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Full text of "Neue Heidelberger Jahrbücher"

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Neue 



Heidelberger 
Jahrbücher 



1 



Historisch-Philos 
Verein zu 
Heidelberg 




1 




l^arbart College Hibxaxv 



FROM THE FUND OK 

CHARLES MINOT 



Received 3tJl^UP(nr, f^O/ 



I 



I 



iEO£ 

HEIDELBEEÜEB JAISBUCflEB 

HERAUSGEGEBEN 
TOM 

HISTORISCH-PHILOSOPHISCHEN VEREINE 

zu 

HEIDELBERG 
JAHRGANG X 



38 



-^>»*^ - 



HaiDBLBBRG 

VERLAG vom 6. KOESTER 

IIKK) 



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f 



NOV 22 1901 




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INHALT. 

Dietrich Schäfer, Die Schlacht bei Lutter am Barenberge 1 

Karl YoBsIer, Pietro Aretino's künstlerisches Bekenntnis 38 

Karl Boebni, Die Mathematik d>T Natur . . . . 86 

Karl Helm (Glessen), Ein Tagebuch ans Matthisaons .lugend Sl 

Reinhold Steig (Berlin), Joaeph von Gftrres^ Briefe an Achim von Arnim . 115 

F. Y. Duhn, Der Zeus des Phirliris 177 

^ Walther Arnsperger, Die Kntstehun^> von „Werthers Leiden" . . >:lt)5 

A. T. Domaszewski, Der Tnippensold der Katserzeit 218 

Albert Bäekstr("nii (St. rctersburg), Ucber den Orosius-Codcx F. v. I Nr. t) in 

der Kaiserlichen Oeflcntlichen Bibliothek tu St. Petersburg .... 242 



I 

. r 



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Die Schlacht bei Latter am Barenberge. 

. . Von 

Dietrieli Sehäfer» 



Di€ae Scbhusliti zwdMlos eine der folgenreidislieD des dieiasig- 
jUbrigen Krieges, ist wiederholt Qegenstand ansfnhrliclieier, auf die 
Quellen znrftckgebender Darstellungen gewesen'). Vor eioem halben 
Jäbrhiindert hat sie eine um&ngrache monognipbiscbe Bearbeitong er- 
fiJiren*). Trotzdem ist das, was man Aber sie Wissen kanon, nur in 

1) In unserem Jalnrlmodert durch Jahn, Gmndträk tü Christian den Fjerdes 
Krigshistorie II (Historie om Panmarks Deolta^else i Trediveaarskrigen), 215 ff. 
(Kopenhagen 1822); v. d. Decken, Herzog Georg von Braunscbweig und Lüneburg J, 
215 ff. (Ha]uioTarl833); Hurter, Gescbichte Kaiser Ferdioands II. 9 (Gesammtwerli 
9\ 481 ff. (Scbaffbansen 185B); Yillermont, Tilly oa la guene de trente ant I, 370ft. 
«Paris-Toamai 1860, deutsch Schaffhansen 18fiO); 0. Klopp, Tilly im droissigjährigen 
Kriepp f. r.23ff. (Stuttgart 18(il) und wieder: Der dreissigjahrige Krieg bis zum Tode 
Gustav Adolfs H, 661 ff.; Heiimauu, Kriegsgeschichte von Bayern, Franken, Pfalz 
imd Schwaben TOn 15Q^->1661 II, 198ff. (Httnchen 1868); Opel, Der niedenftch- 
sisch-dänische Krieg 2, 561 ff. (Magdeburg IS TS); Larsen, Kajankr^en. l^Kdrag 
tu de jwrdiske Rigers Krigshistorie I, llVJtf. (Kopenhagen 1896). 

3) Die Schlacht bei Lutter am Bureuberge. Ein Beitrag zur vaterländischen 
Geschichte vom Ilofrat Dr. G. LiehtensteiD in Lotter am Barenberge. Mit dem Plane 
dea SdÜachtfeldea. Bnaontebweig, Teriag vo« Oebme A Mflller, 1850. 8^ XTI, 1908. 
Audi mit dem Nebentitel: Dänemarks Teilnahme an dem dreisBigJfthrigen Kriege 
bis zum Frieden von Lübeck. — Das Ruch ist nur im Besitz weniger Bibliotheken 
und durch den Buchhandel uicht mehr zu beziehen. — Im Jahre 1873 erschien in 
Kopenhagen ciiie nrae Ausgabe, die als Verfksaer Hofrat Dr. 6c<trg UehteBBtein 
in Brannaehweig nanot und dem Titel hinsnfiBgt: «Ken dnrdigeiefaflii vad beiaas* 
gegeben vom Sohne des Verfasserg Albert Lichtenstein. " Kopenhagen, im Selbst- 
verläge des Herausgebers, N. G. Gaibergs Buchdruckerei, 1873. Die nnrchsicht hat 
jedenfalls, ausser dem Verschwinden der Widmung an Herzog Wilhelm von Bmun- 
sehweig, keinerld Änderangen zur Folge gehabt Bdde Ausgaben stimmen b«ieh< 
stabengetreu übercin, und es handelt sich offenbar nur mn eine neue Titclausgabe. 
Aach diese ist aber im Buchhandel nicht mehr zu beziehen. Die Draunscbwciger 
Firma existiert längst nicht mehr, und der Bestbestand der Auflage wird aller Wahr- 
scheinlichkeit nach vernichtet sein. 

HEtIB HBIDSLa. JAnitnUBCBSB Z. ^ 



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2 



Dietrich Schäfer 



höchst ungenügender Weise ktor gestdlt, und die Dantellnngen Bind 
voll TOB Widersprachen. Ganz besonders ist Lichtensteins Monographie, 
die noch immer als Standard werk Qher die Schlacht figuriert, so gnt 
wie wertlos und in den wichtigsten Fragen irrefftbrend. , Das im Ein- 
zelnen nachzuweisen ist die Hauptanf^be der nachfolgenden AusfÜh- 
mngen. 

Es ist dabei nötig, nicht nur auf die Schlacht selbst, sondern auch 
auf die Operationen .der - lotsten zehn Tage vor derselben einzugehen ; 
denn beide stehen in unzertrennlichem Zusammenhange, Christian IV. 
hatte im Frfthling und Sommer 1626 von Wolfenbflttel aus die Armeen 
TiUys und Wallensteins, tob denen jene das obere und mittlere Leine- 
gebiet mit Ausnahme tou Güttingen und Northeim, diese die Stifter 
Magdeburg und Halberstadt besetzt hielt, die den Harz aber zwischen 
sich hatten, im Schach zu halten gesucht. Am 29. Juli (a. St.) folgte 
Wallenstein nach Zurfickhissung einer Streitmacht unter Aldringer zur 
Deckung der bisherigen Stellungen dem Mansfelder und dem Herzog 
Ton Wdnuir nach Schlesien. Daraus ergab sich für Christian IV. die 
Möglichkeit, nach Westen zu ziehen. Um diese Zeit belagerte Tilly 
noch Göttingen. Am 1. August aber wurde er nach siebenwöehentllchen 
Mflhen Herr der Stadt und sandte jetzt seine Truppen gegen Northeim^ 
Der König zog, nachdem er durdi Einnahme einiger Grenzposten gegen 
das Magdeburgisßhe und Halberstftdtische sich den Bücken m decken 
Tersucht hatte, fiber Seesen gegen den gldehen Platz heran, znnliehst 
noch mit dem Gedanken, Göttingen zu retten. Die Nachriebt, die er 
am 2. August walirscheintich im hildesheimischen Wiedelah (unweit 
Vienenburg) erhielt, dass sein (mansfetdisches und weimarisches) Volk 
Schlesien , eingenommen* habe, und die Vereinigung mit den Streit- 
ktftften des aus der Mark zarückkehrenden Generals Fuchs, die in diesen 
Tagen sieh Tollzogen oder in sldierer Aussicht gestandea hat, mussten 
ihn in dem Unternehmen bestftrken. Bei Northeim sind dann die beiden 
Heerf&brer aufeinander gestossen, und die nun folgenden Operationen 
finden ihren Absclilnas in der Schlacht bei Lütter^). 

1) Diese hier kurz bcrttlirtrn Hcrgnngo sind im Einzelnen noch keineswegs 
vollständig klat^estellt, wie denn überhaupt die Geschichte des uiedersächsisch» 
dlnisdi«!! Krieges iiodi niebt gesehrieben ist Opels bekannteB Werk, das mS 
Misserordenilidi umfasseoden Studien benilK und du Material in einar FflJle bwan- 

zioht wie kein anderes, icisst doch das ZnsamTnensclirtrff!;c so oft auseinander und 
ist in iMnzcliieitpii so inkorrekt, dass. ea von einem klaren (icsammthilde nur zu weit 
entfernt Itleibt. Die neueste Arbeit von Laraeu ist fäät ganz kritiklos und fördert 
die Sadie hOdutens durdi einxelne Notisei». fon enietttes Oorehacbeitett.dM Stoffes 



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pie Sehlaclit b« Lottar an fiannberge 



8 



Licbtfliistein enthftlt rieh, ton wiBsenscbaftlicher Arbeitsweira dnrcb- 
«IIB abweicheDd, fast aller litterariscben Nachweise Iftr seine Einsel- 
angaben, giebt aber in der EinleitaDg S. IX— XV eine QaeUenfiberricbt, 
die von umfaagreiehen Stadien zeugt. Es rind darnach sunächet nicht 
weniger als sechs Berichte Ton Tilly selbst Torhanden, je einer an den 
Kais^, die Enrfnrsten von Baiern und Mainz, die Infontin Isabella in 
BrOssel, Henog Christian von LOneburg nnd an einen Fürsten des 
Beichs*. Nach Lichtenstein S. 154 Anm. sind sie sftmtlicb gedruckt. 
Ich habe aber von denen an die Infeuitin nnd an den Herzog Christian 
keinen Druck finden kennen, der Lichtenstein schon zugänglich gewesen 
wäre, und der an den Eurffirsten von Baiern ist, so weit ich hiriie her- 
ausbringen können, auch heute noch nicht gedruckt Von diesen Be- 
richten wird die Untersuchung, da von entgegengesetzter Seite zusam- 
menhängende Mitteilungen nicht yorhanden sind, auszugehen haben, 
Torweg aber den Kalender Christians IV. fttr 1626 berficksichtigen 
mfissen, der in seinen Daten ein festes Zeitgerfist giebt, Lichtenstdn 
aber nicht bekannt srin konnte'). 

Nach ihm zog Christian IV. am 6. August 1626 von Seeeen nach 
Northeim, entsetzte diese Stadt und nahm in der Nacht in ihr Quar- 
tier. Tillj musste mit seiner ganzen Armee in eben dieser Nacht da- 
vonziehen. Am 10. August marschierte der Etaig mit seiner gesammten 
Macht von Northeim nach V7nlften (15 Eflometer os<». von Northrim, 
an der Oder oberhalb ihrer Einmündung, in die Ruhme bei Catlenburg), 
am 11. nach Ebergützen (12 Kilometer ssw. von Wulften, fast in der 
geraden Bichtung auf QMtingen mittwegs zwischen diesem und Wulf- 
ten), am 12. nach Bodensee (auf dem geraden Wege zwischen Wulften 
nnd EbergOtzen, 5 Eiiometer von diesem, also rückwärts I), am ISten 
nach Bemshausen^ (6 Eiiometer sO. von Bodensee, am Ostufer des 

wnrdo, wo man auch immer in iba bioabateigt, r^cbe Gfllegaubait n moDOgrapht- 
schen DarateliuogeQ geben. 

1) Gedruckt: Danske Samliager for Historie, Topograü, Fersoaal- og Litera- 
tiurbiatnie, udgim« ti Chr. Braon og 0. Nielaen, II, 3, 377 (1874). D«n«lbe i«t 
allerdings für dieses Jahr nur in einem darftigcn Auszüge von Villum Worms be- 
kannt, aber seine Angaben sind darum nicht minder beachtenswert. Jahn, der im 
Einzeiaen wohi berichtigt und ergänzt, aber im Gesauimtwerte der Darstellung über 
Cbriatiai» lY. EriegfOhrung in Dautacbland noch nieht fibartidfen wurde, bat 
diesen Auszug schon hl der Handscbrift boratat. LiditenitNn kannt aber Jabm 
Bocb nicht. 

3) Boensen hat die Quelle, und der Herausgeber vermutet: ßodenatein. Aber 
das fi^ 50 Kfloneter entfernt, nnwelt Lnttnr am Barenberge. Bs kann kanm etwaa 
änderea aagenoiBinen werden ab BenubanaeD, daa jetzt Benuboaen gesprochen 

1* 



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4 



Dietrich Schäfer 



Seebnrger Sees), am 14. nach Duderstadt *) (9 Kilometer 80. von Berns- 

hausen, etwa 20 ssö. von Wulften, wo der König drei Tage zuvor ge- 
wesen war). Am 16. war er dann an einem Berge vor Seesen und über- 
nachtete dort, also mindestens 50 Kilometer nordwärts von Diiderstadt, 
an dem Orte, von wo er atn G. ausgezogen. Weitere Nachrichten zur 
Sache giebt der Kalender nicht. 

Von den Berichten Tillys stimmen der an den Kaiser und der an 
Kurfürst Maximilian, abgesehen vom Eingange und wenigen kleinen 
Einzelheiten, wörtlich überein; beide sind datiert; Im Feld bei Lntter 
18. (28. Aue^ust)'). Im Bericht an den Kaiser beginnt die I)arstn11iin£f 
mit der Übergabe GöttiDe:ens und dem \V»n ucken gegen Northeim ohne 
Datnmangabe und fährt dann fort, dass der König schon am 5. fnlh 
ebenfalls vor Northeim angekommen sei, und noch selbigen Abends sich 
ßeitergefcehte angesponnen hätten, da nur die Ruhme, die nördlich an 
Northeim vorbeifliesst, die beiden Heere getrennt habe. Tilly liabo sicli 
aber, da seine Truppen noch nicht die richtige Stellung genommen, er 
selbst auch leibesschwach gewesen, V'^, Meile weit"*) in der Richtung 
auf Göttingen zurückgezogen. Der König habe Northeim mit Munition 
und Proviant versehen und sei dann «alsbald" ins Eichsfeld gerückt 
and „bis um Duderstadt' gekommen in der Absicht, „wie ich die 
Avisen empfangen", nach Thüringen zu ziehen, auch, ,wie ich mich 
besorgt habe**, in die Länder und Stifter der der Ksl. Maj. gehorsamen 
Stände einzufallen. 

All dieses (die vier ersten Abschnitte bei Lundorp) ist im Hrricht 
an den Kurfürsten durch einen kurzen Hinweis auf ein Schreiben Tillys 
yom 24./ 14. (so fälschlich geschrieben fär den 25., von dem der Brief 

wird, aber früher recht gut Bernsen gesprochen worden sein kann, woraus denn 
dorcb intttinliehe Sehreihuiig Boenseo «ntstenden «än mag. Ygt. anten S. 14. 

1) Auch hier bat Worms .Dorsted" gescbricben. Kiclit gau tidMr ist, ob 
dieses Dorsted nicht als Dorste zu deuten ist, vgl. unten S. 14. 

2) Ersterer ist gedruckt „U>2t) bei Paul Seesen zu Prag". Er findet sich bei 
Lundorp, Acta publica II, 1315, 1316 (Ausg. v. 1629) und III, 880—882 (Ausg. v. 
IBSSS). Das Haus-, Hof- nad Stoatunibiv in Wien bedtit das Original niebt mriir, 
dagegen drei gleichzeitige Abschriften, die keinerlei wesentliche Abweichangen vom 
Dnirk zeigen (Mitteilung des Herrn Direktor Winter). Zwei weitere Abschriften 
bewahrt das Kgl. Hauptstaatsarchiv in Dresden Tom. i>20t) Bi. 846—349 und 359— 
362, die zwdt» als TMl des unten S. 9 besprochenen Heftee. — Den Beridit an 
Kurfürst Maximilian benutzte ich aus einer Handschrift des Königl. Allgemeinen 
Reichsarcbivs in München: Acta des 30j;ihrit;en Krieges Tom. I".^ Hl. fiOn— HOS. 
Auch V. d. Decken, Herzog Georg von Ihwunscliweig und Lüneburg 1, 220 Anro. 
nennt dicBen Bericht als gedruckt, giebt aber auch nicht an, wo. 

3) IMe Angabe der Entferonng fehlt im Druck and in den Wiener Absdiriflen. 



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Die Sdilftdit M Lattar m. Bamibetge 



5. 



wirklich datiert ist) ersetzt Dann fahren heide Berichte fort, Tilly habe 
Bich mit den inzwischen von der friedländiscben Armee zu ihm ^re^tos^ 
senen Reiterregimentern Altsachsen, Dufours, Hausmann nebst sechs 
Eojnpagnien Kroaten and den Fussregimentern Ooloredo und Carboni 
au^gpemaeht und sei so marschiert, dass er dem Feinde den Vorsprung 
abgewonnen. Als der sich in seinem Vornehmen j^ehindert gesellen, hübe 
er sich eilends zurückgewandt ins Braunschweigische, über Gebirg und 
Waldung auf Seesen und Lutter gegen Wolfenbüttel ; dem man gefolgt 
und mit ihm drei Tage nach einander zum Scharmützieren.gei^ommen 
sei. Der Feind habe dann wegen der scliarfen Yerfolgnng am 17. bei 
Lutter Stand halten müssen und sich, wie schon am Abend zuvor hei- 
Seesen, in volle Schlachtordnung gestellt, so ^etliche Stunden in seiniopi' 
Vorthoil gehalten". Nachmittags habe er sich „herfürgethan und zum 
Fechten pirisentirt", und so seien beide Heere aneinander geraten. iDer 
Anfang habe sich „diesseitiger Victorie sehr dubiös erzeigf^, da der 
Fdod , tapfer und männlich darein gesetzt" und herzhaft gefochien, so 
dass diesseits nicht wenige verwundet und getötet worden ; durch Gottes 
Gnade «obne Zweifel in Kespect der gerechten Sachen* sei er aber über- 
wunden worden. 

Der Bericht bespricht dann die Ergebnisse des Kampfes : Von den 
Feinden der General Fuchs, die Obersten Worsebe und Penz, der Land« 
graf Philipp zu Hessen, der Oberst-Leutnant Ungefugt der Generalf 
Commissarius Poggewisch und zahlreiche andere Vornehme, , deren 
Namen und Geschlecht man sobald nicht wissen können", tot. Die- 
Kroaten haben des GrafMi Ton Solms Petschaft gebracht und gemeldet, 
dass sie den Eigentümer niedergemacht liätten. 30 Fähnlein Knechte 
haben sich ins Haus Luttor geworfen und um Pardon gebeten, der ihnen 
doch nur auf kaiserliche Gnade und Ungnade ertalt worden, worauf 
sie alsbald 29 Fahnen präsentiert haben. Gefangen wurden die Obersten 
Lohausen, Linstaw, Frenking, Geist, Görz und CouraviUe, der Oberst- 
Leutnant Krip, der Major Gunderoth, der General-Commissar Kanzau 
* und «hart beschädigt" des Königs Hofmarschall (Magnus Kaas);. von 
anderen gefangenen und toten Offizieren wisse man noch nicht die 
Namen. Da Gefangene vordem ihr gegebenes Wort gebrochen, äo wird 
der Kaiser gebeten, den bairischen Kurfürsten anzuweisen, wie es mit 
der jetaigen grossen Zahl der Gefongenen gehalten werden soll. Obgleich 



1) Diese zwei, sowie unter äen Gefangenen der Obonfe Oön und der Oberst- 
Jjeutaant Krip. fehlen im Jj«rkht an den Kaiser. 



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6 



Dtetrich Sdillbr 



des Feindes ganze Infanterie „zertrennt" worden, hat raan doch nicht 
mehr als 50 oder 60 Fahnen erlangt, weil die Soldaten i>ic verstecken 
oder verbergen, zum Teil auch zerreissen; dieser und jener will ein 
Stäck zum Gedächtnis haben. Cornette (Reiterlähnlein) hat man nur 
sechs erlangt. Die Artillerie hat der Feind ganz im Stich gelassen; 
22 grosse Geschütze sind genommen worden*). Der König hat sicli 
mit der Kavallerie, die auch „zertrennt" worden, gegen Wolfenbüttel, 
wie Tilly meint, gefläehtet« docb igt darüber bestimmte Nachricht noch 
nicht eingelaufen*). 

In Abschrift wird dem Kaiser das Schreiben beigelegt, das sich 
beim Obersten Fuchs gefunden haf). Vom kaiserlichen KriegsvoUc 
lobt Tilly den Obersten Nikohius Deafows und das Regiment Altsachsen 
nebst seinem Oberstleutnant Hans Budolf von Bindauf besonders und 
empfiehlt sie dem Kaiser. Im Bericht an den Kurffirsten dnd diese 
Offiziere nicht erwfthnt, dagegen wird der Überbringer Jobst Maximi- 
lian Graf r. Gronsfeld wegen seines .bewiesenen männlichen und tapfern 
Valors" dem Eriegshenn empfohlen^). 

Der Bericht an die Infimtin") ist ebenfalls vom Tage nach der 
Schlacht datiert. Er ergftnzt und berichtigt den an den Kaiser and 
Enrfarsten in verschiedenen Punkten. Tilly erxfthlt, dass er am 5ten 
August vor Northeim gezogen, der KOnig aber am 6. gekommen sei 
und zwar so stark, dass er ihn nicht habe hindern können, Leute und 
Lebensmittel nach Northeim zu werfen. Da dieses Datum mit dem des 
königlichen Kalenders und zugleich mit einer briefiichen Äusserung 
Christians IV. stimmt*), so muss es gegenaber dem oben besprochenen 

1) Hier fügt der Bericht an den Kurfürsten hinzu: mit teils königlich dänischen, 
teils herzoglich braunschwcrgischcn Wappen auf die nrcderliindischo Inventiou for- 
miert, welche gar dünn und teils ein halb Kartauacn Lot schiesseji. 

S) Auch hier httt der Bericht «n den EurfOnten nodk einen Zusats, dus das 
KriegtTolk whr abgemattet und auagemargdt sd, Tilly aber trotsdam nichi feiern 
werde. 

3) Gedruckt Lundoip, AcU pabiica II, 1315 und III, 880, dat. Havelberg , 

16-2(i Juni 30. 

4) Efai Aanrag ans dem Berieht an den Kaiser, der aber Widitiges ansblsst, 

Ist der Bericht an den Kurfürsten zu Mainz, gedruckt nach einer Wolfeniiüttdec 

II ti ] hritt im Braunschweig. Magazin 35. Stück v. 2. September lS2f; Sp. 48S— 4f>1. 
lüii ebeusokber, doch noch mehr gekürzter und undatierter Auszuü, df^r an den 
Kurfürsten von Sachsen gerichtet ist, üudet sich im llauptätaalsarchiv lu Dresden 
Ton. 9209 Bl. 337—338. 

5) Gedruckt aus dem Brüsseler Archiv bei Yillermont II, 36.3—367, 

C) Kong Christian den Fjerdes egenhändige Breve, udgiven ved Bricka og 
Fridericia II, 31 : Nu forgangen Löfverdag (Aug. 5) jagedo jog Fjeuden af ted Ilua 



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Die Sdilndit bd Latter am' Bmnbttge 



7 



Briefe Tillys featgehalteo werden. ' Tilly hat dann naeÜ dieser Darst^I- 
Inng den Feind bis %am Abend an der Bubme an^eh'alted, ditnn aber 
sich eine halbe Meile weit in eine gfinstige Steßnng züifüclcgetogeni da- 
seitae Beiterei um mehr als die Hfilfte schwächer gewesen sei als 4ie 
des Gegners. Hier bat er 'auf die Medl&ndisohen Tmppen geWartet,- 
dann aber, als der Feiiid am 12. sich rfibrte, hm sicH (seloh qde Je 
Mens juger de son dessein par la mto qa*il pnst) auf die Lftnder der 
katfabliseben Ffirsten ta werfeUi und schob S^nen Fass ins=Mchsl%ild 
gesetzt hatte, am sieh Daderstädtä zu bemftchtigen/ sich rasch in llarseh 
gesetzt und bei Göttingen sich diirch' die 'MedUlndlschen Truppen y4ii^ 
st&rkt Mit der Nachhut des sich Zurfickzieheoden' ist' es am 'Abend- 
des 15; zu Mchteii l^efaaifmtltsdh gekommen, kih iMUdisteh Tag^ hkt 
der Feind, seinen Rückzug zo decken, ^ärschledene DMer ▼erbrantit; 
durch Tillys Vorhut sind ihm einige 600 Musketiere und Dragoner 
niedergehauen worden. Er hat zuletzt Front macheu und in voller 
Schlachtordnung marschieren müssen und sich so an einen Berg zurück-- 
gezogeu. Es hat sich ein Geschützkampf entsponnen, und Tilly hat 
gegenüber Fuss gefasst. In der folgenden Nacht hat der Feind seinen 
Rückzug fortgesetzt und Tilly ist ihm mit Tagesanbruch gefolgt. Bs 
ging durch enges und coupiertes Gelände, bis man zwischen Bockenem 
und Goslar beim Schlosse Lutter in eine offene Gegend kam, wo der 
Feind sich wieder mit seiner ganzen Armee stellen musste, aber den 
Vorteil des Geländes benützte, indem er selbst höher als Tilly stand, 
dieser aber ein sumpfiges Thal vor sich liatte. Tillys Vorhut machte 
Halt und erwartete die übrigen Truppen ; inzwisciien „spielten von bei- 
den Seiten die Kanonen *, Gegen Mittag waren beide Armeen in Schlacht- 
ordnung. Da der Gegner keine Miene machte, sich zuerst zu rühren, 
liess Tilly sein Fussvolk mit ziemlicher (Jnbequemlichkeit in das Thal 
hinabsteigen, die Reiterei auf den Flügeln durch zwei enge Passagen. 
In dieser Situation griff der Feind mit grosser Entschlossenheit an, aber 
ein Fussregiment hielt ihn tapfer auf, und nach einigem Schwanken 
behielt Tillys Infanterie die Oberhand und dräogte den iFeiod in grosser 
Unordnung zurück. 

Das Weitere enthält nur vereinzeltes Neue. Die Zahl der einge^- 
lieferten Fahnen wird auf aber 60, die^ der auf Sohloss Latter Gefian- 
genw Auf einige 2000 angegeben, aus denen einige Kompagnien zu- 
sammengestellt und auf die Regimenter verteilt worden sind. Der 

Latter, ygaar ttndaattcf jeg denw PiMitst, ocb motihe Tilly h«rft«a. Datiert: Nori- 
hehn den 7. Angnst 



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8 



Diatrich Schäfer 



sonstigen Gefangenen seien sehr wenige. Selbst habe man un höheren 
Offizieren nur vier oder fünf Hauptleute verloren ,* besonders auägezeioh- 
net hal)o sich der General-Feldmarscball Graf Anholt*). 

Der Brief an ^ iimu Fürsten des Reichs"^) trii^t das Datum des 
2ü. August. Er ist ciii kurzer Auszug aus den beiden zuerst bespro- 
chenen Berichten, in einem Postskriptum aber heisst es, dass des 
obersten von Herliberg Oberst-Leutnant Graf von Gronsfeld, der mit 
dieser Zeitung Tillys (in Wirklichkeit war es der oben besprochene 
Bericht) nach ^liincheu an den Kurfürsten geschickt sei, erzähle, dass 
bei 10000 Mann getötet, 2100 gefangen seien, von den Tillyschen aber 
nur 100 geblieben; bei seiner Abreise seien 73 Fahnen und Coruette 
erbeutet, . 21 Haoptleate, 33 ^«bohcli«, 21 Kapitftn-LeutiiJUkts, 79 an- 
dere Offiziere gefangen gewesen. 

Tillys Schreiben an den Herzog Christian von Celle ^), datiert 
31. August von Leinde, 6 . Kilometer südwestlich von Wolfenbüttel, ist 
ebenfalls belanglos, nur geschrieben, um Nachrichten su erhalten, ob 
und wie stark der Ktotg seineo Bftokzug %af Hamburg oder Verden 
genommen habe. ... 

Aiißser diesen sechs von Lichtenstein abgezogenen BeriditeD finden 
äah aber noch andere, die dirdct oder indiDskt von Tilly berrOliini» . ■ 

Der M^ciuner. -Biuid bewahrt (Bl; 59|1 ff.), einen Brief TiUys m 
dem Quartier xn Angerstein .yoin ]ID.,(20.) Augasli, in dem der .General 
meldet^ dass AldriD^iws Truppen schon beute, m ihm geetoeaen seien^ 
aber nur- eecbt fi^giment^r, zituunmeii .»am Feol)ten I900.m Bferd, 
2400 m Fu88{ Aldrisger. sei selbet mit aeht oöm noo» Kompagnien, 
die : er: nach Friedlimdtr Befehl: habe sebioiten sollen, xorilck nebUeben f). 



1) Die von Lichtenstein 8. XI angcföhrte Flogschrift «Relation rentable de la 
gcende vktoin obteme par aon Exe. t»- eoat» de TlUy* etc: ist efaie fiot wAitlidn 
Wiederboloag Tpa TiUjs Bxiof aa 4i» Inftntbi. Ich ▼wdtiike dieae MHtdhiiig den 

Ilerrn Gossart von Jtr Königl. Bibliothek io Brüssel, die ein Exemplar der Flug- 
schrift besitzt. Bei den Bibliotheken von München, Berlin, Wien, Stuttgart, Heidel- 
berg, GlitUngeo, Wolfenbüttel, Braunschweig, Kopehhagen, Haag frug ich v«r- 
gebeos nach ihr. 

. 2) Gedradtt za Avgspurg darch Andream Aperger auf noser L. Frauen Thor, 

mir zugänglich im Sammelh idp llist. Gorm. un YITI, 75 der Göttinger Bibliothek. 

3) Zeitschr, des bist. Vereins für Niedersachsen .lahrfr 1873 S. 198—200 ans 
dem Sta&ti^chi? in Hannover. Der Herausgeber Jaoicke hat auch einen firühereu 
Drack (UehtarateUi, 154 ^m, tind von der Deck«! I, 330 Amn.) nieht eaffinden 
könoen. 

4) Wenn Wallenstein am 27. Juli an Kurfürst Maximilian -rh reiht f Aretio, 
Baiems auswärtige Verhältnis»« 1, Beil. 2, 248), dass er TiUy 7-1 l'ahniein Knechte 



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Die Schlftcht bei Lutter am Barenberge 



9 



Anholt und Fürsteiiborg habe Tilly nach Northeim vorausgeschickt und 
sei dann selbst nachgerückt, habe sich aber zurückgezogen und sich 
um das kurmaiiizisebe Nörten verschanzt, in einer Nachschrift aus 
demselben (Quartier vom 12. (22.) August heisst es, der König wolle 
auf Erfurt, habe 130 Kompagnien Kavallerie, während Tilly an Kaval- 
lerie sehr sclivi'ach sei. Der König habe leichte Stücke, Tilly schwere, 
könne daher nicht so schnell nachkommen. Man möge die kaiserlichen 
R^iraenter, die gegen Böhmen liegen, an sicheren Orten, Bamberg, 
Forcbheim u. a., zusammenziehen zu Tillys Unterstützung 

Der 8. ?> Anm. 3 angezogene Hand des Uauptstaatsarchivs in Dres- 
den enthält ferner til. 316 einen von Tilly auch eigenhändig unterzeich- 
neten und von dem gleichen Schreiber wie der Brief an den baierischen 
Kurfürston geschriebenen Brief an den Kurfürsten von Sachsen, der das 
gleiche Datuna trägt und abgesehen von der Bemerkung, dass Chri- 
stian IV. vorgerückt sei, Göttingen zu entsetzen, ein kurzer, nichts 
Neues bietender Auszug aus jenem ist. Er verweist aber zum Schluss 
auf den Überbringer, Oberstleutnant Hans Kudolf von Bindauf vom 
Keginaent Altsachsen, empfieiilt ihn wegen seiner Tapferkeit und bittet, 
das Nähere sich von ihm berichten zu lassen. Am 25. August (4. Sep- 
tember n. .Stils) empfiehlt der Kurfürst von Sachsen Bindauf au den 
Kaiser, zu dem er weiter reisen soll, und am 30. September ist Biudauf 
in Dresden zurück^). 

