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Full text of "Der Rhythmus als Erziehungsmittel für das Leben und die Kunst : sechs Vorträge"

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DER RHYTHMUS 

als Erziehungsmittel für 
das Leben und die Kunst 


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Sechs Vorträge 

von 

E. JHQUES-DHLCROZE 

zur Begründung seiner Methode der rhythmischen Gymnastik 



Deutsch herausgegeben von 
PHUL BOEPPLE 






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Verlag von Helbtng & Licbtenbabn 

1907 






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DER RHYTHMUS 

als Erziehungsmittel für 
das Leben und die Kunst 


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Sechs Vorträge 


^ von 

E. JHQUES'DHLCROZE 

Begründung seiner Methode der rhythmischen Gymnastik 



Deutsch herausgegeben von 
PAUL BOEPPLE 


BASEL 

Verlag von Helbing & Licbtenbabn 
1907 


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Buchdruckerei Emil Birkhäuser, Basel. 


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A 93 


Vorwort des Herausgebers. 


Die sechs Vorträge von Jaques-Dalcroze über seine 
Methode der musikalischen Erziehung für und durch den 
Rhythmus wurden an dem von über 100 Damen und Herren 
besuchten Einführungskurs, 1. — 15. August 1907 in Genf 
gehalten. Der allgemeine Wunsch der Kursteilnehmer, 
die zahllosen Anfragen über die Methode, die zu beant- 
worten dem Autor kaum mehr möglich ist, namentlich 
aber auch die Hoffnung, der auf Beobachtung der Natur 
und der instinktiven und natürlichen Fähigkeiten des Men- 
schen begründeten Rhythmus-Gymnastik neue Freunde zu- 
zuführen, bewog den Unterzeichneten zur Überarbeitung 
und Drucklegung dieser Vorträge. 

Um den geehrten Leser im Voraus über das Wesen 
der rhythmischen Gymnastik zu orientieren, seien folgende 
allgemeine Grundsätze vorangestellt : 

1. Jeder Rhythmus ist Bewegung. 

2. Jede Bewegung ist materiell. 

3. Jede Bewegung braucht Raum und Zeit. 

4. Raum und Zeit sind durch die Materie verbunden, 
welche sie in ewigem Rhythmus durchzieht. 

5. Die Bewegungen der ganz kleinen Kinder sind rein phy- 
sisch und unbewusst. 


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IV 


6. Die körperliche Erfahrung bildet das Bewusstsein. 

7. Die Vervollkommnung der physischen Mittel erzeugt 
die Klarheit der intellektuellen Wahrnehmung. 

8. Ordnung in die Bewegungen bringen, heisst, den Geist 
zum Rhythmus erziehen. 

Die Methode Jaques-Dalcroze zieht aus diesen Ele- 
mentargrundsätzen die Folgerungen: 

I. Durch Ordnung und Vervollkommnung der Körper- 
bewegungen wird der Geist für Rhythmus erzogen. 

II. Die Kraft und Geschmeidigkeit der Muskeln zu ver- 
vollkommnen, indem man die Proportionen der Zeit 
regelt, heisst, den Sinn für den musikalischen Rhyth- 
mus und das Gefühl für die musikalische Symmetrie 
entwickeln. Durch Ausbildung der Muskeln des Atem- 
apparates insbesondere wird den Stimmbändern un- 
beschränkte Freiheit, den beherrschten Stärkegraden 
Wohllaut vermittelt, d h. dem Sinn für Phrasierung 
wird eine geschmeidige und intelligent wirkende, 
mechanische Kraft zur Verfügung gestellt. 

III. Die Kraft und Geschmeidigkeit der Muskeln inbezug 
auf die Proportionen des Raumes ausbilden, heisst, 
den Sinn für plastischen Rhythmus entwickeln. 

Die rhythmische Gymnastik ist also das Mittel, mit 
Hilfe besonderer Übungen die von Natur vorhandenen 
Rhythmen des Körpers auszubilden, zu regeln und zum 
Gegenstand der allgemeinen Erziehung zu machen. Sie 
ist ferner die Anpassung der rhythmischen Fähigkeiten 
unseres Körpers an die Musik. Sie stellt eine neue Ord- 
nung her in den rhythmischen Empfindungen unseres Ge- 
hirns und bringt unsern Muskeln eine grosse Zahl auto- 
matischer, in den Rhythmus einbezogener Bewegungen. 


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V 


Für die vorliegende deutsche Ausgabe der Jaques’schen 
Vorträge muss ich um einige Nachsicht bitten, da es nicht 
möglich war, das französische Original im ganzen Umfang 
zur Verfügung zu erhalten und ich mich zum Teil auf die 
Übersetzungen durch der Methode fernerstehende Personen 
verlassen musste. (So hat sich z. B. im 3. Vortrag eine 
Verwechslung des Namens „Javaner“ mit „Japaner“ ein- 
geschlichen ) 

Basel, August 1907. 

Paul Boepple. 


Die Methode der rhythmischen Gymnastik von Jaques-Dalcroze 
erscheint in 2 Bänden mit 10 anatomischen Tafeln von Ed. Cacheux, 
80 Zeichnungen von Artus, 120 Photographien von Boissonas und 
160 rhythmischen Märschen bei Sandoz, Jobin & Cie , Cditeurs. Neu- 
chätel, Paris und Leipzig. 


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1. Vortrag. 

Eine Dame, welche vom zartesten Alter an gym- 
nastische Übungen betrieben hatte und in bezug auf Kraft 
und Gewandtheit alle ihre Klassengenossinnen übertraf, 
wollte während langsamer Fahrt von der Strassenbahn 
abspringen. Sie verlor das Gleichgewicht und kam ziem- 
lich unsanft zu Falle. Dieses Missgeschick war gewiss 
nicht einem Zufalle, sondern der Unkenntnis der elemen- 
tarsten Bewegungs- und Gleichgewichtsgesetze zuzuschrei- 
ben. Worin besteht aber der praktische Nutzen der Gym- 
nastik, wenn eine geprüfte Lehrerin der Turnkunst nicht 
einmal im stände ist. von einem langsam fahrenden Wagen 
abzusteigen. 

Eine andere Dame besitzt das Diplom für Klavier- 
unterricht und spielt mit grosser Sicherheit die schwie- 
rigsten Stellen aus den Werken der Klavierlitteratur. Bei 
einem Balle wurde aber bemerkt, dass sie den Walzer im 
Zweivierteltakt, die Polka im Dreivierteltakte tanzte und 
dass ihr Fuss immer zu spät betonte. Dieser Mangel an 
Taktgefühl bei einer Dame, welche jahrelangen Instru- 
mentalunterricht genossen, berechtigt wohl auch zu der 
Frage, ob das Klavierstudium einen Sinn habe, wenn dabei 
die Hauptbestandteile der Musik: Takt und Rhythmus, ver- 
nachlässigt werden. 

Es gibt Musiklehrer, die sich bei ihrem Unterricht 
bloss um die physische Entwickelung der Hände ihrer 
Schüler kümmern. Sie verrenken und verzerren dieselben 
auf tausenderlei Weise, um sie gefügig und kräftig zu 


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machen ; ist dies erreicht, so fahren sie fort, zu verrenken 
und zu verzerren, denn sie wissen nicht, was sie sonst mit 
diesen gehorsamen Werkzeugen anfangen sollten. Klavier- 
unterricht ist für den ernsthaften Lehrer gleichbedeutend 
mit Musikunterricht. Er begnügt sich nicht damit, die Finger 
sich im Takte bewegen zu lehren. Ja, wenn für die Kinder 
zwei untrennbare und einander parallel laufende Lehrfächer, 
die Musik und das Instrumentalspiel, existierten! Die Um- 
stände zwingen den Musiklehrer, zugleich die Kunst und 
ihre technische Ausführung zu lehren, wie ja auch der 
Zeichenlehrer die Kunst der Linie und die Handhabung 
des Stiftes und Pinsels nicht trennen kann. Was würde 
man von einem Zeichenlehrer halten, dessen Unterricht 
bloss darin bestände, den Bleistift mit verschiedener An- 
wendung von Kraft zu führen, während bei den Zeich- 
nungen seiner Schüler z. B. keine einzige Regel der Per- 
spektive in Betracht gezogen würde? Und doch gibt es 
viele Klavier- und Violinlehrer, welche die Tonkunst gänz- 
lich vernachlässigen und bloss auf das Technische hin- 
arbeiten. Sie beurteilen ihre Schüler nicht nach der musi- 
kalischen Begabung, sondern nach der Art und Weise, wie 
sie ihre Finger bewegen ! Das Publikum ist an eine solche 
Wertung gewöhnt und gibt zu, dass ein Kind, das eine 
ungeschickte Hand beim Klavierspielen zeigt, nie ein guter 
Musiker würde, mag es noch so sehr mit Gefühl für Rhyth- 
mus und mit gutem Gehör begabt sein. Wem dagegen 
Mutter Natur gelenkige Finger verliehen, der sei den 
höchsten Zielen geweiht, auch wenn er kein Gehör und 
kein Rhythmusgefühl besitzt. Es werden ausschliesslich 
die physischen Fähigkeiten berücksichtigt bei der Deutung 
einer in erster Linie psychischen Kunst. Ist der Irrtum 
nicht ganz offenbar? 

Bei alledem muss man zugeben, dass diese Methode 
in den Fällen, wo die Schüler von Natur begabt sind, un- 
bestreitbar ausgezeichnete Ergebnisse erzielt. Alle guten 
Musiker sind beinahe ohne Ausnahme auf diese empirische 
Weise herangebildet worden! Ist damit etwa bewiesen, 


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dass diese Methode nicht so schlecht sei, wie wir zu be- 
haupten wagen? Durchaus nicht. Diese Tatsache beweist 
höchstens, dass sie gewisse natürliche Entwicklungsele- 
mente in sich birgt, die bisher scheinbar zur Vervollkomm- 
nung begabter Individuen genügten. Jeder musikalische 
Unterricht, sei er gut oder schlecht, sei er künstlerisch 
oder oberflächlich, bietet dem Schüler das Studium von 
Kunstwerken. Diese Werke der Meister der Tonkunst 
haben den begabten Schüler musikalisch entwickelt, auch 
bei einem einseitigen Lehrer, der ihm nur das mechanische 
Lesen und die gymnastische Seite der Kunst des Instru- 
mentalspieles beibrachte. Die Meisterwerke haben ihm 
Gelegenheit gegeben, durch Lektüre und gegenseitiges 
Vergleichen sich selber zu bilden. Und wenn man zugibt, 
dass es „gottbegnadete“ Musiker gibt, heisst das etwa, 
diese wären nicht noch viel bessere Musiker geworden 
(zum Ruhme Gottes und der Kunst), wenn der Einfluss 
eines echten Künstlers ihre Kindheit erhellt hätte, wie die 
Sonnenstrahlen die Frühlingsknospen bescheinen? Die na- 
türliche Begabung ist gleich dem Saft der Pflanze, aber die 
Erziehung ist die Sonne, das Licht und die Wärme, die 
notwendig sind für die Entfaltung des Lebenskeimes und 
der Schönheit, die in der Frühlingsblume verschlossen 

ist auch die lebensfähigsten Pflanzen können ihrer 

nicht entbehren ! 

Dem minderbegabten Schüler dagegen — oder sagen 
wir dem nichtbegabten — werden das Studium der Schrift- 
zeichen und die Fingerübungen nicht zum Verständnis der 
Werke genügen. Da er einen musikalisch wenig aufmerk- 
samen und wenig entwickelten Geist besitzt, so spielt er 
die Werke, ohne sie zu verstehen. Er sollte so geleitet 
werden, dass ihm die unklaren Stellen klar und die Be- 
standteile der Musik geläufig werden, oder sagen wir: 
man müsste diese Bestandteile trennen und sie durch den 
Schüler nacheinander studieren lassen, zuerst den Rhythmus, 
dann den Klang und zuletzt das Instrument, d. h. : 


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1. Die Körperbewegung, 

2. Das Gehör und die Stimme, 

3. Die Körperbewegungen in Beziehung zu den Be- 
wegungen des Instrumentes und das Gehör in Be- 
ziehung zur Stimme des Instrumentes. 

Nur so kann man in minderbegabten Schülern Liebe 
zur Musik erwecken. 

Auch die begabten Schüler werden bei solcher Art 
des Unterrichts viel Freude empfinden, da sie alles, was 
die von Natur aus geliebte Kunst anbelangt, lebhaft inter- 
essiert, vorausgesetzt, dass der Unterricht ihrem jugend- 
lichen Alter angepasst sei. Man wird z. B. einem begabten 
Kinde nicht vordozieren: „Die Musik besteht aus Rhythmus 
und Klang“ u. s. w. Die Analyse seiner Herzenskunst 
würde auf das begabte Kind den Eindruck der Vivisektion 
machen. Und dennoch muss man den Rhythmus vom Tone 
getrennt studieren lassen, aber ohne dass das Kind die vom 
Pädagogen beabsichtigte Zerlegung der Kunst inne wird. 
Das Kind begeistert sich für den Rhythmus an sich! Was 
liebt denn eigentlich das musikalische Kind in der Musik? 
Ist es nicht vorzugsweise gerade der Rhythmus, die Be- 
tonung? Nützen wir doch diese natürliche Anlage aus. 
Das gesonderte Studium des Rhythmus kann nicht anders 
als sehr vorteilhaft sein für jeden, den die Natur zur Musik 
bestimmt hat. 

Geben wir zu, dass talentierte Kinder, dank ihrer 
geistigen Begabung (ich sage nicht dank ihrer physischen 
Anlagen!) die Töne gleichzeitig mit dem Rhythmus stu- 
dieren können, so ist doch unanfechtbar, dass das Sonder- 
studium des Rhythmus und des Tones dem Erlernen des 
Instruments vorangehen sollte. Das begabte Kind — ebenso 
wie das minder- und nichtbegabte — muss damit anfangen ( 
selbst und in sich selbst die Gefühle zu empfinden, die von 
der Musik ausgedrückt werden. Man muss ihm daher am 
Anfang des Studiums die einfachsten Empfindungen nahe 
bringen und das Instrument als Hilfsmittel für eine spätere 
Entwicklungsperiode aufbewahren. 


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In ihren Elementen ist die Musik physisch, bestehend 
aus Rhythmus und Ton. Um ein guter Musiker zu sein, 
muss man einerseits ein Gehör haben, das fähig ist, Töne 
zu erkennen und zu vergleichen, sowie ihre Zeitdauer zu 
empfinden und zu vergleichen, und anderseits einen Körper, 
der fähig ist, diese Töne zu reproduzieren und diese Zeit- 
einteilungen vorzunehmen. Das Ohr, die Stimme, der 
Körper stehen in direktem innerem Verhältnis zur Geistes- 
anlage: das Instrument dagegen ersetzt nur die Stimme. 
Würden alle Instrumente durch eine Feuersbrunst zerstört, 
wäre dann die Menschheit aller Musiker beraubt? Das 
Studium eines Instrumentes bietet Gelegenheit, das Gehör 
in gewissem Grade zu üben, da die Finger durch ihre Be- 
rührung mit den Tasten oder den Saiten Klänge erwecken 
und durch ihr mehr oder minder langes Verharren auf 
denselben längere oder kürzere Zeitabschnitte markieren. 
Aber die Finger nehmen nur die Stelle eines Vermittlers 
zwischen dem Geiste und der musikalischen Ausführung 
ein, und es ist darum angezeigt, anstatt Beziehungen 
zwischen dem noch nicht gebildeten Geiste und dem geist- 
losen Instrument herstellen zu wollen, zu allererst die 
rhythmischen und klanglichen Empfindungen auszubilden, 
und zwar mit dem natürlichen Mittel, des von dem jungen 
Geiste bewohnten Körpers. 

Es kann allerdings Vorkommen, dass das Studium 
eines Instrumentes dazu genügt, in einem gewissen Grade 
die musikalischen Anlagen einer begabten Person zu ent* 
wickeln, jedoch wird dieselbe die Empfindung des Rhyth- 
mus nur dann vollständig zu ihrem geistigen Eigentume 
machen, wenn ihr Gelegenheit geboten wird zu dauernden 
Empfindungen, als unabhängige Einheit und nicht als Teil 
einer Kunst, die ihr unteilbar scheint und deren Zerstücke- 
lung ihre empfindsame musikalische Seele nicht ertragen 
kann. 

Wenn der Schüler nicht sehr begabt ist, wird der 
vom Finger hervorgerufene Ton auf sein Gehörorgan und 
auf sein Gehirn einen zu schwachen Eindruck machen. Der 


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vom Finger verursachte Rhythmus wird nicht ein genügend 
andauerndes Echo in den Nervenzentren, den Bewegungs- 
agentien und in dem Gehirne, dem Empfänger und Lenker 
der Zeitempfindungen erwecken. 

Für einen Gesangsschüler, dessen Lungen von Haus 
aus gut entwickelt sind, kann das blosse Üben von Ton- 
leitern und offenen Tönen genügen, um die normale Tätig- 
keit der Atmungsorgane sicherzustellen, während diese 
LJbungen einem anderen Schüler, der einen engen Brust- 
kasten und schwache Lungen besitzt, nicht viel helfen würden- 
Für letzteren wird der Lehrer besondere, kräftigende 
Übungen der Lungen vorschreiben müssen, die den An- 
lagen des Betreffenden angepasst sind. Und ebenso wird der 
Musiklehrer für den gehörlich und rhythmisch minderbegab- 
ten Schüler ein physisches Mittel ausfindig machen müssen, 
das geeigneter ist als die Finger, um seine Gehörfähig- 
keiten und seine Empfindung für Zeitdauer und Akzent 
weiter zu entwickeln. Dieses Mittel bei der Erzeugung von 
Klangschwingungen ist der Kehlkopf, der Entstehungsort 
der Vokallaute. Da dieser sich am Kopfe befindet, steht 
er in engster Beziehung zu den Gehörsorganen, den Or- 
ganen der Auffassung. Bei der Erzeugung und der Em- 
pfindung der Bewegung und des Rhythmus ist dieses Mittel 
der ganze Körper. Von der Stimme und ihren Beziehungen 
zum Ohre soll im zweiten Teile unserer Darlegungen die 
Rede sein. Zunächst wollen wir die Notwendigkeit, den 
Körper des Kindes der Erweckung von Rhythmusempfin- 
dungen dienstbar zu machen, begründen. 

Es darf wohl als allgemein bekannt vorausgesetzt 
werden, dass durch eine systematische und vernünftige Er- 
ziehung geradezu staunenswerte Erfolge erzielt werden 
können. Je früher mit einer solchen Erziehung begonnen 
wird, je lebhafter und schärfer die Empfindung war, desto 
sicherer und länger wird die Erinnerung daran Zurück- 
bleiben. Die frischen und natürlichen Sinne des Kindes 
bieten hiefür das dankbarste Feld. Doch ist besonderer 
Nachdruck darauf zu legen, dass jeder Sinn individuell ent- 


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wickelt werden muss, d. h. nicht einer allein auf Kosten 
der anderen, wodurch der Mensch naturgemäss einseitig 
würde. Der Theekenner wird durch den Geruch die Her- 
kunft desselben mit Leichtigkeit feststellen; der Weinkenner 
ist im stände, auf Grund langer, sachgemässer Übung, 
z. B. verschiedene Burgunderweine genau zu bestimmen. 

Die Vollkommenheit der Bewegung wird bedingt 
durch das Ausschalten der für eine bestimmte Bewegung 
unnötigen und durch die Übung der in Betracht kommen- 
den Muskeln. Der Seiltänzer und Akrobat bedarf einer 
anhaltenden Übung, um die Ausführung gewisser Bewe- 
gungen, welche er vorher nicht kannte, zu erlernen und 
um solche, die er schon kannte, zu vervollkommnen. Der 
Schreibmaschinist hat in dem Moment seine höchste Technik 
erreicht, in welchem er den zu seiner Arbeit nicht nötigen 
Muskeln abgewöhnt hat, in Funktion zu treten. 

Daher ist es ebenso nützlich, die Kinder richtig gehen 
zu lehren und ohne zu zögern und ohne müde zu werden, 
ihre Hände und Arme zu bewegen (man denke an die Hand 
des Neulings im Schreiben, welche schnell ermüdet, weil 
die Muskeln des ganzen Armes sich an der Arbeit betei- 
ligen); ferner beim Reden klar und deutlich auszusprechen, 
beim Essen gut zu kauen und beim Singen gut Atem zu 
schöpfen. 

Es wurde schon erwähnt, dass mit der Erziehung zur 
Vollkommenheit im Empfindungsvermögen schon in der 
Kindheit begonnen werden soll, weil Kinder noch eindrucks- 
fähiger sind; die geeignetste Zeit hiefür dürfte zwischen 
dem 6. und 10. Lebensjahre liegen. Leider nützt man aber 
diese Zeit nicht aus zur Erziehung für Rhythmus. Das 
Kind interessiert sich lebhaft für die durch Bewegung seiner 
Glieder hervorgerufenen Gefühle. Es ahnt, dass durch 
dieselben seine Anlagen ausgebildet werden. Aber leider 
lässt man das wertvolle Alter, wo das Kind nichts mehr 
liebt als Bewegung, unbeachtet. Mit 6 Jahren schickt man 
das Kind in die Schule und da lernt es zuerst still sitzen. 
Mit 8 Jahren setzt man es an das Klavier, wo es ebenfalls 


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zu ruhiger Haltung gezwungen wird ; nur die kleinen 
Fingerchen dürfen sich bewegen. Die Hände haben eine 
grosse Anzahl Muskeln in Bewegung zu setzen und jeder 
Muskel dient dazu, das Gemüt zu bilden. Demnach wären 
also die Hände die geeignetsten Glieder, um zahlreiche 
dauernde Eindrücke im Gehirn hervorzurufen. Jeder Finger 
muss sich rhythmisch bewegen, und so wird die Empfin- 
dung für den Rhythmus durch die Gefühle der rhythmischen 
Bewegungen so vieler Muskeln entwickelt. Dies scheint 
sehr logisch zu sein, und dennoch zeigt uns die Praxis 
häufig Fälle von Arythmie bei jungen Leuten, die seit ihrem 
6. oder 7. Jahre Klavierstunden nehmen Es muss also 
doch eine Lücke in diesen Schlussfolgerungen vorhan- 
den sein. 

Woher kommt es, dass mancher vorgeschrittene 
Klavierschüler kein Adagio von Beethoven spielen kann, 
ohne zu hasten? Wie kommt es, dass ein anderer, dessen 
Sinn für Harmonie und dessen Gehör gut entwickelt sind, 
dennoch nicht weiss, im richtigen Augenblick das Pedal 
anzuwenden, und dass seine rechte Hand die Töne immer 
nach der linken anschlägt? Warum betont ein dritter, der 
beim Singen immer den richtigen Tonakzent angibt, beim 
Klavierspielen falsch, ohne es zu wollen? Ergibt sich 
nicht schon allein aus diesen Beobachtungen die Notwen- 
digkeit der rhythmischen Gymnastik? 

Jeder dem Ohre bemerkbare Rhythmus, jedes Ge- 
räusch, jeder Ton, wird von einer vorausgehenden Be- 
wegung verursacht. Zeigt sich ein Fehler beim Eintritt 
oder bei der Betonung, so kann man diesen nur beseitigen, 
indem man die Bewegung, welche dem Tone oder dem 
Geräusch vorausgeht, korrigiert. Diese Bewegung ist beim 
Klavierspielen die Muskelkraft, welche ein Glied während 
einer gewissen Zeit über einen gewissen Raum führt. Man 
muss also, um jeden besonderen Fehler zu ermitteln, sich 
fragen, ob die Kraft zu gross oder zu gering war in bezug 
auf die Zeitdauer und den Raum, oder ob der Raum zu 
gross oder zu klein in bezug auf die Kraft und die Zeit- 


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dauer, oder endlich ob die Dauer der Bewegung zu gross 
oder zu klein war in bezug auf den Raum und die Kraft? 
Eine kluge Köchin überlegt, wenn ihr die Pfannkuchen 
nicht geraten sind, ob sie zuviel Mehl oder zuviel Milch 
genommen, ehe der Teig in die Pfanne kam, oder ob etwa 
das Feuer zu stark oder zu schwach gewesen sei! 

Der angehende Virtuose übereilt sich nie, wenn er 
Noten gleichen Zeitwertes spielt , deren höchste Ge- 
schwindigkeit er nicht übersteigen könnte; aber wenn er 
ein Beethoven’sches Adagio wiedergeben, d. h. wenn er 
Noten von langer Zeitdauer und verschiedener Länge 
spielen soll, so kommt es häufig vor, dass er eilt, dass er 
ohne sichtlichen Grund zurückhält, dass er zu stark oder 
nicht genug betont, mit einem Worte, dass er es an Stil 
fehlen lässt. 

Dieser Mangel an Stil hat seinen guten Grund ; er ist 
allmählich aus Mangel an Muskelsinn entstanden, aus Mangel 
an Verständnis für die Beziehungen zwischen der Bewegung 
und dem Klange, zwischen Ursache und Wirkung, Ziel und 
Mittel. Da dieser Muskelsinn und das Verständnis für diese 
Beziehungen nicht durch die natürlichen Anlagen der Schüler 
begünstigt und auch nicht durch die Ratschläge des Lehrers 
erweckt worden sind, so hat das Klavier sie auch nicht 
entwickeln können. Die heruntergedrückte Taste bedingt 
nicht eine Fortsetzung der Bewegung. Das Gefühl der 
Fortsetzung könnte vorhanden sein, wenn man eine starke 
Muskelzusammenziehung anwenden müsste, um die Taste 
zu verhindern, wieder in die Höhe zu gehen. Aber das 
ist nicht der Fall. Die Muskelanstrengung, welche not- 
wendig ist, um die Taste niederzuhalten, ist so gering, 
dass sie nicht das Bewusstsein ihrer Dauer erweckt: der 
Finger langweilt sich auf der Taste, und das Ohr langweilt 
sich ebenfalls. Denn der Klang der Note verhallt, nachdem 
man die Taste berührt hat. So kommt es, dass weder die 
Bewegung, die das Mittel darstellt, noch der Ton, welcher 
deren Ergebnis ist, imastnde sind, die Empfindungen für 
die Zeitdauer zu erwecken. Weder das eine noch das 


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andere kann dem Geiste eine Vergleichung der Zeitlängen 
vermitteln. Da man die Dauer einer Muskelanspannung 
ebensowenig wie die Dauer des Klanges, der sie begleiten 
sollte, empfindet, so wird kein Verständnis oder Erkennen 
der Beziehungen zwischen den beiden resultieren. Der 
bewegungs- und tonfrohe Schüler, der die natürlichen und 
künstlerischen Mittel und Beziehungen nicht kennt, lang- 
weilt sich beim Spielen, weil seine Muskeln sich nicht zu- 
sammenziehen und weil sein Ohr nichts hört; er übereilt 
sich, wenn er zu einer Note mit langer Dauer gelangt; er 
überspringt die Pausen, um das Anfangstempo, das mehr 
Kraft erfordert, zu erreichen, damit seine Finger wieder 
etwas zu tun haben und damit er die Töne in möglichst 
schneller Aufeinanderfolge höre. Man könnte ihn mit einem 
Kinde vergleichen, das, allein und ohne Beschäftigung in 
einem Zimmer eingeschlossen, die Zeiger der Uhr weiter 
dreht, um diese schlagen zu hören. Die unabänderliche 
Dauer der Stunden, der ewige Rhythmus des Sonnenauf- 
und Unterganges kümmert es wenig, wenn es nur die Uhr 
schlagen hört. Dem Klavierschüler muss man am Anfang 
seiner Studien das Gefühl für die Dauer der Muskelanspan- 
nung vermitteln. Sodann muss man ihm die Dauer des 
Klanges durch die Dauer von Muskelanstrengungen wieder- 
geben, indem man ihn singen lässt, und ihm klar machen, 
dass die Muskelbewegung den Ton hervorruft. Nachdem 
diese Erfahrung gewonnen, geht man zur Anwendung, zur 
Anpassung der dem Instrumente eigenen Bewegungen über. 
Auf einen so betriebenen Unterricht hin wird kein Mangel 
an Stil bei dem Schüler zu Tage treten. Die Erkenntnis 
der Beziehung zwischen der Mukeianstrengung und und der 
Bildung des Tones ist allgemein gültig und für jedes In- 
strument anwendbar. Da sie auf natürliche Gesetze fusst, 
ist sie unschätzbar und nachhaltig fürs ganze Leben. Einen 
weiteren Beweis für die Richtigkeit dieser Ansicht liefert 
uns jener Schüler, der zwar beim Singen rhythmisch em- 
pfindet, beim Klavierspielen aber viele Betonungsfehler 
macht. In der Tat, die Kenntnis der Beziehungen der 


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Muskeln zu den Tönen genügt nicht; man muss mit allen 
Bewegungen vertraut sein, die dieses oder jenes Instrument 
verlangt. Obwohl der Gesang verschiedene gleichzeitige 
Zusammenziehungen und Erschlaffungen bedingt und so 
Gelegenheit zu vielfachen rein physischen Übungen gibt, 
so bietet er uns doch nicht dieselbe Art von Verbindungen 
sich widersprechender Bewegungen, wie das Klavier. Wenn 
unsere Atmungsorgane nach unserem Willen funktionnieren, 
so sind Zunge und Lippen frei. Man mag eine mehr oder 
minder zarte, elastische, geschmeidige oder gefügige Zunge 
haben, wenn man nur vernünftig und kunstvoll atmet, so 
ist die Zunge von jedwedem hemmenden Einflüsse befreit 
Nicht so bei den beiden Armen, den Händen und den 
zehn Fingern. Jeder Oberarm löst 18 Gelenkbewegungen 
aus. Alle Zusammensetzungen von Bewegungen aufwärts, 
abwärts, nach rechts, nach links werden von Muskelgruppen 
ausgeführt, die nahe bei einander liegen und die übrigens 
mit denselben Gehirnzentren verbunden sind. Die Schwierig- 
keit ist somit gleichzeitig eine geistige und eine physische, 
und kann nur überwunden werden durch Übung der Be- 
wegung und der Bewegungsverbindungen, welche die be- 
sondere Technik des in Frage kommenden Instrumentes 
erheischen. Die Willenstätigkeit, die sich nach dem 4. Finger 
hin bewegt, darf sich nicht auf dem Wege verlaufen, um 
am 3. Finger anzukommen, und die Kraft, die notwendig 
ist, um einen Finger auf der Taste festzuhalten, darf nicht 
auf seinen Nachbar springen, der seinerseits sich zur Seite 
begibt, um in kurzer Zeit eine andere Taste zu berühren. 
Man muss wissen, wie schwer es ist, den rechten Arm 
leicht nach rechts zu bewegen, w'ährend der linke mit aller 
Kraft einen tüchtigen Schlag ausführt, um gründlich zu 
verstehen, wie schwierig es ist, all’ diese entgegengesetzten 
Bewegungen mittels der Finger auf dem Klavier auszu. 
führen. Selbst wenn man absieht von den Schwierigkeiten, 
die von Mangel an Kraft, falscher Haltung oder falschem 
Wüchse (z. B. Schwimmhaut-Hände) u. s. w. herrühren, so 
lässt doch der Gegensatz der verschiedenen Richtungen, 


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der gemischten Figuren, der entgegengesetzten Dynamik, 
der gleichzeitigen Bewegungen, eine vorbereitende Gym- 
nastik als sehr notwendig und wirksam erscheinen, um die 
Fehler einer mangelhaften Betonung zu überwinden, oder, 
wenn möglich, gänzlich zu vermeiden. 

Betrachten wir, bevor wir auf die Ursachen des 
arhythmischen Zustandes im allgemeinen eintreten, einige 
kleine besondere Fälle. Es kommt sehr häufig vor, dass 
der Klavierschüler, welcher eine Melodie mit der rechten 
Hand und eine Begleitung in Akkorden mit der linken 
ausführt, mit der letzteren vorausspielt. Die Erklärung 
dieses Fehlers ist sehr einfach. Eine Melodie besteht ge- 
wöhnlich aus Intervallen, die nahe genug aneinander sind, 
um der Hand grosse Sprünge zu ersparen. Der Finger, 
der eine der Noten der Melodie spielen soll, wird gehoben 
und hat nur eine geradlinige, herabfallende Bewegung aus- 
zuführen. Die linke Hand, die soeben einen Akkord in 
der Mitte der Klaviatur angeschlagen hat, muss einen 
grossen Sprung machen, um die Bassnote des folgenden 
Akkordes anzuschlagen. Sie hat also drei Bewegungen 
auszuführen: sich heben, nach links gleiten und herabfallen. 
Es bestehen also Unterschiede zwischen den Bewegungen 
jeder Hand, nämlich die der Kontrastlinien und der Kon- 
trastraumverhältnisse. Der Geist gibt infolgedessen seine 
verschiedenen Befehle, einen nach dem anderen, indem er 
seine Aufmerksamkeit auf die Ausführung der komplizier- 
teren Bewegung der linken Hand lenkt. Damit die Melodie 
hervortrete und in ihrer rhythmischen Konstruktion nicht 
gestört werde, sucht der Schüler zuerst die Schwierigkeit 
der Begleitung zu überwinden, und erst dann jede Note 
der Melodie genau zu spielen. Infolgedessen ertönt die 
Bassnote einen Augenblick früher, gleichsam als Auftakt 
zu der Melodie. 

Häufig ist auch folgender Fehler : Das Pedal muss 
zwei Akkorde verbinden, es wird aber entweder zu früh 
oder zu spät angewendet, funktioniert nicht oder lässt zwei 
verschiedene Akkorde zusammenklingen, wodurch eine 


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sog. Kakophonie entsteht. Dabei sind ebenfalls Bewegungs- 
kontraste im Spiel. Während die Hand sich senkt, hebt 
sich der Fuss. Nehmen wir an, dass das Pedal die beiden 
soeben erwähnten Akkorde verbinden soll, — die beiden 
Akkorde, welche drei Bewegungen in der linken und eine 
in der rechten Hand erforderten! Jetzt ist noch eine Be- 
wegung mehr auszuführen, nämlich die des sich hebenden 
Fusses. — Würde es sich wohl nicht lohnen, einige Zeit auf 
das Studium solcher entgegengesetzten Bewegungen zu 
verwenden, ehe man an das Studium des Klaviers geht ? 
Der Klavierschüler ist sich des Wesens der Schwierig- 
keiten nicht bewusst; der Lehrer erklärt sie ihm nicht. 
Der Schüler wiederholt seinen Fehler; einen Fehler wie- 
derholen heisst ihn einüben. Man würde all das ver- 
meiden, wenn man die Kinder gewöhnte, die Schwierig- 
keiten der gleichzeitigen Kontrastbewegungen zu über- 
winden, bevor man sie mit dem Klang eines Instrumentes 
bekannt macht, dessen Tongüte von mechanischen Ge- 
setzen abhängt. 

Aber die beiden erwähnten Fälle sind spezieller 
Natur, und wir wollen noch die Ursachen des allgemeinen 
Zustandes der Arhythmie ergründen. Diese werden sich 
stets als physischen Ursprungs ergeben. 

Das spasmodische (krampfartige) Verlangsamen ist 
ein häufiger Fehler, besonders bei Sängern. 

Man findet ihn auch bei Personen, die Gesang hätten 
studieren sollen! Im Grunde genommen sollte jedermann 
singen lernen. Es gibt aber Leute, die so sehr den 
blossen Klang der Musik lieben, dass sogar der geringe 
Wohlklang einer am Klavier gespielten Melodie ihnen 
Befriedigung suggeriert. Sie fangen an zu singen, und 
dabei gewöhnen sie sich an den bei Sängern so häufigen 
Fehler, an die ausschliessliche Bevorzugung des Klanges 
in der Musik. Der Sänger, der den Klang liebt und eine 
schöne Stimme besitzt, nimmt Gesangsunterricht wegen 
der Schönheit seiner Stimme und der Gesangslehrer nimmt 
ihn ebenfalls wegen der Schönheit seiner Stimme an. Er 


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lehrt ihn Töne hervorbringen, Worte aussprechen, Sinn 
in den Text legen, er bringt ihm auch etwas Mimik bei, 
einige allgemeine Verhaltungsmassregeln mit Rücksicht auf 
das Publikum, — und dabei bleibt es! Der Schüler hat die 
Musikzeichen erlernt; er weiss, dass eine halbe Note zwei 
Viertel wert ist (sobald drei Viertel Vorkommen, ist er 
verwirrt), dass ein Viertel gleich zwei Achteln (sobald 
drei Vorkommen, nennt er sie eine Triole und singt sie, 
wie ein Achtel und zwei Sechzehntel). Ferner weiss er, 
dass ein Punkt nach einer Note dieselbe um die Hälfte 
ihres Wertes verlängert, was ihn jedoch durchaus noch 
nicht befähigt, die Länge zweier halben Noten zu messen. 
Das erklärt sich nur dadurch, dass die Mehrzahl der 
Sänger weder die rhythmische Gymnastik noch den durch 
den Rhythmus belebten Ausdruck kennen, und dass die 
Gesangslehrer dies nicht lehren. Alle Übungen, welche 
die Stimme in ihren verschiedenen Registern ausgleichen 
sollen, das portando, das legato u. s. w. schaden dem Ver- 
ständnis für Zeitlängen und für die rhythmischen Anfangs- 
und Ankunftsmomente, sobald dieses Verständnis nicht 
im Voraus entwickelt ist. Denn diese Übungen ver- 
wischen im höchsten Grade die rhythmischen Momente, 
die Grenzen der Zeitlängen. Bei dem Sänger muss der 
rhythmische Sinn in seinem ganzen Atmungs- und Sprech- 
organismus vorhanden sein. Man kann nicht rhythmisch 
singen ohne rhythmisch zu atmen und rhythmisch auszu- 
sprechen. Vorausgehen muss die rhythmische Atmung, weil 
der rhythmische Atemzug den rhythmischen Ton hervorruft. 
Krst wenn der rhythmische Ton geformt ist, kann das 
Wort hinzugefügt werden. 

Dasselbe gilt für den Klavierspieler, der mit seinem 
Spiel zu singen glaubt. Er merkt nicht, dass die Taste, 
die er herabgedrückt hält, keinen Ton mehr von sich gibt, 
er bildet es sich nur ein und «schwimmt in Tönen». Jeder 
Ton fesselt ihn dermassen, dass er nicht an den folgen- 
den denkt. Der rhythmische Bau der Melodie hat für ihn 
keine Bedeutung, weil er ihn nicht im Geiste verstanden 


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und ihn nicht physisch nachgefühlt hat. Da er noch nie 
in seinen Gliedern und in seinen Atmungsorganen die 
Empfindung für Zeitlängen, für die durch Kraftschattie- 
rungen hervorgerufenen Akzente, für Bewegung in der 
Zeit und dem Raume erlebt hat, kennt er nicht deren aus- 
drucksvolle Kraft. Die Tonerzeugung und der Ausdruck 
mittelst des Tones sind ihm geläufig und sympathisch, 
aber er kennt nicht die Gymnastik des Rhythmus und 
den Ausdruck mittelst des Rhythmus und daher ist dieser 
ihm nebensächlich. 

Es gibt noch weitere Gründe physischer Natur, 
welche den Mangel an Rhythmus bei so vielen Instru- 
mentalisten erklären : die Ungleichmässigkeit des Tonan- 
schlages, die Unregelmässigkeit in der Klangfolge, die 
Schwäche und die Ungewandtheit in der Tonproduktion, 
die Schwerfälligkeit beim vom Blattlesen, die qualitative 
und quantitative Übertreibung der Schattierungen, die 
Unfähigkeit, mittelst der Finger die Empfindungen des 
Gehirns wiederzugeben, und so weiter. Diese Fehler 
rühren alle von einer unvollkommenen Ausbildung der 
Muskelbewegungen und der Nervenzentren her, denn eine 
vernünftige physische Übung' sollte sie vollständig über- 
winden ober sie doch wenigstens abschwächen. 

Die zu rohe Tonerzeugung findet ihre Ursache da- 
rin, dass der Widerstand der Antagonisten nicht geregelt 
ist. Der ganze Arm spannt sich an, um die Bewegung 
vorzubereiten; und im Augenblick, wo die Bewegung an- 
fätigt, ist die Kraftanstrengung der Synergisten zu gross 
im Vergleich zu der auszuführenden Bewegung; die Hand 
wird geschleudert, als wäre sie ein Gewicht, welches 
man von sich wirft, und die Antagonisten leisten nicht 
genügend Widerstand. Der rhythmische Moment stellt 
nicht ein geregeltes Zusammentreffen, sondern einen un- 
plastischen Zusammenprall dar. 

Wie es bei geistig völlig normalen Menschen infolge 
Mangels an Willensstärke eine Trägheit des Denkens gibt, 
die verbunden mit Schüchternheit oder Ängstlichkeit zu 


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Unsicherheit und gänzlichem Versagen des logischen Ur- 
teils führen kann, so gibt es eine Erschlaffung der Tätig- 
keit der Muskeln. Bei Personen, welche von Natur träge, 
ihre Muskeln in regelmässiger und zweckmässiger Weise 
auszuarbeiten unterlassen, verringert sich die Spannkraft 
derselben bis zur energielosen Schwäche, die wiederum 
rückwirkend auf alle Organe von schädlichstem Einfluss 
ist. Diese Schwäche braucht nicht von einem organischen 
Fehler oder einer Verletzung herzurühren; sie kann ledig- 
lich Folge mangelhafter Ernährung oder unzweckmässiger 
Ausbildung sein. Wie vielfach begegnen wir der Schwäche 
des Tonangriffs, z. B. schwachem Anschlag der Taste, 
mark- und kraftloser Bogenführung; die Erklärung hierfür 
liegt im Vorgesagten, und unsere Methode will dieser 
Vernachlässigung der Muskeltätigkeit steuern, indem sie 
Anleitung gibt, wie man die Arbeitsfähigkeit aller Organe 
hebt, und eine normale Tätigkeit der Arm- und Hand- 
muskeln erzielt. 

Ebenso verkehrt, wie die Ausdruckslosigkeit oder 
Schwäche im Tonansatz, ist die Überreiztheit, die sich 
durch Nervosität im Spiel äussert. 

Es gibt Klavierspieler und Violinspieler, welche schon 
bei der Berührung mit dem Instrument nervöse Aengstlich- 
keit überfällt, die sich dann durch Zittern der Finger, 
oder durch Transpirieren zu erkennen gibt. Der Anschlag 
und Tonansatz ist zaghaft, ängstlich. 

Der Ton wirkt matt, unsicher, kraftlos ohne jeden 
dynamischen Gehalt. Im Erkennen der eigenen Unsicher- 
heit und im angstvollen Bestreben, den gefühlten Mangel 
auszugleichen, stürzt der Spieler plötzlich vorwärts, eine 
Energie forcierend, die weder angebracht ist, noch lange 
vorhält. Das Spiel wird nervös, sprunghaft, ungestüm 
und zaghaft zurückhaltend. Die dynamischen Schattie- 
rungen werden übertrieben, da die Reizwirkungen auf die 
Nervenzellen, die durch die unausgeglichene Muskeltätig- 
keit stossweise erfolgen, unabhängig vom Intellekt des 
Spielers sind. Diese Reizwirkungen steigern sich bis 


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zum Schmerzempfinden und schwächen die äusseren Wir- 
kungen ab, und dem Spieler geht durch die in Folge der 
Wiederholung abgestumpfte Empfindsamkeit die Vorstel- 
lungsfähigkeit verloren. 

Jede Bewegung, die wir ausführen, auch die kleinste 
Muskelregung, ist die Folge einer Willenstätigkeit, die in 
Energie umgesetzte Funktion des Gehirns, d. h. also unsere 
Muskelbewegungen stehen mit der Gehirntätigkeit, als von 
ihr ausgehend, im engsten Kontakt. Wenn sich daher im 
Gehirn der Gedanke auslöst, dass der Finger eine Be- 
wegung machen soll, und der betr. Muskel reagiert nicht 
darauf, oder er führt eine entgegengesetzte Bewegung aus, 
oder er lässt den Finger eine Bewegung machen, ohne 
dass überhaupt eine Veranlassung der Gehimtätigkeit vor- 
liegt, so beweist dies, dass den Muskeln, dem organischen 
Körper die rechte Zucht, die nötige Ausbildung fehlt 

Oft weiss der Spieler ganz genau, wie der Finger 
diesen oder jenen Ton anzuschlagen hat, aber der Finger 
versagt. Die Ausführung bleibt hinter dem Willen des 
Spielers zurück. 

Es muss also darauf hingewirkt werden, die betref- 
fende Person so zu erziehen, dass sie Herr über sich selbst 
wird. Nervöse, ängstliche Naturen müssen mit nie ver- 
sagender Geduld, mit milder aber fester Führung über die 
Klippen hinweggeleitet werden, damit sie sich nach und 
nach beruhigen und Vertrauen und Sicherheit gewinnen. 

