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DER RHYTHMUS
als Erziehungsmittel für
das Leben und die Kunst
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Sechs Vorträge
von
E. JHQUES-DHLCROZE
zur Begründung seiner Methode der rhythmischen Gymnastik
Deutsch herausgegeben von
PHUL BOEPPLE
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Verlag von Helbtng & Licbtenbabn
1907
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DER RHYTHMUS
als Erziehungsmittel für
das Leben und die Kunst
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Sechs Vorträge
^ von
E. JHQUES'DHLCROZE
Begründung seiner Methode der rhythmischen Gymnastik
Deutsch herausgegeben von
PAUL BOEPPLE
BASEL
Verlag von Helbing & Licbtenbabn
1907
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Buchdruckerei Emil Birkhäuser, Basel.
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A2
A 93
Vorwort des Herausgebers.
Die sechs Vorträge von Jaques-Dalcroze über seine
Methode der musikalischen Erziehung für und durch den
Rhythmus wurden an dem von über 100 Damen und Herren
besuchten Einführungskurs, 1. — 15. August 1907 in Genf
gehalten. Der allgemeine Wunsch der Kursteilnehmer,
die zahllosen Anfragen über die Methode, die zu beant-
worten dem Autor kaum mehr möglich ist, namentlich
aber auch die Hoffnung, der auf Beobachtung der Natur
und der instinktiven und natürlichen Fähigkeiten des Men-
schen begründeten Rhythmus-Gymnastik neue Freunde zu-
zuführen, bewog den Unterzeichneten zur Überarbeitung
und Drucklegung dieser Vorträge.
Um den geehrten Leser im Voraus über das Wesen
der rhythmischen Gymnastik zu orientieren, seien folgende
allgemeine Grundsätze vorangestellt :
1. Jeder Rhythmus ist Bewegung.
2. Jede Bewegung ist materiell.
3. Jede Bewegung braucht Raum und Zeit.
4. Raum und Zeit sind durch die Materie verbunden,
welche sie in ewigem Rhythmus durchzieht.
5. Die Bewegungen der ganz kleinen Kinder sind rein phy-
sisch und unbewusst.
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6. Die körperliche Erfahrung bildet das Bewusstsein.
7. Die Vervollkommnung der physischen Mittel erzeugt
die Klarheit der intellektuellen Wahrnehmung.
8. Ordnung in die Bewegungen bringen, heisst, den Geist
zum Rhythmus erziehen.
Die Methode Jaques-Dalcroze zieht aus diesen Ele-
mentargrundsätzen die Folgerungen:
I. Durch Ordnung und Vervollkommnung der Körper-
bewegungen wird der Geist für Rhythmus erzogen.
II. Die Kraft und Geschmeidigkeit der Muskeln zu ver-
vollkommnen, indem man die Proportionen der Zeit
regelt, heisst, den Sinn für den musikalischen Rhyth-
mus und das Gefühl für die musikalische Symmetrie
entwickeln. Durch Ausbildung der Muskeln des Atem-
apparates insbesondere wird den Stimmbändern un-
beschränkte Freiheit, den beherrschten Stärkegraden
Wohllaut vermittelt, d h. dem Sinn für Phrasierung
wird eine geschmeidige und intelligent wirkende,
mechanische Kraft zur Verfügung gestellt.
III. Die Kraft und Geschmeidigkeit der Muskeln inbezug
auf die Proportionen des Raumes ausbilden, heisst,
den Sinn für plastischen Rhythmus entwickeln.
Die rhythmische Gymnastik ist also das Mittel, mit
Hilfe besonderer Übungen die von Natur vorhandenen
Rhythmen des Körpers auszubilden, zu regeln und zum
Gegenstand der allgemeinen Erziehung zu machen. Sie
ist ferner die Anpassung der rhythmischen Fähigkeiten
unseres Körpers an die Musik. Sie stellt eine neue Ord-
nung her in den rhythmischen Empfindungen unseres Ge-
hirns und bringt unsern Muskeln eine grosse Zahl auto-
matischer, in den Rhythmus einbezogener Bewegungen.
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V
Für die vorliegende deutsche Ausgabe der Jaques’schen
Vorträge muss ich um einige Nachsicht bitten, da es nicht
möglich war, das französische Original im ganzen Umfang
zur Verfügung zu erhalten und ich mich zum Teil auf die
Übersetzungen durch der Methode fernerstehende Personen
verlassen musste. (So hat sich z. B. im 3. Vortrag eine
Verwechslung des Namens „Javaner“ mit „Japaner“ ein-
geschlichen )
Basel, August 1907.
Paul Boepple.
Die Methode der rhythmischen Gymnastik von Jaques-Dalcroze
erscheint in 2 Bänden mit 10 anatomischen Tafeln von Ed. Cacheux,
80 Zeichnungen von Artus, 120 Photographien von Boissonas und
160 rhythmischen Märschen bei Sandoz, Jobin & Cie , Cditeurs. Neu-
chätel, Paris und Leipzig.
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1. Vortrag.
Eine Dame, welche vom zartesten Alter an gym-
nastische Übungen betrieben hatte und in bezug auf Kraft
und Gewandtheit alle ihre Klassengenossinnen übertraf,
wollte während langsamer Fahrt von der Strassenbahn
abspringen. Sie verlor das Gleichgewicht und kam ziem-
lich unsanft zu Falle. Dieses Missgeschick war gewiss
nicht einem Zufalle, sondern der Unkenntnis der elemen-
tarsten Bewegungs- und Gleichgewichtsgesetze zuzuschrei-
ben. Worin besteht aber der praktische Nutzen der Gym-
nastik, wenn eine geprüfte Lehrerin der Turnkunst nicht
einmal im stände ist. von einem langsam fahrenden Wagen
abzusteigen.
Eine andere Dame besitzt das Diplom für Klavier-
unterricht und spielt mit grosser Sicherheit die schwie-
rigsten Stellen aus den Werken der Klavierlitteratur. Bei
einem Balle wurde aber bemerkt, dass sie den Walzer im
Zweivierteltakt, die Polka im Dreivierteltakte tanzte und
dass ihr Fuss immer zu spät betonte. Dieser Mangel an
Taktgefühl bei einer Dame, welche jahrelangen Instru-
mentalunterricht genossen, berechtigt wohl auch zu der
Frage, ob das Klavierstudium einen Sinn habe, wenn dabei
die Hauptbestandteile der Musik: Takt und Rhythmus, ver-
nachlässigt werden.
Es gibt Musiklehrer, die sich bei ihrem Unterricht
bloss um die physische Entwickelung der Hände ihrer
Schüler kümmern. Sie verrenken und verzerren dieselben
auf tausenderlei Weise, um sie gefügig und kräftig zu
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machen ; ist dies erreicht, so fahren sie fort, zu verrenken
und zu verzerren, denn sie wissen nicht, was sie sonst mit
diesen gehorsamen Werkzeugen anfangen sollten. Klavier-
unterricht ist für den ernsthaften Lehrer gleichbedeutend
mit Musikunterricht. Er begnügt sich nicht damit, die Finger
sich im Takte bewegen zu lehren. Ja, wenn für die Kinder
zwei untrennbare und einander parallel laufende Lehrfächer,
die Musik und das Instrumentalspiel, existierten! Die Um-
stände zwingen den Musiklehrer, zugleich die Kunst und
ihre technische Ausführung zu lehren, wie ja auch der
Zeichenlehrer die Kunst der Linie und die Handhabung
des Stiftes und Pinsels nicht trennen kann. Was würde
man von einem Zeichenlehrer halten, dessen Unterricht
bloss darin bestände, den Bleistift mit verschiedener An-
wendung von Kraft zu führen, während bei den Zeich-
nungen seiner Schüler z. B. keine einzige Regel der Per-
spektive in Betracht gezogen würde? Und doch gibt es
viele Klavier- und Violinlehrer, welche die Tonkunst gänz-
lich vernachlässigen und bloss auf das Technische hin-
arbeiten. Sie beurteilen ihre Schüler nicht nach der musi-
kalischen Begabung, sondern nach der Art und Weise, wie
sie ihre Finger bewegen ! Das Publikum ist an eine solche
Wertung gewöhnt und gibt zu, dass ein Kind, das eine
ungeschickte Hand beim Klavierspielen zeigt, nie ein guter
Musiker würde, mag es noch so sehr mit Gefühl für Rhyth-
mus und mit gutem Gehör begabt sein. Wem dagegen
Mutter Natur gelenkige Finger verliehen, der sei den
höchsten Zielen geweiht, auch wenn er kein Gehör und
kein Rhythmusgefühl besitzt. Es werden ausschliesslich
die physischen Fähigkeiten berücksichtigt bei der Deutung
einer in erster Linie psychischen Kunst. Ist der Irrtum
nicht ganz offenbar?
Bei alledem muss man zugeben, dass diese Methode
in den Fällen, wo die Schüler von Natur begabt sind, un-
bestreitbar ausgezeichnete Ergebnisse erzielt. Alle guten
Musiker sind beinahe ohne Ausnahme auf diese empirische
Weise herangebildet worden! Ist damit etwa bewiesen,
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dass diese Methode nicht so schlecht sei, wie wir zu be-
haupten wagen? Durchaus nicht. Diese Tatsache beweist
höchstens, dass sie gewisse natürliche Entwicklungsele-
mente in sich birgt, die bisher scheinbar zur Vervollkomm-
nung begabter Individuen genügten. Jeder musikalische
Unterricht, sei er gut oder schlecht, sei er künstlerisch
oder oberflächlich, bietet dem Schüler das Studium von
Kunstwerken. Diese Werke der Meister der Tonkunst
haben den begabten Schüler musikalisch entwickelt, auch
bei einem einseitigen Lehrer, der ihm nur das mechanische
Lesen und die gymnastische Seite der Kunst des Instru-
mentalspieles beibrachte. Die Meisterwerke haben ihm
Gelegenheit gegeben, durch Lektüre und gegenseitiges
Vergleichen sich selber zu bilden. Und wenn man zugibt,
dass es „gottbegnadete“ Musiker gibt, heisst das etwa,
diese wären nicht noch viel bessere Musiker geworden
(zum Ruhme Gottes und der Kunst), wenn der Einfluss
eines echten Künstlers ihre Kindheit erhellt hätte, wie die
Sonnenstrahlen die Frühlingsknospen bescheinen? Die na-
türliche Begabung ist gleich dem Saft der Pflanze, aber die
Erziehung ist die Sonne, das Licht und die Wärme, die
notwendig sind für die Entfaltung des Lebenskeimes und
der Schönheit, die in der Frühlingsblume verschlossen
ist auch die lebensfähigsten Pflanzen können ihrer
nicht entbehren !
Dem minderbegabten Schüler dagegen — oder sagen
wir dem nichtbegabten — werden das Studium der Schrift-
zeichen und die Fingerübungen nicht zum Verständnis der
Werke genügen. Da er einen musikalisch wenig aufmerk-
samen und wenig entwickelten Geist besitzt, so spielt er
die Werke, ohne sie zu verstehen. Er sollte so geleitet
werden, dass ihm die unklaren Stellen klar und die Be-
standteile der Musik geläufig werden, oder sagen wir:
man müsste diese Bestandteile trennen und sie durch den
Schüler nacheinander studieren lassen, zuerst den Rhythmus,
dann den Klang und zuletzt das Instrument, d. h. :
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1. Die Körperbewegung,
2. Das Gehör und die Stimme,
3. Die Körperbewegungen in Beziehung zu den Be-
wegungen des Instrumentes und das Gehör in Be-
ziehung zur Stimme des Instrumentes.
Nur so kann man in minderbegabten Schülern Liebe
zur Musik erwecken.
Auch die begabten Schüler werden bei solcher Art
des Unterrichts viel Freude empfinden, da sie alles, was
die von Natur aus geliebte Kunst anbelangt, lebhaft inter-
essiert, vorausgesetzt, dass der Unterricht ihrem jugend-
lichen Alter angepasst sei. Man wird z. B. einem begabten
Kinde nicht vordozieren: „Die Musik besteht aus Rhythmus
und Klang“ u. s. w. Die Analyse seiner Herzenskunst
würde auf das begabte Kind den Eindruck der Vivisektion
machen. Und dennoch muss man den Rhythmus vom Tone
getrennt studieren lassen, aber ohne dass das Kind die vom
Pädagogen beabsichtigte Zerlegung der Kunst inne wird.
Das Kind begeistert sich für den Rhythmus an sich! Was
liebt denn eigentlich das musikalische Kind in der Musik?
Ist es nicht vorzugsweise gerade der Rhythmus, die Be-
tonung? Nützen wir doch diese natürliche Anlage aus.
Das gesonderte Studium des Rhythmus kann nicht anders
als sehr vorteilhaft sein für jeden, den die Natur zur Musik
bestimmt hat.
Geben wir zu, dass talentierte Kinder, dank ihrer
geistigen Begabung (ich sage nicht dank ihrer physischen
Anlagen!) die Töne gleichzeitig mit dem Rhythmus stu-
dieren können, so ist doch unanfechtbar, dass das Sonder-
studium des Rhythmus und des Tones dem Erlernen des
Instruments vorangehen sollte. Das begabte Kind — ebenso
wie das minder- und nichtbegabte — muss damit anfangen (
selbst und in sich selbst die Gefühle zu empfinden, die von
der Musik ausgedrückt werden. Man muss ihm daher am
Anfang des Studiums die einfachsten Empfindungen nahe
bringen und das Instrument als Hilfsmittel für eine spätere
Entwicklungsperiode aufbewahren.
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In ihren Elementen ist die Musik physisch, bestehend
aus Rhythmus und Ton. Um ein guter Musiker zu sein,
muss man einerseits ein Gehör haben, das fähig ist, Töne
zu erkennen und zu vergleichen, sowie ihre Zeitdauer zu
empfinden und zu vergleichen, und anderseits einen Körper,
der fähig ist, diese Töne zu reproduzieren und diese Zeit-
einteilungen vorzunehmen. Das Ohr, die Stimme, der
Körper stehen in direktem innerem Verhältnis zur Geistes-
anlage: das Instrument dagegen ersetzt nur die Stimme.
Würden alle Instrumente durch eine Feuersbrunst zerstört,
wäre dann die Menschheit aller Musiker beraubt? Das
Studium eines Instrumentes bietet Gelegenheit, das Gehör
in gewissem Grade zu üben, da die Finger durch ihre Be-
rührung mit den Tasten oder den Saiten Klänge erwecken
und durch ihr mehr oder minder langes Verharren auf
denselben längere oder kürzere Zeitabschnitte markieren.
Aber die Finger nehmen nur die Stelle eines Vermittlers
zwischen dem Geiste und der musikalischen Ausführung
ein, und es ist darum angezeigt, anstatt Beziehungen
zwischen dem noch nicht gebildeten Geiste und dem geist-
losen Instrument herstellen zu wollen, zu allererst die
rhythmischen und klanglichen Empfindungen auszubilden,
und zwar mit dem natürlichen Mittel, des von dem jungen
Geiste bewohnten Körpers.
Es kann allerdings Vorkommen, dass das Studium
eines Instrumentes dazu genügt, in einem gewissen Grade
die musikalischen Anlagen einer begabten Person zu ent*
wickeln, jedoch wird dieselbe die Empfindung des Rhyth-
mus nur dann vollständig zu ihrem geistigen Eigentume
machen, wenn ihr Gelegenheit geboten wird zu dauernden
Empfindungen, als unabhängige Einheit und nicht als Teil
einer Kunst, die ihr unteilbar scheint und deren Zerstücke-
lung ihre empfindsame musikalische Seele nicht ertragen
kann.
Wenn der Schüler nicht sehr begabt ist, wird der
vom Finger hervorgerufene Ton auf sein Gehörorgan und
auf sein Gehirn einen zu schwachen Eindruck machen. Der
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vom Finger verursachte Rhythmus wird nicht ein genügend
andauerndes Echo in den Nervenzentren, den Bewegungs-
agentien und in dem Gehirne, dem Empfänger und Lenker
der Zeitempfindungen erwecken.
Für einen Gesangsschüler, dessen Lungen von Haus
aus gut entwickelt sind, kann das blosse Üben von Ton-
leitern und offenen Tönen genügen, um die normale Tätig-
keit der Atmungsorgane sicherzustellen, während diese
LJbungen einem anderen Schüler, der einen engen Brust-
kasten und schwache Lungen besitzt, nicht viel helfen würden-
Für letzteren wird der Lehrer besondere, kräftigende
Übungen der Lungen vorschreiben müssen, die den An-
lagen des Betreffenden angepasst sind. Und ebenso wird der
Musiklehrer für den gehörlich und rhythmisch minderbegab-
ten Schüler ein physisches Mittel ausfindig machen müssen,
das geeigneter ist als die Finger, um seine Gehörfähig-
keiten und seine Empfindung für Zeitdauer und Akzent
weiter zu entwickeln. Dieses Mittel bei der Erzeugung von
Klangschwingungen ist der Kehlkopf, der Entstehungsort
der Vokallaute. Da dieser sich am Kopfe befindet, steht
er in engster Beziehung zu den Gehörsorganen, den Or-
ganen der Auffassung. Bei der Erzeugung und der Em-
pfindung der Bewegung und des Rhythmus ist dieses Mittel
der ganze Körper. Von der Stimme und ihren Beziehungen
zum Ohre soll im zweiten Teile unserer Darlegungen die
Rede sein. Zunächst wollen wir die Notwendigkeit, den
Körper des Kindes der Erweckung von Rhythmusempfin-
dungen dienstbar zu machen, begründen.
Es darf wohl als allgemein bekannt vorausgesetzt
werden, dass durch eine systematische und vernünftige Er-
ziehung geradezu staunenswerte Erfolge erzielt werden
können. Je früher mit einer solchen Erziehung begonnen
wird, je lebhafter und schärfer die Empfindung war, desto
sicherer und länger wird die Erinnerung daran Zurück-
bleiben. Die frischen und natürlichen Sinne des Kindes
bieten hiefür das dankbarste Feld. Doch ist besonderer
Nachdruck darauf zu legen, dass jeder Sinn individuell ent-
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wickelt werden muss, d. h. nicht einer allein auf Kosten
der anderen, wodurch der Mensch naturgemäss einseitig
würde. Der Theekenner wird durch den Geruch die Her-
kunft desselben mit Leichtigkeit feststellen; der Weinkenner
ist im stände, auf Grund langer, sachgemässer Übung,
z. B. verschiedene Burgunderweine genau zu bestimmen.
Die Vollkommenheit der Bewegung wird bedingt
durch das Ausschalten der für eine bestimmte Bewegung
unnötigen und durch die Übung der in Betracht kommen-
den Muskeln. Der Seiltänzer und Akrobat bedarf einer
anhaltenden Übung, um die Ausführung gewisser Bewe-
gungen, welche er vorher nicht kannte, zu erlernen und
um solche, die er schon kannte, zu vervollkommnen. Der
Schreibmaschinist hat in dem Moment seine höchste Technik
erreicht, in welchem er den zu seiner Arbeit nicht nötigen
Muskeln abgewöhnt hat, in Funktion zu treten.
Daher ist es ebenso nützlich, die Kinder richtig gehen
zu lehren und ohne zu zögern und ohne müde zu werden,
ihre Hände und Arme zu bewegen (man denke an die Hand
des Neulings im Schreiben, welche schnell ermüdet, weil
die Muskeln des ganzen Armes sich an der Arbeit betei-
ligen); ferner beim Reden klar und deutlich auszusprechen,
beim Essen gut zu kauen und beim Singen gut Atem zu
schöpfen.
Es wurde schon erwähnt, dass mit der Erziehung zur
Vollkommenheit im Empfindungsvermögen schon in der
Kindheit begonnen werden soll, weil Kinder noch eindrucks-
fähiger sind; die geeignetste Zeit hiefür dürfte zwischen
dem 6. und 10. Lebensjahre liegen. Leider nützt man aber
diese Zeit nicht aus zur Erziehung für Rhythmus. Das
Kind interessiert sich lebhaft für die durch Bewegung seiner
Glieder hervorgerufenen Gefühle. Es ahnt, dass durch
dieselben seine Anlagen ausgebildet werden. Aber leider
lässt man das wertvolle Alter, wo das Kind nichts mehr
liebt als Bewegung, unbeachtet. Mit 6 Jahren schickt man
das Kind in die Schule und da lernt es zuerst still sitzen.
Mit 8 Jahren setzt man es an das Klavier, wo es ebenfalls
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zu ruhiger Haltung gezwungen wird ; nur die kleinen
Fingerchen dürfen sich bewegen. Die Hände haben eine
grosse Anzahl Muskeln in Bewegung zu setzen und jeder
Muskel dient dazu, das Gemüt zu bilden. Demnach wären
also die Hände die geeignetsten Glieder, um zahlreiche
dauernde Eindrücke im Gehirn hervorzurufen. Jeder Finger
muss sich rhythmisch bewegen, und so wird die Empfin-
dung für den Rhythmus durch die Gefühle der rhythmischen
Bewegungen so vieler Muskeln entwickelt. Dies scheint
sehr logisch zu sein, und dennoch zeigt uns die Praxis
häufig Fälle von Arythmie bei jungen Leuten, die seit ihrem
6. oder 7. Jahre Klavierstunden nehmen Es muss also
doch eine Lücke in diesen Schlussfolgerungen vorhan-
den sein.
Woher kommt es, dass mancher vorgeschrittene
Klavierschüler kein Adagio von Beethoven spielen kann,
ohne zu hasten? Wie kommt es, dass ein anderer, dessen
Sinn für Harmonie und dessen Gehör gut entwickelt sind,
dennoch nicht weiss, im richtigen Augenblick das Pedal
anzuwenden, und dass seine rechte Hand die Töne immer
nach der linken anschlägt? Warum betont ein dritter, der
beim Singen immer den richtigen Tonakzent angibt, beim
Klavierspielen falsch, ohne es zu wollen? Ergibt sich
nicht schon allein aus diesen Beobachtungen die Notwen-
digkeit der rhythmischen Gymnastik?
Jeder dem Ohre bemerkbare Rhythmus, jedes Ge-
räusch, jeder Ton, wird von einer vorausgehenden Be-
wegung verursacht. Zeigt sich ein Fehler beim Eintritt
oder bei der Betonung, so kann man diesen nur beseitigen,
indem man die Bewegung, welche dem Tone oder dem
Geräusch vorausgeht, korrigiert. Diese Bewegung ist beim
Klavierspielen die Muskelkraft, welche ein Glied während
einer gewissen Zeit über einen gewissen Raum führt. Man
muss also, um jeden besonderen Fehler zu ermitteln, sich
fragen, ob die Kraft zu gross oder zu gering war in bezug
auf die Zeitdauer und den Raum, oder ob der Raum zu
gross oder zu klein in bezug auf die Kraft und die Zeit-
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dauer, oder endlich ob die Dauer der Bewegung zu gross
oder zu klein war in bezug auf den Raum und die Kraft?
Eine kluge Köchin überlegt, wenn ihr die Pfannkuchen
nicht geraten sind, ob sie zuviel Mehl oder zuviel Milch
genommen, ehe der Teig in die Pfanne kam, oder ob etwa
das Feuer zu stark oder zu schwach gewesen sei!
Der angehende Virtuose übereilt sich nie, wenn er
Noten gleichen Zeitwertes spielt , deren höchste Ge-
schwindigkeit er nicht übersteigen könnte; aber wenn er
ein Beethoven’sches Adagio wiedergeben, d. h. wenn er
Noten von langer Zeitdauer und verschiedener Länge
spielen soll, so kommt es häufig vor, dass er eilt, dass er
ohne sichtlichen Grund zurückhält, dass er zu stark oder
nicht genug betont, mit einem Worte, dass er es an Stil
fehlen lässt.
Dieser Mangel an Stil hat seinen guten Grund ; er ist
allmählich aus Mangel an Muskelsinn entstanden, aus Mangel
an Verständnis für die Beziehungen zwischen der Bewegung
und dem Klange, zwischen Ursache und Wirkung, Ziel und
Mittel. Da dieser Muskelsinn und das Verständnis für diese
Beziehungen nicht durch die natürlichen Anlagen der Schüler
begünstigt und auch nicht durch die Ratschläge des Lehrers
erweckt worden sind, so hat das Klavier sie auch nicht
entwickeln können. Die heruntergedrückte Taste bedingt
nicht eine Fortsetzung der Bewegung. Das Gefühl der
Fortsetzung könnte vorhanden sein, wenn man eine starke
Muskelzusammenziehung anwenden müsste, um die Taste
zu verhindern, wieder in die Höhe zu gehen. Aber das
ist nicht der Fall. Die Muskelanstrengung, welche not-
wendig ist, um die Taste niederzuhalten, ist so gering,
dass sie nicht das Bewusstsein ihrer Dauer erweckt: der
Finger langweilt sich auf der Taste, und das Ohr langweilt
sich ebenfalls. Denn der Klang der Note verhallt, nachdem
man die Taste berührt hat. So kommt es, dass weder die
Bewegung, die das Mittel darstellt, noch der Ton, welcher
deren Ergebnis ist, imastnde sind, die Empfindungen für
die Zeitdauer zu erwecken. Weder das eine noch das
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andere kann dem Geiste eine Vergleichung der Zeitlängen
vermitteln. Da man die Dauer einer Muskelanspannung
ebensowenig wie die Dauer des Klanges, der sie begleiten
sollte, empfindet, so wird kein Verständnis oder Erkennen
der Beziehungen zwischen den beiden resultieren. Der
bewegungs- und tonfrohe Schüler, der die natürlichen und
künstlerischen Mittel und Beziehungen nicht kennt, lang-
weilt sich beim Spielen, weil seine Muskeln sich nicht zu-
sammenziehen und weil sein Ohr nichts hört; er übereilt
sich, wenn er zu einer Note mit langer Dauer gelangt; er
überspringt die Pausen, um das Anfangstempo, das mehr
Kraft erfordert, zu erreichen, damit seine Finger wieder
etwas zu tun haben und damit er die Töne in möglichst
schneller Aufeinanderfolge höre. Man könnte ihn mit einem
Kinde vergleichen, das, allein und ohne Beschäftigung in
einem Zimmer eingeschlossen, die Zeiger der Uhr weiter
dreht, um diese schlagen zu hören. Die unabänderliche
Dauer der Stunden, der ewige Rhythmus des Sonnenauf-
und Unterganges kümmert es wenig, wenn es nur die Uhr
schlagen hört. Dem Klavierschüler muss man am Anfang
seiner Studien das Gefühl für die Dauer der Muskelanspan-
nung vermitteln. Sodann muss man ihm die Dauer des
Klanges durch die Dauer von Muskelanstrengungen wieder-
geben, indem man ihn singen lässt, und ihm klar machen,
dass die Muskelbewegung den Ton hervorruft. Nachdem
diese Erfahrung gewonnen, geht man zur Anwendung, zur
Anpassung der dem Instrumente eigenen Bewegungen über.
Auf einen so betriebenen Unterricht hin wird kein Mangel
an Stil bei dem Schüler zu Tage treten. Die Erkenntnis
der Beziehung zwischen der Mukeianstrengung und und der
Bildung des Tones ist allgemein gültig und für jedes In-
strument anwendbar. Da sie auf natürliche Gesetze fusst,
ist sie unschätzbar und nachhaltig fürs ganze Leben. Einen
weiteren Beweis für die Richtigkeit dieser Ansicht liefert
uns jener Schüler, der zwar beim Singen rhythmisch em-
pfindet, beim Klavierspielen aber viele Betonungsfehler
macht. In der Tat, die Kenntnis der Beziehungen der
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Muskeln zu den Tönen genügt nicht; man muss mit allen
Bewegungen vertraut sein, die dieses oder jenes Instrument
verlangt. Obwohl der Gesang verschiedene gleichzeitige
Zusammenziehungen und Erschlaffungen bedingt und so
Gelegenheit zu vielfachen rein physischen Übungen gibt,
so bietet er uns doch nicht dieselbe Art von Verbindungen
sich widersprechender Bewegungen, wie das Klavier. Wenn
unsere Atmungsorgane nach unserem Willen funktionnieren,
so sind Zunge und Lippen frei. Man mag eine mehr oder
minder zarte, elastische, geschmeidige oder gefügige Zunge
haben, wenn man nur vernünftig und kunstvoll atmet, so
ist die Zunge von jedwedem hemmenden Einflüsse befreit
Nicht so bei den beiden Armen, den Händen und den
zehn Fingern. Jeder Oberarm löst 18 Gelenkbewegungen
aus. Alle Zusammensetzungen von Bewegungen aufwärts,
abwärts, nach rechts, nach links werden von Muskelgruppen
ausgeführt, die nahe bei einander liegen und die übrigens
mit denselben Gehirnzentren verbunden sind. Die Schwierig-
keit ist somit gleichzeitig eine geistige und eine physische,
und kann nur überwunden werden durch Übung der Be-
wegung und der Bewegungsverbindungen, welche die be-
sondere Technik des in Frage kommenden Instrumentes
erheischen. Die Willenstätigkeit, die sich nach dem 4. Finger
hin bewegt, darf sich nicht auf dem Wege verlaufen, um
am 3. Finger anzukommen, und die Kraft, die notwendig
ist, um einen Finger auf der Taste festzuhalten, darf nicht
auf seinen Nachbar springen, der seinerseits sich zur Seite
begibt, um in kurzer Zeit eine andere Taste zu berühren.
Man muss wissen, wie schwer es ist, den rechten Arm
leicht nach rechts zu bewegen, w'ährend der linke mit aller
Kraft einen tüchtigen Schlag ausführt, um gründlich zu
verstehen, wie schwierig es ist, all’ diese entgegengesetzten
Bewegungen mittels der Finger auf dem Klavier auszu.
führen. Selbst wenn man absieht von den Schwierigkeiten,
die von Mangel an Kraft, falscher Haltung oder falschem
Wüchse (z. B. Schwimmhaut-Hände) u. s. w. herrühren, so
lässt doch der Gegensatz der verschiedenen Richtungen,
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der gemischten Figuren, der entgegengesetzten Dynamik,
der gleichzeitigen Bewegungen, eine vorbereitende Gym-
nastik als sehr notwendig und wirksam erscheinen, um die
Fehler einer mangelhaften Betonung zu überwinden, oder,
wenn möglich, gänzlich zu vermeiden.
Betrachten wir, bevor wir auf die Ursachen des
arhythmischen Zustandes im allgemeinen eintreten, einige
kleine besondere Fälle. Es kommt sehr häufig vor, dass
der Klavierschüler, welcher eine Melodie mit der rechten
Hand und eine Begleitung in Akkorden mit der linken
ausführt, mit der letzteren vorausspielt. Die Erklärung
dieses Fehlers ist sehr einfach. Eine Melodie besteht ge-
wöhnlich aus Intervallen, die nahe genug aneinander sind,
um der Hand grosse Sprünge zu ersparen. Der Finger,
der eine der Noten der Melodie spielen soll, wird gehoben
und hat nur eine geradlinige, herabfallende Bewegung aus-
zuführen. Die linke Hand, die soeben einen Akkord in
der Mitte der Klaviatur angeschlagen hat, muss einen
grossen Sprung machen, um die Bassnote des folgenden
Akkordes anzuschlagen. Sie hat also drei Bewegungen
auszuführen: sich heben, nach links gleiten und herabfallen.
Es bestehen also Unterschiede zwischen den Bewegungen
jeder Hand, nämlich die der Kontrastlinien und der Kon-
trastraumverhältnisse. Der Geist gibt infolgedessen seine
verschiedenen Befehle, einen nach dem anderen, indem er
seine Aufmerksamkeit auf die Ausführung der komplizier-
teren Bewegung der linken Hand lenkt. Damit die Melodie
hervortrete und in ihrer rhythmischen Konstruktion nicht
gestört werde, sucht der Schüler zuerst die Schwierigkeit
der Begleitung zu überwinden, und erst dann jede Note
der Melodie genau zu spielen. Infolgedessen ertönt die
Bassnote einen Augenblick früher, gleichsam als Auftakt
zu der Melodie.
Häufig ist auch folgender Fehler : Das Pedal muss
zwei Akkorde verbinden, es wird aber entweder zu früh
oder zu spät angewendet, funktioniert nicht oder lässt zwei
verschiedene Akkorde zusammenklingen, wodurch eine
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sog. Kakophonie entsteht. Dabei sind ebenfalls Bewegungs-
kontraste im Spiel. Während die Hand sich senkt, hebt
sich der Fuss. Nehmen wir an, dass das Pedal die beiden
soeben erwähnten Akkorde verbinden soll, — die beiden
Akkorde, welche drei Bewegungen in der linken und eine
in der rechten Hand erforderten! Jetzt ist noch eine Be-
wegung mehr auszuführen, nämlich die des sich hebenden
Fusses. — Würde es sich wohl nicht lohnen, einige Zeit auf
das Studium solcher entgegengesetzten Bewegungen zu
verwenden, ehe man an das Studium des Klaviers geht ?
Der Klavierschüler ist sich des Wesens der Schwierig-
keiten nicht bewusst; der Lehrer erklärt sie ihm nicht.
Der Schüler wiederholt seinen Fehler; einen Fehler wie-
derholen heisst ihn einüben. Man würde all das ver-
meiden, wenn man die Kinder gewöhnte, die Schwierig-
keiten der gleichzeitigen Kontrastbewegungen zu über-
winden, bevor man sie mit dem Klang eines Instrumentes
bekannt macht, dessen Tongüte von mechanischen Ge-
setzen abhängt.
Aber die beiden erwähnten Fälle sind spezieller
Natur, und wir wollen noch die Ursachen des allgemeinen
Zustandes der Arhythmie ergründen. Diese werden sich
stets als physischen Ursprungs ergeben.
Das spasmodische (krampfartige) Verlangsamen ist
ein häufiger Fehler, besonders bei Sängern.
Man findet ihn auch bei Personen, die Gesang hätten
studieren sollen! Im Grunde genommen sollte jedermann
singen lernen. Es gibt aber Leute, die so sehr den
blossen Klang der Musik lieben, dass sogar der geringe
Wohlklang einer am Klavier gespielten Melodie ihnen
Befriedigung suggeriert. Sie fangen an zu singen, und
dabei gewöhnen sie sich an den bei Sängern so häufigen
Fehler, an die ausschliessliche Bevorzugung des Klanges
in der Musik. Der Sänger, der den Klang liebt und eine
schöne Stimme besitzt, nimmt Gesangsunterricht wegen
der Schönheit seiner Stimme und der Gesangslehrer nimmt
ihn ebenfalls wegen der Schönheit seiner Stimme an. Er
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lehrt ihn Töne hervorbringen, Worte aussprechen, Sinn
in den Text legen, er bringt ihm auch etwas Mimik bei,
einige allgemeine Verhaltungsmassregeln mit Rücksicht auf
das Publikum, — und dabei bleibt es! Der Schüler hat die
Musikzeichen erlernt; er weiss, dass eine halbe Note zwei
Viertel wert ist (sobald drei Viertel Vorkommen, ist er
verwirrt), dass ein Viertel gleich zwei Achteln (sobald
drei Vorkommen, nennt er sie eine Triole und singt sie,
wie ein Achtel und zwei Sechzehntel). Ferner weiss er,
dass ein Punkt nach einer Note dieselbe um die Hälfte
ihres Wertes verlängert, was ihn jedoch durchaus noch
nicht befähigt, die Länge zweier halben Noten zu messen.
Das erklärt sich nur dadurch, dass die Mehrzahl der
Sänger weder die rhythmische Gymnastik noch den durch
den Rhythmus belebten Ausdruck kennen, und dass die
Gesangslehrer dies nicht lehren. Alle Übungen, welche
die Stimme in ihren verschiedenen Registern ausgleichen
sollen, das portando, das legato u. s. w. schaden dem Ver-
ständnis für Zeitlängen und für die rhythmischen Anfangs-
und Ankunftsmomente, sobald dieses Verständnis nicht
im Voraus entwickelt ist. Denn diese Übungen ver-
wischen im höchsten Grade die rhythmischen Momente,
die Grenzen der Zeitlängen. Bei dem Sänger muss der
rhythmische Sinn in seinem ganzen Atmungs- und Sprech-
organismus vorhanden sein. Man kann nicht rhythmisch
singen ohne rhythmisch zu atmen und rhythmisch auszu-
sprechen. Vorausgehen muss die rhythmische Atmung, weil
der rhythmische Atemzug den rhythmischen Ton hervorruft.
Krst wenn der rhythmische Ton geformt ist, kann das
Wort hinzugefügt werden.
Dasselbe gilt für den Klavierspieler, der mit seinem
Spiel zu singen glaubt. Er merkt nicht, dass die Taste,
die er herabgedrückt hält, keinen Ton mehr von sich gibt,
er bildet es sich nur ein und «schwimmt in Tönen». Jeder
Ton fesselt ihn dermassen, dass er nicht an den folgen-
den denkt. Der rhythmische Bau der Melodie hat für ihn
keine Bedeutung, weil er ihn nicht im Geiste verstanden
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und ihn nicht physisch nachgefühlt hat. Da er noch nie
in seinen Gliedern und in seinen Atmungsorganen die
Empfindung für Zeitlängen, für die durch Kraftschattie-
rungen hervorgerufenen Akzente, für Bewegung in der
Zeit und dem Raume erlebt hat, kennt er nicht deren aus-
drucksvolle Kraft. Die Tonerzeugung und der Ausdruck
mittelst des Tones sind ihm geläufig und sympathisch,
aber er kennt nicht die Gymnastik des Rhythmus und
den Ausdruck mittelst des Rhythmus und daher ist dieser
ihm nebensächlich.
Es gibt noch weitere Gründe physischer Natur,
welche den Mangel an Rhythmus bei so vielen Instru-
mentalisten erklären : die Ungleichmässigkeit des Tonan-
schlages, die Unregelmässigkeit in der Klangfolge, die
Schwäche und die Ungewandtheit in der Tonproduktion,
die Schwerfälligkeit beim vom Blattlesen, die qualitative
und quantitative Übertreibung der Schattierungen, die
Unfähigkeit, mittelst der Finger die Empfindungen des
Gehirns wiederzugeben, und so weiter. Diese Fehler
rühren alle von einer unvollkommenen Ausbildung der
Muskelbewegungen und der Nervenzentren her, denn eine
vernünftige physische Übung' sollte sie vollständig über-
winden ober sie doch wenigstens abschwächen.
Die zu rohe Tonerzeugung findet ihre Ursache da-
rin, dass der Widerstand der Antagonisten nicht geregelt
ist. Der ganze Arm spannt sich an, um die Bewegung
vorzubereiten; und im Augenblick, wo die Bewegung an-
fätigt, ist die Kraftanstrengung der Synergisten zu gross
im Vergleich zu der auszuführenden Bewegung; die Hand
wird geschleudert, als wäre sie ein Gewicht, welches
man von sich wirft, und die Antagonisten leisten nicht
genügend Widerstand. Der rhythmische Moment stellt
nicht ein geregeltes Zusammentreffen, sondern einen un-
plastischen Zusammenprall dar.
Wie es bei geistig völlig normalen Menschen infolge
Mangels an Willensstärke eine Trägheit des Denkens gibt,
die verbunden mit Schüchternheit oder Ängstlichkeit zu
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Unsicherheit und gänzlichem Versagen des logischen Ur-
teils führen kann, so gibt es eine Erschlaffung der Tätig-
keit der Muskeln. Bei Personen, welche von Natur träge,
ihre Muskeln in regelmässiger und zweckmässiger Weise
auszuarbeiten unterlassen, verringert sich die Spannkraft
derselben bis zur energielosen Schwäche, die wiederum
rückwirkend auf alle Organe von schädlichstem Einfluss
ist. Diese Schwäche braucht nicht von einem organischen
Fehler oder einer Verletzung herzurühren; sie kann ledig-
lich Folge mangelhafter Ernährung oder unzweckmässiger
Ausbildung sein. Wie vielfach begegnen wir der Schwäche
des Tonangriffs, z. B. schwachem Anschlag der Taste,
mark- und kraftloser Bogenführung; die Erklärung hierfür
liegt im Vorgesagten, und unsere Methode will dieser
Vernachlässigung der Muskeltätigkeit steuern, indem sie
Anleitung gibt, wie man die Arbeitsfähigkeit aller Organe
hebt, und eine normale Tätigkeit der Arm- und Hand-
muskeln erzielt.
Ebenso verkehrt, wie die Ausdruckslosigkeit oder
Schwäche im Tonansatz, ist die Überreiztheit, die sich
durch Nervosität im Spiel äussert.
Es gibt Klavierspieler und Violinspieler, welche schon
bei der Berührung mit dem Instrument nervöse Aengstlich-
keit überfällt, die sich dann durch Zittern der Finger,
oder durch Transpirieren zu erkennen gibt. Der Anschlag
und Tonansatz ist zaghaft, ängstlich.
Der Ton wirkt matt, unsicher, kraftlos ohne jeden
dynamischen Gehalt. Im Erkennen der eigenen Unsicher-
heit und im angstvollen Bestreben, den gefühlten Mangel
auszugleichen, stürzt der Spieler plötzlich vorwärts, eine
Energie forcierend, die weder angebracht ist, noch lange
vorhält. Das Spiel wird nervös, sprunghaft, ungestüm
und zaghaft zurückhaltend. Die dynamischen Schattie-
rungen werden übertrieben, da die Reizwirkungen auf die
Nervenzellen, die durch die unausgeglichene Muskeltätig-
keit stossweise erfolgen, unabhängig vom Intellekt des
Spielers sind. Diese Reizwirkungen steigern sich bis
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zum Schmerzempfinden und schwächen die äusseren Wir-
kungen ab, und dem Spieler geht durch die in Folge der
Wiederholung abgestumpfte Empfindsamkeit die Vorstel-
lungsfähigkeit verloren.
Jede Bewegung, die wir ausführen, auch die kleinste
Muskelregung, ist die Folge einer Willenstätigkeit, die in
Energie umgesetzte Funktion des Gehirns, d. h. also unsere
Muskelbewegungen stehen mit der Gehirntätigkeit, als von
ihr ausgehend, im engsten Kontakt. Wenn sich daher im
Gehirn der Gedanke auslöst, dass der Finger eine Be-
wegung machen soll, und der betr. Muskel reagiert nicht
darauf, oder er führt eine entgegengesetzte Bewegung aus,
oder er lässt den Finger eine Bewegung machen, ohne
dass überhaupt eine Veranlassung der Gehimtätigkeit vor-
liegt, so beweist dies, dass den Muskeln, dem organischen
Körper die rechte Zucht, die nötige Ausbildung fehlt
Oft weiss der Spieler ganz genau, wie der Finger
diesen oder jenen Ton anzuschlagen hat, aber der Finger
versagt. Die Ausführung bleibt hinter dem Willen des
Spielers zurück.
Es muss also darauf hingewirkt werden, die betref-
fende Person so zu erziehen, dass sie Herr über sich selbst
wird. Nervöse, ängstliche Naturen müssen mit nie ver-
sagender Geduld, mit milder aber fester Führung über die
Klippen hinweggeleitet werden, damit sie sich nach und
nach beruhigen und Vertrauen und Sicherheit gewinnen.