Die gleiche Dresdener Handschrift enthält nun aber auch Bl. 352 
— 358 einen l?ericht, der oflenbar in der kaiserlichen Kanzlei zusammen- 
gestellt worden ist^). Er ergänzt Tillys Mitteilungen ganz wesentlich, 
und man geht wohl nicht fehl, wenn man diese Ergänzungen Bindauf 
zuschreibt. Bindauf, ein Sachse, hat schon vom Kriegsschauplatz aus 
an seinen Kurfürsten geschrieben, u. A. am 14. (24.) August „aus dem 
Feldlager vor Duderstadt" einen Brief, der sagt, dass des Königs Armee 
25000 ]\Ianii stark sein solle, (lass aber die Nachricht, er wolle durch 
Sachsen nach Böhmen ziehen, ,nur fliegende Heden seien'. In einer Nach- 

und 5000 Pferde unter der Führung des Herzogs von Lönebiirg zurücklasse, so ist 
das eiue geflisseotlicbe EutsteliuDg. Der Herzog vou Lüneburg war damals noch 
in Wl^ädffn, und es ist hier im nitdesten Falk alle* «Muiimtiigerechnet» was 
damals iii Obsi^ und Mitteldeutschland im Auftrage WalleastaiDS gewoibm war 

oder geworben wert!pii ^"llto. 

1) Ein weiterer Brief vom 15^ (25.) August (ebenda Bl. 537) enthält nichts 
Nevea. ■ 

. 2) HauptstaaUttKfaiv Dresden Tom. 9800 Bl 334, 346. 
8) Vgl lutea 8.89 Beilage I. 



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io 



Dietrich Sehftfrr 



Schrift vom 15. früh fugt er hinzu, dass, als dieser Brief gescbrieben, 
Tilly liinansgerittoD sei und Bindauf mit ihm, und dass sie giBselieii, 
dass der Feind sein Lager abbreche, nicht aber auf Northeim, sosdern, 

wie es scheine, auf Goslar zurückgehe*). 

Der aller Wahrscheinlichkeit nach auf Bindaufs Mitteilungen zu- 
rückgehende Bericht enthält vielerlei Neues und Abweichendes. Er 
giebt die Stärke des Feindes auf 25 000 Mann und 30 Geschütze ao, 
die Tillys vor Northeim auf nur 12 000. Des Königs Zweck bei seinem 
Marsche ins Eichsfeld ist, den Friedländischen den Weg abzuschneiden,' 
sie zu schlagen und dann, „wie die Gefangenen sagen*, seinen Weg 
nach Österreich zu nehmen. Tilly wird zum Aufbruch von Nörten ss 
Angerstein am 12. (22.) erst veranlasst durch die Befürchtung, der 
König möge die eine starke Meile entfernt liegenden Friedländer ange- 
griffen liaberi. Über die Hergänge gegen Abend des 16. und am Vor- 
mittage des 17. giebt der Bericht viel eingehendere Xaclirichten, lässt 
die Art des Rückzugs und der Verfolgung viel deutlicher erkennen. Die 
friedländische Reiterei (der Bindauf ja selbst angehörte) bildet am 17. 
die Vorhut, folgt dem Feinde auf dem Fusse und lullt ihn durch Schar- 
mützeln stundenlaog auf. Der König sieht sich, wie schon am vorher- 
gehenden Tage, gezwungen, in Schlachtordnung zu marschieren, und 
fasät in günstiger Stellung auf ansteigendem Gelände jenseits eines 
Baches und seiner Niederung bei Lutter Fuss, Tilly hat Zeit gewonnen, 
mit dem Fussvolk heranzurücken, und es folgt ein Qeschützkampf, an 
dem von ligistischer Seite sechs, von gegnerischer nur zwei oder drei 
Stücke teilnehmen, wie vermutet wird, weil der Feind eine Batterie auf 
dem Berge, die er angelegt, habe benutzen wollen. Inzwischen sei dem 
Gegner stets von der IViedliindischen Reiterei zugesetzt worden. Nach- 
mittags um 2 Uhr habe der König sich im Wald und hinter einer 
Hecke zum Angriffe vorbereitet. Als Tilly das gemerkt« habe er die 
dgenen Truppen rechts, die friedländischen links genommen und seine 
Reiterregimenter Cronberg und Schönberg und das Fassregiment Rei- 
nach über den Bach ni i die Niederung voi^ehen lassen. Diese sind 
aber von den Königlichen heftig angegriffen und in Unordnung gebracht 
worden, die Königlichen zum Teil über den Bach gedrungen bis an 
Tillys Geschütz. lilly und Graf Anholt baben die Ihrig^i ermuntert^ 

1) Haupt8(aat8arcbiv Dresden Tom. 9209 Bl. 314. Ebend. BI. 330, 331 findet 
sich noch ein Bericht vom 2G. August aber die Schlacht, der aus Quedlinburg eia* 
gtog vaS GtobA von Nachrichten, die durdi zvd entkommene Soldaten der könig- 
lichen Annee dngebiacht wurden, dw aber nichts von Belang enthttt.- • 



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DI« ScUiebt M Lntter an Birmbog» 



11 



nnd es ist längere Zeit unentschieden gekämpft worden, während die 
Keiter hinter den Treften mit einander fochten. Dlis königliche Fuss- 
volk ist dann vor dem Widerstand gewieheo, unter die kämpfende Rei- 
terei mid in Unordnung geraten und so geschlagen worden. Der König 
ist TOD einem von den Seinen entlassenen adligen Gefangenen vom Re« 
giment Altsachsen (Bindaufs Regiment) gesehen worden, wie er mit 
80 Pferden nach Woifenbüttel zurückkam; derselbe Gefangene habe 
auch 30 Cornet Reiter mit kaum 80 Pferden nach Woifenbüttel eilen 
sehen. Tilljs Leute seien dber 50 Stunden zu Picrd gewesen ohne Essen 
und Trinken, da die Bagage zuräckgeblieben. Die Zahlenangaben über 
die gefangenen Offiziere stimmen ziemlich mit der Nachschrift zum 
Bwicbt an einen Reichsfürsten (oben S. 8). 

Wie dar Überbringer des Berichts an den Kaiser, so hat auch 
Tiliys Bote an seinen Karfürsten sich über die Schlacht vernehmen 
lassen. Jobst Maximilian von Gronsfeld ist bekanntlich Verfasser der 
Zusätze in Wassenbergs „Erneuertem deutschen Florus" *). Nach ihm 
ist Tilly bei Northeim überrascht worden; er hat geglaubt, der König 
sei noch in der Altmark. Nur die einbrechende Nacht habe ihn aus 
der Zwangslage, eine Schlacht in höchst ungünstiger Stellung auf nie- 
drigem Gelände gegenüber den vom Feinde besetzten Höhen und Haukiert 
von der Stadt annehmen zu müssen, gerettet. Christian zieht von Nort- 
heim ab, um den von Tilly erwarteten Zuzug von diesem zu trennen. 
Das von einem ligistischen Hauptmann besetzte Duderstadt lässt er 
Äwar durch einen Trompeter zur Übergabe auffordern, greift es aber 
nicht an. Auf die Nachricht von der Vereinigung der Wallensteinischea 
mit Tilly beginnt er den Rückzug, aber am 14. noch so langsam, dass 
Tilly bei der auch von Bindauf (oben S. 10) berichteten Rekognoszie- 
rung, an der auch Gronsfeld beteiligt ist, feststellt, dass er den abzie- 
henden Gegner auch noch andern Tags erreichen werde. Dpi Konig habe 
am 16., da die Verfolger »den ganzen langen Tag an ihm kleben ge- 
blieben", den Heinrichswinkel genannten Harzpass bei Gittelde (nördlich 
von diesem Städtchen bei der Staufenburg) mit 600 Dragonern besetzen 
lassen, die aber umringt und fast alle niedergemacht worden seien. In 
der diesem Tage folgenden Nacht habe Tilly Boten nach Bockenem an 
den Oberst-Leutnant des dort liegenden jungen Tillysclien Regiments 
Stephan Albert geschickt mit dem Befehl, 600 Musketiere in einen 
Wald hinter Schioss Lutter zu senden, um dem von vorn anzugreifenden 



1) Fraakfiirter Auagabe von 164? 8. 105 IF. 



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12 



Dietrich ScÜJer 



Könige dort deo Bfickzug su enobweren. Am 17. batie Gronsfeld die 
Avaatgaide und ereilte 4 Uhr Morgens die feindlicbe Nachbnt am Bin- 
gange des Waldea» dnrcb den mit Hilfo von 800 Musketieren der Fsind 
IV» Stimden Weges weit bindurchgedrftngt wurde auf das Feld, wo das 
Treffen sieb vollzog. Von 6 bis 12 Uhr wurde herüber and hinfiber 
über den Bach .mit Stücken, sonderlich auf unserer Seiten, stark ge- 
spielft worauf Tilly «nach gehaltenem Sacro* dem Gronsfeld als Avant- 
gardenfilbrer befahl, über den Bach au gehen. Als diesem noch das 
Fussregiment Beinach und cUa Reiterregimenter Schönberg und Cronberg 
gefolgt^ hat der Feind mit voller Macht angegriito und die Beiterei in 
Unordnung gebracht, die ihrerseits ,das gemelte Regiment au Fnss, so 
Über 2500 Mann stark war, sdbsten scbftndUcher Wdse tienneten*. 
Links hinter Gronsfeld kommt der Feind über den Bach, ,dass er auch 
unsere Stöcke mit den Händen aogegriffen*. Gronsfeld weicht aber kei- 
nen Schritt, und so kann Tilly hinter ihm die Fliehenden nun Stehen 
bringen und das Treffen erneuen) und gewinnen*). Nach der Schhicht 
lasst Till; fast alle hoben Offiziere der Arm^e zusammen kommen, dankt 
im allgemeinen Allen, die sich wohl gehalten haben, setzt aber „in 
spepie** dem Gronsfeld seinen eigenen Hut auf mit den Worten: ,Du 
bist ein Graf und hast gethan wie mn Graf ; ein Generalshut wird dir 
nicht übel austoben/ Zu den Andern sagt er, es solle sie nicht vor- 
driessen, dieser Kavalier sei nächst Gott Ursache seines Sieges, worauf 
alle nach eiaander ihm die Hand gereicht und Glück gewünscht haben. 

Der Erzähler setzt hinzu, dass er das nicht aus Ruhmredigkeit, 
die nie sein Brauch gewesen sei. berichte, sondern nur utn der Partei- 
lichkeit des Autors für einzelne Personen entgegenzutreten. Dazu ist zu 
bemerken, dass Wassenberg nur Tillys Verdienst stark hervorliebt. Eine 
Berichtigung \VassGnbergs betreffend Peez bringt ürousield zu Unrecht 
vor. Die Ereignisse zwischen dem 6. und 14. August haben sich nach 
ihm auf drei Tage zusammengedrängt. 

Nocli zwei der von Lichtenstein (Einleitung p. X, XI) aufgeführten 
Bericlito müssen als von Augenzeugen herrührend angesehen werden : 
^Schreiben eines vornehmen Obrlüten, geben im Quartier Niewaldt 
(Neuwallmoden) nechst der Wahlstatt den 28. .\ugusti 1626'* und ,iie- 
lation über die Schlacht in dem Berichte des sich im Hai^tquarUer 
befindlichen l>r. Hundt," 

1) Tflly« EingretfeD schildert lebhaft d«r Erneuerte deatadie Flenn IM, 
doch musB dahiDgeatelle bldbeO} ob die MoaeUieiten glauhwttrdig sind. (Zuspraeho 
an die Kanoniere.) 




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Die Schlacht bei Lutter am Barenberge 



13 



Erstgenanntes Schreiben-') bringt zuerst die Nnehricht, dass der 
Kdnig selbst in OMst geraten sei. ,Der König hnt sieh ao& änertetat« 
nachdem er mm dritten Mal sein Volk selbsten angefahrt, mit einem 
Andern, BO ein Handpferd mit einem sehtiarssaamiten Sattel ihm naeb- 
gefilhrt, satvirt. Ein Gorpotil von meiner Trappen hat denselben gleich- 
sam gefangen gehabt ; nachdem aber sein Pferd gescheesffli und gelUlen, 
ist der EOnig wieder entsetzt worden.* Es meldet sonst noch, dass der 
SOnig, besonders an Eeiterei, weit Überlegen gewesen, das» die THlj- 
seben Beiterr^menter ohne Ordnung über den Pass und an den Peind 
gekommot seien, das Niedermetsein (Metzgen) der femdlieben Muske- 
tiere im Wald, wodurch allein 3000 zu Grunde gegangen sein sollen, 
bis in die Nacht gewftbrt habe, uitd der eigene Verlust verbSltnissmassig 
so gering sei, dass der sonderliche Beistand Gottes daraus deutlich zu 
erkennen. 

Ausserordentiicb reich an neuen Einzelbeiteh über die Hei^ge 
vor der Schlacht ist der Bericht des Ifineburgischen Abgeordneten in 
Tillys Lager Dr. Hundt an seinen Herzog 

Tilly ist am 5. August vor Northeim gezogen und hat in nHollich- 
stedf* (Hollenstedt, 5 Kilometer nw. von der Stadt am linken Leine- 
ufer) sein Hauptquartier gehabt Am 6. nachmittags ist Nachricht ge- 
kommen, dass der Feind von Seesen heranrücke. Die getroffenen Anord- 
ordnungen werden beschriehen. Die Infimterie steht zwischen Bnbme 
nnd Lnne. Die Beiterei leistet Widerstand rechts der Ruhme, zieht 
sich dann aber, da der Fdnd „100 Oometen, bei 9 oder 10000 stark 
gewesen sein soll", auf die Infanterie zurück, deren Feuer, sowie das 
?on drei Geschützen, den Feind abweist. Nach Anbruch der Nacht zieht 
Tilly aber seine Truppen hinter die Northeimer Landwehr (3 Kilometer 
südlich von der Stadt) und am nftchsten Tage auf Nürten und den 
Hardenberg zurück und Tcrlegt sein Hauptquartier in das hessische Dorf 
Angerstein (P/i Kilometer südlich Ton Nörten). Am 10. zieht der König 
in die lüneburgischen Ämter Gatlenburg und Herzbei^, nimmt sein 
Hauptquartier in Wulften, am 11. aufs Eichsfeld in das lüneburgiache 
Amt Badolfshausen; das Volk lagert bei Ebergötzen auf dem Berge 
(nordwestlich und westlich vom Orte in der Richtung auf Nörten, das 
15 Kilometer von dort ist), der König im Orte, der ebenso wie Landolfis- 



1) Geilr. bei Tjunlorp II, 1313 (1629) und HI, 878 (IGfiS). Aus tlfr unten 
S. 15 besprochenen Verbindung mit dem Töricht an den Kaiser darf man wohl fol- 
gero, dass es ebenfalls an diesen oder eine diesem untergebene Stelle gerichtet war. 

2) V. 4. Decken, Herzog Georg Ton Lflneburg I, 372—376. 



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14 



Dietfich Scblfer 



bansen (4 Kilometer südlich von BbeiigOtzen) gani voll Truppen gelegen, 
.die flbel gehauset*. Am 12. ziebt der König fiber Wolbrandebauseo ') 
naeb Doderstadt, Tilly aber, ,,al8 er dessen GewisAeit erlanget, bricht 
von Angerstoin und Hardenberg aui; marschiert bei GOttingen vorbei, 
nimmt bei Geismar (P/, Stunden ssö. von Güttingen) vom Medlftndisehen 
Volk die Fnssregimenter Colloredo und Cerboni*) und 82 Kompagnien 
Reiter, nämlich das altaftcbsiscbe Regiment Herzog Julius Hdnriehs zu 
Sachsen -Lauenburg und das Regiment Dnfour, sowie 6 Kompagnien 
von Galt Petro und ebensoviel Kroaten, auf, zieht trotz des nngewöhn- 
lich starken Kcgcns und Donnerwetters nm Burg Niedeck herum und 
nimmt in später Nacht sein Hauptquartier in WöllmarshauseTi, 11 Kilo- 
meter westlich von Duderstadt'). Sonntag den 13. folgen der Kost des 
Fussvolks, GeschüU und Bagage nach und halten fast den ganzen Tag 
bei Wöllmarshausen in Schlachtordnung. 

Am 14. früh reitet Tilly mit einigen ortskundigen »Grossen* aus 
zu rekognoszieren und dann anzugreifen. Er sieht aber, dass der Feind 
aufgebrochen ist und sich wieder ins luiit burgische Gebiet gewendet hat, 
kehrt zurück und triüt alle Anordnungen für den Aufbruch am folgen- 
den Tag. Am 15. früh 8 Uhr ziebt die ganze Armee nach Lindau, 
25 Kilometer nördlich, und besetzt dort beim abgebrannten Hause Cat- 
ienburg und zu Bilshausen die Übergänge über diü Kuhme und Oder. 
Der König hat an diesem Tage mit der Keiterei in den catlenburgi- 
schen und herzhergischen Dörfern Berka*), Dor!?tc, Wulften. Nienstedt, 
Forste und Eisdorl Quartier, das Hauptquartier aber zu Dorste genom- 
men und den Übergang bei Lindau besetzen und die Brücke abbrechen 
lassen. Die Tillvschen haben den Posten verjagt, und als sich darauf 
jenseit starke feindliche Hauten zeigten, hat TiUy die Brücke wieder- 
herstellen und Keiterei und Fussvolk noch am gleichen Abend zum 
grö.sseren Teil hinüber ziehen lassen, die mit dem Feinde geplänkelt 
haben. Vor Tagesanbruch ist der König von Dorste au^ebrocben und 

1) ZwiBdMO Bodensee nnd Bennhausen, vgl. oben S. 3 Aom. 2. 

2) D«r Beridit hat fälschlich Cornberg, wie er mteh Gall Petro ftr HMismann 
nennt; die Kroaten sind die Koitor des fJall Potro. 

3) Im Bericht beisst es: „Um das Haus Niedeck ::iit linken Hand henim- 
gezogen.'' Aus der Lt^e der Platze wird klar, dass dus lieiäscu soll: Man zog so, 
daas Hao8 NIededfc bot linken Hand bUeb. 

4) Gereke hat der Bericht; aber einen solchen Ort glebt es in der ganzen 
Gegend nicht. Es ist kanm zu bezwoifeln, dass fVrka gemeint ist, nordöstlich nchen 
C.'iticnhurg. Die (Ihrigen Orte liegen, abgeselieu von Wulften (<!— 7 Kilometer oder- 
aufwilrts), sämtlich an der Strasse Catlcnburg-Berka^Gittelde in der Reibeofolge 
Dorste, Forste, Nienstedt, Ebsdorf. 



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Dit SchlMilkt bei Lntter m Buenberg« 



15 



über Forste und Gittelde nach Seesen marschiert, auf dem Galgenberge 
(uf einen Berg, da das Gericht derseits Seesen steht), wohl dem jetzi- 
gen Hasseberg, gelagert'). Tilly ist am 16. früh gefolgt, gegen Abend 
(30 Kilometer von Catlenbiirg bis Seesen) auch dahin gekommen und 
hat sich auf dem nächsten Hiri^o ^TPgßn Hahausen zu gelagert*); 
was von der königlichen Armee auf dem Wege von Gittelde hör ange- 
troffen wurde, ward niedergehauen. Am 17. bat sieb der König bei 
Lutter stellen müssen, .von hier zur rechten Hand nach dem Harze", 
und ist geschlagen worden; seine Keiterei bat tapfer gefochten, sein 
Fussvolk schlecht; vom blauen Regiment soUen nicht 30 Leute davon 
gekommen sein, von der königlichen Leibkompagnie auch nicht viel. 
Albrechtshausen (Vorwerk zwischen Catlenburg und Wulfton), Forste, 
Nienstedt, Eisdorf, lauter lüneburgische Ortschaften, sind vom Feinde 
in Brand gesetzt, Eisdorf völlig in Asche gelegt. Man sage, der König 
habe das befohlen, auch selbst daneben gehalten, bis das Dorf an allen 
Ecken gebrannt, und habe, wenn er nur Zeit gehabt, auch alle andern 
Dörfer des Amtes Herzberg in Asehe legen wollen. 

Ausser diesen von Augenseugen berrübrenden Beiiditen fiUirt Lieh- 
tenstein noch SBdts gleichseitige Belationen auf und zwei Yeneiobnisae 
der Gefangenen, die aber Anbüngsel jener sind. Die an zweiter Stelle 
genannte «Wahrhafte Belation und Bericht* etc. ') ist zusammengestellt 
ans dner last TollstSiidigen Wiederholung des Berichts an den Kaiser 
(oben S: 4 ff.)« dem oben 8. 13 besprochenen „Schreiben eines vor- 
nehmen Obristen** und einem Gefangenen- Verzeichnis« Wenn sie so als 
eine Icaiserliche Kundgebung erschaut, so ist die von Lichtenstein an 
erster Stelle genannte ,Aus!nhrlicfae grundtliche Relation" etc. zweifel- 
los von baieriacher Seite ausgegangen^). Das erhellt aus den Bemer- 
Iningen über die feindliche Artillerie, die sich nur im Bericht an Ha* 
ximilian finden (oben S. 6 Anm. 1), und aus Mitteilungen, die mit der 
Nachschrift xnm Briefe an emen Beichsfiarsten (oben S. 8) zusammen- 



1) Vgl. Lichtenstein S. 129. 

2) „Auf dem negsten Berg narher den npgstrn Dorf Haha«5!sen p^^nannt, hier» 
ber wcbrts, gelagert." Ks ist wohl der Bulk. llafaausea liegt acht Kilometer nord* 
6atlic1i von Seesen am Wege nach Lutter. 

3) Gedr. Lundorp, Acta publica II, 1312 ff. (1(529), III, 877 ff. (1668). . Aach 
als Flugschrift zu Prag bei Paul Scssl'ii im Talir in2<<. 

4} Mir zugänglich in eioem Exemplar der Sluttgai'ter bibliothck, „gedruckt 
im Jahr 1626." Den Yon Lichteaatrin erwähnten Druck au Augsburg durch Au> 
dieam Apeiger habe ieh nicht gesehen. Er findet steh auf der königl. BiUioÜiefc 
in Kopenhagen, Teneichnet Bibliotheca Danica III, 88. 



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16 



Dietrich Schäfer 



treffen. Die »ausfahrliche, gröndfHelia Rebtion* entliSIt Entstellangen, 
die Biebt weitor als solche naehgewieBen zu werden branchen, aber auch 
«nerlei Neaes. Sie spricht merst von dem feurigen »Schwert, das in der 
Nacht vor der Schlacht am Himmel sichtbar gowesen sein soll, die 
Spitze gegen die Königlichen, das Kreuz gegen Tillys Lager gerichtet; 
es habe des Letzteren Truppeu so kampfesfreudig gemacht, dass sie den 
Tag gar nicht hätten erwarten können. Die Nachricht kann nicht Cin- 
hch abgewiesen werden ; denn zu der gleichen Nacht Terzeichnot König 
Christians Kalender: ^Wir sahen einen langen Streifen am Himmd T<^m 
höchsten fiber die Hälfte herunter, dicker am oberen als äm un- 
teren Ende und am Ende etwas gebogen und offen." ^) Die feindliehe 
Strdtmaeht beziffert die Relation auf 90 Cornet Reiter und 16000 Maiin, 
den eigenen Y^lnst auf 200 Tote und ziemlich ebensoviel Verwundete. 
Ton höheimi OffizieTen seien der Oberst^Wachtm^ster Asverus, Haupt- 
mann Schwarz und zwei fnedlftndische Rittmeister gefallei. Ausser dem 
Geschütz seien dem Feinde auch das ganze Schanzzeug, zwei mit Mu- 
nition und zwei mit Geld heladene Wagen genommen worden. Sie he- 
richtet, dass Graf von Gronsfeld mit dem Herliherg'schen Regiment am 
Schlachttage und am Tage zuvor die Avantgarde geführt, neben ihm 
die Obersten v. Reinach, v. Schönbci g und v. Oronberg tapfer gekämpft, 
Gronsfeld mh besonders ausgezeichnet, auch die Obersten Erwitte und 
Bock 8i(di sehr wohl gehalten haben. Der König sei abends zwischen 
5 und 6 ühr in Wolfenbfittel angekommen (dieses liegt gut 30 Kilo- 
meter vom Schlachtfelde) und habe sieh nach Aussage der Gefangenen 
während der Flucht wiederholt an die Brost geschlagen und ausgerufen : 
,Wie wild mir mein liebes armes Volk niedergehauen werden!'' Über 
eine Meile habe es voll toter Körper gelegen, und der König sa 
nur mit 80 von seinen 90 Rdter-Cometten, und diese auch nur sehr 
schwach, nach Wolfenbfittel entkommen*). 

1) Danske Samlinger II, 3, 377. 

1) AttsschUessIich aus der ,^tusfübr)ichcn, grQQdtlichen Relation" ist der stoff- 
liche Inhalt d«s ITstropbigen Gedichtes entlehnt, das als: ,,Bin waritafdge nnd ge- 
■wissc neue Zeitung von dem Blutvcrgicssen und Scharmützel, auch erhaltenem Sieg, 
welchen n( rr Gfiieral Graf von Tilly erlangt etc. im Ton: Wie man den Grafen 
von Serin singt" zu Augspurg bei Johann Keil am Maurbei^ auf dem Wasserthurm 
1€26 gedruckt ist. Ein Exemplar bewahrt die fcöoigl. BiUiothek In Kopenhagen. 
Liditenstein erwähnt es iiidit. — Ein anderes SSatrophiges Lied, d is Lichtenstein 
liekannt wurde (vergl. S. 158), ist jetzt von Rodemann nm einer Handschrift der 
kgl. Hibtiothek zu Hannover in der Ztschr. il. hist. Vereins für NiederHacbsen Jahr- 
gang 1878, S. 298—301 veröffentlicht. Es ist noch 1626 gedichtet, Ist tahaltifdl 
korrekt, deckt sich aber mit keinem Bericht völlig} Neues von Belang bietet ea 
nicht. 



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Die Scbladifc bn Luttoz lam Barenberge 



17 



Auch dieser Keiation ist ein Gefangenen -Verzeichnis aDgehängt. 
Doch stimmen beide nicht vollständig überein*). " ' ' 

Die dritte von Lichtenstein erwähnte deutsche ilelation, „den Dänne- 
märkipcben Akten von 1626 angehängt" ist ein Auszug aus dem Be- 
richt an Kurfürst Maximilian mit einigen unbedeutenden Zusätzen bezw. 
Abweichungen und einam groben Missverständnis. (betreff, den, Grafen 
Solms)»). 

Den von Lichtenstein erwähnten dänischen Bericht: »Aviso, en san- 
dru Visse Tiding 1626, 4 Blätter in 4^" habe ich nicht aufzutreiben 
vermocht. Tu Kopenhagen weiss weder die grosso königliche noch die 
Universitäts-Bibliothek etwas von einer solchen Schrift; auch in der 
Bibliotheca Danica finde ich sie nicht verzeichnet. Lichtenstein fügt 
hinzu : »Dänischer Bericht mit sehr auffallenden Unrichtigkeiten", giebt 
aber leider keinerlei weitere Auskunft. Es rniiss bis auf weiteres ange- 
nommen werden, dass er diese Mitteiiübgifin aü8 Sehlegel, Qesohiehte 
Christians IV. II, 291 entlehnt hat. 

•Den von Licbtenstein aogezogeneii beiden firanzOsiBcheii Belatienett 
ist obUn S. 8 Attm. 1 und unten Anm. 1 ihre Stelle angewiesen. 

Wertvolle Zus&tse liefert des Liborius Vulturaus „Kurze Ersülilung 
aller iioniembston Hftndel, so zwischen der p&lz-buer-tilliselien und 
kaiser-friedlftndisclien gegen der kddgL dennemftrkiscben Armada sich 
begeben' S. G8ff., die sich gut nnternchtet zeigt. Nach ihr ist der 
Wallenstoiniscbe Znsug am 7. August Von Wienrode bei Blankenburg 
aufgebrochen, am 10. August zwischen Duderstadt und CK)ttingen auf 
kOtt^Iiche Truppen gestossen, bat sich aber Abends eine halbe Meile 

1) Eine Übersetzung dieser Relation ist der Recit veritable de Fentir^p <les- 
route du roy de Deuuemarck par monsieur le comte de Thilly envoyc :iux imbas- 
sadenr» d*Allemaigno en Brnxriles le 27. joor d*Aouat Vm 1696, den LIehteostein 
S. XI erwähnt. Die Flugsclnift findet sich wie die Relation veritable (oben Seite 8 
Anm. 1) nur in der königl. Hil.liothek zu Rriissel. Als bairische Gesandte waren im 
Sommer 1626 <lort iinwesend Ctiristof v. l'reysing und Job. Christof Thauner, vergl 
Aretin, Baiems answirtige VerhältniBse etc. I, 2, 208. 

jt) Der DwmeiDKtelEiBdien und Iffildei^Sadunadien Creysses Actan ander TheU 
8. 136— 1S8, auch gedrnekt bei Lundorp I, 1S55 und nieder II» 876. 

3) 6000 Tote, 2500 Gefangene, unter den Toten Rittmeister Moritz von Ohn- 
hanscn, unter den Gefangenen Oberst Lohrs (neben Lohaasen), Kommissarins Job. 
Hontzcn, Rittmeister Uorster; SO Fahnen; Freiherr Cronburger in der Avantgarde 
mit filnf Kompagnian itt ebenio tapfer gewesen wie hm Sftlenberg. Die naiwre Be- 
ziehung za den an Koifbrtt HoximiUan gesandten Berichten ergiebt sich u. A. atu 
der Erwilhnang des mainzischen Orts, nach welchem Tilly sich von Northeim zurück- 
gezogen, und des diiuischen Wappens, das meistens aof den Geschützen gewesen. 
Vgl. oben S. G Anm. 1 und S. 9. 

KEUK HKIORLIt. JAHJtßUKCIIKH X. 2 



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18 



'■ IMetrich Schifer 



von Göttingen gelagert. Die Königlichen befehligte bei der Stanfenburg 
der Ilanptmann Adain.vrnifafiiir TOn > Hodiriowa (Hodiowa), der schon 
dort gefangen genörntnen wnrdfl? 'auch zwei halbe Kartaunen mussten die 
Königlichen dort im Stich lassen. In der Schlacht selbst wird an Stelle 
rlo^ llegidkente Beinacfa das Regiment Schmidt (wie im nächsterwähnteH 
Beriebt):: genannt. Starkes Musketen- und Gescfafitsfeuer trieb, die König- 
lichen zurück, als sie bis an Tillys Gescbfltze gelangt waren.!': Zwei 
diiBSohft^Fostapegimfin^ bede1ifidigte&- sieh .aeUMt .«anf 'Ürcor/ ; ' 

' lAebCensiein unbekannt geblieben ist im trotz «einär kftrze selbäli- 
at&ndigej d. B. in diesem FäÜö biclii im Wortlant von'andereii üns 
erlmIteQta 'fieniAteu abhangige ^Enrze nnd einilLltige, doch ans 'Ter- 
irSnIieiien Gottmniniciiliien'^Sehrerbett gi^ndücher Bericht, wie es voin 

ii 17 

Augusti bis uf den ejusdem dis laufenden 1626. Jahrs mit den 

anteiWibiedlipheii Tiefen zwiscl^en der Tyllischen und Dennemärkischen 
Armeen hergangen und die Victori endlieh: effolget", die eineii Stieh 
^.. X ; l^.V«<iP- ^ Gaues ein Blatt von 2ß X 35cra. ist 

Sie spricht davpn, dus dj^ ligistisehe. Biigiment des Obersten Schroid 
(muas; hassen Beinadi) aafiiiigs gana geworfen, einige Fahnen und Gornet 
dflsselibeii scl^n dem Könige pr&Bentiert worden asien, dass aber die 
königliche Beiterei in einen Morast geraten sei, und dann das Glftck sich 
gewendet habe, auch mi.l^nlglic^e.Beginunter irrtflmlioh anf euHmder 
Fett«; .gegeben b&tt^». ])|e Brschlagepeii . h&tten anf vier Meflen Wogs 
gelegen; die Oe&ngenen seieo .nach. Bockenem gebracht worden, ,wo man 
sie im Bat^ose verwiÄit habe. . Der Stidi zeigt die tiUyschen Gesehfl^ 
anf einer ziemlich steil ins Thal abfallenden Bodenerhebnng anfgestellt'). 