Ausführliche Muskelbewegungen, wobei besonders 
auf gleichmässige dynamische Entwickelung jedes Muskels 
mit steter Steigerung der Kraft zu achten ist, müssen die 
Organe in das richtige Abhängigkeitsverhältnis zur Willens- 
tätigkeit bringen; der Muskelsinn muss geweckt und die 
Fähigkeit der Wiedergabe durch Bewegungen gehoben 
werden. Der Spieler wird auf diese Weise dazu erzogen, 
bei jeder Bewegung, die er zufolge einer im Gehirn aus- 
gelösten Willensenergie vornehmen will, die hierzu nötigen 
Muskeln genau zu kennen, den Grad des Kraftaufwandes 
mit absoluter Sicherheit abzuschätzen und die passive oder 

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zuweilen entgegengesetzt wirkende Tätigkeit der nicht 
direkt beteiligten Muskeln sorgfältig zu modulieren. 

Die Übung der Muskeltätigkeit unter der strengen 
Disziplin des Willens wird stets von gutem Erfolg sein, 
wenn es sich beim Schüler um Fehler und Schwächen 
handelt, die sich physiologisch erklären lassen. 

Für rein mechanische Störungen, mit denen uns zu 
befassen, hier nicht der Ort ist, verweisen wir auf rein 
mechanische Behandlung, die in dem System des H. Dr. 
Zander ihre höchste Ausbildung erreicht hat. 

Das Gebiet dieses Studiums ist ein recht ausgedehntes, 
und je mehr Sie sich in unsere Ideen hineinarbeiten, desto 
mehr werden Sie dessen bewusst werden, dass wir nicht 
aus Pendanterie die Physiologie in die Lehre des musi- 
kalischen Rhythmus, hineinziehen. Als wir anfingen, diese 
Ideen auf unsere Schüler anzuwenden, waren wir weit 
entfernt, daran zu denken, dass wir uns eines Tages mit 
Psychologie und Gehirnfunktionen beschäftigen würden. 
Wir sind dahin geführt worden durch den Drang, die Ur- 
sachen der Erscheinungen, die wir tagtäglich beobachten, 
zu ergründen. Und da erst haben wir die Tragweite des 
alten lateinischen Spruches verstanden : Mens sana in 

corpore sano. Alle musikalischen Fehler haben eine phy- 
sische Ursache und daher auch physische Mittel, sie zu 
kurieren. Betrachten Sie z. B. den so häufigen Fehler, 
Musik nur mit Mühe und sehr langsam vom Blatt zu lesen. 
Haben Sie nicht bemerkt, dass dieser Fehler auch bei 
sehr tüchtigen Musikern vorkommt, und dies alles sollte 
nicht beweisen, dass man sich im Irrtum befindet, wenn 
man bei den Prüfungen der Musiklehrer dem vom Blatt- 
lesen die grösste Wichtigkeit beimisst? Kennt man nicht 
begabte Schriftsteller, die nur mit Mühe ihre eigenen 
Werke vortragen können, die ein Wort mehrmals wieder- 
holen und manchmal sogar ganze Sätze überspringen? 
Hiefür liesse sich eine ganze Reihe von Gründen anführen. 
Denken Sie nur einmal an eine gewisse Nervosität des 
Augenmuskels, die das Auge, während das Gehirn sich 


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noch mit dem eben auf der Netzhaut entwickelten Bilde 
beschäftigt, in unruhiger Hast sprung- oder ruckweise in 
unregelmässigen Intervallen eine Strecke vorauseilen lässt. 
Das Auge kann nicht mehrere Noten auf einmal in sich 
aufnehmen, das Auge folgt der Entfaltung der Melodie 
nicht schnell genug, da es noch auf einer Note haftet, 
während es schon die folgende lesen sollte. Die blosse 
Übung des vom Blattlesens, häufig wiederholt, genügt 
oft, das Auge auszubilden, ebenso wie häufiges und langes 
Singen die Lungen entwickeln kann. Aber gelangt man 
nicht schneller zu einer Vergrösserung des Brustkastens 
durch besondere und sich steigernde Übungen ? Und 
würden nicht zweckmässige Übungen für Kopf und Augen 
schneller die Trägheit der Letzteren überwinden helfen 
als die sog. Prima vista-Übungen, Man lasse doch zuerst 
mit einem Auge, dann mit dem anderen und schliess- 
lich mit beiden die Noten lesen, wobei der Kopf unbe- 
weglich bliebe, später mit Kopfbewegungen nach rechts 
und links mit Richtung der Augen nach derselben oder 
der entgegengesetzten Seite ! Man lasse bei diesen 
Übungen eine Note fixieren, hierauf eine zweite darüber 
befindliche, deren Bild im Gedächtnis behalten wird, und 
wende den Blick auf die erste zurück ohne der zweiten 
mehr noch, als eine flüchtige Aufmerksamkeit zu schenken, 
so wird ganz gewiss in kurzer Zeit das Gesamtgesicht 
entwickelt. Wir kommen übrigens in der 4. Vorlesung 
zu gewissen Übungen, die das Gedächtnis der Augen 
schärfen sollen. 

Zum Schluss des ersten Abschnittes sei nochmals 
darauf hingewiesen, dass die Mehrzahl der Musikstudieren- 
den den Rhythmus des Klanges, das Ziel des Unterrichts, 
mit dem plastischen Rhythmus, dem Mittel zum Ziel ver- 
wechseln, und dass die Fehler, die sie begehen, ihrer Un- 
kenntnis der Bewegungselemente zuzuschreiben sind. Sie 
begehen die Fehler unwillkürlich, ohne sich ihrer bewusst 
zu sein, wiederholen sie und daraus entstehen allmählich 
schlechte Gewohnheiten, die ihr Urteil verderben, ihren 


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Geist umnebeln und ihre allgemeine Nervosität noch ver- 
grössern. Die Nerven welche zwischen dem Gehirn und 
den Bewegungen als Vermittler dienen, leiden unter dem 
Mangel an Einverständnis zwischen dem Gehirn und den 
Muskeln. Jeder Vermittler empfindet seine Stelle als 
unerträglich, wenn der Vorgesetzte, von dem sie abhängt, 
und die Untergebenenen, die von ihr abhängen, sich nicht 
verständigen können. Er reicht seine Entlassung ein und 
damit ist die Sache zu Ende. Die Nerven aber, die Ver- 
mittlerinnen zwischen den Bewegungen und dem Gehirn, 
müssen sich in der allgemeinen Zerfahrenheit zurecht 
finden, sie können ihre Entlassung nicht einreichen. Wenn 
ein Kind nervöse Bewegungen zeigt, darf man es unter 
keinen Umständen ein Instrument erlernen lassen, es be- 
darf geregelter Bewegung. Nervöse Bewegungen sind 
schrankenlos, sie sind falsch betont, die Länge ihrer Zeit- 
einheit ist zu gross, oder ihre Raumdimension ist zu gross ; 
sie sind unwillkürlich und unregelmässig; die rhythmische 
Gymnastik kann die Nerven kurrieren, denn sie regelt die 
Muskelkraft nach Zeit und Raum. 

Wenn ein Kind infolge des Studiums eines musika- 
lischen Instrumentes nervös wird, so lasse man es sofort 
aufhören und zuerst Rhythmusgymnastik treiben. Wenn 
einmal der Geist rhythmisch gebildet ist mittels der wieder- 
holten Eindrücke der regelmässig abgemessenen und be- 
tonten Bewegungen, der harmonischen Verhältnisse ihrer 
Längen, des harmonischen Verhältnisses ihrer Dynamik, 
so wird das Zusammenarbeiten des rhythmischen Bewusst- 
seins und der rhythmischen Bewegungen herbeigeführt 
sein und die Nerven werden in Ruhe ihre Tätigkeit erfüllen. 

Bisher war hauptsächlich von der Linie der Bewe- 
gung die Rede: jede Bewegung hat jedoch auch eine 
Kraft. Der Mangel an Rhythmussinn kann sich durch zu 
grosse oder zu geringe Schwere des Anschlages offen- 
baren. So kommt es, dass manche Schüler stärker mit 
einer Hand als mit der anderen spielen, da sie nicht im- 
stande sind, die wesentlichsten Noten herauszuheben. Denn 


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jede Bewegung ist eine Einheit, die durch einen gewissen 
Grad von Kraft und durch einen gewissen Teil von Zeit 
und Raum gebildet wird, und jede Modifikation eines 
dieser drei Faktoren wird den rhythmischen Stoss im 
Moment des Eintretens und daher auch die Güte der 
daraus resultierenden Klangschwingungen beeinflussen. 

Weder die rechte noch die linke Hand haben auf 
dem Klavier eine natürliche Stellung. Jede Hand hat von 
Haus aus weniger Kraft an der Seite des kleinen Fingers, 
als an der Seite des Daumens. Die Bassnoten sind tiefer 
als die des Violinschlüssels. Damit die hohen Töne der 
rechten Hand dieselbe Tonstärke bekommen wie die, 
welche von den stärkeren Fingern gespielt werden, be- 
dürfen sie einer grösseren plastischen Schwere, obwohl 
sie von den schwächeren Fingern gespielt werden. Die 
Basstöne geben den scharfen Tönen die Abrundung. Je 
schärfer die Töne sind, desto greller und klangarmer sind 
sie und desto mehr bedürfen sie der Mitarbeit des Basses. 
Je mehr der Basston starke Schwingungen aufweist, desto 
mehr gewinnt die ganze Harmonie an Tonfülle. Sogar, 
wenn die linke Hand in dem Bass eine Oktave anschlägt, 
so ist der kleine Finger derjenige, der mit grösserer Wucht 
auf die Taste herabfallen muss als der Daumen. Wir 
müssen jedoch nicht allein die naturwidrige Stellung der 
Hände betrachten. Nehmen wir an, dass alle Finger mit 
jeglicher notwendigen Stärke herabfallen könnten, so bleibt 
doch die Tatsache übrig, dass die anzuschlagenden Tasten 
sich in verschiedenen Entfernungen befinden und dass man 
sie nicht nur von oben anschlägt, sondern auch von weit 
entfernt. Die Regelmässigkeit der gleichen Zeitlängen 
bedingt nicht ohne weiteres die Regelmässigkeit der plas- 
tischen Linien : eine Taste wird angeschlagen { v , die 
folgende y, die dritte •"*“■>, die vierte''*, die fünfte , 
die folgenden /*-, t u. s. w. 

Ein grösserer Raum für dieselben Zeitlängen führt 
eine grössere Schnelligkeit herbei und diese verlangt einen 
höheren Grad von Kraft, um eine schlechte Betonung im 


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Ankunftsmoment zu vermeiden. Das Studium des Rhythmus 
ist das Studium der Muskelkraft, der Zeit- und Raummasse 
und des Einflusses, den die Grössen dieser drei Faktoren 
gegenseitig aufeinander ausüben. Es genügt nicht, einem 
Kinde zu sagen: Betone hier oder betone hier nicht, der 
Auftakt wird stärker betont ! Das Kind mag wohl die 
guten Ratschläge des Lehrers wiederholen, doch damit ist 
nicht abgetan, dass die Gymnastik des Auftaktes unendlich 
modulierbar ist, und dass dieser in bezug auf die Gymnastik 
des Rhythmus völlig im Dunkeln steckt. 

Wenn wir Beispiele aus dem Gebiete der vom Klavier- 
spiel bedingten Bewegungen wählen, so geschiet es, weil 
die Klaviertechnik am weitesten verbreitet ist. Wir könnten 
gerade so gut von den kontrastierenden Bewegungslinien 
sprechen, die der Organist mit seinen Beinen auszuführen 
hat, von dem Hasten des Sängers (aus Atemnot), von der 
verschiedenen l.änge der Armbewegungen, die den Rhyth- 
musakzent des Posaunisten nicht beeinflussen darf, aber der 
Vortrag würde zu lang werden. Die angeführten Beispiele 
werden auch genügen, um die Tatsache zu illustrieren, dass 
der Rhythmus physischen Ursprungs ist. 

Der Geist bildet sich, entwickelt sich und wird sich 
seiner selbst bewusst und von anderen unabhängig, kraft 
selbständiger Betätigung. Der Rhythmussinn macht dabei 
keine Ausnahme: er wird durch die Rhythmusgymnastik 
ausgebildet. Wie das kleine Kind in der Wiege das Auge 
offen hält, um Lichtstrahlen zu empfangen, und seinen 
Geist, um Eindrücke aufzufangen, so sind die Muskeln 
des 6 Jahre alten Kindes bereit, Rhythmus auszuführen, 
und sein Geist bereit, sich der Erziehung zum Rhythmus 
zu unterziehen. Der Rhythmus ist physischer Natur, er 
ist die Bewegung der Materie in Zeit und Raum in 
logischer und verhältniswahrender Einteilung. Die Lebens- 
aufgabe eines jeden Muskels besteht darin, Bewegungen 
von gewisser Stärke und gewisser Länge und in einem 
gewissen Raume hervorzubringen. Indem man die Ver- 
hältnisse dieser drei Bewegungselemente logisch ordnet, 


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ruft jeder Muskel einen rhythmischen Eindruck im Gehirn 
hervor und dieses setzt die Summe der Eindrücke um in 
Willen , d- h. in regelmässige Gewohnheiten, in stete spon- 
tane Aktionsbereitschaft und in gänzliche Freiheit der Vor- 
stellung. So werden die grossen Bewegungskräfte des 
Geistes gebildet. 

Die bisher angedeuteten Ideen werden in den drei 
folgenden Vorträgen weiter ausgeführt. Die Erziehung 
guter Bewegungsgewohnheiten und des selbsttätigen Willens 
werden den Inhalt des 2. Vortrages bilden- Das Gehirn 
ist der grosse Lenker unserer Handlungen: der Geist er- 
wacht durch die Materie; einmal geweckt, wird er sie 
leiten. Der rhythmische Sinn der Kinder muss durch rhyth- 
mische Bewegungen aller ihrer Glieder erweckt werden. 
Dann wird ihr Wille sie vollständig beherrschen. 


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2. Vortrag. 


Das Gehirn, als Sitz der geistigen Tätigkeit und des 
Willens, ist der Ausgangspunkt jeder Bewegung der Körper- 
teile. Vom Gehirn aus gehen nach sämtlichen Körper- 
teilen, gleich Telegraphendrähten, die Nerven, und diese 
wiederum übertragen die im Gehirn ausgelöste Willens- 
äusserung auf die Muskeln, welche sich in Faserbündeln 
längs der Knochen und Gelenke, mit diesen teilweise ver- 
wachsen, durch das Fleisch des ganzen Körpers hindurch- 
ziehen. Der Wille wird durch die Muskeln in Kraft um- 
gesetzt. Die Bewegungsfähigkeit der Muskeln hängt von 
ihrer Geschmeidigkeit und Elastizität ab; sie können sich 
strecken, dehnen, sich zusammenziehen und sich seitlich 
drehen (Torsionsfähigkeit). Die Knochen samt den weichen 
Fleischteilen folgen gehorsam jeder dieser Muskelbewe- 
gungen, die Glieder bewegen und drehen sich nach jeder 
Richtung, die Gelenke strecken sich oder ziehen sich zu- 
sammmen. 

Der Muskel muss gegenteiligen Bewegungen freien 
Spielraum lassen. Wenn ich beispielsweise zur Ausführung 
des Oktav-Staccatos auf dem Piano die Hand erhebe, dann 
sind alle Muskeln, welche durch die Innenseite des Hand- 
gelenkes gehen, im letzten Augenblick der Bewegung voll- 
ständig gestreckt. Sie erhalten eine grössere Länge, als 
wenn die Muskeln der Aussenseite der Hand in passivem 
Zustand sind. Der gestreckte Muskel ist durch das Strecken 
dünner und härter geworden. 


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Wenn der Muskel einer gegensätzlichen Bewegung 
nachgibt, so wirkt der Wille in negativem Sinn, indem er 
sich jeden Einflusses auf diesen Muskel enthält. 

Wenn der Muskel am kürzesten und am härtesten 
ist, dann hat er den höchsten Grad seiner Tätigkeit er- 
reicht. Er befindet sich dann im Zustand aktiver Spannung. 
Wenn er am längsten und am härtesten ist, dann befindet 
er sich im höchsten Grade der Passivität und im Zustande 
passiver Gestrecktheit. 

Das übertriebene aktive Spannen ist der Geschmeidig- 
keit schädlich und kann nachteilig auf die Muskelschwel- 
lung einwirken. 

Die passive Überstreckung kann einen Teil des Mus- 
kels zerreissen und seiner Zusammenziehbarkeit schaden. 
Deshalb muss die Geschmeidigkeit des Muskels die die 
gegenteilige Bewegung ausführende Muskelkraft übertreffen. 

Ein Muskel ohne den geringsten Grad von aktiver 
oder passiver Spannung ist weich. In einem solchen Zu- 
stand der Weichheit sind alle Muskeln des Körpers in 
liegender Haltung. Deshalb ist auch die liegende Haltung 
zur Erlernung einer zweckmässigen Atmung die beste. Die 
Muskeln der vier Extremitäten, der Oberfläche des ganzen 
Rumpfes, des Brustkorbs und des Unterleibs dürfen weich 
sein, denn in liegender Haltung ist ihre Zusammenziehung 
durchaus überflüssig. In weichem Zustand widersetzen sie 
sich nicht unnötigerweise der Bewegung des Atmungs- 
apparates. Aus diesem Grunde legt sich der Mensch zum 
Schlafen nieder. 

Die Tätigkeit der Muskeln ist eine Äusserung des 
Willens und entspringt mithin der Gehirntätigkeit. Um 
schlafen zu können, muss das Gehirn im Zustand völliger 
Ruhe sich befinden. Die Muskeln sollen nicht gestreckt 
sein, mit Ausnahme der unwillkürlichen Bewegungen des 
Kreislaufs, der Verdauung und der Atmung. Wenn man 
jemand schlafen sieht, so weiss man, dass sein Geist nicht 
ruhig ist, wenn seine Muskeln dies nicht sind. 


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Ein Muskel, der nicht imstande ist, sich gehörig zu- 
sammenzuziehen, ist schwach. Ein Muskel in passivem Zu- 
stand, der sich nicht genügend strecken lässt, ist steif; man 
könnte ebenso gut sagen, er sei ein wenig zu kurz. Um 
ihn zu stärken, muss er oft energisch zusammengezogen 
werden. 

Um die gewünschte Geschmeidigkeit zu erzielen, ist 
es nötig, des öftern gegenteilige Bewegungen auszuführen. 

Wenn die Kraft dieser gegenteiligen Bewegungen 
nicht genügt, so wende man fremde Kraft an in Form eines 
befestigten Gegenstandes oder auch der Muskelkraft einer 
Drittperson. In allen Fällen, wo die Übungen nicht ge- 
nügen, nehme man Zuflucht zur Massage. Für jede Tätig- 
keit, für das Turnen im allgemeinen wie für unser rhyth- 
misches Turnen, brauchen wir starke und elastische Muskeln. 
Die künstlerische Hand des Klavierspielers, des Chirurgen, 
des Malers oder Bildhauers ist geschmeidig und dynamisch. 
Der rhythmisch künstlerische Körper ist voll Geschmeidig- 
keit und Dynamik. 

Wie wir schon in der Einleitung bemerkt haben, ist 
der Apparat, der den menschlichen Willen in Energie um- 
setzt, ein sehr komplizierter, indem die Anregung vom 
Gehirn ausgeht und sich durch Nerven und Rückenmark 
auf die Muskeln fortpflanzt. 

Die Intelligenz des kleinen Kindes entwickelt sich 
durch das Auge und gibt sich im Blick kund, mit welchem 
es das von seiner Mutter im Zimmer herumgetragene Licht 
verfolgt. In gleicher Weise entwickelt sich der Wille und 
bekundet sich durch die Muskeltätigkeit. (Der Wille ent- 
wickelt sich auch durch den Wunsch; im 4. Vortrag, in 
welchem unsere Gedanken über die bewegende Kraft der 
Vorstellung dargelegt werden sollen, kommen wir hierauf 
zurück.) Die zuerst empfangenen Eindrücke von Gegen- 
ständen, von Lebewesen, von der Natur, geben der Intelli- 
genz des Kindes ihre erste Form. Die ersten Handlungen, die 
wir durch das Kind vornehmen lassen, geben seinem Willen 
die erste Richtung und die erste Form. Soll das Kind einen 


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Willen besitzen, d. h. eine rhythmische Intelligenz, so muss 
man es auch eine rhythmische Tätigkeit ausführen lassen, 
und zwar mit dem ganzen Körper, mit allen seinen Muskeln, 
denn jeder Muskel bedarf des Willens und mit seiner will- 
kürlichen (positiven wie negativen) Tätigkeit trägt er zur 
Erziehung des Willens bei. Der Wille hat seinen Sitz im 
Gehirn. Er ist die Quelle jeglicher Tätigkeit. Die Nerven 
sind die Leitungsdrähte, die Muskeln sind die Tätigkeit 
seihst. 

Der Wille, die Nerven, die Muskeln sind für einander 
geschaffen. Wie das Auge ohne Licht erblindet, so ver- 
mindert sich auch der Wille ohne genügende Tätigkeit, 
diese verschwindet mit dem Abnehmen des Willens und 
der Nervenzustand wird durch eine Verminderung der 
Tätigkeit und des Willens in Mitleidenschaft gezogen. Ein 
fortwährender Verkehr der Organe unter sich ist für die 
Gesundheit der Nerven, der Muskeln und des Gehirns un- 
entbehrlich. 

Will man dem Gehirn das rhythmische Bewusstsein 
geben, so muss man auch den Muskeln Rhythmus ver- 
schaffen, damit die Nerven (die Gefühlsnerven) ihn dem 
Gehirn zuführen; ausserdem braucht das Gehirn Rhythmus, 
damit die Nerven (die Bewegungsnerven) ihn den Muskeln 
vermitteln. So sind eben Körper und Geist unzertrennbar 
verbunden. Was für das Leben unentbehrlich ist: denken 
und handeln, wird eins, d. h- die Willkürlichkeit wird ge- 
ordnet. 

Die Tätigkeit des Gehirns (der Wille) wirkt als Reiz 
auf die Nerven; diese bilden also den wichtigsten Faktor, 
das unentbehrliche Bindeglied zwischen Gehirn und Muskeln. 
Ohne die Nerven würden die Muskeln der Willenskraft 
nicht gehorchen. Doch sind wiederum die Nerven allein, 
ohne den im Gehirn ausgelösten spiritus rector, nicht im- 
stande, die Muskeln zu einer Bewegung zu veranlassen. 
Höchstens können sehr empfindsame Nerven, wie einige 
Physiologen behaupten, den vom Gehirn ausgehenden Reiz 
verstärken. 


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Haben die Bewegungsnerven einer Gruppe von Muskeln 
den Befehl des Willens mitgeteilt, so ziehen sich diese 
Muskeln zusammen. Der durch die Nerven hervorgerufene 
zusammengezogene Zustand heisst: die muskuläre Inner- 
vation. Ebenso kann der Wille den Befehl des Loslassens 
oder der Dekontraktion geben. 

Die zwischen dem Anfang und dem Ende einer Zu- 
sammenziehung verflossene Zeit hat im Gehirn, durch das 
Gefühl der Muskelstreckung, die Wahrnehmung der Dauer 
geschaffen. 

Die erste Aufgabe des rhythmischen Turnens besteht 
darin, den Geist an Muskelstreckungen von gleichrnässiger 
Dauer, mit andern Worten: an den Takt zu gewöhnen. 
Die muskuläre Innervation kann von verschiedener Stärke 
sein. Die zweite Aufgabe besteht also darin, den Geist an 
regelmässige, abgemessene Betonung: die Metrik, zu ge- 
wöhnen. Die muskuläre Innervation schafft den Rhythmus 
durch die Regulierung der Zeitdauer und der Betonung. 
Der Rhythmus wird weder empfangen noch wahrgenommen 
ohne muskuläre Innervation und dies bildet den Gegenstand 
fortwährender Bemerkungen seitens des Lehrers. Um des 
Rhythmus willen, des Hauptzweckes unseres Unterrichts, 
halten wir darauf, dass die Kinder keine Strümpfe tragen, 
dass 'sie nackte Arme haben, keinen Kragen tragen und 
ihren Leib nur mit einem Jersey bekleiden. Einzig unter 
dieser Bedingung kann sich der Lehrer von den verschie- 
denen Graden der Innervation, sowie von vielen unnützen 
Zusammenziehungen (Kontraktionen) überzeugen. 

Wir verlangen von den Eltern unserer Schüler, dass 
sie mit denselben die Übungen wiederholen, um so die 
Bedingungen zu erfüllen, die ihnen die Lektion allein nicht 
zu bieten vermag. So sollen sie Innervationsübungen der 
Oberschenkel (ohne Kleider), Atmungsübungen (ebenfalls 
ohne Kleider) vornehmen, um die Bewegungen des Atmungs- 
apparates beaufsichtigen zu können und zwar bei offenen 
Fenstern, damit die Kinder reine Luft einatmen. Auch die 
verschiedenen Übungen der Arme müssen zu Hause ohne 


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Kleider wiederholt, und dabei die Zusammenziehung der 
daran teilnehmenden Brust- und Rückenmuskeln überwacht 
werden. 

Drei hauptsächliche Faktoren kommen bei der mus- 
kulären Innervation in Betracht: der Wille, die Nerven und 
die Muskeln. Dieser Umstand zeigt uns auch die Ursachen 
unvollkommener Tätigkeiten: 

1. Mangel oder Übertreibung des Willens. In diesem 
Falle kann der Wille durch Muskelübungen regliert, 
gestärkt und geformt werden. 

2. Mangel oder Missverhältnis der Nerventätigkeit. 
Der Wille regliert und stärkt sie. 

3. Unvollkommene Muskeltätigkeit. Sie kann durch 
den Willen und die Nerven verbessert werden. 

Um bei den Kindern einen rhythmischen Geist zu 
erzielen, muss der Lehrer stets den Willen, die Nerven- 
tätigkeit und die muskuläre Innervation überwachen. Ins- 
besondere wende er seine Aufmerksamkeit den zwei fol- 
genden Punkten zu: 

1. Die Muskeln sollen das ausführen, was man von 
ihnen verlangt, nicht nur im gegebenen Raum und in 
der gegebenen Zeitdauer, sondern auch in dem ge- 
gebenen Grade der Innervation. 

2. Die Muskeln, welche keinen Befehl erhalten, sollen 
an der Bewegung nicht teilnehmen. 

Die unnützen Innervationen ausmerzen, heisst den 
goldhaltigen Sand waschen, bis lauter Goldkörner übrig 
bleiben. In unserm speziellen Fall bedeutet es, den Geist 
von allen Muskelempfindungen befreien, welche das rhyth- 
mische Bild undeutlich gestalten. Wenn beispielsweise das 
Kind mit dem rechten Arm den Takt schlägt und zugleich 
den linken Arm (oder die Achsel) zusammenzieht, so kann 
sich sein Geist nicht allein auf die Bewegungen des rechten 
Armes konzentrieren. Ist man soweit gekommen, die un- 
nützen Bewegungen zu unterdrücken, so hat man damit 
günstigere Bedingungen für die Entwicklung des Geistes 
geschaffen. Sehr oft ist ein solches Zusammenziehen beim 




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Kind das Zeichen einer gewissen moralischen Gedrücktheit, 
die hervorgerufen wird durch die mit jeder neuen Übung 
wiederkehrende Furcht vor der Schwierigkeit derselben. 
Der Geist beschäftigt sich unnützerweise mit diesem be- 
ängstigenden Gedanken. In vielen Fällen genügt es, diese 
zu zerstreuen, um die unnütze Tätigkeit auszumerzen. Der 
von jeglichem Angstgefühl befreite Geist kann seine ganze 
Aufmerksamkeit der Aufgabe des rechten Arms zuwenden 
und erhält dadurch einen viel klareren Eindruck. Ein 
Mensch mit entwickeltem rhythmischem Bewusstsein wird 
bei einem Versuch bald herausfinden, dass unnütze Be- 
wegungen einen ungünstigen Einfluss ausüben auf die der 
auszuführenden Bewegung gewidmete Aufmerksamkeit. 

Der Lehrer besitzt kein besseres Mittel, die ängst- 
lichen Gedanken des Kindes zu zerstreuen, als ihm Freude 
zu verschaffen. Hierüber werde ich in meiner 4. Vorlesung 
sprechen. 

Nur in einem Falle wird durch die Nerven, ohne An- 
regung vom Gehirn aus, ein Reiz auf die Muskeln ausge- 
übt, der, ohne unseren Willen, eine Bewegung veranlasst. 
Das ist die sogenannte Reflexbewegung, die vom Rücken- 
mark ausgeht. Das Rückenmark, gewissermassen die Zen- 
tralleitung aller Nerven des Rumpfes und der Glieder, 
bildet die Fortsetzung des Gehirns in vertikaler Richtung, 
und nimmt alle Nervenfäden, die Gefühls- wie Bewegungs- 
nerven in sich auf. In der Form einer starken weissen Schnur 
besteht es aus der weissen Substanz, der äusseren Schicht 
des Rückenmarks, in deren vorderem Teile die Gefühls- 
nerven sich vereinigen, während in der hinteren Schicht 
die Bewegungsnerven laufen. Die innere Schicht des 
Rückenmarks bildet die graue Substanz und hier haben 
wir die Nervenzellen, das Nervenzentrum, wo sich alle 
Gefühls- und Bewegungsnerven berühren. Hierin liegt der 
Grund, dass ein äusserer, nicht vom Gehirn, d. i. vom 
Willen abhängiger Reiz auf die Gefühlsnerven sich ohne 
weiteres auch den Bewegungsnerven mitteilt und spontane 
Muskelbewegungen hervorruft. 


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Wir haben es hier also mit einer Art Resonanz der 
beiden Nervengattungen zu tun, die ohne Veranlassung des 
Gehirnes die Rückschlags- oder Reflexbewegung auslöst. 
Die Bewegung des Niessens z. B. ist eine Reflexbewegung. 
Die Gefühlsnerven bringen uns allerdings zum Bewusstsein, 
dass wir messen werden, allein die Bewegung selbst ist 
eine unwillkürliche. Darum kann der Wille es auch nicht 
verhindern. Das einzige Mittel besteht in dem Versuch, 
die Ursache zu entfernen, z. B. durch dreimaliges Herab- 
streichen mit den Fingern über die Nase. Hören dann die 
Gefühlsnerven auf, ihren Eindruck dem Rückenmark mit- 
zuteilen, so hört man auch zu niessen auf. Fahren sie aber 
fort, dies zu tun, so wird auch der Wille nicht imstande 
sein, diese Reflexbewegung zu unterdrücken. 

Der Wadenkrampf, das nervöse Zittern der Augen- 
lider sind ebenfalls Reflexbewegungen, deren Gefühlsur- 
sache unser Verstand nicht kennt. Vom Gehirn aus führt 
ein Nervenstrang, welcher Empfindung und Bewegung 
mitteilt, nach dem Rückenmark bis zur Zentralnervenzelle. 
Die von den verschiedenen Körperteilen ausgehenden 
Empfindungs- und Bewegungsnerven münden in derselben 
Zentralnervenstelle. Bei der Reflexbewegung nun leitet 
die durch irgend einen äusseren Reiz hervorgerufene 
Empfindung durch den Gefühlsnerv bis zu einer Zentral- 
zelle des Rückenmarks, wo ein Bewegungsnerv mit dem 
Gefühlsnerv sich berührt und den von letzterem geleiteten 
Reiz ohne weiteres in sich aufnimmt, um ihn in Tätigkeit, 
d. i. Bewegung umzusetzen, ohne dass der Reiz in den 
nach dem Gehirn führenden Nerv gelangt. Der Reiz 
hält also seine Leitungsrichtung nicht ein, sondern wird in 
der Nervenzelle des Rückenmarks zurückgeleitet, reflektiert. 

Die Reflexbewegungen tragen also zur Bildung des 
Willens nicht bei. Wenn ich mich nun trotzdem bei den- 
selben aufgehalten habe, so geschah es um Ihnen zu 
zeigen, dass verschiedene Kategorien unwillkürlicher Be- 
wegungen existieren. Die Unterscheidung dieser Katego- 
rien von Bewegungen ist dem Lehrer des rhythmischen 
Turnens unentbehrlich. 


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Eine dieser Kategorien besteht in unbewussten Be- 
wegungen. Diese Bewegungen dauern fort, auch wenn 
wir schlafen. Sie sind zum Leben nötig! So ist z. B. 
der Herzmuskel ein unbewusster Muskel. In gewissen 
Momenten zeigen uns die Gefühlsnerven seine beschleunigte 
Tätigkeit an, so dass wir uns dieser unbewussten Bewe- 
gung bewusst werden. Die Bewegung selbst ist aber 
ausser dem Bereich unseres Willens. Sie wird jedoch 
beeinflusst durch unsere Muskeltätigkeit, und deshalb wer- 
den die unbewussten Bewegungen in unser Programm 
einbezogen. Da das Herzklopfen durch den Marsch be- 
schleunigt wird und durch die Atmung reguliert werden 
kann, so versteht es sich von selbst, dass der Lehrer die 
unbewussten Muskelkontraktionen studieren muss. Die 
Atmung, welche unbewusst unser ganzes Leben lang an- 
hält, ist jedoch nicht vollkommen unbewusst, denn unser 
Wille kann direkt auf sie einwirken. Alle Muskeln des 
Atmungsapparates können eine bewusste Einwirkung aus- 
üben, auch das Zwerchfell ist nicht absolut unbewusst. 
Die Bewegungen des Zwerchfells sind halbbewusste. Wir 
können das Atmen nicht verhindern, können es aber durch 
unsern Willen beschleunigen oder verlangsamen, stärker 
oder schwächer atmen, die Bewegung des Zwerchfells in- 
begriffen. Das heisst, die Atmung kann durch Zeit und 
Raum beschränkt oder rhythmisch gestaltet werden und 
so zur Entwicklung des Willens, des rhythmischen In- 
stinktes beitragen- 

Die letzte Kategorie unwillkürlicher Bewegungen sind 
die selbsttätigen Bewegungen, welche zuerst willkürlich, 
nachher unwillkürlich werden. Sie sind von grösster 
Wichtigkeit für die Übungen des rhythmischen Turnens. 

So kennen wir eine ganze Reihe von Bewegungen, 
die von dem Individuum unbewusst, d. i. ohne direkte 
Willenskundgebung des Gehirns, lediglich aus Gewohnheit 
vollzogen werden. Wenn ein Kind erst einmal fähig ist, 
auf den Beinen zu stehen, dann erfolgt die Bewegung des 
Gehens rein mechanisch, das heisst, ein Fuss setzt sich 


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vor den anderen, zunächst ohne dass der Wille dabei 
mitwirkt, unter einer Zusammenwirkung der natürlichen 
Gesetze der Schwere und des Gleichgewichts. Obschon 
die Wiederholung dieser Bewegung durch Rückschlags- 
oder Reflexeffekte ausgeführt wird, so sind doch die 
Marschbewegungen nicht eigentliche Reflexbewegungen, 
denn der Wille kann sie sistieren, was beim Niessen nicht 
der Fall ist. Die eigentlichen Reflexbewegungen sind nie 
willkürliche gewesen und können es auch nie werden, 
während die selbsttätigen Bewegungen zuerst willkürliche 
sind und später durch den Willen verhindert, sistiert oder 
beschränkt werden können, wenn dies nötig wird. 

Alle Bewegungen, die eine grosse physische An- 
strengung erfordern, bedingen naturgemäss auch eine be- 
schleunigte Gehirntätigkeit, die mit der Zeit nachlässt und 
eine natürliche Abspannung erreicht, so dass mit dem 
Willen auch die Tat erlahmt. 

Bewegungen, die nicht unbedingt eine bewusste, an- 
haltende Funktion des Gehirns erfordern, fallen uns des- 
halb viel leichter und werden am raschesten Gewohn- 
heitsbewegungen. Dazu gehört in erster Linie das Gehen, 
die Marschbewegung, die sich, sobald der Wille erst ein- 
mal Anregung geben kann, ganz allein, ohne Gehirntätig- 
keit, vollzieht. 

Wir haben absichtlich dem Bein die Rolle der 
Wiedergabe jeglicher Zeitdauer zugedacht, weil, wie eben 
gesagt, der Marsch von allen Bewegungen am leichtesten 
selbsttätig wird. Der grosse Vorteil der selbsttätigen Be- 
wegungen ist, wenn sie richtig gelernt sind, der, dass sie dem 
Gehirn die Freiheit lassen, seine Aufmerksamkeit einer 
andern Sache zuzuwenden. Es besteht für den Menschen 
also die Möglichkeit, die selbsttätige Bewegung mit irgend 
einer willkürlichen oder gewollten Bewegung zu verbinden. 
So üben wir zuerst den Takt im Marsche und sobald 
der Geist sich nicht mehr mit seinem regelmässigen Tempo 
beschäftigt, fügen wir die Bewegungen der Arme hinzu. 
Wenn die vereinten Bewegungen der Arme und Beine im 

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*/•*, 9 A un< l */* Takt automatisch werden, dann fügt man 
abermals ein neues Element hinzu. Zu den automatischen 
Bewegungen der Arme kommt eine neue Übung des 
Beins. Die doppelte Dauer, welche sich durch Zusammen- 
zug von zwei Zeiten ergibt, wird durch das Bein in zwei 
Bewegungen zerlegt. Die Gliederung der ^ in zwei 
gleiche Teile ist automatisch geworden und die Beine im 
Verein mit den automatischen Bewegungen der Arme 
markieren nun eine neue Dauer. So geht es während 
des ganzen Unterrichts, bis alle Bewegungen der Zeit- 
dauer und der Betonung automatisch geworden sind. 
Sie werden entweder durch das Kommando des Lehrers, 
oder durch vorgelegte Noten oder durch Musikbegleitung 
hervorgerufen. 

Wenn jede Dauer für sich und alle Betonungen 
automatisch geworden sind, dann ist der Geist frei und 
kann seine ganze Aufmerksamkeit auf alles richten, was 
neu ist in der Kombination bekannter Elemente, und das 
Entziffern der Musik in Bezug auf den Rhythmus geschieht 
rasch und genau. 

* 

* * 


Ist nun einerseits das Gehirn, eine weiche runde 
Masse in der hinteren Hälfte des Kopfes, als Sitz des 
Willens der Ausgangspunkt jeder gewollten Bewegung, 
so konzentriert sich in ihm auch jede Empfindung eines 
Nerven- oder Muskelreizes. 

In der Gehirnmasse, die wie das Rückenmark aus 
einer grauen, äusseren, und einer weissen, inneren Sub- 
stanz zusammengesetzt ist, vereinigen sich die Bewegungs- 
und Gefühlsnerven, somit ist das Gehirn der Sitz des 
Willens, der Energie und des Empfindens; in ihm sind 
Wille, Bewegung und Reflexbewegung vereinigt. Das 
Gehirn nimmt im Verhältnis zum ganzen Körper einen 
sehr kleinen Raum ein. Wenn es daher auch leichter 
erklärlich ist, dass jede Reizempfindung des gesamten 
Körpers sich durch die Gefühlsnerven sofort dem Gehirn 
mitteilt, so bietet doch der Einfluss der Gehirntätigkeit 


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auf das weitverzweigte System der Bewegungsnerven und 
durch diese auf die Muskulatur des Körpers eine grosse 
Schwierigkeit wegen der äusserst komplizierten Bezie- 
hungen zwischen Willen und Tat. Das Gehirn ist sich 
der Bewegung, die vorgenommen werden soll, wohl be- 
wusst, aber nicht immer ist es sich klar darüber, welcher 
Nerv auf einen bestimmten Muskel, oder auf welchen 
Muskel dieser Nerv wirkt. Das ist erst ein Produkt der 
Überlegung oder des Versuchs oder der Erziehung. 
Gewisse Muskeln sind dergestalt abhängig von anderen, 
dass sie nicht allein in Bewegung gesetzt werden können, 
ohne dass ein anderer Muskel in Mitleidenschaft gezogen 
wird. Diejenigen Muskeln, welche gleichzeitig tätig sind, 
um eine Bewegung auszuführen, heissen synergetische 
Muskeln. Die Zusammenziehung eines solchen Muskels 
kann nicht allein stattfinden. Z. B. einen Beugungsmuskel 
oder einen Dehnungsmuskel des Handgelenks allein zu 
bewegen, vermag der Wille nicht. 

Die drei Flexionsmuskeln eines Fingers dagegen, ob- 
gleich synergisch tätig, können einer vom andern unab- 
hängig werden durch die Kraft des Willens, da jeder 
von ihnen einem andern Gelenk angehört. Das Gehirn 
wird sich nur schwer der Einzelbewegung des Flexions- 
muskels bewusst (mit Ausnahme desjenigen des Daumens), 
ist aber einmal diese Schwierigkeit überwunden, so ge- 
winnt der Geist an Klarheit, denn er hat die Überzeu- 
gung über bessere Willensagenten zu verfügen. 

Das Gehirn mit seinem komplizierten Nervenapparat 
gleicht wohl am ehesten einer Telegraphen-Zentrale. Es 
ist Ausgangs- und Empfangsstation. Der in Energie um- 
gesetzte Wille ist der elektrische Strom, der sich durch 
die Nerven, welche die Leitungsdrähte darstellen, dem 
Muskelsystem mitteilt. 

Wir könnten das Gehirn etwa auch als Klaviatur 
betrachten ; wie jeder Nerv einen oder mehrere Muskeln 
„anschlägt", so setzt die durch den Fingerdruck bewegte 
Taste die dazu gehörige Saite in schwächere oder stärkere 


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Schwingungen. Je unabhängiger die einzelnen Muskeln 
von einander sind, desto mehr Tasten hat der Wille zur 
Verfügung und desto mehr gewinnt er an Bewusstsein 
und Kraftvermögen. Deshalb soll der Unterricht ausnahms- 
los bei allen Übungen darauf hinzielen, jede Bewegung 
bis aufs äusserste zu vereinfachen, indem man die syner- 
gische Zusammenziehung nur den für die gewollte Be- 
wegung unentbehrlichen Muskeln erlaubt. 

Genau so, wie die kräftig angeschlagene Taste die 
Saite in starke Schwingungen versetzt, und den Ton 
voller und anhaltender erklingen lässt, so ruft der im 
Gehirn mit einer gewissen Energie erwachte Wille durch 
den lebhafteren Nervenreiz auch eine resolutere, ange- 
spanntere Tätigkeit der Muskeln hervor. 

Furcht, Schreck, Mutlosigkeit, Hoffnungslosigkeit, 
lähmen die Willenskraft und infolge der mangelnden 
oder geschwächten Gehirntätigkeit bleiben die Muskeln 
schlaff, so dass z. B. der Ausdruck: „Vor Schrecken ge- 
lähmt“ eine physiologisch begründete Tatsache ist. Geistes- 
gegenwart dagegen, die im Moment der Gefahr nie ver- 
sagt, setzt den Organismus in die Lage, stets in Bereit- 
schaft zu sein, so dass die Nerven zu jeder Sekunde dem 
Gebote der Willensenergie Gehorsam leisten. Ein willens- 
starker Mensch vermag durch systematische Übung und 
Erziehung seine Muskeln zur höchsten Leistungsfähigkeit 
auszubilden, ebenso wie er seine „Nerven“ stets in der 
Gewalt hat. Ein mit energischem Willen begabter Mensch 
wird nie so leicht von Schrecken, Angst und Entsetzen 
erfasst werden, wie ein schwacher Charakter. Daher er- 
höht man mit dem Willen zugleich die Muskelkraft. Ein 
gutes Mittel beide zu stärken und den Geist an eine 
grössere Willensäusserung zu gewöhnen, bilden die sich 
steigernden Übungen der Muskel-Innervation. 


Wird ein bestimmter Muskel von einem vom Gehirn 
ausgehenden und durch die betreffenden Nerven geleiteten 


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Willen in Bewegung gesetzt, so tritt in den meisten Fällen 
Innervation eines oder mehrerer, dem betreffenden Muskel 
koordinierter Muskeln ein, während die subordinierten 
Muskeln sich der gewollten Bewegung stets anpassen, d. h. 
dieselbe bewusst oder unbewusst mitmachen. Z. B. bei 
der Bewegung eines Arm- oder Beingelenkes wird nicht 
nur ein Muskel angespannt, sondern das ganze Strahlen- 
bündel, welches in das zu bewegende Glied mündet. Da- 
bei müssen die Muskeln der äussersten Extremitäten sich 
sozusagen an die nächstliegenden Muskeln anlehnen, sich 
auf sie stützen, also die des Fusses auf die des Unter- 
schenkels, diese auf die des Oberschenkels und so fort. 

Mitunter sind Muskeln einer Reflex- oder Wechsel- 
wirkung unterworfen, die in ganz entgegengesetzten Körper- 
teilen liegen. 

Einzelne Bewegungen erfordern die Anspannung der 
Muskulatur des ganzen Körpers. Ein laufender Mann lässt 
die Arme nicht schlaff an der Seite hängen, sondern diese 
begleiten rhythmisch die Bewegungen des Laufenden, und 
der ganze, leicht nach vorn gebeugte Körper ist mit tätig; 
alle Muskeln sind angespannt, um den Körper im Gleich- 
gewicht zu erhalten. 