Ausführliche Muskelbewegungen, wobei besonders
auf gleichmässige dynamische Entwickelung jedes Muskels
mit steter Steigerung der Kraft zu achten ist, müssen die
Organe in das richtige Abhängigkeitsverhältnis zur Willens-
tätigkeit bringen; der Muskelsinn muss geweckt und die
Fähigkeit der Wiedergabe durch Bewegungen gehoben
werden. Der Spieler wird auf diese Weise dazu erzogen,
bei jeder Bewegung, die er zufolge einer im Gehirn aus-
gelösten Willensenergie vornehmen will, die hierzu nötigen
Muskeln genau zu kennen, den Grad des Kraftaufwandes
mit absoluter Sicherheit abzuschätzen und die passive oder
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zuweilen entgegengesetzt wirkende Tätigkeit der nicht
direkt beteiligten Muskeln sorgfältig zu modulieren.
Die Übung der Muskeltätigkeit unter der strengen
Disziplin des Willens wird stets von gutem Erfolg sein,
wenn es sich beim Schüler um Fehler und Schwächen
handelt, die sich physiologisch erklären lassen.
Für rein mechanische Störungen, mit denen uns zu
befassen, hier nicht der Ort ist, verweisen wir auf rein
mechanische Behandlung, die in dem System des H. Dr.
Zander ihre höchste Ausbildung erreicht hat.
Das Gebiet dieses Studiums ist ein recht ausgedehntes,
und je mehr Sie sich in unsere Ideen hineinarbeiten, desto
mehr werden Sie dessen bewusst werden, dass wir nicht
aus Pendanterie die Physiologie in die Lehre des musi-
kalischen Rhythmus, hineinziehen. Als wir anfingen, diese
Ideen auf unsere Schüler anzuwenden, waren wir weit
entfernt, daran zu denken, dass wir uns eines Tages mit
Psychologie und Gehirnfunktionen beschäftigen würden.
Wir sind dahin geführt worden durch den Drang, die Ur-
sachen der Erscheinungen, die wir tagtäglich beobachten,
zu ergründen. Und da erst haben wir die Tragweite des
alten lateinischen Spruches verstanden : Mens sana in
corpore sano. Alle musikalischen Fehler haben eine phy-
sische Ursache und daher auch physische Mittel, sie zu
kurieren. Betrachten Sie z. B. den so häufigen Fehler,
Musik nur mit Mühe und sehr langsam vom Blatt zu lesen.
Haben Sie nicht bemerkt, dass dieser Fehler auch bei
sehr tüchtigen Musikern vorkommt, und dies alles sollte
nicht beweisen, dass man sich im Irrtum befindet, wenn
man bei den Prüfungen der Musiklehrer dem vom Blatt-
lesen die grösste Wichtigkeit beimisst? Kennt man nicht
begabte Schriftsteller, die nur mit Mühe ihre eigenen
Werke vortragen können, die ein Wort mehrmals wieder-
holen und manchmal sogar ganze Sätze überspringen?
Hiefür liesse sich eine ganze Reihe von Gründen anführen.
Denken Sie nur einmal an eine gewisse Nervosität des
Augenmuskels, die das Auge, während das Gehirn sich
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noch mit dem eben auf der Netzhaut entwickelten Bilde
beschäftigt, in unruhiger Hast sprung- oder ruckweise in
unregelmässigen Intervallen eine Strecke vorauseilen lässt.
Das Auge kann nicht mehrere Noten auf einmal in sich
aufnehmen, das Auge folgt der Entfaltung der Melodie
nicht schnell genug, da es noch auf einer Note haftet,
während es schon die folgende lesen sollte. Die blosse
Übung des vom Blattlesens, häufig wiederholt, genügt
oft, das Auge auszubilden, ebenso wie häufiges und langes
Singen die Lungen entwickeln kann. Aber gelangt man
nicht schneller zu einer Vergrösserung des Brustkastens
durch besondere und sich steigernde Übungen ? Und
würden nicht zweckmässige Übungen für Kopf und Augen
schneller die Trägheit der Letzteren überwinden helfen
als die sog. Prima vista-Übungen, Man lasse doch zuerst
mit einem Auge, dann mit dem anderen und schliess-
lich mit beiden die Noten lesen, wobei der Kopf unbe-
weglich bliebe, später mit Kopfbewegungen nach rechts
und links mit Richtung der Augen nach derselben oder
der entgegengesetzten Seite ! Man lasse bei diesen
Übungen eine Note fixieren, hierauf eine zweite darüber
befindliche, deren Bild im Gedächtnis behalten wird, und
wende den Blick auf die erste zurück ohne der zweiten
mehr noch, als eine flüchtige Aufmerksamkeit zu schenken,
so wird ganz gewiss in kurzer Zeit das Gesamtgesicht
entwickelt. Wir kommen übrigens in der 4. Vorlesung
zu gewissen Übungen, die das Gedächtnis der Augen
schärfen sollen.
Zum Schluss des ersten Abschnittes sei nochmals
darauf hingewiesen, dass die Mehrzahl der Musikstudieren-
den den Rhythmus des Klanges, das Ziel des Unterrichts,
mit dem plastischen Rhythmus, dem Mittel zum Ziel ver-
wechseln, und dass die Fehler, die sie begehen, ihrer Un-
kenntnis der Bewegungselemente zuzuschreiben sind. Sie
begehen die Fehler unwillkürlich, ohne sich ihrer bewusst
zu sein, wiederholen sie und daraus entstehen allmählich
schlechte Gewohnheiten, die ihr Urteil verderben, ihren
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Geist umnebeln und ihre allgemeine Nervosität noch ver-
grössern. Die Nerven welche zwischen dem Gehirn und
den Bewegungen als Vermittler dienen, leiden unter dem
Mangel an Einverständnis zwischen dem Gehirn und den
Muskeln. Jeder Vermittler empfindet seine Stelle als
unerträglich, wenn der Vorgesetzte, von dem sie abhängt,
und die Untergebenenen, die von ihr abhängen, sich nicht
verständigen können. Er reicht seine Entlassung ein und
damit ist die Sache zu Ende. Die Nerven aber, die Ver-
mittlerinnen zwischen den Bewegungen und dem Gehirn,
müssen sich in der allgemeinen Zerfahrenheit zurecht
finden, sie können ihre Entlassung nicht einreichen. Wenn
ein Kind nervöse Bewegungen zeigt, darf man es unter
keinen Umständen ein Instrument erlernen lassen, es be-
darf geregelter Bewegung. Nervöse Bewegungen sind
schrankenlos, sie sind falsch betont, die Länge ihrer Zeit-
einheit ist zu gross, oder ihre Raumdimension ist zu gross ;
sie sind unwillkürlich und unregelmässig; die rhythmische
Gymnastik kann die Nerven kurrieren, denn sie regelt die
Muskelkraft nach Zeit und Raum.
Wenn ein Kind infolge des Studiums eines musika-
lischen Instrumentes nervös wird, so lasse man es sofort
aufhören und zuerst Rhythmusgymnastik treiben. Wenn
einmal der Geist rhythmisch gebildet ist mittels der wieder-
holten Eindrücke der regelmässig abgemessenen und be-
tonten Bewegungen, der harmonischen Verhältnisse ihrer
Längen, des harmonischen Verhältnisses ihrer Dynamik,
so wird das Zusammenarbeiten des rhythmischen Bewusst-
seins und der rhythmischen Bewegungen herbeigeführt
sein und die Nerven werden in Ruhe ihre Tätigkeit erfüllen.
Bisher war hauptsächlich von der Linie der Bewe-
gung die Rede: jede Bewegung hat jedoch auch eine
Kraft. Der Mangel an Rhythmussinn kann sich durch zu
grosse oder zu geringe Schwere des Anschlages offen-
baren. So kommt es, dass manche Schüler stärker mit
einer Hand als mit der anderen spielen, da sie nicht im-
stande sind, die wesentlichsten Noten herauszuheben. Denn
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jede Bewegung ist eine Einheit, die durch einen gewissen
Grad von Kraft und durch einen gewissen Teil von Zeit
und Raum gebildet wird, und jede Modifikation eines
dieser drei Faktoren wird den rhythmischen Stoss im
Moment des Eintretens und daher auch die Güte der
daraus resultierenden Klangschwingungen beeinflussen.
Weder die rechte noch die linke Hand haben auf
dem Klavier eine natürliche Stellung. Jede Hand hat von
Haus aus weniger Kraft an der Seite des kleinen Fingers,
als an der Seite des Daumens. Die Bassnoten sind tiefer
als die des Violinschlüssels. Damit die hohen Töne der
rechten Hand dieselbe Tonstärke bekommen wie die,
welche von den stärkeren Fingern gespielt werden, be-
dürfen sie einer grösseren plastischen Schwere, obwohl
sie von den schwächeren Fingern gespielt werden. Die
Basstöne geben den scharfen Tönen die Abrundung. Je
schärfer die Töne sind, desto greller und klangarmer sind
sie und desto mehr bedürfen sie der Mitarbeit des Basses.
Je mehr der Basston starke Schwingungen aufweist, desto
mehr gewinnt die ganze Harmonie an Tonfülle. Sogar,
wenn die linke Hand in dem Bass eine Oktave anschlägt,
so ist der kleine Finger derjenige, der mit grösserer Wucht
auf die Taste herabfallen muss als der Daumen. Wir
müssen jedoch nicht allein die naturwidrige Stellung der
Hände betrachten. Nehmen wir an, dass alle Finger mit
jeglicher notwendigen Stärke herabfallen könnten, so bleibt
doch die Tatsache übrig, dass die anzuschlagenden Tasten
sich in verschiedenen Entfernungen befinden und dass man
sie nicht nur von oben anschlägt, sondern auch von weit
entfernt. Die Regelmässigkeit der gleichen Zeitlängen
bedingt nicht ohne weiteres die Regelmässigkeit der plas-
tischen Linien : eine Taste wird angeschlagen { v , die
folgende y, die dritte •"*“■>, die vierte''*, die fünfte ,
die folgenden /*-, t u. s. w.
Ein grösserer Raum für dieselben Zeitlängen führt
eine grössere Schnelligkeit herbei und diese verlangt einen
höheren Grad von Kraft, um eine schlechte Betonung im
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Ankunftsmoment zu vermeiden. Das Studium des Rhythmus
ist das Studium der Muskelkraft, der Zeit- und Raummasse
und des Einflusses, den die Grössen dieser drei Faktoren
gegenseitig aufeinander ausüben. Es genügt nicht, einem
Kinde zu sagen: Betone hier oder betone hier nicht, der
Auftakt wird stärker betont ! Das Kind mag wohl die
guten Ratschläge des Lehrers wiederholen, doch damit ist
nicht abgetan, dass die Gymnastik des Auftaktes unendlich
modulierbar ist, und dass dieser in bezug auf die Gymnastik
des Rhythmus völlig im Dunkeln steckt.
Wenn wir Beispiele aus dem Gebiete der vom Klavier-
spiel bedingten Bewegungen wählen, so geschiet es, weil
die Klaviertechnik am weitesten verbreitet ist. Wir könnten
gerade so gut von den kontrastierenden Bewegungslinien
sprechen, die der Organist mit seinen Beinen auszuführen
hat, von dem Hasten des Sängers (aus Atemnot), von der
verschiedenen l.änge der Armbewegungen, die den Rhyth-
musakzent des Posaunisten nicht beeinflussen darf, aber der
Vortrag würde zu lang werden. Die angeführten Beispiele
werden auch genügen, um die Tatsache zu illustrieren, dass
der Rhythmus physischen Ursprungs ist.
Der Geist bildet sich, entwickelt sich und wird sich
seiner selbst bewusst und von anderen unabhängig, kraft
selbständiger Betätigung. Der Rhythmussinn macht dabei
keine Ausnahme: er wird durch die Rhythmusgymnastik
ausgebildet. Wie das kleine Kind in der Wiege das Auge
offen hält, um Lichtstrahlen zu empfangen, und seinen
Geist, um Eindrücke aufzufangen, so sind die Muskeln
des 6 Jahre alten Kindes bereit, Rhythmus auszuführen,
und sein Geist bereit, sich der Erziehung zum Rhythmus
zu unterziehen. Der Rhythmus ist physischer Natur, er
ist die Bewegung der Materie in Zeit und Raum in
logischer und verhältniswahrender Einteilung. Die Lebens-
aufgabe eines jeden Muskels besteht darin, Bewegungen
von gewisser Stärke und gewisser Länge und in einem
gewissen Raume hervorzubringen. Indem man die Ver-
hältnisse dieser drei Bewegungselemente logisch ordnet,
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ruft jeder Muskel einen rhythmischen Eindruck im Gehirn
hervor und dieses setzt die Summe der Eindrücke um in
Willen , d- h. in regelmässige Gewohnheiten, in stete spon-
tane Aktionsbereitschaft und in gänzliche Freiheit der Vor-
stellung. So werden die grossen Bewegungskräfte des
Geistes gebildet.
Die bisher angedeuteten Ideen werden in den drei
folgenden Vorträgen weiter ausgeführt. Die Erziehung
guter Bewegungsgewohnheiten und des selbsttätigen Willens
werden den Inhalt des 2. Vortrages bilden- Das Gehirn
ist der grosse Lenker unserer Handlungen: der Geist er-
wacht durch die Materie; einmal geweckt, wird er sie
leiten. Der rhythmische Sinn der Kinder muss durch rhyth-
mische Bewegungen aller ihrer Glieder erweckt werden.
Dann wird ihr Wille sie vollständig beherrschen.
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2. Vortrag.
Das Gehirn, als Sitz der geistigen Tätigkeit und des
Willens, ist der Ausgangspunkt jeder Bewegung der Körper-
teile. Vom Gehirn aus gehen nach sämtlichen Körper-
teilen, gleich Telegraphendrähten, die Nerven, und diese
wiederum übertragen die im Gehirn ausgelöste Willens-
äusserung auf die Muskeln, welche sich in Faserbündeln
längs der Knochen und Gelenke, mit diesen teilweise ver-
wachsen, durch das Fleisch des ganzen Körpers hindurch-
ziehen. Der Wille wird durch die Muskeln in Kraft um-
gesetzt. Die Bewegungsfähigkeit der Muskeln hängt von
ihrer Geschmeidigkeit und Elastizität ab; sie können sich
strecken, dehnen, sich zusammenziehen und sich seitlich
drehen (Torsionsfähigkeit). Die Knochen samt den weichen
Fleischteilen folgen gehorsam jeder dieser Muskelbewe-
gungen, die Glieder bewegen und drehen sich nach jeder
Richtung, die Gelenke strecken sich oder ziehen sich zu-
sammmen.
Der Muskel muss gegenteiligen Bewegungen freien
Spielraum lassen. Wenn ich beispielsweise zur Ausführung
des Oktav-Staccatos auf dem Piano die Hand erhebe, dann
sind alle Muskeln, welche durch die Innenseite des Hand-
gelenkes gehen, im letzten Augenblick der Bewegung voll-
ständig gestreckt. Sie erhalten eine grössere Länge, als
wenn die Muskeln der Aussenseite der Hand in passivem
Zustand sind. Der gestreckte Muskel ist durch das Strecken
dünner und härter geworden.
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Wenn der Muskel einer gegensätzlichen Bewegung
nachgibt, so wirkt der Wille in negativem Sinn, indem er
sich jeden Einflusses auf diesen Muskel enthält.
Wenn der Muskel am kürzesten und am härtesten
ist, dann hat er den höchsten Grad seiner Tätigkeit er-
reicht. Er befindet sich dann im Zustand aktiver Spannung.
Wenn er am längsten und am härtesten ist, dann befindet
er sich im höchsten Grade der Passivität und im Zustande
passiver Gestrecktheit.
Das übertriebene aktive Spannen ist der Geschmeidig-
keit schädlich und kann nachteilig auf die Muskelschwel-
lung einwirken.
Die passive Überstreckung kann einen Teil des Mus-
kels zerreissen und seiner Zusammenziehbarkeit schaden.
Deshalb muss die Geschmeidigkeit des Muskels die die
gegenteilige Bewegung ausführende Muskelkraft übertreffen.
Ein Muskel ohne den geringsten Grad von aktiver
oder passiver Spannung ist weich. In einem solchen Zu-
stand der Weichheit sind alle Muskeln des Körpers in
liegender Haltung. Deshalb ist auch die liegende Haltung
zur Erlernung einer zweckmässigen Atmung die beste. Die
Muskeln der vier Extremitäten, der Oberfläche des ganzen
Rumpfes, des Brustkorbs und des Unterleibs dürfen weich
sein, denn in liegender Haltung ist ihre Zusammenziehung
durchaus überflüssig. In weichem Zustand widersetzen sie
sich nicht unnötigerweise der Bewegung des Atmungs-
apparates. Aus diesem Grunde legt sich der Mensch zum
Schlafen nieder.
Die Tätigkeit der Muskeln ist eine Äusserung des
Willens und entspringt mithin der Gehirntätigkeit. Um
schlafen zu können, muss das Gehirn im Zustand völliger
Ruhe sich befinden. Die Muskeln sollen nicht gestreckt
sein, mit Ausnahme der unwillkürlichen Bewegungen des
Kreislaufs, der Verdauung und der Atmung. Wenn man
jemand schlafen sieht, so weiss man, dass sein Geist nicht
ruhig ist, wenn seine Muskeln dies nicht sind.
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Ein Muskel, der nicht imstande ist, sich gehörig zu-
sammenzuziehen, ist schwach. Ein Muskel in passivem Zu-
stand, der sich nicht genügend strecken lässt, ist steif; man
könnte ebenso gut sagen, er sei ein wenig zu kurz. Um
ihn zu stärken, muss er oft energisch zusammengezogen
werden.
Um die gewünschte Geschmeidigkeit zu erzielen, ist
es nötig, des öftern gegenteilige Bewegungen auszuführen.
Wenn die Kraft dieser gegenteiligen Bewegungen
nicht genügt, so wende man fremde Kraft an in Form eines
befestigten Gegenstandes oder auch der Muskelkraft einer
Drittperson. In allen Fällen, wo die Übungen nicht ge-
nügen, nehme man Zuflucht zur Massage. Für jede Tätig-
keit, für das Turnen im allgemeinen wie für unser rhyth-
misches Turnen, brauchen wir starke und elastische Muskeln.
Die künstlerische Hand des Klavierspielers, des Chirurgen,
des Malers oder Bildhauers ist geschmeidig und dynamisch.
Der rhythmisch künstlerische Körper ist voll Geschmeidig-
keit und Dynamik.
Wie wir schon in der Einleitung bemerkt haben, ist
der Apparat, der den menschlichen Willen in Energie um-
setzt, ein sehr komplizierter, indem die Anregung vom
Gehirn ausgeht und sich durch Nerven und Rückenmark
auf die Muskeln fortpflanzt.
Die Intelligenz des kleinen Kindes entwickelt sich
durch das Auge und gibt sich im Blick kund, mit welchem
es das von seiner Mutter im Zimmer herumgetragene Licht
verfolgt. In gleicher Weise entwickelt sich der Wille und
bekundet sich durch die Muskeltätigkeit. (Der Wille ent-
wickelt sich auch durch den Wunsch; im 4. Vortrag, in
welchem unsere Gedanken über die bewegende Kraft der
Vorstellung dargelegt werden sollen, kommen wir hierauf
zurück.) Die zuerst empfangenen Eindrücke von Gegen-
ständen, von Lebewesen, von der Natur, geben der Intelli-
genz des Kindes ihre erste Form. Die ersten Handlungen, die
wir durch das Kind vornehmen lassen, geben seinem Willen
die erste Richtung und die erste Form. Soll das Kind einen
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Willen besitzen, d. h. eine rhythmische Intelligenz, so muss
man es auch eine rhythmische Tätigkeit ausführen lassen,
und zwar mit dem ganzen Körper, mit allen seinen Muskeln,
denn jeder Muskel bedarf des Willens und mit seiner will-
kürlichen (positiven wie negativen) Tätigkeit trägt er zur
Erziehung des Willens bei. Der Wille hat seinen Sitz im
Gehirn. Er ist die Quelle jeglicher Tätigkeit. Die Nerven
sind die Leitungsdrähte, die Muskeln sind die Tätigkeit
seihst.
Der Wille, die Nerven, die Muskeln sind für einander
geschaffen. Wie das Auge ohne Licht erblindet, so ver-
mindert sich auch der Wille ohne genügende Tätigkeit,
diese verschwindet mit dem Abnehmen des Willens und
der Nervenzustand wird durch eine Verminderung der
Tätigkeit und des Willens in Mitleidenschaft gezogen. Ein
fortwährender Verkehr der Organe unter sich ist für die
Gesundheit der Nerven, der Muskeln und des Gehirns un-
entbehrlich.
Will man dem Gehirn das rhythmische Bewusstsein
geben, so muss man auch den Muskeln Rhythmus ver-
schaffen, damit die Nerven (die Gefühlsnerven) ihn dem
Gehirn zuführen; ausserdem braucht das Gehirn Rhythmus,
damit die Nerven (die Bewegungsnerven) ihn den Muskeln
vermitteln. So sind eben Körper und Geist unzertrennbar
verbunden. Was für das Leben unentbehrlich ist: denken
und handeln, wird eins, d. h- die Willkürlichkeit wird ge-
ordnet.
Die Tätigkeit des Gehirns (der Wille) wirkt als Reiz
auf die Nerven; diese bilden also den wichtigsten Faktor,
das unentbehrliche Bindeglied zwischen Gehirn und Muskeln.
Ohne die Nerven würden die Muskeln der Willenskraft
nicht gehorchen. Doch sind wiederum die Nerven allein,
ohne den im Gehirn ausgelösten spiritus rector, nicht im-
stande, die Muskeln zu einer Bewegung zu veranlassen.
Höchstens können sehr empfindsame Nerven, wie einige
Physiologen behaupten, den vom Gehirn ausgehenden Reiz
verstärken.
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Haben die Bewegungsnerven einer Gruppe von Muskeln
den Befehl des Willens mitgeteilt, so ziehen sich diese
Muskeln zusammen. Der durch die Nerven hervorgerufene
zusammengezogene Zustand heisst: die muskuläre Inner-
vation. Ebenso kann der Wille den Befehl des Loslassens
oder der Dekontraktion geben.
Die zwischen dem Anfang und dem Ende einer Zu-
sammenziehung verflossene Zeit hat im Gehirn, durch das
Gefühl der Muskelstreckung, die Wahrnehmung der Dauer
geschaffen.
Die erste Aufgabe des rhythmischen Turnens besteht
darin, den Geist an Muskelstreckungen von gleichrnässiger
Dauer, mit andern Worten: an den Takt zu gewöhnen.
Die muskuläre Innervation kann von verschiedener Stärke
sein. Die zweite Aufgabe besteht also darin, den Geist an
regelmässige, abgemessene Betonung: die Metrik, zu ge-
wöhnen. Die muskuläre Innervation schafft den Rhythmus
durch die Regulierung der Zeitdauer und der Betonung.
Der Rhythmus wird weder empfangen noch wahrgenommen
ohne muskuläre Innervation und dies bildet den Gegenstand
fortwährender Bemerkungen seitens des Lehrers. Um des
Rhythmus willen, des Hauptzweckes unseres Unterrichts,
halten wir darauf, dass die Kinder keine Strümpfe tragen,
dass 'sie nackte Arme haben, keinen Kragen tragen und
ihren Leib nur mit einem Jersey bekleiden. Einzig unter
dieser Bedingung kann sich der Lehrer von den verschie-
denen Graden der Innervation, sowie von vielen unnützen
Zusammenziehungen (Kontraktionen) überzeugen.
Wir verlangen von den Eltern unserer Schüler, dass
sie mit denselben die Übungen wiederholen, um so die
Bedingungen zu erfüllen, die ihnen die Lektion allein nicht
zu bieten vermag. So sollen sie Innervationsübungen der
Oberschenkel (ohne Kleider), Atmungsübungen (ebenfalls
ohne Kleider) vornehmen, um die Bewegungen des Atmungs-
apparates beaufsichtigen zu können und zwar bei offenen
Fenstern, damit die Kinder reine Luft einatmen. Auch die
verschiedenen Übungen der Arme müssen zu Hause ohne
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Kleider wiederholt, und dabei die Zusammenziehung der
daran teilnehmenden Brust- und Rückenmuskeln überwacht
werden.
Drei hauptsächliche Faktoren kommen bei der mus-
kulären Innervation in Betracht: der Wille, die Nerven und
die Muskeln. Dieser Umstand zeigt uns auch die Ursachen
unvollkommener Tätigkeiten:
1. Mangel oder Übertreibung des Willens. In diesem
Falle kann der Wille durch Muskelübungen regliert,
gestärkt und geformt werden.
2. Mangel oder Missverhältnis der Nerventätigkeit.
Der Wille regliert und stärkt sie.
3. Unvollkommene Muskeltätigkeit. Sie kann durch
den Willen und die Nerven verbessert werden.
Um bei den Kindern einen rhythmischen Geist zu
erzielen, muss der Lehrer stets den Willen, die Nerven-
tätigkeit und die muskuläre Innervation überwachen. Ins-
besondere wende er seine Aufmerksamkeit den zwei fol-
genden Punkten zu:
1. Die Muskeln sollen das ausführen, was man von
ihnen verlangt, nicht nur im gegebenen Raum und in
der gegebenen Zeitdauer, sondern auch in dem ge-
gebenen Grade der Innervation.
2. Die Muskeln, welche keinen Befehl erhalten, sollen
an der Bewegung nicht teilnehmen.
Die unnützen Innervationen ausmerzen, heisst den
goldhaltigen Sand waschen, bis lauter Goldkörner übrig
bleiben. In unserm speziellen Fall bedeutet es, den Geist
von allen Muskelempfindungen befreien, welche das rhyth-
mische Bild undeutlich gestalten. Wenn beispielsweise das
Kind mit dem rechten Arm den Takt schlägt und zugleich
den linken Arm (oder die Achsel) zusammenzieht, so kann
sich sein Geist nicht allein auf die Bewegungen des rechten
Armes konzentrieren. Ist man soweit gekommen, die un-
nützen Bewegungen zu unterdrücken, so hat man damit
günstigere Bedingungen für die Entwicklung des Geistes
geschaffen. Sehr oft ist ein solches Zusammenziehen beim
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Kind das Zeichen einer gewissen moralischen Gedrücktheit,
die hervorgerufen wird durch die mit jeder neuen Übung
wiederkehrende Furcht vor der Schwierigkeit derselben.
Der Geist beschäftigt sich unnützerweise mit diesem be-
ängstigenden Gedanken. In vielen Fällen genügt es, diese
zu zerstreuen, um die unnütze Tätigkeit auszumerzen. Der
von jeglichem Angstgefühl befreite Geist kann seine ganze
Aufmerksamkeit der Aufgabe des rechten Arms zuwenden
und erhält dadurch einen viel klareren Eindruck. Ein
Mensch mit entwickeltem rhythmischem Bewusstsein wird
bei einem Versuch bald herausfinden, dass unnütze Be-
wegungen einen ungünstigen Einfluss ausüben auf die der
auszuführenden Bewegung gewidmete Aufmerksamkeit.
Der Lehrer besitzt kein besseres Mittel, die ängst-
lichen Gedanken des Kindes zu zerstreuen, als ihm Freude
zu verschaffen. Hierüber werde ich in meiner 4. Vorlesung
sprechen.
Nur in einem Falle wird durch die Nerven, ohne An-
regung vom Gehirn aus, ein Reiz auf die Muskeln ausge-
übt, der, ohne unseren Willen, eine Bewegung veranlasst.
Das ist die sogenannte Reflexbewegung, die vom Rücken-
mark ausgeht. Das Rückenmark, gewissermassen die Zen-
tralleitung aller Nerven des Rumpfes und der Glieder,
bildet die Fortsetzung des Gehirns in vertikaler Richtung,
und nimmt alle Nervenfäden, die Gefühls- wie Bewegungs-
nerven in sich auf. In der Form einer starken weissen Schnur
besteht es aus der weissen Substanz, der äusseren Schicht
des Rückenmarks, in deren vorderem Teile die Gefühls-
nerven sich vereinigen, während in der hinteren Schicht
die Bewegungsnerven laufen. Die innere Schicht des
Rückenmarks bildet die graue Substanz und hier haben
wir die Nervenzellen, das Nervenzentrum, wo sich alle
Gefühls- und Bewegungsnerven berühren. Hierin liegt der
Grund, dass ein äusserer, nicht vom Gehirn, d. i. vom
Willen abhängiger Reiz auf die Gefühlsnerven sich ohne
weiteres auch den Bewegungsnerven mitteilt und spontane
Muskelbewegungen hervorruft.
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Wir haben es hier also mit einer Art Resonanz der
beiden Nervengattungen zu tun, die ohne Veranlassung des
Gehirnes die Rückschlags- oder Reflexbewegung auslöst.
Die Bewegung des Niessens z. B. ist eine Reflexbewegung.
Die Gefühlsnerven bringen uns allerdings zum Bewusstsein,
dass wir messen werden, allein die Bewegung selbst ist
eine unwillkürliche. Darum kann der Wille es auch nicht
verhindern. Das einzige Mittel besteht in dem Versuch,
die Ursache zu entfernen, z. B. durch dreimaliges Herab-
streichen mit den Fingern über die Nase. Hören dann die
Gefühlsnerven auf, ihren Eindruck dem Rückenmark mit-
zuteilen, so hört man auch zu niessen auf. Fahren sie aber
fort, dies zu tun, so wird auch der Wille nicht imstande
sein, diese Reflexbewegung zu unterdrücken.
Der Wadenkrampf, das nervöse Zittern der Augen-
lider sind ebenfalls Reflexbewegungen, deren Gefühlsur-
sache unser Verstand nicht kennt. Vom Gehirn aus führt
ein Nervenstrang, welcher Empfindung und Bewegung
mitteilt, nach dem Rückenmark bis zur Zentralnervenzelle.
Die von den verschiedenen Körperteilen ausgehenden
Empfindungs- und Bewegungsnerven münden in derselben
Zentralnervenstelle. Bei der Reflexbewegung nun leitet
die durch irgend einen äusseren Reiz hervorgerufene
Empfindung durch den Gefühlsnerv bis zu einer Zentral-
zelle des Rückenmarks, wo ein Bewegungsnerv mit dem
Gefühlsnerv sich berührt und den von letzterem geleiteten
Reiz ohne weiteres in sich aufnimmt, um ihn in Tätigkeit,
d. i. Bewegung umzusetzen, ohne dass der Reiz in den
nach dem Gehirn führenden Nerv gelangt. Der Reiz
hält also seine Leitungsrichtung nicht ein, sondern wird in
der Nervenzelle des Rückenmarks zurückgeleitet, reflektiert.
Die Reflexbewegungen tragen also zur Bildung des
Willens nicht bei. Wenn ich mich nun trotzdem bei den-
selben aufgehalten habe, so geschah es um Ihnen zu
zeigen, dass verschiedene Kategorien unwillkürlicher Be-
wegungen existieren. Die Unterscheidung dieser Katego-
rien von Bewegungen ist dem Lehrer des rhythmischen
Turnens unentbehrlich.
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Eine dieser Kategorien besteht in unbewussten Be-
wegungen. Diese Bewegungen dauern fort, auch wenn
wir schlafen. Sie sind zum Leben nötig! So ist z. B.
der Herzmuskel ein unbewusster Muskel. In gewissen
Momenten zeigen uns die Gefühlsnerven seine beschleunigte
Tätigkeit an, so dass wir uns dieser unbewussten Bewe-
gung bewusst werden. Die Bewegung selbst ist aber
ausser dem Bereich unseres Willens. Sie wird jedoch
beeinflusst durch unsere Muskeltätigkeit, und deshalb wer-
den die unbewussten Bewegungen in unser Programm
einbezogen. Da das Herzklopfen durch den Marsch be-
schleunigt wird und durch die Atmung reguliert werden
kann, so versteht es sich von selbst, dass der Lehrer die
unbewussten Muskelkontraktionen studieren muss. Die
Atmung, welche unbewusst unser ganzes Leben lang an-
hält, ist jedoch nicht vollkommen unbewusst, denn unser
Wille kann direkt auf sie einwirken. Alle Muskeln des
Atmungsapparates können eine bewusste Einwirkung aus-
üben, auch das Zwerchfell ist nicht absolut unbewusst.
Die Bewegungen des Zwerchfells sind halbbewusste. Wir
können das Atmen nicht verhindern, können es aber durch
unsern Willen beschleunigen oder verlangsamen, stärker
oder schwächer atmen, die Bewegung des Zwerchfells in-
begriffen. Das heisst, die Atmung kann durch Zeit und
Raum beschränkt oder rhythmisch gestaltet werden und
so zur Entwicklung des Willens, des rhythmischen In-
stinktes beitragen-
Die letzte Kategorie unwillkürlicher Bewegungen sind
die selbsttätigen Bewegungen, welche zuerst willkürlich,
nachher unwillkürlich werden. Sie sind von grösster
Wichtigkeit für die Übungen des rhythmischen Turnens.
So kennen wir eine ganze Reihe von Bewegungen,
die von dem Individuum unbewusst, d. i. ohne direkte
Willenskundgebung des Gehirns, lediglich aus Gewohnheit
vollzogen werden. Wenn ein Kind erst einmal fähig ist,
auf den Beinen zu stehen, dann erfolgt die Bewegung des
Gehens rein mechanisch, das heisst, ein Fuss setzt sich
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vor den anderen, zunächst ohne dass der Wille dabei
mitwirkt, unter einer Zusammenwirkung der natürlichen
Gesetze der Schwere und des Gleichgewichts. Obschon
die Wiederholung dieser Bewegung durch Rückschlags-
oder Reflexeffekte ausgeführt wird, so sind doch die
Marschbewegungen nicht eigentliche Reflexbewegungen,
denn der Wille kann sie sistieren, was beim Niessen nicht
der Fall ist. Die eigentlichen Reflexbewegungen sind nie
willkürliche gewesen und können es auch nie werden,
während die selbsttätigen Bewegungen zuerst willkürliche
sind und später durch den Willen verhindert, sistiert oder
beschränkt werden können, wenn dies nötig wird.
Alle Bewegungen, die eine grosse physische An-
strengung erfordern, bedingen naturgemäss auch eine be-
schleunigte Gehirntätigkeit, die mit der Zeit nachlässt und
eine natürliche Abspannung erreicht, so dass mit dem
Willen auch die Tat erlahmt.
Bewegungen, die nicht unbedingt eine bewusste, an-
haltende Funktion des Gehirns erfordern, fallen uns des-
halb viel leichter und werden am raschesten Gewohn-
heitsbewegungen. Dazu gehört in erster Linie das Gehen,
die Marschbewegung, die sich, sobald der Wille erst ein-
mal Anregung geben kann, ganz allein, ohne Gehirntätig-
keit, vollzieht.
Wir haben absichtlich dem Bein die Rolle der
Wiedergabe jeglicher Zeitdauer zugedacht, weil, wie eben
gesagt, der Marsch von allen Bewegungen am leichtesten
selbsttätig wird. Der grosse Vorteil der selbsttätigen Be-
wegungen ist, wenn sie richtig gelernt sind, der, dass sie dem
Gehirn die Freiheit lassen, seine Aufmerksamkeit einer
andern Sache zuzuwenden. Es besteht für den Menschen
also die Möglichkeit, die selbsttätige Bewegung mit irgend
einer willkürlichen oder gewollten Bewegung zu verbinden.
So üben wir zuerst den Takt im Marsche und sobald
der Geist sich nicht mehr mit seinem regelmässigen Tempo
beschäftigt, fügen wir die Bewegungen der Arme hinzu.
Wenn die vereinten Bewegungen der Arme und Beine im
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*/•*, 9 A un< l */* Takt automatisch werden, dann fügt man
abermals ein neues Element hinzu. Zu den automatischen
Bewegungen der Arme kommt eine neue Übung des
Beins. Die doppelte Dauer, welche sich durch Zusammen-
zug von zwei Zeiten ergibt, wird durch das Bein in zwei
Bewegungen zerlegt. Die Gliederung der ^ in zwei
gleiche Teile ist automatisch geworden und die Beine im
Verein mit den automatischen Bewegungen der Arme
markieren nun eine neue Dauer. So geht es während
des ganzen Unterrichts, bis alle Bewegungen der Zeit-
dauer und der Betonung automatisch geworden sind.
Sie werden entweder durch das Kommando des Lehrers,
oder durch vorgelegte Noten oder durch Musikbegleitung
hervorgerufen.
Wenn jede Dauer für sich und alle Betonungen
automatisch geworden sind, dann ist der Geist frei und
kann seine ganze Aufmerksamkeit auf alles richten, was
neu ist in der Kombination bekannter Elemente, und das
Entziffern der Musik in Bezug auf den Rhythmus geschieht
rasch und genau.
*
* *
Ist nun einerseits das Gehirn, eine weiche runde
Masse in der hinteren Hälfte des Kopfes, als Sitz des
Willens der Ausgangspunkt jeder gewollten Bewegung,
so konzentriert sich in ihm auch jede Empfindung eines
Nerven- oder Muskelreizes.
In der Gehirnmasse, die wie das Rückenmark aus
einer grauen, äusseren, und einer weissen, inneren Sub-
stanz zusammengesetzt ist, vereinigen sich die Bewegungs-
und Gefühlsnerven, somit ist das Gehirn der Sitz des
Willens, der Energie und des Empfindens; in ihm sind
Wille, Bewegung und Reflexbewegung vereinigt. Das
Gehirn nimmt im Verhältnis zum ganzen Körper einen
sehr kleinen Raum ein. Wenn es daher auch leichter
erklärlich ist, dass jede Reizempfindung des gesamten
Körpers sich durch die Gefühlsnerven sofort dem Gehirn
mitteilt, so bietet doch der Einfluss der Gehirntätigkeit
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auf das weitverzweigte System der Bewegungsnerven und
durch diese auf die Muskulatur des Körpers eine grosse
Schwierigkeit wegen der äusserst komplizierten Bezie-
hungen zwischen Willen und Tat. Das Gehirn ist sich
der Bewegung, die vorgenommen werden soll, wohl be-
wusst, aber nicht immer ist es sich klar darüber, welcher
Nerv auf einen bestimmten Muskel, oder auf welchen
Muskel dieser Nerv wirkt. Das ist erst ein Produkt der
Überlegung oder des Versuchs oder der Erziehung.
Gewisse Muskeln sind dergestalt abhängig von anderen,
dass sie nicht allein in Bewegung gesetzt werden können,
ohne dass ein anderer Muskel in Mitleidenschaft gezogen
wird. Diejenigen Muskeln, welche gleichzeitig tätig sind,
um eine Bewegung auszuführen, heissen synergetische
Muskeln. Die Zusammenziehung eines solchen Muskels
kann nicht allein stattfinden. Z. B. einen Beugungsmuskel
oder einen Dehnungsmuskel des Handgelenks allein zu
bewegen, vermag der Wille nicht.
Die drei Flexionsmuskeln eines Fingers dagegen, ob-
gleich synergisch tätig, können einer vom andern unab-
hängig werden durch die Kraft des Willens, da jeder
von ihnen einem andern Gelenk angehört. Das Gehirn
wird sich nur schwer der Einzelbewegung des Flexions-
muskels bewusst (mit Ausnahme desjenigen des Daumens),
ist aber einmal diese Schwierigkeit überwunden, so ge-
winnt der Geist an Klarheit, denn er hat die Überzeu-
gung über bessere Willensagenten zu verfügen.
Das Gehirn mit seinem komplizierten Nervenapparat
gleicht wohl am ehesten einer Telegraphen-Zentrale. Es
ist Ausgangs- und Empfangsstation. Der in Energie um-
gesetzte Wille ist der elektrische Strom, der sich durch
die Nerven, welche die Leitungsdrähte darstellen, dem
Muskelsystem mitteilt.
Wir könnten das Gehirn etwa auch als Klaviatur
betrachten ; wie jeder Nerv einen oder mehrere Muskeln
„anschlägt", so setzt die durch den Fingerdruck bewegte
Taste die dazu gehörige Saite in schwächere oder stärkere
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Schwingungen. Je unabhängiger die einzelnen Muskeln
von einander sind, desto mehr Tasten hat der Wille zur
Verfügung und desto mehr gewinnt er an Bewusstsein
und Kraftvermögen. Deshalb soll der Unterricht ausnahms-
los bei allen Übungen darauf hinzielen, jede Bewegung
bis aufs äusserste zu vereinfachen, indem man die syner-
gische Zusammenziehung nur den für die gewollte Be-
wegung unentbehrlichen Muskeln erlaubt.
Genau so, wie die kräftig angeschlagene Taste die
Saite in starke Schwingungen versetzt, und den Ton
voller und anhaltender erklingen lässt, so ruft der im
Gehirn mit einer gewissen Energie erwachte Wille durch
den lebhafteren Nervenreiz auch eine resolutere, ange-
spanntere Tätigkeit der Muskeln hervor.
Furcht, Schreck, Mutlosigkeit, Hoffnungslosigkeit,
lähmen die Willenskraft und infolge der mangelnden
oder geschwächten Gehirntätigkeit bleiben die Muskeln
schlaff, so dass z. B. der Ausdruck: „Vor Schrecken ge-
lähmt“ eine physiologisch begründete Tatsache ist. Geistes-
gegenwart dagegen, die im Moment der Gefahr nie ver-
sagt, setzt den Organismus in die Lage, stets in Bereit-
schaft zu sein, so dass die Nerven zu jeder Sekunde dem
Gebote der Willensenergie Gehorsam leisten. Ein willens-
starker Mensch vermag durch systematische Übung und
Erziehung seine Muskeln zur höchsten Leistungsfähigkeit
auszubilden, ebenso wie er seine „Nerven“ stets in der
Gewalt hat. Ein mit energischem Willen begabter Mensch
wird nie so leicht von Schrecken, Angst und Entsetzen
erfasst werden, wie ein schwacher Charakter. Daher er-
höht man mit dem Willen zugleich die Muskelkraft. Ein
gutes Mittel beide zu stärken und den Geist an eine
grössere Willensäusserung zu gewöhnen, bilden die sich
steigernden Übungen der Muskel-Innervation.
Wird ein bestimmter Muskel von einem vom Gehirn
ausgehenden und durch die betreffenden Nerven geleiteten
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Willen in Bewegung gesetzt, so tritt in den meisten Fällen
Innervation eines oder mehrerer, dem betreffenden Muskel
koordinierter Muskeln ein, während die subordinierten
Muskeln sich der gewollten Bewegung stets anpassen, d. h.
dieselbe bewusst oder unbewusst mitmachen. Z. B. bei
der Bewegung eines Arm- oder Beingelenkes wird nicht
nur ein Muskel angespannt, sondern das ganze Strahlen-
bündel, welches in das zu bewegende Glied mündet. Da-
bei müssen die Muskeln der äussersten Extremitäten sich
sozusagen an die nächstliegenden Muskeln anlehnen, sich
auf sie stützen, also die des Fusses auf die des Unter-
schenkels, diese auf die des Oberschenkels und so fort.
Mitunter sind Muskeln einer Reflex- oder Wechsel-
wirkung unterworfen, die in ganz entgegengesetzten Körper-
teilen liegen.
Einzelne Bewegungen erfordern die Anspannung der
Muskulatur des ganzen Körpers. Ein laufender Mann lässt
die Arme nicht schlaff an der Seite hängen, sondern diese
begleiten rhythmisch die Bewegungen des Laufenden, und
der ganze, leicht nach vorn gebeugte Körper ist mit tätig;
alle Muskeln sind angespannt, um den Körper im Gleich-
gewicht zu erhalten.
