch  die  Technik  der  Punction  erfährt  in  der  gedachten  Schrift 
durch  Hinzufügung  eines  Mandrins  (s.  später),  sowie  durch  die  Schlitzung  der 
Dura  mittels  Lanzenmessers  (s.  später)  eine  Bereicherung. 

Nachdem  bis  dahin  der  Erfinder  der  Methode  allein  das  Wort  genommen 
batte,  lassen  sich  von  1893  ab  nun  auch  andere  Stimmen  hören.  Lichtheim*) 
machte  1893  Uber  eine  Reihe  von  Spinalpunctionen , die  er  ausgeführt  hatte, 
Mittheilung. 

Therapeutische  Erfolge  hatte  er  gar  nicht  gesehen.  Dagegen  misst  er 
der  Punction  diagnostischen  Werth  bei.  Er  findet  den  Eiweissgehalt  der  Flüssig- 
keit bei  entzündlichen  Meningcalatfectionen  höher  als  bei  Stauungstranssudaten 
durch  Tumor ; ferner  stellt  er  wichtige  Mikroorganismenbefunde  fest : Streptokokken, 
Pnenmokokken , Tuberkelbacillen.  Bemerkenswerth  ist  auch  seine  Angabe , dass 
bei  Tumor  cerebri  sich  regelmässig  Zucker  in  der  Flüssigkeit  findet  (wie  es  auch 
im  normalen  Liquor  cerebrospinalis  der  Fall  ist),  während  dieser  Befund  bei 
Meningitis  tuberculosa  zu  den  Ausnahmen  gehört. 

Einige  Wochen  später,  nachdem  dies  Lichtheim  in  Königsberg  vorge- 
tragen, berichtete  v.  Ziemssen  •)  auf  dem  Congress  für  innere  Mediciti  über  seine 
Erfahrungen  mit  der  QuiNCKE’schen  Punction.  Er  sah  Besserung  von  Hirndruck- 
symptomen , besonders  Besserung  und  Beseitigung  des  Kopfschmerzes  nach  den 
Punctionen.  Ferner  wies  er  auf  die  Möglichkeit  hin,  durch  die  Punction  gelöste 
medicamentöse  Stoffe  der  Cerebrospinalflüssigkeit  beizumischen.  Bei  der  Discussion 
zeigte  sich,  dass  von  anderer  Seite  nur  wenig  Erfahrungen  Vorlagen;  Ewald, 
Sahli,  Nackt n berichteten  je  Uber  eine  kleine  Zahl  von  ausgeführten  Punctionen. 

In  demselben  Jahre  erfolgten  zur  Sache  noch  einige  kleinere  Mitthei- 
lungen. 0.  Wyss  '•)  berichtete  über  einen  Fall  von  durch  Schädel-  und  Lumbal- 
punctionen  gebessertem  Hydrocephalus  bei  einem  8 Monate  alten  Kinde  (es  waren 
6 Ventrikel-  und  1 Lumbalpunction  gemacht  worden).  Dknnig  8)  fand  bei  einem 
Falle  von  tuberkulöser  Cerebrospinalmcningitis  post  mortem  mittels  Lumbalpunction 
massenhaft  Tuberkelbacillen,  welche  auch  durch  den  Thierversuch  als  solche  nach- 
gewiesen wurden. 

Durch  die  Verhandlungen  auf  dem  12.  Congress  für  innere  Mediein 
wurde  ein  actuelleres  Interesse  für  die  Spiualpunction  angeregt,  und  wenn  auch 
in  der  nächsten  Zeit  und  auch  im  Jahre  1894  nur  wenig  in  die  Oeffentlichkeit 
drang , so  zeigte  doch  das  explosionsartige  Auftreten  zahlreicher  Mittheilungeu 
itn  Jahre  1895,  dass  an  vielen  Stellen  Erfahrungen  gesammelt  wurden.  Eine  sehr 
merkwürdige  Mittheilung  aus  dem  Jahre  1894,  welche  Aufsehen  hervorrief, 
geschah  durch  Fueyhak.  *)  Derselbe  berichtete  aus  dem  städtischen  Krauken- 
hause  Friedrichshain  über  einen  Fall,  dessen  klinisches  Bild  dem  einer  aenten 
epidemischen  Cerebrospinalmeningitis  glich.  Bei  der  Spiualpunction  wurden  60  Ccm. 
einer  leicht  getrübten  Flüssigkeit  mit  3%0  Albumengehalt,  ohne  Zucker,  deren 
Sediment  spärliche  Eiterkörperchen  und  Tuberkelbacillen  enthielt,  gewonnen; 
bei  einer  zweiten  Punction  nach  8 Tagen  derselbe  Befund;  Thierversuch 
wurde  nicht  gemacht.  Der  FKEYHAN’sche  Fall  brachte  einmal  einen  Beitrag  zur 
Frage  der  Heilbarkeit  der  tuberkulösen  Meningitis  und  zweitens  als  Beweisgrund 
den  Befund  von  Tuberkolbaeillen  in  der  Cerebrospinalflüssigkeit,  wodurch  die 
Angaben  von  Lichtheim  (s.  oben;  bestätigt  wurden.  Der  Befund  von  Tuberkel- 
bacillen bei  der  Spiualpunction  ist  seitdem  hänfig  wiederholt  worden. 

Das  Jahr  1895  brachte  nun  eine  Reihe  von  sehr  ausführlichen  Mitthei- 
lungen von  Seiten  von  Lichtheim  ,0),  Fürumxger  '*),  Quincke1*),  Riekex  ls) 
(ans  der  QuixCKE’schen  Klinik)  u.  A.  ln  der  Berliner  medieinischen  Gesellschaft  *•), 
in  der  Charite-Gesellschaft 15),  sowie  auf  der  Versammlung  deutscher  Naturforscher 
und  Aerztc  in  Lübeck  '*)  war  die  Spiualpunction  Gegenstand  von  Vorträgen  und 
Discussionen. 


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378 


LUMBALPUtfCTION. 


Eine  sehr  ausführliche  Besprechung  erfuhr  die  Lumbalpunetion  auf  dem 
14.  CongresB  für  innere  Mediein  durch  Lknhartz  '*)  und  die  sich  anschliessende 
Discussion. 

Auf  die  Angaben  der  einzelnen  Autoren  soll  in  dieser  historischen  Ucber- 
sicht  nun  nicht  weiter  eingegangen  werden,  um  nicht  Wiederholungen  nöthig  zu 
machen.  Wenn  auch  die  Erfahrungen  noch  längst  nicht  zu  einem  genügenden 
Abschluss  gelangt  sind , so  sind  sie  doch  vielfältig  genug,  um  eine  zusammen 
fassende  Betrachtung  zu  gestatten. 

11.  Technik  der  Spinalpunction. 

Die  Ausführung  der  Spinalpunction  geschieht  am  testen  genau  nach 
Quinckk’s  oben  eitirten  Angaben.  Vielfach  hat  man  auch  den  Patienten  behufs 
Punction  in  sitzende  Stellung  gebracht  (FÜBBRINGEe).  Vielleicht  erleichtert  dies 
die  Einführung  der  Canüle;  im  Uebrigen  aber  dürfte  die  Seitcnlage  rathsamer 
sein,  da  die  Gefahr  besteht,  dass  heim  Sitzen  die  Cerebrospinalflüssigkeit  za 
schnell  abflicsst. 

Von  Manchen  wird  der  Einstich  in  der  Mittellinie,  nicht  seitlich  von 
derselben,  bevorzugt  (Lknhartz,  Renvkhs,  Goldscheider). 

Zuweilen  kommt  es  vor,  dass  der  Einstich  zunächst  keine  Flüssigkeit 
zu  Tage  fördert,  nach  weiterem  Hin-  und  Hergehen  mit  der  Canülenspritze  oder 
erneutem  Einstich  aber  schliesslich  der  Abfluss  erfolgt.  Dies  hat  seine  Ursache 
darin,  dass  die  Spitze  nicht  ordentlich  in  den  Durasaek  eingedrungen  ist  oder 
dass  sich  Fibringerinnsel , Ncrvenwurzeln  etc.  vorgelegt  haben.  Aber  auch 
hei  regelrecht  ausgeführter  Punction  kann  Solches,  wie  FüBBRIN'ger  gezeigt 
hat,  Vorkommen,  da  unter  Umständen  der  Durasaek  unten  keine  Cerebrospinal- 
flüssigkeit  enthält.  In  Fürbrixger's  Fall  handelte  es  sich  um  eine  tuberkulöse 
Cerebrospinalmeningitis,  bei  welcher  die  Arachnoidea  in  eine  sulzige  Masse  ver- 
wandelt war,  so  dass  die  Dura,  ohne  Flüssigkeit  zu  enthalten,  stark  gespannt  war. 

Nach  Qüincke  kann  auch  ein  Verschluss  des  Aquaeductus  Sylvii  oder 
partielle  Sklerose  des  Arachnoidalgewebes  die  Ursache  davon  sein , dass  der 
Arachnoidalraum  des  Rückenmarks  nicht  mit  den  Hirnventrikeln  communicirt, 
was  weiter  zur  Folge  hat.  dass  selbst  trotz  gesteigerten  llirndruckes  kein  nennens- 
werther  Abfluss  bei  der  Spinalpunction  erfolgt. 

Aspiration  ist  auf  das  Strengste  zu  vermeiden. 

Narkose  ist  fast  stets  entbehrlich.  Man  kann  den  Einstich  durch 
Cocainisirung  der  Haut  (subcutan  oder  nach  SCHLEICH  intracutan  I ganz  schmerz- 
los machen.  Auch  ist  derselbe  an  und  für  sich  sehr  wenig  schmerzhaft,  besonders 
wenn  man  nicht  seitlich  von  der  Mittellinie,  sondern  in  der  Mittellinie  selbst  ein- 
geht, was  auch  .bei  Erwachsenen  durchaus  ausführbar  ist. 

Nach  Qüincke  soll  die  Punction  stets  mit  einer  Druckmessung  verbunden 
werden.  Qüincke  führt  dies  so  aus,  dass  er  in  das  änssere  ausgeschliffenc  Ende 
der  Canüle  einen  Conus  einsetzt,  welcher  mittels  Kautschuckschlauches  mit  einem 
dünnen  Glasrohr  verbunden  ist;  letzteres  wird  senkrecht  gehalten  und  nun  wird 
die  Höhe,  bis  zu  welcher  die  austretende  Flüssigkeit  in  das  Glasrohr  emporsteigt, 
mit  einem  Massstabe  gemessen.  Ich  seihst  führe  die  Punction  jetzt  gleichfalls 
stets  mit  der  QuiNCKE’schen  Druckmessung  aus  und  kann  die  Anwendung  der- 
selben dringend  empfehlen,  da  sie  uns  Uber  die  Geschwindigkeit  der  Druckab- 
nahme werthvollen  Aufschluss  giebt.  Mau  bekommt  freilich  nicht  den  wirklichen 
Druck,  welcher  im  Durasaek  geherrscht  hat,  sondern  nur  denjenigen,  welcher 
nach  AubHus8  eines  gewissen  Quantums  von  Flüssigkeit  besteht;  aber  letzteres 
beträgt  gewöhnlich  nur  etwa  6 Ccm.  und  im  Uebrigen  ist  dieser  Fehler  in  prak- 
tischer Hinsicht  ganz  gleiebgiltig. 

Es  ist  hier  noch  die  gleichfalls  von  Qüincke  angegebene  Schlitzung  der 
Dura  zu  besprechen.  Da  die  abgelassene  Cerebrospinalflüssigkeit  nach  der 
Punction  sich  meist  schnell  wieder  ersetzt,  der  Hirndruck  somit  wieder  über  die 


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UJMBALPUNCTION. 


379 


Norm  ansteigt,  so  suchte  Quincke  einen  dauernden  Abfluss  durch  Schlitzung  des 
Durcisackes  zu  erzielen.  „Zu  diesem  Zwecke  wurde  ein  langgestieltes  Lanzenmesser 
(mit  4 Mm.  breiter  Lanze)  in  derselben  Weise  und  in  dieselbe  Tiefe  wie  die 
Punctionsnadel  eingesenkt  und,  wenn  der  Zwischenknochenraum  es  erlaubte,  mit 
demselben  eine  leichte  Ilebclbewegung  in  der  Medianebene  ausgeführt.  Oefter 
ergossen  sich  aus  dem  Schnittcanal  des  Lanzenmessers  einige  Tropfen  Cerebro- 
spinalflUssigkeit ; mehrmals  fand  sich  in  den  folgenden  Tagen  mehr  oder  weniger 
(Jedem  der  Weichtheile  in  der  Lnmbalgcgend , als  Ausdruck  des  wirklich  statt- 
flndenden  Abflusses  der  Flüssigkeit  in  die  umgebenden  Gewebe.“  Bedeckung  mit 
Jodoform-  und  Collodium-Wattverband.  Ueble  Folgen  hat  Quincke  niemals  von 
der  Schlitzung  gesehen.  Dieser  Eingriff  scheint  von  anderen  Seiten  bis  jetzt 
wenig  angewendet  worden  zu  sein , so  dass  wir  Uber  anderweitige  Erfahrungen 
nicht  berichten  können.  Ich  selbst  kann  bestätigen , dass  die  Schlitzung  leicht 
ausführbar  ist;  in  einem  Falle  von  tuberkulöser  Meningitis  konnte  ich  mich  von 
dem  Vorhandensein  des  Schlitzes  in  der  Dura  auch  bei  der  Section  überzeugen. 

Quincke  bat  die  zur  PuDction  und  Schlitzung  erforderlichen  Instrumente-  in  einem 
kleinen  Besteck  vereinigen  lassen,  weiches  der  Instrumentenmacher  A ssma n n in  Kiel  liefert. 

III.  Diagnostische  Bedeutung  der  Spinalpunction. 

Die  diagnostische  Bedeutung  der  QmxcKE’scben  Function  beruht  auf  dem 
Nachweise  pathologischer  Veränderungen  der  herausgezogenen  Spinalflüssigkeit. 

Man  kann  dieselben  in  drei  Gruppen  ordnen: 

a)  Alteration  der  Menge  und  des  Druckes  der  Spinalflüssigkeit ; 

b)  Alteration  der  qualitativen  Beschaffenheit  der  Spinalflüssigkeit ; 

c)  Nachweis  von  Mikroorganismen  in  der  Spinalflüssigkeit. 

a)  Alteration  der  Menge  und  des  Druckes  des  Liquor  cerebrospinalis. 
Auch  unter  normalen  Verhältnissen  fördert  die  Spinalpunction  Flüssigkeit  in  einer 
gewissen  Menge  und  unter  einem  gewissen  Druck.  Auf  eine  pathologische  Ver- 
mehrung der  Flüssigkeit,  bezw.  der  Spannung  ist  also  nur  dann  zu  schliessen, 
wenn  der  Liquor  in  abnormer  Menge  oder  unter  abnormem  Druck  auftritt. 

Es  fehlt  noch  an  Ermittlungen  und  Angaben  darüber,  welches  Quantum 
von  Flüssigkeit  beim  Gesunden  austritt.  Es  wird  dies  ja  auch  nicht  bestimmt 
«u  sagen  sein,  da  eben  die  Flüssigkeit  fortwährend  durch  die  Canülo  aussickert; 
unter  der  Voraussetzung,  dass  die  Caniile  sehr  lange  liegen  bleibt,  wird  auch 
beim  Gesunden  die  ausgetretene  Flüssigkeit  ein  erhebliches  Maas  erreichen  können. 
FORMUNG  er  entleerte  bei  einem  Phthisiker  ohne  Meningealtuberkulose  über 
100  Ccm.  Wir  können  somit  nur  in  Betracht  ziehen,  welches  Quantum  von 
Flüssigkeit  in  einer  bestimmten  Zeit,  in  einer  bestimmten  Anzahl 
von  Minuten,  austritt. 

Bestimmte  Angaben  über  die  physiologischen  Werthgrenzen  besitzen  wir, 
wie  gesagt,  nicht.  Die  meisten  Beobachter  begnügen  sich  mit  einer  Schätzung; 
kommt  die  Flüssigkeit  nach  dem  Einstich  in  einem  Strahle  oder  sehr  schnell 
tropfend  heraus,  so  nimmt  man  eine  vermehrte  Menge  an ; langsames  Tropfen 
oder  Aussickern  wird  als  Ausdruck  der  normalen  Quantität  der  Flüssigkeit 
betrachtet. 

Die  Merkmale,  welche  wir  für  die  Beurtheilung  der  Vermehrung 
der  Quantität  des  Liquor  benutzen,  sind  also  eigentlich  diejenigen  des  Druckes. 

Druck.  Auch  Uber  den  normalen  Druck  liegen  ganz  cxactc  Zahlen- 
werthe  noch  nicht  vor. 

Quincke  hat  bei  einem  Kinde  von  1 1 Wochen  mit  Spina  bifida  lum- 
balis  ohne  Zeichen  von  Druckerliöhung  den  Druck  des  Liquor  cerebrospinalis 
in  Seitenlage  = 4 Mm.  Hg  (55  Mm.  Wasser)  gefunden;  er  rechnet  die  physio- 
logische Breite  bei  Erwachsenen  etwa  von  40 — 60 — 70  Mm.  Wasser.  Immerhin 
sind  diese  Werthe  nicht  scharf  genug  bestimmt,  um  nun  etwa  einen  über  70  Mm. 
betragenden  Druck  unter  allen  Umständen  schon  als  pathologisch  nnsehen  zu  lassen. 


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380 


LUMBALPUNCTION. 


Quincke  ist  geneigt,  einen  Druck  von  150  Mm.  Wasser  sicher  als  pathologische 
Steigerung  anzusehen. 

Die  bei  den  verschiedenen  pathologischen  Fällen  beobachteten  Druck- 
höhen gehen  etwa  bis  700  Mm.  Wasser  bei  Erwachsenen,  bis  500  Mm.  bei  Kindern. 

In  diesen  Angaben  ist  immerhin  ein  Anhaltspunkt  ftir  die  Erkennung 
der  pathologischen  Druckverhilltnisse  in  praxi  gegeben. 

Die  absolute  Höhe  des  Druckes  ist  der  Schwere  der  Krankheitser- 
scheinungen nicht  proportional,  es  kommt  vielmehr  ausser  Anderem  auch  auf  die 
Geschwindigkeit  der  D r u c k st e i ge r u n g an. 

Demgemäss  stellt  Quincke  mit  Recht  den  Satz  auf:  Massige  Druck- 
steigerung mit  schweren  Druckerscheinungen  deutet  auf  eine 
acute,  stark  erhöhter  Druck  mit  geringen  Drucksymptomen  auf 
chronische  Erkrankung. 

Restimmte  Beziehungen  der  Druckhöhe  zn  der  Art  der  vorliegenden 
Krankheit  lassen  sich  bis  jetzt  nicht  aufstellen.  Der  Druck  zeigt  vielmehr  bei 
denselben  Erkrankungen  eine  sehr  verschiedene  Höhe. 

Im  Sitzen  fliesst  nach  v.  Zikmssen’s  Messungen  der  Liquor  unter  stärkerem 
Druck  aus  als  in  der  Seitenlage. 

Beiläufig  sei  erwähnt  (v.  Ziemssen,  FCrbhinger,  Goldscheider),  dass 
bei  Urämie  bald  viel,  bald  wenig  Flüssigkeit  durch  Spinalpunction  gefördert  wird. 

b)  Beschaffenheit  der  Cerebrospin al fl üssigke it.  Der  normale 
Liquor  cerebrospinalis  ist  wasserhell,  alkalisch,  von  1007  specifischem  Gewicht. 
0,2 — 0,5°/oo  Eiweissgehalt,  von  geringem  Zuckergehalt,  fast  frei  von  Zellen. 

Unter  pathologischen  Verhältnissen  finden  wir  folgende  Veränderungen 
der  Beschaffenheit: 

Vermehrung  des  Ei weissgehaltes  findet  sich  namentlich  bei 
Stauung  durch  Hirntumoren  und  bei  Entziinduug  (Meningitis  tuberculosa, 
Meningitis  serosa  acuta).  Dagegen  ist  der  Eiweissgehalt  bei  der  chronischen 
Zunahme  der  Ccrebrospinalfllissigkeit  (Hydrocephalus  cfiron.,  Meningitis  serosa 
chron.)  nur  wenig  oder  gar  nicht  vermehrt. 

Bei  der  tuberkulösen  Meningitis  scheint  der  Albumengehalt  höher  zu  sein 
als  bei  der  sogenannten  acuten  serösen  Meningitis. 

Was  die  bis  jetzt  beobachteten  Zahlenwerthe  betriftt,  so  giebt  Riekrn 
nach  den  Beobachtungen  auf  der  QuiNCKE’schen  Klinik  folgende  Durchschnitts- 
zahlen an: 

Eiweistgebalt  nach  Ksbach 
in  pro  Mille 


Einfach  entzündliche  Meningitis 1,84 

Tuberkulose  Meningitis 2,00 

Meningitis  serosa  chron.  und  Hydrocephalus  . . . 0,95 

Hirntumoren 2,17 


Lichtheim  fand  bei  tuberkulöser  Menigitis  1 — 1,35%0,  bei  Hirnabscess 
0,7°/oti,  hei  Tumor  cerebri  0,4 — 0,8°/00. 

Diese  Angaben  beziehen  sich  aber  auf  eine  viel  geringere  Anzahl  von 
Fällen  als  die  RiEKEN’scben  Angaben.  Die  Grösse  des  Eiweissgehaltes  erlaubt 
also  nicht , eine  Unterscheidung  zwischen  Stauungsbydrocephalus , entzündlichen 
und  tuberkulösen  Ausschwitzungen  zu  machen,  wohl  aber  zwischen  diesen  einer- 
seits und  einfachem  chronischen  Hydrocephalus  andererseits  zu  unterscheiden.  In 
einzelnen  Fällen  von  Stauungshydrocephalus  durch  Hirntumor  (mit  t'ompression 
der  Vena  magna  Galeni)  sind  sehr  hohe  Eiweisswerthe , über  3°/00,  ja  bis 
7°, oo  beobachtet  worden. 

Nach  Freyhan  ist  auch  bei  Nephritikern  im  Stadium  der  Urämie  der 
Eiweissgehalt  des  Liquor  gesteigert. 

I) ie  Veränderungen  des  speeifischcn  Gewichts  in  pathologischen 
Fällen  sind  unbedeutend  und,  wie  es  scheint , nicht  verwerthbar , um  bestimmte 


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LUMBALPUNCTION. 


381 


Schlüsse  zuzulassen.  Aach  zur  Eiw'eissmenge  steht  das  specifische  Gewicht  in 
keiner  regelmässigen  Beziehung. 

Zuckergehalt.  Der  in  der  Norm  vorhandene  Zuckergehalt  der  Cerebro- 
spinalAüssigkeit,  welcher  namentlich  mittels  Pbenylhydrazinreaction  nachgewiesen 
wird,  soll  sich  bei  Stauungshydrocepbalus  gleichfalls  regelmässig  linden ; dagegen  bei 
entzündlicher  und  tuberkulöser  Meningitis  nicht  regelmässig. 

Nebst  geformten  Bestandtheilen  in  Gestalt  von  beigemengten  Endothel- 
und  Rundzellen,  welche  in  der  Norm  nur  spurweise  im  I.iquor  vorhanden  sind,  findet 
sich  in  pathologischen  Fällen  zuweilen  eine  durch  Zellen  getrübte  Flüssigkeil, 
nämlich  bei  eiteriger  Meningitis.  Unter  Umständen , aber  wie  es  scheint  nur  in 
einer  Minderzahl  von  Fällen,  kann  auch  eiterige  Flüssigkeit  durch  die  Punetion 
herausgezogen  werden.  Uebrigens  findet  man  gelegentlich  sogar  klare  Flüssigkeit 
bei  eiteriger  Cerebrospinalmeningitis.  Dies  hängt  damit  zusammen,  dass  der  Eiter 
eben  in  den  Maschenräumen  der  Arachnoidea  festsitzt.  Wie  es  scheint,  kann  auch 
bei  chronischer,  nicht  eiteriger  Meningitis  eine  trübe,  ein-  und  mehrkernige  Leuko- 
cyten  und  Endothelzellen  enthaltende  Flüssigkeit  angetroffen  werden. 

Beimengung  von  Blut  in  geringer  Menge  kann  auf  Verletzung  kleiner 
Blutgefässe  bei  der  Punetion  beruhen  oder  auch  durch  eine  irgendwo,  auch  im 
Schädel  gelegene  Meningealblutung  bedingt  sein. 

Fast  rein  blutige  Punctionsflüssigkeit  dagegen  lässt  auf  einen  blutigen 
Inhalt  des  Durasackes  schliessen,  also  Hämatorhachis  oder  Durchbruch  von 
Blutungen  in  die  Ventrikel. 

Gerinnung.  Bei  entzündlichem  Erguss  setzt  die  entleerte  Punctions- 
flttssigkeit  nach  einiger  Zeit  ein  Gerinnsel  ab,  welches  in  dem  Reagensröhrehen 
als  zarter  Faden  die  Mitte  der  Flüssigkeit  durchzieht. 

Bei  Hydroccphalus  und  Stauungstranssudat  (Hirntumor,  Hirnabscess)  kommt 
es  dagegen  nicht  zur  Gerinnselbildung.  Etwas  anderes  ist  es,  wenn  eine  diffuse  Sar- 
komatose  der  Häute  vorliegt;  hierbei  kommt  es,  wie  Lichthrim’s  Fall  zeigt,  zur 
Gerinnselbildung;  es  handelt  sich  dabei  eben  nicht  um  einen  blossen  Stauungs- 
hydrocephalus. 

c)  Beimengung  von  Mikroorganismen.  Es  sind  bei  Spinalpunc- 
tionen  in  der  Punctionsflüssigkeit  gefunden  worden: 

Streptokokken  (bei  otitischer  Meningitis  [Lichthkim]); 

Pneumokokken  (bei  Cerebrospinalmeningitis  [Lichthkim]). 

Tuberkelbacillen  (bei  tuberculöser  Meningitis  (Licutheim,  Fueyhan,  Für- 
P RINGER  U.  A.]). 

Der  Befund  von  Tuherkelbacillen  ist  von  Manchen  häufig,  von  Anderen 
selten  oder  gar  nicht  gemacht  worden.  Diese  Schwankungen  sind  zum  Theil 
durch  Zufälligkeiten , zum  Theil  durch  die  Untersuchungsmethoden  bedingt.  Es 
ist  kein  Zweifel , dass  man  oft,  ja  in  der  Mehrzahl  der  Fälle,  Tuberkelbacillen 
findet,  während  es  andererseits  auch  feststeht,  dass  dieselben  auch  bei  genauester 
Untersuchung  vermisst  werden  können. 

Mau  findet  die  Tuberkelbacillen  am  sichersten  in  dem  Gerinnsel,  bezie- 
hungsweise im  Sediment  der  Flüssigkeit,  welches  man  zweckmässigerweise  noch 
centrifugirt.  Lenhartz  empfiehlt,  eine  kleine  Flocke  der  sterilen  Watte , mit 
welcher  das  Culturglas  verschlossen  ist,  in  der  entleerten  Flüssigkeit  untersinken 
zu  lassen  und  später  mit  der  Platinöse  herauszufischen  und  auszustreichen. 

Zusammenfassende  diagnostische  Bemerkungen.  1.  Die  Spinal- 
punction  gestattet  uns,  eine  pathologische  Vermehrung  des  Liquor  cerebrospinalis 
und  Druckerhöhung  nachzuweisen.  Obschon  nun  in  vielen  Fällen  der  Hirndruck 
auch  ohne  Spinalpunction  mit  genügender  Sicherheit  nachgewiesen  werden  kann, 
so  giebt  es  doch  Fälle,  wo  die  pathologische  Vermehrung  des  Liquor,  beziehungs- 
weise der  Hirndruck  zweifelhaft  ist  und  erst  durch  die  Punetion  sichergestellt 
wird.  Dies  gilt  namentlich  für  gewisse  Fälle  von  Meningitis  serosa  und  von 
Hirntumor  mit  undeutlichen  Erscheinungen. 


382 


LUMBALPUNCTION. 


2.  Finden  wir  klinisch  starke  Drucksyraptome , bei  der  Punction  aber 
nur  mässig  vermehrten  Druck,  so  können  wir  anf  einen  acuten  Proeess,  — um- 
gekehrt auf  einen  chronischen  schliessen  (s.  oben). 

3.  Die  deutliche  Vermehrung  des  Eiweissgehaltes  lässt  einen  einfaches 
Hydrocephalus  ausschliessen;  spurweiser  Eiweissgehalt  andererseits  einen  entzünd- 
lichen oder  durch  tuberkulöse  Meningitis  bedingten  Erguss  ausschliessen,  auch 
ein  Stauungstranssudat  durch  Hirntumor  als  unwahrscheinlich  erscheinen. 

Dieser  Umstand  kann  entschieden  zuweilen  eine  sonst  unklare  Diagnose 
erhellen.  Namentlich  kommt  in  Betracht  die  Unterscheidung  eines  Tumor- 
transsudates vom  einfachen  Hydrocephalus.  Auch  die  tuberkulöse  Meningitis  ist 
durchaus  nicht  immer  leicht  zu  erkennen. 

4.  Die  oben  erwähnte  Verschiedenheit  der  Zuckerreaction  ist  mit  grosser 
Vorsicht  zu  verwerthen,  da  auch  bei  tuberkulöser  Meningitis,  wie  ich  gesehen 
habe,  Zucker  vorkommt.  Hierzu  kommt,  dass  entzündliche  Affectionen  der  Häute 
nicht  leicht  mit  Stauungshydrocephalus  verwechselt  werden  dürften. 

5.  Das  Auftreten  einer  Gerinnselbildung  spricht  für  entzündliche  Affec- 
tionen, das  Ausbleiben  derselben  für  Stauung  durch  Tumor  oder  für  einfachen 
Hydrocephalus. 

6.  Trübe,  zellenreiche  Flüssigkeit  spricht  für  eiterige  (oder  chronische?) 
Meningitis;  klare  Punctionstiüssigkeit  schlicsst  eiterige  Meningitis  nicht  aus. 

7.  Die  blutige  Punctionstiüssigkeit  gestattet,  falls  sie  wiederholt  con- 
statirt  wird,  die  Diagnose  der  Ventrikolblutung  (s.  oben). 

8.  Das  Auffinden  von  Tuberkelbacillen  beweist  natürlich  das  Vorhanden- 
sein von  tuberkulöser  Meningitis;  andererseits  aber  schliesst  das  Fehlen  von 
Bacillen  diese  Krankheit  nicht  aus. 

Die  Mehrzahl  der  Fälle  von  tuberkulöser  Meningitis  ist  klar  und  sicher 
genug  zu  diagnosticiren , um  der  Spinalpunction  entrathen  zu  können.  Jedoch 
kommen  Fälle  von  tuberkulöser  Meningitis  vor,  welche  durchaus  nicht  so  klar 
liegen , und  schon  mehrere  Male  ist  bei  bis  dahin  zweifelhaften  Erkrankungen 
erst  durch  die  Lumbalpunction  die  Diagnose  der  tuberkulösen  Meningitis  ent- 
schieden worden. 

Der  Nachweis  von  Streptokokken,  Pneumokokken  etc.  dürfte,  wenn  auch 
an  sich  interessant,  doch  nicht  von  erheblichem,  praktisch-diagnostischen  Interesse 
sein,  da  wir  eiterige  Meningitis  fast  stets  sicher  diagnosticiren  können  und  auch 
meist  nachweisen  können,  ob  es  sich  nm  eine  otitische,  pyämische  oder  sogenannte 
epidemische  Form  handelt.  Immerhin  giebt  es  Fälle,  wo  zunächst  nicht  klar  zu 
erkennen  ist,  ob  eine  eiterige  oder  eine  acute  seröse  Meningitis  vorliegt:  hier 
kann  der  Nachweis  der  Mikroorganismen  neben  der  meist  trüben  Beschaffenheit 
des  Liquor  den  Ausschlag  geben.  Ferner  ist  es  in  manchen  Fällen  doch  schwierig, 
die  eiterige  von  der  tuberkulösen  Meningitis  zu  unterscheiden;  der  Nachweis  von 
Eiterungserregern  wird  hier  gleichfalls  zur  Entscheidung  führen. 

Wie  Lichtheim  hervorhebt,  ist  die  Lumbalpunction  bei  Hirnabscess  werth- 
voll, da  sie  darüber  Aufschluss  geben  kann,  ob  der  Hirnabscess  von  einer  eiterigen 
Meningitis  begleitet  wird  oder  nicht,  was  für  die  Frage  des  operativen  Eingriffes 
von  grosser  Bedeutung  ist. 

9.  Es  ist  endlich  noch  zu  erörtern,  ob  der  negative  Erfolg  der  Spinal- 
punction, d.  h.  ein  Ausbleiben  des  Fltlssigkcitsabflusses,  von  diagnostischer  Bedeu- 
tung ist.  Angenommen , dass  die  Punction  regelrecht  ausgeführt , die  Canüle 
nicht  verstopft  ist  u.  s.  w.,  so  beweist  das  Fehlen  einer  austretenden  Flüssigkeit, 
dass  der  Durasack  leer  ist,  beziehungsweise  abnorm  wenig  Liquor  enthält.  Dies 
kommt  in  der  That  vor;  es  kann  sich  um  Verschwellung  der  Arachnoidea  handeln 
(Fürbringer  und  eigene  Beobachtung). 

10.  Ein  besonders  wichtiges  Moment  ist  darin  gelegen,  dass  die  Spinal- 
punction uns  gestattet,  das  Vorhandensein  einer  acuten  serösen  Meningitis 
zu  eonstatiren.  Es  erscheint  mir  zweifellos,  dass  diese  von  Quincke  hervor- 


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LU  MB  A LPUNCTION. 


383 


gehobene  und  gezeichnete  Erkrankung  existirt,  nicht  allzugelten  zur  Beobachtung 
gelangt  und  oft  verkannt  wird , weil  in  der  That  die  Spinalpunction  ein  noth- 
wendigeg  Requisit  zur  Diagnose  derselben  darstellt. 

11.  Es  liegt  auf  der  Hand,  dass  aus  dem  Fehlen  von  pathologischen 
Beimengnngen  in  der  durch  Spinalpunction  entzogenen  Flüssigkeit  kein  bindender 
Schluss  gezogen  werden  kann,  denn  es  ist  nicht  gesagt,  dass  diese  an  irgend 
einer  Stelle  des  Cercbrospinalraunies  geschehenden  Beimengungen  (Leukocyten, 
Mikroorganismen  etc.)  sich  überall  im  Liquor  vertheilen  müssten. 

Im  Ganzen  stellt  die  QuiNCKE’sche  Punction  also  zweifellos 
eine  werth volle  Bereicherung  unserer  diagnostischen  Hilfsmittel  dar. 

IV.  Therapeutische  Bedeutung  der  Spinalpunction. 

Ueber  die  therapeutische  Bedeutung  der  Spinalpunction  sind  die  Ansichten 
noch  sehr  getheilt.  Von  der  einen  Seite  wird  jeder  Einfluss  auf  den  klinischen 
Verlauf  oder  das  Befinden  des  Kranken  geleugnet,  von  anderer  wird  eine  gün- 
stige Einwirkung  hei  gewissen  Erkrankungen  behauptet.  Endlich  werden  die 
Gefahren  einer  Spinalpunction  hervorgehoben. 

Stellen  wir  die  bis  jetzt  vorliegenden  Angaben  Uber  günstige  Einwir- 
kung zusammen,  so  sieht  Quincke  dieselbe  in  der  Herabsetzung  des  Hirn- 
drucks. Er  sah  den  Kopfschmerz,  die  Benommenheit  und  die  Nackensteifigkeit 
geringer  werden. 

Dies  trifft  namentlich  für  Fälle  von  acuter  Meningitis  serosa  und  sero- 
purulenta,  beziehungsweise  Exacerbation  chronischer  seröser  Meningitis  zu.  Die 
Abnahme  der  Beschwerden  schloss  sich  mehrfach  so  auffällig  an  die  Punction 
an , dass  „die  Punction  geradezu  eine  Wendung  der  Krankheit  zum  Besseren 
einleitete“.  In  einem  Falle  von  Meningitis  nahm  nach  der  Punction  eine  be- 
stehende Facialislähmnng  ab. 

Ein  Einfluss  auf  die  Pulsfrequenz  trat  nicht  hervor. 

„Therapeutischen  Nutzen  hat  die  Punction  also  wesentlich  für 
acute  Fälle  seröser  und  serös-eiteriger  Meningitis.  Hier  nützt  die  Druckver- 
minderung wohl  nicht  nur  direct  und  momentan , sondern , nach  Analogie  der 
Pleurahöhle,  auch  dadurch,  dass  comprimirte  Blut-  und  Lymphbahnen  für  die 
Resorption  des  noch  übrigen  Exsudates  wieder  frei  werden.  In  chronischen  Fällen 
wird  bei  acutem  Nachschub  der  Exsudation  wenigstens  Erleichterung  verschafft“ 
(Quincke). 

Bei  der  tuberkulösen  Meningitis  hat  Quincke  keine  Erfolge  gesehen. 

Ob  in  Freyhan’s  Falle  von  geheilter  tuberkulöser  Meningitis  die  Puijc- 
tion  für  den  günstigen  Verlauf  von  Bedeutung  gewesen  ist,  steht  dahin. 

In  seinem  Vortrage  1893  hatte  v.  Zif.msskx  berichtet,  dass  er  dureh 
die  Punction  Herabsetzung  der  auf  Hirndruck  beruhenden  Beschwerden,  speciell 
des  Kopfschmerzes,  gesehen  habe.  Er  erhoffte  eine  Steigerung  der  therapeuti- 
schen Wirkung  durch  öftere  Wiederholung  der  Punction  im  Einzelfalle. 

Auch  Naunyn  «)  berichtet  im  Anschluss  an  v.  Ziemssen  über  solche 
palliativ  bessernde  Wirkungen. 

IlEUBNER  ’8)  hat  bei  tuberkulöser  Meningitis  unter  Umständen  durch  die 
Lumbalpunctiou  gewisse  Symptome,  wie  Erbrechen,  Convulsioneu,  Kopfschmerzen, 
beseitigen  können.  Auch  bei  eiuem  Falle  von  Kleinhirntumor  mit  sccundärem 
Hydrocephalus  sah  er  eine  Linderung  der  Beschwerden,  speciell  des  Kopfschmerzes, 
durch  Spinalpunction. 

A.  Frankel14)  beobachtete  bei  einem  Falle  von  wahrscheinlichem  Hirn- 
tumor nach  der  Punction  Verschwinden  des  Kopfschmerzes  und  Rückbildung  der 
Stauungspapille. 

Auch  Ewald  *■ ,4)  sah  bei  einem  Falle  von  Hydrocephalus  mit  schweren 
Hirndruckerscheinungen  eine  vorübergehende  Besserung  nach  der  Punction. 


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384 


LUMBALPUNCTION. 


Senator1*'  konnte  wie  Hecbner  bei  einem  Falle  von  tuberkulöser 
Meningitis  eines  Kindes  vorübergehende  Linderung  der  Beschwerden  nach  der 
Punction  constatircn. 

Andererseits  hat  Lichtheim  selbst  nur  vorübergehende  Erfolge  nicht 
gesehen.  Auch  hochgradige  Hirndruckerscheinungen  bei  Hirntumoren  wurden  trotz 
Entleerungen  sehr  grosser  Flüssigkeitsmengen  (bis  80  Ccm.)  nicht  einmal  vorüber- 
gehend gebessert. 

Lenhartz  *9)  sah  Besserung  bei  seröser  Meningitis  und  bei  Hirntumor; 
ferner  bei  schwerer  Chlorose. 

Eigene  Erfahrungen:  Ich  selbst  kann  durchaus  bestätigen,  dass  die 
Spinalpunction  eine  Besserung  der  Beschwerden  in  manchen  Fällen  herbeizn- 
führen  im  Stande  ist.  Namentlich  bei  den  allerdings  seltenen  Fällen  von  acuter 
seröser  Meningitis,  mit  deren  Diagnose  man  übrigens  recht  vorsichtig  sein  soll. 
Bei  einem  solchen  Falle  konnte  ich  die  Wiederkehr  der  erloschenen  Patellar- 
reflexe  nach  der  Punction  beobachten.  Ferner  sind  hier  die  (kleinen)  Hirntumoren 
zu  nennen.  Namentlich  auffällig  waren  die  lange  anhaltenden  Besserungen  der 
Beschwerden , welche  ich  bei  zwei  Fällen,  wo  cs  sich  anscheinend  um  Tumoren 
der  hinteren  Schädelgrube  handelte,  herbeiführen  konnte.  Bei  tuberkulöser  Menin- 
gitis und  hei  Urämie  habe  ich  keine  Besserung  gesehen. 

Wenn  auch  über  den  therapeutischen  Werth  der  Spinalpunction  ein 
definitives  Urtheil  noch  nicht  zu  fällen  ist , so  fordern  die  Ergebnisse  doch  zu 
weiteren  Studien  und  Versuchen  auf.  Möglicherweise  kann  die  Spinalpunction 
sogar  von  vitaler  Bedeutung  sein  durch  Herabsetzung  eines  zu  lebensgefährlicher 
Höhe  gespannten  Druckes. 

Schädliche  Wirkungen  der  Spinalpunction.  Bei  der  Punction 
selbst  kommen  üble  Zufälle  kaum  vor.  Nur  ein  zu  schnelles  Abfliessen  der  Flüssig- 
keit, namentlich  aber  Aspiration , ist  zu  vermeiden , weil  es  hierbei  zu  Collaps- 
zufällen  durch  Hirnhyperämie,  beziehungsweise  Blutungen  kommt.  Auf  einem  zu 
schnellen  Abfiiessen,  beziehungsweise  einem  vor  der  Punction  sehr  hoch  ge- 
spannten Hirndruck  dürfte  auch  der  zuweilen  bei  der  Punction  auftretendc 
Schmerz  beruheu,  welcher  Kopf,  Rücken,  Extremitäten  betriflt. 

Bei  massig  gesteigertem  Hirndruck  und  langsamem  Abtröpfeln  der 
Flüssigkeit  beobachtet  man  Schmerzerscheinungen  entweder  gar  nicht  oder  nur 
eine  unbedeutende  Steigerung  des  Kopfschmerzes,  namentlich  gegen  Ende 
der  Punction. 

Schmerz  kann  ausser  beim  Einstich  in  die  Haut  auch  durch  Streifen 
des  Periosts,  sowie  beim  Durchstechen  der  Dura  entstehen.  Ferner  wird  zuweilen 
Schmerz  oder  krampfhafte  Spannung  in  einem  Beine  angegeben,  wohl  bedingt 
durch  Zerrung  eines  Bündels  der  Cauda  equina  (Quincke). 

Einigemale  ist  ein  auffallend  schnell  auf  die  Punction  folgender  tödt- 
liclier  Ausgang  (bei  Hirntumoren  und  Urämie)  beobachtet  worden. ls)  Es  fragt 
sich,  ob  hier  der  Zufall  eine  Rolle  gespielt  hat,  oder  ob  die  Druckentlastung  so 
gefährliche  Folgen  haben  kann.  In  der  Hauptsache  handelt  es  sich  um  zufällige 
Coincidenz.  Jedoch  ist  nicht  zu  bezweifeln,  dass  eine  zu  schnelle  oder  zu  reich- 
liche Entleerung  der  Flüssigkeit  — namentlich  wenn  der  Druck  hochgespannt 
war  — gefährliche  Folgen  wird  haben  können.  Man  wird  gut  thun , falls  der 
Druck  so  stark  ist,  dass  die  Flüssigkeit  im  Strahle  herauskommt,  durch  Ver- 
schluss der  C'anüle  mit  dem  Finger  für  ein  allmäiiges  Abfiiessen  Sorge  zu  tragen. 
Entleerung  der  Flüssigkeit  im  .Sitzen  oder  mittels  Aspiration  ist  zu  vermeiden. 
Die  QuiNCKE’sche  Druckmessung  gestattet  die  Abnahme  des  Druckes  zu  beob- 
achten. Je  schneller  die  Druckabnahme  vor  sich  geht , umso  grössere  Vorsicht 
ist  nöthig.  Die  Unfälle  betrafen  hauptsächlich  Fälle  von  Hirntumor  und  Fürbrisger 
rüth  namentlich  bei  Kleinhirngeschwulst  zur  grossen  Vorsicht. 

Die  Gefahr  der  Infection  ist  bei  sachgeiuässer  Handhabung  der  Technik 
ausgeschlossen. 


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LUMBALPUNCTION.  — LYSOLVERGIFTUNG. 


385 


Literatur:  *)  H.  Q $ incke,  Ueber  Hydrocephalus.  Verhandl.  des  X.  Congresses 
f.  innere  Med.  Wiesbaden  1891,  pap.  321.  — 3)  H.  Quincke.  Zur  Physiologie  der  Cerebro- 
spinalflüssigkeiv.  Du  Bois  und  Reichert's  Archiv.  1872.  — 3)  H.  Quincke,  Berliner  klin. 
Woehenschr.  1891,  Nr.  39.  — 4)  H.  Quincke,  Ueber  Meningitis  aerosa.  Sammlung  klin. 
Vorträge,  begründet  von  R.  v.  Volkmann.  N.  F.  Nr.  67.  — *)  Lichtheim,  Deutsche  med. 
Woehenschr.  1893,  Nr.  40  u.  47.  — *)  v.  Ziemssen,  Ueber  den  diagnost.  u.  tlier.  Werth  der 
Panction  des  Wirbelcanals  Verhandl.  des  XII.  Congresses  f.  innere  Med.  Wiesbaden  1893, 
pag.  197.  — T)  O.  Wyss,  Correspond enzbl.  f.  Schweizer  Aerzte.  1893,  XXIII.  pag.  2S9.  — 
s)  Dennig,  Münchener  med.  Woehenschr.  1894.  Nr.  49  u.  50.  — *)  Frey  ha  n,  Ein  Fall 
von  Meningitis  tuberculosa  mit  Ausgang  in  Heilung.  Deutsche  med.  Woehenschr.  1894, 
Nr.  36  — Lichtheim,  Berliner  klin.  Woehenschr.  1895,  Nr.  13.  — **)  Fürbringer, 
Ebendort.  — ,s)  Quincke.  Berliner  klin.  Woehenschr.  1895,  Nr.  41.  — l§)  Rieken,  Deutsches 
Arrh.  f.  klin.  Med.  LVI,  1 Heft.  — 14)  Discussion  in  der  Berliner  med.  Gescllsch.  Sitzung 
vom  20.  März  1895-  Berliner  klin  Woehenschr.  1895,  Nr.  13.  pag.  287.  — li)  Heubner, 
Vortrag  über  Lumbalpnnction.  Sitzung  vom  11.  November  1894.  Berliner  klin.  Woehenschr. 
1895.  Nr.  13.  pag.  2S‘9.  — **)  Ref.  in  Deutsche  med.  Woehenschr.  1895,  Nr.  40  u.  an  anderen 
Stellen  — ,T)  Stadelmann.  Ein  Beitrag  zur  diagnostischen  Bedeutung  der  Lumbalpunction. 
Berliner  klin.  Woehenschr.  1895.  Nr.  27.  — *8)  Fürbringer,  Plötzliche  Todesfälle  nach 
Lumbalpunction.  Centralbl.  f.  innere  Med.  1896,  Nr.  1.  — ,9)  Lenhartz,  lieber  den  dia- 
gnostischen und  therapeu tischen  Werth  der  Spinalpunction,  mit  Discussion.  XIV.  Congress  f. 
innere  Med.  1806.  A.  Goldscheider. 

Lungenschwindsucht,  Behandlung  mit  Inhalationen,  s.  pag;. 284  tT. 

Lycetol,  weinsaures  Dimethylpiperazin,  Dimethyl/nperazinum  tartari- 
cuin,  wurde  von  H.  Wittzack  als  harnsäurelöseudes  Mittel  für  alle  Fülle , io 
denen  das  Piperazin  angezeigt,  empfohlen.  Es  soll,  wie  Piperazin,  die  Harnsflure 
losen,  die  dinretische  Wirkung  der  Weinsäure  äussern  und  überdies  durch  Um- 
wandlung des  Weinsäuren  Salzes  im  Blut  zu  eiuem  kohlensauren  die  Alkalescenz 
des  Blutes  vermehren.  Das  Lycetol  schmeckt  angenehm  säuerlich , ohne  auf  die 
Dauer  Widerwillen  zu  erregeu.  Wittzack  hat  7 Fülle  vou  harnsaurer  Diathese, 
darunter  einen  von  Arthrit.  def.  urica,  mit  Lycetol  behandelt  und  fand  be- 
trächtliche Vermehrung  der  Diurese  mit  herabgesetztem  speeifisehen  Gewicht  des 
Harns:  keine  Störungen  des  Allgemeinbefindens  auch  bei  längerem  Gebrauche, 
Nachlassen  der  Beschwerden  bei  Gicht , Ausbleiben  sonst  regelmässiger  Gicht- 
anfälle. Das  Mittel  soll  zu  1 — 1'  9 Grm.  täglich  in  Pulverform  oder  in  Zucker- 
wasser  mindestens  14  Tage  hindurch  curmässig  gebraucht  werden.  In  Form  von 
snbeutanen  Injectionen  ist  es  nicht  anwendbar. 

Literatur:  H.  Wittzack.  Notiz  über  (las  Lycetol  (Ditnethylpijterasinum  tnv- 
tarinun ),  ein  harnsäurelösendes  Mittel.  Allg.  med.  Central-Ztg.  1894,  Nr.  7.  Loebiseh. 

Lysolvergiftung.  Das  unter  dem  Namen  Lysol  als  Desiuficiens  einge- 
führte Gemenge  von  Kresolen  und  Seife  hat  in  Folge  seiner  ausgedehnten  Ver- 
wendung eine  grössere  Anzahl  von  Vergiftungen,  vorwaltend  zufälliger  durch 
Trinken  kleiner  Mengen  an  Stelle  anderer  Flüssigkeiten,  aber  auch  einzelne 
absichtliche  Intoxicationen  herbeigeführt.  Diese  nähern  sich  den  Intoxicationen 
mit  C'arbolsäure  und  Kresolen  in  Bezug  auf  die  Symptomatologie  bei  Lebzeiten, 
indem  sie  entfernte  Erscheinungen  (raseli  eintretende  Bewusstlosigkeit,  Atbem- 
störungen,  Cvanose)  neben  localen  (Verätzungen  im  Jlijnde)  zeigen,  unterscheiden 
sieh  aber  nicht  unwesentlich  durch  die  weit  grössere  Intensität  der  örtlichen 
Einwirkung,  die  sich  sowohl  bei  der  örtlichen  Besichtigong  als  insbesondere  in 
tödtlich  verlaufenen  Fällen  bei  der  Section  zu  erkennen  giebt.  ln  Folge  davon 
findet  sich  gelblich-braune  Verschorfung  an  den  Lippen,  an  Kinn  und  Wangen, 
mitunter  auch  streifenförmig  auf  den  Hals  und  Kumpf,  ja  selbst  bis  auf  die 
Arme  sieh  hinziehend,  Trübung  und  röthlichbraune  Färbung  der  Nasenschieim- 
haut,  fetzige  Ablösung  des  Epithels  im  Oesophagus,  und  im  Magen  entweder 
Reizungserschcinuugen  oder  auch  in  Folge  des  Freiwerdens  von  Alkali  Quellung 
und  Lockerung  neben  Trübung  und  bräunlicher  Färbung  der  Schleimhaut.  Auf- 
fällig ist,  dass  in  allen  bisher  zur  Section  gelangten  Fällen  sieh  auch  eorrosive 
Erscheinungen  in  deu  Luftwegen  und  circumscripte  Verätzungen  und  Oedcm  der 
Encyelop.  Jahrbücher.  VI.  £5 


386 


LYSOLVERGIFTUNG. 


Lungen  in  Folge  von  Aspiration  gefunden  haben.  Wird  das  Lysol,  wie  in  einem 
Falle  von  Comstock,  in  starker  Verdünnung  eingeführt,  so  können  die  örtlichen 
Erscheinungen  relativ  gering  sein,  selbst  wenn  die  Flüssigkeit  längere  Zeit  im 
Magen  verweilt.  In  solchen  Fällen  kann  bei  glücklichem  Verlaufe  auch  kurz- 
dauernde Albuminurie  Vorkommen.  Auch  zeigt  der  Athem  einige  Tage  Theer- 
geruch.  Im  Mageninhalt  ist  das  Lysol  als  dickflüssige,  theerartig  riechende, 
seifenartig  anzufüblende  Substanz  zu  erkennen , deren  Lösung  mit  Eisencblorid, 
Bromwasser  und  MiLLOx’schem  Reagens  die  Reactionen  der  Kresole  giebt.  Diese 
Reactionen  können  auch  im  Erbrochenen  und  in  dem  durch  Magenausspülung  Ent- 
leerten erhalten  werden.  Die  letale  Dosis  ist  nach  den  bisherigen  Beobachtungen 
nicht  sicher  festzustellen ; ein  Kinderlöffel  voll  hatte  den  Tod  eines  lOmonat- 
lichen  Knaben  zur  Folge,  während  bei  rascher  ärztlicher  Behandlung  10  Orm. 
von  einem  2jährigen  und  25  Grm.  von  einem  4jährigen  Knaben  Uberstanden 
wurden  und  2 — 3 Grm.  von  Erwachsenen  ohne  besondere  Störungen  tolerirt 
werden.  Wie  Phenol,  kann  Lysol  auch  von  der  äusseren  Haut  und  von  Wunden 
aus  schwere  Vergiftung  bewirken. 

Literatur:  Haberda,  Ueber  Vergiftung  durch  Lysol.  Wiener  klin.  Wochensehr. 
1895,  Nr.  16  u.  17.  — Stühlen,  Ueber  Gesundheitsbeschädigung  und  Tod  durch  Einwirkung 
von  Carholsäure  und  verwandten  Desinfectionsmitteln.  Vierteljahrschr.  f.  gerichtl.  Med  18!i\ 
Heft  4,  pag.  240.  — Comstock,  Poisoning  by  lysol.  Med.  News.  17.  August  1895,  pag.  175. 

Husemann. 


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M. 


Magen.  Unter  den  den  Magen  betreffenden  Arbeiten  stellen  wir  die- 
jenigen Publicationen  voran,  die  sieb  auf  physiologische  Fragen  beziehen. 
Mokitz1)  veröffentlicht  Studien  tlber  die  motorische  Thätigkeit  des  Magens,  und 
zwar  beschäftigt  er  sieh  zunäehst  mit  dem  Verhalten  des  Druckes  in  diesem 
Organ.  Beim  Menschen  findet  sich  im  Magen  ein  geringer  positiver  Druck:  es 
wurden  im  Sitzen  Werthe  von  2 — 6 Cm.  Wasser,  am  häufigsten  6 — 8 Cm.  beob- 
achtet. Dieser  Druck  beruht  auf  der  Belastung  des  Magens  durch  die  Eingeweide, 
besonders  die  Leber,  auch  betheiligt  sich  an  seinem  Zustandekommen  ein  gewisser 
variabler  Contractionszustand  des  Magens,  weniger  ein  allgemeiner,  durch  die 
Spannung  der  Baiichdecken  bedingter  intraabdominaler  Druck.  DaR  Herabtreten 
des  Zwerchfelles  verstärkt  den  Druck  um  4 — 12  Cm.  und  die  Herzbcwegung  um 
0,5  — 2 Cm.;  inspiratorisches  Absinken  des  Druckes  ist  selten  und  nur  bei  starker 
Erweiterung  der  Bauchhöhle  durch  die  Hebung  der  Rippen  vorhanden.  Von 
grösstem  EinHuss  auf  den  Druck  ist  die  Wirkung  der  Baoclipresse,  sie  hebt  die 
Wassersäule  bis  zu  3 M.  In  Betreff  der  activen  Steigerung  des  Druckes  von 
Seiten  des  Magen  besteht  ein  bedeutender  Unterschied  zwischen  Kundus  und 
Antrum;  im  ersteren  erfolgt  eine  solche  während  der  Digestion  nur  minimal,  im 
letzteren  beträchtlich  (50  Cm.),  und  zwar  ist  der  Druckverlauf  so,  dass  der 
Anstieg  anfangs  langsam , dann  rascher  geschieht  und  der  Abfall  jäh  eiutritt. 
Die  Bewegungsverhäl  tnisse  des  gesunden  und  kranken  Magens  sucht  auch 
Einhorn1)  näher  zu  analysiren;  er  bedient  sich  dazu  eines  kleinen,  verschluck- 
baren Apparates,  „Gastrograph“ , der  aus  zwei  concentrischen  Kugeln  besteht, 
zwischen  denen  eine  Platinkugel  bei  Bewegungen  den  Contact  herstellt,  der  dann 
auf  einer  rotirenden  Trommel  markirt  wird.  Einhorn  will  sich  so  ein  lirtheil 
Ober  die  vom  Magen  selber  geleistete  mechanische  Arbeit  verschaffen.  In  die 
Augen  springende  Resultate  hat  er  unter  normalen  und  pathologischen  Verhält- 
nissen mit  seiner  Methode  bisher  nicht  erzielt.  Hemmeter  *)  studirte  die  Magen- 
bewegungen an  einem  Gummibeutelchen , das  in  den  Magen  eingeführt  und  mit 
Luft  gefüllt  wird.  Dasselbe  wird  bei  jeder  Contraction  des  Magens  comprimirt, 
dieser  Druck  wird  auf  ein  Wassermanometer  oder  ein  Kymographion  mittels 
ßchlnuch  Oberfragen. 

Sehr  gründliche  Untersuchungen  über  die  Secretion  und  Motilität 
des  normalen  Magens,  bei  denen  so  ziemlich  alle  wesentlichen  Fragen  berück- 
sichtigt werden,  giebt  A.  Schüle4).  Im  Thierexperimente  wie  beim  Menschen 
wird  der  Einfluss  der  verschiedensten  chemischen  Körper  auf  die  Functionen  des 
Magens  geprüft , im  Ganzen  bringen  die  gewissenhaften  Bemühungen  des  Ver- 
fassers eine  Bestätigung  und  Erweiterung  der  Angaben  früherer  anerkannter  Arbeiter; 
auf  die  zum  Theil  interessanten  Einzelheiten  kann  hier  nicht  eingegangen  werden. 

25* 


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388 


MAGEN. 


Nur  die  Erfahrungen,  die  Schule  mit  einem  Körper,  dem  Xatr.  bicarb..  gemacht 
hat,  will  ich  hervorheben , da  er  sieh  hier  im  Gegensätze  zu  N.  RrichmaXX  *) 
befindet.  Dieser  Autor  spricht  dem  Salz  einen  Einfluss  auf  die  Salzsäureausschei- 
dung ab,  sein  Werth  liege  in  der  neutralisirenden  Wirkung;  letztere  ist  ohne 
weiteres  zuzugeben ; aber  auch  die  Labdrtisenthiitigkeit  modifieirt  das  Mittel 
deutlich , indem  grössere  Gaben  nach  SchüLK  zunächst  eine  Verminderung  und 
dann  eine  Steigerung  der  Secretion  bis  zur  Norm  und  tlber  dieselbe  hinaus 
herbeifuhren. 

Die  resorptive  und  secretorische  Function  des  menschlichen  Magens 
ist  nach  dem  Vorgänge  v.  Mering’s  durch  J.  Miller  ')  geprüft  worden.  Die 
Veränderung  der  Concentrationsverhältnisse  innerhalb  bestimmter  Zeiten  wird 
an  den  verschiedensten  Lösungen  (Alkohol,  Salze,  Pepton,  Zucker)  festgestellt 
und  daraus  Schlüsse  auf  die  Functionen  gezogen;  Miller  kommt  zu  denselben 
Resultaten  im  menschlichen  Magen,  wie  sie  v.  Merino  beim  Thiere  erhielt  (siehe 
dieses  Jahrbuch,  1894)  und  er  bezieht  die  Veränderungen,  die  die  Flüssigkeiten 
erleiden,  auf  gleichzeitiger  Resorption  der  gelöst  eingeführten  Stoffe  und  Absehei- 
dung von  Wasser  in  den  Magen.  Die  Veränderung  des  Mageninhaltes  wächst  mit 
der  Goncentration  der  Lösung.  Auch  ohne  Salzsäureabsonderung  kann  der  Magen 
Wasser  abscheiden , wie  Beobachtungen  bei  Einfüllung  hoch  concentrirter  Koch- 
salzlösungen beweisen.  Dass  der  Magen  übrigens  nicht  blos  Wasser,  sondern  auch 
andere,  und  zwar  speciell  körperfremde  Stoffe  ausscheidet,  ist  bekannt.  In 
umfassender  Weise  ist  dieses  Verhalten  noch  einmal  von  Boxgers7)  geprüft  w orden. 
Subcutan  oder  per  Klysma  einverleibt  werden  in  den  Magen  ausgeschieden  von 
Alkaloiden:  Morphin,  Veratrin,  Bruein,  Coffein,  Antipyrin  , Chinin,  von  aromati- 
schen Substanzen  Salicylsäure,  von  Fettkörpern  Chloroform,  Chloralhydrat,  Aethyl- 
alkohol,  Methylalkohol,  Aceton.  Nicht  nachgewiesen  wurden  im  Magen  Atropin, 
Apomorphin,  Carbolsäure. 

Arbeiten , die  sich  mit  den  rntersuchuugsmcthodcn  befassen  , sind  nur 
wenige  zu  verzeichnen.  11.  Wiener8)  hat  die  gasvolumetrisehe  Salzsäure- 
bcstimmung  im  Magensafte  nach  MiEkzyxski  auf  ihre  klinische  Brauchbarkeit 
geprüft  und  sie  wohl  verwerthbar  gefunden,  wenn  er  sie  auch  uiclit  für  sonder- 
lich einfach  erklärt.  Auch  die  TöPKER’sche  Methode,  die  Salzsäure  mit  Dimethyl- 
amidoazobenzo!  nachzuweisen  und  zu  bestimmen,  ist  durch  Frieuunwald “)  und 
durch  Stkacss10)  geprüft  und  brauchbar  gefunden  worden.  Im  Ganzen  hat  sich, 
wie  aus  dem  Wenigen  hervorgeht . das  Interesse  au  dem  Studium  der  Salzsäure 
erschöpft;  dagegen  wurden  die  Gährungssäuren,  namentlich  die  Milchsäure,  in 
Bezug  auf  Nachweis,  Entstehung  und  diagnostische  Bedeutung  eingehender 
gewürdigt.  Das  ausserordentlich  umständliche  Verfahren  von  Boas  habe  ich  bereit« 
im  vorigen  Jahre  an  dieser  Stelle  eingehend  kritisirt,  die  wissenschaftlichen  Grund- 
lagen desselben  werden  durch  die  Nachprüfungen  von  Seelig  n)  wesentlich  er- 
schüttert, der  selbst  bei  Anwendung  absolut  alkoholfreien  Aethers  die  Reaction 
unzuverlässig  fand.  Ich  ia)  selbst  habe  nach  zahlreichen  Controlen  ebenfalls  den 
Eindruck  gewonnen,  als  ob  wir  mit  der  l" ff klmanx 'sehen  Reaction  sehr  gut  aus- 
kommrn  können,  wenn  wir  uns  daran  gewöhnen,  nur  das  Auftreten  einer  Gelb- 
grün-  oder  Grünfärbung  als  verwerthbares  Kriterium  zu  betrachten.  Ist  man 
in  Betreff  der  Deutung  einer  Farbennuance  im  Zweifel,  so  macht  man  eine  Aethrr- 
cxtractiou  nach  Ansäuerung  des  Filtrats  mit  Phosphorsänre;  der  abgegossene 
saure  Aether  wird  mit  10 — 20  Tropfen  einer  dünnen  Eisenchloridlösung  (2  Tropfen 
Lü/u.  ferri  xesquiddor.  gelöst  auf  50  Grm.  Wasser)  versetzt  und  nun  nicht  kräftig 
geschüttelt,  wie  dies  früher  gerathen  worden  ist,  sondern  vorsichtig  langsam  auf- 
und  abgeschwenkt.  Gelbgrün-  oder  Grünfärbung  unterhalb  der  Aetherschieht  ist 
für  die  Anwesenheit  von  Milchsäure  beweisend,  Graugelb-  oder  Gelbfärbung  kann 
durch  wenig  Milchsäure  hervorgerufen  sein,  doch  geben  auch  andere  ätherlöslicbe 
Stoffe,  z.  B.  Alkohol,  Essigsäure,  die  Reactiou  mit  dieser  Nuance.  Das  energische 
Schütteln  bei  dieser  Manipulation  ist  deshalb  nicht  empfehlenswert!! , weil  die 


agle 


MAGEN. 


389 


GrOnfärbung  des  Keagtns  im  überschüssigen  Aether  verloren  gehen  kann.  Auch 
eine  ungefähre  quantitative  Bestimmung  der  Milchsäure  kann  nach  Stbauss  1S)  mit 
Hilfe  der  Aetherextraotion  und  des  Eiseuchlorid  ermöglicht  werden,  wenn  man 
in  einer  eigens  dazu  von  ihm  angegebenen  graduirten  Glasröhre  die  Flüssigkeit 
zweckentsprechend  verdünnt.  Ueber  die  Entstehung  der  Milchsäure  als  Gährungs- 
produet  sind  alle  Autoren  einig,  offen  blieb  nur  die  Frage,  ob  unter  ganz 
bestimmten  Krankheitsbedingungen  immer  die  gleichen  Bakterien  die  Ursache  der 
abnormen  Fermentation  sind.  Besonders  wurde  hier  auf  jene  langen,  winkelig 
gekrümmten  Bacillen  gefahndet,  denen  von  einzelnen  Autoren  eine  gewisse 
Speeifieitüt  zuerkannt  wurde,  ja  sic  sollten  sogar  nur  bei  Carcinom  auftreten, 
ihr  Vorhandensein  erhielt  also  diagnostische  Bedeutung  (Oppler  “).  Die  in  Rede 
stehenden  Parasiten  sind  nun  von  Kaufmann  und  Schlesinger  '*)  und  H.Strauss1*) 
in  Reincultur  gezüchtet  und  als  starke  Milchsäurebildner  erkannt  worden.  Kauf- 
mann und  Schlesinger  stehen  nicht  an,  für  diesen  Milchsäurebacillus  eine  Speci- 
ticität  zu  construiren,  indem  sie  ihn  als  Indicator  und  wesentlichsten  Erreger  der 
Milehsäuregährung  ansprechen,  dessen  Constatirung  dem  chemischen  Nachweis  der 
Milchsäuregährung  diagnostisch  gleichwerthig  sei.  Dass  in  allen  diesen  Schluss- 
folgerungen weit  Uber  das  Ziel  hinausgeschossen  wird , haben  Rosenhf.im  und 
Richter  i!)  in  einer  ausführlichen  Arbeit,  der  sie  eine  Züchtung  der  Pilzfiora  in 
zahlreichen  normalen  und  pathologischen  Mägen  zu  Grunde  legten , dargethan. 
Wir  fanden,  dass  der  normale  Magen  ebenso  starke  Milchsäurebildner 
beherbergt,  als  sic  unter  pathologischen  Verhältnissen  nachgewiesen  werden. 
Die  $perificität  der  langen  Bacillen  fällt  in  sich  zusammen,  da  uns  der  Nachweis 
gelang,  dass  sie  auch  im  nicht  carcinomatösen  erweiterten  Organ  ausserordentlich 
stark  wuchern  und  Milchsäure  bilden  können.  Auch  fanden  wir  sie  gelegentlich 
in  salzsäurehaltigem  Magensaft.  Die  meisten  Milchsäurebildner  sind  aber  auch 
befähigt,  Gasgälirung  und  Fäulnissprocesse  einzuleiten.  Man  erkennt  also,  dasB 
es  durchaus  keiner  grossen  Multiplicität  von  Mikrobenarteu  henöthigt , um  in 
einem  Mageninhalte  die  mannigfachsten  Zersetzungsvorgänge  hervorzurufen.  Welche 
Art  von  Gährungsprocessen  sich  abspielt,  hängt  weniger  von  der  Zahl  und 
Qua  lität  der  Erreger,  als  von  anderen  Momenten  ab,  unter  denen  die  Zusammen- 
setzung des  Nährbodens  und  die  Acidität  von  der  grössten  Bedeutung  sind.  So 
erklärt  es  sich  auch,  dass  verhältnissmässig  leicht  und  ohne  controlirbare  Ursache 
bei  demselben  Individuum  die  Zersetzungsvorgänge  wechseln  können , worauf 
ich  ■-)  besonders  hingewiesen  habe.  Dass  das  Auftreten  der  Milchsäuregährung 
kein  nur  dem  Carcinom  zukommendes  specifisches  Zeichen  ist,  wie 
Boas  ,!,j  will,  habe  ich  auf  Grund  einer  einwandsfreien  Beobachtung  früher  dar- 
gethan und  jetzt  neue  derartige  hinzugefügt.  Durch  v.  Noorden1"),  Klempeker  so), 
Bi al  3,1  sind  dieselben  bestätigt  worden. 

Eine  Untersuchung  von  Strauss  und  Bialacoir Ji)  über  die  Abhängig- 
keit der  Milchsäuregährung  vom  Salzsäuregehalt  des  Magensaftes 
erweist  den  bedeutenden  Einfluss,  den  auch  die  an  Eiweisskörper  gebundene  Salz- 
säure auf  die  Verhinderung  der  Milchsäuregährung  hat. 

Mit  Hilfe  der  complicirtcn  Methoden  der  genauen  Gasanalyse  ist  nach  dem 
Vorgang  von  G.  Hoppe-Seyler  die  Gasgährung  im  menschlichen  Magen  von 
E.  Wissel21)  studirt  worden.  Auch  er  findet,  dass  die  Gasgähruug  durch  den 
Salzsäuregehalt  wenig  oder  gar  nicht  beeinflusst  wird.  Je  weniger  atmosphärische 
Luft  im  Magen  die  Analyse  nachweist,  umso  mehr  Kohlensäure  uud  Wasserstoff 
treffen  wir  au,  die,  in  erheblicheren  Mengen  vorhanden,  stets  der  Ausdruck  patho- 
logischer Fermentation  sind.  Dns  Verhältniss  der  Intensität  der  Gkhrung  zum 
Grade  der  motorischen  Störung  ist  kein  constantes,  indem  starke  Gährung  bei 
geringer  motorischer  Insufficienz  Vorkommen  kann.  Erwähnung  verdient  noch, 
dass  Sarcine  besonders  gern  da  sich  entwickelt,  wo  wir  bei  Magengährung  viel 
\V asserstoff  finden.  Schliesslich  soll  noch  einer  Arbeit  von  J.  Kaufmann"1)  Er- 
wähnung gethan  werden,  der  bei  einem  Falle  von  Magensaftfluss  mit  leichter  Atonie 


MAGEN. 


390 

acht  verschiedene  Bakterienformen  züchtete,  unter  deuen  sich  ein  besonders  starker 
Erreger  von  Gasgährung  in  grossen  Mengen  befand. 

Eine  sehr  wenig  geübte , aucli  recht  schwierige  Untersuchungsmethode, 
die  aber  unter  Umständen  sehr  beweisende  Aufschlüsse  über  das  anatomische  Ver- 
halten des  Magens  liefern  kann,  ist  die  1'ntersuehung  kleiner  Schleimhant- 
stückchen,  die  wir  gelegentlich  bei  Ausspülungen  und  Sondirungen  erhalten. 
P.  Cohnheim  ,5j  veröffentlicht  eine  grössere  Zahl  von  Untersuchungen,  die  er  an 
solchen  Schleimhautstürkchen  gemacht  hat  und  betont  mit  gutem  Grunde  die  dia- 
gnostische Bedeutung,  die  einer  solchen  Prüfung,  wenn  sie  exact  gemacht  wird, 
nicht  blos  für  die  Erkeuntniss  des  Carcinoms,  sondern  auch  für  das  Studium  der 
Schleimhautveränderungen  im  Allgemeinen  zukommt.  Uns  von  früheren  Arbeitern 
behauptete  Vorkommen  einer  Degeneration  der  Drflseuzellen  bei  Gastritis 
wird  von  ihm,  ebenso  wie  dies  bereits  von  A.  Schmidt  S1)  geschehen  ist,  bestritten. 
Während  aber  Letzterer  das  Bild  durch  ein  Erliultensein , respective  Wucherung 
der  normaler  Weise  im  Magen  vorkommenden  Schleimdrüsen  erklärt,  ist  Cohxhkim 
der  Ansicht,  dass  diejenigen  Schläuche,  welche  Stäbchensnumepithel  und  Beclier- 
zellen  enthalten , den  verlängerten  und  erweiterten  Magengrübchen  entsprechen. 
Diese  schleimige  Degeneration  der  Vorraumschieht,  nicht  der  Drüseuzellen.  kommt 
sowohl  bei  dem  einfachen  schleimigen  Katarrh,  wie  bei  den  zur  Atrophie  führenden 
Processen  vor. 

Dass  man  beim  Sondiren  für  die  Diagnose  verwerthbare  Schleimhant- 
stückchen  im  Spülwasser  und  in  der  Sonde  gelegentlich  hei  jeder  Art  von  Magen- 
störung findet,  zumal  wenn  man  nicht  ganz  vorsichtig  manipulirt , ist  bekannt; 
dass  dasselbe  bei  Tiefstand  des  Pvlorus  auch  einmal  aus  der  Pförtnergegend 
aspirirt  werden  kann,  lehrt  eine  Beobachtung  von  Ebstein17).  Nach  Einhorn1’) 
aber  kommen  Fälle  zur  Beobachtung,  wo  die  Abstossung  von  Schleimhaut  ganz 
auffallend  leicht  und  häufig  vor  sieh  geht.  Hier  besteht  also  eine  ausgesprochene 
Neigung  zur  Bildung  von  Erosionen;  bei  diesen  Kranken  traten  Abmage- 
rung, Gefühl  von  Schwäche,  Schmerzen  auf,  die  nicht  sehr  intensiv  sind  und 
gleich  nach  dem  Essen,  unabhängig  von  der  Qualität  der  Nahrung,  kommen.  Die 
Fetzen  werden  regelmässig  morgens  im  nüchternen  Magen  gefunden ; die  Schleim- 
haut bot  gemeinhin  die  Erscheinungen  der  Gastritis  glandularis  chronica.  Erfolg- 
reich erwies  sich  die  Behandlung  mit  der  Anjent.  niYrtc.-Douche. 

Gegenstand  lebhafter  Discussion  ist  endlieh  zur  Zeit  eine  Untersuchuugs- 
methode:  die  Magcndurchleuchtung.  ln  systematischer  Weise  hat  MELTZISA") 
das  Gastrodiaphan  zu  Untersuchungen  über  Grösse,  Lage  und  Beweglichkeit  des 
kranken  mul  gesunden  menschlichen  Magens  verwandt.  Die  Ergebnisse  wurden 
am  leeren  und  vollen  Magen,  im  .Stehen  und  Liegen  verglichen;  für  die  Grenz- 
bcstimmungeu  erwies  sich  besonders  die  Verschiebung  der  Lichtquelle,  das 
„Wanderulassen“  der  Lampe  vortheilhaft.  Als  Resultate,  die  auch  MARTH'S  *°), 
unter  dessen  Leitung  MELTZING  arbeitete,  vertritt,  hebe  ich  hervor:  I.  beim 

Gesunden  erreicht  der  leere  Magen  den  Nabel,  der  gefüllte  reicht  noch  tiefer  bis 
zu  einer  Linie,  die  den  höchsten  Punkt  der  Crista  tlei  verbindet  (Ergebniss  bei 
28  Gesunden).  2.  Die  untere  Grenze  des  gefüllten  Magens  verschiebt  sich  beim 
Aufstehen  des  Patienten  zugleich  mit  der  unteren  Lebergrenze  um  4 — 11  Gm. 

3.  Die  respiratorische  Verschiebbarkeit  ist  im  Liegen  grösser  als  im  Stehen. 

4.  Nach  der  Anfüllung  vergrössert  sich  das  Lichtbild  hauptsächlich  nach  rechts. 

5.  Von  der  gefundenen  Grösse  des  Magens  darf  absolut  kein  Schluss  auf  die 
motorische  Thätigkeit  des  Magens  gemacht  werden,  da  sehr  grosse,  aber  voll- 
kommen normal  lunctionirende  Mägen  beobachtet  sind.  tj.  Bei  Carcinomeu  half  die 
Methode  nur  den  Sitz  näher  bestimmen. 

Ob  die  Magcndurchleuchtung , selbst  mit  allen  möglichen  Cantelen  aus- 
geführt, in  der  That  als  einwandsfreie  Methode  gelten  kann,  erscheint  mir  doch 
fraglich.  Den  Einwänden  von  E.  Meinebt  **)  und  E.  Langekhaxs  s)  kann  ich 
mich  nur  nnschliessen.  Wasser,  Luft,  Contenta  in  den  Bauchorganen  , der  Grad 


MAGEN. 


391 


der  Wölbung  der  Bauchhöhle  können  zweifellos  Fehlerquellen  bedingen , die 
manchmal  gering,  manchmal  beträchtlich  sein  dürften.  Für  mich  bleibt  das 
souveräne  Verfahren  zur  Feststellung  der  Lage  und  Form  des  Magens  die  Auf- 
blähung mit  Luft  oder  Kohlensäure.  Die  Diagnose  specicll  der  Verlagerung  des 
Magens,  der  Gastroptose,  wird  auf  diesem  Wege  leicht  und  sicher.  Mit  diesem 
Hilfsmittel  arbeitend,  kam  Meinbrt  31)  zu  dem  Resultat,  dass  die  Gastroptose 
eine  regelmässige  Begleiterin  der  in  der  Pubertätszeit  erworbenen 
Chlorose  auch  bei  jungen  Mädchen,  die  nicht  geboren  haben,  sei.  Dass  man 
die  Verlagerung  bei  schlanken,  mageren,  besonders  in  letzter  Zeit  abgemagerten 
Frauen  häutig  findet,  muss  zugegeben  werden,  aber  von  einer  Constanz  des 
Symptomes  ist  namentlich,  so  lange  das  Fettpolster  gut  erhalten  bleibt,  sicher 
keine  Hede,  eine  Auffassung,  die  auch  Helling  *•)  vertritt.  Dass  Mkixkkt  nebenbei 
diese  von  ihm  diagnosticirte  Gastroptose  in  Verbindung  bringt  mit  einer  Heizung 
desjenigen  sympathischen  Centrums,  unter  dessen  Einfluss  die  in  der  Milz  statt- 
findende Hämoglobinbereitung  steht,  dass  ferner  die  Gastroptose  nach  ihm  die  der 
Chlorose  zu  Grunde  liegende  örtliche  Störung  ist,  sei  noch  erwähnt,  soll  aber 
nicht  weiter  discutirt  werden.  Eingehend  würdigt  auch  A.  Ilt’iiKu von  einem 
anderen  Standpunkte  die  Gastroptose  und  macht  auf  das  überaus  häufige  Vor- 
kommen der  motorischen  Insufficienz  bei  der  Verlagerung  aufmerksam; 
ziemlich  oft  findet  man  Subacidität.  Endlich  bringt  Flkixkb s0)  eine  zusammen- 
fassende Darstellung  der  Beziehungen  der  Form-  und  Lageveränderungen  des 
Magens  und  Dickdarms  zu  Functionsstörungen  und  Erkrankungen  dieser  Organe. 
Darin  sind  alle  Autoren  einig,  die  sich  mit  diesem  wichtigen  Gegenstand  be- 
schäftigen , dass  das  Schnüren  die  wichtigste  und  bedenklichste  Ursache  dieser 
Anomalien  ist.  Unbestreitbar  ist  die  Thatsache,  dass  die  Schnürung  eine  Ver- 
engerung des  Magenlumens  herbeifülirt , die  die  Vorwärtsbewegung  des  Omans 
hemmt,  sich  durch  Stenosengeräusche  (Kollern)  manifestirt  und  sich  durch  Magen- 
krämpfe, Ohnmächten  u.  Aelinl.  äussern  kann.  Der  mechanischen  Bcwegnngs- 
hemmung  entspricht  auch  häufig  ein  Schwächezustand  der  Drüsenfunction,  der 
durchaus  nicht  nervöser  Natur  zu  sein  braucht,  wenn  auch  Störungen  des  Nerven- 
systems durch  den  Druck  und  die  Zerrungeu,  oder  indirect  durch  Blutverände- 
rungen  veranlasst,  hier  ebenso  häufig  und  ebenso  mannigfaltig  nuftreten,  wie  bei 
Verlagerungen  der  Gebärmutter. 

Klinisches  Interesse  haben  des  weiteren  noch  einige  Ausführungen  von 
Eh'TKlN kI)  über  die  Beziehungen  zwischen  Trauma  und  Magenerkran- 
kung. Der  Einfluss  eines  Traumas  auf  die  Entstehung  eines  Ulcus  wird  durch 
neue  gute  Beobachtungen  sichergestellt.  Nicht  blos  directe  Verletzungen  der 
Magengegend  können  eine  Uieeration  von  dem  klinischen  Charakter  des  runden  Magen- 
geschwüres zur  Folge  habeu,  sondern  auch  Verletzungen,  die  andere  Körpertheile 
treften,  ziehen  den  Magen  in  Mitleidenschaft  oder  schädigen  ihn  allein,  ln  gleichem 
Sinne  wirken  auch  aussergewiihnliche  körperliche  Anstrengungen,  indem  sie  Magen- 
blutungen und  Ulcusbildung  nach  sich  ziehen.  Dass  nicht  jede  Hämorrhagie  noth- 
wendlg  ein  Ulcus  zur  Voraussetzung  hat , ist  allgemein  anerkannt.  Dass  die- 
selbe gelegentlich  auch  ohne  dass  anatomische  Veränderungen  an  dem  Organ 
vorliegen,  zu  Stande  kommt,  wird  lange  nicht  geuug  gewürdigt.  Zudem  ist,  wie 
KrTTXEtt ,s)  mit  Recht  hervorhebt,  Magenblutung  häufiger  als  Bluterbrechen  und 
wird  meist  nicht  genug  beachtet.  Magenblutungen  treten  öfter  periodisch  im 
Zusammenhänge  mit  der  Menstruation  und  deren  Anomalien  auf,  dieselben  werden 
am  besten  menstruelle  Magenblutungen  genannt.  Die  bei  Amenorrhoe  auf- 
tretenden periodischen  Magenblutungen  stehen  in  einem  gewissen  Zusammen- 
hang mit  dieser  Menstruationsanomalie,  sind  aber  nicht  als  vicariirend  in  dem 
Binne  aufzufasseu , als  ob  die  Magenblutung  den  physiologischen  Vorgang  der 
Meustruation  ersetzen  könnte.  Die  beim  Ulcus  ventric.  auftretendeo  Magenblutungen 
halten  zuweilen  auch  den  Menstruationstermin  inne.  Menstruelle  Magenblutungen 
legen  deu  Verdacht  auf  das  Vorhandensein  eines  latenten  Ulcus  ventric.  nahe. 


3yü 


MAUEN. 


Im  gegebenen  Falle  ist  die  Durchführung  einer  typischen  LEUBK’schen  Ruheeur 
angezeigt,  die  Erfolglosigkeit  derselben  spricht  gegen  das  Magengeschwür. 

Von  Belang  sind  dann  noch  einige  Ausführungen  von  C.  NaUWEBCK  3>) 
über  den  mykotischen  Ursprung  des  peptischen  Magengeschwüres, 
der  früher  ebenso  entschieden  behauptet,  als  in  letzter  Zeit  angefochten  worden 
ist.  Für  die  Entstehung  des  Ulcus  auf  infectiösem  Wege  von  der  Schleimhaut- 
obertläche  her  spricht  auch  thatsächlich  nichts.  Dagegen  giebt  es  hämorrhagische 
Erosionen,  die  als  vom  Blute  her  gesetzte  mykotische  Nekrosen  der  Schleimhaut 
beginnen,  aus  denen,  wenn  auch  seltener,  echte  Geschwüre  hervorgehen  können. 
Bei  diesen  Erosionen  ist  Blutaustritt  ein  nachfolgender  Vorgang  vou  untergeordneter 
Bedeutung,  von  sehr  wesentlicher  aber  ist  die  hyaline  Thrombose,  die  man  hier 
wie  auch  sonst  bei  ulcerösen  Processen  am  Magen  oft  genug  tindet,  und  die 
Gefässverschluss,  Circulationsstörung,  Aenderung  des  Gewebes  durch  den  Magen- 
saft nach  sich  zieht.  Diese  mykotisch-torische  Genese  des  Ulcus  kommt  in  Betracht 
bei  Sepsis,  Pol yarthritis  rheumatien , vielleicht  auch  Tuberkulose  und  Infectious- 
krankheiten. 

Ueber  Neurosen  gastrischen  Ursprungs  mit  besonderer  Berück- 
sichtigung der  Tetanie  und  ähnlicher  Krampfanfälle  handelt  Fleixek  *°) 
ausführlich.  Neurosen  des  Vagus  , Sympathicus  und  sensibler  peripherer  Nerven, 
im  Gefolge  von  Magenkrankheiten  werden  oft  genug  beobachtet.  Die  häutigsten 
Formen , in  denen  die  nervöse  Reactimi  sich  geltend  macht , sind  wohl  dorso- 
lumbare  Intereostalneuralgien  und  Migräne.  Bei  geeigneter  Disposition  begegnen 
wir  auch  Psychosen  gastrischen  Ursprungs:  Angst,  hypochondrische  Wahnideen, 
auch  hallucinatorische  Verwirrtheit  können  im  Anschluss  an  Erkrankungen  des 
Magens  und  mit  diesen  zusammenhängenden  Ernährungsstörungen  auftreten.  Sehr 
viel  seltener  sind  motorische  Neurosen , Krämpfe  und  Lähmungen , doch  gehen 
letztere  nur  indirect  vom  Magen  aus  und  sind  von  spinalen  Veränderungen  ab- 
hängig. Zu  den  Krämpfen  gehören  der  chronische  Zwerchfellkrampf,  der  Singultus 
in  Folge  Erregung  des  Phrenicus,  ferner  der  viel  bestrittene  Magenhusteu  in 
Folge  refleetorischen  Krampfes  in  den  Exspirationsmuskeln.  Endlich  gehören  hier- 
her die  co n vu lsivischen  Anfälle  verschiedener  Art,  die  unter  dem  Namen 
Tetanie  irrthümlich  bisher  zusammeugefasst  wurden , die  aber  sehr  verschieden- 
artigen Charakter  haben  können;  bald  haben  sie  mehr  Aehnlichkeit  mit  echter 
Tetanie,  bald  sind  sie  starrkrampfartig,  bald  epileptiform,  bald  ist  das  Bewusst- 
sein getrübt,  bald  ganz  zum  Schwinden  gebracht,  bald  frei.  Neurosen  können 
vom  Magen  her  einfach  durch  Reflexwirkung  und  Irradiation  zu  Stande  kommen, 
indem  die  Nerven  die  Vermittlung  übernehmen , häutig  entstehen  Neurosen  aber 
auch  auf  dem  Wege  der  Blutbahn,  und  zwar  dadurch,  dass  Producte  ab- 
normer Fermentationen  und  Umsetzungen  im  Magen  durch  Resorption  in  s Blut 
gelangen  und  auf  die  Zusammensetzung  desselben,  auf  die  Ernährung  der  Gewebe 
nnchtheilig  einwirken  und  allgemeine  oder  nur  auf  geschwächte  oder  weniger 
widerstandsfähige  Gewebe  des  centralen  oder  peripheren  Nervensystemes  beschrankte 
toxische  Wirkungen  entfalten.  Diese  schweren  Convuleionen  sind  Flein  er  mehr- 
fach (4  Fällej  vorgekommen,  er  hat  sie  aber  nicht  blos  bei  den  durch  Magcn- 
saltfluss  ausgezeichneten  Ektasien,  sondern  auch  bei  einfacher  socundärer  Magen- 
erweiterung  mit  Subacidität  beobachtet.  Die  in  eiuem  Falle  angestellteu  Versuche, 
ein  Krampfgift  aus  dem  Mageninhalt  zu  isoliren,  schlugen  fehl.  Die  Erfahrungen, 
die  Fi.EINER  bei  der  Behandlung  dieser  Zustände  gemacht  hat,  veranlassen  ihn, 
wo  wirkliche  Tetanie  vorliegt,  oder  am  Nervensystem,  im  Urin,  am  Herzen  oder 
sonstwo  Zeichen  nachweisbar  sind,  welche,  wie  das  Facialis-  und  TROCSSKAO’sche 
Phänomen,  die  Albuminurie  und  gesteigerte  Toxirität  des  Harnes,  komatöse  Zu- 
stände, Delirien  u.  dergl.,  als  Antointoxicationsphänomenc  gedeutet  werden  müssen, 
von  einem  operativen  Eingriff  abznrathen.  Einem  vergifteten  Körper  kaun 
eben  eine  Operation  seiner  Ansicht  nach  nichts  nützen,  sie  beschleunigt  zusammen 
mit  der  Narkose,  wie  eine  Beobachtung  lehrte,  den  tödtlichen  Ausgang.  In  solchen 


MAGEN. 


393 


Füllen  soll  man  versuchen , den  Körper  durch  Auswaschungen  des  Magens  und 
besonders  auch  des  Dickdarmes  mit  grossen  Wassereinläufeu , die  in’s  Wut 
gelangen,  die  Giftstoffe  zu  entfernen.  Nach  der  Entgiftung  dürfte  eine  Operation 
bessere  Chancen  gewähren. 

Als  erwähnenswert  he  Raritäten,  die  nicht  ohne  klinisches  Interesse  sind, 
hebe  ich  einen  Fall  von  Actinomykosc  des  Magens  hervor,  über  den 
A.  Grill*1)  berichtet;  ferner  den  Befund  eines  papillären,  in  das  Duodenum 
herabgestiegenen  Fibroadenom  des  Pylorus  bei  einer  70jährigen  Frau  — 
der  Tumor  war  2 Cm.  breit,  11  Cm.  lang  — das  Cl.  CaLZAvora **)  beschreibt; 
endlich  ein  mit  dem  Ductus  Wirsung.  commuuicircndes  Tractionsdivertikel 
des  Magens.  Letzteres  fand  H.  Hkubkl **)  1 Cm.  lang,  entstanden  durch  Ent- 
zündungsvorgiiuge  im  Paukreas,  die  die  Hinterwand,  respective  die  kleine  Curvatur 
des  Magens  angriffeu  und  bei  der  Schrumpfung  auszogen.  Eine  solche  Bildung 
ist  bereits  früher  von  Tilgner  “),  von  der  Gallenblase  ausgehend,  gesehen  worden. 
Endlich  verdient  hier  der  interessante  Fall  von  K.  Hirsch,  der  einen  höchstwahr- 
scheinlich rongenitalen  Sanduhrmagen  betrifft,  einen  besonderen  Hinweis. 

Ich  schliesse  diesen  Abschnitt  mit  einer  Besprechung  derjenigen  Arbeiten, 
die  therapeutischen  Zwecken  huldigen.  Ich  selbst*^  habe  eine,  wie  ich 
glaube,  erschöpfende  Darstellung  vom  Stande  der  chirurgischen  Behandlung 
der  Magenkrankheiten  gebracht.  Meine  Stellungnahme  war  begründet  auf  die 
Erfahrungen , die  ich  an  einem  grossen  Material  zu  machen  Gelegenheit  hatte. 
Siebenmal  wurde  wegen  Krebses  reseeirt,  3 von  diesen  Kranken  starben  in  Folge 
der  Operation,  die  4 anderen  genasen,  2 davon  blieben  dauernd  recidivfrei,  eine 
Patientin  ist  es  bereits  5 Jahre.  Achtmal  wurde  wegen  Pyloruskrebs  die  Gastro- 
enterostomie gemacht,  von  diesen  Kranken,  obgleich  es  sich  ausnahmslos  um 
vorgeschrittene  Fälle  handelte,  starb  keiner  an  der  Operation,  vielmehr  erholten 
sich  alle  erheblich,  wurden  fast  beschwerdefrei,  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  war 
die  Lehensverlängerung  unzweifelhaft,  eine  meiner  Kranken  lebt  heute,  fast  zwei 
Jahre  nach  der  Operation , immer  noch.  Bei  gutartiger  Xarbenstenose  ist  der 
operative  Eingriff  dringend  zu  empfehlen,  wie  überhaupt  bei  jeder  motorischen 
Insufticienz  und  Ektasie,  unabhängig  von  der  Qualität  des  Grundleidens, 
wenn  die  Heilpotenzen  der  inneren  Medicin,  insbesondere  die  Ausspülungen  keine 
funetionelle  Besserung  herbeifuhren,  vor  Allem  die  Unterernährung  nicht 
beseitigen.  Dann  können  auch  Perigastritis  und  immer  wiederkehrende  Blutungen 
die  indieation  zum  operativen  Eingriff  abgeben.  Das  souveräne  Verfahren  Ist  in 
allen  diesen  Fällen  die  Gastroenterostomie.  Im  Anschluss  an  meinen  Vortrag 
befürwortet  Pariser  *5)  die  Ausführung  der  Laparotomie  innerhalb  der  ersten 
20  Stunden  nach  Perforation  eines  Ulcus.  Die  Resultate  sind  namentlich 
nach  den  in  England  gemachten  Erfahrungen  nicht  ungünstig;  Spontanheilung 
ist  nur  zu  erwarten,  wo  der  Magen  bei  der  Katastrophe  leer  ist.  Ermuthigend 
sind  auch  die  Mittheilungen  Uber  die  Resultate,  die  von  Kocher*8)  nnd  Mikulicz  ,s), 
der  z.  B.  bei  10  Resectionen  wegen  Carcinom  in  den  letzten  Jahren  nur  1 Todes- 
fall hatte,  für  die  operative  Behandlung  des  Carcinoma  in’s  Feld  geführt  werden. 
Die  guten  Erfolge  der  Gastroenterostomie  veranschaulicht  auch  eine  Mittheilung 
vou  v.  Hacker.  60)  Statistisches  vom  chirurgischen  Standpunkte  trägt  in  er- 
schöpfender Weise  IIabekkralt  61)  zusammen.  Ausser  mir  haben  vom  Stand- 
punkte des  inneren  Klinikers  Talma62)  und  Cahv6*)  für  die  operative  Behand- 
lung der  Magenkrankheiten  Indicationen  aufgestellt,  die  sich  im  Wesentlichen 
mit  meinen  Anschauungen  decken.  Dass  die  functionellen  Resultate,  die  die 
Chirurgen  erzielen , wenigstens  bei  der  Reseetiou  und  Gastroenterostomie  vor- 
treffliche sind , ist  durch  genaue  Beobachtungen  sichergestellt  und  wird  iu  einer 
Allhandlung  von  Mi.vtz  '“)  nach  jeder  Richtung  hin  in  erschöpfenderWeise  dar- 
gelegt. Ein  wichtiges,  lange  nicht  genug  gewürdigtes  Hilfsmittel  zur  Herstellung 
unserer  Magenkranken  ist  zweifellos  die  Ausschaltung  der  äpeisezufuhr 
vom  Munde  her  und  die  eonsequente  Durchführung  der  Ernährung  vom  Mast- 


394 


MAGEN. 


darin  aus.  Schlesinger  ss)  redet  diesem  Verfahren  wieder  eindnuglirhst  das 
Wort,  namentlich  wo  es  sich  um  die  Beseitigung  einer  motorischen  Insuffi- 
cienz  massigen  Grades  oder  um  schwere  Reizzustände  des  Organes  handelt. 
Als  Bereicherung  unseres  therapeutischen  Apparates  ist  ein  von  HEmmetkr“) 
construirter  Schlauch  zu  erwähnen,  der  es  ermöglicht,  unter  permanentem 
Zufluss  den  Magen  auszuwaschen.  Der  Schlauch  besteht  aus  Canälen,  von  denen 
der  die  Flüssigkeit  zuführende  enger  ist ; er  kann  mit  geringer  Modifieation  auch 
für  den  Mastdarm  verwendet  werden;  hier  macht  mau  die  Durchspülung  in  Knie- 
ellenbogenlage. Znr  Bekämpfung  der  saueren  Dyspepsie  empfiehlt  J.  Berg- 
mann S7)  Kauenlassen  harter  Brotrinde  oder  feiner  Kautabletten,  die  Um/.  Zimjib., 
May ii.  usta  u.  Aehn.  enthalten.  Er  meint , dass  Neutralisirung  des  Magensaftes 
«’en  Effect  hervorrufe. 

Endlich  soll  hier  noch  eine  Behandlungsmethode,  namentlich  die  elek- 
trische, deren  Werth  vielfach  strittig  ist,  gewürdigt  werden.  Ich  halte  durch 
Brock  **•)  an  einem  grösseren  Krankenmaterial  Versuche  Uber  den  Nutzen  der 
inneren  Galvanisation  des  Magens  und  Darms  anstellen  lassen.  Die  gemachten 
Erfahrungen  dürften  wohl  deshalb  einige  Geltung  haben,  als  es  sieh  durchgehend« 
um  eingewurzelte  l'ebel  handelte,  und  weil  wir  nur  diese  eine  Heilpotenz  wirken 
Hessen,  während  wir  von  jeder  anderen  medicamentösen  und  mechanischen  Behand- 
lung Abstand  nahmen.  Es  scheint  uns  nnbezweifelhar , dass  auf  diesem  Wege 
störende  sensible  Reizersclieinungen  des  Magens  beseitigt  werden  können.  Ebenso 
erwies  sich  die  Galvanisation  des  Mastdarmes  in  verschiedenen  Fällen  ausser- 
ordentlich nützlich  zur  Bekämpfung  der  Darmatonie.  Dass  namentlich  schwache 
Endogalvanisation  Magenschmerz  bei  Neurosen  und  organischen  Aflectionen  zu 
mildern  im  Stande  ist,  betont  auch  E.  GOLD.-CHMIDT. &u)  Dagegen  findet  er,  dass 
die  directe  Faradisation  und  Galvanisation  des  Magens  auch  bei  starken  Strömen 
(15  — 25  M.-A.)  auf  die  motorische  Thätigkeit  des  Organes,  wenn  überhaupt,  nur 
unbedeutenden  und  inconstanten , auf  die  sreretorisehe  aber  gar  keinen  Einfluss 
hat.  Die  Resultate  decken  sich  mit  Beobachtungen  von  MELTZKR  “•),  der  an 
Thicren  den  Eintiuss  des  faradischen  Stromes  auf  Magen  und  Darm  prüfte.  Es 
zeigte  sich  ihm.  dass  die  Schleimhaut  des  Verdauungscanalcs  und  specicll 
die  des  Magens  dem  Durchtritt  des  Stromes  einen  ausserordentlichen 
Widerstand  entgegensetzt,  der,  wenn  man  von  der  Serosa.aus  die  Muscit- 
laris  reizt,  vergleichsweise  nur  geringfügig  erscheint.  Die  therapeutische  Er- 
wartung, dass  bei  der  percutancn,  respective  inneren  Faradisirung  der  Magen  und 
Darm  zur  Contraction  gebracht  werden  können,  scheint  somit  unbegründet  zu  seiu. 

Literatur:  ‘)  Moritz,  Zeitschr.  f.  Biol.  XXII.  — *)  E i n b o r n . Zeitschr.  f.  klin. 
Med.  XXVII.  — *)  Hemroeter.  New  York  med  Jonm.  22-  Juni  1995.  - *1  Schäle,  Zeit 

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Wiener  med.  Blätter.  1895,  Nr.  2.  — - ,0)  G.  Klemperer,  Deutsche  med.  Wochenschr.  1995, 
Nr.  14.  — “)  Bial,  Berliner  klin.  Wochenschr.  1895,  Nr.  6.  — '*)  Strauss  uud  Bialacou  i. 
Zeitschr.  f.  klin.  Med.  XXVIII.  — **)  Wissel,  Zeitschr.  f.  physiol.  Chemie.  XXL  — *•)  J. 
Kaufmann,  Berliner  klin.  Wochenschr.  1995,  Nr.  fi,  7.  — :;l  P.  Cohnheiai,  Arch.  f Ver- 
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Berliner  klin.  Wocheuschr.  1*95.  Nr.  4.  — :’)  Einhorn,  Berliner  klin.  Wochenschr.  1895. 
Nr.  ZG,  gl.  — -*)  Me  1 1 z i n g Zeitschr  f.  klin.  Med.  XXVII.  — tu)  Martins,  Wiener  med 
Wochenschr.  1895.  Nr.  7.  — *')  Mcinert,  Centralbl.  f.  innere  Med.  1895,  Nr.  44.  — 1:)  E 
Langerhans.  Wiener  med.  Blätter.  1895,  Nr.  45.  — ”)  Meinert,  Ueber  einen  bei  Chlorose 
des  Entwlcklnngsalters  anscheinend  constanten  pathologisch-anatomischen  Befund  und  über  die 
klinische  Bedeut uns  desselben.  Samml.  klin.  Vortr.N.F  , Nr.  115  1 Ifi.  — *4)  K el  1 i n g.  Physikalische 
Untersuchungen  über  die  Druckverhältnisse  in  der  Bauchhöhle.  Elienda.  N.  F.,  Sr.  144. 


MAGEN. 


MARKTPOLIZEI. 


395 


**)  Huber,  Correapondenzbl.  f.  Schweizer  Aerzte.  1895,  Nr.  11.  — *•)  Fl  ein  er,  Münchener 
med.  Wochenschr.  1-95,  Nr.  42 — 45.  — *7)  Ebstein.  Deutsches  Arcb.  f.  klin.  Med.  UV.  — 
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Beiträge  zur  klin.  Chirurgie.  XIII.  — 4*)  Calzavora,  Virchow’s  Archiv.  CXLI.  — 43)  Heu  bei, 
Deutsches  Arch.  f.  klin.  Med.  LV.  — ^Tilgner.  Virchows  Archiv.  CXXXIII.  — 4S)  K. 
Hirsch,  Virchow’s  Archiv.  CXL.  — 4*)Rosenheim,  Deutsche  med.  Wochenschr.  1895, 
Nr.  1—3-  — 4:)  Pariser,  Deutsche  med.  Wochenschr.  1895,  Nr.  28.  — 48)  Kocher,  Deutsche 
med.  Wochenschr.  1895,  Nr.  16—18.  — *9)  Mikulicz,  Arch.  f.  klin.  Chir.  LI.  — 40)  v.  Hacker. 
Wiener  klin.  Wochenschr.  1895,  Nr.  *5,  26.  — M)  Haberkraut,  Arch.  f.  klio.  Chir  LI.  — 
**)  Talma,  Berliner  klin.  Wochenschr.  1895.  Nr.  25.  26.  — :'a>  Calis,  Berliner  klin.  Wochen- 
schrift 1895,  Nr.  28.  — S4)  Mintz,  Wiener  klin.  Wochenschr.  1895.  Nr.  18 — 20.  — 
**)  Schlesinger,  Wiener  klin.  Wochenschr.  1895,  Nr.  19 — 21.  — 50)  Hemraeter,  New 
York  med.  Journ.  30.  März  1895.  — ST)  J.  Bergmann,  Berliner  klin.  Wochenschr.  1895, 
Nr.  6-  — f<)  B ro  c k . Therap.  Monatsh.  Juni  1895.  — t9)  E Goldschmidt,  Deutsches  Arch. 
f.  klin.  Med  LVI.  — eo)  Meitzer,  Centralbl.  f.  Phvsiol.  IX,  Nr.  8.  Rosen  heim. 

Marktpolizei  (Verkehr  auf  Märkten  und  in  Markthallen).  Lange  bevor 
der  Zusammenhang  einer  ungefährlichen  und  rationellen  Ernährung  mit  dem 
Volkswohl  und  den  volkswirtschaftlichen  Interessen  erkannt  war,  hat  es  in  den 
verschiedenen  Ländern  und  besonders  innerhalb  städtischer  Gemeinwesen  nicht  an 
erfolgreichen  Bemühungen  gefehlt,  minderwerthige , ekelhafte  und  gesundheits- 
schädliche — auch  verfälschte  — Nahrungsmittel  dem  Marktverkehr  fernzuhalten. 

Dass  der  entscheidende  Fortschritt  auf  diesem  Gebiet  jedoch  durch  Erlass 
bestimmter  Gesetze  gethau  wird,  welche  das  Feilhalten  und  an  den  Markt  Bringen 
derartiger  Nahrungsmittel  mit  Contiscation  und  mit  (Geld-  und  Gefängniss-)Strafen 
bedrohen,  dürfte  sich  geschichtlich  leicht  beweisen  lassen. 

Für  den  Verkehr  auf  offenen  Märkten  pflegen  den  örtlichen  Verhältnissen 
angepasste  Bestimmungen  in  den  einzelnen  Städten  erlassen  zu  sein.  Gewöhnlich 
ist  der  Marktverkehr  auf  die  Vormittagsstunden  gewisser  Tage  beschränkt.  Es 
bestehen  Bestimmungen  über  Platzmicthe,  Reinigen  des  Platzes  und  die  Beschaffen- 
heit der  feilzuhaltenden  oder  auch  — meist  ans  eonnnerziellen  Gründen  — vorn 
Marktverkehr  auszuschliesseuden  Gegenstände.  Wenn  auch  die  Märkte  immerhin 
leichter  zu  überwachen  sind,  wie  der  Ilansirlinndel , auch  Angebot  und  Nach- 
frage durch  sic  besser  geregelt  wird,  so  haften  ihnen  docli  gewisse  Mängel  an. 
Zunächst  sind  die  Waaren  selbst  der  Ungunst  der  Witterung  rücksichtslos  aus- 
gesetzt und  verderben  daher  leicht,  ln  gleicher  Weise  gilt  dies  von  den  Ver- 
käufern und  ebenso  für  das  kaufende  Publicum.  Ausserdem  werden  die  Abfälle 
der  Marktwaaren,  die  im  Verkehr  auch  in  die  Umgebung  getragen  werden,  eine 
Verunreinigung  der  Strasse  bewirken.  Dazu  kommt  weiter  die  Verpestung  der 
Luft  durcli  die  unter  dem  Witterungseintluss  leicht  verderbenden  Waaren,  be- 
sonders Fische  und  Käse. 

Die  erste  Markthalle.  „la  Halle“  genannt,  wnrde  in  Paris  zu  Ende  des 
vorigen  Jahrhunderts  errichtet.  Ihr  dürfte  es  zum  grossen  Theil  zu  danken  sein, 
das«  in  den  schweren  zweimaligen  Belagerungszeiten  dieser  Stadt  die  Einwohner 
doch  sich  , ohne  dass  eine  schwere  Hungersnot h eingetreten  wäre,  zu  ernähren 
vermochten. ')  Gegenwärtig  nehmen  die  „Halles  Centrales1*  in  Paris  40.390  Qm.  ein. 

In  London  befindet  sich  die  Ceiitralmarkthalie  in  Smithficld.  Sie  besteht 
aus  3 Gebäuden  (Central  raeat  market),  der  Fischhalle  und  der  Halle  für  Geflügel, 
Butter,  Käse  u.  dergl.  Für  den  Fise.hhandel  befindet  sieh  ausserdem  eine  weitere 
Halle  in  Billingsgate.  Daneben  existirt  nocli  eine  Anzahl  von  Märkten , z.  B. 
Leadenhall  Market,  Covent  garden  M.,  Farrington  Street  M.,  Great  Eastern  Rail- 
way  M.,  Shadwell  M. , Elephanthe  and  Cattle  Market,  Columbia  Market  u.  A.  s) 

Uebrigens  wurde  das  Marktwesen  in  England  im  Jahre  1847  durch  die 
.Markets  an  fair  clauses  Act“  geregelt. 

Berlin  begann  mit  der  Erbauung  von  Markthallen  (in  städtischer  Entre- 
prise) im  Jahre  1883.  *)  Zehn  Jahre  später  waren  neiieu  der  an  die  Stadtbahn 
angesehlossenen  Centralmarkthalle  mit  umfänglichsten  Ausladevorriehtungen,  Fahr- 


MARKTPOLIZEI. 


3% 

Stühlen,  KUhlräumen  , Fischbassins)  14  weitere  Hallen  der  Oeffentlichkeit  (iber- 
geben ; die  offenen  Märkte  aufgehoben. 

In  Wien  besteht  eine  grosse  Markthalle  und  sechs  kleinere  in  den  ver- 
schiedenen Stadtgegenden.  Der  Marktverkehr  wird  im  Uebrigen  noch  zum  Theil 
durch  die  Marktordnung  von  1770  geregelt. 3) 

In  Brüssel  bestehen  zwei  bedeckte  Markthallen,  der  ..Marche  couvert  de 
la  Madelaine“  und  die  „Halles  Centrales“ , erstere  hauptsächlich  für  Gemüse, 
Früchte  und  GetiUgel , letztere,  die  ganz  aus  Eisen  und  Glas  gebaut  sind,  für 
Fleisch,  Geflügel,  Gemüse  und  Fische. ') 

Die  gegenwärtig  in  Bezug  auf  diesen  Stoff  für  Deutschland  massgebende 
Lex  generalis,  das  „Gesetz  betreffend  den  Verkehr  mit  Nahrungsmitteln,  Genuas- 
mittclu  und  Gebrauchsgegenständen“  vom  14.  Mai  1879  hat  nicht  nur  in  seinem 
tj  2 die  Befugnisse  der  Polizeibeamten  gegenüber  auch  den  „auf  Märkten“  feil- 
gehaltenen und  zum  Verkauf  gestellten  Gegenständen  iler  bezeichneten  Art  wesent- 
lich erweitert  (§  2)  und  im  Allgemeinen  für  verschärfte  Strafandrohungen  — be- 
sonders im  Falle  der  eingetretenen  Gesundheitsbeschädigung  — gesorgt  (§§  8 — 13); 
sondern  sie  legt  ein  entscheidendes  Gewicht  auf  die  Unterscheidung  von  Fahr- 
lässigkeit und  wissentlichem  Verschulden  (auf  letzteres  steht  eventuell  10jährige 
bis  lebenslängliche  Zuchthausstrafe),  — sie  unterwirft  den  Lebeusmittelfälscher 
der  Einziehung  der  beanstandeten  Marktwaare,  der  Tragung  der  Kosten,  eventuell 
sogar  dauernder  Polizeiaufsicht,  — sie  stellt  es  in  das  Ermessen  des  Urtheils- 
sprtiches,  dass  die  Strafthat  durch  Publieirung  desselben  an  die  Oeffentlichkeit 
gebracht  werde. 

Zu  besonderer  Strenge  hat  sich , unterstützt  durch  eine  Reihe  mass- 
gebender Erkenntnisse  der  höchsten  Gerichtshöfe,  mit  Recht  die  Ueberwachung 
des  Verkehrs  mit  Fleiscliwaaren  auf  den  Wochenmärkten  gesteigert.  Doch  hat 
sich  gerade  bei  diesem  Artikel  die  Nothwendigkcit  am  klarsten  herausgestellt, 
bei  der  blossen  Ueberwachung  des  Marktverkehres  nicht  stehen  zu  bleiben,  sondern 
die  Mittel  der  Beaufsichtigung  bereits  in  den  Herrichtungsstätteu  des  zur  Nahrung 
bestimmten  Fleisches  in  ausgedehntestem  Masse  zur  Anwendung  zu  bringen.  Der 
erste  Schritt  zur  Versorgung  der  Städte  wird  gegenwärtig  seitens  der  höheren 
Verwaltungsbehörden  mit  Recht  in  der  Einrichtung  öffentlicher  Schlachthäuser, 
gleichzeitig  mit  einer  Revision  sämmtlichen  von  auswärts  eingeführten  Fleisches 
auf  seine  „Bankwürdigkeit“  erblickt.  Nur  für  Plätze,  welche  von  den  Schlacbt- 
zwangsbestimmungen  Gebrauch  zu  machen  noch  verhindert  sind,  erweist  sich  die 
alte  Marktcontrole  als  ein  brauchbarer  Nothbehelf.  Denn  die  bedenklichsten  Mängel 
am  ausgeschlachteten  Fleische  (Fäulniss,  Durchsetzung  mit  Perlknoten  und  Finnen, 
ausgeprägte  Rotldauf-  und  Rauschbranderscheinungen)  pflegen  auch  der  im  Vor- 
übergehen die  Verkaufsschragen  und  Fleischbuden  musternden  Marktcommission 
(Polizeibeamtcr  uud  Thierarzt)  nicht  zu  entgehen. 

Neben  dem  Fleische  der  Schlachtthiere  im  engeren  Sinne  bedürfen  auch 
die  auf  den  Wildbret-,  Geflügel-  und  Fischmärkten  feilgehaltenen  l’roducte 
hier  der  besonderen  Erwähnung.  Bei  der  Beaufsichtigung  des  Wildbretmarktes 
tritt  eine  Schwierigkeit  dadurch  ein,  dass  eine  erst  im  Beginn  der  Fäulniss  stehende 
Waare,  welche  mit  einem  Geruch  behaftet  ist,  nicht  wohl  dem  Verkauf,  resp.  der 
Feilhaltung  entzogen  werden  kann , weil  von  vielen  Seiten  das  Wildbret  ver- 
schiedener Art  erst  in  diesem  Zustande  für  ganz  genussreif  gehalten  und  begehrt 
wird.  Trotzdem  sollte  jedes  thatsächlich  in  Fäulniss  ttbergegangene  Wildbret, 
es  mag  sich  um  Hochwild  oder  sogen,  niederes  Wild  handeln,  als  der  mensch- 
lichen Gesundheit  schädlich  confiscirt  werden.  Nicht  zu  dulden  ist  ferner  das 
Aushängen  des  Wildes  ohne  Fell  und  Decke  oder  die  Zurichtung  des  gewöhn- 
lichen Borstenviehes  in  der  Art  (durch  Hetzen  und  Brennen),  dass  es  Schwarz- 
wild vorstellen  soll  und  als  solches  verkauft  werde. 

Geflügel,  welches  lebendig  feilgeboten  wird,  pflegt  von  den  Käufern 
selbst  sorgsam  geprüft  zu  werden.  Handelt  es  sich  um  todtes,  so  erregt  liereits 


MARKTPOLIZEI. 


397 


die  Magerkeit  Verdacht,  besonders  wenn  sieh  an  verschiedenen  Körperstellen 
schwärzliche  Flecken  finden,  der  Kamm  gelblich  oder  stark  entfärbt,  die  Maul- 
höhle sehr  blass  oder  schmutziggelb , mit  häutigen  Auflagerungen  oder  zer- 
fliessenden  Massen  erfüllt  ist.  Fehlt  es  bei  grösseren  Vögeln  an  Schlachtwunden, 
bei  den  kleineren  an  den  Zeichen  des  llalsabdrchens , so  ist  der  Verdacht  auf 
Verrecken  bestätigt.  Die  Milch  wird  von  der  Marktpolizei  nur  auf  das  specifische 
Gewirkt  untersucht. 

Auf  den  Fischmärkten  gilt  die  todte  Waare,  solange  sie  noch  unver- 
dorben ist,  neben  den  lebenden  Fischen  als  marktberechtigt.  Wie  die  in  Fäulniss 
Ubergegangenen  (wahrscheinlich  durch  Toxine  und  Ptomaüne  giftigen)  Fische,  so 
sind  auch  die  mittelst  Anwendung  von  Giften  (Kockeiskörner!)  betäubten  und  so 
gefangenen  Fische  zu  verwerfen.  Sind  Fischarten  am  Orte  verdächtig,  Fiseh- 
gifte  im  engeren  Sinne  zu  produciren,  so  ist  ihr  Ausschluss  vom  Markte  (be- 
sonders zur  Laichzeit)  selbstverständlich.  Anlässlich  des  Verkaufs  von  Stockfischen 
ist  darauf  zu  achten,  dass  dieselben  gehörig  gebeizt  sind;  ein  allzu  starker  Zusatz 
von  Kalk  zur  Lauge  wäre  zu  beanstanden.  Heringe,  welche  über  ein  Jahr  alt 
und  nur  durch  Kunstgriffe  für  den  Verkauf  hergerichtet  sind,  ebenso  andere  ge- 
salzene, gesottene,  geräucherte  oder  marinirte  Fische,  die  irgendwie  Zeichen  des 
Verdorbenseins  aufweiseu,  sind  zu  vertilgen,  der  Verkauf  von  Austern  im  Sommer 
während  der  Laichzeit  zu  verbieten.  Krebse  und  Schildkröten,  bei  welchen  n n- 
mittelbar  nach  dem  Tode  die  Fäulniss  eintritt,  dürfen  in  todtem  Zustande  auf 
den  Fischmärkten  überhaupt  nicht  geduldet  werden.  — Auf  Muscheln  (Mies- 
muscheln) wäre  ebenso  wie  auf  Garnelen  ein  Augenmerk  zu  richten. 

Unter  den  vegetabilischen  Marktwaaren  bedürfen  besonders  Schwämme 
(Pilze)  der  Controle,  welche  jedoch  wegen  der  Schwierigkeit  der  die  Giftigkeit  au- 
deutenden  Merkmale  gewöhnlichen  Executivbeamten  kaum  zugemuthet  werden  kann.4) 

Der  Verkehr  in  den  Markthallen  ist  durch  Markthallcn-Ordnungen, 
besondere  Reglements  und  Polizeiverordnungen  örtlich  zu  regeln.  In  Berlin  bestehen 
z.  B.  einmal  vom  Magistrat  als  Besitzer  der  Hallen  erlassene,  hygienisch  weniger 
interessirende  Reglements.  Ausserdem  ist  der  Verkehr  durch  die  nachstehende 
Polizeiverordnuug  geregelt: 

Polizei- Verordnung.“! 

J 1.  l)ie  städtischen  Markthallen  in  Berlin  sind  zu  .Marktzwecken  für  Jedermann, 
für  Verkäufer,  Händler.  Vermittler,  Miether  von  Geschäftsräumen  indessen  nur  gegen  den  Nach- 
weis der  Zahlung  der  von  der  städtischen  Verwaltung  festgestellten  Gebühren  und  Staud- 
miethen  geöffnet. 

§ 2.  Die  vorbezeichneten  Markthallen  sind  täglich  geöffnet,  und  zwar:  u)  Die  Central- 
markthallen  (I  und  Ia)  fnr  die  Einbringung  von  Marktgut  in  die  Stände  im  Winter  wie  im 
Sommer  von  1 llhr  Nachts  ab,  für  den  Grosshandel  im  Winter  von  4 Uhr  und  im  Sommer 
von  3 Uhr  Morgens,  für  den  Detailhandel  im  Winter  von  7 Uhr  und  im  Sommer  von  ti  Uhr 
Morgens  ab.  iy  Die  übrigen  Markthallen  lür  den  Engroshandei  im  Winter  von  5 Uhr  Morgen», 
im  Sommer  vou  4 Uhr  Morgens,  für  den  Detailhandel  im  Winter  von  7 Uhr  Morgens,  iin 
.Sommer  von  ti  Uhr  Morgens  ab. 

2.  Für  deu  Verkehr  des  Publicum»  werden  geschlossen:  Die  in  der  Centralmarkt- 
haUe  I für  den  Grosshandel  bestimmten  Abtheilungen , sowie  die  Uentralmarkthalle  Ia  ganz 
am  10  Uhr  Vormittags,  die  in  der  Centraimarkthalle  I für  den  Kleinhandel  bestimmten  Ab- 
theilungen nnd  alle  übrigen  Markthallen  zu  jeder  Jahreszeit  Nachmittags  um  1 Uhr 

3.  An  den  Wochentagen  werden  dieselben  für  den  Marktverkehr  mit  Aussehlus*  des 
Fleisehgrosshandcls  Nachmittags  5 Uhr  wieder  eröffnet  und  bleiben  dann  zu  jeder  Jahreszeit  fiir 
den  Grosshande]  in  den  Centralmarkthallen  bis  7 Uhr  Abends,  für  den  Kleinhandel  überhaupt 
bis  8 Uhr  Abend«,  an  den  Sonnabenden  bis  9 Uhr  Abends  geöffnet. 

4.,  5.,  ti.  Sonntagsverkehr.  — Zeichen  für  die  Schlüsse. 

$ 3.  In  den  Detnilverkaufsständen  der  Markthallen,  sowie  in  ullen  sonstigen  verfüg- 
baren bedeckten  Räumen  der  letzteren  und  mit  der  Einschränkung  des  ^ 4 ist  der'  Handel  mit 
Gegenständen  des  Marktverkehrs  (§  liß.  Satz  1 und  Nr.  1,  2 und  3 der  Reichsgewerbeordnungl 
gestattet.  In  den  Kellerräumen  darf  ein  Marktverkehr  nur  insoweit  stattfinden,  als  dieselben 
von  der  Markthallenverwaltung  hierzu  eingerichtet  nnd  ausdrücklich  bestimmt  sind. 

Das  Feilhieten  von  Waaren,  welche  nicht  zu  den  Gegenständen  des  Marktverkehres 
oder  zu  den  durch  die  zuständige  Verwaltungsitehörde  ausserdem  ausdrücklich  im  Marktverkehr 
zngelassenen  Gegenständen  gehören,  darf  in  den  Markthallen  nicht  stattfinden. 


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398 


MARKTPOLIZEI.  — MEDICINAL- MALTON-WEINE. 


§ 4.  Gewerbetreibenden,  welche  mit  Gegenständen  des  Marktverkehrs  handeln,  einen 
eigentlichen  Marktstand  aber  nicht  besitzen,  können,  soweit  der  Verkehr  dies  nach  dem  Er- 
messen des  Commissära  für  Markt-  und  Gewerbeangelegenheiten  gestattet,  auch  aosserhall*  der 
Markt-tände.  insbesondere  in  den  breiten  Durchfahrten,  feste  Handelsstellen  angewiesen  werden. 
Unter  allen  Umständen  ausgeschlossen  von  der  Besetzung  mit  derartigen  Handelsstellen  sind 
diejenigen  Gänge  in  den  Markthallen,  welche  nicht  mehr  als  2 Meter  breit  sind. 

§ 5.  Jeder  Gewerbebetrieb  im  Umhergehen  in  den  Markthallen  ist  verboten. 

§ 6.  Gegenstände  des  Marktverkehrea  sind: 

1.  Rohe  Naturerzeugnisse  mit  Ausschluss  des  grösseren  Viehes; 

2.  Fabrikate,  deren  Erzeugung  mit  der  Land-  und  Forstwirtschaft , dem  Gatten* 
und  Obstbau  oder  der  Fischerei  in  unmittelbarer  Verbindung  steht,  oder  zu  den  Neben- 
beschäftigungen der  Landlente  der  Gegend  gehört  oder  durch  Tagelöhnerarheit  bewirkt  wird, 
mit  Ausschluss  der  geistigen  Getränke; 

3.  frische  Lebensmittel  aller  Art. 

Der  zuständigen  Verwaltungsbehörde  bleibt  es  Vorbehalten,  auf  Antrag  der  Gemeinde- 
behörde noch  andere,  als  die  vorgenannten  Gegenstände  zum  Marktverkebr  in  den  Markthallen 
zQzulassen  (37  Gruppen  sind  „nach  Ortsgewohnheit  und  Bedtirfuiss“  vom  Berliner  Bezirks- 
ausschuss zugelassen  worden). 

Während  die  §§  11 — 17  die  Raumvertkeilung,  Competenzen  der  Aof- 
eichUbeamten,  Störungen  der  Ruhe  und  Ordnung,  Streitigkeiten,  Anwesenheit  von 
Hunden,  Normirung  der  Preise  und  Strafenbelegung  regeln,  sind  von  hygienischer 
Bedeutung  noch  folgende  Vorschriften : 

§ 7.  Das  Mitbringen  von  rohen  Thierfellen  in  die  Markthallen,  sowie  das  Lagern 
derselben  und  der  Handel  mit  denselben  in  den  Markthallen  ist  im  gesundheitspolizeiüchen 
Interesse  verboten. 

Eine  Ausnahme  von  diesem  Verbot  findet  nur  statt  bezüglich  des  Ausschlachtens 
und  Zerlegens  von  Kälbern  und  Wild  aus  dem  ganz  frischen  Fell. 

§ 8.  Unreifes  Obst  ist  von  dem  reifen  gesondert  zu  halten  und  als  solches  durch 
Aufstellung  einer  Tafel  mit  der  deutlich  lesbaren  Aufschrift  „Unreifes  Obst“  kenntlich 
zu  machen. 

§ 9-  Wer  Rossfleisch  zum  Verkauf  stellt,  darf  nicht  auf  demselben  Verkaufs?tand 
anderes  Fleisch  feilhalten  und  muss  an  dem  Verkaufsstand  eine  Tafel  mit  der  d-utlich  lesliaren 
Aufschrift  „ Rossfleisch“  führen. 

$ 10.  Kunstbutter  und  Mischbutter  ist  von  Naturbutter  gesondert  zu  halten  und 
als  solch«  durch  Aufstellung  einer  Tafel  mit  der  deutlich  lesbaren  Aufschrift  „Kunst butter“, 
„Mischbutter“  kenntlich  zu  machen. 

Literatur:  ')  E Thomas,  Manuel  des  hailes  et  warchts  en  (/ros.  Paris  1872- 
— s)  A.  Palmberg,  TraiU  d'hygiine  publique.  Paris  1891.  — “)  J.  Hennick  e,  Mit- 
theilungen über  Markthallen.  Berlin  1881.  — 4)  Dämmer,  Handbuch  der  Gesundheitspflege 
Stuttgart  1891.  *—  5)  Th.  Wey  Ta  Handbuch  der  Hygiene.  Jena  1893,  VI.  1.  — a)  Wern  ich 
und  Wehm  er,  Lehrbuch  des  öffentlichen  Gesundheitswesens.  Stuttgart  1894.  Wern  ich. 

Medicinal-Malton-Weine.  Dr.  Lauer  bereitet  alkoholische  Getränke 
obigen  Namens,  welche  keine  Spur  von  Traubensaft  enthalten,  sich  jedoch  kaum 
von  echten  Weinen  unterscheiden,  nur  etwas  voller  sind  und  einen  ganz  geringen, 
an  Malzextract  erinnernden  Beigeschmack  haben.  Die  eigentümliche  Beschaffen- 
heit des  Malton-Weines  ergiebt  sich  aus  der  von  Lauer  angegebenen  Herstellungs- 
art, die  im  Wesentlichen  darin  besteht , dass  eine  gesäuerte  MalzwUrzc  durch 
Reineulturen  von  Hefe,  die  von  einer  bestimmten  Traubenart  lierstammt,  in  ein 
alkoholisches  Getränk  übergeffihrt  wird , welches  in  Geschmack  jenen  Weinen 
ähnelt,  von  deren  Tranbenart  die  Hefe  zur  Reinzüchtung  entnommen  wurde.  Es 
wird  also  die  Bereitung  damit  eingeleitet,  dass  man  die  Hefe  einer  besonderen 
Traubenart,  z.  B.  der  spanischen  oder  ungarischen,  aus  kleinster  Menge  in  Rein- 
cultur  auf  sterilisirter  gesäuerter  Malzwürze  anfzieht  and  vermehrt  und  dem- 
gemäss eine  vollkommen  reine  Rasse  verwenden  kann.  Durch  bestimmte  Maiscli- 
temperatnren  wird  eine  Würze  erreicht,  die  circa  80%  Maltose,  20%  Isomaltose 
und  Dextrin  enthält.  Die  Säuerung  dieser  Würze  erfolgt  durch  künstliche  Milch - 
säaregährung  aus  rein  gezüchteten  Milchsäurebakterien.  Die  Menge  der  Milch- 
säure wird  auf  0,6  — 1,0%  der  Gesammtwürzc  reducirt.  Wird  nun  die  zu  ver- 
gütende milchsäurehaltigc  Würze  mit  dieser  Hefe  beschickt,  so  tritt  eine 
Btürinische  Alkoholgährung  ein,  die  bis  zu  14,  ja  selbst  18  Volumprocent  Alkohol 
bildet  und  zugleich  entwickeln  Bich  damit  die  eigenthümlichen,  jenen  Trauben 


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MEDICINALMALTON- WEINE.  — MENSTRUATION. 


399 


udcI  den  daraus  gewonnenen  Weinen  charakteristischen  Riech-  und  Geschmack- 
stoffe.  Es  ist  eben  merkwürdig,  dass  jede  Heferasse,  wenn  sie  rein  gezüchtet 
einem  Gähruugssubstrat  zugesetzt  wird , nicht  nur  ihre  ganz  bestimmte  Menge 
Alkohol  und  alkoholähnlicher  aromatischer  Stoffe  bildet,  sondern  auch  dem 
resultirendcn  Getränk  ihren  specifiscben  Charakter  aufdrängt.  So  haben  der  unter 
Bezeichnung  Tokaier  gehende  Maltouwein  nach  der  Analyse  von  FRESENIUS 
14,37  Volumprocent  Alkohol,  der  Malaga  25,28“/o,  der  Sherry  18,62“/,, 
auch  den  Geschmack  der  betreffenden  Weinsorten.  Der  diesem  „Jungmalzwein“ 
nocli  anhaftende  Malzgeschmack  und  Geruch  wird  dadurch  möglichst  beseitigt, 
dass  derselbe  entgegen  dem  "bei  der  Nachgährung  des  Lagerbieres  eingeschlagenen 
Verfahren  bei  einer  Temperatur  von  circa  50“  C.  mit  einem  stetig  erneuerten 
Luftstrom  einige  Wochen  lang  beschickt  wird.  Nach  C.  A.  Ewald  sind  diese 
Malton  Weine,  die  wesentlich  Aethylalkohol  und  keine  Spur  von  Fusel  enthalten, 
durch  ihren  bedeutenden  Nährwerth,  den  sie  dem  hoben  Malzextractgehalt,  dem 
hohen  Gehalt  an  Albumosen  und  phosphorsauren  Salzen  verdanken,  ferner  wegeu 
ihres  angenehmen  Geschmackes  berufen , in  der  Krankenpflege,  beziehungsweise 
Ernährung  eine  wichtige  Rolle  zu  spielen.  Im  Augnsta-IIospitale  wurden  die 
verschiedenen  Sorten  des  Malton-Weines  an  Kranke  verabreicht,  sie  wurden 
gern  genommen  und  entsprachen  den  Erwartungen  in  Bezug  auf  belebende  und 
stärkende  Wirkung. 

Literatur:  C.  A.  Ewald,  lieber  Medicinal-Malton-Wein.  Berliner  klin.  Wochen- 
schrift. 1895,  Nr.  42.  Loebisch. 

Megalokephalie,  s.  Akromegalie,  pag.  17. 

Menstruation.  Unter  Menstruation  verstehen  wir  den  bei  dem  ge- 
schlechtsreifen  Weibe  sich  alle  vier  Wochen  einstellenden,  einige  Tage  anhaltenden 
und  in  der  Regel  mit  gewissen  Störungen  im  Allgemeinbefinden  verbundenen 
Blutfluss  aus  dem  Uterus,  der  so  ziemlich  der  Brunst  der  weiblichen  Säugethiere 
entspricht. 

Das  Jahr  1827,  in  das  die  epochemachende  Entdeckung  des  menschlichen 
Eies  von  Ca  kl  Ernst  v.  Haek  ')  fällt , bildet  den  grossen  Markstein  in  der  Ge- 
schichte der  Menstruation,  wenn  auch  der  Genannte  gerade  100  Jahre  früher  in 
Si.NTEMMA s)  einen  nicht  weiter  beachteten  Vorgänger  hatte,  der  auf  dem  Wege 
der  Speculation  den  Vorgang  von  dem  Austritte  des  Eies  aus  dem  Ovarium  und 
die  Wanderung  desselben  durch  die  Tuba  in  den  Uterus  richtig  construirte.  Bis 
dahin  stossen  wir  auf  nicht  wenige  Hypothesen,  diesen  räthselhaften  Vorgang  der 
Natur  zu  deuten  und  zu  erklären.  Die  vorherrschendste  derselben  lief  darauf 
hinaus,  in  der  Menstruation  eine  kritische  Ausleerung,  durch  die  allerlei  schädliche 
Stoffe  aus  dem  weiblichen  Körper  entfernt  werden,  zu  sehen.  Uebereinstimmend 
mit  dieser  Anschauung  wurden  dem  Menstrualblute  giftige  Eigenschaften  zuge- 
schrieben. 

Erst  jene  erwähnte  Entdeckung  ermöglichte  eine  wenigstens  annähernd 
richtige  Auffassung  dieses  physiologischen  Vorganges,  nämlich  die  menstruale 
Blutung  mit  der  Ovulation  in  ursächlichen  Zusammenhang  zu  setzen , wenn  uns 
auch  trotz  eingehendster  Studien  das  Wechselverhältniss  zwischen  Ovu- 
lation und  Menstruation  noch  immer  nicht  ganz  klar  ist. 

Bischoek  ’)  sprach  sich  seinerzeit  dahin  aus,  dass  die  Ovula  periodisch, 
und  zwar  unabhängig  von  der  Einwirkung  des  Spermas  reifen  und  ausgestossen 
werden,  und  zwar  zu  der  Zeit,  die  man  Menstruation  nenne,  so  dass  nur  zu  dieser 
Zeit  die  Cohabitation  befruchtend  sei.  Bezüglich  des  zeitlichen  Verhältnisses  der 
Follikelberstung  zur  menstrualen  Blutung  glaubte  er,  dass  erstere  erst  gegen  Ende 
der  Blutung  vor  sich  gehe.  Trotz  dem  Gesagten  aber  meinte  er,  dass  die  Men- 
strualblutung nur  eine  accidentellc  Erscheinung  der  Ovulation  sei  und  letztere 
auch  ohne  erstere  vor  sich  gehen  könne,  Beweis  dessen  die  Fälle  von  C'onception 
bei  Amenorrhoe. 


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400 


MENSTRUATION. 


PFLÜOKK  *)  hält  1*8  für  endgiltig  bewiesen , dass  die  Ovarien  die  Men- 
struation bedingen,  alter  nur  so  lange,  als  in  ihnen  Eier  reifen,  und  dass  die 
Entfernung  derselben  die  Menstruation  für  immer  aufhebt.  Die  Veränderungen, 
die  die  Uterusmueosa  während  der  Menstruation  zeigt,  fasst  er  als  den  Beginn 
einer  Bildung  der  Membrana  deeidua  auf,  die  sich  anschickt,  das  Ei  zur  Ein- 
bettung aufzunehmen.  Nach  seiner  Anschauung  besteht  ein  Wechsel  Verhältnis? 
zwischen  der  Menstrualblutung  und  dem  Austritte  des  Eies  aus  dem  Follikel,  doch 
muss  ein  solches  nicht  sein,  denn  es  können  auch  erstere  ohne  letzterem  da  sein, 
wie  dies  die  Fülle  erweisen , in  denen  gesunde  Frauen  in  Folge  heftiger  Ge- 
müthsaffeote  und  anderer  Umstände  plötzlich , ausserhalb  ihres  sonst  üblichen 
Termines,  zu  menstruiren  beginnen,  obwohl  es  keinem  Zweifel  unterliege,  dass 
nicht  zu  jeder  Zeit  ein  reifer,  eben  im  Bersten  begriffener  Follikel  vorhanden 
sei.  Die  Ovulation  — die  Berstung  des  Follikels  nnd  der  Austritt  des  Eies  — 
ist  daher  nicht  die  Ursache  der  Menstruation.  Den  rhythmischen  Eintritt  der 
Menstruation  erklärt  er  daraus,  dass  in  den  Ovarien  fortwährend  Follikel,  die 
von  einem  derben  Parenchym  umgeben  sind,  wachsen  und  daher  durch  ihre  stete 
Volumszunahme  auf  die  im  Parenchym  verlaufenden  Nerven  einen  Druck  ausüben, 
der  für  diese  eine  Reizung  ist.  Sobald  nun  jene  Reizung  eine  Zeit  laug  ange- 
dauert , d.  h.  wenn  bei  dem  gegebenen  Zustande  der  Erregbarkeit  des  Rücken- 
markes die  Summe  der  fortwährenden  kleinen  Reizungen  eine  gewisse  Höhe 
erreicht  hat,  erfolgt  der  retiectorische  Ausschlag  in  Form  einer  gewaltigen  Blut- 
congestion  nach  den  Genitalien.  Diese  eine  Zeit  andauernde  Congestion  bringt  nun 
einerseits  die  mcnstrnalen  Veränderungen  des  Uterus  und  andererseits  die  Reifung 
der  grösseren  Follikel  zu  Stande.  Es  tritt  Blutung  ein  nnd  während  oder  nach 
dieser  öffnet  sich  der  Follikel  und  tritt  das  Ovum  hervor.  Blutung  und  Eilösung 
sind  demnach  zwei  durch  die  gleiche  Ursache,  die  menstrualc  Congestion,  bedingte 
Phänomene.  Die  Periodicität  der  menstrualen  Congestion  ist  darin  begründet,  dass 
bei  dem  dynamischen  Gleichgewichte,  welches  iu  allen  Organen  herrscht,  dir 
Stärke  und  Zahl  der  Reizungen , die  von  den  Ovarien  täglich  in  da»  Cefitral- 
nervensystem  zugeführt  werden,  constant  sind,  so  dass  die  Summe  von  Reizungen 
bestimmter  Stärke,  die  zur  Erzeugung  des  reflectorischen  Ausschlages  erforderlich 
ist,  stets  immer  im  Laufe  einer  constanten  Zahl  von  Tagen  angehäuft  wird.  Men- 
struation ohne  Ovulation  findet  dann  statt,  wenn  zur  Zeit  der  menstrualen  Con- 
gestion kein  Follikel  zur  Reife  gelangt  ist. 

Nach  Sigismund*)  ist  die  Menstruation  nicht  Folge  der  Ovulation  und 
auch  nicht  ein  Zeichen  des  Zerfalles  und  der  Abstossung  der  während  der  Inter- 
menstrualperiode  gewucherten  oberflächlichen  Schichten  der  Uterusmueosa,  sondern 
die  Wucherung  der  Uterusmueosa  bildet  das  Bett  für  das  der  Befruchtung  ent- 
gegensehende Ei.  Tritt  letztere  ein,  so  entwickelt  sieh  die  Deeidua  weiter,  bleibt 
sie  dagegen  aus,  so  verfällt  die  Deeidua  der  Auflösung  und  wird  ausgestossen. 
da  sic  nun  überflüssig  geworden  ist.  Die  Menstruation  beweist  daher  nur,  dass 
ein  Ei  abgesondert  wurde,  das  nicht  befruchtet  wurde,  nicht  aber  dass  es  abge- 
sondert wird.  Der  ganze  Vorgang  ist  daher  nichts  Anderes  als  ein  Abort  eines 
unbefruchteten  Eies.  Nach  dieser  Auffassung  erklärt  es  sich  leicht,  wie  so  cs  ge- 
schehen kann,  dass  das  Weib  noch  vor  seiner  ersten  Menstruation  concipirt.  Da 
die  periodische  Bildung  der  Deeidua,  auch  unabhängig  von  der  Bildung  eiucs  Eies, 
als  ein  in  der  Anlage  des  Uterus  selbst  begründeter  Vorgang  anzusehen  ist,  so 
kann  auch  Menstruation  nach  Castration  eintreten. 

Nahe  diesen  Anschauungen  stehen  die  Löwenhakdt's.*)  Die  Ovulation  ist 
periodisch,  findet  aber  5 — 8 Tage  vor  Eintritt  der  Menstruation  statt.  Der  <*rt 
der  Conception  ist  die  Tuba  und  folgt  die  Conception  stets  dem  Eiaustrittr.  Be- 
findet sich  in  der  Tuba  kein  Sperma  zur  Zeit,  als  das  Ovum  aus  dem  Ovarinm 
hervortritt,  so  geht  das  Ei  zu  Grunde  und  gleichzeitig  mit  ihm  wird  die  Deeidua 
ausgestossen,  ein  Vorgang,  der  mit  Blutung  verbunden  ist.  Findet  dagegen  Be- 
fruchtung statt,  so  entwickelt  sich  die  Deeidua  weiter.  Um  die  Fälle  von 


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MENSTRUATION. 


401 


Conception  nach  einmaliger,  einige  Tage  nach  cessirter  Menstruationsblutung  statt- 
gehabter Cohabitation  zu  erklären,  nimmt  Löwexhabdt  eine  Vitalität  von  mindest 
zwei  wöchentlicher  Dauer  der  Spermazellen  an.  Unbedingt  steril  aber  bleibt  nach 
ihm  die  Cohabitation  intra  menstruationem. 

Heicheht7!  meint,  die  Bildung  der  Decidua  menstrualix  und  Ausstossung 
des  reifen  Eies  seien  zwei,  während  der  Menstruationsperiode  neben  einander  ver- 
laufende Vorgänge.  Der  Eiaustritt  aus  dem  Follikel  erfolge  wenigstens  24  bis 
48  Stunden  nach  dem  eigentlichen  Beginn  der  Menses  und  der  Bluterguss  stelle 
sich  wahrscheinlich  erst  nach  dem  Austritte  des  Eies  ein,  vorausgesetzt,  dass  keine 
Befruchtung  stattfindet. 

BEIGEL  sieht  die  Menstruation  als  unabhängig  von  der  Ovulation  an. 

Letztere  beginnt  schon  im  Kindesalter,  Beweis  dessen  die  Fälle  von  Gravidität 
bei  7 — 9jährigen  Mädchen.  Die  Anwesenheit  reifer  Ovula  erzeugt  jedoch  in  der 
Kegel  erst  dann  sexuelle  Impulse,  wenn  die  Genitalien  ihre  Keife  erlangt  halten. 

Erst  bei  zu  voller  Reife  gelangten  Genitalien  treten  von  Zeit  zu  Zeit  wieder- 
kehrende sexuelle  Impulse  ein,  wobei  es  in  Folge  von  Ueberftlllung  der  Capillaren 
der  Uterusmueosa  und  wahrscheinlich  auch  der  Tuben  zu  einer  Blutung  aus  diesen 
Organen  kommt.  Dies  ist  die  Menstruation.  Die  Rolle , die  die  Ovarien  hierbei 
spielen,  ist  eine  ganz  passive,  aber  nicht  unwichtige.  Diese  menstruale  Hyperämie 
beschleunigt  das  Wachsthum  und  Bersten  der  Follikel.  Eine  gleiche,  aller  nur 
vorübergehende  Turgeseenz  erzeugt  der  Coitus,  deshalb  kann  auch  er,  wenn 
auch  nicht  in  so  hohem  Masse,  die  Reife  der  Follikel  beschleunigen,  doch  gleicht 
er  durch  die  Häufigkeit  das  aus , was  die  Menstruation  durch  die  lange  Dauer 
leistet.  Auf  die  Weise  lässt  sich  die  zu  jeder  Zeit  vorhandene  Coneeptiousfühig- 
keit  leicht  erklären.  Es  ist  demnach  die  Menstruation  von  der  Ovulation  und  die 
t’iinception  von  der  Menstruation  unabhängig. 

Aehnliche  Anschauungen  hat  Slavjansky.  */  Die  Follikel  erreichen  von 
den  ersten  Lebensmonaten  an  bis  zum  Greisenalter  gewisse  Stufen  der  Reife, 
doch  verfallen  die  meisten  derselben  ohne  erreichte  völlige  Reife  der  Atresie. 

Das  Zustandekommen  dieser  Atresie  weist  eine  fast  vollständige  Analogie  mit  der 
Bildung  der  gelben  Körper  auf.  Das  Wachsthum  und  die  Reifung  der  Follikel 
sind  nicht  regelmässig,  nicht  periodisch  und  giebt  es  keinen  Connex  zwischen 
ihnen  und  der  Menstruation.  Letztere  ist  ein  völlig  selbständiges  physiologisches, 
von  der  Reifung  der  Follikel  unabhängiges  Phänomen.  Die  Berstung  der  Follikel 
steht  immer  mit  einer  Congestiou  der  Beckenorgane,  die  durch  mancherlei  Ur- 
sachen bedingt  wird,  in  Zusammenhang. 

Lorwknthal  •«)  schlägt  eine  neue  Deutung  des  Menstrualprocesses  vor. 

Er  geht  von  der  Ansicht  aus,  dass  unzweifelhaft  zwischen  Ovulation  und  Men- 
struation Wechselbeziehungen  bestehen.  Da  aber  in  Folge  der  zeitlichen  lncon- 
gruenz  diese  Wechselbeziehung  nicht  als  unmittelbarer  Zusammenhang  zwischen 
den  beiden  Processen,  und  zwar  Ovulation  als  Ursache  und  menstruale  Blutung 
als  Folge  aufgefasst  werden  kann,  so  bleibt  nur  noch  die  Annahme,  dass  dieser 
Zusammenhang  ein  mittelbarer  sei  und  sich  ein  dritter  Factor  zwischen  Ovu- 
lation als  Ursache  und  Menstruation  als  Folge  einfügen  müsse.  Dieser  Factor  ist 
das  unbefruchtete  Ei.  Letzteres  gelangt  auf  die  Uterusmueosa  und  erzeugt  Schwel- 
lung derselben,  die  Decidua  menstruat i/t.  Erfolgt  Befruchtung,  so  wandelt  sieh 
die  menstruale  Decidua  in  eine  Schwangerschaftsdecidua  um.  Bei  Ausbleiben  der 
Befruchtung  stirbt  das  Ei  ab  und  erzeugt  dadurch  sowohl  eine  active  Blutcon- 
gestion , als  auch  den  Zerfall  der  Menstrualdecidua , wodurch  es  zur  Menstrual- 
blutung kommt.  Die  Hyperämie  wirkt  ihrerseits  wieder  auf  die  mittelbare  Quelle 
Ihres  Ursprunges  zurück,  nämlich  auf  das  bildende  Organ,  und  trägt  dadurch 
dazu  bei,  einen  inzwischen  wieder  herangereiften  Follikel  im  Ovariuin  zum  Bersten  zu 
bringen.  Selbstverständlich  aber  ist  es  nicht  ausgeschlossen,  dass  auch  jede  andere, 
der  mcnstrualen  Congestion  gleichwerthige  und  gleich  wirkende  Ursache  dieselbe 
Wirkung  hervorrufen  kann , einen  reifen  Follikel  zum  Bersten  zu  bringen.  Da 

Encyclop.  Jahrbücher.  VI 

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402 


MENSTRUATION. 


nach  unseren  heutigen  Anschauungen  ein  physiologischer  Blutverlust  undenkbar 
ist,  die  Menstrualblutung  weiterhin  weder  eine  physiologische  Fnnction,  noch  die 
»otbwendige  Begleiterscheinung  einer  solchen  ist,  sondern  nur  die  dunkle  und 
durch  unzählbare  Wiederholungen  verstärkte  Folge  eines  durch  culturelle  Ver- 
hältnisse bedingten  Vorganges  (der  Nichtbefruchtung  und  des  Absterbens  des  Eies) 
ist,  so  hat  sie  alle  Eigenschaften  und  Wirkungen  anderer  und  stets  pathologischer 
Blutungen. 

FeOKTISTOW  n)  sieht  die  Ovulation  als  unabhängig  von  der  Menstruation 
und  nicht  periodisch  vor  sich  gehend  an.  Die  Periodicität  der  Menstruation  er- 
klärt sich  nach  PflCger's  Beispiel  durch  Reflex  von  den  Ovarien  in  Form  von  Blut- 
congestion.  Befruchtung  des  Eies  ist  nach  ihm  nur  dann  möglich , wenn  die 
charakteristischen  Menstrualveränderungen  der  Fterusmucosa  da  sind.  Dies  schliesst 
aber  nicht  die  Conception  bei  Amenorrhoe  aus,  da  bei  einer  solchen  die  charak- 
teristischen Menstrualveränderungeu  der  Fterusmucosa  auch  vorhanden  sein  können, 
wenn  auch  keine  Blutung  da  ist. 

Nach  Veit11!  liegt  die  Ursache  der  Ovulation  in  dem  steigenden  Drucke 
im  Innern  des  Follikels.  Der  Zeit  nach  trifft  die  Ovulation  mit  der  Menstruatiun 
ungefähr  zusammen,  d.  h.  es  kann  erstere  vor,  während  oder  kurz  nach  dem 
Blutabgange  eintreten.  Ausser  dieser  menstrualen  Ovulation  giebt  es  noch  eine 
zufällige , von  der  Menstruation  unabhängige , die  durch  verschiedenartige  die 
Genitalien  treffenden  Reize  — sexuellen  Verkehr,  centrale  Ursachen  u.  dcrgl.  m.  — 
bedingt  wird.  Das  wechselseitige  Verhältniss  zwischen  Ovulation  und  Menstruation  ist 
ein  derartiges,  dass  das  Bedingende  die  Ovulation  und  das  Bedingte  die  Men- 
strualblutung ist,  wobei  auch  in  erster  Linie  in  der  Ovulation  die  Ursache  der 
Regelmässigkeit  beider  Vorgänge  gesucht  werden  muss.  Die  Follikelreifung  stellt 
einen  Reiz  ftlr  die  Genitalncrven  dar,  unter  deren  Reiz  es  zur  Anschwellung  des 
Endometriums  kommt , die  äich  nach  Erreichung  eines  gewissen  Grades  unter 
Seeretion  von  blutigem  Schleim  zurtlckbildet.  Follikelberstung  und  Eiaustritt  haben 
an  und  für  sich  keinen  Einfluss  auf  den  menstrualen  Process.  Nur  das  Heran- 
reifen des  Eies  bedingt  Hyperplasie  der  Uterusmueosa.  Ist  demnach  die  Ursache 
der  menstrualen  Uterusveränderungen  in  den  Ovarien  zu  suchen , so  kann  doch 
nicht  von  der  Hand  gewiesen  werden,  dass  auch  in  der  An-  und  Rückbildung 
des  Endometriums  an  sich  eine  Ursache  der  Regelmässigkeit  gesucht  werden  kann. 
Aller  Wahrscheinlichkeit  nach  tritt  hier  schliesslich  eine  gewisse  Selbständigkeit 
ein,  so  dass  man  von  einer  Gewöhnung  des  Endometriums  sprechen  darf. 

Chazan  i!)  steht  auf  dem  Standpunkte,  dass  Menstruation  und  Ovulation 
fast  getrennt  von  einander  vor  sich  gehen  und  nur  insoweit  in  Zusammenhang 
unter  einander  steheu,  als  es  dem  Ziele  entspricht,  welches  ihrem  Dasein  zu 
Grunde  liegt.  Die  stete  Conceptionsfähigkeit  des  Weibes  spricht  dafür,  dass  die 
Ovulation  während  der  ganzen  Dauer  des  Geschlechtslebens  stattfindet,  und  zwar 
auch  bei  Amenorrhoe.  Die  Ovulation  ist  nicht  an  die  Menstruation  gebunden,  sie 
kann  au  jedem  Tage  der  Intermenstrualperiode  stattfinden  und  geht  sie  ununter- 
brochen vor  sich.  Dass  in  den  ersten  Tagen  nach  der  Menstruation  am  leichtesten 
Conception  erfolgt , spricht  nicht  gegen  die  erwähnten  Anschauungen , da  diese 
Beobachtung  nur  erweist,  dass  für  die  Conception  auch  der  Zustand  des  Bodens, 
in  dem  sich  das  befruchtete  Ei  einbettet,  von  Bedeutung  ist.  Die  Unabhängigkeit 
der  Ovulation  von  der  Menstruation  involvirt  noch  nicht  die  Nothwendigkeit  des 
Umgekehrten.  Es  steht  im  Gegentheile  die  Menstruation  in  einer  gewissen  Ab- 
hängigkeit von  der  Ovulation.  Bei  Fehlen  oder  rudimentärer  Entwicklung  der 
Ovarien  fehlt  die  Menstruation,  weil  hierbei  stets  auch  der  Uterus  fehlt  oder  nur 
rudimentär  angelegt  ist.  Bei  Fehlen  des  Uterus  können  dagegen  die  Ovarien 
normal  entwickelt  sein  und  fuuetioniren.  Die  Menstruation , obgleich  selbständig 
organisirt , bedarf  doch  eines  Anstosses  durch  die  Ovulation.  Sie  kann  einmal 
monatlich  auftreten,  wenn  während  dieser  Zeit  viele  Follikel  gereift  und  geborsten 
sind,  und  umgekehrt  kann  die  langsame  Reifung  eines  Follikels  mittelst  des  auf 


MENSTRUATION. 


403 


da«  Nervensystem  ausgeühten  Reizes  mehrere  Menstruationen  hervorrnfen.  Die 
Periodieität  der  Menstrnation  wird  durch  Pfi.Cger’s  Hvpotliese  nicht  erklärt. 
Stützen  zur  Erklärung  derselben  sind  in  den  Ovarien  nicht  zu  linden.  Man  muss 
sieh  die  UterusmucoBa  während  der  ganzen  Dauer  des  Geschlechtslebens  in  immer 
währender  Lebensthätigkeit,  ohne  eine  Pause,  denken.  Die  Vollendung  der  Rück- 
bildung der  Uterusmucosa  bildet  zugleich  den  Anstoss  zum  Wiederbeginn  der 
Anschwellung  und  sind  die  bekannten  28  Tage  der  Zeitraum  , der  zum  völligen 
Abläufe  eines  solchen  Cyclus  nöthig  ist. 

Nach  Glaevecke  ll)  ist  die  Pflüg  ER'sche  Theorie  des  Menstrnations- 
processcs  noch  immer  die,  die  den  Vorgang  am  besten  erklärt  und  den  That- 
sachen  am  meisten  entspricht,  nur  muss  sie  den  neueren  Forschungen  angepasst 
werden.  Eine  Reihe  von  Thatsachen  spricht  dafür,  dass  die  Ovulation  unabhängig  von 
der  Menstruation  zu  jeder  Zeit  stattlinden  kann,  doch  erfolgt  sie  zumeist  zur  Zeit 
der  Menstrnation,  da  sich  da  die  Ovarien  im  Zustande  der  Hyperämie  befinden, 
durch  den  die  Seeretion  des  Liquor  vermehrt  und  die  Beratung  des  Follikels 
beschleunigt  wird.  Es  kann  das  Ei  aber  auch  in  der  menstruationsfreien  Zeit 
austreten.  Den  Eintritt  der  Menstruation  erklärt  er  wie  PflCgeb.  Ist  ein  sprung- 
fertiger Follikel  da,  so  wird  seine  Beratung  durch  die  mcnstruale  Hyperämie 
beschleunigt,  es  muss  aber  nicht  ein  solcher  vorhanden  sein.  Im  Uterus  hat  sich 
unter  der  Zeit  die  Decidua  menstrualis  gebildet  und  die  nun  reflectorisch  ausge- 
löste Hyperämie  des  Uterus  trifft  schon  auf  eine  gelockerte,  stark  saftreiche  Mu- 
cosa.  Dadurch  kommt  es  zur  Beratung  der  C'apillaren,  i.  e.  zur  Blutung.  Der 
reflectorisch  vom  Centrum  ausgelöste  Nervenreiz  bildet  daher  nur  den  letzten 
Anstoss  zum  Beginn  der  Menstrualblutung.  Findet  der  reflectorische  Reiz  zu  einer 
Zeit  statt,  in  der  keine  Decidua  meustrua/is  da  ist,  so  kann  natürlich  keine 
Blutung  erfolgen.  Die  Ovulation  ist  von  der  Menstruation  als  ein  selbständiger 
Vorgang  abzutrennen , trotzdem  ist  aber  die  Menstruatiou  vom  Ovarium , d.  h. 
von  der  Follikelreifung  abhängig.  Die  Ovulation  findet  gewöhnlich  ungefähr 
periodisch  zur  Zeit  der  Menstruation  statt.  Sie  kann  aber  auch  unperiodisch  zu 
jeder  Zeit  vor  sich  gehen,  trotzdem  die  Menstruation  periodisch  bleibt.  Die  Ovu- 
lation ist  jedenfalls  ein  selbständiger  Vorgang,  der  in  keiner  Weise  an  die  Men- 
struation geknüpft  ist  und  ohne  dieselbe  vor  sich  gehen  kann.  Die  Menstruation 
aber  ist  vom  Ovarium  abhängig  und  kann  nur  bei  functionireudem  letzteren  zu 
Stande  kommen.  Wenn  sich  das  Endometrium  auch  selbständig  zur  Menstruations- 
blutung vorbereitet,  so  darf  man  sich  dasselbe  doch  nicht  so  selbständig  vor- 
stellen , dass  es  allein  im  Stande  wäre , eine  Menstruationsblutung  auszulösen. 
Letztere  kommt  nur  dann  zu  Staude,  wenn  die  letzte  dazu  nöthige  Hyperämie 
vom  Ovarium  aus  durch  Nervenreiz  angeregt  wird.  Ist  auch  die  Ovulation  nicht 
an  eine  regelmässige  Periodieität  gebunden,  so  bleibt  die  Menstruation  doch  regel- 
mässig periodisch.  Dies  hat  seinen  Grund  im  Anfsummen  des  Reizes  im  Centralorgane 
und  im  Verhalten  des  Endometriums,  dem  Zustande  der  vierwöchentlichen  Wellen- 
linie, in  der  sich  das  Endometrium  bewegt.  Befindet  «ich  der  Uterus  auf  dem 
Gipfel  der  Welle,  d.  h.  ist  eine  Decidua  menstruali»  da  und  trifft  sie  der  Nerven- 
reiz, so  kommt  es  zur  Blutung,  sonst  nicht.  Gewöhnlich  fallen  diese  zwei  Factoren 
(der  reflectorische  Reiz  und  die  Bildung  der  Decidua  menstrualis)  zusammen 
und  kommt  es  daher  allvierwöcheutlich  zur  Menstruationsblutung.  Trotzdem 
die  Ovulation  jederzeit  reife  Eier  liefern  und  der  Coitus  jederzeit  stattfinden 
kann,  tritt  Coneeption  nachweislich  am  häutigsten  gleich  nach  der  Menstruation 
ein , w eil  sich  das  befruchtete  Ei  nur  zu  dieser  Zeit  im  Uterus  ansiedeln  kann 
und  hier  einen  günstigen  Nährboden  findet.  Für  die  Unabhängigkeit  der  Ovulation 
von  der  Menstruation  spricht  auch  die  bekannte  Thatsache  der  Fortdauer  der- 
selben nach  operativer  Entfernung  des  Uterus. 

Steinhaus  16  will  das  zwischen  Ovulation  und  Menstruation  bestehende 
Wcchselverhältniss  durch  nachfolgende  Hypothese  klären.  Die  Ovarien  stellen  die 
Drüse,  Tuben,  Uterus  und  Vagina  deu  Ausführungsgang  der  Drüse  vor.  Die 

2ii* 


MENSTRUATION. 


404 

Function  des  Drüsenausführungsganges  ist  unabhängig  von  der  Function  der 
Drtise,  d.  h.  die  Menstruation  ist  unabhängig  von  der  Ovulation.  Wird  die  Drüse 
atrophisch  oder  entfernt,  so  erfolgt  Atrophie  des  Drlisenausfilhrungsgauges,  d.  li. 
wird  das  Ovariutn  entfernt,  so  atrophirt  der  Uterus.  Wird  nur  der  Drüsenaus- 
führungsgang entfernt , so  functionirt  die  Drüse  weiter,  d.  h.  die  Ovulation  geht 
auch  weiterhin  von  statten,  wenn  auch  der  Uterus  entfernt  wurde.  Die  Men- 
struation ist  daher  von  Ovulation  abhängig,  nicht  aber  die  Ovulation  von  der 
Menstruation. 

Fussend  auf  den  Ergebnissen  seiner  Studien , die  er  au  exstirpirten 
Ovarien  vornalun , kommt  Leopold  Io)  zu  folgenden  Ansehauungen  über  da« 
zwischen  der  Menstruation  und  Ovulation  bestehende  Wechselverhältniss.  L>ie 
Menstruation  wird  gewöhnlich  von  der  Ovulation  begleitet,  nicht  selten  aber  ver- 
läuft sie  ohne  letztere.  Der  periodische  menstruale  Blutliuss  hängt  von  der  An- 
wesenheit der  Ovarien  und  von  einer  genügenden  Ausbildung  der  Uterusmucosa 
ab , zwei  Factoren , ohne  deren  gemeinsame  Wirkung  er  nicht  gedacht  worden 
kann.  Er  ist  daher  von  der  Reifung,  sowie  von  der  Beratung  der  Follikel  unab- 
hängig und  muss  er  bei  Fehlen  der  Ovarien,  ebenso  wie  bei  Atrophie  der  Mucosa 
fehlen,  mag  im  ersteren  Falle  auch  die  Uterusmucosa  vollständig  ausgebildet  oder 
im  letzteren  die  Ovulation  ganz  normal  vor  sich  gehen.  Findet  Ovulation  statt, 
so  ist  sie  für  gewöhnlich  auf  die  Blutung  der  Menstruation  zurückzuführen.  Sie 
erfordert  zu  ihrem  Zustandekommen  einen  mehrtägigen  stärkeren  Blutandrang  zu 
den  Genitalien  und  hat  sie  die  Bildung  eines  typischen  Corpu s luteum  znr  Folge. 
Ausserhalb  der  Menstruation  kommt  Ovulation  auch  vor,  doch  scheint  dies  unter 
physiologischen  Bedingungen  nur  selten  zu  geschehen.  Manchmal  wird  die  t »vn- 
lation  und  Bildung  eines  typischen  Corpus  luteum  durch  den  Blutandrang  zu 
einem  vielleicht  noch  nicht  reifen  und  nicht  aufbrechenden  Follikel  (atypische« 
Corpus  luteum)  ersetzt.  Znr  Zeit  der  senilen  .Schrumpfung  der  Ovarien  giebt  es 
auch  normale  Follikel,  die  zum  physiologischen  Aufbruche  gelangen  und  typische 
Corpora  lutea.  Menstruation  und  Ovulation  ist  daher  das  Häutigere,  Meustrualion 
ohne  Ovulation  das  Seltenere.  Sicher  ist  es , dass  zur  Zeit  der  periodischen 
Blutung  auch  Ovulation  statttinden  kann,  selbst  wenn  die  äussere  Blutung  ein- 
mal ausfällt. 

Das  Wachsthum  und  die  Reifung  der  Follikel  findet  sclnm  im  Kindes- 
alter  statt  und  können  auch  zu  der  Zeit  schon  befruchtnngsfähigc  Eier  austreten, 
wie  dies  die  Fälle  von  Schwängerung  von  Kindern  selbst  unter  10  Jahren  und 
der  anatomische  Befund  kindlicher  Ovarien  erwiesen,  doch  scheint  es  die  Kegel 
zu  sein , dass  sieh  die  in  diesem  Alter  entwickelten  Follikel  nicht  zur  völligen 
Reife  entwickeln  und  nicht  bersten,  sondern  auf  verschiedenen  Entwicklungsstadien 
vorzeitig  der  Atresie  verfallen.  Als  Norm  ist  die  Ovulation  während  der  vollen 
Geschlechtsreife  bis  zum  Eintritte  der  Klimax  zu  betrachten,  doch  fallen  auch 
während  dieser  Periode  viele  Follikel  vorzeitig  der  Atresie  anheim,  ln  dem  Masse, 
als  sich  die  Frau  der  Klimax  nähert,  vermindert  sich  auch  die  Zahl  der  Follikel, 
sowohl  durch  Ovulation  als  durch  Atresie,  bis  endlich  in  der  Klimax  keine  mehr 
da  sind.  Ausnahmsweise  aber  reifen  und  bersten  Follikel  auch  noch  bei  alten, 
in  der  Menopause  sich  bereits  befindenden  Frauen,  denn  nur  so  sind  die  in  dieser 
Zeit  ausnahmsweise  noch  zu  beobachtenden  Schwangerschaften  zu  erklären,  abge- 
sehen davon , dass  in  den  Ovarien  solcher  alter  Frauen  frische  Corpora  lutea 
gefunden  wurden.  Nach  dem  früher  Mitgethciltcn  müssen  w’ir  die  Ovulation  als 
einen  physiologischen  Vorgang  anffassen,  der  sowohl  spontan  vor  sich  geht,  als 
in  Folge  verschiedener  einwirkender  Reize,  und  zwar  solcher  von  innen  nud 
solcher  von  aussen  herwirkender.  Die  Ovulation  ist  daher  kein  periodischer  und 
kein  nothwendiger  Weise  mit  der  Menstruation  zusammenfallender  Vorgang. 

Die  Annahme  COHXsTElX’S  ,J),  dass  die  Ovarien  in  Bezug  auf  die  Follikel - 
berstnng  in  ihrer  Thätigkeit  alterniren  sollen,  ist  eine  durch  nichts  begründete 
Hypothese. 


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MENSTRUATION. 


405 


Richtig  und  treffend  bezeichnet  der  Terminus  „Ovulation“  das,  was  wir 
deiiniren  wollen,  die  Berstung  des  Follikels  nnd  den  Austritt  des  Eies  aus  dem- 
selben. Nicht  so  ist  es  mit  dem  Terminus  „Menstruation“  der  Fall,  unter  dem, 
dem  Sprachgebrauch  zur  Folge,  nicht  nur  die  periodischen  Veränderungen  im 
Uterus  und  der  Blutfluss,  sondern  auch  die  Summe  aller  periodischen  Alterationen, 
die  der  Gesammtorganismus  während  dieser  Zeit  erleidet,  ja  selbst  ausserdem  noch 
die  Ovulation,  verstanden  zu  werden  pflegt.  Richtiger  ist  es,  nur  von  einem 
menstrualen  Blutflusse,  von  menstrualen  Veränderungen  des  Uterus,  respec- 
tive  seiner  Mucosa  und  von  menstrualen  Begleiterscheinungen  der  Übrigen  Körper- 
organe nnd  Körpertheile  zu  sprechen. 

Der  Uterus  nimmt  unter  den  Organen  des  weiblichen  Körpers  eine  ganz 
exceptionelle  Stellung  ein.  Während  die  anderen  Organe  von  der  Geburt  au  bis 
zur  Pubertät  gleichmässig  und  stufenweise  heranwachsen,  nimmt  wohl  der  Uterus 
an  Grösse  zu.  behält  aber  seine  kindliche  Gestalt  und  seine  kindliche  anatomische 
Beschaffenheit.  Charakteristisch  ist  es  nach  dieser  Richtung  hin , dass  das  Ver- 
hältniss  der  Länge  der  Cervix  zu  der  des  Corpus  zwischen  3 — 2 : 1 bleibt,  sich 
die  P/icae  palmatae  auch  am  Corpus  linden  und  das  Cylinderepithel  keine 
Flimmerhaare  besitzt.  Nähert  sich  aber  das  adolesecnte  Mädchen  der  Pubertät, 
so  holt  der  Uterus  das  Versäumte  in  kürzester  Zeit  nach.  Das  Corpus  wächst 
energisch,  so  dass  binnen  Kurzem  das  Verhilltniss  dessen  Länge  zu  der  der  Cervix 
gleich  1 : 1 wird,  wie  bei  der  Erwachsenen,  die  Plicae  palmatae  im  Corpus  ver- 
schwinden, die  Mucosa  verdickt  sich  und  das  Epithel  erhält  seine  Flimmerhaare, 
ohne  dass  die  Zellenform  eine  Veränderung  erleidet.  Sobald  der  Uterus  diese 
Grössenzunahme  erreicht  und  diese  anatomischen  Veränderungen  durchgemacht, 
tritt  in  der  Regel  der  erste  menstrnale  Blutfluss  ein  nnd  ist  nun  das  Mädchen 
geschlechtsreif,  d.  li.  für  die  Fortpflanzung  tauglich  geworden. 

Parallel  diesen  Veränderungen  des  Uterus  gehen  andere  in  körperlicher 
und  psychischer  Beziehung  vor  sieh , die  man  unter  dem  üblichen  Terminus 
„Pnbertätsentwicklung“  aubsumirt. 

Die  körperlichen  Formen  runden  sieh  ab  und  verlieren  ihre  vorher  häutig 
scharfen,  eckigen  Contoureu.  Es  entwickeln  sich  die  Brüste,  die  Brustwarzen 
vergrössern  sich  und  treten  hervor.  Die  Hüften  werden  voller.  In  der  Achsel- 
höhle, auf  dem  Monn  ernenn , sowie  an  der  Vulva  spriessen  die  Schamhaare 
hervor.  Die  grossen  Labien  füllen  sich  mit  Fett,  wachsen,  schlicssen  aneinander 
und  bedecken  Nymphen,  die  kindliche  Stimme  wandelt  sich  in  die  der  Erwachsenen 
um  u.  dergl.  in. 

Gleichzeitig  ändert  sich  die  Psyche,  streift  das  Kindische  ab  und  nimmt 
den  specitiscli  weiblichen  Charakter  an. 

Dieser  Pubertätsprocess  spielt  sich  iu  relativ  kurzer  Zeit  von  1 big 
2 Jahren  ab.  In  Folge  der  durch  denselben  herbeigeführten  ganz  gewaltigen 
Veränderungen  der  Wachsthums-  und  Ernährungsverhältnisse  wird  der  Gesammt- 
organismus stark  in  Anspruch  genommen,  so  dass  er  gerade  in  dieser  Zeit  krank- 
machenden Einflüssen , die  diese  Entwicklung  stören  oder  verzögern  können, 
weniger  Widerstand  entgegenzusetzen  vermag.  Abgesehen  von  der  Chlorose, 
die  gerade  zu  dieser  Zeit  am  häutigsten  manifest  wird,  offenbart  sich  in  dieser 
Lebensphnse  auch  häufig  die  hereditäre  Anlage  zur  Phthise.  Die  bedeutende 
Reizung  der  Nerven,  die  das  schnelle  Wachsthum  und  die  erhöhte  Function  der 
Genitalien  austtbt,  erzeugt  nicht  selten  die  Disposition  oder  Hervorrufuug  neuroti- 
scher oder  gar  psychischer  Alterationen.  Andererseits  wieder  wirken  körperliche 
Leiden  und  Schwächezustände,  die  von  früher  her  da  sind,  wie  beispielsweise 
eine  schlechte  Ernährung,  Skrophulose,  angeborene  Lues  u.  dergl.  m.,  auf  die 
Raschheit  der  Pubertätsentwicklung  zurück  und  verzögern  sie  oder  hemmen  sie 
gänzlich,  wie  z.  B.  der  Cretinismus. 

Abgeschlossen  werden  alle  diese  Pubertätsvorgänge  iu  der  Regel  durch 
den  Eintritt  des  ersten  menstrualen  Blutflusses. 


406 


MENSTRUATION. 


Der  Zeitpunkt  der  vollendeten  Pubertät  ist  bei  den  Weibern  der  ver- 
schiedenen Völker  ein  verschiedener,  lrn  Grossen  und  Ganzen  lässt  sich  wohl 
sagen,  je  südlicher  der  Wohnort  des  Volkes,  desto  früher  stellt  sich  die  Pubertät 
ein.  ln  den  Tropen  fällt  die  sexuelle  Reife  in  das  10.,  in  unseren  Breiten  in 
das  13. — 15.  und  im  Norden  in  das  16. — 17.  Lebensjahr.  Andererseits  ist  unter 
gleichen  Breiten  der  Eintritt  der  sexuellen  Reife  von  der  Rasse  abhängig,  Jüdinnen 
pflegen  beispielsweise  um  1*. — 2 Jahre  früher  zu  menstruiren  , als  die  Weiber 
der  anderen  Völker,  unter  denen  die  Juden  in  unseren  Breiten  leben.  Innerhalb 
derselben  Rasse  wird  der  Eintritt  der  sexuellen  Reife  wieder  durch  andere  Um- 
stände beeinflusst , wie  namentlich  durch  die  Lebensweise.  Städterinnen  reifen 
früher  als  Landbewohnerinnen,  harte  körperliche  Arbeit  verzögert  und  Wohlleben, 
sowie  geistige  Reife  beschleunigt  den  Eintritt  der  körperlichen  Reife  etc. 

Mangel  der  Ovarien  involvirt  das  unbedingte  Ausbleiben  der  sexuellen 
Reife.  Die  Menstruation  tritt  hier  überhaupt  nicht  ein.  Bei  rudimentärer  Entwicklung 
der  Ovarien  verzögert  sich  der  Eintritt  der  Menstruation  und  ist  letztere  nicht  nnr 
quantitativ  beschränkt,  sondern  ihr  weiteres  Auftreten  kein  typisch  regelmässiges. 

Wenn  auch  das  Eintreten  der  menstrualen  allmonatlichen  Blutung  das 
wichtigste  Zeichen  der  erfolgten  sexuellen  Reife  darstellt , so  ist  sie  doch  aus- 
nahmsweise nicht  ein  unbedingt  nothwendiges.  Wir  stossen  nämlich,  wenn  auch 
nur  selten,  zuweilen  auf  Weiber,  die  nie  menstruirt  haben  und  körperlich  doch 
die  Zeichen  der  sexuellen  Reife  an  sich  tragen  und  regelmässig  concipiren  und 
gebären.  In  anderen  Fällen  wieder  verspätet  sich,  trotz  anscheinend  körperlicher 
Reife,  der  Eintritt  der  ersten  Menstruationsblutung  und  folgt  erst  im  20.  Jahre 
oder  gar  noch  später  oder  gar  erst  nach  Ueberstehen  einer  Geburt. 

Ein  anderes,  wenn  auch  ebenfalls  sehr  seltenes  Abweichen  von  der  Regel 
besteht  darin,  dass  die  menstruelle  Blutung,  sowie  die  anatomischen  Zeichen  der 
Reife  des  Uterus  ungewöhnlich  frühe,  ja  schon  innerhalb  der  ersten  Lebensjahre 
da  sind  und  dem  entsprechend  auch  die  äusseren  Genitalien  eine  ungewöhnlich 
frühzeitige  Entwicklung  zeigen.  Dass  Fälle  bekannt  sind,  in  denen  Kinder  noch 
weit  unter  dem  Alter,  in  dem  normaler  Weise  die  sexuelle  Reife  eintritt,  gravid 
wurden  und  in  denen  reife  Follikel  und  typische  Corpora  lutea  gefunden  wurden, 
wurde  bereits  oben  erwähnt.  In  solchen  Fällen  wies  die  Section  auch  nach,  dass 
der  Uterus  seiner  Form  und  seinem  anatomischen  Gepräge  nach  alle  Charaktere 
der  sexuellen  Reife  au  sich  trug. 

Der  menstruale  Blutfluss  ist  bekanntlich  ein  typischer,  das  heisst 
in  bestimmten  Intervallen  wiederkehrender.  In  der  Regel  stellt  er  sich  alle 
28  Tage  ein.  Ausnahmen  nach  der  Dauer  des  Intervalles  hin  sind  jedoch  nicht 
selten.  So  giebt  es  gesunde  Frauen,  bei  denen  die  Menstruation  stets  erst  nach 
29 — 31  Tagen  eintritt  und  ebensolche,  bei  denen  der  Intervall  nur  24 — 26  Tage, 
ja  auch  solche,  bei  denen  die  intermenstruale  Zeitperiode  wieder  gar  nur  21  Tage 
dauert.  Die  Frauen  der  im  höchsten  Norden  lebenden  Völker  sollen  weit  längere 
intermenstruale  Intervalle  zeigen  und  in  der  monatelangen  Polarnacht  vollstän- 
dig amenorrhoisch  sein.  Die  Feuerländerinnen  sollen  überhaupt  nicht  oder  höch- 
stens nur  sehr  selten  menstruiren. 

Eine  Abkürzung  des  intcrmenstrualen  Termines,  das  heisst  ein  Eintreten 
der  menstrualen  Blutung  vor  der  bestimmten  Zeit  ist  wohl  in  den  meisten  Fällen 
das  Zeichen  einer  sexuellen  Erkrankung,  immerhin  aber  giebt  es  Fülle,  in  denen 
man  letztere  aussehliesscn  und  annehmen  muss , dass  es  äussere  Verhältnisse, 
körperliche  oder  geistige  Einflüsse  sind , wie  eine  bedeutende  körperliche  An- 
strengung, sexuelle  Erregung,  psychische  Momente  u.  dergl.  m„  die  deu  vorzeiti- 
gen Eintritt  der  Menstrualblutung  herbeifübren.  Diese  Erscheinung  spricht  dafür, 
dass  der  Eintritt  der  menstrualen  Blutung  durch  die  Thätigkeit  der  Nerven  I»e- 
diugt  wird.  Die  Ursache  des  periodischen  Auftretens  des  Menstrualflnsses  bleibt 
uns  aber  bisher  noch  immer  unbekannt  und  vermag  die  Pn.CoER'sche  Hypothese, 
so  geistreich  sie  auch  ist,  diese  Frage  doch  nicht  zu  lösen. 


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MENSTRUATION. 


407 


Meist  hält  die  Blutung  4 — 5 Tage  an,  doch  kann  ihre  Dauer  auch  zwischen 
1 — 8 Tage  betragen.  Ebenso  ungleich  ist  die  Menge  des  ausgeschiedenen  Blutes, 
die  überdies  kaum  sicher  zu  ermitteln  ist.  Im  Allgemeinen  wird  desto  mehr  Blut 
ausgeschieden,  je  länger  die  Blutung  dauert,  ln  wannen  Klimaten  soll  im  Mittel 
die  Blutung  stärker  sein , als  in  kälteren , damit  übereinstimmend  findet  man 
bei  manchen  Frauen  den  Blutfluss  im  Sommer  profuser  als  im  Winter.  Ab- 
weichungen von  der  Norm,  betreffs  der  Dauer  und  Intensität  der  Blutung,  sind 
in  der  Regel  auf  Erkrankungen  des  Sexualsystems  oder  auf  Allgemeiuerkran- 
kungen  zurückzuführen,  doch  scheint  auch  hier  die  Thätigkeit  der  Nerven  eine 
grosse  Rolle  zu  spielen.  (Bezüglich  des  Näheren  vergl.  die  Artikel  Amenor- 
rhoe und  Metrorrhagie.)  Psychische  Affeete,  wie  Schreck,  Angst,  Kummer, 
Freuden , sowie  Psychosen , lasciver  Lebenswandel , häufige  sexuelle  Erregung, 
Lesen  erotischer  Schriften , Onanie  u.  dergl.  m.  sind  von  bedeutendem  Einfluss 
auf  den  Menstruatiousprocess  und  vermögen  die  Menge  des  abgehenden  Blutes, 
die  Dauer  der  Blutung,  sowie  den  Eintritt  derselben  ganz  erheblich  in  ungünstiger 
Weise  zu  beeinflussen.  Bezüglich  des  Einflusses,  den  die  Menstruation  auf  Krank- 
heiten ausübt  und  vice  versa,  war  bis  vor  Kurzem  nicht  viel  bekannt.  Mehr 
Licht  in  dieses  Thema  brachte  das  Werk  Eisenhart’s.  ,b)  Viele  Krankheits- 
processe,  namentlich  die  noch  in  ihren  ersten  Stadien  sich  befindlichen  Psychosen, 
werden  durch  den  Menstruationsvorgang  entschieden  ungünstig  beeinflusst.  Anderer- 
seits wieder  alteriren  die  verschiedenen  Erkrankungen  den  Menstruationsprocess 
in  mannigfaltigster  Weise,  sowohl  bezüglich  des  Typus  der  Blutung,  als  deren 
Dauer  und  Intensität. 

Der  Eintritt  und  Verlauf  der  Menstrualblutung  ist  in  nicht 
wenigen  Fällen  durchaus  frei  von  irgend  welchen  Empfindungen , so  dass  die 
Frau  erst  dann  von  ihr  weiss , wenn  sie  sich  bereits  eingestellt  hat.  Anderer- 
seits aber  geben  dem  Eintritte  der  Blutung  Erscheinungen  sehr  mannigfacher 
Art,  oft  in  ganz  regelloser  Weise  combinirt,  voraus  oder  begleiten  solche  die- 
selbe. Diese  Beschwerden  werden  bekanntlich  „Molimina  menstrualia “ genannt. 

Zumeist  bestehen  diese  Beschwerden  in  Schmerzen  und  Ziehen  im  Kreuze 
und  Leibe,  in  dem  Gefühl  von  Schwere  und  Wärme  daselbst,  in  einem  Haru- 
drange,  in  Störungen  der  Defäcatiou  (meist  Diarrhoe),  kurzum  in  Symptomen, 
die  einer  jeden  activen  Hyperämie  der  Beckenorgane  eigen  sind.  Diese  Verände- 
rungen der  Cireulationsverhältnisse  bleiben  aber  durchaus  nicht  immer  auf  das 
Becken  beschränkt,  sondern  erstrecken  sich  auch  auf  andere  Körpergebiete.  Die 
Brüste  schwellen  an  und  werden  empfindlich , die  Verdauung  wird  gestört , es 
kommt  zu  Wallungen  nach  dem  Kopfe,  zu  Kopfschmerzen,  zu  einer  nervösen 
und  psychischen  Erregbarkeit  u.  dergl.  m.  In  Ausnahmsfällen  participirt  auch  die 
Haut  an  den  Störungen  und  stellen  sich  Exantheme  ein,  die  sogenannteu  men- 
strualen,  wie  Ekzem,  Urticaria,  Lichen  u.  dergl.  m.  Von  diesen  Symptomen  ist 
meist  eines  oder  das  andere  da  oder  stellen  sich  gleichzeitig  mehrere  ein, 
wenn  auch  das  eine  oder  andere  nur  schwächer  augedeutet  ist.  Es  lässt  sich 
daraus  entnehmen,  dass  bei  dem  Menstruationsprocesse  der  Genitalapparat  nicht 
der  einzige  Ort  ist,  in  dem  sich  dieser  Process  abspielt,  sondern  der  ganze  Orga- 
nismus in  Mitleidenschaft  gezogen  wird,  wenn  auch  wohl  zweifellos  nur  in  reflec- 
toriscliem  Wege.  Dass  durch  den  Menstruationsprocess  der  normale  Stoffwechsel 
alterirt  wird,  ist  unzweifelhaft , doch  ist  darüber  noch  nicht  viel  bekannt.  So 
ziemlich  sicher  scheint  es  zu  sein,  dass  die  Temperatur  in  den  letzten  Tagen 
vor  Eintritt  der  Blutung  erhöht  ist.  Das  Gleiche  gilt  vom  Blutdrücke  und  der 
Ausscheidung  des  Harnstoffe«.  Sobald  die  Blutung  in  Gang  kommt,  sinkt  die 
Temperatur,  der  Blutdruck  nimmt  ab  und  ebenso  die  Menge  des  ausgeschiedenen 
Harnstoffes. 

Mehr  in  die  Augen  springende  Veränderungen  zeigen  die  Genitalien. 
Die  Talgdrüsen  der  Vulva  seeerniren  stärker,  daher  der  specifUch  unangenehme 
Geruch  des  Menstmalblutes.  Die  Vulva  ist  von  blutigem  Schleim , den  mau  in 


MENSTRUATION. 


4lH 

der  Vagina  findet,  bedeckt.  Vulva  und  Vagina  erscheinen  wärmer  als  gewöhn- 
lich und  sind  succulenter,  sowie  hyperämisch.  Die  Portio  ist  weicher,  succulenter 
und  etwas  geschwellt,  der  Muttermund  bei  Nulliparen  rundlich , das  Corpus  ist 
etwas  aufgerichtet,  zuweilen  durch  etwas  retinirtes  Blut  ausgedehnt.  Der  ganze 
Uterus  erscheint  massiger  und  voller.  Im  Speculum  findet  man  die  Portio  dunkler 
und  aus  dem  Muttermunde  Blut  hervori|uellen.  Manchmal  sieht  man  an  der  Portio, 
sowie  an  der  Schleimhaut  des  Scheidengewölbes  kleine  submucöse  Blutextra- 
vasate. Die  Ovarien  sind  geschwollen,  succulenter,  weicher,  empfindlicher. 

Das  abgehende  Blut  coagulirt  in  der  Regel  nicht,  wohl  in  Folge  wäh- 
rend dieser  Zeit  reichlicher  abgesonderten  alkalischen  Schleimes  der  Uterinal- 
drflsen.  Coagula  finden  sich  nur  bei  stärkerer  Blutung.  Mikroskopisch  findet  man 
ausser  Blut-  und  Schleimkörperchen,  Fettkörnchen,  Flimmer,  Cylinder-  und  Platten- 
epithel, ausnahmsweise  Mucosafetzchen. 

Dass  die  Menstrualblutung  sich  aus  dem  Uterus  und  nicht  aus  tiefer 
gelegenen  Theilen  ergiesse , war  schon  längst  bekannt , dass  sie  aber  aus  dem 
Uterus,  respective  aus  dessen  Mucosa  stamme  und  wie  sich  dieser  Vorgang  ab- 
spiele, wurde  erst  in  den  letzten  Decennien  in  exacter  Weise  sichergestellt. 

Die  ersten  genauen  Untersuchungen  des  menstruirenden  Uterus, 
die  unter  Anwendung  der  modernen  Methoden  der  mikroskopischen  Technik  aus- 
geführt wurden,  rühren  von  Kondrat  und  Exoelmaxx  '*)  her  und  datiren  aus 
dem  Jahre  1873.  Diese  beiden  Forscher  fanden,  dass  die  Uterusmucosa,  respec- 
tive ihre  lnterglandularsubstanz  in  der  prämenstruellen  Periode  rundzellenreich 
wird,  dass  sieh  die  Drüsenmtlndungen  erweitern  und  ebenso  die  Blutgefässe,  die 
sieh  gleichzeitig  stark  mit  Blut  füllen.  Alle  diese  Veränderungen  gehen  allmälig 
vor  sich  und  erreichen  zur  Zeit  der  Menses  ihre  Höhe.  Gleichzeitig  finden  auch 
degenerative  Processe  im  Uterus  statt,  nämlich  fettige  Metamorphose  des  Schleim- 
hautepithels, der  Drüsenzellen,  der  Gefässwände  und  des  Intcrglandulargewelies. 
Alles  dieses  führt  zu  GeftUsruptur,  das  heisst  zu  Blutung.  Dass  nicht  die  Hyper- 
ämie allein  die  Ursache  der  Blutung  ist , sondern  auch  die  degenerativen  Ver- 
änderungen in  den  Gewebszellen  den  Eintritt  zu  einer  solchen  befördern , ist 
daraus  zu  entnehmen , dass  sich  die  Blutextravasate  nur  in  den  obertiächliehen 
Mucosaschichten  finden  und  dass  auch  nur  dort  die  fettige  Metamorphose  anzu- 
tretfen  ist.  Nach  der  Blutung  findet  Regeneration  statt.  Die  verfetteten  Elemente 
werden  durch  neue  ersetzt.  Nach  vollendeter  Regeneration  verharrt  die  Mucosa 
nur  kurze  Zeit  im  Zustande  der  Ruhe.  Bald  aber  beginnt  der  beschriebene 
Cyklns  von  Veränderungen  von  Neuem.  Die  menstrualen  Mucosaverämlernngt-n 
ähneln  denen,  die  sieh  in  den  Anfangsstadien  der  Bildung  der  Utcidua  yrneiili- 
tntii  finden. 

Zwei  Jahre  nach  K CXMRAT - E xg klmaxn  publieirtc  Williams*0)  seiue 
Untersuehungsergebnisse.  Auch  er  nimmt  eine  fettige  Degeneration  der  Mucosa 
an,  doch  solle  diese  die  ganze  Dieke  der  Mucosa  befallen,  so  dass  die  ganze 
Mucosa  bis  auf  die  Muscularis  hin  zerfallen  und  ausgestossen  werden  soll,  worauf 
energische  Proliferation  der  Muskelwand  folgt  und  die  junge  Brut  zur  Regenera- 
tion der  Mucosa  benützt  wird.  Sechs  Tage  nach  Aufhören  der  Blutung  soll  die 
neue  Mucosa  w ieder  vollendet  da  sein.  Am  10.  Tage  der  Intermenstrualzeit  be- 
ginnt die  Schwellung  und  Wucherung  und  erreichen  diese  zwei  Processe  den 
Gipfel  ihrer  Höhe  in  der  Zeit,  in  der  der  Wiedereintritt  der  Blutung  erwartet 
wird.  Ist  die  Schwellung  und  Wucherung  der  Mucosa  am  weitesten  vorgeschritten, 
so  ist  die  Mucosa  bereit,  das  befruchtete  Ei  aufzunehmen.  Ist  kein  solches  da, 
so  beginnt  ihre  Degeneration  und  Desquamation.  Gleichzeitig  stellen  sich  aorh 
Uteruscontraet innen  ein,  durch  welche  die  Schleimhautgefässe  stark  gefüllt  werden, 
aber  in  Folge  der  eiugetretcnen  Degeneration  bersten,  wodurch  es  zur  Blutung 
kommt.  Dass  sich  der  Menstruationsvorgang  nicht  so  abspielen  kann,  wie  ihn 
Williams  beschreibt,  erhellt  daraus,  dass  ausser  ihm  noch  Niemand  die  Des- 
quamation und  Ausstossung  der  ganzen  Mucosa  gesehen  und  es  gegen  alle  bio- 


ioogle 


MENSTRUATION'. 


T09 

logischen  Gesetze  verstosst,  ans  der  Muscularis  eine  Neuliildnng  der  Mucosa 
anzunehmen.  Da  die  Uteri , die  er  untersuchte,  mit  wenigen  Ausnahmen  Frauen 
entstammten , die  an  acuten  fieberhaften  Krankheiten  gestorben  waren , so  muss 
der  von  ihm  angetroffene  Befund  (die  Abstossung  der  Mucosa  ihrer  ganzen  Dicke 
nach)  als  ein  pathologischer  angesehen  werden,  nicht  aber  als  ein  physiologischer. 

Nach  Leopold**)  schwillt  die  Uterusmucosa  in  der  prämenstrualen 
Zeit  bis  zu  einer  Dicke  von  6 — 7 Mm.  an  und  während  der  Blutung  wieder  zu 
einer  Dtinne  von  2 — 3 Mm.  ab.  Bei  dieser  prämenstrualen  Verdickung  erleidet 
die  Mucosaoberfläche  eine  eigentümliche  wellenartige  Faltung  in  Folge  Ungleieh- 
mässigkeit  des  Wachsthums  in  der  Länge  und  Dicke.  Die  freien  Mucosaober- 
flächen  nähern  sich  gleichzeitig  einander  immer  mehr,  so  dass  die  Uterushöhle 
völlig  verschwindet.  Während  dem  erfolgt  auch  eine  Vermehrung  der  Zellen  der 
iDterglandularsubstanz,  die  aber  nicht  dem  Grade  der  Mucosaschwellung  ent- 
spricht. Ausser  Vermehrung  der  Zellen  findet  auch  Anschwellung  derselben  statt, 
wodurch  das  Gewebe  wie  ödeinatös  wird.  Bis  zum  Momente  der  Blutung  beob- 
achtet man  weder  ungewöhnliche  Füllung  der  Blutgefässe,  noch  degenerative 
Vorgänge  in  den  Epithelzelleu.  Zn  Beginn  des  Ülutfiusses  steigt  die  Blutfüllung 
unter  dem  Einflüsse  der  menstrualen  Hyperämie  stark  an,  die  Capillaren  erwei- 
tern sich,  und  zwar  um  so  leichter,  als  das  umgebende  Gewebe  gelockert  ist. 
Nun  erfolgt  in  den  gelockerten,  beinahe  sich  ablösenden  oberflächlichen  Mucosa- 
sehichten  Diapedese  der  rothen  Blutkörperchen,  zusammen  mit  dem  Blutplasma. 
Das  Epithel  löst  sich,  nachdem  es  fettig  degenerirt,  vollständig  ab  und  das  Blut 
tritt  nach  aussen,  doch  geht  die  Epitheldesquaraatiou  herdenweise  vor  sich  und 
nicht  gleichmäS8ig  auf  der  ganzen  Mucosaoberfläche.  Durch  die  eigenthümlichen 
Vascularisationsverhältnisse,  nämlich  viele  zuführende  und  wenige  ableiteudc  Blut- 
gefässe und  die  bedeutende  Blutüberfüllung  der  Gefässe,  kommt  es  zur  Diapedese. 
Die  fettige  Degeneration  der  oberflächlichen  Mucosasehichteu , beziehungsweise 
der  ganzen  Mucosa,  bildet  nicht  die  Ursache  der  Blutung,  wenigstens  kann  dies 
so  lange  nicht  angenommen  werden,  bis  es  nicht  bewiesen  ist.  Ebenso  muss  die 
Desquamation  der  ganzen  Mucosa  zurückgewiesen  werden.  Während  der  Blutung 
schwillt  die  Mucosa  durch  Ausblutung  ab,  worauf  die  Regeneration  beginnt. 
Wie  lange  diese  letztere  dauert,  ist  bis  jetzt  noch  nicht  genau  festgestellt.  Der 
Umstand , dass  nur  die  oberflächlichen  Schichten  ersetzt  werden , spricht  für 
eine  kurze  Dauer  des  Regenerationsprocesses.  In  zwei  Fällen  war  sie  6chon  9 bis 
10  Tage  nach  Beginn  der  Blutung,  demnach  nur  einige  Tage  nach  beendeter 
Blutung,  vollendet.  Nach  dem  18.  Tage  nach  Beginn  der  Blutung  fand  er  die 
Mucosa  schon  wieder  in  Verdickung  nnd  Anschwellung  begriffen.  Ueber  den  Zu- 
stand des  Uterus  zwischen  dem  10.  und  18.  Tage  nach  Beginn  der  Blutung 
kann  er  wegen  Mangel  an  entsprechendem  Materiale  nichts  berichten. 

Wyder’s  **)  Arbeit  erschien  bald  nach  der  letztangeführten,  ln  der- 
selben spricht  er  sieh  dahin  aus,  dass  die  Mucosa  während  der  Blutung  durch 
Desquamation  der  oberflächlichen  Schichten  eine  ziemlich  beträchtliche  Verminde- 
rung ihrer  DickeDdimensionen  erfährt.  Die  zurückgebliebenen  Mucosascbichten 
zeigen  weder  in  ihren  tiefen , noch  in  ihren  blossliegenden  Lagen  eine  fettige 
Degeneration.  Die  Interglandularsnbstanz  erleidet  bei  der  Menstruation  nur  quanti- 
tative Veränderungen  und  bleibt  ihr  kleinzelliger  Typus  unverändert  bestehen. 
Im  Allgemeinen  will  er  an  der  Uterusmucosa  keine  fettige  Degeneration  gesehen 
haben,  aber  nicht  bestreiten,  dass  eine  secundäre  solche  der  sieh  ablösenden 
Schichten  während  der  Blutung  stattfinden  kann,  wie  sie  Leopold  beschreibt.  Die 
primäre  fettige  Degeneration  WILLIAMS'  dagegen  war  wahrscheinlich  nur  ein 
Krankheitsproduct.  Die  Ursache  der  Blutung  liegt  daher,  ebenso  wie  es  LEOPOLD 
annirnmt,  nicht  in  der  primären  fettigen  Degeneration,  sondern  in  den  eigenthüm- 
lichen Gefässverhältnissen.  Er  nimmt  bei  der  Blutung  eine  Gefässzerreissuug  an, 
ohne  aber  die  Diapedesis  vollkommen  zu  bestreiten.  Entschieden  aber  bestreitet 
er,  dass  nach  Kundrat-Exoelmanx  keine  Blutextravasate  in  der  Tiefe  der 


410 


MENSTRUATION. 


Mucosa  Vorkommen  und  dass  nach  Williams  die  ganze  Mucosa  desquamirt 
werde.  Die  Desquamation  ist  eine  oberflächliche  und  partielle.  Die  Mucosa  men- 
strualis  unterscheidet  sich  von  der  Dtcidua  vera  durch  den  erhaltenen  klein- 
zeiligen Typus  der  Interglandularsubstanz. 

Möricke51)  suchte  die  Frage,  ob  bei  der  Menstruation  fettige  Entartung 
und  Desquamation  der  Mucosa  stattfinde,  auf  die  Weise  zu  lösen,  dass  er,  statt 
Leirhenmaterial  zu  verwenden,  das  stets  einer  nicht  unberechtigten  Kritik  unter- 
liegt, mit  dem  scharfen  Löffel  abgeschabte  Gewebspartikel  der  L’terusmucosa, 
entnommen  während  der  Menstruation , zur  Untersuchung  nahm.  Er  fand  . dass 
nicht  der  geringste  Theil  der  Mucosa  zu  Grunde  gehe.  Das  Flimmerepithel  bleibe 
die  ganze  Zeit  hindurch  intact  und  es  finde  weder  eine  fettige  Degeneration  der 
Zellen,  noch  eine  Proliferation  des  Interglandulargewebes  statt.  Dagegen  sah  er 
starke  Blutftlllung  nnd  Erweiterung  der  Gefässe  und  durchtränken  Extravasate 
die  oberflächlichen  Mucosaschichten.  Die  Quantität  der  homogenen  Intereeliularsub- 
stanz  nimmt  bedeutend  zu. 

Vox  Kahldex14),  der  Letzte,  der  sich  mit  dieser  Frage  beschäftigte, 
behauptet  gegen  Möricke,  dass  das  Epithel  während  der  Menstrualperiode  immer 
wenigstens  theilweise  zu  Grunde  gehe.  Allerdings  wird  es  nicht  gleich  im  Be- 
ginne der  Menstruation  ganz  und  gar  in  seiner  Coutinuität  abgestosseti,  sondern 
es  kann,  selbst  zu  einer  vorgerückten  Zeit  der  Menstruation  noch,  an  einzelnen  Stellen 
erhalten  sein.  Es  wird  nicht  ausschliesslich  das  Deckepithel  desquamirt,  sondern  wahr- 
scheinlich sogar  die  gesammte  hämorrhag'sch  infiltrirte  Mucosa.  Die  Katamenial- 
flüssigkeit  enthält  Mucosabestandthcile.  Gleich  nach  der  Menstruation  sind  die 
oberflächlichen  Mucosaschichten  regelmässig  abgestossen.  Die  Neubildung  des 
Epithels  in  der  postmenstrualcn  Periode  geht  von  den  Drüsen  aus,  deren  tiefere 
Partien  stets  erhalten  bleiben.  Zur  Regeneration  der  Mucosa  tragen  neugebildete 
Gcfässe  und  vielleicht  auch  eine  Vermehrung  der  Interglandularsubstanz  bei. 

Nach  Lawsox  Tait  5ß)  soll  der  Menstruationsprocess  von  den  Tubeu 
abhängig  sein  und  sollen  dieselben  mit  theilnehmen  an  der  Menstrualblutung, 
doch  müssen  noch  weitere  eingehende  Untersuchungen  lehren,  ob  sich  dies  Alles 
so  verhält. 

Die  Jahre,  innerhalb  welcher  die  Menses  tliessen,  stellen  die  Blflthezeit 
des  weiblichen  Organismus  dar.  In  unseren  Breiten  dauert  die  Menstruation  im 
Mittel  30  Jahre,  doch  unterliegt  diese  Dauer  vielen  Schwankungen,  die  zum  guteD 
Theile  von  den  verschiedensten  Allgemeinen  und  individuellen  Einflüssen  veran- 
lasst werden.  Die  Ursachen,  die  auf  die  Dauer  der  Menstruation  einwirken,  sind 
zum  guten  Theile  die  gleichen,  die  auch  das  frühere  oder  spätere  Eintreten  der 
ersten  Menstruation  beeinflussen,  nämlich  das  Klima  und  die  Rasse.  Bei  im  Süden 
lebenden  Völkern  erlischt  die  Menstruation  bedeutend  früher,  als  bei  nördlichen. 
Früher  meinte  man,  dass  die  Menstruation  bei  Frauen,  bei  denen  sie  früher  ein- 
trat, auch  frühzeitig  erlösche,  doch  ergeben  statistische  Zusammenstellungen  gerade 
das  Gogentheil  davon , dass  nämlich  die  Menstruation  desto  später  erlischt , je 
frühzeitiger  sie  sich  einstellte. 

Sexuelle  Thätigkeit,  regelmässige  Ausübung  des  Coitus,  Puerperien, 
Lactation,  verlängern  die  Zeit  der  menstruellen  Function.  Sehr  frühe  begonnener 
sexualer  Umgang  dagegen  scheint  den  entgegengesetzten  Erfolg  zu  haben.  Das  Gleiche 
gilt  von  rasch  einander  folgenden  Puerperien  und  Aborten,  sowie  von  allzulange 
währender  Lactation,  die  zur  Hyperinvolution  und  vorzeitiger  Uterusatrophie 
führen  kann.  Denselben  Einfluss  haben  gewisse  Erkrankungen  des  Uterus  nnd 
der  Ovarien,  sowie  andere  schwächende  Potenzen  und  sich  einstellende  Fettleibig- 
keit (vergl.  den  Artikel  Amenorrhoe).  Frauen  mit  spärlichen,  unregelmässigen 
Menses  sollen  letztere  früher  verlieren  als  solche,  bei  denen  sie  reichlich  und 
regelmässig  eintretend  sind.  Bei  manchen  Frauen  hört  die  menst  ruale  Thätigkeit, 
ohne  dass  man  dafür  eine  Ursache  nachweisen  könnte,  vorzeitig  auf  und  scheint 
dies  Verhalten  nach  meinen  Beobachtungen  ein  hereditäres  zu  sein. 


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MENSTRUATION. 


411 


Verlängert  wird  die  Menstruationszeit  dureh  eine  Hypertrophie  des 
Uterus,  durch  Fibrome  und  Polypen  des  Uterus,  sowie  durch  alle  jene  krank- 
haften Zustände,  die  eine  aetive  oder  passive  Hyperämie  des  Uterus  hervorrufeu, 
doch  ist  in  vielen  solchen  Fällen  die  Menstruation  nur  eine  scheinbare  und  liegen 
Blutungen,  die  dureh  den  bestehenden  Krankheitsprocess  bedingt  sind,  vor. 
Andererseits  vermögen  günstige  äussere  Verhältnisse  bei  Fehlen  irgend  einer 
allgemeinen  oder  sexuellen  Erkrankung  die  Dauer  der  Menstruationszeit  zu 
verlängern. 

Das  Aufhören  der  Menstruationsthätigkeit  fällt  in  das  Capitel  „Klimax“ 
und  möge  das  Nähere  darüber  dort  nachgesucht  werden. 

Wichtig  zu  wissen  ist  das  Verhalten  der  Ovulation  und  Men- 
struation während  der  Schwangerschaft  und  Lactation. 

Wenn  man  auch  früher  meinte,  dass  die  Ovulation  während  der 
Gravidität  cessire  und  in  neuerer,  sowie  in  neuester  Zeit  von  Manchen  der 
Gegenbeweis  davon  geliefert  sein  will,  müssen  wir  doch  eingestehen,  dass  wir  bis 
jetzt  über  diese  Frage  eigentlich  so  viel  als  nichts  wissen.  Brierre  de  Bojsmont2®) 
will  in  den  Ovarien  Schwangerer  und  frisch  Entbundener  häutig  weit  in  der 
Entwicklung  vorgeschrittene  Follikel  gefunden  haben  und  auch  Meigs  ,7),  sowie 
SCANZONI2*)  behaupten,  bei  Sectionen  Gravider  an  den  Ovarien  Beweise  einer 
fortdauernden  ovulatorischen  Thätigkeit  augetroffen  zu  haben.  Der  wärmste  An- 
hänger der  Anschauung  der  auch  während  der  Gravidität  fortwährenden  Ovnlation 
ist  Si.avjanskv5'-*),  sich  hierbei  auf  den  Sectionsbefund  eines  einschlägigen  Falles 
stutzend.  Bei  der  Section  einer  an  einer  inneren  Blutung  nach  Ruptur  der  graviden 
linken  Tuba  im  dritten  Schwangerschaftsmonate  Verstorbenen  fand  sich  im  linken 
Ovarium,  entsprechend  dem  befruchteten  Ovum,  ein  Corpus  luteum,  sowie  ein 
reifer  Follikel  und  im  rechten  ein  junges  Corpus  luteum,  das  sich  (angeblich) 
aus  einem  während  der  Schwangerschaft  geborstenen  Follikel  gebildet  hatte. 
Ausserdem  zeigten  beide  Ovarien  ziemlich  viele  Follikel  in  den  verschiedensten 
Stadien  ihrer  Entwicklung  und  ihrer  physiologischen  Atresie.  Dieser  einzige  bisher 
bekannte  Fall  kann  aber  noch  nicht  als  überzeugender  Beweis  gelten  und  bleibt 
es  daher  noch  der  Zukunft  Vorbehalten,  diesen  strittigen  Punkt  definitiv  zu  klären. 

Die  Ovulation  während  der  Lartation  ist  zwar  nicht  anatomisch, 
aber  durch  die  Erfahrung  sattsam  erwiesen,  da  nicht  wenige  Fälle  bekannt  sind, 
in  denen  die  Frauen  im  Verlaufe  der  I.actation,  ohne  seit  der  Entbindung  noch 
menstruirt  zu  haben,  wieder  gravid  wurden.  Ich  habe  eine  grosse  Reihe  solcher 
Fälle  gesehen. 

Die  Annahme  einer  Menstruation  während  der  Gravidität  ist  ein 
der  Gravidität  widersprechender  Nonsens,  denn  wenn  die  Mucosa  während 
der  Gravidität  noch  mehr  anschwellen  und  sich  verdicken  sollte  (was  physi- 
kalisch und  anatomisch  nicht  denkbar  ist)  und  darauf  alle  die  anatomischen 
Veränderungen  der  Sehleimhaut,  wie  bei  einer  Menstruation,  vor  sieh  gehen  sollten, 
so  müsste  der  Effect  unbedingt  eiue  sofortige  Unterbrechung  der  Schwangerschaft 
sein.  Da  die  bei  der  Menstruation  vor  sieh  gehenden  Veränderungen  der  l'terus- 
mucosa  während  einer  gleichzeitig  bestehenden  Schwangerschaft,  wie  bereits  er- 
wähnt, physikalisch  und  anatomisch  unmöglich  sind  und  Schwangerschaftsunter- 
brechungen, die  auf  ein  Zusammentreffen  von  Gravidität  und  Menstruation  zurück- 
zuführen  sind,  nie  beobachtet  wurden,  muss  das  Auftreten  der  Menstruation 
während  der  Gravidität  in  das  Gebiet  der  Fabel  verwiesen  werden.  Fülle  ein- 
schlägiger Art,  die  mitgetheilt  wurden,  beruhten  auf  Selbsttäuschung  oder  wurde 
der  Arzt  durch  die  Frau  getäuscht.  Blutungen  im  Verlaufe  der  Schwangerschaft 
liegt  stets  ein  pathologischer  Vorgang  zu  Grunde.  Selbst  bezüglich  der  Fälle 
von  Verdoppelung  des  Uterus,  bezüglich  welcher  vielleicht  angenommen  werden 
könnte,  dass  der  eine  Uterus  oder  die  eine  Uterushälfte  gravid  sei  und  der  audere 
oder  die  andere  Hälfte  gleichzeitig  meustruire,  i«t  kein  verlässlicher  bekannt,  in- 
dem während  der  Gravidität  Menstruation  eintrat. 


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MENSTRUATION. 


41* 


Während  der  Lactat  ion  sistirt  in  der  Regel  die  Mens  truatiou,  doch 
sind  die  Fülle  durchaus  nicht  so  selten,  in  denen  die  Frauen  trotz  dem  Sänge- 
geschäftc  ruhig  menstruiren  oder  in  denen  sieh,  nachdem  die  Frau  bereits  mehrere 
Monate  stillt,  die  Menstruation  wieder  einstellt  und  regelmässig  wiederkelirt. 

Da  die  Menstruation  ein  physiologischer  Process  ist,  so  kann  von  einer 
Therapie  derselben  keine  Rede  sein.  Ist  man  wegen  einer  zu  profusen , einer 
zu  lange  anhaltenden,  einer  zu  rasch  oder  zu  selten  sich  einstellenden,  einer 
allzu  schmerzhaften  oder  wegen  einer  nach  einer  andereu  Richtung  hin  abnormen 
Menstruation  gezwungen,  therapeutisch  einzuschreiten,  so  geschieht  dies  strenge 
genommen  nicht  wegen  der  abnormen  Menstruation , sondern  wegen  der  ihr  zu 
Grunde  liegenden  Krankheit  und  wird  daher  nicht  die  abnorme  Menstruation, 
sondern  die  sie  bedingende  Erkrankung  behandelt. 

Ist  demnach  von  einer  Therapie  der  Menstruation  keine  Rede,  so  besteht 
wohl  eine  Hygiene  derselben  und  ist  diese  ungemein  wichtig,  da  durch  Ein- 
haltung einer  solchen  einer  Abnormität  der  Menstruation,  d.  h.  Erkrankungen  des 
Sexualsystems  vorgebeugt  werden  kann.  Bei  der  Hygiene  der  Menstruation  haliea 
wir  die  beim  Eintritte  der  ersten  Menstruation  von  jener  zu  unterscheiden , die 
angezeigt  ist,  wenn  das  Weib  bereits  regelmässig  menstruirt  ist. 

Der  Hygiene  der  ersten  Menstruation  hat  eine  entsprechende  solche 
des  Pubertfttsalters  vorauszugehen.  Das  junge  Mädchen  soll  davon  unterrichtet 
werden,  dass  ihm  der  Eintritt  einer  periodisch  vor  sich  gehenden  Blutung  aus 
den  Genitalien  bevorsteht,  denn  einestheils  kann  die  unvorbereitet  eintretende 
Blutung  einen  nicht  unbedeutenden  psychischen  Affect  hervorrnfen,  der  einen  un- 
günstigen Einfluss  auf  die  Menstruation  ausflbt  und  andererseits  vermeidet  mau, 
dass  die  Phantasie  durch  geheimes  Flüstern  der  Freundinnen  uonöthiger  Weise 
in  Bewegung  gesetzt  werde.  Wichtig  ist  weiterhin  eine  entsprechende  Kleidung, 
d.  h.  eine  Warmerhaltung  des  Unterleibes  und  die  Sorge  für  regelmässige  gehörige 
Darmfunction.  Namentlich  letztere  ist  wichtig,  da  die  habituelle  Constipation  bei 
jungen  Mädchen  etwas  ganz  Gewöhnliches  und  eine  solche  auf  die  Circulations- 
verhältnisse  im  Becken  ungünstig  einwirkt.  Da  die  Mädchen  in  der  Pubertätszeit 
zumeist  anämisch  sind,  empfiehlt  sich  die  Darreichung  von  Eisen.  Um  allen 
schädigenden  Einflüssen  vorzubeugen,  empfiehlt  cs  sich,  das  junge  Mädchen  die 
erste  Menstruation  im  Bette  durchmachen  zu  lassen. 

Ist  die  Menstruation  bereits  im  Gange,  so  bedarf  die  intermenstruale 
Periode,  wenn  die  Frau  sonst  gesund  ist,  keines  speciellen  hygienischen  Ein- 
greifens. Dagegen  erheischt  der  prämenstruale  Congestionszustand , die  pri- 
menstrunle  Excitation,  sowie  die  Menstrualblutung  nach  mehreren  Richtungen  hin 
eine  gewisse  Vorsicht.  Je  weniger  Anzeichen  von  Nervosität,  Unruhe,  Schmerzen 
und  dergleichen  mehr  da  sind,  desto  weniger  Anlass  ist  zu  einer  besonderen 
Vorsicht  vorhanden.  Treten  dagegen  diese  Erscheinungen  stärker  hervor,  so 
empfiehlt  sich  Schonung  schon  in  der  prämcustrualen  Periode.  Starke  körperliche 
Anstrengungen  und  Arbeiten  , starke  und  plötzliche  Abkühlung  des  Körpers, 
namentlich  des  Unterleibes,  sind  zu  vermeiden.  Ebenso  hüte  sich  die  Frau  vor 
nassen  und  kalten  Füssen.  Auch  während  der  Menstrualblutung  ist  Alles  zu 
vermeiden,  was  eine  C'ongestion  zu  den  Beekcnorganen  herbeiführt.  Aus  dem 
Grunde  ist  namentlich  das  Tanzen  zu  verbieten.  Zu  vermeiden  ist  ferner  der 
Gebrauch  drastischer  Purgantien  und  ein  reichlicherer  Genuss  von  Spirituosen. 
Direct  schädlich  ist  die  plötzlich  einwirkende  Külte  auf  den  Unterleib  während 
des  Menstritalflusses.  Das  Schlittschuhlaufen,  ein  kaltes  Bad,  kalte  Scheidenirrigation 
und  dergleichen  inehr  können  zur  plötzlichen  Entstehung  einer  Hämatokel  ■ oder 
einer  acuten  Entzündung  in  der  Beekenhöhle  führen.  Wahrscheinlich  kommt  es 
durch  plötzliche  Einwirkung  der  Kälte  zu  einer  C’ontraction  der  Gefässe  der 
Uterusmucosa  und  Uterusmusculatur  und  consecutiv  zu  einer  Blutüberfüllung  und 
Gefässberstung  in  den  Adnexen  und  Parametriten.  Nur  auf  diese  Weise  sind  die 
Fälle  zu  erklären,  in  denen  nach  plötzlicher  Einwirkung  von  Kälte  und  Xis** 


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MENSTRUATION. 


4ld 

die  Menstruation  momentan  aussetzt  und  sich  jrleiclizeitig-  Zeichen  einer  inneren 
Blutung  oder  Zeichen  einer  acuten  Peri-  und  Parametritis  einstellen.  In  gleicher 
schädigender  Weise  kann  die  Cohahitation  wahrend  der  Menstruation  wirken,  da 
durch  sie  die  ohnehin  vorhandene  Congestion  der  Beckenorgane  noch  mehr  ge- 
steigert wird.  Obwohl  schwer  zu  erklären,  ist  es  dennoch  in  vielen  Fällen  eine 
Thatsache,  dass  das  Wechseln  der  Wäsche  während  des  Blutflusses  letzteren 
nicht  nur  verstärkt,  sondern  auch  verlängert.  Sowohl  um  dies  zu  vermeiden,  als 
namentlich  im  Interesse  der  Reinlichkeit,  empfiehlt  es  sich,  die  Menstruirende  eine 
sogenannte  Menstruationsbinde  tragen  zu  lassen,  eine  Bandage  zum  AulTatigen 
des  Blutes.  Der  Typus  der  meisten  dieser  Bandagen  besteht  in  einer  T-Binde 
mit  einem  losen,  Feuchtigkeit  aufsaugenden  Kissen,  das  vor  der  Vulva  liegt. 
Dabei  ist  die  Binde  so  eingerichtet,  dass  das  Kissen  nach  erfolgter  Durehnässung 
gewechselt  werden  kann.  Durch  dieses  Kissen  wird  nicht  nur  eine  Verun- 
reinigung der  Leibwäsche  verhindert , sondern  es  werden  gleichzeitig  auch  die 
Genitalien  vor  Kälte  geschützt.  Durchaus  unschädlich  und  sogar  im  Interesse 
der  Reinlichkeit  geboten  ist  eine  Reinigung  der  beschmutzten  Genitalien  mit 
lauem  Wasser,  eventuell  eine  Irrigation  der  Vagina  mit  30 — 35°  C.  warmem 
Wasser.  Auch  ein  gewöhnliches  lauwarmes  Bad  von  einer  Temperatur  von  3f>“  C. 
und  in  der  Dauer  von  10  Minuten  ist  nicht  nur  nicht  schädlich,  sondern  direct 
gesundheitsgemäss. 

Zur  Zeit  der  Menstruation  wird  die  Singstimme  besonders  in  den  hohen 
Tönen  unrein  und  wird  behauptet , dass  es  für  die  Stimme  schädlich  sei,  wenn 
die  Frau  zu  dieser  Zeit  singe.  Es  dürfte  sich  daher  für  Bcrufssängerinnen 
empfehlen,  zur  Menstruationszeit  nicht  zu  singen.  Dieses  verbieten  denn  auch 
fast  alle  Singlehrer  ihren  Schülerinnen. 

Häufig  w ird  man  von  den  Kranken  befragt,  ob  es  erlaubt  sei , auch 
während  der  Menstrualblutung  die  verschriebene  Medicin  weiter  einzunehmen. 
In  der  Regel  steht  dem  nichts  entgegen.  Selbst  der  Gebrauch  der  Eisenpräparate, 
die  besonders  gefürchtet  werden,  hat  sehr  häufig  keinen  Einfluss  auf  die  Blutung. 
Nur  wo  die  Erfahrung  gelehrt  hat,  dass  die  Blutung  schädlich  beeinflusst,  ins- 
besondere verstärkt  wird , ist  der  Gebrauch  des  betreffenden  Mittels  in  dieser 
Periode  zu  unterbrechen. 

Nach  Beendigung  der  Menstruationsblntung  ist  eine  gründliche  Reinigung 
und  namentlich  eine  solche  der  Genitalien  angezeigt.  Zn  dem  Behufe  hat  das 
Weih  ein  Bad  zu  nehmen  und  empfehlen  sieli  hei  Verheirateten  Ausspülungen 
der  Scheide  mit  lauwarmem  Wasser. 

Schliesslich  wären  nur  noch  einige  wenige  Worte  darüber  zu  verlieren, 
wie  es  sich  mit  der  Ovulation  und  Menstruation  nach  operativer  Ent- 
fernung der  Ovarien  oder  nach  operativer  Entfernung  des 
Uterus  verhält. 

Operative  Entfernung  der  Ovarien  zieht  immer  eine  fortdauernde 
Amenorrhoe  nach  sieh,  d.  ii.  der  menstruale  Blutfiuss  stellt  sich  nicht  mehr  ein. 
Alle  Fälle,  in  denen  nach  Entfernung  beider  Ovarien  die  Menstruation  nicht  aus- 
blieb, die  Frau  eventuell  nachträglich  noch  gravid  wurde,  sind  nur  so  zu  deuten, 
dass  hei  der  Operation  übersehene  Reste  von  Ovarialsubstanz  (eventuell  auch  im 
Stumpfe)  znrückblieben  oder  dass  ein  überzähliges  drittes  Ovarium  da  war. 

Operative  Entfernung  des  Uterus  bei  zurückgebliebenen  normalen  Ovarien 
lieht  die  Ovulation  nicht  auf,  wie  dies  die  Molimina  bei  solchen  Frauen  erweisen, 
ln  einem  von  Koeberle*0)  operirten  Falle,  in  dem  der  Uterus  unter  Zurück- 
lassung der  Vaginalportion  supravaginal  amputirt  worden  war,  trat  (in  Folge  von 
zurückgebliebener  Permeabilität  des  Uterusstiimpfes)  nachträglich  sogar  Extra- 
uterinalgravidität  ein,  der  beste  Beweis,  dass  eine  Entfernung  des  Uterus  unter 
Zurücklassung  der  gesunden  Ovarien  die  Ovulation  nicht  alterirt. 

Literatur;  ')  C.  E.  v.  Buer,  I>e  oti  mammnl.  et  hum.  <jent»i.  Epist.  ad  Acad. 
Imp.  Petropol.  Lipsiae  1827.  — 3)  Sin t c m m a , Sieire  Bt*chrgiein<i  der  kleine  iraerlt  of 


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414 


MENSTRUATION.  — METRORRHAGIE. 


ttrhandlinge  ocer  de  menscheiyke  natuur.  Rotterdam  1728.  — 3)  Bischof f,  Beweise  der 
von  der  Begattung  unabhängigen  periodischen  Reifung  nnd  Loslösting  der  Eier  der  Sängethiere 
und  der  Menschen.  Giessen  844  und  Beiträge  zur  Lehre  von  Menstruation  und  Ovulation. 
Zeitschr.  f.  rationelle  Med.  1853,  IV,  N.  F.,  pag.  155.  — 4>  Pflüger,  Ueber  die  Bedeutung 
und  Ursache  der  Menstruation.  Untersuchungen  aus  dem  physiologischen  Laboratorium  in  Bonn. 
Berlin  1865,  pag.  52.  — *)  Sigismund,  Ideen  über  das  Wesen  der  Menstruation.  Berliner 
klin.  Wochenschr.  1871,  pag.  824.  — 4)  Löwenhardt,  Die  Berechnung  der  Schwanger- 
schaftsdauer. Arch.  f.  Gyn.  1872,  111,  pag-  457.  — 7)  Reichert.  Beschreibung  einer  früh- 
zeitigen menschlichen  Frucht  etc.  Abhandl.  der  königl.  Akad.  der  Wissensch.  zu  Berlin.  1)873, 
pag  1.  — e>  Beigel,  Die  Krankheiten  des  weiblichen  Geschlechtes.  1874,  1.  pag.  298.  — 
v)  Slavjansky,  Recherche*  sur  ln  regrexsion  den  follicules  etc.  Arch.  de  Physiol.  1874. 
pag.  213.  — ,0j  Löwenthal,  Eine  neue  Deutung  des  Menstruationsprocesses.  Arch.  f.  Gyn. 
1884,  XXIV,  pag.  169-  — n)  Feoktistow,  Einige  Worte  über  die  Ursache  und  den  Zweck 
der  Menstruation.  Arch.  f.  Gyn.  1885,  XXVII,  pag.  379.  — **)  Veit,  Müller  s Handb  d.  Geb. 
1888,  I.  pag.  137  und  Verhandlungen  der  deutschen  Gesellschaft  für  Gynäkologie.  IV.  Congre». 
Leipzig  1893,  pag.  3.  — **)  Chazan.  Ovulation  und  Menstruation.  Arch.  t.  Gyn.  1889,  XXXVI, 
pag.  ^7.  — u)  Glaevecke,  Körperliche  und  geistige  Veränderungen  im  weiblichen  Körper 
nach  künstlichem  Verluste  der  Ovarien  etc.  Arch.  f.  Gyn.  1889,  XXXV,  pag.  1.  — IS)  Stein- 
haus, Menstruation  und  Ovulation  in  ihren  gegenseitigen  Beziehungen.  Leipzig  1890,  pag.  111.— 
16)  Leopold,  Studien  über  die  Uterusschlei mh*ut  etc.  Arch.  f.  Gyn.  1877.  XI,  pag  111. 
Untersuchungen  über  Menstruation  und  Ovulation,  eod.  loc  1883,  XXI,  pag.  347.  Beitrag  zor 
Lehre  von  Menstruation  und  Ovulation,  eod.  loc.  1894,  XLV,  pag.  506.  Vergleiche  auch  noch 
Winterhalter:  „Ein  sympathisches  Gangliom  im  menschlichen  Ovarium.**  Arch.  f.  Gyn.  1896, 
LI,  pag.  49.  — t7)  Cohnstein,  Beitrag  zur  Lehre  von  der  Ovulation.  Deutsche  Med.  Wochen- 
schrift. 1890,  Nr.  34.  — **)  Ei  sen  hart.  Die  Wechselbeziehungen  zwischen  internen  and 
gynäkologischen  Erkrankungen.  Stuttgart  1895. — *■)  Kund  rat  und  Engel  mann,  Wiener 
Med.  Jahrb.  1873.  — *°)  Williams.  The  Obstetr.  Journ.  of  Great  Brit.  and  Irel.  Februar 
und  März  1875-  — *')  Leopold,  Studien  über  die  Uterusschleimhaut  etc.  Arch.  f.  Gyn. 
1877,  XI,  pag.  111.  — **)  Wyder,  Beiträge  zur  normalen  und  pathologischen  Histologie 
der  menschlichen  Uternsschleimbaut.  Arch.  f.  Gyn.  1878,  XIII,  pag.  1.  — **)  Möricke, 
Die  Uternsschleimh&ut  in  den  verschiedenen  Altersperioden  und  zur  Zeit  der  Menstruation. 
Zeitschr.  f.  Geburtsh.  u.  Gyn.  1881,  VII,  pag  84- — *4)  Von  K ah  Iden,  Ueber  das  Verhalten 
der  Uterusschleimhaut  während  nnd  nach  der  Menstruation.  Beitr.  zur  Geburtsh.  u.  Gyn.  Fest- 
schrift für  Hegar.  Stuttgart  1889  — **)  Lawson  Tait.  A Research  in  to  the  cotmidenct 
of  Ovulation  nnd  Menstruation.  The  Brit  Gyn.  Journ.  1888,  IV.  pag.  91.  — **)  Brierre 
de  Boismont,  I)e  In  Menstruation,  considerte  dans  xes  r apport«  phg- ioh  giquex  et  patkm 
logiquts.  Paris  1842.  — 2T)  Meigs,  Obstetrics,  the  Science  and  the  art,  Philadelphia  1849.  — 
,8)  Scanzoni,  Lehrbuch  der  Geburtshilfe.  1855. — Slavjansky,  Med.  Bote  (russisch), 
1877,  Nr.  31.  — w)  Koeberle,  Keller,  Grossesses  eitrauterines.  Paris  1872,  pag.  23.  — 
Vergl.  weiterhin  noch  betreffs  der  Menstruation  folgende  Werke : Krieger,  Die  Menstruation. 
Eine  gynäkologische  Studie.  Berlin  1869.  — Raciborski,  Traiti  de  la  Menstruation. 
Paris  1868-  — Icard,  Lu  fenimc  pendant  la  piriode  menstruelle.  Paris  1890-  — Leopold 
Meyer,  Der  Menstruationsprocess  und  seine  krankhaften  Abweichungen.  Stuttgart  18)0. 

Klein  Wächter. 

Metrorrhagie  nennen  wir  jede  heftigere  Uterinalblutung.  Findet  diese 
zur  Zeit  der  Menstruation  statt,  d.  h.  ist  letztere  auffallend  profus,  so  sprechen 
wir  von  einer  Menorrhagie.  Der  Begriff  der  Menorrhagie  lässt  sich  nicht  haar- 
scharf feststellen , da  die  Menge  des  während  der  Menstruation  ausgesehiedenen 
Blutes  nicht  nur  bei  verschiedenen  Frauen  sehr  ungleich  ist , sondern  auch  mit- 
unter bei  einer  und  derselben  Frau  wechselt  und  beispielsweise  post  pnerperium 
und  in  den  klimakterischen  Jahren  oft  verstärkt  ist,  ganz  abgesehen  davon,  dass 
auch  intercurrirende  Erkrankungen  des  Uterus  und  der  Sexualorgane  überhaupt 
nicht  selten  die  Menstrualblutung  nicht  wenig  verstärken.  Ob  inan  die  Menstrual- 
blutung als  übermässig  stark,  d.  h.  als  Menorrhagie  anzusehen  habe,  hängt  von 
verschiedenen  Umständen  in  jedem  Einzelfalle  ab. 

Die  Art  der  Blutung  ist  eine  verschiedene.  Das  Blut  tiiesst  eontinuirlich 
oder  nur  stossweise.  Letzterer  Modus  kann  durch  verschiedene  Umstände  bedingt 
sein.  Bei  ruhiger  Rückenlage  kann  sieh  das  ergossene  Blut  in  dem  rückwärtigen 
Scheidengewölbe,  das  tiefer  als  der  Scheidenausgang  liegt,  ansammeln  und  dort 
gerinnen,  worauf  es  bei  Wechsel  der  Körperlage  oder  bei  Action  der  Bauch- 
presse flüssig  oder  als  Gerinnsel  ausgetrieben  wird.  Andererseits  wieder  kann  sich 
das  Blut,  wenn  die  Uterushöhle,  wie  bei  sessilcn  oder  gestielten  Fibromyomen, 
erweitert  ist , in  dieser  ansammeln  und  gerinnen  und  dann  unter  Uteruscontrac- 
tionen,  die  das  Gefühl  des  Wehenschmerzes  erzeugen,  ausgestossen  werden. 


METRORRHAGIE. 


415 


Begreiflicherweise  ist  die  Metrorrhagie,  eventuell  die  Menorrhagie  keine 
Erkrankung  per  se , sondern  nnr  ein  Symptom , dass  durch  die  verschiedensten 
Erkrankungen  des  Uterus,  respective  des  Sexualsystemes  oder  durch  Allgemein- 
erkrankungen bedingt  sein  kann.  Alle  Momente,  die  eine  active  oder  passive  Hyper- 
ämie des  Uterus  bedingen,  vermögen  daher  Veranlassung  einer  Blutung  zu  werden, 
namentlich  wenn  ihre  Wirkung  zu  der  der  physiologischen  menstruellen  Hyper- 
ämie hinzutritt. 

Hierher  zählen  Schädlichkeiten,  denen  sich  die  Frau  zur  Menstruations- 
zeit aussetzt,  wie  Erhitzung,  Erkältung,  schwere  Arbeit,  Tanzeu,  Reiten,  Abusus 
spirituosorum,  stürmischer  Coitus,  geistige  und  namentlich  sexuelle  Erregung  u.  dgl.  m. 

Alle  übrigen  hier  in  Frage  kommenden  Ursachen,  seien  es  solche,  die 
die  Blutbewegung  im  ganzen  Körper  (wie  bei  Emphysem  und  Herzfehlern)  oder 
nur  im  Becken  behindern  (wie  bei  Ascites,  Leberaffectionen , Kothstauuug,  bei 
varicöser  Entartung  der  Beckenvenen,  bei  Exsudaten  im  kleinen  Becken,  grossen 
Tumoren , besonders  bei  solchen , die  zwischen  den  Blättern  des  Ligamentum 
latum  sitzen  und  bis  zu  seiner  Basis  oder  gar  bis  auf  den  Beckenboden  herab- 
reichen) oder  gar  nur  im  Uterus,  erschweren  (wie  bei  Lageveränderungen  des- 
selben t oder  schliesslich  solche,  die  den  Blutzufluss  zum  Uterus  steigern  (wie 
Bildung  von  Tumoren  des  Uterus  und  bei  entzündlichen  Processen  im  und  um 
den  Uterus),  werden  zur  Zeit  der  Menstruation  die  gleiche  Wirkung  erzeugen, 
d.  h.  die  Menstrualblutung  heftiger  machen.  In  der  intermenstrualen  Periode  da- 
gegen können  die  erwähnten  Ursachen  nur  dann  eine  Blutung  herbeiführen,  wenn 
gleichzeitig  Veränderungen  der  Uterusschleimhaut  da  sind,  wie  bei  Gegenwart 
einer  Endometritis  oder  eines  Neoplasmas  (eines  Carcinoms,  Sarkoms,  eines  Fibro- 
rayoms  u.  dergl.  m.)  des  Uterus.  Die  Blutung  kommt  dadurch  zu  Stande,  dass 
die  ausgedehnten,  brüchigen,  leicht  zcrreisslichen  Capillargefiisse  vom  umgebenden 
Gewebe  schlecht  gestutzt  werden  und  daher  einer  massigen,  unter  normalen  Ver- 
hältnissen ungefährlichen  und  unwirksamen  Steigerung  des  Blutdruckes  nicht  zu 
widerstehen  vermögen.  Die  stärkeren  menstrualen  Blutungen  der  klimakterischeu 
Periode  und  die  sich  zuweilen  bei  Greisinnen  einstellenden  Uterinalblutungen 
beruhen  wohl  auch  nur  auf  einer  abnormen  Rigidität  und  Brüchigkeit  der  Gefässe. 
Die  aussen  auf  der  Portio  aufsitzenden  und  in  die  Vagina  hineinwuchernden  Neu- 
bildungen des  Uterus  sind  ebenso  wie  Erosionen  der  Portio  ausserdem  noch  aller- 
hand mechanischen  Insulten  (wie  bei  dem  Coitus,  das  Gescheuertwerden  an  deu 
Vaginalwandungen  bei  Körperbewegungen)  ausgesetzt  und  bluten  oft  sehr  bedeutend, 
da  den  lädirten  weiten  Capillaren  die  Fähigkeit  der  Retraction  mangelt. 