Der Lehrer kann dies mit Leichtigkeit konstatieren, 
wenn er selbst Gleichgewichtsübungen, sowie Übungen, 
welche Gleichgewicht erfordern , vornimmt: die durch un- 
bewegliche Haltung erzeugte Ruhe, die Haltübungen wäh- 
rend des Laufens und ganz besonders das langsame 
Marschieren. Dieses Mitwirken anderer Muskeln muss der 
Lehrer nach und nach vollständig kennen lernen, sonst 
kann es Vorkommen, dass er sich bemüht, gewisse bei den 
Schülern wahrgenommene Innervationen auszumerzen, da 
er sie für unnütz hält, während sie doch zum Gleichgewicht 
des ganzen Körpers nötig sind. 

Wie schon gesagt, beteiligen sich die unteren Glieder 
fast immer an den Bewegungen des Oberkörpers, der Ein- 
fluss ist gegenseitig, denn nicht nur nehmen sie an dem- 
selben teil, sondern die Haltung der Beine übt auf die 


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Tätigkeit der oberen Glieder selbst einen grossen Einfluss 
aus. Wir werden später darauf zurückkommen 


Bei der Bewegung eines Gliedes, z. B. des Fusses. bei 
welcher alle Muskeln, die nach dem Fusse führen, mit- 
machen, ist diese Tätigkeit nicht immer oder selten die 
gleiche, vielmehr wirkt dabei ein Teil der Muskeln gerade 
entgegengesetzt. Die einen sind Beugemuskeln, die anderen 
Streckmuskeln. Aber nur durch die gemeinsame Tätigkeit 
beider Muskelarten, wobei die einen die anderen gewisser- 
massen zügeln, korrigieren, kann das Glied die gewollte 
Bewegung ausführen. 

Bei Ausführung einer Bewegung ist nie ein Muskel 
tätig, ohne dass sein Gegenmuskel sich zusammenzieht, um 
seine Tätigkeit zu massigen. Dieser Widerstand ist nötig, 
um die Bewegung zu leiten und zu korrigieren. Die beiden 
Gegenmuskeln regulieren sich gegenseitig, und darum 
muss die Elastizität des der Bewegung entgegengesetzten 
Muskels grösser sein, als die Zusammenziehungskraft des- 
jenigen, der die Bewegung ausführt. Der Gegenmuskel 
kann seinen regulierenden Einfluss auf die Bewegung bis 
zuletzt ausüben, ohne seine Stärke zu vermindern. 

Die gleichzeitige Tätigkeit der Gegenmuskeln eines 
nämlichen Gliedes, dessen Bewegungen vom einen und 
anderen reguliert werden, kann ebenso gut die Innervations- 
abnahme einer Muskelgruppe, begleitet von der Inner- 
vationszunahme einer Gruppe von Gegenmuskeln bedingen, 
als eine gleichzeitige Zunahme zweier verschiedener Kräfte. 
Ich kann z. B. meinen gekrümmten Arm ausstrecken, 
bloss um ihn auszustrecken, oder ich strecke ihn, in- 
dem ich langsam ein schweres Gewicht, das ich in der 
Hand halte, herunterlasse, oder aber ich strecke ihn, um 
einen Gegenstand von mir wegzustossen. Hier sind drei 
verschiedene Fälle von Polydynamik der nämlichen Gegen- 
muskeln. Ich kann mir aber auch bloss vorstellen, ein 
schweres Gewicht in der Hand zu halten: in diesem Falle 


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müssen die Streckmuskeln des Ellbogens dieses Gewicht 
darstellen und die Krümmungsmuskeln durch ihren Wider- 
stand denselben prüfen, um ein regelmässiges Herunter- 
lassen des Vorderarmes herbeizuführen 

Wenn ich mir nun vorstellen will, ich stosse einen 
Gegenstand in der Richtung der Rückseite meines Vorder- 
armes, dann sind es die Krümmungsnerven des Ellbogens, 
welche die Widerstandskraft des Gegenstandes darstellen, 
und die Streckmuskeln, indem sie diese Kraft prüfen, 
werden versuchen, dieselbe zu überwinden. 

Um die Muskelkraft zu regulieren und zu erhöhen, 
stellt man den Muskeln eine Widerstandskraft entgegen, 
die sie überwinden oder vor welcher sie weichen müssen. 
Diese Widerstandskraft besteht in einem Gewicht (Hanteln, 
Keulen) oder einer Bewegung in entgegengesetzter Rich- 
tung, in einem fremden Gegenstand oder aber in der 
Muskeltätigkeit einer anderen Person. Mit der Zunahme 
der Kraft des Schülers wird auch die Widerstandskraft 
erhöht. 

Diese Einteilung hat den Vorteil, die synergische 
Gruppe, welche gezwungen wird, sich zu betätigen, stärker, 
bewusster und unabhängiger zu gestalten. Aber wie jedes 
spezielle Studium setzt auch sie uns der Gefahr der Aus- 
schliesslichkeit aus. Die synergischen Muskeln müssen sich 
daran gewöhnen, mit gegnerischen Gruppen zusammen zu 
handeln, sie zu beeinflussen, ihre Kraft zu überwinden, 
sich von ihnen beeinflussen zu lassen oder ihrer Kraft zu 
weichen. 

Die Übungen der Vorstellung kommen uns hier zu 
Hülfe. Denn wenn die Widerstandskraft von aussen nicht 
vorhanden ist, wir uns aber dieselbe einbilden, so geschieht 
folgendes: die synergischen Muskeln leiten das Glied in der 
gleichen Richtung, aber ihre Gegenmuskeln treten in Tätig- 
keit, um die Widerstandskraft zu ersetzen. Ich stelle mir 
z. B vor, ich habe einen schweren Stein in der Hand 
(Handfläche nach oben) und wolle ihn langsam herunter- 
lassen. Ich will ihn nicht ablegen, auch nicht fortwerfen, 


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sondern nur seine Schwere prüfen, um mir die Illusion zu 
verschaffen und sie auch andern mitzuteilen. Die Schwere 
stellt die Anziehungskraft der Erde vor, sie zieht immer 
nach unten hin. Die Schwere des Steins wird durch die 
Tätigkeit derjenigen Muskeln dargestellt, welche den Vorder- 
arm herunterdrücken, d. h. diejenigen der Rückseite. Lässt 
man den Vorderarm schnell herunter, wobei die Gegen- 
muskeln nur wenig Widerstandskraft leisten, so wird die 
ausgeführte Bewegung nicht nur die Schwere des Steins 
anzeigen, sondern auch die Schwäche meines Arms. Je 
mehr die Gegenmuskeln dem Gewicht, welches meinen 
Arm herunterdrückt, Widerstand leisten, desto besser zeigen 
sie die Schwere des Steins und den Stärkegrad der Gegen- 
muskeln an. Wird aber die Innervationskraft dieser Gegen- 
muskeln allzu sichtbar, dann wird die durch die rückseitigen 
Muskeln meines Armes dargestellte Schwere nicht mehr 
angezeigt, die Illusion der Schwere des unsichtbaren Steins 
wird verwischt durch den tatsächlichen Eindruck der Muskel- 
streckung. 

Es ist sehr interessant, die Verschiedenheit der Indi- 
vidualität beim Kinde zu beobachten und zu sehen, wie die 
zwischen der eingebildeten und wirklichen Kraft bestehen- 
den Verhältnissen und Missverhältnisse sich in der Tätig- 
keit bewahrheiten. 

Schlagen Sie den Kindern ein Spiel vor, in welchem 
sie sich vorstellen sollen, sehr schwere Steine in der Hand 
zu halten, die sie kaum zu tragen vermögen und sagen Sie 
ihnen, sie sollen tun, als ob ihr Arm so müde wäre, dass 
er unter der Last langsam sinke, so können Sie eine grosse 
Verschiedenheit in der Tätigkeit der verschiedenen Indi- 
viduen konstatieren. 

Das eine Kind wird ohne Zögern seine Muskeln in 
Innervation versetzen, so dass das Verhältnis ihrer dyna- 
mischen Mitarbeit sofort die Illusion des Spiels wachruft. 
Seine Handlung ist imaginär. Ein anderes Kind, z. B. ein 
Knabe, senkt mit vor Energie verzerrter Physiognomie seine 
geschlossene Faust mit solcher Kraft zur Erde, dass man 


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glauben könnte, einer heldenhaften Tat beizuwohnen. Er 
zeigt viel Muskelenergie, aber keine richtige Vorstellung, 
und verfehlt das Ziel. 

Ein kleines Mädchen, durch das Spiel angeregt, ist 
mit keinem seiner Glieder ruhig, seine Augen glänzen 
und sein ganzes Wesen drückt die Freude aus. Es ver- 
sucht die Bewegungen auszuführen, aber ohne Erfolg, es 
wird nervös und überreizt. Dieses Mädchen hat viel 
Phantasie, aber die Mittel zur Ausführung stehen nicht 
im Verhältnis zum Sinn des Spiels- 

Was ist zu tun, um den energischen Knaben und 
das nervöse Mädchen instand zu setzen, ihre Muskeln in 
gleicher Weise zu betätigen wie das erste soviel Einbil- 
dungskraft besitzende Kind? Jedes derselben muss als 
Ausgangspunkt das ihm Bekannte wählen, um von da aus 
das Unbekannte zu suchen. Der Knabe kennt das Ge- 
fühl der Muskel-Innervation, er muss sich dasselbe auch 
vorstellen lernen, das Mädchen hat Einbildungskraft, es 
muss auf das Verhältnis zwischen Vorstellung und phy- 
sischer Darstellung aufmerksam gemacht werden. Nehmen 
Sie seine Hand, legen Sie die Ihrige geschlossen darein 
mit genügender Energie, um die seinige herunterzudrücken. 
Bedeuten Sie ihm, es solle Widerstand leisten und richten 
Sie dann den Druck Ihrer Hand so ein, dass sie die Kraft 
des Mädchens ein wenig übersteigt. Jetzt wird sein Vor- 
derarm bei allem Widerstand sinken- Lassen Sie es her- 
nach aufmerksam zuhören, was Sie dem Knaben erklären 
und gut achten auf die von ihm ausgeführten Bewegungen. 
Dann sagen Sie zu Letzterm: „Strecke deinen Vorder- 
arm, Handfläche oben, und verharre mit steifem Arm in 
dieser Haltung. Ohne den Arm schwächer werden zu 
lassen, senke ihn ganz langsam herunter. Du wirst aller- 
dings keine Schwere auf der Hand verspüren, aber hast 
du nicht im Arm, im Vorderarm, im Handgelenk das 
Gefühl, als ob du etwas schweres trügest?“ — Hat er 
dies begriffen und die Bewegung ausgeführt, dann lassen 
Sie das gleiche auch von dem nervösen Mädchen wieder- 


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holen, denn es hat bisher erst die einfache Innervation 
der synergischen Muskeln geübt und muss nun noch die 
Übung der gleichzeitigen Innervation der Gegenmuskeln 
vornehmen, und wie der Knabe, lernen, dass unsere Muskeln 
die ausführenden Organe unserer Vorstellung sind. 

Es ist von ausserordentlichem Wert, sich über diesen 
inneren Zusammenhang klar zu werden, da nur dann eine 
systematische Ausbildung möglich ist- Um die Energie 
im Gehirn auszulösen, d. h. um den Willen zu erregen, 
muss das Gehirn denken, also ist der Gedanke der Vater 
des Willens. Wie nun von frühester Kindheit an das 
Vorbildliche im Kind, die Idee, den Begriff, die Anschauung 
weckt, und aus diesen sich Wunsch und Wille entwickeln, 
so bleibt das Vorbild unser ganzes Leben lang einer der 
mächtigsten Faktoren unseres Denkens und Willens: Es 
erregt unsern Nachahmungstrieb. 

Der Knabe, welcher die Heldentat Jung Siegfrieds 
gelesen, bewaffnet seinen schwachen Arm mit dem Holz- 
schwert und tötet gedachte Drachen und Riesen. Wenn 
wir einen Fechter in künstlerisch schöner Pose elegant 
parieren sehen, spannen sich unwillkürlich unsere Muskeln 
zur männlichen Bewegung an. Das Vorbild erweckt unsere 
Vorstellung und kann also, wenn im ersteren alle Gesetze 
der Harmonie und Aesthetik erfüllt sind, von grossem er- 
zieherischem Wert für uns sein. Haben wir daher ein- 
mal von Jemand eine Bewegung mit tadelloser Korrekt- 
heit ausgeführt gesehen, so prägt sich dieses Vorbild 
unserem Gedächtnis ein, so dass, wenn wir selbst die 
nämliche Bewegung machen wollen, unwillkürlich an 
jenes Vorbild denken. Wir führen die Bewegung erst in 
Gedanken aus, und nun setzt sich der Gedanke in Energie 
(Wille), die Energie in Tat um, und die Bewegung ge- 
schieht. So ergibt sich von selbst die Regel, dass eine 
Bewegung besser, korrekter ausgeführt wird, wenn der 
Gedanke sie im Gehirn vorbereitet. 

In entgegengesetztem Sinne kann eine Muskeltätig- 
keit fördernd und belebend auf die Tätigkeit des Gehirnes 


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wirken. Beim Sprechen, beim Singen, ja sogar beim 
Nachdenken macht man gerne entsprechende Gesten, als 
ob man mit dieser Bewegung das Wort oder den Ton 
leichter hervorbringen könnte. 

Es ist leicht ersichtlich, dass in dieser Wechselwirkung 
der Gehirn- und Muskeltätigkeit stets auf gleichmässige 
Ausbildung zu achten ist, da bei einseitiger Pflege not- 
wendig eine Vernachlässigung der anderen Funktion ein- 
tritt. Der Athlet, der nur an die Pflege und Kräftigung 
seiner Muskeln denkt, läuft Gefahr, wie von massgebenden 
Physiologen konstatiert worden ist, geistig beschränkt zu 
bleiben. Der Stubengelehrte kann leicht körperlich zum 
Schwächling werden. Die alte Weisheit der Griechen 
und Römer: „mens sana sit in corpore sano“, ist für uns 
eine natürliche Forderung der Aesthetik und des körper- 
lichen und geistigen Wohlbefindens. 

Es bleibt noch eine dritte Wechselbevvegung zu 
erwähnen, die der Muskelbewegung selbst; nämlich, die 
Energie, die in der Bewegung eines Muskels ausgelöst 
wird, kann dazu dienen, die Bewegungsenergie in einem 
anderen Muskel zu wecken oder zu beleben. Leicht er- 
klärlich sind hierbei congruente Bewegungen. Eine Be- 
wegung, die uns mit einem Arm schwer fällt, gelingt oft 
leichter, wenn wir sie mit beiden Armen zugleich aus- 
führen. (VergL Tonleitern mit beiden Händen gespielt!) Aber 
auch Bewegungen des Armes oder der Hand können mit- 
unter methodisch gefördert oder gekräftigt werden, wenn 
man sie durch eine passende Bewegung des Beines oder 
Schenkels vorbereitet. Die Innervation der Muskeln der 
unteren Extremitäten wirkt belebend auf die Arm- und 
Handmuskeln. Beim Unterricht lege man daher besonders 
Gewicht darauf, den Zusammenhang zwischen Vorstellung, 
Gedanke, Wille und Kraft genügend klar zu machen. 


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3. Vortrag. 


Von frühester Kindheit an sollte man darauf bedacht 
sein, das Muskelempfinden auszubilden. Denn wie das 
Auge nur durch Übung und praktische Anleitung sich 
daran gewöhnt, Entfernungen richtig abzuschätzen und die 
Grössenverhältnisse der Dinge zu unterscheiden, so müssen 
wir lernen, Kraft und Bewegungsrichtung der Muskeln 
der gewollten Tätigkeit entsprechend zu modifizieren. 

Nur wenn wir mit absoluter Sicherheit bestimmen 
können, welches Mass von Kraft anzuwenden ist, und 
welche Richtung bei der Muskeltätigkeit einzuhalten ist, 
um eine Bewegung auszuführen, also erst wenn wir Mus- 
kelempfindung besitzen, können wir die entgegengesetzt 
wirkenden Muskeln dem Willen gehorsam machen, und 
sie zweckmässig gebrauchen. 

Auch bei der rhythmischen Bildung liegen die beiden 
Hauptfehler, gegen die der Schüler kämpfen muss, ent- 
weder in dem „zu viel" oder in dem „zu wenig“. Um 
zur richtigen Mitte für jeden gewollten Grad der An- 
spannung zu gelangen, gibt es keine besseren Übungen, 
als die des crescendo und des diminuendo der Spannung. 
Die Vermehrung und Verminderung der Nervenwirkung 
in geregelten Zeiträumen wird zur Entwickelung des 
Muskel-Empfindens beitragen. Das Muskel-Empfinden gibt 
dem Kinde das Bewusstsein seiner eigenen Kräfte. Diese 
Übungen lassen sich in ihren Abstufungen mit den 
Übungen der Stimme beim portando-Singen (Miauen) 
vergleichen. 


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Beim Übergleiten von einer Stufe zur anderen wer- 
den schliesslich alle Grade der Nervenerregung dem Zög- 
ling zu Gebot stehen. 

Wir wenden die Übungen des crescendo und des dimi- 
nuendo noch zu einem anderen Zwecke an. Wie schon 
gesagt, muss man dahin kommen, alle unnötigen Bewe- 
gungen auszuschalten. Ein wirksames Mittel dazu besteht 
darin, den Muskeln, welche das Bestreben haben, un- 
nötigerweise an Bewegungen teilzunehmen, andere Pflichten 
anzuweisen. Die Übungen zur Ausbildung der gegen- 
seitigen Unabhängigkeit der Glieder (Kap. V unserer 
Methode) entziehen eine Muskelgruppe dem unnützen Ein- 
fluss anderer Muskelgruppen. Sie enthalten sowohl ver- 
schiedene und gleichzeitige Abstufungen von zwei oder 
drei verschiedenen Gliedern, als auch solche in verschie- 
denen Richtungen. Beide zielen darauf hin, die Muskeln 
von einander unabhängig zu machen und das Muskel- 
Empfinden zu vervollkommnen. 

Wenn z. B. ein Schüler sich darüber beklagt, dass 
die Ausführung einer energischen Bewegung beim Nieder- 
schlag ihm weh tut, sei es in der Schulter, sei es im Arm, 
so ist er in den meisten Fällen selbst schuld infolge 
mangelhafter Haltung des bewegten Gliedes. Anstatt den 
Arm in der gewünschten Richtung zu bewegen, hat er ihn 
fortgeschleudert, wie einen fremden Gegenstand. Nun ist 
aber der Arm kein Gegenstand, den man loslassen kann; 
daher müssen die zusammenwirkenden und die entgegen- 
gesetzt wirkenden Muskeln (Schulter-, Ellbogen-, Handge- 
lenk- oder Finger-Muskeln) nicht nur im Anfang der Be- 
wegung Energie zeigen, sondern ihre Zusammenziehung 
bis nach dem rhythmischen Moment des Bewegungsendes 
fortsetzen. 

Der Fehler, den Arm zu schleudern, anstatt ihn zu 
bewegen, kann auf verschiedene Weise begangen werden. 

1. Die Schultermuskeln schleudern und erschlaffen : 
der ganze Arm ist der geschleuderte Gegenstand; dem 
ganzen Arm fehlt die Haltung am Schluss der Bewegung ; 


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der Oberkörper nimmt ebenfalls mangelhafte Haltung ein. 
Schmerzen können sich in der Schultergegend, an der 
Brust- oder Rückenseite fühlbar machen. 

2. Die Schultermuskeln führen eine stetige Bewegung 
bis zum Ende aus, aber die Ellbogenmuskeln schleudern 
und werden dann schlaff: der Vorderarm und die Hand 
sind der geschleuderte Gegenstand und ihnen fehlt die 
Haltung im rhythmischen Moment. Schmerzen können 
sich in der Ellbogengegend einstellen. 

3. Wenn nur die Hand der geschleuderte Gegen- 
stand ist, so ergeben sich daraus gewöhnlich keine 
Schmerzen. Es ist jedoch ein Mangel an Rhythmus vor- 
handen, wenn ein Glied während einer Bewegung und im 
rhythmischen Moment keine Haltung hat, und die geistige 
Entwickelung wird darunter leiden, wenn eine Muskel- 
gruppe ihren Einfluss auf die Nerven nicht ausübt und 
durch sie dann auch nicht auf die Nervenzentren, auf den 
Willen, wirkt- 

Die crescendo und decrescendo-Übungen tragen dazu 
bei, die Fortsetzung der Energie in der Haltung der 
Glieder zur Empfindung zu bringen. Ein im Zustande 
der Zusammenziehung befindliches Glied in Bewegung zu 
setzen, wie dies bei den vorbereitenden Übungen zu den 
langsamen Märschen geschieht (cfr. Ende des ersten Ban- 
des) ist das beste Mittel hiefür. Die entgegengesetzt wir- 
kenden Muskeln, Streck- und Beugemuskeln, können eine 
geschmeidige, zielbewusste Bewegung in dem betreffenden 
Gliede nur dann ermöglichen, wenn das Bewusstsein, ver- 
möge des Muskelempfindens über den Anteil, den jede 
Muskelart an der Bewegung in Bezug auf Kraft und Rich- 
tung haben muss, vollkommen klar ist, d. h. wenn die 
entgegengesetzt wirkenden Muskeln in harmonischem Ein- 
klang stehen, indem die eine Art sich der anderen an- 
passt. Tun die Muskeln dies nicht, sondern wirken sie 
zu früh oder zu spät, oder ist ihre Anspannung eine 
schlecht regulierte, dann wirken sie nicht nur störend auf 


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die gewollte Bewegung, sondern sie verhindern sie. Das 
Glied, anstatt die gewollte Bewegung auszuführen, bleibt 
unter eigenwilliger, gleichzeitiger Forcierung der Beuge- 
und Streckmuskeln steif, d- h. im Zustand der statischen 
Kontraktion. 

Die statische Zusammenziehung (Gleichgewicht in 
der Muskel-Kontraktion) ist für jede Haltung oder Lage 
nötig, in der wir unbeweglich bleiben, ausgenommen für 
das ausgestreckte Liegen. 

Je mehr das Gewicht des Körpers auf dem gewähl- 
ten Unterstützungspunkt sich im Gleichgewicht befindet, 
um so weniger bedarf es der statischen Kontraktion und 
um so weniger wird die Haltung ermüden. Je mehr das 
materielle Gewicht des Körpers nach einer Seite des ge- 
wählten Unterstützungspunktes sich neigt, desto mehr 
müssen die Muskeln das Gegengewicht nach der anderen 
Seite abgeben, dadurch, dass sie in statische Kontraktion 
übergehen, und um so ermüdender wird die Haltung sein. 

Die Ruhestellungen und die Übungen des Haltens 
finden bei unserer Methode ihre Verwirklichung im 
unbeweglichen Anhalten bei verschiedenen Graden der 
Schwierigkeit. Hält die statische Kontraktion zu lange 
an, dann stellt sich leicht eine krankhafte Erstarrung des 
Gliedes ein, die wir mit allgemeiner Steifheit bezeichnen. 
Sie macht es dem betreffenden Glied unmöglich, die Be- 
wegung zu vollziehen. In diesem Falle wird der rhyth- 
mische Moment des Bewegungsanfangs verzögert werden. 
Indessen ist die dauernde Zusammenziehung nicht die 
einzige Ursache der Steifheit. Sie kann im selben Augen- 
blicke durch den Willen aufgehoben werden, während die 
Steifheit, die von Natur vorhanden und nicht gewollt ist, 
die aus einem Mangel an Biegsamkeit in den Sehnen und 
Muskeln (schon im Zustand der AVc/?/zusammenziehung) 
entsteht, nur durch die Übung der ihrer Steifheit ent- 
gegengesetzten Bewegungen oder auch durch Massage 
beseitigt werden kann. Gegen solche Steifheit kann man 
nicht zeitig genug ankämpfen. 


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Es ist ganz unbegreiflich, dass die sogenannten 
Kultur -Völker so vernünftige Gewohnheiten haben auf- 
geben können, wie man sie heute noch bei den soge- 
nannten ungebildeten Rassen findet. Denken Sie nur an 
die japanischen Mütter, welche sich mit den Gelenken 
ihrer kleinen Kinder beschäftigen! Nach den Überliefe- 
rungen ihrer Rasse ist die Geschmeidigkeit der Glieder 
eine für das Leben notwendige Eigenschaft, und es gibt 
keinen Japaner und keine Japanerin, die sich nicht auf die 
Massage des ganzen Körpers verstünde. Die Kinder 
europäischer Eltern, welche einer japanischen Dienerin 
anvertraut werden, bekommen ebenso geschmeidige Glieder, 
ebenso biegsame, elastische Muskeln und Sehnen, wie 
die japanischen Kinder selbst. Wenn sie im reiferen 
Alter sich weiter beobachten und ebenso ernst und ge- 
wissenhaft sich üben, wie in der Zeit ihrer Kindheit, so 
bleibt ihnen Geschmeidigkeit und Energie während ihres 
ganzen Lebens eigen. Können die europäischen Mütter 
sich mit den japanischen vergleichen, ohne sich zu 
schämen? Von ersteren kennt keine den Körper ihres 
Kindes, keine bildet seine Glieder aus; ja etwa sieben Jahre 
nach seiner Geburt, wenn das Üben am Klavier beginnt, 
da bemerken sie, dass die Hand des Kindes vorher hätte 
geschmeidig gemacht werden können. Die japanische 
Mutter dagegen verliert keinen Tag. Vom ersten Lebens- 
moment ihres Kindes an gibt sie sich Rechenschaft vom 
Spiel der Gelenke des kleinen Wesens, jeden Tag massiert 
sie dieselben und übt sie ein für die notwendigen Be- 
wegungen. Wo sind bei uns die Frauen, die die genauen 
Funktionen der Gelenke und der Muskeln ihrer Kinder zu 
kennen wünschen, und die sich darüber Rechenschaft 
geben, dass an späterer Nervosität oder an allgemeiner 
Ungelenkigkeit nur ihre Unkenntnis und Unfähigkeit als 
Mutter schuld ist? 

Der Japaner kennt die Notwendigkeit, seinen 
Körper elastisch und geschmeidig zu machen. Der 
Europäer, der in Japan gewohnt hat und nach Europa 


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zurückgekehrt ist, erinnert sich dankbar der Dienste, 
die ihm seine japanischen Kuli leisteten. Nach einem 
langen und ermüdenden Ritte nahm er ein Bad, und 
der Japaner war da, um ihn an allen Gliedern zu mas- 
sieren. Die Muskeln fanden ihre Elastizität wieder und 
*/* seiner Ermüdung verschwanden bei dieser Behandlung. 
Welcher europäische Diener würde imstande sein, es 
hierin seinen japanischen Kollegen gleichzutun ? Ist der 
Herr selbst imstande, eine solche wiederbelebende Be- 
handlung seiner Glieder vorzunehmen? Es gibt Sports- 
leute, welche die Notwendigkeit empfinden, die Energie 
ihrer Muskeln, die Geschmeidigkeit ihrer Glieder zu ent- 
wickeln. Aber nennen Sie mir den Tennisspieler, den Fuss- 
ballspieler, den Luftschiffer, der sich täglich eine Viertel- 
stunde der physischen Erziehung seines Knaben oder 
seines Mädchens widmet? Wer ist darauf bedacht, die 
Körperbewegungen seines Kindes harmonisch, seine Ge- 
lenke geschmeidig zu bilden, seine Muskeln zu kräftigen 
und zwar vom ersten Lebenstage an? Wo ist der Vater, 
der seiner Frau bei dieser Aufgabe bereitwillig hilft, auf 
welche sie ja nicht vorbereitet ist? Wenn wir Lehrer 
uns der rhythmischen Erziehung der Kinder von ihrem 
sechsten Jahre an widmen, sollten wir da nicht verlangen 
dürfen, dass die Eltern uns Kinder übergeben, die für 
Muskelbewegungen gut vorbereitet sind? 

Es gibt Ausnahmen von Eltern, aber nicht viele, die 
diesen Zweig der Erziehung sehr ernst nehmen, in dem 
Sinne, wie wir es verstehen. Ein einziges Beispiel will 
ich Ihnen in Erinnerung rufen und Ihnen ganz besonders 
die Lektüre des weit verbreiteten Buches empfehlen, das 
den Titel führt: ,.Mein System“. Von einem Dänen ver- 
fasst, ist es ins Deutsche, Französische, Englische und 
Holländische übersetzt worden. Dieses System der Gym- 
nastik und der Massage sollte jedermann an sich und 
seinen Kindern anwenden. Es ist sehr leicht zu verstehen 
und nimmt täglich nur eine Viertelstunde in Anspruch, 
kann aber nicht genug gepriesen werden. 

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Wir kommen auf die Methode der rhythmischen 
Gymnastik zurück. 

Um den Körper in straffer Zucht zu haben, den Be- 
wegungen elastische Kraft und Geschmeidigkeit zu ver- 
leihen, muss man alle Bewegungen der Arme und Beine 
mit der Haltung des Körpers in Einklang zu bringen suchen. 
Dabei hat also jeder Muskel seine bestimmte Aufgabe, 
seine eigene Rolle. 

Erfüllt jeder Muskel die. ihm zufallende Aufgabe, 
dann erzielt man durch das harmonische Zusammenwirken 
der Muskeln die Harmonie der Bewegung und die Be- 
wegung erfordert nicht mehr Kraft, als nötig ist. Bleibt 
aber der eine oder der andere Muskel untätig, dann wird 
die Bewegung linkisch, ungeschickt oder unnatürlich und 
erfordert zudem einen bei weitem grösseren Kraftaufwand. 
Mithin müssen alle Bewegungen erst geübt werden. 

Will man eine Bewegung, z. B. einen Schlag, aus- 
führen, während die Muskeln bis zum Moment des Schla- 
gens in träger Ruhe, d. h. abgespannt waren, so wird der 
Schlag bei weitem nicht die Wirkung haben, als wenn 
die Muskeln schon vorher vorbereitet, d. h. angespannt 
waren. Wie man ein Instrument bei kalter Temperatur 
erst warm spielen muss, ehe ein richtiger, schöner und 
voller Ton erreicht wird, so erzielt man auch durch 
Warmarbeiten der Muskeln eine höhere Spannkraft und 
Elastizität. Die Erwärmung und Anspannung der Muskeln 
kann auch durch eine plötzliche Einwirkung der Gehim- 
tätigkeit erzielt werden, z. B. im Zustande des Zornes, 
der Wut, der Todesangst, wo die Muskelkraft ganz plötz- 
lich zur höchsten Leistungsfähigkeit angespannt wird. 

Von der Freude und von dem Nutzen des Spieles 
wird im nächsten Vortrag gesprochen werden. 

Wenn ein Muskel lange Zeit angespannt bleibt, oder 
in häufiger Wiederholung sich strecken und zusammen- 
ziehen muss, dann stellt sich sowohl in den Nervenzentren, 
von denen der Muskelreiz ausgeht, als auch in den im 
tätigen Glied direkt beteiligten Nerven eine Über- 


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reizung, ein lebhaftes Schmerzempfinden ein; das ist die 
Ermüdung, die zugleich in dem überanstrengten Gliede, 
wie im Gehirne selbst empfunden wird. Diese Über- 
reizung der Nerven ruft eine Reaktion derselben hervor, 
und die Folge davon ist, dass sie ihre Tätigkeit einstellen, 
also sich ausruhen. Der Reiz auf den Muskel hört auf 
und auch dieser ruht. Die Ermüdung des Muskels oder 
das Bedürfnis, sich auszuruhen, stellt sich in dem Masse 
langsamer ein, als das Gehirn weniger an der Tätigkeit 
der Bewegung beteiligt ist. 

Man kann aber durch zweckmässige Schulung 
der Gehirn- und Nerventätigkeit, durch kluge Mässigung 
des Nervenreizes auf den arbeitenden Muskel der Ermü- 
dung möglichst lange Vorbeugen, besonders dadurch, dass 
man den Muskel nie kräftiger anspannt, als nötig ist. 

Dr. Lagrange sagt: 

Bei gleicher Muskelarbeit ist das Gefühl der Ermü- 
dung um so stärker, je intensiver die Mitwirkung der 
geistigen Fähigkeiten, also des Gehirns, bei der Übung 
sein muss. 

Die Lehre, die wir uns daraus für unsere Methode 
ziehen, ist folgende : die Rhythmen müssen so lange 
wiederholt werden, bis der Wille dabei nicht mehr mitzu- 
wirken braucht. 

Sie werden dann ohne Ermüdung ausgeführt werden. 
Wir werden gute rhythmische Gewohnheiten geschaffen 
haben. 

Wie schon im letzten Vortrage gesagt wurde, ist 
das Marschieren von allen Übungen diejenige, deren Be- 
wegungen am leichtesten automatisch werden. Der Marsch 
ist das A und O unserer Methode. 

Wenn sich im Gehirn die Idee des Willens, eine Be- 
wegung auszuführen, gebildet hat, so erweckt der Wille 
gleichzeitig das Bewusstsein, welcher Muskel angereizt 
werden muss, und welche Muskeln in Mitwirkung zu treten 
haben. Das Gehirn bestimmt ganz genau den Grad der 
anzuwendenden Kraft und reguliert so die Spannweite des 


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Muskels, sowie die Mitarbeit der Nebenmuskeln, und ver- 
hütet das ungeschickte Eingreifen eines Gegenmuskels. 
Auf diese Weise lernt der Wille, mit der Muskelkraft 
sparsam umzugehen 

Wille und Vorstellung erziehen die Muskeln; aber um 
eine Bewegung zweckmässig und korrekt auszuführen, ge- 
nügt es noch nicht, dass Vorstellung und Wille sich der 
Bewegung bewusst sind, nein, man muss die Bewegung 
ausführen; nur so kann man sie studieren und lernen, den 
richtigen Weg einzuschlagen. Man kann jede, auch die 
kleinste Bewegung auf verschiedene Arten, mit mehr oder 
weniger Aufwand von Kraft und Energie ausführen, deren 
oft sehr feine Nuancierungen sich der oberflächlichen Be- 
obachtung entziehen. Nur im Selbststudium, in der wieder- 
holten Übung lernt man diese Varianten kennen, und der 
Geist, die Gehirntätigkeit, die Willensenergie, unterstützt 
von der natürlichen Veranlagung der Organe, lässt uns 
unter den verschiedenen Arten der Bewegung diejenige 
erkennen, die in kürzester Frist und mit dem kleinsten 
Mass von Kraftanstrengung ausgeführt werden kann. 

Übung macht den Meister. Wer eine Bewegung, oder 
eine aus mehreren Bewegungen zusammengesetzte Tätigkeit 
lange geübt hat, lernt dabei so weise und sparsam mit 
seiner Kraft umgehen, hat die in Tätigkeit versetzten 
Muskeln dermassen in seiner Gewalt, dass er die Arbeit 
spielend, mit grösster Leichtigkeit auszuführen vermag, die 
einem anderen, der die Bewegung nur aus der Anschauung, 
also nur in Vorstellung und Wille kennt, unmöglich ist. 

Eine häufige, tägliche Übung einer Bewegung bewirkt 
eine schnellere, glattere Reizwirkung der Nerven auf die 
in Frage kommenden Muskeln; sie stellt einen innigeren 
Kontakt zwischen der im Gehirn ausgelösten Willensenergie 
und der Muskeltätigkeit her; die Muskeln gewöhnen sich 
an den in gleicher Weise ausgeübten Reiz und reagieren 
rascher und leichter, und die Nerven vermögen einer 
Reflexbewegung leichter Widerstand zu leisten, oder eine 
solche gänzlich zu besiegen. Die tägliche Übung und die 


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dadurch sich einstellende Gewohnheit erhöht also bei auf 
das geringste Mass beschränktem Kraftaufwand nicht nur 
die Spannkraft und Beweglichkeit der Muskeln, sondern 
wirkt auch kräftigend und belebend auf die Energie des 
Willens, wie auf den ganzen Organismus. 

Wenn es sich also darum handelt, einen Schüler eine 
Anzahl rhythmischer Übungen in gleich massiger, rascher 
Folge ausführen zu lassen, so muss man zunächst bedacht 
sein, die Muskeln des Schülers nach der Methode unserer 
rhythmischen Gymnastik eine Reihe von Vorübungen aus- 
führen zu lassen, d. h. sie methodisch zu erziehen. Denn 
dass der Schüler die Bewegung versteht, sich Zweck und 
Ausführung derselben innerlich vorstellt, genügt noch nicht; 
er muss sie selbst ausführen, sie üben. Und je mehr die 
Muskeln rhythmisch ausgebildet werden, um so leichter 
folgen sie dem von der Energie ausgehenden Nervenreiz. 
Wenn man meint, nur durch die Willensenergie eine vor- 
bildlich aufgefasste, gewollte Bewegung ausführen zu können, 
kann man sehr leicht einer grossen Täuschung zum Opfer 
fallen. 

Wie oft sehen wir jemanden eine Bewegung aus- 
führen, die wir vielleicht noch nie gemacht haben, die uns 
aber äusserst einfach und kinderleicht vorkommt. Wollen 
wir jedoch die uns nur in der Anschauung, praktisch aber 
nicht bekannte Bewegung selbst machen, so erkennen wir, 
dass wir sie nicht ausführen können, da es uns gänzlich 
an Übung gebricht. 

Die unnützen Zusammenziehungen der Muskeln zu 
vermeiden, ist nicht nur, wie schon gesagt, nötig, um der 
Wirkungen willen, die sie auf die Gehirn-Nerven haben, 
sondern wir bezwecken damit auch einen geringeren Kraft- 
verbrauch. Man erreicht ein Minimum der Anstrengung 
und ein Maximum der Wirkung. 

Ein sehr wichtiger Faktor bei der Ausübung einer 
Tätigkeit, einer Bewegung, ist die Mitwirkung der Lunge, 
das Atemholen. 

Der Nerv, der auf die Lungentätigkeit und somit auf 
das Atemholen ein wirkt, mündet wie alle anderen Nerven, 


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im Zentralnervensystem des Rückenmarks, von wo die 
Zentralleitung nach dem Gehirn führt. 

Ist der Lungennerv schon an und für sich, ohne 
besondere Willenskraft des Gehirnes, unausgesetzt auto- 
matisch tätig, so ist er auch der Reflexbewegung ausgesetzt, 
d. h. der Lungennerv kann durch einen rein äusserlichen, 
von der Willenstätigkeit unabhängigen Reizanlass getroffen 
werden und die Lungentätigkeit verstärken oder verlang- 
samen, oder momentan ganz hemmen; dies erklärt die 
Erscheinung des Schnelleratmens oder Atemstockens. Jede 
kombinierte Muskelbewegung wirkt direkt oder indirekt 
auf den Lungennerv und übt einen lebhafteren oder schwä- 
cheren Reiz auf denselben aus. Bei sehr angestrengter 
Muskelbewegung tritt beschleunigtes Atemholen ein, z. B. 
beim Holzsägen, beim Hämmern, Heben, Schieben u s w-, 
besonders aber beim Laufen. 

Bei plötzlichen Einwirkungen auf das seelische oder 
körperliche Empfindungsvermögen tritt dagegen vielfach 
Atemstockung ein, weil der Stoss, welcher die Gehirn- 
nerven oder die Hautnerven trifft, im Zentralnervensystem 
eine Reflexbewegung auslöst, die sich dem Lungennerv 
mitteilt, so z. B. lässt plötzlicher Schreck den Atem stocken, 
ebenso, wie eine kalte Douche den plötzlichen Stillstand 
des Atems veranlasst. 

Unter normalen Umständen geht die Lungentätigkeit 
parallel mit der Muskeltätigkeit vor sich, nur mit dem 
Unterschiede, dass bei angestrengter Muskelbewegung die 
Lungentätigkeit, welche dem gesamten Kraftaufwand ent- 
spricht, viel eher erlahmt, d. h. ein Ausseratemsein bewirkt, 
während die Muskeln nicht so schnell ermüden. Die 
Muskeln ergeben zusammen eine bedeutende Summe von 
Kraft; aber jeder einzelne für sich hat doch nur einen Teil 
der Bewegung zu leisten. Um dem zu raschen Ausser- 
atemkommen vorzubeugen, kann man die Lungentätigkeit 
üben und erziehen, wie man die Muskelübung methodisch 
betreibt. Durch erhöhte Energie und Willenskraft kann 
man auch bei lebhafterer Muskeltätigkeit die Lunge an 


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ein regelmässiges Ein- und Ausatmen gewöhnen. Denn 
der Fehler beim Atmen besteht meistens darin, dass man 
wohl die Luft voll einzieht, aber sich nicht Zeit genug 
nimmt, sie in regelmässigen Pausen wieder auszuatmen; 
man stösst die Luft aus und atmet unregelmässig. Die 
hierdurch hervorgerufene Reaktion des Lungennervs teilt 
sich dem gesamten Nervensystem mit und es stellt sich 
ein gewisses Übelbefinden und Erschlaffung der Muskel- 
tätigkeit ein. 

Am leichtesten kann man die Lunge an geregelte 
Tätigkeit gewöhnen bei mechanischen rhythmischen Be- 
wegungen, z. B. beim Laufen. Durch fortgesetzte Übung 
lassen sich die Lungennerven und Muskeln so erziehen, dass 
man imstande ist, eine sehr grosse Strecke im Laufschritt 
zurückzulegen, ohne zu ermüden, ohne ausser Atem zu 
kommen. Es ist also unbedingt erforderlich, zugleich mit 
der Muskelübung auch die Lunge zu üben und das Atem- 
holen genau zu überwachen. Die Übungen der Atem- 
Gymnastik können immer mit den rhythmischen Übungen 
der Glieder kombiniert werden. Also wenn z. B. die Be- 
wegungen der Darstellung der halben Note automatisch 
geworden sind, so kann man das Atmen beim Marsche auf 
folgende Weise regulieren: 



Eine für die Kinder amüsante und für die Kontrolle 
des Lehrers praktische Übung besteht darin, dass man die 
Ausatmungen auf die tonlosen Konsonanten f, s oder ch 
ausführen lässt (siehe die im 3. Kapitel des ersten Bandes 
der Methode enthaltenen rhythmischen Atemübungen). 
Diese Übungen können atmend und marschierend zu glei- 
cher Zeit vorgenommen werden. Der Marsch ergänzt die 
Übungen unserer Atem-Muskeln. (II. Band der Methode.) 


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Die Lunge enthält eine Menge kleiner Zellen und 
Bläschen, die dazu bestimmt sind, die Luft in sich aufzu- 
nehmen. Tritt die Luft in die Lungenzellen, so dehnt sich 
die ganze Lungenmasse aus und bewirkt das Heben des 
Brustkastens. Der letztere gibt allen Bewegungen der 
Lunge nach ; er befindet sich in grösster Ausdehnung, wenn 
die Lunge, d. h. alle Lungenzellen mit Luft angefüllt sind ; 
strömt die Lunge dagegen alle Luft aus, dann sinkt der 
Brustkasten zusammen. Im Zustand der Ruhe, d. h. bei 
massigem Atemholen, füllen sich nicht alle Lungenzellen 
mit Luft, sondern ein Teil derselben bleibt untätig, und die 
Lunge bewirkt nur ein massiges Heben und Senken der 
Brust. Am besten können wir das bei mangelhafter oder 
schlechter Luft beobachten, welche von der Lunge nur 
widerwillig eingeatmet wird. Bewegen wir uns dagegen 
in reiner, ozonreicher Luft, so wird die Lungentätigkeit 
angeregt; die Luft dringt in alle Lungenzellen, auch in die 
kleinsten der äussersten Spitzen, so dass die Lunge ihre 
grösste Ausdehnung annimmt und den ganzen Brustkasten 
weitet. Wird man der Lunge oft gute reine Luft zuführen 
und sie an regelmässiges volles Ein- und Ausatmen ge- 
wöhnen, so werden dadurch alle Lungenbläschen daran 
gewöhnt, aus ihrer Untätigkeit herauszutreten und stets am 
Atemholen teilzunehmen. Es ist ein grosser Irrtum, wenn 
man glaubt, das Heben und Senken des Brustkastens allein 
könne das Atemholen regulieren. Nein, nur das regel- 
mässige, langsame Einatmen der Luft übt und kräftigt die 
Lungenzellen, und erst die sich ausdehnende Lunge weitet 
den Brustkasten. 

Wie regelmässige Übung die Muskeln kräftigt, sie 
elastisch und geschmeidig macht, so kann ein zweckmässiges, 
geregeltes Atmen auch die Lungenmuskeln und Lungen- 
zellen kräftigen und beleben und dazu empfehlen wir be- 
sonders gymnastische Übungen, die ein rhythmisches tiefes 
Atemholen verlangen und ermöglichen. 