Der Lehrer kann dies mit Leichtigkeit konstatieren,
wenn er selbst Gleichgewichtsübungen, sowie Übungen,
welche Gleichgewicht erfordern , vornimmt: die durch un-
bewegliche Haltung erzeugte Ruhe, die Haltübungen wäh-
rend des Laufens und ganz besonders das langsame
Marschieren. Dieses Mitwirken anderer Muskeln muss der
Lehrer nach und nach vollständig kennen lernen, sonst
kann es Vorkommen, dass er sich bemüht, gewisse bei den
Schülern wahrgenommene Innervationen auszumerzen, da
er sie für unnütz hält, während sie doch zum Gleichgewicht
des ganzen Körpers nötig sind.
Wie schon gesagt, beteiligen sich die unteren Glieder
fast immer an den Bewegungen des Oberkörpers, der Ein-
fluss ist gegenseitig, denn nicht nur nehmen sie an dem-
selben teil, sondern die Haltung der Beine übt auf die
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Tätigkeit der oberen Glieder selbst einen grossen Einfluss
aus. Wir werden später darauf zurückkommen
Bei der Bewegung eines Gliedes, z. B. des Fusses. bei
welcher alle Muskeln, die nach dem Fusse führen, mit-
machen, ist diese Tätigkeit nicht immer oder selten die
gleiche, vielmehr wirkt dabei ein Teil der Muskeln gerade
entgegengesetzt. Die einen sind Beugemuskeln, die anderen
Streckmuskeln. Aber nur durch die gemeinsame Tätigkeit
beider Muskelarten, wobei die einen die anderen gewisser-
massen zügeln, korrigieren, kann das Glied die gewollte
Bewegung ausführen.
Bei Ausführung einer Bewegung ist nie ein Muskel
tätig, ohne dass sein Gegenmuskel sich zusammenzieht, um
seine Tätigkeit zu massigen. Dieser Widerstand ist nötig,
um die Bewegung zu leiten und zu korrigieren. Die beiden
Gegenmuskeln regulieren sich gegenseitig, und darum
muss die Elastizität des der Bewegung entgegengesetzten
Muskels grösser sein, als die Zusammenziehungskraft des-
jenigen, der die Bewegung ausführt. Der Gegenmuskel
kann seinen regulierenden Einfluss auf die Bewegung bis
zuletzt ausüben, ohne seine Stärke zu vermindern.
Die gleichzeitige Tätigkeit der Gegenmuskeln eines
nämlichen Gliedes, dessen Bewegungen vom einen und
anderen reguliert werden, kann ebenso gut die Innervations-
abnahme einer Muskelgruppe, begleitet von der Inner-
vationszunahme einer Gruppe von Gegenmuskeln bedingen,
als eine gleichzeitige Zunahme zweier verschiedener Kräfte.
Ich kann z. B. meinen gekrümmten Arm ausstrecken,
bloss um ihn auszustrecken, oder ich strecke ihn, in-
dem ich langsam ein schweres Gewicht, das ich in der
Hand halte, herunterlasse, oder aber ich strecke ihn, um
einen Gegenstand von mir wegzustossen. Hier sind drei
verschiedene Fälle von Polydynamik der nämlichen Gegen-
muskeln. Ich kann mir aber auch bloss vorstellen, ein
schweres Gewicht in der Hand zu halten: in diesem Falle
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müssen die Streckmuskeln des Ellbogens dieses Gewicht
darstellen und die Krümmungsmuskeln durch ihren Wider-
stand denselben prüfen, um ein regelmässiges Herunter-
lassen des Vorderarmes herbeizuführen
Wenn ich mir nun vorstellen will, ich stosse einen
Gegenstand in der Richtung der Rückseite meines Vorder-
armes, dann sind es die Krümmungsnerven des Ellbogens,
welche die Widerstandskraft des Gegenstandes darstellen,
und die Streckmuskeln, indem sie diese Kraft prüfen,
werden versuchen, dieselbe zu überwinden.
Um die Muskelkraft zu regulieren und zu erhöhen,
stellt man den Muskeln eine Widerstandskraft entgegen,
die sie überwinden oder vor welcher sie weichen müssen.
Diese Widerstandskraft besteht in einem Gewicht (Hanteln,
Keulen) oder einer Bewegung in entgegengesetzter Rich-
tung, in einem fremden Gegenstand oder aber in der
Muskeltätigkeit einer anderen Person. Mit der Zunahme
der Kraft des Schülers wird auch die Widerstandskraft
erhöht.
Diese Einteilung hat den Vorteil, die synergische
Gruppe, welche gezwungen wird, sich zu betätigen, stärker,
bewusster und unabhängiger zu gestalten. Aber wie jedes
spezielle Studium setzt auch sie uns der Gefahr der Aus-
schliesslichkeit aus. Die synergischen Muskeln müssen sich
daran gewöhnen, mit gegnerischen Gruppen zusammen zu
handeln, sie zu beeinflussen, ihre Kraft zu überwinden,
sich von ihnen beeinflussen zu lassen oder ihrer Kraft zu
weichen.
Die Übungen der Vorstellung kommen uns hier zu
Hülfe. Denn wenn die Widerstandskraft von aussen nicht
vorhanden ist, wir uns aber dieselbe einbilden, so geschieht
folgendes: die synergischen Muskeln leiten das Glied in der
gleichen Richtung, aber ihre Gegenmuskeln treten in Tätig-
keit, um die Widerstandskraft zu ersetzen. Ich stelle mir
z. B vor, ich habe einen schweren Stein in der Hand
(Handfläche nach oben) und wolle ihn langsam herunter-
lassen. Ich will ihn nicht ablegen, auch nicht fortwerfen,
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sondern nur seine Schwere prüfen, um mir die Illusion zu
verschaffen und sie auch andern mitzuteilen. Die Schwere
stellt die Anziehungskraft der Erde vor, sie zieht immer
nach unten hin. Die Schwere des Steins wird durch die
Tätigkeit derjenigen Muskeln dargestellt, welche den Vorder-
arm herunterdrücken, d. h. diejenigen der Rückseite. Lässt
man den Vorderarm schnell herunter, wobei die Gegen-
muskeln nur wenig Widerstandskraft leisten, so wird die
ausgeführte Bewegung nicht nur die Schwere des Steins
anzeigen, sondern auch die Schwäche meines Arms. Je
mehr die Gegenmuskeln dem Gewicht, welches meinen
Arm herunterdrückt, Widerstand leisten, desto besser zeigen
sie die Schwere des Steins und den Stärkegrad der Gegen-
muskeln an. Wird aber die Innervationskraft dieser Gegen-
muskeln allzu sichtbar, dann wird die durch die rückseitigen
Muskeln meines Armes dargestellte Schwere nicht mehr
angezeigt, die Illusion der Schwere des unsichtbaren Steins
wird verwischt durch den tatsächlichen Eindruck der Muskel-
streckung.
Es ist sehr interessant, die Verschiedenheit der Indi-
vidualität beim Kinde zu beobachten und zu sehen, wie die
zwischen der eingebildeten und wirklichen Kraft bestehen-
den Verhältnissen und Missverhältnisse sich in der Tätig-
keit bewahrheiten.
Schlagen Sie den Kindern ein Spiel vor, in welchem
sie sich vorstellen sollen, sehr schwere Steine in der Hand
zu halten, die sie kaum zu tragen vermögen und sagen Sie
ihnen, sie sollen tun, als ob ihr Arm so müde wäre, dass
er unter der Last langsam sinke, so können Sie eine grosse
Verschiedenheit in der Tätigkeit der verschiedenen Indi-
viduen konstatieren.
Das eine Kind wird ohne Zögern seine Muskeln in
Innervation versetzen, so dass das Verhältnis ihrer dyna-
mischen Mitarbeit sofort die Illusion des Spiels wachruft.
Seine Handlung ist imaginär. Ein anderes Kind, z. B. ein
Knabe, senkt mit vor Energie verzerrter Physiognomie seine
geschlossene Faust mit solcher Kraft zur Erde, dass man
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glauben könnte, einer heldenhaften Tat beizuwohnen. Er
zeigt viel Muskelenergie, aber keine richtige Vorstellung,
und verfehlt das Ziel.
Ein kleines Mädchen, durch das Spiel angeregt, ist
mit keinem seiner Glieder ruhig, seine Augen glänzen
und sein ganzes Wesen drückt die Freude aus. Es ver-
sucht die Bewegungen auszuführen, aber ohne Erfolg, es
wird nervös und überreizt. Dieses Mädchen hat viel
Phantasie, aber die Mittel zur Ausführung stehen nicht
im Verhältnis zum Sinn des Spiels-
Was ist zu tun, um den energischen Knaben und
das nervöse Mädchen instand zu setzen, ihre Muskeln in
gleicher Weise zu betätigen wie das erste soviel Einbil-
dungskraft besitzende Kind? Jedes derselben muss als
Ausgangspunkt das ihm Bekannte wählen, um von da aus
das Unbekannte zu suchen. Der Knabe kennt das Ge-
fühl der Muskel-Innervation, er muss sich dasselbe auch
vorstellen lernen, das Mädchen hat Einbildungskraft, es
muss auf das Verhältnis zwischen Vorstellung und phy-
sischer Darstellung aufmerksam gemacht werden. Nehmen
Sie seine Hand, legen Sie die Ihrige geschlossen darein
mit genügender Energie, um die seinige herunterzudrücken.
Bedeuten Sie ihm, es solle Widerstand leisten und richten
Sie dann den Druck Ihrer Hand so ein, dass sie die Kraft
des Mädchens ein wenig übersteigt. Jetzt wird sein Vor-
derarm bei allem Widerstand sinken- Lassen Sie es her-
nach aufmerksam zuhören, was Sie dem Knaben erklären
und gut achten auf die von ihm ausgeführten Bewegungen.
Dann sagen Sie zu Letzterm: „Strecke deinen Vorder-
arm, Handfläche oben, und verharre mit steifem Arm in
dieser Haltung. Ohne den Arm schwächer werden zu
lassen, senke ihn ganz langsam herunter. Du wirst aller-
dings keine Schwere auf der Hand verspüren, aber hast
du nicht im Arm, im Vorderarm, im Handgelenk das
Gefühl, als ob du etwas schweres trügest?“ — Hat er
dies begriffen und die Bewegung ausgeführt, dann lassen
Sie das gleiche auch von dem nervösen Mädchen wieder-
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holen, denn es hat bisher erst die einfache Innervation
der synergischen Muskeln geübt und muss nun noch die
Übung der gleichzeitigen Innervation der Gegenmuskeln
vornehmen, und wie der Knabe, lernen, dass unsere Muskeln
die ausführenden Organe unserer Vorstellung sind.
Es ist von ausserordentlichem Wert, sich über diesen
inneren Zusammenhang klar zu werden, da nur dann eine
systematische Ausbildung möglich ist- Um die Energie
im Gehirn auszulösen, d. h. um den Willen zu erregen,
muss das Gehirn denken, also ist der Gedanke der Vater
des Willens. Wie nun von frühester Kindheit an das
Vorbildliche im Kind, die Idee, den Begriff, die Anschauung
weckt, und aus diesen sich Wunsch und Wille entwickeln,
so bleibt das Vorbild unser ganzes Leben lang einer der
mächtigsten Faktoren unseres Denkens und Willens: Es
erregt unsern Nachahmungstrieb.
Der Knabe, welcher die Heldentat Jung Siegfrieds
gelesen, bewaffnet seinen schwachen Arm mit dem Holz-
schwert und tötet gedachte Drachen und Riesen. Wenn
wir einen Fechter in künstlerisch schöner Pose elegant
parieren sehen, spannen sich unwillkürlich unsere Muskeln
zur männlichen Bewegung an. Das Vorbild erweckt unsere
Vorstellung und kann also, wenn im ersteren alle Gesetze
der Harmonie und Aesthetik erfüllt sind, von grossem er-
zieherischem Wert für uns sein. Haben wir daher ein-
mal von Jemand eine Bewegung mit tadelloser Korrekt-
heit ausgeführt gesehen, so prägt sich dieses Vorbild
unserem Gedächtnis ein, so dass, wenn wir selbst die
nämliche Bewegung machen wollen, unwillkürlich an
jenes Vorbild denken. Wir führen die Bewegung erst in
Gedanken aus, und nun setzt sich der Gedanke in Energie
(Wille), die Energie in Tat um, und die Bewegung ge-
schieht. So ergibt sich von selbst die Regel, dass eine
Bewegung besser, korrekter ausgeführt wird, wenn der
Gedanke sie im Gehirn vorbereitet.
In entgegengesetztem Sinne kann eine Muskeltätig-
keit fördernd und belebend auf die Tätigkeit des Gehirnes
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wirken. Beim Sprechen, beim Singen, ja sogar beim
Nachdenken macht man gerne entsprechende Gesten, als
ob man mit dieser Bewegung das Wort oder den Ton
leichter hervorbringen könnte.
Es ist leicht ersichtlich, dass in dieser Wechselwirkung
der Gehirn- und Muskeltätigkeit stets auf gleichmässige
Ausbildung zu achten ist, da bei einseitiger Pflege not-
wendig eine Vernachlässigung der anderen Funktion ein-
tritt. Der Athlet, der nur an die Pflege und Kräftigung
seiner Muskeln denkt, läuft Gefahr, wie von massgebenden
Physiologen konstatiert worden ist, geistig beschränkt zu
bleiben. Der Stubengelehrte kann leicht körperlich zum
Schwächling werden. Die alte Weisheit der Griechen
und Römer: „mens sana sit in corpore sano“, ist für uns
eine natürliche Forderung der Aesthetik und des körper-
lichen und geistigen Wohlbefindens.
Es bleibt noch eine dritte Wechselbevvegung zu
erwähnen, die der Muskelbewegung selbst; nämlich, die
Energie, die in der Bewegung eines Muskels ausgelöst
wird, kann dazu dienen, die Bewegungsenergie in einem
anderen Muskel zu wecken oder zu beleben. Leicht er-
klärlich sind hierbei congruente Bewegungen. Eine Be-
wegung, die uns mit einem Arm schwer fällt, gelingt oft
leichter, wenn wir sie mit beiden Armen zugleich aus-
führen. (VergL Tonleitern mit beiden Händen gespielt!) Aber
auch Bewegungen des Armes oder der Hand können mit-
unter methodisch gefördert oder gekräftigt werden, wenn
man sie durch eine passende Bewegung des Beines oder
Schenkels vorbereitet. Die Innervation der Muskeln der
unteren Extremitäten wirkt belebend auf die Arm- und
Handmuskeln. Beim Unterricht lege man daher besonders
Gewicht darauf, den Zusammenhang zwischen Vorstellung,
Gedanke, Wille und Kraft genügend klar zu machen.
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3. Vortrag.
Von frühester Kindheit an sollte man darauf bedacht
sein, das Muskelempfinden auszubilden. Denn wie das
Auge nur durch Übung und praktische Anleitung sich
daran gewöhnt, Entfernungen richtig abzuschätzen und die
Grössenverhältnisse der Dinge zu unterscheiden, so müssen
wir lernen, Kraft und Bewegungsrichtung der Muskeln
der gewollten Tätigkeit entsprechend zu modifizieren.
Nur wenn wir mit absoluter Sicherheit bestimmen
können, welches Mass von Kraft anzuwenden ist, und
welche Richtung bei der Muskeltätigkeit einzuhalten ist,
um eine Bewegung auszuführen, also erst wenn wir Mus-
kelempfindung besitzen, können wir die entgegengesetzt
wirkenden Muskeln dem Willen gehorsam machen, und
sie zweckmässig gebrauchen.
Auch bei der rhythmischen Bildung liegen die beiden
Hauptfehler, gegen die der Schüler kämpfen muss, ent-
weder in dem „zu viel" oder in dem „zu wenig“. Um
zur richtigen Mitte für jeden gewollten Grad der An-
spannung zu gelangen, gibt es keine besseren Übungen,
als die des crescendo und des diminuendo der Spannung.
Die Vermehrung und Verminderung der Nervenwirkung
in geregelten Zeiträumen wird zur Entwickelung des
Muskel-Empfindens beitragen. Das Muskel-Empfinden gibt
dem Kinde das Bewusstsein seiner eigenen Kräfte. Diese
Übungen lassen sich in ihren Abstufungen mit den
Übungen der Stimme beim portando-Singen (Miauen)
vergleichen.
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Beim Übergleiten von einer Stufe zur anderen wer-
den schliesslich alle Grade der Nervenerregung dem Zög-
ling zu Gebot stehen.
Wir wenden die Übungen des crescendo und des dimi-
nuendo noch zu einem anderen Zwecke an. Wie schon
gesagt, muss man dahin kommen, alle unnötigen Bewe-
gungen auszuschalten. Ein wirksames Mittel dazu besteht
darin, den Muskeln, welche das Bestreben haben, un-
nötigerweise an Bewegungen teilzunehmen, andere Pflichten
anzuweisen. Die Übungen zur Ausbildung der gegen-
seitigen Unabhängigkeit der Glieder (Kap. V unserer
Methode) entziehen eine Muskelgruppe dem unnützen Ein-
fluss anderer Muskelgruppen. Sie enthalten sowohl ver-
schiedene und gleichzeitige Abstufungen von zwei oder
drei verschiedenen Gliedern, als auch solche in verschie-
denen Richtungen. Beide zielen darauf hin, die Muskeln
von einander unabhängig zu machen und das Muskel-
Empfinden zu vervollkommnen.
Wenn z. B. ein Schüler sich darüber beklagt, dass
die Ausführung einer energischen Bewegung beim Nieder-
schlag ihm weh tut, sei es in der Schulter, sei es im Arm,
so ist er in den meisten Fällen selbst schuld infolge
mangelhafter Haltung des bewegten Gliedes. Anstatt den
Arm in der gewünschten Richtung zu bewegen, hat er ihn
fortgeschleudert, wie einen fremden Gegenstand. Nun ist
aber der Arm kein Gegenstand, den man loslassen kann;
daher müssen die zusammenwirkenden und die entgegen-
gesetzt wirkenden Muskeln (Schulter-, Ellbogen-, Handge-
lenk- oder Finger-Muskeln) nicht nur im Anfang der Be-
wegung Energie zeigen, sondern ihre Zusammenziehung
bis nach dem rhythmischen Moment des Bewegungsendes
fortsetzen.
Der Fehler, den Arm zu schleudern, anstatt ihn zu
bewegen, kann auf verschiedene Weise begangen werden.
1. Die Schultermuskeln schleudern und erschlaffen :
der ganze Arm ist der geschleuderte Gegenstand; dem
ganzen Arm fehlt die Haltung am Schluss der Bewegung ;
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der Oberkörper nimmt ebenfalls mangelhafte Haltung ein.
Schmerzen können sich in der Schultergegend, an der
Brust- oder Rückenseite fühlbar machen.
2. Die Schultermuskeln führen eine stetige Bewegung
bis zum Ende aus, aber die Ellbogenmuskeln schleudern
und werden dann schlaff: der Vorderarm und die Hand
sind der geschleuderte Gegenstand und ihnen fehlt die
Haltung im rhythmischen Moment. Schmerzen können
sich in der Ellbogengegend einstellen.
3. Wenn nur die Hand der geschleuderte Gegen-
stand ist, so ergeben sich daraus gewöhnlich keine
Schmerzen. Es ist jedoch ein Mangel an Rhythmus vor-
handen, wenn ein Glied während einer Bewegung und im
rhythmischen Moment keine Haltung hat, und die geistige
Entwickelung wird darunter leiden, wenn eine Muskel-
gruppe ihren Einfluss auf die Nerven nicht ausübt und
durch sie dann auch nicht auf die Nervenzentren, auf den
Willen, wirkt-
Die crescendo und decrescendo-Übungen tragen dazu
bei, die Fortsetzung der Energie in der Haltung der
Glieder zur Empfindung zu bringen. Ein im Zustande
der Zusammenziehung befindliches Glied in Bewegung zu
setzen, wie dies bei den vorbereitenden Übungen zu den
langsamen Märschen geschieht (cfr. Ende des ersten Ban-
des) ist das beste Mittel hiefür. Die entgegengesetzt wir-
kenden Muskeln, Streck- und Beugemuskeln, können eine
geschmeidige, zielbewusste Bewegung in dem betreffenden
Gliede nur dann ermöglichen, wenn das Bewusstsein, ver-
möge des Muskelempfindens über den Anteil, den jede
Muskelart an der Bewegung in Bezug auf Kraft und Rich-
tung haben muss, vollkommen klar ist, d. h. wenn die
entgegengesetzt wirkenden Muskeln in harmonischem Ein-
klang stehen, indem die eine Art sich der anderen an-
passt. Tun die Muskeln dies nicht, sondern wirken sie
zu früh oder zu spät, oder ist ihre Anspannung eine
schlecht regulierte, dann wirken sie nicht nur störend auf
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die gewollte Bewegung, sondern sie verhindern sie. Das
Glied, anstatt die gewollte Bewegung auszuführen, bleibt
unter eigenwilliger, gleichzeitiger Forcierung der Beuge-
und Streckmuskeln steif, d- h. im Zustand der statischen
Kontraktion.
Die statische Zusammenziehung (Gleichgewicht in
der Muskel-Kontraktion) ist für jede Haltung oder Lage
nötig, in der wir unbeweglich bleiben, ausgenommen für
das ausgestreckte Liegen.
Je mehr das Gewicht des Körpers auf dem gewähl-
ten Unterstützungspunkt sich im Gleichgewicht befindet,
um so weniger bedarf es der statischen Kontraktion und
um so weniger wird die Haltung ermüden. Je mehr das
materielle Gewicht des Körpers nach einer Seite des ge-
wählten Unterstützungspunktes sich neigt, desto mehr
müssen die Muskeln das Gegengewicht nach der anderen
Seite abgeben, dadurch, dass sie in statische Kontraktion
übergehen, und um so ermüdender wird die Haltung sein.
Die Ruhestellungen und die Übungen des Haltens
finden bei unserer Methode ihre Verwirklichung im
unbeweglichen Anhalten bei verschiedenen Graden der
Schwierigkeit. Hält die statische Kontraktion zu lange
an, dann stellt sich leicht eine krankhafte Erstarrung des
Gliedes ein, die wir mit allgemeiner Steifheit bezeichnen.
Sie macht es dem betreffenden Glied unmöglich, die Be-
wegung zu vollziehen. In diesem Falle wird der rhyth-
mische Moment des Bewegungsanfangs verzögert werden.
Indessen ist die dauernde Zusammenziehung nicht die
einzige Ursache der Steifheit. Sie kann im selben Augen-
blicke durch den Willen aufgehoben werden, während die
Steifheit, die von Natur vorhanden und nicht gewollt ist,
die aus einem Mangel an Biegsamkeit in den Sehnen und
Muskeln (schon im Zustand der AVc/?/zusammenziehung)
entsteht, nur durch die Übung der ihrer Steifheit ent-
gegengesetzten Bewegungen oder auch durch Massage
beseitigt werden kann. Gegen solche Steifheit kann man
nicht zeitig genug ankämpfen.
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Es ist ganz unbegreiflich, dass die sogenannten
Kultur -Völker so vernünftige Gewohnheiten haben auf-
geben können, wie man sie heute noch bei den soge-
nannten ungebildeten Rassen findet. Denken Sie nur an
die japanischen Mütter, welche sich mit den Gelenken
ihrer kleinen Kinder beschäftigen! Nach den Überliefe-
rungen ihrer Rasse ist die Geschmeidigkeit der Glieder
eine für das Leben notwendige Eigenschaft, und es gibt
keinen Japaner und keine Japanerin, die sich nicht auf die
Massage des ganzen Körpers verstünde. Die Kinder
europäischer Eltern, welche einer japanischen Dienerin
anvertraut werden, bekommen ebenso geschmeidige Glieder,
ebenso biegsame, elastische Muskeln und Sehnen, wie
die japanischen Kinder selbst. Wenn sie im reiferen
Alter sich weiter beobachten und ebenso ernst und ge-
wissenhaft sich üben, wie in der Zeit ihrer Kindheit, so
bleibt ihnen Geschmeidigkeit und Energie während ihres
ganzen Lebens eigen. Können die europäischen Mütter
sich mit den japanischen vergleichen, ohne sich zu
schämen? Von ersteren kennt keine den Körper ihres
Kindes, keine bildet seine Glieder aus; ja etwa sieben Jahre
nach seiner Geburt, wenn das Üben am Klavier beginnt,
da bemerken sie, dass die Hand des Kindes vorher hätte
geschmeidig gemacht werden können. Die japanische
Mutter dagegen verliert keinen Tag. Vom ersten Lebens-
moment ihres Kindes an gibt sie sich Rechenschaft vom
Spiel der Gelenke des kleinen Wesens, jeden Tag massiert
sie dieselben und übt sie ein für die notwendigen Be-
wegungen. Wo sind bei uns die Frauen, die die genauen
Funktionen der Gelenke und der Muskeln ihrer Kinder zu
kennen wünschen, und die sich darüber Rechenschaft
geben, dass an späterer Nervosität oder an allgemeiner
Ungelenkigkeit nur ihre Unkenntnis und Unfähigkeit als
Mutter schuld ist?
Der Japaner kennt die Notwendigkeit, seinen
Körper elastisch und geschmeidig zu machen. Der
Europäer, der in Japan gewohnt hat und nach Europa
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zurückgekehrt ist, erinnert sich dankbar der Dienste,
die ihm seine japanischen Kuli leisteten. Nach einem
langen und ermüdenden Ritte nahm er ein Bad, und
der Japaner war da, um ihn an allen Gliedern zu mas-
sieren. Die Muskeln fanden ihre Elastizität wieder und
*/* seiner Ermüdung verschwanden bei dieser Behandlung.
Welcher europäische Diener würde imstande sein, es
hierin seinen japanischen Kollegen gleichzutun ? Ist der
Herr selbst imstande, eine solche wiederbelebende Be-
handlung seiner Glieder vorzunehmen? Es gibt Sports-
leute, welche die Notwendigkeit empfinden, die Energie
ihrer Muskeln, die Geschmeidigkeit ihrer Glieder zu ent-
wickeln. Aber nennen Sie mir den Tennisspieler, den Fuss-
ballspieler, den Luftschiffer, der sich täglich eine Viertel-
stunde der physischen Erziehung seines Knaben oder
seines Mädchens widmet? Wer ist darauf bedacht, die
Körperbewegungen seines Kindes harmonisch, seine Ge-
lenke geschmeidig zu bilden, seine Muskeln zu kräftigen
und zwar vom ersten Lebenstage an? Wo ist der Vater,
der seiner Frau bei dieser Aufgabe bereitwillig hilft, auf
welche sie ja nicht vorbereitet ist? Wenn wir Lehrer
uns der rhythmischen Erziehung der Kinder von ihrem
sechsten Jahre an widmen, sollten wir da nicht verlangen
dürfen, dass die Eltern uns Kinder übergeben, die für
Muskelbewegungen gut vorbereitet sind?
Es gibt Ausnahmen von Eltern, aber nicht viele, die
diesen Zweig der Erziehung sehr ernst nehmen, in dem
Sinne, wie wir es verstehen. Ein einziges Beispiel will
ich Ihnen in Erinnerung rufen und Ihnen ganz besonders
die Lektüre des weit verbreiteten Buches empfehlen, das
den Titel führt: ,.Mein System“. Von einem Dänen ver-
fasst, ist es ins Deutsche, Französische, Englische und
Holländische übersetzt worden. Dieses System der Gym-
nastik und der Massage sollte jedermann an sich und
seinen Kindern anwenden. Es ist sehr leicht zu verstehen
und nimmt täglich nur eine Viertelstunde in Anspruch,
kann aber nicht genug gepriesen werden.
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Wir kommen auf die Methode der rhythmischen
Gymnastik zurück.
Um den Körper in straffer Zucht zu haben, den Be-
wegungen elastische Kraft und Geschmeidigkeit zu ver-
leihen, muss man alle Bewegungen der Arme und Beine
mit der Haltung des Körpers in Einklang zu bringen suchen.
Dabei hat also jeder Muskel seine bestimmte Aufgabe,
seine eigene Rolle.
Erfüllt jeder Muskel die. ihm zufallende Aufgabe,
dann erzielt man durch das harmonische Zusammenwirken
der Muskeln die Harmonie der Bewegung und die Be-
wegung erfordert nicht mehr Kraft, als nötig ist. Bleibt
aber der eine oder der andere Muskel untätig, dann wird
die Bewegung linkisch, ungeschickt oder unnatürlich und
erfordert zudem einen bei weitem grösseren Kraftaufwand.
Mithin müssen alle Bewegungen erst geübt werden.
Will man eine Bewegung, z. B. einen Schlag, aus-
führen, während die Muskeln bis zum Moment des Schla-
gens in träger Ruhe, d. h. abgespannt waren, so wird der
Schlag bei weitem nicht die Wirkung haben, als wenn
die Muskeln schon vorher vorbereitet, d. h. angespannt
waren. Wie man ein Instrument bei kalter Temperatur
erst warm spielen muss, ehe ein richtiger, schöner und
voller Ton erreicht wird, so erzielt man auch durch
Warmarbeiten der Muskeln eine höhere Spannkraft und
Elastizität. Die Erwärmung und Anspannung der Muskeln
kann auch durch eine plötzliche Einwirkung der Gehim-
tätigkeit erzielt werden, z. B. im Zustande des Zornes,
der Wut, der Todesangst, wo die Muskelkraft ganz plötz-
lich zur höchsten Leistungsfähigkeit angespannt wird.
Von der Freude und von dem Nutzen des Spieles
wird im nächsten Vortrag gesprochen werden.
Wenn ein Muskel lange Zeit angespannt bleibt, oder
in häufiger Wiederholung sich strecken und zusammen-
ziehen muss, dann stellt sich sowohl in den Nervenzentren,
von denen der Muskelreiz ausgeht, als auch in den im
tätigen Glied direkt beteiligten Nerven eine Über-
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reizung, ein lebhaftes Schmerzempfinden ein; das ist die
Ermüdung, die zugleich in dem überanstrengten Gliede,
wie im Gehirne selbst empfunden wird. Diese Über-
reizung der Nerven ruft eine Reaktion derselben hervor,
und die Folge davon ist, dass sie ihre Tätigkeit einstellen,
also sich ausruhen. Der Reiz auf den Muskel hört auf
und auch dieser ruht. Die Ermüdung des Muskels oder
das Bedürfnis, sich auszuruhen, stellt sich in dem Masse
langsamer ein, als das Gehirn weniger an der Tätigkeit
der Bewegung beteiligt ist.
Man kann aber durch zweckmässige Schulung
der Gehirn- und Nerventätigkeit, durch kluge Mässigung
des Nervenreizes auf den arbeitenden Muskel der Ermü-
dung möglichst lange Vorbeugen, besonders dadurch, dass
man den Muskel nie kräftiger anspannt, als nötig ist.
Dr. Lagrange sagt:
Bei gleicher Muskelarbeit ist das Gefühl der Ermü-
dung um so stärker, je intensiver die Mitwirkung der
geistigen Fähigkeiten, also des Gehirns, bei der Übung
sein muss.
Die Lehre, die wir uns daraus für unsere Methode
ziehen, ist folgende : die Rhythmen müssen so lange
wiederholt werden, bis der Wille dabei nicht mehr mitzu-
wirken braucht.
Sie werden dann ohne Ermüdung ausgeführt werden.
Wir werden gute rhythmische Gewohnheiten geschaffen
haben.
Wie schon im letzten Vortrage gesagt wurde, ist
das Marschieren von allen Übungen diejenige, deren Be-
wegungen am leichtesten automatisch werden. Der Marsch
ist das A und O unserer Methode.
Wenn sich im Gehirn die Idee des Willens, eine Be-
wegung auszuführen, gebildet hat, so erweckt der Wille
gleichzeitig das Bewusstsein, welcher Muskel angereizt
werden muss, und welche Muskeln in Mitwirkung zu treten
haben. Das Gehirn bestimmt ganz genau den Grad der
anzuwendenden Kraft und reguliert so die Spannweite des
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Muskels, sowie die Mitarbeit der Nebenmuskeln, und ver-
hütet das ungeschickte Eingreifen eines Gegenmuskels.
Auf diese Weise lernt der Wille, mit der Muskelkraft
sparsam umzugehen
Wille und Vorstellung erziehen die Muskeln; aber um
eine Bewegung zweckmässig und korrekt auszuführen, ge-
nügt es noch nicht, dass Vorstellung und Wille sich der
Bewegung bewusst sind, nein, man muss die Bewegung
ausführen; nur so kann man sie studieren und lernen, den
richtigen Weg einzuschlagen. Man kann jede, auch die
kleinste Bewegung auf verschiedene Arten, mit mehr oder
weniger Aufwand von Kraft und Energie ausführen, deren
oft sehr feine Nuancierungen sich der oberflächlichen Be-
obachtung entziehen. Nur im Selbststudium, in der wieder-
holten Übung lernt man diese Varianten kennen, und der
Geist, die Gehirntätigkeit, die Willensenergie, unterstützt
von der natürlichen Veranlagung der Organe, lässt uns
unter den verschiedenen Arten der Bewegung diejenige
erkennen, die in kürzester Frist und mit dem kleinsten
Mass von Kraftanstrengung ausgeführt werden kann.
Übung macht den Meister. Wer eine Bewegung, oder
eine aus mehreren Bewegungen zusammengesetzte Tätigkeit
lange geübt hat, lernt dabei so weise und sparsam mit
seiner Kraft umgehen, hat die in Tätigkeit versetzten
Muskeln dermassen in seiner Gewalt, dass er die Arbeit
spielend, mit grösster Leichtigkeit auszuführen vermag, die
einem anderen, der die Bewegung nur aus der Anschauung,
also nur in Vorstellung und Wille kennt, unmöglich ist.
Eine häufige, tägliche Übung einer Bewegung bewirkt
eine schnellere, glattere Reizwirkung der Nerven auf die
in Frage kommenden Muskeln; sie stellt einen innigeren
Kontakt zwischen der im Gehirn ausgelösten Willensenergie
und der Muskeltätigkeit her; die Muskeln gewöhnen sich
an den in gleicher Weise ausgeübten Reiz und reagieren
rascher und leichter, und die Nerven vermögen einer
Reflexbewegung leichter Widerstand zu leisten, oder eine
solche gänzlich zu besiegen. Die tägliche Übung und die
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dadurch sich einstellende Gewohnheit erhöht also bei auf
das geringste Mass beschränktem Kraftaufwand nicht nur
die Spannkraft und Beweglichkeit der Muskeln, sondern
wirkt auch kräftigend und belebend auf die Energie des
Willens, wie auf den ganzen Organismus.
Wenn es sich also darum handelt, einen Schüler eine
Anzahl rhythmischer Übungen in gleich massiger, rascher
Folge ausführen zu lassen, so muss man zunächst bedacht
sein, die Muskeln des Schülers nach der Methode unserer
rhythmischen Gymnastik eine Reihe von Vorübungen aus-
führen zu lassen, d. h. sie methodisch zu erziehen. Denn
dass der Schüler die Bewegung versteht, sich Zweck und
Ausführung derselben innerlich vorstellt, genügt noch nicht;
er muss sie selbst ausführen, sie üben. Und je mehr die
Muskeln rhythmisch ausgebildet werden, um so leichter
folgen sie dem von der Energie ausgehenden Nervenreiz.
Wenn man meint, nur durch die Willensenergie eine vor-
bildlich aufgefasste, gewollte Bewegung ausführen zu können,
kann man sehr leicht einer grossen Täuschung zum Opfer
fallen.
Wie oft sehen wir jemanden eine Bewegung aus-
führen, die wir vielleicht noch nie gemacht haben, die uns
aber äusserst einfach und kinderleicht vorkommt. Wollen
wir jedoch die uns nur in der Anschauung, praktisch aber
nicht bekannte Bewegung selbst machen, so erkennen wir,
dass wir sie nicht ausführen können, da es uns gänzlich
an Übung gebricht.
Die unnützen Zusammenziehungen der Muskeln zu
vermeiden, ist nicht nur, wie schon gesagt, nötig, um der
Wirkungen willen, die sie auf die Gehirn-Nerven haben,
sondern wir bezwecken damit auch einen geringeren Kraft-
verbrauch. Man erreicht ein Minimum der Anstrengung
und ein Maximum der Wirkung.
Ein sehr wichtiger Faktor bei der Ausübung einer
Tätigkeit, einer Bewegung, ist die Mitwirkung der Lunge,
das Atemholen.
Der Nerv, der auf die Lungentätigkeit und somit auf
das Atemholen ein wirkt, mündet wie alle anderen Nerven,
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im Zentralnervensystem des Rückenmarks, von wo die
Zentralleitung nach dem Gehirn führt.
Ist der Lungennerv schon an und für sich, ohne
besondere Willenskraft des Gehirnes, unausgesetzt auto-
matisch tätig, so ist er auch der Reflexbewegung ausgesetzt,
d. h. der Lungennerv kann durch einen rein äusserlichen,
von der Willenstätigkeit unabhängigen Reizanlass getroffen
werden und die Lungentätigkeit verstärken oder verlang-
samen, oder momentan ganz hemmen; dies erklärt die
Erscheinung des Schnelleratmens oder Atemstockens. Jede
kombinierte Muskelbewegung wirkt direkt oder indirekt
auf den Lungennerv und übt einen lebhafteren oder schwä-
cheren Reiz auf denselben aus. Bei sehr angestrengter
Muskelbewegung tritt beschleunigtes Atemholen ein, z. B.
beim Holzsägen, beim Hämmern, Heben, Schieben u s w-,
besonders aber beim Laufen.
Bei plötzlichen Einwirkungen auf das seelische oder
körperliche Empfindungsvermögen tritt dagegen vielfach
Atemstockung ein, weil der Stoss, welcher die Gehirn-
nerven oder die Hautnerven trifft, im Zentralnervensystem
eine Reflexbewegung auslöst, die sich dem Lungennerv
mitteilt, so z. B. lässt plötzlicher Schreck den Atem stocken,
ebenso, wie eine kalte Douche den plötzlichen Stillstand
des Atems veranlasst.
Unter normalen Umständen geht die Lungentätigkeit
parallel mit der Muskeltätigkeit vor sich, nur mit dem
Unterschiede, dass bei angestrengter Muskelbewegung die
Lungentätigkeit, welche dem gesamten Kraftaufwand ent-
spricht, viel eher erlahmt, d. h. ein Ausseratemsein bewirkt,
während die Muskeln nicht so schnell ermüden. Die
Muskeln ergeben zusammen eine bedeutende Summe von
Kraft; aber jeder einzelne für sich hat doch nur einen Teil
der Bewegung zu leisten. Um dem zu raschen Ausser-
atemkommen vorzubeugen, kann man die Lungentätigkeit
üben und erziehen, wie man die Muskelübung methodisch
betreibt. Durch erhöhte Energie und Willenskraft kann
man auch bei lebhafterer Muskeltätigkeit die Lunge an
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ein regelmässiges Ein- und Ausatmen gewöhnen. Denn
der Fehler beim Atmen besteht meistens darin, dass man
wohl die Luft voll einzieht, aber sich nicht Zeit genug
nimmt, sie in regelmässigen Pausen wieder auszuatmen;
man stösst die Luft aus und atmet unregelmässig. Die
hierdurch hervorgerufene Reaktion des Lungennervs teilt
sich dem gesamten Nervensystem mit und es stellt sich
ein gewisses Übelbefinden und Erschlaffung der Muskel-
tätigkeit ein.
Am leichtesten kann man die Lunge an geregelte
Tätigkeit gewöhnen bei mechanischen rhythmischen Be-
wegungen, z. B. beim Laufen. Durch fortgesetzte Übung
lassen sich die Lungennerven und Muskeln so erziehen, dass
man imstande ist, eine sehr grosse Strecke im Laufschritt
zurückzulegen, ohne zu ermüden, ohne ausser Atem zu
kommen. Es ist also unbedingt erforderlich, zugleich mit
der Muskelübung auch die Lunge zu üben und das Atem-
holen genau zu überwachen. Die Übungen der Atem-
Gymnastik können immer mit den rhythmischen Übungen
der Glieder kombiniert werden. Also wenn z. B. die Be-
wegungen der Darstellung der halben Note automatisch
geworden sind, so kann man das Atmen beim Marsche auf
folgende Weise regulieren:
Eine für die Kinder amüsante und für die Kontrolle
des Lehrers praktische Übung besteht darin, dass man die
Ausatmungen auf die tonlosen Konsonanten f, s oder ch
ausführen lässt (siehe die im 3. Kapitel des ersten Bandes
der Methode enthaltenen rhythmischen Atemübungen).
Diese Übungen können atmend und marschierend zu glei-
cher Zeit vorgenommen werden. Der Marsch ergänzt die
Übungen unserer Atem-Muskeln. (II. Band der Methode.)
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Die Lunge enthält eine Menge kleiner Zellen und
Bläschen, die dazu bestimmt sind, die Luft in sich aufzu-
nehmen. Tritt die Luft in die Lungenzellen, so dehnt sich
die ganze Lungenmasse aus und bewirkt das Heben des
Brustkastens. Der letztere gibt allen Bewegungen der
Lunge nach ; er befindet sich in grösster Ausdehnung, wenn
die Lunge, d. h. alle Lungenzellen mit Luft angefüllt sind ;
strömt die Lunge dagegen alle Luft aus, dann sinkt der
Brustkasten zusammen. Im Zustand der Ruhe, d. h. bei
massigem Atemholen, füllen sich nicht alle Lungenzellen
mit Luft, sondern ein Teil derselben bleibt untätig, und die
Lunge bewirkt nur ein massiges Heben und Senken der
Brust. Am besten können wir das bei mangelhafter oder
schlechter Luft beobachten, welche von der Lunge nur
widerwillig eingeatmet wird. Bewegen wir uns dagegen
in reiner, ozonreicher Luft, so wird die Lungentätigkeit
angeregt; die Luft dringt in alle Lungenzellen, auch in die
kleinsten der äussersten Spitzen, so dass die Lunge ihre
grösste Ausdehnung annimmt und den ganzen Brustkasten
weitet. Wird man der Lunge oft gute reine Luft zuführen
und sie an regelmässiges volles Ein- und Ausatmen ge-
wöhnen, so werden dadurch alle Lungenbläschen daran
gewöhnt, aus ihrer Untätigkeit herauszutreten und stets am
Atemholen teilzunehmen. Es ist ein grosser Irrtum, wenn
man glaubt, das Heben und Senken des Brustkastens allein
könne das Atemholen regulieren. Nein, nur das regel-
mässige, langsame Einatmen der Luft übt und kräftigt die
Lungenzellen, und erst die sich ausdehnende Lunge weitet
den Brustkasten.
Wie regelmässige Übung die Muskeln kräftigt, sie
elastisch und geschmeidig macht, so kann ein zweckmässiges,
geregeltes Atmen auch die Lungenmuskeln und Lungen-
zellen kräftigen und beleben und dazu empfehlen wir be-
sonders gymnastische Übungen, die ein rhythmisches tiefes
Atemholen verlangen und ermöglichen.