Nicht  selten  zieht  die  Bildung  von  Hämatomen  und  Hämatokele  Metror- 
rhagien nach  sich.  Bekannt  ist  es  weiterhin,  dass  protrahirte  Aborte  mit  Retention 
von  Eihaut-  und  I’laceutarresten  sehr  häufig  Uterinalblutungen  nach  sich  ziehen. 

Wohl  nur  theilweise  ist  bei  gewissen  Erkrankungen,  die  das  Sexualsystem 
nicht  direct  betreffen , die  Blutung  aus  dem  Uterus  auf  eine  Schwäche  der 
Gefässwände , aber  hauptsächlich  auf  eine  abnorme  Blutbeschaffenheit  zurückzu- 
führen,  w ie  bei  Hämophilie,  Chlorose,  Anämie,  Tuberkulose  u.  dergl.  m. 

Heftige  Blutungen , die  aber  den  menorrhagischen  Charakter  enthalten 
können,  stellen  sich  ausnahmsweise  bei  chronischer  Nephritis  ein  (Trier1),  West*). 

Blutungen,  die  sich  im  Verlaufe  schwerer , acut  fieberhaft  verlaufender 
Krankheiten  einstellen , wie  namentlich  bei  acuten  Infectionskraukheiten  (im  Ver- 
laufe der  Variola,  Scarlatina,  des  Ileotyphus),  Blutungen  im  Verlaufe  der  Cholera 
und  der  acuten  Phosphorvergiftung  sind  nur  der  Ausdruck  einer  durch  die 
Allgemeinerkrankung  zu  Stande  gekommenen  acuten  Endometritis. 

Bei  vielen  Erkrankungen  des  Uterus  ist  das  Verhalten  der  Menorrhagien 
und  Metrorrhagien  ein  so  typisches,  dass  es  sich  graphisch  darstellen  lässt  und 
man  ganz  charakteristische,  den  einzelnen  Erkrankungen  (z.  B.  dem  unvollständigen 
Aborte,  der  Myomblutung,  der  Involutio  Uteri  incompleta , der  Endometritis 
fungota , dem  Carcinoma  colli  uteri  u.  dergl.  m.)  entsprechende  Typen  erhält, 


METRORRHAGIE 


416 

von  denen  jeder  für  sieh  ein  eigentümlicher  ist  und  sich  von  den  anderen  ganz 
bedeutend  unterscheidet  (Kaltenbach*). 

Was  die  Behandlung  der  Metrorrhagie  uud  Meuorrhagie  anbelangt , so 
fallt  sie  eigentlich  mit  der  Therapie  der  verschiedensten  gynäkologischen  Erkran- 
kungen und  mit  der  nicht  weniger  Allgomeinerkrankungeu  zusammen  und  kann 
demnach  eine  eingehende  Besprechung  derselben  hier  nicht  stattfinden.  Soviel  nur 
lässt  sich  hier  sagen,  «lass  man  in  jedem  einzelnen  Falle  die  l’rsache  der  Blutung 
zu  erforschen  hat,  worauf  dann  die  entsprechende  Therapie  einzuleiten  ist. 

Hier  mag  nur  die  Behandlung  im  Allgemeinen  (ohne  Rücksichtnahme 
auf  die  der  Blutung  zu  Grunde  liegende  Erkrankung)  kurz  besprochen  werden. 

Häufig  vermag  man,  wenn  man  auch  momentan  nicht  gegen  die  zu 
Grunde  liegende  Krankheit  einschreiten  kann,  durch  ein  entsprechendes  diäteti- 
sches Verhalten  die  Blutung  zu  sistiren.  Man  räume  die  Schädlichkeiten  aus  dem 
Wege,  verordne  ein  kühles  Verhalten,  säuerliche  Getränke,  verbiete  Alles,  was 
den  Blutdruck  steigert,  wie  Tliee,  Kafi'ee  und  Spirituosen,  untersage  eine  auf- 
regende Beschäftigung  und  Lectttre,  sowie  sexuelle  Erregungen.  Gleichzeitig  lasse 
man  die  Kranke  absolute  körperliche  Ruhe  einhaltcn.  Häufig  aber  mindert  die 
horizontale  Lage  im  Bette  die  Blutung  nicht  oder  verstärkt  sie  selbe  gar  noch. 
Es  erklärt  sich  dies  daraus,  dass  hierbei  die  Genitalien  am  tiefsten  gelagert  sind, 
das  Blut  demnach  bei  dieser  Lagerung  nicht  rücktiiessen  kann,  sich  demnach 
eine  venöse  Stase  bildet , die  die  Blutung  noch  steigert , begünstigt  noch  durch 
den  Druck  von  Beite  der  Därme  auf  das  Berken.  Lässt  man  dagegen  die  Kranke 
die  Knieellenbogenlage  einnehmen , wodurch  der  intraabdominale  Druck  ver- 
mindert und  der  Abiluss  des  Blutes  aus  dem  Becken  erleichtert  wird,  so  mindert 
sich  die  Blutung  ganz  wesentlich  oder  sistirt  auch  zur  Gänze.  Hierbei  muss  der 
Rücken  möglichst  cingebogen  sein,  die  Bauchmusculatur  erschlafft  werden  und  die 
Athmung  möglichst  tief  sein.  Die  Kranke  ermüdet  in  dieser  Lagerung  wohl 
anfangs  rasch  und  fühlt  einen  Druck  im  Kopfe,  doch  ist  sic  bald  im  Stande,  in 
derselben  längere  Zeit  auszuharren.  Wird  eine  Aenderung  der  Lage  nöthig, 
so  lässt  man  mit  der  Knicellenbogenlage  die  Bauchlage  und  Seitenbauehlage  ab- 
wechseln (Dokaldsok  *).  Unter  Umständen  macht  man,  wenn  die  Blutung  durch 
ihre  Heftigkeit  bedrohend  ist  (und  zwar  namentlich  hei  Gegenwart  von  Uterus- 
neubildungen)  kalte  Vaginalinjeetionen  oder  legt  man  Eisstücke  in  die  Vagina. 
Die  äussere  Anwendung  der  Kälte  nützt  so  viel  als  nichts.  Die  Wirkung  der 
Kälte  ohne  die  begleitende  der  Nässe  entfalten  auch  die  von  verschiedenen  beiten 
her  construirten  Kühlapparate  der  Vagina.  Gut  wirken  zuweilen  und  namentlich 
bei  Menorrhagien  lnjcctionen  von  bis  50°  C.  heissen  Wassers  in  nicht  zu  grossen 
Mengen  und  öfter  des  Tages;  3 — 4mal  des  Tages  1 3 — */4  Liter. 

Unter  Umständen  timt  es  gut,  utero-abdominal  zu  galvanisireu,  uud  zwar 
mit  dem  positiven  Pole  als  dem  activen  und  einer  Stromstärke  von  10U  und  mehr 
Amperes  bei  einer  Sitzungsdauer  von  höchstens  bis  5 Minuten,  vorausgesetzt  aber, 
dass  die  Kranke'  diese  Stromstärke  gut  verträgt. 

Zuweilen  erzielt  man  gute  Resultate  und  vermag  mau  die  profuse  Men- 
struation nahezu  ganz  zu  unterdrücken , wenn  man  die  Vagina  tamponirt.  lu  der 
Regel  genügt  es,  nur  das  Scheidengewölbe  fest  anzntainpouiren,  seltener  wird  cs 
nöthig,  ausserdem  auch  noch  den  übrigen  Vaginalabschnitt  fest  anzntamponiren. 
Letzteres  vermeidet  mau  lieber,  weil  sonst  die  Urethra  mit  eomprimirt  wird  und  die 
Frau  dann  nicht  den  Harn  allein  lassen  kann,  sondern  katheterisirt  werden  muss.  Mit 
Jodoform  bestreute  Watte  eignet  sich  zum  festen  Tamponmateriale  besser  als  Jodo- 
formgaze, die  binnen  Kurzem  zusammenbackt,  wodurch  der  Tampon  kleiner  wird. 

Umständlicher  schon,  da  sie  eine  ärztliche  Assistenz  und  grössere  \or- 
bereitungen  (Lagerung  der  Kranken  auf  den  Tisch , Einführung  und  Fixation 
eines  löffelförmigen  Spcculums , Fixation  der  Vaginulportion , eventuell  vorans- 
geheude  Dilatation  des  l’terinalcanales)  erfordert,  ist  die  Austumponirung  des  Uten»- 
cavurns  mit  Jodoformgazestreifen. 


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METRORRHAGIE. 


417 


Sistirt  die  Blutung  naeli  der  Tamponade  (der  Vagina  oder  des  l'terus), 
so  kann  der  jodoformirte  Wattetampon  24  Stunden,  der  Jodoformgazetampon  mehrere 
Tage  liegen  bleiben. 

In  anderen  Füllen  wird  man,  je  nach  der  Grundkraukheit,  die  Exeochlea- 
tion  und  Ausätzung  des  Cteruscavums  vornehmen,  Aftermassen  mit  dem  Löffel 
entfernen  und  darauf  das  Glüheisen  anwenden  u.  dergi.  m. 

Da  wir  uns  heute  das  l'ternscavum  nötigenfalls  ganz  gut  für  Instrumente, 
Aetzmittel  u.  dergi.  m.  enter  Vermeidung  jeder  Gefahr  zugänglich  machen  können, 
siml  die  ihrerzeit  beliebten  intrauterinen  Injectionen  mit  Chloreisen , Jodtinctur 
u.  dergi.  m.  als  viel  zu  gefährlich  gänzlicli  verlassen.  Gar  häufig  folgten  solchen  In- 
jectionen allgemeine  Peritonitiden,  die  nicht  selten  die  Kranken  binnen  kürzester 
Zeit  dahinrafften. 

Sehr  beliebt  ist  die  Darreichung  innerer  Mittel , die  erfahrungsgemäss 
bei  Uterinalblutungen  eine  blutstillende  Wirkung  entfalten.  Ihre  Darreichung  ist 
in  der  Kegel  das  erste,  was  der  Arzt  thut,  wenn  er  zn  dem  Bette  einer  an 
einer  Fterinalblutung  leidenden  Frau  kommt. 

Am  verbreitetsten  ist  die  Darreichung  des  Ergotins  und  seiner  Präparate. 

Das  Secale  comutum  als  solches,  sei  es  in  Pulverform  oder  als  Infusum 
wird  heutzutage  nur  mehr  selten  gegeben,  sowohl  seines  unangenehmen  Geschmackes 
wegen,  als  wegen  seiner  unsicheren  Wirkung. 

Unbedingt  vorzuziehen  ist  das  Ergotin.  Zu  den  beliebtesten  und  wirk- 
samsten Präparaten  zählt  das  WERNICH’sehe  Extractum  dinlysatum , das  Bom- 
liELON'sche  und  das  DENZEL'sehe  Extract.  Am  leichtesten  und  angenehmsten  ist 
das  Ergotin  in  Pillenform  zu  nehmen.  Ich  lasse  aus  3,0  100  Pillen  anfertigen, 
denen  ich  5 °/„  Benzoesäure  zusetzen  lasse,  um  das  Präparat  haltbar  zu  machen. 
2 — 3mal  des  Tages  3 Pillen  pflegen  in  der  Regel  günstige  Wirkung  zu  erzielen. 
Feber  das  Cornutin  fehlen  mir  Erfahrungen. 

Feber  das  f'stilago  Maid  in,  sowie  über  die  Hamamelis  virginica  kann 
ich  mich  nicht  aussprechen,  da  ich  diese  Mittel  nicht  anwende. 

Die  Cat  tex  Viburni  prunifolii,  die  bei  drohendem  Aborte  in  geeigneten 
Fällen  ausgezeichnet  wirkt,  fand  ich  hei  Meno-  und  Metrorrhagien  gänzlich 
unwirksam. 

Das  Extractum  Gossypii,  allein  gegeben,  wirkt  nahezu  nichts,  wohl  aber 
scheint  es,  gleichzeitig  mit  Ergotin  und  Hydrastis  gegeben,  gut  zu  wirken. 

Während  das  Ergotin  bei  Blutungen  in  Folge  vorhandener  Fibromyome 
wirksamer  ist,  als  das  Extractum  IJydrastis  eanadensis,  scheint  letztgenanntes 
Mittel  wieder  bei  hyperflmischen  Zuständen  des  L’terus  und  dadurch  bedingten 
Blutungen  besser  zu  wirken,  als  das  Ergotin. 

Ich  pflege  die  drei  genannten  Mittel,  Ergotin,  Extractum  Hydrastis 
ennadensis  und  Extractum  Gossypii  zu  gleicher  Zeit , und  zwar  in  Pillenform 
zu  geben ; Ergotini,  Extract.  Gossypii  und  Extract.  Hydrast.  canad.  aa.  3,0,  Acid. 
benzoicii  0,15,  Pulv.  et  Extract.  rad.  Acori  q.  s.  nt  f.  pill.  Nr.  100.  Von  diesen 
Pillen  lasse  ich  zweimal  des  Tages  3 Stück  und  bei  heftigeren  Blutungen  9 Stück 
des  Tages  nehmen. 

Ausgezeichnet  bewährt  hat  sich  mir  das  Hydrastinin  aber  nur  in  den 
Fällen,  in  denen  es  angezeigt  ist , eine  Anämie  des  Uterus  herbeizuführen , um 
dadurch  eine  Stillung  der  Blutung  herbeizuführen,  nicht  aber  um  Fteruscontractionen 
zu  erregen,  durch  die  eine  atonische  Blutung  behoben  werden  soll.  Bei  Menor- 
rhagien steigert  man  die  Wirkung  dadurch  , dass  man  das  Mittel  bereits  einige 
Tage  vor  der  zu  erwartenden  Menstruation  nehmen  lässt  und  es  dann  die  ganze 
Zeit  der  Menstruation  hindurch  reicht.  Es  kommen  jetzt  im  Handel  schon  fertige 
Gelatinpillen  vor,  die  neben  0,1  Saechar.  lact.  0,02  Hydrastinin.  nutriaticum  ent- 
halten. 2 — 3ma!  des  Tages  eine  Pille  genügt. 

Literatur:  ')  Trier,  Nord.  Med.  Ark.  lsstj,  VIII,  Nr.  16;  t'entralbl  f.  Uvn. 
1897.  pap.  200.  — *)  tl’rit,  Lehrbuch  der  Frauenkrankheiten.  Deutsche  IVhersctzunz  von 
Eneyclop.  Jahrbücher.  VI.  27 


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418 


METRORRHAGIE.  — MOLENSCHWANGERSCHAFT. 


W.  Langenbeek.  Güttingen  1863-  — ^Kaltenbach,  Zeitschr.  f.  Geburtsh.  u.  Gyn.  1891, 
XXI,  pag.  290.  — 4)  Donalds  on,  Amer.  Journ.  of  Obetetr.  1885,  XVIII,  pag.  499.  — VergL 
ferner  Leopold  Meyer,  Der  Menstruationsprocesa  und  seine  krankhaften  Abweichungen. 
Stuttgart  1890,  pag.  63  und  Heffter,  Die  intern  wirkenden  Hämostatica  in  der  Gynäkologie. 
Monatsschr.  f.  Geburtsh.  u.  Gyn.  1895,  I,  pag.  131  und  die  einschlägigen  Capitel  in  den  ver- 
schiedenen Lehrbüchern  der  Gynäkologie.  Das  einzige  über  die  Gebärmutterblutungen  existirende 
Werk,  das  von  Snegnireff  (Professor  in  Moskau)  verfasst  ist  und  1895  in  Moskau  erschien, 
ist  mir,  da  es  in  russischer  Sprache  geschrieben,  unzugänglich.  Es  führt  den  Titel:  „Die 
Gebarmutterblutungen,  deren  Aetiologie,  Diagnostik  und  Behandlung  etc.- 

Kleinwächter. 

Milchsäuregährung,  s.  Magen,  pag.  388. 

Möller • Barlow’sche  Krankheit,  ».  Barlo  w 'sehe  Krank- 
heit, pag.  46. 

Molenschwangerschaft  nennen  wir  das  Tragen  gewisser  entarteter 
Abortiveier. 

Hipphkrates1),  Aristoteles*),  Oalencs*)  und  Aktivs *)  sprechen  von 
der  „Mola“,  verstehen  aber  unter  diesem  Ausdrucke  jene  degenerirten  Abortiv- 
eier, die  wir  heute  als  Blut-  oder  Fleischmolen  bezeichnen.  Die  Araber  dehnten 
den  Begriff  weiter  ans,  indem  sie  unter  „Mola“  alle  jene  Geschwülste  zusammen- 
fassten, die  sieh  in  der  Gebärmutter  oder  deren  Wandung  bilden.  Später  unter- 
schied man  „wahre“  und  „falsche“  Molen,  Schwangerschaftsproducte  und  ohne 
Conception  entstandene  Gebilde.  Man  nannte  diese  Gebilde  Mondkalb,  Tenfelsbrnt, 
Windei,  Kielkopf,  Sonnenkind,  Nierenkind  u.  dergl.  mehr  und  theilte  sie  nach 
ihrem  Inhalte  in  Blut-,  Wasser-,  Luft-,  Haar-,  Fleisch-,  Knochen-,  Kalkmolen 
n.  s.  w.  ein. 

Wir  sprechen  heutzutage  nur  mehr  von  einer  Blasen-  oder  Trauben- 
mole und  einer  Blut-  oder  Fleischmole  und  verstehen  unter  ersterer  eine 
blasenförmige  Degeneration  der  Chorionzotten  und  unter  letzterer  das  Convolnt 
eines  durch  Blutergüsse  frühzeitig  zu  Grunde  gegangenen  Eies. 

Die  ßlasenmole  erwähnt  zuerst  1565  Schexck  von  Grafexberg  s) 
und  TULPIUS  •).  Kcysch  7)  spricht  1691  von  ihr  als  Schwangerschaftsproduct 
und  ebenso  Haller"),  sowie  1761  Morgagni0).  Vom  Ende  des  18.  Jahrhunderts 
bis  ziemlieh  weit  in  das  19.  hinein  hielt  man  sie  für  wirkliche  BlascnwUrmer  — 
Götze10)  und  Bremser  ")  — , daher  auch  der  Name  „Hydatidenmole“.  Die  Natur 
der  Blasen  als  echte  Cysten  bestritten  bereits  Velpkav *-)  und  JOH.  Müller1'). 
Gierre  und  Meckel  u)  hielten  das  Wesen  der  Erkrankung  für  eine  Hypertrophie 
der  C'horionzotten  mit  Oedem,  während  H.  Müller  **)  das  Exochorion  nnd  Mbtte.v- 
bkimer1*)  das  Bindegewebe  als  Ausgangspunkt  der  Erkrankung  annahmen. 
VlRCHOW  *")  endlich  fasste  die  ßlasenmole  als  nichts  Anderes  auf,  als  eine 
Hyperplasie  des  Schleimgewebes,  des  normalen  Grundstockes  der  Chorionzotten. 

Die  Blasenmole  ist  eine  Degeneration  der  Chorionzotteu  zu  verschieden 
grossen  Blasen,  die  innerhalb  der  ersten  Schwangerschaftswochen  stattündet.  Durch 
die  neuesten  Arbeiten  Marchaxd’s  >*)  wird  die  bisher  allgemeine  Ansicht,  dass 
die  Blasenmole  als  eine  myxomutöse  Degeneration  der  Choriouzotte  nach  VtRCHoW 
aufznfassen  sei,  zur  Gänze  umgestossen. 

Der  ganze  Krankheitsprocess  ist  analog  einer  malignen  Neubildung  und 
handelt  es  sich  bei  ihm  in  erster  Linie  um  eine  ganz  enorme  Einwanderung, 
resp.  Einwucherung  epithelialer,  vom  Chorionepithelc  abstammender  Elemente, 
durch  die  die  Serotina  mehr  oder  minder  vollständig  zerstört  wird.  Nur  die  kleinen 
mehr  compacten  Massen  der  Chorion zotten  zeigen  noch  den  charakteristischen  Bau  des 
Zottenstromas.  Der  bei  weitem  grösste  Theil  der  stärkeren  Zottenanschwellnngcn 
ist  ganz  oder  wenigstens  fast  ganz  abgestorben  und  in  Vertitissigung  begriffen. 
Es  besteht  demnach,  wie  bereits  erwähnt,  keine  proliferirende  myxomutöse  Zellen- 
wucherung  im  Sinne  Virchow’s,  sondern  die  Blasenzotten  stellen  blos  das  Resultat 
einer  gewissen  regellosen  Wucherung  mit  bydropischer  Quellung  und  schliess- 


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MOLENSCHWANGEBSCHAFT. 


419 


Kcher  Nekrose  dar.  An  den  kleinen  Zotten  ist  das  Epithel  am  wenigsten  ver- 
ändert. Wo  es  noch  gut  erhalten  ist,  finden  sich,  analog  den  früheren  Ent- 
wicklungsstadien der  Placenta,  die  zwei  Schichten  derselben,  die  äussere,  dem 
Uterusepithele  entstammende,  das  sogenannte  Syncytium  und  die  innere,  die  so- 
genannte LAXGHANS’sche  Zellscbichte.  Die  letztere  ist  ganz  erheblich  stärker  ent- 
wickelt, überzieht  continuirlieh  die  Zotten  und  vielfach  finden  sich  ganz  erheb- 
liche Wucherungen  derselben.  Das  Syncytium  ist  von  wechselnder  Dicke  und 

bildet  oft  unregelmässig  gestaltete  Klumpen.  Es  zeigt  ebenfalls  beträchtliche  Ver- 
änderungen degenerativer  Art.  Häufig  treten  in  seinem  Protoplasma  kleine  scharf- 
randige  helle  Vacuolen  auf.  Wo  stärkere  degenerative  Processe  und  Wucherungen 
vorhanden  sind,  findet  sich  noch  eine  eigenthümliche  fibrinöse  Umwandlung  des 
im  Absterben  begriffenen  Syncytiums.  An  manchen  Stellen  kommt  es  zu  einer 
bydropischen  Degeneration  desselben.  Es  findet  sich  nämlich  von  sehr  zahlreichen 
grossen  hellen  Vacuolen  seiner  ganzen  Dicke  nach  durchsetzt,  wodurch  es  voll- 
ständig die  Beschaffenheit  eines  grossblasigen  Schaumes  erhält.  Diese  Veränderungen 
der  beiden  Schichten  des  Chorionepithels  bilden  sich  vornehmlich  in  der  Nachbar- 
schaft der  Decidua  serotinn.  Die  Verbindung  der  Zottenspitzen  mit  der  Fibrin- 
schichte  der  Decidua  serotinn  ist  meist  nicht  eine  unmittelbare,  vielmehr  wird 
sie  fast  stets  durch  mehr  oder  minder  mächtige,  von  den  Enden  der  Haftzotten 
ausgehende  Zellwucherungen  vermittelt.  An  diesen  Zottenepithelwucherungen  be- 
theiligen sich  beide  Schichten,  das  Syncytium  und  die  LANGHAXS’sehe  Zellen- 
schicht, doch  scheint  ersterer  eine  grössere  Bedeutung  zuzukommen.  Diese  Zell- 
massen dringen  in  der  ganzen  Ausdehnung  der  Serotina  von  der  Oberfläche 
gegen  die  Tiefe  vor  und  zerstören  dieselbe  in  sehr  bedeutendem  und  ausgedehntem 
Masse.  An  vielen  Stellen,  dort,  wo  die  Fibrinschichte,  die  gewissermassen  einen 
natürlichen  Schutzwall  gegen  das  Eindringen  der  epithelialen  Massen  bildet,  zer- 
stört ist,  fehlt  die  ganze  compacte  und  spongiöse  Schichte  der  Decidua.  Die 
lockeren  Zellmassen  liegen  direct  an  der  Oberfläche  der  entblössten  Muscularis, 
dringen  sogar  in  letztere  ein,  so  dass  man  da  thatsächlich  von  einer  epithelialen 
Uleeration  der  Serosa  sprechen  kann.  Durch  diese  epithelialen  Wucherungen 
werden  zahlreiche  zu-  und  abführende  Blutgefässe  verlegt  und  andere  tieferliegende 
werden  eröffnet , w-odurch  es  zu  den  bekannten  Blutungen  kommt.  Sogenannte 
Dieidualsepten  fehlen  gänzlich. 

Was  die  Ursache  der  Blasenmolenbildung  anbelangt,  so  ist  es  am  wahr- 
scheinlichsten, dass  dort , wo  es  zu  einer  allgemeinen  Molenbildung  des  ganzen 
Eies  kommt,  das  Ei  ein  schon  primär  pathologisches  ist,  ein  schon  im  Ovarium 
irgendwie  verändertes,  welches  sich  aber  doch  späterhin  in  einem  gewissen  Grade 
entwickeln  kanu.  Die  wichtigste  dieser  primären  Veränderungen  des  Eies  dürfte 
wohl  die  sein , die  dessen  epithelialen  Theil  betrifft , wodurch  vielleicht  schon 
frühzeitig  eine  hydropische  Beschaffenheit  des  Chorionbindegewebes  herbeigeführt 
wird.  Dabei  ist  es  nicht  ausgeschlossen,  dass  anderen  Formen  der  Blasenmole, 
namentlich  den  partiellen,  auch  andere  Ursachen  zu  Grunde  liegen.  Für  einen 
späteren  Eintritt  dieses  pathologischen  Processes  spricht  namentlich  die  relativ 
gute  Entwicklung,  die  der  Fötus  erreichen  kann.  Geringe  Grade  von  Blasenbildung, 
wie  man  sie  nicht  so  selten  bei  Aborten  antrifft,  können  auch  Folgen  localer 
Ernährungsstörungen  nach  Absterben  der  Frucht  sein.  Diese  haben  aber  dann 
eine  andere  anatomische  und  klinische  Bedeutung,  als  Erkrankungen  des  ganzen 
Eies  oder  der  ganzen  Placenta.  Die  epithelialen  Elemente  des  Ektoderms  (der 
LAXGHANS’schen  Zellensehichte)  und  des  Syncytiums  zeichnen  sich  schon  früh 
durch  eine  abnorme  Wucherungsfähigkeit  aus,  durch  die  sie  geradezu  die  Be- 
deutung maligner  Geschwulstelemente  erhalten.  In  den  bindegewebigen  Theilen 
des  Chorions  dagegen  überwiegen  die  degenerativen  Processe,  die  activen  Wucherungs- 
vorgänge. 

Mit  Sicherheit  kann  es  ausgeschlossen  werden,  dass  ein  frühzeitiges  Ab- 
sterben der  Frucht  ein  ätiologisches  Moment  zur  Bildung  einer  Blasenmole  ab- 

27* 


MOLENSCH  W ANGERSCH  AFT. 


45SO 

gicbt.  Andererseits  dagegen  scheint  es,  dass  Störungen  von  Seiten  des  mütter- 
lichen Organismus  nicht  ohne  Eintluss  auf  die  Entstehung  dieses  Leidens  sind. 
Hierher  zählt  das  relativ  häufigere  Vorkommen  derselben  bei  älteren , dem 
Klimakterium  nahen  Frauen  und  das  wiederholte  Auftreten  derselben  bei  einer 
und  derselben  Frau,  und  selbst  wenn  dieselbe  von  verschiedenen  Männern  gravid 
wurde,  das  häufigere  Vorkommen  bei  jungen  chlorotischen  Frauen,  die  lauge 
an  Leukorrhöen  oder  Menstruationsstörungen  gelitten  und  bei  an  Nephritis 
Leidenden.  Auffallend  ist  ferner  die  nicht  so  seltene  Complication  mit  Ovarial- 
cysten.  Andererseits  dagegen  hat  eine  früher  dagewesene  Endometritis  mit  der 
Aetiologie  der  Blasenmole  nichts  zu  thun.  Das  Gleiche  gilt  von  der  Syphilis. 

Degeneriren  die  Chorionzotten  sehr  frühe  (bevor  noch  eine  l’laeeiitar- 
bildung  statthatte),  so  erkrankt  die  ganze  Eioberfiäche  und  die  Fruchtanlage 
stirbt  ab.  Letztere  zerfällt  und  findet  man  später  weiter  nichts  mehr  von  ihr 
oder  höchstens  nur  ein  Rudiment  des  N’abelstranges.  Zuweilen  stösst  man  auf 
eine  verkümmerte,  geschrumpfte  Fruchtanlage.  Geht  die  Frucht  ganz  zu  Gründe, 
so  befindet  sich  in  der  Mitte  des  Aftergebildes  nur  eine  kleine  mit  Flüssigkeit 
gefüllte  Amnionhöhle.  Tritt  die  Degeneration  dagegen  erst  nach  Bildung  der  Placenta 
ein,  so  beschränkt  sich  die  Blasenbildung  zumeist  nur  auf  die  Plaeentarstelle. 

Ausnahmsweise  nur  beobachtet  man  eine  umschriebene  Blasenmolenbildung 
neben  normaler  Placeutarbildung.  Dies  ist  dadurch  bedingt,  dass  ein  nicht  atro- 
phirtcr  Zottenbaum  des  Chorion  Bitz  der  Neubildung  wurde.  Einen  solchen  Fall 
beschreibt  WlNOORADOW.  *»)  Zuweilen  ist  nicht  die  ganze  Placenta,  sondern  nur 
ein  Theil  derselben  degenerirt,  ein  einzelner  Cotyledo  blos  oder  nur  ein  Ale 
schnitt  eines  solchen.  Unter  solchen  Umständen  kann  die  Frucht  zur  normalen 
Entwicklung  gelangen  und  lebend  geboren  werden,  doch  ist  dies  die  Ausnahme, 
denn  gewöhnlich  wird  sie  unter  solchen  Verhältnissen  nicht  ausgetragen  und 
abgestorben  ausgestossen.  Sülche  Fälle  finden  sieh  in  der  Literatur  nicht  wenige 
angeführt.  Durchaus  nicht  selten  findet  man  an  abortiv  ansgestossenen  Eiern 
Zeichen  einer  beginnenden  Blasenmolenbildung.  Die  Blasenmole  kann  auch  als 
degenerirter  Zwilling  bei  Gegenwart  einer  normal  entwickelten  Frucht  Vorkommen. 
Auch  diese  Fälle  siud  nicht  selten.  Die  Blasenmolcnbildung  kann  weiterhin, 
ebenso  wie  bei  intrauterin  gelagerter  Frucht,  auch  bei  Tubenschwangerschaft  zti 
Staude  kommen.  Solche  Fälle  thcilcn  Otto3")  und  Marchaxd11)  mit.  Jakobsohx3*) 
sah  sogar  eine  tubare  Zwillingsmolenschwangerschaft.  Es  sind  schliesslich  auch  solche 
Fälle  bekannt,  in  denen  gleichzeitig  eine  intrauterine  und  extrauterine  Gravidität 
bestand  und  beide  Eier  zu  Blasenmolen  degenerirt  waren. 

Ist  das  Ei  zur  Gänze  in  eine  Blasentnole  umgewaudelt,  so  ist  der  makro- 
skopische Befund  in  der  Regel  folgender:  Man  hat  einen  Tumor  vor  sieh,  der  aus 
einem  Conglomcrat  verschieden  grosser,  mit  Flüssigkeit  gefüllter  Blasen,  die 
traubenartig  aneinander  gereiht  sind,  besteht.  Je  nach  der  vorgeschrittenen  Neu- 
bildung findet  sich  im  Centrum  dieses  Blasenhaufens  eine  kleine  oder  grössere 
centrale  Hülle,  die  ein  Frnchtrudiment  enthält  oder  nicht.  Die  verschieden  grossen 
Blasen  hängen  durch  Stiele  mit  einander  zusammen.  Die  Blagen  sind  verschieden 
gross,  von  Mohnkorn-  bis  Erbsen-  und  Bohnen-  bis  Kirschcngrösse.  Unter  Um- 
ständen siud  die  Blasen  bis  zu  Hühnereigrösse  entwickelt  (Fig.  87i.  Das  ganze 
Gebilde  kann  nur  weidge  Gramm  wiegen . aber  auch  das  Gewicht  mehrerer 
Kilo  erreichen. 

Aus  jüngster  Zeit  liegen  keine  Mittheilungen  über  eine  chemische  Unter- 
suchung des  Inhaltes  der  Blasen  vor,  aus  früheren  Jahren  aber  wohl,  und  zwar 
die  von  Heller3*)  und  Gschkidlex 24).  Uebercinstimmeud  fanden  beide  Unter- 
suelier,  dass  der  Blaseninhalt  eine  chemische  Achnliehkeit  mit  dem  Fruchtwasser 
besitze  und  namentlich  viel  Muciu  enthalte.  Je  älter  die  Blasen  sind,  desto  mehr 
nimmt  der  Gehalt  der  Flüssigkeit  an  festen  Stoffen,  und  zwar  namentlich  an 
Eiweiss,  zu,  während  sich  die  Menge  des  Mucins  vermindert.  Ausser  dcu  er- 
wähnten Stoffen  fand  OsCHEiDLKN  ziemlich  viel  Leucin. 


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MOLEN  SCHW  ANti  ERSCHAKT. 


421 


Partielle  Degenerationen  der  Plaeenta,  sowie  eine  beginnende  Blasen- 
molenbilduug  an  Abortiveiern  sieht  man  nicht  so  selten.  Seltener  dagegen  stösst 
man  auf  eine  ausgesprochene  Blasenmole. 

Im  Beginne  der  Erkrankung  fehlen  Symptome  oder  sind  sie  so  wenig 
hervorstehend,  dass  sie  übersehen  werden.  Nach  Kkhrer's28)  Zusammenstellungen 
soll  Schwächegcfühl,  Schmerz  im  Unterlcibe  und  Ocdem  der  Unterextremitäten 
häutiger  Vorkommen  als  bei  normaler  Schwangerschaft,  doch  kann  ich  dies  nach 
meinen  Erfahrungen  nicht  bestätigen.  Späterhin  wird  das  Allgemeinbefinden  durch 
den  Abgang  von  Schleim,  Blasen  nnd  namentlich  durch  intercurrirende  Blutungen 
alterirt.  Der  Uterus  \ergrössert  sich  nicht  entsprechend  der  Dauer  der  Schwanger- 
schaft. Zuweilen  bleibt  er  kleiner,  nicht  selten  wird  er  grösser,  als  es  der  Dauer 
der  Schwangerschaft  entspricht.  Manchmal  ist  die  Vergrössernng  des  Uterus  eine 
auffallend  rapide.  Charakteristische  Symptome  für  die  spätere  Zeit  sind  Wehen 

mit  Abgang  von  Blasen  und  Schleim,  so- 
wie Blutungen.  Letztere  können  heftig, 
ja  gefahrdrohend  werden. 

Der  Verlauf  der  Blasenmolen- 
schwangerschaft charakterisirt  sich  in  der 
Kegel  dadurch,  dass  sieh  lange  vor  dem 
Graviditätsende , gewöhnlich  vom  3.  bis 
4.  Monate  an,  Wehen  einstellen,  die  mit 
einem  Abgänge  von  schleimiger  Flüssig- 
keit nnd  Blut  verbunden  sind.  Nicht  sel- 
ten werden  gleichzeitig  einzelne  Blasen 
oder  ganze  Congloinerate  solcher  ausge- 
stossen.  Der  Geburtsverlauf  ist  meist  ein 
langwieriger,  schleppender,  denn  nur  aus- 
nahmsweise geht  die  Mole  auf  einmal 
intoto  ab.  Gewöhnlich  findet  blos  ein  stück- 
weiser Abgang  derselben  statt,  wodurch 
die  Frau,  namentlich  infolge  der  beglei- 
tenden Blutungen,  stark  herabkommen 
kann.  Ist  die  Mole  auf  einmal  abge- 
gangen, so  ist  das  Leiden  sofort  behoben, 
ln  der  Regel  wird  das  Neugebilde  im 
3.  — H.  Monate  ausgetrieben,  doch  sind 
auch  Fälle  bekannt,  in  denen  es  t*  — 10 
Monate  und  sogar  noch  über  das  nor- 
male Schwangerschaftsende  hinaus  im  Uterus  zurückgelialten  wurde.  Ist  eine 
Frucht  da,  so  wird  die  Schwangerschaft  gewöhnlich  vor  ihrem  normalen  Ende 
unterbrochen.  Zumeist  wird  zuerst  die  Frucht  geboren  und  die  Mole  verbleibt 
noch  eine  Zeit  im  Uterus.  Seltener  wird  Frucht  und  Neugebilde  gleichzeitig  ge- 
boren. Ausnahmsweise  nur  w’ird  die  Mole  zuerst  ausgestossen  und  später  erst 
die  Frucht  geboren.  Einen  solchen  Fall  sah  Caspari.  '2") 

Die  Diagnose  ist  im  Krankheitsbeginne  unmöglich.  Vrrmuthcn  kann 
man  eine  Blasenmole  dann , wenn  die  Ausdehnung  des  Uterus  dem  Graviditäts- 
terminc  nicht  entspricht,  der  Uterus  demnach  kleiner  oder  grösser  ist,  als  er  sein 
sollte.  Wahrscheinlicher  wird  die  Diagnose,  wenn  zwischen  dem  3.  und  4.  Monate 
Schleim  und  Blut  unter  Wehen  abgeht,  sicher  aber  erst  dann,  wenn  man  Blasen 
abgehen  sieht  oder  selbe  durch  den  eröfl'neten  Muttermund  direc  t fühlt.  Schwierig 
wird  häufig  die  Bestimmung,  ob  mnn  eine  kleine  abgestorbene  Frucht  oder  eine 
Mole  vor  sich  hat.  Verbleibt  die  Mole  bis  zum  5.  oder  6.  Monate  im  Uterus,  so 
wird  die  Diagnose  dadurch  wesentlich  erleichtert,  dass  man  sowohl  mittels  der 
äosseren  als  mittels  der  inneren  Untersuchung  keine  Fruchttheile  findet  und  auch 
keinen  Fötalpuls  vernimmt.  Aus  der  weichen , mitunter  fiuetnirenden  Consistenz 


Fig.  *7. 


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422 


MOLENSCHWANGERSCHAFT. 


des  Uterus  allein  darf  man  keine  diagnostischen  Rackschlüsse  ziehen , da  leicht 
Täuschungen  unterlaufen  können.  Bei  nur  umschriebener  Degeneration  der 
Placenta  und  gleichzeitiger  Gegenwart  einer  normalen  Frucht  ist  nur  daun  toq 
einer  Diagnose  die  Rede,  wenn  unter  Wehen  Blasen  abgehen.  Noch  weniger  ist 
eine  Diagnose  zu  stellen,  wenn  ein  zu  Grunde  gegangenes  Ei  im  Uterus  ist  oder 
der  Abort  eines  solchen  im  Zuge  ist  und  dasselbe  Zeichen  einer  beginnenden 
Blasenmolenbildung  an  sich  trägt. 

Die  Prognose  wurde  bis  vor  kurzem  im  Allgemeinen  nicht  ungünstig 
gestellt.  Die  neuesten  Forschungen  haben  diese  Annahme  aber  stark  erschüttert. 
(Das  Nähere  darüber  soll  weiter  unten  besprochen  werden.]  Sie  hängt,  so  weit 
es  die  momentanen  Verhältnisse  anbelangt,  von  der  Intensität  und  Häufigkeit  der 
sich  wiederholenden  Blutungen  ab.  Wesentlich  gebessert  wird  sie  durch  ein  recht- 
zeitiges entsprechendes  therapeutisches  Eingreifen,  andererseits  aber  ungünstiger, 
wenn  der  Fall  sich  selbst  überlassen  bleibt.  Die  Blasen  haften  der  Innenwand 
des  Uterus  gewöhnlich  so  fest  an,  dass  sie  sich  spontan  nur  schwer  ablösen,  die 
Mole  geht  daher , sich  selbst  überlassen , häufig  nicht  in  toto  ab.  Aus  dem  er- 
wähnten totalen  oder  nur  partiellen  Abgänge  des  Neugebildes  wird  die  Prognose 
weiterhin  durch  die  Grösse  desselben  , die  Intensität  und  die  Wiederholung  der 
Blutungen  beeinflusst. 

Die  Therapie  muss,  wenn  einmal  die  Diagnose  gestellt  ist,  dahin  ge- 
richtet sein , das  Gebilde  aus  dem  Uterus  zu  entfernen  oder  die  bereits  vor- 
handenen Austreibungsbestrebungen  des  Uterus  zu  unterstützen.  Bei  starker 
Blutung  tamponire  man , bei  sich  eröffnendem  Muttermunde  gebe  man  Ergotin 
per  os  oder  subcutan.  Eventuell  versuche  man  das  Uteruscontentum  zu  exprimiren. 
Verzögert  sich  die  Eröffnung  der  Cervix , so  kann  man  sie  durch  Einlegung 
eines  Pressschwammes  oder  Quellstiftes,  aber  selbstverständlich  unter  den  ent- 
sprechenden antiseptischen  Cautelen,  befördern.  Der  Quellstift  stillt  nicht  nur  die 
Blutung,  sondern  regt  gleichzeitig  auch  die  Wehenthätigkeit  an.  Bei  nachgiebiger, 
weicher  Cervix  kann  man  selbe  auch  mittels  Dilatatorien  brüsk  so  weit  dila- 
tiren , bis  man  mit  ein  oder  zwei  Fingern  in  den  Uterus  einzugehen  vermag, 
um  die  Mole  manuell  zu  entfernen.  Bei  eröffnetem  Muttermund  ist  das  gleiche 
Vorgehen  angezeigt.  Löst  man  die  Neubildung  von  der  Uteruswand  mit  dem 
Finger  ab,  so  muss  dies  vorsichtig  geschehen . da  eventuell  auch  eine  destrui- 
rende  Mole  vorhanden  sein  und  man  hei  Anwendung  auch  von  nur  wenig  Ge- 
walt die  Uteruswand  perforiren  kann.  Aus  dem  Grunde  ist  die  Verwendung  der 
Cürette  nicht  anzticmpfehlen.  Atthii.  !7)  empfiehlt,  zur  Beförderung  der  Aus- 
stossung  des  Aftergebildes  bei  eröffneter  Cervix  Heisswasserinjectionen  in  die 
Uterushöhle  vorzunehmen. 

Ist  man  mit  der  Diagnose  im  Zweifel  und  stellen  sich  Blutungen  mit 
Wehen  ein,  so  verhalte  mau  sich , bei  gleichzeitiger  Bemühung,  die  Blutung  zu 
stillen , exspectativ.  Man  ordne  Bettruhe  an , lasse  eiskalte  Iujectionen  in  die 
Vagina,  eventuell  auch  in  den  Uterus  machen  und  tamponire  im  Falle  der  Noth. 

Oben  wurde  erwähnt,  dass  die  Prognose  der  Blasenmole  bis  vor  Kurzem 
im  Allgemeinen  nicht  ungünstig  gestellt  wurde.  Diese  Annahme  wurde  nur  inso- 
weit beschränkt,  als  sieh  die  Blasenmole  nicht  in  eine  destruirende  solche  (von 
der  noch  weiter  unten  gesprochen  werden  soll)  nmwandle.  In  den  ersten  Jahren 
dieses  Decenniums  wurde  die  Entdeckung  gemacht  , dass  sich  Aborten  ebenso 
wie  normalen  Geburten  unter  Umständen  büchst  bösartige  Neubildungen  an- 
Bchliessen  können , die  dem  Leben  der  Kranken  in  unverhältnissmässig  kurzer 
Zeit  ein  Ende  bereiten.  Es  sind  dies  die  sogenannten  „malignen  Deciduome11, 
epitheliale,  von  dem  Epithel  der  Chorionzotten  ausgehende  Wucherungen,  die  in 
die  Serotina  wuchern  und  dieselbe  nicht  blos  zerstören,  sondern  gleichzeitig 
binnen  Kurzem  ebenso  bösartige  Metastasen  in  verschiedenen  Organen,  uud  zwar 
mit  Vorliebe  in  den  Lungen,  setzen.  Weiterhin  zeigt  es  sieh,  dass  sich  diese 
malignen  Deciduome  mit  Vorliebe  an  bestandene  Blasenmolen  anschliessen.  Sicht 


MOLENSCHWANGERSCHAFT. 


423 


man  von  dem  aus  dem  18.  Jahrhundert  herrUhrenden  Falle  von  Meckel- 
Gregorini  **),  den  Marchand  20)  auch  hierher  zählt,  ab  und  ebenso  von  den 
Fällen  von  Gcttenplax  10)  und  H.  Meyer11)  aus  den  Jahren  1883  und  1888, 
die  ihrer  Zeit  noch  nicht  ihre  richtige  Erkenntnis«  und  Deutung  fanden,  so  er- 
giebt  sich,  dass  sich  das  maligne  Deeiduom  durchaus  nicht  selten  an  eine  frühere 
Blasenmole  anschliesst , denn  seit  dem  Jahre  1890  bis  zu  Beginn  des  Jahres 
1896  liegen  einschlägige  Mittheilungen  Uber  14  solche  Fälle  vor.  Publicirt 
wurden  dieselben  von  Pfeifer  51),  Kaltenbach-Kümmel  s1),  P.  Müller  **),  Pesta- 
lozza11),  Loehlf.in14),  Nove-Josserand  u.  Lacroix17),  Persko-I,.  Frankel19), 
Klikx1»),  Menge40)  (2  Fälle),  Tannen41),  Bacon4*),  Schacta  41)  u.  Apfel- 
STEDT.  “)  Marchand44)  erklärt  diesen  auffallend  häufigen  Zusammenhang  dieser 
malignen  Neubildung  mit  Blasenmolenschwangerschaft  daraus,  dass  bei  letzterer 
diejenigen  Wucherungsvorgänge , die  die  Veranlassung  zur  Geschwulstbildung 
geben  können , in  viel  höherem  Grade  entwickelt  sind  als  bei  der  normalen 
Gravidität. 

Das  klinische  Krankenbild , das  sich  in  solchen  Fällen  entrollt,  ist,  in 
kurzen  Zügen  dargestellt , folgendes.  Nach  Geburt  oder  Ausräumung  der  Mole 
erholen  sieh  die  Kranken  nicht.  Es  halten  unregelmässige  Blutungen  an  und 
gleichzeitig  leidet  das  Allgemeinbefinden.  Wenige  Wochen  später  erscheint  der 
Uterus  vergriissert  und  bei  Eröffnung  seines  Canales  kann  man  einen  verschieden 
grossen , in  die  Uterushöhle  hervorragenden , leicht  blutenden  weichen  Tumor 
nachweisen,  der  sich  wohl  leicht  entfernen  lässt,  doch  erscheint  seine  Haftstelle 
so  wenig  widerstandsfähig  und  brüchig,  dass  man  mit  dem  Finger  oder  Cürctte 
tief  in  die  Uteruswandung  hinein  gelangen  kann.  Trotz  der  Excochleation  lassen 
die  Blutungen  nur  wenig  oder  nicht  nach,  bald  kommt  es  bei  blutig-wässerigem 
Ausflüsse  unter  Fieber  und  Husten  zu  einer  nicht  genau  nachweisbaren  Lungen- 
affection.  Nicht  selten  bildet  sich  ein  metastatischer  weicher  Tumor  in  der  Vagina. 
Bald  darauf  geht  die  Kranke  unter  schweren  Lungenerscheinungen  oder  unter 
Erscheinungen  der  Sepsis  zu  Grunde.  Gar  häufig  verfliessen  zwischen  der  Molen- 
geburt und  dem  Tode  nur  4 — 5 Monate,  selten  blos  erlebt  die  Kranke  nach  der 
Molengeburt  noch  ein  weiteres  Jahr. 

Selbstverständlich  liegt  der  Gedanke  nahe,  sobald  aus  den  aus  dem 
Uterus  ausgeräumten  Massen  die  Diagnose  eines  malignen  Tumors  gestellt  werden 
kann,  sofort  die  Uterusexstirpation  vorzunehmeu,  um  die  Kranke  am  Leben  zu 
erhalten.  Dieser  operative  Eingriff  wurde  auch  in  den  Fällen  von  Loehleix, 
Nove-Josserand  n.  Lacroix,  Menge,  Tannen  und  Schaüta  vorgenommen,  aber 
trotzdem  gingen  die  Frauen  an  wieder  auftretenden  Recidiven  in  den  ersten  4 
dieser  erwähnten  6 Fälle  bald  zu  Grunde  und  ist  dieser  Ausgang  auch  in  den 

2 letzterwähnten  Fällen  zu  erwarten,  da  zur  Zeit  der  l'ublieation  derselben  erst 

3 und  5 Monate  nach  dem  operativen  Eingriffe  verflossen  waren.  Apfelstedt 
steht  nicht  an , diese  Neubildung  als  die  bösartigste  anzusehen , die  überhaupt 
existirt,  und  sich  dahin  auszusprechen , dass  hier  jeder  operative  Eingriff  über- 
flüssig sei,  denu  sobald  die  Neubildung  einmal  da  sei , sei  es  überhaupt  schon 
zu  spät  zum  Operiren. 

Nach  der  Auffassung  Marchand’s  ist  die  Blasenmole  als  solche  noch 
nicht  als  eine  maligne  Erkrankung  aufzufassen,  sondern  nur  insofern  als  eine 
bedenkliche  Affeetion  anzusehen,  als  durch  dieselbe  leicht  eine  nachträgliche  er- 
höhte Neigung  zur  Bildung  und  Entwicklung  einer  malignen  epithelialen  Neu- 
bildung erweckt  wird.  Apfelstedt  aber  beobachtete  einen  Fall,  der  den  Beweis 
liefert,  dass  die  Blasenmole  unter  Umständen  bereits  an  sich  eine  maligne  Er- 
kranknng  darstellen  und  als  solche  schon  Metastasen,  die  ihr  vollständig  gleichen, 
setzen  kann.  In  dem  von  ihm  beobachteten  Falle,  in  dem  eine  42jährige  Frau 
eine  Blaseumole  geboren,  bildete  sich  schon  in  der  Gravidität  ein  Tumor  im 
linken  Labiu»  majus.  3 Monate  nach  Geburt  der  Blasenmole  wurde  der  inzwischen 
grösser  gewordene  Tumor  eröffnet  und  entpuppte  sich  derselbe  als  eine  kleine 


424  MOLENSCHWAXGERSCHAFT. 

im  paravaginalen  Bindegewebe  gelagerte  Blasenmole.  Dieselbe  präsentirte  sich  als 
eine  Traube  von  etwa  20  Stecknadelkopf-  bis  kirschkerngrossen  Bläschen.  5 Wochen 
später  starb  die  Kranke  unter  pyämischen  Erscheinungen  und  fanden  sich  bei 
der  Secfion  ausser  dem  primären  Sitze  der  Erkrankung  im  l'terus  und  der  er- 
wähnten Metastase  noch  andere  weitere  in  den  Lungen,  sowie  in  der  Milz. 

Bis  vor  Kurzem  noch  wurde  die  sogenannte  destruirende  Blasen- 
mole als  ein  Krankheitsprocess  aufgefasst,  bei  dem  die  Verbindung  zwischen 
den  degenerirten  Chorionzotten  und  der  Uteruswand  nicht  in  der  Decidua  statt- 
linde,  sondern  bei  dem  die  Zotten  in  die  sinuösen  Bluträume  hineinwuchern  und 
dadurch  das  Uterusgewebe  durch  Druck  zum  Schwund  bringen,  so  dass  sie  bis 
unter  den  Peritonealüberzug  Vordringen.  Dadurch  werde  die  Ausstossung  des 
Neugebildes  erschwert  oder  ganz  unmöglich  gemacht.  Diese  destruirende  Molen- 
bildung sei  nur  auf  die  Placentarstelle  beschränkt,  oder  erstrecke  sie  sich  Uber  die 
ganze  Eioberfläche.  Mabchaxd  **)  vermuthet,  es  handle  sich  nm  ähnliche  Ver- 
hältnisse wie  bei  der  nicht  destruirenden  Blasenmole  und  dass  die  Zerstörungen 
auch  hier  durch  epitheliale  Wucherungen  bedingt  seien.  Abweichend  ist  jeden- 
falls hier  das  allseitige  destruirende  Hineinwuchern  der  Blaseuzotten  in  die  Ge- 
fässe  und  tief  in  die  Muscularis  hinein,  ja  sogar  ein  Wuchern  der  Zotten  durch 
die  ganze  Muscularis  und  das  Perimetrium.  Zum  Glücke  ist  die  destruirende 
Blasenmole  eine  nur  selten  zu  beobachtende  Erkrankung.  In  der  Literatur  sind 
blos  die  einschlägigen  Fälle  von  Moth  47),  Nkvebmaxx  4#),  Wiltox  4a),  Volkmann  80|, 
WaldEYER-Jakotzky  61)  - Schaffraxek  62),  Lori)  tJ)  und  Krieoer  64)  verzeichnet. 
Die  Prognose  der  destruirenden  Blasenmole  ist  eine  ungünstige , da  der  Tod 
durch  Blutungen,  Peritonitis  oder  Ruptur  des  Uterus  eintreten  kann.  Ruptur  des 
Uterus  ist  bei  Gegenwart  der  Uteruswand  sehr  zu  fürchten , namentlich  bei 
Versuchen,  die  Mole  manuell  zu  entfernen.  Zu  diagnosticiren  ist  die  destruirende 
Blasen  mole  nicht. 

Bresi.au  88)  und  Ebkrth  6#)  beschreiben  einen  Fall,  in  dem  das  embryo- 
nale Bindegewebe  der  Allantois  (das  die  gesammte  Eiperipherie  zwischen  dem 
serösen  Blatte  — dem  Exochorion  — und  Amnion  umzieht)  Sitz  einer  mvxoma- 
tösen  Hyperplasie  war.  Bei  normaler  Placenta  fand  sieh  in  der  ganzen  Peri- 
pherie des  Eies  zwischen  Exochorion  und  Amnion  eine  4 — 5 Mm.  dicke  Schichte 
von  der  Beschatfenheit  der  Nabelstrangsulze.  Es  war  demnach  angeblich  nur  die 
an  der  Peripherie  des  Eies  herumgewucherte  Schichte  des  dem  Chorion  ange- 
hörenden Bindegewebes  entartet , wobei  die  Chorionzotten  atrophisch  waren. 
Breslau  und  Ebertii  bezeichneten  dieses  pathologische  Verhalten  als  Myxomn 
d iffxsu  m. 

Späth  und  WEDL  87j  beobachteten  einen  Fall , in  dem  ohne  Alteration 
der  Cborionzotten  der  unter  dem  placentaren  Theile  des  Amnion  befindliche  Rest 
der  Allantois  hyperplastisch  war.  Nahe  der  Insertion  des  dicken  Nabelstrangcs 
lag  unter  den  Häuten  ein  1 Mm.  dickes  Stratum  jungen  salzigen  Bindewebes, 
das  sich  gegen  den  Rand  der  Placenta  hin  fortsetzte.  Aehnliches  erwähnt  auch 
Rokitansky.68) 

Als  J lyxotnn  fibrosum  placentae  bezeichnet  VlRCHOW  *•)  jenen 
pathologischen  Vorgang,  bei  dem  die  homogenere  dünnschleimigc  Interccllular- 
substanz  seines  Myxomes  der  Chorionzotten  reicher  an  faserigen  Bestandtheilen 
ist,  wodurch  das  Gewebe  ein  mehr  bindegewebiges  Aussehen  annimmt,  ein  Ver- 
halten, wie  es  die  peripheren  Schichten  des  Nabelstranges  zeigen.  In  dem  von 
ihm  mitgetheilten  Falle  fand  sich  bei  gesunder  Frucht  zwischen  den  normalen 
Cotyledonen  der  Placenta  ein  degenerirter.  Auf  dicken,  derben,  taubeueigrossen 
Knoten  , den  Hauptstämmen  der  Zotten,  sassen  als  secundäre  und  tertiäre  Aus- 
läufer haselnass-  und  hanfkorngrosse  Knötchen.  Storch  °°)  weicht  auf  Grund 
einiger  untersuchter  Fälle  von  dieser  Deutung  ab,  indem  er  eine  zeitige  Hyper- 
plasie dis  von  der  Allantois  stammenden  sehleimgewebigeu  Grundstockes  der 
Zellen  annimmt.  Hii.debraxdt •>)  macht,  gestützt  auf  die  Beobachtung  eines 


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MOLENSCH  WAXGERSCHA  FT. 


425 


Falles , diese  Entartung  abhängig  von  einer  in  der  abführenden  Vene  des  er- 
krankten Cotyledo  naehgewiesenen  Stauung.  Sinclair"2)  sah  einen  Fall,  in  dem 
die  ganze  Placenta  in  dieser  Weise  entartet  gewesen  sein  soll.  Von  SteixbCchel  •*) 
werden  in  jüngster  Zeit  ebenfalls  zwei  einschlägige  Fälle  mitgetheilt. 

Blut-  oder  Fleischmole.  Der  Tod  der  Fruchtanlage  (vergl.  den  Art. 
Absterben  des  Fötus)  wird  häutig  durch  Erkrankungen  und  Anomalien  der- 
selben, sowie  ihrer  Anhänge  veranlasst.  Zu  diesen  zählen  namentlich  Hämor- 
hagien  der  Decidua , die  durch  verschiedenste  Fmstünde  bedingt  sein  können. 
Der  Blnterguss  wird  durch  Uteruscontractionen  (erzeugt  durch  verschiedenartige 
Momente),  Congestivzustände , Allgemeinerkranknngen  (namentlich  die  Cholera), 
Erkrankungen  der  Decidua,  Traumen  u.  dergl.  m.  hervorgerufen.  Dem  Blutergusse 
folgen  Wehen  und  letztere  steigern  die  Hämorrhagit*  noch  mehr.  Gewöhnlich  wird 
durch  diese  Blutung  die  Schwangerschaft  vorzeitig  unterbrochen  (vergl.  dou  Art. 
Abortus).  Drei  Momente  sind  es,  die  bei  diesen  Blutergüssen  namentlich  in 
Betracht  kommen,  und  zwar  die  Intensität  der  Blutung,  der  Ort  derselben  und 
das  Alter  der  Fruchtanlage.  Im  Beginn  einer  Schwangerschaft  ist  einer  kleinen 
Fruchtanlagc  ein  geringerer  Bluterguss  weit  gefährlicher  als  ein  grösseres  Extra- 
vasat einer  in  der  Entwicklung  bereits  vorgeschritteneren  Frucht.  Ein  Bluterguss 
in  die  Decidua  serotina  ist  bedeutungsvoller  als  ein  solcher  in  die  Vera  und  letz- 
terer wieder  bedenklicher  als  ein  Extravasat  in  die  Reflex«.  Gewöhnlich  wird 
die  Decidua  vera  zertrümmert.  Sie  zerreisst  in  Fetzeu , die  an  ihrer  äusseren 
Seite  mit  Blutcoagulis  besetzt  sind  und  ein  unebenes,  dickzottiges  Aussehen  er- 
halten. Wurde  das  Ei  nicht  zertrümmert,  so  wird  es  mindest  comprimirt.  Häutig 
sind  diese  Blutungen  mit  solchen  in  die  Decidua  serotina  vergesellschaftet.  Die 
Serotina  erscheint  verdickt,  vorgetrieben.  Zwischen  den  Chorionzotten  liegen 
grosse  Blutergüsse , durch  die  das  Ei  an  dieser  Stelle  abgehoben  wird.  Bei 
starken  Blutergüssen  wird  auch  die,  Retiexa  zertrümmmert.  Die  Apoplexien  in 
die  Retiexa  sind  namentlich  zu  der  Zeit  bedenklich , in  der  dieselbe  noch  die 
Ernährung  des  Eies  zu  besorgen  hat.  Bei  noch  stürmischeren  Blutergüssen  wird 
das  Chorion  oder  gar  dieses  mit  dem  Amnion  zerrissen  und  das  Blut  ergiesst 
sich  in  das  Innere  des  Eies,  so  dass  nicht  blos  letzteres,  sondern  auch  die 
Fruchtanlage  direct  zertrümmert  wird.  Der  Fötus  kann  abgeheu  und  die  Neben- 
theile  verbleiben  im  Uterus.  Bleibt  das  Ei  als  solches  intact,  so  geht  die  Frucht- 
anlage gewöhnlich  zu  Grunde,  entweder  infolge  des  auf  sie  wirkenden  Druckes 
oder  wegen  der  gestörten  aufgehobenen  Weiterernährung.  Der  Embryo  macerirt 
in  seinen  Fruchtwässern , zerfällt  und  kann  so  resorbirt  werden , dass  man  von 
ihm  nichts  weiter  als  ein  Stück  Nabelstrang  findet.  Dies  geschieht  nicht  so  gelten, 
ln  anderen  Fällen  bleibt  er  relativ  gut  erhalten.  Fand  die  Apoplexie  später,  vom 
3.  Monate  an , statt , so  stosst  man  meist  auf  Reste  der  Placenta.  Reste  des 
Chorion  und  der  Decidua  lassen  sich  in  einem  derartigen  Abortivei  gewöhnlich 
noch  nachweisen. 

Bei  einem  solchen  Abortivei  können  die  Chorionzotten  selbst  nach  zu- 
grunde gegangener  Fruchtanlage  und  vernichteter  Decidua  vera  noch  weiter 
wuchern.  Das  Ei  wächst  trotzdem  weiter  und  verbleibt  noch  verschieden  lange 
Zeit  im  Uterus.  Dies  kann  sowohl  vor  als  selbst  nach  Bildung  der  Placenta 
geschehen.  Dadurch  erklärt  cs  sich,  dass  derartige  degenerirte  Eier  noch  5 big 
6 Monate  und  noch  länger  im  Uterus  verweilen  können.  Dass  solche  Abortiveier 
zuweilen  den  Beginn  eiuer  Blascnmolenbildung  zeigen,  wurde  bereits  oben  erwähnt. 

Die  Blutergüsse  eines  solchen  Abortiveies  machen  die  bekannten  Meta- 
morphosen durch.  Sie  werden  lichter,  fester  und  härter,  es  lagern  sich  in  ihnen 
Kalksalze  ab  u.  dergl.  m.  Meist  erreichen  diese  Gebilde  nur  die  Grösse  einer 
Orange,  doch  können  sie  auch  weit  Uber  kindskopfgross  und  bis  1 Kilo  schwer 
worden.  Diese  Abortiveier  führen  den  Namen  Fleisch-  oder  Blutmolen,  je 
nachdem  die  hämorrhagischen  Ergüsse  bereits  metamorphosirt  sind  und  ein  fleisch- 
artiges  Aussehen  erhalten  haben  oder  noch  frisch  sind. 


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MOLENSCHWANGERSCHAFT. 


426 

Literatur:  ’)  Hippokrates,  Uebersetzung  von  Grimm-Lilienhain. Glog« 
1837 — 38.  — *)  Aristoteles,  De  gentrat.  animant.  Lib.  4.  Cap.  7.  — 3)  Galena*./)f 
utfu  pari,  Lib.  14,  Cap.  7.  — 4)  Aetius.  Tetrabibiion.  IV,  Serm.  IV,  c.  79.  — S1  Schenck 
von  Grafenberg.  Observ.  med  rar.  Francof.  1665,  Lib.  IV.  — *)  Tulpina,  Obsenr.  med. 
Amatel.  1652.  pag.  246.  — *)  Ruysch,  Advers.  anat.  prim.,  pag.  7 und  Thea.  anal.  VI. 
Nr.  130-  — ®)  Haller,  Opusc.  path.  Laus.  1768.  pag.  130  — 9)  Morgagni,  Von  Jom 
Sitze  und  den  Ursachen  der  Krankheiten  etc.  Uebersetzt  von  Königsdörfer.  Altenbarg 
1771,  XLVIII.  Brief  9,  10.  — *°)  Götze,  Versuch  einer  Naturgeschichte  der  Eingeweide 
würmer  etc.  Blankenburg  1782,  pag.  196.  — tl)  Bremser,  Ueber  lebende  Würmer  etc. 
Wien  1819,  pag.  253.  — l3)  Velpeau,  Revue  med.  September  1827,  pag.  508.  — u)Joh 
Müller,  Archiv.  1843,  pag.  441.  — M)  Gierse  und  Meckel,  Verhandl.  d.  Gesellsch.  f. 
Geburtsh.  in  Berlin.  1847,  pag.  126.  — 16 ) H.  Müller,  Abhandl.  über  den  Bau  der  Molen. 
Würzburg  1847.  — 16)  Met tenheimer,  Müller's  Archiv.  1850,  IX  und  X,  pag.  41"  — 
171  Virchow,  Die  krankhaften  Geschwülste.  Berlin  1863,  I,  pag.  4G5.  — 19)  Marchand, 
Ueber  den  Bau  der  Blasenmole.  Zeitsehr.  f.  Geburtsh.  u.  Gyn.  1895,  XXXII,  pag.  404  u.  Berliner 
klin.  Wochenschr.  1895,  Nr.  42.  In  der  erstgenannten  dieser  beiden  Arbeiten  ist  auch  die 
einschlägige  Literatur  ausgeführt.  — 1#)  Winogradow,  Vlrchow'g  Archiv.  LI,  pag.  146.— 
3^)  Otto,  Ueber  Tubarschwangerschaft.  Dissert.  inaug.  Greifswald  1871.  — 3l)  Marchand. 
Monatschr.  f.  Geburtsh.  u.  Gyn.  1895,  I,  pag.  419  u.  513.  — 3*)  .1  a kobsohn  , Neue  Zeitachr. 
f.  Geburtsh.  1834.  II.  — 33)  Heller,  Arch.  f.  physiol.  u.  path.  Chemie  und  Mikroskope. 
1847,  pag.  312.  — ’*)  Gscheidlen.  Arch.  f.  Gyn.  1874,  VI,  pag.  292.  — 3i)  Kehrer, 
Uel»er  Traubenmolen.  Arch.  f.  Gyn.  1894,  XLV.  pag.  478.  — *•)  Ca  »pari,  Deutsche  med. 
Wochenschr.  1878;  Med.-chir.  Rundschau  1878,  pag- 368  — a:)  Atthil,  Brit.  med.  Journ. 
9.  März  1878;  Centralbl.  f.  Gyn.  1878.  pag.  237-  — *9)  Meckel-Gregorin  i.  De  hydrop 
uieri  et  de  hydatidibus  in  utero  risis  aut  et  eo  exclumi».  Dissert.  inaug.  Halae  1795.  — 
3ft)  Marchand,  Ueber  die  sogenannten  decidualen  Geschwülste  etc.  Monatssclir.  f.  Gebartsb 
u.  Gyn.  1895.  I,  pag.  419  u.  513.  — *•)  Guttenplan,  Ein  Fall  von  hämorrhagischem 
Sarkom  des  Uterus  und  der  Vagina  mit  Metastasen  in  den  Lungen.  Dispert,  inaug.  Strasburg 
1883-  — 3I)  H.  Meyer,  Ein  Fall  von  zerstörender  Wucherung  zurückgebliebener  myxomit 
Chori*.nzotten.  Arch.  f.  Gyn.  1880,  XXXIII,  pag.  53.  — 3!)  Pfeifer,  Ueber  eine  eigenartige 
Geschwulstform  des  Uterusfundus  etc.  Prager  med.  Wochenschr.  1890,  Nr.  26  — J3i  Kalten- 
bach-Rummel, Erfahrungen  über  Uterussarkome  Verhandl.  d.  internat.  med.  Congres^es. 
Berlin  1890,  III,  8.  Abth.f  pag.  7 1 und  Ueber  Myxo ma  chorii.  Dissert.  inaug.  Halle  1891  — 
a4)  P.  Müller,  Verhandl.  d.  IV.  Gyn.-Con grosses.  Leipzig  1893,  pag.  341.  — *5)  Pest*- 
1 ozza.  Contributo  allo  studto  dei  sarcomi  deü'  utero.  II  Morgagni.  September  1891, 1.  Nr.  9-  — 
34)  Loehlein,  Soreoma  deciduo-cellulare  nach  vorausgegangenem  Myxom a chorii.  Central- 
blatt f.  Gyn.  1893,  pag.  297  und  1894,  pag.  484.  — 3 ) No v6- Joss^ra nd  et  Lacroii, 
Sur  le  deciduoma  malin.  Anoal.  de  Gyn.  et  d’Obstetr.  XL,  April  1894.  — ■’*)Persko 
u.  L.  Frankel,  Ein  Fall  von  Soreoma  deciduo-cellulare.  Dissert.  inaug.  Greifswald  1894  D** 
von  dem  Epithel  der  Chorionzotten  ausgehende  Carcinom  des  Uterus  nach  Blasenmole.  Arch. 
f.  Gyn.  XLVIII,  1895,  pag.  81)  und  Die  Histiologie  der  Blasenmolen  und  ihre  Beziehungen 
zu  den  malignen  von  den  Chorionzotten  ausgehenden  Uterustumoren.  Arch.  f.  Gyn.  XL1X. 

1895,  pag  181.  — *•)  Klien,  Ein  Fall  von  Deciduo-sarcoma  uteri  giganto-cellulare.  Arch. 

f.  Gyn.  LXVII,  1894.  pag.  243.  — 40)  Menge,  Centralbl.  f.  Gyn.  1894.  pag.  264  und  Ueber 
Deciduosarcoma  uttri.  Zeitsehr.  f.  Geburtsh.  u.  Gyn.  1894,  XXX,  pag.  323.  41)  Tannen. 

Ein  Fall  von  Sarcoma  uteri  deciduo-cellulare.  Arch.  f.  Gyn.  1895.  XLIX,  pag.  94  — 
43)  Bacon,  A ca*e  of  deciduoma  malignum.  The  Amer.  Journ.  of  Obste tr.  1895.  XXXI, 
pag.  679.  — 4,)Scbauta,  Ein  Fall  von  Sarcoma  deciduo-cellulare.  Centralbl.  f.  Gyn.  l."*95, 
pag .*48.  — 44)  Apfels tedt,  Ueber  bösartige  Tumoren  der  Cliorionzotten.  Arch.  f.  Gyn 

1896,  L,  pag.  511.  — 4S)  Marchand,  Ueber  die  sogenannten  decidualen  Geschwüre  etc 
Monatschr.  f.  Geburtsh.  u.  Gyn.  1895,  I,  pag.  525.  — 4*)  Marchand,  Ueber  den  B*u  der 
Blaaenmole.  Zeitsehr.  f.  Gyn.  u.  Geburtsh.  1895,  XXXII,  pag.  460.  — 4T)  Moth.  Mad.  Boi- 
vin.  Neue  Nachforschungen  über  die  Blasenmole.  Weimar  1?*28,  pag.  70.  — 4B)  Neverniann, 
Vollständige  Geschichte  der  Durchlöcherung  und  Zerreissung  des  Uterus.  Von  Dnpacque, 
bearbeitet  von  Nevermann.  1838,  pag.  44.  — 4*)Wilton,  ffydatids,  terminating  fatollf 
by  haemorrhage.  Lancet.  1840,  XXXVII,  pag.  691.  — 4i)  Volk  mann.  Fall  von  inter- 
stitieller destruirender  Molenbildung.  Virchow’s  Archiv.  1867,  LXI,  pag.  528.  — 31)  Wald- 
eyer  und  Jarotzky,  Traubenmole  in  Verbindung  mit  dem  Uterus  etc.  Virchow’s  Archiv. 
1868,  XLIV,  pag.  88.  — >Ä)  Schaffraneck  , Beobachtung  einer  Traubenmole  etc.  Dissert. 
inaug.  Breslau  1868-  — I31  Lord,  Case  of  hydatigcnwiut  degeneration  of  the  ocum.  Edin- 
burgh med.  Journ.  Januar  1868.  — !4)  Krieger.  Fall  von  interstitieller  destruirender  Molen- 
bildung. Beiträge  zur  Geburtsh.  n.  Gyn.  1872.  I.  — M)  Breslau,  Wiener  med  Presse  1867, 
I.  — :8)  Eberth,  Virchow's  Archiv.  XXXIX,  Heft  1.  — :7)Späth  und  Wadi,  ZelUcbr. 
der  Gesellsch.  d.  Wiener  Aerzte.  1851,  pag.  822.  — 58)  Rokitansky.  Lehrbuch  d.  path. 
Anat.  Wien  1861,  3.  Aufl.,  III,  pag.  546.  — **)  Virchow,  Die  krankhaften  Geschwülste. 
Berlin  1^63,  I,  pag.  415.  — t,J)  Storch,  Nord.  med.  Ark.  1876,  VIII;  Centralbl.  f Gyn. 
1877.  pag.  206  und  Vir  cho  w's  Archiv.  LXXII,  pag  582.  — 4I)  Hildebrandt.  Monatssehr. 
f.  Geburtsh.  u.  Frauenkh.  1868,  XXXI,  pag.  346  — 6S)  Sinclair,  Boston  Gyn.  Journ.  V, 
pag.  338.  — *8)  v.  Steinbüchel,  Zwei  Falle  von  sogenanntem  Myxoma  ßbroeum  placentae. 


MOLENSCHWANGERSCHAFT.  — MORPHIUMKRANKHEIT. 


427 


Centralbl.  f.  Gyn.  1S92,  pag.  465.  Vergl.  ausserdem  noch  John  Hodgen,  Fibro-myxoma 
of  the  Placentn.  Brit.  med.  Journ.  1879  und  C.  Breus.  Ueber  das  Myxoma  ßbroaum  der 
Placenta.  Wiener  med.  Wochenschr.  1880,  Nr.  40.  Kleinwächter. 

Monol.  Mit  diesem  Natnen  bezeichnet  Bokdas  das  von  ihm  als  Anti- 
septicum  vorgeschlagene  Calcium  hgpennanganicum,  das  durch  seine  bedeutende 
Oxydationskraft  eine  zerstörende  Wirkung  auf  Mikroorganismen  austiheu  soll 
beim  Fehlen  jeder  toxischen  und  kaustischen  Nebenwirkung.  Es  soll  (nach 
Fkrki  im  Verhältnisse  von  0,04  : 1000  als  Präventivmittel  zu  Waschungen  u.  s.  w. 
Anwendung  linden  und  sich  insbesondere  in  der  gynäkologischen  Praxis  als  dem 
Sublimat  gleichwertig  bewährt  haben. 

Morphiumkrankheit  Wir  fassen  unter  dieser  Bezeichnung  alle  die- 
jenigen Zufälle  zusammen , die  durch  den  längeren  Gebrauch  von  Morphium, 
gleichviel  ob  dies  subcutan  oder  innerlich  oder  an  irgend  einer  anderen  Körperstelle 
applicirt  wurde,  hervorgerufen  werden.  Die  Bezeichnung  umfasst  auch  die  auf 
längeren  Gebrauch  von  Opium  (Opiophagie,  Opiumraucheni  folgenden  Störungen, 
die,  von  geringen  Abweichungen  abgesehen,  ganz  nach  Art  der  durch  Morphium- 
einspritzung herbeigcftlhrten  verlaufen  und  in  der  That  von  dem  im  Opium  ent- 
haltenen Morphin  abhängig  sind,  insoweit  solche  Oberhaupt,  was  bekanntlich  für 
die  Inanitionssymptome  nicht  der  Fall  ist,  directe  Vergiftnngssymptome  sind.  Der 
Name  ist  dem  von  C’UOTHERS')  und  anderen  amerikanischen  Schriftstellern  be- 
nutzten Opiuinkraukheit  (Opium  disease)  jedenfalls  vorznziehen,  da  nicht  das 
als  Opinm  bekannte  Gemenge  diverser  Stoffe,  sondern  nur  das  in  ihm  enthaltene 
Morphin  den  eigentlichen  Symptomencomplex  hervorruft,  der  allerdings,  mit  Ein- 
schluss des  Morphiumhungers  und  der  euphorischen  Wirkung  des  Morphins  bei 
Entziehung  oder  Beschränkung  der  Dosis,  längst  bei  Opiophagen  bekannt  ist  und 
schon  im  Anfänge  dieses  Jahrhunderts  von  dem  englischen  Essayisten  DE  QriXCKY 
nach  Erfahrungen  am  eigenen  Körper  in  seinem  noch  1886  in’s  Deutsche  über- 
tragenen Buche  Confessions  of  an  Opium  eater  (London  1821)  detaillirt  be- 
schrieben wurde.  Die  Bezeichnung  Morphiumkrankheit  ist  bestimmt  dem  von  Levin- 
steix eingeführten  Namen  „Morphiumsucht“,  die  nur  ein,  wenn  auch  sehr  her- 
vorragendes Symptom  zur  Basis  hat,  und  dem  in  Frankreich  üblichen  „Morphio- 
mauie“,  der  füglich  auf  die  mit  maniakalischer  Aufregung  verlaufende  Psychose 
infolge  von  Morphin-  oder  Opiummissbrauch  zu  beschränken  ist , vorzuziehen. 
Der  mehrfach  gebrauchte  Name  „chronischer  Morphinismus“  oder  „chro- 
nische Opiumvergiftung“  ist  deshalb  weniger  gut,  weil,  wie  bereits  oben 
bemerkt,  manche  wesentliche  Erscheinungen  gar  keine  directen  Giftwirknngen  sind. 
Für  Abtrennung  der  Opiumkrankheit  von  der  Morphinkrankheit,  wie  dies  neuer- 
dings bei  Monographen  der  durch  Morphinspritzen  hervorgerufenen  Affection  ge- 
bräuchlich ist,  liegt  kein  triftiger  Grund  vor. 

Es  ist  sehr  bedauerlich , eingestehen  zu  müssen , dass  die  Morphium- 
krankheit infolge  von  Subcutaninjection,  ungeachtet  der  prophylaktischen  Mass- 
regeln,  die  man  in  vielen  Staaten  dagegen,  insbesondere  durch  Verordnungen  Uber 
die  Reiteratnr  von  Morphinrecepten,  getroffen  hat,  im  Laufe  des  letzten  Decenniums 
bestimmt  keine  erhebliche  Abnahme  erfahren  hat.  Sie  hat  sogar  in  den  letzten 
Jahren  ein  Gebiet  annectirt,  von  dem  man  kaum  ahnen  konnte,  dass  es  jemals 
die  Stätte  der  habituellen  Morphiuinjectionen  werden  würde,  nämlich  China,  wo 
seit  Anfang  1893  die  Morphiuinjectionen  in  Wettbewerb  mit  dem  Opiumrauchen 
getreten  sind.  Das  Austreiben  des  Teufels  durch  Beelzebub,  dort  des  Opium- 
rauchens mit  Morphiuinjectionen,  hat  leider  einen  englischen  Arzt  zum  Urheber, 
der  Uber  die  unheilvollen  Folgen  eines  solchen  Verfahrens,  wie  sie  sich  bei  uns 
bei  dem  Ersätze  des  Morphins  durch  Cocain  in  so  eelatanter  Weise  gezeigt  haben, 
sich  keine  Vorstelluug  gemacht  hat.  Indem  dieser  Arzt  bei  einem  dem  Opiumrauchen 
ergebenen  Chinesen  in  Hongkong  diese  Gewohnheit  durch  die  Morphinspritze  be- 


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MORPHIUMKRANKHEIT. 


428 

seitigte,  den  Patienten  aber  zum  leidenschaftlichen  Enthusiasten  für  die  Morphium- 
injectionen  machte,  legte  er  den  Grund  zur  Entwicklung  eines  höchst  gefähr- 
lichen Industriezweiges,  der  in  Hongkong  und  Canton  eingerichteten  Morphin- 
boutiken,  von  denen  es  1894  in  Hongkong  bereits  mehr  als  zwanzig  gab,  in 
welchen  Morphiuminjectionen  zu  5 Pfennigen  das  Sttlck  verabreicht  wurden. 
Das  Morphin  wird  theils  aus  Bombay,  thcils  aus  Europa  in  2 Unzen-Gläsern 
eingeführt,  welche  als  „Gift  für  die  Behandlung  der  Opiumraucher“  signirt  sind. 
Schon  1894  wurden  18  Kilo  Morphin  in  dieser  Weise  eingeführt,  wovon  die 
Hälfte  in  Canton,  der  dritte  Theil  in  Hongkong  verbraucht  wird , während  der 
Rest  in  anderen  Thcilen  von  China  Abnehmer  findet.5) 

Die  Ersetzung  des  Opiumrauchens  durch  Morpbininjectionen  ist  eine  Un- 
geheuerlichkeit, wie  sie  kaum  grösser  gedacht  werden  kann,  da  laut  der  Über- 
einstimmenden Aussprüche  englischer  und  französischer  Aerzte  der  Neuzeit,  denen 
die  Gelegenheit  zu  Theil  geworden  ist , die  Einwirkung  des  habituellen  Opiura- 
rauchens  auf  die  ostasiatische  Bevölkerung  kennen  zu  lernen,  das  Opiumrauchen 
weit  weniger  Gefahren  mit  sich  führt.  In  einer  von  der  englischen  Regierung 
veranstalteten  Enquete  Uber  die  Krage,  inwieweit  das  Opiumrauchen  die  physische 
Gesundheit  oder  die  Moral  der  Bevölkerung  in  Indien  schädige,  haben  sich  die 
bedeutendsten  Aerzte  und  Chirurgen  dafür  erklärt,  dass  von  irgendwelcher  erhelr 
lichen  Schädigung  der  einheimischen  Bevölkerung  in  beiden  Richtungen  nicht  die 
Rede  sei  und  dass  namentlich  ein  Vergleich  der  Schädigungen  durch  Opium  in 
Indien  mit  den  durch  Alkohol  in  Europa  veranlassten  durchaus  nicht  statthaft 
sei.  Die  von  einzelnen  Seiten  angeregte  Aufhebung,  bezw.  Untersagung  des  Opium- 
rauchens in  Indien  hat  daher  durchaus  keine  Aussicht  auf  Verwirklichung,  zumal  da 
diese  Massrcgel  nach  dem  Urtheilc  von  verschiedenen  indischen  Behörden  unfehlbar 
eine  Rebellion  nach  sich  ziehen  würde.*)  Der  Xichtcintluss  auf  Gesundheit  und 
Moral  erklärt  sich  übrigens  daraus,  dass  die  Indier  im  Allgemeinen  nur  sehr 
mässige  Quantitäten  Opium  zu  sich  nehmen*),  während  allerdings  exeessives 
Opiumrauchen,  wie  solches  von  Europäern  in  Ostasien  nicht  selten  betrieben  wird, 
nicht  allein  zu  acuten  Vergiftungen,  sondern  auch  zu  einem  der  Morphiuinsueht 
ähnlichen  Krankheitsbilde  führen  kann.*)  Auch  bei  mässigem  Opiumgennsse  können 
übrigens  beim  Sistiren  des  Opiums  Inanitionserscheinungen  eintreten,  die  sich  als 
Steigerung  der  Sensibilität  und  Unruhe  documentiren.  Die  dem  habituellen  Opium- 
genusse  zugeschriebene  Herabsetzung  des  Geschlechtstricbes  und  der  Zeugungs- 
kraft wird  nur  bei  grösseren  Opiumquantitäteu  beobachtet.'“) 

Es  ist  selbstverständlich,  dass  bei  der  Bemessuug  der  Schädlichkeit  des 
Opiumrauchens  nicht  allein  das  Quantum  der  gerauchten  Pfeifen,  sondern  auch 
die  Qualität  des  Rauchmaterials  von  Bedeutung  ist.  Man  gebraucht  keineswegs  in 
allen  Thcilen  von  Ostasien  dasselbe  Opium  oder  richtiger  aus  dem  nämlichen 
Opium  dargcstelltes  Extract  zum  Rauchen,  das  allgemein  mit  dem  Kamen  Chanda 
(Tjandoe  der  Holländer),  in  den  französischen  Colonien  als  Opium  curt  be- 
zeichnet wird.  Wird  das  bengalische  Opium  für  sich  angewendet,  so  kommt 
bestimmt  nur  eine  geringe  Menge  Morphin  in  dem  Rauche  zur  Wirkung;  denn 
das  bengalische  Opium  enthält  reichlich  Xarkotin , aber  weit  weniger  Morphin 
als  Opium  der  Levante.  Das  Znsammenvemrbeiten  von  */,  bengalischen  und 
*/j  levantischen  Opiums,  wie  es  in  den  holländischen  Colonien  geschieht,  zum 
Chandu  giebt  ein  weit  intensiver  giftiges  Product  als  das  aus  indischem  Opium 
bereitete.  Nach  den  neuesten  Untersuchungen  von  STOKDElt’)  besteht  das  benga- 
lische Opium  aus  einer  aus  mit  Opiumsaft  verklebten  Mohnblüthen  gebildeten  Kruste 
und  einer  schwarzen,  glänzenden,  teigartigen  Innenmasse,  und  das  durch  Aus- 
kochen mit  Wasser,  Colireu  und  Eindampfen  gewonnene  Chandu  enthält,  wenn 
es  aus  der  Kruste  bereitet  wird,  nur  5,9"  „ Morphin  nud  2,9“  „ Xarkotin.  da- 
gegen aus  dem  Teige  bereitet  10,2%  Morphin  und  2,9°  0 Xarkotin.  Wird 
levnntisches  Opium  benutzt,  so  resultirt  ein  Product  von  20° Morphin  und 
5%  Xarkotin.  In  der  Praxis  kommen  indess  mannigfache  Abweichungen  der 


MOR  l'HI  IM  KRANKHEIT. 


4-^9 


Qualität  vor,  wie  (He  Resultate  von  Stoeder’s  Analysen  bekunden,  die  in 
12  Tjandusorten  einen  Morpliingehalt  (Iber  12  und  in  10  einen  solchen  unter 
10°  o constatirten.  In  Tonkin  enthält  das  dort  benutzte  Chaudu  9 — 10%  Morphin. 
Die  Ansiebt  MOISSAn's8),  dass  die  Dämpfe  des  Cliandu  unschädlich  seien  und 
nur  beim  Verbrennen  des  als  Dross  oder  auch  als  Tjetjin  bezeichneten 
Rückstandes  sich  wirklich  giftige  Dämpfe  entwickeln,  die  Pyrosol-,  Aceton-,  Pyridin- 
basen (namentlich  Hydropyridine)  und  auch  Morphin  enthalten,  ist  bestimmt  un- 
richtig. Dass  hier  neben  dem  Morphin  noch  andere  giftige  Stoffe  mitwirken,  ist 
nicht  erwiesen.  Wieviel  Morphin  in  den  Respirationswegen  zur  Resorption  ge- 
langt, ist  bis  jetzt  nicht  festgestellt.  Die  Resorption  variirt  bestimmt  sehr , je 
nachdem  man  den  Ranch  sofort  wieder  ausbläst  oder,  wie  es  in  Tonkin  Sitte 
ist,  ihn  längere  Zeit  in  den  Luftwegen  verweilen  lässt,  ein  Umstand,  der  eine 
theilweise  Erklärung  des  Factnms  giebt,  dass  Hunde  den  Dampf  grosser  Mengen, 
z.  B.  32  Grm.  C'handu,  tolcriren,  ohne  dadurch  betäubt  zu  werden,  während  bei 
Menschen,  die  an  Opiumrauchen  nicht  gewohnt  sind,  schon  nach  der  vierten 
Pfeife  .Stirnkopfschmerz  und  nach  der  zwanzigsten  (entsprechend  4,0  Grm.  Chaiulu) 
Schwindel  und  Gleichgewichtsstörungen  eintreten  können.*)  Diese  Dosis  Über- 
schreitet Übrigens  nach  Rochard1)  die  in  Tonkin  gebräuchliche  Maximaign be 
(3,5  Grin.},  was  bei  einem  Morphingehalte  von  8°  0 0,028  Morphin  entspricht, 
wovon  selbstverständlich  der  grösste  Tlieil  durch  die  Verbrennung  zerstört  wird, 
so  dass  der  gewöhnliche  Raucher  nicht  mehr  als  2 — 3 Mgrm.  Morphin  absorbirt. 
Diese  Maximalgabe  wtlrde  etwa  10 — 12  Pfeifen  des  Chandu  entsprechen,  da  das 
Gewicht  der  einzelnen  Pfeife  0,35 — 0,40  beträgt.  Während  die  Tonkinesen  in 
der  Regel  bei  ihrer  gewöhnlichen  Dosis  verbleiben,  «teigen  aber  gerade  die 
Europäer  mit  dieser  Dosis,  so  dass  60 — 80,  ja  selbst  150 — 200  Pfeifen  die 
Tagesc|uantität  ausmachen.  Als  Folge  dieses  excessiven  Gebrauches  kommt  es 
dann  zu  einem  Symptomencomplex,  der  aus  dem  bekannten  Bilde  des  chronischen 
Morphinismus  zwar  viele  charakteristische  Ztlge  darbietet,  aber  doch  sich  mit 
diesem  nicht  völlig  deckt.  Besonders  auffällig  ist  die  von  MtCHAl'T  *)  beschriebene 
höchst  entwickelte,  ganz  ausschliesslich  auf  inveterirte  und  starke  < »piumraueher 
beschränkte  Opiiimlilhmu n g.  Sie  stellt  sieh  als  Paralyse  der  Extensoren  der 
Hände  und  Finger  dar,  die  sich  langsam  entwickelt  und  sehr  viel  Aehnliehkeit 
mit  der  Bleilähmung  hat.  von  der  sie  Bich  durch  das  Fehlen  des  Bleisaums,  der 
Atrophie  und  Störungen  der  Sensibilität  und  durch  die  Anwesenheit  der  bei 
alten  Opiumrauchern  niemals  fehlenden  starken  Abmagerung  nnd  Anämie  unter- 
scheidet. Als  constante  Erscheinungen  werden  von  den  französischen  Militär- 
ärzten schw  ankender  Gang,  Athemnoth,  chronische  Diarrhoe  und  (bei  alten  Rauchern) 
Aceommodationsstürungen  bezeichnet.  Ansserdem  kommen  nicht  selten  Gastralgie, 
Erbrechen,  Obstipation,  Stomatitis,  wechselnde  Zustände  der  Blutftllle  des  Gehirns, 
Synkope,  Herzklopfen,  Arhythmie  des  Herzschlages  und  Hautjucken  vor,  mitunter 
auch  Harnbeschwerden,  namentlich  Anurie  und  Blasenzwang,  endlich  psychische 
Störungen,  die  meist  den  Charakter  der  Depression  tragen,  manchmal  auch  als 
eine  Art  Megalomanie  sieh  darstellen  und  schliesslich  zu  allgemeiner  Paralyse 
mit  monomanischen  Delirien  führen.  Die  so  charakteristische  Willensschwäche 
der  Morphinisten  fehlt  auch  liier  nicht.  Im  Ganzen  sind  die  Tonkinesen  weniger 
als  die  Cochinchinesen  dem  übertriebenen  Opiumgenusse  ergeben.  Auf  .lava 
rauelit  mau  ausser  dem  Tjandoe  und  dem  namentlich  von  der  ärmeren  Bevölkerung 
gerauchten  Tjettik  auch  mit  Tjaudu  imprägnirte  Blätter  von  Ficut  * eptica 
(Stoeher).  Dass  das  Rauchen  des  Abfalls  aus  Opiumpfeifen  weit  schädlicher  als 
das  von  gutem  Opium  sei,  wird  von  holländischen  Militärärzten  bestätigt. 

Als  eine  eigenthümliehe,  bei  der  Opiumentwöhnung  auftretende  Affection 
der  Opiumraucher  hat  Pastkk  io)  Malaeie  der  Cornea  bezeichnet,  die  er  auf  die 
mit  der  schweren  allgemeinen  Ernährungsstörung  einhergelienden  .Störungen  der 
Osmose  bezogen  wissen  will,  zu  denen  die  Hornhaut  durch  ihren  Gefässmangel 
besonders  prädisponirt  sei. 


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MORPHIUMKRANKHEIT. 


Bemerkenswerth  ist  die  Angabe,  dass  in  C'ochinehina  auch  eine  Leiden- 
schaft von  Thiercn  für  Opium  constatirt  wurde,  indem  Affen,  Katzen  und  Hunde, 
die  das  Lager  ihrer  Opium  gewohnheitsmässig  rauchenden  Herren  aufsuchen  und  die 
Rückstände  aus  den  Pfeifen  verzehren,  bei  Reisen  ihrer  Herren  regelmässig  in  Ab- 
magerung, Traurigkeit  und  Sitophobie  verfallen.  ll)  Letzteres  ist  freilich  auch  einer 
anderen  Deutung  fähig,  da  es  auch  bei  Hausthieren  nicht  an  Opium  gesühnter 
Herren  vorkommt  und  steht  im  Gegensätze  zu  dem  in  Europa  gewonnenen  Resultate, 
dass  Morphiuminanitionserscheinungen  sich  experimentell  bei  Thieren  nicht  er- 
zeugen lassen.  Obersteixkr  1S)  sah  bei  mehrmonatlicher  Zufuhr  von  Morphin 
in  steigenden  Gaben  (0,05 — 0,04  ) bei  Thieren  zwar  Gewöhnung  bei  leichten  In- 
toxicationserscheinungen,  wie  Trägheit,  Ausfallen  der  Haarp,  geringere  Steigerung 
der  Reflexaction  und  leichten  Darmkatarrhen,  aber  keine  Symptome,  die  in 
Morphiumhunger  irgendwie  erinnern.  Guixard14)  sah  bei  Katzen  nach  längerer 
Einführung  kleiner  Morphinmengen  starke  Abnahme  der  Fresslust , Speichelfluss 
und  Abmagerung,  aber  keine  narkotischen  und  nervfisen  Symptome. 

Eine  bunte  Reihe  von  Morphiumkrankheiten  aus  verschiedener  Ursache 
bietet  unter  den  civilisirten  Staaten  die  nordamerikanisehe  Union,  ln  Bezug  auf 
die  Morphiumkrankheit  durch  Spritzen  sind  die  Vereinigten  Staaten  von  Nord- 
amerika den  europäischen  Ländern  bestimmt  überlegen.  Daneben  aber  hat  sich, 
zunächst  vielleicht  angeregt  durch  die  chinesische  Einwanderung,  auch  eine  Leiden- 
schaft ftlr  das  Opiumrauehen  entwickelt,  das  z.  B.  in  New-York  eine  solche  Aus- 
dehnung gewonnen  hat,  dass  schon  1889  dort  nicht  weniger  als  8000 — 10.000 
Anhänger  der  Opiumpfeife  existirten.-  Wesentlich  damit  im  Zusammenhänge  steht 
die  enorme  Steigerung  der  Einfuhr  von  Opium,  die  1892  eine  halbe  Million  Pfund 
betrug,  wogegen  1854  nur  72.000  und  1880  372.000  Pfund  importirt  wurden. 
Allerdings  ist  in  nicht  unbedeutender  Weise  an  dieser  Steigerung  die  Ausdehnung 
der  Quacksalberei,  die  opiumhaltige  Paten tmedicincn  in  ausgiebigster  Weise  be- 
nutzt, mitschuldig.  Auf  diese  und  auf  den  unbeschränkten  Verkauf  giftiger  Medi- 
camente  in  der  Union  ist  die  Entstehung  einer  eigentümlichen  Opiumsucht,  die 
meist  durch  den  Gebrauch  von  Tinetura  Opii  benzoica  zum  Einschläfern  von 
Kindern  der  ersten  Lebensjahre  hervorgerufen  wird,  zurückzufilhren.  Die  zuerst 
1892  von  Rotch  ’*)  constatirte  Thatsache,  dass  vielfach  Kinder  Vorkommen,  die, 
von  den  Müttern  an  opiumhaltige  Schlafmittel  gewohnt,  durch  ihr  tagelang  fort- 
gesetztes Geschrei  und  die  Gier,  die  sie  bei  Darreichung  der  ( ipiumtincturen  ver- 
raten, das  Vorhandensein  von  Opiumsucht  verraten,  kann  nach  ihrer  Bestätigung 
durch  L.  Fisher  *6)  als  unzweifelhaft  gelten.  Es  kommt  hier  zu  den  von  den 
morphiumkranken  Erwachsenen  her  bekannten  Abstinenzsymptumen , von  denen 
das  constanteste  Diarrhoe  ist,  die  mitunter  grosse  Intensität  annimmt  und  wobei 
die  Ejecta  wässerig  und  übelriechend,  selten  blutig  sind;  in  manchen  Füllen  tritt 
Erbrechen  hinzu,  häufig  Anorexie  und  Schlaflosigkeit,  bei  längerer  Dauer  Icterus, 
grosse  L'nruhe  und  Reizbarkeit,  nicht  selten  Hautjucken,  auf  das  die  vorhandenen 
Kratzekzeme  hinweisen.  Dabei  besteht  in  fast  allen  Fällen  Stupor,  mitunter  selbst 
tiefes  Koma,  nach  dessen  Verschwinden  die  Kinder  zusammenhängend  zu  reden  ver- 
mögen. Die  Reflexe  sind  bald  vermindert,  bald  gesteigert,  der  Puls  im  Anfänge 
der  Krankheit  meist  voll,  langsam  und  regelmässig,  später  beschleunigt  und  un- 
regelmässig, ebenso  die  Athmung.  Nach  Fisher  hat  das  Leiden  eine  relativ 
günstige  Prognose,  so  dass  von  23  Fällen  19  geheilt  wurden,  ln  Bezug  auf  die 
bei  habituellen  Opiumrauchern  zu  beobachtenden  Erscheinungen  bestehen  nach 
Cor. lins  •*)  keine  wesentlichen  Abweichungen  ; Abmagerung,  eingefallenes  Gesicht 
und  gelbe  Hautfarbe  kommen  constant  vor.  Aus  den  Vereinigten  Staaten 
besitzen  wir  auch  Mittheilungen  über  einzelne  Fälle  von  Morphiumkranken  in 
folge  von  Anwendung  von  Morphin  als  Injectionsmittel  in  die  Nase  und  in- 
Suppositorien.  lt,‘) 

In  europäischen  Ländern  ist  es  besonders  Frankreich,  wo  in  den  letzten 
Jahren  die  Steigerung  des  Vorkommens  von  Morphiumsucht  durch  Spritzen  be- 


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MORPHIUMKRANKHEIT. 


431 


deutend  war;  Opiumrauchen  ist  hier  vereinzelt  von  Soldaten  aus  Tonkin  in  ihre 
Heimat  mitgebracht  worden.  Schon  1884  wies  Notta  ”)  darauf  hin,  dass  sich 
die  Unsitte  des  Morphiumspritzens  namentlich  in  der  Demi-monde  sehr  verbreitet 
habe  und  in  dieser  eine  Menge  Morphiumkranker  existiren,  die  das  Morphin 
benutzen,  um  sexuale  Aufregung  zu  erhalten , und  welche  für  die  Verbreitung 
habitueller  Morphiuminjectioneu  unter  ihren  Berufsgenossen  thiltige  Propaganda 
machen.  Injectionsspritzen  in  feiner  Ausführung  sind  in  dieser  Bevölkerungs- 
classe  und  auch  ausserhalb  derselben  in  Paris  als  Geschenk  sehr  beliebt.  Her 
Vorschlag  Notta’s,  ein  Verbot  der  Abgabe  von  Morphinspritzen  an  Nichtärzte 
zu  erlassen,  hat  keine  Berücksichtigung  gefunden. 

Dass  übrigens  medicinalpolizeiliche  Massnahmen  in  dieser  Art  die  Morphium- 
kraukheit  nicht  ausrotten  werden,  ist  a priori  einzusehen,  wenn  man  die  hohen 
Procentziffern  in’s  Auge  fasst,  die  das  Heilpersonal  und  speciell  der  ärztliche  Stand  zu 
den  Affectionen  stellt.  Nach  der  Statistik,  die  Bubkart  u)  1883  über  die  von  ihm  in 
Marienberg  behandelten  Morphinisten  gab,  waren  unter  115  Kranken  (85  Männer, 
3U  Frauen)  45  Aerzte,  6 Arztfrauen  und  2 Apotheker:  in  einer  aus  demselben 
Jahre  stammenden  Statistik  Obersteiner’s  ••)  waren  unter  194  Kranken  (143  Männer, 
51  Frauen;  67  Aerzte.  Ganz  im  Einklänge  damit  stehen  aus  den  letzten  Jahren 
stammende  Zahlen  des  amerikanischen  Morphinspecialisten  MattisON,  der  in  dem 
von  ihm  dirigirten  Home  for  Habitues  in  Brooklyn  1888  unter  300  Morphinisten 
118  Doctoren  und  unter  125  von  ihm  später  Behandelten  62  Aerzte  zählt,  deren 
Proeentziffer  in  seiner  neuesten  Statistik  Uber  70  sich  erhebt.20)  Unter  33  von 
Sollirr  in  den  Jahren  1892 — 1894  behandelten  männlichen  Morphinomanen  waren 
15  Aerzte,  1 Stndent  der  Medicin  uud  1 Pharmacien,  also  mehr  als  die  Hälfte. 
Die  meist  sehr  deutlich  ausgesprochene  Prävalenz  des  männlichen  Geschlechtes 
ist  dies  in  Paris  am  wenigsten,  da  hier  namentlich  die  Demi-monde  das  Morphin- 
spritzen sieh  vielfach  angewöhnt  hat.  Unter  58  von  Sollier  behandelten  Fällen 
waren  33  Männer  und  24  Frauen. 

Die  Literatur  der  durch  Morphiuminjectionen  hervorgerufenen  Affection 
ist  eine  sehr  ausgedehnte.  Erlexmeyer21)  hat  in  der  dritten  Auflage  seiner 
Monographie  der  Morphiumsucht  (1887;  nicht  weniger  als  260  bis  zum  Jahre  1885 
erschienene  Arbeiten  citirt  und  verarbeitet,  und  seit  jener  Zeit  lassen  sich  gegen 
100  neuere  Publicationen  nachweisen.  Indessen  geben  die  neueren  Arbeiten  nur 
wenig  wesentlich  Neues  Uber  Aetiologie  und  Symptomatologie,  kaum  etwas  Uber 
die  pathologische  Anatomie,  dagegen  mancherlei  Neues  in  Bezug  auf  die  Theorie 
uud  sehr  viel  auf  die  Therapie  Bezügliches. 

Was  die  Aetiologie  anlangt,  so  sind  verschiedene  Beispiele  bekannt  ge- 
worden, wo  sonst  gesunde  Personen  vou  Morphiumsüchtigen  zum  Morphiumspritzen 
verleitet  wurden.  Dass  nicht  alle  Personen,  denen  längere  Zeit  Morphin  cingc- 
spritzt  oder  in  irgend  einer  Form  eingeführt  wird , morphiumkrank  (morphium- 
sücbtigi  werden,  ist  eine  bekannte  Thatsache.  Charakterschwache  Personeu  zeigen 
eine  besondere  Prädisposition.  Auch  neuropathische  Belastung  der  Eltern  ist  als 
prädisponirendes  Moment  nicht  auszuschliessen.  Nach  Crothers  ■)  werden  die 
Kinder  von  Morphinisten  nicht  selten  wieder  morphiumsüchtig,  in  anderen  Fällen 
sind  Alkoholismus  oder  Neuralgie  als  Zeichen  neuropathischer  Belastung  der 
Eltern  nachzuweisen.  Invaliden  infolge  vou  Gehirn-,  Nerven-  oder  Körperkrank- 
heiten stellen  ein  bedeutendes  C-ontingent  zur  Morphiumkrankheit ; in  anderen 
Fällen  scheint  auch  abnorme  Ernährung,  sei  es  Dyspepsie  mit  nachfolgender 
Anämie  und  nachfolgender  Hyperästhesie  oder  übermässige  Speisezufuhr  bei  sitzender 
Lebensweise  (Crothers)  die  Prädisposition  zu  begründen.  Auf  alle  Fälle  aber 
bleibt  eine  grosse  Zahl  von  Morphiumkranken  übrig,  bei  denen  irgend  ein  prii- 
disponirendes  Moment  vor  der  Morphium-  oder  Opiumzufuhr  nicht  nachweisbar 
ist  und  wo  durch  das  Morphin  selbst  und  seine  euphorische  Wirksamkeit,  wenn 
es  fortgelassen  wird,  bei  sonst  psychisch  und  körperlich  Gesunden  die  „Sucht“ 
sich  entwickelt.  Erwähnung  verdient,  dass  von  Morphinistinnen  geborene  Kinder 


M0RPH1UMKRANK  HEIT. 


43Ü 

liäuti^r  Abstiueuzerscheinungen  zeigen,  rasch  cyanotisch  werden  und  die  Erhaltung 
ihres  Lebens  nur  unter  Anwendung  von  Opium  und  Alkohol  gelingt.  Nach 
Happel  '-*)  stirbt  die  Mehrzahl  der  von  Morphinistinnen  geborenen  Kinder  in  der 
ersten  Lebetiswoehe.  Wenn  sie  das  erste  Lebensjahr  überstehen,  bleiben  sie  stets 
zart  und  nervös,  und  wenn  sie  erwachsen  sind,  werden  sie  entweder  Morphium- 
Habitues  oder  Trinker.  Auch  die  Kinder  morphiumsüchtiger  Väter  werden  nicht 
selten  morpbiumkrank. 

In  Bezug  auf  die  Symptomatologie  der  Morphiumkrankheit  ist  eine 
Angabe  von  CoMBES**)  über  eine  eigenthfimliehe  Affection  der  Zähne  bei 
Morphiumsüchtigen  wenig  beachtet.  Diese  beginnt  an  den  Kauflächen  der  Mahl- 
zähne. ergreift  dann  die  Backzähne,  Sehneidezähne  und  zuletzt  die  Eckzähne, 
deren  konisches  Ende  sich  becherförmig  aushöhlt.  Das  Leiden,  das  mitunter 
gleichzeitig  mit  Ausgehen  der  Haare  einhergeht,  hat  seinen  Sitz  im  Elfenbein 
und  verläuft  fast  schmerzlos  ohne  Periostitis  ausserordentlich  schnell,  so  dass  im 
Laufe  eines  Jahres  kein  Zahn  mehr  gesund  ist.  Ob  zur  Entstehuug  des  Leidens 
Acidität  des  Speichels  oder  dyspeptische  Zustände  mitwirken,  ist  bisher  nicht  erwiesen. 

l’eber  den  Einfluss  des  längeren  Morphingebrauches  auf  die  Geschlechts- 
funetion  liegen  ziemlich  widersprecheude  Angaben  vor.  Bei  Männern  ist  Herab- 
setzung des  Geschlechtstriebes  jedenfalls  Regel.  M.  Rosenthal“)  fand  das  Sperma 
in  einem  Falle  dünnflüssig,  mit  ganz  dünnen,  kurzen,  auch  bei  Zusatz  verdünnter 
Kaliiösung  unbeweglichen  Spermatozoiden,  in  einem  älteren  Falle  glashelle  rhom- 
bische Samenkrystalle  und  Abwesenheit  von  Samenfäden , die  erst  in  der  Ent- 
zielmngsperiode,  und  zwar  anfangs  ohne  Bewegung,  später  beweglich,  wieder  auf- 
traten. Dass  bei  Morphinistinnen  in  der  Regel  die  Menstruation  cessirt.  hat  sogar 
dazu  geführt,  die  Blutungen  bei  Carcinom  und  Fibrom  der  Gebärmutter  dadurch 
zu  bekämpfen,  dass  man  die  Kranken  zu  Morphinistinnen  machte.*5)  Anderseits 
liegen  zahlreiche  Beobachtungen  darüber  vor,  dass  die  Morphinmkrankhcit  bei 
Frauen  auf  Conception  und  Verlauf  der  Gravidität  einen  Einfluss  nicht  ausgeübt  hat. 

Als  Morphiumaffection  wird  auch  .-lene  rosacea  angegeben , die  sowohl 
bei  Morphiumspritzern  als  hei  Morphiophagcn  vorkommt  und  mit  der  Morpltium- 
entziindnng  schwindet  oder  sich  bessert.  Das  Leiden  soll  nach  heftigem  Jucken 
der  Nase  auftreten  und  verbindet  sich  meist  mit  Seborrhoe.  *•) 

Ein  vielbesprochenes  Capitel  der  Morphiumkrankheit  sind  Psychosen, 
auf  deren  Entstehung  bei  Morphinisten  schon  1874  Fiedler  in  seiner  für  die 
Morphiumkrankheit  der  Morphinisten  grundlegenden  Arbeit  hinwies. ,:)  Man  hat 
hier  wohl  zu  unterscheiden  zwischen  Psychosen  als  Theilerseheinungcu  der  chro- 
nischen Morphiumvergiftung  und  solchen , die  infolge  der  Morphiumentzichung 
entstehen  und  einen  Tlieil  der  bekannten  Morpbiuminanitionserscheinungen  bilden. 

So  zweifellos  auch  habitueller  Morphingenuss  bei  längerer  Dauer  ungünstig  auf  die 
geistigen  Functionen  einwirkt  und  insbesondere  zu  Abnahme  des  Gedächtnisses  und 
der  Arbeitsfähigkeit,  namentlich  aber  auch  zn  Abnahme  der  Willensthätigkeit  und 
zu  moralischem  Schwachsinn  führt,  der  durch  Lügen  und  Betrügen  sich  inanifcstirt, 
so  sind  doch  ausgeprägte  Psychosen  als  Ausdruck  wirklicher  chronischer  Morphin- 
intoxicatiou  selten  (MattisON).  Diese  zeigen  dann , wie  sie  schon  Fiedler  lie- 
schrieb, zumeist  die  grösste  Aehnlichkeit  mit  cerebraler  Paralyse  und  unterscheiden 
sieh  von  dieser  dadurch , dass  der  Kranke  sieh  seines  Zustandes  und  dessen 
Ursache  bewusst  ist,  und  dass  das  Leiden  durch  Beseitigung  der  Morphinzufuhr  heil- 
bar ist.  Manche  bei  Morphinisten,  bei  denen  erbliche  Disposition  vorliegt . anf- 
tretende  Geistesstörungen  sind  nicht  eigentliche  Morphinpsychosen,  und  das  Mor- 
phin ist  dabei  höchstens  insofern  im  Spiele,  als  es  den  Ansbruch  beschleunigt  hat. 

ln  der  Abstinenz  treten  meist  Delirien,  vereinzelt  Melancholie  und  Apathie, 
auf.  Von  den  Delirien  kommen  die  schwersten  Formen,  insbesondere  das  soge- 
nannte Delirium  tremens  der  Morphinisten , fast  nur  bei  der  plötzlichen  Ent- 
ziehung von  Morphin  vor,  während  leichtere  Delirien  nicht  selten  auch  bei  anderen 
Entziehungseuren  sieh  kundgeben.  Charakterisirt  wird  diese  schwere  Form  durch 

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MORPHIUM  KRANKHEIT. 


433 


die  grosse  Angst,  die  sich  oft  zur  Todesangst  steigert,  die  allgemeine  Benommen- 
heit und  die  Accommodationsstörungen,  die  mit  maximaler  Dilatation  der  Pupille 
einhergehen  und  als  Ursache  von  Illusionen  erscheinen,  die  den  grössten  Theil  der 
Gesichtstiluschungen,  die  sich  bei  diesen  Kranken  (besonders  in  der  Dämmerung) 
finden,  verursachen.  Daneben  bestehen  perverse  Sensationen,  wie  Kneifen,  Druck, 
Ameisenkriechen  und  insbesondere  Elektrisirtwerden , auch  Hallucinationen  des 
Geruchs  und  Gehörs. as)  Oft  besteht  so  heftige  Tobsucht,  dass  der  Kranke  isolirt 
werden  muss.  Die  Dauer  dieser  Delirien  beträgt  bald  nur  Stunden , bald  aber 
auch  mehrere  Tage;  mitunter  kommt  es  dabei  zu  Collaps,  der  nur  durch  eine 
Morphindose  beseitigt  wird.  Unter  den  Hallucinationen  kommen  mitunter  die 
nämlichen  Erscheinungen  (kleine  Thiere,  bewaffnete  Männer)  vor,  die  für  das 
Delirium  alcoholicum  als  charakteristisch  galten,  und  schleimiges  Erbrechen  und 
rhythmische  Zuckungen  vervollständigen  die  Aehnliehkeit  mit  diesem  Krankheits- 
bilde. *•)  Es  ist  aber  nicht  unmöglich,  dass,  da  die  meisten  Morphinisten  auch 
Excesse  in  Alkohol  begehen,  bei  der  Erzeugung  dieser  Erscheinungen  der  Alkohol 
im  Spiele  ist.  Mitunter  kann  reichliche  Alkoholzufubr  im  Laufe  der  Entziehung 
zu  hnllucinatorischen  Delirien  fuhren,  die  auch  mit  anderen  bei  Alkoholikern  vor- 
kommenden Erscheinungen  sich  complicircn.  So  sah  Erlenmeykr  *°)  bei  einer 
anämischen  Frau  , die  am  Ende  einer  an  sich  leichten  Entziehung  die  Nahrung 
mehrere  Tage  verweigerte,  dagegen  sehr  viel  Portwein  trank,  ein  dreitägiges 
hallucinatorisehes  Delirium,  woran  sich  Paraplegie  beider  Beine  mit  Anästhesie 
und  Analgesie  bis  zur  Nabelhöhe,  Erlöschen  der  Patellarreflexe  und  paradoxe 
Muskelcontraction , mehrere  Monate  anhaltend,  schlossen.  In  manchen  Fällen  mit 
Hallucinationen  ist  übrigens  auch  Cocain  ohne  Zweifel  betheiligt. 

Nach  der  Entziehung  eintretende  Psychosen  entwickeln  sich  meist  im 
Anschlüsse  an  intensive  Schlaflosigkeit  unter  der  Form  eines  mit  Gesichts-  und 
Gehörsballucinationen  verbundenen  Verfolgungswahns,  der  Monate  lang  andauern 
kann.  Auch  diese  Affection  ist  bei  reinen  Morphinisten  selten  und  wird  namentlich 
bei  gleichzeitigem  Missbrauche  von  Morphin  und  Alkohol  beobachtet. ,0) 

Erwähuenswerth  ist , dass  unmittelbar  nach  der  Entziehung  sich  eroto- 
manische  Symptome  sowohl  bei  Frauen  als  bei  Männern  entwickeln  können 
(Maraxdon  de  Montyel,  Erlenmeyer). 

In  Bezug  auf  die  somatischen  Abstinenzerscheinungen,  insoweit 
diese  nicht  in  den  gebräuchlichsten  Monographien  der  Morphiumkrankheit  aus- 
führliche Darstellung  gefunden  haben,  sind  vor  Allem  die  Circulationsstörungen 
hervorzuheben.  Nach  Ball  und  J ENNINGS  ,l)  ist  bei  Morphinisten  kurz  nach  einer 
Einspritzung  der  Puls  normal  mit  schwacher  Spannungszunahme  am  Ende  der 
Systole , dagegen  erscheint  nach  einigen  Stunden  Abstinenz  die  Pulscurvc  oben 
ganz  abgeplattet , und  bei  längerer  Entziehung  stellt  sich  unter  Fiebererschei- 
nungen die  normale  Curve  wieder  her.  Die  auf  Schwächung  des  Herzimpulses 
und  Ischämie  der  allgemeinen  Circulation  hinweisende  Pulsverändcruug  bei  Absti- 
nenz, die  durch  Morphiuminjection  und  verschiedene  Medicamente  (Nitroglycerin, 
Spartein)  behoben  wird,  lässt  sich  nach  Ball  und  JennixGS  sogar  als  diagnostisches 
Hilfsmittel  in  zweifelhaften  Fällen  von  Morphiumkrankheit  benutzen.  Nach  SOL- 
likr  js)  hat  jede  Abstinenz  Verlangsamung  und  Verminderung  der  Energie  der 
Herzschläge  zur  Folge,  die  zugleich  unregelmässig  werden.  Die  beiden  am 
häufigsten  zu  beobachtenden  Irregularitäten  sind  das  Fehlen  eines  Schlages  auf 
2 oder  3 oder  auf  8 — 9. 

Als  ein  nicht  seltenes  Vorkommniss  unmittelbar  nach  der  Morphinent- 
ziehung bezeichnet  Soleier  5!)  das  Wiodcrauftrcten  von  schmerzhaften  Affeetionen, 
gegen  welche  das  Morphin  ursprünglich  angewendet  wurde,  die  dann  aber  nach 
dem  Vorübergehen  der  sonstigen  Inauitionserseheiuungen  wiederum  verschwinden. 
Auch  Erlexmeykr  *•)  macht  darauf  aufmerksam,  dass  nicht  alle  in  der  Abstinenz 
auftretenden  Erscheinungen  wirklich  Abstiuenzerseheinungen  sind , und  führt  als 
solche  Pseudalistinenzsymptome  nach  eigener  Beobachtung  Neuralgien  und  Blut- 
Encyclop.  Jnlirbftcher.  VI. 


43+ 


MORPHIUMKRANKHEIT. 


brechen  au.  Die  Erfolglosigkeit  des  Morphins  gegen  derartige  Symptome  ist  das 
Kriterium  für  diese. 

Mehr  noch  als  die  mannigfache  Form  der  Abstinenzerscheinungen  ist 
deren  Theorie  der  Gegenstand  neuerer  Erörterungen  geworden.  Zur  Aufklärung 
darüber  hat  der  Umstand  wesentlich  beigetragen,  dass  man  in  neuester  Zeit  die 
Schicksale  des  Morphins  im  Organismus  genauer  kennen  gelernt  hat.  Von 
ganz  besonderem  Interesse  ist  die  Thatsache,  dass  die  Magenschleimhaut  der 
hauptsächlichste  Ort  der  Ausscheidung  des  Morphins  ist.  Schon  1883  wies  Leine- 
weber ss)  die  Elimination  subcutau  injicirten  Morphins  durch  den  Magen  bei 
Thieren  nach.  1888  bestätigte  Ai.t  **)  diese  Thatsache  in  vollem  Masse  und  führte 
den  Nachweis,  dass  die  Menge  Morphin,  die  an  dieser  Stelle  ausgeschieden  wird, 
eine  sehr  beträchtliche  ist.  Baumert  faud  colorimetrisch  bei  einem  von  Alt  mit 
0.2  vergifteten  Hunde  nicht  weniger  als  0,083  einer  morphinähnlichen  Substanz 
in  dem  Magenspülwasscr  wieder,  wonach,  da  ein  Theil  der  Ausspülungsflüssig- 
keit  nicht  wieder  erhalten  wurde,  nahezu  die  Hälfte  des  injicirten  Morphins  durch 
die  Magenschleimhaut  eliminirt  zu  sein  schien.  Dies  stimmt  völlig  mit  dem  Re- 
sultate von  Tauber  *6)  1890  angestellter  Untersuchungen,  wo  bei  einem  Hunde, 
dem  in  10  Tagen  1,24  Morphin  (als  Salz)  subcutan  beigebracht  war,  aus  den 
gesammelten  Fäces  0,512  reines  Morphin  wieder  erhalten  wurde,  was  4 1 •3i>  0 
des  eingeftlhrten  Morphins  entspricht. 

Auf  diese  Thatsache  hat  Hitzig  **)  eine  grosse  Anzahl  der  Abstiuenz- 
symptome  zurtickgeführt  und  darauf  zugleich  ein  weiter  unten  genauer  ausein- 
anderzusetzendes Verfahren  der  Bekämpfung,  bezichungsw'cise  Verhütung  dieser 
Symptome  begründet.  Sind  die  Magennerven  der  directen  Einwirkung  fast  der 
Hälfte  des  Morphins  ausgesetzt , die  ein  Morphinist  während  der  Dauer  seines 
Lasters  zu  sich  nimmt,  so  liegt  es  klar  zutage,  dass  sie  auch  in  hervorragender 
Weise  unter  den  Einfluss  des  Giftes  gebracht  werden.  Diese  Giftwirkung  kann 
sich  aber,  so  lange  die  Zufuhr  dauert . nur  in  einer  starken  Herabsetzung  ihrer 
Function  äussern , und  aus  dieser  geht  dann  eine  starke  Verminderung  der 
Abscheidung  von  Magensaft,  speciell  von  Salzsäure  hervor,  die  sich  thatsächlieb 
auch  bei  dem  Morphinisten  nachweisen  lässt.  Wird  nun  das  Morphin  ganz  oder 
theilweise  entzogen,  so  befindet  sich  der  Magen  in  einem  Zustande  derartig  ver- 
änderter Erregbarkeit,  dass  schon  der  Reiz  des  nun  in  normaler  Menge  wieder 
secernirten  Magensaftes  als  abnorm  empfunden  wird,  woraus  dann  Erscheinungen 
resnltiren,  wie  sie  bei  Katarrhen  mit  Hyperacidität  gewöhnlich  sind.  Auf  diese 
Weise  lassen  sich  z.  B.  die  Unruhe  in  Rumpf  und  Gliedern  und  die  Empfindung 
von  Wärme  und  Brennen  im  Rücken,  die  bei  Morphinisten  analog  wie  bei  Magen- 
kranken der  angegebenen  Kategorie  Vorkommen,  erklären.  Dass  nicht  alle  Absti- 
nenzsymptome durch  die  Störungen  des  Magens  sich  erklären  lassen,  ist  nicht  zu 
leugnen,  doch  ist  die  wesentliche  Bedeutung  dieser  dadurch  sichergestellt,  dass 
man  nach  den  übereinstimmenden  Erfahrungen  von  Hitzig  und  Erlexmkyer  10) 
durch  Anwendung  neutralisirender  Mittel  nach  der  Morphiumentziehung  fast  alle 
Abstiuenzerscheinungcn  verhüten  kann.  Ueber  die  Ursache  des  Morphiumhungers 
gehen  die  Ansichten  auseinander.  Hitzig  fasst  ihn  als  Folge  der  künstlichen 
Anacidität  des  Magensaftes  auf,  die  durch  Salzsäurebehandluug  schwinde,  Erlen- 
mkyer,  der  darin  in  erster  Linie  ein  psychisches  Symptom  erblickt,  macht  dagegen 
mit  Recht  geltend,  dass  der  Morphiumhunger  nicht  in  der  Periode  der  Anacidität, 
sondern  in  der  durch  die  Morphiumentziehung  herbeigeführten  Superacidität  sich 
geltend  mache  und , wenn  er  überhaupt  vom  Magen  abgeleitet  werden  könne, 
mit  dem  Heisshunger  der  nervösen  Dyspcptiker  zusammeuzustellen  sei,  der 
notorisch  durch  plötzlichen  Erguss  von  Säure  auf  die  Magenschleimhaut  hervor- 
gerufen werde. 

Die  HlTZlo’sche  Theorie  lässt  übrigens  recht  wohl  noch  eine  Ueber- 
tragung  auf  einzelne  andere  bei  den  Entzichungscurcn  zu  beobachtenden  Erschei- 
scheinungen  zu,  die  das  Gegentheil  von  dem  Verhalten  während  der  Morphinm- 


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MORPHIUMKRANKHEIT. 


435 


zul'uhr  sind.  Dahin  gehören  z.  B.  die  Menstruatio  nimia , die  an  Stelle  von 
Amenorrhoe  tritt,  die  übermässigen  Samenergüsse  bei  einzelnen,  vorher  an  An- 
aphrodisie  leidenden  Personen , das  Niesen  und  Thränenträufeln , die  Mvdriasis, 
möglicherweise  auch  die  Neuralgien.  Jedenfalls  reicht  die  Verwandlung  einer 
während  der  Morphiumentziohung  bestehenden  Hemmung  der  Functionen  in  stark 
erhöhte  Thätigkeit  nicht  zur  Erklärung  aus  für  die  sämmtlichen  Abstinenzerschei- 
nuugen , insbesondere  nicht  für  die  der  vom  Gehirn  abhängigen  mannigfachen 
Symptome  und  für  den  Collaps. 

Bestimmt  aber  ist  daran  festzuhalten,  dass  die  Abstinenzsymptome  nicht 
als  Morphiumvergiftungserscheinungen  aufzufassen  sind,  wie  schon  daraus  hervor- 
geht, dass  sie  unter  Einführung  von  Morphin  rasch  zum  Stillstände  gebracht 
werden.  Ebenso  irrig  ist  es  auch,  sic  auf  einen  der  Stoffe  zu  beziehen,  die  sich 
aus  einem  Theile  des  in  den  Organismus  eingeführten  Morphiums,  besondere  unter 
dem  Einflüsse  der  Oxydation  bilden.  Dass  sich  bei  Morphinisten  im  Harn  neben 
Morphin,  mitunter  auch  allein,  aus  dem  Morphin  entstandene  Körper  finden,  ist 
schon  lange  bekannt.  Jaffe  und  ELLASSOW  *7)  fanden  1882  bei  Kaninchen  nach 
wiederholter  Einbringung  von  kleinen  Dosen  Morphin  eine  Substanz  im  Harn,  die 
sich  mit  Fröhde’s  Reagens  grünblau,  mit  concentrirter  Schwefelsäure  braun  und 
auf  Zusatz  einer  minimalen  Menge  Salpetersäure  grünblau  färbt.  In  demselben 
Jahre  gelang  es  Bukkart  38),  aus  dem  24stündigen  Harnquantum  von  Morphinisten, 
die  1,30 — 1,35  Morphium  hydrochloricum  im  Tage  injicirten,  eine  Substanz  zu 
isoliren , die  die  charakteristischen  Morphiumreaction  nicht  gab,  aber  narko- 
tische Vergiftungserscheiuungen  hervorrief,  die  aber  nicht  so  heftig  wie  nach 
Morphin  waren. 

Als  Erklärung  der  Abstinenzerscheinungen  der  Morphinisten  hat  man 
seit  1883  nach  dem  Vorgänge  von  Marme  s“)  die  Bildung  von  Oxyditnorphin 
im  Organismus  ziemlich  allgemein  angenommen,  und  selbst  in  der  allerneuesteu  Zeit 
hat  Erlf.xmeyer  so)  die  Hypothese,  dass  die  Abstinenzsymptome  Folgen  einer 
Oxydimorphinvergiftung  seien,  als  allen  Anforderungen  einer  genügenden  Erklä- 
rung entsprechend  bezeichnet.  In  der  Thnt  ist  nicht  nur  bei  protrahirter  Vergiftung 
von  Hunden,  denen  grössere,  jedoch  nicht  letale  Mengen  eines  Morphiumsalzes 
snbeutan  injicirt  wurden,  der  Nachweis  dieses  Oxydationsproducts  des  Morphins 
erbracht  worden,  sondern  es  tritt  auch  nach  directer  Einführung  von  nicht  letalen 
Dosen  von  Oxyditnorphin  in  das  Blut  bei  Thieren  ein  Symptomencomplex  auf, 
der  bestimmte  Analogie  mit  den  Erscheinungen,  die  bei  Morphinisten,  denen  das 
Morphin  entzogen  wird , auftreten , zeigt.  Dieser  besteht  in  Würgen  und  Er- 
brechen , die  mitunter  schon  nach  2 Mgrm.  eintreten , dann  bei  intravenöser 
Application  grösserer  Mengen  in  deutlich  hörbarer , anscheinend  schmerzhafter 
Peristaltik,  worauf  Darmentleerungen,  mitunter  auch  blutige  Abgänge  folgen,  in 
starker  Pulsbeschlctinigung , starkem  Sinken  des  Blutdrucks  unter  gleichzeitiger 
Erweiterung  peripherer  Blutgefässe , Sinken  der  Körpertemperatur  und  eollaps- 
artiger  Schwäche. 

Die  Thatsache,  dass  diese  Erscheinungen  durch  Morphin  (wie  übrigens 
wahrscheinlich  auch  durch  andere  Narcotica  oder  die  Peristaltik  hemmende  Mittel) 
wesentlich  gebessert  und  beseitigt  werden,  bildet  ebenfalls  eine  Stutze  der  Hypo- 
these, da  ja  Morphin  bei  den  Abstinenzerscheinungen  und  besonders  beim  Collaps 
im  Laufe  von  Entziehungscuren  das  allerbeste  Hilfsmittel  bildet.  Erlenmeyek 
hat  seine  Ansicht , dass  die  Abstinenzsymptome  Oxydimorphinvergiftung  seien, 
besonders  noch  dadurch  zu  motiviren  gesucht,  dass  diese  sich  in  auffälligster 
Weise  da  zeigen , wo  die  Bedingungen  zu  einer  reichlichen  Bildung  von  Oxy- 
dimorphin  oder  zu  einer  Ucbercompensation  der  antidotarischen  Effecte  des  Mor- 
phins vorhanden  seien,  somit  einmal  bei  sehr  langer  Dauer  der  Gewöhnung,  in 
zweiter  Linie  bei  der  Gewöhnung  an  sehr  grosse  Morphinmengen  und  in  dritter 
bei  der  sehr  raschen  Entziehung.  Hierbei  ist  überall  vorauszusetzen,  dass  das 
bei  der  Oxydation  des  Morphins  iin  Thierkörper  entstehende  Oxyditnorphin  in 

28* 


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MORPHIUMKRANKBEIT. 


relativ  grosseren  Mengen  deponirt  wurde.  Diese  Annahme  trifft  aber  nicht  zu, 
da  sich  immer  nur  Spuren  von  Oxydimorphin  im  Thierkörper  nachweisen  lassen 
und  andererseits  das  Oxydimorphin  in  alkalischer  I.ösung  sich  so  leicht  zersetzt, 
dass  eine  weitere  Oxydatiou  im  Körper  zweifellos  sehr  rasch  vor  sich  geht. 40)  ln  der 
That  ist  ja  auch,  wie  oben  erwähnt  wurde,  durch  Burkart  und  Eliassow 
der  Nachweis  geliefert,  dass  neben  dem  Oxydimorphin  noch  andere  Köper  aus 
Morphin  im  Thierkörper  entstehen,  die  mit  dem  unzersetzt  eliminirten  Theile  des 
eingeflihrten  Morphins  in  den  Secreten  erscheinen.  Es  hat  auch  unter  diesen 
Umständen  nichts  Auffallendes,  wenn  Oxydimorphin  in  einzelnen  Fällen  bei 
Morphinisten  nicht  nachweisbar  ist.  *')  Ein  schwer  wiegender  Umstand,  dass  die 
giftige  Wirkung  des  Oxydimorphins  sich  nur  bei  intravenöser,  nicht  aber  bei 
subrutaner  und  interner  Application  an  Thieren  sich  geltend  macht  (was  Toht 
und  Kobert  zu  der  neuerdings  von  Puschmann  zurückgewiesenen  Ansicht , dass 
die  Symptome  auf  embolisehen  Processen  bernheu , führte),  macht  ebenfalls  die 
Hypothese  werthlos.  Auch  beim  Menschen  ist  Oxydimorphin  intern  genommen  in 
sehr  grossen  Dosen  ohne  jede  toxische  Wirkung;  selbst  0.4  ruft  keinerlei  Be- 
findensstörung hervor  (L.  Hermann  und  Kreis). 

Ausser  den  unmittelbar  an  die  Morphiumentziehung  sich  anschliessenden 
Abstinenzerseheinungen  kommen  übrigens  nach  SOLI.tER  **)  später  eintretende, 
von  der  Demorphinisation  noch  abhängige  Krisen  vor,  die  unvermuthet  sich 
einstcllen.  Sie  sind  weniger  heftig  als  die  Abstinenzsymptome,  können  aber  24 
bis  36  Stunden  anhaltcn  und  äussern  sich  durch  Mattigkeit  in  den  Beinen, 
Congestionen  nach  den  Mahlzeiten,  Appetitlosigkeit  und  Insomnie,  mitunter  auch 
durch  Diarrhoe  und  biliöses  Erbrechen,  das  2 — 3 Tage  anhalten  kann.  Constant 
besteht  dabei  Morphiumhunger,  ein  Umstand,  der  diese  Zustände  besonders  be- 
aehtenswerth  für  den  Arzt  macht.  Nach  Sollier  kommen  solche  Krisen  noch 
6 Monate  nach  der  Morphiumentziehung  vor.  Derartige  Krisen , die  übrigens 
schon  Burkart  1884  beschrieben  hat,  sind  der  entschiedenste  Beweis  gegen  die 
Oxydimorpliintheorie  der  Abstinenzerscheinungen  und  für  die  Auffassung  der 
fraglichen  Symptome  als  einfache  Reaction  des  Nervensystems  auf  das  Ausbleiben 
des  gewohnten  Reizes.  **) 

ln  der  Behandlung  der  Morphiumkrankheit  hat  die  schnelle  Entziehung, 
wie  sie  in  Deutschland  besonders  von  Erlrnmeyer,  in  Frankreich  von  SOLLIER 
empfohlen  wird , die  früher  übliche  langsame  Entwöhnungscur  und  die  dieser 
diametral  entgegengehende  plötzliche  Entziehungscur  jetzt  fast  vollständig  ver- 
drängt. Bei  allen  diesen  Curcn  ist  übrigens  nach  der  Entwöhnung  von  Morphin, 
beziehungsweise  nach  dessen  Entziehung,  die  Behandlung  der  Reconvalescenz  eine 
Hauptaufgabe. 

Das  älteste  Verfahren  ist  die  allmälige  Abgewöhnung,  die  man 
entweder  im  Hause  des  Kranken  oder  zweckmässiger  in  einer  offenen  Anstalt 
(Kaltwasserheilanstalt)  vornehmen  kann.  Die  Abgewöhnung  in  der  eigenen  Woh- 
nung giebt  die  wenigsten  Chancen  für  die  wirkliche  Entwöhnung,  da  hier  meist 
eine  gehörige  Beaufsichtigung  fehlt.  Dass  einzelne  Personen,  wenn  sie  sonst 
nicht  nenropathisch  sind,  die  Cur  durchführen,  namentlich  wenn  die  Dosis  nicht 
allzuhoch  war,  ist  wohl  möglich,  aber  diese  Fälle  sind  immer  Ausnahmen.  Für 
Anstalten  ist  dieses  Verfahren  wegen  seiner  langen  Dauer  und  weil  man  die 
Reconvalescenz,  in  der  verschiedene  Aerzte  sogar  den  wichtigsten  Zeitabschnitt 
der  Behandlung  zur  Erzielung  dauernder  Heilung  sehen  *•),  nicht  berücksichtigen 
kann,  wenig  empfehlenswert!!.  Selbst  bei  denjenigen  Fällen,  wo  man  sie  meist 
noch  als  indicirt  betrachtet , bei  ausserordentlich  decrepiden  Individuen  und  bei 
Kranken  mit  schweren  Organleiden,  z.  B.  mit  Herzfehlern  oder  Emphysem,  ist 
es  fraglich,  ob  man  sie  durchführen  soll , oder  ob  man  sich  darauf  beschränkt, 
das  dem  Körper  zugeführte  Morphin  auf  eine  der  Gesundheit  nicht  unzuträgliche 
Dosis  herabzusetzen,  wie  dies  Obkusteixkr  bei  allen  Patienten  mit  mangelhafter 
Herzthätigkeit,  mag  es  sich  dabei  um  Innervationsstörungen  oder  um  organische 


MORPHIUMKRANKHEIT. 


437 


Veränderungen  der  Kreislauforgane  handeln,  empfiehlt.  Nach  Wagner44)  führt 
die  allmälige  Entwöhnung  nur  hei  Personen,  die  täglich  nicht  Uber  1,0  Morphin 
consumiren  und  früher  noch  nicht  entwöhnt  waren , zu  vollständiger  Heilung. 
Dass  die  allmälige  Entwöhnung  mehr  als  andere  Methoden  vor  Reaction  schütze, 
weil  sie  die  Intensität  der  Ahstinenzsymptome  am  besten  berücksichtige  und  weil 
sie  durch  Weckung  des  durch  den  Morphingenuss  eingeschläferten  Ehrgefühls 
und  durch  Anspannung  des  Willens  auf  den  Patienten  günstig  wirke,  wird  von 
Mayländkr  44)  hervorgehoben ; doch  ist  das  von  ihm  befürwortete  Verfahren 
keineswegs  ein  sehr  gemächliches  Entwöhnen,  da  er  sofort  auf  */ 3 — >/,  des  Mor- 
phins herabzugehen  und  die  ganze  Menge  in  höchstens  4 — 5 Wochen  zu  ent- 
ziehen riith.  Zu  gleichen  Anschauungen  bekennt  sich  Emmerich44),  der  in  dem 
Verfahren  einen  grösseren  Schutz  gegen  Recidive  sieht,  dasselbe  jedoch  insoferne 
modifieirt,  dass  er  die  Entziehung  absatzweise  vor  sich  gehen  lässt,  und  wenn 
eine  Quantität  Morphin  entzogen  worden  ist,  vor  der  weiteren  Entziehung  wiederum 
eine  grössere  Dosis  injicirt.  Dieses  Verfahren  hat  eine  Anzahl  scharfer  Kritiken 
erfahren , denen  der  Autor  in  Flugblättern  seine  günstigen  Erfahrungen  gegen- 
über stellt. 

Die  durch  Levixsteix  47)  eingeführte  und  häufig  nach  ihm  benannte 
plötzliche  Entziehung  lässt  die  Ahstinenzsymptome  in  ihrer  grössten  Inten- 
sität auftreten  und  führt  dadurch  den  Patienten  nicht  selten  in  Lebensgefahr, 
die  nur  durch  rechtzeitige  Eingrifte  seitens  des  behandelnden  Arztes  verhütet 
werden  kann.  Sie  setzt  nicht  allein  die  Behandlung  in  einer  geschlossenen  An- 
stalt, sondern  auch  bei  Tage  und  bei  Nacht  fortgesetzte  Ueberwachung  durch 
ein  physisch  kräfliges  und  zuverlässiges,  gegen  Bestechungsversuche  unzugängiges 
Wartepersonal  voraus.  Als  Abstinenzsyraptom  kommt  nicht  selten  schwerer  Collaps 
vor,  dessen  tödtlicher  Ausgang  mitunter  auch  nicht  durch  Injcction  von  Morphin 
abgewendet  wird.  Auch  die  schlimmsten  maniakalischen  Zustände  gehören  dieser 
Behandlungsmethode  an.  Vortheile  der  Cur  liegen  in  ihrer  kurzen  Dauer  und  in 
der  Verlängerung  der  Reeonvalescenz,  wodurch  eine  psychische  Einwirkung  auf 
den  Patienten  in  ausgiebiger  Weise  ermöglicht  wird. 

Es  muss  übrigens  bemerkt  werden,  dass  einzelne  Fälle  vorliegen,  wo 
nach  mehrmonatlichem  Gebrauche  von  Morpbininjcctionen  Patienten  selbst  ohne 
ärztliche  Beihilfe  sich  das  Morphin  plötzlich  entziehen,  ohne  dass  irgend  welche 
Inanitionserscheinungen  eintreten.  Es  setzt  dies  indess  das  Nichtvorhandensein 
irgend  einer  Neuropathie,  das  Nichtflbcrschreiten  der  Anfangsdosis  und  die  Ab- 
wesenheit des  Gefühls  von  Euphorie  voraus,  das  bei  den  Morphinisteu,  wenn  sie 
mit  der  Dosis  in  die  Höhe  gehen , sich  regelmässig  geltend  macht  und  aller 
Wahrscheinlichkeit  nach  den  Ausdruck  des  entweder  schon  vorher  bestehenden 
oder  durch  Morphin  hervorgerufenen  Zustandes  nervöser  Schwäche  bedeutet.  Charak- 
teristisch ist  in  dieser  Beziehung  ein  von  Skxlecq48)  beschriebener  Fall,  wo  ein 
Mann,  der  5'/a  Monate  täglich  drei  Spritzen  einer  24/0igen  Lösung  gegen 
Schmerzen  infolge  von  Cystitis  gebrauchte , ohne  dass  je  die  Erscheinungen  der 
Euphorie  anftraten , das  Einspritzen  ohne  jedes  Unwohlsein  aufguh , nach  einem 
Jahre  aber  durch  Schmerzen  zu  weiteren  Morphineinspritzungen  gezwungen,  mit 
den  Einspritzungen  anfangs  auf  4 — 6,  und  im  Laufe  von  sieben  Jahren  auf  30 
bis  50  Spritzen  stieg  und  schon  in  sechs  Jahren,  wo  er  20  Spritzen  injieirte, 
bei  einem  Selbstentziehnngsversuche  nur  eine  Beschränkung  auf  12  Spritzen  er- 
reichen konnte. 

Die  ERLENMKYER’sche  Methode  der  schnellen  Entziehung  bezweckt, 
die  völlige  Entziehung  in  relativ  kurzer  Zeit  durchznführen , ohne  dass  lebens- 
gefährliche Symptome  der  Abstinenz  eintreten.  Kleinere  Dosen  von  0,3 — 0,5 
werden  durchschnittlich  in  5 — 6 Tagen,  grössere  von  1,0  und  darüber  in  8 bis 
10  Tagen  entzogen.  Collaps  wird  bei  diesem  Verfahren  niemals  beobachtet; 
ebenso  kommen  schwere  Delirien  oder  schwerere  Störungen  der  Cireulation  und 
Respiration  nicht  vor.  Eri.exmkvku  bemüht  sich,  zunächst  durch  Versuche  die  für 


438 


M0RPHIÜMKRANKHE1T. 


den  Fortbestand  des  Wohlbefindens  bei  den  Morphinisten  erforderliche  Dosis  festzu- 
gtellen  und  diese  sogenannte  Arbeitsdosis  vor  der  Entziehung  einige  Tage  dem 
Kranken  zu  verabreichen , um  so  das  „Morphingleiehgewicht“  herzustellen.  Die 
Cur  muss  unter  Verhältnissen  durchgeführt  werden , die  heimliche  Morpbiumzu- 
fuhr  unmöglich  machen,  was  in  der  Anstalt  durch  absolute  Trennung  des  Patienten 
von  seinen  mitgebrachten  Sachen  und  Abschluss  von  allem  Verkehr,  unter  Auf- 
sicht absolut  zuverlässiger  Pfleger , beziehungsweise  Pflegerinnen , die  zur  Vor- 
sicht mit  einer  Spritze  und  einer  2°/,igen  Morphinlösung  ausgerüstet  sind , ge- 
schieht. Das  Zimmer  muss  heizbar  sein,  da  Morphiumentziehung  häufig  Patienten  sehr 
empfindlich  gegen  niedrige  und  selbst  sonst  normale  Temperaturen  (15°)  macht. 

Das  Morphin  wird  vom  Arzte  in  3,  selten  in  4 gleichen  Portionen  zu  bestimmten 
Zeiten  verabfolgt,  die  Abenddosis,  die  am  längsten  beibehalten  wird,  zwischen 
10  und  11  Uhr,  um  auf  den  Schlaf  günstig  zu  wirken.  Die  Cur  erfordert  reich- 
lichste Zufuhr  kräftigster  Nahrung,  die  die  Kranken  am  besten  unmittelbar  nach 
der  Einspritzung  nehmen. 

Sollier  5S)  lässt  in  frischen  Fällen  (l'/> — 2 Jahre),  wo  die  Tagesgabe 
nicht  0,2 — 0,25  überschreitet , besonders  bei  kräftigen  Männern , die  plötzliche 
Entziehung  zu,  geht  aber  meist  und  namentlich  bei  Frauen  am  1.  Tage  auf  0,1 
herab  und  entzieht  am  2.  das  ganze  Morphium.  Bei  mehrjährigen  Morphinisten, 
die  nicht  Uber  0,2 — 0,5  pro  die  injicircn,  kann  man  am  ersten  Tage  auf  die 
Hälfte,  am  2.  auf  1 , herabgehen  und  am  3.  Tage  das  Morphin  ganz  entziehen. 

In  alten  Fällen,  wo  mehr  als  0,5  injicirt  wird,  vollendet  Soi.lier  die  Entziehung 
in  4 — 6 Tagen,  wobei  er  am  1.  Tage  auf  */*>  am  2.  Tage  auf  */,,  am  3.  auf 
*/,,  am  4.  auf  '/„  herabgeht.  Die  Verminderung  erzielt  man  am  besten,  indem 
man  gleichzeitig  mit  der  Zahl  der  Injectionen  uud  mit  der  Dosis  herabgeht  und 
sobald  die  dargereichte  Menge  auf  den  Patienten  keinen  euphorischen  Einfluss 
mehr  hat,  kann  man  überhaupt  die  Morphiumzufuhr  sistireu.  Als  zweckmässig 
bezeichnet  Sollikb  zu  einer  Tageszeit  aufzuhören , dass  voraussichtlich  die 
Inanitionserscheinungen  am  Tage  eintreten.  Da  die  Abstinenzerscheinungen  bei 
leichten  Fällen  in  der  Regel  in  12,  bei  schweren  in  24  Stunden  sich  einstellen, 
so  empfiehlt  es  sich,  in  leichten  Fällen  um  Mitternacht,  in  schweren  früh  Morgens 
die  letzte  Injection  auszuführen. 

Sollieh  empfiehlt,  die  Cur  mit  einem  Abführmittel  einzuleiten,  um  die 
gastrischen  Beschwerden  zu  beseitigen , da  Morphinisten  häufig  an  Obstipation 
leiden.  Sollten  die  Kranken  neben  dem  Morphin  noch  ein  anderes  Narcoticuu 
(Alkohol,  Cocain)  missbrauchen,  so  sind  diese  vorher  zu  entziehen.  Bei  spirituösen 
Getränken  kann  dies  8 — 14  Tage  dauern,  während  man  Cocain  plötzlich  ent- 
ziehen kann,  ohne  dass  es  zu  Störungen  kommt. 

Als  einen  wesentlichen  Vorzug  der  schnellen  Entziehung  hat  man  nach 
Sollieh  die  rasche  Wiederzunahme  der  Kräfte  und  des  Körpergewichts  gegen- 
über der  allmüligen  Entziehung  anzuseben.  In  der  Regel  tritt  vom  6. — 12.  Tage 
nach  Beginn  der  Cur  starke  Steigerung  des  Appetits  ein,  und  eine  Zunahme  von 
16 — 19  Pfd.  ist  im  Laufe  von  6 — 8 Wochen  nichts  Seltenes.  Das  Vorkommen 
von  Synkope  ist  nicht  häufiger  als  bei  der  allmüligen  Entziehuugscur.  Dass  das 
Verfahren  auch  in  manchen  Fällen  angewandt  werden  kann,  wo  schwere  Herz- 
leiden uud  sonst  ungünstige  Verhältnisse  bestehen,  beweist  ein  Fall  von  Sollikb, 
in  welchem  die  Entziehung  bei  einem  seit  14  Jahren  Morphin  in  Mengen  von 
0,5- — 0,7  consumirenden , sehr  kaehektisehen  und  mit  einem  doppelten  Fehler 
der  Mitralis-  und  Aortenklappe  behafteten  Mann  in  5 Tagen  ohne  erhebliche 
Inanitionserscheinungen  gelang. 

Neben  diesen  einfachen  Entziehungscnren  giebt  es  noch  solche,  bei  denen 
Medicamente  eine  Hauptrolle  spielen.  Unter  diesen  sind  verbreitet  die  als  Sub- 
stitutionsmethoden bezeichneten  Entzichungsmethoden,  die  mit  der  Darreichung 
eines  anderen  Narcoticums  verbunden  sind,  das  man  während  der  Dauer  der  Cur 
dem  Morphin  substituirt.  Den  Grund  zu  diesen  Methoden  legte  Blkkart  **),  der 

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MORPHIUMKRANKHEIT. 


439 

1880  für  die  allmälige  Entwöhnung  in  offenen  Anstalten  empfahl,  von  dem  Zeit- 
punkte an,  wo  die  Morphiumentziehung  bis  zu  dem  letzten  Drittel  vorgeschritten 
ist,  neben  den  Injektionen  1 — 2 — 4mnl  täglich  0,03 — 0,09  Opium  oder  eine  ent- 
sprechende Menge  einer  Opiumtinrtar  zu  verabreichen , womit  man  dann  noch 
einige  Tage  nach  der  letzten  Morphineinspritzung  fortzufahren  hat.  Nach  Burkart 
führt  dies  Verfahren  dahin,  dass  die  bei  der  Entziehung  eintretenden  physischen 
und  psychischen  Störungen  in  der  Regel  minimale  sind,  so  dass  z.  B.  cb  niemals 
zu  Erbrechen  kommt  und  Diarrhoen  nur  in  beschränkter  Weise,  höchstens  3-  bis 
4 mal  im  Tage,  eintrelen.  Die  von  Erlenmeyer  ausgesprochene  Ansicht,  dass 
man  den  Kranken  dadurch  zu  einem  Opiophagen  mache,  dem  dann  die  Ent- 
ziehung des  Opiums  gerade  so  viel  Beschwerden  verursache  wie  die  Entziehung 
der  letzten  Morphinspritze , ist  nach  Bcrkart  nicht  zutreffend , vielmehr  macht 
die  Beseitigung  des  Opiums  niemals  Schwierigkeit.  Wahrscheinlich  ist  indess  die 
in  der  Regel  geringe  Intensität  der  Inanitionssymptoine  nicht  sowohl  Folge  des 
Opiums,  als  der  allmftligen  Entziehung,  und  dass  es  unter  Umständen  zu  sehr 
erheblichen  Abstinenzerscheinungen  sehr  lange  nach  der  Entwöhnung  kommt, 
beweisen  die  heftigen  Erregungserscheinungen  mit  Oesichtshallucinationen , die 
Bcrkart  selbst  in  einem  Falle  19  Tage  nach  der  letzten  Üpiumgabe  und  20  Tage 
nach  der  letzten  Morphiumeinspritzung  constatirte.  In  manchen  Fällen  ertragen 
übrigens  Kranke  den  Uebergang  von  der  Einspritzung  zur  internen  Verabreichung 
von  Opium  schlecht,  indem  sie  entweder  darauf  durch  Erbrechen  reagiren  oder 
danach  nicht  das  Gefühl  von  Euphorie,  das  ihnen  die  Injection  schafft,  bekommen. 18) 

Verschieden  von  der  BtJRKART'schen  Methode  ist  die  von  Franz  Miller 
iii  Graz  angegebene,  ebenfalls  anf  Anwendung  von  Opium  beruhende  Cur,  in- 
dem hier  sofort  Opium  oder  Opiumextract  in  Rillen  mit  Eitr.  Sem.  Strychni 
dem  Morphin  substituirt  wird.  Die  Dosis  wird  dabei  sofort  auf  die  Hälfte  oder 
ein  Drittel  der  zuletzt  genommenen  Morphinmengc  gesetzt,  dann  täglich  um  eine 
0,01  Morphin  entsprechende  Menge  gekürzt.  so) 

Kaczorowski  ‘’1)  entzieht  ebenfalls  das  Morphin  sofort  und  reicht  an 
Stelle  davon  Tinctura  Opii,  jedoch  in  Verbindung  mit  Tinctura  Jodi  (nach  der 
Vorschrift:  Tinctura  Opii  simplicis  20,0,  Tinctura  Jodi  2,0,  Tag  und  Nacht, 
alle  2 Stunden  je  20  Tropfen).  Das  Jod  soll  dabei  antifermentativ  in  Magen  und 
Darm  wirken,  den  Appetit  und  die  Ernährung  normal  erhalten  und  auch  sonst 
die  Abstinenzerscheinungen  mindern.  Die  Dosis  der  Tincturen  wird  dann  inner- 
halb einiger  Wochen  bis  auf  Null  vermindert,  ohne  dass  es  zu  erheblichen  Ina- 
nitionserseheinungen  kommt.  Da  das  Opium  ausschliesslich  durch  seinen  Morphin- 
gehalt wirksam  sein  kann,  lässt  sich  für  die  Anwendung  des  Opiums  im 
Wesentlichen  nur  die  Möglichkeit  anführeu , den  Patienten  von  der  bei  ihm  zur 
Leidenschaft  gewordenen  Art  der  Einführung  des  Giftes  zu  entwöhnen.  Zu  dem- 
selben Zwecke  ist  in  Amerika  gegen  Opiumrauchen  das  temporäre  Morphincin 
spritzen,  natürlich  nur  von  Aerzten  nusgeführt,  in  Versuch  gezogen.  So  heilte 
M.vrrisON  ts)  eine  an  Opiumrauchen  gewöhnte  Amerikanerin,  die  zu  ihrer  Leiden- 
schaft dadurch  gekommen  war,  dass  sie  zuerst  statt  1 ,gräniger  Morphinschlaf- 
pulver die  Opiumpfeife  anwandte,  später  aber  diese  mitunter  den  ganzen  Tag 
nicht  ausgehen  liess,  wodurch  Darmtorpor  und  Schwäche  und  Irregularität  des 
Herzschlages  eingetreten  waren,  nach  zweijährigem  Gebrauche  ohne  sonderliche 
Abstinenzerscheinungen  durch  Morphin , das  in  10  Tagen  wieder  fortgelassen 
wurde,  ln  Frankreich  hat  besonders  Charcot  die  langsame  Entziehung  unter 
Beihilfe  von  Opium  befürwortet.  Die  Kranken  müssen  sofort  ein  Drittel  ihrer 
gewohnten  Morphindose  opfern,  dann  dem  Morphin  das  Opiumextract  substituiren, 
so  dass  man  für  0,025  Morphin  0,015  — 0,02  Opium  giebt,  ohne  dabei  jedoch 
0,1  Opium  zu  überschreiten.  Charcot  verwendete  ausserdem  aber  auch  noch 
Bromkalium  und  unterdrückte  die  letzten  5 — 0 Cgrm.  Opium  plötzlich.  ä3) 

An  Stelle  des  Opiums  hat  man  später  das  Codein  und  ein  als  Mero- 
narcein  bezeichnetcs  französisches  morphiimifreies  Opimnprüparat  zu  gleichen  Zwecken 


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MORPHIUMKRANKHEIT. 


und  in  Ähnlicher  Weise  angewandt.  Codein  empfahl  1889  M.  Rosenthal 5,‘)  im 
Anfänge  der  Cur  zu  0,2 — 0,3,  bei  sehr  erregbaren  Kranken  mit  3 Giro,  ltrom- 
natrium  verbunden , unter  Elimination  einer  Abendinjection  darzureichen  and 
später  bei  weiterer  Rcduction  der  Morphingaben  das  Codein  3 — 4mal  täglich  an- 
zuwenden. Die  spätere  Beseitigung  des  C'odeins  soll  keine  Mtlhe  machen.  Pollak“) 
bat  keinen  Erfolg  davon  gesehen.  Der  Angabe,  dass  Codein  nicht  zur  Gewöhnung 
führe  und  keine  Abstinenzerscheinungen  mache,  wird  von  Erlexmeyer  in  ent- 
schiedener Weise  widersprochen.  Auch  nach  Sollier  kann  Codein  zwar  in  gewissen 
Fälleu  leicht  beruhigen  und  dem  Zucken  in  den  Gliedern  eutgegeuwirken , ver- 
hindert aber  das  Auftreten  der  Nebenerscheinungen  nicht.  Das  Meconarcein, 
ein  von  DdQDESKEL  hergestelltes  Alkaloidgemenge  aus  Opium , das  vorwaltend 
Naivem  enthalten  soll,  ist  als  Substitut  des  Morphins  bei  Entwöhnung  Morphium- 
kranker  von  Laborije  66)  und  Fromme6*)  zu  Subcutaninjeetionen  verwendet  worden. 
Man  soll  von  den  in  den  Handel  gebrachten  Lösungen  10  Grm.  im  Tage  ein- 
spritzen können. 

Von  anderen  narkotischen  Mitteln  sind  Bromide  am  allgemeinsten, 
besonders  auch  in  Amerika  in  Anwendung  gekommen.  Schon  1880  empfahl 
Mann*7)  lOtiigige  Darreichung  von  Bromkalium  und  spätere  Entbromung  unter 
Beihilfe  diuretiseher  Mittel.  Mattison’s  Schnellmethode  ( rapid  methodj  besteht  in 
der  Darreichung  von  steigenden  Dosen  Bromnatrium,  wobei  er  mit  2mal  täglich 
2,0  Grm.  beginnt  und  die  Einzelgabe  täglich  um  0,5  steigert,  bis  am  8.  Tage 
die  Dosis  von  2mal  täglich  6,0  Grm.  erreicht  ist,  die  man  am  9.  lind  10.  Tage 
nur  Abends  verwendet.  Neben  dem  Bromnatrium  verwendet  MattisON  in  der 
Regel  auch  Codein  subcutan  ('mit  Hilfe  von  Phosphorsäure  gelöst)  zu  0,06 — 0,2  oder 
intern  zu  0,12 — 0,24  2 — 4 stündlich,  jedoch  meist  nicht  eher,  als  bis  das  ganze 
Morphium  entzogen  ist. 68)  Charcot  empfahl  neben  Opium  Bromkalium  zu  3,0 
bis  5,0  besonders  gegen  die  Unruhe),  dessen  Darreichung  er  mit  der  letzten 
Entziehung  des  Opiums  sistirte. 

Vielfach  ist  auch  Cannabis  indica  empfohlen  worden,  doch  kommt  dies 
Mittel  weniger  als  Substitut  des  Morphiums,  wie  als  Schlaf  herbeifuhrendes  Mittel 
in  Anwendung.  M.  Rosenthal  **)  empfahl  besonders  gegen  Opinmgewöhnnng  ein 
im  Vncuum  bereitetes  Extractum  Cannabis  Indirae , mit  welchem  er  1,0  mit 
Extractum  Alo'es  aquosum  und  Extractum  libei  zu  50  Pillen  verarbeiten  lässt, 
von  denen  3 — 10  im  Tage  genommen  werden.  Auch  BlRCH  hat  den  Gebrauch 
zur  Milderung  der  Abstinenzerscheinungen  bei  Morphinismus  warm  befürwortet.6’) 
Mattison  rühmt  davon  Erfolge  insbesondere  bei  Morpbiumpsychosen.  60l 

Die  am  meisten  bekannt  gewordene,  aber  auch  die  gefährlichste  aller 
Substitutionsmethoden  ist  die  Cocainmethode,  da  sic  häutig  zu  dem  weit 
gefährlicheren  Symptomeneomplexe  des  chronischen  Cocaiuismus,  der  stets  mit 
intensiven  psychischen  Alterationen  einhergeht,  Veranlassung  giebt.  Dem  Enthu- 
siasmus für  das  Mittel,  das  1885  bei  uus  besonders  durch  Freud“1)  und  Ober- 
STEIXER  6i),  in  Frankreich  durch  Düjardin-Beaumetz  Eingang  fand,  folgte  selion 
1886  durch  die  Pnblicationen  von  Eklekmeyek  **)  über  die  Morphino-Cocaino- 
mauie  Ernüchterung.  Jetzt  ist  man  allgemein  der  Ansicht,  das  allerdings  sehr 
euphorische  Mcdiearneut  so  viel  wie  möglich  und  bei  der  Anwendung  insbesondere 
die  subcutane  Applieationsweise  zu  vermeiden.  Allerdings  lässt  es  sieh  nicht 
leugnen,  dass  es  mitunter  in  der  allmäligen  Entwöhnungscur  bei  heftigen  Inanitious- 
erscheinungen  vorzügliche  Dienste  leistet.  Bei  solchen  hält  Obersteiner  an 
dem  Mittel  fest,  das  er  aber  nur  innerlich  in  Dosen  von  0,05  — 0,1  (höchstens 
0.5  pro  die)  zulässt,  schon  am  3.  Tage  in  kleineren  Dosen  giebt  und  am  6.  Tage 
völlig  beseitigt. 

Fast  ebenso  gefährlich  wie  die  Ersetzung  des  Morphins  durch  Cocain 
ist  die  durch  grosse  Dosen  Spirituosa.  wie  sie  Zambaco 6t)  für  die  allmälige 
Entwöhnungscur  als  stimnlirenden  Ersatz  der  Morphiuminjcctionen  empfohlen  hat. 
Sie  kann  nicht  allein  die  Ursache  zur  Trunksucht  werdeu,  sondern  auch  zu 


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MORPHIUM  KRANK  HEIT. 


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schweren  Erscheinungen , besonders  Psychosen  führen.  So  hat  Mabandox  de 
Montyel  ea)  einen  Fall  beschrieben,  wo  ein  Arzt,  der  nach  wiederholten  plötz- 
lichen Entziehungen  immer  wieder  recidiv  geworden  war,  das  Morphin  durch 
grosse  Alkoholdosen  ersetzte  und  dann  bei  plötzlicher  Abstinenz  in  eine  Geistes- 
störung verfiel,  in  der  moralische  Degeneration,  sexuelle  Vorstellungen  und  später 
Wahnideen  mit  religiöser  Färbung,  zum  Tlieil  im  Zusammenhänge  mit  Halluei- 
nationen,  eine  grosse  Rolle  spielten.  Da  es  keinem  Zweifel  unterliegt,  dass  die 
Recidive  der  Morphiumkrankheit  sehr  häufig  durch  Excesse  in  spirituösen  Getränken 
hervorgerufen  werden,  ist  der  Vorschlag  von  Smith  °')  nicht  abzuweisen,  die  der 
Entziehungscur  unterworfenen , an  Alkoholgenuss  gewöhnten  Morphinisten  zur 
Alkoholabstinenz  zu  bringen,  was  in  den  allerverzweifeltsten  Fällen  in  2 — 3 Fällen 
gelingt,  ohne  dass  Abstinenzerscheinungen  eintreten.  Dass  der  Alkohol  für  Morphin- 
euren absolut  entbehrlich  ist,  kaun  keinem  Zweifel  unterliegen;  bei  Collaps  ist 
er  durch  Actherinjectionen  oder  andere  Mittel  leicht  zu  ersetzen  und  stellt  unbe- 
dingt dem  Morphium  als  dem  besten  Reizmittel  nach.  Nichtsdestoweniger  ist  er 
noch  Restaudtheil  verschiedener  Curen,  z.  B.  der  von  Voisix  °8)  in  dem  Gefäng- 
nisse der  Pariser  Präfectur  benutzten,  wo  die  Kranken  nach  der  sofortigen  Ent- 
ziehung des  Morphins  4mal  täglich  schwarzen  Kaflee,  ausserdem  innerlich  Pillen 
ans  Extractum  Otntianae  und  Mica  jianis , ferner  eine  sogenannte  Potion  de 
Todd  (40  Grm.  Rum  mit  30  Grin.  Syrup.  simpl .,  5 Grm.  Tinctura  Cinnamomi 
und  75  Grm.  Aqua)  erhalten.  Erlenmeyer,  der  die  gewohnten  Mengen  von 
Spirituosen  beibehielt,  warnt  dringend  von  zu  liberaler  Gewähr  von  Alcoholica, 
da  die  Kranken , welche  am  meisten  trinken  , sich  nach  Beendigung  der  eigent- 
lichen Entziehung  weit  langsamer  als  Massige  erholen.  Stärkere  Weine,  Cognac 
u.  s.  w.  räth  er  auf  alle  Fälle  für  die  letzten  schweren  Stunden  der  Cur  auf- 
zusparen. 

Eine  eigenthUuiliche  Behandlungsmethode  ist  die  von  Bali,  und  Jexntxgs  80) 
eingeführte  Entwöhnung  unter  Beihilfe  von  Spartein  und  Nitroglycerin. 
Diese  basirt  auf  dem  Umstände,  dass  diese  beiden  Substanzen  in  gleicher  Weise 
wie  Morphin  auf  die  Veränderungen  der  Pulscurve  einwirken,  die  das  Entziehen 
des  Morphins  zuwege  bringt  und  dass  beide  auch  den  Morphinhunger  beseitigen. 
Man  soll  Nitroglycerin  da,  wo  die  psychischen  Abstinenzerscheinungen  die  somati- 
schen itberwiegen,  im  umgekehrten  Falle  aber  Spartein  anwenden,  doch  können 
auch  beide  Mittel  combinirt  werden,  indem  man  innerlich  2 — 4 Tropfen  l°/0iger 
Nitroglycerinsolulion  und  subcutan  0,02  Sparteinsulfat  verabreicht.  In  manchen 
Fällen  sollen  auch  die  Mittel  zweckmässig  noch  einige  Zeit  nach  dem  Ver- 
schwinden der  Inanitionssymptome  fortgegeben  werden.  Sou.ieii  52 ) hält  Spartein 
bei  Herzschwäche  in  der  Entziehungsperiode  zwar  für  brauchbar,  zieht  jedoch 
Coffein  vor. 

Für  die  Verwendung  des  Atropins  bei  Entziehungscuren  liegt  bis  jetzt 
nur  ein  einziger  von  Koch.«'0)  beobachteter  Fall  vor,  wo  es  gelang,  unter  An- 
wendung von  A.sCHE'gchen  Atropin-Morphintabletten  bei  einer  Morphinistin  an- 
fangs in  10  Tagen  die  Tagesgabe  von  0,7  — 0,5  unter  gleichzeitiger  wesentlicher 
Besserung  herabzudrfleken  und  bei  vier  Rückfällen  das  gleiche  Resultat  zu  erhalten. 
Dass  dabei  der  sogenannte  Antagonismus  von  Opium  und  Belladonna  wohl  kaum 
in  Frage  komme,  hebt  Erlenmeyer  ,a)  mit  Recht  hervor;  auch  spricht  der 
Verlauf  des  ganzen  Falles  wenig  für  das  Mittel.  Selbst  als  symptomatologiseh 
wirksames  Mittel  kann  Atropin  kaum  bezeichnet  werden,  während  für  andere  dem 
Morphin  substituirto  Medicamente  wenigstens  die  Möglichkeit  einer  Action  gegen 
einzelne  intensiv  hervortretende  Abstinenzsymptome  zugegeben  werden  kann.  Man 
darf  aber  auch  den  Werth  dieser  nicht  überschätzen.  So  ist  bei  heftiger  Erre- 
gung der  Effect  von  Bromkalium , Chloralhydrat  oder  Antipyrin  in  der  24-  bis 
36sttlndigeu  Periode  der  Entziehung  meist  nur  ein  geringer,  und  protrahirte 
warme  Vollbäder  (Erlenmeyer)  und  absolute  Ruhe  (Sollier)  scheinen  mehr  als 
Medicamente  zu  helfen. 


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•142 


MORPHIUMKRANKHEIT. 


Eine  wesentliche  Verbesseruni;  in  Bezug  auf  Beschränkung  der  Abstinent- 
erscheinungen überhaupt  scheint  ans  dem  Nachweise  der  starken  Morphinelimi- 
nation  durch  die  Magenschleimhaut  und  der  relativen  Hyperacidität  des  Magen- 
saftes hervorzugehen.  Hitzig  s<)  gründete  darauf  die  Methode,  vor  der  Enk 
Ziehung  zur  Beseitigung  der  Anacidität  Salzsäure  zu  verordnen , und  bei  der 
Entziehung  zuerst  den  Magen  nach  einem  Probefrühstuck  regelmässig  ausznhebern, 
um  das  Morphin  zu  entfernen,  und  hierauf  mit  Karlsbader  Salzlösung  zur  Neu- 
tralisation auszuspülen.  Eblexheyer  >0)  hat  diese  Methode,  welche  Hitzig  bei 
einem  mehrmals  recidiven  Morphinisten  mit  dem  Erfolge  ausführte,  dass  nicht 
nur  die  gastrischen,  sondern  fast  alle  Abstinenzerscheinungen  ausblieben,  modilicirt, 
indem  er  die  Ausheberungen  fortlässt  und  sich  auf  die  Salzsäuredarreichung  vor 
der  Entziehung  und  bei  der  Entziehung  auf  die  Neutralisation  durch  ein  alkalische» 
Natronwasser  (Fachin'GER),  von  dem  er  ein  Liter  und  mehr  im  Tage  glasweise 
verbrauchen  lässt,  beschränkt  und  an  14  Kranken  das  Ausbleiben  der  meisten 
Abstinenzsymptome  und  die  Abkürzung  der  Abstinenzperiode  überhaupt  ennstatirt. 
Insbesondere  bleibt  bei  der  Fachingcrcur  die  für  die  Abstinenz  constante  Diarrhoe 
ganz  aus,  während  die  vasomotorischen  Escheinungen  (Herzklopfen,  leichte  Gefiss- 
parese,  Kopfcongestioneni,  ferner  auch  die  Pupillenerweiterung  und  Schlaflosigkeit 
nicht  ganz  wegfielen,  aber  erheblich  milder  verliefen.  Den  günstigen  Eintiuss  eiw 
von  ihm  früher  gerühmten  Bromwassers  bei  Entziehungseuren  glaubt  Erlexmkyek 
ebenfalls  auf  das  darin  vorhandene  Xatriumbicarbonat  zurückführen  zu  dürfen. 

Wenn  es  vermittels  dieser  Methode  gelingeu  sollte,  die  Schlaflosigkeit, 
die  namentlich  auch  nach  beendeter  Entziehung  dem  Therapeuten  viel  zu  schaffen 
macht,  und  welche  oft  genug  der  Vorläufer  einer  tieferen  Psychose  ist,  auf  ein 
Minimum  zu  beschränken,  so  wird  damit  die  viel  ventilirte  Frage  über  die  Indi- 
cationen  der  Schlafmittel  und  deren  Wahl  zu  einem  sehr  wünschenswertben  Ab- 
schlüsse gelangen.  Dass  Erlexmeyer  die  Schlaflosigkeit,  wie  sie  bisher  bei  Ent- 
ziehung vorkam , für  ein  „für  Patienten  und  Arzt  oft  schreckliches  Symptom" 
erklärt,  ist  völlig  berechtigt.  Namentlich  bei  inveterirteu  Morphinisten,  die 
12  Jahre  und  länger  injieirt  haben,  führen  oft  die  enormsten  Gaben  hypnotischer 
Mittel,  mag  man  sie  isoürt  oder  combinirt  auwenden , nur  zu  sehr  wenig  aus- 
giebigem Schlafe.  In  solchen  Fällen  rätli  Erlexmeyer  zur  Hypnose  und  zu 
häufigerem  Wechsel  der  Schlafmittel , selbst  wenn  eines  darunter  sich  wirksam 
erwiesen  hat,  auch  zu  längeren  Ausfahrten,  bei  denen  einzelne  Patienten  zum 
Schlafe  gelangen.  Sollier  hält  ungeachtet  der  langen  Dauer  der  Insomnie  bet 
schneller  Entziehung  Schlafmittel  für  eontraindicirt,  weil  die  Kranken  sich  leicht 
daran  gewöhnen  und  wie  vorher  morphinsüchtig  nun  chloral-  oder  opinmsüehtig 
werden.  Von  vielen  Seiten  wird  namentlich  Chloralhydrat  perhorrescirt,  und  da  nach 
den  Resultaten  der  Untersuchungen  von  Remektz  71)  das  Chloral  den  Eiweiss- 
zerfall  im  Thierkörper  sehr  erheblich  steigert,  sind  gegen  dieses  Schlafmittel  in 
der  That  gewichtige  Bedenken  vorhanden.  MaylaEXDER  *6)  hat  Sulfonal  nach 
Selbsterfahrung  als  das  vorzüglichste  Schlafmittel  bezeichnet,  Mattisokm)  stellt 
das  Trional , das  er  bei  Männern  zu  2,5,  bei  Frauen  zu  2,0  Abends  nach  der 
letzten  Morphiuminjection  und  dann  unter  allmäliger  Verkleinerung  der  Gabe  auf 
die  Hälfte  an  den  nächsten  6 — 8 Abenden  verabreicht,  höher;  doch  ist  man  nach- 
her oft  genöthigt,  auf  I’araldehyd  oder  Chloralhydrat  zu  recurriren. 

Von  allen  Seiten  wird  die  Nothwendigkeit  eines  tonisirenden  Verhalten? 
bei  Entziehungs-  und  Entwöhnungscuren  betont.  Soleier  empfiehlt  als  besonders 
zweckmässig  Fleischgallerten , die  auch  bei  starkem  Erbrechen  oft  gut  ertragen 
werden,  besser  als  Spirituosa,  die  bei  Depressionszuständen  manchmal  sehr  günstig 
w irken , in  einzelnen  Fällen  aber  geradezu  Erbrechen  herbeifuhren , das  den 
Kranken  sehr  schwächen  und  selbst  Reflexsynkope  lierbeifütiren  kann. 

Gegen  die  bei  Morphinistinnen  nicht  selten  nach  den  Entziehungen  cin- 
treteuden  Mcnstrualkoliken  zeigt  sich  nach  Erlexmeyer  ss)  manchmal  Antipyrin 
intern  oder  rectal  applicirt  sehr  hilfreich. 


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MORI’HIUMKRAXKHEIT. 


443 

In  Bezug  auf  die  Intensität  der  Abstinenzsymptome  kann  als  feststehend 
gelten,  dass  nicht  blos  die  Höhe  der  gebrauchten  Dosen,  sondern  namentlich  auch 
die  längere  Dauer  der  Einführung  sie  im  Wesentlichen  steigert.  Bei  einzelnen 
Morphinisten,  deren  Gewohnheit  seit  10 — 20  Jahren  datirt , können  die  Erschei- 
nungen schon  bei  der  ersten  Herabsetzung  so  heftig  werden,  dass  die  Cur  nicht 
vollendet  werden  kann.  So  beobachtete  Eblenmeyer  *•)  bei  einem  Manne,  der 
Uber  20  Jahre  die  Morphinspritze  gebraucht  hatte , als  die  Dosis  auf  0,35  ge- 
bracht war,  Eintritt  von  solcher  Herzschwäche,  Dyspnoe,  Oedemen  und  Schlaf- 
sucht (Gehirnödem) , dass  die  weitere  Entziehung  unmöglich  wurde.  Das  Vor- 
kommen von  Synkope  in  der  Reeonvalesceuz  wird  von  Obeksteixer  % und  von 
Bali,  und  JKKOTKG8  •»)  constatirt.  Die  Methode  der  Entziehung  hat  insoferne  Ein- 
fluss, als  die  I.EVlNSTElN’sche  Methode  die  heftigsten,  das  HlTZJG-ERLEXMEYEk’sche 
Verfahren  die  geringsten  AliBtinenzsymptomc  liefert.  Andererseits  ist  die  geringe 
Stärke  oder  selbst  das  Ausbleiben  der  Morphininauitionssymptome  kein  Beweis 
für  eine  vollständige  Heilung,  da  die  besonders  im  Laufe  der  Reeonvalesceuz  bei 
nicht  genügender  Aufsicht  eintretenden  Recidiven  auch  bei  der  IIitzig-Erlex- 
MEYER’sehen  Methode  Vorkommen.  Man  hat  vielfach  der  allmäligcn  Entwöhnung 
nachgerühmt,  dass  sie  in  Bezug  auf  Recidiveu  mehr  als  die  Entziehungsmethoden 
leiste ; indessen  liegt  ein  zuverlässiges  statistisches  Material  in  Bezug  auf  diese 
Frage  nicht  vor.  Sollier  nimmt  nach  seinen  allerdings  nur  auf  ein  halbes 
Hundert  von  Patienten  und  auf  einen  Zeitraum  von  4 Jahren  beschränkten  Er- 
fahrungen bei  der  ERLEXMKYKK’schen  Methode  30%  Rückfälle  an.  Weit  pessi- 
mistischer dagegen  und  geradezu  traurig  lautet  der  Ausspruch  von  Eklenmeyer 
selbst:  „Ich  will  nicht  sagen,  dass  99%  rückfällig  werden,  gewiss  aber  98%. 

Aber  cs  ist  ja  gewöhnlich  schon  viel  damit  gewonnen , wenn  der  Kranke  selbst 
nnr  auf  eine  grössere  Zahl  von  Monaten  oder  Jahren  morphiumfrei  bleibt.“  Als 
von  grösster  Bedeutung  für  die  Verhütung  der  Recidiven  wird  allseitig  die  stete 
Beaufsichtigung  des  Kranken  im  Schosse  seiner  Familie  für  mindestens  ein 
halbes  Jahr  nach  Schluss  der  Cur  besonders  betont.  Mit  W.  Lkvinstein  ist  ins- 
besondere vor  dem  Herumreisen  in  Bädern  und  Sommerfrischen  zu  warnen,  zumal 
da  die  Reconvalescenten  dort  Gefahr  laufen,  mit  anderen  Morphinisten  zusammen- 
zutreften  und  von  diesen  zur  Wiederaufnahme  der  mit  Mühe  losgewordenen  In- 
jectiouen  aufs  Neue  animirt  zu  werden. 

Dass  die  Cur  der  Morphiumkrankheit  nicht  in  der  Familie,  sondern  in 
einer  geschlossenen  Anstalt  durchzuführen  ist,  wird  jetzt  allgemein  anerkannt.  In 
Amerika  benutzt  man  besondere  Asyle,  meist  für  Morphinisten  und  Alkoholiker 
gemeinsam.  Dass  es  nicht  zweckmässig  ist,  Morphiumkranke  mit  Patienten  der- 
selben Art  zusaramenzubringen , ist  wohl  nicht  zu  leugnen  und  spricht  gegen 
derartige  Specialanstalten.  Ebi.EXMEYER  hebt  hervor,  dass  Trinkerasyle  und 
Morphiumanstalten  die  sociale  Stellung  der  Kranken  bei  uns  gefährden,  so  dass 
die  Verbringung  in  eine  derartige  Austalt  bei  Beamten  Gruud  zur  Verabschiedung 
geben  könnte.  Wirklich  geisteskranke  Morphinisten  gehören  selbstverständlich  in 
eine  Irrenanstalt,  wohin  man  bei  uns  die  Mehrzahl  der  Morphiumkranken  über- 
haupt verweist.  SBXLECQ  **)  erklärt  mit  Recht  auch  die  Insassen  von  Irren- 
anstalten für  keine  passende  Gesellschaft  für  uichtgeisteskranke  Morphinisten. 
Am  zweck  massigsten  sind  öffentliche  Krankenhäuser,  vorausgesetzt,  dass  deren 
Einrichtungen  genügende  Sicherheit  bieten,  um  den  Verkehr  des  Kranken  mit 
der  Ausseuwelt  zu  überwachen  uud  ein  zuverlässiges  Wartepersonal  zur  Ver- 
fügung steht. 

Die  Frage,  wie  sich  der  Staat  gegen  die  Morphiumkranken  zu  ver- 
halten hat,  ist  verschieden  beantwortet.  Von  vielen  Seiten  sind  energische  Mass- 
regeln  gegen  diese  gefordert.  Am  radiealsten  will  Happel**)  vorgegangen  wissen, 
der  gesetzliche  Massregeln  fordert,  wonach  alle  Potatoren  und  Opiophageu  als 
für  das  Publicum  gefährliche  Personen  in  eine  Irrenanstalt  gebracht  werden  und 
dort  festgehalten  werden  sollen,  bis  sie  curirt  sind.  Achnliche  Massnahmen  sind 


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441 


MORPHIUM  KRANKHEIT. 


aueli  in  Frankreich  wiederholt  befürwortet.  Das  dagegen  von  Sollier  u.  A. 
geltend  gemachte  Bedenken,  dass  die  gegen  ihren  Willen  Demorphinisirten  stets 
wieder  morphiumkrank  würden,  hat  keine  besondere  Bedeutung,  wenn  man  die 
schlimme  Prognose  der  Morphiumentziehung  bei  freiwillig  Entsagenden,  wie  sie 
namentlich  Eri.knmeyer  ausgesprochen  hat,  in  Erwägung  zieht. 

Eine  überall  erwünschte  Massregel  ist  staatliche  Beschränkung  des  Mur- 
pbiumverkaufs , wie  sie  in  Deutschland  z.  B.  in  dem  Verbote  der  Abgabe  von 
Morphium  oder  Opium  ohne  ärztliches  Recept,  der  Reiteratur  von  Opinm-  oder 
Morphinrecepten  ohne  Genehmigung  des  Arztes  existiren.  Vernichtet  wird  da- 
durch die  Affection  nicht,  da  einerseits  die  Aerzte  selbst,  wie  gesagt,  eine  be- 
deutende Zahl  der  Morphiumkranken  bilden,  andererseits  sich  allzuleicht  dunkle 
Menschenfreunde  finden,  die  den  Morphinisten  neues  Material  liefern.  Dass  auch 
der  GrosBverkauf  des  Morphins  Beschränkungen  unterliegen  muss  und  Opium- 
präparate und  Morphin  unter  den  Vorräthen  der  Detaildroguisten  durchaus  nicht 
zu  dulden  sind,  liegt  auf  der  Hand. 

Die  Beurtheilung  der  Zurechnungsfähigkeit  der  Morphinisten 
in  Bezug  auf  criminell  strafbare  Handlungen,  die  sie  begehen,  ist  ein  nament- 
lich in  Frankreich  vielbesprochenes  Capitel.  Es  ist  im  Allgemeinen  der  Satz 
aufzustellen,  dass  das  habituelle  Morphiumspritzen  an  sich  nicht  unzurechnungs- 
fähig macht,  dass  aber  in  einer  grösseren  Anzahl  von  Fällen  Aufhebung  der 
Zurechnungsfähigkeit  hei  Morphiumkranken  existirt,  ohne  dass  diese  eine  be- 
stimmte Form  von  Geisteskrankheit  darbieten.  Dass  im  Laufe  der  Entziehung 
des  Morphins  in  Anstalten  sich  ein  Zustand  von  Angst  und  Unruhe  einstellt,  zu 
deren  Beseitigung  der  Kranke  nur  in  dem  Morphium  sein  einziges  Heil  erblickt, 
das  er  unter  allen  Umständen  sich  verschaffen  zu  müssen  glaubt,  ist  bekannt 
genug.  Es  ist  auch  bekannt , dass  in  dieser  Zeit,  um  Eri.ENMEYEr’s  Worte 
zu  gebrauchen,  jener  „unheimliche  Seclenzustand  auftritt,  für  den  die  Bezeichnung 
Demoralisation  noch  viel  zu  gelinde  ist“,  in  welchem  der  Kranke  seinen  inneren 
Halt  verloren  hat  und  in  welchem  er  nicht  mehr  zu  unterscheiden  vermag,  ob 
die  Mittel,  deren  er  sich  bedient,  um  Morphin  herbeizuschaffen,  erlaubt  oder 
gesetzlich  verboten  ist.  Schon  Levinstein  hat  die  Morphinisten  in  diesem  Zu- 
stande der  Abstinenz  für  unzurechnungsfähig  erklärt.  Ganz  derselbe  Zustand, 
der  bei  der  Entziehungscur  sich  rasch  nach  ihrer  Beendigung  verliert,  kann 
aber  auch  hervortreten,  ohne  dass  eine  reguläre  Entziehungscur  stattfindet,  wenn 
dem  Morphiumkranken  der  Morphiuravorrath  plötzlich  ausgebt,  oder  wenn  ihn 
äussere  Umstände  hindern  , zur  rechten  Zeit  die  Morphiuminjcction  zu  machen, 
welche  ihm  die  ersehnte  Euphorie  wiederzugeben  im  Stande  ist.  Verschiedene 
Fälle  liegen  vor,  wo  derartige  Morphiumkranke  Einbruchdiebstähle,  Urkunden- 
fälschungen und  ähnliche  Verbrechen  begingen , um  in  den  Besitz  des  ihnen 
unentbehrlichen  Morphins  zu  gelangen  und  sich  der  begangenen  Handlung  als 
einer  durchaus  nicht  entehrenden  rühmten.  So  erzählt  Marandon  de  MONTYEL 
von  einem  morphiumkranken  Rechtsanwälte,  dem  auf  einer  Seereise  vom  Schiff-- 
arzte  das  Morphin  verweigert  wurde  und  der  saus  fai;on  die  Arzueicabine  erbrach 
und  sieh  den  ganzen  Morphiumvorrath , wie  er  selbst  scherzweise  erzählte,  an- 
eignete. Wie  lief  die  Moralität  bei  derartigen  Kranken  sinkt  und  wie  selbst  die 
heiligsten  Gefühle,  z.  B.  die  Mutterliebe,  durch  die  Morphiumkrankheit  erlöschen, 
zeigt  insbesondere  ein  Fall  von  Gitmbajl5*),  in  welchem  eine  Mutter  ihre  Kinder 
elend  verkommen  liess,  während  sie  selbst  verschiedene  Diebstähle  ausführte,  um 
sieh  Morphin  zu  kaufen,  ln  solchen  Fällen  ist  die  Zurechnungsfähigkeit  als  auf- 
gehoben zu  betrachten,  selbst  wenn  die  Verbrechen  in  geschickter  oder  geradezu 
raffinirter  Weise  begangen  wurden,  ln  einem  derartigen  Falle  brachte  z.  B.  die 
Diebin  die  gestohlenen  Waaren  in  das  Magazin,  dem  sie  sie  entnommen,  zurück, 
um  sie  als  für  sie  unpassend  zu  bezeichnen  und  sieh  den  Geldbetrag  dafür 
zurOckgcben  zu  lassen.  Dass  übrigens  nicht  alle  derartigen  an  Morpbingebratich 
gewöhnten  Diebinnen  unzurechnungsfähig  sind,  braucht  kaum  betont  zu  werden. 


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MORPHIUMKRANKHEIT. 


445 


In  der  von  Gaudry  74)  veranstalteten  reichen  Sammlung  von  Füllen,  in  denen 
an  den  habituellen  Genuss  des  Morphins  gewöhnte  Personen  wegen  diverser 
Delicte  mit  den  Gerichten  in  Confliet  kamen , finden  sich  solche , in  denen  die 
Gewohnheit  offenbar  benutzt  wurde,  um  straflos  auszugehen.  Der  Arzt  wird  sein 
Augenmerk  immer  darauf  zu  richten  haben , ob  die  betreffende  Person  in  der 
Zeit  ihres  Deliets  Mangel  an  Morphin  litt.  In  Fällen,  wie  sie  Gacdry’s  Casuistik 
aufweist,  wo  eine  Diebin  sich  unmittelbar  vor  dem  Diebstahl  noch  eine  Injection 
macht,  um  ihren  Muth  zu  dieser  Handlung  zu  beleben,  oder  wo  eine  solche  be- 
hauptet, dass  ihr  die  Morphiumeinspritzung  einen  unwiderstehlichen  Trieb  zum 
Stehlen  mache , wird  der  Sachverständige  stets  jede  Verminderung  der  Zu- 
rechnungsfähigkeit bestreiten  müssen.  Dass  nicht  blos  Verbrechen  gegen  das 
Eigenthum,  sondern  auch  gegen  die  Person  unter  dem  Einflüsse  der  Morphium- 
krankheit begangen  werden  können,  um  sich  Morphin  zu  verschaffen,  liegt  klar 
zutage.  Es  ist  auch  in  hohem  Masse  wahrscheinlich,  dass  bei  Morphiumkranken, 
die  bis  zu  sehr  hohen  Dosen  gestiegen  sind  und  bei  denen  wiederholt  Mangel 
an  Morphin  zu  den  erwähnten  Angstanfällen  und  der  begleitenden  Demoralisation 
führen,  ein  chronischer  Zustand,  in  welchem  die  Kranken  der  Unrechtmässigkeit 
von  ihnen  begangener  Handlungen  sich  nicht  bewusst  sind,  besteht.  Als  Morphinist 
dieser  Art  wird  von  Gujmbail,  Ball  u.  A.  der  englische  Giftmörder  Dr.  Larason, 
der  seinen  Schwager  mit  Aconitin  vergiftete  und  das  Verbrechen  mit  dem  Tode 
basste,  angesehen.  Man  wird  bei  sachverständiger  Beurtheilung  dieser  Källe  auch 
in  Betracht  zu  ziehen  haben,  ob  der  Thäter  im  Zustande  der  Morphiuminanition 
gehandelt  hat  oder  nicht.  Selbstverständlich  ist  auch  die  Möglichkeit  des  Aus- 
bruches eines  maniakalischen  Anfalls  oder  eines  Delirium  bei  Morphinisten  im 
Auge  zu  behalten,  wie  es  in  einem  Falle  von  Hallez  vorhanden  w’ar,  in  dem 
ein  Morphinist  einen  ihm  völlig  unbekannten  Menschen  ohne  jeden  Grund  auf 
der  Strasse  tödtete. 

Literatur:  *)  Crothers,  Some  nett  studies  on  the  Opium  disease.  Philadelphia 
med.  Reporter.  1892.  pag.  373. — *)Rochard,  Lea  tnorphinomanes  et  leafumeura  d'opium. 
Union  mfed.  1894.  Nr  11  u.  12.  — *)  Analysis  and  report  on  original  documentary  evi- 
dence  eoncerning  the  use  of  Opium  in  India.  Eurnished  to  the  British  Med.  Journal  by 
upwards  of  100  Indian  Medical  Officer*.  Brit.  med.  Joum.  3.,  10.,  17.  Februar  1894-  — 
4)  Fayrer,  A memorandum  on  the  Indian  Opium  Question.  Ibid.  2-  December  1893.  — 
*)  Francis,  On  the  value  and  use  of  opium.  Med.  Times  and  Gaz.  28.  Januar.  4.  Februar 
1882.  — 4)  Mich  aut.  Contribution  u VMude  et  au  traitement  de  morphinisme  oriental; 
de«  paralysier  chez  lea  fumeur a d'opium.  Bull.  g6n,  de  therap.  15.  April  1893;  Note  aur 
Vintoxication  pur  la  fumee  d'opium;  opioma nie ; dtat  mental  des  fumeur».  Ibid.  30-  Mai 
1893;  Acadents  pur  la  fumie  d'opium  ( experimentatton , itude  clinique).  Ibid.  30.  Juli 
1893.  — \)  Stoeder,  Onderzoek  tan  de  tjandoe  en  tikee  van  de  opiumpachters  op  Jura. 
Nederld.  Ti  jd  sehr,  voor  Pharm.  1893,  pag.  357.  — *)  M o i 8 s a n , Etüde  chimique  de  la  fumee 
d'opium.  Compt.  rend.  1892,  CXV.  pag.  988.  — *)Gr6hant  u.  Martin,  Recherchen  physio- 
logiques  aur  la  fumee  d'opium.  Ibid.  pag.  1012.  — 10)  Paster,  Ein  Fall  von  Opiumver- 
giftung. Münchener  med.  Woehenachr.  1886,  Nr.  5 u.  6.  — ")  Jammes,  Quelques  cns  de 
morphinomanie  chez  len  animaux.  Compt.  rend.  1887,  CXIV,  pag.  1195.  — ia)  Oberateiner, 
Der  chronische  Morphinismus.  Wiener  Klinik.  1883,  Heft  3.  — **)  Guinard,  Etüde  du  mor - 
ph inisme  aigu  et  chromque  chez  le  chat.  Lyon  med.  1891,  Nr.  33  u.  34.  — u)  Rotch, 
Casea  of  atropine  and  opium  poiaoning  in  early  life.  Boston  med.  and  snrg.  Joum.  10.  März 
1892-  — u)  Fisher.  The  opium  habit  in  the  children.  Med.  Record.  17.  Februar  1894.  — 
l*)  Coli  ins.  A ca8e  of  poisoning  front  opium  smoking.  Boston  med.  Joum.  14.  September 
1889.  — ,,f* ) Mattison,  A curious  care  of  opium  addiction;  morphia  by  nose.  Phila- 
delphia med.  Report.  13.  December  1890,  pag.  672.  — *7)  Notta.  La  morphine  et  la  morphino- 
manie. Arch.  gen.  de  med.  1884,  pag.  385 — 461.  — l8)  Bnrkart,  Zur  Pathologie  der  chroni- 
schen Morphium  Vergiftung.  Deutsche  med.  Wochenschr.  1883,  Nr.  3.  — '•)  Obersteiner, 
Der  chronische  Morphinismus.  Wiener  Klinik.  1883,  Heft  3. — *°)  Mattison,  Morphinism 
in  medical  men.  San  Francisco  1894.  — ,l)  Erlen  meyer,  Die  Morphiumsucht  und  ihre 
Behandlung.  1887,  Neuwied,  3.  Aurt.  — 3S)  Happel,  Morphinism  in  its  relntion  to  the 
sexual  functions  and  apjtetite,  and  its  effect  on  the  offapring  of  the  abttsers.  Philadelphia 
med.  Reporter.  10.  September  1892,  pag.  403;  The  Opium  curse  and  its  prerention.  Ibid. 
25-  Mai  1895,  pag.  727.  — *s)  Co  mb  es,  Les  alterat  ions  dentaires  chez  la  morphiomanes. 
Bull,  de  l’Acad.  de  med.  1895.  Nr.  17.  pag.  485.  — **)  M.  Rosenthal,  Zur  Behandlung 
des  Morphinismus  und  Chloralismus.  Wiener  med.  Presse  1891,  Nr.  37.  — Lutand,  Des 
troubles  fonctionels  de  l*  Uterus  dann  la  morphinomanie.  Indications  therapeutiques.  L' Union 


MORPHIUMKRANKHEIT. 


446 

mW.  1887,  Nr.  71.  — M)  Jackson,  Morph  ine  ns  a cau.se  of  acne  rosacea.  Philadelphia 
med.  Reporter.  1.  September  1888,  pag.  264.  — tT)  Fiedler,  Ueber  den  Missbrauch  sub- 
cutaner  Morphiuminjertion.  Deutsche  Zeitsehr.  f prakt.  Med.  1874,  pag.  231 — 239.  — ,f)  Smidt, 
Zur  Kenntniss  der  Morphinismuspxychosen.  Arth.  f.  Psych.  1886,  VII,  pag.  257.  — **)  Lau- 
cereaux,  Du  morphinisme  chronique.  L’Union  mW.  1886,  Nr.  H u.  7.  — ,fl)  Erlenmeyer, 
Behandlung  des  chronischen  Morphinismus  in  Penzoldt-Stintzing’s  Handb.  d.  spec.  Therap 
II,  pag.  347. — a‘)  Ball  u.  Jennings,  Sur  certains  earacUre*  de  pouls  chez  les  morphmo- 
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traitement  rationnel  de  la  morphinomanie.  Seiuaine  med.  1894,  Nr.  19,  pag.  146.  — 
91)  Karl  Leineweber,  Ueber  die  Elimination  subcutan  injicirter  Arzneimittel  durch  die 
Magenschleimhaut.  Göttingen  1883.  — M)  Alt,  Untersuchungen  über  die  Ausscheidung  dw 
subcutan  injicirten  Morphins  durch  den  Magen.  Berliner  klin.  Wochenschr.  1889,  Nr.  25.  — 
•*)  Tauber.  Ueber  das  Schicksal  des  Morphins  iui  t hierischen  Organismus.  Arrh.  f.  experim. 
Path.  1890,  XXVII,  pag  336  — 8e)  Hitzig,  Morphin m-Abstinenzerscheinungen  und  Mageo. 
Berliner  klin  Wochenschr.  1892,  Nr.  49.  — ,:)  Eliassow,  Beiträge  zur  Lehre  von  den 
Schicksale  des  Morphins  iin  lebenden  Organismus.  Königsberg  1892.  — **)  Burkart,  Weitere 
Mittbeilungen  über  chronische  Morphiumvergiftung  und  deren  Behandlung.  Bonn  1892.  — 
M arme,  Untersuchungen  zur  acuten  und  chronischen  Morphinvergiftung.  Deutsche  med. 
Wochenschr.  1883,  Nr.  14.  — 40)  Diedrich,  Ueber  Oxydimorphin  und  seine  Wirkung  auf 
den  thierischen  Organismus;  Puschmann,  Ueber  Oxydimorphin  und  seine  Wirkung. 
Güttingen  1*95.  — 4I)  Donath,  Das  Schicksal  des  Morphins  im  Organismus.  Pflügers  Arch. 
18S6,  XXVIII,  pag.  528;  Zur  Kenntniss  des  Dehydromorphin  (Oxydimorphin).  Joum.  f.  prakt. 
Chemie  1886,  LXXXIII,  pag.  559.  — 4*)  R.  Burkart,  Ueber  Wesen  nnd  Behandlung  der 
chronischen  Morphium  Vergiftung.  Snmml.  klin.  Vortr.  1884.  Nr.  237.  — 4*)  Willibald 
Lew  inst  ein,  Die  Therapie  der  Reconvalescenz  nach  Morphium-  und  Corainentziehoog 
Deutsche  med.  Wochenschr.  1888,  Nr.  35,  pag  715.  — 44)  Richard  Wagner,  Ueber  Mor- 
phiumentwölinung.  Ebenda.  1888,  Nr.  35,  pag.  715-  — 4|)  Mayländer,  Selbsterfahrnngea 
während  der  Morphiumkrankheit  und  deren  Behandlung  mit  besonderer  Berücksichtigung  der 
secundären  Abstinenzperiode.  Halle  1889.  — 4<)  Emmerich.  Die  Heilung  des  chroni- 
schen Morphinismus  ohne  Zwang  und  Qual.  Berlin  1894.  — 47)  Ed.  Lew  instein,  Di« 
Morphiumsucht.  Berlin  1887.  (1883,  3.  Aufl.)  — 4B)  Senlecq,  Un  caa  de  motphi  nomamt. 
Annal.  mW.  psych.  1888,  pag.  24  — 4Ö)  Burkart,  Die  chronische  Morphiumvergiftung 
und  deren  Behandlung  durch  allmälige  Entziehung.  Bonn  1880;  Die  Behandlung  der  chro- 
nischen Morphiumvergiftung.  Wiener  med.  Presse.  1880,  pag.  703,  786,  804;  weitere  Mit- 
theilungen über  chronische  Morphium  Vergiftung  und  deren  Behandlung.  Bonn  1882.  — 
w)  Franz  Müller,  Ueber  Morphinismus.  Wiener  med.  Presse.  1880.  pag.  297,  332,  361.— 
**)  Kaczorowski,  Zar  Behandlung  der  Morphiumsucht.  Medyeyna.  1887,  Nr.  28  u.  29.  — 
4*)  Mattison,  A caae  of  opium  amoking.  Philadelphia  med.  Times.  12.  December  16f5. 
pag.  197.  — M)  Gilles  de  la  Tou rette,  Traitement  de  la  moiphinomanie . Bull.  gen.  de 
therap.  15.  September,  pag.  221.  — **•)  M.  Rosenthal,  Zur  Behandlung  des  Morphinismus 
und  Chloralismns.  Wiener  med.  Presse.  1889,  pag.  1441.  — 54)  Pollak,  Ueber  die  thera- 
peutische Verwendbarkeit  des  Codein.  Therap.  Monatsh.  November- December  1893.  — w)  La- 
ll orde,  Etüde  experimentale  d’un  nouveau  produit  tiri  de  V opium  et  prestntani  les  pro- 
prillea  physiologiques  et  therapeutiques  de  la  narceinc,  la  nteconarceine.  Bull,  de  l'Acad. 
de  med.  18*8,  Nr.  19,  pag.  615.  — M)  Fromme,  Die  Abstinenzcur  des  Morphinismus«  mit 
Hilfe  des  Mecono-Narceins.  Berliner  klin.  Wochenschr.  1892.  Nr.  28,  pag.  710.  — AT)  Mann, 
Cure  of  opium  habit.  Louisville  med.  Journ.  31.  Juli  1880.  — *8)  Mattison,  The  modern 
and  human  treatment  of  the  morphine  disease . Med.  Record.  23.  December  1893  — 
*•)  Birch,  The  nee  of  Indian  hemp  in  the  treatment  of  chronic  opium  and  chronic  chlor«! 
poisoning.  Lanoet.  30.  März  1889.  pag.  695.  — ••)  Mattison,  -4  rase  of  double  Marcotic 
addiction , opium  and  ulcohol ; imbecillity ; recovery.  Med.  News.  21.  März  1885,  pag.  321« — 
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•*)  Obersteiner,  Zur  internen  Anwendung  des  Cocains  bei  Neurosen  und  Psychosen  Wiener 
med.  Presse  18*5,  Nr.  40  — <5)  Erlen m eye r,  Ueber  Cocainsucht.  Wiener  med.  Blätter  lN?6, 
Nr.  22.  — 44 ) Obersteiner,  Ueber  Morphinismus.  Wiener  med.  Blätter.  1891.  Nr.  47.  — 
•*)  Zamba co.  De  la  morpheomanie.  Gaz.  des  höp.  1883,  Nr.  5,  pag.  36.  — •*)  Marandon 
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18*5.  — Smith,  Zur  Behandlung  der  narkotischen  Suchten.  Münchener  med.  Wochenschr. 
1*94,  Nr.  34.  — Ä8)  Voisin,  Traitement  de  la  morphinomanie  par  la  mithode  de  la 
suppression  brusque.  Semaine  mW.  1894,  pag.  297.  — **)  Ball  u.  Jennings.  ConsuMrfr 
tions  sur  le  traitement  de  la  morphinomanie.  Bull,  de  l’Acad.  de  med.  1*87,  Nr.  13,  pag.  373; 
Jennings,  The  relief  of  the  morphia  crating  hy  sparteine  and  nitroglycerine.  Laneet. 
25.  Juni  18s7,  pag  12.  — 70)  W.  Kochs,  Atropin  bei  Morphinismus.  Therap.  Monatsh.  1893, 
pag.  539.  — Tl)  Erlen  me yer,  Atropin  bei  Morphinismus.  Ebenda.  1894,  pag.  14.  — T9  R«- 
n-ertz,  Ueber  die  Beeinflussung  der  Schwefel-  und  Stickstoflausseheidung  im  Hundeham  durch 
Chloralhvdrat.  Halle  1893.  — *3)  Guimbail,  Crime*  et  delit«  commis  par  les  morph iomane*. 
Annal.  d’hygidne  publ.  Juni  1*91,  pag  481.  — ;4)  Claudius  Gand ry,  Contribtition  d 
V/tude  du  morphinisme  chronique  et  la  responsabilite  pdnale  chez  les  morph inomanes.  Coolem- 
miers.  1866.  Pariser  Thfese.  1886,  Nr.  312.  Husemann. 


MYELITIS. 


447 


Myelitis  (Rücken  m arksentzündun  g).  Myelitis  transversa  acuta 
et  chronica.  Enceplialomyelilis  disseminata  acuta. 

Einleitung.  Definition  des  K ra  n kh  e i t sbeg ri  ffcs.  Eine 
systematische  Darstellung  der  Lehre  von  der  Myelitis , der  Entzündung  des 
Rückenmarkes,  gehört  ohne  Frage  heutzutage  zu  den  schwierigsten  Aufgaben  auf 
dem  Gebiete  der  inneren  Mcdicin.  Wohl  auf  kein  anderes  Capitel  kann  man 
Heracut’s  irivTa  pst  mit  grösserer  Berechtigung  anwenden.  Um  sich  davon  zu  über- 
zeugen, braucht  man  nur  die  Anschauungen  der  auf  dem  Gebiete  der  Rückenmarks- 
krankheiten  massgebendsten  Autoren  in  Kürze  neben  einander  zu  stellen.  Oppen- 
heim S1),  dessen  Verdienst  es  ist,  die  ganze  Frage  neuerdings  durch  einen  energischen 
Angriff  gegen  das  alte  Lehrgebäude  der  Myelitis  zur  lebhaften  Discussion  ge- 
bracht zu  haben,  kommt  auf  Grund  seiner  ausgedehnten  Erfahrungen  zu  dem 
Schlüsse,  dass  die  Lehre  von  der  Myelitis  wesentlich  mehr  in  Dunkel  gehüllt  sei 
als  die  der  anderen  Rückenmarkskrankhciten , dass,  nachdem  durch  die  Fort- 
schritte der  letzten  beiden  Jahrzehnte  immer  mehr  einzelne,  klinisch  und  patho- 
logisch wohl  abzugrenzende  Krankheitsbilder  erkannt  worden  sind,  eieren  Sonder- 
stellung sich  meistentheils  auf  Kosten  der  Myelitis  vollzog,  die  reine  Myelitis 
eine  seltene  Erkrankung  geworden  sei,  deren  Diagnose  man  nur  nach  Ausschluss 
aller  anderen  Möglichkeiten  stellen  dürfe,  dass  aber  namentlich  die  chronische  diffuse 
Myelitis  ein  durch  Klinik  und  pathologische  Anatomie  nur  in  sehr  geringem 
Masse  gestütztes  Krankheitsbild  sei  — in  den  meisten  Fällen  dieser  Art  handle 
es  sich  um  multiple  Sklerose.  Im  vollen  Gegensätze  dazu  bezeichnet  Leyden**) 
das  Capitel  der  Rückenmarksentzündung  als  eines  der  best  gekannten  — er 
rechnet  ferner  alle  chronischen  Rückenmarkskrankheiten,  abgesehen  von  der 
Tabes  dorsalis,  der  progressiven  spinalen  Muskelatrophie,  der  FRlEDREiCH'seben 
Ataxie  und  der  Syringomyelie  zur  Myelitis,  vor  Allem  auch,  und  mit  besonderer 
Begründung,  die  sogenannten  combiuirten  Systemerkrankungen.  Auch  Gowers3*) 
hält  die  Myelitis  acuta  für  eine  recht  häufige  Erkrankung  — er  spricht  sogar 
von  einer  besonderen  Neigung  des  Rückenmarkes  zu  entzündlichen  Processen 
und  rechnet  dabei  allerdings  noch  Dinge  zur  Myelitis  — wie  die  Compression 
und  traumatischen  Affectionen  des  Rückenmarkes  — die  man  heute  wohl  besser 
davon  abtrennt,  ebenso  trennt  er  die  einfachen  nicht  von  den  entzündlichen  Er- 
weichungen. Pierre  Marie*4)  wieder  hält  es  bei  dem  heutigen  Standpunkte  der 
Wissenschaft  nicht  für  möglich,  eine  wissenschaftlich  begründete  allgemeine  Ab- 
handlung Uber  die  Myelitis  zu  schreiben.  Selbst  der  Name  Myelitis  gebe  zu 
Controvcrsen  Anlass.  Ebenso  könnten  die  ätiologischen  Momente  nicht  ausschlag- 
gebend sein,  da  unsere  Kenntnisse  in  dieser  Beziehung  noch  zu  unvollkommen 
und  unsicher  sind.  Den  Begriff  der  Myelitis  ganz  zu  unterdrücken,  sei  vielleicht 
schwer,  man  müsse  speciell  aus  praktischen  Gründen  an  ihm  noch  festhalten, 
aber  seine  Anwendung  soviel  als  möglich  einschränken.  Diese  paar  Citatc  genügen 
wohl,  um  die  Sprödigkeit  des  Themas  zu  charakterisiren  und  zu  zeigen,  wie  un- 
sicher der  Boden  ist,  auf  dem  wir  uns  hier  bewegen.  Im  Ganzen  steht  ja  aller- 
dings Pierre  Marie*4)  auf  der  Seite  Oppenheim’s21),  er  ist  nur  noch  radicaler 
als  dieser  und  es  mag  hier  gleich  gesagt  werden,  dass,  soweit  ich  das  beurtheilcn 
kann,  der  Standpunkt  Oppenheim’s  und  nicht  der  Leyden’s  von  dem 
grössten  Theile  der  jetzigen  Ncuropathologen  getheilt  werde.  Auch  ich  halte  es 
beim  heutigen  Standpunkte  der  Wissenschaft  für  richtiger,  alle  diejenigen  früher 
einfach  zur  Myelitis  gerechneten  Krankheitsbilder,  die  sich  einigermassen  durch 
bestimmte  klinische,  pathologisch-anatomische,  ätiologische  oder  andere  Momente 
auszeichnen,  zunächst  einmal  als  gesonderte  Krankheitsbilder  in  allen  ihren  Einzel- 
heiten zu  erforschen  und  zu  discutiren,  selbst  wenn  es  sich  bei  einzelnen  der- 
selben um  echte  entzündliche  l’rocesse  handelt.  Es  ist  dabei  keineswegs  gesagt, 
dass  nicht  über  kurz  oder  lang  bei  weiterem  Fortschreiten  unserer  Erkenntnis» 
viele  der  jetzt  scharf  getrennten  Krankheitsbilder  sich  wieder  zu  einer  höheren 
Einheit  werden  zusammenfassen  lassen  — Anfänge  dazu  finden  sieh  schon  an 


448 


MYELITIS. 


manchen  Stellen  — , für  jetzt  aber  wird  der  Forschung  und  speciell  auch  der 
Klinik  durch  eine  möglichste  Spccialisirung  der  einzelnen  Krankheitsbilder  und 
den  besonderen  Hinweis  auf  ihre  Differenzpunkte  noch  mehr  gedient  sein.  Vor 
Allem  kommt  es  also  — will  man  an  eine  systematische  Darstellung  der  Myelitis 
herangehen  — auf  eine  möglichst  scharfe  Definirung  und  Umgrenzung  des  Krank- 
heitsbegriffes an.  Nur  dadurch  wird  es  schliesslich  möglich  sein,  in  dem  bisher 
hier  herrschenden  Chaos  Ordnung  zu  schaffen  und  schliesslich  eine  zwar  kleine, 
aber  sicher  hierhergehörige  Gruppe  von  Krankheitsfällen  auszuscheiden  und  an 
ihnen  das  Krankheitsbild  der  Myelitis  zu  entwickeln.  Wie  ist  das  nun  am  besten 
anzufangen?  A priori  sollte  man  meinen,  es  könne  wenigstens  vom  pathologisch- 
anatomischen Standpunkte  aus  nichts  leichter  sein  als  eine  sichere  Unterscheidung 
der  Myelitis,  der  auf  Entzündung  beruhenden  Erkrankung  des  Rückenmarkes  von 
anderen  Erkrankungen  dieses  Organes.  Aber  wenn  die  physiologische  und  patho- 
logisch-anatomische Definition  der  Entzündung  überhaupt  eine  immer  noch  schwierige 
und  mit  neueren  Erfahrungen  wechselnde  ist,  so  trifft  dies  ganz  besonders  für  das 
Rückenmark  zu.  — Wir  sind  hier  heutzutage  kaum  besser  gestellt  als  vor 
20  Jahren,  als  Ebb15)  für  die  2.  Auflage  von  Zikmssen’s  Speeieller  Pathologie 
und  Therapie  die  Rückenmarkskrankheiten  schrieb.  Auch  heute  noch  sind  die 
Anschauungen  der  Autoren  über  das,  was  man  als  echte  Entzündung,  als  ein- 
fache Erweichung  und  als  degenerative  Atrophie  der  Medulla  bezeichnen  soll, 
sehr  verschieden  und  stehen  manchmal  schroff  einander  gegenüber.  So  wird,  um 
nur  ein  Heispiel  zu  nennen,  die  spinale  Kinderlähmung  heutzutage  von  den 
meisten  Autoren  als  eine  sicher  entzündliche  Infectionskrankhcit  angesehen,  von 
einzelnen  aber  immer  noch  als  eine  primäre  degenerative  Atrophie  im  Sinne 
Charcot’s.  Auch  die  pathologische  Histologie  hilft  uns  hier  wenig  — sie  steckt  für 
das  Rückenmark  überhaupt  noch  so  ziemlich  in  den  Kinderschuhen.  Der  Nachweis 
speeieller  Entzündungserreger  gelang  bisher  nur  in  ganz  vereinzelten  Fällen ; sehr 
selten  sind  überhaupt  noch  die  bald  nach  dem  Beginne  der  Erkrankung  zur 
Section  gekommenen  Fälle,  bei  denen  das  histologische  Bild  im  Uebrigen  die  un- 
verkennbaren Zeichen  einer  echten  Entzündung  darbot  — die  Befunde  in  älteren 
abgelaufenen  Fällen  aber  und  bei  der  chronischen  Myelitis  während  ihres  ganzen 
Verlaufes,  zeigen  keineswegs  ein  wohl  abgegrenztes,  sie  speciell  als  Entzündung 
charakterisirendes  Bild,  sie  unterscheiden  sich,  wie  wir  sehen  werden,  nicht  von 
den  Bildern,  die  man  bei  abgelaufenen  anderen  Affectionen,  die  nichts  mit  einer 
Entzündung  zu  tliun  haben,  z.  B.  bei  der  schweren  Compression  oder  bei  der 
Quetschung  des  Rückenmarkes  zu  sehen  bekommt.  Auch  die  pathologische  Anatomie 
ist  also  nicht  im  Stande,  als  sichere  Leitschnur  bei  der  Definition  dieser  Erkran- 
kung zu  dienen. 

Will  man  im  Sinne  der  oben  angeführten,  von  Oppenheim  ')  und  Pikree 
Marie1!  gegebenen  Direetive  den  Begriff’  der  Myelitis  möglichst  eng  fassen  — 
was  zunächst  einen  besonderen  praktischen  Werth  für  die  Klinik,  dann  aber  auch 
durch  die  Möglichkeit  einer  immer  feineren  Ausarbeitung  der  einzelnen  Krnnk- 
hcitsbilder  eine  nicht  zu  unterschätzende  wissenschaftliche  Bedeutung  schon  gehabt 
hat  und  jedenfalls  für  längere  Zeit  noch  haben  wird,  so  ist  nach  meiner  Ansicht 
der  einfachste  Weg,  um  zu  dieser  — s.  v.  v.  — Reindarstellung  der  Myelitis 
zu  gelangen,  dieselbe  an  der  Richtschnur  der  durch  die  Forschungen  speciell  der 
letzten  20  Jahre  herbeigeführten  historischen  Entwicklung  des  Begriffes 
der  Myelitis  zu  versuchen.  Man  braucht  dabei  nicht  streng  chronologisch  zu  ver- 
fahren, kann  auch  an  einzelnen  Stellen  eigene,  von  den  bisherigen  einigermassen 
abweichende  Ansichten  einfügen  — im  Ganzen  wird  man  aber  bei  dieser  Methode 
doch  zugleich  eine  Uebersicht  Uber  die  Geschichte  der  Myelitis  in  der  neuesten 
Zeit  — etwa  in  den  letzten  15  Jahren  — geben.  Man  wird  dabei  sehen,  dass 
die  allmäliche  Abtrennung  immer  neuer  Theile  von  dem  früher  so  weiten 
Gebiete  der  Myelitis  keineswegs  nach  einheitlichen , sondern  nach  den  ver- 
schiedensten, an  Werth  sehr  ditlerirenden  Gesichtspunkten  erfolgt  ist;  waren 


MYELITIS. 


449 


es  zum  Theil  wirklich  wissenschaftliche  Momente,  die  dazu  führten,  so  kamen 
an  anderen  Stellen,  wie  wir  sehen  werden,  rein  praktische  Beziehungen  oder 
anch  die  Rücksicht  auf  eine  gewisse  Tradition,  auf  die  besondere  historische 
Entwicklung  eines  Krankheitsbildes,  auf  die  mit  ihm  verknüpften  berühmten 
Namen,  ferner  auch  ganz  sperielle  klinische  Besonderheiten  für  die  vorläufige 
und  einstweilen  aufrecht  erhaltene  Abtrennung  in  Betracht. 

Als  Leyden  18)  sein  Hauptwerk  — die  Klinik  der  Rückenmarkskrank- 
heiten — schrieb,  machten  die  Capitel  der  acuten  und  chronischen  Myelitis, 
trotzdem  auch  dieser  Autor  schon  einzuschränken  suchte,  einen  sehr  grossen 
Theil  der  gesammten  Rückenmarkspathologie,  ja,  man  kann  wohl  sagen,  der  Neuro- 
pathologie überhaupt  aus.  Leyden  rechnete  damals  zur  acuten  Myelitis  die  Com- 
pressionsinyelitis,  die  acute  spontane  Myelitis,  wozu  er  auch  die  acute  Bulbär- 
paralyse  zählte,  die  acute  spinale  Lähmung  Erwachsener  (Poliomyelitis  anterior 
adultorum  acuta),  die  acute  aufsteigende  Paralyse,  die  Refrigerationslähmung, 
die  acute  Ataxie,  zur  chronischen  Myelitis  unter  Anderem  die  Tabes,  die  sym- 
metrische Sklerose  der  Seitenstränge  und  die  multiple  herdförmige  Sklerose.  Da 
einerseits  auch  ein  grosser  Theil  seiner  Reflex-  und  Intoxicationslähmungen  heute 
zu  Myelitis  gerechnet  werden  müssen,  auf  der  anderen  Seite  aber  die  multiple 
Neuritis  noch  nicht  bekannt  war,  so  erkennt  man  leicht,  wie  wenig  neben  der 
Myelitis  eigentlich  übrig  blieb.  Auch  bei  Erb17)  nimmt  das  Capitel  der  Myelitis 
noch  den  bedeutendsten  Raum  ein;  immerhin  ist  sich  Erb  doch  schon  der  Un- 
sicherheit dieses  ganzen  Gebietes  bewusst  — namentlich  führen  ihn  zu  dieser 
Ansicht  allgemein  pathologische  Gründe,  er  weist  mit  Nachdruck  darauf  hin, 
dass  man  gar  nicht  bestimmt  Bngen  könne,  was  im  Rückenmurke  als  echte  Ent- 
zündung zu  bezeichnen  sei,  und  er  trennt  mit  Schärfe  die  entzündliche  von  der 
compressiven  und  vasculärcn  Erweichung.  Wie  sehr  sich  diese  Sachlage  auf  Kosten 
der  Myelitis  heute  geändert  hat,  beweist  am  besten  ein  Blick  auf  die  paar  Seiten, 
die  Oppenheim  *“)  in  seinem  Lehrbuche  der  Myelitis  widmet.  Und  wenn  auch 
Leyden2*),  wie  wir  gesehen  haben,  auch  heute  noch  den  Begriff  der  Myelitis  viel 
weiter  fasst  als  die  meisten  anderen  Autoren  — er  selbst  ist  in  hervorragender 
Weise  für  die  Einschränkung  dieses  Krankheitsgebietes  tbätig  gewesen,  ich  meine 
durch  seine  bahnbrechenden  Forschungen  Uber  die  Neuritis  multiplex.  Durch 
die  von  Leyden  vor  Allem  bewirkte  Erkenntniss , dass  ein  grosser  Theil  rasch 
eintretender,  weit  verbreiteter,  manchmal  rein  motorischer,  meist  aber  auch  mit 
sensiblen  Störungen  verknüpfter  Lähmungen  nicht,  wie  bisher  angenommen,  auf 
eine  Erkrankung  des  Rückenmarkes,  sondern  auf  eine  solche  der  peripheren 
Nerven  zurüekgeführt  werden  müsste,  musste  natürlich  der  Diagnose  der  acuteu 
und  subacuten  Myelitis  eine  sehr  viel  seltenere  als  früher  werden.  Diese  Ein- 
schränkung betraf  in  erster  Linie  die  von  Duchenne  aufgestellten  Krankheits- 
bilder der  acuten  und  subacutcn  Poliomyelitis  anterior  adultorum , dann  aber  auch 
wegen  der  vorhandenen  Gefühlsstörungen  die  eigentliche  diffuse  und  transversale 
Myelitis:  die  ersteren  Krankheitsbilder  schienen  eine  Zeit  lang  fast  ganz  in 
Frage  gestellt  und  ihre  Seltenheit  ist  noch  immer  anerkannt ; und  wenn  sich  auch 
neuerdings  immer  mehr  die  Erkenntniss  Bahn  bricht,  dass  auch  in  Fällen  deut- 
licher multipler  Neuritis  ein  vollständiges  Freibleiben  des  Rückenmarkes  jeden- 
falls recht  selten  ist,  so  dass  sich,  wie  besonders  Oppenheim  ,())  hervorhebt,  echte 
Myelitis  und  Neuritis  sehr  oft  mit  einander  verbinden,  so  kann  das  natürlich  der 
Selbständigkeit  des  Krankheitsbildes  der  multiplen  Neuritis  keinen  Abbruch 
thnn , und  wie  sehr  das  Gebiet  der  Myelitis  durch  die  Neuritis  eingeengt  ist, 
erkennt  man  wohl  am  besten  daraus,  dass  in  der  Praxis  in  den  meisten 
Fällen , wo  heutzutage  nur  zu  oft  die  Diagnose  zwischen  Neuritis  und  Myelitis 
schwankt,  dieselben,  wrenn  nicht  schon  früher,  so  durch  den  Verlauf  zu  Gunsten 
der  Nduritis  entschieden  werden  muss.  Die  Diagnose  der  multiplen  Neuritis 
ist  für  den  Neuropathologen  von  heute  eine  häufige , die  der  Myelitis  eine 
sehr  seltene. 

Encyclop.  Jahrbücher.  VI. 


29 


450 


MYELITIS. 


Nicht  in  80  ausgedehntem  Masse  wie  durch  die  Neuritis,  aber  immerhin 
in  merkbarer  Weise  verlor  die  Myelitis  an  Terrain  durch  die  neueren  Forschungen 
über  die  functionellcn  Nervenkrankheiten.  So  hat  man  früher  einen  Theil  der 
schweren  Formen  von  traumatischen  Neurosen,  deren  psychische  Natur  jetzt  wohl 
sicher  steht,  mit  Bestimmtheit  zur  Myelitis  gerechnet  und  auch  die  sehr  erweiterten 
Kenntnisse  über  die  Hysterie  lassen  uns  in  vielen  Fällen  diese  besonders  pro- 
gnostisch so  wichtige  Diagnose  stellen,  in  Fällen,  wo  früher  die  irrige  Annahme 
einer  Myelitis  nicht  zu  umgehen  gewesen  wäre. 

Kann  bei  den  oben  erwähnten  beiden  Krankheitsformen  Uber  die  absolute 
Berechtigung  ihrer  Trennung  von  der  Myelitis  schon  deshalb  kein  Zweifel  seiu, 
weil  das  Rückenmark  bei  ihnen  überhaupt  nicht  oder  nur  unwesentlich  betheiligt 
ist,  so  kommen  nun  in  zweiter  Linie  Krankheitsbilder,  die  zwar  durch  eine  Er- 
krankung des  Rückenmarkes  selbst,  aber  sicher  nicht  durch  eine  Entzündung  hervor- 
gerufen sind,  früher  aber  zur  Myelitis  gerechnet  wurden,  weil  man  sie  überhaupt 
nicht  genügend  kannte  oder  sie  irrthümlicher  Weise  als  inflammatorische  Procesw- 
ansah.  Ehe  man  z.  B.  das  Symptomenbild  der  Syringomyelie  genau  erforscht 
hatte,  sind  sicherlich  viele  Fälle  derselben  einfach  zur  Myelitis  gerechnet  worden, 
und  die  Kenntniss,  dass  es  sich  bei  der  chronischen  (Tuberkulose  der  Wirbelsäule. 
Tumoren)  oder  acuten  (Trauma)  Compression  des  Rückenmarkes  nicht  tim  eine 
Compressionsmyelitis,  sondern  um  nicht  entzündliche  Vorgänge,  wie  Oedem, 
Nekrose  etc.  und  dadurch  hervorgerufene  einfache  Erweichung  handelt,  verdanken 
wir  erst  der  neuesten  Zeit  (Schmauss**).  Wie  sehr  aber  gerade  wieder  die  Diagnose 
der  Myelitis,  speciell  der  chronischen,  umgrenzt  würde,  wenn  wir  in  allen  Fällen 
im  Stande  wären,  als  Ursachen  einer  Paraplcgie  von  vornherein  eine  Tuberkulose 
der  Wirbelsäule  oder  einen  Tumor  zu  erkennen,  leuchtet  ohne  Weiteres  ein; 
gerade  hier  müssen  wir  uns  häutig  mit  der  provisorischen  Diagnose  einer  Myelitis 
begnügen,  und  erst  später  tritt  die  eigentliche  Natur  der  Erkrankung  zutage. 
Für  die  Wirbelsäulentuberkulose  hebt  das  besonders  Oppenheim  ,i)  hervor  und 
Allen  Starr10)  sagt  ausdrücklich,  dass  in  den  meisten  Fäilen  von  Rückenmarks- 
tumor die  falsche  Diagnose  einer  Myelitis  gestellt  worden  sei. 

Man  war  früher  — und  viele  Autoren,  ich  nenne  z.  B.  Gowersss),  sind 
es  bis  heute  — geneigt,  die  recht  häufig  bei  syphilitisch  Iuficirten  mehr  oder  weniger 
acut  eintretenden  Paraplegien  der  Beine,  die  sich  fast  stets  mit  Störungen  von 
Seite  der  Blase  und  wechselnd  starker  Atfection  der  Sensibilität  verbinden  — 
im  weiteren  Verlaufe  tritt  häufig  eine  erhebliche  Besserung  oder  unvollkommene 
Heilung,  spastische  Parese  mit  erhöhten  Sehnenreflexen  ein  — auf  eine  syphi- 
litische RUckenmarksentzUndung  zurüekzuführen  und  in  diesen  Fällen  von  einer 
Myelitis  transversa  syphilitica , meist  dorsal is , zu  sprechen.  Ja  man  kaun  wohl 
sagen,  und  das  hebt  z.  B.  neuerdings  noch  Erb*’)  hervor,  dass  der  grösste  Theil 
der  als  sogenannte  acute  transversale  Myelitis  beschriebenen  Fälle  bei  Syphilitisches 
beobachtet  ist  und  sich  als  das  oben  kurz  skizzirte  Krankheitsbild  darstellt,  ja 
noch  mehr,  dass  das  pathologisch-anatomische  und  klinische  Symptomenbild  der 
acuten  Myelitis  fast  allein  aus  diesen  Fällen  construirt  ist.  Ich  bin  aus  ver- 
schiedenen Gründen  schon  lauge  der  Anschauung  gewesen,  dass  es  sich  in  diesen 
Fällen  in  der  Regel  nicht  um  eine  Entzündung,  sondern  um  eine  auf  Get'ässerkran- 
kung  beruhende  ischämische  Erweichung  handelt.  Hauptsächlich  spricht  dafür 
das  sehr  acute,  oft  apoplektiforme,  viel  seltener  subacute  Einsetzen  der  Lähmung, 
das  fast  vollständige  Fehlen  aller  Schmerzen  und  sonstigen  Reizerscheinungen,  die 
immer  nur  unvollkommene  Heilung  und  die  Wirkungslosigkeit  der  antisyphili- 
tischen Therapie,  nicht  zum  wenigsten  auch  der  Umstand , dass  ganz  analoge, 
auf  Blutgefässerkrankung  beruhende  Erweichungen  im  Gehirn  bei  Syphilis  von 
allgemein  anerkannter  Häufigkeit  sind.  Mannkopf  *8)  und  Marchand  30)  haben 
schon  vor  Jahren  f ».  Inaug.-Dissert.  von  Tietzen**)  dieselbe  Ansicht  vertreten  und 
neuerdingt  schlicssen  sich  ihr  auch  Pierre  Marie  -*),  Lamysi)  und  Leyden-Gold- 
SCHEIDER ss)  an.  Ich  verkenne  dabei  natürlich  nicht,  dass  ein  Theil  sehr  ähnlich 


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451 


verlaufender  Fülle  auf  gummöser  Meningomyelitis  beruht  — namentlich  werden 
das  Fälle  mit  deutlichen  Reizerecheinungen,  mit  mehr  subacutem,  zum  Theil 
remittireudem  Verlaufe  und  mit  deutlicher  Reactiou  auf  eine  Hg-ßehnndlung  sein 

— und  dass  es  in  sehr  seltenen  Fällen  vielleicht  auch  einfache,  aber  echt  syphi- 
litische Entzündungen  des  Markes  giebt  — die  werden  dann  wohl  primär  als 
perivasculäre  Herde  entstehen  oder  ebenfalls  von  der  Pia  ausgehen  (Lamy31)  — 
aber  schon  die  gummösen  Meningomyelitiden  treten  an  Zahl  sehr  hinter  den 
einfachen  vasculären  Erweichungen  zurück  — die  meisten  Beobachtungen  soge- 
nannter syphilitischer  Myelitis  haben  mit  einer  eigentlichen  Entzündung  des 
Markesfcniehts  zu  thun.  Es  mag  hier  übrigens  noch  erwähnt  werden,  dass  ebenso 
wie  in  seltenen  Fällen  arteriosklerotische  Erkrankung  des  Gehirnes  eine  sich  weit 
ausdehnendc  Erweichung  ganz  allmälig,  ohne  sichtbare  acute  Schübe  erfolgen 
kann  — ebenso  auch  im  Rückenmarke  einmal  das  Bild  einer  chronisch  - pro- 
gressiven Myelitis  auf  solcher  vasculären  Basis  entstehen  könnte. 

Erb37)  bat  vor  einigen  Jahren  unter  dem  Namen  der  syphilitischen 
Spinalparalyse  ein  Krankheitsbild  beschrieben , das  er  für  ein  nosologisch  gut 
abgegrenzles  hält.  Es  handelt  sich  um  eine  mehr  weniger  chronisch  sich  ent- 
wickelnde Paraplegie  der  Beine  mit  Sensibilitäts-  und  Blasenstörungen,  die  zu- 
nächst bis  zu  einer  gewissen  Höhe  fortsehreitet,  dann  sich  wieder  bessert  und  in 
einem  bestimmten  Stadium  — es  bestehen  dann  spastische  Parese  der  Beine, 
leichte  Paräathesien  und  geringe  Blascnstörungen  — Jahre  lang  und  oft  dauernd 
stehen  bleibt.  Uebrigens  ist  in  einer  Anzahl  namentlich  nach  Erb  beschriebener 
Fälle  das  Einsetzen  doch  ein  mehr  acutes  gewesen.  Ich  glaube  nach  meinen  eigenen 
Erfahrungen  — ich  habe  das  von  Erb  mit  gewohnter  Schärfe  skizzirte  Krank- 
heitsbild natürlich  auch  vielfach  gesehen  — dass  es  sich  auch  in  diesen  Fällen, 
abgesehen  von  den  oben  schon  citirten  Ausnahmen , um  eine  auf  vasculitrer  Er- 
krankung beruhende,  nur  meist  langsam,  aber  dafür  eine  lange  Zeit  fortschreitende 
Erw'eichung  des  Markes  handelt,  und  ich  kann  deshalb  nicht  umhin , ebenso  wie 
Oppenheim  **)  au  der  Selbständigkeit  des  ERB’scheu  Krankheitsbildes  zu  zweifeln. 
Mit  einer  Myelitis  hätte  dann,  wenn  ich  mit  meinen  oben  auseinandergesetzten 
Ansichten  Recht  habe,  auch  diese  Erkrankung  nichts  zu  thun. 