Wie aber nun in weiterer Folgerung die Muskeln bei 
methodischer Übung neben Kraft und Elastizität auch an 


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Volumen gewinnen, d- h. dicker, straffer werden, so er- 
weitert sich durch die lebhaftere Tätigkeit aller Lungen- 
zellen die ganze Lunge auch im Zustand der Ruhe; durch 
die kräftigere Atmung tritt in den Blutgefässen der Zellen- 
gewebe eine lebhaftere Zirkulation ein, und die Lungen- 
masse gewinnt an Umfang. Dadurch hebt sich der Brust- 
kasten und bleibt auch bei ausgeatmeter Lunge leicht ge- 
wölbt. 

Eine so entwickelte Lunge befähigt, auch bei erhöhten 
Anstrengungen der Muskeln, zu einem regelmässigen Atmen 
und wird auch bei heftigen äusseren Reizwirkungen auf 
das Nervensystem nicht so leicht in Stockung geraten. 

Es besitzt aber der durch die Lungen zu erweiternde 
Brustkasten zahlreiche Gliederungen und Gelenke, gebildet 
vom Brustbein, den Rippen der Vorderseite des Körpers, 
den Rückenwirbeln und den Rippen der Rückseite des 
Körpers. Diese Gelenke werden nicht nur in passiver 
Weise dadurch, dass die Atmung die Wände des Brust- 
kastens erweitert, sondern auch in aktiver Weise in Be- 
wegung gesetzt. Die zwischen den Rippen liegenden Mus- 
keln ziehen sich unter dem Einfluss des Willens zusammen. 
Die Rippenhebel, die an den Rippenwirbeln ebenso wie 
an den Rippen befestigt sind, stellen sich gleicherweise 
unter die Herrschaft des Willens. 

Es gibt viele Fälle, wo die Atmungstätigkeit nicht 
ausreicht und wo weder die Rippenhebel noch die Mus- 
keln zwischen den Rippen gewöhnt sind, sich zusammen- 
zuziehen. 

Das Resultat davon ist: Steifheit in der ganzen Rippen- 
Gliederung. Wenn auch der Brustkasten als Masse kein 
besonders grosses Gewicht besitzt, so stellt doch die Steif- 
heit aller dieser Muskeln und Gelenke eine ziemlich be- 
deutende Widerstandskraft dar. 

Man würde schwachen Lungen Unrecht tun und keine 
guten Resultate erzielen, wenn man gegen diese Steifheit 
ausschliesslich durch die Tätigkeit der Lungen und des 
Zwerchfelles kämpfen wollte. 


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Die Steifheit dieser Gelenke muss durch deren Mus- 
keln selbst besiegt werden. 

Darum haben wir am Ende jedes dritten Kapitels 
unserer Methode Übungen zur Erweiterung des Brust- 
kastens angegeben, bei denen eine freiwillige Mitwirkung 
der Muskeln zwischen den Rippen und den Rippenhebeln 
stattzufinden hat. Die Stärke dieser Muskeln und die Ge- 
schmeidigkeit der Rippengelenke werden die Widerstands- 
kraft des Brustkastens auf das rein materielle Gewicht der 
Rippen zurückführen. Die Möglichkeit der Entwicklung wird 
dadurch für schwache Lungen weit grösser. 

Aber man wird freilich mit den Übungen des Atmens 
sehr zeitig anfangen und dem Steifwerden der Brustgelenke 
zuvorkommen müssen, das versteht sich von selbst. 

Um ein geregeltes Atmen zu ermöglichen, muss man 
in erster Linie alles vermeiden, was demselben hinderlich 
ist ; dazu gehört zunächst die schlechte Luft, wie wir eben 
bemerkt haben. 

Dann aber muss auch die Brust in der Lage sein, 
sich leicht und ohne Zwang dem Ausdehnen der Lunge 
anzupassen. Es ist also grundverkehrt, durch unzweck- 
mässige Kleidung oder schlechte Körperhaltung den Brust- 
kasten einzuengen; vielmehr sollte man der Brust freien 
Spielraum lassen und sie durch zweckmässige Übung er- 
weitern, um die Dehnbarkeit der Lunge zu fördern. 

An diese Übungen sollen sich direkt diejenigen des 
Atmens anschliessen. Da die Beine die bei weitem kräf- 
tigsten Muskeln haben (z. B. 3 mal so starke als die der 
Arme) und uns die Marschbewegung am wenigsten er- 
müdet, so dürfte diese Bewegung, rhythmisch ausgeführt, 
die beste Übung für die Lunge und zweckmässiges Atmen 
sein. 

* * 


Die Physiologen behaupten auf Grund ihrer Beobach- 
tungen, dass die graue Substanz des Zentralnervensystems 
keinerlei Veränderungen unterliege, gleichviel ob das In- 


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dividuum seine Muskeln, die von der grauen Substanz aus 
den Muskelreiz empfangen, zu schwerer anhaltender Tätig- 
keit anspanne, oder dieselben in träger Ruhe erschlaffen 
lasse. Dem entgegen sollte man aus der Tatsache, dass 
regelmässige Übung und Bewegung, also in Tat umge- 
setzte Energie, die Muskeln kräftigt und dicker werden 
lässt, dass weiterhin energischer Wille und methodische 
Erziehung die Nerven kräftigt, den Schluss ziehen, dass 
die graue Substanz, d. i. die Bewegungsnerven-Zentral- 
stelle, durch anhaltende regelmässige Tätigkeit ernährt und 
gekräftigt werden sollte. Und dies scheint auch trotz 
mangelnder Beweise der Fall zu sein. 

Dr. Nuys hat beobachtet, dass gewisse Teile der 
grauen Substanz sich verringert hatten und verdorrt waren, 
in Fällen, wo die Tätigkeit der Muskeln infolge von Ar- 
beitsunfähigkeit gänzlich aufgehört hatte. Und in der Tat 
lässt der ganze Zusammenhang zwischen Nerven und 
Muskeltätigkeit die Wechselwirkung als absolut höher 
erscheinen, nämlich so, dass sowohl das Nervensystem 
durch zweckmässige Muskelbewegung, belebt und ge- 
kräftigt wird, wie umgekehrt ein wohlorganisiertes Ner- 
vensystem, welches alle Organe des Körpers beherrscht, 
auf die Muskeltätigkeit belebend und kräftigend wirkt. 
Jeder Defekt aber im Nervensystem macht sich auch in 
der Muskelbewegung mehr oder weniger störend bemerk- 
bar. Die Tätigkeit bildet, stärkt und belebt den gesamten 
Organismus, die Muskeln, wie auch das Nervensystem. 

Eine Kräftigung des Rückenmarks durch regelmässige 
Tätigkeit ist schon leichter zu konstatieren. Die selb- 
ständigen Nervenzellen des Rückenmarks sind der Reflex- 
bewegung der Muskeltätigkeit direkt ausgesetzt und neh- 
men die Bewegungseindrücke so lebhaft auf, wie etwa 
leichtempfindliches Papier die Photographie, so dass die 
Bewegung, die häufig wiederkehrt, den Zentralnerven des 
Rückenmarks so zu sagen im Gedächtnis bleibt. 

Es steht jedenfalls fest, dass anhaltende Tätigkeit 
zur Stärkung der Rückenmarksner% - en dient. 


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Man könnte von einem unwillkürlichen und freiwil- 
ligen Gedächtnis reden. 

Unsere Hörübungen ziehen aus dem einen ihren 
Nutzen zur Einübung des anderen. Jede Länge an sich 
und jede Betonung an sich haben die Gewohnheit der sie 
darstellenden Bewegungen hervorgebracht. Die Hör- 
Übungen schliessen sich nur an automatisch gewordene 
Bewegungen an, aber deren Zusammensetzung ist nicht 
bekannt d. h. nicht vorausgesehen, und der Lehrer bringt 
sie nur ein einziges Mal zu Gehör. Das freiwillige, spon- 
tane Gedächtnis muss in Tätigkeit treten, verbunden mit 
konzentrierter Aufmerksamkeit. Solche Übungen sind 
zur Befestigung des Gedächtnisses ausgezeichnet. 


Den Grad der Geschwindigkeit, mit welcher die Mus- 
keln eine ihnen vom Gehirn aufgetragene Bewegung aus- 
führen, nennt Helmholtz den „Zeitverlust“, d. i. die Spanne 
Zeit, die zwischen dem vom Willen erweckten Gedanken 
und der Ausführung der Bewegung liegt. Es kann ein 
sehr verschieden längerer oder kürzerer Zeitteil sein und 
ist in seinen Schwankungen von der grösseren oder ge- 
ringeren Energie des Willens, andererseits aber von der 
Elastizität der Muskeln abhängig. 

Wir haben gesehen, dass die Übungen des cre- 
scendo und diminuendo ein Mittel dafür sind, alle Ab- 
stufungen des Nervenreizes dem Schüler zur Verfügung 
zu stellen. Ebenso werden die Übungen des accelerando 
dem Kinde das Bewusstsein der verschiedenen Stufen der 
Geschwindigkeit vermitteln und die Dauer des „Zeitver- 
lustes“ verringern. 

Indessen möchte ich Ihre Aufmerksamkeit noch ganz 
besonders auf die Übungen des spontanen Wollens lenken. 
Diese Übungen schliessen immer schon vorher geübte 
Bewegungen in sich, aber der Hauptzweck derselben be- 
steht darin, den Zeitverlust auf ein Minimum herabzu- 
drücken. 


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Das unerwartete Kommando: „Hop“! gibt dem schon 
ausgebildeten Willen seine höchste Entfaltung. Dieselbe 
offenbart sich darin, dass der Übergang (Sprung) unwill- 
kürlich geleistet wird. 

Es gibt Individuen, bei welchen die eine oder an- 
dere Fähigkeit mehr oder weniger flexibel oder erregbar 
ist. Bei dem einen ist die Muskulatur von erstaunlicher 
Elastizität, während die Gehirntätigkeit, die Energie des 
Willens, eine gewisse Schwäche oder Langsamkeit zeigt. 
Ebenso umgekehrt. 

Individuen, die im hohen Norden wohnen, besitzen 
ein viel weniger erregbares Nervensystem, als der Süd- 
länder. 

Es ist klar, dass bei abweichender Veranlagung des 
Nerven- und Muskelsystems, das geringer entwickelte, 
weniger erregbare System früher ermüdet, als das besser, 
sensitiver geartete. 

Wir haben schon mehrfach bei Besprechung der 
Übungen und der Muskelbewegungen die Haltung des 
Körpers erwähnt, welche bei der Ausbildung eine grosse 
Rolle spielt. Erweckt es auch den Anschein, als ob bei 
der Bewegung die Glieder, Arme, Beine, Füsse, den 
Hauptanteil an der Ausübung der Tätigkeit hätten, so er- 
hält doch das Ganze erst Halt, Kraft und Harmonie durch 
die Stellung des Rumpfes zur Bewegungsart. 

Wie sich die extremen Glieder an die nächstliegen- 
den und diese wiederum an den Rumpf anlehnen und auf 
ihn stützen, so gibt der Rumpf dem ganzen Körper das 
Gleichgewicht. Es ist angezeigt, bei allen Übungen zu- 
gleich auch auf die Haltung des Körpers zu achten. Jede 
Bewegung, jede Tätigkeit bedingt eine gewisse Haltung 
des Körpers, die den Gesetzen der natürlichen Anmut, der 
Ästhetik und des Gleichgewichts unterworfen ist. Die 
Wirbelsäule, und mit ihr der ganze Rumpf, passt sich 
unwillkürlich jeder Bewegung der Arme und Beine an, 
und stellt damit nicht nur das Gleichgewicht des Körpers 
her, sondern gibt den Bewegungen Nachdruck und Kraft. 


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Der Werfende beugt den Rumpf zurück, der Laufende 
dagegen neigt sich nach vorn. 

Die natürliche Haltung der Wirbelsäule ist die senk- 
rechte, und wir finden sie meist bei solchen Bewegungen, 
die den verhältnismässig geringsten Kraftaufwand be- 
dingen. 

Will man daher beim Kinde den gefährlichen Ver- 
krümmungen der Wirbelsäule Vorbeugen, so achte man 
sorgfältigst auf gerade Haltung. Gestärkt wird die Wir- 
belsäule am besten durch Tragen leichter Gegenstände 
auf beide Hände gleichmässig verteilt, oder noch besser, 
durch Auflegen einer leichten Last auf den Kopf, wodurch 
die Integrität der Wirbelsäule am sichersten festgestellt 
und ihre Widerstandsfähigkeit am leichtesten gefördert 
wird. Durch diese Übung werden alle Rückenmuskeln 
gleichmässig angespannt. 

Vorbildlich könnte hier die Antike wirken, die oft 
Krauengestalten in vollendeter Schönheit der Linien, mit 
einer Urne oder Vase auf dem Kopf darstellt. 

Die schlechte Haltung des Körpers kann ausserdem 
auch verursacht werden durch die Stellung des Fusses. 
Schon mehrmals habe ich vom Unterstützungspunkt ge- 
sprochen. Im allgemeinen ist der Fuss der Unterstützungs- 
punkt. Auch bei den meisten unserer Übungen ist er 
es. Dieser Unterstützungspunkt ist bis zu einem gewissen 
Grade unbeweglich, d. h. er bleibt in Berührung mit dem 
Boden, aber die Art, wie der Fuss aufgestellt wird, hängt 
gleichwohl von dem Bau und der Lage seiner Nerven 
und Muskeln ab. 

Ich möchte Ihre Aufmerksamkeit auf die Tatsache 
lenken, dass der Fuss sich auf die Ferse stützen soll, und 
dann auf die Unterseite der (grossen) Zehen und zwar 
bei den einzelnen Personen verschieden, lieber auf die äussere 
als auf die innere Seite des Fusses. Wenn bei vielen 
Menschen der Fuss anders auftritt, so fehlt ihm der feste 
Halt; die Verteilung und Erregung der Nerven in den 
vielen entgegengesetzt wirkenden Muskeln steht nicht im 


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richtigen Verhältnis. Der Knöchel darf weder nach links 
noch nach rechts aus der natürlichen Linie heraustreten. 
In beiden Fällen läge ein Mangel an Energie vor, und 
viele Übungen würden dadurch in der Erzielung eines 
guten Resultates beeinträchtigt. Gar oft widmet man der 
Stellung des Fusses nicht genügende Aufmerksamkeit und 
dementsprechend auch nicht seinen Bewegungen. Ich 
empfehle Ihnen ganz besonders die rhythmischen Übungen 
des Fusses, welche Sie bei den Anleitungen zur Erreichung 
der Selbständigkeit der Glieder finden werden; so z. B. 
das Gehen auf den Zehen und das Gehen auf der Fuss- 
sohle mit emporgezogenen Zehen. 

Um ein gutes Auftreten zu erlernen, darf das Schuh- 
werk die Bewegung nicht hemmen und hindern. Wir 
lassen daher breite Sandalen ohne Absätze tragen, oder 
barfuss gehen. 

* * 

Noch ein Wort über die unwillkürlichen Bewegungen. 

Wir haben vom rhythmischen Willen gesprochen, 
wie er sich mit Hülfe rhythmischer Übungen der Muskeln 
bildet und entwickelt, und haben betont, dass dies der 
Zweck unserer Methode ist. 

Werden Sie mir nun glauben, wenn ich Ihnen sage, 
dass das, was wir herbeiführen wollen, gerade die un- 
willkürliche Bewegung ist? Wir wollen den Willen so- 
weit entwickeln bis er überflüssig und frei wird, um sich 
verschiedenen Dingen widmen zu können. 

Wir verlangen, dass alles Regelmässige, was unter 
normalen Verhältnissen zum Rhythmus gehört, mit andern 
Worten alles, was Dauer und Betonung ist, Division und 
Addition, ohne Teilnahme des Willens vor sich geht, ohne 
geistige Arbeit, dass alles dies in Fleisch und Blut über- 
geht also, unwillkürlich wird. Der Geist soll sich aus- 
schliesslich auf das, was rhythmisch geschehen muss, auf 
die eigentliche Darstellung richten. 

Ebenso verhält es sich in der ganzen Methode der 
Erziehung des Ohres mit Bezug auf die Tonfülle, Melodie 
und Harmonie, unter Einschluss der Improvisation. 


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Und hier müssen wir nun die Fälle bestimmen, wo 
das unwillkürliche Handeln seine Grenzen findet. 

Um deutlicher zu reden, will ich Ihnen eine be- 
stimmte Übung beschreiben und erklären. Es handle 
sich, darum den Schüler dahin zu bringen, dass er sich 
den vollkommenen Rhythmus zwischen zwei Zahlengrössen, 
z. B. 3 und 4 vorstellen kann. Er muss also lernen 4 
Schläge z. B. mit dem rechten Arm und genau in der 
gleichen Zeit 3 Tempi mit dem linken Arm zu schlagen, 
sodann auf das Kommando Hop! das Gegenteil zu tun, 
d. h. 3 Tempi mit dem rechten Arm und 4 mit dem lin- 
ken Arm zu taktieren. Sie werden begreifen, dass die 
Zahl 12 uns zum Ziele führen wird. Zuvor muss aber der 
Schüler gleiche Zeiträume darstellen gelernt haben. Diese 
Darstellung muss unwillkürlich und automatisch geworden 
sein. Dann muss er den Takt mit 3 und ebenso mit 4 
Vierteln automatisch schlagen lernen. 

Ferner muss er eine gewisse Zeit, sagen wir, einen 
Takt, in 3 ebenso gut, wie in 4 gleiche Teile teilen lernen, 
bis er automatisch ebenso gut eine 

Gruppe von 3X4 gleichen Zeiten, 
wie eine von 4/3 gleichen Zeiten 

abmessen kann. Endlich muss er die Betonung in beiden 
Fällen regelmässig zum Ausdruck bringen lernen, bis die 
Regelmässigkeit ihm zur anderen Natur, d. h. automatisch 
wird. 

Wenn der Schüler auf dieser Stufe der Vervoll- 
kommnung angelangt ist, wird er damit anfangen maschinen- 

mässig mit einem Arm 4x3 pT 

444*00044444 

zu schlagen, um dann gelegentlich mit freiem Willen die 

Gruppe 3X4 RR™ R™R HpR mit dem anderen 

pp 004 * 044*40 44 

Arm hinzuzufügen, so lange bis beides automatisch ge- 
worden ist. 

Ebenso wird er umgekehrt anfangen, 3\4 masehinen- 
mässig zu schlagen und 4x3 nach seinem besonderen 
Willen hinzutreten zu lassen. Es erübrigt für den plötz- 


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liehen Wechsel in der Tätigkeit das Kommando „Hop“, 
das die Spannung aufrecht erhält und den Willen unbe- 
bewusst zur Betätigung bringen wird. 

Das sind die Übungen des freiwillig, aus eigenem 
Antriebe, plötzlich erfolgenden Wollens, d. i. des soge- 
nannten spontanen Wollens, die ganz besonders wertvoll 
sind, denn sie krönen das Werk unserer Arbeit. 

Alles muss automatisch geworden sein, mit Aus- 
nahme des Unvorhergesehenen. 

Wenn die Elemente des Rhythmus in Fleisch und 
Blut übergegangen sind, verursachen sie keine Anstreng- 
ung mehr, auch keine besondere Aufmerksamkeit; wir 
brauchen nur das Kommando Hop gewärtig zu sein. 

Aus dem Gesagten folgern wir : 

Wenn die Notierung nicht nur die automatische 
Darstellung der Zeitlängen, sondern auch die des Klanges 
nach dem doppelten Gesichtspunkte der geistigen und 
physischen Ausführung (Technik des Gesanges) hervor- 
rufen wird, so kann die ganze Aufmerksamkeit auf die Wie- 
dergabe der durch Rhythmus und Klang auszudrückenden 
Empfindung gelenkt werden. Hier stossen wir wiederum 
auf eine Schranke des automatischen, unwillkürlichen 
Tuns. Das Unvorhergesehene fordert eine Aufmerksam- 
keit des Geistes, das aus eigenem Antriebe erfolgende, 
spontane Empfinden muss beständig wach bleiben. 

Wenn Geist und Empfinden des Komponisten durch 
Rhythmus und Klang zum Ausdruck gebracht worden 
sind, so werden die geistige Aufmerksamkeit und das 
spontane Empfinden des ausführenden Sängers die Rhyth- 
men und die Töne, die er durch automatische Bewegungen 
zur Darstellung bringt, wieder lebendig machen. 

Das Verständnis der Noten und der Vortrag sind 
die beiden Flügel, die den Schüler auf der erreichten 
Höhe erhalten werden. 


5 


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4. Vortrag. 


Der Körper mit all seinen komplizierten Organen ist 
uns Menschen gegeben zur Betätigung der in uns woh- 
nenden Kräfte, d. i. zur Bewegung. Untätigkeit, Trägheit 
bedeutet Erschlaffung der Kräfte, Absterben der Organe. 
Bewegung ist Leben. Sich regen, sich bewegen können, 
gewährt innere Befriedigung, Daseinslust, Freude. Die 
komplizierteste Maschine mit dem wunderbarsten Mecha- 
nismus bleibt doch eine tote, leblose Maschine, die erst 
durch den menschlichen Geist in Bewegung gesetzt wird. 
Sie rostet ein und versagt, wenn sie lange Zeit stille steht. 
Wie viel mehr bedarf unser fein organisierter Körper der 
steten Bewegung, die sich in jedem kleinsten Teil der Be- 
wegungsfähigkeit und der Bewegungsfreude bewusst ist. 
Die erstere drückt den physischen, die letztere den mora- 
lischen Anteil an der Bewegung aus. 

Der physische Anteil besteht in dem Wohlbehagen 
des dem Körper innewohnenden Gefühls der Lebenskraft 
(z. B. das wohlige Strecken des Körpers nach längerer 
Ruhe!) Der moralische Anteil ist unser Bewusstsein der 
unseren Gliedern verliehenen Beweglichkeit und Kraft, 
die von unserem Willen abhängig und ihm gehorsam ist. 
Die Bewegung ist nicht lediglich ein mechanischer, auf 
anatomischem Wege erklärlicher Vorgang, sondern sie ist 
in Kraft umgesetzte Willensenergie. 

Wenn also einerseits klar ist, dass wir die Lebens- 
kraft des Kindes fördern, indem wir ihm Bewegungs- 
übungen verschaffen, und dass rhythmische Bewegungs- 


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Übungen zudem sein rhythmisches Gedächtnis fördern, 
so darf anderseits ja nicht vergessen werden, dass der 
Erzieher, um den richtigen Weg einzuschlagen und das 
Ziel zu erreichen, sich vom Kinde leiten lassen und die 
Form der Übungen nach ihm richten muss. 

Die wichtigste Rolle in der Belebung und im Ge- 
deihen unserer Organe spielt die Freude. Die Basis aller 
Freude ist die Daseins-, die Lebenslust, das uns durch- 
strömende Wohlbehagen, das Empfinden von Energie und 
Kraft. 

Auf dieser Basis erhebt sich die Skala aller freudi- 
gen Empfindungen, die die Seele durchzittern. 

Die mehr oder weniger lebhaften Schwingungen 
unseres Seelenlebens teilen sich den Gehirnzentren mit, 
und lösen daselbst einen äusserst lebhaften, angenehmen 
Reiz auf das gesamte Nerven- und Muskelsystem aus. 
Die einzelnen Organe und Glieder fühlen sich belebend 
angeregt, und es stellt sich ein lebhafter Bewegungsdrang 
ein. Der Nervenreiz auf das Zwerchfell beschleunigt das 
Atemholen und die Herztätigkeit, und wirkt auf die Lach- 
muskeln. Der Gesichtsausdruck wird lebhafter, das Auge 
strahlender; Arme und Beine fühlen den ungestümen 
Drang, sich in rasche Bewegung zu setzen. 

Wir haben schon an anderer Stelle gezeigt, dass die 
Willenskraft durch verschiedene Motive geweckt werden 
kann, z. B. durch Zorn, Wut, Hass, Angst, die aber stets 
ein Übermass von Reizwirkungen im Gefolge haben, und 
auf das gesamte Nervensystem einen schädlichen Einfluss 
ausüben. Auch äussere Reizmittel können die Willens- 
kraft und Energie wecken und fördern, wie z. B. ortho- 
pädische Behandlung. Ein heftiger moralischer Eindruck 
kann eine lebhafte Reizauslösung in den Gehirnnerven 
bewirken, doch würde eine häufige Erregung der Gehirn- 
nerven, eine oft wiederkehrende Gemütserschütterung auf 
den gesamten Organismus schädlich einwirken, ebenso 
wie jede Überanstrengung eines Organs Ermüdung und 
Erschlaffung bewirkt. 


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Die wohltuendste und heilsamste Reizwirkung auf das 
Nervensystem ist die der Freude. Das sehen wir schon 
und in ganz besonderem Masse beim Kinde, wo infolge 
der zarten, leicht empfänglichen Nerven und Muskeln 
jedes, auch das kleinste Gefühl von lebhaften Bewegungen 
begleitet wird. 

Nur ist beim Kind die Umsetzung von Energie in 
Tat und Bewegung noch nicht das Produkt der Gehirn- 
tätigkeit allein. Die Bewegungstätigkeit beim Kinde ent- 
springt aus der Anschauung, angeregt durch äussere 
Reizmittel, wie z. B. durch Neugier, Verlangen, Aussicht 
auf Genuss oder Belohnung und in weiterer Entwickelung 
durch Kindesliebe, Furcht vor Tadel, Ehrgeiz, Verant- 
wortlichkeit. Am lebhaftesten gibt sich das Kind in der 
Freude, und da ist es am gefügigsten und am leichtesten 
zugänglich für pädagogische Eingriffe. 

Eine rhythmisch-gymnastische Unterrichtsstunde muss 
den Kindern zur Freude gereichen, sonst verliert sie den 
halben IV ert. 

Das Gemüt des Kindes nimmt vermöge des äusserst 
zarten Nervensystems alle äusseren Eindrücke in Vorbild 
und Darstellung mit der grössten Lebhaftigkeit auf. Die 
Phantasie des Kindes ist unerschöpflich; es lebt in einer 
eigenen Ideenwelt, in der es die Dinge, alle Wahrneh- 
mungen und Beobachtungen verarbeitet und umgestaltet. 
In der Seele des Kindes zerfliessen Phantasie und Wirk- 
lichkeit in Eins zusammen, und es hat gar kein Verlangen 
sie wieder zu trennen. Die von ihm selbst gestalteten 
Begriffe, die Kinder seiner Phantasie, sind seine Lieblinge, 
es hat seine Freude daran. Will man ihm seinen Wahn 
nehmen, seine Phantasiegebilde zerstören, so bereitet man 
ihm Schmerz. Das Kind bleibt aber nicht bei der Phan- 
tasie stehen; es hat das Bedürfnis, seine Ideen ins Prak- 
tische zu übersetzen; es zeigt das ernste Bestreben nach 
Betätigung. Es überträgt seine Ideengebilde auf leblose 
Gegenstände und lässt diese in Aktion treten, — es spielt. 

Das Spielen der Kinder ist nichts anderes, als eine 
Betätigung seiner Vorstellungskraft und ein Ausdruck 


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seiner Freude an den in seiner eigenen Vorstellung ge- 
schaffenen Gestalten. Im Spielen lernt das Kind die Be- 
wegung, den Gebrauch der Glieder. Deshalb muss unbe- 
dingt der erste Unterricht beim Kinde in Gestalt des 
Spielens einsetzen. Der Begriff des Lernensollens, der 
Pflicht, muss dem Kinde noch verborgen bleiben. Der 
Lehrer muss in dem Kinde die Vorstellung wecken, dass 
das, was es machen soll, etwas sehr Schönes, Angenehmes 
sei, und er muss das Kind gleichzeitig überzeugen können, 
dass es ihm möglich ist, die gesollte Bewegung als ge- 
wollte Bewegung auszuführen. So wird das Kind die 
Vorstellung erhalten, als ginge die Bevvegung aus seiner 
eigenen Willensidee hervor. Die Handlung bewahrt für 
das Kind den Charakter des Neuen, Reizvollen, und gibt 
der Phantasie neuen Stoff zum Nachdenken. Der kind- 
liche Geist forscht unermüdlich nach neuen Eindrücken, 
und beschäftigt sich am liebsten mit Handlungen und 
Tatsachen. Von Theorie und Vernunftgründen will das 
Kind nichts wissen, darum wäre es ganz verkehrt, ein 
Kind mit langatmigen, pedantischen Erklärungen seiner 
Illusion zu berauben. 

Jede Lektion muss daher die Form des Spiels haben, 
welches eine der wesentlichsten Äusserungen der kind- 
lichen Geistestätigkeit bedeutet. 

Das Spiel, welches eigentlich die erste Grundlage 
der Tätigkeit des Kindes ist, in ihm die Begriffe weckt, 
wie man seine Glieder bewegt, also dem Kinde den Weg 
zeigt, den Willen in Kraft umzusetzen, wird dabei doch 
stets in ihm die Empfindung des Vergnügens, der Erho- 
lung, des Ausruhens wach halten, während dasselbe auf 
jedem anderen Gebiet rasch ermüdet. 

Gebt einem Kinde einen Bleistift zum Spielen, und 
erweckt in ihm die Vorstellung, es könne einen Brief 
schreiben, so wird es im stände sein, sich stundenlang 
damit zu belustigen, seine selbstgeschaffenen Hieroglyphen 
auf das Papier zu malen. Verlangt man jedoch von ihm, 
20mal „a“ oder „c“ oder „i“ zu schreiben, so wird es 


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nach kurzer Zeit ermüden. Tatsächlich sind die Geisteskräfte 
durch zu häufige Anstrengung sehr oft in Gefahr zu er- 
lahmen. Kommt das aber nicht hauptsächlich davon her, dass 
man zu viel an die Vorstellungskräfte appelliert, ohne diesen 
den Weg zu zeigen, wie sie angewendet werden? Es gibt 
für den Geist nichts Ermüdenderes! Die Vorstellung muss 
mit der Wirklichkeit des ausser uns liegenden Stoffes und 
mit unserer Darstellung übereinstimmen. Eine Vorstel- 
lung ist unnütz ohne physische Äusserung, sei es durch 
die Rede, die Hand, den Fuss oder durch den ganzen 
Körper. Sie ist wie der Sauerteig, der sich ausdehnen 
will. Wenn sich das Gehirn derselben nicht auf natür- 
lichem Wege entledigen kann, so ermüdet es und leidet 
darunter. Der Fehler des. heutigen Unterrichtsverfahrens 
liegt in seiner Abstraktheit. Die Unterrichtspausen sind 
kein Ersatz. Die Turnstunden setzen zwar alle Muskeln 
in Tätigkeit, was gewiss der ausschliesslich intellektuellen 
Beschäftigung als Gegengewicht dient. Aber meistens 
wird auch hier spezialisiert und die engen Beziehungen 
zwischen geistiger und körperlicher Aktivität kommen 
weder in den wissenschaftlichen noch in den gymnastischen 
Stunden auf ihre Rechnung. Man hört heute allerorts die 
Klage, die Kinder werden mit gelehrtem Wissen über- 
bürdet, während die Schulen nicht auf das Leben vor- 
bereiten. Die Einen verlangen, dass jedes Kind neben 
der Schule ein Handwerk erlerne. Andere wünschen, die 
Schüler sollen Geographie, Botanik, Geologie in der 
Natur, unter freiem Himmel lernen. Es gibt Lehrer, 
welche mit ihren Schülern historische Dramen aufführen 
oder die Museen besuchen möchten. Wieder andere be- 
antragen, dass die Zöglinge im Garten und Wald arbeiten, 
oder in der Schule kochen und so die Chemie erlernen 
sollen und für alle diese neuen Ideen sind praktische Ver- 
suche gemacht worden. Alle diese Neuerungen sind von 
dem lebhaften Wunsche beseelt, in den Unterricht den 
Zusammenhang zwischen dem abstrakten Wissen und dem 
praktischen Leben hineinzubringen. 


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Dies ist auch unser Zweck bei der Veröffentlichung 
unserer Methode der rhythmischen Gymnastik; wir wollen 
im speziellen hinweisen: 1° auf die Beziehung der phy- 
sischen und der intellektuellen Kräfte, 2° auf die Bezie- 
hungen zwischen der Zeit, der wir unterworfen sind und 
dem Raum, der uns umgibt, 3° auf die Übereinstimmung 
der harmonischen Verhältnisse in der Vorstellung und 
der Bewegung. 

Die Vorstellung ist für den Geist, was der Rhythmus 
für den Körper; unsere rhythmischen Übungen knüpfen 
das Band zwischen diesem und jenem. 

Meiner Erfahrung als Gesanglehrer entspringt folgende 
Beobachtung : 

Wenn man ein Kind, das nicht gewöhnt ist, vorzu- 
singen, zum Alleinsingen auffordert, so geht */« der Zeit 
dadurch verloren, dass es sich geniert, errötet und sich 
schliesslich ganz weigert. 

Welches sind die Ursachen dieses Versagens? ^ 

1. Die Überzeugung, nicht singen zu können, die 
natürliche Furcht, dass es unschön herauskäme. In der 
Tat lernen ja die Kinder in der Schule weder richtig 
atmen, aussprechen und nuancieren, noch legt man ge- 
nügend Gewicht auf gute Stimmbildung. 

2. Das Bewusstsein, dass die Stimme die Seele 
wiederspiegelt und das Bedürfnis, zu einer dem Wollen 
entsprechenden Aussprache der Seele eine gute Stimme 
zu besitzen. 

Das Kind fühlt, dass sein Innerstes sich möglicher- 
weise unvorteilhaft präsentieren würde und weigert sich, 
vielleicht unbewusst, aber entschieden, zu singen. 

Es gehört zu unserem Programm, die Kinder alles 
Menschliche, Gang, Geste, Rede und Gesang natürlich, 
ohne Unschönheit, ohne überflüssige Bewegung vollführen 
zu lehren, damit sie alle Befangenheit ablegen und auch, 
damit sie an Körper und Geist gesund seien. Unser 
Mittel heisst: Bewegung, natürlicher Ausdruck bei ratio- 
neller Tätigkeit des Gehirns, der centrifugalen und centri- 


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pedalen Nerven und Muskeln und deren Wechselbeziehungen. 
Wir wollen von früher Jugend an Urteil und Willen für 
die Zukunft bilden, und beim Kind Freiheit des Handelns 
und Beherrschung der natürlichen Ausdrucksmittel er- 
reichen. Wir erklären aller Nervosität den Krieg und, 
um den Sieg davonzutragen, ist es sehr wichtig, dass es 
uns gelingt, die Nervenzentren zu entwickeln und zu leiten, 
den Nerven ihre richtigen Funktionen, und jedem Grad 
der Muskelerregung Kraft und Geschmeidigkeit zu ver- 
schaffen. Wir brauchen ein harmonisches Nervensystem, 
um Harmonie zwischen Geist und Körper zu erlangen. 
Der Geist ist befangen, wenn er nicht zu physischer Tat 
in Beziehung gebracht wird. Öffnen wir also der Phan- 
tasie die Tür, geben wir dem Kinde das Spiel: die gym- 
nastisch-rhythmischen Übungen müssen spielender Art sein. 

Das Spielen des Kindes ist also einmal der Trieb 
des Willens, eine Handlung vorzunehmen, sich zu be- 
schäftigen, mit anderen Worten, den Kraftüberschuss aus- 
zunützen. Andererseits entspringt das Spielen aus dem 
aus der Vorstellungskraft des Kindes entwickelten Nach- 
ahmungstrieb. Was das Kind an Erwachsenen hört und 
sieht, überträgt es nach seinen Ideen und Auffassungs- 
kräften seinem Spiel. Für das Kind liegt deshalb im 
Spielen durchaus nicht unbedingt der Begriff der Erholung; 
man kann vielmehr häufig beobachten, dass dasselbe 
seinem Spiel eine ungemeine Wichtigkeit beilegt, und die 
Bewegungen, die es anderen abgesehen hat, mit grösstem 
Ernst ausführt. Diese Wichtigkeit, das sich hier im Keim 
bildende Selbstbewusstsein, ist mit eine Gelegenheit, dass 
das Kind nachdenkt und vermöge des lebhafteren Reizes 
der Gehirnnerven seinen Bewegungen eine gewisse Beto- 
nung und Charakterisierung verleiht. Das Spielen ist 
mithin kein blosser mechanischer Trieb des Instinktes, 
nicht bloss Zweck, sondern mehr Mittel zum Zweck. In 
der Art und Weise, wie das Kind sich die Anschauung 
des Vorbildes zurechtlegt, wie es bemüht ist, seine Kör- 
perkraft zu versuchen und der Tätigkeit anzupassen und 


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in einer Reihe bewusst geordneter Bewegungen seinen 
Zweck zu erreichen, liegt der Anfangskeim der Indivi- 
dualität des Kindes. Hier kann ein aufmerksamer Beo- 
bachter bereits oft erkennen, wieviel durch Geburt ererbte 
geistige und körperliche Anlagen, wieviel selbständige 
neue Triebe sich in dem Kinde zeigen, und die Richtung 
des späteren Entwicklungsganges bestimmen. 

Ob wir nun später Künstler sein werden oder nicht, 
wir werden immer von der Vorstellungskraft geleitet wer- 
den. Das mehr oder weniger direkt nützliche Ziel, das 
wir uns stecken, wird uns den Titel eines Gelehrten, 
Arbeiters, Künstlers etc. geben, aber welches auch unser 
Beruf sein wird, er wird Vorstellung und Wirklichkeit ent- 
halten.') Nehmen Sie einem Menschen die Vorstellung der 
zu vollführenden Arbeit, und Sie machen ihn zur Maschine, 
Sie nehmen ihm das Leben ! Geben Sie dem Kinde Ge- 
legenheit, sich Vorstellungen zu bilden und Verwirklichung 
zu schmieden, und Sie geben ihm das Leben. 

Das ganze Leben ist ein Vordringen ins Unbekannte, 
ins Geheimnisvolle. 

Das ganze Leben ist ein Spiel. Das ganze Leben 
ist eine Kunst, denn es ist die Ausführung dessen, was die 
Einbildungskraft im Voraus erschaffen hat- 

Wenn das Kind einen Stock nimmt, um darauf zu 
reiten, so beschäftigt sich der Erwachsene mit seinem 
Stoff nur in der Dunkelkammer der Nervenzentren. Je 
besser er in dieser Werkstatt Vorstellungen zu erwecken 
weiss, um so besser wird er die Verwirklichung zu Tage 
fördern. 

Es gibt nichts kostbareres, als das Denkvermögen. 
Immer muss der Geist uns leiten. Das Kind, das auf der 
fahrenden Carroussel den Ring stechen will, muss sich die 
gerade Linie zwischen dem Ring und seiner Hand vor- 
stellen ; sodann denkt es an die Höhe des Ringes und die 
Haltung der Hand, — gelingt es ihm den Ring los zu 
stechen, so liefert es nicht nur einen Beweis von Geschick- 
lichkeit und physischer Kraft, es empfindet auch eine 


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grosse Freude über dem Erfolg seiner Berechnung, welche 
den ganzen Körper leitete. 

Diese Berechnung, diese Vorstellungskraft muss man 
ausbilden, ohne aber sie von der Verwirklichung zu tren- 
nen. Die Ausführung muss unmittelbar darauf folgen. Es 
hängt sehr viel von der Erziehung ab, ob die Vorstel- 
lungskraft überreizt und verdorben oder aber zum hell- 
sehenden und energischen Führer auf ein bestimmtes Ziel 
hin wird. 

Bei unseren rhythmischen Übungen soll auf die Vor- 
stellung immer die Ausführung folgen. Der Zögling hat 
dabei beständig so viel mit seinem ganzen Körper zu tun, 
dass eine Überreizung nicht stattfindet. Eine Überan- 
strengung kann ebenso gut von einer grossen Einbildungs- 
kraft, welcher die Mittel zur Ausführung (mangels Erzie- 
hung) nicht zu Gebote stehen, herrühren, als von der 
Wahl des Stoffes (Erziehungsfehler). Man lasse ein Kind 
zur Prüfung seines Vorstellungsvermögens. eine Kerze auf 
gegebene Distanz ausblasen. Es muss dabei suchen, die 
geradeste Linie von seinem Mund bis zur Flamme und 
die Höhe der Flamme, inbezug auf die Höhe seines 
Mundes, nicht mit Hilfe des Meterstabes sondern in Ver- 
gleichung der beiden Höhen mit der Horizontallinie zu 
finden. Es wird ferner dabei die Stärke der Ausatmung, 
welche zum Auslöschen des Lichtes bei grösserer Distanz 
notwendig ist, sich vorstellen lernen und fühlt in seinen 
Atmungsmuskeln gewissermassen die dazu notwendige 
Kraft. Diese Muskeln werden sich bemühen die interes- 
sante Aufgabe richtig zu lösen. — Es ist dem Lehrer an- 
heim gestellt, solche interessierende Ziele zu finden, 
welche gleichzeitig die Klarheit und Genauigkeit der Vor- 
stellung und der physischen Tat ausbilden, Ziele, welche 
ohne Wissen des Kindes einzelne Stationen auf dem von 
allen Erziehern eingeschlagenen Weg bedeuten: eine Ge- 
neration, Menschen, voll physischer und geistiger Kraft 
heranzubilden. 

Der Fachlehrer (in unserem Fall der Lehrer für 
rhythmische Gymnastik) darf sich nicht zu sehr in Speziali- 


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täten verlieren, er muss in beständigem Kontakt mit der 
allgemeinen Erziehung bleiben. Die Übungen zur Entwick- 
lung des rhythmischen Sinnes haben allgemeinen Wert: 
sie sind gesundheitfördernd, sie entwickeln die Willenskraft, 
sie erwecken das Bewusstsein der engen Beziehungen 
zwischen Körper und Geist, sie leiten die Phantasie, indem 
sie ihr Aufgaben zur Verwirklichung vorlegen. Jeder Lehrer 
muss die Zukunft in der Gegenwart schauen, den Mann im 
Kinde, das Leben im Spiel, die richtige, harmonische Be- 
wegung im Rhythmus. 

Wenn wir ein Kind lärmen hören und dieser Lärm 
eine bestimmte Form annimmt, so konstatieren wir bei ihm 
einen Geisteszustand, der einen Weg, sich deutlich zu 
machen, gefunden hat. Wir werden es ermuntern, andere 
Äusserungsmittel zu finden und werden ihm helfen, indem 
wir mit ihm spielen. Wenn aber das Kind nur tobt, so 
konstatieren wir bei ihm einen Mangel an Vorstellungskraft; 
wir versuchen die letztere durch Suggestion zu entwickeln; 
wir erfinden ein lärmendes Spiel, bei welchem das Toben 
und Tollen in ein ebenmässiges Geräusch übergeht. Das 
suggerierte Ebenmass wird zu gewissen Schranken führen. 
Das Kind sieht ein, dass sein Tollen ohne Grenzen, ohne 
Mass und unschön war. 

Desgleichen, wenn ein Kind unruhig ist, müssen wir 
ihm spielende Bewegung verschaffen, welche ihm gestattet, 
sich rhythmisch zu bewegen, denn so geben wir seiner 
Bewegung Grenzen und geistigen Inhalt. Wie oft sind 
Tölpelhaftigkeit und Unstetigkeit geradezu Beweise von 
Einbildungskraft und geistigen Fähigkeiten, denen Ziel und 
Wegleitung fehlt. 

Das Spiel ist im Leben des Kindes, was die Ge- 
schäftigkeit im Leben des Erwachsenen ; der Mann muss, 
wie das Kind, ein Ziel haben, dem er zustrebt. Hat er 
eine Beschäftigung, die keine geistige Beätigung erheischt, 
so ist er ebenso unglücklich, wie wenn er geistige Fähig- 
keiten nicht betätigen kann. Sein Urbild ist das tollende 
oder unstete Kind. Suchen wir also nach Spielen für das 


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Alter der Phantasie, um brauchbare Menschen, Gelehrte 
und Künstler heranzubilden. 

Das Spielen des Kindes, seine Eigenart sich zu be- 
schäftigen, gestaltet sich in den meisten Fällen symbolisch, 
sowohl in bezug auf die vorbildlichen Eindrücke auf die 
Sinne des Kindes, als auch auf die eigene Phantasie und 
die individuelle Veranlagung. Das Spiel ist die heitere, 
freundliche Versinnbildlichung des späteren ernsten Lebens, 
und übt und stählt im Kinde die Kräfte für die spätere 
rauhe Wirklichkeit, vor welcher die Phantasie der Kindheit 
sich in Enttäuschung auflöst. Vernünftige Eltern und Lehrer 
werden deshalb frühzeitig darauf bedacht sein, auch dem 
Spiel des Kindes eine zweckmässige Richtung zu geben 
und die Beschäftigung des Kindes sorgfältig zu überwachen, 
damit die geistigen und physischen Kräfte normal entwickelt 
und gefördert werden. 

Geistig stark und lebhaft veranlagte Kinder laufen 
sehr leicht Gefahr, körperlich zurückzubleiben und Schaden 
an ihrer Gesundheit zu nehmen. 