Auch die Liclitenstein schon zugänglichen Nachrichten, die der der- 
zeitige bairische Bevollmächtigte in Brüssel Johann Christian von Preising 
schon am 26. August (5. September) Naebniittags von Spinola und Nachts 
vom Kurfürsten von Köln erhielt, hat er unerwälint gelassen, Sie geben 
Christians Armee auf 130 Cornette Reiter und 12 Regimenter Inlaaterie 
an und sprechen von 7 gebliebenen und 9 gefangenen Obristen; insge- 
samt soll der Feind 10 — 12 000 Mann verloren haben. Christian sei 
mit 16 Pferden in Wplfenbüttel angekommen, dann mit 5000 Pferden 

1) Eio Exemplar dieses Berichts bewahrt die KönigL Bibliothek in Kopen- 
hagen. Etnen SHclr von der SchtMht besitst andi nach Mitteitniig des Herrn Dl- 
niktor Winter das Ilaus-, ITof- und Staatsarchiv in Wien: Eigentliche Abbildoag 
(!er treftiichen Victori, Welche Graf Tiliy, kais. General, wider d«n König ia Denne- 
mark 27. Aug. 1626 st. n. erhalten. Grüsse: 31 X ^cm..' " 



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Die ScUaeht bei Latter an Barenfierge 



10 



ohne jedes Fussvolk auf Hamburg geflolicn, der Graf von Anhalt ihm 
mit aller Reiterei zur Verfolgung nachgeschickt^). ' ' 

G^raäber all diesen Berichten, die von der siegenden Seite her- 
rühren, haben wir nur einen einzigen, der auf di& ünterlilegenden zniüek^ 
zufuhnn ist, und dieser stammt auch nicht ümmnl direkt vour eibenk 
Augenzengen. Iis ist die Prirsti^lhing Aitzemas^). Nach einer summa» 
rischen Erwähnung, wie sie Aitzemas kurzer Gesamtdarstellung von 
Christians Feldzug' entspricht, bringt der Niederländer unter Angabe 
sein«^ Quelle zunächst den Bericht Tilly» an die Infantin (oben S. €) 
mid dann dne auf d&oiscbe Nachrichten zurückgehende Darstellung: 
Van de zijde ?an Denemansken werdt de foataille verkaelt op volgbeode 
manier, und am Sctalusa: Op dese manijar, se^b ick, hebMn*t de eenindksehe 
verhaelt. 

TiUy habe sieh in der Nacht vor der Seblacht mit den Trappen 
des Herzogs von Lfineburg Tereinigt und um acht Uhr die ESni^icben 
hart bediftogt Der KOnig sei, tausend Pferde bm ^^Obersten"' I^adis 
zorficUassend, um einen Bosch geritten, dem Feinde in den Bücken au 
fidlen, ohne dass er yon der Verbindung mit den Lfineburgem gewusst 
habe. Bei seiner Bflckknnft habe er seine Avantgarde fliehend gefunden 
und habe seine Soldaten ermutigt, aich dann auf eine Erhöhung begeben, 
wo' vier Stfleke standen, von denen eins, das oft gelOst war, geborsten 
sd. Inzwischen habe des Eönigs In&nterie die TiUjschea zwei MeUen 
weit an einen Bosch getrieben, wo diese hinter aufgeworfener und mit 
Maien besteckter Erde 12 Gesehfitze verdeckt aufgestelit hatten, die ge- 
löst worden, als die Etaiglichen dicht vor dOn Stücken waren. Sie er» 
Htteii schwere Verloste und gingen in Unordnung zorftck. Der EOnig 
versuchte vergebens, die Flucht aufisohalten ; der Feind drängte zu heftig 
naelL Der Landgraf von Hessen wurde von Kroaten gefimgen, trotadenh 
der Eönig aHes that^ ihm zo helfen. Vr&hrend sie um däa Kleogeld 
mit einander zankten, hieb einer von ihnen dem Landgrafen ein StM 
vom Kinn- und Bart herunter; dieser, so entstellt, bat, ihn vollends zu 

1) Aretin, Riiierns auswärtige Verhältnisse seit dem Anfang des 16. Jahrhun- 
derts I, Beil. 2, 208. — Ein Schreiben aus Marienburg (zwischen üildeaheim und 
^noofrer) Tom 18. August, da« in dner von Nordhoff in der Zeitaehri. t .Tiitflriiii- 
dische Geachiefate 36, &6 ff. abgedrückten ZdtuDg wiedergegeben iet, verlast die 
Schlacht fälschlich auf den 16. nnd ist schwerlich von einem Äugenzeugen vcrfasst. 
Neu ist, dass man am 16. in Tillys Lager Teimutet habe, der Administrator sei 
zQ Christian gestossen. 

S) Llenwe van Aiteema, Sahen no Staat en Opriogh.I, 5$1 ff. (Haag 1669). Eb 
ist vielleicht der Bericht, den Camerarias am 1. nnd 6. Oktobfv erw&hnt, .Ifoav, 
Patriot. Archiv 6, 99 ff. nnd 106. 

2* 

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20 



Dietiieh ScUf«r 



töten, worauf eiü Kroat ihm seine Pistole unter den Harnisch setxte 
und ihn so erschoss. Die Kompagnie des Königs, 500 Mann stark, blieb 
fast ganz, da sie nicht weichen wollte, nnd ihr Quartier nicht geL,reln ii 
wurde. General-Leutnant Fuchs wollte kein Quartier nehmen; er focht 
in einem weissseidenen Wamms mit einer grauen Überjacke (casack). 
Es werde von ihm gesagt, dass er dem Könige die Schlacht abriet, weil 
sein Volk meist neu war, das Tillys aber schon viele Jahre im Felde. 
„Jeder alte Soldat ist so gut wie ein Offizier.* Er habe dem Könige 
auch geraten, nicht zu mustern, damit der Feind seine Stärke nicht er- 
fahre, auch nicht zu zahlen, sondern das Qeld mitzuführen, wie sechs 
Tage lang geschehen sei, ohne dass ein Soldat um Geld rief. Die In- 
fanterie focht gut, aber die Reiterei warf sich nach einigem Kampf in 
die Flucht, Fünf OomettOii von 119 wurden „geschlagen", der Rest mit 
20 Kompagnien zu Fuss geleitete den König nach Wolfeobüttel. Bei 
der flucht der Bagage ging es sehr unordentlich her. Frauen und Kinder 
wurden von dem eigenen Volke hinabgestossen ; ja Frauen warfen ihre 
eigenen Kinder weg, um sich auf den Wagen zu halten. Die Wagen, 
die nicht fort konnten, wurden von den Königlichen selbst beraubt, dem 
Feinde die Beute mxki zu gönnen. Die Wag^ mit Geld waren sehen 
einige Tage Torher in Wolfeahflttel. Sieben Gesdifitae seien gerettet 
worden; sediB seien zuerst genommen worden, darnach noch eins, dem 
die Lftffette brach, was den König sehr rerdross. Des Königs Armee 
habe- vier Tage wenig Brot gehabt^ habe sich meist mit Äpfeln, Birnen 
und allerlei BamuMchteu beholfen und dazu Wasser. Die Zufuhr sd 
ibr fiist Tdlfig abgeschnitten gewesen, so dass Hungersnot entstanden 
und sie desto flauer zum Fechten gewesen sei. Tilly habe 65 Ffthn- 
lein erbeutet und den Bittmeister Asvems und zwei andere Terloren. 
Unter den Toten wird von dftnlschen Honen ein Bilde genannt Nach 
einer oifeabar verwirrten Nachricht Aber dnen auch gebliebenen Bitt- 
mdster «Wolf Hendiick van Weers aus dem Stift Bremen'*, der ein 
Begnneot von 2000 0) Pferden geführt haben soll, folgt das bei Lundorp 
gedruckte Yeneichnis der auf Schloss Lutter Qe&ngenen, doch viel&ch 
mit besseren Namensformen, und weiter ein Yerzeiclmis der übrigen Ge- 
&ngenen, das 11 Namen mehr enthfllt als das entsprechende bei Lundorp, 
doch aber keinen, der sich nicht auch in dem der aAusitihrlichen grfind^ 
liehen Belation^ (oben S. 17) angehängten Verzeichnis ftnde. 

Einen eigenartigen, doch so gut wie wert-, ja zum Teil sinnlosen 
Bericht hat Johann Olnver in seinem Historiamm totius mundi epitome 
S, 799 (Leiden 1640). Er lasst Tilly mit „ungeheurem Verlust» von 



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Die Schlacht bei Lutter am Barenberge 



21 



Northeim abziehen, ihn in den folgenden Zusjammenstössen mchi- als 
6Ü0 Mann und einige Fahnen einbüssen und stellt den König als den 
Nachdrängenden dar, der bei l^utter eine geeignete Stellung wählt ^). 
Fucha rät dazu, während andere Führer abraten, weil der Ort nicht zur 
Aufstellung des Geschützes passe, und der Wind dem Feinde günstig sei. 
Der König, Furcht nicht kennend und sicher, dem fliehenden Feinde 
zuzusetzen (fugibundo instare hosti certus), beschliesst die Schlacht. 
Man dringt bis zu Tillys Geschütz vor, so dass dieser am Siege ver- 
zweifelt; da er aber die vom Hunger ermüdeten Fusstruppen angreift und 
gerade zur rechten Zeit die Hilfe des Herzogs Georg von Lüneburg er- 
hält, dazu die königliche Reiterei sich dem Kampfe entzieht, weil die 
SoldzahluDg verzögert war, schlägt er das Fussvolk. Die Heiter fliehen 
schimpflich trotz der Bitten des Königs. Man verliert 1200 Tote, 
1800 Gefangene, Tillj aber ungefähr ebensoviel. 

Die zahlreichen Quellen, die Lichtenstein in seiner Einleitung sonst 
noch zusammenstellt, bereicliern unser Wissen über die Schlacht nicht. 
Das Theatrum Europaeum (1G17-29 S. 931 ff., Ausg. von 1639) hält 
sich durchaus an Tillys Bericht an den Kaiser; was Khevenhiller, An- 
nales Ferdinande! 10, 1266 fl". bringt, ist nur eine Wiederholung, das 
Werk des Lotichius überhaupt nur eine lateinische Übersetzung des 
Theatrum. Aus diesem entnimmt auch Meteren (Meteranus novus d. i. 
Niederländischer Historien 3. Teil S, 456, Ausg. von 1640) seine Naeh- 
richten wörtlich, Piasecius (Chronica gestorum in Europa siügularium 1, 
387, Krakau 1645) die seinen ebendaher oder aus Khevenhiller. BracboUus 
(Historia uoiversalis, Köln 1652, S. 120 ff.) giebt selbst Lotichius und 
den Deutschen Florus als seine Quellen an. Carafa, Commeutaria de Ger^ 
mania sacra restaurata (Köln 1639) arbeitet (S. 261 ff.) nach Liradorp. 
Die Summarische Chronik des 31 jährigen Krieges, Köln 1650 giebt (S. 7) 
nur einige wertlose Notizen. Auch Winkelmanns Oldenburgische Friedens- 
und benachbarter Örter Kriegshandlungen (1671) berichtet S. 198 nur 
kurz nach dem Theatrum und Aitzema. Der historische Büder-%ial> 
(Nürnberg 1714) hat nur eine Notiz über die Schlaeht 'und bringt den 
bedeutungslosen, von Lichtenstein citierten Vers ' - * ' ; ■ - 

Von Latter bis nach Stade 
Das war eine Betirade. ' ' ! 

Lichtenstein führt noch ein Manuskript der Oöttinger BibMolhek 
an: Chronologia Hannoverana von 711 bis 1703. Der Berieht, der sich 

1] Diese YorsteUuQg scheint übrigens schon Camerarius za haben, PatrioL 
Archiv 6, 105. 



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22 



Pietnch Schäfer 



dort S. 1352—1358 tind«t., ist eine Compilation aus dorn den Deone- 
märkisclien Akten aogeliiiiigton Bericht, Lundorp, Cluver und Aitzema. 
Der Erzilliluug CluTers über Fuchs, die so abgeändert wird, dasa dieser 
hier von einer Schlacht abrät, wird Ii iii/u gefügt, dass der Kouig Fuclit^ 
gefragt habe, „ob ihn vor seiner Haut graue", worauf Fuchs: er wäre 
nur ein Mensch, der König werde es mit Schaden erfahren. Fuchs habe 
aber , solchen Schinapf nicht leiden wollen", sondeni habe ,an die Tilli' 
sehen gesetzt." Bei der Bedrohung der ligistischen Geschütze durch 
die Königlichen seien Tilly die Thränen in die Augen gestiegen. 

Damit ist der Quellenstand, abgesehen von einzelnen noch zu er- 
wähnenden Bemerkungen und der Aufklärung, die die Topographie bieten 
kann, klar gelegt. Es m^ga versucht werden, das Wesentliche zusammen* 
aufessen, was man darnacli über die Hergänge wissen kann. 

Am 6. August rückte König Christian von Seesen gegen Northeim 
heran, das von Tilly angegrifTen war. Zweck des Marsches der letzten 
Tage war, Göttingen Entsatz zu bringen, aber der König fand diese 
Stadt in Tillys Gewalt. Vor Northeim hielt Tilly ihm nicht' Stand 
Er hätte eine Schlacht in ungünstiger Stellang annehmen mfissenv fühlte 
sich körperlich angegriifen und war, wenigstens nach seiner eigenen An- 
gabe,' mit seinen Streitkräften, besonders der Keiterei, dem Gegner nicht 
gewachsen, -fis gelang ihm, sich in der Nacht vom 6. zum 7. unbe- 
merkt leineaufwärts zurückzuziehen ohd . dann bei Ndrten, eine starke 
Meile südlich, eine feste Stellung einzunehmen. Er erwartete den sM- 
lich mn den Harz heranziehenden Znzag der Wallensteiner, der mn 
7i, Angmtfc ^ana Wlenrode bei Blanktaburg aufgebrochen mar.^ Der E$mg 
verKtoei Kaitbeiiii ^aiti .10.^ 'aQ ^welchem Tage Teile -seiner Arme sehod 
zwiMl»n.niider8tadt und Böttingen Ffihliing mit den anrfibkenden Wattta- 
alaaimlnii gBiroiwen • ^ hatten^.: 'und wandte - aicb sflddstHeh nihmeaiafW&rts; 
Sein^-Bewegnagfin am' 11.' und 12. lassen erkennen,* dass er sieh die That^ 
saefaf^i dass. Tilly mit aciaifr ganzen Streitmacht wenige Stunden westlich 
üi vseinei' k^hten/Elahke atand,. yoltig Yergegenwftrtigte.^ Am'14. kam' 
er • bis fior Duderstadtl - Die Ai^ffiissüng, däss diese Stftdt 'yot' ihm be- 
setzt worden sei, ist irrige ' Zweck' der ganzen Bewegung war, , diä iVer> 
bindung der Wallensteiiier mit TiUy zu bandem. Wenn ihm die Absicht 
zugeschrieben wird, nach Thfiriikgen und wdter in die Besitzungen der 
Feiüde einzudringen,' sa muss das als hOohst unwahncheinlieh abgelehnt 

tri 

1 1 GroDsfelds Nachricht, dass Tilly von Christians Anzug völlig überrascht 
woxdeü aei, widerlegt sich schon durcii Tillys Brief an die Inbmtin vom 4. August, 
Viltermont S, 363. 



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Die Scblaciit bei LuUer am . Barenberge 



23 



wtfrdfiu.: OImt .elnea. denurtigen<PliA ftodserto.flicb^WallAnteifi 'mit einer 
aucb «nrt toü ihm gebnnlebteD» Wendung : wftre sehrlcnte irte Jadas:' 
Sm1% iidd mui darf dem Könige, dösseb Krieefttiurlutg^ ttotz des peraltab*^ 
lieüen Hfltee imd deür Tafiferkelt, die < ihm eigen wiurattv:®^!» '^'^ 
sichtige als ffloe dranf^getiBefae zu ndiDtti ist« eitaidecactigiB.Feraimif-. 
lungsunternehmen ohne eioMdefme Bdtjge Bidit. emitfieb «itmiieifJ 
Der erstrebte Zweck wurde aber nicht erreicht Die Friedländer erreioh-! 
ten schon die Nachbarschaft von Oöttingen, ak der König seinen Marsch 
antrat; ihre Verbindung mit Tilly war schon am lu. gesichert. Der; 
NachrichtendieiJbt, der während des ganzen Fcldzngcs auf ligistisoh- 
kaiserlicher Seite weit überlegen war, blieb auch in diesen Wichtigen 
Tagen im königlichen Heere hinter seinen Aufgaijen zurück*). Der Zuzug 
vermehrte Tiilys Streitkräfte nach seinen eigenen Angaben um 4300 
Kombattanten, 1900 Reiter und 2400 Fuösgänger. Am 12. brach er 
aus seinem Lager auf, zu verhüten, dass die eine starke Meile eat- 
fernt liegenden Wallensteiner allein einen Angriß d^ Königs ausaü- 
halten iiätteh, und gewann noch am selben Abend, nachdem er bei Geiö^ 
mar die Wallensteinschen an sich gebogen hatte, Fühlunt: mit deffl 
Feinde. Am 13. kam auch das Fussvoik heran. Eine Rökognoszierung 
am 14. ergiebt, dass der Feind sich zurückzieht, aber so langsam, dass 
Tilly sicher ist, ihn auch noch am nächsten Tage zu erreichen. An 
diesem (15.) gehen die Kuniglichen nordwärts^ über die Hnlime iind Oder 
zurück, der König nimmt Quartier in Dorste, eine kleine Ötundo von 
Catlenburg. Die Ligisten folgen auf dem Fusse, und es kommt zu Zu- 
sammenstössen. Das setzt sich am 16. in der lüchtung auf Seesen fort. 
Der Pass bei der Staufenburg wird vergeblich von den Königlichen ver- 
teidigt; ihrer 600 werden dort vernichtet, zwei Geschütze gehen ver- 
ktfen. Den ganzen Tag müssen sie zugleich auf die Verteidigung und 
dett' Bückzug bedaalit sein, ihre Bagage, soweit dieselbe nicht vdraus- 
geschickt ist, zum grossen TeiL im Stich lassen oder verbrenntoi Die 
Kacbsügler ;gehen verloren. Dass die ¥«rpfleguitg. < eine, dürftige wordei- 
iei flicht unwahrscheinlich. Die lüoebifrgisöbeA Orte auf dem Wege vom 
1$, .und 16. lässt der König in Brand setzen. Abende stellt er sich 
sweimal nach einander bei Seesen in 3chUchtordnu|ig., and es kommt zn 
^em. GescbfitzkanipL . .. ,. * , . ,[ , .„ 

1) Nimmt mnn an, dass der Kenig wirklich nacli TbOringen aud Fraukoo 
wollte, so bleibt völlig uacrklüil, warum der König niuht ra»:lier durchs £ichsfeld 
TWoAckte. Kttr grö««t» Rnahhtit- lOtte Ja etacai UnternebrnBH gegen des. Feinte 
Leade tinen gewism SiMs TOnchaibn kOAnenj 



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24 



: Au 17: brieM d«r Staig Mboa untHittArnachb wieder vd. Die Vor- 
hat deS'FeiiHles^ ist ihm abw bald -wieder a«f den Fersen.- Naob Biodaaf 
sind es die widlen^teiBSoheii |[kai8eTlicbe&) Regimenter, mch Qtooäfeld 
seiif' eigenes (ligistisches), naeb dein 'tfach von bairiscber Seite Ausgehenden 
«Ansillbilicben;- gründlichen -Berieht^ Qibnsfeld mit dem ''beiliberg8ehen- 
Begiment iBid:nDit ihm die-'Beglmenter Beinaeh, SehOnberg und Ctoni^ 
berg. • Der mehr als sttedenlänge Weg dweh'den Habauser Forst wird 
unter ifottfffthreoden- Kämpfen zuiückgelegt. In dem -fireiereii" Gellode 
bei 'Naüeo^ond Latter sieht sidi die kOnigfiche Armee, noch frdh 'am Vor- 
mittage, genötigt, Posto in fiosen; Sethiit das in günstiger StellnDg, auf 
einem Gelände, das von sumpfiger BacbniederuDg allmählich ansteigt zu 
dem erhöhten TTerrain, auf dem Lutter mit seinem Schloss liegt Till\ s 
Truppen sammeln sich gegenüber, und es beginnt eine Kanonade, an der 
auf Tillys Seite sechs, auf der des Königs aber nur zwei oder drei Ge- 
schütze teilnehmen. So bleibt die Situation bis über die Mittagsstunde 
hinaus. Nur einzelnen Fläüklern (dem .Ausschuss") von den wallen- 
steinscben Keginientern wird gestattet, die Niederung zu überschreiten. 
Als aber Tilly merkt, dass der König in einem Walde und hinter einer 
Hecke sich zur Schlacht ordnet, ordnet auch er seine Trell'en. Das eigene 
Volk nimmt er zur Hechten, das friedlandische zur Linken und lässt so 
vorgehen. Als aber die Reiterregimenter Cronberg und Scbönberg und das 
Fussregimont Reinach (silmratlich ligistische Mannschaften) 2) den Bach 
überschritten liatten, nahmen die Königliclien ihren Vorteil wahr und 
griffen die Tillyschen heftig an. Da diesen über den Bach liinwpg nicht 
sofort HillH ^'ebracht werden konnte, wurden sio gewürlcu. uijd die König- 
lichen sind über die Niederung bis an Tillys Geschütze gekommen. Hier 
kommt aber Unter Zuspruch 'und persönlicher Führung 'l'illys und des 
Grafen Anholt das Gefecht zum Stehen und wogt einige Zeit unent- 
schieden liin und her. Die Reiterei bekämpft sich neben und iiinter 
dem fechtenden Fussvolk. Als die KonigUchen zu weichen beginnen, 
dringt Tillys Fussvolk hart nach und wirtt den Gegner vollständig, als 
er zurückgehend auf die hinter der Front kämpfende Reiterei stösst und 
dadurch in Unordnung gebracht wird. Vielleiebt haben königliche Ke^- 

1) Di« Karte, die Liehtaistein leinem Bneh« beigtebt, ist liö^list mangelhaft. 
Abgesehen davon, dass sie die Himmelsgegenden völlig verkehrt, giebt sie aucli £a 
Entfernungen so Tiniiclitii,', diiss man sich aus ihr ein Bild (Un Sclilacbt nicht machen 
kaOD. Schoo die „Kurte tles Deutschen Keicfaes" orientiert besser. 

• 8) Gronefeld nennt diese Eßgimenter auch, will selbst aber von ihnen über 
den Bach ' beeidect 'Wäm fis iat nidrt abnuduai, mwmi der auf Bindanf »iilick* 
aofOhimde Bericht gerade dieeee l^tisdie Regiment irisggolMien faabui lellte. • - 



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Die Sdiladit bt{ Lnttor m- Banobeig» 



25 



meiiter siGh unter eiiiaoder beaehftdigt. SO FftbnloiiL FnssvoUc werfen 
siisb iir .diu üoeke Schtoss Iiutter, mässen sieh aber bald auf Gnade' ;iind 
Ungnade. ergeben, an. der Zahl mebr «la 2000. Sie werden in'tiUyacbe 
BegiiBenter- gesfceekt. ..Die. Weichenden nnd. Fliehenden werden nieder- 
gemaeht. 

. ..Bs .fielen. Tem. Heere Christians der General fnchg, der Kftbhst- 
koBimandieKNide nach dem Könige, Landgraf - Philipp^ von Heaseii und 
der.:GrafsSolaw, der Qeneral-Koffimissftr Peggewiach und drm Obrieten. 
Pie^beriditeten Einzelheiten ober den Tod des Landgrafen und. des Grafen 
sind durchaus ghiubwürdig. Mehr ala 100 Offiziere aller. Grade wurden 
g^mgen, bis - auf wenige Vornehmere aflmmtlich durch tfbecgnb^ des 
Schlosses« durch die auch alldn.29 von einigen 00 Fahnen, die im Ganzen 
erbeutet wurden, in die Hftnde der Sieger fielen. . Da die ganze feincl- 
liehe Infanterie- zersprengt wnrde^ so h&tte die Fahnenbeute grosser -sein 
^ifissen,: aber die Soldaten haben Ffthnlein versteckt und verborgen, zäun 
Teil' auch zerrissen, um Stdche zum- Gedächtnis zu behalten. . Die Künig- 
liehen rerlmn ihre gesammte Artillerie, 22 Geschütze. Sie waren leichter 
gebaut - als die Tilljs, nach niederländischem Muster, teils mit dem dilni^ 
sehen, i^Is mit dem braunschweigischea Wiq|»pen versefaen. Auch die 
königliche Beiterei war ganz zersprengt und gebmgte nur in kleinen 
Trupiis nach Wolfenbflttel, darunter SO Comette (IHhulein), die kaum 
mehr als 80 Beiter zfthlten. Von ihren Feldzeichen hat man nur sechs 
erheutet. 

Nach Wolfenbüttel hat aticb der KOnig ssinea Weg genommen und 
ist dcirt noch :aelbigen Tages vor Swaennutergang eingetroHan. Br hatte 
bis zum Ausaersten ani dem Schlachtfelde aasgehalten, wiederholt seine 
Tfuppen Torgelftbrt und wurde selbst nur dadurch gerettet, dass das 
Pferd: eines feindüches' Unteroffiziers in demsdhen Augrahlick erschossen 
wtncde,.-wo : dieser ihn gefangen nehmen wollte. Dass der KOnig auf der 
Fluchtj sein ^Volk .laut beklagt hat« Uii^ glaubwürdig genug.. Auch 
Schlegels Erzählung (II, 292), dass Wenzel Rotktrch, des KOnigs Stall- 
meister« diBafen sttrmdes Fford auf der Flucht durch sdn eigenes er- 
setzte, wird: nicht abzulehnen sein. . 

Auch Tillys Truppen waren sehr erschöpft^ die Reiterei durch mehr 
als- 50 Stunden nicht vom Pferde gewesen^ dazu ohne genügende Nah- 
rung, da die Bagage zutückgebUebeo. Das^ Heer blieb die Nacht bei 
Ltttter liegen. Doch scheint die Teifoigung durch den Wald, durch den 
sich . zpnftchat die Strasse nach. Wolfenbüttel zieht, fortgesetzt, und. es 
scheinen dort besonders noch viele Fliehende niedergemacht worden zu sein. 



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Ddfltikii ^Bhifer 



Tilly lobt geg^Dliber dem Kaiser \ind vod dessen Truppen des 
Obersten Dosfoars lind das Regiment Altsachseo mit seinem Oberstleut* 
nant Bindauf, gegen den Kurfürsten Gronsfold, gegen die lofaotin den- 
QnSm. lfm Anholt; ' Ausserdem werden iu der von baititaiittr Seite iras- 
gegangenen „Ausfübrlicheii, grüsdliehen BeUtion** noch die Oberaton 
Btwitte und Bock als-eoiche geoanntf 'die sich wobl gehelteft. IHe beiden 
Oelobten Bindauf und Oronsfeld meo Übei^ringer der Berichte an; fiaieer 
und Enrffirst . Was Grooefeld tber seine 'eigenis Anezdcbnimg 4Ureb' 
Tilly. unmittelbar nach der Schlacht amf dem 8eb]tf&bt^e enflhlt, kann 
kaum als bistoriscb gelteo. 

Die Stftrkeverhftltnisse der kämpfenden fieere zu bieelimmen, idt un^ 
m^tgiiöh. Bine • zuvei'lftssige Ordre de Bataille Iftsst -sich Mr keine der 
beiden Atmeeb znsammenstellen; eine nngeffthre' Aufteehiiang ddr' be^ 
teiligten Truppenkörper aber hat um so weniger Wert, als man i9o 
gut wie keine Anhaltspunkte bat, ihre OeAicbtsstArken au ermitteln *). 
Christians Armee wird tOU den Gegnern auf 25O0O Mann angegeben; 
sie erreichte aber schwerlich 20000. Die Beitfflrei war in ihr' besonder» 
stark; die Angaben achwankmi swiaeben 90 und 180 Kompagnien, von' 
königlicher Seite (Aitzema) weiden 119 genannt. Hftit man sich an die 
Thataacbe^ das« Tilly 32 Beiterföhnlein zu 1900 Kombattanteä berechnet, 
so ergäbe das zwischen 5- und 8000 Mann'). Das Fussvolk ist schwer- 
lieh mebr als doppelt so stark gewesen. Tilly soll nach Bindauf vor 
Nortlieiin 12000 Mann stark gewosen sein, mit den Wallcnsteinern also 
16 — 17 000. Man darf diese Zahl, da sie auf ei^^ener Angabe beruht, 
vielleicht etwas hinaufset/en, und würde so zu dem Ergebnis kommen, 
dass Till}S Armee der des Gegners an Zahl kauni nachstand, viel- 
leicht sogar überlegen war. Daes der König, dem es an Mut nicht 
fehlte, so entschieden einer Schlacht auszuweichen suchte, darf als ein 
Beleg angesehen werden, dass er den Feind für stärker hielt. Denn allein 
wegen der Überlegenheit der älteren, kriegskundigeren Mannschaften hat 
er den Kampf wohl nicht gescheut. ' > 

Die gleiche Unsicberheit bleibt bestellen in Betreil" der Verlust /üVern, 
doch kann die Zahl von 2—3000 Gefangenen, eben d^ auf Schioss Lutter 



. 1) Die Zusammeuslellmigen Larsens 101 IT., 139 ff. luseu die Aufgabe Dicht 
Sie ergffbra knapp ^000 Mmn fttr 4» königliche Ueer, ohne d&sf dipse Zahl, 
mehr "Wert h&tte als den einer YeriDutuDg. 

2) Die 240Ü Mann FussTOlk, von denen Tilly spricht, bestanden nach Vul- 
turniis, Kurze Ersfthlung 0 4 aus 20 Kompiagnien, je 10 der Begiiiienter Cerboni 
and CoUoredo. ' • < 



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Die Schlacht hei Latter am Barenbnge 



27 



zur Ergebung genötipften, als einigermassen t> fsti liund angesehen werden. 
Die Angabe von lOuOn Toten allein auf Seite dei Königlichen iötjedöD- 
ialls übertrieben, auch mit der Angabe von oüoO iin Walde Erschlagenen 
ist wenig anzufangen. Die Fluchtscenen, die Aitzema schildert, mögen 
sich zugetragen haben. Dass Tillys Heer nur wenige hundert Mann 
sollte verloren haben, erscheint auch wenig glaubwürdig gegenüber dem 
zllL;H^tandenen Schwanken des Kampfes in seinem Beginne. Doch kann 
man die Nachricht, dass nur wenige ligistischo Offiziere gefallen seien 
und unter ihnen als vornelimster ein Kittmeister, gelten lassen. Anderer- 
seits muss die Überlieferung der Königlichen, dass auf der Gegenseite 
eben so viel Leute gefallen seien, wie auf der ihren, ebenfalls abgelehnt 
werden, ebenso die von dieser Seite vorgebrachten Zahlen vön 1200 Toten 
und 1800 Gefangenen, die aller Wahrscheinlichkeit nach einfach aus der 
Li^ gflgriffen sind. Als glaubwürdig kann die Nachricht angenommea 
werdeD, dass des Königs Leibkoropagnie zum grösseren Teil aufgerieben 
wurde. Sic war übrigens (ans jungen Adeligen bestehend), abgesehen 
von einem im Frühling aus der Nationalbewafifnung aufgebrachten Fuss- 
regimente, die einzige oational'd&nische Tmppe beim Heere; dieses be- 
stand sonst, abgesehen von einigen Offizieren nnd Beamten, aussohliean- 
lieb aas Deutschen. Das schwedische Regiment, von dem Lichtenstein 
qiricht, war nicht bei Lutter. ÜUts Armee scUoss weit mehr JoskU 
deatsche Elemente in neb als die des fremden Kön^[s. 