Hier  angereiht  können  werden  die  auf  nicht  syphilitischer  Arteriosklerose 
beruhenden  Erkrankungen  des  Rückenmarkes.  Solche  Affeetionen  sind  besonders 
von  ÜEMAKOK  3‘)  bei  Greisen  als  senile  Tabes  spastica  beschrieben  worden  und 
sie  beruhen  auf  herdartig  tun  die  Gefasse  sich  entwickelnden  Sklerosiruugen  mit 
Zerfall  des  Markes  in  denselben  Gebieten.  Ebenso  muss  man  hier  anfübreu  die 
gewiss  sehr  seltenen , auf  Embolie  oder  nicht  syphilitischer  Arteriothrombosc 
zurUckzuftlhrenden  acuten  Erweichungen  des  Markes.  Ob  eine  einfache  nicht  vas- 
cnlärc,  nicht  durch  Compression  und  auch  nicht  durch  Entzündung  bedingte  Er- 
weichung des  Rückenmarkes  vorkommt , ist  eine  noch  offene  Frage.  Jedenfalls 
kann  man  aber  alle  diese  Processe  nicht  zur  Myelitis  rechnen. 

Dass  die  hereditären  oder  familialcn  Erkrank  ungen  des  Markes 

— wir  verlassen  damit  die  mehr  diffusen  Erkrankungen,  um  uns  zu  solchen  zu 
wenden,  die  nur  einzelne  Theile  des  Markquersehnittes  — Systeme,  Stränge  — 
betheiligen , von  denen  wir  jetzt  schon  eine  grosse  Anzahl  kennen , die  in 
wechselnder  Weise  zum  Theile  die  motorischen,  zum  Theile  die  sensiblen  Neuronen 
oder  beide  zusammen  betreffen,  — ich  meine  die  hereditäre  Ataxie  Friedkkich’s, 
die  hereditäre  spastische  Spiualparalyse  (v.  Strümpell  **),  Bernhard  *•) , New- 
mark  3")  oder  die  complicirteren  Formen,  die  Seeligmüller  m)  als  amyotrophische 
Lateralsklerosen , Hoffmans  *»)  als  besonderen  Symptomencomplex  beschrieben 
hat,  nicht  zur  Myelitis  gehören,  wird  wohl  allseitig  anerkannt.  Längere  Zeit  hat 
man  dagegen  die  sccundären  auf-  und  absteigenden  Degenerationen 
dazu  gerechnet , während  man  heute  weiss , dass  zwar  der  Herd,  von  dem  die 
Degeneration  ausgeht  und  der  innerhalb  und  ausserhalb  des  Rückenmarkes  seinen 
Sitz  haben  kanu , entzündlicher  Natur  sein  kann , die  secundäre  Degeneration 

29* 


452 


MYELITIS. 


selber  aber  ein  einfach  degenerativer  I’rocess  ist.  Der  pathologisch -anatomische 
Process  der  Tabes  dorsalis,  um  auch  das  noch  hier  zu  erwähnen,  ist,  soweit  er 
das  Rückenmark  betrifft,  nach  unserer  heutigen  Anschauung  ebenfalls  nichts 
anderes  als  eine  secundäre,  aufsteigende  Degeneration,  deren  Ursprung  vielleicht 
entzündlicher  Natur  ist,  aber  ausserhalb  des  Rückenmarkes  (hintere  Wurzeln, 
Spinalganglien,  periphere  Nerven)  gesucht  werden  muss. 

Haben  wir  es  bisher  mit  Erkrankungen  der  Medulla  zu  thun  gehabt, 
deren  Abtrennung  von  der  Myelitis  darin  ihre  sichere  Begründung  fand,  dass 
es  sich  mit  Bestimmtheit  nicht  um  entzündliche  Atfectionen  handelt,  so  kommen 
wir  nun  zunächst  zu  einer  kleinen  Gruppe  von  Krankheitsbildern,  deren  Stellung 
in  dieser  Beziehung  zweifelhaft  ist;  die  von  dem  einen  Autor  als  degenerative. 
von  dem  anderen  als  entzündliche  Processe  angesehen  werden , deren  Sonder- 
stellung also  auf  andere  Weise  begründet  werden  muss.  Fraglich  ist  in  dieser 
Beziehung  z.  B.  die  Stellung  der  amyotropliischen  Lateralsklerose,  die  von  vielen 
Autoren  als  eine  reine  primäre  systematische  Degeneration  beider  motorischen 
Neurone  angesehen  wird,  während  Marie40),  der  eine  primäre  Degeneration  einer 
Nervenfaser  überhaupt  für  unmöglich  hält,  dieselbe  für  eine  der  best  charakie 
risirten  Myelitiden  ansieht,  die  nach  ihm  ihren  Ursprung  in  einer  entzünd- 
lichen (?)  Erkrankung  der  grossen  Ganglienzellen  der  grauen  Substanz  — sowohl 
der  motorischen  als  der  Strangzellen  der  Seitenstränge  nehmen  soll.  Fraglich  ist 
ferner  die  Stellung  der  bei  der  Paralysis  progressiva  vorkommenden  Erkran- 
kungen des  Markes,  ln  einzelnen  Fällen  handelt  es  sich  hier  wohl  um  echte 
Tabes  oder  sicher  vom  Gehirn  ausgehende  secundäre  Degenerationen  der  Pyramiden- 
bahnen. In  den  meisten  Fällen,  spociell  in  den  häufigen  combinirten  Strangerkran- 
kungen in  den  Hinter-  und  Seitensträngen,  aber  hängen  diese  weder  direct  von  einer 
Tabes  noch  von  der  Gehirnerkrankung  ab  — es  handelt  sich  dann  entweder 
um  primäre,  in  loco  entstandene  degenerative  Veränderungen,  oder  aber  es  handelt 
sich  um  einfache  Degeneration  der  Achsencylinder  der  primär  entzündlich  er- 
krankten Strangzellen  der  Hinter-  und  Seitenstränge  in  der  grauen  Substanz,  wie 
ebenfalls  Marie40)  das  plausibel  ausfuhrt.  Am  allerfraglichsten  ist  schliesslich  die 
Stellung  der  sogenannten  combinirten  Systemerkrankungen,  ganz  besonders  auch 
deshalb,  weil  ihre  Existenzberechtigung  überhaupt  neuerdings  von  Leyden  und 
Goldscheider  81)  mit  guten  Gründen  in  Frage  gestellt  wird.  Sicher  handelt  es 
sich  in  einer  ganzen  Reihe  dieser  Fälle  um  nur  scheinbar  primäre  Strangerkran 
kungen,  dahin  gehören  z.  B.  die  von  Marie  !4)  als  pseudosystematisch  bezeichnelen 
Erkrankungen,  die  zum  Theilc  auf  einer  primären  Meningitis,  zum  Theile  auf 
einer  vasculären  Erkrankung  beruhen.  Diese  sind  besonders  von  Ballet  und 
Minor  beschrieben  nnd  sie  sind  ja  dann  ziemlich  Bicher  myelitischer  Natur;  in 
anderen  Fällen  fehlt  überhaupt  bei  näherem  Zusehen  jede  Symmetrie  der  Er- 
krankung oder  Beschränkung  auf  uns  bekannte  Systeme,  — in  einer  dritten 
Reihe  von  Fällen  entsprechen  aber  klinische  und  anatomische  Befunde  sich  so 
vollständig,  die  ersteren  beschränken  sich  genau  auf  Symptome , von  denen  wir 
wissen , dass  sie  bei  Erkrankung  der  betreffenden  Bahnen  einzutreten  pflegen, 
dass  ich  ein  vollständiges  Anfgeben  der  s.  v.  v.  primären  combinirten  Systein- 
erkrankungen  doch  nicht  für  berechtigt  erklären  kann.  Wie  man  sich  aber  auch 
zn  der  theoretischen  Frage  der  entzündlichen  oder  einfach  degenerativen  Natur 
dieser  in  dieser  Beziehnng  zweifelhaften  Krankheitsgruppe  stellen  mag,  zur 
Myelitis  rechnet  man  sie  heute  nicht ; die  amvotrophische  Lateralsklerose  und  die 
Paralyse  schon  deshalb  nicht,  weil  ein  wesentlicher  Theil  ihrer  Symptome  durch 
die  Hirn-  und  Rückentnarkserkrankungen  bedingt  sind , die  combinirte  System- 
erkrankung nicht  wegen  der  meist  doch  vorhandenen  Besonderheit  ihres  klini- 
schen und  pathologisch-anatomischen  Bildes,  wenn  auch  zugestanden  werden  muss, 
dass  das  klinische  Bild  dem  der  Myelitis  transversa  manchmal  sehr  nahe  kommen 
kann.  Für  die  Paralyse  kann  die  Unterscheidung  von  der  Myelitis  eine  praktische 
Bedeutung  deshalb  haben,  weil  diese  Krankheit  in  seltenen  Fällen  klinisch 


MYELITIS. 


453 


wenigstens  mit  isolirteu  und  längere  Zeit  für  sich  bestehenden  Rückenmarks- 
Symptomen  beginnt. 

Die  drei  letztgenannten  Krankheiten  bilden  schon  den  l'ebergang  zu 
der  letzten  grossen  Gruppe  der  von  der  Myelitis  heute  abgetrennten  Rücken 
markskrankheiten.  Diese  nehmen  eine  besondere  Stellung  ein , weil  es  sich  bei 
ihnen  entweder  mit  Sicherheit  oder  doch  mit  höchster  Wahrscheinlichkeit  um 
echt  entzündliche  Erkrankungen  handelt,  also  um  solche,  die  bei  Anlegung  eines 
streng  wissenschaftlichen  Massstabes  mit  vollem  Recht  den  Namen  einer  Myelitis 
verdienen  und  zur  Rückeumarksentzündung  gerechnet  werden  müssen.  Ihre 
Trennung  von  den  heute  als  Myelitis  beschriebenen  Krankheitsformen  und  ihre 
Darstellung  als  klinisch  und  anatomisch  besondere  Krankheiten  ist  denn  auch 
aus  den  verschiedensten  Gründen  erfolgt,  die  einer  wissenschaftlichen  Kritik  nicht 
immer  Stand  halten  können.  Einer  dieser  Gründe  ist  z.  B.  die  Beschränkung  der 
Erkrankung  auf  einen  bestimmten , mehr  weniger  eng  umschriebenen  Theil  des 
Querschnittes  der  Medulla,  wodurch  dann  wieder  ein  ganz  bestimmtes  klinisches 
Bild  hervorgerufen  wird.  Die  bestgekannte  Krankheit  dieser  Art  ist  die  sicher  ent- 
zündliche Poliomyelitis  anterior  acuta  infantum  und  die  gleiche  Erkrankung  der 
Erwachsenen.  Dass  vielleicht  aucht  die  amyotrophische  Latcralsklerose  hierhergehört, 
habe  ich  schon  erwähnt.  Aach  eine  halbseitige  Läsion  des  Markes  kann  die 
Myelitis  in  seltenen  Fällen  einmal  hervorrufen ; diese  Fälle  werden  dann  unter 
dem  Titel  der  BtiOWN-SEQUARD’scben  Lähmung  beschrieben,  obgleich  sie  natür- 
lich ganz  zur  Rückenmarkscntzündung  gehören.  In  wieder  anderen  Fällen  geht 
die  Entzündung  von  den  Meningen  aus  und  greift  hauptsächlich  auf  die  peri- 
pheren Theile  des  Markes  über,  — so  bei  der  Meningomyelitis  syphilitica,  der 
Pachymeningitis  cervicalis  hypertrophica  und  in  seltenen  Fällen  bei  Tuberkulose 
der  Wirbelsäule,  iu  denen  es  zu  wirklicher  Entzündung  des  Markes  kommt.  Auch 
bei  der  tuberkulösen  und  eiterigen  cerebrospinaien  Leptomeningitis  ist  das  Mark 
meist  betheiligt.  Diese  letzteren  Erkrankungen , die  klinisch  überhaupt  kaum  zu 
erkennen  sind,  lösen  sich  schon  deshalb  von  der  Myelitis,  weil  die  cerebralen 
Krankheitsherde  hier  bei  weitem  die  Hauptsache  sind. 

Andere,  ebenfalls  sicher  entzündliche  Rückeumarkserkrankungcn  sind  — 
wahrscheinlich  nur  vorläufig  von  der  Myelitis  getrennt,  weil  sie  erstens  in  ätio- 
logischer Beziehung  zu  ganz  bestimmten  Allgemeinerkrankungen  stehen,  zweitens 
aber,  sowohl  in  klinischer,  w ie  pathologisch-anatomischer  Beziehung  noch  dringend 
weiterer  Erforschung  bedürfen.  Dahin  gehören  die  RUckenmarkserkrankuugen  bei 
gewissen  Kachexien,  die  besonders  bei  schwerer  Blutarmuth  von  Lichtheim  4I), 
Minnig  ,2)  und  Nonne  **)  erforscht  sind,  aber  auch  schon  bei  Icterus  gratis  und 
Carcinomatose  beobachtet  sind ; sie  scheinen  mit  besonderer  Vorliebe  in  den  Hinter- 
strängen  aufzutreten. 

Die  besondere  Aetiologie  zusammen  mit  einer  Beschränkung  auf  einen 
bestimmten  Theil  des  Rückenmarksquerschnittes  trennen  auch  diejenigen  Erkran- 
kungen der  Vorderhörner  von  der  Myelitis  ab,  die  in  seltenen  Fällen,  z.  B.  durch 
Bleivergiftung  (Oppenheim  “),  Monakow  4S),  Oeller  **)  oder  durch  deu  Diabetes 
mellitus  (Nonne41)  hervorgerufen  werden  und  aus  denselben  Gründen  widmet 
man  dem  Ergotismus  mit  Hinter-  und  der  Pellagra  mit  Hiuter-  und  Seitenstrangs- 
erkrankung (Tuczkck  4!t)  eine  besondere  Beschreibung:  von  dem  Lathyrismus  kann 
man  bisher  nur  vermuthen,  dass  es  sich  um  Läsion  der  Seitenstränge , specicll 
der  Pyramidenbahnen  handelt.  Marie14)  hält  übrigens  die  bei  Pellagra  und  Ergo- 
tismus in  den  weissen  Strängen  nachgewiesenen  Erkrankungen  ebenfalls  für  nicht 
primär,  sondern  für  Degeneration  der  Achsency linder  primär  erkrankter  Straug- 
zellen.  Die  multiple  Sklerose  schliesslich,  deren  entzündliche  Natur  doch  eben- 
falls höchst  wahrscheinlich,  trennt  sich  in  etwas  durch  ihren  pathologisch-ana- 
tomischen Befund,  vor  Allem  aber  durch  den  besonderen  und  häufig  charakte- 
ristischen klinischen  Verlauf  von  der  Myelitis,  wozu  wohl  eine  gewisse  pietätvolle 
Scheu  kommt,  das  von  Chabcot  in  seinen  Hauptzügen  so  meisterhaft  entworfene 


MYELITIS. 


4.14 

Krankheitsbild  in  seiner  Selbständigkeit  anzugreifen.  Uebrigens  ist  die  multiple 
Sklerose  ja  fast  immer  eine  cerebrospinale  Erkrankung  und  nimmt  ihre  Haupt 
eharakteristica  von  ihren  cerebralen  Localisationen:  ist  sie  auf  das  Rückenmark 
beschränkt,  dann  ist  ihre  Abtrennung  von  der  Myelitis  klinisch  eine  schwierige 
Sache  und  linden  sich  in  solchen  Fällen , wie  manchmal , nicht  umschriebene 
getrennte  Herde,  sondern  eine  vollständig  diffuse  Sklerosirnng  des  Markes  anf 
weite  Strecken  hin,  so  ist  sie  auch  anatomisch  unmöglich.  Diese  letzteren  Fälle 
bilden  nach  Oi’PENHEIm’S  S1)  Anschauung  die  Hauptstütze  für  das  Krankheitsbild 
der  chronischen  Myelitis.  Die  Tradition  ist  wohl  auch  der  Hauptgrund,  weshalb 
die  sogenannte  LAN'DRY’sehe  aufsteigende  Paralyse  — ich  spreche  hier 
von  ihrer  centralen  Form,  die  sicher  wohl  auf  entzündlichen  Processen  des  Markes 
beruht  — immer  noch  als  besondere  Krankheit  gefasst  wird.  Verlaufen  die  Fälle 
genau  so,  wie  sie  Lakdry  beschreibt,  so  kann  man  gegen  eine  besondere  Stellung 
nichts  haben;  bleibt  aber  schliesslich  nur  der  rapide  auf-  und  absteigende  Verlauf, 
während  das  Vorkommen  von  Schmerzen , Anästhesien , Blasonstörungen  auf  ein 
Ergriffensein  des  ganzen  Querschnittes  binweist,  so  liegt  kein  Grnnd  vor,  gerade 
diese  Erkrankungen , deren  echt  entzündliche  Natur  übrigens  in  einigen  Fällen, 
wie  wir  sehen  werden , ganz  besonders  sichergestellt  ist , von  der  Myelitis  zu 
trennen.  Fälle  dieser  Art  sind  übrigens  früher  auch  als  Myelitis  acuta 
centralis  (generalis  seu  diffusa)  beschrieben.  Ich  komme  auf  sie 
später  zurück. 

Auch  die  acute  disseminirte  Encephalomyelitis,  die  acute,  cen- 
trale Ataxie  Lrydkn’s  *°),  unterscheidet  sich  klinisch  schon  allein  durch  die  starke 
Betheiligung  des  Bulbus  und  des  Grosshirus,  und  auch  pathologisch-anatomisch 
so  sehr  von  den  landläufig  als  Myelitis  beschriebenen  Krankheitsbildern,  dass  ihre 
Trennung  von  denselben  jedenfalls  eher  gerechtfertigt  ist,  als  die  der  Laüdkv- 
schen  Paralyse.  Aber  da  die  entzündliche  Natur  der  Erkrankung  absolut  sicher 
feBtstcht , da  sie  vielleicht  sogar  die  häufigste  Form  der  postinfectiösen  Rücken- 
markserkrankungen  ist,  so  ist  es  wohl  berechtigt,  sie  im  Anschluss  an  die  ge- 
wöhnlich als  Myelitis  bezeichneten  Krankheitsbilder,  wenn  auch  an  besonderer 
Stelle  zu  besprechen. 

Wir  haben  jetzt  die  oben  geäusserte  Absicht  einer  möglichst  scharfen 
Definirnng  und  Einschränkung  dessen , was  wir  heutzutage  im  Capitel  Myelitis 
unterbringen  wollen,  nach  einer,  der  negativen  Seite  hin,  erfüllt,  insofern  wir 
jetzt  darüber  im  Klaren  sind,  welche  früher  und  zum  Theile  bis  vor  kurzer  Zeit 
zur  Myelitis  gerechneten  Krankheitsbilder  wir  von  denselben  abtrennen  müssen, 
respectivc  wollen.  Wir  haben  dabei  gesehen,  dass  ein  Theil  der  erwähnten  Krank- 
heitsbilder in  seiner  Stellung  zur  Myelitis  auch  heute  noch  eontrovers  ist,  während 
andere  mit  Sicherheit  und  für  immer  von  der  Myelitis  abgetrennt  sind.  Ich  hebe 
hier  nochmals  hervor,  dass  namentlich  für  die  beiden  letzten  oben  erwähnten 
Gruppen  und  ganz  speciell  für  einzelne  Symptomencomplexe  derselben  diese 
Trennung  einen  rein  praktischen,  vor  allen  Dingen  klinischen  Zweck  hat,  sich 
wissenschaftlich  nicht  halten  lässt  und  späterhin  vielleicht  wieder  aufgehoben 
wird.  Ueberblicken  wir  noch  einmal  die  grosse  Zahl  der  oben  angeführten,  von 
der  Myelitis  abgetrennten  Krankheitsbilder,  so  sehen  wir  auf  der  einen  Seite.  wie 
weit  früher  das  Gebiet  der  Myelitis  gefasst  war,  andererseits , wie  wenig  brate 
— das  Material  schwindet  einem  geradezu  unter  den  Fingern  — für  die  Myelitis 
noch  übrig  bleibt,  so  wenig,  dass  man  es  wohl  verstehen  kann,  wenn  MARI**1) 
es  heutzutage  überhaupt  für  unmöglich  hält,  eine  Abhandlung  über  die  Myelitis 
zu  schreiben. 

Es  bleiben  für  die  Darstellung  des  Krankheitsbildes  der 
Myelitis  über  und  sollen  im  Folgenden  ausführlich  erörtert  werden, 
neben  der  nicht  ganz  hierher  gehörigen  dissemin irten  Encephal0- 
myelitis  die  über  einen  grösseren  Theil  des  Längsschnittes  (diffus I oder 
mehr  weniger  vollständig  über  den  Querschnitt  in  einer  gewissen  Höhe 


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MYELITIS. 


455 


(transversal'1  sich  erstreckenden  oder  aber  und  vor  allem  die  nacli 
beiden  Richtungen,  transversal  und  diffus,  ohne  Rücksicht  auf  die 
einzelnen  Systeme  und  Ahtheilungen  des  Quersch n ittes  sich  a usbrei- 
tenden  Kückenznarkserkrnnkungen,  soweit  sie  mit  Sicherheit  oder 
doch  mit  Wa hrscheinlichkeit  entzündlicher  Natur  sind.  Wir  bezeichnen 
diese  Krankheitsbilder  als  Myelitis  transversa,  eventuell  Myelitis  transversa  diffusa. 
Klinisch  zerfallen  sie  dann  noch  in  die  acuten,  subacutcn  und  chronischen  Formen. 
Da  bisher  wenigstens,  abgesehen  von  Ausnahmen,  sich  die  entzündliche  Natur  der 
Erkrankung  auf  histologischem  oder  bakteriologischem  Wege,  wie  oben  schon 
kurz  erwähnt,  mit  Sicherheit  nicht  nachweisen  lässt,  so  sind  wir,  um  dieselbe 
festzustclien,  hauptsächlich  auf  die  ätiologischen  Verhältnisse  angewiesen,  und  es 
mag  schon  hier  — die  specielle  Aetiologie  wird  weiter  unten  folgeu  — gesagt 
sein,  dass  weitaus  die  meisten  Fälle  echter  Myelitis  sich  ätiologisch 
in  zwei  Gruppen  ordnen  lassen,  sie  hängen  ab:  entweder  von  Infec- 
tionen  oder  von  acuten,  respeetive  chronischen  Intoxicationcn  des 
Organismus.  Ganz  sicher  sind  bei  dieser  Beschränkung,  soweit  sieh  das  bis 
jetzt  übersehen  lässt,  die  zur  Myelitis  zu  rechnenden  Krankheitsfälle  recht  selten, 
am  häufigsten  kommen  noch  die  acuten  Formen  vor,  sehr  selten  die  chronischen, 
abgesehen  von  den  aus  den  acuten  hervorgehenden  chronischen  Formen,  und  wir 
sind  deshalb  heutzutage  nicht  sehr  oft  in  der  Lage,  die  Diagnose  einer  Myelitis 
mit  der  Aussicht  auf  Bestätigung  durch  den  weiteren  Verlauf  zu  stellen.  Gerade 
bei  der  Diagnose  einer  chronischen  Myelitis  gilt  es  vor  Allem,  mit  der  Diagnose 
vorsichtig  zu  sein  und  sie  mit  Sicherheit  erst  zu  stellen , wenn  alle  Möglich- 
keiten , ganz  besonders  die  Druckläsion , ausgeschlossen  siud.  Ich  muss  nach 
meinen  eigenen  Erfahrungen,  was  die  Diagnose  einer  Myelitis  anbetrifft,  mit 
Oppenheim  »)  ganz  übereinstimmen ; ich  weiss  noch  sehr  genau , wie  ich  selbst 
in  den  ersten  Jahren  meiner  specialärztlichen  Thätigkeit  sehr  verwundert  darüber 
war,  wie  selten  ich  in  der  Lage  war,  diese  Diagnose  zu  stellen  und  wie  ich 
durch  längere  Zeit,  ehe  ich  zur  selben  Erkcnntniss  wie  Oppenheim,  speciell  durch 
dieses  Autors  Aufsatz1)  kam,  diese  Seltenheit  auf  eine  Mangelhaftigkeit  des  mir 
zuströmenden  Materiales  bezog.  Aber  wenn  man  auch  die  Seltenheit  ohneweiters 
zugiebt,  so  ist  doch  eine  möglichst  genaue  Darstellung  des  Krankheitsbildes  der 
Myelitis,  ganz  abgesehen  davon,  dass  man  auch  seltene  Erkrankungen  genau 
kennen  muss , auch  von  anderen  praktischen  und  wissenschaftlichen  Gesichts- 
punkten von  nicht  zu  unterschätzender  Bedeutung.  Die  praktischen  Gesichtspunkte 
lässt  selbst  Marie  **)  gelten,  so  radieal  er  sonst  mit  der  Myelitis  verfährt.  Diese 
sind  darin  begründet,  dass  wir  bei  der  einmal  nicht  wegzuleugnenden  Unvoll- 
kommenheit unserer  Diagnose  in  manchen  Fällen  gezwungen  sind , wenigstens 
eine  vorläufige  Diagnose  auf  Myelitis  zu  stellen , in  denen  der  weitere  Verlauf 
die  lrrlhümliclikeit  derselben  aufklärt.  Es  wird  deshalb  selbst  bei  der  heutigen 
Vorsicht  die  klinische  Diagnose  einer  Myelitis  immer  noch  viel  häufiger  sein, 
als  den  Thatsachen  entspricht.  Ich  nenne  nur  die  Fälle  von  Compressiou  des 
Markes,  bei  deuen  die  eigentliche  Krankheitsursache  oft  erst  sehr  spät  und 
manchmal  intra  vitam  gar  nicht  bestimmt  zu  Tage  tritt,  ich  verweise  auf  die 
Fälle  schwieriger  Differentialdiagnose  zwischen  Neuritis  multiplex  und  Myelitis, 
wo  oft  nur  der  Ausgang  entscheidet.  Die  grosse  wissenschaftliche  Bedeutung  der 
kleineu  Zahl  der  echten  Myelitiden  liegt  in  ihrer  ätiologischen  Beziehung,  Die 
Aetiologie  hat  im  Gesammtgebiet  der  Mcdiciu  bei  der  immer  grösseren  Ausdehnung 
und  Sicherheit  unserer  dahingehörigen  Kenntnisse  eine  weittragende  Bedeutung 
gewonnen  und  gerade  in  Bezug  auf  die  Aetiologie  der  diffusen  Myelitis  haben 
klinische  und  experimentelle  Untersuchungen  aus  den  letzten  Jahren  eine  Fülle 
von  Thatsachen  gebracht,  die  übrigens  geeignet  sind,  auch  auf  eine  Reihe  anderer, 
nicht  hierhergerechneter  Erkrankungen  des  Nervcnsystemes  neues  Licht  zu  werfen. 

Geschichte  der  Myelitis.  Ehe  ich  nach  dieser  etwas  langathmigeu, 
aber  nach  meiner  Ansicht  nothwendigen  Einleitung  an  die  eigentliche  Darstellung 


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45« 

des  Krankheitshildes  der  Myelitis  herangehe,  mögen  hier  noch  einige  historische 
Bemerkungen  Platz  linden.  Ich  kann  mich  dabei  sehr  kurz  fassen , da  ich  die 
Geschichte  der  letzten  20  Jahre  schon  oben  bei  der  Definition  des  Krankheit« 
bildes  implicitc  geben  musste.  Aus  den  früheren  Perioden  mag  Folgendes  gesagt 
sein  — ich  schöpfe  diese  geschichtlichen  Daten  hauptsächlich  aus  der  Arbeit  von 
Pick  '•)  über  die  Myelitis  in  der  2.  Auflage  der  Real-Eneydopädie  und  kann  in 
Bezug  auf  genauere  Details  auf  Leyden’s  ’8)  Klinik  der  Rückenmarkskrankheiten 
und  auf  die  Darstellung  Erb’s8)  in  Ziemssen’s  Handbuch  der  speciellen  Patho- 
logie und  Therapie,  2.  Auflage,  verweisen. 

Eine  erste  Periode  der  Geschichte  der  Myelitis  kann  man  etwa  mit  den 
fast  gleichzeitig  erschienenen  berühmten  Werken  von  Olliver  d'Angers  'i  und 
Abercrombie  M)  abschliessen  lassen.  Die  Anfänge  dieser  ersten  Periode  reichen 
natürlich  so  weit  zurück,  wie  die  klinische  Beobachtung  überhaupt  (HlPPO- 
kbates).  Während  aber  bis  dahin  und  speciell  auch  noch  im  Anfänge  unsere« 
Jahrhunderts  die  Krankheiten  der  Wirbelsäule,  der  Häute  und  des  eigentlichen 
Markes  nicht  streng  von  einander  getrennt  wurden  — sie  wurden  unter  dem 
Ausdruck  Spinitis  zusammengefasst,  der  Name  Myelitis  stammt  nach  Leyden  von 
Leonhakiu  (nach  KCstermann  soll  ihn  Oluviek  von  Hable&s  *5*)  entlehnt 
haben  ) — gelang  es  diesen  beiden  Autoren  zuerst,  die  Schwierigkeiten,  die  allein  schon 
die  Sectionstechnik  der  Erforschung  der  Rückenmarkskrankheiten  gegenüber  bot, 
zu  überwinden,  und  gestützt  auf  eine  grosse  Anzahl  klinischer  und  anatomischer 
Beobachtungen  , eine  Darstellung  der  eigentlichen  Krankheiten  des  Markes  und 
damit  auch  der  Myelitis  zu  geben.  Als  ihr  Hauptverdienst  gilt,  dass  sie  den 
Zusammenhang  der  Rückenmarkserweichung  mit  der  sogenannten  acuten  Myelitis 
nachwiesen  und  auch  schon  erkannten , dass  die  chronischen  Formen  zur  Skle 
rose  führten.  Zwar  stützten  sieh  diese  Pathologen  nur  auf  makroskopische  Unter 
suchungen , diese  aber  und  ihre  klinischen  Beobachtungen  waren  für  ihre  Zeit 
mustcrgiltig.  Eine  zweite  Periode  kann  man  von  Oluviek  und  Abekcrombie  bis  zum 
Erscheinen  von  Leyden’s  Lehrbuch  im  Anfänge  der  Siebziger-Jahre  rechnen,  vor 
Allem  kommen  dabei  die  letzten  15  Jahre  dieser  Periode  in  Betracht.  Die  Ent- 
wicklung unserer  Kenntnisse  über  die  Kückenmarkskraukheiten  ging  in  dieser 
Periode  Hand  in  Hand  mit  der  genauen  histologischen  Durchforschung  de« 
normalen  Markes,  der  Entwicklung  der  allgemeinen  Pathologie  und  der  speciellen 
pathologischen  Anatomie  und  Histologie  dieses  Organes,  der  immer  sorgfältigeren 
und  zielbewussteren  Ausführung  des  physiologischen  Experimentes  und  der  immer 
grösser  werdenden  klinischen  Erfahrung.  Es  ist  nicht  möglich,  hier  auch  nur  mit 
annähernder  Vollzähligkeit  die  Namen  der  Autoren  zu  nennen,  die  hier  bahn 
brechend  gearbeitet  haben;  es  möge  genügen,  die  Namen  Dcjabdin-Beaijiktz •), 
Haykm  *)  und  vor  Allem  Charcot  in  Frankreich,  Bbown-Skquakd  , Lockbabt 
Clarke6)  und  Gcli,  in  England,  Vikcuow,  Hasse8),  Engelke7),  Wkstphal, 
Fromanx8)  und  Mannkopf»)  in  Deutschland  anzufiihreu.  Von  Westphal“ 
stammen  auch  die  ersten  genaueren  Angaben  Uber  die  disseminirte  Myelitis. 
Leyden18)  hat  dann,  gestützt  auf  eine  grosse  pathologisch-anatomische  und 
klinische  Erfahrung,  in  dem  Hauptwerke  seines  Lebens,  in  seinen  Rückenmarks- 
krankheiten,  alles  bisher  Gekannte  zusammeugestellt  und  kritisch  gesichtet,  — 
er  vermochte  den  Begriff  der  Myelitis,  soweit  er  ihn  auch  noch  fasste,  doch  schou 
sehr  einzuengen  und  zugleich  die  Myelitis  selbst  in  eine  Anzahl  von  Einzelfortnen 
zu  zerlegen.  Von  da  an  beginnt  die  neueste  Periode  der  immer  schärferen  Lteli- 
nirung  des  Begriffes  und  damit  der  immer  weitergehenden  Einengung  des  Terrain? 
der  Myelitis,  ein  Process,  den  wir  oben  genau  auseinandergesetzt,  dessen  Berechti- 
gung Leyden  selbst  allerdings  nicht  voll  anerkennt,  während  die  meisten  Ubrigcu 
modernen  Autoren  ihm  voll  zuslimmen.  Erb17)  nennt  zwar  auch  die  Myelitis  da* 
umfangreichste  und  wichtigste  C'apitel  der  ganzen  Rücken markspathologie  — er 
ist  sich  aber  wohl  bewusst , dass  Vieles . was  er  hierherrechnet , wenigstens  im 
allgemein  pathologischen  .Sinne  nicht  zur  Kückenmarksentzündung  gehört 


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und  dass  der  ganze  Aufbau  dieser  Lehre  auf  sehr  schwankenden  Fundamenten  steht. 
Auch  hebt  er  für  die  Art  seiner  Darstellung  schon  wesentlich  praktische  Momente 
als  massgebend  hervor.  Als  Pick  *•)  dann  seine  ausgezeichnete  Abhandlung  über 
die  Myelitis  schrieb , kannte  man  schon  die  Neuritis  und  die  Syringomyelie 
genauer  und  auch  noch  an  vielen  anderen  Stellen  war  schon  ein  Einbruch  in  das 
Gebiet  der  Myelitis  erfolgt.  Oppenheim  21)  hat  dann,  wie  schon  gezeigt,  das  Ver- 
dienst, den  schärfsten  und  am  besten  vorbereiteten  Angriff  auf  dieses  Gebiet  gemacht 
zu  haben,  Marie  j*)  ist  ihm  in  noch  energischerer  Weise  gefolgt  und  von  da  an 
verwenden  wohl  die  meisten  Nenropathologen  den  Ausdruck  Myelitis  in  der 
äusserst  eingeschränkten  Weise,  wie  ich  das  oben  auseinandergesetzt  habe.  Ganz 
in  Uebereinstimmung  mit  der  immer  stärker  werdenden  Einschränkung  des  Gebietes 
der  Myelitis  sind  auch,  wenigstens  mehr  allgemeine,  Abhandlungen  über  diese 
Krankheit,  abgesehen  von  den  Lehrbüchern,  die  sich  ja  damit  befassen  müssen, 
recht  selten  geworden  (einzelne  Fälle  sind  von  Pfeifer  und  Kü.stermann  ’*) 
veröffentlicht) ; der  neuesten  Zeit  gehören  vor  allen  Dingen  genaue  Angaben  über 
die  ätiologischen  Momente  der  Myelitis  an,  — die  ersten  Anfänge  dazu  reichen 
allerdings  schon  in  die  Sechziger-Jahre  zurück  — und  in  der  allerletzten  Zeit  hat 
sich,  besonders  in  Frankreich,  auch  die  experimentelle  Forschung  mit  Glück 
dieses  Gebietes  bemächtigt.  Darüber  folgt  unten  noch  Genaueres,  doch  möchte 
ich  schon  hier  auf  den  Vortrag  von  Grasset  51)  hinweisen,  der  gerade  in  dieser 
Beziehung  auch  das  Neueste  in  Vollständigkeit  bringt. 

Die  Geschichte  der  sogenannten  chronischen  Myelitis  hängt  bis  Ollivier 
inclusive  mit  der  acuten  zusammen , später  haben  sich  beide  Gebiete  etwas  ge- 
trennt entwickelt.  Türk  l0)  und  Rokitansky  n)  brachten  anatomische  Mittheilungen, 
die  sich  allerdings  im  Wesentlichen  auf  die  sccundären  Degenerationen  bezogen, 
Frerichs  1 j)  hat  sich  besonders  mit  klinischen  Untersuchungen  befasst.  Ferner 
trat  besonders  die  Schule  Charcot’s  hervor  (Charcot,  Vülpian  **• ,4),  Orden- 
stkin  ,6) , ferner  Bourneville1*);  die  meisten  Untersuchungen  dieser  Schule 
bezogen  sich  aber  auf  die  multiple  Sklerose.  In  neuester  Zeit  ist  es  der  chroni- 
schen Myelitis  noch  schlechter  gegangen  als  der  acuten ; bei  Leyden  nimmt  sie 
noch  ein  grosses  Gebiet  ein,  während  Oppenhf.im  sie  nur  in  ganz  seltenen  Fällen 
und  nach  Ausschluss  aller  anderen  Möglichkeiten  zulassen  will.  Nach  Oppbn- 
heim’s  Angabe  laufen  die  meisten  Fälle  sogenannter  chronischer  Myelitis  auf 
multiple  Sklerose  hinaus  — freilich  rechnet  er  nicht  wie  Leyden  die  combinir- 
ten  Systemerkrankungen  einfach  zur  Myelitis. 

Für  die  Geschichte  der  disseminirten  Encephalomvelitis , die  fast  ganz 
der  neueren  und  neuesten  Periode  angehört,  verweise  ich  auf  die  Namen  Wkst- 
phal  60),  Ebstelv  ts),  Leyden  *»),  Küssner  und  Brosin.  **) 

Aetiologie.  Das  Capitcl  Uber  die  Aetiologie  ist  heutzutage  vielleicht 
das  wichtigste,  jedenfalls  das  interessauteste  in  der  Lehre  von  der  Myelitis.  Wir 
haben  oben  schon  kurz  angedeutet,  dass  die  Ursachen  zunächst  der  acuten  trans- 
versalen oder  diffusen  Myelitis  und  der  disseminirten  Encephalomvelitis  sieh  in 
zwei  grosse  Gruppen  theilen  lassen:  die  Infectionen  und  die  lntoxicationen.  Was 
zuerst  die  Infectionen  anbetrifft,  so  ist  es  wahrscheinlich,  dass  unter  Umständen 
nach  jeder  Infcctionskrankhcit  entzündliche  Processe  im  Rllekenmarke  auf- 
treten  können  und  Grasset  sl)  hat  neuerdings  diese  Ansicht  ganz  bestimmt  aus- 
gesprochen. Die  Entstehung  der  Myelitis  im  speciellen  Falle  würde  dann  entweder 
auf  eine  reine  Zufälligkeit  zurückzuführen  sein,  — darauf  nämlich,  dass  in  diesem 
Falle  gerade  eine  zur  lnfectiou  genügende  Menge  der  infeetiösen  Substanz  in’s 
Rückenmark  gelangte,  oder  darauf,  dass  heim  Vorhandensein  des  Infectionsstoffes 
im  ganzen  Kreislauf  daB  Rückenmark  des  betreffenden  Individuums  durch  ange- 
borene oder  erworbene  Schwäche  einen  Locus  minoris  resistentiae  darstellte. 
Meist  nur  klinisch  — aber  diagnostisch  sicher  — und  mit  Sorgfalt  beobachtet 
sind  Fälle  acuter  transversaler  Myelitis  uach  Masern,  Blattern.  Scharlach,  acutem 
Gelenkrheumatismus,  Pneumonie,  Typhus  abdominalis,  Malaria,  Diphtherie; 


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in  den  letzten  Jaliren  hat  die  Influenza  ziemlich  reichliches  Material  geliefert 
(Hebzog8*)  u.  A.)  und  eine  kliuisch  sehr  interessante  und  wichtige  Gruppe  bilden 
die  Fälle  transversaler  Myelitis,  die  nach  Gonorrhoe  beobachtet  worden  sind 
(Leyden).  Was  die  Syphilis  anbetrifft,  so  habe  ich  mich  schon  oben  dahin  ans- 
gesprochen, dass  ich  für  die  meisten  acuten  Paraplcgien  bei  Syphilitikern  einen 
vasculären,  nicht  entzündlichen  Ursprung  annehme.  Diese  Fälle  bilden  jedenfalls 
bei  weitem  das  Hau pteontingent  der  sogenannten  syphilitischen  Myelitis;  bei 
mehr  subacutem  Verlauf  mit  deutlichen  Reizerscheinungen  würde  man  eher  an 
eine  Meningomyelitis  gummosa  denken  und  auch  die  Fälle  primärer  echter  syphiliti- 
scher Infiltration  des  Markes,  an  deren  Existenz  ich  nicht  zweifle,  können  wohl 
kaum  in  acuter  Weise  verlaufen. 

Die  Tuberkulose  bewirkt  in  den  meisten  Fällen  — bei  Erkrankung  der 
Meningen  und  der  knöchernen  Wirbelsäule  — eine  Compression,  nicht  eine  Ent- 
zündung des  Markes;  in  seltenen  Fällen  kommt  es  aber  auch  zu  einer  direct 
tuberkulös-entzündlichen  Betheiligung  des  Markes  in  diesen  Fällen;  meist  tritt 
eine  solche  Betheiligung  auch  bei  tuberkulöser  Leptomeningitis  des  Gehirnes  und 
Rückenmarkes  ein. 

Es  folgen  dann  die  gewöhnlich  zu  den  Wundinfcctionen  gerechnet«! 
Krankheiten;  so  sah  man  diffuse  und  transversale  Myelitiden  im  Gefolge  von 
Erysipel,  Septikämie,  Milzbrand  und  bei  der  puerperalen  Infeetion.  Letztere  führt 
verhältnissmässig  häufig  zur  Myelitis  transversa.  Schliesslich  sind  wir  in  einer 
Reihe  von  Myelitisfällen  genöthigt,  eine  Infeetion  auzunehmen,  ohne  die  eigent- 
lichen Infectionserreger  selbst  zu  kennen  — Marie2*)  spricht  von  Infeetion» 
innominees , das  würden  dann  scheinbar  oder  in  Wirklichkeit  ganz  primäre 
Myelitiden  seiu  — , so  geht  es  uns  z.  B.  mit  der  Poliomyelitis  anterior  acuta 
und  mit  vielen  Fällen  von  Landry  scher  Lähmung.  Auch  der  Bacillus  coli 
communis  hat  besonders  durch  experimentelle  Untersuchungen  neuerdings  für 
diese  Fragen  Bedeutung  gewonnen.  Für  die  Lyssa,  die  ja  sicher  wohl  eine  Myelitis 
hervorruft,  ist  es  noch  fraglich  , ob  das  krankmachende  Agens  infectiüser  oder 
rein  toxischer  Natur  ist. 

Die  acute  disseminirte  Enccphalomyclitis  kommt  bei  ganz  dra- 
selben  Infcctionskrankheiten  vor  und  ist  nach  denselben  sogar  entschieden  häutiger 
als  die  umschriebene  transversale  Myelitis.  Von  oben  noch  erwähnten  Krank- 
heiten sind  als  Ursachen  derselben  beschrieben  die  Cholera,  Dysenterie, 
der  Brechdurchfall  und  die  chronische  Diarrhoe.  Die  ersten  Fälle  dieser 
Art  halien  Imbeet,  Goirbeyke  und  vor  Allem  Gubler88)  schon  1860  nach  Dysen- 
terie beschrieben;  es  folgte  im  Anfang  der  TOer-Jahre  Westpiial 80)  mit 
mehreren  Fällen  nach  Blattern,  Ebstein82)  nach  Typhus.  Bekannt  ist  aurh 
der  Fall  KÜssnrh-Brosin  88),  der  wahrscheinlich  auf  Gonorrhoe  beruht,  und 
Oppenheim  2')  erwähnt  das  Vorkommen  der  disseminirten  Myelitis  bei  Tuberkulose. 

An  dieser  Stelle  wären  auch  wohl  die  experimentellen  Untersuchungen 
zu  erwähnen,  die  besonders  von  französischen  Autoren  angestellt  sind,  denen 
wir  damit  die  Kenntnisse  vom  Zusammenhang  entzündlicher  Processe  des  Rücken- 
markes mit  ganz  bestimmten  Entzündungserregern  verdanken.  So  haben  Babinsky 
und  Charhin87)  durch  Infeetion  mit  dom  Bacillus  pyocyaneus , Rorx  und 
Yrrsin  »*)  mit  dem  Diphtheriebacillus  und  dem  Bacillus  coli  communis,  Thoixot 
und  MaSSELIN  88*)  mit  dem  letzteren  und  Bacillus  pyogenes  aureus,  ROGKB8*) 
mit  dem  Streptococcus  des  Erysipels  Myelitis  erzeugt ; ähnliche  Untersuchungen 
stammen  von  Gilbert  und  Lion8"),  Manfredi  und  Travkrsi  8I),  Vincent“), 
Widal  und  Besancon.  **)  Für  die  Diphtherie  ist  es  auch  nachgewiesen,  dass  die 
Toxine  die  gleiche  Wirkung  haben  wie  die  Bacillen  selbst.  Interessant  ist  vor 
allen  Dingen  noch , dass  nicht  nur  transversale  und  disseminirte  Myelitis  auf 
diesem  Wege  erzeugt  werden  konnten,  sondern  auch  partielle  Formen,  so  spasti- 
sche Symptome  durch  den  Bacillus  pyocyaneus  (Babinsky  und  Charrin  87)  und 
eine  der  spinalen  Muskclatrophie  ähnliche  Erkrankung  durch  den  Erysipelcoecus 


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durch  Roger.  5>)  Frühere  Versuche,  auf  chemische  Weise  mittels  Jod  und  Glycerin 
Myelitiden  hervorznrufen , wie  sie  von  Hayem  und  Liouville  und  Grancher 
angestellt  und  von  Dujardix-Bauhetz  berichtet  sind  (citirt  bei  Leyden  ,s),  hatten 
keine  einwandsfreien  Resultate  ergeben ; etwas  besser  war  das  Experiment 
Leyden  selbst  mit  Injection  von  Solutio  arsenicalis  Fowleri  gelungen. 

Wie  stellt  sich  nun  der  genaue  Modus  der  Infection  des  Markes  bei 
den  gedachten  Infectionskrankheiten  dar?  Hier  sind  drei  Wege  möglich:  1.  das 
Mark  wird  direct  durch  die  Erreger  auch  der  primitren  Erkrankung  ergriffen ; 
2.  es  erkrankt  durch  secundäre  Infectionen,  die  6ich  sozusagen  auf  die  primäre 
aufpfropfen  oder  3.  durch  Toxine,  die  sich  durch  die  primäre  Erkrankung  im 
Organismus  bilden.  Der  erste  Modus  ist  bisher,  soweit  mir  bekannt,  in  der  mensch- 
lichen Pathologie  nur  in  zwei  Fällen  nachgewiesen,  in  dem  von  Cübschmann  "*), 
der  in  einem  Falle  von  Myelitis  nach  Typhus  Typhusbacillcn  im  Rlickenmnrke 
nach  weisen  und  in  Culturen  zöchten  konnte,  und  schon  früher  in  Badmgartkn’s65) 
Falle  (Myelitis  nach  Milzbrand),  der  bei  demselben  Milzbrandbacillen  im  Ruckenmarke 
nachwies.  Sehr  viel  häufiger  — nach  Grasset51)  vielleicht  die  häufigste  Infections- 
nrt  — ist  die  durch  secundäre  Infectionserreger,  die  mit  der  primären  Erkrankung 
nichts  zu  thun  haben,  sich  aber  auf  dem  von  dieser  vorbereiteten  Boden  ansiedeln 
und  zur  allgemeinen  Infection  führen  können;  das  nimmt  man  z.  B.  ganz  bestimmt 
für  viele  Fälle  von  Lähmungen  nach  Diphtherie  au.  Hier  kommen  wohl  hauptsäch- 
lich die  Eiterkokken,  so  der  Stapbylococeus  und  Streptococcus,  in  Betracht.  So 
fand  Eisenlohr  •••)  in  einem  Falle  von  Myelitis  nach  Typhus  Staphylokokken, 
Marinesco  ,<ih)  in  einem  Falle  von  LANiiBY’scher  Paralyse  bei  oder  nach  Blattern 
zahlreiche  Streptokokken,  Barrie  ,,8C)  Staphylokokken  in  einem  Fall  von  Myelitis 
bei  Gonorrhoe.  Die  Toxine  schliesslich  sind  bisher  noch  nicht  im  Rückenmarke 
selbst  nachgewiesen , wir  müssen  sie  aber  als  Entzündungserreger  aunehmen, 
wenn  wir  geformte  Erreger  nicht  nachweisen  können  und  übrigens  ist  ihre 
Wirkung  auch  experimentell  erwieseu  (Roux-Yersix  5s).  Uebrigens  fallen  die 
Toxinmyelitiden  schon  wdeder  mehr  in  das  Gebiet  der  toxischen  Kückcnmarks- 
entzündungen. 

Möglich  wäre  es,  dass  die  weitere  klinische  Erfahrung  uns  die  Unter- 
scheidung dieser  drei  Infectionsmodi  erlauben  würde.  Die  Infection  des  Markes 
mit  den  Erregern  der  primären  Infectionskrankheit  müsste  wohl  ziemlich  gleich- 
zeitig mit  dieser  erfolgen;  die  durch  Toxine  längere  Zeit  hinterher  und  oft 
lange  nach  Heilung  der  primären  Erkrankung,  wie  wir  das  bei  Diphtherie  nicht 
selten  sehen ; eine  Mittelstellung  in  dieser  Beziehung  dürften  wohl  die  Myeli- 
tiden durch  secundäre  Entzündungserreger  einnehmen.  Ob  schliesslich  eine  mehr 
umschriebene  transversale  Myelitis  oder  eine  disseminirte  Encephalomyelitis  ent- 
steht, das  hängt  wohl  von  äusseren  Umständen  ab:  im  erstereu  Falle  gelangen 
eine  grosse  Menge  von  Infectionsstoffen  in  ein  umschriebenes  Rücken  marksgebiet 
oder  die  Toxine  wirken  auf  das  Verbreitungsgebiet  eines  einzelnen  oder  einiger 
weniger  grosser  Gefässe ; bei  disseminirter  Encephalomyelitis  verbreiten  sich  In- 
fectionserreger oder  Toxine  durch  eine  Masse  kleiner  Gefässe  im  ganzen  Gebiete 
des  Rückenmarkes,  Hirnstammes  und  unter  Umständen  auch  des  Grosshirnes. 

Es  muss  hier  daran  erinuert  werden,  dass  nach  den  heutigen  klinischen 
Anschauungen  die  erwähnten  Infectionen  viel  häufiger  als  — wenigstens  durch 
transversale  — Myelitiden  durch  periphere  Neuritiden  hervorgerufen  werden  sollen. 
Differentialdiagnostisch  können  hier  vor  Allem  cervicale  und  lumbale  Myelitiden 
Schwierigkeiten  machen.  Namentlich  hat  man  sich  gewöhnt , bei  Ansgang  in 
Heilung  eher  eine  Neuritis  anzunchmen , was  kein  ganz  sicheres  Kriterium  ist. 
Neuerdings  aber  mehren  sich  die  Beobachtungen , bei  denen  auch  in  typischen 
Fällen  sogeuanutcr  peripherer  Neuritis  eine  Mitbcthciligung  des  Rückenmarkes 
nachgewiesen  wurde;  ich  führe  nur  die  Untersuchung  von  Crocq  ,i6)  in  einem 
Falle  diphtherischer  Lähmung  au,  weil  gerade  bei  der  Häufigkeit  und  relativen 
Gutartigkeit  der  postdiphtherischen  Lähmungen  auf  ihre  neuritischc  Natur  ganz 


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besonderer  Nachdruck  gelegt  wurde.  Mabie5*)  geht  sogar  so  weit,  die  Selbst- 
ständigkeit peripherer  Neuritiden  ganz  zu  leugnen  und  sie,  ähnlich  wie  Ebb  die 
progressive  Dystrophie,  immer  von  einer  anatomisch  nicht  uachweishareu  Er- 
krankung der  Ganglienzellen  im  RUckenmarkc  ahhängen  zu  lassen.  Ich  kann 
aber  gerade  bei  den  Lähmungen  nach  Infectionskrankheiten  die  Berechtigung 
dieser  Anschauung  nicht  einsehen  ; warum  sollen  z.  B.  die  grösseren  peripheren 
Nerven8tämme  nicht  direct  durch  die  infectiösen  Gifte  angegriffen  werden  ? 

Noch  viel  bestimmter  als  bei  den  Infectionen  wird  bei  den  Lähmungen 
durch  Einwirkung  eigentlicher  Gifte , zu  denen  wir  jetzt  kommen . heutzutage 
angenommen,  dass  es  sich  meist  nm  p<  ripher-neuritische  Proeesse  handle.  Doch 
kommt  auch  hier  in  Betracht , dass  es  a priori  wenig  wahrscheinlich  ist , dass 
die  Giftwirkung  sich  auf  das  periphere  Nervensystem  absolut  beschränkt,  und  dass  bei 
genauem  Suchen  sich  meist  eine,  wenn  auch  nur  geringe,  Betheilignng  des  Markes 
findet.  Von  den  anorganischen  Giften  kommen  hier  Blei,  Arsenik  und  Phosphor  in  Be- 
tracht. Vom  Blei  ist  allerdings  nur  das  Vorkommen  umschriebener  Myelitis  des 
grauen  Vorderhornes  bewiesen  (Oelleb  *•),  Oppenheim  **),  v.  Monakow.  4S)  Die 
Natur  der  bei  Arsen-  und  Phosphorvergiftungen  gefundenen  Rtlckenmarksver- 
änderungen  ist  eine  etwas  zweifelhafte  (postmortale  Veränderungen?).  Möglicher- 
weise kommen  auch  nach  Quecksilbervergiftungen  myelitische  Proeesse  vor. 

Der  chronische  Alkoholmissbrauch  lasst  ebenfalls  das  Rückenmark  nicht 
ganz  intact.  Leyden  18)  erwähnt  uoch  das  Vorkommen  von  Lähmungen  narb 
Nitrobenzinvergiftung  und  beim  Missbrauch  von  Gopaivabalsam. 

Von  thierischen  Giften  scheint  manchmal  das  Schlangengift  acut  ent- 
zündungserregend auf  das  Rückenmark  zu  wirken.  Auch  an  manche  Fälle  von 
Fleisch-  und  Wurstvergiftung  mit  Lähmungen  wäre  hier  zu  erinnern. 

Es  folgen  dann  die  Gifte,  die  im  Körper  selbst  entstehen  und  meist  ah 
Producte  eines  krankhaften  Stoffwechsels  aufgefasst  werden;  so  hat  neuerdings 
Nonne47)  eine  Poliomyelitis  acuta  bei  Diabetes  beschrieben ; auf  Grund  schwerer 
Tuberkulose  und  der  Geschwulstkachexie  sah  Oppenheim  20' !1)  Erweichungen  im 
Ruckenmarke  auftreten,  die  er  als  entzündliche  auffasst.  Von  den  meist  die  Hinter- 
stränge betheiligenden  Erkrankungen  bei  schwerer  Anämie,  Icterus  gravis , Morbut 
Addisonii  ist  schon  oben  gesprochen.  Auch  auf  die  Autointoxication  vom  Magen  and 
Darm  aus  legt  man  heutzutage  einen  immer  grösseren  Werth,  möglich  ist  auch, 
dass  in  diesen  Fällen  manchmal  der  Bacillus  coli  communis  eine  Rolle  spielt. 

Sicher  entzündliche,  mehr  chronische  Proeesse,  die  sich  aber  mehr  auf 
bestimmte  Theile  des  Markquerschnittes  beschränken,  sind  die  Rückenmarks- 
affectionen  bei  Ergotismus,  Pellagra  und  vielleicht  beim  Lathyrismus.  Auch  ein- 
zelne Fälle  von  Beri-Beri  gehören  wohl  hierher;  nach  Mabie  auch  die  Fälle 
von  eombinirter  Entartung  bei  Paralyse  ^Syphilistoxin)  und  vielleicht  die  atnyo- 
trophische  Lateralsklerose  (?).  Ein  grösserer  Theil  chronischer  Myelitiden  geht 
wohl  direct  aus  den  acuten  hervor.  Gerade  bei  infectiösen  Processen  ist  ja  dieser 
Verlauf  von  acutem  Einsetzen  zu  mehr  chronischem  Weiterschreiten,  ab  und  zu 
mit  acuten  Schüben,  sehr  wohl  zu  erklären,  weniger  leicht  allerdings  für  die 
chemischen  Gifte.  Ich  will  nur  daran  erinnern , dass  z.  B.  für  die  multiple 
Sklerose  neuerdings  durch  Marie4)  und  Oppenheim 47)  ganz  bestimmt  ein  solcher 
Modus  angenommen  wird.  Das  häufig  acute  Einsetzen  der  ersten  Krankheits- 
symptome, der  weitere  Verlauf  in  Schüben  oder  chronisch  lassen  sich  auf  diese 
Weise  am  besten  erklären,  auch  wird  der  Zusammenhang  der  multiplen  Sklerose 
mit  acuten  Infectionskrankheiten,  dann  mit  der  acuten  Ataxie  Leyden’s,  der  ja 
das  Krankheitsbild  der  multiplen  Sklerose  sehr  getreu  copirt,  ferner  mit  chroni- 
scher professioneller  Vergiftung  (Blei,  Oppenheim47)  immer  wahrscheinlicher. 
Oppenheim  hält  auch  viele  Beobachtungen  der  sogenannten  acuten  Encephalitis 
nur  für  den  ersten  Schub  einer  multiplen  Sklerose. 

Die  gasförmigen  Gifte  scheinen  besonders  leicht  eine  disseminirte  Eme- 
phalomyelitis  hervorzurufen.  Das  ist  z.  B.  für  Kohlenoxydgas  und  Schwefclkohlen- 


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stoff  n&chgewiesen ; ich  selber  sah  einmal  eine  acute  Ataxie  im  unmittelbaren 
Anschluss  an  eine  Chloroformnarkose  eintreten.  In  engerer  Beziehung  zur  dissemi- 
nirten  Encephaloinyelitis  stehen  wohl  auch  die  Fälle  vou  Polioencephalüts  superior 
und  Poliomyeloencephalitis , die  mit  Vorliebe  die  Augenmnskelkerne  ergreifen 
und  besonders  bei  Alkoholismus,  aber  z.  B.  auch  bei  Schwefelsäurevergiftung 
beobachtet  sind. 

Bei  der  durch  die  Forschungen  der  letzten  Jahre  immer  mehr  sich  in 
den  Vordergrund  drängenden  Erkenntnis  von  der  ausschlaggebenden  Bolle,  die 
bei  der  Entstehung  der  acuten  und  subacuten  Myelitiden  die  Infectionen  und  die 
Intoxicationen  spielen,  sind  andere,  früher  für  sehr  wichtig  gehaltene  ätiologische 
Momente  sehr  in  den  Hintergrund  gedrängt.  Ganz  vernachlässigen  darf  man 
sie  aber  wohl  auch  heute  noch  nicht,  ln  erster  Linie  wäre  hier  die  Erkältung 
zu  erwähnen.  Soweit  dieselbe  auf  einer  ausgedehnten  und  starken  Abkühlung 
der  Haut  beruht,  ist  sie  vielleicht  auch  eine  Intoxication,  die  auf  einem  durch 
Unterdrückung  der  Hautthätigkcit  im  Körper  zurflckgehaltenen  Gifte  beruht,  ln 
derselben  Weise  könnte  man  sieh  die  Wirkung  einer  Unterdrückung  habitueller 
Fusssehweisse  erklären.  LF.YDEX  hat  in  einem  Falle  nach  Trauma  disseminirte 
Myelitis  beobachtet.  Im  Allgemeinen  werden  sonst  echte  Myelitiden  nach  Traumen 
nur  Vorkommen,  wenn  dasselbe  schwere  Verletzungen  der  Haut  und  der  Wirbel- 
säule bedingt  hat  und  zu  directer  septischer  Infcction  des  Markes  Anlass  giebt. 

Hitzig  **)  hat  allerdings  in  seinen  Untersuchungen  über  die  traumatische  Tabes 
neuerdings  auch  beim  Trauma  die  Entstehung  eines  Toxins  für  discutirbar  ge- 
halten. Von  l'eberanstrengungen  wissen  wir  jetzt,  dass  sie  schwere  periphere 
Lähmungen  hervorrufen  können  — eine  Erkrankung  des  Markes  wäre  also  auch 
wohl  möglich  — ist  diese  dann  aber  eine  myeli tische?  Für  die  Häufigkeit  so- 
genannter „Myelitis“  nach  Feldzügen  kommt  neben  Erkältung,  Traumen,  Ueber- 
anstrengung,  Alkoholmissbrauch  sicher  wohl  auch  die  Syphilis  in  Betracht.  An  eine 
Myelitis  nach  sexueller  Ueberanstrengung  bei  sonst  einem  gesunden  Menschen  kann 
ich  nicht  glauben,  ebensowenig  an  ihr  Entstehen  nach  Unterdrückung  der  Menses; 
hei  den  nach  Gemüthsbewegungen  eintretenden  Paraplegien  — auch  Gowers”) 
hält  noch  an  dieser  Aetiologie  fest  — dürfte  es  sich  wohl  eher  um  vasculäre 
Erkrankungen  handeln.  In  England  spricht  man,  entsprechend  der  viel  grösseren 
Bedeutung,  die  man  dort  der  Gicht  in  der  allgemeinen  Pathologie  beilegt,  auch 
von  einer  Gichtmyelitis  (Gowers  s,i.  Dass  die  acute  Myelitis  in  allen  Lebens- 
altern und  gleichmässig  bei  beiden  Geschlechtern  Vorkommen  wird , kann  man 
schon  aus  ihren  Ursachen  sehliessen. 

Pathologische  Anatomie.  Der  schwierigste  Abschnitt  des  im  Ganzen 
schon  so  schwierigen  Capitels  der  Myelitis  ist  unstreitig  die  pathologische  Ana- 
tomie dieser  Krankheit.  Das  liegt  zum  Theil  in  rein  änsserlichen  Gründen.  Wir 
sind  selten  in  der  Lage,  einen  Fall  von  echter  acuter  Myelitis  im  frischen  Zu- 
stande, wo  die  entzündliche  Natnr  der  Erkrankung  am  leichtesten  festzustellen 
wäre,  zu  untersuchen  — meist  dauert  die  Erkrankung,  weun  sie  auch  zum  Tode 
führt,  über  das  acute  Stadium  hinaus  — , die  anatomische  Untersuchung  liefert 
dann  kurz  gesagt  die  Befunde  der  Narbenbildung.  Erb  17)  z.  B.  hebt  ganz  be- 
stimmt hervor,  dass  bei  dem  Mangel,  respective  der  Seltenheit  von  anderem  ana- 
tomischen Materiale  die  pathologische  Anatomie  der  acuten  Myelitis  fast  ganz 
aufgebaut  sei  auf  die  schnell  letal  endenden  Fälle  sogenannter  traumatischer 
Myelitis;  diese  zur  Myelitis  zu  rechnen  haben  wir  heutzutage  aber  kein  Hecht. 

Ein  anderer  Theil  der  als  acute  Myelitis  beschriebenen  Fälle  ist  sicher  vascu* 
lären,  embol Ischen,  thrombotischen  Ursprunges;  hier  handelt  es  sieh  also  eben- 
falls nicht  um  eine  entzündliche  Affeetion.  Es  ist  deshalb  nicht  zu  verwundern, 
dass,  wie  wir  bald  sehen  werden , die  von  den  Autoren  als  charakteristisch  für 
die  aente  Myelitis  angegebenen,  speeiell  die  histologischen  Befunde,  sich  abgesehen 
von  ganz  besonderen  und  bisher  sehr  seltenen  Ausnahmen,  nicht  von  de.n  unter- 
scheiden , was  von  Anderen  wieder  bei  nicht  entzündlicher  traumatischer  oder 

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vasculärer  Erweichung  gefunden  ist.  Noch  mehr  verwischen  sich  diese  Unter- 
schiede bei  der  chronischen  Myelitis,  sei  es  nun,  dass  diese,  wie  am  häufigsten, 
aus  der  acuten  hervorgegangen  ist,  oder  dass  es  sich  von  Anfang  an  nur  um 
eine  der  zwar  seltenen,  aber  doch  auch  von  Oppenheim  anerkannten  chronischen 
Myelitiden  handelt.  Hier  überwiegen  im  anatomischen  Bilde  stets  die  Zeichen  der 
regressiven  Metamorphose,  die  Narbenbildung,  und  diese  zeigt  in  Fällen  von 
entzündlicher  und  nicht  entzündlicher  Zerstörung  des  Markes  stets  dasselbe  Bild. 

Zu  allen  diesen  Schwierigkeiten  kommt  noch  hinzu,  dass  die  feinere  pathologische 
Histologie  gerade  im  Gebiete  des  Centralnervensystems  noch  sehr  viel  zu  wünschen 
übrig  lässt  — für  die  so  sehr  wichtigen  Ganglienzellen  giebt  uns  eigentlich  nur 
die  NissEL'sehe  Färbung  die  Möglichkeit  eines  Fortschrittes  — und  dass 
schliesslich  noch  die  zur  mikroskopischen  Untersuchung  nöthige  Härtung  des 
Materiales  in  vielen  dieser  Fälle  Schwierigkeiten  bereitet.  Wenn  diese  heutzu- 
tage auch  wohl  meist  durch  Colloidineinbettung  überwunden  werden  können , so 
lässt  doch  gerade  diese  Methode  die  Herstellung  sehr  dünner  Schnitte  nicht  zu. 

Wenn  oben  von  einigen  ganz  besonderen  und  bisher  sehr  seltenen  Fällen 
echter  Myelitis  gesprochen  ist,  die  sich  durch  die  Möglichkeit  einer  sicheren 
Unterscheidung  von  sonstigen  acut  eintretenden  Erkrankungen,  speciell  den  Er- 
weichungen des  Rückenmarkes,  auszeichnen , so  bezieht  sich  das  auf  die  paar 
Fälle,  bei  denen  bisher  bakterielle  Entzündungserreger  im  erkrankten  Rücken- 
marke  seihst  gefunden  werden  konnten.  Es  sind  das  die  Falle  von  Ccbsch- 
maxn ")  nach  Typhus  abdominalis , Bai  moaeten  t6)  nach  Milzbrand,  Eisen- 
lohr  6bb)  nach  Typhus  abdominalis,  Marinesco  u.  Oettingek  ••»)  nach  Blattern, 
BakuiE  6#c)  nach  Gonorrhoe.  Nur  von  Cuhsohmaxx  und  Baumgartex  wurden  die 
specifiächen  Krankheitserreger  der  primären  Erkrankungen,  der  Typhus-  respective 
der  Milzbrandbacillus,  noch  im  Ruckenmarke  gefunden,  Eisexi.ohr,  Marinesco  und 
BarkiE  konnten  nur  seenndäre  Entzündungserreger,  Strepto-  und  Staphylokokken, 
nachwcisen.  Uebrigens  scheint  gerade  hei  der  gonorrhoischen  Myelitis  auch  ohne 
Bakterienbefund  die  Diagnose  Entzündung  nicht  selten  sichergestellt  werden  zu 
können,  da  diese  meist  von  den  Meningen  ausgeht  und  oft  nur  eine  Randroyelitis 
ist  Die  genaueste  histologische  Untersuchung  mit  Zuhilfenahme  aller  modernen 
Methoden  haben  wohl  OettinQER  und  MARINESCO  in  ihrem  Falle  angestellt.  Bei 
ihnen  handelte  es  sich  klinisch  um  einen  Fall  aufsteigender  LAXDRY’scher  Läh- 
mung. Anatomisch  wurde  das  periphere  Nervensystem  ganz  normal  befunden. 

Im  Kürkenmarkc  fanden  sich  vor  allem  Veränderungen  an  den  Blutgefässen,  die 
sich  Uber  den  ganzen  Quer-  und  Längssehnitt  des  Markes  ausbreiteten  und  in 
der  Hauptsache  in  der  Einlagerung  massenhafter  Leukocyteu  und  anderer  Zellen 
zwischen  den  Häuten  der  Gefässe  des  Markes  bestanden  (Perivascnlitis).  Diese 
Zellen  enthielten  oft  Streptokokken.  Letztere  fanden  sich  auch  überall  frei  im 
Gewebe  und  in  denjenigen  Zellen,  die  hier  zwischen  den  Nervenfasern  als  zellige 
Infiltration  des  Markes  lagerten.  In  kleineren  Gefässen  fanden  sich  Thromben 
und  endarteriitisebe  Processe;  in  ihrer  Umgehung  oft  frische  Blutungen.  Die  Gan- 
glienzellen zeigten  alle  Stadien  der  trüben  Schwellung,  ferner  eine  Aenderung  in  der 
Anordnung  ihrer  chromatophiien  Substanz,  häufig  ein  Ahreissen  der  Aehsencylinder 
und  Protoplasmafortsätze  dicht  an  der  Zelle.  Der  Centralcanal  war  besonders  dicht 
mit  Mikroben  angefüllt , in  ihm  verbreitete  sich  wahrscheinlich  der  Process  so 
rasch  von  unten  nach  oben  ; im  Lendenmarke  war  die  Erkrankung  am  stärksten 
ausgeprägt. 

In  diesem  und  den  ihm  gleichstebenden  Fällen  kann  natürlich  über  die 
entzündliche  Natur  der  Markerkraukung  kein  Zweifel  sein  und  ich  habe  die 
histologischen  Befunde  im  Falle  Mahinesco’S  so  ausführlich  gegeben , weil  ich 
glaube,  dass  dieser  Fall  für  die  pathologische  Anatomie  der  Rückenmarksentzündung 
im  acuten  Zustande  geradezu  ein  Paradigma  darstellt  und  uns  den  Weg  anzeigt, 
auf  dem  die  weitere  Forschung  auf  diesem  Gebiete  vorangehen  muss.  Freilich 
werden  wir  derartige  Befunde  nur  in  den  Fällen  erwarten  dürfen,  hei  denen 

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die  Entzündung  entweder  vom  Erreger  einer  primären  Erkrankung  direct  oder 
wenigstens  von  secundüren  geformten  Entzündungserregern  ausgeht ; schwieriger 
wird  die  Sache  schon , wenn  die  Toxine  des  primären  Krankheitserregers  in  Be- 
tracht kommen,  wie  wir  das  in  so  vielen  Fällen  annehmen  müssen. 

Aber  so  wichtig  diese  Fälle  auch  sind,  sie  bilden  bUher  doch  nur  eine 
ganz  kleine  Minderzahl,  um  auf  sie  ein  für  alle  Fälle  passendes  Bild  der  patho- 
logischen Anatomie  der  Myelitis  aufzubauen.  Hier  wie  auf  dem  gesammteu  Ge- 
biete dieser  Erkrankung  sind  wir  bei  der  Mangelhaftigkeit  unserer  Kenntnisse, 
wenn  wir  nicht  überhaupt  auf  eine  systematische  Darstellung  verzichten  wollen, 
genöthigt , dem  praktischen  Bedtirfniss  Concessionen  zu  machen.  Thun  wir  das, 
so  kann  die  Darstellung  der  pathologischen  Anatomie  der  acuten  Myelitis,  wenig- 
stens der  diffusen  oder  transversalen,  auch  heute  noch  kaum  eine  andere  werden, 
als  sie  uns  vor  20  Jahren  Leyden  18)  und  Erb  •’)  — der  letztere  Autor  schon 
mit  grossem  Bedenken  — geliefert  haben,  trotz  aller  neueren  Widersprüche  gegen 
ein  solches  Verfahren,  die  oben  schon  kurz  angedeutet  sind.  Kur  unter  diesen 
ausdrücklichen  Vorbehalten,  auf  die  ich  später  noch  einmal  znrückkomme,  wolle 
man  die  folgende  Darstellung  betrachten,  die  sich  übrigens  im  Wesentlichen  — 
ich  weiss  nichts  Besseres  — an  die  Ausführungen  Ekb’s  6)  und  Pick's  S3)  anlehnt. 

Halten  wir  uns  zunächst  wieder  an  die  acute  Myelitis  und  an  die  hier 
vor  Allem  in  Betracht  kommende  transversale  oder  diffuse  Form.  Der  erste  Aus- 
druck bedeutet,  dass  sich  die  Erkrankung  ohne  System  über  den  ganzen  Quer- 
schnitt in  irgend  einer  Höhe  des  Rückenmarkes  ausbreitet ; er  bedeutet  aber  — 
was  ich  hier  schon  hervorheben  will  — nicht,  dass  diese  Erkrankung  auf  irgend 
einem  Querschnitte  soweit  geht,  dass  nun  dort  jede  einzelne  Nervenfaser  functions- 
nnfähig  geworden  ist;  gerade  bei  der  Myelitis  linden  sich  solche  totale  Quer- 
schnittsunterbrechungen fast  nie,  sondern  es  sind  zwischen  den  erkrankten  Partien 
überall  noch  mehr  weniger  grosse  Inseln  normaler  Substanz  vorhanden  Das 
Adjectivum  diffus  bezieht  sich  auf  die  Ausdehnung  des  Processcs  in  der 
Längsachse  des  Markes  — diese  kann  sehr  verschieden  sein;  manchmal  werden 
ganz  erhebliche  Strecken  des  Markes  befallen,  wobei  natürlich  in  den  verschie- 
denen Höhen  die  Ausdehnung  Uber  den  Querschnitt  wieder  eine  sehr  verschiedene 
sein  kann. 

Es  folgt  zuerst  der  makroskopische  Befund.  Man  hat  sieh  gewöhnt,  nach 
dem  Befunde  mit  dem  blossen  Auge  die  Anatomie  der  Myelitis  in  3 Stadien 
einz utheilen.  Leyden18)  und  mit  ihm  Pick33)  unterscheiden  eine  rotbe,  eine  gelbe 
und  eine  weisse  Erweichung  — das  letzte  Stadium  bildet  dann  schon  den  L’eber- 
gang  zur  Narbenbildung.  Erb“)  spricht  von  dem  ersten  Stadium  der  rothen,  dem 
zweiten  der  gelben  und  weisseu  Erweichung  — in  die  zweite  Hälfte  dieses 
Stadiums  stellt  er  schon  den  Beginn  der  regressiven  Metamorphose,  die  Leyden 
graue  Erweichung  nennt  — und  dein  dritten,  dem  Stadium  des  Ausganges,  mit 
Induration,  Cysten-  und  Höhlenbildung.  Im  ersten  Stadium  — der  rothen  Er- 
weichung — zeigt  sich  das  Rückenmark  an  der  erkrankten  Partie  leicht  ge- 
schwellt. Macht  man  einen  Querschnitt,  so  quillt  das  Mark  meist  erheblich  über 
die  Querschnittsebene  aus  der  Pia  heraus.  Das  normale  Bild  des  Querschnittes 
ist  nicht  mehr  scharf  zu  erkennen , mehr  oder  weniger  oder  auch  ganz  sind 
die  Unterschiede  zwischen  der  grauen  und  weissen  Substanz  verwischt.  Bei  etwas 
schwächerer  Ausprägung  der  Erkrankung  sieht  der  Querschnitt  fleckig  verändert, 
wie  inarmorirt  aus,  die  erkrankten  Partien  zeichnen  sich  durch  eine  rotbe  bis 
rothbraune  Färbung  aus,  vielfach  linden  sich  dazwischen  auch  feinere  capilläre 
Blutungen  — in  stärkeren  Graden  — der  sogenannten  hämorrhagischen  Myelitis 
— ist  der  ganze  Querschnitt  homogen  hoehroth  oder  rothbraun,  chocoladcnartig 
gefärbt,  eine  Farbe,  die  durch  allmäligc  Zersetzung  der  ausgetretenen  rothen 
Blutkörperchen  zustande  kommt.  Die  Erweichung  des  Markes  kann  dabei  eine 
verschieden  starke  sein  — in  einem  Falle  handelt  es  sich  nur  um  eine  etwas 
grössere  Sueculenz,  eine  Art  Oedern  des  Markes,  in  anderen  Fällen  ist  die  Er- 


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weichung  bis  zu  einer  breiartigen  Consistenz  vorgeschritten,  so  dass  es  heim 
Durchschnitt  zu  einem  mehr  weniger  vollständigen  Ausfliessen  des  Markes  ans  der 
Pia  kommt.  In  vielen  Fällen  bestehen  zugleich  Hyperämie  der  und  entzündliche 
Auflagerungen  auf  der  Pia  mater. 

Das  zweite  Stadium,  die  gelbe  Erweichung,  zeigt  eine  Schwellung  des 
Markes  nicht  mehr,  eher  schon  eine  leichte  Verschmälerung  desselben.  An  die 
Stelle  der  rothen  bis  rothbraunen  Farbe  des  Markes  auf  den  Querschnitten  ist 
jetzt  eine  gelbröthliche,  gelbe  bis  weissliche  getreten ; einerseits  sind  durch  Auf- 
hören der  Hyperämie , durch  Resorption  der  ausgetretenen  Blutkörper  und  des 
Blutfarbstoffes  die  Unterlagen  für  die  rothen  Farbennuancen  geschwunden,  ander- 
seits sind  durch  den  weiter  vorgeschrittenen  Zerfall  des  Markes  und  die  reich- 
liche Bildung  von  Körnchenzellen  (s.  n.)  die  rahmartigen  Substanzen  entstanden,  die 
dem  Inhalte  der  Pin  den  gelblichweissen  bis  weissen  Farbenton  verleihen.  Die 
Erweichung  ist  in  diesem  Stadium  meist  noch  weiter  vorgeschritten  — nicht  so 
selten  fliesst  beim  Durchschneiden  des  Markes  fast  der  ganze  Inhalt  ans:  nur  eia 
dtinncr  Saum  an  der  Peripherie  bleibt  dann  wohl  noch  stehen.  Nach  Eub‘) 
bildet  übrigens  nicht  nur  das  zerfallene  Mark  das  Substrat  dieser  Erweichung, 
sondern  zugleich  auch  noch  ein  flüssiges  Exsudat  aus  den  Blutgefässen. 

Tritt  allmälig  eine  immer  weiterschreitende  Resorption  des  zerfallenen 
Markes  und  auch  der  es  aufnehmenden  und  fortschaffenden  Körnchen  zellen  auf, 
dann  treten  ausser  den  immer  erhaltenen,  oft  gewucherten  und  in  ihren  Wan- 
dungen verdickten  Blutgefässen , vor  Allem  die  bindegewebige  Septa  und  die 
vermehrte  und  verdickte  Neuroglia  zutage,  und  an  den  Stellen,  wo  das  ge- 
schieht, nimmt  der  Querschnitt  des  Markes  einen  mehr  grauen  Farbenton  an  — 
das  ist  das  Stadium  der  grauen  Erweichung  von  Leyden18)  und  Pick,19)  Die 
grau  verfärbten  Inseln,  die  sich  allmälig  über  den  ganzen  Querschnitt  ausbreiten. 
bilden  den  Ausgangspunkt  zu  dem  letzten  Stadium  Erb’s  — dem  Stadium  der 
Narbenbildung.  In  diesem  Stadium  ist  das  Rückenmark  im  ganzen  Gebiete  der 
Erkrankung  geschrumpft.  Ist  die  Längsausdehnung  der  Entzündung  nur  eine 
geringe  gewesen,  so  hat  sie  wohl  den  Eindruck  eines  einfachen  Knickes  au  ihrer 
Stelle ; erstreckt  sie  sich  Uber  eine  Anzahl  von  Rllckenmarkssegmenten,  so  ähnelt 
dasselbe  an  der  erkrankten  Partie  eher  einem  mehr  weniger  platten  Bande.  Die 
Consistenz  des  Markes  nimmt  bei  dieser  Schrumpfung  zu  — es  schneidet  sich 
viel  härter  als  die  gesunde  Umgebung  — mit  einem  Worte,  die  Sklerose  ist  ein- 
getreten. Auf  dem  Querschnitte  erscheint  die  sklerotische  Partie  jetzt  deutlich 
grau.  Nimmt  sie  mehr  weuiger  den  ganzen  Querschnitt  ein,  so  gehen  von  ihr 
aus  nach  oben  und  nach  unten  die  bekannten  secundären  Degenerationen,  die 
sich  ebenfalls,  wenn  sie  ausgeprägt  sind,  schon  am  frischeu  Marke  durch  ihre 
graue  Farbe  von  der  Umgebung  abheben.  Auch  breitet  sich  nicht  selten,  wenn 
das  eigentliche  acute  Stadium  vorbei  ist,  der  Process  in  schleichender  Weise  sn 
der  Peripherie  des  primären  Herdes  weiter  aus;  damit  ist  dann  der  Uebergang 
von  einer  acuten  in  eine  chronische  Myelitis  gegeben.  In  seltenen  Fällen  bildet 
sich  an  Stelle  der  Erkrankung  eine  grosse,  mit  hellem  Serum  erfüllte  dünnwandige 
Cyste;  sehr  viel  häufiger  sind  in  der  Narbe  kleinere  Höhlen  ohne  eigene  Wan- 
dungen. Natur  und  Ursprung  dieser  beiden  Arten  von  Cysten  ist  wohl  ein  ganz 
differenter. 

Man  sollte  annehmen,  dass  bei  echter  Myelitis  der  Entzündungsherd 
auch  in  einen  Abscess  übergehen  könnte,  doch  sind  primäre  Rückenmarksabsccsse 
abnorm  selten  und  ist  ihre  Entstehung  aus  dem  klinischen  Krankheitsbilde  der 
Myelitis  bisher  noch  nicht  beobachtet  (vielleicht  einmal  bei  gouorrhoischer  Myelitis, 
wohl  aber  bei  der  experimentellen  Myelitis,  Leyden  >*).  Deutlicher  als  im  frischen  Zu- 
stande gelingt  es  nach  der  Härtung  in  MCi.LER's  Flüssigkeit,  die  erkrankten  Partien 
von  den  gesunden  abzugrenzen.  Bekanntlich  färbt  die  Chromsäure  das  erkrankte 
Mark  nur  hellgelb,  während  die  gesunden  Markscheiden  einen  dunkelbraunen, 
manchmal  grünbraunen  Ton  annehmen.  Vor  Allem  hat  das  Bedeutung  im  Stadium 

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der  Narbenbildung  einer  acuten  Myelitis  oder  bei  von  Anfang  an  chronischen, 
resp.  später  chronisch  gewordenen  Myelitiden.  Hier  kann  man  manchmal  auf 
dem  Querschnittsbilde  schon  makroskopisch  auch  ganz  kleine,  gesund  gebliebene 
Partien  von  den  kranken  unterscheiden.  Ebenso  heben  sich  die  secundären 
Degenerationen  scharf  ab,  manchmal  so  scharf,  dass  man  sich  später  bei  der 
mikroskopischen  Untersuchung  wundert,  wieviel  Nervenfasern  im  degenerirten 
Gebiete  doch  noch  erhalten  sind.  Im  Stadium  der  rothen  und  der  gelben  Er- 
weichung ist  der  Querschnitt  des  in  Müller  erhärteten  Rückenmarkes,  wenn  die 
Härtung  überhaupt  soweit  gediehen  ist,  dass  man  einen  Querschnitt  anlegen  kann, 
abgesehen  von  Blutextravasaten,  die  einen  hochrothen  Ton  zeigen  können,  diffus 
hellgelb  gefärbt  und  zeigt  im  Uebrigen  seine  Erkrankung  hauptsächlich  dadurch, 
dass  die  Schnittfläche  keine  glatte  wird , sondern  meist  ein  krümlichcs,  bröck- 
liehes  Aussehen  zeigt. 

Die  bisherigen  Charaktere  der  acuten  transversalen  Myelitis  waren 
durch  die  makroskopische  Betrachtung  gewonnen  — sie  werden  nur  erkannt, 
wenn  der  Process  ziemlich  grober  Natur  ist.  Ist  die  Erkrankung  im  ersten 
Beginne,  oder  nimmt  sie  nur  kleine  und  kleinste  Theile  des  Querschnittes  ein, 
so  kann  das  Mark  makroskopisch  ganz  normal  erscheinen ; andererseits  sind 
früher  jedenfalls  baldig  einfache,  selbst  postmortale  Erweichungen  als  entzünd- 
liche angesehen.  Auch  bei  den  groben,  bis  zur  Zerfliessung  gehenden,  den  ganzen 
Querschnitt  ergreifenden  entzündlichen  Affectioncn  kann  natürlich  ein  Einblick  in 
die  feineren  Veränderungen  nur  durch  das  Mikroskop  gewonnen  werden.  Ich 
will  hier  aber  nochmals  hervorheben,  dass  diese  Untersuchung  schon  technisch 
(Härtung,  feine  Schnitte)  erhebliche  Schwierigkeiten  darbietet,  dass  unsere  Kennt- 
nisse von  den  feineren  histologischen  Details  dieser  Processe  noch  sehr  geringe 
sind,  speciell  auch  deshalb,  weil  unsere  bisherigen  Färbemethoden  mehr  Rück- 
sicht auf  die  groben  Verhältnisse  der  topographischen  Anordnung  der  Krank- 
heitsgebiete als  auf  die  pathologische  Histologie  genommen  haben,  dass  wir 
deshalb  in  dieser  Beziehung  heute  kaum  weiter  sind,  als  Erb1’)  es  vor  20  Jahren 
war.  Die  mikroskopischen  Untersuchungen  können  am  frischen  oder  am  gehärteten 
und  eingebetteten  Rtlckenmarke  angestellt  werden:  einzelne  histologische  Details, 
z.  B.  die  Körnchenzellcn,  die  Amyloidkörper,  gewisse  Arten  des  Markzerfalles, 
erkennt  man  am  besten  am  frischen,  andere,  wie  die  Wucherung  und  Wand- 
erkrankung der  Blutgefässe,  die  Zunahme  des  Binde-  und  Neurogliagewebes,  die 
Schwellung  der  Achseneylinder,  besser  an  gefärbten  Präparaten. 

Im  Ganzen  kann  man  — ich  halte  mich  auch  hier  wieder  an  die  drei 
Stadien  Erb’s8)  und  auch  sehr  eng  an  seine  detaillirte  Darstellung  — ungefähr 
Folgendes  als  Wichtigstes  hervorheben : 

1.  Stadium:  rothe  Erweichung.  Erweiterung  und  strotzende  Füllung  der 
Capillaren  und  auch  der  kleineren  Arterien,  Austritt  weisser  und  rother  Blut- 
körperchen, zunächst  in  die  Arterienwand  und  von  da  in  das  umgebende  Gewebe. 
Reichliche  Hämorrhagien  grösseren  oder  geringeren  Umfanges  in  der  Umgebung 
der  Blutgefässe.  Durchsetzung  des  ganzen  Markes  mit  weissen  und  zum  Theil 
auch  mit  rothen  Blutkörperchen  — kleinzellige  Infiltration.  Die  Nervenfasern 
zuerst  im  Beginn,  später  in  allen  Stadien  des  Zerfalles:  Quellung  und  Fracturining 
der  Markscheide,  so  dass  dieselbe  auf  dem  Längsschnitt  ein  rosenkranzähnliches 
Aussehen  gewinnt  und  sich  immer  weniger  intensiv  bei  Behandlung  mit  Osmium- 
säure schwärzt ; Bchliesslich  vollständiger  Zerfall  der  Markscheide  bei  reichlicherem 
Auftreten  von  Körnchenzellen.  Oft  enorme  Anschwellung  der  Achseneylinder,  auch 
diese,  wie  man  auf  Längsschnitten  sicht,  segmentär,  so  dass  hier  ebenfalls  das 
Bild  des  Rosenkranzes  resultirt;  diese  Schwellung  kann  mit  oder  ohne  gleich- 
zeitige der  Markscheide  stattfinden  — bei  Färbung  mit  Weiuekt's  Hämatoxylin 
uebmen  die  gequollenen  Achseneylinder  oft  einen  blassgrauen  Ton  an,  wie  blasse 
Tintenflecke  auf  Löschpapier.  Zu  gleicher  Zeit  Schwellung  der  Neuroglia  und 
ihrer  Zellen.  Breiterwerden  der  Interstitien  zwischen  den  einzelnen  Nervenfasern  — 
Encyclop.  Jahrbücher.  VI. 


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erster  Beginn  aucii  der  Wucherung  des  eigentlichen  Bindegewebe« , das  mit 
den  Blutgefässen  und  in  den  grossen  Septcn  in's  Bückenmark  eindringt.  Schwellung 
und  trübe  Körnung  der  Ganglienzellen : dieselben  verlieren  ihre  polygonale  Ge- 
stalt, werden  rundlich  und  plump  — die  Fortsätze  brechen  ah  oder  verlieren 
sich  ganz  — am  längsten  halten  sich  wohl  Kern  und  Kernkörper,  aber  schliess- 
lich verschwinden  auch  sie  — die  Ganglienzellen  sind  dann  oft  schwer,  nicht 
selten  nur  durch  ihre  Lage  im  Centrum  des  Querschnittes  als  solche  zu  erkennen. 

Im  2.  .Stadium,  der  gelben  Erweichung,  ist  der  Zerfall  des  .Markes  auf 
seinem  Höhepunkt  angelangt,  ist  die  Erweichung  bis  zum  Flüssigwerden  vor- 
geschritten, so  dass  auch  nach  der  Härtung  noch  ein  Theil  ausfliesst,  so  be- 
kommt man  natürlich  nur  ein  unvollkommenes  Bild  des  Querschnittes.  Soweit  die 
Feberreste  des  Markes  durch  das  Celloidin  an  ihrer  Stelle  festgehalten  sind, 
sieht  man  abwechselnd  ganze  Haufen  gewucherter  und  in  ihren  Wandungen  ver- 
dickter Blutgefässe  mit  reichlicher  kleinzelliger  Infiltration  der  nächsten  l'm 
gebung  — dann  wieder  Haufen  gänzlich  zerfallener,  nur  noch  bruchstückweise 
vorhandener  Markscheiden,  die  letzten  Reste  dieser  zeigen  sich  als  krflmliche, 
bei  Weigert- Färbung  sch warze  Pigmentreste,  ferner  fettiger  Detritus,  Reste  von 
Blutfarbstoff  und  zerfallene  Blutkörper,  stark  gequollene  freie  Acliscncylinder  — 
au  eh  wohl  ab  und  zu  eine  gesunde  Nervenfaser.  Wieder  andere  Inseln  sind 
gebildet  von  gequollener  und  gewucherter  Neuroglia  oder  auch  von  echtem 
Bindegewebe.  Die  Ganglienzellen  sind  in  kleine  homogen  gefärbte  Schollen  ver- 
wandelt, ohne  Andeutung  von  Kern  und  Kernkörperchen.  Ist  der  Zusammenhang 
des  Markes  ein  noch  etwas  festerer,  so  bekommt  man  wohl  einen  vollständigen 
Querschnitt  heraus;  auf  demselben  zeigen  sich  die  einzelnen  Arten  des  Zerfalles 
genau  in  derselben  Weise  wie  oben  beselirieben , nur  dass  dann  wohl  mehr  ge- 
sunde Fasern  vorhanden  sind.  Manchmal  bilden  in  diesem  Stadium  nur  die  Blot- 
gefässe  oder  die  gewucherte  Neuroglia  das  Gertist,  das  den  Markquerschnitt  noch 
zusammcnhält.  Bei  frischer  Untersuchung  findet  mau  gerade  in  diesem  Stadium 
die  reichlichste  Menge  der  bekannten  Körnchenzellen,  ferner  unregelmässig  ge- 
formte Myelintropfen,  auclt  Fetttropfen,  Blutpigment  und  rothe  Blutkörperchen 
im  Zerfall,  daneben  auch  weisse  Blutkörperchen. 

Im  3.  Stadium  — der  Vernarbung  — treten  die  Beste  des  Markzer- 
falles  immer  mehr  zurück  — in  den  Vordergrund  tritt  die  Wucherung  der 
Neuroglia  und  auch  des  echten  welligen  Bindegewebes,  das  schliesslich  fa-t  dm 
ganzen  Querschnitt  des  Markes,  resp.  seiner  erkrankten  Partien,  einnimmt,  ln 
diesem  Narbengewebe  finden  sich  aucii  die  sogenannteu  Spinnenzellen.  Auf  den 
acuten  Process  weisen  vor  Allem  noch  die  reichlich  im  Narbengewebe  vor- 
handenen dickwandigen  Gefässc  hin ; manchmal  finden  sieh  mitten  im  Narben- 
gewehe noch  einzelne  gut  erhaltene  Nervenfasern , häufiger  alter  die  Reste 
zerfallener  Nerven,  Piginentsclmllen  und  krlimlichcr  Detritus;  dann  Beste  von 
Blutungen,  ab  und  zu  wohl  auch  eine  kaum  noeh  zu  erkennende  Ganglienzelle, 
Beste  von  Körncheuzcllen  und  dergleichen.  Die  oben  erwähnten  grösseren  Cysten 
unterscheiden  sielt  in  histologischer  Beziehung  nieht  von  den  bei  Blutung  und 
Erweichungen  im  Gehirn  entstehenden;  die  kleineren  ohne  eigentliche  Wandungen 
sind  wohl  zurUckzuführen  auf  primäre  strangförmige  Nekrosen  (Schsiai'ss**)- 
Dafür  spricht,  dass  sie  sich  öfters  als  direete  Fortsetzungen  solcher  nekrotischer 
Stellen  finden:  an  anderen  Stellen  liegt  das  nekrotische  Stück  noch  losgelöst  wie 
ein  Knochensequester  in  (1er  Todtcniade  in  der  Höhle  darin,  ln  diesem  3.  Stadium 
findet  man  die  Amyloidkörper  am  häufigsten. 

Feber  die  Histologie  der  secundären  Degenerationen  ist  nichts  weiter 
zu  sagen.  Ebenso  ist  es  natürlich  klar,  dass  die  vom  erkrankten  Gebiete  direct 
abhängigen  Nerven  und  Muskeln  einer  Degeneration  anhrimfallen. 

Auch  über  die  histologischen  Verhältnisse  der  sogenannten  chronischen 
diffusen  und  transversalen  Myelitis  braucht  nichts  weiter  gesagt  zu  werden.  W ie 
erwähnt,  ist  die  primäre  chronische  Myelitis  sehr  zweifelhafter  Natur  und  ist 


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Uber  ihren  histologischen  Charakter  — abgesehen  von  den  Fallen,  die  zur  mul- 
tiplen Sklerose  gehören  — so  gut  wie  nichts  bekannt.  In  den  beschriebenen  Fällen 
überwiegt  die  Härtung  und  Sklerosirung  des  Markes,  in  den  diffusen  Fällen  ist 
oft  das  ganze  Mark  sehr  verdünnt;  histologisch  unterscheiden  sich  diese  Fälle 
kaum  von  den  acuten  im  Narbenstadium  — reichliches  Bindegewebe,  viele 
Spinnenzellen,  viel  Blutgefässe.  Schliesst  sieh  eine  chronisch  fortschreitende 
Myelitis  an  eine  acute  an,  so  wird  man  Bich  ihr  histologisches  Bild  wohl  aus 
dem  oben  Gesagten  construircn  können  — im  Gebiete  des  Furtschreiteus  werden 
sich  die  histologischen  Veränderungen  der  rothen  und  gelben  Erweichung,  uur 
weniger  intensiv,  finden,  während  der  übrige  Theil  des  erkrankten  Markes  mehr 
das  Bild  des  Narbenstadiums  darbietet. 

Noch  eine  sehr  schwierige  und  zweifelhafte  Frage  wäre  hier  zu  er- 
örtern. Es  giebt  mit  Sicherheit,  wenn  auch  seltene  Fälle  acuter  transversaler 
Myelitis  mit  Ausgang  in  volle  Heilung,  wenigstens  im  klinischen  Sinne,  und  gerade 
in  den  Fällen,  wo  die  Erkrankung  sicher  entzündlichen  Charakters  ist,  ist  dieser 
glückliche  Ausgang  noch  am  häufigsten.  Man  muss  annehmen,  dass  in  diesen 
Fällen  die  Krankheitsnoxe,  etwa  das  entzündliche  Exsudat,  nur  functionshemmend, 
nicht  zerstörend  auf  dii-se  Nervenfasern  und  Zellen  des  erkrankten  Bezirkes  ge- 
wirkt hat.  Wirkliche  Zerstörungen  scheinen  sieh  aller  Erfahrung  nach,  wenigstens 
im  Kuckenmarke  des  Menschen,  nicht  zu  repariren  — wenn  man  vielleicht  aueli  bei 
sehr  geringer  Ausdehuuug  der  Läsionen  nach  den  neuesten  Untersuchungen  von 
Stköbk  ein  Wiederauswachsen  der  zerstörteu  Nervenfasern  für  möglich 
halten  kann. 

Damit  wären  die  Angaben  über  die  pathologische  Anatomie  der  trans- 
versalen und  diffusen  Myelitis  wohl  erschöpft.  Ich  halte  es  aber  für  durch- 
aus nothwendig,  jetzt,  nachdem  wir  übersehen  können,  was  die 
Autoren  als  charakteristische  anatomische  Merkmale  der  acuten  und 
chronischen  Myelitis  angegeben  haben,  noch  einmal  darauf  hinzu- 
weisen, dass  alle  diese  Dinge  eine  specifische  Bedeutung  für  die 
Myelitis  im  engeren  Sinne  nicht  haben,  dass  also  die  ganze  anato- 
mische Begründung  dieser  Erkrankung  auf  den  schwächsten  Füssen 
steht,  und  dass,  wie  schon  erwähnt,  das  vorstehend  von  mir  ent- 
worfene Bild  einen  mehr  praktisch  didaktischen  als  wirklich  wissen- 
schaftlichen Werth  besitzt.  Wir  brauchen,  um  das  zu  erkennen,  uns  nur 
die  histologischen  Beschreibungen  anzusehen,  wie  sie  für  ätiologisch  sichere  vascu- 
läre  Erweichungen,  dann  bei  der  sogenannten  traumatischen  Myelitis,  oder  für 
die  acute  Erweichung,  infolge  von  Compression  z.  B.  durch  Tumor  mehrfach 
initgctheilt  sind.  Was  die  vaseuläre  Erweichung  anbetrifft,  so  brauche  ich  nur 
daran  zu  erinnern,  dass  wir  im  Gehirne  bei  Thrombose  und  Embolie  schon  lange 
die  rothe,  gelbe  und  weisse  Erweichung  kennen,  um  zu  beweisen,  dass  die  be- 
treffenden Erweichungen  im  Kückeumarke  sich  in  ihrem  makroskopischen  Befunde 
nicht  von  denen  des  Gehirues  unterscheiden  und  schon  aus  diesem  Grunde  die 
Wahrscheinlichkeit,  dass  es  sich  in  vielen  der  als  acute  Myelitis  beschriebenen 
Fälle  um  vasculüre  Erkrankungen  handelt,  als  gross  erscheinen  zu  lassen.  Auch 
die  Bildung  der  grossen  mit  Serum  gefüllten  Cysten  ist  auf  diese  Weise  am 
besten  zu  erklären.  Auch  stimmt  in  denjenigen  genau  mikroskopisch  untersuchten 
Fällen  sogenannter  acuter  Myelitis,  bei  denen  die  vaseuläre  Natur  der  Erkran- 
kung sicher  erkannt  wurde  — ich  erinnere  nur  an  den  Fall  von  TlETZEN**),  den 
«lieser  unter  Maxskopf’s  und  Makchand's  Leitung  bearbeitete  — , der  histologische 
Befund  ganz  mit  dem  oben  skizzirten  überein.  TlKTZBN*J)  gebt  sogar  soweit, 
alle  Fälle  acuter  Myelitis  für  vaseuläre  Erweichungen  anzusehen.  Ebenso  ist  das 
in  den  Fällen,  bei  denen  ein  Trauma  plötzlich  einen  grösseren  Bezirk  des  Markes 
zerstört,  oder  wo,  nach  bisher  nicht  recht  erklärter  Weise,  bei  einem  com- 
priraiivnden  Tumor  ganz  plötzlich  rapider  Markzerfall  eintritt,  namentlich  fehlen 
liier  nicht  die  Wucherungen  der  Blutgefässe , die  perirasculären  Blutungen  lind 


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«lie  zeitige  Infiltration  des  Markes,  die  Körnchenzelleu , die  Wucherung  der 
Ncuroglia  etc.  etc.  Koch  ähnlicher  sehen  sich  schliesslich  die  Ausgänge  aller 
dieser  Erkrankungen  im  Stadium  der  Karbenbildung,  und  wir  milssen  ehrlich 
eingestchen,  dass  es  uns  heutzutage  fast  immer  ganz  unmöglich  ist,  einer  Rückcn- 
marksnarbc  anzuschen,  ob  sie  aus  einer  wirklich  entzündlichen  Erkrankung  oder 
aber  aus  einer  einfachen  Erweichung  oder  Zerquetschung  hervorgegangen  ist. 
Dieser  Ansicht  war  auch  Ebb  schon  vor  20  Jahren,  und  wenn  er  damals  noch 
annahm,  dass  bei  reichlicher  Anwesenheit  von  Körnchenzellen , stark  gefüllten 
Blutgefässen,  gequollenen  Aehsenevlindern,  Wucherung  des  interstitiellen  Gewebes 
die  entzündliche  Natur  des  Processes  gegenüber  einer  nicht  entztindlicheu  Er- 
weichung wohl  sichcrgestellt  sei,  so  wird  er  jetzt,  wo  wir  wissen,  dass  alle 
diese  Dinge  etwas  Specifisehes  nicht  haben,  wohl  nicht  mehr  auf  dieser  Meinung 
beharren.  Kurz  gesagt  — das  für  die  Myelitis  als  charakteristisch 
angegebene  histologische  liild  des  Rückenmarkes  gestattet 
an  sich,  abgesehen  von  dem  bisher  selten  geführten  Nach- 
weis specifiseher  Entzünd  ungserreger,  fast  die  Diagnose  auf 
eine  wirkliche  Entzündung  gegenüber  einer  andersartigen 
Desintegration  des  Markes  zu  stellen:  erst  durch  die  Anamnese, 
epeciell  durch  die  ätiologischen  Momente  und  auch  durch  gewisse  Besonderheiten 
im  klinischen  Verlaufe  kann  man  manchmal  zur  Entscheidung  kommen : ebenso 
entscheidend  — aber  meist  gegen  eine  Myelitis  — können  noch  andere  Befunde 
bei  der  Scction  wirken  — so  der  klinisch  nicht  geführte  Nachweis  eines  com- 
primirenden  Momentes  oder  der  sichere  Befund  einer  Thrombose  oder  Embolie. 

Viel  charakteristischer  und  ohne  Weiteres  für  die  entzündliche  Natur 
der  Erkrankung  sprechend  ist  die  Art  der  Verbreitung  und  der  Sitz  der  Krank- 
heitsherde in  den  Fällen  von  acuter  disseminirter  Encephalomyelitis.  Die  ersten 
anatomischen  Untersuchungen  dieser  Fälle  sind  wohl  von  Westphai.  60)  und  Ebstein“) 
.ingestellt  — doch  handelte  es  sich  hier  um  Fälle  vorgeschrittenen  Verlaufes. 
Auch  der  Fall  Baumgartkn'S  gehört  wohl  hierher.  Eine  genaue  anatomische 
Untersuchung  eines  frischen  derartigen  Falles  verdanken  wir  KOsskkb  und 
llltOSlN. »»)  Es  handelte  sich  hier  um  kleinste,  mehr  weniger  dicht  nebeneinander 
liegende  Herde  der  Degeneration,  die  ihre  entzündliche  Natur  am  deutlichsten 
durch  ihr  stetiges  Gebuudcnsein  au  die  Umgebung  feinster  Blutgefässe  doenmen- 
tirten ; hier  kommt  es  zuerst  zur  Auswanderung  weisser  Blutkörperchen,  durch 
sie  zur  Zerstörung  von  Nervenfasern  in  umschriebenen  Gebieten  — dann  mischen 
sich  die  Zerfallsproductc  der  kleinzelligen  Infiltration  bei  — schliesslich  kommt 
es  zur  Resorption,  wobei  an  der  erkrankten  Stelle  zunächst  nur  das  Glianetz 
Übrig  bleibt.  Zur  eigentlichen  Narbenbildung  war  es  im  Falle  Küssnkb  und  Bbosis 
noch  nicht  gekommen. 

Nach  dem,  was  ich  oben  bei  der  transversalen  Myelitis  über  die  Mög- 
lichkeit einer  Heilung  (zum  mindesten  im  klinischen  Sinne!  gesagt  habe,  kann 
mau  sich  leicht  vorstellen,  dass  dieser  günstige  Ausgang  bei  der  disserainfrten 
Myelitis  häufiger  sein  wird.  Dem  entsprechen  auch  die  klinischen  Erfahrungen. 

Symptomatologie,  Verlauf  und  Ausgänge.  — 1.  Myelitis 
transversa  ( diffusa ) acuta.  Der  Versuch  einer  genauen,  alles  umfassenden 
und  möglichst  systematischen  Darstellung  der  acuten,  transversalen  und  mehr 
weniger  diffusen  Myelitis  stösst  auf  eine  Anzahl  von  Schwierigkeiten,  die  seine 
vollkommene  Ausführung  unmöglich  machen.  *)  Diese  Schwierigkeiten  beruhen  vor 

*)  Audi  neuere  Autoren,  z.  B.  Gowers  und  Pick,  nehmen  noch  ein  jmar  andere 
Formen  der  acuten  Myelitis  an.  Bei  der  focalen  Myelitis  von  Gowers  beschränkt  sich  die 
Erkrankung  auf  einen  kleinen  Herd,  der  aber  nicht  so  klein  ist,  wie  die  einzelnen  Herde  der 
dUseminirten  .Myelitis;  es  dürfte  sich  dabei  wohl  häufig  um  einen  ersten  Herd  der  multiplen 
Sklerose  handeln.  — Die  sogenannte  diffuse  Myelitis  centralis  scheint  in  der  Beschreibung 
ihres  klinischen  Bildes  auch  mit  der  Landry'schen  Paralyse  zusammenxufallen.  von  der  es 
auf-  und  absteigende  Formen  giebt.  Eine  Unterscheidung  in  parenchymatöse  und  interstitielle 
.Myelitis  kann  ich  nicht  zugeben,  die  echte  Myelitis  ist  immer  interstitiell. 


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-IßO 

Allem  auf  der  ganz  unsystematischen,  in  jedem  Falle  verschiedenen  Ausbreitung 
des  oder  der  Krankheitsherde  im  Ruckenmarke.  Das  bezieht  sich  sowohl  auf  die 
Ausdehnung  in  der  Quere,  wie  in  der  Länge.  Wenn  wir  von  transversaler  Myelitis 
sprechen,  so  müssen  wir  uns  dabei  wohl  bewusst  sein,  dass  eine  totale  Leituugs- 
unterbrechung  auf  irgend  einem  Querschnitte  bei  der  Myelitis  mindestens  sehr 
selten  ist,  dass  in  einem  Falle  viele  und  grosse,  im  anderen  wenige  und  kleine 
Inseln  gesunder  Nervensubstanz  übrig  bleiben.  Noch  weniger  einheitlich  ist  die 
Ausdehnung  in  der  Längsrichtung;  kann  sich  der  Herd  einmal  auf  ein  einzelnes 
Segment  beschränken  — im  Ganzen  ist  das  recht  selten  — so  ergreift  er  das 
anderemal  das  Mark  fast  in  seiner  ganzen  Länge.  Schliesslich  finden  sich  auch, 
abgesehen  von  der  eigentlichen  disseminirten  Myelitis,  häufig  neben  einem  grossen 
Herde  ein  oder  eine  Anzahl  kleiner:  ebenso  kann  der  primär  kleinere  Herd  sieb 
allmälig  nach  oben  und  nach  unten  vergrössern.  Da  nun  die  Symptomatologie 
der  Rflckenmarkferkrankungcu  ganz  und  gar  abhängt  von  der  Function  der  von 
der  Erkrankung  ergriffenen  Segmente,  nach  obiger  Auseinandersetzung  aber  so- 
wohl die  Zahl  der  ergriffenen  Segmente  eine  sehr  verschiedene  sein  kann , als 
auch  diese  einzelnen  Segmente  wieder  in  ganz  differenter  Weise  partiell  oder 
mehr  weniger  total  transversal  lädirt  sein  können,  so  ergiebt  sieh  wohl  von 
selbst,  wie  verschiedenartig  in  jedem  einzelnen  Falle  je  nach  Höhensitz,  Längs- 
nnd  Querausdehnung  die  Symptomatologie  der  Myelitis  sein  muss  und  die  Unmög- 
lichkeit, jede  mögliche  Art  in  ausführlicher  Weise  zu  behandeln.  Die  schwanken- 
den Details  müssen  vielmehr,  wie  PICK  sagt,  der  auf  die  Anatomie  und  Physiologie 
des  Rückenmarks  gestutzten  Analyse  überlassen  bleiben,  einer  Aufgabe,  deren 
Lösung  wir  ja  bei  der  stetig  fortschreitenden  Erkenntniss  auf  diesem  Gebiete 
immer  näher  kommen.  Hier  soll  zunächst  ein  kurzer  Abriss  «ler  jeder  acuten 
Myelitis  zukommenden  Symptome  und  Allgemeines  über  Verlauf  und  Ausgänge 
beigebracht  werden;  im  Anschluss  daran  einige  detaillirtere  Angaben  über  die 
Symptome  bei  bestimmter  Localisation  der  Erkrankung.  Die  Symptomatologie  der 
disseminirten  Encepbalomyelitis  folgt  dann  in  einem  besonderen  Abschnitte. 

Die  durch  entzündliche  Erkrankung  des  Rückenmarkes  hervorgerufenen 
Störungen  lassen  sich  eiutheilcn  in  solche  der  Sensibilität,  der  Motilität,  der 
Reflexe  und  in  trophische  Störungen.  Alle  diese  Störungen  verhalten  sich  in  ltezug 
auf  die  Zeit  ihres  Auftretens , ihre  Intensität  und  in  der  Art  ihrer  Gruppiritng 
untereinander,  anch  abgesehen  von  den  durch  die  Segmenthöhe  der  Erkrankung 
hervorgerufenen  Differenzen,  im  Einzelfalle  natürlich  sehr  verschieden.  Spceiell 
hängen  solche  Verschiedenheiten  auch  von  dem  mehr  oder  weniger  rapiden  Verlauf 
der  Erkrankung  ab.  So  pflegen  z.  U.  in  den  Fällen  sogenannter  Myelitis  acutis- 
siinrt  (auch  haemorrhatjica  genannt),  deren  entzündliche  Natur  allerdings  sehr 
zweifelhaft  ist , die  Schmerzen  ganz  zu  fehlen , während  in  den  subacut 
oder  mehr  chronisch  verlaufenden  Fällen  vage  oder  auch  auf  bestimmte  llaut- 
abschuitte  beschränkte  schmerzhafte  Empflndungcn  den  übrigen  Symptomen  meist 
vorausgehen  können.  Diese  schmerzhaften  Empfindungen  bestellen  in  mehr  weniger 
umschriebenen  reissenden,  lauciniremlen  und  bohrenden  Schmerzen,  auch  Rücken- 
schmerzen können  natürlich  vorhanden  sein , ebenso  manchmal  auch  sehr  deut- 
licher Gürtelschmerz.  Werden  dann  die  auf  eine  Rttckenmarkserkrankung  liiu- 
deutemlen  und  spceiell  die  Lühmnngssymptomc  erst  bestimmter,  so  pflegen  auch 
■ n diesen  Fällen  die  Schmerzen  aufzuhören  und  man  kann  überhaupt  wohl  sagen, 
«lass  ausgesprochene  und  länger  andauernde  schmerzhafte  Empfindungen  immer 
«len  Gedanken  an  eine  Betheiligung  der  Meningen  und  damit  auch  der  Rücken* 
niarkswnrzeln  nahclegcn  müssen  , wenn  sie  nicht  sogar  zur  Diagnose  des  Aus- 
ganges der  Erkrankung  von  den  Meningen  — also  einer  Meningomyelitis  — 
berechtigen.  Ganz  sicher  ist  natürlich  dieser  Umstand  nicht  zu  verwerthen  , da 
wir  heutzutage  bestimmt  wisseu,  dass  auch  durch  Läsionen  der  sensiblen  Bahnen 
im  Rüekenmarkc  und  sogar  im  Gehirn  peripher  empfundene  Schmerzen  ausgelöst 
werden  können,  die  sieli  manchmal  dann  sogar  in  ganz  anästhetischen  Gebieten 


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<J7U  MYELITIS. 

bemerkbar  machen  (Anaesthesin  dolorosa).  Sehr  viel  häufiger  und  namentlich 
auch  hartnäckiger  als  eigentliche  Schmerzen  sind  sogenannte  Parästhesien,  sowohl 
irn  Beginne  als  im  weiteren  Verlaufe  der  Erkrankung,  so  das  Gefühl  von  Tanb- 
sein,  Kingeschlafensein  und  Ameisenkriechen  in  den  Gliedern,  das  Gefühl  von 
Schwere  in  den  Gliedern , ferner  plötzliche , an  den  Extremitäten  vom  Kumpfe 
bis  zu  den  Fingern  oder  Zehen  herablaufende  Wärme-  oder  Kälteempfindungen, 
so  dass  die  Patienten  das  Gefühl  haben,  als  würden  sie  an  diesen  Stellen  plötzlich 
mit  warmem  oder  kaltem  Wasser  begossen.  Mir  speciell  ist  besonders  häufig 
geklagt  worden  über  die  Empfindung,  als  sei  die  betreffende  Extremität  oder  das 
Extremitätenende  verdickt,  geschwollen,  ein  Gefühl,  das  so  deutlich  war,  dass 
die  Patienten  sich  nur  sehr  schwer  von  der  Subjectivität  dieser  Empfindung  über- 
zeugen Hessen. 

Die  sensiblen  Lähmungserscheinungen  verhalten  sich  im  einzelnen  Falle 
ebenfalls  sehr  verschieden.  Meist  folgen  sie  zeitlich  den  Schmerzen  und  Parästhe- 
sien nach.  So  kann  eine  deutliche  Anästhesie  in  manchen  Fällen  während  des 
ganzen  Verlaufes  fehlen,  während  in  anderen  Fällen  das  Gebiet  der  Anästhesie 
sehr  bald  der  Erkrankungshöhe  im  RUckenmarke  entspricht,  ihr  oberes  Ende  .in 
der  Grenze  der  dem  höchst  erkrankten  Rückenmarkssrgmcntc  entsprechenden 
Hautpartie  findet.  Das  hängt  natürlich  davon  ab,  ob  überhaupt  und  in  welcher 
Ausdehnung  die  sensiblen  Bahnen  auf  dem  erkrankten  Querschnitte  mitaflicirt 
sind.  Es  ist  aber  sehr  wichtig  zu  wissen,  dass,  da  die  Qncrsohnittserkrankung  fast 
nie  eine  totale  ist,  auch  die  obere  Grenze  der  Anästhesie  an  der  Haut  fast  nie  der 
oberen  Grenze  der  Rückeumarkserkrankung  entspricht,  sondern  fast  immer 
beträchtlich,  manchmal  sehr  tief  darunter  liegt;  man  kann  also  ans  der  Aus- 
dehnung der  Gefühlsstörungen  an  der  Haut  nur  in  seltenen  Fällen  eine  Diagnose 
auf  die  Ausdehnung  der  Erkrankung  im  RUckenmarke  machen.  In  denjenigen 
Fällen,  in  denen  die  Anästhesie  langsam  vorschreitend  allmälig  das  ganze  von  dem 
betreffenden  Herde  in  Mitleidenschaft  zu  ziehende  Ilautgcbiet  ergreift,  sieht  n;an 
nicht  so  selten,  dass  sie  von  unten  nach  oben  fortschreitet,  zuerst  die  Fltsse,  dann 
die  Beine,  schliesslich  den  Rumpf  ergreift. 

Meist  ist  die  Anästhesie  bei  RückenmarksentzUndung  entsprechend  der 
transversalen  Ausdehnung  der  Erkrankung  eine  doppelseitige  und  auf  beiden  Seiten 
symmetrische,  — ebenso  sitzen  die  Schmerzen  in  beiden  Körperhälften  an  gleichen 
Stellen.  Bei  mehr  weniger  halbseitigen  Myelitiden  würden  die  subjectiven  Gefühls- 
6törungen  auf  der  Seite  der  Erkrankung,  die  Anästhesien  gekreuzt  sitzen,  letztere 
abgesehen  von  der  dem  Herde  selbst  entsprechenden  Hautpartie  — solche  Be- 
schränkung auf  eine  Seite  ist  aber  bei  Myelitis  recht  selten.  Nicht  so  selten 
kommt  es  vor,  dass  die  Gefühlsstörung  keine  totale,  sondern  eine  partielle  ist, 
d.  h.  dass  sic  nicht  alle  Gefühlsqualitätcn  betheiligt.  Die  Beschränkung  der 
Empfindungsstörung  auf  die  Schmerz-  und  Temperaturempfindungen  ist  keines- 
wegs ein  specifisches  Merkmal  der  Syringomyelie,  sie  kommt  — ganz  abgesehen 
von  peripherischen  Erkrankungen  der  Nerven  — auch  bei  der  Myelitis  vor. 
namentlich  geht  sie  manchmal  der  totalen  Anästhesie  voran  oder  folgt  auf  sie 
im  Beginne  der  Reeonvalesecnz.  Manchmal  findet  man  unter  diesen  Umständen 
in  den  peripheren  Theilen  der  ergriffenen  Körpertheile  conjplete  Anästhe>ie. 
während  in  den  weniger  distalen  nur  das  Gefühl  für  Schmerz-  und  Temperatur- 
reiz  erloschen  ist.  In  wieder  anderen  Fällen  — hier  handelt  es  sich  um  leichtere 
Gefühlsstörungen  — ist  die  Empfindung  für  eine  Berührung  oder  für  einen 
Nadelstich  zwar  vorhanden,  aber  sie  wird  mangelhaft  oder  gar  nicht  localisirt. 
Ebenso  kann  die  Empfindung  eine  verlangsamte  sein.  Ist  die  Läsion  des  Quer- 
schnittes an  ihrem  oberen  Ende  eine  totale,  so  dass  Anästhesiegrenze  der  Hunt 
und  oberstes  ergriffenes  Rückenmarkssegment  mit  einander  harmoniren,  so 
findet  man  über  der  Anästhesie-  auch  wohl  eine  schmale  Hyperästhesiezone, 
doch  ist  das  bei  der  .Myelitis  immerhin  selten , viel  seltener  als  z.  B.  bei  der 
Compression  des  Rückenmarkes. 


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JlYEUTIS. 


471 


Auch  bei  den  motorischen  Erscheinungen  gelten  die  Reizerscheinungen 
den  Lähmungserscheinungen  meist  voran.  Zu  den  ersteren  gehören  häutige  und 
sehr  heftige,  aber  meist  rascli  vorübergehende,  sogenannte  Orampi , die  vor 
Allem  an  den  unteren  Extremitäten  und  meist  in  den  Wadenmuskeln  auftreten, 
sehr  schmerzhaft  sind  und  vollständig  denen  entsprechen,  wie  sie  bei  peripheren 
Erkrankungen,  speciell  bei  der  alkoholischen  Neuritis  Vorkommen.  Auch  länger 
dauernde,  ebenfalls  schmerzhafte  tonische  Spannungen  ganzer  Extremitäten  können 
Vorkommen,  doch  sind  diese  vor  Allem  bei  der  Erkrankung  vorderer  Wurzeln 
beobachtet.  Sehr  häutig  werden  plötzliche,  unwillkürliche,  rasche  oder  noch  häufiger 
langsame  , dann  eigentümlich  träge  Bewegungen  einer  ganzen  Extremität  beob- 
achtet, so  namentlich  Beugungen  des  Oberschenkels  im  Hüftgelenke,  die  zu 
einer  erheblichen  Loeomotion  des  ganzen  Beines  führen ; manchmal  ist  auch  diese 
Bewegung  mit  Schmerzen  verbunden,  andererseits  kommt  sie  wieder  in  willkür- 
lich ganz  gelähmten  und  anästhetischen  Gliedern  vor,  kann  aber  auch  unter 
diesen  Umständen  dem  Kranken  zum  Bewusstsein  kommen  durch  die  Erschütte- 
rung, die  durch  sie  dem  ganzen  Körper  mitgetheilt  wird.  Nach  Pick1*)  soll  es 
manchmal  auch  zu  tctanischer  Starre  des  ganzen  Körpers  kommen  — das  ist 
jedenfalls  nur  bei  sehr  diffuser  Myelitis  möglich  und  würde  mir  immer  den  Ver- 
dacht auf  eine  sehr  starke  Betheiligung  der  Meningen  nahelegen. 

Auf  die  motorischen  Reizerscheinungen  folgen  dann  rascher  oder  lang- 
samer die  Lähmungserseheinungen.  Der  gewöhnlichste  Typus  der  Rückenmarks- 
lähmung  ist  die  Paraplegie,  — die  Lähmung  der  Beine  und  der  unteren  Theile 
des  Kumpfes  — in  selteneren  Fällen  sind  alle  vier  Extremitäten  betheiligt,  die 
genauere  Ausbreitung  entspricht  der  Höhe  des  Krankheitssitzes  und  der  grösseren 
oder  geringeren  Vollständigkeit  der  Quersehnittserkrankung,  ihre  Intensität  hängt 
vor  Allem  vom  letzteren  Momente  ab.  ln  ausgeprägten  Fällen  betrifft  die 
Lähmung  a Ile  diejenigen  Muskeln,  die  von  d eu  Rücke nm ar kssegmen ten 
der  Erk  rank  it  ugss  teile  selbst  und  den  darunter  liegenden  abhängen. 
Hier  soll  zunächst  nur  von  diesen  Fällen  die  Rede  sein,  über  die  allein  All- 
gemeines sich  aussagen  lässt,  einiges  über  die  Gruppirung  der  Lähmungen  bei 
besonderem  Sitze  der  Entzündung  soll  noch  weiter  unten  folgen.  Tritt  die  Läh- 
mung — also  meist  eine  solche  der  Unterextremitäten  — rasch  ein  (sie  kann  Uber 
Nacht  eine  totale  werden),  namentlich  häutig  sind  aber  acute  Verschlimmerungen, 
so  betrifft  sie  zunächst  alle  unterhalb  der  Läsionsstelle  repräsentirten  Muskeln, 
und  ist  es  fast  immer  eine  schlaffe  izum  Theile  Shncklähmung);  erst  allmälig  tritt 
fast  immer , ausgenommen , wenn  di«  Myelitis  im  Lendenmarke  ihreu  Sitz  hat, 
oder  in  ganz  seltenen  Fällen  auch  bei  anderem  Sitze  (s.  u.)  in  den  dauernd  ge- 
lähmt bleibenden  Muskeln  der  Beine  eine  immer  zunehmende  Steifigkeit  ein,  die 
schliesslich  zur  starren  Contractur  (in  den  Beinen,  auf  die  sie  ja  meist  beschränkt 
ist,  am  häufigsten  zu  Streck-,  nicht  selten  aber  auch  zu  Beugecontractur)  führte. 
Letztere  ist  besonders  prognostisch  sehr  ungünstig,  weil  sie  die  Pflege  und  Lage- 
rung des  Kranken  sehr  erschwert,  sich  auch  meist  noch  mit  starrer  Adductions- 
contrartur  der  Oberschenkel  verbindet.  Tritt  die  Lähmung  mehr  allmälig  ein, 
so  hält  die  Contractur  mit  ihr  gleichen  Schritt.  In  diesem  Falle  kann  die  Läh- 
mung erst  das  eine,  dann  das  andere  Bein  befallen,  und  sie  schreitet  dann  ebenso 
wie  die  Anästhesie  manchmal  von  unten  nach  oben  fort,  so  dass  in  solchen  Fällen 
z.  B.  eine  Bewegung  des  Beines  in  der  Hüfte  noch  möglich  ist,  während  der 
Fnsg  schon  vollständig  gelähmt  ist.  Wird  allmälig  die  Querseh nittsmiterbrecbung 
eine  totale,  so  entspricht  schliesslich  natürlich  auch  iu  diesen  Fällen  die  Lähmung 
dem  Sitze  dieser  vollkommen  transversalen  Affection,  — sie  ist  bis  in  diese  Höhe 
eine  totale  und  alle  Muskeln  betreffende. 

Hier  ist  der  Platz,  Uber  die  Verhältnisse  der  Sensibilitäts-  zu  den  Motilitäts- 
störungen besonders  in  topographischer  Beziehung  zu  sprechen.  Diese  siud  sehr 
wechselnde.  Im  Allgemeinen  kann  mau  sagen,  dass  die  Motilität  fast  immer  erheb- 
licher gestört  ist,  als  die  Sensibilität  — ja  es  kann,  wie  schon  erwähnt,  bei 


47  2 


MYELITIS. 


schwerer  motorischer  Lähmung-  jede  Anästhesie  fehlen,  noch  häufiger  verliert  sich 
die  anfangs  vorhandene  sehr  rasch , während  die  motorische  Lähmung  bestehen 
bleibt.  Meist  hinkt  hei  langsam  eintreteuder  Paraplegie  die  Anästhesie  der  Lähmung 
nach , — so  dass  in  einem  bestimmten  Termin  die  Lähmung  schon  auf  eine 
Läsion  höherer  Segmente  hinweist  als  die  GefUhlsstörung,  und  nicht  selten  kommt 
es  vor,  dass  selbst  auf  der  Höhe  der  Erkrankung  Sensibilitäts-  und  Motilitäts- 
störungen sich  segmentär  nicht  decken . weil , wie  gesagt . die  ersten;  nicht  so 
weit  nach  oben  reicht,  wie  die  letztere.  Alles  das  muss  natürlich  von  der  unregel- 
mässigen Verbreitung  der  Erkrankung  auf  dem  Querschnitte  abhäugen. 

Selbstverständlich  sind  sowohl  in  Bezug  auf  die  Motilitäts-  wie  die 
Sensibilitätsstörungen  Heiz-  und  Lähmungserscheinungen  zeitlich  nicht  scharf  von 
einander  getrennt,  so  treten  bei  schubweisem  Verlaufe  natürlich  immer  neue 
Heizsymptome  auf,  auf  die  dann  wieder  entsprechende  Lähmungssymptome  folgen. 

Auch  Uber  die  trophischen  Verhältnisse  der  gelähmten  Muskeln  kann 
schon  an  dieser  Stelle  das  Nothwendige  gesagt  werden.  l>ie  von  den  direct 
ergriffenen  RUckenmarkssegmenten  abhängigen  Muskeln  verfallen  mehr  weniger 
rasch  einer  degenerativen  Atrophie.  Diese  zeigt  sich  deutlich,  wenn  die  Myelitis 
das  Hals-  oder  Lendenmark  ergreift  — Genaueres  siehe  unten  — , während  bei 
dem  weit  häufigeren  Sitze  im  Dorsalmarke  sich  natürlich  die  degenerative  Atrophie 
einzelner  Intercostalmuskcln  nicht  uachweisen  lässt.  Der  degenerativen  Atrophie 
entspricht  complete  oder  partielle  Entartuugsreaction.  Die  unterhalb  der  Läsious- 
stelle  gelähmten  Muskeln  werden  zunächst  in  ihrer  Ernährung  nicht  wesentlich 
beeinträchtigt,  später  aber,  in  Fällen,  bei  denen  eine  Besserung  nicht  cintritt  und 
die  Lähmung  complet  bleibt,  entweder  unter  dem  Einflüsse  des  Marasmus  — 
vielleicht  auch  durch  die  Abtrennung  von  trophischen  Centren  des  Gehirns  — 
erkranken  auch  sie  und  magern  meist  ganz  erheblich  ab.  Die  elektrische  Erreg- 
barkeit ist  dann  meist  sehr  herabgesetzt,  aber  nur  quantitativ;  in  einzelnen  Fällen 
guter  Beobachter  soll  sie  ganz  erloschen  gewesen  sein. 

Die  .Sehneureflexe , spcciell  die  Reflexe  von  der  Patellar-  und  Achilles- 
sehne, können  bei  acut  ersetzender  Lähmung  bei  jedem  Sitze  der  Läsion  fehlen 
(Shock),  aber  meist  fehlen  sie  nur  kurze  Zeit.  Später  nehmen  sie  fast  immer  sehr 
erheblich  zu  — abgesehen  von  der  Localisatiou  der  Erkrankung  im  Lenden- 
marke, wobei  dann  zugleich  degenerative  Atrophie  der  Muskeln  besteht  — in 
gleichem  Schritte  mit  der  allmälig  zunehmenden  Steifigkeit  und  Contractur  der 
Beine.  Zuletzt  besteht  meist  ausgesprochener  Patellar-  und  Achillessehuenclonus 
und  das  Phänomen , das  Brown-Sbquard  sehr  ungeeigneter  Weise  Epilepsie 
spinale  genannt  hat  — schon  bei  den  geringsten  passiven  Bewegungen  der 
I'nterextremitäten  oder  sogar  schon  bei  leichtesten  Berührungen  der  Haut  der- 
selben, vor  Allem  auch  beim  Versuch,  die  Sehnenrettexe  auszulösen,  treten  die 
heftigsten,  langamlauerndeu  Schüttelbe wegungen  der  Unterextremitäten  und  manch- 
mal des  ganzen  Körpers  ein.  Höchst  selten  ist  jedenfalls  bei  Myelitis,  dass  auch 
bei  hohem  Sitze  der  Entzündung  die  Sehnenreflexe  dauernd  fehlen  und  dass  auch 
die  Lähmung  eine  schlaffe  bleibt . doch  hat  z.  B.  Bastian  ,0)  solche  Fälle  mit- 
getheilt.  Es  ist  jetzt  wohl  sicher  festgestellt,  dass  auch  bei  hochsitzenden  totilen 
transversalen  Läsionen  des  Rückenmarks,  ohne  Betheiligung  des  Lendenmarkes, 
die  Sehnenreflexe  dauernd  fehlen  und  die  Lähmung  eine  schlaffe  bleibt  oder 
zum  wenigsten  bleiben  kann ; dass  das  bei  der  Myelitis  so  selten  vorkommt, 
liegt  wohl  daran,  dass  eine  totale  transversale  Läsion  bei  dieser  Krankheit  eine 
Seltenheit  ist. 

Die  Hautreflexe  sind  wenigstens  bei  nicht  ganz  total  transversaler  Läsion, 
abgesehen  voy  denjenigen,  deren  Reflexbogen  in  die  erkrankten  Segmente  fällt, 
erhalten.  Einzelne , wie  z.  B.  die  Plantarreflexe , sind  ganz  besonders  resistent 
und  fehlen  manchmal  auch  in  denjenigen  Fällen  nicht,  bei  denen  man  aus  anderen 
Gründen  eine  totale  Unterbrechung  des  Querschnittes  aunehuieu  muss.  Im  l'ebrigcn 
sind  die  Hautreflexe  mit  wenigen  Ausnahmen  (Plantar-,  Cremasterreflex)  auch  bi 


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MYELITIS. 


473 


Gesunden  so  wechselnd  und  häufig  schwer  oder  gar  nicht  auszulösen,  dass  ihre 
praktische  Bedeutung  dadurch  sehr  beeinträchtigt  wird. 

Zu  den  Lähmungserscheinungen  gehören  auch  die  von  Seiten  der  Blase 
und  des  Mastdarmes  und  namentlich  die  ersteren  sind  für  die  Myelitis  von  sehr 
erheblicher  diagnostischer  und  prognostischer  Bedeutung.  Blascnstörungen  sind 
nicht  so  selten  bei  der  Myelitis  das  erste  auffällige  Symptom  oder  doch  dasjenige, 
was  zuerst  durch  seine  Intensität  und  die  dadurch  verursachten  Beschwerden  den 
Kranken  zum  Arzte  führt.  Häufig  tritt,  nachdem  eine  Zeit  lang  neben  leichten 
Parästhesien  ein  vermehrter  Drang  zum  Urinlassen  bestanden  hat,  — eine  Art  im- 
perativen Dranges,  der,  wenn  ihm  nicht  sofort  nachgegeben  wird  , den  Schliess- 
muskel  sprengt,  — dann  plötzlich  Blasenlähmung  mit  Harnverhaltung  auf,  also 
schwacher  Detrusor,  die  gleich  so  stark  ist,  dass  sic  zur  Anwendung  des  Katheters 
zwingt.  Namentlich  habe  ich  das  ein  paarmal  gesehen  in  Fällen,  die  dann  sehr 
rapide  in  der  Art  der  aufsteigenden  Lähmung  verliefen,  aber  auch  in  einem  Falle 
mit  subaentem  Verlaufe,  bei  dem  es  sich  wahrscheinlich  um  eine  Meningomyelitis 
i/orsalis  handelte.  Der  weitere  Verlauf  gestaltet  sich  dann  sehr  verschieden,  und 
diese  Verschiedenheit  hängt  ebenfalls  wieder  hauptsächlich  vom  Sitze  der  Er- 
krankung ab.  ln  günstigeu  Fällen  stellt  sich  bald  wieder  die  Möglichkeit  einer 
willkürlichen  Urinentleerung  ein,  aber  diese  ist  eine  erschwerte,  erfordert  lange 
Zeit  und  ist  meist  eine  unvollständige,  es  bleibt  Harn  in  der  Blase  (Residual- 
harn).  Auch  der  vermehrte  und  imperative  Draug  kann,  wenn  die  Besserung 
nicht  weiter  geht , zu  einem  Dauerzustände  werden.  Bleibt  die  Schwäche  des 
Detrusor  für  willkürliche  Entleerungen  bestehen,  so  kann  doch  jedesmal,  nachdem 
sich  ein  gewisses  Quantum  Harn  angesammelt  hat,  auf  reflectorischem  Wege  die 
Entleerung  einer  grossen  Menge  Urins  erfolgen  (gushes  der  Engländer),  ohne 
Willen,  aber  bewusst  für  den  Kranken;  reicht  der  Detrusor  auch  für  diese  reflee- 
torisehe  Thätigkcit  nicht  mehr  aus  oder  besteht  Anästhesie  der  Blasenschleimhaut 
und  wird  der  Katheter  nicht  angewandt , so  tritt  nur  bei  starker  Füllung  der 
Blase  eine  .Sprengung  des  Sphinkters  ein  — die  Blase  läuft , wie  man  sagt, 

Uber  — die  Entleerung  erfolgt  tropfenweise  bei  voller  Blase  (lschuria  paradoxal. 

In  den  schlimmsten  Fällen  ist  auch  die  Musculatur  des  Sphinkters  gelähmt,  aber 
itnmerhin  hält  seine  Elasticität  unter  gewöhnlichen  Umständen  bei  ruhiger  Lage 
des  Kranken  noch  eine  gewisse  Quantität  Harn  zurück  und  kommt  es  zum  Ab- 
Hiessen  des  Harnes  aus  der  Blase,  gleich  wenn  dieser  aus  den  Harnleitern  in 
dieselbe  tritt:  aber  die  Elasticität  des  Sphinkters  leistet  nur  einen  massigen  Wider- 
stand und  schon  kleinere  Mengen  genügen,  ihn  zu  überwinden,  so  dass  dann  auch 
ein  Abträufeln  des  Harnes  bei  wenig  gefüllter  Blase  eintritt.  Das  kann  ebenso 
schon  allein  durch  das  Aufrichten  des  Kranken  oder  durch  eine  Verschiebung 
gefüllter  Darmschlingen  geschehen.  Sicher  ist  auch  die  elastische  Schliesskraft 
des  Sphinkters  beim  Maune  stärker  als  beim  Weibe.  Ist  der  Sphinkter  vollkommen 
gelähmt , so  ist  die  Blase  ausdrückbar.  Durch  alle  diese  Umstände  wechselt  die 
specielle  Symptomatologie  der  Blasenstörungen  sehr  erheblich;  im  Allgemeinen 
ater  kann  man  sagen,  dass  bei  fortschreitender  Affeetion  im  Anfänge  der  Erkran- 
kung Harnverhaltung,  später  Incontinentia  vrinae  besteht. 

Von  Seite  des  Mastdarmes  besteht  meist  Obstipation.  N'ur  in  längereu 
Zwischenräumen  entleert  sieh  durch  das  Nachdrängen  frischen  Kothes  von  oben 
eine  grössere  oder  geringere  Menge  trockenen  Kothes;  ,sehr  oft  ist  eine  Ent- 
fernung per  Clysma  oder  manuell  nöthig.  Ist  der  Sphincter  ani  mitgelähmt,  so 
fehlt  beim  Einführen  des  Fingers  in  den  Anus  seine  Zusammenziehung,  aber  auch 
in  diesem  Falle  ist  durch  die  Obstipation  und  durch  die  meist  sehr  trockenen 
Kothmassen  dafür  gesorgt,  dass  die  Elasticität  des  Sphinkters  ausreicht,  einen 
gewissen  Widerstand  zu  leisten  und  der  Kranke  jedenfalls  nicht  immer  in  seinem 
Kothe  liegt.  N'ur  wenn  Durchfälle  eintreten,  kommt  das  vor. 

Von  den  trophischcn  Störungen  sind  die  der  Musculatur  schon  besprochen. 

Die  wichtigsten  sind  die  der  Haut  und  von  diesen  wieder  der  Decubitus,  l'eber 

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MYELITIS. 


474 

die  Entstehung  desselben,  wie  über  die  Aetiologie  der  trophischen  Störungen  über- 
haupt, siud  die  Meinungen  noeli  immer  getheilt.  Wahrend  längere  Zeit  hindurch 
mit  sehr  gewichtigen  Gründen  die  Ansicht  vertreten  wurde,  dass  bei  seiner  Ent- 
stehung das  Nervensystem  eine  mehr  passive  Rolle  spiele  und  seine  Ursache  vor 
Allem  in  äusseren  Umständen  liege  — es  wurde  ungenügende  Pflege,  speciell 
schlechte  Lagerung  und  mangelhafte  Reinlichkeit  angeschuldigt,  Umstände,  die 
selbstverständlich  besonders  bedenklich  wirken  müssen  bei  Patienten , die  wegen 
ihrer  Lähmung  die  Lage  nicht  ändern  und  wegen  ihrer  Anästhesie  auch  gröbere 
Falten  im  Lager  und  das  Liegen  in  Ruth  und  Urin  nicht  bemerken  — bricht  sich 
neuester  Zeit,  veranlasst  durch  genaue  kritische  Sichtung  der  Umstände  bei  der 
Keratitis  neuroparalytica , wieder  mehr  die  Ansicht  Bahn,  dass  wenigstens  bei 
der  acuten  Entstehung  solcher  trophischer  Störungen  active  Nervenprocesae 
betheiligt  seien.  Jedenfalls  tritt  in  manchen  Fällen  von  Myelitis  der  Decubitus  — 
Decubitus  acutus  — so  raseh  auf  und  greift  so  rapide  um  sich,  dass  man  dieser 
Ansicht  eine  Berechtigung  nicht  ohne  weiters  absprechen  kann.  Doch  ist  es  vor  allen 
Dingen  praktisch  äusserst  wichtig,  die  alte  Ansehauung  nicht  so  rasch  völlig  zu 
verlassen.  Sicher  ist  jedenfalls,  dass  der  Decubitus  bei  mangelnder  Anästhesie 
fehlt  und  nur  auftritt,  wenn  die  Gefühlsherabsctzuug  eine  erhebliche  ist  und  der 
Kranke  nebenbei  infolge  der  Blasenlähmung  häutig  im  Urin  liegt  - deshalb 
ist  er  auch  bei  Lendenmarksmvelitis  häufiger  oder  bei  vollständig  transversaler 
Läsion  — und  ebenso  sicher  ist,  dass  er  in  vielen  Fällen,  wenn  nicht  ganz  ver- 
hindert , so  doch  erheblich  in  Schranken  gehalten  und  oft  sogar  wieder  zur 
Heilung  gebracht  werden  kann. 

Der  Decubitus  tritt  am  häufigsten  am  Kreuzbeine  ein,  dann  folgen  die 
Hacken  , die  Kniegelenkebeugc , die  Gegend  des  Trochanter  inajor  am  Ober- 
schenkel, die  Schulterblattregion.  Eine  dem  Decubitus  sehr  verwandte  Erscheinung 
ist  die  Entwicklung  grosser,  mit  Serum  gefüllter  Blasen,  die  wie  Brandblasen 
aussehen.  Sie  finden  sich  an  anästhetischen  Gliedern  besonders  dann,  wenn  die- 
selben längere  Zeit,  z.  B.  Uber  Nacht,  so  gelegen  haben,  dass  sie  sich  gegenseitig 
drücken,  wenn  z.  B.  die  Beine  übereinander  gelegen  haben.  Sie  sitzen  dement- 
sprechend gern  an  der  Innenseite  der  Unter-,  respectivc  Oberschenkel.  Auch  Herpes 
Z.,le.  und  pemphigusartige  Kfflorescenzen  können  auftreten. 

Neben  dem  Decubitus  findet  sich  vor  Allem  an  den  unteren  Extremitäten 
oft  starkes  Ocdem.  Ebenso  oft  enorme  Trockenheit  und  starke  Schuppung  der 
Haut,  so  dass  mau  manchmal  von  Ichthyosis  sprechen  könnte.  Beide  I mstande 
erhöhen  den  Widerstand  für  elektrische,  besonders  für  faradische  Ströme  sehr 
erheblich  und  haben  schon  öfters  Veranlassung  zu  der  irrigen  Aunahme  eines 
Fehlens  der  elektrischen  Erregbarkeit  an  deu  Nerven  und  Muskeln  der  l'nter- 
extremitäten  gegeben. 

Es  ist  noch  zu  erwähnen,  dass  Zellgewebsentzündungen  sich  in  den  ge 
lähmten  Gliedern  besonders  rapide  verbreiten  können , namentlich  kommen  such 
die  acuten , jauchig  eiterigen  Formen  mit  Gasbildung  — das  acute  purulente 
Oedcm  — in  solchen  Fällen  manchmal  vor. 

Die  Hauttemperatur  der  gelähmten  Glieder  soll  zuerst  etwas  erhöbt, 
später  meist  herabgesetzt  sein.  Die  Schweisssccretion  ist  bei  vollständiger  Ou*t- 
schnittsunterbreehnng  unterhalb  der  Läsionsstelle  aufgehoben  und  tritt  diese* 
Verhalten  oft  so  scharf  hervor,  dass  man  es  für  die  Segmentdiagnose  ver- 
werthen  kann,  ln  Fällen  completer  Lähmung  soll  sic  manchmal  vermehrt  sein. 
Zu  den  vasomotorischen  Störungen  rechnet  man  auch  die  nicht  so  seltenen  ab- 
normen Verhältnisse  des  Penis,  dieser  kann  sich  dauernd  in  vollständiger,  noch 
häufiger  aber  in  einer  Art  Halberection  befinden;  in  letzterem  Falle  tritt  öfters 
eine  sehr  störende  Vollerection  beim  Versuch  des  Katheterismus  ein;  auch  in 
Bezug  auf  dieses  .Symptom  verweise  ich  auf  den  Abschnitt  über  Cervicalmyclitis. 
Auch  in  den  Gelenken  kommen  trophische  Störungen  vor.  So  erhebliche  Arthro- 
pathien wie  bei  der  Tabes  treten  wohl  deshalb  nicht  ein,  weil  die  Kranken  »egen 


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MYELITIS. 


475 


ihrer  Lähmung  aii's  Bett  gefesselt  sind.  Es  kommt  aber  zu  hydropischen  Er- 
güssen, besonders  im  Kniegelenk ; in  anderen  Fällen  treten  offenbar  trophisehc 
Störungen  im  Knorpel  ein,  die  Gelenke  werden  steif  und  schwer  beweglich  und 
knarren  stark  bei  jeder  passiven  Bewegung,  ln  späteren  Stadien , während  der 
Contraetur,  kommt  es  oft  zu  Verwachsungen  und  Verkürzungen  der  Bänder  und 
Sehnen  um  die  Gelenke,  die  dann  auch  eine  passive  Bewegung  des  betreffenden 
Gelenkes  nicht  zulassen ; das  findet  sich  besonders  am  Sprunggelenke , ein 
fixirter  Pes  equinus. 

Schliesslich  rechnet  man  zu  den  trophischen  Störungen  auch  noch  die 
Cystitis  und  ihr  Gefolge,  die  Pyelonephritis.  Sie  tritt  besonders  bei  vollkommener 
Lähmung  der  Blase  ein.  Wenn  sie  auch  wohl  immer  eine  Folge  des  Katheterismns 
ist,  so  muss  man  doch  sagen , dass  auch  bei  grösster  Sauberkeit , bei  irgendwie 
länger  dauernder  Blasenlähmung  der  Eintritt  einer  Cystitis  nicht  zu  vermeiden 
ist,  und  dass  sie  manchmal  so  rapide  eintritt,  dass  die  Annahme  tropbischer  Ein- 
flüsse zum  mindesten  naheliegt.  Bei  Sphinkterenlähmung  oder  bei  hchuria  para- 
doxa  können  auch  wohl  ohne  den  Katheter  Infcctiunsstoffe  in  die  Blase  gelangen. 

Die  Potenz  ist  natürlich  im  ersten  Stadium  vollkommen  aufgehoben,  was 
natürlich  keine  praktische  Bedeutung  hat;  später  kann  sie  bei  günstigem  Verlauf 
und  speciell  bei  hohem  Sitze  der  Läsion  vollkommen  wiederkehren. 

Bei  besonders  hohem  Sitze  der  Läsion  — Phrenicuskern , viertes  Cer- 
vicalsegment  — - kommt  es  zu  erheblichen  Störungen  der  Respiration , die  meist 
rasch  zum  Tode  führen;  ebenso  kommt  es  in  diesen  Fällen  zu  Miosis  und  Ver- 
engnng  der  Lidspalten,  worüber  unten  Genaueres. 

In  einigen  Fällen  von  Myelitis  hat  man  auch  Neuritis  optica  beob- 
achtet. Es  ist  wohl  sicher,  dass  diese  nicht  eigentlich  von  RUekenmarkserkr.in- 
knng  abhing,  sondern  auf  einer  gleichzeitigen  entzündlichen  Erkrankung  des 
Sehnerven  beruht : sie  ist  besonders  häutig  bei  disseminirtcr  Encephalomyclitis 
gesehen  worden. 

Die  Störungen  des  Allgemeinbefindens  sind  bei  der  acuten  Myelitis  meist 
sehr  erhebliche.  So  kann  besonders  bei  den  sehr  acuten  und  zur  Diffusitüt 
neigenden  Formen  im  Anfang  hohes  Fieber  bestehen ; in  vielen  Fällen  geht  Fieber, 
allgemeine  Abgcschlagenheit , Appetitlosigkeit  den  eigentlich  specifischcn  Krank- 
licitseymptomen  voran.  Ist  später  Decubitus  und  Cystitis  eingetreten , so  bestellt 
immer  Fieber,  die  Nahrungsaufnahme  ist  eine  schlechte,  der  Schlaf  ein  sehr 
gestörter.  Selbstverständlich  können  alle  diese  schweren  Erscheinungen  bei  ge- 
ringer Ausdehnung  des  Herdes  und  baldigem  Stillstände  der  Erkrankung  auch  fehlen. 

Der  Verlauf  der  Erkrankung  und  ihre  Ausgänge  sind  in  den  einzelnen 
Fällen  von  Myelitis  recht  verschieden.  Erhebliche  Unterschiede  zeigen  sich  schon 
beim  Einsetzen  der  Erkrankung,  ln  einem  Falle  erfolgt  — wir  wollen  uns  hier 
nur  an  die  Lähmungen  halten  — die  Paraplegic  mit  einem  Schlage,  nicht  selten 
in  der  Nacht  während  des  Schlafes,  so  dass  der  Patient  das  Eintreten  derselben 
gar  nicht  merkt.  Diese  Fälle  sind  natürlich  besonders  eines  vasculären  Ursprungs  — - 
Erweichung,  Blutung  — verdächtig,  ln  ebenso  acuter  Weise  können  auch  Nach- 
schübe eintreten.  In  anderen  Fällen  braucht  die  Lähmung  einige  Stunden , bis 
sie  complet  ist.  Der  Kranke  fühlt  zunächst  nur  eine  Schwere  in  einer  oder  in 
beiden  Unterextremitäten,  die  nach  kurzem  Ausruhen  vielleicht  wieder  verschwindet, 
um  bald  wiederzukehren.  Es  dauert  nicht  lange , so  kann  er  sich  überhaupt 
nicht  mehr  aufrecht  erhalten , legt  sich  nieder  und  die  Lähmung  wird  complet. 
ln  diesen  Füllen  pflegen  auch  deutliche  Schmerzen  oder  Parästhesicn  vorhanden 
zu  sein.  Schliesslich  kann  die  Lähmung  iu  subacuter  Weise  von  einem  Beine 
auf  das  andere  übergehen,  meist  von  unten  nach  oben  anfsteigend  'Wenn  es  auch 
richtig  ist,  dass  in  manchen  Fällen  incompleter  Lähmung  der  Beine  die  Zehen 
allein  noch  bewegt  werden  können , so  braucht  das  nicht  auf  eiuen  besonderen 
Schutz  der  betreffenden  Muskeln  zurückgeführt  zu  werden,  sondern  darauf,  dass 
zur  Locomotion  der  Zehen  sehr  geringe,  zu  der  des  Oberschenkels  ziemlich  grosse 


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MYELITIS. 


Kraft  gehört)  und  sich  erst  in  14  Tagen  bis  3 Wochen  zur  vollen  Paraplegie 
ausbilden.  In  diesen  Fällen  kommen  auch  Remissionen  vor,  die  fast  an  Heilung 
heranreichen  und  dann  wieder  von  Verschlimmerungen  abgelöst  werden  können: 
meist  erreicht  die  Krankheit  schliesslich  das  Stadium  einer  vollen  Paraplegie, 
natürlich  aber  kann  es  auch  wohl  bei  der  Lähmung  einer  Unterextremität  oder 
einzelner  Extremitätenabschnitte  bleiben. 

Die  übrigen  Symptome , die  Sensibilitätsstörungen , die  Lähmungen  von 
Blase  und  Mastdarm,  die  trophischen  Störungen,  können  sich  natürlich  in  ebenso 
verschiedener  Weise  entwickeln. 

Ebenso  variabel  wie  das  Einsetzen  der  Erkrankung  ist  im  einzelnen 
Falle  der  Verlauf  und  schliesslich  der  Ausgang  der  acuten  transversalen  Myelitis. 
In  einzelnen  Fällen  foudroyanten  Verlaufes  kann  unter  hohem  Fieber,  rapidem 
Fortschreiten  der  Erkrankung  nach  unten  und  oben  (diffuse  Myelitis),  Decubitus 
acutus  der  Tod  in  einigen  Tagen  eintreten.  Das  sind  die  Fälle,  die  die  Autoren 
als  acute  centrale  Myelitis  (generalis  seu  diffusa)  beschrieben  haben  und  die  im 
Wesentlichen  den  Symptomencomplex  zeigen,  wie  er  von  der  LANWtY’schen  Para- 
lyse bekannt  ist.  ln  einer  zweiten  Reihe  von  Fällen  schreitet  die  Erkrankung 
langsam,  aber  unaufhaltsam  immer  weiter,  bis  sie  schliesslich  lebenswichtige 
Centren  erreicht  — der  Tod  tritt  dann  meist  an  Asphyxie  durch  Lähmung  der 
Athemmusculatur  ein.  Oder  aber  die  Complicationen , vor  Allem  Cvstitis,  der 
Decubitus,  das  ständige  Fieber  führen  zum  Marasmus,  untergraben  die  Kräfte 
und  machen  nach  langer  Zeit,  manchmal  erst  nach  Monaten  dem  Leben  ein  Ende. 
Dieser  Verlauf  ist  bei  Myelitis  des  Lendenmarkes  häutiger  als  bei  der  des  Dorsal- 
markes, weil  die  Blaseustörungen  im  erstcren  Falle  schwerere  sind. 

In  einer  grossen  Reihe  von  Fällen  führt  die  Krankheit  nicht  zum  Tode, 
auch  dann  kann  der  Verlauf  — abgesehen  vom  acuten  Stadium  — ein  sehr  ver- 
schiedener sein.  Entweder  es  bleibt  für  die  ganze  spätere  Lebenszeit  die  volle 
I’araplcgie  — das  Höhenstadium  der  Erkrankung  bestehen.  Es  handelt  sich  daun 
entweder  um  Lähmung  mit  Contractur  — dorsaler  Typus  — , hier  nicht  selten 
Beugecontraetur,  oder  viel  seltener  — lumbale  Myelitis  — um  schlaffe  Lähmung 
mit  Muskelatrophie  und  WESTPHAt.’schem  Zeichen.  Diese  letzteren  Fälle  sind  im 
chronischen  Stadium  selten , weil  sie  meist  nicht  am  Leben  bleiben  — aus  den- 
selben Gründen  sind  (lauernde  Lähmungen  aller  vier  Extremitäten  selten  — totale 
cervicale  Myelitis.  Es  is  aber  überhaupt , wenn  einmal  Stillstand  eintritt , ein 
Stehenbleiben  auf  dem  Höhepunkte  der  Erkrankung  ausserordentlich  selten  und 
muss  nach  meiner  Erfahrung  immer  eher  den  Verdacht  auf  eine  Compressiun. 
z.  B.  durch  einen  ganz  langsam  wachsenden  oder  auch  wohl  vorübergehend  im 
Wachsthum  einhaltenden  Tumor,  nahelegen.  Relativ  häutig  — cs  bezieht  sich 
das  auf  die  Zahl  überwiegender  Fälle  der  Myelitis  dorsalis  — geht  die  Besse- 
rung soweit , dass  die  Kranken  allmälig  wieder  anfangen  zu  gehen , zuerst  mit 
Krücken,  dann  ohne  dieselben,  dass  die  Beine  aber  schwach  bleiben,  meist  steif 
und  der  Sitz  häufiger  Crampi  und  Spasmen  sind.  Der  Gang  ist  dann  entweder 
ein  mehr  paretischer,  die  Beiue  werden  nachgezogen,  kleben  am  Boden,  oder  ein 
spastischer  — der  Hacken  hebt  sich  vom  Boden,  sobald  die  Fussspitze  denselben 
berührt,  dabei  kann  der  ganze  Körper  in  rhythmische  Zitterbewegungcn  geratlien, 
diesen  Fussspitzengaug  habe  ich  besonders  bei  disseminirter  Kncepbalomvelitu 
gesehen.  Die  Sehnenreflexe  an  den  Beinen  bleiben  fast  immer  im  klonischen 
Zustande.  Das  sind  dann  Fälle  sogenannter  spastischer  Spinalparalysc  und  diese 
Fälle  von  „Myelitis“  bilden  zusammen  mit  der  multiplen  Sklerose  die  häufigste 
Grundlage  für  dieses  Krankheitsbild.  Schliesslich  kann  die  Besserung  so  »eit 
gehen,  dass  Schwäche  und  Steifigkeit  ganz  schwinden  und  nur  die  erhöhten 
Sehnenreflexe  an  die  überstandene  Erkrankung  erinnern.  (Diesen  Verlauf  erlebt 
man  am  ersten  bei  Paraplegien  durch  Tuberkulose  der  Wirbelsäule , die  später 
in  Heilung  übergeht.  Es  hat  sich  dann  also  nur  scheinbar  um  Myelitis  gehandelt.) 
Sehr  selten  ist  jedenfalls  bei  der  transversalen  Myelitis  der  Ausgang  in  volle 


MVEL1TI3. 


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Heilung,  aber  er  ist  in  klinisch  sicheren  Fällen  constatirt.  Es  ist  ja  richtig, 
dass  ein  solcher  Verlauf  bei  der  immer  doch  nur  sehr  geringen,  wenn  überhaupt 
vorhandenen  Regem  rationsfähigkeit  des  Rückenmarkes,  wenigstens  in  Fällen,  die 
ausgesprochene  Symptome  dargeboten  haben , stets  den  Gedanken  an  einen  Irr- 
thum in  der  Diagnose  nahelcgen  muss  — namentlich  kann  es  sich  in  solchen 
Fällen  um  multiple  Neuritis  oder  um  eine  geheilte  sogenannte  Compressions- 
myelitis  handeln.  Aber  es  giebt  auch  Fälle,  die  man  klinisch  ganz  sicher  als 
Myelitis  bezeichnen  kann  und  die  in  volle  Heilung  übergehen.  I’lCK  '*)  ist  cs 
schon  aufgefallcn,  dass  es  sich  in  diesen  günstig  verlaufenden  Fällen  meist  um 
transversale  Myelitis  nach  Infectionskrankheiten  handelte;  ich  selber  habe  einen 
typischen  solchen  Fall  nach  Masern  gesehen. 

Nachdem  wir  so  das  Krankheitsbild  der  Myelitis  im  Allgemeinen  darge- 
stellt und  dabei  schon  auf  die  Varietäten  Rücksicht  genommen  haben , die  durch 
den  mehr  weniger  acuten  Verlauf  und  die  grössere  oder  geringere  Vollständig- 
keit der  Quersehnittserkrankung  bedingt  sind,  so  erübrigt  es  noch,  mit  einigen 
Worten  auf  die  Haupt  Varietäten  hinzuweisen,  die  durch  den  Hüheusitz  der  Er- 
krankung bedingt  sind.  Wir  unterscheiden  in  dieser  Beziehung  eine  Myelitis 
dorsalis,  lutnbalis  und  cervicalis.  Natürlich  können  hier  nur  allgemeine  Typen 
geschildert  werden,  auf  Varietäten  in  Details,  speciell  in  Bezug  auf  die  Ausbrei- 
tung und  genauere  Gruppirung  der  Lähmungen  und  Gefühlsstörungen  kann  nicht 
eingegangen  werden,  und  ebenso  kann  an  dieser  Stelle  im  Wesentlichen  nur  auf 
den  Syroptomencomplex  Rücksicht  genommen  werden,  der  besteht,  wenn  die 
Krankheit  in  der  betreffenden  Segmenthöhe  eine  total  transversale  oder  doch  fast 
eine  solche  ist , wenn  also  mit  anderen  Worten  das  Krankheitsbild  seine  volle 
Ausbildung,  seinen  Höhepunkt  erreicht  hat. 

Die  häufigste  Unterart  der  acuten  transversalen  Myelitis  ist  die  Myelitis 
transversa  dorsalis.  Das  hängt  wohl  einfach  damit  zusammen,  dass  der  Dorsal- 
theil  bei  weitem  der  längste  Theil  des  Rückenmarkes  ist.  Bei  voller  Ausprägung 
des  Krankheitsbildes  sind  die  Symptome  ungefähr  dieselben  wie  bei  der  Dureh- 
sehneidung  des  Markes  in  der  betreuenden  Segmenthöhe.  Es  besteht  vollständige 
Lähmung  der  Beine,  der  Bauch-  und  der  unteren  Rücken-  und  Intercostalmuskclii. 
Die  Lähmung  ist  bei  acutem  Einsetzen  zunächst  eine  schlaffe  — bald  aber  treten 
C'ontracturen  ein,  meist  in  Streckhaltung  der  Beine,  seltener  und  prognostisch 
viel  ungünstiger  in  Beugestellung,  die  so  stark  werden  kann,  dass  die  Unter- 
schenkel ganz  unter  den  Rücken  gezogen  werden.  Nur  in  sehr  seltenen  Fällen  totaler 
und  dauernder  Quersehnittsunterbrecbung  bleibt  die  Lähmung  eine  schlaffe.  Degc- 
nerative  Atrophie  und  Entartungsreaction  lässt  sieh  eventuell  an  den  Bauchmuskeln 
nachweisen ; sicher  wird  sie  wohl  immer  in  einzelnen  Intcreostalmuskeln  be- 
stellen, doch  entzieht  sie  sich  da  des  Nachweises.  Das  Gefühl  kann  bis  zur  Höhe 
des  obersten  affieirten  Rüekenmarkssegmentes  total  oder  partiell  aufgehoben  sein  — 
häufig  reicht  die  Anästhesie  nicht  ganz  so  hoch  als  die  Lähmung  — , im  Höhe- 
stadium fehlt  sie  aber  wohl  nur  selten.  In  sehr  scharf  abgegrenzten  Fällen 
findet  sich  Uber  der  Anästhesie  noch  eine  Hyperästhesiezone.  Von  Parästhcsie, 
respective  Schmerzen  findet  sich  am  häufigsten  GUrtelgefühl.  Die  Sehnenreflexe 
fehlen  gewöhnlich  beim  acuten  Verlauf  in  den  ersten  8 Tagen  — Shock  — und 
in  ganz  schweren  Fällen  können  sie  dauernd  fehlen  (s.  bes.  Fälle  von  Bastian’^. 
In  den  meisten  Fällen  erholen  sie  sich  bald  und  tritt  Hand  in  Hand  mit  der 
zunehmenden  C'ontractur  eine  Verstärkung  derselben  ein,  so  dass  schliesslich  aus 
gesprochene  Epilepsie  spinale  (s.  oben)  besteht.  Bei  stärksten  Graden  der  Con- 
tracttir  können  schliesslich  die  Gelenke  so  fixirt  werden . dass  die  Sehnenreflexe 
nicht  auszulösen  sind.  Was  die  Blasenstörungeu  anbetrifft , so  besteht  meist  Un- 
vermögen, den  Harn  zu  lassen  und  Nothwendigkcit  zu  katheterisiren;  später  in 
schweren  Fällen  auch  Incontinentia  urinae , eventuell  auch  Ischuria  paradoxa, 
in  leichteren  Fällen  unwillkürliche  reflectorische  Entleerungen  in  grösseren  Mengen, 
die  dem  Patienten  aber  bewusst  sind ; schliesslich  in  günstigen  Fällen  nur  noch 


478 


MYELITIS. 


geringe  Störungen,  vermehrter  und  imperativer  Harndrang,  die  Kothwendigkeit 
eines  stärkeren  Fressens.  Der  Stuhl  ist  meist  stark  angehaltcn,  erfolgt  von  sellist 
selten  und  muss  meist  künstlich  entleert  werden.  Die  Intensität  der  trophischen 
Störungen , speciell  des  Decubitus , hängt  hauptsächlich  von  der  grösseren  oder 
geringeren  Anästhesie  ab , der  Zustand  der  Blase  — speciell  in  Bezug  auf  das 
Eintreten  einer  Cystitis  — vor  Allem  von  der  Art  und  Schwere  der  Iilasrn- 
lähtnung.  lin  Allgemeinen  kann  mau  nur  sagen,  dass  die  Prognose  der  dorsalen 
Myelitis  in  Itezug  auf  Decubitus  und  Cystitis  eine  verhältnissniässig  günstige  ist. 
Ausgänge  sind  der  Tod  itn  acuten  Stadium  oder  an  Marasmus  — bei  diesem  Sitze 
ist  aber  relativ  häutig  weitgehende  Besserung  — spastische  Parese  — oder 
auch  volle  Heilung.  Selten  bei  Erhaltung  des  Lebens  Stehenbleiben  der  Er- 
krankung im  Höhestadium. 

Die  bei  Erkrankung  der  Lendcnanschwellung  eintretenden  Aenderungca 
im  Krankhcitsbilde  kann  man  sich  selber  leicht  eonstmiren.  Ist  die  ganze  l.enden- 
anschwellung  erkrankt , so  tritt  Lähmung  beider  lteine  in  ihrer  Totalität  ein. 
Hier  ist  die  Lähmung  aber  nicht  nur  im  Beginne,  sondern  so  lange  sie  liesteht. 
eine  schlaffe.  Die  Sebnenreflexe  fehlen  für  immer  — es  tritt  deutliche  degene- 
rative  Atrophie  der  Gesammtmusculatur  ein  mit  entsprechenden  elektrischen 
Störungen.  Das  Gefühl  ist  in  diesen  Fällen  vorn  bis  etwas  Uber  die  Inguinal 
falte,  hinten  bis  zum  Darmbeinkamme  aufgehobeu  oder  herabgesetzt . eventuelle 
Sehmerzen  strahlen  in  die  Unterextremitäten  aus.  Es  besteht  meist  dauernde 
Incontinentia  urinae,  der  Mastdarm  verhält  sich  kaum  anders  wie  bei  der  dor- 
salen Myelitis.  Vielleicht  wegen  der  grossen  8chwere  der  Blasenstörungen  und 
der  häutigeu  Verunreinigung  tritt  der  Decubitus  hier  leichter  ein  und  verläuft 
schwerer.  Der  Tod  tritt  jedenfalls  bei  der  Lendenmarksmyelitis  häufiger  ein  als 
wie  bei  der  dorsalen.  Bleibt  der  Kranke  am  Leben,  so  besteht  dauernd  schlaffe 
Lähmung  der  Beine , Blasenlähmung  und  Impotenz.  Eine  an  Heilung  reichende 
Besserung  ist  sehr  selten. 

Bei  Beschränkung  der  Myelitis  auf  den  Plexus  lumbalis  Antheil  des 
Rückenmarkes  wird  in  den  Muskeln  dieses  Plexus  degenerntive  Atrophie,  in 
denen  des  Plexus  sacralis  geringe  oder  gar  keine  Atrophie  bestehen.  Die  Sen- 
sibilitfltsstörungen  sind  dieselben  wie  bei  Erkrankung  der  ganzen  Lendcnanschwel- 
lung.  Die  Patellarreflexc  werden  fehlen,  die  Achillessehnenretlexe  können  erhöht 
sein.  Blase  und  Mastdarm  werden  sieh  so  verhalten  wie  bei  dorsaler  Myelitis. 

Nimmt  die  Myelitis  den  Sacraltheil  ein,  so  werden  bestehen:  Lähmung 
der  Muskeln  für  die  Bewegung  der  Ftlssc  und  Zehen,  mit  Ausnahme  eventuell 
des  Tihialis  anticus , der  Beuger  des  Unterschenkels,  der  Glutäen  und  der 
Perinealmusculatur;  die  übrige  Musculatur  der  Unterextremitäten  ist  nicht  ge- 
lähmt. Anästhesie  besteht  hauptsächlich  auf  der  Hinterseite  der  Beine,  Fehlen 
des  Achillessehnenretlexes  bei  Erhaltensein  oder  gar  Steigerung  der  Patellar- 
retlexe.  Totale  Blasen-  und  Mastdarmlähmung. 

Eine  Beschränkung  der  Myelitis  auf  den  Conus  terminalis  dürfte,  wenn 
sie  überhaupt  vorkommt,  wohl  änsserst  selten  sein.  Ihre  Symptome  könuen  wir 
aus  den  Fällen  traumatischer  Zerstörung  dieser  Region  abstrahiren,  sie  sind  nach 
Oppenheim1»):  Lähmung  der  Blase  und  des  Mastdarmes,  Impotenz,  Anästhesie 
in  der  Gegend  des  Anus,  Perineums,  am  Scrotum,  Penis  und  an  der  Innenfläche 
der  Oberschenkel,  eventuell  degenerative  Atrophie  im  Ischiadicusgebiet. 

Auch  bei  der  transversalen  Myelitis  cervicalis  kann  man  mehrere  Varie- 
täten unterscheiden.  Ist  die  Halsanschwcllung  in  ihrer  ganzen  Ausdehnung  be- 
troffen, so  haben  wir  eine  schlaffe  Lähmung  mit  degenerativer  Atrophie  und 
Fehlen  des  Tricepsreflexcs  an  den  Armen  mit  spastischer  Lähmung  der  Beine  und 
des  Rumpfes.  Das  Gefühl  ist  am  Rumpfe  aufgehoben  vorn  bis  zur  Höhe  der 
zweiten  Rippe,  hinten  bis  etwa  zur  Spina  scapulae.  auch  die  Arme  sind  total 
gefühllos.  Auf  der  Erkrankung  der  unteren  Theile  der  Halsanschwellung  beruht 
eine  Verengerung  der  Pupillen  und  der  Lidspalten.  Sehnenreflexe  an  den  Beinen, 


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MYELITIS. 


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Blase  und  Mastdarm  verhalten  sieh  wie  bei  der  dorsalen  Myelitis.  Bleibt  der 
obere  Tbeil  der  Halsanschwellung  frei , so  kann  sieh  die  Lähmung  auf  Finger 
und  Hände  beschränken,  während  die  Bewegungen  in  Schultern  und  Ellenbogen 
frei  sind  und  die  Anästhesie  trifft  nur  die  ulnare  Seite  der  Arme.  Pupillen  und 
Lidspalten  sind  verengt.  Ist  nur  der  obere  Theil  der  Halsanschwellung  erkrankt,  so 
besteht  degenerative  Atrophie  und  schlaffe  Lähmung  nur  in  den  Muskeln  der 
Schultern  und  des  Oberarmes  — Hand  und  Finger  befinden  sich  in  Contraetur- 
stellung.  Die  Anästhesie  betheiligt  natürlich  wieder  den  ganzen  Arm. 

Die  Athmung  ist  bei  der  Myelitis  der  Ccrvicalansrh wellung  immer  er- 
schwert, da  sämmtlirhe  Intereostalnmskeln  gelähmt  sind. 

Sehr  gefährlich  wird  die  Situation , wenn  die  Erkrankung  das  obere 
Halsmark  ergreift.  Schon  am  vierten  Segment  ergreift  sie  den  Phrenicuskern 
und  dann  ist  Asphyxie  unvermeidlich.  Bei  etwas  langsamer  verlaufenden  Fällen 
kann  sieh  der  Sitz  der  Myelitis  im  oberen  Halsmarke  dadurch  documentiren,  dass 
auch  die  oberen  Extremitäten  spastisch  gelähmt  sind,  während  degenerative  Atrophie 
z.  B.  im  Cucullaris  und  Sternocleidomastoideus  zustande  kommt.  Dadurch  wird 
die  Bewegung  und  Haltung  des  Kopfes  erschwert.  Eine  echte  Myelitis  dieser 
Hegend  ist  übrigens  sehr  selten. 

Sehr  gewöhnlich  ist  bei  der  Myelitis  des  Halsmarkcs  der  Priapismus. 
Der  Ausgang  in  den  Tod  ist  bei  dieser  Myelitis  besonders  wegen  der  Gefahr  der 
Athemlähmung  ein  häufigerer  als  bei  der  Dorsalmyelitis. 

Ist  die  Erkrankung  des  Querschnittes  bei  der  cervicalen  Myelitis  keine 
ganz  vollständige,  so  kann  unter  Umständen  Lähmung  der  Arme  ohne  solche  der 
Beine  bestehen  — Paraphyia  brachialis.  Natürlich  kann  eine  solche  Gruppirnng 
eher  bei  einer  Läsion  der  Wurzeln  des  Halsmarkes  als  bei  einer  des  Halsmarkes 
selber  Vorkommen.  Im  Uebrigen  kann  natürlich  auf  alle  möglichen  Varietäten 
des  Krankheitsbildes  durch  nur  partielle  Läsion  des  Querschnittes  hier  ebenso- 
wenig als  beim  dorsalen  und  lumbalen  Typus  eingegangen  werden  — das  Notli- 
wendigste  ist  weiter  oben  schon  gesagt,  auch  ist  auf  die  Möglichkeit  einer  ziem- 
lich scharf  halbseitigen  Myelitis  hingewiesen. 

2.  Myelitis  transversa  chronica.  Mit  der  Darstellung  der 
chronischen  Myelitis  kann  ich  mich  kurz  fassen.  Ich  habe  oben  schon  an  ver- 
schiedenen Stellen  meine  Ansicht  Uber  die  Zweifelhaftigkeit  vieler  besonders  in 
früherer  Zeit,  von  manchen  Autoren  aber  auch  jetzt  noch  als  chronische  Myelitis 
beschriebenen  Krankheitsfälle  ausgesprochen  und  erwähnt,  dass  ich  in  dieser  Be- 
ziehung ganz  der  Meinung  Oppkxheim’s  bin,  der  der  chronischen  Myelitis  in 
seinem  Lehrbuch  ein  besonderes  Capitel  gar  nicht  widmet  — die  meisten  Fälle 
chronischer  Myelitis  als  einfache  Fortsetzungen  der  acuten  ansieht  und  behauptet, 
dass  die  primäre  chronische  Myelitis,  wenn  sie  auch  vorkäme,  doch  eine  enorm 
seltene  Erkrankung  sei  — in  den  meisten  Fällen  stelle  sich  früher  oder  später 
heraus,  dass  es  sich  um  multiple  Sklerose  handle.  Ich  muss  diese  meine  Ansicht 
hier  aber  noch  etwas  näher  begründen,  denn  Goweh-s»)  z.  B.  hält  auch  heute 
noch  die  chronische  Myelitis  wenigstens  im  jugendlichen  Alter  für  ein  sehr  häutiges 
Leiden.  Als  Erb  sein  Lehrbuch  der  Kückenmarkskrankheiten  schrieb,  rechnete 
er  im  Grunde  auch  noch  die  Tabes,  ferner  die  multiple  Sklerose,  die  sogenannte 
primäre  Seitenstrangsklcrose,  die  amyotrophische  Latcralsklerose  und  die  combinirte 
Systemerkrankung  zur  chronischen  Myelitis  und  trennte  diese  Formen  vom  all- 
gemeinen Bilde  der  KUckenmarkscntzUndung  nur  aus  zum  Theil  klinischen  und 
pathologisch-anatomischen,  zum  Theil  aus  didaktischen  Gründen.  Pick  35)  ist  dann 
in  der  schärferen  Definirung  des  Krankheitsbildes  schon  viel  weiter  gegangen. 
Er  erkennt,  dass  die  sogenannte  periependvmäre  Sklerose  Hai.lopeac’s  nichts 
anderes  ist,  als  was  man  heute  Syringomyelie  oder  centrale  Gliose  nennt : er  führt 
aus,  dass  die  als  Tabes  spasmodica  der  Greise  beschriebenen  Fälle,  wie  Dkmaxge3*) 
nachgewiesen,  nicht  nach  einer  eigentlichen  Myelitis,  sondern  auf  einer  auf  Gcfäss- 
erkrankung  zurückzuführenden  perivasculären  Sklerose  beruhen.  Er  rechnet  einen 


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MYELITIS. 


Theil  der  als  chronische  Myelitis  des  Halsmarkes  beschriebenen  Fülle  zur 
Pa  eh  y men inyitis  cervicalis  Hypertrophien , scheidet  aber  im  Uebrigen  die  durch 
chronische  Compression  (Caries  der  Wirbelsäule,  Tumor)  hervorgerufenen  Rttcken- 
marksaffectionen  (die  differentialdiagnostisch  besonders  wichtig  und  schwierig  sind 
noch  nicht  ganz  scharf  von  den  eigentlichen  Entzündungen.  Er  behält  filr  die 
chronische  Myelitis  ausser  den  chronischen  Folgezuständen  der  acuten  besonders 
zwei  Erkrnnkungsformen  Übrig:  eine  chronische  transversale  Myelitis,  die  sich 
entweder  diffus  über  den  grössten  Theil  des  Rückenmarkes  ausbreitef  oder  auch 
focal  ist,  und  die  sogenannte  ringförmige  Sklerose  (Scle'rose  rorticale  annulaire 
VrLPlAN’s71).  Um  letztere  zuerst  zu  erledigen,  mag  hier  nur  gesagt  sein,  dass, 
abgesehen  davon,  dass  ein  Theil  dieser  Fälle  sicher  auf  einer  primären  Erkran- 
kung der  Meningen  beruht,  es  sich  also  um  eine  Meningomyclitis  handelte,  vor 
Allem  neuere  Erfahrungen  gelehrt  haben,  dass  in  den  Randpartien  der  ganzen 
Peripherie  des  Rückenmarkes  — mit  Ausnahme  der  Hinterstränge  — sich  auf-  und 
absteigend  degenerirtc  Fasersysteme  finden  und  dass  deshalb  beim  Vorhanden- 
sein einer  mehr  weniger  totalen  Querschnittsunterbrechung  an  irgend  einer  Stelle 
die  darüber  und  darunter  liegenden  Marktheile  leicht  das  Bild  einer  ringförmigen 
Myelitis  Vortäuschen  können.  Die  Fälle  sind  übrigens  so  selten  und  klinisch  so 
wenig  charakteristisch,  dass  sie  auch  praktisch  von  geringem  Wertbc  sind. 

Bleibt  die  chronische  transversale  mehr  weniger  diffuse  Myelitis.  Auch 
hier  handelt  cs  sich  klinisch  und  pathologisch  - anatomisch  um  Seltenheiten.  Es 
soll  sich  in  diesen  E'ällen  die  langsam  fortschreitende  Sklerose  allmälig  fast  über 
das  ganze  Rückenmark  und  von  da  in  die  Medulla  oblonyatn  ausbreiten.  Nun 
ist  sicher  nachgewiesen,  dass  in  schweren  E'ällen  von  multipler  Sklerose,  wenn 
die  Patienten  lange  genug  leben,  durch  das  allmäligc  Zusammenflüssen  der  ein- 
zelnen Herde  eine  solche  diffuse  Sklerose  entstehen  kann.  Mau  findet  auf  Quer- 
schnitt8hildem  derartig  erkrankter  Rückenmarkspartien  dann  nur  ganz  geringe 
Inseln  erhaltener  Rückenmarkssubstanz.  Auch  Pick  erwähnt  diese  diffuse  E'orm 
der  multiplen  Sklerose.  Das  Uebergreifen  solcher  Herde  auf  die  Medulla  oblongata 
bringt  in  klinischer  Beziehung  diese  Krankheitsbilder  ganz  mit  der  multiplen 
Sklerose  zusammen.  Unmöglich  ist  es  ja  schliesslich  auch  nicht,  dass  die  multiple 
Sklerose  sich  einmal  auf  das  Rückenmark  beschränkt  und  namentlich  , dass  sie 
das  für  einen  gewissen  Zeitraum  der  Erkrankung  thut  — in  solchen  E'ällen  muss 
natürlich,  abgesehen  von  den  hier  vorkommenden  acuten  Schüben,  das  Krnuk- 
heitsbild  ganz  der  chronischen  Myelitis  gleichen  — factisch  handelt  es  sich  ja  auch 
darum.  Aber  jedenfalls  sind  diese  E'älle  sehr  selten. 

Wir  sind  damit  auf  den  Ausgangspunkt  zurückgekehrt.  Eis  bleiben  für 
die  chronische  Myelitis  die  chronischen  Fortsetzungen  der  acuten  und  gauz  seltene 
E'älle  primär  chronischen  Verlaufes  der  transversalen  oder  diffusen  RUekenmarks- 
entztlndung.  Die  Symptome  dieser  chronischen  E'ormeti  können  natürlich  grund- 
sätzlich von  denen  der  acuten  nicht  differiren,  alle  einzelnen  Symptome  können 
in  wechselnder  Intensität  hier  wie  dort  Vorkommen  und  hier  wie  dort  wird  ihre 
Gruppirung  und  Aufeinanderfolge  im  Wesentlichen  von  der  Localisirung  des  Leidens 
auf  den  Quer-  und  Längsschnitt  abhängen.  Durch  den  chronischen  Verlauf  werden 
in  der  Hauptsache  zwei  Besonderheiten  bedingt.  Erstens  können  dabei  die  oben 
hervorgehobenen  einzelnen  Stadien  im  Verlaufe  des  Leidens  sich  deutlicher  ans 
prägen,  schärfer  von  einander  abgreuzen  und  länger  für  sich  bestehen.  Dis 
letztere  gilt  namentlich  für  das  erste  Stadium  der  motorischen  und  sensiblen  Reiz- 
erscheinungen ; sie  können  den  Lähmungserscheinungen  lange  vorausgehen.  Ebenso 
erklärt  der  langsame  Verlauf  ohneweiters,  dass  deutlich  ausgeprägte  Symptomen- 
bilder  einer  partiellen  Erkrankung  des  Markquerschnittes  hier  häufiger  sind  als 
bei  der  acuten  Myelitis,  bei  dem  mit  einem  Schlage  meist  fast  der  ganze  Quer- 
schnitt zerstört  oder  doch  in  seinen  Functionen  gelähmt  ist:  so  kommen  hier 
E'älle  spinaler  Hemiplegie  vor;  Gowers  hat  in  einem  E'älle  chronischer  Myelitis 
der  einen  Markhälfte  das  charakteristische  Bild  der  Brown  - SKqi'AEP’sclien 


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MYELITIS. 


481 


Lähmung  beobachtet ; auch  die  sogenannte  Parnplegia  brachialis  dürfte  sich  wohl 
nur  bei  chronischer  Myelitis  finden.  Ein  zweites  Merkmal  der  chronischen  Myelitis 
gegenüber  der  acuten  liegt  darin,  dass  die  Symptome  in  den  Anfangsstadien  der 
Erkrankung  gering  sind  und  allmälig  zunehmen , während  bei  den  sehr  acuten 
Formen  ihre  Intensität  mit  dem  Einsetzen  der  Krankheit  die  höchste  ist  und 
später,  wenn  überhaupt  eine  Aenderung  eintritt,  sich  allmälig  absehwächt.  Paresen, 
spcciell  spastische  Paresen,  sind  bei  der  chronischen  Myelitis  häufiger  als  Para- 
lysen ; die  Sensibilität  kann  ganz  intact  sein , ihre  Störung  immer  geringer  als 
die  der  Motilität ; Blasenschwäche  ist  häufiger  als  Blasenlähmung.  Der  Decubitus 
ist  absolut  zu  vermeiden  oder  doch  in  engen  Grenzen  zu  halten. 

Das  Allgemeinbefinden  ist  fast  immer  ein  gutes,  Fieber  fehlt  gänzlich. 
Später  natürlich,  wenn  die  Krankheit,  wie  nicht  selten,  unaufhaltsam  fortschreitet, 
erreichen  auch  hier  die  Symptome  ihre  höchste  Intensität  und  namentlich  die  für 
die  Lagerung  der  Kranken  so  misslichen  Bcugecontracturen  kommen  gerade  in 
diesen  chronischen  Fällen  am  häufigsten  vor. 

Der  Verlauf  kann  sich  über  mehr  als  10  Jahre  ausdehnen.  Es  können 
lange  Stillstände,  selten  wohl  in  den  rein  chronischen  Fällen  vorübergehende 
Besserungen  verkommen.  Diese  Stillstände  können  auch  von  Dauer  sein  und  relativ 
häufig  bleibt  das  Krankheitsbild  der  spastischen  Spinalparalyse  in  grösserer  oder 
geringerer  Intensität  bestehen.  Ebenso  häufig  aber  schreitet  die  Erkrankung  auch 
unaufhaltsam  fort  und  der  Tod  tritt  schliesslich  durch  Betheiligung  der  Medulla 
oblungata  oder  an  Complieationen  ein.  Ein  Ausgang  in  Heilung  ist  hier 
nicht  möglich. 

3.  Acute  disseminirteEncephalomyelitis  (Myelitis  di s se- 
in inata;  centrale  acute  Ataxie  Leyden’s).  Das  klinische  Bild  der  das 
Rückenmark,  den  Hirnstamm  und  meist  auch  das  Grosshirn  betheiligenden  acuten 
Myelitis  in  disseminirten  Herden  ist  ein  sehr  charakteristisches.  Hier  soll  nur  auf  die 
Fälle  mit  gleichzeitiger  spinaler  und  cerebraler  Localisation  Rücksicht  genommen 
werden;  beschränkt  sich  die  disseminirte  Myelitis  auf  das  Rückenmark,  wie  z.  B.  in 
einigen  von  WüSTPHAL60)  anatomisch  untersuchten  Fällen,  so  kann  sich  das  Krank- 
heitsbild, wenn  die  Herde  überhaupt  so  zahlreich  sind,  um  ausgesprochene  Sym- 
ptome hervorzurufen,  natürlich  nicht  wesentlich  von  eiDer  ziemlich  diffusen  Myelitis 
unterscheiden.  Das  Krnnkheitsbild  der  diffusen  Encephalomyelitis  ist  nun,  obgleich 
die  ersten  und  gleich  sehr  vollständigen  klinischen  und  anatomischen  Mittheilungen 
schon  mehr  als  25  Jahre  zurtiekliegen,  doch  dem  grösseren  ärztlichen  Publicum 
sehr  wenig  bekannt  geworden  — zum  Theil  wohl,  weil  selbst  grosse  und  neue 
Iland-  und  Lehrbücher  dasselbe  gar  nicht  besprechen  oder  kurz  Uber  dasselbe 
hinweggehen.  Diese  stiefmütterliche  Behandlung  verdient  die  Erkrankung  aber 
nicht,  da  sie  allein  schon  durch  ihre  relative  Häufigkeit  besonders  nach  infeetiösen 
Erkrankungen  eine  entschieden  grössere  praktische  Bedeutung  hat  als  die  oben 
beschriebene  nnd  allgemein  bekannte  transversale  Myelitis;  ferner  bieten  die  Fälle 
bei  zuerst  meist  sehr  stürmischem  Verlaufe  im  Ganzen  doch  eine  gute  Prognose, 
ja  sie  gehen  uicht  so  selten  in  volle  Heilung  Uber  und  geben  dem  erfahrenen 
Arzte  deshalb  Gelegenheit,  die  Angehörigen  frühzeitig  zu  beruhigen  und  ihnen 
Res  pect  vor  der  Sicherheit  seiner  Voraussage  einzuflössen.  Ich  werde  aus  allen 
diesen  Gründen  auf  diese  Krankheit  hier  etwas  näher  eingehen.  Ich  will  zunächst 
3 Fälle  meiner  eigenen  Beobachtung  bringen,  die  in  Ursachen,  Symptomen  und 
Verlauf  im  Einzelnen  von  einander  abwcichen  und  so  ungefähr  ein  Bild  aller  hier 
möglichen  Varietäten  geben.  An  der  Hand  dieser  Fälle  sollen  danu  noch  einige 
allgemeine  Bemerkungen  über  die  disseminirte  Encephalomyelitis  folgen. 

Beobachtung  1.  Disseminirte  Encephalomyelitis  nach  Varicellen. 

XV.  Irmgard,  4 Jahre.  Die  kleine  Patientin  hat  vor  10  Tagen  Varicellen  dnreh- 
gemacht.  Eine  Schwester  erkrankte  ebenfalls  14  Tage  später  an  Windpocken  — ich  war  also 
in  der  Lage,  mich  von  der  Natur  der  Erkrankung  zu  überzeugen.  Vor  etwa  4 Tagen  war  sie 
wieder  anfgestanden.  sonst  scheinbar  gesund,  nur  nicht  so  lebhaft  und  vergnügt  wie  früher. 

Encyciop.  Jahrbücher.  VI.  31 


482 


MYELITIS. 


Drei  Tage  vor  meiner  ersten  Untersuchung,  am  5.  März  1892,  Latte  man  Morgens  beim  Er- 
wecken de»  Kindes  — dasselbe  hatte  gut  geschlafen  — es  in  demselben  Zustande  gefunden, 
den  es  auch  am  8.  März  1892  darbot. 

Status  8.  März  1892.  Die  Kleine  liegt  ruhig  im  Bette,  ist  offenhar  ganz  klar  und 
verständig.  Sie  antwortet  auf  Fragen  richtig,  dabei  fällt  auf.  dass  die  Sprache  deut- 
lich  gestört  ist,  die  einzelnen  Silben  sind  durch  längere  Pausen  von  einander  getrennt, 
die  Kranke  scandirt.  Die  Sprache  ist  dabei  leicht  näselnd  und  manchmal  werden  anch 
die  einzelnen  Silben  etwas  verstümmelt  (Dysarthrie).  Nicht  selten  kommt  der  Anfarg  des 
Wortes  in  etwas  explosiver  Weise  betau».  Das  Gesicht  zittert  beim  Sprechen  nicht  und 
zeigt  keine  Lahmnng.  Die  Zunge  wird  ebenfalls  ohne  Zittern  gerade  üervorgest  reckt.  die 
Augen  bewegen  sich  gut  und  ohne  Nystagmus  nach  allen  Seiten,  der  Augen  hin  (ergründ  i*t 
normal.  Das  Schlucken  geht  ziemlich  von  statten,  der  Kopf  dagegen  geräth  schon  in 
Sitzen  hei  Drehbewegungen,  und  wenn  die  Patientin  den  Arzt  lixirt,  in 
lebhafte  rotirende  Z itterbe wegu nge n. 

Veranlasst  man  das  Kind  zu  Bewegungen  der  Arme,  so  tritt  ein  ausgesprochener 
grobschlägiger  Tremor  derselben  ein,  der  übrigens  mit  mehr  ataktischen  Erschei- 
nungen so  sehr  gemischt  ist,  dass  man  zweifeln  könnte,  oh  es  sich  mehr  um  Ataxie  oder 
uni  Intentionstremor  handle.  Im  Allgemeinen  sind  allerdings  die  einzelnen  Zitterbewegungen 
der  Arme  ziemlich  rhythmisch,  die  einzelnen  Ausfahrbewegungen  der  Arme  von  ziemlich  ton- 
stanter  Grösse  (I  n t e n t i o n s t re  m or).  Doch  greift  die  Patientin  an  ihrer  Nase  z.  B tneiir 
nach  der  Art  der  Ataxie  vorbei.  Die  grobe  Kraft  der  Anne  scheint  nicht  wesentlich  beeia- 
trächtigt.  Im  Liegen  zeigen  die  Beine  bei  Bewegungen  grobes  ataktisches  Schleudern 
( Kniehai kenversuch),  das  man  hier  jedenfalls  nicht  als  Zittern  bezeichnen  kann,  und  auch 
statische  Ataxie  besteht,  das  Kind  ist  nicht  im  Stande,  das  erhobene  Bein  einen  Augen- 
blick ruhig  in  der  Luft  zu  halten.  Versucht  man,  di*  Patientin  anfzustellen,  so  tritt  zunächst 
lebhafter  Schütteltremor  der  Beine  auf.  dann  zittert  der  Rumpf,  die  Arme  und  schlie» 
lieh  der  Kopf  iu  derselben  Weise;  das  Kind  ist,  auch  wenn  es  gehalten  wird,  sehr  ängstlich 
und  würde  ohne  Stütze  sofort  Umfallen.  Bei  Versuchen  zu  gehen,  treten  heftigste  Schleuder 
Bewegungen  der  Beine,  wie  bei  ausgeprägter  Tabes  ein.  Die  Patella rreflexe  sind  vor- 
handen, nicht  gesteigert.  Auch  sitzen  kann  das  Kind  des  Zitterns  wegen  nicht. 

in  den  nächsten  Tagen,  vom  9. — 13.  März,  befand  sieh  das  Kind  noch  schlecht,  liem 
sich  jetzt  nur  schwer  untersuchen,  war  recht  widerspenstig.  Am  13.  März  fand  ich  schon  die  wesest* 
liehe  Besserung,  die  von  da  rasch  zunahm,  dass  die  .Sprache  wieder  gut  war,  das  Zittern  der  Arm« 
geringer  ; auch  konnte  die  kleine  Patientin  wieder  siizen  Am  15  Marz  hal*  ich  notirt:  Sitx*  »hn« 
sich  anznlehneu,  vermag  »ich  auch  allein  im  Bette  aufzurichten.  Sprach*  — nach  Angabe  der 
Eltern  — ganz  normal.  Bei  Bewegungen  der  Arme  und  der  Hände  noch  typisches  InteiiiioM- 
zitlern.  Gang  ziemlich  gut  ar.sfühihar,  wenn  auch  mit  deutlichem  ataktischen  Schwanken, 
Schleudern  und  Stampfen  mit  den  Beinen.  Psychisch  sehr  envgbar.  Am  20.  Marz  fand  i»h 
nur  r.cch  ganz  geringes  Zittern  der  Arme  und  der  Hände  — isst  wieder  allein.  Stehen  and 
Gehen  ganz  gut  bis  auf  das  Treppensteigen.  Am  22.  Marz  ganz  geheilt  — ist  bisher  ge- 
sund geblieben 

Beobachtung  2.  Disgeiniuirte  Enccphalomy elitis  nach  Gasvergiftung. 
Die  Natur  des  Gases  nicht  sicher  festzustellen. 

S.,  43  dah re.  Arbeiter  der  Contincntal-Gascorapagnie , war  am  4.  Februar  189*  mit 
Herstellur  g von  schwefelsaurem  Ammoniak  aus  dem  Gaswasser  beschäftigt.  Er  wurde  einigw 
Zeit  darauf  in  »einem  Arbeitsraume  bewusstlos  aufgelunden  und  in  diesem  Zustande  in  d*s 
städtische  Krankenhaus  gebracht.  Ich  will  hier  gleich  bemerken,  dass  ich  in  Rücksicht  auf 
einige  Beobachtungen  in  der  Literatur  zunächst  glaubte,  es  handle  sich  um  CO-Vergiftm  g, 
die  betreffende  Berufsgenossenschaft  t heilte  mir  aber  auf  Anfrage  mit,  dass  bei  der  Beglei- 
tung des  Gaswassers  CO  nicht  entstehen  könne,  vielleicht  käme  schweflige  Saure  oder  Ammnilk 
in  Betracht.  Uehrigens  sei  der  Berufsgenossenschaft  ein  ähnlicher  Fall  noch  nicht  vorgekommsa, 
obwohl  viele  Fabriken  die  Bearbeitung  des  Gaswassers  selbst  besorgten.  Patient  war  im  Kranken- 
hanse die  erste  Zeit  noch  bewusstlos,  beziehungsweise  im  Bewusstsein  getrübt,  im  Anfang 
auch  (ob  auch  mit  der  Sprache?)  gelähmt.  Ueber  sein  Verhalten  wahrend  des  übrigen Tneil« 
des  Krankenhausaufenthaltcs  habe  ich  nichts  in  Erfahrung  bringen  können.  Er  wurde  im 
April  1892  „geheilt*  entlassen,  stellte  sich  aber  schon  am  Tage  der  Entlassung  seinem  Cassea* 
arzte  vor,  der  stark  erhöhte  Sehnenreflexe  eonstat irte. 

Ich  konnte  den  Kranken  am  3.  Juni  1892  zum  ersten  Male  untersuchen.  Das  Auf- 
fälligste an  ihm  war  sein  Gang  — hat  der  Patient  längere  Zeit  gesessen,  so  sind  die  ersten 
Schritte  besonders  durch  die  Parese  der  Beine  charakterisirt  — , die  Fasse  werden  kaum 
vom  Boden  erhoben,  nachgeschleift  und  mühsam  vorwärtsbewegt  Nach  einigen  Schritten  aber 
ändert  sich  das  Bild.  Es  treten  allmälig  immer  stärker  werdende  Zitterbewegungen  ein, 
die  an  den  Beinen  beginnen,  dann  aber  auf  Rumpf,  Kopf  und  Arme  üliergehcn . so  da« 
schliesslich  der  ganze  Körper  in’s  Schwanken  geräth  mid  der  Patient,  wenn  nicht  gehalten, 
hinstbrzt.  Zu  Beginn  des  Zitterns,  wenn  sich  Patient  noch  von  der  Stelle  bewegen  bann, 
sieht  man  »ehr  deutlich,  wie  hei  jedem  Schritte  durch  eine  Zusammenziehung  d-r  Wadcn- 
musculatur  der  Hacken  sich  hebt  und  der  Fuss  nur  noch  mit  der  Spitze  den  Boden  berührt 


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MYELITIS. 


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(exquisit  spastischer  Gang).  Ein  eigentliches  Rom  b erg’sches  Symptom  besteht  nicht, 
dagegen  gerät h auch  beim  Stehen  der  Körper  in  derselben  Weise  und  in  derselben  Reihenfolge 
der  einzelnen  Muskeln  wie  beim  Gehen  in  Zittern,  so  dass  Patient  umzufallen  droht.  Auch 
im  Liegen  sind  die  Bewegungen  der  Beine  erheblich  gestört ; z.  B.  wenn  man  den  Patienten 
mit  dem  Unterschenkel  einen  Kreis  in  der  Luft  beschreiben  lässt , treten  ganz  erhebliche 
zitternde  und  mehr  ausfahrende  — ataktische  — Bewegungen  ein.  Lässt  man  ihn  langsam, 
z.  B.  mit  dem  rechten  Hacken  das  linke  Knie  aufsuchen,  so  geht  das  zunächst  einigermassen, 
ist  das  Ziel  aber  erreicht,  so  treten  auch  hier  die  lebhaftesten  Zuckungen  und 
Zitterbe  wegu  ngen  im  Fu9se  eia. 

Beide  Beine  sind  schwach  — besonders  das  linke  — aber  nicht  contracturirt.  Es 
besteht  Patella r-  und  Acliillesclonus,  doch  sind  dieselben  nicht  so  ganz  leicht  nach- 
zuweisen,  da  bei  Versuchen,  sie  auszulösen,  das  ganze  Bein  und  schliesslich  der  ganze  Körper 
in  Zittern  geräth. 

An  den  Armen  besteht  schon  bei  einfachem  Ansstrecken  Zittern  und  bei  jeder  Be- 
wegung der  lebhafteste  Intentionstremor.  Nur  bei  besonderen  Bewegungen,  z.  B. 
Zusammenbringen  der  Finger  vor  der  Mittellinie  des  Körpers  oder  beim  Auf-  und  Zuknöpfen 
zeigt  sich  ;iuch  eine  ataktische  Bewegungsstörung,  die  sich  dem  Tremor  hinzuaddirt.  Die 
Arme  sind  ebenfalls  schwach,  besonders  der  linke,  die  Tricepsreflexe  fehlen;  die  Schrift  zeigt 
deutlich  den  Tremor  intentionalis.  Nirgends  eine  Storung  der  Sensibilität ; Blase  und  Mast- 
darm ungestört. 

Die  Sprache  ist  exquisit  scandirend.  Das  Gesicht  zittert  beim  Sprechen 
massig,  deutlicher  der  Kopf.  Die  Zunge  zittert  nicht.  Es  besteht  kein  Nystagmus,  aber  heim 
Fixiren  in  Extremstellung  der  Bulbi  wird  das  Kopfzittern  stärker.  Die  Sinnesorgane,  speciell 
die  Augen,  sind  gesund.  Die  Intelligenz  ist  normal. 

Die  inneren  Organe  sind  gesund.  Im  Urin  weder  Eiweiss  noch  Zucker. 

Mitte  November  desselben  Jahres  (1892)  war  das  Krankheitsbild  noch  genau  dasselbe. 

Im  April  1893  konnte  ich  Folgendes  notiren:  Alles  in  allem  sehr  viel  besser  geworden, 
doch  sind  die  Störungen  im  Gange  noch  sehr  deutlich  und  werden  cs  besonders,  wenn  Patient 
ermüdet.  Der  Gaug  ist  zunächst  ein  typisch  spastischer:  beim  stampfenden  Aufsitzen 
des  Kusses  erhebt  sieb  sofort  wieder  der  Hacken  vom  Boden,  so  dass  gewisser- 
masseu  ein  Tänzeln  eintritt;  erst  bei  Ermüdung  kommt  dann  noch  das  Zittern  der  Beine  und 
des  Rumpfes  dazu  und  bringt  den  Körper  zum  Schwanken:  diese  Ermüdnng  tritt  jetzt 
nach  einer  halbstündigen  Untersuchung  ein.  Bei  starker  Ermüdung  werden  die  Beiue  nach- 
geschleift. Beine  schwach.  Patellar-  und  Acliillesclonus  und  ausgesprochene  Epilepsie  spinale 
bei  häufigerem  Beklopfen  der  Patellarsebne  — Alles  nicht  mehr  so  stark  wie  früher.  Bei 
Kreisbewegung  der  Beine  Intentionstremor  stärksten  Grades,  beim  Kniehacken  versuche  deut- 
lich, aber  geringer.  Bei  ruhigem  Halten  der  Beine  in  der  Luft  kein  Zittern  — links  Alles 
stärker  als  rechts. 

An  den  Armen  hei  rnhigem  Ausstrecken  kein  Zittern  mehr;  rechts  auch  kaum  bei 
intendirten  Bewegungen,  links  noch  deutlich.  Im  Urin  nichts. 

Sprache  typisch  scandirend,  nur  spurweise  auch  dysarthrisch.  Ganz  leichtes  Zittern 
der  Gesichts*  und  Zungeninusculatnr  Ebenso  noch  leichtes  Zittern  des  Kopfes , speciell 
beim  Fixiren. 

Pupillen  gleich,  mittel  weit,  reagiren  gut  auf  Licht. 

16.  Octoher  1893.  Keine  Aenderung. 

2.  April  1894.  Sehr  auffällige  Besserung.  Gang  im  Anfang  normal,  nach  Ermüdung 
leichte  spastische  Symptome  und  auch  etwas  Schwanken.  Kein  Zittern  mehr  beim  Gange. 
Auch  im  Liegen  beim  Knicliackenversuche  kein  Tremor.  Kein  Patellarclonus , Achillesclonus 
geringen  Grades,  eher  ganz  kurz  dauernde  Epilepsie  spinale  bei  Versuchen  der  Auslösung 
des  Achillesclonus.  Kraft  der  Beine  gut.  Intentionstremor  der  Arme,  des  Gesichtes  und  der 
Zunge  kaum  mehr  vorhanden.  Kein  Nystagmus.  Kopfbewegungen  ohne  Zittern.  Sprache  noch 
immer  scandirend,  Schrift  gut. 

Ich  veranlasst«'  den  Patienten  jetzt,  seine  Arbeit  wieder  aufzunehmen,  er  gab  sich 
auch  die  grösste  Mühe,  doch  gelaug  das  Experiment  nicht  er  ermüdete  sehr  rasch  und  musste 
bald  wieder  aufhören.  Als  ich  ihn  dann  Ende  April  1894  wieder  untersuchte,  waren  alle 
Symptome  wieder  hochgradig  ausgebildet  Der  Gang  war  paretisch  und  exquisit  spastisch  — 
Epilepsie  spinale  trat  schnu  beim  passiven  Erheben  der  Beine  auf.  Im  linken  Beine,  wo  auch 
der  Patellarreflex  lebhafter  ist  als  rechts,  tritt  auch  beim  Kniehackenversuche  lebhafter  Tremor 
ein.  An  den  Armen  war  die  Besserung  bestehen  geblieben.  Scandirende  Sprache  noch  vor- 
handen. Er  erholte  sich  rasch  wieder,  doch  trat  im  Juni  1894  nach  mehrtägigem  Durchfalle 
wieder  eine  Verschlechterung,  speciell  in  Bezug  auf  die  Beine  ein. 

Als  Curiosum  will  ich  angebeu,  dass  die  Frau  dieses  Patienten  an  multipler  Sklerose 
litt.  Spastische  Parese  mit  schwankendem  Gange,  Intentionstremor  der  Arme,  scandirende 
Sprache,  leichte  Blasenstörungen. 

Hier  war  der  Verlauf  langsam  progressiv. 

Beobachtung  3.  Disseminirte  Eucephalomyelitis  nach  Scharlach. 

Lina  K..  7l  , Jahre.  Arbeiterskind,  erkrankte  im  October  1887  an  Scharlach  ohne 
Diphtherie.  Am  Tage  der  Erkrankung  trat  mit  einem  Male  — einige  Tage  vorher  hatten 

31* 

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484 


MYELITIS. 


Kopfschmerzen  bestanden  — ein  bewusstloser  Zustand  ein,  in  dem  die  Patientin  fortwährend 
schrie,  um  sich  schlug.  Niemanden  kannte  und  Koth  und  Urin  unter  sich  gehen  liess.  Dieser 
Zustand  dauerte  etwa  30  Tage.  Jn  den  ersten  12  Tagen  häutig  Unruhe,  Contractur  der  Ex- 
tremitäten und  des  Rumpfes  — arc  de  cercle-Bildnng.  Nach  3U  Tagen  besserte  sich  der  Zu- 
stand, das  Bewusstsein  klärte  sich,  die  Patientin  war  aber  vollkommen  sprachlos.  Wenn  sie 
etwas  wollte,  z.  B.  ihre  Bedürfnisse  befriedigen,  dann  weinte  sie,  die  Mntter  musst«  dann 
errathen,  was  sie  wollte,  und  die  Patientin  nickte,  wenn  sie  es  getroffen  hatte,  ln  dieser 
Zeit  bestanden  fortwährende  choreatische  Bewegungen,  speciell  der  rechten 
Seite.  Blase  und  Mastdarm  waren  intact.  Die  Beine  waren  zunächst  vollständig  gelähmt, 
die  Anne  konnten  etwas  gehoben  werden,  aber  mit  starkem  ataktischen  Schwanken.  Allmalig 
besserte  sich  der  Zustand,  zuerst  die  Motilität  und  grobe  Kraft,  während  die  Ataxie 
noch  bestand  und  die  Patientin  z.  B.  gefüttert  werden  musste.  Weihnachten  1887  konnte  sie 
noch  nicht  ordentlich  sitzen,  der  Kopf  wackelte  stark.  Die  Sprache  lernte  sie  allmälig  wie 
neu,  zuerst  sprach  sie  nur  die  ersten  Silben  nach,  jetzt  die  ganzen  Worte.  Lesen  konnte  die 
Patientin  vor  ihrer  Erkrankung  erst  einzelne  Buchstaben,  schreiben  noch  nicht.  Das  Schlucken 
war  nur  auf  der  Höhe  der  Krankheit  leicht  gestört. 

Status  13.  Februar  1888  Intelligenz  gut. 

Musculatur  des  Kopfes  noch  schwach,  Kopf  etwas  nach  vorn  geneigt  gehalten. 

Augen  nnd  Augen bewegun gen  intact,  kein  Nystagmus. 

Zungenbewegungen  etwas  langsam  und  träge,  die  Sprache  deutlich  scandirend,  dabei 
aber  auch  mit  erheblichen  dysarthrischen  Störungen.  Keine  aphatischeu  Symptome  mehr. 
Rechter  unterer  Facialis  etwas  schwächer  als  der  linke.  Der  linke  Arm  ist  etwas 
kräftiger  als  der  rechte,  er  wird  auch  zum  Essen  gebraucht;  bei  Greifbewegungeu  rechts 
deutliche  Ataxie.  Sensibilität  intact.  Keine  trophischen  oder  ataktischen  Störungen. 

Grobe  Kraft  der  Beine  gut.  Keine  Contracturen.  Beiderseits  lebhafte  Patel- 
larreflexe,  kein  Achillesclonus.  Bei  inteudirten  Bewegungen  mit  den  Beinen 
im  Liegen  lebhafteste  Ataxie  und  baldiges  Ermüden.  Stehen  nur  mit  offenen 
Augen  und  breitbeinig  möglich,  auch  dann  lebhaftes  Schwanken  und  bal- 
diges Umsinken.  Gang  ataktisch  und  stampfend  wie  hei  Tabes,  auch  hier  ermüdet 
die  Patientin  rasch  und  schleift  dann  die  Beine  nach.  Lagegefahl.  wie  überhaupt  die 
Sensibilität  intact.  Ebenso  keine  trophischen  oder  elektrischen  Störungen,  die  inneren 
Organe  gesund,  im  Urin  nichts. 

Am  6-  April  war  eine  Besserung  eingetreten  Sie  konnte  frei  und  ungenützt  eia 
paar  Schritte  gehen,  mit  Stütze  längere  Strecken.  Am  1.  Mai  1888  konnte  ich  die  Patientin 
ungefähr  in  demselben  Zustande  den  Mitgliedern  des  Vereins  (l«  r Irrenärzte  Niedersachser.s 
und  Westphaleus  vorstellen. 

Im  November  1888  war  der  Gang  sehr  viel  sicherer,  aber  immer  noch  stumpfend 
und  bei  Augenschiass  schwankend.  Im  reehten  Arme  noch  deutliche  Bewegungsataxie , keine 
statische  Ataxie  mehr,  die  Ataxie  verstärkt  sich  hier  nicht  beim  Augenschiiessen.  Psyche 
intact,  geht  wieder  in  die  Schule,  lernt  leicht,  nur  das  Schreiben  geht  noch  schlecht.  Rechter 
Facialis  noch  paretisch,  Zunge  nicht  mehr;  Sprache  nicht  mehr  dysart li risch,  al>er  langsam 
und  scandirend. 

Am  30.  April  1890  sah  ich  die  Patientin  noch  einmal  wieder.  Der  Gang  ist  etwas 
unsicher  und  plump,  ohne  deutliche  Ataxie,  an  Armen  und  Händen  nichts  Abnormes  mehr. 
R.  untere  Facialis  noch  deutlich  paretisch.  Sprache  exquisit  scandirend.*) 

Aus  (len  vorstehenden  Krankengeschichten  und  ihren  Varietäten  kann 
man  sich  ohneweiters  ein  gutes  Bild  von  Symptomen  und  Verlauf  der  soge- 
nannten acuten  Ataxie,  der  disseminirteu  Encephalomyelitis  machen.  Hier  soll 
deshalb  nur  eine  kurze  Zusammenfassung  der  klinischen  Symptome  meiner  und 
der  in  der  Literatur  niedergelegten  Fälle  folgen:  In  allen  Fällen  folgt  die  Er- 
krankung während  oder  nach  einer  acuten  Infeetionskrankheit  oder  nach  einer 
Vergiftung.  Der  nahe  Zusammenhang  mit  Infectionskrankheiten  bedingt  auch  die 
Häufigkeit  des  Vorkommens  der  acuten  Ataxie  bei  Kindern.  Das  Einsetzen  ist 
stets  ein  acutes  — nicht  selten,  wie  z.  B.  in  meinem  ersten  Falle,  entwickeln 
sich  die  Symptome  über  Nacht  zu  voller  Höhe  — das  Kind  war  scheinbar  noch 
ganz  gesund  zu  Bett  gegangen.  In  den  meisten  Fällen  — so  z.  B.  bei  Wkst- 
PHAL  b0)  — bestanden  im  ersten  Stadium  Symptome,  die  auf  ein  allgemeines  und 
schweres  Ergrifiensein  des  ganzen  Nervensysteme»  hindeuteten.  So  finden  wir 
z.  B.  im  Fall  2 mehrtägige  Bewusstlosigkeit  , dann  längere  Zeit  hindurch  totale 
Lähmung.  Noch  deutlicher  ist  das  in  Fall  3;  hier  bestand  durch  vier  Wochen 

*)  April  1896  habe  ich  die  Patientin  noch  einmal  wieder  bestellt.  Die  Sprach?  «t 
noch  immer  behindert,  aber  viel  weniger  als  früher.  Die  Schrift  etwas  zitterig.  Sonst  alles 
in  Ordnung. 


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MYELITIS. 


485 


total«'  Bewusstlosigkeit  mit  grösster  Unruhe,  schreckhaften  Delirien,  Secessus 
inst'ri  — nach  und  nach  bildete  sich  ein  Symptomencomplex  heraus,  der  am 
meisten  Aehnlichkeit  mit  einer  schweren  Chori'a  hatte  — als  das  Bewusstsein 
wieder  kam,  liestand  zunächst  totale  motorische  Aphasie,  vollkommene  Lähmung 
der  Extremitäten,  die  choreatischen  Bewegungen  Hessen  allmftlig  nach,  aber  erst 
nach  Wochen  bot  das  Krankheitsbild  diejenigen  Symptome,  die,  wie  wir  sehen 
werden,  für  das  Krankheitsbild  am  charakteristischesten  sind.  Einen  ähnlichen 
Verlauf  mit  langdauernder  Bewusstseinsstörung,  wochenlanger  allgemeiner  Chorea, 
Blindheit  und  Taubheit  mit  Ausgang  in  Heilung  habe  ich  vor  Kurzem  noch  bei 
Encephalomyelitis  disseminata  nach  Pertussis  erleht.  Gerade  in  diesem  Stadium 
der  allgemeinen  Erkrankung  des  gesummten  Nervensystems  kommt  auch  Neuritis 
optica  vor.  In  einer  drittt'n  Reihe  von  Füllen,  wie  z.  B.  in  meinem  Falle  1,  — 
das  sind  wohl  die  prognostisch  günstigsten  — treten  die  Erscheinungen  von 
Seiten  des  Grosshirnes  (Bewusstlosigkeit,  Delirien,  vielleicht  Chorea)  ganz  zurück 
und  beschränkt  sich  die  Erkrankung  im  Ganzen  auf  Medulla  oblongata  und 
Rückenmark,  ln  diesen  Fällen  besteht  von  Anfang  an  dasjenige  Krankheitsbild, 
das,  abgesehen  von  Gt.-HI.GB  “),  Westphai.  *•)  und  Ebstein  ••)  zuerst  beschrieben 
haben  und  um  dessen  weitere  Erforschung  Leyden**),  der  der  Krankheit  den 
Namen  acute  Ataxie  gab,  die  grössten  Verdienste  hat.  Wkstphal  hebt  schon 
die  charakteristischen  Symptome  scharf  hervor;  ich  sehe  dabei  davon  ab,  dass 
das  erste  grosse  Charakteristicuin  der  acute  Beginn  ist.  Es  besteht  — in  den 
leichteren  Fällen  von  Anfang  an , in  den  schweren  stürmischen  nach  Ueber- 
Btehung  der  ersten  Periode  der  schweren  Allgcmeinsymptome  — 1.  die  Ataxie, 
die  sich  in  den  Beinen  beim  Gehen  und  bei  Bewegungen  im  Liegen  zeigt , die 
in  den  Armen  besonders  bei  Greifbewegnngen  manchmal  aber  auch  als 
statische  Ataxie  auftritt.  Auch  das  Zittern  des  Kopfes  wird  fast  in  allen 
Fällen  erwähnt;  2.  die  Störungen  der  Sprache,  die  sich  im  ganzen  als 
scandirende  Sprache  bezeichnen  lässt;  3.  eine  nicht  immer  vorhandene 
Störung  der  Intelligenz.  Ich  möchte  als  Nr.  4 noch  hinznreehnen  Paresen  oder 
spastische  Zustände  der  Beine  mit  entsprechendem  Gange,  sehr  selten  der 
Arme  mit  manchmal  enorm  gesteigerten  Sehnenretlexen,  öfters  mit  Ueberwiegcn 
dii’ser  Erscheinungen  auf  einer  Seite  und  als  negative  Symptome  das  Fehlen  jeder 
Sensibilitütsstörung,  besonders  auch  der  des  sogenannten  Muskelsinnes,  was  übrigens 
Wkstphal  schon  hervorgehoben  hat,  und  das  Fehlen  deutlicher  Sphinkteren- 
störungen.  In  Bezug  auf  Einzelheiten  und  Varietäten  in  den  Symptomen  kann 
ich  wohl  auf  meine  Krankengeschichten  verweisen,  die  ebenso,  wie  sonstige  neuere 
Beobachtungen  das  von  Wkstphal  und  Lei  den  aufgestellte  Krankheitsbild  nur 
zu  stützen  geeignet  Bind. 

Nur  in  Bezug  auf  die  Bezeichnung  Ataxie  für  die  Bewegungsstörung 
der  Arme  und  Beine  in  diesen  Fällen  — eine  Bezeichnung,  wie  sic  von  den 
Autoren  bisher  immer  ohneweiters  angewandt  ist  — möchte  ich  hier  noch  ein 
paar  Bemerkungen  machen.  Was  die  Störungen  der  Beine  beim  Gehen  oder  bei  Be- 
wegungen im  Liegen  anbetrifl't,  so  kommen  hier  bei  genauerem  Zusehen  offenbar 
zweierlei  Erscheinungen  vor:  erstens  echte  Ataxie,  ataktisch^  Bewegungen  ganz 
wie  wir  sie  bei  der  Tabes  kennen , so  z.  B.  in  meinem  Falle  1 beim  Geheu , nicht 
aber  bei  Bewegungen  im  Liegen , im  Fall  3 ganz  typisch  ebenfalls  bei  Geh- 
versuchen, und  dasselbe  findet  sich  in  den  meisten  Fällen  von  Wkstphal  und 
Leyden.  Zweitens  aber  wird  beobachtet  eine  Bewegungsstörung,  die  mit  den 
gauz  groben,  in  ihrer  Amplitude  wechselnden  und  unberechenbaren  Bewegungen, 
wie  sie  für  die  Ataxie  charakteristisch  sind,  nichts  zu  thun  haben,  sondern  mehr 
in  groben , aber  gleichinüssigeu , wenn  auch  nicht  immer  rhythmischen  Zitter- 
bewegnngen  bestehen,  die  schliesslich  den  ganzen  Körper  in's  Schwanken  bringen 
können.  Das  war  in  den  Beinen  besonders  deutlich  im  Stehen  im  meinem  Falle  1, 
beim  Gehen  und  Stehen  im  Falle  2 , wird  übrigens  auch  von  Wkstphal 
schon  in  einem  Falle  besonders  hervorgehoben.  Nicht  selten  sieht  man , wie 


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MYELITIS. 


der  Tremor  der  Beine  sich  herausbildet  aus  den  einzelnen  Zuckungen,  die 
in  der  Wadenmusculatur  beim  Gange  zunächst  auftreten  ; es  sind  das  die  Fälle 
mit  typisch  spastischem  Gange.  Ist  dieser  Tremor  deutlich,  so  tritt  er  nattirlieb 
auch  im  Liegen  bei  Bewegungen  (Kniehackcnversueh)  und  bei  einfachem  Erheben 
der  Beine  auf  (Fall  2).  In  den  Armen  bestand  in  meinen  Fällen  1 und  2 ein 
sehr  deutliches,  ganz  dem  Intentionstremor  gleichendes  Zittern,  nur  bei  ganz 
besonderen  Bewegungen  wirkliche  Ataxie,  während  die  letztere  z.  B.  in  den 
Fällen  von  Westphal  sehr  deutlich  beschrieben  ist  und  auch  in  meinem  Falle  3 
unverkennbar  war.  Am  Kopfe  ist  sehliesslieh  von  allen  Autoren,  ebenso  wie  von 
mir,  nur  einfaches  rhythmisches  Zittern  beobachtet.  Wir  sehen  also  bei  offenbar 
im  Grunde  gleichartigen  Fällen  im  einen  mehr  echt  ataktische,  im  anderen  mehr 
tremorartige  Störungen,  häufig  beides  vereint.  Dazu  kommt  noch,  dass,  was  ich 
zuerst  hervorgehoben  habe  und  was  auch  von  anderen  Autoren,  z.  B.  von  Goi.D- 
SCH EIDER  anerkannt  ist , die  Ataxie  und  der  Intentionstremor  oft  schwer  ans- 
einanderzuhaltcn  sind,  ja  dass  man  sich  in  einzelnen  Fällen  — ich  erinnere  an 
meinen  Fall  von  Vierhllgeltumor  — ebenso  gut  für  die  eine  wie  für  die  andere 
Bezeichnung  entscheiden  könnte.  Es  ist  ja  übrigens  bei  der  jedenfalls  nicht  immer 
gleichen  Localisation  der  Krankheitsherde  der  disseminirten  Encepbalumyelitis 
eine  Differenz  in  dieser  Beziehung  zwischen  den  einzelnen  Fällen  sehr  wohl 
erklärlich  — die  Ataxie  würde  mehr  für  einen  Sitz  in  der  Schleife,  der  Inten- 
tionstremor  mehr  für  einen  solchen  in  oder  in  der  Nähe  der  der  Pyramiden- 
bahnen sprechen.  Dass  übrigens  der  ersterc  Sitz  und  damit  Ataxie  selten  ist, 
dafür  spricht  hier  auch  der  Mangel  an  Störungen  des  Lagegefühles.  Ich  wollte  diese 
Dinge  nur  hervorheben,  damit  man,  wenn  man  auch  den  Namen  „acute  Ataxie" 
beibehält,  doch  weiss,  dass  die  Bewegungsstörungen  in  vielen  Fällen  nicht  auk 
tische  sind,  sondern  mehr  dem  Intentionstremor  gleichen. 

Die  Störungen  der  Intelligenz  scheinen  mir  nach  meinen  eigenen  Be- 
obachtungen nicht  dauernde  zu  sein,  sondern  nur  in  den  schweren  Anfangsstadien 
der  Erkrankung  zu  bestehen.  An  progressive  Paralyse,  bei  der  Tremor  ja  auch 
sehr  hochgradig  sein  kann,  erinnerten  die  Fälle  jedenfalls  nur  bei  oberflächlicher 
Betrachtung.  Für  die  seandirende  Sprache  ist  in  schweren  Fällen  charakteristisch 
ihr  Hervorgelien  aus  voller  Sprachlähmung.  Selten  sind  auch  leichte  dvsarthri- 
sehe  Störungen. 

Der  Verlauf  der  Erkrankung  ist,  wie  schon  meine  wenigen  Fälle  zeigen, 
ein  äusserst  wechselnder,  er  hängt  wohl  hauptsächlich  von  der  Schwere  und 
Ausbreitung  des  Krankheitsgiftes  ab.  Häufig  tritt  — manchmal,  wie  in  Fall  1 sehr 
rasch  — volle  Heilung  ein,  besonders  in  den  Fällen  nach  Infectionskrankhciten. 
In  anderen  Fällen  bessert  sich  das  Leiden  ganz  allmälig,  doch  nur  bis  zu  einem 
gewissen  Grade;  paretischer  oder  spastischer  Gang  bleibt  bestehen,  auch  die 
seandirende  Sprache  (Kall  2 und  3).  ln  solchen  Fällen  köunen,  wie  Nr.  2 lehrt, 
auch  vorübergehende  Verschlimmerungen  nach  änsseren  Anlässen  oft  spät  nach 
Beginn  der  Erkrankung  noch  cintrcten.  Der  Tod  tritt  selten  ein,  dann  wohl  meist 
im  ersten  Stadium,  später  an  Complicationen. 

Schon  Westphal  60)  war  die  grosse  Aehnlichkeit  dieser  Symptomen- 
complexe  mit  denen  der  multiplen  Sklerose  aufgefallen.  Eine  Differenz  bestellt 
eigentlich  nur  in  der  acuten  Ausbildung  des  ganzen  Krankheitsbildes,  — 
bei  der  multiplen  Sklerose  findet  sich  ja  auch  acutes  Entstehen,  aber  zuerst  nur 
einzelne  Symptome.  Neuere  Autoren,  besonders  Marie*4),  sind  sehr  geneigt,  einen 
directen  späteren  Uebergang  dieser  Kalle,  auch  der  scheinbar  geheilten,  in  echte 
multiple  Sklerose  anzuuehmen.  Beobachtet  ist  das  aber  bisher  noch  nicht  und 
auch  meine  Erfahrungen  stimmen  mehr  mit  der  Ansieht  Leydex’s  **) , der  in 
dieser  Beziehung  sagt : „An  sich  hat  der  Process  keine  Tendenz  zum  Fort- 
schreiten.“ 

Diagnose  und  Differentialdiagnose.  Bei  acuter  oder  sub- 
acuter,  im  letzteren  Falle  noch  durch  die  Aufeinanderfolge,  Gruppirung 


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und  allmälige  Ausdehnung  der  Symptome  charakterisirter  Entstehung  eines  der 
oheu  als  typisch  für  die  transversale  Myelitis  bezeichnten  Krankheitsbilder  ist 
zunächst  die  Diagnose  auf  eine  Erkrankung  des  Rückenmarkes  im  Allgemeinen 
eine  leichte.  Sehr  viel  schwieriger,  schon  bei  der  relativen  Seltenheit  dieser  Er- 
krankung, ist  es  aber  im  gegebenen  Falle  mit  Sicherheit  zu  sagen,  dass  cs  sich 
um  eine  echte  Myelitis  handelt.  Meines  Erachtens  kommt  hier  als 
wichtigstes  Moment  die  Anamnese,  die  Kenntniss  der  ätiologischen 
Verhältnisse  in  Betracht.  Entwickelt  sich  das  Krankheitsbild  der  acuten 
Rürkenmnrkslähmung  im  Verlaufe  oder  im  Anschlüsse  an  eine  Infectionskrankheit 
— hier  kommen  alle  diese  Krankheiten  in  Betracht,  wenn  auch  nach  einzelnen 
Infectioncn  die  Betheiligung  des  Rückenmarkes  besonders  häufig  vorkommt  — 
oder  auch  nach  einer  der  oben  erwähnten  Vergiftungen , so  ist  die  Annahme 
einer  myelitischen  Natur  der  Krankheit  eine  sehr  viel  gesichertere.  Es  kommt 
dann  vor  Allem  nur  darauf  an,  eine  erst  neuerdings  mehr  bekannt  gewordene 
Erkrankung  auszuscheiden,  die  sich  ebenfalls  mit  besonderer  Vorliebe  an  Jnfec- 
tionen  oder  Intoxieationen  anschliesst,  das  ist  die  multiple  Neuritis.  Diese 
Unterscheidung  kann  eine  leichte,  sie  kann  unter  Umständen  aber  auch  eine 
sehr  schwierige  sein  , manchmal  ist  sie  unmöglich , was  a priori  schon  deshalb 
verständlich  ist,  weil  in  neuerer  Zeit  genauere  anatomische  Untersuchungen  gelehrt 
haben,  dass  selten  oder  nie,  auch  bei  sonst  typischer  Neuritis  das  Rückenmark 
ganz  frei  bleibt  und  klinische  Beobachtungen  besonders  von  Oppenheim  *)  vorliegen, 
die  eine  Combination  mvelitischer  und  nenritiseher  Krankheitsprocesse  darstellen. 
Differentialdiagnostische  Unterschiede  können  sowohl  in  dem  ausgebildeten  Krank- 
heitsbilde in  seiner  Gesammtheit  wie  in  einzelnen  speciellen  Symptomen  gegeben 
sein,  vor  Allem  aber  in  Verlauf  und  Ausgang  der  Erkrankung  sich  ausprägen. 
Was  ersteres  anbetrifft,  so  kann  z.  B.  eine  Myelitis  transversa  dnrsalis  wohl 
kaum  mit  einer  Neuritis  verwechselt  werden;  wenn  auch  bei  letzterer  manchmal 
eine  Steigerung  der  Sehnenreflexe  beobachtet  worden  ist , so  kommt  doch  die 
Contractnr  der  Beine,  die  bei  Myelitis  fast  immer  eintritt,  hier  nicht  vor.  Ebenso 
kann  eine  Myelin 's  cervicalis  nur  so  lange  mit  einer  Neuritis  im  Plexus  brackialis 
verwechselt  werden , als  sich  die  Symptome  in  der  Form  der  cervicalen  Para- 
plegie auf  die  Arme  beschränken;  werden  die  Beine  betheiligt,  so  tritt  auch 
hier  spastische  Lähmung  ein,  die  mit  Neuritis  unvereinbar  ist.  Auch  fehlen  bei 
einer  Neuritis  des  Plexus  braebia/is  stets  die  Symptome  von  Seiten  der  Pupillen 
und  Lidspalten.  Sehr  viel  schwieriger  und  manchmal  unmöglich  ist  die  Unter- 
scheidung einer  Myelitis  transversa  lumbalis  von  einer  sich  auf  die  Beine 
beschränkenden  multiplen  Neuritis,  ln  beiden  Fällen  ist  die  Lähmung  eine  schlaffe, 
betrifft  meist  symmetrische  Muskeln  und  kann  auch  bei  Neuritis  den  sacralen  oder 
lumbalen  Typus  zeigen.  In  beiden  Fällen  tritt  Atrophie  und  Entartungsreaction 
io  den  Muskeln  ein  und  fehlen  fast  immer  die  Sehnenreflexe.  Doch  siud  auch  hier 
eine  Anzahl  freilich  nicht  immer  stimmender  Unterscheidungsmerkmale  vorhanden, 
die  zum  Theile  in  das  Gebiet  der  für  jede  der  beiden  Krankheiten  mehr  weniger 
charakteristischen  Einzelsymptome  fallen.  Dahin  gehören  z.  B.  die  oft  ungeheuer 
intensiven  und  ausgebreiteten  Schmerzen  im  Beginne  der  multiplen  Neuritis  beim 
Fehlen  oder  der  Geringfügigkeit  derselben  bei  der  Myelitis,  die  Druckschmerz- 
haftigkeit der  Nervenstämme  und  Muskeln  bei  der  ersteren  Krankheit,  die  übrigens 
inconstant  ist . die  meist  wohl  geringere  Deutlichkeit  objectiver  sensibler  Sym- 
ptome, speciell  der  Anästhesien  bei  Neuritis,  das  Fehlen  schwerer  trophischer 
Störungen,  speciell  des  Decubitus  und  vor  Allem  der  Blasenstörungen  ebenda.*) 
Die  Blasenstörungen  sind  ja  gerade  bei  der  Myelitis  besonders  ausgeprägt,  sie 
pfl  egen  bei  der  Neuritis  fast  immer  zu  fehlen,  höchstens  besteht  hier  im  Beginne 
ein  vermehrter  Harndrang.  Auch  die  Entwicklung  und  der  Verlauf  der  beiden 

*)  Auf  die  Unterscheidung  der  Poliomyelitis  acuta  adultorum  von  der  Neuritis,  die 
oft  nur  durch  den  Verlauf  möglich  ist,  kann  hier  natürlich  nicht  eingegangen  werden.  Gerade 
in  das  Gebiet  dieser  Krankheit  hat  die  Neuritis  die  grössten  Eingriffe  gemacht. 


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MYELITIS. 


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Erkrankungen  kann  werthvolle  diflcrcntialdiagnostische  Aufklärungen  gelien.  Die 
multiple  Neuritis  entwickelt  sich  meist  subacut  — auf  eine  Periode  der  leb- 
haftesten Schmerzen  folgen  allmälig  die  Lähmungen  — eine  foudroyant  cintretende 
Paraplegie,  wie  in  manchen  Fällen  von  Myelitis  ist  hier  jedenfalls  eine  Seltenheit. 
Entscheidend  filr  die  Diagnose  einer  Myelitis  ist  es  auch , wenn  das  erste  deut- 
liche Symptom  des  Leidens  ein  solches  ist,  wie  es  bei  der  Neuritis  nicht  oder 
nur  sehr  selten  verkommt,  so  ist  z.  K.  die  Blasenlähmung  nicht  selten  ein 
Initialsymptom  der  Myelitis.  Schliesslich  ist  der  Ausgang  von  Wichtigkeit;  volle 
Heilung  ist  bei  Neuritis  häutig,  bei  transversaler  Myelitis  doch  sehr  selten,  wenn 
sie  auch  verkommt.  Die  lumbale  Myelitis  ist  noch  dazu  prognostisch  besonders 
bedenklich,  sie  führt  sehr  oft  zum  Tode,  der  ja  allerdings  auch  bei  der  Neuritis 
nicht,  immer  fernzuhalten  ist.  Bleibt  der  Patient  am  Leben,  so  ist  jedenfalls  der 
häutigste  Ausgang  der  Myelitis  der  in  partielle  Lähmung. 