Andererseits aber kann auch Mangel an physischen 
Kräften dem Fortschritt der geistigen Entwicklung hinder- 
lich sein, so dass es die erste Pflicht des Lehrers ist, für 
die leibliche Wohlfahrt des Kindes zu sorgen, durch ver- 
ständige, liebevolle Anleitung es dahin zu bringen, dass 
alle Bewegungsspiele zur Kräftigung des kindlichen Körpers 
dienen. Dem Spiel nach und nach einen gewissen geistigen 
Gehalt zu verleihen, es zu idealisieren, und die Vorstellung 
des Kindes dem Begriffe des Wirklichen, Nützlichen zu 
erschliessen, ist der zweite Teil der Aufgabe des Lehrers. 

Wir haben schon früher angeführt, dass die beiden 
wichtigsten Faktoren beim Spiel des Kindes das durch 
Anschauung erweckte Nachdenken oder die eigene Erfin- 
dungsgabe, d. h. die Phantasie, und zweitens die Genug- 
tuung der aus eigenem Willen entsprungenen Tätigkeit, die 
Freude an der Kraftentwickelung bilden. 

Hierfür nur 2 verschiedene Beispiele. Wenn mehrere 
Kinder Krieg zusammen spielen und ihre Heldentaten mit 


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einem übermässigen Aufwand von Lungenkraft im Brüllen 
und mit dem drohendsten Gebärdenspiel begleiten, so ist 
dies nicht allein die Freude am Lärm, sondern auch die 
Vorstellung ihrer kindlichen Phantasie, das wirklich scheinen 
zu wollen, was sie im Spiel darstellen, und ihrer Handlung 
den nötigen Nachdruck zu verleihen. 

Ein Kind, welches die Klaviatur eines Pianos mit 
beiden Fäusten bearbeitet, empfindet nicht so sehr Freude 
oder Missbehagen ob der Disharmonien, die es hervorruft, 
als vielmehr lebhafteste Genugtuung darüber, dass es mit 
seiner eigenen Kraft imstande ist, den Höllenlärm hervor- 
zubringen. Das Kind muss ein exaktes Selbstbewusstsein 
haben. Allerdings führt übertriebenes Selbstvertrauen zur 
Eitelkeit. Aber wenn es anders sich keine Rechenschaft 
ablegt von dem, was es ohne Anstrengung zu tun imstande 
wäre, so wird es feige und lahm. Der Zweck unserer 
rhythmisch-gymnastischen Übungen ist nicht, vor den Eltern 
die Anlagen ihrer Kinder zu entschleiern, sondern die 
Kinder sich selbst erkennen zu lehren. 

So liegt es folglich für eine vernünftige Erziehungs- 
methode sehr nahe, dahin zu wirken, dass das Kind das, 
was es tun soll, als von sich selbst ausgehend, aus eigenem 
Willen ausführt, weil dadurch nicht nur das Selbstbewusst- 
sein gestärkt, sondern auch die Freude am Gelingen ver- 
mehrt wird. Von der Vorstellung des Kindes ausgehend, 
muss man in ihm das Verständnis erwecken, wozu es 
die Glieder gebrauchen kann. Der gymnastische Unterricht 
macht dem Kinde klar, welche Kraft und Bewegungs- 
fähigkeit in den Armen und Beinen liegt, und wenn es 
ihm dann gelungen ist, eine neue Bewegung von selbst 
auszuführen, so hält es sich immer für den intellektuellen 
Urheber und freut sich seines Erfolges. 

Genau so verhält es sich mit der Gestaltungskraft und 
Gestaltungsfreude in der Ideenvorstellung des Kindes. Die 
Geschöpfe seiner Phantasie sind dem Kinde heilig. Im 
Spiel gewinnen diese Phantasiegebilde Leben und Gestalt, 
und die kindliche Einbildungskraft kennt keine Schranken 


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des Raumes oder der Zeit. Ein Stock wird in seinen 
Händen zum todbringenden Gewehr, ein schaukelndes Brett 
zum Schiff, welches auf hoher See schwimmt- In dieser 
Kraft der Vorstellung, die alle Schranken der Wirklichkeit 
überspringt, liegt für das Kind die Ursache der jauchzen- 
den Freude am Spiel. Je kühner die Einbildungskraft, 
desto grösser das stolze Gefühl der Freude, das überzeu- 
gende Selbstbewusstsein. 

Dieses Sichselbstvergessen hat künstlerisches Wesen 
an sich, es ist die unüberwindliche Liebe zur Verwirk- 
lichung, welche sich des Kindes bemächtigt. Es wird später 
ernste Form annehmen und im Künstler-, Gelehrten- oder 
irgend welchem Beruf wieder auftauchen. Es ist ein gutes 
Omen, wenn ein Kind sich in seinen Phantasien vergisst. 
Aber es muss um so mehr Sorge getragen werden, dass 
diesem Kinde die Mittel zur Verwirklichung nahe gelegt 
werden und dass sein Geist über den Grad der physischen 
Kräfte unterrichtet werde, damit nicht das Sichselbstver- 
gessen in Utopysmus ausarte, damit endlich durch die 
physische und materielle Erfahrung sein ernstes Tun nützen 
und frommen möge. Gerade wie das Kind glücklich ist 
bei der Täuschung des Spieles, so wird der Mann seine 
Befriedigung finden in der vollendeten Tat. Die grösste 
Genugtuung für den Arzt ist die Heilung des Patienten 
und für den Lehrer: die Selbständigkeit seines ehemaligen 
Zöglings. 

Hat im Geiste des Kindes eine Vorstellung Raum 
gewonnen, so fängt der allen Eindrücken so leicht zugängliche 
Geist an, sich mit dem Kern der Vorstellung zu beschäftigen 
und auf die eigene Ideenwelt des Kindes einzuwirken. 
Vermöge einer Art Autosuggestion kleidet es sich selbst 
in das Gewand der einer fremden Welt entlehnten Figur, 
und des Kindes Wille und Phantasie passt Ort und Um- 
gebung seiner selbst übernommenen Rolle selbstschöpferisch 
an. Seht nur ein Kind an, das -König“ oder „Königin“ 
spielt, mit welcher Majestät und Würde es einherschreitet 
und die gedachten Hofieute mit herablassender Gnade 
grüsst. 


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Der Glaube an seine Gestaltungskraft räumt jedes 
Hindernis nüchterner Wirklichkeit aus dem Wege. 

Auch der Glaube ist eine vielversprechende Eigenschaft, 
nämlich der Glaube an das, was noch nicht ist, aber sein 
wird. Beim Erwachsenen erzeugt er die Hoffnung auf die 
Zukunft, den Glauben an die Entwicklung, den Fortschritt 
des Individuums und der Gesamtheit. Er erhält seine Nah- 
rung durch die Geschichte der Menschheit. Er gibt uns 
Kraft zu handeln, die Zukunft uns näher zu bringen, indem 
wir Gegenwärtiges kreieren, und bietet uns die Freude am 
Leben. Er ist ein absolutes Lebensbedürfnis, denn das 
Leben geht vorwärts und nie zurück. 

Menschen, die keine ihrer Vorstellungskraft entspre- 
chende Fähigkeit des Handelns besitzen, leiden unter der 
Wirklichkeit und in der Umgebung von „Realisten“ — sie 
werden Utopisten. Die Realisten geben sich nicht Rechen- 
schaft darüber, dass Vorstellungen zu jeder reellen Tat 
notwendig sind ; sie glauben, mangels an Phantasie, nicht 
an den Fortschritt. Sie entbehren auch der Erfahrung über 
motorische Kraft des Gedankens. Für sie ist jeder Idealist 
ausnahmslos Utopist. 

Die Idealisten sind es aber, welche klare Vorstellungen 
und starken Glauben besitzen, sie kennen ihre Einbildungs- 
und Ausführungskräfte, die engen Beziehungen, die Soli- 
darität zwischen Denken und Handeln; sie kennen den 
Wert der Materie für die Anwendung der Vorstellung, die 
Notwendigkeit der Bewegung in Zeit und Raum und die 
Wichtigkeit der stufenmässigen Steigerung der Muskel- 
erregung bei jeder Tätigkeit. 

Der Idealist findet bei allen seinen geistigen und 
praktischen Erfahrungen das Wesentliche heraus und ge- 
winnt dadurch Liebe zur Arbeit und Schaffenskraft. Aber 
die Bezeichnung „Idealist“ wird heutzutage vielfach falsch 
angewandt, nennen wir daher unsern Mann genauer Materio- 
Idealist. 

Die Neuheit einer Idee schreckt diejenigen ab, die 
nicht von der Überzeugung durchdrungen sind, dass Leben 


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gleichbedeutend ist mit Denken, Wollen und dann Tun, 
dass jedes Wollen das Vorbild einer darauffolgenden Ver- 
wirklichung ist. Wir geben dem Kind den Glauben, indem 
wir es antreiben, sich etwas Neues vorzustellen und hier- 
auf unmittelbar auszuführen. 

Der Lehrer muss daher immer neue Ziele suchen, 
welche die Kinder auf neuen Wegen erreichen müssen, 
sobald ein Weg ihnen so vertraut ist, dass sie sich blind- 
lings orientieren können. Durch wiederholte Erfahrungen 
bei der Verwirklichung einer Idee lernt das Kind die Zu- 
kunft lieben, welche uns durch unsere gegenwärtigen An- 
strengungen die Vervollkommnung dessen, was noch Stück- 
werk ist, und die Erfüllung dessen bringt, was wir noch 
wünschen. Der Glaube erzeugt den Fortschritt, er ist das 
Gegengift für Melancholie, Skeptizismus und Unselbstän- 
digkeit. 

Immerhin besteht noch eine grosse Differenz zwischen 
der Ausübung beim Spiel und der Tätigkeit des Mannes. 

Der Mann glaubt an die Illusion. Dies ist der Unter, 
schied zwischen dem Spiel, welches das Leben vorbereitet, 
und dem Beruf, welcher das Leben ist. Bei allem Glauben 
glaubt das Kind doch nicht. Bei allem Träumen weiss es 
doch, dass es spielt. Es gibt sich auch Rechenschaft, dass 
es nur von ihm abhängt, die ihm teure Illusion zu zer- 
stören. Es fühlt, dass der Schein, der ihm Freude macht, 
von ihm abhängt und durch seinen Willen zustande kam . . . 
Das Spiel entwickelt also seine Persönlichkeit; es übt das 
Kind in der Reproduktion seiner Eindrücke und Ideen und 
ist ein mächtiges Hilfsmittel zur Stärkung des Denkver- 
mögens un<j zur Festigung des Bewusstseins. 

Es wurde an anderer Stelle schon hervorgehoben, dass 
das Kind beim Spielen in lebhafter Bewegung viel weniger 
ermüdet, als wenn es angehalten wird, eine Reihe rhyth- 
mischer oder methodischer Übungen auszuführen. Die Er- 
müdung geht nicht zuerst vom Muskel, sondern vom Ge- 
hirn aus, da der betreffende Nerv, der den Muskel anregt, 
durch die beständige Reizwirkung nach und nach erschlafft 
und sich dabei ein Schmerzempfinden einstellt. 


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So wird das Kind lieber spielen wollen, als eine Reihe 
von rhythmischen Übungen ausführen. Der Lehrer muss 
deshalb darauf bedacht sein, die notwendigen Übungen 
dem Kind in Form des Spielens begreiflich zu machen, so 
dass es die Übungen lieb gewinnt und Freude an ihrer 
Ausführung hat. Dadurch werden die Muskeln spielend 
gekräftigt, ohne dass sich das Kind der erzieherischen 
Kehrseite der Übung, der es eine instinktive Abneigung 
entgegenbringt, bewusst wird. 

Es kann daher einem Lehrer der rhythmischen Gym- 
nastik nicht genug empfohlen werden, seinen ganzen Er- 
findungsgeist anzuwenden, um alle Übungen in die der 
Erholung dienlichste Form einzukleiden; z. B. die Figur 

^ (punktiertes Achtel und Sechzehntel) bedeutet den 
Galopp eines Pferdes, die | (halbe Note) eine Verbeu- 

fl? 

gung, der Niederschlag die Tätigkeit der Laufstange einer 
Lokomotive. Beim Sprung nach vorn auf das Kommando 
hop! denkt das Kind an das Bächlein, das über die Strasse 
fliesst, beim Rücksprung an die Kröte, die über den Weg 
läuft etc. etc. 

Jedes Kind ist von einer starken Wissbegierde be- 
seelt, die man auch mit Neugier bezeichnen könnte. Es 
zeigt das lebhafte Verlangen, jedes Ding, das sich seinem 
Auge darbietet, kennen zu lernen, zu wissen, woraus es 
besteht und wozu es dient. Diese Neugierde muss sich 
der Erzieher zu Nutzen machen, indem er die Aufmerk- 
samkeit des Kindes auf Dinge lenkt, die es kennen soll. 

Hierbei kann man die Fähigkeit des Kindes, einen 
Begriff aufzufassen, dadurch schärfen und fördern, dass 
man die Zeitdauer der Erklärung möglichst abkürzt. 

Wie man nun die Fassungsgabe des Kindes erhöhen 
kann, d. i. das impulsive Begreifen einer Sache, so soll auch 
das impulsive Wollen und Können im Kinde geweckt 
werden. 

Ein Kind dazu zu vermögen, dass es, ohne lange Vor- 
bereitung oder Nötigung, aus freien Stücken schnell etwas 

6 


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tut oder beginnt, ist ebenso wichtig, wie die Erziehung 
dazu, mitten in einer Tätigkeit oder Bewegung innezuhalten. 
Es ist die Erziehung zur Selbstzucht und zur Selbst- 
beherrschung. Sobald das Kind erkennt, dass es von 
seinem Willen abhängt, eine Tätigkeit abzubrechen, um sie 
nach Belieben später fortzusetzen, wird das Vertrauen in 
seine Willensenergie geweckt und gestärkt, und es fühlt 
Stolz und Freude über die Gewalt, die es über sich selbst 
auszuüben vermag. 

Besonders können wir das bei Marsch- und Stab- 
übungen beobachten, bei denen unter geschickter gym- 
nastischer Anleitung das Kind lernt, schon auf einen Wink 
oder eine Geste die Bewegung einzustellen oder ihr eine 
andere Richtung zu geben. In dieser Hinsicht gibt es 
noch viele andere Mittel, ein Kind daran zu gewöhnen, 
sich zu beherrschen und alle Muskeln der Glieder, sogar 
die Gesichtsmuskeln, in der Gewalt zu haben. 

Es gibt eine Menge kleiner Übungen, welche dazu 
beitragen können, das Interesse des Kindes zu wecken, 
aber man könnte sie nicht in einen Lehrplan hinein- 
schreiben, ohne den Faden zu oft zu zerreissen. So kann 
man beispielsweise, bevor man dem Schüler die verschie- 
denen durch Schläge dargestellten Zeitwerte zu Gehör 
bringt, das Ohr schärfen, indem man ihm bei geschlossenen 
Augen die Stärke des Schlages (f, mf, p, pp) und dessen 
Richtung beurteilen lässt. Hiezu kann man das Kind mit 
verbundenen Augen in einen von Mitschülern gebildeten 
Kreis stellen und diese abwechselnd in die Hände schlagen 
lassen, wobei jenes erraten muss, von welcher Seite her 
es das Geräusch gehört hat, wieviel Schläge (2, 3, 4 bis 
10) es waren. Dasselbe in verschiedenen Distanzen. Um 
ein Kind an links und rechts zu gewöhnen, stellt man 
es, immer mit verbundenen Augen, zwischen zwei andere. 
Sobald das zur Rechten mit dem Fuss stampft, muss 
das Kind in der Mitte mit dem rechten Fuss stampfen, 
ebenso links. Wenn das Kind zur Rechten in die Hände 
klatscht, so muss dasjenige in der Mitte den rechten Arm 


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heben etc. Man kann auch das Kind mit verbundenen 
Augen mit einem Arm (z. B. dem linken) verschiedene 
rhythmische Übungen machen und dieselben sofort vom 
rechten Arm wiederholen lassen, denn diese Übung wirkt 
nicht nur auf diejenige Körperseite, welche sie ausführt, 
sondern auch aul die symmetrische andere Körperhälfte. — 
Auch die Atmungsübungen können in die Form des Spieles 
eingekleidet werden. Das Kind kann sich vorstellen, es 
blase die heisse Suppe oder den Staub, die feuchte Schrift, 
ein Licht oder die Haut auf der Milch. Mit seinem Hauch 
kann es die Hände erwärmen, ein Loch in das Eis der ge- 
frorenen Scheibe machen; es kann pfeifen, seufzen, schnüffeln, 
niessen, schluchzen. Auch die Atemübungen werden auf 
diese Weise anziehend werden. Man kann auch einen ganz 
gewöhnlichen Schrei gestatten, wie ihn die Kinder so gern 
nach jeder von der ganzen Klasse ausgeführten Übung 
loslassen. Sie können das Kommando „hop“ von einzelnen 
Schülern selbst geben lassen, einen oder einige Rhythmen 
durch diesen oder jenen Schüler erfinden und von der 
Klasse ausführen lassen, und so weiter. 

Der Lehrer verfolgt immer denselben Zweck, aber 
die Abwechslung wird den grossen Vorteil haben, dass 
die Kinder immer begierig sind, was ihnen die nächste 
Lektion bringen wird. 

Der Lehrer hüte sich aber, bei den Spielübungen mit 
dem Kinde einseitig oder pedantisch zu werden. Das 
grösste Geheimnis in der Erziehung ist, sich selbst in die 
Seele des Kindes versetzen zu können und nicht dem Kinde 
seine, des Lehrers, Anschauung und Begriffe eintrichtern 
zu wollen, sondern sich selbst auf den Standpunkt der 
kindlichen Anschauung zu stellen und von der Vorstellung 
des Kindes aus die Dinge zu beleuchten, wie sie wirk- 
lich sind. 

So wird der Lehrer bei dem Kinde stets Verständnis 
und Vertrauen finden; er wird aber auch selbst Verständ- 
nis finden für die stets wechselnde, lebhafte Phantasie des 
Kindes, etwas Neues zu hören oder zu sehen. Dieses Ver- 


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langen nicht ungeschickt zu ersticken, sondern es im Gegen- 
teil stets wach zu erhalten, ist Aufgabe des Lehrers. Er 
muss im Vorbild, in der Wahl der Übung und der Worte 
stets auf Wechsel bedacht sein, um dem Kinde immer 
neue Anregung zu geben und sein Interesse zu fesseln. 

Der erste Erfolg unserer rhythmischen Gymnastik 
muss bestehen in: der Freude, dem Genuss zu leben, in 
der Entwicklung des Willens und der Umformung der 
Vorstellung in die Wirklichkeit. 


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5. Vortrag. 


Es ist sow.ohl im Satzbau der musikalischen Phrasen, 
als auch in den äusseren Formen eine gewisse Symmetrie 
wahrzunehmen, welche im plastischen Rhythmus durch 
das Geichgewicht und die Harmonie der Bewegungen 
zum Ausdruck kommt. 

Die Wiederholung eines musikalisch rhythmischen 
Abschnittes ist lediglich eine Form, welche aber ihre Be- 
rechtigung findet in den Gegensätzen des Ausdrucks, in 
den Gegensätzen der Schattierung. 

Die Symmetrie des Körpers ist ebenfalls formell. Die 
in gleichzeitiger Symmetrie ausgeführten plastischen Bewe- 
gungen weisen keinen Gegensatz auf und deshalb fehlt 
ihnen der Ausdruck, wie sich leicht feststellen lässt bei 
der Ausführung vieler rein gymnastischer Übungen. 

+ + i i I 

Aber die plastischen Bewegungen können in zeit- 
lichem Sinne symmetrisch sein, indem sie ebenso wie die 
Melodie in zwei aufeinander folgenden Perioden ausgeführt 
werden. In diesem Falle enthält die Form der musika- 
lischen Wiederholung einen plastischen Gegensatz zwischen 
den beiden Richtungen links und rechts. Darum werden 
die Märsche mit abwechselnden Zeitwerten, welche einen 
sich wiederholenden musikalischen Rhythmus enthalten, 
harmonischer sein, wenn dieser Rhythmus eine /mgerade 


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Zahl von Schritten enthält, denn die Wiederholung wird 
alsdann mit dem andern Fuss anfangen können. 


Der Rhythmus 


J 


<=)’ 4 


etc. ist nicht beson- 


ders günstig für die Schönheit eines Marsches, da die 
kreuzende Bewegung des einen Beines immer nach der- 
selben Richtung ausgeführt wird. Die Gangart der Aus- 
führenden wird einen hinkenden Charakter tragen. Die 
nämliche rhythmische Formel in folgender Weise umge- 
I wird das Auge viel besser befrie- 


J 


dieser 


staltet 

ö' - - _ 

digen, aber die Wiederholung ||l J | J 

beiden Takte wird eine gewisse Steifbeit aufweisen. 
Wenn man aber eine Note hinzufügt, sodass der Rhytmus 
eine ««gerade Zahl Schritte enthält |[* ^J. J I J. J j «j| 

so wird die Wiederholung mit den ergänzenden Gesten 
ausgeführt und die Symmetrie der musikalischen Phrase 
wird die Symmetrie der plastischen Bewegungen herbei- 
führen. 

Dennoch würde man einen Irrtum begehen, wenn 
man eine absolute Parallelität feststellen wollte zwischen 
dem musikalischen und dem plastischen Rhythmus, denn 
es ist ein bedeutender Unterschied zwischen einem isolierten 
musikalischen und einem plastischen Zeitwert gleicher Dauer. 
Bei einem allein stehenden tönenden Zeitwert zieht der 
Moment des Anfangs viel mehr die Aufmerksamkeit auf 
sich, als der Augenblick, wo der Ton aufhört. Dies fin- 
det seinen Grund darin, dass das Schweigen, welches der 
ersten Schwingung vorangeht vollkommen und der Gegen- 
satz zwischen Schweigen und Tönen daher absolut ist, 
wohingegen die zuletzt hervorgerufene Schwingung ihren 
Weg durch den Raum noch fortsetzt. Sogar wenn man 
den letzten Augenblick der Tonerzeugung durch einen 
festen Stoss hervorhebt, wird auf die Unterbrechung dieser 
Bewegung kein vollkommenes Schweigen folgen : die 

schwingende Luft kommt erst allmählich zur Ruhe. Wenn 
man den letzten Augenblick eines tönenden Zeitwertes 


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mehr betont als den ersten, so wird diese Betonung den 
Schrecken, die Wut, die Rohheit ausdrücken. Es entsteht 
ein pathetischer Akzent, also ein Ausnahmefall, aber nichts 
destoweniger ist der Gegensatz zwischen dem Ton und 
der darauf folgenden Pause nicht in gleichem Masse reell, 
als derjenige zwischen dem Ton und dem ihm vorange- 
henden Schweigen. 

Dagegen ist es bei einem isolierten, durch plastische 
Bewegung abgemessenen Zeitraum der letzte Augenblick, 
welcher am meisten hervorgehoben wird. Und zwar aus 
folgendem Grunde. 

Eine Bewegung ist immer die Folge eines Gehirn- 
reizes. Die Unbeweglichkeit, welche der Bewegung voran- 
geht, ist nicht vollkommen. Der Ausdruck des Körpers 
lässt die Bewegung voraussehen, denn schon spannen sich 
die Muskeln an, und der Körper (die Glieder, das Antlitz) 
belebt sich in der Haltung, welche der Bewegung voran- 
geht. Infolgedessen ist der Gegensatz zwischen dem 
regungslosen Zustand und der an denselben anschliessen- 
den Beweglichkeit nicht vollkommen. Dagegen schliesst 
jede einzelne Bewegung mit einer Stellung der vollkom- 
menen Ruhe oder des vollkommenen Gleichgewichts ab. 
Diese Stellung kann Muskelanspannungen erfordern, und 
sie kann infolge der Willens- und der Vorstellungskraft 
sehr belebt und ausdrucksvoll sein, aber dies ist nicht 
unbedingt notwendig. Im allgemeinen hat eine fertige 
Bewegung ihr Ziel erreicht und die Unbeweglichkeit der 
anschliessenden Haltung ist vollkommen. Der Gegensatz 
zwischen der Bewegung und dem darauf folgenden 
regungslosen Zustand ist ein absoluter; der letzte Augen- 
blick eines in plastischer Bewegung dargestellten Zeit- 
wertes wird mehr betont als derjenige, welcher den An- 
fang der Bewegung markiert. 

Die Gesetze, denen der plastische Rhythmus unter- 
steht, erkennt man am leichtesten, wenn man einen Körper 
in seiner Bewegung beobachtet und zwar in dem Moment, 
wo die Bewegung abschliesst oder unterbrochen wird, 
und der Körper eine Ruhestellung einnimmt. 


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Jede isolierte Bewegung (das heisst jede Bewegung, 
welche nicht verglichen wird mit einer vorangehenden 
oder einer folgenden Bewegung) kann zerlegt werden in 
Auftakt und Niederschlag, d. h. in einen schwachen Zeit- 
wert, welcher einem verhältnismässig schweren Akzent 
vorangeht. Wenn wir eine Übereinstimmung feststellen 
wollen zwischen dem körperlichen und dem musikalischen 
Rhythmus, so werden wir die Bewegung studieren müssen, 
welche einer Stellung vorangeht und welche — um einen 
musikalischen Ausdruck zu gebrauchen — einem Auftakt 
oder einer Anacruse gleichkommt. 

Im Augenblick, wo die Stimme eines unsichtbaren 
Sängers einen Ton ansetzt, hat der Zuhörer die Empfin- 
dung, dass eine Tätigkeit anfange. Wenn er aber den 
Sänger vor Augen hat, so wird der aufmerksame Zu- 
schauer beobachten, dass dem Eintritt des Tones verschie- 
dene Vorbereitungen vorangehen. Die Brust dehnte sich 
bei der Einatmung aus, der Mund hatte sich geöffnet und 
auf die Aussprache des zu bildenden Tones vorbereitet. 
Nur der genaue Beobachter wird diese Vorbereitung kon- 
statieren, denn die betreffende Bewegung kann bei dem 
Ansatz eines weichen Tones auf ein Minimum beschränkt 
und unauffällig ausgeführt werden, und so dem grösseren 
Publikum vollständig entgehen. Diese vorbereitende Be- 
wegung ist noch geringer beim Klavierspieler, weil sie in 
vielen Fällen nur von einem einzelnen Finger ausgeführt 
wird. Aber beobachten Sie einen Orchesterdirigenten im 
Augenblick, wo er zu dirigieren anfängt; sein Arm, welcher 
beim Einsatz sich entweder heben oder senken muss, 
führt vor der plastischen Bewegung, welche den Anfang 
des Tones bestimmt, eine vorbereitende Bewegung aus, 
welche die Dauer des Taktteiles angibt. Bei dieser vor- 
bereitenden Bewegung wird sich der Arm im Zustande 
starker Innervation befinden, wenn der erste vom Orchester 
zu spielende Ton eine energische Betonung verlangt, der 
Arm wird mässig innerviert sein, wenn der Anfangston 
nur mässig hervorgehoben werden muss. Und schliesslich 


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wird die Muskelinnervation des Armes ganz weich sein, 
wenn der Anfangston auf einen schwachen Taktteil fällt 
und nicht hervorgehoben werden soll. Diese Bewegung 
übt ihre Wirkung auf das Auge der Musiker aus und 
steht in enger Beziehung zum musikalischen Rhythmus. 
Bei der Ausführung eines jeden musikalischen Rhythmus 
ist eine plastische vorbereitende Bewegung unvermeidlich. 
Und jede Dauer eines klingenden Zeitwertes, während 
dessen das Ohr keine rhythmische Bewegung wahrnimmt, 
stellt für das Auge eine plastische Bewegung dar, 
deren letzter Augenblick zusammenfallen wird mit dem 
Stoss, welcher den Schluss eines klingenden Zeitwertes 
und den Anfang des darauf folgenden bildet. Es wird 
demnach weder eine musikalische Pause noch ein tönen- 
der Zeitwert durch eine vollständige Unbeweglichkeit des 
Körpers dargestellt. Es wird immer eine plastische Ana- 
cruse stattfinden, das heisst eine Bewegungs-Vorausnahme. 

Führen wir einen einfachen Marsch aus, welcher 
nur gleiche Zeitwerte enthält und singen wir dazu Töne 
von derselben Dauer. Wenn Sie sehr genau beobachten, 
so werden Sie bemerken, dass der Gesang sozusagen 
immer einen Taktteil hinterher kommt. Der Fuss hebt 
sich, um den rhythmischen Augenblick des ersten Tonein- 
satzes markieren zu können. Die erste Bewegung ist 
schon ausgeführt im Moment, wo der erste Ton anfängt. 
Der rhythmische Moment des plastischen Treffpunktes 
ist der rhythmische Moment der Entstehung des Tones. 

Wenn Sie eine ganze Note darstellen und Viertel- 
noten dazu singen, werden Sie bemerken, dass Sie die 
kreuzende Bewegung des Beines ausführen während Sie 
die erste Note singen. Die Dauer der kreuzenden Bewe- 
gung fällt zwischen die zwei rhythmischen Zeitteile 1 und 
2. Wiewohl sie die zweite plastische Bewegung ist, so 
kommt sie doch während des ersten musikalischen Zeit- 
wertes zur Ausführung. Ebenso stellt die dritte Bewe- 
gung der ganzen Note deren zweiten musikalischen Zeit- 
wert dar; die vierte Bewegung der ganzen Note ist der 


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dritte musikalische Zeitwert, und die Bewegung des da- 
rauf folgenden Schrittes füllt den vierten Zeitwert der 
noch nicht vollendeten ganzen Note aus. 

Aus der Innervation der Glieder vor der Bewegung 
geht hervor, dass die den Marsch begleitenden Gesten 
später anfangen können als die Bewegungen des Fusses, 
vorausgesetzt, dass Sie leicht anfangen, ohne jegliche Be- 
tonung. Es ist aber unbedingt notwendig, dass Fuss und 
Arm, Kopf und Hand im selben rhythmischen Treffpunkte 
Zusammenkommen. 

Sie werden in dem I. Bande der rhythmischen Gym- 
nastik Marschübungen finden, welche in abwechselnder 
Haltung auszuführen sind. Diese Übungen haben den 
Zweck, das Gefühl der Symmetrie des musikalischen Satz- 
baues zu wecken und zu stärken und die meisten dieser 
Märsche fangen absichtlich mit einem Auftakt an. Die 
beigefügte Randbemerkung betont ausdrücklich, dass der 
Haltungswechsel vollzogen sein muss im nämlichen Augen- 
blick, in welchem der in der Übung angegebene Taktteil 
anfängt. Der Haltungswechsel nimmt tatsächlich immer 
einige Zeit in Anspruch. Wenn eine Periode mit einem 
klingenden Auftakt beginnt, wird demselben also ein 
plastischer Auftakt vorangehen, und da die 2. Periode 
ebenfalls mit einem Auftakt anfängt, wird ihr die Bewe- 
gung des Haltungswechsels vorausgehen müssen. Den 
gleichen Fall finden wir übrigens bei der Atmung. Weil 
die Einatmung Zeit in Anspruch nimmt, und der rhyth- 
mische Moment des Toneinsatzes nicht verzögert werden soll, 
ist man genötigt, den vorhergehenden Ton abzukürzen. Da 
der rhythmische Augenblick der Vollendung des Haltungs- 
wechsels nicht verzögert werden soll, ist man genötigt, die 
Dauer der vorangehenden Haltung etwas zu verkürzen. 

Infolgedessen ist der so häufig vorkommende Fall 
von Arythmie (derjenige des verzögerten Toneinsatzes) 
durch den Umstand verursacht, dass die unentbehrliche 
vorbereitende Bewegung erst im selben Augenblicke aus- 
geführt wird, wo sie vollendet sein sollte. Dieser Fall 


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kommt zum Beispiel oft vor, wenn eine Geste des Dirigen- 
ten den Einsatz des Orchesters auf den letzten Ton einer 
Klavierpassage veranlassen sollte und er den Taktstock 
erst auf den betreffenden Ton hebt , anstatt vorher. Diese 
Art der Arythmie ist in der Gangart vieler Schüler zu 
konstatieren. In dem Augenblick, welcher für den Treff- 
punkt des Schrittes festgestellt ist, haben sie ein Gefühl 
der Betonung in dem Hüftgelenk, dem Ausgangspunkt für 
die Vorwärtsbewegung des Oberschenkelfe. Die Fusssohle 
erreicht den Boden einen Augenblick zu spät, ohne dass 
sie hiervon eine unangenehme Empfindung haben. Andere 
Schüler führen den Schritt des schweren Taktteils richtig 
aus, und zeigen diesen selben Fehler nur auf die leichten 
Taktteile. Es kommt dies auch, obschon weniger häufig, 
bei der Ausführung der Arm-, Kopf- und Rumpfbewe- 
gungen vor. 

Die vorbereitende Bewegung schliesst entweder mit 
einer geraden Linie ab, wenn z. B. das Bein den schweren 
Taktteil ausführt, oder aber mit einem spitzigen, rechten 
oder stumpfen Winkel: wie z. B. beim Taktschlagen des 
Armes oder bei den zerlegenden, vom Bein ausgeführten 
Bewegungen der zusammengestellten Zeitwerte. Wenn 
die Bewegung im rhythmischen Augenblick des Treff- 
punktes noch nicht vollendet ist, so wird die Linie oder 
der Winkel eine andere Form angenommen haben, die 
körperliche Harmonie wird zerstört, die Haltung nicht ge- 
regelt und das Gleichgewicht nicht hergestellt sein. Der 
gleiche Fehler entsteht, wenn die der Geste des Armes 
entgegengesetzte Kopfbewegung nicht im rhythmischen 
Augenblick vollendet wird und nicht das Bild des voll- 
kommenen Gleichgewichtes darstellt, da die Bewegung 
des Armes schon ausgeführt ist, während diejenige des 
Kopfes noch nicht zu Ende gebracht wurde. 

Diejenigen Individuen, welche plötzliche und kurz 
abgebrochene Bewegungen ausführen, haben gewöhnlich 
ein lebhaftes Gefühl für rhythmische Betonung. Ihr musi- 
kalischer Vortrag ist hart und weist einen Mangel an 


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Plastik auf, weil ihr Geist vor allem an den rhythmischen 
Treffpunkt denkt, nicht aber an die vorbereitenden Be- 
wegungen. Ihre Gesten sind eckig, denn sie nehmen im 
voraus die Form des Winkels an, welche erst für den 
rhythmischen Augenblick des Treffpunkts erforderlich ist. 
Dieser Zustand des Geistes uud der Muskeln verursacht 
die Hast beim Musizieren, wie auch im plastischen Vor- 
trag, da die Innervation nicht crescendo sondern ruckweise 
ausgeführt wird und zu lange anhält, weshalb dann auch 
die folgende Bewegung beschleunigt werden muss. 

Diejenigen Individuen, welche nicht das energische 
Gefühl der rhythmischen Betonung besitzen, denken zu 
spät an die auszuführenden Akzente und bereiten zu 
langsam die anacrusische Bewegung vor; vom plastischen 
Gesichtspunkt aus ist der spitze Winkel, welcher im 
Augenblick des rhythmischen Treffpunkts gebildet werden 
muss, unvollkommen, und es ist zu spät ihn zu verbessern. 
Wenn der Betreffende ihn dennoch zu vervollkommnen 
sucht, verliert er Zeit und die folgende Bewegung wird 
verzögert. 

Der Wille übt seine Wirkung beim plastischen 
Rhythmus nur im Augenblick aus, wo die Bewegung an- 
fängt und wo dieselbe aufhört. Sowie die Bewegung 
wiederholt wird, verliert der Wille sein Interesse daran. 
Sehen Sie den Hasen, welcher vom Jagdhund verfolgt 
wird. Um der Hetzjagd zu entkommen, lässt der Wille 
des Hasen ihn plötzlich eine andere Richtung einschlagen. 
Dieser Wille nahm Gestalt an während der Hase in ge- 
rader Richtung vorwärts lief, und die „verlorene Zeit“ 
wird daher auf ein Minimum herabgesetzt. Der Hund 
aber ist genötigt, noch einige Augenblicke seinen schnellen 
Lauf in gerader Linie fortzusetzen, bevor es dem Willen 
gelingt die automatische Bewegung fortzusetzen und den 
rhythmischen Winkel der zwei entgegengesetzten Bewe- 
gungslinien auszuführen. Das ist „verlorene Zeit" und der 
Hase gewinnt Raum. Die verlorene Zeit besteht in der 
Schnelligkeit des Hasen und dem Raumabschnitte, welcher 
sich zwischen dem Hasen und dem Hunde bildet. 


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Der menschliche Geist allein, ohne Zuhilfenahme 
mechanischer Mittel, hat keinen Begriff, keinen Schätzungs- 
begriff von Zeit und Raum. Wenn unser Auge in den 
unendlichen Raum blickt, ist es nicht imstande, eine Ent- 
fernung abzuschätzen, wenn nicht Gegenstände, deren 
Grössenverhältnisse dem Auge, bezw. dem Geiste bekannt 
sind, den Raum unterbrechen und dem Auge als Marksteine 
dienen. Ebenso wenig hat unser Geist eine Vorstellung 
von der Zeitdauer ohne Zuhilfenahme chronometrischer 
Mittel. Sperren wir einen Menschen in einen stockdunkeln 
Raum, in welchen kein Geräusch von der Aussenwelt 
dringt, also z. B. auch nicht das Schlagen einer Uhr, nichts, 
was den Unterschied von Tag und Nacht verrät, so ent- 
schwindet dem Gefangenen binnen kurzem jede Vorstel- 
lung der Zeit, die er in dem abgeschlossenen Raum zu- 
bringt. 

Wie nun der Geist nur mit Hilfsmitteln eine Zeit- 
dauer erkennen kann, so kann er auch die regelmässige 
Wiederkehr einer Bewegung, den Rhythmus nur durch 
Vergleichung der Zeitabstände zwischen den Wieder- 
holungen regulieren. 

Unser Wille bestimmt also wohl den Nervenreiz und 
die Auslösung der Muskeltätigkeit, d. i. Beginn und Ende 
der Bewegung, aber nicht den Rhythmus derselben. Der 
natürliche Rhythmus, die gleichmässige Muskelanspannung 
selbst ist es, wodurch dem Geist die Vorstellung der 
rhythmischen Zeitabschnitte vermittelt, und der Wille den 
rhythmischen Bewegungen angepasst wird. 

Eine Bewegung, eine Kraftäusserung, welche bestän- 
dig nach derselben Richtung hinwirkt, bedingt eine bei 
weitem schnellere Ermüdung der betr. Muskeln, als eine 
aus zwei oder mehreren Arten (in verschiedener oder 
entgegengesetzter Richtung) zusammengesetzte Bewegungs- 
tätigkeit. 

Z. B. das beständige Ziehen an einem Seil ermüdet 
bedeutend rascher, als die Bewegung des Holzsägens, die 
jemand, der darin geübt ist, stundenlang fortsetzen kann. 


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Der Muskel, der angespannt wird, verlangt eine Abspan- 
nung zum Ausgleich der Kraftentwickelung und in dieser 
Ausgleichung liegt das erste Gesetz des Rhythmus im 
Raume, wie das Bedürfnis, die Luft einzuatmen und aus- 
zustossen, das rhythmische Atemholen bedingt. 

Jeder sichtbaren Bewegung geht eine — sagen wir — 
latente Bewegung voran, das ist die zur Ausführung der 
Bewegung notwendige Muskelanspannung, welche parallel 
mit der kürzeren oder längeren Zeitdauer der rhythmischen 
Bewegung schneller oder langsamer sich vollzieht; um- 
gekehrt aber ist die Muskelinnervation im Verhältnis zum 
Kraftaufwand der Bewegung, d. h. sie vollzieht sich lang- 
samer bei schweren rhythmischen Bewegungen, rascher 
bei leichteren. Beim Ballschlagen oder Stabschwingen 
z. B. sind die Muskelanschwellungen rasch und leicht und 
erzielen die elastische graziöse Bewegung des Spielenden, 
während bei einem Athleten, welcher ein schweres Ge- 
wicht wiederholt stemmt, die Muskeln langsam anschwellen 
und die erhöhte Kraftbewegung auch eine längere Vor- 
bereitung erfordert. 

Am deutlichsten beobachten wir den rhythmischen 
Ausgleich der Muskelinnervation bei der mechanischen 
rhythmischen Bewegung des Gehens. Bergauf erfordert 
die Überwindung des erhöhten Widerstandes eine grössere 
Kraftanstrengung, und die Bewegung der Beine verlang- 
samt sich, um sich, sobald der Boden eben wird, sofort 
zu beschleunigen, und bei absteigendem Terrain noch 
leichter und schneller zu werden. 

Eine neue Erscheinung tritt zu Tage, wenn in einer 
rythmischen Bewegungsart eine nennenswerte Schwierig- 
keit zu überwinden ist, wobei nämlich die eine Bewegung 
kräftiger betont wird, während die nächste, wie um der 
Muskelanspannung eine Ruhepause zu gewähren, schwächer 
ausfällt, d. h. unbetont bleibt. Hier haben wir im Rhyth- 
mus den betonten, schweren, und den unbetonten leichten 
Taktteil. Wir finden diese zweiteilige rhythmische Be- 
tonung z. B. beim Schmied, welcher einem schweren 


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Hammerschlag auf das glühende Eisen ganz mechanisch 
einen leichten auf den Amboss folgen lässt. 

Wenn beim Schreiten das eine Bein sich mehr an- 
strengen muss, weil es eine Schwierigkeit zu überwinden 
hat, so wird die Anstrengung des anderen Beines bei 
dem darauf folgenden Schritt kaum halb so gross sein, 
und daraus ergiebt sich ein schwerer und ein leichter 
Taktteil I — Nehmen wir an, dass Sie lange in derselben 
Haltung verbleiben müssen, welche Sie auf einem leichten 
Taktteil angenommen haben, so wird eine Innervation not- 
wendig um das körperliche Gleichgewicht zu bewahren, 
und der leichte Taktteil wird schwer: so entsteht die na- 
türliche Synkope. 

Die unbewussten Bewegungen unserer Glieder sind 
dem Gesetz der Pendelschwingung unterworfen, da die 
Glieder an ihrem einen Ende am Rumpf festgewachsen 
sind, und von diesem Standpunkt aus sich nur in ab- 
wechselnden, korrespondierenden Schwingungen bewegen. 
Diese Bewegung ist ebenfalls nach dem Pendelgesetz 
rascher bei kürzeren, langsamer bei längeren Gliedern, 
wobei die massive Beschaffenheit dieser Körperteile für 
den Rhythmus mit ausschlaggebend ist. Der Rhythmus 
selbst ist unausgeglichen, solange der menschliche Geist 
und Wille nicht die Bewegung leitet. Die Schwingungen 
des Armes oder Beines bedürfen überhaupt erst einer 
Willensäusserung des Gehirnes, und werden sofort lang- 
samer, um nach 5 — 6 unter sich unausgeglichenen Schwin- 
gungen ganz aufzuhören. Nur der Wille, die vom Gehirn 
ausgehende Muskelinnervation, vermag der Schwingungs- 
bewegung eine gewisse Dauer zu geben, und den Rhythmus 
derselben zu beleben und zu regulieren. Hieraus ergibt 
sich die Schlussfolgerung, dass die Pendel bewegung, so- 
lange Körper und Muskeln noch nicht geschult sind, un- 
ausgeglichen ist, daher unbeholfen, eckig und ungelenk 
erscheint. Die unbewusst und unabhängig vom Willen 
ausgeführte Schwingung erfolgt stossweise und in unregel- 
mässigen Zwischenräumen, und wirkt absolut unharmonisch. 


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Die plastische Harmonie, die schöne rhythmische Bewegung 
der Glieder, auch wenn sie unbewusst, ohne Einfluss der 
Willenstätigkeit geschieht, lässt sich nur erzielen durch 
beständige Übungen, welche den Zweck verfolgen, den 
Rhythmus der Bewegungen der verschiedenen Glieder 
unter sich zu einigen und zu harmonisieren. 

Wir haben schon früher erörtert, dass die Grund- 
lage jeder rhythmischen Bewegung die mechanische Be- 
wegung ist. 

Eine vom Geist gewollte, vom Gehirn ausgehende 
Bewegung ist darum noch nicht rhythmisch. Erst, wenn 
die Muskeln und Glieder mit der auszuführenden Bewegung 
vertraut, also fähig sind, dieselbe auch ohne spezielle Mit- 
wirkung der Gehirntätigkeit auszuführen, d. h. sich ohne 
beständigen Einfluss der Vorstellung der Übung selbständig 
zu bewegen, tritt an Stelle der gewollten, unter dem Ein- 
druck der bewussten Muskelinnervation spontanen Be- 
wegung, die mechanische, unbewusst-rhythmische Bewegung. 