Wie aber nun in weiterer Folgerung die Muskeln bei
methodischer Übung neben Kraft und Elastizität auch an
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Volumen gewinnen, d- h. dicker, straffer werden, so er-
weitert sich durch die lebhaftere Tätigkeit aller Lungen-
zellen die ganze Lunge auch im Zustand der Ruhe; durch
die kräftigere Atmung tritt in den Blutgefässen der Zellen-
gewebe eine lebhaftere Zirkulation ein, und die Lungen-
masse gewinnt an Umfang. Dadurch hebt sich der Brust-
kasten und bleibt auch bei ausgeatmeter Lunge leicht ge-
wölbt.
Eine so entwickelte Lunge befähigt, auch bei erhöhten
Anstrengungen der Muskeln, zu einem regelmässigen Atmen
und wird auch bei heftigen äusseren Reizwirkungen auf
das Nervensystem nicht so leicht in Stockung geraten.
Es besitzt aber der durch die Lungen zu erweiternde
Brustkasten zahlreiche Gliederungen und Gelenke, gebildet
vom Brustbein, den Rippen der Vorderseite des Körpers,
den Rückenwirbeln und den Rippen der Rückseite des
Körpers. Diese Gelenke werden nicht nur in passiver
Weise dadurch, dass die Atmung die Wände des Brust-
kastens erweitert, sondern auch in aktiver Weise in Be-
wegung gesetzt. Die zwischen den Rippen liegenden Mus-
keln ziehen sich unter dem Einfluss des Willens zusammen.
Die Rippenhebel, die an den Rippenwirbeln ebenso wie
an den Rippen befestigt sind, stellen sich gleicherweise
unter die Herrschaft des Willens.
Es gibt viele Fälle, wo die Atmungstätigkeit nicht
ausreicht und wo weder die Rippenhebel noch die Mus-
keln zwischen den Rippen gewöhnt sind, sich zusammen-
zuziehen.
Das Resultat davon ist: Steifheit in der ganzen Rippen-
Gliederung. Wenn auch der Brustkasten als Masse kein
besonders grosses Gewicht besitzt, so stellt doch die Steif-
heit aller dieser Muskeln und Gelenke eine ziemlich be-
deutende Widerstandskraft dar.
Man würde schwachen Lungen Unrecht tun und keine
guten Resultate erzielen, wenn man gegen diese Steifheit
ausschliesslich durch die Tätigkeit der Lungen und des
Zwerchfelles kämpfen wollte.
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Die Steifheit dieser Gelenke muss durch deren Mus-
keln selbst besiegt werden.
Darum haben wir am Ende jedes dritten Kapitels
unserer Methode Übungen zur Erweiterung des Brust-
kastens angegeben, bei denen eine freiwillige Mitwirkung
der Muskeln zwischen den Rippen und den Rippenhebeln
stattzufinden hat. Die Stärke dieser Muskeln und die Ge-
schmeidigkeit der Rippengelenke werden die Widerstands-
kraft des Brustkastens auf das rein materielle Gewicht der
Rippen zurückführen. Die Möglichkeit der Entwicklung wird
dadurch für schwache Lungen weit grösser.
Aber man wird freilich mit den Übungen des Atmens
sehr zeitig anfangen und dem Steifwerden der Brustgelenke
zuvorkommen müssen, das versteht sich von selbst.
Um ein geregeltes Atmen zu ermöglichen, muss man
in erster Linie alles vermeiden, was demselben hinderlich
ist ; dazu gehört zunächst die schlechte Luft, wie wir eben
bemerkt haben.
Dann aber muss auch die Brust in der Lage sein,
sich leicht und ohne Zwang dem Ausdehnen der Lunge
anzupassen. Es ist also grundverkehrt, durch unzweck-
mässige Kleidung oder schlechte Körperhaltung den Brust-
kasten einzuengen; vielmehr sollte man der Brust freien
Spielraum lassen und sie durch zweckmässige Übung er-
weitern, um die Dehnbarkeit der Lunge zu fördern.
An diese Übungen sollen sich direkt diejenigen des
Atmens anschliessen. Da die Beine die bei weitem kräf-
tigsten Muskeln haben (z. B. 3 mal so starke als die der
Arme) und uns die Marschbewegung am wenigsten er-
müdet, so dürfte diese Bewegung, rhythmisch ausgeführt,
die beste Übung für die Lunge und zweckmässiges Atmen
sein.
* *
Die Physiologen behaupten auf Grund ihrer Beobach-
tungen, dass die graue Substanz des Zentralnervensystems
keinerlei Veränderungen unterliege, gleichviel ob das In-
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dividuum seine Muskeln, die von der grauen Substanz aus
den Muskelreiz empfangen, zu schwerer anhaltender Tätig-
keit anspanne, oder dieselben in träger Ruhe erschlaffen
lasse. Dem entgegen sollte man aus der Tatsache, dass
regelmässige Übung und Bewegung, also in Tat umge-
setzte Energie, die Muskeln kräftigt und dicker werden
lässt, dass weiterhin energischer Wille und methodische
Erziehung die Nerven kräftigt, den Schluss ziehen, dass
die graue Substanz, d. i. die Bewegungsnerven-Zentral-
stelle, durch anhaltende regelmässige Tätigkeit ernährt und
gekräftigt werden sollte. Und dies scheint auch trotz
mangelnder Beweise der Fall zu sein.
Dr. Nuys hat beobachtet, dass gewisse Teile der
grauen Substanz sich verringert hatten und verdorrt waren,
in Fällen, wo die Tätigkeit der Muskeln infolge von Ar-
beitsunfähigkeit gänzlich aufgehört hatte. Und in der Tat
lässt der ganze Zusammenhang zwischen Nerven und
Muskeltätigkeit die Wechselwirkung als absolut höher
erscheinen, nämlich so, dass sowohl das Nervensystem
durch zweckmässige Muskelbewegung, belebt und ge-
kräftigt wird, wie umgekehrt ein wohlorganisiertes Ner-
vensystem, welches alle Organe des Körpers beherrscht,
auf die Muskeltätigkeit belebend und kräftigend wirkt.
Jeder Defekt aber im Nervensystem macht sich auch in
der Muskelbewegung mehr oder weniger störend bemerk-
bar. Die Tätigkeit bildet, stärkt und belebt den gesamten
Organismus, die Muskeln, wie auch das Nervensystem.
Eine Kräftigung des Rückenmarks durch regelmässige
Tätigkeit ist schon leichter zu konstatieren. Die selb-
ständigen Nervenzellen des Rückenmarks sind der Reflex-
bewegung der Muskeltätigkeit direkt ausgesetzt und neh-
men die Bewegungseindrücke so lebhaft auf, wie etwa
leichtempfindliches Papier die Photographie, so dass die
Bewegung, die häufig wiederkehrt, den Zentralnerven des
Rückenmarks so zu sagen im Gedächtnis bleibt.
Es steht jedenfalls fest, dass anhaltende Tätigkeit
zur Stärkung der Rückenmarksner% - en dient.
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Man könnte von einem unwillkürlichen und freiwil-
ligen Gedächtnis reden.
Unsere Hörübungen ziehen aus dem einen ihren
Nutzen zur Einübung des anderen. Jede Länge an sich
und jede Betonung an sich haben die Gewohnheit der sie
darstellenden Bewegungen hervorgebracht. Die Hör-
Übungen schliessen sich nur an automatisch gewordene
Bewegungen an, aber deren Zusammensetzung ist nicht
bekannt d. h. nicht vorausgesehen, und der Lehrer bringt
sie nur ein einziges Mal zu Gehör. Das freiwillige, spon-
tane Gedächtnis muss in Tätigkeit treten, verbunden mit
konzentrierter Aufmerksamkeit. Solche Übungen sind
zur Befestigung des Gedächtnisses ausgezeichnet.
Den Grad der Geschwindigkeit, mit welcher die Mus-
keln eine ihnen vom Gehirn aufgetragene Bewegung aus-
führen, nennt Helmholtz den „Zeitverlust“, d. i. die Spanne
Zeit, die zwischen dem vom Willen erweckten Gedanken
und der Ausführung der Bewegung liegt. Es kann ein
sehr verschieden längerer oder kürzerer Zeitteil sein und
ist in seinen Schwankungen von der grösseren oder ge-
ringeren Energie des Willens, andererseits aber von der
Elastizität der Muskeln abhängig.
Wir haben gesehen, dass die Übungen des cre-
scendo und diminuendo ein Mittel dafür sind, alle Ab-
stufungen des Nervenreizes dem Schüler zur Verfügung
zu stellen. Ebenso werden die Übungen des accelerando
dem Kinde das Bewusstsein der verschiedenen Stufen der
Geschwindigkeit vermitteln und die Dauer des „Zeitver-
lustes“ verringern.
Indessen möchte ich Ihre Aufmerksamkeit noch ganz
besonders auf die Übungen des spontanen Wollens lenken.
Diese Übungen schliessen immer schon vorher geübte
Bewegungen in sich, aber der Hauptzweck derselben be-
steht darin, den Zeitverlust auf ein Minimum herabzu-
drücken.
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Das unerwartete Kommando: „Hop“! gibt dem schon
ausgebildeten Willen seine höchste Entfaltung. Dieselbe
offenbart sich darin, dass der Übergang (Sprung) unwill-
kürlich geleistet wird.
Es gibt Individuen, bei welchen die eine oder an-
dere Fähigkeit mehr oder weniger flexibel oder erregbar
ist. Bei dem einen ist die Muskulatur von erstaunlicher
Elastizität, während die Gehirntätigkeit, die Energie des
Willens, eine gewisse Schwäche oder Langsamkeit zeigt.
Ebenso umgekehrt.
Individuen, die im hohen Norden wohnen, besitzen
ein viel weniger erregbares Nervensystem, als der Süd-
länder.
Es ist klar, dass bei abweichender Veranlagung des
Nerven- und Muskelsystems, das geringer entwickelte,
weniger erregbare System früher ermüdet, als das besser,
sensitiver geartete.
Wir haben schon mehrfach bei Besprechung der
Übungen und der Muskelbewegungen die Haltung des
Körpers erwähnt, welche bei der Ausbildung eine grosse
Rolle spielt. Erweckt es auch den Anschein, als ob bei
der Bewegung die Glieder, Arme, Beine, Füsse, den
Hauptanteil an der Ausübung der Tätigkeit hätten, so er-
hält doch das Ganze erst Halt, Kraft und Harmonie durch
die Stellung des Rumpfes zur Bewegungsart.
Wie sich die extremen Glieder an die nächstliegen-
den und diese wiederum an den Rumpf anlehnen und auf
ihn stützen, so gibt der Rumpf dem ganzen Körper das
Gleichgewicht. Es ist angezeigt, bei allen Übungen zu-
gleich auch auf die Haltung des Körpers zu achten. Jede
Bewegung, jede Tätigkeit bedingt eine gewisse Haltung
des Körpers, die den Gesetzen der natürlichen Anmut, der
Ästhetik und des Gleichgewichts unterworfen ist. Die
Wirbelsäule, und mit ihr der ganze Rumpf, passt sich
unwillkürlich jeder Bewegung der Arme und Beine an,
und stellt damit nicht nur das Gleichgewicht des Körpers
her, sondern gibt den Bewegungen Nachdruck und Kraft.
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Der Werfende beugt den Rumpf zurück, der Laufende
dagegen neigt sich nach vorn.
Die natürliche Haltung der Wirbelsäule ist die senk-
rechte, und wir finden sie meist bei solchen Bewegungen,
die den verhältnismässig geringsten Kraftaufwand be-
dingen.
Will man daher beim Kinde den gefährlichen Ver-
krümmungen der Wirbelsäule Vorbeugen, so achte man
sorgfältigst auf gerade Haltung. Gestärkt wird die Wir-
belsäule am besten durch Tragen leichter Gegenstände
auf beide Hände gleichmässig verteilt, oder noch besser,
durch Auflegen einer leichten Last auf den Kopf, wodurch
die Integrität der Wirbelsäule am sichersten festgestellt
und ihre Widerstandsfähigkeit am leichtesten gefördert
wird. Durch diese Übung werden alle Rückenmuskeln
gleichmässig angespannt.
Vorbildlich könnte hier die Antike wirken, die oft
Krauengestalten in vollendeter Schönheit der Linien, mit
einer Urne oder Vase auf dem Kopf darstellt.
Die schlechte Haltung des Körpers kann ausserdem
auch verursacht werden durch die Stellung des Fusses.
Schon mehrmals habe ich vom Unterstützungspunkt ge-
sprochen. Im allgemeinen ist der Fuss der Unterstützungs-
punkt. Auch bei den meisten unserer Übungen ist er
es. Dieser Unterstützungspunkt ist bis zu einem gewissen
Grade unbeweglich, d. h. er bleibt in Berührung mit dem
Boden, aber die Art, wie der Fuss aufgestellt wird, hängt
gleichwohl von dem Bau und der Lage seiner Nerven
und Muskeln ab.
Ich möchte Ihre Aufmerksamkeit auf die Tatsache
lenken, dass der Fuss sich auf die Ferse stützen soll, und
dann auf die Unterseite der (grossen) Zehen und zwar
bei den einzelnen Personen verschieden, lieber auf die äussere
als auf die innere Seite des Fusses. Wenn bei vielen
Menschen der Fuss anders auftritt, so fehlt ihm der feste
Halt; die Verteilung und Erregung der Nerven in den
vielen entgegengesetzt wirkenden Muskeln steht nicht im
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richtigen Verhältnis. Der Knöchel darf weder nach links
noch nach rechts aus der natürlichen Linie heraustreten.
In beiden Fällen läge ein Mangel an Energie vor, und
viele Übungen würden dadurch in der Erzielung eines
guten Resultates beeinträchtigt. Gar oft widmet man der
Stellung des Fusses nicht genügende Aufmerksamkeit und
dementsprechend auch nicht seinen Bewegungen. Ich
empfehle Ihnen ganz besonders die rhythmischen Übungen
des Fusses, welche Sie bei den Anleitungen zur Erreichung
der Selbständigkeit der Glieder finden werden; so z. B.
das Gehen auf den Zehen und das Gehen auf der Fuss-
sohle mit emporgezogenen Zehen.
Um ein gutes Auftreten zu erlernen, darf das Schuh-
werk die Bewegung nicht hemmen und hindern. Wir
lassen daher breite Sandalen ohne Absätze tragen, oder
barfuss gehen.
* *
Noch ein Wort über die unwillkürlichen Bewegungen.
Wir haben vom rhythmischen Willen gesprochen,
wie er sich mit Hülfe rhythmischer Übungen der Muskeln
bildet und entwickelt, und haben betont, dass dies der
Zweck unserer Methode ist.
Werden Sie mir nun glauben, wenn ich Ihnen sage,
dass das, was wir herbeiführen wollen, gerade die un-
willkürliche Bewegung ist? Wir wollen den Willen so-
weit entwickeln bis er überflüssig und frei wird, um sich
verschiedenen Dingen widmen zu können.
Wir verlangen, dass alles Regelmässige, was unter
normalen Verhältnissen zum Rhythmus gehört, mit andern
Worten alles, was Dauer und Betonung ist, Division und
Addition, ohne Teilnahme des Willens vor sich geht, ohne
geistige Arbeit, dass alles dies in Fleisch und Blut über-
geht also, unwillkürlich wird. Der Geist soll sich aus-
schliesslich auf das, was rhythmisch geschehen muss, auf
die eigentliche Darstellung richten.
Ebenso verhält es sich in der ganzen Methode der
Erziehung des Ohres mit Bezug auf die Tonfülle, Melodie
und Harmonie, unter Einschluss der Improvisation.
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Und hier müssen wir nun die Fälle bestimmen, wo
das unwillkürliche Handeln seine Grenzen findet.
Um deutlicher zu reden, will ich Ihnen eine be-
stimmte Übung beschreiben und erklären. Es handle
sich, darum den Schüler dahin zu bringen, dass er sich
den vollkommenen Rhythmus zwischen zwei Zahlengrössen,
z. B. 3 und 4 vorstellen kann. Er muss also lernen 4
Schläge z. B. mit dem rechten Arm und genau in der
gleichen Zeit 3 Tempi mit dem linken Arm zu schlagen,
sodann auf das Kommando Hop! das Gegenteil zu tun,
d. h. 3 Tempi mit dem rechten Arm und 4 mit dem lin-
ken Arm zu taktieren. Sie werden begreifen, dass die
Zahl 12 uns zum Ziele führen wird. Zuvor muss aber der
Schüler gleiche Zeiträume darstellen gelernt haben. Diese
Darstellung muss unwillkürlich und automatisch geworden
sein. Dann muss er den Takt mit 3 und ebenso mit 4
Vierteln automatisch schlagen lernen.
Ferner muss er eine gewisse Zeit, sagen wir, einen
Takt, in 3 ebenso gut, wie in 4 gleiche Teile teilen lernen,
bis er automatisch ebenso gut eine
Gruppe von 3X4 gleichen Zeiten,
wie eine von 4/3 gleichen Zeiten
abmessen kann. Endlich muss er die Betonung in beiden
Fällen regelmässig zum Ausdruck bringen lernen, bis die
Regelmässigkeit ihm zur anderen Natur, d. h. automatisch
wird.
Wenn der Schüler auf dieser Stufe der Vervoll-
kommnung angelangt ist, wird er damit anfangen maschinen-
mässig mit einem Arm 4x3 pT
444*00044444
zu schlagen, um dann gelegentlich mit freiem Willen die
Gruppe 3X4 RR™ R™R HpR mit dem anderen
pp 004 * 044*40 44
Arm hinzuzufügen, so lange bis beides automatisch ge-
worden ist.
Ebenso wird er umgekehrt anfangen, 3\4 masehinen-
mässig zu schlagen und 4x3 nach seinem besonderen
Willen hinzutreten zu lassen. Es erübrigt für den plötz-
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liehen Wechsel in der Tätigkeit das Kommando „Hop“,
das die Spannung aufrecht erhält und den Willen unbe-
bewusst zur Betätigung bringen wird.
Das sind die Übungen des freiwillig, aus eigenem
Antriebe, plötzlich erfolgenden Wollens, d. i. des soge-
nannten spontanen Wollens, die ganz besonders wertvoll
sind, denn sie krönen das Werk unserer Arbeit.
Alles muss automatisch geworden sein, mit Aus-
nahme des Unvorhergesehenen.
Wenn die Elemente des Rhythmus in Fleisch und
Blut übergegangen sind, verursachen sie keine Anstreng-
ung mehr, auch keine besondere Aufmerksamkeit; wir
brauchen nur das Kommando Hop gewärtig zu sein.
Aus dem Gesagten folgern wir :
Wenn die Notierung nicht nur die automatische
Darstellung der Zeitlängen, sondern auch die des Klanges
nach dem doppelten Gesichtspunkte der geistigen und
physischen Ausführung (Technik des Gesanges) hervor-
rufen wird, so kann die ganze Aufmerksamkeit auf die Wie-
dergabe der durch Rhythmus und Klang auszudrückenden
Empfindung gelenkt werden. Hier stossen wir wiederum
auf eine Schranke des automatischen, unwillkürlichen
Tuns. Das Unvorhergesehene fordert eine Aufmerksam-
keit des Geistes, das aus eigenem Antriebe erfolgende,
spontane Empfinden muss beständig wach bleiben.
Wenn Geist und Empfinden des Komponisten durch
Rhythmus und Klang zum Ausdruck gebracht worden
sind, so werden die geistige Aufmerksamkeit und das
spontane Empfinden des ausführenden Sängers die Rhyth-
men und die Töne, die er durch automatische Bewegungen
zur Darstellung bringt, wieder lebendig machen.
Das Verständnis der Noten und der Vortrag sind
die beiden Flügel, die den Schüler auf der erreichten
Höhe erhalten werden.
5
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4. Vortrag.
Der Körper mit all seinen komplizierten Organen ist
uns Menschen gegeben zur Betätigung der in uns woh-
nenden Kräfte, d. i. zur Bewegung. Untätigkeit, Trägheit
bedeutet Erschlaffung der Kräfte, Absterben der Organe.
Bewegung ist Leben. Sich regen, sich bewegen können,
gewährt innere Befriedigung, Daseinslust, Freude. Die
komplizierteste Maschine mit dem wunderbarsten Mecha-
nismus bleibt doch eine tote, leblose Maschine, die erst
durch den menschlichen Geist in Bewegung gesetzt wird.
Sie rostet ein und versagt, wenn sie lange Zeit stille steht.
Wie viel mehr bedarf unser fein organisierter Körper der
steten Bewegung, die sich in jedem kleinsten Teil der Be-
wegungsfähigkeit und der Bewegungsfreude bewusst ist.
Die erstere drückt den physischen, die letztere den mora-
lischen Anteil an der Bewegung aus.
Der physische Anteil besteht in dem Wohlbehagen
des dem Körper innewohnenden Gefühls der Lebenskraft
(z. B. das wohlige Strecken des Körpers nach längerer
Ruhe!) Der moralische Anteil ist unser Bewusstsein der
unseren Gliedern verliehenen Beweglichkeit und Kraft,
die von unserem Willen abhängig und ihm gehorsam ist.
Die Bewegung ist nicht lediglich ein mechanischer, auf
anatomischem Wege erklärlicher Vorgang, sondern sie ist
in Kraft umgesetzte Willensenergie.
Wenn also einerseits klar ist, dass wir die Lebens-
kraft des Kindes fördern, indem wir ihm Bewegungs-
übungen verschaffen, und dass rhythmische Bewegungs-
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Übungen zudem sein rhythmisches Gedächtnis fördern,
so darf anderseits ja nicht vergessen werden, dass der
Erzieher, um den richtigen Weg einzuschlagen und das
Ziel zu erreichen, sich vom Kinde leiten lassen und die
Form der Übungen nach ihm richten muss.
Die wichtigste Rolle in der Belebung und im Ge-
deihen unserer Organe spielt die Freude. Die Basis aller
Freude ist die Daseins-, die Lebenslust, das uns durch-
strömende Wohlbehagen, das Empfinden von Energie und
Kraft.
Auf dieser Basis erhebt sich die Skala aller freudi-
gen Empfindungen, die die Seele durchzittern.
Die mehr oder weniger lebhaften Schwingungen
unseres Seelenlebens teilen sich den Gehirnzentren mit,
und lösen daselbst einen äusserst lebhaften, angenehmen
Reiz auf das gesamte Nerven- und Muskelsystem aus.
Die einzelnen Organe und Glieder fühlen sich belebend
angeregt, und es stellt sich ein lebhafter Bewegungsdrang
ein. Der Nervenreiz auf das Zwerchfell beschleunigt das
Atemholen und die Herztätigkeit, und wirkt auf die Lach-
muskeln. Der Gesichtsausdruck wird lebhafter, das Auge
strahlender; Arme und Beine fühlen den ungestümen
Drang, sich in rasche Bewegung zu setzen.
Wir haben schon an anderer Stelle gezeigt, dass die
Willenskraft durch verschiedene Motive geweckt werden
kann, z. B. durch Zorn, Wut, Hass, Angst, die aber stets
ein Übermass von Reizwirkungen im Gefolge haben, und
auf das gesamte Nervensystem einen schädlichen Einfluss
ausüben. Auch äussere Reizmittel können die Willens-
kraft und Energie wecken und fördern, wie z. B. ortho-
pädische Behandlung. Ein heftiger moralischer Eindruck
kann eine lebhafte Reizauslösung in den Gehirnnerven
bewirken, doch würde eine häufige Erregung der Gehirn-
nerven, eine oft wiederkehrende Gemütserschütterung auf
den gesamten Organismus schädlich einwirken, ebenso
wie jede Überanstrengung eines Organs Ermüdung und
Erschlaffung bewirkt.
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Die wohltuendste und heilsamste Reizwirkung auf das
Nervensystem ist die der Freude. Das sehen wir schon
und in ganz besonderem Masse beim Kinde, wo infolge
der zarten, leicht empfänglichen Nerven und Muskeln
jedes, auch das kleinste Gefühl von lebhaften Bewegungen
begleitet wird.
Nur ist beim Kind die Umsetzung von Energie in
Tat und Bewegung noch nicht das Produkt der Gehirn-
tätigkeit allein. Die Bewegungstätigkeit beim Kinde ent-
springt aus der Anschauung, angeregt durch äussere
Reizmittel, wie z. B. durch Neugier, Verlangen, Aussicht
auf Genuss oder Belohnung und in weiterer Entwickelung
durch Kindesliebe, Furcht vor Tadel, Ehrgeiz, Verant-
wortlichkeit. Am lebhaftesten gibt sich das Kind in der
Freude, und da ist es am gefügigsten und am leichtesten
zugänglich für pädagogische Eingriffe.
Eine rhythmisch-gymnastische Unterrichtsstunde muss
den Kindern zur Freude gereichen, sonst verliert sie den
halben IV ert.
Das Gemüt des Kindes nimmt vermöge des äusserst
zarten Nervensystems alle äusseren Eindrücke in Vorbild
und Darstellung mit der grössten Lebhaftigkeit auf. Die
Phantasie des Kindes ist unerschöpflich; es lebt in einer
eigenen Ideenwelt, in der es die Dinge, alle Wahrneh-
mungen und Beobachtungen verarbeitet und umgestaltet.
In der Seele des Kindes zerfliessen Phantasie und Wirk-
lichkeit in Eins zusammen, und es hat gar kein Verlangen
sie wieder zu trennen. Die von ihm selbst gestalteten
Begriffe, die Kinder seiner Phantasie, sind seine Lieblinge,
es hat seine Freude daran. Will man ihm seinen Wahn
nehmen, seine Phantasiegebilde zerstören, so bereitet man
ihm Schmerz. Das Kind bleibt aber nicht bei der Phan-
tasie stehen; es hat das Bedürfnis, seine Ideen ins Prak-
tische zu übersetzen; es zeigt das ernste Bestreben nach
Betätigung. Es überträgt seine Ideengebilde auf leblose
Gegenstände und lässt diese in Aktion treten, — es spielt.
Das Spielen der Kinder ist nichts anderes, als eine
Betätigung seiner Vorstellungskraft und ein Ausdruck
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seiner Freude an den in seiner eigenen Vorstellung ge-
schaffenen Gestalten. Im Spielen lernt das Kind die Be-
wegung, den Gebrauch der Glieder. Deshalb muss unbe-
dingt der erste Unterricht beim Kinde in Gestalt des
Spielens einsetzen. Der Begriff des Lernensollens, der
Pflicht, muss dem Kinde noch verborgen bleiben. Der
Lehrer muss in dem Kinde die Vorstellung wecken, dass
das, was es machen soll, etwas sehr Schönes, Angenehmes
sei, und er muss das Kind gleichzeitig überzeugen können,
dass es ihm möglich ist, die gesollte Bewegung als ge-
wollte Bewegung auszuführen. So wird das Kind die
Vorstellung erhalten, als ginge die Bevvegung aus seiner
eigenen Willensidee hervor. Die Handlung bewahrt für
das Kind den Charakter des Neuen, Reizvollen, und gibt
der Phantasie neuen Stoff zum Nachdenken. Der kind-
liche Geist forscht unermüdlich nach neuen Eindrücken,
und beschäftigt sich am liebsten mit Handlungen und
Tatsachen. Von Theorie und Vernunftgründen will das
Kind nichts wissen, darum wäre es ganz verkehrt, ein
Kind mit langatmigen, pedantischen Erklärungen seiner
Illusion zu berauben.
Jede Lektion muss daher die Form des Spiels haben,
welches eine der wesentlichsten Äusserungen der kind-
lichen Geistestätigkeit bedeutet.
Das Spiel, welches eigentlich die erste Grundlage
der Tätigkeit des Kindes ist, in ihm die Begriffe weckt,
wie man seine Glieder bewegt, also dem Kinde den Weg
zeigt, den Willen in Kraft umzusetzen, wird dabei doch
stets in ihm die Empfindung des Vergnügens, der Erho-
lung, des Ausruhens wach halten, während dasselbe auf
jedem anderen Gebiet rasch ermüdet.
Gebt einem Kinde einen Bleistift zum Spielen, und
erweckt in ihm die Vorstellung, es könne einen Brief
schreiben, so wird es im stände sein, sich stundenlang
damit zu belustigen, seine selbstgeschaffenen Hieroglyphen
auf das Papier zu malen. Verlangt man jedoch von ihm,
20mal „a“ oder „c“ oder „i“ zu schreiben, so wird es
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nach kurzer Zeit ermüden. Tatsächlich sind die Geisteskräfte
durch zu häufige Anstrengung sehr oft in Gefahr zu er-
lahmen. Kommt das aber nicht hauptsächlich davon her, dass
man zu viel an die Vorstellungskräfte appelliert, ohne diesen
den Weg zu zeigen, wie sie angewendet werden? Es gibt
für den Geist nichts Ermüdenderes! Die Vorstellung muss
mit der Wirklichkeit des ausser uns liegenden Stoffes und
mit unserer Darstellung übereinstimmen. Eine Vorstel-
lung ist unnütz ohne physische Äusserung, sei es durch
die Rede, die Hand, den Fuss oder durch den ganzen
Körper. Sie ist wie der Sauerteig, der sich ausdehnen
will. Wenn sich das Gehirn derselben nicht auf natür-
lichem Wege entledigen kann, so ermüdet es und leidet
darunter. Der Fehler des. heutigen Unterrichtsverfahrens
liegt in seiner Abstraktheit. Die Unterrichtspausen sind
kein Ersatz. Die Turnstunden setzen zwar alle Muskeln
in Tätigkeit, was gewiss der ausschliesslich intellektuellen
Beschäftigung als Gegengewicht dient. Aber meistens
wird auch hier spezialisiert und die engen Beziehungen
zwischen geistiger und körperlicher Aktivität kommen
weder in den wissenschaftlichen noch in den gymnastischen
Stunden auf ihre Rechnung. Man hört heute allerorts die
Klage, die Kinder werden mit gelehrtem Wissen über-
bürdet, während die Schulen nicht auf das Leben vor-
bereiten. Die Einen verlangen, dass jedes Kind neben
der Schule ein Handwerk erlerne. Andere wünschen, die
Schüler sollen Geographie, Botanik, Geologie in der
Natur, unter freiem Himmel lernen. Es gibt Lehrer,
welche mit ihren Schülern historische Dramen aufführen
oder die Museen besuchen möchten. Wieder andere be-
antragen, dass die Zöglinge im Garten und Wald arbeiten,
oder in der Schule kochen und so die Chemie erlernen
sollen und für alle diese neuen Ideen sind praktische Ver-
suche gemacht worden. Alle diese Neuerungen sind von
dem lebhaften Wunsche beseelt, in den Unterricht den
Zusammenhang zwischen dem abstrakten Wissen und dem
praktischen Leben hineinzubringen.
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Dies ist auch unser Zweck bei der Veröffentlichung
unserer Methode der rhythmischen Gymnastik; wir wollen
im speziellen hinweisen: 1° auf die Beziehung der phy-
sischen und der intellektuellen Kräfte, 2° auf die Bezie-
hungen zwischen der Zeit, der wir unterworfen sind und
dem Raum, der uns umgibt, 3° auf die Übereinstimmung
der harmonischen Verhältnisse in der Vorstellung und
der Bewegung.
Die Vorstellung ist für den Geist, was der Rhythmus
für den Körper; unsere rhythmischen Übungen knüpfen
das Band zwischen diesem und jenem.
Meiner Erfahrung als Gesanglehrer entspringt folgende
Beobachtung :
Wenn man ein Kind, das nicht gewöhnt ist, vorzu-
singen, zum Alleinsingen auffordert, so geht */« der Zeit
dadurch verloren, dass es sich geniert, errötet und sich
schliesslich ganz weigert.
Welches sind die Ursachen dieses Versagens? ^
1. Die Überzeugung, nicht singen zu können, die
natürliche Furcht, dass es unschön herauskäme. In der
Tat lernen ja die Kinder in der Schule weder richtig
atmen, aussprechen und nuancieren, noch legt man ge-
nügend Gewicht auf gute Stimmbildung.
2. Das Bewusstsein, dass die Stimme die Seele
wiederspiegelt und das Bedürfnis, zu einer dem Wollen
entsprechenden Aussprache der Seele eine gute Stimme
zu besitzen.
Das Kind fühlt, dass sein Innerstes sich möglicher-
weise unvorteilhaft präsentieren würde und weigert sich,
vielleicht unbewusst, aber entschieden, zu singen.
Es gehört zu unserem Programm, die Kinder alles
Menschliche, Gang, Geste, Rede und Gesang natürlich,
ohne Unschönheit, ohne überflüssige Bewegung vollführen
zu lehren, damit sie alle Befangenheit ablegen und auch,
damit sie an Körper und Geist gesund seien. Unser
Mittel heisst: Bewegung, natürlicher Ausdruck bei ratio-
neller Tätigkeit des Gehirns, der centrifugalen und centri-
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pedalen Nerven und Muskeln und deren Wechselbeziehungen.
Wir wollen von früher Jugend an Urteil und Willen für
die Zukunft bilden, und beim Kind Freiheit des Handelns
und Beherrschung der natürlichen Ausdrucksmittel er-
reichen. Wir erklären aller Nervosität den Krieg und,
um den Sieg davonzutragen, ist es sehr wichtig, dass es
uns gelingt, die Nervenzentren zu entwickeln und zu leiten,
den Nerven ihre richtigen Funktionen, und jedem Grad
der Muskelerregung Kraft und Geschmeidigkeit zu ver-
schaffen. Wir brauchen ein harmonisches Nervensystem,
um Harmonie zwischen Geist und Körper zu erlangen.
Der Geist ist befangen, wenn er nicht zu physischer Tat
in Beziehung gebracht wird. Öffnen wir also der Phan-
tasie die Tür, geben wir dem Kinde das Spiel: die gym-
nastisch-rhythmischen Übungen müssen spielender Art sein.
Das Spielen des Kindes ist also einmal der Trieb
des Willens, eine Handlung vorzunehmen, sich zu be-
schäftigen, mit anderen Worten, den Kraftüberschuss aus-
zunützen. Andererseits entspringt das Spielen aus dem
aus der Vorstellungskraft des Kindes entwickelten Nach-
ahmungstrieb. Was das Kind an Erwachsenen hört und
sieht, überträgt es nach seinen Ideen und Auffassungs-
kräften seinem Spiel. Für das Kind liegt deshalb im
Spielen durchaus nicht unbedingt der Begriff der Erholung;
man kann vielmehr häufig beobachten, dass dasselbe
seinem Spiel eine ungemeine Wichtigkeit beilegt, und die
Bewegungen, die es anderen abgesehen hat, mit grösstem
Ernst ausführt. Diese Wichtigkeit, das sich hier im Keim
bildende Selbstbewusstsein, ist mit eine Gelegenheit, dass
das Kind nachdenkt und vermöge des lebhafteren Reizes
der Gehirnnerven seinen Bewegungen eine gewisse Beto-
nung und Charakterisierung verleiht. Das Spielen ist
mithin kein blosser mechanischer Trieb des Instinktes,
nicht bloss Zweck, sondern mehr Mittel zum Zweck. In
der Art und Weise, wie das Kind sich die Anschauung
des Vorbildes zurechtlegt, wie es bemüht ist, seine Kör-
perkraft zu versuchen und der Tätigkeit anzupassen und
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in einer Reihe bewusst geordneter Bewegungen seinen
Zweck zu erreichen, liegt der Anfangskeim der Indivi-
dualität des Kindes. Hier kann ein aufmerksamer Beo-
bachter bereits oft erkennen, wieviel durch Geburt ererbte
geistige und körperliche Anlagen, wieviel selbständige
neue Triebe sich in dem Kinde zeigen, und die Richtung
des späteren Entwicklungsganges bestimmen.
Ob wir nun später Künstler sein werden oder nicht,
wir werden immer von der Vorstellungskraft geleitet wer-
den. Das mehr oder weniger direkt nützliche Ziel, das
wir uns stecken, wird uns den Titel eines Gelehrten,
Arbeiters, Künstlers etc. geben, aber welches auch unser
Beruf sein wird, er wird Vorstellung und Wirklichkeit ent-
halten.') Nehmen Sie einem Menschen die Vorstellung der
zu vollführenden Arbeit, und Sie machen ihn zur Maschine,
Sie nehmen ihm das Leben ! Geben Sie dem Kinde Ge-
legenheit, sich Vorstellungen zu bilden und Verwirklichung
zu schmieden, und Sie geben ihm das Leben.
Das ganze Leben ist ein Vordringen ins Unbekannte,
ins Geheimnisvolle.
Das ganze Leben ist ein Spiel. Das ganze Leben
ist eine Kunst, denn es ist die Ausführung dessen, was die
Einbildungskraft im Voraus erschaffen hat-
Wenn das Kind einen Stock nimmt, um darauf zu
reiten, so beschäftigt sich der Erwachsene mit seinem
Stoff nur in der Dunkelkammer der Nervenzentren. Je
besser er in dieser Werkstatt Vorstellungen zu erwecken
weiss, um so besser wird er die Verwirklichung zu Tage
fördern.
Es gibt nichts kostbareres, als das Denkvermögen.
Immer muss der Geist uns leiten. Das Kind, das auf der
fahrenden Carroussel den Ring stechen will, muss sich die
gerade Linie zwischen dem Ring und seiner Hand vor-
stellen ; sodann denkt es an die Höhe des Ringes und die
Haltung der Hand, — gelingt es ihm den Ring los zu
stechen, so liefert es nicht nur einen Beweis von Geschick-
lichkeit und physischer Kraft, es empfindet auch eine
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grosse Freude über dem Erfolg seiner Berechnung, welche
den ganzen Körper leitete.
Diese Berechnung, diese Vorstellungskraft muss man
ausbilden, ohne aber sie von der Verwirklichung zu tren-
nen. Die Ausführung muss unmittelbar darauf folgen. Es
hängt sehr viel von der Erziehung ab, ob die Vorstel-
lungskraft überreizt und verdorben oder aber zum hell-
sehenden und energischen Führer auf ein bestimmtes Ziel
hin wird.
Bei unseren rhythmischen Übungen soll auf die Vor-
stellung immer die Ausführung folgen. Der Zögling hat
dabei beständig so viel mit seinem ganzen Körper zu tun,
dass eine Überreizung nicht stattfindet. Eine Überan-
strengung kann ebenso gut von einer grossen Einbildungs-
kraft, welcher die Mittel zur Ausführung (mangels Erzie-
hung) nicht zu Gebote stehen, herrühren, als von der
Wahl des Stoffes (Erziehungsfehler). Man lasse ein Kind
zur Prüfung seines Vorstellungsvermögens. eine Kerze auf
gegebene Distanz ausblasen. Es muss dabei suchen, die
geradeste Linie von seinem Mund bis zur Flamme und
die Höhe der Flamme, inbezug auf die Höhe seines
Mundes, nicht mit Hilfe des Meterstabes sondern in Ver-
gleichung der beiden Höhen mit der Horizontallinie zu
finden. Es wird ferner dabei die Stärke der Ausatmung,
welche zum Auslöschen des Lichtes bei grösserer Distanz
notwendig ist, sich vorstellen lernen und fühlt in seinen
Atmungsmuskeln gewissermassen die dazu notwendige
Kraft. Diese Muskeln werden sich bemühen die interes-
sante Aufgabe richtig zu lösen. — Es ist dem Lehrer an-
heim gestellt, solche interessierende Ziele zu finden,
welche gleichzeitig die Klarheit und Genauigkeit der Vor-
stellung und der physischen Tat ausbilden, Ziele, welche
ohne Wissen des Kindes einzelne Stationen auf dem von
allen Erziehern eingeschlagenen Weg bedeuten: eine Ge-
neration, Menschen, voll physischer und geistiger Kraft
heranzubilden.
Der Fachlehrer (in unserem Fall der Lehrer für
rhythmische Gymnastik) darf sich nicht zu sehr in Speziali-
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täten verlieren, er muss in beständigem Kontakt mit der
allgemeinen Erziehung bleiben. Die Übungen zur Entwick-
lung des rhythmischen Sinnes haben allgemeinen Wert:
sie sind gesundheitfördernd, sie entwickeln die Willenskraft,
sie erwecken das Bewusstsein der engen Beziehungen
zwischen Körper und Geist, sie leiten die Phantasie, indem
sie ihr Aufgaben zur Verwirklichung vorlegen. Jeder Lehrer
muss die Zukunft in der Gegenwart schauen, den Mann im
Kinde, das Leben im Spiel, die richtige, harmonische Be-
wegung im Rhythmus.
Wenn wir ein Kind lärmen hören und dieser Lärm
eine bestimmte Form annimmt, so konstatieren wir bei ihm
einen Geisteszustand, der einen Weg, sich deutlich zu
machen, gefunden hat. Wir werden es ermuntern, andere
Äusserungsmittel zu finden und werden ihm helfen, indem
wir mit ihm spielen. Wenn aber das Kind nur tobt, so
konstatieren wir bei ihm einen Mangel an Vorstellungskraft;
wir versuchen die letztere durch Suggestion zu entwickeln;
wir erfinden ein lärmendes Spiel, bei welchem das Toben
und Tollen in ein ebenmässiges Geräusch übergeht. Das
suggerierte Ebenmass wird zu gewissen Schranken führen.
Das Kind sieht ein, dass sein Tollen ohne Grenzen, ohne
Mass und unschön war.
Desgleichen, wenn ein Kind unruhig ist, müssen wir
ihm spielende Bewegung verschaffen, welche ihm gestattet,
sich rhythmisch zu bewegen, denn so geben wir seiner
Bewegung Grenzen und geistigen Inhalt. Wie oft sind
Tölpelhaftigkeit und Unstetigkeit geradezu Beweise von
Einbildungskraft und geistigen Fähigkeiten, denen Ziel und
Wegleitung fehlt.
Das Spiel ist im Leben des Kindes, was die Ge-
schäftigkeit im Leben des Erwachsenen ; der Mann muss,
wie das Kind, ein Ziel haben, dem er zustrebt. Hat er
eine Beschäftigung, die keine geistige Beätigung erheischt,
so ist er ebenso unglücklich, wie wenn er geistige Fähig-
keiten nicht betätigen kann. Sein Urbild ist das tollende
oder unstete Kind. Suchen wir also nach Spielen für das
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Alter der Phantasie, um brauchbare Menschen, Gelehrte
und Künstler heranzubilden.
Das Spielen des Kindes, seine Eigenart sich zu be-
schäftigen, gestaltet sich in den meisten Fällen symbolisch,
sowohl in bezug auf die vorbildlichen Eindrücke auf die
Sinne des Kindes, als auch auf die eigene Phantasie und
die individuelle Veranlagung. Das Spiel ist die heitere,
freundliche Versinnbildlichung des späteren ernsten Lebens,
und übt und stählt im Kinde die Kräfte für die spätere
rauhe Wirklichkeit, vor welcher die Phantasie der Kindheit
sich in Enttäuschung auflöst. Vernünftige Eltern und Lehrer
werden deshalb frühzeitig darauf bedacht sein, auch dem
Spiel des Kindes eine zweckmässige Richtung zu geben
und die Beschäftigung des Kindes sorgfältig zu überwachen,
damit die geistigen und physischen Kräfte normal entwickelt
und gefördert werden.
Geistig stark und lebhaft veranlagte Kinder laufen
sehr leicht Gefahr, körperlich zurückzubleiben und Schaden
an ihrer Gesundheit zu nehmen.