Das  mag  zur  Unterscheidung  zwischen  Neuritis  und  Myelitis  genügen. 
Kann  man  bei  einem  den  Verdacht  auf  eine  RUckenmarkskrankheit  cinschlagen- 
den  Krankheitsbilde  eine  Neuritis  ausscldiessen  und  sind  die  oben  erwähnten 
ätiologischen  Momente  vorhanden,  so  darf  man  die  Diagnose  einer  echten 
acuten  Myelitis  wagen.  Schwieriger  wird  die  Sache,  wenn  jeder  ätiologische  An- 
haltspunkt fehlt  oder  nur  solche  von  zweifelhaftem  Werthe  vorhanden  sind.  Vor 
Allem  ist  die  Trennung  der  acutesten  Formen  einer  Myelitis  von  den  auf  Blutung 
oder  Thrombose  beruhenden  acuten  Erweichungen  eine  enorm  schwierige.  Aus- 
gedehnte spontane  Blutungen  — analog  den  Hirnapoplexien  — siud  jedenfalls 
im  Rttekenmarke  äusserst  selten,  ihre  Symptomatologie  würde  dieselbe  sein,  wie 
bei  der  foudrovanten  Myelitis.  Tritt  eine  Paraplegie  nach  Traumen  auch  ohne 
nachweisbare  Läsion  der  Wirbelsäule  ein,  so  wird  man  Uber  die  Diagnose  einer 
Hämatomyelie  nicht  im  Zweifel  sein;  sehr  schwierig  ist  es  wohl  meist,  eine 
Hämatorachis  zu  erkennen,  hier  kommt  vor  Allem  die  Heftigkeit  der  Schmerzen 
und  eventuell  eine  Rückensteiflgkeit  in  Betracht. 

Von  viel  grosserer  Bedeutung  ist  jedenfalls  die  Unterscheidung  der  ein- 
fachen, uicht  entzündlichen,  meist  auf  Thrombose,  selten  auf  Embolie  beruhenden 
Erweichung  des  Markes  von  der  echten  Myelitis.  Nach  meiner  Ansicht  — ich 
stütze  mich  dabei  übrigens  auf  eine  ganze  Anzahl  sehr  erfahrener  Autoren  (s.  o.) 

— sind  gerade  diese  Fälle  besonders  häufig  und  vor  Allem  bilden  sie  in  der 
weitaus  grössten  Mehrzahl  die  anatomische  Grundlage  für  die  sogenannte  acute 
syphilitische  Myelitis.  Meist  handelt  es  sieh  hier  um  sehr  acut  verlaufende  Fälle, 
alter  auch  in  subacuter  Weise  kann  durch  allmälige  Verstopfung  des  betreffenden 
Gefässgebietes  das  Bild  einer  transversalen  Myelitis  entstehen.  Eine  Unterschei- 
dung ist  klinisch  oft  nicht  möglich  und  auch  anatomisch  ist  das  fast  immer  sehr 
schwierig,  schon  deshalb,  weil  das  angeblich  für  Myelitis  charakteristische  ana- 
tomische Bild  zum  Thcile  nach  deu  sicher  vasculären  Fällen  gezeichnet  ist.  An 
die  thrombotische  Erweichung  ist  jedenfalls  zu  denkeu,  wenn  bei 
einem  Syphilitischen  eine  Paraplegie  acut  eintritt  und  irgendwelche 
Vorboten,  namentlich  Schmerzen,  in  keiner  Weise  bestanden  haben, 

— auch  die  weitere  Beobachtung  kann  hier  entscheiden  — hier  wie  bei  der  auf 
syphilitischer  Gefässeckrankung  beruhender  Erweichung  des  Gehirnes  kann  die 
Hg-Bchandlung  natürlich  auf  den  Krankheitsherd  nicht  von  Einfluss  sein  und 
wird  eine  Besserung  nur  insoweit  möglich  sein,  als  es  sicli  um  in  ihrer  Function 
beeinträchtigte,  nicht  aher  um  zerstörte  Bahnen  handelt. 

Vielleicht  kann  ein  diagnostisches  Unterseheiduugsmoment  zwischen  vas- 
culärer  und  myelitisclicr  Paraplegie  auch  einmal  darin  liegen , dass  in  erstcrem 
Falle  niemals  Fieber  bestellt. 

Die  da»  Rückenmark  comprimirenden  Erkrankungsformen,  die  Tumoren 
und  die  Caries  der  Wirbelsäule  und  die  intravertebralen  Geschwülste, 
werden  im  Allgemeinen  eher  zur  Verwechslung  mit  der  chronischen  Myelitis 
Anlass  geben  können,  doeli  können  in  allen  diesen  Fällen,  bei  den  Wirbelcrkran- 


■s 


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MYELITIS. 


•189 


klingen  durch  plötzliches  Einsinken  der  Wirbel  und  dadurch  hervorgerufenc  acute 
Compression  des  Markes , bei  den  intravertebralen  Tumoren  durch  ein  acut  ein- 
setzendes  Oedein,  paraplegische  Erscheinungen  acut  einsetzen,  während  die  vorher- 
gehenden Erscheinungen  so  vage  waren , dass  sie  wenigstens  eine  bestimmte 
Diagnose  nicht  znliessen.  Boi  den  vertebralen  Erkrankungen  wird  man  unter 
diesen  Umständen  wohl  stets  eine  Difformität  der  Wirbelsäule  finden;  bei  den 
intravertebralen  Tumoren  wird  meist  eine  langdauernde  Wurzclreizuug  vorher- 
gegangen sein. 

Von  älteren  Autoren  wird  noch  die  acute  Meningitis  in  differential- 
diagnostischer  Weise  der  Myelitis  gegenttbergestellt.  Nun  wissen  wir  von  einer  auf 
das  Hückeumark  beschränkten,  einfachen  autochthonen  Meningitis  eigentlich  gar 
nichts.  Die  Tuberculosis  und  die  eiterige  Meningitis  betheiligen  zwar  stets  das 
Rtiekenmark,  aber  hier  treten  die  Symptome  von  Seiten  des  (iehirnes  so  in  den 
Vordergrund,  dass  an  eine  Verwechslung  mit  Myelitis  nicht  zu  denken  ist.  Die 
syphilitische  Meningomyelitis  ergreift  mehr  in  langsamer  Weise  unter 
häufigen  spontanen  und  therapeutisch  bedingten  Remissionen  das  Mark;  sollte  sie 
einmal  einen  aenten  Schub  machen,  so  werden  neben  der  syphilitischen  Anamnese 
die  vorausgegangenen  meningealen  und  durch  Wurzelerkrankung  bedingten  Reiz- 
ersebeinungen  von  grösster  Bedeutung  sein. 

Die  Hysterie  kommt  ebenfalls  differential-diagnostisch  mehr  gegenüber 
der  chronischen  Myelitis  in  Betracht.  Doch  kann  natürlich  auch  bei  der  Hysterie 
einmal  acut  ein  Krankheitsbild  entstehen,  das  für  den  Anfang  und  durch  längere 
Zeit  deu  laisehen  Verdacht  einer  Myelitis  nahelegt.  Namentlich  entstehen  hier 
Krankheitsbilder,  die  an  die  Myelitis  transversa  dorsohs  erinnern.  So  kommen 
erhebliche  Contracturen  und  erhöhte  Sehnenreflexc  bei  der  Hysterie  häufig  vor. 
Aul'  eine  eingehende  Schilderung  der  di  ffereutial  diagnostischen  Momente  kann 
ich  mich  hier  nicht  einlassen,  cs  genüge,  auf  die  meist  psychische  Aetiologie  der 
hysteriseben  Lähmungen  hinzuweisen  auf  die  eigenthttmliche  Vcrtheilung  der 
meist  sehr  erheblichen  Anästhesien  — auf  das  Fehlen  von  Symptomen,  die  mit 
Sicherheit  auf  ein  organisches  Leiden  hinweisen,  wie  Muskclatrophie,  Entartungs- 
reaction,  Decubitus,  Blasenlähinung. 

Alles  in  Allem  die  Diagnose  einer  echten  acuten  Myelitis  ist 
berechtigt  — bei  voller  Anerkennung  ihrer  Seltenheit  — wenn  para- 
plegische Erscheinungen  acut  eintreten,  die  erwähnten  ätiologischen 
Momente  vorhanden  und  Xeuritis  multiplex  auszu  sch  Hessen  ist. 
Fehlen  die  charakteristischen  ätiologischen  Momente,  so  ist  eine  Unterscheidung 
von  acuter  Compression  meist  leicht,  eine  solche  von  vasculärer  Erweichung 
schwer  oder  gar  nicht  möglich.  Bei  Syphilis  ist  aber  die  auf  Thrombose  und 
Erweichung  des  Markes  beruhende  Paraplegie  jedenfalls  die  bei  weitem  häufigste. 

Dass  die  Diagnose  einer  Myelitis  eine  unsichere  wird,  wenn  die  Aflec- 
tion  nur  einen  Tkeil  des  Rtlekenmarksquerschnittes  ergreift,  ist  selbstverständlich; 
hier  werden  entweder  oben  abgetrennte  Krankheitsbibler,  z.  B.  die  Poliomyelitis, 
entstehen  oder  unklare  und  nicht  bestimmt  zu  erkennende  Symptomencomplexe. 
Auf  Einzelnes  hier  eingehen,  ist  natürlich  unmöglich. 

l’eber  die  Segmentdiagnose  der  Myelitis  ist  oben  alles  Nöthige  gesagt, 
leb  will  hier  nochmal  erwähnen,  dass  die  Ilantreflexe  für  die  genaue  Erkenntniss 
des  Höhensitzes  einer  Läsion  von  unsicherer  Bedeutung  sind.  Sie  vnriiren  sehr 
bei  den  einzelnen  Individuen  — und  die  Höhe  des  Rellcxbogens  ist  wenig  sieher 
bekannt  — , doch  können  sie  ebenso  wie  die  Sehnenreflexc  bei  schweren  Läsionen 
auch  unterhalb  derselben  fehlen. 

Die  Diagnose  einer  chronischen  Myelitis  ist  hei  der  ausserordentlichen 
Seltenheit  dieser  Krankheit  schon  a priori  stets  unter  allem  Vorbehalte  zu  stellen. 
Am  leichtesten  ist  sie  noch,  wenn  das  chronische  Leiden  sich  an  eine  mit  Sicher- 
heit erkannte  acute  Myelitis  ansehlicsst.  Bei  der  primär  in  chronischer  Weise 
eintretemien  Rückenmarkslähmung  gilt  es  zunächst,  die  Compression  des 


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MYELITIS. 


Markes  auszuschliessen.  Hier  kommt  neben  der  Carics  und  den  Tumoren 
der  Wirbelsäule,  dann  den  intravertebralen  Tumoren,  vor  Allem  noch 
die  Pac by men ingitis  in  Betracht.  Die  Pachymeningitis  und  die  intraverte- 
bralen Tumoren  haben  meist  einen  in  klinischer  Beziehung  charakteristischen 
Verlauf;  sie  kommen  aber  auch  ohne  solche  specifischc  Symptome  vor  und  Ai.lex 
Starr  hat  wohl  recht,  wenn  er  nngiebt,  dass  in  den  meisten  Füllen  von  Tumor 
des  Rückenmarkes  die  Diagnose  einer  Myelitis  gestellt  sei.  Auch  bei  den  Er- 
krankungen der  Wirbelsäule  verläuft  oft  lange  Zeit,  ehe  man  sie,  auch  bei  sorg- 
fältigster Untersuchung,  mit  Sicherheit  erkennen  kann ; bei  C'aries  kommt  das  be- 
sonders daher,  dass  sie  meist  zuerst  die  Wirbelkörper  ergreift  — und  es  bleibt 
dann  nichts  anderes  Über,  als  die  provisorische  Diagnose  einer  Myelitis  chronica. 
Die  Syringomyelie  ist  früher  als  eine  Form  der  Myelitis  beschrieben  — Mß- 
Ute  periependyniaire,  Myilite  envitaire  — , in  typischen  Fällen  ist  es  heutzu- 
tage ja  leicht , eine  richtige  Diagnose  zu  stellen ; es  kommen  aber  auch  hier 
Krankheitsbilder  vor,  die  im  Wesentlichen  nichts  anderes  als  eine  spastische  Pan- 
plegie  bieten  und  deshalb  die  Diagnose  einer  chronischen  Myelxti s dorsnli» 
nahelegen.  Dass  eine  Abgrenzung  der  combinirten  Systemerkrankung  voa 
der  Myelitis  oft  nicht  möglich  ist,  geht  schon  daraus  hervor,  dass  überhaupt  von 
manchen  Autoren,  z.  B.  Leydex  und  Goi.dscheidkr '*) , die  diffus  mvelitische 
und  nicht  systematische  Natur  dieser  Erkrankung  behauptet  wird.  Die  häutigste 
und  deshalb  wichtigste  Erkrankung,  die  zur  falschen  Diagnose  einer  chronischen 
transversalen  Myelitis  Anlass  giebt,  ist  jedenfalls  die  multiple  Sklerose.  Es 
ist  ja  richtig,  dass  man  bei  der  letzteren  Krankheit  bei  genauerer  Kenntniss  der 
Anamnese  sehr  viel  häutiger,  als  man  früher  gedacht  hat,  auf  die  acute  Entste- 
hung einzelner  und  speciell  der  initialen  lvrankheitscrscbeinungen  tritft  — dann 
kann  natürlich  von  einer  chronischen  Myelitis  keine  Rede  mehr  sein,  vor  Allem, 
wenn,  wie  recht  häufig,  dieses  erste  Symptom  in  vorübergehender  Amblyopie 
oder  Amaurose  bestand  , die  oft  klinisch  keine  Spuren  zurücklässt  — , aber  cs 
giebt  erstens  doch  auch  Fälle,  und  nicht  so  selten,  die  trotz  des  Vorhandenseins 
sklerotischer  Herde  im  Gehirne  klinisch  keine  Symptome  der  Hirnbetheiligung  dar 
bieten  und  zweitens,  wenn  auch  selten,  sicher  zur  cerebrospinalen  Sklerose  ge- 
hörende Fälle , die  auch  anatomisch  nur  eine  mehr  weniger  diffuse  Erkrankung 
des  Markes  dnrbicten.  Im  ersteren  Falle  wird  man  klinisch  geneigt  sein,  die 
falsche  Diagnose  einer  chronischen  Myelitis  zu  stellen ; im  zweiten  Falle  handelt 
es  sich  auch  anatomisch  um  eine  solche,  und  die  Abgrenzung  dieser  Form  von 
der  Myelitis  transveisa  ist,  vielleicht  abgesehen  von  dem  Erhaltenblciben  der 
Achsencylinder , eine  nur  künstliche.  Im  Allgemeinen  wird  man  in  solchen 
zweifelhaften  Fällen  öfter  das  Richtige  treffen,  wenn  man  die  Diagnose  einer 
multiplen  Sklerose  stellt. 

Für  die  spastische  Spinalparalyse  ist  es  jetzt  sichergestellt,  dass 
es  eine  primär  systematische  Erkrankung  der  Pyramidenbahneu  giebt  (V.  Stküvi- 
PKI.l),  doch  ist  diese  Form  sehr  selten  und,  abgesehen  von  der  multiplen  Sklerose, 
besteht  ihr  anatomischer  Grund  am  häufigsten  in  den  Residuen  einer  amten 
dorsalen  Myelitis  — allerdings  am  häufigsten  der  sogenannten  syphilitischen  Mye- 
litis, bei  der  es  sich  um  eine  echte  Entzündung  nicht  handelt. 

Die  Unterscheidung  einer  chronischen  syphilitischen  Meningomyclitis  wird 
sich  nicht  selten  aus  der  Anamnese  und  dem  Erfolge  der  Therapie  machen  lassen, 
besonders  da  man  Hg  ja  in  allen  zweifelhaften  Fällen  anwendet. 

Nicht  selten  kommt  die  Differentialdiagnose  zwischen  Myelitis  und  einer 
chronisch  verlaufenden  Neuritis  in  Betracht;  differential-diagnostische 
Momente  sind  oben  bei  der  acuten  Myelitis  angegebeu;  vor  Allem  würde  die 
volle  Heilung  einer  als  Myelitis  chronica  imponirenden  Erkrankung  eher  an 
Neuritis  denken  lassen.  Von  der  Hysterie  ist  schon  gesagt,  dass  sie  manchmal 
eine  chronische  Myelitis  Vortäuschen  kann;  wegen  der  Unterscheidungsmomente 
verweise  ich  nach  oben. 


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MYELITIS. 


■491 


Die  Diagnose  der  d isscminirten  Encephalomyelitis  ist  Lei  der 
Prägnanz  dieses  Krankheitsbildes  meist  eine  leichte.  Nur  im  ersten  Stadium  mit 
schweren  allgemeinen  nervösen  Erscheinungen  kann  sie , wie  man  leicht  ersieht, 
manchmal  unmöglich  sein.  Auch  hier  ist  vor  Allem  wichtig  der  directe  Anschluss 
an  eine  Infeetiou  oder  Intoxication,  ferner  der  oft  gttnstige  Verlauf.  Fehlt  die 
Anamnese,  so  kann  man  wohl  zur  Annahme  einer  echten  multiplen  Sklerose 
kommen,  die  ja  auch  aus  dieser  Erkrankung  hervorgehen  soll.  Manche  Fälle 
erinnern  an  progressive  Paralyse,  erstens  weil  auch  bei  der  disseminirten 
Encephalomyelitis  eine  Betheiligung  der  Intelligenz  Vorkommen  kann,  und  zweitens, 
weil  es  Fälle  von  Paralysen  giebt,  bei  denen  das  Zittern  so  stark  wird  und  so 
an  den  Intentionstremor  erinnert,  dass  aucli  von  Erfahrenen  hier  nicht  selten  die 
falsche  Diagnose  multiple  Sklerose  gemacht  wird.  Bei  den  ersteren  Fällen  wird 
die  Raschheit  des  Entstehens  der  Symptome,  das  Vorhergehen  einer  acuten  Infec- 
tionskrankheit , eventuell  das  Fehlen  der  Lues,  schwer  gegen  die  Paralyse  in’s 
Gewicht  fallen;  entscheidend  ist  der  Verlauf,  da  eine  progressive  Demenz  bei 
der  acuten  Ataxie  nicht  vorkommt. 

Die  sehr  seltenen,  auf  peripherer  Neuritis  beruhenden  Fälle  acuter  (peri- 
pherer) Ataxie,  Pseudotabe s peripherica , zeigen  nur  eine  oberflächliche  Aehn- 
lichkeit  mit  der  disseminirten  Encephalomyelitis.  Es  fehlen  fast  immer  die 
btllbären  Symptome,  dagegen  linden  sich  Schmerzen  und  Anästhesien;  die  Sehnen- 
reflexe sind  geschwunden;  meist  sind  noch,  wenigstens  iu  einzelnen  Gebieten, 
degenerative  Muskelatrophien  nachzuweisen.  Das  Vorkommen  nach  Infections- 
krankheiten  ist  beiden  Erkrankungen  gemeinsam. 

Prognose.  Die  Prognose  der  Myelitis  transversa  acuta  ist  immer 
eine  sehr  ernste,  zum  mindesten  eine  zweifelhafte  und  im  Ganzen  eine  ad  maluni 
vergens.  Sehr  häufig  ist  schon  bald  nach  dem  Einsetzen  der  Erkrankung  oder 
nach  langen  Qualen  der  Tod  das  unabwendliche  Ende.  Allerdings  sind  im 
Einzeifalle  die  verschiedensten  Ausgänge  möglich  — manchmal,  wenn  auch  selten, 
vollständige  Heilung,  in  vielen  Fällen  Stillstand  in  einem  bestimmten  Stadium  der 
Erkrankung  — dabei  können,  selten,  alle  vorhandenen  Symptome  bestehen  bleiben 
oder  aber,  häufiger,  eine  mehr  weniger  weitgehende,  aber  immer  unvollkommene 
Besserung  eintreten.  Häufig  tritt  schon  im  acuten  Stadium  durch  die  Ausdehnung 
oder  Loealisation  der  Erkrankung  der  Tod  ein , oder  aber  erst  später  durch 
langsameres  Fortschreiten  der  Krankheit  selbst  oder  an  Complicationen.  Etwas 
Bestimmtes  lässt  sich  wohl  kaum  jemals  Uber  die  Prognose  des  Einzelfallcs  sagen 
und  schon  eine  Einthcilung  der  Prognose  quoad  vitam  und  quoad  valetudinem 
eompletam  oder  iucomplctam  ist  kaum  möglich.  Die  prognostischen  Erwägungen 
werden  abhängen  von  der  mehr  weniger  grossen  Raschheit  des  Eintretens  und 
Fortsehreitens  der  Erkrankung  auf  dem  Quer-  und  Längsschnitte  des  Markes, 
von  dem  llühensitzc  der  Erkrankung , von  den  ursächlichen  Momenten  und  von 
dem  Fehlen  oder  Vorhandensein  ernster,  das  Leben  bedrohender  Complicationen, 
wenn  sich  auch  diese  vier  Gruppen  natürlich  nicht  scharf  von  einander  trennen 
lassen , da  sie  ja  zum  Theil  wieder  in  Abhängigkeit  von  einander  stehen.  So 
bieten  natürlich  die  unter  stürmischen  Erscheinungen , nicht  selten  mit  hohem 
Fieber  einsetzenden  Fälle  von  Myelitis  acutissima,  die  von  vornherein  Uber  den 
ganzen  Querschnitt  sich  ausdehnen  und  eine  Tendenz  zu  rascher  Ausbreitung 
auch  in  der  Längsrichtung  haben,  eine  schlechte  Prognose;  besonders  schnell 
tritt  der  Tod  ein , wenn  die  Erkrankung  nach  Art  der  aufsteigenden  Paralyse 
verläuft  und  rasch  auf  das  obere  Halsmark  und  den  Bulbus  Ubergeht. 

In  diesen  Fällen  ist  auch  die  Entstehung  eines  acuten  Decubitus  mit 
allen  seinen  Gefahren  am  meisten  zu  fürchten.  Im  Uebrigcn  aber  ist  es  keines- 
wegs gesagt,  dass  gerade  die  acut  einsetzenden  Fälle  eine  besonders  schlechte 
Prognose  haben;  sie  haben  sic  nur,  wenn  Raschheit  des  Einsetzens  sich  mit 
diffuser  Ausdehnung  verbindet  im  Gegentheil  kaun  man  bei  acut  cinsetzemlen, 
aber  bald  nicht  mehr  sich  ausdehnenden  Symptomen,  besonders  dann,  wenn  diese 


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492  MYELITIS. 

auf  ein  mir  partiell«-»  Ergriffensein  des  Querschnittes  und  auf  eine  geringe  Aus- 
dehnung in  der  Längsachse  hin  weisen,  die  Prognose  naturgemäss  günstiger  stellen 
als  in  Füllen,  die  langsamer  einsetzen  und  weiterschreiten  und  bei  denen  es  sich 
durch  lange  Zeit  in  keiner  Weise  voraussehen  lässt,  wann  und  wo  der  Proeess 
zum  Stillstand  kommen  wird.  Die  den  ganzen  Querschnitt  ergreifenden  und  eine 
totale  Läsion  des  Markes  in  einer  bestimmten  Höhe  veranlassenden  Myelitisformen 
sind  schon  deshalb  prognostisch  viel  bedenklicher,  als  die  in  dieser  Beziehung  par- 
tiellen, weil  bei  ihnen  unterhalb  der  Läsion  die  Gcfühlsstörungen  besonders  aus- 
geprägt sind  und  damit  z.  B.  die  Gefahr  des  Decubitus  eine  viel  grössere  ist, 
und  weil  in  diesen  Fällen  bei  jedem  Sitze  der  Läsion  schwere  Störungen  der 
Blasenfunction  mit  allen  ihren  Folgen  eintreten. 

Was  die  Segmenthöhe  der  Myelitis  anbetrifft,  so  sind  jedenfalls  die  pro- 
gnostisch günstigsten  und  glücklicherweise  auch  die  häutigsten  Fälle  die  von 
Myelitis  dorsal  is.  Bei  ihnen  kommt  es  nicht  selten  so  weit,  dass  schliesslich  nur 
eine  leichte  spastische  Parese  übrig  bleibt  und  der  Patient  wieder  seinen  BerutV 
geschäfteu  nachgehen  kann.  .Sehr  viel  ungünstiger,  speciell  wegen  der  grösseren 
Schwere  der  Blasenstörungen , die  zu  Cystitis,  Pyelitis  und  Nephritis  mit  allen 
ihren  Complicationen  führt,  dann  wegen  der  grossen  Häufigkeit  des  Decubitus, 
zu  dem  sowohl  die  Blasenstörung,  wie  schwerere  Hautnnästhcsien  beitragen,  liegen 
prognostisch  die  Fälle  lumbaler  Myelitis.  Auch  wenn  das  Leben  liier  erhalten 
bleibt,  bleibt  die  Lähmung  eine  schlaffe  und  damit  fehlt  jede  Möglichkeit,  dass 
Patient  wieder  auf  die  Beine  kommt.  Am  gefährlichsten  aber  ist  die  Myelitis, 
wenn  sie  das  obere  Halsmark  ergreift,  weil  sie  hier  durch  Zerstörung  der  Kerne 
des  Phrenieus,  nachdem  bei  totaler  Querläsion  schon  die  übrigen,  unterhalb  der 
Läsion  liegenden  Ccntren  für  die  Athemrnusculatur,  speciell  für  die  lntercestale* 
ausser  Function  gesetzt  sind,  in  kurzer  Zeit  töfitlich  wirken  muss.  Bessert  sich 
die  Myelitis  des  Halsmnrkcs,  so  bleibt  ausser  einer  spastischen  Parese  eine  meist 
schlaffe  und  atrophische  Lähmung  der  Arme  bestehen,  die  natürlich  die  Arbeits- 
fähigkeit sehr  beeinträchtigt. 

Selbstverständlich  wird  auch  die  Verschiedenheit  der  ätiologischen  Momente 
eine  Rolle  bei  der  Prognose  spielen.  OPPENHEIM10)  hält  speciell  die  Fälle  mit 
klarer  infectiöser  Aetiologie  für  prognostisch  günstiger  als  die  mit  unklarer  Ur- 
sache und  ich  glaube,  dieselbe  Erfahrung  gemacht  zu  haben.  Als  besonders  günstig 
hebt  Oppenheim  die  gonorrhoische  Myelitis  hervor  — hier  haudelt  es  sich  meist 
um  eine  Meningomyelitis  mit  nur  geringer  Betheiligung  des  Markes,  ferner  Fälle, 
bei  denen  sich  neben  myelitischen  deutliche  neuritische  Symptome  finden:  anderer- 
seits weist  er  auf  die  schlechten  Aussichten  der  Myelitis  hei  Tuberkulose,  im 
Puerperium  und  bei  Sepsis  hin.  Es  ist  jedenfalls  sehr  wohl  verständlich . dass 
ebenso  wie  die  hier  in  Betracht  kommenden  Infectionen  und  Intoxicationen  sich 
in  Bezug  auf  ihre  Gefährlichkeit  im  Allgemeinen  sehr  verschieden  verhalten  — 
man  denke  z.  B.  nur  an  die  Unterschiede , die  in  dieser  Beziehung  zwischen 
Masern  und  Scharlach  bestehen  — , ebenso  auch  die  von  ihnen  abhängigen 
Myelitisformen  in  einem  Falle  eine  viel  günstigere  Prognose  bieten  können  wie 
im  anderen.  Natürlich  kann  es  nicht  allein  auf  die  Schwere  des  Krankheits- 
giftes ankommen,  immer  ist  daneben  die  Ausdehnung  desselben  im  Mark  und  der 
speciellc  Sitz  der  Aflection  zu  berücksichtigen.  Da  die  von  Oppenheim  als  pro- 
gnostisch relativ  günstig  erkannten  Combinationen  von  Neuritis  und  Myelitis  sich 
durch  das  Vorhandensein  lebhafter  Reizerseheinnng-eu  und  speciell  von  Schmerzen 
der  reinen  Myelitis  gegenüber  auszeichnen  werden,  so  kann  rein  praktisch  auch 
der  Satz  aufgestcllt  werden , dass  das  Vorhandensein  lebhafter  Schmerzen  bei 
einer  Myelitis  prognostisch  ein  gutes  Zeichen  ist.  Da  die  betreffenden  Schmerzen 
auf  der  complicirenden  Neuritis  beruhen,  gerade  die  Neuritis  aber  besonders 
häufig  eine  klare  infectiöse  Aetiologie  hat , so  hängt  die  gute  Proguose  dieser 
Fälle  wohl  mit  der  besseren  Aussicht  bei  infectiösen  Myelitiden  überhaupt 
zusammen. 


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MYELITIS. 


4113 


Es  braucht  schliesslich  wohl  kaum  gesagt  zu  werden,  dass  bei  Stellung 
der  Prognose  auch  auf  den  Kräftezustand  des  Patienten  Rücksicht  genommen 
werden  muss,  ebenso  wie  auf  sein  Alter  und  die  ihm  zuthcil  werdende  Pflege. 
Diese  Umstände  kommen  vor  Allem  in  Betracht,  wenn  das  erste  schwere  Stadium 
der  beginnenden  Erkrankung  vorüber  ist  und  das  zweite  Stadium  der  Dauer- 
symptome und  der  mehr  weniger  weitgehenden  Hcconvalescenz  eintritt , in  dem 
es  sich  im  günstigsten  Falle  doch  noch  um  ein  langes  und  schweres  Kranken- 
lager handelt.  In  dieser  Zeit  sind  auch  die  Complieationen  von  der  grössten 
Bedeutung  — vor  Allem  die  Blasenstörungen  und  die  von  ihnen  ausgehenden 
Nierenaffectionen  oder  Phlegmonen  des  pcrivesicalen  Bindegewebes,  ferner  der 
Decubitus,  dessen  In-  und  Extensität  wesentlich  auch  von  der  Pflege  abhängt. 

Die  Prognose  der  chronischen  Myelitis  ist  eine  schlechtere  als  die 
der  acuten,  weil  der  Process  hier  zwar  langsam,  aber  meist  unaufhaltsam  weiter- 
schreitet und  schliesslich  doch  das  Ergreifen  lebenswichtiger  Centren  durch 
Complieationen  oder  allgemeinen  Marasmus  zum  Tode  führt;  doch  soll  nicht  ge- 
leugnet werden , dass  auch  hier  Stillstände  Vorkommen  können , meist  allerdings 
nur  für  einige  Zeit.  Bleibt  die  Krankheit  wirklich  auf  die  Dauer  stehen , so 
richtet  sich  die  Prognose  natürlich  nach  den  vorhandenen  Symptomen  und  ihrer 
grösseren  oder  geringeren  Gefährlichkeit.  Ausgänge  in  Heilung  müssen  immer 
den  Verdacht  auf  eine  falsche  Diagnose  nahelegen ; vor  Allem  kommt  hier  Auf- 
hören der  Compression  bei  geheilter  Wirbelsäuletuberkulosc  oder  auch  Neuritis 
multiplex  in  Betracht. 

Die  Prognose  der  disseminirten  Encephalomyelitis  ist  bei  weitem  gün- 
stiger als  die  der  anderen  Myelitisformen.  Der  Tod  erfolgt  hier  relativ  selten 
und  daun  meist  im  ersten,  diagnostisch  unklaren  Stadium ; volle  Heilung  ist 
häufig,  und  wenn  sie  auch  nicht  ganz  vollkommen  ist,  so  erreicht  die  Besserung 
doch  meist  einen  ziemlich  hohen  Grad.  Auch  hier  wird  die  Prognose,  zum  Thcil 
wohl  von  der  Schwere  des  Kraukheitsgiftes  abhängen , so  sah  ich  volle  Heilung 
in  je  einem  Falle  nach  Varicellen  und  Keuchhusten , partielle  nach  Scharlach ; 
aber  natürlich  kommt  auch  die  Ausdehnung  der  Krankheit  in  Betracht.  Gehen 
wirklich  manche  dieser  Fälle  später  in  multiple  Sklerose  über,  so  wird  ihre 
Prognose  natürlich  wesentlich  trüber. 

Therapie.  Die  Behandlung  der  acuten  transversalen  Myelitis 
zerfallt  naturgemäss  in  zwei  scharf  von  einander  zu  trennende  Abschnitte : 1.  in 
die  Behandlung  des  Entwicklungs-  und  Möhestadinms  der  Erkrankung  — 2.  in 
die  Periode  der  iteconvalescenz  und  der  dauernden  Krankheitsrückstände.  Da 
die  Therapie  dieses  2.  Stadiums  der  acuten  Myelitis  sich  nicht  wesentlich  von 
der  unterscheidet,  die  man  auch  bei  den  von  vornherein  chronisch  verlaufenden 
Myelitisfällen  anwendet,  so  soll  sie  iiu  Zusammenhänge  bei  der  Myelitis  chronica 
besprochen  werden;  hier  kommt  also  zunächst  nur  die  Behandlung  des  acuten 
primären  Stadiums  in  Betracht. 

Viele  Autoren  — ich  nenne  hier  z.  B.  Eu»')  und  auch  neuerdings  noch 
Gowkrs*)  haben  sich  mit  der  Frage  nach  der  Möglichkeit  und  Nützlichkeit  einer 
A ho  rt  i v be h an d 1 u n g der  acuten  Myelitis  belässt,  wenn  sie  natürlich  auch 
Beide  die  zweifelhafte  Wirkung  dieser  Massnahmen  voll  erkennen.  Zunächst  kann 
von  einer  Abortivbehandlung  natürlich  nur  in  subacut  sich  entwickelnden  Fällen 
die  Rede  sein,  nicht  in  den  Fällen  acutestcr  Myelitis ; hier  würde  es  aber  darauf 
ankommen,  hei  den  ersten  für  eine  beginnende  Myelitis  irgendwie  verdächtigen 
Symptomen  mit  einer  energischen  Behandlung  einzusetzen.  W’cr  wird  es  aber 
heutzutage  wagen,  in  solchen  Fällen  in  dieser  Zeit  schon  eine  einigermassen  sichere 
Diagnose  zu  stellen  und  wenn  die  Krankheit  nach  den  therapeutischen  Mass- 
nahmen einen  günstigen  Verlauf  nimmt,  zu  behaupten,  es  handle  sich  um  einen 
Heilerfolg  bei  wirklicher  Myelitis?  Im  Gegentheil  wird  man  heutzutage,  und  mit 
Recht,  bei  solchem  Verlaufe  geneigt  sein,  diese  Diagnose  auszuschliessen.  Wenn 
überhaupt,  so  wird  man  sich  deshalb  jedenfalls  nur  zu  unschädlichen  und  mehr 


494 


MYELITIS. 


harmlosen  therapeutischen  Abortivversuchen  herbeilassen;  so  kann  man  *.  B.  wie 
Erii  und  GowEBS  fast  mit  denselben  Worten  nnrathen , dann , wenn  als  bio- 
logisches Moment  eine  wirkliche  und  erhebliche  Erkaltung  vorzuliegen  scheint, 
wohl  den  Versuch  einer  kräftigen  Diaphorese  mit  heissen  Bädern,  Einpackungen 
und  heissen  Getränken  machen. 

Ist  das  H ö h est  a d ium  erreicht,  so  liegt  der  Kernpunkt  der  ärztlichen 
Tbätigkcit  in  der  Pflege  des  Kranken,  im  weitesten  Sinne  dieses  Wortes.  Vor  Allem 
handelt  es  sich  um  möglichste  Abwendung  zweier  grosser  Gefahren  : des  Decubitus 
und  der  eiterigen  Cystitis.  Der  Kranke  bedarf  zunächst  unbedingt  der  Bettruhe 
vom  ersten  Beginne  des  Leidens  an  — ist  die  Krankheit  auf  ihrem  Höhepunkt, 
so  ergiebt  sich  die  Nothwendigkeit  dieser  Forderung  von  selbst  — und  er  soll 
so  wenig  wie  möglich  in  derselben  gestört  werden , also  auch  z.  B.  zur  Befrie- 
digung seiner  Bedürfnisse  nicht  aus  dem  Bette  gehoben  werden.  Die  Einrichtung 
des  Lagers  selber  ist  von  der  grössten  Bedeutung  — der  Kranke  liegt  jedenfalls 
aiu  besten  von  vornherein  auf  einem  grossen  Wasserkissen , dieses  wieder  auf 
einer  festen  Matratze,  am  besten  von  Rosshaar;  unter  das  Wasserkissen  legt  man 
noch  eine  Gummiunterlage,  über  dasselbe  ein  leicht  zu  wechselndes  Leintuch. 
Wenn  es  irgend  möglich  ist,  so  halte  man  für  einen  an  Myelitis  leidenden  Kranken 
zwei  solche  Betten  bereit , so  dass  man  ihn  bei  der  Bereitung  des  einen  Bettes 
ohne  Schwierigkeit  in  das  andere  legen  kann ; sehr  angenehm  ist  es  für  den 
Kranken  auch,  wenn  er  Abends  in  ein  frisches  Bett  gelegt  wird.  Die  Lage  des 
Kranken  soll  eine  möglichst  wechselnde  sein , bald  auf  der  einen,  bald  auf  der 
anderen  Seite,  nicht  zu  lange  auf  dem  Rücken:  ist  dem  Kranken  die  Bauchlage 
möglich,  so  so  soll  auch  diese  von  Zeit  zu  Zeit  eingenommen  werden.  Schon  bei 
Anwendung  dieser  Massnahmen  wird  man  die  grösste  Gefahr,  die  dem  Kranken 
droht  — die  Entwicklung  eines  Decubitus  — cinschränken , in  zweiter  Linie 
kommt  hierfür  die  grösstmögliche  körperliche  Sauberkeit  in  Betracht.  Diese  wird 
nalurgt  mäss  erschwert  durch  die  bäuligeu  BlasenstOrungen , weniger  durch  die 
Lähmung  des  Sphiiicter  ntti , da  beide  zur  Verunreinigung  des  Bettes  und  der 
Kranken  führen.  Jedenfalls  ist  es  nötliig,  stets  genau  aufzupassen  und  sofort  nach 
geschehener  Verunreinigung  den  Kranken  zu  säubern  und  wieder  trocken  zu 
legen;  am  einfaehsten  und  sehonendsten  für  den  Kranken  erreicht  man  das,  wenn 
mau  im  Krankenzimmer  eine  Badewanne  stehen  hat,  in  die  der  Kranke  hinein- 
gelegt  und  abgewaschen  wird,  während  unterdessen  das  Bett  wieder  in  Ordnung 
gebracht  wird.  Im  Uebrigen  kann  man  die  Verunreinigung  der  Kranken  in  vielen 
Fällen  auch  in  gewissen  Grenzen  halten  — bei  Lähmung  des  U^trusor  vtr'ea ’ 
gilt  es,  zur  rechten  Zeit  zu  katlieterisiren ; ebenso  aber  auch  beim  Harnträufeln, 
da  in  diesen  Fällen,  und  nicht  nur  bei  der  eigentlichen  Ischuria  pavadoxa,  sich 
meist  ein  gewisses  Quantum  Harn  in  der  Blase  befindet,  nach  dessen  Entleerung 
das  Haniträufeln  für  einige  Zeit  aufhört.  Genügt  die  Elastieität  der  Sphinktercn 
nicht  mehr,  um  auch  nur  eine  kleine  l’rinmenge  in  der  Blase  zurüekzulialten, 
so  kann  man  hei  Mäuncrn  wenigstens  einer  steten  Einnässung  durch  geeignete 
Urinare  Vorbeugen,  man  muss  dann  aber  darauf  Acht  geben,  dass  nicht  an 
dem  immer  anästhetischen  Penis  durch  Auflagerung  auf  der  Flasche  Entzündung 
und  Decubitus  — sehr  häufig  ist  auch  Ocdem  des  Präputiums  — entstehen. 

Am  besten  lagert  man,  um  das  zu  verhindern,  die  Glaus  ptnis  auf  einen 
Wattebausch,  den  inan  häufig  erneuert.  Bei  Frauen  legt  man  unter  gleichen  Im- 
ständen  am  besten  grosse  häufig  zu  wechselnde  Wattebäusche  oder  Mooskissen 
zwischen  die  Beine. 

Mit  den  Verunreinigungen  durch  Koth  hat  man  itn  Allgemeinen  weniger 
Schwierigkeit,  da  der  Stuhl  meist  angehalten  und  sehr  trocken  ist;  nicht  selten 
muss  man  überhaupt  für  jede  Stuhlentleerung  künstliche  Hilfe  anwenden;  am 
besten  sind  Clysmata  oder  manuelle  Entfernung  des  Kothes. 

Sehr  beliebt  sind  im  Publicum  auch  Waschungen  des  Rückens  und 
Kreuzes  mit  Franzbranntwein;  da  sie  jedenfalls  nichts  schaden,  so  wird  man 

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nichts  dagegen  haben,  nur  darf  man  dabei  anch  Waschungen  mit  Seife  nicht 
vergessen. 

Ist  trotz  aller  dieser  Yorsichtsmassregeln  dennoch  Decubitus  eingetreten, 
so  muss  mau  sofort  eine  energische  Wundbehandlung  eintreten  lassen.  Die  Druck- 
stelle muss  mehrmals  täglich  verbunden  werden ; am  besten  so  lange  die  nekro- 
tischen Theile  sich  nicht  ganz  losgestossen  haben,  mit  Bor-  oder  Jodoformsalbe; 
später,  wenn  eine  gut  grauulirende  Wundtiäche  vorhanden  ist,  nimmt  man  statt 
dessen  gern  Argentum  nj’tr/cum-Salbc.  Ist  man  sorgfältig,  so  erreicht  man  auf 
diese  Weise  nicht  so  selten  eine  Heilung  des  Decubitus,  kann  aber  jedenfalls  seine 
Ausbreitung  sehr  aufhalten.  Schwere  Fälle  von  Decubitus  mit  Blosslegung  der 
Knochen  oder  gar  mit  Eröffnung  der  Wirbelsäule  erlebt  man  dann  kaum. 

Eine  sorgfältige  Ueberwachung  der  Urinentleerung  ist  auch  die  erste 
Bedingung,  wenn  man  eine  Entzündung  der  Blase  mit  allen  ihren  Folgen 
(Nephritis,  Urämie)  vermeiden  will.  Lässt  man  einen  Kranken  mit  Harnträufeln 
ganz  in  Buhe,  so  tritt  die  Cystitis  unfehlbar  sehr  bald  ein.  Es  muss  also  sowohl 
bei  diesen  Kranken  als  bei  denen  mit  Detrusorschwäche  eine  künstliche  Ent- 
leerung der  Blase  platzgreifen.  Gewöhnlich  hat  das  mittels  des  Katheters  zu  ge- 
schehen. Eine  peinliche  Sauberhaltung  der  betreffenden  Instrumente  ist  unbe- 
dingte Nothwendigkeit.  Aber  auch  wenn  man  diese  einhält,  ist  wenigstens  nach 
meinen  Erfahrungen,  bei  etwas  länger  andauernder  Blasenlähmung,  wenn  man 
katheterisiren  muss,  die  Cystitis  selten  zu  vermeiden.  Es  wird  deshalb  jedenfalls  gut 
sein,  in  den  Fällen  sogenannter  ausdrückbarer  Blase  — meist  handelt  es  sich  um 
Lendenmarkmyelitis  — von  dem  Katheterismus  abzusehen  und  die  Blase  durch  Druck 
auf  ihren  Fundus  zu  entleeren. 

Ist  eine  Cystitis  eingetreten,  so  sucht  man  sie  durch  autiseptische  Blasen- 
ausspfllungen  zu  heilen  oder  in  Schranken  zu  halten.  Auch  giebt  man  dann  gern 
reichlich  Getränke,  vor  Allem  Wildunger  oder  Vichy- Brunnen.  Freilich  ist  die 
dadurch  vermehrte  Urinmenge  für  die  sonstige  Pflege  des  Kranken  nicht  gerade 
angenehm. 

Die  Ernährung  soll  im  Allgemeinen  eine  kräftige  sein  und  vielleicht 
etwas  Bucksicht  darauf  nehmen,  dass  der  Kranke  meist  obstipirt  ist;  besondere 
Diätvorschriften  sind  nicht  nöthig.  Schon  wegen  der  möglichen  Reizung  der 
Blascnschleimhaut  sind  starke  Gewürze,  Bier  und  Wein  zu  widerrathon. 

Was  die  mehr  activen  therapeutischen  Methoden  bei  der  acuten  Myelitis 
anbetrifft,  so  gilt  hier  noch  mehr  wie  sonst  das  Nil  noccre.  Man  hat  früher 
besonders  von  französischer  Seite  einer  energischen  Antiphlogose  durch  Blutent- 
ziehnng,  Auflegen  von  Eisblasen  auf  den  Rücken,  den  sogenannten  Chapmax- 
schen  Eisbeutel,  Einreibung  von  grauer  Salbe,  Anwendung  von  Vesicnntien  oder 
gar  energischer  Application  des  Glüheisens  das  Wort  geredet.  Auch  Erb  ist  für 
diese  Behandlungsmethoden  noch  sehr  eingenommen,  obgleich  er  ihre  Gefahren 
natürlich  erkennt.  Man  hat  jetzt  wohl  eingesehen,  dass  die  Wirkung  dieser  Mittel 
eine  sehr  problematische  ist  und  man  muss  meines  Erachtens  auf  jeden  Fall 
von  all  den  energischen  Mitteln  absehen,  die  die  Gefahr  eines  Decubitus  geradezu 
heraufbeschwören  — daher  gehören  stärkere  Blutentziehungen,  Vesicantien  und 
vor  Allem  das  Ferrum  candens , vielleicht  auch  auf  allzu  energische  Einpinselungen 
mit  Tinctura  Jodi.  Am  wenigsten  lässt  sich  jedenfalls  gegen  die  Einreibungen 
mit  grauer  Salbe  sagen,  und  man  wird  dieselbe  besonders  in  denjenigen  Fällen 
ansführen,  bei  denen  die  Möglichkeit  einer  luetischen  Erkrankung,  speciell  einer 
A/eningomytlitis  syphilitica  vorliegt,  die  ja  nur  selten  mit  Sicherheit  auszu- 
schlitsscn  ist.  Oppenheim8)  räth  in  Fällen  mit  sicher  infcctiöser  Aetiologie  zur 
Anwendung  diaphoretischer  Methoden  — speciell  zu  Einpackungen  — ein  Vor- 
schlag, der  auch  theoretisch  begründet  ist,  seitdem  wir  sicher  wissen,  dass 
Krankheitsgifte  mit  dem  Schweisse  ausgeschieden  werden.  Eine  energische 
Ableitung  auf  den  Darm  würde  ich  jedenfalls  bei  Mastdarmlähmung  lieber 
vermeiden. 


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Von  medicamentösen  Mitteln  ist  im  Allgemeinen  nicht  viel  zu  erwarten. 
Hat  man  keine  bestimmten  Indicationen,  so  lässt  man  sie  am  besten  ganz  fort. 
Hei  der  geringsten  Möglichkeit  einer  Lues  ist  natürlich  der  innere  Gebrauch  von 
Jodkali  indirect  — man  sei  sich  dabei  aber  wohl  bewusst,  dass  die  meisten 
Fälle  sogenannter  syphilitischer  Myelitis  auf  thrombotischer  Myelomalacie  bernhen 
und  bei  ihnen  also  eine  eigentliche  Heilwirkung  auf  die  vorliegenden  Läsionen 
des  Jod  und  Hg  nicht  in  Betracht  kommt  — höchstens  eine  Hinderung  des  Furt- 
sebreitens  der  Gefässerkrankung.  Oppknhkim  empfiehlt  auch  noch  die  Salicyl- 
prä parate  und  in  den  mit  Malaria  zusammenhängenden  Fällen  natürlich  Chinin. 

Sehr  günstig  wirken  auch,  abgesehen  von  ihrer  reinigenden  Kraft,  warme 
Bäder  — heisse  sind  zu  vermeiden  und  Dampfbäder  sind  direct  gefährlich.  Die 
elektrische  Behandlung  ist,  itn  acuten  Stadinm  wenigstens,  eine 
unnütze  Quälerei. 

Symptomatisch  muss  man  manchmal  gegen  die  Schmerzen  Vorgehen, 
liier  ist  Morphium  noch  immer  das  beste  Mittel.  Sehr  lästig,  aber  schwer  zu 
bekämpfen  sind  oft  die  unwillkürlichen  Muskelzuckungen,  Oppenheim  empfiehlt 
warme  Bäder.  Bei  hartnäckiger  Schlaflosigkeit  sind  auch  Hvpnotica  nicht  zu 
entbehren. 

Wenn  schon  bei  der  acuten  Myelitis  unsere  therapeutischen  Krfolge  im 
Ganzen  sehr  geringe  sind  — glückliche  Ausgänge  sind  selten,  und  wo  sie  ein- 
treten,  sind  sic  jedenfalls  mehr  der  tos  medicalrix  naturae  als  unserem  thera- 
peutischen Handeln  auf's  Conto  zu  schreiben,  welches  letztere  meist  zufrieden 
sein  muss,  den  Kranken  in  die  für  die  Naturheilung  günstigste  Lage  zu  bringen 
und  Schädlichkeiten  von  ihm  fcrnzuhalten , bo  gilt  das  alles  noch  mehr  für  die 
sogenannte  chronische  Myelitis.  Hier  ist  selbst  ein  Stillstand  des  Leidens 
ein  seltenes  Ereiguiss,  eine  Heilung  muss  dringend  dazu  auffordern,  die  Diagnose 
zu  revidiren.  Was  will  man  hier  also  therapeutisch  Grosses  erreichen  ? Dennoch 
ist  es  natürlich  auch  hier  unsere  Pflicht,  alles  anzuwenden,  was  dem  Kranken 
irgendwelche  Erleichterung  in  seinem  Leiden  verschaffen  kann  und  vor  Allem 
auf  keine  Massnahme  zu  verzichten,  von  der  man  sich  auch  nur  entfernt  einen 
günstigen  Einfluss  auf  die  Krankheit  versprechen  kann.  Für  die  chronische 
Myelitis  — und  zwar  sowohl  für  die  primär  chronische,  wie  für  die  chronischen 
Ausgänge  der  acuten,  kommen  vor  allen  Dingen  dreierlei  therapeutische  Methoden 
in  Betracht  — die  Balneotherapie,  die  Hydrotherapie  im  engeren  Sinne  und  die 
Elektrotherapie  — im  Anschluss  an  letztere  vielleicht  auch  noch  Massage  nnd 
Gymnastik.  Ich  habe  oben  schon  darauf  hingewiesen,  dass  dieselben  Massnahmen 
auch  im  Reconvalesecnzstadium  der  acuten  Myelitis  zur  Anwendung  kommen  nnd 
der  Credit,  den  sie  bei  der  Behandlung  der  Myelitis  gemessen,  ist  wohl  haupt- 
sächlich auf  die  Erfolge  in  diesen  Fällen  gegründet,  die  an  und  für  sich  schon 
eine  Tendenz  zu  weitgehender  Besserung  haben.  Ueber  die  Balneotherapie  der 
Myelitis  hat  Erb17)  wohl  die  genauesten  und  am  meisten  kritischeu  Angaben 
gemacht,  die  neuere  Zeit  kann  dem  nichts  hinzufügen ; ich  schöpfe  die  nach- 
stehenden Angaben  ganz  aus  seinem  Lehrbuelie.  Zu  dem  Gebrauche  indifferenter 
Thermen  ist  im  Allgemeinen  hei  der  Myelitis  nicht  zu  ratlien,  höhere  Tempera- 
turen sind  direct  gefährlich,  namentlich  sollen  sie  in  frischeren  Fällen  vermieden 
werden  und  bei  allen  chronischen  Formen,  die  Neigung  zu  Exacerbationen  haben. 
Sehr  viel  günstiger  sind  die  Erfolge  der  kohlensäurehaltigcn  Soolbäder,  von  denen 
in  Deutschland  Oeynhausen  und  Nauheim  zu  nennen  sind  — aueli  hier  ist  vor 
extremen  Temperaturen,  zu  langer  Dauer  der  Bäder  und  zu  grossem  COa-Ge- 
halt  zu  warnen.  Zur  Empfehlung  der  Seebäder  wird  man  sich  nur  sehr  selten 
bei  weit  fortgeschrittener  Besserung  und  bei  sehr  kräftigen  Individuen  entsehliessen. 
Sehr  günstig  urtheilt  Erb  über  die  hydrotherapeutische  Behandlung.  Selbstver- 
ständlich sind  hier  die  milden  Massuahmen  die  besten  — vor  Allem  einfache 
Einpackungen,  Abwaschungen,  warme  Douchen,  Halb-  und  Sitzbäder;  starke 
Kältegrade,  zu  kräftige  Douchen,  zu  lange  Dauer  der  einzelnen  Applicationen 


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MYELITIS. 


•197 


ist  zu  vermeiden;  wichtig  ist  auch  der  Rath,  eine  Wassercur  nicht  zu 
lange  auszudehnen.  Neben  der  eigentlichen  Cur  kommt  wohl  die  Steigerung 
des  Appetites  und  der  Aufenthalt  in  guter  Luft  sehr  in  Betracht.  Dampfbäder 
halte  ich  nach  einer  eigenen  sehr  unangenehmen  Erfahrung  — der  betreffende 
Patient  hatte  sie  sich  selbst  verordnet  — fUr  direct  gefährlich. 

Sehr  Übertrieben  waren  bis  vor  Kurzem  die  auf  die  Elektrotherapie  ge- 
setzten Hoffnungen.  Heutzutage  werden  wohl  auch  die  glücklichsten  Elektrothera- 
peuten  nicht  mehr  an  einen  directen  Einfluss  der  Elektrieität  auf  den  Krank- 
heitsprocess  im  Rtlckenmarke  glauben.  Dennoch  ist  gerade  die  directe  Galvanisation 
der  Wirbelsäule,  wenn  überhaupt  elektrisirt  werden  soll,  noch  die  beste,  weil 
jedenfalls  unschädlichste  Methode.  Vor  einer  directen  Galvanisation,  resp.  Fara- 
disation  der  gelähmten  Glieder  in  Fällen  mit  erhöhtem  Muskeltonus  ist  zu  warnen, 
da  jedenfalls  Reflexzuckungen  auf  diese  Weise  ausgelöst  werden  — Oppenheim 
weist  auch  auf  die  Gefahren  der  Galvanisation  an  anästhetischen  Köpertheilen 
hin.  Erlaubt  ist  eine  directe  elektrische  Behandlung  der  gelähmten  Muskeln  bei 
schlaffer  Paraplegie  — aber  auch  hier  wird  der  Heilerfolg  wesentlich  von  der 
Intensität  und  Ausdehnung  des  entzündlichen  Processes  im  Lendenmarke  ab- 
hängen  und  wahrscheinlich  hauptsächlich  der  vis  medicatrix  naturae  zuzuschreiben 
sein.  Manchmal  sieht  man  gute  Erfolge  von  einer  directen  galvanischen  Behand- 
lung der  gelähmten  Blase  — hier  sind  kräftige  Ströme  mit  Unterbrechungen 
anzu  wenden. 

Tritt  eine  wesentliche  Besserung  ein,  so  dass  der  Patient  wieder  anfangen 
kann,  seine  Beine  zu  gebrauchen  — meist  handelt  es  sich  in  diesen  Fällen  um 
sogenannte  spastische  Parese  nach  Myelitis  dorsal is  — so  tritt  auch  die  Massage 
und  leichte  gymnastische  Proceduren  in  ihre  Reihe.  Beides  muss  mit  grosser 
Vorsicht  und  streng  individualisircnd  geübt  werden,  jede  Ermüdung  ist  zu  ver- 
meiden ; die  beste  und  dem  Krauken  auch  psychisch  am  meisten  zusagende 
Gymnastik  sind  Spaziergänge  mit  häutigem  Niedersetzen. 

Eigentliche  specifische  Medieameute  kann  man  bei  der  chronischen  Myelitis 
nicht  empfehlen.  Am  ersten  wäre  noch  ein  Versuch  mit  Argentum  nitrieum 
zu  machen,  natürlich  ist  unter  Umständen  11g  oder  Jod  anzuwenden.  Im  Reeon- 
valescenzstadium  der  acuten  Myelitis  sind  Tonica  am  Platze  — Eisen  , Chinin, 
Leberthrau,  vielleicht  Arsen.  Zu  dieser  roborirenden  Behandlung  gehört  auch 
kräftige,  aber  einfache  und  leicht  verdauliche  Kost  und  viel  Aufenthalt  in  frischer 
und  reiner  Luft,  schliesslich  auch  Bewegung  im  Freien. 

Die  Behandlung  etwaiger  Complieationen,  so  des  Decubitus  und  der 
Cystitis,  ist  hier  natürlich  dieselbe  wie  bei  der  acuten  Myelitis.  Mit  der  Anwen- 
dung des  Morphium  gegen  die  Schmerzen  muss  man,  was  leicht  einzusehen,  in 
chronischen  Fällen  zurückhaltender  sein. 

Bei  der  Encepkalomyelilis  disseminata  kommt  im  acuten  Stadium,  ab- 
gesehen etwa  von  Diaphorese,  vor  Allem  auch  die  sorgfältigste  Pflege  in  Be- 
tracht. Erschwert  wird  diese  manchmal  durch  die  heftigen  Delirien  des  Kranken; 
ferner  dadurch,  dass  derselbe  sich  durch  seine  choreatischen  Bewegungen  Ver- 
letzungen zuzicht  — schliesslich  unter  Umständen  durch  Schlinglähmung.  Seltener 
tritt  hier,  da  Anästhesien  fehlen,  Decubitus  ein.  Später  kann  man  in  Fällen  mit 
rasch  günstigem  Verlaufe  überhaupt  nichts  mehr  thuu,  in  anderen  Fällen  nichts 
anderes  als  bei  den  übrigen  Myelitisformen. 

Literaturgeschichte.  1 ) Ollivier,  Traiti  des  malatlies  de  1a  tnotlle  rpimhe. 
1837,  III.  Edition,  Tome  II,  pag.  1 — 137.  — ,Ä)  Abercrombie,  Krankheiten  des  Gehirnes 
und  Rückenmarkes.  Deutsch  von  G.  van  dem  Busch.  18129,  pag.  474.  — ’)  H arlea se  Ueber 
die  Rückenmarksentzündung.  Inaug.-Dissert.  Erlangen  1814.  — *)  Dujardin-Beaumetz, 
Dt  la  mgflite  aigue.  Paris  1872.  — ‘)  Harem,  Des  henmrrhagies  intrarachidiennes. 
Paris  1872  — 6)  Lokhart  Clark,  Fatal  case  of  acute  progressive  softening  etc.  Lancet. 
1868.  — *)  Hasse,  Krankheiten  des  Nervensystems,  1869,  2.  Auii.  — ’)  Engelke,  Bei- 
träge zur  Pathologie  der  acuten  Myelitis.  Dissert  inaug.  Zürich  18o7-  — ®)  Pro  mann, 
Untersuchungen  über  die  normale  und  pathologische  Anatomie  des  Rückenmarkes.  1864,  I; 
1867,  II.  — *)  Mannkopf,  Tageblatt  der  Naturforscherversammlung  in  Hannover  1865  u. 

Enoyclop.  Jahrbücher.  VI.  32 


498 


MYELITIS. 


Berliner  klin.  Wochenschr.  186*1,  Nr.  1.  — 10)  Türk,  Beobachtungen  über  das  Leitungs- 
Vermögen  des  menschlichen  Rückenmarkes.  Wiener  Sitzungsber.  1850.  pag.  329.  — **)  Roki- 
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modle  fpiniere  che z une  ft  tu  me  hysterique  at  feinte  de  ta  contractu  re  de#  quatre  int  nt  br  es. 
1868.  — M)  Vnlpian,  Note  sur  ta  sclvrose  en  plaque#  de  1a  mo(l1e  Spiniere.  Union  mrd. 
1866.  — 1!)  Ordenstein,  La  paralysie  ayltunte  t(  1a  scldrose  en  plaque#  yrnfraliste. 
These  de  Paris.  1867-  — **)  Bourneville  etGuerard,  De  ta  sclerose  en  plaque#  disstmi- 
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Ziemssen’s  Hundb.  d.  spec.  Path.  u.  Therap.  Leipzig  1878,  XI,  Nr.  2.  — ,Ä)  Leyden,  Klinik 
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Encvclopädie.  2.  Anfl.,  XVII.  — ,0)  Oppenheim,  Lehrbuch  der  Nervenkrankheiten.  Berlin 
1894  — u)  Oppenheim,  Zum  Capitel  der  Myelitis.  Berliner  klin.  Wocbenscür.  1891. 
Nr.  31- — **)  Leyden,  lieber  chronische  Myelitis  und  die  Systemerkrankungen  des  Bücken- 
markes. Berliner  Gesell  sch.  f.  Psycb.  1892.  I,  12;  Neurol.  Centralbl.  Ih92.  pag  115  u.  Ueber 
aente  Myelitis.  Deutsche  med.  Wochenschr.  1892,  Nr.  27  u.  28.  - — *J)  Gowers,  Lehrbuch 
der  Nervenkrankheiten.  Deutsch  von  Grube.  Bonn  1892.  — S4)  Pierre  Marie,  Traiti  de 
med.  Paris  1894,  Tome  VI,  pag.  307  u.  ff. 

Definition  und  Entwicklung  des  Begriffes  der  Myelitis.  Schmant, 
Die  Compressionsmyelitis  bei  Caries  der  Wirbelsäule.  Wiesbaden  1890.  — 2<)  Allen  Starr. 
A contribution  tu  the  subject  of  tuntour s of  the  spinal  cord.  Auier.  Journ.  of  the  m**d. 
Sciences.  Joni  1895  — *7)  Erb,  Ueber  syphilitische  Spinalparalyse.  Neurol.  Centralbl.  1892, 
pag.  161.  — 2Ä)  Mann  köpf,  Tageblatt  der  Naturforscherversammlung  in  Hannover  1865  0- 
Berliner  klin.  Wochenschr.  1864,  Nr.  J.  — *•>  Tietzen,  Die  acute  Erweichung  des  Rücken- 
markes, sogenannte  spontane  Myelitis  acuta  transrersalis.  Inaug.-Dissert.  Marburg  1886.  — 
,0)  M anhand,  citirt  bei  Tietzen,  pag.  32.  — at)  Lamy,  Contribution  ä Cetude 
des  localisations  medullaires  de  la  Syphilis.  Arch.  de  Neurol.  1894.  Vol.  XX VIII.  — 3*)  Leyden 
und  Goldscheider,  Die  Krankheiten  des  Rückenmarkes  und  der  Medulla  oblonyata.  I, 
Allgemeiner  Theil.  Nothnagel’s  spec.  Path.  u.  Therap.  Wien  1895,  X,  1.  — M)  O ppe  n keim. 
Ueber  die  syphilitische  Spinalparalyse.  Berliner  klin.  Wochenschr.  1893,  pag.  837.  — u)  Be- 
rn ange,  Das  Grcisenalter.  Deutsch  von  Spitzer.  Leipzig-Wien  1887.  — ,s)  Strümpell, 
Ueber  die  hereditäre  spastische  Spinalparalyse.  Deutsche  Zeitschr.  f.  Nervenhk.  1893.  IV, 
pag.  173. — 3#)  Bernhardt.  Beitr.  znr  Lohre  'on  den  familiären  Erkrankungen  des  Central* 
nerven  Systems.  Virchow’s  Archiv.  1891.  CXXVJ,  pag.  59.  — *7)  New  mark,  Family  form 
of  the  sjHistic  parapleyia.  Ainer.  Journ.  of  the  med.  Sciences.  April  1893  — 30 ) Seelir- 

m all  er,  ln  Gerhard’s  Handle  d.  Kinderkh.  Tübingen  1880,  V,  zweite  Hälfte,  pag.  167.  — 
S9)  Hof  mann  , Ueber  einen  eigenartigen  Symptoniencomplex.  eine  Combination  von  angeborenem 
Schwachsinn  mit  progressiver  Moskelatrophie.  Deutsche  Zeitschr.  f.  Nervenhk.  II,  pag.  150.  — 
40)  Pierre  Marie,  De  l'origine  exogene  ou  endogene  des  lesions  du  cordon  posterieur 
etudiies  compa rat ire ment  dans  le  tabes  et  dans  la  pellayre.  Semaine  med.  1894,  14.  Anne*. 
Nr.  3 u.  Etüde  compa  rat  icc  des  lesions  medullaires  dans  la  paralysie  ycnSrale  et  dans  V 
tabes.  Gaz.  des  höp.  16.  Januar  lh94,  67.  Ano6e.  — 4I)  Lichtbeim,  Degeneration  der 
Hinterstränge  bei  p*rniciösen  Anämien.  Natnrforschervemmmlnng  zn  Heidelberg.  18*9.  — 

» Minnich,  Znr  Kenntniss  der  im  Verlauf  der  pernieiösen  Anämie  vorkommentlen  Spinal- 
••rkrankungen.  Zeitschr.  f.  klin.  Med.  1892,  XXI  u.  1893  XXII.  — °)  Nonne.  Beitrage  zur 
Kenntniss  der  im  Verlaufe  der  pernieiösen  Anämie  beobachteten  Spinalerkraukungen.  Arch. 
f.  Psych.  XXV,  pag.  421  u.  Weitere  Beiträge  zur  Kenntniss  der  im  Verlaufe  letaler  Anämien 
beobachteten  Spinalerkrankungen.  Deutsche  Zeitschr.  f.  Nervenhk.  VI,  pag.  315.  — 44)  Oppen- 
heim,  Zur  pathologischen  Anatomie  der  Bleilähmung.  Arch.  f.  Psych.  n.  Nervenkh.  XVI. 
I»ag.  476.  — 4£)  Monakow,  Zur  pathologischen  Anatomie  der  Bleilähmung  und  der  satnr- 
ninen  Emephalopathie.  Ibid.  X,  pag.  498.  — 4*)  Geller,  Zur  pathologischen  Anatomie  der 
Bleilähmung.  München  1883.  — 47)  Nonne,  Ueber  Poliomyelitis  anterior  chronica  als  Ur- 
sache einer  chronisch  progressiven  Myelitis  hei  Diabetes  mellitus.  Berliner  klin.  Wochenschr. 
1896,  pag  207*  — 4S)  Tuczek,  Ueber  die  Veränderungen  im  Centralnervensystem,  speciell 
in  den  Hintersträngen  des  Rückenmarkes  bei  Ergotismus  u.  Ueber  die  nervösen  Störungen  M 
der  Pellagra.  Naturforscherversammlung.  Heidelberg  1887.  — 4*)  Levden,  Ueber  acute  Ataxie. 
Zeitschr.  f.  klin.  Med.  XVIII.  Heft  5 u.  6. 

Aetiologie.  M)Westphal,  Ueber  eine  Affection  des  Nervensystems  nach  Pocken 
und  Typbus.  Arch  f.  Psych.  III,  pag.  376;  Beobachtungen  und  Untersuchungen  über  die 
Krankheiten  des  centralen  Nervensystems.  Arch.  f.  Psych.  u.  Nervenkh.  1874,  IV,  pag.  335. — 
tl)  Grasset  u.  Vaillard,  Deuxitme  congres  f raupt  is  de  la  mddecine  in  ferne.  August 
1895;  Semaine  med.  1895,  pag.  338  — **)  W.  Ebstein,  Arch.  f klin.  Med.  1 872,  pag  528 
u.  595.  — £>)  Küssner  n.  Brosin,  Myelitis  acuta  disseminata.  Arch.  f.  Psych.  XVII« 
pag.  239.  — *‘)  Herzog,  Ueber  Rückenmarkserkrankungen  nach  Influenza.  Berliner  klin. 
Wochenschr.  1890,  XX VII,  Nr.  37.  — 45  J Leyden,  Ueber  Myelitis  gonorrhoica.  Zeitschr.!. 
klin.  Med.  1892,  XXI,  5 n.  6. — M)  G übler,  Des  paralysit#  dans  leurs  rapports  ur«r  le* 
malad ie#  aigues  et  special  einen  t des  paralysie#  astheniques,  diffuses  des  conralesemts.  A reb 
g«*n.  1860,  I n.  II.  — i7)  Babinski  u.  Charrin,  citirt  bei  Marie.  Traite  de  med  Pari» 
1894,  VI,  pag.  311.  — '*)  Roux  u.  Yersin,  citirt  bei  Grasset,  Nr.  51.  — Roger. 


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MYELITIS. 


499 


Atrophie  musculaire  progressive  expirimtntale . Acad&nie  des  Sciences.  October  1891.  — 
40)  Gilbert  n.  Lion,  Des  paralgsies  produites  par  le  baetUe  d'Escherich.  Somaine  m£d. 
1892,  pap.  65  — 81 » Man  fredi  u.  Traversi,  citirt  bei  Grasset,  Nr.  ?1  — Vincent, 
Sur  un  cas  experimental  de  polioinyilite  infectieuse  aiguü  ayant  simule  le  syndrome  de 
Landrtj.  Arch.  de  mnl  expcrim.  1893,  Nr.  3,  pap.  376  — 6S“)  Landonzy,  Dt#  paralysies 
dans  /es  tnaladies  infectieuse s.  These  d'agregation.  Paris  1880*  — M)  T hoi  not  u.  Massel  in, 
Contribution  ä Vetude  des  local isations  tnedullaircs  dans  /es  maladies  infectieuse#.  Deux 
muladie#  experimentales.  Revue  de  med.  1894,  XIV,  pap.  449.  — **•)  F.  Widal  und 
Besancon,  Myrlites  infectieuse#  experimentales  par  streptococques.  Bull,  med  1895, 
Nr.  25.  — Mb)  Marie,  SrUrose  en  plagues  et  maladies  infectieuse#.  Puhl,  du  propres  med. 
1884.  — *4)  C ursch  mann,  Bemerkungen  über  das  Verhalten  des  Centralnervensystems  bei 
acuten  Infeetionskrankbeiten.  Verhandl.  des  VIII.  Congresses  f.  innere  Med.  Wiesbaden.  — 
•*)  Baumparten,  Arch.  d.  Heilkunde.  1876.  Berliner  klin.  Wochenschr.  1875,  Nr.  43, 
pag.  589.  — *6)  Crocq,  Recherches  experimentale # sur  les  alt  Oratio  ns  du  systime  ntrreux 
dans  les  jmralysie # d iph th er i t ig u es . Arch.  de  ined.  expcrim.  et  d’anat.  path.  7.  Annee, 
Nr.  4.  — •*»)  Marinesco  u.  Oettinper,  De  Vorigine  infectieuse  de  la  paralysie  ascen - 
dante  aigue  ou  muladie  de  Landry.  Semaine  med.  1895,  Nr.  6.  pag.  46.  — *eb)  Eisenlohr, 
Ueber  Landry’sche  Paralyse.  Deutsche  med.  Wochenschr.  1892,  Nr.  38.  — Mc)  Barrl  6, 
Contribution  a Vetude  de  la  meningomyelite  blennorhugitjue.  Paris  1*94.  — 6T)  Oppen  heim, 
Zur  Lehre  von  der  multiplen  Sklerose.  Berliner  klin.  Wochenschr.  1896,  Nr.  9,  pag  181.  — 
**)  Hitzig.  Die  traumatische  Tabes.  Festschrift  zur  Jubelfeier  der  Universität  Halle  1894. 

Varia.  *B)  Strobe,  Experimentelle  Untersuchungen  aber  die  degenerativen  und 
reparatori sehen  Vorgänge  bei  der  Heilung  von  Verletzungen  des  Rückenmarkes  etc.  Habili- 
tationschrift. Freiburg  1894,  Jena,  Fischer.  — 70)  Bastian.  On  the  symptomatology  of  total 
transverse  lesiuns  of  the.  spinal  cord  teith  special  reference  of  the  condition s of  the 
r arious  reflexe s etc.  Transactions  of  the  med.  and  chir.  royal  society.  London  1890,  LXXIII. 
pag.  151.  — T1)  Vulpian,  Arch.  de  physiol.  1869,  II,  pag.  279.  — 73)  v.  Strümpell, 
Ueber  einen  Fall  primärer  systematischer  Degeneration  der  Pyramidenbahnen  mit  den  Sym- 
ptomen der  allgemeinen  spastischen  Lähmung.  Dentsche  Zeitschr.  f.  Nervenhk.  V,  pag.  225.  — 
’*)  Küstermann,  Ein  Fall  von  acuter  Myelitis  der  weissen  Substans.  Arch.  f.  Psych.  u. 
Nervenkh.  XXVI.  pag.  381.  L.  Bruns. 


32* 


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N. 


Nasenscheidewand-Verkrümmungen.  l'eber  ihre  Ursachen  gehen 

die  Meinungen  immer  noch  auseinander.  Jedoch  darf  man  wohl  als  allgemein 
giltig  annehmen,  dass  hauptsächlich  zwei  verschiedene  Ursachen,  jede  für  sich 
oder  beide  zusammen  vorliegen  können.  Die  eine  beruht  auf  Vererbung,  die 
andere  auf  äusseren  Einflüssen.  Jene  äussert  sich  mehr  in  Schiefstellung,  diese 
mehr  in  Knollen-,  Höcker-  und  Leistenhildung  der  Scheidewand.  Mit  der  Schief- 
stellung aber  ist  immer  auch  eine  Verkrümmung,  beziehungsweise  eine  Aus- 
bauchung verknüpft.  Mit  derartigen  Veränderungen  ist  ausnahmslos  eine  l'n- 
gleichmässigkeit  in  der  Entwicklung  beider  Schädelhälften  — der  engeren 
Nasenseite  entspricht  fast  stets  auch  engerer  Gehörgang  — verbunden.  Diese 
Ungleichmüssigkeit  ist  übrigens  bereits  im  Alterthume  bekannt  gewesen:  denn  an 
den  Bildwerken  jener  Zeit  ist  sie  nachweisbar,  ein  Umstand,  der  auf  eine  scharfe 
Beobachtung  und  vollendete  Künstlerschaft  jener  alten  Meister  schliessen  lässt. 
Es  ist  zweifellos  richtig,  wenn  Potiqüet  sagt,  dass  die  Gleich raässigkeit  in  der 
Entwicklung  der  beiden  Kopfhälften,  beziehungsweise  beider  Körperhälften  umso 
unvollkommener  sei,  je  höher  die  Culturstufe,  auf  der  ein  Mensch  oder  ein  Volk 
stehe,  sich  darstelle.  Ursprünglich  massgebend  sind  sicherlich  äussere  Einflüsse, 
durch  welche  die  Nasenscheidewaud  ihre  gerade  Stellung  und  Gestalt  einbtisste, 
gewesen.  Solche  Einflüsse  können  umso  stärker  an  der  Nase  sich  geltend  machen, 
je  mehr  diese  aus  der  Gesichtsebene  hervortritt.  Bei  den  Menschen  höherer  Cultur 
sind  aber  auch  die  Kinder  weniger  geschickt  heim  Gehenlernen ; auch  tritt  dieses 
später  als  bei  sogenannten  Naturvölkern  ein.  Auch  heutzutage  giebt  das  Gehen- 
lernen noch  die  allerhüutigste  Ursache  für  eine  Verkrümmung  der  Nasenscheide- 
wand ab.  Der  Fall  auf  die  Nase  bei  den  ersten  Gehversuchen  ist  so  häufig,  das 
Nasenbluten  dabei,  wenn  auch  noch  so  bescheidener  Art,  so  bekannt,  dass  man 
sich  wundern  muss,  wie  man  so  lauge  Jahre  diese  häufigste  Ursache  hat  über- 
sehen und  verkennen  können.  Zu  den  äusseren  Einflüssen  zählt  auch  die  Ver- 
stopfung  des  Nasenluftweges  innerhalb  des  Nasenrachenraumes  infolge  von  hoch- 
gradig vergrösserter  Rachenmandel.  Infolge  dieser  Erkrankung  fehlt  während 
der  Entwicklungszeit  der  Nase  der  flir  diese  sehr  w ichtige,  durch  den  Athmungs- 
strom  bedingte  Luftdruck.  Der  harte  Gaumen  wölbt  sich  unverhältnissmässig  stark 
nach  oben , verkleinert  damit  die  Höhe  der  knöchernen  Nasenscheidewand  and 
bewirkt,  wenn  nicht  noch  andere  Ursachen  mitwirken,  lediglich  im  knorpelige# 
Theile  einfache  oder  S-förmige  Verbiegungen , da  der  Knorpel  stärker  als  der 
Knochen  wächst. 

Die  Knollen-,  Höcker-  und  Leistenbildung  dürfte  in  der  grossen  Mehr- 
zahl der  Fülle  auf  äussere  Gewalt  zurfickzuflihren  sein.  Ganz  besonders  wird 
dies  von  denen,  die  nahe  dem  Nasenbodeu  sitzen,  angenommen  werden  müssen; 


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NASENSCHEIDEWAND-VERKRÜMMÜNGEN. 


501 


denn  hier  ist  fast  immer  eine  Verlagerung  des  unteren  Randes  der  Scheidewand 
zn  erkennen.  Die  in  der  Richtung  von  vorne  unten  nach  hinten  oben,  entlang 
der  Naht  zwischen  Pflugscharbein  nnd  knorpeliger  Scheidewand,  beziehungsweise 
senkrechter  Siebbeinplatte  so  häufig  verlaufende  Leiste  ist  stets  mit  einer  mehr 
oder  minder  deutlichen  Knickung  der  Scheidewand  verknüpft. 

Von  den  krankhaften  Erscheinungen , welche  die  Verkrümmungen  der 
Nasenscheidewand  begleiten  können,  ist  neben  der  Verlegung  des  Nasenluftweges 
in  den  letzten  Jahren  besonders  dem  Kopfschmerz  grössere  Aufmerksamkeit 
geschenkt  worden.  Es  ist  sehr  wichtig,  bei  Kopfschmerz  die  Nase  sorgfältig  mit 
Sonde  und  Cocain  nicht  blos  auf  Schleimhautschwellung  nnd  -Röthe,  sondern  auch 
anf  beengende  Verkrümmungen  der  Nasenseheidewand  zu  untersuchen. 

Zur  Behandlung  hat  man  in  letzter  Zeit  vielfach  der  Elektrolyse  sich 
bedient.  Dieses  Mittel  vermag  bei  richtiger  Anwendung  auch  vortreffliche  Wir- 
kung zu  erzielen.  Es  ist  auch  in  allen  Fällen,  in  denen  weder  der  Brenner,  noch 
blutige  Verfahrungswcisen  aus  besonderen  Gründen  angewendet  werden  können 
oder  dürfen,  zu  benutzen.  Denn  auch  der  Knochen  wird,  wenn  auch  sehr  lang- 
sam, durch  die  Elektrolyse  zerstört;  das  Verfahren  ist  überhaupt  ein  sehr  lang- 
sam wirkendes,  dafür  aber  auch  ohne  jede  unangenehme  Nebenwirkung.  Wenn 
die  Umstände  ein  schnelles  Verfahren  zulassen,  so  sind  natürlich  die  blutigen 
Behandlungsweisen  vorzuziehen , wenigstens  was  den  Knochen  anbclangt.  Der 
Knorpel  wird  zwar  auch  durch  die  Elektrolyse  sehr  rasch  zerstört,  aber  immer- 
hin nicht  so  rasch  wie  durch  die  elektrische  Glühhitze , den  Brenner.  Freilich 
trifft  man  in  der  Tiefe  nicht  selten  auf  Knochenkeme,  die  dem  Brenner  Wider- 
stand leisten ; sie  werden  am  raschesten  mit  dem  Meissei  beseitigt;  Sägen  nnd 
Feilen  sind  an  solchen  Stellen  nicht  anwendbar.  Für  stark  hervortretende  Höcker 
und  Leisten  sind  die  Sägen  ja  manchmal  ganz  brauchbar,  wie  für  erstere  sich 
auch  die  Feile  eignet,  allein  rascher  kommt  man  in  diesen  Fällen  mit  dem  Meissei, 
insbesondere  mit  dem  elektrisch  betriebenen  zum  Ziele.  Die  auf  gleiche  Weise 
oder  mittels  der  Tretmaschine  der  Zahnärzte  in  Thätigkeit  gesetzten  Trephinen 
vermögen  zwar  auch  jedes  Hinderniss  in  der  Nase  zu  beseitigen , allein  auf 
Kosten  des  Abschlusses  beider  Nasenhälften  von  einander.  Die  dabei  stattfindende 
Durchlöcherung  der  Nasenscheidewand  ist  doch  von  erheblicherer  Bedeutung,  als 
man  in  neuerer  Zeit  im  Hinblicke  auf  die  Anwendung  der  Trephinen  darzustellen 
liebt.  Das  Schneuzeu  der  Nase  ist  je  nach  der  Grösse  des  Loches  in  der  Scheide- 
wand mehr  oder  weniger  bedeutend  erschwert;  auch  giebt  es  nicht  wenige  Fälle,  in 
welchen  das  Hinderniss  in  der  Hintcrnasc  nicht  vollständig  beseitigt  ist,  während 
der  Kranke  sich  im  Glauben  befindet,  es  sei  dies  der  Fall,  da  er  ja  infolge  des 
in  die  Scheidewand  gebohrten  Loches  durch  beide  Nasenlöcher  zu  athmen  vermag. 
Bei  sorgfältiger  Handhabung  des  elektrisch  betriebenen  und  bei  einiger  Geschick- 
lichkeit und  Uebung  in  der  Führung  des  Haudmeissels  ist  eine  Durchlöcherung 
der  Scheidewand  ganz  ausgeschlossen.  Hat  man  von  der  letzteren  so  viel  ent- 
fernt, als,  ohne  sie  zu  durchlöchern,  nöthig  ist  nnd  genügt  der  hergestellte  Weg 
dennoch  nicht  zur  Athmung,  so  ist  es  leicht,  dieses  Ziel  zu  erreichen,  indem 
man  von  der  unteren  Nasenmuschel  mit  dem  Meissei  so  viel  wegnimmt,  als  nöthig 
ist.  Mit  dem  elektrisch  betriebenen  Meisscl  ist  dies  eine  ganz  ausserordentlich 
leichte  und  rasch  ausgeführte  Operation.  Die  entstehende  Blutung  wird  leicht 
durch  24stündige  Ausstopfung  der  Nase  mit  Watterollen  (von  vorne  her)  gestillt. 
Die  Nachbehandlung  ist  die  von  mir  schon  wiederholt  beschriebene. 

Von  grosser  Wichtigkeit  ist  die  Behandlung  frisch  entstandener  Ver- 
letzungen der  Nasenscheidewand.  Dadurch,  dass  diese  gemeinhin  noch  gar  nicht 
allgemein  beachtet  werden , entstehen  gerade  die  ungemein  hochgradigen  Ver- 
engerungen der  Nase,  mit  deren  Beseitigung  man  später  so  sehr  viel  Mühe  hat. 
Kinder,  welche  gehen  zu  lernen  im  Begriffe  sind,  sollten  auch  bei  der  geringsten 
Blutung  aus  der  Nase,  selbst  wenn  ihr  Fall  auf  die  Nase  nicht  beobachtet  wurde, 
untersucht  werden;  immer  muss  dies  aber  geschehen,  sobald  das  Kind  auf  die 


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502 


NASENSCHEIDEWAND- VERKRÜMMUNGEN.  — NATURHEILKUNDE. 


Nase  gefallen  ist,  auch  wenn  keine  Blutung  stattgefunden  hat.  Das  Gleiche  gilt 
von  Schlag,  Stoss  u.  dergl.  auf  die  Nase.  Durch  Einlegen  von  Watterollen  kann 
die  gebrochene,  geknickte  oder  sonstwie  aus  ihrer  Richtung  gebrachte  Nasen 
Scheidewand  in  wenigen  Tagen  wieder  hergestellt  werden.  Geschieht  aber,  wie 
noch  allgemein  üblich , nichts , so  werden  den  Betroffenen  leicht  Jahre  ihres 
Lebens  durch  Verstopfung  ihrer  Nase,  durch  Kopfschmerzen  u.  dergl.  m.  vergällt 

Literatur:  J.  Bergonie  und  E.  J.  Monre,  Ueber  die  elektrische  Behandlong 
von  Verbiegungen  und  Vorsprüngen  der  Nasenscheidewand.  Paris  1892.  Doin ; Bericht  in  der 
Deutschen  Med.-Ztg.  1893,  Nr.  52,  pag.  577.  — M.  Bresgen.  Der  Kopfschmerz  bei  Nasen* 
und  Rachenleiden  und  dessen  Heilung.  Unter  besonderer  Berücksichtigung  der  angeborenen  and 
erworbenen  Unregelmässigkeiten  der  Nasenscheidewand.  1.  u.  2.  Anti.,  Leipzig  1894.  Langkatnmer. 
— M.  Bresgen,  Die  Anwendung  der  Elektrolyse  bei  Verkrümmungen  und  Verdickungen  der 
Nasenseheidewand  sowie  bei  Schwellung  der  Nasenschleimhaut  Wiener  med.  Wochenschr.  1894. 
Nr.  46f  S.*A.  — K.  Hess,  Zur  Anwendung  der  Elektrolyse  bei  Leisten  nnd  Verbiegungen  des 
Septum  narium.  Münchener  med.  Wochenschr.  1894,  Nr.  39,  S.-A.  — H.  Iben,  Ueber  die 
Missbildungen  der  knöchernen  Nasenscheidewand.  Dissert.  Kiel  18m.  — K ret  schniann, 
Ueber  die  Behandlung  von  Nasenschcidcwand-Verbiegungen  mit  der  Trephine.  Arch.  f.  Laryngol. 
1895,  II,  3.  II.  — Ed.  Meyer,  Die  elektrolytische  Behandlung  der  Leisten  des  Septum 
narium.  Deutsche  med.  Wochenschr.  1893,  Nr.  22.  S.-A.  — Potiquet,  Etüde  critique  tur 
V Ätiologie  de«  diviations  de  tu  clotson  nasale.  Med.  mod.  1892;  Bericht  in  Semon’s  CentradbL 
1893/'.»4,  X,  Nr.  4,  pag-  172.  — E.  Rosen  fei  d,  Beitrag  zur  Casuistik  der  nasalen  Stenosen. 
Dissert.  Würzburg  1894.  — W.  Sc  heppegrell,  Deform  itie * of  the  nasal  septum  and  their 
inßuence  in  diseases  of  the  ear  and  throat.  New'  Orleans  med.  and  surg.  Journ.  1893, 
S.-A.  — M.  Schmidt,  Behandlung  der  Verbiegungen  nnd  Auswüchse  der  Na sensc heidewand 
durch  Elektrolyse.  Verhandl.  d.  Congr.  f.  innere  Med.  1893.  S.-A.  — G.  Spiess,  Zur  Behand- 
lung der  Verbiegungen  der  Nasenscheidewand.  Arch.  f.  Larvngol.  1894,  I,  3.  H.,  S.-A.  — 
E.  Winckler,  Zur  Oberkiefer  Missbildung  bei  behinderter  Nasenathmung.  Wiener  med. 
Wochenschr.  1895,  Nr.  9.  10,  S.-A.  — Ziem.  Zur  Behandlung  der  Verbiegungen  der  Nasen- 
scheidewand. Monatsschr.  f.  Ohrenhk  1894,  Nr.  7 , S.-A.  — Ein  ausführlicheres  Schriften- 
verzeichnis« findet  sich  in  meiner  ,,  Krankheit.«-  und  Behandlungslehre  der  Nasen-,  Mund-  and 
Kachenböhle.  sowie  des  Kehlkopfes  nnd  der  Luftröhre“,  3.  Aufl.,  Wien  u.  Leipzig  189*),  Urban 
u.  Schwarzenberg,  llaximilian  Bresgen. 

Natriumsulfit,  Natriumaldehydsulfit,  bei  C'arbolvergiftuug.  pag.  69- 

Naturheilkunde , Naturheilverfahren.*  i Gesundheitsstörungen  dem 
Leben  des  Einzelnen  fern  zu  halten , den  allgemeinen  Wohlstand  zu  sichern, 
gemeinschaftlichen  Betrieben  diejenige  Zuverlässigkeit  zu  Grunde  zu  legen,  welche 
bei  häufigen  Erkrankungen  nicht  möglich  ist : ist  das  Ziel  einer  vernünftigen 
Prophylaxe,  jeder  Gesundheitspflege,  der  modernen  Krankbeitsverhütang. 

Der  Gedanke:  „Wenn  Krankheiten  vermeidbar  sind,  warum  vermeidet 
man  sie  nicht  V“  war  populär,  ehe  er  ausgesprochen  wurde : er  lag  in  der  Luft 
und  musste  Schule  machen,  ln  der  Gesundheitspflege , der  Hygiene,  muss  die 
Heilkunde  unserer  Zeit  die  Wurzeln  ihrer  Kraft,  ihre  Volkstümlichkeit  suchen; 
die  Vermeidung  voraussichtlicher  Schädigungen  sollte  ein  Gegenstand  der  Unter- 
weisung aller  Gefährdeten  sein.  Daneben  sind  für  Jedermann  die  Heilmittel  der 
Natur:  I.uft,  Sonnenlicht,  Wasser,  Körperbewegung,  die  Stoffe  zu  einer  einfachen 
Ernährung  (mit  Ausschluss  der  Nahrungsgifte)  zur  Hand.  Arzneiliche  Gifte  aber 
hat  Niemand  — von  Notfällen  abgesehen  — nötig  sieh  einzuverleiben. 

Ueber  diese  Wünsche  und  Ziele  könnte  die  Volksmediciu,  die  Natur- 
heilkunde,  sieb  mit  der  Scbulmedieiu , der  wissenschaftlichen  Heilkunde,  an- 
scheinend ohne  grosse  Schwierigkeiten  einigen.  Die  Entwicklung  des  Thatsäch- 
lichen  in  der  Wirklichkeit  hat  zwischen  der  einen  und  der  anderen  Kiehtung 
des  Heilverfahrens  einen  gauz  anderen  Verlauf  genommen  — den  eines  förm- 
lichen Kampfes.  Zwar  ist  die  einfache  Naturbeobachtung  von  jeher  die  festeste 
Grundlage  für  medicinisches  Fortschreiten  und  für  ärztliches  Können  gewesen. 
Allein  die  hippokratische  Beobaclitmigsmetliode,  die  unbefangene  klinische  For- 
schungsweise  genügen  dem  modernen  Arzt  nicht  mehr.  Insbesondere  das  Specia- 

*)  Eine  der  letzten  Arbeiten  des  leider  zu  früh  für  die  Wissenschaft  und  die  ärztlich« 
und  sanitären  Interessen  ans  dem  Ia*ben  geschiedenen  Verfassers.  Die  Kerl. 


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NATURHEILRUNDE. 


m 


listenthum  mit  seiner  immer  mannigfaltigeren  Arbeitsteilung,  ans  welcher  sich 
gar  zu  bereitwillig  der  therapeutische  Speeialist  entwickelt,  die  Suche  nach  aller- 
neuesten  Heilmitteln,  der  sich  der  Familienarzt  auch  kaum  zu  entziehen  vermag, 
eine  ungesunde  Pharmakopkilie  und  therapeutische  Vielgeschäftigkeit  •)  haben 
anscheinend  dem  wissenschaftlich  gebildeten  Arzt  den  gesunden  Boden  der  Natur- 
beobachtnng  etwas  entrückt  und  ihn  mit  einem  Arsenal  kostspieliger  und  doch 
noch  dem  Versuch  unterliegender  Medicamente  umgeben. 

Dagegen  bäumt  sich  ein  therapeutisches  Pfuscherthum  mit  seinem  Hinter- 
halt an  Heilinstituten,  Sanatorien,  Curorten J),  Privatkranken-  und  diätetischen 
„Anstalten“  auf:  als  eine  naheliegende  und  begreifliche  Reaction  gegen  die  Viel- 
geschäftigkeit  mit  „Heilmitteln“  ist  in  vielen  tausend  Halbgebildeten  (und  selbst 
Gebildeten)  der  Gedanke  mächtig  geworden , sich  von  „Naturkundigen“  und 
„arzneilos“  behandeln  zu  lassen. 

Auf  diesen  Momenten  beruht  die  immer  schroffer  sich  entwickelnde 
Differenz,  welche  kaum  vorübergehend  dadurch  gemildert  schien,  dass  auch 
Aerzte  in  einseitiger  Weise  der  Massage-  und  Suggestionstherapie,  dem  hydiatri- 
schem  Kleinkram,  dem  Purgiren  mit  Thees  und  Buttermilch  das  Wort  redeten. 
Selbst  die  physiologische  Heilmethode  ebenso  wie  die  nihilistische  und 
rationelle  Richtung  in  der  Mediein  aus  der  ersten  Hälfte  unseres  Jahrhunderts 
werden  von  den  „Nnturheilkundigen“  unserer  Tage  ansgenutzt,  um  die  Gegen- 
sätze zur  Schulmedicin  als  unüberbrückbar  darzustellcn  und  den  pharmakologi- 
schen Ballast,  das  mechanische  Receptschreiben , die  kurzhändige  Anwendung 
diätetischer  Formeln  auf  den  Kranken  möglichst  zu  disereditiren.  *) 

Die  Frage , wie  durch  Reformen  des  ärztlichen  Unterrichts  den  etwa 
berechtigten  Angriffspunkten  der  nichtärztlichen  Naturkundigen  zu  Hilfe  zu 
kommen  sei , lässt  sich  an  dieser  Stelle  nur  streifen.  Die  obligatorische  Ein- 
führung des  10.  Studiensemesters,  Ausdehnung  des  physikalischen  und  chemischen 
Unterrichts  auf  Kosten  der  jetzt  au  Zeit  allzu  gut  bedachten  Anatomie , mehr 
poliklinische  Unterweisung  an  Stelle  der  klinischen  Paradevorstellungen  und 
theoretischer  Collegia , Richtigstellung  der  universalen  und  der  gpecialistischen 
Bestrebungen  unter  einander,  echtes  öpecialisiren  auf  dem  Gebiet  des  Könnens, 
der  Kunstfertigkeit,  Anschaulichkeit  im  Ertheilen  des  pharmakologischen  Unter- 
richts und  für  die  Pharmakodynamik  — das  Alles  sind  vielbesprochene  und 
mehrfach  empfohlene  Einzclpuukte  der  lieraedur.  Auch  sollte  der  Studirendc  wie 
der  Arzt  auf  den  Weg  geleitet  werden,  in  Form  diätetischer  und  physikalischer, 
der  Natur  und  Empirie  abgelauschter  Heilweisen  der  allgemeinen  Therapie 
ihr  Feld  einzuräumen  gegenüber  der  symptomatischen  Behandlung  so  vieler 
Krankheiten  mit  Einzelmitteln.  *) 

Zeigt  sich  durch  die  bereite  und  nachdenkliche  Erwägung  dieser  Besse- 
rungsgednnken  nun  aber  die  Aerztewelt  bereit,  den  Kern  der  Naturheilkunde  zu 
Ehren  zu  bringen , so  muss  sie  umso  mehr  darauf  dringen , dass  deren  vorge- 
schriebene Prätensionen  nicht  von  Dunkelmännern  im  unlauteren  Wettbewerb  und 
in  schamloser  Gesetzesverletzung  gegen  deu  mit  der  Ungunst  der  Zeit  kämpfenden 
Arzt  nusgenützt  werden.  Mag  man  8emmelweiss  oder  Jenner,  Priessnitz  oder 
Brkhmeb,  ja  selbst  Hahnemann  als  Bahnbrecher  für  die  Würdigung  der  Natur- 
heilpotenzen in’s  Feld  führen,  — immer  hat  es  sich  dabei  doch  uin  eine  durch 
Mühe  errungene  Erwerbung  von  Können  oder  Wissen  gehandelt.  Aber  dass  der 
blosse  Verzicht  auf  Kenntnisse,  ein  freches  Know-nothing-thum  neben  dem 
Schimpfen  auf  die  „Schulmedicin“  das  einzige  Kennzeichen  der  unfehlbaren 
Naturheilkunde  vorstellt,  erregt  bereits  Verdacht.  Bei  einiger  Bekanntschaft  mit 
den  Personen  der  Naturheilbeflissenen  findet  sich  selten  ein  Anlass,  den  gefassten 
Verdacht  fallen  zu  lassen,  ln  vielen  Richtungen  auseinander  gehend , halten  sie 
sich  Alle  für  Inhaber  des  einzig  wahren  Naturheilfactors.  Während  die  Einen 
an  gewisse  mit  den  erforderlichen  Geheimnissen  ausgestattete  Pflanzensäfte,  die 
Anderen  an  das  Wasser,  Dritte  an  den  unbedingten  Einfluss  der  Nahrung  glauben, 


NATÜKHEILKÜNDE. 


5(14 

wollen  weitere  Gruppen  ausschliesslich  arzneilos  Vorgehen,  noch  Andere  verwerfen 
vor  Allem  die  Schutzimpfungen,  die  Anwendung  des  Eises  etc.  ") 

Um  aber  Aerzten,  die  — glcichgiltig  aus  welchem  Grunde  — mit  einem 
Fuss  in  der  Naturheilkunde  stehen,  die  Machtgebote  der  Laienkünstler  nicht  allzu 
unbedingt  Vorkommen  zu  lassen,  erscheint  es  von  Werth,  die  Fühlung  der  „Natur- 
ärzte“  und  nicht  medicinischen  Naturheilkünstler  mit  dem  Strafgesetz  hier  noch 
kurz  darzulegen. 

Zunächst  ist  selbst  nach  dem  in  der  deutschen  Gewerbeordnung  und 
ihren  reichsgesetzlichen  Ergänzungen  niedergelegten  Recht  die  Curirfreiheit  keine 
schrankenlose.  Es  sei  an  die  Strafen  der  Curpfu6cherei  im  Umherzieben,  an  die 
im  Impfgesetz  vorgesehenen  Strafen  erinnert.  Weitere  Beschränkung  enthalten  die 
Gewerbeordnungsparagraphen  Uber  die  Privatkraukenanstalten.  Die  über  Erthci- 
lung  der  Concession  ({;  30  der  Novelle  vom  1.  Juli  1883)  befindende  Behörde 
wird  immer  zu  prüfen  haben,  ob  der  Unternehmer  für  den  Zweig  der  Heilkunde, 
dem  die  Anstalt  dienen  soll,  die  nöthige  Fachbildung  besitzt.")  Eine  Berufung 
auf  die  allgemeine  Curirfreiheit  giebt  es  hier  nicht.  Wiederholt  haben  iu  der 
Praxis  die  Instanzen  der  Selbstverwaltung  und  die  competenten  Behörden  aus 
der  Art  sowohl  der  Krankenuntersuchung  als  auch  des  Heilverfahrens  auf  den 
Mangel  der  medicinischen  (ärztlichen)  Fachausbildung  und  damit  auf  die  Unzu- 
verlässigkeit des  Conccssionsnehmers  geschlossen;  und  dies,  trotzdem  dem 
Pfuscher  stets  die  leichteren  Leiden  vorgeführt  und  schon  dadurch  mit  Ijeichtig- 
kein  anscheinend  häufigere  Erfolge  vorgetäuscht  werden. :)  So  scheint  die  Zeit 
vorüber,  in  welcher  die  Naturheilkünstler  mit  der  Statistik  ihrer  Heilungen,  den 
Befähigungszeugnissen  der  ,.Prüfungscommission  der  Vereine  für  Gesundheitspflege 
und  für  arzneilose  Heilkunde“,  der  Verdächtigung  der  ArzneistoflTe,  der  Gegner- 
schaft gegen  Bakteriologie  und  Impfung,  der  Anklageerhebung  gegen  „falsche 
Lebensweise“  vor  den  Gerichten  Stimmung  zu  machen  und  Freisprechungen  zu 
erzielen  verstanden. 

Selbst  in  Sachsen,  wo  die  „Naturheilkunde“  einige  Jahre  lang  beträcht- 
liche Vorstüsse  zu  verzeichnen  hatte,  sind  neuerdings  die  offenkundigsten  Rück- 
schläge bemerkbar. H)  Das  dortige  Ministerium  des  Innern  hatte  in  der  Verurd- 
orduung  vom  24.  März  1832  zunächst  ausgesprochen,  dass  unter  der  im  Kranken 
casseugesetz  bezeichneten  „ärztlichen“  Behandlung  die  durch  einen  approbirten 
Arzt  zu  verstehen  sei,  es  dagegen  als  mit  den  Bestimmungen  des  Krankenver- 
sicherungsgesetzes  verträglich  bezeichnet,  dass  Versicherte  in  einzelnen  besonderen 
Ausnahmefällen  mit  Genehmigung  des  Cassenvorstandes  uuter  Verzicht  auf  die 
Behandlung  durch  einen  approbirten  Arzt  an  einen  Nichtarzt  sich  wenden  und 
dass  der  Krankencasse  unverwehrt  sein  müsse,  solchenfalls  auch.  die  Kosten  des 
Heilverfahrens  zu  übernehmen.  Doch  seien  auch  für  diese  Fälle  gewisse  autori- 
täre Befugnisse  (Zeugnissertheilung,  Gutachten  Uber  die  Nothwendigkeit  von 
Krankenpflege  u.  s.  w.)  den  approbirten  Aerzten  ausschliesslich  vorzubehalten. 
Wenn  demgegenüber  bei  der  L.-er  Ortskrankencassa  es  gestattet  ist,  dass  die- 
jenigen Cassenmitglieder,  welche  sich  von  Nichtärzten  behandeln  lassen  wollen, 
sich  nach  eigenem  Ermessen  an  letztere  wenden  und  die  Ausübung  der  vou  der 
Casse  beabsichtigten  ärztlichen  Controle  dieser  Heilbehandlung  einfach  unterbleibt, 
wenn  unterlassen  wird , den  Controlärzten  rechtzeitig  hievon  Mittheilung  zu 
machen,  ganz  abgesehen  davon,  dass  auch  diese  Controle  häufig  nur  dem  Namen 
nach  ausgeübt  zu  werden  scheint:  wenn  ferner  ähnliche  Verhältnisse  bei  den 
Ortskrankencassen  zu  W.  bestehen,  die  Mehrzahl  der  dortigen  Ortskrankencasseu 
auch  ihren  Statuten  zuwider  die  Auszahlung  der  Krankengelder  ohne  Einreichung 
einer  von  einem  Cassenarzt  ausgestellten  Bescheinigung  der  Erwerbsunfähigkeit 
vollzogen  hat,  wenn  endlich  bis  zum  Einschreiten  der  Kreishauptmannschaft  Z. 
bei  verschiedenen  Ortskrankencassen  ihres  Regierungsbezirks  sogenannte  Natur- 
heilkundige thatsäcblich  zur  unbeschränkten  ärztlichen  Behandlung  erkrankter 
Cassenmitglieder  zugelassen  und  als  zur  Ausstellung  cassenärztlicher  Zeugnisse 


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NATURHEII.KDNDE. 


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befugt  angesehen  worden  sind,  so  widerspricht  ein  solches  Verfahren  den  gesetz- 
lichen Bestimmungen  und  den  zn  deren  Ausführung  erlassenen  Anordnungen  in 
so  offenkundiger  Weise,  dass  die  Aufsichtsbehörden,  soweit  dies  nicht  bereits 
geschehen,  anznweisen  sein  werden,  mit  allem  Ernst  diesem  unzuverlässigen  Ge- 
bahren  entgegenzutreten. 

In  dankenswerter  Weise  schafft  endlich  ein  Endurtheil  des  Reichsgerichts  ») 
Klarheit  über  die  Stellung  der  Naturheilkundigen  zu  deu  §§  29  und  147,  3 der 
Reichsgewerbeordnung  vom  21.  Juni  1869  und  über  ihre  Anmassung,  Titel  anzu- 
nehmen, wie  „praktischer  Vertreter  der  arzneilosen  Heilkunde“,  „Specialfrauen- 
praktiker“, „Mitglied  des  deutschen  Naturärztebundes“,  — jeweilig  auch  ab- 
wechselnd mit  „der  Unterzeichnete  behandelnde  Arzt“.  Von  diesen  Bezeichnungen 
war  dann  in  der  Revisionsinstanz  behauptet  worden,  arztähnliche  Titel  (§  147,  3) 
wären  sie  nicht.  Darüber,  dass  jede  einzelne  Bezeichnung  den  entgegengesetzten 
Thatbestand  erfülle,  liess  schon  das  angegriffene  Urtheil  keinen  Zweifel.  Das 
Endurtheil  führt  wörtlich  aus: 

„Die  Behauptung,  dass  die  Bezeichnung  .praktischer  Vertreter  der  arzneilosen  Heil- 
kunde“ notorisch  die  übliche  Bezeichnung  der  nicht  approbirten  Vertreter  der  Heilkunde  sei, 
entbehrt  jeden  Haltes.  Nicht  darauf  kommt  es  ferner  an,  ob  aus  der  Thatsache,  dass  die 
approbirten  Aerzte  sich  häutig  praktische  Aerzte  nennen,  die  Folgerung  zu  ziehen  ist,  dass 
die  geprüften  Aerzte  allein  das  Recht  hätten,  diese  Bezeichnung  zu  führen,  sondern  darauf, 
ob  ein  solcher  Gebrauch  existirt.  Ist  dies  der  Fall , so  wird  jene  Bezeichnung  allerdings  die 
Meinung  erwecken  können,  als  wenn  es  sich  um  einen  approbirten  Arzt  handelte.  Wem  gegen- 
über von  der  Bezeichnung  Gebrauch  gemacht,  ist  gleichgiltig,  da  das  Gesetz  weder  verlangt, 
dass  in  dem  speciellen  Fall,  in  welchem  die  Bezeichnung  verwendet  worden,  eine  Täuschung 
bezweckt  und  beabsichtigt  noch  auch,  dass  jener  Zweck,  den  Glauben  an  die  Eigenschaft  des 
Gebrauchmachenden  als  geprüfter  Medicinalperson  zu  erwecken,  erreicht  worden  ist,  sondern 
nur,  dass  die  gewählte  Bezeichnung  zur  Erweckung  jenes  Glaubens  sich  überhaupt  eigne,  und 
es  konnte  daher  hierfür  das  Urtheil  ohne  Rechtsirrthum  auch  auf  die  Verhältnisse  des  Orts 
der  Bezeichnung  als  eines  Carorts  mit  einem  Publicum,  das  wenigstens  theilweise  mit  der 
technischen  Bezeichnung  der  staatlich  approbirten  Aerzte  nicht  völlig  vertraut  ist.  Rücksicht 
nehmen.  Dass  ferner  der  § 29  Gew.-O.  die  Behandlung  von  Frauenkrankheiten  allgemein  frei- 
giebt,  schlicsst  die  Annahme  des  Urtheils,  dass  jene  Krankheiten  „gemeiniglich  nur  von 
Aerzten  behandelt  werden“,  keineswegs  aus.  Wenn  die  Revision  selbst  zugiebt,  dass  die  Bei- 
legung der  Bezeichnung  eines  Specialisten  für  Frauenkrankheiten  seitens  eines  nicht  appro- 
birten Arztes  nicht  zu  rechtfertigen  ist,  so  kann  auch  daraus  dem  Urtheil  in  rechtlicher  Be- 
ziehung ein  Vorwurf  nicht  erwachsen,  wenn  dasselbe  die  Bezeichnung  als  Specialfrauenpraktiker 
der  eines  Specialisten  für  Frauenkrankheiten  gleichstellt.  Ob  zu  dem  Bund  der  Naturärzte 
auch  andere  Personen  als  Naturärzte  gehören  dürfen,  kann  dahingestellt  bleiben , da  für  den 
Richter  nur  die  ebenfalls  dem  thatsächlichen  Gebiet  angehörige  Frage  zur  Entscheidung  stand, 
ob  das  Publicum  durch  die  Bezeichnung  „Mitglied  des  Naturärztebundes'4  zu  dem  Glauben 
verleitet  werden  konnte,  dass  der  Angeklagte  sich  selbst  als  Naturarzt  kennzeichnete,  und 
dass  diese  Bezeichnung  die  Ausübung  der  Heilkunde  nach  vorgängig  erlangter  Approbation 
enthalte.  Die  Revision  vermisst  endlich  den  besonderen  Nachweis,  dass  der  Angeklagte  den 
Willen  oder  auch  nur  das  Bewusstsein  gehabt  habe,  sich  einen  arztähnlichen  Titel  beizulegen, 
durch  welchen  der  Glaube  erweckt  worden , er  sei  eine  geprüfte  Medicinalperson.  Indes*  die 
Merkmale  eines  vorsätzlichen  oder  mit  dem  Bewusstsein  der  Rechtswidrigkeit  vorgenom menen 
Handelns  sind  in  dem  Thatbestand  des  § 147,  Ziff.  3 a.  a.  0.  gar  nicht  enthalten  und  bedürften 
daher  auch  keiner  besonderen  Feststellung.“ 

Es  genügte  vielmehr  der  im  Urtheil  unzweideutig  zum  Ausdrucke  ge- 
brachte Nachweis,  dass  der  Angeklagte  bewusst  die  bezieh  tigten  Bezeichnungen 
gebraucht  hat,  und  dass  sein  Handeln  ihm  deshalb  als  Schuld  anzurechnen  sei. 
Irrte  er  darin,  dass  er  sein  Handeln  für  straflos  erachtete,  so  konnte  dieser  Irr- 
thum seine  Schuld  nicht  beseitigen. 

Literatur:  *)  Ueber  moderne  Therapie,  ihre  Licht-  und  Schattenseiten.  Zeitschr. 
f.  arztl.  Landpraxis.  1892.  6 u.  7;  Der  Amerikanismus  in  der  modernen  Therapie  (von 
Dr.  raed.  B.  L.  in  W.).  Deutsche  Med.-Ztg.  1893,  Nr.  84.  — *)  Dr.  S.  Goldschmidt,  Ein 
Besuch  bei  Pfarrer  Kneipp  in  Wörishofen.  Deutsche  Med.-Ztg.  1895,  Nr.  04.  — *)  E.  Schwe- 
ll inger,  Eine  Aerztesehule.  „Zukunft“  und  Apoth.*Ztg.  189t>,  Nr.  7.  — 4)  Ferd.  Hüppe, 
Naturheilkunde  und  Schulmedicin.  Zeitsehr.  f.  sociale  Med.  I.  Heft  2;  Derselbe,  Ueber  die 
Ursachen  der  Seuchen  und  über  die  ursächliche  Bekämpfung  und  Heilung  derselben.  Zeitgeist. 
181*4,  Nr.  50.  — fc)  Prager,  Die  Vor-  und  Nachtheile  der  Naturheilmethode.  Leipzig,  Ranert. 
und  Rocco,  1890.  — 6)  Rechtsauwalt  A.  Joachim,  Die  Rechtsverhältnisse  der  Curpfuscherei 
in  Deutschland  und  die  Bekämpfung  ihrer  Gefahren  für  die  Gesundheit.  Zeitschr.  f.  sociale 


NATURHEILKUNDE.  — NOSOPHEN. 


506 

Med.  I,  Heft  4.  — ')  Dr.  Berger,  Zur  Lage  des  ärztlichen  Standes  Deutsche  Xed.-Ztg. 
J895,  Nr.  84. — •)  Aerztliche  Behandlung  (Rev.  Kr.  V.-G.  §6.  Abs.  1.  Ziff.  1).  Reger.  Ent- 
scheidungen. XVI.  — *)  Urtheil  des  Reichsgerichts  (I.  Strafsenat)  vom  4.  Juli  1895.  Recht- 
sprechung u.  Med.-Gesetzgebung.  Bei  bl.  z.  Zeitsehr.  f.  Medicinalbeamte.  189d.  Nr.  3-  — lM  0. 
Schwarz.  Die  Errichtung  besonderer  Lehrstuhle  für  Naturheilkunde,  Hydrotherapie  und 
Homöopathie.  Deutsche  med.  Wochenschr.  1896.  Nr.  13.  Wern  ich 

Nicotianaseife,  eine  vom  Apotheker  Menzel  in  Bremen  dargestellte,  mit 
Tahaklauge,  welche  etwa  0,7“  „ Nicotin  und  10°  0 Tabake* trnct  enthält,  versetzte 
Seife.  Schon  seit  Jahren  werden  riesige  Mengen  Tabaklauge  nach  Argentinien  aus- 
gefUhrt,  wo  dieselbe  zur  Behandlung  räudiger  Schafe  dient.  I*.  Taxv.er  versuchte 
die  braunschwarze,  mit  Bergamottöl  parflimirte  Nicotianaseife  hei  parasitären  Haut- 
krankheiten, vornehmlich  bei  Scabies,  bei  welcher  Krankheit  die  Patienten  sich  früh, 
abends,  später  nur  einmal,  den  ganzen  Körper  mit  der  Seife  zu  waschen  haben. 
Den  Seifenschaum  soll  man  in  den  ersten  Tagen  auf  dem  Körper  eintrocknen 
lassen , während  man  später,  besonders  wenn  die  Haut  anfängt,  empfindlich  zu 
werden , den  Schaum  wieder  absptilt.  Audi  bei  Pityriasis  versicolor  und  bei 
parasitären  Ekzemen  war  die  Seife  von  guter  Wirkung.  Bei  Pruritus  senilis 
und  einem  Fall  von  nervösem  Jucken  bewährte  sie  sicli  ebenfalls,  in  anderen 
Fullen  blieb  die  juckatlllendc  Wirkung  aus.  Nach  bisherigen  Mittheilungen  dürfte 
namentlich  bei  Kindern  Vorsicht  in  der  Anweuduug  der  Seif-  empfohlen  sein. 
Ein  damit  behandeltes  Kind  wurde  von  Erbrechen  und  I’iiisäuderuug  befallen. 

Literatur:  P Tänzer-Bremen,  l’eber  Nicotianaseife.  Monatsh.  f.  prakt  Perma: 
XXI.  NT.  lg.  Loebisch 

Nitroglycerin,  bei  Morpbiumentziehnng,  pag.  441. 

Normaiantitoxin,  Normalgift,  s.  Immunität,  pag.  263. 

Nosophen.  Das  von  Classex  und  Lim  dargestellte  Nosophen,  Tetra- 
jodphcnolphtaleln  (s.  Encyelop.  Jahrb.  V.  Jahrg.),  ist  nach  Versuchen  von 
C.  Btxz  und  N.  Zl’XTZ  dem  Organismus  weniger  gefährlich  als  das  Jodoform. 
Unmittelbar  in’s  Blut  in  Form  des  Natronsalzes  cingespritztes  Nosophen  wird  in 
ziemlicher  Menge  in  den  Darmcanal  ausgesehieden ; in  den  Harn  geht  es  nnr 
dann  reichlich  über,  wenn  dieser  alkalisch  reagirt.  Wohl  wirkte  die  intravenöse 
Anwendung  des  Nosophens  schädlich,  doch  kommt  dies  fflr  den  praktischen 
Gebrauch  nicht  in  Betracht.  Es  verhindert  gleich  dem  Jodoform  die  Eiterung, 
indem  es  auf  die  I.eukocyten  direct  lähmend  wirkt.  Den  Einfluss  des  Nosu- 
phens  auf  die  Wundheilung  im  Vergleich  mit  dem  des  Jodoforms , Dermatols. 
Europhens  und  Aristols  prüften  N.  Zl'NTZ  und  E.  R.  W.  Fraxk.  Sie  erzielten  mit 
Nosophen  seihst  hei  inficirten  Wunden  trotz  der  nachweisbaren  Gegenwart  von 
pathogenen  Bakterien  im  Gewebe  gute  Wundheiluug.  und  zwar  im  directen  Ge 
gensatz  zu  den  Virgleichswunden ; bei  den  reinen  Wunden  war  der  Heilungs- 
vorgang ein  glatter,  wahrend  die  Vergleichspräparate  mehr  oder  weniger  starke 
Reizung  der  Wunde  und  deren  Umgehung  verursachten.  0.  Lassar  fand  Jas 
Nosophen  bei  Uhus  molle,  Herpes  progenitalis,  Balanitis,  ferner  hei  kleineren 
Flächenwunden  und  in  Ueberhftutung  begriffenen  Granulationen , überdies  bei 
Cyatitis,  wo  eine  Insufficienz  der  Blasenmusculatnr  vorlag,  in  Form  von  Aus- 
spülungen (1  Tlieil  Natronsalz,  400 — 500  Wasser)  von  prompter  Wirkung.  Er 
hebt  den  exsiecatorischen  Charakter  des  Pulvers  hervor,  weicher  jedoch  unter 
Umständen  auch  zur  Secretrctcution  führen  kann.  Krustenbildung  ist  zu  ver- 
meiden ; die  Schleimhaut  der  Nase  kann  durch  Einführung  von  Nosophen  rasch 
zur  Abtrocknung  geführt  werden.  SEIFERT  wandte  es  in  Form  von  Einblasunzcn 
bei  Rhinitis  hgper.-ecretoria  an,  ferner  zur  Nachbehandlung  nach  Aetzungea  mit 
Chromsäure  und  Trichloressigsäure.  Das  Nosophen  soll  nur  in  sehr  dünner 
Schicht  aufgetragen  werden,  v.  NOORDEX  empfiehlt  die  lüproeentige  Nosophcn- 
gaze  als  Ersatz  der  Jodoformgaze  in  jenen  Fällen,  wo  letztere  wegen  ihres 
penetranten  Geruches  aus  socialen  Gründen  zu  meiden  ist:  sie  zeigte  sich  auch 


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NOSOPHEN  — NDCLEOALBDMIN. 


507 


bei  tuberkulösen  HautgeschwUrcn  und  namentlich  bei  Tamponade  innerhalb  der 
Mund-  und  benachbarten  Höhlen  brauchbar.  Auf  Grund  der  eingangs  erwähnten 
Versuche,  welche  die  Unschädlichkeit  des  Nosophens  auch  bei  innerlicher 
Darreichung  erwiesen , versuchte  Rosenheim  das  Mittel  in  zahlreichen  Fällen 
von  chronischem  Darmkatarrh  in  Gaben  zu  0,3 — 0,5,  täglich  dreimal.  Das 
Mittel  wurde  vom  Magen  gut  vertragen , bei  empfindlichen  Magen  besser  wie 
Tannigen;  im  Dann  schien  es  in  einigen  Fällen  desinficirend  zu  wirken.  Er 
empfiehlt  das  Wismuthsalz  des  Nosophens  (Endoxin)  in  Dosen  von  0,3  bis 
0,5  Grm.  (3 — 5mal  nach  dem  Essen  zu  nehmen)  für  diejenigen  hartnäckigen 
Formen  des  chronischen  Dannkatarrhs,  bei  denen  die  oberen  Diekdnrm-  und 
namentlich  auch  DUnndarinabsehnitte  mitbetheiligt  sind,  bei  denen  Diarrhoe  oder 
Wechsel  von  Diarrhoe  und  Obstipation  bestehen.  Die  wässerige  Lösung  des 
Natriumsalzes  (Antinosin)  (1:400 — 500)  versuchte  Rosenheim  zu  Magenaus- 
spülungcn  (1  — 3:1000);  in  einem  Falle  traten  Reizerscheinungen  auf,  sonst 
wirkte  die  Lösung  desinficirend. 

Literatur:  Seifert.  Leber Nosophen.  Wiener  klin.  Wochenschr.  1895,  Nr.  12. — 
C.  Binz  und  N.  Znutz.  Leiter  Wirkungen  und  Verhalten  des  Nosophens  im  Thierkörper.  Fort- 
schritte der  Medicin.  1395,  Juli.  — 0.  Lassar.  Das  Nosophen.  Dermat.Zeitschr.il,  Heft  4-  — 
Zuntz  und  Ernst  Frank,  Studien  über  Wundheilung.  Ibidem.  — v.  Noordeu,  Lieber 
Nosopliengaze  statt  Jodoformgaze.  Münchener  med.  Wochenschr.  1895,  22.  — Rosenheim, 
Ceber  Nosophen  hei  Dannaffectionen.  Berliner  klin.  Wochenschr.  1895,  Nr.  30. 

Loe  bisch. 

Nucleoalbumin,  s.  Harn,  pag.  248. 


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o 


Oesophagus  (Oesophagoskopie).  Dem  Stadium  der  Oesopbagus- 
affectionen  hat  sich  das  Interesse  in  den  letzten  Jahren  mehr  und  mehr  zuge- 
wandt, vor  allen  Dingen  aber  ist  eine  wesentliche  Förderung  unserer  Erkenntnis 
bei  dieser  Krankheitsgruppe  von  der  Einführung  der  Oesophagoskopie  zu 
erwarten.  Seit  geraumer  Zeit  lasse  ich  mir  die  Verbesserung  dieser  Methode 
angelegen  sein  und  habe  ich  jüngst  (s.  diese  Jahrbücher,  1895)  Uber  die  Art 
meines  Vorgehens  berichtet. 

Die  diagnostische  Bedeutung  des  Verfahrens  berücksichtigt  eine  weitere 
Arbeit  von  mir  1 , in  welcher  ich  über  die  ösophagoskopischen  Bilder  beim 
Speiseröhrenkrebs  auf  Grund  von  Beobachtungen  in  18  Füllen  Mittheilung 
machte.  Die  ösophagoskopischen  Bilder  zeigen  eine  grosse  Mannigfaltigkeit, 
sicherlich  in  Abhängigkeit  von  dem  Stadium  der  Entwicklung,  in  dem  sich  die 
Neubildung  befindet,  und  vor  Allem  von  der  Art  ihres  Wachsthums.  Grundver- 
schieden ist  das  Bild,  das  sich  darbietet,  wo  blumenkohlartige  Wneheruugen.  die 
in  das  Lumen  hineinspringen,  entstanden  sind , oder  wo  es  nur  zu  einer  harten 
Infiltration  der  Wand  gekommen  ist,  wo  Geschwürsbildung  Platz  gegriffen  hzt 
oder  die  Schleimhaut  noch  erhalten  ist,  wo  die  Verengerung  sehr  beträchtlich 
oder  gering  ist.  Die  raumbeengenden  krebsigen  Protuberanzen  sind  bei  genauem 
Zusehen  mit  nichts  anderem  zu  verwechseln;  es  giebt  keinen  Proeess  im  Oeso- 
phagus ausser  dem  Carciuom , der  mit  der  Bildung  derartiger  prominirender, 
weissgrau  bis  grünlicher  oder  schmutzig  graugelblichcr,  von  punktförmigen  Härnor- 
rhagien  durchsetzter  Massen  einhergeht.  Der  Befund  eines  Tumors,  dessen  Schleim- 
haut noch  erhalten  ist , ist  weniger  eindeutig.  Die  Infiltration  bedingt  ein  Vor- 
springen der  Schleimhaut  in’s  Lumen  von  verschiedener  Höhe.  Die  Mucosa  kann 
dann  ein  annähernd  normales  Aussehen  haben,  oder  sie  ist  auffallend  blass,  mit- 
unter mehr  gelblich  oder  auch  bläulichroth  cyanotisch ; manchmal  finden  wir 
sie  auch  stark  geröthet,  succulent,  ein  Verhalten,  das  sie  sonst  häufiger  am  Ramie 
der  Neubildung  neben  dem  weisslichen  carcinomatösen  Gewebe  zeigt.  Erheblichere 
Venektasien  konnte  ich  in  keinem  Falle  entdecken.  Bemerkenswerth  sind  an  der 
Mucosa  weissliche,  Hache  Epithelverdickungcn,  die  sieh  auch  in  einiger  Entfernung 
vom  eigentlichen  Krankheitsherd  finden  können  und  die  wie  Leukoplaques  der 
Zunge  anssehen;  andere  Male  beobachteten  wir  weissliche,  mehr  papilläre  Kzcre- 
scenzen,  ähnlich  spitzen  Condylomen.  Paihognostiscb  aber  ist  dieser  Befund  nicht, 
da  er  auch  bei  gutartigen  Entzündungen  festgestellt  werden  kann.  Abgesehen 
von  den  bereits  erwähnten  weissgrauen  Wucherungen,  die  mit  nichts  anderem  zu 
verwechseln  sind,  sind  auch  Hache  Clceratiouen  mit  scharfem  zerfressenen  Rande 


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OESOPHAGUS. 


509 


kaum  je  durch  etwa»  anderes  als  dnrch  Krebs  bedingt.  Von  den  sonst  in  der 
Speiseröhre  vorkommenden  gescbwürigen  Processen  (syphilitischen , tuberkulösen, 
peptischen)  ist  es  bei  ihrer  grossen  Seltenheit  bisher  noch  nicht  gelungen , ein 
ösophagoskopisches  Bild  zu  erhalten;  nur  Hache,  katarrhalische  Erosionen  habe 
ich  zweimal  beobachtet : einmal  bei  einem  Degenschlucker  mit  schwerer  Oeso- 
phagitis  chronica  und  einmal  im  unteren  Drittel  des  Oesophagus  bei  einem 
Individuum  mit  Kardiospasmus.  Diese  ganz  oberflächlichen , kaum  fünfpfennig- 
stückgrossen  Defecte , die  sich  durch  ihren  matteren  Glanz  und  ihre  dunklere 
Farbe  gegen  die  Umgebung  abheben  und  die  sich  hauptsächlich  auf  der  Höhe 
der  Falten  finden , haben  nichts,  was  an  Carcinom  erinnert.  Neben  dem  Nach- 
weis der  Ulceration  kann  das  Hervorsickern  von  Blut  aus  der  Tiefe  einer  Strictur, 
ohne  dass  eine  Verletzung  mit  dem  Instrument  die  Ursprungsstelle  der  Hämor- 
rhngie  getrotfen  hätte,  sowie  auch  das  spontane  Hervortreten  von  Eiter  im  Ge- 
sichtsfeld, namentlich  wenn  derselbe  sehr  übelriechend  ist,  als  werthvolle  Anhalts- 
punkte für  die  Diagnose  Krebs  gelten.  Dagegen  kann  die  Feststellung  einer 
Lumenverengerung,  das  Vorhandensein  von  mit  Schleimhaut  bedeckten  Protu- 
beranzen oder  Trichterbildungen,  die  Aufhebung  der  respiratorischen  Beweglich- 
keit der  Oesophaguswand  in  ihrer  ganzen  Circumt'erenz  oder  auf  einer  Seite 
niemals  als  ausreichendes  Kriterium  für  die  Diagnose  des  Carcinoms  angesehen 
werden,  und  das  Gleiche  gilt  auch  von  den  Veränderungen  der  Schleimhaut,  die 
wir  als  verschiedenartigen  Ausdruck  katarrhalisch-entzündlicher  Processe  und 
Stauungen , wie  sie  aus  den  mannigfachsten  Ursachen  entstehen , deuten  dürfen. 
Am  schwierigsten  ist  die  Diagnose  des  Krebses  mit  Hilfe  des  Oesophagoskops 
an  der  Kardia,  da  man  die  Magenöffnung  nicht  immer  sieht.  Das  Vorhandensein 
eines  Krankheitsherdes  an  dieser  tiefsten  Stelle  verräth  sich  dann  nur  manchmal 
dnrch  Farbenveränderungen  der  Schleimhaut,  starke  Falten-  und  Wnlstbildungen 
derselben  in  der  Gegend  des  Fornmen  oesophageuin;  Alles  dies  ist  nicht  ein- 
deutig, da  man  z.  B.  Rüthung  der  Mucosa  hier  auch  gewöhnlich  bei  echtem  Kar- 
diospasmus findet.  Gemeinhin  liegt,  wenn  der  subphrenische  Theil  der  Speise- 
röhre ergriffen  ist,  Krebs  der  Portio  cardiaca  des  Magens  vor  oder  der  über 
dem  Zwerchfell  gelegene  Oesophagusabschnitt  ist  der  Ausgangspunkt  der  Krank- 
heit. Im  erstcren  Falle  liefert  uns  die  Untersuchung  des  Mageninhaltes  brauch- 
bare Kriterien  für  die  Beurtheilung,  im  letzteren  giebt  das  Oesophagoskop  den 
wUnschenswerthen  Aufschluss.  Dass  die  Besichtigung  auch  im  Anfangsstadium 
der  Krankheit  ein  stringentes  Resultat  liefert,  kann  man  in  vielen  Fällen,  aber 
nicht  allemal  mit  Bestimmtheit  erwarten.  Hier  kann  unter  Umständen  die  Unter- 
suchung eines  kleinen,  unter  Leitung  des  Auges  exstirpirten  Gewebsstückchens 
die  Entscheidung  bringen. 

Auf  die  Frage,  warum  die  Besichtigung  der  Kardia  in  manchen 
Fällen  nicht  gelingt,  überhaupt  auf  die  Sondirungsverhältnisse  im  untersten  Oeso- 
phagealabschnitt  bin  ich  *)  in  einer  anderen  Arbeit  genauer  eingegangeu.  Auf 
Grund  topographisch-anatomischer  Studien  stellte  ich  die  Lage  der  Kardia  beim 
Erwachsenen  für  die  überwiegende  Mehrzahl  der  Fälle  am  12.  Brustwirbel  fest; 
den  tiefsten  Punkt,  das  untere  Drittel  des  12.  Brustwirbels,  erreicht  sie  bei  totaler 
Abwärtsdrängung  des  Magens.  Die  gleiche  Senkung  beobachtete  ich  auch  bei 
Leuten  mit  ausgespochener  Ectasia  ventriculi,  hier  und  da  bei  sehr  schlanken, 
mageren  Individuen.  Der  unterste  Oesophagusabschnitt  ist  etwas  nach  links  zu 
winklig  abgebogen  oder  seitlich  gedreht , bevor  er  in  den  Magen  mündet , er 
kann  aber  auch  unter  pathologischen  Verhältnissen  gerade  gestreckt  sein,  z.  B. 
bei  Dislocation  und  Ektasie  des  Magens.  Wo  diese  Linksdrehung  sehr  scharf 
ausgeprägt  ist,  wo  das  Stützgewebe  sehr  fettreich  ist,  da  bleibt  wenigstens  iu 
Rückenlage  das  geradlinige  starre  Instrument  meist  am  Foramen  oesophageuin 
stehen  und  dringt  nicht  weiter  vor.  Man  beobachtet  das  namentlich  bei  adipösen, 
mit  quadratischem  Thorax  ansgestatteten  kurzhalsigen  Personen,  selten  auch  bei 
anderen  Individuen,  bei  denen  man  das  gleiche  anatomische  Hinderniss  in  Er- 


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510 


OESOPHAGUS. 


manglung  eines  anderen  plausiblen  Grundes  annehmcn  darf.  Abgesehen  von  den 
anatomischen  Verhältnissen  wird  das  Vordringen  des  Instrumentes  sicher  auch 
durch  functioneile  Anomalien  gestört,  durch  Oesophagospasmus  an  der  Zwerch- 
fellpassage,  der  auch  bei  sonst  gesunden  Individuen  sehr  hartnäckig  sein  kann, 
der  das  Instrument  aber  am  häufigsten  bei  nervös  unruhigen , neurasthrnischen 
Individuen  aufhält.  Führt  man  nun  das  Instrument  vom  rechten  Mundwinkel  ans 
ein  und  drängt  die  Spitze  thunliehst  nach  links,  so  gelingt  es,  das  Hinderniss. 
welches  die  Linksdrehung  darstellt,  gemeinhin  auszugleicben.  dagegen  ist  dies  beim 
Spasmus  dureh  mechanische  Hilfsmittel  nicht  möglich,  so  dass  derselbe  eventuell 
nur  in  der  Narkose  beseitigt  werden  kann.  Die  Aufgabe,  den  tiefsten  Theil  des 
Oesophagus  der  Besichtigung  allemal  zugänglich  zu  machen , hängt  zusammen 
mit  der  Lösung  des  Problems  der  Gastroskopie.  Ist  man  nämlich  einmal  erst 
mit  einem  starren  geraden  Rohr  in  Rtickeulage  bis  zur  Kardia  gelangt,  so  kann 
man  das  Instrument  auch  so  weit  in  den  Magen  vorschieben , als  für  gastro- 
skopische  Zwecke  nöthig  ist;  ausnahmsweise  erweist  sieh  ein  leicht  gekrümmte? 
Instrument  brauchbarer.  Das  von  mir  verwendete  Gastroskop  ist  ein  vergrössertes 
Cystoskop  mit  Gummiansatzstück  und  coinplicirt  durch  Luft-  und  Wnsscrzuleitungs- 
vorrichtung.  Der  optische  Apparat  ist  geradlinig,  er  ist  ferner  an  seinem 
untersten  Stück  vergeh  raubbar,  so  dass  hier  verschieden  winkelige  Prismen  für 
die  Aufnahme  des  Magenbildcs  in  jedem  Falle  eingefügt  werden  können,  er  ist 
endlich  im  Ganzen  verschiebbar,  er  kann  aus  dem  Tubus,  der  bei  mir  nur  einen 
Durchmesser  von  12  Mm.  hat,  bequem  herausgezogen  werden,  um  dann  eventuell 
Verwendung  in  dem  anderen  Instrument,  das  mit  dem  Schnabel  versehen  ist, 
zu  finden. 

Den  Werth  der  Oesophngoskopie  vom  therapeutischen  Standpunkt 
illustriren  Mittheilungen  von  E.  Mkyer  *),  der  sich  meiner  Methode  bediente.  Er 
konnte  z.  II.  im  Tubus  eine  Sondirnng  ausführen , die  sonst  unmöglich  war  und 
dadurch  den  Patienten  vor  der  Gastrotomie  bewahren;  er  konnte  in  einem  anderen 
Falle,  wo  ein  Fremdkörper  verschluckt  war,  die  Abwesenheit  desselben  feststellen 
und  die  vorhandenen  Beschwerden  als  dureh  eine  flache,  leicht  iitzbare  l'lceration 
bewirkt  darthun. 

Was  die  Klinik  der  Oesophaguskrankheiten  betrifft , so  haben  wir  nur 
wenig  Beachtenswerthes  zu  verzeichnen.  Ich  erwähne  hier  einen  Beitrag  von 
C.  Ritter4)  zur  Lehre  von  den  Oesophagusdiverti kein,  der  auf  Grund 
mehrerer  Beobachtungen  sieh  der  Auffassung  anschlicsst , dass  aus  einem  Trac- 
tionsdivertikel  sich  secundär  ein  Pulsiousdivertikel  entwickeln  kann.  Wo  ein 
Tractionsdivertikel  in  versuchende  Lymphadenitis  und  Mediastinitis  ausgeht,  dürfte 
ein  seenndäres  Pulsionsdivertikel  nicht  selten  das  Zwischenglied  bilden.  Höchst 
wahrscheinlich  sind  Tractionsdivertikel  nicht  selten  Ausgangspunkt  für  die  Ent- 
stehung von  Krebs.  Bychowski  theilt  einen  Fall  von  Divertikel  bei  einem 
2ljührigen  Manne  mit;  dasselbe  war  15 — 17  Cm.  lang,  sein  unterer  Rand  war 
37  Cm.  von  den  Zähnen  entfernt  , es  bewirkte  seit  9 Jahren  Erbrechen. 

Von  der  ziemlich  seltenen  Tuberkulose  der  Speiseröhre  handelt  ein 
Aufsatz  von  K.  Zexker.  4)  Das  echte  tuberkulöse  Geschwür  des  Oesophagus 
verengte  das  Lumen  beträchtlich ; in  einem  Falle  von  Br  SS  •)  bestand  kein  offene» 
Ulcus,  es  war  die  stenosirte  Partie  in  einem  Conglomerat  verkäster  indurirter 
Lymphdrtlscn  eingebettet.  Der  Tod  war  hier  durch  gewaltsames  Sondircn  ver- 
ursacht worden.  Die  Infection  dureh  Tuberkelbaeillen  findet  an  der  Schleimhaut 
des  Oesophagus  nur  da  statt,  wo  dieselbe  durch  Soor,  dureh  Aetzung,  durch 
Carcinomentwicklung  die  Möglichkeit  der  Inoculation  gewährt. 

Erwiihneuswerth  ist  auch  ein  ausführliche  Darstellung  der  Entwicklungs- 
geschichte und  Klinik  der  Polypen  und  polypenähnlichen)  Gewächse  des  Rachens 
und  der  Speiseröhre  durch  P.  R.  MtNSKI.  *)  Er  geht  von  einer  eigenen  Beobach- 
tung aus,  die  eine  65jährige  Frau  betraf.  Ein  Polyp  von  14  Cm.  Länge  nud 
7,5  Cm.  Umfang  im  unteren  Drittel  trat  aus  dem  Munde  seit  8 Tagen  hervor, 


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OESOPHAGUS.  — OXYSPARTEINUM  HYDROCHLORICUM.  511 

ohne  bislang  je  Beschwerden  verursacht  zu  haben ; er  ging  vorn  oberen  Oeso- 
phagusrande  aus  und  wurde  mit  der  Scheere  leicht  abgetragen. 

Endlich  sei  hier  auf  einen  Aufsatz  hingewiesen,  in  dem  ich  9)  das  dunkle 
Gebiet  der  Neurosen  des  Oesophagus  systematisch  abgehandelt  habe;  es  ist 
das  eine  im  Wesentlichen  lehrburkmassige  Darstellung  des  Gegenstandes,  aus 
der  mittlerweile  erschienenen  zweiten  Auflage  meiner  „Krankheiten  der  Speise- 
röhre und  des  Magens“  vorweg  entnommen. 

Literatur:  ')  Rosenheim,  Deutsche  med.  Wochenschr.  18°5,  Xr.  50.  — ’)  Hosen- 
heim.  Ebenda.  1895,  Nr.  45.  — 3)  E.  Meyer,  Allg.  med.  Central-Ztg.  1895,  Nr.  100.  — 
•j  Ritter.  Deutsches  Arch.  f.  klin.  Med.  LV.  — 5)  Bychowski,  Virchow’s  Archiv.  CXL1  — 
* l K.  Zenker,  Deutsches  Arch.  f.  klin.  Med.  LV.  — :)  Buss,  Deutsche  med.  Wochenschr. 
1895,  Nr.  23  — •)  Minski,  Deutsche  Zeitschr.  f.  Chir.  XLI.  — *)  Rosenheim,  Allg.  med. 
Central-Ztg.  1895,  Nr.  98,  99.  R o s e n h e i m . 

Opiumlähmung,  s.  Morph iumkrankh  eit,  pag.  429. 

Orphol,  basisches  [i-Naphtol wismuth.  Bismuthum  'ynaphtolicum , 
[(Cjo  H,  0)3  Bi],  4-  BL  03,  wurde  Ursprünglich  von  Schcbenko  als  Darmdcsinficiens 
bei  Cholera  namentlich  in  den  ersten  Stadien  empfohlen.  H.  Engel  fand  es  bei 
Katarrhen  des  Magendarmcanals , namentlich  bei  den  Störungen,  die  auf  Auto- 
intoxication  vom  Darme  aus  zurttckgefQhrt  werden,  als  vorzügliches  Wismuth- 
präparat  wirksam.  Edm.  Chaumier  empfiehlt  es  bei  Diarrhoen  der  Kinder  und 
Erwachsener,  bei  Phthisikern  und  beim  Abdominaltyphus.  Man  stellt  das  j3-Naphtol- 
wismnth  dar,  indem  man  eine  Lösung  von  Wismuthnitrat  oder  Wismuthchlorid 
mit  einer  Lösung  von  i-Xaphtul  in  überschüssigem  Alkali  versetzt  und  den 
Niederschlag  mit  Wasser  genügend  auswäscht ; es  stellt  getrocknet  ein  hell- 
braunes Pulver  dar,  welches  circa  50%  Bi,  0,  enthält. 

Dosirung:  Bei  Cholera  täglich  1,0 — 2,0  in  Pulverform.  Bei  acutem 
Darmkatarrh  der  Kinder  0,25 — 0,5  dreimal  täglich  in  Pillen  oder  als  Pulver, 
für  Erwachsene  wird  die  Einzelgabe  verdoppelt.  Kindern  in  den  ersten  Jahren 
für  jedes  Lebensjahr  0,03  pro  dosi  in  Pulverform  dreimal  täglich. 

Literatur:  Schubenko  und  .Jasenski,  Wratach.  1892.  — H.  Engel.  New 
York  med.  Journ.  März  1895.  — Edm.  Chaumier,  Tlierap.  Wochenschr.  1895,  Nr.  48. 

Loebisch. 

Ouabain , Wabain.  Aus  den  bisher  bekannten  Arten  von  Acocan- 
thera  wurden  drei  verschiedene  Glykoside  erhalten,  welche  sämmtlich  mit  dem 
Namen  Ouabain  bezeichnet  werden.  Das  von  Lewin  aus  der  Rinde  und  dem  Holze 
von  Acocant/iera  Deßemit  gewonnene  Glykosid  ist  amorph,  stark  bitter,  gelblich, 
in  kaltem  Wasser,  Alkohol  und  Formamid  löslich.  Die  mit  concentrirter  Schwefel- 
säure erhaltene  Lösung  fluorescirt  grün.  Dieses  Glykosid  vermag  nach  Lewin 
gleich  dem  Erythropldoein  Sehleimhiinte  und  auch  die  Cornea  zu  anästhesiren. 
Sowohl  subcutau  als  per  os  beigebracht,  wirkt  es  giftig.  Bei  Warmblütern  wird 
der  Tod  durch  gestörte  Herzbewegung  und  der  hieraus  rcsultirenden  Dyspnoe 
herbeigeführt.  Das  von  Rochebrone  und  ARNAUD  aus  der  Acocanthera  Ouabaio 
(dem  Somalipfeilgifte  „Ouiabio“)  isolirte,  ferner  das  vou  Phaser  und  Tillie  aus 
Acocanthera  Schiwperi  erhaltene  Ouabain  sind  beide  krystullinisch  und  iden- 
tisch. Fraser  schlägt  vor,  die  letzteren  zum  Unterschiede  vom  amorphen  Ouabain 
als  Akocantherin  zu  bezeichnen.  Nach  Gley  bewirkt  beim  Frosche  schon 
1 Mgrm.  Ouabain  (krystall.)  Stillstand  des  Herzens  in  der  Systole,  eine  Gift- 
wirkung, deren  Intensität  die  der  Mikrobentoxine  erreicht.  Ein  Handels-Ouabain 
stammt  nach  E.  M.  Holmes  aus  dem  Samen  von  Strophantin)  glaber  Max.  ( ’ornu. 

Literatur:  Arnnud,  Compt.  rend.  de  l’acud.  des  scienc.  1888,  pag.  lull.  — 
E.  M.  Holmes,  Pharm.  Journ.  amt  Transactious.  1893,  Nr.  1203,  pag.  41.  — Lcwin, 
Virchow's  Arch.  f.  pathul.  Anat.  u.  Physiol.  CXXXIV.  — Gley,  Semaiue  mt'-'l  1895,  pag.  40. 

Loebisch. 

Oxysparteinum  hydrochloricum.  langlois  und  Mairange  haben 

schon  1894  auf  die  herztonisirende  Wirkung  des  Sparteins  hingewiesen,  welches 


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512 


OXYSPARTEINUM  HYDROCHLORICUM. 


subcutan  injicirt  namentlich  die  bei  Chloroformanästhesie  von  Seite  des  Herzens 
drohenden  Symptome  wenn  nicht  vollständig  zu  beseitigen , doch  wesentlich  zu 
reduciren  vermag.  Seitdem  hat  Hürthle  gezeigt,  dass  diese  die  Herzthätigkeit 
stimulirende  Wirkung  dem  Oxyspartein  in  noch  höherem  Masse  zukommt  und 
LanglOIS  und  Maurange  nahmen  ihre  Versuche  nun  mit  Oxysparteinum  hydro- 
chloricum  auf.  Nach  der  Injection  bemerkt  man  zunächst  eine  Herabsetzung  der 
Vaguserregharkeit,  daneben  tritt  aber  noch  eine  deutliche  Kräftigung  der  Herz 
contractionen  auf.  Oxyspartein  vermindert  die  Gefahr  der  „Syncope  rißexe'  bei 
der  Chloroformnarkose.  Laxglois  und  Maurange  injicirten  vor  der  Operation 
0,04 — 0,05  Oxyspartein.  hydrochlor.  uud  0,01  Morph,  hydrochlor.  unter  die 
Haut.  Die  Narkose  trat  rasch  ein  und  war  mit  wenig  Chloroform  leicht  zu  er- 
halten, dabei  arbeitete  das  Herz  regelmässig  und  kräftig,  selbst  bei  obertlich- 
licher  Athmung.  Bei  protrahirten  Narkosen  wurde  in  wenigen  Fällen  eine  zweite 
Injection  von  Oxyspartein  ohne  Zusatz  von  Morphium  etwa  1 — 1 1 s Stunden  nach 
Beginn  der  Narkose  gemacht.  Kp.  Oxyspartein.  hydrochlor.  0.5,  Aq.  amygdalar. 
omar.  dilut.  10,0.  D.  S.  6 — 8 Theilstriche  der  PitAVAZ-Spritze  zu  injiciren. 

Literatur:  Les  nouv.  remi-des.  1894,  pag.  344,  u.  1895,  pag.  400.  — E Merck, 
Bericht  über  das  Jahr  1895.  Loebisch. 


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p. 


Pellotin,  ein  ganz  kürzlich  als  Schlafmittel  empfohlenes  und  bewahrtes 
Alkaloid  gewisser  Caeteenspecies  (Anhalonium  Leitini  und  A.  Williamsii),  der 
Träger  der  Wirkungen  des  „l’ellote“  oder  „Peyot“  (vergl.  Cacteen gifte, 

EncyclopSd.  Jalirb.,  V,  pag.  30),  kommt  in  der  Form  des  leicht  löslichen  Pel- 
lotinum  muriaticum  zur  Anwendung  (Formel  CIS  H„  N03  HCl).  Nach  Thierver- 
suchen von  Hkftek  benutzte  neuerdings  JOLLY  das  Mittel  bei  40  Kranken, 
denen  es  theils  subcutan  , theils  innerlich  in  Dosen  von  4 — 7 Cgrm.  bei  Tage 
dargereicht  wurde ; namentlich  in  Fallen  schmerzhafter  Nervenerkrankung  (Tabes, 

Neuritis),  ferner  bei  Alkoholdeliranten.  Bei  letzteren  mussten  wiederholte  Dosen 
(0,04  subcutan  3mal  kurz  nach  einander,  im  Ganzen  0,12  in  zwei  Stunden)  ge- 
reicht werden.  Bei  einzelnen  Kranken  blieb  die  Wirkung  aus,  einzelne  klagten 
Uber  Bransen  im  Kopfe,  Schwindel  und  Wärmegefühl  nach  dem  Einnehmen ; bei 
einem  epileptischen  Potator  versagte  das  Pellotin  ebenso  wie  Morphium  und 
Chloralhydrat,  hier  half  nur  Paraldebyd.  In  einzelnen  von  mir  beobachteten  Füllen 
zeigte  sich  0,04  nicht  genügend;  zweimal  klagten  die  Kranken  über  unangenehme 
Gefühle  im  Kopfe  nach  dem  Einnehmen.  Darsteller  des  Pellotins  sind  Boehringer 
und  Söhne  in  Waldhof  bei  Maunheim. 

Literatur:  Jolly,  Ueber  Pellotin  als  Schlafmittel.  Deutsche  med.  Wochenschr. 

1S96,  Nr.  24.  Eulenbnrg. 

Pentosurie,  s.  Ham,  pag.  254. 

Pepton,  Nachweis  im  Harn,  pag.  251. 

Pfeilgifte.  Ueber  die  Stamm  pflanzen  der  Pfeilgifte  der  Sakais  der 
Berge  in  Straits  Settlements  (vergl.  Encyclopäd.  Jalirb.,  IV,  pag.  276)  liegen 
neue  Untersuchungen  ')  vor,  wonach  die  als  Ipoh  Alcer  bezeiclmete  Strvchnosart, 
die  einen  Ilanptantheil  des  Giftes  bildet,  nicht  Str ychnos  Mainyayi,  sondern 
eine  neue  Specics  mit  papierartigen  Blättern  und  glattem  Ovarium  ist , welche 
Strychnos  Wallichiana  sehr  nahe  steht.  Prual  ist  eine  Rubiacee  aus  der 
Abtheilung  der  Cinchonecn,  Coptonapelta  flavescens  Korth.,  die  somit  nach 
den  Untersuchungen  von  Stock  man  (a.  a.  0.)  zu  den  Giftpflanzen  gerechnet  werden 
muss.  Die  mitunter  als  Zusatz  zu  den  Pfeilgiften  dienende  Pflanze  Likir  ist  die 
Aroidee  Amorphophnllus  Prainii  Hook.  fil.  (Stapf). 

Ein  auf  der  zu  den  Philippinen  gehörigen  Insel  Luzon  von  den  Negritos 
bereitetes  Pfeilgift  wird  aus  der  Rinde  einer  Euphorbiacce,  Rabelaisia  ph  ilipp  i- 
nentis,  die  auf  Kalkfelscn  in  der  Gegend  von  Marivales  wächst,  bereitet.  Ein 
daraus  dargestelltes  wässeriges  Extract  erzeugt  bei  Fröschen  systolischen  Still- 
stand und  bei  Warmblütern  ebenfalls  Herzstillstand  und  davon  abhängige  Er- 
scheinungen der  Anämie  der  Medulla  oblonyota  (Dyspnoe,  Erstickungskrämpfe *). 

Encyclop.  Jahrbücher  VI.  33 

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514 


PFEILGIFTE. 


Ob  die  ans  dem  Südosten  von  Lnzon  erhaltene  Rinde  identisch  mit  einer  der 
beiden  Rinden  ist , aus  welchen  nach  Fedor  Jagor  die  im  Norden  von  Lnzon 
wohnenden  Igoroten  ihre  Pfeilgifte  bereiten,  bleibt  zu  erniren.  Diese  zerklopfen 
die  Bastschicht  der  einen  Rinde , feuchten  sie  an , drücken  sie  aus  and  kochen 
den  wie  dünne  Erbsensuppe  aussehenden  Saft  in  einem  Topfscherben  über 
schwachem  Feuer  zur  Svrupsdicke  ein.  Der  Flüssigkeit  wird  dann  der  von  der 
inneren  Oberfläche  der  zweiten  Rinde  ausgcdrUckte  dunkelbraune  Saft,  etwa  ’/n 
der  Menge  des  ersten  Saftes  entsprechend,  zugesetzt.  Hat  das  Gemenge  die 
Consistenz  einer  guten  Salbe,  so  wird  es  mit  einem  Span  aus  dem  Scherben 
herausgekratzt  und  in  einem  mit  Asche  bestreuten  Blatt  aufbewahrt.  Zum  Ver- 
giften eines  Pfeils  verwendet  man  ein  haselnussgrosses  Stück , das  durch  Er- 
wärmen gleichmässig  Uber  die  breite  eiserne  Spitze  vertheilt  wird.  Man  benutzt 
denselben  Giftpfeil  mehrmals. 

In  Bezug  auf  afrikanische  Pfeilgifte  sind  Fraser  und  Tillie') 
zu  der  Ansicht  gelangt,  dass  das  wirksame  Princip  der  H’u  Nyika,  Wa  Gyriama 
und  H o Komba  Pfeilgifte  und  des  zur  Bereitung  diesor  dienenden  Holzes  von 
Acokanthera  Schimperi  identisch  mit  dem  von  Akn.U'D  aus  dem  Holze  einer 
Acokanthera  dargestellten  krystallisirenden  Glykoside  Ouabain,  dagegen  von  den 
amorphen  Glykosiden  verschieden  sei , die  Rochkbbi’XE  und  Arxacd  aus  einer 
im  nördlichen  Somalilande  zur  Herstellung  von  Pfeilgift  verwendeten  Wurzel  und 
Lewix  aus  Acokanthera  Deßersii  erhielten.  Das  krvstallisirte  Glykosid,  für  das 
Fraser  und  Tillie  den  Namen  Acokantherin  vorschlagen , weicht  in  seiner 
physiologisehen  Wirkung  von  Strophantin  nicht  ab.  Die  Giftigkeit  ist  ausser- 
ordentlich bedeutend,  da  die  letale  Dosis  für  den  Frosch  sich  auf  1/ll5  Mgrm. 
stellt,  wodurch  in  2 Stunden  systolischer  Herzstillstand  herbeigetührt  wird.  Noch 
bedeutender  scheint  die  Giftigkeit  der  activen  Substanz  in  einem  ebenfalls  als 
Herzgift  wirkenden  Pfeilgifte  aus  Segou  im  französischen  Sudan,  das  Fehke 
und  BnsQCKT J)  zu  untersuchen  Gelegenheit  hatten,  zu  sein,  von  dem  1 Ccm. 
einer  Lösung  von  0,5  Mgrm.  in  100  Grm.  Wasser  Fische  in  3 Minuten  tödteL 
Es  handelt  sich  um  ein  krystallisirendes,  in  Wasser  lösliches,  in  absolutem  Alkohol 
unlösliches  Glykosid,  das  die  Reactionen  von  Strophantin  giebt. 

Das  auf  den  Pfeilspilzen  befindliche  Gilt  der  Bewohner  vnn  Segou  bildet  eine 
dunkelbraune,  homogene  Masse  von  grosser  Harte  und  glanzendem  Bruche,  bitterem,  leicht 
zusammenziehendem  Gescbmacke  und  in  befeuchtetem  Zustande  von  eigenthfimlichem  Geruch*. 
Der  mikroskopische  Nachweis  von  Tracheiden  lasst  das  Gift  als  einen  eingedickten  Milchsaft 
erscheinen.  Die  etwa  5U  Cm.  langen  Giftpfeile  l»estehen  aus  einem  4 — 5 Mm.  dickem  weissen 
Bambus  nnd  einer  eisernen  Spitze. 

Bezüglich  der  slldamcri konischen  Pfeilgifte  ist  erwähnenswerth. 
dass  seit  1880  an  Stelle  der  früher  nach  dem  Verpackungsmateriale  unterschie- 
denen beiden  Sorten  Curare,  «lern  Topfenrare  und  Calebassencurare,  eine  dritte 
getreten  ist,  die  in  Bambusrohren  (Tubos  oder  Parawaures)  von  durchschnittlich 
25  Cm.  Länge  und  4 — 5 Cm.  Weite,  welche  oben  mit  einem  Stück  Palmblatt  nach- 
lässig verschlossen  nnd  mit  Bastfäden  umschnürt  sind,  besteht.  Der  Ursprung  dieses 
Tubocurare,  von  dem  in  jeder  Tube  200 — 280  Grm.  vorhauden  sind,  ist  bis 
jetzt  nicht  zu  bestimmen.  Der  dafür  gebräuchliche  Name  Para  curare  ist  jeden- 
falls unrichtig,  da  in  Para  Niemand  das  Curare  kennt.  Nach  Th.  Schcchardt 
soll  es  aus  der  brasilianischen  Provinz  Amazonas  stammen  und  am  südlichen 
Ufer  des  gleichnamigen  Stromes  von  Indianern  fabricirt  werden.  Uebrigens  ist 
solches  Pfeilgift  in  Röhren  schon  aus  älteren  Zeiten  bekannt,  aber  nur  aus  Pem, 
woher  Poeppig  ein  Pfeilgift  von  Maynas,  dem  westlichen  l'ferdistrict  des  Rio 
Huallaga,  südlichen  Nebenflusses  des  Maranon,  erwähnt,  neben  welchem  noch 
ein  Pfeilgift  in  Yurimagua,  gleichfalls  am  Ufer  des  Huallaga,  das  zwar  exportirt 
wird,  aber  in  seiner  Heimat  als  wenig  werthvoll  gilt,  erwähnt  wird. 

Das  Tubocurare  des  Handels  bildet  eine  dunkelbraune , etwas  körnige 
Masse,  die  die  Consistenz  des  Pumpernickels  hat  und  in  deren  Innerem  sich 
häutig  grosse  und  weite  Hohlräume  befinden.  Sie  riecht  schwach  nach  Cichorien 


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PFEILGIFTE. 


515 


und  piebt  getrocknet  ein  braunes  Pulver.  Charakteristisch  dafür  ist  das  Vor- 
handensein makroskopisch  sichtbarer,  gut  ansgebildeter,  selbst  2 C'm.  langer  und 
0,5  Cm.  breiter,  sehr  harter,  flockig  gelb  gefärbter  KryBtalle  von  Quercit,  die 
weder  in  Calebassen-  noch  in  Topfenrare  jemals  Vorkommen.  In  Wasser  und 
verdünntem  Weingeist  löst  es  sich  bis  85%;  von  Alkohol  und  anderen  Lösungs- 
mitteln wird  nur  wenig  aufgenommen.  Die  Asche  enthält  kein  Mangan.  Es  ist 
das  schwächste  aller  Cnrarearten , da  es  in  völlig  unveränderter  Waare  im 
Durchschnitte  nur  zu  0,006 — 0,01  Grm.,  höchstens  zn  0,005  des  wässerigen 
Auszuges  pro  Kilo  Kaninchen  tödtet. 

Nach  den  genauen  Untersuchungen  von  Böhm  •)  ist  das  Tubocorare 
auch  in  Bezug  auf  seine  Bestandtheile  von  den  früheren  Curarearten  verschieden, 
und  diese  Verschiedenheit  bringt  es  auch  mit  sich,  dass  die  physiologische  Wir- 
kung der  älteren  und  neueren  Handelssorten  des  Curare  sich  nicht  decken.  Tubo- 
curare  enthält  eine  sehr  grosse  Menge  der  von  Böhm  und  Tili.y  als  Cu  rin 
bezeichneten  Base,  die  bei  Fröschen  Störungen  der  Herztbätigkeit,  die,  mit 
peristaltischen  Contractioncn  beginnend , schliesslich  zur  Herzlähmung  führen, 
hervorruft  und  auch  bei  Warmblütern  Abnahme  des  Blutdruckes  und  Paralyse 
des  Herzens  bewirkt.  Der  hauptsächlichste  Bestandtheil,  der  annähernd  10%  des 
Tuboeurare  ausmacht , ist  das  bei  Kaninchen  zu  1 Mgrm.  pro  Kilo  letal  wir- 
kende, dem  Curnrin  verwandte,  aber  wesentliche  Unterschiede  davon  darbietende 
Tubocurarin.  Wie  Curnrin,  ist  es  ein  Ncrvenendgift,  aber  diese  Wirkung  ist 
bei  Fröschen  weniger  energisch.  Bei  Warmblütern  verläuft  die  Intoiication  bei 
überletalen  Gaben  wie  beim  Curariu , aber  bei  der  an  der  Grenze  der  minimal 
letalen  Dosis  liegenden  Gabe  ist  der  Verlauf  weit  protrahirter  und  dehnt  sich 
auf  längere  Zeiträume  (12 — 18  Stunden)  aus.  Auf  den  Gcfässapparat  haben  kleine 
Dosen  Tubocurarin  denselben  Effect  wie  Curarin  und  rufen  namentlich  auch  starke 
Steigerung  der  vasomotorischen  Reflexerregbarkeit  hervor ; das  Gift  lähmt  aber 
die  Vasomotoren  und  den  Vagus  weit  früher  als  Curarin,  und  die  auf  grössere 
Dosen  erfolgende  stetige  Abnahme  des  Blutdrucks  führt  auch  bei  unausgesetzter 
künstlicher  Athmung  zum  Tode  des  Thieres.  Unstreitig  ist  das  Tuboeurare  bei 
Beinern  hohen  Gehalte  an  Curin  und  bei  der  relativ  schwachen  Action  des 
Tubocurarins  auf  die  Nervenendigungen  ein  für  physiologische  Zwecke  sehr  wenig 
geeignetes  Präparat  und  die  Vorschläge,  es  durch  eine  andere  Substanz,  z.  B. 
Septentrionalin  7),  zu  ersetzen,  sind  wohl  berechtigt. 

Von  Interesse  sind  die  Beziehungen  des  Tubocurarins  znm  Curin.  Das  Curin  ist 
eine  blendend  weisse,  an  den  Rändern  leicht  gelb  werdende,  gewöhnlich  amorphe  und  mikro- 
krystallinische  Masse,  die  jedoch  auch  unter  günstigen  Umständen  in  farblosen  Nadeln  oder 
rhombischen  Tafeln  aus  absolutem  Alkohol  oder  Methylalkohol  krystallisirt.  Es  entspricht  der 
Formel  C1S  H|U  N03  und  ist  eine  tertiäre  Base,  die  mit  Methyljodid  das  Jodid  einer  Ammo- 
niumbase.  Methylcurin  C1S  H19  NO,  CH, , liefert,  die  qualitativ  und  quantitativ  genau  wie 
Tubocurarin  wirkt.  Bei  der  Oxydation  mit  Kaliumpermanganat  oder  Chromsäure  liefert  Curin 
amorphe  braune  Körper,  die  die  dem  Curin  selbst  abgebende  Nervenendwirkung  des  Curarins 
bei  Fröschen  und  Kaninchen  hervorbringen.  Das  Tubocurarin,  das  nicht  zum  Krystallisiren 
gebracht  werden  kann,  löst  sich  als  Hydrochlorat  in  Wasser,  Methyl-  und  Aethylalkohol  klar 
und  ohne  Rückstand  zu  einer  hellrothgelben , etwas  grün  tluorescirenden  Flüssigkeit,  die 
intensiv  bitter  schmeckt,  während  Curinlösung  süss  schmeckt.  Es  verhält  sich  Reagentien 
gegenüber  dem  Curin  sehr  ähnlich  und  wird  insbesondere  wie  dieses  von  Vanadinsehwefel* 
saure  anfangs  kohlschwarz,  später  zwiebelroth  gefärbt.  Von  Curarin  aus  Calebassencurare 
unterscheidet  es  sich  theils  durch  seine  dreimal  schwächere  Wirkung,  tlieils  durch  das  Fehlen 
der  prachtvoll  blauvioletten  Färbung,  die  das  Curarin  beim  Betupfen  mit  concentrirter  Schwefel- 
säure annimmt.  Es  entspricht  der  Formel  CI9  H ,0  N4  und  erscheint  danach  als  Curin  mit 
einer  Methylgruppe  und  0.  Zwischen  Jodmethyl  und  Tubocurarin  findet  keine  Reaction  statt. 

Literatur:  *)  Stapf,  Ipoh  poison.  Kew  Bull.  1895,  pag.  140.  Pharm.  Jouru. 
31.  August,  pag.  177.  — *)  Rosenthal,  Ueber  ein  Herzgift  aus  Manila.  Arch.  f.  Anat. 
u.  Physiol.  Physiol.  Ahth.  1895,  pag.  1895;  Gärtner,  Beobachtungen  über  die  physiologische 
Wirkung  eines  neuen  Pfeilgiftes,  dessen  sich  die  Negritos  auf  der  Insel  Luzon  (Philippinen) 
bedienen.  Dissert.  inaug.  Erlangen  1895.  — *)  Fraser  u.  Ti  Hie,  Acokanthera  Schimperi, 
its  natural  history,  chemistry  and  pharmaeology.  Pharm.  Jonrn.  27.  Juli  1895,  pag.  76.  — 
*)  Gley,  De  VouabaTne.  Semaine  med.  1895,  Nr.  5,  pag.  40.  — *)  Ferre  und  Busquet, 
De * fliehe*  empoisonn Sa  du  Soudan  framjai*.  Arch.  de  physiol.  S£rie  5,  Tom.  VII,  pag.  801. — 

33* 


516 


PFEILGIFTE.  — PHENYLHYDROXYLAMIN. 


*)  R-  Böhm,  Das  sädamerikanische  Pfeilgift  Curare  in  chemischer  und  pharmakologischer 
Beziehung.  1.  Theil : Das  Tubocnrare.  Abhandl.  d.  mathemat.  physikalischen  Clause  der  Sächsi- 
schen Gesellseh.  d.  Wissensch.  XXII,  Nr.  3,  pag.  204-  — *)  Rosendahl,  On  Septentnv 
nalin  an  an  anaesthetic  and  Substitute  for  curare  in  the  perfonnation  of  r triste! ton.  Brit. 
med.  Jonrn.  14.  September,  pag.  657.  Husemaon 

Phallin,  s.  Amanita  phalloides,  pag.  l'.t. 

Pharyngitis,  s.  Rachenentztlndung. 

Phenole,  Bestimmung  im  Harn,  pag.  245. 

Phenylhydroxylamin.  Als  neues  Gift  erscheint  das  durch  Erhitzen 
von  Nitrobenzol  mit  der  zehnfachen  Menge  Wasser  und  einem  grossen  Ueber- 
schnsse  von  Zinkstaub  oder  durch  Keduction  des  Nitrobenzols  in  alkoholischer 
Lösung  unter  Zusatz  von  Chlorcalcium  dargestellte  ß-Phenylhydroxylaroin.  ■) 

Es  ist  eine  basisebe,  stark  redneirende  Substanz,  die  sich  in  10  Theilcn  heissen  und 
50  Th.  kalten  Wassers,  reichlicher  in  verdünnten  Mineralsauren  und  in  Essigsäure,  sehr  schwer 
in  Ligroin  und  sehr  leicht  in  Alkohol,  Aether  und  Chloroform  löst.  In  wässeriger  Lösung  ist 
es,  besonders  in  der  Warme,  sehr  unbeständig  und  geht  leicht  in  Azoxylbenzol  über:  Alkalien 
beschleunigen,  Sauren  verzögern  die  Zersetzung.  Verdünnte  Alkalien  bilden  in  der  wässerigen 
Lösung  gelblichweisse  Emulsion  von  Nitrobenzoltrüpfchen.  In  sanrer  Lösung  geht  Phenylhydro* 
xylamin  in  Anilin  über.  Beim  Erwärmen  mit  verdünnten  Säuren  lagert  es  sieb  in  Paramido 
pheaol  nm.  Oxydirende  Mittel  erzeugen  daraus  Nitrobenzol.  Concentrirte  Schwefelsäure  lost  es 
mit  grünblauer  Karbe;  die  Lösung  zeigt  im  Spectrum  einen  breiten  Absorptionsstreifen  bei  C. 
Bei  Contact  mit  Blut  ausserhalb  des  Körpers  entsteht  sehr  rasch  Methämoglobin . gleichzeitig 
schwinden  rasch  die  Erythrocyten.  Auf  Eiereiweiss  oder  Buttersäure  wirkt  es  nicht  in  erkenn- 
barer Weise  ein. 

Phenylhydroxylamin  hat  eine  örtlich  irritirende  und  mit  Veränderung 
des  Blutes  einhergehende  entfernte  Wirkung.  Anf  der  Haut  des  Menschen  rufen 
kleine  Mengen  in  15 — 20  Minuten  leichtes  Prickeln  hervor,  worauf  allmälig  zn- 
nehmende  Röthung  und  Hautentzündung  folgt,  die  in  2 — 3 Tagen  ihre  Höhe 
erreicht.  In  die  Nase  kommende  Släubchen  erregen  anhaltendes  Niesen.  Injection 
in  das  Unterhautgewebe  führt  ebenfalls  zu  Entzündung,  bei  grossen  Dosen  auch 
zu  blutigen  Suffusiouen ; später  resultirt  lederartige  Verdickung  an  der  Injections- 
stelle.  In  das  Blut  gelangt , bewirkt  Phenylhydroxylamin  durch  Sauerstoffentzie- 
hung  Methämoglobinämie,  die  sieh  schon  3—4  Minuten  nach  der  Einbringung  in 
das  Unterhautgewebe  durch  bräunliche  Farbe  der  vorher  roth  durchscheinenden 
Ohrgefäs8e  bei  Kaninchen , grauviolette  Färbung  des  Sehnabels  und  der  Zunge 
bei  Tauben  und  braunschwarze  Farbe  des  Herzblutes  bei  Fröschen  verräth.  Bei 
Warmblütern  ist  nach  kleineren  Mengen  ausser  dieser  allmälig  wieder  schwinden- 
den Veränderung  der  Blutfarbe  und  vorübergehender  Beschleunigung  der  Athmung 
keine  Veränderung  wahrnehmbar ; nach  tödtlichen  Dosen  (0,05  pro  Kilogramm) 
kommt  es  zu  Dyspnoe,  Zuckungen,  Schwinden  der  Reflexerregbarkeit  und  sehliess- 
liehem  Athemstillstande.  Bei  Fröschen  tritt  anfangs  Aoceleration,  dann  Schwinden 
der  Hcrzthätigkeit  und  Paralyse  ein. 

Von  besonderem  Interesse  ist  der  leichte  Uehergang  in  das  Blut,  weuo 
Phenylhydroxylamin  in  alkoholischer  Lösung  anf  die  Haut  gepinselt  wird,  und 
das  rasche  Verschwinden  der  Vergiftungserscheinuugen  mit  der  Abualimc  der 
Methämoglobinämie,  wofür  wahrscheinlich  der  Umstand  massgebend  ist,  dass 
Phenylhydroxylamin  beim  Contact  mit  Blut  zwar  sehr  rasch  Methämoglobin  bildet, 
aber  nicht,  wie  das  Hydroxylamin  thut,  gleichzeitig  auch  Hämatin.  Beide  Momente 
gelten  auch  für  die  Vergiftung  beim  Menschen.  In  dem  einzigen  bisher  vor- 
gekomnienen  Falle,  der  einen  Studenten  der  technischen  Hochschule  in  Charlotten- 
bürg  betraf,  kam  es  nach  dem  Zerbrechen  eines  Kolbens  mit  alkoholischer  Lösung 
und  Ergiessen  dieser  auf  die  Haut  des  Unterleibes  und  den  Obersehenkel  und 
die  diese  Theile  bedeckenden  Kleidungsstücke  zunächst  zu  Brennen  der  mit  der 
Giftlösung  in  Contact  getretenen  Körpertheile , dann  nach  ungefähr  20  Minuten 
zu  Bewusstlosigkeit  mit  Schwinden  des  Cornea!-  und  Pupillarreflexes,  graublaner 


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PHENYLHYDROXYLAMIN. 


517 


Verfärbung  der  Lippen  und  fahler  Färbung  der  Haut,  Pupillenerweiterung, 
schnarchender  Athmung,  kaum  fühlbarem  Puls,  Masseterenkräropfen,  Nystagmus, 
krampfhaftem  Beugen  der  Arme  und  Sehnenhüpfen.  Durch  Campherätherinjectionen, 
kalte  Uehergiessungcn  im  warmen  Bade  und  Herzmassage  wurde  keine  Besserung 
der  noch  nach  5 Stunden  fortbestehenden  Erscheinungen  erzielt,  dagegen  trat  auf 
eine  Venäsection , die  300  Ccm.  schwarzbraunes,  chocoladefarbiges  Blut  entleerte, 
Besserung  des  Pulses  und  der  Athmnng  ein , und  unter  allmäligem  Sehwinden 
des  eigentümlichen  Hautcotorits  kehrte  das  Bewusstsein  nach  7 Stunden  zurück. 
Neben  den  entfernten  Wirkungen  hatte  in  diesem  Falle  die  Phenylhydroxylamin- 
lösung an  verschiedenen  Stellen  der  Haut,  mit  denen  es  in  Berührung  gewesen 
war,  erhebliche  Verbrennungen  in  allen  Stadien  hervorgerufen.  Der  am  4.  Tage 
nach  der  Vergiftung  entleerte  Harn  war  stark  eiweisshältig  und  enthielt  reich- 
lich Ilarncvlinder  und  Nierenepithelien , die  selbst  noch  am  4.  Tage  vorhanden 
waren,  aber  weder  reducirende  Stoffe,  noch  körperfremde  Bestandtbeile.  Das  Blut 
zeigte  3 Stunden  nach  der  Vergiftung  den  Methämoglobinstreifen , Destruction 
rother  Blutkörperchen  war  nicht  nachweisbar,  am  3.  Tage  nach  der  Vergiftung 
konnte  Methämoglobin  im  Blute  nicht  mehr  nachgewiesen  werden. 

Ob  man  die  Erscheinungen  der  schweren  Vergiftung  als  Folge  der  Ver- 
änderung des  Blutes  betrachten  kann , ist  demnach  jedenfalls  zweifelhaft.  Eine 
direete  Einwirkung  des  Giftes  auf  die  Nervencentren  geht  aus  den  Versuchen 
von  Binz  und  Radtkk  hervor , wornach  Salzfrösche  durch  gleiche  Dosen  des 
Giftes  wie  normale  Frösche  gelähmt  werden. 

Die  toxische  Wirkung  des  Phenylhydroxylamins  ist  zweifelsohne  auf 
dieses  selbst  und  nicht  auf  eines  der  Zersctzungsproduetc,  die  es  mit  chemisch 
activen  Substanzen  bildet , zurückzuführen.  Im  Harn  findet  sich  weder  Anilin, 
noch  Nitrobenzol,  noch  Paramidophenol,  wohl  aber  Azoxybenzol.  Diese  in  Wasser 
unlösliche  und  bei  Contact  mit  Blut  dieses  nicht  verändernde  Verbindung  ruft 
nichtsdestoweniger  bei  Einführung  in  das  Unterhautzellgewebe  Vergiftung  hervor, 
die  mit  Blutveränderung  einhergeht,  doch  ist  der  Methämoglobinstreifen  in  ähn- 
licher Weise  au  die  erste  Blutlinie  herangcrückt  wie  bei  der  Nitrobenzolvergiftung. 
Möglicherweise  handelt  es  sieb  um  Spaltung  des  Azooxybcnzols  in  Anilin  und 
Azobenzol.  Gegen  die  Abhängigkeit  der  Vergiftung  von  Bildung  von  Nitrobenzol, 
Anilin  oder  Paramidophenol  bei  der  Phcnylhydroxylamin-Vergiftung  sprechen 
übrigens  auch  die  Verhältnisse  der  Dosis  toxica,  die  Lage  des  Streifens  im  ver- 
änderten Blute  bei  Nitrobenzolvergiftung  und  das  gleichzeitige  Auftreten  von 
Hämatin  und  Methämoglobin  bei  Contact  von  Paramidophenol  und  Blut. 

Zur  Unterscheidung  von  der  Nitrobenzolvergiftung  ist,  abgesehen  von 
dem  langsamen  Verlaufe  dieser,  auch  das  bei  Nitrobenzolismus  constante  Auf- 
treten des  Nitrobenzolgerucbes  im  Athem  zu  benutzen.  Auch  der  Harn  kann 
durch  das  Fehlen  von  reducirenden  Substanzen  Anhaltspunkte  für  das  Vorhanden- 
sein einer  Pheuylhydroxylamin  Vergiftung  geben.  Als  wesentliche  Differenz  beider 
Gifte  ist  übrigens  die  örtliche  Wirkung  anzusehen,  und  es  ist  unzweifelhaft,  dass 
wie  hei  externen  Vergiftungen  mit  Phenylhydroxylamin  Brandwunden  verschiedenen 
Grades  die  Vergiftung  compliciren,  so  bei  etwaiger  interner  Intoxication  auch 
Anätzungen  im  Schlunde,  Munde  und  Magen  mit  dem  diesen  zukommenden 
Symptomencomplexe  anftreten.  Auch  die  Erscheinungen  beginnender  Nephritis, 
die  bei  Nitrobenzolvergiftung  nicht  eintritt,  können  für  die  differentielle  Diagnose 
verwerthet  werden. 

Zur  Behandlung  der  Vergiftung  ist  nach  den  oben  gegebenen  Erfah- 
rungen in  Charlottcuburg  der  Aderlass,  mit  dem  die  subcutane  Injection  von 
Kochsalzlösung  verbunden  werden  kann,  dringend  zu  empfehlen. 

Literatur:  ')  L.  Lcwin,  Die  Wirkungen  des  Phenylhydroxylamins.  Ein  weiterer 
Beitrag  znr  Kenntnis«  der  Blutgifte.  Areh.  f.  experim.  Path.  1895.  XXXV,  pag.  40l.  — 
*)  Hirsch  und  Edel,  Ueber  eine  Phenylhydroxylaminvergiltung  beim  Menschen.  Berliner 
klin.  Wochenschr.  1895,  Nr.  41,  4Z.  — s|  Binz,  Die  nervenlähmcnde  Wirkung  des  Phenyl- 
hydroxylamin.  Arch.  f.  experim.  Path.  XXXVI.  pag.  403.  Husemann. 


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518 


PHONENDOSKOP. 


Phonendoskop.  Unter  diesem  Namen  ist  vor  etwa  2 Jahren  ein  von 
Prof.  Bunchi  in  Florenz  — unter  Mitwirkung  des  Physikers  Professor  Ecgexio 
Bazzi  — constrnirtes  Instrument  in  die  medicinische  Untersuchungsmethodik  ein- 
geführt  worden,  das  hei  der  Anscultation  der  Organe  die  wahrnehmbaren  Töne  in 
sehr  beträchtlicher  Weise  verstärkt  zur  Perception  zu  bringen  vermag.  Das 
Phoneudoskop  (ipoiv^  und  evSotoottoj  = Ermittler  der  Töne,  die  im  Innern  des 
Körpers  entstehen)  besitzt  den  Umfang  und  die  Form  einer  grossen  dicken  Taschen- 
uhr (cf.  Fig.  88).  Es  setzt  sich  aus  2 Hauptbestandteilen  zusammen : der  Schall- 
dose und  den  sehallleitenden  Gnmmischläuchen.  Die  Schalldose  ist  wiederum  aus 
8 Componenten  gebildet : a)  der  eigentlichen  Schallkapsel,  b)  einer  abnehmbaren 
Scheibe  und  c)  einem  iu  die  letztere  einschraubbarcn  Stäbchen  mit  knopfförmigein 
Ende.  Die  eigentliche  Schallkapsel  besteht  in  der  Rück-  und  Seitenwand  aus 
Metall.  Ihre  vordere  Wand  wird  aus  einer  dünnen,  schwarzen,  ebonitartigen 
Scheibe  gebildet,  die  in  einem  Metallfalz  befestigt  ist.  Das  Centrum  dieser  Scheibe 
wird  durch  eine  im  Innern  der  Kapsel  angebrachte  kleine  Spirale  etwas  nach 
aussen  ansgebancht  erhalten.  Die  hintere  Wand  der  Schallkapsel  ist  nahe  dem 
Centrum  von  2 schrägen.  5 Mm.  im  Durchmesser  haltenden,  convergenten  Canälen 
durchbohrt,  deren  innere  Oeffnungen  zur  Hälfte  von  der  er- 
wähnten Spirale  bedeckt  werden.  Auf  die  Scheibe  der  Kapsel 
kann  b)  die  zweite,  dickere , ebenfalls  ebonitartige  Scheibe 
aufgesetzt  und  in  dieser  Lage  durch  2 an  der  Kapsel  ange- 
brachte kleine  Stifte  erhalten  werden.  Diese  Scheibe  weist 
im  Centrum  eine  mit  Schraubengewinde  versehene  Oeffnung 
auf,  in  welche  e)  das  genannte  solide  Metallstäbehcn  ein- 
geschraubt werden  kann,  ln  den  beiden  oben  beschriebenen 
Canälen  der  hinteren  Kapselwand  endlich  werden  die  beiden 
Gummischläuche  mittels  kleiner  Metallhülsen  befestigt.  Statt 
der  einfachen  Metallröhrchen  kann  man  auch  ein-  oder  mehr- 
fach gegabelte  verwenden  und  damit  das  Instrument  gleich- 
zeitig für  eine  grössere  Zahl  von  Auscultunten  verwerthhar 
machen.  An  den  oberen  Enden  der  Schläuche  sind  kleine, 
central  durchbohrte  Holzoliven  angebracht.  Der  ganze  Appa- 
rat wiegt  beiläufig  230  Grm,  Preis  20  Mark. 

Zum  Gebrauch  legt  man  die  mit  den  Gummischläuchen 
in  der  erwähnten  Weise  armirte  Kapsel  auf  den  zu  behor- 
chenden Körpertheil  und  steckt  die  Holzoliven  der  Schläuche 
in  die  Ohren.  Am  empfindlichsten  reagirt  der  Apparat,  wenn 
mau  nach  Entfernung  der  Scheibe  b die  innere  Scheibe  auf 
den  Körpertheil  direct  auflegt  und  beide  Hörschläuche  benutzt.  Die  geringste 
Empfindlichkeit  hat  das  Instrument  bei  Anwendung  beider  Scheiben  und  nur 
eines  Schlauches.  Bei  Auscultation  engbegrenzter  Gebiete  benutzt  man  das 
aufgeschraubte  Stäbchen. 

Die  praktische  Verwendbarkeit  des  Phonendoskops  gilt  nach 
der  Ausicht  des  Erfinders  in  2 Richtungen.  Einmal  soll  das  Instrument 
die  spontanen  normalen  und  pathologischen  Töne  und  Geräusche  des  Organis- 
mus in  verstärkter  Weise  vernehmen  lassen  und  deshalb  auch  solche  akustische 
Phänomene  zur  Wahrnehmung  bringen,  die  bei  den  gewöhnlichen  Hilfsmitteln  der 
Auscultation  verborgen  bleiben.  Auf  diese  Weise  vermittelt  das  Phonendoskop  die 
Athemgeräp«che  (g.  Fig.  89),  die  Töne  und  Geräusche  des  Blutkreislaufs,  der 
Verdauungsorgane,  des  Ohrs  etc.  im  gesunden  und  kranken  Körper,  ferner  die 
Muskel-,  Gelenk-  und  Knochengeräusche  /bei  Fraetnren  etc.),  die  Geräusche  der 
graviden  Gebärmutter  und  die  fötalen  Herztöne,  endlich  die  Geräusche  der 
Capillarcirculation  („Dermatopbonie“/.  Dabei  betont  Bianchi,  dass  die  Verwendung 
von  2 Instrumenten  in  ausgedehntem  Masse  eine  vergleichende  Auscultation  er- 
möglicht. Indem  mau  auf  die  beiden  corrcspondirenden  Stellen  je  ein  Phoneudo- 


Fig.  Ss. 


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PHONENDOSKOP. 


519 


skop  auflegt  und  je  einen  Schlaoch  der  beiden  Instrumente  in  das  Ohr  steckt, 
vollzieht  sich  die  Tonlibertragung  von  den  beiden  l'ntersuchungspunkten  zu- 
gleich, und  indem  man  abwechselnd  durch  momentanen  Verschluss  des  Gummi- 
schlauchs die  Tonperception  von  der  einen  oder  anderen  Richtung  her  unter- 
bricht, kann  man  eine  unmittelbare  Vergleichung  der  akustischen  Philnomene 
erreichen. 

Ausser  der  Vermittlung  der  spontanen  Schallerseheinungen  des  Körpere 
soll  aber  die  Pbonendoskopie  durch  künstlich  in  den  Organen  hervorgerufene 
Schwingungen  die  Form,  die  Lage,  die  Dichte  und  die  gegenseitigen  Beziehungen 
der  einzelnen  Organe  zu  erkennen  geben  und  damit  die  Percussion  ersetzen.  Zu 
dieser  Untersuchung  benutzt  man,  wie  Biaxchi  angiebt,  das  Phonendoskop  mit 
dem  geknöpften  Stübchen,  das  man  an  einer  Stelle  über  dem  zu  untersuchenden 


Fig.  89. 


Organ  fest  auf  die  Haut  drückt,  während  man  zumeist  nur  einen  Ilörschlauch 
benutzt.  Es  genügt . mit  dem  Zeigefinger  der  rechten  Hand  in  der  Nähe  des 
Stäbchens  unter  gelindem  Dinck  über  die  Haut  zu  streichen,  um  eine  ziemlich 
deutlich  bemerkbare  Schwingung  wahrzunehmen, -welche  je  nach  der  Dichte  und 
Spannung  des  untersuchten  Organs  verschieden  ist  (cf.  Fig.  90).  Dann  streicht 
man  in  derselben  Weise  etwas  entfernt  von  der  ersten  Stelle;  erhält  man 
keine  Schwingung  oder  nur  eine  sehr  schwache,  so  fährt  man  fort,  von  aussen 
nach  dem  Knopf  des  Stäbchens  hinzustreichen,  und  zeichnet  mit  einem  Bunt- 
stift die  Stelle  an , bei  welcher  das  Auftreten  einer  deutlichen  Schwingung,  die 
im  Ton  der  beim  Streichen  in  der  Nähe  des  Stäbchens  gehörten  ähnlich  ist,  sich 
kundgiebt.  Wenn  man  so  rund  um  das  Stäbchen  herum  fortfährt  und  dabei  darauf 
achtet,  convergent  von  aussen  nach  dem  Stäbchen  hinzustreichen  (und  in  zweifel- 
haften Fällen  als  Gegenprobe  vom  Stäbchen  nach  aussen),  so  kann  man  eine 


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520 


I’UOXENDOSKOP. 


Reihe  von  Punkten  festlegen , welche  bei  Vereinigung  durch  eine  Linie  die 
Zeichnung  des  Umrisses  des  untersuchten  Eingeweides  ergeben. 

Einige  vom  Verfasser  näher  erörterte  Vorsichtsmaßregeln  sind  bei  diesem 
Verfahren  nöthig ; sie  im  einzelnen  wiederzugeben  wurde  uns  an  dieser  Stelle 
zu  weit  führen. 

Was  BlAXCHI  auf  diese  Weise  zur  Anschauung  bringen  will,  ist  aller- 
dings geeignet,  das  Erstaunen  im  höchsten  Grade  wachzurufen.  Die  folgenden 
— wörtlich  reproducirten  — Auseinandersetzungen  des  Autors  liefern  Uber  die 
detaillirte  Methodik  und  die  Resultate  seiner  Untersuchungen  hinreichenden 
Aufschluss. 

„Vorderseite  des  Körpers:  Lungen:  Man  setzt  das  Phonendoskop 
auf,  ober-  und  unterhalb  der  Clavicula  fllr  den  Überlappen,  im  3.  lntereostal- 
raum  für  den  Mittellappen,  im  4.  für  den  Unterlappen,  stets  iu  der  Semiclavi- 
eularlinie  beider  Seiten.  — Nicht  sehr  starke  Schwingungen.  — Man 
bestimmt  auf  diese  Weise  den  Umfang  der  Lungen,  deren  Abgrenzung  in  einzelne 
Lappen,  sowie  die  l'cbereinanderlagerung  derselben.  — Bei  Vorhandensein  eines 
Rippenfellergusscs  setzt  man  das  Instrument  an  denselben  Stellen  auf  und  lässt  — 


sie-  so- 


nach Untersuchung  in  Rückenlage  und  mit  aufgerichtetem  Uberkörper  — den 
Kranken  sieh  zuerst  auf  die  rechte  und  dann  auf  die  linke  Seite  legen,  um  die 
Verschiebung  des  Fltlssigkeitsnivcaus  zu  sehen.  Starke  Schwingungen. 

Herz:  Zur  Bestimmung  der  Lage  des  Herzens  setzt  man  das  Phon- 
endoskop in  der  linken  Parasternallinie,  4.  Intereostalraum,  auf;  für  den  rechten 
Ventrikel  etwas  tiefer  nach  links,  für  die  rechte  Vorkammer  etwas  tiefer  nach 
rechts,  für  den  linken  Ventrikel  etwas  höher  nach  links,  für  das  grosse  Gefäss- 
bündel  etwas  höher  nach  rechts.  Starke  Schwingungen.  — Mau  eruirt  auf  diese 
Weise  den  genauen  Umfang  des  Herzens,  dessen  Theilungen  in  Kammern  und  Vor- 
kammern, erkennt  die  Lage  der  grossen  Gefässe,  sowie  des  Herzens  selbst  hin- 
sichtlich der  Wandstäudigkeit  (Kig.  SU). 

Leber:  Das  Phonendoskop  wird  der  Reihe  nach  aufgesetzt:  unterhalb 
des  Processus  xy/jlioilcos,  in  der  rechten  Mammillarlinie  im  7.  Intercostalraum, 
im  9.  Intercostalraum  über  der  mittleren  Axillarlinie.  Starke  Schwingungen. 

Magen:  Man  setzt  das  Phonendoskop  auf  im  7.  Intercostalraum  über 
der  linken  Semidavicularlinie  und  dann  auf  die  Linea  alLa  neben  dem  linken 
Rippenbogen.  Bei  gefülltem  Magen  setzt  man  das  Instrument  gleich  unterhalb  der 
grossen  Curvatur  auf.  Auf  diese  Weise  lassen  sich  nncliweisen  das  l’ylorus-  und 
das  Kardiaende  des  Magens,  die  Windungen  des  Darms,  sowie  das  Vorhanden- 


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PHONENDOSKOP. 


521 


sein  flüssigen  oder  gasförmigen  Inhalts;  ebenso  auch  die  Veränderungen  der  Form 
und  Lageder  Gedärme  wie  des  Inhalts  bei  Positionswechsel  des  Kranken.  .Schwache 
Schwingungen  für  den  Gasraum,  starke  für  den  flüssigeu  Inhalt. 

Colon:  Für  das  Coecum  und  Colon  ascendens  setzt  man  das  Instrument 
in  der  Foesa  ilinca  d extra  und  unter  dem  Rippenbogen  in  der  vorderen  und 
mittleren  Axillarlinie  auf;  für  das  Colon  transcemum  an  2 oder  3 Punkten,  je 
nach  der  Ausdehnung,  oberhalb  einer  Linie,  welche  von  rechts  nach  links  über 
den  Nabel  geht  und  gegen  den  linken  Rippenbogen  zur  mittleren  und  hinteren 
Axillarlinie  aufsteigt;  für  das  Colon  descendens  unterhalb  des  linken  Rippen- 
bogens in  der  mittleren  Axillarlinie  und  neben  der  Spina  anterior  superior  des 
Darmbeins.  Die  Art  der  Schwingung  hängt  von  dem  Inhalte  ab. 


Fig.  91.  Fi".  93. 


Blase:  Das  Instrument  wird  auf  der  Linea  alba  über  dem  Schambein 
aufgesetzt.  Schwache  Schwingungen,  wenn  die  Blase  leer,  starke, 
wenn  sie  mit  Flüssigkeit  angefüllt  ist. 

Ascitesflüssigkeit:  Es  ist  nöthig,  dass  das  Instrument  beiderseits  auf 
die  vordere  Axillarlinie  und  auf  die  Linea  alba  unterhalb  der  querlanfcnden 
L'mbilicallinic  aufgesetzt  werde ; während  der  Untersuchung  muss  der  Kranke 
sich  in  Rückenlage,  dann  aufrecht  sitzend  und  auf  den  Füssen  stehend  befinden. 
Starke  Schwingungen. 

Neubildungen,  sowie  tiefer  liegende  Organe  (Niere,  Milz), 
by  pertrophirte  Drüsen  kann  man  aufzeiehnen,  wenn  man  das  Instrument  auf 
die  Mitte  der  betreffenden  Organe  aufsetzt  und  die  Umgebung  streicht. 

Untersuchung  der  Rückseite  des  Körpers.  Lungen:  Man  setzt 
das  Phonendoskop  beiderseits  auf  der  Scnpularlinie  in  der  Höhe  zwischen  dem 
1.  und  dem  4.  Brustwirbel  (Oberlappen),  zwischen  dem  7.  und  10.  Brustwirbel 
(Unterlappen)  auf. 


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522 


PHONENDOSKOP.  — PHOSPHORNEKROSE. 


Leber:  Das  Phonendoskop  wird  auf  der  rechten  Scapularlinie  in  der 
Höhe  des  12.  Brustwirbels  aufgesetzt. 

Milz  : Das  Phonendoskop  wird  auf  die  linke  hintere  und  mittlere  Axillar- 
linie  in  den  Zwischenräumen  der  letzten  Rippen  aufgesetzt. 

Nieren:  Das  Phonendoskop  wird  ein  wenig  innerhalb  der  Semiseapular- 
linie  gleich  unterhalb  des  Bereichs  der  Leber  und  der  Milz  (Fig.  92;  aufgesetzt/ 

Controlirendc  Mittheilungen  anderer  Autoren  über  die  Brauchbarkeit  des 
Phonendoskops  liegen  meines  Wissens  nur  in  sehr  wenigen,  und  zwar  ausschliess- 
lich französischen  Arbeiten  vor.  Die  Angaben  BlANCHl’s  über  die  Abgrenzung  der 
einzelnen  Lungenlappen,  der  Herzhöhlen  etc.  sind  wohl  a limine  — mindestens  — 
mit  grösstem  Zweifel  aufzunehmen. 

Meine  eigenen  noch  nicht  sehr  zahlreichen  Versuche  mit  dem  Phonendo- 
skop lassen  mich  einstweilen  folgendes  Urtheil  über  seine  Brauchbarkeit  fällen. 
Das  Phonendoskop  ist  handlicher  als  das  gewöhnliche  Stethoskop;  es  gestattet 
dem  Arzte,  die  Auscultation  des  Patienten  in  grösserem  Abstande  von  demselben 
vorzunehmen  , die  Stellung  des  Arztes  (speciell  die  Kopfhaltung)  bei  der*  Pbon- 
endnskopie  ist  eine  angenehmere,  man  kann  sich  der  Haltung  des  Patienten  besser 
adaptiren,  was  ganz  besonders  bei  den  lebhaften  Bewegungen  der  Kinder  von 
Vortheil  ist.  Mittels  des  Stäbchens  kann  man  auch  an  Stellen  nusrnltiren , die 
dem  blossen  Ohr  oder  Stethoskop  schwer  oder  gar  nicht  zugänglich  sind.  Die 
akustischen  Phänomene  werden  in  unvergleichlich  intensiverer  Weise  als  durch  das 
Stethoskop  vermittelt ; das  ist  ein  Vortheil,  der  — bei  manchen  undeutlichen  Ge- 
räuschen — unter  gewöhnlichen  Verhältnissen  bedeutungsvoll  sein  kann,  der  aber 
ferner  für  schwerhörige  Aerzte  das  Instrument  unschätzbar  machen  dürfte.  Bei 
der  Auscultation  mit  aufgelegter  Scheibe  fallen  die  Nebengeräusche,  die  durch  Druck 
des  Stethoskops  hervorgerufen  werden  können,  fort;  das  macht  sich  namentlich 
bei  der  Untersuchung  des  Herzens  (speciell  des  kindlichen)  oft  angenehm  geltend. 
Der  Klangcharakter  der  akustischen  Phänomene  wird  durch  das  Phonendoskop 
nicht  verändert.  Schliesslich  möchte  ich  es  für  den  klinischen  Unterricht  als 
grossen  Vortheil  bezeichnen,  dass  mehrere  Untersucher  zu  gleicher  Zeit  dieselbe 
Organstelle  untersuchen  können.  — Meiner  Meinung  nach  genügen  diese  Eigen- 
schaften des  Phonendoskops,  um  ihm  einen  dauernden  Platz  im  Instrumentarium 
des  Arztes  zu  sichern.  Freilich  unter  der  von  mir  zur  Zeit  noch  nicht  zu  beur- 
theilenden  Bedingung,  dass  der  Apparat  seine  Haltbarkeit  für  längere  Zeit  bewahrt. 

J.  Schwalbe. 

Phosphnrnekrose.  Man  hat  neuerdings  in  der  Schweiz  unter  beson- 
derer Hervorhebung  der  hygienischen  Rücksichten  zur  Bekämpfung  der  chronischen 
Phosphorvergiftung,  beziehungsweise  Verhütung  der  Phosphornekrose  die  Mono 
polisirung  der  Zündhölzchen  einzuführen  versucht;  doch  wurde  diese  vom  Bundes- 
rathe  angenommene  Massregel  durch  die  Volksabstimmung  verworfen.  Nach  unserem 
Erachten  mit  Recht,  weil  man  in  der  That  im  Stande  ist,  durch  ein  Verbot  des 
gewöhnlichen  Phosphors  dasselbe  und  besser  zu  erreichen,  was  man  in  der  Schweiz 
durch  Monopolisirung  erstreben  wollte.  Denn  dass  die  Monopolisirung  keines- 
wegs immer  die  Abhaltuug  der  Phosphornekrose  oder  auch  nur  deren  Beschrän- 
kung zur  Folge  hat , das  beweisen  die  neuesten  Verhältnisse  dieses  Leidens  in 
Frankreich.  Dort  ist  seit  1889,  wo  der  Staat  die  Zündhölzer  monopolisirte,  trotz 
des  Versprechens  des  damaligen  Finanzministers,  die  von  den  vornehmsten  medi- 
cinisehen  Körperschaften  gestellte  dringende  Vorstellung,  die  Zündhölzchen  mit 
gewöhnlichem  Phosphor  abzuschatfen , prüfen  und  im  Sinne  der  berechtigten 
Forderung  der  Hygiene  erledigen  zu  wollen,  Nichts  im  Interesse  der  Arbeiter 
in  Zündhölzchenfabriken  geschehen.  Der  damalige  Finanzminister  ist  dann , wie 
es  in  Paris  Sitte  ist,  bald  hernach  wieder  Privatmann  geworden  und  seine  Nach- 
folger haben  die  Prüfung  der  Frage  vom  finanziellen  Standpunkte  nicht  weiter 
verfolgt.  Hätte  man  das  Monopol  nicht  eingeführt , so  würde  das  Drängen  der 
Hygieniker  doch  bestimmt  zu  der  besseren  staatlichen  Beaufsichtigung  der  Fabriken 


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PHOSPHORNEKROSE 


52  t 


geführt  haben ; jetzt  aber  sind  die  Fabriken  in  den  Händen  des  Staates  und  es 
bleibt  damit  beim  Alten.  Die  Sorglosigkeit,  mit  der  man  dort  verfährt,  und  der 
gesundheitswidrige  Zustand  der  Fabriken  in  Paris  sind  nach  dem  Eingeständnisse 
eines  Pariser  Arztes,  Magitot,  geradezu  horrend;  es  sind  nach  seinen  eigenen 
Worten  „wahre  Herde  der  Intoxication,  bei  deren  Zustande  man  sieh  keineswegs 
Uber  die  Menge  der  Zufälle,  die  dort  Vorkommen,  wandern  kann“,  ln  einzelnen 
Districten  Frankreichs  sind  allerdings  die  Verhältnisse  besser , z.  B.  in  Algier, 
und  die  Fabriken  bieten  hier,  wie  in  Italien  in  Turin  und  Monealieri,  genügende 
Ventilation,  um  die  Phosphordämpfe  zum  grössten  Tlieile  aus  den  Werkstätten 
entweichen  zn  lassen,  ln  der  That  ist  die  Zahl  der  Kranken  mit  Phosphornekrose 
in  Frankreich  bedeutend  gestiegen,  und  MAGITOT  hat  in  den  beiden  in  der  Nähe 
von  Paris  belegenen  Fabriken  von  Pantin  und  Aubervilliers  nicht  weniger  als 
24  Fälle  eonstatirt.  Dazu  kommt  noch  eine  grössere  Zahl  aus  den  Departements, 
wonach  in  Frankreich,  als  gegenwärtig  sicher  eonstatirt,  nicht  weniger  als  34  Fälle 
angesehen  werden  müssen.  Dass  hier  dringend  Abhilfe  nöthig  ist,  liegt  auf  der  Hand. 

Die  Frage , wie  die  Phosphornekrose  zustande  komme , ist  noch  immer 
nicht  mit  Sicherheit  entschieden.  Nachdem  man  Jahre  lang  die  Affeetion  als  eine 
locale  angesehen  hat,  neigt  mau  sich  in  Frankreich  jetzt  wieder  der  alten  Theorie 
zu,  wonach  es  sich  um  ein  durch  die  Phosphordämpfe  verschuldetes  Allgemein- 
leiden, das  zu  gewissen  localen  Erscheinungen  prädisponirt , handle.  Nach  der 
Angabe  Peli.AT’s,  des  Arztes  der  beiden  oben  genannten  ZUndhölzchenfabriken 
von  Pantin  und  Aubervilliers,  bietet  eine  grosse  Zahl  der  Arbeiter  besondere 
krankhafte  Erscheinungen,  ihre  ganze  Haltung  deutet  auf  Schwäche  und  Gebrech- 
lichkeit, Magerkeit,  Blässe  und  eine  subicterisehe  Färbung  des  Gesichtes  sind 
vorhanden,  dazu  kommt  constant  Knoblauchgeruch  des  Atliems,  der  mitunter  im 
Dunkeln  leuchtet,  und  der  Perspiration,  manchmal  sogar  noch  längere  Zeit  nach 
dem  Aufgeben  der  Arbeit  anhaltend.  Die  Arbeiter  leiden  häufig  au  oft  sehr 
hartnäckigen  Durchfällen , manche  auch  an  Nephritis  und  Cystitis  und  bei  fast 
allen  findet  sich  Eiweiss  im  Harn.  Coryza  und  Bronchitis , mitunter  mit  Er- 
stickungsanfüllen , kommen  nicht  selten  vor.  Auffällig  ist  die  Häufigkeit  von 
Knochenbrüchen , seihst  bei  geringfügigen  Gelegenheiten  und  deren  langsame 
Consolidation,  ferner  die  leichte  Entstehung  von  Nekrose  an  freigelegten  Knochen, 
besonders  auch  nach  Zahnextractionen  am  Kiefer  hervortretend.  Nach  Unter- 
suchungen von  Moxfet  über  das  Verhalten  des  Harns  bei  9 Kranken, -die  an 
Phosphornekrose  litten,  ist  Phosphorgeruok  des  Urins  und  Abgabe  von  Dämpfen 
phosphoriger  Säure  nicht  selten : vereinzelt  kommt  sogar  Phosphorescenz  vor. 

Der  Phosphorgeruch  des  Harns  soll  sogar  bei  Arbeitern  zu  beobachten  sein,  die 
schon  Monate  lang  nicht  mit  Phosphor  in  Berührung  gekommen  sind.  Von  neun 
untersuchten  Harnen  enthielten  sieben  geringe  Mengen  Eiweiss,  einer  Indican  (bei 
Diarrhoe).  Auffällig  geändert  ist  constant  das  Verhältniss  der  mineralischen  Ele- 
mente des  Harns  zu  den  llarnelementen  überhaupt,  statt  der  normalen  Zahl  30 
kommen  Werthe  von  51 — 5ti  vor.  Die  Menge  des  Harnstoffs  sinkt,  in  manchen 
Fällen  unter  die  Hälfte  der  Norm ; ebenso  ist  die  Ausscheidung  der  Phosphor- 
sänre  und  das  Verhältniss  dieser  zum  Gesammtstickstoff,  ferner  die  von  Kalk 
und  Magnesia  herabgesetzt,  während  Schwefelsäure  und  Chlor  vermehrt  sind.  Das 
Verhalten  der  Mineralsäuren  des  Harns  steht  übrigens  im  Einklänge  zu  der  von 
Gai'TRKlet  und  Pean  geäusserten  Ansicht,  dass  der  Phosphornekrose  eine  Kachexie 
mit  Hyperacidität  des  Blutplasma  zu  Grunde  liege. 

ln  Bezug  auf  die  Behandlung  der  Phosphornekrose  befürwortet  Magitot 
die  climinntoriscbe  Behandlung  unter  Anwendung  absoluter  Milchdiät  bei  gleich- 
zeitiger Anwendung  von  Oxydantien  (Snuerstoffinlialntionen,  Ozon,  nicht  rectiticirtes 
Terpentinöl)  uud  localen  Gebrauch  antiseptischer  Mittel  (Thymollösung,  0,25  : 1000 
mit  Natriumbicarbouat).  Operative  Eingriffe  sind  erst  nach  Beseitigung  der 
Kachexie  erlaubt. 

Literatur:  Magitot,  her  aeeldents  industriell  de  phosphore  et  in  partieulier 
du  phosphoritme.  Bull,  tle  l’Acad.  üe  Med.  Nr.  10,  pag.  207.  Husemana. 

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PILZVERGIFTUNG. 


Pilzvergiftung.  Dass  das  von  Kobert  in  Amanita  phalloides  auf- 
gefundene,  als  Blutgift  wirkende  Phallin  (vergl.  Eneyelopäd.  Jahrb.,  II,  pag.  561) 
nicht  für  gewöhnlich  die  Ursache  der  beim  Menschen  beobachteten  Intoxicatioo 
sein  kann,  geht  aus  dem  Umstande  hervor,  dass  die  Toxieitiit  des  zu  den  Toxal- 
buminen  gehörigen  Stoffes  durch  Siedhitze  zerstört  wird  und  die  Vergiftungen 
stets  durch  gekochte  Pilze  herbeigeführt  werden.  Zu  demselben  Resultate  führt 
die  Erwägung,  dass  das  Krankheitsbild  und  der  Sectionsbefund  in  älteren  beob- 
achteten Fällen  dieser  Art  in  keiner  Weise  denjenigen  der  durch  Gifte  veran- 
lassten  Hämoglobinämie  und  Hämoglobinurie  entspricht.  Schon  Mascbka  ist  die 
Füllung  der  Blase  mit  hellgelbem  Urin  bei  durch  Amanita  phalloides  zugrunde 
gegangenen  Menschen  aufgefallen,  die  sich  auch  bei  Thieren  constant  findet1) 
und  eine  Hämoglobinurie  mit  Sicherheit  ausschliesst.  Die  an  sich  schon  unzulässige 
Erklärung,  dass  den  früheren  Aerzten  Beobachtungsfehler  untergelaufen  seien, 
wird  völlig  hinfällig  durch  neuere  Fälle  in  München,  bei  denen  sorgfältig  darauf 
geachtet  wurde,  ob  Blutrothzcrsetzung  während  der  Krankheit  und  nach  dem 
Tode  vorkäme.  In  5 im  August  1894  vorgekommenen  Fällen,  von  denen  2 tödt- 
licli  verliefen,  bestanden  die  Symptome  entweder  in  choleriformen  Anfällen,  bei 
denen  die  Diarrhoe  sich  60 — 80mal  in  24  Stunden  wiederholte,  mit  Waden- 
krämpfen und  einzelnen  Muskclzuckungen,  aber  sonst  ohne  bedeutende  cerebrale 
Symptome,  oder  bei  wenig  ausgesprochenen  oder  verhältnissmässig  rasch  vorüber- 
gehenden gastrointestinalen  Erscheinungen  in  starken  nervösen  Symptomen 
(Somnolenz,  Delirien,  allgemeine  Convulsionen).  In  allen  diesen  Fällen  fehlte  Lebw- 
schmerz  und  Icterus,  auch  bestand  keine  Anurie.  auch  war  der  Harn  von  hell- 
gelber Farbe  und  völlig  hämoglobinfrei.  Bei  der  Scction  ergab  sich  neben  rer- 
hältnissinässig  geringfügigen  Veränderungen  im  Darm  und  Ekehvmosen  in 
Tractus  und  anderen  Organen  höchst  intensive  fettige  Entartung  der  Leber, 
die  68,9  und  53,6°/o  Fett , somit  Mengen,  wie  sie  nur  bei  acuter  Phosphor- 
und  chronischer  Alkoholvergiftung  existiren,  enthielt,  ferner  der  Niereu  tind 
des  Herzfleisches.  Dass  übrigens  mitunter  Anurie  bei  Vergiftung  mit  .4»uj- 
nita  pfialloides  vorkommt , beweisen  zwei  andere  iu  München  im  September 
1894  vorgekommene  Vergiftungen,  in  denen  diese  als  wesentliches  Symptom 
neben  dem  nach  heftiger  Gastroenteritis  sich  entwickelnden  Koma  mit  starker 
l’ulsvcrlangsamung  angegeben  wird  und  bei  der  Section  die  Blase  leer  angetroffen 
wurde ; auch  hier  war  die  fettige  Degeneration  der  Leber  sehr  ausgesprochen. 
Auffällig  war  bei  den  im  August  Erkrankten  die  bei  den  in  Genesung  endigenden 
Kranken  ausgesprochene  Mydriasis,  während  bei  einer  1886  in  München  vorge- 
kommencu  Intoxicatioo  mehrerer  Personen  mit  sonst  gleichem  lntoxicationsbilde 
und  Sectionsbefunde  Myosis  constatirt  wurde.2) 

Ob  übrigens  nicht  unter  besonderen  Umständen  der  fragliche  Giftpilz 
doch  zu  Erscheinungen,  die  auf  die  Einwirkung  von  Phallin  hinweisen.  führen 
kann,  möchten  wir  nicht  von  der  Hand  weisen.  Dass  die  Zubereitung  des  Pilzes 
von  wesentlichem  Einflüsse  ist,  beweisen  auch  die  Münchener  Fälle,  die  ein  weit 
kürzeres  Intervall  als  das  gewöhnlich  10 — 12  und  mehr  Stunden  lietrageude 
Intervall  der  Intoxication  durch  den  Knollenblätterpilz  aufweisen.  Der  Erkrankungs- 
grnud  liegt  darin , dass  der  Pilz  in  der  Form  der  Schwammsuppe  genossen 
wurde,  in  welcher  das  Gift  in  der  Flüssigkeit  gelöst  ist.  Bei  Zubereitungen,  in 
denen  die  Pilze  nur  wenig  oder  nur  an  der  Oberfläche  mit  der  Siedhitze  in 
Berührung  kommen,  z.  B.  beim  Backen  nur  grob  zerschnittener  Pilze  in  der 
Pfanne,  kann  recht  wohl  ein  Theil  des  iu  rohen  Pilzen  vorhanden  Pballins  un- 
zerstört  bleiben  und  seine  Wirkung  änssern.  So  scheint  es  in  einem  neueren 
italienischen  Falle  gewesen  zu  sein,  in  dem  Amanita  phalloides  var.  citnna 
mit  Sicherheit  als  die  giftige  Pilzart  erkannt  wurde.  Hier  kam  es  nach  10 — 18 
Stunden  zu  choleriformen  Erscheinungen  mit  Mvose  und  Speichelfluss,  dann  vom 
7.  Tage  ab  zu  Icterus  der  Conjunctiva  und  der  Haut,  später  auch  zu  Epistaxis 
und  Cyanose.  Der  Fall  ist  besonders  merkwürdig  dadurch,  dass  die  Kranken 


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PILZVERGIFTUNG.  — PNEUMOTOMIE. 


525 


dieselben  Pilze  früher  in  Wasser  gekocht  naeh  Abgiessen  der  Brühe  häufig 
ohne  Schaden  genossen  haben  wollten , was  nach  dem  bekannten  Entgiftungs- 
verfahren von  (If.rakd  wohl  kaum  bezweifelt  werden  kann.5) 

In  den  Münchener  Fällen  scheinen  Kampferinjectionen  von  grossem 
Werthe  gewesen  zu  sein.  Viel  gerühmt  sind  bei  den  choleriformen  Pilzvergiftungen 
neuerdings  auch  wiederholte  Injectinnen  von  Strychnin4)  in  kleinen  Einzel- 
gaben (0,001). 

Literatur:  ')  Seibert,  Beiträge  zur  Toxikologie  der  Amanita  phalloides. 

Mfincben  1893-  — 5)  Tappeiner.  Bericht  über  einige  im  August  und  September  des  Jahres 
1894  in  München  vorgekommene  Schwammvergiftungen.  Münchener  med.  Wochensehr.  1895, 
Nr.  7,  pag  133.  — Verhandlungen  des  ärztlichen  Vereines  München  vom  14.  November  1894. 
Ebenda.  Nr.  8,  pag.  176.  — 3)  Parona.  Trr  casi  di  veneßcio  per  funghi.  Giorn.  della 
Soc.  d'Igiene.  1893,  Nr.  1,  pag.  25.  — *)  Koenigsdö  rffer,  Sechs  Fälle  von  Pilzvergiftung 
mit  Ausgang  in  Heilung.  Therap.  Monatsh.  November  1892,  pag.  571.  Husemann. 

Piperazin,  bei  Glaukom,  pag.  219. 

Pityriasis,  rose e de  Gibert,  s.  Dermatomykosen,  pag.  112 

Pneumotomie;  Pneumektomie.  Die  Fortschritte,  welche  die  Lungen- 
chirurgie in  den  letzten  Jahren  errungen  hat,  halten  sich  in  bescheidenen  Grenzen. 
Wie  die  Höhlenchirurgie  überhaupt  innerhalb  des  Thorax  keine  nennenswerthen 
Triumphe  feiert,  viel  geringere  als  in  der  Schädelhöhle  und  namentlich  an  den 
Organen  des  Unterleibes,  so  entsprechen  die  Erfolge  des  Messers  im  Besonderen  bei 
den  chirurgischen  Lungenkrankheiten  noch  lange  nicht  den  Erwartungen,  zu  denen 
manche  Forscher  schon  vor  einer  Reihe  von  Jahren  sieh  berechtigt  glaubten. 
Die  Gründe  für  diese  Thatsachen  liegen  klar  zu  Tage.  Die  Schwere  der  Grund- 
krankheit, die  eigenartige  Structur  dieses  lebenswichtigen  Organs,  die  Schwierig- 
keit der  Diagnose  und  die  unvollkommene  Zugänglichkeit  zu  dem  Operationsgebiet 
schrecken  selbst  den  kühnsten  Chirurgen  vor  radiealen  Eingriffen  zurück  und  be- 
dingen es,  dass  die  mangelhaften , zuui  Theil  völlig  unzulänglichen  Erfolge  der 
inneren  Medicin  von  chirurgischer  Seite  nur  geringe  Aufbesserung  erfahren. 
Gleichwohl  muss  anerkannt  werden,  dass  sich  in  dem  letzten  Lustrum,  auf 
das  sich  unser  Bericht  erstreckt,  die  günstigen  Ausgänge  der  vorgenommenen 
Lungenoperationen  vermehrt  haben,  Dank  der  Vervollkommnung  der  chirurgischen 
Technik  und  dem  erspriesslichen  Zusammenwirken  von  innerer  Medicin  und 
Chirurgie. 

Als  speeifisch  chirurgische  Eingriffe  in  das  pathologische  Lungengewebe 
betrachtet]  wir  lediglich  die  Pneumotomie  oder  den  Lungenschnitt,  und  die  Pneu- 
mektomie oder  Lungenresection.  Die  Punction  und  die  daran  geschlossenen  gleich- 
wertigen Maassnahineu  haben  sich  so  sehr  als  Rüstzeug  der  inneren  Medicin 
eingebürgert,  dass  sie  — zumal  bei  der  Geringfügigkeit  ihrer  Technik  — ans 
unserer  Erörterung  ausgeschieden  werden  können. 

Die  Pneumotomie,  deren  erste  Anfänge  bekanntlich  in  das  17.  Jahr- 
hundert*) zurückreicben,  zieht  die  Lungeneiterungen  und  den  (nicht  erweiterten) 
Lungenechinococcus  in  ihr  Operationsgebiet.  Zu  den  Lungeneiterungen  gehören 
der  einfache  acute  und  chronische  Abscess,  der  acute  und  chronische  gangränöse 
Abscess,  die  einfachen  und  putriden  Bronchiektasien,  die  putriden  Eiterungen  nach 
Fremdkörpern.  Eine  Sonderstellung  nehmen  die  tuberkulöse  Eiterung  und  der  ver- 
eiterte Echinococcus  ein. 

Ich  gebe  zunächst  die  gesummte  Literatur  unseres  Berichtsgebiets  aus 
den  letzten  5 Jahren,  soweit  sie  mir  aus  Originalien  und  Referaten  zugänglich 


*)  Eine  interessante  Uebersicht  Uber  den  Stund  der  Pneumotomie  im  Jahre  1793 
gjebt  die  — wie  ich  sehe,  sonst  nicht  citirte  — Arbeit  von  J.  J.  Gumpreeht,  De  pulmonum 
abecessu  ope  vhirurgira  aperiendo.  Dissert.  inang.  Göttingen  1793.  Ich  kann  es  mir  nicht 
versagen,  im  Verlauf  meines  Aufsatzes  daraus  einige  einschlägige  Bemerkungen  zu  citiren,  aus 
denen  eine  Uebereinstimmung  mit  den  heutigen  Grundsätzen  der  Antoren  hervorgeht 


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PNEUMOTOMIE. 


war.  Als  werthvolle  Quelle  filr  mein  Material  ist  die  kürzlich  erschienene  Mono- 
graphie von  Quincke,  lieber  Pneumotomie,  Mittheilungen  aus  den  Grenz- 
gebieten der  Medicin  und  Chirurgie,  1895,  1,  Heft  1 besonders  hervorzuheben. 

I.  Pneumotomie. 

A.  Lungeneiterungen. 

1.  Acute  einfache  Abscesse. 

1.  Greene,  Pulmonary  abscess  suryically  treated:  recovery.  Lancet, 

1891,  I,  pag.  293. 

bjähriger  Knabe.  3 Wochen  nach  überstandener  linksseitiger  croupöser  Pneumonie 
hektisches  Fieber  und  eitriges  Sputum.  In  der  Gegend  des  V.  Intereostalraumes  Empfindlich- 
keit auf  Druck.  Nach  2 Wochen  Incision  an  dieser  Stelle  in  der  Axillarlinie  ergiebt  Eiter; 
völlige  Entleerung  des  etwa  3 Cm.  tief  im  Lungengewebe  gelegenen  Abscesses  durch  Incision: 
Drainage.  Heilung  nach  12  Tagen. 

2.  Huber,  Abscess  of  lung.  Transaction  of  the  Amor.  Paediatric  Society. 

1892,  UI,  pag.  235  und  Med.  News.  17.  October  1891. 

4jähriger  Knabe.  Nach  linksseitiger  Pleurapneumonie  entwickelt  sich  innerhalb 
4 Wochen  ein  Lungenabscess  in  der  Regio  in/raclacicularis.  Die  Diagnose  wird  durch  Probe- 
punction  festjrestellt.  Am  nächsten  Tage  Incision  im  III.  Intercostalraum ; erst  nach  mehreren 
Incisionen  gelingt  es,  den  Eiter  wiederzufinden.  Stumpfe  Dilatation  des  Pnnctionscanals,  Drainage. 
Nach  der  Operation  neue  linksseitige  Pneumonie.  Heilung  nach  acht  Monaten. 

3.  Hoerbye  in  der  Discussion  zu  Winge.  Operative  Behandlung  der 
Lungenkrankheiten  im  Allgemeinen.  Norsk  Magazin.  1891,  pag.  11.  (Ref.  in 
Virchow-Hirsch’s  Jahresber.) 

2*  Jähriges  Kind.  Rechtsseitiger  Lungenabscess  nach  Laugetrinken.  Resection  der 
VII.  Rip]>e  in  der  Axillargegend.  2 Cm.  tiefer  Abscess  mit  dem  Thermokauter  geöffnet,  2 Thee- 
löflel  Eiter  entleert.  Drainage;  Heilung. 

4.  Trzkbicky,  Ein  Beitrag  zur  Lungenchirurgie.  Wiener  med.  Wochenschr. 

1893,  Nr.  21  22. 

Fall  1.  42jübrige  Frau  mit  acutem  metastatischen  puerperalen  Lungenabscess,  Zuerst 
seröse  Pleuritis.  Diese  resorbirt  sich.  Dann  Schüttelfröste,  Dyspnoe,  hartnäckiger  Husten  mit 
eitrigem  Sputum.  Ca verne  im  rechten  Unterlappen.  Probepunction  ergiebt  Eiter.  Da  Operation 
verweigert  wird,  Aspiration  von  50(1  Ccm.  mit  dem  Potain’schen  Apparat.  Besserung.  Am 
3.  Tage  wieder  starke  Verschlimmerung.  Resection  der  rechten  VII.  Rippe.  Collaps  der  nicht 
angewachsenen  Lunge.  Eröffnung  der  Caveme  mit  dem  Messer.  Entleerung  von  reichlichem 
Eiter.  Drainage.  10  Stunden  nach  der  Operation  Tod. 

5.  Fairchild,  Pneumotomy  for  abscess  of  lung : recovery.  Chicago 
Clinical  Review.  1893,  Nr.  23. 

55jähriger  Mann.  Lungenabscess  nach  acuter  Pneumonie.  Probepunction  im  V.  Inter- 
coBtalraum  erzielt  Eiter.  Incision,  Resection  der  V.  Rippe.  Abfluss  von  circa  11  Unzen  Eiter, 
Drainage.  Heilung  nach  1 Jahr. 

2.  Chronische  einfache  Abscesse. 

6.  Andrews,  Pneumotomy  for  abscess  of  right  lung,  and  removal  of 
large  calcareous  deposit  through  the  ehest  wall,  Med.  Record.  1892.  (Ref.) 

7.  Neubeb,  Vorstellung  eines  geheilten  Lungenahscesses.  Mitth.  des  Ver- 
eins Schleswig-Holstein’scher  Aerzte.  1894,  Nr.  3,  pag.  55. 

45jähriger  Mann.  Chronischer  Abscess  im  rechten  Unterlappen,  an  geschlossen  an 
einen  Bronchialdrüse nabscess.  Smonatlicher  Bestand  des  Leidens.  Resection  der  VIII. — X.  Rippe 
auf  8 Cm.,  darauf  Incision  des  Abscesses.  Letzterer  liegt  5 — 6 Cm.  tief,  ist  500  Ccm.  gross, 
enthält  noch  Kalkconcremente.  Unvollkommene  Heilung  mit  Fistel.  Patient  fühlt  sich  völlig  gesund. 

3.  Chronische  einfache  Bronchiektasen. 

8.  Coupland,  Clinical  lecture  on  basic  pulmonary  cavities f their 
diagnosts  and  t reale  ment.  Lancet.  15.  October  1892. 

lBjähriges  Mädchen.  Chronische  Bronchiektasien  des  linken  Unterlappens.  Nach  Punc- 
tion einer  Bronchiektasie  Entzündung  im  Sticlicanal.  Deshalb  Incision,  Rippenresection,  Er- 
öffnung der  Höhle.  Bei  letzterem  Act  plötzlich  Livor,  Schweiss,  Stertor,  Pulsschwäche,  weite 
Pupillen.  Tod  nach  20  Minuten.  Bei  der  Section  Blut  und  Schleim  in  den  Bronchien. 

9.  Stewart,  On  the  treatement  of  bronchiectasie.  Brit.  med.  Journ. 
Juni  1893. 

Fall  von  bronchiektatischer  Caverne.  Eröffnung.  Heilung. 


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PNEUMOTOMIE. 


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10.  Quincke,  Ueber  Pneumotomie.  Mitth.  a.  d.  Grenzgebieten  d.  Medicin 
u.  Chirurgie.  1895,  Heft  1,  pag.  20/21. 

25jähriger  Mann.  Aetiologie  der  Krankheit  unsicher.  Wahrscheinlich  länger  beste- 
hende multiple  Bronchiektasien  verschlimmert  durch  doppelseitige  acute  Pneumonie.  Im  linken 
Unterlappen  Cavcrnensymptome.  Resection  der  IX. — XI.  Rippe  nach  vorangegangener  Chlor- 
zinkbebandlung.  Einbohrung  eines  Fistelcanals  in  die  Lunge  mittels  des  Thermokauters ; dabei 
anscheinend  Eröffnung  eines  Bronchus.  Nach  zwei  Monaten  Heilung  (verzögert  durch  Wund- 
erysipel), freilich  nicht  absolute,  sondern  nur  für  das  subjective  Befinden  des  Patienten  (Husten 
und  Auswarf  sehr  gering;  über  der  Narbe  bronchiales  Exspirium , bisweilen  mit  klein-  und 
gross  blasigem  Rasseln). 

11.  Quincke,  ebenda. 

34jähriger  Mann.  Multiple  Bronchiektasien  und  Schrumpfung  im  linken  Unterlappen, 
wahrscheinlich  im  Anschluss  an  eine  vor  17  Jahren  überstandene  Pneumonie,  verschlimmert  vor 
1 Jahr  durch  Pneumonie  und  Influenza.  Höhlenerscheinungen  nicht  vorhanden.  Nach  Chlor- 
zinkbehandlung wird  die  IX.  und  X.  Rippe  zu  je  5 Cm.  resecirt.  Mittels  Chlorzink  und  Thermo- 
kauter wird  ein  grösserer  Bronchus  eröffnet  und  der  Eiter  entleert.  Nach  \iermonatlicher  Be- 
handlung mit  Fistel  gebessert  entlassen,  da  LO  Tuberkulose  einsetzt. 

12.  Quincke,  ebenda. 

36jähriger  Mann.  Bronchiektasie  im  linken  Unterlappen  als  Folgezustand  chronischer 
circa  12  Jahre  bestehender  Bronchitis.  (Tuberkulose  verdächtig.  Ref.)  Sputum  dreischichtig,  ent- 
hält elastische  Fasern.  Probepunction  im  IX.  Intercostalraum.  LHU  ergieht  sich  das  Vorhanden- 
sein eines  grösseren  Hohlrauraes.  Resection  der  IX.  und  X.  Rippe  auf  6 bezw.  7 Cm.  Chlor- 
zinkbehandlung. Keine  Eröffnung  der  Caverne;  durch  Schrumpfung  des  linken  Unterlappens 
wird  aber  Besserung  erzielt. 

13.  Bioxdi.  Contributo  alla  chirurqica  polmonare.  La  clinica  chirurgica. 
1895,  Nr.  10. 

26jäbriger  Mann.  Zahlreiche  Bronchiektasien  im  linken  Unterlappen,  welche  eine 
grössere  Caverne  vortäuschten.  Pleuritis.  Pneumotomie.  Allgemeine  Sepsis  und  Tod  nach  2 Tagen. 

4.  Acote  gangränöse  Abscesse. 

14.  Thue,  Fall  von  operirter  Lungengangrän  mit  Empyem.  Heilung. 
■Später  Tod  infolge  Perikarditis.  Norsk  Magazin.  1891,  pag.  289.  (Ref.  Virchow- 
Hirsch’s  Jahresber.) 

37jäbriger  Mann.  Acute  Gangrän  im  rechten  Überlappen  nach  fieberhafter  Bronchitis 
und  doppelseitiger  seröser  Pleuritis.  Resection  der  III.  und  IV.  Rippe.  Annähung  der  Lunge 
an  die  Brustwand,  Eröffnung  der  Höhle  mittels  Thermokauter.  4 Wochen  ohne  Fieber,  dann 
rechtsseitiges  Empyem.  Operative  Entfernung  desselben.  31/*  Wochen  später  Tod  an  Perikar- 
ditis, ausgehend  von  vereiterter  Drüse  des  Mediastinum  anticum. 

15.  DE  C£rexville,  Deux  observations  de  pneumotomie  pour  ganyrüne 
du  poumon.  Revue  med.  de  la  Suiase  romande.  1892,  Nr.  4. 

53jähriger  Mann  Acute  Gangrän  im  linken  Oberlappen  bei  alteren  Bronchiektasien. 
Nach  etwa  vierwöchentlicher  Krankheitsdauer,  Operation  in  extremis:  Resection  der  V.  Rippe 
in  der  Axillarlinie  und  Eröffnung  der  grossen  Caverne  mittels  des  Thermokauters.  Wenige 
Stunden  nach  der  Operation  Exitus. 

16.  de  Cerenville,  ebenda. 

ISjähriger  Mann.  Acute  Gangrän  bei  Bronchiektasie  nach  Influenza  im  rechten  Unter- 
lappen. Nach  8wöchentlieher  Krankheitsdauer  Resection  der  IX.  Rippe.  Bei  der  Incision  der 
Pleura  theilweise  Retraction  der  Lunge,  deshalb  Pneumothorax.  Annähung  der  Lunge  an  die 
Pleura  costafis , Incision  der  Caverne.  8 Tage  später  Incision  einer  2.  Caverne  im  XI.  Inter- 
eostalraum. Am  16.  Behandlungstage  wird  der  Pneumothorax  fötid  eiterig.  Entleerung  von 
1 Liter  Eiter  durch  Incision.  Heilung  nach  4 */a  Monaten,  dabei  aber  auscultatorisch  noch 
Höhlensymptome. 

17.  Pochat,  Ein  Beitrag  zur  Pathologie  und  operativen  Behandlung 
von  Lungenabsceaaen.  Dissert.  inaug.  Kiel  1895. 

28jährige  Frau.  Putrider  frischer  Abscess  im  rechten  Oberlappen  nach  Aspirations- 
pneumonie. Nach  3wöchcntlichem  Bestand  des  Leidens  Chlorzinkbehandlung  und  Resection  der 
III.  Rippe  auf  31  t Cm.  Spontaner  Durchbruch  der  Höhle  und  Besserung  des  Befindens.  Ver- 
schlechterung des  Zustandes,  weil  alte  gutartige  Bronchiektasien  im  rechten  Unterlappen  putride 
werden,  wahrscheinlich  nach  Infection  durch  den  putriden  Abscessinhalt.  Nach  lDwöclientlicher 
Dauer  der  neuen  Krankheit  Chlorzinkbehandlung  und  Resection  der  IX.  Rippe  hinten.  Broncho- 
pneumonie: Tod  nach  2 Tagen. 

18.  Quincke,  Ueber  Pneumotomie.  Mitth.  etc.,  pag.  9. 

30jähriger  Mann.  Acute  Lungenpangrän  im  unmittelbaren  Anschluss  an  eine 
Pneumonie,  wahrscheinlich  begünstigt  durch  alte  Bronchitis  nach  Pneumonie.  Caverne  im 
rechten  Unterlappen.  Probepunction  im  VII.  Intercostalraum  ergiebt  Eiter.  VIII.— X.  Rippe 


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PNEUMOTOMIE. 


am  folgenden  Tape  auf  6 Cm.  resecirt.  Probepunctionen  ergeben  keinen  Eiter.  Tamponade. 
)i  Tage  später  spontaner  Durchbruch  des  Eiters.  Erweiterung  der  Pertorationsdffnung  mit  dem 
Thermokauter.  Drainage.  Heilung  in  0 Wochen. 