Jeder Muskel wird bei der Bewegung von anderen 
Muskeln unterstützt, d. h. die Bewegung besteht aus der 
Synergie mehrerer Muskeln. Soll nun die Bewegung wirk- 
lich zweckmässig, dabei harmonisch und rhythmisch-plastisch 
sein, soll bei der Bewegung der Kraftaufwand auf das ge- 
ringste Mass reduziert werden, so muss jeder Muskel durch 
die vorangegangene Übung befähigt sein, den Grad der 
Anschwellung beim Strecken oder Zusammenziehen genau 
abzuschätzen, sowie im richtigen Moment in Aktion zu 
treten. Durch das richtige, sorgfältig geregelte Ineinander- 
greifen der Muskeltätigkeit, durch die Kombination der 
einzelnen Energien zur Synergie, entsteht die harmonische 
rhythmische Bewegung. Da jede einzelne Bewegung, wie 
eine Reihe von Bewegungen, nur möglich ist, wenn das 
betreffende Glied die nötige Stütze im Körper (Rumpf) 
findet, so ergibt sich daraus von selbst, dass sich der 
Körper allen diesen Bewegungen anpasst, einmal um das 
Gleichgewicht herzustellen, und dann, um dem Gesetze der 
Harmonie zu gehorchen, das heisst, den plastischen Rhyth- 
mus zu erzielen. 


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Wie nun die einzelnen Muskeln sich gegenseitig, auch 
entgegengesetzt, unterstützen, so wirken bei der Bewegung 
eines Gliedes die anderen Glieder aktiv oder passiv mit. 
Streckt jemand den rechten Arm energisch nach oben, mit 
einer Neigung nach vorn, so stützt sich meist der Körper 
auf das vorgestellte leicht gebeugte rechte Bein, während der 
linke Arm und das linke Bein leicht nach rückwärts ge- 
streckt bleiben. Der Körper befindet sich so im Gleich- 
gewicht, die Haltung ist plastisch belebt. 

Um plastische Harmonie, plastischen Rhythmus zu 
erreichen, darf die Haltung des Körpers nicht symmetrisch 
sein, da sonst die Belastung der einzelnen Körperteile und 
die in denselben hervorgerufene Kraftanstrengung einseitig 
wird und den Rhythmus der Plastik stört. Wenn z. B. 
jemand einen Stein wirft und presst dabei den linken Arm 
ausgestreckt an den Körper an, so ist dies eine unnatür- 
liche Haltung, der man sofort den Zwang ansieht. Man 
kann diese Beobachtung stets machen bei Personen, welche 
nie oder nur selten gymnastische Übungen machen, bei 
denen alle Bewegungen des Werfens, Laufens u. s. w. etwas 
Eckiges, Ungelenkes und Gezwungenes haben. In der Un- 
gezwungenheit der Bewegung, welche den Gliedern vollen 
Spielraum und Bewegungsfreiheit lässt, zeigt sich die An- 
mut und die Grazie. 

Man spricht von der Harmonie in der Bewegung, und 
das mit vollem Recht. Wenn die Muskeltätigkeit vollkommen 
ausgeglichen ineinandergreift, so dass die Bewegung der 
Glieder in abgerundetem Rhythmus erfolgt, wenn hierbei 
der Körper allen Bewegungen sich leicht anpasst, und 
überall das richtige Gleichgewicht behält, so bildet das 
alles zusammen eine volle Harmonie, wie wir sie auch in 
der Musik finden. 

Wir betonten schon, dass die Grundbedingung für 
jede rhythmische Bewegung in der zweckmässigen Muskel- 
innervation beruht, d. h. in dem richtigen Anwenden der 
Kraft. Wenn Spencer sagt, dass der Ursprung der Grazie in 
der Ökonomie der Kraft liege, so ist das vollkommen 

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richtig, aber noch nicht erschöpfend. Denn die Ökonomie 
der Kraft allein macht noch nicht die Grazie und Anmut 
aus, aber sie ist notwendig dazu. Ein Arbeiter, welcher 
Holz sägt, strengt sich bei seiner längst gewohnten Arbeit 
nicht sonderlich an, ohne jedoch gerade den Anspruch auf 
Grazie zu haben. 

Um den Rhythmus der Bewegung harmonisch zu ge- 
stalten, um natürliche Grazie und Anmut zu entfalten, muss 
die Individualität selbst sich in der Bewegung ausdrücken. 
Die Bewegungen müssen der natürlichen Veranlagung und 
dem Charakter sich anpassen. Damit ist also ausgesprochen, 
dass eine Geste, eine Pose nicht jedem gleich gut ansteht. 
Der Eine bleibt trotz aller Versuche sein ganzes Leben 
lang ungeschickt, linkisch und eckig. Ein Anderer zeigt 
schon in frühester Jugend überraschende Anmut und Grazie 
in Haltung und Bewegung. 

Zur natürlichen rhythmischen Harmonie gehört ferner, 
dass die Ökonomie der Kraft sich nicht der Beobachtung 
aufdrängt, z. B. durch Verlangsamung der Bewegung, da 
sie sonst den Eindruck von Energielosigkeit oder Schwäche 
erwecken würde. Auch darf der Rhythmus der Bewegung 
nicht in Monotonie ausarten. Wie in der Sprache, im Vor- 
trag, im Gesang der Vortragende darauf bedacht sein muss, 
in einzelne Stellen besonderen Pathos zu legen und die 
Stimme durch kräftigeren Akzent zu beleben, da sonst sein 
Vortrag ermüdend und reizlos wirkt, so wird genau im 
gleichen Masse der Bewegung durch eine harmonische 
Abwechslung zwischen ruhiger Pose und leidenschaftlichem 
Rhythmus ein besonderer Reiz, Leben und Musik eingehaucht. 

Die Eintönigkeit in der Ungezwungenheit wird nicht 
nur hervorgerufen, wenn die gleichen, leicht auszuführenden 
Bewegungen wiederholt werden, sondern auch wenn eine 
grosse Zahl von Ausführenden dieselbe leichte Bewegung 
in gleichen Zeitabschnitten wiederholt. Daher wirkt der 
anfangs reizende Anblick von einigen hundert Turnern, 
welche alle dieselben Bewegungen gleichzeitig ausführen, 
schliesslich ermüdend durch den Eindruck der Eintönigkeit, 


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welchen dieselben auf den Zuschauer machen. Sowie aber 
inmitten dieser hundert Gymnasten eine Gruppe von 20 
Männern anfängt, eine kontrastierende Bewegung auszu- 
führen, so ist der Eindruck der Schönheit wieder da. — 
Der Zuschauer muss fühlen, dass der Rhythmus der wieder- 
holten Bewegungen die individuelle Phantasie nicht unter- 
drückt hat. Der maschinale Charakter einer genau nach 
dem Metronom geregelten Musik vernichtet den Eindruck 
der Ungezwungenheit des Taktes, sogar wenn der Aus- 
führende keine Anstrengung zeigt, um die Schnelligkeit 
der Töne nach dem Metronom zu regeln. Wie oft erinnern 
die Bewegungen des Menschen an diejenigen des in einem 
Käfig eingesperrten Löwen ! Der seiner Kraft und der 
Schnelligkeit seiner Bewegungen nicht angepasste Raum 
hat dem Löwen unnatürliche Gewohnheiten aufgezwungen; 
die Majestät des Königs aller Tiere drückt nicht mehr das 
Bewusstsein seiner überlegenen Kraft aus, er ist demoralisiert. 
In gleicher Weise haben die Konventionen die Geberden 
des Menschen eingesperrt, und so haben auch die Moden 
unnatürliche Gewohnheiten geschaffen Ist Ihnen nicht auf- 
gefallen, wie steif einige Schüler die Bewegung des Kopfes 
für das Gleichgewicht ausführen? Und ist Ihnen da nicht 
der Gedanke gekommen, dass diese Steifheit vielleicht eine 
angenommene Gewohnheit ist, welche sich infolge des zu 
hohen oder zu steifen Kragens gebildet hat, den diese 
Schüler seit verschiedenen Jahren getragen haben ? Ist es 
nicht eine Konvention, die Arme immer am Körper zu 
halten und weite und ausholende Gesten zu vermeiden und 
folgt nicht daraus ein Mangel an Einfachheit des Ausdrucks? 
Weder die Damen mit den vor dem Körper zusammen- 
gelegten Händen noch die Herren mit den herabhängenden 
Armen — oder mit den Händen in der Tasche — wissen 
so recht, was sie eigentlich mit den oberen Gliedmassen 
anfangen sollen. Die Gezwungenheit und die Ungeschick- 
lichkeit sind keine Zeichen eines schlechten Charakters, 
aber sie drücken einen Mangel an Natürlichkeit und Ein- 
fachheit im plastischen Rhythmus aus. Die Bewegungen 


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in der Natur, der Flug der Vögel, der Lauf der vierfüssigen 
Tiere, die graziöse und geschmeidige Biegsamkeit aller 
ihrer Glieder erregen unser Gefallen und machen uns den 
Eindruck der unnachahmbaren Vollkommenheit. Es ist die 
Natürlichkeit und Einfachheit in diesen Bewegungen, welche 
uns entzückt. Der Hirsch, welcher ein Geräusch ver- 
nimmt, das ihn eine Gefahr befürchten lässt, drückt seine 
ganze Unruhe mit einem einzigen Haltungswechsel aus- 
Der ganze Körper richtet sich auf, der Kopf hebt sich und 
wendet sich nach der Seite, woher die Gefahr sich nahen 
könnte : er horcht. Der Ausdruck ist vollkommen, ohne 
Zurückhaltung und konzentriert sich in elementarer Kraft. 
Die Ausführung ist vollkommen, ohne übertriebene Inner- 
vation, ohne Steifheit, und die Dynamik und das Gleich- 
gewicht sind durchaus harmonisch. Jedes Gelenk gibt dem 
Willen nach, kein Zögern, kein Wanken ! Der Bewegungs- 
wechsel ist eine schnelle und geschmeidige Bewegung, der 
Treffpunkt ist rhythmisch und es folgt eine vollkommene 
Unbeweglichkeit. Keine einzige unnütze Bewegung. Ge- 
berde und Haltung sind ausdrucksvoll. 

In diesem Sinne müssen wir versuchen, die plastischen 
Bewegungen des Kindes zu bilden. Wenn die überflüssigen 
Bewegungen allmählich durch die rhythmische Gymnastik 
ausgeschaltet und die rationellen Bewegungen geregelt und 
vervollkommnet sind, so hat man schon eine rein förm- 
liche (physische) Natürlichkeit und Einfachheit sichergestellt. 
Aber ausserdem können Sie die erfreuliche Beobachtung 
machen, dass die gewissenhafte Ausführung der Übungen 
eine so grosse Aufmerksamkeit verlangt, dass der Gesichts- 
ausdruck immer konzentrierter und harmonischer wird. 
Diese Tatsache, welche bei mehreren öffentlichen Auffüh- 
rungen von hervorragenden Künstlern bestätigt wurde, be- 
weist, dass unsere Erziehung das Kind zur Natürlichkeit 
und Einfachheit des Geistes führen wird, welcher sich in 
den Mienen wiederspiegelt. Wir haben von der Erziehung 
des Willens und der Vorstellungskraft gesprochen. Die 
Übungen in den verschiedenen Abschnitten der einzelnen 


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Lektionen schalten die unnützen Bewegungen und die un- 
nützen Gedanken aus. Am Schluss des I. Bandes finden Sie 
die langsamen und ausdrucksvollen Märsche. Ich habe Ihnen 
erklärt, dass die Vorstellungskraft eine andere dynamische 
Tätigkeit der antagonistischen Muskelgruppen verlangt, als 
die Wirklichkeit, und dass daher das rhythmische Spiel 
einen rein gymnastischen Wert hat. Diese Märsche aber 
verlangen ein vollkommenes Gleichgewicht des ganzen 
Körpers. Sie können nur ausgeführt werden im Zustande 
der geistigen Konzentration, welche jeden Gedanken aus- 
schliesst, der nicht dazu dienen würde, die Muskelinner- 
vaticn zu regeln. Das Vorstellungsbild der Märsche in 
Spielform gibt die Art und die Zusammenwirkung der 
Innervationen an. Je besser sie ausgeführt werden, je mehr 
vertieft sich der Geist in sie und umsomehr belebt sich 
der Körper. Der Wille und die Vorstellungskraft werden 
geleitet, während die Muskeltätigkeit sich entwickelt und 
während der Geist zum Rhythmus erzogen wird. Als wir 
für das Kind rhythmische Spiele zum Zwecke paralleler 
Erziehung von Geist und Körper suchten und fanden, da 
wurde uns klar, dass wir einen Schatz ausgegraben, dass 
wir den Keim der Kunst der sogen. Orchestik entdeckt 
hatten. Das Spiel des Kindes ist die Kunst des Menschen. 
Das rhythmische Spiel bedeutet die Wiedervereinigung der 
Künste .... 

Vom Kinde ausgehend, bei genauer Beobachtung der 
kindlichen Natur und beim Erfinden von rhythmischen 
Spielen für das Kind hat sich uns ein weiter Horizont auf- 
getan. Wir sind zu der Überzeugung gekommen, dass 
der Ausdruck durch den Rhythmus und durch die Dynamik 
des Marsches und der Gesten von unabsehbarer Bedeutung 
ist und dass es der heutigen Generation Vorbehalten ist, 
dass wir es sind, welche die Wiedervereinigung der Künste 
verwirklichen werden und dass unsere Gedanken und 
unsere Gefühle zum Ausdruck kommen werden in den 
künftigen Werken der vereinigten Polyphonie und Poly- 
rhythmie. Im nächsten Vortrag werden wir über die Neu- 


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102 


belebung der Kunst sprechen, heute wollen wir noch ver- 
suchen, die Grenzen näher zu bestimmen, welche die Kunst 
der Orchestik einnehmen könnte. Sie werden darin gleich- 
zeitig eine Erklärung für die Einfachheit der Umgebung 
finden, in welcher unsere Kinderwerke ausgeführt werden 
sollen. 

Wir wurzeln mit unserem ganzen Sein und Empfinden 
in der Natur, die uns von frühester Kindheit an Mutter, 
Nährerin und Lehrerin ist; sie weht uns mit ihrem kräf- 
tigen Lebensodem an, weckt unsere Sinne und spiegelt 
uns in tausend bunten, wechselvollen Bildern und einer 
Fülle von Harmonien das Leben, die Kraft und die Schönheit. 

Das Licht und die Wolken, die Bäume und die Berge, 
die Blumen und die Tiere bieten uns Anschauungen von 
plastischer Form und Bewegung. Das Summen der Bienen, 
das Murmeln der Bäche, das Brüllen der Wogen und 
das Zwitschern der Vögel erzeugt in uns Eindrücke von 
musikalischer Form und Bewegung. Die Liebkosung der 
Mutter, der energische und konzentrierte Ausdruck im 
Blick des Vaters, die Modulation und Dynamik ihrer 
Stimmen bringen in uns Eindrücke von dem Sein und von 
den Regungen der Seele hervor. 

Der Kontakt mit der Natur durch das Auge, durch 
das Gehör, durch das Gefühl und durch die Bewegung 
hinterlässt uns Eindrücke von Zeit und Raum, bestimmt 
die Natur jeder Materie in Zeit und Raum, und stellt die 
Übereinstimmung fest zwischen der beseelten und der leb- 
losen Materie. Indem unser Körper selbst sich durch diese 
Eindrücke belebt, erwacht und entwickelt sich die Seele in 
uns, und die Art und Weise wie der Körper willkürlich 
mit der ihn umgebenden Natur in Kontakt tritt, bildet den 
Ausdruck der von der Natur geformten Seele. Durch die 
Art und Weise zu sehen, zu hören, zu tasten, sich zu be- 
wegen setzt jedes beseelte Leben die Eindrücke in Aus- 
druck um. Die Seele würde sich nicht anders ausdrücken 
können als durch den Körper. Die Orchestik ist Ausdruck, 
nicht der Materie, sondern der Beziehungen zwischen der 


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103 


gebildeten Seele und der beseelten und leblosen Natur. Die 
Eindrücke in der Kunst der Orchestik gehören der Vor- 
stellung an, der Ausdruck ist Wirklichkeit; die Vorstellungs- 
bilder erwecken durch ihre Verwirklichung die Illusion der 
umgebenden Natur, aber die Mittel des Ausdrucks sind 
reell : es sind die Zeit und der Raum, die Luft und das 
Licht, der Mensch und die Seele! 

Um durchaus sicher zu sein, dass man keine Elementar- 
fehler begeht bei der Verwirklichung der Wiedervereini- 
gung der Künste, muss man niemals die Fiktion einer 
Wirklichkeit und diese Wirklichkeit selber nebeneinander 
stellen. Die Wirklichkeit wird immer den Sieg über die 
Fiktion davontragen, die eine wird die andere in den 
Schatten stellen ; die Wirklichkeit neben ihrer eigenen 
Nachahmung wird die letztere immer ungenügend und 
lächerlich machen. Deshalb vertragen die drei wirklichen 
Dimensionen des Raumes die darstellende Perspektive der 
Malerei nicht neben sich. Das wirkliche Licht, welches 
die drei wirklichen Dimensionen der Plastik zur Geltung 
bringt, verträgt die künstlichen Lichteffekte der dekorativen 
Kunst nicht neben sich. Und so verträgt auch der plas- 
tische Rhythmus es nicht, dass man die bildliche Bewegung 
der Bildhauerkunst und der Malerei neben ihn stellt. Weder 
das Stereoskop, noch das Diorama, noch auch die gegen- 
wärtigen Bühnendekorationen sind auf den wirklichen, sich 
in den drei Raumdimensionen vollziehenden Rhythmus be- 
rechnet. 

Ist es nicht ein Unrecht, wenn man ein Gemälde in 
den Saal eines Museums aufhängt gerade neben einen 
offenen Durchgang? Enthüllt die wirkliche Perspektive des 
anstossenden Raumes nicht das Nichtbestehen der imagi- 
nären Tiefe des Gemäldes; fällt das Licht nicht hinter das 
Gemälde, ohne den Hintergrund der Malerei zu beleuchten? 
Wird die von dem Maler geschaffene Illusion nicht ver- 
dorben durch die Wirklichkeit des Lichtes? Die Darstel- 
lungen mit 2 wirklichen Dimensionen und mit fingierter 
Tiefe befinden sich im genannten Fall nicht an dem ihnen 


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104 


gebührenden Platze in einem Raum mit wahrer Tiefe; die 
Beleuchtung, welche die Schatten aufhebt, vernichtet den 
wirklichen Wert der Plastik und der Bewegung. Die Um- 
rahmung der Orchestik wird wirklich plastischer Natur sein 
müssen, das Licht wird die plastische Bewegung in der 
natürlichsten Weise zur Geltung bringen müssen, indem es 
aus der Höhe des Himmels oder vom Horizonte hernieder- 
strömt. 

Die Ursachen der menschlichen Eindrücke aber sind 
in der Orchestik imaginär. Damit sie diesen Charakter 
nicht verlieren, darf man die Illusion nicht zerstören durch 
Vergleichung mit der Wirklichkeit. Der schwere Stein, 
den Sie sich einbilden, in der Hand zu tragen, existiert 
nicht : auf dem Spielplatz darf sich nichts befinden, was der 
Wirklichkeit eines Steines gleichkommt, weder Steine am 
Boden, noch Felsenwände ringsum. Ihre ausdrucksvolle 
Handlung in der Zeit und im Raum, in der Atmosphäre und 
im Licht allein soll die Illusion des Eindruckes erwecken, 
den die Schwere des Steines auf Sie macht. Die Blume, 
welche Sie zu pflücken glauben, existiert nicht: auf dem 
Boden dürfen sich keine natürlichen oder künstlichen Blumen 
befinden, auch nicht im Hintergründe, oder rechts oder links 
vom Spielplätze. Der Duft der fingierten Blume besteht 
nicht ; Sie drücken die Freude und das Glück aus, welches 
der Frühling in Ihrem Herzen erweckt, wenn Sie die bal- 
samische Luft einatmen, aber der Spielplatz braucht nicht 
mit Wohlgerüchen besprengt zu sein. Die Ursachen Ihrer 
Freude, Ihrer Trauer, Ihrer Ermüdung bestehen durchaus 
nicht; nichts, was einen Eindruck auf Sie macht, besteht 
in Wirklichkeit in Ihrer Umgebung, aber alle Eindrücke, 
welche in Ihren Gedanken und Ihren Gefühlen sich ge- 
bildet haben, drücken sich aus in Ihrer Haltung und in 
Ihren Bewegungen, durch das Verhältnis der Betonungen, 
durch die Gesamtheit der Schnelligkeitsgrade und durch 
die Abstufungen in der Schwere Ihrer Glieder, durch das 
Zusammenwirken Ihrer Muskeln, mit einem Wort: durch 
den musikalischen und plastischen Rhythmus Ihres ganzen 
Körpers. 


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Und deshalb ist die Einfachheit für die neue Kunst 
Gebot. Während das Theaterstück, die Pantomime Gegen- 
stände nicht entbehren kann, weil alle Beziehungen zwischen 
dem Menschen und seiner Umgebung ins Unendliche spezia- 
lisiert werden, generalisiert die Orchestik, indem sie die 
Jugend, den Schmerz, die Demut, die Extase, die Anbetung, 
die Furcht in ihrer ganzen Elementargewalt zum Ausdruck 
bringt. Darum darf die Ursache dieser Gefühle auch nicht 
wirklich sichtbar sein: die Kleinheit der Ursache würde die 
Grösse des Ausdrucks unwahrscheinlich, unverhältnismässig 
und grotesk erscheinen lassen. Die Furcht vor den Ge- 
fahren der Natur wird von der ganzen Menschheit em- 
pfunden; die durch materielle Mittel im kleinen Raum einer 
Bühne oder eines Podiums dargestellten Gefahren der Natur 
vertragen nur die Gegenwart von Individuen, nicht aber 
des Menschen. Deswegen wird auch die Einfachheit der 
Kleidung zürn Gebot. Sie könnte nicht historisch sein ; sie 
wird den Körper gerade so viel bedecken wie der Anstand 
es gebietet und sie wird den Körper genügend unbedeckt 
lassen, damit die Dynamik des Muskelspiels, welche die 
Dynamik der seelischen und geistigen Kräfte ausdrückt, 
nicht für den Zuschauer verloren geht. Auch dürfen die 
scharfen, rechten und stumpfen Winkel der Gelenke nichts 
von der Ausdruckskraft ihrer Betonungen verlieren und 
keine einzige Bewegung darf in ihrer Vollständigkeit durch 
die Kleidung beeinträchtigt werden. Die Kleidung darf 
keine Bewegungsgewohnheiten schaffen, weder durch ihre 
besondere Form, noch durch die Qualität ihrer Schwere. 

Im Gegenteil müssen die Leichtigkeit des Stoffes und 
die Form der Kleidung gewählt werden in Übereinstimmung 
mit der Natürlichkeit der Bewegungen, und mit dem rhyth- 
mischen Ausdruck der Gelenke und der Muskelinnervationen. 
Welch’ herrlichen Nutzen könnten die Gesangsabteilungen 
unserer Männerturnvereine aus unserer rhythmischen Gym- 
nastik ziehen. Wir würden nach dreijährigem Studium, 
infolge der wohlüberlegten Dynamik und des abwechslungs- 
reichen Spiels der Gelenke, tatsächlich die kräftige Grazie 


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der griechischen Athleten vor uns sehen. Das dynamische 
Spiel der Antagonisten, welches das Bild des Herkules 
darstellen wollte, wie er Felsblöcke hebt und aufstapelt, 
um den Lauf des Flusses Alpheus zu hemmen, würde 
Muskelinnervationen erfordern, welche in anderem Sinne ath- 
letisch und in anderem Sinne kunstvoll wären, als wenn 
die Muskeln die Widerstandskraft der wirklichen Schwere 
überwinden. Der schnelle Lauf des beflügelten Wildes und 
der plötzliche Stillstand im Augenblick, wo der Verfolger 
dasselbe erreicht, würde ein vollkommenes Beherrschen des 
Atemapparates während des schnellen Laufes erfordern, 
sowie ein vollkommenes Gleichgewicht in der antagonis- 
tischen Innervation, um die statische Unbeweglichkeit zu 
verwirklichen, ohne dafür einen anderen wirklicken Stütz- 
punkt als die Fussohlen zu haben. Und das langsame 
crescendo der Innervation, um den Stier der Insel Creta zu 
bezähmen und um den nemäischen Löwen zu erwürgen, 
würde einen hohen Grad der Entwicklung des Muskel- 
sinnes und der Vorstellungskraft bedingen. 

Welch schönes Schauspiel, die gefahrvollen Taten des 
Hercules eine nach der anderen vor den Augen vorbei- 
ziehen zu sehen, vorgestellt und ausgeführt durch die Vor- 
stellungskraft und durch die Muskelkraft eines Künstler- 
Gymnasten , die musikalischen Rhythmen seiner Bewe- 
gungen unterstützt durch die suggestiven Rhythmen der 
Musik! 

Das Künstlerische im dynamischen Ausdruck der 
Muskel innervationen der Arme, der Beine, des Nackens 
würde zu gleicher Zeit den Abschied bedeuten für die ab- 
surde Kleidung der Turner, welche die Natürlichkeit be- 
einträchtigt und den dynamischen und rhythmischen Aus- 
druck der Muskeln und der Gelenke verbirgt. Die durch 
die Grenzen der Orchestik gebotene Einfachkeit der Um- 
rahmung, die durch den Ausdruck des plastischen Rhythmus 
gebotene Einfachkeit der Kleidung müssen das getreue 
Spiegelbild sein der gesunden Einfachkeit und der elemen- 
taren Kraft des Geistes, welcher die Glieder leitet. Die 


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Orchestik ist der in Ausdruck umgestaltete Eindruck. Sie 
kennt keine absolute Reserve. Sie drückt weder aus- 
schliesslich das Konkrete, noch ausschliesslich das Ab- 
strakte aus. Diese beiden Extreme beßnden sich ausser- 
halb ihrer Sphäre. Da der Körper immer dazu dient das 
Seelenleben zum Ausdruck zu bringen, sind auch diejenigen 
Gedanken und Gefühle in der Orchestik ausgeschlossen, 
welche durch die Anstrengung des Willens, die ihre natür- 
liche bewegende Kraft unterdrückt, entweder ganz oder 
teilweise verborgen bleiben. Sie gehören zur Domäne der 
Individualisierung der Charaktere und der Spezialisierung 
der Umstände und der materiellen Formen, welche das In- 
dividuum umgeben. Sie gehören zur Aufgabe des Theaters. 
Dies verhindert jedoch nicht, dass die musikalische 
Pause und der plastische Stillstand den Rhythmus der Be- 
wegung unterbrechen können, ohne darum zu riskieren, das 
absolut Konkrete oder das absolut Abstrakte darzustellen. 
Der Augenblick der Konzentrierung kann durch die sta- 
tische Innervation ausgedrückt werden, und die Instru- 
mentalmusik kann durch ihre suggestive Natur den Zu- 
stand der Seele in ihrer Konzentration schildern. In der 
unbeweglichen Stellung ist immer die zuletzt ausgeführte 
Bewegung enthalten. Der Ausdruck dieser letzten Be- 
wegung währt im regungslosen Zustand der Unterbrechung 
fort, ebenso wie der Eindruck, den der Zuschauer von der 
Ursache der Unterbrechung empfangen hat. Die Ursache 
kann ein hoher Grad von Konzentration sein, welche sich 
nach der Unterbrechung in Ausdruck umsetzen wird. Der 
Stillstand kann eine plötzliche Unterbrechung einer nicht 
zu Ende geführten Bewegung sein. Jede statische Haltung 
muss einen Zustand des absoluten Gleichgewichts dar- 
stellen, welcher den Stempel einer unvollendeten Bewegung 
und einer materiellen Ursache der Unterbrechung trägt oder 
den Charakter eines decrescendo der Tätigkeit und eines 
crescendo der Konzentration hat. In beiden Fällen werden 
die Zukunft, die Gegenwart und die Vergangenheit Teil 
haben an der unbeweglichen Stellung, wenn auch in ver- 


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schiedenen Proportionen. Dies jedoch in einem anderen 
Sinne, als zum Beispiel in der Malerei oder in der Moment- 
photographie. Diese wollen und können die Bewegung 
suggerieren, welche tatsächlich nicht in ihren Werken exi- 
stiert. Die Bewegung ist aber ein reeller Faktor in der 
Orchestik und verträgt die Illusion der Bewegung nicht 
neben sich. Die Pause in der Kunst der Orchestik ist 
eine wirkliche Unterbrechung; entweder ein Zustand der 
Ruhe, in dem der Geist sich auf die erneute Tätigkeit vor- 
bereitet, oder aber ein Stillstand durch unvorhergesehene 
Unterbrechung. Welches auch von beiden die Ursache des 
Stillstandes sein möge, sie muss verständlich sein durch 
den dynamischen Ausdruck der Glieder und durch den 
musikalischen Augenblick, den man für die Unterbrechung 
gewählt hat. Je mehr der Zustand der Konzentration sich 
der Verwirklichung des Vorstellungsbildes nähert, je mehr 
wird der regungslose Zustand belebt durch das crescendo 
der Innervationen, indem sie anfängt die Natur der bevor- 
stehenden Verwirklichung auszudrücken. Die Haltung ver- 
liert also den Stempel der Vergangenheit zu Gunsten des 
Ausdrucks der Zukunft, welcher sich vorempfinden lässt. 
Die Instrumentalmusik kann ebensogut den Zustand der 
Konzentrierung hervorbringen, wie alle Rhythmen des 
Blickes, der Geberde und der Gangart; es wird darum die 
musikalische Pause mehr oder weniger Kraft des Aus- 
drucks besitzen, je nach der Stelle, welche sie in der Be- 
gleitung einnimmt. Es werden daher auch in der poly- 
phonen und polyrhythmischen Orchestik ausdrucksvolle 
plastische Unterbrechungen, welche durch klingende 
Rhythmen begleitet werden, und ausdrucksvolle musika- 
lische Pausen unter Begleitung plastischer Rhythmen Vor- 
kommen. 

Die Entwickelung des Kindes beruht auf Vorbild und 
Phantasie. Im Kinde ist die noch weiche, leicht empfäng- 
liche Materie imstande, die Bilder und Eindrücke sehr rasch 
aufzunehmen. Denken wir nur an die rasche sichere Be- 
obachtungsgabe bei vielen Kindern, und ihre oft über- 


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raschende Fähigkeit, Gesehenes nachzuahmen. Bei der 
leichten Empfänglichkeit des Gehirnes oder sagen wir bei 
dem Denken und Empfinden, der reichen Ideenwelt des 
Kindes, ist es natürlich, dass viele Eindrücke sich bald 
wieder verwischen und von anderen verdrängt werden, um 
zuletzt ganz zu verschwinden. Oft aber ist es der Fall, 
dass solche Eindrücke der frühesten Kindheit nur momentan 
verschwunden sind, um nach einer gewissen Zeit, ja mit- 
unter nach vielen Jahren, plötzlich an der Oberfläche des 
Empfindungslebens wieder aufzutauchen und mit plastischer, 
greifbarer Deutlichkeit vor die Seele zu treten. 

Unsere Phantasie beschäftigt sich mit den gewonnenen 
Eindrücken und stellt Vergleiche an. Das ist der erste 
Versuch des Kindes, den eigenen Geschmack zu entwickeln. 
Kinder sind bekanntlich oft sehr wahre und gefürchtete 
Kritiker. Aus den Vorbildern, die das Kind an der Natur, 
seiner Umgebung und den Menschen gewonnen hat, ent- 
wickelt sich der Formsinn, der Begriff für Plastik, Rhythmus 
und Harmonie. So bildet sich allmählich der Geschmack, 
und je mehr das Anschauungsvermögen sich mit der sich 
entwickelnden Eigenart, der Individualität des Kindes ver- 
schmilzt, um so sicherer und reifer wird das Urteil des 
heranwachsenden Menschen. 

Kinder, denen ein starkes Selbstempfinden, eine grosse 
Energie eigen ist, wie man es meist bei sehr kräftig ent- 
wickeltem, leicht reizbarem Nervensystem findet, werden 
sich rasch von dem Einfluss des Willens, der Anschauung 
und des Urteils anderer emanzipieren, und sich ein eigenes 
Urteil über die Dinge bilden. Doch gehören solche willens- 
starke, urteilskräftige und selbständige Menschen noch 
immer zu den Ausnahmen. Die grosse Masse bildet ihr 
Urteil, ihren Geschmack, ihre Anschauung von Welt, 
Ästhetik und Schönheit immer nach dem, was sie von 
Kindheit an gehört und gesehen hat. 

Mithin ist es also von ganz hervorragendem Wert, 
wie auf die Seele des Kindes eingewirkt wird. 

Gewiss, die physische und geistige Fähigkeit des 


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Kindes bietet die Grundlage für seine Entwickelung; aber 
Eltern, Lehrer, Gespielen, kurz die menschliche Gesell- 
schaft ist es, welche auf dieser Grundlage die zukünftige 
Geisteswelt aufbauen hilft, darin besteht die Erziehung der 
Menschen. Sie beschränkt sich nicht auf die Kindheit, sie 
währt meist das ganze Leben lang, weil wir nie aufhören, 
neue Eindrücke in uns aufzunehmen und neue Beobach- 
tungen anzustellen. 

In der Erziehung des Kindes weist der künstlerische 
Teil eine grosse Lücke auf. Man ist in Familie und Schule 
bestrebt, dem Kinde Kunstgeschichte, Namen, Daten u. s. w. 
einzutrichtern, so dass es weiss, wann dieser oder jener 
Dichter, Maler, Bildhauer, Komponist gelebt hat und ge- 
storben ist, aber man versäumt, ihm die Schönheit der 
Werke selbst vor Augen zu führen. Man lässt das Kind 
den Katalog studieren, ohne es in die grossen Hallen zu 
führen, wo die Werke der Künstler mehr predigen, als 
tausend Kataloge. Führt die Kinder ein in die heilige 
Kunst, erklärend und belehrend. Die reine, für wahre 
Schönheit empfängliche Seele des Kindes ist seine beste 
und sicherste Führerin. Zeigt dem Kinde die Schönheit 
der Linien, macht ihm die Harmonie der Bewegung ver- 
ständlich, weckt in ihnen das materielle Empfinden der 
Plastik und der Farbenharmonie, und lasst die Kindesseele 
sich füllen mit dem Wohllaut der rhythmischen polyphonen 
Musik. 

So wird das persönliche Temperament des Kindes 
angeleitet, die Schönheit der Plastik und der Harmonie zu 
empfinden und zu beurteilen. 

So bildet sich im Kinde eine eigene Welt der Kunst 
und der Schönheit, und bei jedem neuen Eindruck wird 
eine bekannte Empfindung in der Kindesseele geweckt, d. h. 
ein Teil der Individualität des Kindes verschmilzt mit dem 
neugewonnenen Empfinden und fördert so die Urteilskraft 
des Kindes. 

Fehlen dem Kinde alle künstlerischen Eindrücke, hat 
es nie ein grosses schönes Werk mit seinen Sinnen wahr- 


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genommen, so hat es in der Seele keinen Eindruck er- 
halten, das Gedächtnis vermag ihm nichts zu sagen, kein 
Erinnern, kein verwandtes Empfinden erwacht in ihm, wenn 
es plötzlich einem Kunstwerk gegenübersteht und ihm jede 
Befähigung fehlt, dasselbe auf seinen Wert und seine Schön- 
heit hin zu beurteilen. 

Die Phantasie des Kindes nimmt ihren Ursprung von 
der Bewegung des Stoffes. Es ist höchst wichtig, die Mo- 
delle der Schönheit aus der Natur selbst zu nehmen, und 
das Kind die Empfindungen an sich selbst erfahren zu 
lassen, welche der Künstler auf der Leinwand oder im 
Tone fixiert hat. Halten Sie ein Kind im vollen Laufe auf, 
sorgen Sie dafür, dass es den Mechanismus des Laufens 
versteht und dann zeigen Sie ihm eine Statue, die einen 
Läufer darstellt: das Bild desselben wird für alle Zeit in 
seinem Geiste fixiert bleiben, und wenn es sich im Laufen 
üben wird, so wird dieses Bild ganz von selbst in seiner 
Erinnerung über die Schwelle des Bewusstseins treten. 

Wenn die ganze Schönheit der plastischen Bewegungen 
dem gegenwärtigen Geschlechte entgeht, so liegt dies daran, 
dass die Kinder sie nicht schätzen lernen. 

Man achte daher bei der Erziehung sehr wohl darauf, 
dass man die Kinder frühzeitig mit der Kunst, der Schön- 
heit der Plastik und der Harmonie vertraut mache, nicht 
mit Theorien und Kritiken, sondern durch eigenes Schauen, 
Hören und Fühlen. Lasst die Kunst selbst zum Kinde 
reden, und seine Seele durchdrungen werden von der 
wahren, reinen Schönheit. Wie werden wir uns die von 
der Kunst der Orchestik gebotene Einfachkeit zu eigen 
machen und erhalten? 

Die rhythmische Erziehung des Kindes und die Er- 
findung rhythmischer Spielübungen für das Kind wird uns 
sicher viel künstlerische Erfahrung verschaffen. Das Kind 
hat keine Vorurteile und keine schlechten Gewohnheiten. 
Aber es bedarf der Führung, Schritt für Schritt, vom Be- 
kannten zum Unbekannten. Es muss die wirkliche Schwere 
des Steines und das wirkliche Abbrechen einer Blume 


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kennen, um sich beides vorstellen zu können. Man muss 
als Vorstellungsbilder nur Elemente aus seinem eigenen 
kindlichen Leben wählen. Diese Erfahrungen werden uns 
als Muster dienen für die Vorstellungsbilder, welche man 
für die Erwachsenen wählen muss und sie werden uns vor 
der Gefahr behüten, unwillkürlich die Grenzen des be- 
tretenen Gebietes zu überschreiten. Fangen wir so einfach 
wie möglich an, fangen wir vorne an, mit dem Kinde, und 
fahren wir fort in ruhiger Beharrlichkeit, erfüllt von der 
Ehrfurcht vor dem Kinde, welches morgen ein Mann sein 
wird, und voll Glauben an dieses Morgen , welches von 
der Konzentration des Willens und der Vorstellungskraft 
von heute vorbereitet wird. Führen wir das Kind dieser 
Zukunft entgegen und lassen wir uns selbst führen von 
seiner Reinheit und seiner Einfachkeit. 

Die Verwirklichung dieses Ideales findet in unserer 
Methode der rhythmischen Gymnastik einen Anfang. Die 
Aufgabe ist gross. Helfen Sie alle mit, dieselbe zu er- 
füllen. 


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6. Vortrag. 


Der Grundsatz der alten Griechen und Römer: „mens 
sana sit in corpore sano" war nicht nur eine leere Phrase, 
sondern wurde von ihnen mit vollster Hingabe und tiefstem 
Verständnis befolgt. Wenn wir dagegen die körperliche 
Ausbildung unserer heutigen Jugend vergleichen, so drängt 
sich uns die traurige Wahrnehmung auf, dass wir in dieser 
Beziehung weit hinter dem klassischen Altertum zurück- 
stehen. Vor 2000 Jahren wurden die Kinder vom zartesten 
Alter an so erzogen, dass die körperliche Ausbildung mit 
der geistigen gleichen Schritt hielt. Und die Gymnastik 
wurde nicht nur um des Körpers willen gepflegt, sondern 
auch dabei der Sinn für plastische Schönheit, das Ver- 
ständnis für formvollendete künstlerische Pose geweckt. 

In der modernen Gegenwart werden die Kinder von 
den Eltern verzärtelt und verweichlicht, in den Schulen 
geistig überbürdet, ohne dass dem Körper die nötige Kraft 
anerzogen wird ; und was noch an dem schwächlichen 
Körper ist, richtet dann der Jüngling durch verkehrte, 
blasierte, übermoderne Lebensweise vollends zu Grunde. 
Erzieht Eure Kinder zu kräftigen, gesunden Menschen, 
bildet gleichzeitig Körper und Geist, und weckt in ihnen 
den Sinn und das Verständnis für Kunst, für Schönheit, 
für die Harmonie des Geistes und der Kraft, dass sie 
schöne Menschen werden, und nicht Zerrbilder und Karri- 
katuren. 

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Die Form der Bewegung drückt zugleich einen Grad 
behender Schnelligkeit und wuchtiger Schwere aus. Das 
Studium der Verhältnisse der Schnelligkeit und der Kraft 
der Bewegungen, in Beziehung gesetzt zum Denken des 
Kindes, ruft die Äusserung des Willens und der Phantasie 
hervor. Was drückt die schnelle Bewegung aus? Unsere 
Bewegungen können langsam, mässig schnell oder sehr 
rasch sein, und sie können sich richten nach den drei 
Dimensionen des Raumes. 

Jede Bewegung geht von innen nach aussen, und 
jeder Gedanke und jede Empfindung, die der Bewegung 
vorangeht, führt von aussen nach innen. 

Jede wohl abgemessene Bewegung lässt ein Urteil zu 
über den Grad der Verinnerlichung oder Veräusserlichung 
des Menschen. Je langsamer eine Bewegung ist, desto 
mehr trägt sie den Stempel einer vorausgehenden Ver- 
innerlichung ; je rascher die Bewegung ist, desto inniger 
sucht sie sich in Beziehung zu setzen mit dem Stoff — um 
so mehr auch nähert sich die bewegende Kraft der voll- 
ständigen Verwirklichung einer bildlichen Darstellung. 

So gibt es beispielsweise eine dreifache Abstufung 
(in Bezug auf Schnelligkeit) bei der Handlung des Schlagens : 

1. Das schnelle Ausholen. 

2. Die Wucht des Zuschlagens. 

3. Die beabsichtigte, wohl abgemessene Kraft. 

Wenn die Bewegungen in einer Art von Schleudern 
vor sich gehen, so bringen die Glieder mehr ihre physische 
Natur zum Ausdruck : sie würden ihren Lauf im Raume 
fortsetzen, wenn sie nicht an den Körper angeheftet wären. 
Ein kleines Kind schleudert seinen Arm und seine Hand, 
wenn es schlägt. Sein Tun weist auf ein noch nicht aus- 
gebildetes Verständnis hin. 

Der brutale Mensch schlägt, unbekümmert um die 
Folgen, mit der zerschmetternden Wucht seiner geschlossenen 
Fäuste ; seine Geste ist die eines geist- und vemunftlosen 
Wesens. Aber wenn die Glieder bei der schnellen Be- 


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wegung durch das Spiel der entgegengesetzt wirkenden 
Muskeln ihren festen Halt bewahren, so drücken sie die 
Herrschaft des Geistes aus, der da weiss, was er will, der 
die Mittel zur Verwirklichung desselben kennt und der die 
Folgen desselben klar und deutlich vorhersieht. 

Wenn die Bewegungen langsam sind, drücken sie 
entweder die körperliche Schwere aus, die zur Erde zieht 
und Mühe hat, sich zu heben, oder dann die Leichtigkeit 
des Stoffes, der nur geringe Anziehung zur Erde zeigt, 
oder endlich auch den Stand des dirigierenden Geistes 
nach dem Mass der gewollten Kraft. Ich will nicht von 
den Bewegungen sprechen, die auf ihren Stufen der 
Schnelligkeit oder Langsamkeit es nur dahin bringen, den 
Grad der Schwerfälligkeit oder Gewandtheit der Glieder 
darzustellen. 

Die Natur weckt in unserem Inneren (der Seele) die 
Vorstellung, sie belebt unsere Phantasie, unsere Gedanken- 
welt und gibt unserem Innenleben Gestalt und Form. 

Je nach dem Charakter des Menschen gibt sich das 
Innenleben in der Darstellung, in der Handlungsweise kund; 
sie geht von den drei Haupttriebfedem der Bewegung, 
nämlich der Gewohnheit, der Phantasie und des Willens 
aus. So finden wir in der Bewegung die Äusserung unseres 
Empfindens wieder, als Wechselwirkung zwischen unserer 
Ideenwelt und der uns umgebenden Natur. Daher spiegeln 
sich auch die schwächeren oder stärkeren Effekte des 
Seelenlebens getreu wieder in der langsameren (schwächeren) 
und schnelleren (stärkeren) Geste, in der ruhigen oder 
leidenschaftlichen Pose, im schwachen oder starken Ton. 

Der gewöhnliche, nicht künstlerische Mensch sieht 
in der Bewegung nicht die in Kraft umgesetzte Energie, 
sondern nur die Kraft selbst, nicht das Motiv und die das- 
selbe begleitende Seelenstimmung, sondern nur den Effekt. 
Etwa wie ein ungebildeter, denkschwacher Mensch beim 
Lesen eines Romanes nur den Gang der Handlung ver- 
folgt und sein ganzes Interesse auf die kraftvollen Stellen, 
den sogenannten Knalleffekt konzentriert, sodass die Lektüre 


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für ihn nur Sinnen- oder Nervenkitzel ist, während die 
Schilderung der Charaktere, der Seelenzustände, die Motive 
der Handlung, das Ausmalen der Szenerie, die begleitenden 
Stimmen der Natur ihn ganz kalt lassen oder gar lang- 
weilen. 