Andererseits aber kann auch Mangel an physischen
Kräften dem Fortschritt der geistigen Entwicklung hinder-
lich sein, so dass es die erste Pflicht des Lehrers ist, für
die leibliche Wohlfahrt des Kindes zu sorgen, durch ver-
ständige, liebevolle Anleitung es dahin zu bringen, dass
alle Bewegungsspiele zur Kräftigung des kindlichen Körpers
dienen. Dem Spiel nach und nach einen gewissen geistigen
Gehalt zu verleihen, es zu idealisieren, und die Vorstellung
des Kindes dem Begriffe des Wirklichen, Nützlichen zu
erschliessen, ist der zweite Teil der Aufgabe des Lehrers.
Wir haben schon früher angeführt, dass die beiden
wichtigsten Faktoren beim Spiel des Kindes das durch
Anschauung erweckte Nachdenken oder die eigene Erfin-
dungsgabe, d. h. die Phantasie, und zweitens die Genug-
tuung der aus eigenem Willen entsprungenen Tätigkeit, die
Freude an der Kraftentwickelung bilden.
Hierfür nur 2 verschiedene Beispiele. Wenn mehrere
Kinder Krieg zusammen spielen und ihre Heldentaten mit
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einem übermässigen Aufwand von Lungenkraft im Brüllen
und mit dem drohendsten Gebärdenspiel begleiten, so ist
dies nicht allein die Freude am Lärm, sondern auch die
Vorstellung ihrer kindlichen Phantasie, das wirklich scheinen
zu wollen, was sie im Spiel darstellen, und ihrer Handlung
den nötigen Nachdruck zu verleihen.
Ein Kind, welches die Klaviatur eines Pianos mit
beiden Fäusten bearbeitet, empfindet nicht so sehr Freude
oder Missbehagen ob der Disharmonien, die es hervorruft,
als vielmehr lebhafteste Genugtuung darüber, dass es mit
seiner eigenen Kraft imstande ist, den Höllenlärm hervor-
zubringen. Das Kind muss ein exaktes Selbstbewusstsein
haben. Allerdings führt übertriebenes Selbstvertrauen zur
Eitelkeit. Aber wenn es anders sich keine Rechenschaft
ablegt von dem, was es ohne Anstrengung zu tun imstande
wäre, so wird es feige und lahm. Der Zweck unserer
rhythmisch-gymnastischen Übungen ist nicht, vor den Eltern
die Anlagen ihrer Kinder zu entschleiern, sondern die
Kinder sich selbst erkennen zu lehren.
So liegt es folglich für eine vernünftige Erziehungs-
methode sehr nahe, dahin zu wirken, dass das Kind das,
was es tun soll, als von sich selbst ausgehend, aus eigenem
Willen ausführt, weil dadurch nicht nur das Selbstbewusst-
sein gestärkt, sondern auch die Freude am Gelingen ver-
mehrt wird. Von der Vorstellung des Kindes ausgehend,
muss man in ihm das Verständnis erwecken, wozu es
die Glieder gebrauchen kann. Der gymnastische Unterricht
macht dem Kinde klar, welche Kraft und Bewegungs-
fähigkeit in den Armen und Beinen liegt, und wenn es
ihm dann gelungen ist, eine neue Bewegung von selbst
auszuführen, so hält es sich immer für den intellektuellen
Urheber und freut sich seines Erfolges.
Genau so verhält es sich mit der Gestaltungskraft und
Gestaltungsfreude in der Ideenvorstellung des Kindes. Die
Geschöpfe seiner Phantasie sind dem Kinde heilig. Im
Spiel gewinnen diese Phantasiegebilde Leben und Gestalt,
und die kindliche Einbildungskraft kennt keine Schranken
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des Raumes oder der Zeit. Ein Stock wird in seinen
Händen zum todbringenden Gewehr, ein schaukelndes Brett
zum Schiff, welches auf hoher See schwimmt- In dieser
Kraft der Vorstellung, die alle Schranken der Wirklichkeit
überspringt, liegt für das Kind die Ursache der jauchzen-
den Freude am Spiel. Je kühner die Einbildungskraft,
desto grösser das stolze Gefühl der Freude, das überzeu-
gende Selbstbewusstsein.
Dieses Sichselbstvergessen hat künstlerisches Wesen
an sich, es ist die unüberwindliche Liebe zur Verwirk-
lichung, welche sich des Kindes bemächtigt. Es wird später
ernste Form annehmen und im Künstler-, Gelehrten- oder
irgend welchem Beruf wieder auftauchen. Es ist ein gutes
Omen, wenn ein Kind sich in seinen Phantasien vergisst.
Aber es muss um so mehr Sorge getragen werden, dass
diesem Kinde die Mittel zur Verwirklichung nahe gelegt
werden und dass sein Geist über den Grad der physischen
Kräfte unterrichtet werde, damit nicht das Sichselbstver-
gessen in Utopysmus ausarte, damit endlich durch die
physische und materielle Erfahrung sein ernstes Tun nützen
und frommen möge. Gerade wie das Kind glücklich ist
bei der Täuschung des Spieles, so wird der Mann seine
Befriedigung finden in der vollendeten Tat. Die grösste
Genugtuung für den Arzt ist die Heilung des Patienten
und für den Lehrer: die Selbständigkeit seines ehemaligen
Zöglings.
Hat im Geiste des Kindes eine Vorstellung Raum
gewonnen, so fängt der allen Eindrücken so leicht zugängliche
Geist an, sich mit dem Kern der Vorstellung zu beschäftigen
und auf die eigene Ideenwelt des Kindes einzuwirken.
Vermöge einer Art Autosuggestion kleidet es sich selbst
in das Gewand der einer fremden Welt entlehnten Figur,
und des Kindes Wille und Phantasie passt Ort und Um-
gebung seiner selbst übernommenen Rolle selbstschöpferisch
an. Seht nur ein Kind an, das -König“ oder „Königin“
spielt, mit welcher Majestät und Würde es einherschreitet
und die gedachten Hofieute mit herablassender Gnade
grüsst.
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Der Glaube an seine Gestaltungskraft räumt jedes
Hindernis nüchterner Wirklichkeit aus dem Wege.
Auch der Glaube ist eine vielversprechende Eigenschaft,
nämlich der Glaube an das, was noch nicht ist, aber sein
wird. Beim Erwachsenen erzeugt er die Hoffnung auf die
Zukunft, den Glauben an die Entwicklung, den Fortschritt
des Individuums und der Gesamtheit. Er erhält seine Nah-
rung durch die Geschichte der Menschheit. Er gibt uns
Kraft zu handeln, die Zukunft uns näher zu bringen, indem
wir Gegenwärtiges kreieren, und bietet uns die Freude am
Leben. Er ist ein absolutes Lebensbedürfnis, denn das
Leben geht vorwärts und nie zurück.
Menschen, die keine ihrer Vorstellungskraft entspre-
chende Fähigkeit des Handelns besitzen, leiden unter der
Wirklichkeit und in der Umgebung von „Realisten“ — sie
werden Utopisten. Die Realisten geben sich nicht Rechen-
schaft darüber, dass Vorstellungen zu jeder reellen Tat
notwendig sind ; sie glauben, mangels an Phantasie, nicht
an den Fortschritt. Sie entbehren auch der Erfahrung über
motorische Kraft des Gedankens. Für sie ist jeder Idealist
ausnahmslos Utopist.
Die Idealisten sind es aber, welche klare Vorstellungen
und starken Glauben besitzen, sie kennen ihre Einbildungs-
und Ausführungskräfte, die engen Beziehungen, die Soli-
darität zwischen Denken und Handeln; sie kennen den
Wert der Materie für die Anwendung der Vorstellung, die
Notwendigkeit der Bewegung in Zeit und Raum und die
Wichtigkeit der stufenmässigen Steigerung der Muskel-
erregung bei jeder Tätigkeit.
Der Idealist findet bei allen seinen geistigen und
praktischen Erfahrungen das Wesentliche heraus und ge-
winnt dadurch Liebe zur Arbeit und Schaffenskraft. Aber
die Bezeichnung „Idealist“ wird heutzutage vielfach falsch
angewandt, nennen wir daher unsern Mann genauer Materio-
Idealist.
Die Neuheit einer Idee schreckt diejenigen ab, die
nicht von der Überzeugung durchdrungen sind, dass Leben
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gleichbedeutend ist mit Denken, Wollen und dann Tun,
dass jedes Wollen das Vorbild einer darauffolgenden Ver-
wirklichung ist. Wir geben dem Kind den Glauben, indem
wir es antreiben, sich etwas Neues vorzustellen und hier-
auf unmittelbar auszuführen.
Der Lehrer muss daher immer neue Ziele suchen,
welche die Kinder auf neuen Wegen erreichen müssen,
sobald ein Weg ihnen so vertraut ist, dass sie sich blind-
lings orientieren können. Durch wiederholte Erfahrungen
bei der Verwirklichung einer Idee lernt das Kind die Zu-
kunft lieben, welche uns durch unsere gegenwärtigen An-
strengungen die Vervollkommnung dessen, was noch Stück-
werk ist, und die Erfüllung dessen bringt, was wir noch
wünschen. Der Glaube erzeugt den Fortschritt, er ist das
Gegengift für Melancholie, Skeptizismus und Unselbstän-
digkeit.
Immerhin besteht noch eine grosse Differenz zwischen
der Ausübung beim Spiel und der Tätigkeit des Mannes.
Der Mann glaubt an die Illusion. Dies ist der Unter,
schied zwischen dem Spiel, welches das Leben vorbereitet,
und dem Beruf, welcher das Leben ist. Bei allem Glauben
glaubt das Kind doch nicht. Bei allem Träumen weiss es
doch, dass es spielt. Es gibt sich auch Rechenschaft, dass
es nur von ihm abhängt, die ihm teure Illusion zu zer-
stören. Es fühlt, dass der Schein, der ihm Freude macht,
von ihm abhängt und durch seinen Willen zustande kam . . .
Das Spiel entwickelt also seine Persönlichkeit; es übt das
Kind in der Reproduktion seiner Eindrücke und Ideen und
ist ein mächtiges Hilfsmittel zur Stärkung des Denkver-
mögens un<j zur Festigung des Bewusstseins.
Es wurde an anderer Stelle schon hervorgehoben, dass
das Kind beim Spielen in lebhafter Bewegung viel weniger
ermüdet, als wenn es angehalten wird, eine Reihe rhyth-
mischer oder methodischer Übungen auszuführen. Die Er-
müdung geht nicht zuerst vom Muskel, sondern vom Ge-
hirn aus, da der betreffende Nerv, der den Muskel anregt,
durch die beständige Reizwirkung nach und nach erschlafft
und sich dabei ein Schmerzempfinden einstellt.
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So wird das Kind lieber spielen wollen, als eine Reihe
von rhythmischen Übungen ausführen. Der Lehrer muss
deshalb darauf bedacht sein, die notwendigen Übungen
dem Kind in Form des Spielens begreiflich zu machen, so
dass es die Übungen lieb gewinnt und Freude an ihrer
Ausführung hat. Dadurch werden die Muskeln spielend
gekräftigt, ohne dass sich das Kind der erzieherischen
Kehrseite der Übung, der es eine instinktive Abneigung
entgegenbringt, bewusst wird.
Es kann daher einem Lehrer der rhythmischen Gym-
nastik nicht genug empfohlen werden, seinen ganzen Er-
findungsgeist anzuwenden, um alle Übungen in die der
Erholung dienlichste Form einzukleiden; z. B. die Figur
^ (punktiertes Achtel und Sechzehntel) bedeutet den
Galopp eines Pferdes, die | (halbe Note) eine Verbeu-
fl?
gung, der Niederschlag die Tätigkeit der Laufstange einer
Lokomotive. Beim Sprung nach vorn auf das Kommando
hop! denkt das Kind an das Bächlein, das über die Strasse
fliesst, beim Rücksprung an die Kröte, die über den Weg
läuft etc. etc.
Jedes Kind ist von einer starken Wissbegierde be-
seelt, die man auch mit Neugier bezeichnen könnte. Es
zeigt das lebhafte Verlangen, jedes Ding, das sich seinem
Auge darbietet, kennen zu lernen, zu wissen, woraus es
besteht und wozu es dient. Diese Neugierde muss sich
der Erzieher zu Nutzen machen, indem er die Aufmerk-
samkeit des Kindes auf Dinge lenkt, die es kennen soll.
Hierbei kann man die Fähigkeit des Kindes, einen
Begriff aufzufassen, dadurch schärfen und fördern, dass
man die Zeitdauer der Erklärung möglichst abkürzt.
Wie man nun die Fassungsgabe des Kindes erhöhen
kann, d. i. das impulsive Begreifen einer Sache, so soll auch
das impulsive Wollen und Können im Kinde geweckt
werden.
Ein Kind dazu zu vermögen, dass es, ohne lange Vor-
bereitung oder Nötigung, aus freien Stücken schnell etwas
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tut oder beginnt, ist ebenso wichtig, wie die Erziehung
dazu, mitten in einer Tätigkeit oder Bewegung innezuhalten.
Es ist die Erziehung zur Selbstzucht und zur Selbst-
beherrschung. Sobald das Kind erkennt, dass es von
seinem Willen abhängt, eine Tätigkeit abzubrechen, um sie
nach Belieben später fortzusetzen, wird das Vertrauen in
seine Willensenergie geweckt und gestärkt, und es fühlt
Stolz und Freude über die Gewalt, die es über sich selbst
auszuüben vermag.
Besonders können wir das bei Marsch- und Stab-
übungen beobachten, bei denen unter geschickter gym-
nastischer Anleitung das Kind lernt, schon auf einen Wink
oder eine Geste die Bewegung einzustellen oder ihr eine
andere Richtung zu geben. In dieser Hinsicht gibt es
noch viele andere Mittel, ein Kind daran zu gewöhnen,
sich zu beherrschen und alle Muskeln der Glieder, sogar
die Gesichtsmuskeln, in der Gewalt zu haben.
Es gibt eine Menge kleiner Übungen, welche dazu
beitragen können, das Interesse des Kindes zu wecken,
aber man könnte sie nicht in einen Lehrplan hinein-
schreiben, ohne den Faden zu oft zu zerreissen. So kann
man beispielsweise, bevor man dem Schüler die verschie-
denen durch Schläge dargestellten Zeitwerte zu Gehör
bringt, das Ohr schärfen, indem man ihm bei geschlossenen
Augen die Stärke des Schlages (f, mf, p, pp) und dessen
Richtung beurteilen lässt. Hiezu kann man das Kind mit
verbundenen Augen in einen von Mitschülern gebildeten
Kreis stellen und diese abwechselnd in die Hände schlagen
lassen, wobei jenes erraten muss, von welcher Seite her
es das Geräusch gehört hat, wieviel Schläge (2, 3, 4 bis
10) es waren. Dasselbe in verschiedenen Distanzen. Um
ein Kind an links und rechts zu gewöhnen, stellt man
es, immer mit verbundenen Augen, zwischen zwei andere.
Sobald das zur Rechten mit dem Fuss stampft, muss
das Kind in der Mitte mit dem rechten Fuss stampfen,
ebenso links. Wenn das Kind zur Rechten in die Hände
klatscht, so muss dasjenige in der Mitte den rechten Arm
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heben etc. Man kann auch das Kind mit verbundenen
Augen mit einem Arm (z. B. dem linken) verschiedene
rhythmische Übungen machen und dieselben sofort vom
rechten Arm wiederholen lassen, denn diese Übung wirkt
nicht nur auf diejenige Körperseite, welche sie ausführt,
sondern auch aul die symmetrische andere Körperhälfte. —
Auch die Atmungsübungen können in die Form des Spieles
eingekleidet werden. Das Kind kann sich vorstellen, es
blase die heisse Suppe oder den Staub, die feuchte Schrift,
ein Licht oder die Haut auf der Milch. Mit seinem Hauch
kann es die Hände erwärmen, ein Loch in das Eis der ge-
frorenen Scheibe machen; es kann pfeifen, seufzen, schnüffeln,
niessen, schluchzen. Auch die Atemübungen werden auf
diese Weise anziehend werden. Man kann auch einen ganz
gewöhnlichen Schrei gestatten, wie ihn die Kinder so gern
nach jeder von der ganzen Klasse ausgeführten Übung
loslassen. Sie können das Kommando „hop“ von einzelnen
Schülern selbst geben lassen, einen oder einige Rhythmen
durch diesen oder jenen Schüler erfinden und von der
Klasse ausführen lassen, und so weiter.
Der Lehrer verfolgt immer denselben Zweck, aber
die Abwechslung wird den grossen Vorteil haben, dass
die Kinder immer begierig sind, was ihnen die nächste
Lektion bringen wird.
Der Lehrer hüte sich aber, bei den Spielübungen mit
dem Kinde einseitig oder pedantisch zu werden. Das
grösste Geheimnis in der Erziehung ist, sich selbst in die
Seele des Kindes versetzen zu können und nicht dem Kinde
seine, des Lehrers, Anschauung und Begriffe eintrichtern
zu wollen, sondern sich selbst auf den Standpunkt der
kindlichen Anschauung zu stellen und von der Vorstellung
des Kindes aus die Dinge zu beleuchten, wie sie wirk-
lich sind.
So wird der Lehrer bei dem Kinde stets Verständnis
und Vertrauen finden; er wird aber auch selbst Verständ-
nis finden für die stets wechselnde, lebhafte Phantasie des
Kindes, etwas Neues zu hören oder zu sehen. Dieses Ver-
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langen nicht ungeschickt zu ersticken, sondern es im Gegen-
teil stets wach zu erhalten, ist Aufgabe des Lehrers. Er
muss im Vorbild, in der Wahl der Übung und der Worte
stets auf Wechsel bedacht sein, um dem Kinde immer
neue Anregung zu geben und sein Interesse zu fesseln.
Der erste Erfolg unserer rhythmischen Gymnastik
muss bestehen in: der Freude, dem Genuss zu leben, in
der Entwicklung des Willens und der Umformung der
Vorstellung in die Wirklichkeit.
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5. Vortrag.
Es ist sow.ohl im Satzbau der musikalischen Phrasen,
als auch in den äusseren Formen eine gewisse Symmetrie
wahrzunehmen, welche im plastischen Rhythmus durch
das Geichgewicht und die Harmonie der Bewegungen
zum Ausdruck kommt.
Die Wiederholung eines musikalisch rhythmischen
Abschnittes ist lediglich eine Form, welche aber ihre Be-
rechtigung findet in den Gegensätzen des Ausdrucks, in
den Gegensätzen der Schattierung.
Die Symmetrie des Körpers ist ebenfalls formell. Die
in gleichzeitiger Symmetrie ausgeführten plastischen Bewe-
gungen weisen keinen Gegensatz auf und deshalb fehlt
ihnen der Ausdruck, wie sich leicht feststellen lässt bei
der Ausführung vieler rein gymnastischer Übungen.
+ + i i I
Aber die plastischen Bewegungen können in zeit-
lichem Sinne symmetrisch sein, indem sie ebenso wie die
Melodie in zwei aufeinander folgenden Perioden ausgeführt
werden. In diesem Falle enthält die Form der musika-
lischen Wiederholung einen plastischen Gegensatz zwischen
den beiden Richtungen links und rechts. Darum werden
die Märsche mit abwechselnden Zeitwerten, welche einen
sich wiederholenden musikalischen Rhythmus enthalten,
harmonischer sein, wenn dieser Rhythmus eine /mgerade
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Zahl von Schritten enthält, denn die Wiederholung wird
alsdann mit dem andern Fuss anfangen können.
Der Rhythmus
J
<=)’ 4
etc. ist nicht beson-
ders günstig für die Schönheit eines Marsches, da die
kreuzende Bewegung des einen Beines immer nach der-
selben Richtung ausgeführt wird. Die Gangart der Aus-
führenden wird einen hinkenden Charakter tragen. Die
nämliche rhythmische Formel in folgender Weise umge-
I wird das Auge viel besser befrie-
J
dieser
staltet
ö' - - _
digen, aber die Wiederholung ||l J | J
beiden Takte wird eine gewisse Steifbeit aufweisen.
Wenn man aber eine Note hinzufügt, sodass der Rhytmus
eine ««gerade Zahl Schritte enthält |[* ^J. J I J. J j «j|
so wird die Wiederholung mit den ergänzenden Gesten
ausgeführt und die Symmetrie der musikalischen Phrase
wird die Symmetrie der plastischen Bewegungen herbei-
führen.
Dennoch würde man einen Irrtum begehen, wenn
man eine absolute Parallelität feststellen wollte zwischen
dem musikalischen und dem plastischen Rhythmus, denn
es ist ein bedeutender Unterschied zwischen einem isolierten
musikalischen und einem plastischen Zeitwert gleicher Dauer.
Bei einem allein stehenden tönenden Zeitwert zieht der
Moment des Anfangs viel mehr die Aufmerksamkeit auf
sich, als der Augenblick, wo der Ton aufhört. Dies fin-
det seinen Grund darin, dass das Schweigen, welches der
ersten Schwingung vorangeht vollkommen und der Gegen-
satz zwischen Schweigen und Tönen daher absolut ist,
wohingegen die zuletzt hervorgerufene Schwingung ihren
Weg durch den Raum noch fortsetzt. Sogar wenn man
den letzten Augenblick der Tonerzeugung durch einen
festen Stoss hervorhebt, wird auf die Unterbrechung dieser
Bewegung kein vollkommenes Schweigen folgen : die
schwingende Luft kommt erst allmählich zur Ruhe. Wenn
man den letzten Augenblick eines tönenden Zeitwertes
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mehr betont als den ersten, so wird diese Betonung den
Schrecken, die Wut, die Rohheit ausdrücken. Es entsteht
ein pathetischer Akzent, also ein Ausnahmefall, aber nichts
destoweniger ist der Gegensatz zwischen dem Ton und
der darauf folgenden Pause nicht in gleichem Masse reell,
als derjenige zwischen dem Ton und dem ihm vorange-
henden Schweigen.
Dagegen ist es bei einem isolierten, durch plastische
Bewegung abgemessenen Zeitraum der letzte Augenblick,
welcher am meisten hervorgehoben wird. Und zwar aus
folgendem Grunde.
Eine Bewegung ist immer die Folge eines Gehirn-
reizes. Die Unbeweglichkeit, welche der Bewegung voran-
geht, ist nicht vollkommen. Der Ausdruck des Körpers
lässt die Bewegung voraussehen, denn schon spannen sich
die Muskeln an, und der Körper (die Glieder, das Antlitz)
belebt sich in der Haltung, welche der Bewegung voran-
geht. Infolgedessen ist der Gegensatz zwischen dem
regungslosen Zustand und der an denselben anschliessen-
den Beweglichkeit nicht vollkommen. Dagegen schliesst
jede einzelne Bewegung mit einer Stellung der vollkom-
menen Ruhe oder des vollkommenen Gleichgewichts ab.
Diese Stellung kann Muskelanspannungen erfordern, und
sie kann infolge der Willens- und der Vorstellungskraft
sehr belebt und ausdrucksvoll sein, aber dies ist nicht
unbedingt notwendig. Im allgemeinen hat eine fertige
Bewegung ihr Ziel erreicht und die Unbeweglichkeit der
anschliessenden Haltung ist vollkommen. Der Gegensatz
zwischen der Bewegung und dem darauf folgenden
regungslosen Zustand ist ein absoluter; der letzte Augen-
blick eines in plastischer Bewegung dargestellten Zeit-
wertes wird mehr betont als derjenige, welcher den An-
fang der Bewegung markiert.
Die Gesetze, denen der plastische Rhythmus unter-
steht, erkennt man am leichtesten, wenn man einen Körper
in seiner Bewegung beobachtet und zwar in dem Moment,
wo die Bewegung abschliesst oder unterbrochen wird,
und der Körper eine Ruhestellung einnimmt.
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Jede isolierte Bewegung (das heisst jede Bewegung,
welche nicht verglichen wird mit einer vorangehenden
oder einer folgenden Bewegung) kann zerlegt werden in
Auftakt und Niederschlag, d. h. in einen schwachen Zeit-
wert, welcher einem verhältnismässig schweren Akzent
vorangeht. Wenn wir eine Übereinstimmung feststellen
wollen zwischen dem körperlichen und dem musikalischen
Rhythmus, so werden wir die Bewegung studieren müssen,
welche einer Stellung vorangeht und welche — um einen
musikalischen Ausdruck zu gebrauchen — einem Auftakt
oder einer Anacruse gleichkommt.
Im Augenblick, wo die Stimme eines unsichtbaren
Sängers einen Ton ansetzt, hat der Zuhörer die Empfin-
dung, dass eine Tätigkeit anfange. Wenn er aber den
Sänger vor Augen hat, so wird der aufmerksame Zu-
schauer beobachten, dass dem Eintritt des Tones verschie-
dene Vorbereitungen vorangehen. Die Brust dehnte sich
bei der Einatmung aus, der Mund hatte sich geöffnet und
auf die Aussprache des zu bildenden Tones vorbereitet.
Nur der genaue Beobachter wird diese Vorbereitung kon-
statieren, denn die betreffende Bewegung kann bei dem
Ansatz eines weichen Tones auf ein Minimum beschränkt
und unauffällig ausgeführt werden, und so dem grösseren
Publikum vollständig entgehen. Diese vorbereitende Be-
wegung ist noch geringer beim Klavierspieler, weil sie in
vielen Fällen nur von einem einzelnen Finger ausgeführt
wird. Aber beobachten Sie einen Orchesterdirigenten im
Augenblick, wo er zu dirigieren anfängt; sein Arm, welcher
beim Einsatz sich entweder heben oder senken muss,
führt vor der plastischen Bewegung, welche den Anfang
des Tones bestimmt, eine vorbereitende Bewegung aus,
welche die Dauer des Taktteiles angibt. Bei dieser vor-
bereitenden Bewegung wird sich der Arm im Zustande
starker Innervation befinden, wenn der erste vom Orchester
zu spielende Ton eine energische Betonung verlangt, der
Arm wird mässig innerviert sein, wenn der Anfangston
nur mässig hervorgehoben werden muss. Und schliesslich
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wird die Muskelinnervation des Armes ganz weich sein,
wenn der Anfangston auf einen schwachen Taktteil fällt
und nicht hervorgehoben werden soll. Diese Bewegung
übt ihre Wirkung auf das Auge der Musiker aus und
steht in enger Beziehung zum musikalischen Rhythmus.
Bei der Ausführung eines jeden musikalischen Rhythmus
ist eine plastische vorbereitende Bewegung unvermeidlich.
Und jede Dauer eines klingenden Zeitwertes, während
dessen das Ohr keine rhythmische Bewegung wahrnimmt,
stellt für das Auge eine plastische Bewegung dar,
deren letzter Augenblick zusammenfallen wird mit dem
Stoss, welcher den Schluss eines klingenden Zeitwertes
und den Anfang des darauf folgenden bildet. Es wird
demnach weder eine musikalische Pause noch ein tönen-
der Zeitwert durch eine vollständige Unbeweglichkeit des
Körpers dargestellt. Es wird immer eine plastische Ana-
cruse stattfinden, das heisst eine Bewegungs-Vorausnahme.
Führen wir einen einfachen Marsch aus, welcher
nur gleiche Zeitwerte enthält und singen wir dazu Töne
von derselben Dauer. Wenn Sie sehr genau beobachten,
so werden Sie bemerken, dass der Gesang sozusagen
immer einen Taktteil hinterher kommt. Der Fuss hebt
sich, um den rhythmischen Augenblick des ersten Tonein-
satzes markieren zu können. Die erste Bewegung ist
schon ausgeführt im Moment, wo der erste Ton anfängt.
Der rhythmische Moment des plastischen Treffpunktes
ist der rhythmische Moment der Entstehung des Tones.
Wenn Sie eine ganze Note darstellen und Viertel-
noten dazu singen, werden Sie bemerken, dass Sie die
kreuzende Bewegung des Beines ausführen während Sie
die erste Note singen. Die Dauer der kreuzenden Bewe-
gung fällt zwischen die zwei rhythmischen Zeitteile 1 und
2. Wiewohl sie die zweite plastische Bewegung ist, so
kommt sie doch während des ersten musikalischen Zeit-
wertes zur Ausführung. Ebenso stellt die dritte Bewe-
gung der ganzen Note deren zweiten musikalischen Zeit-
wert dar; die vierte Bewegung der ganzen Note ist der
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dritte musikalische Zeitwert, und die Bewegung des da-
rauf folgenden Schrittes füllt den vierten Zeitwert der
noch nicht vollendeten ganzen Note aus.
Aus der Innervation der Glieder vor der Bewegung
geht hervor, dass die den Marsch begleitenden Gesten
später anfangen können als die Bewegungen des Fusses,
vorausgesetzt, dass Sie leicht anfangen, ohne jegliche Be-
tonung. Es ist aber unbedingt notwendig, dass Fuss und
Arm, Kopf und Hand im selben rhythmischen Treffpunkte
Zusammenkommen.
Sie werden in dem I. Bande der rhythmischen Gym-
nastik Marschübungen finden, welche in abwechselnder
Haltung auszuführen sind. Diese Übungen haben den
Zweck, das Gefühl der Symmetrie des musikalischen Satz-
baues zu wecken und zu stärken und die meisten dieser
Märsche fangen absichtlich mit einem Auftakt an. Die
beigefügte Randbemerkung betont ausdrücklich, dass der
Haltungswechsel vollzogen sein muss im nämlichen Augen-
blick, in welchem der in der Übung angegebene Taktteil
anfängt. Der Haltungswechsel nimmt tatsächlich immer
einige Zeit in Anspruch. Wenn eine Periode mit einem
klingenden Auftakt beginnt, wird demselben also ein
plastischer Auftakt vorangehen, und da die 2. Periode
ebenfalls mit einem Auftakt anfängt, wird ihr die Bewe-
gung des Haltungswechsels vorausgehen müssen. Den
gleichen Fall finden wir übrigens bei der Atmung. Weil
die Einatmung Zeit in Anspruch nimmt, und der rhyth-
mische Moment des Toneinsatzes nicht verzögert werden soll,
ist man genötigt, den vorhergehenden Ton abzukürzen. Da
der rhythmische Augenblick der Vollendung des Haltungs-
wechsels nicht verzögert werden soll, ist man genötigt, die
Dauer der vorangehenden Haltung etwas zu verkürzen.
Infolgedessen ist der so häufig vorkommende Fall
von Arythmie (derjenige des verzögerten Toneinsatzes)
durch den Umstand verursacht, dass die unentbehrliche
vorbereitende Bewegung erst im selben Augenblicke aus-
geführt wird, wo sie vollendet sein sollte. Dieser Fall
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kommt zum Beispiel oft vor, wenn eine Geste des Dirigen-
ten den Einsatz des Orchesters auf den letzten Ton einer
Klavierpassage veranlassen sollte und er den Taktstock
erst auf den betreffenden Ton hebt , anstatt vorher. Diese
Art der Arythmie ist in der Gangart vieler Schüler zu
konstatieren. In dem Augenblick, welcher für den Treff-
punkt des Schrittes festgestellt ist, haben sie ein Gefühl
der Betonung in dem Hüftgelenk, dem Ausgangspunkt für
die Vorwärtsbewegung des Oberschenkelfe. Die Fusssohle
erreicht den Boden einen Augenblick zu spät, ohne dass
sie hiervon eine unangenehme Empfindung haben. Andere
Schüler führen den Schritt des schweren Taktteils richtig
aus, und zeigen diesen selben Fehler nur auf die leichten
Taktteile. Es kommt dies auch, obschon weniger häufig,
bei der Ausführung der Arm-, Kopf- und Rumpfbewe-
gungen vor.
Die vorbereitende Bewegung schliesst entweder mit
einer geraden Linie ab, wenn z. B. das Bein den schweren
Taktteil ausführt, oder aber mit einem spitzigen, rechten
oder stumpfen Winkel: wie z. B. beim Taktschlagen des
Armes oder bei den zerlegenden, vom Bein ausgeführten
Bewegungen der zusammengestellten Zeitwerte. Wenn
die Bewegung im rhythmischen Augenblick des Treff-
punktes noch nicht vollendet ist, so wird die Linie oder
der Winkel eine andere Form angenommen haben, die
körperliche Harmonie wird zerstört, die Haltung nicht ge-
regelt und das Gleichgewicht nicht hergestellt sein. Der
gleiche Fehler entsteht, wenn die der Geste des Armes
entgegengesetzte Kopfbewegung nicht im rhythmischen
Augenblick vollendet wird und nicht das Bild des voll-
kommenen Gleichgewichtes darstellt, da die Bewegung
des Armes schon ausgeführt ist, während diejenige des
Kopfes noch nicht zu Ende gebracht wurde.
Diejenigen Individuen, welche plötzliche und kurz
abgebrochene Bewegungen ausführen, haben gewöhnlich
ein lebhaftes Gefühl für rhythmische Betonung. Ihr musi-
kalischer Vortrag ist hart und weist einen Mangel an
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Plastik auf, weil ihr Geist vor allem an den rhythmischen
Treffpunkt denkt, nicht aber an die vorbereitenden Be-
wegungen. Ihre Gesten sind eckig, denn sie nehmen im
voraus die Form des Winkels an, welche erst für den
rhythmischen Augenblick des Treffpunkts erforderlich ist.
Dieser Zustand des Geistes uud der Muskeln verursacht
die Hast beim Musizieren, wie auch im plastischen Vor-
trag, da die Innervation nicht crescendo sondern ruckweise
ausgeführt wird und zu lange anhält, weshalb dann auch
die folgende Bewegung beschleunigt werden muss.
Diejenigen Individuen, welche nicht das energische
Gefühl der rhythmischen Betonung besitzen, denken zu
spät an die auszuführenden Akzente und bereiten zu
langsam die anacrusische Bewegung vor; vom plastischen
Gesichtspunkt aus ist der spitze Winkel, welcher im
Augenblick des rhythmischen Treffpunkts gebildet werden
muss, unvollkommen, und es ist zu spät ihn zu verbessern.
Wenn der Betreffende ihn dennoch zu vervollkommnen
sucht, verliert er Zeit und die folgende Bewegung wird
verzögert.
Der Wille übt seine Wirkung beim plastischen
Rhythmus nur im Augenblick aus, wo die Bewegung an-
fängt und wo dieselbe aufhört. Sowie die Bewegung
wiederholt wird, verliert der Wille sein Interesse daran.
Sehen Sie den Hasen, welcher vom Jagdhund verfolgt
wird. Um der Hetzjagd zu entkommen, lässt der Wille
des Hasen ihn plötzlich eine andere Richtung einschlagen.
Dieser Wille nahm Gestalt an während der Hase in ge-
rader Richtung vorwärts lief, und die „verlorene Zeit“
wird daher auf ein Minimum herabgesetzt. Der Hund
aber ist genötigt, noch einige Augenblicke seinen schnellen
Lauf in gerader Linie fortzusetzen, bevor es dem Willen
gelingt die automatische Bewegung fortzusetzen und den
rhythmischen Winkel der zwei entgegengesetzten Bewe-
gungslinien auszuführen. Das ist „verlorene Zeit" und der
Hase gewinnt Raum. Die verlorene Zeit besteht in der
Schnelligkeit des Hasen und dem Raumabschnitte, welcher
sich zwischen dem Hasen und dem Hunde bildet.
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Der menschliche Geist allein, ohne Zuhilfenahme
mechanischer Mittel, hat keinen Begriff, keinen Schätzungs-
begriff von Zeit und Raum. Wenn unser Auge in den
unendlichen Raum blickt, ist es nicht imstande, eine Ent-
fernung abzuschätzen, wenn nicht Gegenstände, deren
Grössenverhältnisse dem Auge, bezw. dem Geiste bekannt
sind, den Raum unterbrechen und dem Auge als Marksteine
dienen. Ebenso wenig hat unser Geist eine Vorstellung
von der Zeitdauer ohne Zuhilfenahme chronometrischer
Mittel. Sperren wir einen Menschen in einen stockdunkeln
Raum, in welchen kein Geräusch von der Aussenwelt
dringt, also z. B. auch nicht das Schlagen einer Uhr, nichts,
was den Unterschied von Tag und Nacht verrät, so ent-
schwindet dem Gefangenen binnen kurzem jede Vorstel-
lung der Zeit, die er in dem abgeschlossenen Raum zu-
bringt.
Wie nun der Geist nur mit Hilfsmitteln eine Zeit-
dauer erkennen kann, so kann er auch die regelmässige
Wiederkehr einer Bewegung, den Rhythmus nur durch
Vergleichung der Zeitabstände zwischen den Wieder-
holungen regulieren.
Unser Wille bestimmt also wohl den Nervenreiz und
die Auslösung der Muskeltätigkeit, d. i. Beginn und Ende
der Bewegung, aber nicht den Rhythmus derselben. Der
natürliche Rhythmus, die gleichmässige Muskelanspannung
selbst ist es, wodurch dem Geist die Vorstellung der
rhythmischen Zeitabschnitte vermittelt, und der Wille den
rhythmischen Bewegungen angepasst wird.
Eine Bewegung, eine Kraftäusserung, welche bestän-
dig nach derselben Richtung hinwirkt, bedingt eine bei
weitem schnellere Ermüdung der betr. Muskeln, als eine
aus zwei oder mehreren Arten (in verschiedener oder
entgegengesetzter Richtung) zusammengesetzte Bewegungs-
tätigkeit.
Z. B. das beständige Ziehen an einem Seil ermüdet
bedeutend rascher, als die Bewegung des Holzsägens, die
jemand, der darin geübt ist, stundenlang fortsetzen kann.
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Der Muskel, der angespannt wird, verlangt eine Abspan-
nung zum Ausgleich der Kraftentwickelung und in dieser
Ausgleichung liegt das erste Gesetz des Rhythmus im
Raume, wie das Bedürfnis, die Luft einzuatmen und aus-
zustossen, das rhythmische Atemholen bedingt.
Jeder sichtbaren Bewegung geht eine — sagen wir —
latente Bewegung voran, das ist die zur Ausführung der
Bewegung notwendige Muskelanspannung, welche parallel
mit der kürzeren oder längeren Zeitdauer der rhythmischen
Bewegung schneller oder langsamer sich vollzieht; um-
gekehrt aber ist die Muskelinnervation im Verhältnis zum
Kraftaufwand der Bewegung, d. h. sie vollzieht sich lang-
samer bei schweren rhythmischen Bewegungen, rascher
bei leichteren. Beim Ballschlagen oder Stabschwingen
z. B. sind die Muskelanschwellungen rasch und leicht und
erzielen die elastische graziöse Bewegung des Spielenden,
während bei einem Athleten, welcher ein schweres Ge-
wicht wiederholt stemmt, die Muskeln langsam anschwellen
und die erhöhte Kraftbewegung auch eine längere Vor-
bereitung erfordert.
Am deutlichsten beobachten wir den rhythmischen
Ausgleich der Muskelinnervation bei der mechanischen
rhythmischen Bewegung des Gehens. Bergauf erfordert
die Überwindung des erhöhten Widerstandes eine grössere
Kraftanstrengung, und die Bewegung der Beine verlang-
samt sich, um sich, sobald der Boden eben wird, sofort
zu beschleunigen, und bei absteigendem Terrain noch
leichter und schneller zu werden.
Eine neue Erscheinung tritt zu Tage, wenn in einer
rythmischen Bewegungsart eine nennenswerte Schwierig-
keit zu überwinden ist, wobei nämlich die eine Bewegung
kräftiger betont wird, während die nächste, wie um der
Muskelanspannung eine Ruhepause zu gewähren, schwächer
ausfällt, d. h. unbetont bleibt. Hier haben wir im Rhyth-
mus den betonten, schweren, und den unbetonten leichten
Taktteil. Wir finden diese zweiteilige rhythmische Be-
tonung z. B. beim Schmied, welcher einem schweren
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Hammerschlag auf das glühende Eisen ganz mechanisch
einen leichten auf den Amboss folgen lässt.
Wenn beim Schreiten das eine Bein sich mehr an-
strengen muss, weil es eine Schwierigkeit zu überwinden
hat, so wird die Anstrengung des anderen Beines bei
dem darauf folgenden Schritt kaum halb so gross sein,
und daraus ergiebt sich ein schwerer und ein leichter
Taktteil I — Nehmen wir an, dass Sie lange in derselben
Haltung verbleiben müssen, welche Sie auf einem leichten
Taktteil angenommen haben, so wird eine Innervation not-
wendig um das körperliche Gleichgewicht zu bewahren,
und der leichte Taktteil wird schwer: so entsteht die na-
türliche Synkope.
Die unbewussten Bewegungen unserer Glieder sind
dem Gesetz der Pendelschwingung unterworfen, da die
Glieder an ihrem einen Ende am Rumpf festgewachsen
sind, und von diesem Standpunkt aus sich nur in ab-
wechselnden, korrespondierenden Schwingungen bewegen.
Diese Bewegung ist ebenfalls nach dem Pendelgesetz
rascher bei kürzeren, langsamer bei längeren Gliedern,
wobei die massive Beschaffenheit dieser Körperteile für
den Rhythmus mit ausschlaggebend ist. Der Rhythmus
selbst ist unausgeglichen, solange der menschliche Geist
und Wille nicht die Bewegung leitet. Die Schwingungen
des Armes oder Beines bedürfen überhaupt erst einer
Willensäusserung des Gehirnes, und werden sofort lang-
samer, um nach 5 — 6 unter sich unausgeglichenen Schwin-
gungen ganz aufzuhören. Nur der Wille, die vom Gehirn
ausgehende Muskelinnervation, vermag der Schwingungs-
bewegung eine gewisse Dauer zu geben, und den Rhythmus
derselben zu beleben und zu regulieren. Hieraus ergibt
sich die Schlussfolgerung, dass die Pendel bewegung, so-
lange Körper und Muskeln noch nicht geschult sind, un-
ausgeglichen ist, daher unbeholfen, eckig und ungelenk
erscheint. Die unbewusst und unabhängig vom Willen
ausgeführte Schwingung erfolgt stossweise und in unregel-
mässigen Zwischenräumen, und wirkt absolut unharmonisch.
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Die plastische Harmonie, die schöne rhythmische Bewegung
der Glieder, auch wenn sie unbewusst, ohne Einfluss der
Willenstätigkeit geschieht, lässt sich nur erzielen durch
beständige Übungen, welche den Zweck verfolgen, den
Rhythmus der Bewegungen der verschiedenen Glieder
unter sich zu einigen und zu harmonisieren.
Wir haben schon früher erörtert, dass die Grund-
lage jeder rhythmischen Bewegung die mechanische Be-
wegung ist.
Eine vom Geist gewollte, vom Gehirn ausgehende
Bewegung ist darum noch nicht rhythmisch. Erst, wenn
die Muskeln und Glieder mit der auszuführenden Bewegung
vertraut, also fähig sind, dieselbe auch ohne spezielle Mit-
wirkung der Gehirntätigkeit auszuführen, d. h. sich ohne
beständigen Einfluss der Vorstellung der Übung selbständig
zu bewegen, tritt an Stelle der gewollten, unter dem Ein-
druck der bewussten Muskelinnervation spontanen Be-
wegung, die mechanische, unbewusst-rhythmische Bewegung.