5.  Chronische  gangränöse  Abscesse. 

19.  OkhleR,  Casuistischer  Beitrag  zur  Lungenchirurgie.  Münchener  med. 
Wochenscbr.  1891,  Nr.  41. 

HOjähriger  Mann.  Chronischer  gangränöser  Abaceu  im  rechten  Unterlappen  nach 
Pleuropneumonie.  %p  Jährige  Krankheitsdauer.  Bei  der  Resection  der  VII.  Rippe  entsteht  durch 
Einriss  der  Pleura  ein  Pneumothorax.  Operation  unterbrochen.  Drainage  der  Pleurahöhle 
Pneumothorax  nach  wenigen  Tagen  resorbirt.  4 Woeben  später,  nachdem  sich  Adhäsion  der 
Dunge  ausgebildet  hat.  wird  der  Thermokauter  in  die  Lunge  in  der  Richtung  der  vermut licten 
Höhle  5 Cm.  tief  eingesenkt.  Operation  unterbrochen  wegen  Husten  und  Asphyxie.  Caverne 
nicht  eröffnet.  Perforation  erfolgt  erst  2 Tage  spater  spontan.  Bei  Versuch,  die  Fistel  zu  schließen. 
Verschlimmerung.  Fistel  besteht  z.  Z.  2 Jahre. 

20.  Krkcker,  Lungenchirnrgie.  Münchener  med.  Wochenscbr.  1891,  Nr.  23. 

üOjähriger  Mann.  Oesophagusstrictur  nach  Laugengenuss.  Rechteseitige  Lungcngangran 

und  eiterig  jauchige  Pleuritis.  Sehr  elender  Zustand.  Aeussere  Oesophagotomie  und  Einführung 
eines  Gummirohres  in  den  Magen.  Rippenresection.  Entleerung  des  pleuritischen  Eiters.  Dabei 
gelingt  es,  den  unter  der  Pleura  gelegenen  Gangränherd  zu  finden  und  zu  eröffnen.  Hühnerei- 
grosse  Höhle,  0 Stunden  nach  der  Operation  Tod. 

21.  Ibidem. 

löjähriges  Mädchen.  Speiseröhrenstrictur  nach  Laugengenuss.  Aeussere  Oesophagv 
turoie  und  Einführung  eines  Gummirohres  in  den  Magen.  Cominunication  der  Trachea  und 
des  Oesophagus.  Im  rechten  Unterlappen  Gangrän.  14malige  Probepunction  vergeblich 
endlich  Aspiration  einer  schwärzlich  braunen,  fötiden  Jauche.  Resection  von  Rippen.  Stumpfe 
Ei  Öffnung  des  Jaucheherdes.  Tamponade  mit  Jodoformgaze.  Besserung.  Dann  links  seröse 
Pleuritis.  Wiederholt«  Punction.  Exitus.  Bei  der  Section  werden  mehrere  Abscesse  in  der  linken 
Lunge  gefunden.  Die  rechte  Gangranhöhle  war  in  der  Ausheilung  begriffen. 

22.  Bi  ll,  Bidrag  til  Lingeoperationernes . Norsk  Magazin  f.  Laege* 
videnskahen  1891.  (?  Ref.) 

23.  BastiaKELLI,  Pneumotomia  per  gangrena  polmonare.  Bull,  di  8oc. 
Lamisiana  d.  osped.  di  Roma.  1891.  (?  Ref.) 

24.  Delagekjere,  Contribution  h Vetude  de  la  Chirurgie  de  la  plrcrt 
et  dt s lobt 8 inferieurt s du  poumon . Arcli.  provinc.  de  chir.  111.  (Ref.  in  Wiener 
klin.  Wochenscbr.  1892,  pag.  568.) 

HTjahriger  Mann.  Chronischer  gangränöser  Abscess  des  linken  unteren  Lungenlappetü 
Incision  an  der  IX.  Rippe,  Resection  der  VII. — IX.  Rippe.  Ineision  der  Pleura  an  der 
IX.  Rippe,  Eröffnung  der  Höhle  und  Entleerung  von  500  Grm  Eiter  mit  schwärzlichem, 
fölidem  Detritus.  Das  ganze  gangränöse  Gewebe  des  linken  Unterlappens  wurde  mittel* 
l'ince  te  und  Scheele  abgetragen,  so  dass  eine  faustgrosse  Caverne  übrig  blieb.  Diese  wurde 
desiniieirt.  In  die  Lungen-  und  Pleurahöhle  je  ein  Drain  eingeführt,  die  Pleura  im  Uebrigeo 
vernäht.  Nach  einem  Monat  Entfernung  der  Drains,  nach  weiteren  6 Wochen  Heilung. 

25.  PAUL  et  Pekikk,  Observation  de  gangrine  pulmonaire  traitee 
<dabord  par  les  aspirations  antiseptiques,  puis  par  une  Intervention  chirurgicale. 
Bull,  de  UAcad.  1892,  Nr.  11.  (Ref.  in  Virchow-Hirsch.) 

Operation  einer  Lungengangrän  und  Heilung  unter  gleichzeitiger  Anwendung  aoti* 
septischer  Medicamente,  besonders  von  Cainphernaphthol. 

‘ 26.  MONOD,  Gangräne  du  poumon.  Pneumotomie . Bull,  et  mein.  de  la 
Soc.  de  chir.  de  Paris.  1892,  XVIII. 

Gangränöser  Lungenabscess  im  mittleren  Abschnitt  der  linken  Lunge,  nahe  der 
Wirbelsäule.  Incision  im  VIII.  Intercostalranm , 3 — 4 Ouerfinger  breit  nach  aussen  von  der 
Dorn  fort  satzl  in  ie.  Erst  nach  Durchtrennung  einer  ziemlich  dicken  Schicht  verdichteten  Lnngea* 
gewebes  kommt  man  auf  den  Abscess.  Resection  der  IX.  Rippe.  Drainage.  Nach  8 Tagen  Ent- 
fernung des  Drain.  10  Tage  später  Entlassung  des  Patienten  mit  Fistel.  Dieselbe  hat  »ich 
schnell  geschlossen. 

27.  ÜOFMOKL,  Zwei  Fälle  von  cireumscripter  Höhlenbildung  in  der  Lunge 
rach  Pneumonie  und  putrider  Bronchitis,  geheilt  durch  Pneumotomie  mit  consecti- 
tiver  Drainage.  Wiener  med.  Presse.  1892. 

Fall  a)  Junger  kräftiger  Manu.  Nach  acuter  rechtsseitiger  Pleuropneumonie  Luogrn- 
abscess.  Fast  die  ganze  Rückseite  rechts  gedampft,  consonirende,  grossblasige  Rasselgeräu-ch»*. 
bronchiales  Atlnnen,  lotides  Sputum.  Am  Angut  us  scapulae  Rippenresection.  Plenrae  verwachsen 
Mit  Puquelin  Hohle  eröffnet.  Heilung  nach  6 Wochen. 


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PNEUMOTOMIE. 


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28.  Tbzebicki,  Ein  Beitrag  zur  Lungenchirurgie.  Wiener  med. 

Wochenschr.  1893,  Nr.  2. 

58jähriger  Mann.  Chronische  Gangrän  im  rechten  Oberlappen.  Aetiologie  nicht 
ganz  sichergestellt,  ^monatlicher  Bestand  des  Leidens;  Patient  sehr  hernntergekommen. 

Nach  Probepnnction  Resection  der  IV.  Rippe.  Stumpfe  Eröffnung  der  Gangränhöhle.  Tod 
nach  IG  Stunden. 

29.  White,  Fneumotomy  ticice  in  the  Marne  patient  to  the  relief  of 
tuherculous  ahsceMM  and  gangrene  of  the  lang;  recovery.  Med.  News.  1893, 

14.  Januar.  (Ref.  Virghow-Hibsch.) 

2 Gangränhöhlen  eröffnet.  Heilung.  Tuberkulose  zweifelhaft. 

30.  PKIESTLEY  Leech,  Gangrenous  abscess  of  the  lung.  Operation . 

Recovery.  Lancet.  13.  Januar  1894. 

22jähriger  Mann.  Chronischer  Abscess  mit  secundärer  Gangrän  im  linken  Ober- 
lappen. Krankheitsdauer  4 Monate.  Trotz  der  Abwesenheit  von  Höhlensymptomen  und  trotz 
negativen  Ausfalls  mehrfacher  Probepunctionen  Incision  im  II.  Intercostalraum.  Stumpfe  Dila- 
tation des  Probepunctionscanals.  Drainage  Nach  6 Monaten  Heilung. 

31.  Matignon,  ConsüUrations  sur  t/n  cas  de  pneumotomie  pour  abcbs 
du  poumon.  Areh.  gön.  de  m6d.  1894,  pag.  162. 

29jähriger  Mann.  Chronischer  putrider  Lungennbscess  im  rechten  Oberlappen  nach 
Pneumonie.  I'/Jäbrige  Krankheitsdauer.  Resection  der  II.  Rippe.  Nach  Aspiration  von  Eiter 
durch  Probepnnction  Eröffnung  der  circa  5 Cm.  tief  liegenden  Höhle  mittels  des  Thermokauters. 

Nach  aussen  oben  liegt  eine  zweite,  mit  der  ersten  Höhle  communicirende  Caveme;  ebenfalls 
Eröffnung  durch  Thermokauter.  Drainage.  Ausstopfung  der  Höhlen  mit  Jodoformgaze.  Nach 
circa  4 Wochen  neue  Eröffnung  der  fast  vernarbten  Wunde  wegen  mehrfacher  Hämoptoe, 

Thermokauter.  Nach  Klmonatlicher  Behandlung  Heilung. 

32.  Krause,  F.,  Ueber  operative  Behandlung  der  Lungengangrän,  nament- 
lich hei  gesunder  Pleura.  Berliner  klin.  Wochenschr.  1895,  Nr.  16. 

36jähriger  Mann.  Chronische  Gangrän  nach  croupöser  Pneumonie  im  linken  Unter- 
lappen. Nach  Resection  der  IX.  und  X.  Rippe  und  Einlage  von  Jodoformgaze  Eröffnung  der 
apfclgrossen  Höhle  mit  dem  Thermokauter.  Heilung  in  6 Wochen. 

33.  Quincke,  Ueber  Pneumotomie,  png.  23. 

H9jähriger  Mann.  Chronischer  gangränöser  Abscess  mit  secundären  Bronchiektasien 
ira  linken  Unterlappen,  lumonatliche  Kmnkheitslauer.  Nach  Behandlung  mit  Chlorzinkpaste 
Resection  der  VI.  Rippe.  Eröffnung  der  Höhle,  nachdem  Probepunction  Eiter  ergclien  hat, 
mittels  Thermokauter.  Infolge  unzureichender  Adhäsion  der  Lunge  eitrige  circumscripte  Pleuritis. 

Tod  nach  3 Tagen. 

34.  Quincke,  Ueber  Pneumotomie,  pag.  25. 

34jaliriger  Mann.  Chronische  putride  Ab-cesse  im  linken  Ober-  und  Unterlappen 
nach  Influenzapneumonie.  1 '/Jährige  Krankheitsdaner.  Patientsehr  heruntergekommen.  Resection 
der  111.  Rippe  in  der  Axillarlinie.  Eröffnung  der  Höhle  mittels  Messer  und  Thermokauters. 

Tod  1 V,  Stunden  nach  der  Operation. 

35.  A.  Lenz,  Ein  Fall  von  Pneumotomie.  Centralbl.  f.  Cbir.  1896,  Nr.  25. 

47jähriger  Mann  Decemb**r  1895  erkrankt  mit  Schmerzen  in  der  linken  Brust. 

Husten,  übelriechendem  Auswurf.  Allmälige  Verschlimmerung.  Ende  März  hinten  im  Bereich 
der  VII. — IX.  linken  Rippe  tbeils  tympanitische.  theils  absolute  Dämpfung  mit  amphorischem 
Athmen  und  klingendem  Rasseln.  Eröffnung  des  gangränösen  tiefliegenden  Lungenabscesses  mittels 
Paquelin  und  stumpf  in  < hloroformnarkose  bei  rechter  Seitenlage,  nach  Resection  von  4*/*  Cm 
der  IX.  Rippe.  Vorliegendes  Lungeugewebe  derb,  mit  der  Pleura  costalts  leicht  verwachsen. 

Am  2.  Tage  nach  der  Operation  starke  Blutung  aus  der  Caveme.  Tamponade  mit  Jodoform- 
gaze. Am  4-  Tage  rechtsseitige  Pneumonie.  Tod. 

36.  A.  EsqüERDO,  Revista  de  Ciencias  Mcdicas  di  Barcelona.  1896,  Nr.  11. 

42jähriger  Mann.  Ende  1894  anscheinend  rechtsseitige  Influenzapneumonie.  .Seitdem 

Brustschmerzen.  Husten,  übelriechender  Auswurf.  Januar  189G  Dämpfung  RH  von  der  Spina 
bis  zum  Anyulus  scapulae,  daselbst  abgeschwächtes  Athemgeräusch.  Resection  der  VII.  Rippe. 

Verbindung  der  beiden  nicht  verwachsenen  Pleurablätter  durch  Catgutnähte,  Eröffnung  der 
raittelapfelgrossen  Caveme  mittels  Paquelin.  Vorliegendes  Lungengewebe  derb  intlltrirt.  Tampo- 
nade der  Höhle  mit  Jodoformgaze.  Bei  späterer  Ausspülung  mit  Borsäurelösung  Husten  und 
Erstickungsanfälle.  8 Tage  nach  der  Operation  Ersatz  der  Tamponade  durch  Drain.  Nach  ca. 
l'/i  Monaten  Heilung. 

6.  Chronische  putride  Bronchiektasien. 

37.  Hofmokl,  Zwei  Fälle  von  circumscripter  Höhlenbildung  in  der  Lunge 
nacb  Pneumonie  und  putrider  Bronchitis , geheilt  durch  Pneumotomie  mit  con- 

Encyclop.  Jahrbücher.  VI.  34 

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PNEUMOTOMIE. 


secutiver  Drainage.  Wiener  med.  Presse.  1892,  Nr.  48/49.  Vergl.  dazu  Wiener 
klin.  Woehenschr,  1893,  pag.  68. 

Fall  b)  25jähriger  Mann.  Bronchitis  chronica.  1892  im  Aqgost  plötzliche  Expectoration 
von  reichlichem  Spntnm.  Von  da  ab  Sputum  fötid.  Profuse  Nachtschweisse t bedeutende  Ab- 
magerung. Orthopnoe.  In  der  linken  Spitze  bis  zur  111.  Rippe  Dämpfung  und  Cavernensymptome. 
Keine  Tuherkelbacillen.  Innere  Medication  vergeblich.  Befinden  progressiv  verschlechtert.  LHU 
trockene  Pleuritis.  Am  29.  September  Operation.  Incision  im  II.  Intercostalraum.  Pleurablätter 
verwachsen.  Stumpfe  Eröffnung  der  Höhle  gelingt  nicht.  Daher  Tamponade  mit  Jodofonngaze 
in  der  Hoffnung  auf  Spontaneröffnung  der  Höhle.  Da  letztere  nicht  erfolgt,  nach  4 Tagen 
Resection  der  III.  Rippe,  Eröffnung  der  Höhle  mit  dem  Paquelin  (nach  3maligcm  vergeblichen 
Versuch).  Beim  Versuch,  den  Wundcanal  stumpf  zu  erweitern,  profuse  Lnngenblutung.  Schleunige 
Tamponade  der  Lungenwunde  mit  Jodoformgaze  und  subcutane  Ergotininjection  bringt  die 
Blutung  zum  Stehen.  Fieber  nach  der  Operation  geschwunden,  Sputum  vermindert  und  gebessert. 
Am  14-  November  (6  Wochen  nach  Eröffnung  der  Höhle)  Patient  mit  fast  völlig  vernarbter 
Wunde  entlassen;  Körpergewicht  hatte  nach  der  Operation  ca.  16  Pfund  zugenommen,  später 
noch  28  Pfund.  In  der  Narbe,  die  schon  gänzlich  verheilt  war,  ist  bei  einem  Hustenstosse 
eine  kleine  Oeffnung  entstanden,  die  aber  nichts  entleert. 

38.  Krautwig,  Lungenchirurgie.  Inaug.-Diss.  Bonn  1893., 

46jährige  Frau.  Putride  Bronchiektasien  nach  Pneumonie  im  rechten  Unterlappen. 
Incision  im  X.  Intercostalraum.  Einlegen  von  Chlorzinkpaste  auf  die  freigelegte  Rippenpleura. 
Aetzung  mehrfach  wiederholt.  Nach  4wöchentlicher  Behandlung  Probepunction  erst  negativ,  dann 
nach  2 Tagen  Entleerung  einiger  Tropfen  fötiden  Eiters.  Einstich  mit  spitzem  Messer  längs 
der  Punctionsnadel  und  Eröffnung  eines  grösseren  Hohlraumes  in  der  Tiefe  von  5 Cm.  Drain. 
Reichliche  Entleerung  von  Eiter  durch  die  Wunde,  Husten  vermindert.  Später  alter  Zustand 
wie  vor  der  Operation.  Mit  Fistel  ungeheilt  nach  10  Wochen  entlassen.  Nach  circa  1 Jahr 
Lungenbefund  unverändert.  (Es  ist  unklar,  warum  hier  keine  Rippenresection  vorgenommen 
worden  ist.  Ref.) 

39.  Hofmokl,  Bronchtecta&ia  apteis  pulmoms  dextri . Pneumotomie. 
Heilung.  Wiener  mcd.  Presse.  1893,  Nr.  18. 

Aetiologisch  unklare,  mit  fötider  Exhalation  und  Expectoration,  massig  hohem  Fieber. 
Abmagerung  verbundene  Höhlenbildung  in  der  rechten  Lungenspitze.  Tuberkelbacillen  nicht 
gefunden.  Üebrige  Lunge  gesund.  Eröffnung  der  Höhle  im  zweiten  Intercostalraum  mittels 
rothglühenden  Thermokauters  nach  Durchtrennung  der  Weichtheile  durch  9 Cm.  langen  Schnitt. 
Entleerung  von  jauchigem  Eiter.  Drainage.  Jodolorm verband.  17  Tage  nach  der  Operation 
hörten  Expectoration  und  Husten  auf;  Drain  entfernt, 'Patient  entlassen.  Später  völlige  Heilung 
der  Wunde.  Abgesehen  von  geringer  Dämpfung  rechts  oben  ist  die  Lunge  normal.  Patient  fohlt 
sich  völlig  wohl. 

40.  Quincke,  Ueber  Pneumotomie,  pag.  27. 

66jähriger  Mann.  Sackförmige  Bronchiektasien  mit  secundärer  Gangrän  im  linken 
Unterlappen.  Multiple  Bronchiektasien  auch  rechts  vorhanden.  Ursache  chronische  Bronchiti«. 
Krankbeil sdauer  3 Monate.  Resection  der  IX.  linken  Rippe.  Probepunction  (nach  7 Tagen! 
erreicht  die  Höhle  nicht  Tod  am  folgenden  Tage  durch  Schwäche,  vor  Eröffnung  der  Caverne. 

41.  Quincke,  pag.  32. 

42jährige  Frau.  Sackförmige  und  eylindrische  putride  Bronchiektasien  ira  linken 
Unterlappen  wurden  angenommen,  wahrscheinlich  im  Anschluss  an  die  vor  einem  Jahre  durch- 
gemachte  Influenza.  Nach  Chlorzinkbehandlung  Resection  der  X.  Rippe.  Probepunction  ohn? 
Ergebniss.  Durch furchuug  der  Lunge  mit  dem  Thermokauter.  Tod  nach  4 Tagen  durch  all- 
gemeine Schwäche.  An  der  Stelle  der  Operation  nur  alte  Schrumpfung  und  kleine  Brouchiekiasien 
Grosse  Höhle  im  linken  Oberlappen. 

42.  Quincke,  pag.  34. 

12jähiiger  Knabe.  Multiple  putride  eylindrische  Bronchiektasien  der  ganzen  rechten 
Lunge  nach  chronischer  Bronchitis.  3*  Jährige  Krankheitsdauer.  Trotz  fehlender  Hohlensym- 
ptome  Resection  der  II.  und  III.,  VIII.  und  IX.  Rippe,  Durchfurchung  der  Lunge  mit  dem 
Thermokauter.  Nur  erweiterte  Bronchien,  keine  Höhle.  Mit  Fistel  ungeheilt  entlassen.  (Aehn* 
liebes  Verfahren  schon  vor  3 Jahren.) 

43.  Quincke,  pag.  35. 

iBjähriger  Mann.  Sackförmige  putride  Bronchiektasien  mit  secundärer  Abscessbildun? 
im  rechten  Unterlappen,  5 Jahre  bestehend,  im  Anschluss  an  Pneumonie.  Complication  einer 
Mitralinsufficienz.  Nach  Chlorzinkbehandlung  Resection  der  X.  Rippe,  Eröffnung  einer  Hohle 
mit  Thermokauter.  Drainage.  Mit  Fistel  gebessert  entlassen.  Nach  1 jährigem  relativen  Wohl- 
befinden Erweiterung  der  Fistel,  darauf  Tod  durch  Lungenblulung. 

44.  Quincke,  pag.  37. 

31  jähriger  Mann.  Sackförmige  putride  Bronchiektasien  im  linken  Unterlappen  nach 
Pneumonie.  Anscheinend  9jährige  Krankheitsdauer.  Nach  Chlorzinkbehandlung  IX.  und  X.  Rippe 
resecirt.  Spontaneröffnung  der  Höhle.  Eiterahrtnss.  Nach  4 Tagen  plötzlich  Tod,  wahrscheinlich 
durch  Lufteintritt  in  eine  Lungenvene. 


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PNEUMOTOMIE. 


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45.  Quincke,  pag.  41. 

49jähriger  Mann.  Multiple  putride  Bronchiektasien  beiderseits.  Aetiologie:  chronische 
Bronchitis  und  eine  vor  3 Wochen  voraufgegangene  Pneumonie.  Nach  Chlorzinkbehandlung 
Resection  der  X.  Rippe.  Thermokauter  eröffnet  keine  Hohle,  nur  einen  erweiterten  Bronchus. 

3 Monate  nach  der  Operation  gebessert  entlassen. 

7.  Chronische  putride  Eiterungen  nach  Fremdkörpern. 

46.  Sutherland,  Cast  of  bronchiectatic  abscess  due  to  the  impaction 
of  an  O'Dicyer's  tube.  Lancet,  Januar  1892. 

17jähriger  Mann.  Putride  Bronchiektasien  und  Abscess  im  linken  Unterlappen  nach 
Hinabstossen  einer  O’D wy e r’schen  Intubationsrohre.  3monatliche  Krankheitsdauer.  Rcsection 
der  III.  Rippe.  3 Tage  später  Punction  und  stumpfe  Dilatation  des  Punctionscanals.  Drainage. 

Mehrfache  Hämoptoe,  die  letzte  tödtlicli  am  19.  Tage  nach  der  Operation. 

47.  Quincke,  Ueber  Pneumotomie,  pag.  47. 

2ojährige  Frau.  Bronchiektasien  und  kleine  Abscesse  im  rechten  Unterlappen.  Fremd- 
körper-A etiologie  höchst  wahrscheinlich,  doch  nicht  aufgeklärt.  9monatliche  Krankheitsdauer. 

Im  fötiden  Sputum  elastische  Fasern.  Hohlensymptome.  Nach  Cblorzinkpaste  X . später  VIII. 
und  IX.  Rippe  resecirt.  Punction.  Thermokauter.  Keine  grössere  Höhle  eröffnet.  Drainage.  Be- 
finden gebessert.  Nach  2 Jahren  Fistel  geschlossen.  Linker  unterer  Lungenlappen  geschrumpft. 

Verminderung  des  nicht  mehr  fötiden  Auswurfs.  Somit  relative  Heilung. 

48.  Ibidem. 

47jähriger  Mann.  Chronischer  Abscess  und  Bronchiektasien  im  rechten  Unter- 
lappcn  nach  Aspiration  eines  Hühnerwirbels.  Fötides  Sputum.  23  Jährige  Krankheitsdaner. 

Nach  Chlorzinkhehaudlnng  VII. — IX.  Rippe  resecirt.  Mit  Thermokauter  mehrere  Bronchien 
eröffnet.  Drainage.  Aushusten  des  Knochenstückchens.  Mit  Fistel  entlassen,  doch  völlig  arbeits- 
fähig. Hat  allmälig  34  Pfund  zugenommen. 

B.  Tuberkulöse  Cavernen. 

49.  Sonxkxhurg,  Operative  Behandlung  von  Lungcncavernen  unter 
KoCH’scher  Behandlung.  Deutsche  mcd.  Wochenschr.  1891,  Nr.  1 und  Verhandl. 
d.  deutschen  Gesellsch.  f.  Chir.  1891. 

36jähriger  Mann.  Ca  verne  in  der  rechten  lieg  io  infraclaticuluri #.  Im  Sputum  reich- 
liche Tuberkelbacillen.  Eröffnung  der  Caverne  und  Tubcrkulininjcctionen.  Caverne  vernarbt. 

Allgemeines  Wohlbefinden  und  Gewichtszunahme.  Fast  rein  schleimiger  Auswnrt  ohne  Bacillen, 
ln  der  Umgebung  der  vernarbten  Caverne  relative  Dämpfung  (Induration).  Sonst  in  den  Lungen 
normale  Verhältnisse. 

Bei  einem  zweiten  Patienten  bestanden  bei  allmälig  fortschreitender  Phthise  mit 
wiederholter  Hämoptoe  deutliche  Höhlenerscheinungen  rechts  oben,  auch  war  die  linke  Spitze 
befallen.  Cavernenflstel  noch  nicht  vollständig  geschlossen,  doch  gut  granulirend.  — lm 
Ganzen  6 Fälle  operirt. 

50.  E.  Hahn,  Vorstellung  einer  durch  Operation  geheilten  Lungencaverne. 

Verhandl.  d.  Congr.  f.  Chir.  1891. 

23jährige  Patientin.  Links  oben  etwa  apfelgrosse  Caverne.  Eröffnung  mit  dem  Messer, 

Ausstopfung  der  Höhle.  Nach  der  Operation  deutliche  Besserung.  Gewichtszunahme  12  Pfund, 

Bacillen  verringerten  sich.  Als  die  Wunde  sich  schloss,  vorübergehende  Verschlechterung.  Mit 
Wiedereröffnung  der  Wunde  und  Drainage  Besserung.  — Ausser  dieser  Patientin  sind  noch 
2 Patienten  operirt.  doch  nach  3,  bezw.  2 Wochen  gestorben. 

51.  Leser,  Beitrag  zur  Eröffuung  von  tuberkulösen  Lungencavernen 
behufs  Behandlung  mit  KoCH’scher  Flüssigkeit.  Münchener  med.  Wochenschr. 

1891,  Nr.  8. 

42jährige  Frau,  decrepid.  Vorn  oben  links  Caverne.  Sputum  enthält  Tuberkelbadllen . 

Eröffnung  der  Caverne,  ohne  Blutung,  Entleerung  von  l1/,  Esslöffel  Eiter  Tamponade.  Tuber- 
cnlinbehandlung.  Nach  3 wöchentlicher  Behandlung  hat  sich  die  Caverne  um  die  Hälfte  verkleinert. 

— Nach  directer  freundlicher  Mittheilung  Leser’«  I.1896)  ist  Patientin  2‘/*  Monate  nach 
der  Entlassung  ans  der  Klinik,  also  4 Monate  nach  der  Operation  an  florider  Phthise  gestorben. 

Cavernenflstel  bis  zum  Tode. 

4*<jähriger  Mann.  Kleine  Caverne  in  der  rechten  Lungenspitze.  Operation.  Tuberculin- 
behandlung.  Einwirkung  zur  Zeit  der  Veröffentlichung  gering.  — Patient  ist  nach  der  letzten  Unter- 
suchung Leser’s  (Juni  1896)  nicht  sehr  abgemagert,  hustet  wenig.  Linke  Lunge  wohl  intact. 

In  der  rechten  Lunge  mehrere  Cavernen.  An  der  Stelle  der  Operation  tief  eingezogene,  nicht 
schmerzhafte , völlig  geschlossene  Narbe.  Zeichen  für  Caverne  hier  nicht  mehr  vorhanden. 

Operations wunde  hat  sich  nach  ca.  * Jährigem  Bestände  geschlossen. 

52.  Krkcke,  Lungenchirurgie.  Münchener  med.  Wochenschr.  1891. 

33jähriger  Patient  mit  Tuberkulose.  Caverne  im  rechten  Unterlappen.  Ziemlich  hef- 
tiges septisches  Fieber.  Resection  „der  Rippen“.  Verwachsung  beider  Pleurablätter.  Eröffnung 

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PNEUMOTOMIE. 


der  Höhle  mit  stumpfer  Pincette.  Ausstopfung  mit  .Todoformgaze.  Fieber  nach  der  Operation 
abgefallen.  Wnndverlauf  sehr  befriedigend.  Plötzlich  Hämoptoe.  Tod. 

53.  Kurz,  Ein  kleiner  Beitrag  zur  Lungenchirurgie.  Wiener  med.  Presse. 
1891,  Nr.  37. 

30j ihriger  sehr  kräftiger  Mann.  Im  linken  oberen  Lappen  Ca verne.  Sonstiger  Lunge  n- 
befund  normal.  Starke  Hustenattaquen:  Bernfsfähigkeit  sehr  vermindert.  Eröffnung  der  Caverne 
mit  Thermokauter  unter  massiger  Blutung  (ohne  Narkose).  Pleurablätter  ungenügend  verwachsen, 
daher  abgesackter  Pneumothorax  Temp.  39°,  Dyspnoe,  starke  Pulsfrequenz.  Nach  ti  Tagen 
Pneumothorax  verschwunden.  Fieberfrei.  Ausspülung  erzeugt  heftigen  Hustenreiz.  Jodoformein- 
blasung.  Nach  3 Monaten  Fistel  geschlossen.  Völliges  Wohlbefinden.  Ueber  der  linken  Spitze 
unbestimmtes  und  abgeschwächtes  Athmen.  Nach  1 4 Jahr  volle  Berufsfähigkeit.  3 Jahre  Wohl- 
befinden. Dann  rapide  diffuse  Tuberkulose  der  rechten  Lunge,  in  wenigen  Wochen  Tod. 

54.  CABELLI,  Caverna  pulmouare  trattata  cii tV  u rgica mente.  Raccogütore 
med.  20.  Mürz  1891.  (Ref.) 

Adhärente  tuberkulöse  Caverne  links  oben,  mit  Paquelin  eröftnet.  Ausgang  zweifelhaft 

55.  Malpoli,  Empiema  tubercolare  destro  con  ulcerazione  del  polmone: 
resezione  estesa  delln  parete  toracica  e pneumotomia ; guarigione . Gazz.  degli 
ospedali.  1892. 

56.  Kkautwig,  Lungenchirurgie.  Inaug.-Dissert.  Bonn  1893. 

42jähriger  Mann.  Seit  lly  Jahren  tuberkulös,  mit  initialer  Hämoptoe.  Seit  1 Monat 

Schmerzen  vorn  im  linken  II  Intercostalraum  am  Sternum,  seit  14  Tagen  daselbst  Schwellung. 
Die  letztere  ist  handtellergross,  geröthet:  auf  Druck  scheint  Luft  unter  Gurren  aus  ihr  zu 
entweichen,  ln  der  rechten  Spitze  und  im  ganzen  linken  Oberlappen  Rasseln.  Durch  breite 
Incision  der  Anschwellung  Eröffnung  eines  jauchigen  Abscesses,  der  von  der  Haut  an  ItJ  Cm. 
tief  bis  in  die  Lunge  führt.  Entleerung  von  Eiter  und  Luft.  Aushrennen  der  äusseren  Wunde 
mit  Paquelin,  Drain.  Ausstopfung  mit  Jodoformgaze.  Wund  verlauf  gut  Allgemeinbefinden  ge- 
hoben. Nach  14tägiger  Behandlung  mit  Fistel  entlassen.  Später  mehrfach  Hämoptoe. 

C.  Lungen-Echinokokken. 

57.  Maydl,  Ueber  Echinococcus  der  Pleura  und  die  ihn  vortüuschenden 
Localisationen  der  Echinokokkenkrankheit.  Wien  1891. 

Patient,  früher  an  Pleuraechinococcus  operirt,  zeigt  je  eine  Verwölbung  vom  und  hinten 
an  der  rechten  unteren  Thoraxpartie.  Daselbst  Dampfung  und  Aufhebung  des  Athemgeräusehes 
Aushusten  einer  Echinocoecnsblase.  Nach  Resection  der  VII.  und  IX.  Rippe  stösst  man  vorn, 
bezw.  hinten  auf  eine  Echinococcusmembran.  Incision.  Extraction  der  Blase.  Aelmlich  wird 
mit  der  hinteren  Echinococcusblase  verfahren.  Drainage  der  Höhlen.  Hintere  Wunde  nach  Z Monaten 
geheilt.  Aus  der  vorderen  entleert  sich  ab  und  zu  Eiter  und  Blasen,  Einspritzung  von  Flusig- 
keit in  dieselbe  ruft  stets  krampfhaften  Husten  Inrvor.  2 Monate  nach  der  Operation  Hämo- 
ptoe und  starker  Husten,  Spontaneröffnung  der  Narbe,  Entleerung  einer  kindskopfgrossen 
Echinococcusblase.  Rippenresection,  Drainage  der  eigentlichen  Lungenhöhle.  Nach  der  Operation 
sistirt  der  Bluthusten.  Oeftere  Entleerung  von  Blasen  durch  die  frischen  Wunden  4 Wochen 
später  Aushusten  einer  zusammengerollten  Blase  mit  Blut.  Drain  allmalig  fortgelassen.  Hohle 
noch  nachweisbar,  bat  anscheinend  Abfluss  durch  die  Bronchien.  Reichlicher  eitriger  Aufwurf, 
morgendlicher  quälender  Husten.  Etwa  4 Monate  nach  der  ersten  Operation  weiden  kleine 
collabirtc  Blasen  ausgehustet.  Höhlensyroptome  noch  vorhanden.  Nach  einem  weiteren  Viertel- 
jahr Höhlensymptome  nicht  mehr  nachweisbar,  kein  Husten  oder  Auswurf.  Körpergewicht  er 
heblich  gestiegen. 

58.  Netter,  Kyste  hydatique  du  sommet  du  poumon  g au  che;  pneu  n.o- 
tomie ; guerison.  Bull,  et  inem.  de  la  Soc.  des  liöpit.  de  Paris.  1892. 

59.  Bra^uehaye,  Kyste  hydatique  du  poumon  gauche  suppurtf.  Bull,  de 
la  soc.  anat.  de  Paris.  1892,  VI,  pag.  474. 

23jäbriger  Mann,  bekommt  plötzlich  Bluthusten  und  abendliches  Fieber,  magert  ab. 
Im  Verlauf  der  Krankheit  Schmerzen  in  der  linken  vorderen  Axillarlinie , in  der  Hohe  des 
X.  Intereostalraums.  Bei  der  Untersuchung  Dämpfung  vom  Angulus  scagulae  abwärts,  dasellwt 
auch  Athemgeräusch  abgesch  wacht.  Leichte  Dyspnoe.  Nach  3 Wochen  plötzlich  fötides  Sputum. 
An  der  Stelle  der  Dämpfung  amphorisches  Athmen  und  Bronchophonie.  In  der  Annahme  eine« 
Pyopnenmothorax  Iiicision  im  IV.  Intercostalraum.  Dabei  wird  eine  grosse  Kchinococrushöhle 
der  Lunge  constatirt,  welche  mit  mehreren  Bronchien  eommnnidrt.  Ausspülung  und  Drai- 
nage. Heilung. 

60.  Bouilly  , Kyste  hydatique  du  poumon.  Pneumotomie.  Guerison. 
Bull,  et  nu*iu.  de  la  soc.  de  chir.  de  Paris.  XVII I,  pag.  577. 

Sitz  des  in  die  Bronchien  durchgebrochenen  Echinococcus  im  vorderen  und  seitlichen 
Theil  des  linken  Oberlappens.  Incision  im  III.  Intercostalraum,  in  der  Axillargegend.  Resection 
der  IV.  Rippe.  Pleurablätter  verwachsen.  Eine  circa  zweifaustgrosse  Echinococcusblase  wird 
extrahirt.  Austupfung  der  Höhle  mit  Subliuiatbäuschchen.  Drainage.  Heilung  in  5 Wochen 


PNEUMOTOMIE. 


533 


61.  Delageniere,  Kyste  hydatique  du  poumon  gauche  rompu  dans  la 
plivre,  trn iti  successivement  par  la  pneumotomie,  puls  l’ extirpation  du  kyste. 
Bull,  de  la  Soc.  de  chir.  Juni  1893. 

H6jähri|te  Fran.  Zuerst  Zeichen  von  Pleuritis.  Durch  Punction  1800  und  1200  Ccm. 
transparente  grünliche  Flüssigkeit  entleert.  Nach  Wiederansammlung  der  Flüssigkeit  Eröffnung 
der  Pleurahöhle  und  Rippenresection.  Dabei  wird  eine  Echinococcushöhle  an  der  Basis  der 
Lange  entdeckt,  eröffnet  und  drainirt.  Während  der  folgenden  Wochen  Entleerung  vieler  Echino- 
kokkenblasen. Wegen  Eiterung  und  Fieber  Resection  langer  Stücke  der  VI. — VIII.  Rippe. 
Manuelle  Ausschälung  der  Cvstenwand.  Rasche  Heilung. 

62.  Pagkxstf.Cheh,  lieber  Operation  deB  Lungenechinococcus.  Festschrift 
zur  Feier  des  50jährigen  Jubiläums  des  Vereins  der  Aerzte  des  Regierungs- 
bezirks Düsseldorf.  Wiesbaden  1894. 

lljähriger  Knabe.  Faustgrosser  Echinococcus  im  Unterlappen.  Eröffnung  mit  Paqnelin. 
Heilung  nach  3 Monaten. 


[ 0e* 
Ibtorben 

Geheilt 

Besse- 

rung 

Ohne 

Erfolg 

Acute  einfache  Abscesse 1 

4 

■ 



Chronische  einfache  Abscesse — 

— 

i 

— 

Chronische  einfache  Bronchiektasien 2 

1 

3 

— 

Acute  gangränöse  Abscesse 2 

1 

2 

Chronis*  he  gangränöse  Abscesse t> 

9 

1 



Chronische  putride  Bronchiektasien ...  4 

2 

1 

2 

Chronische  Eiterungen  nach  Fremdkörpern  1 

— 

2 

— 

Echinokokken — 

6 

— 

— 

Tuberkulose 3 

5 

3 

1 

Resumiren  wir  die  Heilerfolge  der  aufgeführten  Fälle  von  Pneumotomie, 
so  ergicbt  sich  als  Facit  vorerst  die  Thatsache,  die  auch  von  allen  Autoren  der 
letzten  Jahre  constatirt  worden  ist,  dass  nämlich  von  den  Lungeneiterungs- 
k rankheiten  die  acuten  einfachen  Abscesse  eine  gute  Prognose  quoad  vitam 
et  valetudinem  gehen.  Der  einzige  Todesfall  unserer  Reihe  war  durch  Empyem  und 
Puerperalfieber  mitverschuldet.  Bei  den  übrigen  Processen  ändert  sich  die  Grup- 
pirung,  je  nachdem  wir  den  Ausgang  in  absolute  Heilung  oder  in  Tod  als  Angel- 
punkt der  Statistik  ansehen.  Die  gangränösen  Abscesse  liefern  einen  grossen 
Heiluugs- , aber  auch  einen  grossen  Mortalitätsquotienten.  Die  chronischen  ein- 
fachen Abscesse  und  Bronchiektasen  haben  zwar  nicht  viele  Todesfälle  zu  ver- 
zeichnen, geben  aber  für  völlige  Heilung  nur  wenig  Aussichten ; vielmehr  Uber- 
wiegen hier  die  Fälle  mit  unvollkommener  Heilung,  beziehungsweise  Besserung  (Fistel, 
Fortbestand  von  Höhlenerseheinungen,  Auswurf  etc.).  Die  schlechteste  Prognose 
sowohl  quoad  vitam  als  aueh  quoad  sanationem  gewähren  die  chronischen  putriden 
Bronchiektasien  und  Fremdkörpereiterungen.*)  Die  Erklärung  für  diese  Verhält- 
nisse ist  in  dem  bestehenden  Grundleiden  zu  suchen.  Bei  den  acuten  ein- 
fachen Abscessen  liegen  die  Bedingungen  für  die  Heilung  am  günstigsten.  Bei  Be- 


*)  Ein  etwas  abweichendes  Verhalten  zeigt  die  Statistik  — abgesehen  von  den  acuten 
einfachen  Abscessen  — in  der  über  einen  grösseren  Zeitraum  sich  erstreckenden  Qnincke- 
uchen  Aufstellung;  namentlich  ist  hier  der  günstigere  Heilungsquotient  der  acuten  gangränösen 
Abscesse  hervorzuheben. 


Quincke ‘sehe  Tabelle. 


Amte  einfache  Abscesse  

Acute  gangränöse  Abscesse 

Chronische  einfache  Abscesse  und  Bronchiektasien 

Chronische  pntride  Abscesse 

Putride  Bronchiektasien . 

Pntride  Proeesse  mit  Fremdkörpern 


1 Unvoll- 

Ge-  n u ii* 1 Kein  komme- 
storben  Gehe,It  Erfolg  ner  Er- 
1 folsr 

1 

j i i l 

6 

1 7 — 1 

2 

1 14  1 

3 

4 - 2 

5 

— 2 3 

1 3 

1 2 1 

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534  PNEUMOTOMIE 

obaehtung  aller  Cautelen  gelingt  es  leicht,  die  für  die  Erkenntniss  ihrer  Anwesenheit 
und  ihres  genauen  Sitzes  relativ  wenig  Schwierigkeiten  darbietende  Höhle  zn  er- 
öffnen und  zu  entleeren.  Nach  Entfernung  des  Eiters  collabiren  die  Wauduugen  der 
Caverne,  und  bei  der  geringen  Veränderung  des  Lungenparenchyms  im  Umkreis  der 
Höhle  tritt  schnell  eine  heilkräftige  Reaction  ein,  die  zur  Verklebung  und  Vernarbung 
der  Wundflächen  führt.  Bei  den  einfachen  chronischen  Abscesseu  und  Bronchi- 
ektasen sind  diese  günstigen  Bedingungen  für  die  Heilung  der  Höhle  nicht  vorhanden. 
Die  Umgebung  derselben  ist  durch  die  langdauernde  Entzündung  derb,  schwartig, 
narbig  verändert  worden , auch  nach  der  Entleerung  des  Eiters  collabiren  die 
Cavernenwünde  nicht,  sondern  streben  in  ihrem  starren  Gefüge  die  Configuration 
aufrecht  zu  erhalten , die  narbige  Strnctur  der  Wand  und  ihrer  Nachbarschaft 
ist  einer  die  Verheilung  fördernden,  beziehungsweise  ermöglichenden  Proliferation 
nicht  günstig,  bei  den  multiplen  Bronchiektasen  endlich  ist  es  schwer,  ja  oft 
unmöglich,  jeden  Krankheitsherd  zu  treffen.  So  gelangt  in  diesen  Fällen  trotz 
zweckmässiger  operativer  Maassnahmen  der  l’rocess  nicht  zur  Ausheilung.  — Bei 
der  chronischen  Gangrän  kommt  es  seltener)  und  in  weniger  ausgedehntem  Masse 
zu  einer  bindegewebigen  Induration  der  Höhlenwandungen  oder  des  ihnen  be- 
nachbarten Lungenparenchyms.  Die  chemische , durch  die  Fäulnisserreger  stet« 
unterhaltene  Zersetzung  des  abgestorbenen  Gew-ebes  lässt  eine  schwielige  Verände- 
rung des  Parenchyms  nicht  zu,  und  so  finden  sich  anatomisch  bei  den  acuten  und 
chronischen  gangränösen  Abscessen  im  Grossen  und  Ganzen  dieselben  Verhältnisse. 
Ist  die  Demareation  des  brandigen  Processes  vollendet  — und  nur  solche 
Fälle  bieten  überhaupt  dem  operativen  Eingriff  Aussichten  auf  Erfolg  — , so 
haben  wir  für  die  Ausheilung  der  Höhle  ähnliche  Bedingungen  wie  bei  dem  ein- 
fachen aeuteu  Abscess.  Wir  sehen  deshalb  auch  bei  über  50%  unserer  chroni- 
schen fbei  QUINCKE)  ebenso  der  acuten  Gangränfälle  eine  völlige  Ausheilung  zn 
Stande  kommen.  Andererseits  lassen  die  schwere  Krankheit,  die  gewöhnlich  die 
Veranlassung  zur  Gangrän  abgiebt , die  intensive  Erschöpfung  des  Organismus 
durch  den  jauchigen  Proeess,  die  hohe  Gefahr  einer  — oft  multilobulären  — Pneu- 
monie überaus  häufig  gar  nicht  den  durch  Aspiration  des  jauchigen  Abscessinhaltcs 
entstandenen  Hcilungsprocess  in  sein  erstes  Stadium  eintreten  und  gestatten 
der  Operation  nicht,  trotz  ihres  augenblicklichen  Erfolges,  das  Leben  der  Patienten 
zu  verlängern.  Und  so  müssen  wir  unter  unseren  gangränösen  Abscessen  cirr* 
40%  Todesfälle  constatiren. 

Die  Nachtheile  der  chronischen  narbigen  Entzündung  des  Lungenparen- 
chyms und  der  den  Körper  vergiftenden  putriden  Eiterung  vereinigen  sich,  um  die 
Erfolge  der  Pneumotomie  bei  den  chronischen  putriden  Bronchiektasen,  be- 
ziehungsweise Fremdkörpereiterungen  sowohl  nach  der  Richtung  der  völligen 
Heilung  wie  nach  derjenigen  der  Lebenserhaltung  recht  ungünstig  zu  gestalten.  Von 
den  Fällen  unserer  Statistik  sind  nur  16%  völlig  geheilt,  dagegen  4 1 % gestorben. 

Die  Indicationen  für  die  Pneumotomie,  die  sich  aus  diesen  Fest- 
stellungen ergeben,  dürften  sich  folgendermassen  prücisiren.  Man  lasse  für  die 
acuten  einfachen  Abscesse  den  allgemein  gütigen  chirurgischen  Grundsatz  in  sein 
Recht  treten : ubi  pus,  ibi  cvacua.  Gelangt  auch,  wie  die  Erfahrung  lehrt,  mancher 
Lungenabscess  durch  Perforation  in  einen  Bronchus  und  folgende  Expectoration 
des  Eiters,  sehr  selten  wohl  nach  Art  eines  „Empyema  necessitatis“ , spontan  zur 
Ausheilung,  so  ist  einmal  dieser  Ausgang  durchaus  nicht  die  Regel,  vielmehr  kann 
durch  Perforation  des  Eiters  in  die  Pleurahöhle , durch  Ueberschwemmung  der 
Luftwege  mit  Eiter,  durch  Metastasen  des  Eiters  in  audere  Organe  (Gehirn !)  der 
Tod  eintreten*);  ferner  kann  der  Abscess  chronisch  werden  und  damit  selbst  für 

*)  Vergl.  J.  Gumprecht,  1.  c.  pag.  13.  rt,iitnndo  morbus  adhuc  stbi  relinquitur, 
triplex  ntntus  esse  potest ; Tel  pus  in  pectoris  canim  se  effundit , empyema  nempe  ontur, 
et  mors  aegroti  scemtm  claut/it ; rel  puris  copiu  per  os  eraettatur,  quod  si  semel  et  sinul 
fit , aeyroties  antequum  ei  auxiliun*  ferre  possumtis,  sujfocabitur  ; rel  futrrus  interdum  lumor 
oedematosus , tätigen ti  digito  cet/ens,  externo  obsercatur .* 


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PNEUMOTOMIE. 


535 


die  Pneumotomie  eine  viel  schlechtere  Prognose  darbieten,  als  der  acute  Abscess 
erfahrungsgemäss  besitzt. 

Ks  empfiehlt  sich  aber  auch,  den  chronischen  einfachen  Abscess , ferner 
die  chronische  einfache  und  putride  bronchiektatische  Höhle,  sobald  dieselbe 
das  Krankheitsbild  beherrscht,  ferner  den  acnten  und  chronischen  gangränösen 
Abseess  und  die  putride  Eiterung  nach  Fremdkörper  der  operativen  Behandlung 
zu  unterwerfen.  Für  die  gangränösen  Processc  und  Fremdkörpereiterungen  muss 
indess  der  Nachweis  von  deutlich  localisirbaren  Höhlensymptomen  gefordert  werden, 
und  multiple  Bronchiektasen,  zumal  mit  putrider  Eiterung,  sind  vor  der  Pneumo- 
tomie zu  bewahren.  Lässt  sich  zwar  die  Möglichkeit,  dass  die  Pneumotomie 
auch  bei  den  im  letzten  Satze  ausgeschlossenen  Fällen  eine  wesentliche  Besserung 
.schafft,  nicht  völlig  von  der  Hand  weisen,  so  ist  doch  einmal  die  Wahrschein- 
lichkeit hierfür  nach  den  bisher  gesammelten  Erfahrungen  nicht  gross,  zweitens 
kann  auch  spontan  ein  günstiger  Ausgang  in  demselben  Proeentsatz  der  Fälle 
eintreten  *),  und  diesen  beiden  Momenten  gegenüber  ist  endlich  in  Betracht  zu 
ziehen,  dass  die  Pneumotomie  an  sich  — besonders  in  den  genannten  Fällen  — 
kein  so  ungefährlicher  Eingriff  ist , dass  nicht  dadurch  allein  der  Tod  des 
Patienten  herbeigeführt  oder  doch  mindestens  beschleunigt  werden  könnte.  Als 
Todesursachen,  die  mit  der  Operation  in  Zusammenhang  gebracht  werden  können, 
beziehungsweise  müssen,  sind  bei  den  pneumotomirten  Kranken  u.  A.  anzuführen : 
allgemeine  — bisweilen  durch  die  Operation  nur  verstärkte  — Prostration,  tödt- 
liche  Lungenblutung  (durch  Csur  des  Drains  oder  durch  Gefässzerreissung  veran- 
lasst), Aspirationspneumonie  infolge  Ausspülung  der  Höhle  mit  antiseptischer  Flüs- 
sigkeit oder  durch  Verschleppung  des  Abscessinhalts  während  der  Operation  in 
bis  dahin  gesunde  Lungentheile,  Pleuritis,  beziehungsweise  Pyopneumothorax,  Luft- 
eintritt in  eine  Lungenvene. 

ln  Anbetracht  dieser  Gefahren  muss  in  allen  Fällen  vorerst  eine  mög- 
lichst völlige  Klarlegung  der  Verhältnisse  erzielt  sein,  bevor  man  sich  zur  Aus- 
führung der  Pneumotomie  entschliesst.  Die  Berücksichtigung  des  allgemeinen 
Kräftezustandes , der  Ausschluss  anderweitiger  Krankheitsherde , sei  es  in  der- 
selben Lunge'  (Bronchiektasen),  in  der  anderen  Lunge  (Gangrän)  oder  in  anderen 
Organen  (Metastasen  in  der  Leber,  im  Gehirn),  der  Ausschluss  sonstiger  Com- 
plieationen  (Amyloid  der  Organe,  Nephritis,  Tuberkulose),  die  den  Effect  der 
Operation  völlig  illusorisch  machen  und  das  Verlustconto  der  Pneumotomie  in 
zweckloser  Weise  erhöhen,  gehört  zu  den  „Conditiones  sine  qua  non “ des 
Lungenschnitts.  Wünschenswert  ist  zweitens  der  Nachweis  einer  Höhle  und 
ihres  Sitzes.  Die  Schwierigkeit,  die  bisweilen  mit  der  Lösung  dieser  Aufgabe 
verknüpft  ist,  wird  von  allen  Beobachtern  hervorgehoben.  Zwar  pflegen 
diagnostische  Zweifel  nicht  zu  bestehen,  falls  die  Caverne  sich  in  der  Lungen- 
spitze oder  nahe  der  Oberfläche  des  übrigen  Parenchyms  befindet.  Sobald 
aber  der  Hohlraum  von  einer  dickeren  Lungengewehsschicht  überlagert  ist, 
können  die  scmiotisclien  Erscheinungen  so  geringfügig  oder  undeutlich  werden, 
dass  eine  sichere  Erkenntniss  nicht  möglich  ist.  Eine  besondere  Schwierigkeit 
ist  darin  gegeben,  dass  eine  Vielheit  von  kleinen,  namentlich  mit  einander  com- 
munieirenden  Höhlen  völlig  den  Eindruck  einer  einzigen  grossen  Caverne  hervor- 
znrufen  im  Stande  ist,  und  nicht  selten  hat  sich  der  irrthümliche  Befund  erst  hei 
der  Operation  oder  auf  dem  Leichentisch  herausgestellt.  **)  Besonders  lehrreich  ist 
in  dieser  Beziehung  Fall  8,  pag.  32,  in  der  oft  citirten  QUINCKE' sehen  Monographie, 

*)  Ein  von  mir  im  Krankenhause  Friedrichshain  beobachteter  Patient  mit  schwerer 
putrider  chronischer  Bronchitis  und  Bronchiektase  (Aspiration  von  putridem  Eiter?  von  Knochen- 
seipiester?),  bei  dem  wegen  bedrohlicher  Erscheinungen  ein  operativer  Eingriff  geplant , aller 
angesichts  mangelnder  Cavernensvmptome  abgelehnt  wurde,  lebt  heute  noch  nach  7 Jahren  bei 
relativem  Wohlbetinden.  — Bezüglich  der  Lungenfremdkürper  vergl.  u.  A.  die  Mittheilung  von 
Schild,  Centralbl.  f.  klin.  Med.  1893,  pag.  70t>- 

**)  Vergl.  dazu  u.  A.  auch  Schnitze,  Centralbl.  f.  klin.  Med.  1891,  pag.  345. 


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530 


PNEUMOTOMIE. 


wo  die  Hiihle  im  linken  Unterlappen  angenommen  und  dementsprechend  operirt 
wu  rde,  während  in  Wirklichkeit  dort  nur  erweiterte  Bronchien , die  kleinapfel- 
grosse  Höhle  aber  — wie  der  Sectionsbefund  lehrte  — hn  Oberlappen  vorhanden 
wa  r.  Zur  Klarlegung  solcher  Situationen  kann  häufig,  wenn  überhaupt,  nur  die 
auf  merksamste  und  wiederholte  Untersuchung  und  die  Vereinigung  aller  diagnosti- 
schen Hilfsmittel  führen;  einzelne  Symptome,  wie  die  reichliche  („maulvolle“) 
Expectoration  in  wechselnder  Menge,  die  Putrescenz  des  Sputums,  der  Wechsel 
der  auscultatorischen  Erscheinungen  können  täuschen,  speciell  auch  das  Ergebnis« 
der  Probepunction.  Denn  mit  der  PttAVAz'schen  Nadel  vermag  man  auch  aus 
einem  erweiterten  Bronchus  eitrigen  Schleim  heranszuholen.  Umgekehrt  kann 
auch  das  Resultat  der  Probepunction  bei  vorhandener  Caverne  negativ  ausfallen. 
Die  Anwendung  der  Probepunction  hat  man  im  Ganzen  möglichst  zu  beschränken, 
da  diese  (selbst  am  Abdomen  und  im  Gehirn  etc.  relativ  ungefährliche)  Mass- 
nahme bei  der  Exploration  von  Cavernen  insofern  unheilvoll  werden  kann,  als 
durch  den  Stichcanal  eine  Infectiou  der  Pleura  bewirkt  und  ferner  durch  den 
vom  Einstich  hervorgerufeneu  Reiz  Husten  und  damit  eine  Aspiration  des  Cavernen- 
eiters  mit  folgender  Pneumonie  erzeugt  werden  kann.  Israel*)  giebt  daher  den 
lieherzigcnswerthen  Rath,  vor  der  Probepunction  durch  Nafreotica  die  Reflexerreg- 
barkeit herabzusetzen.  Gelingt  der  stringende  Nachweis  einer  Caverne  nicht,  so 
wird  man  in  vielen  Fällen  (s  oben)  von  der  Pneumotomie  abstehen,  andere  Male 
aber  trotzdem  an  der  Stelle,  an  welcher  man  den  Abscess  vermuthet,  — nament- 
lich wenn  das  Allgemeinbefinden  des  Patienten  einen  operativen  Eingriff  erfor- 
dert — die  Lunge  eröffnen.  Wie  die  angeführte  Casuistik  lehrt,  vermag  man 
anch  in  den  letzteren  Fällen  nicht  selten  einen  Erfolg  zu  erzielen. 

Die  Technik  der  Pneumotomie  selbst  unterliegt  nur  wenigen  Varia- 
tionen. Ihre  Aufgabe  ist  einmal  die  Entleerung  des  Eiters  und  dauernde,  voll- 
ständige Ableitung  des  Ilöhlensecrets,  zweitens  die  für  die  Heilung  nothwendige 
Verkleinerung  und  Aufhebung  des  Hoblrauins.  Zur  Erreichung  dieses  Ziels  ist  dasselbe 
Verfahren  nothwendig,  wie  es  sich  in  den  letzten  Jahren  bei  der  Empyembehand- 
lung bewährt  hat : breite  Incision  und  Drainage  für  den  ersten  Theil  der  Aufgabe, 
Rippenresection  für  den  zweiten,  ln  manchen  Fällen  wird  die  Incision  mit  folgender 
Drainage  des  Abscesses  allein  zum  Ziel  führen,  so  bei  sehr  oberflächlich  gelegenen 
Abscessen, insbesondere  bei  acuten  Formen,  jugendlichen  Individuen  und  bei  gerin- 
gerem Umfang  des  Hohlraums,  ln  der  Regel  aber  wird  man  gut  thun,  der  Incision 
die  an  sich  unbedeutende  und  technisch  leicht  ausführbare  Rippenresection  voraus- 
zuschicken.**)  Bei  frischeren  und  kleineren  Abscessen  wird  die  Rcsection  von  1 bis 
2 Rippen  auf  5 — 7 Cm.  Länge  ausreichen,  bei  älteren  grosseren  Abscessen  wird 
oft  die  Resection  von  2 — 4 Rippen  auf  6 — 9 Cm.  Länge  nothwendig  werden. 
Was  die  Resection , beziehungsweise  die  ganze  Pneumotomie  schwieriger  macht 
als  z.  B.  die  radicale  Empyemoperation,  ist  die  Frage  der  Pleurablätterver- 
wachsung. Von  der  überwiegenden  Mehrzahl  der  Autoren  wird  mit  Recht  ver- 
langt, dass  man  den  Eingriff  in  die  Lungensybstanz  nicht  vornehmen  soll,  ohne 
dass  die  Pleurablätter  an  der  Stelle  der  Operation  verwachsen  sind , weil  im 
anderen  Falle  Pneumothorax  und  eine  unter  Umständen  lebensbedrohlicbe  Infec- 
tion  der  Pleura  erfolgen  kann.***)  Die  Erkenntniss,  ob  an  der  Stelle  der  Pneu- 
motomie eine  hinreichend  feste  Verwachsung  der  Pleura  costalin  mit  der  Pleura 
pulmonali « besteht,  ist  oft  sehr  schwer.  Ans  der  Dauer  des  entzündlichen 

*)  Israel,  Operative  Behandlung  des  Lnngenechinococcus.  Deutsche  tued.  Wochen- 
schrift. 188ti,  Nr.  19. 

**)  Bemerkenswert  h ist,  dass  in  einem  Falle  Quincke'»  die  Heilung  eines  acuten, 
im  Unterlappen  der  Lunge  gelegenen  Abscesses  lediglich  durch  Rippenresection  und  Chloriink- 
pastenbehandlnng  — ohne  Eröffnung  der  Höhle  — nach  Verlauf  von  circa  9 Wochen  suiUnde 
gekommen  ist. 

**•)  Vergl.  J.  J.  0 u m pre  ch  t , I.C.,  pag.  16.  „Qtir*/  ad  Tertium  deniijue,  pleurae 
nrrtij  r cum  pulmune  eoalitionem  adtinel,  neceeee  ent,  ut  chiruryuis , antequam  operationtm 
uuecipiut,  obeercetj  an  pteurne  cum  pulmone  cohucreatr  nec  ne .** 


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PNEUMOTOMIE. 


537 


Lungeuprocessrs  diese  Frage  zu  entscheiden,  ist  im  Allgemeinen  nicht  angängig, 
da  bisweilen  auch  bei  zwei-  und  mehrjährigem  Bestände  des  Abscesses  die  Pleura- 
höhle Uber  demselben  sich  nicht  als  abgeschlossen  erwies,  während  schon 
bei  geringdauernden  Abscessen  Adhäsionen  gefunden  wurden.  Als  diagnostische 
Hilfsmittel  für  die  Erkennung  von  Adhäsionen  werden  angegeben : Nachweis 
einer  vorangegangenen  (Anamnese)  oder  bestehenden  acuten  Pleuritis  (Druck- 
emptindliehkeit , Knarren  bei  der  Auscultation  etc.);  ferner  inspiratorische  Ein- 
ziehung der  unteren  Rippen,  mangelhafte  oder  fehlende  respiratorische  Ver- 
schiebung der  Lungenränder,  nach  Fknger*)  die  mangelnde  Verschieblichkeit 
einer  in  die  Lunge  eingestossenen  Nadel.  Dickere  pleuritische  Schwarten  ver- 
mag man,  wie  ich  mich  oft  überzeugt  habe,  an  dem  charakteristischen  Wider- 
stand , den  sie  dem  Einstossen  einer  Nadel  (Pravaz)  in  die  Lunge  entgegen- 
setzen , zu  erkennen.  Auch  soll  man  nach  der  Durchtrennung  der  Weichtheile 
bei  directer  Besichtigung  die  Verwachsung  aus  der  grauen,  beziehungsweise 
weisslichen  Trübung  der  Pleura  und  der  mangelnden  Bewegung  der  Lunge  er- 
schliessen.  **)  Indessen  sind  alle  diese  Zeichen  recht  oft  unverlässlich  und  trüge- 
risch. Wo  feste  Adhäsionen  zwischen  den  Pleurablättern  fehlen  oder  wo  man 
über  ihr  Vorhandensein  im  Zweifel  ist,  soll  man  sie  in  der  Regel  auf  künst- 
lichem Wege  erzielen.  ***)  Zur  Erreichung  dieses  Zweckes  sind  verschiedene 
Methoden  angegeben : Einspritzen  von  Jodtinctur  (Quincke),  Einstechen  mehrerer 
Nadeln  (DE  Cerenville)  oder  mehrerer  Troicarts  concentrisch  nach  der  Lungen- 
höhle hin  (v.  Baudeleben,  Berliner  klin.  Wochenschr.  1886,  Nr.  24),  Einlegen 
einer  Aetzpaste  in  die  Weichtheilwunde  auf  die  freigelegte  Costalpleura  (Krim  Kit 
und  Walter,  Journ.  complement.  des  Sciences  möd.  1830,  pag.  270  ff.),  speciell 
einer  Chlorzinkpaste  +)  (neuerdings  von  Quincke  ausschliesslich  angewandt), 
Tamponade  der  Weichtheile  mit  Jodoformgaze  für  6 — 9 Tage  (Neuber).  Ge- 
stattet indess  der  Zustand  des  Patienten  das  längere  Zuwarten , das  stets  für 
eine  durch  adhäsive  Pleuritis  zu  bewirkende  Verwachsung  der  Pleurablätter  noth- 
wendig  ist,  nicht,  so  vereinigt  man  die  Pleura  costalte  mit  der  Pleura  pu/mo- 
na/i.i  im  Umkreis  der  Weichtheilwunde  durch  eine  fortlaufende  Nahtfj-)  (de  Ckren- 
VILLE),  speciell  nach  Roux  durch  die  Suture  ü arrtire  point  (—  Hinterstichnaht, 
bei  der  jede  folgende  Nadel  zwischen  dem  Ein-  und  Ausstichpunkt  der  voran- 
gegangenen eingestochen  wird);  oder  man  führt  — wie  es  z.  B.  Israel  (1.  c.) 
gemacht  hat  — die  iDcision  „absatzweise  und  nur  in  der  Exspirationsphase  aus, 
während  Jodoformgazebäuschchen  dem  Messer  Schnitt  für  Schnitt  folgend,  sofort 
von  einem  Assistenten  auf  den  jeweils  vollendeten  Incisionsabschnitt  aufgedrückt 
werden  und  damit  die  Wunde  sicher  verschliessen,  ehe  noch  die  nächste  Inspira- 
tion Luft  ansaugen  kann  : ist  die  Incision  in  ganzer  Ausdehnung  vollendet , so 
wird  wiederum  nur  im  Beginn  der  Inspirationsphase  die  Wunde  nach  und 
nach  durch  den  Assistenten  auseinandergezogen  und  der  zum  Klaffen  gebrachte 
Abschnitt  des  Pleuraspaltes  sofort  durch  Hineindrucken  des  auf  ihm  liegenden 
Gazeballens  verstopft.11  Erweist  sich  bei  der  Pneumotomie  die  Pleura  durch  Naht 
oder  Jodoformmullbäusche  nicht  als  sicher  abgeschlossen,  so  empfiehlt  Krause 
(1.  c.i  leichte  Ausspülung  der  Pleurahöhle  und  Drainage. 

*)  Fenger,  Amor.  Journ.  of  the  mcd.  Sciences.  October  1881. 

**)  Krause,  Berliner  klin.  Wochenschr.  1895,  Nr.  16. 

***)  Nach  Kranse  1.  c.  ist  eine  feste  Adhärenz  nicht  nitthig,  wenn  sich  der  zu 
eröffnende  Lnngenthe'l  von  der  Ineisionswunde  der  Weichtheile  ans  als  derb  inflltrirt  erweist. 
Doch  soll  auch  in  diesem  Falle  die  Wunde  mit  Jodofortngaze  tamponirt  nnd  mindestens  5 Tage 
zwecks  Verklebung  der  Pleurablätter  gewartet  werden. 

t)  Interessant  ist  die  Angabe  Qnincke's,  dass  er  bisweilen  bei  der  präparatorischen 
Cblorzinkpastenbehandlung  eine  Abnahme  des  eitrigen  Sputums  constatirt  halte.  Dasselbe  hat 
übrigens  schon  Krimer  (Journ.  compl.  des  sc.  niüd.  1830)  constatirt;  W.  Koch,  der  diese 
Beobachtung  citirt  (Berliner  klin.  Wochenschr.  1674,  Nr.  16),  tiegleitet  sie  mit  einem  Frage- 
nnd  Ausrufnngszeichen  — in  Hinsicht  auf  die  Q ui nc k e sehe  Wahrnehmung  mit  Unrecht. 

ff)  Quincke  (I.  c.)  macht  darauf  aufmerksam,  dass  hei  oberflächlich  gelegenen 
Eiterherden  die  Naht  durch  die  Ütichcanäle  eine  eitrige  Infection  der  Pleura  erzeugen  konnte. 


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538 


PNEUMOTOMIE. 


Nach  diesen  vorbereitenden  Massnahmen  schreitet  man  zur  eigentlichen 
Pneumotomie.  Zweekmüssigerweise  nach  (nochmaliger)  Feststellung  der  Lage  des  Ab- 
scesses  durch  Proliepunction  und  unter  Leitung  der  liegenbleibenden  Nadel  dringt 
man  mit  einem  spitzen  Messer  oder  besser  — zur  Vermeidung  von  bisweilen  recht 
beträchtlichen  Blutungen  — mit  einer  stumpfen  l’ineette  oder  Kornzange  oder  am 
besten  mittels  eines  spitzen  Thermokauters  in  das  Lungengewebe  hinein.  Trifft 
man  den  Abscess  nicht,  so  senkt  man  den  Thermokauter  in  der  wahrscheinlichen 
Richtung  des  Abseesses  mehrmals  ein;  erfahrungsgemäss  bricht  dann  bisweilen 
der  Abscess  einige  Tage  darauf  nach  Ablösung  des  Brandschorfs  in  den  Wund- 
eanal durch.  Treten  Blutungen  ein,  so  stopft  man  die  Wundhöhle  mit  Jodoform- 
gaze  aus.  In  den  eröffneten  Abscess  legt  man  ein  Drain , oder  man  tampo- 
nirt  die  Höhle.  Ausspülungen  — namentlich  mit  antiseptischen  Flüssigkeiten  — 
werden  sowohl  bei  der  Operation,  wie  während  der  Nachbehandlung  am  besten 
vermieden:  in  einigen  Fällen  ist  durch  antiseptische  Ausspülungen  starker  Husten- 
reiz und  folgende  Aspirationspneumonie  mit  tödtlichem  Ausgang  erzeugt  worden 
(cf.  Brookhocse,  Lancet.  1886,  Nr.  24  ; Mosler,  Verhandl.  d.  C'ougr.  f.  innere 
Med.,  1883).  Die  Anlegung  von  Gegenöffnungen,  wie  sie  von  Btoxru  (1.  t.) 
empfohlen  und  in  einem  Mosi.Kli'schen  Falle  von  Yoot  ausgeführt  ist , dürfte 
höchst  selten  sich  als  nothwendig  erweisen. 

Im  l'ebrigeu  ist  bei  der  Nachbehandlung  für  guten  Abfluss  des  Secrets 
zu  sorgen.  Bei  zu  frühzeitiger  Verengerung  der  AbBcessöffnung  ist  dieselbe  durch 
Einlegen  von  Laminaria  oder  Pressschwamm  (nicht  unbedenklich  wegen  Blutungen 
oder  durch  den  Thermokauter  wieder  zu  erweitern.  Andererseits  darf  man  auch 
ein  Drain  wegen  der  Gefahr  der  Drurkusur  nicht  allzulange  liegen  lassen.  Eine 
locale  medieamentöse  Behandlung  der  Cavernen  — abgesehen  von  den  oben  er- 
wähnten Spülungen  — beschleunigt  den  lleilungsproeess  nicht.  In  Fällen,  wo 
eine  Heilung  nicht  erzielt  wird  und  eine  chronische  Fistel  verbleibt,  muss  eine 
Vorrichtung  zur  Aufnahme  des  Seerets  am  Thorax  angebracht  werden.  Qci.vcke 
empfiehlt  dafür  eine  zweiröhrige , unter  der  Kleidung  zu  tragende  plattkugel- 
förmige Glasflasche,  in  welche  ein  mit  dem  Drain  verbundener  Gummischlauch 
eintaucht.  Wird  die  Wunde  ganz  flach  und  will  das  freiliegende  Lungengewebe 
von  der  .Seite  her  nicht  vernarben , so  empfiehlt  Krause  (1.  c.),  die  Haut  an 
beiden  Seiten  von  ihrer  Unterlage  abzulösen  und  Uber  der  durch  einen  flachen 
Schnitt  angefrischten  Lungenwunde  durch  eine  exaete  Naht  zu  vereinigen. 

Mit  dieser  Schilderung  der  Technik  des  Lnngenschnitts  könnten  wir 
das  Capitcl  „Pneumotomie“  verlassen , wenn  wir  uns  nicht  gegenwärtig  halten 
müssten,  dass  wir  bisher  2 Krankheitsbilder  noch  in  keiner  Weise  berührt  haben,  die 
im  Eingang  unseres  Artikels  als  zugehörig  zu  dem  Operationsgebiet  der  Pneumotomie 
bezeichnet  worden  sind,  nämlich  die  tuberkulöse  Caverne  und  den  intactrn,  betw. 
vereiterten  Lungenechinococcus.  Wenn  wir  diese  beiden  so  differenten  Aff«" 
tionen  von  den  geschilderten  Lungenkrankheiten  abgesondert  zu  gemeinsamer  Be- 
sprechung bringen,  so  könnte  das  auf  den  ersten  Blick  verwunderlich  erscheinen. 
Die  Berechtigung  zu  unserer  Anordnung  leiten  wir  aus  einer  — im  Sinne  unserer 
Betrachtung  — gleichen  und  einer  völlig  entgegengesetzten  Eigenschaft  der  beiden 
Affectionen  her.  Lungenechinococcus  und  tuberkulöse  Caverne  zeichnen  sich  vor 
den  anderen  Lungenkrankheiten  dadurch  aus,  dass  die  Diagnose  sowohl  ihrer 
Existenz,  wie  ihres  Sitzes  in  der  Regel  wenig  Schwierigkeiten  begegnet.  Per 
Lungenechinococcus  verräth  sich  namentlich  durch  die  Zeichen  des  Tumors 
(Vorwölbung,  Verdrängung  der  Nachbarurgane , cireumscripte  Dämpfung  und 
Aufhebung  des  Athemgeräuschesi , durch  die  Anwesenheit  von  Haken  oder 
MembranstUckchen  im  Sputum  oder  gar  durch  ausgehustete  Blasen.  Die  auffälligen 
Symptome  der  in  der  Spitze  gelegenen  tuberkulösen  Caverne  bedürfen  an  dieser 
Stelle  keiner  Aufzählung.  Dass  gleichwohl  bisweilen  ein  versteckter  kleiner 
Echinococcus  und  eine  im  Centrum  des  Ober-  und  l'uterlappens  gelegene  tuber- 
kulöse Caverne  der  Erkenutuiss  Schwierigkeiten  entgegensetzen  können,  ist  von 


PNEUMOTOMIE. 


539 


vornherein  zuzugebeu : jedenfalls  ist  aber  diese  Schwierigkeit  seltener  nls  bei  den 
Lungenei  teru  ngen . 

Verhalten  sich  also  Echinococcus  und  tuberkulöse  Caverne  in  dieser 

wichtigen  Vorbedingung  zur  Pneumotomie  gleich  günstig,  so  unterscheiden  sie 
sich  völlig  in  den  Indicationen  und  Erfolgen  der  Operation.  Während  der 

Lungenechinococcus  ohne  chirurgischen  Eingriff  in  circa  CO°  0 der  Fälle  zum 
Tode  führt*),  durch  die  Pneumotomie  aber  fast  ausnahmslos  mit  Genesung 
endigt,  kann  bei  der  tuberkulösen  Caverne  nach  den  bisherigen  Erfahrungen 
im  günstigsten  Falle  das  Leben  des  Kranken  verlängert,  eine  Heilung  der 

Grundkrankheit  dagegen  nicht  erzielt  werden.  Wenn  demnach  die  Operation 
eines  Lungeneehinococcus  unter  allen  Umständen  empfohlen  werden  muss, 
so  wird  die  Indication  zur  Pneumotomie  der  tuberkulösen  Caverne  nur  von 

weuigen  Autoren  überhaupt  anerkannt , von  den  meisten  Autoren  direct  ver- 
worfen. Und  die  Zulassung  der  Pneumotomie  der  tuberkulösen  Caverne  wird 
auch  von  den  Anhängern  derselben  auf  diejenigen  Fälle  beschränkt,  in  denen 
die  Höhle,  besonders  die  Secretstauung  mit  ihren  Folgeerscheinungen,  das  Krank- 
heitsbild beherrscht,  beziehungsweise  den  einzigen  Krankheitsherd  darstellt.  Aus 
diesem  Grunde  ist  die  Statistik  der  pneumotomirten  Fülle  von  tuberkulöser 
Höhle  gegenüber  der  ungeheueren  Häufigkeit  der  Att'ection  geradezu  verschwin- 
dend klein.  Bis  zum  Jahre  1890  zähle  ich  in  der  Literatur  10  Fälle.  **)  Die 
im  Vergleich  hierzu  ungewöhnlich  hohe  Zahl  meiner  eigenen  Tabelle  ist  auf 
Rechnung  der  Tuberculinperiode  zu  setzen , in  welcher  allein  — von  den 
16  Fällen  — 11  operirt  worden  sind.  Unter  den  Fällen  meiner***)  Zusammen- 
stellung haben  nur  zwei  einen  mehrjährigen  befriedigenden  Erfolg  von  der  Ope- 
ration davongetragen ; bei  allen  übrigen  waren  selbst  die  relativen  Heilungen, 
beziehungsweise  Besserungen , ganz  vorübergehend.  Der  Satz  Runkbeec's  (1.  c.), 
„dass  die  Möglichkeit  einer  temporären  Besserung,  welche  also  unzweifel- 
haft vorhanden  ist,  bei  unserem  jetzigen  Standpunkt  der  Therapie  der  Tuber- 
kulose die  Aufnahme  der  tuberkulösen  Cavcrnen  unter  die  Indicationen  für 
die  Pneumotomie  nicht  indicirt,“  besitzt  auch  heute  noch  seine  volle  Berechti- 
gung, umsomehr,  als  die  isolirten  und  geringgradigen  Cavernen  auch  ohne 
operativen  Eingriff  zu  einer  relativen  Heilung  gelangen  können,  andererseits  die 
Pneumotomie  durch  die  Gefahr  der  Lungenblutung,  der  Eintreibung  von  Tuberkel- 
bacillen in  die  Blutbahn,  durch  die  Begünstigung  der  Aspiration  tuberkulösen  Eiters 
mit  secundärer  käsiger  Pneumonie  als  ein  höchst  bedenkliches  Verfahren  be- 
zeichnet werden  muss. 

Die  oben  geschilderte  Technik  der  Pneumotomie  weist  für  den  — ver- 
eiterten oder  nichtvereiterten  — Lungenechinococcus  und  die  tuberkulöse  Caverne 
keine  Abweichungen  auf.  Vereinfacht  ist  sie  dadurch,  dass  bei  beiden  Affectiouen 
Verwachsungen  der  Pleurablätter  die  Regel  bilden,  f)  Wo  letztere  fehlen,  sind 
sie  vor  der  Eröffnung  der  Lunge  in  derselben  Weise  künstlich  herzustellen,  wie 
früher  auseinandergesetzt  worden  ist.  Der  Vollständigkeit  halber  will  ich  er- 
wähnen, dass  SONNENBUBO  bei  der  Operation  der  tuberkulösen  Cavernen  eine 
Resection  der  2.  Rippe  vorgenommen , Hahn  dagegen  sich  mit  einer  einfachen 
Incision  im  1.  Intereostalraum  — unter  besonderen  Cautelen  — begnügt  hat. TTJ 

*)  S.  Maydl,  1 c.  pag.  71. 

**)  Yergl.  Runeberg,  Operative  Behandlung  von  Lungenkrankheiten.  Deutsches 
Archiv  f klin.  Med.  1887.  pag.  127  und  Hey  d w ei  1 1 er,  Ueber  Lungencbirurgie.  Inaug.- 
Diasert.  Berlin  l8iJ4. 

***)  Der  M osler "sehe  Patient  (1883.  1.  c.l  lebte  8 Monate  nuch  der  Operation.  — 
G n in  prech  t (1.  c.)  erwähnt  einen  von  Richter  (Chirurg.  Bild.  X.  pag.  4n)  operirten  Patienten, 
den  er  selbst  nach  13  Jahren  noch  als  gesund  befunden  hat.  Uebrigcns  soll  nach  G um  prec  h t 
(er  bemerkt  aber  allerdings  *ni  fatlor*)  Junker  die  Operation  phthisischer  Abscease  zuerst 
empfohlen  haben.  (Diesen,  de  pbthisi  operatione  cbirnrgica  sanamla.  Hai.  Jahr?) 

tl  Kür  den  Echinococcus  vergl.  die  Angabe  von  Maydl.  I.  c. 

ft)  Die  nach  Abschluss  der  Correctnr  dieser  Arbeit  erschienene  Quincke’sche  Ab- 
handlung über  Pntumotumie  bei  Phthise  in  Heft  'i  der  „Mittheilungen  aus  den  Grenzgebieten" 
konnte  ich  leider  nicht  mehr  verwertben. 


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540 


PNEUMOTOMIE. 


II.  Pneumektomie. 

1.  Müller,  Eine  Thoraxwand  Lungenresection  mit  günstigem  Verlauf. 
Zeitsehr.  f.  Chirurgie.  1893,  XXXVII. 

Sfrausseneigrosses  Osteochondrosarkom  bei  jungem  Manne  an  der  V.  Rippe,  ver- 
wachsen mit  dem  Unterlappen  der  rechten  Lunge  in  einer  Longe  von  9 Cm..  Breite  von  3 Cm. 
Rippenresection.  Pleura  bei  der  Auslösung  der  Rippe  eingeriasen.  C'ollaps  der  Lunge  und 
gleichzeitig  grosse  Herzschwäche  des  Patienten.  Sobald  die  Lunge  in  Inspirationsstelluog  ge- 
bracht wird,  erholt  sich  Patient  Unterlappen  zwischen  Zeigefinger  und  Daumen  gefasst, 
Durchführung  eines  doppelten  Catgntfadens,  Unterbindung  nach  zwei  Seiten  hin,  Stück  mit 
Tumor  im  gesunden  Lungengewebe  abgetragen ; die  Lnngenwunde  wird  mit  fortlaufender 
Catgutnaht  verschlossen.  Hautwunde  bis  auf  ein  kleines  Stück  vernäht,  Lücke  mit  Jodoform- 
gaze tamponirt.  — Bis  zum  3.  Tage  fortschreitende  Besserung.  94 — It>4  Pulsschlage . kein 
Fieber,  etwas  Dyspnoe.  Am  3.  Tage  Fieber;  fibrinöse  Auflagerungen  auf  der  Lungenwunde. 
Am  10.  Tage  fieberfrei.  Nach  3 Wochen  Entlassung  mit  völlig  vernarbter  Wunde;  annähernd 
normale  Lungen-  und  Lebergrenze,  links  reines  Vesicnlärathmen  bis  zur  X.  Rippe,  von  dt 
ab  etwas  Abs<hwächnng  infolge  geringen  Exsudats.  März  1891  kleines  Sarkomrecidir  ohne 
Betheilignng  der  Lunge;  entfernt.  1893  noch  gesund. 

2.  LOWSON,  A rase  of  pneumectomit.  Brit.  med.  Journ.  3.  Juni  1893. 

34jährige  Frau.  Seit  12  Monaten  Anzeichen  von  Tuberkulose.  Retraction  der  rechten 

Claviculargrube.  Dampfung  bis  zom  2-  Intercostalraum,  Verstärkung  des  Pectoralfremitus  Nach 
Gmouatlicher  Beobachtung,  während  deren  Husten  und  Schweisse  Zunahmen,  Operation.  Incision 
längs  der  II.  Rippe,  Durchtrennung  der  II.  und  III.  Rippe  am  Knorpel,  Eröffnung  der  Pleura- 
höhle, Einspritzung  von  warmer  Carbollösnng  in  den  Pleuraraum.  Collaps  der  Lunge.  Ablösung 
der  ausgedehnten  Adhäsionen  In  die  Lunge  unterhalb  des  erkrankten  Theils  wird  eine  mit 
doppeltem  Faden  armirte  Nadel  durchgestossen , das  Lungengewehe  nach  beiden  Seiten  hin 
abgebunden.  Entfernung  der  kranken  Lungenspitze,  etwa  in  der  Grösse  einer  halben  Faust. 
Dieselbe  enthielt  eine  dichte  tuberkulöse  Mas-e  mit  kleinen  peripherischen  Knötchen.  In  die 
Lungenwunde  wird  Jodoform  eingerieben,  dann  Nabt,  Verschluss  der  äusseren  Wunde  ohne 
Drain.  Respiration  während  der  Operation  gut.  Am  Abend  des  Operationstages  Puls  84. 
Respiration  30,  Temperatur  99°  F.  Die  nächsten  3 Tage  gutes  Befinden.  In  der  Nacht  des 
4 Tages  trockene  Pleuritis  auf  der  linken  Seite.  Rückgang  derselben  unter  Umschlägen  etc. 
Am  Ende  der  2.  Woche  jeden  Abend  Temperaturanstieg;  als  Ursnche  wahrscheinlich  Hämo- 
thorax.  Nach  4 Wochen  Temperatur  und  Respiration  normal.  Zur  Zeit  des  Berichts  Zunahme 
de«  Körpergewichts.  — Nach  freundlicher  schriftlicher  Mittheilung  Lowson's  wurde  die 
Patientin  mit  völlig  geschlossener  Operationswunde  entlassen,  wies  nahezu  normalen  Aut* 
cultations-  und  Percussionsbefund  über  der  resecirten  Lunge  auf  und  fühlte  sich  gesund. 
8*  , Monate  nach  der  Operation  ist  sie  aber  an  Hämatemesis  zugrunde  gegangen.  Low» ob 
vennuthet  ein  Ulcus  tentriculi. 

3.  Tuffikr,  Resection  du  sommet  du  pouwon.  Bull,  et  mem.  de  la  So«, 
de  Chir.  1891;  Gaz.  des  hop.  de  Toulouse,  1892;  Bull,  et  m6m.  de  la  Soc.  de 
Chir.  August  1893. 

25iähriger  Mann,  kräftig  gebaut.  Seit  2 Monaten  tuberkulöse  Kehlknpfaffectiou. 
Dämpfung  über  der  rechten  Lungenspitze,  saccadirtes  Athmen , verlängerte  Exspiration, 
trockenes  Rasseln.  Linke  Lunge  normal.  Incision  im  2.  Intercostalraum,  Durrhschneidung  der 
Costalpleura  Ablösung  der  Lungenpleura,  dabei  Einriss  derselben  an  einer  Stelle;  Rissöffnung 
wird  erst  mit  dem  Finger,  dann  mit  Jodoformgaze  verstopft.  Lungenspitze  mit  stumpfer  Zange 
vorgezogen,  ligirt  und  abgetragen.  Der  Stiel  wird  an  der  Innenseite  am  Periost  der  II.  Rippe 
fixirt,  Muskeln  genäht.  Jodoformverband.  Im  Centrum  des  resecirten  Lungenstticks  klein- 
wallnnssgrosse,  von  Tuberkeln  umgebene  Induration.  Schnelle  Genesung  ohne  Zwischenfall. 
Athetngeräusch  über  der  Spitze  etwas  abgeschwächt. 

Zwei  Jahre  später  berichtet  Tuffier  wieder  über  «len  Patienten.  Derselbe  ist  voll 
berufsfähig  geblieben . hat  keinen  Husten.  Seit  der  Operation  hat  er  ltj  Kgrm.  zugenommen. 

4.  Omer,  Resection  totale  d’un  pouuton.  Lyon  m6d.  1894. 

Mehr  noch  als  in  der  Beschränkung  der  Pneumotomie  sind  die  Autoren  in 
der  Verwerfung  der  Pneumektomie  bei  Tuberkulose  einig.  Die  hochtiiegeuden 
Erwartungen , die  manche  Chirurgen  an  die  erfolgreichen  Thier-  und  Leichen- 
experimente von  Glück,  Schmid  und  Block*)  knüpften,  wurden  recht  bald 
durch  die  traurigen  Resultate  der  RüGGl’schen  Operationen  an  2 Phthisikern**) 


*)  Gluck.  Berliner  klin.  Wochen  sehr.  1881  und  Deutsche  med.  Wochen«  ehr.  1881; 
H.  Schmid,  Berliner  klin.  Wochenschr.  1881 ; Block,  Dtutsche  med.  Wocbenschr.  1881- 
•*)  Vergl.  Krönlein,  Berliner  klin.  Wochenschr.  1884,  Nr.  9 und  Bull,  Berliner 
klin.  Wochenschr.  18?4. 


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PNEUMOTOMIE.  — POLYNEÜRJTIS. 


541 


völlig  niedergeschmettert.  Die  Erwägung,  dass  es  unmöglich  ist,  mit  voller  Be- 
stimmtheit die  Tuberkulose  selbst  in  den  Lungenspitzen  abzugrenzen  und  alles 
Krankhafte  zu  entfernen,  und  andererseits  die  Schwierigkeit  und  grossen  Gefahren 
einer  Lungenresection  haben  die  Literatur  der  Pneumektomie  bei  Tuberkulose  nicht 
Uber  wenige  Fälle  (bisher  etwa  vier)  hinauskommen  lassen.  Unter  dem  Eindruck 
der  RCGGt’sehen  Operationen  konnte  Albf.kt  (Wiener  med.  Presse,  1884,  Nr.  27 
und  28)  den  Satz  aussprechen : „Wenn  sich  nach  diesen  Erfahrungen  dennoch 
Menschen  fanden,  die  den  Gedanken  der  Resection  tuberkulöser  Lungenspitzen 
ernst  nahmen,  so  ist  das  eben  eine  Verirrung  der  Medicin.  Die  Geschichte  wird 
sie  verzeichnen  und  die  Sache  ist  abgethau.“  Indess  — ein  Blick  auf  unsere 
Tabelle  lehrt,  dass  die  Schlussworte  der  ALBERT’schcu  Bemerkung  in  dem  Lustrum, 
auf  das  sich  unser  Bericht  erstreckt,  ihre  Richtigkeit  wieder  eingehllsst  haben.  In 
2 Fällen  (der  Aufsatz  von  Omer  ist  mir  weder  im  Original , noch  auszUglich 
zugänglich  gewesen)  ist  die  Resection  einer  tuberkulösen  Lungenspitze  wieder 
versucht  worden,  und  zwar  beide  Male  mit  Glück;  in  dem  einen  Falle  Tt'FFtKa’S 
wird  sogar  über  die  Dauer  des  Erfolges  nach  einem  Jahre  berichtet.  Diese  beiden 
Erfahrungen  werden  an  dem  Urtheil  Albert’s,  dem  sich  wohl  wenige  Autoren 
entziehen  werden,  nichts  ändern.  Die  Resection  tuberkulöser  Lungenspitzen  muss 
als  ein  waghalsiges  Unternehmen  bezeichnet  werden , das  im  Interesse  der 
Kranken  verpönt  sein  sollte. 

Nicht  im  gleichen  Masse  ist  die  Pneumektomie  bei  Lungentumoren  zu 
verdammen.  Bei  oberflächlich  gelegenen,  von  sonst  gesundem  Parenchym  umgebenen 
Geschwülsten,  die  dem  operativen  Eingriff  relativ  leicht  zugänglich  sind,  kann 
die  Pneumektomie  versucht  und  wie  die  — allerdings  äusserst  spärlichen  Er- 
fahrungen lehren  — mit  gutem  Erfolg  durchgeführt  werden.  Der  Eingriff  ist 
hier  umso  eher  berechtigt,  wenn  die  Natur  der  Geschwulst  sonst  einen  schnellen 
Tod  des  Patienten  befürchten  lassen  muss.  Zu  den  beiden  Fällen  von  KrOxleix*) 
und  Wkinlechner**)  ist  in  unserer  Berichtszeit  der  Fall  von  Müller  hinzu- 
gekommen, der  zu  neuen  Versuchen  nach  dieser  Richtung  hin  auffordert 

Die  Technik  der  Pneumektomie  bei  Tumoren  ist  bereits  bei  der 
kurzen  Inhaltsangabe  der  MÜLLElt’schen  Krankengeschichte  geschildert  worden, 
ln  Einzelheiten  wird  sie  sich  nach  den  jeweiligen  Verhältnissen  richten  müssen. 
Wenn  die  Umstände  es  gestatten,  wird  natürlich  auch  hier  eine  vorgängige  Vcr- 
löthnng  der  beiden  Pleurablätter  auf  artificiellem  Wege  — falls  natürliche  Ad- 
häsionen nicht  vorhanden  sind  — die  Gefahren  der  Pueumektomie  vermindern. 

Es  erübrigt  schliesslich,  kurz  der  Lungenresection  bei  traumatischen 
Lungenhernien  zu  gedenken.  Hier  wird  das  aus  der  Brustwunde  ausgetretene 
Lungensltlck  abgebunden  und  resecirt.  Corvv  (Münchener  med.  Wochensehr. 
1890)  berichtet  Uber  14  derartige  Fälle,  von  denen  nur  2 tödtlick  geendet  haben. 

J.  Schwalbe. 

Polyneuritis  (multiple,  degenerative  Neuritisl.  (Vgl.  Keal-Encycl., 
2.  Auf!.,  Iid.  XIV,  pag.  320. "I  Seitdem  Leydex  in  seiner  bekannten  Arbeit  Uber 
Neuritis  und  Poliomyelitis,  die  1879  erschien  (Zeitschr.  f.  klin.  Med.  I,  pag.  387), 
zuerst  eine  scharfe  Sonderung  dieser  Krankheitsprocesse  vornahm  und  die  multiple 
Neuritis  als  eine  selbständige,  klinisch  fest  eharakterisirte  Form  einführte,  hat 
sich  eine  reiche  Literatur  dieses  Gegenstandes  entwickelt,  die  zunächst  in  den 
monographischen  Darstellungen  von  Allex  Starr  (Multiple  Neuritis  and  its 
relation  to  certain  peripheral  neuroses.  Med.  record.  1887)  und  von  Leydex 
selbst  (Die  Entzündung  der  peripherischen  Nerven,  Polyneuritis,  Neuritis  multi- 
plex, deren  Pathologie  und  Behandlung.  1888)  zu  einem  gewissen  Abschlüsse 
gebracht  zu  sein  schien.  In  der  That  waren  hier  die  Grundlinien  aus- 
reichend fest  gezogen , und  was  in  der  Folge  noch  hinzugekommen , ist  theils 

*)  Kriinlein,  Berliner  klin.  Wochenschr.  1884,  Nr.  9 und  ebenda  Ibgö,  Nr.  12. 

**)  Citirt  bei  Kiedinger,  Deutsche  Chirurgie.  42.  Lfg.,  pag.  gl>9. 


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542 


POLYNEURITIS. 


weiterer  Ausbau  auf  der  schon  gegebenen  Grundlage  mit  dem  massenhaft  zu- 
strömenden casuistischeu  Material , theils  Ergcbniss  der  nach  bestimmten  Rich- 
tungen hin  ergänzenden  und  erweiternden,  aber  nicht  umgestaltenden  Forschung. 
Es  sei  nur  an  die  werthvolleren  neueren  Untersuchungen  über  gewisse  toxische 
und  infectiöse  Neuritisformen  (arsenikale,  mercurielle,  puerperale  Neuritis),  an 
die  sich  häufenden  Mittheilungen  über  „peripherische  Nenro-Tabesu,  über  die  in 
der  Form  LAXDBY’scher  Paralyse  auftretende  Polyneuritis  etc.  erinnert. 

Von  allgemeinerer  und  priucipieller  Bedeutung  ist  eine  vor  zwei  Jahren 
erschienene  EDDtOER’sche  Abhandlung,  die  „eine  neue  Theorie  über  die  Ur- 
sachen einiger  Nervenkrankheiten,  insbesondere  der  Neuritis  und 
der  Tabes“  zum  Gegenstände  hat.1)  Es  handelt  sieh  dabei  im  Wesentlichen  mn 
Anwendungen  der  WEHiKRT’schen  Rcizlehre  und  der  Roux’schen  Lehre  vom 
„Kampfe  der  Theilc“  im  Organismus  auf  die  Nervenpathologie  unter  Zugrunde 
legtmg  der  neueren  histologischen  Anschauungen  Uber  die  als  C'omplex  von  Ur- 
sprungszelle, Achsencylinder  und  dessen  Endverzweigungen  sich  darstellende 
Nerveneinheit,  das  „Neuron“.  Die  mit  unseren  jetzigen  Mitteln  nachweisbaren 
groben  Schädigungen  von  Zelle  und  Faser  sind  Allen  geläufig;  aber  diesen  müssen 
ergänzend  die  Schädigungsvorgänge  angereiht  werden,  die  durch  die  normale 
Function  selbst  fortdauernd  herbeigeführt  werden,  denn  die  normale  Function 
bedeutet  an  sich  ebenfalls  eine  Schädigung,  wenn  auch  nur  „eine  Schädigung 
im  weiteren  Sinne“.  Wenn  der  normalen  Thätigkeit  nicht  ein  normaler  Er- 
satz im  Stoffwechsel  von  Nerv  und  Zelle  entspricht,  oder  wenn  bei  sonst  ganz 
normaler  Ersatzmögliehkeit  die  Leistung  über  das  normale  Maas  hinaus  gestei- 
gert wird,  so  müssen  sich  im  Nervensystem  Zeichen  von  Zerfall  hier  und  da 
geltend  machen,  ähnlich  wie  bei  grob  mechanischen  Leitungsstörungen : Zerfall 
der  Markscheide,  Untergang  des  Achsencylinders  u.  s.  w.,  wofür  u.  A.  die  nach 
Ueberarbeitung  entstehenden  nenritischen  Lähmungen  (Beschäftigungs- 
lähmungen u.  8.  w.)  schlagende  Beispiele  liefern.  Auch  für  die  auf  scheinbar 
ganz  verschiedenem  Boden  erwachsenden  Formen  multipler  Neuritis  ist  als 
gemeinsames  Momeut  festzuhalten , „dass  Nerv  und  Zelle  bei  abnormem  Stoff- 
wechsel den  normalen,  respective  für  sie  abnormen  Anforderungen  der  Function 
nicht  gewachsen  sind,  dass  sie  zerfallen,  wenn  zuviel  von  ihnen  verlangt,  zu 
wenig  vom  Verbrauchten  ersetzt  wird“.  Diese  allerdings  noch  manche  Schwierig- 
keiten offen  lassenden  Anschauungen  erscheinen  jedenfalls  in  ihren  Grandzügen 
wohl  annehmbar  und  zu  weiterer  Ausgestaltung  einladend. 

Gehen  wir  nun  auf  die  sehr  zahlreichen  Einzeluiitersuclmngen  Uber,  so 
müssen  wir  zunächst  für  das  Verhältnis  der  Neuritis  zu  gewissen 
Rückenmark skraukheiten,  Tabes,  Poliomyelitis  u.  s.  w.,  die  Mittheilnugen 
von  DEJERINE*'*)  Uber  peripherische  Neumtabes  (Ataxie  locomotrice  par 
nevriten  pfriphi'riques)  hervorheben.  Dejekixe  theilt  zwei  Fälle  mit,  iu  denen 
klinisch  ganz  die  Erscheinungen  der  Tabes  vorhanden  waren,  bei  der  Obduction 
aber  das  Rückenmark  völlig  intact  gefunden  wurde , während  dagegen  ausge- 
sprochene parenchymatöse  Neuritis  der  Hautnerven  (namentlich  an  den  Beinen! 
und  zum  Theil  auch  Veränderungen  der  intramusculären  Nerven  vorhanden 
wareu.  Im  Anschlüsse  an  einen  dritten  klinisch  beobachteten  Fall  erörtert 
Dkjkkixk  die  pathologische  Physiologie  der  Neuro-Tabes,  von  der  er  eine  atak- 
tische und  eine  paralytische  (zu  atrophischer  Lähmung  führende)  Form  unter- 
scheidet; er  erklärt  die  Ataxie  bei  der  ersteren  als  Folgezustand  der  Sensibilitats- 
störung,  namentlich  der  Störung  des  Muskelgefühls  (Sehnennerven);  die  Cober- 
einstimmung  der  Erscheinungen  mit  der  eigentlichen  (spinalen)  Tabes  ergiebt 
sich  mit  Nothwendigkcit  daraus,  dass  nach  neueren  histologischen  Untersuchungen 
die  hinteren  Wurzeln  im  Rückenmark  ebenso  wie  an  der  Peripherie  mit 
freien  Ausläufern  endigen , ihr  Befallensein  im  Centralorgan  oder  an  der 
Peripherie  daher  die  gleichen  Ausfallssymptome  (Sensibilitätsstömngen  und 
Ataxie)  darbietet. 


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POLYNEURITIS. 


543 


Auf  das  Verhältnis«  der  Polyneuritis  zur  Poliomyelitis  und  zur 
Polioencephalomyelitis  anterior , namentlich  auf  die  oft  schwierige 
differentialdiagnostische  Unterscheidung  beziehen  sich  u.  A.  Mittheilungen  von 
Pctawski  *)  und  Higier  •),  in  denen  jedoch  nur  die  klinische  Seite  des  Krankheits- 
bildes Berücksichtigung  findet  und  ein  Fall  mit  Section  (Fuchs7),  wo  anscheinend 
beide  Processe  sich  coordinirt  entwickelten. 

Einen  Fall,  in  dem  sich  zu  anfangs  bestehender  Neuritis  secundiire 
Myelitis  hinzugesellte  (Obductionsbefund),  hat  Shiamura  8)  initgetheilt ; experi- 
mentell hat  Feinberg  *)  den  Uebergang  einer  degenerativen  Neuritis  auf  das 
Bückenmark,  vorzugsweise  auf  die  hintere  Wurzelfaserung,  Hinterhirn  und 
C'LARKE’sche  Säulen  durch  Thierversuehe  an  Kaninchen , bei  denen  der  Isehia- 
diens  durch  Aetherspray  oder  Application  einer  eiskalten  Kochsalzlösung  in 
Degeneration  versetzt  war,  makroskopisch  und  mikroskopisch  erwiesen. 

Von  grossem  Interesse  sind  mehrere  Publicationen , die  sich  auf  das 
neuerdiugs  erörterte  Verhältnis«  der  Polyneuritis  zur  acuten  aufsteigenden 
Paralyse  (der  sogenannten  Landky 'sehen  Lähmung)  beziehen;  so  nament- 
lich die  Mittheilungen  von  Leyden10)  und  von  JOLLY'.11)  Leyden  theilt  zwei 
Fälle  von  acuter  aufsteigender  Paralyse  mit,  beide  nach  Influcuza,  von  denen 
der  eine  in  Heilung  endete,  der  andere  letal  verlief  und  eine  intensive  neuritische 
Atrophie  an  den  peripherischen  Nerven,  sowie  auch  parenchymatöse,  ödematös 
entzündliche  Veränderungen  im  Rückenmark  herausstellte.  Die  letzteren  werden 
von  Leyden  als  Folgezustand  der  ursprünglichen  Polyneuritis  betrachtet  und  es 
werden  von  ihm  zwei  Formen  der  acuten  aufsteigenden  Paralyse,  eine  (ursprüng- 
lich) hulbäre  und  eine  (ursprünglich)  neuritische  — zu  der  dann  consecutive 
Myelitis  liinzutreten  kann  — unterschieden.  Diese  beiden  Formen  lassen  sich 
auch  klinisch  durch  das  Freibleiben  oder  Erlöschen  der  elektrischen  Erregbar- 
keit, durch  Vorhandensein  oder  Verschwinden  der  Sehuenreflexe  differenziren.  Zu 
gleichen  Ergebnissen  gelangt  Jolly  n),  der  einen  Krankheitsfall  mit  günstigem 
Verlaufe  miltheilt , in  dem  die  Ursache  in  Alkohol-  und  Tahakmissbraucb  zu 
suchen  war:  symptomatisch  ist  die  hier  vorhandene  Xeuritis  optica,  die 
Herabsetzung  der  Sensibilität  an  Händen  und  Füssen,  das  Fehlen  der  Patellar- 
retlexe , die  Veränderung  der  elektrischen  Erregbarkeit  (partielle  Entartungs- 
reaction),  die  Schmerzhaftigkeit  der  ergriffenen  Nerven  und  Muskeln  als  für 
Polyneuritis  sprechend  hervorzuheben.  (Vergl.  auch  13.) 

Ein  unter  dem  Bilde  Landry 'scher  Paralyse  tödtlich  verlaufender  Fall 
von  acuter  multipler  Neuritis  ist  neuerdings  von  VRANJIUAN  *s)  initgetheilt  worden. 

Wenden  wir  uns  nun  zu  den  einzelnen  ätiologisch  charakterisirten 
Formen  der  multiplen  Neuritis,  so  haben  wir  zunächst  auf  dem  Gebiete  der 
toxischen  Neuritiden  mehr  oder  minder  belangreiche  Casuistik,  z.  B.  Uber 
Alkoholneuritis,  wobei  übrigens  zu  bedenken  ist,  dass  ausser  Alkoholisniua 
nicht  selten  noch  anderweitige  pathogenetische  Momente  der  Neuritis  coneurrircn 
(Chahcot**),  theils  reine  Alkoholncuritiden,  theils  Complication  mit  Gelenkrheuma- 
tismus, Syphilis  und  Erysipel;  Lacekda  und  Pagknstechf.r  16)  Complication  mit 
Tuberkulose;  auch  der  obige  JOLl.v’sche  Fall  gehört  hierher).  Von  mercurieller 
Polyneuritis  hat  v.  Engel  ••)  ein  Beispiel  mitgetheilt  (Anschluss  an  eine  Schmier- 
eur;  Albuminurie  durch  chronische  Nephritis,  unabhängig  von  der  Quecksilber- 
intoxication) ; neuerdings  haben  experimentelle  Untersuchungen  von  Heller  1T) 
(Snblimatinjectionen  bei  Kaninchen)  zu  einer  lebhaften  Erörterung  dieses  noch 
nicht  hinreichend  aufgeklärten  Gegenstandes  Anlass  gegeben.  Für  satnrninc 
und  besonders  für  arsenikale  Neuritis  sind  die  Publicationen  von  Jolly18), 
Bernhardt10),  Menschen *°),  Kailton21),  Osler22),  Barrs21),  Adams2')  zu  er- 
wähnen. In  den  Fällen  von  Adams,  Osler,  Railton  und  Barrs  wurden  arseni- 
kalc  Neuritiden  durch  den  therapeutischen  Gebrauch  von  Arsenikpräparaten 
I Solntio  Fowleri  gegen  Chorea)  verursacht. 

Auch  für  die  Kategorie  der  infectiösen  oder  doch  mit  grosser  Wahr- 
scheinlichkeit als  infectiös  zu  bezeichnenden  Neuritisformen  ist  ein  ziemlich 

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POLYNEURITIS. 


reichliches  casuistisehes  Material  vorhanden.  Für  die  Beri-Beri  Krankheit,  deren 
Wesen  immer  mehr  in  einer  auf  infeetiös-endemischer  Ursache  beruhenden  ,\Vk- 
ritis  multiplex  haemorrhagica  gesucht  wird , sind  ausser  der  grundlegenden 
ausführlichen  monographischen  Bearbeitung  von  Schecbe*4)  kleinere  Abhand- 
lungen von  Girai:d  s“) , LACKRDA ,:) , Kirchbero“)  zn  erwähnen.  Von  Neuritis 
im  Anschlüsse  an  Lungenerkrankungen  sind  2 Fälle  von  C'hahcot  (Pneumonie, 
Tuberkulose)  zu  erwähnen,  die  sich  den  älteren  Beobachtungen  von  Fiessinger 
(Poiyncuritis  nach  Lungeneiterung,  Empyem  u.  s.  w.)  anschliesseu.  Aus  dem  Ge- 
biete der  acuten  Infectionskrankheiten  sind  die  Fälle  von  Neuritis  nach  Typhus 
(Funk8*),  Babes*0),  nach  Masern  (Monro  **) , Masern  und  Keuchhusten 
(Mackey  **),  Influenza  (Leyden,  vergl.  o„  Gradexigo,  wahrscheinliche  Neu- 
ritis des  Servus  acusticu»),  Diphtheritis  (Edgrkx'4),  Hawthokxe  35)  zu  er- 
wähnen. Einen  Fall  von  sensorischer  Neuritis  der  Anogenitalgegend  auf  syphi- 
litischer Basis  (Besserung  unter  Quecksilberbehandlung)  beschrieb  Hct.KE.  **) 

Ausser  den  toxischen  uud  infectiösen  Neuritiden  bleibt  bekanntlich  noch 
eine  Kategorie  von  Polyneuritis-Fällen  Übrig,  in  denen  wir  uns  gewöhnt  haben, 
mit  Leyden  die  vorhandene  A nämie  oder  allgemeine  Ernährungsstörung  infolge 
kachektischer  und  constitutioneller  Erkrankung  als  Grundlage  zu  accep- 
tiren  (was  ja  auch  mit  den  oben  referirten  Erörterungen  von  Edinc.ee  ganz  gut 
übereinstimmt).  Hierher  würden  z.  B.  die  diabetische  Neuritis  zu  rechnen  seiD, 
deren  Casuistik  durch  Daviks  Pryce  S7)  (3  Fälle)  und  einen  Fall  von  A.  Reich38 
vermehrt  wird;  ebenso  die  „rheumatische“  durch  einen  schweren,  schliesslich 
geheilten  Fall  von  Leyden  und  durch  einen  schweren  Fall  von  acuter  rheuma- 
tischer Neuritis  optica  mit  Ausgang  in  Amaurose  Zimmermanx).  Hierher 
gehört  wahrscheinlich  auch  ein  Theil  der  bekanntlich  von  Moebii'S  (1887  zuerst 
beschriebenen , bisher  in  der  Literatur  noch  einigermassen  spärlich  vertretenen 
und  ihrem  Wesen  nach  offenbar  sehr  ungleichartigen  puerperalen  Neuritiden. 
Charles  Mills  **)  der  in  einer  Abhandlung  8,  wohl  nicht  sämuitlicb  im  engeren 
Sinne  hierher  zu  rechnende  Fälle  mittheilt , will  4 verschiedene  Formen  unter- 
scheiden, nämlich  traumatische  Paralysen  des  Peronealtypus  meist  nach  Zangen- 
anleguug  , sacrale  und  sacrodistale  Neuritis  mit  Pseudoparalyse  und  oft  mit 
Erkrankung  oder  Lageveränderung  der  Beckenorgane:  puerperale  Neuritis  septisch- 
infectiösen  Ursprunges  und  endlich  Neuritis,  Paralyse  und  Psendoparalyse  bei 
Phlebitis  und  Phlegmasia  alba ; er  glaubt  ausserdem  das  Vorkommen  einer 
septisch-infectiösen  Myelitis  puerperalis  als  Analogon  der  entsprechenden  Neuritis 
constatirt  zu  haben.  Von  Lenz  *')  ist  ein  sehr  schwerer  Fall  von  puerperaler 
Neuritis  nach  anscheinend  ganz  normalem  Puerperium  mitgetlieilt.  Von  Bern- 
hardt •*)  sind  drei  schon  früher  beschriebene  Fälle  wieder  zur  Sprache  gebracht 
worden.  Et.'LENBrRG  4S)  theilt  vier  neue  Fälle  von  puerperaler  Neuritis  und  Poly- 
neuritis mit,  wovon  drei  sich  dem  sogenauuten  Armtypus  (MoEBIUS)  uud  dem 
Beintypns  (Tcillaxt-Dejeuink)  anreihen,  der  vierte  dagegen  ganz  und  gar  dem 
Bilde  schwerer  aufsteigeuder  LANDRY’scher  Paralyse  entsprach,  aber 
schliesslich  auch  einen  günstigen  Verlauf  nahm.  Es  hatte  in  diesem  Falle  eine 
künstliche  Unterbrechung  der  Schwangerschaft  durch  den  wegen  unstillbaren 
Erbrechens  eingeleiteten  Abortus  stattfinden  müssen.  E.  betont  die  ätiologische 
Wichtigkeit  dieses  letzteren  Moments  und  stellt  aus  der  bisherigen  Literatur  im 
Ganzen  38  Fälle  puerperaler  Neuritis  zusammen,  auf  Grund  deren  er  eine 
leichtere,  mehr  localisirte  Form  und  eine  schwerere,  mehr  diffuse  oder  gen e- 
ralisirte  Form  klinisch  unterscheidet.  Neuritis  des  Opticus  ist  bei  dieser  Form 
neuerdings  vou  SCHANZ41)  beobachtet  worden. 

Die  schon  mehrfach  vermuthungsweise  geäusserte  Auffassung  der  ge- 
wöhnlich sogenannten  rheumatischen  Faciallähmungen  als  einer  Form  der  Poly- 
neuritis wird  von  HCbsohmann  44)  auf  Grund  einer  sorgfältigen  Analyse  der 
rccidivirendeu  und  diplegischcn  Faciallähmungen  dahin  erweitert,  dass  man 
cs  mit  einer  degenerativen  ascend irenden  (sich  centralwärts  ausbreitenden ) 


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POLYNEURITIS. 


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Neuritis  auf  Grund  einer  noch  unbekannten , den  Menschen  in  der  Regel  nur 
einmal  befallenden,  dann  mehr  oder  weniger  vollständige  Iminuuität  hinterlassenden 
infectiösen  Noxe  dabei  zu  thuu  habe. 

Zur  Hydrotherapie  der  Polyneuritiden  giebt  0.  Pospischil  4e)  in 
einem  Vortrage  bei  dem  Balneologen-Congresse  in  Berlin  (1896)  werthvolle 
Fingerzeige;  er  empfiehlt  u.  A.  Application  des  WiNTERNiTZ'schen  Kflhlschlauches 
mit  Wasser  von  circa  12°  R.  an  der  Lendenwirbelsäule,  sowie  Longuettenverband 
der  schmerzhaften  Extremitäten  im  ersten  acuten  Stadium , später  bei  Nachlass 
der  Schmerzen  Einpackungen  von  grösserer  oder  geringerer  Dauer  und  öfterer 
Wiederholung. 

Literatur:  *)  K dinge  r,  Eine  neue  Theorie  über  die  Ursachen  einiger  Nerven- 
krankheiten, insbesondere  der  Neuritis  und  der  Tabes.  Sammlung  klin.  Vortr.  von  Volkmann, 
N.  F.  Leipzig  1894,  Nr.  lütj.  — *)D6jerino,  Sur  le  nervo-tabea  piriphirique  (ataxie  loco- 
motrice  p<tr  nivrites  piri ph iriqu es  avec  integriti  de  la  mobile  ipinikre).  Semaine  med. 
26.  April  1893,  pag.  201.  — *)  Dejerine,  Sur  le  nervo- tobe*  piriphivique  (ataxie  loco - 
motrice  par  nivrites  piriphiriques,  avec  integritd  abeolue  des  meines  posterieures  des  gan- 
glions  spinaux  et  de  la  moelle  ipinilre).  Travail  du  laboratoire  de  M.  Vulpian.  Paris, 
22.  October  1893.  — 4)  Pal,  Multiple  Neuritis  und  Tabes  (LXVI.  Versammlung  deutscher 
Naturforscher  u.  Aerzte  in  Wien  1894).  Neurol.  Centralh).  pag.  740.  — 6)  Putawgky,  Gaz. 
lekarska.  1894,  Nr.  18.  — •)  Higier,  Ibid.  Nr.  17—20.  Neurol.  Centralbl.  1894,  pag.  542, 
543.  — T)  Fuchs,  Klinische  und  anatomische  Untersuchungen  über  einen  Fall  von  multipler 
Neuritis  und  Erkrankung  der  Nervi  optici.  Deutsche  Zeitschr.  f.  Nervenhk.  1893,  IV.  — 
•)  Shiamura,  Ueber  einen  Fall  von  Myelitis  ex  neuritide  aacendente.  Zeitschr.  f.  klin. 
Med.  XXIV.  — 9)Feinberg,  Myelopathiu  postnevritica.  (Experimentelle  Studie.)  Ibid.  XXV. 

— ,<J)  Leyden,  Ueber  multiple  Neuritis  und  acute  aufsteigende  Paralyse  nach  Intluenza. 
Zeitsehr.  f.  klin.  Med.  XXIV.  — ll)Jolly,  Ueber  acute  aufsteigende  Paralyse.  Berliner  klin. 
Wochensehr.  1894. — ,Ä)  Rohde,  Ein  Fall  von  schwerer  Polyneuritis  aller  vier  Extremitäten 
mit  bulbären  Symptomen  (aufsteigende  Paralyse).  Zeitschr.  f.  klin.  Med.  XXV.  — 13)  Fer- 
guson, Five  cases  of  audden  dcath  due  to  asccnding  neuritia.  Med.  News.  6 Januar  1894. 

— u)  Charcot,  Sept  cas  de  polynitritt . Revue  neurol.  1893,  Nr.  1 u.  2.  — ,4)  Giese  u. 

Pagen  Stecher,  Beitrag  zur  Lehre  der  Polyneuritis.  Arch.  f.  Psych.  XXV,  pag.  211.  — 
lÄ)  v.  Engel.  Ueber  Polyneuritis  mercurialis.  Prager  med.  Wochenschr.  8.  und  15.  Februar 
1894.  — IT)  Heller,  Experimentelle  Beitrage  zur  Polyneuritis  mercurialis.  Deutsche  med. 
Wochenschr.  1896,  Nr.  9 u.  10.  — ,#)  Jolly,  Ueber  Blei-  und  Arseniklähmung.  Deutsche  med. 
Wochenschr.  1893,  Nr.  5;  Ueber  einen  Fall  von  multipler  Neuritis  nach  chronischer  Arsen- 
vergiftung. Charite-Annalen.  1893,  XVIII.  — ,#)  Bernhardt.  Kurze  Mittheilung  über  einen 
Fall  von  Arseniklahmung.  Deutsche  med.  Wochenschr.  1893,  Nr.  5.  — ,0)  Henschen,  On 
arsenical  paralgsis  presented  to  the  Royal  Society  of  Sciences  of  Upsala.  September 
1893.  — *')  Railton,  Ptripheral  neuritia  form  arsenic.  Brit.  med.  Journ.  4.  November 
1893,  pag.  996.  — ”)  Osler,  Arsenical  neuritia  follotriny  the  uae  of  Fowler'a  aolution. 
Bnll.  of  the  John  Hopkins  hospital.  1893,  Nr.  30.  — **)  Barrs,  Arsenical  neuritia.  Brit. 
med.  Journ.  4.  Februar  1893,  pag.  239.  — *4)  Ada  ins,  Neuritis  aupervening  (turing  the 
treatment  of  chorea  by  arsenic.  Lancet.  p).  Februar  1894.  — *)Scheube,  Die  Beri-Beri- 
Krankheit , eine  geographisch-raedicinische  Studie.  Jena  1894-  — *4)  Girand,  Du  biri - 

biri.  These  de  Paris.  10.  Januar  1894.  — 2T)  Lacerda.  Note  sur  la  comparaison  du  biri- 
biri  avec  la  nivrite  alcoolique  au  point  de  cue  clinique.  Revue  neurol.  1893,  Nr.  11.  — 
*•)  Kirchberg,  Relation  de  troia  ca«  de  biri-biri.  Gaz.  de  höp.  1894,  Nr.  1 — 4.  — 
”)  Funck,  Deux  ca s de  nivrite  dans  la  fiivre  typhoide.  Journ.  de  med.,  de  chir.  et  de 
pharm.  1893,  20.  — **)  Babes,  Sur  un  cas  de  paralyt-ie  avec  aneathiaie  des  jambes  par 
pol y nivrite  et  atrophie  musculaire,  diveloppie  dans  la  convalescence  de  la  dot hienen tirte. 
Roumaine  med.  März  1893,  1.  — Jl)  Monro,  Peripheral  neuritia  öfter  measlea . Lancet. 
14-  April  1894.  — **)  Mackey,  Case  of  multiple  neuritia  in  a child,  with  remarks.  Brit. 
med.  Journ.  25.  August  1894,  pag.  407.  — **)  Gradenigo,  l'eber  einen  Fall  von  wahr- 
scheinlicher Neuritis  des  Nervus  acusticus  nach  Intlnenza.  Allg.  Wiener  med.  Ztg.  1893, 
Nr.  4 n.  5.  — 3<)  Edgren.  Tviinne  fall  af  difteritish  förlamning.  Hygiea.  1893,  LV,  2, 
pag.  160.  — *4)  Hawthorne,  Cast  of  diphtheritic  paralysis  icithout  any  preceding  histonj 
of  throat  affection.  Glasgow  med.  Journ.  November  1893  — $t)  Hulke,  Peripheral  neuritt is 
of  sensory  nerves  of  integument  of  the  buttocks,  penis,  acrotum  etc.,  syphitia,  improvement 
under  mercurial  treatment.  Lancet.  31.  März  1894.  — 37)  Davies  Pryce,  On  diabetic 
neuritia  with  a clinical  and  pathological  description  of  three  cases  of  diabetic  pseudo- 
tabes.  Braia.  189 3,  LXIII.  — **)  A.  Reich,  A case  of  diabetic  multiple  peripheral  neuritia. 
Med.  record.  1894,  Nr.  1210.  — *w)  Leyden,  Vorstellung  eines  Falles  von  schwerer,  nach 
zweijähriger  Dauer  fast  geheilter  multipler  Neuritis  nebst  Bemerkungen  über  Verlauf,  Pro- 
gnose und  Therapie  dieser  Erkrankung.  Berliner  klin.  Wochenschr.  1894,  Nr.  19  und  20.  — 
40)  Charles  K.  Mills,  Neuritis  and  myclitis  and  the  forma  of  paralysis  and  pseudo- 
pa ralysia  following  labor.  University  med.  magazine.  Mai  1893.  — 4‘)  Lunz,  Ueber  Poli- 

Encyclop.  Jahrbücher.  VI.  35 


546 


POLYNEURITIS.  — QUECKSILBER. 


neuritis  puerperalis.  Deutsche  med.  Wochenschr.  1894,  Nr.  47.  — 41)  Bernhardt,  Ueber 
Neuritis  puerperal  is.  lbid.  Nr.  50.  — °)  Eulen  bürg,  Ueber  puerperale  Neuritis  und  Poljr* 
neuritis.  lbid.  1895,  Nr.  8 u.  9.  — 44)  Hübschniann,  Ueber  Recidive  und  Diplegie  bei  der 
sog.  rheumatischen  Facialislähmung.  Neurol.  Centralbl.  1894,  Nr.  22,  23.  — 45)  Vranjican 
(Zara),  Ein  unter  dem  Bilde  der  Lan  dry'schen  Paralyse  tödtlich  verlaufener  Fall  von 
acuter  multipler  Neuritis.  Wiener  klin.  Wochenschr.  1895,  Nr.  27  und  28. — 4*)  C.  Zimmer* 
mann,  Acute  rheumatic  optic-neuritis.  Archive«  of  ophthalm.,  1896,  XXV,  Nr  1. — 
47)  Schanz,  Die  Betheiligung  des  Opticus  bei  der  puerperalen  Polyneuritis.  Deutsche  med. 
Wochenschr.,  Nr.  28.  — 48)  Pospiachil,  Zur  Hydrotherapie  der  Polyneuritiden.  Blatter  f. 
klin.  Hydrotherapie.  1896,  Nr.  4.  Eulenburg. 

Polystichumsäuren.  Mit  diesem  Namen  hat  POÜLLSON  zwei  filii- 
säureähnliche  Substanzen  aus  Polystich  um  ( Aspidium ) spinulosum  be- 
legt, von  denen  die  eine,  C„  H,,  0„,  in  schwefelgelben,  feinen,  seideglänzenden 
Nadeln,  die  andere,  C„  Ht6  O,,  in  morgensternförmigen,  aus  kleinen  Nadeln 
zusammengesetzten,  weissen  Körnern  krystallisirt.  Beide  entwickeln  beim  Erwärmen 
Buttersäuregeruch.  Sie  rufen  bei  Fröschen  und  Kaninchen  centrale  Paralyse  hervor, 
die  in  der  Regel  von  leichten  Krämpfen  begleitet  ist  und  sich  durch  ihren  Ver- 
lauf meist  deutlich  als  aufsteigende  Rtlckenmarkslähmnug  kennzeichnet  Bei 
Fröschen  persistiren  Herzthätigkeit  und  Nerven-  und  Muskclreizharkeit  lansre 
Zeit  nach  der  completen  Lähmung.  Bei  Kaninchen  ist  die  Reflexerregbarkeit 
anfangs  erhöht , der  Krampf  unbedeutend ; der  Tod  erfolgt  durch  Athemstill- 
stand.  Bei  Kaninchen  ist  die  intravenöse  letale  Gabe  0,03 — 0,05  pro  Kilo;  die 
gelbe  Säure  scheint  hier  etwas  giftiger  zu  sein , während  bei  Fröschen  beide 
gleich  stark  wirken.  Aehnliche  der  Filixsäure  ähnliche  Säuren  enthalten  auch 
andere  Farukrautarten,  z.  B.  Aspidium  angulatum  , Aspidium  aculea- 
tum,  Asplenium  filix  foemina,  Struthiopteris  germanica  und 
Allosurus  crispus,  von  denen  die  letztgenannte  in  Norwegen  für  giftig  gilt. 

Literatur:  Poulsson,  Ueber  Polystichumsäuren.  Arch.  f.  experim.  Path.  u. 
pharm.  XXXV,  Heft  2 und  3,  pag.  97.  Husemaun. 

Proteinstoffe,  im  normalen  Harn,  pag.  247. 

Pseudotabes  peripherica,  s.  m yelitis,  pag.  491. 

Pyridin,  s.  Inhalationstherapie,  pag.  275,  287. 


Q- 

Quecksilber,  Nachweis  im  Harn,  pag.  257. 


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R. 


Rachenentzündung.  Bei  der  frischen  Entzündung  der  Rachenhohle 
wird  insbesondere  nach  zwei  Richtungen  hin  eine  höhere  Aufmerksamkeit  bean- 
sprucht. Schon  langer  bekannt,  ist  aber  erst  in  den  letzten  Jahren  eindringlicher 
darauf  hingewiesen  worden.  Zunächst  ist  es  die  im  Nasenrachenräume  beginnende 
frische  Entzündung,  die  weit  häufiger,  als  gemeinhin  noch  angenommen  wird, 
vorkommt.  Die  Kranken  klagen  über  Schmerzen  oben  im  Halse,  Ziehen  und  auch 
Schmerzen  in  den  Ohren,  Trockenheitsgefühl  hinter  dem  Gaumensegel.  Bei  der 
Besichtigung  der  Rachenhöhle  findet  man  gewöhnlich  nichts  Auffälliges;  erst  wenn 
man  mittels  Spiegel  den  Nasenrachenraum  untersucht,  erkennt  man  darin  die  oft 
beträchtliche  Röthe  und  Schwellung,  sowie  bei  stärkerer  Entwicklung  des  ade- 
noiden Lagers  manchmal  weissliche  Punkte , wie  wir  sie  so  häufig  an  den 
Gaumenmandeln  finden  und  als  Angina  follicularis  kennen.  In  nicht  wenigen 
Fällen  von  Vergrösserung  der  Rachenmandel  wird  auf  diese  erst  durch  eine 
frische  Entzündung  des  Nasenrachenraumes  die  Aufmerksamkeit  gelenkt;  denn 
hierdurch  wird  erstere  oft  so  sehr  vergrössert,  dass  die  Nasenathmung , wenn 
auch  vorher  schon  nicht  onlnungsmässig,  nun  gänzlich  aufgehoben  wird.  Bei 
jeder  Rachenentzündung,  insbesondere  aber  wenn  bei  der  unmittelbaren  Besichti- 
gung kein  die  Beschwerden  des  Kranken  erklärender  Befund  erhoben  werden 
kann,  muss  dem  Nasenrachenraume  die  sorgfältigste  Beachtung  zutheil  werden. 

Es  giebt  nicht  wenige  Fälle  von  frischer  Rachenentzündung,  die  lediglich  oder 
wesentlich  im  Nasenrachenraume  verlaufen,  viele  auch,  welche  sich  mehr  in  die 
Nase  als  in  die  untere  Rachenhöhle  fortpflanzen. 

Mit  frischen  RachcnentzUudungen  vergesellschaftet  sich  nicht  selten  auch 
Muskel-  und  Gelenkrheumatismus.  Es  ist  sehr  wichtig,  dass  diesem  Um- 
stande jetzt  eine  erhöhte  Aufmerksamkeit  zugewendet  wird.  Es  ist  für  viele  Fälle 
erwiesen,  dass  die  rheumatische  Erkrankung  ihre  Eingangspforte  in  der  Rachen- 
höhle  gefunden  hat.  Sehr  bezeichnend  ist  es,  dass  gerade  leichten  Mandel- 
entzündungen unmittelbar  ein  Gelenkrheumatismus  gefolgt  ist.  Es  ist  sehr  leicht 
möglich,  dass  in  solchen  Fällen  seither  die  voraufgegangene,  vielleicht  gar  nicht 
weiter  behandelte  Mandelentzündung  unbeachtet  geblieben  ist.  Die  durch  die 
Mandeln  eingedrungenen  Krankheitserreger  sind  augenscheinlich  im  Staude,  in 
jenen  mehr  oder  weniger  erhebliche  Erkrankungen  zu  veranlassen,  wie  z.  B. 
eine  Angina  lacunaris.  Dass  diese  letztere  auch  im  Nasenrachenraume  Vorkommen 
kann,  ist  bekannt.  Ich  sah  kürzlich  einen  solchen  fall  im  Anschlüsse  an  eine 
Anwendung  des  elektrischen  Brenners  in  der  Nase , und  noch  bevor  die  Ilals- 
beschwerden  vollkommen  beseitigt  waren,  trat  in  einem  Knie-  und  in  einem  Ell- 
bogengeleuk  nach  einander  eine  mässig  starke  Entzündung  auf,  die  jedoch  nach 
14  Tagen  spurlos  verschwunden  war. 

35* 

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548  RACHENENTZÜNDUNG.  — RÜCKENMARKSENTZÜNDUNG. 

Es  empfiehlt  sieh  dringend,  jeder  Halsentzündung  sorgfältigste  Be- 
achtung zu  schenken.  Kinder  sollten , sobald  sie  aus  der  Schule  nach  Hause 
kommen,  sofort  3 — 4mal  mit  einer  leichten  Kochsalzlösung  gurgeln;  in  Zeiten, 
in  denen  Halsentzündungen  jedoch  häufig  Vorkommen  , empfiehlt  sich  eine  Jod- 
kochsalzlösung (Solut.  Natrii  chlorati  3,0:300,0,  Tinct.  Jodi  1 ,50 ) zum  gleichen 
Zwecke;  bei  Halsentzündungen  mit  Belag  leistet  diese  bei  ’/, — lstündlichem 
Gebrauche  ganz  ausgezeichnete  Dienste;  daneben  sind  PRlESSNlTZ'sche  Umschläge 
zu  gebrauchen.  Besondere  Sorgfalt  ist  auch  der  Mundhöhle,  besonders  den  Zähnen 
zn  widmen.  Bei  kranken  Zähnen  ist  der  ein-  bis  mehrmalige  Gebrauch  des 
MlU-ES’schen  Mundwassers  täglich  zn  empfehlen,  da  hierdurch  die  leicht  gefähr- 
lich werdenden  Krankheitserreger  zerstört  werden.  Von  grösster  Wichtigkeit  aber 
ist , dass  ein  etwa  verschlossener  oder  behinderter  Nasenluftweg  baldigst  frei- 
gelegt wird  und  damit  die  die  Rachenenge  (durch  Austrocknung^  so  leicht  ver- 
letzende Mundathmung  durch  die  auch  noch  in  manch  anderer  Beziehung  wich- 
tige Nnsenathmung  ersetzt  werden  kann.  Bei  Kranken  aber,  welche  in  dieser 
Richtung  behandelt  werden , empfiehlt  es  sich , gleichzeitig  durch  geeignete 
Gurgelungen  die  leicht  erkrankenden  Rachenorgane  vor  dem  Eindringen  der 
zahlreich  vorhandenen  Entzündungserreger  möglichst  zu  schützen. 

Bemerkenswert!)  ist  auch,  dass  es  Hals-  oder  Schlingsehmerzen  giebt, 
ohne  dass  bei  sorgfältigster  Untersuchung  irgend  etwas  auf  eine  Entzündung  der 
Rachenhöhle  oder  ihrer  Nachbarschaft  Deutendes  gefunden  werden  könnte.  Die 
Schlingbeschwerden  wechseln  auch  ihren  Ort,  verschwinden  aus  dem  Halse 
und  tauchen  als  Muskelschmerzen  an  anderen  Körperstellen  auf.  In  solchen  Fällen 
handelt  es  sich  um  Rheumatismus  der  Halsmuskeln,  gegen  den  Bich  PiUESSXITZ'sche 
Umschläge  am  besten  bewähren. 

Literatur:  W.  C.  Braislin,  The  rheumatic  throat  a contrihutirn  to  the  ttür 
logt/  of  catarrh  of  the  naso-pliarynx.  New  York  med.  Journ.  1893;  Bericht  in  Seroon's  Centralbl. 
X,  1893  94,  Nr.  6,  pag.  294.  — Bass,  Ueber  die  Beziehungen  zwischen  Angina  und  acutem 
Gelenkrheumatismus.  Arch.  f.  klin.  Med.  LIV,  S.-A.  — J.  C.  Cross!  and  , Tonsillitis  as  a s 
initial  Symptom  of  acute  rheumatism  in  the  adult.  Journ.  amer.  Assoc. ; Bericht  in  Semon  s 
Centralöl.  IX.  1892  93,  Nr.  10.  pag.  495.  — W.  Freudenthal,  On  rheumatic  and  allicd  afie- 
tions  of  the  jdiarynx,  larynx  and  nose.  New  York  med.  Kecord.  1895,  S.-A.  — Gougnea- 
hoim,  Die  aente  rheumatische  Angina.  Gaz.  med.  1894;  Bericht  in  der  Deutschen  Med.-Zt*. 
1894,  Nr.  57,  pag.  634.  — A.  Heller,  Der  Nasenrachenraum  in  der  Pathologie.  Arch.  f.  klin. 
Med.  1895,  LV,  S.-A.  — J.  Sendziak,  Beitrag  zur  Aetiologie  der  sogenannten  „Angina 
follicularis“.  Arch.  f.  Laryngol.  1894,  II,  H.  2,  pag.  180.  — H.  Snchannek,  Die  Kerir- 
hnngen  zwischen  Angina  und  acutem  Gelenkrheumatismus.  Sammlung  zwangloser  Abhand- 
lungen aus  dem  Gebiete  der  Nasen-,  Ohren-,  Mond-  und  Halskrankheiten,  heransgegehen  von 
M.  Bresgen.  1.  H.  Halle  1895,  Marhold.  — Max  Thorner,  llheumatic  throat  ajfectium. 
Cincinnati  med.  Journ.  1893,  S.-A.  — M.  Bresgen,  Krankheits-  nnd  Behandlnngslrhre  der 
Nasen-,  Mund-  und  Rachenhöhle  sowie  des  Kehlkopfes  nnd  der  Luftröhre  3.,  amgearbeitete  nnd 
erweiterte  Auflage.  Wien  1896,  Urban  nnd  Schwarzenberg.  Maximilian  Bresgen. 

Rhinalgin,  ein  von  Dr.  Thomalla  aus  Alumnol , Oleum  ualerianat, 
Menthol  und  Oacaobutter  hergestelltes  Präparat,  aus  welchem  1,0  schwere  Zäpf- 
chen bereitet  werden,  die,  in  die  Nase  eingefllhrt,  sich  besonders  bei  Jodschnupfen, 
aber  auch  bei  Coryza,  bei  Nasengeschwüren  und  Entzündungen  der  Nasensclileim- 
haut  bewähren  sollen,  ln  jedes  Nasenloch  legt  mau  */i  Zäpfchen  und  sobald  e* 
zn  zergehen  beginnt,  drückt  man  es  von  den  Aussenwänden  der  Nase  weit  in 
die  hintere  Nasenöffnuug  lind  bleibt  einige  Zeit  auf  dem  Rücken  liegen.  Diese 
Applicatiou  soll  raehreremale  am  Tage  vorgenommen  werden. 

Literatur:  Thomalla,  Ueber  die  Beseitigung  des  Schnupfens,  speciell  des  Jod- 
schnupfens durch  Rhinalgin.  Allg.  med.  Central-Ztg.  1895,  Nr.  5.  Loebiscb. 

Rhodanverbindungen,  im  Harn,  pag.  246. 
Riickenmarksentzündung,  8.  Myelitis,  pag.  447. 


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s. 


Safranvergiftung.  Dass  dem  als  Gewürz  bekannten  Safran  giftige 
Eigenschaften  zukommen , ist  schon  Diokcokides  bekannt  gewesen.  Trotz  einer 
grossen  Anzahl  von  Bestätigungen  durch  spätere,  besonders  mittelalterliche  und 
im  17.  Jahrhundert  lebende  Autoren  wird  die  bei  dem  hohen  Gehalte  der  Droge 
an  ätherischem  Oele  an  sich  durchaus  wahrscheinliche  Giftigkeit  nach  den  nega- 
tiven Versuchen  Okfjla’s  an  Thieren  meist  als  problematisch  oder  überhaupt 
nicht  existirend  angesehen.  Doch  sind  in  neuester  Zeit  zwei  Fälle  tfldtlicher  Ver- 
giftung vorgekommen.  In  dem  einen  von  SOHlllIiTMAXX  in  Wilhelmshaven  beob- 
achteten Falle  handelte  es  sich  um  ein  Dienstmädchen,  das  Safran  als  Abortivum 
genommen  hatte  und  am  3.  Tage  an  der  dadurch  bewirkten,  mit  Benommenheit, 
Erbrechen,  Nasenbluten  u.  s.  w.  einhergehenden  Vergiftung  zu  Grunde  ging.  Der 
andere,  im  Detmolder  Landkrankenhause  behandelte  Fall  betrifft  eine  23jährige 
Bonne,  bei  der  sich  nach  dem  ebenfalls  zum  Zwecke  der  Fruchtabtreibung  ein- 
genommenen Gifte  ein  plötzlicher  Anfall  von  Bewusstlosigkeit  mit  krampfhaften 
Erscheinungen  an  den  Extremitäten  und  Neigung  zum  Drehen  nach  rechts, 
Nystagmus  mit  Pupillenerwciterung  einstellte.  Die  Bewusstlosigkeit  dauerte  bis 
zu  dem  53  Stunden  nach  dem  Eintritt  des  Anfalles  erfolgenden  Tode  an. 
8 Stunden  vor  dem  Tode  erfolgte  Abortus.  Bei  der  Section  fand  sich  ausser- 
ordentlich starke  Blutfüllung  der  Gcfässe  in  der  Magrndarmschleimhaut,  im  Gehirn 
und  in  den  Hirnhäuten ; auch  bestand  leichte  Nephritis.  Der  Fall  bestätigt  somit 
auch  die  abortive  Wirkung  des  Safrans,  die  in  älteren  Schriften  vielfach  betont 
wird  und  dom  Volk  leider  nur  zu  gut  noch  jetzt  bekannt  ist.  Dass  der  Safran 
allein  die  Schuld  an  dem  Tode  war,  beweist  in  dem  Detmolder  Falle  die  chemische 
Analyse  des  Mageninhalts,  die  alle  anderen  zu  Abortivzwecken  verwendeten  Gifte 
ausschloss,  während  sie  die  Anwesenheit  grosser  Mengen  Safran  constatirte.  Die 
genommene  Dosis  ist  in  dem  Detmolder  Falle  unbekannt;  einige  Monate  zuvor 
hatte  das  Mädchen  einen  weinigen  Aufguss  von  2 — 21/,  Grm.  Safran  genommen, 
ohne  darnach  zu  erkranken,  ln  dem  Wilhclmshavener  Falle  hatte  die  Vergiftete 
wiederholt  von  einem  Bpirituöscn  Auszuge  aus  einer  Flasche,  die  sie  zu  einem 
Drittel  mit  Crocns  und  zu  zwei  Drittel  mit  Spiritus  gefüllt  hatte,  getrunken. 

Literatur:  Corvey,  Ueber  die  Giftigkeit  des  Safrans.  Dissert.  Leipzig  1895. 

Busemann. 

Safrol.  Ein  sehr  giftiger  Bestandtheil  verschiedener  ätherischer  Oele 
ist  das  zuerst  als  der  llauptbestandtheil  des  Sassafrasöles  bekannt  gewordene, 
jetzt  in  grosser  Menge  wegen  seines  fenchelartigen  Geruches  zu  Parfumerie- 
zwccken,  insonderheit  zur  Darstellung  des  lleliotropins  (Piperonals),  aus  dem 
rohen  Campheröl  gewonnene  Safrol , CI0  H10  Os , das  nach  den  neuesten  chemi- 
schen Untersuchungen  als  Allylbrenzcatechinmethyläther  aufzufassen  ist. 


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550 


SAFROL. 


Das  Safrol  findet  sich , von  Laurus  Sassafras  und  Camphora  off  ci  na  rum  abge- 
sehen , auch  in  den  Früchten  von  lllieium  an  ts  atu  m und  1.  rel  i g io  su  m , ferner  in 
einer  grösseren  Anzahl  zu  den  Lauraceen,  Magnoliaceen  und  Monimiaceen  gehöriger  Gewächse 
Es  ist  eine  farblose  Flüssigkeit,  die  bei  232°  siedet  und  bei  starker  Abkühlung  zu  schönen 
monoklinen  Prismen  erstarrt,  die  bei  121  schmelzen.  Bei  11°  hat  es  ein  specifisches  Gewicht 
von  1,005.  Es  löst  sich  in  Aether,  Alkohol  und  Benzol,  nicht  in  Wasser,  Alkalien  und  Säuren. 
Concentrirte  Schwefelsäure  färbt  sich  mit  Safrol  roth.  Bei  Oxydation  mit  Kaliumpermanganat 
entstehen  daraus  neben  Ameisensäure,  Oxalsäure  und  Essigsäure  vorwiegend  Piperonyl- 
säure  und  Piperonal;  als  Zwischen producte  erscheinen  ein  zweiwertbiger  Alkohol,  Methylen- 
dioxybenzylglykol  und  Homopiperonylsaure,  aus  der  sich  dann  weiter  Piperonal  und  Piperonyl- 
säure  bilden.  Das  Safrol  gehört  zu  den  populärsten  Parfüms  der  Seifenindastrie . dient  aber 
in  Amerika  auch  zum  Aromatisiren  von  Tabak  und  von  erfrischenden  Getränken,  unter  denen 
das  sogenannte  Saraaparilla  Water , mit  Zuckertinctur  braun  gefärbtes,  mit  Kohlen- 
säure unter  starkem  Druck  gesättigtes  und  mit  Safrol  aromatisirtes  Zuckerwasser . als  blot- 
reinigendes Mittel  in  erstaunlichen  Quantitäten  Absatz  findet.  In  Leipzig  producirt  die  Firma 
Schimmel  & Cie.  jährlich  etwa  120.000  Kgrm.  aus  rohem  Campheröl. 

Im  Organismus  wird  Safrol  nur  zum  kleineren  Theile  oxydirt,  während 
der  grösste  Theil  durch  die  Lungen  ausgeschieden  wird.  Im  Harn  erscheint  eine 
kleine  Menge  (nach  Einführung  von  12,0  nur  0,5)  Piperonylsäure. 

Vermehrung  von  Aetherschwefelsäure  findet  nicht  statt.  Piperonylsäure  tritt  im  Harn 
auf  nach  Einführung  von  Piperonal  (Heliotropin),  das  physiologisch  unwirksam  erscheint  und 
vom  Menschen  zu  10  Grm.  genommen  werden  kann,  ohne  ßefimlensstörung  zu  veranlassen 

Nach  den  Versuchen  von  Heffter  ist  Safrol  einer  der  giftigsten  Bestand- 
theile  ätherischer  Oele,  indem  es  bei  Kaninchen  vom  Magen  oder  Untcrhautzell- 
gewebe  aus  zu  annähernd  1,0  pro  Kilogramm,  in  Emulsion  intravenös  injicirt. 
Bchon  zu  0,2  pro  Kilogramm  Tod  herbeiführt.  Local  reizende  Wirkung  kommt 
dem  Safrol  nicht  zu.  Seine  entfernte  Wirkung  ist  lähmend , wobei  zunächst  das 
Gehirn  (Narkose),  dann  die  Reflexcentren  und  schliesslich  das  Athmungscentnim. 
durch  dessen  Lähmung  der  Tod  eintritt,  betroffen  werden.  Auch  die  vasomotori- 
schen Centren  werden  dadurch  gelähmt,  doch  sind  sie  relativ  resistent  gegen  das 
Gift,  da  bei  kleinen  Safroldosen  nur  vorübergehende  Blutdrucksenkung  eintritt, 
und  auch  bei  grossen  die  Erregbarkeit  für  den  Er8tickungsreiz  sehr  lange  er- 
halten bleibt.  Auf  die  Pulsfrequenz  ist  Safrol  ohne  constanten  Einfluss.  Bei 
Fröschen  bewirken  5 Mgrm.  einstfindige  Narkose  mit  starker  Herabsetzung  der 
Reflexaction  und  Verminderung  der  Herzschlagzahl. 

Obschon  beim  Menschen  Vergiftungen  mit  Safrol  bis  jetzt  nicht  vor- 
liegen, kommt  dem  Stoffe  bei  seiner  überaus  ausgedehnten  technischen  Anwendung 
in  der  Seifenindustrie  doch  unzweifelhaft  hygienisches  Interesse  zu , da  sehr 
leicht  accidentelle  Vergiftungen  damit  Vorkommen  können.  Diese  Gefahr  ist  nicht 
zu  unterschätzen,  da  aus  Nordamerika  verschiedene  Beobachtungen  über  sch  wen* 
Intoxicationen  durch  Sassafrasöl  vorliegen,  dessen  Hauptmasse,  wie  oben  bemerkt, 
aus  Safrol  besteht. 

Schon  1884  wies  Hill  die  grosse  Giftigkeit  des  Sassafrasöls  für  Hund-,  Katzen 
und  Mäuse  nach.  Gegen  die  in  Amerika  Mode  gewordene  theelöffelweise  Anwendung  des  Sa*»* 
frasöls  zog  188(3  Bartlett  zu  Felde  unter  Mittbeilung  von  zwei  Fällen  von  Abortus , die 
unter  Gebrauch  von  Sassafrasaufguss  entstanden  waren.  Eine  schwere  Vergiftung  durch  einen 
Theelöffel  voll  Sassafrasöl  beobachtete  1889  Allright  bei  einem  jungen  Manne,  der  schon 
nach  wenigen  Minuten  zu  hallucitriren  begann  und  trotz  mehrmaligen  spontanen  Erbrechens 
nach  einer  Stunde  in  einem  10  Stunden  anhaltenden  Zustand  completer  Bewusstlosigkeit  mit 
Kälte  der  Extremitäten,  kaum  fühlbarem  Radialpuls  und  Sinken  der  Athemzahl  bis  auf  12  io 
der  Minute  verfiel.  Dass  es  übrigens  noch  giftigere  ätherische  Oele  als  das  Sassafrasöl  und  selbst 
als  Safrol  gibt,  ist  nicht  zu  bezweifeln.  Nach  den  Erfahrungen  an  Menschen  ist  schon  eine 
einzige  Muscatnuss,  die  bei  einem  Gewicht  von  4 — 5 Grm.  und  einem  Gehalte  von  6%  ätheri- 
schem Oele  0,24  bis  0,3  ätherischem  Oele  entsprechen  würde,  im  Stande,  mehrstündige  Narkose 
bei  Erwachsenen  zu  bewirken. 

Auch  die  Benutzung  zum  Parfumiren  von  Tabak  oder  noch  mehr  von 
Getränken  verdient  die  Aufmerksamkeit  der  Hygiene,  da  Safrol  nicht  blos  acute, 
sondern  auch  subacute  chronische  Vergiftung  zu  bewirken  vermag.  Thiere,  die 
intern  oder  subcutan  mehrere  Tage  hinter  einander  grössere,  aber  nicht  tödtliche 
Dosen  von  Safrol  erhalten,  magern  ah,  werden  träge  und  apathisch,  verlieren  die 


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SAFROL.  — SALIGENIN. 


551 


Fresslust  und  sterben  in  6 — 8 Tagen , ohne  dass  die  Section  wesentliche  Ver- 
änderungen ergiebt.  Bei  Katzen,  bei  denen  zunächst  heftiges  Erbrechen  cintritt, 
nnd  bei  Thieren,  denen  man  das  Safrol  in  längeren  Zwischenräumen  darreicht, 
kommt  es  zu  Icterus  und  hochgradiger  fettiger  Entartung  verschiedener  Organe, 
namentlich  der  Leber  und  der  Nieren,  Erscheinungen,  die  nach  ätherischen  Oelen 
(mit  Ausnahme  von  Thymol,  Rosmarinöl  und  dem  Oele  von  Mentha  PuUgium) 
bisher  nicht  beobachtet  wurden,  nach  Heffter  aber,  allerdings  prägnant  nur  in 
den  protrahirtesten  Vergiftungsfällen,  einem  Allyl  enthaltenden,  festen  ätherischen 
Oele,  dem  Apiol,  zukommen. 

Der  in  den  Früchten  von  PetrostUnum  sativum  enthaltene  Pe  ters il  ien c am  pb  e r 
oder  Apiol,  bildet  nadelförroige  Krystalle,  die  bei  30°  schmelzen  und  bei  29°  -sieden. 

Sie  9chmechen  schwach  nach  Petersilie  nnd  schmecken  brennend  aromatisch.  Durch  Kalium- 
permanganat wird  Apiol  zu  Apiolsäure,  CloH,0O, , oxydirt.  Apiol  ist  der  Dimethylmetbylen- 
äther  eines  Allyltetraoxybenzols  und  von  Safrol  durch  Substitution  von  2 Methoxylgruppen 
verschieden.  Durch  Kochen  mit  alkoholischem  Kali  geht  es  in  isomeres  Isapiol  über.  Im  Thier- 
körper wird  es  schwierig  resorbirt , so  dass  acute  Vergiftung  vom  Magen  und  Unterhautzell- 
gewebe aus  bei  Warmblütern  nicht  zu  erzielen  ist,  wahrend  bei  Fröschen  tiefe  Narkose  da- 
durch bewirkt  werden  kann,  jedoch  nur  unter  Anwendung  sechsfach  grösserer  Mengen.  Neben 
der  Safrolwirkung  besitzt  Apiol  eine  stark  örtlich  reizende  Wirkung,  so  dass  es  nicht  nur  bei 
Subcntanapplication  nekrotisch  eiterige  Infiltration  erzeugt,  sondern  auch  bei  länger  dauernder 
interner  Zufuhr  zu  hochgradiger  Gastroenteritis  mit  Blutungen  in  den  Darm  hinein  Anlass  wird. 

Als  ein  in  der  Seitenkette  oxydirtea  Safrol  ist  nach  Pomeranz  das  Cubebin 
anzusehen,  das  jedoch  als  ganz  unwirksam  bezeichnet  werden  muss,  da  davon  nur  sehr  geringe 
Mengen  resorbirt  werden,  wenn  überhaupt  Resorption  stattfindet.  Bei  Hunden  können  in  fünf 
Tagen  36  Grm.,  beim  Menschen  innerhalb  eines  Tages  13  Grm.  innerlich  genommen  werden, 
ohne  irgendwelche  Störungen  im  Befinden  herbeizuführen. 

Die  ausserordentlich  grosse  Toxieität  des  Safrols  erscheint  umso  auf- 
fälliger, als  eine  dem  Safrol  in  ihrer  Constitution  sehr  nahe  verwandte  aromatische 
Verbindung,  das  Eugenol,  die  als  Dioxyallylbenzolmonomethyläther  aufzufassen 
ist,  nur  wenig  oder  kaum  giftig  ist,  da  7 — 8 Grm.  bei  Hunden  nur  Polyurie 
und  mitunter  Durchfälle  hervorrufen  und  3 Grm.  in  getheilten  Dosen  beim  Menschen 
keine  nennenswerthen  Störungen  machen , während  allerdings  grössere  Dosen 
Schwindel  und  rauschartigen  Zustand  bewirken.  Von  theoretischem  Interesse  ist 
besonders  auch  die  Differenz  der  toxischen  Verhältnisse  des  dem  Safrol  isomeren 
Isosafrols,  das  in  derselben  Weise  wie  Safrol  zusammengesetzt  ist,  aber  statt 
Allyl  die  diesem  isomere  Propenylgruppe  enthält. 

Das  Isosafrol , der  Methylenäther  des  Propenylbrcnzcatechins,  entsteht  bei  Erhitzen 
von  Safrol  mit  Natrium  und  festem  Kali  im  Rohr  oder  durch  Erwärmen  in  alkoholischer 
Kalilösung  am  Rückfiusskühler.  Es  ist  eine  wenig  gelblich  gefärbte  Flüssigkeit  von  safrolähn- 
lichem , aber  schwächerem  Gernche . die  bei  246 — 248"  siedet  und  bei  — 18°  nicht  erstarrt. 
Löslichkeit  und  Reaction  mit  Schwefelsäure  verhalten  sich  wie  bei  Safrol.  Bei  der  Oxydation 
entsteht  neben  Piperonal  und  Piperonylsäure  noch  eine  zweite  Säure,  Piperonylcar bonsäure. 

Isosafrol  wirkt  bei  Fröschen  wie  Safrol , ist  aber  bei  Kaninchen  etwas 
schwächer  giftig,  indem  erst  0,3  Grm.  intravenös  in  Emulsion  applicirt  den  Tod 
bewirken,  dem  dieselben  Erscheinungen  wie  bei  Safrolvergiftung  voraufgelren.  Sehr 
different  ist  dagegen  die  subacute  Vergiftung , insoferne  diese  nicht  allein  weit 
langsamer  (in  3 Wochen)  und  nur  nach  höheren  Dosen  tödtlich  verläuft,  sondern 
auch  die  Symptome,  insoferne  neben  der  Schwäche  auch  deutlich  nervöse  Sym- 
ptome, wie  Taumeln  und  selbst  Krämpfe  auftreten,  abweichen  und  der  Leichen- 
befund auch  bei  Katzen  niemals  Verfettung  der  Herzmusculatur,  der  Leber  und 
der  Nieren  wie  bei  der  Safrolvergiftung  darbietet. 

Literatur:  Heffter,  Zur  Pharmakologie  der  Safrolgrnppe.  Arch.  f.  experim.  Path. 
XXXV,  H.  4 u.  5,  pag.  4!f3.  Husemaun. 

Saligenin,  C, 1 ,-.>y  Ortho-oxybenzylalkohol,  Salicyl- 

alkohol,  bildet  einen  Bestandtheil  des  in  der  Weidenrinde  vorkommenden 
Glykosids  Salicin,  welches  bei  der  Spaltung  durch  Säuren,  Alkalien  und  Fer- 
mente in  Saligenin  und  Glykose  zerfällt.  Das  Salicin  wurde  schon  seit  langer 
Zeit  arzneilich  angewendet  und  auch  in  neuerer  Zeit  von  Senator  als  Anti- 


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552  SALIGENIN.  — SCHANKERGIFT. 

pyreticum  wieder  empfohlen;  man  durfte  annelimeu,  dass  die  Wirkung  des- 
selben auf  das  .Saligenin  zurückzuführen  ist.  Duch  Oxydationsmittel  wird  das 
Saligenin  leicht  in  salicylige  Säure  (Salicylaldehyd)  und  in  Salieylsätire 
übergeführt,  es  verhalten  sich  also  die  drei  Verbindungen  zu  einander  wie  Al- 
kohol, Aldehyd  und  Säure.  Die  Annahme,  dass  dem  Saligenin  wegen  seines 
phenolartigen  Charakters  antiseptische  Wirkungen  zukommen,  wurde  durch  den 
Versuch  bestätigt,  dessen  therapeutische  Wirksamkeit  bei  acutem  Gelenksrheuma- 
tismus versuchte  man  durch  die  Oxydation  des  Saligenins  im  Organismus  zu 
Salicylsäure  zu  erklären.  Lederer  kann  sich  dieser  Auffassung  auf  Grund  seiner 
klinischen  Beobachtungen  nicht  anschliessen.  Bekanntlich  bedarf  es,  um  mit 
Salicylsäure  eine  rasche  und  sichere  Wirkung  zu  erzielen,  ziemlieh  grosser  Dosen. 
Wäre  nun  der  therapeutische  Werth  des  .Saligenins  allein  durch  die  im  Orga- 
nismus producirte  Salicylsäure  bedingt,  60  müssten , da  im  Harn  bei  der  Sali- 
geninbehandluug  neben  Salicylsäure  und  Salicylursäure  auch  noch  salicylige  Säure 
nebst  unverändertem  Saligenin  vorhanden  sind,  zur  Erzielung  der  Wirkung  noch 
grössere  Mengen  Saligenin , als  der  Behandlung  mit  Salicylsäure  entsprechen, 
vorhanden  sein.  Es  wirkt  jedoch  das  Saligenin  schon  in  kleineren  Gaben  rasch 
und  anhaltend,  so  dass  man  zur  Annahme  gelaugt,  dass  die  Salicylsäure  im 
Organismus  zu  Saligenin  reducirt  werde  und  der  Heilwerth  jener  eigentlich  dem 
Reductionsproducte  zukomme.  Nach  Lederer  ist  der  therapeutische  Effect  des 
Saligenins  ein  nur  diesem  eigcnthümlicher. 

Während  das  aus  dem  Salicin  erhaltene  Saligenin  wegen  des  hohen 
Preises  wenig  Aussicht  auf  eine  allgemeine  Verwendung  hatte,  bietet  das  durch 
Vereinigung  von  Carbolsäure  mit  Formaldehyd  synthetisch  erhaltene  Saligenin  in 
dieser  Beziehung  günstigere  Aussichten.  L.  Lederer  berichtet  über  acht  von 
P.  Walter  mit  Saligenin  behandelte  Fülle,  sieben  Fälle  von  acutem  Gelenks- 
rheutnatismus,  ein  acuter  Gicbtunfall;  die  Wirkuug  war  in  Bezug  auf 
Schmerzhaftigkeit  und  Schwellungen  eine  prompte,  ohne  dass  ähnliche  Neben- 
wirkungen wie  nach  Salicylsäure  bemerkt  wurden. 

' Dosirung.  0,5 — 1,0  pro  dosi  I — 2stündlich  als  Pulver  oder  in  alkoho- 
lisch-wässeriger Lösung.  Rp.  Saligenin  4,0,  Spiritus  30,0,  Aq.  dest.  ad  200,0. 
MDS.  Stündlich  1 — 2 Esslöffel  zu  nehmen. 

Literatur:  L.  Lederer,  Leber  Salicin  und  Saligenin.  Münchener  med.  Wochen- 
schrift. 1994,  pag.  019.  — Idein.  Saligenin  in  der  Therapie.  Münchener  med.  Wochenschr.  1895,  7. 

Loebisch. 

Salpeterpapier,  Räucherungen,  s.  Inhalationstherapie,  pag.  283. 

Salubrol;  Name  eines  bei  Einwirkung  von  Brom  auf  Methylenbisantipyrin 
entstehenden  Brompräparates,  dag  als  geruchloses  Pulver  von  den  Höchster  Farb- 
werken neuerdings  dargestellt  und  als  Jodoformersatz,  namentlich  als  antiseptischcs 
Streupulver  in  Form  von  Salubrolgaze  u.  s.  w.  zur  Anwendung  gebracht  wird. 

Salzsäure,  gasvolumetrische  Bestimmung,  s.  Magen,  pag.  388. 

Schankergift.  Die  Lehre , dass  der  Syphilis  und  dem  Sehanker  ver- 
schiedene Gifte  zu  Grunde  liegen,  welche  für  Deutschland  durch  Bärensprus«. 
namentlich  aber  durch  H.  v.  Zeissl  zur  Anerkennung  gebracht  wurde , darf 
heutzutage  als  allgemeingiltig  angesehen  werden.  Während  das  Syphilisgift 
noch  vollkommen  unbekannt  ist  und  man  nur  seine  klinischen  Aeusserungen 
kennt,  sind  hingegen  die  Anschauungen  über  die  l'rsachen  des  local  bleiben- 
den Schankergcschwüres  in  den  letzten  fünf  Jahren  wesentlich  bereichert  worden. 
H.  v.  ZEI88L  und  ich  haben  uns  immer  dahin  ausgesprochen,  dass  den  Schanker 
ein  besonderes,  ihm  allein  eigentümliches  Contagium  veranlasse.  So  heisst  cs 
in  der  fünften  Auflage  des  von  mir  hernusgegebenen  Lehrbuches,  pag.  229: 
„Wir  können  nur  aus  der  Thatsnche,  dass  eine  Minimnlquantität  des  Geschwflrs- 


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SCHANKERGIFT. 


553 


secretes,  wenn  dasselbe  mit  belebten  Theilen  der  Cutis  oder  der  Schleimhaut  in 
Contaet  gebracht  wird , in  sehr  kurzer  Zeit  an  Ort  und  Stelle  ein  dem  Mutter- 
geschwür ähnliches  Geschwür  hervorruft,  den  Schluss  ziehen,  dass  das  betreffende 
Gesehwttrssecret  eine  contagiiise  Kraft  besitzen  muss.“  Ausserdem  heisst  es  pag.  309 
desselben  Lehrbuches:  „Alle  Schankergeschwüre  erzeugen  ein-  und  dasselbe  Virus.“ 
Primo  Ferrari  '),  Manxio  *)  und  de  Lecca  *)  berichten  in  den  Jahren  1885  und 
1886  üher  die  von  ihnen  im  Schanker-  und  Buboneneiter  gefundenen  Mikro- 
organismen. Ob  diese  Autoren  schon  die  später  von  Dccrev,  Kreftikg  und 
Unna  beschriebenen  Mikroorganismen  neben  den  anderen  von  ihnen  im  Schanker- 
citer  gefundenen  Mikroorganismen  gesehen  haben,  lässt  sich  nicht  mit  Sicherheit 
aussagen.  Die  Kenntnisse,  die  über  das  Contagium  des  weichen  Geschwüres  in 
den  letzten  Jahren  erworben  wurden,  bauen  sich  auf  die  Arbeiten  Duceey'S4), 
Khkftixg's*)  und  Unna’s  auf. 

Es  sei  hier  bemerkt,  dass  vor  Ddcrey  W e LAND  KR  •)  in  einer  im 
Jahre  1891  erschienenen  Arbeit,  welche  „Abortivbehandlung  der  Bnboncn“  be- 
titelt ist,  berichtet,  dass  er  schon  im  Jahre  1887  im  Schankereiter  neben  staphylo- 
und  streptococcusähnlichen  Mikroorganismen  sparsam  auftretende , öfter  in  Zellen 
eingeschlossene  Stäbchen  gefunden  habe,  die  möglicherweise  mit  den  von  Maxxio 
beschriebenen  identisch  seien.  Reinculturen  dieser  Stäbchen  gelangen  auf  Agar- 
Agar  und  Fleischpeptongelatine  nicht.  Schon  1887  impfte  Welaxder,  sowie 
später  D Ckky  den  Schanker  in  Generationen,  und  gelang  es  ihm,  in  vielen  auf 
diese  Weise  erhaltenen  Secreten  — doch  nicht  in  allen  — durch  Färbung  mit 
Methylenblau  und  Fuchsin  (nicht  nach  Grami  die  kleinen,  oben  erwähnten  Stäbchen 
stets  in  äusserst  geringer  Zahl  und  oft  ohne  Beimischung  von  anderen  Mikroben 
nachzu weisen.  Im  Gewebe  ausgeschnittener  Schanker  glückte  Welaxder  der 
Nachweis  dieser  Bacillen  nicht. 

Dvcrey  7)  tlieilt  mit , dass  es  ihm  gelungen  sei , den  Mikroorganismus 
des  weichen  Schankers  auf  seinem  natürlichen  Culturboden,  der  menschlichen 
Haut,  zu  züchten,  nachdem  Versuche,  auf  N’ährgelatinc  Reinculturen  zu  erhalten, 
missglückt  waren.  Das  Secrct  zur  Impfung  entnahm  ÜrcREY  drei  typischen 
weichen  Schankern  der  Genitalorgane.  Es  wurden  drei  verschiedene  Reihen  von 
Impfpusteln  angelegt  und  bis  zur  25.  Generation  verfolgt.  In  dem  Eiter  der 
drei  natürlichen  Schanker  liessen  sich  mit  dem  Mikroskope  sehr  verschiedene 
Mikroorganismen  entdecken,  die  auf  gewöhnlichen  Nährböden  zu  cultiviren  waren, 
aber  nicht  constant  angetrotfen  w urden , vielmehr  bei  den  verschiedenen  Arten 
variirten.  In  den  Impfpusteln  nahm  ihre  Zahl  allmälig  ab,  bis  von  der  5.  oder 
der  6.  Generation  an  ein  eiteriges  I’roduct  gewonnen  wurde,  das  im  höchsten 
Grade  virulent  war,  aber  auf  Nährböden  wirkungslos  blieb.  Und  doch  zeigte 
das  so  erhaltene  Virus  constant  und  ausschliesslich  einen  besonderen  Mikroorga- 
nismus unter  dem  Mikroskope.  Ein  Bakterium  von  1,48  y.  Länge  und  0,50p. 
Breite,  kurz  und  gedrungen;  an  den  Enden  schön  abgerundet;  am  häuligsten 
mit  seitlicher  Einschnürung.  Diese  Bakterien  liegen  gewöhnlich  in  Gruppen  von 
4,  5,  8 Exemplaren  oder  auch  allein  oder  zu  Paaren.  Sie  liegen  mit  Vorliebe 
in  den  intercellulären  Räumen , aber  auch  im  Protoplasma  der  Eiterzellen.  Am 
besten  färben  sie  sich  mit  Fuchsin,  Methylriolett  und  Gentianaviolett.  die  Methoden 
von  Gbam  und  Kühne  waren  erfolglos.  Anlagen  von  Culturen  von  dem  Eiter  der 
Impfschanker  waren  resultatlos. 

Krefting  konnte  diese  Bacillen  im  Seerete  der  weichen  Schanker,  im 
Buboneneiter  and  in  Schnitten  ausgeschnittener  weicher  Schanker  und  in  Schnitten 
von  dem  Rande  eines  Schankerbubos  nachweisen. 

Unna  s)  fand  in  Schnitten  ausgeschnittener  weicher  Schankergeschwürc 
einen  in  Ketten  angeordneten  Bacillus.  Diese  von  Unna’s  Bacillus  gebildeten 
Ketten  durchziehen  oft  das  ganze  Gesichtsfeld.  Unna  nennt  diesen  Mikroorga- 
nismus Streptobacillus  des  weichen  Schankers.  Derselbe  entfärbt  sich  nach  Gram 
und  giebt  seinen  Farbstort'  sehr  leicht  an  Alkohol  ab. 


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554 


SC  II  ANKERGIFT. 


Ch.  ÄUDRY »)  erkennt  nur  solche  Geschwüre  als  Schankergeschwüre  an, 
in  welchen  sieh  der  von  Ddcrf.y  und  Krefting  beschriebene  Bacillus  findet. 
AüDRY  sagt,  man  dürfe,  da  sich  im  Vnlvar-  und  Bnlanopräputialsecrete  Bacillen 
finden,  welche  sieb,  ebenso  wie  die  Dl'CREY’schen  Bacillen,  nach  Gram  entfärben, 
aus  der  Untersuchung  von  Eiter,  welchen  man  aus  der  Vul vargegend  und  ans 
dem  Vorhautsacke  entnahm,  keine  positiven  Conclusionen  ziehen.  Aüdry  führt 
aus,  dass  der  Sehankerbubo  durch  Absorption  der  Ptomaine  der  Dt'CRKY'schen 
Bacillen  entstehen  kiinne,  oder  dass  die  Bacillen,  welche  den  Bnbo  erzeugten, 
wieder  verschwinden.  Audry  neigt  zn  letzterer  Anschauung. 

Walter  Petersex  lu)  fand  im  Ulcus  molle  neben  Streptokokken  einige 
Bacillen,  welche  an  die  von  Dl'CRKY  und  KreftIXG  beschriebenen  erinnern,  sah 
aber  nie  eine  ansgesprochene  Abschnürung  in  der  Mitte.  In  lmpfschankern  fand 
er  diese  Bacillen  in  grösserer  Menge.  In  Schnitten  von  ausgeschnittenen  weichen 
Geschwüren  fand  er  den  von  Unxa  beschriebenen  Streptobacillus  constant.  Die 
Bacillen  fand  er  nie  in  Leukocyten.  Auf  Menschenserum  mit  Agar  (1:2)  ent- 
wickelten sich  in  den  tieferen  Partien  des  Nährbodens  am  zweiten  Tage  rund- 
liche, wolkige,  nach  aussen  mit  kleinen  Ausbuchtungen  versehene  lichtgelbe 
Colonien.  Die  vierte  Aussaat  ergab  eine  Reincultur  von  Bacillen,  die  in  den 
Grössen  Verhältnissen  den  Bacillen  von  Unxa  entsprachen.  Abrundung  der  Ecken 
und  Einschnürung  in  der  Mitte  fehlten.  Entfärbung  erfolgte  durch  Jod,  Säuren 
und  Alkohol.  Kettenanordnung  fehlte.  Es  gelang  nur  eine  Cultivirung  bis  in  die 
vierte  Generation  auf  Blntserumagar.  Auf  Kaninchen  blieb  die  Impfung  erfolglos. 
An  Menschen  erzeugte  die  Impfung  am  zweiten  Tage  geringe  Röthung,  am  dritten 
Tage  eine  minimale  Pustel , die  am  fünften  Tage  abheilte.  Petkmsex  schreibt 
den  Streptobacillen  wegen  der  Constanz  der  Befunde  eine  Bedeutung  für  die 
Pathogenese  des  Ulcus  molle  zu,  die  Wirkung  äussere  sich  erst  in  Symbiose  mit 
anderen  Mikroorganismen.  Die  Identität  mit  dem  DCCR K Y - K R KFTING 'sehen  Mikro- 
organismus möchte  Petersex  nicht  ohneweiters  annchmen. 

Sch  Eixis u)  fand  im  Eiter  von  29  Schankcrn  und  5 Schankerbubonen 
den  DrCREY’schen  Mikroorganismus : nur  im  Eiter  von  2 Schankcrn  fehlte  er, 
da  sich  dieselben  bereits  im  Stadium  der  Reparatur  befanden.  Zu  beachten  ist 
anch  die  Bemerkung  von  Schkixis,  welche  besagt,  „dass  durch  luoculation  er- 
zeugte Generationen  von  Schanker,  selbst  bei  Beobachtung  antiseptischer  Vor- 
Bichtsmassrcgeln,  nicht,  wie  man  bis  jetzt  glaubte,  zur  Erhaltung  der  DtCREYschen 
Bacillen  in  reinem  Zustande  führen  können;  wenn  der  primäre  Schaukerciter 
einen  Mikroben  (z.  B.  Micrococcus  tetragenus)  enthält,  welcher  das  Vermögen 
besitzt,  sich  schneller  als  der  DucREY’sche  Bacillus  zu  entwickeln  und  zu  ver- 
mehren, so  soll  die  specifische  Ansteckungsfähigkeit  schon  von  der  dritten  oder 
vierten  Generation  an  aufhören“. 

L.  JüLLIEN  **)  konnte  seine  Schaukcritnpfuugen  nur  bis  in  die  dritte 
Generation  fortsetzen,  daun  sehlugen  sie  fehl  und  konnte  er  in  den  durch  Impfung 
erzielten  Pusteln  bei  der  mikroskopischen  Untersuchung  keinerlei  Mikroorganismen 
nachweisen.  Jcllien  meint  wegen  dieser  seiner  Beobachtung , dass  wir  mit 
unseren  Färbemethoden  den  Schankermikroorganismus,  der  sicher  existirt,  noch 
nicht  nachweisen  können.  Jullikn  sagt,  dass  der  Eiter  oder  Impfschanker  von 
der  4.  oder  3.  Generation  ab  seine  Virulenz  zu  verlieren  scheint , was  mit  der 
steten,  sicheren  und  unbegrenzten  Virulenz  des  Eiters  des  originären  Schankers 
zu  eontrastiren  scheine.  Man  könnte  diese  Eigenthümlichkeitcn  geradezu  durch 
die  Abwesenheit  fremder  Mikroorganismen  in  dem  Eiter  der  unter  antiseptiseben 
Cautelen  erzeugten  Geschwüre  erklären.  Es  könnte  sich  beim  Schanker  um  eine 
Association  von  Mikroorganismen , um  eine  Symbiose  handeln.  Und  es  wäre 
möglich,  dass  aus  diesem  Grunde  der  „reine“  Schankereiter,  den  wir  bei  Impfung 
uuter  antiseptischen  Cautelen  erhielten , viel  weniger  virulent  ist  als  der  vom 
originären  Schanker  entnommene  Eiter.  Diesen  Erklärungen , die  JcLUEX  für 
seine  Beobachtungen  nngiebt , möchten  wir  uns  nicht  anschliesseu  und  auch  an 


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SCHANKERGIFT. 


555 


eine  Symbiose  verschiedener  Mikroorganismen , durch  welche  erst  der  Schanker 
erzeugt  wird,  nicht  glauben,  ehe  nicht  zwingende  Beweise  hierfür  vorliegen.  Er- 
wähnt sei  hier,  dass,  wie  DrBRBUIL  und  Lasset  in  ihrer  später  citirten  Arbeit, 
pag.  10,  erwähnen,  J.  Gazon  mit  und  ohne  antiseptischen  Cautelen  nur  immer 
Eine  Schankergeneration  erhielt,  die  sich  nicht  weiter  impfen  Hess. 

An  Hofrath  Neumann’S  Klinik  liess  sich  einmal  die  Impfung  nicht  über 
die  2.  Generation  und  einmal  nicht  über  die  3.  Generation  hinaus  fortführen, 
obgleich  vor  der  Impfung  die  Haut  nur  desinficirt,  dann  gut  mit  Alkohol  und 
Aether  abgewaschen,  aber  keinerlei  Schutzverband  angelegt  worden  war. 

Eine  ausführliche  Arbeit  Uber  unseren  Gegenstand  verdanken  wir  Dubrkgil 
und  Lasnkt.  *')  Diese  Autoren  bestätigen  die  Angaben  von  Dt'CitKT,  KR  EFT  INO 
und  Unna  und  identificiren  Uxna’s  Streptobacillus  mit  dem  DucREY-KREFTiNG’schen 
und  heben  mit  Recht  hervor,  dass  schon  im  Schankereiter  sich  die  Anordnung 
in  Ketten  nachweisen  lasse. 

Im  gleichen  Sinne  äussert  sich  Ch.  Nicolle.  >*)  Besonders  hebt  Nicolle 
hervor,  dass  man  die  Ketten,  welche  der  Mikroorganismus  des  Schankers  im 
Eiter  bildet,  dann  schön  zur  Ansicht  bringt,  wenn  man  exact  gereinigte  Deck- 
gläser benützt  und  auf  diesen  den  Eitertropfen  nicht  verstreicht,  sondern  sich 
selbst  vertheilen  lässt,  damit  die  Ketten  nicht  mechanisch  zerrissen  werden. 

Bestätigungen  der  Beobachtungen  von  Krefting  und  Dt'CRRY  veröffent- 
lichten auch  Quinquaüd  und  M.  Nicolle1*)  und  Riyierk.  ••)  L.  Chkinissk  *’) 
stellt  auf  Grundlage  seiner  Arbeit  folgende  Sätze  auf: 

1.  Der  DuCREY’sche  Bacillus  scheint  wohl  das  specifische  Agens  des 
Ulcus  molle  zu  sein,  obschon  es  noch  nicht  gelungen  ist,  Reinculturen  herzu- 
Btellen,  durch  deren  Impfung  das  weiche  Geschwür  reproducirt  wird. 

2.  Wenn  man  auch  nicht  in  absoluter  Weise  die  Speciticität  dieser 
Mikroben  feststellen  kann,  so  ist  doch  in  zweifelhaften  Fällen  sein  Nachweis  ein 
wichtiger  Behelf  für  die  Stellung  der  Diagnose.  Dieser  Nachweis  ist  so  werth- 
voll wio  die  Inoculation  und  hat  als  diagnostisches  Mittel  den  Vorzug  vor  der 
Schaffung  eines  neuen  Schankers. 

3.  Der  im  Momente  der  Buboneneröffnung  gewonnene  Buboneneiter  ist 
nicht  immer  steril ; man  findet  in  ihm  meist  pyogene  Mikroorganismen  gewöhn- 
licher Art,  aber  oft  auch  den  DccREY’schen  Bacillus.  Sowohl  der  sterile  Eiter 
als  auch  solcher,  w’elchcr  Staphylokokken  oder  Streptokokken  enthält,  ist  nicht 
Überimpfbar.  Nur  Buboneneitcr,  in  welchem  man  den  ÜUCKEY’schen  Bacillus 
findet,  erzeugt  durch  Inoculation  einen  typischen  Schanker.  Dieser  Umstund  ist 
eine  mächtige  Stütze  für  die  Speciticität  der  Mikroben. 

4.  Durch  eine  Reihe  successiver  Impfungen  unter  aseptischen  Cautelen 
gelingt  es  durchaus  nicht,  den  DuCREY'scben  Bacillus  zur  Isolirung  zu  bringen. 
Im  Eiter  des  primären  Schankers  findet  sich  auch  ein  Mikrobe,  der  sich  rascher 
entwickelt  als  der  DrCKKY’sche  Bacillus,  und  im  Stande  ist,  in  der  Inoculations- 
pustel  die  Actionskraft  des  Ducrey 'sehen  Bacillus  aufzuhalten. 

5.  Die  Mikroben,  welche  man  im  Schankerciter  neben  dem  DuCREY’schen 
Bacillus  findet,  haben  sicher  auf  den  Entwicklungsgang  des  Schankers  Einfluss, 
vielleicht  auch  einen  wesentlichen,  hervorragenden,  ausschlaggehen  Anlheil  an 
der  Entwicklung  des  Bubo. 

6.  Weitere  Forschungen  müssen  nun  diesen  dem  Processe  zugehörigen 
Mikroben  gelten , und  wird  es  sich  darum  handeln , festzustellen , ob  sie  einen 
Einfluss  auf  den  Gang  des  I’roeesses  üben,  und  wird  man  die  Beziehungen  zwischen 
ihnen  und  den  DuCREY’schen  Bacillen  sicherstellen  müssen. 

Eliasberg  ls)  untersuchte  acht  Drüsen  und  nimmt,  da  er  iu  diesen  acht 
Fällen  keinen  Mikroorganismus  fand , die  Einwirkung  schädlicher  Stoffwechscl- 
producte,  welche  zur  Aufsaugung  kommen,  an.  Diese  hypothetische  Annahme  sei 
hier  verzeichnet,  müsste  aber  wohl  erst  durch  das  Experiment  begründet  werden, 
wenn  einmal  die  Reincultur  der  Schankerbacilleu  gelungen  ist. 


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556  SCHANKEROIFT. 

0.  Petersf.n  '•)  spricht  sich  dahin  aus,  dass  mit  einer  bis  an  Gewiss- 
heit grenzenden  Wahrscheinlichkeit  der  Ducrey-K  REFTiXü’sehe  Bacillus  als  der 
Krankheitserreger  des  Ulcus  molle  anzusehen  ist.  Er  fügte  noch  bei,  dass  er 
den  besprochenen  Bacillus  in  syphilitischen  Erosionen , ulcerösen  Pusteln  und 
Erythema  syphiliticum  niemals  gefunden  habe. 

Brault  so)  hält  den  Dl'CREY’sehen  Bacillus  fUr  den  Erreger  des  Ulcus 
molle,  glaubt  jedoch,  dass  cs  sich  in  den  Bubonen  um  eine  Symbiose  einer 
grösseren  Zahl  von  eitererregenden  Mikroorganismen  handle.  In  dieser  Symbiose 
sicht  Bkault  den  Grund  für  die  häufige  Erfolglosigkeit  der  Impfungen.  Man  ist 
nicht  im  Stande,  den  specifischen  Bacillus  zu  isoliren  und  impft  mit  Materie, 
welche  zum  Tlieile  sehr  lebenskräftige  Mikroben  enthält , und  unter  ihnen  den 
specifischen  Erreger  des  Ulcus  molle,  meist  sehr  schwach,  und  der  Luft,  die  für 
ihn  I.ebensbedingung  ist,  beraubt;  daher  erzielt  man  2 — 3 Tage  nach  Eröffnung 
des  Bubo  sehr  wohl  positive  lmpfresultatc.  In  dem  Schankerbubo  wuchern  die 
gemeinen  pyogenen  Mikrokokken , die  zuerst  in  die  Drüsen  gelangen  und  das 
Terrain  für  den  specifischen  Keim  vorbereiten.  Dieser  gedeiht  erst,  wenn  er  von 
seinen  Begleitern,  die  ihn  ersticken  und  in  der  Entwicklung  hemmen,  befreit  ist. 

F.  J.  Pick*1),  der  sich  jetzt  zur  Dualitätslehre  bekennt,  sagt,  es  habe 
viel  für  sich,  dass  der  DuCREY-KREFTI.Nu’sche  Mikroorganismus  der  Erreger  des 
Schankers  sei,  es  fehle  aber  noch  viel,  dies  mit  Bestimmtheit  sagen  zu  können. 
Mit  Bestimmtheit  kann  man  sich  aber,  wie  PlCK  mit  Hecht  sagt,  dahin  aus- 
sprechen, dass  die  gewöhnlichen  Eiterkokken,  die  sich,  wie  natürlich,  in  Massen 
im  Secrete  des  weichen  Schankers  vorfinden , denselben  hervorzurufen  nicht  im 
Stande  sind. 

C.  DÜKINu a*)  neigt  sich  zu  der  Anschauung,  dass  die  von  Ducket, 
Krbftino  und  Unna  beschriebenen  Mikroorganismen  die  Ursache  desSchankers  seien. 

Buschke  (Referat  in  der  Wiener  med.  Presse,  1895,  Kr.  48)  wendet 
sich  auf  Grund  seiner  unter  Neisser’s  Leitung  vorgenommenen  eigenen  Unter- 
suchungen und  Erfahrungen  gegen  die  Theorie  Finger’s  Uber  die  Aetiologie  des 
venerischen  Geschwüres,  des  Ulcus  molle,  welches  nach  diesem  Autor  durch 
jederlei  Eitererreger  erzeugt  werden  kanu.  Diesbezügliche  Impfungen  mit  Eiter, 
Secreten  verschiedenen  Ursprungs,  Culturen  von  Streptokokken  und  Staphylo- 
kokken, Stäbchen  aus  Ulcus  molle  blieben  stets  insofern  negativ,  als  Buscbke 
dadurch  kein  Ulcus  molle  erzielen  konnte,  sondern  nur  rasch  heilende  Pusteln 
erhielt.  Dagegen  hatte  Buschke  in  21  Fällen  von  Ulcus  molle  jedesmal  den 
DuCREY’schen  Streptobacillus  im  Eiter  nachgewiesen.  Nur  in  einem  eiuzigeu  Falle 
von  klinisch  typischem  Ulcus  molle  fand  Buschke  Streptokokken  und  keine 
Streptobacillen.  Und  dieser  Fall  war  nicht  inoculabel  und  heilte  auch  spontan. 
Demnacli  hält  Buschke  den  DucREY-KRRFTlXG-UNXA’schen  Streptobacillus  für  die 
Ursache  des  venerischen  Geschwüres  und  erklärt  das  Ulcus  molle  für  einen 
ätiologisch  einheitlichen  Begriff',  für  eine  specitisch  menschliche  venerische  lnfee- 
tion,  welche  durch  den  genannten  Bacillus  bedingt  wird.  Geschwüre , die  nicht 
durch  diese  Mikroben,  sondern  durch  gewöhnliche  Eiterung  an  dem  Genitale 
nach  einem  Coitus  entstehen  können  {Balanitisgeschwüre  etc.),  sondert  er  streng 
vom  l leus  molle  und  Imzeichnet  sie  als  Ulcus  simplex. 

Der  DucREY’sebe  Bacillus  findet  sich  auch  in  den  das  Ulcus  molle  be- 
gleitenden Bubonen  in  dem  Eiter  und  mitten  im  Drüsenparenchym. 

Andere  Eitererreger  fand  Buschke  niemals  in  seinen  untersuchten  Bubo- 
fällen, was  insoferne  merkwürdig  ist,  als  sich  ja  im  primären  Ulcus  molle  nebst 
den  Streptobacillen  auch  noch  andere  Mikroorganismen  finden.  Aber  die  That- 
sache  steht  fest.  In  i)  von  36  untersuchten  Bubonen  fand  sich  im  Eiter,  respec- 
tive  Drüsengewebe  der  DocKBY’gche  Bacillus  und  in  allen  diesen  Fällen  war  der 
Drüseneiter  auch  sofort  nach  der  Eröffnung  inoculabel,  die  Wunde  wurde  schankrös 
und  enthielt  im  Geschwüreiter  ebenfalls  Bacillen.  Es  giebt  Fälle,  wo  das  Secret 
der  eröffheteu  Bubonen  nicht  gleich,  sondern  erst  nach  mehreren  Tagen  schankrös 


Dgle 


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SCHANKERGIFT. 


557 


wird,  was  darauf  Zurückzufuhren  ist,  dass  die  im  Eiter  vorhandenen  Bacillen 
abgestorben  waren  und  erst  die  aus  der  Tiefe  des  noch  nicht  zerfallenen  Drüsen- 
gewebcs  nachrllckenden  virulent  sind  und  inoculablcn  Eiter  geben  und  das  Schnn- 
kröswerden  der  Wunde  veranlassen.  Durch  passende  Behandlung  wird  das  Schan- 
kröswerden  leicht  vermieden.  In  einzelnen  Fällen  avirulcnter  Bubonen  fand 
Buschkk  ebenfalls  Bacillen,  in  anderen,  der  Mehrzahl  allerdings,  war  der  Eiter 
und  das  Gewebe  frei.  Seine  Untersuchungen  über  diese  Bubonenart  sind  übrigens 
noch  nicht  abgeschlossen. 

Rille  berichtete  in  Graz  (1895),  dass  er  bei  100  Impfungen  mit  Bubonen- 
eiter neunmal  weiche  Geschwüre  erzeugen  konnte.  Im  Eiter,  der  nicht  inoeulabel, 
konute  Rille  keine  Mikroorganismen  nachweisen,  der  DüCKEv’sche  Bacillus  fand 
sich  aber  immer  im  inoculablen  Eiter. 

Auch  Korr  spricht  sich  in  einem  Referat  der  Münchener  med.  Wochen- 
schrift, 3.  December  181)5,  für  die  Pathogenität  des  DucREV-KuEFTiN'ti’schen 
Bacillus  aus. 

Eine  genaue  Cebersicht  der  Literatur  findet  sich  in  Lfttzel's  Arbeit 
über  das  venerische  Geschwür  im  Zuelzer-Obkkländer’s  klinischen  Handbuch 
der  Ham-  und  Scxualorgane. 

Ich  habe  mich  seit  l1/,  Jahren  mit  der  Untersuchung  von  Schanker- 
geschwüren beschäftigt  und  will  nun  über  diese  Untersuchungsergebnisse  berichten. 

Untersucht  wurden  18  Fälle  von  Schanker,  ll  Impfschanker  erster  und 
zweiter  Generation  und  2 Fälle  von  verdächtigen  Erosionen  am  Penis. 

In  16  Fällen  wurden  zunächst  Deckglaspräparate  angefortigt,  dann  von 
den  Geschwüren  Culturen  angelegt,  die  gewonnenen  Culturen  genau  mikroskopisch 
untersucht  und  von  jeder  der  verschiedenen  Colonien  Reinculturen  gemacht  und 
diese  auf  ihre  Pathogenität  geprüft.  In  3 Fällen  wurde  von  dem  Schanker- 
geschwür auf  den  Oberarm  oder  den  Oberschenkel  oder  die  Bauchhaut  des 
Kranken  geimpft  und  von  den  Impfschankern  Culturen  angelegt.  Eine  Rein- 
cultur  des  als  Schankcrbacillus  anzusprechenden  DcCRKY’schen  Bacillus  gelang 
bisher  auf  keinem  der  benutzten  Nährböden.  Verwendet  wurde  Gelatine,  Agar- 
Agar,  Glycerinagar,  Rinderserumagar,  Mensehenserumagar,  Harnagar,  Menscben- 
sernraharnagar,  Rinderserumharnagar  und  zweimal  Nueleinagar.  Zweimal  wurde 
Glycerinagar,  auf  welches  sterilisirter  Eiter  ausgestrichen  war,  als  Nährboden 
verwendet,  dreimal  wurde  die  Cnltivirnng  auf  Glycerinagar,  auf  welchen  Menschen- 
blut  ausgestrichen  war  (Pfeiper’scIics  Agar),  als  Nährboden  versucht.  Zweimal 
wurde  Agar,  dem  chylöser  Ascites  beigemengt  war,  als  Nährboden  verwendet. 
Einmal  wurde  Kral’s  Nährboden  Nr.  III  in  Verwendung  gezogen.  Zwei  excidirte 
Schankergeschwüre  wurden,  nachdem  vor  der  Excision  Deckglaspräparate  ange- 
fertigt worden  waren,  in  Schnitten  mikroskopisch  untersucht. 

Bei  den  missglückten  Versuchen,  den  Schankerbacillus  zu  züchten,  sah 
ich ll)  aus  dem  zur  Cultivirung  verwendeten  Schankereiter  auf  den  Nährboden 
wachsen  Staphylococcus  a’bus,  Staphytococcus  aureus,  Streptococcus  pyogenes 
und  einen  für  Thiere  und  Menschen  nicht  pathogenen,  morphologisch  und  culturell 
dem  Bacillus  diphtheriae  ähnlichen  Bacillus.  Einmal  wuchs  eine  Sarcineart, 
weisse  Hefe  und  eine  nicht  näher  bestimmbare  Stäbchenart,  welche  auf  Serum- 
agar grössere  glattrandige  Colonien  bildeten , die  einen  Stich  in’s  Gelblichrothe 
hatten  und  sich  nicht  weiter  enltiviren  Hessen. 

Einmal  hatte  ich ,s)  Gelegenheit , einen  Schanker  in  der  männlichen 
Harnröhre  zu  untersuchen.  Von  diesem  Harnröhrenschanker  legte  ich  an  den 
Bauchdecken  des  Patienten  Impfschanker  an.  Von  diesem  Falle  stammen  die 
Fig.  93,  94,  95  und  96,  welche  die  in  demselben  nachgewiesenen  Ducrey-Kree- 
TiNG’schen  Bacillen  zeigen. 

Fig.  93.  Zeigt  zahlreiche  Leukocyten,  von  denen  einer  12  Stäbchen  ein- 
schloss. Dieselben  färbten  sich  nach  Gram  nicht  und  zeigten,  wie  aus  der  Abbildung 
ersichtlich,  eine  weniger  gefärbte  Stelle  in  der  Mitte.  Dieses  Präparat  war  von 


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558 


SCHANKERGIFT. 


einem  durch  Spontanimpfung  an  der  Glans  entstandenen  kleinen  Schankergeschwtir 
entnommen. 

Fig.  94  zeigt  das  Secret  des  Harnröhrenschankers,  und  zwar  vier  Leuko- 
cyten  mit  massenhaften  DucREY-KREFTiNG’schen  Bacillen,  und  ist  hier  eine  An- 
ordnung zu  finden,  die  auf  eine  Tendenz  zur  Ketteubildung  hinweist. 

Fig.  95  zeigt  die  Stelle  eines  Präparates , welches  von  einem  Schanker 
herrührt , der  durch  Spontanimpfung  des  Secretes  am  Scrotum  entstanden  war. 
In  einem  Lcukocyten  fand  sich  eine  aus  drei  Bacillen  geformte  Kette. 


Fig.  93.  Fig.  9«. 


Fig.  96  ist  ein  Comkinationsbild  zweier  Stellen  eines  Präparates,  das 
aus  dem  Sehankereiter  eines  an  der  Bauchhaut  erzeugten  Impfschankers  ge- 
wonnen wurde. 

Fig.  97  und  98  zeigen  mikroskopische  Präparate  von  Schnitten  weicher 
Schankergeschwürc.  Die  Schnitte  wurden  in  Boraxmethyleublau  gefärbt,  rasch 


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SCHANKERGIFT. 


559 


durch  sehr  verdünnte  Essigsäure  gezogen , möglichst  gut  gewaschen , dann  sehr 
kurze  Zeit  in  Alkohol  entwässert,  in  Bergamottöl  aufgehellt  und  in  Canadabalsam 
eingesclilossen.  In  beiden  Fällen  konnte  ich  keine  das  ganze  Gesichtsfeld  durch- 
ziehende Ketten  nachweisen. 

Fig.  99  ist  ein  Ausstrichpräparat  des  Secretes  des  Schankers,  von 
welchem  das  durch  Fig.  96  versinnlichte  Präparat  stammt.  Die  Leukoeyten  ent- 
halten zahlreiche  Duck KY 'sehe  Bacillen. 

Nach  den  bisherigen  Erfahrungen  muss  man  sich  dahin  aussprechen, 
dass  der  von  DUCBEY  und  Krefting  beschriebene  Mikroorganismus  sehr  wahr- 
scheinlich mit  dem  von  Unna  beschriebenen  identisch  ist.  In  diesem  Sinne  spricht 
sich  Unna  selbst  in  einer  im  Giorn.  ital.  delle  mal.  ven.  e della  pelle,  1895,  111, 
erschienenen  Arbeit  aus.  Die  Befunde  Anderer,  sowie  meine  eigenen  Wahr- 
nehmungen lassen  es,  obwohl  noch  Keinculturcn  fehlen'  und  daher  die  Erzeugung 
von  Schankergeschwüren  aus  solchen  unmöglich  ist , doch  als  fast  sicher  er- 
scheinen, dass  der  DCCRBY - Kreftini.'scIic  Mikroorganismus  die  Ursache  des 
Schankers  ist.  Dafür  spricht : 1.  Die  Constanz  des  Befundes.  2.  Dass  in  späteren 
Generationen  der  Impfseliankcr  sich  ausschliesslich  DucEEY-KKEFTiNG’scbe  Bacillen 
durch  die  mikroskopische  Untersuchung  nachweisen  lassen.  3.  Weist  das  Ein- 
gclagertsein  der  Bacillen  in  Eeukocyten  sowohl  in  Ausstrichpräparaten  als  auch 
in  Schnitten  darauf  bin , dass  diese  Bacillen  mit  dem  Schaukerprocess  in  einem 
ursächlichen  Zusammenhang  stehen.  4.  Es  ist  verschiedenen  Autoren  gelungen, 
in  Schankerbubonen  den  Ducke y- Kbkf t ixg  sehen  Bacillus  nachzuweisen.  5.  Ist 
es  beachtenswert!!,  dass  die  Ducke  y-Kkefting  sehen  Bacillen  morphologisch  gleiche 
und  den  Farbstoffen  gegenüber  analog  sich  verhaltende  Mikroorganismen,  welche 
durch  Einimpfung  des  sie  enthaltenden  Eiters  in  die  Menschenhaut  gewisser- 
massen  in  Reincultur  erhalten  werden  können  , bei  dem  Schanker  ähnlichen  Ge- 
schwürsprocessen  nicht  gefunden  wurden.  6.  Jullien  meint,  dass  der  DucREY’gche 
Bacillus  nicht  die  Ursache  des  Ulcus  molle  sein  könne,  weil  er  in  Impfschankern, 
die  Bich  weiterimpfen  Hessen , mikroskopisch  diesen  Bacillus  nicht  nachweisen 
konnte.  Dieser  Einwand  kann  aber  die  ätiologische  Bedeutung  des  Duckey- 
KREFTlNG’schen  Bacillus  ebensowenig  erschüttern  als  ein  negativer  mikroskopischer 
Befund  untersuchter  Urethralfäden  bei  chronischem  Tripper  die  ätiologische  Be- 
deutung des  Gonococcus.  7.  Da  nicht  jedem  Schanker  das  sogenannte  typische 
Aussehen  zukommt,  so  wären  als  Schanker  nur  solche  Geschwüre  zu  bezeichnen, 
in  welchen  der  DuCREY-KaEFTlNG’sehe  Bacillus  nachweisbar  ist. 

Die  zwei  nachstehend  mitgethcilten  Fälle  haben  für  unsere  Frage  einiges 
Interesse.  Ein  Mann,  der  sich  mit  der  Cigarette  an  der  Glans  penis  verbrannt 
batte,  zog  mich  wegen  der  dadurch  veranlassten  mässigeu  Eiterung  zu  Ratlie. 
In  diesem  Eiter  fanden  sich  einzelne  Kokken , aber  keinerlei  Stäbchen.  Ein 
zweiter,  24  Jahre  alter  Mann  bemerkte  drei  Tage  nach  einem  stürmischen  Coitus 
mehrere  kleine  Geschwürchen  an  der  Glans  des  Penis.  Der  Eiter  dieser  Ge- 
schwürchen  enthielt  massenhaft  plumpe  Bacillen,  welche  sich  nach  Gram  färbten. 
Die  Geschwüre  sahen  auch  äusserlich  einem  Schankergoschwüre  nicht  ähnlich 
und  waren,  nachdem  in  1 „%igem  Carholwasser  getauchte  Wattebäuschcheu  appi- 
cirt  wurden,  nach  vier  Tagen  geheilt. 

bitcratur:  ’)  „Der  Bacillus  des  weichen  Schankers“,  eine  der  Akademie  Goenia 
am  26.  Juli  1885  gemachte  Mittheilung.  Virchow-Hirsch'  Jahresbericht.  18*5,  pag.  509.  — 
*)  Suove  ricerchc  sulla  pathopenesi  del  bubone'  ehe  aeeotn pagna  iulrern  eenereo.  Ingraccia 
Palermo  1885,  I,  pag.  226 — 298  und  Annal.  de  dermat.  et  syph.  Paris  1-885,  pag.  486 — 495-  — 
“)  Ga/./,  degli  os|>eda1c.  18*6,  38 — 41 ; Giornale  delle  mal.  vener.  e della  pelle,  1886;  Areh.  f. 
Dermat.  und  Syph.  1886.  pag.  902.  — 4)  11  eirus  deW  ulcera  venerett  non  1 stalo  aneora 
cultieato.  Giornale  internuz.  de  seienza  med.  1>89,  Nr.  1 ; Uieerche  tt -perimeniali  sullu  natura 
intinta  dell'  contayio  dell'  ulcera  vetteren  e sulla  patogenesi  del  bubone  renereo,  Milano  18*9; 
Monatsh.  f.  prakt.  Dermat.  1889.  Nr.  9.  — 6)  Nur  le  inte  ruhe  du  chanrre  mvu.  Annal.  de 
dermat.  cs  syph.  1893.  pag.  167 — 170  und  836 — *39.  — 6)  Areh.  f.  Dermat.  und  Syph.  1891, 
pag.  41— 46.  — 7)  Diese  Stelle  ist  dem  Referate  Stern  thal’s  im  Areh.  f.  Dermat.  1 "90, 
pag.  687  nnd  688,  entnommen.  — 8)  Der  Streptobacillus  des  Clcus  molle.  Monatsh.  f.  Dermat. 


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560 


SCHANKERGIFT.  — SCHILDDRÜSENTHERAPIE . 


XIV,  pag.  485.  — •)  Ch.  Au  dry,  Bacteriologie  clinique  du  chartere  simple  et  des  blennor- 
rhagies  compliquvs.  Gaz.  hebdorn,  de  med.  et  chir.  1893,  Nr.  9.  — ,0)  Central  bl.  f.  Bakterie* 
logie.  8.  Juni  1893,  XIII.  23,  pag.  793.  — “)  W ratsch.  1893,  Nr.  48;  V ircho w-Hirach'  Jahresber. 
1893,  pag.  594.  — **)  Recherchen  experimentales  nur  le  chancre  mou.  Annal.  de  dermat.  et 
syph.  Mai  1892,  pag.  773.  — l3)  Etüde  bactiriologique  sur  le  chancre  tnou  et  le  boubon 
chancreux.  Arch.  clin  de  Bordeaux.  October  und  November  1893.  — u)  Recherchen  sur  U 
chancre  mou.  Paris  1893.  — u)  Communication  ä la  SociHi  de  Dermat.  et  Sgph.  (7.  Juli 
1892).  Annal.  de  dermat.  et  syph.  — *•)  Communication  <1  la  SociiU  d’Anat.  et  Phys.  dt 
Bordeaux  (17-  April  1893).  Jonrn.  de  connaissance  med.  Mai  1893-  — l1)  Contribution  ä 
Vit  wie  bacteriologiquc  du  chancre  mou.  Annal.  de  dermat.  et  syph.  März  1894,  pag.  277.  — 
**)  J.  El  iasberg,  Ein  Beitrag  zur  pathologischen  Anatomie  der  Bubonen.  Inaug.-Dissert 
Dorpat  1894.  — *•)  Ö.  Petersen , Ulcus  molle.  Arch  f.  Dermat.  und  Syph.  1894,  XXIX. 
pag  429.  — ao)  Brault,  Traitement  des  adenitis  inguinales  ä forme  aiguc  et  subaiguü. 
Lyon  m£d.  1894,  Nr.  9 — 10  und  Arch.  f.  Dermat.  und  Syph.  1895,  XXX.  pag.  156  und  157.  — 
*')  S.  J.  Pick,  Behandlung  und  Prophylaxis  der  venerischen  Krankheiten  und  der  Syphilis. 
Handb.  d.  spec.  Therap.  der  inneren  Krankh.  von  Penzoldt  und  Stintzing.  1895,  pag  126.  — 
**)  Klinische  Vorlesungen  über  Syphilis.  Hamburg  und  Leipzig  1895,  pag.  40.  — >s)  Arch.  f. 
Dermat.  und  Syph.  XXVIII,  pag.  119.  — M)  M.  v.  Zeissl,  Ueber  den  gegenwärtigen  Stand  der 
Erkenntniss  des  Schankergiftes.  Wiener  klin.  Wochenschr.  1896,  Nr.  2 u.3.  — **)  M.  v.  Zeissl, 
Die  Bedeutung  der  Untersuchung  auf  Gonokokken  für  die  Diagnose  des  Harnröhrentrippers 
und  für  das  Urtheil  über  die  Heilung  desselben.  Centralbl.  f.  d.  Krankh.  der  Harn*  und  Sexoal- 
orstane.  1896,  6.  Heft.  M T zei,,i. 

Schilddrüsenpräparate  zur  Kropfbehandlung,  pag.  365. 

Schilddrüsentherapie.  Unter  Schilddrüscntherapie  versteht  man  die 
Einverleibung  von  thierischer  Schilddrüse  oder  eines  aus  dieser  hergestellten  Prä- 
parates in  den  menschlichen  Organismus,  um  pathologische  Zustände,  von  denen 
theils  nachgewiesen  ist , theils  sich  annehmen  lässt , dass  sie  auf  einem  Ausfall 
der  normalen  Sehilddriisensecretion  beruhen,  gfinstig  zu  beeinflussen. 

Die  Geschichte  dieses  Verfahrens  ist  eng  mit  der  Geschichte  des 
Myxödems  verknüpft.  Die  Thierexperimente  von  Schiff,  Horsley,  v.  Eisei^beeo 
u.  A.  um  die  Mitte  der  80er  Jahre  haben  den  Nachweis  erbracht,  dass  mit  der 
Wegnahme  der  Schilddrüse  aus  dem  Organismus,  also  mit  Ausfall  ihrer  Function, 
ernste  Störungen  verbunden  sind.  Vassale,  Gley  und  nach  ihnen  Andere  hatten 
sodann  die  weitere  Beobachtung  zu  verzeichnen,  dass  Injection  von  Schilddrüsen- 
saft in  die  Venen  oder  unter  die  Haut  oder  Transplantation  gesunder  Drüsen  auf 
entkropfte  Thiere  im  Stande  sind,  die  Folgen  der  totalen  Schilddrüsenexstirpation 
für  eine  Zeit  abzuschwächen  oder  aufzuhalten.  Angeregt  durch  diese  Erfahrungen, 
versuchte  zuerst  Bikchbr,  ein  Chirurg  in  Aarau,  das  gleiche  Experiment  am 
Menschen  zu  machen.  Am  16.  Januar  1889  nähte  er  die  Schilddrüse  einer  ge- 
sunden Frau  in  die  Bauchhöhle  einer  Kranken  mit  postoperativem  Myxödem. 
Das  Resultat  war  auffällig,  jedoch  nicht  anhaltend.  Daher  sah  sich  Bikcheb 
veranlasst , am  9.  Mai  eine  zweite  Implantation  vorzuuehmen  , die  diesmal  zwar 
wieder  von  grossem  Erfolge,  jedoch  keinem  bleibenden  gekrönt  war.  Ungefähr 
gleichzeitig  führte  Lannkloxgue  unabhängig  von  Bikcher  den  gleichen  Versuch 
aus.  Er  vernähte  */,  einer  Hammelschilddrüse  in  das  subcutanc  Gewebe  der 
rechten  Thoraxhälfte  eines  14jährigen  cretinoiden  Mädchens;  (Iber  den  Ausgang 
dieser  Operation  wurde  indessen  nichts  bekannt.  Als  Dritter  im  Bunde,  und 
zwar  ebenfalls  ohne  zu  wissen,  dass  Birchkr  und  Laxxklongue  bereits  ein  Jahr 
vorher  eine  gesunde  Schilddrüse  auf  den  entkropften  menschlichen  Organismus 
verpflanzt  hatten,  machte  Horsley  im  Jahre  1890  den  Vorschlag,  die  Schilddrüse 
eines  Lammes  — diese  sei  histologisch  am  meisten  der  menschlichen  Drüse  ähn- 
lich — in  die  Bauchhöhle  von  Myxödemkranken  zu  transplantiren.  Dieser  Ge- 
danke kam  auf  Uorsley’s  Anregung  hin  mehrfach  zur  Ausführung. 

Um  der  mit  der  operativen  Ueberpflanzung  von  Schilddrüsensuhstanz 
verbundenen  Gefährlichkeit  aus  dem  Wege  zu  gehen,  machte  R.  MCRRay  in  New- 
Castle  einen  Versuch  mit  der  subcutanen  Einverleibung  eines  stcrilisirten  Giyccria- 
extractes  aus  der  thicrischen  Schilddrüse  in  den  erkrankten  Organismus.  Pen 
ersten  auf  diese  Weise  behandelten  Fall  stellte  Mcbray  im  Jahre  1891  auf  der 


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SCHILDDRÜSENTHERAPIE. 


561 


Jahresversammlung;  der  englischen  Aerzte  zu  Beremouth  vor.  Seine  Methode 
wurde  indessen  bald  durch  ein  noch  sichereres  und  bequemeres  Verfahren,  die 
Schilddrüsenfütterung  (thyroid  feeding),  überflügelt.  Dieses  hat  seitdem , mehr 
oder  wenig  modificirt,  in  der  Therapie  das  Feld  vor  den  anderen  behauptet.  — 
Der  Gedanke,  die  Schilddrüse  roh,  wie  sie  ist,  an  Stelle  der  bisherigen  Injectionen 
dem  Organismus,  und  zwar  per  os  einzuverleiben,  wurde  von  3 Aerztcn  ziemlich 
gleichzeitig,  und  dieses  unabhängig  von  einander,  zur  Ausführung  gebracht,  von 
Prof.  Ho witz  in  Kopenhagen,  Dr.  L.  Fox  in  Plymouth  und  Dr.  Hector 
Mackenzie  in  London.  Die  erste  Veröffentlichung  rührt  von  Mackenzie  her. 
Kurz  vorher  (Juni  1892)  hatte  jedoch  schon  Howitz  seine  erste  darauf  bezüg- 
liche Mittheilung  auf  dem  Skandinavischen  Aerztecongress  gemacht.  Die  Methode 
der  Schilddrüsenfütterung  fand  bald  grosse  Verbreitung.  Anfänglich  bestand  sie 
in  der  Darreichung  roher  Schilddrüse  vom  Kalb  oder  Hammel , bald  jedoch  er- 
fuhr sie  eine  Vervollkommnung  bezüglich  des  zu  verabreichenden  Präparates. 
Eine  Reihe  Versuche  wurde  angestellt,  um  die  vermeintlich  wirksame  Substanz 
zu  isoliren  und  als  trockenes  Extract  in  Form  von  Pastillen,  Pillen  oder  Pulver 
mundgerecht  zu  verarbeiten.  Die  grosse  Nachfrage  nach  diesen  Sehilddrüsen- 
präparaten  machte  ihre  fabriksmässige  Herstellung  nunmehr  erforderlich.  So  kam 
eine  grosse  Anzahl  von  Präparaten  auf  den  Markt,  die  sämmtlich  das  wirksame 
Princip  der  Schilddrüse  enthalten  sollten. 

Vorstehend  habe  ich  die  Methoden  bereits  angeführt , die  in  der 
Schilddrüsenbehandlung  üblich  sind , resp.  gewesen  sind : die  Implantation , die 
Injection  und  die  Ingestion;  dazu  kommt  noch  eine  von  Menziks  empfohlene 
und  meines  Wissens  nur  ganz  vereinzelt  in  Anwendung  gekommene  Methode, 
die  Inunction. 

1.  Die  Implantation  besteht  in  der  Einnähung  einer  gesunden  Schild- 
drüse, hauptsächlich  vom  Schaf  oder  Affen,  unter  die  Haut,  zumeist  über  den 
grossen  Brustmuskel.  Das  Verfahren  dürfte  in  kaum  mehr  als  20  Fällen 
(Afflkck-Caird,  Bkttbncodrt-Skhrano,  Bircher,  Carter,  Collins,  Fenwick, 
v.  Gernet,  Gibson,  Gottstein,  Harris-Wright,  Lannelongue,  Macpherson, 
Martin-Rennie,  Mercklen-Walther,  Ord-Clctton,  Rebn,  Robin),  vorwiegend 
bei  Myxödem,  vereinzelt  auch  bei  sporadischem  Cretinismus  und  Tetanie  in  An- 
wendung gekommen,  heutzutage  aber  wohl  gänzlich  aufgegeben  sein.  Denu  ab- 
gesehen von  der  relativen  Gefährlichkeit  und  Umständlichkeit,  ist  der  Erfolg  ein 
nur  vorübergehender.  Mit  Ausnahme  zweier  Fälle  (Collins  und  Macpherson), 
in  denen  der  Erfolg  noch  nach  1’/,  Jahren  von  Bestand  war,  fiel  die  trans- 
plantirte  Drüse  stets  sehr  bald  der  Resorption  anheim  und  das  erreichte  Resultat 
wurde  dadurch  wiederum  gleich  Null.  Ob  in  den  beiden  dauernd  geheilten  Fällen 
die  Schilddrüse  zur  Einheilung  gekommen  ist , oder  ob  Nebenschilddrüsen  oder 
sonstige  embryonale  Gewebe  einen  Anstoss  erhalten  und  dadurch  die  Thätigkeit 
der  verloren  gegangenen  Drüse  wieder  aufgenommen  haben,  hält  schwer  zu  ent- 
scheiden ; denn  beide  Möglichkeiten  können,  nach  unseren  bisherigen  Erfahrungen 
zu  schliessen,  zutreffen. 

2.  Die  subcutane  Injection  wurde  zuerst  von  George  R.  Mirray 
im  Jahre  1891  inaugurirt.  Mcrray  stellte  einen  Auszug  der  vermeintlichen 
wirksamen  Bestandthcile  aus  der  Schilddrüse  in  der  Weise  dar,  dass  er  die 
frisch  ausgenommene,  mittels  sterilisirter  Instrumente  sorgfältig  vom  Fett  und 
Bindegewebe  befreite  Drüse  vom  Schaf  oder  Kalb  nach  Möglichkeit  zerkleinerte, 
die  Stückchen  in  einem  sterilisirten  Gefässe  mit  1 Ccm.  reinsten  Glycerins  und 
0,5*/#iger  wässeriger  Carboisäurelösung  übergoss,  sofort  zerquetschte  und  24  Stunden 
lang  wohlverschlossen  am  kühlen  Orte  stehen  Hess  und  schliesslich  den  Inhalt 
durch  ein  sterilisirtes  Lcinwandläppchen  auspresste.  Von  der  so  erhaltenen  fleisch- 
farbenen Flüssigkeit  — im  Ganzen  werden  jedesmal  circa  3 Ccm.  = 3,24  Grm. 
Gesammtextract  aus  einer  Drüse  erhalten  — injicirte  er  1 — I1/,  Pravazspritzcn 
(=  0,5  Grm.  Schilddrüsenextract  oder  ’/»  Drüsenlappen)  wöchentlich  2mal  unter 

Encydop.  Jahrbücher.  VI.  36 


562 


SCHILDDRÜSENTHERAPIE. 


die  Haut.  WlCHMAX,  Leichtkxstrrn  und  Laache  halten  später  einige  kleine  Ab- 
weichungen in  dem  Herstellungsverfahren  angegeben. 

Das  MlRRAY’sche  Verfahren  wurde,  da  es  der  Implantation  gegenüber 
den  Vorzug  der  Einfachheit  und  relativen  Ungefährlichkeit  besass,  in  der 
Folge  vielfach  — mehr  als  50  Fälle  vermag  ich  aus  der  Literatur  zusammen- 
zustellen — angewandt,  theils  allein  ftlr  sich,  theils  in  Verbindung  mit  der  so- 
gleich zu  besprechenden  Schilddrüsenftitterung,  vereinzelt  auch  im  Anschluss  an 
Implantation.  Das  Versuchsobject  waren  zumeist  Myxödemkranke.  Bezüglich  der 
damit  erreichten  Erfolge  möchte  ich  noch  kurz  erwähnen,  dass  mehrfach 
(Arnozan,  Canter  Marie,  Carter.  Mendel,  Talford  Smith)  beobachtet  worden 
ist,  dass  das  Injectionsverfahren  nur  eine  ganz  geringe  oder  auch  gar  keine 
Besserung  herbeifllhrte,  die  dann  an  seine  Stelle  gesetzte  SchilddrUsenfiitterunp 
aber  vorzügliche  Dienste  leistete.  — Uebelstände,  die  mit  der  Injection  verbunden 
waren,  wie  das  Auftreten  von  Abscessen,  Phlegmonen  oder  crysipelatösen  Ery- 
themen (Abrahams,  Beatty,  Carter,  Hall,  Harold,  Hearx,  Henry,  Luxdii, 
Murray,  Napikr,  Shaw)  — ich  sehe  hierbei  von  der  bei  jeder  Injection  gegebenen 
Möglichkeit  der  Einspritzung  von  Luft  in  eine  Vene  ab  — Hessen  diese  Methode, 
nachdem  die  noch  einfachere  und  ungefährlichere  Ingestion  aufgekommeu  war, 
mehr  und  mehr  in  den  Hintergrund  treten. 

3.  Die  Ingestion  per  os,  die  Schilddrüsenfütterung  (thyroid  feeding) 
bat  augenblicklich  den  übrigen  Methoden  den  Rang  abgelaufen.  Seitdem  Howrrz, 
Mackenzie  und  Fox  ihre  Anwendung  zum  ersten  Male  (1893)  empfohlen  haben, 
hat  die  Art  und  Weise  der  Verabreichung  mancherlei  Abänderungen,  resp.  Ver- 
besserungen erfahren.  Ursprünglich  wurde  die  rohe,  von  frisch  geschlachteten 
Thieren  entnommene  Schilddrüse  den  Kranken  in  Form  eines  Hachee  auf« 
Butterbrot  geschmiert)  oder  eines  sonstigen,  gaumengerecht  zubereiteten  Gerichtes 
»—  die  Wirksamkeit  der  gekochten  Drüse  wird  von  Einigen  angezweifelt , von 
Anderen  wieder  zugestanden  — gegeben.  Indessen,  die  immerhin  ekelerregende 
Darreichung,  sowie  die  schwere  und  umständliche  Beschaffung  frischer  Schild- 
drüse Hessen  sehr  bald  auf  Abhilfe  sinnen.  Auf  Veranlassung  von  MaCKKXZH 
versuchte  daher  EDMUND  White,  Apotheker  am  St.  Thomaskrankenhaus  in 
London,  die  Herstellung  eines  trocken  Extraetes  (Auszug  der  wirksamen  Bestand- 
theile  mittels  Glycerin  und  Wasser,  Filtration,  Ansäuerung  durch  Phosphorsäure. 
Zusatz  von  Calciumhydrat  bis  zur  alkalischen  Reaction,  dann  möglichst  schnelle 
Abfiltration,  Auswaschung  und  Anstrocknung  über  Schwefelsäure  bei  gewöhnlicher 
Temperatur).  Ein  etwas  modificirtes  Verfahren  behufs  Gewinnung  einer  trockenen 
wirksamen  Schilddrüsensubstanz  haben  später  noch  Vermehren,  der  für  dieselbe 
den  Namen  Thyreoidin  einführte,  und  Pu.  Küthe  angegeben.  Seitdem  hat  sich 
die  chemische  Industrie  die  Herstellung  angelegen  sein  lassen  und  eine  ganze 
Reihe  von  Präparaten  in  den  Handel  gebracht.  Von  den  gangbarsten  Präparaten 
nenne  ich  die  der  Firmen  Borroughs,  Wellcome  & Co.  (tabloids),  Willows, 
Francis  & Butler  (tabloids,  pills  und  extract),  Brady  & Martin,  Duukan  & Flock- 
hart  (fluid  extract  und  pastills),  Allen  & Handbury  (tabloids,  cachcts  und  elixirl, 
diese  sämmtlich  in  Grossbritannien , von  C.  Döpper  in  Köln  a.  Rh.  (tabuine 
Uiyreoideae),  der  Struve'sclien  Apotheke  in  Görlitz  (tabulae  thyr.  und  capsulae 
elaelicae),  von  E.  Merck  in  Darmstadt  (Thyreoidinum  niccatum  und  depuratum, 
in  Form  von  Pillen  und  Pastillen),  Knoll  & Co.  in  Ludwigshafen  a.  Rh.  (Thyradön 
in  Form  von  Pulvern,  Tabletten  oder  Pillen)  und  Friedrich  Bayer  & Co.  (Thvro- 
jpdin  in  Form  von  Pulver  oder  Tabletten).  Ohne  darüber  ein  Urtbeil  abgebeu  zu 
wollen,  ob  es  bisher  schon  wirklich  gelungen  ist , „das  wirksame  Princip  der 
Schilddrüse“  zu  isoliren,  will  ich  nur  anführen,  dass  Thyrojudin , eine  aus  der 
Schilddrüse  gewonnene  organische  Jodverbindnng,  nach  Angabe  seines  Erfinders, 
Prof.  Baumann  in  Freiburg,  dasselbe  in  reiner  Form,  Thyraden,  sowohl  dieses 
Thyrojodin,  als  auch  das  von  S.  Frankel  im  Laboratorium  von  Prof.  E.  Ludwig 
in  Wien  hergestellte  Tbyreoantitoxin,  einen  stickstoffhaltigen  krystallinischen 


Digitizei 


SCHILDDRÜSENTHERAPIE. 


563 


Körper,  Th yreoidinum  depuratum  Merck,  zwei  von  Notkin  gewonnene  .Eiweiss- 
körper  (Globulin  nnd  Enzym5!  enthalten  sollen.  Diese  drei  Präparate  dürften  sich  für 
die  Zukunft  zu  therapeutischen  Zwecken  empfehlen ; Versuche  haben  bereits  ge- 
zeigt, dass  sie  sich  alle  drei  in  der  gleichen  Weise  wirksam  erweisen. 

Die  Dosirung  der  Präparate  ist  eine  verschiedene.  Von  Thyrojodin  soll 
die  Minimaldosis  0,3  Grm.,  1 — 3mal  pro  die,  die  Maximaldosis  2 — 4 Grm.  pro  die, 
für  Kinder  0,3  Grm.,  1 — 3mal  (laut  Prospect)  betragen,  von  Thyraden  die 
Minimaldosis  1,0 — 1,5  Grm.  pro  die,  die  Maximaldosis  5,0  Grm.  pro  die  (oder 
7 — 10  bis  höchstens  30  Pillen  oder  Tabletten  pro  die)  und  von  Thyreoidinum 
depuratum  0,01  Grm.,  2mal  pro  die.  Die  Firma  Merck  empfiehlt  folgende  Ordi- 
nation: Thyreoid.  dep.  0,25,  Kaolini  3,0,  Vanillini  0,01,  Muc.  Tragac.  q.  s. 
u.  f.  pill.  N.  XXV,  S.  1 — 2 Pillen  täglich,  oder  Thyreoid.  dep.  0,05,  Add. 
carh.  0,02,  Aq.  dest.  10,0.  M.  D.  S.  1 Pravazspritze  voll  zu  injiciren,  lmal  am 
Tage.  — Um  unangenehmen  Nebenwirkungen  vorzubeugen,  beginne  man  im  An- 
fänge einer  Kur  mit  den  Minimaldosen  und  steigere  dieselben  allmfilig  bis  zu 
der  erträglichen,  dem  individuellen  Falle  angepassten  Höhe. 

4.  Die  Inunctionsmethode  ist  meines  Wissens  nur  ganz  vereinzelt 
(Mknzies  und  Bi.akk)  angewendet  worden ; sie  empfiehlt  sich  in  solchen  Fällen, 
in  denen  die  Fütterung  per  os  nicht  gut  vertragen  wird,  und  soll  sich  nach 
Angabe  der  Autoren,  die  sie  bisher  verordnet  haben , ganz  günstig  bewähren. 
Es  ist  dies  die  äussere  Application  der  Schilddrüse  in  Salbenform.  Blake  giebt 
folgendes  Recept  für  die  Herstellung  an:  Thyreoid.  10,0,  Acth.  60,0,  Lanolini 
480,0.  Vor  der  Anwendung  dieses  „Schilddrüsen  - Lanolincreams“  soll  die  Körper - 
Oberfläche  mit  heissen  Schwämmen  abgerieben  und  tüchtig  trocken  frottirt,  dann 
erst  die  Mischung  eingerieben  werden. 

Anwendung  der  Schilddrüsentherapie.  Die  Schilddrüsen- 
präparate sind  bei  einer  ganzen  Reihe  von  Krankheiten  in  Anwendung  gebracht 
und  versucht  worden  ; bei  einem  Theile  derselben  liegt  eine  Schilddrüsenaffection 
vor  oder  ist  als  höchstwahrscheinlich  anzunehmen ; bei  einem  anderen  lässt  sich 
eine  solche  nach  dem  bisherigen  Stande  unseres  Wissens  nicht  voraussetzen. 

I.  Allen  Krankheiten  voran  steht  das  Myxödem;  über  diesen  Zustand 
liegen  die  frühesten,  meisten  und  günstigsten  Erfahrungen  vor.  Und  zwar  ist 
sowohl  das  Myxödem  der  Erwachsenen,  als  auch  das  infantile  oder  congenitale 
Myxödem  mit  günstigem  Erfolge  in  den  Bereich  der  Behandlung  gezogen  worden. 
Ich  habe  an  anderer  Stelle  (Bdschan,  „Das  Myxödem“,  Wien,  Deuticke,  1896) 
etwas  ausführlicher  auseinandergesetzt,  in  welch’  auffälliger  Weise  sich  schon 
kurze  Zeit  nach  dem  Beginn  der  Behandlung  das  Befinden  der  Myxödemkranken 
verändert  und  will  hier  nur  kurz  erwähnen,  dass  die  myxödematöse  Anschwellung 
verschwindet,  die  Haut  ihre  normale,  geschmeidige  Beschaffenheit  und  gesunde 
Farbe  wieder  annimmt , die  Haare  wieder  wachsen , die  Schweisse  sich  wieder 
einstellen,  die  Körpertemperatur  bis  zur  Norm  ansteigt,  die  Function  der  Unter- 
leibsorgane (Appetit,  Stuhlgang,  Menstruation,  sexuelle  Potenz)  günstig  beeinflusst 
wird , die  Blutkörperchen  eine  Zunahme  erfahren  und  ihr  Hämoglobingehalt  sich 
hebt,  das  Gcdächtniss  wiederkehrt,  geistige  Frische  und  Interesse  wieder  wach- 
gerufen werden,  selbst  bestehende  Psychosen  gebessert  werden,  kurz,  dass  das 
ganze  körperliche  und  geistige  Befinden  der  Kranken  eine  solche  Umwandlung 
erfährt,  dass  sie  bald  sowohl  sich  selbst  als  anch  Anderen  den  Eindruck  von 
ganz  gesunden  Personen  machen.  Leider  ist  aber,  dies  muss  ich  sogleich  hinzu- 
fügen, die  Heilung  in  den  meisten  Fällen  keine  bleibende,  sie  kann  aber  zu  einer 
solchen  gemacht  werden  dadurch , dass  man  die  Behandlung  von  Zeit  zu  Zeit 
wiederholt.  Allerdings  sind  eine  ganze  Reihe  von  Fällen  veröffentlicht  worden, 
in  denen  die  Heilung  für  eine  gewisse  Zeit  lang  (bis  zur  Publication)  von  Bestand 
war,  aber  es  bleibt  abzuwarten,  oh  sich  doch  nicht  noch  ein  Rückfall  einstellen 
wird.  Für  einzelne  dieser  vermeintlichen  Heilungen  ist  dieser  bereits  eingetroffen ; 
für  die  übrigen  ist  die  Beobachtungszeit  noch  zu  kurz  gewesen.  Indessen  ist  die 

36* 


564 


SCHILDDRÜSENTHERAPIE. 


Möglichkeit,  dass  wirkliche,  d.  i.  dauernde  Heilungen  eintreten  können,  nicht  von 
der  Hand  zu  weisen;  man  hat  ja  auch  spontane  Heilungen,  wenn  auch  nur  ver- 
einzelt, zu  verzeichnen.  Wir  müssen  uns  solche  Heilungen  in  der  Weise  erklären, 
dass  etwa  im  Organismus  noch  vorhandenes , bis  dahin  unthätiges  Schilddrüsen- 
gewebe einen  Anstoss  zur  Regeneration,  resp.  Aufnahme  seiner  specifischen  Function 
durch  die  eingeführte  wirksame  Schilddrüsensubstanz  in  den  Kreislauf  erbalten  hat. 

Im  Allgemeinen  lässt  sich  als  Regel  für  die  Behandlung  aufstellen,  dass 
mau  solange  die  Schilddrüsenpräparate  nehmen  lassen  soll,  bis  sämmtliche  Er- 
scheinungen des  Myxödems  zum  Schwinden  gebracht  worden  sind  oder  wenigstens 
eine  weitere  Besserung  sich  nicht  mehr  bemerkbar  macht,  und  weiter  einige  Zeit 
(einige  Wochen)  noch  darüber  hinaus.  Man  kann  dann  die  Behandlung  solange 
aussetzen,  bis  sich  wiederum  Anzeichen  eines  beginnenden  Myxödems  etwa  ein- 
stellen sollten.  Wie  oft  eine  solche  Cur  dann  wieder  aufzunchmen  ist,  darüber 
fehlt  uns  zur  Zeit  noch  die  Erfahrung.  Möglicher  Weise  müssen  die  Schilddrttsen- 
präparate  das  ganze  Leben  hindurch  verabreicht  werden.  Mag  dem  auch  sein, 
wie  es  will,  auf  jeden  Fall  besitzen  wir  in  der  Schilddrüsenbehandlung  ein  Mittel, 
um  dem  Myxödemkranken  für  eine  Zeit,  und  wenn  das  Verfahren  wiederholt 
wird,  vielleicht  auch  dauernd  Heilung  zu  verschaffen. 

Die  Erfolge,  die  sich  bei  dem  infantilen  oder  congenitalen  Myxödem 
(sporadischer  Cretinismus)  erzielen  lassen , sind  gleichfalls  sehr  beachtenswerth. 
Die  Veränderungen,  denen  sich  hier  der  Organismus  bei  SchilddrUsenbehattdlung 
unterzieht,  sind  die  gleichen  wie  bei  dem  Myxödem  der  Erwachsenen.  Dazu 
kommen  aber  noch  zwei  weitere  Erscheinungen,  d.  i.  eine  Zunahme  der  Körperlingc. 
wie  überhaupt  des  Knochenwachsthums  und  eine  Zunahme  der  geistigen  Fähig- 
keiten. Zurückbleiben,  resp.  Stehenbleiben  der  Knochen  im  Wachsthum,  sowie 
eine  an  Idiotie  oft  genug  grenzende  Beschaffenheit  der  Intelligenz  sind  ja  gerade 
für  das  im  jugendlichen  Alter  sich  entwickelnde  Myxödem  gegenüber  dem  im 
ausgewachsenen  Zustande  charakteristisch. 

Der  Einfluss  der  Schilddrüsenpräparate  auf  das  Körper  wach  stimm  ist  oft 
genug  ein  eclatanter.  So  nahm  z.  B.  ein  Patient  (infantiles  Myxödem)  von 


Combe  . . . . 

im 

Alter 

von 

2 Jahren 

innerhalb 

6 Monaten 

um 

11  Cm. 

Combe  Nr.  2 . 

ft 

4 » 

n 

13 

TI 

n 

20  „ 

Mann  .... 

ft 

47,  n 

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1‘. 

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Carmichael  . 

„ 

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17,. 

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n 

13  , 

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2 

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n 

21  3 Cm. 

Talfort  Smith 

10  „ 

7 

5 Zoll 

Bramwell  . 

n 

16  „ 

n 

7 

rt 

67,  „ 

Lanz 

16  „ 

rt 

2 

n 

n 

17,  Cm. 

Falleake  . . . 

16  „ 

rt 

9 

n 

rt 

5 , 

Schotten 

i» 

n 

18  „ 

ft 

3 

rt 

rt 

^ ft 

Talfort  Smith 

» 

„ 

18  „ 

n 

4 

n 

rt 

2 Zoll 

an  Körperlange  zu.  Die  günstigen  Erfolge  gaben  Hkrtoghe  Veranlassung,  dis 
gleiche  Verfahren  bei  nicht-myxödematischen  Kindern  zn  versuchen , die  in  der 
Längenentwicklung  aus  verschiedenen  Ursachen  zurückgeblieben  waren.  Auch  in 
diesen  Fällen  trat  eine  Zunahme  der  Körperlänge  ein. 

In  derselben  Weise  wie  die  Röhrenknochen  erfahren  auch  die  Schädel- 
knochen eine  Förderung  ihres  Wachsthums.  Die  Folge  davon  ist,  dass  sich  die 
Uber  die  normale  Zeit  hinaus  otlen  gebliebenen  Fontanellen  recht  schnell  schliessen. 
Weiter  brechen  die  in  ihrer  Entwicklung  zurückgehaltenen  Zähne  bald  durch. 

Die  Veränderungen,  die  sich  in  dem  geistigen  Befinden  der  myxödema- 
töseu  Kinder  vollziehen,  sind  gleichfalls  augenscheinliche.  Der  Fortschritt  kann 
unter  Umständen  ein  so  bedeutender  sein,  dass  die  vorher  stupiden  und  beinahe 
idiotischen  Kinder  nach  der  Behandlung  sich  intellectuell  und  moralisch  von 
gleichalterigen  normalen  Kindern  kaum  unterscheiden  lassen  (Anson,  Carmichael, 
Com be,  Gabrod,  Lunn,  Okd,  Poncet,  Talfort  Smith  u.  A.). 


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SCHI  LDDRCSENTHERA  PI  E. 