Dass weder Herzog Georg von Lfinebarg, nocb irgend weiche von 
seinen Truppen am Kämpft betdligt waren, bat sebon von der Deii^eD 
(1, 225 ff.) nadigewiesen. Wenn dieser VerfaBser trotzdem an einer Um- 
gehung' durch die Wallensteiner fastbalten will, und .diese von liobteiH 
stein bndt ausgemalt wird, so widerapiiobt das unsern besten Nachridi- 
ten, und mani kann es durch eine in der Oegend lebende Tradition nicht 
stfltzen; Derartige Trsditionen iähren &8t ausnahmslos auf Bndigelehr- 
samkfflt zurück. Auch die Nachricht, dass die Beiterei nicht habe feehten 
wdlleOi- weil sie in letzter Zeit ihren. Sold nicht erhalten habe, /gehört, 
in die Satcigfaie der haltlosen Ausreden, an denen es ja bei Unterliegendeo 
nie feit. .Sie tritt allerdings sebon sehr Mb auf. Schon am 20. Tagb 
nach der Sclilacht schreibt OanieräriuB an Büsdorf*), dass bei lütter 
ein Teil von Christians Soldaten, den rflokständigen Sold fordernd, seine 
Pflicht nicht thnn wollte. Aber dass dieser Vorwurf die Beitera nicht 
^ffen kann, beweist ein unabweisbares Zeugnis. KOnijf Ohnstian schreibt 



1) SülÜ, Der Religionskrieg in Deutschland 3, 216. 



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28 



DtoCridi ScUftr 



selbst am 29. August: „Das Unglück, so wir im letzten Treffen gehabt, 
hat der General Fuchs verursacht, welcher lebendig tot war, wie er be- 
stellen sollte, was ihm befohlen. Das russvolk wollte gaoz nicht stcbeB, 

die Kelterei that das Beste" 

Ob der vom König gegen Fuchs erhobene Vorwurf in irgend welchem 
Zusammenhange steht mit dem, was Aitzema erzählt, bleibt eine offene 
Frage. Ganz zurückweisen lässt sich die Möglichkeit nicht. Die dort 
über Puchs mitgeteilten Einzelheiten kann man gelten lassen, jedenfalls 
eher als die iu der hannoverschen Chronologie erweiternd vorg* bracliten, 
doch muss im Hinblick auf des Königs eigene Aussago die Bemerkung 
über das gute Fechten des Fussvolks, das Flielien der Kelterei zurück- 
gewiesen werden. Aitzema bemerkt ausdrücklich, dass trotz der Ein- 
behaltung des Soldes kein Soldat nach Geld rief. Die schlechte Haltung, 
der Infanterie uiuss also doch auch wohl auf andere Ursachen als Un- 
zufriedenheit über Nichtaiiszahlen des Soldes zurückgeführt wei In. Das 
von Slauge aufgebrachte und ihm mehrfach nacherzählte Mär In ii von 
dem Verlassen der dänischen Kelter durch die deutschen erledigt sich 
schon durch die Thatsache, dass es ausser der L^ib-Kompagme (eine von 
etwa 100!) dänische Kavallerie bei der Armee nicht gab. Die Ver- 
pliei;ii]ig war wohl auf beiden Seiten dürftig genug; jedenfalls wird io 
dieser Beziehung von beiden Seiten geklaift. 

Es würde zu weit führen, hier alle die Verkehrtheiten und Eigen- 
mächtigkeiten in den eingangs genannten und anderen darstellenden 
^Verken aufzufüliren. Durch besondere Willkürlichkeit zeichnen sich 
V. d. Decken, LichteusleiD, Heilmann und Larsen aus. Hier sei nur her- 
vorgehoben, dass v. d. Decken und Lichtenstein gegen alle Quollen den 
König schon am Vormittage des 16. bei Lutter ankommen lassen, so 
dass er : iaen vollen Tag Zeit hat, die Schlacht zu überlegen und sie 
vorzubereiten, dass sie ihn durch gegnerische Trujjpen umgelien bezw. 
plötzlich in der Flanke angreifen lassen (v. d. Decken sogar von beiden 
Seiten her), und dass noch Larsen, der besser seinem Landsmann Jahn 
gefolgt wiirc, ihnen das nachschreibt. Gerade die auslühriichsten Dar- 
stellungen und diejenigen, zu denen man deutscher- wie dänischerscits 
zunächst greifen wird, sich über die ächlacbt zu belehren, sind irre- 
führend und unbrauchbar, 
p . ', . 

1) Kong GhiisUan im Fjordes egenhändige Breve 2, a.M S. 31. Vgl. Waits 
In Forschimgen zar deutBchen Geschiehte I, 646. 



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Die Sddadit bd Latter sn Bixenberge 



39 



Beilage I. 

Bericht im Uauptstaatsarcliiv Dresdoo (vgl. oben Ü 9). 

Bfiricht m dein zwischen dem König in Dennemarck und Gen. Tylli 

fürgaugenen treffen"). " ' 

Es kt monniglichen bewust, durch wio viel mancherley practiken der 
Römisclien kayserüchrn Mayt., nnserm aller^medigsten herrn, durch viel 
unterschiodlicho könige. fürston und herren zugosotzt, und wo nicht Gott 
der allmechtige ihr, Höni. kays. Mayt. alsz einen gerechten gecrönten und 
gesalbten kayser, könig und herrn durch seine göttliche gnade bey doro 
gerechten Sachen erhalten, nicht rnüglich gewehsen wehre, gegen allß 
diese feinde obzusiegen ; wie denn daszelbe der ganzen weit genügksam 
oft'enbar und durch vielfeltige intercipirte schreiben solches am tage ist, 
auch zu solchem Endo der graf von Mansfeld beuebeu den elterem her- 
^nffen zue Weymar durch Schlesien sich mit dem Betlehemh Gabor zu 
coniungiren gezogen, deme ihr. fürstl. Gn. herzog zu Friedland mit seiner 
armada gefolget. Dieweilen aber der könig zu Dennemarck mit einer 
noch stärckern armada in niedersächsischen craisz verblieben, haben ihr. 
fürstl. gn. herzog zue Friedland die eingenommenen Stifter, alsz Magde- 
burgk und Ualberstadt, nicht gar ohne volck vorlassen wollen, sondern 
zu dem ende nachvolgcnde rcgimenter, als herrn obristen ( Wrat |iszlaw '*) 
und herrn obristen Altringers in bcsazung der guarnisoiien gelassen, 
wie auch nachvolgende regimentcr, alsz renterey dasz alte sächsische, 
DesFourische, Hansmannische und 6 compagnien Crabaten, wie auch des 
[Cerbonij') und Colloredo regiment zu fusz, ein lager im stiffc Halber- 
stadt zu formieren und auf des königs armada achtung lu geben, liinder- 
lassen, wio auch auf allen nothfall dem herrn general Tillj, welcher 
schwach an volck Göttingen belagert, zu secundiren. Dieweil nun der 
herr general Tilly nach eröberung der Stadt Göttingen auf Northheimb 
geruckt und, wiewohl solches nicht belagert, doch mit einem trommeter 
aulfordern lassen ; darauf die in der stadt etliche tage frist begeret. In- 
mittelst haben sie es dem könig in Dennemarck avisiert, welcher dann 
alszbald sich mit dem obristeo Fuchs conjungirt, und alsz mit einer 

&) Überschrift von anderer Uand. 
b) EVOiiUsitew Handtefair. 
e) Zerobioe Handsdir. 



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30 



DIetrioli Sdiftfw 



annada toh 25000 zue ross und fiiss, benebenst 80 stfick gmhm kom- 
men und dasselbigd entaezet Darauf Ihr excellenB herr genend Tillj, 
weil er manscbaft über 12000 effectire nicht gehabt^ auch herr giaf 
Tflly an persohn, w^gen der cholica, nbel aufgewehaen, sich auf ein 
meil' weges gegen GöttiDgen in einen ihme zum Vbrtiieil gelegenen ort 
retenret; wie denn die ganze kOnigl. rentterey auf des herm generalen 
Tilly nachzugk gesezefc, aber wenig zu ihren nuzen, insonderheit weil die 
nacht eingefallen, verrichten können. Inmittels hat herr general Tilly 
denen obbemelten Fddlendischen 6 regimentem unter den comando des 
obristen Des Fours ordinanz geben, zo Ihr zu stossen und sich mit Ihrer 
armada 'zu conjungiren. Seindt also diese regimentmr den 20. augnsti bey 
Böttingen ankommen und eine grosse meü von ihr. excell. läger den 
21. disz still gelegen. Inmittels hat der könig in Dennemarck avisia 
bekommen, dass diese 6 regimenter zum herrn general Tilly stossen nnd 
ihren weg anf Duderstadt zu nehmen werden, ist derhalben mit seiner 
ganzen armada aufgebrochen in dieser intention, gedachten Fricdlendisßhen 
regimentern den weg abzuschneiden, sie /u schlagen und, wie die ge- 
fangenen sagen, alsz dann seinen weg nach (Österreich zu nehmen. Ihr 
excell. herr general Tilly hat zwar den königischen aufbruch alsbald 
vernommen, ihr vorhaben aber ihme nicht einbilden können, haben 
zwar Ordnung geben, bis auf weiter ordinanz sich fertig zu halten; weiln 
herr general Tilly aber keine nachrichtung haben können, wasz eigent- 
lich der königisch intention sey, ist es also die ganze nacht verblieben. 
Den 22. disz frühe, ehe man didianam oder tagewacht geschlagen, seindt 
die von der wacht in die läger kommen und angezciget, dass man mit 
grossen stücken schiszen höre. Weil nun die Friedlendischen regimenter 
eme ganze meil vom herrn general Tilly gelegen, liat ein theil geglaubet, 
der ander theil werde von königischen angefochten. iSeindt derhalben 
beiderseits gegen einander gerückt, in meinung, eines das ander zu ent- 
sezen ; alsx. man aber recht zugesehen, hat man befunden, das es in der 
Inft ein donner gewehsen. Gleich in dieser stund hat herr general Tilly 
avisia bekommen, dass der könig mit seiner armada bey Duderstadt in 
Eigszfeld, dem churfürsten von Mainz zugehörig, sich belinde. Weil sich 
dann der herr general Tilly mit der ganzen armada albereit im felde, 
hat er sich alsbald resolviret, an dasz königische läger zu zihen und, 
wo müglich, sich mit ihnen zu schlagen oder die stadt zu entsezen, auch 
in solcher intention alsbald fort marsiret. Es ist aber ein solches wotter 
mit einen solchen erschröcklichen regen, welcher bisz in die Nacht ge- 
wehret, dass es unmüglich gewehsen, dass ein theü gegen den andern 



4 



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Die Sehbebt bei Latter am Bannbeise 



&1 



die pistoln, wil geschweigen die masÄqetcn brauchen können, wie auch 
die finstere nacht eingefallen, wie es denn auch nicht allein die ganze 
nacht, sondern auch den nachvolgefldeu 23. and 24. augostl stets ohne 
uiiterlass geregnet. 

Es ist aher herr general Tiily mit seinem läger nur eine viertel 
meil von den königischen geleg-en, aber wegen üblen und bösen weiter 
nichts vornehmen können. Den 24. augusti, weil der könig gesehen, dass 
er nicht rechte kundschaft gehabt, und olilü itielte 6 regimenter schon 
hindurch gewesen, er vermeinet, der herr general Tilly sey ihm nun zu 
stark, hat derhalben seine intention endern müssen, und weil er an pro- 
viant grossen mangel gelitten, sich resolviret, nach Wollienputel zu re- 
teriren, daselbsten einer besseren occasion, sein intent ins werk zu sezen, 
zu erwarten, ist daran f dessolbigeii tages mit seiner ganzen armada auf- 
gebrochen, seinen weg aui Lindau neben den Harz zu genommen. Worauf 
herr general Tilly den 26. gar fnlhe gefolget und desselbigen tages des 
königes nachzugk erreichet, etwas, jedoch weniger importanz, geschar- 
mu/aerL, diiB kunigischen aber alle brücken hinder sich abgewüifcn, welche 
doch herr eeneral Tilly alszbald so viel müglich wieder machen lassen 
und den kumgisehen (»iL^ot, darauf die nacht i'inL'i'iallen. Rein also 
tircde lager, die ki'ii]i;isciien hinter einem ln^r^^r neben ciiieiii waU, die 
TiUiscIien aber a.n einer höhe gegen den koüigischen über gelegen. Den 
26. auOTsti seindt die königischen vor tages aufgebrochen, und sobald 
herni «TiMieral Tilly solches avisirt worden, seindt ihr. oxcell. alszbald mit 
der reuUerey gefolget. Die königischen aber haben sich in guter Ord- 
nung alzeit reterirt und zugleich defendirt. Aber bey allen passen haben 
die könig. volck verlohren, wie denn solches leichtlich zu erachten, wer 
für sich gehen und sich zurücke defendiren soll, ihmo nicht so viel vor- 
theii bleiben wird alsz dem andern, welcher allein fortgebet und auf den 
andern dringet, insonderheit da er sich an seinem vorhaben nicht wil 
vorhindern lassen. Dieses reteriren und defendiren von den königischen 
und attaggiren von den keyserischen hat also diesen ganzen tag gewehret. 
Gegen abend /.umsehen 4 und 5 uhrn ist die könig. armada durch den 
Harz gezogen und deiis-elben pass mit dragonern und muszqiietirern stark 
defendirt, aber doch von den keyserischen aus demselben pasz getrieben; 
seindt also von konigischen 3 oder 400 mann im selben pass oiedergehauet 
worden. 

So bald herr general Tilly durcli solchen pass kommen, hat er auf 
der andern selten die königischen in voller guter Schlachtordnung gefun- 
den, hat derhalben auch auf selbiger seiteu des passes sein volk lu 



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32 



Dittndi Sdklfin- 



SchlacbtordDiin^, so viel der plaz deszelbigen orts leiden wollen, gestellet. 
Dafanf'die königischon auf einen nahen dabey gelegenfin bergk sich re- 
toriiet and sich wiedemmb in Schlachtordnung praesentirt^ alssbald 
2 stftek darauf plantirt und anf die Tilliacheu fener geben laaaei, aber 
gleich darauf selbigen bergk wiederumb verlassen und sieb auf einen 
negai dabey gelegenen^ noch hohem abermahl in der schlachtordDong 
gesteUet.' Darauf herr genend Tilly mit aeinem Tolk gefolgefc, - diesen ixt 
bemelten Ton den feOnigiseben Terlasaenen hergk eingenommen und etliche 
Stack plantiret, gegen einander mit stfieken gespielet und mit der reuterey 
auf der Seiten bisa in die nacht geschannüziret,- auch also diese nacht 
gegen einander, über gelegen und so nahe, daas die schildwachten auf 
einander mit stnnen werfen können. In der nacht haben die kOnigischen 
biszweilen ein atflck abgehen lassen und nach den Tillischen Wachtfeuern 
geschossen. 

Den 27. augusti seindt die kdnigischen «tlicbe stunden vor tages 
ohne dromnudschlagk mit ihrer ganzen armada stülschweigend aufge- 
brochen. AlsK aber von der kayseriaohen FriedUndischen reuterey ihr 
aufbrach vermerket, seindt die kayserisctaeii regimenter zu pford alszbaid 
in der kOnigischen verlassenen posto gerAcket^ und dem henrn general 
Tilly der könig. aufbruch aviflnrt, der alsbald der kayserl. reuterey be- 
nebenst den obristen Desfour den königisohen zu volgen aubevohtei und 
wo mfiglich, bis ihr etcell. mit der ganzen armada hernach kthmen, 
dnrch scharmüzel aufzuhalten. Ist also der h. obrist Des Four mit denen 
nachvolgenden regimentern, alsz dasz alte sächsische, Des Fourisch und 
Ifausmannisch, beneben 6 compagnion crabaten den königischen in aller 
eil nachgefolget. Und ob die königischen gleich ihre pagasi vorange- 
schickt., Imben sie docli derselben eine so grosse menge gehabt, dass sie 
durch solche ihrer raarsa zu vollbringen sehr verhindert worden, auoh 
unterwegens viel wagen stehen lassen und verbrennet; auch viel Soldaten, 
so sich von den königischen verspätet und zurücke blieben, sind von 
denen crabaten nieder gehauot worden. 

Eine halbe meil von Seesen haben die izt bemeite kayserischen regi- 
menter zu ross den königischen nach/ugk in einem thal und wald ange- 
troffen und stark auf sie gesetzt, dass sie also gezwungen, sich in einen 
scharmüzel mit ihnen einzulasse«. Ilaben also diese izt beraelte regi- 
menter die könig. in 2 stunden lang aufgehalten. Inmittels ist herr 
general Tilly mit der infanteria und ganzen armada nachkommen. So 
halt ihr. excell. ankommen, haben sie die reutteroy, weil es lauter walt, 
aufhalten lassen und mit dem fuszvolk iu guter Ordnung bisz an die 



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Die Sctüaebt bei Lntter am Barenberge 



83 



kODigischoD manirt Da deDO oin sebr starkes schiszen nnd bartfls trelfon 
von eineiD und aDdern tbeil gewehsen. Die königischen aber wollten 
sieb an ihrer intention nicht verhindern lassenf defendirten sich hinder 
sich und marsirten vor sich in gar guter Ordnung, kahmen also durch 
denselben walt and stelteu sich in einm Moder bemelten weit gelegenen 
veldt in Schlachtordnung, mardrten auch in solcher Ordnung durch ein 
negst dabey gelegenes morastiges bAchlein auf ein schOnes und erhöbetes 
Tcldt, welches sich je lenger je mehr su einem wohlgelegenen bergk 
accomodirte und oben auf dem berge das schloss« so vor wenig tagen 
von den kOnigischen eingenommen worden, genant Luther. Stunden 
also die kOnigischen am selbigen berge in einen sehr sehOnen vorteil in 
guter Ordnung, defendirten die pftss mit ihren dragonem und muszque- 
tirem. Ihr excell. herr g. Tilly aber nam dasz erst von den kOnigischen 
verlassenes veldt ein, stellet sein volk auf denselbigen in Schlachtordnung 
und lisz nieraandt über das gedachte morastige bächlein, ausserhalb den 
ausschusa von den ;ilten sächsischen. Des Fourischen und Hausmaiini- 
sclieii regiraenteru zu ross, benebenst denen crabaten, welche stets uiit 
den kunigiselieu ohne unterlass hcliunmii.iilen, wie aueli, wen der schar- 
müzel zu grob war, von den königischen regiinenterweisz auf sie gesezt 
und zurück gejaget woidti.. Interim spielten 6 stücken auf herrn general 
Tilly Seiten auf die königischen ohn iinterlass. Die königischen, ob sie 
gleich viel stücken aut der wahlstadt veilasaen, haben sie doch über 2 oder 
3 nicht gebraucht, aiisz wasz Ursachen, ist mir unbewust. Man hat aber 
hernach gefunden, da.ss man ein patterye oben auf den berg gemacht, 
und ob <\e vielleicht bini m Verfertigung derselben gewartet, kann man 
nicht wis?,en. 

Dieser verlauf weret von morgen frühe von 3 uhr an bisz nach 
mittage umb 2. Endlich hat der könig in Dennemarck sich genzlich 
resolviret zu schlagen, derhalben sein Schlachtordnung an und in einen 
walt und hinder einer hecken gemacht, theils aus ursaclien, dass es die 
Tillisclien nicht gewalir würden andern theilsz wegen der Tillisclicn stück. 

Alsz herr g. Tilly solches vermerket, hat er alsbald seinen unter- 
habenden regimentern Ordnung geben, wie sie trerten sollten, solcher go- 
stalt, dass herrn Tilly reutterey und fussvolk auf der rechten und die 
keyserischen Friedlendiscben regimenter zu ross und fuss auf der linken. 
Darauf sie angefangen, über obgemeltes morastige bächlein zu marsiren; 
und alsa des herrn obristen Cronnenbergks und obristen Schönbergerisch 
reutterey und Reinachische regimenter zn fuss über das bächlein ge- 
wehsen, haben die köoigischen solches zue ihrem vortel in acht genommen, 

mniB HEtDBLB. JAHRBUIBCHRR X. 3 



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3i 



Dietrich Scliafer 



aeindt derhalben' hiit ihren regimentern vi rofls und frm mit einander 
in grosser foria und resbintion faerfürgebroeben und heftig uf die Tilli* 
sehen gedniogen, auch die bienflber gewesene regimonter, weil sie wegen 
desz bUehleins in so grosser eil niemand secnndiren lüimien, insonderheit 
die reutterey in rimhliche nnordnung getrieben. Herr graf Tilly and 
yeldtmarsebaleh graf ron i^nliolt haben dem volk zugesprochen und die 
regiiaenter angeführet, ist also dasz völlige treffen angangen und seindt 
die königischen regimenter den Tillischen so geschwind mit einer solchen 
furien auf den halsz kommen, dass die königischen einestheils schon über 
das oft gemelte bächlein und unter den Tillisehen stücken mit ihren 
fahnen gewehsen. Die Fridlendische und Tillische inHinteri und reutterey 
aber hat ihnen da])rer wiederstanden, sie wiederum b zurück hicuüber ge- 
schlagen. Haben sich also die regimenter fussvolk und reutterey durch 
einander vermischt und auf beiden selten ein sokli schiszen und gedöhn 
von trommeln und trooimeten gewehsen, in sonderlieit weil es gleich 
zwischen wüldern und bergen, das menniglichen die obren davon erffillot 
worden ; bat also ein theil dem andern solir hart zugesetzt. Dieses hat 
also eine lange weile i^ewehret, dass man, wem die victoria bleiben wurde, 
nicht wohl nrtheilen können. Inmittcls liat die reutterey oberhalb und 
hinder dem fussvolk ein solch hartes treften auf einander getlian und 
sich beederseits verschossen, dass keiner mehr zur ladung kommen können, 
sondern nur mit den seitenwohren einander gewürget haben, auch sich 
also unter einander gemischet, dass keiner, wer die vehlzeichen nicht 
wohl in acht genommen, gewusst, wer freundt oder feindt ist. 

Alsz nun das/ königliche fuszvolk den grossen und herzhaftigen 
wiederstandt ihrer wiederpart empfunden, haben sie sich wieder nach 
ihren vortel angefangen zu reteriren. Denen sindt die Tillischen mit 
allem ernst nachgefolget. Seiodt also die königisclien in ihrn reteriren 
gleich auf dasz ort kommen, wo die reutterey in treffen noch gewehsen, 
darüber sie in eine Unordnung gerahten und also zertrennt und auf das 
haupt geschlagen worden. Die reutterey, welche auch den kürzern ge- 
zogen, ist viel geblieben; die übrigen, alsz sie gesehen, dass das fuss- 
volk ganz geschlagen, haben sich mit der flucht salvirt, da denn ein 
solch mezken und würgen, so wohl unter reutterey alsz fussvolk ge- 
wehsen, dass es nicht genugksamb zu beschreiben. Ist also des königs 
ganze infanteria, so er dazumahl bey ihm gehabt, im stich blieben. 
29 fendlein Inben sich benebenst ihren obristen und offieirern in be- 
meltes scbloss Luther salvirt, sieb aber auf gnadt und ungnadt dem 
berrn general Tilly ergeben müssen. 



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Di« Sehltdit bei Lntter am Barenburg« 



35 



Der kOnig ist nach atiasage der gefoogenen bias zum allerlesteii 
verblieben und, alsz er geaehen, dass alles verlohren, sich auch nach 
Wolffenbfittel mit wen^ reuttem reterirt. Wie er denn von einem von 
adel Tom . alten sftchsisebett regiment, so des Yorigen tages von dem könig 
gefangen worden and nach Wolflfonpfitel geführet, aiss sie aber solche 
Zeitung vernommen, ihn den gefangenen wieder laufen lassen, mit 80 
pferden den könig zurück kommen gesehen worden ist; berichtet auch, 
dass er gesehen in die 30 corneth nach Wolffenpfitel zu eilen, bey welchen 
aber auch kaum über 80 pferd gewesen sein. In solchen ist nun der 
abent herbey kommen, auch des herm general Tilly armada sehr müde 
ünd kiafllofiz, dieweil sie nicht allein bei izig harten treffen viel mühe, 
sondeni auch etlich und fünfzigk stunden stets zu pferd, ohne essen und 
trinken, weil ihre pagasi alles zurück gewehsen, selbige nacht bey Luther 
liegen blieben. 

Auf der wahlstadt und im walde seindt etlich tausend toden cörper 
gelegen, auch bey vorgemelten tag etliche hundert geblieben, darunter 
viel vornehme oflicirer, alsz general und obrister Hansz Philip Fachs, 
der junge landgraf von Hessen, obrister Wersebe, obrister Marquct Pentz, 
obrister leitonant Unfug und des königs geheimbder raht und general- 
comraissarius [Toggcwiscli | des kdnigs cammerherr. einer von Rösen- 
cranz, und noch viel andere voruebme leute, deren nanien man noch 
nicht gewust hat. 

Boy etlich und sechzigk fahnen und carneten. wie auch etliche von 
den Soldaten zerrissen sein und nmb die hüt gebunden worden. 

Unter den gefangenen aber hat man domalden gewust den obriston 
und <T<^t:pral-commissariuni Lohobansen, des künigs hofmarschalck, welcher 
seiir verwundt, Christen Linstaw, obvisten Jku-niuivt Ge|"i]st ''), olnistcn 
Gerzky, obristen Courraville, obristen leitenant Krippe, obriston leitonant 
Lemisz, etliche ritmeister, 21 capitänen, 26 leutenaot, 33 fendricb aainpt 
vielen von adel und reformirten ofticirem. 

Des königs von Dennemarck artholoria ist im stich blieben, und liaben 
sich dazumablen albereit 22 stück, so die königischen hinderlassen, be- 
funden. Ist also dieses der ganze verlauf der ansehenlichen, herrlichen 
victori und schlacht, welche den 27. augusti zwischen den kayserischen 
und köoigischen fürgelaufen. Got der allmechUge gebe der römischen 
kayserlichen mayt, unserm allergnedigsten herm, gegen alle dero und dero 



a) Bobisch ITandschr, 

b) Gent Haadsehr. 



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36 



Dietrich Scbftfer 



hochlObliches erzhausz feinde ferner glücklichen sieg und uberwündung, 
iinsz allen aber christlichen glaubens dcrmableinsz gewünschten Mede 
im Römischen reich, damit ihr. kayserl. mayt. dasselbe in ^^ntem con- 
teoto Qttd guter gesandheit viel lange jähr frachtbarlicheo besizen and 
gemessen mi^gen. 

Beilage IL 

Die folgende satjfrische Zi]eainiiieii8tdlim& die sich im eleichen Band des Hanpt» 
staatsarcfaives Dresden (9209 S. 333, 333) findet, «irft helles UM auf die AnSassiing 
thr Sieger von der Niederlage des dftnischen Königs, ist aueh knltuigcscbiditlich nicht 
ohne Interesse. 

Die hülfen, welehe kdnigl. Majestftt wider den Kaiser zukommen. 

1. Der vertriebene pfalzgraf sendet 20 centner grünen kesz, welchen er 
in Holland, seider er daselbsten gewesen, ermarketeotert und ver- 
dienet. 

2. Engelland sendet 1000 tabacröbren und 4 bahr cometianten. 

3. Saphoi sendet 100 hechelnträger und 20 meusefallen. 

4. Norwegen schicket 30 last cobelau und blaafisoh. 

5. Schweiz sendet 1000 ledige milchkübel. 

6. Holland sendet 50 Säcke laugen pfeffer, welchen sie auf der west- 
indianischen reyse erbeutet. 

7. Venedig sendet 100 last seyfe und 400 Weingläser. 

8. Aus Lappenland werden 15 z&uberer, die ihnen guten wind und 
nebel machen können, auf dass, wenn sie fliehen, sie sich für den 
nachfolgenden mögen caviren, hingesendet. 

9. Findlandt sendet 200 renntbier, dass sie desto geschwinder mfigen 
ausreysen und aus dem staube kommen. 

10. Grfinkndt sendet 100 seehunde, auf dass, wran sie den speek auf- 
gefressen, fir die Stiefel damit su schmieren haben. 

11. Der Muscowiter sendet 1000 weise fachsbUge. 

12. Ftenkreich 10 Roschdliscbe Hugenotten, von denen sie untren lernen 
können, der obrigkeit rebellisch und untreu zu sein* 

13. Betblem schicket 2 duzet briefe, die sie mit dem Türken gewechselt, 
und des gewesenen pfalzgrafen confoederation, das motel daraus tu 
behalten, Teutschland su verrathen. 

14. Lübeck sendet das geschüz, welches sie kdnig Cbristiano genommen, 
als sie den hdfen gefangen nehmen*). 

]) EriuneruDg aa die Gefungeonabme CbristiaDS 11. 



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Die Schlacht bei LuUer an Bareoberge 



37 



15. Hamburg seodet dem kOnig ein abscbrift koy. privilegii, dass es eine 
reiebstadt worden und Ihme nicht mehr subject sey 

16. Brauoscbweig sendet 1000 kugeln, die er bey belägerung ihrer stadt 
vergeblich bi&dn geseboasen 

17. Brebmeti acbieket 6 fiduian, welcfa« sie dem Braunscbweiger abge- 
nommen, als sie sdn volk in die Weser gejaget 3). 

18. Ditmarscben sendet 24 fahnen, welche sie ?or Meldorf den Dehnen 
abgenommen, als sie den Holsteinischen adel ersehlageu 

19. Die hansestadte 0 tonnen credit, wenn die rosenobel') aUe, fidem 
daraus sn maebeii. 

20. Die Dehnische stSnde schicken 400 wtm daahiraehen ond reiehs- 
capituktion, daas er in Denoemarck fesidiren soll. 

21. Schweden sendet afaeebrift dor alten vertrage, die er mit einnehmung 
Stockholm gebrochen, imd dass Dennfflnarok der cron Schweden neben 
Norwegen zugehörig. 

22. Der Tfircke sendet eine protestatio», dass er daa argument solcher 
rebellion wieder die ordentUohe obiigkeit nicht könne loben, und do 
sie dem Bömischen Keys^r nieh wollen gehorsamen, de ihm« nnder« 
wfirfig werden mfissen. 

23. Wenn nun diesse hälfe nicht gnug, sdiicket der Römische keyser 
Ihme zweene Wegweiser, den fnraten von VITallenstein und grafen von 
Tylli, wofern er Dennemarck nicht finden könne, dass sie ihme den 
weg zeigen sollen. 

1) KuierlicheB PriTileg vffin 96. Juoi 1616. 

2) Belagerungen durch Herzog Heinrich Julius 1G05/I606 und durch Herzog 
Friedrich Ulrich \IM5 mit üutcrstülzun^' des Schwagers bezw. Onkels Christi.ia IV. 

Es wird Herzog ( lirisliuii sou Hmunschwcif^ {»onieiiil si-in, der ini .laiiunr 
uud wieder im bcpteinber 162ö uiit seinem Vollte iu Uie >iiLe vuu Breuieu k^m, 
D^ch bt Toii «Der Feindieligli^t der Stadl g^eo Ihn oiehtB bdtMDt. Oder wllte 
Uli die Niederlage Erichs von Bnunsehweig bei Drakeaburg (uDweit Nienburg) «m 

23. Mai 1547 zu denken sein? 

4) Schlacht bei llemmingstedt 1500. 

5) AnspicluDg auf deu Saad^soll, der als Sckifl'szoU iu Roseaoobela gezahlt 
wurde. 



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Pietro Aretino's kiliistlerlsclieB Bekenntnis. 