Jeder Muskel wird bei der Bewegung von anderen
Muskeln unterstützt, d. h. die Bewegung besteht aus der
Synergie mehrerer Muskeln. Soll nun die Bewegung wirk-
lich zweckmässig, dabei harmonisch und rhythmisch-plastisch
sein, soll bei der Bewegung der Kraftaufwand auf das ge-
ringste Mass reduziert werden, so muss jeder Muskel durch
die vorangegangene Übung befähigt sein, den Grad der
Anschwellung beim Strecken oder Zusammenziehen genau
abzuschätzen, sowie im richtigen Moment in Aktion zu
treten. Durch das richtige, sorgfältig geregelte Ineinander-
greifen der Muskeltätigkeit, durch die Kombination der
einzelnen Energien zur Synergie, entsteht die harmonische
rhythmische Bewegung. Da jede einzelne Bewegung, wie
eine Reihe von Bewegungen, nur möglich ist, wenn das
betreffende Glied die nötige Stütze im Körper (Rumpf)
findet, so ergibt sich daraus von selbst, dass sich der
Körper allen diesen Bewegungen anpasst, einmal um das
Gleichgewicht herzustellen, und dann, um dem Gesetze der
Harmonie zu gehorchen, das heisst, den plastischen Rhyth-
mus zu erzielen.
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Wie nun die einzelnen Muskeln sich gegenseitig, auch
entgegengesetzt, unterstützen, so wirken bei der Bewegung
eines Gliedes die anderen Glieder aktiv oder passiv mit.
Streckt jemand den rechten Arm energisch nach oben, mit
einer Neigung nach vorn, so stützt sich meist der Körper
auf das vorgestellte leicht gebeugte rechte Bein, während der
linke Arm und das linke Bein leicht nach rückwärts ge-
streckt bleiben. Der Körper befindet sich so im Gleich-
gewicht, die Haltung ist plastisch belebt.
Um plastische Harmonie, plastischen Rhythmus zu
erreichen, darf die Haltung des Körpers nicht symmetrisch
sein, da sonst die Belastung der einzelnen Körperteile und
die in denselben hervorgerufene Kraftanstrengung einseitig
wird und den Rhythmus der Plastik stört. Wenn z. B.
jemand einen Stein wirft und presst dabei den linken Arm
ausgestreckt an den Körper an, so ist dies eine unnatür-
liche Haltung, der man sofort den Zwang ansieht. Man
kann diese Beobachtung stets machen bei Personen, welche
nie oder nur selten gymnastische Übungen machen, bei
denen alle Bewegungen des Werfens, Laufens u. s. w. etwas
Eckiges, Ungelenkes und Gezwungenes haben. In der Un-
gezwungenheit der Bewegung, welche den Gliedern vollen
Spielraum und Bewegungsfreiheit lässt, zeigt sich die An-
mut und die Grazie.
Man spricht von der Harmonie in der Bewegung, und
das mit vollem Recht. Wenn die Muskeltätigkeit vollkommen
ausgeglichen ineinandergreift, so dass die Bewegung der
Glieder in abgerundetem Rhythmus erfolgt, wenn hierbei
der Körper allen Bewegungen sich leicht anpasst, und
überall das richtige Gleichgewicht behält, so bildet das
alles zusammen eine volle Harmonie, wie wir sie auch in
der Musik finden.
Wir betonten schon, dass die Grundbedingung für
jede rhythmische Bewegung in der zweckmässigen Muskel-
innervation beruht, d. h. in dem richtigen Anwenden der
Kraft. Wenn Spencer sagt, dass der Ursprung der Grazie in
der Ökonomie der Kraft liege, so ist das vollkommen
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richtig, aber noch nicht erschöpfend. Denn die Ökonomie
der Kraft allein macht noch nicht die Grazie und Anmut
aus, aber sie ist notwendig dazu. Ein Arbeiter, welcher
Holz sägt, strengt sich bei seiner längst gewohnten Arbeit
nicht sonderlich an, ohne jedoch gerade den Anspruch auf
Grazie zu haben.
Um den Rhythmus der Bewegung harmonisch zu ge-
stalten, um natürliche Grazie und Anmut zu entfalten, muss
die Individualität selbst sich in der Bewegung ausdrücken.
Die Bewegungen müssen der natürlichen Veranlagung und
dem Charakter sich anpassen. Damit ist also ausgesprochen,
dass eine Geste, eine Pose nicht jedem gleich gut ansteht.
Der Eine bleibt trotz aller Versuche sein ganzes Leben
lang ungeschickt, linkisch und eckig. Ein Anderer zeigt
schon in frühester Jugend überraschende Anmut und Grazie
in Haltung und Bewegung.
Zur natürlichen rhythmischen Harmonie gehört ferner,
dass die Ökonomie der Kraft sich nicht der Beobachtung
aufdrängt, z. B. durch Verlangsamung der Bewegung, da
sie sonst den Eindruck von Energielosigkeit oder Schwäche
erwecken würde. Auch darf der Rhythmus der Bewegung
nicht in Monotonie ausarten. Wie in der Sprache, im Vor-
trag, im Gesang der Vortragende darauf bedacht sein muss,
in einzelne Stellen besonderen Pathos zu legen und die
Stimme durch kräftigeren Akzent zu beleben, da sonst sein
Vortrag ermüdend und reizlos wirkt, so wird genau im
gleichen Masse der Bewegung durch eine harmonische
Abwechslung zwischen ruhiger Pose und leidenschaftlichem
Rhythmus ein besonderer Reiz, Leben und Musik eingehaucht.
Die Eintönigkeit in der Ungezwungenheit wird nicht
nur hervorgerufen, wenn die gleichen, leicht auszuführenden
Bewegungen wiederholt werden, sondern auch wenn eine
grosse Zahl von Ausführenden dieselbe leichte Bewegung
in gleichen Zeitabschnitten wiederholt. Daher wirkt der
anfangs reizende Anblick von einigen hundert Turnern,
welche alle dieselben Bewegungen gleichzeitig ausführen,
schliesslich ermüdend durch den Eindruck der Eintönigkeit,
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welchen dieselben auf den Zuschauer machen. Sowie aber
inmitten dieser hundert Gymnasten eine Gruppe von 20
Männern anfängt, eine kontrastierende Bewegung auszu-
führen, so ist der Eindruck der Schönheit wieder da. —
Der Zuschauer muss fühlen, dass der Rhythmus der wieder-
holten Bewegungen die individuelle Phantasie nicht unter-
drückt hat. Der maschinale Charakter einer genau nach
dem Metronom geregelten Musik vernichtet den Eindruck
der Ungezwungenheit des Taktes, sogar wenn der Aus-
führende keine Anstrengung zeigt, um die Schnelligkeit
der Töne nach dem Metronom zu regeln. Wie oft erinnern
die Bewegungen des Menschen an diejenigen des in einem
Käfig eingesperrten Löwen ! Der seiner Kraft und der
Schnelligkeit seiner Bewegungen nicht angepasste Raum
hat dem Löwen unnatürliche Gewohnheiten aufgezwungen;
die Majestät des Königs aller Tiere drückt nicht mehr das
Bewusstsein seiner überlegenen Kraft aus, er ist demoralisiert.
In gleicher Weise haben die Konventionen die Geberden
des Menschen eingesperrt, und so haben auch die Moden
unnatürliche Gewohnheiten geschaffen Ist Ihnen nicht auf-
gefallen, wie steif einige Schüler die Bewegung des Kopfes
für das Gleichgewicht ausführen? Und ist Ihnen da nicht
der Gedanke gekommen, dass diese Steifheit vielleicht eine
angenommene Gewohnheit ist, welche sich infolge des zu
hohen oder zu steifen Kragens gebildet hat, den diese
Schüler seit verschiedenen Jahren getragen haben ? Ist es
nicht eine Konvention, die Arme immer am Körper zu
halten und weite und ausholende Gesten zu vermeiden und
folgt nicht daraus ein Mangel an Einfachheit des Ausdrucks?
Weder die Damen mit den vor dem Körper zusammen-
gelegten Händen noch die Herren mit den herabhängenden
Armen — oder mit den Händen in der Tasche — wissen
so recht, was sie eigentlich mit den oberen Gliedmassen
anfangen sollen. Die Gezwungenheit und die Ungeschick-
lichkeit sind keine Zeichen eines schlechten Charakters,
aber sie drücken einen Mangel an Natürlichkeit und Ein-
fachheit im plastischen Rhythmus aus. Die Bewegungen
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in der Natur, der Flug der Vögel, der Lauf der vierfüssigen
Tiere, die graziöse und geschmeidige Biegsamkeit aller
ihrer Glieder erregen unser Gefallen und machen uns den
Eindruck der unnachahmbaren Vollkommenheit. Es ist die
Natürlichkeit und Einfachheit in diesen Bewegungen, welche
uns entzückt. Der Hirsch, welcher ein Geräusch ver-
nimmt, das ihn eine Gefahr befürchten lässt, drückt seine
ganze Unruhe mit einem einzigen Haltungswechsel aus-
Der ganze Körper richtet sich auf, der Kopf hebt sich und
wendet sich nach der Seite, woher die Gefahr sich nahen
könnte : er horcht. Der Ausdruck ist vollkommen, ohne
Zurückhaltung und konzentriert sich in elementarer Kraft.
Die Ausführung ist vollkommen, ohne übertriebene Inner-
vation, ohne Steifheit, und die Dynamik und das Gleich-
gewicht sind durchaus harmonisch. Jedes Gelenk gibt dem
Willen nach, kein Zögern, kein Wanken ! Der Bewegungs-
wechsel ist eine schnelle und geschmeidige Bewegung, der
Treffpunkt ist rhythmisch und es folgt eine vollkommene
Unbeweglichkeit. Keine einzige unnütze Bewegung. Ge-
berde und Haltung sind ausdrucksvoll.
In diesem Sinne müssen wir versuchen, die plastischen
Bewegungen des Kindes zu bilden. Wenn die überflüssigen
Bewegungen allmählich durch die rhythmische Gymnastik
ausgeschaltet und die rationellen Bewegungen geregelt und
vervollkommnet sind, so hat man schon eine rein förm-
liche (physische) Natürlichkeit und Einfachheit sichergestellt.
Aber ausserdem können Sie die erfreuliche Beobachtung
machen, dass die gewissenhafte Ausführung der Übungen
eine so grosse Aufmerksamkeit verlangt, dass der Gesichts-
ausdruck immer konzentrierter und harmonischer wird.
Diese Tatsache, welche bei mehreren öffentlichen Auffüh-
rungen von hervorragenden Künstlern bestätigt wurde, be-
weist, dass unsere Erziehung das Kind zur Natürlichkeit
und Einfachheit des Geistes führen wird, welcher sich in
den Mienen wiederspiegelt. Wir haben von der Erziehung
des Willens und der Vorstellungskraft gesprochen. Die
Übungen in den verschiedenen Abschnitten der einzelnen
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Lektionen schalten die unnützen Bewegungen und die un-
nützen Gedanken aus. Am Schluss des I. Bandes finden Sie
die langsamen und ausdrucksvollen Märsche. Ich habe Ihnen
erklärt, dass die Vorstellungskraft eine andere dynamische
Tätigkeit der antagonistischen Muskelgruppen verlangt, als
die Wirklichkeit, und dass daher das rhythmische Spiel
einen rein gymnastischen Wert hat. Diese Märsche aber
verlangen ein vollkommenes Gleichgewicht des ganzen
Körpers. Sie können nur ausgeführt werden im Zustande
der geistigen Konzentration, welche jeden Gedanken aus-
schliesst, der nicht dazu dienen würde, die Muskelinner-
vaticn zu regeln. Das Vorstellungsbild der Märsche in
Spielform gibt die Art und die Zusammenwirkung der
Innervationen an. Je besser sie ausgeführt werden, je mehr
vertieft sich der Geist in sie und umsomehr belebt sich
der Körper. Der Wille und die Vorstellungskraft werden
geleitet, während die Muskeltätigkeit sich entwickelt und
während der Geist zum Rhythmus erzogen wird. Als wir
für das Kind rhythmische Spiele zum Zwecke paralleler
Erziehung von Geist und Körper suchten und fanden, da
wurde uns klar, dass wir einen Schatz ausgegraben, dass
wir den Keim der Kunst der sogen. Orchestik entdeckt
hatten. Das Spiel des Kindes ist die Kunst des Menschen.
Das rhythmische Spiel bedeutet die Wiedervereinigung der
Künste ....
Vom Kinde ausgehend, bei genauer Beobachtung der
kindlichen Natur und beim Erfinden von rhythmischen
Spielen für das Kind hat sich uns ein weiter Horizont auf-
getan. Wir sind zu der Überzeugung gekommen, dass
der Ausdruck durch den Rhythmus und durch die Dynamik
des Marsches und der Gesten von unabsehbarer Bedeutung
ist und dass es der heutigen Generation Vorbehalten ist,
dass wir es sind, welche die Wiedervereinigung der Künste
verwirklichen werden und dass unsere Gedanken und
unsere Gefühle zum Ausdruck kommen werden in den
künftigen Werken der vereinigten Polyphonie und Poly-
rhythmie. Im nächsten Vortrag werden wir über die Neu-
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102
belebung der Kunst sprechen, heute wollen wir noch ver-
suchen, die Grenzen näher zu bestimmen, welche die Kunst
der Orchestik einnehmen könnte. Sie werden darin gleich-
zeitig eine Erklärung für die Einfachheit der Umgebung
finden, in welcher unsere Kinderwerke ausgeführt werden
sollen.
Wir wurzeln mit unserem ganzen Sein und Empfinden
in der Natur, die uns von frühester Kindheit an Mutter,
Nährerin und Lehrerin ist; sie weht uns mit ihrem kräf-
tigen Lebensodem an, weckt unsere Sinne und spiegelt
uns in tausend bunten, wechselvollen Bildern und einer
Fülle von Harmonien das Leben, die Kraft und die Schönheit.
Das Licht und die Wolken, die Bäume und die Berge,
die Blumen und die Tiere bieten uns Anschauungen von
plastischer Form und Bewegung. Das Summen der Bienen,
das Murmeln der Bäche, das Brüllen der Wogen und
das Zwitschern der Vögel erzeugt in uns Eindrücke von
musikalischer Form und Bewegung. Die Liebkosung der
Mutter, der energische und konzentrierte Ausdruck im
Blick des Vaters, die Modulation und Dynamik ihrer
Stimmen bringen in uns Eindrücke von dem Sein und von
den Regungen der Seele hervor.
Der Kontakt mit der Natur durch das Auge, durch
das Gehör, durch das Gefühl und durch die Bewegung
hinterlässt uns Eindrücke von Zeit und Raum, bestimmt
die Natur jeder Materie in Zeit und Raum, und stellt die
Übereinstimmung fest zwischen der beseelten und der leb-
losen Materie. Indem unser Körper selbst sich durch diese
Eindrücke belebt, erwacht und entwickelt sich die Seele in
uns, und die Art und Weise wie der Körper willkürlich
mit der ihn umgebenden Natur in Kontakt tritt, bildet den
Ausdruck der von der Natur geformten Seele. Durch die
Art und Weise zu sehen, zu hören, zu tasten, sich zu be-
wegen setzt jedes beseelte Leben die Eindrücke in Aus-
druck um. Die Seele würde sich nicht anders ausdrücken
können als durch den Körper. Die Orchestik ist Ausdruck,
nicht der Materie, sondern der Beziehungen zwischen der
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gebildeten Seele und der beseelten und leblosen Natur. Die
Eindrücke in der Kunst der Orchestik gehören der Vor-
stellung an, der Ausdruck ist Wirklichkeit; die Vorstellungs-
bilder erwecken durch ihre Verwirklichung die Illusion der
umgebenden Natur, aber die Mittel des Ausdrucks sind
reell : es sind die Zeit und der Raum, die Luft und das
Licht, der Mensch und die Seele!
Um durchaus sicher zu sein, dass man keine Elementar-
fehler begeht bei der Verwirklichung der Wiedervereini-
gung der Künste, muss man niemals die Fiktion einer
Wirklichkeit und diese Wirklichkeit selber nebeneinander
stellen. Die Wirklichkeit wird immer den Sieg über die
Fiktion davontragen, die eine wird die andere in den
Schatten stellen ; die Wirklichkeit neben ihrer eigenen
Nachahmung wird die letztere immer ungenügend und
lächerlich machen. Deshalb vertragen die drei wirklichen
Dimensionen des Raumes die darstellende Perspektive der
Malerei nicht neben sich. Das wirkliche Licht, welches
die drei wirklichen Dimensionen der Plastik zur Geltung
bringt, verträgt die künstlichen Lichteffekte der dekorativen
Kunst nicht neben sich. Und so verträgt auch der plas-
tische Rhythmus es nicht, dass man die bildliche Bewegung
der Bildhauerkunst und der Malerei neben ihn stellt. Weder
das Stereoskop, noch das Diorama, noch auch die gegen-
wärtigen Bühnendekorationen sind auf den wirklichen, sich
in den drei Raumdimensionen vollziehenden Rhythmus be-
rechnet.
Ist es nicht ein Unrecht, wenn man ein Gemälde in
den Saal eines Museums aufhängt gerade neben einen
offenen Durchgang? Enthüllt die wirkliche Perspektive des
anstossenden Raumes nicht das Nichtbestehen der imagi-
nären Tiefe des Gemäldes; fällt das Licht nicht hinter das
Gemälde, ohne den Hintergrund der Malerei zu beleuchten?
Wird die von dem Maler geschaffene Illusion nicht ver-
dorben durch die Wirklichkeit des Lichtes? Die Darstel-
lungen mit 2 wirklichen Dimensionen und mit fingierter
Tiefe befinden sich im genannten Fall nicht an dem ihnen
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gebührenden Platze in einem Raum mit wahrer Tiefe; die
Beleuchtung, welche die Schatten aufhebt, vernichtet den
wirklichen Wert der Plastik und der Bewegung. Die Um-
rahmung der Orchestik wird wirklich plastischer Natur sein
müssen, das Licht wird die plastische Bewegung in der
natürlichsten Weise zur Geltung bringen müssen, indem es
aus der Höhe des Himmels oder vom Horizonte hernieder-
strömt.
Die Ursachen der menschlichen Eindrücke aber sind
in der Orchestik imaginär. Damit sie diesen Charakter
nicht verlieren, darf man die Illusion nicht zerstören durch
Vergleichung mit der Wirklichkeit. Der schwere Stein,
den Sie sich einbilden, in der Hand zu tragen, existiert
nicht : auf dem Spielplatz darf sich nichts befinden, was der
Wirklichkeit eines Steines gleichkommt, weder Steine am
Boden, noch Felsenwände ringsum. Ihre ausdrucksvolle
Handlung in der Zeit und im Raum, in der Atmosphäre und
im Licht allein soll die Illusion des Eindruckes erwecken,
den die Schwere des Steines auf Sie macht. Die Blume,
welche Sie zu pflücken glauben, existiert nicht: auf dem
Boden dürfen sich keine natürlichen oder künstlichen Blumen
befinden, auch nicht im Hintergründe, oder rechts oder links
vom Spielplätze. Der Duft der fingierten Blume besteht
nicht ; Sie drücken die Freude und das Glück aus, welches
der Frühling in Ihrem Herzen erweckt, wenn Sie die bal-
samische Luft einatmen, aber der Spielplatz braucht nicht
mit Wohlgerüchen besprengt zu sein. Die Ursachen Ihrer
Freude, Ihrer Trauer, Ihrer Ermüdung bestehen durchaus
nicht; nichts, was einen Eindruck auf Sie macht, besteht
in Wirklichkeit in Ihrer Umgebung, aber alle Eindrücke,
welche in Ihren Gedanken und Ihren Gefühlen sich ge-
bildet haben, drücken sich aus in Ihrer Haltung und in
Ihren Bewegungen, durch das Verhältnis der Betonungen,
durch die Gesamtheit der Schnelligkeitsgrade und durch
die Abstufungen in der Schwere Ihrer Glieder, durch das
Zusammenwirken Ihrer Muskeln, mit einem Wort: durch
den musikalischen und plastischen Rhythmus Ihres ganzen
Körpers.
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Und deshalb ist die Einfachheit für die neue Kunst
Gebot. Während das Theaterstück, die Pantomime Gegen-
stände nicht entbehren kann, weil alle Beziehungen zwischen
dem Menschen und seiner Umgebung ins Unendliche spezia-
lisiert werden, generalisiert die Orchestik, indem sie die
Jugend, den Schmerz, die Demut, die Extase, die Anbetung,
die Furcht in ihrer ganzen Elementargewalt zum Ausdruck
bringt. Darum darf die Ursache dieser Gefühle auch nicht
wirklich sichtbar sein: die Kleinheit der Ursache würde die
Grösse des Ausdrucks unwahrscheinlich, unverhältnismässig
und grotesk erscheinen lassen. Die Furcht vor den Ge-
fahren der Natur wird von der ganzen Menschheit em-
pfunden; die durch materielle Mittel im kleinen Raum einer
Bühne oder eines Podiums dargestellten Gefahren der Natur
vertragen nur die Gegenwart von Individuen, nicht aber
des Menschen. Deswegen wird auch die Einfachheit der
Kleidung zürn Gebot. Sie könnte nicht historisch sein ; sie
wird den Körper gerade so viel bedecken wie der Anstand
es gebietet und sie wird den Körper genügend unbedeckt
lassen, damit die Dynamik des Muskelspiels, welche die
Dynamik der seelischen und geistigen Kräfte ausdrückt,
nicht für den Zuschauer verloren geht. Auch dürfen die
scharfen, rechten und stumpfen Winkel der Gelenke nichts
von der Ausdruckskraft ihrer Betonungen verlieren und
keine einzige Bewegung darf in ihrer Vollständigkeit durch
die Kleidung beeinträchtigt werden. Die Kleidung darf
keine Bewegungsgewohnheiten schaffen, weder durch ihre
besondere Form, noch durch die Qualität ihrer Schwere.
Im Gegenteil müssen die Leichtigkeit des Stoffes und
die Form der Kleidung gewählt werden in Übereinstimmung
mit der Natürlichkeit der Bewegungen, und mit dem rhyth-
mischen Ausdruck der Gelenke und der Muskelinnervationen.
Welch’ herrlichen Nutzen könnten die Gesangsabteilungen
unserer Männerturnvereine aus unserer rhythmischen Gym-
nastik ziehen. Wir würden nach dreijährigem Studium,
infolge der wohlüberlegten Dynamik und des abwechslungs-
reichen Spiels der Gelenke, tatsächlich die kräftige Grazie
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der griechischen Athleten vor uns sehen. Das dynamische
Spiel der Antagonisten, welches das Bild des Herkules
darstellen wollte, wie er Felsblöcke hebt und aufstapelt,
um den Lauf des Flusses Alpheus zu hemmen, würde
Muskelinnervationen erfordern, welche in anderem Sinne ath-
letisch und in anderem Sinne kunstvoll wären, als wenn
die Muskeln die Widerstandskraft der wirklichen Schwere
überwinden. Der schnelle Lauf des beflügelten Wildes und
der plötzliche Stillstand im Augenblick, wo der Verfolger
dasselbe erreicht, würde ein vollkommenes Beherrschen des
Atemapparates während des schnellen Laufes erfordern,
sowie ein vollkommenes Gleichgewicht in der antagonis-
tischen Innervation, um die statische Unbeweglichkeit zu
verwirklichen, ohne dafür einen anderen wirklicken Stütz-
punkt als die Fussohlen zu haben. Und das langsame
crescendo der Innervation, um den Stier der Insel Creta zu
bezähmen und um den nemäischen Löwen zu erwürgen,
würde einen hohen Grad der Entwicklung des Muskel-
sinnes und der Vorstellungskraft bedingen.
Welch schönes Schauspiel, die gefahrvollen Taten des
Hercules eine nach der anderen vor den Augen vorbei-
ziehen zu sehen, vorgestellt und ausgeführt durch die Vor-
stellungskraft und durch die Muskelkraft eines Künstler-
Gymnasten , die musikalischen Rhythmen seiner Bewe-
gungen unterstützt durch die suggestiven Rhythmen der
Musik!
Das Künstlerische im dynamischen Ausdruck der
Muskel innervationen der Arme, der Beine, des Nackens
würde zu gleicher Zeit den Abschied bedeuten für die ab-
surde Kleidung der Turner, welche die Natürlichkeit be-
einträchtigt und den dynamischen und rhythmischen Aus-
druck der Muskeln und der Gelenke verbirgt. Die durch
die Grenzen der Orchestik gebotene Einfachkeit der Um-
rahmung, die durch den Ausdruck des plastischen Rhythmus
gebotene Einfachkeit der Kleidung müssen das getreue
Spiegelbild sein der gesunden Einfachkeit und der elemen-
taren Kraft des Geistes, welcher die Glieder leitet. Die
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Orchestik ist der in Ausdruck umgestaltete Eindruck. Sie
kennt keine absolute Reserve. Sie drückt weder aus-
schliesslich das Konkrete, noch ausschliesslich das Ab-
strakte aus. Diese beiden Extreme beßnden sich ausser-
halb ihrer Sphäre. Da der Körper immer dazu dient das
Seelenleben zum Ausdruck zu bringen, sind auch diejenigen
Gedanken und Gefühle in der Orchestik ausgeschlossen,
welche durch die Anstrengung des Willens, die ihre natür-
liche bewegende Kraft unterdrückt, entweder ganz oder
teilweise verborgen bleiben. Sie gehören zur Domäne der
Individualisierung der Charaktere und der Spezialisierung
der Umstände und der materiellen Formen, welche das In-
dividuum umgeben. Sie gehören zur Aufgabe des Theaters.
Dies verhindert jedoch nicht, dass die musikalische
Pause und der plastische Stillstand den Rhythmus der Be-
wegung unterbrechen können, ohne darum zu riskieren, das
absolut Konkrete oder das absolut Abstrakte darzustellen.
Der Augenblick der Konzentrierung kann durch die sta-
tische Innervation ausgedrückt werden, und die Instru-
mentalmusik kann durch ihre suggestive Natur den Zu-
stand der Seele in ihrer Konzentration schildern. In der
unbeweglichen Stellung ist immer die zuletzt ausgeführte
Bewegung enthalten. Der Ausdruck dieser letzten Be-
wegung währt im regungslosen Zustand der Unterbrechung
fort, ebenso wie der Eindruck, den der Zuschauer von der
Ursache der Unterbrechung empfangen hat. Die Ursache
kann ein hoher Grad von Konzentration sein, welche sich
nach der Unterbrechung in Ausdruck umsetzen wird. Der
Stillstand kann eine plötzliche Unterbrechung einer nicht
zu Ende geführten Bewegung sein. Jede statische Haltung
muss einen Zustand des absoluten Gleichgewichts dar-
stellen, welcher den Stempel einer unvollendeten Bewegung
und einer materiellen Ursache der Unterbrechung trägt oder
den Charakter eines decrescendo der Tätigkeit und eines
crescendo der Konzentration hat. In beiden Fällen werden
die Zukunft, die Gegenwart und die Vergangenheit Teil
haben an der unbeweglichen Stellung, wenn auch in ver-
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schiedenen Proportionen. Dies jedoch in einem anderen
Sinne, als zum Beispiel in der Malerei oder in der Moment-
photographie. Diese wollen und können die Bewegung
suggerieren, welche tatsächlich nicht in ihren Werken exi-
stiert. Die Bewegung ist aber ein reeller Faktor in der
Orchestik und verträgt die Illusion der Bewegung nicht
neben sich. Die Pause in der Kunst der Orchestik ist
eine wirkliche Unterbrechung; entweder ein Zustand der
Ruhe, in dem der Geist sich auf die erneute Tätigkeit vor-
bereitet, oder aber ein Stillstand durch unvorhergesehene
Unterbrechung. Welches auch von beiden die Ursache des
Stillstandes sein möge, sie muss verständlich sein durch
den dynamischen Ausdruck der Glieder und durch den
musikalischen Augenblick, den man für die Unterbrechung
gewählt hat. Je mehr der Zustand der Konzentration sich
der Verwirklichung des Vorstellungsbildes nähert, je mehr
wird der regungslose Zustand belebt durch das crescendo
der Innervationen, indem sie anfängt die Natur der bevor-
stehenden Verwirklichung auszudrücken. Die Haltung ver-
liert also den Stempel der Vergangenheit zu Gunsten des
Ausdrucks der Zukunft, welcher sich vorempfinden lässt.
Die Instrumentalmusik kann ebensogut den Zustand der
Konzentrierung hervorbringen, wie alle Rhythmen des
Blickes, der Geberde und der Gangart; es wird darum die
musikalische Pause mehr oder weniger Kraft des Aus-
drucks besitzen, je nach der Stelle, welche sie in der Be-
gleitung einnimmt. Es werden daher auch in der poly-
phonen und polyrhythmischen Orchestik ausdrucksvolle
plastische Unterbrechungen, welche durch klingende
Rhythmen begleitet werden, und ausdrucksvolle musika-
lische Pausen unter Begleitung plastischer Rhythmen Vor-
kommen.
Die Entwickelung des Kindes beruht auf Vorbild und
Phantasie. Im Kinde ist die noch weiche, leicht empfäng-
liche Materie imstande, die Bilder und Eindrücke sehr rasch
aufzunehmen. Denken wir nur an die rasche sichere Be-
obachtungsgabe bei vielen Kindern, und ihre oft über-
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raschende Fähigkeit, Gesehenes nachzuahmen. Bei der
leichten Empfänglichkeit des Gehirnes oder sagen wir bei
dem Denken und Empfinden, der reichen Ideenwelt des
Kindes, ist es natürlich, dass viele Eindrücke sich bald
wieder verwischen und von anderen verdrängt werden, um
zuletzt ganz zu verschwinden. Oft aber ist es der Fall,
dass solche Eindrücke der frühesten Kindheit nur momentan
verschwunden sind, um nach einer gewissen Zeit, ja mit-
unter nach vielen Jahren, plötzlich an der Oberfläche des
Empfindungslebens wieder aufzutauchen und mit plastischer,
greifbarer Deutlichkeit vor die Seele zu treten.
Unsere Phantasie beschäftigt sich mit den gewonnenen
Eindrücken und stellt Vergleiche an. Das ist der erste
Versuch des Kindes, den eigenen Geschmack zu entwickeln.
Kinder sind bekanntlich oft sehr wahre und gefürchtete
Kritiker. Aus den Vorbildern, die das Kind an der Natur,
seiner Umgebung und den Menschen gewonnen hat, ent-
wickelt sich der Formsinn, der Begriff für Plastik, Rhythmus
und Harmonie. So bildet sich allmählich der Geschmack,
und je mehr das Anschauungsvermögen sich mit der sich
entwickelnden Eigenart, der Individualität des Kindes ver-
schmilzt, um so sicherer und reifer wird das Urteil des
heranwachsenden Menschen.
Kinder, denen ein starkes Selbstempfinden, eine grosse
Energie eigen ist, wie man es meist bei sehr kräftig ent-
wickeltem, leicht reizbarem Nervensystem findet, werden
sich rasch von dem Einfluss des Willens, der Anschauung
und des Urteils anderer emanzipieren, und sich ein eigenes
Urteil über die Dinge bilden. Doch gehören solche willens-
starke, urteilskräftige und selbständige Menschen noch
immer zu den Ausnahmen. Die grosse Masse bildet ihr
Urteil, ihren Geschmack, ihre Anschauung von Welt,
Ästhetik und Schönheit immer nach dem, was sie von
Kindheit an gehört und gesehen hat.
Mithin ist es also von ganz hervorragendem Wert,
wie auf die Seele des Kindes eingewirkt wird.
Gewiss, die physische und geistige Fähigkeit des
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Kindes bietet die Grundlage für seine Entwickelung; aber
Eltern, Lehrer, Gespielen, kurz die menschliche Gesell-
schaft ist es, welche auf dieser Grundlage die zukünftige
Geisteswelt aufbauen hilft, darin besteht die Erziehung der
Menschen. Sie beschränkt sich nicht auf die Kindheit, sie
währt meist das ganze Leben lang, weil wir nie aufhören,
neue Eindrücke in uns aufzunehmen und neue Beobach-
tungen anzustellen.
In der Erziehung des Kindes weist der künstlerische
Teil eine grosse Lücke auf. Man ist in Familie und Schule
bestrebt, dem Kinde Kunstgeschichte, Namen, Daten u. s. w.
einzutrichtern, so dass es weiss, wann dieser oder jener
Dichter, Maler, Bildhauer, Komponist gelebt hat und ge-
storben ist, aber man versäumt, ihm die Schönheit der
Werke selbst vor Augen zu führen. Man lässt das Kind
den Katalog studieren, ohne es in die grossen Hallen zu
führen, wo die Werke der Künstler mehr predigen, als
tausend Kataloge. Führt die Kinder ein in die heilige
Kunst, erklärend und belehrend. Die reine, für wahre
Schönheit empfängliche Seele des Kindes ist seine beste
und sicherste Führerin. Zeigt dem Kinde die Schönheit
der Linien, macht ihm die Harmonie der Bewegung ver-
ständlich, weckt in ihnen das materielle Empfinden der
Plastik und der Farbenharmonie, und lasst die Kindesseele
sich füllen mit dem Wohllaut der rhythmischen polyphonen
Musik.
So wird das persönliche Temperament des Kindes
angeleitet, die Schönheit der Plastik und der Harmonie zu
empfinden und zu beurteilen.
So bildet sich im Kinde eine eigene Welt der Kunst
und der Schönheit, und bei jedem neuen Eindruck wird
eine bekannte Empfindung in der Kindesseele geweckt, d. h.
ein Teil der Individualität des Kindes verschmilzt mit dem
neugewonnenen Empfinden und fördert so die Urteilskraft
des Kindes.
Fehlen dem Kinde alle künstlerischen Eindrücke, hat
es nie ein grosses schönes Werk mit seinen Sinnen wahr-
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genommen, so hat es in der Seele keinen Eindruck er-
halten, das Gedächtnis vermag ihm nichts zu sagen, kein
Erinnern, kein verwandtes Empfinden erwacht in ihm, wenn
es plötzlich einem Kunstwerk gegenübersteht und ihm jede
Befähigung fehlt, dasselbe auf seinen Wert und seine Schön-
heit hin zu beurteilen.
Die Phantasie des Kindes nimmt ihren Ursprung von
der Bewegung des Stoffes. Es ist höchst wichtig, die Mo-
delle der Schönheit aus der Natur selbst zu nehmen, und
das Kind die Empfindungen an sich selbst erfahren zu
lassen, welche der Künstler auf der Leinwand oder im
Tone fixiert hat. Halten Sie ein Kind im vollen Laufe auf,
sorgen Sie dafür, dass es den Mechanismus des Laufens
versteht und dann zeigen Sie ihm eine Statue, die einen
Läufer darstellt: das Bild desselben wird für alle Zeit in
seinem Geiste fixiert bleiben, und wenn es sich im Laufen
üben wird, so wird dieses Bild ganz von selbst in seiner
Erinnerung über die Schwelle des Bewusstseins treten.
Wenn die ganze Schönheit der plastischen Bewegungen
dem gegenwärtigen Geschlechte entgeht, so liegt dies daran,
dass die Kinder sie nicht schätzen lernen.
Man achte daher bei der Erziehung sehr wohl darauf,
dass man die Kinder frühzeitig mit der Kunst, der Schön-
heit der Plastik und der Harmonie vertraut mache, nicht
mit Theorien und Kritiken, sondern durch eigenes Schauen,
Hören und Fühlen. Lasst die Kunst selbst zum Kinde
reden, und seine Seele durchdrungen werden von der
wahren, reinen Schönheit. Wie werden wir uns die von
der Kunst der Orchestik gebotene Einfachkeit zu eigen
machen und erhalten?
Die rhythmische Erziehung des Kindes und die Er-
findung rhythmischer Spielübungen für das Kind wird uns
sicher viel künstlerische Erfahrung verschaffen. Das Kind
hat keine Vorurteile und keine schlechten Gewohnheiten.
Aber es bedarf der Führung, Schritt für Schritt, vom Be-
kannten zum Unbekannten. Es muss die wirkliche Schwere
des Steines und das wirkliche Abbrechen einer Blume
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kennen, um sich beides vorstellen zu können. Man muss
als Vorstellungsbilder nur Elemente aus seinem eigenen
kindlichen Leben wählen. Diese Erfahrungen werden uns
als Muster dienen für die Vorstellungsbilder, welche man
für die Erwachsenen wählen muss und sie werden uns vor
der Gefahr behüten, unwillkürlich die Grenzen des be-
tretenen Gebietes zu überschreiten. Fangen wir so einfach
wie möglich an, fangen wir vorne an, mit dem Kinde, und
fahren wir fort in ruhiger Beharrlichkeit, erfüllt von der
Ehrfurcht vor dem Kinde, welches morgen ein Mann sein
wird, und voll Glauben an dieses Morgen , welches von
der Konzentration des Willens und der Vorstellungskraft
von heute vorbereitet wird. Führen wir das Kind dieser
Zukunft entgegen und lassen wir uns selbst führen von
seiner Reinheit und seiner Einfachkeit.
Die Verwirklichung dieses Ideales findet in unserer
Methode der rhythmischen Gymnastik einen Anfang. Die
Aufgabe ist gross. Helfen Sie alle mit, dieselbe zu er-
füllen.
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6. Vortrag.
Der Grundsatz der alten Griechen und Römer: „mens
sana sit in corpore sano" war nicht nur eine leere Phrase,
sondern wurde von ihnen mit vollster Hingabe und tiefstem
Verständnis befolgt. Wenn wir dagegen die körperliche
Ausbildung unserer heutigen Jugend vergleichen, so drängt
sich uns die traurige Wahrnehmung auf, dass wir in dieser
Beziehung weit hinter dem klassischen Altertum zurück-
stehen. Vor 2000 Jahren wurden die Kinder vom zartesten
Alter an so erzogen, dass die körperliche Ausbildung mit
der geistigen gleichen Schritt hielt. Und die Gymnastik
wurde nicht nur um des Körpers willen gepflegt, sondern
auch dabei der Sinn für plastische Schönheit, das Ver-
ständnis für formvollendete künstlerische Pose geweckt.
In der modernen Gegenwart werden die Kinder von
den Eltern verzärtelt und verweichlicht, in den Schulen
geistig überbürdet, ohne dass dem Körper die nötige Kraft
anerzogen wird ; und was noch an dem schwächlichen
Körper ist, richtet dann der Jüngling durch verkehrte,
blasierte, übermoderne Lebensweise vollends zu Grunde.
Erzieht Eure Kinder zu kräftigen, gesunden Menschen,
bildet gleichzeitig Körper und Geist, und weckt in ihnen
den Sinn und das Verständnis für Kunst, für Schönheit,
für die Harmonie des Geistes und der Kraft, dass sie
schöne Menschen werden, und nicht Zerrbilder und Karri-
katuren.
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Die Form der Bewegung drückt zugleich einen Grad
behender Schnelligkeit und wuchtiger Schwere aus. Das
Studium der Verhältnisse der Schnelligkeit und der Kraft
der Bewegungen, in Beziehung gesetzt zum Denken des
Kindes, ruft die Äusserung des Willens und der Phantasie
hervor. Was drückt die schnelle Bewegung aus? Unsere
Bewegungen können langsam, mässig schnell oder sehr
rasch sein, und sie können sich richten nach den drei
Dimensionen des Raumes.
Jede Bewegung geht von innen nach aussen, und
jeder Gedanke und jede Empfindung, die der Bewegung
vorangeht, führt von aussen nach innen.
Jede wohl abgemessene Bewegung lässt ein Urteil zu
über den Grad der Verinnerlichung oder Veräusserlichung
des Menschen. Je langsamer eine Bewegung ist, desto
mehr trägt sie den Stempel einer vorausgehenden Ver-
innerlichung ; je rascher die Bewegung ist, desto inniger
sucht sie sich in Beziehung zu setzen mit dem Stoff — um
so mehr auch nähert sich die bewegende Kraft der voll-
ständigen Verwirklichung einer bildlichen Darstellung.
So gibt es beispielsweise eine dreifache Abstufung
(in Bezug auf Schnelligkeit) bei der Handlung des Schlagens :
1. Das schnelle Ausholen.
2. Die Wucht des Zuschlagens.
3. Die beabsichtigte, wohl abgemessene Kraft.
Wenn die Bewegungen in einer Art von Schleudern
vor sich gehen, so bringen die Glieder mehr ihre physische
Natur zum Ausdruck : sie würden ihren Lauf im Raume
fortsetzen, wenn sie nicht an den Körper angeheftet wären.
Ein kleines Kind schleudert seinen Arm und seine Hand,
wenn es schlägt. Sein Tun weist auf ein noch nicht aus-
gebildetes Verständnis hin.
Der brutale Mensch schlägt, unbekümmert um die
Folgen, mit der zerschmetternden Wucht seiner geschlossenen
Fäuste ; seine Geste ist die eines geist- und vemunftlosen
Wesens. Aber wenn die Glieder bei der schnellen Be-
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wegung durch das Spiel der entgegengesetzt wirkenden
Muskeln ihren festen Halt bewahren, so drücken sie die
Herrschaft des Geistes aus, der da weiss, was er will, der
die Mittel zur Verwirklichung desselben kennt und der die
Folgen desselben klar und deutlich vorhersieht.
Wenn die Bewegungen langsam sind, drücken sie
entweder die körperliche Schwere aus, die zur Erde zieht
und Mühe hat, sich zu heben, oder dann die Leichtigkeit
des Stoffes, der nur geringe Anziehung zur Erde zeigt,
oder endlich auch den Stand des dirigierenden Geistes
nach dem Mass der gewollten Kraft. Ich will nicht von
den Bewegungen sprechen, die auf ihren Stufen der
Schnelligkeit oder Langsamkeit es nur dahin bringen, den
Grad der Schwerfälligkeit oder Gewandtheit der Glieder
darzustellen.
Die Natur weckt in unserem Inneren (der Seele) die
Vorstellung, sie belebt unsere Phantasie, unsere Gedanken-
welt und gibt unserem Innenleben Gestalt und Form.
Je nach dem Charakter des Menschen gibt sich das
Innenleben in der Darstellung, in der Handlungsweise kund;
sie geht von den drei Haupttriebfedem der Bewegung,
nämlich der Gewohnheit, der Phantasie und des Willens
aus. So finden wir in der Bewegung die Äusserung unseres
Empfindens wieder, als Wechselwirkung zwischen unserer
Ideenwelt und der uns umgebenden Natur. Daher spiegeln
sich auch die schwächeren oder stärkeren Effekte des
Seelenlebens getreu wieder in der langsameren (schwächeren)
und schnelleren (stärkeren) Geste, in der ruhigen oder
leidenschaftlichen Pose, im schwachen oder starken Ton.
Der gewöhnliche, nicht künstlerische Mensch sieht
in der Bewegung nicht die in Kraft umgesetzte Energie,
sondern nur die Kraft selbst, nicht das Motiv und die das-
selbe begleitende Seelenstimmung, sondern nur den Effekt.
Etwa wie ein ungebildeter, denkschwacher Mensch beim
Lesen eines Romanes nur den Gang der Handlung ver-
folgt und sein ganzes Interesse auf die kraftvollen Stellen,
den sogenannten Knalleffekt konzentriert, sodass die Lektüre
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für ihn nur Sinnen- oder Nervenkitzel ist, während die
Schilderung der Charaktere, der Seelenzustände, die Motive
der Handlung, das Ausmalen der Szenerie, die begleitenden
Stimmen der Natur ihn ganz kalt lassen oder gar lang-
weilen.