565 


Für  die  Dauer  der  Behandlung  bei  infantilem  Myxödem  dürften  die 
gleichen  Grundsätze  gelten , die  ich  oben  für  das  Myxödem  des  Erwachsenen  auf- 
gestellt habe. 

II.  Die  Beobachtung  Reinhold’r,  die  derselbe  gelegentlich  der  Behand- 
lung kropfiger  Geisteskranker  mittels  Schilddrtlgenpräparate  machte,  dass  nämlich 
der  Kropf  unter  dieser  Behandlung  zurückging,  veranlassten  BrüNS,  weitere  Ver- 
suche in  diesem  Sinne  an  Kropfkranken  anzustellen.  Die  günstigen  Resultate,  die 
Brüns  anfänglich  zu  verzeichnen  hatte,  ermnthigten  eine  ganze  Reihe  Aerzte 
(Angekkh,  Firrab,  Fletchrr,  Ixgals,  Henxig,  Hf.bzkl  und  Irsai,  Knöpfbl- 
macheb,  Kocher,  Lf.nz,  Reinhold,  Sserapin,  Stabel  u.  A.),  das  gleiche  Ver- 
fahren an  strnmösen  Personen  vorzunehroen.  Leider  erfüllten  sich  die  auf  die 
Methode  gesetzten  Hoffnungen  nicht  in  dem  Maasse,  zu  denen  die  ersten  Versuche 
berechtigten.  Nach  dem  von  Brüns  auf  dem  diesjährigen  Congresse  für  innere 
Medicin  gegebenen  Berichte  über  300  so  behandelte  Kropfkranke  blieben  >/4  der 
Fälle  vollständig  unbeeinflusst , in  nur  8°  „ war  eine  vollständige  Rückbildung 
des  Kropfes  zu  erreichen,  in  */,  der  Fälle  trat  eine  bedeutende  Abnahme  derselben, 
in  ebenfalls  ’/,  eine  solche  massigen  Grades  und  in  mehr  als  s/,  der  Fälle  stellte 
sich  ein  Recidiv  ein.  Die  günstigsten  Chancen  boten  die  rein  hyperplastischen 
Kröpfe  und  dieses  in  um  so  höherem  Grade,  je  jünger  dag  Individuum  war.  — 
Die  Einzelheiten  habe  ich  vorher  im  Artikel  Kropfbehandlung  zusammengestellt. 

III.  Als  die  ersten  günstigen  Erfahrungen  bei  Kropfbehandlung  mittels 
Schilddrüsenpräparnten  in  die  Öffentlichkeit  gedrungen  waren,  lag  der  Gedanke 
nahe,  das  gleiche  Verfahren  beim  Kropf  in  Verbindung  mit  Morbus  Basedowii 
zu  versuchen.  Man  glaubte  dadurch  ausserdem  dieses  Leiden  heilen  zu  können 
und  dieses  mit  um  so  grösserem  Rechte,  als  zur  gleichen  Zeit  in  der  Lehre  von 
der  Pathogenese  der  Basedow 'sehen  Krankheit  die  Hypothese  Oberwasser  hatte, 
dass  diesem  Symptomeneomplex  stets  eine  primäre  Schilddrüsenläsion , nämlich 
die  Struma,  zu  Grunde  liege.  Wie  anfänglich  die  chirurgische  Behandlung  des 
Morbus  Basedowii , so  wurde  nnn  auch  die  Scbilddrflsenbehaudlnng  kritiklos  und 
unbekümmert  darum,  dass  diesem  Zustande  auch  noch  andere  ätiologische  Momente 
zu  Grunde  liegen  können,  angewendet.  Ich  habe  aus  der  Literatur  gegen  100  Fälle 
Zusammentragen  können  und  vermag  hierüber  folgende  Statistik  aufzustellcn : Bei 
mindestens  70  (Cbary  — 51  Fälle  — , Eder,  Ewald  — 3 Fälle  — , Forxet, 
Goldscheideb,  v.  Jaksch  — 6 Fälle  — , Jeaffbesox,  Mackenzie  — 2 Fälle  — , 
Nielsen  , Sänger  — mehrere  Fälle  — ) derselben  war  die  Einwirkung  gleich 
Null;  bei  weiteren  15  (Auld,  Cantkr,  Costanzo- Güsina , Leichtensterx  — 
4 Fälle  — , Leszvnsky,  Kocher,  Lenke,  Nasse,  Stieglitz  — 4 Fälle  — ) fiel 
der  Erfolg  gleichfalls  negativ  in  dem  gehofften  Sinne  aus,  die  Präparate  wurden 
ausserdem  schlecht  vertragen,  erzeugten  in  einzelnen  Fällen  sogar  eine  Verschlim- 
merung der  Krankheit;  in  15  Fällen  endlich  (Bograff  — 3 Fälle  — , de  Cambi, 
Etienxe  — 2 Fälle  — IIallock,  Mikulicz,  Morin,  Nasse,  Otto,  Owen, 
Putnam,  Silex,  Voisix)  wurde  eine  Besserung,  in  5 Fällen  (Etiexne  — 1 Fall  — , 
Oito,  Owen,  Silex,  Voisin)  darnnter  angeblich  auch  Heilung  efziclt.  Dieses 
Resultat  ist  allerdings  wenig  ermuthigend.  Nur  gegen  1 4 °/0  der  mittels  Schilddrüsen- 
präparaten  behandelten  Fälle  von  Morbus  Basedowii  wurden  also  davon  günstig 
beeinflusst,  einzelne  darnnter  auch  nur  in  einem  geringen  Grade.  Es  liegt  meines 
Erachtens  hierin  ein  neuer  Beweis  dafür,  dass  nicht  alle  Fälle  dieser  Krankheit 
ihren  Ursprung  einer  abnormen  Function  der  Schilddrüse  verdanken,  sondern  dass 
dieselbe  einen  Symptomeneomplex,  erzeugt  durch  mancherlei  Ursachen,  ebenso  wie 
z.  B.  die  Epilepsie  und  Hysterie,  vorstellt.  Eine  primäre  Läsion  der  Schilddrüse 
kann  unter  Umständen  auch  die  Ursache  abgeben,  und  in  solchen  Fällen  dürfte 
sich  die  Schilddrüsentherapie  nützlich  erweisen. 

IV.  Der  experimentelle  Nachweis,  dass  die  Schilddrüscnexstirpation  bald 
Myxödem,  bald  tetanische  Erscheinungen  nach  sich  zieht,  ferner  die  Beobachtung, 
dass  beide  Krankheitsformen  auch  am  Menschen  coinbinirt  nuftreten  oder  auf 


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566 


SCHILDDRÜSENTHERAPIE. 


einander  folgen  können,  sowie  die  Erfahrung  , dass  Injection  von  Schilddrüsen- 
saft  oder  Darreichung  von  Schilddrüsenpräparaten  die  tetanischen  Folgeerschei- 
nungen der  Totalwegnahme  der  Drüse  zu  mildern  im  Stande  sind , Hessen  den 
Versuch  Gottstein’s  berechtigt  erscheinen,  in  einem  Falle  von  Tetanie  die 
Schilddrüsentherapie  in  Anwendung  zn  ziehen.  Die  zweimalige  Transplantation 
blieb,  weil  jedesmal  Eiterung  eingetreten  war,  ohne  Erfolg;  dagegen  führte  die 
Darreichung  von  Schilddrflsenextract  per  os  eine  Verminderung  der  Anfälle  und 
eine  subjective  Besserung  herbei.  Ebenso  sahen  Bbamwell  und  Levy-Dokn  in 
je  einem  Falle  von  typischer  Tetanie,  bei  dem  schon  alle  möglichen  therapeutischen 
Verfahren  vergeblich  versucht  worden  waren,  eine  bedeutende  Besserung  sich  ein- 
stellen.  SCHULTZR  erlebte,  dass  in  einem  Falle  (16jähriges  Mädchen  mit  Tetanie 
und  Kropf)  an  Stelle  der  tetanischen  Anfälle  epileptische  Krämpfe  sich  einstellen. 
Schliesslich  möchte  ich  noch  auf  einen  von  Stieglitz  publicirten  Fall  von  progres- 
sivem Gesichtsschwund,  complicirt  mit  heftigen  «Ionisch-tonischen  Zuckungen,  hin- 
weisen,  in  dem  Schilddrüsenpräparate  versuchsweise  verordnet  wurden.  Der  Erfolg 
war  hier  zunächst  frappant;  nach  8 Tagen  hörten  die  Krämpfe  ganz  und  gar 
auf  und  blieben  auch  während  der  6 Wochen  dauernden  Behandlung  aus.  Beim 
Aussetzen  der  Schilddrüsenpräparate  kehrten  sie  indessen  nach  8 Tagen  in  früherer 
Heftigkeit  wieder,  Hessen  sodann  bei  erneuter  Aufnahme  der  Behandlung  wiederum 
nach , ohne  jedoch  vollständig  zu  verschwinden  und  blieben  trotz  fortgesetzter 
Behandlung  wieder  bestehen. 

V.  Da  nach  der  Auffassung  einiger  Autoren  auch  der  Akromegalie 
eine  primäre  Schilddrüsenläsion  zu  Grunde  liegen  soll,  so  wurde  anch  dieses 
Leiden  in  den  Bereich  der  Schilddrüsentherapie  gezogen.  Es  Hegen  bereits  eine 
ganze  Reihe  von  Versuchen  (Bramwell,  Bruns,  Costanzo,  Depangher,  Lkichten- 
sterx,  Marina,  Parsons,  Putxam,  Schulze,  Solis-Cohen)  vor,  mit  dem  Resul- 
tate, dass  das  subjective  Befinden  sich  wohl  besserte,  objectiv  sich  aber  auf  den 
hypertrophischen  und  hyperostotiRchen  Process  kein  Einfluss  bemerkbar  machte. 

VI.  Die  Beobachtung  an  Myxödematösen,  dass  unter  Schilddrüsenbehand- 
lung sieb  die  Vitalität  der  llant  hebt,  insbesondere,  dass  die  spröde,  trockene, 
schuppende  Hautoberflächc  einer  weichen,  geschmeidigen  und  glatten  Beschaffen- 
heit Platz  macht  — Macfie  Campbell  sah  in  einem  Falle  eine  Wunde,  die 
die  Patientin  sich  bereits  vor  ihrer  Erkrankung  zugezogen  hatte  und  die  nicht 
recht  heilen  wollte,  nach  Einleitung  der  Schilddrüsenbehandlung  sich  anstandslos 
und  schnell  schliessen  — , brachte  Byron  Bramwell  in  Edinburgh  1893  auf 
den  Gedanken,  das  Mittel  bei  Psoriasis  vulgaris  zu  versuchen.  Der  Erfolg  war 
über  alles  Erwarten  zufriedenstellend  und  hatte  zur  Folge,  dass  man  das  gleiche 
Verfahren  bei  allen  nur  möglichen  Hautkrankheiten  in  Anwendung 
brachte.  Die  weitaus  meisten  Versuche  betreffen  die  Psoriasis  (Abrahams,  Auld, 
Bbamwell,  Brocke,  Combe,  Crary,  Gordon  Dill,  Epklbrum,  Ewald.  Joses 
Gokdon,  Hager,  Hartley,  Hunt,  Hyde,  Dai.e  James,  King,  Leichtkxsterx, 
Menau,  Mosse,  Nammark,  Philipps,  Pkeece,  Spillmann,  Squire,  Stelwagkn, 
Thibieger,  Vautrin,  Wilson,  zum  Busch).  Soweit  ich  Angaben  über  den  Erfolg 
vorfinde,  war  in  44  Fällen  der  Erfolg  recht  zufriedenstellend  — einige  Fälle 
sind  darunter  verzeichnet,  wo  das  Leiden  bereits  lange,  z.  B.  14  (Hager)  oder 
20  (King)  Jahre  lang  jeder  anderen  Therapie  getrotzt  hatte  und  binnen  Kurzem 
gänzlich  beseitigt  wurde  — , in  51  Fällen  machte  sich  absolut  kein  Einfluss  auf 
die  Psoriasis  bemerkbar;  in  14  von  Abraham  beobachteten  Fällen  und  in  1 von 
Jones  nahm  das  Leiden  sogar  an  Ausdehnung  zu.  Ausser  Psoriasis  wurde  noch 
eine  ganze  Reihe  von  Störungen  der  Haut  mittels  Schilddrüsenpräparate  behandelt ; 
der  Erfolg  war  hier  ebenfalls  theils  recht  befriedigend,  theils  negativ.  Es  sind 
dieses  (der  Häufigkeit  der  Fälle  nach  geordnet)  das  Ekzem  (Abraham,  B ehrend, 
Menzies,  Philipp,  zum  Busch  — 6 positive,  5 negative  Erfolge),  die  Ichthyosis 
(Bbamwell,  Jackson,  Jirzykowski,  McDowall,  Nobb,  Rutgkhs,  zum  Busch 
— 5 positive,  1 negatives  Resultat),  der  Lupus  (Abraham,  Bbamwell,  Ewald  — 


SCHILDDRÜSENTHERAPIE. 


567 


mehrfache  günstige,  lmal  negatives  Resultat),  Lichen  planus  (Abraham  — 

3 positive,  1 negatives  Resultat),  Xerodermie  (Jackson,  Philipp  — 1 positives, 

3 negative  Resultate),  Pityriasis  rubra  (Scatschard,  Stelwagen  — je  1 posi- 
tives und  1 negatives  Resultat),  chronische  Urticaria  (Abraham  — 2 Misserfolge), 
Dermatis  exfoliativa  (Jackson,  Stelwagen  — 1 positives  und  1 negatives  Re- 
sultat), Acne  rosacea  (Gordon  Dill  — 1 Misserfolg),  Pemphigus  (Bramwell 
— 1 positiver  Erfolg),  Alopecia  universalis  (Bramwell  — 1 positiver  Erfolg), 
Sklerodermie  (Morselli,  Pearce  Baii.ay,  Sachs,  Stiiglitz,  Weber  — 3 positive 
und  2 negative  Erfolge),  eigenartige  Diitormität  der  Nägel  an  Fingern  und  Zehen 
(Stieglitz  — 1 positiver  Erfolg  I,  Pruritus  vulgaris  und  Adenoma  sebaceum 
(Abraham  — je  1 Misserfolg).  In  einzelnen  Fällen , in  denen  ein  Erfolg  zu  ver- 
zeichnen war,  Hess  derselbe  jedoch  nach  Aussetzen  der  Behandlung  wieder  nach. 

Aus  der  voranstehenden  Zusammenstellung  wird  man  sich  selbst  ein  Ur- 
theil  darüber  bilden  können,  wie  weit  die  Schilddrlisentherapie  bei  Hautkrankheiten 
berechtigt  erscheint.  Da  jedoch  auch  gute  Resultate,  darunter  auch  ganz  beachtens- 
werthe  zu  verzeichnen  sind,  so  möge  man  dieses  Verfahren  immerhin  versuchen, 
jedenfalls  nicht  unversucht  lassen,  ehe  man  dem  Kranken  gegenüber  die  Befreiung 
von  einem  der  oben  genannten  Hautübel  als  aussichtslos  hinstellt.  Die  günstigen 
Erfolge  dürften  in  der  Weise  zu  erklären  sein , dass  die  Ernährung  der  Haut 
eine  bessere  wird,  wodurch  diese  die  Fähigkeit  gewinnt,  des  morbiden  Proccsses 
Herr  zu  werden. 

VII.  Die  Erfahrung,  dass  Myxödemkrauke  bei  Schilddrüsenbehandlung 
mehr  oder  weniger  an  Körpergewicht  abnehmen  — so  constatirten  de  Boi  k nach 
Ablauf  von  2 Monaten  einen  Gewichtsverlust  um  9 Kgrm.,  Bronneis  nach 

1 Monat  um  24  Pfund,  Cantkr-  Marie  nach  11  Tagen  um  3,5  Kgrm.  und  in 
dem  gleichen  Falle  nach  weiteren  60  Tagen  nm  10  Kgrm.,  Lanz  in  1 Monat  um 
5 Kgrm.,  Leichtexstern  in  l1/,  Monaten  um  8,3  Kgrm.,  Marie-Guerlain  in 

2 Monaten  um  17  Kgrm.,  Oppenheimer  in  14  Tagen  um  11,5  Pfund,  Ratjen 
in  14  Tagen  um  27  Kgrm.,  Varco  in  23  Tagen  um  10  Kgrm.  etc.  — veran- 
lassten  Leichtenstern  in  Köln  a.  Rh.,  im  Jahre  1894  das  Verfahren  bei  Obesitas 
in  Anwendung  zu  bringen.  Seitdem  hat  dasselbe  sich  in  der  Behandlung 
fettleibiger  Personen  erfolgreich  Bahn  gebrochen.  Allerdings  fehlt  es  auch 
nicht  an  Misserfolgen,  indessen  diese  verschwinden  gegenüber  den  grossartigen 
positiven  Resultaten.  Er  ist  klar,  dass  nicht  alle  Fälle  von  Fettleibigkeit  Uber 
einen  Kamm  geschoren  werden  dürfen ; man  wird  dementsprechend  auch  bei  der 
Behandlung  mittels  Schilddrüsensaft  sieh  an  gewisse  Indicationen  zu  halten  haben. 
Leider  ist  cs  zur  Zeit  noch  nicht  möglich,  solche  in  exacter  Weise  aufzustellen ; 
dafür  ist  die  Methode  noch  zu  jung  und  zu  wenig  erprobt,  v.  Noorden  glaubt 
auf  Grund  seiner  Erfahrungen  den  Grundsatz  aufstellen  zu  dürfen,  dass  in  allen 
jenen  Fällen,  welche  durch  unvernünftige  und  über  dass  Durchschnittsmass  ge- 
steigerte Zufuhr  von  Speisen  und  Getränken,  verbunden  mit  Mangel  an  körper- 
licher Bewegung,  bedingt  sind  (Ueberfettungsfettsucht),  der  Erfolg  der  Schild- 
drüsentherapie  ansblcibt,  dagegen  bei  jenen  Fällen,  die  ohne  exeessive  Steigerung 
der  Nahrung,  vielmehr  trotz  längere  Zeit  durchgeführter  und  beträchtlicher 
körperlicher  Anstrengung  zu  Stande  kommen,  ein  solcher  wohl  einzutreten  pflegt. 
Für  diese  zweite  Kategorie  von  FettsUchtigcn  nimmt  v.  Noorden  an,  dass  die 
Verbrennungsenergie  der  Körpergewebe  eine  abnorm  geringe  ist,  so  dass  bei 
einer  Zufuhr  von  Brennmaterial,  in  so  geringer  Menge,  wie  sie  für  einen  Durch- 
schnittsmenschen kaum  ausreicht,  noch  Ersparnisse  gemacht  werden  können.  Es 
liegt  hier  also  ein  krankhaft  verminderter  Stoffwechsel  der  Zellen  vor.  Auch 
Lepine  stellt  die  gleiche  Indication  für  Schilddrllsenbehandlung  bei  Obesitas  auf. 
Leichtenstern  hat  gefunden,  dass  am  besten  diejenigen,  zumeist  ausgesprochen 
anämischen  Fettleibigen  auf  diese  Behandlung  reagiren , die  mit  schwammigem 
Fettpolster,  aufgedunsenem,  an  Oedem  erinnerndem  Gesicht  einhergehen,  ferner 
die  fettleibigen  Chlorotischen. 


568 


SCHILDDRÜSENTHERAPIE. 


Es  fragt  sich  weiter,  wie  die  erreichten  Resultate  zu  erklären  sind? 
Vor  Allem  kommt  es  darauf  an  zu  wissen,  ob  während  der  Methode  der  Eiweiss- 
zerfall  bedeutend  gesteigert  ist.  Zur  Lösung  dieser  Frage  sind  von  verschiedenen 
Autoren  diesbezügliche  Experimente  angestellt  worden,  Ucbereinstimmend  haben 
dieselben  ergeben,  dass  bei  Einverleibung  von  Schilddrüsenpräparaten  in  den 
menschlichen  Organismus  die  ausgeschiedeue  Harnmenge  eine  bedeutende  Steige- 
rung, die  Menge  der  Harnstoff-,  respective  Stickstoffausseheidung  eine  Erhöhung 
erfährt  (Bübgek,  Dennig,  Ewald,  Scholz,  Teufel,  Vas,  Vermehren  u.  A.). 
Dabei  hat  sich  aber  hcrausgestellt,  dass  bezüglich  der  Wirkung  der  Schilddrüsen- 
präparate Unterschiede  im  Körperhaushalte  einzelner  Individuen  bestehen.  Wäh- 
rend nämlich  der  eine  grössere  Mengen  Schilddrüsensubstanz  täglich  zu  sich 
nehmen  kann , ohne  dass  sein  Eiweissbestand  wesentlich  herabgedrückt  wird, 
kommt  cs  bei  einem  anderen  zu  erheblichen  Schwankungen  im  Stoffwechsel.  Im 
zweiten  Falle  kann  unter  Umständen  der  Verlust  an  Körpereiweiss  ein  bedeu- 
tender sein , wie  Dennig  beobachtet  hat ; jedoch  ist  nicht  ausgeschlossen , dass 
man  mittels  Mehrzufuhr  von  stickstoffhaltigem  Material  das  Deficit  wieder  decken 
oder  zum  mindesten  stark  einscliränken  kann.  Die  Gewichtsabnahme  in  Folge  von 
Schilddrüsenfütterung  beruht  also  in  erster  Linie  auf  Wassereutziehung  und 
Fettverbrennung;  daneben  kommt  auch  eine  Eiweisszersetzung  vor.  Dass  der 
Verbrennungsprocess  im  Körper  eine  mächtige  Anregung  erfährt,  wird  ausserdem 
durch  die  von  A.  Magnus-Lew  Angestellten  Versuche  bewiesen.  Diese  ergaben 
nämlich,  dass  der  Sauerstotfverbrauch  und  die  Kohlensäureproduction , also  die 
Oxydationsprocesse,  eine  beträchtliche  Steigerung  (um  21°/»)  erfahren. 

Der  Gewichtsverlust  pflegt  nach  den  Beobachtungen  von  Wkndelstedt 
und  Lkichtensterx  in  den  ersten  Wochen  der  Behandlung  am  stärksten  zu 
sein,  darauf  nur  allmälig  bei  gleicher  Dosis  oder  geringer  Steigerung  derselben 
zuzunehmen.  Oft  tritt  dann  (nach  circa  6 Wochen)  ein  Stadium  ein,  von  welchem 
an  keine  weitere  Gewichtsabnahme  erfolgt  und  auch  die  Steigerung  der  Dosis 
keine  oder  nur  eine  unbedeutende  Wirkung  äussert.  Im  Durchschnitt  dürfte  die 
Gewichtsabnahme  in  der  ersten  Woche  I — 3 Kgrm.  betragen;  jedoch  kann  die- 
selbe auch  höhere  Ziffern  annehmen.  So  sah  LeichtensTF.rn  eine  Fran  in  der 
ersten  Woche  bereits  5 Kgnn.,  Bruns  einen  Mann  binnen  14  Tagen  sogar 
10  Kgrm.,  desgleichen  Meltzer  eine  Frau  innerhalb  des  gleichen  Zeitraumes 
20  Pfund  abnehmen  u.  s.  w.  Ferner  dürfte  der  Schwund  des  Fettes  schon  sofort 
nach  der  Aufnahme  der  Sehilddrüsencur  beginnen.  Meltzer  z.  B.  beobachtete 
in  allen  von  ihm  behandelten  Fällen,  dass  die  Kranken  schon  nach  24  Stunden 
über  eine  ausgesprochene  Erleichterung  in  der  Athmung  und  eine  Abnahme  des  Herz- 
klopfens berichteten,  ohne  dass  sich  jetzt  schon  eine  Gewichtsabnahme  nach  weisen 
liess,  und  gewann  aus  diesem  Verhalten  den  Eindruck,  dass  das  Herz  der  Ort  ist, 
wo  dass  Fett  zu  allererst  und  bereits  bei  kleinen  Dosen  zu  verschwinden  beginnt. 
Er  versuchte  das  Verfahren  daher  auch  bei  Fettdegeneration  des  Herzens  und  will 
in  einigen  imässig  schweren)  Fällen  mit  dem  Erfolge  sehr  zufrieden  gewesen  sein. 

Wie  schon  erwähnt,  reagiren  nicht  alle  Fettleibigen  auf  das  Mittel. 
Leichtexstern  hatte  seinerzeit  27  Personen  in  Behandlung  genommen  nnd  konnte 
bei  24  — 89"  0 einen  positiven  Erfolg  coustatirrn.  Welchen  Grad  dieser  Erfolg 
erreichen  kann , mögen  folgende  Beispiele  illustriren.  Ewald  constatirte  nach 
einer  Cur  von  4 Wochen  eiuen  Gewichtsverlust  von  3,5  Kgrm.,  Lkichtknstern 
nach  6 Wochen  eineu  solchen  von  5,  6,5  und  9,5  Kgrm.,  Barhon  sogar  von 
25  englischen  Pfund,  Ewald  nach  61  2 Wochen  von  9,2  Kgrm.,  Leichtenstkrn 
nach  7 Wochen  von  5,5  Kgrm.,  derselbe  nach  8 Monaten  von  7,5  Kgrm.,  Jerzy- 
kowski  nach  2 Monaten  von  20  Kgrm.,  derselbe  nach  3 Monaten  von  15  Kgrm., 
Meltzer  nach  31/,  Monaten  von  18  englischen  Pfund,  Rexdu  nach  6 Monaten  um 
33  Kgrm.  u.  A.  m. 

Vereinzelt  ist  auch  beobachtet  worden,  dass  bei  Gebranch  von  Schild- 
drüsencur  das  Körpergewicht  eine  Zunahme  erfahren  hat.  Es  scheint  dieses  haupt- 


SCH1LDDBÜSENTHERAPIE. 


569 


sächlich  bei  melancholischen  Geisteskranken  (Klay,  Reinhold)  und  jugendlichen 
Individuen,  vor  Allem  Kindern  (Anson,  Gaerod,  Heli.ieb,  Fletcher  Ino  als, 
Ord,  Paterson  u.  A.)  vorzukommen. 

Die  Dose  braueht  nach  den  bisherigen  Erfahrungen  nur  eine  geringe 
zu  sein  ; stärkere  Dosen  bringen  im  Verhältniss  keinen  grösseren  Effect  hervor. 
Die  durchschnittliche  Tagesdosis,  die  angewendet  worden  ist,  betrug  2,  höchstens 
4 Thyreoidintabletten  (4  0,3  Grm.  SchilddrUsensuhstanz)  oder  0,3 — 0,5  Grm. 
Thyrojodin  (Henxig).  Eine  besondere  Diätcur  scheint  zumeist  nicht  beobachtet 
worden  zu  sein,  im  Gegenthcil,  Wendelstadt  und  Hknnig  betonen  ausdrücklich, 
dass  die  von  ihnen  Behandelten  ihre  frühere  Lebensweise  während  der  Schild- 
drUseacur  beibehalten  hätten.  Ob  indessen  eine  Combination  der  .Schilddrüsen- 
behandlung mit  einer  Diätcur  die  Resultate  steigert,  ist  meines  Wissens  bisher 
noch  nicht  ansprobirt  worden.  Um  einem  etwaigen  Eiweisszerfall  vorzubeugen, 
ist  vielmehr  von  einzelnen  Autoren  eine  stickstoffreiche  Kost  empfohlen  worden. 
Bei  Adipositas  cordis  oder  Herzfehlern  ist  im  Allgemeinen  Vorsicht  geboten; 
eine  directe  Contraindication  für  Schilddrüsenbehandlung  geben  diese  Complica- 
tionen  jedoch  nicht  ab,  wie  Meltzer  (cf.  oben)  gezeigt  bat. 

VIII.  Gelegentlich  der  Behandlung  der  mit  geistigen  Störungen  einher- 
geheuden  Myxödemfälle  hatte  man  mehrfach  (Beadi.es,  Cl.OUSTON,  Macpherson, 
Shaw)  die  Beobachtung  gemacht,  dass  die  begleitenden  Psychosen  unter  Schild- 
drüsenbehandlung sich  gleichfalls  besserten . rcspective  gänzlich  verschwanden. 
Von  diesem  Gesichtspunkt  ausgehend,  versuchte  zuerst  Lewis  C.  Bbuce  an  einem 
grösseren  Krankenmaterial  (30  Kranke)  das  gleiche  Verfahren  und,  da  seine 
Resultate  ermuthigende  waren,  nach  ihm  noch  verschiedene  Autoren  mit  einem 
allerdings  weniger  erfreulichen  Resultate.  — Ich  gebe  im  Folgenden  eine  Zu- 
sammenstellung der  von  Bruce,  Eastekbrook,  Havelock,  C.  Johnstone  , Ire- 
land,  Klav  und  Reinhold  an  41  Fällen  erzielten  Resultate. 


Manie 

Melan- 

cholie 

Pnerperal- 

psyci.oae 

Lactations- 1 
p-ychoee 

Cyklische 

Psychose 

Paracoia 

Demenz 

Heilung 

Besserung  . . . 
Kein  Einfluss  . 
Verschlimmerung 

2 

1 

3 

2 

2 

4 

4 

5 

- 

L 

1 

3 

[(Remission?)  — 

ä*  ^ 

Demenz 

Alkobo- 

Epileiv 

Syphili- 

nach 

1 «sehe 

Para’yse 

Idiotie 

tische 

tische 

Manie 

Amnesie 

| 

Psychose 

Psychose  1 

Heilung  . . . 

11  — 

— 

— 

1 ( Remission)  — 



— 

Besserung  . . . 

||  — 

— 

— 

i 

i 

— 

— 

! Kein  Einfluss  . 

i 

1 

i 

— 

— 

i 

1 

1 Verschlimmerung 

1 - 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

Bei  der  geringen  Anzahl  Beobachtungen  ist  es  vor  der  Hand  nicht 
möglich,  den  Werth  der  Sehilddrüsenpräparate  in  der  Behandlung  von  Geistes- 
störungen zu  beurthcilen,  vor  Allem,  nicht  zu  entscheiden,  ob  dieses  Verfahren 
den  psychologischen  Zustand  direct  beeinflusst,  oder  ob,  wie  Reinhold  vermnthet, 
zunächst  die  Ernährung  hebt  und  so  indirect  zur  Besserung  des  psychischen 
Befindens  beiträgt.  Bruce  beruft  sich  auf  die  Steigerung  der  Körpertemperatur 
bis  zu  leicht-febriler  Höhe,  die  er  stets  an  seinen  Kranken  bei  Darreichung  von 
Schilddrüsenpräparaten  beobachtet  haben  will,  und  stellt  die  hierbei  erzielten 
Besserungen,  respeetive  Heilungen  zu  den  günstigen  Resultaten  in  Parallele,  die 
man  nach  fieberhaften  Krankheiten  öfters  beobachtet  hat  und  ebenfalls  der  er- 
höhten Körpertemperatur  Schuld  zu  geben  geneigt  ist.  Leider  trifft  die  Voraus- 
setzung Brüce’s,  dass  Sehilddrüsenpräparate  eine  febrogene  Substanz  enthalten, 
nicht  zu;  den  Anstieg  der  Temperatur  Uber  den  normalen  Durchschnitt  hinaus 


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570 


SCHI  LDDR  ÜSENTHERA  FI  K. 


beobachtet  man  bei  ihrer  Darreichung  nur  selten  (cf.  weiter  ur.ten).  Daher  hat 
die  andere  Annahme,  dass  die  Besserung  im  psychischen  Verhalten  sich  durch 
die  des  körperlichen  vollzieht , mehr  Wahrscheinlichkeit  für  sich ; denn  Klay 
und  REINHOLD  constatirten  an  ihren  psychisch  Kranken  mehrfach  Steigerung  des 
Appetits,  Zunahme  des  Körpergewichts  etc. 

Contraindicirt  soll  die  Schilddrüsenbehandlung  nach  Bbcce's  Angabe  bei 
Manie  sein,  wenn  die  Erregung  acut,  der  Gewichtsverlust  rapid  ist  und  die 
Gefahr  der  Erschöpfung  infolge  mangelhafter  Assimilation  der  Nahrung  besteht. 
Die  Dosis  ist  die  übliche,  wie  bei  anderen  Krankheiten. 

IX.  Ausser  den  angeführten  morbiden  Zuständen  hat  man  bei  noch  ver- 
schiedenen anderen  die  Schilddrüsentherapie  in  Anwendung  gezogen , ohne  dass 
diese  nachweislich  mit  einer  Störung  der  Schilddrüsensecretion  im  Zusammen- 
hänge stehen,  nämlich  bei  Diabetes,  Arthritis,  Khachitis,  Tuberkulose, 
Uterusfibromen,  progressiver  Myopathie,  Syphilis  und  Carcinoma. 

Blachstmn  will  bei  mehreren  Diabetikern,  besonders  bei  einer  Kranken, 
deren  Schilddrüse  sehr  klein  war,  sehr  bedeutende  Besserung  durch  Schilddrttsen- 
präparate  erreicht  haben.  Veranlassung  zu  diesen  Versuchen  gab  ihm  seine  Be- 
obachtung gelegentlich  der  Sectionen  von  Diabetikern,  dass  die  Schilddrüse  hier 
oft  Veränderungen  darbietet,  sowie  der  Befund  an  5 lebenden  Diabetikern  mit 
Obesitas  (unter  6),  die  eine  deutliche  Anschwellung  der  Schilddrüse  zeigten.  Der 
letzte  Punkt  widerspricht  allerdings  den  Beobachtungen  v.  Noordex’s,  der  unter 
150  Diabetikern  bei  keinem  einzigen  eine  klinische  Veränderung  der  Schilddrüse 
gefunden  haben  will.  — An  oberen  Diabetikern  mit  geschwollener  Schilddrüse 
constatirte  BlaCHstein,  dass  sich  ihr  Allgemeinbefinden  bei  dieser  Behandlung 
zwar  hob,  die  Ausscheidung  des  Zuckers  aber  zunahm. 

Von  der  Thatsache  ausgehend,  dass  Myxödemkranke  unter  Schilddrüsen- 
behandlung eine  beträchtliche  Menge  von  Harnstotf  und  besonders  Harnsäure  aus- 
scheiden,  hielt  Combe  cs  für  angezeigt,  dieses  Verfahren  bei  gewissen  Krankheiten 
anzuwenden,  die  sich  durch  eine  Abnahme  der  Verbrennungsvorgänge  im  Körper, 
respective  eine  Abnahme  der  Stickstotfuusscheidung  kennzeichnen,  also  bei  der 
sogenannten  arthritischen  oder  uriimiBchen  Diathese.  Die  Resultate  sollen  im 
Allgemeinen  günstig  ausgefallen  sein ; im  Besonderen  erwähnt  Combe  einen  Fall 
von  Psoriasis  mit  heftigen  Nervenschmerzen,  Gclenkschmerzen  und  trophischen 
Verunstaltungen , in  dem  alle  diese  Erscheinungen  unter  Sehilddrüsenbehandlung 
zurückgingen , sowie  einen  zweiten  von  Gelenkgicht,  in  dem  da«  Fieber,  die 
Schmerzen,  die  Röthe  und  Anschwellung  der  Hände  und  Füsse  auf  diese  Weise 
gleichfalls  verschwanden. 

Die  Experimente  Schiff ’s  und  Tbachewsky’s,  in  denen  es  gelangen 
war,  von  entkropften  Mutterthiercn  rhachitische  Junge  zu  erhalten,  mögen  die  Ver- 
anlassung gewesen  sein,  dass  Laxz,  Knöpfelmacher  und  Heviine«  in  Fällen 
von  Rhachitis  die  Sehilddrüsentherapie  versuchten;  die  beiden  ersten  Autoren 
mit  negativem  Erfolge,  der  letztere  mit  recht  günstigem  Einflüsse  auf  das  All- 
gemeinbefinden, besonders  bei  den  mit  schwerer  Anämie  einhergehenden  Formen, 
aber  ohne  Einfluss  auf  das  Leiden  selbst. 

Schliesslich  sei  noch  erwähnt , dass  Morin  und  Smith  das  Verfahren 
bei  Tuberkulose  der  Lungen,  Jocix  bei  Uterusfibromen,  LftPINK  bei  Myopathie, 
Mexzies  und  Guhadse  bei  schwerer  Syphilis  mit  ausgezeichnetem  Erfolge  in 
Anwendung  gebracht  haben. 

Es  erübrigt  noch,  des  Thyreoidismus  zu  gedenken.  Neben  den 
bisher  geschilderten  Wirkungen  der  Schilddrüsenpräpnrate  stellen  sich  constant 
oder  vereinzelt  noch  eine  Reihe  von  üblen  Erscheinungen  ein,  die  die  englischen 
Autoren  unter  der  Collectivbezeichnung  „thyreoidisma  zusammengefasst  haben.  — 
Fast  unmittelbar  nach  der  Aufnahme  der  ersten , manchmal  auch  schon  ganz 
minimaler  Dosen  von  Schilddrüscnpräparaten  beginnt  sich  eine  Reaction  des  Or- 
ganismus bemerkbar  zu  machen.  Die  betreftenden  Personen  klagen  über  allgo- 


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meines  Missbefinden,  unangenehmen  Kopfdruck,  Mattigkeit,  Schlafsucht,  ziehende 
rheumatoide  Schmerzen  in  den  Extremitäten  und  im  Rumpf,  sowie  Schwindel  und 
Gefühl  von  Hitze ; es  sind  dieses  alles  Erscheinungen,  die  wohl  nie  auszublcibcn 
pflegen , in  ihrer  Intensität  und  der  Zeit  des  Auftretens  indessen  je  nach  der 
Individualität  der  Versuchspersonen  schwanken.  Unter  Umständen  kann  der 
Thyreoidismus  sich  ausschliesslich  in  dem  Auftreten  dieser  wenigen  Nebenerschei- 
nungen äussern,  wie  die  Mittheilungcn  von  BiC'KUt,  Buschan,  Kobekt,  Laxz, 
Wex'üelstadt  u.  A.  beweisen.  In  der  Mehrzahl  der  Fälle  vervollständigt  jedoch 
noch  eine  Erscheinung  das  Bild  des  physiologischen  Thyreoidismus,  das  ist  ein 
Anstieg  der  Pulsfrequenz  bis  zur  Norm  bei  Myxödematösen  und  darüber  hinaus, 
sowohl  bei  diesen , als  auch  bei  Gesunden.  Auch  bezüglich  dieser  Erscheinung 
besteht  eine  Idiosynkrasie ; denn  einzelne  Personen  reagiren  schon  bei  verhiiltniss- 
miissig  geringen  Dosen  mit  einer  änsserst  rapiden  Pulsfrequenz,  während  andere 
trotz  hoher  Dosen  von  einer  Beschleunigung  der  Herzthätigkeit  ziemlich  frei- 
bleiben. Ich  für  meine  Person  vermuthe,  dass  die  Nahrungsweise  der  Versuchs- 
personen (ob  vorwiegend  carnivor  oder  herbivor?)  für  einen  etwaigen  Anstieg  der 
Herzthätigkeit  massgebend  sein  dürfte , und  habe  an  anderer  Stelle  die  VVahr- 
scheinlichkeitsgründe  für  diese  Annahme  angeführt.  — Eine  weitere  physiologische 
Wirkung  der  Schilddrüsenpräparate  ist  die  Zunahme  der  Urinmenge  und  eine 
Vermehrung  der  Stickstofläusscheidnng. 

Ausser  den  vorstehend  angeführten  Erscheinungen  sind  verschiedentlich 
noch  andere  Zufälle  unangenehmer  Natur  beobachtet  worden,  die  indessen  nicht 
zur  physiologischen  Wirkung  gehören,  wie  hohe  Körpertemperatur,  Albuminurie, 
Glykosurie,  stenokardischc  Anfälle,  soporöse  Zustände,  tonische  Krämpfe,  Koma 
und  selbst  tödtlicher  Ausgang.  Alle  diese  Zufälligkeiten , denn  solche  Bind  es, 
beruhen,  wie  die  Versuche  von  Parke-Davies,  Burk,  Nahes,  Küthe  und  vor 
Allem  LaNZ  gezeigt  haben,  zum  grössten  Theil  auf  toxischen  Veränderungen, 
welche  sich  in  der  Schilddrüse  bereits  vor  ihrer  Verarbeitung  zu  Präparaten  oder 
vor  ihrer  Darreichung  im  rohen  Zustande  vollzogen  haben  — nach  Laxz’ 
Beobachtungen  fällt  kein  thierisches  Organ  so  schnell  der  Fäulniss  anheim 
als  gerade  die  Schilddrüse ; bereits  6 Stunden  nachdem  das  Thier  geschlachtet 
ist,  reagirt  sie  sauer,  zieht  nach  12  Stunden  an  und  stinkt  am  folgenden  Morgen 
schon  ganz  energisch , dieses  alles  bei  gewöhnlicher  Zimmertemperatur  — , zum 
Theil  auch  wohl  auf  anderen  Beimischungen , die  durch  Krankheit  der  Schild- 
drüse oder  auch  durch  die  Verschiedenheit  der  Nahrung  (?)  etc.  bedingt  sein  mögen. 

Man  muss  also  einen  physiologischen  und  einen  pathologischen  Thyreoi 
dismuB  unterscheiden;  der  erstere  ist  ungefährlich,  der  letztere  kann  zu  ernsten 
Befürchtungen  Veranlassung  geben.  Durch  Darreichung  von  absolut  frischer  Schild- 
drüse oder  aus  solcher  hergestelltcn  Präparaten  wird  mau  die  Erscheinungen 
des  pathologischen  Thyreoidismus  vermeiden  können. 

Literatur:  Eine  etwae  ausführlichere  Behandlung  des  gleichen  Themas  findet  sich 
in:  Bnschan.  Das  M.vxödem  und  verwandte  Zustände,  zugleich  ein  Beitrag  zur  Schilddrüsen- 
physiologie nnd  Schilddrüsentherapie.  Wien,  Fr.  Deuticke.  189ti. 

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1896,  April  7.  — Hennig,  Münchener  med.  Wochenschr.  1896,  Nr.  14.  — Jerzykowski, 
Wratsch.  1896,  Nr.  7.  — Fletcher  Ingals,  New  York  med.  Journ.  7.  September  1895.  — 
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1895.  — v.  Noorden,  Zeitschr.  f.  prakt.  Aerzte.  1896,  Nr.  1;  Deutsche  med.  Wochenschr. 

1896,  Vereinsbeilage,  pag.  86.  — Paterson,  Lancet.  4.  November  1893.  — Reinhold, 
Münchener  med.  Wochenschr.  1895,  Nr.  52.  — Rendu,  Semaine  med.  1895,  pag.  484.  — 
Wendelstadt,  Deutsche  med.  Wochenschr.  13.  December  1894.  — Towers-Smith,  Journ. 
of  Amer.  med.  association.  11.  Februar  1893 ; 14- Juli  1894.  — Yorke-Da v ies,  Brit.  med. 
Journ.  7.  Juli  1894. 

Behandlung  von  psychischen  Störungen.  C.  Easterbrook,  Brit.  med. 
Journ.  30.  März  1895.  — Johnstone  Carlyle,  Journ.  of  ment.  Sciences.  1895,  pag.  169.  — 
Havelock.  Ibid  — Ireland,  Ibid.  — Keay,  Ibid.  — Lewis  C.  Bruce,  Journ.  of 
nerv,  diseases.  1895,  pag.  50.  — Mc  Claughry,  Journ.  of  nerv,  diseases.  1894,  pag.  635-  — 
Mc  Dowall,  Journ.  of  nerv,  diseases.  1895,  pag.  169.  — Reinhold,  Münchener  med. 
Wochenschr.  1894,  Nr.  31 ; 1895.  Nr.  52. 

Behandlung  des  Diabetes.  Blachstein,  Deutsche  med.  Wochenschr.  1896, 
Vereinsbeilage,  pag.  85.  — v.  Noorden,  Ibid. 


574 


SCHILDDRÜSENTHERAPIE.  — SCHLANGENGIFT. 


Behandlung  der  Arthritis.  Combe,  Revne  med.  de  la  Snisse  romande.  Mai 
1895,  Nr.  5. 

Behandlung  der  Rhachitis.  Henbner,  Deutsche  med.  Wochensclir.  1896. 
Vereinsbeilage,  pag.  85.  — Lanz,  Deutsche  Aerzte-Ztg.  1898,  Nr.  5.  — Knöpfe lmache r, 
Wiener  klin.  Woehenschr.  1895,  Nr.  41. 

Behandlung  der  Tuberkulose.  Morin,  Revue  m£d.  de  la  Suisse  romande. 

Mai  1895. 

Behandlung  der  Syphilis.  Guhadse,  La  Med.  moderne.  5.  Oet.  1895:  Allg. 
med.  Central-Ztg.  1896,  pag.  322.  — Menzies,  Brit.  med.  Journ.  1894,  Nr.  1749- 

Allgemeines  über  Schilddrüsen  behandlung.  (Methoden,  Thyreo  i- 
dismus  etc.)  Ballet,  Bull,  de  la  Soc.  m6d.  des  hop.  21.  December  1894.  — B£cl£re, 
Mercredi  m6d.  17-  October  1894;  Revue  neurol.  1895,  Nr.  1.  — Bohrend,  Allg.  med.  Cen- 
tral-Ztg. 1895,  Nr.  32.  — Betz,  Memorabilien.  1895,  XLIX,  Heft  3-  — Blake,  New  York 
med.  Record.  6.  October  1894.  — Bleibtreu  u.  Wendelstadt,  Deutsche  med.  Woehenschr. 
1895,  Nr.  22.  — Bürger.  Ueber  die  Beeinflussung  des  Stoffwechsels  des  gesunden  Menschen 
durch  Schilddrüsenfütterung.  Dias.  Halle  1895-  — Buschan,  Deutsche  med.  Woehenschr  1895, 
Nr.  44.  — Buschan,  Die  Brown-Seq  uard'sche  Methode.  Neuwied  1894.  — Cant  er,  Annal. 
de  la  Soc.  m6d.-chir  de  Li&ge.  Januar  1895.  — Chante messe  u.  R.  Marie.  Semaine  med. 

1894,  pag.  85.  — Combe,  Revue  med.  de  la  Suisse  romande.  1895,  Nr  5;  Correspondenzbl . f. 
Schweizer  Aeratc.  1895,  Nr.  12.  — Costanzo,  Rivista  Yen.  di  sc.  med.  1895,  XXII.  — James 
Da  le,  New  York  med.  Record.  8 Sept.  1894.  — Eberson,  Nederld.  Tijdschr.  voor  Geneeskunde. 

1895,  II,  Nr.  1.  — Fenwick,  Brit.  med.  Journ.  10.  October  1891.  — Heinsheimer.  Ent- 
wicklung und  jetziger  Stand  der  Schilddrüsentherapie.  München  1895.  — Hennig,  Mün- 
chener med.  Woehenschr.  1896,  Nr.  14.  — Küthe,  Nederld.  Tijdschr  voor  Geneeskunde. 
l',94,  1,  Nr.  24:  II,  Nr.  2;  1895,  I,  Nr.  4.  — Lanz,  Correspondenzbl.  f.  Schweizer  Aerzte. 
18-15,  Nr.  10;  Deutsche  Aerzte-Ztg.  1896,  Nr.  5.  — Mac  Adam,  New  York  med.  Journ. 

10.  Februar  1894.  — Marie  u.  Guerlain,  Semaine  möd.  1894,  pag.  78.  — Fr.  Meder, 
Ueber  die  Erscheinungen  der  Schilddrüsenfütterung.  Dissert.  inaug.  Greifswald  1895.  — 
Meitzer,  New-Yorker  med.  Monatsschr.  Mai  1895.  — Morin,  Revne  med.  de  la  Suisse 
romande.  Mai  1895,  pag.  241 ; Therap.  Monatsh.  1895,  Heft  11.  — Napier.  Lancet.  30  Sep- 
tember 1893.  — Ord  u.  White,  Brit.  med.  Journ.  29.  Juli  1893.  — Richter,  Centralbl. 
f.  innere  Med.  18.  Januar  1896.  — Roos,  Zeitschr.  f.  physiol.  Chemie.  1895,  XXL  1.  — 
Treupel,  Münchener  med.  Woehenschr.  1896,  Nr.  6.  — Edm.  White,  Brit.  med.  Journ. 

11.  Februar  1893;  Philadelphia  med.  News.  11.  März  1893.  G.  Buschan. 

Schlangengift.  Die  interessante  Errungenschaft  der  modernen  For- 
schung, dass  man  durch  allmälige  Beibringung  nicht  tödtlicher  Dosen  von  Schlangen- 
gift Thiere  gegen  tödtliehe  Mengen  unempfänglich  machen  kann,  ist  durch  weitere 
Experimente  von  Fbasrk  *)  auch  für  verschiedene  bisher  nicht  untersuchte  toxische 
Secrotc  von  exotischen  Giftschlangen  bestätigt  worden.  Was  für  das  Gift  der 
ostindischen  Cobra  di  capello  (Naja  tripudians)  gilt,  gilt  auch  fllr  das  Gift 
der  amerikanischen  Cascavela  oder  Schaaerklapperschlange,  Crotalus 
horridua  Dand.,  ftlr  das  der  südafrikanischen  Ringhalsschlange,  Srpedon 
haemachatea , und  für  das  der  wahrscheinlich  der  Gattung  Diemenia  unge- 
hörigen grossen  Schlange  des  Diamautdistricts  von  Südaustralien.  Alle  diese  Gifte 
Btehen  übrigens  in  der  Intensität  ihrer  Wirkung  dem  Cobragifte  bedeutend  nach ; 
das  Gift  der  australischen  Schlange  ist  nach  vergleichenden  Versuchen  an 
Kaninchen  6,  das  der  Binghalsschlange  10  und  das  der  Cascavela  lOmal 
schwächer  als  das  Cobragift,  das  in  Bezug  auf  seine  Letalität  den  stärksten 
Pflanzengiften,  dem  Aconitin  und  Ouabain,  gleichkommt.  Die  minimal  letale  Dosis 
des  Cobragiftes  beträgt  pro  Kilo  für  Meerschweinchen  0,18,  für  Kaninchen  0,245, 
für  weisse  Ratten  0,25,  für  Katzen  5,  für  Kätzchen  2 und  für  Tropidonotua 
natrix  30  Mgrm.;  bei  Kaninchen  stellt  sich  die  kleinste  letale  Dosis  der  Gifte 
von  Diemenia,  Sepedon  und  Grotalua  horridua  auf  1,5,  bezw.  2,5,  bezw.  4 Mgrm. 
Die  Wirkung  der  drei  letztgenannten  Gifte  ditferirt  von  der  des  Cobragiftes 
wesentlich  dadurch,  dass  nach  ihnen  die  örtlichen  Veränderungen  weit  intensiver 
sind,  und  namentlich  tritt  nach  dem  Crotalusgifte  stets  ausgedehnte  Infiltration 
des  Unterhautbiudegewebes  mit  Blut  und  blutigem  Serum,  Umwandlung  der  Muskeln 
in  eine  breiartige,  blutgefleckte  Masse  und  intensiv  rothe  Färbung  ein.  Nach 
dem  Gifte  der  Sehlange  der  südaustralisehen  Diamantfelder  sind  diese  Verän- 
derungen in  loco  zwar  bedeutend  geringer,  dagegen  kommt  es  regelmässig  zu 
Hämaturie  oder  Hämoglobinurie.1) 


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SCHLANGENGIFT. 


575 


Die  Thatsacbe,  dass  das  Gift  verschiedener  Schlangen  nicht  die  nämliche  Toxicität 
besitzt,  ist  neuerdings  auch  durch  umfassende  Versuche  von  Calmette  dargethan ; doch  ist 
auch  das  Gift  einer  und  derselben  Schlangenart  nicht  zu  allen  Zeiten  von  gleicher  Activität, 
und  ausserdem  spielt  auch  die  Thierart,  der  das  Gift  inoculirt  wird,  dabei  eine  nicht  unbe- 
deutende Rolle.  Von  einer  egyptischen  Naja  Haje  wirkte  z.  B.  das  im  Vacuum  getrocknete 
Gift,  als  das  Thier  3 Monate  gefastet  hatte,  zu  0.7  Mgrm.  in  4 Stunden  auf  Kaninchen  tödt- 
lich,  während  2 Monate  später  das  getrocknete  Gift  derselben  Schlange  zu  0,25  Mgrm.  und 
das  der  Speicheldrüsen  der  nach  8 Monaten  gestorbenen  Schlange  schon  zu  0,1  Mgrm.  den 
Tod  herbeiführte.  Beim  Kaninchen  stehen  die  Gifte  von  Cobra  di  capello  und  Naja  Haje 
obenan,  während  Trigonocepbalus  und  Crotalus  4— 5mal  weniger  Toxicität  besitzen.  Kaninchen 
sind  gegen  Schlangengift  doppelt  so  resistent  wie  Meerschweinchen , Hunde  fast  doppelt  so 
widerstandsfähig  wie  Kaninchen  Interessant  ist  die  von  Fraser  consta tirte  Thatsache,  dass 
bei  Fütterung  von  Pflanzenfressern  mit  Fleisch  die  Resistenz  der  Thiere  gegen  Schlangengift 
zunimmt  und  mitunter  sogar  der  von  Fleischfressern  gleich  wird. 

Applicirt  man  subeutan  bei  Thicren  Cobragift  unter  allmäliger  Steigerung 
der  Dosen,  gleichviel  ob  man  mit  Vio  oder  Vs  oder  Vs  der  minimal  letalen  Dose 
beginnt  oder  auch  eine  minimal  letale  Menge  zum  Ausgangspunkte  wühlt,  so 
kann  man  es  erreichen,  dass  nach  5 — Gmaliger  Application  der  minimal  letalen 
Menge  3 — 4 — 5mal  so  viel  Cobragift  ohne  toxischen  Effect  oder  doch  nur  unter 
Hervorrufung  ganz  geringen  Unwohlseins  ertragen  wird.  Die  geringen  Quanti- 
täten, die  Fraser  von  den  Giften  der  drei  übrigen  Giftschlangen  zu  Gebote 
standen,  gestatteten  hei  diesen  nur  den  Nachweis  der  Immunisation  bis  zur  drei- 
fach minimal  letalen  Dosis,  doch  ist  nicht  zu  zweifeln , dass  auch  hier  höhere 
Giftmengen  überwunden  werden  können.  Bei  diesen  Giften  tritt  allerdings  die 
intensivere  örtliche  Wirkung  hemmend  in  den  Weg,  indem  diese  nicht  so  rasch 
wie  die  Nervenwirknng  überwunden  wird.  Geht  man  beim  Cobragifte  mit  den 
Versuchen  w-eiter,  so  gelangt  man  bei  Kaninchen  schliesslich  zu  der  Immunität 
gegen  10 — 20 — 30 — 50fach  minimal  letale  Dosen.  Fast  die  einzige  danach  auf- 
tretende  Erscheinung  ist  die  wenige  Stunden  nach  der  Injection  zu  beobachtende 
Steigerung  der  Körperwärme,  die  einen  besonderen  Contrast  zu  dem  auch  nach 
nicht  letalen  Dosen  hei  nicht  immunisirten  Thieren  erfolgenden  Temperatu rab- 
falle  bildet;  nicht  selten  kommt  es  auch  zu  Verminderung  der  Fresslust  und  damit 
im  Zusammenhänge  stehender  temporärer  Abnahme  des  Körpergewichtes , die 
ebenfalls  im  Gegensätze  zu  der  Zunahme  dieses  und  dem  allgemeinen  Wohlbe- 
finden steht,  das  die  Thiere  während  der  Periode  der  Immunisirungsversuche 
darhicten.  Auch  bei  Pferden  kann  bei  subcutaner  Application  ein  Grad  der 
Immunisirung  gegen  die  lOfach  letale  Cobragiftdosis,  hei  Katzen  die  Immuni- 
tät sogar  durch  interne  Darreichung  gewonnen  werden. 

Diese  Jmmunisirnng  von  Katzen  durch  interne  Darreichung  hat  eine  besondere  Be- 
deutung  einestheils  dadurch,  dass  sie  uns  möglicherweise  eine  Erklärung  für  die  Immunität  von 
Schlangenbeschwörern  giebt,  anderenteils  aber  besonders  dadurch,  dass  sie  ermöglicht,  das  Schlangen- 
gift in  einer  Weise  darzureichen,  dass  es  dem  Organismus  keinen  Schaden  zufügt,  da  wenigstens 
in  der  Regel  das  in  den  Verdanungscanal  eingeführte  Schlangengift  keine  Vergiftungserschei- 
nungen hervorruft.  In  den  Versuchen  Fraser ’s,  wo  mit  lf4  der  minimal  letalen  Subcutan- 
gabe begonnen  wurde,  konnte  am  116.  Tage  die  8fach  letale  Dosis  intern  eingeführt  werden, 
ohne  dass  danach  irgend  welche  Störung  erfolgte,  und  8 Tage  später  zeigte  sich  das  Thier 
gegen  die  subcutane  Anwendung  der  lf/sfachen  letalen  Dose  insoweit  immun,  als  keine  all- 
gemeinen Störungen  resnltirten,  während  es  allerdings  zu  localem  Oedem  und  Hantnekrose 
kam.  Von  Interesse  ist,  dass  ein  von  der  Katze  am  54.  Tage  der  Immunisationsversuche  ge- 
worfenes Kätzchen,  das  nur  mit  der  Muttermilch  ernährt  wurde,  am  57.  Lebenstage  die 
P/.fach  letale  Dosis  subeutan  ohne  schwere  Vergiftungserscheinungen  bestand,  während  ein 
zweites  Jnnge  am  69.  Lebenstage  nach  der  3fach  letalen  Dosis  zu  Grunde  ging.  Auch  bei 
Albinoratten  ist  es  möglich,  intern  bei  allmäliger  Steigerung  enorme  Giftquantitäten , selbst 
die  lOOOfache  Menge  der  subeutan  minimal  letalen  Dosis  ohne  andere  Vergiftungserscheinungeu 
als  etwas  Schläfrigkeit  und  1 — 2 Tage  anhaltenden  Appetit  Verlust  in  den  Magen  einzuführen 
und  dabei  eine  Resistenzfäkigkeit  gegen  Subcutanapplication  der  2fach  letalen  Dosis  zu  ge- 
winnen , ohne  dass  jedoch  Immunität  gegen  diese  Giftmenge  zustande  gekommen  war,  da 
24stündige  Schläfrigkeit,  Anorexie  und  Zunahme  der  Speichel-  und  Broochialsecretion  resnltirten. 

Auch  hei  den  von  Fraser  neugeprüften  Giften  bestätigt  sich  die  That- 
sache.  dass  dureli  das  Gift  jeder  Schlange  auch  eine  Immunität  gegen  die  Gifte 
der  anderen  und  gegen  Cobragift  erzielt  werden  kann,  wie  auch  die  Immuni- 


576 


SCHLANGENGIFT. 


sinnig  mit  Cobragift  gegen  die  übrigen  Gifte  immun  macht ; doch  scheint  die 
Immunisirung  für  das  Gift  derselben  Schlangenart  wirksamer  zu  sein.  Ueber  die 
Frage  der  Dauer  der  Immunisirung  sind  die  Versuche  noch  nicht  abgeschlossen; 
doch  ist  mit  Sicherheit  ein  20  Tage  anhaltender  Effect  constatirt  worden. 

Dass  die  directe  Immunisirung  durch  Schlangengift,  wie  sie  ja  allerdings 
bei  einzelnen  afrikanischen  Völkcrstämmen,  die  die  Kinder  von  jungen  und  relativ 
wenig  gefährlichen  Schlangenarten  beissen  lassen  sollen,  um  sie  gegen  den  Biss 
gefährlicher  Giftschlangen  zu  schützen,  in  Anwendung  gezogen  ist,  für  die  Pro- 
phylaxe der  Vergiftung  in  tropischen  Giftländern  kaum  je  Bedeutung  erlangen 
wird , ist  leicht  einzusehen.  Eher  wäre  an  die  Möglichkeit  zu  denken , das 
Blut  der  Schlangen  als  Träger  des  Antitoxins  in  dieser  Weise  zu  verwerthen,  um- 
somehr, als  nach  weiteren  Versuchen  Fraser’s  mit  dem  Blutserum  der  grossen 
ostindischen  Giftschlange  Ophiophagus  elaps  antidotarische  Effecte,  und  zwar 
gegen  das  Gift  der  Cobra  di  capello , erhalten  werden  können.  Werden  nur 
kleine  Mengen  zu  einer  minimal  letalen  Gabe  von  Cobragift  hinzugesetzt,  so 
wirkt  bei  gleichzeitiger  Einführung  das  Ophiophagusserum  nur  lebensverlftngernd, 
während  bei  Zusatz  grösserer  Mengen  (25  Ccm.  pro  Kilo)  Vergiftungserschei- 
nungen überhaupt  ausblciben  können.  Selbst  nachträgliche  Einführung,  '/,  Stunde 
nach  der  Injection  des  Cobragiftcs,  kann  lebensrettend  wirken.  Gleiche  Resultate 
hat  Fraser  auch  bei  gleichzeitiger  und  nachfolgender  Injection  des  Serums  der 
australischen  schwarzen  Schlange,  Pseudechys  porphyriacus , in  Bezug  auf  das 
Gift  dieser  Species  erhalten. 

Am  nächsten  liegt  es  freilich , von  der  bereits  von  französischen  Ge- 
lehrten dargethanen  und  von  Fraser  bestätigten  Thatsache,  dass  auch  das  Blut 
immunisirter  Thiere  selbst  die  Fähigkeit  besitze,  auf  andere  Thiere  gegen  Schlangen- 
gift immunisirend  zu  wirken,  Nutzen  zu  ziehen  und  durch  Inoculation  grosser 
Thiere,  z.  B.  Pferde,  immunisirendes  Blutserum  zu  erhalten,  und  dies  würde 
umsomehr  in  Betracht  kommen,  als  der  antidotarische  Werth,  soweit  die  allerdings 
unter  ungünstigen  Umständen  gewonnenen  Schlangenblutsera  Fraskr’s  zur  Ver- 
gleichung berangezogen  werden  können,  ein  entschieden  grösserer  ist  und  sich  Blut- 
serum immunisirter  Warmblüter  von  sehr  constanter  Beschaffenheit  ohne  Mühe  be- 
schaffen lässt.  Nach  Fraskk’s  Erfahrungen  ist  man  im  Stande,  durch  Eintrocknen 
frisch  abgetrennten  und  durch  ein  t’HAMBERLAND-Filter  filtrirten  Blutserums  in  dem 
Recipienten  einer  Luftpumpe  über  Schwefelsäure  eine  trockene  und  leicht  pulverisir- 
bare  Masse  zu  erhalten,  die  sich  unbegrenzt  activ  erhält  und  mit  Wasser  ver- 
düunt  eine  zu  Immunisirungsversucbcn  geeignete  Lösung  giebt.  Mit  den  von 
Kaninchen,  die  die  SOfache  letale  Dosis  Cobragift  erhalten  hatten,  gewonnenen 
Serum,  dem  Fraser  die  Bezeichnung  Antivenen  beigelegt  hat,  angestellte 
Versuche  führten  zu  dem  Resultate,  dass  nicht  nur  Mischungen  tödtlicher  Mengen 
Schlangengift  mit  genügenden  Mengen  Antivenen  tolerirt  werden , sondern  dass 
auch  Thiere  gerettet  werden  können , die  erst  '/,  Stunde  nach  Einführung  des 
Schlangengiftes  Antivenen  erhalten,  so  dass  also  das  Resultat  dasselbe  wie  beim 
Ophiophagusserum  ist.  Mischt  man  eine  die  letale  Menge  um  ein  Geringes  über- 
steigende Quantität  Cobragift  mit  Mengen  von  natürlichem  oder  durch  Wasser 
lösung  dargestellten  Kaninchen  - Antivenens , welche  0,5  bis  0,004  (Vsso)  Ccm. 
pro  Kilo  entsprechen,  so  erfolgen  selbst  bei  den  geringsten  Mengen  Antivenens 
keine  oder  nur  unerhebliche  Vergiftungserscheinungen.  Vom  Pferdeblutantivenen 
ist  schon  Viooo  Ccm.  bei  der  einfach  letalen  Dosis  Cobragift  wirksam.  Nimmt 
man  die  doppelt  letale  Dosis,  so  sind  pro  Kilo  0,06 — 0,075  Ccm.  Antivenen 
nothwendig , während  0,5  Ccm.  unwirksam  bleiben,  ln  Versuchen  mit  der  drei- 
fach letalen  Dose  sind  0,8  Ccm.  unzureichend,  dagegen  1 und  1,5  Ccm.  activ; 
bei  vierfach  letaler  Dosis  sind  2 Ccm.  Antivenen  nothwendig,  um  die  Wirkung 
ausblciben  zu  lassen.  Applicirt  man  die  doppelt  letale  Quantität  von  Cobragift 
an  der  einen  Körperhälfte  und  unmittelbar  danach  an  der  anderen  Seite  Anti- 
venen, so  reichen  2,5 — 3,5  zur  Lebensrettung  aus,  während  1,5 — 2,0  Ccm. 


SCHLANGENGIFT. 


577 


unwirksam  bleiben.  Spritzt  man  zuerst  Antivenen  und  nach  30  Minuten  die  ein- 
fach letale  Dosis  Cobragift  ein , so  Bind  4 Ccm.  Antivenen  zur  Lebensrettung 
erforderlich.  Injicirt  man  zuerst  das  Schlangengift  in  einfach  minimal  letaler 
Dose,  nnd  ’/,  Stunde  später  das  Gegengift,  so  reichen  1,5,  1,0  und  selbst  0,8  Ccm. 
zur  Lebensrettung  aus,  nicht  aber  0,75  und  bei  dem  nämlichen  Verfahren  wird 
die  doppelt  letale  Menge  durch  5 Ccm.  pro  Kilo,  nicht  aber  durch  2 — 3 Ccm. 
Überwunden.  Hei  den  antidotarischen  Versuchen  kommt  es  fast  immer  zu  Ver- 
giftungserscheinungen. Auch  in  den  tödtlieh  verlaufenden  Experimenten  wird 
die  Lebensdauer  ausserordentlich  verlängert  und  es  erscheint  die  Möglichkeit 
nicht  ausgeschlossen,  dass  die  weitere  Darreichung  des  Antidots  in  der  späteren 
Zeit  noch  lebensrettend  wirken  kann. 

In  der  That  sprechen  dirccte  Versuche  dafür,  dass  die  Lcbensrettnng 
grössere  Chancen  hat,  wenn  man  sich  nicht  auf  einmalige  Einführung  beschränkt, 
sondern  successive  mehrere  Dosen  des  Antivenens  administrirt, 
und  cs  dürfte  diese  Anwendungsweise  beim  Menschen  überall  zu  bevorzugen  sein. 
Fbaskr  drängt  darauf,  die  erste  Dosis  in  den  von  dem  Bisse  getroffenen  Theil 
zu  injieiren,  ehe  die  angelegte  Ligatur  entfernt  und  ehe  die  Excision  der  Um- 
gebung der  Läsionsstelle  erfolgt  ist.  Als  Anfangsgabe  bezeichnet  Fraser  20  Ccm. 
flüssigen  Antivenens,  welcher  man  in  */,  Stunde  oder  1 Stunde  eine  zweite  und 
wenn  nöthig  in  gleichen  Intervallen  eine  dritte  und  vierte  Gabe  folgen  lassen 
kann.  Als  Arzneiform  ist  übrigens  das  oben  erwähnte  trockene  Antivenen  wegeu 
seiner  grösseren  Haltbarkeit  vorzuziehen.  Von  diesem  entsprechen  11,5  Theile 
100  Theilen  des  flüssigen  Serums,  so  dass  etwa  2,3  Grm.  20  Ccm.  flüssigen 
Antivenens  entsprechen  würden. 

Um  übrigens  ein  Antivenen  von  guter  Wirkung  zu  erhalten  , erscheint 
es  nothwendig,  das  Blut  von  Thieren  zu  benützen,  die  wirklich  eine  mehr  als 
letale  Dosis  Gift  bekommen  haben.  Das  Serum  von  Thieren,  die  nur  Bruehtbeile 
der  einfach  letalen  Dosis  längere  Zeit  hindurch  erhielten,  ist  weit  schwächer, 
doch  reichen  bei  Mischen  des  Giftes  und  des  Antivenens  bei  einfach  letaler  Gift- 
menge 5 Ccm.  pro  Kilo,  nicht  aber  3 Ccm.  zur  Lebensrettung  aus. 

Das  Cobraantivenen  wirkt  übrigens  nicht  blos  lebensrettend  bei  Intoxi- 
cation  durch  Cobragift,  sondern  auch  bei  Intoxication  durch  das  Gift  von  Crotalus, 
Disemenia  und  Sepedon,  wenigstens  bei  einer  die  einfach  letale  Dosis  um  */)2 
überschreitenden  Giftmenge  in  der  Quantität  von  1,5  Ccm.  pro  Kilo,  */a  Stunde 
nach  der  Vergiftung  applicirt. 

Die  Versuche  von  Fraser,  die  Scrotherapie  für  die  Behandlung  der 
Schlangenbisse  in  exotischen  Schlangenländern  nutzbar  zu  machen,  finden  ein 
Pendant  in  den  analogen  Bestrebungen  von  Calmette  *)  in  Frankreich.  Calmette, 
der  sein  Serum  durch  Iinmunisirung  von  Pferden  und  Eseln  mit  Cobragift  (an- 
fangs mit  Chlorkalk  gemischt,  später  nur  in  steigenden  Gaben  inoeulirt)  und 
später  mit  anderen  Schlangengiften  gewinnt , hat  bereits  grosse  Mengen  dieses 
Serums,  das  schon  zu  '/toooo  activ  ist  (soll  heissen:  bei  Kaninchen  zu  ’/ioooo  des 
Körpergewichtes  inoeulirt,  eine  1 Stunde  später  inoculirte  Schlangengiftmenge, 
die  in  3 — 4 Stunden  nicht  immunisirtc  Kaninchen  tödtet,  neutralisirt , so  dass 
VergiftungBerscheinungen  nicht  eintreten),  nach  Indien,  nach  den  Antillen  und  nach 
Australien  geschickt.  Das  fragliche  Serum  giebt  übrigens  noch  eclatante  Resul- 
tate, wenn  man  1 Ccm.  pro  Kilogramm  ll/t  Stunden  nach  einer  in  3 Stunden  letal 
wirkenden  Gifltmenge  subcutan  verabreicht. 

Dass  die  subcutane  Anwendung  von  Chlorkalk  um  die  Bisswunde 
herum  sehr  brauchbare  antidotarische  Resultate  bei  Bisswunden  australischer 
Schlangen  giebt,  hat  neuerdings  Halford  in  Melbourne  bestätigt.  Dass  der  Chlor- 
kalk nur  durch  Neutralisation  des  Giftes  an  der  Applicationsstclle  wirkt,  nicht  aber 
durch  Erzeugung  eines  Antitoxins  im  Blute,  wie  Calmette  ursprünglich  annahm, 
lehren  neuere  Vcusuche  von  Phisalix  und  Bertkanü.6) 

Encyclop.  Jahrbücher.  VI.  37 


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578 


SCHLANGENGIFT. 


You  Australien  aus  wird  die  St ry  c h ni n bc li a ndl u n g als  unwirksam 
in  schweren  Fällen  bezeichnet.  Es  ist  bestimmt  richtig,  was  W.  C.  C.  Macdonald  •) 
von  der  Beurtheilang  der  Wirksamkeit  von  Antidoten  gegen  Schlangenbisse  sagt, 
dass  in  einer  grosen  Anzahl  von  Fällen  die  Schlangenbisse  relativ  ungefährlich 
sind,  weil  die  Gift  zähne  nicht  in  die  Tiefe  eingedrungen  sind  und  dass  nur 
dann,  wenn  die  Schlange  einen  Körpertlieil  mit  beiden  Kiefern  umfasst  hat,  ein 
wirklich  gefährlicher  Biss  vorliegt.  Von  60  Fällen  von  Schlangenbiss,  die 
Macdonald  in  den  letzten  11  Jahren  zu  behandeln  hatte,  sind  nur  6 tödtlich 
verlaufen,  und  diese  trotz  der  Anwendung  von  Strychnin,  das  eine  Hebung  der 
Herztbätigkeit  nur  in  solchen  Fällen  bewirkt,  in  welchen  auch  andere  an  sieh 
ungefährliche  Kxeitantien  diese  Wirkung  haben.  Ligatur,  Scarificationen  und  Aus- 
saugen sind  nach  Macdonald  die  allein  zuverlässigen  Mittel. 

Ein  eigenthUmliches  Antitoxin  des  Viperngiftes  haben  Phisalix  und 
Bkrtkand  auch  in  dem  Blute  des  Igels  constatirt,  dem  man  längst  eine  relative 
Immunität  gegen  das  Kreuzottergift  zuBchrieb.  Die  immunisirende  Wirkung  dieses 
Igelblutantitoxins  äussert  sich  jedoch  erst  dann,  wenn  man  durch  Erhitzen  auf 
58 0 ein  das  Antitoxin  begleitendes  toxisches  Princip  zerstört  hat.  Meerschweinchen, 
denen  7 — 8 Ccm.  des  so  präparirten  Serums  in  die  Bauchhöhle  iujicirt  werden, 
widerstehen  einer  sonst  in  4 — 5 Stunden  tödtlichen  Gabe  Viperngift.  Auch  in 
dem  Blute  der  Natter  und  in  dem  der  Viper  selbst  ist  ein  solches  Antitoxin 
vorhandeu,  da  das  auf  58°  erhitzte  Blutserum  nicht  allein  bei  Meerschweinchen 
ohne  Schaden  injicirt  werden  kann,  sondern  diese  auch  gegen  Viperngift  immun 
macht.  Doch  geht  der  Effect  in  einigen  Tagen  vorüber.  SJ 

Wenn  man  in  früherer  Zeit  das  Aussaugen  der  Verletzungen  dnreh 
Schlangenbisse  als  eine  ganz  ungefährliche  Proeedur  bezeichnet  hat,  weil  das 
Schlangengift  nicht  von  Schleimhäuten  resorbirt  werde,  so  kann  es  doch  Zustände 
geben,  die  das  Verfahren  für  den  cs  Ausübenden  zu  einem  sehr  gefährlichen 
machen.  Ein  dies  illustrirendes  Beispiel  ist  ein  von  Hiuscuhokn  beschriebener 
Fall , wo  bei  einem  früher  immer  gesunden  Gensdarmen  nach  dem  Aussaugen 
einer  dilatirten  Bisswunde  an  dem  Finger  einer  Bäuerin  schon  10  Minuten  nach- 
her schmerzhafte  Schwellung  der  linken  Unterkiefergegend  auftrat,  die  sich  auf 
Hals,  Brust,  Arm  und  Bein  derselben  Seite  fortsetzte  und  Schwindel,  Ohrensausen,  Hin- 
fälligkeit und  später  auch  heftige  tonische  und  klonische  Krämpfe  der  linken  Seite  sich 
einstellten.  Noch  nach  vier  Wochen  traten  derartige  toxämische  Spasmen,  denen 
Vertaubungsgefühl  der  linken  Seite  vorausging  und  die  mit  zeitweisem  Aussetzen 
der  Athmung  einhergingen,  während  das  Bewusstsein  nie  völlig  getrübt  war  und 
die  Pupillen  zwar  erweitert  waren,  aber  auf  Lichtreiz  reagirten,  auf  und  machten 
eine  fast  vierteljährliche  Bromkaliumeur  nothwendig.  Der  Umstand,  dass  der 
Kranke  eine  von  einer  Zahucxtraction  herrührende  noch  nicht  verheilte  Zahn- 
lücke hatte , erklärt  die  Erscheinungen  uud  weist  darauf  hin  , dass  der- 
artiges Aussaugen  vergifteter  Wunden  nur  von  solchen  Per- 
sonen ausgeübt  werden  darf,  deren  Mundhöhle  keine  Schleim- 
hau tdefecte  hat.  Auch  in  einem  englischen  Falle  von  Verletzung  durch 
Vipernbiss  sprechen  die  dabei  beobachteten  Erscheinungen  für  schädliche  Wirkung 
des  Aussaugens.  Der  Arzt  Bewks,  dem  das  Unglück  selbst  passirte  und  der  die 
Verletzung  am  Finger  sofort  aussog  und  dann  nach  10  Minuten  mit  Ammoniak 
kautcrisirte , zeigte  danach  als  erste  Vergiftungserscheinung  Schwellung  der 
Lippen,  Zunge  und  der  Sublingualdrüsen,  die  einen  solchen  Umfang  gewann, 
dass  sic  Schlucken  und  Articulation  hinderte ; erst  später  kam  es  zu  Schwellung 
an  Hand  und  Arm  und  zu  entfernten,  in  Kolik,  Diarrhoe  und  Strangurie  be- 
stehenden Symptomen. 

Literatur:  ')  Th.  Fraser,  Tlte  treatment  of  snalee  jioisoning  trilh  antirei teme 
derieed  front  animal«  protected  against  s erpents  re  Hum.  Brit.  med.  Joura.  17.  August, 
pag.  416.  — a)  Fraser,  The  relative  toxicitg  of  serpent  renoms.  Pharm.  Journ,  and  Trans- 
actions 7.  Sept.,  pag.  198.  — *)  Phisalix  et  Bertraud,  Sur  l’emploi  du  sang  de  njnre 
et  de  couleurre  eomme  substance  untirenimeuse.  Compt.  read.  CXXI,  pag.  74,  545.  — 


SCHLANGENGIFT.  — SOPHORA. 


579 


4)  A.  Calmette,  Au  sujet  du  traitement  des  morsures  de  serpents  venimeux  par  le 
chlorure  de  chaux  et  par  le  sc  rum  antivbibxeux.  Compt.  rend.  CXX,  pag.  1443.  — 
*)  Phisalix  and  Bertrand,  Sur  l’emploi  et  le  mode  d’action  du  chlorure  de  chaux 
contre  les  mor eures  des  serpents  venimeux.  Compt.  rend.  CXXI,  pag.  1295.  — ®)  Mac- 
donald, Snake  bite.  Lancet.  21.  September,  pag.  763.  — 7)  Hirschhorn,  Infection  durch 
Schlangengift  per  os.  Wiener  med.  Presse.  Nr.  30.  — 0)  Be  wes,  Viper  bite , a personal 
experience.  Brit  med.  Joarn.  7.  December,  pag.  1422.  Husemann. 

Schweflige  Säure,  s.  Inhalationstherapie,  pag-.  284. 

Scopolamin,  s.  Augenheilmittel,  pag.  28. 

Scrophuiaria.  In  der  Gattung  Scrophuiaria,  nach  welcher  die  die 
Gattung  Digitalis  cinschliessendc  Familie  ihren  Namen  hat , scheint  es  toxische 
Arten  zu  geben.  van  de  Moer  erhielt  aus  der  gewöhnlichsten  Art,  Scrophu- 
iaria nodosa  L.,  giftige  wässerige  und  alkoholische  Extracte  aus  dem  Samen 
und  aus  der  ganzen  Pflanze.  Sie  wirkten  bei  Fröschen  lähmend  auf  die  Nerven- 
centra  und  erzeugten  zugleich  Unregelmässigkeit  des  Herzschlages  und  schliess- 
lich diastolischen,  mitunter  auch  systolischen  Herzstillstand.  Nähere  Untersuchungen 
sind  erwönscht. 

Literatur:  Van  de  Moer,  Orer  de  gifiigheit  ran  Scrophuiaria  nodosa. 

Neederl. Tijdschr.  voor  Pharm.,  pag.  258.  Husemann. 

Serumbehandlung,  s.  Diphtherieheilserum,  pag.  116. 

Somatose,  ein  von  den  Elberfeid'sehen  Fabriken  in  den  Handel  ge- 
brachtes All)umo8enpräparat,  welches  84 — 86%  Albumosen,  an  Stickstoff  13,5% 
enthält.  Es  liegen  zahlreiche  Berichte  über  die  Brauchbarkeit  des  Präparates  bei 
Patienten  mit  Ernährungsstörungen  vor.  Thomalla  verwendete  es  bei  Typhus- 
kranken  in  Verbindung  von  Milch  , Milchsnppen , leichte  Bouillon.  Es  entspricht 
1 Grm.  Somatose  dem  Eiweissgehalt  nach  4 Grm.  fettlosem  geschabten  Fleisch. 
Die  Typhuskranken  haben  15 — 20  Grm.  Somatose  in  obiger  Form  sehr  gat 
vertragen  nnd  verdaut.  Bei  Pneumonie  eines  Potators  wurde  die  Somatoso  in 
Verbindung  mit  Wein  oder  Cognac  gegeben.  Kindern  kann  man  dreimal  täglich 
einen  Thcelöffel  Somatose  in  die  Suppe  mengen.  Auch  kann  man  es  zu  10% 
dem  Caeaopulver  beimengen,  umsomehr,  als  es  den  Geschmack  der  Speisen  nicht 
alterirt.  I.  Webee  rühmt  den  Erfolg  des  Mittels  in  einem  Falle  von  Ulcus,  in 
dem  der  Patient  nach  Aufnahme  von  fester  Nahrung  sofort  Schmerzen  bekam. 
Bei  Sängiingen  mit  Gastrointestinalkatarrhen,  wenn  Milch  wieder  erbrochen  wird, 
scheint  Somatose  in  Hafergrützenabkochung  ein  recht  brauchbarer  Ersatz  zu  sein 
Auf  eine  Kinderflasche  von  250  Grm.  Inhalt  dürfen  nur  1,5  — 2,0  Grm.  Somatosc 
verwendet  werden.  Saalfeld  verwendete  es  erfolgreich  hei  einer  Reihe  von 
Syphilisfällen  beim  Darniederiiegen  der  AUgemeinernährung.  Die  tägliche  Dosis 
waren  3 — 4 Theelöffel  des  Präparates.  Eduard  Reichmann  hebt  besonders  her- 
vor, dass  die  Somatose  auf  die  Verdauungsorgane  wegen  ihres  geringen  Gehaltes 
an  Salzen  (lediglich  Fleisehsalze)  nnd  wegen  des  nahezu  völligen  Fehlens  von 
Pepton  kaum  reizend  einwirke. 

Literatur:  Thomalla,  Zeitschr.  f.  Krankenpflege.  1885. — I.  Weber,  Aerztl. 
Central-An zciger.  1895,  17.  — E.  Saalfeld,  Therap.  Monalsh.  Mai  1895.  — E.  Reich- 
raann,  Deutsche  Med.-Ztg.  1895.  40.  Loebisch. 

Sophora.  Neuere  Untersuchungen  von  Pl.CGOB  stellen  fest,  dass  auch 
die  Samen  den  amerikanischen  Sophoraarten , Sophora  speciosa  Benth.  und 
S.  secundifl ora  Lagasca  (Virgilia  secundiflora  Cav.)  gerade  wie  von 
S.  tomentosa  L.  (vergl.  Encyclopädisehe  Jahrbücher,  III,  pag.  664)  Cytisin  ent- 
halten, das  auch  in  der  amerikanischen  Papilionacee  Baptisia  tinctoria  (so- 
genanntes Baptitoxin  von  Schroeder)  und  in  der  javanischen  Euchresta  Ilors- 
fieldii  vorhanden  ist.  In  den  amerikanischen  Sophoraspecies  ist  es  sogar  zu 
3,23  und  3,37%  vorhanden,  so  dass  sich  die  Giftigkeit  eines  einzelnen  Samens, 

37* 


560 


SOPHORA.  — .STREPTOKOKKENSERUM, 


dessen  Gehalt  nahezu  0,03  Cytisin  beträgt,  recht  wohl  erklärt.  Auffallend  ist  bei 
dieser  grossen  Verbreitung  des  Cytisins  in  der  Familie  der  Leguminosen,  dass 
verschiedene  ostasiutische  Species  von  Sophora  davon  frei  sind , nicht  blos  die 
wegen  ihres  gelben  Farbstoffes  bekannte  S.  japonica  und  deren  Varietät  S.  japo- 
nica pendula,  sondern  auch  S.  affinis  und  S.  angustifolia.  ln  der  bitteren 
Wurzel  der  letzteren,  die  als  Matari  in  Japan,  als  Kusham  oder  Kiusiu  in  China 
als  Arzneimittel  dient,  wies  Xagai  ein  Alkaloid,  von  ihm  Mat  rin  genannt,  nach, 
das  der  Formel  Cu  H2,  X s 0 entspricht  und  weit  schwächer  giftig  als  Cytisin  ist. 

Literatur:  Plügge,  Over  het  voorkomen  ran  Cytisin?  m cerschillende  Papilio- 
naceae.  Neederl.  Tijdschr.  voor  Geneesk.,  Nr  11,  pag.  -1  '6 ; Matrine,  het  alcaloid  ran  Sophora 
angustifolia.  Ibid.,  pag.  48(i;  Over  de  identiteit  ran  Baptitoxine  en  Cytisine.  Ibid.,  Nr.  'CI 
pag.  109ö.  Husemann 

Spartein,  bei  Morphiumentziehung,  pag.  441. 

Spastische  Spinalparalyse,  s.  Myelitis,  pag.  490. 

Specialitäten,  s.  Geheimniittel,  pag.  216. 

Spinalpunction,  s.  Lumbalpunction,  pag.  375. 

Stickhusten,  Behandlung  mit  Inhalationen,  pag.  287. 

Stramonium,  Blätter.  s.  Inhalationstherapie,  pag.  283. 

Streptokokkenserum.  Dieses  Heilserum  wird  von  Makmobrck  im 
Institut  PASTKl-lt  von  Thieren  gewonnen,  welche  durch  progressive  Impfung  mit 
steigenden  Gaben  gegen  Streptokokkeninfection  immnnisirt  worden  sind.  Die 
Impfung  geschieht  mit  besonders  virulent  gemachten  Culturen , deren  Virulenz 
durch  Aufzucht  in  einem  Gemisch  von  menschlichem  Serum  mit  Bouillon  — diese 
Mischung  hat  sich  besser  bewährt  als  thierisches  Serum  — und  mehrfaches  I)urch- 
passiren  durch  lebende  Thierkörper,  wozu  Kaninchen  benutzt  werden,  bis  zu 
einem  hohen  Grade  gesteigert  ist.  Von  einer  derartig  gewonnenen  Cultur  tiidtet 
ein  Tausendmillionstel  Cubikcentimeter  ein  Kaninchen  mittlerer  Grösse.  Fm  ein 
gut  wirksames  Serum  zu  erzielen,  war  auch  hier  wie  bei  der  Immuuisirung 
gegen  Diphtherie  nöthig,  bei  den  geimpften  Thieren  starke  Heactionen  zu  erzeugen. 
Jedoch  ist  es  big  jetzt  noch  nicht  gelungen , Thiere  nicht  durch  Verimpfung 
lebender  Culturen,  sondern  durch  Kinführung  von  Streptokokkentoxinen  in 
den  Körper  zu  immunisiren , da  vorläufig  noch  kein  hochwirksames  Toxin  her- 
gestellt werden  konnte.  Von  den  auf  diese  Weise  immunisirten  Thieren  — meist 
Pferden,  früher  benützte  man  auch  Schafe  und  Esel  — darf  das  Blut  zur  Ge- 
winnung des  Serums  erst  in  3 — 4 Wochen  nach  der  letzten  Impfung  entnommen 
werden.  Es  hat  sich  nämlich  herausgestellt,  dass  das  Serum  in  den  ersten  Tagen 
häufig  noch  infectiös  ist  und  in  den  ersten  zwei  bis  drei  Wochen  toxische  Eigen- 
schaften zeigt. 

Die  Injectioncu  des  Heilserums  sind  am  wirksamsten,  wenn  sie  vor  der 
Streptokukkenimpfung  erfolgen.  Man  hat  viel  mehr  Serum  nöthig,  um  ein  bereits 
erkranktes  Thier  zu  heilen,  als  um  es  präventiv  zu  schützen.  1 Ccm.  des  Serums 
rettete  ein  Kaninchen , welches  3 Stunden  vorher  eine  zehnfache  tödtliche  Dosis 
erhalten  hatte.  Aber  auch  noch  bis  5 Stunden  nach  erfolgter  Impfung  Hessen  sich 
schworst  inficirte  Kaninehen  durch  Injection  von  5 Ccm.  des  Serums  retten.  Eine 
lnjeetion  von  Heilserum  6 Stunden  nach  erfolgter  lnfection  war  dagegen  vergeb- 
lich. Es  sind  also  umso  kleinere  Dosen  nöthig,  und  die  Anwendung  ist  umso  aus- 
sichtsvoller. je  früher  dieselbe  erfolgt. 

Man  dosirt  vorläufig,  ebenso  wie  beim  Diphtheriehcilserum , nach 
Immunisirungseinheiten.  Als  eine  Immunisirungseinheit  gilt  nach  Marmokeck  die- 
jenige Menge,  welche,  12 — 18  Stunden  vor  der  lnfection  subcutan  injicirt,  aus- 
reicht, um  ein  mittelgrosscs  Kaninchen  von  1500 — 1800  Grm.  gegen  die  In- 
fection  mit  einer  zehnfach  tödtlichen  Menge  einer  Streptokokkencultur  zu  schützen. 
Hiernach  berechnet  hatte  Makmoreck  zu  seinen  Versuchen  ein  Serum  benützt. 


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STREPTOKOKKEXSERUM.  — STYPTICIN. 


681 


welches  7000  Immunisirungseinheiteu  im  C'nbikeentimeter  enthielt.  Jedoch  hofft 
Marmoreck,  das  Serum  allmälig  noch  zu  einem  höheren  Grade  von  Heilkräftig- 
keit steigern  zu  können. 

An  Menschen  wurden  bisher  in  einer  Reihe  von  Streptokokkenerkran- 
kungen mit  diesem  Heilserum  Versuche  angestellt,  so  zunächst  beim  Erysipel. 
Bei  dieser  Krankheit  zeigte  sich  etwa  2 — 3 Stunden  nach  der  Seruminjection  ein 
meist  rapider  Abfall  des  Fiebers,  dem  zuweilen  ein  leichter  Temperaturanstieg 
voranging.  Nach  24  Stunden  war  meist  die  Temperatnr  auf  normaler  Höhe  und 
verblieb,  wenn  die  Injection  früh  genug  erfolgte,  auf  ihr,  ohne  nochmals  wieder 
anzusleigen.  Zugleich  mit  dem  Temperaturabfall  begann  die  locale  Atfection  sich 
zu  bessern,  die  Röthang  zu  schwinden,  das  Erysipel  sich  abzusrbuppen.  Je  nach 
der  Schwere  der  Infection , dem  Momente  des  Einschreitens  und  der  Menge  des 
angewandten  Serums  verlief  die  Besserung  mehr  oder  weniger  rasch  (Chantemkssr). 

Auch  in  Fällen  puerperaler  Infection,  bei  Phlegmonen  und 
Anginen,  die  auf  Streptokokkeninfection  beruhten,  und  neuerdings  auch  bei 
Scarlatina  wurden  durch  die  Behandlung  mit  Streptokokkenserum  Erfolge  erzielt. 
Jedoch  sind  bei  allen  diesen  Krankheiten  die  bisher  mit  Heilserum  behandelten 
Fälle  an  Zahl  noch  zu  gering,  um  jetzt  schon  ein  abschliessendes  Crthcil  Uber 
den  Werth  dieses  Heilmittels  zu  gestatten.  Jedenfalls  sind  die  bisher  mitgetheilten 
therapeutischen  Erfolge  sehr  vielversprechend  und  fordern  zu  weiteren  Ver- 
suchen auf. 

Nach  Injection  des  Sernms  werden  zuweilen,  ähnlich  wie  nach  den  In- 
jeetionen  des  Diphtherieheilserums , einige  „Nebenwirkungen“:  Erytheme, 
urticariaartige  Ausschläge,  Schmerzen  an  der  Injectionsstelle  etc.  beobachtet. 
Besonders  häufig  treten  diese  nach  der  Injection  von  Serum  anf,  welches  von 
Schafen , die  sich  noch  viel  leichter  als  Pferde  und  Esel  gegen  Streptokokken 
immunisiren  lassen , gewonnen  war.  Es  w erden  daher  jetzt  Schafe  nicht  mehr 
zur  Gewinnung  von  Serum  benutzt. 

Das  Heilserum  ist  bis  jetzt  in  den  Apotheken  noch  nicht  zu  haben. 

Bei  den  Versuchen,  Thiere  gegen  Streptokokken  zu  immnnisiren,  ergab 
sich  die  interessante  Thatsache,  dass  Pferde,  welche  gegen  Diphtherie  immunisirt 
waren , eine  ganz  bedeutende  Unempfindlichkeit  dem  Streptococcus  gegenüber 
zeigten.  Dieser  Umstand  dürfte  vielleicht  dazu  führen,  ein  Heilserum  gegen  die 
häufig  zu  beobachtende  Mischinfection  mit  Diphtheriebacillen  und  Streptokokken 
zu  gewinnen.  Diese  für  die  Praxis  äusserst  wichtigen  Versuche  der  „combinirten 
Immunisirung“  werden  gegenwärtig  noch  im  Institut  Psstecr  fortgesetzt. 

Kionka. 

Stypticin,  Patentschutzname  (E.  Merck)  für  Cotarninum  hydro- 
c hloricum , C,j  Hls  NOä  + HaO.HG'l.  Gelbe,  in  Wasser  und  Weingeist 
leicht  lösliche  Krystalle.  Wird  das  Opiumalkaloid  Narkotin  mit  oxydirenden 
Mitteln  behaudelt,  so  zerfällt  es  in  eine  Säure,  die  Opiansäure  und  eine  Base, 
das  Cotarnin.  Letzteres  ist  nach  seinem  chemischem  Bau  nichts  anderes  als 
ein  Hydrastinin , in  welchen  1 Atom  Wasserstoff  durch  den  Rest  0 . CHS  (Oxy- 
mcthyl)  ersetzt  ist.  Diese  Verwandtschaft  des  Cotarnins  mit  dem  Hydrastinin 
regte  Gottschalk  zur  Untersuchung  an , ob  letzterem  nicht  ebenso  wie  dem 
Hydrastinin  blutstillende  Eigenschaften  zukommen.  Er  fand,  dass  das  Stypticin 
thatsächlich  blutstillend  wirkt  und  gegenüber  dem  Secale  und  der  Hydrastis 
cunadensin  den  Vorzug  einer  gleichzeitig  schmerzstillenden,  beruhigenden, 
schwach  betäubenden  (schlafmnchcndcn)  Nebenwirkung  hat,  welche  gerade  bei 
dysmenorrhoischen  Zuständen  sehr  erwünscht  ist.  Gottschalk  empfiehlt  das 
Stypticin  daher  bei  dysmenorrhoischen  Zuständen  , die  durch  starke  menstruelle 
Blutungen  und  Schmcrzunfälle  während  der  Menses  gekennzeichnet  Bind,  auch 
bei  profusen  Hämorrhagien  ohne  pathologisch-anatomisch  nachweisbares  Substrat, 
wie  man  sie  in  den  Pubertätsjahren  beobachtet , desgleichen  bei  klimakterischen 
Blutungen  und  gegen  Blutungen  bei  fungöser  Endomcntritis.  Myomblutungen 


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582 


STYPTICIN.  — SUGGESTION. 


werden,  falls  sie  nicht  durch  einen  Bubmucösen  Polypen  verursacht,  ebenfalls 
gestillt.  Gute  Erfolge  sah  Gottschalk  auch  in  einigen  Fällen  von  Blutungen 
in  Folge  von  Subinvolutio  uteri  puerperalis  bei  nichUtillendcn  Frauen  oder 
nach  Abortus,  wo  die  Blutung  nur  durch  reine  Atonie,  nicht  durch  Deciduareste 
bedingt  war.  Hingegen  muss  das  Mittel  bei  drohendem  Abort  geradezu  vermieden 
werden,  da  durch  dasselbe  Contractionen  der  Gefässwandung  ausgelöst  werden, 
welche  den  Uterus  anämisch  machen,  was  sehr  oft  indirect  zu  Uteruscontraetiouen 
Veranlassung  gieht ; das  Mittel  dürfte  daher  auch  bei  Blutungen  in  der  Schwanger- 
schaft contraindieirt  sein. 

Falk  spricht  sich  auf  Grund  toxikologischer  Versuche  aus  theoretischen 
Gründen  gegen  die  Einführung  des  Colarnins  in  die  Praxis  aus.  Die  chemische 
Verwandtschaft  des  Cotarnins  mit  dem  Ilydrastinin  berechtigte  allerdings  zur  An- 
nahme einer  blutstillenden  Wirkung,  auch  zeigen  beide  Körper  eine  analoge  Wirkung. 
Jedoch  ein  Mittel,  das  durch  Gefässverengerung  blutstillend  wirken  soll,  muss 
auch  einen  directen  Einfluss  auf  die  Gefässc  oder  auf  das  vasomctrische  Centrnm 
ausüben.  Beide  Wirkungen  fehlen  aber  dem  Cotarnin,  zumal  als  primäre.  Die 
Blutdrucksteigerung,  die  bei  ihm  eintritt,  ist  seenndärer  Natur,  sie  findet  sich 
nur,  sobald  eine  Lähmung  des  Athmungscentrums  beginnt  und  gewöhnlich  erst 
wenige  Minuten  vor  dem  Athmungsstillstand,  wenn  durch  das  an  Kohlensäure 
reiche  Blut  das  vaBometrische  Centrum  gereizt  wird.  Diese  secundäre  Steigerung, 
die  nie  eine  wesentliche  ist,  ist  also  ein  Zeichen  der  Vergiftung  und  nieht,  wie 
die  durch  Hydrastinin  erzeugte,  die  unabhängig  von  Athemnoth  auftritt,  ein 
Zeichen  der  medicamentögen  Wirkung.  Wenn  anderseits,  wie  die  zahlreichen 
Beobachtungen  von  Gottschalk  zeigen,  das  Stypticin  dennoch  bei  Gebärmutter- 
blutungen günstig  wirkt,  so  muss  die  Ursache  hierfür  eine  andere  sein,  vielleicht 
eine  Wirkung  auf  die  Uterusmusculatnr. 

Dosirung.  Innerlich:  Bei  Hümorrhagien  ist  das  Mittel  4 — 5 Tage 
vor  der  zu  erwartenden  Regel  5mal  täglich  in  der  Dosis  von  0,025  Grm.  am 
besten  in  Gelatineperlen  zu  verabreichen;  in  den  ersten  Tagen  der  Blutung  4-  bis 
5mal  täglich  0,05.  Bei  starker  Blutung  empfiehlt  sich  subcutane  Injection  in 
die  Glutäalmusculatur.  Rp.  Stypticin i 1,0,  Aq.  destillatae  10,0.  SDF.  Täglich 
2 Ccm.  in  die  Glutäalmusculatur  zu  injiciren. 

Literatur:  Sigmund  Gottschalk,  Das  Stypticin  (Cotarninum  hydrochloricumj 
bei  Gebürmuttorblutungen  Therap.  Monatah.  1895.  pag.  646  — Edmund  Fatk,  Cotarninum 
hydrochloricum  (Stypticin).  Aus  dem  pharmakologischen  Institut  der  Universität  Berlin. 
Therap.  Monatah.  1896,  pag.  28.  Loebisch. 

Subconjunctivale  Injectionen  von  Medicamenten , s.  Augenheil- 
mittel, pag.  27. 

Suggestion,  Suggestivtherapie.  Die  Literatur  dieses  Faches  nahm 
im  verflossenen  Jahre  einen  sehr  bescheidenen  Umfang  ein , was  sich  wohl  vor- 
wiegend daraus  erklärt,  dass  die  Symptomatologie  des  Hypnotismus  zum  grössten 
Theile  abgeschlossen  ist  und  nunmehr  die  Periode  heranreift,  in  der  die  Forscher 
ihr  Hauptaugenmerk  der  exacten  Analyse  der  einzelnen  Phänomene  zuwenden, 
eine  Aufgabe,  die  naturgemäss  nur  sehr  allntälig  ihrer  Lösung  zugeführt  werden 
kann.  Einen  sichtbaren  Ausdruck  erhielt  dieses  Bestreben  dadurch , dass  das 
deutsche  Fachblatt  sein  Arbeitsprogramm  durch  Einbeziehung  der  Psychophysio- 
logie nnd  Psychopathologie  wesentlich  erweiterte  und  zugleich  vertiefte.  Würden 
die  Grundsätze  der  Programmrede  *)  der  „Zeitschrift  für  Hypnotismus“  zur  allge- 
meinen Richtschnur  dienen , dann  würden  in  Bälde  die  seichten  Auffassungen 
schwinden,  welche  gerade  in  der  bisherigen  Literatur  gang  nnd  gäbe  waren. 
Wir  wollen  einige  besonders  markante  Sätze  hervorheben : „Jedes  einzelne 
hypnotische  Symptom  muss  methodisch  analysirt  werden.  Nach  einer  gründlichen 
Analyse  eines  Phänomens  ist  die  Erklärung  seines  Wesens  dann  aus  jenen  allge- 
meinen Lehren  zu  deduciren,  zu  denen  uns  die  physiologischen  und  ncuropbysio- 


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SUGGESTION. 


583 


logischen  Inductioncn  fuhren.  Eine  derartig  geschaffene  Theorie  des  Hypnotismus 
hat  uns  dann  hinwiederum  bei  unseren  svmptomatologischen  Studien  zu  leiten, 
die  ihrerseits  neue  Stützen  für  unser  psycho-  und  neurophysiologisches  Inductious- 
gebäude  liefern  müssen  ....  Eine  methodische  Symptomatologie,  eine  wissen- 
schaftlich begründete  Theorie  des  Hypnotismus  wird  erst  des  weiteren  seine 
völkerpsychologische  Bedeutung , seinen  juristischen  Werth  in’s  rechte  Licht 

setzen Aber  auch  das  Wechselverhiiltniss  zwischen  Hypnotismus  und 

Psychologie  und  Nerveupliysiologie  macht  sich  noch  weiter  in  der  praktischen 
Anwendung  der  Suggestionstherapie  bemerkbar.  Nur  derjenige  Arzt  kann  ein 
guter  Hypnotiseur  werden,  nur  derjenige  wird  keine  Schädlichkeiten  bei  der 
therapeutischen  Anwendung  des  Hypnotismus  beobachten,  der  psychologisch  ge- 
schult ist.“ 

Es  ist  unleugbar,  dass  seit  dem  Emporblüben  der  Psychotherapie  neue 
kräftige  Anregung  zu  einer  mehr  psychologischen  Vertiefung  des  medicinischen 
Studiums  im  Allgemeinen  gegeben  wurde;  mit  besonderem  Nachdruck  traten  für 
die  Dringlichkeit  dieser  Frage  kürzlich  Forkl  *)  in  seinem  Essay  „Der  Hypno- 
tismus in  der  Hochschule“  und  Navratil  s)  in  seinem  flott  geschriebenen  Werk- 
chen  „Die  Elemente  der  psychischen  Therapie“  ein.  Fokel  ist  der  Ansicht,  dass 
die  Beschäftigung  mit  der  Suggestionstherapie  die  Brücke  von  der  Medicin  zur 
praktischen  Psychologie  schlägt,  denn  gerade  die  Lehre  vom  Hypnotismus  sei 
in  eminenter  Weise  dazu  geeignet,  den  Zusammenhang  der  praktischen  Medicin 
mit  der  Psychologie  darzuthun,  und  empfiehlt  daher  die  Einführung  der  Sug- 
gestionstherapie als  Lehrfach,  eine  Forderung,  die  allerdings  allerorten  heftigen 
Widerspruch  erregen  dürfte.  Freilich  würde  eine  Art  von  systematischen  Unter- 
richts auch  der  Technik  des  Hypnotisircns  sehr  zu  gute  kommen  und  andererseits 
den  Vorwurf  R.  W.  Tatzei/s  *)  illusorisch  machen , der  neuerdings  „dreist  und 
fest“  behauptet,  die  grösste  Anzahl  der  Aerzte  sei  „nur“  deshalb  Gegner  des 
Hypnotismus,  weil  sie  ohne  die  nöthigen  Vorkenntnisse  einige  vielleicht  recht 
ungeschickte  Versuche  gemacht  hätten.  Solche  Vorwürfe  verlieren  zwar  sehr  an 
Bedeutung , wenn  sie  von  einem  Autor  kommen , der  die  BUhnenkunststUckchcn 
eines  Hansen  mit  den  bahnbrechenden  Leistungen  der  CHARCOT’schen  Schule  auf 
eine  Stufe  setzt. 

Von  den  psychologischen  Analysen  des  Hypnotismus,  welche  im  ver- 
flossenen Jahre  versucht  wurden,  steht  unstreitig  die  Abhandlung  Oskar  VOGT’s  l) 
„Zur  Kenntniss  des  Wesens  und  der  psychologischen  Bedeutung  des  Hypnotis- 
mus“ am  höchsten , wie  sich  aus  den  bisher  erschienenen  Abschnitten  ersehen 
lässt  und  bedauern  wir,  dass  dieselbe  zur  Zeit  wegen  ihrer  Unabgeschlossenheit 
im  Referate  nicht  berücksichtigt  werden  kann.  Bergmann  6)  warf  in  dem  Artikel 
„Ist  die  Hypnose  ein  physiologischer  Zustand?“  die  alte  vieldiscutirte  Frage 
auf,  welche  die  Nancyer  Schute  von  der  CHARCOT’schen  trennt,  und  kommt  zum 
Schlüsse , dass  die  Hypnose  nichts  anderes  sei  als  ein  durch  Verbalsuggestion 
herbeigeführter  passiver  Ruhezustand  des  Gehirns,  in  welchem  die  Intensität  der 
eintretenden  Vorstellungen  eine  so  grosse  ist,  dass  sie  sich  ohneweiters  realisiren. 
Die  Hypnose  sei  identisch  oder  ähnlich  dem  normalen  Schlafe  und  besonders 
charakterisirt  durch  Steigerung  der  normal  vorhandenen  Suggcstibilität  infolge 
Ausschaltung  der  Gehirncontrole.  Dasselbe  Thema  behandelte  auch  M.  Hirsch7) 
in  der  Abhandlung  „Ueber  Schlaf,  Hypnose  und  Somnambulismus“.  Dieser  Autor 
kommt  im  Gegensatz  zu  seinen  früheren  Anschauungen  zu  folgenden  Resultaten. 
Bei  etwa  10%  der  Menschen  ist  Schlaf  und  Hypnose  identisch.  Es  sind  das 
solche  Individuen,  welche  beim  ersten  Hypnotisirungsversuch  in  tiefste  Hypnose 
verfallen  und  welche  die  Eigenthümlicbkcit  haben , dass  der  Rapport  auch  in 
ihrem  Schlaf  vorhanden  ist.  Der  Schlaf  dieser  Personen , welche  meist  neuro- 
pathisch  veranlagt  Bind,  besitzt  auch  die  Eigenthümlichkeit  der  Hypnose,  näm- 
lich einseitige  Concentration  der  Aufmerksamkeit.  Anders  bei  den  übrigen.  Hier 
sei  die  Aufmerksam  keit  im  Schlaf  gleichmässig  vertheilt,  sie  sei  deshalb  einer 


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584 


SUGGESTION. 


Concentratinn  und  eines  Rapports  unfähig.  Schlaf  und  Hypnose  ist  demnach  bei 
der  Überwiegenden  Mehrzahl  nicht  identisch.  Die  oben  erwähnten  10%  sind 
zumeist  Degenerirte,  welche  wahrscheinlich  auch  systematischere  Träume  haben. 

In  äusserst  treffender  Weise  subsumirt  Benedikt8)  in  seinem  Werte 
„Die  Seelenkunde  des  Menschen“,  welches  ganz  neue  Perspectiven  eröffnet?  uni 
Jedem  , der  sich  mit  Psychotherapie  befasst , unentbehrlich  ist,  die  hypnotischen 
Phänomene  unter  dem  Begriff  „seelische  Starrezustände“.  Nach  dem  Verf.  stellt 
die  Hypnose  eine  Form  veränderten  Seelenlebens  dar,  die  durch  „Gehirnstarre“ 
bedingt  ist.  Der  idealste  Zustand  dieser  künstlichen  Starre  sei  jener,  bei  dem 
im  Augenblicke  jede  Erregung  fehlt,  aber  die  Erregbarkeit  erhalten  ist.  Dann 
gleiche  das  Gehirn  einem  in  Bezug  auf  die  Entwicklung  und  Leistungsfähigkeit 
fertigen  Kindergehirn,  in  das  die  Anregungen  erst  hingetragen  werden.  „Es 
k (innen  bei  solchen  Menschen  zwangsweise  Vorstellungen,  Empfindungen  und  Be- 
wegungen erzeugt  werden,  in  denen  nur  jene  Theile  erregt  werden,  auf  welche 
der  äussere  Anstoss  hinzielt  und  alle  andern  Theile,  die  stören  oder  hemmen 
können,  in  Starre  verbleiben.“ 

Einen  ähnlichen  Standpunkt  nimmt  Schaffer*)  in  seiner  Studie  „Sug- 
gestion und  Reflex“  ein.  Seine  Auffassung  geht  dahin,  dass  die  Umsetzung  jeder 
auftauchenden  Vorstellung  in  eine  sofortige  Handlung  nur  durch  unmittelbare 
Association  geschehen  könne,  und  da  letztere  nicht  nur  der  Mechanismus  der 
Suggestion  , sondern  zugleich  der  Mechanismus  des  somatischen  Reflexeg  sei , so 
stelle  die  Suggestion  einfach  einen  psychischen , corticalen  Reflex  dar.  Es  ist 
demnach  nicht  die  Suggestion  das  cardinale  Symptom  der  Hypnose,  sondern 
jene  Veränderung  des  Associationsmcchanismus,  welche  in  directcn,  soge- 
nannten primären  Verknüpfungen  sich  mauifestirt.  Die  Suggestibilität  ist  die 
psychische,  sowie  die  neuro-  und  sensomusculäre  Uebererregbarkeit,  die  soma- 
tische Manifestation  des  eingeschränkten  Associationsmcchanismus.  Schaffeb’s 
Arbeit  ißt  deshalb  auch  von  grossem  Interesse,  weil  sie  davon  Kunde  giebt,  dass 
Forel’s  10)  Nachruf  auf  die  Schule  Charcot’s,  „dass  es  seit  Charcot’s  Tod  mit 
seiner  Theorie  des  Hypnotismus  sehr  still  geworden,  und  es  darf  wohl  jetzt  die- 
selbe trotz  einzelnem  Aufflaekern  als  begraben  betrachtet  werden“,  ein  wenig 
verfrüht  war.  Die  sogenannten  somatischen  Phänomene , welche  von  der  derzeit 
dominireuden  Lehre  nur  als  Production  der  Suggestion  aufgefasst  werden,  fanden 
trotz  Moll’s'i)  bedeutsamen  Ausspruchs,  dass  selbst  1000  negative  Resultate 
nicht  im  Stande  sind , ein  positives  Resultat  eines  Beobachters,  wie  Chakcot  es 
war,  nmzustossen,  wenig  Beachtung  und  wurden  trotz  Obersteiner  “),  Freud11), 
HöGYES  und  Lacfenauer’S  Bestätigung  spöttisch  in  die  Rubrik  „Hypnotitme  de 
culture“  eingestellt.  Die  Untersuchungen,  welche  Schaffer  an  hypnotisirten  Hysteri- 
schen anstcllte,  ergaben,  dass  es  bei  manchen  Individuen  möglich  ist,  durch  tak- 
tile oder  sensorielle  Reize  die  willkürliche  Musculatur  in  hochgradige  Contractur 
zu  versetzen,  und  zwar  entstehen  Reflexcontracturen  von  bilateralem  oder  hemi- 
lateralem  (gekreuzt  oder  gleichsinnig)  Typus. 

So  erzeugte  z.  B.  bei  einem  Individuum  von  hemilateralcm  Typus  die 
neben  das  linke  Ohr  gehaltene  Stimmgabel  eine  linkseitige  Contractur;  auf 
Reizung  der  rechten  Zungenhälfte  (Salz  oder  Chinin)  entstand  rechtsseitige,  auf 
gleichzeitige  Reizung  beider  Nasenlöcher  (Essig)  bilaterale  Contractur  etc.  Die 
merkwürdigsten  Resultate  ergab  die  Untersuchung  mit  optischen  Reizen  mittels 
Perimeter  (Kerzenflamme,  weisses  Papierblatt).  Befand  sich  der  Reiz  in  der 
durch  den  gelben  Fleck  vertical  gelegten  Ebene  oder  in  gewissen  Entfernungen 
von  derselben,  so  erfolgte  bilaterale  Contractur.  Wurde  die  am  meisten  periphere 
nasale  Netzhauthälfte  des  rechten  und  die  am  meisten  periphere  temporale  Netz 
hauthälfte  des  liuken  Auges  gereizt,  so  erfolgte  eine  exclusiv  rechte  Hemieon- 
tractur,  während  der  gereizte  periphere  Theil  der  temporalen  Retina  des  rechten 
und  der  nasalen  des  linken  Auges  eine  rein  linksseitige  Hemicontractur  provocirtc. 
Da  diese  Reflexcontracturen  in  beständiger  Form  und  gesetzmässig  erscheinen, 


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SUGGESTION. 


585 


so  benutzt  sie  der  Verfasser  als  Mass,  um  die  Wirkung  gegebener  Suggestionen 
zu  beurtheilen.  Es  zeigte  sich , dass  auf  gegebene  positive  und  negative  Sug- 
gestionen dieselben  Contraeturen  eintraten  wie  nach  den  entsprechenden  physio- 
logischen Reizungen,  wo  jede  Suggestion  ausgeschlossen  war. 

So  interessant  die  Arbeit  Schakeer'S  ist,  so  kann  sie  doch  dem  Ein- 
wand, dass  ihre  Folgerungen  im  Verhältniss  zur  geringen  Anzahl  der  Unter- 
suchten etwas  kühn  sind , schwer  Stich  halten , doch  wird  sie  zu  weiteren 
Forschungen  in  ihrer  Richtung  Anstoss  geben , die  möglicherweise  das  ge- 
steckte Ziel:  Beseitigung  der  antagonistischen  Anschauungen  von  Nancy  und 

Paris  erreichen. 

Unter  deu  Autoren,  welche  an  Stelle  der  bisher  üblichen  neue  exactcre 
Begriffsbestimmungen  zu  setzen  bemüht  sind,  wäre  >1.  Hirsch  '*)  zu  erwähnen. 
Derselbe  unterscheidet  drei  Stadien  der  Hypnose : den  passiven  Ruhezustand  des 
Gehirnes,  welches  der  „Somnolenz“  Forel’s  entspricht,  die  „Schlafillusion“,  die 
„Somnambul-Hypnose“.  In  das  erste  Stadium  gelangen  circa  25°/0,  das  zweite 
erreichen  60%,  das  dritte  10%  der  Personen,  5%  bleiben  refraetär.  „Captiva- 
tion“  nennt  er  jene  Zustände,  in  denen  ein  suggestibles  Individuum  eine  Sug- 
gestion bei  wachem  Bewusstsein  annimmt.  Die  schwierige  Aufgabe , den  Begriff 
„Suggestion“  scharf  abzugreuzen,  suchte  William  Hirsch  in  seiner  polemischen 
Schrift  „Was  ist  Suggestion  und  Hypnotismus  V“  zu  lösen. 

Mit  Recht  hebt  er  hervor,  dass  fast  sämmtliche  Autoren  den  Begriff 
der  Suggestion  als  etwas  Bekanntes  voraussetzend  und  entweder  gar  keine  oder 
eine  Erklärung  geben,  die  mit  der  Auffassung  der  übrigen  in  scharfem  Wider- 
spruch steht.  Die  Gleichstellung  der  Suggestion  mit  BeeinHussung  sei  nichtssagend, 
BkRNHRi m’s  bekannte  Definition  zu  weit.  Hirsch  geht  davon  aus,  dass  zum  Zu- 
standekommen von  Sinnesempfindungen  mehrere  Factoren  nöthig  sind,  die  er  als 
„physiologische  Erreger“  bezeichnet,  nämlich  der  Reiz  an  der  Peripherie,  die 
centripetale  Nervenleitung , die  psychische  Metamorphose  dieses  Vorganges  und 
ein  centrifugaler  psychischer  Vorgang,  die  Aufmerksamkeit.  Vorstellungen  er 
fordern  eine  Reihe  complicirter  psychischer  Momente,  nämlich  vorausgegangene 
Sinnesempfindung , Association , Gedäcbtniss  und  Urtheilsvermögen  , die  er  zu- 
sammen als  „physiologische  Erreger“  bezeichnet.  In  dem  Verhältniss,  in 
welchem  nun  die  Sinnesempfindnng  oder  die  Vorstellung  zu  ihren  „physiologi- 
schen Erregern“  steht,  findet  der  Verfasser  das  Charakteristicum  der  normalen 
und  der  suggerirten  Vorstellung.  Seine  Definition  lautet  nämlich:  Suggestion  ist 
die  Erzeugung  von  Empfindungen,  Stimmungen  und  Vorstellungen,  welche  sich 
zu  ihren  physiologischen  Erregern  in  keinem  adäquaten  Verhältniss  befinden. 
Weiters,  während  für  gewöhnlich  Vorstellungen  durch  Sinnesempfindungen  und 
Wahrnehmungen  gebildet  werden,  handelt  es  sich  hier  um  Erzeugung  von  Wahr- 
nehmungen und  Empfindungen  durch  Vorstellungen.  Abgesehen  von  einzelnen 
Formulirungen , welche  mit  der  hergebrachten  Terminologie  in  Widerspruch 
stehen , Hesse  sich  an  dieser  Definition  aussetzen , dass  sie  die  suggerirte  Vor- 
stellung, unbekümmert  um  ihre  Genese  mit  der  Wahnvorstellung,  einfach  iden- 
tificirt,  ferner  auch,  dass  sie  ein  wesentliches  Moment,  die  leichte  Umsetzung  der 
Vorstellung  in  Handlung,  nicht  berücksichtigt.  Wir  finden  die  Definition,  welche 
Forel  giebt  und  von  Hirsch  gar  nicht  in  Erwägung  gezogen  wurde , bis  jetzt 
am  treffendsten:  „Als  Suggestion  bezeichnet  man  die  Erzeugung  einer  dynami- 
schen Veränderung  im  Nervensystem  eines  Menschen  oder  in  solchen  Functionen, 
welche  vom  Nervensystem  abbängen , durch  einen  anderen  Menschen  mittels 
Hcrvorrufung  der  bewussten  oder  unbewussten  Vorstellung , dass  jene  Verände- 
rung stattfindet  oder  bereits  stattgefunden  hat  oder  stattfinden  wird.“  Um  den 
Begriff  der  Suggestion  von  demjenigen  der  Beeinflussung  des  Menschen  durcli 
andere  Mensehen,  durch  Gedanken , Lcctüre  etc.  abzugrenzen,  fasst  FOREI,  die 
Suggestion  als  intuitive  Beeinflussung,  eine  Erklärung,  der  allerdings  ein 
etwas  mystischer  Beigeschmack  anhaftet. 


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586 


SUGGESTION. 


W.  Hirsch  fordert  mit  Recht  eine  strenge  Trennung  der  Begriffe  Sug- 
gestion und  Beeinflussung,  da  sonst  nur  höchst  widerspruchsvolle  Schlussfolge- 
rungen bezüglich  der  Suggestibilität  gezogen  werden  können.  Berkheim  und 
Krafft-EbiNG  gehören  derselben  Richtung  an;  Rie  verfechten  dieselben  Principien; 
sie  werden  von  den  Suggestionstherapeuten  in  gleicher  \Vei6e  als  Autoritäten 
in’s  Feld  geführt.  Der  Eine  von  ihnen  Ragt:  „Alles,  was  die  Wirksamkeit  der 
Vernunft  verringert.  Alles,  was  die  Hirncontrole  unterdrückt  oder  schwächt, 
erhöht  die  Suggestibilität.“  Der  Andere  hingegen  ist  der  Ansicht,  dass  „je  willens- 
und  denkkräftiger  Jemand  ist,  umso  leichter  ihm  etwas  zu  suggeriren  sei,  und 
dass  gerade  „oberflächliche  und  bomirte“  Menschen  schwer  suggestibel  seien“. 
Bedarf  es  noch  weiterer  Argumente,  nm  die  enormen  Widersprüche  dieser  Lehren 
aufzudecken  ? Der  Verf.  vertritt  die  Ansirht,  dass  die  Suggestibilität  stets  im 
umgekehrten  Verhältniss  zur  Willenstärke  und  geistigen  Gesundheit  steht,  und 
dass  insbesondere  Handlungen . die  als  posthypnotische  Suggestion  aufgefnsst 
werden,  soweit  sie  nicht  Komödie  oder  Ausführungen  infolge  blinden  Gehorsams 
sind  , auf  schwere  geistige  Erkrankung  hinweisen.  „Alle  Bestrebungen , welche 
darauf  gerichtet  sind , die  Suggestibilität  eines  MenRchcn  zu  erhöhen , müssten 
als  schädlich  bezeichnet  werden.“  Wenn  wir  auch  den  entschiedenen  Standpunkt 
des  Verf.  eingehender  hervorheben,  so  wollen  wir  damit  nicht  etwa  die  Neuheit 
desselben  kennzeichnen,  da  alle  diese  Thaten  viel  markanter  in  der  vielbefehdeten 
Schrift  Bf.nedikt’s  ,#)  „Hypnotismus  und  Suggestion“  längst  vertheidigt  wurden, 
wo  der  Satz  „Hypnotismus  ist  eine  Versetzung  in  einen  minderwertbigen 
Zustand“  durch  Beispiele  illustrirt  wurde.  Immerhin  ist  es  werthvoll,  diese 
Grundsätze  nochmals  zusammenfassend  hervorgehoben  zu  haben,  umsomehr  alt 
von  mancher  Seite  kein  Bedenken  geäussert  wird , die  Suggestion  auch  auf 
pädagogisches  Gebiet  zu  übertragen.  Mit  diesem  Streben,  welches  Sommer  gelinde 
als  Utopie  bezeichnet,  beschäftigen  sich  P.  F.  Thomas  ”)  und  Tyko  Brunnbebg.  ,ri 
Des  letzteren  Schrift  „Die  Bedeutung  des  Hypnotismus  als  pädagogisches  Hilfs- 
mittel“, geschmackvoll  mit  dem  Thema  „Menstruationsstöruugen  und  ihre  Be- 
handlung mittels  hypnotischer  Suggestion“  zusammengestellt,  wurde  von  R.  T atz  KL 
aus  dem  Schwedischen  übersetzt.  Obzwar  auch  in  dieser  Schrift  die  farblose 
Auffassung  der  Suggestion  als  psychische  Beeinflussung  vorherrscht , da  nach 
dem  Verf.  daR  ganze  psychische  Geschehen  als  eine  zusammenhängende  Reibe 
natürlicher  Suggestionen  betrachtet  wird , so  ist  dennoch  die  hypnotische  Sug- 
gestion als  pädagogisches  Aushilfsmittel  vorgeschlagen  in  Fällen,  wo  die  physio- 
logische Pädagogik  nicht  ausreicht.  Es  ist  mehr  als  wahrscheinlich , dass  der 
„pädagogische  Hypnotismus“  noch  bei  weitem  grösseren  Widerstand  finden  wird 
als  der  therapeutische,  schon  aus  psychologischen  Gründen. 

Die  criminelle  Bedeutung  der  Suggestion  fand  mehrfache  Erörterung 
pro  und  contra , insbesondere  als  Nachhall  des  Münchener  Proccsses  Czynski- 
Zedlitz,  auf  dessen  eingehende  Darstellung  im  vorjährigen  Berichte  vor  Allem 
verwiesen  sein  soll.  Zur  Ergänzung  seien  noch  einige  Stimmen  angeführt,  welche 
dem  Falle  klärende  psychologische  Beleuchtung  zutheil  werden  Hessen. 

Dahin  gehört  die  Aeusserung  Benkdikt’s  1s),  welcher,  ausgehend  von 
der  Ansicht,  dass  man  durch  Suggestion  Niemanden  zu  einem  wirklichen  Ver- 
brechen und  überhaupt  zu  einem  zusammengesetzten  Denken  und  Fühlen  oder 
zu  einer  zusammengesetzten  Thätigkeit  verleiten  könne,  die  criminelle  Bedeutung 
des  Hypnotismus  völlig  in  Abrede  stellt.  In  diesem  Processe  habe  es  sich  nicht 
etwa  um  die  Frage,  ob  durch  eine  gewaltsame  Schändung  in  der  Hypnose,  wie 
sie  Vorkommen  könne,  ein  Verbrechen  gegen  die  Sittlichkeit  begangen  wurde, 
gehandelt,  sondern  es  sei  vorausgesetzt  worden , dass  man  einer  hypnotisirten 
Person  Liebe  gegen  ihren  Willen  suggeriren  und  sie  so  in  einem  posthypnoti- 
schcn  Zustande  ihres  freien  Willens  berauben  kann.  Nach  dem  Verf.  müsse  jeder 
Menschenkenner  zugeben  , dass  der  Geschlechtstrieb  so  innig  mit  dem  ganzen 
Netze  des  Denkens,  Fühlens  und  der  Thätigkeit  verknüpft  ist,  dass  auch  ein 


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SUGGESTION. 


587 


Shakespeare  als  Hypnotiseur  nicht  alle  Anreize  und  Hemmungen  kennen  würde, 
um  sie  durch  Suggestion  zu  wecken , beziehungsweise  wegznschaffen.  Der  Fall 
lässt  sich,  ohne  Zuhilfenahme  der  Suggestion,  viel  ungezwungener  psychologisch 
beleuchten  und  manches,  was  unmotivirt  erschien,  wird  füglich  seines  mystischen 
Charakters  beraubt,  wenn  man  ein  wenig  Menschenkenntnis  an  wendet,  Rtatt 
durch  die  Brille  suggestiver  Voreingenommenheit  zu  blicken. 

Benedikt  schildert  den  Fall  folgendermassen:  „Eine  Dame  in  der  Nähe 
der  klimakterischen  Jahre,  die  vielleicht  manchesmal  im  Leben  von  Liebesgluth 
durchwärmt  war,  ohne  dass  ihr  ein  Sonnenstrahl  des  Genusses  zuthe.il  wurde, 
leidet  an  einer  Nervosität,  für  die  wir  Aerzte  das  Heiraten  als  specifisches  Heil- 
mittel verordnen , ohne  dass  es  in  unserer  Macht  liegt,  dasselbe  zu  dispensireu. 
Sie  ist  spiritistisch  infirirt,  mit  spiritistischen  Geruchshallucinationen  behaftet,  und 
es  zeigt  von  der  Unklarheit  ihres  Geistes,  dass  sie  sich  sträubt,  Spiritistin  zu 
sein  und  sich  „Spiritualistin“  nennt.  In  dieser  Verfassung  erscheint  ein  Markt- 
schreier und  ganz  gemeiner  Hochstapler,  der  eine  für  sie  neue  Curart , den 
Hypnotismus  und  die  Suggestion  anuoncirt.  Die  Dame  vertraut  sieh  ihm  , den 
sie  für  einen  Arzt  hält,  an,  und  er  hypnotisirt  sie  zweifellos  und  bringt  ihr 
Erleichterung.  Der  Grad  der  erreichten  Hypnose  erzeugt  keine  Bewusstlosigkeit 
und  Gedankenstarre , sondern  bloss  eine  tiefe  Erschöpfung  und  Unbeweglichkeit 
der  Muskeln,  also  einen  Grad , der  auch  nach  meinen  Erfahrungen  bedeutende 
Erleichterung  zu  erzielen  im  Stande  ist.  Die  Verbindung  zwischen  einem  Heil- 
erfolge und  demjenigen,  der  ihn  hervorruft,  ist  ein  inniges  seelisches  Band,  und 
darum  tritt,  wo  überschüssiger  und  unverbrauchter  sexueller  Beiz  vorhanden  ist, 
auch  dieser  in  die  Combination  ein.  Die  Uebersetzung  dieser  Seelencombination 
in’s  Praktische  verhinderte  für  die  Patientin  in  unserem  Falle  anfangs  die  That- 
sache,  dass  Czynski  verheiratet  war.  Als  dieser  Abenteurer  aber  merkte , dass 
er  nicht  ohne  Eindruck  blieb,  machte  er,  um  sein  abenteuerliches  Lebenschiff  in 
einen  sicheren  Hafen  zu  lenken,  einen  Liebesantrag , deutete  die  Möglichkeit 
einer  Verbindung  an , und  fasste  das  mystisch  angehauchte  Opfer  mit  einem 
modernen  Schlagworte:  der  „Seelenrettung11.  Czynski  hat  in  der  „Societe  des 
Sciences  esotheriques“  die  Philosophie  der  Knrtenaufschlägerinnen  mit  mystischen 
Emblemen  aus  Indien  und  Egypten  kennen  gelernt  und  insinnirte  als  indische 
verlorene  Seele  „Punar  Bhava“  seine  „Utsarpini“,  seine  Seelenerrettung.  Er  ver- 
steht es,  sein  Opfer  in  eine  Chambre  separtV  zu  locken,  zu  Falle  zu  bringen  und 
im  Vollgefühle  als  sexueller  Athlet  ist  er  seiner  Sache  für  alle  Zukunft  sicher; 
denn  ein  Mann,  der  mit  der  Farbengluth  voller  sexueller  Befriedigung  und  mit 
dem  Anreize  immer  neuer  Genüsse  in  das  Seelenleben  eines  Weibes  eingetragen 
ist,  wird  aus  demselben  nie  mehr  herausgeschwemmt.  Das  ist  Naturgesetz , das 
die  Erfahrung  unter  oft  unglaublich  scheinenden  Verhältnissen  immer  bestätigt. 
Es  ist  also  psychologisch  vollständig  klar,  dass  das  Opfer  Czynski’s,  auch  nach- 
dem die  Trauungscomödie  entlarvt  war , an  dem  Betrüger  hing.  Die  Freuden 
der  „dtlices  de  la  nuit“  konnte  ihr  der  Vater  und  der  Bruder  nicht  ersetzen. 
Sie  ahnte,  dass  sie  getäuscht  wurde,  aber  die  verbotenen  Früchte  waren  ihr 
süsser  als  die  von  der  gesellschaftlichen  Ehre  ihr  gebotenen  Entbehrungen 
derselben.“ 

William  Hiilsch*0),  welcher  die  Frage,  ob  geistig  gesunde  Menschen 
ihrer  freien  Willensbestimmung  durch  suggestive  Einflüsse  beraubt  werden  könnten, 
in  seiner  Schrift  „Die  menschliche  Verantwortlickeit  und  die  moderne  Suggestions- 
ichre“ behandelt,  meint,  dass  in  dem  ProcesB  Czynski  der  Abs.  2 des  § 176  nur 
dann  hätte  in  Betracht  kommen  dürfen,  wenn  man  annahm,  dass  es  sich  nm 
eine  geisteskranke  Person  handelte.  Die  Schuldfrage  hätte  lediglich  von  der  Con- 
statirung  der  Schwachsinnigkeit  der  Baronin , für  welche  allerdings  mancherlei 
Gründe  sprächen , abhängig  gemacht  werden  sollen.  „Würde  man  andererseits 
annehmen,  dass  die  Baronin  geistig  gesund  sei , so  hätte  Czynski  weiter  nichts 


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588 


SUGGESTION. 


gethan  als  Liebe  geheuchelt,  um  sieh  dadurch  Vortheile  zu  schaffen,  eine  Hand- 
lungsweise , wie  sie  täglich  vorkommt , wie  sie  Jeder  vollfuhrt , der  sich  ohne 
Liebe  aus  materiellen  Interessen  um  ein  Mädchen  bewirbt  und  zur  Erreichung 
seines  Zieles  Liebesempfindungen  simulirt.“  Nach  Hirsch  wäre  in  derartigen 
Fällen  zu  entscheiden,  ob  man  es  mit  einer  Erotomanie  oder  mit  einer  suggerir- 
ten  Liebe  zu  thnn  hat.  Gegen  erstere  spricht  im  Falle  Zedlitz  die  ganze  Art 
des  Verhaltens,  die  Betheiligung  des  sexuellen  Triebes,  sowie  der  Umstand,  dass 
sich  schliesslich  nach  endlicher  Erkennung  des  Betruges  die  Liebe  in  Abneigung 
verwandelte;  ein  suggerirter  Liebeswahn  ist  aber  deshalb  ausgeschlossen , weil 
dieser  sich  nur  in  ganz  vorübergehenden  Aeusserungen  manifestirt,  niemals  cotn- 
plicirte  und  systematisirte  Handlungen  zur  Folge  hat  und  sich  keineswegs  über 
eine  Reihe  von  Monaten  erstreckt.  Wahrhaft  überzeugend  beruft  sich  der  Verf., 
wenn  man  das  Unmotivirte  dieser  Liebe  als  Beweisgrund  für  die  Annahme  einer 
pathologischen  Liebe  benützen  will , auf  die  Scene  zwischen  Richard  III.  und 
Anna : „Oer  Mörder  des  Vaters  und  des  jungen  Gatten  naht  der  Trauernden. 
Sie  flucht  dem  Verhassten,  sie  speit  nach  ihm  — und  doch,  wie  schnell  gelingt 
es  ihm , durch  erheuchelte  Liebesbetbcuerungen  sie  umzustimmen , ihr  Herz  zu 
erweichen.  Hat  vielleicht  Shakespeare  hier  den  Hypnotismus  schildern  wollen, 
oder  war  cs  die  Absicht  des  grossen  Menschenkenners,  ein  Bild  der  weiblichen 
Seele  zu  liefern?“ 

Auch  zu  Pbeykr’s  „merkwürdigem  Fall  von  Faseination“  wurde  mehr- 
mals Stellung  genommen , da  dieser  beweisen  sollte , dass  es  durch  die  grosse 
Macht  des  fascinirendcn  Blickes  und  der  Wachsuggestion  gelingen  könne,  geistig 
gesunde  Menschen  ihrer  freien  Willensbestimmung  zu  berauben.  Es  handelte  sich 
um  eine  junge  Frau,  welche  drei  Jahre  in  glücklicher  Ehe  mit  einem  Herrn  von 
Porta  lebte.  Während  dieser  Zeit  stand  das  Ehepaar  in  sehr  freundschaftlichem 
Verkehre  mit  einem  Herrn  l’ander  und  dessen  Gattin,  mit  denen  Herr  von  Porta 
bereits  vor  seiner  Ehe  befreundet  war.  Nach  Ablauf  dieser  Zeit  bewegt  Pander, 
welcher  Ellida,  der  jungen  Gattin  Porta’s,  in  sehr  eigentümlicher  Weise  Liebes- 
erklärungen machte,  dieselbe  wiederholt  zu  Zusammenkünften,  wobei  die  Ehefrau 
Pander’s  vermittelte.  Hierbei  gelingt  es  Pander,  die  anfaugs  widerstrebende  junge 
Frau  durch  unaufhörliche  Drohungen,  dass  er  ihretwegen  einen  Selbstmord  ver- 
ülien  wolle,  sowie  durch  fascinirende  Blicke  so  unter  seinen  Einfluss  zu  bringen, 
dass  sic  schliesslich  mit  ihm  entflieht,  ohne  eine  Ahnung  davon  zu  haben,  wohin 
es  ginge.  Ohne  irgend  welche  Vorliereitungcn  reisen  sie  nach  Madagaskar,  wo 
sie  ein  halbes  Jahr  verweilen  und  sich  mit  dem  Sammeln  von  Natur-  und  Kunst- 
productcn  beschäftigen.  Nach  Deutschland  zurückgekehrt,  trennt  sich  Ellida  unter 
dem  Einflüsse  ihrer  Mutter  von  Pander  für  kurze  Zeit,  jedoch  nur,  um  bald  darauf 
neuerdings  der  mystischen  Gewalt  Pander’s  zu  unterliegen , der  sie  zur  Flucht 
nach  England  und  zum  Eingehen  einer  Civilehe  mit  ihm  zwingt.  Während  der 
fünf  Jahre  ihrer  gegenseitigen  Beziehungen  soll  es  niemals  zu  sexuellem  Verkehr 
gekommen  sein.  Sie  lebten  „in  getrennten  Stuben“  wie  „Bruder  und  Schwester“ 
nur  ihrer  „idealen  Liebe“.  Als  sic  hierauf  England  verlassen  hatten  und  wieder 
nach  Deutschland  zurückgekehrt  waren,  trennte  sich  Ellida  neuerdings  von  Pander 
und  traf  in  Heidelberg  mit  ihrer  Mutter  zusammen.  Daselbst  wurde  sie  von  einem 
„redegewandten  Assistenzarzt“  in  vierzehn , mehr  als  zweistündigen  Gesprächen 
innerhalb  einer  Woche  von  der  Furcht,  dass  Pander  6eine  Drohungen,  im  Falle 
der  Trennung  einen  Selbstmord  zu  begehen,  zur  Wahrheit  machen  werde,  geheilt 
Sie  halte  den  Glauben  an  ihn  verloren,  weil  er  sich  trotz  seiner  Schwüre  nicht 
erschossen  hatte.  Als  Pander,  der  inzwischen  sechs  Wochen  in  einer  Irrenanstalt 
verweilen  musste , weil  er  durch  sein  sonderbares  Benehmen , seine  unverständ- 
lichen Anzeigen  in  den  Rheinischen  Zeitungen  Befremden  in  weiteren  Kreisen 
erregt  hatte,  die  junge  Frau  auf  dem  Niederwald  bei  Rüdesheim  in  Begleitung 
ihrer  Mutter  wieder  antraf,  hatte  er  jeden  Einfluss  auf  sie  verloren.  Frau 


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SUGGESTION. 


589 


von  Porta  glaubt  nicht  mehr  an  ihn  and  seither  Hess  er  von  seinen  Nach- 
stellungen ab. 

Preyeb  veröffentlichte  diesen  Fall,  um  „die  grosse  Macht  des  fascinirenden 
Blickes  nnd  der  Wachsuggestion“ , sowie  deren  „willenlähmenden  Einfluss“  zu 
beweisen  und  hebt  nachdrücklichst  hervor,  dass  keine  der  betheiligten  Personen 
weder  im  Sinne  des  Gesetzes  noch  nach  ärztlichem  Urtheil  geisteskrank  ist.  Selbst 
Pander  blieb  während  seines  secbswöchcntlichen  Aufenthaltes  in  der  Irrenanstalt 
vollkommen  unauffällig.  Von  den  zahlreichen  Episoden,  in  denen  der  fasciuirende 
Blick  eine  grosse  Rolle  gespielt  haben  sollen , wollen  wir  eine  erwähnen  und 
verweisen  sonst  auf  Pkeyer’s  interessantes  Buch.  So  beschwor  Pander  Ellida  eines 
Tages , ihm  zu  sagen , dass  sie  ihn  lieber  habe  als  Karl , ihren  Gatten.  Ihre 
Weigerung  versetzte  ihn  in  die  höchste  Erregung.  „Also,  Sie  wollen  mich  dem 
sicheren  Tode  überantworten“,  schrie  er  verzweifelt,  „Und  weshalb?  Weil  Sie 
das  kleine  Wort  nicht  sprechen  wollen , um  das  ich  Sie  bat , darum  lassen  Sie 
einen  Menschen  untergeben!“  Sie  blieb  standhaft  und  entgegnetc:  „Sie  können 
doch  unmöglich  von  mir  verlangen,  dass  ich  Ihnen  sagen  soll,  ich  hätte  Sie  lieber 
als  Karl,  nachdem  ich  bis  jetzt  das  Gegentheil  behauptet  habe.“  Da  aber  gerieth 
er  in  masslose  Erregung  und  rief:  „Gewiss  will  ich  das!  Ich  bitte  Sie  kniefällig 
darum , und  wenn  Sie  es  tausendmal  nicht  glauben , ich  bitte  Sie  trotzdem, 
sprechen  Sie  es  aus  oder  l*i  Gott,  das  schwöre  ich  ihnen,  Sie  sind  noch  nicht 
zur  Thür  hinaus  und  ich  existire  nicht  mehr.“  Während  er  sie  mit  „starrem 
Blick“  anstierte,  sprach  die  von  Angst  erfüllte  Frau  die  Worte:  „Ich  habe  Sie 
lieber  als  Karl.“ 

W.  Hirsch  vertritt  in  seiner  obgenannten  Schrift,  in  der  er  auch  diesen 
Fall  eingehend  analysirt,  die  Ansicht,  dass  es  sich  bei  Pander  um  einen  ganz 
typischen  Fall  von  Erotomanie  handle,  während  der  Fran  von  Porta  psychische 
Minderwertigkeit  zugesprochen  werden  müsste.  Aus  den  hypnotischen  Versuchen, 
welche  Preyer  mit  ihr  anstellte,  geht  hervor,  dass  Bie  infolge  ihrer  psychischen 
Schwäche  ausser  der  enormen  Impressionabilität  nnd  Leichtgläubigkeit  einen  ausser- 
ordentlichen Grad  von  Suggestibilität  besass.  Er  hält  die  Vorkommnisse,  wie  sie 
von  Preyer  geschildert  werden,  mit  geistiger  Gesundheit  filr  unvereinbar.  „Weder 
die  Handlungen  Pandcr's,  noch  die  der  jungen  Frau  von  Porta  entsprechen  dem 
Verhalten  geistesgesunder  Menschen.“ 

In  wesentlich  anderer  Beleuchtung  erscheint  der  ganze  Sachverhalt  hin- 
gegen in  der  Darstellung,  die  ihr  Benedikt11)  widmet  und  es  gewinnt  dieses 
Urtheil  umso  mehr  an  Werth,  wenn  man  vernimmt,  dass  dieser  Autor  Gelegen- 
heit hatte,  die  eine  Hauptperson,  Ellida,  persönlich  kennen  zu  lernen.  Nach 
Benedikt  ist  von  einem  psychopathischen  Zustande  bei  den  Personen  in  der 
pREYER’schen  Geschichte  so  wenig  die  Rede  als  von  einer  Beeinflussung  durch  den 
mechanisch-hypnotischen,  fascinirenden  Blick.  Pander  ist  ein  komödiantenhafter 
Geck , der  durch  Gesten  und  Posen  die  Aufmerksamkeit  auf  seine  Person  zu 
lenken  weiss , dessen  Handlungen  von  purer  Eitelkeit  dictirt  sind.  „Vor  Allem 
aber  liebt  er  mit  einer  Art  Leidenschaft  das  Ränkeschmieden,  er  ist  ein  geborener 
„Ränkeschmied“ , der  jene  merkwürdig  verlogene  und  intriguirende  Species  von 
Hysterischen  vertritt,  die  Unheil  und  Unfrieden  in  jeden  Kreis  hineintragen,  in 
dem  sie  erscheinen.  Eine  gewisse  sentimentale  Reizbarkeit  macht  den  Eindruck 
von  Gefühl,  Virtuosität  im  Lügen  and  im  Heucheln  benebelt  die  Erkcnntnisssinne 
der  Umgebung,  bis  Thaten  und  Vorgänge  einen  erschreckenden  Einblick  in 
den  seelischen  Schlammkrater  gewähren.  Die  Haupttaste  auf  der  Claviatur,  auf 
der  er  mit  dem  Glücke  und  dem  Frieden  seiner  Umgebung  spielt,  war  der  Er- 
fahrungssatz.  dass  man  mit  schwachmüthigen  Menschen,  die  keiner  errettenden 
Erregung  und  keines  Entschlusses  fähig  sind,  thun  kann,  was  man  will,  wenn 
man  sie  fortwährend  auf  die  Schneide  von  Situationen  versetzt,  aus  denen  sie 
sich  nur  durch  Willenskraft  retten  können.  Pauder  hat  etwas  vom  phantastischen 


690 


SUGGESTION. 


Zigeuner  an  »ich.  Unruhig,  zu  einer  andauernden,  ernsten  Berufstätigkeit  un 
fähig,  wanderlustig,  erregte  er  den  unbestimmten  Eindruck  eines  ungewöhnlichen 
Menschen.  Schon  als  Ellida  Braut  war,  wusste  er  ihre  Aufmerksamkeit  durch  eine 
fizirende  Gafferpose  an  sich  zu  ziehen,  die  später  als  .Fascination  durch  den 
Blick“  aufgefasst  wurde.  Ellida  hat  ein  Gehirn  ohne  selbstproducirenden  Inhalt.  Sie 
hat  geheiratet  und  hat  geboren,  sie  hat  mit  Pander  als  Frau  und  nach  der  Scheidung 
vom  Manne  jahrelang  ein  Verhältnis  gehabt,  aber  sie  hat  nie  geliebt ! Sie  ist  nie 
corrupt  gewesen,  aber  sie  hat  gelogen,  geheuchelt  und  intriguirt  ....  Xcben 
dem  temperamentlosen  Porta  wird  sie  von  dem  temperamentvollen  Schwätzer 
Pander  iropressionirt.  Jedes  lebende  Gewebe  hat  eine  Spannung  nach  aussen,  einen 
Drang  zur  Function.  Auch  das  träge  Hirn  Ellida's  ist  von  der  Spannung  nicht 
frei  und  Pander  beutet  diese  Spannung  aus.  Ihn  intriguirt  es , dass  ein  schönes 
Weib  einen  Andern  lieber  haben  soll  als  ihn.  Er  spielt  die  Komödie  des  feurigen 
Liebhabers  und  erzwingt  durch  Drohung  mit  Selbstmord  und  Mord , von  Ellida 
die  Aussage,  dass  sie  ihn  lieber  habe  als  ihren  Mann.  Er  hat  Ellida  nie  geliebt 
und  Ellida  ihn  nicht.  Seine  Eitelkeit  und  Ränkesucht  treiben  ihn  zur  Liebes- 
komödie,  und  ohne  Sympathie  für  ihn  spielt  das  gelangweilte  Gehirn  Ellida's 
aus  Drang  zur  Function  den  Liebesroman  ab.  Unter  dem  Einflüsse  der  lutrigue 
und  des  Intriguanten  lügt,  heuchelt  und  betrügt  Ellida,  sie  bricht  ihr  gegebenes 
Wort  zum  wiederholten  Male,  nicht  auf  der  Grundlage  eigener  Verworfenheit  aus 
sieh  heraus,  sondern  hauptsächlich  aus  innerer,  angeborener  Widerstandsschwäche 
gegen  äussere  Anstösse.“ 

Diese  Probe  der  Charakterisirung , welche  Benedikt  auf  alle  Personen 
des  Dramas  ausdehnt,  mag  genügen,  um  zu  beweisen,  wie  leicht  es  ist,  scheinbar 
verwickelte  psychologische  Probleme  zu  klären  , wenn  man  ans  einem  Born  von 
Menschen-  und  Weltkenntniss  zu  schöpfen  itn  Stande  ist.  Freilich,  die  Zuhilfe- 
nahme mystischer  Erklärungsgründe  ist  noch  leichter  und  bequemer! 

Von  den  bisherigen  Processen,  in  denen  der  Hypnotismus  eine  Rolle  hätte 
spielen  sollen:  es  sind  dies  die  Fälle  Bompard  in  Paris,  Czynski  in  München. 
Mac  Donald  im  Staate  Cansas  und  der  Minnesota-Fall,  ist  es  kein  einziger,  wo 
dies  auch  thatsächlich  erwiesen  werden  konnte.  Ueber  die  beiden  letzteren 
finden  sich  mehrere  interessante  Gutachten  in  dem  Organe  der  New-Yorker  Medice- 
Legal  Society.  *’) 

Im  Processe  Gray-Mae  Donald  gab  die  ausserordentliche  Thatsachc,  dass 
nur  der  intellectuelle  Urheber  der  Mordthat  verurtheilt  wurde,  Anlass  zu  der  in 
der  Tagcspresse  vertretenen  Meinung,  dass  das  gerichtliche  Urtheil  auf  der  An- 
nahme stattgefundener  hypnotischer  Suggestion  basire.  Diese  Auffassung  wurde 
aber  vom  Obergerichte  ausdrücklich  zurückgewiesen.  Ebenso  sprach  sich  ein  fran- 
zösisches Gericht  vor  Kurzem  in  einem  Erbschaftsproccsse , wo  ein  Magnetiseur 
beschuldigt  war,  durch  Suggestion  eine  Witwe  derart  beeinflusst  zu  haben,  diss 
sie  ihre  Testament  zu  seinen  Gunsten  abfasste,  dahin  aus,  dass  die  Hypnose  noch 
nicht  den  wissenschaftlich  undiscutirbaren  Charakter  erworben  habe,  der  gestatten 
würde,  daraus  die  Grundlage  für  ein  richterliches  Urtheil  zu  machen.11) 

Von  den  Verfechtern  der  criminellen  Bedeutung  der  Suggestion  wären 
Likbault1*)  und  J.  P.  Durand16)  (de  Gros)  hervorzuheben,  welche  den  Angriff 
Dklboeuf’s,  dass  die  durch  Suggestion  herheigeftlhrten  Verbrechen  .Laboratoriums- 
Verbrechen“  seien,  zurückzuweisen  trachten.  Letzterer  vertritt  die  Ansicht,  dass 
dem  Hypnotiseur  unbeschränkte  Gewalt  über  Gefühle.  Ideen  und  Beschlüsse  des 
Ilypnotisirten  zukomme. 

Die  therapeutische  Verwerthung  der  Suggestion  fand  eine  zusammen- 
hängende Darstellung  durch  C.  Lloyd  Tuckky  •*),  dessen  „Psychotherapie“  von 
Ta  TZ  KL  aus  dem  Englischen  übersetzt  wurde.  Tuckky  steht  auf  dem  Standpunkte 
der  Nanever  Schule,  nur  spricht  er  sieh  für  eine  möglichst  isolirte  Behandlung 
der  Patienten  aus.  Von  seinen  Erfolgen  giebt  folgende  Zusammenstellung  Zeugniss. 


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SUGGESTION. 


591 


Unter  96  Kranken  wurden  40  geheilt,  35  gebessert,  20  blieben  unverändert. 
Davon  entfielen  auf: 


Geheilte 

Gebeanerte 

l’ngeheilte 

8 

Fälle 

von 

chronischem  Alkoholismus 

4 

l 

3 

1 

Nicotin  ismus 

1 

— 

— 

2 

krankhaften  Einbildungen 

1 

1 

— 

7 

a 

Hypochondrie 

1 

3 

3 

4 

schlechten  Gewohnheiten 

2 

2 

— 

1 

Melancholie 

— 

— 

1 

8 

Neurasthenie 

3 

4 

1 

5 

Schlaflosigkeit  

. 3 

2 

— 

1 

krankhaftem  ErrÖthen 

. 

— 

1 

2 

Migräne  

1 

1 

— 

9 

verschiedenen  chronischen  Neuralgien 

4 

3 

2 

2 

Epilepsie 

— 

1 

1 

4 

n 

functioneilen  Lähmungen 

2 

1 

1 

1 

Hvstero-Epilepsie 

1 

— 

— 

3 

* 

Schreibkrampf 

1 

1 

1 

2 

r 

Stottern 

. 

2 

— 

2 

allgemeiner  Chorea 

. 

— 

2 

6 

n 

n 

Dyspepsie 

4 

2 

— 

4 

unregelmässiger  Verdauung 

. 3 

1 

— 

3 

Enuresis 

2 

— 

1 

8 

Menstruationsanomalien 

5 

3 

— 

3 

chronischem  Rheumatismus 

2 

1 

— 

2 

Sklerose 

— 

— 

2 

2 

Tabes 

. 

2 

— 

1 

Hirntumor 

— 

— 

1 

2 

n 

Apoplexie 

— 

2 

— 

2 

n 

» 

Kinderlähmung 

— 

2 

— 

Bechterew  a7)  erörterte  die  Bedeutung 

der  Hypnose  und 

fand  einen 

besonders  günstigen  Einfluss  bei  Nervenleiden,  die  nicht  durch  organische  Läsionen 
bedingt  sind , z.  B.  hysterischen  Convulsionen,  Paralysen  und  Contracturen,  bei 
Parästhesien , Hyperästhesien  und  Neuralgien , allgemeiner  Nervenerregbarkeit, 
Schwindel,  Kopfschmerz,  Alterationen  der  Herz-  und  Athmungthätigkeit,  nervösem 
Asthma,  Erbrechen,  Enuresis  nocturna,  Appetit-  und  Schlaflosigkeit,  Menstruations- 
störungen. Besonders  bemerkenswert!!  sind  unter  seinen  angeführten  Beispielen 
die  wenigstens  zeitweilige  Beseitigung  von  krankhaften  Trieben  (Alkoholismus, 
Kleptomanie)  und  von  Zwangsvorstellungen.  Namentlich  bei  letzteren  soll  die 
Hypnose  die  besten  Resultate  geben. 

Dagegen  empfehlen  andere  Autoren , wie  Galdi  Rakfaeli  ä8) , die  in 
jedem  Falle  modificirte  Wachsuggestion.  Dieser  Autor  berichtet  über  einen  Fall 
von  hysterischer  Psychose.  Die  Kranke  hatte  die  fixe  Vorstellung,  dass  sie  nur 
durch  einen  „Spiritisten“,  der  ihr  die  Schlangen  aus  dem  Körper  nehme,  geheilt 
werden  könnte  und  genas  auch  thatsächlich  dadurch,  dass  eine  als  Zauberer  ver- 
kleidete Person  allerlei  Hokuspokus  trieb  und  ihr  bei  magischer  Beleuchtung 
endlich  eine  im  Aermel  verborgene  Eidechse  aus  dem  Munde  zog. 

Ueber  den  Grad  und  die  Tiefe  der  anzuwendenden  Hypnose  schwanken 
die  Autoren,  doch  rüth  Grossmaxn  zur  oberflächlichen  Hypnose,  weil  sich  der 
Therapeut  sonst  eines  mächtigen  Factors  zum  Gelingen  der  Cur  begebe,  der  Mit- 
hilfe des  Patienten.  Sehr  empfehlenswert)!  ist  ferner  die  Mahnung  Ringier’s  a“), 
durch  die  Suggestion  nicht,  wie  es  meist  geschieht,  das  Denken  auf  ein  Symptom 
zu  concentriren,  sondern  im  Gegentheil  durch  Erklärung  des  ganzen  Zusammen- 
hanges der  Einwirkung  des  angewöhnten  falschen  Denkens  mit  dem  Leiden  das 
selbe  abzulenken. 

T atz ki,  »°)  sieht  die  Ursache  der  ihm  rüthselhaft  erscheinenden  That- 
sache , dass  der  Werth  des  therapeutischen  Hypnotismus  noch  immer  so  sehr 
verkannt  wird,  trotz  der  glänzenden  Berichte  Liebault’s,  Bernheim's,  Wettkr- 
straxd’s,  Forel’s  u.  A.  lediglich  darin,  weil  die  meisten  Aerzte  nicht  einsehen 
wollen,  dass  mau  den  therapeutischen  Hypnotismus  wie  jede  Kunst  erlernen  muss, 


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592 


SUGGESTION. 


und  weil  sie  sich  ohne  die  nöthigen  Vorkenntnisse  nach  einigen  vielleicht  recht 
ungeschickten  Versuchen  an  die  schwersten  Fälle  heran  wagen.  So  berechtigt 
manche  seiner  Bemerkungen  sind,  darf  doch  nicht  übersehen  werden,  dass  gerade 
unter  den  heftigsten  Gegnern  der  therapeutischen  Verwendung  der  Hypnose  Männer 
sind,  welche  sich  seit  langer  Zeit  und  früher  als  einige  der  derzciten  Verfechter 
mit  dieser  Art  der  Therapie  beschäftigten.  Wie  sehr  eg  auch  auf  das  Milieu  an- 
kommt, beweist  wohl  nichts  mehr  als  eine  kürzlich  gefallene  Aeusserung 
v.  Khafft-Ebing’s  *>),  die  ein  recht  interessantes  Licht  auf  den  absoluten  Werth 
der  Suggestionstherapie  wirft:  „Am  allerfatalsten  ist  es,  wenn  der  hypnotische 
Eingriff  absolut  wirkungslos  bleibt  — die  besonders  leichte  und  jeweils  zu  ge- 
wftrtigende  Hypnotisirbarkeit  hysterischer  Kranker  trifft  nach  meinen  Erfahrungen 
keineswegs  zu  — womit  der  Arzt  nothwendig  empfindlich  an  seinem  Prestige 
dem  Kranken  gegenüber  einbfisst,  oder  wenn  bei  jedem  hypnotischen  Versuch  der 
Kranke  darauf  mit  neuerlichen  Anfällen  seiner  Krankheit  reagirt  und  innerhalb 
solcher  hypnotischer  Beeinflussung  gegenüber  erst  recht  sich  refraetär  zeigt.  Solche 
Erfahrungen  sind  in  den  letzten  Jahren  in  meiner  Klinik  geradezu  die  Regel. 
Zum  Theil  lassen  sie  sich  auf  durch  vermeintlich  autoritative,  den  Unwerth  und 
selbst  die  Gefahr  hypnotischer  Behandlung  behauptende  Suggestionen,  welche  dem 
Wiener  Publicum  zutheil  wurden , zurückführen.  Jedenfalls  besteht  in  dieser 
Hinsicht  ein  grosser  Unterschied  zwischen  Wien  und  Nancy !“  Ausserdem  darf 
auch  nicht  übersehen  werden , dass  mancher  der  angeblich  schönen  Erfolge  auf 
ein  Minimum  zusammenschrumpfen  würde,  wenn  eine  genügend  lange  Beob- 
achtungszeit zum  Massstab  der  Beurtheilung  angewendet  würde,  was  nament- 
lich bei  Füllen  von  Morphinismus  und  perversen  Trieben  gilt.  Bcispielweise  ist 
die  Beobachtungszeit  ia  den  bisher  von  v.  Schrknck-Notzing  *j)  veröffentlichten 
Fällen  von  conträrer  Sexualempfindnng,  bei  denen  so  überraschende  Erfolge  an- 
geführt werden,  dass  sich  der  Autor  sogar  gegen  die  Ansicht  v.  Kkafft  Ebinu’S 
über  die  Genese  der  Perversitäten  aussprechen  zu  dürfen  glaubt,  viel  zu  kurz. 
In  der  That  kommt  auch  ein  anderer  Autor51)  in  verwandten  Fällen  zu  einem 
anderen  Rcsumö. 

Von  den  erfreulichen  Resultaten  der  Suggestionstherapeuten  wären 
namentlich  die  Erfolge  bei  Byaterin  yravis  (2  Fälle  v.  Krafft-Ebixg's),  bei 
chronischen  Gelenksaffectioncn  (Grossmann  *‘)  und  die  Heilung  von  chronischem 
Morphinismus,  Cocainismus  und  Chloralismus  (Wkttf.rstkand  5I')  bemerkenswerth. 

Grossmaxn  54)  behandelte  eine  Reihe  von  Fällen  chronischer  Gelenks- 
krankheiten , besonders  gichtischer  und  rheumatischer  Natur,  suggestiv  mit  so 
ülierraschcndem  Erfolge,  dass  nach  seiner  Meinung  nicht  blos  von  symptomatischer 
Therapie  die  Rede  sein  kann.  Er  beseitigte  nicht  allein  den  Schmerz,  sondern 
auch  die  Schwellungen.  Durch  Wegsuggeriruug  der  Schmerzen  werde  die  Functions- 
fähigkeit und  die  hierdurch  mögliche  Bewegung  erzielt , die  wesentlich  zur 
schnelleren  Resorption  der  Exsudate,  zur  Lockerung  der  Adhäsionen  etc.  beitrage. 
Besonders  imponirt  auch  ein  Casus  von  gonorrhoischer  Gelenkschwellung ! 
I)a  GkosbmaNN  S Darstellung  einige  neue  Gesichtspunkte  enthält,  welche  der  all- 
gemeinen Kenntnissnahme  werth  sind , seien  folgende  Sätze  mitgetheilt : „Ich 
zwinge  das  Gehirn,  die  Schmerzempfindung  anders  als  bisher,  nach  aussen  zu 
projiciren , sie  in  der  Peripherie  anders  zu  localisiren  und  schliesslich  gänzlich 
zu  exteriorisiren,  worauf  ich  das  Schwinden  der  Schmerzen  suggerire.  Und  das 
mache  ich  so:  Ich  hebe,  an  der  schmerzenden  Stelle  mit  meinem  Finger  möglichst 
tief  eingehend,  die  Weichtheile  zu  einer  Falte  auf  und  suggerire  zunächst  unter 
gelindem  Druek  an  der  Basis  der  Falte,  dass  diese  heftig  weh  thue  . . . Das 
Gehirn  des  Patienten  lenkt  nun  sofort  seine  Aufmerksamkeit  auf  den  nenen 
Schmerz,  und  da  es  bekanntlich  nicht  zwei  Empfindungen  zu  gleicher  Zeit  ver- 
arbeiten kann,  geht  dem  Patienten  der  erste  Schmerz  aus  dem  Bewusstsein.  Ich 
ziehe  nun  nach  einigen  Secuuden,  mit  dem  Druck  allmälig  naclilassend,  die  Weich- 
thcilfaltc  durch  meinen  Finger,  suggerire,  dass  der  Schmerz  allmälig  nachlasscnd, 


SUGGESTION. 


593 


bis  in  die  Haut  hineinzflge  und  nun  loslasscnd,  dass  der  Schmerz  sich  nach  aussen 
verflüchtige.“  Interessant  ist  auch  die  Art,  wie  die  Gelenkse.hwellung  beseitigt 
wird.  „Man  suggerire,  am  besten  unter  Auflegen  der  Hand  auf  das  kranke,  ent- 
blösste  Gelenk , dass  die  von  der  Hand  ausgehende  Wärme  die  Geschwulst  ver- 
theile, oder  man  macht  einige  leichte  massirende  Bewegungen,  Streichungen,  mit 
denen  mau  die  Geschwulst  wegdrückt  u.  dcrgl.  m.“  Namentlich  letztere  Mani- 
pulation ist  darnach  angethan,  zu  erweisen,  welchen  Autosuggestionen  (?)  die  Ver- 
treter der  Massage  unterworfen  sind , da  Gkosshann  den  „leicht“  massirenden 
Bewegungen  und  Streichungen  ja  keine  Bedeutung  zuschreibt ! 

Ueber  0.  Wetterstkand’s  *5)  Resultate  giebt  folgende  Tabelle  rasche 
Uebersicht : 


Männer 

Frauen 

Summe 

Ge- 

storben 

Keine 

Wirkung 

Rcci- 

dive 

Gesuod 

Morphinismus , bei  dem  das  Mor- 
phium subcutan  angewendet  wurde 

IG 

22 

38 

2 

5 

3 

- 

28 

Morphinismus,  bei  dem  das  Mor- 
phium innerlich  genommen  wurde 

i 

2 

3 

_ 

_ 

1 

2 

Morphinismus  und  Alkoholismus 

i 

— 

1 

— 

- 

1 

Morphinismus  und  Cocainismus  . 

2 

1 

3 

l 

i 

1 

Cocainismus 

1 

— 

1 

— 

— 

— 

1 

Opium  innerlich 

— 

4 

4 

— 

— 

1 

3 

Chloralismus 

— 

1 

1 

— 

— 

— 

1 

Summe  .... 

21 

30 

51 

3 

6 

5 

37 

Ausser  diesen  analysirt  Wetterstrand  noch  eine  Anzahl  sehr  bemerkens- 
wertlier  Fälle,  indem  es  ihm  trotz  anscheinender  Aussichtslosigkeit  gelang,  den 
oft  viele  Jahre  bestehenden  Morphinismus  für  immer  zu  beseitigen  und  die  Leiden 
der  Abstinenzzeit  auf  ein  Minimum  zu  reduciren.  Besondere  Berücksichtigung 
verdient  es,  dass  er  davor  warnt,  in  solchen  qualvollen  Krankheiten,  wo  ein 
rasches  Ende  nicht  zu  erwarten  steht,  zu  narkotischen  Mitteln  zu  greifen, 
bevor  man  sich  vergewissert  hat,  dass  die  suggestive  Behandlung  wirkungslos  ist. 
Diesen  Satz  illustrirt  auch  ein  Fall  Tatzel's,  in  dem  bei  Nierencarcinom  die 
Suggestion  zum  Zweck  der  Euphorie  und  Euthanasie  mit  Erfolg  benützt  wurde. 
Tatzel  **)  veröffentlicht  eine  reiche  Casuistik  (Hysterie , clonischer  Krampf  der 
rechten  Armmusculatur,  die  Accessoriusmusculatur , traumatische  Neurose,  Dipso- 
manie, Enuresis,  chronischer  Rheumatismus  u.  a.). 

G erster  5I)  berichtet  über  eine  hysterische  Contraotur,  Kaudkks  *a)  über 
eine  eomplete  Lähmung  des  rechten  Armes,  welche  durch  hypnotische  Suggestion 
beseitigt  wurde.  Ebenso  theilen  Oetker59)  Heilerfolge  der  Suggestionstherapie 
bei  Krampfweheu , Tyko  Brunsberg  18)  bei  Menstruationsanomalien  mit.  Fkan- 
cotte  40)  kam  bei  einer  „hysterischen  Taubstummheit“  durch  Wachsuggestion  zum 
Ziele.  Ein  35jähriger  Arbeiter  erkrankte  im  Anschluss  an  heftigen  Schrecken 
an  völliger  hysterischer  Stummheit,  welche  die  seltene  Complication  mit  hysteri- 
scher Taubheit  zeigte.  Energische  Suggestion  im  wachen  Zustande  beseitigten 
jedoch  rasch  die  „Taubstummheit“.  Eine  höchst  interessante  Krankengeschichte 
eines  „durch  Spiritismus  erkrankten  und  durch  Hypnotismus  geheilten“  Patienten 
publicirte  Forel.  *')  Es  handelte  sich  hier  nicht  allein  um  Hallucinationen,  son- 
dern auch  um  ein  suggestiv  und  autosuggestiv  entstandenes  Wahnsystem.  Das 
Resumfe  Forkl’s:  „Es  wäre  wirklich  interessant,  radieale  hypnotische  Curen  bei 
den  zahllosen,  von  den  Spiritisten  zu  Gewohnheits  Hallucinanten  gemachten  Gläu- 
bigen systematisch  vorzunehmen“ , erscheint  förmlich  wie  ein  Protest  gegen  die 
aufdringliche  und  allzufrüh  triumphirende  Aeusserung  des  occultistischen  Führers 
DU  PREL,  welche  in  folgende  Worte  ausklaug:  „Hypnotismus,  Somnambulismus 
und  Spiritismus  sind  nur  durch  ganz  flüssige  Grenzen  getrennt ; wer  also  durch 
das  hypnotische  Eingangsthor  tritt,  wird  schliesslich  beim  Spiritismus  anlangen.“ 
Encyclop.  Jahrbücher.  VI.  33 


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594  SUGGESTION.  — SYPHILISCONTAGIUM. 

Literatur:  *)  0.  Vogt,  Zeitschr.  f.  Hypnotismus.  3-  Jahrg. , Schluss.  Zum  Pro- 
gramm. — *i  Forel,  Der  Hypnotismus  in  der  Hochschule.  Zeitschr.  f.  Hypn.  IV,  Heft  1.  — 
*)  Navratil,  Die  Elemente  der  psychischen  Therapie.  Wien  1695.  — 4)  R.  W.  Tatzel, 
Warum  wird  der  Werth  des  therapeutischen  Hypnotismus  noch  immer  so  wenig  erkannt?  Zeit- 
schrift f.  Hypn.  IV,  Heft  ].  — 6)  0.  Vogt,  Zur  Kenntnis**  des  Wesens  und  der  psycho- 
logischen Bedeutung  des  Hypnotismus.  Ebenda.  111,  Juli.  IV,  Heft  1.  — *)  Bergmann,  Ist 
die  Hypnose  ein  physiologischer  Zustand?  Ebenda.  März -April  1895.  — 1 1 M.  Hirsch, 
Ueber  Schlaf,  Hypnose  und  Somnambulismus.  Deutsche  med.  Wochcnschr.  1895,  Nr.  36  — 
b)  Benedikt,  Die  Seelenkunde  des  Menschen  als  reine  Krfahningswissenschaft.  Leipzig  1895.  — 
9)  Schaffer,  Suggestion  und  Retlex.  Jena  1895  — Forel,  Der  Hypnotismus.  3.,  verb. 
Aufl.,  Stuttgart  1895.  — n)Moll,  Der  Hypnotismus.  1894.  — '*)  Oberateiner,  Die  Lehre 
vom  HypnotismuB.  Wien  und  Leipzig  1893.  — 1S)  Bern  heim,  Die  Suggestion  und  ihre  Heil- 
wirkung. Uebersetzt  von  Freud,  Wien  1893.  Einleitung.  — ,4)  M.  Hirsch,  Zur  Begriffs- 
bestimmung der  Hypnose.  Deutsche  Med.-Ztg.  1895,  Nr  91.  — *9  William  Hirsch,  Was 
ist  Suggestion  und  Hypnotismus.  Berlin  1896-  — 14)  Benedikt  , Hypnotismus  und  Suggestion. 
Leipzig  und  Wien  1894.  — ,J)  P,  F.  Thomas,  La  Suggestion,  son  röte  dans  l'education 
Paris  1895.  — I81  Tyko  Brunnberg.  Menstrnationsstbrungen  und  ihre  Behandlung  mittels 
hypnotischer  Suggestion.  Die  Bedeutung  des  Hypnotismus  als  pädagogisches  Hilfsmittel.  Ans 
dem  Schwedischen  von  Dr.  R.  Tatzel.  Autorisirte  Ausgabe.  Berlin  1896.  — *•)  Benedikt. 
Process  Czynski.  Wiener  med.  Wochensehr.  1895,  Nr.  9.  — f0)  William  Hirsch.  Die 
menschliche  Verantwortlichkeit  und  die  moderne  Suggestionslehre.  Eine  psychologisch-forensische 
Studie.  Berlin  1896.  — **)  Benedikt,  Ein  Ehehrucüdrama  in  hypnotischer  Beleuchtung.  Offener 
Brief  an  Herrn  Prof.  Dr.  W.  Preyer.  Sonderabdruck  aus  der  Wiener  med.  Wochenachr.  1693. 
Nr  VO.  — **)  The  Medico-Legal  Journ.  Juni  1895,  XIII.  Nr.  1.  — *a)  La  Suggestion  et  l’hypno- 
tistne  en  matiere  de  t es  tarnen  t.  Revue  de  l'Hypn  X,  Heft  1.  — *4)  Licbault,  Criminelle 
hypnotische  Suggestionen.  Zeitschr.  f.  Hypn.  Juni  1895.  — 3i)  J.  P.  Durand  (de  Gros).  Suy 
gestions  hypnotiques  criminelles.  Revue  de  l’Hypn.  X,  Heft  1,  — *€)  Psychotherapie  oder 
Behandlung  mittels  Hypnotismus  und  Suggestion,  von  C.  Lloyd  Tuckey.  Aus  dem  Englischen 
von  Dr.  med.  Tatzel.  Neuwied  1895,  Heuser* 8 Verlag.  — 3,J  Bechterew,  Die  Hypnose  und 
ihre  Bedeutung.  Sep.-Abdr.  der  therap  Wochen  sehr.  1895,  Nr.  2 ff.  — ,B)  Galdi  Raffaeli, 
La  Suggestion e nello ßsicoterapia.  11  Manicomio  moderne.  1894,  X,  Heft  3,  pag.  315.  — **)  Rin* 
gier.  Einige  Betrachtungen  zur  Suggestivbehandlung.  Zeitschr.  f.  Hypn.  3.  Jahrg.  — *•)  R.  W. 
Tatzel.  Warum  wird  der  Werth  des  therapeutischen  Hypnotismus  noch  immer  so  wenig  er- 
kannt? Ebenda.  IV,  Heft  1.  — **)  R.  v.  Krafft-Ebing,  Zur  Suggestivhehandlnng  der 
fiysteria  gratis.  Ebenda.  IV,  Heft  1.  — 3S)  Freih.  v Schrenck -Notzing,  Ein  Beitrag 
zur  Aetiologie  der  eonträren  Sexualempflndnng.  Wien  1*95.  — 33)  Havelock  Elliä,  Sexual 
Inversion  in  tromen.  Reprint  from  the  Alienist  and  Neurologist.  St.  Louis.  April  1895.  — 
34)  Grossmann  . Zur  suggestiven  Behandlung  der  Gelenkkrankheiten.  Zeitschr.  t'.  Hypn.  111.  — 
•*)  0.  Wetterstrand.  Die  Heilung  des  chronischen  Morphinismus , Opiumgenusses,  Cocai- 
nismus und  Chloralismns  mit  Suggestion  und  Hypnose.  Ebenda.  IV,  Heft  1.  — *•)  Ebenda. 
3.  Jahrg.,  1895.  — **)  Gerster,  Ein  Fall  von  hysterischer  Contractur  Ebenda.  3-  Jahrg. 

Kaudors,  Hypnotische  Behandlung  eines  Falles  von  complcter  Lähmung  des  rechten 
Annes.  Wiener  med.  Wochenschr.  1895,  Nr.  9.  — 39|  Oetker,  Die  Behandlung  der  Krampf- 
wehen  durch  Verbalsuggestion.  Deutsche  Med.-Ztg.  1895,  Nr.  47.  — 40)  Franco tte,  Surdi’ 
mutitt  hystfrique  gudrie  jutr  Suggestion  a l'itat  de  veille.  Cit.  nach  Pentralbl.  f.  Xervenh 
und  Psych.  VI.  pag.  148.  — 4l)  Forel,  Durch  Spiritismus  erkrankt  und  durch  Hypnotismus 
geheilt.  Zeitschr.  f.  Hypn.  3.  Jahrg.  Max  Neubörger  (Wien). 

Sulfate,  bei  Carboivergiftung,  pag.  68. 

Syphiliscontagium.  Während  durch  die  Untersuchungen  , welche  in 
den  letzten  Jahren  vorgenommen  wurden , der  Erreger  des  local  bleibenden 
Schankergeschwüres  in  der  Gestalt  des  DuCREY- K KRFTINC .'sehen  Bacillus  bekannt 
w urde,  haben  die  bisherigen  bakteriologischen  Untersuchungen  über  die  Wesen 
heit  des  Syphilisgiftes  keinen  Aufschluss  gebracht,  und  kann  man  nur  das  Eine 
sagen , dass  trotz  der  Arbeiten  Lcstgartex’s  und  Gollasch’s  die  Entdeckung 
des  Syphil  »-Mikroorganismus  noch  immer  aussteht.  Alles  das,  was  wir  über  das 
Syphilisgift  heute  wissen,  ist  einzig  und  allein  auf  klinische  Erfahrung  und  anf 
Analogieschlüsse  gegründet.  Ich  habe  es  mir  zur  Aufgabe  gemacht,  in  den  nach- 
stehenden Zeilen  in  Kürze  die  jetzt  herrschenden  Anschauungen  zu  skizzirvn  und 
über  das  Syphilisgift  dasjenige  auszuspreehen,  was  sich  meiner  Meinung  nach  Ober 
dasselbe  auf  Grundlage  der  klinischen  Wahrnehmungen  sagen  lässt.  Alle  An- 
schauungen stimmen  darin  überein , dass  der  Syphilis  eiu  Contagium  animatum 
zu  Grunde  liege,  ln  anderer  Beziehung  gehen  aber  die  Anschauungen  in  *wei 
Richtungen  auseinander.  Die  eine  Richtung  betrachtet  die  Gesammtsumme  der 


SYPHILISCONTAGIUM. 


595 


auf  der  Haut  und  Schleimhaut  zu  Tage  tretenden  Erscheinungen  als  directe  Aeusse- 
rung  des  Syphilis-Mikroorganismus,  während  eine  zweite  Anschauung  eine  Reihe 
von  an  der  Haut  und  Schleimhaut  zu  Stande  kommenden  Symptomen  nicht  als 
eine  directe  Wirkungsäusserung  des  Syphilis-Mikroorganismus,  sondern  der  Toxine 
desselben  auffasst.  Diese  zweite  Anschauung  will  das  Zustandekommen  der  Immu- 
nität des  einzelnen  Individuums  gegen  die  Svphilisinfection  aus  der  Wirkung  der 
Toxine  auf  den  Gesammtorganismus  ableiten.  Die  letztere  Ansicht  wird  namentlich 
von  Finger  , Düring  u.  A.  sehr  eifrig  vertreten.  Ich  will  gleich  hier  bemerken, 
dass  ich  für  meine  Person , mich  dieser  Anschauung  wegen  des  Ergebnisses  der 
klinischen  Beobachtungen  und  wegen  der  Ergebnisse  der  pathologisch-anatomischen 
Untersuchungen  nicht  vollinhaltlich  anzuschliessen  in  der  Lage  bin , insoferne 
dieselbe  bestimmte  Syphilissymptome,  welche  der  Spfitperiode  angehören,  als  durch 
die  Toxine  bedingt  hinatcllt.  Wie  soll  man  sich  nun  die  Einwirkung  des 
Syphilisgiftes  auf  den  menschlichen  Organismus  vorstellen?  H.  Zeissl  und  ich 
haben  uns  an  auderen  Orten  schon  dahin  geäussert,  dass  das  Syphilisgift  zu- 
nächst an  irgend  einer  Stelle  des  menschlichen  Körpers  eindringt  und  dass  das- 
selbe von  der  Eintrittsstelle  ans  allmälig  sowohl  auf  dem  Wege  der  Lymph- 
als  Blutbahnen  in  den  Gesammtorganismus  gelange.  Es  wird  sich  nun  zunächst 
an  der  Eintrittsstelle  die  erste  Einwirkung  des  Syphilisgiftes  in  Form  der 
syphilitischen  Initialsklerose  äussern , weil  an  dieser  Stelle,  wo  direct  die 
Mikroorganismen  deponirt  werden , sich  dieselben  unter  günstigen  Bedingungen 
am  raschesten  vermehren  und  daher  am  raschesten  ein  Product  der  Syphilis, 
das  unserem  Auge  und  Tastgefilhl  sinnfällig  ist,  hervorrufen  können.  Diese  erste 
Erscheinung  bezeichnen  wir  als  syphilitischen  Primäraffcct.  Derselbe  pflegt  in 
der  Regel  schon  am  12.  oder  15.  Tage  von  der  Iufection  an  ausgebildet  zu  sein. 
Längere  Zeit  wird  es  nun  dauern,  bis  die  Mikroorganismen  im  Körper  eine  der- 
artige Vermehrung  erfahren  haben,  dass  sie  im  Stande  sind,  an  der  allgemeinen 
Decke  oder  an  der  Schleimhaut  Erscheinungen  der  Syphilis  hervorzurufen.  Den 
Zeitraum,  welcher  zwischen  dem  Sichtbarwerden  des  syphilitischen  Primäraffectes 
und  zwischen  dem  Auftreten  der  ersten  allgemeinen  Erscheinungen  verstreicht, 
bezeichnet  man  als  zweite  Incubationsperiode.  Dieses  Auftreten  der  ersten  allge- 
meinen Erscheinungen  eines  maculo-papulösen  oder  papulösen  Syphilides  pflegt  in 
der  Regel  von  einer  Reihe  anderer  Symptome , wie  Fieberbewegungen , heftigen 
Kopfschmerzen,  Erhöhung  der  Reflexe  etc.,  begleitet  zu  sein. 

Es  drängt  sich  nun  die  Frage  auf,  ob  diese  Erscheinungen  als  eine 
directe  Aeusserung  des  Syphilis- Mikroorganismus  aufzufassen  sind  oder  ob  diese 
FieborbcwegungeD,  sowie  die  Kopfschmerzen,  die  Abgeschlagenlieit,  die  Vergrösse- 
rung  der  Milz  möglicherweise  nur  auf  Rechnung  der  von  den  Mikroorganismen 
producirtcn  Toxine  zu  setzen  seien.  Diese  Frage  wird  sich  heutzutage  wohl 
kaum  mit  Sicherheit  entscheiden  lassen.  Was  die  oft  so  quälenden  Kopf- 
schmerzen anlangt,  so  dürften  dieselben  wohl  auf  eine  andere  Weise  ihre  Erklä- 
rung finden,  als  durch  die  Production  reichlicher  Toxine.  Wir  wissen,  dass  das 
Auftreten  der  heftigen  Kopfschmerzen  der  Eruption  eines  Syphilides  an  der  all- 
gemeinen Decke  vorausgeht  oder  mit  dieser  zusammenfällt , wir  wissen , dass 
namentlich  bei  papulösen  Syphiliden  und  speciell  beim  klein-papulösen  Syphilid 
mit  besonderer  Vorliebe  sich  papulöse  Efflorescenzen  an  der  Iris  entwickeln 
können,  mit  einem  Worte,  dass  eine  Iritis  specifica  mit  besonderer  Vorliebe  das 
klein-papulöse  Syphilid  begleitet.  Schon  II.  Zeissl  hat  darauf  hingewiesen  , dass 
die  Pia  mater  in  ihrem  histologischen  Baue  eine  grosse  Aehnlichkeit  mit  der 
Iris  besitze,  und  es  läge  daher  nahe  anzunehmen,  dass,  wenn  sehr  heftige  Kopf- 
schmerzen bestehen,  diese  dadurch  veranlasst  werden,  dass  sich  an  der  genannten 
Hirnhaut  ähnliche  Vorgänge  abspielen,  wie  wir  sie  so  häufig  in  Begleitung  syphi- 
litischer Hautausschläge  an  der  Regenbogenhaut  ablaufcn  selten.  Und  es  ist 
zur  Genüge  bekannt , dass  auch  die  specifische  Regeubogenhautentzttndung  mit 
grosser  Schmerzhaftigkeit  einbergeht.  Nach  diesem  Analogieschlüsse  muss  man 

38» 


596 


SYPHILISCONTAGIÜM. 


sich  wohl  dahin  aassprechen , dass  es  sehr  nahe  liegt , dass  ähnliche  Vorgänge, 
wie  an  der  Haut  und  Regenbogenhaut,  sich  an  den  Gehirnhäuten  abspielen  mögen, 
und  dass  dadurch  die  heftigen  Kopfschmerzen  bedingt  werden.  Eine  weitere 
Frage  ist  die:  Was  sind  eigentlich  die  Exantheme,  die  wir  auf  der  Haut  sehen? 
Werden  die  Exantheme  dadurch  an  der  Haut  hervorgerufen,  dass  an  einer  be- 
stimmten Stelle  der  Hautdecke  sich  eine  grössere  Summe  von  Mikroorganismen 
festgesetzt  hat,  oder  entwickeln  sich  Efflorescenzen  an  der  Haut  in  ähnlicher 
Weise,  wie  wir  Exantheme  entstehen  sehen  nach  dem  Gebrauche  gewisser  Arznei- 
mittel, wie  z.  B.  das  Erythem  nach  Belladonna,  nach  Chinin,  Antipyrin  oder  die 
Urticaria  balsamica  nach  dem  Gebrauche  balsamischer  Mittel,  oder  das  Auf- 
treten von  Ausschlägen , wie  sie  nach  dem  Genüsse  verdorbenen  Fleisches  oder 
anderer  verdorbener  Nahrungsmittel  vorzukonimen  pflegen.  Alle  durch  derartige 
Gelegenheitsursachen  hervorgerufenen  Ausschläge  sind  entweder  Erytheme  oder 
mit  erythematösen  Efflorescenzen  gepaarte  Hauthämorrhagien.  Die  höchstorgani- 
sirten  Efflorescenzen,  welche  wir  durch  Einwirkung  der  genannten  Gelegenheits- 
ursachen zu  sehen  bekommen,  sind  Urticariaquaddeln.  Pustelbildung  sehen  wir  aber 
nach  Jod-  und  Bromgebraueb  und  bei  Akne  vulgaris  (G.  Singer)  und  lassen  sich 
diese  Exantheme  anders  erklären.  Wenn  es  hochkommt,  ist  das  Erythem  ein  so  inten- 
sives, dass  ein  L'cbergangsstadium  vom  Flecke  znm  Knötchen  zu  sehen  ist,  welche 
Uebergangsform  H.  Zeissl  für  die  Syphilide  mit  der  Bezeichnung  Erythema  papula- 
tum  belegt  hat.  Dass  derartige  beträchtliche  Inflltrate,  wie  wir  sie  als  Papel  bei 
der  Syphilis  entstehen  sehen,  durch  Resorption  vom  Darme  aus  an  der  Haut  zu  Staude 
kommen , hat  man  mit  Ausnahme  der  Brompusteln  und  Jodefflorescenzcn  und 
Akne  vulgaris  bisher  noch  nicht  beobachtet.  Wir  könnten  also  nur  zu  der  Idee 
kommen,  dass  die  Roseola  syphilitica  nicht  direct  durch  den  Mikroorganismus, 
sondern  durch  die  Toxine  des  Syphilis-Mikroorganismus  veranlasst  sein  möchte.  Eine 
derartige  Voraussetzung  halte  ich  aber  fflr  so  lange,  als  wir  den  Syphilis- Mikro- 
organismus nicht  kennen  und  seine  Toxine  nicht  darzustellen  in  der  Lage  sind 
und  nicht  directe  Experimente  machen  können,  für  verfrüht  und  daher  auch  für 
überflüssig.  Da  es  aber  gelungen  ist,  in  Roseola  typhosa  (Neithaus),  in  papu- 
lösen Infiltraten  und  fotliculären  Efflorescenzen  bei  Typhus  (G.  Singer)  Typhns- 
bacillen  nachzuweisen,  so  ist  es  heute  wohl  viel  gerechtfertigter,  anzunehmen, 
dass  alle  Svphilisefflorescenzen  durch  den  Syphilis-Mikroorganismus  bedingt  werden. 
Dass  sowohl  die  Roseola  syphilitica  als  auch  die  Efflorescenzen  des  papulösen 
und  gummösen  Stadiums  durch  den  Mikroorganismus  der  Syphilis  direct  veran- 
lasst werden  können,  dafür  sprechen,  wie  gesagt,  die  bei  Typhus  von  G.  Sing  KR 
gemachten  Untersuchungen.  Diese  enthalten  eine  weitere  Analogie  für  die  Syphilis- 
exautheme,  indem  es  Singer  gelang,  spccifische  Typhusexantheme  durch  Dampf- 
bäder zur  Proruption  zu  bringen.  Es  wird  also  in  gleicher  Weise  wie  bei  den 
Syphilisexanthemen  das  Typhusexanthem,  welches  durch  den  Typhusbacillus  pro- 
ducirt  wird,  durch  active  Hyperämie  der  Haut  zur  Entwicklung  gebracht.  Des- 
halb liegt  die  Vermuthung  nahe,  dass  auch  für  die  verschiedenen  Formen  der 
Syphilisexantheme  der  Syphilis-Mikroorganismus  als  directer  Erreger  anzusehen  ist 
Eine  weitere  Frage  ist  es,  wieso  es  kommt,  dass  bei  einzelnen  Individuen  die  papulösen 
Efflorescenzen  zu  vereitern  beginnen , und  dass  die  verschiedenen  Formen  der 
pustulösen  Syphilide,  wie  sie  von  H.  Z El  SSt  als  Acne  syphilitica,  Variola  syphi- 
litica, Ecthyma  syphiliticum , Impetigo  syphilitica , Rupia  syphilitica  etc.  be- 
zeichnet wurden,  zu  Stande  kommen.  Für  die  Entwicklung  der  pustulösen  Syphi- 
lide könnten  wir  zweierlei  Erklärungen  geben.  Die  eine  Erklärung  wäre  die, 
dass  irgend  ein  Eitererreger  in  die  Haut  eingeführt  wurde,  und  dass  durch  diesen  die 
schon  vorhandenen  syphilitischen  Efflorescenzen  zum  Zerfall  gebracht  würden,  obwohl 
es  nicht  leicht  einzusehen  ist,  warum  dann  nicht  auch  an  anderen  Körperstellen, 
welche  von  papulösen  syphilitischen  Efflorescenzen  freigeblieben  sind,  sich  dann  durch 
die  Eitererreger  veranlasste  Pusteln  entwickeln  sollten.  Gegen  diesen  Einwand  könnte 
man  allerdings  mit  der  Entgegnung  auftreten,  dass  an  einer  schon  durch  Syphilis 


>gle 


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SY  PHI  LISCONTAGIOM. 


597 


erkrankten  Hautstelle  das  Hautorgan  empfindlicher  für  die  Einwirkung  der  Eiter- 
erreger ist  als  an  noch  gesund  gebliebenen  Hautstellen.  Hingegen  muss  man 
andererseits  wieder  sagen,  dass  es  doch  ganz  eigentümlich  ist,  wenn  erst  eigene 
Eitererreger  in  die  schon  vorher  vorhanden  gewesenen  syphilitischen  Papeln  ein- 
dringen  müssen  und  die  Vereiterung  der  syphilitischen  Papeln  verschiedene 
Formen  annehmen,  so  dass  das  eine  Mal  nur  die  Spitze  der  Papel  vereitert,  wie 
bei  der  Acne  syphilitica , ein  anderes  Mal  schon  eine  grössere  gedellte  Pustel 
entsteht,  wie  bei  der  Variola  syphilitica,  und  endlich  sich  bei  der  Rupia  syphi- 
litica ein  Infiltrationswall,  welcher  einen  Eiterkranz  umgiebt,  innerhalb  dessen 
sich  der  eingetrocknete  Eiter  in  Form  einer  austernschalenühnlichen  Kruste  be- 
findet, bildet?  Warum  die  Staphylokokken  oder  Streptokokken,  die  die  Ver- 
eiterung in  den  vorhanden  gewesenen  Papeln  hervorrufen , so  verschiedene 
Formen  des  Pnstulationsprocesses  zu  erzeugen  in  der  Lage  wären,  dafür  fehlt 
uns  heute  noch  jedweder  Anhaltspunkt.  Eine  zweite  Erklärung,  die  plausibler 
erscheint  und  auch  leichter  das  Zustandekommen  des  Zerfalles  der  an  der  Haut 
gesetzten  syphilitischen  Hautveränderungen  erklärt,  ist  die  schlechte  Ernährung 
der  Kranken.  Es  ist  eine  von  allen  Aerzten  gemachte  Beobachtung,  dass  pustu- 
löse  Syphilide  in  der  Regel  nicht  früher  als  7 — 8 Monate  nach  der  erfolgten 
lnfcction  auftreten,  und  dass  dieselben  namentlich  Individuen,  welche  hochgradig 
anämisch  oder  durch  Excesse  in  baccho  wesentlich  geschwächt  sind,  befallen.  Es 
ist  nun  sehr  schwer  zu  begreifen,  warum  bei  solchen  Individuen,  bei  welchen 
ein  papulöses  Syphilid  8 oder  9 Monate  nach  erfolgter  Infeetion  auftritt,  dieses 
leichter  durch  von  aussen  eindringende  Eitererreger  zum  Zerfalle  gebracht  werden 
solle,  als  bei  solchen  Individuen,  bei  welchen  ein  gleiches  Syphilid  2 oder  3 Monate 
nach  erfolgter  Infeetion  zu  Tage  tritt.  Für  diese  merkwürdige  Thatsache  könnten 
wir  höchstens  dann  eine  Erklärung  finden,  wenn  Impfexperimente  ergeben  würden, 
dass  die  Eitererreger  in  die  unverletzte  Haut  anämischer  Individuen  leichter  ein- 
dringen  als  in  die  Haut  nichtanämischcr  Individuen  , ein  Beweis,  welcher  bisher 
durch  das  Experiment  nicht  erbracht  wurde.  Mir  erscheint  die  Erklärung  plau- 
sibler, dass  durch  Gefässveränderungen  in  dem  Gewebe  der  durch  syphilitische 
Efflorescenzen  veränderten  Haut  der  Zerfall  begünstigt  werde. 

In  den  jüngsten  Jahren  machte  sich  namentlich  in  Deutschland  und 
Oesterreich  auf  Grundlage  des  von  Ricord  aufgestellten  Lehrsatzes:  die  gummösen 
Producte  sind  weder  durch  die  Impfung,  noch  durch  die  Vererbung  übertragbar, 
die  Tendenz  geltend,  die  Spätformen  der  Syphilis,  die  sogenannten  tertiären 
Syphilisproducte  nicht  mehr  als  eine  Aeusserung  der  Syphilis-Mikroorganismen, 
sondern  nur  als  eine  Aeusserung  der  Toxine  derselben  hinzustellen.  Diese  An- 
schauung wurde  in  geistreicher  Weise  von  verschiedenen  Autoren,  so  von  Finger, 
Düring  u.  A.,  verfochten.  Diese  Anschauung  ist  weder  vom  klinischen,  noch  vom 
pathologisch-anatomischen  Standpunkte  berechtigt  und  erscheint  durch  in  Frank- 
reich in  den  letzten  Jahren  gemachte  klinische  Beobachtungen  direct  widerlegt. 

Wenn  wir  zunächst  die  pathologisch  - anatomische  Seite  der  Frage  be- 
trachten, so  ergiebt  die  histologische  Untersuchung  zwischen  dem  syphilitischen 
Primäraftect,  der  syphilitischen  Papel  und  dem  syphilitischen  Gumma  grosse  histo- 
logische Achnlichkeiten.  Wenn  wir  des  Weiteren  das  Spätproduct  der  Syphilis, 
"das  Gumma,  mit  den  durch  die  Tubcrkelbacillen  und  die  Leprabacillen  hervor- 
gerufenen Granulationsgeschwülsten  vergleichen,  so  werden  wir  finden,  dass  im 
Gumma  sowohl  als  im  Tuberkel-  und  im  Lupusknoten  — der  ja  ebenfalls  durch 
den  Tuberkelbacillus  bedingt  wird  — die  Verkäsung  ein  ausserordentlich  häufiger 
Vorgang  ist.  Wir  sollen  nun  dieser  neuen  Hypothese  gemäss  aussagen,  dass  die  beiden 
Processe  Lepra  und  Tuberkulose  directe  Aeusserungen  des  Lepra-  und  des  Tuberkel- 
bacillus sind,  während  wir  für  das  Gumma,  welches  histologisch  und  klinisch  so  viele 
Aehnlichkeiten  gerade  mit  der  einen  Form  der  Hauttnberkulose,  dem  Lupus,  dar- 
bietet, die  Ansicht  acceptiren  sollen,  dass  das  Gumma  nicht  direct  durch  den  Syphilis- 
bacillus, sondern  durch  dessen  Toxine  veranlasst  werde.  Ausserdem  sollen  wir 


598 


SYPHILISCONTAGIUM. 


annehmen,  dass  jedes  Individuum,  welches  mit  gummösen  Producten  der  Syphilis 
behaftet  ist,  nicht  mehr  im  Stande  sei,  Syphilis  auf  ein  anderes  Individuum 
direct  oder  durch  Ueberimpfung  oder  durch  die  Zeugung  zu  übertragen,  wo  wir 
doch  wissen,  dass  man  durch  excidirte  Lupusknötchen  im  Stande  ist,  an  Thieren 
Impftuberkulose  zu  erzeugen , wo  wir  also  mit  Sicherheit  wissen , dass  eine 
Granulationsgeschwulst,  die  so  viele  histologische  und  kliuischc  Aehnlichkeiten 
mit  der  syphilitischen  Granulationsgeschwulst  hat,  Bacillen  mit  voller  Virulenz 
enthält.  Eine  derartige  Auffassung  und  Lostrennung  des  gummösen  Processes 
aus  dem  Rahmen  der  Syphilis  ist  aber  noch  aus  weiteren  Gründen  absolut  un- 
statthaft. Wir  wissen,  dass  in  vereinzelten  Fällen  gleichzeitig  an  einem  und  dem- 
selben Individuum  Gummata  und  papulöse  Efllorescenzen  Vorkommen  können, 
also  Efllorescenzen,  von  welchen  durch  vielfältige  Erfahrung  zur  Genüge  bekannt 
ist,  dass  ludividuen,  welche  mit  ihnen  behaftet  sind,  sowohl  syphilitische  Kinder 
zeugen,  als  auch,  wenn  man  von  ihren  Syphilisproducten  auf  Gesunde  überimpft, 
die  Letzteren  Syphilis  acquiriren  können.  Wir  kämen  also  zu  der  sehr  erzwungenen 
Erklärung,  dass  gleichzeitig  an  einem  und  demselben  Individuum  Eftloreseenzen 
vorhanden  sind , von  denen  die  einen  eine  directe  Aeusserung  des  Syphilis- 
mikroorganismus, die  andere  nur  eine  Aeusserung  seiner  Toxine  wären.  Viel 
complicirter  würde  noch  die  Erklärung  ausfallen , wenn  man  bedenkt,  dass  bei 
einem  Individuum  unmittelbar  an  den  syphilitischen  Primäralfect  sich  zuerst  so- 
genannte Spätformen  anschliessen  können,  und  nachdem  diese  geschwunden  sind, 
zum  erstenmal  sogenannte  Secundärerscheinungen,  id  est  Papeln  oder  Flecke,  zu- 
Tage  treten.  Auch  diese  gar  nicht  so  selten  vorkommende  Thatsache  spricht  vom 
klinischen  Standpunkte  aus  gegen  die  Annahme,  dass  die  Gummen  durch  Toxine 
der  Syphilismikroorganismen  hervorgerufen  werden. 

Was  eine  weitere  Behauptung  anlangt,  dass  Fälle  in  der  Literatur  vor- 
handen sind,  in  welchen  angegeben  wird,  dass  zu  einer  Zeitepoche,  wo  Indi- 
viduen mit  Gummen  behaftet  sind,  an  ihnen  ein  syphilitischer  Primäraffect  beob- 
achtet wurde,  also  eine  zweite  Infection  mit  Syphilis  erfolgt  wäre,  so  ist  diese 
Angabe  einfach  unrichtig.  Denn  weder  der  Fall  von  Mkrkl,  noch  der  Fall  von 
Bouley,  noch  die  Fälle  von  Gascoyen,  die  so  oft  in  dieser  Richtung  citirt 
werden,  können  — wie  ich  schon  vor  Jahren  nachgewiesen  habe  — vor  einer 
halbwegs  ernsten  Kritik  auch  nur  einen  Augenblick  Stand  halten.  Wir  müssen 
daher  sagen,  dass  bis  heute  kein  einziger  Fall  beobachtet  worden  ist,  wo  ein 
Individuum,  das  mit  Gummen  behaftet  war,  einen  syphilitischen  Primäraflfeet 
darbot,  welcher  einige  Wochen  später  von  einer  Roseola  oder  einem  papulösen 
Syphilid  gefolgt  war.  Denn  nur  eine  derartige  Beobachtung  würde  beweisen, 
dass  ein  Individuum,  welches  Gummata  trägt,  keine  überimpfbaren  Formen  der 
Syphilis  mehr  producirt  und  dass  dieses  Individuum  auch  nicht  mehr  immun 
gegen  Syphilis  ist.  Was  die  Vererbung  der  Syphilis  von  solchen  Individuen,  die 
mit  Spätformen  der  Syphilis  behaftet  sind,  anlangt,  so  ist  eine  ganze  Reihe  von 
Fällen  bekannt,  in  welchen  hereditär  syphilitische  Kinder  von  Eltern  gezeugt 
wurden , welche  gummöse  Formen  der  Syphilis  trugen.  Ein  weiteres  Moment, 
welches  für  die  Ansicht,  dass  das  Gumma  seiner  Wesenheit  nach  etwas  Anderes 
als  die  Efllorescenzen  des  papulösen  Stadiums  sei , in’s  Feld  geführt  wird,  ist 
die  Behauptung,  dass  gummöse  Efllorescenzen  durch  die  Quecksilberbehandlung 
weniger  gut  involvirt  werden  als  die  Erscheinungen  der  secundären  Periode,  dass 
hingegen  die  Jodpräparate  Gummen  sehr  rasch  zum  Schwinden  brächten,  während 
sie  auf  die  Erscheinungen  des  papulösen  Stadiums  keinen  Einfluss  hätten.  Auch 
diese  beiden  Behauptungen  sind  in  dieser  scharfen  Formulirung  entschieden  un- 
richtig. Richtig  ist,  dass,  wie  ein  jedes  Medicament  gegen  schwerere  Symptome 
weniger  rasch  wirkt  als  gegen  leichte,  das  Quecksilber  auch  gegen  die  schwereren 
Gummen  relativ  langsamer  wirkt,  als  gegen  die  weniger  mächtigen  Infiltrate  des 
papulösen  Stadiums,  obwohl  man  ganz  gut  weiss,  dass  das  Quecksilber  auch  mit- 
unter gegen  Papeln  nicht  die  gewünschte  rasche  Heilwirkung  äusserte.  Richtig 


SYPniLISCONTAGIUM. 


599 


ist  es  ferner,  dass  das  Jod  die  Erscheinungen  des  papulösen  Stadiums  sehr 
langsam  involvirt,  während  die  gummösen  Erscheinungen  unter  seiner  Einwirkuug 
ziemlich  rasch  zurUckgchen.  Was  aber  die  Behauptung  anlangt,  dass  die  gum- 
mösen Erscheinungen  durch  das  Quecksilber  wenig  oder  gar  nicht  beeinflusst 
werden,  so  wird  die  Unrichtigkeit  derselben  schlagend  täglich  an  jeder  Klinik 
erwiesen,  indem  es  wohl  keinen  erfahrenen  Syphilidologen  geben  wird,  welcher 
bei  drohender  Perforation  der  Nasenscheidewand  oder  bei  anderen  durch  ihre 
rasche  Zerstörung  grosse  Entstellung  herbeifuhrenden  syphilitischen  Geschwür- 
processen  , nicht  sofort  eine  energische  Quecksilbercur  einleiten  würde , in  dem 
Bewusstsein,  im  Mercur  dasjenige  Mittel  zu  besitzen,  welches  am  raschesten  dera 
gummösen  Processe  Halt  gebietet.  Wir  sehen  also,  dass  sowohl  vom  pathologisch- 
anatomischen,  als  auch  vom  klinischen,  als  auch  vom  therapeutischen  Standpunkte, 
als  auch  von  Analogieschlüssen  ausgehend  wir  keinen  einzigeu  logischen  Gruud 
haben,  das  Gumma  nicht  als  directe  Emanation  des  Syphilisgiftes  zu  betrachten. 
Es  ist  die  ganze  Frage  Uber  die  Uebertragung  der  Syphilis  von  einem  Indi- 
viduum auf  das  andere  von  einem  ganz  anderen  Gesichtspunkte  aufzufassen  und 
zu  beurtheilen  als  von  dem  Gesichtspunkte,  ob  an  dem  betreffenden  Individuum 
Papeln  oder  Gummen  vorhanden  sind.  Jeder  erfahrene  Syphilidologc  wird  eine 
Reihe  von  Fällen  kennen  gelernt  haben,  in  welchen  er  es  erlebt  hat,  dass  ein 
Mann  oder  ein  Weib  mit  deutlichen  Erscheinungen  der  papulösen  Syphilis  be- 
haftet war  und  dass  ein  solches  Individuum  dessenungeachtet  ein  gesundes 
Kiud  zeugte  oder  zur  Welt  brachte.  Derartige  singuläre  Ereignisse  pflegen  in 
der  Regel  bei  solchen  Individuen  vorzukommen , bei  denen  solche  papulöse 
Efflorescenzeu  noch  viele  Jahre  nach  vorangegangener  syphilitischer  Infection 
wieder  auftraten.  Auf  der  anderen  Seite  wissen  wir,  dass  es  vereinzelte  Fälle 
giebt,  in  welchen  schon  sehr  kurze  Zeit  nach  der  Infection  schwere  gummöse 
Processe  an  der  allgemeinen  Bedeckung  znr  Beobachtung  kommen.  Gewöhnlich 
findet  so  frühzeitig  nach  der  Infection  das  Auftreten  von  Gummen  an  anämischen 
und  kachektischen  Individuen  statt.  Es  wird  nun  wohl  Niemandem  einfallen,  be- 
haupten zu  wollen,  dass  Ueberimpfung  des  Eiters  solcher  Gummen,  welche  so  kurze 
Zeit  nach  der  Infection  entstehen,  keino  Syphilis  an  gesunden  Individuen  erzeugen 
werde.  Es  werden  sich  vielmehr  allmälig  die  Anschauungen  zu  dem  Standpunkt 
klären  müssen,  der  von  Leloir  und  M.  Zkissl  vertreten  wird,  dass  nicht  die  Form 
des  Syphilisproductcs  entscheidend  für  die  Uebe rt ragbarkeit  der 
Syphilis  von  einem  Individuum  auf  das  andere  ist,  sondern  dass 
einzig  und  allein  die  Zeit,  welche  von  der  Infection  mit  Syphilis 
bis  zur  Entstehung  eines  Syphili sproductes  verlief,  für  die  Infec- 
tiosität  desselben  massgebend  ist.  Ein  Individuum,  das  kurze  Zeit  nach 
der  Syphilisinfection  mit  Gummen  behaftet  ist,  wird  ein  gesundes  Individuum  in- 
ficiren  und  syphilitische  Kinder  erzeugen  können , während  ein  Individuum,  das 
29  Jahre  nach  der  Infection  — wie  ich  es  einmal  gesehen  — eine  Roseola  als 
Recidive  zeigte,  möglicherweise  gesunde  Kinder  zeugt  und  nicht  mehr  infectiös 
zu  sein  braucht.  Das  gewichtigste  Moment  aber,  welches  dafür  augeführt  werden 
muss,  dass  die  Spätformen  der  Syphilis  infectiös  sein  können,  besteht  in  der 
Thatsaehe,  dass  l.A.N'DOUZY  schon  im  Jahre  1891  auf  dem  internationalen  derma- 
tologischen Cougress  in  Paris  die  Mittheilung  machte,  dass  ein  Mann,  welcher 
an  der  rechten  Seite  seines  Penis  ein  Gumma  trug , durch  dasselbe  an  seiner 
Frau  auf  der  linken  Seite  des  Vaginalrohres  einen  syphilitischen  Primäraffcct 
erzeugte,  welcher  alsbald  von  einer  Roseola  gefolgt  war.  Fournikk  bestätigte 
diese  Beobachtungen  Lan'doczy’s  und  fügte  bei,  dass  er  selbst  ähnliche  gemacht 
habe.  Und  ebenso  sagte  der  seither  verstorbene  Harm,  dass  man  genöthigt  sein 
werde , die  Meinung  aufzugeben , dass  die  tertiäre  Syphilis  weder  durch  die 
Zeugung,  noch  durch  Uebertragung  von  Person  zu  Person  infectiös  wirken 
könne,  geradeso,  wie  man  diese  Meinung  seinerzeit  der  sogenannten  sccundärcn 
Syphilis  gegenüber  aufzugeben  hatte.  Gleiche  Anschauungen  hegt  Pf.tr INI  deGalatz. 


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600 


SYPH1LISCONTAGIÜM. 


Von  einigem  historischen  Interesse  ist,  dass  diese  Aeusserungen  der  beiden  so  hervor- 
ragenden französischen  Syphilidologen  mit  besonderer  Vorliebe  verschwiegen  werden  ! 

Einer  eifrigen  Discussion  wurde  auch  die  Frage  unterzogen,  in  welcher 
Weise  die  Syphilis  von  den  Eltern  auf  das  Kind  vererbt  werde.  Die  Fragen, 
welche  in  dieser  Beziehung  zu  beantworten  sind,  lassen  sich  in  folgende  7 Punkte 
zusammenfassen : 

1.  Was  geschieht,  wenn  zur  Zeit  der  Zeugung  der  Frucht  der  Vater 
allein  mit  Syphilis  ergriffen  ist? 

2.  Was  geschieht,  wenn  zur  Zeit  der  Zeugung  der  Frucht  die  Mutter 
allein  von  Syphilis  behaftet  ist? 

3.  Was  geschieht,  wenn  zur  Zeit  der  Zeugung  der  Frucht  beide  Eltern 
an  recenter  Syphilis  leiden? 

4.  Was  geschieht,  wenn  zur  Zeit  der  Zeugung  der  Fracht  der  Vater 
oder  die  Mutter  oder  beide  Theile  an  latenter  Syphilis  leiden? 

5.  Was  geschieht,  wenn  zur  Zeit  der  Zeugung  der  Frucht  Vater  und 
Mutter  gesund  waren  und  während  der  Schwangerschaft  die  Mutter  mit  Syphilis 
inficirt  wurde? 

6.  Was  geschieht,  wenn  ein  Weib,  das  ein  hereditär  syphilitisches  Kind 
zur  Welt  gebracht  hat,  dasselbe  säugt? 

7.  Was  geschieht,  wenn  ein  von  syphilitischen  Eltern  stammendes,  trotz- 
dem gesund  gebliebenes  Kind  nach  der  Geburt  einer  syphilitischen  Infection  aus- 
gesetzt wird? 

Der  erste  Punkt  — wenn  der  Mann  zur  Zeit  der  Zeugung  syphilitisch  er- 
krankt ist  — lässt  sich  dahin  erledigen,  dass  in  der  grossen  Mehrzahl  der  Fälle 
ein  hereditär  syphilitisches  Kind  gezeugt  werden  wird.  Fraglich  bleibt  nur,  ob 
das  Kind  überhaupt  lebend  zur  Welt  kommt  oder  ob  es  anscheinend  gesund  ge- 
boren wird  und  erst  kurze  Zeit  nach  der  Geburt  sich  an  diesem  Kinde  manifeste 
Erscheinungen  der  allgemeinen  Syphilis  an  Haut  und  Schleimhaut  entwickeln. 
Soweit  ist  der  Einfluss,  den  die  Syphilis  des  Vaters  auf  das  Kind  ausübt,  ein 
fast  constantcr.  Aeusserst  selten  kommen  aber  Ausnahmsfälle  vor,  in  welchen  von 
einem  mit  manifester  Syphilis  behafteten  Vater  ein  gesundes  Kind  gezeugt  wird. 
Noch  ungelöst  ist  die  Frage,  wie  sich  der  Organismus  der  Mutter  in  einem 
solchen  Falle , wo  sie  ein  vom  Vater  her  syphilitisches  Kind  getragen,  zur 
Syphilisinfection  verhält?  In  einer  grossen  Anzahl  der  Fälle,  wo  der  Vater  zur 
Zeit  der  Zeugung  noch  manifeste  Erscheinungen  der  Syphilis  trägt,  geschieht  es, 
dass  gleichzeitig  mit  der  Befruchtung  die  Infection  der  Mutter  erfolgt  und  dass 
schon  zur  Zeit  der  ersten  Wochen  der  Gravidität  an  der  Frau  ein  syphilitischer  Primär- 
affect  besteht,  welcher  dann  in  gewöhnlicher  Weise  von  allgemeinen  Erscheinungen 
der  Syphilis  gefolgt  wird.  Da  aber  in  der  Regel  nur  solche  Männer  in  die  Ehe 
treten,  bei  welchen  die  Syphilis  schon  einige  Zeit  keine  deutlichen  Erscheinungen 
an  der  Haut  oder  Schleimhaut  hervorgerufen  hat,  so  kann  es  geschehen,  dass 
weder  durch  den  Coitus  selbst,  noch  auch  durch  irgend  eine  andere  Berührung, 
wie  sie  ja  zwischen  Ehegatten  stattfindet  — so  z.  B.  Kuss  — noch  auch  durch 
mittelbare  Infection  — wie  durch  Triukgeschirre  etc.  eine  Infection  der  Frau 
stattfindet.  Und  doch  sieht  man,  dass,  wenn  eine  solche  Frau  ihr  vom  Vater 
her  hereditär  syphilitisches  Kind  selbst  säugt,  obwohl  an  ihren  Brustwarzen 
offene  Stellen  sind  und  das  Kind  deutliche  Papeln  an  den  Mundlippen  trägt, 
doch  die  Frau  von  Syphilis  frei  bleibt.  Aus  diesen  so  häufig  vorkommenden  Befunden 
hat  man  ein  Gesetz  abgeleitet , welches  man  mit  dem  Namen  des  COLLKs'schen 
Gesetzes  belegt.  Aber  nicht  nur  die  klinische  Erfahrung,  sondern  auch  Impfexperi- 
mente,  wie  solche  von  Caspabi  in  Königsberg,  von  I.  Nkumank  und  von  E.  Finger 
vorgenommen  wurden,  ergeben,  dass  Weiber,  welche  ein  hereditär  syphilitisches 
Kind  gezeugt  haben,  gesund  bleiben,  wenn  man  ihnen  den  Eiter  zerfallender 
syphilitischer  Producte  an  irgend  einer  Körperstclle  einimpft.  Aus  den  klinischen 
Beobachtungen  sowohl  als  aus  den  Impfexperimenten  geht  hervor,  dass  die 


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SYPHIUSCONTAGIUM. 


601 


Frauen,  welche  ein  hereditär  syphilitisches  Kind  zur  Welt  gebracht  haben,  meist 
gegen  die  Syphilis  immun  geworden  sein  müssen.  Von  dieser  fast  als  Regel  hin- 
zustellenden Thatsache  linden  sich  aber  doch  hin  und  da  Ausnahmen.  Es  sind 
nämlich  in  der  Literatur  vier  Fälle  bekannt,  in  welchen  Weiber,  die  ein  hereditär 
syphilitisches  Kind  geboren  haben,  dessen  ungeachtet  während  des  Säuggeschäftes 
von  ihrem  Kinde  infieirt  wurden.  Ein  derartiger  Fall  wurde  von  Rank,  ein 
zweiter  Fall  von  Lütte  in  Burtscheid  beobachtet  und  von  M.  v.  Zeissi.  veröffentlicht. 
Ein  dritter  zweifelhafter  wird  von  GibOC  erwähnt , und  ein  vierter  Fall  ist  in 
Focknikh’s  „Hereditärer  Syphilis“  citirt.  Wir  sehen  also,  dass  in  einem  gewissen 
Sinne  der  Satz,  den  Bäkenspbuxg  aufgestellt  hat,  das  Sperma  eines  syphilitischen 
Mannes  inficire  eine  Frau,  wenn  dieselbe  von  diesem  syphilitischen  Manne  ge- 
schwängert wird . richtig  ist.  Wir  müssen  aber  noch  hinzufügen , dass  nach 
unseren  eigenen  und  nach  H.  Zeissl’s  Beobachtungen  eine  Infection  des  Weibes 
durch  das  Sperma  möglich  ist,  ohne  dass  Schwängerung  erfolgte,  ohne  dass 
beim  Weibe  ein  syphilitischer  Primäraffect  jemals,  selbst  bei  genauer  Controle, 
zu  beobachten  war.  Die  grosse  Frage , welche  aus  dem  bisher  Gesagten 
hervorgeht,  ist  nun  die:  Ist  ein  Weib,  welches  ein  hereditär  syphilitisches  Kind 
geboren  hat,  und  an  welchem , trotzdem  man  ihr  Zerfallsproducte  syphilitischer 
EfHorescenzen  einimpft,  doch  keine  Syphilis  sich  zeigt  — ist  ein  solches  Weib 
syphilitisch  oder  ist  dasselbe  nur  immun  gegen  Syphilis  geworden.  Auch  dieser 
Punkt  ist  nicht  für  alle  Fälle  in  gleicher  Weise  zu  beantworten.  Es  sind  mir 
aus  eigener  Erfahrung  eine  Reihe  von  Fällen  bekannt  — und  einem  jeden  er- 
fahrenen Syphilidologen  stehen  derartige  zur  Verfügung  — dass  Weiber  hereditär 
syphilitische  Kinder  geboren  haben,  während  der  ganzen  Zeit,  wo  sie  dieselben 
säugten,  von  den  Erscheinungen  der  Syphilis  frei  blieben  und  dass  nach  dem  dritten 
oder  vierten  Kinde,  das  sic  in  die  Welt  setzten,  an  ihnen  manifeste  Erscheinungen 
der  Syphilis  zu  Tage  getreten  sind,  ohne  dass  an  diesen  Weibern  jemals  ein 
syphilitischer  Primäraffect  gesehen  worden  wäre.  Man  muss  aUo  annehmen,  dass 
in  diesen  Fällen  durch  die  Placenta  das  Syphilisgift  hindurchgegangen  und  das 
Weib  direct  syphilitisch  gemacht  worden  ist.  Für  eine  grosse  Reihe  anderer 
Fälle  muss  die  von  FIXGEB,  DChrixu  und  anderen  Autoren  angenommene 
hypothetische  Behauptung,  dass  durch  das  Hindurchgehen  der  Toxine  des  Syphi- 
lis-Mikroorganismus durch  die  Placenta  und  durch  das  Hinciugelangen  derselben 
in  den  Kreislauf  der  Mutter  diese  vom  Fötus  aus  gegen  Syphilis  immunisirt 
worden  sei,  aeeeptirt  werden. 

Punkt  2 : Wenn  die  Mutter  zur  Zeit  der  Zeugung  allein  mit  Syphilis 
behaftet  ist,  so  ist  die  grösste  Wahrscheinlichkeit  vorhanden,  dass  das  zur  Welt 
kommende  Kind  deutliche  Erscheinungen  der  Syphilis  darbieten  wird,  kurz  und 
gut,  dass  die  Syphilis  der  Mutter  an  dem  Kinde  in  irgend  einer  Weise  zu- 
tage tritt. 

Punkt  3 : Für  diesen  Fall  ist  die  Zeugung  eines  hereditär  syphilitischen 
Kindes  von  allergrösster  Wahrscheinlichkeit. 

Punkt  4 : Was  geschieht  nun,  wenn  Vater  und  Mutter  oder  nur  eines  der 
Eheleute  an  latenter  Syphilis  leidet  r1  Hier  sind  wieder  verschiedene  Möglichkeiten 
vorhanden.  Es  kommt  gar  nicht  so  selten  vor,  dass  vier,  fünf  syphilitische  Kinder 
in  die  Welt  gesetzt  werden  und  dass  sogar,  ohne  dass  eine  Behandlung  der 
Eltern  stattgefunden  hat.  die  Syphilis  sich  endlich  erschöpft  und  gesunde  Kinder 
von  diesen  früher  syphilitisch  gewesenen  Eltern  erzeugt  werden.  Auf  der  anderen 
Seite  kann  es  wieder  geschehen,  dass  Eltern  im  Jahre  1890  z.  B.  ein  hereditär 
syphilitisches  Kind  zeugen,  dass  dieselben  Eltern,  ohne  dass  eine  Therapie  intcr- 
venirte,  im  Jahre  1892  ein  gesundes  Kind  zeugen,  welches,  durch  viele  Jahre  hindurch 
beobachtet,  immer  frei  von  Erscheinungen  der  Syphilis  bleibt.  Auf  dieses  Kind 
folgt  nun  wieder  ein  hereditär  syphilitisches,  auf  dieses  wieder  ein  gesundes 
Kind.  In  diesem  Falle  nun  wird  man  eben  mit  derselben  Erklärung  auslangen, 
mit  der  wir  für  die  Erscheinungen  allgemeiner  Syphilis  auslangen  müssen,  d.  h. 


SYPBILISC0NTAG1UM. 


602 

wir  müssen  uns  sagen : Warum  ist  ilenn  dieses  Individuum  so  und  so  viele  Jahre, 
ohne  dass  eine  Therapie  intervenirte,  von  Symptomen  der  Syphilis  freigeblieben  und 
plötzlich  erscheint  an  ihm  wieder  ein  Syphilisrecidiv '<  Das  Zeugen  hereditär  sy- 
philitischer Kinder  ist  ja  eben  auch  nur  ein  Symptom  der  Syphilis,  wie  schon 
Diday  immer  gesagt  hat.  Wir  können  für  diese  merkwürdige  Erscheinung,  dass 
Eltern  einmal  ein  syphilitisches,  ein  anderes  Mal  ein  gesundes  Kind  zeugen, 
folgende  hypothetische  Erklärung  geben : Es  ist  möglich , dass  die  Syphilis- 
bacillen zugrunde  gehen  und  im  Körper  nur  die  Danersporen  übrig  bleiben ; 
durch  irgend  welche  eigentümlichen,  uns  nicht  näher  bekannten  Umstände  können 
nun  diese  Dauersporen  wieder  zu  neuer  Vitalität  gelangen  und  zur  Production 
zahlreicher  Mikroorganismen  Veranlassung  geben,  welche  allerdings  keine  Er- 
scheinungen au  dem  betreffenden  Individuum  hervorrufen,  aber  dessen  ungeachtet 
noch  derartige  Veränderungen  des  Spermas  oder  der  Eizellen  hervorrufen,  dass 
syphilitische  Kinder  eine  Folge  der  Zeugung  sind. 

Punkt  5 : Sind  beide  Eltern  zurZeit  der  Zeugung  gesund  und  die  Mutter 
wird  während  der  Schwangerschaft  mit  Syphilis  inticirt,  so  kann  das  Syphilisgift 
durch  die  Placcnta  hindurchgehen  und  das  Kind  im  Mntterleibe  mit  S> philis  in- 
ticirt werden.  Der  erste  unwiderlegliche  derartige  Fall  wurde  von  M.  Zki.-sl 
veröffentlicht  und  wurden  seither  eine  Keihe  Bolcher  überzeugender  Vorkomm- 
nisse von  demselben,  I.  NeüMaNN,  Frank  in  Gablonz  und  anderen  Autoren  ver- 
öffentlicht. Es  zeigt  sich,  dass  unter  gewisseu  Verhältnissen  bei  der  Syphilis  das 
Gift  aus  dem  Organismus  der  Mutter  zum  Kinde  gelangen  kann , analog  wie 
es  in  einzelnen  Fällen  von  Milzbrand , Recurrens  etc.  vorznkommen  pflegt.  Die 
Ursache,  weshalb  in  einem  Falle  die  Placcnta  von  dem  Syphilisgifte  passirt  wird, 
im  anderen  nicht,  mag  darin  liegen,  dass  durch  die  vorliegende  parasitäre  Er- 
krankung derartige  Veränderungen  in  dem  Gewebe  der  Placenta  zustande  kommen, 
dass  dieselbe  für  das  organisirte  Gift  durchgängig  wird. 

Was  den  Punkt  6 anlangt,  so  kann  in  seltenen  Fällen  — wie  der  von 
Rank  , ferner  der  von  Lüttk  beobachtete  und  von  M.  Zkissi.  veröffentlichte 
Fall  beweisen  — ein  Weib,  das  ein  hereditär  syphilitisches  Kind  zur  Welt  gebracht 
bat,  ausnahmsweise  von  diesem  inticirt  werden.  Derartige  Vorkommnisse  sind 
aber  thatsächlich  ausserordentlich  selten  und  man  kann  daher  mit  Recht  sagen 
und  annchmen,  dass  durch  das  Tragen  eines  hereditär  syphilitischen  Kindes  in 
utero  ein  Weib  gegeu  Syphilis  immun  wird,  indem  die  Toxine  durch  die  Placenta 
in  den  Körper  der  Mutter  gelangen. 

Punkt  7 : Wenn  ein  von  syphilitischen  Eltern  stammendes,  trotzdem  gesund 
gebliebenes  Kind  nach  der  Geburt  einer  syphilitischen  Infection  ausgesetzt  wird, 
so  bleibt  dasselbe  in  der  Regel  gesund.  Diese  Thatsache  wird  als  Gesetz  von 
Profkta  bezeichnet.  Auch  für  solche  Fälle  muss  man  aunehmen,  dass  durch  die 
die  Placcnta  passirenden  Toxine  derartige  Veränderungen  in  den  Zellen  des 
kindlichen  Organismus  vorgegangen  sind,  dass  derselbe  gegen  das  Syphilisgift 
immun  wurde. 

Aus  dieser  Darstellung  ergiebt  sich,  dass  wir  das  Syphiliscontagium 
nicht  kennen,  dass  unsere  Aussagen  über  seine  Natur  und  Wesenheit  keine 
exacten  sein  können  und  wir  uns  nur  auf  die  Folgerungen  aus  den  klinischen 
Beobachtungen  und  auf  Analogien  stützen  dürfen.  Daraus  folgt  das  Schwankende 
und  noch  vielfach  nicht  Aufgeklärte,  zum  Theile  die  controversen  Meinungen  in  der 
Ausdeutung  der  klinischen  Thatsachen.  Soviel  jedoch  können  wir  mit  grosser 
Wahrscheinlichkeit  behaupten,  dass  die  Syphilis  durch  Mikroben  bedingt  wird. 
Das  Syphilisgift  haftet  nur  am  Menschen  und  vermehrt  sich  lei  gelungener  Haf- 
tung an  Ort  und  Stelle  innerhalb  eines  begrenzten  Zeitabschnittes;  es  braucht 
zur  Invasion  des  ganzen  Körpers  und  zum  Evidentwerden  seiner  Reizungs- 
produete  (Granulome)  eines  zweiten,  etwas  grösseren  Zeitraumes  (erste  und  zweite 
Ineuhatiom.  — Wir  können  ferner  aussagen , dass  es  zunächst  an  die  Gefasse 


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SYPHILISCONTAGIUM.  — SYRINGOMYELIE. 


603 


(Blut-  und  Lymphbahnen)  anknüpft  und  die  aus  Bindegewebe  gebauten  Elemente 
zunächst  angreift.  Es  mtlssen  im  Körper  Vorrichtungen  bestehen,  denen  die  Fähig- 
keit innewohnt,  das  Syphilisgift  zu  vernichten  und  in  der  Vermehrung  zu  hemmen 
(Selbstheilung)  und  dass  unsere  Therapie  nichts  anderes  ist  als  eine  Unter- 
stützung dieser  vie  medicatrix  naturae  mit  Hilfe  des  Hg,  J und  der  Holztranke. 
Das  Syphilisgift  kann  jahrelang  im  Körper,  ohne  sichtbare  Erscheinungen  zu  be- 
wirken, ruhen  und  bei  günstiger,  uns  jedoch  unbekannter  Gelegenheit  neue  Ge- 
websveränderungen bewerkstelligen.  Es  ist  ferner  als  Thatsache  anzunehmen,  dass 
der  Organismus  seine  Immunität  nach  (iberstandener  Infeetion  nach  einer  gewissen 
Zeit  verliert  (Reinfection).  Das  Virus  conservirt  sich  auch  an  leblosen  Objecten 
i indireete  Infeetion)  und  kann  neben  einem  zweiten  Virus  ganz  anderer  Art  noch 
zur  Wirkung  gelangen  (Schanker  und  Tripper).  Die  Vererbungssyphilis  ist 
nur  eine  bestimmte  Art  der  directen  Uebertragung.  — Wichtig  ist  die  Kennt- 
niss,  dass  das  Virus  schon  aus  dem  Organismus  climinirt  sein  kann  und  die 
von  seiner  Lebensthätigkeit  hcrrUhrenden  Veränderungen  dennoch  bestehen  bleiben 
(Dauerformen  der  Bindegewebsveränderung).  M.  v.  Zeissl. 

Syringomyelie.  Das  Studium  der  als  Syringomyelie  bezeichneten  Er- 
krankung ist  noch  sehr  neuen  Datums.  Ein  allgemeineres  Interesse  wird  derselben 
erst  entgegengebracht,  seit  Kahlkk  und  Schultzp.  in  zwei  fast  gleichzeitig 
(1882)  erschienenen  Publicationen  nachwiesen,  dass  dem  bis  dahin  nur  die  Ana- 
tomen interessirenden  Befunde  von  Höhlenbildung  im  Rückenmark  ein  mit  be- 
stimmten, die  Stellung  einer  Diagnose  ermöglichenden  Symptomen  einhergehendes 
klinisches  Krankheitsbild  entspräche. 

Den  typischen,  von  jenen  Autoren  aufgestellten  Fällen  haben  sich  nun 
mit  der  Zeit  eine  Fülle  von  solchen  Beobachtungen  angereiht , die  in  wesent- 
lichen Symptomen  von  dem  ursprünglichen  Bilde  abweichen.  Und  heute  bereitet 
sich  eine  weitere  Scheidung  in  der  bezeichneten  Gruppe  vor,  nach  den  patho- 
genetisch und  pathologisch-anatomisch  verschiedenen  Veränderungen,  die  wir  im 
Rückenmark  antreffen  — der  eigentlichen  Syringomyelie  und  der  Gliomatose. 

Ein  weiteres  Interesse  hat  die  Syringomyelie  dadurch  gewonnen , dass 
eine  Reihe  von  Autoren,  vor  Allem  Zambaco,  darauf  hinwiesen,  welche  auf- 
fallende, eine  Differentialdiagnose  fast  ansschliessende  Aehnlichkeit  zwischen  den 
als  Syringomyelie  (inclusive  Maladie  de  Morvan)  beschriebenen  Krankheitsbildem 
und  denjenigen  klinischen  Befunden  bestehe,  die  man  bei  Lepra  gelegentlich  zu 
beobachten  Gelegenheit  hat. 

Wenn  auch  Zambaco  unbedingt  weit  Uber  das  Ziel  hinausschiesst,  wenn 
er  ohne  weiteres  alle  Fälle  von  Syringomyelie  und  Maladie  de  Morvan  als 
leprösen  Ursprungs  bezeichnet,  so  ist  es  ihm  doch  gelungen,  und  andere  Autoren 
haben  ihm  zustimmen  müssen,  die  lepröse  Natur  einiger  als  Syringomyelie  und 
Maladie  de  Morvan  diagnosticirter  Fälle  zu  erweisen.  Das  Stadium  dessen,  was 
bis  heute  pathologisch-anatomisch  als  Substrat  der  verschiedenen , klinisch  als 
Syringomyelie  zu  diagnosticirenden  Bilder  bekannt  ist,  legt  andererseits  die 
Grundlosigkeit  der  ZAMBACO’schen  Behauptung  dar.  Zweifellos  werden  aber  noch 
mancherlei  Ueberraschungen  aus  dem  Studium  dieser  proteischen  Krankheit 
hervorgehen  und  unsere  Anschauungen  noch  mannigfachen  Aenderungen  unter- 
worfen sein. 

Pathologische  Anatomie.  Da  uns  eigene  Untersuchungen  nicht  vor- 
liegen, folgen  wir  hier  — wie  übrigens  in  vielen  Fällen  weiterhin  — der  classi- 
schen  Monographie  Schlesingbr’s. 