Von 



Eine vor kurzem erschienene Geschichte der litterariseben Kritik 
mit besonderer Berflcksichtiguug Italiens, die Heissige Arbdt eines juDgen 
amerikanischen Gelehrten, J. E. Spingarii gedenkt mit kdnem Ein- 
zigen Worte des Pietro Aretino. Wenn man Spingarns enge Begren- 
zung des Begriffs »literary criticism" gelten lässt, so ist sein Stillschweigen 
auch vollständig gerechtfertigt Was er im Auge hat^ ist immer nur 
die Darstellung der herrschenden poetischen Theorien, er 
spricht von einem ,body of rules* und »common body of JEtenaissance doc- 
trine*, und was er meint, ist das System poetisdier Theorien wie es in 
den systematischen Lehrbüchern der Poetik des 16. Jahrhunderts fixiert 
wurde. Dieses ist allerdings ein so geschlossenes und absolutes, dass 
man es ohne wdteres als die Poetik der Benaissance bezeichnen kann. 
Aber Poetik und litterarisehe Sritik sind zweierlei Dinge, und es ent- 
steht, die Prage^ ob es unter den Vertretern der letzteren nicht etwa 
auch G^er der ersteren gegeben hat. Ohne allen Zweifel hat es solche 
gegeben, und den hervorragendsten Platz uniet ihnen verdient Pietro 
Aretino. 

Snne Stellung ist rasch pr&zisiert: er leugnet die Poetik ab solche, 
er verneint ihre ganze Berechtigung. 

Was soll man aber sagen, .wenn er das Erscheinen einer der ersten 
vulgären Poetiken in einem enthusiaBtischen Briefe an ihren Verfasser 
Bwnardo Daniello mit posaunendem Lobe begrfisst"), wenn er dem Ver- 
fasser der .Prose della volgar lingua* in zahlreichen Briefen und Sonetten 



l! .\ liistorv fif litrr tn i ritirisin in tlie lionaissaiict? with specinl ivffreiice tn 
tliü liitiueiiit' Iii lii\\y iü the tonuatlou aud düvulupmeut of modern clusäidsm by 
J. K. Siniiflurn, New York 1809. 

2) Lettcrc dl M. Pietro Aroduo, Parigi lfi09. 6 Bünde, vol. I fol. 67. 



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K. Voflskr: Fieiro Aretmo's kOnatteriBCbeft Bekenntids 



89 



huldigt und ihn auch nacli seinem Tode noch verherrlicht'), wenn er 
einen Trifisino »Die Seele der Seele und des Lebens des Kuhmes" nennt ^) 
und wenn er die theoretischen Arbeiten eines Fracastoro, Fnoceseo 
Älunno and anderer in den Himmel erhebt? Was soll man anders sage^, 
alit dass er sich in einem bedauerlichen Dualismus befindet zwischen 
seinen eigenen Uebemeogungen nndden litterarischen Konventionen der Zeit 
Die Zugeetändnieee, die er an die AnschaauBgen und Bräuche der 
achriftstellerischen Weit und an adne eigene litterarische Machtstellung 
gemaoht bat^ sind so weitgehend und tiefgreifend, dass er 2a einer ge-' 
ordneten Darlegung seiner originellen Eunsttheorien niemals gekommen 
ist und dass er sieb deren notwendige Folgerungen in ihrer ganzen Trag- 
weite auch nie zum Bewusstsein gebraebt hat.. Ja sogar das Wesen 
dieser seiner Theorien selber schien ihm eine systematische Darlegung 
von vornherein zu verbieten. Es kann desbaj[b bei Avetino Auch nicht 
von einer Poetik oder einem »literary CTiticism^ im eben gekennzeich- 
neten Sinne des Worts die Bede sein, sondern nur. von gelegentlichen und 
zerstreuten kunsttheoretiscbeo Bekenntnissen. Die wichtigste Quelle 
zur Darstellung dieser Bekenntnisse bieten die 6 Bände der aretinischen 
Briefe. 

Ich; wfthle den Auadruck Bekenntnis, indem ich damit das stark 
persönliche und subjektive Element in den Theorien Aretinos andeuten 
mochte. Es sind seine höchst eigenen Theorien, entsprungen aus 
seinem Temperament, ans seiner eigentflmlichen Veranlagung, und 
ihm nur können sie zu Gesiidite stehen, oder höchstens noch wenigen 
Anderen seines Schlages. Die Benaissancepoetik ist Gemeingut Aller; 
Aretino aber will seine eigene Poetik haben; die Poetik der Wenigen, 
der Originalen, des Genies. Es mag zum Teil gerade dieses stolze 
Gefühl der Ausnahmestellung gewesen sein, das ihm eine sachliche Aus- 
arbeitung und Darlegung seiner künstlerischen Grundsätze als unnötig — 
nein ! sogar als unratsam erscheinen liess. Wer sich das Air eines 
Genies geben will, wird immer zunächst damiL aülangen, von aller Kunst- 
lehre verächtlich zu reden. Das Genie kennt und braucht keine Kegel ! 
Der Satz ist heute in Jedermanns Munde; aber Aretino ist einer der 
Ersten, ich glaube sogar der Erste, dem er voll und ganz zum Bewusst- 
sein kam. Was genial an ihm ist, ist gerade seine Lehre von der 
Freiheit des Genies. Sie ist entstanden im Gegensatz zu der herrscheadeu 
Poetik und als natürlicher Ausüuss seines gesteigerten Selbstbewusst- 

1) ibid. IV, 24, 36, 251. V, 23, 2G, 41, 45, 49 « & w. La Cortigüma, UI, 7. 
2} Lett. m, 185. 



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40 K. YosBler 

seins und d«r eigentfimlicben Ausnahmestellung die er sich der Gbrigen 
litterarieehen Welt gegeDüber verschafft hatte. 

Die ersten gedrackten Briefe Aretinos, soweit sie für uns in Be- 
tracht kommen, fallen um 1537, also in eineZeit, da er bereits zu den 
anerkanntesten Leuchten des Jahrhunderts gehörte. Von diesem Augen- 
blick an bis in die letzten Jahre läast sieb io seinen Anschauungen 
kaum nne Entwickelung noch Modifikation beobachten. Chronologische 
Bficksichten sind also bd unserer Untersuchung GberflQssig. 

Das übermässige Selbstgefühl macht sich bei Aretino begreiflicher- 
weise schon frfibe genug geltend. Mit 32 Jahren legt er sich zum ersten 
Male öffentlich das Beiwort «DiTino* zu>). 

Der Begriif, den er von seiner Bangstellung unter den zeitgenössi- 
schen Poeten bat, erheUt vielleicht am unmittelbarsten aus seinem 'Brief 
an Gianiacopo Lionardi, den Gesandten des Herzogs von Urbino (6. De- 
zember 1537). Aretioo lässt sich hier in humoristischem Plaudertone 
gehen, verhftlH seine litterarische Kritik unter dem Gewände eines alle- 
gorischen Traumes und sichert sich damit die Gelegenheit, seinen Zeitge- 
nossen niaiu hc Scluneichelei und manch bittere Wahrheit zu sagen, olme 
oriibtliclie Angriffe befürchten v.u müssen. Dicsos grosse allegoriücbe 
Tableau^) der ganzen zeitgenössisebeii Kunst niüjuit unter den Bekennt- 
uiääeü Areiiuo;> den ersten Platz ein und bietet l'ür uns jedenfalls den 
passendsten Ausgangspunkt. 

»Obschon Ihr als Gesandter eines Herzogs von Urbino immer waclien 
raüsst und Euch darum wenig auf Träume versteht, so will ich Euch 
doch einen auftischen, der so toll ist. dass sogar der Daniel damit 
nicht zurecht käme. Heute Nacht, als ich just recht ausgezeiclmet 
schlief .... siehe, da stellt sieh mir das liebliche Geschöpf des Traumes 
dar. „Was giebts, Herr Luftibus?')" sagte ich ihm. „Sieh dort", 
erwiderte er, „den Berg Parnass". Und schon befand ich mich am Fuss 
des Berges und schaute in die Höhe als hatte ich das uneinnehmbare 
8. Leo ') vor mir. Aber dass der Aufstieg so teutlisch schwer sei, ist 
eine Fabel; die Leichtigkeit des Abstiegs jedoch eine Thatsache. Von 

)) cf. Ph. Chasles, Stüdes sur Shakespeare, Marie Stuart et L'Arttlu. Poris 18Ö1. 
p. 406. 

2) Die i"l)i"rsctzuii{»; «Icssellteii lütlot eine Reihe von Scliwieri|^tcn. Einige Auf- 
klärungen Ycrfl tnke ich doui Uebeiiswi\nligen und sadikundigen Bftte Domeoico Guoli'a. 

Ii) Ser tiiraniloloue. 

4) Berühmtes Fort im Herzogtum Urfaiito, das zum Erstaimen ganz Italiens von 
den Tlmppen Leo'sX. genommen wurde (Oktober ir)in). Die sprichwfirtliche Berühmt- 
heit des Forts gekt wahrscheinlich auf dieses Ereignis zurück. 



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■ 

Pietro Äretmo^s kOnstlerifeches Ikikenubiis 



41 



den Abhängen des Bergs anf dem der heil. Franz mm Stigmata er- 
hielt, fkllen Erdmassen herunter, FelsoD und entwurzelte B&ume; von 
dort oben aber stfirzes ganze Klafter Mensehen danieder — ein ver^ 
flochter Spass ! Da ist es eine Wollust and ein flbermenscbliches Ver- 
gnügen, za sehen, wie sie sieh da und dort an einen Wnrzelstock an- 
klammern, schwitzen und Blut kaken* u. s. w. Aretino malt das ver- 
zweifelte Gebaren der abstürzenden Körper mit einem satirischen und 
komischen Bealismus der an die HMlenstfirze eines Rubens mahnt. 

»Und all das, föhrt er fort, um einen Kranz, der wie ein Wirts- 
haasschild aussieht. Die Hosen fallen ihnen ab vor Angst und kOpf- 
lingB plumpsen dio dämmen Kerle in einen Tintensee. . . . Wer nicht 
schwimmen kann, ersauft, und wer schwimmt und ans Ufer kommt^ der 
sieht so närrisch aus, wie nicht dnmal die armen Seelen, welche Dante 
im bollischen Peche tanzen Itot. Wohl schaute ich ihnen allen unter 
die Nase, aber sie waren derart besudelt, dass ich sie nicht erkannt«. 
Aber das Geschrei, das sie machten ob ihres grossen Unglücks! Der 
eine beweinte seine Kommentare, der andere seine Übersetzungen, ein 
dritter seine Romane und wieder ein anderer wieder andere Neuschöpf- 
ungen seines Geistes. Ich konnte das Lachen nicht halten und sagte 
zu ihnen : ,Ilir, die Ihr so gelehrt seid, musstet £u«h ein Beispiel an Gftsar 
nehmen, der seine Kommentare fibers Wasser gerettet hat. Freilich 
solltet Ihr Eurem Schicksal danken, dass es Euch lebendig begraben 
hat mit samt Eurem langweiligen Zeug, denn wer Kommentare und 
Übersetzungen schreibt, steht noch tiefer als wer Wände verputzt, Bretter 
vergypst und Farben reibt für einen Giulio Romano, oder sonst einen 
berflhmten Maler.* 

So sprach ich zu ihnen. Und wahrend ich meine Kleider vor 
ihrem Schmutze schützte, kinij miis vor. als ob mein Diener Ambrogio 
eiligen Schrittes hinter mir herliefe — aber siehe, da befand ich mich 
plötzlich in einem Wirtshaus, das eigens dazu gemacht war, um 
die Dichterlinge zu fangen, und als ich drin war, konnte ich nicht 
umhin, mit Cappa auszurufen : „Wer niemals im Wirtshaus war, der 
weiss nicht, wie himmlisch es ist!" Ich Isatte schon einen ordent- 
lichen Appetit in meinem Magen zusammengebracht und war im Begrill, 
mirs einmal tüchtig schmecken zu lassen — sielie, da stellt sich mir 
eine Marfisa^) dar mit einer Sturmhaube auf dem Kopf, einem Panzer 

1) Cappa ist eine flßtt aus d«r CortigiaiiA. Aretino düert sich hier sellfcr. 
Vgl. La Cnrtigiatia, II. 1 

2j Mai-tisu ist eine l igur um dem linseudeii lioiaiui tstiiwesler (k>s Iluggiero) 
und bezeichnet hier wohl nichts anderes als die Minerva, wie mir aus einer Bemerkung 



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42 



K. Yosaler 



am Leib uud einem Winläpeer in der Hund : ich sie sehen — sie mir 
sagen: „Halte dich fest!" — und entrückt aeiu uacU oben — war das 
Werk eines Augenbliokü. . . . i\leister Apollo, vor den ich nun geführt 
wurde, hatte von ungefähr eine Medaille aiit meinem Kopf in der Hand, 
und kaum war er meiner ansichtig geworden, da öiinete er die Arme 
mid setzte mir einen Kuss mitten auf die Lippen — einen so süssen, 
dass Kiner der Umstehenden sagte: »Potz Wetter**)! Ach, ^Yas er für 
ein schöner Knabe ist, dieser Apoll! Wahrhaftig, weuu die lioma-) 
im Schlafe sich mit ihm zusammengefunden hätte — wie's mir ver- 
L,'önnt war — sie hatte um keinen Pieis Diehr aufwachen wollen; oder 
ist sie vielleicht nicht lüstern nach so zartem Kraut? Er hat zwei 
grosse lachende Augen, ein lustiges Gesicht, eine freie Stirn, eine breite 
Brubt, die schönsten Beine, die s>ch<insten Füssc und die schönsten 
Hände, die man sich nur denken kann ; und uUes in allem — um es 
pari iaiiert zu sagen — sieht er ;;iis wie ein Kunstwerk aus lebendigem 
i'ilienbein, über das die ^vaLur all das Kosa von Äuroras Wangen aus- 
gebreitet hat. 

Kurz, dieser Wollusterreger Hess mich mit den Musen plaudern, 
und als ich mich in ihrer Mitte niedersetzte, fühlte icii uului win zu 
Hause, so freundschaftlich umkoste und kajolierte mich ^) die Eine 
von ihnen, die wie die Chronik, und die Andere, die wie die Komödie 
aussah *). Während ich versunken war in der Betrachtung der Zimbeln, 
SackpfeifoD uud anderer Instrumente, mit denen sie sieh die Zeit ver- 
treiben, siehe da singt der gute Thöbus nach der Arie des Salomon 
zwei Stanzen der „Sirena* ab, deren Klang mich zu Thränen rührte, 
nicht etwa vermöge ihres Wohllauts, sondern vermöge der Erinnerung 
an die Grausamkeiten ihres irdischen Gatten^). 

weiter unten Ijcrvor/.ujreliPti sdirint. Sie hl dent Arcfinn besonders geläufig, du er sie 
Sülbst büsungeu hutte iu eiueiu (iedielit: Lu Mui[ihiäa (1532), das mix unzugäng- 
lich war. 

1) Im Original lieisst es Sassata! ein Ausruf dn- Verwunderung, der etwa dem 
nioilenien accidentl! gleich kommt nm} den Aretino bei ganz ähnlicher Qelegeiilieit wie 
hier, auch hn Marescalco V. 10 vei wendet liat. 

2) Anspielung auf den M) t}ius von Mars uud lihea Sylvia. 

3) IH«8 ist offiBDbar dar Sinn iind die Etymologie des obaeOa TenUkniDeltea: 
oon taute eaearüMie ml accarexmva, oder ist carole «u lesm (?). 

4) Aretino will liier andeuten, daas er sidi üi den ei^äUenden litteratncgattuagea 
sowohl, wie in der KninndiL' 1»e-nndi:'r> nnsL'ozeiclmet habe. 

5) Ansjjieluug auf die „iStunze in lade della Sireua", welche er zur YerhenUchuug 
dar Frau eines gewissen Gian Antonio Sireuu gedichtet batte. ijnelnio^s liebeeTeridltaiB 
sa dieser Slmn worde offeniNur durch die Eifeisudit des Mannes ^stOrt cf. Opere 
di P. Acet ed. Fobi, UOano 1663 p. 63 und 385 



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Pietro Aretiuo s künstlerisches BekeimUiis 



43 



Die tönende Fama (Fama cicala), die dasn kam, unterbrach den Ge- 
sang. Kaum hatte sie mich erkannt«, so fing sie an, so eifrig von mdnen 
Verdiensten so schwatzen, dass ich de bitten musste, die Ohren der armen 
Musen zu schonen. Darauf nähm ihr endloses Geschwatze eine andere 
BiehtoDg und sie recitierte «das Lob Gottes**, ein Werlc der gdttlfchen 
Peseara^), sowie einige Gedichte der gelehrten Gambara. Ich sage Euch, 
dass sich hier die Musen nicht mehr halten konnten vor Freude darfiher, 
dass es solche Frauen gäbe. 

Frau Minerva, die mich, wie bereits erwähnt, aufgegriffen hatte und 
denken mochte, dass ich doch ein tüchtiger Kerl .sei. nahm mich jetzt 
kübnlich und weislicli bei der iitUid und .sa;^4e : „Führen wir ihn ein 
weni^ zur Belustigung!" 80 besuchten wir den Pegasus in seinem Stall; 
er wurde gestriegelt von Quinto Gruaro, und Pre Diagio*) füllte ihm die 
Futterraufe. Er ist ein hübsches Stück Vieii und gerade recht uin auf 
seinem Rücken die verelirungswürdige Dummheit derer zu tragen, die 
tausenderlei verrücktes Zeuj? machen, um berühmt zu werden. Nachdem 
ich dem Tiere Kopf und Flügel getätschelt hatte, trank ich soviel Pferde- 
Wasser') als zwei erkältete Franzosen Wein getrunken hätten. Das 
Wasser sieht ans und yclnueckt wie das der ,drei Hrunnon"'). 

Nacli ii Iii ich mir so den Schnabel genetzt hatte, gelangt-en wir in 
ein Studierzimmer, voll mit Federn, Tintenfassern und Papier, l^nd ohne 
das.s ich sie IVagte, sagte mir die bewaffnete Dame: »Dies ist der Ort, 
wo die Uescliichte jener Kiimpt'e geschrieben werden soll, die der Herzog 
von ürbino gegen die Feinde Christi auszufecliten hat." Und ich und 
sie zugleich brachen in die Worte aus: „Zu etwas Anderem konnte das 
ja nicht dienen!"' Nach dem Schreibzimmer sali ich ein verborgenes 
Gärtchen voll mit wunderbar grünen Palmen und Lorbeeren; und da ich 
mir dachte, dass sie zu Triumphkränzen für den Herzog bestimmt waren, 
unterbrach ich die Göttin, als sie eben den Mund öffnete, und sagte: ^Ich 
weiss schon, was Ihr sagen wollt" ; und als ich (in der Ferne) Marmor 
meisseln hörte, da dachte ich mir eben&Ils, dass man dort an den 
Triumphbogen und Statuen für Francesco Maria und sänen Sohn arbeite. 

Jetzt, siehe! befand ich mich mit ihnen zusammen in der Kirche 
der Ewigkeit. Sie war in massivem dorischem Stile gebaut zum Zeichen 
ihrer ewigen Dauer. Gleich am Eingang stiess ich auf %mi Brüder 

1) Vittoria Coloun:!. die Witwe des (irafeii von Pescara. - 

2) Zwei PoulasU-'r. 

3) Hjri^pölcreae. 

4) Er meint offenbar die Tre Fontane bei S. Paolo vor Born. 



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K. Vossler 



von mir: Sanmino und Tizian. Der Eine setzte am Tempel die Bronce- 
thflre ein, auf der man die 4000 Mann In&nterie und 800 Mann Cavallerie 
eingegraben sab, mit denen seine Excellenz Italien durchstreifte und 
dem Papste Leo zusetzte. AU ich ihn fragte, warum er noch ein Feld 
auf der Tbtlre freigelassen habe, antwortete er: ,Um darauf die künftigen 
Thateu des Paolo einsqgrabeo.'* Der Andere (Tizian) hing ein grosses 
Gemftlde Aber dem Hochaltar auf, auf dem man frisch und lebendig 
die Siege des Kaisers dargestellt sieht. 

Nachdem ich mir alles besehen hatte, lasse ich mich an den Ausgang 
nach dem grossen Garten fähren, wo ich einigen jungen Leuten begegne: 
Lorenzo und Domenico Veniero, Girolamo Lioni, Francesco Querini, Fran- 
cesco und Federico Badovaro. Diese bedeuteten mir mit dem Finger an 
dem Mund, ich möchte leise auftrete. Inzwisdien sti^ dn angendimer 
Duft von Lilien, Hyacinthen und Bosen mir in die Nase. Ich nfthere mich 
den Freunden und erblicke auf einem myrthengekrönten Throne den g9tt- 
licheu Bembo: sein Antlitz leuchtete in nie gesehenem Glanz; er thronte 
mit dem Diadem des Ruhmes auf dem Haupt und hatte um sich her einen 
Kranz erlesener Geister: hier war Jovio, Trifone, Molza, Nicolo Tiepolo, 
Girolamo Querino, Alemanno, Tasse, Sperone, Fortunio, Guidiccione, Varcbi, 
Vittor Fauste, Pier Francesco Contarini, Trissino, Capelle, Molino, Fracas- 
toro, Bevazzano, Bernardo Navagiero, Dolce, Fausto Longiano, Lion' Mafiio 
und auch Eure Herrlichkeit liabe ich dort gesehen ; kurz alle berühmten 
Leute sassen hier herum ohne Rangunterschied und wie's der Zufall 
wollte. Dieser Chor erlauchter Geister lauschte aufmerksam der , Ge- 
schichte von Venedig*, deren Text dem Munde des Höchsten in ihrer 
Mitte (Bembo) entströmte mit jener Gravität, mit der sicli die Schnee- 
tiocken vom Himmel niederseoken : sogar der Atem in der Brust der- 
Hörer hielt sich au; aber itli — ungewohnt so hinge ruhig zu bleiben 
— blickte auf nach einigen hellen Wölkchen, aus denen süsser Thau 
daniederträufto auf die olTenen Lippen der Zuhörer und wunderte mich, 
wie die Vögel, die Winde, die Luft und Blätter in Aufmerksamkeit 
versunken sich nicht rührten; selbst die Veilchen d&mpften ihren Duft 
in Ehrfurcht ab, und die Blüten wagten nicht in unseren Schoss herab- 
zuregnen, um uns den Ohrenschmaus nicht zu verderben. Ich sagte 
leise bei mir selbst: Valete et plaudite. 

Siehe ! da bietet sich mir eine duftende und überreiche Küche, um 
die sich abgemagerte und schomcnhatte Gestalten drängten, und wie sie 
mich sahen, da brachen sie in ein grosses Gerede aus wegen meines wohlge- 
nährten Aussehens. Da mir's aber vor allem drauf ankam, die Speisen in 



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Fietro Aivttuo'» kanAddriftchea Bekemttni« 



45 



der Kfichd zn sehen, grftBSte ich mit m^nchiBCher Preeumptioii den Koch, 
der fast reraweifelo wollte, weil ich ihm ein berniaßhee oder maurisches 
Eapitolo nnterbraeh, das er gerade beim Bratspiesswenden absangt). Der 
Oevatter Eoeh rüstete gerade einen PhOniz über einem Feuer mit Weih- 
ranch von Aloe. Ich wartete wahrhaftig nicht erst auf die Einladung, 
nm mir einen Biaaen dam zu nehmen. Wfthrend ich dessen Süssigkeit^ 
Substanz und Geschmack mit dem Urteil meines Gaumens kostete, sah 
ich aus wie mein Hausbürschchen*), wann es sein Bosenwasser trinkt und 
Tor Lust die Arme reckt und sich dehnt wie ein brünstiger Priester*). Da 
hdrte ich Apollos Stimme: .Iss nur, damit diese Luders hier Hunger leiden, 
denn sie haben meine Schweatem immerzu mit nichts als Kohl, Gras 
und Salat gef&ttert** Ich konnte kein Wort reden, dank einem Becher 
gottliehen Weins, den ich im Zug war auszotrinken and nickte Apollo 
Dank zu mit dem Haupt 

Im Weitergehen treff ich auf dn Geftngnis, vollgestopft mit Leuten, 
die noch ftrmUeher angethan waren als heutzutage ein Hofmann. Man 
sagte mir, dass sie immerzu P^len, Gold, Rubinen, Purpur, Saphir, 
Bernstein und Korallen gestohlen hatten und ich antwortete: „Bei all 
dem Diebstahl sind sie aber doch recht schlecht gekleidet.* Andere sah 
ich, die, nachdem sie das gestohlene Gut zurückgegeben hatten, nur 
weiaaes Papier in der Hand behielten, als k&men sie von Fabriano^). 

Am Schlüsse meines Traumes befiind ich mich auf einem Markt, 
wo Staren, Elster, fiaben und Papageien sich abmähten, die Gftnse am 
Vorabend von Allerheiligen nachzuahmen*). Die Lehrer der besagten 
Vogel waren einige acbftbige Pädagogen *) mit Toga und Bart^ wdche 
die Aufgabe hatten, ihnen eine gezierte Sprechweise beizubringen^). 
Ach, was hfttte es Buch einen Spass gemacht, hier einen Hfther zu 
hören, wie er artikulierte: unquanoo, uopo, scaltro, snello, sovente, quinci 

Ii l?fkr»intli(li Iflifo Aivfitm in Koiiidschaft mit Francesco Honii, dem Erfinder 
jener Imrleskeii l'apitoli auf Ksswiircn und iUmlichc haiialo Dinge. (Jiovaiinj Maiiro 
ai» FrinU ist einer der sahlreidicf) Nachahmer Bcmi's, gegen dessen Schule sich dio 
gance folgende Satire riditet 

2) il mio bagattino. 

3) Die wörtliche t'l)ei-3etziinfr möchte hier jjtar zu nbscÜa ausfallen. 

4) Kleines Städtchen in den Marche, das noch beute wegen seiner Papierfabrik 

berühmt ist. 

5) Vennutlich schreien die (iiinse am N'orahend »Ueses Festos, weil sie uui 
diese Zeit g^sdibchtet werden. 

6) Das Wort hatte damals die Bcdentnng von Fcdaiit. Vgl. Varcbi, Ercotano. 

7) ins^aigli a favellar per pnnti di luna. 



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46 



K. VoMler 



und quiqdi und restio >). Ihr hättet fiuch vor Lacben gekrfimrot, wenn 
Ihr den Apoll gesehen hfittet« wie er rot vor Zorn einen dieser Tölpel 
au& Pferd setscen Hess, weil er nicht im Stande war, einer Nachtigall 
das Wort Gnalfe beizubringen und wie er ihm deshalb den Resonanz« 
boden seiner Leier auf dem Hintern zerbrach, und wie die Fama den 
Handgriff ihrer Posaunen an ihm zu Schanden schlug. 

Ich weiss, dass Ihr den Qrnnd solcher Strafe erratet und brauche 
Euch darnip nur noch zu erzikhlen, wie mir am Sebluss ein Korb voll mit 
Kränzen um micii zu krönen dargereicht wurde, worauf ich sagte : «Und 
wenn ich einen Kopf wie ein Elephant hätte, so wollte ich mir nicht ge- 
trauen, sie alle zu tragen". Warum nicht gar !* anwortete mein Begleiter. 
„Diesen Kranz ans Käuten reichen wir Dir für Deine witzigen Hureo- 
Dialoge'), diesen ans Brennnesseln für Deine satirischen Sonette gegen 
die Priester, diesen tausendfarbigen für Deine lustigen Komödien, diesen 
aus Dornen für Deine christlicben Schriften, diej^en aus Cypressen 
für den Tod, den Deine Feder so manobem Manne bereitete, diesen aus 
Oliven 7um Lohne für Deine Aussöhnung mit den Fürsten, diesen aus 
Lorbeer für Deine Kriejrs- und Liebes-Stanzen und dieser ans Eichenlaub 
sei der bestialischen Kraft Deines Geistes gewidmet, weils ihr gelang, 
den Geiz der Grossen zu besiegen.** „Und siehe,** antwortete ich, »ich 
nehme sie an und gebe sie Euch zugleich wieder zurück, denn wenn 
icb mich morgNi mit all dem Grünzeug auf dem Kopfe sehen Hesse, 
so nindf man mich für verrückt erklftren. Poetenkrönung und Ritter^ 
schlag haben ihren Kredit schon lange eingebüsst. Gebt mir darum 
lieber ein Patent, kraft dessen ich mein Talent, das mir die Himmel 
zugeteilt haben, verkaufen oder versetzen kann. Auf diese Weise werde 
icb nicht bloss einige Dukaten gewinnen und von meiner Arbeit leben, 
sondern ich werde auch die Sticheleien nicht mehr anzuhören brauchen, 
welche die Pedanten in den Buchhändlerläden gegen meinen Namen laut 
werden lassen. — Immerhin werde ich mir nocli Geist genug übrig 
behalten, um eine Entschuldigung zn ünden für Euer unsittliches Ver- 
hältnis zu den Frau Musen* — war ich eben im Begriff fortzufahren, 
als sich über einen Streich der Frau Thalia ein irrosser Lärm erhob: 
sie hatte, zum allgemeinen Gelächter, der Fuma iiire Flügel bestridieii, 
dass sie aussah wie ein Krammetsvogel der auf den Leim gegangen 
ist — und icb erwachte.*^ 

1) Anti»jiiiprtc', piozitise iiiul hei den IVtrai-kistoii Ih'soih1i'1"s holiehte Worte, von 
denen sich ftttripicns mehrere bdiauptet haben. 

2) BagiotiaDMmti piacevoU. 



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Pielzo Anfino^B kftoitlerisclMB BekeontiiiB 



47 



In dieeem wunderbaren kleinen Euneiwerk hat jeder der zeitgenös- 
sischen Kfihstler den Plati erhalten, den er auch sonst in der persta- 
liehen Wertechätrang AreUnos annimmt, fir liebte es, solch kritische 
Be?aen m halten, bei denen freilich persönliche Schmeicheleien und 
Qehtesigkeiten eine grosse Rolle spielten Er selbst aber — und das 
interessiert uns lonachst halt sich hier, vorsichtig tugleich und stols, 
hon de concours. Die jomle Grossprahlerei, mit der er Ton dem saf- 
tigen Kusse erz&hlt, den ihm Apollo mitten auf die Lippen drückt und 
von den acht Kiiknzen, die ihm in einem Korbe dargebracht werden, 
ist in hohem Masse charakteristisch für die eigenartige Auflhssang seiner 
littenurischen Stellung, und nicht woiiger beseichnend ist der Gynismus, 
mit dem er alle Ehren snrflckweist und nur klingende Mflnse forderte 
Ein strotxender, lach^der und oft cynischer Uebennut, das ist der 
Gmndton nicht bloss dieses Briefes, nein, ich mOchte sagen, des ganzen 
litterarischen Gebarens unseres Messer Pietro. Und diesen Übermut 
haben die Zeitgenossen in ihm gross gefuttert Artuio Graf in seiner 
gdstroichen Verteidigung Aretinos hat ganz recht, wenn er diese, die 
Zeitgenossen, in erster Linie verantwortlich macht ftr die Unarten seines 
Schfitzling8>). 

Bekanntlich ist Aretino der Erste, der ohne humanistische Studien, 
ohne emstliche Arbeit und ordentliche Kenntnisse sich einen hervor- 
ragenden Platz in der Litteiatur erwarb ; der Erste, der durch journa- 
listische Umtriebe, Reklame, Maldicenz und Schmeichelei der schlimm- 
sten Sorte sich zu einer beneideteo, bewunderten und geffirchteten Grösse 
emporschwang. Ein grosser Teil seines iabelhafteo Erfolges Mt auf 
Rechnung der veiftnderten litterarischen Verhältnisse, wie sie sich zu 
Anfimg des Jahrhunderts gestaltet hatten: die grosse Demokratisierung 
der humanistischen Bildung und des ganzen geistigen Lebens hatte be- 
gonnen ; und Aretino ist der erste Parvenü. Ihm konnten die alten Vor^ 
urteile der Gelehrten und «Poeten-Philologen* nicht imponieren. 