Anders der künstlerisch denkende Mensch ! Für ihn
bedeutet jede Bewegung den Ausdruck eines inneren Em-
pfindens, die Schlusspose einer Seelenstimmung. Der Künstler
sucht stets den inneren Zusammenhang zwischen dem Affekt
der Bewegung und dem Affekt des Gemütes ; aus der
Langsamkeit oder Lebhaftigkeit der Bewegung schliesst
er auf die geistige oder seelische Stimmung. Ihn interessiert
nicht nur die Bewegung als Tatsache oder als Effekt,
sondern vielmehr der Urheber, der Schöpfer der Bewegung
und der seelische Vorgang, der die Bewegung ausgelöst
hat. Die Beziehungen zwischen Schnelligkeit, Leichtigkeit,
Langsamkeit und Schwere geben ihm den Schlüssel der
inneren Gedankenwelt und der Welt des Willens.
Der gesungene oder gespielte Ton, die malerische
Pose, die rhetorische Geste ist für den denkenden Künstler
nicht nur eine virtuose Leistung der Technik oder Ge-
staltungskraft, sondern ihre Modulation reizt ihn nachzu-
denken, was wohl für den Grad der Schnelligkeit aus-
schlaggebend gewesen sei.
Wenn ein lebloser Körper fällt, so fällt er lediglich
nach dem Gesetz der Schwere. Bei jeder Bewegung des
lebenden Körpers wirkt das Gesetz der Schwere ebenfalls;
ihr entgegen wirkt aber das Gesetz des Willens, der Energie.
Heben wir z. B. den rechten Arm seitswärts bis zur
horizontalen Lage, so geschieht dies infolge der im Gehirn
ausgelösten Willenstätigkeit. In dem Moment, wo diese
aufhört, fällt der Arm von selbst, auf Grund des Gesetzes
der Schwere, wieder herab. In dieser Wechselwirkung,
bezw. in der bewussten Überwindung des Gesetzes der
Schwere durch den Willen liegt die Harmonie der Plastik.
Wenn also die Bewegung eine Darstellung des Charakters
ist, so wird entsprechend der schwereren oder leichteren
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Veranlagung auch die Bewegung eine leichtere oder
schwerere sein.
Mithin wird das Gewicht des Körpers, bezw. der
Glieder bestimmt werden durch die grössere oder geringere
Fähigkeit der Muskeln, das Gesetz der Schwere zu über-
winden. Wir haben also schon im Muskelspiel, in dem
Zusammenwirken der einzelnen Muskelgruppen ein Spiegel-
bild der Nervenreizung oder der Willensenergie, die in
dem plastischen Rhythmus zum Ausdruck gelangt.
Die Schwere wandelt sich in Kraft um, wenn sie zur
Bewegung führt. Jede Muskelkraft stellt ein Gewicht mehr
dar, wenn das Glied sich nach unten bewegt, ein Gewicht
weniger, wenn es sich nach oben bewegt. Die Schnellig-
keit bei der Bewegung nach unten vergrössert das Gewicht,
die Schnelligkeit der Bewegung nach oben verlangt mehr
Kraft. Darnach muss uns jede Bewegung ein Bild ent-
weder des Kampfes gegen die Anziehungskraft der Erde
oder aber der Zusammenwirkung mit ihr, oder endlich des
leichten oder mühsamen Sieges nach der einen oder der
anderen Seite geben.
Je grösser die Muskelkraft ist, die den Stoff zur Erde
lenkt, um so mehr lässt sich die Schwere bemerken und
erkennen.
Sie kann dazu dienen :
1. die Kraft der betreffenden Person zu zeigen,
2. das stoffliche Schwergewicht darzustellen,
3. ein fiktives Schwergewicht symbolisch auszudrücken.
Je weniger die Schwere sich bemerken und erkennen
lässt, wenn die Glieder sich zur Erde hin bewegen, desto
mehr müssen die entgegengesetzt wirkenden Muskeln durch
ihre Anstrengung ein Gegengewicht leisten.
Je geringer bei gleichem Gewicht die Kraft ist, die
den Stoff in die Luft hebt, desto deutlicher wird die
Schwere zu erkennen sein.
Je weniger das Gewicht sich bemerkbar macht, wenn
die Glieder sich in die Luft heben, desto mehr müssen
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die mitwirkenden Muskeln angestrengt werden, um die
Anziehungskraft der Erde zu besiegen.
Diese Kraft kann dazu dienen:
1. die Kraft der betreffenden Person zu zeigen,
2. ein geringeres Gewicht des Stoffes darzustellen,
3. das Immaterielle symbolisch zum Ausdruck zu bringen.
Man muss also lernen, die Schwere zur Geltung zu
bringen, sie zu vergrössern und zu vermindern bei den
Bewegungen nach unten wie nach oben, um die Kraft zu
zeigen, um die Schwere darzustellen, um die Illusion einer
grösseren oder geringeren Schwere zu geben und um das
Immaterielle symbolisch zum Ausdruck zu bringen.
Es ist selbstverständlich, dass der Mensch bis zu
einem gewissen, ja bis zu einem sehr hohen Grade vom
Immateriellen beeinflusst werden kann ; aber er kann dies
nicht symbolisch zum Ausdruck bringen ohne die Mit-
wirkung des Blickes, des Gestus, welche beide nicht mit
der Erde in Berührung treten müssen und bei jeder Hal-
tung nach oben gerichtet werden können.
Das materielle Gewicht einer Violinsaite, ihre Festig-
keit, ihre Widerstandskraft, ihre Dicke, ihre Länge be-
stimmen die Höhe des Tones, das heisst die Schwingungs-
zahl, resp. die Schnelligkeit ihrer Bewegungen.
Die Widerstandskraft des Stoffs und seine Gestalt
im Raume beeinflussen das Tempo, wenn dieser Stoff in
Bewegung gesetzt wird.
Jede Art des Stoffes, die endgiltig von der Natur
festgelegt worden ist (sei es eine Kastagnette, ein Glas,
eine Stimmgabel, ein Glied eines Tieres, eines Mannes,
eines Kindes) hat, wenn sie in Bewegung gesetzt wird,
ihre besonderen Schnelligkeitsgrenzen, ihre eigenen Stärke-
grenzen, ihre Schranken in Zeit und Raum.
Wenn man diese Schranken überschreitet, auf welche
Weise es auch sei, so wirkt man zerstörend, lächerlich,
disharmonisch. Will man, dass ein Eisenbahnzug eine be-
stimmte Strecke in geringerer Zeit durchläuft, so muss die
Lokomotive mehr Kraft entwickeln ; soll der Zug aber
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eine grössere Strecke in derselben Zeit zurücklegen, so
ist Gefahr vorhanden, dass die Maschine explodiert.
Denken Sie an die Bewegungen einer korpulenten
Person, die vergebens den Zug einzuholen sucht, also
an einen sich sonst langsam bewegenden Körper, der einen
schnellen Lauf ausführen möchte, aber nicht kann, und die
komische Seite der Situation liegt auf der Hand.
Die plastischen Bewegungen sind hässlich, wenn sie
die natürlichen Schranken, sei es der Langsamkeit, sei es
der Schnelligkeit der verschiedenen Glieder überschreiten.
Die Scknelligkeitsgrenzen für die den Marsch be-
gleitende Musik sind andere, als die der Musik, welche
den Blick begleitet oder symbolisch darstellt.
Versuchen Sie, plötzlich nach rechts zu sehen (nur
mit dem Auge, nicht mit dem Kopfe) und zugleich den
Fuss nach rechts zu setzen : der Fuss wird immer zu spät
kommen.
Ich habe beobachtet, dass diejenigen Personen, die
die rhythmischen Märsche unserer Methode lesen oder
spielen, ohne sich im Geiste den Marsch der Schüler vor-
zustellen, gerne das Tempo zu rasch nehmen. Wenn man
sich dagegen die Marschbewegungen vorstellt (was man
natürlich tun sollte), oder wenn man die marschierenden
Schüler wirklich sieht, dann scheint uns die Musik zu
langsam. Aber diese theoretische Musik gewinnt nun an
Leben und darstellendem Inhalt trotz der relativen Lang-
samkeit der Bewegung.
Die Phantasie darf nicht dem Darstellungsinhalt der
Geste, des Blickes oder der Haltung eine musikalische
Form verleihen, deren Rhythmus und Bewegung der Be-
deutung des Marsches entsprechen würden.
Die Gewohnheit verleitet uns dazu, jede Musik ohne
Worte als den Ausdruck innerer Empfindungen anzusehen.
Unsere Einbildungskraft würde uns oft ein klareres Ver-
ständnis an die Hand geben, wenn wir von ihr verlangten,
uns Gesten und Mienenspiel, nicht in der Persönlickeit
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eingekerkerte Empfindungen aus den farbenreichen Tönen
hervorklingen, sozusagen sichtbar werden zu lassen.
Die Marschmusik muss die Bewegung des Marsches
hervorrufen, wie ja auch im Geiste des Komponisten die
Bewegung des Marsches die Musik dazu hat entstehen
lassen.
Es wäre nicht verwunderlich, wenn das Studium
des ausdrucksvollen, plastischen Marsches einen grossen
Einfluss ebenso gut auf die Phantasie der Komponisten,
wie auf die der darstellenden Musiker hätte und ihre
geistige Aufffassung in dem Sinne beeinflusste, dass sie
neue künstlerische, musikalische und plastische Formen
erfänden.
Die bewegende Kraft für den Marsch ist die Schwere,
die ihren Weg geht und grösser oder geringer wird.
Die bewegende Kraft für die Vertonung ist dieselbe,
aber sie bleibt immer abhängig von der plastischen Dynamik.
In erster Linie kommt die plastische Dynamik, in zweiter
erst die tönende Dynamik.
Die plastische Natur der tönenden Dynamik ist eine
Wirklichkeit. Wenn sie nicht klar zu Tage tritt, so liegt
dies daran, dass es Formen und Bewegungen gibt, die
durch ihre Dimensionen sich unseren Blicken entziehen.
Das sind die tönenden Schwingungen.
Die musikalische Natur der plastischen Dynamik be-
steht nur in der Phantasie. Wenn sie nicht klar vor Augen
liegt für jedermann, so ist ein Mangel an Einbildungskraft
entweder beim Ausführenden oder beim Zuschauer vor-
handen.
Die natürliche Bewegung des willenlosen Stoffes beim
Herabfallen stellt ein crescendo dar. Die Anziehungskraft
der Erde übt ihren Einfluss um so stärker aus, je mehr
der Stoff sich ihr nähert.
Die Schnelligkeit des freifallenden Körpers nimmt fort-
während zu, und der Stoss, der sich bei der Ankunft auf
dem Boden ergibt, ist um so stärker, je grösser die Höhe
ist, aus welcher der Gegenstand herabfällt.
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Es hängt von der Haltbarkeit und der Widerstands-
kraft des fallenden Gegenstandes ab, ob er den Gegenstand,
auf den er im Fallen aufschlägt, zerschmettert, oder ob er
selbst zerschmettert wird, oder endlich ob er ohne etwas
zu zerschmettern auch selbst unverletzt bleibt. Im letzteren
Falle haben sich die beiden Gegenstände vereinigt, die Be-
wegung des fallenden Gegenstandes hat sich in Harmonie
gesetzt mit dem Stoff, auf den er gefallen ist.
Wenn der fallende Gegenstand zum Zweck hat, tönende
Schwingungen von einer vorherbestimmten Art hervorzu-
rufen, so müssen die Schwere, der Fallraum, der Grad der
Schnelligkeit der Bewegung, mit einem Worte die plastische
Dynamik, so gut geregelt sein in Bezug auf die Grenzen
der plastischen Bewegungen des Gegenstandes, der die
Schwingung hervorbringt (z. B. einer Saite), dass die
tönende Dynamik, welche daraus resultiert, dem Ohre Be-
friedigung gewährt. Sobald die wirkliche Schwerkraft,
vermehrt durch die Schnelligkeit, eine Kraft darstellen
würde, die so gross wäre, dass sie sich mit den plastischen
Bewegungen einer Saite nicht in Einklang bringen Hesse,
so wird entweder die Saite springen, oder die ersten
Schwingungen werden den Zusammenprall der beiden Stoffe
empfinden lassen. Dieser Zusammenstoss wird die Vor-
stellung der rohen Heftigkeit der ursprünglichen plastischen
Bewegung des fallenden Objekts, statt des musikalischen
Genusses hervorrufen, welcher der Zweck derselben war.
Der Hörer muss diesen Eindruck vergessen, ehe er
dazu gelangen kann, Genuss von den folgenden Schwingungen
zu haben.
Das Ziel wird also nicht erreicht werden, weil die
Beziehungen zwischen der plastischen lebendigen Kraft in
erster Linie und der tönenden lebendigen Kraft in zweiter
Linie nicht hergestellt waren.
Wenn der fallende Gegenstand von den Muskeln ge-
leitet wird, so werden diese Beziehungen im voraus von
der Vorstellungskraft festgestellt werden. Ein echter Kenner
des Pianos wird, wenn er die Töne hört, die plastische
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lebendige Kraft der Bewegungen, die sie hervorgerufen
haben, wiedererkennen.
Infolge eines seltsamen Phänomens macht die plas-
tische lebendige Kraft die Rhythmen, die musikalisch sind,
sichtbar, während die musikalische lebendige Kraft die
plastischen Rhythmen musikalisch macht. Die lebendige
Kraft nähert die beiden Künste einander. Das Spiel der
entgegengesetzt wirkenden Muskeln, die lebendige Kraft
des Fingers beim Klavierspieler, des Stimmorganes beim
Sänger, des Armes beim Violinisten stehen in direkter Be-
ziehung zu der Vorstellungskraft. Die vorgestellte Eigen-
schaft des Tones, welchen die Bewegung ertönen lassen
soll, ist die bewegende Vorstellung: die Mitwirkung der
in gleicher, wie der in entgegengesetzter Richtung tätigen
Muskeln wird die Wucht des Anschlags regeln, um sie
dem bewegenden Vorstellungsbilde absolut entsprechend
zu machen.
Die lebendige Kraft der plastischen Bewegung, die
die lebendige Kraft des Tones ins Leben ruft, erweckt die
Vorstellung der Vertonung. Die plastische lebendige Kraft
erweckt die musikalische Vorstellungskraft.
Wie schön ist die Geste, wenn die plastische lebendige
Kraft die Vorstellung der tönenden lebendigen Kraft er-
weckt! Wie göttlich erscheint uns die Geste, wenn sie die
Wirklichkeit der tönenden Dynamik genau bestimmt! Es
scheint wahrhaftig, dass sie die ganze Menschheit umfasse
und sie in tönende Schwingungen umwandle.
Und nun sehen Sie sich ein heutiges Ballett an! Sehen
Sie diese wenigen, herkömmlichen Bewegungen, die durch-
aus nichts ausdrücken, diese Bewegungen ohne Rhythmus,
ohne lebendige Kraft, die niemals mit der begleitenden
Musik in Beziehung treten, die nicht einmal in Harmonie
unter einander gebracht sind, die von Gliedern ausgeführt
scheinen, welche zu verschiedenen Körpern gehören!
Die Arme scheinen zu den Beinen zu sagen : Da, wo
ihr hingeht, wollen wir nicht hingehen. Die Arme sind
nur für das Gleichgewicht da, aber der Zuschauer darf
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das nicht merken, denn, um alles in der Welt! es darf
sich nicht um „ Schwere " handeln. Die Schwerkraft darf
nicht existieren. Die einzige Illusion, die es hervorzu-
zaubern gilt, ist die Abwesenheit alles Gewichts. Geben
uns die Ballettänzerinnen mit diesen Ideen und solchem
Tun die Illusion des Immateriellen? Weit gefehlt I Durch
die Negierung (ich sage nicht: durch die Abwesenheit) der
Schwerkraft werden die Gegensätze unterdrückt.
Das Unkörperliche kann mit Hilfe des Körpers nur
durch den Gegensatz ausgedrückt werden, durch die ver-
gleichende Würdigung, die Abstufung, die Nüancen, mit
einem Worte durch die lebendige Kraft.
Das angeblich künstlerische Ziel des Balletts besteht
darin, die Illusion des Nichtvorhandenseins der Schwere
des Körpers hervorzurufen, und das einzige Mittel, diesen
Widersinn auszudrücken, hat man in der Bewegung der
Beine gefunden! Die Fusssohle soll soviel wie möglich
die Tatsache ableugnen, dass wir an den Fussboden ge-
bunden sind, dass eine Erde vorhanden ist, die eine grosse
Anziehungskraft auf uns ausübt.
Die Fusssohle soll den Zweck ihres Vorhandenseins
in Abrede stellen, es soll kein Kontakt zwischen ihr und
dem Fussboden stattfinden, der Unterstützungspunkt für
den ganzen Körper soll auf ein Minimum reduziert werden.
Die Spitze eines einzigen Fusses, die Spitze von 3, von 2,
von einer einzigen Zehe muss ausreichen. Leider hat man
es noch nicht fertig gebracht, sich auf der Spitze der kleinen
Zehe im Gleichgewicht zu erhalten, aber das Ideal des
Balletts ist es sicherlich, uns eines Tages diesen ästhe-
tischen Genuss zu verschaffen; denn je geringer der Kon-
takt, desto weniger Anschein von Schwere, und das ist es
ja allein, was die gegenwärtige choreographische Kunst
will. Und weil ja die Kunst zu fliegen leider noch nicht
erfunden ist (ein Glück vielleicht, weil die Bewegung der
Flügel die Vorstellung eines gewissen Grades von Schwere
hervorrufen könnte), so besteht der Fortschritt für die Ballett-
tänzerinnen darin, schweben zu lernen. Ja, sie werden dahin
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gelangen, sie werden schweben oder untergehen, denn sie
würden nicht Jahrhunderte lang alles an die Verwirklichung
dieses Ideals gesetzt haben, wenn dasselbe sich nicht ver-
wirklichen Hesse. Die Sinnlosigkeit ihres Systems wäre
allzu augenfällig.
Das glattgezogene rosa Trikot reicht nicht aus, uns
die fortwährende Anspannung der Zwillings-Muskeln zu ver-
bergen, die die Fersen nach oben ziehen müssen, auch
nicht dazu, uns die athletenartig und unharmonisch ent-
wickelten Waden, das Schmerzenskind widernatürlicher An-
strengung, zu verbergen. Die Schwere und die Muskel-
anstrengeng hören nicht auf, sich zu offenbaren. Vergebens
versucht das Lächeln die Aufmerksamkeit des Zuschauers
auf sich zu ziehen, um ihn zu überzeugen, dass diese
Muskelanstrengung nicht vorhanden ist. Oh! das Lächeln
der Tänzerin!
Statt das Aufleuchten eines Gedankens durchscheinen
zu lassen, anstatt die ersten Strahlen der Freude wieder-
zugeben, welche das ganze Wesen durchleuchten soll, statt
uns zu rühren durch den unbewussten Ausdruck der see-
lischen Entfaltung, wird das handwerksmässige Lächeln
infolge seines Mangels an Abstufung, an Abwechslung und
Lebenskraft unfähig, uns irgend ein Empfinden zu offen-
baren, und durch seine Unfähigkeit trägt es dazu bei, die
Unfähigkeit der Bewegungen und der Beine zu offenbaren,
die uns den Glauben an die Unkörperlichkeit des Leibes
beibringen möchten.
Der Zuschauer wird Zeuge einer doppelten Unfähig-
keit: der des lächerlichen Einhertumpelns, und der des
widerwärtigen Lächelns. Aber da sind ja noch die Arme
zur Rettung der Situation.
Infolge desMangels jeglicher Abwechslung, jeder Kunst-
belebung, jeder Niiance glauben sie uns das Lächerliche und
W iderwärtige des Schauspiels, das sich vor unseren Augen
entrollt, vergessen zu machen. Die Hand, dem Beispiel des
Fusses folgend, bringt es dahin, sich selbst zu verleugnen.
Sie, die treue Begleiterin jeder Handlung, sobald die Füsse
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uns an den Stoff herangetragen haben; sie, die durch ihre
Bewegungen und durch den Grad ihrer Anspannung die
Vorstellung, das täuschende Bild der Beziehungen zwischen
Mensch und Stoff, zwischen Geist und Verkörperung er-
weckt; sie, die durch die plastische Lebenskraft ihrer
Finger und ihres Daumens ebensogut die Zartheit und An-
mut der von ihr abgepflückten Blumen, wie den in der Lieb-
kosung zum Ausdruck kommenden Seelenzustand darzu-
stellen vermag, sie, die die Lüfte durch die von ihr ins
Dasein gerufenen Tonschwingungen zum Leben zu er-
wecken scheint, sie soll -- o arme Hand — nur dazu
dienen, das leichte Gewicht des Stoffes darzustellen?
Die beiden Hände fahren nach links, sie fahren nach
rechts, sie gehen nach unten, sie gehen in die Luft, sie
trennen sich von einander ohne weiteren Zweck, und sie
tun schliesslich nichts weiter, als sich zu zeigen, und uns
dadurch das Mass des Ideals der Tänzerinnen zu geben,
welches darin besteht, darzustellen, wie lebloser Stoff in
Bewegung gesetzt wird.
Doch siehl da kommen die Beine und übernehmen
die von den Armen aufgegebene Rolle wieder. Die Arme
fallen längs des Körpers nieder, und da nimmt das rechte
Bein in einem Zustand höchster Anstrengung eine wag-
rechte Stellung nach rechts ein, gerade wie ein Wegweiser.
Gewiss der rechte Arm hat für den Augenblick etwas
anderes zu tun, aber könnte denn die scharf gestreckte
und angespannte Fussspize nicht ebensogut wie der Zeig-
finger, dessen Aufgabe das für gewöhnlich ist, durch die
Kraft ihrer Darstellung zum Hinweis auf ein in der Ferne
sichtbares Bild dienen?
Unglücklicherweise kann der Zeigefinger auf nichts
hinweisen, denn er ist mitgerissen worden von der fallenden
Bewegung des Armes.
Und der Vorteil, den man von diesem mit dem Fusse
gegebenen Hinweis auf den fernen Horizont hat, liegt darin,
dass der Blick ihm nicht zu folgen braucht. So kann er
sich an den Zuschauer wenden und der Bedeutungslosig-
keit des Lächelns zur Folie dienen.
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Der Zuschauer seinerseits betrachtet den fernen Hori-
zont, auf den der rechte Fuss hinweist, die Berührung mit
dem Fussboden, auf den die linke Fussspitze hinweist, und
bewundert, immer zu gleicher Zeit, den Ausdruck des
Fehlens der Gedanken und Empfindungen und den Hinweis
auf das Vorhandensein des Leiblichen.
Der Misserfolg der Anstrengung, die Schwere unserer
Glieder abzuleugnen, führt die Lüge von der Nichtexistenz
unserer Seele zum Siege.
Welche Erniedrigung!
Wenn man sich mit den Bewegungen der Glieder ab-
geben will, ohne sich mit der darstellenden Kraft dieser
Bewegungen zu beschäftigen, so mag das wenigstens zu
einem nützlichen Zwecke geschehen, zum Zweck der körper-
lichen Hygiene!
Der Anblick eines Turnfestes ist durchaus nicht de-
mütigend. Es fehlt ihm zwar die Bedeutung der Darstel-
lung, es fehlt ihm der Flug der Phantasie, es fehlt ihm die
geistige Erhebung, die Schönheit des Übersinnlichen, aber
sein Zweck ist die Darstellung der Muskelkraft, und da
diese Kraft eine Wirklichkeit ist, so ist in diesem Schau-
spiel keine Unwahrheit, keine Lüge.
Wenn man auf die plastische Schönheit nicht ver-
derblich einwirken will, so hüte man sich vor der ein-
seitigen Ausbildung in einer Spezies, d. i. vor Speziali-
sierung. Es kann weder unser Auge noch unser Empfinden
befriedigen, beständig einen Athleten seine wuchtigen Kunst-
stücke aufführen zu sehen, oder die erzwungene Grazie
einer Tänzerin zu bewundern.
Das Studium von Einzelheiten ist an und für sich
wertlos, wenn es sich nicht zugleich mit der Wechselbe-
ziehung mehrerer Einzelheiten unter sich beschäftigt. Mit-
hin ist auch die reine Kraftübung eine Spezialisierung, wenn
nicht damit zugleich das Studium des Raumes und der Zeit
verbunden wird; Kraft, Zeit und Raum stehen in der engsten
Beziehung zu einander.
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Man könnte noch weiter gehen in dem gegenwärtigen
Wettlauf des Byzantinismus. Man könnte in der Musik die
Harmonie vom Kontrapunkt trennen, das Orchester von
der Melodieführung, man könnte musikalische Themen ohne
Entwickelungen schaffen, instrumentale Koloraturen ohne
Harmonien, kontrapunktische Zeichnungen nicht zur Wieder-
gabe durch Töne, sondern nur zum Lesen geschaffen. Was
dieses Auseinanderzerren an unvorhergesehenem, an ge-
suchtem, an seltenem Effekt nach sich ziehen könnte, das
würde gewiss einen Fortschritt darstellen vom Gesichts-
punkt der beabsichtigten Einzelwirkung aus, aber die musi-
kalische Kunst würde notwendigerweise dabei zurückgehen.
An dem Tage, wo die griechischen Dilettanten sich auf
diese oder jene einzelne Bewegungen und Übungen des
Körpers geworfen haben, ist das Virtuosentum entstanden,
und die Kunst des Wettkampfs im Ganzen hat darunter
gelitten. So werfen sich heutzutage die Ärzte auf allerlei
Spezialitäten, und mancher Spezialist leistet sicherlich
bessere Dienste, als allgemeine Arzte für Alles; aber nehmen
Sie einmal den Fall an, dass es auf einer Station im Ge-
birge nur einen Arzt, beispielsweise einen Ohrenarzt gäbe;
werden da nicht die vielen Fälle von Krankheiten anderer
Organe weit weniger gut behandelt werden von dem zur
Verfügung stehenden Spezialisten, als von einem prak-
tischen Arzt, ohne spezielles Fach?
Die Kunst der Musik hat einen Teil ihrer Darstellungs-
kraft an dem Tage verloren, wo man sie der Mitwirkung
der Gestikulation beraubte.
Die Ringkämpfe haben in ihrem künstlerischen Cha-
rakter Einbusse erlitten, und nur noch einen ästhetischen
Schein sich bewahrt, von dem Augenblick an, wo die Mit-
wirkung der Musik für die rhythmische Betonung der Be-
wegungen ihnen entzogen wurde. Die Musik wurde spe-
zialisiert und ist eine Spekulation des Gehirns geworden.
Die Gymnastik wurde spezialisiert und ist nur noch eine
Bestätigung des Körpers.
Seit Richard Wagner, der dazu beitrug, die Über-
einstimmung des Gesanges mit dem Wort wieder herzu-
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stellen, ist uns die Abwechselung des gesprochenen Dia-
logs und des prosodischen Gesanges auf der Bühne pein-
lich geworden. Wir haben Mühe, die Trennung dieser
beiden Elemente noch zulässig zu finden.
Haben Sie niemals das unangenehme Gefühl der Aus-
einanderreissung, des Zwiespalts empfunden, wenn jede
Handlung, jede Erschütterung, die auf der Bühne stattfindet,
durch Ton und Rhythmus hervorgehoben wird, während
die Marschbewegung ohne Festhaltung der Zeitmasse vor
sich geht, während diese Bewegung durchaus nicht in Be-
ziehung tritt zu den durch das Orchester oder das ge-
sungene Wort zum Ausdruck gebrachten Intervallen?
Ausserdem muss man festhalten, dass weder die Hal-
tung, noch die Geste, noch der Blick,, noch der Gesichts-
ausdruck ihrer Natur nach ebensoviel rhythmische Ele-
mente enthalten als der Marsch, zumal es feststeht, dass
die Fusssohle in dem Augenblicke, wo sie den Boden be-
rührt, ganz unvermeidlich einen rhythmischen Ruhepunkt
anzeigt (was gleichbedeutend ist mit einem Zeitteil). Die
griechischen Ästhetiker, welche an den rhythmischen Marsch
gewöhnt waren, werden das nämliche Gefühl der Unruhe
empfunden haben, wenn die musikalische Seite ohne Über-
einstimmung mit dem Takt der Tritte behandelt wurde,
wie die Künstler im Anfang unseres Jahrhunderts bei der
Auseinanderhaltung des Gesanges und des gesprochenen
Wortes. Die Musik der menschlichen Stimme passt sich
dem Rhythmus an; wenn sie sich davon loslöst, wird sie
rein instrumental.
Vom Wort getrennte Vokalmusik wäre ein Wider-
sinn. Das Instrument ist der Ersatz und die Ergänzung
der Stimme. Sollte etwa die Stimme eine Rolle als Instru-
ment spielen und ihre eigene Ergänzung, ihren eigenen Er-
satz abgeben können?
Will sie etwa unter Verzicht auf das Wort versuchen,
was das Wort nicht ausdrücken kann oder will, ihrerseits
zum Ausdruck zu bringen? Nur unter Mitwirkung des
gesungenen Wortes und nicht als getrenntes Element für
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sich allein kann der Klang der Stimme bedeutungsvoll
werden, wie das Instrument, und das Wort ergänzen da-
durch, dass er den Ausdruck des Blicks, der Geste, der
Haltung hervorhebt und die inneren Gefühle durchscheinen
lässt, die sich an der Oberfläche nicht zeigen können oder
sollen, die unaussprechlichen und niemals ausgesprochenen
Empfindungen.
Als der körperliche Wettkampf sich endgiltig von der
Musik losgelöst hat, da ist er geworden, was die Vokal-
musik ohne das Wort sein würde: eine zwecklose Virtuosität.
Doch muss man zugeben, dass die Gymnastik ohne Kunst
ebenso wie der Gesang ohne das Wort fähig sind, in be-
sonderem Fall sehr grosse Dienste zu leisten, da ja beide
zur Kräftigung der Gesundheit der Menschen beitragen
können. Aber niemals kann man zugeben, dass Gesang
und Wort sich endgiltig von einander scheiden, und nie-
mals hätte man die endgiltige Trennung der Wettkämpfe
vom Rhythmus zulassen sollen.
Da die Mimik und die Geste eine Spezialität des
Theaters geworden sind und dort vielfach eine Kunst
zweiten Ranges bilden (da sie ja im Ballett nicht zum Aus-
druck irgend eines Empfindens dienen und in der Panto-
mime nur durch Tradition festgelegte und weniger feine
Gefühle auszudrücken haben), so hat die Familie darauf
verzichtet, die Kinder mit dieser besonderen Kunst vertraut
zu machen, und hat so die Gesten, ohne viel zu überlegen,
mit der Menschenklasse gleichgestellt, die sie besonders
gern anwendet. Die Gesellschaft ist aber trotzdem damit
einverstanden, dass gewisse Leute sich dem Studium der
Mimik widmen, wenn diese zu einem ernsten Berufe zu
gehören scheint. Darum verlieren Pastoren, Advokaten,
Staatsmänner nicht überall an Achtung, wenn sie die Geste
und den Gesichtsausdruck in den Dienst ihrer nutzbringen-
den Beredsamkeit stellen. Ich sage nicht überall, denn in
gewissen Kreisen erscheinen auch diese äusseren Mittel der
Beredsamkeit theatralisch und unfein. Es unterliegt keinem
Zweifel, dass, wenn “alle Theater und alle Theaterstücke
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bei einer Feuersbrunst zerstört würden, die Mimik und die
Gestikulation für alle in der Öffentlichkeit stehenden Männer
zum Gegenstand des Studiums erhoben würden, ohne dass
jemand darin etwas Absonderliches fände, und schliesslich
würden solche Studien in die allgemeine Erziehung über-
gehen. Ebenso würde es sich verhalten, wenn das Theater
seinen alten künstlerischen Einfluss wieder gewinnen und
seine gesellschaftliche Tragweite wieder erobern würde.
Die Verbindung der Geste und des Wortes, des plastischen
und des musikalischen Rhythmus, würden unverkürzt wieder
hergestellt werden.
Wenn schon bei den alten Griechen Plastik, Rhyth-
mus, Harmonie, Schönheit und Kraft so hoch gepflegt und
geschätzt wurden, wie demütigend ist es doch für die mo-
dernen Kulturvölker, so weit hinter jenen zurückzustehen.
Die alten Völker Griechenlands veranstalteten ihre Feste
nicht lediglich zum Zwecke des Vergnügens, sondern meist
legten sie ihnen eine ästhetische Bedeutung zu grunde-
in der Regel aber war die Erziehung und Ausbildung
der Jugend der Schwerpunkt dieser Festlichkeiten. Die
Olympischen Spiele, die Gymnopedien der Spartaner, die
Apollofeste der Jonier, sie alle galten der körperlichen und
geistigen Ausbildung der Jünglinge und Jungfrauen. Wett-
lauf, Ringkampf, Speer- und Diskuswerfen wechselten ab
mit rhetorischen Glanzleistungen und chorischen Darstel-
lungen. So harmonisch schön vereinten sich bei ihnen
Kraft und Grazie, Würde und Anmut, so vollendet drückten
die Körper den Rhythmus der Gedanken aus, dass Herodot
sagt, man glaubte, die Jünglinge seien Götter und lebten
in einem ewigen Frühling jugendlicher Schönheit.
Die gymnastische Erziehung war auf die plastische
Kunst der Griechen von grossem, segensvollem Einfluss.
Durch die Begeisterung für die Sieger in den Olym-
pischen Spielen hingerissen, fingen die Bildhauer, die bis-
her nur Götter in starrer, übersinnlicher Schönheit und
kalter Erhabenheit geschaffen hatten, an, dem Volk seine
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Lieblingshelden in natürlicher, lebenswarmer Darstellung
wiederzugeben, und schufen so eine neue humane Kunst.
Grundbedingung in der Erziehung der Jugend war
Harmonie der Formen, Rhythmus der Harmonie und der
Plastik. In den Gymnasien wurden die Jünglinge, bevor
sie ins öffentliche Leben traten, mit gymnastischen Spielen
zur Harmonie der Bewegung erzogen, indem man von dem
ganz richtigen Prinzip ausging, dass nur der die Schönheit
der Kunst würdigen kann, der am eigenen Leib die Gesetze
der Schönheit und Harmonie befolgt. Die Wahl des zu-
künftigen Lebensberufes kam hierbei gar nicht in Betracht.
Die gymnastische Erziehung zur Harmonie und zum Rhyth-
mus galt als unbedingt notwendig für das ganze Leben,
gleichviel ob einer die rhetorische, philosophische oder
pädagogische Laufbahn einschlagen wollte. Die Ärzte, so
z. B. Hippokrates, verlangten nicht nur die körperliche
Übung, sondern zeigten der Jugend im persönlichen Unter-
richt die zweckmässige Methode, dem Ideal eines schönen
harmonisch gestalteten Menschen zuzustreben. Unsere heu-
tigen Physiologen können nur bestätigen, was die Gelehrten
vor 2000 Jahren erkannt haben, dass eine gesunde geistige
Tätigkeit nur möglich ist, wenn sie gleichzeitig verbunden
wird mit einer zweckmässigen Schulung der körperlichen
Kräfte. Unsere Ideenwelt steht in direktem Zusammen-
hang mit der Natur, und der Charakter bildet sich auf
Grund der natürlichen physischen und sittlichen Gesetze.
Dem Beispiele der Jünglinge der Griechen folgten in rich-
tiger Erkenntnis ihrer Bestimmung auch die Jungfrauen,
welche die natürliche Anmut und Grazie durch gymnastische
Spiele, Ballspiele, Reigen etc. nach musikalischen Rhythmen
zu vervollkommnen bestrebt waren.
Die Feste des Appollo und der Artemis wie der
Aphrodite wurden verherrlicht durch grosse Chöre, die
die Aufgabe hatten, den musikalischen Rhythmus durch
rhythmische Bewegungen im Reigen zum Ausdruck zu
bringen, und zwar bildeten sich diese Chöre aus den vor-
nehmsten Jungfrauen und Jünglingen. So z. B. tanzten die
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schönsten Jungfrauen zu den Festen der Artemis in Karyä
(in Arkadien) einen durch seine eigenartigen Windungen
und Körperbiegungen, bei denen die beiden Arme hinter
dem Kopf verschlungen waren, äusserst schwierigen Tanz,
der bei vollendeter Anmut die ganze Kraft und Elastizität
und plastischen Rhythmus erforderte. Die wunderbare
Harmonie der Bewegungen und die plastische Schönheit
der Tänzerinnen begeisterte die Bildhauer zu den Säulen-
figuren der Lastträgerinnen (Karyatiden).
Dabei gaben die alten Bildhauer nicht die Schönheit
einer einzelnen Persönlichkeit, eines Modelles wieder, son-
dern sie studierten meist mehrere Modelle, um die Schön-
heit der Linien, die plastische Harmonie der Pose ganz in
sich aufzunehmen und sie dann gewissermassen von innen
heraus wiederzugeben.
Die gymnastischen Übungen der alten Griechen ent-
sprachen in erster Linie den Forderungen der Ästhetik.
Jede Übertreibung, jedes Übermass war verpönt.
Die geistige Ausbildung musste mit den körperlichen
Übungen gleichen Schritt halten, und die Harmonie der
Linien, die plastische Schönheit des Körpers, der edelste
Rhythmus der Bewegung wurde einer hohen Geistes-
bildung gleich geachtet. An dieser weisen Vereinigung
geistiger und körperlicher Ausbildung sollten wir uns ein
Beispiel nehmen. Unser modernes Geschlecht übertreibt
alles, aber meist einseitig, und kennt in dem Bestreben, es
in einer Fertigkeit zur Vollendung zu bringen, kein Mass
und Ziel, so dass man meist die Grenzen der Ästhetik über-
schreitet. Und welche furchtbaren Gefahren liegen in dieser
verkehrten Methode verborgen. Auf der einen Seite Über-
lastung des Gehirns, die bei siechem Körper zur Nervosi-
tät oder zum Wahnsinn führt, auf der anderen Seite For-
cierung der Muskelkräfte bis zur unästhetischen Unnatur,
wobei der Geist des betreffenden Individuums in jeder Be-
ziehung zurückbleibt und die Bildung furchtbar viel zu
wünschen übrig lässt.
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Darum lasst uns immerhin lernen von den unsterb-
lichen Geistesgrössen der alten Griechen, von einem So-
phokles, Euripides, Timokreon, Alkibiades u. a., die die
höchste geistige Bildung mit formvollendeter Leibesschön-
heit verbanden, die in Schule und Senat und der Agora
durch hinreissende Beredsamkeit und Gelehrsamkeit glänz-
ten und es nicht verschmähten, in der Ringschule, im Reigen,
im Chor oder im gymnastischen Spiel mit anderen Jüng-
lingen zu wetteifern.
Wenn man sich eine Vorstellung machen will, worin
die Kunst der griechischen Orchestik bestand, so muss
man sich eine Kunst vorstellen, welche eng vereinigt, ver-
bindet und wechselweise benützt die 1000 Hilfsmittel des
Tanzes, der Gymnastik, der Pantomime des Gesanges, der
prosodischen Wortbetonung und der musikalischen Instru-
mente. Das Versmass wird begleitet von Gesten, deren
Dauer den Versen entspricht, der musikalische Rhythmus
wird kenntlich gemacht durch genau angepasste Tritte und
Marschbewegungen, die Musik verkörpert sich durch die
Haltung und Bewegung des Körpers und die Bewegungen
suchen die Seele wiederzuspiegeln in ihren verschiedenen
Offenbarungen, sie verfeinern und vergeistigen sich, indem
sie sich in den Dienst des Gedankens stellen.
So sagt Lucian, der über die Orchestik einige sehr
bedeutsame Seiten schrieb: „Der körperliche Rhythmus
muss die Seelen der Schauspieler wie die der Zuschauer
unter seine Herrschaft bringen, die Kunst der Orchestik
muss uns die Beziehungen enthüllen, welche zwischen der
Schönheit der Seele und der des Leibes existieren. Sie
muss unsern Geist formen, sie muss uns zur Unterweisung
dienen.“
Die Kunst des rhythmischen Chortanzes, Orchestik
genannt, hat sich aus kleinsten Anfängen erst nach und
nach zur höchsten Blüte entfaltet. Es mag in den einzelnen
Entwickelungsstufen wohl auch schon Künstler gegeben
haben, die sich auf eine besondere Spezialität warfen und
durch besondere Finessen in der Tanzkunst zu glänzen
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suchten; vielleicht eine Art Vorläufer unserer heutigen
Ballettmeister. Aber sie erlangten nie die ernste Würdigung
wahrhafter Kunstfreunde, sondern sahen ihren Wirkungs-
kreis beschränkt auf die Belustigung ausgelassener An-
hänger.
Der Charakter der Orchestik war sehr verschieden :
aus einfachen Übungen der Jünglinge, die in gemessenem
Rhythmus mit vorgeschriebenen Bewegungen über die Szene
schritten und dabei sangen:
„Schreitet voran,
tanzt Ihr Jünglinge
und singt,
hebt und senkt den Fuss,
den einen jetzt,
sodann den andern,
reicht euch die Hände
und kehret zurück“,
gestaltete sich bald der Doppelchor, wobei die Jünglinge auf
der einen Seite in kräftig betontem Rhythmus, ihre jugend-
liche Kraft und Energie zu zeigen bestrebt sind, während
auf der anderen Seite die Jungfrauen ihre natürliche Anmut
und Grazie in kleinen Schritten und naiven Wendungen
markieren.
Da der rhythmische Tanz und die harmonische Bewe-
gung beschleunigtes Atmen erforderte, so entstanden in den
begleitenden Chören und Liedern oft unfreiwillige Pausen,
so dass der Schönheitssinn und das natürliche Gefühl für
Ästhetik der Griechen das Bedürfnis nach Abhilfe rege
werden Hess. So finden wir in Delos Tänze mit begleitenden
Liedern, ausgeführt von drei Gruppen, die erste Gruppe
tanzte, die zweite begleitete die rhythmische Bewegung mit
Lied und Gesang, die dritte Gruppe spielte Flöte und Zither.
Auch erwachsene Männer verschmähten es nicht,
daran teilzunehmen, und selbst ein Sokrates und Plato er-
achteten die Orchestik als eine Wissenschaft, die zum Leben
notwendig sei und nahmen selbst an den Übungen teil.
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Im weitem Verlauf der Entwickelung kam zu den
Sängern, Tänzern und Flötenspielern noch eine vierte
Gruppe, die Erzähler, die in rhetorischem Schwung den
Zuschauern Inhalt und Bedeutung der Tänze erklärten oder
den logischen Gedankengang zwischen den einzelnen Ge-
sängen ergänzten. So gelangen wir zur höchsten Vollen-
dung in der chorischen Technik eines Sophokles, die
Schiller in der »Braut von Messina“ zum Vorbild genom-
men hat.
Grundgedanke der alten Orchestik war und blieb,
gleichmässiges, einmütiges Zusammenwirken einzelner Ele-
mente (Tanz, Gesang, Instrumentalmusik und Deklamation)
in rhythmischem Zusammenklang zu einer einheitlichen
harmonischen Wirkung. Ein Effekthaschen des Einzelnen,
das Hervortun mit irgend einer Virtuosität, war absolut
unzulässig. Jeder Einzelne wirkte eben nur für das Ganze-
Weich schönes Vorbild für unsere Zeit auf dem Gebiete
der chorischen Darstellung!