Anders der künstlerisch denkende Mensch ! Für ihn 
bedeutet jede Bewegung den Ausdruck eines inneren Em- 
pfindens, die Schlusspose einer Seelenstimmung. Der Künstler 
sucht stets den inneren Zusammenhang zwischen dem Affekt 
der Bewegung und dem Affekt des Gemütes ; aus der 
Langsamkeit oder Lebhaftigkeit der Bewegung schliesst 
er auf die geistige oder seelische Stimmung. Ihn interessiert 
nicht nur die Bewegung als Tatsache oder als Effekt, 
sondern vielmehr der Urheber, der Schöpfer der Bewegung 
und der seelische Vorgang, der die Bewegung ausgelöst 
hat. Die Beziehungen zwischen Schnelligkeit, Leichtigkeit, 
Langsamkeit und Schwere geben ihm den Schlüssel der 
inneren Gedankenwelt und der Welt des Willens. 

Der gesungene oder gespielte Ton, die malerische 
Pose, die rhetorische Geste ist für den denkenden Künstler 
nicht nur eine virtuose Leistung der Technik oder Ge- 
staltungskraft, sondern ihre Modulation reizt ihn nachzu- 
denken, was wohl für den Grad der Schnelligkeit aus- 
schlaggebend gewesen sei. 

Wenn ein lebloser Körper fällt, so fällt er lediglich 
nach dem Gesetz der Schwere. Bei jeder Bewegung des 
lebenden Körpers wirkt das Gesetz der Schwere ebenfalls; 
ihr entgegen wirkt aber das Gesetz des Willens, der Energie. 
Heben wir z. B. den rechten Arm seitswärts bis zur 
horizontalen Lage, so geschieht dies infolge der im Gehirn 
ausgelösten Willenstätigkeit. In dem Moment, wo diese 
aufhört, fällt der Arm von selbst, auf Grund des Gesetzes 
der Schwere, wieder herab. In dieser Wechselwirkung, 
bezw. in der bewussten Überwindung des Gesetzes der 
Schwere durch den Willen liegt die Harmonie der Plastik. 
Wenn also die Bewegung eine Darstellung des Charakters 
ist, so wird entsprechend der schwereren oder leichteren 


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Veranlagung auch die Bewegung eine leichtere oder 
schwerere sein. 

Mithin wird das Gewicht des Körpers, bezw. der 
Glieder bestimmt werden durch die grössere oder geringere 
Fähigkeit der Muskeln, das Gesetz der Schwere zu über- 
winden. Wir haben also schon im Muskelspiel, in dem 
Zusammenwirken der einzelnen Muskelgruppen ein Spiegel- 
bild der Nervenreizung oder der Willensenergie, die in 
dem plastischen Rhythmus zum Ausdruck gelangt. 

Die Schwere wandelt sich in Kraft um, wenn sie zur 
Bewegung führt. Jede Muskelkraft stellt ein Gewicht mehr 
dar, wenn das Glied sich nach unten bewegt, ein Gewicht 
weniger, wenn es sich nach oben bewegt. Die Schnellig- 
keit bei der Bewegung nach unten vergrössert das Gewicht, 
die Schnelligkeit der Bewegung nach oben verlangt mehr 
Kraft. Darnach muss uns jede Bewegung ein Bild ent- 
weder des Kampfes gegen die Anziehungskraft der Erde 
oder aber der Zusammenwirkung mit ihr, oder endlich des 
leichten oder mühsamen Sieges nach der einen oder der 
anderen Seite geben. 

Je grösser die Muskelkraft ist, die den Stoff zur Erde 
lenkt, um so mehr lässt sich die Schwere bemerken und 
erkennen. 

Sie kann dazu dienen : 

1. die Kraft der betreffenden Person zu zeigen, 

2. das stoffliche Schwergewicht darzustellen, 

3. ein fiktives Schwergewicht symbolisch auszudrücken. 

Je weniger die Schwere sich bemerken und erkennen 

lässt, wenn die Glieder sich zur Erde hin bewegen, desto 
mehr müssen die entgegengesetzt wirkenden Muskeln durch 
ihre Anstrengung ein Gegengewicht leisten. 

Je geringer bei gleichem Gewicht die Kraft ist, die 
den Stoff in die Luft hebt, desto deutlicher wird die 
Schwere zu erkennen sein. 

Je weniger das Gewicht sich bemerkbar macht, wenn 
die Glieder sich in die Luft heben, desto mehr müssen 


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die mitwirkenden Muskeln angestrengt werden, um die 
Anziehungskraft der Erde zu besiegen. 

Diese Kraft kann dazu dienen: 

1. die Kraft der betreffenden Person zu zeigen, 

2. ein geringeres Gewicht des Stoffes darzustellen, 

3. das Immaterielle symbolisch zum Ausdruck zu bringen. 

Man muss also lernen, die Schwere zur Geltung zu 

bringen, sie zu vergrössern und zu vermindern bei den 
Bewegungen nach unten wie nach oben, um die Kraft zu 
zeigen, um die Schwere darzustellen, um die Illusion einer 
grösseren oder geringeren Schwere zu geben und um das 
Immaterielle symbolisch zum Ausdruck zu bringen. 

Es ist selbstverständlich, dass der Mensch bis zu 
einem gewissen, ja bis zu einem sehr hohen Grade vom 
Immateriellen beeinflusst werden kann ; aber er kann dies 
nicht symbolisch zum Ausdruck bringen ohne die Mit- 
wirkung des Blickes, des Gestus, welche beide nicht mit 
der Erde in Berührung treten müssen und bei jeder Hal- 
tung nach oben gerichtet werden können. 

Das materielle Gewicht einer Violinsaite, ihre Festig- 
keit, ihre Widerstandskraft, ihre Dicke, ihre Länge be- 
stimmen die Höhe des Tones, das heisst die Schwingungs- 
zahl, resp. die Schnelligkeit ihrer Bewegungen. 

Die Widerstandskraft des Stoffs und seine Gestalt 
im Raume beeinflussen das Tempo, wenn dieser Stoff in 
Bewegung gesetzt wird. 

Jede Art des Stoffes, die endgiltig von der Natur 
festgelegt worden ist (sei es eine Kastagnette, ein Glas, 
eine Stimmgabel, ein Glied eines Tieres, eines Mannes, 
eines Kindes) hat, wenn sie in Bewegung gesetzt wird, 
ihre besonderen Schnelligkeitsgrenzen, ihre eigenen Stärke- 
grenzen, ihre Schranken in Zeit und Raum. 

Wenn man diese Schranken überschreitet, auf welche 
Weise es auch sei, so wirkt man zerstörend, lächerlich, 
disharmonisch. Will man, dass ein Eisenbahnzug eine be- 
stimmte Strecke in geringerer Zeit durchläuft, so muss die 
Lokomotive mehr Kraft entwickeln ; soll der Zug aber 


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eine grössere Strecke in derselben Zeit zurücklegen, so 
ist Gefahr vorhanden, dass die Maschine explodiert. 

Denken Sie an die Bewegungen einer korpulenten 
Person, die vergebens den Zug einzuholen sucht, also 
an einen sich sonst langsam bewegenden Körper, der einen 
schnellen Lauf ausführen möchte, aber nicht kann, und die 
komische Seite der Situation liegt auf der Hand. 

Die plastischen Bewegungen sind hässlich, wenn sie 
die natürlichen Schranken, sei es der Langsamkeit, sei es 
der Schnelligkeit der verschiedenen Glieder überschreiten. 

Die Scknelligkeitsgrenzen für die den Marsch be- 
gleitende Musik sind andere, als die der Musik, welche 
den Blick begleitet oder symbolisch darstellt. 

Versuchen Sie, plötzlich nach rechts zu sehen (nur 
mit dem Auge, nicht mit dem Kopfe) und zugleich den 
Fuss nach rechts zu setzen : der Fuss wird immer zu spät 
kommen. 

Ich habe beobachtet, dass diejenigen Personen, die 
die rhythmischen Märsche unserer Methode lesen oder 
spielen, ohne sich im Geiste den Marsch der Schüler vor- 
zustellen, gerne das Tempo zu rasch nehmen. Wenn man 
sich dagegen die Marschbewegungen vorstellt (was man 
natürlich tun sollte), oder wenn man die marschierenden 
Schüler wirklich sieht, dann scheint uns die Musik zu 
langsam. Aber diese theoretische Musik gewinnt nun an 
Leben und darstellendem Inhalt trotz der relativen Lang- 
samkeit der Bewegung. 

Die Phantasie darf nicht dem Darstellungsinhalt der 
Geste, des Blickes oder der Haltung eine musikalische 
Form verleihen, deren Rhythmus und Bewegung der Be- 
deutung des Marsches entsprechen würden. 

Die Gewohnheit verleitet uns dazu, jede Musik ohne 
Worte als den Ausdruck innerer Empfindungen anzusehen. 
Unsere Einbildungskraft würde uns oft ein klareres Ver- 
ständnis an die Hand geben, wenn wir von ihr verlangten, 
uns Gesten und Mienenspiel, nicht in der Persönlickeit 


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eingekerkerte Empfindungen aus den farbenreichen Tönen 
hervorklingen, sozusagen sichtbar werden zu lassen. 

Die Marschmusik muss die Bewegung des Marsches 
hervorrufen, wie ja auch im Geiste des Komponisten die 
Bewegung des Marsches die Musik dazu hat entstehen 
lassen. 

Es wäre nicht verwunderlich, wenn das Studium 
des ausdrucksvollen, plastischen Marsches einen grossen 
Einfluss ebenso gut auf die Phantasie der Komponisten, 
wie auf die der darstellenden Musiker hätte und ihre 
geistige Aufffassung in dem Sinne beeinflusste, dass sie 
neue künstlerische, musikalische und plastische Formen 
erfänden. 

Die bewegende Kraft für den Marsch ist die Schwere, 
die ihren Weg geht und grösser oder geringer wird. 

Die bewegende Kraft für die Vertonung ist dieselbe, 
aber sie bleibt immer abhängig von der plastischen Dynamik. 
In erster Linie kommt die plastische Dynamik, in zweiter 
erst die tönende Dynamik. 

Die plastische Natur der tönenden Dynamik ist eine 
Wirklichkeit. Wenn sie nicht klar zu Tage tritt, so liegt 
dies daran, dass es Formen und Bewegungen gibt, die 
durch ihre Dimensionen sich unseren Blicken entziehen. 
Das sind die tönenden Schwingungen. 

Die musikalische Natur der plastischen Dynamik be- 
steht nur in der Phantasie. Wenn sie nicht klar vor Augen 
liegt für jedermann, so ist ein Mangel an Einbildungskraft 
entweder beim Ausführenden oder beim Zuschauer vor- 
handen. 

Die natürliche Bewegung des willenlosen Stoffes beim 
Herabfallen stellt ein crescendo dar. Die Anziehungskraft 
der Erde übt ihren Einfluss um so stärker aus, je mehr 
der Stoff sich ihr nähert. 

Die Schnelligkeit des freifallenden Körpers nimmt fort- 
während zu, und der Stoss, der sich bei der Ankunft auf 
dem Boden ergibt, ist um so stärker, je grösser die Höhe 
ist, aus welcher der Gegenstand herabfällt. 


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Es hängt von der Haltbarkeit und der Widerstands- 
kraft des fallenden Gegenstandes ab, ob er den Gegenstand, 
auf den er im Fallen aufschlägt, zerschmettert, oder ob er 
selbst zerschmettert wird, oder endlich ob er ohne etwas 
zu zerschmettern auch selbst unverletzt bleibt. Im letzteren 
Falle haben sich die beiden Gegenstände vereinigt, die Be- 
wegung des fallenden Gegenstandes hat sich in Harmonie 
gesetzt mit dem Stoff, auf den er gefallen ist. 

Wenn der fallende Gegenstand zum Zweck hat, tönende 
Schwingungen von einer vorherbestimmten Art hervorzu- 
rufen, so müssen die Schwere, der Fallraum, der Grad der 
Schnelligkeit der Bewegung, mit einem Worte die plastische 
Dynamik, so gut geregelt sein in Bezug auf die Grenzen 
der plastischen Bewegungen des Gegenstandes, der die 
Schwingung hervorbringt (z. B. einer Saite), dass die 
tönende Dynamik, welche daraus resultiert, dem Ohre Be- 
friedigung gewährt. Sobald die wirkliche Schwerkraft, 
vermehrt durch die Schnelligkeit, eine Kraft darstellen 
würde, die so gross wäre, dass sie sich mit den plastischen 
Bewegungen einer Saite nicht in Einklang bringen Hesse, 
so wird entweder die Saite springen, oder die ersten 
Schwingungen werden den Zusammenprall der beiden Stoffe 
empfinden lassen. Dieser Zusammenstoss wird die Vor- 
stellung der rohen Heftigkeit der ursprünglichen plastischen 
Bewegung des fallenden Objekts, statt des musikalischen 
Genusses hervorrufen, welcher der Zweck derselben war. 

Der Hörer muss diesen Eindruck vergessen, ehe er 
dazu gelangen kann, Genuss von den folgenden Schwingungen 
zu haben. 

Das Ziel wird also nicht erreicht werden, weil die 
Beziehungen zwischen der plastischen lebendigen Kraft in 
erster Linie und der tönenden lebendigen Kraft in zweiter 
Linie nicht hergestellt waren. 

Wenn der fallende Gegenstand von den Muskeln ge- 
leitet wird, so werden diese Beziehungen im voraus von 
der Vorstellungskraft festgestellt werden. Ein echter Kenner 
des Pianos wird, wenn er die Töne hört, die plastische 


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lebendige Kraft der Bewegungen, die sie hervorgerufen 
haben, wiedererkennen. 

Infolge eines seltsamen Phänomens macht die plas- 
tische lebendige Kraft die Rhythmen, die musikalisch sind, 
sichtbar, während die musikalische lebendige Kraft die 
plastischen Rhythmen musikalisch macht. Die lebendige 
Kraft nähert die beiden Künste einander. Das Spiel der 
entgegengesetzt wirkenden Muskeln, die lebendige Kraft 
des Fingers beim Klavierspieler, des Stimmorganes beim 
Sänger, des Armes beim Violinisten stehen in direkter Be- 
ziehung zu der Vorstellungskraft. Die vorgestellte Eigen- 
schaft des Tones, welchen die Bewegung ertönen lassen 
soll, ist die bewegende Vorstellung: die Mitwirkung der 
in gleicher, wie der in entgegengesetzter Richtung tätigen 
Muskeln wird die Wucht des Anschlags regeln, um sie 
dem bewegenden Vorstellungsbilde absolut entsprechend 
zu machen. 

Die lebendige Kraft der plastischen Bewegung, die 
die lebendige Kraft des Tones ins Leben ruft, erweckt die 
Vorstellung der Vertonung. Die plastische lebendige Kraft 
erweckt die musikalische Vorstellungskraft. 

Wie schön ist die Geste, wenn die plastische lebendige 
Kraft die Vorstellung der tönenden lebendigen Kraft er- 
weckt! Wie göttlich erscheint uns die Geste, wenn sie die 
Wirklichkeit der tönenden Dynamik genau bestimmt! Es 
scheint wahrhaftig, dass sie die ganze Menschheit umfasse 
und sie in tönende Schwingungen umwandle. 

Und nun sehen Sie sich ein heutiges Ballett an! Sehen 
Sie diese wenigen, herkömmlichen Bewegungen, die durch- 
aus nichts ausdrücken, diese Bewegungen ohne Rhythmus, 
ohne lebendige Kraft, die niemals mit der begleitenden 
Musik in Beziehung treten, die nicht einmal in Harmonie 
unter einander gebracht sind, die von Gliedern ausgeführt 
scheinen, welche zu verschiedenen Körpern gehören! 

Die Arme scheinen zu den Beinen zu sagen : Da, wo 
ihr hingeht, wollen wir nicht hingehen. Die Arme sind 
nur für das Gleichgewicht da, aber der Zuschauer darf 


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das nicht merken, denn, um alles in der Welt! es darf 
sich nicht um „ Schwere " handeln. Die Schwerkraft darf 
nicht existieren. Die einzige Illusion, die es hervorzu- 
zaubern gilt, ist die Abwesenheit alles Gewichts. Geben 
uns die Ballettänzerinnen mit diesen Ideen und solchem 
Tun die Illusion des Immateriellen? Weit gefehlt I Durch 
die Negierung (ich sage nicht: durch die Abwesenheit) der 
Schwerkraft werden die Gegensätze unterdrückt. 

Das Unkörperliche kann mit Hilfe des Körpers nur 
durch den Gegensatz ausgedrückt werden, durch die ver- 
gleichende Würdigung, die Abstufung, die Nüancen, mit 
einem Worte durch die lebendige Kraft. 

Das angeblich künstlerische Ziel des Balletts besteht 
darin, die Illusion des Nichtvorhandenseins der Schwere 
des Körpers hervorzurufen, und das einzige Mittel, diesen 
Widersinn auszudrücken, hat man in der Bewegung der 
Beine gefunden! Die Fusssohle soll soviel wie möglich 
die Tatsache ableugnen, dass wir an den Fussboden ge- 
bunden sind, dass eine Erde vorhanden ist, die eine grosse 
Anziehungskraft auf uns ausübt. 

Die Fusssohle soll den Zweck ihres Vorhandenseins 
in Abrede stellen, es soll kein Kontakt zwischen ihr und 
dem Fussboden stattfinden, der Unterstützungspunkt für 
den ganzen Körper soll auf ein Minimum reduziert werden. 
Die Spitze eines einzigen Fusses, die Spitze von 3, von 2, 
von einer einzigen Zehe muss ausreichen. Leider hat man 
es noch nicht fertig gebracht, sich auf der Spitze der kleinen 
Zehe im Gleichgewicht zu erhalten, aber das Ideal des 
Balletts ist es sicherlich, uns eines Tages diesen ästhe- 
tischen Genuss zu verschaffen; denn je geringer der Kon- 
takt, desto weniger Anschein von Schwere, und das ist es 
ja allein, was die gegenwärtige choreographische Kunst 
will. Und weil ja die Kunst zu fliegen leider noch nicht 
erfunden ist (ein Glück vielleicht, weil die Bewegung der 
Flügel die Vorstellung eines gewissen Grades von Schwere 
hervorrufen könnte), so besteht der Fortschritt für die Ballett- 
tänzerinnen darin, schweben zu lernen. Ja, sie werden dahin 


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gelangen, sie werden schweben oder untergehen, denn sie 
würden nicht Jahrhunderte lang alles an die Verwirklichung 
dieses Ideals gesetzt haben, wenn dasselbe sich nicht ver- 
wirklichen Hesse. Die Sinnlosigkeit ihres Systems wäre 
allzu augenfällig. 

Das glattgezogene rosa Trikot reicht nicht aus, uns 
die fortwährende Anspannung der Zwillings-Muskeln zu ver- 
bergen, die die Fersen nach oben ziehen müssen, auch 
nicht dazu, uns die athletenartig und unharmonisch ent- 
wickelten Waden, das Schmerzenskind widernatürlicher An- 
strengung, zu verbergen. Die Schwere und die Muskel- 
anstrengeng hören nicht auf, sich zu offenbaren. Vergebens 
versucht das Lächeln die Aufmerksamkeit des Zuschauers 
auf sich zu ziehen, um ihn zu überzeugen, dass diese 
Muskelanstrengung nicht vorhanden ist. Oh! das Lächeln 
der Tänzerin! 

Statt das Aufleuchten eines Gedankens durchscheinen 
zu lassen, anstatt die ersten Strahlen der Freude wieder- 
zugeben, welche das ganze Wesen durchleuchten soll, statt 
uns zu rühren durch den unbewussten Ausdruck der see- 
lischen Entfaltung, wird das handwerksmässige Lächeln 
infolge seines Mangels an Abstufung, an Abwechslung und 
Lebenskraft unfähig, uns irgend ein Empfinden zu offen- 
baren, und durch seine Unfähigkeit trägt es dazu bei, die 
Unfähigkeit der Bewegungen und der Beine zu offenbaren, 
die uns den Glauben an die Unkörperlichkeit des Leibes 
beibringen möchten. 

Der Zuschauer wird Zeuge einer doppelten Unfähig- 
keit: der des lächerlichen Einhertumpelns, und der des 
widerwärtigen Lächelns. Aber da sind ja noch die Arme 
zur Rettung der Situation. 

Infolge desMangels jeglicher Abwechslung, jeder Kunst- 
belebung, jeder Niiance glauben sie uns das Lächerliche und 
W iderwärtige des Schauspiels, das sich vor unseren Augen 
entrollt, vergessen zu machen. Die Hand, dem Beispiel des 
Fusses folgend, bringt es dahin, sich selbst zu verleugnen. 
Sie, die treue Begleiterin jeder Handlung, sobald die Füsse 


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uns an den Stoff herangetragen haben; sie, die durch ihre 
Bewegungen und durch den Grad ihrer Anspannung die 
Vorstellung, das täuschende Bild der Beziehungen zwischen 
Mensch und Stoff, zwischen Geist und Verkörperung er- 
weckt; sie, die durch die plastische Lebenskraft ihrer 
Finger und ihres Daumens ebensogut die Zartheit und An- 
mut der von ihr abgepflückten Blumen, wie den in der Lieb- 
kosung zum Ausdruck kommenden Seelenzustand darzu- 
stellen vermag, sie, die die Lüfte durch die von ihr ins 
Dasein gerufenen Tonschwingungen zum Leben zu er- 
wecken scheint, sie soll -- o arme Hand — nur dazu 
dienen, das leichte Gewicht des Stoffes darzustellen? 

Die beiden Hände fahren nach links, sie fahren nach 
rechts, sie gehen nach unten, sie gehen in die Luft, sie 
trennen sich von einander ohne weiteren Zweck, und sie 
tun schliesslich nichts weiter, als sich zu zeigen, und uns 
dadurch das Mass des Ideals der Tänzerinnen zu geben, 
welches darin besteht, darzustellen, wie lebloser Stoff in 
Bewegung gesetzt wird. 

Doch siehl da kommen die Beine und übernehmen 
die von den Armen aufgegebene Rolle wieder. Die Arme 
fallen längs des Körpers nieder, und da nimmt das rechte 
Bein in einem Zustand höchster Anstrengung eine wag- 
rechte Stellung nach rechts ein, gerade wie ein Wegweiser. 
Gewiss der rechte Arm hat für den Augenblick etwas 
anderes zu tun, aber könnte denn die scharf gestreckte 
und angespannte Fussspize nicht ebensogut wie der Zeig- 
finger, dessen Aufgabe das für gewöhnlich ist, durch die 
Kraft ihrer Darstellung zum Hinweis auf ein in der Ferne 
sichtbares Bild dienen? 

Unglücklicherweise kann der Zeigefinger auf nichts 
hinweisen, denn er ist mitgerissen worden von der fallenden 
Bewegung des Armes. 

Und der Vorteil, den man von diesem mit dem Fusse 
gegebenen Hinweis auf den fernen Horizont hat, liegt darin, 
dass der Blick ihm nicht zu folgen braucht. So kann er 
sich an den Zuschauer wenden und der Bedeutungslosig- 
keit des Lächelns zur Folie dienen. 


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Der Zuschauer seinerseits betrachtet den fernen Hori- 
zont, auf den der rechte Fuss hinweist, die Berührung mit 
dem Fussboden, auf den die linke Fussspitze hinweist, und 
bewundert, immer zu gleicher Zeit, den Ausdruck des 
Fehlens der Gedanken und Empfindungen und den Hinweis 
auf das Vorhandensein des Leiblichen. 

Der Misserfolg der Anstrengung, die Schwere unserer 
Glieder abzuleugnen, führt die Lüge von der Nichtexistenz 
unserer Seele zum Siege. 

Welche Erniedrigung! 

Wenn man sich mit den Bewegungen der Glieder ab- 
geben will, ohne sich mit der darstellenden Kraft dieser 
Bewegungen zu beschäftigen, so mag das wenigstens zu 
einem nützlichen Zwecke geschehen, zum Zweck der körper- 
lichen Hygiene! 

Der Anblick eines Turnfestes ist durchaus nicht de- 
mütigend. Es fehlt ihm zwar die Bedeutung der Darstel- 
lung, es fehlt ihm der Flug der Phantasie, es fehlt ihm die 
geistige Erhebung, die Schönheit des Übersinnlichen, aber 
sein Zweck ist die Darstellung der Muskelkraft, und da 
diese Kraft eine Wirklichkeit ist, so ist in diesem Schau- 
spiel keine Unwahrheit, keine Lüge. 

Wenn man auf die plastische Schönheit nicht ver- 
derblich einwirken will, so hüte man sich vor der ein- 
seitigen Ausbildung in einer Spezies, d. i. vor Speziali- 
sierung. Es kann weder unser Auge noch unser Empfinden 
befriedigen, beständig einen Athleten seine wuchtigen Kunst- 
stücke aufführen zu sehen, oder die erzwungene Grazie 
einer Tänzerin zu bewundern. 

Das Studium von Einzelheiten ist an und für sich 
wertlos, wenn es sich nicht zugleich mit der Wechselbe- 
ziehung mehrerer Einzelheiten unter sich beschäftigt. Mit- 
hin ist auch die reine Kraftübung eine Spezialisierung, wenn 
nicht damit zugleich das Studium des Raumes und der Zeit 
verbunden wird; Kraft, Zeit und Raum stehen in der engsten 
Beziehung zu einander. 


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Man könnte noch weiter gehen in dem gegenwärtigen 
Wettlauf des Byzantinismus. Man könnte in der Musik die 
Harmonie vom Kontrapunkt trennen, das Orchester von 
der Melodieführung, man könnte musikalische Themen ohne 
Entwickelungen schaffen, instrumentale Koloraturen ohne 
Harmonien, kontrapunktische Zeichnungen nicht zur Wieder- 
gabe durch Töne, sondern nur zum Lesen geschaffen. Was 
dieses Auseinanderzerren an unvorhergesehenem, an ge- 
suchtem, an seltenem Effekt nach sich ziehen könnte, das 
würde gewiss einen Fortschritt darstellen vom Gesichts- 
punkt der beabsichtigten Einzelwirkung aus, aber die musi- 
kalische Kunst würde notwendigerweise dabei zurückgehen. 
An dem Tage, wo die griechischen Dilettanten sich auf 
diese oder jene einzelne Bewegungen und Übungen des 
Körpers geworfen haben, ist das Virtuosentum entstanden, 
und die Kunst des Wettkampfs im Ganzen hat darunter 
gelitten. So werfen sich heutzutage die Ärzte auf allerlei 
Spezialitäten, und mancher Spezialist leistet sicherlich 
bessere Dienste, als allgemeine Arzte für Alles; aber nehmen 
Sie einmal den Fall an, dass es auf einer Station im Ge- 
birge nur einen Arzt, beispielsweise einen Ohrenarzt gäbe; 
werden da nicht die vielen Fälle von Krankheiten anderer 
Organe weit weniger gut behandelt werden von dem zur 
Verfügung stehenden Spezialisten, als von einem prak- 
tischen Arzt, ohne spezielles Fach? 

Die Kunst der Musik hat einen Teil ihrer Darstellungs- 
kraft an dem Tage verloren, wo man sie der Mitwirkung 
der Gestikulation beraubte. 

Die Ringkämpfe haben in ihrem künstlerischen Cha- 
rakter Einbusse erlitten, und nur noch einen ästhetischen 
Schein sich bewahrt, von dem Augenblick an, wo die Mit- 
wirkung der Musik für die rhythmische Betonung der Be- 
wegungen ihnen entzogen wurde. Die Musik wurde spe- 
zialisiert und ist eine Spekulation des Gehirns geworden. 
Die Gymnastik wurde spezialisiert und ist nur noch eine 
Bestätigung des Körpers. 

Seit Richard Wagner, der dazu beitrug, die Über- 
einstimmung des Gesanges mit dem Wort wieder herzu- 


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stellen, ist uns die Abwechselung des gesprochenen Dia- 
logs und des prosodischen Gesanges auf der Bühne pein- 
lich geworden. Wir haben Mühe, die Trennung dieser 
beiden Elemente noch zulässig zu finden. 

Haben Sie niemals das unangenehme Gefühl der Aus- 
einanderreissung, des Zwiespalts empfunden, wenn jede 
Handlung, jede Erschütterung, die auf der Bühne stattfindet, 
durch Ton und Rhythmus hervorgehoben wird, während 
die Marschbewegung ohne Festhaltung der Zeitmasse vor 
sich geht, während diese Bewegung durchaus nicht in Be- 
ziehung tritt zu den durch das Orchester oder das ge- 
sungene Wort zum Ausdruck gebrachten Intervallen? 

Ausserdem muss man festhalten, dass weder die Hal- 
tung, noch die Geste, noch der Blick,, noch der Gesichts- 
ausdruck ihrer Natur nach ebensoviel rhythmische Ele- 
mente enthalten als der Marsch, zumal es feststeht, dass 
die Fusssohle in dem Augenblicke, wo sie den Boden be- 
rührt, ganz unvermeidlich einen rhythmischen Ruhepunkt 
anzeigt (was gleichbedeutend ist mit einem Zeitteil). Die 
griechischen Ästhetiker, welche an den rhythmischen Marsch 
gewöhnt waren, werden das nämliche Gefühl der Unruhe 
empfunden haben, wenn die musikalische Seite ohne Über- 
einstimmung mit dem Takt der Tritte behandelt wurde, 
wie die Künstler im Anfang unseres Jahrhunderts bei der 
Auseinanderhaltung des Gesanges und des gesprochenen 
Wortes. Die Musik der menschlichen Stimme passt sich 
dem Rhythmus an; wenn sie sich davon loslöst, wird sie 
rein instrumental. 

Vom Wort getrennte Vokalmusik wäre ein Wider- 
sinn. Das Instrument ist der Ersatz und die Ergänzung 
der Stimme. Sollte etwa die Stimme eine Rolle als Instru- 
ment spielen und ihre eigene Ergänzung, ihren eigenen Er- 
satz abgeben können? 

Will sie etwa unter Verzicht auf das Wort versuchen, 
was das Wort nicht ausdrücken kann oder will, ihrerseits 
zum Ausdruck zu bringen? Nur unter Mitwirkung des 
gesungenen Wortes und nicht als getrenntes Element für 


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sich allein kann der Klang der Stimme bedeutungsvoll 
werden, wie das Instrument, und das Wort ergänzen da- 
durch, dass er den Ausdruck des Blicks, der Geste, der 
Haltung hervorhebt und die inneren Gefühle durchscheinen 
lässt, die sich an der Oberfläche nicht zeigen können oder 
sollen, die unaussprechlichen und niemals ausgesprochenen 
Empfindungen. 

Als der körperliche Wettkampf sich endgiltig von der 
Musik losgelöst hat, da ist er geworden, was die Vokal- 
musik ohne das Wort sein würde: eine zwecklose Virtuosität. 
Doch muss man zugeben, dass die Gymnastik ohne Kunst 
ebenso wie der Gesang ohne das Wort fähig sind, in be- 
sonderem Fall sehr grosse Dienste zu leisten, da ja beide 
zur Kräftigung der Gesundheit der Menschen beitragen 
können. Aber niemals kann man zugeben, dass Gesang 
und Wort sich endgiltig von einander scheiden, und nie- 
mals hätte man die endgiltige Trennung der Wettkämpfe 
vom Rhythmus zulassen sollen. 

Da die Mimik und die Geste eine Spezialität des 
Theaters geworden sind und dort vielfach eine Kunst 
zweiten Ranges bilden (da sie ja im Ballett nicht zum Aus- 
druck irgend eines Empfindens dienen und in der Panto- 
mime nur durch Tradition festgelegte und weniger feine 
Gefühle auszudrücken haben), so hat die Familie darauf 
verzichtet, die Kinder mit dieser besonderen Kunst vertraut 
zu machen, und hat so die Gesten, ohne viel zu überlegen, 
mit der Menschenklasse gleichgestellt, die sie besonders 
gern anwendet. Die Gesellschaft ist aber trotzdem damit 
einverstanden, dass gewisse Leute sich dem Studium der 
Mimik widmen, wenn diese zu einem ernsten Berufe zu 
gehören scheint. Darum verlieren Pastoren, Advokaten, 
Staatsmänner nicht überall an Achtung, wenn sie die Geste 
und den Gesichtsausdruck in den Dienst ihrer nutzbringen- 
den Beredsamkeit stellen. Ich sage nicht überall, denn in 
gewissen Kreisen erscheinen auch diese äusseren Mittel der 
Beredsamkeit theatralisch und unfein. Es unterliegt keinem 
Zweifel, dass, wenn “alle Theater und alle Theaterstücke 

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bei einer Feuersbrunst zerstört würden, die Mimik und die 
Gestikulation für alle in der Öffentlichkeit stehenden Männer 
zum Gegenstand des Studiums erhoben würden, ohne dass 
jemand darin etwas Absonderliches fände, und schliesslich 
würden solche Studien in die allgemeine Erziehung über- 
gehen. Ebenso würde es sich verhalten, wenn das Theater 
seinen alten künstlerischen Einfluss wieder gewinnen und 
seine gesellschaftliche Tragweite wieder erobern würde. 
Die Verbindung der Geste und des Wortes, des plastischen 
und des musikalischen Rhythmus, würden unverkürzt wieder 
hergestellt werden. 

Wenn schon bei den alten Griechen Plastik, Rhyth- 
mus, Harmonie, Schönheit und Kraft so hoch gepflegt und 
geschätzt wurden, wie demütigend ist es doch für die mo- 
dernen Kulturvölker, so weit hinter jenen zurückzustehen. 
Die alten Völker Griechenlands veranstalteten ihre Feste 
nicht lediglich zum Zwecke des Vergnügens, sondern meist 
legten sie ihnen eine ästhetische Bedeutung zu grunde- 
in der Regel aber war die Erziehung und Ausbildung 
der Jugend der Schwerpunkt dieser Festlichkeiten. Die 
Olympischen Spiele, die Gymnopedien der Spartaner, die 
Apollofeste der Jonier, sie alle galten der körperlichen und 
geistigen Ausbildung der Jünglinge und Jungfrauen. Wett- 
lauf, Ringkampf, Speer- und Diskuswerfen wechselten ab 
mit rhetorischen Glanzleistungen und chorischen Darstel- 
lungen. So harmonisch schön vereinten sich bei ihnen 
Kraft und Grazie, Würde und Anmut, so vollendet drückten 
die Körper den Rhythmus der Gedanken aus, dass Herodot 
sagt, man glaubte, die Jünglinge seien Götter und lebten 
in einem ewigen Frühling jugendlicher Schönheit. 

Die gymnastische Erziehung war auf die plastische 
Kunst der Griechen von grossem, segensvollem Einfluss. 

Durch die Begeisterung für die Sieger in den Olym- 
pischen Spielen hingerissen, fingen die Bildhauer, die bis- 
her nur Götter in starrer, übersinnlicher Schönheit und 
kalter Erhabenheit geschaffen hatten, an, dem Volk seine 


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Lieblingshelden in natürlicher, lebenswarmer Darstellung 
wiederzugeben, und schufen so eine neue humane Kunst. 

Grundbedingung in der Erziehung der Jugend war 
Harmonie der Formen, Rhythmus der Harmonie und der 
Plastik. In den Gymnasien wurden die Jünglinge, bevor 
sie ins öffentliche Leben traten, mit gymnastischen Spielen 
zur Harmonie der Bewegung erzogen, indem man von dem 
ganz richtigen Prinzip ausging, dass nur der die Schönheit 
der Kunst würdigen kann, der am eigenen Leib die Gesetze 
der Schönheit und Harmonie befolgt. Die Wahl des zu- 
künftigen Lebensberufes kam hierbei gar nicht in Betracht. 
Die gymnastische Erziehung zur Harmonie und zum Rhyth- 
mus galt als unbedingt notwendig für das ganze Leben, 
gleichviel ob einer die rhetorische, philosophische oder 
pädagogische Laufbahn einschlagen wollte. Die Ärzte, so 
z. B. Hippokrates, verlangten nicht nur die körperliche 
Übung, sondern zeigten der Jugend im persönlichen Unter- 
richt die zweckmässige Methode, dem Ideal eines schönen 
harmonisch gestalteten Menschen zuzustreben. Unsere heu- 
tigen Physiologen können nur bestätigen, was die Gelehrten 
vor 2000 Jahren erkannt haben, dass eine gesunde geistige 
Tätigkeit nur möglich ist, wenn sie gleichzeitig verbunden 
wird mit einer zweckmässigen Schulung der körperlichen 
Kräfte. Unsere Ideenwelt steht in direktem Zusammen- 
hang mit der Natur, und der Charakter bildet sich auf 
Grund der natürlichen physischen und sittlichen Gesetze. 
Dem Beispiele der Jünglinge der Griechen folgten in rich- 
tiger Erkenntnis ihrer Bestimmung auch die Jungfrauen, 
welche die natürliche Anmut und Grazie durch gymnastische 
Spiele, Ballspiele, Reigen etc. nach musikalischen Rhythmen 
zu vervollkommnen bestrebt waren. 

Die Feste des Appollo und der Artemis wie der 
Aphrodite wurden verherrlicht durch grosse Chöre, die 
die Aufgabe hatten, den musikalischen Rhythmus durch 
rhythmische Bewegungen im Reigen zum Ausdruck zu 
bringen, und zwar bildeten sich diese Chöre aus den vor- 
nehmsten Jungfrauen und Jünglingen. So z. B. tanzten die 


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schönsten Jungfrauen zu den Festen der Artemis in Karyä 
(in Arkadien) einen durch seine eigenartigen Windungen 
und Körperbiegungen, bei denen die beiden Arme hinter 
dem Kopf verschlungen waren, äusserst schwierigen Tanz, 
der bei vollendeter Anmut die ganze Kraft und Elastizität 
und plastischen Rhythmus erforderte. Die wunderbare 
Harmonie der Bewegungen und die plastische Schönheit 
der Tänzerinnen begeisterte die Bildhauer zu den Säulen- 
figuren der Lastträgerinnen (Karyatiden). 

Dabei gaben die alten Bildhauer nicht die Schönheit 
einer einzelnen Persönlichkeit, eines Modelles wieder, son- 
dern sie studierten meist mehrere Modelle, um die Schön- 
heit der Linien, die plastische Harmonie der Pose ganz in 
sich aufzunehmen und sie dann gewissermassen von innen 
heraus wiederzugeben. 

Die gymnastischen Übungen der alten Griechen ent- 
sprachen in erster Linie den Forderungen der Ästhetik. 
Jede Übertreibung, jedes Übermass war verpönt. 

Die geistige Ausbildung musste mit den körperlichen 
Übungen gleichen Schritt halten, und die Harmonie der 
Linien, die plastische Schönheit des Körpers, der edelste 
Rhythmus der Bewegung wurde einer hohen Geistes- 
bildung gleich geachtet. An dieser weisen Vereinigung 
geistiger und körperlicher Ausbildung sollten wir uns ein 
Beispiel nehmen. Unser modernes Geschlecht übertreibt 
alles, aber meist einseitig, und kennt in dem Bestreben, es 
in einer Fertigkeit zur Vollendung zu bringen, kein Mass 
und Ziel, so dass man meist die Grenzen der Ästhetik über- 
schreitet. Und welche furchtbaren Gefahren liegen in dieser 
verkehrten Methode verborgen. Auf der einen Seite Über- 
lastung des Gehirns, die bei siechem Körper zur Nervosi- 
tät oder zum Wahnsinn führt, auf der anderen Seite For- 
cierung der Muskelkräfte bis zur unästhetischen Unnatur, 
wobei der Geist des betreffenden Individuums in jeder Be- 
ziehung zurückbleibt und die Bildung furchtbar viel zu 
wünschen übrig lässt. 


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Darum lasst uns immerhin lernen von den unsterb- 
lichen Geistesgrössen der alten Griechen, von einem So- 
phokles, Euripides, Timokreon, Alkibiades u. a., die die 
höchste geistige Bildung mit formvollendeter Leibesschön- 
heit verbanden, die in Schule und Senat und der Agora 
durch hinreissende Beredsamkeit und Gelehrsamkeit glänz- 
ten und es nicht verschmähten, in der Ringschule, im Reigen, 
im Chor oder im gymnastischen Spiel mit anderen Jüng- 
lingen zu wetteifern. 

Wenn man sich eine Vorstellung machen will, worin 
die Kunst der griechischen Orchestik bestand, so muss 
man sich eine Kunst vorstellen, welche eng vereinigt, ver- 
bindet und wechselweise benützt die 1000 Hilfsmittel des 
Tanzes, der Gymnastik, der Pantomime des Gesanges, der 
prosodischen Wortbetonung und der musikalischen Instru- 
mente. Das Versmass wird begleitet von Gesten, deren 
Dauer den Versen entspricht, der musikalische Rhythmus 
wird kenntlich gemacht durch genau angepasste Tritte und 
Marschbewegungen, die Musik verkörpert sich durch die 
Haltung und Bewegung des Körpers und die Bewegungen 
suchen die Seele wiederzuspiegeln in ihren verschiedenen 
Offenbarungen, sie verfeinern und vergeistigen sich, indem 
sie sich in den Dienst des Gedankens stellen. 

So sagt Lucian, der über die Orchestik einige sehr 
bedeutsame Seiten schrieb: „Der körperliche Rhythmus 
muss die Seelen der Schauspieler wie die der Zuschauer 
unter seine Herrschaft bringen, die Kunst der Orchestik 
muss uns die Beziehungen enthüllen, welche zwischen der 
Schönheit der Seele und der des Leibes existieren. Sie 
muss unsern Geist formen, sie muss uns zur Unterweisung 
dienen.“ 

Die Kunst des rhythmischen Chortanzes, Orchestik 
genannt, hat sich aus kleinsten Anfängen erst nach und 
nach zur höchsten Blüte entfaltet. Es mag in den einzelnen 
Entwickelungsstufen wohl auch schon Künstler gegeben 
haben, die sich auf eine besondere Spezialität warfen und 
durch besondere Finessen in der Tanzkunst zu glänzen 


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suchten; vielleicht eine Art Vorläufer unserer heutigen 
Ballettmeister. Aber sie erlangten nie die ernste Würdigung 
wahrhafter Kunstfreunde, sondern sahen ihren Wirkungs- 
kreis beschränkt auf die Belustigung ausgelassener An- 
hänger. 

Der Charakter der Orchestik war sehr verschieden : 
aus einfachen Übungen der Jünglinge, die in gemessenem 
Rhythmus mit vorgeschriebenen Bewegungen über die Szene 
schritten und dabei sangen: 

„Schreitet voran, 
tanzt Ihr Jünglinge 
und singt, 

hebt und senkt den Fuss, 
den einen jetzt, 
sodann den andern, 
reicht euch die Hände 
und kehret zurück“, 

gestaltete sich bald der Doppelchor, wobei die Jünglinge auf 
der einen Seite in kräftig betontem Rhythmus, ihre jugend- 
liche Kraft und Energie zu zeigen bestrebt sind, während 
auf der anderen Seite die Jungfrauen ihre natürliche Anmut 
und Grazie in kleinen Schritten und naiven Wendungen 
markieren. 

Da der rhythmische Tanz und die harmonische Bewe- 
gung beschleunigtes Atmen erforderte, so entstanden in den 
begleitenden Chören und Liedern oft unfreiwillige Pausen, 
so dass der Schönheitssinn und das natürliche Gefühl für 
Ästhetik der Griechen das Bedürfnis nach Abhilfe rege 
werden Hess. So finden wir in Delos Tänze mit begleitenden 
Liedern, ausgeführt von drei Gruppen, die erste Gruppe 
tanzte, die zweite begleitete die rhythmische Bewegung mit 
Lied und Gesang, die dritte Gruppe spielte Flöte und Zither. 

Auch erwachsene Männer verschmähten es nicht, 
daran teilzunehmen, und selbst ein Sokrates und Plato er- 
achteten die Orchestik als eine Wissenschaft, die zum Leben 
notwendig sei und nahmen selbst an den Übungen teil. 


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Im weitem Verlauf der Entwickelung kam zu den 
Sängern, Tänzern und Flötenspielern noch eine vierte 
Gruppe, die Erzähler, die in rhetorischem Schwung den 
Zuschauern Inhalt und Bedeutung der Tänze erklärten oder 
den logischen Gedankengang zwischen den einzelnen Ge- 
sängen ergänzten. So gelangen wir zur höchsten Vollen- 
dung in der chorischen Technik eines Sophokles, die 
Schiller in der »Braut von Messina“ zum Vorbild genom- 
men hat. 

Grundgedanke der alten Orchestik war und blieb, 
gleichmässiges, einmütiges Zusammenwirken einzelner Ele- 
mente (Tanz, Gesang, Instrumentalmusik und Deklamation) 
in rhythmischem Zusammenklang zu einer einheitlichen 
harmonischen Wirkung. Ein Effekthaschen des Einzelnen, 
das Hervortun mit irgend einer Virtuosität, war absolut 
unzulässig. Jeder Einzelne wirkte eben nur für das Ganze- 
Weich schönes Vorbild für unsere Zeit auf dem Gebiete 
der chorischen Darstellung! 