Nicht genug dass ihn sein gfitiges Schicksal mit den glftnzendsten 
Erfolgen überhäufte, es hat ihm zuglmch auch die goldene Frucht der 
Wahrheit lächelnd in den Schoos gespielt: den Satz von der freien 
Herrlichkeit der Kunst. Er hat diese Wahrheit an sich selbst erleben 
dürfen : nemlich, dass man ohne Bildung, ohne Antike, ohne rhetorische 
Exerdtien und poetische Vorschriften ein grosser Künstler sein kann. 
Vom Erleben einer Wahrheit bis zum Erkennen ist aber noch än guter 

1) \f^. z. B. Cortfgiana III, 7 imd aus aeiner splttereii Zeit die „Temali in gloria 
de la Heina di Fninda« Lptt. VI, 2'2ff. 

S) A. Grai; Attraverso il CiiMiaeoento, Torino 1888^ 87 ff. 



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48 



K.T<M8l«r 



Schritt. Auch BeoTenato Cellini z. B. hat €8 erleben dürfen, mitten 
im Bldteveitalter klaasischer Gelehrsamkeit und Kunstpoesie ein her- 
vorragender Stilist zu werden ohne irgend welche litterarische Bildung. 
Dennoch glaubt er der Rhetorik und Grammatik mehr als seinem eigenen 
Sprachgefühl und unterbreitet das Manuskript seiner Vita dem gelehrten 
Varchi zur Korrektor'). Ganz anders Aretino: er Iftsst sich nicht im- 
ponieren, negiert frischw^ die ganze Poetik seiner Zeit und setzt an 
deren Stelle seine eigene Kunstlehre'). 

Ausser den bereits erwähnten persönlichen Faktoren (Aretinos 
Selbstbewusstsein und seine eigenartige litterarische Laufbahn und Er- 
fahrung) waren es, wie mir scheint, hauptsächlich noch zwei grosse 
von aussen wirkende Elemente, cUe seinem munteren und fiber- 
mutigen Geist auf die Spuren dieser neuen Kunstlebre halfen: 1) Die 
Pedanterie und 2) die Malerei. Vor der ersteren hatte er tkm 
unbegrenzten Horror, für die zweite hegte er ein tiefes Verstftndnis und 
begeisterte Bewunderung. Fast jedesmal wenn er auf kunsttheoretische 
Fragen zu sprechen kommt, geht er von Einem dieser beiden Pole aus: 
entweder .stellt er sicli in Gegensatz zum pedantischen Diuhterphilologen 
seiner Zeit, oder tritt er hou-un(h>rnd vor die ewigeu Werke eines 
ilichehingiolo. Raphael, Saiiöovino und Tizian. Das zeitliche Znsanimen- 
trelTeu dieser beiden auf den ersten Blick so verschiedenartigen Er- 
scheinungen: der höchsten Ausbildung der Pedanterie') und der höchsten 
Blute der bildenden Künste — sie fallen beide in die erste Hälfte des 
16. Jahr]mnderts — das ist es, was auf die Anschauungen Aretinos be- 
stimmend gewirkt hat. Aus dem gemeinsamen Spiel dieser und der be- 
reits erwähnten (persönlichen) Ooetticienten er^ifieht sich gleichsam als 
Resultante das künstlerische Bekenntnis Pietro Aretinos*). 

Die Pedaii1( ; m könnte man beinahe eine Erttndung des angeut nden 
16. Jahrhunderts nennen; werngstens stammt der Name etwa aus dieser 

1) Ich hoffe uachgewieseu m haben, dass sogar das Wesen des Cellüiiscbon 
StileB selbst mit jenem nosiclieren Dualismus von naiv and rhetorisch uns hinlänglich 
offenhart, wie schmer/Uch Benvenuto gerade das einpfjuul, was wir au ihm schätzen: 
den ISInngel rlieturischer Schalung. (B. Cellini's Stil in seiner Vita. Halle, 1900. 
Festgabe fiir Gröber.) 

2) Wenn er in der Fxaxis trotzdem aelir oft zmn unselbstAndigea Nachalnner 
heralisinkt, so ist der Grand dafbr doch niemals in etwaiger Unsicherheit seiner theo- 
retiscbeii ('herzeiignuy;«! zu suchen. 

.■») Man denke nur an (JiuUo (!:inu'Ilo I>(>]minio, der um jen<^' Zeit finriorte' 

4j Ich hedieue mich dieses mcclianischeu Vergleidis nur der l>eiitliclikeit zuiieho, 

ireit entfernt emer medianiachcn Aaffasstmg der Utteraturgcscbichtc das Wort zu 

reden. 



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Pfetro Aretino's konstferisebes Bekenntnis 



49 



Zeit'). Der jagendfriacbe HamaDist ded Quattrocento ist sam pedan- 
tiacben Schnlmeislier zosammoDgeBehnuiipft. Der Sieg des GiceFoniania- 
mns am Hofe Leos X. bezeichnet zugleich au6h den VerM der nen- 
lateinischen Poesie, die tod nnn ab zur pedantisclieo Spielerei herab- 
siDht Mit Bembo» dem gefeierten YorkAmpfer der Oieeronianer blUt 
die Pedanterie ihren glftnzenden Einzug aber auch in die italienische 
Dichtung. Cicercnianer, Petrarchisten und Boccaccisten sind Eines 
Geistes Kinder, und Bembo ist ihrer aller Wortföhier. Der Dichter ist 
zum Philologen geworden und weiss seine Eindrücke nicht anders mehr 
zu Termitteln als durch das Medium eines grossen Terstorbenen Sprach- 
kfinstlers, seis Cicero oder Virgil, sei*8 Petrarca oder Boccaccio. Die 
Beherrschung der Formen: Onunmatik, Metrik, Rhetorik und Poetik 
wird seine vornehmste Sorge — alles Dinge, die Aretino hasst und 
verachtet — zum Teil vielleicht auch weil er sie nicht besitzt. 

Dasselbe eingeborene italienische Formgefühl aber, das in der Litte- 
nitiir so pedantisch systematisiert und kategorisiert wurde, trieb in der 
Malerei die schönsten Früchte. Tizians tVisclier Sinn fürs Gegenständ- 
liche ohne sentimentale noch philosophische Nebenabsichten, ohne kunst- 
theoretische Voreingenommenheiten, sagte dem ästhetisclien Genussmen- 
sclien Aretino in ganz anderer Weise zu. Aretiuo und Tizian sind nicht 
nur innige Freunde gewesen, sondern auch ebenso innige Geistesver- 
wandte. Was Aretino bei den Litteraten vermisste, fand er bei den 
Malern wieder: die vorurteilsfreie und unmittelbare i\nfYa''?img und 
Wiedergalif der Natur. Wie eng und zahlreich seine i:Jeziehungen zu 
den bildenden Künsten und ihren bedeutendsten Vertretern waren, 
zeigt am einleuchtendsten die Monographie von J. DumesniP). Ein ge- 
meinsames geistiges Band umschlingt jene grosse Trias von Venedig, 
welcher Sansovino ein ewiges Denkmal gesetzt hat auf seiner bronzenen 
Tiiüre in 8. Marco: Tizian, Sansovino und Aretino. 

Es mag wohl richtig sein, dass die grossen bildenden Künstler 
noanchen Nutzen für ihre Werke aus dem Umgange mit Aretino zogen 
— wir wollen dem eitlen Pietro wenigstens einen Teil seiner diesbe* 
zöglichen Versicherungen gerne glauben ^) — ; in der Hauptsache aber 
war Er der Empfangende und nicht jene. Es konnte auch wohl nicht 
anders sein; denn die führende Kunst in der Hochrenaissance ist die 
Malerei und nicht die Dichtkunst Das Knnstideal der Zeit ist ein 

1) Vgl. A. Graf, 1 Peiiiuiti, in Aitruv. il cin<iiicc. p. 171 fl". 

S) Histoire des plus c^lMwes anoteiirs itidieiis, Pam 1833 p. 811>-3i5. 

3) Lett HI, 184. 

NEDB HBIDVLa JAHRBUBCHSR X. 4 



50 



K. Vossler 



Malerisches auch bei den iiiLl trrn. Ariost will seine inneren Eindrücke 
ohne spiritnale oder sentimeniale Interpretation in durchaus unpersön- 
licher Weise herausstelleo. Sein Zweck ist immer nur das Bild. Man 
lese nun die berühmte Beschreibung, die Aretino von einem Sonnen- 
antergaog auf dem Canai grande giebt (Lett. III, 48), und man wird 
seben, dus auch Er ganz in derselben Weise arbeitet wie Ariost 

« . . . . Wie Einer, der sich langweilt und nicht weiss, was er 
thun und sinnen soll, wandte ich mein Auge zum Ilimmei, welchen 
niemals, seit Gott ihn schuf, so feine Schattierong und Beleuchtung ver- 
80h6nte, wie jenen Abend. Die Luft war derart, wie sie Jene gerne 
malen möebten, die £ncfa, o Tizian beneiden, weil sie Euch nicht er- 
reichen können. Ihr aohant hier, wie ichs Each enähle, siudUM die 
Hftnser, die, obgleich aas gewöhnlichem Steine, in einer kfinstliehen 
Materie verfertigt schienen. Dann seht Ihr die Luft: hier klar und 
heiter, dort trfib und finster. Betrachtet auch die wunderwürdigen 
Wolken in ihrer dichten Feuchtigkeit Ein Teil davon im mittleren 
Gesichtsfeld näherte sich den Dächern der Häuser, die andern zogen eich 
ins zweitletzte Oesichtsüdd hinaus^), und rechts verlor sich alles in 
grau-schwarze Farbe. Ich staunte ob dem Farbenreicbtam dieser Wol- 
ken. Die vordersten glfihten in flammendem Sonnenfiraer und die hin- 
teren röteten sich in gedämpfter mennigfiurbener Glut Ach, mit wie 
meisterhaften- Finselstrichen drängte die Natur dm Äther') immer mehr 
nach hinten und entfernte ihn von den Häusern, geradeso wie es Yecellio 
macht, wenn er Landschaften^ malt An manchen Stellen zeigte sich ein 
grünliches Azur, an anderen ein azurblaues Grfin, wie es die grillenhafte 
Natur, die Meisterin der Mdster gemischt hatte; und wie es ihr gefiel, 
80 Hess sie mit ihren Schattierungen die Formen bald zurück bald her- 
voi-treten ; so dass ich, der ich ja weiss, wie innig Euer Pinsel von ihr, 
der Natur, beseelt ist, drei- und viermal ausrief: 0 Tizian, wo bleibt 
ihr nur! . . . 

Zu diesem Briefe bemerkt De S^iijtis^): ,Es ist auffallend, wie das 
Bild der Natur mit ihren Farbeo und Scliattierungen keinerlei gemüt- 

1) Nftch links hjnt«! (?) Der Text lautet: i qnali (nuToli) in la prindpal vcduta 
mczd si stavano viciiii ai tetti de<rli o(Uti<-iJ, c mo/zi iiolla pcnultlina. IHe Über* 

sctzuii'r. tlie rh;i«lf<j von (lic"<oiti Briefe giebt (a. a. <> ]». }'t), ist eine jjajiz willkflr- 
liehe luid nnzuverÜLssige l'araplirase. Die anderen L herseUiuigeu von Taine (V'oyage 
en Italie) imd DiunesnO, a. a. 0. Icoonte ich bei der Revision leider nicht melur ni 
Rate dehen. 

2) Die wolkenlose Luft. 

D. S. ätoria della lett. it. 11, 136. 



Pietro AieUno*8 kOnstleriBcfaeB Bekenntnis 



51 



liehe Erregung oder moralische Erhebung im Beschauer erzeugt, sondern 
nur die Bewunderung und das Staunen des Berufskünstlors. wies eben 
einem Italiener jener Zeit entspricht. Aretino schaut die Natur mit 
den Auf^en Tizians (a traverso U pennello di Tiziano)." 

Beide Künste, Dichtung und Malerei hatten eine entschiedene Rich- 
tnn<:f aufs Gegenständliche und Sinnliche genommen, und da die Ausdrucks- 
mittel des Malers dieser Tendenz entschieden besser zu Hilfe kommen, so 
war es natürlich, dass jener und nicht dieser die föbrende Bolle übernahm. 

Es ist Aretinos Ruhm, neh diese Thatsache auch als Theoretiker 
warn Bewosstsein gebracht und zu Nutxe gemacht zu haben. Gaspary 
bat das Richtige erkannt, wenn er sagt: »Technische Ausdrücke der 
Kunst, Bilder, welche aus ihrer Sphäre entnommen sind, Terwendet 
Retro gerne in seinen Briefen und anderen Schriften und zuweilen mit 
energischef Wirksamkeit. Er redet mit Bezug auf den (sprachlichen) 
Styl Yon Zeichnung, TOn Colorit, von dem Belief der Erfindung und 
der Miniatur der zierlichen AnsfQhrung, und manche solche Bezeich- 
nungen sind aus diesem künstlerischen Jahrhundert der Sprache der litte- 
rarischen Kritik Terbliebeo und dienen ihr noch heute in glücklicher 
Weise* »). 

Ich müchte noch einen Schritt weiter gehen und behaupten: 
Aretino hat sogar aeme ganze originelle Anschauung vom Wesen der 
Künste zuerst aus der Beobachtung der bildenden Künste gewonnen und 
bat sie von da aus auch auf die Dichtkunst übertragen. Ein strikter 
Beweis, dass sich dieser psychische Prozeas bei ihm gerade in dieser 
Reihenfolge vollzog, ist fireilich kaum zu erbringen, üm so leiohter ist 
es, die Sache plausibel zu machen. Dafür spricht ausser der damaligen 
Ueberlegenheit der Malerei über die Dichtkunst und ausser der ange- 
borenen Neigung Aretinos zur Ersteren vor allem noch der Umstand, 
• lla^s die theoretischen Fragen hier bei den bildenden Künsten viel ein- 
facher lagen, und das künstlerische Schaffen durch pedantische liück- 
sichten nicht verkümmert wurde. Die „Nachahmung der Natur" ge- 
schah hier meistens unmittelbar, und verhältnismässig selten durch das 
Medium konventioneller Formen und Vorlagen hindurch — wenigstens 
wollte es so das Prinzip der grossen Maler und Bildhauer jener Zeit. 
Leon Battista Alberti (De pictura Iii), Leonardo da Vinci (Trattato 
della Pittura) und Vasari sind sich darin durchaus einig. Einem un- 
philosophischen Kojif wie Aretino inusste ausserdem das Verhältnis vom 
Modell zum Bild auf den ersten Blick schon viel fasslicher und ein- 

I) GeBch. <L it Lit II, 4^.8. 

4* 



52 



Iv. Vossler 



hchet enGfadnen als der abstrakte Vorgang dichterisofaeii SoliaifeDS. Die 
Maleroi, glaubt ja aticb das gewöbnliche Poblikum, sei darcb ein viel 
straffBres Baad an das Gegenatäodliehe, an das Modell gebunden, als 
der Dicbter. Besonders die realistische Eunst der venezianischen Meister 
scbien ganz unmittelbar Koröckiaweiaen auf die sinnliche Wirklichkeit 
als Urquell aller Eunst. 

Es darf uns darum kaum Wunder nehmen, wenn ean Mann wie Äretino 
ein jedes Ennstwerk nur am Massstab dieser smnlichen Wirklichkeit misst. 
So soll er denn von der Malerei die folgende Definition gegeben haben: 
,Ieh behaupte daher in Eürze, dass Malerei nichts anderes als Nach- 
ahmung der Natur ist, und dass Jener, welcher sich ihr in seinen Werken 
am meisten n&hert, auch der vorzfiglichste Meister sei . . . Es ist also 
Aufgabe des Malers^ jedwedes Ding derart natnrgetrea durch sehie Ennst 
darzustellen, dass es selbst naturwabr scheine. Jener Maler also, dem 
diese F&higkeit fehlt, ist kein Maler,. während im Gegenteile derjenige 
der beste und vorzflgUchste Maler bleibt, dessen Bilder am Tollkommen- 
sten die Natur nachahmen*"). 

Liest man nun in Aretinos Briefen die zahlrdchen Stellen nach, wo 
er sich Uber Werke der bildenden Eünste lobend oder tadelnd ausspricht, 
so findet man, daas er aberall und immer nur nach ihrer Naturwahr- 
heit m beurteilt. Er steht in seiner Eritik durchaus auf dem Stand- 
punkt des Verismus. An den Porträts weiss er nichts hOheree zu rühmen 
als ihre frappante Ihnlichkeit, ein Lob das et in seiner rhetorischen 
Geschraubtheit bis zur Identifizierung des Porträts mit dem Modelle 
selbst fibertreibt. So in den meisten seiner vielen Sonette auf Porträts. Z. Bi 

m, 35. La lor senilnanza nel suo fronte altern 

Kitratto ha Titiane buoiiio iiiiniortale ; 
Tal^che ii dipinto k non mm' ver, che il vero. 

Anderswo spricht er von einem Porträt Earls Y. das Tizian ge* • 
malt hatte in den folgenden Ausdrficken: 

T, 53. Di mao^di qiiella Idea, che la Natnni 

Iniita in vivo e spirital tlisej^no, 

E ilel gran Carlo, il santn esonipio dogno, 

Non pnr di Titian' Sacra pittnra — 

als habe das Modell selber aktiv uiitgewirkt zur UerstoUuDg des Bildes 

1) L. Doice, L^Aretino, owero IMalogo della Pittnra; Von. I V»", der znm p-osson 
Toil die Ansiditon Aretino's, frcilicli in stark verwn^srrlor I'onii. wi* il. rvicM. Ich 
riticro nadi der I Iiorsefzini}! in „(^nolleiiscür. f. Kimstgcscli. u. Kinisttcihnik des M. A. 
und der Uenaiss." II, Wien 1871". 

2) Vgl. auch Leu. III, 259 A. M. Glan Paolo Pittore. 



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Pietro Aretino's küustlcmcUes Bekeuatuis 



53 



Sogar iu den freierfundenen und grossen Koiiipositioiieu ist ihm die 
Naturwahrbeit des Details ein sehr wichtiger Punkt. An Zeugnissen 
daför fehlt es wahrhaftig nicht. Wir begnügen uns mit dem folgenden 
Brief an Tizian. 

IV, 134. „Die Kopie des wahren und leibhaftigen Christusbildes 
für den Kaiser, die Ihr mir am Weihnacht^iiiorgeti gescliickt habt, ist 
das kösllichste Geschenk das je ein König seinem Günstling gab. Aus 
Dornen ist die Krone die Christus trägt, und Blut ist das Blut das von 
den Dornenspitzeu träufelt, und anders kann die Geissei das Fleisch 
nicht schwellen machen von bläuliclicn Streifen als Euer göttlicher Pinsel 
gethan hat an den unsterblichen Gliedern des froininen Bildes" ^). 

Sogar die goniutiiche Wirkung des Kunstwerks ist für Arotino in 
aller erster Linie durch die Vollkommenheit der malerischen Illusion 
bedingt. Unsere symboiisiiäche Malerei mit ihren technischen Unwahr- 
scheinliefakeiten ond Gezwungenheiten wäre ihm ein Buch mit sieben 
Siegeln gewesen. Je vollkommener die Täuschung, desto tiefer, meint 
er, müsse die Rührung sein; und er kann jene niemals vergessen über 
dieser. Man. lese seine Beschreibung von Tizians Annunziata (Lett. 1^ 
180) oder vom Petrus Martyr desselben Meisters (I, 171) oder von 
Francesco Salviatis Bekehrung Pauli (III, 176) und man vird sich da- 
von aufs handgreiflichste überseogw. Als er im «Dialog über die 
Malerei* *) von der .Wirkungsmacbt" des Malers sprechen mdchte, da 
hat er, ohne es zu merken, die Tünsehungsmacht im Kopf, denn er 
sagt: «Dante chaiakteriaert vortrefflich die ganze Wirknngsmacht des 
Malers, in folgenden Versen : 

Morti Ii morti, e i vivi parean Tivi: 

Non vide me'di ine cW vide i1 vero.* (Puti^. XII, 67.) 

Gerade auf diese objektive Naturwahrheit gründet er die Über- 
legenheit Tizian's über alle zeitgenössischen Maler. Ev erkennt dsis 
Kolorit als eines der wuiitigsten Mittel zur Vervollständigung der 
malorisclien Illusion'); und so nmss denn Michel iingiolo bei ihm hinter 
Raphael und Raphael hinter Tizian zurückstehen. Wenn man die 
grosstmögliche Vollkommenheit der malerischen Illusion als höchstes 
Ziel in der Kunst gelten lässt, so ist diese Rangordnung auch durch- 
aus gerecht. 



1) Vgl. auch lY. 181 A Jaoopo Tintofie. 

2) a. A. 0. p. 70. 

3) DiuL d. PiU. a. a. 0. p. G5t - 



54 



K. Vossler 



Das ist es also, was Aretiuo aus der venezianischen Mulerei gelernt 
hat und was er nun auch auf die Dichtkunst übertragen wollte: die 
unbediiif^te Hochschätzung der Naturwahrheit. Der Prozess. der sich 
in seiner Seele vollzog, hat ein Analogen iu der Neuzeit: wie liier die 
Ertinduiig^ der Photographie zum Realismus und zum Verismus führte, 
so gewann auch Aretino eine ganz neue Auffassung der Kunst aus seiner 
Berührung mit der venezianischen Malerei. Und wie es die Realisten 
und Voristen getium haben, so wirft auch er alle überkommenen Kon- 
ventionen von sich*), ungeduldig nach der Natur und nach eigenem 
Gutdünken zu schalten und erklärt vor allem den Pedanten seinen 
Krieg. Berühmt und fiel citiert ist sein rerolutioQärer Brief aD Lodovico 
Dolce (1, 122). 

^Wandelt immerzu die Wege, welche die Natur Eurem Streben 
weist, wenn Tlir wollt, dass Eure Schriften sogar von dem Papier, auf 
das Ihr sie schreibt, bewundert werden; und spottet der hungerigeD 
Wort- Jäger, denn . zwischen Nachahmen und Piagieren ist ein grosser 

Unterschied Heotzatage sind aller Ohren voll von iiopo und 

altresi n. s. w. Das macht sich aber ebenso lächerlich, wie etwa dn 
Kavaliere, der sich in einein Wams mit lauter goldenen Klunkern ,und 
mit einem tellerförmigen Barett sehen liesse. Man wfirde ihn Ar verrflckt 
oder für masidert halten. Und doch kleideten sich solchergestalt in 
frfiberen Zdten einmal der Duca Borso und Bartolommeo Ooglioni*). Und 
was fülr einen Wert haben schöne Farben, wenn man damit nnr Schnörkel 
ohne Dessin malt? Wert bekommen sie erst, wenn sie ein Michelagnolo 
mit seinen Pinselstrichen auftrügt, ein Mann, der die Natur und die 
Kunst so tief erschüttert hat, dass sie selbst nicht mehr wissen, wer 
von ihnen beiden SchSlerin oder Meisterin ist. Um ein guter Maler 
zu sein, muss man noch etwas , anderes können, als ein Stfick Sammet 
oder eine Gfirtelsehnalle abmalen. Auf die. Qestalten (Zeichnung und 
Entwurf)') kommt es an, sagte Giovanni von Udine^ als Einige seine 
ausgezeichneten Qrottesken bewunderten. Ich will es Euch nur sagen: 
die wahren Nachahmer von Petrarca und Boccaccio sind diejenigen, 
die ihn eigenen Eindrucke mit der Holdseligkeit und Grazie ausdrücken, 
mit der es Petrarca und Boccaccio gethan haben, nicht aber diejeniguu, 

1) Wir twasen uns durch seine InkoDseqnenz in der Pmis und durch spora* 
cUsche Widerspräche in si'inen Äiissoningen nkht uro fahren und behalten nur das 
Wesentliche und Xoue üi Aretino's Ansdiauunfi;en im Auge. 

3) Colk'oui, vciicziimischor CondoUioro. 

liaiubocci ueuut es .\retiuo in seiner burbchikoseu Ausdrucksweise. 



PietTO AieÜDO'a kfinstleriflch«« Bekenntnis 



55 



die ihre quieef, quiodi, soventi und sDelli und sagar aoeh ganze Verise 
steblen .... 0 irvende Schaar, ich sage Baeh and wiederhole Euch, 
dasa die Poesie eine Orille der Natur in ihrem Jubel ist, dass sie auf 
der eigenen Inspiration beruht, und wenn sie deren mangelt, so wird 
der poetische Gesang ein Tambourin ohne Schellen nn4 ein Glockenturm 
ohne Glocken. Wer singen will und dazu nicht schon Ton den Windeln 
, auf begnadet ist, der bleibt ein lauer Tropf; und wers nicht glaubt, 
der mags an einem Beispiel lernen: die Alchimisten haben mit unend- 
licher Mühe die Kunst ihrer geduldigen Habgier ausgedacht und doch 
nie geschaffen — nur Scheingold; von der Natur aber wird es 
ebne die geringste Anstrengung klar und rein geboren. Darum folget 
mir, wenn ichs mit jenem weisen Maler halte, der, als man ihn fragte, 
wen er nachahme, auf eine Gruppe vdn Leuten deutete, indem er damit 
sagen wollte, dass er nach dem Leben und nach der Wirklichkeit 
arbeite; gerade so wie ichs mache, wenn ich spreche und schreibe. Die 
rinfoche Katnr selbst, deren Sekretär ich bin, diktiert mir was ich 
schreibe, und mein Vaterland l5st mir die Zunge, wenn die aberglftubisehe 
Ebrfurehj^ vor fremdartiger Bede sie binden möchte. Laset immenu die 
SudW .chtate" oM „Bcdtro« i. «6»m imd iü j«6m Stm g«b«iich« ; 
Ihr aber haltet Euch ans nerrige Fleisch und lasst die Haut den Peli- 
kanen, die da stehen und mit ihrem leeren Diebegehiro um, einen 
Ereuxer Berühmtheit betteln. Ich ahme. mich selbst nadi, das ist gor 
wiss! Denn die Natur ist eine reiche Gefährtin, die sich Dir nackend 
giebt^ die Kunst aber ist eine schmarotzende Laus, die sich ansaugen 
muss. Darum bemühet Buch, Skulptoren des Sinnes und.nicht Miniatoren 
der Yocal^eln zu sein.** 

. Solche Ausbrüche sind nun aber nicht, etwa bloss .sporadisch. Are* 
tino hat in sömsi Schriften wohl mehr als hundertmal solche und äbur 
liehe. Gedanken in immer neuen- und immer kühneren Wendungen prok- 
lamiert — . Er liebte es ja, seine patentierten Spezialitäten zu haben, 
die . er mit marktschreierischer Grossprahlerei als seine litterarische 
Mission und höchst eigenes unyer&uaserliches Verdienst in Anspruch 
nahm. Dazu gehörte z.: B. der schöne Beruf,, den Fürsten und. hohen 
Herren tüchtig die Wahrheit zu sagen. Mit Freuden griff er das Arios- 
tische Schlagwort auf und nannte sich ,die Geissei der Fürsten*. Ausser- 
dem spielte er den Beftmer und Protektor des SchriftstqUerstandes und 
des verkannten Talents (virtü)^); und in ähnlicher Weise sollte nun 

1) Z. n. Leu, I, 85 : Adiuniue i buotU debbouo averiui caro : pcrclie io coiv il 
aangue militai aempie per Ift yeitb: et per me solo & i luwtri tempi veste di broocattf, 



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56 



E. Vossler 



auch der Krieg gegen die PedAnterie su den epezifisohen Missionen seines 
Schriftstellerdnseins gehören. Seine Orazia, das einsige Kunstwerk, das 
er mit irirklidier Sorgfalt ausgefeilt hat^ sollte eine KouknrrenzIeiBtnDg 
znr Bescbfimnng der Pedanten und Gelehrten sein. So fordert et stolt 
im Prolog das Pabliknm heraus t 

ür materiu cangiimdo 
Fiacda a la vostra gracia 

Xnii pur di fuiTi atteoti 

Xt'l iimto «IpI silenzio 

Mcntn' iti Tinte nr ili iticU' ora U^asseuzio 

Straiii e lim jM-cidfuti . ; , • 

Vi esprimerä TOrozia 

Ma il uitto tra di Voi 

(liiiäta seuti'iiza (iaiuio ■ . ' 

C'irca lo stil di si prt'diua isiuiia, .- 

Acefö c4uaro sHntemla 

So piü mertano in so lodc ^ gloria 

Do la Natura i disceiioli 0 vero 

(Jli Rfolari dt* Parte. 

Folgen wir eine Weile diesem Kriege gegen die Pedanten, wenig- 
stens in seinen wichtigsten Etappen Aretino geht natdrlich vou sich 
selbst aus und bat dabei zunächst mit der unwillkommenen Thatsache 
zu rechnen, dass die yerhassten Pedanten ihm mindesten Stwas voraus* 
haben: humanistische und philolo^scbe Bildung. Was thut er? Er 
rühmt sieh laut seiner gottbegnadeten Ignoranz und leugnenden Wert 
der Bildung flberbanpt. Er prahlt von ,der . Wissenschaft seiner Igno- 
ranz"*) und niit demütiger Unbeseheidenheit schreibt er an Dolee: 
, Ja, Herr'Gevatter, die Dienerin des Rahmes beledchtet' mdnen Namen 
mit einer Talkkerze und nicht mit' einer Fackel, denn meine Ignoranz 

liegt auf der Hand Ich, der ich die Schule nur als ABO-Schütze 

besuchte*), verdiene Nachsieht, wenn ich schlechte Verse mache, nicht 
aber Jene, die sich Über der Kunst der Griechen und Lateiner den 
Kopf zerbrechen, alles besser wissen und 'ibren Bnhm in der Beobachtung 

bee Helle ooppe d'oro, si onia di gemme, ha de le ooUano, de i donari, cavolca da 
Beina, b scrvita da Imperadrice et rivcrita da Dea: ö cmpio,. cbi noii dice: ch'io Ybo 
riposta hpI suo autico stato. 

1) \\ IL koniicii füiTlich ahseheu von der gelegentlicheu Verspottung üer.reduu- 
teii Iii tleii Ivoiuüdicu Areliuo's. 

2) I, 77 la sciciiza della iiiia ignoranza. 

3) Taoto . . . quanto intesi h. Santa crocc. la S. croce bedeutet in der fandliikron 
Sprache nodi heute: das ABC. 



Pietro Aretiuu H küiiölleiihcljcs Bekeimtnis 



57 



eines Akuts oder eines Vokals saelien. lo (disse Gian Giordano) non so 

bal]ar, emtare, ma oh . . . m eome uo asanam** 0- * • 
lache über die Pedanten, dio sich einbildeti, die ganze Bildung beruhe 

nur in der griechischen und lateinischen Sprache und behaupten, datö 
wer diese nicht verstehe, überhaupt nicht naitreden kdnne . . . Ich trage 
das Gesicht meines Geistes ohne Maske, und wenn ich auch kein Jota 
weis:), so kann ich doch den gelehrtesten zur Lehre dienen" -). Seinena 
Freunde Doni schickt er ein philosophisches Buch ungeleseu zurück mit 
dem Bemerken: ,Ich will resolut drauf losleben und kümmere mich 
nicht um Grübeleien und Ergründung des Wesens der Dinge" „Ein 
langes Leben und eine lange Krfahruiig lehren nielir als alle Lehrer und 
alle Bücher* , Warum wollt Ihr im Eifer Eurer Freundschaft es 
bedauern, dass icli keine gelehrte Bildung (lettero) habe, wo doch das 
Streben nach einem guten Namen die beste Bildung ist, die der Mensch 
lernen kann und die Erfahrung die hervorragendste Wissenschaft?" 
schreibt er an einen Freund"^). »Darin allein nur übe ich meinen 
Geist : Ehre erwerben und Umgang mit Menschen. Diese beiden Dingo 
lehren, was keine Schule weiss. Es wäre darum vernünftiger, wenn Ilir 
mich gebildet nänutet statt diejenigen, die Griechisch und Latein 
sprechen; darüber lachen die Nanna und die Pipa^), wenn sio sidi in 
der Sprache ihres gesunden Menschenverstandes unterhalten". 