Und noch weiter: Der Chor-Reigen, der Tanz und
Gesang wurden nicht gepflegt, um dem Bedürfnis nach
Genuss zu genügen, rein zum Vergnügen, sondern diente,
wie Plato die Orchestik erklärt, stets zur Verkörperung
einer Idee, eines idealen Gedankens, z. B. der Verherr-
lichung eines Gottes, eines Helden oder des Vaterlandes.
Lucian gibt über das Wissen, das ein Tänzer besitzen
sollte, höchst merkwürdige Einzelheiten, welche beweisen,
dass die griechische Tanzkunst anders ernst genommen
wurde und weit umfassender war, als unser heutiger Tanz
und unsere heutige Tanzpantomime.
Der Tanz — sagt er — ist die direkte Ergänzung
aller Wissenschaften, des musikalischen Rhythmus, des
Rhythmus der Rede, der Geometrie, der Philosophie, der
Physik und sogar der Ethik. Sein Zweck ist, die Sitten
und die Leidenschaften darzustellen. Er besitzt viel Ver-
wandtschaft mit der Malerei und Skulptur, deren Sicher-
heit und schöne Stellungen er nachahmen muss, und in
dieser Beziehung sind ihm weder Phidias noch Apollo
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überlegen. Die erste Pflicht eines Tänzers ist, sein Ge-
dächtnis zu pflegen und sich zu bemühen, es allumfassend
zu machen. Er muss die Vergangenheit und die Gegenwart
kennen und mit Fleiss die Zukunft suchen, voraus zu ahnen,
damit ihm nichts vom Leben entgeht.
Der Zweck des Tanzes ist es, die Gedanken in an-
gemessenen Rhythmen klarzulegen und zum Ausdruck zu
bringen und die dunkelsten Dinge mit Klarheit auseinander-
zusetzen.
Wir finden bei Lucian ein ausführliches Verzeichnis
all der einzelnen Kenntnisse, die der Tänzer besitzen musste:
die Geschichte zuerst, die Mythologie, die Werke der Dichter,
ganz zu schweigen, fügt er hinzu, von der Wissenschaft
von den Bewegungen der Seele und des Leibes, da diese
letzteren bald dazu dienen, den Zorn, die Wut, die Traurig-
keit und alle Leiden der Seele zum Ausdruck zu bringen,
bald wiederum dazu, die Rhythmen der unbestimmten und
allgemeinen Gefühle in Mass und Takt umzusetzen, unter-
stützt dabei von den Rhythmen einer angemessenen Melodie.
Die Tänzer sollen alle Beziehungen zwischen den
Bewegungen und den Modulationen der Stimme kennen.
Sie dürfen niemals falsche Bewegungen machen, so dass
etwa ihr Fass ein Glied des Taktes markiert, während
der Rhythmus ein anderes bezeichnet.
Dieser letzte Satz ist in meinen Augen von ganz be-
sonderer Bedeutung. Er wirft ein Licht auf die Beziehungen,
die einstmals zwischen der Musik und ihren Mitteln
plastischer Darstellung existierten.
Der Fuss, sagt Lucian, muss eine spezielle Bewegung
für jedes Tempo des Taktes haben!
Es ist unbestreitbar, dass die Musik zur Zeit der
Griechen noch mehr als in unseren Tagen eng verknüpft
war mit dem Rhythmus der Rede, dass diese wieder-
gegeben wurde in einem Tonfall, der genau die Nüancen,
Modulationen und Betonungen ihrer langen oder kurzen
Silben wiedergab. Und in der Tanzkunst führte der Körper,
der seinerseits dazu mitwirken sollte, die Wirkung der
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Rede zu verstärken und die Kraft ihres Ausdrucks zu ver-
mehren, taktmässige Bewegungen aus, deren Rhythmus zu
demjenigen der Worte trat. Bald entsprach eine langsame
Geste einer langen Silbe, bald gab eine lebhafte Bewegung
der Beine eine kurze Silbe wieder.
Wie nun also die Rhythmen der Instrumentalmusik
unter dem Einfluss des Wortes standen, so mussten die
Gesten und Taktschritte, die dazu dienten, die reine Musik
zu veranschaulichen, gleicherweise den Rhythmen der In-
strumente bis in ihre geringsten Abstufungen hinein folgen.
Daraus entstand eine Vielseitigkeit, die man in der
modernen Tanzkunst nicht kennt, bei der die Pas sich da-
mit begnügen, den Takt hervorzuheben, sich um die in
dem Takt liegenden Rhythmen nicht weiter kümmern,
keinen pathetischen Akzent wiedergeben, mit einem Worte
völlig unabhängig sind von der Dauer der Taktglieder.
Drei Viertel derer, die einem Ballet beiwohnen, hören
kaum auf die Musik, wenn sie dem Tanze zuschauen, und
sind genötigt, ihre Blicke von der Bühne wegzuwenden,
wenn sie dieselbe hören wollen.
Der Mangel an Einheit, an Zusammenhang zwischen
den Rhythmen des Tanzes und denen der Musik teilt das
Publikum in zwei Teile : die Zuhörer und die Zuschauer.
Um ein Beispiel zu geben, nehmen wir den Pas
(sprich Pa) der Polka, bei dem die Beine einen Rhythmus
ausführen, der aus zwei Achteln und einem Viertel
steht.
n
4 4
l)be-
Mag nun die Polkamelodie ihren Rhythmus erhalten
durch ein punktiertes Viertel und ein Achtel ( h),
ein Viertel und zwei Achtel (J durch eine halbe
Note ( i) oder ein punktiertes Viertel und zwei Sech-
zehntel (J. die Wiedergabe des Pas durch den
Körper bleibt unverändert dieselbe. Die Rhythmen der
Melodie ändern sich, die des Körpers ändern sich niemals.
Daraus entsteht dann ein fortwährendes Anstossen, ein
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Abweichen von der rechten Linie, ein Mangel an rhyth-
mischer Einheit, welcher verwirrt und beleidigt.
Die Rücksichtslosigkeit des Tanzes gegen die Musik
geht noch weiter. Die körperliche Darstellung der Melodie
kümmert sich nicht um das Thema und seine Behandlung,
Eine musikalische Periode ist zu Ende — die Beine setzen
ihre rhythmische Bewegung fort. Eine Melodie ist in 12
Takten durchgeführt, die in zwei Mal 6 Takten durch eine
Fermate oder eine Pause getrennt sind, die Beine führen
8 Takte aus und dann 4, die Hälfte von 8 und stellen so
den Einschnitt (die Cäsur) an eine andere Stelle. Unsere
Tänzer rechnen nämlich nur nach Perioden von 8 oder
16 Takten.
Im lyrischen Drama derselbe Irrtum.
Wenn ein Intermezzo für die Instrumente kommt, das
den Stellungswechsel auf der Bühne erleichtern und Zeit
lassen soll zum Gehen, zum Gestikulieren oder zum An-
nehmen einer neuen Stellung, so nehmen die Sänger keine
Rücksicht auf ein solches Intermezzo, sie machen ihren
Gang und gestikulieren, ohne sich um die musikalischen
Zeitlängen zu kümmern, sie nehmen ihre Stellung einen
oder zwei Takte vor oder nach dem Ende des Satzes. Die
berühmtesten lyrischen Künstler denken nicht daran, ihre
Gesten mit den Rhythmen der zu singenden Melodien in
Einklang zu bringen.
Und selbst die Begründer einer neuen Tanzkunst,
Miss Feodora Duncan zum Beispiel, verdolmetschen durch
kräftige Akzente die weiblichen musikalischen Endungen
und umgekehrt oder beenden mit einem 9. Takt eine
Periode von 8 Takten. Der Grund dafür liegt darin, dass,
wir wiederholen es, unsere Zeit eine Periode der Speziali-
sierung ist ; die Instrumentalmusik ist unabhängig von der
Rede, die Geste unabhängig von der Zeitlänge, der Tanz
ist unabhängig vom Rhythmus. Die Tänzer sind nicht
unterrichtet über den Rhythmus des Körpers, die Tänzer und
die Geberdenkünstler kennen den musikalischen Rhythmus
nicht; das Publikum interessiert sich, der musikalischen
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und plastischen Einheit entwöhnt, nicht mehr für das
pantomimische Ballet und beklagt den Verfall desselben,
ohne die Ursachen dafür zu erforschen, und diese Ursachen
sind folgende :
1. Die Tänzer, allein auf ihre Akrobatenkünste ver-
sessen, geben sich keine Mühe, ihre Pas und ihre Schwen-
kungen nach den rhythmischen Intentionen des Komponisten
zu regeln.
2. Die Komponisten, allein auf ihre Musik bedacht,
geben sich keine Mühe mehr, neue Rhythmenzusammen-
stellungen zu erfinden, weil ihre Unkenntnis des Tanzes
sie dazu unfähig macht.
3. Die Ballettmeister, allein beschäftigt mit der Kunst,
Gesamtbewegungen zu kombinieren, streben nicht darnach,
die Absichten der Librettisten durch ihre Tänzer zur Dar-
stellung bringen zu lassen.
4. Die Librettisten, nur beschäftigt mit ihrem literarischen
Stoff, liefern weder den Musikern noch den Tänzern originelle
Situationen und Gelegenheiten zu rhythmischen Kombi-
nationen. So sind wir schliesslich dazu gekommen, uns be-
gnügen zu müssen mit zwitterhaften Werken, in denen
weder das Libretto, noch die Musik, noch die Tänzer zu
einander passen, bei denen man manchem getanzten Pas
eine andere Musik sehr leicht anpassen könnte, in denen
manche Musikpassage dem Herkommen entsprechend durch
Tanzpas dargestellt werden könnte, die schon in einem
andern Ballett gedient haben. Die Turnreigen werden bei
den grossen Festen oft nach einer anderen Musik ein-
studiert, als der, die der Komponist dazu liefern soll !
Und es wäre doch so leicht, das Ballett zu erneuern
vermittelst einer vernünftigen Erziehung der Autoren und
Darsteller, einer plastischen Erziehung für die Komponisten,
einer musikalischen und plastischen für die Librettisten.
Eine rhythmische Erziehung vor allem, die die Bewegung
in Zeit und Raum fest bestimmt, die die Gesten nach der
Dauer der Zeit modelliert und die Pas nach der Dauer
der Betonung und der Verschiedenheit ihrer Perioden.
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Wenn der Rhythmus einmal den Tänzern körperlich und
geistig in Fleisch und Blut übergegangen wäre auf Grund
spezieller Studien, welche nach den Forderungen des
plastischen Ausdrucks die Zeitlängen und die Rhythmen
der Musik analysierten und auseinanderlegten, dann würden
die Tänze und Schwenkungen einen anderen Charakter
zeigen entsprechend der Musik, unter deren Leitung sie
stünden ; die künstlerische Einheit würde sich darin zeigen,
dass Musik und Tanz sich gegenseitig ergänzten und be-
lebten. Und die Persönlichkeit der plastischen Darsteller
würde sich entfalten in direktem Verhältnis zu der elementaren
Analyse, die sie mit dem Rhythmus und seinen Kombi-
nationen vorgenommen hätten. Wenn jeder Mitwirkende
fähig geworden wäre, die Verkettung der Zeitlängen und
das Warum der Hervorhebungen zu begreifen, so würden
die grossen Ensemble-Szenen nicht mehr den unkünst-
lerischen Anblick von Arm- und Beinbewegungen in gleicher
Richtung, noch der geradlinigen Schwenkungen bei einer
beständig gleich bleibenden Kadenz darbieten, noch würden
5000 Turner bei grossen Turnfesten dieselbe Bewegung
zu gleicher Zeit ausführen. Die Vielbeweglichkeit würde
entstehen, die Kunst der Gegensätze in Ensemble-Szenen,
die aus den Ballettpartituren verschwunden ist, würde ihre
Stelle wieder einnehmen und sicherlich eine angemessene
körperliche Darstellung finden.
Um sich eine Idee von dem Reichtum des Rhythmus
eines solchen Werkes und von der vollkommenen, har-
monischen Ordnung dieses vielbewegten Schauspieles zu
machen, denken Sie sich eine in Pas umgesetzte Fuge und
vergessen Sie nicht, sich damit zugleich die verschiedenen
crescendo und diminuendo vorzustellen, welche durch das
belebte dynamische Spiel der Muskel-Anspannung wieder-
gegeben würden.
Aber noch existiert kein polyphones Werk, das für
polyrhythmische Darstellung geschrieben wäre, und jedes
Werk, das Sie sich vielleicht in diesem Augenblicke in
Erinnerung rufen, wird folglich der plastischen Darstellung
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entbehren müssen und wird nur formell belebt sein können.
Ein neues polyphones Werk dagegen würde das Ideal
einer plastischen Polyrhythmie zu verwirklichen suchen.
Bei der Darstellung einer solchen Fuge würden die Spieler
eine logische Folge und eine Einheit von Gedanken und
Empfindungen zum Ausdruck bringen.
Wenn man die Möglichkeit der Verwirklichung einer
Idee erkennt, muss man sich angelegen sein lassen, die
verschiedenen Mittel der Verwirklichung einander näher
zu bringen und in Beziehung zu einander zu setzen. Sehen
wir uns daher zuerst um, welche von diesen Mitteln be-
reit sind, um untereinander in Berührung zu treten.
Der musikalische Ausdruck hat eine sehr hohe Ent-
wickelung erreicht. Leicht wird er sich in Beziehung setzen
lassen zu dem rhythmischen Ausdruck des Plastischen,
sobald er sich von dem Wesen dieser Art des Ausdrucks
Rechenschaft gibt.
Das Interesse an der körperlichen Entwickelung zu
Gunsten einer physischen und moralischen Gesundheit
wächst von Tag zu Tage; dieses Interesse wird sich
leicht in Berührung bringen lassen mit dem Interesse an
der plastischen Kunst, sobald man sich darüber klar ist,
dass die Gesten in enger Verbindung mit der Gehirntätig-
keit stehen.
Die Physiologie, die sich ehedem ausschliesslich mit
der Krankheit befasste, hat angefangen, sich mit der Hygiene
des Körpers und des geistigen Lebens zu beschäftigen.
Die Disharmonie zwischen diesen beiden, die verbreitetste
Krankheit unserer Zeit, körperliche Überanstrengung bei
den einen, geistige Überanstrengung bei den andern, wird
die Männer der Wissenschaft zweifellos dazu führen, die-
jenigen Mittel für die Erziehung aufzusuchen, die am ge-
eignetsten sind für die Entwickelung und Aufrechterhaltung
der Harmonie, des Gleichgewichts, der Eurythmie zwischen
der körperlichen und geistigen Arbeit.
Was den gymnastischen Übungen fehlt, das ist die Be-
ziehung auf das geistige Leben; was den geistigen Übungen
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abgeht, das ist die Beziehung zu der Bewegung der Glieder,
und was den Künsten fehlt, das ist der plastische Rhythmus.
Die Schlussfolgerung, die wir daraus ziehen, lautet
folgendermassen.
Im Interesse der körperlichen, geistigen und künst-
lerischen Ausbildung der neuen Generationen müssen die
Muskel-Bewegungen des Kindes unter der Leitung eines
rhythmischen Geistes stehen, der Geist wiederum muss
durch rhythmische Bewegungen ausgebildet werden.
Die Schlussfolgerung, die sich daraus für das gegen-
teilige Geschlecht ergibt, lautet folgendermassen :
Im Interesse des Wiederauflebens der Kunst und einer
neuen Renaissance sollten die Künstler sich vereinigen zu
dem Studium und der Ausführung der rhythmischen Be-
wegung, sie sollten Gymnastiker werden.
Die Turner sollten den Ausdruck des musikalischen
Rhythmus und der in den Bewegungen zu T age tretenden
Kraft studieren und auf diese Weise Künstler werden.
Die Turner und die Künstler, so vereint, sollten die
engen Beziehungen studieren, welche zwischen dem geistigen
Leben und der Körperlichkeit obwalten, dadurch der
Physiologie näher treten und Idealisten und Materialisten
zugleich werden in bezug auf das praktische Leben und
die Kunst.
Die Physiologen sollten die Beziehungen zwischen
der künstlerischen Harmonie und der ausgeführten und
dargestellten Harmonie studieren, demgemäss die Analogie
zwischen der Harmonie in der Vorstellung und Verwirk-
lichung einerseits, andererseits derjenigen der geistigen
und körperlichen Betätigung.
Der Rhythmus wird die Reform in der Erziehung
herbeiführen, der Rhythmus wird die Vereinigung der
Künste verwirklichen. Dann werden wir die griechische
Orchestik wieder aufleben sehen und werden mit Lucian
ausrufen können :
„Wo kann es ein besser zusammengestelltes Schau-
spiel geben als das, welches alle Fähigkeiten der Seele
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verschärft, den Körper harmonisch erklingen und die Töne
in Bewegung umsetzen lässt, die schallenden Töne der
Flöten und Pfeifen mit den Schwenkungen und Stellungen
harmonischer Leiber zu einer Einheit verschmilzt und mit
einem Worte Augen, Ohren und Geist zugleich bezaubert?“
Der Rhythmus in der Musik und der Rhythmus in
der Plastik sind aufs innigste mit einander verwandt. Der
eine gehört zum anderen. Denn sie haben eine gemein-
same Grundlage: die Bewegung.
Die Dauer des Tones gehört dem Gebiete der Zeit
an, die Dauer der plastischen Bewegung fällt in das Ge-
biet des Raumes. Beide können in Bezug auf ihre Dauer
von einander abhängig gedacht werden. Nehmen wir den
Ton an als Veranlassung für die Bewegung, dann ent-
spricht der Eintritt der Bewegung dem Anschlägen des-
selben. Das Ertönen ruft im Geiste die Willensregung
hervor, deren Ausführung die Bewegung darstellt. Die
messbare Kraft des Tones ist eine Folge der grösseren
oder geringeren Muskelanstrengung, die dabei waltet. Soll
leidenschaftliches Empfinden durch den Ton zur Darstellung
gebracht werden, so kann dies nur dadurch geschehen,
dass man mit voller Absicht in der Aufeinanderfolge der
Töne eine Steigerung oder eine Abnahme eintreten lässt.
Ebenso kommt es nur dann in rechter Weise zu einem
plastischen Rhythmus, wenn man mit voller Absicht —
oder auch unbewusst bei immer wiederholten und dadurch
automatisch gewordenen Bewegungen — die Anfangs- und
Endzeiten der Bewegung festhält, in der Ruhe das Gleich-
gewicht vollkommen zu wahren weiss, überhaupt jederzeit
sich völlig klar ist über das Mass der anzuwendenden
Kraft. Alles das wird man nur dann fehlerfrei erreichen,
wenn man imstande ist, sich von der auszuführenden Be-
wegung eine doppelte, sozusagen stereoskopische Vorstellung
zu machen.
Muss der Bewegungsrhythmus der Musik entbehren,
so fehlt ihm das allererste Lebenselement.
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Vielleicht kannten die Griechen diese innige Verbin-
dung der beiden Rhythmen, des musikalischen und des
plastischen Rhythmus. Aber bei ihnen wurde die Musik
nicht durch den Rhythmus der Bewegung vervollständigt,
sondern umgekehrt, der plastische Rhythmus wurde durch
den musikalischen Rhythmus ergänzt. — Das müssen wir
festhalten, wenn wir folgenden Satz Lucian’s begreifen
wollen: „Welch’ Schauspiel (im Sinne von: Augenweide)
— zeigt eine entzückendere Vereinigung als das, welches
alle Fähigkeiten der Seele erregt, den Körper singen lässt
und die Töne sich bewegen, das die hellen Töne der Flöten
und Querpfeifen in Einklang bringt mit den Umdrehungen
und Stellungen harmonisch bewegter Körper, mit einem
Worte Augen, Ohren und Geist zugleich entzückt“.
Aber das Ideal der Griechen ist nicht mehr völlig
gleich dem unsrigen. Die Entwickelung der Menschheit
hat keinen Stillstand erlitten. Die Vorrechte der Aristo-
kratie sind verschwunden — eine Folge langer sozialer
Kämpfe — , die Schillersche Prophezeiung: „Alle Menschen
werden Brüder“ verwirklicht sich jeden Tag mehr und
besser, alle sozialen Bestrebungen sind heutzutage darauf
gerichtet, die Bildung den breitesten Massen zugänglich zu
machen, das Verständnis aller Volksschichten zu heben,
Ungleichheiten und Vorrechte, soweit es irgend möglich
ist, zu tilgen. Kurz unsere ganze Art zu denken und zu
empfinden ist eine andere geworden seit der Zeit der alten
Griechen.
Unter allen Künsten ist es heute die Musik, für welche
die grosse Menge am leichtesten Verständnis zeigt, und
doch ist es nun gerade diese, die neuerdings am vollstän-
digsten in eine Art von Verfall und Zerfall gerät, so dass
ihre verschiedenen Elemente sich auf das Eine beschränken,
ich möchte sagen, zusammenschrumpfen auf Harmonie und
Polyphonie. Diese werden jeden Tag mehr entwickelt und
verwickelt, verfeinert und verkünstelt, zum Genuss für nur
einige wenige Eingeweihte, die ungewohnte Empfindungen
suchen und nach noch nicht dagewesenen geistigen Ge-
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nüssen streben. Die allgemein menschliche Seite der Musik
scheint allmählich verschwinden zu sollen. Unsere mo-
dernen Musiker haben schon lange das fruchtbare, er-
nährende feste Land verlassen, um sich auf dem uferlosen
Meere des Byzantinismus einzuschiffen. Raffinement und
Effekthascherei sind in der Welt der Töne nicht mehr Mittel
zum Zweck, sondern Selbstzweck geworden. Die Kunst
in der Musik besteht in der Auflösung von Gleichungen.
Wie der Mathematiker mit seinen X-en jongliert, um als
Ergebnis eine Abstraktion zu erhalten, gerade so jongliert
der Musiker mit den Tönen, um als Ergebnis die Auflösung
der Disharmonien zu erhalten.
In der Gegenwart ist der Musiker autoritär und dog-
matisierend. Er urteilt nicht mehr nach gesundem Menschen-
verstand oder nach der Begeisterung des Mannes, der da
weiss, was es bedeutet, gegen technische Schwierigkeiten
zu kämpfen, er urteilt nach eingebildeten, nicht nach
erlebten Empfindungen. Um die Schwäche seines eigenen
Körpers zu verbergen, will er nichts wissen von der Auf-
gabe lebendiger Muskeln beim musikalischen Vortrag, er
glaubt allein an die Empfindung in der Musik. Bei manchen
Stücken scheint der Komponist die Absicht gehabt zu
haben, bei den Männern Zahnschmerzen und bei den Frauen
Nervenerschütterungen hervorzurufen. Nicht natürliche
Mittel und Eindrücke wirken auf die Seelen; Künstler und
Publikum nehmen nicht mehr an dem musikalischen Ge-
nüsse teil, sie erleiden ihn. Die musikalischen Rhythmen
rufen keine körperlichen Empfindungen mehr hervor, nur
in einer Zelle des Gehirns finden sie ein Echo-
Peter Schlemihl weinte über den Verlust seines Schattens.
Wir hören nichts davon, dass dieser Schatten auch den
Verlust seines Körpers beklagt und beweint habe. Der
Rhythmus ist der Körper der Musik; wir verlassen und
verachten den Körper — und die gegenwärtige Musik be-
weint wie ein schwermütiger Schatten das verschwundene
Leben. Sie kennen gewiss alle jene Materialisten, die
durchaus nicht unglücklich darüber sind, kein Ideal zu
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haben, Sie kennen auch Leute, die sich Idealisten nennen,
weil sie die Materie nicht zu beleben verstehen, denen es
nicht gelingt, sie mit ihrem eigenen Leben zu durchdringen.
Die Musiker, die in der Musik nur einen rein geistigen,
durch die Gehirnnerven vermittelten Genuss suchen, sind
diejenigen, deren Körper, ein ungenügendes Werkzeug,,
unter dem Ansturm der Rhythmen sich nicht in Schwingungen
zu versetzen und Bewegungsempfindungen dem Gehirn nicht
zu übermitteln vermag. Einem Fakir vergleichbar, der
seine Stellung unbeweglich beibehält, so dass seine Glieder
steif werden und sein ganzes Muskelsystem gelähmt wird,
der schliesslich allen Kontakt mit der lebendigen Welt ver-
liert, so lässt der moderne Musiker die Musik wohl in sein
Ohr eindringen, aber er empfindet sie nicht in seinem
ganzen Körper, er erzittert nicht unter ihrer Wucht, er
empfindet von ihr nur ein schwaches Abbild. Ach wie
viele, die einen Versuch mit unserer Methode machen, be-
merken zu ihrem Ärger, mit stiller Wut, mit zitternder
Ungeduld und wilder Verzweiflung, dass ihre Glieder die
Bewegungen nicht auszuführen imstande sind, die sie von
ihnen verlangen möchten, dass ihr Wille ebenso unfähig
ist, den Nerven rasch Befehle zu erteilen, wie diese selbst,
Empfindungen hervorzurufen.
Alle diejenigen, welche unsere Methode leugnen, oder
— was auf dasselbe hinauskommt — sie in Frage stellen,
haben überhaupt noch nie einen Versuch mit derselben ge-
macht. Die Angst, die die Anfänger empfinden, wenn sie
die Bewegungen nicht nach ihrem Wunsch herausbringen,
ist eine heilsame Angst, eine Gutes versprechende Angst.
Es ist das Erwachen einer neuen Erkenntnis. Wer von
Geburt an eines seiner Gliedmassen entbehrt hat, der emp-
findet es nicht als Verlust, dass ihm die Bewegungen dieses
Gliedes fehlen. Die jetztlebenden Musiker, die an sich
selbst nie einen Versuch mit dem Rhythmus gemacht haben,
empfinden die Notwendigkeit nicht, denselben in ihrem
Körper fühlbar werden zu lassen. Die Muschel, die am
Felsen festgewachsen ist, beklagt sich nicht darüber, dass
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sie sich nicht fortbewegen kann. Der in der Gefangen-
schaft geborene Vogel vergisst, dass er fliegen kann und
empfindet keinen Schmerz darüber, dass er nichts weiss
von den fröhlichen Fahrten in freier Luft. Wohl gibt es
auch Gefangene, die äus körperlicher und geistiger Träg-
heit sich wohl fühlen in ihrem Gefängnis und es nicht
lassen mögen, gewiss, es gibt unter den Musikern eine
grosse Zahl solcher, von Natur in Fesseln Geschlagener!
Aber, dessen sind wir gewiss, die Mehrzahl derer, die es
unternehmen, sich mit der rhythmischen Gymnastik be-
kannt zu machen, haben das Gefühl, dass ihnen durch sie
die Freiheit gebracht wird.
Sie alle, meine verehrten Zuhörer, kommt Ihnen nicht
auf Grund der schon jetzt bemerkbaren Fortschritte, die
manche von Ihnen bei unseren gemeinsamen Übungen ge-
macht haben, kommt Ihnen nicht die Erkenntnis, dass Sie
in sich eine Kraft besassen, die Sie bis auf den heutigen
Tag nicht nutzbar gemacht hatten; dass Ihre Empfindungen
bisher unvollständig waren; dass Sie sich mit Wenigem
begnügt haben, weil Sie mehr zu verlangen und sich an-
zueignen nicht gewünscht und gewusst haben; dass an dem
Tage, an dem Sie Ihrem Körper das volle Mass seiner
Tätigkeit werden wiedergegeben haben, dieser Körper bei
den musikalischen Eindrücken erst völlig mitschwingen
wird, nicht mehr nur zur Hälfte; dass diese Eindrücke Ihre
Nerven stärker erschüttern werden, dass die Musik nicht
mehr nach der Art eines mit Gewalt sich aufzwingenden
Eroberers von Ihnen Besitz nehmen wird; dass Ihr Körper,
wenn sie Einzug in ihm hält, mit Freuden bereit ist, sich
von ihr umfangen und umklammern zu lassen, ja dass die
Musik sich mit Ihnen selbst identifizieren wird?
Wir sind alle vielfach geistig tätig. Das Organ dieser
Tätigkeit bleibt sich nicht alle Zeit selbst gleich. Es er-
starkt durch die Tätigkeit selbst. Unsere Gehirntätigkeit
ist niemals abgeschlossen. Es gibt keinen Greis, und wäre
er noch so alt, der nicht, solange ihm noch das Leben
bleibt, etwas Neues lernen könnte. Niemals ist es zu spät,
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zu lernen. Wer das Organ, das den Mechanismus seiner
Bewegungen beherrscht, weiter entwickelt, vollkommener
macht, der vervollkommnet sein ganzes geistiges Leben,
der erhebt es auf eine höhere Stufe. Bis heute haben Sie
nur Ihr Gehör entwickelt. Jedes Organ aber, das sich ent-
wickelt, verfeinert, spezialisiert sich, ja seine Entwickelung
beschränkt es auf diese verfeinerte, spezialisierte Tätigkeit.
Unser ganzer Körper kann zu dem Apparate werden, der
den musikalischen Rhythmus in sich aufnimmt und bei sich
aufzeichnet. Warum verlangen wir von unserem Gehör-
apparate nur die Aufnahme und Aufzeichnung von Tönen
und nicht von Bewegungen?
Wir können im Geiste, ohne hörbar zu werden, in
Worten denken und singen, das ist bekannt. Ebenso können
wir im Geiste Noten lesen und Töne hören, die nicht laut
werden. Was heisst denn zuhören? Doch nur im eigenen
Bewusstsein das Gehörte erfassen, für sich wiederholen.
Zwei verschiedene Nervenzentren existieren in unserem Ge-
hirn, das eine vernimmt die Töne, das andere regelt ihre
Hervorbringung. Diese beiden Zentren lassen sich nicht
von einander trennen. Die wunderbare Vereinigung und
Verschmelzung ist ein Resultat der Erziehung. Begreifen
Sie jetzt, dass die von uns gepriesene Erziehung die geistige
Tätigkeit erhöhen muss und dass unsere Nerven unser „Ich“
über alle Erschütterungen jenes wunderbaren Organs, das
wir unsern Körper nennen, auf dem Laufenden erhalten
werden, nicht mehr ihm nur einige derselben mitteilen. Es
handelt sich hier um ein unbestreitbares und unbestrittenes
physiologisches Phänomen. — Die Verbindung zwischen
der Verwirklichung durch die Muskeln und der Empfindung
des Geistes wird schliesslich eine absolute werden. Und
ebenso wie in uns ein Organ existiert, das die Töne auf-
zeichnet und nachahmend wiederholt, ebenso wird es auch
ein Organ geben, das die Bewegungen aufzeichnet und
nachahmend wiederholt, das heisst das den Rhythmus auf-
nimmt und ausführt. An jenem Tage wird die Musik voll-
ständiger und um neue Elemente reicher geworden sein.
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Dann werden auch die Pausen, von denen man gegen-
wärtig in der Musik nur gelegentlich Gebrauch macht, eine
Rolle spielen, nämlich die, in der Phantasie die Stelle von
Bewegungen zu vertreten. Sie werden nur ein Anhalten
darstellen, das zum Zweck hat, die rhythmische Bewegung
zu unterbrechen ohne Gefahr zu laufen, wie jetzt in der
Musik, das absolute Konkrete oder auch Abstrakte auszu-
drücken. Sie werden einen Augenblick innerlicher Kon-
zentration zum Ausdruck bringen durch das Gleichgewicht
im Gebrauch der verschiedenen Bewegungsnerven; und die
Instrumentalmusik, die ihrer Natur nach Empfindungen er-
weckt, wird auf diese Weise dazu gelangen, den Zustand
der Seele in der Konzentration wiederzugeben. Die musi-
kalische Pause wird Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft
zugleich enthalten, aber in verschiedenem Verhältnis, auch
in einem anderen Sinne als die Malerei oder das Augen-
blicksbild der Photographie etwa; denn diese können und
wollen die Vorstellung einer Bewegung erwecken, die in
ihren Werken in Wirklichkeit nicht vorhanden ist. Wenn
dagegen die plastische Bewegung ein wirklicher Faktor der
Musik wird, so wird der durch das plötzliche Anhalten
hervorgerufene Zustand der Konzentration die Erwartung
der Wiederaufnahme der Bewegung zum Ausdruck bringen
und die Vorstellung von etwas Kommendem wird sich fühl-
bar machen. Die Instrumentalmusik kann ebensogut den
Zustand der Konzentration zum Ausdruck bringen, wie
alle Rhythmen des Blicks, der Geste, des Ganges .... und
das plötzliche Schweigen der Musik wird daraus eine Kraft
der Bedeutung schöpfen, die es heuzutage noch nicht besitzt.
So wird es bei der polyphonen und polyrhythmischen
Musik bedeutsame Bewegungspausen geben, die von tönen-
den Rhythmen begleitet sind, und bedeutsame musikalische
Pausen, die von Bewegungsrhythmen begleitet sind.
Wir haben in uns eine innere Stimme, die nie völlig
schweigt, ja, die unsere einsamen Gedanken begleitet. Wir
hören diese innere Stimme nicht nur an, nein, wir richten
unsere ganze Aufmerksamkeit auf dieses wunderbare zweite
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Ich, das uns die von uns erfahrenen Eindrücke wieder er-
zählt. Diese innere Stimme geht hervor aus den Tiefen
der Seele, sie spricht nicht mit äusserlich hörbarem Laut,
es klingt nur so ähnlich, als ob sie spräche. Ihr vergleich-
bar ist der Rhythmus, den die Erziehung unserer Bewe-
gungen unserem Körper geben wird, innerlich, in uns. Wie
wir ihre Laute nur in der Idee empfinden, so werden wir
die Empfindung unserer Muskeln nur in der Idee haben.
Von da an wird es uns für einen musikalischen Genuss
nicht mehr genügen, vielstimmig zusammenklingende musi-
kalische Perioden anzuhören, die enge Verbindung von
Rhythmus und Tongemälde wird zur Wahrheit werden
müssen, auf dass unser ganzer Körper künstlerisch davon
ergriffen werde. Erst dann werden alle unsere Kräfte
und Fähigkeiten ihr Gleichgewicht gefunden haben, die be-
sonderen geistigen Anlagen werden die übrigen nicht mehr
ersticken, der alte Zustand wird vorbei sein mit seiner
Unordnung, seiner Kraft und Zusammenhangiosigkeit.
Alle Kräfte müssen gleicherweise dem vollen Leben
dienen. Wenn einzelne Menschenkinder in bezug auf ge-
wisse Anlagen von der Natur stiefmütterlich behandelt
worden sind, so müssen diese darnach streben, ihre ge-
ringeren Anlagen durch eigene Anstrengung auf gleiche
Höhe mit denen der übrigen zu bringen, um allseitig ent-
wickelte Menschen, wie sie sein sollen, zu werden.
Nun besteht aber kein Zweifel darüber, dass, wenn
der Körper erst einmal in rhythmische Harmonie gebracht
worden ist, diese Harmonisierung ihrerseits das rechte
Gleichgewicht zwischen Ton und Rhythmus in den musi-
kalischen Werken der Zukunft hervorrufen wird. Nicht in
einigen wenigen Jahren wird die Erziehung des schöpfe-
rischen Komponisten, des Vortragenden Spielers und des
aufnehmenden Zuhörers fertig und vollendet werden können.
Erst nachdem 2 oder 3 Menschengeschlechter vorüber-
gegangen sind, wird ein anders geartetes Seelenleben neu-
artige Werke schaffen können, die in ihren Perioden dem
Muster entsprechen, das unsere Empfindungen und die Er-
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innerung an dieselben geben wird ; die nach demselben ihre
plastischen Umrisse empfangen haben, und deren eigent-
liches Wesen besteht in der Belebung und Verkörperung
dieser Empfindungen. Heutzutage ist die Musik nur der
Duft der Blume, in 50 Jahren werden wir, wenn wir ihren
Wohlgeruch einatmen, zugleich die zarten Formen der
duftenden Blume betrachten und bewundern.
In uns selbst wird die Musik ihren Wohnsitz haben,
es wird kein Unterschied mehr sein zwischen ihrer Eigenart
und der unseren, Aufbau und Inhalt werden bei uns und
bei ihr in der innigsten Verwandtschaft stehen. Unser
Körper, als Maschine gedacht, wird ihrem ästhetischen
Gefüge entsprechen, zwischen unseren organischen Be-
wegungen und den vielfältig bewegten Formen der Töne
wird es im höchsten Sinne ein gegenseitiges Vertreten und
Füreinandereinstehen geben. „Luftschlösser , Phantaste-
reien r wird der musikalisch nicht gebildete Laie ausrufen.
Er hat all das nicht, wie wir es getan, an sich selbst er-
fahren. „Luftschlösser, Träumereien, Einbildung!! “
Was wird aber unsere Antwort sein? Dass wir nicht
übertreiben, sondern die Wahrheit sagen. Wir kritisieren
nicht, wir schaffen, unsere Produktion ist kein Stöhnen und
Jammern, unser Denken ist kein Träumen. Zwei verschie-
dene Wesen leben in jedem von uns; das eine ist seiner
selbst nicht bewusst, es folgt seinen Trieben und offenbart
in ihnen seine Eigenart, das andere hat Bewusstsein und
Denken und offenbart sich durch das bewusste Denken
und Vorstellen. In dem unbewussten Wesen entsteht durch
Pflege und Erziehung das instinktive Bewusstsein. Die
Schönheit kann uns nur durch die geistige Entwickelung
des bewussten Seins offenbar werden. Zweck der Erzie-
hung ist es, zwischen dem Unbewussten und dem Bewussten
eine wirkliche Harmonie und Übereinstimmung zu schaffen,
die aus den beiden ein einziges Wesen macht. Das un-
bewusste Sein ist die Quelle, aus der das Triebleben fliesst.
Es muss erzogen, geordnet, geregelt werden durch das
bewusste Sein. Durch allerlei Eindrücke und physische
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Mittel werden wir unsere Triebe reinigen und bessern und
unsere Seele veredeln. Derartige Veredlung und Verbesse-
rung vererbt sich weiter fort, genau wie unsere ganze
Kultur. Darum hat auch alle Erziehung zum Rhythmus
und durch den Rhythmus nur den Zweck, unsere Nerven-
zentren blumengleich zur harmonischen Entfaltung, zum
herrlichen Erblühen zu bringen; dann werden unsere Kinder
wiederum ihren Nachkommen höhere, veredelte Triebe
überliefern.
Das rechte Gefühl für die Musik wird ebensowohl
durch die Töne und Harmonie, wie durch Bewegungen
und Rhythmus hervorgerufen werden, und von diesem Ge-
fühl als Grundlage ausgehend, wird man erst zum rechten
Verständnis für die innigen Beziehungen zwischen den
Tönen und den Bewegungen gelangen. Die vielfach ver-
schlungenen Linien der Polyphonie werden sich wieder
finden in der Vielheit und Selbständigkeit gleichzeitiger
Bewegungen. Bewusste Bewegungen unseres Körpers
werden ihre Veranlassung finden in den Tönen, anderer-
seits wird die im Gedächtnis aufgespeicherte und fortlebende
Erinnerung an die Bewegungen unsere geistige Kraft in
den Stand setzen, aus dem Schatze ihrer klaren und
deutlichen Bewegungsbilder, die ursprünglich von ihr ge-
schaffenen Tonbilder wieder zu konstruieren. Unser be-
wusstes Verständnis wird die von dem Komponisten uns
übermittelten Empfindungen verstärken und umbilden. Der
Adel und die Reinheit unserer unbewussten Sittlichkeit
wird dann die gleichen hohen Eigenschaften für die von
uns aufgenommenen Empfindungen sicher stellen. Unser
ganzes Leben wird ein Kunstwerk sein, einfach bei aller
Mannigfaltigkeit. Der Zweck unseres Lebens kann nicht
nur sein, Kunstwerke hervorzubringen, sondern auch, sie
in allen Einzelheiten und Beziehungen uns eigen zu machen,
kurz das Leben selbst zu einem Kunstwerk zu erheben.
Leben heisst nicht bloss existieren, wie ein Stein und ein
Stock, leben heisst alle uns von der Aussenwelt über-
mittelten Empfindungen zu Vorstellungen und Handlungen,
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zu Begriffen und Gesetzen umbilden und erheben. Es gilt
nicht, den ruhigen Pol darzustellen in der Erscheinungen
Flucht, nein, es gilt mitzuschwingen, es gilt teilzunehmen
mit eigenem Nerv und eigenem Sinn an dem Wellenschlag
des Alls. Dann wird der Ton die Erfüllung des Rhythmus
werden und der Rhythmus die Erfüllung des Tons. Aber
um zu begreifen, müssen wir Menschen auseinanderlegen,
was zusammengehört, darum auch den Rhythmus zunächst
für sich allein ins Auge fassen, diesen Rhythmus, den
unser Körper gewinnen wird, wenn unsere Muskeln die
Empfindung der Bewegung in Zeit und Raum unserem
innersten Sein zum Bewusstsein bringen. Dann werden
die Töne nicht nur unser Trommelfell mitschwingen lassen,
alle Nerven und Fäden in unserem ganzen Körper werden
von ihnen erklingen und ergriffen werden. Alle musika-
lischen Tonschwingungen, die unser Ohr treffen, werden
bereichert und erweitert werden durch Schwingungen
unserer Nervenzentren und werden mit ihnen neue Har-
monien bilden. Sie werden gegenseitig einander jagen,
treiben, vertiefen gleich den Wellen, die die leichte Brise
auf dem Spiegel des Wassers entstehen lässt. Dann wird
uns die Musik in ihrer ganzen Schöne wieder zu eigen
gegeben werden. Musik zu hören wird unsere Nerven
weder ermüden, noch in Aufregung, Angst und Zittern
versetzen, sie wird in uns selbst erklingen wie eine Freuden-
hymne, wie der zum Kunstwerk erhobene Wiederhall
unseres eigenen Lebens. Ja, es bleibt dabei:
Leben ist die Musik im lebendigen und belebenden
Rhythmus!
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Bibliographie.
Dr. F ■ Lagrange. Physiologie des Exercices du corps.
Felix Alkan, öditeur, Paris.
Bernard Perez. L’education intellectuelle des le berceau.
Felix Alkan, bditeur, Paris.
Th. Ribot. Psychologie de l’attention.
Felix Alkan, tfditeur, Paris.
Frederic Queyrat. Ees jeux des enfants.
L'imagination chez l’enfant.
Felix Alkan, dditeur, Paris.
A. Mosso. Les Exercices physiques et le developpement intellectuel.
Felix Alkan, editeur, Paris.
Alexandre Bain. Les sens et l’intelligence.
Librairie Germer Bailliere, Paris.
Ch. Fere. Sensation et mouvement.
Felix Alkan, editeur, Paris.
P. Sourian. L’esthetique du mouvement.
Felix Alkan, öditeur, Paris.
Georges Hirth. Physiologie de l’art.
Felix Alkan, öditeur, Paris.
Georges Delbrück. Au pays de l’Harmonie.
Perrin, Paris.
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Der deutschen Bearbeitung lag die Übersetzung von Dr. Bitze/,
Direktor der Berlitz-School, Genf, zu Grunde.
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V
CHAS. H. MILLS MUSIC LIBRARY
UNIVERSITY OF WISCONSIN
728 STATE STREET
MADISON, Wl 53706
I
DCMCO
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