Und noch weiter: Der Chor-Reigen, der Tanz und 
Gesang wurden nicht gepflegt, um dem Bedürfnis nach 
Genuss zu genügen, rein zum Vergnügen, sondern diente, 
wie Plato die Orchestik erklärt, stets zur Verkörperung 
einer Idee, eines idealen Gedankens, z. B. der Verherr- 
lichung eines Gottes, eines Helden oder des Vaterlandes. 

Lucian gibt über das Wissen, das ein Tänzer besitzen 
sollte, höchst merkwürdige Einzelheiten, welche beweisen, 
dass die griechische Tanzkunst anders ernst genommen 
wurde und weit umfassender war, als unser heutiger Tanz 
und unsere heutige Tanzpantomime. 

Der Tanz — sagt er — ist die direkte Ergänzung 
aller Wissenschaften, des musikalischen Rhythmus, des 
Rhythmus der Rede, der Geometrie, der Philosophie, der 
Physik und sogar der Ethik. Sein Zweck ist, die Sitten 
und die Leidenschaften darzustellen. Er besitzt viel Ver- 
wandtschaft mit der Malerei und Skulptur, deren Sicher- 
heit und schöne Stellungen er nachahmen muss, und in 
dieser Beziehung sind ihm weder Phidias noch Apollo 


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überlegen. Die erste Pflicht eines Tänzers ist, sein Ge- 
dächtnis zu pflegen und sich zu bemühen, es allumfassend 
zu machen. Er muss die Vergangenheit und die Gegenwart 
kennen und mit Fleiss die Zukunft suchen, voraus zu ahnen, 
damit ihm nichts vom Leben entgeht. 

Der Zweck des Tanzes ist es, die Gedanken in an- 
gemessenen Rhythmen klarzulegen und zum Ausdruck zu 
bringen und die dunkelsten Dinge mit Klarheit auseinander- 
zusetzen. 

Wir finden bei Lucian ein ausführliches Verzeichnis 
all der einzelnen Kenntnisse, die der Tänzer besitzen musste: 
die Geschichte zuerst, die Mythologie, die Werke der Dichter, 
ganz zu schweigen, fügt er hinzu, von der Wissenschaft 
von den Bewegungen der Seele und des Leibes, da diese 
letzteren bald dazu dienen, den Zorn, die Wut, die Traurig- 
keit und alle Leiden der Seele zum Ausdruck zu bringen, 
bald wiederum dazu, die Rhythmen der unbestimmten und 
allgemeinen Gefühle in Mass und Takt umzusetzen, unter- 
stützt dabei von den Rhythmen einer angemessenen Melodie. 

Die Tänzer sollen alle Beziehungen zwischen den 
Bewegungen und den Modulationen der Stimme kennen. 
Sie dürfen niemals falsche Bewegungen machen, so dass 
etwa ihr Fass ein Glied des Taktes markiert, während 
der Rhythmus ein anderes bezeichnet. 

Dieser letzte Satz ist in meinen Augen von ganz be- 
sonderer Bedeutung. Er wirft ein Licht auf die Beziehungen, 
die einstmals zwischen der Musik und ihren Mitteln 
plastischer Darstellung existierten. 

Der Fuss, sagt Lucian, muss eine spezielle Bewegung 
für jedes Tempo des Taktes haben! 

Es ist unbestreitbar, dass die Musik zur Zeit der 
Griechen noch mehr als in unseren Tagen eng verknüpft 
war mit dem Rhythmus der Rede, dass diese wieder- 
gegeben wurde in einem Tonfall, der genau die Nüancen, 
Modulationen und Betonungen ihrer langen oder kurzen 
Silben wiedergab. Und in der Tanzkunst führte der Körper, 
der seinerseits dazu mitwirken sollte, die Wirkung der 


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Rede zu verstärken und die Kraft ihres Ausdrucks zu ver- 
mehren, taktmässige Bewegungen aus, deren Rhythmus zu 
demjenigen der Worte trat. Bald entsprach eine langsame 
Geste einer langen Silbe, bald gab eine lebhafte Bewegung 
der Beine eine kurze Silbe wieder. 

Wie nun also die Rhythmen der Instrumentalmusik 
unter dem Einfluss des Wortes standen, so mussten die 
Gesten und Taktschritte, die dazu dienten, die reine Musik 
zu veranschaulichen, gleicherweise den Rhythmen der In- 
strumente bis in ihre geringsten Abstufungen hinein folgen. 

Daraus entstand eine Vielseitigkeit, die man in der 
modernen Tanzkunst nicht kennt, bei der die Pas sich da- 
mit begnügen, den Takt hervorzuheben, sich um die in 
dem Takt liegenden Rhythmen nicht weiter kümmern, 
keinen pathetischen Akzent wiedergeben, mit einem Worte 
völlig unabhängig sind von der Dauer der Taktglieder. 

Drei Viertel derer, die einem Ballet beiwohnen, hören 
kaum auf die Musik, wenn sie dem Tanze zuschauen, und 
sind genötigt, ihre Blicke von der Bühne wegzuwenden, 
wenn sie dieselbe hören wollen. 

Der Mangel an Einheit, an Zusammenhang zwischen 
den Rhythmen des Tanzes und denen der Musik teilt das 
Publikum in zwei Teile : die Zuhörer und die Zuschauer. 


Um ein Beispiel zu geben, nehmen wir den Pas 
(sprich Pa) der Polka, bei dem die Beine einen Rhythmus 
ausführen, der aus zwei Achteln und einem Viertel 
steht. 


n 

4 4 


l)be- 


Mag nun die Polkamelodie ihren Rhythmus erhalten 
durch ein punktiertes Viertel und ein Achtel ( h), 
ein Viertel und zwei Achtel (J durch eine halbe 

Note ( i) oder ein punktiertes Viertel und zwei Sech- 
zehntel (J. die Wiedergabe des Pas durch den 

Körper bleibt unverändert dieselbe. Die Rhythmen der 
Melodie ändern sich, die des Körpers ändern sich niemals. 
Daraus entsteht dann ein fortwährendes Anstossen, ein 


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Abweichen von der rechten Linie, ein Mangel an rhyth- 
mischer Einheit, welcher verwirrt und beleidigt. 

Die Rücksichtslosigkeit des Tanzes gegen die Musik 
geht noch weiter. Die körperliche Darstellung der Melodie 
kümmert sich nicht um das Thema und seine Behandlung, 
Eine musikalische Periode ist zu Ende — die Beine setzen 
ihre rhythmische Bewegung fort. Eine Melodie ist in 12 
Takten durchgeführt, die in zwei Mal 6 Takten durch eine 
Fermate oder eine Pause getrennt sind, die Beine führen 
8 Takte aus und dann 4, die Hälfte von 8 und stellen so 
den Einschnitt (die Cäsur) an eine andere Stelle. Unsere 
Tänzer rechnen nämlich nur nach Perioden von 8 oder 
16 Takten. 

Im lyrischen Drama derselbe Irrtum. 

Wenn ein Intermezzo für die Instrumente kommt, das 
den Stellungswechsel auf der Bühne erleichtern und Zeit 
lassen soll zum Gehen, zum Gestikulieren oder zum An- 
nehmen einer neuen Stellung, so nehmen die Sänger keine 
Rücksicht auf ein solches Intermezzo, sie machen ihren 
Gang und gestikulieren, ohne sich um die musikalischen 
Zeitlängen zu kümmern, sie nehmen ihre Stellung einen 
oder zwei Takte vor oder nach dem Ende des Satzes. Die 
berühmtesten lyrischen Künstler denken nicht daran, ihre 
Gesten mit den Rhythmen der zu singenden Melodien in 
Einklang zu bringen. 

Und selbst die Begründer einer neuen Tanzkunst, 
Miss Feodora Duncan zum Beispiel, verdolmetschen durch 
kräftige Akzente die weiblichen musikalischen Endungen 
und umgekehrt oder beenden mit einem 9. Takt eine 
Periode von 8 Takten. Der Grund dafür liegt darin, dass, 
wir wiederholen es, unsere Zeit eine Periode der Speziali- 
sierung ist ; die Instrumentalmusik ist unabhängig von der 
Rede, die Geste unabhängig von der Zeitlänge, der Tanz 
ist unabhängig vom Rhythmus. Die Tänzer sind nicht 
unterrichtet über den Rhythmus des Körpers, die Tänzer und 
die Geberdenkünstler kennen den musikalischen Rhythmus 
nicht; das Publikum interessiert sich, der musikalischen 


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und plastischen Einheit entwöhnt, nicht mehr für das 
pantomimische Ballet und beklagt den Verfall desselben, 
ohne die Ursachen dafür zu erforschen, und diese Ursachen 
sind folgende : 

1. Die Tänzer, allein auf ihre Akrobatenkünste ver- 
sessen, geben sich keine Mühe, ihre Pas und ihre Schwen- 
kungen nach den rhythmischen Intentionen des Komponisten 
zu regeln. 

2. Die Komponisten, allein auf ihre Musik bedacht, 
geben sich keine Mühe mehr, neue Rhythmenzusammen- 
stellungen zu erfinden, weil ihre Unkenntnis des Tanzes 
sie dazu unfähig macht. 

3. Die Ballettmeister, allein beschäftigt mit der Kunst, 
Gesamtbewegungen zu kombinieren, streben nicht darnach, 
die Absichten der Librettisten durch ihre Tänzer zur Dar- 
stellung bringen zu lassen. 

4. Die Librettisten, nur beschäftigt mit ihrem literarischen 
Stoff, liefern weder den Musikern noch den Tänzern originelle 
Situationen und Gelegenheiten zu rhythmischen Kombi- 
nationen. So sind wir schliesslich dazu gekommen, uns be- 
gnügen zu müssen mit zwitterhaften Werken, in denen 
weder das Libretto, noch die Musik, noch die Tänzer zu 
einander passen, bei denen man manchem getanzten Pas 
eine andere Musik sehr leicht anpassen könnte, in denen 
manche Musikpassage dem Herkommen entsprechend durch 
Tanzpas dargestellt werden könnte, die schon in einem 
andern Ballett gedient haben. Die Turnreigen werden bei 
den grossen Festen oft nach einer anderen Musik ein- 
studiert, als der, die der Komponist dazu liefern soll ! 

Und es wäre doch so leicht, das Ballett zu erneuern 
vermittelst einer vernünftigen Erziehung der Autoren und 
Darsteller, einer plastischen Erziehung für die Komponisten, 
einer musikalischen und plastischen für die Librettisten. 
Eine rhythmische Erziehung vor allem, die die Bewegung 
in Zeit und Raum fest bestimmt, die die Gesten nach der 
Dauer der Zeit modelliert und die Pas nach der Dauer 
der Betonung und der Verschiedenheit ihrer Perioden. 


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Wenn der Rhythmus einmal den Tänzern körperlich und 
geistig in Fleisch und Blut übergegangen wäre auf Grund 
spezieller Studien, welche nach den Forderungen des 
plastischen Ausdrucks die Zeitlängen und die Rhythmen 
der Musik analysierten und auseinanderlegten, dann würden 
die Tänze und Schwenkungen einen anderen Charakter 
zeigen entsprechend der Musik, unter deren Leitung sie 
stünden ; die künstlerische Einheit würde sich darin zeigen, 
dass Musik und Tanz sich gegenseitig ergänzten und be- 
lebten. Und die Persönlichkeit der plastischen Darsteller 
würde sich entfalten in direktem Verhältnis zu der elementaren 
Analyse, die sie mit dem Rhythmus und seinen Kombi- 
nationen vorgenommen hätten. Wenn jeder Mitwirkende 
fähig geworden wäre, die Verkettung der Zeitlängen und 
das Warum der Hervorhebungen zu begreifen, so würden 
die grossen Ensemble-Szenen nicht mehr den unkünst- 
lerischen Anblick von Arm- und Beinbewegungen in gleicher 
Richtung, noch der geradlinigen Schwenkungen bei einer 
beständig gleich bleibenden Kadenz darbieten, noch würden 
5000 Turner bei grossen Turnfesten dieselbe Bewegung 
zu gleicher Zeit ausführen. Die Vielbeweglichkeit würde 
entstehen, die Kunst der Gegensätze in Ensemble-Szenen, 
die aus den Ballettpartituren verschwunden ist, würde ihre 
Stelle wieder einnehmen und sicherlich eine angemessene 
körperliche Darstellung finden. 

Um sich eine Idee von dem Reichtum des Rhythmus 
eines solchen Werkes und von der vollkommenen, har- 
monischen Ordnung dieses vielbewegten Schauspieles zu 
machen, denken Sie sich eine in Pas umgesetzte Fuge und 
vergessen Sie nicht, sich damit zugleich die verschiedenen 
crescendo und diminuendo vorzustellen, welche durch das 
belebte dynamische Spiel der Muskel-Anspannung wieder- 
gegeben würden. 

Aber noch existiert kein polyphones Werk, das für 
polyrhythmische Darstellung geschrieben wäre, und jedes 
Werk, das Sie sich vielleicht in diesem Augenblicke in 
Erinnerung rufen, wird folglich der plastischen Darstellung 


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entbehren müssen und wird nur formell belebt sein können. 
Ein neues polyphones Werk dagegen würde das Ideal 
einer plastischen Polyrhythmie zu verwirklichen suchen. 
Bei der Darstellung einer solchen Fuge würden die Spieler 
eine logische Folge und eine Einheit von Gedanken und 
Empfindungen zum Ausdruck bringen. 

Wenn man die Möglichkeit der Verwirklichung einer 
Idee erkennt, muss man sich angelegen sein lassen, die 
verschiedenen Mittel der Verwirklichung einander näher 
zu bringen und in Beziehung zu einander zu setzen. Sehen 
wir uns daher zuerst um, welche von diesen Mitteln be- 
reit sind, um untereinander in Berührung zu treten. 

Der musikalische Ausdruck hat eine sehr hohe Ent- 
wickelung erreicht. Leicht wird er sich in Beziehung setzen 
lassen zu dem rhythmischen Ausdruck des Plastischen, 
sobald er sich von dem Wesen dieser Art des Ausdrucks 
Rechenschaft gibt. 

Das Interesse an der körperlichen Entwickelung zu 
Gunsten einer physischen und moralischen Gesundheit 
wächst von Tag zu Tage; dieses Interesse wird sich 
leicht in Berührung bringen lassen mit dem Interesse an 
der plastischen Kunst, sobald man sich darüber klar ist, 
dass die Gesten in enger Verbindung mit der Gehirntätig- 
keit stehen. 

Die Physiologie, die sich ehedem ausschliesslich mit 
der Krankheit befasste, hat angefangen, sich mit der Hygiene 
des Körpers und des geistigen Lebens zu beschäftigen. 
Die Disharmonie zwischen diesen beiden, die verbreitetste 
Krankheit unserer Zeit, körperliche Überanstrengung bei 
den einen, geistige Überanstrengung bei den andern, wird 
die Männer der Wissenschaft zweifellos dazu führen, die- 
jenigen Mittel für die Erziehung aufzusuchen, die am ge- 
eignetsten sind für die Entwickelung und Aufrechterhaltung 
der Harmonie, des Gleichgewichts, der Eurythmie zwischen 
der körperlichen und geistigen Arbeit. 

Was den gymnastischen Übungen fehlt, das ist die Be- 
ziehung auf das geistige Leben; was den geistigen Übungen 


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abgeht, das ist die Beziehung zu der Bewegung der Glieder, 
und was den Künsten fehlt, das ist der plastische Rhythmus. 

Die Schlussfolgerung, die wir daraus ziehen, lautet 
folgendermassen. 

Im Interesse der körperlichen, geistigen und künst- 
lerischen Ausbildung der neuen Generationen müssen die 
Muskel-Bewegungen des Kindes unter der Leitung eines 
rhythmischen Geistes stehen, der Geist wiederum muss 
durch rhythmische Bewegungen ausgebildet werden. 

Die Schlussfolgerung, die sich daraus für das gegen- 
teilige Geschlecht ergibt, lautet folgendermassen : 

Im Interesse des Wiederauflebens der Kunst und einer 
neuen Renaissance sollten die Künstler sich vereinigen zu 
dem Studium und der Ausführung der rhythmischen Be- 
wegung, sie sollten Gymnastiker werden. 

Die Turner sollten den Ausdruck des musikalischen 
Rhythmus und der in den Bewegungen zu T age tretenden 
Kraft studieren und auf diese Weise Künstler werden. 

Die Turner und die Künstler, so vereint, sollten die 
engen Beziehungen studieren, welche zwischen dem geistigen 
Leben und der Körperlichkeit obwalten, dadurch der 
Physiologie näher treten und Idealisten und Materialisten 
zugleich werden in bezug auf das praktische Leben und 
die Kunst. 

Die Physiologen sollten die Beziehungen zwischen 
der künstlerischen Harmonie und der ausgeführten und 
dargestellten Harmonie studieren, demgemäss die Analogie 
zwischen der Harmonie in der Vorstellung und Verwirk- 
lichung einerseits, andererseits derjenigen der geistigen 
und körperlichen Betätigung. 

Der Rhythmus wird die Reform in der Erziehung 
herbeiführen, der Rhythmus wird die Vereinigung der 
Künste verwirklichen. Dann werden wir die griechische 
Orchestik wieder aufleben sehen und werden mit Lucian 
ausrufen können : 

„Wo kann es ein besser zusammengestelltes Schau- 
spiel geben als das, welches alle Fähigkeiten der Seele 


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verschärft, den Körper harmonisch erklingen und die Töne 
in Bewegung umsetzen lässt, die schallenden Töne der 
Flöten und Pfeifen mit den Schwenkungen und Stellungen 
harmonischer Leiber zu einer Einheit verschmilzt und mit 
einem Worte Augen, Ohren und Geist zugleich bezaubert?“ 

Der Rhythmus in der Musik und der Rhythmus in 
der Plastik sind aufs innigste mit einander verwandt. Der 
eine gehört zum anderen. Denn sie haben eine gemein- 
same Grundlage: die Bewegung. 

Die Dauer des Tones gehört dem Gebiete der Zeit 
an, die Dauer der plastischen Bewegung fällt in das Ge- 
biet des Raumes. Beide können in Bezug auf ihre Dauer 
von einander abhängig gedacht werden. Nehmen wir den 
Ton an als Veranlassung für die Bewegung, dann ent- 
spricht der Eintritt der Bewegung dem Anschlägen des- 
selben. Das Ertönen ruft im Geiste die Willensregung 
hervor, deren Ausführung die Bewegung darstellt. Die 
messbare Kraft des Tones ist eine Folge der grösseren 
oder geringeren Muskelanstrengung, die dabei waltet. Soll 
leidenschaftliches Empfinden durch den Ton zur Darstellung 
gebracht werden, so kann dies nur dadurch geschehen, 
dass man mit voller Absicht in der Aufeinanderfolge der 
Töne eine Steigerung oder eine Abnahme eintreten lässt. 

Ebenso kommt es nur dann in rechter Weise zu einem 
plastischen Rhythmus, wenn man mit voller Absicht — 
oder auch unbewusst bei immer wiederholten und dadurch 
automatisch gewordenen Bewegungen — die Anfangs- und 
Endzeiten der Bewegung festhält, in der Ruhe das Gleich- 
gewicht vollkommen zu wahren weiss, überhaupt jederzeit 
sich völlig klar ist über das Mass der anzuwendenden 
Kraft. Alles das wird man nur dann fehlerfrei erreichen, 
wenn man imstande ist, sich von der auszuführenden Be- 
wegung eine doppelte, sozusagen stereoskopische Vorstellung 
zu machen. 

Muss der Bewegungsrhythmus der Musik entbehren, 
so fehlt ihm das allererste Lebenselement. 


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Vielleicht kannten die Griechen diese innige Verbin- 
dung der beiden Rhythmen, des musikalischen und des 
plastischen Rhythmus. Aber bei ihnen wurde die Musik 
nicht durch den Rhythmus der Bewegung vervollständigt, 
sondern umgekehrt, der plastische Rhythmus wurde durch 
den musikalischen Rhythmus ergänzt. — Das müssen wir 
festhalten, wenn wir folgenden Satz Lucian’s begreifen 
wollen: „Welch’ Schauspiel (im Sinne von: Augenweide) 
— zeigt eine entzückendere Vereinigung als das, welches 
alle Fähigkeiten der Seele erregt, den Körper singen lässt 
und die Töne sich bewegen, das die hellen Töne der Flöten 
und Querpfeifen in Einklang bringt mit den Umdrehungen 
und Stellungen harmonisch bewegter Körper, mit einem 
Worte Augen, Ohren und Geist zugleich entzückt“. 

Aber das Ideal der Griechen ist nicht mehr völlig 
gleich dem unsrigen. Die Entwickelung der Menschheit 
hat keinen Stillstand erlitten. Die Vorrechte der Aristo- 
kratie sind verschwunden — eine Folge langer sozialer 
Kämpfe — , die Schillersche Prophezeiung: „Alle Menschen 
werden Brüder“ verwirklicht sich jeden Tag mehr und 
besser, alle sozialen Bestrebungen sind heutzutage darauf 
gerichtet, die Bildung den breitesten Massen zugänglich zu 
machen, das Verständnis aller Volksschichten zu heben, 
Ungleichheiten und Vorrechte, soweit es irgend möglich 
ist, zu tilgen. Kurz unsere ganze Art zu denken und zu 
empfinden ist eine andere geworden seit der Zeit der alten 
Griechen. 

Unter allen Künsten ist es heute die Musik, für welche 
die grosse Menge am leichtesten Verständnis zeigt, und 
doch ist es nun gerade diese, die neuerdings am vollstän- 
digsten in eine Art von Verfall und Zerfall gerät, so dass 
ihre verschiedenen Elemente sich auf das Eine beschränken, 
ich möchte sagen, zusammenschrumpfen auf Harmonie und 
Polyphonie. Diese werden jeden Tag mehr entwickelt und 
verwickelt, verfeinert und verkünstelt, zum Genuss für nur 
einige wenige Eingeweihte, die ungewohnte Empfindungen 
suchen und nach noch nicht dagewesenen geistigen Ge- 


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nüssen streben. Die allgemein menschliche Seite der Musik 
scheint allmählich verschwinden zu sollen. Unsere mo- 
dernen Musiker haben schon lange das fruchtbare, er- 
nährende feste Land verlassen, um sich auf dem uferlosen 
Meere des Byzantinismus einzuschiffen. Raffinement und 
Effekthascherei sind in der Welt der Töne nicht mehr Mittel 
zum Zweck, sondern Selbstzweck geworden. Die Kunst 
in der Musik besteht in der Auflösung von Gleichungen. 
Wie der Mathematiker mit seinen X-en jongliert, um als 
Ergebnis eine Abstraktion zu erhalten, gerade so jongliert 
der Musiker mit den Tönen, um als Ergebnis die Auflösung 
der Disharmonien zu erhalten. 

In der Gegenwart ist der Musiker autoritär und dog- 
matisierend. Er urteilt nicht mehr nach gesundem Menschen- 
verstand oder nach der Begeisterung des Mannes, der da 
weiss, was es bedeutet, gegen technische Schwierigkeiten 
zu kämpfen, er urteilt nach eingebildeten, nicht nach 
erlebten Empfindungen. Um die Schwäche seines eigenen 
Körpers zu verbergen, will er nichts wissen von der Auf- 
gabe lebendiger Muskeln beim musikalischen Vortrag, er 
glaubt allein an die Empfindung in der Musik. Bei manchen 
Stücken scheint der Komponist die Absicht gehabt zu 
haben, bei den Männern Zahnschmerzen und bei den Frauen 
Nervenerschütterungen hervorzurufen. Nicht natürliche 
Mittel und Eindrücke wirken auf die Seelen; Künstler und 
Publikum nehmen nicht mehr an dem musikalischen Ge- 
nüsse teil, sie erleiden ihn. Die musikalischen Rhythmen 
rufen keine körperlichen Empfindungen mehr hervor, nur 
in einer Zelle des Gehirns finden sie ein Echo- 

Peter Schlemihl weinte über den Verlust seines Schattens. 
Wir hören nichts davon, dass dieser Schatten auch den 
Verlust seines Körpers beklagt und beweint habe. Der 
Rhythmus ist der Körper der Musik; wir verlassen und 
verachten den Körper — und die gegenwärtige Musik be- 
weint wie ein schwermütiger Schatten das verschwundene 
Leben. Sie kennen gewiss alle jene Materialisten, die 
durchaus nicht unglücklich darüber sind, kein Ideal zu 

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haben, Sie kennen auch Leute, die sich Idealisten nennen, 
weil sie die Materie nicht zu beleben verstehen, denen es 
nicht gelingt, sie mit ihrem eigenen Leben zu durchdringen. 
Die Musiker, die in der Musik nur einen rein geistigen, 
durch die Gehirnnerven vermittelten Genuss suchen, sind 
diejenigen, deren Körper, ein ungenügendes Werkzeug,, 
unter dem Ansturm der Rhythmen sich nicht in Schwingungen 
zu versetzen und Bewegungsempfindungen dem Gehirn nicht 
zu übermitteln vermag. Einem Fakir vergleichbar, der 
seine Stellung unbeweglich beibehält, so dass seine Glieder 
steif werden und sein ganzes Muskelsystem gelähmt wird, 
der schliesslich allen Kontakt mit der lebendigen Welt ver- 
liert, so lässt der moderne Musiker die Musik wohl in sein 
Ohr eindringen, aber er empfindet sie nicht in seinem 
ganzen Körper, er erzittert nicht unter ihrer Wucht, er 
empfindet von ihr nur ein schwaches Abbild. Ach wie 
viele, die einen Versuch mit unserer Methode machen, be- 
merken zu ihrem Ärger, mit stiller Wut, mit zitternder 
Ungeduld und wilder Verzweiflung, dass ihre Glieder die 
Bewegungen nicht auszuführen imstande sind, die sie von 
ihnen verlangen möchten, dass ihr Wille ebenso unfähig 
ist, den Nerven rasch Befehle zu erteilen, wie diese selbst, 
Empfindungen hervorzurufen. 

Alle diejenigen, welche unsere Methode leugnen, oder 
— was auf dasselbe hinauskommt — sie in Frage stellen, 
haben überhaupt noch nie einen Versuch mit derselben ge- 
macht. Die Angst, die die Anfänger empfinden, wenn sie 
die Bewegungen nicht nach ihrem Wunsch herausbringen, 
ist eine heilsame Angst, eine Gutes versprechende Angst. 
Es ist das Erwachen einer neuen Erkenntnis. Wer von 
Geburt an eines seiner Gliedmassen entbehrt hat, der emp- 
findet es nicht als Verlust, dass ihm die Bewegungen dieses 
Gliedes fehlen. Die jetztlebenden Musiker, die an sich 
selbst nie einen Versuch mit dem Rhythmus gemacht haben, 
empfinden die Notwendigkeit nicht, denselben in ihrem 
Körper fühlbar werden zu lassen. Die Muschel, die am 
Felsen festgewachsen ist, beklagt sich nicht darüber, dass 


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sie sich nicht fortbewegen kann. Der in der Gefangen- 
schaft geborene Vogel vergisst, dass er fliegen kann und 
empfindet keinen Schmerz darüber, dass er nichts weiss 
von den fröhlichen Fahrten in freier Luft. Wohl gibt es 
auch Gefangene, die äus körperlicher und geistiger Träg- 
heit sich wohl fühlen in ihrem Gefängnis und es nicht 
lassen mögen, gewiss, es gibt unter den Musikern eine 
grosse Zahl solcher, von Natur in Fesseln Geschlagener! 
Aber, dessen sind wir gewiss, die Mehrzahl derer, die es 
unternehmen, sich mit der rhythmischen Gymnastik be- 
kannt zu machen, haben das Gefühl, dass ihnen durch sie 
die Freiheit gebracht wird. 

Sie alle, meine verehrten Zuhörer, kommt Ihnen nicht 
auf Grund der schon jetzt bemerkbaren Fortschritte, die 
manche von Ihnen bei unseren gemeinsamen Übungen ge- 
macht haben, kommt Ihnen nicht die Erkenntnis, dass Sie 
in sich eine Kraft besassen, die Sie bis auf den heutigen 
Tag nicht nutzbar gemacht hatten; dass Ihre Empfindungen 
bisher unvollständig waren; dass Sie sich mit Wenigem 
begnügt haben, weil Sie mehr zu verlangen und sich an- 
zueignen nicht gewünscht und gewusst haben; dass an dem 
Tage, an dem Sie Ihrem Körper das volle Mass seiner 
Tätigkeit werden wiedergegeben haben, dieser Körper bei 
den musikalischen Eindrücken erst völlig mitschwingen 
wird, nicht mehr nur zur Hälfte; dass diese Eindrücke Ihre 
Nerven stärker erschüttern werden, dass die Musik nicht 
mehr nach der Art eines mit Gewalt sich aufzwingenden 
Eroberers von Ihnen Besitz nehmen wird; dass Ihr Körper, 
wenn sie Einzug in ihm hält, mit Freuden bereit ist, sich 
von ihr umfangen und umklammern zu lassen, ja dass die 
Musik sich mit Ihnen selbst identifizieren wird? 

Wir sind alle vielfach geistig tätig. Das Organ dieser 
Tätigkeit bleibt sich nicht alle Zeit selbst gleich. Es er- 
starkt durch die Tätigkeit selbst. Unsere Gehirntätigkeit 
ist niemals abgeschlossen. Es gibt keinen Greis, und wäre 
er noch so alt, der nicht, solange ihm noch das Leben 
bleibt, etwas Neues lernen könnte. Niemals ist es zu spät, 


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zu lernen. Wer das Organ, das den Mechanismus seiner 
Bewegungen beherrscht, weiter entwickelt, vollkommener 
macht, der vervollkommnet sein ganzes geistiges Leben, 
der erhebt es auf eine höhere Stufe. Bis heute haben Sie 
nur Ihr Gehör entwickelt. Jedes Organ aber, das sich ent- 
wickelt, verfeinert, spezialisiert sich, ja seine Entwickelung 
beschränkt es auf diese verfeinerte, spezialisierte Tätigkeit. 
Unser ganzer Körper kann zu dem Apparate werden, der 
den musikalischen Rhythmus in sich aufnimmt und bei sich 
aufzeichnet. Warum verlangen wir von unserem Gehör- 
apparate nur die Aufnahme und Aufzeichnung von Tönen 
und nicht von Bewegungen? 

Wir können im Geiste, ohne hörbar zu werden, in 
Worten denken und singen, das ist bekannt. Ebenso können 
wir im Geiste Noten lesen und Töne hören, die nicht laut 
werden. Was heisst denn zuhören? Doch nur im eigenen 
Bewusstsein das Gehörte erfassen, für sich wiederholen. 
Zwei verschiedene Nervenzentren existieren in unserem Ge- 
hirn, das eine vernimmt die Töne, das andere regelt ihre 
Hervorbringung. Diese beiden Zentren lassen sich nicht 
von einander trennen. Die wunderbare Vereinigung und 
Verschmelzung ist ein Resultat der Erziehung. Begreifen 
Sie jetzt, dass die von uns gepriesene Erziehung die geistige 
Tätigkeit erhöhen muss und dass unsere Nerven unser „Ich“ 
über alle Erschütterungen jenes wunderbaren Organs, das 
wir unsern Körper nennen, auf dem Laufenden erhalten 
werden, nicht mehr ihm nur einige derselben mitteilen. Es 
handelt sich hier um ein unbestreitbares und unbestrittenes 
physiologisches Phänomen. — Die Verbindung zwischen 
der Verwirklichung durch die Muskeln und der Empfindung 
des Geistes wird schliesslich eine absolute werden. Und 
ebenso wie in uns ein Organ existiert, das die Töne auf- 
zeichnet und nachahmend wiederholt, ebenso wird es auch 
ein Organ geben, das die Bewegungen aufzeichnet und 
nachahmend wiederholt, das heisst das den Rhythmus auf- 
nimmt und ausführt. An jenem Tage wird die Musik voll- 
ständiger und um neue Elemente reicher geworden sein. 


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Dann werden auch die Pausen, von denen man gegen- 
wärtig in der Musik nur gelegentlich Gebrauch macht, eine 
Rolle spielen, nämlich die, in der Phantasie die Stelle von 
Bewegungen zu vertreten. Sie werden nur ein Anhalten 
darstellen, das zum Zweck hat, die rhythmische Bewegung 
zu unterbrechen ohne Gefahr zu laufen, wie jetzt in der 
Musik, das absolute Konkrete oder auch Abstrakte auszu- 
drücken. Sie werden einen Augenblick innerlicher Kon- 
zentration zum Ausdruck bringen durch das Gleichgewicht 
im Gebrauch der verschiedenen Bewegungsnerven; und die 
Instrumentalmusik, die ihrer Natur nach Empfindungen er- 
weckt, wird auf diese Weise dazu gelangen, den Zustand 
der Seele in der Konzentration wiederzugeben. Die musi- 
kalische Pause wird Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft 
zugleich enthalten, aber in verschiedenem Verhältnis, auch 
in einem anderen Sinne als die Malerei oder das Augen- 
blicksbild der Photographie etwa; denn diese können und 
wollen die Vorstellung einer Bewegung erwecken, die in 
ihren Werken in Wirklichkeit nicht vorhanden ist. Wenn 
dagegen die plastische Bewegung ein wirklicher Faktor der 
Musik wird, so wird der durch das plötzliche Anhalten 
hervorgerufene Zustand der Konzentration die Erwartung 
der Wiederaufnahme der Bewegung zum Ausdruck bringen 
und die Vorstellung von etwas Kommendem wird sich fühl- 
bar machen. Die Instrumentalmusik kann ebensogut den 
Zustand der Konzentration zum Ausdruck bringen, wie 
alle Rhythmen des Blicks, der Geste, des Ganges .... und 
das plötzliche Schweigen der Musik wird daraus eine Kraft 
der Bedeutung schöpfen, die es heuzutage noch nicht besitzt. 

So wird es bei der polyphonen und polyrhythmischen 
Musik bedeutsame Bewegungspausen geben, die von tönen- 
den Rhythmen begleitet sind, und bedeutsame musikalische 
Pausen, die von Bewegungsrhythmen begleitet sind. 

Wir haben in uns eine innere Stimme, die nie völlig 
schweigt, ja, die unsere einsamen Gedanken begleitet. Wir 
hören diese innere Stimme nicht nur an, nein, wir richten 
unsere ganze Aufmerksamkeit auf dieses wunderbare zweite 


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Ich, das uns die von uns erfahrenen Eindrücke wieder er- 
zählt. Diese innere Stimme geht hervor aus den Tiefen 
der Seele, sie spricht nicht mit äusserlich hörbarem Laut, 
es klingt nur so ähnlich, als ob sie spräche. Ihr vergleich- 
bar ist der Rhythmus, den die Erziehung unserer Bewe- 
gungen unserem Körper geben wird, innerlich, in uns. Wie 
wir ihre Laute nur in der Idee empfinden, so werden wir 
die Empfindung unserer Muskeln nur in der Idee haben. 
Von da an wird es uns für einen musikalischen Genuss 
nicht mehr genügen, vielstimmig zusammenklingende musi- 
kalische Perioden anzuhören, die enge Verbindung von 
Rhythmus und Tongemälde wird zur Wahrheit werden 
müssen, auf dass unser ganzer Körper künstlerisch davon 
ergriffen werde. Erst dann werden alle unsere Kräfte 
und Fähigkeiten ihr Gleichgewicht gefunden haben, die be- 
sonderen geistigen Anlagen werden die übrigen nicht mehr 
ersticken, der alte Zustand wird vorbei sein mit seiner 
Unordnung, seiner Kraft und Zusammenhangiosigkeit. 

Alle Kräfte müssen gleicherweise dem vollen Leben 
dienen. Wenn einzelne Menschenkinder in bezug auf ge- 
wisse Anlagen von der Natur stiefmütterlich behandelt 
worden sind, so müssen diese darnach streben, ihre ge- 
ringeren Anlagen durch eigene Anstrengung auf gleiche 
Höhe mit denen der übrigen zu bringen, um allseitig ent- 
wickelte Menschen, wie sie sein sollen, zu werden. 

Nun besteht aber kein Zweifel darüber, dass, wenn 
der Körper erst einmal in rhythmische Harmonie gebracht 
worden ist, diese Harmonisierung ihrerseits das rechte 
Gleichgewicht zwischen Ton und Rhythmus in den musi- 
kalischen Werken der Zukunft hervorrufen wird. Nicht in 
einigen wenigen Jahren wird die Erziehung des schöpfe- 
rischen Komponisten, des Vortragenden Spielers und des 
aufnehmenden Zuhörers fertig und vollendet werden können. 
Erst nachdem 2 oder 3 Menschengeschlechter vorüber- 
gegangen sind, wird ein anders geartetes Seelenleben neu- 
artige Werke schaffen können, die in ihren Perioden dem 
Muster entsprechen, das unsere Empfindungen und die Er- 


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innerung an dieselben geben wird ; die nach demselben ihre 
plastischen Umrisse empfangen haben, und deren eigent- 
liches Wesen besteht in der Belebung und Verkörperung 
dieser Empfindungen. Heutzutage ist die Musik nur der 
Duft der Blume, in 50 Jahren werden wir, wenn wir ihren 
Wohlgeruch einatmen, zugleich die zarten Formen der 
duftenden Blume betrachten und bewundern. 

In uns selbst wird die Musik ihren Wohnsitz haben, 
es wird kein Unterschied mehr sein zwischen ihrer Eigenart 
und der unseren, Aufbau und Inhalt werden bei uns und 
bei ihr in der innigsten Verwandtschaft stehen. Unser 
Körper, als Maschine gedacht, wird ihrem ästhetischen 
Gefüge entsprechen, zwischen unseren organischen Be- 
wegungen und den vielfältig bewegten Formen der Töne 
wird es im höchsten Sinne ein gegenseitiges Vertreten und 
Füreinandereinstehen geben. „Luftschlösser , Phantaste- 
reien r wird der musikalisch nicht gebildete Laie ausrufen. 
Er hat all das nicht, wie wir es getan, an sich selbst er- 
fahren. „Luftschlösser, Träumereien, Einbildung!! “ 

Was wird aber unsere Antwort sein? Dass wir nicht 
übertreiben, sondern die Wahrheit sagen. Wir kritisieren 
nicht, wir schaffen, unsere Produktion ist kein Stöhnen und 
Jammern, unser Denken ist kein Träumen. Zwei verschie- 
dene Wesen leben in jedem von uns; das eine ist seiner 
selbst nicht bewusst, es folgt seinen Trieben und offenbart 
in ihnen seine Eigenart, das andere hat Bewusstsein und 
Denken und offenbart sich durch das bewusste Denken 
und Vorstellen. In dem unbewussten Wesen entsteht durch 
Pflege und Erziehung das instinktive Bewusstsein. Die 
Schönheit kann uns nur durch die geistige Entwickelung 
des bewussten Seins offenbar werden. Zweck der Erzie- 
hung ist es, zwischen dem Unbewussten und dem Bewussten 
eine wirkliche Harmonie und Übereinstimmung zu schaffen, 
die aus den beiden ein einziges Wesen macht. Das un- 
bewusste Sein ist die Quelle, aus der das Triebleben fliesst. 
Es muss erzogen, geordnet, geregelt werden durch das 
bewusste Sein. Durch allerlei Eindrücke und physische 


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Mittel werden wir unsere Triebe reinigen und bessern und 
unsere Seele veredeln. Derartige Veredlung und Verbesse- 
rung vererbt sich weiter fort, genau wie unsere ganze 
Kultur. Darum hat auch alle Erziehung zum Rhythmus 
und durch den Rhythmus nur den Zweck, unsere Nerven- 
zentren blumengleich zur harmonischen Entfaltung, zum 
herrlichen Erblühen zu bringen; dann werden unsere Kinder 
wiederum ihren Nachkommen höhere, veredelte Triebe 
überliefern. 

Das rechte Gefühl für die Musik wird ebensowohl 
durch die Töne und Harmonie, wie durch Bewegungen 
und Rhythmus hervorgerufen werden, und von diesem Ge- 
fühl als Grundlage ausgehend, wird man erst zum rechten 
Verständnis für die innigen Beziehungen zwischen den 
Tönen und den Bewegungen gelangen. Die vielfach ver- 
schlungenen Linien der Polyphonie werden sich wieder 
finden in der Vielheit und Selbständigkeit gleichzeitiger 
Bewegungen. Bewusste Bewegungen unseres Körpers 
werden ihre Veranlassung finden in den Tönen, anderer- 
seits wird die im Gedächtnis aufgespeicherte und fortlebende 
Erinnerung an die Bewegungen unsere geistige Kraft in 
den Stand setzen, aus dem Schatze ihrer klaren und 
deutlichen Bewegungsbilder, die ursprünglich von ihr ge- 
schaffenen Tonbilder wieder zu konstruieren. Unser be- 
wusstes Verständnis wird die von dem Komponisten uns 
übermittelten Empfindungen verstärken und umbilden. Der 
Adel und die Reinheit unserer unbewussten Sittlichkeit 
wird dann die gleichen hohen Eigenschaften für die von 
uns aufgenommenen Empfindungen sicher stellen. Unser 
ganzes Leben wird ein Kunstwerk sein, einfach bei aller 
Mannigfaltigkeit. Der Zweck unseres Lebens kann nicht 
nur sein, Kunstwerke hervorzubringen, sondern auch, sie 
in allen Einzelheiten und Beziehungen uns eigen zu machen, 
kurz das Leben selbst zu einem Kunstwerk zu erheben. 
Leben heisst nicht bloss existieren, wie ein Stein und ein 
Stock, leben heisst alle uns von der Aussenwelt über- 
mittelten Empfindungen zu Vorstellungen und Handlungen, 


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zu Begriffen und Gesetzen umbilden und erheben. Es gilt 
nicht, den ruhigen Pol darzustellen in der Erscheinungen 
Flucht, nein, es gilt mitzuschwingen, es gilt teilzunehmen 
mit eigenem Nerv und eigenem Sinn an dem Wellenschlag 
des Alls. Dann wird der Ton die Erfüllung des Rhythmus 
werden und der Rhythmus die Erfüllung des Tons. Aber 
um zu begreifen, müssen wir Menschen auseinanderlegen, 
was zusammengehört, darum auch den Rhythmus zunächst 
für sich allein ins Auge fassen, diesen Rhythmus, den 
unser Körper gewinnen wird, wenn unsere Muskeln die 
Empfindung der Bewegung in Zeit und Raum unserem 
innersten Sein zum Bewusstsein bringen. Dann werden 
die Töne nicht nur unser Trommelfell mitschwingen lassen, 
alle Nerven und Fäden in unserem ganzen Körper werden 
von ihnen erklingen und ergriffen werden. Alle musika- 
lischen Tonschwingungen, die unser Ohr treffen, werden 
bereichert und erweitert werden durch Schwingungen 
unserer Nervenzentren und werden mit ihnen neue Har- 
monien bilden. Sie werden gegenseitig einander jagen, 
treiben, vertiefen gleich den Wellen, die die leichte Brise 
auf dem Spiegel des Wassers entstehen lässt. Dann wird 
uns die Musik in ihrer ganzen Schöne wieder zu eigen 
gegeben werden. Musik zu hören wird unsere Nerven 
weder ermüden, noch in Aufregung, Angst und Zittern 
versetzen, sie wird in uns selbst erklingen wie eine Freuden- 
hymne, wie der zum Kunstwerk erhobene Wiederhall 
unseres eigenen Lebens. Ja, es bleibt dabei: 

Leben ist die Musik im lebendigen und belebenden 
Rhythmus! 


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Bibliographie. 


Dr. F ■ Lagrange. Physiologie des Exercices du corps. 

Felix Alkan, öditeur, Paris. 

Bernard Perez. L’education intellectuelle des le berceau. 

Felix Alkan, bditeur, Paris. 

Th. Ribot. Psychologie de l’attention. 

Felix Alkan, tfditeur, Paris. 

Frederic Queyrat. Ees jeux des enfants. 

L'imagination chez l’enfant. 

Felix Alkan, dditeur, Paris. 

A. Mosso. Les Exercices physiques et le developpement intellectuel. 
Felix Alkan, editeur, Paris. 

Alexandre Bain. Les sens et l’intelligence. 

Librairie Germer Bailliere, Paris. 

Ch. Fere. Sensation et mouvement. 

Felix Alkan, editeur, Paris. 

P. Sourian. L’esthetique du mouvement. 

Felix Alkan, öditeur, Paris. 

Georges Hirth. Physiologie de l’art. 

Felix Alkan, öditeur, Paris. 

Georges Delbrück. Au pays de l’Harmonie. 

Perrin, Paris. 


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Der deutschen Bearbeitung lag die Übersetzung von Dr. Bitze/, 
Direktor der Berlitz-School, Genf, zu Grunde. 


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CHAS. H. MILLS MUSIC LIBRARY 
UNIVERSITY OF WISCONSIN 
728 STATE STREET 
MADISON, Wl 53706 


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