Man sieht, dass Aretioo, wie alle genialischen und selbstsicheren 
Ignoranten, Wissen, Bildung und Pedanterie auf einen Haufen wirft, 
nuDi alles zusammen als unnötigen Ballast erklären zu können. Wer 
die eingetrocknete Wiss^schaft des Cinquecento kennt, wird ihm aber 
kaum daraus, einen ■grossen Vorwurf machen und wird es ihm auch 
gerne verzeihen, wenn er etwas übers Ziel hinausschiesst, wie in seiner 
schönsten und herahmtesten InrektiTO g^en die Pedanten. „Wie viel 
besser wftre es, wenn die grossen Herren sich freie, ergebene und wohl- 
meinende Personen im Hause halten wollten,, statt. sich mit der .Inch- 
siechen Bescheidenheit der Pedanten einzuhissen, dieser Esel von ander- 
leut's Büchern, die, nachdem sie die Toten su Tode gehetzt und auS" 
geplündert haben, nicht ruhen bis sie auch die Lebendigen ans Kreux 

1) Lott. I, 199. 

2) I, 247 f. 

3) IV, 2Ü1I. 
• • 4) V, 245. . 

5) III, 152. 

6) Zwei FSgiucn aus den llagionam. piac. • 



58 



K. Vossler 



bringep. Wabr ists, die Pedanterie bat den Hedid vergiftet, die Pe- 
danterie hat den Hemg Alexander ermordet und die Pedanterie btit den 
Bavenna ins Geföngnis gebracht'); und was noch schlimmer ist, sie hat 
die Ketserd gegen unseren Glaaben berTorgerafe.n darch .den Mund des 

Brzpedauten Luther." 

Wenn Aretino das Werk Luthers einseitig beurteilte, so musa man 
ihm doch zugeben, dass gerade in der Politik der Renaissance das 
Bücherwissen manchen dummen Streich vcrsciiuldet hat; und niaii uiuss 
ihm auch zu seiner Ehre zugestehen, dass er trotz aller Modedienerei 
selbst in der Religion noch die pedantische Orthodoxie der Berufstheologen 
bekämpfte'); ja sogar in der Kriegswissenschaft ist , ihm die Pedaa- 
terio zuwider'). 

Die häufigste Form der litterarischen Pedanterie im 16. Jahr- 
hundert ist wie gesagt der Ciceronianismus, Pctrarcbismus, Boccaccis- 
mus u. s. w. Aretino weiss genau, wie unzertrennlich diese Erschci- 
nangen mit einander verwandt sind und bekämpft sie darum alle zumal. 

.Den Pedanten die sagen, dass die besten Schriftsteller niemals 
vom Latein des Cicero abirren, antworte ich, dass jeder gute und ordent- 
liche vulgäre Schriftsteller sich fast immer vom Toskanischen des Boc- 
caccio fernhält" *). Wie Cicero die Sprache seiner Zeit und seines Volles 
geschrieben hat, so nimmt er auch für sich dasselbe Hecht in Anspruch^). 
Die prcciösen Nachahmer der Treeentisten überschüttet er< mit Hohn, 
so oft sich nur Gel^enheit bietet von ihnen zu reden, er nennt* sie die 
pisciaquindi und cacaquinci^, parodiert sie and hänselt sie. 

Eine andere Form litterarisefaer Pedanterie «aren die klassicieren- 
d^en und philologischen Befonnbestrebnngen in der Orthographie und 
Grammatilr: Auch dafür hatte Aretino nur verftchtlicfaen Spott 

: Diesem Kriege gegen die Pedanterie feblt nun freilich auch nicht 
die komische Seite. So oft und so grimmig Aretino zu Felde ritt^ es 
war ihm doch nicht vergOnnt, einen lebendigen Pedanten aufsuspiessen. 



1) Der Brief ist an den Kardinal von liuvcutiu gerichtet I, 1-13. 

2) Vgl. uiissur seinem Ipocrito uiitl anderen {j;elegeuüiclteii Ansfillrn ht^nndeis 
seinen Hrief iui Antonio Hnicioli I. 177 f. lu syätcreu Jalireu licilicU geriet er immer 
luelu' ins I'^ahrwasser tler Gcgcnreiornuition. 

3) V, 188. Ol Cont© ... 

4) I, 210. 

:>) V(r|. II, 24->: n'. U3. 

()) II, 182. Die Zeuj^nisse sind zahllos und zum Teil iiucli schon gesammelt. 
VI^ 2(31) ucimt er die rcdanteu: Don caca leUere e piscia dottrine. 
T) Yfß. z. B. seinen IcüstUrheu Brief au. Clario IV, 



Pietro Arettno's kfliistleriscbes Bekenntnis 



5d 



Er Icbtü im Hass mit der Pedatiterie, aber in feiger FieutKiöchatt mit 
den Pedanten; und gerade mit den tonangebenden Initiatoren pedantischer 
KelbrmbestrebuDgen, wie Trissino, Tolomei, Fortunio, Triloue u. a. hütete 
er sich wohl zu brechen. Jm selben Verhältnis heuchlerischer Freiind- 
scliatt stand er zum geleierten Wortführer aller Pedanterie: Pietro 
Böinbü^), den er mit den Andern zusammen in seinem allegorischen 
Traum nicht ohne ein feines spöttisches Lächeln verherrlicht hat. Ein 
ironisches Schicksal wollte es sogar, dass er mit seinen nächsten Ge> 
siuuuDgsgenossen, mit deo kühnsten Antipatrarchisten , in Fehde ge- 
raten sollte: Niccolo Franco, Anton Francesco Doni und Fr tneevco Berni. 
£s lag in den damaligen Verhältnissen, dass sich die Schriiteteller nach 
persönliciiefi Mcksicbtea and nicht nach KunstrichtuDgen susammen- 
schlössen. 

Der Nachahmung Petrarcas stellt Aretino die unmittelbare Nach- 
alimung der Natur und den .Begein der Theoretiker die Freiheit des 
gottitegnadeten Genies entgegen. Damit kommen wir zam poeitiven 
Teil sdner Bekenntnisse. Aretinos Auifossang des kfiastlerisehen Genies 
nähert sich bedeutend den Ideen moderner iStarmer and Dränger. Wie 
diese, so mll auch er eine freie, schrankenlose und unergründlicbe Natar- 
ktaft daranter yeratandep wissen^ zu deren Wesen bis zu einem gewissen 
Grade etwas Ungescblachtes und Wüstes gebOrt. Es mutet einen ganz 
merkwürdig an« wenn man mitten aus dem Blütezeitalter des Ktassicis- 
mus heraus die tönende Stimme eines protzigen Krafbgenies veroimmt. 

il, 200 : Si cbe leggendo le mie coglioneiie, scusatimi con voi stesso 
poc Chip son' pi^ tosto Propheta, che Foeta. I, 83 : »Die Natur gab 
mir das Vorrecht einer, grossen und freien Ausdruoksweise, und diese 
will ich nicht TsrüUscheo.; und die Himmely die mich so geschaiFen 
huben, schützen mich Tor den Drohungen der MoDschen." . 

, III, 176. . »Ich kann die Natur, die mich so geschaffen hat, wie 
ich bin, nicht bilndigeD.*^ I, 114. „Wenn der Geist Pasquinos mich in 
prophetischen Wahnsinn versetzt, so bin ich furchtbarer als der Teufd;. 
von dem Ibr auf der Kanzel gepredigt habt" u. s. w. 

Die der Benaissance eigene Ueberschätzung des Individuums hatte 
dazu geführt, dass man sich den Beinamen Divino zulegte, wobei man 
wahrscheinlich gerne an die ueuplatonische Seelentheorie dachte Ausser 
von einem „gutiiichen Genie' spricht Aretino auch gerne von einem 

1) V}?I. dio ausgezeiclmctfii Hcuiorkiuij^oii vdii A Graf, a. a. 0. j). 59 f. 
-2) Alk<n1iii.rH suchte Arctino, dcmIMnao auch einen monKsrheo Binn su geben. 
Y, 249 A Uailaldiuo. 



60 ^* Y(»s8ler 

ii)*^'gtyu fatale'), von einem „imbesiegliclieu"' oder ,vei!>i;liweiiiieri:jciieu", 
ja vou eiueui «bestialiiclien" Genie. 

Eiu Beweis von Genialität scheint ihm auch die Kaschheit der Pro- 
duktion Verächtlich redet er von der ,sesshaften Geduld der Pediinten* 
und rühmt sich seiner Natur, die all ihre Er/.eugnis<?e in zwei Stunden 
aus speie'', sodass die sämtlichen Druckereien mit nichts anderem 
beschäftigt werden könnten, als mit dem Drucken seiner Werke, falls 
er nur ein Drittel der Zeit, die er wegwerfe, auf litterarische Thätigkeit 
verwenden wollte^). „Ich lasse mir angelegen sein, die Charaktere mit 
derselben Lebendigkeit zu 'zeichnen, mit welcher der wunderbare Tizian 
dieses und jenes Gesicht portraitiert ; und da die guten Maler bauptr 
sächlich eine schöne Gruppe TOD skizz ierten Figuren schfttzen, so lasse 
ich meine Schriften drucken so wie sie sind und kümmere mich nicht, 
Worte auszumalen, denn die Schwierigkeit liegt in der Zeichnung . . . . 
und alles ist Possen ausser schnell und original zu sein** Alles Nach* 
geahmte: und Studierte nennt er mit einam sehr oft wiederkehrenden 
Lieblingsausdraek: stitioo und stitiehezza (HarU^biglEeit). Für die Im- 
provisatoren und Stegreifdichter der Gassen und Marktplfttxe hat er warme 
Liebe und Bewunderung. Schon von Kind auf war ihm sein Lands- 
mann'Bemardo Accolti mit dem stolzen Beinamen L*ünico Aretind als 
leuchtendes Muster vorgeschwebt ; einen andern Improvisator, einen ge- 
wissen Bema aus Pistoja feiert er in einem sehr launigen Briefe^) und 
in einem nicht weniger interessantem Schreiben bemüht er sich um die 
Freundschaft eines modanesischen Bänkelsängers und Stegreifilichters^), 
dessen Beruf iin$l Leben er nicht ohne einen Anflug von Neid sich aus- 
malt und mit dem genialischen Treibett des Margnito^ vergleicht. * 

Äretino aber war viel zu tief in die Geheimnisse der Maler- und 

Bildhauer-Ateliers eingeweiht, um über seiner Bewunderung für die rasclie 
Produktion den Wert der geduldigen Uobnng zu vergessen. Namentlich 
jungen Talenten gegenüber lässt er es nicht fehlen an Mahnungen zu 
lieissigem Exercitium: „Wisset, schreibt er einem gewissen Antonio 

1) Z. B. aalBflfllich Midielaiiedos m, 43. 

3) I, 99 «. SdS. 
. 3) m, 73. 

4) 1, 253. 

5) m, 307. 

fi) III, mf. 

7) Murguttc isl eine der gcjimgeuüteu Figureu des ^rgaute Maggiurc vou Luigi 
Puld, XVUI, 112£ 



Piotro Aretino's kniwlileri8ch«8 Bekenntnis 



6t 



Gallo, dass die Naturanlage ohne Uebnng ein Samenkorn in einer Papier- 
tüte ist"'); den Jacopo Tiepola ermahnt er in seinem unübersetzbaren 
Italienisch folgendermasscn : Sl che attendete, d ßgliuolo alla Poeeia, enon 
mancate a darci opni: d4 che ci nasceste per darcela. PerseTerate in 
tal oosa sensa perdere hora in comporre versi e prose in pii sorti; 
iinperocfa^ il miglior maestro che sia ^ il &re, le -cai fireqnense a fare 
ioaegnano, e pin da lore che da altri impara chi 

Die höchste und wichtigste Eigenscbaft des Genies aber ist die 
OtiginaMtät; und auf diesen Punkt legt Aretino den allergröasten Nach* 
druck. Wo immer er anf knnsttheoretiscbe Fr^en zu sprechen kommt, 
stellt er der Nacbahmung die Originalitftt und der Kunst die Natur 
gegenfiber. Das Genie ahme nur sich selbst nach, sagt er, und prote- 
stiert, dass sein Stil flberhaupt nicht nachzuahmen und mit keinem 
andern zu rerwechseln sd*). Er bat sich mehrmals ausföhrlich fib«r 
die frage der Stifaaacbahmung ausgesprochen und nähert sich dabei be- 
trftchtlich den Anschauungen Petrarcas*): Was man von anderen gelernt 
hat, soll man sich organisch assimilieren und zum indi?iduellen Eigen- 
tum umgestalten Den ftbnlicben Stiltheorien entsprechen bei Petrarca 
und Aretino auch ähnliche Folgen: bei beiden föhrt das bewusste und 
krampfhafte Streben nach Originalität zum rhetorischen Schwulst. Nur 
darf man nicht vergessen, dass Aretino mit dem lebendigen Idiom seiner 
Heimat zu thun liatte, während Petrarca seine Sprache an toten Schrifb- 
werken lernen musste. Bekanntlich sind noch eine Keihe anderer Momente, 
die mit kunsttheoiotischt'n Fragen nichts zu tluin haben, für die Stil- 
entwickeliiii^ Aretinos entscheidend geworden*). Im grossen ganzen legte 
er, wie wir aus bereits citierten Zeugnissen sehen, auf stilistische Aus- 
arbeitung („Wortrainiatur") einen sehr geringen Wert, denn das Haupt- 
verdienst des Künstlers suchte er in der Ertinduug („ZeichnuDg, Ski?- 
zieruDg'*). ' 

Wie den meisten Phanatikern des Genies, so erging es auch ihm : 
er überschätzte cinigermassen den Wert der freien Erfindung neuer Motive. 
Bearbeitungen, Uebersetzungen, Redaktionen, Kommentare u. s. w. sind 

1) I, 136 vgl. auch hos. VI, 145 a lo Aniij^. 

2) V, 150. 

3) I, 7(i coäi chi si sforza di diventar me, nclla Hno nou t- pur lui. ii. I. 81. 

4) Ej». de rebus faiiiiliarihns et variae. o<l Fr;uTi';<;pt'i : Kir IH.'jM— ^CS. XXII. 2; 
XXin, 19. Vgl. auch ludnc Arbeit: roctisclic Theorien in tlcr ital. l' riihronuissanco, 
Beiün 1900 p. 4Cff. 

5) Dies hl Kane der Sinn seiner Jangeren Aosfühningcn I, 12*2 f. u. I, 247 ff. 

6) Man vergloiGfae darttber seine dgenm Geständnisse Lett II, 52, V, 107. 



62 



K Voealer 



ihm ebenso verhasst wie die evidenten Nacbahmimgen Er sucht den 
Ruhm des (lenies in der Manjt^taltifrkeit seiner Werke, in der verschwen- 
derischen Folie seiner Scliöpl'iingen. Wenn er einem Künstler eine be- 
sondere Ehre erweisen will, so zählt er dp«s''n sämtliche Werke auf. 
Eine unwillkürliche Vorlip!>e zieht ihn zu der uherriiessenden und form- 
losen Poesie des Volkes hin. Burchiello und Piik'i gehören zu seinen 
Lieblingen, die Dialektdichtung tin:let in ihm einen warmen Fürsprecher') 
und die Sprichwortweisheit und der Mutterwitz der untersten Klassen 
einen liebevollen Beobachter*). Kurz überall sucht er das Originelle 
und das Natürliche, „Lebendig frei und kühn, nicht schäcbtern knech- 
tisch und lau will ein Kunstwerk sein^ soDSt wird es von Fürsten . . . 
nnd Volk . . . verachtet" (V, 122) ruft er aus, und das Volk mit seinem 
„Es gefallt mir nicht" oder „Es geföllt mir" ist ihm ein ebenso autori- 
tativer Kritiker wie die Kenner der Kunstlitteratur^). Aretino gehört 
zu den Ersten, die die grosse Bolle des Unbewussten in der Kunst er- 
kannt haben. r,Es ist gewiss, sagt er in seinem Brief an die Pedanten, 
daas die wahren Dichter oi% etwas Wunderbares und durchaus Passeodes 
sagen ohne ein Jota dran gedacht su haben ; deshalb vergleicbt man sie 
mit den Quellen, die lebendiges, klares und schmackhaftes Wasser her- 
Torspradeln und nicht wissen wie und warum* 

So sehen wir zu unserem grossen Erstaunen wie Aretino in seinen 
Anschauungen die Poetik der Bomantiker und die der Bealisten mitein- 
ander vereinigt. Es ist nicht schwer zu erklären, wie dieses Wander 
tu Stande kommt: das grosse Evangelium Pietros ist die Natur, und 
zwar unterschiedslos die subjektive sowohl wie die objektive. Indem er 
die Natur des Künstlers, das Genie als höchstes Prinzip aufstellt, nähert 
er sich dem Subjektivismus und den Komantikern; indem er die objek- 
tive Natur, das Gegenständliche als Urquell der Kunst proklamiert, 
stellt er sich auf diu Seit« der Realisten und Verijiteii. Zum Realisten 
wurde er hauptsüchlieh durch den Kontakt mit der venezianischen Malerei 
und zum Romantiker wurde er hauptsächlich dank seinem Hasse gegen 
die Pedanten. — Und dank seinem göttlichen Leichtsinn hat er sich 



1) V^. z, B. seinen Brief g^en Bernis Überariieitiing des Orlando innamorato 

II, 121 f. 

2j II, isau. 

3) y, nst XL 264. 

4) IV, m, 236 u. 239f. 

5) VI, 286f. 
6> V, 29y. . 



Pietro Aretlno's kttnstleriecbw Bdceuntnb 



63 



diese Doppelseitigkeit und diesen Widerspruch seiner Anscbanungen nie 

zum Bewiisf^tsein gebracht und muss nun darum uns Moderne besonders 
sympathisch berühren, die wir in gleicher Weise mit der romantischen 
und mit der veristischen Kunst liebäugeln und allerseits ihre Vereinigung 
anstreben. — Man ist sieb, glaube ich, dieser Doppelseitigkeit in Are- 
tinos Anschauungen bis jetzt noch nicht genügend bewusst geworden. 
Wenn 2. B. Gaspary von ihm sagt: ,80 giebt der veist&ndige Verfechter 
des Natfirlieben selbst das Terderblichste Beispiel der Affektation und 
des Bombastes*' >), so möchte er offenbar einen Widersprach zwischen 
Aretinos Theorie und Praxis konstatieren, bedenkt iber nicht, dass dieser 
nemliche Widerspruch schon in der Theorie selbst besteht, und dass 
Aretino nicht bloss als .Ffirsprecher des yemfinftigen und Natürlichen* 
(p. 469 f.), sondern ebensosehr als Prophet des fieien, wilden und un- 
Tornflnftigen Genies «seine Bedeutung* hat. Nach zwei Seiten hin 
also durchbrach Aretino den Bann der klassischen Benaissancepoetik : 
als Bealist und als Romantiker. 

Wir können uns nicht länger der Frage entziehen, ob denn Pietro 
mit seinen kühnen Anschauungen allein dastehe im Cinquecento, oder 
ob er nicht vielmehr ßine ganzo Gruppe Gesinnungsgenossen um sich 
habe. Gewiss giebt es eine solche Gnippe von Gegnern der herrschcn- 
deu klassischen Kunstdichtung und der herrschenden Renaissancepoetik. 
Die wichtigsten Namen sind: Folengo, Berni, Doni, Franco, Ortensio 
Lando, etwa noch Giraldi Cinzio u. a. Es ist zum Teile wenigstens jene 
ganze Schule, die Arturo Graf so ausgezeichnet (-harakterisiert hat mit 
den Worten : „Man könnte sie füglich die Unordentlichen (gli scapigliati) 
in der Litteratur des 16. Jahrhunderts nennen, eine handvoll Leute, die 
als abenteuerliche Freil)euter ihren ^chriftstellerberuf ausüben ... Sie 
haben keine sonderliche Bildung, aber Geist und sehr wohl auch guten 
Geschmack — wofern sie nicht — wie es freilich oft geschieht — ab- 
Fichtlich ins Bizzarre und Paradoxe verfallen; sie ehren keine Autorität, 
hassen die Tradition, empören sich gegen die Regel, streben nach Neuem 
und bringen ihren eigenen Geschmack und eine unverwüstliche KähD> 
heit mit, die oft in Frechheit ausartet* *). 

Zu dieser Schule gehOrt auch Aretino. Seine Genunungsgenossen 
ins Auge zu fiissen bietet sich mir Tiellelcht sp&ter einmal Oelegenheit. 
Soviel glaube ich aber jetzt schon versichern zu können, dass keiner 



1) a. a. O. p. 474. 
3) «. A. 0. 45£ 



64 



K. YosBler 



von ihnen ein so tiefes künstlerisches Verständnis und ein so sicheres 
divinatorisch-kriüsches Genie besitzt wie unser vielgeschmftbter Pietro* 
Wer hat z. B. — man gestatte mir diesen letzten Beleg — wer hat 
mit ähnlich ainfassendeni und tief dringendem Blick den grossen StiU 
uinschirang erkannt« der sieh noch in der ersten Hälfte des Jahrhunderts 
auf sämtlichen Gebieten der Kunst vollzog? Wer anders als Aretino 
wäre fthig gewesen, anlässlich einer cisellierten Scheere so geistreiclie 
Beobachtnngen zu machen, wie die folgenden, denen ich das Unrecht 
einer Uebersetzung nicht anthun möchte. 

Brief I, 197 an Gianfrancesco Focopauno: 

Certamente se l'etlt nostra fasse buona, come h belhi, non si invi- 
diarieno Teccelhmze delle passate si dubitaria dell 'inventioni future. 
Noi pur yediamo al sommo dei miracoli tutte Parti et ogni coea ridursi 
al magno. Ecco le forbicette mandatemi son piene di trophei rilevati 
e grandi. Veramente si comindd a mutar verso tosto che si viddero i panni 
di Leone in eapella lavorati dalla seta, e da Poro sopra i cartoni disegnati, 
e coloriti da Raphaello. Non si nsano piü fiori piccoli in damaschi, nh 
in razzi, le verdure delle spalliere eompariscono di lontano, gU babiti 
tranno al lungo et al largo. Non si pate piü il tormento, che d da- 
vano le scarpe, ogni cosa si taglia, et arrichisce. Fino agli scrittori 
mostrano i caratteri patenti, e di ci6 fa fede la maniera di messer Fran« 
cesco Alunno, la pratica diligentia del quäle fa confessare alle istampe 
d'essere sciitte a inano , et allo scrilto a penna crcssere stampato. 
Guardatc, do?e lia posto la pittiira Miclielagiiolo coii lo smisurato de lo 
sue figure, dipiüte con la niaestä del giuditio, non col raeschino de l'arte: 
per ciö fate da buomo natiiralone dando tuono e suoiio al suono et al 
tuono de la pocsia. risuscitaudo il luoilu de lo Stile, con lo spirito dei 
siibietti: perche non c'e vivanda piü satievole che il lattö et il niiele: 
e come tali condimenti provocano il fastidio del giisto, cosi il profume 
de le paroline galanti indnce la tossa a l'orecchie. Ma ciö sia detto 
con soppoitatioue di clü la intende altrimenti. 

l('h erlasse mir die undankbare Aufgabe, all die kleinen und zahl- 
losen theoretiselien Widersprüche, Ungenauigkeiten und Inkonse(juen7.eii, 
in die Aretino verfallen ist^), zusammenzulesen; in der Hauptsache 
bleibt darum sein ästhetischer Standpunkt nicht weniger fest, nicht weniger 
hervorragend und einheitlich. Um so lebhafter aber ist der schreiende 

1) So ist es z. B. eine Konsession an die Rensissaneeipoctik mit ihrer Lehre von 
der WiUil <les StofTü und der idealen Naclialimiuig, wenn Aretino dem Uone empfiehlt, 
nur bc rahmte Leute zn porträtieren. (III, 153,) 



Pictro Aretino s kiinstlcriscbcä Bokcnntnis 



65 



Widcfspruoh zn bedauern, in den seine sehriftsteUerische Praxis zn 
sdoem ftsthetiseheiL Gewissen getreten ist — ein Widersprueh dessen er 
sich selber sehr genau bewusst war, wenn er cynisch gestand, dass er 
sich nur des Geldgewinnes halber dem Geschmack und den Instinkten 
des grossen rublikuins anpasse — ein empörender Widerspruch der uns 
Anlass giebt, unserer kleinen ästhetischen Untersuchung in ernster Nach- 
denklichkeit dieses moralische Seliwänzchen anzuhängen: Schlechte Sitten 
verderben zuweilen den guten Geschmack. 



NKUK IIKIUKI.H. .lAIIKlU.Kt llKK ,V. 



5 



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Die Mathematik der Natur. 



Von 

Karl BoeluB. 



Die hohe Fakultät, bei welcher ich heute als eiu Bittender erscheine, 
deren Vertreter mir die Bhre ihrer Gegenwart schenken, nennt sich die 
naturwissenscbafblich-mathematiache, sie heieichnet ihren Gegenstand als 
philosophiam naturalem; mit der ersten Hälfte des lateinischen Aus- 
druckes erinnert sie an die andere ehrwürdige Fakultät, aus deren Schosse 
sie selbst sich in neuer Zeit losgelöst bat, mit welcher sie an vielen 
üniversitäten noch in offiriellem Zusammenbange steht, mit welcher sie 
den geistigen Zusammenbang nie verlieren sollte. Das Beiwort nataratis 
bezeichnet eine Abgrenzung der Arbeitsgebiete: Was wir erstreben, ist 
auch Philosophie, aber es ist eine Philosophie der Natur. Es dürfte 
schwer sein, eine gute Definition desson zu geben, was hier Natur ge- 
nannt wild. Vielleiclit dari luaii sagen, dass mit diesem Worte der In- 
begrill aller Erscheinungen mit Ausnahme der Ersciieinuugen des Selbst- 
bewusstseins bezeichnet wird. 

Aber eine Sonderung der Gegenstände allein würde die scharfe 
Trennung der beiden Wissenschaften und damit der beiden Fakultäten 
nicht erklären und rechtfertigen ; es tritt hinzu ein fundamentaler Unter- 
schied der Methode; und hier erinnern wir uns des anderen Namens, 
welchen unsere Fakultät sich beilegt. Wir wollen die Be/.eiclinung „natur- 
wissenschaftlich-mathematisch" so interpretieren, dass in ihrer Zusammen- 
setzuncf mehr als eine Koordination gefunden wird, das;^ der Bindestrich 
zwischen de?^ b^^iden liestandteilen des Ausdruckes uns mehr als ein ein- 
faches „und"' bedeutet. Mit anderen Worten: Nicht Naturwissenschalt 
und Mathematik, sondern mathematische Naturwissenschaft soll uns als 
Gegenstand und Ziel gelten, auf welches sich die Arbeit der Fakultät 
richtet. Ob diese Auslegung des Namens den Intentionen derjenigen 



Knri ßoebiu: Die >iatiicih:itik (Ut KaUir 



67 



entspricht, wdclie den Namen gegeben haben, ob aie sieb aleo vom histo- 
rischen €^cbt8pnDlEto aus rechtferiigen IJIsst, weiss ich nicht; sie dem 
Inhalte und Geiste nach zu rechtfertigen, soll das Ziel der folgenden 
Änsföbrangen sein. 

Also mathematische Naturwissenschaft oder Natarwissenschafb nach 
mathematischer Methode. In diesen Worten liegt der G^ensatt der 
Fakultäten begründet. Nicht weil wir unsere Wissenschaft auf die Natur 
beschiftnken, sondern weil wir diese nach mathematischer Methode be- 
greifen wollen, mussten unsere Wege sich von denen der Philosophie 
scheiden. Diese Emancipation der Naturwissenschaft ist ein Prozess, 
welcher sich im Verlaufe von drei Jahrhunderten allmfthlich vollzieht 
Zu einem Bruche kommt es im neunzehnten Jahrhundert, in welchem 
die Philosophie einen letzten, genialen aber verzweifelten Versuch macht, 
das schon verlorene Gebiet zurflckzuerobern, w&hrend die Naturwissen* 
Schaft mit grftsserem Nachdruck als je zuvor die Worte der Platonischen 
Akademie Aber ihreThore schreibt: fir^deiQ ayetofurpT^roq tatM* simzm. 
Nur wer mathematisch denkt, soll bei uns Eingang finden! 

Wenn die Natur ein Gebiet iirt, welches wir mit der Lehre von 
Grösse und Zahl zu durchforschen vermögen, so muss ein tiefer Zusammen- 
hang zwischen der Natur und dieser Lehre bestehen. Insofern meine 
Ausföhrungen, welche bei der Kürze der Zeit und der Grösse des Gegen- 
standes leider sehr fragmentarisch bleiben müssen, von diesem Zusammen- 
hange handeln werden, durfte ich sie mit dem Ausdrucke benennen, wd-> 
eben Hegel über einen Abschnitt seiner Logik gesetzt hat: Die Mathe- 
matik der Natur. 

Wenn man die Entwicklung der menschlichen Gedanken durch die 
Jahrhunderte verfolgt, so begegnet man nicht selten der höchst merk- 
würdigen Thatsache, dass gewisse Begriffe nnd Wahrheiten hervortreten, 
ehe ihre Zeit eriOllt ist, zu einer Zeit, welche tür sie noch nicht reif er- 
scheint Es ist, als sei das Bild der Wahrheit im Traume dem Menschen- 
geisto gezeigt worden, welcher nun — erwacht — mit einer undeutlichen 
Vorstellung dem Bilde nachstrebt Als ein sehr bekanntes Beispiel dieser 
Art liesse nch der Satz anführen, dass jedes Ding aus einer Ursache folge, 
der Satz der Eausalit&t Derselbe begegnet uns in irgend einer seiner 
unzähligen Formen bei den frühesten Anlangen des wissenschaftlichen 
Denkens. Und doch war es eine wissenschaftliche Leistung allerersten 
Banges, als der junge Schopenhauer — durchdrungen von dem Lichte der 
Lehre Kante — es unternahm, den Inhalt des Satzes vom zureichenden 
Grunde in vollkommener Klarheit und ScMrfe zu entwickeln. Mehr als 

b* 



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68 



Karl Roelun 



dieser Satz interessiert uns ein anderer, welelipr mit ilirn anf da« eutiste 
vorknüpft aber mit ^^rns.soror Unbestimmtheit uu.^gesprochen worden ist. 
Man redete in den Zeiten dpr Scholastik viel davon, dass in der Wirkung 
nichts enthalten sein küniie, was nicht schon iu der Ursaclip -Ii ( ko, dass 
Ursaclie und Wirkung gleichen Inhalt belassen, dass sie gleich seien, und 
brachte diesen unklaren Gedanken in die Form des Satzes: causa aeqiiat 
flffeetum, welchen man leider mit Newton's Satze von der Gleichheit von 
Wirkung und GegenwirkniM^ k ni uiniii rt hat. Es laj» jenem zuerst ge- 
nannten Satze m Grunde das dunkle Gelutil, dass in dem Wechsel der 
Erscheinungen nichts wahrhaft entstehen, nichts wahrhaft vergehen könne, 
dass Etwas immer konstant bleiben müsse, <lass zwischen den sich ablösen- 
den Naturvorgängen ein gewisser zahlenmässjiger Zusammenhang bestehen 
müsse. Die Erlahrung schien den Gedanken nur zum Teil zu bestätigen. 
Man sah sich daher genötigt, mehrere Arten von Ursachen zu unter- 
scheiden, je nachdem der erwähnte Satz auf sie angewandt werden konnte 
oder nicht. Kurz, man fand in dem Satze melir Schwierigkeiten und 
Idinkellieiten, als Aufklärungen. Und doch enthielt er den Keim einer 
sehr tiefen Erktmutnis, welche in der Naturwissenschaft des neunzehnten 
Jahrhunderts zur Entfaltung gelangen sollte, wovon wir uns im Verlaufe 
unserer Betrachtungen uberzeugen werden. Solchen frühgeborenen Wahr- 
heiten gegenüber können wir verschiedene Standpunkte einnehmen. Der 
eine ist der rein empiristische; auf demselben erscheinen uns solche 
dunklen Erkenntnisse als Erfahrungsthataachen, als Resultate einer sehr 
unvollständigen, mangelhaften Erfahrung, hervorgegangen au.-, einer ge- 
wissen leichtsinnigen Neigung des menschlichen Verstandes, auf unge- 
nügende, vereinzelte Beobachtungen Sätze von grösster Allgemeinheit zu 
gründen. Wir werden jener Erscheinung gegenüber einen ganz anderen 
Standpunkt einnehmen; wir erblicken in jenen unklaren und unentwickel- 
ten Aussprüchen Äusserungen unseres Erkenntniswillens, also nicht 
eigentlich Sätze, sondern Postulate der menschlichen Vernunft. Der Satz, 
von dem wir reden, würde deinnucii unter diesem Gesichtspunkt er- 
scheinen als ein Ausdruck der Forderung ; Wir wollen die Natur quanti- 
tativ erforschen, wir wollen ^ie messend, mathematisch begreifen. Oder: 
Wenn uns die Natur überhaupt begreiflich sein soll, nuiss sie uns mathe- 
matisch begreitlicli sein. Welches ist nun der Sinn dieser Forderung? 
Was verstehen wir darunter; einen Naturvorgang mathematisch be- 
greifen ? 