Der  äussere  Anblick  des  Rückenmarks  kann  ein  sehr  verschiedenartiger 
sein , je  nachdem  es  sich  uni  Ilöhlenentwicklung  oder  um  Tumorentwicklung  in 
demselben  handelt.  Im  ersteren  Falle  sieht  das  Rückenmark  plattgedrückt,  band- 
artig ans;  häufig  ist  aber  das  Rückenmark  auch  in  den  anderen  Durchmessern 
verkleinert,  so  dass  dasselbe  auf  eine  längere  Strecke  hin  die  Dicke  eines  Feder- 


SYRINGOMYELIE. 


004 

kiele  haben  kann.  Ist  nur  ein  Theil  des  Rückenmarks  befallen , so  kann  der 
Volumensunterschied  zwischen  afficirten  und  nicht  afficirten  Theilen  sehr  auffallend 
Bein.  Ist  nur  ein  centraler  Gliafaden  vorhanden,  so  ist  das  Rückenmark  von  fester 
Consistenz. 

In  einigen  Abschnitten  aufgetrieben  oder  auf  Strecken  hin  spindelförmig 
verdickt  erscheint  das  Rückenmark , wenn  dasselbe  Sitz  eines  Tumors , eines 
Glioms  ist ; die  Consistenz  desselben  ist  dann  bald  härter,  bald  weicher. 

Form  und  Ausdehnung  der  Höhlen  können  sehr  verschiedenartig  sein; 
häutig  haben  dieselben,  meist  unter  Respeetirung  der  vorderen  Commissur,  einen 
centralen  Sitz. 

Schlesinger  beschreibt  eingehend  (1.  c.  pag.  145 — 157)  die  verschie- 
denen mikroskopischen  Befunde,  wie  sie  sich  bei  Höhlenbildung  durch  Hydro- 
myclie,  durch  Gliose  (der  eigentlichen  Syringomyelie  im  Sinne  von  Simon,  Schcltze, 
Hofemann)  und  durch  die  centralen  Geschwulstformeu  darstellen. 

Man  findet  z.  B.  (bei  Hydromyelie)  im  Querschnitt  einen  bedeutend  er- 
weiterten Centralcanal,  der  entweder  eine  rundliche  oder  häufiger  bnohtige  Lücke 
im  Rückenmark  darstellt.  Auf  tiefer  oder  höher  angelegten  Schuitten  trifft  man 
den  Centralcanal  und  einen  oder  mehrere  Divertikel , so  dass  man  eine  mehr- 
fache Höhlenbildung  zu  haben  scheint. 

Die  Ausbuchtungen  des  Centralcanals  sowohl  wie  die  Divertikel  sind 
mit  Cylindercpithel  ausgekleidct.  In  der  Nähe  der  Höhle  findet  sich  eine  lebhafte 
Zellwucherung  in  der  grauen  Commissur,  die  aber  nicht  init  den  Gef&ssen  in 
Verbindung  gebracht  werden  kann.  In  der  Umgegend,  sowohl  im  Anfangs  wie 
im  Endtheile  der  Höhle,  Bieht  man  zahlreiche  Zellen,  die  sich  gerade  so  intensiv 
färben  wie  das  Centralcanalepithel  und  nach  ihrer  Structur  grosse  Aehnlichkeit 
mit  den  den  Centralcanal  zusammensetzenden  Ependvmzellen  besitzen.  Um  den 
erweiterten  Centralcanal  kommt  es  zu  Wucherungsvorgängen , die  hauptsächlich 
die  Glia  betreffen  und  in  Folge  dessen  zu  einer  Verbreiterung  der  grauen  Com- 
missur auf  Kosten  der  Hinterstränge.  Nicht  selten  liegt  an  der  hinteren  Grenze 
der  Commissur  ein  mit  Cylindercpithel  ausgekleideter  Hohlraum  (zweiter  Central- 
canal), gegen  welchen  vom  hinteren  Septum  eine  Arterie  hinzieht.  Die  Gefässe 
sind  in  diesen  Abschnitten  schon  nicht  unerheblich  verändert.  Sie  sind  zum  Theil 
sehr  weit  und  strotzend  mit  Blut  gefüllt , mehrere  hingegen  ziemlich  enge  in 
Folge  von  Ablagerung  hyaliner  Massen  in  die  Media;  die  Adventitia  ist  mächtig 
verdickt.  Mit  den  Gefässen  strahlen  häufig  in  die  Rückenmarkssubstanz  wellig 
verlaufende  Bindegewebszüge  ein , die  sogar  papillenähnliche  Bildungen  er- 
zeugen können. 

Die  Höhle  nimmt  mit  Vorliebe  die  Gegend  der  Commissur,  des  Kopfes 
der  Hintorhörner,  die  vorderen  Abschnitte  der  Hinterstränge  ein  und  verschont 
zumeist  die  Vorderhörner. 

Bei  der  Höhlenbildung  durch  Zerfall  gewucherten  Gliagewebes,  der 
sogenannten  Gliose,  ist  das  mikroskopische  Bild  folgendes.  Die  Wucherung  des 
Gliagewebes  beginnt  fast  stets  in  der  Gegend  des  Centralcanals,  nimmt  bald  die 
ganze  graue  Commissur  ein  und  dringt  zapfenförmig  in  die  Hinterstränge  vor. 
Die  Gliawucherung  ist  in  der  Kegel  sehr  kernreich  und  vernichtet  dort , wo  sie 
am  üppigsten  stattfindet,  das  normale  Nervengewebe  völlig.  Nichtsdestoweniger 
setzt  sie  sieh  von  der  Umgebung  keineswegs  scharf  ab,  obgleich  die  Randpartien 
mehr  in  Haufen  gestellte  Kerne  besitzen  und  dadurch  weit  schärfer  hervortreten 
als  das  homogenere  Centrum.  Allenthalben  gehen  nämlich  vom  Rande  aus  breitere 
oder  schmälere  Gliabalken  in  das  umliegende  Nervengewebe  zwischen  die  ein- 
zelnen Nervenbündel  ein  und  stellen  auf  diese  Weise  eine  Verbindung  mit  der 
Umgebung  her.  Die  Verdrängungserscheinungen  sind  gering  oder  fehlen  voll- 
ständig. ln  den  Randpartien  des  neugebildeten  Gewebes,  sowie  in  dessen  Um- 
gebung sieht  man  die  Lumen  zahlreicher  Gefässc,  welche  zum  Theil  (weiter  unten 
zu  beschreibende)  Veränderungen  zeigen.  Im  Innern  dieser  Neubildung  geht  nuu 


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SYRINGOMYELIE. 


605 


mehr  oder  weniger  schnell  eine  (hyaline?)  Degeneration  vor  sich.  Die  scharfe 
Structnr  verwischt  sich,  das  Aassehen  wird  ein  homogeneres;  dieses  Gewebe  zer- 
fällt, zerklüftet  sich,  es  entstehen  Spalten,  die  anfangs  noch  durch  Gliafasern 
getrennt,  sich  allmälig  zu  einer  Höhe  umwandeln,  deren  Wandungen  durch  zer- 
fallendes Gewebe  gebildet  sind.  Dieses  Gewebe  besteht,  peripher,  aus  einem  dicht 
verfilzten  Gewebe  feinster  Gliafasern  und  Kerne.  Der  Uebergang  zu  den  anderen 
Abschnitten  der  Medulla  erfolgt  für  das  unbewaffnete  Ange  bisweilen  ziemlich 
schroff,  unter  dem  Mikroskope  kann  man  aber  stets  einen  mehr  allmäligen  Ueber- 
gang in  die  Umgebung  durch  kernarroe  Gliafaserzüge  verfolgen.  In  den  reinen 
hierher  gehörigen  Fällen  liegt  der  Ccntralcanal  geschlossen  vor  der  Höhle.  Manch- 
mal findet  sieh  — ein  sehr  wichtiger  Befund  — die  Wand  der  Höhle  zum 
Theil  mit  Cylinderepithel  ausgekleidet. 

Bei  einigermassen  erheblicher  Gliawucherung  findet  man  auch  eine  be- 
deutende Vermehrung  der  Gefässe;  besonders  reichlich  finden  sich  dieselben  in 
den  peripheren  Abschnitten  der  Gliawucherung  und  in  den  angrenzenden  Partien 
des  Rückenmarks. 

Die  Gefässe  selbst  zeigen  Veränderungen.  Sie  sind  manchmal  bedeutend 
erweitert,  die  Arterien  haben  dabei  häufig  eine  ganz  ungewöhnlich  zarte  Wand. 
In  anderen  Fällen  ist  das  Lumen  stark  verengt,  ja  geradezu  obliterirt ; dann  ist 
die  Adventitia  öfters  ganz  enorm  verdickt,  zeigt  manchmal  eine  concentrischc 
Streifung,  häufiger  aber  ist  sie  verwachsen  und  nahezu  structurlos,  auf  den 
Schnitten  gleichförmig  glänzend  geworden ; die  Media  verbreitert  sich  ebenfalls 
manchmal  nicht  unerheblich,  gewinnt  aber  ein  homogenes,  glasiges  Aussehen. 
Diese  Gefässveränderungen  sind  wahrscheinlich  die  Ursache  der  nicht  seltenen 
Blutungen  in  die  Rttckcnmarkssnbstanz. 

Die  Ganglienzellen  der  Vorderhörner  und  CLARKE’schen  Säulen  er- 
leiden häufig  sehr  schwere  Veränderungen  und  können  in  'einem  Präparate  ver- 
schiedene Stadien  der  regressiven  Metamorphose  zeigen. 

Das  Verhalten  der  Nervenfasern  in  der  Umgebung  der  Gliawucherung 
wechselt.  Am  häufigsten  sind  nur  geringfügige  Veränderungen  vorhanden,  manch- 
mal dagegen  sieht  man  die  Achsencylinder  stark  aufgetrieben,  die  Nervenfasern 
stark  varicös  geschwellt,  mitunter  sogar  körnigen  Zerfall  des  Markmantels;  au 
anderen  Fasern  ist  die  Markscheide  sehr  breit  und  der  Achsencylinder  nicht 
wesentlich  verändert. 

Die  mikroskopische  Untersuchung  der  eigentlichen  centralen  Geschwulst- 
formen  des  Rückenmarks,  welche  zur  Höhlenbildung  in  innige  Beziehung  treten 
können , giebt  sehr  verschiedene  Bilder.  Man  findet  manchmal  die  Neubildung 
zum  grossen  Theil  aus  gleichartigen  rundlichen  oder  undeutlich  polygonalen 
grösseren  und  kleineren  Zellen  mit  langen  Fortsätzen,  vielfach  verästelten  Spinnen- 
zellen und  Sternzellen  zusammengesetzt ; die  letztgenannten  Zcllformen  haben 
einen  grossen,  oft  ovalen  oder  auch  mehr  rundlichen  Kern ; weiters  findet  man 
im  Neoplasma  zahlreiche  grosse , rundliche  blasse  Zellen , die  theils  in  Nestern 
angehäuft,  theils  den  Piafortsätzen  folgend  angeordnet  sind,  theils  sind  sie  ohne 
erkennbare  Anordnung  diffus  zerstreut.  Der  zellige  Charakter  überwiegt  in  der 
Neubildung,  obwohl  auch  das  Stützgewebe  vermehrt  sein  kann;  letzteres  ist  leicht 
faserig  und  ohne  deutliche  Structur,  manchmal  ziemlich  faserreich.  Die  Begrenzung 
der  Neubildung  ist  nirgends  scharf,  sondern  cs  dringen  ganze  Zellcolonnen  von 
der  Geschwulst  aus  in  die  umgebende  Nervensubstanz  ein  und  umschliessen  auf 
diese  Weise  die  nervösen  Elemente.  Die  Tumorwucherung  findet  meist  auf  Kosten 
des  umliegenden  Nervengewebes  statt.  Die  Zellneubildung  findet  mehr  in  der 
Längsrichtung  des  Rückenmarkes  statt,  es  handelt  sich  also  um  langgestreckte, 
oft  verzweigte  Tumoren . die  man  als  Gliome,  und  wenn  sie  zumeist  nur  aus 
Spinncnzellen  bestehen,  als  Spinnenzellengliome  bezeichnen  kann. 

Zeigen  diese  Gliome  grossen  Gefässreichthura,  so  bezeichnet  man  sie  als 
Angiogliome. 


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(i06 


SYRINGOMYELIE. 


Die  Gliome  zeigen  häufig  grosse  Neigung  zu  Hämorrliagien. 

Durch  Aemleruug  der  Zwischensubstanz , schleimige  Entartung  z.  B., 
Vorwiegen  von  Spindelzellenformen  mit  fibrillären  Ausläufern , Hyperplasie  der 
Nervenfasern  kommen  Mischformen:  Mvxogliome,  Spindelzellengliome,  Neurogliome 
zu  Stande. 

In  anderen  Fällen  bestehen  die  Tumoren  aus  grossen,  nach  einem  Typus 
gebauter  Zellen,  die  rund  oder  stumpfeckig,  ein-  oder  mehrkemig  sind  und 
kurze,  stumpfe  Fortsätze  haben;  die  Zw'ischensubstanz  tritt  ganz  zurück.  Diese 
sind  die  Uebergangsformen  zu  den  Gliosarkomen.  Die  Gliosarkome  selbst  be- 
stehen aus  zahlreichen  , kleinen  Rundzellen , feinen  Fibrillen  und  grossen  , meist 
einkernigen  runden  und  unregelmässig  gestalteten  Zellen,  welche  zum  Tlieil  auf- 
gei|Uollen  sind.  Ausserdem  findet  man  noch  eigeuthUmliche,  den  Ganglienzellen 
in  Bezug  auf  Grösse,  Kern  und  granulirte  Beschaffenheit  ausserordentlich  ähn- 
liche Gebilde  mit  langen  Fortsätzen , die  nach  Ansicht  einiger  Autoren  aus  den 
Achsencylinderrcsten  zerfallender  Nervenfasern  entstanden  sein  dürften. 

Durch  Combination  der  verschiedenen  Geschwulstformen  kann  es  zu 
Mischgeschwülsten  („sarkomatöses  Myxogliom“,  „teleangiektatisches  Gliosarkom“) 
kommen. 

Andererseits  kann  das  Gliagewebe  vollständig  zurdektreten  und  die  Ge- 
schwülste sind  dann  als  Spindelzellensarkome  oder  in  einem  anderen  Falle  als 
centrales  Angiosarkom  bezeichnet  worden. 

Vom  ursprünglichen  Tumor  werden  wohl  zapfenförmige  Fortsetzungen 
von  Tumorgewebe  in  die  Umgebung  ausgesandt,  so  dass  man  auf  Querschnitten 
anscheinend  mehrere  Tumoren  antrifit. 

Im  Nervengewebe  um  das  Neoplasma  findet  man  neben  kleinen  Hämor- 
rhagien  Vergrösserungen  der  Gefilsse.  Verbreiterung  der  Stützsubstanz  noch  Ver- 
änderungen der  Nervenfasern  selbst.  Während  man  bei  einfacher  Gliosc  (Syringo- 
myelie) nur  hie  und  da  eine  gequollene  Faser  siebt , ist  bei  der  Gliombildung 
eine  Verbreiterung  und  varicöse  Auftreibung  des  Aehscncylinders,  ein  Zerfall 
der  Markscheide  ungleich  häufiger. 

Der  Centralcanal  ist  meist  im  Neoplasma  vollkommen  aufgegangen  oder 
man  erkennt  an  seiner  Stelle  einen  Zcllenhaufen,  oder  es  besteht  ein  Canal  mit 
ganz  kleinem  Lumen. 

Die  Höhlen,  welche  in  den  Geschwülsten  Vorkommen,  können  wohl  nur 
ausnahmsweise  mit  dem  Centralcanal  in  einen  ursächlichen  Zusammenhang  ge- 
bracht werden.  Sollte  sich  dennoch  hier  und  da  eine  Epithelauskleidung  vorfinden, 
so  dürfte  es  sich  nur  um  eine  reiu  zufällige  Coineidenz  handeln : nach  Mülleb 
und  Meder  kommt  diese  Epithelauskleidung  häufiger  vor,  ist  aber  nicht  auf 
ursprüngliche  Verbindung  mit  dem  Centralcanal  zu  beziehen,  sondern  auf  Rech- 
nung des  nach  Durchbruch  der  Geschwulst  in  den  Centralcanal  gewucherten 
Epithels  des  letzteren  zu  setzen. 

Pathogenese.  Wie  schon  aus  der  anatomischen  Beschreibung  hervor- 
geht, kommt  die  Höhlenbildung  im  Rückenmark  auf  verschiedene  Weise  zu 
Stande  und  so  haben  wohl  alle  oder  die  meisten  der  bisher  aufgestellten  Theorien 
über  die  Pathogenese  der  Syringomyelie  eine  gewisse  mehr  oder  minder  aus- 
gedehnte Berechtigung. 

Ollivikk  ') , von  dem  der  Ausdruck  Syringomyelie  stammen  dürfte,  sah 
jede  Höhlenbildung,  das  Fortbestehen  des  Centralcanals  an  und  für  sich  für 
pathologisch  und  für  eine  Hemmungsbildung  an.  Als  später  das  Irrige  der 
Ot.LlviKB’schen  Anschauung,  dass  das  Fortbestehen  des  Centralcanals  ein  patho- 
logischer Befund  sei,  nachgewiesen  war,  wurde  auch  die  Bezeichnung  Syringo 
myelie  fallen  gelassen.  Erst  Simon6)  nahm  dieselbe  wieder  auf,  und  zwar  be- 
zeichnet er  die  hydropische  Erweiterung  des  Centralcanals  als  Hydromyelic,  die 
pathologischen  Höhlenbildungen  im  Rückenmark  Erwachsener  als  Syringomyelie. 


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SYRINGOMYELIE.  607 

Er  hatte  durch  seine  Untersuchungen  festgestellt,  dass  bei  der  Syringo- 
myelie der  Ccntralcanal  meist  geschlossen  vor  der  Höhle  lag  und  dass  letztere 
von  neugebildetem  Gewebe  umgeben  und  ans  dessen  Zerfall  hervorgegangen  war. 

Leyden ’•  8)  (in  Uebereinstimmung  mit  Virchow)  vertrat  besonders  die 
Ansicht,  dass  die  Hühlcnbildung  als  ein  Product  entwicklungsgeschichtlicher  Vor- 
gänge anzuschen  sei,  dass  eine  vorausgegangene  Hydromyelic  die  Prädisposition 
zur  Entwicklung  einer  Syringomyelie  abgeben  könne.  Allerdings  giebt  er  in 
seinem  Lehrbuch  7 ätiologisch  verschiedene  Formen  der  Höhlcnbildung  an , er- 
klärt aber  die  eben  erwähnte  Aetiologie  für  die  Regel. 

Die  7 von  LEYDEN  angeführten  Ursachen  sind:  1.  llydromyelie,  2.  Cysten 
nach  Hämatomyelien,  3.  Cysten  nach  Myelitis  acuta  oder  chronica , 4.  Rücken- 
raarksblutung  mit  Resorption  des  Herdes,  5.  Myelitis  mit  Erweichung,  6.  Aus- 
füllung des  Centralcanals  mit  Serum,  7.  Einschmelzung  eines  intramedullären  Tumors. 

Leyden  hatte  Gelegenheit,  zwei  Fälle  von  congenitaler  Hydromyelie  zu 
untersuchen  bei  Kindern.  Durch  Vergleichung  der  hier  gewonnenen  Resultate 
mit  den  Befunden  bei  der  Syringomyelie  Erwachsener  kommt  er  zu  dem  Schlüsse, 
dass  zwischen  beiden  Formen  grosse  Aehnlichkeit  bestehe.  Das  Zustandekommen 
der  Syringomyelie  erklärt  er  folgendcrmassen : Zu  einer  gewissen  Fötalperiode 
ist  der  Centralcanal  stark  erweitert.  Die  obere  Höhlenbildung  kann  sich  vom 
Ccntralcanal  abschnüren,  mit  massenhaftem  Gewebe  umgeben,  welches  sich  auf 
die  Hiuterstränge  ausdehut  und  deren  Entwicklung,  besonders  die  der  GoLL'sehen 
Stränge,  beeinträchtigt.  Entwickeln  sich  später  Hinterhörner  und  Hinterstränge, 
so  können  sie  sich  bis  zur  normalen  Mächtigkeit  entwickeln , vielleicht  etwas 
verschoben  bleiben.  Dadurch  erklären  sich  die  symptomenlosen  Syringomyelien. 
Ist  die  Krankheit  progressiv,  so  entwickeln  sich  aus  dem  stationären  Zustaude 
leicht  fortschreitende  Störungen.  Die  meisten  Veränderungen  sind  vom  Drucke 
herzuleiten , wie  Erweichungen,  Blutungen,  Atrophien  der  grauen  Substanz.  Es 
ist  auch  möglich,  dass  durch  schwächende  Einflüsse  erst  der  centrale  Zerfall  der 
neugcbildeten  Masse  veranlasst  wird,  oder  der  Sccretionsdruck,  wie  dies  auch  bei 
anderen  Cysten  der  Fall  ist,  plötzlich  gesteigert  wird  (nach  Schlesinger). 

Aehnliche  Ansichten  entwickeln  Strümpell  9),  Blooq  1j),  Steffen  18), 
Kahler  und  Pick.10-11)  Letztere  nähern  sich  etwas  den  von  Hallopkau  >*), 
Charcot16),  Joffroy  und  Achaud1*14)  aufgestellten  Theorien.  Hallopeai:  war 
der  Erste,  welcher  die  Höhlenbildung  als  Folge  einer  Myelitis  bezeichnete.  Nach 
ihm  handelt  cs  sich  um  eine  chronische  Myelitis,  die  durch  ihre  Localisation  in 
der  Umgebung  des  Ependyms  ausgezeichnet  ist,  mit  sehr  langsamer  Entwicklung 
und  dem  Ausgang  in  Sklerose,  Sclt'rose  periependymaire.  In  dem  von  ihm  unter- 
suchten Falle  wurde  ein  nekrotischer  Erweichungsherd  im  Bulbus  gefunden  und 
von  hier  hatte  sich  der  entzündliche  Process  auf  das  Rückenmark  ausgedehnt 
Im  Rückenmark  fand  sich  als  Folge  davon  eine  diffuse  interstitielle  Myelitis,  die 
ihren  Sitz  im  Bindegewebe  um  den  Ccntralcanal  hatte;  weiterhin  hatten  sich  in 
dem  sklcrosirtcn  Gewebe  regressive  Metamorphosen  geltend  gemacht  und  den 
partiellen  Untergang  des  sklerotischen  Gewebes  zur  Folge  gehabt;  darauf  ist  die 
Entstehung  der  Höhle  zurückzuftihren.  Die  Erweiterung  des  Centralcanals  trägt 
nur  secundär  bei  zu  dieser  Höhlenbildung. 

Joffroy  und  Achard  bestätigen  IIallopeaü’s  Ansichten  und  bezeichnen 
diese  Affection  als  „ Myilite  caritaire“ . 

Eine  andere  Theorie  für  das  Zustandekommen  der  Höhlen  ist  die  von 
Langhans.  ”)  Er  führt  diesen  Zustand  zurück  auf  Drucksteigerung  durch  raum- 
beengende Tumoren  in  der  hinteren  Schädelgrube.  Dadurch  werden  Lymph-  und 
Blutstauungen  im  Rückenmark  und  in  Folge  dessen  Oedem  und  Dissociation  der 
nervösen  Elemente  des  Rückenmarks  hervorgebracht.  Er  stützt  seine  Ansicht  auf 
Untersuchung  von  11  Fällen  und  begründet  sie  mit  folgenden  Ausführungen: 

1.  In  allen  Fällen  ist  nur  der  Halatheil  des  Rückenmarks  und  höchstens 
noch  ein  geringer  Theil  des  Dorsaltheils  betheiligt. 


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SYRINGOMYELIE. 


608 


2.  Es  konnte  der  Zusammenhang  der  Höhlen  oder  wenigstens  der  meisten 
derselben  mit  dem  Central  canal  nachgewijtsen  werden. 

8.  Die  Höhlen  sind  entweder  einfache  Aussackungen  oder  Divertikel  des 
Centralcanals. 

4.  Die  Spalten  liegen  vorzugsweise  in  der  grauen  Commissur  und  den 
Hinterhörnern , die  Divertikel  zwischen  und  in  dem  vorderen  Theil  der  Hiuter- 
stränge,  wofür  wahrscheinlich  nur  die  Consistenz  der  Umgebung  des  Central- 
canals und  speciell  die  weisse  Commissur  massgebend  ist. 

5.  Die  Divertikel  erstrecken  sich  fast  nur  nach  abwärts. 

6.  Das  Cylinderepithel  findet  sich  nur  in  den  Höhlen , welche  in  der 
grauen  Substanz  und  besonders  in  der  Commissur  liegen.  Dass  dasselbe  in  den 
Höhlen  der  Hinterstränge  fehlt,  ist  kein  Beweis  für  die  Selbständigkeit  der  Höhle, 
sondern  ist  durch  die  Entstehung  derselben  bedingt;  sie  beruht  nur  in  der  Ab- 
lagerung einer  homogenen  gallertigen  Masse  zwischen  die  vorhandenen  Elemente; 
letztere  werden  auseinandergedrängt  und  gehen  zu  Grunde. 

Neuerlich  haben  Beiträge  zur  Stütze  dieser  Theorie  gebracht  Kron- 
thal  *°)  und  Fraxcotte21)  ; sie  sehen  aber  diese  Aetiologie  nicht  als  die  einzig 
mögliche  für  die  Entstehung  der  Höhlen  an. 

Die  SlMOX’sche  Anschauung  von  der  Entstehung  der  Syringomyelie 
nahm  Schultze  wieder  auf.  SIMON  hatte  die  zur  Höhlenbildung  führende  Neu- 
bildung als  teleangiektatisches  Gliom  bezeichnet.  Roth  nahm  neben  der  Leyde.n- 
schen  Theorie  die  Erweichung  von  Gewebswucherungen  (Gliomen)  als  Ursache 
der  Syringomyelie  an. 

Schultze  **•  **■  3,1  **)  hat  diese  Anschauung,  gestützt  auf  eigene  Befunde, 
in  klarer  und  präciser  Weise  ausgcstaltet.  Ein  Theil  der  Fälle  von  Höhlenbildung 
ist  sicher  auf  die  von  Leyden  entwickelte  Ursache  zurückzuführen.  Für  die 
anderen  Fälle  nimmt  Schultze  als  Ursache  eine  Gliawucherung  an,  in  Beziehung 
stehend  zum  Ependym  ; sie  kann  aber  auch  iu  der  Substanz  der  Hinterhörner, 
vielleicht  sogar  in  der  weissen  Substanz  entstehen.  Die  Structur  dieser  Wuche- 
rung stimmt  in  Zellform  und  Anordnung  der  Zellen  zu  den  Gliafasern  mit  dem 
Ependym  überein,  weshalb  Schultze  die  Bezeichnung  Gliose  einführte. 

Für  ihn  besteht  zwischen  dem  Process,  den  er  als  Gliose  bezeichnet, 
und  dem  Gliom  nur  ein  quantitativer  Unterschied.  Durch  Zerfall  dieser  Glia- 
masse  kommt  es  zur  Hohlraumbildung  — zur  Syringomyelie.  Ob  diese  Höhlen 
mit  dem  Centralcanal  communiciren , hängt  davon  ab , ob  zufällig  sich  Tumor 
und  Centralcanal  begegnen  und  in  einander  öffnen. 

Dass  es  sich  bei  der  „Gliose“  und  den  „Gliomen“  zwar  um  nahe 
verwandte,  aber  um  klinisch  wie  anatomisch  verschiedene  Kranheitsbilder  handelt, 
wurde  durch  die  Arbeiten  der  französischen  Schule  mehr  verwischt.  Erst  durch 
die  Arbeiten  von  Miura  **),  Weigert **)  und  besonders  HOFFMaxn  *7)  wurde 
diese  Thatsache  von  Neuem  hervorgehoben.  HOFFMAXN  suchte  diese  beiden 
Formen  scharf  zu  trennen  und  bezeichnete  die  erstere  Form  als  „primäre  cen- 
trale Gliose“,  die  zweite  als  „centrale  Gliomatose“. 

Wir  wollen  die  übrigen  Hypothesenaufstellungen  von  Schaffer  und 
Preise  *#),  Redlich*»),  Chiari  *°),  Rogf.k*1)  hier  übergehen.  Von  den  grossen 
Klinikern  nehmen  folgende  Entstehungsarten  an : 

CharcOT  : Die  Höhlenbildung  kann  stattfinden : a)  durch  Erweiterung 
des  Centralcanals,  b)  durch  die  Myilite  caritaire,  c)  durch  Gliom. 

Gowkrs  : Die  meisten  Fälle  sind  auf  embryonale  Entwicklungshemmung 
zurückzuführen.  Andere  („senile  Formen“)  Fälle  müssen  auf  Rarefaction  der 
grauen  Substanz  und  Desintegration  zurüekgeführt  werden. 

In  einer  Zusammenfassung  der  von  den  verschiedenen  Autoren  ent- 
wickelten Anschauungen  stellt  Schlesinger  ‘)  (1.  c.  pag.  188)  fest,  dass  allgemein 
angenommen  seien  als  mögliche  Aetiologie  der  Höhlenbildung  im  Rückenmark 
folgende  Veränderungen : 


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SYRINGOMYELIE. 


Ü09 

Infolge  von  Entwicklungsanomalien  (z.  B.  bei  Spina  bifida)  kann  der 
Centraleanal  mitunter  auf  eine  weite  Strecke  und  in  sehr  erheblichem  Umfange 
offen  bleiben,  cs  kann  also  eine  angeborene  Hydromyelie  mit  der  histologischen 
Zusammensetzung  der  Wand,  wie  sie  dargelegt  ist,  bestehen. 

Zumeist  stimmen  die  Ansichten  auch  darin  überein,  dass  eine  in  einem 
Rückenmarkstumor  gefundene  Höhle  aus  dem  centralen  Zerfall  desselben  infolge 
nekrobiotiseher  Processc  zustande  kommen  kann ; sie  brauchen  mit  dem  Central- 
canal in  gar  keiner  Beziehung  zu  stehen.  Der  centrale  Zerfall  kann  durch  mannig- 
fache Ursachen  bedingt  sein.  Veränderungen  der  den  Tumor  durchziehenden  Qe- 
fässc,  Obturirung  derselben,  Brüchigkeit  der  Wandungen  können  entweder 
mangelhafte  Ernährung,  Nekrosen  oder  Blutungen  zur  Folge  haben,  die  Ursache 
der  Höhlenbildung  sind. 

Für  die  anderen  Formen  der  Syringomyelie,  und  zwar  gerade  für  die 
am  häufigsten  vorkommenden  derselben,  ist  aber  die  Pathogenese  noch  ein  sehr 
umstrittenes  Gebiet. 

Nach  Schlesinger’*  Untersuchungen  ist  die  Beantwortung  der  Frage 
nach  Lage  des  Centralcanals  zur  Höhle,  die  Beziehungen  desselben  zur  Spalt- 
bildung ungemein  viel  schwieriger,  als  es  den  Anschein  hat. 

Ob  eine  Höhle  zum  Centralcanal  iu  genetischer  Beziehung  steht  oder 
nicht,  ist  sehr  schwer  zu  entscheiden.  Denn  einmal  kann  das  Cylinderepithel 
des  Centralcanals  auf  weite  Strecke  ausfallen  , andererseits  konnte  SCHLKSINGKR 
in  allen  von  ihm  untersuchten  Fällen  von  sogenannter  primärer  Gliose  Abschnitte 
nachweisen,  in  welchen  die  Höhle  streckenweise  in  einem  Theile  ihres  Umfangs 
von  typischem , zusammenhängenden  Centralcanalepithel  ausgekleidet  war.  Dass 
hier  eine  zufällige  Confluenz  beider  Höhlen  Vorgelegen  habe , ist  wegen  der 
Regelmässigkeit  des  Befundes  ausgeschlossen.  Daraus  geht  hervor,  dass  die  Unter- 
scheidung von  Hydromyelie  und  jenen  Formen  von  Syringomyelie,  die  nicht  aus 
Tumoren  hervorgegangen  sind,  fast  unmöglich  sein  kann.  — „Jedenfalls“,  sagt 
Schlesinger,  „ist  eine  partielle  Auskleidung  der  Höhlenwand  bei  Syringomyelie 
mit  Centralcanalcpithel  ein  sehr  viel  häufigeres  Vorkommniss,  als  nach  den  bis- 
herigen Mittheilungen  zu  erwarten  stand.  Wahrscheinlich  fehlt  sie  nur  in  einem 
sehr  geringen  Bruehtheil  der  Fälle. 

Ein  principieller  Unterschied  kann  zwischen  Hydromyelie  und  Syringo- 
myelie nicht  statuirt  werden.  Sowohl  die  mit  Gliawucherung  einhergehenden  als 
auch  die  mit  completer  Cylinderepithelauskleiduug  versehenen  Höhlen  bilden  also 
anatomisch  eine  Reihe,  an  deren  einem  Ende  die  vollständig  mit  Epithel  ausge- 
kleidetc  Hydromyelie,  an  dem  anderen  nur  die  von  Bindegewebe  und  Glia  um- 
gebene Syringomyelie  steht.“ 

Wie  Hoffmann  nimmt  Schlesinger  an,  „dass  die  centrale  Gliose  vom 
Centralcanalepithel  ausgeht  und  dass  hierbei  zumeist  angeborene  Anomalien  (be- 
sonders Erweiterungen  des  Centraleanals)  mitspielen;  dass  die  Höhlen  im  neu- 
gebildeten  Gewebe  durch  Einschmelzung  desselben  zustande  kommen.“  Schle- 
singer ist  der  Ansicht,  „dass  den  regelmässig  gefundenen  Auomalien  der  Gefässe, 
welche  bereits  in  einiger  Entfernung  von  der  Neubildung  constatirt  werden 
können,  eine  grosse  Bedeutung  für  die  Entstehung  der  Hohlräume  beizumessen 
ist.  Die  Gefässerkrankung  spielt  hierbei  eine  der  centralen  Gliose  coordinirte  Rolle.“ 

Die  Ansicht  Schlesingers,  dass  die  Höhlen  entstehen  können  lediglich 
auf  Grund  der  Gcfässveränderungen , ohne  dass  gliomatöscs  Gew:ebe  vorhanden 
ist  (Gewebsnekrose  durch  Gefässerkrankung),  findet  ihre  Bestätigung  im  Befunde 
von  Müller  und  Medkb.  u)  Bei  dem  von  den  Verfassern  beschriebenen  Fall 
von  Syringomyelie  war  die  Ilöhlcnbildung  auf  eine  einfache  regressive  Gewebs- 
metamorphose  der  grauen  Substanz  zurUckzufUhrcn.  Die  Verquellungs-  und  Er- 
weichungsprocesse  schienen  mit  einer  überall  sehr  deutlichen  Gefässdegeneration 
in  ursächlichem  Zusammenhang  zu  stehen.  Die  Gefässe  waren  vermehrt  und  ihre 
Wand,  namentlich  in  der  Adventitia,  weniger  der  Intima,  stark  verdickt.  Die 
Encyclop.  Jahrbücher.  VI.  39 


610 


SYRINGOMYELIE. 


Verdickungen  erschienen  in  Präparaten,  die  nach  Weigert  und  Pal  gefärbt 
waren,  als  helle  „hyaline“  Scheiben.  Verschiedentlich  waren  die  Erweichungs- 
höhlen in  den  Centralcanal  durchgebrochen.  Das  Epithel  des  Canals  war  dann 
gewuchert  und  hatte  die  Höhle,  soweit  sie  von  Glia-  und  nicht  von  Bindegewebe 
begrenzt  wurde,  theilweise  oder  ganz  ausgekleidct.  Der  letztere  Befund  ist  be- 
sonders deshalb  wichtig,  als  darnach  das  Vorhandensein  einer  vollständigen  Epithel- 
umkleidung  von  Markböhlen  nicht  mehr  als  Beweis  dafür  angesehen  werden  darf, 
dass  Hydromyclie  und  nicht  Syringomyelie  vorliegt.  Damit  werden  also  auch  die 
Untersuchungen  Schlesixger’s  in  diesem  Punkte  bestätigt.  Wenn  Gefässe  in  die 
Höhle  eindringen,  ist  nach  MüLLEB-Meder  immer  an  Syringomyelie  zu  denken. 

Das  Beschränktsein  der  Erweichungen  auf  die  graue  Substanz , obwohl 
die  Gefüssveräuderungen  in  grauer  und  weisser  Substanz  gleich  vorgeschritten 
gefunden  wurden,  suchen  die  Verfasser  durch  die  Experimente  von  Ehrlich  und 
Bkibgkh  zu  erklären,  nach  denen  die  weisse  Substanz  gegen  Ernährungsstörungen 
viel  weniger  empfindlich  ist  als  die  graue. 

Ehrlich  und  Brieger  fanden  nach  temporärer  Abklemmung  der  Bauch- 
aorta im  Wesentlichen  nur  die  graue  Substanz  geschädigt,  respective  entartet: 
zweifellos  werden  aller  doch  unter  diesen  Bedingungen  weisse  und  graue  Substanz 
in  gleicher  Weise  von  der  Ernährungsstörung  betroffen.  Bei  weiterer  Verfolgung 
dieser  Experimente  fand  dann  SPRONCK  die  interessante  Thatsache , dass  die 
reparatoriseben  Vorgänge,  welche  an  Stelle  der  untergegangenen  grauen  Substanz 
Platz  greifen,  in  einer  hochgradigen  Gliawucherung  bestehen.  Müller  Meder 
glauben  deshalb  vermuthen  zu  dürfen,  dass  vielleicht  auch  bei  manchen  Fällen 
von  Syringomyelie  die  Gliawucherung  als  „Heilungsvorgang“  in  pathologisch- 
anatomischen  Sinne  aufzufassen  ist.  Zum  mindesten  betrachten  sie  die  bei  der 
Syringomyelie  so  ausserordentlich  häufige  Gefässentartung  uielit  als  seenndäre, 
von  der  Gliawucherung  abhängige,  sondern  als  eine  selbständige,  mit  den  letz- 
teren gleichwerthige  Erscheinung.  Das  Gleiche  nehmen  sie  von  der  so  häufig 
mit  Syringomyelie  vergesellschafteten  Meningitis  s/iinnlis  an. 

Sehr  wahrscheinlich  ist  auch  die  Hämorrhagie  in  das  Rückenmark  — 
Hämatomyelie  — als  Ursache  für  eine  Reihe  von  Fällen  von  Höhleubildung  im 
Rückenmark  anzusehen.  Dafür  sprechen  ausser  den  Fällen  von  Minor45)  die 
Befunde,  welche  Schultze40)  letzthin  gemacht  hat.  Er  hatte  Gelegenheit,  das 
Nervensystem  von  drei  Kindern  zu  untersuchen,  welche  mit  Kunsthilfe  zur  Welt 
gebracht,  kurz  nach  der  Geburt  oder  bei  derselben  starben.  Bei  allen  drei  Kin- 
dern war  Vornahme  der  Wendung  nothwendig  gewesen. 

Die  Section  ergab  die  Grosshirnsnbstanz  makroskopisch  und  mikro- 
skopisch normal , dagegen  in  der  Oblongata , der  Medulla  spinalis  Blntcxtra- 
vasate  in  den  Meningen  und  innerhalb  des  Rückenmarks,  in  welch  letzterem  sic 
zur  Bildung  von  Hohlräumen  führten.  Diese  letzterwähnten  Hohlräume  fanden 
sich  im  Dorsalmarke,  im  Cerviealmarke , und  zwar  namentlich  an  den  Hinter- 
hörnern, so  dass  die  mikroskopischen  Bilder  sehr  an  die  Localisation  der  Syringo- 
myelie erinnern.  Schultze  theilt  in  der  gleichen  Arbeit  eine  Anzahl  von  klini- 
schen Beobachtungen  nervöser  Störungen  mit  bei  Kindern , deren  Entbindung 
schwer  gewesen  war.  Es  erscheint  ihm  wohl  möglich,  dass  diese  Störungen  auf 
die  in  anderen  Fällen  constatirten  Blutungen  zurückzuführen  seien , und  dass 
Überhaupt  derartige  Blutungen  für  die  Aetiologie  der  später  auftretenden  Syringo- 
myelie von  Bedeutung  wären. 

Was  die  LAXGHAUs-KRONTHAL’sche  Theorie  von  dem  Zustandekommen 
der  Höhlenbildung  im  Rückenmark  angeht , so  verhält  sich  Schlesinger  nicht 
so  ablehnend  wie  Hofkmaxx  gegen  dieselbe.  Er  erklärt  es  als  eine  feststehende 
Thatsache , dass  „eine  massige  Erweiterung  des  Centralcanals  (Hydromyelie, 
welche  durch  Wucherung  des  Epithels  zur  Syringomyelie  führen  kann)  öfters 
durch  eine  chronische  Comprcssion  des  Rückenmarks  bedingt  sein  könne , sie 
finden  sich  alier  in  der  Regel  nur  oberhalb  der  comprimirten  Stelle“. 


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SYRINGOMYELIE. 


611 


Symptomatologie.  Die  Diagnose  der  Syringomyelie  ist  natürlich  zu- 
erst an  ganz  typischen , durch  die  Section  verificirten  Fällen  gestellt  worden. 
Schültze  und  fast  gleichzeitig  Kahler  haben  zuerst  die  Aufmerksamkeit  auf 
die  Combination  von  Muskelatrophie  mit  eigenartigen  Sensibilitätsstörungen  gelenkt 
in  Fällen,  in  denen  die  Autopsie  im  Kückenmark  das  Vorhandensein  einer  Syringo- 
myelie oder  eines  centralen  Glioms  nachwies.  Das  Wesentliche  für  die  Diagnose 
war  danach,  dass  die  afficirten  Hautpartien  eine  eigenartige  „Dissociation“ 
der  Sensibilitäten  zeigte : Analgesie,  Thermoanästhesie  bei  erhaltenem  Tastsinn. 

Die  typischen  Fälle  bieten  in  ihrem  klinischen  Bilde  die  grösste  Achn- 
lichkcit  mit  der  Aran-Duchenne’ sehen  Muskelatrophie.  Duchenne  selbst  hat 
offenbar  schon  Fälle  von  Syringomyelie  unter  seinen  Fällen  von  Mnskelatrophie 
beschrieben.  Er  erwähnt,  dass  die  Muskelatrophie  sich  ausnahmsweise  mit  Sensi- 
bilitätsstörungen verbinden  könne,  mit  Anästhesie,  die  manchmal  so  ausgesprochen 
sei,  dass  die  Kranken  weder  starke  faradische  Ströme,  noch  die  Wirkung  des 
Feuers  verspüren.  Er  hat  tiefe  Verbrennungen  beobachtet  an  den  anästhetischen 
Theilen,  ohne  dass  die  Kranken  etwas  davon  bemerkt  hätten.  Uebrigens  erwähnt 
schon  Ckarcot  **)  1877  unter  den  Ursachen  der  „ Amyotrophie s spinales  deutero- 
pathiques “,  unter  3.  die  „ Myilite  centrale speciell  die  „Hydromyölie“  oder 
„Hydromyölite“  und  unter  4.  die  intraspinalen  Tumoren,  Gliome  und  Sarkome. 

Die  weiteren  Erfahrungen  haben  aber  ergeben,  dass  das  Symptomenbild 
der  Syringomyelie  (im  umfassendsten  Sinne)  ein  viel  proteusartigeres  ist.  Von 
vorneherein  kann  man  diese  Buntscheckigkeit  des  klinischen  Bildes  eigentlich 
voraussetzen.  Denn  es  handelt  sich  ja  nicht  um  eine  Systemerkrankung  und  die 
Combination  der  verschiedenen  Symptome , eventuell  Ausfallserscheinungen,  wird 
sich  darnach  richten,  welche  Theile  des  Kückenmarks  durch  die  Höhlenbildung, 
durch  die  Neubildung  in  Mitleidenschaft  gezogen  sind  und  in  welchem  Grade. 
Die  Symptome  enthüllen  uns,  wie  Charcot  ”)  sagt,  nur  die  mehr  oder  weniger 
tiefgehenden  Störungen,  welche  die  nervösen  Elemente  der  Vorder-  oder  Hinter- 
liörner  durch  die  sich  in  ihnen  entwickelnden  Neoplasmen  erleiden.  Ganz  die 
gleichen  pathologisch-anatomischen  Veränderungen  der  Nervenelemente  muss  man 
— das  ist  von  vorneherein  klar  — bei  den  Affcctionen  allerverechiedenster  Natur, 
seien  sie  gliomatöa  oder  nicht,  mehr  oder  weniger  ausgesprochen  wiederfinden, 
wenn  diese  Affectionen  ihren  Sitz  in  der  grauen  Substanz  haben. 

Je  nachdem  nun  die  Affection  mehr  auf  ein  System  übergreift,  oder 
mehrere  Systeme  des  Rückenmarks  afficirt,  wird  man  natürlich  die  allcrmannig- 
faltigsten  Krankheitsbilder  bekommen.  Dadurch  wird  die  Gruppirung  der  ver- 
schiedenen , besonders  häufig  beobachteten  Formen  von  Erkrankungen , deren 
anatomische  Grundlage  die  Syringomyelie  oder  Gliomatose  ist,  ausserordentlich 
erschwert. 

Wir  wollen  nns  im  Folgenden  der  Einthcilung  Schlesinger’s  anschliessen. 
Dadurch,  dass  zuerst  im  Allgemeinen  die  zur  Beobachtung  kommenden  Störungen 
beschrieben  werden , ist  es  leichter , zusammenfassend  Haupttypen  aufzustellen. 
Kurz  sollen  aber  doch  einige  der  von  anderen  Autoren  gewählten  Eintheilungen 
mitgetheilt  werden. 

Charcot  ,j)  sagt  (1.  c.  pag.  495),  dass  die  Störungen  bei  Syringomyelie 
in  ihren  verschiedenen  Combinationen  auf  zwei  grosse  Gruppen  zurückgeführt 
werden  können : 

1.  Symptoraes  intrinseques, 

solche,  die  auf  Störungen  zurückgeführt  werden  können,  welche  lediglich  die 
centrale  graue  Substanz  betreffen. 

Hier  sind  zu  unterscheiden : 

a)  Symptome  der  Poliomyelitis  anterior,  progressive  Muskelatrophie 
nach  dem  Typus  Aran-Duchenne  ; 

b)  Symptome  der  Poliomyelitis  posterior,  Anästhesie  für  Schmerz,  Kälte, 
Hitze,  ohne  Beeinträchtigung  des  Tastsinnes  und  des  Muskelgefühls. 


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SYRINGOMYELIE. 


612 


c)  Symptome  der  Poliomyelitis  mediana,  trophische  Störungen,  abge- 
sehen von  den  strophischen  Störungen  der  Muskeln. 

2.  Svmptomes  cxtrinseques. 

Symptome,  die  nicht  eigentlich  zum  Bilde  der  gliomatösen  Syringomyelie 
gehören,  die  sich  aber  häufig  mit  demselben  verbinden.  Sie  sind  bald  bedingt 
durch  Mitbetheiligung  der  Hinterstränge,  bald  der  Pyramidenbahnen,  bald  beider 
gleichzeitig,  entweder  dadurch,  dass  die  Neubildung  auf  dieselbe  übergreift  oder 
dadurch,  dass  sie  eine  Compression  auf  die  verschiedenen  Systeme  ausübt.  Dem- 
gemäss ist  hier  zu  unterscheiden  zwischen 

a)  Symptome»  leucomydliques  latdraux  (Paresen  oder  spastische  Läh- 
mungen); 

b)  Symptome»  leucomydliques  postdrienrs  (verschiedene  tabetisehe  Er- 
scheinungen, Störungen  des  Tastsinnes  etc.). 

Dieser  Eintheilung  ist  auch  Brühl  **)  in  seiner  Monographie  gefolgt. 
Neuerlich  hat  Brühl14)  eine  grössere  Anzahl  von  Formen  aufgcstellt:  Forme 
mixte  commune  ou  Forme  classique;  Forme  sensitive;  Forme  motrice  (in  der- 
selben drei  Unterformen:  Typus  Akan-Duchknne , Typus  der  Pachymeningitis 
cervicalis,  Typus  der  amyotrophischen  Lateralsklerosc) ; Forme  trophique  ( tyj>e 
MORVAN);  Forme  fruste;  Forme  latente. 

Critzmann *s)  stellt  vier  Formen  auf: 

1.  Syringomydlie  forme  d’atrophie  musculaire  type  Aran-DI'CHKSXK. 

2.  Syringomydlie  forme  MORVAN. 

3.  Syringomydlie  forme  de  scldrose  latdrale  amyotrophique. 

4.  Syringomydlie  forme  latente. 

Man  muss  Schlesinger  durchaus  beistimmen,  wenn  er  die  Forme  latente 
überhaupt  nicht  gelten  lässt.  Es  handelt  sich  dann  immer  um  Fälle , in  denen 
eine  eingehende  klinische  Prüfung  überhaupt  nicht  stattgefunden  hat.  Schle- 
singer weist  das  gerade  gegenüber  der  BÄUMLKE’schen s7)  Arbeit  und  gegenüber 
dem  für  die  latente  Form  immer  citirten  HoLSCHEWNlKOFF’schen  *’)  Falle  nach. 
Die  Differentialdiagnose  kann  unter  Umständen  so  schwierig  sein , dass  die 
Syringomyelie  verkannt  wird.  Oder  die  sensiblen  Störungen , die  ja  unter  Um- 
ständen dem  Kranken  vollständig  unbewusst  bleiben  können , herrschen  so  vor, 
dass  — eben  weil  der  Kranke  dieselben  nicht  bemerkt  — eine  Untersuchung 
gar  nicht  vorgenommen  und  eine  Diagnose  nicht  gestellt  wird;  aber  man  kann 
deshalb  noch  nicht  von  latenter  Syringomyelie  sprechen. 

Wir  gehen  nun  zur  Uebersicht  Uber  die  einzelnen  Störungen  und  fassen 
dann  nachher  die  Haupttypen  nach  Schlesinger  zusammen. 

Motorische  Störungen.  Die  Symptome  der  Poliomyelitis  anterior 
gehören  zu  den  Cardinalsymptomen  der  Syringomyelie.  Am  häufigsten  ist  der 
Beginn  mit  den  Symptomen  der  Amyotrophie  und  Paralyse  nach  dem  Typus 
Aran-Dijchknnk;  je  mehr  man  jedoch  die  Krankheit  kennen  lerut , desto  mehr 
Varietäten  zeigen  sich.  Weiter  bleibt  die  Amyotrophie  auch  nicht  stationär,  son- 
dern, je  nachdem  sich  die  Affection  von  ihrer  Prädilectionsstelle  im  Uutertheile 
des  Halksmarks  gegen  den  Bulbus  oder  gegen  den  Kückentheil  ausdehnt,  werden 
andere,  correspondirende  Muskclgruppcn  befallen.  Meistens  ist  der  Functionsaus- 
fall und  die  Atrophie  der  Muskeln  nicht  strenge  an  das  Verbreitungsgebiet  ein- 
zelner Nerven  gebunden,  sondern  es  werden  regellos  von  verschiedenen  Nerven 
versorgte  Muskeln  befallen,  so  dass  man  oft  gleichzeitig  Musculi  interossei, 
lumbricales,  den  Musculus  opponens,  adductor  pollicis  und  digiti  minimi  ver- 
schieden stark  atrophirt  findet,  ohne  dass  ein  Nervengebiet  besonders  bevorzugt 
ist.  Ja  es  können  sogar  gleichzeitig  alle  Muskeln  im  Verbreitungsgebiet  aller  drei 
Nerven  erkranken.  Die  dann  durch  die  Contractur  entstehende  Kralleustellung 
der  Hand  ist  vollkommen  gleich  der  bei  der  progressiven  Muskelatrophie,  Typus 
Aran-Duchennk,  zumeist  auftretenden  (Schlesinger). 


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SYRINGOMYELIE. 


613 


Die  Atrophie  progressiven  Charakters  beginnt  fast  immer  im  distalen 
Knde  der  oberen  Extremität , an  den  kleinen  Handmnskeln ; das  zeitliche  Auf- 
einanderfolgen der  verschiedenen  Gruppen,  ob  zuerst  Interossei  und  dann  Thenar 
oder  umgekehrt,  wechselt.  Häufig  ist  der  Beginn  und  Verlauf  der  Atrophie  analog 
dem  bei  isolirter  Ulnarisläsion  auftretenden  Mnskelschwunde ; die  Zwischenräume 
zwischen  den  Mittelhandknochen  sinken  immer  mehr  ein,  da  die  Muxculi  inter- 
ossri  gelähmt  sind  und  atrophiren  (Schlesinger).  ln  anderen  Fällen  überwiegt 
das  Bild  der  Medianuslähmung.  Im  ersten  Falle  kommt  es  zur  Bildung  der  Krallen- 
haud  ( Klauenhand,  main  en  griffe,  clasped  hand J,  im  zweiten  Falle  zur  Atfenhand. 

Das  weitere  Verhalten  der  Atrophien  ist  ganz  verschieden.  Manchmal 
bleiben  sie  stationär,  manchmal  sind  sie  langsam  fortschreitend,  aber  ein  be- 
stimmter Typus  für  das  Fortschreiten  ist  nicht  aufzustellen.  Manchmal  schreiten 
sie  gleiehmässig  vom  distalen  Ende  centralwärts  vor,  manchmal  werden  z.  B.  die 
sämmtlichen  Muskeln  des  Vorderarms  übersprungen.  So  beobachtete  Schlesinger 
bei  Klauenstellung  der  Hand  und  hochgradiger  Atrophie  des  Deltoideus  eine 
geradezu  herkulische  Entwicklung  der  dazwischen  gelegenen  Abschnitte  der 
Musculatur. 

Im  weiteren  Fortschreiten  werden  die  Muskeln  des  Schultergürtels  meistens 
gleiehmässig  befallen,  dann  die  Rücken-,  Intereostal-  und  Bauchmusculatur. 

Von  hier  fortschreitend  oder  auch  unter  Verschonung  der  Schulter-, 
Rückenmuacnlatur  kennen  die  unteren  Extremitäten  ergriffen  werden. 

Durch  bestimmte  Combinationen  von  Muskelgruppcn,  welche  erkranken, 
können  Bilder  entstehen , welche  anderen,  bestimmt  abgegrenzten  Erkrankungen 
gleichen. 

Wird  z.  B.  die  Musculatur  des  Schnltergürtels  ergriffen , ro  kann  die 
Muskelatrophie  den  Scapulo-Hmneraltypus  zeigen.  Neuerlich  hat  Brissacd7)  einen 
Fall  von  DCCHENNK-ERB’scher  combinirter  Schulterarmlähmung,  höchst  wahrschein- 
lich auf  gliomatftser  Basis  beschrieben. 

Bei  fortgeschrittener  Atrophie  sind  die  Knochen  nur  mit  Haut  bedeckt, 
zu  Tage  liegend. 

Die  Muskelatrophien  können  bilateral  und  unilateral  auftreten;  ein  aus- 
schliesslich unilaterales  Auftreten  dürfte  aber  kaum  auf  die  Dauer  beobachtet 
werden;  ungleichmässige  Intensität  der  Atrophie  auf  beiden  Seiten  dagegen  kommt 
häufiger  zur  Beobachtung. 

Die  befallenen  Muskeln  bieten  meist  vor  dem  Auftreten  der  Degenerations- 
erscheinungen fibrilläre  Zuckungen  oder  Zittern  in  einzelnen  MuskelbUndeln.  In 
anderen  Fällen  fehlen  die  fibrillären  Zuckungen,  trotz  sehr  bedeutenden  Muskel- 
schwundes, gänzlich,  wo  sie  bestehen,  sind  sie  meist  lange,  während  mehrerer 
Monate  oder  selbst  Jahre  zu  beobachten. 

Häufig  wird  der  Muskelschwund  durch  eine  langsame  Abnahme  der 
Leistungsfähigkeit  der  betreffenden  Muskeln  cingeleitet.  Von  dieser  langsam  ein- 
setzenden, aber  definitiven  Ausfallserscheinung  ist  scharf  zu  unterscheiden  die 
plötzlich  einsetzende  Lähmung  einzelner  Extremitätenabschnitte  und  ganzer  Extre- 
mitäten, die  nach  kurzdauernden  I’arästhesien  und  grosser  Schwäche  in  wenigen 
Stunden  sich  ausbilden  kann.  Solche  Lähmungen  können  zwei  Ursachen  haben. 
Es  kann  in  das  neu  gebildete  Gewebe  eine  Blutung  erfolgen , und  infolge  des 
erhöhten  Druckes  oder  durch  directe  Zerstörung  von  Rückenmarksabschnitten 
kann  eine  Parese  zustande  kommen.  Oder  aber  cs  kann  nach  längerem  Be- 
stände des  Processes  durch  collatcrales  Oedem  um  neugebildetes  Gewebe  im 
Rückenmark  eine  Comprcssion  der  Pyramidenseitenstrangbahnen  stattfinden  und 
auf  diese  Weise  eine  Parese  der  Beine  zustande  kommen.  Derartige  Lähmungen 
können  vorübergehend  sein. 

An  den  Beinen  sieht  man  häufig  sich  eine  Abnahme  der  motorischen 
Fähigkeiten  langsam  entwickeln , die  im  auffallenden  Gegensatz  zu  der  noch 
ziemlich  kräftigen  Beschaffenheit  der  Musculatur  stehen  kann.  Für  die  Erklärung 


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SYRINGOMYELIE. 


dieser  Parese  muss  eine  andere  Entstehungsursache  gesucht  werden.  Sehr  oft 
sind  bei  der  Syringomyelie  die  krankhaften  Veränderungen  im  Halsmark  beson- 
ders stark  ausgesprochen  und  es  erleiden  die  Pyramidenseitenstrangbahnen  mehr 
minder  Bchwere  Läsionen,  auf  welche  sie  mit  Zugrundegehen  zahlreicher  Nerven- 
fasern und  consecutiver  absteigender  Degeneration  reagiren.  Da  die  Degeneration 
oft  hochgradig  ist,  so  erscheint  es  begreiflich,  wenn  sieb  an  den  unteren  Extre- 
mitäten neben  einer  erheblichen  Abnahme  der  motorischen  Kraft  spastische 
Phänomene  geltend  machen.  Die  Muscnlatur  der  unteren  Extremitäten  wird  daun 
häufig  rigide,  die  Beine  werden  zumeist  im  Kniegelenk  gestreckt  und  aneinander 
adducirt  gehalten,  die  FUsse  stehen  mitunter  in  Spitzfussstellung.  Wenn  die 
Rigiditäten  längere  Zeit  andauern , so  kann  es  auch  zur  Entwicklung  von  Con- 
tracturcn  mit  theilweiser  Fixation  der  Gelenke  kommen.  Sind  die  Pyramidcn- 
seitenstrangbahnen  noch  oberhalb  der  Cervicalanschwellung  ergriffen , so  können 
die  Rigiditäten  auch  au  den  oberen  Extremitäten  in  sehr  ausgeprägtem  Masse 
hervortreten,  während  sonst  mehr  schlaffe  Lähmungen  überwiegen  (Schlesinger, 
1.  c.  pag.  11).  In  diesen  Ausführungen  liegt  die  Erklärung  für  das  Auftreten 
des  bei  der  Syringomyelie  nicht  seltenen  Bildes  der  amyotrophischen  Lateral- 
sklerose. 

Während  als  motorische  Reizerscheinungen  im  Beginn  der  Syringomyelie, 
manchmal  der  Lähmung  und  Abmagerung  vorausgehend,  Schüttelbcwegungen  und 
unregelmässige  Zuckungen  beschrieben  werden,  sind  dieselben  in  späteren  Stadien 
mehr  tonischer  Art. 

In  vorgeschrittenen  Fällen  nehmen  auch,  wie  Schlesinger  beobachten 
konnte  (1.  c.  pag.  13),  Rumpf-  und  Athmungsmusculatur  an  den  Krämpfen  theil. 
Die  ganze  Körpermusculatur  ist  stark  contrahirt,  der  Kopf  nach  rückwärts  ge- 
zogen ; es  entwickelt  sich  Opisthotonus  von  solcher  Intensität,  dass  man  bei  einer 
Erhebung  des  Kopfes  den  ganzen  Körper  mithebt.  Der  Athem  geht  zuerst  tief 
und  keuchend , später  setzt  er  infolge  Glottiskrampfes  aus ; die  Respiration 
beginnt  sodann  mit  einem  hörbaren  inspiratorischen  Jauchzen  (Laryngospasmus); 
die  Dauer  des  Anfalles  kann  5 Minuten  betragen.  Bei  diesen  generalisirten  An- 
fällen muss  wohl  an  ein  Ergriffensein  der  Medulla  oblongata  gedacht  werden. 

Die  elektrische  Untersuchung  kann  einfache  Herabsetzung,  respective 
Schwinden  der  Erregbarkeit  für  den  faradischen  sowohl  wie  für  den  galvanischen 
Strom  ergeben,  ln  anderen  Fällen  zeigt  Bich  bei  galvanischen  Strömen  gesteigerte 
Erregbarkeit. 

Entartungsreaction  ist  selten  und  meist  nur  auf  einzelne  Muskeln  oder 
Muskelbündel  beschränkt. 

Was  den  Gang  der  Kranken  betrifft,  so  tritt  zunächst  schon  in  früheu 
Stadien  leicht  Ermüdung  ein ; häufig  wird  der  Gang , je  nach  den  Läsionen, 
vollständig  spastisch  oder  ataktisch  und  bei  Localisation  in  der  Medulla  oblongata 
taumelnd. 

Das  Verhalten  der  Sehnen-  und  Periostreflexe  ist  differential- 
diagnostisch  von  der  grössten  Bedeutung. 

Bei  den  Formen,  die  mit  einer  Muskelatrophie  an  den  Armen  verbunden 
sind,  erlöschen  die  Reflexe  meist  sehr  frühzeitig.  Eine  Ausnahme  hiervon  machen 
nur  die  Fälle,  bei  denen  acut  die  Abmagerung  der  Muskeln  cn  masse  eintritt. 
Bei  diesen  Fällen , welche  sehr  der  amyotrophischen  Lateralsklerose  ähneln , ist 
eine  hochgradige  Steigerung  der  Sehnen-  und  Periostrefleie  an  den  oberen  Extre- 
mitäten beobachtet  worden  (Schlesinger),  ln  anderen  Fällen,  wenn  die  Rigidi- 
täten der  Muskeln  das  Krankheitsbild  beherrschen,  kann  man  schliesscn,  dass 
die  Erhöhung  der  Schnenreflexe  an  den  oberen  Extremitäten  auf  eine  Ausdehnung 
des  Processes  im  Halsmark  hindeutet. 

„An  den  unteren  Extremitäten  sind  oft  Reflexe,“  heisst  es  bei  Schle- 
singer (1.  c.  pag.  66),  „und  zwar  Patellar-,  Fusssohlen-  und  Adductorenreflex 
bedeutend  erhöht.  Nicht  selten  ist  Fussclouus  vorhanden  oder  durch  Beklopfen 


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SYRINGOMYELIE. 


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der  Sehne  des  Quadriceps  fetnorü  eine  Contraction  auslösbar.  Dieses  Verhalten 
der  Reflexe  findet  man  besonders  bei  Syringomyelie  in  den  oberen  Abschnitten 
des  Rückenmarkes  und  bei  jenen  Formen,  welche  im  Lendenmark  die  centralen 
Theile  der  Mcdulla  einnehmen.  Steigerung  der  Sehnenreflexe  an  den  unteren 
Extremitäten  ist  ein  so  häufiges  Symptom  bei  der  cervicalen  Form  der  Syringo- 
myelie, dass  ein  Ausbleiben  derselben  oder  gar  ein  Ausfall  der  Sehnenreflexe 
das  reine  Krankheitsbild  trübt.“ 

Schlesinger  betont,  dass  das  Ausfallen  dieses  Symptoms,  das  hin  und 
wieder  beobachtet  werde,  nicht  genügend  beachtet  sei.  Er  führt  drei  Gründe  an, 
welche  das  Fehlen  der  Reflexe  an  den  unteren  Extremitäten  bedingen  können : 
1.  wenn  die  Syringomyelie  mit  Tabes  dorsalis  combinirt  ist;  2.  wenn  das  Lenden- 
mark erkrankt  und  die  reflexvermittelnden  Abschnitte  durch  Höhlenbildung,  respec- 
tive  Neubildung  von  Gewebe  zerstört  sind ; 3.  wenn  gleichzeitig  eine  Menin- 
gitis besteht. 

In  einem  Falle  wurde  Erhöhung  der  Masseterenreflexc  festgestellt. 

Die  Hautreflcxe  sind  bei  Syringomyelie  meist  gesteigert;  dasselbe  gilt 
für  die  Bauehdecken-,  Cremaster-  und  Fusssohlenkitzelreflexe , auch  bei  vollstän- 
diger Analgesie. 

Sensible  Störungen.  Als  das  auffallendste  und  für  die  Diagnose  wich- 
tigste Symptom  der  Syringomyelie  wurde  in  den  Beobachtungen  von  Schultze 
und  Kahler  die  (von  Charcot  so  genannte)  Dissociation  der  Sensibilitäten 
bezeichnet.  Bei  vollständig  erhaltener  tactiler  Sensibilität  fallen  die  Sensibilitäten 
für  Temperatur  und  Schmerz  vollständig  aus. 

Auf  einem,  durchaus  nicht  zu  einem  bestimmten  Innervationsgebiete  ge- 
hörenden Abschnitt  der  äusseren  Decke  constatirt  man  bei  der  Untersuchung 
vollständige  Analgesie,  Thermoanästhesie ; daneben  ist  der  Tastsinn  und  der 
Muskelsinn  (Bruhl,  1.  e.  pag.  31)  erhalten. 

Diese  Integrität  der  Berührungsempfindung  und  des  Muskelsinnes  trifft  nun 
allerdings  für  eine  grosse  Reihe  von  Fällen  zu;  die  neueren  Erfahrungen  haben 
gezeigt,  dass  diese  Sensibilitäten  häufig  sehr  bedeutende  Störungen  erleiden,  ja  voll- 
ständig anfgehoben  sein  können.  Während  man  aus  den  zuerst  publicirten  classischen 
Fällen  für  die  Differentialdiagnosc  der  Syringomyelie  als  Gesetz  aufstellen  konnte, 
dass  das  Fehlen  der  erwähnten  Qualitäten  die  Diagnose  Syringomyelie  ausschlösse, 
weiss  man  heute,  dass  diese  Dissociation  nicht  nur  der  Syringomyelie  zukommt, 
uud  dass  das  Fehlen  derselben  nicht  die  Diagnose  Syringomyelie  ausschliessen 
lässt,  wenn  die  anderen  Symptome  für  Höhlenbildung  im  Rückenmark  sprechen. 

Tactile  Anästhesie  ist  von  Roth  •“),  Joffroy  und  Achard  *•),  Hoch- 
haus 4 °),  FCrstner  und  Zacher42),  Oppenheim42)  (mit  Schwund  des  Muskel- 
sinnes) in  sicheren,  meist  durch  die  Autopsie  bestätigten  Fällen  von  Syringomyelie 
beobachtet  worden.  Aehnliche  Fälle  theilen  Miura  *•)  und  Ckitzmann  2e)  (Beob. 
N.  IV  von  Parmentieri  mit. 

Weiter  sind  Fälle  beobachtet,  bei  denen  vollständig  normale  Sensibilität 
in  allen  Qualitäten  angegeben  ist  und  in  denen  die  Autopsie  dennoch  ausgedehnte 
Höhlenbildung  ergeben  hat.  In  dem  Fall  vonSt'HÜLE*1)  bestanden  die  Symptome 
einer  allgemeinen  Paralyse  neben  vollständig  intacter  Sensibilität  ; die  Autopsie 
ergab  eine  Höhle,  welche  fast  das  ganze  Rückenmark  einnahm.  Dasselbe  gilt  für 
einen  Fall  von  Krauss42)  und  für  einen  von  Schultze.2*) 

Demgegenüber  giebt  es  Fälle  genug  in  der  Literatur,  in  denen  bei  ganz 
andersartigen  Rückenmarksaffectionen  die  Dissociation  der  Sensibilitäten  zu  con- 
statiren  war.  Neuerlich  haben  Plc  und  RlGAUD*1)  einen  Fall  von  Dissociation 
der  Sensibilitäten  bei  „ Pachymeningomyelite“ , veranlasst  durch  POTT'sche  Krank- 
heit, mitgetheilt. 

Ckitzmann  (1.  c.  pag.  21)  stellt  einige  derartige  Fälle  zusammen.  Er 
erwähnt  zunächst  einen  Fall  von  Parmentier  *•),  in  dem  es  sieh  zweifellos 
um  Ataxie  handelte.  Dass  Minor  *’)  die  Dissociation  in  5 Fällen  von  Hämato- 


616 


SYRINGOMYELIE 


myclie  constatirte,  erscheint  ans  nach  den  oben  ansgeftlhrten  Anschauungen  von 
Schlesinger  und  den  Befunden  von  Schultze“)  durchaus  als  voraugzusetzen. 
Chahcot  *8)  tlieilt  einen  Fall  von  Hysterie  mit  Dissociation  der  Sensibilitäten 
(mit  vorübergehender  Heilung!)  hei  einem  Manne  mit.  Zwei  gleiche  Fälle 
sind  angegeben  in  der  These  von  Caillet  **)  und  einer  in  der  These  von 
SOUQUKS.  **J 

Weiter  sind  Fälle  von  Dissociation  der  Sensibilitäten  bei  Alkoholintoii- 
cation  mitgetheilt  von  Lancebeaux  61).  Lemoixe41;  und  bei  traumatischer  Neuritis 
von  Charcot.6*) 

Die  Fälle  von  ZlEHI. 6<),  welche  Critzmann  (I.  c.  pag.  23)  hier  citirt, 
dürften  allerdings  kaum  in  Betracht  kommen,  obgleich  sie  sehr  interessante  Bei- 
spiele der  verschiedenartigsten  partiellen  Empfindungslähmungen  bringen. 

Am  häufigsten  werden  aber  dieselben  Dissociationen  bei  der  Lepra  beob- 
achtet. Wenn  wir  auch  bei  dem  Abschnitt  über  DifTerentialdiagnose  eingehender 
ilie  Lepra  berücksichtigen  müssen , so  wollen  wir  doch  an  dieser  Stelle  schon 
daraufhinweisen,  dass  Zambaco  8S’ B«),  Lki.oiz  6I),  Princb  A.  Morrow  **),  Die- 
rixg  5*)  u.  A.  Beobachtungen  von  Dissociation  der  Sensibilitäten  bei  Lepra  mit- 
gctheilt  hahen.  Die  Erfahrungen  des  Verfassers  in  den  letzten  zwei  Jahren  in 
dieser  Hinsicht  können  die  früheren  Mittheilungen  nur  bestätigen.  Critzmann 
(1.  c.  pag.  22 — 31)  geht  die  verschiedenen  Formen  des  Tastsinnes  durch  und 
kommt  zu  dem  Schluss,  dass  die  Empfindung  der  einfachen  Berührung,  des 
Druckes,  der  Localisation , der  Reliefsinn,  oder  stereognoinische  Sinn  und  die 
Fähigkeit,  die  Art  von  Flüssigkeiten  durch  das  Gefühl  zu  bestimmen  — , dass, 
sagen  wir  alle  diese  Qualitäten  des  Tastsinnes  bei  der  Syringomyelie  geschwächt 
oder  vollständig  aufgehoben  sein  können.  Sie  können  aber  auch  bestehen,  können 
andererseits  auch  bei  anderen  Rückenmarkserkranknngen  afficirt  sein , und  sind 
es,  wie  wir  aus  reicher  Erfahrung  sagen  könucn,  oft  bei  der  Lepra. 

SCHLESINGER  vermochte  in  Fällen,  in  denen  der  Tastsinn  vollständig 
erloschen  zu  sein  schien,  durch  rasch  wiederholte  Berührungen  einer  hyper- 
ästhetischen Hautstelle  noch  Tastempfindung  auszulösen.  Nach  demselben  Autor 
ist  Polyästhesie  oder  Verspätung  einer  Empfindung  bei  Syringomyelie  nicht  beob- 
achtet. Vielleicht  Hesse  sieh  diese  Beobachtung  differentialdiagnostiseh  verwert  hon ; 
bei  Lepra  ist  die  Polyästhesie  eine  oft  vorkoinmende  Erscheinung. 

Nachempfindungen  und  Hyperästhesien  findet  man  meist  der  sensiblen 
Lähmung  vorausgehend. 

Anästhesien  und  Hyperästhesien  entsprechen  in  ihrer  Ausdehnung  meist 
den  analgetischen  und  thermoanästhetischen  Gebieten.  SchCppel  *°)  hat  einen 
höchst  eigenthllmliehen  Fall  von  Anästhesie  am  ganzen  Körper  beschrieben. 

Die  Veränderungen  der  Schmerzempfindungen  werden  häufig 
durch  Hyperästhesie  eingeleitet ; die  Hypalgesie,  resp.  Analgesie  entwickelt  sieh 
langsam,  zeigt  aber  dann,  einmal  entwickelt,  fast  nie  grössere  Schwankungen. 

Die  Analgesie  beginnt  meist  au  einer  Extremität,  häufig  ganz  unabhängig 
von  den  .Muskelatrophien,  und  schreitet  dann  ceutralwärts  voran ; werden  z.  B. 
beide  obere  Extremitäten  so  befallen  und  treffen  sich  im  Vorschreiten  die  anal- 
getischen Zonen,  so  kommt  cs  zu  der,  von  Chahcot  sogenannten,  westenförmigen 
Analgesie.  Die  Analgesie  erstreckt  sich  in  vielen  Fällen  auch  auf  die  tieferen 
Theile ; bekannt  ist  der  Fall  von  SCHULTER,  der  einen  Bäcker  betrifft,  welcher 
sich  beim  Teigkneten,  ohne  Schmerz  zu  empfiuden,  deu  Arm  brach.  Schlesinger 
hat  schmerzlos  eine  Luxation  eintreten  und  repouirt  werden  sehen.  Er  theiit 
ausserdem  eigene  und  fremde  Fälle  mit  von  Bchmerzlos  ausgeführten  Operationen, 
ohne  Narkose,  bei  Syringomyeliekranken.  Ich  hatte  Gelegenheit,  bei  Lepra- 
kranken,  welche  Dissociationen  der  Sensibilitäten  boten,  den  eigcnthttmlichen  Ein- 
druck zu  beobachten,  den  es  machte,  wenn  der  Kranke  genau  angiebt,  an  welcher 
Stelle  Operationen  — tiefe  Incisionen,  Amputationen  von  Fingern  — vorgenommen 
werden,  ohne  irgend  welche  Schmerzempfinduug  zu  haben,  ln  anderen  Fällen 

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SYRINGOMYELIE. 


617 


werden  tiefgehende  Verbrennungen  von  den  Kranken,  z.  B.  des  ganzen  Rückens, 
erst  durch  den  Brandgeruch  bemerkt. 

Die  Schleimhäute  des  Mundes,  der  Nase,  der  Blase,  des  Rectums,  sowie 
die  Conjunctivn  können  ebenfalls  vollständig  analgetisch  werden. 

Die  Störungen  der  Temperaturempfindung  beginnen  meist  mit 
subjectiven  Parästhesien,  Hitze-  und  Kälteempfindung.  Allmälig  wird  dann  die 
Pereeption  von  TemperatureindrUcken  verlangsamt ; die  Kranken  warten  längere 
Zeit,  bis  sie  eine  Antwort  geben  auf  die  Application  eines  heissen  oder  kalten 
Gegenstandes.  Wechselt  man  rasch  hinter  einander  selbst  bei  grösseren  Temperatur- 
differenzen  heiss  und  kalt,  so  vermögen  die  Kranken  nicht  mehr  bestimmt  zu 
antworten  und  bleiben  dann  häufig  bei  einer  Temperaturempfindung  stehen,  er- 
klären also  — wenn  die  Temperaturdifferenz  nicht  z.  B.  Eis  und  fast  kochendes 
Wasser  ist,  sondern  ca.  20 — 25  0 beträgt  — jede  Temperatur  in  gewissen  Breiten 
für  kalt  oder  für  warm. 

Eine  eigenartige  Veränderung  der  Temperaturempfindung  erwähnt  Schle- 
singer, die  stark  an  tabetisehe  Sensibilitätsstfirungen  erinnert.  Es  handelt  sich 
nämlich  um  zeitliche  Dissoriation  der  Tempcratiirempfindung  in  der  Weise,  dass 
dieselbe  an  den  Beinen  im  Vergleiche  zu  den  anderen  Sinnesqualitäten  erheblich 
verspätet  eintraf. 

Die  Schleimhäute  können  auch  völlig  therrooanästhetisch  werden.  Weber 
hatte  angenommen,  dass  die  Empfindung  von  kalt  und  heiss  durch  Getränke, 
welche  in  den  Magen  eingeführt  werden,  nicht  von  der  Schleimhaut  des  Magens, 
sondern  durch  die  Abkühlung  oder  Erwärmung  der  äusseren  Decke  ausgelöst 
werde.  In  einem  Falle  von  absoluter  Thermoanästhesie  vermochte  nun  Schle- 
singer nachzuweisen,  dass  der  Kranke  heiss  und  kalt  im  Magen  zu  unterscheiden 
wusste;  es  muss  demgemäss  die  Magenschleimhaut  selbst  diese  Empfindung  ans- 
gelöst haben. 

SCHLESINGER  vermochte  in  einem  Falle  auch  Thermoanästhesie  der 
Schleimhaut  der  Urethra  und  der  Blase  zu  constatiren. 

An  sensiblen  R ei z e rsc  h ein u n ge n müssen  ausser  den  schon  er- 
wähnten Parästhesien  von  Seiten  des  Temperatursinnes  schmerzhafte  Parästhesien 
an  manchen  Körperstellen  und  Nebenempfindungen  im  Bereiche  der  tactilen 
Sphäre  erwähnt  werden.  Schlesinger  fuhrt  noch  eine  Beobachtung  von  Müller 
(Graz)  an,  dessen  Kranker,  obwohl  anhidrotisch,  fortwährend  die  Empfindung 
hatte,  wie  wenn  er  von  Schwciss  triefen  würde. 

Lancinirende  Schmerzen  sind,  wie  Schlesinger  betont,  nicht  selten  ein 
Initialsymptom,  können  viele  Jahre  dauern  und  werden  von  den  Kranken  ganz 
analog  wie  bei  Tabes  geschildert.  Auch  Gürtelgefühl  wird  beobachtet. 

Trophische  Störungen.  Die  trophischen  Störungen  bei  der  Syringo- 
myelie sind  mannigfaltigster  Art  und  bieten  das  grösste  Interesse.  Sie  betreffen 
Haut,  Unterhaut,  Knochen  und  Gelenke. 

Ich  will  hier  einflechten,  dass  die  Existenz  trophischer  Nerven  nicht 
mehr  eine  Hypothese  zu  sein  scheint  nach  DUKDUri’s  ••)  experimentellen  Unter- 
suchungen. Durch  Rcsection  des  Vagus  (vagosyinpathicus)  der  einen  Seite  bei 
4 Monate  alten  Hündchen  wurden  Cornealtrübung  und  Infiltrationsprocesse  an  der 
Lunge  hervorgebracht.  Weiter  hatte  die  Durchschneidnng  des  Halssympatbicus 
der  einen  Seite  an  noch  wachsenden  Thieren  Vergrösserung  des  gleichseitigen 
Ohres  zur  Folge.  Damit  ist  die  Frag«1  nach  der  Existenz  trophischer  Nerven 
im  positiven  Sinne  entschieden. 

Trophische  Störungen  der  Haut  (mit  Einschluss  der  vaso- 
motorischen Störungen).  Die  trophischen  Störungen  an  der  Haut  können  die. 
ganze  Scala  von  der  einfachen  Hyperämie  durch  alle  regressiven  und  progressiven 
Ernährungsstörungen  durchmachen.  Schlesinger  hat  dieselben  denn  auch  direct 
in  Anlehnung  an  das  HEBRA-KAPOsfsche  System  durchgenommen  und  die  zuge- 
hörige Literatur  zusammengestellt. 


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618 


SYRINGOMYELIE. 


Wir  finden  Anämie  und  Stauung  an  der  Haut,  besonders  der  Extremi- 
täten, die  vollständig  dem  Typus  der  RAYXAUD’schen  Krankheit  entsprechen ; 
weiter  findet  man  Erytheme  (echte  Erytheme  im  Sinne  Unna ’s,  Wallungshypcrämien) 
sowohl  an  den  Extremitäten,  als  auch  an  Körperstellen,  die,  besonders  bei  bett- 
lägerigen Kranken,  dem  Druck  ausgesetzt  sind. 

Durch  Wallungs-  sowohl  wie  durch  Stauungshyperämie  werden  weiter 
eine  ganze  Reihe  ekzemartiger  Affectionen  bei  der  Syringomyelie  beobachtet. 
Urticaria,  pruriginöse  und  pemphigoide  Eruptionen  werden  weiter  beschrieben. 

Pemphigoide  Eruptionen  werden  vielfach  erwähnt.  Als  besonders  in- 
structiv  möchten  wir  hier  den  nach  jeder  Seite  hin  gründlich  beobachteten  Fall 
von  Nkubergkk*1),  dessen  anatomischer  Theil  später  von  Asxus  •*)  beschrieben 
ist,  im  Auszuge  mittheilen. 

Es  handelte  sich  um  ein  hysterisches,  mit  secundärer  Lues  behaftetes 
Mädchen.  Bei  der  Untersuchung  wurden  auf  dem  Rücken  2 Narbenkeloide  con- 
statirt ; der  Mittelfinger  der  rechten  Hand  war , angeblich  wegen  Trauma  und 
consecutivem  Brand,  amputirt;  der  Amputationsstumpf  war  auf  Druck  sehr  schmerz- 
haft, und  von  ihm  aus  traten  von  Zeit  zu  Zeit  heftige,  iancinircnde,  auf  die 
obere  Extremität,  Brust  und  Rücken  der  rechten  Seite  ausstrahlcnde  Schmerzen  auf. 

Nach  vierwöcbentlichem  Spitalaufenthalte  zeigten  sich  plötzlich  bei  der 
Patientin  in  der  Umgebung  der  rechten  Brustdrüse  und  oberhalb  deg  rechten 
Schlüsselbeines,  unter  gleichzeitigem  Ausbruch  der  bisher  noch  niemals  aufge- 
tretcuen  Menses,  zahlreiche  Blasen. 

Diese  Blaseneruptionen  wiederholten  sich  bei  der  Kranken  in  oft  an  die 
Menses  sich  anschliessenden,  sonst  aber  unregelmässigen  Intervallen,  und  waren 
zunächst  auf  die  rechte  Brust  und  die  rechte  obere  Extremität  beschränkt;  erst 
nach  einem  Zeitraum  von  vier  Monaten  gingen  sie  auch  auf  die  linke  Körper- 
seite und  zwar  nur  auf  die  obere  Extremität  und  Brust  über. 

Die  Blasen  trockneten  zu  grossen,  gelbgrünen,  unter  dem  Hautniveau 
liegenden  Schorfen  ein,  die  meist  bald  durch  den  umspülenden  Eiter  losgelöst 
wurden  und  dann  einen  unregelmässig  vertieften,  scharf  umschriebenen,  leb- 
haft eiternden , einen  fötiden  Geruch  verbreitenden  Substanzverlnst  zu  Tage 
treten  liessen,  der  mit  schliesslicher  Keloidbildung  langsam  verheilte.  Oft  ent- 
wickelten sich  auch  ohne  Blasenbildung  während  der  Nacht  wie  verätzt  aus- 
gehende, einen  trockenen  Schorf  bildende,  nekrotische  Stellen.  Seltener  traten 
längliche  oder  nierenförmige,  braunroth  verfärbte,  beetartige  Erhabenheiten  auf, 
die  erst  nach  tagelangem  Bestände  eine  centrale  mumificirtc  Kruste  bildeten, 
während  zugleich  manchmal  am  Rande  frische,  ganz  kleine  Bläschen  auftauchten. 

Sehr  häufig  wurden  erythematöse  Flecken  im  Gesichte,  sowie  beträcht- 
liche Schwellung  und  Röthung  der  Umgebung  der  zur  Gangrän  führenden  Flecke 
beobachtet.  Mehrfach  wurden  auch  im  weiteren  Verlaufe  oberflächlichere,  nekro- 
tisirende  Plaques  an  der  Zungen-,  Mund-  und  Lippenschleimhaut  und  eine  kleine, 
runde,  verschorfte  Stelle  an  der  rechten  grossen  Labie  coustatirt. 

Die  neurologische  Untersuchung  ergab:  Rechtsseitige  totale,  auch  auf 
die  untere  Extremität  sich  erstreckende  Anästhesie  in  allen  Qualitäten,  am  linken 
Bein  normale  Sensibilität.  Auch  die  Conjunctiva  des  rechten  Auges  ist  anästhe- 
tisch ; dadurch  kommt  es  gelegentlich  zu  einer  Keratitis. 

Es  bestand : Totaler  Verlust  der  Schmerzempfindung,  Thermoanästhesie, 
geringe  rechtsseitige  Einengung  des  Gesichtsfeldes.  Ferner  traten  mehrfach 
Furunkel,  ein  allerdings  nicht  schmerzloses  Panaritium  am  rechten  Zeigefinger 
auf ; ausserdem  heilten  die  Wunden  unter  Keloidbildung.  Diese  Symptome 
sprechen  für  Syringomyelie.  Doch  liessen  sich  die  erwähnten  Sensibilitätsstörungen 
auch  auf  die  ganz  in  den  Vordergrund  gedrängte  ganz  besonders  hochgradige 
Hysterie  der  Patientin  zurückfuhren.  Diese  Thatsache  «*n,-  ijei  gleichzeitigem 
Fehlen  von  Muskelatrophie,  Skoliose,  Afienhand  (Akax-Di  Thexne),  Verdickungen 

der  Hände,  von  Störungen  der  Nägel,  im  Vereine  mit  einer  „hochgradigen  Herab- 


SYRINGOMYELIE. 


619 


«etzung  der  Bcrührungscmpfindung , sowie  einer  nur  sehr  geringgradigen  vaso- 
motorischen Störung  (Urticaria  factitiaj  Hess  die  Diagnose:  Syringomyelie  dem 
Verfasser  zweifelhaft  erscheinen. 

Patientin  wurde  rasch  kachektisch,  magerte  rapid  ab,  Nase  und  Extremi- 
täten wurden  kühl,  am  rechten  Handrücken  entwickelte  sich  eine  eigenthümliehe, 
bläuliche  Verfärbung;  erythematöse,  etwas  erhabene  und  hochgradig  schmerzhafte 
Flecken  kamen  besonders  an  den  unteren  Extremitäten  zum  Vorschein  und  der 
Exitus  trat  schnell  ein. 

Die  Section  ergab : Syringomyelie. 

ln  dieser  einen  Beobachtung  finden  sieh  also  eine  grosse  Reihe  von 
trophischen  Störungen  der  Haut  vereinigt. 

Rem  AK01)  beschreibt  ein  spinales  Ocdem,  das  sich  durch  Localisation  und 
Dauer  bei  intactem  Herz  und  Nieren  einstellte. 

Bemerkenswerth  ist  auch  der  von  Jacqcet«“)  im  internationalen  Atlas 
seltener  Hautkrankheiten  (mit  anatomischen  Präparaten)  abgebildete  Fall  von 
Hautgangrän  um  den  Schultergtlrtel  und  am  Kopf  bei  Syringomyelie. 

Schwielenbildung  an  den  Händen,  auch  bei  nicht  arbeitenden  Individuen, 
Sehrunden  an  diesen  Stellen,  Warzenbildung,  Sklerodermie,  abnorme  Pigmentationen 
werden  mehrfach  beschrieben.  Schlesinger  stellt  (1.  c.  pag.  46,  47)  die  hierher 
gehörigen  Publicationen  zusammen. 

Abnorme  Pigmentationen  (Vitiligo)  hat  Buchl  in  seiner  These  beschrieben. 

Eine  besondere  Erwähnung  verdienen  die  meist  nur  als  verschiedene 
Grade  desselben  Processes  anzusebendcn,  sich  um  einen  der  Maladie  de  Raynaud 
vollständig  entsprechenden  Symptomencomplex  anreihenden  Affectionen  der  Extre- 
mitäten. Man  beobachtet  bei  Kranken  mit  den  Zeichen  der  Syringomyelie  alle 
Stadien,  angefangen  von  leichter  Cyanose  und  kühler  Temperatur  der  Extremi- 
täten, durch  fast  vollkommene  Sehwarzfärbung  und  Schwellung  bis  zu  vollständiger 
Gangrän.  In  einigen  mitgetheilten  Fällen  kam  es  regelmässig  zu  blasiger  Ab- 
hebung der  Haut  au  den  Fingerspitzen ; in  anderen  Fällen  zu  Ulcerationen. 

Weiter  sind  klinisch  von  besonderem  Interesse  die  tieferen  Entzündungen, 
die  Phlegmonen  und  gangränösen  Entzündungen  des  l’nterhautzcllgewebes. 

Es  sind  dies  diejenigen  Affectionen,  welche  den  Typus  der  als  Maladie 
de  Alorvan  bezeichneten  Form  der  Syringomyelie  ausmachen. 

Morvan**)  beschrieb  1883  als  „Parisie  arutlgdsique  h panaris  ou 
par&to-analgisie  des  extrimiiis  superieitres“  eine  eigenartige  Krankheit,  auf  die 
wir  weiter  unten,  bei  der  Aufstellung  der  häufigsten  Typen  von  Syringomyelie, 
zurückkommen  werden ; an  dieser  Stelle  intcrcssiren  uns  die  trophischen  Störungen. 
Lot] az El. 67)  (in  einer  unter  Charcot’s  "Vorsitz  gearbeiteten  These)  beschreibt  die- 
selben ganz  vorzüglich  folgenderinassen : „Was  den  Kranken  zum  Arzte  führt, 
ist  meistens  das  Panaritium ; dasselbe  ist  häufig  gerade  das  Symptom,  welches 
die  Krankheit  verräth.  Der  Beginn  ist  wie  beim  gewöhnlichen  Panaritium : 
Röthe,  Hitze,  Schwellung ; die  ersten  Panaritien  sind  meist  auch  noch  schmerz- 
haft. Aber  die  Schmerzen  nehmen  allmälig  ab,  um  schliesslich  ganz  aufzubören 
bei  den  später  sich  wiederholenden  Panaritien.  Hin  und  wieder  sind  die  Pana- 
ritien auch  von  Anfang  an  schmerzlos,  in  anderen  Fällen  besteht  dauernd  Schmerz- 
haftigkeit bei  denselben. 

In  den  meisten  Fällen  sind  die  Folgen  der  Panaritien  sehr  schwere;  es 
tritt  schnell  Knochennekrose  ein,  sowohl  der  äussersten,  wie  der  übrigen  Phalangen 
und  die  Knochen  werden  ausgestossen.  Der  Effect  ist  manchmal  auch  Entzündung 
der  Gelenke  mit  Ausgang  in  Ankylose.  Man  hat  auch  das  Fortkriechen  der 
Entzündung  in  den  Sehnenscheiden  der  Beuger  beobachtet.  Sehr  selten  gehen 
diese  Panaritien  in  Heilung  aus  ohne  Betheiligung  des  Skelettes.  Wie  gesagt 
haben  diese  Panaritien  Neigung  zum  Recidiviren  ; es  sind  auf  demselben  Individuum 
bis  zu  9 Panaritien  beobachtet.  Manchmal  folgen  sich  diese  Panaritien  schuell, 
manchmal,  z.  B.  in  einem  Fall  von  JCrgensen,  lagen  10,  in  einem  Fall  von 


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«20 


SYRINGOMYELIE. 


Morvax  11  Jahre  zwischen  dem  ersten  und  zweiten  Panaritium:  in  dem  Falle 
von  PboüFF  hat  der  Kranke  in  44  Jahren  8 Panaritien  gehabt;  zwischen  dem 
4.  und  5.  Panaritium  lagen  20  Jahre. 

Eine  Folge  dieser  Entzündungen  der  Finger  sind  Mutilationen,  dauernde 
Verunstaltungen  der  Hände,  wodurch  die  aus  der  bestehenden  Parese  resultireuden 
Funetionsstörungcn  noch  vermehrt  werden. 

Aber  die  im  Gefolge  der  Panaritien  auftretenden  Störungen  sind  nicht 
ausschliesslich  auf  Rechnung  der  Verunstaltungen  der  Hände  zu  setzen ; dieselben 
sind  bis  zu  einem  gewissen  Grade  Folgen  der  zahlreichen  anderweitigen  trophischen 
Störungen.  Sehr  häufig  entwickeln  sich  in  den  natürlichen  Falten  der  Gelenk- 
beugen Einrisse,  die  zur  Eiterung  Anlass  geben : hin  und  wieder  dringen  diese 
Schrunden  bis  in  die  Sehnenscheiden  und  sind  die  l'rsaehe  eiteriger  Sehnen- 
scheidenentzündung. 

Die  Epidermis  verdickt  sieb  und  bildet  harte  Schwielen  (s.  obeni.  In 
anderen  Fällen  kommt  es  zum  Mal  perforanl,  besonders  an  den  Füssen.“ 


Kip  ioo. 


Eig<*uo  HeoUinhtuug.  Lepra  (Typus  der  Jtaiaitu  de  J/onan). 


An  dieser  Stelle  muss  auch  das  Vorkommen  der  „ Gloeey  ttkin“  erwähnt 
werden.  Gerade  Patienten  mit  dem  Type  der  Maladie  de  Morvnn  zeigen  diese 
glänzende,  gespannte,  rothviolette,  mit  dilatirten  Gcfässen  durchzogene  Haut,  die 
an  den  (meist  verunstalteten)  Nägeln  ansetzt,  als  sei  die  zu  enge  Haut  mit  Gewalt 
strafl'  gezogen. 

Die  lctztbeschriebenen  Läsionen  linden  sieh  nun  besonders  bei  den 
Leprösen,  die  den  Symptomcneomplex  der  Maladle  de  Morvan  und  der  Syringo- 
myelie bieten.  Beistehende  Figur  1 giebt  eine  Abbildung  der  rechten  oberen 
Extremität  eines  Leprösen  mit  den  Veränderungen  der  Maladie  de  Morvan : 
Hyperextension  der  Hand,  äusserste  Contractur  der  Finger,  Panaritien,  G loset/ 
«A-m  und  phlegmonöse  Entzündungen  des  Vorderarmes.  Ich  bemerke,  dass  der 
Kranke  nur  an  den  Extremitäten,  und  zwar  viele  Jahre  (10 — 12  Jahre)  nur  an 
den  oberen  Exlremitftten  Symptome  seiner  Krankheit  zeigte. 

Auch  acuter  Decubitus,  acute  tiefgreifende  Gangrän  ist  in  einigen  Fällen 
beobachtet.  Gerlach  bat  einen  Decubitus  erwähnt,  der  sieh  in  5 Tagen  zu 


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G21 


einer  Grösse  von  10x14  Cm.  entwickelte  und  den  Knochen  arrodirte;  Schöpprl 
sah  bei  fettreichem  oder  ödematösem  Gewebe  jauchigen  Zerfall  des  Gewebes  vor 
sich  gehen  (Schlesinger,  1.  c.  pag.  43).  Diese  jauchigen  Entzündungen  können 
die  letzte  Ursache  des  letalen  Ausganges  der  Syringomyelie  sein. 

Störungen  der  Sch  weisssecretion  werden  häufig  beobachtet. 
Vermehrung  derselben,  einseitig  oder  begrenzt,  berichten  Schultze,  Bernhardt. 

Fürstner  und  Zacher,  Rumpf,  Adler,  Strümpell,  Hoffmann  u.  A.  Auch  Ver- 
minderung der  Schweisssecretion  wird  beobachtet.  Diese  Störungen  der  Sehweiss- 
secretion  werden  von  den  Kranken  selbst  bemerkt  und  sind  häufig  ein  Frühsymptom 
der  Syringomyelie. 

Als  Anomalien  der  Nägel  werden  sowohl  Hypertrophien  wie  Atrophien 
beobachtet.  Die  Nägel  erscheinen  manchmal  auffallend  stark  gekrümmt,  schmal 
und  verlängert ; manchmal  hingegen  sind  sie  verkümmert,  kurz , mit  starker 
Krümmung.  Die  Oberfläche  ist  gefurcht,  rissig,  die  Nagelsubstanz  ist  brüchig 
und  blättert  ab,  die  Nägel  können  weiter  in  ihrer  Substanz  auffallend  verdünnt 
oder,  besonders  gegen  den  vorderen  Rand  zu,  stark  verdickt  sein. 

Auf  trophische  Störungen  zurückzuführende  Erkran- 
kungen der  Knochen  und  Gelenke.  Die  Häufigkeit  der  Gelenkerkran- 
kungen bei  Syringomyelie  ist  besonders  von  Sokoloff  60'  Chakcot  (Berbez,ü) 
und  Grap71)  betont  worden. 

Sokoloff  konnte  20  Fälle  ans  der  Literatur  und  3 eigene  Fälle  zu- 
sammenstellen. 

ln  seinen  eigenen  Fällen  wurde  bei  der  Resection  der  Gelenke  hoch- 
gradige Zerstörung  der  Gelenkenden  durch  Knorpeldefect , Abschleifung  des 
Knochens  und  Fracturen,  neben  mehr  oder  weniger  starker  Verdickung  anderer 
Theile  durch  Osteophytenbildung  gefunden;  ausserdem  Schrumpfung  und  Ver- 
dickung der  Kapsel  mit  Zottenwucherung  und  Atrophie  der  Muskeln. 

Sokoloff  kommt  auf  Grund  seiner  Beobachtungen  zu  dem  Schlüsse, 
dass  diese  Gclenkerkrankungeu  keine  zufällige  Complicationen  der  Syringomyelie 
seien,  sondern  ein  neuropathisches  Leiden;  sie  haben  viel  gemeinsames  mit  den 
Gelenkleiden  bei  Tabes,  können  aber  wegen  mancher  Eigentümlichkeiten  doch 
als  gliomatöse  von  den  tabetischen  Erkrankungen  unterschieden  werden. 
Charakteristisch  ist  ihre  fast  regelmässige  Localisation  den  oberen  Extremitäten. 
Schlesinger  (1.  c.  pag.  50)  stellt  bei  63  Patienten  97  Arthropathien  an  den 
grösseren  Gelenken  zusammen. 

Es  betrafen : 

Schultergelenk  ....  29 

Ellbogengelenk  ....  24 

Handwurzelgelenk  ...  18 

Daumengelenk 2 

Hüftgelenk 4 

Kniegelenk 7 

Fugswurzelgelenk  ....  7 

Kiefergelenk 4 

Sterno-Claviculargelenk  . . 2 

97 

Es  entfallen  also  etwra  80%  Arthropathien  auf  die  oberen  Extremitäten, 
während  bei  der  Tabes  nach  der  Statistik  von  Schrötter  76%j  nach  der  von 
Rotter  80%  auf  die  unteren  Extremitäten  kommen.  Das  männliche  Geschlecht 

wird  weit  häufiger  befallen  als  das  weibliche. 

Nach  der  Statistik  von  Graf  beginnt  die  Erkrankung  durchschnittlich 
im  40.  Lebensjahre.  Manchmal  kann  die  Gelenkerkrankung  das  erste  Symptom 
der  Syringomyelie  sein. 

Als  veranlassendes  Moment  werden  häufig  Traumen  genannt,  häufig  ist 
aber  auch  keine  Verletzung  vorhergegangen.  Schlesinger  dürfte  das  Richtige  treffen 

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SYRINGOMYELIE. 


für  eine  Reihe  von  Fällen,  wenn  er  meint,  dass  eine  Atrophie  der  die  Gelenke 
bedeckenden  Musculatur  Veranlassung  znr  Erschlaffung  der  Gelenksbänder  und 
damit  auch  zur  Herbeiführung  von  krankhaften  Veränderungen  an  den  Gelenken 
Anlass  geben.  Häutig  fehlt  aber  sowohl  dieses  Moment , wie  auch  jegliches 
Trauma,  und  dann  hat  man  entschieden  ein  neurotisches  Gelenkleiden  vor  sich. 

Als  wichtiges  anatomisches  Unterscheidungsmerkmal  zwischen  der  Arthritis 
deformans  und  der  gliomatöseu  Gelenkentzündung  bezeichnet  Sokqloff  den 
Befund,  dass  beim  Gliom  auch  ausserhalb  der  Gelenkkapseln  Osteophyten  auf- 
treten  und  zur  Verknöcherung  der  periarticulären  Weiehtheile  fuhren. 

Nach  Graf  hat  man  eine  atrophische  Form  der  Gelenkentzündung  zu 
unterscheiden. 

Klinisch  stellen  sich  die  Gclenkerkrankungen  folgendennassen  dar  (nach 
Schlesinger): 

Der  Beginn  ist  oft  ein  acuter  mit  bedeutendem  Erguss  in  das  Gelenk 
und  mächtiger  Schwellung  der  Umgebung.  Schmerzen  fehlen  oft  oder  sind  so 
gering,  dass  manchmal  erst  aus  dem  Functionsausfalle  und  der  Schwellung  der 
Gelenksgegend  vom  Kranken  eine  Beschädigung  vermuthet  wird.  Der  Erguss 
kann  sich  nach  Tagen  oder  Wochen  vollkommen  resorbiren  und  damit  restitutio 
in  integrum  eintreten,  oder  es  bleiben  Residuen  zurück,  deren  Existenz  durch 
Knarren  bei  Bewegungen  im  Gelenk  erkannt  wird.  Nach  und  nach  tritt  wieder 
eine  stets  zunehmende  Vergrösserung  in  der  Gelenkgegend  auf,  welche  nach 
längerem  Bestände  eine  unförmliche  V erunstaltung  des  nfticirten  Körperabsehnittes 
bewirkt.  Schmerzen  fehlen  hierbei  oft  völlig.  Aber  auch  bei  fehlendem  Schmerz 
kann  es  sich  dabei  um  echte,  durch  Obduction  verificirte  neuropathische  Arthro- 
pathien handeln.  Die  Untersuchung  ergiebt  eine  bedeutende  Difformität  sowohl 
der  knöchernen  Antbeile  des  Gelenkes  als  auch  der  Kapsel  und  der  Bänder. 
Die  Veränderungen  können  hypertrophischer  oder  atrophischer  Natur  sein,  sich 
auch  mit  einander  combiniren.  Im  ersten  Falle  sind  die  Knochen  stark  aufge- 
trieben, die  Gelenksknorpel  usurirt,  die  Synovialis  trägt  zumeist  zahlreiche, 
manchmal  langgestielte  Zotten ; dieselben  könnten  sich  auch  von  der  Unterlage 
ablösen,  und  als  freie  Körper  im  Gelenke  flottiren.  Die  Kapsel  selbst  enthält 
reichliches  neues  Knochengewebe;  um  die  Gelenke  herum  sind  in  den  Weich- 
theilen,  sowie  an  den  Knochen  selbst  Knochenneubildungen  wahrzunehmen.  Im 
letzteren  Falle  ist  die  Rarefaction  des  Kopfes,  die  Zerstörung  der  Pfanne,  die 
Diastase  der  Gclenkenden  und  Ausdehnung  der  Kapsel,  endlich  die  Erschlaffung 
des  Handapparates  auffällig.  Es  können  sich  beide  Zustände  combiniren , indem 
neben  Erschlaffung  des  Bandapparates  und  der  Kapsel,  neben  Atrophie  der 
knöchernen  Antheile  des  Gelenkes  hypertrophische  Wucherungen  an  der  Synovialis, 
Knochcneinlagerungcn  in  die  Kapsel,  Infiltration  der  Weiehtheile,  Exostosen- 
bildung an  den  Knochen  sich  vorfinden.  Der  Flüssigkcitserguss  in  das  Gelenk 
kann  auch  bei  diesen  Formen  sehr  mächtig  sein.  — Es  kommt  durch  die  er- 
wähnten Momente  zum  Schlottergelenk  und  infolge  dessen  zu  spontanen 
Luxationen.  Manchmal  ist  Epiphysenlösung  oder  Spoutanfractur  der  Knochen 
in  der  Umgebung  der  erkrankten  Gelenke  vorhanden.  Mitunter  ist  der  Endaus- 
gang der  Arthropathie  Ankylosirung  des  Gelenkes.  — Eine  vollständige  Zu- 
sammenstellung von  63  Beobachtungen  (53  von  anderen  Autoren  und  10  eigene) 
bringt  Schlesinger  (1.  c.  pag.  54 — 60). 

Die  trop bischen  Störungen  an  den  Knochen  stellen  sich  dar 
entweder  als  Volumsvermehrungen,  hypertrophische  Zunahme  der  Knochensubstanz, 
oder  als  Rareficirung,  Spongiöswerden  des  Knochens.  Es  kann  manchmal  zu 
ganz  bedeutenden  Exostosen  kommen.  Dkj&kink  beobachtete  eine  taubeneigrosse 
Exostose  am  rechten  Ellenbogen,  die  37  Jahre  bestanden  hatte.  Die  Rareficirung 
des  Knochens  hat  eine  grosse  Brüchigkeit  desselben  zur  Folge , so  dass  es  bei 
ganz  geringfügiger  Gewaltanwendung  und  sogar  spontan,  durch  Muskelzug  zu 
Fracturen  kommt ; dieselben  werden , der  Analgesie  wegen,  in  manchen  Fallen 


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SYRINGOMYELIE. 


623 


kaum  bemerkt.  Roth  theilt  einen  Fall  mit  von  Clavicularfractur,  die  dem  Kranken 
erat  am  folgenden  Tage  durch  die  Schwellung  bemerkbar  wurde.  Weitere  ist 
bekannt  in  der  Literatur  der  schon  oben  citirte  Fall  von  Schultze  : Ein  Biieker 
10g  sich  im  Verlaufe  von  3 Jahren  eine  Fractnr  des  Humerus,  zwei  Fraeturen 
des  Metacarpus  und  eine  Radinsfractur  zu.  Und  zwar  passirten  die  Fraeturen 
beim  Teigkneten,  ohne  dass  der  Patient  es  bemerkt  hätte. 

Die  Heilung  solcher  Fraeturen  erfolgt  meist  in  der  normalen  Zeit,  aber 
mit  Bildung  auffallend  grosser  Callusmassen ; Pseudarthroseubildnng  ist  selten. 

Verkrümmungen  der  Wirbelsäule  werden  von  allen  Autoren 
berichtet;  einige  legen  auf  dieselbe  mehr  Gewicht,  als  berechtigt  erscheint.  Bruhl 
berechnet  das  Vorkommen  derselben  auf  50%)  *1»  er  es  17mal  bei  36  Fällen 
erwähnt  findet;  Bernhardt'*)  berechnet  (aus  70  Fällen  mit  18mal  Verkrüm- 
mungen) 25%  Verkrümmungen  der  Wirbelsäule  bei  Syringomyelie. 

Am  häufigsten  wird  die  Skoliose  beobachtet;  sie  kann  sehr  geringgradig 
sein,  in  anderen  Formen  dagegen  kommt  es  zu  wirklichen  Missstaltungen  des 
Thorax.  In  den  meisten  Fällen  betrifft  die  Skoliose  die  RUckenwirbclsäule  und 
erstreckt  sich  von  hier  manchmal  auf  die  Hals-,  resp.  Lendenwirbelsäule. 

Die  Kyphoskoliose  ähnelt  der,  welche  bei  der  Pachymeningitis  ceroicalis 
hypertrophica  zur  Beobachtung  kommt.  Zwei  hochgradige  Specimen  finden  sich 
abgebildet;  einmal  bei  Hoffmann*)  (1.  c.  pag,  10)  und  in  den  klinischen  Ab- 
bildungen von  Curschhanx.  Lordose  ist  sehr  selten ; Bruhl  und  Schlesinger 
erwähnen  je  einen  Fall. 

Ausnahmsweise  sollen  Verkrümmungen  der  Wirbelsäule  schon  in  frühen 
Perioden  der  Krankheit  beobachtet  werden : ausgesprochene  Kyphoskoliose  gehört 
jedenfalls  späteren  Perioden  an. 

Subjectiv  wurde  Schmerzhaftigkeit  der  Wirbelsäule  spontan  und  besonders 
bei  Beklopfen,  und  zwar  vorzüglich  an  den  der  stärksten  Läsion  entsprechenden 
Stellen  constatirt. 

KröxiG  ’*)  glaubt , dass  diese  Rückgratsverkrtimmung  auf  artbritische 
Processe,  ähnlich  den  bei  Tabes  an  langen  Knochen  vorkommenden,  zurückzu- 
filhren  sei.  Roth  glaubt,  dass  die  Muskelatrophie  primär  sei  und  das  Ueber- 
gewicht  der  nicht  atrophischen  Muskeln  durch  Zug  die  Verkrümmung  der  Wirbel- 
säule zustande  bringe.  Schlesinger  tritt  mit  Morvax  und  Bruhl  für  die 
trophische  Natur  der  Deviation  der  Wirbelsäule  ein.  Morvan  **)  drückt  sich 
folgendermassen  aus:  Man  muss  eine  trophische  Störung  ohne  Störung  der  sensiblen 
und  motorischen  Nerven  annehmen ; die  Skoliose  ist  der  Effect  einer  centralen 
trophisehen  Innervstionsstörung. 

Es  liegen  eine  Reihe  von  Mittheilungen  in  der  Literatur  vor,  in  denen 
Akromegalie  bei  Syringomyelie  beobachtet  wurde. 

Es  ist  hier  nicht  der  Ort,  die  Frage  zu  erörtern  , ob  wir  unter  Akro- 
megalie eine  Krankheitseinheit  zu  verstehen  haben,  oder  ob  cs  sieh  um  ein 

Syndrom  von  Symptomen  bandelt,  die  wir  bei  verschiedenen  anderweitigen 
Alterationen  beobachten  können. 

Wir  möchten  uns  der  Anschauung  von  Erb7*)  anschliessen , dass  es 

sich  um  eine  forinative  Reizung  handelt,  die  1.  von  aussen  kommen  kann,  und 

zwar  entweder  durch  Mikroorganismen  oder  durch  chemische  Reize,  durch  Nahrungs- 
und Genussinittel ; 2.  von  innen,  und  zwar  a)  durch  trophoneurotische  Reizung 
zur  Gewebshypertrophie  oder  b)  durch  Production  von  chemischen  Stoffen , die 
theils  erregend  auf  die  Körpergewebe  wirken,  theils  Wucherung  veranlassen  durch 
Aussendung  von  mit  grösserer  plastischer  Energie  begabten  Elementen. 

HOLSCHEWXlKOKF7*)  durfte  deshalb  zuzustimmen  sein,  wenn  er  die  Ver- 
änderungen von  Akromegalie  bei  einem  als  Syringomyelie  durch  die  Autopsie 
erwiesenen  Falle,  als  Folge  der  von  der  Syringomyelie  abhängigen  Nervenein- 
flüssc  hinstellt.  Recklinghausen  ,t)  stellt  als  wesentliches  Unterscheidungsmerkmal 
der  Akromegalie  gegenüber  dem  Riesenwuchs  hin , dass  die  Akromegalie  sich 


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SYRINGOMYELIE. 


erst  entwickelt,  wenn  das  allgemeine  Körperwachsthum  abgeschlossen  ist,  während 
der  Riesenwachsthum  bis  zum  10.  Lebensjahre  entsteht  und  bis  zum  20.  Lebens- 
jahre abgeschlossen  ist.  Auch  anatomische  Differenzen  zeichnen  die  Akromegalie 
aus.  Es  handelt  sich  nicht  um  ein  Längenwachsthum,  sondern  um  eine  allgemeine 
Gcwebshypcrtrophie,  welche  besonders  die  Knochen  betrifft,  an  denen  sich,  wie 
VlRCHOW  78)  kürzlich  demonstrirte,  mächtige  Exostosen  bilden.  In  einer  neueren 
Arbeit  hat  Arnold  "*)  die  Akromegaliefrage  behandelt.  Er  will,  da  ein  I^ängen- 
wachsthum  bis  jetzt  bei  Syringomyelie  nicht  nachgewiesen  ist,  die  Affection  als 
Pachyakrie  bezeichnen,  und  zwar  je  nachdem  mehr  die  Weichtheile  oder  die 
Knochen  an  der  Volumszunahme  betheiligt  sind,  als  Pachyakria  mollis 
oder  Pachyakria  ossea.  Marie  und  Marinesko  linden  eine  gleichmässige 
Hypertrophie  aller  Bestandtheile  der  Haut  in  den  afficirten  Partien,  ebenso  des 
Knorpels  und  der  Knochen,  bei  denen  es  sich  direct  um  Knochenbildung  handelt. 
(Eine  Zusammenstellung  der  gesamintcn  hierher  gehörigen  Literatur  und  der  ver- 
schiedenen Ansichten  siehe  bei  Eulenburg.80) 

Nicht  ganz  zurückzuweisen  scheint  uns,  gerade  bei  der  Syringomyelie, 
die  von  DüCHESNEAU*1)  ausgesprochene  Meinung  einer  am  yo t ro p h i s c h e n Form 
der  Akromegalie. 

Wir  können  deshalb  der  Ansicht  BbuHL’s  **)  (1.  c.  pag.  40)  nicht  bei- 
stimmen, der  in  dem  Befunde  der  Giiomatose  bei  gleichzeitig  bestehender  Akro- 
megalie ein  zufälliges  Zusammentreffen  sehen  will,  ohne  jede  inuerc  Beziehung. 
Die  Fälle  von  Erb’*),  Fischer81),  Holschewxikofk7*),  Arnold  8J),  Bier81),  ferner 
der  von  Fischer  citirte  Fall  von  Wagner  beweisen  zweifellos,  dass  zu  dem 
Symptomeneomplex  der  Syringomyelie  in  einigen  Fällen  auch  die  Akromegalie  gehört. 

Dass  Störungen  der  Sphinkter enfunction  nicht  häutiger  sind, 
muss,  wenn  man  die  bedeutende  Ausdehnung  der  gliomatösen  Neubildung,  den 
Umfang  der  Höhlen  im  Rückenmark  bedenkt,  auffallen , wie  Brchl  betont 
(1.  c.  pag.  47). 

Störungen  von  Seiten  der  Blase,  Retention  oder  Ineontinenz  kommen  wohl 
vor,  aber  äusserst  selten.  Symptome  von  Cystitis  werden  verzeichnet ; sie  dürften 
aber,  wie  Bruhl  meint,  mehr  auf  trophische  Störungen  zurückzufUhren  sein  als 
auf  Betheiligung  der  spinalen  Centren.  Die  wohl  als  Frühsymptom  auftretenden 
Blasenstorungen  können  entweder  in  häufigem  , imperiösem  Harndrang  oder  in 
einer  Parese  der  Hlasenmusculatur  bestehen,  so  dass  die  Entleerung  der  Blase 
nur  unter  Anstrengung  möglich  ist ; oder  aber  es  besteht  Blasenlähmung  mit 
Sphinkterenkrampf  (lschuria  paradoxal.  Die  Blasenstörungeu,  Blasenkatarrh, 
selbst  eiteriger,  können  subjectiv  für  die  Kranken  oft  fast  ganz  symptomcnlos 
verlaufen.  Sie  können  aber  durch  aufsteigende  Infcction,  Pyelitis  und  Pyelone- 
phritis die  unmittelbare  Todesursache  abgeben.  — Bekannt  in  der  Literatur  ist 
der  Fall  Charcot’s,  mitgetheilt  von  BLOCQ8*),  bei  dem  es  sich  um  eine  Per- 
forationsperitonitis  infolge  eines  einfachen  — jedenfalls  auf  trophischcn  Störungen 
beruhenden  — Geschwüres  der  Blase  handelte.  Schlesinger  stellt  als  im  All- 
gemeinen gütige  Regel  hin,  dass  Erscheinungen  von  Seite  der  Harnblase  und  des 
Mastdarmes  früher  manifest  werden  und  im  Symptomenhilde  eine  bedeutend  grössere 
Rolle  spielen  in  denjenigen  Fällen , welche  mit  der  raschen  Entwicklung  eines 
grossen  Tumors  einhergehen,  besonders  wenn  derselbe  seinen  Sitz  im  Lenden- 
mark hat. 

Störungen  der  Defäcation  finden  meist  ihren  Ausdruck  in  einer 
mehr  oder  minder  hartnäckigen  Verstopfung,  beruhend  auf  Lähmung  der  Dartn- 
musculatur.  Incontinentia  alvi  wird  wohl  nur  gegen  das  Ende  des  kachektischen 
Stadiums  oder  als  vorübergehendes  Symptom  beobachtet;  bei  Wicbmaxn  *)  werden 
4 Fälle  erwähnt. 

Die  Störungen  von  Seiten  der  Genitalfunctionen  sind  noch 
wenig  studirt.  Es  liegen  nach  Bruhl  (1.  c.  pag.  48)  zwei  Beobachtungen  von 
Suppressio  mensium  bei  syringomyeliekranken  Frauen  vor.  Schlesinger  hat 


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SYRINGOMYELIE. 


Ij'25 


verschiedentlich  Erloschen  der  Libido  »exuali*  zu  verzeichnen  gehabt.  Ein  Kranker 
von  Wichmaxx s)  hatte  erhöhte  Erregbarkeit,  oft  nächtliche,  schmerzhafte 
Pollutionen.  lu  einigen  Fällen  ist  sowohl  die  Potentin  eoeundi  wie  die  Libido 
erloschen , in  anderen  Fällen  wird  von  Bestehen  der  Erection  bei  erloschener 
Libido  berichtet. 

Störungen,  die  ihren  Grund  in  der  Miterkrankung  der 
Medulla  oblongata  haben,  sind  schon  zahlreich  in  der  Literatur  angeführt. 

Es  linden  sich  besonders  in  einer  Arbeit  von  11.  F.  Müller97),  Wichmaxx *)  und 
bei  Schlesinger  (I.  c.  pag.  70)  ausführliche  Untersuchungen  über  die  bei 
Syringomyelie  beobachteten  Bulbärsymptome.  Schlesinger  besonders  hat  sich 
eingehend  mit  denselben  beschäftigt ; man  könnte  den  Abschnitt  über  Bulbär- 
symptome fast  als  Monographie  in  der  Monographie  bezeichnen.  Aus  den  Zu- 
sammenstellungen von  Müller  und  von  Schlesinger  ergiebt  sich,  dass  in  der 
Literatur  etwa  24  Fälle  von  Syringomyelie  mit  bulbären  Symptomen  verzeichnet  sind. 

Nach  Hofkmanx  -)  (1.  c.  pag.  200)  sind  von  Bulbärerscheinungeu  in 
erster  Linie  die  dissociirte  Empfindungslähmung  im  Gebiete  des  Trigeminus  der 
einen  oder  beider  Seiten  zu  nennen,  sodann  Atrophie  und  Parese  der  Zunge, 

Posticus-  oder  völlige  Recurrenslähmnng  mit  Heiserkeit,  Alteration  des  Pulses, 
Schlingbeschwerden,  Parese  oder  Spannung  im  Facialisgehiet,  Abduccnsparese 
mit  Doppelsehen,  erschwertes  Kauen,  Nystagmus,  Polyurie  und  Polydipsie,  endlich 
Salivation.  Symptome,  welche  als  allgemeine  aufzufassen  sind  und  sich  heraus- 
bilden, wenn  der  Krankheitsprocess  zu  einer  stärkeren  Geschwulstbildung  in  der 
Medulla  oblongata  und  im  Pons  führte,  sind  Schwindel , dumpfer  Kopfschmerz, 

Sehstörung  und  Neuritis  optica,  Erbrechen,  tonische  und  klonische  Krämpfe  .... 

(I.  e.  pag.  201).  . . . Psychische  Alterationen  gehören  nicht  eigentlich  zu  der 
Krankheit  und  die  Kranken  sind  nach  meiner  Beobachtung  nicht  mehr  und  nicht 
weniger  hypochondrisch,  neurasthenisch,  hysterisch  etc.  als  andere  mit  schweren 
Kückenmarksaffectionen.  Auch  Gesichtsfeldeinschränkung  wurde  in  letzter  Zeit 
in  einer  Anzahl  von  Fällen  nachgewiesen.  Schlaflosigkeit  kommt,  wenn  nicht 
Sensibilitätsstörungen  die  Ursache  abgeben,  nicht  oft  vor;  relativ  häufig  begegnet 
man  der  Angabe  der  Kranken,  dass  sich  seit  einiger  Zeit  eine  grosse  Schreck- 
haftigkeit eingestellt  habe;  gewöhnlich  handelt  es  sich  um  eine  Steigerung  der 
allgemeinen  rctlectorischen  Erregbarkeit. 

Schon  bevor  die  der  Syringomyelie  zu  Grunde  liegende  Läsion  durch 
Weiterwuchernng,  resp.  Ausdehnung  die  Medulla  oblongata  erreicht,  kann  im 
4.  Cervicalsegment  der  Ursprung  der  Phrenici  in  Mitleidenschaft  gezogen  werden. 

Die  Erkrankung  der  beiden  Phrenicuskerne  führt  durch  Respirationslähmung  zum 
Tode.  Wichmaxx  *)  theilt  einen  derartigen  Fall  mit. 

Von  den  Himncrven  sind  die  speciellen  Sinnesnerven  selten  ergriffen. 

Der  01  facto  rius  wird  sehr  selten  betheiligt  gefunden.  Erb  stellte  gerade  auf 
Grund  der  vorhandenen  Anosmie  in  einem  Falle  von  Hysterie  verbunden  mit 
Dystrophia  musculorum  die  Diagnose  auf  Hysterie.  Schlesinger  meint , dass 
wahrscheinlich  die  beobachteten  einseitigen  Anosmien  auf  Hysterie  zurückzu- 
füliren  seien. 

Auch  der  Acusticus  ist  selten  afficirt  bei  Syringomyelie.  Subjectiv 
werden  Summen,  Klingen,  Pfeifen  als  quälende  Symptome  angegeben.  In  einem 
Falle  von  Schlesinger,  in  dem  eine  Mittelohrerkrankung  durch  die  Untersuchung 
ausgeschlossen  war,  bestand  das  fortwährende  Gefühl  des  Sausens  im  Kopfe. 

Objectiv  ist  Schwerhörigkeit  und  Schwanken  angegeben,  ln  dem  Falle 
von  H.  F.  Müller  hat  die  durch  Bexzoldt  vorgenommene  elektrische  Unter- 
suchung des  Acusticus  ein  negatives  Resultat  ergeben. 

Der  G 1 ossoph a r y n ge u s scheint  etwas  häufiger  betheiligt;  es  wird 
Verlust  der  Empfindung  für  den  vorderen  Abschnitt  der  Zunge  oder  für  eine  Hälfte 
der  Zunge  angegeben,  Schlesinger  beschreibt  eine  Dissociation  des  Geschmacks- 
sinnes; in  einem  Falle  war  die  Empfindung  für  „Bitter-1  erloschen,  für  alle 

Encyclop.  Jahrbücher.  VI.  40 

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SYRINGOMYELIE. 


anderen  Geschmacksqualitäten  erhalten ; später  erloschen  auch  die  anderen  Quali- 
täten. Gegen  Ende  des  Verlaufs  dieses  Falles  wurden  die  Empfindungen  (speciell 
„Süss“)  nur  mit  den  in  den  Gaumenbögen  verlaufenden  Nerven  percipirt.  Im 
anderen  Falle  Schlbsinger's  wurde  „Süss“  überhaupt  nicht  erkannt,  Chinin  als 
„Sauer“  angegeben. 

Für  die  Affectionen  des  Sehnerven  betont  Hoffmans,  dass  in  der 
Mehrzahl  der  Fälle  von  Neuritis  des  Sehnerven  mit  nachfolgender  Atrophie  die 
Ursache  in  einer  Haumbeengung  zu  suchen  ist,  welche  ein  im  Bulbus  medullae 
sich  entwickelndes  Gliom  veranlasst.  Schlesinger  giebt  das  für  viele  Fälle  als 
Ursache  der  bei  Syringomyelie  beobachteten  Atrophia  nervi  optici  zu , glaubt 
aber,  dass  in  anderen  Fällen,  ähnlich  wie  bei  Tabes , von  vornherein  eine  ein- 
fache Atrophie  des  Sehnerven  eintritt. 

Die  Frage  nach  dem  Verhalten  des  Gesichtsfeldes  wird  seit  den 
Publicationen  von  Dejerine  und  Tuilant  88)  und  Morvax  viel  discutirt.  Chabcot 
— in  der  These  von  Bbianceau89)  — bestreitet  die  Richtigkeit  der  DejEbixe- 
sclien  Schlüsse  und  stellt  folgende  Schlusssätze  auf : In  der  Mehrzahl  der  Fälle 
von  Syringomyelie  ist  das  Gesichstfeld  normal ; wenn  es  eingeschränkt  ist,  so 
muss  die  Erklärung  dieses  Phänomens  in  einer  anderen  Ursache  als  einer  myelite 
cavitaire  gesucht  werden.  Die  Hysterie,  welche  sich  so  oft  mit  der  Syringo- 
myelie verbindet,  ist  die  einzige  Ursnche  der  Gesichtsfeldeinschränkung  (abgesehen 
von  jenen  Fällen,  bei  denen  es  sich  um  ophthalmoskopisch  erkennbare  Ver- 
änderungen handelt,  so  dass  die  Gesichtsfeldeinschränkung  nicht  als  ein  Zeichen 
einer  Syringomyelie  aufgefasst  werden  darf.  — Schlesinger  hat  diese  Frage 
einer  sehr  gründlichen  Nachprüfung  unterzogen.  Er  theilt  67  perimetrisehe 
Untersuchnngsresultate  mit  (1.  c.  pag.  73),  von  denen  27  positive  Resultate,  Ge- 
sichtsfeldeinschränkung, ergeben  haben.  Hiervon  sind  7 hysterische  oder  auf  Hysterie 
verdächtige  Fälle  abzuziehen.  Die  Gesichtsfeldeinschränkung  ist  nach  den  Con- 
troluntersuchuugen,  die  Schlesinger  hat  vornehmen  lassen,  durchaus  nicht  immer 
eine  vollständige,  sondern  es.  besteht  zumeist  ein  peripherischer  Gesichtsfelddefect 
für  Farben,  besonders  für  grün. 

SCHLESINGER  schränkt  deshalb  die  oben  aufgestelltcn  Schlusssätze  Char- 
cot'S  dahin  ein,  dass  die  Gesichtsfeldeinschränkung  bei  Syringomyelie  durch  eine 
eoncomittirende  Hysterie  bedingt  sein  kann , dass  aber  in  einer  geringen  Zahl 
von  nicht  mit  Hysterie  complicirteu  Fällen  eine  mehr  minder  bedeutende  Gesichts- 
feldeinschränkung, besonders  für  Farben  (grün),  besteht. 

Aus  allen  bis  jetzt  vorliegenden  Beobachtungen  geht  Eines  mit  Sicherheit 
hervor:  dass  die  Syringomyelie  weit  seltener  als  andere  Rückenmarks-  nud  Ge- 
hirnkrankheiten mit  primärer  Opticusatrophie  eiuhergeht. 

Nystagmus  und  nystagmusartige  Zuckungen  kommen  bei  Syringo- 
myelie verhältnissmässig  häutig  vor ; sic  treten  in  verhältnissmässig  frühen  Stadien 
der  Krankheit  ein.  Oft  sind  sie  vorhanden  hei  Syringomyelie  ohne  Lähmung 
oder  Parese  eines  Augenmuskels;  dieser  Punkt  ist  wichtig,  da  bei  Syphilis  und 
bei  Tabes,  von  denen  eine  Differenzirung  wichtig  ist,  nystagmusartige  Zuckungen 
nur  bei  Lähmungen  von  Augenmuskeln  verkommen.  Schlesinger  sieht,  im 
Gegensatz  zu  Nechaus  und  Hoffmans,  dieses  Symptom  als  eine  Erscheinung 
der  Syringomyelie  an  und  hält  dasselbe  gegebenen  Falles  für  das  erste  Bulbärsymptom. 

Augenmuskellähmungen  hat  Schlesinger  in  12%  der  Fälle  erwähnt 
gefunden.  Sie  treten  mitunter  frühzeitig  im  Initialstadium  der  Syringomyelie  auf 
und  sind  dann,  ähnlich  wie  bei  Tabes  und  Syphilis,  vorübergehender  Natur.  Am 
häufigsten  befallen  sind  die  Abducentes.  Ptosis  ist  selten.  Bei  Mitbetheiligung 
des  Sympathicus  wird  eine  Enge  der  Lidspalte  beobachtet , welche  der  Ptosis 
ähnelt;  de  facto  handelt  es  sich  aber  um  ein  Zurücksinken  des  Augapfels  und 
manchmal  um  einen  leichten  Grad  von  Strabismus  internus-,  das  Auge  ist  gleichsam 
in  die  Augenhöhle  zurückgewichen.  Dieses  Phänomen  ist  auf  die  Lähmung 
des  vom  Sympathicus  innervirteu  MCl.l.ER'schen  Muskels  zurückzuführen.  Die 

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SYRINGOMYELIE. 


027 


Svmpathicuslähmung  kaun  auch  gleichzeitig  die  Ursache  einer  Pupillendifferenz 
sein;  Schlesinger  hat  unter  200  Fällen  24  Mal  Pupillendifferenz  ohne  Sym- 
pathicuslähmung  gefunden ; rechnet  er  die  Fälle  mit  Syinpathicuslähmung 
hinzu,  so  kommt  er  auf  53  Fälle  mit  Pupillendifferenz,  das  bedeutet  25%. 
Wie  Erb  und  Goltz  nachgewiesen  haben,  liegt  im  unteren  Halsmark  und  im 
oberen  Brustmark  ein  Centrum,  unter  dessen  Einfluss  die  Pupille  steht.  Reizung 
desselben  bewirkt  Erweiterung,  Zerstörung  desselben  Verengerung  der  Pupille. 
Weiter  haben  DEjErink-Klumpckh  festgestellt,  dass  Fasern  des  Sympathicus  mit 
dem  Ramus  cammunicans  des  ersten  Brustnerven  das  Rückenmark  verlassen, 
und  dass  demgemäss  Läsionen  des  oberen  Brustmarkes  auch  eine  Lähmung 
des  Sympathicus  zur  Folge  haben  können.  Die  häutige  Localisation  syringo- 
myelitischer  Processe  an  dieser  Stelle  erklärt  die  Frequenz  der  Pupillendifferenz. 

In  mehreren  Fällen  waren  plötzliche  Lähmungen  einer  Pupille  in  Bezug 
auf  Convergenz  und  Accommodation  eingetreten.  In  Zukunft  muss  man  demgemäss 
der  Syringomyelie  wohl  einen  Platz  in  der  Aetiologie  der  Ophthalmoplegia  externa 
einräumen. 

Die  Lähmung  des  Sympathicus  ist  meist  unilateral,  befindet  sich  am 
häufigsten  auf  der  Seite,  an  der  die  Muskelatrophie  stärker  ausgesprochen  ist 
und  ist  nicht  selten  eines  der  initialen  Symptome,  besonders  der  eerviealen  Form 
der  Syringomyelie. 

Der  Trigeminus  ist  ziemlich  häufig  (Schlesinger  giebt  unter  200  Beob- 
achtungen 17  Mal  an)  betheiligt.  Es  kommen  Dissociationserscheinungen  vor, 
Analgesien  und  Thermoanästhesicn,  denen  aber  meist  eine  Periode,  gewöhnlich 
einseitiger,  von  Hyperästhesie  sämmtlicher  Qualitäten  vorausgeht.  Auch  die 
Schleimhäute  des  Mundes,  der  Nase,  der  Conjunctiva  nehmen  an  dieser  Dissociation 
theil.  Die  Störung  schneidet  scharf  in  der  Mittellinie  ab.  Trophische  Störungen 
sind  Belten ; Chabanne  theilt  einen  Fall  von  Hemiatrophia  faciei  mit. 

Die  motorischen  Fasern  des  Trigeminus  sind  ausserordentlich  selten 
betheiligt. 

Vom  Facialis  ist  besonders  häufig  der  Mundfacialis  betheiligt,  selten 
alle  Aeste.  Scholtze  beobachtete  eine  exquisite  Uebererregbarkeit  des  Servus 
facialis  (Facialisphänomen).  Schlesinger  hat  das  Facialisphänoinen  bei  mit 
Hysterie  und  Neurasthenie  complicirter  Syringomyelie  beobachtet. 

Die  elektrische  Erregbarkeit  der  gelähmten  Muskeln  ist  normal  oder 
einfach  herabgesetzt ; einmal  ist  partielle  Entartungsreaction  angegeben. 

Störungen  des  Kau-  und  Deglutitionsappa  rates  sind  häufige,  früh- 
zeitig, in  vielen  Fällen  vorübergehende  Bulbärsymptume  der  Syringomyelie; 
manchmal  bleiben  fibrilläre  Zucken  der  Zunge,  Abschwächung  des  Würgrefloxes, 
eine  Deviation  der  Zungenspitze  die  einzige  Bulbärerscheinung : in  anderen  Fällen 
sind  sie  der  Ausgangspunkt  wichtiger  und  folgenschwerer  Veränderungen,  wie  bei 
der  Bulbärparalyse.  Manchmal  entwickelt  sich  eine  ausgesprochene,  meist  halb- 
seitige Atrophie  der  Zunge.  Mitunter  setzen  die  Deglutitionsbeschwerden  apoplekti- 
form  ein,  können  auch  als  Terminalsymptom  einsetzen. 

Störungen  von  Seiten  des  Kehlkopfes  sind  nicht  selten,  sind  aber 
erst  von  Schlesinger  und  Müller  genauer  gewürdigt  worden.  Es  können,  un- 
abhängig von  einander,  bei  Syringomyelie  sensible  und  motorische  Störungen  am 
Kehlkopf  Vorkommen. 

Sensible  Störungen  subjectiver  Natur  sind : Parästhesien  auf  dem  Gebiete 
des  Temperatursinues  und  Kitzelempfindungen.  An  objectiven  sensiblen  Störungen 
stellt  Schlesinger  fest:  Herabsetzung  der  laryngealen  Ueflexerregbarkeit. 

Für  die  motorischen  Anomalien  glaubt  Schlesinger  eine  gewisse  Gesetz- 
mässigkeit feststellen  zu  können.  Man  kaun  sie.  ähnlich  wie  bei  Tabes  dorsalis, 
in  3 Gruppen  bringen:  1.  ausgesprochene  Lähmimgserscheiunngen ; 2.  eigenartige 
Bewegungen  der  Stimmbänder;  3.  Ilustenparoxysmen  (Larynxkrisen).  Aus  dem 
ihm  zur  Verfügung  stehenden  Material  leitet  Schlesinger  (I.  c.  pag.  84)  folgenden 

40* 


628 


SYBINGOMVEI-IE. 


wichtigen  Satz  ab:  „Die  syringomyelischen  Kehlkopflähmungen  sind  charakteristisch 
durch  die  complete  Parese  eines  Recurrens;  Posticnslithmungen  stellen  zumeist 
ein  vorübergehendes  Stadium  dar  und  finden  sich,  wenn  überhaupt,  in  der  Regel 
nur  auf  einer  Seite  vor.“  Hierin  liegt  nach  Schlesinger  differentialdiagnostisch 
ein  wichtiges  Moment  gegenüber  der  Tabes,  für  welche  die  doppelseitige  Posticus- 
lähmuug  die  Kehlkopflähmung  par  excelltnce  sei. 

Durch  die  einseitige  Recnrrenslähmung  kann  auch  eine  bei  Syringomyelie 
beobachtete  Störung  der  Sprache  erklärt  werden.  Die  Stimme  wird  rauh, 
heiser,  unverständlich.  Lähmungen  der  Zunge  stören  die  Lautbildung,  Gaumen- 
lähmung  bewirkt  näselnde  Sprache. 

Als  V a g n saf  fec  t i o n e n werden  Beschleunigung,  Verlangsamung, 
Irregularität  des  Pulses  verzeichnet.  Dauernde  Beschleunigung  der  Pulsfrequenz 
trifft  mit  Kehlkopfstörungen  bei  der  humero-scapularcn  Form  der  Syringomyelie 
zusammen.  Weiter  werden  Parästhesien  in  Lungen,  Magen,  Darm  und  schliesslich 
Erbrechen  auf  Vagusstörungen  bezogen. 

Das  Sc h w i n d el ge  f ti  h 1 tritt  meist  anfallsweise  auf,  ist  selten  dauernd 
vorhanden.  Es  ist  öfter  ein  Drehschwindel , so  dass  die  Kranken  zu  Boden 
stürzen,  aber  selten  ist  es  mit  Bewusstseinsstörung  combinirt. 

Ein  besonderes  Gewicht  legt  11.  F.  M Oller  auf  das  apoplekti  forme 
Auftreten  der  Bulbärsymptome.  Es  heisst  bei  Müller  (I.  c.  pag.  278),  (nach 
Nennung  der  Cerebralsymptome:  Erbrechen,  Schwindel,  Kopfschmerz):  „Eine 
Eigenthtimlichkeit  der  Fälle  von  primärer  centraler  Gliose  des  verlängerten  Marks 
und  der  Himncrvcnkerne  scheint  nach  den  bislang  beobachteten  Fällen  — die 
Neigung  zu  apoplektiformen  Anfällen  zu  sein,  die  meist  mit  Erhaltensein  oder 
nur  geringer  Trübung  des  Bewusstseins,  aber  mit  intensivem  Schwindelgefühl 
bis  zu  taumelndem  Gang  verlaufen,  in  deren  Gefolge  erst  die  bulbären  Erschei- 
nungen klinisch  in  Scene  treten  können.  Die  Eigenartigkeit  des  klinischen  Bildes 
dieser  Anfälle  ist  bereits  den  ersten  Beobachtern  derartiger  Fälle  nicht  entgangen. 
FOrstxer  und  Zacher,  die  einen  Fall  von  Syringomyelie  mit  Bulhärerseheinungen 
beobachteten.  . . . bemerken  ausdrücklich,  dass  die  von  ihnen  wiederholt  beob- 
achteten Anfälle,  bei  denen  das  Sensorium  wenig  oder  gar  nicht  beeinträchtigt 
war,  die  durch  intensives  Schwindelgefühl,  stärkere  Parästhesien,  Zuckungen  der 
Zunge,  Sprachstörung,  Dyspnoe,  Cyanosc,  erhöhte  Pulsfrequenz  gekennzeichnet 
waren  . . . wohl  in  der  Medulla  oblongata  oder  in  das  Cervicalmark  zu  ver- 
legen wären. 

. . . „Dass  die  in  Rede  stehenden  Anfälle  in  die  Kernregion  des  Gehirns 
und  verlängerten  Marks  zu  verlegen  sind,  beweisen  direct  jene  Fälle,  in  welchen 
im  unmittelbaren  Gefolge  derselben  Bulbürerscheinungen  auftraten.“ 

Schlesinger  führt  als  weitere  allgemeine  Erscheinungen  noch  an 
Krämpfe  klonischen  und  tonischen  Charakters:  Salivatiou;  Schluchzen. 

Stauungspapille  ist  auf  Hirndrnck  zurückzuführen  und  dürfte  nur  bei 
Syringomyelie  beobachtet  werden,  welche  durch  Tumoren  veranlasst  wird. 

Psychische  Störungen  können  vorübergehend  bei  Syringomyelie  beob- 
achtet werden,  welche  den  Bulbus  erfasst.  Zumeist  aber  bleiben  bis  zum  Lebensende 
die  geistigen  Fähigkeiten  vollständig  erhalten,  und  es  lassen  die  Kranken  während 
der  ganzen  Krankheitsdauer  durchaus  keine  Abnahme  der  Intelligenz  erkennen. 

Der  allgemeine  Ernährungszustand  ist  bei  vielen  Kranken  ein 
blühender,  durchaus  normaler,  bei  anderen  tritt  bald  Kachexie  ein.  Handelt  es 
sich  um  einen  nicht  auf  Tumorbildung  beruhenden  Spinalprocess,  so  ist  der  Er- 
nährungszustand meist  bis  iu  späte  Stadien  gut,  während  bei  Tumorentwicklung 
rapider  Kräfteverfall  und  Abmagerung  eintritt. 

Der  syringomyelitische  Proeess  befällt  meist  nur  einen  oder  zwei  Hirn- 
nerven, grössere  Ausdehnung  des  Processes  ist  selten. 

Der  Typus  der  Bulbäraffeetion  bei  Syringomyelie  trägt  den  Charakter 
der  halbseitigen  Lähmung  (Schlesinger). 


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SYRINGOMYELIE. 


629 


Die  Haupttypen.  Wir  wiesen  schon  oben  darauf  hin,  dass  die 
Autoren  noch  kein  einheitliches  Princip  haben  für  die  Aufstellung  der  Haupt- 
typen, die  bei  der  Syringomyelie  zur  Beobachtung  kommen 

„Die  Aufstellung  einer  grösseren  Zahl  von  Typen“,  heisst  es  bei  Schle- 
singer (1.  c.  pag.  97),  „führt  natürlich  leicht  zum  Schematismen,  und  es  ist 
selbstverständlich,  dass  zwischen  allen  diesen  Typen  Uebergangsformen  existiren.“ 
SCHLESlNGElt’s  Aufstellung  berücksichtigt  nur  die  prägnantesten  Bilder. 

I.  Syringomyelie  mit  den  classischen  Symptomen. 

a)  Cervicalty  pus.  Es  ist  die  zuerst  beschriebene  und  am  besten  studirte 
Erscheinungsform  der  Syringomyelie. 

In  einigermassen  entwickelten  Fällen  constatirt  man  objectiv : Atrophie 
der  kleinen  Handmuskeln,  Sensibilitätsstörungen  im  Sinne  der  Dissociation,  aber 
begrenzt  auf  kleinere  Abschnitte;  trophische  Störungen  der  Haut  der  Finger. 
Subjectiv  besteht  Schwäche  einer  Hand,  die  Kranken  sind  ungeschickt  im  Halten 
von  Gegenständen,  klagen  Uber  reissende  Schmerzen  in  den  Armen , über  l'ar- 
ästhesien  auf  dem  Gebiete  des  Temperatursinnes. 

In  vorgeschrittenen  Fällen  besteht  Klauenhand , Atrophie  der  Vorder- 
armmuskeln und  des  Deltoides;  die  Sensibilitätsstörungen  sind  Uber  eine  ganze 
Extremität,  selbst  bis  auf  den  Thorax , ausgedehnt.  I’atellarreflexe  gesteigert, 
Sehnenreflexe  an  den  oberen  Extremitäten  erloschen.  Ocfters  ist  Sympathicus- 
lähmung  an  der  stärker  betroffenen  Seite  vorhanden.  In  den  späteren  Stadien 
magern  die  Arme  skeletartig  ab,  die  Musculatur  des  Schultergürtels  schwindet. 
Skoliose.  Spastische  Lähmung  der  Beine  bis  zur  Unmöglichkeit  zu  gehen.  Später, 
bei  Fortschreiten  des  Processes,  Atrophie  der  Musculatur  der  Beine.  Sensibilitäts- 
Störungen  Uber  einen  grossen  Theil  der  Hautoberfläche.  Trophische  Störungen 
auf  der  Haut,  hauptsächlich  Blaseneruptionen  und  Entzündungen. 

b)  D or s o -L u m b a 1 1 y p u s.  Seltener  als  die  vorige  Form.  Oft  steht 
die  oben  erwähnte  Trias  im  Vordergründe.  Reissende  Schmerzen  mitunter  von 
lancinirendem  Charakter,  Külte-  und  Ilitzeparästhesien  im  Beginn;  weiterhin 
Schwärhegefdhl  in  den  Beinen,  Lähmung  einzelner  Muskelgrnppen,  denen  convut- 
sivische  Zuckungen , Zittern  oder  klonische  Convulsionen  in  bestimmten  Muskel- 
gruppen vorausgehen.  Die  Lähmungen  setzen  manchmal  plötzlich  ein  (wahrschein- 
lich durch  Blutung  in  die  UUckenmarksubstanz).  Die  im  Anschluss  an  die  Lähmung 
auftretende  Atrophie  der  Musculatur  ist  gehr  hochgradig.  Lähmung  meist  spastisch, 
Gang  spastisch-paretisch,  Sehnenreflexe  hochgradig  gesteigert.  Der  Verlauf  kann 
sehr  langsam  oder  sehr  acut  sein ; die  Lähmung  hatte  sich  in  einigen  Fällen  in 
wenigen  Wochen  (Tumorbildung?),  in  einem  Falle  im  Verlaufe  einer  Stunde  zu  einer 
vollständigen  entwickelt  (Hämorrhagie?). 

Sensible  Erscheinungen  sind  sehr  entwickelt:  Lancinirende  Schmerzen; 
Gürtclgefühl;  äusserst  lästige  Parästhesien.  Häufige  Mitbetheiligung  der  Blase 
und  des  Mastdarmes.  Die  Genitalfunctionen  können  herabgesetzt  oder  erloschen  sein. 

„Durch  Fortschreiten  der  Erkrankung  entlang  und  in  der  grauen  Sub- 
stanz nach  aufwärts  und  durch  das  Auftreten  von  Sensibilitätsanomalien  am  Rumpfe 
durch  das  Vorhandensein  einer  Kyphose  am  untersten  Abschnitte  der  Wirbelsäule, 
einer  progressiven  Muskelatrophie  an  den  Beinen,  sowie  durch  Auftreten  schwerer 
trophischer  Hautstörungen  an  den  unteren  Extremitäten  (besonders  Mal  perforant, 
spontane  Hautgangrän,  spinale  Oedeme)  kann  die  Diagnose  unter  Umstünden  ge- 
sichert werden,  dürfte  aber  dennoch  nicht  über  die  Grenzen  einer  Wahrschein- 
lichkeitsdiagnose hinausgehen.“ 

II.  Syringomyelien  mit  vorwiegend  motorischen  Erscheinungen. 

a)  Syringomyelien,  die  unter  dem  Bilde  einer  amyotrophi- 
schen  Lateralsklerose  verlaufen.  Beginn  mit  Schwächestadium,  dann  plötz- 
liche Abmagerung,  welche  die  Musenlaturmasse  befällt,  obere  und  untere  Extre- 


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63-j 


SYRINGOMYELIE 


mitäten  gleich  schwer  befallend.  Rigidität  der  Musculatur.  Kolossal  gesteigerte 
Reflexerregbarkeit.  Contractnren. 

Die  Sensibilität  kann  durch  Jahre  ungestört  bleiben,  Störungen  bilden 
sich  erst  später  heraus.  Manchmal  Blasenstflrungen  und  Bulhärsytnptome.  Lordose. 
Trophiscbe  Störungen  der  Gelenke  und  der  Haut. 

b)  Die  spastische  Paralyse  und  die  Syringomyelie  können  manch- 
mal lange  Jahre  nicht  zu  sondern  sein.  In  späteren  Stadien  dürften  die  sensiblen 
Störungen  nicht  fehlen  und  das  Bild  klären.  Auch  vasomotorische  und  tropbische 
Störungen  treten  manchmal  hinzu. 

cj  Humero-scapularer  Typus.  Die  Erkrankung  kann  entweder  mit 
Muskelatrophie  im  Bereiche  des  Schulterblattes  beginnen  oder  sie  setzt  mit  einer 
Abmagerung  der  Nacken-  und  Vorderbrustmuskelu  ein.  Parästhesien,  mitunter 
auch  trophische  Störung  leiten  den  Process  ein. 

Diese  Fälle  ähneln  der  Dystrophia  progressiva  musculorum  noch  mehr, 
wenn  es  zn  einer  Hypertrophie  einzelner  im  Bereiche  des  erkrankten  Körperab- 
schnittes gelegener  Muskeln  kommt,  wie  Schlesinger  z.  B.  zweimal  eine  mächtige 
Hypertrophie  des  M.  biceps  beobachten  konnte. 

Sensible  Störungen  treten  bei  dieser  Form  oft  erst  sehr  spät  und  auf 
kleine  Territorien  begrenzt  ein.  Dagegen  kommt  es  häutig  zu  laryngealen  und 
bulbären  Symptomen.  Mehrmals  wurde  dauernd  erhöhte  Pulsfrequenz  constatirt. 

(Sitz  der  Affection  im  oberen  Theile  des  Halsmarkes,  leicht  übergreifend  auf 
die  Mcdulia.) 

III.  Formen  mit  vorwiegend  seusiblen  Erscheinungen. 

aj  Formen,  welche  hysterische  sensible  Hemiplegien  und  Zonen 
imitiren.  Ist  nur  ein  Hinterhorn  und  dieses  in  grösserer  Ausdehnung  befallen,  so 
wird  man  begrenzte  Territorien  mit  Dissociation  der  Sensibilitäten,  aber  keine 
Lähmungen  und  Atrophien  haben.  Meist  werden  aber  wohl  trophische  oder  vaso- 
motorische Störungen  das  Krankheitsbild  klären. 

b)  Allgemeine  Anästhesie,  ln  dem  berühmten  Fall  von  Späth  und 
Schüppei,  war  nicht  nur  Analgesie  und  Thermoanästhesie  vorhanden,  sondern  es 
war  auch  die  ßerübrungsemptindnng,  das  Gefühl  für  aetive  und  passive  Bewegung, 
die  Lagevorstellung  der  Glieder  abhanden  gekommen.  Mit  Ausnahme  des  Kopfes 
und  eines  Theils  des  Halses  war  am  ganzen  Körper  die  Empfindung  erloschen, 
so  dass  der  Kranke  Nachts  bei  ausgelöschtem  Licht  sich  nicht  zudecken  konnte, 
da  er  weder  die  Decke,  noch  den  eigenen  Körper  fand.  Anatomisch  wurde  eine 
mächtige,  die  ganzen  centralen  Abschnitte  des  Rückenmarkes  und  in  einer  grösseren 
Strecke  auch  die  Hinterstränge  einnehmende  Höhle  gefunden. 

IV.  Syringomyelie  mit  vorwiegend  trophischen  Störungen. 

Syringomyelie  mit  dem  MORVAX'schen  Symptomencomplex  (s.  hierzu  auch 
A.  Galib.*») 

Wir  haben  dieselbe  schon  oben  erwähnt  und  kommen  bei  der  Differential  - 
diagnose  noch  darauf  zurück. 

V.  Tabischer  Typus. 

Es  herrscht  noch  Meinungsverschiedenheit  darüber,  ob  eine  Syringo- 
myelie oder  eine  centrale  Gliose  ein  der  Tabes  klinisch  und  anatomisch  analoges 
Bild  hervorrufen  kann,  oder  ob  in  solchen  Fällen  eine  Combination  einer  Gliose 
mit  Tabes  besteht.  Schlesinger  entscheidet  sich  dafür,  dass  es  sich  wohl  in 
der  Mehrzahl  der  Fälle  um  Combination  beider  Processe  handelt.  Es  scheint 
aber  auch  Fälle  zu  geben,  bei  welchen  der  tabische  Symptomencomplex  durch 
eine  in  den  Hintersträngen  wuchernde  Gliose  vorgetäuscht  wird. 

Differentialdiagnose.  Fast  in  allen  Fällen,  in  denen  die  Differcntial- 
diagnose  zwischen  Syringomyelie  und  einer  anderen  Rückenmarksaffection  besondere 
Schwierigkeiten  macht  oder  unentschieden  bleibt,  handelt  es  sich  um  eine  der 

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SYRINGOMYELIE. 


631 


folgenden  Alternativen:  Entweder  glaubt  man  eine  Krankheit  vor  sich  zu  haben, 
deren  gewöhnlicher  Symptotnencomplex  durch  die  filr  Syringomyelie  charakteristische 
Dissociation  der  Sensibilitäten  complicirt  ist;  oder  man  nimmt  eine  Syringomyelie 
an,  obwohl  die  Dissociation  der  Sensibilitäten  fehlt,  was,  wie  schon  erwähnt, 
nicht  selten  der  Fall  ist.  Morvan  und  Grasset  stellen  den  Satz  auf,  dass  bei 
den  HUckenmarkskrankheiten  der  Sitz,  nicht  die  Natur  der  Affection  den  Sym- 
ptomencomplex  bedingt.  Darnach  wäre  es  verständlich,  dass  verschiedene  Affectionen 
durch  ihre  Loealisirung  den  gleichen  Svmptomencomplex  bedingen  können.  IIoff- 
Mann37)  (I.  c.  pag.  77)  will  diesen  Ausspruch  allerdings  nur  bedingt  gelten 
lassen,  „und  zwar  für  abgelaufene  krankhafte  Processc,  welche  zum  Untergang 
von  Centren  oder  Leitungsbahnen  geführt  haben,  welchen  eine  bestimmte  Function 
zukommt.  Sind  durch  irgend  einen  beliebigen  Vorgang  so  und  so  viele  Centren 
zerstört,  so  müssen  immer  diese  oder  jene,  aber  stets  dieselben  Ausfallserschei- 
nungen da  sein.  Anders  gestalten  sich  die  Verhältnisse  bei  gleichem  anatomischen 
Sitz  der  Krankheit,  wenn  die  Aetiologie  und  der  krankhafte  Process  verschieden 
sind.  Es  verhält  sich  das  Rückenmark  in  dieser  Beziehung  nicht  anders  als  andere 
nicht  nervöse  Organe.“ 

Bernhardt  hatte  sich  in  einer  Auseinandersetzung  über  die  Beziehungen 
zwischen  Syringomyelie  und  Maladie  de  Morvan  dahin  ausgelassen,  dass  die 
Läsionen  (für  gleiche  Symptomencomplexe)  nicht  einheitlicher  pathologisch  ana- 
tomischer Natur  zu  sein  brauchten;  ihre  Dignität  liege  in  ihrem  Sitz  (und  speciell 
für  die  Syringomyelie  und  die  Maladie  de  Morvan  in  dem  chronischen  Verlauf). 
Hoffmann  sagt  nun,  er  könne  Bernhardt  nicht  darin  beipfiiebten,  dass  ausser 
dem  anatomischen  Sitz  nur  der  chronische  Verlauf  dazu  gehöre,  damit  das  gleiche 
Symptomenbild  erzeugt  werde.  Er  ist  im  Gegentheil  der  Ansicht,  dass  es  dabei 
auch  bei  chronischem  Verlauf  in  erster  Linie  auf  den  Krankheitsprocess  selbst 
ankommt  (1.  c.  pag.  57).  ,,'Vie  oft  sitzen  Herde  der  multiplen  Sklerose  in  den 
grauen  Vorder-  und  Hinterhörnern  des  Rückenmarkes  oder  greifen  auf  dieselben 
Uber,  und  trotzdem  haben  wir  so  gut  wie  nie  diesem  Sitz  der  gewiss  chronischen 

Krankheit  entsprechende,  trophische  Störungen  der  Muskeln  und  der  Haut!'* 

„Es  vermag  also  weder  der  Sitz  allein,  noch  vermögen  dieser  oder  ein  beliebiger 
chronischer  Process  zusammengenommen  ein  Krankheitsbild  zu  einem  eigenartigen 
zu  gestalten,  indem  ihm  besondere  Merkmale  aufgedrückt  werden , sondern  es 
gehört  dazu  ein  drittes  wesentliches  Moment,  welches  in  der  Aetiologie,  der 
Genese  und  dem  durch  diese  vorgezeichneten  Krankheitsprocess  zu  suchen  ist.“ 

Trotzdem  steht  aber  sowohl  fest,  und  fast  alle  Autoren  betonen  cs,  dass 
auf  verschiedener  anatomischer  Grundlage  so  absolut  identische  Krankhcitsbilder 
bei  Betroffensein  gleicher  Centren,  gleicher  Systeme  hervorgernfen  werden  können, 
dass  in  gewissen  Fällen  die  Differentialdiagnose  zwischen  Syringomyelie  und 
anderen  Kückenmarksaffectionen  während  des  Lebens  überhaupt  unmöglich  ist;  um  so 
unmöglicher,  als  häutig  verschiedene  anderweitige  Affeetioneu  des  Rückenmarkes 
neben  der  Syringomyelie  hergehen,  oder  sich  mit  ihr  combiniren,  oder,  wenn 
man  will,  als  bei  anderen  Rückenmarksbefunden  ausserdem  noch  Höhleubildung 
und  Gliosc  constatirt  wurde. 

Schlesinger  nennt  (1.  e.  pag.  114)  vor  Allem  die  Hysterie;  Charcot*#) 
giebt  in  den  poliklinischen  Vorlesungen  der  Salpötriere  eine  vorzügliche  Be- 
schreibung eines  solchen  Falles.  Weiterhin  sind  Epilepsie,  chronische  Chorea, 
Tetanie,  Morbus  Basedoicii , Pachymeninyitis  chronica,  Myelitis  und  combinirte 
Systemerkrankung,  Syphilis  des  Centralnervensystems,  Poliomyelitis  anterior 
chronica , FRIEDREICH’sehe  Krankheit,  Tumoren  des  Kleinhirns,  Pons,  Grosshirns, 
Hydrocephalus;  schliesslich  Demenz  oder  Beschränktheit,  Idiotie,  Melancholie, 
progressive  Paralyse  und  Verrücktheit  mit  Syringomyelie  combinirt  oder  gleich- 
zeitig mit  derselben  beobachtet  worden. 

Hoffmann  -1)  (1.  c.  pag.  120)  zählt  folgende  Combinationen  auf:  Amyo- 
trophische  Lateralsklerose,  Poliomyelitis  anterior  chronica,  combinirte  primäre 


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63a 


SYRINGOMYELIE. 


Systemcrkranknng  des  Rückenmarks  mit  Verdopplung  des  Centralcanals  und 
Gliose,  das  anatomische  Bild  der  FiiiEDREicH’aehen  hereditliren  Ataxie  mit  centraler 
Gliose;  in  5 weiteren  Füllen  der  gleichen  Krankheit  Verdopplung  des  Central- 
canals; Verdopplung  des  Centralcanals,  ein  abnormes  Bündel  weisser  Fasern  vor 
der  vorderen  Cominissur  und  abnorme  Länge  der  Cnuda  equina ; ein  abnormes 
Bündel  lüngsverlaufender  Fasern  vor  der  vorderen  Commissur;  Heterotopie  eines 
Klümpchens  gelatinöser  Substanz  in  einem  Hinterstrang:  Ponsgliom  mit  Hydro- 
myelus,  Gliose  u.  s.  w. ; Schädeldifformität,  Hydrocepha/us  intern.,  Heterotopie 
grauer  Substanz,  Verdopplung  des  Centralcanals  bei  Gliose  mit  Höhlenbildung; 
Sklerose  beider  Kleinhirnhemisphären,  bei  kleinem  Gehirn  abgeplattete  J ledulla 
oblongata  und  schnabelartige  Verlängerung  beider  Tonsillen  des  Kleinhirns  nach 
unten : starke  Atrophie  des  Gehirns  und  Rückenmarkes  bei  weiten  Gehirnventrikelu, 
Hydromyclus  und  Gliose;  Hirn  fast  wie  ein  Mikroencephalengehirn  mit  Hydro- 
cephalus  internus ; diffuse  Erkrankung  des  Nervensystems,  chronisch  entzündliche 
Veränderungen  der  Gehirnrinde  mit  Gefässdegenerntion ; multiple  Tumoren  des 
Nervensystems  mit  Hydromyelus. 

Aus  alledem  6icht  man,  dass  bei  der  Differentialdiagnose  sehr  viele 
Dinge  zu  berücksichtigen  sind. 

Die  ersten  Kalle  von  Syringomyelie  wurden  ausgeschieden  aus  den 
spinalen  progressiven  Muskelatrophien.  Das  Hauptgewicht  bei  Differential- 
diagnosc  ist  auf  die  Verhältnisse  der  Sensibilität  zu  legen ; weiterhin  auf  die 
trophischen  Störungen,  welche  bei  progressiver  Muskelatruphie  fehlen.  In  anderen 
Fällen  treten  im  weiteren  Verlaufe  der  Syringomyelie  neben  den  Erscheinungen 
der  chronischen  progressiven  Muskelatrophie  an  den  oberen  Extremitäten  spastische, 
spastisch  paretisc.he  und  ataktische  Erscheinungen  an  den  unteren  Extremitäten, 
weiter  Kyphoskoliose  der  Wirbelsäule  auf  — Symptome,  die  gegeu  progressive 
Muskelatrophie  sprechen. 

Ganz  besondere  Schwierigkeiten  kann  die  Differentialdiagnosc  zwischen 
Syringomyelie  und  amyotrophischer  Lateralsklcrose  machen.  Spinale 
Muskelalrophien,  bulbärc  und  spastische  Erscheinungen,  Erhöhung  der  Reflexe 
sind  bei  beiden  Krankheiten  beobachtet  worden,  Oppenheim  hat  bei  der  amyo- 
trophischen  Lateralsklerose  dauernde  Sensibilitätsstörungen  uachgewiesen,  welche 
den  Charakter  der  typischen  Dissociation  annehmen  können.  Gegen  amyotrophische 
Lateralsklcrose  und  für  Syringomyelie  würden  in  schwierigen  Fälleu  einmal  die 
Uber  einen  grösseren  Theil  des  Körpers  ausgedehnten  Dissociationcn , zweitens 
trophische  Störungen  an  der  Haut,  dem  Untcrhautzellgcwebe , an  Knochen  und 
Gelenken  sprechen. 

In  selteneren  Fällen  können  die  spastische  Spinalparalye,  die 
multiple  Sklerose  schwer  von  der  Syringomyelie  zu  unterscheiden  sein. 

Gegen  die  spastische  Spinalparalyse  würden  in  solchen  Fällen  besonders 
zu  verwertlien  sein  ciumal  die  Störungen,  weun  auch  beschränkter  Art,  der 
Sensibilität,  das  Vorhandensein  auch  geringgradiger  Muskelatrophien , Blasen- und 
Mastdarmstörungen,  Herabsetzung  der  Geschlechtsfunctionen,  trophische  Störungen, 
sowie  bulbärc  Erscheinungen. 

Gegen  multiple  Sklerose  sprechen  ausgedehntere  Muskelatrophien ; Sen- 
sibilitätsstörungen  sind  nach  den  L'ntcrsuchungen  von  Freund  nicht  selten,  jedoch 
betreffen  sie  meist  nur  eine  Sensibilität:  die  eigentliche  syringomvelitische 
Dissociation  ist  selten.  Weiter  kommen  für  Syringomyelie  in  Betracht:  trophische 
Störungen,  Deviation  der  Wirbelsäule. 

Die  Dystrophia  musculorum  progressiva  Erb  kann  grosse 
diagnostische  Schwierigkeiten  haben.  Es  wird  Tust  stets  eine  längere  Beobaeh- 
tungsdaucr  uöthig  sein,  um  eine  der  beiden  Affcctionen  ausschliessen  zu  können. 
Eine  höchst  instructive  Durchführung  einer  Differentialdiagnose,  mit  der  Wahr- 
scheinlichkeitsdiagnose Syringomyelie  findet  sich  bei  Hrissaud’7):  Sur  les  para- 
I ysies  du  type  radiculaire  dans  la  Syringomyelie. 


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SYRINGOMYELIE. 


633 


Kür  die  Ditferentialdiagnose  zwischen  acuter  und  subacuter 
Myelitis  reit  Syringomyelie  stellt  Hoffmann  Folgendes  auf:  Die  Sehnenreflexe 
sind  bei  der  transversalen  dorsalen  Myelitis  meist  dauernd  gesteigert,  bei  der 
Gliomatose  im  Beginn  oft  gesteigert,  um  dann  an  Lebhaftigkeit  nachzulassen  und 
schliesslich  ganz  zu  verschwinden;  Muskelspannungcn  au  den  Beinen  scheinen 
bei  der  dorsalen  Myelitis  mehr  ausgesprochen  zu  sein , dagegen  fehlen  sie  in 
manchen  Fällen  von  ßliomatose  fast  ganz.  Vielleicht  ist  dies  durch  eine  functionelie 
Affection  der  Pyramidenseiteustrangbahnen  zu  erklären  oder  durch  ein  Tiefer- 
reichen des  Tumors.  Es  ist  jedoch  zu  bemerken,  wie  Schlesinger  aus  seiner 
Erfahrung  hioznfUgt,  dass  auch  Fälle  von  centralen  KUckenmarkstumorcn  (Gliomen) 
zur  Beobachtung  gekommen  sind,  bei  welchen  die  Rigiditäten  an  den  Beinen  in 
den  Vordergrund  des  Interesses  treten.  GürtelgefUhl  ist  bei  beiden  Affectionen 
vorhanden,  jedoch  bei  der  Gliomatose  über  der  anästhetischen  Zone  noch  eine 
hyperästhctUche ; und  es  erstreckt  sich  das  Gürtelgefühl  über  mehrere  Inter- 
costalräumc.  Bei  Gliomatose  ist  weiter  spinale  Halbseitenläsion  häufiger,  ebenso 
spricht  für  Gliomatose,  wenn  zu  einer  Parese  Muskelspannungcn,  klonische  und 
tonische  Zuckungen,  Parästhesien,  Parese  und  Abmagerung  hinzutritt,  endlich  sind 
Bulbärerscheinungen  bei  Myelitis  seltener,  als  bei  Gliomatose.  (Schlesinger, 
1.  c.  pag.  US,  119.) 

Die  Ditferentialdiagnose  zwischen  Syphilis  des  Rückenmarks 
und  seiner  Häute  und  der  Syringomyelie  wird  meist  kaum  in  Betracht 
kommen.  Als  wichtiges  unterscheidendes  Merkmal  in  Fällen,  die  Zweifel  auf- 
kommen  lassen,  ist  die  Unvollständigkeit  der  Ausfallserscheinungen  zu  betrachten 
(es  werden  nur  einzelne  Muskelgruppen  atrophisch),  das  intercurrente  Auftreten 
von  Hirnerecheinnngen,  und  besonders  der  Umstand,  dass  die  Symptome  sich  zu- 
meist nicht  auf  einen  Herd  beziehen  lassen.  — Züge  im  Symptomenbild,  die  der 
Syphilis  zukommen. 

Ausserordentliche  Schwierigkeiten  kann  nach  den  neueren  Erfahrungen 
die  Ditferentialdiagnose  zwischen  'Tabes  dorsalis  und  Syringomyelie  machen. 
Es  sind  Fälle  von  Tabes  bekannt,  bei  denen  partielle  Empfindungslähmnng  in 
grösserer  Ausdehnung  constatirt  ist.  Es  ist  zweifellos  festgestellt,  dass  Erschei- 
nungen, die  für  Syringomyelie  als  typisch  gelten  können,  z.  B.  trophische 
Störungen,  Muskelatrophien,  auch  bei  Tabes  durch  Hinzntreten  schwerer  peri- 
pherer Neuritiden  zur  Beobachtung  kommen.  Andererseits  kann  wieder  die 
Syringomyelie,  resp.  Gliose,  besonders  wenn  sie  im  Lendenreark  beginnen  und 
besondere  die  Hinterstränge  einnehmen,  die  Symptome  der  Tabes  hervorrufen. 
Ganz  besondere  Schwierigkeiten  aber  bieten  jene  Fälle,  bei  welchen  die  syringo- 
myelitische  Affection  die  ganze  Länge  des  Rückenmarks  eiunimmt  und  sich  mit 
Tabes  dorsalis  combinirt.  Genaue  Beobachtung  der  Localisationen  der  verschie- 
denen Ausfallserscheinungen.  Feststellung  der  Reihenfolge  des  Auftretens  der  ver- 
schiedenen für  Tabes  und  für  Syringomyelie  sprechenden  Erscheinungen  können 
hier  zum  Resultat  führen.  Schlesinger  bemerkt  hierzu:  „Im  ersten  Falle  (Sitz 
der  syringomyclitischen  Affection  im  Lendeumark  — Hinterstränge)  kann  die 
Uebercinstimmung  der  Symptome  eine  ausserordentliche  sein ; sind  aber  zu  einer 
Zeit,  zu  welcher  man  nach  den  anderen  Symptomen  nicht  berechtigt  ist,  eine 
bedeutende  Längenausdehnung  der  Höhlen  oder  der  centralen  Gliawucherung  zu 
vermutheu,  Augenmuskellähniungen,  tabischc  Pupillarsymptome  vorhanden,  so  ist 
man  berechtigt , zu  mindestens  eine  Comhination  von  Syringomyelie  mit  Tabes 
anzunehmen.  Unterliegen  die  Muskelsinnstörungen  an  den  unteren  Extremitäten 
verhältiiissinässig  häufigen,  raschen  Schwankungen,  so  ist  bei  sonst  überwiegender 
Betheiligung  des  Schmerz-  und  Temperatursinnes  oder  beider  die  Diagnose  einer 
Syringomyelie  auch  daun  wahrscheinlich  , wenn  dauernder  Verlust  der  Patellar- 
reflexe  und  exquisites  RoMBEBG’sches  Phänomen  besteht.“ 

Fast  unmöglich  kann  die  Differentialdiagnose  werden  zwischen  Pachy- 
meningitis  cervicalis  hypertrophica  und  Syringomyelie.  Es  dürfte 


634 


SYRINGOMYELIE. 


in  Füllen  mit  Uebergangssymptomen  nur  die  genaue  Berücksichtigung  der  Ent- 
wicklung und  der  zeitlichen  Aufeinanderfolge  von  einigem  Werth  sein.  Dasselbe 
gilt  für  andere  Krankheiten,  welche  eine  Compression  des  Rückenmarkes  setzen, 
Caries  der  Wirbel  (Compressionsmyelitis)  und  extramedulläre  Tumoren  des  Rücken- 
markes. Meist  allerdings  wird  hier  der  Verlauf  bald  die  Diagnose  klären. 

In  dem  schon  mehrfach  citirten  Vortrag  Chaucot’s  in  der  Salpetriere 
sind  die  grossen  Schwierigkeiten  dargelegt,  welche  die  Differentialdiagnose  zwischen 
Syringomyelie  und  Hysterie  bieten  kann.  Das  Hauptgewicht  ist  wohl  auf  das 
Schwanken  der  Symptome  bei  Hysterie,  die  vorübergehenden  Heilungen  der 
Sensibilitätsstörungen  und  auf  die  der  hysterischen  eigentümlichen  Geruchs-  und 
Geschmacksstörungen  zu  legen. 

Die  ganze  Reihe  der  trophischen  und  vasomotorischen  Störungen,  welche 
bei  der  Syringomyelie  zur  Beobachtung  kommen  können , werden  zum  Theile 
noch  bei  der  Besprechung  der  Differentialdiagnose  von  Lepra  und  Syringomyelie 
ihre  Besprechung  linden.  Symptome  der  Maladie  de  Raynaud,  der  Arthriti» 
deformans,  des  Riesenwuchses,  der  Akromegalie,  trophische  Erkrankungen  der 
Haut  werden  meist  darnach  classificirt  werden  können,  ob  sie  selbständig  oder  als 
Theilerscheinungen  anderweitiger  Störungen  auftreten. 

Eine  besondere  Besprechung  erfordert  die  Diffcrentialdiagnose  zwischen 
Lepra  und  Syringomyelie.  Wir  schicken  voraus,  dass  die  Maladie  de  Morvan 
nach  den  neueren  Arbeiten  (so  besonders  nach  der  Arbeit  von  Hoffmann) 
zweifellos  als  ein  Typus  der  Syringomyelie  anzusehen  ist. 

Die  Lepra  ist  wohl  die  formenreichste  Krankheit,  die  existirt,  und  es 
werden  noch  viele  Bemühungen  nöthig  sein  von  Aerzten,  die  gleich  gut  geschult 
sind  in  der  Neurologie,  wie  in  der  Dermatologie,  und  noch  viele  von  compctenten 
Autoritäten  ausgeführte  Autopsien,  ehe  man  in  genügender  Weise  ein  Bild  der 
klinischen  Formen  der  Lepra,  sowie  der  den  beobachteten  Läsionen  zu  Grunde 
liegenden  anatomischen  Veränderungen  aufstellen  kann. 

Besonders  das  Studium  der  anatomischen  Veränderungen  des  Central- 
nervensystems ist  überhaupt  erst  zu  beginnen.  Gerade  die  einzige  ausführ- 
lichere neuere  Arbeit  Uber  diesen  Punkt,  die  von  Hansen  und  Looft  •*),  zeigt 
bei  einiger  Kritik,  wie  berechtigt  diese  Forderung  ist.  Die  Tabelle  über  die 
Befunde  von  36  Sectionen  bei  maculo-anästhetischer  Lepra  ergeben  nur  4 zähl- 
bare Befunde;  darunter  zweimal  Degeneration  der  Hinterstränge;  Atrophie 
der  hinteren  Wurzeln , Sklerose  der  Spinalganglien ; einmal  Lumhartheil  ver- 
dickt; die  Häute  verdickt  und  hyperätnisch;  einmal  Rückenmark  dünn  und 
atrophisch.  Chassiotis  #s)  hat  Bacillen  im  Rückenmark  bei  anästhetischer  Lepra 
nachgewiesen. 

In  einer  Arbeit  (Mittheilung  auf  dem  internationalen  Congress  von 
Rom)  von  Susa  Martics  100)  findet  sich  die  Beschreibung  eines  Falles  von  Syringo- 
myelie, der  zwei  Jahre  in  Beobachtung  war  und  der  bei  der  Autopsie  folgenden 
Befund  ergab: 

Die  Häute  des  Rückenmarks  sind  verdickt  und  adhärent  am  Rücken- 
mark, besonders  im  Cervicaltheil. 

Im  Dorsal-  und  Lumbarthcil  ergiebt  die  mikroskopische  Untersuchung 
nichts  Normales ; im  Cervicaltheil  ist  das  Rückenmark  bedeutend  verdickt,  spindel- 
förmig aufgetrieben. 

Auf  dem  Durchschnitt  zeigt  dies»;  Halsanschwellung  eine  Höhle  in  ihrer 
ganzen  Ausdehuung,  die  sich  sowohl  auf  die  Grenze  wie  auf  die  weisse  Substanz 
erstreckt.  Sie  ist  ausgefüllt  von  einer  braunen  breiigen  Masse. 

Die  Untersuchung  dieser  Masse  ergab  Bacillen  von  dem  Charakter  der 
Leprabacillen. 

Der  Verfasser  schliesst  seine  Mittheilung  mit  folgenden  Sätzen  : 

1.  Es  giebt  keine  Krankheitscinheit , die  man  als  Syringomyelie  be- 
zeichnen könnte. 


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SYRINGOMYELIE. 


635 


2.  Die  Syringomyelien  (ebenso  wie  die  verschiedenen  Höhlenbildungen 
in  den  Lungen,  die  man  im  Allgemeinen  als  syringopneumonisch  bezeichnen  könnte), 
sind  Folgezustiinde  einer  Erkrankung. 

3.  Dieser  Folgezustand  kann  von  verschiedenen  Erkrankungen  abzu- 
leiten sein. 

4.  Eine  dieser  Krankheiten  ist  die  Lepra. 

Sollten  sich  diese  Befunde  bestätigen , so  wären  unsere  mehrfach  aus- 
gesprochenen Ansichten  glänzend  bestätigt. 

Diesen  mageren  Befunden  gegenüber  steht  die  ganze  erdrückende  Fülle 
der  klinischen  Thatsaeheu,  welche  sich  nur  durch  die  Annahme  centraler  Störungen 

Fig.  101. 


Syringomyelie  (nach  Hoff  mann). 

erklären  lassen.  Wir  finden  bei  der  Lepra  besonders  Bilder,  die  vollständig  an 
den  Type  Abax-Dcchense  der  Syringomyelie  erinnern ; zum  Beweise  ist  in 
Fig.  101,  102,  103  und  104  einmal  der  bekannte  Fall  Hoffmann’s  gegeben,  zweitens 
zwei  Fälle  von  Lepra  eigener  Beobachtung,  durch  welche  die  Aehnlichkeit  dar- 
gethan  wird.  Die  Befunde  von  Lepra  mit  dem  klinischen  Bilde  der  Maladie 
de  Morvan  sind  schon  obenerwähnt  (s.  Fig.  100).  Zambaco  Pacha  hat  in  Paris 
selbst  nachgewiesen,  dass  Fälle,  welche  in  der  Iconographie  de  la  SalpetriZre 
als  Typen  der  Syringomyelie,  der  Maladie  de  Morvan  figuriren,  de  facto  — 
und  zwar  anerkannt  von  den  Pariser  Autoritäten , als  Lepra  zu  erklären  sind 
(s.  De  EBING4»). 


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63ö 


SYRINGOMYELIE. 


Progressive  Muskelatrophie.  Dissociation  der  Sensibilitäten,  vasomotorische 
und  trophisehe  Störungen  (Bilder  der  Maladie  de  Rai/nnud,  der  Akromegalie, 
der  Erythromelalgie,  Panaritien,  alle  Formen  der  tropliisehen  Störungen  au  Haut. 
Unterliautzellgewebe,  Knochen  und  Gelenken,  die  wir  oben  für  die  Syringomyelie 
beschrieben  haben)  finden  sieh  bei  der  Lepra  wieder.  Lassen  wir  Schdltze’s 
Arbeit  vom  Jahre  1888  unberücksichtigt,  weil  sich  seither  zu  viele  neue  Erfahrungen 
für  die  Klinik  der  Syringomyelie  ergeben  haben,  als  dass  sich  die  von  ScHULTZE 
aufgestellten  differentialdiagnostisehen  Merkmale  aufrecht  erhalten  lassen. 


Fig.  lOj. 


Lepra  iType  Aran-Duchennei.  Eigene  Beobachtung. 


Hoffmanx  (1.  c.  pag.  53)  stellt  folgende  unterscheidende  Merkmale  für 
Lepra  und  Syringomyelie  auf. 

1.  Bei  Lepra  handelt  es  sich  um  multiple  periphere  Neuritis  ^hier  und 
da  mit  Degeneration  in  den  Hinterstriingen  (Looft);  die  Syringomyelie  ist  eine 
Rücken  markskran  kheit. 

Dem  gegenüber  kann  ich  nur  immer  wieder  tictonen,  dass  diese  Behaup- 
tung erst  zu  erweisen  ist.  Was  Eulen  BÜRO  “•'■)  bei  anderer  Gelegenheit  sagt, 
findet  auf  die  Lepra  ihre  Anwendung. 

Indireet,  auf  dem  Wege  der  Analogie  und  Vergleichung,  unter  Heran- 
ziehung gewisser  anderer,  schon  pathologisch-anatomisch  fundirter  Erkrankungen 


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SYRINGOMYELIE. 


637 


Lepra  (Type  A ra u- Dnchenue).  Eigene  Beobachtung. 

Weise,  und  zwar  an  den  distalen  Gliedabschnitten  beginnend  uder  auf  diese  sich 
beschränkend,  befallen,  die  chronisch  verlaufen  und  ihren  Ausgangspunkt  (mag 
es  sich  nuu  um  schwere  organische  oder  um  blos  „functionclle“  Schädigungen 
handeln)  in  gewissen  Abschnitten  der  grauen  Achse  des  Kückenmarkes  — vor- 
zugsweise in  der  h inte  reu  und  seitlichen  grauen  Substanz  — unter 
gelegentlicher  weiterer  Querschnittausbreitung  und  Hcthciligung  auch  anderer  be- 


des  C’entralnervensystems  kommen  wir  mit  der  Berechtigung  innerer  Wahrschein- 
lichkeit dazu,  eine  Gruppe  zu  bilden  von  Krankheitszuständen,  „die  durch  Ver- 
bindung von  localisirten,  theilweise  eigenartigen  und  typischen  Sensibilitätsstörungen 
mit  ebenfalls  localisirten  und  eigenartigen  vasomotorischen,  secretorischen  und 
trophisehen  Störungen  charaktcrisirt  werden  und  die  in  der  Kegel  die  Extremi- 
täten (bald  obere  und  untere,  bald  nur  die  obere  allein'!  in  meist  symmetrischer 


Fi  ff.  los. 


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6:« 


SYRINGOMYELIE. 


nachbarter  Rückenmarksabschnitte  (vordere  graue  Substanz  einerseits, 
Hinterstränge  und  hintere  Wurzelfaserung  andererseits)  haben.* 

In  diese  Gruppe  gehören  die  oben  erwähnten  klinischen  Befunde  bei  der 
Lepra , die  sieh  absolut  nicht  durch  periphere  Neuritis  erklären  lassen. 
Tschikiew’s  9S)  Beobachtung,  die  Schultze  (1.  c.  pag.  513)  sehr  geringschätzig 
behandelt  — kleine  Hämorrhagicn,  Verringerung  der  Zellen  in  den  Hinterhörnern 
des  Halstheils,  atrophische  Stellen  in  den  Hinterhörnern  und  in  den  CLAitKE’sehen 
Säulen,  bei  Lepra  nervorum  — fällt  in  eine  Zeit,  wo  die  Untersuchungsmethoden 
ftlr  das  Rückenmark  noch  nicht  ihre,  besonders  Weigert  zu  verdankenden. 
Fortschritte  gemacht  hatten.  Wir  sind  der  Ansicht,  dass  bei  neuen  Untersuchungen 
zweifellos  centrale  Veränderungen  gefunden  werden  müssen,  welche  die  nervösen 
Störungen  bei  der  Lepra  veranlassen. 

2.  Als  zweites  Unterscheidungsmerkmal  führt  Hoffmans'  an:  Lepra- 
hacillen-tiliose.  Es  wäre  ja  möglich,  wenn  sich  Chassioti’s  und  Susa  Maktixi’s 
Befund  nicht  weiter  bestätigen  sollte,  dass  wir  secundäre  Veränderungen  (z.  B. 
Gefässerkrankungeu  [hyaline  Degeneration])  bei  der  Lepra  linden,  oder  dass 


Fie.  tot. 


Lepra  (Type  Arau- Duchenne).  Eigene  Beobachtung. 


wir  „para “lepröse  Affectionen  (im  Sinne  wie  die  Tabes  eine  parasyphilitische 
Affcction  ist)  anzunchmcn  hätten.  Wir  kennen  jetzt  schon  mehrere  ganz  ver- 
schiedene anatomische  Ursachen  für  das  Zustandekommen  des  klinischen  Bildes 
der  Syringomyelie,  die  w ir  bis  jetzt  klinisch  kaum  auseinander  zu  halten  wissen. 

3.  Flecken  der  Haut;  Ulcerationen  der  Haut  (Leprabacillen),  auch  der 
Schleimhaut;  lepröse  Knoten  u.  s.  w.  — Keine  solche  Flecken  u.  s.  w.  Typische 
Fälle  kommen  nicht  in  Betracht;  im  Uebrigen  wissen  wir,  dass  seither  auch  Lei 
der  Syringomyelie  Anomalien  der  Pigmentation,  trophische  Störungen  der  Haut 
und  Schleimhäute  etc.  beobachtet  sind.  Der  Nachweis  des  Lepra bacillus  gelingt 
bei  der  Lepra  nicht  immer  und  speciell  nicht  zu  jeder  Zeit. 

4.  Klinisch  das  Bild  der  multiplen  Neuritis.  — Syraptomenbild  der 
Rückenmarkskrankheit.  Ist  unter  1.  berücksichtigt. 

5.  Druckempfindlichkeit  und  Verdickung  der  peripheren  Nerven  — 
keine  Druckcmptindliehkeit  der  Nerven.  Dieses  Symptom  fehlt  oft  ganz  bei  der 
Lepra,  ist  andererseits  bei  der  Syringomyelie  constatirt. 


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SYRINGOMYELIE. 


639 


6.  Die  Sensibilitätsstörungen  bei  der  Lepra  an  den  Extremitäten , und 
zwar  an  den  peripheren  Theilen  am  stärksten  oder  auch  fleckenweise  — bei  der 
Syringomyelie  mehr  den  Segmenten  des  Rückenmarks  entsprechend  vertheilt.  — 
ln  praxi  erweist  sich  diese  Angabe  für  die  Lepra  als  durchaus  irrig.  Wir  haben 
Fälle  mit  eompleter  Dissociation  an  oberen  Extremitäten  und  Torax,  mit  An- 
ästhesie an  den  Extremitäten,  Dissociation  am  Thorax  u.  s.  f.  beobachtet. 

7.  Fast  ausnahmslos  ist  bei  Lepra  Tast-,  Temperatur-  und  Schmerzsinn 
befallen  gleich  Anästhesie,  wenn  auch  in  verschiedenem  Grade.  Besteht  einmal 
partielle  Empfindungslähmung,  so  ist  meist,  nicht  immer,  der  Tastsinn  gestört, 
die  Sensibilität  in  den  tieferen  Gewebstheilen  erhalten.  Für  Syringomyelie  spricht 
gewöhnlich  partielle  Empfindungslähmung  bei  Erhaltensein  des  Tastsinnes.  In  den 
Weichthcilcn  und  Knochen  bestehen  die  gleichen  Sensibilitätsstörungen,  wie  in 


Fig.  105. 


Ptosis  bei  Lepra  (Zambaco). 


der  Haut.  — Alles  dieses  ist  auch  bei  Lepra  eoustatirt  worden,  kanu  also  diffe- 
rentialdiagnostisch  nur  vorsichtig  verwerthet  werden. 

8.  Fibrilläre  Zuckungen  sind  bei  Lepra  selten,  bei  Syringomyelie  häufiger; 
kann  aber  vorkommenden  Falles  nicht  ausschlaggebend  sein. 

9.  Secretorische  Störungen  sind  bei  Lepra  selten  oder  fehlend,  bei  Syringo- 
myelie häufig.  Nach  unseren  Beobachtungen  sind  sie  bei  Lepra  gar  nicht  selten. 

10.  Die  Sehnenreflexe  normal,  herabgesetzt  oder  fehlend ; nie  spastische 
Symptome;  tabische  Symptome  fast  nie.  Diese  Angaben  für  Lepra  finden  sich 
in  praxi  bestätigt,  für  tabische  Symptome  eher  „selten"1. 

Syringomyelie : Verhalten  der  Sehnenreflexe  wccbsclvoller : fehlend,  nor- 
mal, gesteigert  (wo  ist  hier  der  Unterschied?),  spastische  Symptome,  auch  tabische, 
erstere  häufiger. 


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640 


SYRINGOMYELIE. 


11.  Ocnlopupilläre  Symptome  (Myosis,  Lidspaltverengerung,  Retraction 
des  Bulbus)  nicht  vorhanden  bei  Lepra , dagegen  lepröse  Augenerkrankungen. 
Bei  Syringomyelie  oculopapiliäre  Symptome  Iniulig,  keine  sonstigen  der  leprösen 
ähnliche  Augenerkrankungen.  Es  liegen  mir  drei  Beobachtungen  vor  mit  Lid- 
spaltenverengerung, Lagophthalmie,  Myosis  bei  verificirter  Lepra.  Zambaco  hat 
mir  gtltigst  den  in  Eig.  105  abgebildeten  Fall  zur  Verfügung  gestellt;  aus  einem 
demnächst  bei  Masson  erscheinenden  Werke. 

12.  Bei  Lepra  werden  an  Händen  und  Füssen  die  knöchernen  Phalangen 
einfach  absorbirt  oder  rcsorbirt  ohne  äussere  Entzüudungserscheinungen : Pana- 
ritien  selten.  Nagel  Veränderungen  — Mal  per f orant. 

Bei  Syringomyelie:  Gewöhnlich  nur  an  den  Händen  Panaritien  mit 
Nekrose  und  Abgestossenwerden  von  Knochenstücken  uuter  entzündlichen , zu- 
weilen phlegmonösen  Erscheinungen;  Mal  perforant  selten.  — Zahlreiche  Beob- 
achtungen liegen  vor,  die  des  Verf.  Ansichten  über  Lepra  in  keiner  Weise  bestätigen. 

13.  Ausfallen  der  Haare  und  Cilicn  bei  Lepra.  Kein  Haarschwund  bei 
Syringomyelie.  In  vielen  Fällen  von  Lepra  fehlt  der  Cilienansfall,  die  darüber 
auch  von  Bergmann  ausgesprochene  Ansicht  ist  durchaus  irrig  (siehe  z.  B. 
Fig.  103  oben). 

Schlesinger  (1.  c.  pag.  112)  modificirt  Hoffmann's  Ansichten  dahin, 
dass  ,,die  Maladte  de  Morr  an  keine  eigene  Erkrankung  darstellt,  sondern  einen 
Symptomencomplex  , welcher  sich  sowohl  bei  der  Syringomyelie , als  auch  der 
Lepra  findet.  Ist  im  betreffenden  Falle  Lepra  ausgeschlossen , so  darf  man  den 
Symptomencomplex  nach  dem  heutigen  Stande  unseres  Wissens  direct  zur  Syringo- 
myelie rechnen“. 

Es  giebt  aber  Fälle,  in  denen  die  Lepra  nicht  auszuschliessen  ist.  Neuer- 
lich werden  ja  in  Deutschland  verschiedentlich  Leprafälle  bei  Individuen  con- 
statirt,  die  nie  in  Lepraländern  gelebt  haben.  Die  Lepra  ist  bei  uns  in  Deutsch- 
land im  Regierungsbezirk  Memel  — s.  Wassermann87)  — und  kürzlich  von 
Czerny88)  in  Baden  festgestellt  worden;  sie  ist  aber  den  meisten  Aerzten  fast 
ganz  unbekannt,  besonders  in  deu  Formen,  bei  welchen  die  verschiedenen  ner- 
vösen Störungen  in  den  Vordergrund  treten.  Diese  geringe  Bekanntschaft  mit 
der  Krankheit  tritt  in  allen  Diseussioneu  hervor.  Es  ist  deshalb  sehr  wahrschein- 
lich, dass  Lepra  in  Deutschland  sehr  viel  häufiger  ist  als  man  annimmt.  Für 
Länder,  in  denen  die  Lepra  aber  gefunden  wird,  ist  der  Satz  unumst össlieh,  dass 
es  Fälle  giebt,  in  denen  der  Beweis,  dass  es  sieh  im  gegebenen  Falle 
nicht  um  eine  lepröse  Affection  als  anatomische  Grundlage  der 
syringomyelitischen  Symptome  handelt,  unmöglich  zu  erbringen  ist. 

Schliesslich  ist  bei  der  Erörterung  der  Differentialdiagnose  noch  das 
Bestreben  zu  berücksichtigen,  klinisch  die  zwei  Hauptformen  der  Syringomyelie, 
nämlieh  die  aus  Gliomen  hervorgegangenen  und  die  auf  andere  Weise  entstandenen, 
zu  sondern. 

Nach  Schlesinger  ist  diese  von  Micha  schon  angestrebte,  von  Hoff- 
mann  durchgeführte  Scheidung,  eine  Differentialdiagnose  in  einer  Zahl  von  Fällen 
immerhin  möglich.  Das  besondere  Gewicht  ist  darauf  zu  legen,  dass  bei  der  cen- 
tralen Gliomatose  jene  Symptome  in  den  Vordergrund  treten,  welche  durch  einen 
rasch  wachsenden  Tumor  im  Centrum  des  Rückenmarks  hervorgerufen  werden 
können.  Der  Verlauf  ist  bei  Gliom  ein  rapider;  in  wenigen  Monaten,  spätestens 
in  3 Jahren  vom  Beginn  der  ersten  Erscheinungen  an  gerechnet,  erfolgt  der 
Exitus.  Bei  einfacher  Syringomyelie  kann  das  Leiden  bis  40  Jahre  und  länger 
dauern.  Weiter  weisen  wir  auf  das  weiter  oben  berührte  Verhalten  des  allge- 
meinen Ernährungszustandes  hin.  Bei  Gliose  schnelle  Abmagerung,  kacbektisches 
Aussehen,  bei  anderweitiger  Syringomyelie  blühendes  Aussehen , guter  Ernäh- 
rungszustand. 

Diagnose.  In  den  typischen  Fällen,  wie  sie  zuerst  mit  der  Trias  der 
CarJinalsymptome  von  Schultze  und  Kahler  beschrieben  sind,  ist  die  Diagnose 


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SYRINGOMYELIE. 


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leicht.  Für  die  schwierigeren  Fälle,  in  denen  ein  Theil  der  Störungen  fehlt  oder 
noch  nicht  entwickelt  ist,  möge  folgender  Satz  SCHLKsinger’s  beherzigt  werden: 
Man  soll  die  Diagnose  einer  Syringomyelie  nicht  wagen,  wenn  nur  ein  Cardinal- 
symptom  vorhanden  ist  und  dasselbe  dnreh  keine  Erscheinung  von  geringerer 
Dignität  unterstützt  ist. 

Aetiologie.  Die  Syringomyelie  ist  eine  Krankheit,  welche  im  jugend- 
lichen Alter  beginnt. 

Schlesinger  (1.  c.  pag.  136)  stellt  von  190  Fällen  folgende  Tabelle  auf: 


Lebensjahr 

Männlich 

Weiblich 

Znsiuniuen 

1-10 

4 

1 

5 

11-20 

36 

8 

44 

*1— 30 

53 

25 

78 

31-40 

30 

12 

42 

41—50 

4 

7 

11 

51— 60 

3 

3 

6 

61  und  darüber 

3 

1 

4 

133 

57 

190 

Die  Krankheit  scheint  bei  Männern  häufiger  als  bei  Frauen  aufzutreten; 
bei  Frauen  tritt  sie  häufiger  im  höheren  Lebensalter  auf. 

Unter  den  Gelegenheitsursachen  steht  nach  allen  Autoren  das 
Trauma  (Schlag,  Fall,  Sturz  auf  den  Rücken)  zweifellos  obenan.  Wahrschein- 
lich spielt  hier  congenitale  Anlage  eine  grosse  Rolle.  In  einigen  Fällen  werden 
Erkältungen,  häufiger  Infcctionskrankhciten,  besonders  Typhus,  als  der  Syringo- 
myelie vorhergehend  bemerkt. 

Heredität  wird  nur  zweimal  angegeben.  Zweifellos  spielen  Gefässerkran- 
kungen  eine  Rolle  bei  der  Entstehung  — Erweichung  und  regressive  Gewehs- 
metatnorphosen,  worauf  besonders  neuerlich  Müller  und  Meder  “)  hingewiesen 
haben.  Gestützt  auf  Experimente  von  Ehrlich  und  Brikgkr  sehen  sie  die  Glia- 
wucherung bei  Syringomyelie  in  manchen  Fällen  als  „Heilungsvorgang“  an  iin 
anatomisch-pathologischen  Sinne;  zum  mindesten  betrachten  sie  die  bei  der  Syringo- 
myelie so  überaus  häufige  Gefässentartung  nicht  als  secundäre,  von  der  Glia- 
wucherung abhängige,  sondern  als  eine  selbständige,  mit  der  letzteren  srleich- 
werthige  Erscheinung.  Das  Gleiche  nehmen  sie  von  der  so  häufig  mit  Syringo- 
myelie vergesellschafteten  Meningitis  spinalis  au.  Sie  weisen  weiter  darauf  hin, 
dass  sowohl  die  Gefäss Veränderungen  wie  die  Meningitis  Erscheinungen  sind, 
welche  der  auch  sonst  begründeten  Annahme,  dass  in  der  Aetiologie  der  Syringo- 
myelie die  Lucs  eiue  Rolle  spiele,  weitere  Stutzen  verleihen. 

Verlauf.  Im  Verlauf  hat  man  zu  unterscheiden  zwischen  den  am 
Tumorentwicklung  beruhenden  Fällen  und  den  anderweitigen  Fällen  von  Syringo- 
myelie. Die  ersteren  entwickeln  sich  und  verlaufen  mehr  acut,  die  letzteren  mehr, 
oft  ausserordentlich  schleichend.  Meist  werden  zuerst  Sensibilitätsstörungen , in 
anderen  Fällen  Muskelatrophien  oder  trophische  Störungen  im  Vordergründe 
stehen ; jedoch  ist  nicht  zu  vergessen,  dass  bei  Fehlen  von  Muskelatrophieu  oder 
trophischen  Störungen  die  Sensibilitätsstürungen  für  die  Patienten  ganz  unbemerkt 
bleiben.  Die  Krankheit  kann  Jahrzehnte  lang  stationär  bleiben ; durch  Hämor- 
rhagien  (z.  B.  in  Folge  von  Traumen , von  Gefilssverändernngen)  können  apo- 
plectiforme  Nachschübe  eintreten.  Selten  — wohl  nur  bei  Bulbärsymptomen  — 
ist  die  Syringomyelie  die  directe  Todesursache;  intercurrente  Krankheiten,  am 
häufigsten  Phthise,  Infcctionskrankhciten,  Blasenstörungen  mit  ihren  Folgen,  sep- 
tische Erkrankungen  durch  Phlegmonen  geben  die  Todesursache. 

Aus  dem  Vorhergehenden  ist  die  Prognose  leicht  zu  entnehmen.  Bei 
den  langsam  verlaufenden  Fällen  ist  sie  relativ  günstig  quoad  vitam,  bei  Gliom- 
bildung die  der  malignen  Tumoren.  Heilung  ist  aber  ausgeschlossen. 

Die  Therapie  kann  nur  eine  symptomatische  sein;  Antipyrin,  Anti- 
febrin,  Phenacetin,  Bromprüparate,  protrahirte  warme  Bäder  bei  Schmerzen, 

Encyclop.  Jahrbücher.  VI.  41 

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im  äussersten  Falle  Morphium.  Bei  spinalen  Reizerscheinungen  kann  eventuell 
Punction  des  Wirbelcanals  nach  Quincke  versucht  werden. 

Für  die  Contracturen  und  Gelenkaffectionen , sowie  für  die  ulcerativen 
Proceßse  ist  nach  den  Regeln  der  Chirurgie  vorzugehen. 

Die  Elektricität  wird  von  Hoffmanx  eventuell  empfohlen,  Schlesixger 
hat  keine  Wirkung  derselben  gesehen. 

Prophylaktisch  lässt  sich  bei  erklärten  Fällen  nur  die  Vermeidung 
von  Traumen  und  allen  die  Gesundheit  im  Allgemeinen  schädigenden  Um- 
ständen anrathen. 

Literatur:  *)  Schlesinger,  Die  Syringomyelie.  Mit  einer  Tafel,  29  Abbildungen 
im  Texte.  Leipzig  und  Wien,  Franz  Deuticke,  1895.  (Diese  Monographie  enthält  Alles,  was  bis- 
her in  der  Literatur  [bis  1895]  über  das  einschlägige  Thema  zu  linden  ist,  nebst  der  eigenen 
Erfahrung  Schlesinger’s.  Ein  vollständiges  Literaturverzeichnis»  von  mehr  als  500  Arbeiten 
findet  sich  am  Schluss.  Ich  bemerke  ausdrücklich,  dass  vorstehende  Uebersicht  sich  in  vielen 
Punkten  durchaus,  manchmal  wörtlich,  an  Sch  lesin  ge  r’s  Monographie  anlehnt.)  — *)  l.  H off- 
mann, Syringomyelie.  Volkmann’s  Vorträge.  N.  F.  I.  Serie,  1891,  Nr.  20.  — *)  Wich  mann, 
Geschwulst  und  Höhlenbildung  im  Rückenmark.  Stuttgart,  Metzler,  1887.  — 4)  Schul  tze, 
Klinisches  und  Anatomisches  über  die  Syringomye  ie.  Zeitschr.  f.  klin.  Med.  XIII.  — *)  Olli- 
vier,  TraiU  de  ln  nwelle  epimere  et  ses  maladies.  I"  edit.  Paris  1823.  — *)  Simon, 
lieber  Syringomyelie  und  Geschwnlstbildung  im  Rückenmark.  Arch.  f.  Psych.  1874.  V.  — 
7)  Leyden,  Klinik  der  Rückenmarkskrankheiten.  1875,  II.  — b)  Leyden,  Hydromyelus  und 
Syringomyelie.  Virchow’s  Archiv.  1876,  LXVIII.  — *)  Strümpell,  Beiträge  zur  Pathologie 
des  Rückenmarks.  Arch.  f.  Psych.  1880.  — 10)  Kahler  und  Pick,  Beitrag  zur  Lehre  von 
der  Syringo-  und  Hydromyelie.  Viertcljahrschr  f.  praktische  Heilkunde.  1879.  — u)  Kahler 
und  Pick,  Beiträge  zur  Pathologie  und  pathologischen  Anatomie  des  Centralnervensvstems. 
Arch.  f.  Psych.  X,  — *■’)  Hallopeau,  Contribution  ä l’t'tude  de  ln  sclirose  periependymaire 
Gaz.  med.  de  Paris.  1870.  — **)  Joffroy  & Achard,  I)e  la  myelite  caeitaire.  Arch.  de 
physiol.  1887.  — u)  Joffroy  & Achard,  Diagnostic  et  nature  de  la  Syringomyelie.  Bull, 
et  mini,  de  la  Soc  möd.  des  höp.  de  Paris.  1890-  — 16)  Charcot,  Legons  sur  Iss  maladies 
du  Systeme  nerreux.  Paris  1887,  Tom.  II.  — 18)  Miura,  Zur  Genese  der  Höhlen  im  Rücken- 
mark. Virchow’s  Archiv.  CXVII,  Heft  3. — 1T)  Blocq,  Syringomyelie.  Brain.  Part.  III.  1890. 
pag.  289.  — ,8)  Steffen.  Spina  bifida . Hydromyelie.  Zweitheilung  des  Rückenmarks.  Jahrb. 
f.  Kinderhk.  XXXI,  pag.  248.  — 19)  Langhaus,  Ueber  Höhlcnbildung  im  Rückenmark  als 
Folge  von  Blutstauung.  Virchow’s  Archiv.  1881,  LXXXV.  — 9v)  Kronthal,  Zur  Pathologie 
der  Hohlenbildung  im  Rückenmark.  Neurol.  Centralbl.  1889,  Nr.  20,  21,  22.  — ,l)  Fran- 
cotte,  JEtudes  sur  Vanatomie  pathologique  de  la  nioelle  ipiniire.  Arch.  de  Neurol.  1890, 
XX,  Nr.  56,  57,  58.  — 8>)  Schnitze,  Beitrag  zur  Lehre  von  den  Riickenmarkstumoreu. 
Arch.  f.  Psych.  VIII.  — *•)  Schnitze,  Ueber  Spalt-,  Höhlen-  und  Gliombildung  im  Rücken- 
mark und  der  Medulla  oblongata.  Virchow’s  Archiv  LXXXVII.  — *4)  Schnitze,  Weiterer 
Beitrag  zur  Lehre  von  der  centralen  Gliose  des  Rückenmarks  mit  Syringomyelie.  Virchow’s 
Arch.  CII.  — *•)  Schnitze,  Klinisches  und  Anatomisches  über  Syringomyelie.  Zeitschr.  f. 
klin  Med.  XIII.  — *4)  Weigert,  Zur  pathologischen  Histologie  des  Neurogliafasergcrüstes. 
Centralbl.  f.  allg.  Path.  u.  path.  Anat.  1890,  Nr.  23.  — *7)  Hoffmann,  Zur  Lehre  von  der 
Syringomyelie.  Deutsche  Zeitschr.  f.  Nervenhk.  III,  pag.  1 — 136. — a8)Schaffer  u.  Preis*, 
l eber  Hydromyelie  und  Syringomyelie.  Arch.  f.  Psych.  1891,  XX 111,  Heft  1,  pag.  I.  — 
*9)  Redlich,  Zur  pathologischen  Anatomie  der  Syringomyelie  und  Hydromyelie.  Prager 
Zeitschr.  f.  Heilkunde.  1891.  — *°)Chiari,  Ueber  die  Pathogenese  der  sogenannten  Syringo- 
myelie. Vortrag  im  Verein  deutscher  Acrzte  in  Prag.  (Separat-Abdruck.)  18.  Januar  1888.  — 
*')  Roger,  Contribution  ä Vetude  des  carites  pathologiques  de  la  nwelle.  Revue  de  med. 
10.  August  1892,  pag.  577.  — **)  Charcot,  Legons  sur  les  maladies  du  Systeme  nervrux 
frites  ü la  Salptlriire.  Paris  1877,  II,  pag.  195 — 196.  — 38)  Charcot,  Legons  du  Jdardi 
ä la  Salpetriere.  Paris  1 889,  Le^on  XXI,  pag.  501.  — 34 ) B r u h 1 , Contribution  ä Vitude 
de  la  Syringomyelie.  Paris  1890,  Thöse.  — **)  Bruli I.  Syringomyelie.  La  med.  moderne. 
HO.  August  1893.  — **)Critzmann,  Essai  sur  la  Syringomyelie.  Paris,  Steinheil,  189*2.  — 
*7)  Brtssaud,  Sur  les  paralysies  du  type  radiculaire  dans  la  syringomyilie.  Semaine 
med.  189ö,  pag.  129.  — *e)  Roth,  Du  diagnostic  de  la  gliomatose  mfdullaire  Moskau 
1891-  — w)  Joffroy  & Achard,  Arch.  de  med.  experim.  18.  Juli  1890,  Nr.  4.  — 40)  Hoc  h- 
haus,  Zur  Kcnntniss  des  Riickenraarksglioms  Deutsches  Arch.  f.  klin.  Med.  1890,  XL  VH, 
pag.  6U3.  — 4l)  Schule,  Deutsches  Arch.  f.  klin.  Med.  1877,  XX,  pag.  271.  — 4S)  Fürst  n er 
und  Zachner,  Zur  Pathologie  und  Diagnostik  der  spinalen  Höhlenbildungen.  Arch.  f.  Psych. 
1883.  pag.  422.  — 4J)  Ed.  Kraus»,  lieber  einen  Fall  von  Syringomyelie.  Virchow’s  Arch. 
1885,  C,  pag.  304. — 44)  F.  Müller  u.  E.  Meder,  Ein  Beitrag  zur  Kenntniss  der  Syringo- 
myelie. Zeitschr.  t.  klin.  Med.  1895,  XXVIII,  pag.  117.  (Ref.  im  Centralbl.  f.  path.  Anat.  u. 
allg.  Path.  1896,  pag.  211.)  — 44)  F.  Sch  ul  tze,  Ueber  Befunde  von  Hämatomyelie  nnd 
OblongatablntUDg  mit  Spaltbildung  bei  Dystokien.  Deutsche  Zeitschr.  f.  Nervenhk  VIII. 
pag.  1.  (Ref.  im  Centralbl.  f.  allg.  Path.  u.  patb.  Anat.  1896,  pag.  241.)  — 4Ä)  Farmen  t ier. 


SYRINGOMYELIE. 


643 


Xouvelle  Iconographie  de  la  Salpitrihre.  1890,  pag.  5.  — 47)  Minor,  Beitrag  zur  Lehre 
der  Hämato-  und  Syringomyelie.  Verband I.  d.  internat.  Congr.  zu  Berlin.  1990,  IV.  IX.  Abth., 
pag.  4.  — 4B)  Charcot,  Le^ons  du  mardi  ä ln  Salp£trih'e  Policlinique.  1888 — 1889, 
pag.  bl8.  — 4B)  Caillet,  Troubles  de  la  sensibilitt  dans  les  nffections  nerveuses.  Th6se 
de  Paris.  1891,  pag.  64  u.  65.  — l0)  Souqnes,  Syndromes  hysttriques  simulateurs  etc. 
Thfcse  de  Paris,  pag.  210.  — M)  Lancereaux,  Bull.  m6d.  Februar  und  März  1891.  — 
**)  Lemoine,  Lyon  med.  25  aoüt  1891,  pag.  254.  — M)  Charcot,  Paeudosyringotnyelie. 
>emaine  m6d.  13  Mai  1891.  — M)  Ziehl,  Zur  Casuistik  der  partiellen  Empfindungslähmung 
peripheren  Ursprungs  etc.  Deutsche  med.  Wochenschr.  25.  April  1889.  Nr.  17,  pag.  335.  — 
4t)  Zambaco,  Les  Ifpreux  de  la  Bretagne.  Paris,  Masson.  1892.  (Mit  Tafeln.)  — M)  Zam- 
ba co,  Les  llpreux  de  la  Bretagne  Cotnmunic.  faxte  ä Vacademie  de  la  m£decine.  Paris, 
23.  August  1892,  Masson.  — *7)  Leloir,  Traiii  pratique  et  thtorique  de  la  lipre.  — 
w)  Prince  A.  Morrow,  Journ.  of  cut.  and  gen -ur.  disease.  Jan  1890.  — ••)  v.  Düring, 
Lepra  und  Syringomyelie.  Deutsche  med.  Wochenschr.  8.  Febniar  1894,  Nr.  6.  pag.  123.  — 
••)  SchÜppel,  Ein  Fall  von  allgemeiner  Anästhesie.  Arch.  f.  Heilkunde.  1876.  XV.  — 
4I)  Durdufi,  Experimentelle  Untersuchungen  zur  Lehre  von  den  trophischen  Nerven.  Cen- 
iralblatt  f.  allg.  Path.  u.  path.  Anat.  15.  Juni  1894,  V,  Nr.  12,  pag.  509.  — *’)  Neuberger, 
Ueber  den  sogenannten  Pemphigus  neur oticus.  Ergänzungsheft  d.  Arch.  f.  Dermat.  u.  Syph. 
Jahrgang  1892,  Heft  1,  pag  358.  — •*)  Asmus,  Ueber  Syringomyelie.  Bibliotheca  med.  C, 
Heft  1.  — **)  Remak,  Oedem  der  Oberextreniitäten  auf  spinaler  Basis.  Berliner  klin. 
Wochenschr.  1889,  Nr.  2.  — Äi)  Jaquet.  Ulcera  tropthica  (Syringomyelie).  Internat.  Atlas 
seltener  Hautkrankheiten.  XVIII.  — ®*)  Morvan,  ParMe  analg£sique  ä jmnaris  ou  par£so- 
analgcsie  des  extremit£s  superieures.  Gaz.  hebdom.  de  möd.  et  chir.  1883.  — #7)LouazeI, 
Contribution  ä Vetude  de  la  Maladie  de  Morvan.  Thfcse  de  Paris.  1890.  — •*)  Sokoloff, 
Ueber  Veränderung  der  Gelenke  bei  Syringomyelie.  Petersburger  med  Wochenschr.  1891.  — 
°)  Sokoloff,  Die  Erkrankungen  der  Gelenke  bei  Gliomatose  des  Rückenmarks.  Deutsche 
Zeitschr.  f.  Chir.  1892,  XXXIV.  (Ref.  im  Centralbl.  f.  allg.  Path.  u.  path.  Anat.  1894,  V, 
pag.  225.)  — 7fl)  Berbez,  Bull,  de  la  soc.  clin.  1885.  — 71)  Graf,  Ueber  die  Gelenks* 
erkrankungen  bei  Syringomyelie.  Beiträge  z.  klin.  Chir.  1893.  X.  Heft  3.  — 7I)  Bernhardt, 
Syringomyelie  und  Skoliose.  Centralbl.  f.  Ncrvenhk.  1889,  Nr.  2.  — T3)  Krönig,  Ueber 
Wirbelerkrankungen  bei  Tabikern.  Zeitschr.  f.  klin.  Med.  1888,  XIV.  — 74)  Morvan,  De 
Vanr-thesie  sous  les  divers  nwdes  dans  la  pa riso-analgisie.  Gaz.  hebdom.  de  med  et  chir. 
1889.  - ,5)  Erb,  Arch.  f.  klin.  Med.  1883,  XLII,  pag.  290.  - 74)  Holschewnikoff, 
Ein  Fall  von  Syringomyelie  und  eigenthümlicher  Degeneration  der  peripheren  Nerven  mit 
trophischen  Störungen  (Akromegalie).  Virchow’g  Archiv.  CXIX.  pag.  10.  — 77)  v.  Reckling- 
hausen, Ueber  Akromegalie  (Nachschrift  zu  der  vorstehenden  Abhandlung.)  Ibidem,  pag.  36.  — 
,#)  Virchow,  Sitzungsber.  d.  Berliner  med.  Gesellsch  vom  4.  December  1895.  Deutsche 
m«*d.  Wochenschr.  1896,  Nr.  1;  ' ere  ins  bei  läge  Nr.  1,  pag.  2 — 7B)  Arnold,  Weitere  Bei- 
träge zur  Akromegaliefrage.  Virchow’s  Archiv  CXXXV,  pag.  1.  — Eulen  bürg,  Akro- 
megalie, Real-Encyclopädie  d.  ges.  Heilkunde.  3.  Aufl.,  I,  pag  362.  — •*)  Duchesneau, 
Contribution  a Vftude  anatomique  et  clinique  de  Vucromegalir.  Paris  1892.  — **)  Fischer, 
Beitrag  zur  Casuistik  der  Akromegalie  und  Syringomyelie.  Inang.-Dissert.  Kiel  1891.  — 
•*)  Arnold,  Akromegalie,  Pachyakrie  oder  Ostitis.  Ziegler’s  Beitr.  z.  path.  Anat.  u allg. 
Path.  1891.  — M)  Bier,  Mittheilungen  ans  der  chirurgischen  Klinik  zu  Kiel.  1888.  — 
•*)  Marie  & Marinesco,  Sur  Vanatnmie  pathologique  de  VacromSgalic.  Verhandl.  d.  X inter- 
nationalen med.  Congr.  Berlin  1891,  IV,  9-  Abth..  pag.  129.  — **)  Blocq,  Bull,  de  la  Soc. 
anat.  1887. — *7)  H.  F.  Müller,  Syringomyelie  mit  bulbären  Symptomen.  Deutsches  Arch. 
f.  klin.  Med.  1894»  LII,  Heft  3 u.  4,  pag  259.  — **)  Döjerine  4 A.  Tuilant,  Sur  l’exi- 
stence  d'un  r£tr£cisse$nent  du  champ  risuel  dans  ln  Syringomyelie.  La  med.  moderne.  1889 
bis  1890-  — sr)  Hrianceau,  Contribution  ä Vitude  du  champ  risuel  dans  la  Syringo- 
myelie et  la  Maladie  de  Morvan.  These  de  Paris.  1891.  — B0)  P i c & Regand,  Dissociation 
dite  syringomytlique  de  la  sensibilitt  dans  un  ras  de  pachymeningomyelite  due  a un  mal 
de  Pott  safis  cacitfs  mfdullaires,  II.  Congr.  f.  innere  Med.  Bordeaux,  8- — 14.  August  1895. 
Seraaine  med.  1895,  pag.  363.  — 9t)  Hansen  und  Looft,  Die  Lepra  vom  klinischen  und 
pathologisch-anatomischen  Standpunkt.  Bibliotheca  med.  1894,  DII,  Heft  2.  — •*)  Looft,  Bei- 
lrag zur  pathologischen  Anatomie  der  Lepra  anaesthetica , besonders  des  Rückenmarks. 
Virchow’s  Archiv.  CXXVHI,  pag.  215.  — M)  Chassiotis,  lieber  die  bei  der  anästhetischen 
Lepra  im  Rückenmark  vorkommenden  I acillen.  Monatsh.  f.  prakt.  Dermat.  1887,  pag.  1047.  — 
**)  Schnitze,  Zur  Kenntniss  der  Lepra.  Deutsches  Arch.  f.  klin.  Med.  1888,  XLIII,  Heft  4 
nnd  5,  pag.  513.  — **)  Eulen  bürg,  Erythromelalgie.  Deutsche  med.  Wochenschr.  1893, 
Nr.  50;  Beiträge  zur  neuropathologischen  Casuistik.  Ibid.  1896,  Nr.  29.  — M)  Tschiriew, 
Virchow's  Archiv.  1873,  LVII. — VT)  Wassermann,  Ueber  Lepra.  Berliner  klin.  Wochenschr. 
1895,  pag.  1087.  — •*)  Czerny,  Casnistische  Mittheilung.  Münchener  med.  Wochenschr. 
Februar  1896.  — ")  D’Ali  Galih,  Contribution  r)  l'etude  de  la  Syringomyelie.  Lyon  1894.  — 
10°)  Susa  Martins,  Un  cas  de  Syringomyelie  relevant  de  la  lepre.  Bericht  d.  internat. 
med.  Congr.  zu  Rom.  III,  pag.  349.  E v Düring. 


41  * 


3y  Google 


T. 

Tannin,  zu  Inhalationen,  pag.  288. 

Tannoform,  ca,  H10019t  ein  von  K.  Mebck  dargestclltes  Condensations- 
prodnct  aus  Gallusgerbsäure  und  Formaldeliyd , welches  durch  Einwirkung  von 
concentrirter  Salzsäure  auf  die  beiden  Componenten  entsteht. 

Ein  leckeres  weissrethliches  Pulver . unliislich  in  Wasser , löslich  in  Ammoniak, 
Natronlauge,  sowie  in  Sodalösnng.  Ans  seinen  Lösungen  wird  es  durch  Säuren  wieder  abge- 
schieden. Das  Tannoform  schmilzt  bei  230  C.  unter  Zersetzung 

Das  Tannoform  wird  als  vorzügliches  Mittel  zur  Bekämpfung  des  De- 
cubitus und  der  Hyperidrosis  empfohlen.  Seine  Wirkung  weicht  von  der  des 
Tannins  erheblich  ab.  Gegen  Ulcus  molle  kamen  I Theil  Tannoform  mit 
4 Theilen  Amylum  zur  Anwendung.  Nach  v.  OEFELE  ist  es  bei  Pruritus  vmjinne 
Diabetischer,  auch  bei  Ozaena  von  günstigem  Einfluss. 

Dosirung:  Als  Streupulver  pur  oder  mit  Amylum  (1:2 — 4)  gemischt. 

Literatur:  W II.  Frank,  Vortrag  in  der  Dermat.  Vereinigung  Berlin  am 
3.  Deccmber  1895.  Deutsche  Mod.-Ztg.  1895,  Nr.  102.  — E.  Merck'»  Ber.  über  das  Jahr  1895. 

Loebisch. 

Taubstumme,  Ablesen  des  Gesprochenen  vom  Gesicht,  s.  pag.  5 ff. 

Tetanus. 

Einleitung.  Definition  des  Tetanus  und  frühere  Anschauungen  über 
sein  Zustandekommen. 

Der  Tetanus,  Starrkrampf,  als  typische,  scharf  charakterisirte  Krankheit 
des  Menschen , stellt  sich  tlar  als  ein  tonischer,  ununterbrochener  Krampf  einer 
Anzahl  Muskelgruppen.  Aus  kleinen  Anfängen  anwachsend,  schreitet  dieser  Krampf 
contiuuirlic.h  weiter  und  breitet  sich,  langsamer  oder  schneller , über  einen  Theil 
des  Körpers  aus.  Der  Bezirk  seiner  Ausbreitung  kann  auf  ein  kleines  Gebiet 
beschränkt  bleiben , aber  auch  fast  alle  Muskelgruppeu  des  Körpers  umfassen 
(Localerscheinungen). 

Diese  continuirliehe  tonische  Contraction  erfährt  in  vorgeschritteneren 
Stadien  meist  von  Zeit  zu  Zeit  blitzartig  eintretende  Steigerungen  in  Grad  und 
Ausdehnung,  die  durch  irgend  welche  äussere  Heize  ausgelöst  werden  und  einige 
Zeit  anhalten , worauf  dann  wieder  der  alte  Zustand  eintritt  (Allgemeinerschei- 
nungen). Während  dieser  Steigerungen  können  auch  wohl  klonische  Zuckungen 
auftreten , die  aber  mit  dem  typischen  Bilde  des  Tetanus  nichts  zu  thun  haben. 

In  dieser  höchst  charakteristischen  Form  ist  der  Starrkrampf  schon  seit 
alter  Zeit  bekannt.  Man  sah,  dass  die  Krankheit  am  häutigsten  im  Gefolge  von 
gequetschten,  zerrissenen,  grob  verunreinigten  Wunden  auftrat  (Tetanus  trauma- 
ticus)  und  erklärte  sich  meist  ihren  Eintritt  mit  einer  starken  mechanischen 


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TETANUS. 


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Zerrung  und  Reizung  einer  grosseren  Zahl  von  Nervenendigungen.  Besonders 
die  Verletzung  sehr  sensibler  Nervenbezirkc , so  bei  Castration  der  Thiere  oder 
bei  Fingerverlctzungen  , sollte  leicht  Tetanus  herbeiführen  können.  Der  häufige 
Fund  spitzer  Holzsplitter,  Nägel  u.  dergl.  in  sonst  unbedeutenden  Wunden  Teta- 
nischer  wurde  mit  einem  Eindringen  dieser  Gegenstände  in  Nervenstämme  in 
Verbindung  gebracht.  Man  war  geneigt,  auch  bei  dem  Auftreten  des  Tetanus  im 
Gefolge  von  Erkältungen  (Tetanus  rheumaticus)  an  Einwirkungen  auf  das  Nerven- 
system zu  denken.  Als  das  Wesentliche  bei  dieser  Nervenreizung  wurde  eine 
langdauernde  Einwirkung  bei  erhaltener  Leitung» fähigkeit  der  geschädigten  Nerven 
angesehen  (Zikmsskn’s  Handbuch,  1876). 

Entwicklung  der  Anschauungen  in  neuerer  Zeit. 

Als  man  begann,  das  Auftreten  verschiedener  Krankheiten  mit  kleinsten 
Lebewesen  in  Verbindung  zu  bringen,  gewann  der  Gedanke,  dass  es  sich  beim 
Tetanus  ebenfalls  um  eine  Infectionskrankheit  handeln  könne,  immer  mehr  An- 
hänger. Die  erste  experimentelle  Begründung  erhielt  diese  Ansicht  durch  die 
Versuche  von  Carle  und  Rattone  1884,  denen  es  gelang,  durch  Debcrtragung 
von  Theilcn  der  Infectionsstelle  tetanischer  Menschen  typischen  Tetanus  bei 
Thieren  zu  erzeugen.  Weiter  fand  im  Jahre  1885  Nicolaikr,  dass  die  Infectinns- 
quelle  im  Boden  enthalten  sei.  Er  verimpfte  Gartenerde  auf  Versuchsthiere  und 
bekam  dabei  häufig  typischen  Tetanus.  In  solcher  Erde  fand  er  mikroskopisch 
regelmässig  köpfchentragende  Bacillen,  die  er  auch  auf  künstlichen  Nährböden, 
z.  B.  Blutserum,  zur  Vermehrung  brachte,  allerdings  nur  in  Gemeinschaft  mit 
einer  grossen  Zahl  anderer  Mikroorganismen.  Dieselben  Bacillen  fand  1886  RosK.it- 
bach  an  der  Infectionsstelle  von  an  Tetanus  erkrankten  und  gestorbenen  Menschen. 

Es  wurde  dadurch  die  Annahme,  in  diesen  charakteristischen  Mikrobien 
die  Ursache  der  Krankheit  gefunden  zu  haben,  immer  wahrscheinlicher.  Dagegen 
erhoben  sich  aber  doch  noch  gewichtige  Bedenken.  Zunächst  war  eine  Ueber- 
tragung  des  Tetanus  von  Thier  zu  Thier  nur  in  beschränktem  Masse  gelungen. 
Nach  wenigen  Fassagen  erlosch  die  Uebertragungsfähigkeit.  Ferner  wurden  die 
betreffenden  Bacillen  von  den  nachprüfenden  Forschern  durchaus  nicht  immer 
gefunden , und  endlich  fand  sich  regelmässig  eine  Menge  anderer  Keime.  Da 
gelang  es  Kitasato  im  Jahre  1889,  die  Bacillen  aus  dem  Wundeiter  eines  an 
Tetanus  erkrankten  Menschen  zu  isoliren  und  beliebig  lange  in  Reincnltur  virulent 
fortzuzüchten.  Von  diesem  Zeitpunkt  an  war  es  möglich,  allen  Einzelheiten  und 
Eigeolhiimlichkeiten  der  Infection  experimentell  nachzuspüren  und  es  gelang  in 
kurzer  Zeit,  den  ganzen  Infectionsmodus  und  Krankheitsverlauf  des  Tetanus  so 
klar  zu  legen,  wie  dies  bisher  bei  keiner  anderen  Krankheit  geschehen  konnte. 

Schon  von  ROSKNBACH  war  eonstatirt  worden,  dass  die  charakteristischen 
Bacillen  nur  im  Bezirk  der  Infectionsstelle  gefunden  werden  konnten.  Und 
Kitasato  beobachtete  bei  der  Uebertragung  der  Bacillen  in  Reincultur,  dass  selbst 
grosse  Mengen  derselben  in  sehr  kurzer  Zeit  spurlos  verschwanden , oft  bevor 
noch  die  Erscheinungen  des  Tetanus  bei  den  Versuchsthieren  zum  Ausbruch  ge- 
kommen waren. 

Dies  Hess , besonders  nach  Analogie  mit  dem  kurz  vorher  von  Roux 
gefundenen  Diphtheriegift,  als  höchst  wahrscheinlich  erscheinen,  dass  es  sich 
auch  bei  Tetanus  um  die  Einwirkung  eines  von  den  Mikrobien  hervorgebrachten 
Giftes  handle.  In  der  That  rief  schon  1889  Ksi’P  Faber  mit  dem  sterilen 
Filtrat  von  allerdings  unreinen  Culturen  tetanische  Erscheinungen  bei  Thieren 
hervor.  Und  Kitasato  konnte  bald  einwandsfrei  naehweisen,  dass  die  in  Rein- 
cultur gezüchteten  Bacillen  an  die  sie  umgebende  Flüssigkeit  ein  leicht  lösliches 
Gift  von  bisher  beispiellos  heftiger  Wirkung  abgeben , mit  dem  allein  alle  Sym- 
ptome des  Tetanus  bei  Thieren  hervorgebracht  werden  können. 

Als  Ursache  des  Tetanus  haben  wir  also  das  Eindringen  des  Tetanusbacillus, 
das  heisst  des  von  ihm  erzeugten  spccifischen  Giftes  in  den  Organismus  anzusehen. 


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TETANUS. 


Tetanusbacillus. 

Form.  Die  Tetanusbacillen  stellen  sich  nach  Kitasato  als  schlanke, 
gerade  Stäbchen  mit  abgerundeten  Enden  dar,  die  sich  zu  langen  Fäden  ver- 
einigen können.  Im  Brutschrank  bilden  sie  schnell  (30 — 48  Stunden)  Sporen, 
welche  rund  und  dicker  als  der  Bacillenfaden  Bind  und  au  einem  Ende  des 
Bacillus  sitzen,  so  dass  derselbe  in  sporenhaltigem  Zustand  ein  stecknadelförmiges 
Aussehen  hat.  Die  sporenlosen  Bacillen  haben  deutliche,  aber  wenig  lebhafte 
Eigenbewegung,  die  sporenhaltigen  sind  unbeweglich.  Sie  wachsen  in  Reincultur 
nach  Kitasato  nur  bei  Ausschluss  des  Luftsauerstoffes.  Gegentheilige  Beobach- 
tungen wurden  zwar  aus  Italien  mitgetheilt,  sind  aber  nicht  allgemeiner  be- 
stätigt worden. 

Die  Colonien  haben  ein  massiges  dichtes  Centrum , umgeben  von  einem 
feinen,  nach  allen  Seiten  gleichmässig  entwickelten  Strahlenkranz.  Gelatine  wird 
allmälig  verflüssigt,  nicht  Blutserum  (entgegen  den  Angaben  TlZZOXl’s).  Die 
günstigste  Wachsthumstemperatur  ist  36  — 38“  C.  Die  Bacillen  wachsen  aber  auch 
noch  bei  16°,  allerdings  sehr  langsam. 

Resistenz.  Vermöge  ihrer  Sporenbildung  sind  die  Tetanusbacillcn  gegen 
äussere  Einflüsse,  Hitze,  Chemikalien,  Eintrocknung  und  Anderes  sehr  widerstand« 
fähig.  In  Wasser,  Staub  etc.,  an  Gegenständen  angetrocknet,  können  sie  sieb 
sehr  lange  virulent  erhalten.  Ein  Stück  Baumast  z.  B.,  das  11  Jahre  lang  trocken 
anfbewahrt  worden  war,  enthielt  nach  dieser  Zeit  noch  infectionsfähige  Tetanuskeime. 

Diese  Widerstandsfähigkeit  ist  nicht  immer  die  gleiche,  sic  ist  nach  dem 
Alter  und  der  Herkunft  der  Culturen  kleinen  Schwankungen  unterworfen.  Die 
von  Tizzoni  geprüften  Sporen  scheinen  zum  Beispiel  widerstandsfähiger  gewesen 
zu  sein  als  die  Kitasato's. 

Fundort  der  Bacillen  ausserhalb  des  Körpers.  In  der  Natur  ist 
der  Tetanusbacillus  sehr  verbreitet.  Er  befindet  Bich  häufig  in,  an  organischen 
Substanzen,  reichem  Boden,  dem  Humus,  in  dem  er  sich  nach  den  Untersuchungen 
von  Bombicci  auch  vermehrt.  Naturgemäss  ist  er  nicht  gleichmässig  im  Boden 
verthcilt,  sondern  es  finden  sich  Stellen,  die  sehr  reich  an  Tetanusindividuen 
sind,  während  andere  Strecken  gänzlich  frei  gefunden  werden.  Solche  Anhäufungs- 
orte fallen  daun  oft  dnreh  ihre  besondere  Neigung  zur  Infection  auf.  Besonders 
reich  an  Tetanusbacillen  soll  die  Erde  in  den  Tropen  sein.  Dafür  spricht  auch, 
dass  das  Pfeilgift  mancher  wilden  Stämme  in  der  Antrocknung  tetanushaltiger 
Erde  bestehen  soll. 

Mit  der  Erde,  die  an  Schuhen,  Arbeitsgeräten,  am  Futter  der  Thiere 
haften  bleibt,  wird  der  Keim  in  Wohnungen  und  Ställe  verschleppt.*)  In  dem 
ihrer  Nahrung  anklebenden  Schmutz  und  Staub  können  die  Thiere  die  Sporen 
aufnehmen.  I)a  dieselben  den  Verdanungstractus,  ohne  das  Thier  zu  schädigen, 
oder  selbst  Schaden  zu  leiden,  passiren  können,  ja  sich  scheinbar  im  Darme 
noch  vermehren,  werden  sie  mit  dem  Kothe  in  den  Ställen  verstreut.  In  solchen 
Ställen  häufen  sich  dann  die  Erkrankungen  von  Thieren,  besonders  Pferden,  nach 
unbedeutenden  Verletzungen  der  Extremitäten. 

Ansiedel uu gs-  und  Wachsthumsbedingungen  des  Bacil  Ins.  Aus 
diesen  Medien  kann  der  Tetanusbacillus  in  den  thierischen  und  menschlichen 
Organismus  gelangen.  Doch  ist  dazu  die  Erfüllung  gewisser  Bedingungen  nöthig. 
Die  unverletzte  Haut  und  die  Schleimhäute  bilden  einen  sicheren  Schutz  gegen 
Beine  Ansiedlung.  Erst  wenn  diese  verletzt  sind,  vermag  er  einzudringen.  Aber 
auch  dann  kann  er  nicht  ohne  Weiteres  wachsen.  Schliesst  man  die  Mitimpfung 
von  fertigem  Gift  durch  Erhitzung  oder  Auswaschen  der  Culturen  aus,  so  kann 
man  Thieren  eine  grosse  Menge  wachsthumsfähiger  und  virulenter  Tetanuskeime 
unter  die  Haut  bringen,  ohne  irgend  welche  Erkrankung  zu  veranlassen.  Offenbar 

*)  Heinzeimann  fand  unter  13  verschiedenen  Proben  von  Dielenritzenstaub  !>mal 
Tetanusbacillen. 


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TETANUS. 


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findet  der  Bacillus  im  intacten  Gewebe  keinen  Nährboden  und  geht  rasch  unter. 
VAn.i.ARD  in  Gemeinschaft  mit  Vincent  und  Rouget  haben  diese  Verhältnisse 
experimentell  festgestellt  und  gefunden,  dass  es  eine  Anzahl  anderer  Mikrobien 
giebt,  die  die  Gewebe  für  die  Ansiedelung  der  Tetanusbaeillen  vorbereiten.  Es 
scheint  diese  Symbiose  am  häufigsten  die  Tetanusinfection  zu  ermöglichen,  da 
immer  eine  Anzahl  anderer  Mikrobien  in  Gesellschaft  der  Tetanusbacillen  ge- 
funden werden.  Aher  auch  andere  Schädigungen  der  Gewebe  ermöglichen  das 
Zustandekommen  einer  Infection : so  Blutergüsse,  Nekrosen,  Einspritzung  von 
Milchsäure,  Beigabe  eines  Holzsplitters. 

Ueber  die  Umgebung  der  Infectionsstclle  wuchern  die  Bacillen  auch 
dann  nicht  hinaus,  und  sie  gehen  nicht  in'g  Blut  Uber.  Die  Angaben,  dass  in  den 
inneren  Organen  sich  Tetanusbaeillen  gefunden  haben,  stammen  aus  der  aller- 
ersten Zeit  der  Züchtungsmöglichkeit  und  sind  später  nicht  mehr  bestätigt  worden. 
Die  Uebertragbarkeit  der  Krankheit  durch  grosse  Stücke  innerer  Organe  beruht 
wohl  nur  auf  einer  Uebertragung  von  Gift. 

Tetauusgift. 

Bildung.  Kommt  nun  der  Tetanusbaeillus  in  einen  ihm  zusagenden  Nähr- 
boden, der  die  zu  seiner  Vermehrung  und  zum  Aufbau  seiner  specifischen  Pro- 
ducte  nöthigen  Stoffe  enthält,  so  beginnt  er  Gift  zu  bilden.*)  Diese  Nährstoffe  müssen 
nicht  unbedingt  Eiweissstoffe  sein.  Uschinsky  hat  gezeigt,  dass  der  Tetanus- 
bacillus auf  völlig  eiweissfreien , in  ihrer  Zusammensetzung  genau  bekannten 
Nährlösungen  zu  wachsen  vermag.  Immerhin  sind  da  Beine  Lebensiiusserungen, 
besonders  die  Energie  der  Giftbildung,  sehr  kümmerliche.  Andererseits  scheinen 
auch  wieder  zu  complicirte  Verbindungen  ihm  nicht  besonders  zuzusagen  und  Bind 
seine  Ansprüche  an  den  Nährboden  jedenfalls  keine  besonders  grossen. 

Das  Gift,  das  offenbar  im  Körper  des  Bacillus  gebildet  wird,  tritt  zum 
grössten  Theil  ausserordentlich  raBeh,  im  Gegensatz  zu  anderen  Bakteriengiften, 
aus  dem  Mikrobienkörper  in  die  flüssige  Umgebung  über  und  kann  im  Filtrat 
der  Culturen  schon  nach  einem  Wachsthum  von  wenigen  Tagen  in  reichlicher 
Menge  nachgewiesen  werden. 

Die  Wirksamkeit  des  Giftes  ist  eine  erstaunliche.  Kitasato  besage  be- 
reits Culturen,  von  denen  0,000005  Ccm.  eine  weisse  Maus  tödtete.  Und  durch 
Concentration  bringt  man  es  sehr  leicht  auf  Trockenpulver  von  0,0000001  Grm. 
Minimaldosis  für  eine  Maus.  Das  wäre,  auf  den  Menschen  von  60  Kgrm  Gewicht 
berechnet,  eine  gleiche  Empfindlichkeit  vorausgesetzt,  0,0003  Grm.  einer  unreinen 
Substanz , von  der  wahrscheinlich  der  allergrösste  Theil  nichts  mit  der  Gift- 
wirkung zu  thun  hat. 

Chemische  und  physikalisc he  Eigenschaften.  Das  Gift  ist  seiner 
chemischen  Natur  nach  unbekannt,  da  es  bisher  nicht  von  den  übrigen  Stoffen 
der  Culturlösungen  abgetrennt  werden  konnte.  Die  früher  von  Briegkk  für  das 
speeifische  Gift  des  Tetanus  angesprochenen , chemisch  definirten  Körper,  das 
Tetanin  und  Tetanotoxin,  gaben  bei  den  Versuehsthieren  ein  dem  Tetanus  nicht 
entsprechendes  Krankheitsbild  und  haben  nichts  mit  dieser  Krankheit  zu  thun. 
Und  auch  die  neueren  Bestrebungen  in  dieser  Richtung,  an  denen  sich  beson- 
ders wieder  Buiegku  betheiligte,  haben  bis  jetzt  noch  nicht  zu  einem  endgiltigen 
Resultat  geführt. 

*)  Einige  Antoreu  sind  der  Ansicht,  dass  das  eigentliche  Tetanus  erzeugende  Gift 
nicht  vom  Bacillus  gebildet  werde.  Dieser  producire  nnr  eine  fermentartig  wirkende  Substanz, 
die  dann  im  Organismus  die  Giftbildung  veranlasse.  Mit  der  Zeit,  die  diese  Bildung  brauche, 
erklären  sie  die  Incubation.  Das  im  Körper  gebildete  Gift  rufe  auch  Tetannserscbeinungen 
hervor  bei  anderen  Organismen,  aber  ohne  Incubation.  (Vincenzi,  V.  Congrcss  der  italieni- 
schen Gesellsch.  f.  innere  Med.  18'*2.  Bef.  in  Miinchener  med.  Wochenschr.  1892,  pag.  878; 
Conrmont  n.  Doyon,  Semaine  med.  Juli  1893;  Buscbke  u.  Orgel,  Deutsche  med. 
Wochenschr.  Nr.  7.)  Diese  letztere  Beobachtung  wurde  jedoch  nicht  bestätigt.  (Brunner. 
Deutsche  med.  Wochenschr.  1894,  Nr.  5;  Uschinsky,  Centratbl.  f.  Bakteriologie.  1893, 
XIV,  Nr.  10.) 


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648  TETANl'S. 

Dagegen  hat  bereits  Kn  ID  Fader  , Tizzoni  und  besonders  Kitasato 
über  das  Verhalten  des  Gifts  gegenüber  physikalischen  und  chemischen  Einflüssen 
eine  grosse  Reihe  von  Erfahrungen  gesammelt.  Und  diese  wurden  seitdem  noch 
bedeutend  erweitert  und  vervollständigt.  Das  Ergebniss  dieser  Forschungen  war 
vor  Allem,  dass  das  Tetanusgift  ausserordentlich  leicht  veränderlich  ist. 

Verlauf  der  Intoxication  bei  Thieren.  Führt  man  nun  eine  ge- 
wisse Menge  einer  Keincultur  einem  Versuchsthier  — Kaninchen,  weisser  Maas, 
Meerschweinchen  — unter  die  Haut  ein,  so  erkrankt  das  Thier  an  typischem 
Tetanus.  Es  handelt  sich  dabei,  ob  man  die  lebenden  Bacillen  entfernt  oder  nicht, 
immer  um  eine  reine  Intoxication.  Die  Bacillen  vermehren  sich  nicht,  verschwinden 
im  Gegentheil,  wie  oben  bereits  bemerkt,  ziemlich  rasch  spurlos  aus  dem  Orga- 
nismus und  das  Gift  ist  genau  ebenso  scharf  zu  dosiren,  wie  nach  Filtration 
der  Cultur. 

Je  nach  der  Menge  des  Giftes  und  der  Empfindlichkeit  der  Thiergattung 
ist  der  Verlauf  und  Ausgang  der  Krankheit  ein  verschiedener.  Charakteristisch 
ist,  dass  auch  bei  den  stärksten  Giftdosen  dem  Ausbruch  der  Erscheinungen  ein 
Incubationsstadium  vorausgeht.  Nach  Kitasato  dauert  dasselbe  mindestens  5 Stunden. 
Dasselbe  ist  je  nach  der  Hohe  der  Dosis  grösser  oder  kleiner.  Eine  längere 
Incubation  wie  4 Tage  bei  Mäusen  und  Meerschweinchen  bei  Gifteinführung 
konnte  von  Kitasato  nicht  beobachtet  werden.  Waren  bis  dahin  noch  keine 
Erscheinungen  aufgetreten,  so  blieben  die  Thiere  überhaupt  gesund. 

Je  grösser  die  Dosis  ist , desto  rascher  treten  die  Erscheinungen  anf, 
so  dass  direct  aus  der  Dauer  der  Incubation  ein  ungefährer  Schluss  auf  die 
Grösse  der  angewandten  Giftdosis  gemacht  werden  kann.  Dies  ist  nicht  annähernd 
so  scharf  möglich  bei  der  Infection. 

Ganz  fehlt  also  die  Incubation  nie.  Gcgentbeilige  Angaben  hielten,  wie 
bereits  bemerkt,  der  Nachprüfung  nicht  Stand. 

Bei  den  gewöhnlichen  Laboratoriumsthieren  treten  bei  subeutaner  Ap- 
plication des  Giftes  nach  Ablauf  der  Incubation  die  ersten  Erscheinungen  in  der 
Nachbarschaft  der  Einführungsstelle  auf.  Von  da  breiten  sie  sich,  je  nach  der 
Grösse  der  Dosis,  schneller  oder  langsamer  aus,  zunächst  loeal.  Nach  einiger 
Zeit  beginnen  sie  allgemein  zu  werden,  das  heisst,  es  treten  von  Zeit  zu  Zeit 
die  blitzartigen  Steigerungen  der  Erscheinungen  in  Form  allgemeiner  tonigeher 
Krämpfe  ein. 

Der  Process  kann  bei  sehr  hohen  Dosen  vom  Beginn  der  Erscheinungen 
bis  zum  Tod  in  wenigen  Stunden  verlaufen.  Dann  sind  natürlich  die  einzelnen 
Phasen  wenig  ausgeprägt.  Andererseits  kann  er  sich  bei  kleinen  Dosen  tagelang 
hinziehen.  Länger  wie  3- — 4 Tage  bleiben  weisse  Mäuse  und  Meerschweinchen 
gewöhnlich  nicht  am  Leben,  Uberstehen  sie  diese  Frist,  so  tritt  der  Tod  meist 
überhaupt  nicht  mehr  ein. 

Der  Verlauf  der  Vergiftung  ist  ein  ungemein  charakteristischer  und 
kann  wohl  kaum  mit  irgend  etwas  Anderem  verwechselt  werden.  Spritzt  man 
einer  weissen  Maus  subeutnn  in  die  Gegend  der  rechten  Schenkelbeuge  eine 
sicher  tödtlichc,  aber  nicht  viel  grössere  Giftdosis  ein,  so  dauert  das  Incubations- 
stadium. während  dessen  man  an  dem  Thier  keine  Veränderung  bemerken  kann, 
etwa  24  Stunden.  Dann  beginnt  die  Maus  den  rechten  llinterfuss  etwas  naehzn- 
sehleppen,  der  Gebrauch  desselben  wird  „ruderförmig“,  zugleich  kann  man.  be- 
sonders bei  Erheben  des  Thieres  beim  Schwanz,  eine  leichte  Verkrümmung  der 
Wirbelsäule  eonstatiren.  Allmälig  treten  die  localen  Erscheinungen  deutlicher 
hervor  und  breiten  sich  in  der  Umgebung  aus.  Im  Laufe  des  zweiten  Tages 
nach  Beginn  der  Erscheinungen  tritt  das  allgemeine  Stadium  ein.  Der  Anfang 
dieses  Stadiums  ist  meist  zuerst  an  dem  Anziehen  der  Ohren  gegen  den  Kopf 
zu  eonstatiren.  Jetzt  treten  die  allgemeinen  Anfälle  auf.  Man  kaun  dieselben 
durch  Erschütterung  des  Glases,  in  dem  die  Maus  sitzt,  in  vorgeschrittenem 
Stadium  schon  durch  Geräusche , die  die  Maus  erschrecken , auslösen.  Ain 


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64» 

schönsten  treten  sie  ein,  wenn  man  die  Maus  auf  den  Rucken  legt.  Dann  wird  blitz- 
artig der  ganze  Körper  völlig  starr.  Beide  Hinterextremitäten  werden  ad  maximum 
gestreckt,  die  Zehen  gespreizt,  die  Vorderextremitäten  krampfhaft  angezogen.  Die 
Ohren  sind  fest  an  den  Kopf  gelegt,  die  Augen  geschlossen,  die  Zähne  zusammen- 
gepresst und  meist  die  Unterlippe  herabgezogen.  Die  Athmung  ist  mühsam  uud 
langsam,  oft  setzt  sie  völlig  aus.  Nach  5 — 10  Secunden  lösen  sieh  allmälig  die 
Krämpfe  . und  machen  einer  theilweisen  Erschlaffung  Platz,  ohne  dass  jedoch  die 
localen  Symptome  verschwinden  würden. 

Ruft  man  diese  allgemeinen  Krämpfe  häufig  hintereinander  hervor,  so 
tritt  ein  Zustand  der  Erschlaffung  ein,  in  dem  selbst  eine  starke  Reizung  keinen 
Krampf  mehr  auslöst. 

Der  Tod  tritt  sehr  oft  in  einem  allgemeinen  Anfall  ein,  jedoch  köuneu 
die  Mäuse  auch  stundenlang  ohne  sichtbare  Athmung  im  Anfall  liegen,  ohne  zu 
sterben.  Andererseits  kann  der  Tod  auch  ganz  plötzlich  ohne  sichtbare  Steige- 
rung der  Erscheinungen  eintreten.  Das  ist  besonders  der  Fall  hei  sehr  hohen 
Giftdosen,  bei  welchen  von  Beginn  der  Erscheinungen  an  der  Process  in  wenigen 
Stunden  zum  Tode  führt  und  es  gar  nicht  zur  Entwicklung  von  Anfällen  zu 
kommen  braucht. 

Giebt  man  dagegen  eine  Dosis,  die  unter  der  tödtliehen  Menge  liegt,  so 
treten  die  localen  Erscheinungen  wohl  auch  zutage  und  können  sehr  hohe 
Grade  erreichen , die  allgemeinen  Erscheinungen  entwickeln  sich  jedoch  nur 
schwach  oder  bleiben  ganz  aus.  In  solchen  Fällen  pflegt  das  Fortschreiten  des 
Processes  am  3.  oder  4.  Tag  Halt  zu  machen  und  die  etwa  schon  bestehenden 
Allgemeinsymptome  nehmen  bald  ab.  Dafür  aber  nehmen  die  bereits  vorhandenen 
localen  Contracturen  noch  erheblich  zu.  Die  Wirbelsäule  kann  so  verkrümmt 
werden , dass  die  Schnauze  den  Schwanz  berührt.  Der  rechte  Hinterfnss  ist  ad 
maximum  gestreckt  und  die  Pfote  mit  der  Innenfläche  nach  oben  gedreht.  Die 
Maus  kann  sich  nicht  mehr  aufrecht  erhalten,  sondern  liegt  auf  dem  Rücken. 
Alle  anderen  drei  Extremitäten  können  dabei  völlig  frei  bleiben.  Auch  ist  cs 
nicht  möglich , in  diesem  chronischen  Stadium  eine  Steigerung  oder  Verallge- 
meinerung der  Erscheinungen  hervorzurufen,  ln  diesem  Zustand  können  die 
Mäuse  wochenlang  verharren,  bis  allmälig  eine  Lösung  der  Krämpfe  eintritt, 
die  nach  Monaten  mit  völliger  Restitutio  ad  integrum  enden  kann.  Oft  aber 
treten,  offenbar  infolge  gestörter  Circulation , an  dem  gestreckten  Fuss  oder  am 
Sehwanz  Nekrotisirungen  auf,  die  mit  Demarcation  eines  Theiles  des  Schwanzes 
oder  der  Pfote  enden. 

Durch  geeignete  Dosirung  des  Giftes  kann  man  nun  willkürlich  die  ver- 
schiedensten Grade  der  Erkrankung  hervorrufen.  So  gelingt  es  manchmal  auch, 
wenn  die  Dosis  sehr  nahe  der  tödtliehen  liegt,  ein  Kraukheitshild  hervorznrufen, 
bei  dem  die  Allgemoinerseheiuungrn  bis  zu  einem  höchst  bedrohlichen  Grad  zu- 
nehmen und  doch  nach  8 — 10  Tagen  Stillstand  und  allmälig  völlige  Gene- 
sung eintritt. 

Anders  verläuft  der  Tetanus,  wenn  man  das  Gift  nicht  an  eine  Stelle 
des  Unterhautbindegewebes,  sondern  anderswohin  bringt.  Besonders  lehrreich  ist 
die  Injection  in  die  Blutbahn,  da  sie  den  Gegensatz  zum  localisirtcn  Tetanus  zeigt: 

Es  geht  auch  hier  stets  eine  lncubationsperiode  dem  Beginn  der  Er- 
scheinungen voraus,  dann  aber  kommt  es  zu  einem  plötzlichen  allgemeinen  Aus- 
bruch, die  Höhe  des  Krankheitsbildes  ist  sehr  rasch  erreicht  und  der  Tod  tritt 
viel  schneller  ein  als  bei  der  analogen  subrutanen  Application. 

Vom  Verdauungscanal  aus  ist  das  Gift  völlig  unschädlich. 

Ueber  das  Verhalten  der  Temperatur , Athmung  etc.  beim  experimen- 
tellen Tetanus  ist  wenig  zu  sagen.  Die  Temperatur  bleibt  meist  normal,  die 
Athmung  ist,  besonders  nach  einem  Anfall,  beschleunigt. 

Mit  dem  Tode  tritt  eine  völlige  Erschlaffung  der  contrahirten  Musculatur 
ein,  die  aber  oft  nur  sehr  kurze  Zeit  dauert,  da  die  Todtenstarre  sehr  bald  eintritt. 


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650 


TETANöS. 


Abweichender  Verlauf  des  Tetanus  bei  Pferd  und  Esel.  Anders 
verläuft  die  Intoxicntion  bei  einer  Anzahl  anderer  Thiere,  so  dem  Pferd  und 
Esel.  Hier  treten  die  ersten  Erscheinungen  nicht  local  an  der  Einführungsstelle 
auf,  sondern  zuerst  an  der  Nickhaut  des  Auges  und  an  den  Hebern  des  Schwanzes. 
Erst  dann  werden  andere  Muskelgruppen  ergriffen.  Die  charakteristischen  Erschei- 
nungen selbst  gleichen  ganz  den  an  kleinen  Thieren  beobachteten. 

Die  ätiologische  Zusammengehörigkeit  des  Tetanus  dieser  Thiere  mit 
dem  der  Laboratoriumsthiere  hat  Kitt  bereits  1890  experimentell  nachgewiesen. 

Verlauf  der  Infection.  Erregt  man  die  Krankheit  bei  den  Thieren 
statt  durch  Einführung  fertigen  Giftes,  durch  Einbringung  lebender  Infcctions- 
erreger,  denen  man  Gelegenheit  zum  Wachsthum  giebt,  z.  B.  durch  an  Holzsplitter 
angetrocknete  Sporen,  deren  freies  Gift  durch  Hitze  zerstört  ist,  so  ist  im  All- 
gemeinen der  Verlauf  der  Krankheit  genau  derselbe.  Nur  kann  das  Incubations- 
stadium  verhältnissmässig  länger  dauern , da  ja  die  Bacillen  erst  Auswachsen 
müssen.  Dieses  Auswachsen  ist  den  verschiedensten  Zufälligkeiten  ausgesetzt,  wes- 
halb aus  der  Incubationsdauer  nicht  ohne  Weiteres  auf  die  Menge  des  wirklich 
zur  Geltung  kommenden  Giftes  und  damit  der  Schwere  des  Falles  geschlossen 
werden  kann. 

Pathologisch-anatomischer  Befund.  Sowohl  bei  Intoxication  als 
bei  Infection  ist  der  pathologisch-anatomische  Befund,  wenigstens  bei  nicht  allzn 
langsam  verlaufenden  Fällen,  ein  rein  negativer.  Die  unbedeutenden  localen  Ver- 
änderungen, die  meist  bei  Infection  vorhanden  sind,  sind  jedenfalls  belanglos 
und  auf  die  Wucherung  der  Mikrobien,  vor  Allem  der  Begleiter  der  Tetauus- 
bacillen,  zurückzufUhren. 

Physiologische  Wirkungsweise  des  Giftes  auf  den  Körper. 

Localisation  im  Körper.  Um  so  eifriger  suchte  mau  der  physiologi- 
schen Localisation  des  Giftes  auf  die  Spur  zu  kommen.  Die  Forscher,  die  sieh 
damit  beschäftigt  haben,  sind  darin  einig,  dass  das  Gift  direct  in  Verbindung 
tritt  mit  nervösen  Elementen.  Während  aber  der  eine  Tlieil  diese  Nervenelemente 
nur  peripher  sucht,  glaubt  der  andere  Theil  den  Angriff  des  Giftes  allein  in’s 
Rückenmark  verlegen  zu  müssen.  Die  Unterschiede,  die  sieb  dabei  in  den  Experi- 
menten selbst  ergeben  haben,  sind  wohl  auf  verschieden  starke  Dosiruug  des  Giftes 
zurückzuführen.  Andere  wieder,  so  BROKXER  und  vor  Allem  Goldschkider,  ver- 
treten die  Möglichkeit  einer  Doppelwirkung,  peripher  und  central. 

Vertheilung  des  Giftes  im  Körper.  Diese  letztere  Ansicht  findet 
noch  eine  Stütze  durch  die  eigenthümliche  Vertheilungsweise  des  Giftes  im  Körper, 
über  die  man  allerdings  noch  ziemlich  unklar  ist. 

Schon  sehr  bald  wurde  das  Gift  im  Blut  und  in  anderen  Säften  kranker 
Thiere  naebgewiesen.  Von  da  tritt  es  auch  in  den  Urin  Uber.  In  einer  grossen 
Zahl  von  Fällen,  bei  Mensch  und  Thier,  war  es  aber  nicht  möglich,  das 
Gift  nachzuweisen.  Untersucht  man  nun  quantitativ  genauer,  so  findet  man,  dass 
das  Gift  durchaus  nicht  gleichmiissig  im  Körper  sich  vertheilt.  Subeutan  einge- 
spritzt kommt  nur  ein  ganz  kleiner  Theil  des  Giftes  im  Blut  zum  Vorschein. 
Wahrscheinlich  ist,  je  nach  dem  Ort  der  ersten  Einwirkung  und  den  Kesorptions- 
verhältnissen  dieses  Orts  und  besonders  nach  der  Thierart,  diese  Menge  sehr 
verschieden.  Genauere  Forschungen  in  dieser  Beziehung  werden  vielleicht  den 
Unterschied  in  Local-  und  Allgemeinwirkung  und  Verschiedenheiten  im  Verlauf 
der  Krankheit  dem  Verständnis  näher  bringen. 

Wichtig  erscheint  dies  besonders  gegenüber  der  Thatsache,  dass,  wie 
oben  erwähnt,  die  dem  Tetanusgift  überhaupt  zugänglichen  Nervenelemente  bei 
einzelnen  Thierarten,  dem  Pferd,  dem  Esel  und  auch  bei  dem  Menschen  erheb- 
liche Unterschiede  in  der  Empfindlichkeit  zeigen , während  dies  bei  unseren 
Laboratoriumsthieren  nicht  der  Fall  zu  sein  scheint.  Beunxer  theilt  mit  liecht 
die  Organismen  in  zwei  Gruppen , je  nachdem  alle  in  Betracht  kommeuden 


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TETANUS. 


651 


Nervenelemeute  gleich  empfindlich  gegen  das  Tetanusgift  zu  sein  scheinen,  oder 
ob  einzelne  Theile  desselben  Individuums  viel  leichter  reagiren  als  andere. 

Zusammen  mit  der  unglcichmässigen  Vertheilung  des  Giftes  im  Körper 
erscheint  diese  Beobachtung  wohl  geeignet,  manche  Eigentümlichkeiten  im  Ver- 
laufe des  menschlichen  Tetanus  klarer  zu  machen. 

Empfindlichkeitsunterschiede  und  -Veränderungen.  Auch  bei 
den  gleichmässig  reagirenden  Organismen  ist  wieder  ein  grosser  Unterschied  in 
der  Empfindlichkeitsstärke  je  nach  der  Zugehörigkeit  zu  einer  Thierart  zu  con- 
statiren.  Das  Huhn  z.  B.  ist  fast  völlig  unempfindlich  gegen  das  Tetanusgift. 
Wenig  empfindlich  scheint  auch  der  Hund  zu  sein.  Hehr  empfindlich  ist  das 
Kaninchen,  die  weisse  Batte.  Zu  den  empfindlichsten  Thieren  gehören  die  weisse 
Maus,  die  Ziege,  vor  Allem  das  Meerschweinchen  und  das  Pferd.  Man  misst  be- 
kanntlich die  Empfindlichkeit  einer  Thiergattung,  indem  man  an  einer  Reihe  von 
Thieren  die  zur  sicheren  Herbeiführung  des  Todes  nöthige  Giftmenge  bestimmt, 
die  sicher  tödtliche  Minimaldosis.  Die  Applicationaweise  muss  allerdings  ein  und 
dieselbe  sein  und  wählt  man  dazu  gewöhnlich  die  subctitane  Injeetion. 

Dabei  zeigt  sich  nun,  dass  diese  Dosis  bei  einer  und  derselben  Thier- 
art, normale  Thiere  vorausgesetzt,  sehr  geringen  individuellen  Schwankungen 
unterliegt,  wenn  man  das  Körpergewicht  in  Rechnung  zieht,  dass  dagegen  bei 
den  verschiedenen  Thierarten  die  Unterschiede  sehr  erhebliche  sind.  So  ergiebt 
sich,  dass,  wenn  man  1 Grm.  Meerschweinchcnkörpergewicht  mit  einer  Giftein- 
heit  tödten  kann,  man  zu  1 Grm.  Mäusegewicht  etwa  6 Einheiten  und  zu  1 Grm. 
Kaninchengewicht  1000  Einheiten  nöthig  hat.  Mit  anderen  Worten , das  Meer- 
schweinchen ist  tausendmal  empfindlicher  wie  das  Kaninchen.  Das  Verhältniss 
der  krankmachendeu  Giftdosen  ist  allerdings  ein  anderes,  da  die  Empfindlich- 
keitslireite,  d.  h.  der  Unterschied  der  Mengen,  die  das  Thier  tödten  und  es  ge- 
rade noch  krank  machen,  beim  Kaninchen  viel  grösser  zu  sein  scheint.  Diese 
Empfindlichkeit  des  einzelnen  Individuums  selbst  ist  aber  keine  unter  allen  Um- 
ständen feststehende  und  kann  willkürlich  beeinflusst  werden.  So  hat  Roux  ge- 
zeigt. dass  die  Empfindlichkeit  steigt  bei  Thieren , welche  unter  dem  Einflüsse 
anderer  Schädigungen  stehen.  Auch  durch  allzu  häufige  Einführung  kleiner 
Mengen  des  Tetanusgiftes  selbst  wird  die  Empfindlichkeit  erhöht.  Andererseits 
wird  die  Empfindlichkeit  durch  rationelle  Einführung  des  Giftes  herabgesetzt,  die 
Thiere  werden  immun.  Dieser  Zustand  ist  kein  absoluter,  sondern  immer  nur 
ein  relativer,  einer  gewissen  Giftmenge  gegenüber. 

Behring  hat  zuerst  bei  Diphtherie  und  Tetanus  nachgewiesen,  dass  dabei 
ein  Stoff  sich  allmälig  im  Blut  anhäuft,  der  im  Stande  ist,  die  schädlichen  Eigen- 
schaften des  Giftes  aufzuheben.  Ceber  diese  wichtigsten  Ergebnisse  der  Immuni- 
tätsforschung  muss,  wenn  auch  ein  grosser  Theil  am  Tetanus  gefunden  wurde, 
auf  eine  andere  Stelle  verwiesen  werden. 

Tetanus  beim  Menschen. 

Aetiologie.  Nach  diesen  experimentellen  Thatsachen  ist  es  ansser 
Zweifel,  dass  die  Ursache  der  Tetanuserkraukung  beim  Menschen  in  dem  Tetanus- 
bacillns  und  seinen  Lebensäusserungen  zu  suchen  ist. 

Die  Möglichkeit  der  Aufnahme  fertigen  Tetanusgiftes  allein  in  genügender 
Menge  ist,  wenn  sie  auch  bei  der  kolossalen  Wirksamkeit  des  Giftes  theoretisch 
zugegeben  werden  muss,  praktisch  wohl  von  geringer  Bedeutung.  Es  gehört 
demnach  zum  Zustandekommen  der  Erkrankung  die  Anwesenheit  des  Tetanus- 
bacillus in  virulentem  Zustand,  die  Möglichkeit  für  denselben,  durch  eine  Con- 
tinuitätstrennung,  eine  Wunde,  die  schützende  Haut  zu  passireu,  in  der  Wunde 
die  Verhältnisse  zur  Ansiedelung  zu  finden  und  wenigstens  während  kurzer 
Zeit  zu  wachsen. 

Disposition.  Der  Telanusbacillus  und  die  zu  seiner  Ansiedelung  nölhi- 
gen  Componenten  finden  sich  in  der  Erde,  im  Thierkoth  und  an  den  damit  be- 


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TETANUS. 


schmutzten  Gegenständen.  Alle  Personen,  die  mit  diesen  Dingen  viel  in  Berührung 
kommen,  sind  daher  besonders  zur  Tetanuserkrankung  disponirt.  Weiter  disponirt 
die  Berührung  dieser  Dinge  mit  unbedeckten  Theilen  der  Haut , den  Händen, 
blossen  Armen,  Knien,  Füssen  und  die  Möglichkeit,  sich  häufig  an  diesen  Theilen 
unbedeutende,  leicht  vernachlässigte  Verletzungen  zuzuziehen.  Daraus  ergiebt 
sich  von  selbst  das  häufige  Vorkommen  des  Tetanus  bei  Gartenarbeitern,  Pferde- 
wärtern, Scheuerfrauen,  ebenso  die  Neigung  von  Finger-  und  Handverletzungcn, 
Tetanuserkrankung  im  Gefolge  zu  haben.*) 

Weiter  disponiren,  theils  wegen  der  häufigen  Verunreinigung  mit  Erd- 
partikelehen und  der  Schwierigkeit  der  Reinigung,  theils  wegen  der  für  die 
Bacillen  vortheilbaften  Wachstbumsbedingungen,  stark  gequetschte,  zerrissene 
Wunden,  Nckrotisirungeu,  Erfrierungen  der  Extremitäten,  starke  Blutgerinnsel, 
complicirte  Fractureu , Wunden  im  Kriege.  Hierher  ist  auch  die  Neigung  zum 
Tetanus  bei  Wöchnerinnen  und  Neugeborenen,  die  in  ärmlichen,  schmutzigen 
Verhältnissen  sich  befinden,  zu  rechnen. 

Auf  schmutzige  Behandlung,  Mangel  an  Bedeckung  der  Haut  sowohl, 
als  auch  grosse  Verbreitung  der  Mikrobien  iBt  die  Beobachtung  zurückzuführen, 
dass  eine  ganze  Menschenrasse,  die  Neger,  in  ihrer  Heimat  für  Tetanus  be- 
sonders disponirt  zu  sein  scheinen. 

Infectionspforte.  In  den  meisten  Fällen  ist  die  Einwanderungspforte 
der  Bacillen  leicht  zu  finden  und  durch  den  mikroskopischen  oder  culturellen  Nach- 
weis derselben  fcstzustcllen.  Es  ist  so  bei  allen  Fällen  von  Tetanus  traumaticu*. 
In  einer  kleineren  Anzahl  von  Fällen  aber  kann  sie  auch  verborgen  bleiben,  es 
sind  das  die  Fälle,  die  mau  früher  als  Tetanus  idiopathicus  und  theumnti  us**  | 
bezeichnet  hat.  Durch  genaue  Untersuchung  wird  auch  bei  diesen  Fällen  oft  noch 
der  Gang  der  Infection  aufgeklärt  werden  können.  Dass  es  nicht  immer  leicht 
ist,  zeigen  einige  genauer  beschriebene  Fälle.  So  wollen  Carbone  und  Perrkro 
Tetauusbucillen  im  Bronchialschleim  eines  an  Tetanus  Gestorbenen  nachgewiesen 
haben.  Kitasato  fand  tief  iu  der  Planta  pedis  eines  Tetanustodten  einen  infec- 
tiösen  Splitter,  der  äusserlich  absolut  keine  Erscheinungen  gemacht  hatte,  ln 
Fällen,  wo  es  gar  nicht  möglich  ist,  die  Infectionspforte  nachzuweisen . bleibt 
immer  die  Möglichkeit  noch  offen,  dass  der  Wachsthumsproeess  der  Bakterieu  ein 
kurzer  und  beim  Ausbruch  der  Krankheit  bereits  abgelaufen  war.  Dafür  spricht 
auch,  dass  diese  Fälle  meist  sehr  milde  verlaufen. 

Nachweis  der  Bacillen  durch  Züchtung.  Der  Nachweis  der 
Bacillen  kann  zunächst  mikroskopisch  erfolgen  und  wird  siehergestellt  durch 
Züchtung  der  Bakterien.  Als  rationellste  Art  des  Nachweises  muss  auch  heute 
noch  die  Zticbtungsmethode  von  Kitasato  gelteu. 

Derselbe  kam  zu  seinen  ersten  positiven  Resultaten  dadurch,  dass  er 
das  verdächtige  Material  der  Infcctionsstellc,  Eiter,  Holzsplitter  und  dergleichen, 
weissen  Mäusen  unter  die  Haut  brachte.  Wenn  diese  unter  tetanischen  Erschei- 
nungen gestorben  waren,  fand  er  an  deren  lnfeetionsstellc  wiederum  Eiter,  in 
dem  sich  die  charakteristischen  Mikrobien  mikroskopisch  leicht  nachweisen  Hessen. 
Diesen  Eiter  breitete  er  auf  Agarnährböden  aus  und  licss  ihn  einige  Zeit 

*)  Diese  Neigung  illustrirt  eine  Tabelle,  welche  in  Ziemssen’s  Handbuch  1876 
angeführt  ist.  Es  fand  sich  danach  bei  Tetanus  der  Sitz  der  Infectionspforte: 


an  Hand  und  Finger in  27,42°/, 

„ Ober-  und  Unterschenkel 25,08°  0 

„ Kossen  und  Zehen „ 22,19'/« 

„ Kopf,  Gesicht  und  Hals „ 10,99'/« 

„ Ober-  und  Unterarm 8,09'  ,'« 

„ Kumpf „ 6.28°/« 


**)  Ob  es  sich  bei  diesem , dessen  Entstehung  früher  auf  eine  starke  Erkältung  be- 
zogen wurde,  immer  um  ein  zufälliges  Hinzntreten  der  Erkältung  handelt,  oder  ob  manchmal 
diese  znm  Ausbrach  eines  sonst  latent  verlaufenden  Tetanus  durch  Erhöhung  der  Empfindlich- 
keit (Roux 'sehe  Versuche)  beitragen  kann,  ist  wohl  nicht  zu  entscheiden. 


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TETANUS. 


653 


(30—48  Standen)  ihm  Brutschrank  stehen,  bis  die  charakteristische  Sporenbildung 
der  Tetanusbacillen  in  reichem  Maasse  zu  constatireu  war.  Dann  wurde  diese 
Cultur  */, — 1 Stunde  im  Wasserbad  auf  80°  erhitzt  und  jetzt  erst  auf  Nährboden 
für  Anaerobe  (Gelatine  in  hoher  Schicht)  übertragen.  Hier  wuchs  nun  der  Tetanus- 
bacillus, wenn  nicht  rein,  so  doch  in  so  überwiegender  Menge,  dass  die  An- 
legung einer  Keincultur  durch  Ueberimpfen  absolut  keine  Schwierigkeiten  mehr  bot. 

Es  handelt  sich  bei  diesem  Verfahren  im  Princip  darum,  zunächst  die 
Menge  der  Tetauussporen  zu  vermehren  (Mischcultur).  Dann  w'erden  die  anderen 
Bakterien  durch  Hitzegrade  vernichtet,  welche  die  Sporen  noch  überleben  können. 
Wesentlich  zum  Gelingen  des  Verfahrens  ist,  dass  der  Tetanusbacillus  schneller 
Sporen  bildet  als  die  meisten  anderen  Bakterien  der  Mischcultur  (Kitasato), 
die  die  Fähigkeit  der  Sporenbildung  auch  besitzen.  Es  ist  deshalb  sehr  wichtig, 
die  Mischcultur  bei  hoher  Temperatur  (37 — 38")  und  nur  bis  zum  Eintritt  der 
Sporulation  der  Tetanushacillen,  also  nicht  zu  lange  wachsen  zu  lassen. 

Das  Verfahren  hat  im  Laufe  der  Zeit  manche  Modificationcn  erfahren, 
die  dem  Gutdüuken  des  Einzelnen  überlassen  bleiben  können.  Die  Grundprincipien 
aber  müssen  gewahrt  bleiben,  wenn  man  einen  Erfolg  haben  will.  So  hat 
Kitasato  selbst  bereits  aus  dem  infcctiöscn  Material  des  Menschen,  mit  Umgehung 
der  Thierpassage,  direct  gezüchtet.  Es  empfiehlt  sich  aber  doch,  wenigstens  das 
Material  zu  theilen  und  beide  Wege  einzuschlagcn.  Eincstheils  können  vielleicht 
manche  Erdbakterienarten,  die  in  dem  ursprünglichen  Material  noch  vorhanden 
waren,  im  Thierkörper  aber  nicht  zu  wachsen  vermögen,  ausgeschlossen  werden 
durch  die  Thierpassage , und  andererseits  giebt  das  Eintreten  der  tetanischen 
Erscheinungen  beim  Thier,  auch  wenn  die  Züchtung  fehlschlägt,  einen  Beweis 
für  das  Vorhandensein  wenigstens  von  Tetanusgift. 

Wichtiger  noch  als  der  Nachweis  der  Tetanusbacillen  beim  bereits  er- 
krankten Menschen  erscheint  der  Fund  der  Infectionsqnelle  in  der  Umgebung  des 
Kranken,  da  dieser  die  Handhabe  zu  prophylaktischem  Handeln  geben  kann.  Auch 
hier  sind  schon  interessante  Resultate  erzielt  worden:  So  konnte  Hevsk  bei  einem 
Tetanus  pnerperalis  bei  welchem  er  intra  vitam  in  den  Lochien  bereits  Tctanus- 
bacillcn  nachwies,  in  dem  Barillengehalt  des  Zimmerschmutzes  den  Ansteckungs- 
herd  aufdeckcu.  Ferner  fand  Caliahdi  Tetanusbacillen  in  Spinngeweben,  von  denen 
ein  Tbeil  zur  Blutstillung  einer  Fingerwunde  bei  einem  Knaben  verwendet  worden 
war  und  bei  diesem  Tetanus  hervorgerufen  hatte.  So  konnte  auch  im  Staube  eines 
Luftheizungsschachtes  dieürsache  zweier  Tetanuserkrankungen  nachgewiesen  werden. 

Verlauf  des  Tetanus  beim  Menschen.  Der  Tetanus  des  Menschen 
beginnt,  wie  bekannt , in  den  meisten  Fällen  nicht  in  der  Umgebung  der  Ver- 
letzung, sondern  in  den  Kaumuskeln  und  nimmt  gewöhnlich  seinen  V'erlauf  Uber 
die  Muskeln  des  Nackens,  Rückens,  Bauches  nach  unten.  Die  Arme  bleiben  am 
häufigsten  frei.  Die  Erklärungen,  die  man  für  dieses  vom  Versuch  an  kleinen 
Thieren  abweichende  Verhalten  gegeben  hat , sind  bereits  früher  besprochen 
worden.  Sie  werden  gestützt  durch  eine  grosse  Zahl  von  Beobachtungen,  die 
BRUNNER  an  Fällen  von  menschlichem  Kopftetanus  gesammelt  hat.  Derselbe 
nimmt  analog  früher  ausgesprochener  Ansichten  eine  für  das  Tetanusgift  besonders 
empfindliche  Stelle  in  der  Medulla  ohtongala  an.  Uebrigens  weist  er  an  seinem 
reichen  Material  auch  nach,  dass  die  Fälle,  in  denen  der  Tetanus  in  der  Gegend 
der  inficirten  Stelle  beginnt,  durchaus  nicht  so  selten  sind. 

Der  weitere  V'erlauf  des  menschlichen  Tetanus  ist  allgemein  bekannt  und 
weist  sonst  keine  wesentlichen  Verschiedenheiten  von  dem  hei  Thieren  experi- 
mentell erzeugten  Tetanus  auf. 

Das  Incuhationsstadium  kann  sehr  verschieden  lang  sein  und  lässt  nicht 
ohne  Weiteres  einen  Schluss  auf  die  Schwere  der  Erkrankung  zu.  Im  Allgemeinen 
kann  man  die  Fälle  mit  Incubation  bis  zu  10  Tagen  zu  den  schweren  rechnen. 

Auch  die  Dauer  der  Erkrankung  kann  sehr  verschieden  sein.  Gewöhn- 
lich tritt  der  Tod  innerhalb  der  ersten  fünf  bis  sechs  Tage  von  Beginn  der  Er- 


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TETANUS. 


scheinungen  ein.  Jeder  Tag  mehr  bessert  die  Aussicht  auf  Genesung  erheblich. 
Die  Symptome  bleiben  zunächst  stehen  und  gehen  dann  ganz  allmälig  zartick. 
Doch  kann  der  Tod  auch  noch  viel  später  erfolgen. 

Pathologische  Anatomie.  Wie  bei  den  Thieren,  ist  auch  beim 
Menschen  der  pathologisch-anatomische  Befund  meist  negativ.  Es  sind  zwar  schon 
von  Rokitansky  und  Anderen  Veränderungen  am  Rückenmark  und  an  den  peri- 
pheren Nerven  beschrieben  worden  und  vor  einiger  Zeit  hat  wieder  Boxomk 
Beobachtungen  veröffentlicht.  Diese  Veränderungen  wurden  aber  von  der  Mehrzahl 
der  Untersucher  nicht  bestätigt  und  sollen  nicht  charakteristisch  für  Tetanus  sein. 

Diagnose.  Die  Diagnose  des  Tetauus  ist  ausserordentlich  leicht  zu 
stellen.  Meist  schon  die  ersten  Anzeichen , die  Behinderung  des  Rauens  und 
Sprechens,  und  vor  Altem  das  vollentwickelte  Bild  lassen  kaum  einen  Zweifel 
aufkommen  und  genügen  zur  sicheren  Bestimmung  der  Krankheit.  Auch  der 
Nachweis  der  Bacillen  ist  nach  der  oben  beschriebenen  Methode  leicht  zu  führen 
und  dient  mehr  zur  wissenschaftlichen  Bestätigung.  Weiter  bat  Kitasato  die 
Prüfung  des  Giftgehaltes  des  Blutes  praktisch  angewandt.  Mau  giebt  einem  mög- 
lichst empfindlichen  Thier,  also  am  besten  einem  Meerschweinchen,  grosse  Mengen 
Blut  *) , das  man  womöglich  schon  während  des  Lebens  durch  Venaesection  dem 
Kranken  entnommen  hat. 

Man  durfte  hollen,  vielleicht  aus  der  Menge  des  Giftes  einen  prognosti- 
schen Schluss  auf  die  Schwere  des  Falles  machen  zu  könneu.  Im  Allgemeinen 
gehören  allerdings  die  Fälle,  bei  denen  Gift  im  Blut  nachgewiesen  werden  kann, 
zu  den  schwersten.  Die  naehgewiesene  Menge  steht  aber  offenbar  in  keiner  directen 
Beziehung  zur  wirklich  im  Körper  vorhandenen  Giftmenge,  wie  dies  zwei  Fälle 
von  Stkrn  neben  auderen  zu  beweisen  scheinen.  Jedenfalls  lässt  dies  prognostische 
Hilfsmittel  gerade  dann,  wenn  es  wichtig  wäre,  bei  nicht  allzu  schwerer  Er- 
krankung meist  vollständig  im  Stich. 

Prognose.  Im  Allgemeinen  ist  die  Prognose  bei  Tetanus  sehr  schlecht. 
Manche  Autoren  rechnen  80 — 90%  Sterblichkeit,  und  wenn  die  Incubation  unter 
fünf  Tagen  beträgt,  soll  kaum  ein  Fall  durchkommen.  Andere  aber  wieder, 
besondere  Italiener,  berechnen  nur  etwa  20%  Sterbefälle.  Es  scheint  fast,  als  ob 
das  mit  den  Gegenden  verschieden  sei  und  in  Italien  der  Tetanus  milder  verlaufe. 

Gewöhnlich  stellt  man  die  Prognose  nach  der  Länge  der  Incubationszeit. 
Dies  ist  allerdings  für  kurze  Iucubationsdauer , etwa  bis  zu  10  Tagen  , ziemlich 
richtig,  das  heisst,  der  Procentsatz  der  Todesfälle  ist  bis  dahin  sehr  gross,  aber 
nach  dieser  Zeit  wird  die  Prognose  ausserordentlich  unsicher.  Wichtiger  erscheint 
die  Schnelligkeit  des  Ansteigens  der  Erscheinungen.  Ist  in  kurzer  Zeit,  in  24  bis 
48  Stunden  das  Krankheitsbild  bereits  ausgesprochen  , so  handelt  es  sich  sicher 
um  einen  sehr  schweren  Fall.  Ziehen  sich  dagegen  schon  die  ersten  Symptome 
mehrere  Tage  hin,  ist  die  Wahrscheinlichkeit  des  Ueberstehcns  der  Krankheit 
sehr  grosB. 

Therapie.  Diese  Unsicherheit  in  der  Prognose  einer  gewissen  Gattung 
der  Tetanusfälie  machte  von  jeher  die  Ileurtheilung  des  Heilerfolges  irgend 
eines  Mittels  sehr  schwierig.  So  wurde  im  Laufe  der  Zeit  manches  Mittel  lioch- 
geprieseu  und  bald  wieder  als  nutzlos  aufgegeben.  Es  seien  nur  die  von  Bacckli.i 
empfohlenen  Carboisäureeinspritzungen  als  Beispiel  erwähnt.  Erhalten  haben  sich 
nur  die  Narcotica,  vor  Allem  das  Chloralhydrat.  Wenn  demselben  auch  ein 
bedeutender  Einfluss  auf  die  Sterblichkeitszitfer  des  Tetanus  kaum  nachgewiesen 
werden  kann . trägt  es  doch  ausserordentlich  zur  Linderung  der  Beschwerden 
der  Kranken  bei.  Sehr  wichtig  erscheint  dagegen  die  Prophylaxe,  die  besondere 
sorgfältige  Reinigung  und  Pflege  aller,  auch  der  kleinsten  Wunden,  die  den  Ver- 
dacht auf  eine  mögliche  Tetannserkrankung  erwecken  können.  Am  meisten  erreicht 
man  bei  der  grossen  Widerstandsfähigkeit  der  Tetanuskeimo  jedenfalls  mit 

*)  Das  Scrnni  ist  ebenso  wirksam. 


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möglichst  gründlicher  mechanischer  Reinigung.  Von  bakteriologischer  Seite  wurde 
dem  Silhernitrat  und  Jodoform  ein  besonders  starker  Einfluss  auf  die  Tetanus- 
bakterien  zugeschrieben.  Ist  der  Tetanus  ausgebrochen,  so  ist  jedenfalls  die  Ent- 
fernung des  inficirenden  Gegenstandes  geboten.  Allerdings  wird  man  nach  den 
heutigen  Anschauungen  von  der  Amputation  ganzer  Extremitäten  absehen. 

Je  machtloser  man  dem  ausgesprochenen  Bilde  des  Tetanus  gegenüber- 
steht,  desto  grössere  Erwartungen  musste  man  der  Heilserumtherapic  entgegeubringen, 
und  es  wurden  auch  bis  jetzt  eine  Reihe  von  Fällen  mit  Tetanusheilserum  be- 
handelt. Die  allgemeine  Meinung  Dher  diese  Fälle  geht  dahin,  dass  dieselben  noch 
keinen  sicheren  Schluss  auf  die  Wirksamkeit  der  neuen  Therapie  für  Tetanus 
zulassen.  Einerseits  werden  die  geheilten  Fälle  als  zu  leichte,  die  auch  so  hätten 
in  Genesung  übergehen  können,  von  mancher  Seite  nicht  als  Heilungen  anerkannt. 
Andererseits  sind  immer  noch  schwere  Fälle,  trotz  Behandlung  mit  Heilserum, 
gestorben.  Dazu  ist  zunächst  zu  constatiren , dass  die  bis  jetzt  beim  Menschen 
angewandten  Dosen,  nach  den  Erfahrungen  beim  Thierexperiment,  mit  wenig 
Ausnahmen  viel  zu  klein  waren.  Die  Thierversuche  beweisen  andererseits  mit 
Sicherheit,  dass  eine  Möglichkeit  der  Heilung  des  Tetanus  bei  sonst  sicher  tödt- 
lichem  Verlaufe  vorliegt,  allerdings  bis  jetzt  nur  bei  nicht  allzu  schweren,  nicht 
allzu  vorgeschrittenen  Fällen  und  mit  grossen  Mengen  Antitoxin.  Für  die  Aus- 
sicht, dass  damit  die  Erfolge  der  Heilserumtherapic  erst  in  ihrem  Beginne  stehen, 
und  dass  mit  Erhöhung  des  Serumwerthes  der  Procentsatz  der  durch  diese 
Therapie  vom  sicheren  Tode  zu  rettenden  Menschen  immer  mehr  zuuimmt, 
sprechen  die  Erfahrungen  bei  der  Behandlung  der  Diphtherie. 

Literatur:  I.  Tetanusbacillus:  Carle  und  Kattone,  Uebertragbarkeit. 
Giornale  dell’  R.  acrad.  di  Med.  di  Torino  1884.  — Nicolaier,  Fund  der  lnfectionsquelle 
in  der  Erde.  Inaug.-Dissert.  Güttingen  1885.  — Rosen  hach,  Bacilleu  beim  Menschen  an 
der  Infectionsstelle  mikroskopisch  nachgewiesen.  Arch.  f.  klin.  Chir.  1886,  pag.  306.  — 
Kitasato,  Reinzüchtung  aus  Infectionsstelle,  Morphologie,  Widerstandsfähigkeit,  Thierversuch. 
Zeitsehr.  f.  Hygiene.  1889,  VII.  — Tizzoni,  Cattani  u.  Baqnis,  Thierversuch.  Bacillen- 
fund im  Organismus.  Ziegler's  Beitrage  zur  pathologischen  Anatomie.  1889,  VII.  — Sor- 
mani,  Ftitterungsversuche,  Vermehrung  der  Bacillen  im  Darm.  Associazione  Medica.  1889, 
XIII ; V.  Congr.  d italienischen  Gesellsch,  f.  innere  Med.  1892,  Ref.  im  Centralbl.  f.  Bukteriol. 

1892,  XII,  pag.  609  — Parietti,  Impftetanus  bei  Hunden.  Riforma  raed.  18*»9.  — Kita- 
sato u.  Weyl,  Züchtung.  Zeitschr.  f.  Hygiene.  189U,  VIII  u.  IX.  — Kitt,  Impftetanus  bei 
Pferden,  Schafen  etc.,  Verlauf.  Centralbl.  f.  Bakteriol.  1890,  VII,  Nr.  10.  — Sanchez- 
Toledo  u.  Veilion,  Koth  der  Thiere  infectiüs,  Bacillenfund  in  deu  Organen.  Arch.  de  med. 
experim.  1890,  II,  Serie  I,  pag.  1 ; LaSemaine  raed.  1890,  X,  Nr.  45.  — Sormani,  Vom 
Verdauungs-  und  Respirationstractus  Infcction  nicht  möglich.  Deutsche  med.  Wochensehr.  1890, 
Nr.  52;  X.  internat.  Congr.  in  Berlin.  — Tizzoni  u.  Cattani,  Widerstandsfähigkeit,  der 
Bacillen.  Arch.  f.  experiiu.  Patli.  n.  Pharm.  Ifc91,  XXVIII,  pag.  41.  — Heinzeimann,  Nach- 
weis der  Bacilleu  im  Dielenritzenstaub  Münchener  med.  Wochen  sehr.  1891,  Nr.  10  u.  11.  — 
Vaillard  u.  Vincent,  Wachsthunisbcdinguugen  im  Körper.  Annal.  de  l’institut  Pasteur. 
1891,  Nr.  1,  pag.  1.  — Schwarz,  Widerstandsfähigkeit  in  Wasser  und  Staub.  Arch.  per  le 
Science  med.  1691,  XV,  pag.  121,  141.  — Bombicci,  Vermehrung  im  Boden.  Ibid.  1891, 
XV,  pag.  193.  — Turco,  Verbreitung.  La  Riforma  med.  1891,  Nr  236.  — Henrijean, 
Widerstandsfähigkeit  in  an  Holz  angctrocknetera  Zustand.  Annal.  de  la  Soc.  m6d.  chir.  de  Li&ge. 
1891,  Nr.  10-  — Vaillard  u Rouget,  Wachsthumshedingungeu  im  Körper.  Annal.  de 
l'institut  Pasteur.  1892,  Nr.  6,  pag.  385.  — LeDantec,  Tetanussporen  als  Pleilgift.  Annal. 
de  l'institut  Pasteur.  1892,  Nr.  12,  pag.  851.  — Belfanti,  Aerobes  Wachsthum.  Centralbl. 
f.  Bakteriol.  1889,  VI;  Arch.  per  le  Science  med.  1892.  XVI,  pag.  375.  — Vincenzi,  Mor- 
phologie. La  Riforma  med.  1893,  Nr.  35,  Referat  im  Centralbl.  f.  Bakteriol  XIV,  pag.  149.  — 
Klipstein,  Wachsthumsbedingungen  im  Körper.  (Oegen  Vaillard.)  Hygienische  Rundschau. 

1893,  Nr.  1.  — Vaillard  u.  Rouget  (gegen  Klipstein).  Annal.  de  l'institut  Pasteur. 
1893,  Nr.  11,  pag.  755.  — Sanfelice,  Züchtung  auf  gifthaltigem  Nährboden.  Zeitschr.  f. 
Hygiene.  1893.  XIV.  — Uschi  ns  ky,  Wachsthum  auf  eiweissfreiem  Nährboden.  Centralbl.  f. 
Bakteriol.  1893,  XIV,  Nr.  10.  — Righi,  Aerobes  Wachsthum.  La  Riforma  med.  1894, 
pag.  651.  — Carbo  ne  u.  Perrero,  Aerobes  Wachsthum.  Centralbl.  f.  Bakterol.  XVIII,  Sr.  7. 

II.  Tetanusgi ft.  — 1.  Chemische  und  physikalische  Eigenschaften, 
Intoxicatio  ns  verlauf:  Knud  Faber,  Giftnachweis  im  Filtrat  unreiner  Culturen.  Ab- 
schwächung durch  Hitze.  Berliner  klin.  Wochensehr.  1690,  Nr.  31,  pag.  717-  — Brieger  u. 
Frankel,  Toxalbumine,  Alkoholfällung.  Berliner  klin.  Wochenschr.  1890,  Nr.  11  u.  12.  — 
Kitasato  u.  Weyl,  Zeitschr.  f.  Hygiene.  1890,  VIII.  — Tizzoni  u.  Cattani,  Chemische 


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Eigenschaften  des  Giftes.  Centralbl.  f.  Bakteriol.  1890,  VIII,  pag.  69.  — Kitasato,  Gift- 
gewinnung, Thierversuche,  chemische  und  physikalische  Eigenschaften.  Immunisirung.  Zeitschr. 
f.  Hyg.  1891.  X,  pag.  267.  — Tizzoni  u.  Cattani,  Chemische  und  physikalische  Eigen- 
schaften des  Giftes.  Fällung  mit  Alkohol,  Ammonsulfat.  Arch.  f.  experim.  Path.  u.  Pharm.  189Ü, 
XXVII.  — Vaillard  u.  Vincent,  Chemische  Eigenschaften.  Annal.de  l'institut  Pasteur. 
1891.  Nr.  1;  Semaine  med.  1890,  pag. -125.  — Jmmerwahr.  Toxalbumine  aus  den  Organen. 
Deutsche  med.  Wochenschr.  1891,  Nr. 30.  — Vincenzi,  Gift  wird  im  Verdauungscanal  zerstört. 
Arch.  per  le  Science  med.  1892,  XVI,  pag.  341.  — Fermi  u.  Celli,  Verschiedene  Einflüsse  auf 
das  Gift.  Centralbl.  f.  Bakteriol.  1892,  XII,  Nr.  18;  Gazz.  degli  ospedali.  1893.  — Brieger 
u.  Cohn,  Chemische  Eigenschaften.  Zeitschr.  f.  Hygiene.  1893,  XV,  H.  1.  — Büchner, 
Trockengift.  Münchener  med.  Wochenschr.  1893,  Nr.  24  n.  25.  — Trevisan,  Glycerin 
als  Conservirung  von  Tetanusmaterial.  Referat  im  Centralbl.  f.  Bakteriol.  1893,  XIII,  pag  031. 
— Fermi  u.  Pernossi,  Umfassende  Zusammenstellung  der  verschiedensten  Einflüsse  auf  das 
Gift.  Zeitschr.  f.  Hygiene.  1894,  XVI.  — llarnack  u.  Hochheim,  Toxikologisches  Krank- 
heitsbild. Zeitschr.  f.  klin.  Med.  Ifc94,  XXV.  — Brieger,  Chemische  Eigenschaften,  Reini- 
gnng.  Zeitschr.  f.  Hygiene.  1895,  XIX,  pag.  101.  — Brieger  u.  Boer,  Doppelverbindung  des 
Giftes  mit  Metallen.  Zeitschr.  f.  Hygiene.  1895,  XXI,  pag.  267.  — 2.  Physiologische 
Wirkung  des  Giftes:  Vaillard  u.  Vincent,  Physiologische  Experimente.  Annal.  de 
l’institut  Pasteur.  1891,  Nr.  I.  — Brunner.  Physiologische  Experimente-  Bruns’  Beitrage 
zur  klinischen  Chirurgie.  April  1892,  IX;  Berliner  klin.  Wochenschr.  1891,  Nr.  37-  — 
Autokratow,  Physiologische  Experimente.  Arch.de  med.  experiin.  Septem  her  1892.  — Vin- 
cenzi.  Tetanusgift  entsteht  erst  im  kranken  Organismus  durch  fermeutartige  Wirkung.  Auf- 
treten im  Blut  bereits  Heilvorgang.  Arch  j>er  le  Science  med.  1892,  XVI,  pag.  341 ; Referat  in 
Münchener  med.  Wochenschr.  1892,  pag.  878-  — Courmont  u.  Doyon,  Physiologische  Ex- 
perimente. Societe  de  biol.  December  1892;  8’emaine  m*!*d.  September  1892;  Arch.  de  med. 
experim.  Jan.  1893  — Buschke  u.  Oergel,  Gift  ohne  Incubation.  Deutsche  med.  Wochen- 
schrift. 1893,  Nr.  7.  — Courmont  u.  Doyon,  Ebenfalls  Gift  ohne  Incubation.  8emaine 
meJ.  Juli  1893  — Uschinsky,  Gegen  die  Vorhergehenden.  Centralbl.  f.  Bakteriol.  1893,  XIV, 
Nr.  IG-  — Brunner,  Ebenfalls  Gift  ohne  Incubation  nicht  gefunden.  Deutsche  med.  Wochen- 
schrift. 1894,  Nr.  5,  pag.  100.  — Goldscheider,  Physiologische  Experimente.  Zeitschr.  f. 
klin.  Med.  1894,  XXVI;  Fortsehr.  d.  Med.  1895.  — Gnmprecht,  Physiologische  Experimente. 
Pflüger’ s Archiv.  1894,  LIX;  Deutsche  med.  Wochenschr.  1894,  pag.  546.  Kritik  der  Arbeiten 
Anderer.  Deutsche  med.  Wochenschr.  1895,  pag.  693.  — Goldscheider,  Kritik  der  obigen 
Arbeit.  Deutsche  med.  Wochenschr.  1895,  pag.  735.  — 3.  Vertheil  ung  des  Giftes  im 
Thierkörper  nml  Ausscheidung:  Behring  u.  Kitasato,  Gift  im  Pleuraexsudat  und 
Blut  bei  Kaninchen.  Deutsche  med.  Wochenschr.  1890,  Nr.  49.  — Bruschettini,  Gift  im 
Blut,  Centralnervensystem,  Nierensubstanz  sehr  toxisch.  La  Kiforma  med.  1890,  Nr.  225.  — 
Camara  Pestana,  Gift  in  den  thierisehen  Organen.  Le  bull.  med.  1891,  Nr.  53.  — K ar- 
tul is,  Gift  im  Blut  und  Urin  nur  bei  starker  Intoxication  nachweisbar.  Inaug.-Dissert.  Berlin 

1893.  — Ifuadu,  Vertheilung  des  Giftes  im  Körper  nicht  gleichmassig.  La  Rilorma  med. 

1894,  Nr.  241.  — Knorr,  Nur  ein  kleiner  Theil  des  eingespritzten  Giftes  erscheint  im  Blut. 

Habilitationsschrift.  Marburg  1895.  — 4-  Empfindlichkeit  der  Thiere  gegen  das 
Gift.  Ausser  einer  grossen  Zahl  verstreuter  Angaben:  Kitasato,  Grosse  Zahl  von  Thieren 
empfänglich.  Genauer  Meerschweinchen,  weisse  Mäuse,  Kaninchen,  Huhn  unempfindlich.  Zeit- 
schrift f.  Hygiene.  1889,  VII.  — Tizzoni,  Cattani  u.  Baquis,  Ebenso  grosse  Anzahl  von 
Thieren.  Photographien  von  kranken  Thieren.  Ziegler’s  Beiträge  zur  pathologischen  Anatomie. 
1889,  VII.  — Wladimiroff,  Empflndlichkeitsscala  für  die  zu  Laboratoriums-  und  Iramuui- 
sirungszwecken  gebräuchlichsten  Thiere.  Zeitschr.  f.  Hygiene.  1893,  XV,  pag.  4U5.  — Knorr, 
Schwanken  der  Empfindlichkeit  Habilitationsschrift.  Marburg  1895.  — 5.  Ile ilungs ver- 
suche bei  Thieren:  B e hr  i n g u.  K i ta  sato , Heilung  bei  Intoxication  der  Mause.  Deutsche 
med.  Wochenschr.  1890,  Nr.  49.  — Tizzoni  u.  Cattani,  Heilung  von  weissen  Ratten  bei 
Intoxication.  La  Riforma  med.  1^91,  Nr.  183.  — Behring  u.  Frank,  Schwierigkeit  der 
Heilung  im  Verhältnis  zur  Immunisirung.  Deutsche  med  Wochenschr.  1892,  Nr.  16  — 

Kitasato,  Heilung  von  weissen  Mäusen  und  Meerschweinchen  bei  Infection.  Zeitschr.  f.  Hy- 
giene. IS92.  XII,  pag. 250  — Behring  u.  Casper.  Heilwirkungen  bei  grossen  Thieren.  Die  Blut- 
serumtherapie  II.  Leipzig  1892,  Tbieme.  — Behring  u.  Knorr,  Heilung  von  weissen  Mausen 
bei  Intoxication,  Bestimmung  des  Unterschiedes  zwischen  Imtuanisirung  und  Heilung.  Zeitschr. 
f.  Hygiene.  1893,  XIII.  — Rou x u.  Vai  1 1 a r d , Unmöglichkeit  der  Heilung  von  Meerschwein- 
chen, Mausen  und  Kaninchen  bei  Infection.  Annal.  de  l'institut  Pasteur.  1893,  Nr.  2.  — 
Tizzoni  u.  Cattani,  Heilung  theilweise  gelangen.  Berliner  klin.  Wochenschr.  1893,  Nr.  50, 
51  u.52.  — Brieger  n.  Cohn.  Heilung  bei  Intoxication  möglich,  nicht  bei  Infection.  Zeit- 
schrift f.  Hygiene.  XV,  pag.  189.  — Beck,  Heilung  bei  Infection  nicht  möglich  ■Meer- 
schweinchen). Zeitschr.  f.  Hygiene.  1895,  XIX.  — Knorr,  Heilung  bei  Infection  möglich 
(Meerschweinchen).  Habilitationsschrift.  Marburg  1895. 

III.  Tetanus  des  Menschen.  1.  Nachweis  der  Bacillen;  2.  des  Gifte« 
im  Körper;  3.  anatomischer  Befund;  4-  Statistik  — 1.  Kitasato,  Erste  Rein- 
Züchtung.  Zeitschr.  f.  Hygiene.  18"9,  VII.  — Chanteraesse  u.  Vidal,  Bacillen  im  Uterus. 
Bull.  med.  18>9,  Nr.  74.  — Renvers,  Drei  Fälle  von  Züchtung  aus  der  Wunde  (durch 


TETANUS.  — THIERGIFTE. 


657 


Kitasato).  Verein  f.  innere  Med.  Berlin,  7.  Juli  1890.  — Kitasato,  Einige  Fälle  von 
Züchtung.  Zeitschr.  f.  Hygiene.  1891,  X,  pag.  302.  — Stern,  Nachweis  in  zwei  Fällen: 
Puerpera  und  sogenanntem  Tetanus  rheumaticus.  Deutsche  med.  Wochenschr.  1892,  Nr.  12. 

— Heyse,  Züchtung  aus  Lochialsecret  nnd  Nachweis  der  Bacillen  in  der  Umgebung  der 
Kranken.  Deutsche  med. Wochenschr.  1893,  Nr.  14,  pag.  8.  — Schnitzler,  Fund  von  Bacillen  in, 
der  Wunde  benachbarten  Lymphdrüsen.  Centralbl.  f.  Bakteriol.  1893,  XIII,  pag.  679-  — Car- 
bone  u.  Perrero,  Züchtung  aus  Bronchialscbleim  (wachsen  aerob).  Centralbl.  f.  Bakteriol. 
XVIII,  Nr.  7.  — 2.  Kitasato,  Gift  im  menschlichen  Blut.  Zeitschr.  f.  Hygiene.  1891,  X, 
pag.  303.  — Nissen,  Gift  im  menschlichen  Blut.  Deutsche  med.  Wochenschr.  1891,  Nr.  24, 
pag.  775.  — Brunner,  Gift  im  Gehirnsinus.  Berliner  klin.  Wochenschr.  1891,  Nr.  36.  — 
Bruschettini,  Gift  im  Blut  und  Urin.  La  Riforma  med.  1892,  Nr.  172  u.  173;  Deutsche 
med.  Wochenschr.  1892,  Nr.  16.  — Kallmeyer,  Untersuchung  des  Blutes  auf  Gift  negativ. 
Deutsche  med.  Wochenschr.  1892,  Nr.  4.  — Stern,  Bei  schwerem  Fall  kein  Gift,  bei  leich- 
terem Gift  im  Blut,  nicht  in  Milch  und  Urin.  Deutsche  med.  Wochenschr.  1892.  — Vulpius, 
Sehr  viel  Gift  im  Blut,  nichts  im  Urin , nichts  in  Galle.  Deutsche  med.  Wochenschr.  1893, 
Nr.  41,  pag  992.  — 3.  Bonome,  Veränderungen  im  Rückenmark  bei  vier  Fällen.  Arch.  per 
le  science  med.  1891,  XV,  pag.  15.  — 4.  Rot t er,  Citirt  die  Statistiken  von  Richter  und 
Rose,  80 — 90%  Sterblichkeit  Deutsche  med.  Wochenschr.  1893,  Nr.  7.  — Marcosignori, 
Statistik  über  188  Fälle,  etwa  20%  Sterblichkeit.  Ga*,  degli  ospedali.  1892,  Nr.  10.  — Al- 
b ertön i,  Statistik  über  176  Fälle,  etwa  20%  Sterblichkeit.  Münchener  med.  Wochenschr. 

1892,  Nr.  45,  pag.  805.  — Vinay,  Literatur  des  Tetanus  puerperal  is . Lyon  med  1891, 
Nr  51  u 52.  — Brunner,  Zusammenstellung  sehr  vieler  Tetanusfalle,  besonders  Kopftetaiius. 
Beobachtungen  über  Verlauf,  Experimente.  Bruns’  Beiträge  zur  klinischen  Chirurgie.  IX,  X, 
XI.  — Sahli,  Therapie  des  Tetanus.  Mittheilungen  aus  Kliniken  und  medicinischen  Instituten 
der  Schweiz.  1895,  3.  Reibe,  H.  6. 

IV.  Anwendung  des  Heilserums  heim  Menschen.  — Baginaky,  Bei 
Neugeborenem.  (Gestorben.)  Deutsche  med.  Wochenschr.  1891,  Nr.  7-  — Gagliardi,  Geheilt. 
La  Riforma  med.  1892,  Nr.  76.  — R.  Schwarz,  Geheilt.  Centralbl.  f.  Bakteriol.  1891,  X,  Nr.  24.  — 
Pa  ein  i,  Geheilt.  La  Riforma  med.  1892,  Nr.  4.  — Finotti,  Geheilt.  Wiener  klin.  Wochen- 
schrift. 1892,  Nr.  1,  p.  1.  — Tizzoni,  Geheilt.  La  Riforma  wed.  1892,  pag.  160.  — Taruffi, 
Geheilt.  Centralbl.  f.  Bakteriol.  1892,  XI,  Nr.  20.  — Ca  sali,  Geheilt.  Ebenda.  XII,  Nr.  2,  3. 

— Finotti,  Geheilt.  Wiener  klin.  Wochenschr.  1892,  pag.  431.  — Berger,  Geheilt.  Mün- 
chener med.  Wochenschr.  1892,  pag.  921  (Referat).  — Re  non,  Zwei  Fälle  gestorben.  Annal. 
de  l'institut  Pasteur.  1892,  pag.  233.  — Rotter,  Geheilt.  Deutsche  med.  Wochenschr.  Nr.  7. 

— Busch  ke  n.  O e rg e 1 , Gestorben.  Ebenda.  Nr.  7.  — B usc h k e , Selbstimmunisirung  gegen 
Tetanus.  Erscheinungen.  Ebenda,  Nr.  50.  — Roux  u.  Vaillard.  Sieben  Fälle,  davon  fünf 
gestorben,  zwei  geheilt.  Annal.  de  rinstitut  Pasteur.  1893,  pag.  123.  — Magagni,  Geheilt. 
Centralbl.  f.  Bakteriol.  1893,  XIV,  pag.  157.  — Finotti,  Geheilt.  Wiener  klin.  Wocherschr. 

1893.  Nr.  7.  — Gattai,  Geheilt.  Centralbl.  f.  Bakteriol.  1893,  XIV,  pag.  108.  - Lesi, 
Geheilt.  Ebenda.  1893,  XIV,  pag.  393.  — Marcosignori,  Scheint  einen  Fall  aufzuführen, 
der  starb.  Deutsche  med.  Wochenschr.  1893,  pag-  612;  Referat  aus  Gaz.  degli  ospedali.  1892, 
Nr.  10.  — Moritz,  Geheilt.  Münchener  med.  Wochenschr.  1893,  Nr.  32,  pag.  561  — Esche- 
rich,  2 gestorben,  1 geheilt.  Wiener  klin.  Wochenschr.  1893.  Nr.  30,  pag.  586.  — Dörfler, 
Geheilt.  Münchener  med.  Wochenschr.  1894,  Nr.  15.  — Giusti  u.  Bonaiuti,  Kopftetanus. 
Geheilt.  Berliner  klin.  Wochenschr.  1894,  Nr.  36,  pag.  818.  — Foges,  Gestorben.  Wiener 
klin.  Wochenschr.  1894,  Nr.  24.  — v.  Hacker,  Zwei  Fälle  geheilt.  Ebenda.  1894,  Nr.  25. — 
Schwarz.  Gestorben.  Ebenda.  1894,  Nr.  45.  — Bauer,  Gestorben.  Ebenda.  1894,  Nr.  54. — 
Remesoff  u.  Fedoroff , 2 Fälle,  1 geheilt,  1 gestorben.  Centralbl.  f.  Bakteriol.  1894,  XV, 
pag.  115.  — Beck,  Gestorben.  (Grosse  Antitoxinmengen)  Zeitschr.  f.  Hygiene.  1895,  XIX, 
pag.  445.  — Vagede«.  Geheilt.  (Grosse  Antitoxinmengen.)  Zeitschr.  f,  Hygiene.  1895,  XX, 
pag.  295.  — Caretti,  Geheilt  La  Riforma  med.  1895,  Nr.  14.  — Sahli,  Drei  Fälle  von 
Tetanus,  2 ohne,  1 mit  Serum  behandelt,  alle  3 geheilt.  Mittheilungen  aus  Kliniken  und  medi- 
cinischen Instituten  der  Schweiz.  1895,  3.  Reihe,  H.  6.  — Thompson,  Ein  Fall  geheilt. 
Interessant  die  Infectionsquelle.  Mittheilung  von  D.  Weir,  dass  bis  jetzt  bereits  20  Falle  be- 
handelt seien,  wovon  4 gestorben  seien,  während  früher  die  Sterblichkeit  95%  betragen  hätte. 
Med.  Record.  New- York,  5 Januar  1895.  — Wal  ko,  Tetanus  puerperalis.  Gestorben.  Zusammen- 
stellung von  behandelten  Fällen.  Deutsche  med.  Wochenschr.  1895,  pag.  591.  Knorr. 

Thermalbäder,  s.  Bäder,  pag.  43  ff. 

Thiergifte.  Zu  den  Raupen,  deren  Haare  starke  Entzündung  der 
Haut  des  Gesichtes  und  der  Augenbindehaut  hervorrufen  können,  gehört  auch 
die  Raupe  des  Schwanes  oder  Mosch usvogels , Porthe sia  auriflua  Steph. 
{Liparix  auriflua  L.),  die  an  Obstbäumen,  Hainbuchen,  Eichen,  Weissdorn,  auch 
an  Linden  und  Weiden  in  grossen,  aus  zusammengesponnenen  Blättern  gebildeten 
Nestern  überwintert.  Auch  die  Puppen  sind  behaart  und  können  in  gleicher 
Weise  wie  die  Raupen  schädlich  werden. 

Encydop.  Jahrbücher.  VI. 


42 


658 


THIERGIFTE.  — THYROJODIX. 


L'eber  die  Giftigkeit  afrikanischer  Articulaten,  aus  der  Gattung  Argas. 
liegen  neue  Mittheilungen  von  Dowsox  vor,  wonach  die  Portugiesen  in  Tete  durch 
den  Biss  einer  giftigen  Zecke  viel  Verlust  erlitten  hatten.  Neuangekommene 
werden  davor  gewarnt,  sich  auf  den  Boden  der  Zelte  zum  Schlafe  niederzulegen, 
und  man  stellt  in  Tete  die  Beine  der  Bettstelle  in  mit  Petroleum  gefüllte  Geftsse, 
um  die  Thiere  fernzuhalten.  Fieber  und  acute  Dysenterie  sollen  die  Erscheinungen 
sein,  die  durch  die  Thiere  herbeigeführt  werden.  In  einem  Falle,  den  Dowsox 
beobachtete,  traten  leichte  Schwellung  an  der  grossen  Zehe  mit  nachfolgendem 
Unempfindlich  w erden,  hochgradiges  Fieber  und  zweimaliges  Erbrecheu  ein.  Das 
Thier  ist  von  Livingstone  bereits  erwähnt  und  kommt  auch  in  der  Stadt  Lena 
am  unteren  Zambese  vor.  Nach  Pocock  gehört  der  Carapato  oder  Tamlven  von 
Tete  zur  Gattung  Argas  und  ist  nahe  verwandt  mit  der  in  Aegypten  vor- 
kommenden Art  Arg  an  Savignyi  und  einer  am  Congo  vorkommenden  Speeies. 

Unter  den  Heilmethoden  gegen  Vergiftung  figurirt  auch  die  Kälte,  die 
besonders  bei  der  Strychninvergiftung  in  Frage  kam,  nachdem  zuerst 
Ci..  Bebxard,  später  Kunde  und  F oster  gezeigt  hatten,  dass  dieses  auf  Frösche 
in  kaltem  Wasser  schwächer  wirke  als  auf  solche  in  warmem  Wasser.  BrintoM 
und  Cash  zeigten,  dass  in  warmer  Aussentemperatur  Thiere  mit  Kupfer  und 
Kalisalzen,  Bariumsalzen,  Veratrin , Guanidin  und  anorganischen  Muskelgiften 
(Zink,  Mangan)  rascher  und  intensiver  vergiftet  werden.  LlthsiNGER  fand , dass 
Frösche  durch  Pikrotoxin  in  Wasser  von  höherer  Temperatur  (32°;  in  wenigen 
Minuten,  in  solchen  von  15°  weniger  rasch  und  bei  Abkühlung  auf  0®  über- 
haupt nicht  vergiftet  werden.  Nach  den  neueren  Untersuchungen  über  die  Ursache 
dieser  antidotarischen  Etfecte  der  Abkühlung  scheint  es  indessen,  als  ob  die  Indi- 
cation  der  Kälte  besonders  für  eine  Reihe  örtlicher  Intoxicatiunen , nämlich  für 
die  durch  subcutane  Injectionen  oder  durch  offene  Wunden  erfolgenden,  also  ins- 
besondere für  die  Vergiftung  durch  Beisswerkzeuge  oder  Stacheln  giftiger  Thiere, 
indicirt  seien.  Die  älteren  Versuche  von  Sassetzki  und  MaxaSSEIN  (1880),  nach 
denen  die  Erhöhung  der  Temperatur  au  den  Applicationsstellen  beim  Menschen 
die  Resorption  von  Jodkaliutn  und  Ferrieyankalium  beschleunigt  und  die  Herab- 
setzung der  Temperatur  das  Gegonthcil  bewirkt,  haben  durch  die  allerneuesten 
Versuche  v.  Kossa’s  *)  an  Thieren  Bestätigung  erfahren.  Kühlt  man  bei  Kaninchen 
die  Ohrmuschel  mit  Schnee  und  Salz  oder  mit  Schnee  und  Wasser  oder  selbst 
nur  mit  Wasserleitungswasser  von  + 7°  einige  Minuten  ab,  so  führt  die  Injection 
se  bst  der  heftigsten  Gifte,  wie  Cyankalium,  Strychnin  und  Pikrotoxin,  überhaupt 
nicht  zu  Vergiftungserscheinungen,  die  auch  nicht  eintreten,  wenn  die  Abkühlung 
nach  einiger  Zeit  (in  1 — l’/a  Stunden)  eingestellt  wird,  und  von  dem  unter  den- 
selben Bedingungen  injicirten  Jodkalium  findet  sich  im  Harn  nach  45  Minuten 
keine  Spur.  Die  Anwendung  von  Eis  bei  externen  thierischen  Giften  hat 
somit  nicht  nur  symptomatische  (analgesirende) , sondern  wirklich  antidotarische 
Bedeutung. 

Literatur:  ‘)  Oldham  R rai  t h wa  i t o , Caterpillar  Ophthalmia . Pharm.  Jnurn. 
Transactions.  29.  Juli,  pag,  80.  — ’)  Dawsnn.  Poisonou*  ticky.  Brit  med.  Jonm.  1.  Juni, 
pag.  1901.  — 3 v Hussa,  Die  Resorption  der  Gifte  an  uligekiihlten  Körpcrstcllen.  Areb.  f. 
experim.  Path.  XXXV,  pag.  120.  Hnsemann. 

Thioform,  s.  a ugenheilmittcl,  pag.  27. 

Thyrojodin.  Als  solches  wird  von  Baumann  die  jodhaltige,  iu  der 
Glandula  thyreaidea  enthaltene  Substanz  bezeichnet,  welche  den  wirksamen  Stoff 
dieser  Drüse  darstellt. 

Baumann  und  Roos  haben  das  Vorhandensein  von  Jod  in  der  Schild- 
drüse der  Thiere  und  Menschen  nachgewiesen ; es  gelang,  dasselbe  aus  den 
Schilddrüsen  von  Hammeln,  Hunden,  Pferden,  Rindern  und  Schweinen  zu  ge- 
gewinnen ; am  meisten  enthielten  die  HatnmelschilddrUsen , am  wenigsten  die 
Schilddrüsen  der  Schweine  und  Hunde.  Bei  letzteren  geht  namentlich  nach  länger 


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THYROJODIN. 


659 


dauernder  Fleischfütterung  der  Judgehalt  der  Drüse  auf  ein  Minimum  zurück, 
während  andererseits  Fütterung  mit  Hundekuchen  eine  merkliche  Steigerung  des 
Jodgehaltes  bewirkt.  Diese  Thatsache  zeigt  deutlich  den  Einfluss  von  verschiedenen 
Arten  der  Ernährung  auf  die  Jodansammlung  in  der  Schilddrüse.  Ueberhaupt 
ist  die  Quelle  für  das  Jod  in  der  Nahrung,  vor  Allem  in  der  eiugeführten 
Pfianzennahrung  zu  suchen,  wenigstens  wissen  wir,  dass  eine  grosse  Anzahl  der 
Landpflanzen  Jod  enthalten.  Es  ist  aber  bemerkenswert!),  dass  bei  den  fast  ver- 
schwindend kleinen  Spuren  von  Jod,  welche  die  Nahrung  bietet,  diese  Drüse  so 
beträchtliche  Mengen  Jod  — auf  1 Grm.  troekene  Hammcldrüsc  bis  5,3  Mgrm. 
oder  auf  1 Grm.  frische  Drüsensubstanz  0,2 — 1,5,  im  Durchschnitt  0,3  Mgrm. 

— aufzunehmen  und  festzuhalten  vermag.  — Was  den  Jodgebalt  der  mensch- 
lichen Schilddrüse  anbelangt,  so  schwankt  er  je  nach  dem  Alter  und  vor 
Allem  nach  den  localen  Verhältnissen  zwischen  sehr  weiten  Grenzen.  Es  betrug 
der  Jodgehalt  von  26  Schilddrüsen  Erwachsener  in  Freiburg  im  Durchschnitt 
etwa  2,5  Mgrm.,  in  Hamburg  unter  30  Schilddrüsen  im  Mittel  3,85  Mgrm., 
in  Berlin  (11  Fälle)  6.6  Mgrm.  Es  ist  also  der  Jodgehalt  der  Drüse  in  Freiburg, 
wo  Kröpfe  häufig  sind,  erheblich  kleiner  als  in  Hamburg  und  in  Berlin , wo 
Kröpfe  nicht  endemisch  Vorkommen.  Ebenso  enthalten  die  Schilddrüsen  von 
Kindern  und  häufig  auch  im  Greisenaltcr  bei  weitem  weniger  Jod  als  bei 
Menschen  in  mittleren  Lebensjahren.  Durch  vorherige  Jodbehandlung  — Eingeben 
von  Jodkalium , Behandlung  mit  Jodoform , Genuss  von  Schilddrüsen präparaten 

— lässt  sich  der  Jodgehalt  der  Schilddrüse  erheblich  steigern,  beim  Menschen 
bis  auf  20 — 30  Mgrm.  (in  einem  Falle  bei  einem  Hunde  bis  auf  47,6  Mgrm.) 

(Baumann).  Es  würde  sich  daher  wohl  verlohnen,  zu  versuchen,  bei  Hammeln, 
deren  Drüsen  zur  Gewinnung  des  Thyrojodin  benützt  werden  sollen,  durch  Jod- 
kaliumdarreichung  den  Gehalt  der  Drüse  an  Jod  zu  steigern  (Fii.khnk).  — 

In  den  Kröpfen  ist  nach  Baemann  der  Jodgehalt  normalerweise  immer  ein  sehr 
geringer,  doch  findet  man  zuweilen  auch  sehr  erhebliche  Mengen,  was  wohl 
darauf  zurüekzuführen  ist,  dass  Patienten  mit  Kröpfen  meist  zu  irgend  einer  Zeit 
eine  Jodbehandlung  durchgemacht  haben , die  den  Betreffenden  seihst  oft  nicht 
mehr  erinnerlich  oder  überhaupt  nicht  bekannt  geworden  ist. 

Weitere  Untersuchungen  ergaben,  dass  die  Höhe  der  Wirksamkeit  der 
Schilddrüse  und  ihrer  Präparate : Extracte,  Thyreoideatabletten , „Thyreoidin“, 
„Thvreoantitoxin“  ete.  von  ihrem  Gehalt  an  Jod  abhängt.  Letzteres  scheint  in  der 
Drüse  in  Form  des  von  Badmann  und  Roos  dargestelltcn  „Thyrojodin“  enthalten 
zu  sein.  Dasselbe  lässt  sich  aus  der  Drüse  durch  Kochen  mit  verdünnter  Schwefel- 
säure und  uachherige  Behandlung  mit  Petroläther  etc.  oder  noch  besser  durch 
künstliche  Verdauung  gewinnen.  Es  enthält  etwa  10%  Jod  in  sehr  starker 
Bindung,  das  in  der  Drüse  hauptsächlich  an  zwei  Eiweisskörper,  eine  Albumin- 
uud  eine  Globulinsubstanz,  gebunden  ist;  beide,  sowohl  die  Globulin-  wie  die 
Albuminvcrbindung,  aus  der  Drüse  extrahirt,  erwiesen  sich  entsprechend  ihrem 
Jodgehalt  bei  Kröpfen  ungefähr  ebenso  wirksam  wie  die  frische  Schilddrüse. 

Ferner  enthält  das  Thyrojodin  ausser  Stickstoff  kleine  Mengen  Phosphorsäure  in 
organischer  Form. 

Das  Thyrojodin  stellt  eine  in  kaltem  Wasser  und  Aetlier  fast  unlös- 
liche Substanz  von  schwach  sauren  Eigenschaften  dar.  die  in  Alkohol  und  Alkalien 
sieh  leicht  löst.  Das  Präparat  wird  in  den  Farbenfabriken  vormals  Friedrich 
Bayer  & Co.  in  Elberfeld  nach  den  Vorschriften  Badmann’s  aus  Hammelschild- 
drüseu  hergestellt  und  kommt  in  Form  von  Verreibungen  der  Substanz  mit 
Milchzucker  in  den  Handel.  Dieselben  sind  so  angefertigt,  dass  1 Grm.  der  Ver- 
reibung 0,3  Mgrm.  Jod  enthält;  es  ist  dies  die  Menge  Jod,  welche  1 Grm. 
frische  Hammeldrtlse  im  Durchschnitt  enthält , und  es  entspricht  also  demnach 
1 Grm.  des  Präparates  1 Grm.  frischer  Drüse. 

Dass  das  so  dargestellte  Thyrojodin  wirklich  der  wirksame  llestand- 
theil  der  Schilddrüse  ist,  scheint  nach  den  nunmehr  veröffentlichten  Untersuchungen 

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660 


THYROJODIN.  — TYPHUSBACILLDS. 


jetzt  festgestellt.  Wenigstens  ergaben  die  Stoffwechselversnche,  welche  mit  diesem 
Präparate  bei  Menschen  und  Thieren  angestellt  wurden,  dieselben  Resultate, 
welche  aus  den  Stoffwechseluntersuchungen  mit  Schilddr  Ilsen  Substanz  bekannt 
sind : Körpergewichtsabnahme,  Steigerung  der  Stickstoff-  und  Phosphorsäureaus- 
scheidung (Roos,  Treupel,  Grawitz,  Mennig).  — Ebenso  zeigte  sich  das  Thyro- 
jodin  äusserst  wirksam  bei  parenchymatösen  Kröpfen.  Der  Eintritt  der  Wirkung 
war  hierbei  stets  so  prompt,  dass  derselbe  von  Baumann  und  Roos  bei  der 
Prüfung  ihrer  Präparate  als  Reagens  auf  die  Wirksamkeit  benützt  wurde  (Roos, 
Ewald,  Bbuns).  — Auch  die  Ausfallerecheihungen  nach  Thyreoidektomie  gelang 
es  nach  neueren  Mittheilungen  (Baumann  und  Goldmann,  Hofmeister)  bei 
Hunden  und  Kaninchen  durch  Thvrojodindarreichung  hintanzuhalten.  Die  Thiere 
blieben  bei  dieser  Behandlung  trotz  fehlender  Schilddrüse  wochenlang  bei  bestem 
Wohlsein  am  Leben.  Die  entgegengesetzten  Resultate,  welche  Gottlieb  erhalten 
hat,  beruhen  nach  Ansicht  Baumann’s  vielleicht  darauf,  dass  Gottlieb  zu  seinen 
Versuchen  ein  wenig  brauchbares  Präparat  benützte 

Inwieweit  auch  anderen  aus  der  Schilddrüse  gewonnenen  Präparaten : 
dem  Thyreoidin  Xotkin’s  und  dem  Thyreoantitoxin  Fränkel’s  eine  gleiche  oder 
ähnliche  Wirksamkeit  zukommt  und  ob  dieselben  in  Zusammensetzung  und  Wir- 
kungsart in  irgend  welchem  Zusammenhänge  mit  dem  Thyrojodin  stehen,  ist  vor- 
läufig noch  unentschieden. 

Therapeutisch  ist  das  Thyrojodin  bisher  schon  angewandt  worden 
bei  frischen,  parenchymatösen  Kröpfen,  wo  es  in  den  meisten  Fällen  Vor- 
zügliches zu  leisten  scheint.  Diese  Wirksamkeit  wird  aber  anscheinend  nicht  durch 
das  Jod  als  solches  bedingt,  sondern  nur  durch  den  specifischen,  von  der  Schild- 
drüse gebildeten,  organischen,  jodhaltigen  Körper,  da  auch  noch  nach  verun- 
glückten Jodeuren  mit  Thyrojodin  Erfolge  erzielt  werden  (Ewald).  — Ebenso 
hat  es  sich  schon  von  guter  Wirkung  gezeigt  bei  Myxödem  (Leichtenstern, 
Ewald)  und  bei  Fettsucht  (Grawitz,  Mennig);  weniger  constant  waren  bisher 
die  Erfolge  der  Thyrojodinbchandlung  bei  Morbus  Basedowii  (Hknnio).  Auch 
einige  Fälle  von  Psoriasis,  denen  statt  des  Arsen  Thyrojodin  innerlich  gegeben 
wurde,  zeigten  anscheinend  Besserung  (Roos). 

Man  giebt  das  Thyrojodin  in  Dosen  von  0,5 — 2,0  Grm.  (der  Milch- 
zuckerverreibung) täglich,  die  meist  gut  vertragen  werden.  Nur  selten  sieht  man 
bei  besonders  empfindlichen  Patienten  schon  nach  solch  niedrigen  Dosen  Neben- 
erscheinungen auftreten,  die  bei  grössereu  Gaben  (3,0  Grm.  und  mehr)  häufiger 
sind,  wie  Kopfschmerzen,  Schwindelaufälle,  Mattigkeit,  Zittern,  Appetitlosigkeit 
Herzklopfen,  Angstgefühl,  Schlaflosigkeit,  ziehende  Schmerzen  im  Rücken  und 
in  der  Brust,  leicht  vorübergehende  Albuminurie,  zuweilen  auch  Glykosurie. 

Kinder  vertragen  das  Mittel  im  Allgemeinen  recht  gut.  Kionka. 

Trichophyton,  s.  Dermatomykosen,  pag.  96. 

Tuberkulose:  Pneumotomie,  pag.  531 ; Pneumektomie,  pag.  5-10. 
Typhusbacillus,  s.  Abdominaltyphus,  pag.  1. 


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u. 


Urobilin,  s.  Harn,  pag.  255. 

Uropherinum  salicylicum  , Theobrominnatrium  cum  Natrio 
salicylico.  Das  von  E.  Mkkck  dargestellte  Uropherin  unterscheidet  sich  von 
Dinretin  dadurch,  dass  das  in  letzterer  Verbindung  enthaltene  Lithium  durch 
Natrium  ersetzt  wird.  Hierdurch  wird  das  Uropherin  ein  billigeres  Präparat  als 
das  Dinretin,  angeblich  ohne  au  seiner  harntreibenden  Wirkung  einznbUssen. 
Es  wird  daher  das  Uropherin  als  Ersatzmittel  des  Diuretins  in  gleichen  Dosen 
und  mit  gleicher  Indication  wie  dieses  empfohlen. 

Literatur:  I.  Hnitek,  Rospr.  Cesk.  Akad.  cisare  Frant.  Jos.  Roen.  in,  Tfida  II, 
pag.  25.  — E.  Aterck'8  Bericht  für  das  Jahr  1895.  Loebisch. 

Urotropin,  Hexamethylentetramin,  (CH,),  N„  Formin.  Die  Ver- 
bindung, eine  einsäurige  Base,  entsteht  aus  Formalaldehyd  und  Ammoniak  schon 
beim  Eindampfen  einer  ammoniakalischcn  Formaldehydlösung,  sie  bildet  in  Wasser 
leicht  lösliche , geruch-  und  geschmacklose  Krystalle.  Das  Bromäthyladditions- 
product  der  von  Bardet  Formin  benannten  Verbindung  wurde  von  diesem  und 
Laqler  als  Bromalin  gegen  Epilepsie  empfohlen  (s.  Encyclopäd.  Jahrb.,  V, 
pag.  29).  Nach  A.  NiO'I.aikr  kommt  dem  Urotropin  die  Fähigkeit  zu,  die  Di- 
urese zu  steigern  und  das  Ausfallen  von  Harnsäure  und  harnsauren  Salzen  aus 
dem  Urin  zu  verhindern.  Das  Urotropin  geht  nach  innerlicher  Darreichung  sehr 
rasch  in  den  Harn  über;  bereits  nach  einer  Viertelstunde  kann  man  es  mit 
Bromwasser  als  ein  voluminöses  Bromadditionsproduct  im  Harn  nachweisen. 
0,5  des  Mittels  waren  nach  etwa  13  Stunden,  1,0  Grm.  nach  etwa  27  Stunden 
mit  dem  Harn  vollständig  ausgeschieden.  Die  wichtigste  Eigenschaft  des  Mittels 
ist,  dass  der  Harn  während  dessen  Anwendung  die  saure  ltcaction  behält  und 
zugleich  die  Eigenschaft  besitzt,  harnsaurc  Concremente  aufzulösen.  Diese  letztere, 
auch  schon  von  Bakdet  erkannte  Eigenschaft  würde  dem  Mittel  den  Vorzug  vor 
dem  Piperazin,  Lycetol  und  Lysidin  verleihen,  welche  zwar  in  wässeriger  Lösung 
Harnsäure  zu  lösen  vermögen,  im  Harne  selbst  aber  diese  Eigenschaft  nicht  be- 
sitzen (Mendelsobn).  Ueberdies  hemmt  das  Urotropin  die  Entwicklung  von  Bak- 
terien, besonders  die  der  ammoniakalischen  Hnrngährung  und  des  Bacterium  coli. 
In  zwei  Fällen  von  Cystitis,  in  denen  der  Urin  stark  ammoniakalisch  war,  beob- 
achtete Nicolaikr  nach  Anwendung  von  Urotropin  das  Sauerwerden  des  Harnes. 
Das  Mittel  lässt  sich  in  geringer  Dosis  monatelang  fort  nehmen,  ohne  dass  Reiz- 
erscheinungen der  Niere  auftreten.  Nach  Gaben  von  6 Grm.  täglich  stellte  sich 
Brennen  in  der  Blasengegend,  zeitweise  auch  vermehrter  Harndrang  ein;  wurde 
das  Mittel  weiter  gereicht,  dann  konnte  man  im  Harn  zahlreiche  Uebergangs- 
epitheiien,  zuweilen  auch  rothe  Blutkörperchen  auffinden. 

Dosirung.  In  wässeriger  Lösung  1,0 — 2,0  pro  die  des  Morgens  zu 
uehmen.  Wo  man  eine  grössere  Reizbarkeit  der  Niere  annimmt,  kann  man  mit 
0,5  — 1,0  täglich  beginnen. 

Literatur:  A.  Nicolaier,  lieber  die  therapeutische  Vcrwcrthung  des  Urotropins. 
Deutsche  med.  Wochenschr.  1895,  Nr.  34.  Loebisch. 


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V. 


Vagina.  Ohne  auf  feinere  anatomische  oder  physiologische  Vorgänge, 
welche  in  neuerer  Zeit  klargelegt  worden  sind,  näher  eiDzugehen,  sollen  an 
dieser  Stelle  nur  die  Erfahrungen,  soweit  sie  für  die  Praxis  Interesse  hahen, 
insbesondere  neuere  Kenntnisse  zur  Pathologie  und  Therapie  der  Scheide  ge- 
sammelt werden. 

A.  Allgemeines. 

Ucber  das  normale  Secret  der  spärlichen  Schleimdrüsen  der  Vaginal- 
schleimhant  hat  Peri  ')  neue  Untersuchungen  angestellt.  Von  der  Geburt  an  bis 
zum  (ireisenalter  fand  er  ihre  Secretiou  sauer,  falls  die  Prüfung  weder  kurz  vor  oder 
einige  Tage  nach  der  Menstruation,  noch  im  Puerperium  und  in  der  Gravidität  vor- 
genommen wurde,  und  zwar  verhielt  sich  eine  Stelle  der  Vaginalwand  genau  wie 
die  andere.  Das  Maximnm  der  Acidität  erreicht  das  Scheidensecret  Neugeborner, 
das  Minimum  gehört  der  postklimakterischen  Zeit  an ; bis  zur  Pubertät  nimmt 
der  Säuregrad  ab  und  bleibt  dann  bis  zur  Menopause  stationär.  Je  reichlicher 
die  Absonderung  ist,  desto  saurer  ist  das  Secret.  Alkalisch  wird  das  Secret  kurz 
vor  und  kurz  nach  der  Menstruation,  ferner  im  Puerperium ; verursacht  wird  die 
Alkalcscenz  durch  Bcimengnng  von  Blut  oder  Schleim.  Dagegen  bleibt  in  der 
Gravidität  die  Reaction  sauer;  am  geringsten  pflegt  die  Acidität  in  den  mittleren 
drei  Monaten  der  Schwangerschaft  zu  sein. 

Die  Ursache  der  Acidität  des  Scheidenschleims  hatte  frtlher  DÖDERLEIN 
auf  bestimmte  Bacillen,  die  bisher  nur  in  der  menschlichen  Scheide  gefunden 
wurden,  zurtickgefUhrt  und  angenommen,  dass  diese  Milchsäure  producirten ; für 
ihn  ist  das  Kriterium  eiues  normalen  Scheidcnsecrets  saure  Reaction  und  An- 
wesenheit jener  Bacillen  in  Reincultur  bei  Fehlen  pathogener  Keime.  Menge  *\ 
der  das  Scheidensecret  Nichtschwangercr  untersuchte,  bestreitet  aber  die  Stich- 
haltigkeit dieses  Kriteriums,  weil  dann  unter  den  verheirateten  und  nichtschwan- 
geren  Frauen  ein  „normales“  Scheidensecret  sehr  selten  sei,  man  aber  etwas 
Ausnahmsweises  nicht  gut  als  „normal“  bezeichnen  könne;  nicht  die  Säuretnenge, 
sagt  er,  hänge  von  der  im  Secret  vorwiegenden  Bakterienspecies  ab,  sondern  um- 
gekehrt bestimme  die  Stärke  der  Säure  die  Bakterienart.  Für  die  Zeit  der 
Schwangerschaft  prüfte  Döderlein  s Angabe  Krönig  *)  nach,  und  auch  er  be- 
kämpft die  Ansicht  Dodebleix’s,  weil  die  Unterschiede  der  Reaction  des  Scheidcn- 
secrets viel  zu  schwankende  seien,  um  darauf  ein«;  Eiutheilnng  in  normal  und 
pathologisch  zu  gründen  ; wolle  man  überhaupt  eine  Eintheilung  schaffen,  so  müsse 
man  allenfalls  die  verschiedene  BakterienÜora  der  Secrete  als  Grundlage  wählen. 

Wie  dem  auch  sei,  die  praktische  Bedeutung  der  sauren  Secretion  und 
der  specifischen  Scheidenmikroorganismen  liegt  darin,  dass  sie  beide,  wenn  nicht 
die  einzigen,  so  doch  sehr  gewichtige  Factoren  für  das  bakterienfeindliche  Ver- 

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VAGINA. 


663 


halten  des  Scheidensecrets  sind.  In  Betracht  konnten  zur  Erklärung  dieses  Ver- 
haltens der  Scheide  pathogenen  Keimen,  wie  überhaupt  nichtspeeifischen  gegen- 
über, ausserdem  die  Phagocytentheorie  und  der  Mangel  von  Sauerstoff  als 
Lebensbedingung  jener  Keime  in  der  Vagina  herangezogen  werden.  Eine  allzu 
grosse  Rolle  scheint  nach  KrOnig's  Versuchen  der  Säuregrad  des  Secretes  nicht 
zn  spielen;  denn  auch  schwachsaures  Beeret,  das  blaues  Lackmuspapier  nur 
schwach  roth  färbte,  zeigte  eine  bakterienfeindiiehe  Wirksamkeit  und  liess  Pyocyaneus- 
culturen  in  durchschnittlich  18  Stunden  zu  Grunde  gehen.  Es  ist  klar,  von 
welcher  weitgehenden  Bedeutung  insbesondere  für  den  Verlauf  des  Wochenbettes  es 
ist,  wenn  die  Scheide  selbst  im  Stande  ist,  von  aussen  eingedrungene  pathogene 
Keime  lebens-  und  entwicklungsunfähig  zu  machen ; denn  mit  dieser  Eigenschaft 
steht  und  fällt  die  sogenannte  Selbstinfeetion,  für  welche  Kaltenbach  geltend 
machte,  dass  auch  sie  zwar  eine  Infeetion  von  aussen  sei,  sich  aber  zeitlich  von 
der  sub  partu  durch  unsaubere  lliinde,  unreine  Utensilien  etc.  bewirkten  unter- 
scheide, weil  die  Zeit  der  Infeetion  bereits  ante  partum  läge,  der  partus  aber 
mit  seinen  physiologischen  Vorgängen  diese  latente  und  chronische  Infeetion 
manifest  und  acut  mache.  Wenn  dies  richtig  ist,  müssten  einmal  im  Vaginal- 
sccrct  pathogene  Keime  gelegentlich,  ohne  dass  sie  eine  Wirkung  geäussert  hätten, 
gefunden  werden ; andererseits  müssten  experimentell  eingeführte,  schädliche 
Mikroorganismen  bestehen  bleiben  und  sich  noch  längere  Zeit  nnehweisen  lassen. 
Pathogene  Keime,  insbesondere  die  für  diesen  praktischen  Gesichtspunkt  so  be- 
deutsamen Streptokokken,  hat  Dödem.ein  *)  in  der  That  zuweilen  im  Beeret  von 
Schwangeren  und  von  Nichtschwangeren  gefunden ; er  bezeichnet  ja  gerade  als 
anormal  ein  schon  äusserlich  durch  schwachsaurc  bis  neutrale  Reaction  und 
mikroskopisch  durch  einen  leicht  wahrnehmbaren  Reichthum  an  verschiedenen 
Bakterienarten  ausgezeichnetes  Vaginalsccrct.  Auch  Menge8)  hat  wenigstens  in 
einem  der  fünfzig  untersuchten  Secrete  Streptokokken  gefunden,  und  zwar  in 
Gesellschaft  von  typischen  Gonokokken.  Dagegen  gelang  es  Krönig  *)  niemals, 
in  seinen  Culturen  aus  dem  Secrete  Schwangerer  Streptokokken  zu  züchten. 
Gewiss  ist,  dass  pathogene  Keime,  wenn  überhaupt,  so  doch  sehr  selten  in  der 
weiblichen  Scheide  virulent  erhalten  existiren,  so  selten,  dass  jene  sogenannte 
Selbstinfeetion  daraus  kaum  cinwandsfrei  bewiesen  werden  kann.  Aber  geradezu 
.unvereinbar  ist  jene  Theorie  mit  dem  Vorgang,  den  Menge  *)  treffend  als  „Selbst- 
reinigung der  Scheide“  bezeichnet  hat  und  der  darin  besteht,  dass  schwangere 
und  nicht  schwangere  Scheiden  streben,  sich  von  aerob  uur  auf  alkalischem  Nährboden 
wachsenden  Bakterien  rein  zu  halten,  insbesondere  von  den  pyogenen  Mikrokokken. 
Schon  vor  ihm  hatten  Doiierlein  und  Bumm  gesehen,  dass  experimentell  in  das  Scheiden- 
secret  einer  Virgo  Intacta  übertragene  Staphylokokken  nach  einigen  Tagen  ver- 
schwunden waren.  Nach  Menge’s  Versuchen,  deren  Anzahl  achtzig  betrug, 
gelang  es,  weder  den  Pyocyaneus,  noch  den  Staphylococcus  pyogenes  aureus  noch 
den  Streptococcus  pyogenes , in  irgend  einem  Scheidensecrete  Nichtschwangcrer, 
gleichgiltig,  ob  cs  sauer  oder  amphoter  oder  alkalisch  reagirte,  virulent  zu 
erhalten,  sondern  in  2'/j — 70  Stunden  waren  die  eingebrachten  Culturen  abge- 
storben. Am  längsten  erhielt  sich  der  Staphylococeus  mit  durchschnittlich  26  Stunden, 
während  die  Streptokokken  im  Durchschnitt  bereits  nach  22  Stunden  abgetüdtet 
waren,  gerade  im  alkalischen  Secret  aber  bereits  nach  durchschnittlich  18  Stunden. 
Diese  Selbstreinigung  der  Scheide  wird  ausnahmsweise  vermindert  oder  vielleicht 
gar  aufgehoben,  wenn  mehrere  der  dieses  Verhalten  verursachenden  Momente  weg- 
fallen, insbesondere  wenn  die  Reaction  des  Secrets  alkalisch  wird  und  zugleich 
eine  Verdünnung  des  Secretes  eintritt,  so  dass  sieh  die  Zahl  der  den  pathogenen 
Keimen  antagonistischen,  specifischcn  Keime,  seien  dies  Döderlein’s  Bacillen  oder 
andere,  relativ  verringert,  wie  das  z.  B.  zur  Zeit  der  Menses  und  bei  starker 
pathologischer  Absonderung  aus  dem  Uterus  oder  aus  der  Vagina  selbst  f Fluor 
albus)  der  Fall  ist.  Damit  stimmt  überein,  dass  Kröxig  in  der  Gravidität  niemals 
pyogene  Mikroorganismen  in  der  Scheide  fand  — denn  hier  fallen  jene  Momente 


664 


VAGINA. 


insbesondere  dnrch  die  Cessatio  mensium,  durch  die  sistirte  Absonderung  aus 
dem  Uterus  und  durch  die  aussergewöhnlich  zähe  Consistenz  des  Cervixsehleim- 
pfropfes  fort.  Werden  in  die  Scheide  Schwangerer  pyogene  Keime  von  aussen 
hineingebracht,  so  tilgt  auch  sie  diese  natürliche  Kraft  des  Scheidensecrets,  feind- 
liche Keime  zu  vernichten,  und  Kköxios)  behauptet  auf  Grund  solcher  Experimente, 
dass  eine  Scheide,  die  nachweislich  2 — 3X24  Stunden  nicht  berührt  wurde, 
aseptisch  sein  müsse,  dass  darum  eine  Scbcidendesinfeetion  ante  partum  unter 
normalen  Verhältnissen  unnütz  sei,  ja  vielleicht  gar  schädlich,  weil  die  Desinficientien, 
die  er  experimenti  causa  benutzte,  die  Selbstreinigungskraft  der  Scheide  herab- 
zusetzen schienen.  Döderlkin  4)  mag  recht  haben,  wenn  er  diese  Schlussfolgerung 
für  „viel  zu  weitgehend“  bezeichnet  und  nur  für  jenes  Secret  gelten  lässt,  dem 
er  nach  seiner  Eintheilung  das  Prädicat  normal  ertheilt,  während  das  von  ihm 
pathologisch  geheissene  solche  Schutzkraft  nicht  absolut,  sondern  nur  mit  hoher 
Wahrscheinlichkeit  und  in  der  Uehrzahl  der  Fälle  hat.  Aber  die  seltenen  Fälle, 
in  denen  das  Scheidensccrct  ganz  ausnahmsweise  die  Kraft  der  Selbstreinigung 
so  weit  verloren  hat,  dass  sogar  ein  Streptococcus  in  ihr  Existenzbedingung  findet, 
können  doch  keineswegs  genügen,  eine  besondere  Theorie,  wie  die  der  Selbst- 
infection  ist,  zu  begründen,  und  wenn  wir  dazu  die  klinischen  Resultate  der 
Autoren,  welche  in  Ablehnung  jener  Theorie  jeden  energischen  Versuch,  ante 
partum  die  Scheide  aseptisch  zu  machen,  verpönen,  sondern  vielmehr  vor  jeder 
überflüssigen  Berührung  der  Scheide  durch  die  Finger,  durch  das  Irrigations- 
rohr u.  s.  w.  eindringlichst  warnen  (LEOPOLD,  MekuaxN  u.  A.),  in  Betracht  ziehen, 
so  müssen  wir  für  die  Praxis  zur  Selbstreinigung  der  Scheide  Vertrauen  genug 
gewinnen,  um  eine  Autoinfection  ausser  Rücksicht  zu  lassen,  um  analog  unserer 
aseptischen  Wundbehandlung  mehr  darnach  zu  streben,  die  Scheide  ante  partum 
rein  zu  halten,  als  rein  zu  machen. 

B.  Specielle  Pathologie. 

1.  1.  Entwicklungsfehler:  Den  vollkommenen  Mangel  einer 

Scheide  beobachtete  neuerdings  Graxdix  und  berichtete  ihn  an  die  Gesellschaft 
für  Geburtshilfe  in  New- York.6)  Die  Patientin  war  seit  zwei  Jahren  verheiratet 
und  klagte  über  lebhafte  Schmerzen  beim  Coitus;  Grandix  fand  die  äusseren 
Geschlecbtstheile  wohl  ausgebildet,  eine  Scheide  aber  fehlte  vollständig,  und  an 
Stelle  der  Gebärmutter  fühlte  man  nur  ein  Knötchen ; das  Becken  war  kindlich. 

2.  Embryonale  Zustände:  Eine  vollständige  Erhaltung  des  embryo- 
nalen Zustandes  hat  Kxals‘)  beschrieben ; Vagina  und  Uterus  waren  vollkommen 
iu  ihrer  ganzen  Längenausdehnung  durch  ein  Septum  gespalten,  und  beide  Hälften 
hatten  sich  vollkommen  entwickelt,  so  dass  die  Menses  aus  beiden  Uteri  gleich- 
zeitig sich  einstelltcn.  Nicht  ganz  vollkommen,  sondern,  wie  zwei  gleichzeitig  in  beide 
Portiones  vaginales  eiugeführte  Sonden  durch  ihre  Kreuzung  erwiesen,  oberhalb 
des  inneren  Muttermundes  aufhörend,  war  die  Scheidewand  in  einem  Falle 
Wes termayer’s  ;) ; in  einem  anderen  Falle,  den  derselbe  Autor  mittheilt,  war 
die  Vagina  duplex  wohl  deutlich  erweislich,  nicht  aber  die  Existenz  eines  Uterus 
bicornis  — in  diesen  beiden  Fällen  bestand  ein  rechtsseitiger  Pvokolpos.  Bra(“X 
aber  und  Lott  theiltcn  der  Wiener  geburtshilflich-gynäkologischen  Gesellschaft  *5 
je  eine  Beobachtung  Uber  incompletee  Vaginalseptum,  über  sogenannte  Vaginal- 
blindsäcke, mit.  Bhain’s  Patientin  war  vier  Jahre  verheiratet  und  vermochte 
wegen  heftiger  Schmerzen  den  Coitus  nicht  länger  zu  leiden.  Das  Septum  fand 
sich  im  oberen  Drittel  der  Vagina;  da  die  Verschmelzung  der  beiden  embryonalen 
Scheiden  von  oben  beginnt,  ist  das  der  seltenere  Fall,  und  Septa  im  unteren 
Drittel  sind  häufiger.  Von  den  beiden  engen  Oeflhungen,  welche  das  Septum  der 
BKAUN’schen  Patientin  liess,  führte  eine  in  einen  echten  Bliudsack,  die  andere  in 
einen  wohlgebildeten  Uterus.  Lott  betrachtete  in  seinem  Falle  den  Blindsack  auf 
Grund  der  Veränderungen,  welche  ihm  die  äusseren  Genitalien  darboten,  als 
ausgedehnten  Sinus  urogenitalis , der  durch  häutig  ausgeführte  Coitusversuche 


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VAGINA. 


665 


noch  artifiziell  weiter  gedehnt  worden  war.  Von  den  Schmerzen  abgesehen, 
welche  beim  Coitus  unter  solchen  Verhältnissen  eintreten  können,  haben  diese 
Hemmungsbildungen  darum  ein  gewisses  praktisches  Interesse,  weil,  wie  im 
BEAUN’schen  Falle,  auch  die  Periode  Schmerzen  verursachen  kann,  indem  die 
starke  Stenose  des  einen  Canals  das  Menstrualblut  zurtlckhält. 

3.  Congenitale  Atrcsie,  welche  natürlich  Hämatokolpos  zur  Folge 
hat  und  um  dieses  Zustandes  willen  in  bekannter  Weise  operirt  werden  muss, 
hat  Heydenreich9)  bei  einem  fünfzehnjährigen  Mädchen  neuerdings  constatirt; 
es  sind  das  nicht  allzu  seltene  Beobachtungen. 

4.  Congenitale  Stenosen  sind,  wie  die  literarhistorische  Arbeit  Nei;- 
GEBAUEr’s  10)  orweist,  nicht  gar  selten.  Die  praktische  Bedeutung  dieser  abnormen 
Bildung  ist  natürlich  die  gleiche  wie  die  der  erworbenen  Stenose,  und  ich  werde 
bei  dieser  darauf  und  auf  die  Therapie  zurUckkotnmcn. 

II.  Entzündliche  Processe  der  Scheidenschleimhaut.  Ausserhalb 
des  Wochenbetts  und  abgesehen  von  den  gonorrhoischen  Aflectionen  beobachtet 
man  sehr  selten  Fälle  von  Vaginitis  nach  arteficiellen  Aetzungen ; häufiger  sind 
ulcerflse  Entzündungen,  durch  den  Reiz  von  Fremdkörpern  bedingt,  oder  seltener 
spontan,  besonders  im  höheren  Alter  uod  jenseits  der  Menopause,  entstanden  als 
Vaginitis  adhaesiva  ulcerosa  (IIildebkandt)  oder  adhaesiva  senilis.  Einen  sehr 
merkwürdigen  Fall  der  ersteren  Art  berichtet  Blenk"),  der  dadurch  zustande 
kam,  dass  ein  Liebhaber  seinem  Mädchen  die  Frucht  durch  Eingiessen  einer 
Mineralsänre  in  die  Scheide  abzutreiben  versuchte.  Der  Erfolg  freilich  blieb  aus 
und  bestand  lediglich  in  Erwerbung  einer  so  hochgradigen  Scheidenatresic,  dass 
ihre  Erweiterung  nicht  mehr  gelang  und  das  lebenskräftige  Kind  durch  Per- 
foration entwickelt  werden  musste.  Fremd körpervaginitis  wird  bekanntlich 
am  häufigsten  durch  zu  lange  Zeit  liegende  Pessare  erzeugt.  Dass  aber  auch 
zu  onanistischen  Zwecken  eingebrachte  Gegenstände  lange  genug  in  der  Tiefe 
der  Vagina  lagern  können,  um  dort  entzündliche  Vorgänge  hervorzurufen,  die 
ihrerseits  wieder  zu  Verengungen  des  Scheidenlumens  führen,  beweist  neuerdings 
eine  Beobachtung  von  Winternitz  ,:l)  aus  der  Tübinger  Klinik.  Eine  26jährige 
Fabrikarbeiterin  hatte  zu  masturbatorisehen  Zwecken  eine  Fadenrolle  sechs  Jahre 
vor  Erhebung  des  Befunds  in  die  Scheide  gebracht ; sie  war  hincingcsehlüpft 
und  liegen  geblieben,  hatte  eine  Entzündung  verursacht,  die  sich  auf  den  Douglas 
und  das  Parametriuni  fortgesetzt  und  in  der  Scheide  etwa  6 Cm.  oberhalb  der 
Vulva  eine  kaum  einen  Sondenknopf  durchlassende  Stenose  verursacht  hatte  und 
hatte  schliesslich  durch  Schmerz,  übelriechenden  Austiuss  und  seeundäre  Kachexie 
die  Trägerin  zum  Arzte  und  zum  Geständnis»  getrieben.  Die  Entfernung  konnte 
nur  operativ  durch  seitliche  lncisionen  und  senkrecht  auf  diese  abwärts  in  der 
Mittellinie  geführte  Einschnitte  in  den  starren  Narbenring  hinein  geschehen. 
Winternitz  fand  in  der  Literatur  fünf  analoge  Fälle,  von  denen  je  einer  auf 
einen  onanistischen  Insult  vor  23,  vor  14,  vor  7 und  vor  4 Jahren  zurückzu- 
führen  war;  eine  Patientin  ging  an  septischer  Peritonitis,  die  sich  an  eine 
Druckgangrän  der  Scheide  angcschlossen  hatte,  zu  Grunde,  während  die  anderen 
durch  die  Operation  genasen,  eine  sogar  nach  derselben  gravid  wurde;  doch 
zwang  die  erfolglos  behandelte  Stenose  der  Vagina  zur  Einleitung  der  Früh- 
geburt im  achten  Monate,  wobei  noch  immer  lncisionen  nach  allen  Richtungen 
hin  und  Znngenextraction  nöthig  waren  — bei  der  zweiten  Geburt  war  der 
Narbenring  nicht  mehr  hinderlich.  Jene  Patientin , welche  ihre  Fadenspule 
14  Jahre  trug,  war  zweimal  verheiratet,  ehe  sie  sich  wegen  Menorrhagie  und 
starken  Unterleihsschmerz  in  Behandlung  begab,  und  beide  Gatten  hatten  nichts 
von  dem  Leiden  bemerkt.  Was  endlich  die  Vaginitis  adhaesiva  ulcerosa 
anlangt , so  ist  sie  durch  einen  dünnflüssigen , klebrigen , oft  blutig  tingirten 
Ausfluss,  zuweilen  durch  Neigung  zu  Blutungen  nach  Urin-  und  Kothentleerung, 
nach  einer  Cnhahitation  oder  nach  einer  Digitaluntersuchung  charakterisirt,  vor 
Allem  aber  durch  die  grosse  Tendenz  zu  Verklebungen  zwischen  den  Vaginal- 


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VAGINA 


666 

wänden  oder  zwischen  Vagina  und  Portio , welche  zuweilen  sich  bis  zu  festen 
Verwachsungen  und  dadurch  zum  Scheidenverschlnss  steigern  können.  Im  Spiegel 
erscheint  die  Schleimhaut  glatt,  bedeckt  mit  kleineren  Petechien  und  Ekchvmoeen, 
so  dass  sie  wiegetigert  aussehen  kann.  WixrEKNITZ  **)  sah  diesen  merkwürdigen 
Zustand  durch  einen  Ilümatokolpos  bei  einer  62jährigen  Frau,  die  acht  ausge- 
tragene Kinder  ohne  Kunsthilfe  geboren  hatte,  nie  nennenswerth  krank  gewesen 
und  mit  50  Jahren  in  die  Menopause  getreten  war,  coroplicirt,  und  Sondheimer  '*) 
sah  ihn  sogar  mit  Hiimatokolpos,  Hümatometra  und  einem  primären  Corpuscar- 
cinom  vergesellschaftet.  Bei  dieser  67jährigen  Patientin  hatte  die  senile  adhäsive 
Kolpitis  einige  Centimentcr  über  dem  Scheideneingang  eine  Atresie  veranlasst, 
während  sieh  im  Fundus  uteri  später  ein  Carcinom  entwickelte.  Nach  Erweichung 
dieses  Tumors  hatte  die  reicldiche  Secretion  im  oberen  Theii  der  Scheide  einen 
Hämatokolpos  erzeugt  und  durch  weitere  Secretstauung  eine  Hümatometra.  Sänger 
amputirte  diesen  Uterus  supravsginai  mit  extraperitonealer  Kticlversorgung ; an 
eine  Eingiessung  von  50  Grm.  Kicinusfll  in  das  Rectum  sich  anschliessende  Diarrhöen 
Hessen  die  ohnehin  geschwächte  Patientin  bald  nach  der  Operation  zu  Grunde  gehen. 

Auf  ganz  dunkler,  entzündlicher  Grundlage,  vielleicht  auf  einer  solchen, 
die  zu  Gcfässobliterationcn  führt,  entwickelt  sich  das  runde  phagedünische 
Scheidengeschwür  Clarke ’s,  das  bei  Vernachlässigung  zu  Fisteln  (Scheiden- 
blasen- oder  Scheidendarintisteln'),  nach  Klebs  sogar  zu  tödtlicher  Blutung  führen 
kann.  An  einer  Lebenden  diagnosticirte  zum  ersten  Mal  Skowroxski  16)  diese 
seltene  Erkrankung.  Er  fand  bei  einer  37jährigen  Frau,  Ilpara,  frei  von  Lues 
oder  Gonorrhoe,  1 ’/,  Cm.  oberhalb  des  narnröhrenwulstes  ein  halbkreuzergrosses, 
mit  unebenen  Granulationen  bedecktes,  gegen  Berührung  sehr  empfindliches  Ge- 
schwür mit  steilen  Rändern,  Umschnitt  es  im  Gesunden  und  excidirte  cs ; Heilung 
erfolgte  durch  Granulationen.  Die  mikroskopische  Untersuchung  des  gewonnenen 
Präparats  zeigte  eine  plötzliche  Unterbrechung  der  Epitbelschicbt  am  Rande  des 
Geschwürs  und  einen  vom  Rande  gegen  die  Mitte  zu  fortschreitenden  Zerfall 
der  Schleimhaut  mit  Vernichtung  ihrer  Structur ; am  Geschwürsrande  zogen 
Gefässe  mit  hypertrophischen  Wandungen  hin,  deren  Inneres  mit  spindelförmigen 
Zellen  ausgefüllt  war. 

Zu  Geschwüren  kommt  es  auch  bei  puerperalen  Processen  der  Scheiden- 
schlcimhaut.  Diese  puerperalen  Scheidcngcsch würe  können,  wie  ich  selbst’*) 
gezeigt  habe,  sich  der  frühzeitigen  Diagnose  entziehen,  falls  sie  im  oberen  Tlieile 
des  Organs  sitzen,  und  doch  kann  von  dieser  rechtzeitigen  Diagnose  Genesung 
und  Leben  der  Wöchnerin  abhängen.  In  meinem  Falle  handelte  es  sich  um  eine 
28jährige  IVpara,  welche  etwa  drei  Wochen  post  partum  eine  Spätblutung  be- 
kam und  nach  deren  Stillstand  — anfangs  bei  voller  Euphorie  — Temperatur- 
steigerungen, die  schliesslich  39°  überschritten,  zeigte.  Die  Untersuchung  des 
Thorax  und  des  Abdomens  war  ohne  Resultat ; subjective  Genitalsymptome  fehl- 
ten durchaus,  und  dennoch  fand  der  explorirende  Finger  im  Cervicalcansl  einen 
jauchenden  Placentarrest  von  der  Grösse  einer  welschen  Nuss,  die  Spiegelunter- 
suebung  zwei  genau  gegenüberliegende , in  ihrer  Form  congruente  Scheiden- 
geschwüre  an  der  vorderen  und  der  hinteren  Wand,  deren  oberste  Grenze  genau 
dem  äusseren  Muttermund  anlag,  etwa  3 — 4 Cm.  lang,  2 — 3 Cm.  breit,  massig 
vertieft , am  Grunde  mit  einer  graugrünen . fest  anhaftenden  Decke  bekleidet. 
Nachdem  ich  die  puerperale  Gebärmutter  im  Querbette  ohne  Narkose  mit  der 
schleifenförmigen  Cu  rette  ausgeschabt,  die  Höhle  mittelst  Uteruskatheter  mit 
2°/0iger  Lysollösung  dnrehspült  und  darauf  für  24  Stunden  mit  Jodoformgaze 
tamponirt  hatte,  habe  ich  zur  Behandlung  der  kranken  Scheide  statt  der  üblichen 
reichlichen  antiseptischen  Scheidenberiesclungen  einen  trockenen  Weg  cingeschlage.il, 
um  die  Vortheile  der  trockenen  Wundbehandlung  gegenüber  der  Verschwendung  von 
antiseptischeu  Flüssigkeiten  aus  der  Chirurgie  in  die  Geburtshilfe  zu  übertragen.  Des- 
halb legte  ich  unter  Spiegelbeleuchtung  nach  peinlichster  vorgängiger  Desinfcction 
von  Händen  und  Instrumenten  Jodoformgazestreifen  in  die  Scheide  ein,  so  dass 


VAGINA. 


6G7 


das  obere  Ende  eines  etwa  4 Cm.  breiten,  meterlangen,  zu  einem  Docht  locker 
aufgedrehten  Gazestreifens  ganz  oberflächlich  in  den  äusseren  Muttermund  ein- 
geschoben,  der  Rest  aber  gekrtillt  genau  zwischen  beiden  Geschwüren  und  sie  in 
ihrer  ganzen  Ausdehnung  bedeckend  gelagert  wurde.  Diese  Einlage  wechselte 
ich  zuerst  nach  24  Stunden,  dann  nach  4 — 6 Tagen.  Bereits  andern  Tags  post 
operationem  war  das  Fieber  abgefallen , mit  Ablauf  der  ersten  Woche  waren 
bereits  die  gangränescirenden  Geschwüre  in  frischrothe,  gut  granulirende  Wund- 
flächen  umgestimmt,  und  trotz  einer  intercurrenten  Pleurüü  m'cca  war  die  schwer- 
kranke Patientin  innerhalb  neun  Wochen  vollkommen  genesen.  Diese  Methode 
der  Behandlung  puerperaler  Scheidengeschwüre  hat , abgesehen  von  den  Vor- 
theilen aseptischer  Behandlung  gegenüber  antiseptischer,  den  Vorzug,  dass  der 
Arzt  allein  die  Puerpera  behandelt  und  das  Pflegepersonal  nichts  mit  localen 
Genitalmanipulationcn  zu  thun  hat,  der  Arzt  selber  nur  selten  local  einzngreifen 
hat  (vielleicht  darf  man  bei  genügender  Controle  des  Allgemeinbefindens  die 
Einlage,  besonders  gegen  Schluss  der  Behandlung,  noch  etwas  länger  als  sechs 
Tage  liegen  lassen)  — Umstände,  welche  gewiss  geeignet  sind,  weitere  Infection 
des  puerperalen  Genitalschlauches  hintanzuhalten.  Nebenbei  ist  diese  selten  vor- 
genommene locale  Genitalbehandlung  für  die  Patientinnen  angenehmer  als  die 
in  Zwischenräumen  von  Stunden  vorgenommenen  Scheideuausspülungen  u.  Aehnl.  m. 
— ein  Vorzug,  der  besonders  in  der  Privatpraxis  nicht  ganz  ohne  Bedeutung  ist. 

III.  Primäre  Tumoren  der  Scheide.  1.  Cysten  der  Scheidenwand 
können  einfache  Blutcysten  sein,  die  im  Anschluss  an  Traumen  entstehen;  inter- 
essant ist,  dass  sich  dabei  ein  Stiel  bilden  kann.  Qukikel  ,j)  fand  in  der 
Literatur  sechs  Fälle  solcher  gestielter  Thromben  und  fügte  als  siebenten  eine 
eigene  Beobachtung  hinzu.  Bei  einer  19jährigen,  zum  ersten  Mal  schwangeren 
Frau  trat  im  Anschluss  an  einen  stürmischen  Beischlaf  eine  Blutung  aus  den 
Genitalien  ein  und  sie  wurde  mit  beschleunigtem  Puls  und  38°  Temperatur  in 
das  Krankenhaus  eingeliefert;  aus  dem  Scheideneingang  ragte  eine  bläulieb- 
schwarze, etwa  hühnercigrosse  Geschwulst  hervor,  die  mit  einem  5— G Cm. 
langen  .Stiel  aus  der  hinteren  Scheidenwand  entsprang;  an  den  Labien  sah  man 
zahlreiche  Venektasien,  in  der  Mastdarmscheidenwand  fand  sich  keine  Blutung. 
Ql'EiKEL  trug  diesen  Thrombus  über  einer  Klemme  ab,  vernähte  die  Wunde  und 
erzielte  glatte  Heilung.  Echte  Neuplasmen  sind  diesen  Gebilden  gegenüber  jene 
Cysten,  welche  sich  aus  embryonalen  Anlagen  entwickeln,  insbesondere  aus  per- 
sistirenden  GÄRTNEu'seben  Canälen.  Einen  solchen  Fall  beobachtete  und  operirte 
mit  gutem  Erfolge  Pkhi  '“)  bei  einer  51jährigen  Frau,  welche  das  Gebilde  bereits 
seit  30  Jahren  bemerkt  haben  wollte.  Zur  Zeit  war  es  hühnereigross  und  sass 
auf  der  prolabirten  vorderen  Scheidenwand ; der  Inhalt  bestand  aus  einer  faden- 
zichenden , bernsteingelben  Flüssigkeit  mit  Schleim,  Blut,  Fett-,  Detritus  und 
mannigfachen  Zellen  und  war  in  zwei  durch  eine  Einschnürung  geschiedene 
Fächer  vertheilt.  Die  Wand  der  Cyste  setzte  sich  aus  einer  Muskelhaut  mit  longi- 
tudiuuler  Faserung,  einer  inneren  Muskelhaut  mit  circulärer  Faserrichtung  und 
gefiissreichem  Bindegewebe  zusammen  und  war  mit  Cylinderepithel  ausgekleidet. 
Noch  beinerkenswerther  ist  eine  Mittheilung  von  Roith19),  welcher  b i einer 
über  beständigen  Ausfluss  aus  den  Geschlechtstheilen  klagenden  Frau  mit  ein- 
ander commnuicirende  Cysten  des  Parovariums  uud  der  Scheide  fand ; bekannt- 
lich ist  das  Parovarium  der  persistirende  Best  der  Urniere,  während  die  GÄRT- 
N'ER’schen  Canäle  AusfUhruugsgänge  derselben  sind , welche  vom  späteren 
Uteruskörper  her  längs  der  Scheide  (diese  entsteht  bekanntlich  aus  den  MOLL  Kit- 
schen Gängen,  die  ebenfalls  Ansführungsgänge  aus  der  Urniere  sind)  nach  unten 
ziehen,  ohne  dass  man  ihre  wahre  Mündung  kennt.  Von  der  im  rechten  Ltg. 
latnm  sitzenden  Parovarialcyste  liess  sich  nach  aussen  in  der  Scheidenwand  eine 
längliche,  nicht  ganz  regelmässige  Erhöhung  bis  in  die  Gegend  des  Vestibulum 
neben  der  Harnröhre  verfolgen  ; sie  besass  hier  eine  nur  für  einen  feinen  Catgut- 
faden durchgängige  Oeflhung,  aus  der  sich  zuweilen  übelriechende,  wässerig- 


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VAGINA. 


eiterige  Flüssigkeit  entleerte.  Bei  Druck  auf  diese  Scheidengeschwulst  schwoll 
die  Parovarialeyste  an  , und  als  die  Cyste  in  der  Scheidenwand  vom  Paquelin 
eröffnet  wordeu  war , wies  auch  eine  dünne  Sonde  den  Zusammenhang  beider 
Tumoren  nach.  Es  sind  in  der  Literatur  nur  sehr  wenige  analoge  Fälle  ver- 
zeichnet. Endlich  giebt  es  noch  Scheideneysten , die  wahrscheinlich  aus  drüsen- 
artigen Einbuchtungen  der  Scheidenschlcimhaut  entstehen.  Dahin  dürfte  nach  dem 
mikroskopischen  Befunde  die  hühnereigrosse  Vaginalcyste  zählen,  welche  Gkyl!0) 
beschrieben  hat. 

2.  Fibroide  der  Scheide  sind  selten;  Schramm*1)  demonstrirte  der 
gynäkologischen  Gesellschaft  zu  Dresden  eine  neue  derartige  Beobachtung,  ein 
pflaumengrosses  Fibromyom  der  vorderen  Scheidenwand,  welches  Beschwerden 
beim  Coitus  verursachte.  Es  wirken  diese  Tumoren  stets  nur  bei  einer  gewissen 
Grösse  mechanisch  störend,  während  sie  sonst  keine  subjectiven  Symptome  machen. 

3.  Sarkome  der  Vagina  finden  sich  primär  entweder  als  diffuse  In- 
filtration der  Wände  oder  circumBcript,  zuweilen  in  polypoider  Form.  Das  auf- 
fallend häufige  Vorkommen  bei  kleinen  Mädchen  als  angeborene  Geschwulst  ist 
bekannt,  und  MÜNZ  5E)  will  diese  Fälle  direct  in  Sarkome  bei  Kindern,  d.  i.  unter 
3 Jahren,  und  in  Sarkome  bei  Erwachsenen  getrennt  wissen.  Bei  Kindern 
fand  er  unter  13  beglaubigten  Fällen  die  Tumoren  theils  als  traubenförmige 
Wucherungen,  theils  als  polypenähnliche  Gebilde,  fast  immer  an  der  vorderen 
oder  der  seitlichen  Scheidenwand  sitzen.  Pathologisch-anatomisch  sind  es  theils 
Bundzellensarkome  mit  eingesprengten  Spindelzellen,  theils  Fibrosarkome.  Klinische 
Erscheinungen  treten  entweder  beim  Zerfall  auf  oder  beim  Druck  auf  die  Nach- 
barorgane, und  man  beobachtet  demnach  bald  eiterigen,  übelriechenden  Genital- 
ausfluss bei  den  kleinen  Patienten,  bald  Obstipation  oder  Blasenbeschwerdeu,  die 
zn  Cystitis  und  selbst  zu  Urämie  fuhren  können.  So  war  es  auch  bei  dem  von 
Power53)  beobachteten  Kinde  von  2'/a  Jahren,  das  durch  einen  mit  heftigen 
Schmerzen  begleiteten  eiterigen  Vaginalkatarrh  auf  das  tödtlicbe  Leiden  hinwies 
und  an  Urinreteution  und  terminaler  Urämie  zu  Grunde  ging.  Das  Sarkom  sass 
hier  ausnahmsweise  rings  um  den  hinteren  Tbeil  der  Vagina  und  war  mit  ge- 
stielten Schleimhnutpolypen  der  mittleren  vorderen  Vaginalwand  complicirt. 
Pick  *‘)  hebt  hervor , dass  diese  congenitalen  Scheidensarkome , so  gross  auch 
ihre  Neigung  ist,  die  ganze  Schleimhaut  schnell  zu  durchsetzen  uud  auf  die 
Nachbarorgane  iiberzugreifen , nicht  in  das  Rectum  und  das  periproetale  Binde- 
gewebe hineinwuchern,  also  keine  Defäcationsbesckwerden  machen,  sondern  nur 
Blasentenesmus,  Harnverhaltung  u.  s.  w.  Als  sonstige  kliuische  Symptome  nennt 
Pick  alarmirende  Blutungen,  Heraustreteu  von  Geschwulstmassse  vor  die  Vulva, 
Jauchungsfieber,  Marasmus.  Mit  Erfolg  operirt  wurde  nach  Münz  bisher  ein  ein- 
ziger Fall  von  VOLKMANN. 

Das  Vaginalsarkom  Erwachsener  dagegen  hat  eine  viel  grössere 
Neigung,  sich  local  abzukapseln ; es  macht  viel  seltener  multiple  Metnstaseu  und 
Reeidive.  Neben  blutig-eiterigem,  oft  stinkendem  Vaginalausfluss  tiberwiegen  bei  Er- 
wachsenen die  Defäcationsbeschwerdcn.  Man  findet  diese  Tumoren  nach  MÜNZ  von 
der  Pubertät  au  bis  zum  hohen  Alter  — klinisch  entweder  als  flächenhafte,  nicht 
sehr  harte  Infiltration  der  Scheidenschleimhaut  oder  als  erhabene  Geschwulst 
des  submncösen  Bindegewebes,  pathologisch-anatomisch  als  Spindel  Rundzellen- 
sarkome , als  Angiosarkomc , als  Fibrosarkome.  In  dem  Falle,  den  Münz  neu 
aus  der  Fl.ATAU’schen  Klinik  beschreibt , handelte  es  sich  um  ein  Riesenzellen- 
sarkom  bei  einer  58jährigen,  seit  10  Jahren  in  der  Menopause  befindlichen  und 
seit  2 Monaten  an  Blutungen  leidenden  Frau  ; es  sass  breit  der  vorderen  Sehciden- 
waud  an  uud  reichte  bis  zur  Hälfte  der  Scheide  hinauf.  Der  Tod  tritt  hierbei 
zumeist  durch  Marasmus  ein,  so  dass  die  Prognose  ebenfalls  eine  sehr  trübe  ist. 
Flatau’s  Patientin  starb  61/,  Monate  post  operationem.  Heilung  ist  eine  einzige 
bekannt  (Spikgelrkrg’s  Patientin).  Was  die  Different  ialdiagnose  anlangt,  so  be- 
merkt Münz,  dass  Carciuomc  bretthart  sind,  erhabene  Ränder  haben,  die  Scheide 


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VAGINA. 


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stenosiren  und  die  Lymphdrlisen  der  Umgegend  infiltriren,  dass  mail  bei  Tuber- 
kulose und  Lupus  die  Umgebung  nach  Tuberkel-,  beziehungsweise  Lupusknötchen 
absuchen  muss,  insbesondere  bei  Tuberkulose  auf  etwaige  Tuberkulose  der  Harn- 
organe achten  muss,  und  dass  Scheidengummata  zeitig  zerfallen  und  tief  gelegene 
GeschwUrsränder  zeigen. 

4.  Careinome  der  Vagina  sind  sehr  selten  primäre  Neubildungen; 
doch  ist  das  Vorkommen  der  primären  Krebse  weder  an  ein  Alter , noch  an 
vorausgegangene  Graviditäten  gebunden.  Entweder  findet  man  halbkugelige 
Tumoren  oder  diffuse  Schleimhautinfiltrationen.  Nach  Ingermann-Amitin  2‘)  stehen 
die  meisten  Patientinnen  im  Alter  zwischen  30  und  40  oder  zwischen  50  und 
60  Jahren:  die  letztere  Dekade  fand  auch  Bkrnard 2#)  als  Durchschnittsalter. 
Der  Lieblingssitz  ist  die  hintere  Scheidenwand,  während  das  secundäre  Caroinom 
häufiger  auf  der  vorderen  Wand  sitzt.  Berxaud  fand  den  primären  Tumor  meist 
im  hinteren  Scheidengewölbc.  Ingermann-Amitin  hebt  weiter  hervor,  dass  das 
primäre  Careinom  häufiger  als  das  secundäre  sich  bis  zum  Scheideneingang  ver- 
breitet. Symptome  des  primären  Carcinoms  sind  Blutungen,  übelriechender  Aus- 
fluss , Blasen-  und  Mastdarmbeschwerden ; Schmerzempfindung  kann  vorhanden 
sein,  kann  aber  auch  fehlen.  Da  es  schnell  wächst  oder  bei  langsamerem  Wachs- 
thum doch  rasch  auf  die  nächste  Umgebung  Ubergreift,  ist  cs  sehr  bösartig  und 
die  Prognose  ist  sehr  schlecht.  Die  Operation  kommt  oft  zu  spät,  weil  erst  bei 
sehr  vorgeschrittenem  Proecss  Symptome  eintreten.  So  beobachtete  Lauenstein  ,7) 
einen  Fall,  in  dem  die  Patientin  auf  ihr  primäres  Scheidencarcinom  erst  auf- 
merksam wurde , als  es  in  der  Mitte  der  hinteren  Scheidenwaud  das  Septum 
rectovaginale  durchbrochen  hatte  und  Koth  durch  die  Scheide  abging.  Bei  recht- 
zeitiger Behandlung  bessert  sich  die  Prognose  vielleicht  weit  mehr,  als  man 
allgemein  annimmt.  Lauenstein  operirte  einen  Fall  mit  gutem  Erfolg,  so  dass 
erst  nach  3 */2  Jahren  ein  Recidiv  an  der  Portio  vaginalis  eintrat  und,  nachdem 
nun  die  Totalexstirpation  des  Uterus  ausgeführt  worden  war,  nach  weiteren  drei 
Jahren  die  Frau  absolut  gesund  geblieben  war.  Dagegen  giebt  Olshauskn  18) 
an,  dass  von  16  operirten  Fällen  seiner  Klinik  nur  ein  einziger  nach  zwei 
Jahren  noch  recidivfrei  war. 

Zur  Operation  dieser  malignen  Neubildung  empfiehlt  Olshausen  ,s) 
die  Exstirpation  der  Vagina  durch  die.  perineale  Methode,  welche  Zucker- 
kaxdl  früher  für  die  Totalexstirpation  des  Uterus  angegeben  hatte ; er  spaltet 
den  Damm  quer  von  Sitzknorren  zu  Sitzknorren  und  präparirt  nun , wäh- 
rend der  Finger  des  Assistenten  im  Rectum  die  Messerführung  controlirt,  stumpf 
die  hintere  Vaginalwand  vom  Rectum  ab  bis  zum  Ansatz  an  die  Cervix  und 
lockert  zugleich  die  seitlichen  Wände  bis  in  das  Bereich  des  Gesunden,  in  wel- 
chem man  die  Abtrennung  vornimmt.  Dann  stellt  er  an  der  bequemsten  Stelle 
die  Verbindung  zwischen  dem  Lumen  der  Vagina  und  der  zwischen  hinterer 
Vaginalwand  und  Rectum  entstandenen  Höhle  her  und  trennt  die  letzte  Ver- 
bindung des  schon  abgelösten  Carcinoms  mit  der  Scheere.  Wird  der  Douglas 
eröffnet,  müssen  ihn  Catgutnähte  sofort  schliessen ; lassen  sich  in  dem  Scheiden- 
reste keine  Nähte  aubringen , muss  man  dio  Wundhöhle  unter  Jodoformgaze- 
tamponadc  ausheilen  lassen.  Soll  der  Uterus  mit  der  Scheide  entfernt  werden,  so 
eröffnet  man , nachdem  der  Scheidenansatz  an  die  Cervix  erreicht  war , den 
Douglas  hinter  der  Vagina , stülpt  den  Uterus  nach  hinten  um  und  hindet  ihn 
von  den  Tuben  beginnend  in  den  Ligamenten  ab;  ist  dies  theilweise  geschehen, 
schneidet  man  an  der  Grenze  des  abgelösten  Theils  die  Vagina  mit  der  Scheere 
durch  und  löst  das  Carcinom  aus.  Nach  stumpfer  Trennung  der  Blase  vollendet 
man  schliesslich  die  Abbindung  der  Cervix.  Thors2*)  billigt  diese  perineale 
Methode  für  die  Careinome  im  mittleren  und  unteren  Drittel  der  V'agina,  wäh- 
rend ihm  für  die  Krebse  im  oberen  Drittel  und  im  Vaginalgewölbe  rationeller 
dünkt,  Damm  und  Vagina  auf  der  stärker  erkrankten  Seite  bis  auf  circa  3 Cm. 
an  das  Carcinom  heran  zu  spalten  und  nun  die  Ablösung,  und  zwar  ebenfalls 


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VAGINA. 


von  hinten  her  vorzunehmen,  und , uni  bei  Mitleidenschaft  des  Uterus  diesen  zu 
entfernen  und  das  ganze  paranietrische  und  paravaginale  Bindegewebe  gründlich 
auszuräumen , empfiehlt  er,  wie  schon  vorher  Fritsch  that,  die  saerale  Methode 
als  gründlichste,  wenn  auch  die  Genesung  von  der  Operation  langsamer  herbei- 
führende. 

Denselben  Vorschlag  der  saeralen  Methode  bei  Betheiligung  des  Uterus 
macht  auch  Behnard.  **)  Dührswen50)  hat  die  Scheide  mit  Hilfe  einer  Se.heidcn- 
dammincision  mit  Durchtrennung  des  Levator  ani  und  Eröffnung  des  Carum 
inchiorectale  auf  derjenigen  Seite,  nach  welcher  das  Careinom  weniger  nach  der 
vorderen  Wand  zu  gew  uchert  ist , und  in  Coinbination  mit  der  hohen  Cervix- 
nmputation  exstirpirt ; er  glaubt,  dadurch  das  Operationsfeld  noch  zugänglicher 
zu  machen  und  eine  Contactiufection  des  Gesunden  während  der  Operation  noch 
sicherer  ausschliessen  zu  können,  ohne  die  Operation  blutiger  zu  machen,  als  die 
perineale  Methode.  Sollte  das  Carcinom  der  hinteren  Vaginalwand  von  beiden 
Seiten  her  nach  vorn  Ubergegriffen  haben,  würde  derselbe  Weg  angängig  sein, 
nur  würde  man,  so  weit  die  Schcidendammspaltung  sich  im  carcinomatösen  Ge- 
webe bewegt,  statt  des  Messers  den  Thermokauter  zur  Verhütung  einer  Infection 
anwenden  müssen.  Bei  Betheiligung  des  Uterus  aber  erscheint  DOhbssex  wohl 
mit  Hecht  jede  Operation  zwecklos,  sobald  das  Carcinom  den  supravaginalen 
Cervixtheil  ergriffen  hat,  weil  dann  direct  vom  primären  Vaginaltumor  aus  das 
Parametrinm  bereits  so  carcinomatös  iufiltrirt  sein  wird,  dass  an  eine  Entfernung 
alles  Kranken  nicht  mehr  zu  glauben  ist.  Lacknsteix  S7)  endlich  operirte  in 
dem  einen  Falle,  der  den  erwähnten  günstigen  Erfolg,  wohl  den  günstigsten 
aller  bekannten  Fülle,  hatte,  ähnlich  wie  OlshaüSKN;  im  anderen  aber  mit  dem 
ebenfalls  schon  erwähnten  Durchbruch  in  das  Kectum  bildete  er  zuerst  einen 
künstlichen  After  an  der  Flexura  mit  totaler  Durchtrennung  des  Darmrohrs, 
Einuähen  des  zufuhrenden  Stückes  in  die  Bauchwand  und  Verschluss  und  Ver- 
senken des  abführenden  Stückes.  Dann  exstirpirte  er  in  derselben  Narkose  das 
Septum  rectovaginale  sammt  einem  beträchtlichen  Stück  Mastdarmsehleimhaut, 
vernähte  das  erüffnete  Cavum  Douglasii  mit  sechs  Catgutnähten  und  verkleinerte 
die  grosse  Wundfläche  durch  Einstülpung  des  beiderseitigen  Hautrandes  der 
seitlichen  Aftergegend.  Unter  lockerer  .lodoformgazetamponade  war  der  Wuml- 
verlauf  ungestört,  nach  mehreren  Tagen  begann  der  Anus  praeternaturalis  zu 
funetioniren  und  Patientin  konnte  geheilt  entlassen  werden.  Diese  Operation  wurde 
im  Frühjahr  1894  ausgeführt;  ihr  Dauererfolg  also  ist  noch  in  suspenso. 

5.  Lymp/iangioma  malignum  vaginae.  Bei  einer  50jährigen 
Frau , welche,  nach  14  Schwangerschaften  mit  42  Jahren  in  die  Menopause 
eingetreten , seit  S Wochen  an  Scheideublutungeu  und  Kreuzschmerzen  litt, 
entdeckte  Klien  31)  zwei  Tumoren  in  der  Scheide,  den  einen  priaumengross,  den 
anderen  klcinapfelgross.  Sie  bestanden  aus  einem  Netzwerk  erweiterter  Lymph- 
eapillaren,  dessen  kleinere  Räume  von  auffallend  grossen,  zu  drei  bis  vier  an 
Zahl  zusammenstosseuden  Endothelzellen  ausgefüllt  waren , während  eiten  solche 
Endothelien  an  deu  weiteren,  bis  hanfkorngrossen  Räumen  einen  einschichtigen . 
bis  zu  50  p.  hohen  Wandbelag  bildeten.  Zwischen  diese  endothelbekleideten  Räume 
schob  sich  zartes , gefassrciches  Bindegewebe  hinein ; an  manchen  Stellen  aber 
fehlte  dieses,  und  Eudothelreihe  legte  sich  unmittelbar  an  Endothelreihe.  Nur 
die  grösseren  Räume  waren  von  Blut  erfüllt.  Aus  der  Wucherung  der  Endo- 
tlielien  folgerte  Ki.iex  den  malignen  Charakter  der  Tumoren  und  bezeichnete 
sie  als  Lymp/iangioendothelioma  cavernosum  haemorrhagicum  malignum. 

IV.  Mykosen  der  Scheide  fanden  einen  neuen  Sehilderer  in  v.  Herff.  ,:) 
Er  fand  etwa  unter  553  Patientinnen  der  Hallenser  gynäkologischen  Poliklinik  einen 
Fall  von  Kolpitis  mycotica  acuta,  und  von  sämnttlichen  26  Fällen  kamen  merk- 
würdiger Weise  17  auf  die  heissen  Monate  Juni  bis  September,  während  December 
und  Januar  ganz  frei  von  dieser  Erkrankung  blieben.  Prädisponireud  für  die 
Ansicdlnng  saprophytiseher  Keime  in  der  weiblichen  Scheide  muss  also  die 


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VAGINA. 


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Sommerhitze  seiu  dadurch  , dass  eie  Zersetzungen  des  Scheidensecrets  und  Inter- 
trigo begünstigt.  Ein  zweites  prüdisponirendes  Moment  ist  unzweifelhaft  die 
Schwangerschaft,  und  je  prädispouirender,  desto  weiter  sie  zeitlich  vorgeschritten 
ist.  Unter  den  Niehtsehwangeren  ist  das  höhere  Alter  bevorzugt.  In  13  Füllen, 
welche  Neumann  ji)  mittheilt,  handelte  es  sich  stets  um  Weiber,  die  unter  schlechten 
äusseren  Verhältnissen  lebten  und  auf  Stroh  oder  in  feuchten  Wohnungen  ihr 
Nachtlager  hatten.  Der  häufigste  Erreger  der  Krankheit  ist  der  Soorpilz  (üidium 
albicans),  welcher  z.  B.  von  den  Händen  einer  ihr  soorkrankes  Kind  pflegenden 
Mutter  in  die  Scheide  gelangen  kann.  Sonst  findet  man  gelegentlich  Monilia 
candida,  Lcptolhrix  vaginalis  u.  dergl.  Dass  man  experimentell  mykotische 
Kolpitis  durch  Einimpfen  des  Soorpilzcs  erzeugen  kann,  hat  früher  schon  Hauss- 
manx  nachgewiesen.  Ob  aber  echte  Hefepilze  (Saccharoinyeeteu)  die  Krankheit 
verursachen  können,  i6t  zweifelhaft.  Die  Symptome  der  Scheidenmykose  sind 
vor  Allem  Klagen  über  heftiges  Brennen,  Jucken  und  Hitzcgcffihl  in  der  Scheide, 
zuweilen  Empfindung  des  Drängens  nach  abwärts,  nls  ob  ein  Vorfall  vorhanden 
wäre,  nicht  selten  llarnheschwerden  und  besonders  bei  Betheiligung  der  Gegend 
der  Klitoris  geschlechtliche  Aufregungsznstände.  Fluor  fehlt  in  uncomplicirten 
Fällen.  Die  subjeetiven  Belästigungen  pflegen  sich  Nachts  zu  steigern.  Fiober- 
steigeruugen  beobachtete  Nkumanx,  was  mit  Haussmaxk's  experimentellen  Beob- 
achtungen im  Einklang  steht;  mit  dem  Fieber  können  Exantheme  (Erythema  noilo- 
sum  oder  papulatum  oder  pustulöse  Formen,  die  von  einem  gerötheten  Hof  peripher 
umgrenzt  sind;  in  Erscheinung  treten.  Die  Scheidenscbleimhaut  zeigt  sich  stark 
geröthet  und  aufgelockert,  sowie  sammetartig  geschwollen,  oft  bedeckt  von  rahm- 
artigen  Fleckehen , die  ans  abgestossenen  Epitbclien  entstehen ; die  Empfindlich- 
keit ist  meist  gross  genug,  um  die  Einführung  eines  Spiegels  zu  vereiteln.  Die 
Pilzrasen  können  so  dicht  stehen , dass  die  Schleimhaut  wie  mehlbestaubt  er- 
scheint. Meist  bleiben  sie  von  der  Grösse  eines  Stäubchens,  nur  selten  werden 
die  einzelnen  Flecke  bis  linsengross  oder  noch  etwas  grösser.  Infolge  anhaltender 
Beizung  durch  Reibung  sah  Nedmaxn  mehr  oder  weniger  tiefgehende  Ge- 
schwürehen entstehen,  in  frischen  Fällen  scharf  umschrieliene , halblinsen-  bis 
linsengrosse,  oft  viel  kleinere,  im  Niveau  der  Schleimhaut  gelegene  Eftlorescenzen 
mit  mehr  oder  weniger  lebhaft  geröthetem  Wall  und  mit  gelhlichweisser  bis 
weisser  Exaidatschicht  bedeckt.  Die  Diagnose  muss  sich  wesentlich  auf  die 
vorhandenen  weisslichen  rahmartigen  kleinen  Flöckchen  auf  der  Scheidenscbleimhaut, 
welche  eben  die  Pilzrasen  sind,  stützen ; pathognomonisch  für  diese  ist  das  feste 
Haften , so  dass  sie  sich  nicht  leicht  fortwischen  lassen.  Die  mikroskopische 
Untersuchung  wird  dann  leicht  die  Entscheidung  bringen.  Die  aphthösen  Ge- 
schwürehen  können  forensisch  von  Interesse  sein,  damit  sie  nicht  mit  venerischen 
verwechselt  werden ; doch  haben  diese  einen  speckigen , rein  eiterigen , leicht 
und  vollständig  allzustreifenden  Belag,  steile,  stets  mehr  oder  weniger  unter- 
minirte  Ränder,  und  die  Umgebung  der  venerischen  Geschwüre  ist  stets  intensiver 
entzündet,  als  bei  einer  Scheidenmykose.  Gelegentlich  könnte  auch  eine  Ver- 
wechslung mit  tuberkulösen  oder  gummösen  Ulccrn  Vorkommen.  Die  Dauer  der 
Anwesenheit  der  Pilze  in  der  Scheide  kann  vielleicht  eine  sehr  lange  sein,  die 
Dauer  der  subjeetiven  Reizerscheinungen  jedenfalls  eine  wochenlange.  Gonorrhoe 
und  I.ues  scheinen  den  l’rocess  zu  begünstigen,  stark  saure  oder  stark  alkalische 
Beschaffenheit  des  Scheidensccretes , vor  Allem  die  Beschaffenheit  des  Wochen- 
flusses, beeinträchtigt  ihn.  Die  Prognose  ist  gut  bei  richtiger  Behandlung; 
diese  besteht  in  antiseptischeu  Ausspülungen,  zu  denen  vor  Allem  das  Sublimat 
in  Lösungen  von  1 : 5000 — 10.000  zu  empfehlen  ist.  Ein  der  Ausspülung  folgen- 
des stundenlanges  Brennen  heftigster  Art  haftet  allen  antiseptischeu  Ausspülungen 
bei  dieser  Atl'ection  an  und  muss  durch  kühle  Sitzbäder,  Bleiwasserumschläge  etc. 
gemässigt  werden.  Eine  gründliche  Ausspülung  pro  die  genügt  meistens;  mehr 
als  2 oder  3 täglich  sind  nicht  zu  empfehlen.  Heilung  sah  Hekfk  auf  solche 
Art  durchschnittlich  in  4 Tagen  eintreten. 


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VAGINA. 


Eine  sehr  merkwürdige  parasitäre  Scheidenerkraukung  ganz 
anderer  Art  hat  Coxdio  34)  bei  einer  verkrüppelten,  56jährigen  Bettlerin  erlebt, 
welche  mit  Klagen  Uber  Brennen  und  Schmerz  in  der  Scheide,  nebenbei  auch 
mit  Koliksehmerzen,  Erbrechen  und  Tenesmus  in  Behandlung  kam.  Deren  Scheide 
bewohnte  die  Käserailbe , Piophila  casei,  und  musste  durch  energische  Irri- 
gationen mit  Borwasser  und  Carbolwasser  gereinigt  werden.  Die  Milben  drangen 
von  der  Vagina  aus  in  die  Cervix  ein.  Mit  der  Milbe  gefütterte  Kanin- 
chen beherbergten  sie  einige  Tage  lebend  in  ihrem  Darm;  ein  trächtiges 
Kaninchen  bekam  nach  Fütterung  mit  in  Klee  gereichten  Käsemilben  Erbrechen 
und  Abortus. 

V.  Traumata  vaginae.  1.  Verletzungen  extra  partum  werden 
nur  sehr  selten  durch  wirkliche  Unglücksfälle  (Fall  auf  spitze  Gegenstände  in 
Reitsitz,  Stoss  einer  Kuh)  verursacht;  am  häufigsten  sind  diese  seltenen  Traumen 
durch  einen  stürmischen  Coitus  bedingt.  Die  Möglichkeit  von  Schcidenzerreissungen 
bei  diesem  physiologischen  Acte  ist  durch  mehrere  glaubhafte  Beobachtungen 
bestimmt  erwiesen.  Ostermayer  ss)  stellt  16  Fälle  aus  der  Literatur  zusammen 
und  beschreibt  im  Anschluss  daran  aus  eigener  Anschauung  eine  Kolporrhexis, 
ein  sexuell  entstandenes  bogenförmiges  Abreissen  des  hinteren  Scheidengewölbes 
von  der  Portio,  wie  es  früher  einmal  (1889)  Frank  erlebt  hat.  Die  in  der 
Literatur  niedergelegten  Füllo  lassen  nicht  erkennen,  dass  eine  besondere  (Qualität 
der  Scheidenwände  oder  eine  bestimmte  Position  der  Verletzten  während  des 
Coitus  die  Verletzung  begünstigte.  Doch  können  begünstigend  einwirken  die  auf 
seniler  Rückbildung  beruhende  Atrophie  und  Schrumpfung  des  Organs,  infantile 
Formen  und  Missbildungen , Gestalt-  und  Lageanomalien  des  Uterus , welche  die 
Spannuugsverhältnisse  der  Vaginalwände  besonders  in  der  Richtung  der  Längs- 
achse alteriren,  das  Rohr  verkürzen  oder  fixiren  und  sein  normales  Lumen  ver- 
legen, zumal  wenn  die  verlagerte  Gebärmutter,  durch  para-  oder  perimetritische 
Processe  fixirt,  nicht  auszuweichen  vermag.  Umstände  letzterer  Art  begünstigten 
bei  der  40jährigen,  anämischen  und  schwächlichen  Witwe,  bei  welcher  Oster- 
Mayer  durch  den  impetuösen  Coitus  ihres  betrunkenen  Schwagers  eine  ausge- 
dehnte Kolporrhexis  mit  Gefahr  des  Verblutungstüdes  entstehen  sah , diese  Ver 
letzung.  Der  Uterus  war  in  totaler  Anteversio  fixirt,  das  hintere  Scheidengewölbe 
dadurch  ad  extremum  gespannt,  dazu  noch  durch  Exsudatreste  befestigt.  Die 
Ausdehnung  der  Scheidcnabreissung  in  diesem  Falle  war  noch  beträchtlicher,  als 
im  analogen  FRAN'K’schen ; der  Riss  war  etwa  8 Cm.  lang,  so  dass  nur  eine 
etwa  2 Cm.  breite  Verbindung  der  vorderen  Scheidewand  mit  der  Portio  übrig 
geblieben  war,  und  durch  die  klaffenden  Wundränder  konnten  bequem  drei  Finger 
durchgeführt  werden.  Die  Behandlung  besteht  natürlich  in  sorgfältiger  Wund- 
naht mit  Jodoformgazeeinlage. 

2.  Verletzungen  intra  partum  sind  bei  weitem  häufiger;  ohne  Ver- 
letzung der  Schcidensckleimhaut  geht  wohl  kaum  eine  Entbindung  vor  sich.  Doch 
beanspruchen  nur  die  grösseren  derartigen  Verletzungen,  insbesondere  die,  welche 
eine  Perforation  der  Wand  in  toto  verursachen,  ein  lebhaftes  praktisches  Interesse ; 
denn  einerseits  sind  sie  die  Ursache  sehr  bedrohlicher  Blutungen , andererseits 
sind  sie  die  häufigste  Veranlassung  für  die  Entstehung  der  Scheidenstenosen, 
soweit  sie  nicht  angeboren,  sondern  erworben  sind.  Neugebager  (1.  c. ,0)  führt 
186  Scheidenverengerungen  und  Scheidenverwachsungen , die  unter  der  Geburt 
erworben  wurden,  auf.  Diese  Geburtsverletzungen  können  sowohl  bei  spontanen, 
als  bei  artifieiell  beendeten  Geburten  zustande  kommen.  Wenn  spontane  Entbin- 
dungen zu  erheblichen  Vaginaltraumen  führen,  mag  wohl  eine  krankhafte  Ver- 
änderung des  Organs  eine  Prädisposition  geben.  So  behandelte  Baudrv  '*)  eine 
27jährige  Primipara;  im  April  1891  hatte  diese  eine  Abscedirung  der  hinteren 
Scheidenwand,  die  sich  von  selbst  öffnete,  durchgemacht.  Mitte  Februar  1892 
gebar  sie  ein  Kind  in  erster  Schädellage;  als  der  Kopf  in  der  Schamspalte  sichtbar 


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VAGINA. 


673 


wurde,  bekam  die  Patientin  heftigen  Stuhldrang,  und  plötzlich  fiel  ein  Händchen 
durch  den  After  vor.  Die  Hebamme  entwickelte  rasch  den  Kopf  und  zog  den 
vorgefallenen  Arm  ohne  Schwierigkeit  per  vaginam  heraus;  die  nachfolgende 
Blutung  war  nicht  gar  erheblich.  BauDRY  fand  bei  seiner  Ankunft  den  Dainm 
intact,  in  der  Scheide  aber  einen  dreieckigen , mit  der  Basis  gegen  den  Damm 
gerichteten,  3 Finger  breiten  Riss,  welcher  die  ganze  Mastdarmscheidenwand 
durchsetzte;  doch  war  die  Rissöffnung  im  Rectum  kleiner  als  in  der  Vagina.  Er 
vernähte  diesen  Riss  in  der  Scheide  vom  Damm  her,  eine  zurückbleibende  Rccto- 
vaginalfistel  schloss  sich  nach  vier  Monaten.  Auch  LlPINSKY  *7)  behandelte  eine 
im  Anschluss  an  eine  spontane  Entbindung  mit  nachfolgender  Puerperalerkrankung 
entstandene,  3 Cm.  lange,  narbige  Stenose  des  unteren  Theiles  der  Vagina,  welche 
nur  noch  der  Sonde  den  Durchgang  gewährte.  Unter  den  künstlichen  Entbin- 
dungen sind  aber  die  Zangeneutbindungcn  die  häufigste  Ursache  für  Verletzungen 
und  consecutive  Narbenstenosen  der  Scheide.  Dabei  brauchen  gar  nicht  einzelne 
grosse  und  sehr  tiefe  Risse  zu  entstehen ; cs  genügt  offenbar , dass  mehrere 
kleinere  Verletzungen  gesetzt  werden,  welche  bei  ihrer  Vernarbung  das  Gewebe 
rctrahiren.  So  erklärt  sich  z.  B. , dass  eine  mit  Forceps  entbundene  Primipara, 
der  post  partum  nur  der  eingerissene  Damm  genäht  worden  war , drei  Monate 
darauf  in  die  Behandlung  van  de  POI.l’s  ,a)  mit  einer  starkem  Verengerung  der 
Scheide  durch  Narbenstränge  trat. 

Die  Behandlung  der  erworbenen  Scheiden  Stenosen  kann  zu- 
weilen durch  langsame  Dilatation  zum  Ziele  führen,  wie  im  Falle  van  de  Poi.i.’s, 
dessen  Patientin  10  Monate  nach  der  Entlassung  sogar  ein  normal  grosses  Kind 
spontan  gebären  konnte.  Diese  Dilatation  kann  durch  Spccula  oder  Bougies  von 
wachsender  Dicke,  durch  l.aminaria  oder  Pressschwamm,  durch  den  Kolpeurvnther 
oder  endlich  durch  den  Ballon  von  Gahikl  , den  Pichkvin  **)  als  brauchbarste 
Methode  ansieht,  bewirkt  werden.  Braun  v.  Fkrnwai.d40)  empfiehlt  sein  Ver- 
fahren der  Cervixdilatation  auch  für  die  Scheide;  es  besteht  darin,  dass  man  ein 
Uber  eine  ganz  glatte  Sonde  ad  maximum  ausgezogenes  Gummidraiurobr  einlegt 
und  dann  plötzlich  mit  dem  äusseren  Zuge  aufhört,  so  dass  das  Gummirohr 
tiefer  in  die  Scheide  hineinschnellt.  Dann  zieht  man  die  Sonde  vorsichtig  zurück. 
Durch  das  Bestreben,  seine  ursprüngliche  Form  zurückzugewinnen , übt  dieses 
elastische  Bougie,  wie  Braun  in  zwei  Fällen  sah,  eine  wirksame  Dilatation  aus. 
Doch  kann  diese  stumpfe  Erweiterung  nicht  nur  misslingen , sondern  auch  neue 
Verletzungen  setzen.  LlPINSKY  sah  in  seinem  eben  erwähnten  Falle  durch  fort- 
gesetzte Dilatationsversuche  eine  Mastdarmscheidenfistel  entstehen.  Er  frischte 
schliesslich  den  unteren  Theil  der  Vagina  blutig  an  und  benutzte  die  kleinen 
Labien  zur  Deckung  der  seitlichen  Defeete,  um  in  einer  späteren  Sitzung  den 
Mangel  in  der  hinteren  Scheidenwand  sammt  der  Fistel  durch  einen  aus  der 
Hinterbacke  genommenen,  gestielten  Lappen  zu  decken.  Die  Heilung  gelang  so 
vollständig  und  dauernd ; die  Scheide  war  7 Cm.  lang  und  für  zwei  Finger 
durchgängig  geworden.  Achnlich  verfuhr  ROSCISZEWSKY 41),  als  die  zumeist  unge- 
nügende Methode  der  Discisiou  der  Scheidennarben  auch  ihm  misslang,  indem  er 
nach  Exci8ion  des  Narbengewebes  den  Defect  mit  den  kleinen  Labien  deckte 
und  damit  den  gewünschten  Erfolg  erzielte. 

Für  nachfolgende  Gehurten  haben  natürlich  die  Vaginalstenosen  sehr 
ernste  Folgen.  Neugebauer  *°)  zählt  23  Porrooperationen  und  35  conservative 
Kaiserschnitte  auf,  welche  durch  Stenose  oder  Atresie  der  Scheide  nötliig  wurden ; 
in  245  anderen  Fällen  konnte  freilich  die  Geburt  noch  immer  durch  die  natür- 
lichen Wege  geleitet  werden. 

VI.  Neurosen  der  Scheide.  1.  Vaginodynie  benannte  James  J. 
Simpson  eine  musculöse  Contraction  des  ganzen  Vaginalsclilauches  zum  Unter- 
schiede von  Vaginismus,  der  nur  die  Contraction  des  Scheideneingauges  bedeutet. 
Frost4*)  beschreibt  auf  Grund  eigener  Erfahrungen  die  Affection  so,  dass  die 
Euoyclop.  Jahrbücher.  VI.  43 


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874 


VAGINA.  — VERATROG. 


Patientinnen  Uber  heftige  Schmerzen  im  Leibe  klagen,  wahrend  die  physikalische 
Untersuchung  des  Abdomens  keine  Veränderung  der  Organe  ergiebt.  Diese 
Schmerzanfälle  wiederholen  sieh  regellos.  Der  Versuch , den  Finger  durch  den 
zusammengezogenen  Sphincter  vaginae  hindurchzuzwängen , löst  neue  heftige 
Schmerzen  aus ; drückt  er  aber  kräftig  gegen  den  Beckenboden , so  verringert 
sich  der  Schmerz  oder  hört  auf.  Die  Diagnose  stutzt  Bich  auf  das  plötzliche 
Auftreten  von  sehr  heftigen,  reissenden , anhaltenden  Schmerzen  in  der  unteren 
Beckengegend,  oft  mit  Contraetion  des  Perineums  vergesellschaftet ; häufig  han- 
delt es  sich  um  hysterische  Personen.  Die  Behandlung  besteht  in  Einführung 
eines  oder  einiger  Finger  in  die  Vagina  und  Druck  gegen  das  Perineum,  während 
zugleich  der  Daumen  gegen  das  untere  Segment  des  Kreuzbeines  gepresst  wird. 
Nach  10 — 20  Minuten  Dauer  erschlaffen  die  Muskeln  bei  dieser  Dehnung  der 
Vagina  völlig,  und  mehrmalige  Anwendung  dieses  Verfahrens  beseitigt  das 
Leiden  dauernd. 

2.  Als  Ursache  des  Vaginismus  bei  jung  verheirateten  Frauen 
beschuldigt  neuerdings  Barbier“)  die  Blennorrhoe;  der  blennorrhoiscbe  Ent- 
zünduugsprocess  greift  auf  die  noch  nicht  vernarbten  Lappen  des  Hymen  Uber. 
Doch  hilft  gegen  diese  äusserst  schmerzhafte  Affection,  die  zur  Bettruhe  zwingt, 
die  antigonorrhoisehe  Behandlung  recht  wenig,  und  Barbier  empfiehlt,  bei  aus- 
einander gehaltenen  Labien  über  dem  Orificium  vaginale  mittels  eines  Richard- 
sON’schen  Sprays  eine  l,25%ige  Cocainlösung  zu  zerstäuben;  daneben  verordnet 
er  täglich  lauwarme  Bäder  von  1 — 2 Stunden  Dauer  und  sah  meist  in  8 bis 
10  Tagen  Heilung  eintreten. 

Literatur:  ’)  Pari,  Arch.  di  ost.  c gin.  1895,  Nr.  1.  — ’)  K,  Menge,  Deutsche 
med.  Wochenschr.  1894.  Nr.  46— 48  — 4 I B.  Krönig,  Ebenda.  1894.  Nr.  43  — 4)  Düder- 
lein,  Ebenda.  1895.  Nr.  10.  — *) Sitzungsbericht,  Centralbl  f.  Gyn . 1895.  Nr. 48,  pag.  1283.  — 
e)Knanss,  Württembergisches  Correspondenzbl.  LX1V,  Nr.  5.  — ")  Westermayer,  lnang.- 
Dissert  Erlangen  1894.  — *)  Sitznngsprotokoll,  Centralbl.  f Gyn.  1895,  Nr.  13,  pag.  350  351.  — 
*)  A.  Heydenreich,  Arch.  de  tocol.  et  de  gyn.  1894,  Nr.  0.  — ’°)  Neugebauer,  Zur 
Lehre  von  den  angeborenen  und  erworbenen  Verwachsungen  und  Verengerungen  der  Subeide. 
Leipzig  1895  “)  Blenk,  Inaug.-Dissert.  München  1893.  — *’)  E.  Winternitz.  Cen- 

tralblatt t.  Gyn.  1895,  Nr.  24.  — ls)  E Winternitz,  Ebenda.  1895,  Nr.  13. — ,4)J.Sond- 
heimer,  Monatasehr.  f Geburtsh.  und  Gyn.  1895,  I.  Heft  4.  — l4)  Wladimir  v.  Skow. 
ronski,  Wiener  klin.  Rundschau.  1895.  Nr.  16.  — **)  Richard  Laudan,  Monatsschr.  f. 
Geburtsh.  nnd  Gyn.  1895,  I,  Heft  7-  — “IQueirel,  Annal.  de  Gyn.  Marz  1895.  — l4)Peri, 
Sperimentale.  1894.  Nr.  35.  — '*)  A.  Ronth  , Separat-Abdr.  aus  den  Transaetions  of  the  obstetr. 
suc.  of  London.  XXXVI.  — “)  Gev),  Centralbl.  f.  Gyn.  1894.  Nr.  44  — n)  Sitzungsbericht 
vom  11.  October  1894.  Centralbl.  f.  Gyn  1895.  Nr.  11.  — *' I Münz.  Separat-Abdr.  aus  „Der 
Frauenarzt ",  Neuwied  1895.  — ri)  Power,  The  Lancet.  19.  October  Ir  95.  — **)  L.  Pick, 
Arch.  f.  Gyn.  1894,  XLVI,  pag  191.  — **)  Anna  I n ge  rm  an  n - A m i t i n , Inang -lliasert. 
Bern  1893.  — ’*)  F.  Bernard,  Tbbsc  de  Paris.  1895.  — ”)  C.  Lauenstein.  Deutsche 
Zeitschr.  f.  Chir.  XLI.  Heit  4/5-  — *')  R Olshausen,  Centralbl.  f.  Gyn.  1895,  Nr.  1.  — 
*’)  W.  Thorn,  Ebenda.  1895,  Nr.  9.  — *c)  A.  Dührasen,  Ebenda.  — *')  Rudolf  Klien, 
Arch.  f Gyn  1894.  XLVI,  pag.  292.  — *’)  Otto  v.  Herff,  Samml.  klin.  Vortr  Neue  Folge. 
1895,  Nr.  137.  — * ) .1.  Neu  m a n n,  Wiener  klin.  Rundschau.  1895,  Nr.  19  20.  — *')  Condio. 
Gazz.  med.  di  Torino.  22.  Februar  1894.  — “)  Nicolaus  Ostermayer,  Wiener  med. 
Wochenschr.  1895.  Nr.  39.  — V.  Baudry,  Annal.  de  Gyn.  Juli  1894.  — ,!)  Lipinskv. 
lbid.  April  1895.  — M)  C.  N.  van  de  Poll.  Nederl.  Tijdschr.  voor  Verlosk.  en  Gyn.  V,  4 — 
“)  Piche vin,  Gaz.  mid.  de  Paris.  1895,  Nr.  3.  — **)  Richard  Braun  v.  Fernwald, 
Wiener  klin.  Wochenschr.  1894.  Nr.  46  47.  — *')  v.  Rose i szews k i , Centralbl.  f.  Gyn.  1894, 
Nr.  27-  — 4,1  E.  F.  Frost,  Med.  llecord.  1893,  mitgetheilt  in  Wiener  med.  Presse.  1893. 
Nr.  44.  pag.  1737.  — 4S)  Barbier.  La  Semaine  med.  1895,  Nr.  18 

Richard  Landau. 

Veratrol,  Ce  H4<^qj^!,  Brenzkatechindimethyläther , Vera- 

trolum  synthet  icum , verwandt  mit  dem  Guajnkol,  welches  bekanntlich  nach 
seiner  chemischen  Constitution  Brenzkatechinmonomethyläther  ist.  Das  synthetisch 
dargestellte  Veratrol  ist  eine  leichtbewegliche  klare  Flüssigkeit,  die  sich  in 
Alkohol,  Acthe.r  und  fetten  Oelen  löst  und  bei  205 — 206°  C.  siedet.  Nach 
II.  SlRMOXT  und  A.  VERMERSCH  wirkt  das  Veratrol  gegenüber  Cholera-,  Typhus 


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VERATROL. 


675 


nnd  Diphthcriebacillen  als  energisches  Antisepticum;  weniger  deutlich  ist  die 
baktericide  Wirkung  gegenüber  dem  Bacillus  pyogenes  und  dem  Staphylococcus 
pyogenes,  hingegen  wird  der  Tuberkelbacillus  in  seiner  Entwicklnng  bedeutend 
gehemmt.  Es  entfaltet  eine  stärkere  Aetzwirkung  wie  das  Guajakol,  wirkt  aber 
etwa  dreimal  weniger  giftig  als  dieses.  Es  wird  sowohl  von  der  Haut  als  von 
den  Respirationswegen  durch  den  Verdauungscanal  auch  bei  subcutaner  Einfüh- 
rung vom  Organismus  aufgenommen.  Auf  die  Haut  gepinselt  wirkt  es  etwas 
schwächer  als  Guajakol.  Bei  Intercostnlneuralgien  wirkt  es  analgetisch ; eine 
Epididymitis  acuta  schwand  nach  zweimaliger  Anwendung  von  Vcratrolsalbe. 

Dosirung.  Aeusscrlich  als  schmerzstillendes  Mittel.  Bei  Orchitis  als 
10%igc  Salbe  oder  mit  gleichen  Theilen  Tinct.  jodii  als  Liniment  zu  Einpiuse- 
lungen. Innerlich  2 — 4 Tropfen  dreimal  täglich  in  Gelatinkapseln  gegen  Tuber- 
kulose empfohlen. 

Literatur:  H.  Surmont  u.  A.  Vermerach,  Semaine  meil.  1895,  pag.  387. — 
E Mcrck's  Bericht  über  das  Jahr  1895.  Loebiach. 


43* 

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Wabain,  s.  Ouabain,  pag.  511. 

Wasserdampf,  Inhalationen,  pag.  287. 

Wassergewinnung,  Wasserwerkrecht. — Das  zur  Verwerthung 
als  Trinkwasser  wie  als  Reinigung»-  (Nutz-)  Wasser  bestimmte  Wasser  soll  klar, 
ungefärbt,  geruchlos  sein,  nicht  nach  irgend  einem  Bestandtheil  schmecken,  eine 
erfrischende  Temperatur  haben.  Vor  Allem  wird  aber  erfordert,  dass  cs  von 
Körpern  und  Stoffen,  die  narh  seiner  directen  oder  mittelbaren  Einführung  in 
die  ersten  Wege  vergiftend  oder  ira  Sinne  der  Krankheitsverbreitung  schädigend 
wirken  konnten,  frei  sei.  Aus  dieser  Anforderung  ist  es  verständlich . wenn  die 
Gesundheitsichre  der  Gegenwart  den  mineralischen  Bestandtheilen  der  Wässer 
eine  schädliche  Wirkung  kaum  beimisst  und  auch  den  organischen  chemischen 
Beimengungen  (selbst  bei  schon  merkbarer  Verunreinigung)  nur  in  Ausnahtne- 
fälleu,  etwa  bei  kürzlich  erfolgtem  oder  dauerndem  Zutritt,  eine  mehr  zurück - 
tretende  Bedeutung  beilegt.  Das  Hauptkriterium  für  ein  im  bedenklichen  Sinne 
unreines  Wasser  wird  dagegen  in  seiner  Eigenschaft,  Aufenthaltsort,  Nährmediura 
und  Vehikel  pathogener  Mikroorganismen  zu  sein , gesucht.  Es  handelt  sich 
um  die  Grenzen  der  Ucberzeugting,  innerhalb  deren  die  Infectiosität  des  Wassers 
für  schwerere  oder  leichtere,  für  häufigere  oder  seltenere  Kraukheitsausbrüche 
unbesehen  acceptirt  oder  immer  von  Neuem  und  von  Fall  zu  Fall  unter  Beweis 
gestellt  worden  soll. 

Der  Beweis  ist  doppelter  Natur:  a)  eine  Epidemie  wird  bis  auf  ihre 
ersten  Entstehungsfälle  erforscht  und  diese  letzteren  an  Wassergenuss  gebunden 
erklärt,  womit  dann  in  der  Regel  der  Nachweis  verbunden  wird,  dass  alle  Nicht- 
eonsumeuten  des  verdächtigen  Wassers  unter  sonst  gleichen  Lcbensverhultnissen 
gesund  blieben,  oder  dass  nach  Sperrung  der  verdächtigen  Wasserquelle  kein 
Fall  der  fraglichen  Krankheit  mehr  eintrat;  b)  cs  werden  die  für  die  letztere 
pathogenen  Mikroben  im  fraglichen  Trink-  und  Nutzwasser  nachgewiesen  und 
sie  sind  nicht  mehr  nachweisbar  zu  der  Zeit,  in  welcher  primäre  Fälle  der 
Krankheit  sich  nicht  mehr  ereignen. 

Der  Beweis  ad  b)  ist  meistens  noch  schwieriger  zu  liefern  als  der  ad  a). 
Einwandfreie  Schlusskctten  sind  trotz  des  in  unübersehbarer  Menge  veröffent- 
lichten Materials  sehr  selten.  Nichtsdestoweniger  muss  die  Gesundheitspolizei  auf 
die  Erfüllung  der  Forderung  hinarbeiten,  unter  dem  als  „Reinw&sser“  gelieferten 
Product  der  Wasserentnahmestellen  ein  von  Ansteckungskeimen  freies 
Wasser  zu  verstehen  und  besonders  den  Consumenten  öffentlicher  Wasserleitungen 
für  diese  Eigenschaft  des  gemeinsam  bezogenen  Wassers  eine  thunliehe  Gewähr 
zu  leisten.  So  oft  in  den  nachfolgenden  Ausführungen  von  der  „R e i n h ei tu  des 
Wassers  gehandelt  wird,  ist  darunter  stets  die  Reinheit  im  eben  angedeuteten 


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WASSERGEWJNNÜNG. 


677 


Sinne  und  unter  „Wasser“  niemals  allein  das  sogenannte  Tränkwasser,  sondern 
Nutz,  Gebrauchs-,  Bade-,  WTasch-,  Reinigungs-  etc.:  jedes  Wasser,  das 
mit  dem  menschlichen  Leibe  in  irgend  eine  Berührung  kommt,  mitverstanden. 
Zu  einer  solchen  Ausdehnung  genügt  die  Dunkelheit  mancher  W’ege  der  An- 
steckung, deren  einmal  vorkommende  Möglichkeit  bestaunt , ja  belächelt  — 
aber  nicht  abgestritten  werden  kann. 

Schwer  erfüllbar  ist  die  Forderung,  die  Herkunft  der  Wasseradern  in 
ihrer  ersten  Entstehung  so  zu  beaufsichtigen,  dass  gefährliche  Beimengungen 
(sc.  Ansteckungsstoffe)  ihnen  ferngehalten  werden,  mag  es  sich  um  oberirdische 
oder  unterirdische  Wasseradern  handeln. 

Die  Gesetze  der  Wasseransammlung  im  Boden  führen  zwar  auf  die  An- 
nahme, dass,  sobald  die  unterirdischen  Wasseradern  den  oberen  Bodenschichten 
sich  entzogen  haben,  sie  mehr  zur  fortschreitenden  Reinigung  als  zu  zunehmender 
Verunreinigung  neigen. 

Umgekehrt  zeigt  jeder  oberirdische  Wasserlauf  mit  jedem  Stadium 
seiner  Verbreiterung  sich  unter  einer  progressiven  Beeinflussung  durch  Unreinig- 
keiten, die  nicht  von  seiner  Wasserfläche  und  seinem  Bett  abzuhalten  sind. 

Als  hygienischer  Grundsatz  für  Wasserversorgungen  pflegt  zu  gelten, 
dass  directe  Herleitungen  von  Quellwasser  die  erstrebenswertheste  Art  der 
Versorgung  ist.  Die  sanitätspolizeiliche  Beaufsichtigung  derartiger  Anstalten  wird 
sich  in  erster  Linie  auf  den  Punkt  zu  richten  haben,  ob  die  Menge  des  Quell- 
wassers eine  ununterbrochen  ausreichende  ist.  Wassermangel,  wie  er  infolge 
ungünstiger  8chneeverhältnisse  und  andererseits  bei  grosser  und  anhaltender 
Hitze  auftreten  kann,  soll  vermieden  werden.  Quellwasserleitungen  in  solcher 
Zahl  und  Ausdehnung,  wie  sie  sieh  in  das  alte  Rom  hinein  erstreckten,  dürften 
für  keine  moderne  Stadt  mehr  möglich  sein. 

Von  sehr  zurücktretender  Bedeutung  erscheinen  den  mitteleuropäischen 
Culturverhältnissen  gegenüber  die  Regenwasserversorgungen,  wie  sie  in 
einzelnen,  sonstiger  Wasserquellen  ermangelnden  Orten  noch  jetzt  in  Thätigkeit 
sind  (Auffangung  und  Ansammlung  in  C'isternen,  oft  sehr  umsichtige  Baueinrich- 
tungen der  letzteren,  besondere  Beaufsichtigung  der  stellenweise  vorhandenen 
Filterwerke).  Regenwasser  wurde  — abgesehen  von  verschiedenen,  oft  ganz  be- 
deutenden Plätzen  Spaniens,  Nordafrikas,  Arabiens  etc.  — im  Jahre  1885  noch 
von  130  Communeu  Italiens  (mit  zusammen  721.900  Einwohnern),  auch  auf  dem 
Palatin  in  Rom,  zur  Benutzung  gezogen. 

Bei  der  Ingebrauchnahme  von  Brunnenwasser  muss  vor  Allem  die 
Herkunft  des  WTassers  ermittelt  und  Klarheit  darüber  geschaffen  werden,  ob  die 
im  Moment  der  Untersuchung  festgestellten  Eigenschaften  des  Wassers  in  notli- 
wendigem  Zusammenhang  mit  seiner  Herkunft  stehen.  Das  Entscheidende  ist 
schliesslich  die  Untersuchung  der  örtlichen  Verhältnisse,  des  Zustandes  der 
Entnahmequclle.  Muss  aus  dieser  Untersuchung  gefolgert  werden,  dass  der 
Ursprung  des  Wassers  für  einen  dauernd  guten  Zustand  desselben  keine  Gewähr 
leistet,  so  wäre  selbst  bei  seinem  augenblicklich  guten  Zustande  die  Verwendung 
zu  beanstanden.  Andererseits  würde  die  durch  chemische  wie  bakteriologische 
Untersuchung  nachgewiesene  ungenügende  Beschaffenheit  eines  Wasser»  nur  die 
Wirkung  leicht  abstellbarer  Mängel  sein  können. 

Grund  wasscr  zu  verwenden,  empfiehlt  sich  schon  wegen  der  filtrirendcn 
und  entgiftenden  Eigenschaften  des  Erdbodens.  Allein  nicht  immer  leistet  der 
Boden,  was  man  im  speciellen  Falle  erwarten  zu  sollen  glaubt:  es  können  dem 
natürlich  gereinigten  Grundwasser  dauernd  oder  zeitweilig  noch  an  der  Entnahme- 
steile  Verunreinigungen  mannigfaltigster  Provenienz  beigemengt  werden.  Darüber 
wird  die  unmittelbare,  örtliche  Untersuchung,  welche  sich  auch  auf  die  Beschaffen- 
heit sämmtlicher  Theile  des  Brunnens  zu  erstrecken  hat,  Aufschluss  gelten;  die 
chemische,  mikroskopische  und  bakteriologische  Untersuchung  einzelner  Wasser- 
proben  kommt  nur  soweit  in  Betracht,  als  sie  uns  über  Verhältnisse  aufklärt, 


678 


WASSERGEWINNUNG. 


die  sieh  bei  der  örtlichen  Untersuchung  nicht  ohneweitere  wahrnehmen  lassen : 

Uber  den  Reinheitszustand  des  Bodens  und  Uber  dessen  Leistungsfähigkeit 
als  Filter. 

Die  bakterielle  Beschaffenheit  des  Brunnenwassers  wird  dann  zu 
untersuchen  sein,  wenn  nach  pathogenen  Keimen  gefahndet  wird,  die  durch  ein- 
malige Verunreinigung  in  das  Wasser  gelangt  sind.  Im  Uebrigen  kommt  Ver- 
fasser zu  dem  Schluss:  nI)ie  bakteriologische  Brunnenwasseruntereuchung  in  ihrer 
gegenwärtigen  Ausführnngsweise  ist  unbrauchbar.“  Sie  ist  in  ihrer  jetzigen  Form 
aufzugehen,  weil  sie  nichts  lehrt  und  zu  vielerlei  Einflüsse  ihr  Ergebniss  trüben. 

Bei  der  Einsammlung  der  Wasserproben  muss  Alles  aufgeboten  werden, 
um  das  Wasser  möglichst  unverändert  in  dem  Zustande  zu  sammeln,  in  dem  es 
der  Entnahmestelle  zuströmt,  bevor  es  an  der  Entnahmestelle  selbst  Veränderungen 
erlitten  hat.  Die  verschiedenen  Verfahren,  welche  dabei  zur  Benutzung  kommen 
können,  sind  aber  umständlich  und  theuer  und  deshalb  nur  bei  grossen  centralen 
Wasservereorgungsanlagen  anwendbar.  In  alltäglichen  Fällen  kann  von  einer 
bakteriologischen  Untersuchung  des  Grundwassers  abgesehen  werden,  da  in  der 
Regel  Boden  und  Grundwasser  in  einer  Tiefe  von  3 — 4 Meter  abwärts  keim- 
frei sind. 

Der  Fluss,  an  dessen  Ufern  sich  eine  Industriestadt  aufgehaut  hat, 
nimmt  schliesslich  für  jede  Theilstrecke  seiner  Ufer,  für  jedes  Quantum  seines 
strömenden  Wassere  eine  recht  reichlich  bemessene  Menge  von  Unreinigkeiten 
jeder  Art  in  sich  auf.  Keimuntereuchungen  zeigen , dass  die  Mitte  des  Wasser- 
laufes am  keimfreiesten  ist,  und  dass  der  Jahreszeit  nach  die  Verminderung  von 
Keimen  aller  Art  auf  den  Frühling  fällt.  (Durch  völliges  Gefrieren  kann  der 
Keimgehalt  der  Flusswässer  auf  ein  Drittel  heruntergehen.) 

Das  Wasser  der  Flüsse  und  Seen,  wie  es  oft  in  grösster  Masse  zur 
Verfügung  steht,  kann  nach  modernen  Erfahrungen  ungereinigt  oder  auch  nur 
nach  Selbstreinigung  unmöglich  als  befriedigend  angesehen  werden.  Es  ist  daher 
vor  dem  Gebrauch  zu  reinigen:  d.  h.  in  erster  Linie  von  wahrscheinlich  stets 
vorhandenen  pathogenen  Mikroorganismen  zu  befreien,  in  eine  sterile  Flüssigkeit 
zu  verwandeln.  Die  mechanische  Reinigung  durch  Thonfilter  liefert  zwar  ein 
keimfreies  Wasser,  jedoch  in  so  geringer  Menge,  dass  dieses  Verfahren  nicht  in 
Betracht  kommt,  ln  quantitativer  Hinsicht  ist  demgegenüber  die  Leistung  der 
Sandfilter  eine  genügende.  Aber  als  in  mehrfacher  Beziehung  mangelhaft  erscheint 
das,  was  die  Sandfilter  bezüglich  des  Abfangens  der  Keime  leisten,  besondere  im 
Beginn  des  Filtrationsvorganges.  Erst  im  Verlauf  desselben  bildet  sich  eine 
Schlammdecke,  und  diese  ist  das  eigentliche  Filter. 

Bei  diesen  Unvollkommenheiten  dieser  Reinigungsmethode  musste  daran 
gedacht  werden,  insonderheit  zu  Epidemiezeiten,  die  Sicherheit  des  Reinignngs- 
werkes  zu  steigern.  Dieser  Zweck  ist  in  hervorragender  Weise  erreicht  durch 
die  „Grundsätze  für  die  Reinigung  von  Oberflächen wasscr  durch 
Sandfiltration  zu  Zeiten  der  Choleragefahr“,  ansgearbeitet  im  Kaiserlichen 
Gesundheitsamt : 

§ 1.  Bei  der  Beurtheilung  eines  filtrirtea  Oberfläcbenwassere  sind  folgende  Punkte 
zu  berücksichtigen: 

a ) Die  Wirkung  der  Filter  ist  als  eine  befriedigende  anzuseben,  wenn  der  Keim- 
gehalt des  Filtrats  ein  möglichst  geringer  ist  nnd  jene  Grenzen  nicht  überschreitet,  welch« 
crfahrnngsgeinäas  durch  eine  gute  Sandfiltration  für  das  betreffende  Werk  erreichbar  ist.  Bevor 
man  nicht  bestimmte  Kenntnisse  über  die  örtlichen  und  zeitlichen  Verhältnisse  der  einzelnen 
Wasserwerke,  insbesondere  auch  über  den  Einfluss  des  Rohwassers  gesammelt  bat.  ist  als 
Regel  zu  betrachten,  dass  ein  befriedigendes  Filtrat  beim  Verlassen  des  Filters  nicht  mehr  als 
ungefähr  100  Keime  im  Cubikcentimeter  enthalten  darf. 

b)  Das  Filtiat  soll  möglichst  klar  sein  nnd  darf  in  Bezug  auf  Farbe,  Geschmack, 
Temperatur  und  chemisches  Verhalten  nicht  schlechter  sein  als  vor  der  Filtration. 

§ 2.  Um  das  Wasserwerk  in  bakteriologischer  Beziehung  fortlaufend  zu  controliren. 
muss  vorläufig  das  Filtrat  jedes  einzelnen  Filtere  täglich  untersucht  werden;  hierbei  ist 
namentlich  auf  ein  plötzliches  Ansteigen  des  Keimgehaltes  zu  achten,  das  den  Verdacht  einer 
Störung  im  Filterbetrieb  begründet  und  die  Betriebsleitung  zu  erhöhter  Aufmerksamkeit  mahnt. 

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WASSERGEWINNUNG. 


679 


§ 3.  Um  bakteriologische  Untersuchungen  im  Sinne  des  § 1 zu  a)  veranstalten  za 
können,  muss  das  Filtrat  eines  jeden  Filters  so  zugänglich  sein,  dass  zu  beliebiger  Zeit 
Proben  entnommen  werden  können. 

§ 4.  Um  eine  einheitliihe  Ausführung  der  bakteriologischen  Untersuchungen  zu 
sichern,  wird  folgendes  Verfahren  zur  allgemeinen  Anwendung  empfohlen:  Als  Nährboden  dient 
eine  10%*£e  Fleisch wasserpepiongelatine.  Dieselbe  kommt  in  Mengen  von  10  Ccm.  zur  An* 
Wendung.  Von  dem  zu  untersuchenden  Wasser  werden  stets  zwei  Proben  zu  je  1 Ccm.  und 
V,  Ccm.  mit  der  vorher  bei  30—25°  verflüssigten  Nährgelatine  vermengt,  durch  vorsichtiges 
Neigen  des  betreffenden  Reagensglases  eine  möglichst  vollständige  Mischung  herbeigeführt  und 
der  Inhalt  des  Glases  auf  eine  sterile  Glasplatte  ausgegossen.  Die  Platten  werden  in  Glas- 
platten gelegt , deren  Boden  mit  angefeuchtetem  Fliesspapier  bedeckt  ist  und  bei  etwa  20° 
aufbewahrt. 

Die  Zählung  der  entstandenen  Colonien  erfolgt  mit  der  Lupe,  nachdem  48  Stunden 
verflossen  sind. 

Ist  die  Temperatur  des  Aufbewahrungsraumes  der  Platten  niedriger  als  oben  an- 
gegeben, so  geht  die  Entwicklung  der  Colonien  langsamer  von  statten , und  kann  die  Zählung 
demgemäss  erst  später  statt  Anden. 

Beträgt  die  Menge  der  Colonien  in  1 Ccm.  des  untersuchten  Wassers  mehr  als  etwa 
100.  so  hat  die  Zählung  mit  Hilfe  des  Wolffhüge Lachen  Apparates  zu  geschehen. 

§ r.  Die  mit  der  Ausführung  der  bakteriologischen  Controle  betrauten  Personen 
müssen  den  Nachweis  erbracht  haben  , dass  sie  die  hierlür  erforderliche  Befähigung  besitzen. 
Dieselben  sollen,  wenn  irgend  thunlich,  der  Betriebsleitung  selbst  angehören. 

§ 6.  Entspricht  das  von  einem  Filter  gelieferte  Wasser  den  hygienischen  Anforde- 
rungen nicht,  so  ist  dasselbe  vom  Gebrauche  auszuschliessen , sofern  die  Ursache  des  mangel- 
haften Verhaltens  nicht  schon  bei  Beendigung  der  bakteriologischen  Untersuchung  behoben  »st. 
Liefert  ein  Filter  nicht  nur  vorübergehend  ein  ungenügendes  Filtrat,  so  ist  es  ausser  Betrieb 
zu  setzen  und  der  Schaden  aufznsuchen  und  zu  beseitigen.  — Nach  den  bisher  gemachten 
Erfahrungen  kann  es  aber  unter  gewissen  unabwendbaren  Verhältnissen  (Hochwasser  etc.)  tech- 
nisch nicht  möglich  sein,  ein  den  in  § 1 angegebenen  Eigenschaften  entsprechendes  Wasser 
zu  liefern.  In  Milchen  Fällen  wird  man  sich  mit  weniger  gutem  Wasser  begnügen,  gleichzeitig 
aber  je  nach  Lage  der  Dinge  (Ausbruch  einer  Epidemie  etc.)  eine  entsprechende  Bekannt- 
machung erlassen. 

§ 7.  Um  ein  minderwertiges,  den  Anforderungen  nicht  entsprechendes  Wasser 
beseitigen  zu  können  (§  6),  muss  jedes  einzelne  Filter  eine  Einrichtung  besitzen,  die  es 
erlaubt,  dasselbe  für  sieb  von  der  Rein  Wasserleitung  abzusperren  und  das  Filtrat  abzulassen. 

Dieses  Ablassen  hat,  soweit  die  Durchführung  des  Betriebes  es  irgendwie  gestattet, 
in  der  Regel  zu  geschehen: 

1.  unmittelbar  nach  vollzogener  Reinigung  des  Filters  und 

2.  nach  Ergänznng  der  Sandschicht. 

Ob  im  einzelnen  Falle  nach  Vornahme  dieser  Reinigung,  beziehungsweise  Ergänzung 
ein  Ablassen  des  Filtrats  nöthig  ist,  und  binnen  welcher  Zeit  das  Filtrat  die  erforderliche 
Reinheit  wahrscheinlich  erlangt  hat,  muss  der  leitende  Techniker  nach  seinen  aus  den  fort- 
laufenden bakteriologischen  Unteisuchungen  gewonnenen  Erfahrungen  ermessen. 

§ 8-  Eine  zweckmässige  Sandflltration  bedingt,  dass  die  Filterfläche  reichlich  bemessen 
und  mit  genügender  Reserve  ausgestattet  ist,  um  eine  den  örtlichen  Verhältnissen  und  dem  zu 
tiltrirenden  Wasser  angepasste  massige  Filtrationsgeschwindigkeit  zu  sichern. 

§ 9.  Jedes  einzelne  Filter  soll  für  sich  regulirbar  und  in  Bezug  auf  Durchfluss, 
Ueberdruck  und  Beschaffenheit  des  Filtrats  controlirbar  sein ; auch  soll  es  für  sich  vollständig 
entleert , sowie  nach  jeder  Reinigung  von  nuten  mit  flltrirtem  Wasser  bis  zur  Sandoberfläche 
angefüllt  werden  können. 

§ 10.  Die  Filtrationsgeschwindigkeit  soll  in  jedem  einzelnen  Filter  unter  den  für 
die  Filtration  jeweils  günstigsten  Bedingungen  eingestellt  werden  können  und  eine  möglichst 
gleichmässige  und  vor  plötzlichen  Schwankungen  oder  Unterbrechungen  gesicherte  sein.  Zu 
diesem  Behufe  sollen  namentlich  die  normalen  Schwankungen , welche  der  nach  den  verschie- 
denen Tageszeiten  wechselnde  Verbrauch  verursacht,  durch  Reservoire  möglichst  ausge- 
glichen werden. 

§ 11.  Die  Filter  sollen  so  angelegt  fein  . dass  ihre  Wirkung  durch  den  veränder- 
lichen Wasserstand  im  Reinwasseibehälter  oder  -Schacht  nicht  beeinflusst  wird. 

§ 12.  Der  Filtrationsüberdruck  darf  nie  so  gross  werden,  dass  Durchbrüche  der 
obersten  Filtriracbicbt  eintreten  können.  Die  Grenze,  bis  zu  welcher  der  Ueberdruck  ohne 
Beeinträchtigung  des  Filtrats  gesteigert  werden  darf,  ist  lür  jedes  Werk  durch  haktet  iologische 
Untersuchm  gen  zu  ermitteln. 

§ 13.  Die  Filier  sollen  derartig  ennstruirt  sein,  dass  jeder  Theil  der  Fläche  eines 
jeden  Filters  möglichst  gleichmassig  wirkt. 

§ 14.  Wände  und  Böden  der  Filter  sollen  wasserdicht  hergestellt  sein,  und  nament- 
lich roll  die  Gefahr  einer  mittelbaren  Verbindung  oder  Undichtigkeit,  dureh  welche  das 
unflltrirte  Wasser  anf  dem  Filter  in  die  Reinwassercanäle  gelangen  könnte,  ausgeschlossen  sein. 
Zu  diesem  Zwecke  ist  insbesondere  auf  eine  wasserdichte  Herstellung  nnd  Erhaltung  der  Luft 
schlauche  der  Reinwassercanäle  zu  achten. 


WASSEBGEWINSCNG. 


OSO 


4 15.  Die  Stärke  der  Fznöwhiiht  »dl  mindesten-  so  beträchtlich  ««3.  far- 

selbe  dorch  die  Beiniiicrzen  niemals  auf  weniger  »1*  aof  30  Cm.  verringert  wird.  Es  ernpd-a  T 
«ich,  die-e  niedrigste  Greczzuhl.  tofern  es  der  Betrieb  irgend  gestattet,  z«  erhöhe« 

Besonderes  Gesricbt  ist  darauf  an  legen . dass  die  obere  Filtrirsrhicht  in  - ’ ser  für 
die  Filtration  möglichst  günstigen  Beschaffenheit  berge-teilt  und  dauernd  erfeal'en  wird  ka-r- 
für  ist  es  zweckmässig,  vor  jeder  frischen  Saadaoffollang  nach  B sertigtmg  der  alten  S(  tlaacai- 
schicht  die  unmittelbar  darunter  befindliche  dhnne  Schiebt  gefärbten  Sandes  abrtiet.es 
demnächst  auf  die  durch  Aüllulinng  ergänzte  Sandflache  aufzubringen. 

4 16.  Es  ist  erwünscht,  dass  von  sammtlichen  Sandfittcrwrrfcen  im  Iswr-chcs  Beicit 
Uber  die  Belriebeergebnieae . namentlich  über  die  bakteriologische  Beschaffenheit  des  Wassers 
vor  und  nac  h der  Filtration  dem  Kaiserlichen  Gesundheitsamte.  welches  sich  Uber  diese  Frage 
in  dauernder  Verbindung  mit  des  seitens  der  Filtertecbniker  gewählten  Commissi««  halten 
wird,  vierteljährlich  Mittbeilong  gemacht  wird,  um  bei  einer  ernenten  Besprechung  nach  Ab- 
lauf von  etwa  zwei  Jahren  geeignetes  Material  zur  Beurtbeilcug  zu  besitzen.  Der  erstg.s  trsn 
Einsendung  ist  tbnnlichst  eine  Beschreibung  des  Werkes  i«izutügen. 

Der  gefährlichste  Zustand  der  Keimausstrcuung  scheint  vorznlit-gen. 
wenn  ein  Wasserleitungssystem  die  Cbolerakeime  in  sich  aufgenommen  und  sein 
Inhalt  die  Eigenheit  hat,  zur  reichlichen  Keimvermehrung  die  theils  bekannten, 
tbeils  noch  unbekannten  Grundlagen  darzubieten. 

Die  Verunreinigung  des  in  dem  Rohrsystem  gefassten  Wassers  durch 
unbeabsichtigte  Zuflüsse.  — Kein  Material,  aus  welchem  Wasserrohre 
gefertigt  werden,  bietet  Sicherheit  gegen  Löcherig-  und  Cudiehtwerden.  Während 
für  die  meisten  Fälle  die  Bedeutung  des  Vorganges  mehr  für  die  Wasserversch Wen- 
dung in  Frage  kommt,  also  eine  untergeordnete  ist,  gewinnt  derselbe  ein  ganz 
anderes  Ansehen , wenn  die  nnbekannte  Lücke  im  Wasserrohrsystem  ein  Z n- 
strömen  äusserer  Flüssigkeit  und  Vermengung  solcher  mit  dem  „Reinwasser* 
ermöglicht,  was  unler  bekannten  physikalischen  Bedingungen  im  spitzem  Winkel 
convergirende  Richtung  beider  Ströme)  seiir  wohl  Vorkommen  kann. 

I)cr  Wasrergtwinnong  mittels  Tiefbrunnen,  wie  sie  — wegen  der  Krimfreit, eit 
iles  zu  erbohrenden  Wassers  — auch  praktisch  mehr  und  mehr  in  Oen  Vorder* rund  tritt. 
Iiercitet  in  vielen  Gegenden  die  massige  Anwesenheit  von  Eisensalzen  grosse  Schwierigkeiten. 

Biese  Salze  schlagen  sich  bei  längerem  Stehen  des  Wassers  als  Eisenoxyd  nieder. 
Hierdurch  wird  das  Wasser  trübe,  unansehnlich,  und  eignet  sich  auch  für  manche  wirtbscbaft- 
liche  Zwecke  nicht.  Noch  bedenklicher  wird  diese  Verunreinigung  dadurch,  dass  sich  in  der- 
artigem Wasser  leicht  Algeo,  besonders  die  Crenotbrix,  ansiedeln  und  durch  ihr  Wuchern  die 
I.eitiingi-n  verstopfen,  sowie  daB  " asscr  weiter  verschlechtern.  Versuche  mit  blosser  Durchlüftung 
erwiesen  sich  bezüglich  des  Eisengehaltes  als  unzureichend.  Vom  Jahre  1 893  wurde  daher  | Ver- 
fahren des  Oberingenieora  Piefke)  das  in  der  Nähe  von  Berlin  und  Charlottenbnrg  aus  Tief- 
brunnen gewonnene  Quellenwasser  dureli  Maschinen  auf  Siebe  gehoben,  um  vondortauf  eine  .1  Meter 
hohe  f.'oak  sschicht  zu  rieseln.  Hierbei  scheidet  sicu  das  Eisen  durch  die  dauernde  Heruhrnng 
des  Wassers  mit  der  Luft  aus.  Nachher  geht  das  so  enteisnete  Wasser  dann  in  die  SandtUter. 

Nach  langem  Kampfe,  in  welchen  — was  deutsche  Verhältnisse  betrifft 
— fast  alle  grossstädtischen  Gemeinwesen  wälirend  der  jüngst  vergangenen 
Jahrzehnte  hineingezogen  wurden,  darf  als  der  siegreiche  Gedanke  auf  dem  Ge- 
biete der  Wasserverunreinigung  der  bezeichnet  worden,  dass  für  jede  topo- 
graphische Individualität  der  besondere  Modus  ermittelt  werden  muss,  unter  dessen 
technisch  vollkommenster  Anwendung  Abfallstoflc  flüssiger  wie  fester  Natur  am 
raschesten  ausser  Bereich  grösserer  Wohuungscomplexe  gesehafl't  werden,  ohne 
an  ihrem  Bestimmungsort  zur  Entfaltung  schädlicher  Wirkungen  neue  Gelegenheit 
zu  erhalten. 

So  die  theoretisch  gewiss  berechtigte  Anforderung.  Sehr  schwierig  hat 
es  sich  indess  erwiesen,  die  verschiedenen,  oft  rein  arbiträren  Gesichtspunkte  zu 
einer  Grundansicht,  von  der  das  öffentliche  Wasscrrccht  nach  dieser 
Seite  ansgehen  könnte,  zu  vereinigen.  Ergiebt  sich  doch  bis  zur  Stunde  selbst 
für  die  Urtheilsschöpfung  im  Privatrecht  ein  sehr  unsicherer  Standpunkt. 
Der  unterhalb  liegende  Uferbewohner  wird  sich  diejenigen  Einleitungen  in 
den  Fluss  gefallen  lassen  müssen,  welche  das  Haas  des  „Gemeinübliclien“  nicht 
überschreiten,  möge  die  Zuleitung  in  einer  Vermehrung  der  Wassermasse  oder 
in  fremden  Beimengungen  bestehen,  wobei  es  noch  nicht  einen  berechtigen  Ein- 
spruch begründet,  wenn  die  absolute  Verwendbarkeit  des  ihm  zufliessenden  Wassers 


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WASSERGEWINN  UNG. 


681 


zu  jedem  beliebigen  Gebrauche  eine  Beeinträchtigung  erfährt.  Dagegen  hebt  die 
Berechtigung  zum  Einspruch  an,  wenn  das  „Mass  des  GemeinüblichenM  überschritten 
wird ; dies  ist  eine  Bedingung,  die  leichter  erkennbar  ist  bei  der  quantitativen 
Seite  (Flussaustretung)  als  bei  der  qualitativen  (Einleitung  von  Stoffen , welche 
eine  Schädigung  des  Untenliegenden  bedingen).  Da  dem  L' n t e n liegenden  der 
Nachweis  der  Eigenthumsschädigung  nach  sonst  geläufigen  Rechtsnormen  obliegt, 
kann  diese  sehr  erhebliche  Grenzen  erreicht  und  überschritten  haben,  ehe  das 
„ Beschädigtsein“  zu  einem  Erkenntniss  und  zur  Abstellung  führt. 

Noch  ungleich  misslicher  aber  steht  infolge  so  arbiträrer 
Massstäbe  wie  des  „Gemeinüblichen“,  der  „Schädigung“  und  bei  der 
ungemeinen  Divergenz  der  Abhi Ifevorschläge  die  Sanitätspolizei  und 
die  Gesetzgebung  da. 

Denn  das  Gesundheitswesen  wie  das  Steuerwesen  hat  vom  Wasser  als 
einem  Getränk  (Nahrungsmittel)  bis  jetzt  völlig  abstrahirt  und  sieht  als  „Getränke“ 
nur  die  künstlich  bereiteten  an  — wohl  aus  dem  stillschweigend  überall  ange- 
nommenen Grunde,  weil  die  Möglichkeit  des  Verderbens,  der  Verfälschung,  der 
Minderwertigkeit  im  gesundheitlichen  Sinne  bislang  nur  den  bereiteten  und  zum 
Kauf  feilgehaltenen  Getränken  zuerkannt  wurde. 

Es  erscheint  jedoch  fraglich,  ob  diese  Anschauung  sich  der  Gewinnungs- 
art des  Wassers  — noch  mehr,  ob  sie  sich  der  Art,  wie  das  gewonnene  zu 
Reinwasser  umgewandelt,  wie  es  bei  der  Filtration  bearbeitet,  verarbeitet,  sicht- 
lich auf  künstliche  Weise  bereitet  wird,  gegenüber  halten  kann. 

Wenn  nicht  Verfälschungen,  so  sind  doch  zum  Verderben  und  zur 
Minderwerthigkeit  führende  Thätigkeitcn  oder  Unterlassungen  sicher  mit  in  Be- 
tracht zu  ziehen,  wofür  die  nachstehende  compendiöse  Darstellung  der  thatsäch- 
liehen  Verhältnisse  spricht. 

Dass  die  Schweiz  schon  wegen  der  Hinstellung  eines  einfachen  Zweckes  (des 
Fischzuchtschutzes)  mit  ihrem  Bundesgesetz  vom  |H.  Juli  1886  einen  Erfolg  versprechenden 
Weg  verfolgt,  muss  zugegeben  werden.  Doch  liegt  es  andererseits  wohl  in  der  Eigenart  der 
dortigen  Ströme,  dass  der  Schutz  der  Gesundheitsinteressen  vorläufig  nicht  so  dringend  schien 
und  in  vorbildlicher  Weise  dürfte  jenes  Gesetz  deshalb  weniger  seinem  materiellen  Inhalt 
nach  als  bezüglich  seiner  Ausführung  liinzustellen  sein.  Diese  fusst  nämlich  auf  dem  Vor- 
gehen der  wirklichen  Sachverständigen  (bei  der  Zweckbegrenzung  ausschliesslich  Chemiker) 
nnd  schliesst  sonach  jene  Missgriffe,  welche  von  Verwaltungsorganen  leicht  bei  der  Schwierig- 
keit der  Fragestellung  und  der  Abhilfe  begangen  we  den,  ans. 

Auch  Baden,  was  deshalb  noch  hier  angeschlossen  sein  mag.  geht  zunächst  nur 
darauf  aus,  seine  fischreichen  Flüsschen  nnd  Flüsse  vor  bezüglichen  Verunreinigungen  zu 
schützen  und  hat  diesen  l»cgrenzten  Zweck  (durch  eine  ministerielle  Verfügung)  scharf  ge- 
fasst; die  Erfolge  erscheinen  auch  liier  einstweilen  zufriedenstellend. 

Ö esierreich ’s  neuestes  Wasserversorgungsgesetz  (vom  5.  August  1892  für  Dal- 
matien) streift  die  Frage  der  Flussverunreinigungen  nur  obenhin  und  bedarf  nur  hinsichtlich 
der  Enteignung  von  Privat  wassern  und  der  angeordneten  Control  berichte  besonderer  Erwähnung. 

In  England  droht  das  betreffende  (nach  (»jähriger  Vorarbeit  erlassene)  Gesetz  von 
1876  hohe  Strafen  an  gegen  die  Einleitung  von  Abwässern,  welche  gewisse  Stoffe  über  eine 
ganz  bestimmte  Menge  hinaus  enthalten.  Die  Industrie  wies  eine  ihr  durch  die  Strafen  zu- 
gelügte,  unverhalumsmässig  gross  erscheinende  Hinderung  und  Schädigung  nach  — und  bereits 
1886  erging  das  neue  Gesetz,  welche.-'  die  Einleitung  auch  verunreinigter  Wässer  in  die  Fluss- 
laufe  gestattet,  sofern  nur  gewisse  Grenzzahlen  der  verunreinigenden  Muffe  nicht  überschritten 
sind,  die  je  nach  den  Gebrauchszwecken  des  Flusses  berechnet  und  festgesetzt  werden. 

Frankreich  hat  zwar  in  der  Theorie  den  Weg  der  gesetzlichen  Regelung  und 
verfügt  in  sanitätspolizeilicher  Hinsicht  auf  dem  Papier  über  eine  Menge  von  Sch utzm assregeln 
und  prophylaktische  n Bestimmungen.  Wie  sehr  indess  die  Anwendung  und  Ausführung 
dieser  Gesetzesvorschriften  (deren  nähere  Erörterung  deshalb  auch  hier  erübrigt)  Im  Argen 
liegt,  lehrt  die  Geschichte  der  Seineverunreinigung  und  ein  Blick  auf  die  ebenso  verzweifelten 
wie  vergebens  gebliebenen  Anstrengungen,  welche  die  untenliegenden  Ortschaften  gegenüber 
den  aus  Paris  sie  überfiuthenden  Verunreinigungen  gemacht  haben. 

Für  p re  uss  i sc  h e Verhältnisse  ist  von  Interesse,  dass  die  Minister  für  Landwirt- 
schaft und  für  öflentliche  Arbeiten  soeben  (Januar  189-4)  einen  „Entwurf  eines  Preussischen 
Was.*ei rechtes  sammt  Begründung“  Berlin  1894  der  Oeffentlichkeit  unterbreiten,  welcher  das 
öffentliche  nnd  private  Wasaerretht  einschliesslich  der  Beliördenorganisation  zusa  m men  fasst ; 
ursprünglich  bestimmt  die  Allerhöchste  Cabinetsordre  vom  24.  Februar  1816,  betreffend  die  Verun- 
reinigung der  schiff-  und  fiossbaren  Flüsse  und  Canäle  wörtlich  Folgendes: 


682 


WASSERGEWINNUNG. 


„Auf  Ihren  Bericht  vom  18.  d.  M.  setze  Ich,  zur  Verhütung  der  Verunreinigung 
der  schiff*  und  flossbaren  Flosse  und  Canäle,  hierdurch  fest,  dass  . . . überhaupt  Niemand, 
der  sich  eines  Flusses  zu  seinem  Gewerbe  bedient,  Abgänge  in  solchen  Massen  in  den 
Fluss  werfen  darf,  dass  derselbe  dadurch,  nach  dem  Unheile  der  Provinzialpolizeibehörde, 
erheblich  verunreinigt  werden  kann/ 

Zur  Zeit  exbtiren  zwar  als  auf  den  Gegenstand  Bezug  habend  Vorschriften  der 
Gewerbeordnung  und  baupolizeiliche  Vorschriften  in  ziemlicher  Anzahl ; aber  als  allgemeine 
Directiven  tür  die  zuständigen  Behörden  (die  Bez  i rk  s regier ungen)  nur  die  bezüglichen 
Rechtsgrundsätze  und  jene  ministeriellen  Erlässe,  die  sich  auf  die  Gutachten  der  .Wissen- 
schaftlichen Deputation  für  das  Medicinalwesen**  beim  Ministerium  der  Medicinalangtdegen- 
heiten  gründeten.  Die  weiteren  Pflichten  der  Verwaltungsbehörden  in  dieser  Beziehung  sind  in 
einem  Urtheile  des  Oberverwaltungsgerichtes  vom  15.  April  1884  des  Näheren  ausgefubrt: 
.Die  öffentlichen  Ströme  sind  in  allen  ihren  drei  integrirenden  Bestandteilen  — dem  Wasser, 
dem  Bette  nnd  dem  Ufer  — der  Fürsorge  nicht  der  Ortspolizeibehörde,  sondern  der  Landes- 
polizeibehörde unterstellt,  und  zwar  besteht  die  Zuständigkeit  der  letzteren  überall  da, 
wo  es  sich  überhaupt  darum  handelt,  den  Strom  in  einer  polizeilich  zu  überwachenden,  durch 
das  öffentliche  Interesse  erforderten  Verfassung  zu  erhalten.  Nicht  nur  die  Sicherheit  und 
Bequemlichkeit  der  Schifffahrt  gehört  hiernach  dem  Gebiet  der  Lande-polizei  an,  sondern  . . . 
gerade  auch  die  Ueberwachungderöffentlichen  Ströme  in  sanitärer  Beziehung, 
die  Fcrnhaltung  jeder  dem  Publicum  nachtheiligen  Verunreinigung  nnd  anderseits  die 
Bestimmung  über  die  Benutzung  öffentlicher  Ströme  zur  Aufnahme  unreiner  Abflüsse 
fallen  in  den  Kreis  der  Rechte  und  Pflichten  der  Landespolizeibehörde/ 

Auch  im  Königreiche  Sachsen,  wo  — wie  bereits  hervorgehoben  — ausserordent- 
lich gründliche  locale  Vorarbeiten  zur  Verfügung  standen,  enthalten  das  Wichtigste  die  Be- 
stimmungen, durch  welche  die  betreffenden  Behörden  angewiesen  werden,  in  vorbeugender 
Weise  zu  wirken.  Genauere  und  für  jeden  Fall  zutreffende  Charakteristiken  nnd  Merk- 
male, nach  welchen  die  Flussverunreinigung  als  solche  unzweifelhaft  vorhanden  declarirt  wird, 
hat  inan  auch  hier  seitens  der  Centralbehörde  zu  geben  noch  unterlassen.  Jedoch  sichert  hier 
das  Bestehen  einer  bezüglichen  „Technischen  Deputation*  innerhalb  der  obersten  I.andes- 
verwaltungsbehörde  (welche  die  Recnrsinstanz  bildet)  jedenfalls  eine  gewisse  Einheitlichkeit 
wenigstens  in  der  Durchführung  der  Verordnungen. 

In  eiuem  noch  zu  schaffenden  deutschen  Waasenrerkrecht  würde  einen  Haupt- 
punkt bilden  müssen  die  Frage  nach  der  — für  die  Vergunst  der  Entnahme  aus  öffentliches 
Kntnahniestellen  doch  unbedingt  zu  verlangenden  — G ege  nleistu  ng  der  Wasserwerke, 
nach  der  t^uAntitat  and  Qualität  des  Wassers,  ferner  jener  Fragepunkt,  ob  man  nicht  die  Er- 
aeugnngsproducte  der  Wasserwerke  demnächst  dem  Nahrungsmittelgesets  zu  unterstellen  kabeai 
werde,  auch  die  Frage,  ob  die  Wasserwerke  nicht  zu  den  nach  § Itj  der  Gewerbeordnung  re- 
tiehmigungspflichtigen  Anlagen  zu  rechnen  seien.  Hiermit  in  Zusammenhang  ist  auch  die 
Schwierigkeit  zu  erwähnen,  die  bei  der  Eriaubniss  zur  Entnahme  aus  öffentlichen  Wimtsm 
hervorxutreten  beginnt. 

Es  liegt  auf  der  Hand,  dass  durch  eine  zu  freigebige  Verfügung  über  di« 
Wasserschätze  der  öffentlichen  Gewässer  die  Interessen  der  Schifffahrt  beeinträch- 
tigt und  die  auf  Hebung  der  letzteren  gerichteten  Bestrebungen  der  Staatsregiemng  in  ihre« 
Erfolge  gefährdet  werden  können.  Das  Gleiche  gilt  für  die  landwirthschaftlichen  Interesses, 
und  wenn  auch  vorausgesetzt  werden  kann,  dass  bei  Ertheilung  der  Genehmigung  xn  seoez 
Wasserentnahmen  die  Frage,  ob  dadurch  den  bereits  verliehenen  Rechten  Eintrag  ge- 
schehen wurde,  schon  bisher  sorgfältig  geprüft  ist.  so  ist  doch  auch  zu  beachten,  dass  durch 
solche  Verleihung  für  die  Zukunft  die  Möglichkeit  zu  einer  Nutzbarmachung  des  Wasser* 
für  wichtigere  Zwecke  in  Frage  gestellt  werden  kann.  Man  wird  aas  diesem  Grwdi  mit  4«r 
Gestattung  von  Wasserentnahmen  nicht  bis  zur  Grenze  des  gegenwärtig  Zulässig«  gehen 

Von  allen  Seiten  drängen  sieh  Ueberginge  *of  zur  Vcrbcawug  der 
Rechtsnormen , unter  denen  die  Wasserwerke  zu  arbeiten  genöfhigt  sind.  X« 
kann  kaum  weiter  fortschreiten  ohne  jede  Richtschnur  über  probegütige  Liefe- 
rungen des  Products  auf  der  einen,  — nnd  über  das.  was  dem  Abnehmer  mmf 
zuerlesen  wäre,  auf  der  anderen  Seite.  Dazu  tritt  schliesslich  noch  die  ausserordent- 
liche Unsicherheit  in  Bezug  auf  die  sogenannte  „Verseuchung“  oder  Verse  ach  t- 
Iteit  der  Öffentlichen  Wässer. 

Ks  ist  keine  gleicbgiltige  Sache,  wenn  in  den  Umgebungen  einer  Gro**- 
stadt  sämmtiiehe  Wasserverso rgungsstellen  plötzlich,  gleichsam  durch  eia  Ma*räs 
wort,  als  ..ver-eucht ~ bezeichnet  werden. 

Literatur  T a t er  $ uc  h u n r e a auf  Triak  wa»*«r- ü a r«iaigk«it#  w.  — 
Schu*cknig  u.  v.  Feder  Ciirin«  Triakwwmr  Areb.  f.  Hrnw.  III.  — Grakx  Ch*- 
■fcWä*  rascnsehuugea  und  Tc'rj’eraturteobachtunzvn  des  Leit  :=r*  wassers  rttscki«ö«Dfc  car;- 
sefcer  Ycpfcrguzre-  iVctr»:bl  f oientl  Gesund  uetrsptiege.  ISS&.  Nr.  6.  — Hup  je  M&- 

*a— n<rha::g  d«r  " asserr*r?orrarg  mit  der  Eatftchcrr  uad  Ausbreitung  ve*  IiifvOiixakzuA - 
bcu-a  Arbeit«  d.  VL  internal,  Cengr.  t Hegten«.  1887.  2 — Broaardel.  IwamrUÄ. 


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WASSERGEWINNUNG. 


683 


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Chem -Ztg.  Repetit.  XVI.  — Brey  er,  Wirkung  der  Filter.  Gesundheits-Ingenieur.  1883,  25. 
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schen Wasserwerkes  in  Zürich.  Journ.  f.  Gasbeleuchtung  und  Wasserversorgung.  1891.  — 
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Sanit.  1892.  — Th.  Smith  u.  V.  A.  Moore,  Zur  Prüfung  der  Pasteur-Chamberlaud-Filter.  — 
J olles.  Untersuchungen  über  die  Filtrationsfähigkeit  des  patentirten  Wasser  filtern  n Pari  las“. 
Centralbl.  f.  Bakteriol.  XII.  — Ficus,  Neue  Filteranlage  in  Worms.  (System  Fischer- Peters. 
Chem.-Ztg  Rep.  XVI.  — A.  Meyer,  Die  neuen  Filteranlagen  für  die  Wasserversorgung  Hamburgs. 
Ebenda.  XVII.  — Kümmel,  Versuche  und  Beobachtungen  über  die  Wirkuug  von  Landfiltern. 
Ebenda.  Rep.  — Altachow,  Die  neuen  Filteranlagen  der  Petersburger  Wasserleitung.  Ebenda. 

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versorgung durch  Brunnen.  28.  Versammlung  von  Gas-  und  Wasserfachmäunern.  1888.  — 


684 


WASSERGEWINNUNG.  — WOCHENFLUSS. 


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Zeitschr.  f.  Hygiene  u.  Infectionskh.  XX,  H.  3.  — H.  Frenkel,  8’ur  l'inßuence  de  particules 
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Wasserversorgung  der  Städte  im  Allgemeinen  und  die  geplante  Wasserversorgung  Prags  im 
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genieur. 1889.  — Brouardel  u Ogier,  Wasserversorgung  von  Toulouse.  Annal.  d’hygiene. 
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— Uräbner,  Das  Wasserwerk  der  Stadt  Tilsit.  Centralbl.  f.  allg.  Gesundheitspflege.  X, 
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Vereines  f.  Naturk.  XLV.  — Ueber  die  Wasserversorgung  Breslaus.  Schlesische  G esellach.  f. 
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Gesundheits-Ingenieur.  1892,  6. 

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London  1893  ; Watertrorh  cluuses  acts  ( 1847  u.  1863);  Public  heulth  act  von  1875.  — Hictr* 
Pollution  prerentton  act.  1876.  — Public  hcalth  (Water)  act  von  1878.  Wernich. 

Wochenfluss,  s.  Lochien,  pag.  373. 


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Xanthinbasen,  s.  Harn,  pag.  243. 


z. 


Zuckerbestimmung,  im  Harn,  pag.  231  fl'. 
Zungenspatel,  a.  Autoskopie  der  Luftwege,  pag.  41. 
Zurechnungsfähigkeit,  der  Morphinisten,  pag.  444. 


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6S8 


Seite 

Spartein,  bei  Morphiuraentziehung  . . . 580 

Spastische  S^inalparalyse,  s.  Myelitis  . . 580 

Speciali täten,  s.  Gebeinjm ittel 580 

Spinalpunction,  s.  Lnmbalpunction  . . . 580 

Stickhusten,  Behandlung  mit  Inhalationen  580 

Stramoniutp,  8.  Inhalationstherapie  . . . 580 

ätreptokokkenserum 580 

Stypticin 581 

Subconjunctivale  Injectionen  von  Medica* 

menten,  s.  Augenheilmittel 582 

Suggestion . 582 

Sulfate  bei  Carboivergiftung 594 

Syphiliscontagium 594 

Syringomyelie 603 

Tannin  zu  Inhalationen 644 

Ta  »no  form 644 

Taubstumme ...  644 

Tetanus 644 

Thermalbad  .r,  8.  Bäder 65? 


«•  Seile 

Thiergifte 657 

Thioform,  s.  Angenheilmitiel 658 

Thyrojodin  658 

Trichophyton,  s.  Dermatomykosen  . . . 660 

Tuberkulose • 660 

Typhusbacillus,  s.  Abdominaltyphus  . . 660 

Urobilin,  s.  Harn 661 

Uropherinum  salicvlicum  . . .'  . . . .661 

Urotropin .661 

Vagina  . . 662 

Veratrol 674 

Wabain,  s.  Ouabain 676 

Wasserdampf 676 

Wassergewinnnng 676 

Wochenlluss,  s.  Lochien 685 

Xanthinbasen,  s.  Harn  • 685 

Zuckerbestimmung,  im  Harn 685 


Zungenspatel,  s.  Autoskopie  der  Luftwege  685 
Zurechnungsfähigkeit,  der  Morphinisten  . 685 


Dcuirlt  von  Göttlich  OUtd  & Comp,  in  Wien. 


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* 


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LANE  MEDICAL  LIBRARY 


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