Wir müssen uns zunächst darüber klar werden, was es Oberhaupt 
beisst: ein Objekt, eine Erscheinung messen, und wollen m dieser Ab- 



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Die Mathematik der Natur 



69 



sieht unsere Aulmerkbuiukeit aui diL'ieni<;eu Grössen richten, welche im 
eminenten Sinne „messbare* genannt werden mfissen, dio EaurDgrösseD. 
Und hier -innen wir mit der Benandlung der nocl» einfacheren. Frage: 
Wie überzeui^fen wir uns von der Gleichheit räumlicher Gebildet' Die 
einfachste riiumliche Fii^ur wird gebildet von zwei Punkten, welche eine 
bestimmte liiiLlt i tumg haben; und indem durch zwei Punkte immer eine 
gerad*' l.iiiie l ügt werden kann, von welcher ein Stück dund in^ zva'i 
Punkte abgegK nzt wird, können wir als einfachstes Raurngflnlde eme 
durch zwei l'unkte begrenzte gerade Strecke bezeiclrnen. Wie vergleichen 
wir strecken I-* Wir tragen die eine Strecke durch den Kaum und legen 
sie an die andere an ; können wir die beiden Punktepaare, durch welche 
sie begrenzt sind, zur Deckung bringen, so nennen wir die Strecken 
gleicii. Oder auch, wenn die zu vergleichenden Strecken eine räumliche 
Verschiebung unmittelbar nicht gestatten, also etwa an nicht truns]ior- 
tablen Objekten, Gebäuden und dergleichen fixiert sind, so schallen wir 
uns ein transportables Objekt, an welchem eine dritte Strecke markiert 
werden kann, einen Maassstab, und legen diese Vergleichungsstrecke zu- 
erst an die eine, dann an die andere der beiden Strecken an, wobei wir 
uns des Grundsatzes bedienen: Sind zwei Grössen einer dritten gleich, 
so sind sie unter sich gleich. Das Charakteristische ist dort wie hier 
in dem Umstände /u erblicken, dass wir ein räumliches Gebilde, also 
in dem gewählten Fall eine Strecke, durch den Kaum bewegen und dabei 
die Überzeugung besitzen, dass das Gebilde dasselbe bleibt, dass also 
die Eigenschatten einer räumlichen Figur unabhängig sind von dem Ort, 
an welchem sie konstruiert wird. Darauf allein beruht die Möglichkeit, 
einen Maassstab zu verwenden. Die erwähnte Tliatsache ist eine Eigen- 
tümliclikoit unserer Kanmanschauung, ja es ist dio einzig charakteris- 
tische Eigenschaft unserer Kanmanschauung, die Wurzel aller Geometrie, 
was Uelmholtz in einer tiefsinnigen Abhandlung über die Grundlagen 
der Geometrie matliernatiseh bewiesen hat. Jedoch hat schuii vor ihm 
Schopenhauer in seiner oben erwähnten Abhandlung mit unzweideutigen 
Worten die Vermutung ausgesprochen, dass die neun Axiome des Euclid 
mit jener einfachen Thatsache vollkommen ä(iuivalent seien. Da die 
bedeutende Stelle bisher dev Aufmerksamkeit der Leser entgangen zu 
sein scheint, so erlaube ich mir, Ihnen dieselbe vorzulegen; sie findet 
sich im sechsten Kajutel, genauer im § 39 der Schrift „Ueber die vier- 
fache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde** luid lautet; ,Die 
blosse Einsicht nun, dass ein solcher Unterscliied des Orts die übrige 
Identität nicht aufhebt, scheint mir jene neun Axiome ersetzen zu können 



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70 



Karl Boehra 



und dem WesoD der Wissenschaft, deren Zweok es ist, dns Einzelne aus 
dem Allgemeinen ym erkennen, angemessener zu sevn, als die Aufstellung 
neun varschiedener Axiome, die auf Einer Einsicht beruhen. Alsdann 
ntmlicb wird von den geometrischen Figuren gelten, was Aristoteles, 
Metaph. X, 3 sagt: rouwg ^ tfforrjg kvoTr^g (in Ulis aequalitas uni- 
tas est'). 

Diese Bemerkung, durch welche wir den Gang unserer Betrachtungen 
unterbrochen haben, raubt dem Verdienste von Helmholtx keinen Schim- 
mior von seinem Glanse; aber sie veranlasst uns, Schopenhauem, dem 
prachtvollen — von naturwisseDschaftlieher Seite oft ungebfihrlich an- 
gefdndeten*— Denker, einen ehrenrollen Platt einzur&umen unter den 
Milnnefn, welche sich das fflel gesetzt haben, die Grundlagen der Geo- 
metrie zu. erforschen und klar zu legen. 

Wir kehren zu unserem Thema zur&ck. 

Hier fragen wir uns: Giebt es etwas Ähnliches auch für nicht räum- 
liche Gebilde, för andere Erscheinungsformen? EOnneti wir eine Erschei- 
nung, welche nicht r&umlich ist, mit uns forttragen, m unter veränder- 
ten Umständen repro^izieren, als dieselbe erirennen, sagen: Dies ist 
dieselbe Eraoheinnng? Ein Beispiel : Wir hören dnen Ton von bestimmter 
Höhe; können wir diesen in nnserem Geffihl festhalten, nachdem er ver- 
klungen ist und können wir dann, wenn wir unter anderen Umstünden 
einen Ton liören. diesen mit iinserom Krinneriinp[sbilde vergleichen ? Bis 
zu einem «gewissen Grade, ja. Das muaikalisch geübte Ohr weiss die 
absolute Tonliölie zu beurteilen; der Violinspieler hat das a, nach wel- 
chem er sein Instrument stimmt, ziemlich siclier im Gefühl, Aber selbst 
ilas inuBikalisch geschulte Gehör können wir in Verlegenheit bringen, 
wir können ihm gewisserraassen Fallen stellen. Wenn ein Dirigent einen 
(Jhor a capella .singen l5sst, so kann er zu Beginn die Tonart sehr wohl 
im üet'ühl haben, den Ton selbst angeben; wenn nun aber die iSiinger 
während des Vortrages allmählich um ein Geringes in die Tiefe oder in 
die Höhe ziehen, so wird — wenn ihm nicht besondere Urnstände zu 
Hilfe kommen — am Schlüsse selbst der gewiegte Musiker niclit mit 
Sicherheit für die lieinheit des Tones garantieren können; er wird ge- 
nötigt sein, dieselbe auf andere Weise zu kontrolieren ; er wird z. B. eine 
Stimmgabel zu Hülfe nehmen. Sehen wir zu, auf welchen Voraussetz- 
ungen diese Art der Kontrole beruht. Zunächst auf der Annahme, dass 
die gleiche Ursache stets die gleiche Wirkung hervorbringt, dass die- 
selbe Stimmgabel immer denselben Ton erzengt; sodann auf der anderen 
Annahme, dass die Stimmgabel dieselbe ist^ die sie vorher war. Das ist 



Die Maiheauitik der Natur 



71 



ja allerdings nicht genau richtig; wenn die Stimmgabel vermtet oder 
abgenutzt wird, bleibt ne nicbt dieselbe; aber Ton solchen stofflieben 
Verftnderungen abgesehen, ist sie ein Ding, dessen Bigenscbaft als ton- 
erzeugendes Mittel mit seinen räumlichen Dimensionen zusammenbftngt, 
deren UnTerftnderliehkeit uns ein Qrundsatx ist 

Oder ein anderes Beispiel: Die W&rmesustftnde. Diese kOnnen wir 
noch weniger als die Tonempfindungen im Gefühl festhalten. Sie er- 
innern sieb, dass von griechischen Soldaten erzählt wird, sie seien im 
hehnen Asien auf eine Quelle geatossen, deren Wasser nachts warm, am 
Tage kflhl gewesen sei. Das lag natürlich nicht an der Quelle, sondern 
an den körperlichen SSustftnden, in welchen die Beobachter au den ver- 
scbiedenen Tageszeiten an die Quelle herantraten; diese Zustande wiede- 
rum waren von der wechselnden Temperatur der Luft beeinflnsst Jeder- 
mann weiss, dass derselbe Keller, dessen Temperatur uns im Sommer 
schaudern macht, im Winter eineii angenehm temperierten Aufenthaltsort 
darbietet Kurz, alle unsere Temperatnrempflndnngen sind dermassen 
von ftussersn ümstftnden und von der wechselnden Beechaifenheit unserer 
Organe abhängig, dermassen relativ und subjektiv, dass von einem Fest- 
halten solcher Eindrucke nicht die Rede sein kann. 

Aber wir bemerken, dass ein bestimmtes Quantum einer Flfissigkeit 
oder eines Gases, das wir in eine Glasröhre einschliessen, sein Volumen 
mit den Teraperaturscbwankungen, welche wir empfinden, wechselt Das 
Volumen aber ist eine räumliche GrOsse^ welche wur mit dem Maass- 
stabe messen können — wie wir es ja an jedem Thermometer thun — 
welche wir zu jeder Zeit zu rekonstruieren, wiederzuerkennen im Stande 
sind. Indem wir nun annehmen, dass «nem bestimmten Temperatur- 
zustande ein ganz bestimmtes Volumen stets entspricht^ können wir zwei 
Temperaturen auch dann ffir identisch erklären, wenn eine direkte Ver- 
gleichung nicbt möglich ist; wir sind von unseren subjektiven Empfin- 
dungen tni geworto. 

Wir ersehen ans diesen Beispielen, dass wir, um irgend welche nicht 
räumliche gleichartige Erscheinungsformen festhalten und vergleichen zu 
können, denselben irgend eine rännaliche Grösse zuordnen. Dass sich 
solche Grössen ausfindig machen lassen, ist eben ein Teil jenes tiefen 
Zusammenhanges, welchen wir die Mathematik der Natur nennen. 

Damit aber ist das Wesen der messenden Thätigkeit noch nicht er- 
schöpft; wir interpretieren vielmehr durch diese noch etwas in die Er- 
scheinungen hinein, was zunächst nicht in denselben zu liegen scheint 
Um zu sehen, worin dieses Etwas besteht, knöpfen wir wieder an die 



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72 



Karl Boehm 



BaumgrdsseD ao, welche ja ftlr uds die messbareii ÖrOssen xar* eSojpsu 
sind. Wir haben bisher nur von der Gleiehheit rftumlioher Gebilde ge- 
sprochen. Gleichartige Grttssen — also z. B. StredEen — stehen aber 
auch dann in einem ganz bestimmten VerhiUtnis zn einander, wenn sie 
nicht gleich sind. Wir kennen die kleinere von zwei ungleichen Strecken 
an die grössere so anlegen, dass der eine Grenzpunkt der kleinen mit 
dem einen Grenzpnnkt der grosseren zusammen, der zweite Grenzpuakt 
der kloneren in die gt^mtB Strecke hineinfiUlt; von ihm ausgehoid 
können wir die kleinere Strecke nochmals abtragen und — in dieser Weise 
fortfisihrend — entscheiden, wie oft sie in der grosseren enthalten ist^ 
Erhalten wir keine ganze Zahl, so kann es doch möglich sein, dass wir 
uns eine dritte Strecke verschaffen von solcher Grösse, dass sowohl die 
kleine als die grosse Strecke ein ganzzabliges Vielfaches der Vergleicluings- 
ströcke ist. Auf kompliziertere Fälle gehen wir hier nicht ein. Die 
Thatsucho, dass eine Strecke das Vielfache der anderen ist, lässt sich 
nicht weiter begrifflich erklären, bedarf auch einer solchen Erklärung 
nicht, denn sie wurzelt unmittelbar in der Anschauung. Das gegenseitige 
Verhältnis zweier ungleicher Baumgrössen drücken wir demnach durch 
die Zahl aus. 

Was aber ist die Zahl? 

Die Zahl entspringt aus der Anschauungsform der Zeit, wie die 
liaumgrösse aus der des Kaumes. In der That: Zeit ist das Vermögen, 
die Succession, die Aufeinanderfolge (hr Erscheinungen wahrzunehmen. 
Folgen nun gleiche Erscheinungen aut einander — seien es nun gleiche 
Objekte, welche wir nach einander auffassen oder sei es die regelmässige 
Wiederkehr derselben astronomischen Vorgänge, welche wir beobachten — 
so geben wir jeder dieser Erscheinungen ein Zeichen (da ja die quali- 
tative Unterscheidung bei gleichen Erscheinungen nicht ausreicht) ; diese 
Zeichen sind die Zahlen. Die Verknüpfung dieser Zeichen, also die 
Operationen, welche wir arithmetische nennen, das Rechnen, unterliegt 
gewissen Gesetzen, welche in den Axiomen der Aritlimetik ausgebrochen 
sind. Es ist hier nicht der Ort, zu untersuchen, welches der Ursprung 
dieser Axiome ist. Wahrscheinlich entspringen dieselben einem Zusammen- 
wirken des Sinnes der äusseren, also räumlichen, Anschauung mit dem 
Zeitsinne. Sicher ist nur — und das ist für unsere Zwecke vollkommen 
ausreichend — dass die betreffenden Axiome, auf Raumgrössen ange- 
wandt, unmittelbar anschaulich werden. 

Alle diese Beziehungen nun, welche in dem Reiche der Zahl herr- 
schen, übertragen wir demnach auf die Erscheinungen, welche wir, um 



IMe Mathonatik der Nator 



78 



sie vergleicheo sa könneD, mit gewissen BaumgrOesen . in VerbinduDg 
bringeo. Wenn wir «wei Lichtquellen YOr uns haben, so kOnnen wir 
sagen, ob dieselben gleich intensiv sind (wir haben sogar Mittel, dies 
sehr genau m entschddeD), oder ob die eine intensiver ist als die . an- 
dere; mehr als dies liegt nicht in unserer Empfindung. Definieren wir 
aber die Lichtstärke einer Lichtquelle durch eine Funktion der rÄiim- 
lichen Entfernung, in welcher sie dieselbe Wirkung hervorbringt wie 
eine ^Normalkerze* von ge^visser Grösse und Beschaffenheit sie in der 
Sinheit der Entfernung erzeugt, so fibertragen wir das Zahlenverhftltnis, 
in welchem die gemesBenen EntferDungen stehen, und welches nur auf 
diese angewandt einen eigentlichen Sinn hat, auch auf die Lichtwirkungen 
selbst, so dass wir etwa sagen können, die eine Lichtquelle sei 10,5 mal 
heller als die andere. Aber es ist klar, dass von einem solchen Zahlen- 
verhältni:^ ursprünglich keine Spur in unserer Empfindung vorhanden ist. 

Wir sehen, dass in jedem Erscheinunf!:sgebiet, welches wir der wissen- 
schaftlichen Forsclumg zugänglich machen wollen, der erste und wich- 
tigste Schritt dann besteht, dass wir den Maassstab festlegen, mit wel- 
chem wir die betreftenden Erscheinungen messen. Es i^st zu bedauern, 
dass unü hier die Zeit fehlt, die Lehre von den physikalischen Maassen 
in alle Disziplinen hinein zu verfolgen. Einzelnes haben wir bereits 
kennen gelernt: Für Tonhöhen gaben die räumlichen Duiiensionen schwin- 
gend' i K l per einen Anhaltspunkt für die Messung, welche in der Beob- 
achtung der öchwingungszahlen sich vollendet; für Wärmezustände haben 
wir in dem Volumen ein Mass gefunden ; Lichtstärken messen wir durch 
die Entfernungen, in welchen verschiedene Lichtquellen dieselbe Hellig- 
keit hervorbringen. Lichtarten, also Farben des Lichtes, durch die Grösse 
der Ablenkung, welche die Strahlen durch ein Prisma erleiden u. s. f. 
Es ist vielleicht die grossartigste Leistung in jeder Wissenschaft, diesen 
ersten Schritt zu thun. Sie sehen — hochgeehrte Anwesende — wie in 
unseren Tagen durch die Verwertung einer, vor einem Jahrhundert noch 
fast unerforschten Naturkraft, der Elektrizität, die Industrie dne wahre 
Umwälzung, der Verkehr einen ungeahnten Aufschwung, das Antlitz 
unserer Städte eine tiefgreifende Veränderung erfährt; dass wir die Ar- 
beit eines Wasserfalles in einem dünnen Drahte nach meilenweit ent- 
fernten Orten leiten können, um hier die Nacht zum Tage zu machen. 
Alles dies wftre nicht möglich ohne die genaue Abschätzung der einzelnen 
Wirkungen jener Kräfte gegen einander. Dass wir dazu im Stande sind, 
ist das Resultat der wissenschaftlichen Arbeit eines Jahrhunderts. Aber 
wenn uns die Aufgabe gestellt würde, diejenige That zu bezeichnen. 



74 



Karl Boebm 



welche jenen Fortschritt am mächtigsten fjefördert hat, ja riossen Wurzel 
und Bedingung ist* 80 müssten wir die Namen der beiden Männer nennen, 
deren Standbild vor einem Jahre in der Stadt ihrer Wirksamkeit, in 
Göttingen, enthüllt, deren Grösse bei dieser Gelegenheit aufs neue ge- 
feiert worden ist, den Namen des herrlichsten aller Mathematiker Carl 
Friedrich Gauss und den des TOrtretflichen Physikers Wilhelm Weber. 
Diese beiden sind es gewesen, welche dss Maasssystem för elektrisehe 
nnd magnetische GiOseen geschaffen haben. Ich wüsste keine genialere 
wissenschaftliche Leistung auf diesem Gebiete zu nennen. 

Unser Ziel, die mathematische Naturwissenschaft, ist mit diesem 
ersten Sehritt, mit der Festlegung des Uaassstahes (ur die einzelnen Er» 
scheinnngsformen, noch nicht erreicht Wir haben äxaeli ihn eine un- 
endliche Verfeinernng unserer Nomenklator erzielt, statt eines Namens, 
welcher eine Fülle gleichartiger Zustände oder Erscheinungen unter sich 
begreift, haben wir eine ganze Skala von Bo/.eichnungen, durch welche 
jede einzehie individuelle Erscheinuug cliarakterisiert und von anderen 
gleichartigen unterschieden wird; statt der Bezeichnungen warm und 
kalt haben wir die ganze Skala der Temperaturen. Wir haben metrische 
Beziehungen zwischen gleichartigen Erscheinungen; aber bis jetzt nur 
zwischen solchen. Und unser Ziel ist, die Natur zu erforschen; diese 
aber präsentiert uns nicht die einzelnen Arten von Erscheinungen rein- 
lich gesondert, wie sie der Menschenverstand sondern muss. Im Gegen- 
teil. Wir linden die Erscheinungen im ewigen Wechsel ; wir sehen sie 
in buntem Reigen sich durchscliliugen und die Gestalten tauschen. 

Der Hammer des Schmiedes iallt auf den Amboss; die Bewegung 
hört auf, sie verschwindet. Und statt ihrer etwas ganz anderes : Wärme 
und Schall. Wenn der Schlag stark genug ist und einige Male wieder- 
holt wird, 80 sehen wir auch noch etwss anderes entstehen: Das Eisen 
glflht^ es leuchtet, also Licbtwirkung. 

Und wir heobaehteo unter dem Kessel der Dampfmaschine, dass 
eine chemische Individualität, die Kohle, Ternichtet oder doch verwan- 
delt wird. Und durch diese Verwandelung entsteht W&rme; diese Wärme 
aber wird wiederum vernichtet, sie setzt äch um . in das Getriebe der 
B&der und Stangen ; und dieses erzengt in einem Drahte jenes geheim- 
nisvolle Etwas, das wir elektrischen Strom nennen; den Strom können 
wir zwingen, ein iMetall aus seinen Verbindungen auszuscheiden, also 
wiederum chemische Individualitäten entstehen und vergehen zu lassen: 
Ein Kreislauf ohne Anfang und Ende. 



IMe Matbenatik der Natur 



75 



Und wir haben für jede BrBcheinuDgeform einoD besonderen Maass^ 
Stab; ffir die meclianifiche Arbeit einen, ffir die Wftrmeerscheinnngen 
einen anderen u. s. f. Wenn nun im Wechsel eine Erscheinung in die 
andere übergeht, so stehen wir da und blicken der Erscheinung nach, 
ratlos, wie am Ufer eines Stromes stehend, über welchen kein Steg führt. 

Dass sich aber eino Brücke schlagen lässt von der einen Erschei- 
nungsforna zur andern, das ist die grosse natiirwissenschaftlicliü Ent- 
deckung des neunzehnten Jahrhunderts. In ihr vollendet sich jener grosse 
Zusammenhang, die Mathematik der Natur, von der wir reden. 

Und wieder sind es zwei Männer, an deren Namen die ruhmvolle 
Endeckung sich knüpft. Beiden hat man Standbilder errichtet; aber 
sie stehen nicht wie Qauss und Weber friedlich auf demselben Sockel 
vereint, sondern durch viele Heileii getrennt, so wie sie auch im Leben 
keinen Berfibrungspunkt fanden. Das Denkmal des einen steht in einem 
kleinen sfiddeutsohen Stftdtchen, in welchem er geboren war und freud- 
los sein Leben beschloss, das des anderen in der Hauptstadt des deut* 
sehen Beiches, deren Glanz durch die Gegenwart des Mannes wftbrend 
mehrerer Jahrzehnte erhobt wurde. Die beiden Namen sind Robert 
Mayer und Hermann Helmholtz. Die Entdec1(ung, welche sie beide un- 
abhängig Ton einander gemacht haben, liegt in folgendem: 

Erscheinungen gehen in andere Erscheinungen über, d. h. etwas ver- 
schwindet und etwas anderes entsteht an dessen Stelle. Was verschwin- 
det und was entsteht, können wir zunächst qualitativ, also mit einem 
Namen bezeichnen, z. B. hier verschwindet Bewegung und entsteht Wärme. 

Aber wir haben gelernt, eine Erscheinung viel fjenaner zu definieren 
als OS durch den Namen geschieht, indem wir sie messen, sie durch ge- 
wisse Zahlengrössen charakterisieren. Die Bewegung eines Körpers wird 
charakterisiert durch seine Masse (sein Gewicht), welches eine Zahl ist 
und durch seine Geschwindigkeit, welciie ein Zahlenverliältnis, also wiede- 
rum eine Zahl ist. Statt der Geschwindigkeit können wir auch die 
Höhe, aus welcher ein Körper herabgefallen ist, einführen. Ein Wärme- 
zustand wird bestimmt durch den Stoff und die Masse des erwärmten 
Körpers und seine Temperatur, welche wir mit dem Thermometer, also 
ebenfalls zahlenmässig, feststellen können. Und nun besteht nicht nur 
zwischen der Art der Erscheinungen, welche in einander übergehen, son- 
dern auch zwischen jenen Zahlen, durch welche die beiden Zust&nde de- 
finiert sind, eine feste Beziehung. 

Dies ist eben die grosse Entdeckung. 



76 



Karl Boehm 



Nicht Qur eDtetebt aus Bewegung uoter gowisseo UmBtftDdea atets 
Wdnne, sondern w eotspriebt einer bestimmten Bewegung immer ein 
ganz bestimmter WftrmeTorgang: Ein Kilogrsmmgewieht, welches wir 
durch eine H5he von 427,5 ra herabfiiUeo lasse», erzeugt durefa seinen 
Attfechlag eine Wftrmemenge, welche im Stande ist, ein Liter Wasser 
von 15^ des Lufthermometers um 1* au erwärmen. 

Zwischen den Ifaassstäben verschiedener Erscheinangsformen bestehen 
feste Zusammenhänge. Nnn kann man stets aas den Zahleo, welche 
einen Zustond definieren, einen Ausdruck nach beetimmteii Regeln zu- 
sammensetzen von solcher Art, dass, wenn zwei Zustände in einander 
flbergehen, der für den ersten — verschwindenden — Zustand gebildete 
Ausdruck dem für den zweiten — eatstehenden — Zustand gebildeten 
Ausdrucke gleich wird. Diesen Ausdruck nennt man die Energie. Die 
Energie bleibt also im Wechsel der Erscheinungen konstant ; daher beisst 
das von Mayer und Helmholtz entdeckte Gesetz «das Gesetz von der 
Erhaltung der Energie". Wir müssen dasselbe als ein Besuttat der Er- 
fiihrung ansehen, wie es auch Helmholtz selbst stets als Erfahningssatz 
bezeichnet. Dass aber so etwas wie das Gesetz von der Erhaltung der 
Energie existieren müsse, ein gewisser zablenmässiger Zusaramenhang der 
Erscheinungen, das liegt in dem Postulate der mathematischen Natur- 
wissenschaft. Ehe wir die mathematischen Gesetze der Nutiir suchen, 
müssen wir annebmen, dass dieselbe überhaupt mathematisch begreiflich 
sei. Und iu diesem Sinne können wir sagen, dass der alte Satz von der 
Gleichheit der Ursache und der Wirkung sich erfüllt hat in dem ijeaaii 
von der Erhaltung der Enerke. 

Die vorliergelienden AustTilirungen haben gt'/eigt. welches das Wesen 
der mathematischen Naturforschung ist. .leder Erscheinung ordnet sie 
eine Grösse zu, welche im Kaurae ist und mit der Intensität der Er- 
scheinung sich verändert, so dass durch die Angabe einer Zahl, durch 
welche die Grösse der räumlichen Veränderlichen fixiert wird, auch die 
zugehörige Erscheinung eindeutig be<?timmt wird, welche nun auch unt^r 
veränderten Umständen wiedererkannt werden kann. Sehen wir von der 
Bedeutung ab, welche jeder einzelnen unter diesen iiaumgrössen — als 
dem Bestimmungsstuck einer Naturerscheinung — zukommt, so erhalten 
wir statt eines Komplexes von Erscheintingen eine Vielheit von Kaum- 
grössen, welche sich in einem gesetzmässigeo Zusammenhange verändern. 
Veränderungen von Raumgrössen sind Bewegungen. Die Mannigfaltig- 
keit der Vorg&Dge in der Natur erscheint unter dem Bilde eines Kom- 
plexes gesetzmässig verkofipiler BewegUDgeo; oder, wie wir auch sagen 



Die Mathematik der Natur 



77 



können, unter dem Bilde eines Mechanismus; gleichviel ob wir diesen 
aus Stangen, Rädern, Hollen und Schnüren greifbar ziiyaiumensetzen, 
oder oh wir ihn nur in Gedanken konstruieren. Die einzelnen Teile des 
Mechanismns verscliieben sich gegen einander um Strecken, deren Grösse 
in einem bestimmten Verhältnisse steht zu den Veränderungen der durch 
sie repräsentierten Erscheinungen, wenn diese mit dem für die betreffende 
Erscheinungsform gültigen Maassstab gemeissen werden. Der Mechanis- 
miiH liefert uns also ein Modell des Natiirvorganges, welchen wir be- 
trachten. Die gan9;o Natur wird sich uns, wenn wir einmal dahin ge- 
langt sind, für alle Erscheinungen den Maassstah zu finden, darstellen 
als eino unendliche Mannigfaltigkeit von Bewegungen, welche nach be- 
stimmten Gesetzen vor sich gehen; diese Aullassnng der Natur nennt 
man die mechanistische; dieselbe ist eine unmittelbare Konsequenz der 
mathematischen Naturbetrachtung, derselben mathematischen Natur- 
betrachtung, welche — wie wir gesehen haben — sieb ToUendet in dem 
Gesetze von der Erhaltung der Eoergie. 

Und nun ereignete sich das Merkwürdige, dass die heftigsten An- 
griffe gegen die mechanistische Anschauung von den Männern erhoben 
wurden, deren erklärtes Ziel es war, die Lehre von der Energie zu ent- 
wickeln und auf alle Gebiete der Naturwissenschaft auszudehnen. IHeae 
Lehre war für uns nur der Ausdruck des zahlwmässigen Zusammen- 
hangs aUer Erscheinungen, welcher direkt zu der mechanistischen Auf- 
fassung der Natur führte. Die Eneigie nun, welche wir so nüchtern 
definiert haben, wurde fiir die Energetiker ein geheinmisvoUes Etwas, 
das Alles ist, von dem alle Erscheinungen der Natur nur ein schillernder 
Abglanz sind, ein Wesen von solcher Erhabenheit und zugleich Zartheit, 
dass jede mechanische Vorstellung schon als Lästerung erschien. Und 
deshalb haben sie ihren Eri^ruf in die Worte des mosaischen Gesetzes 
gekleidet: »Du sollst Dir kein Bild machen!" üns, die wir in der 
mechanistischen wie in der energetischen Auffassung eine Form der 
mathematischen Naturerkenntnis erblicken, erscheint der Streit als ein 
wesenloser: Zwei Genossen, die gemeinsam einen hohen Berg erstiegen 
haben, und nun, da sie oben auf dem Gipfel stehen, statt sich zu stützen 
und an einander zu klammern, einen Streit erheben und sich gegenseitig 
herabzustürzen drohen. Wollen wir jenem Eriegsruf erwidern, so werden 
wir sagen, dass alle Völker sich ein Bild ihres Gottes gemacht haben, 
und dass der Nachdruck jenes Gesetzes auf dem Zusätze liegt: „dasselbe 
ani^uljoten". Wenn wir das thun, wenn wir die mechanischen Modelle 
für mehr als blosse Vorstellungsbilder halten, wenn wir in ihnen die 



78 Karl Boehm 

« 

Wahrheit selbst zu erblicken glauben, daan aUerdiogs trmbeo wir einen 
wiasenschaftlicheD GOtaendienst. Aber einer so plumpen Yorstellung 
hat sich wohl kaum ein Anhänger der mechanistisehen Anifiisaang der 
Natur schuldig gemacht. Dass diese Auffassung mit der Energetik nicht 
im Widerspruche steht, zeigt uns Meister Helmholtz. Derselbe Forscher, 
welchem wir die Kenntnis des Gesetzes der Energie verdanken, hat die 
Wissenschaft der Mechanik mit besonderer Liebe gepflegt, ihre Grand- 
lagen befestigt und vertieft, nicht nur um ihrer selbst willen, sondern 
auch in der — gegen das Ende seiner ruhmrollen Laufbahn immer 
deutlicher hervitttretenden <— Absicht, die Domäne der Mechanik zu er- 
weitem, sie fftbig zu machen, uns Bilder zu liefern fär die verschieden- 
artigsten VorgäDge der Natur. 

Also der Strom der Wisseoschaft wird sich über diesem in selt- 
samer Verwirrung der Hegrifte gebiUleten Strudel wieder schlicsscii; 
seine Kräfte werden vereiiii undi einer Piii^litiing ätiümen und die Mathe- 
matik in immer entlegenere Gebiete trugen. 

Nun liegt uns noch einea am Herzen. 

Werden wir diesen Siegeszug der Mathematik, welchen wir voraus- 
sehen, mit Freude bügrüssen y Werden wir nicht vielmehr betürchten 
müssen, daas mit der Herrschaft der Mathematik das Schöne aus der 
Welt verschwinden, dass die W i uschaft über die bunte Welt der 
Erscheinungen den r'rauen Schleiei ihrer Abstraktionen breiten, die reiche 
Fülle der Natur sich auiiöseu werde in ein armseliges »Spiel mit Zahlen 
und geometrischen Gebilden? Ich will derartige Befürchtungen, wie sie 
nicht selten ausgesprochen werden, nicht zu widerlegen suchen, indem 
ich darauf hinweise, dass wir bei vielen der grössten Vertreter der mathe- 
matischen Naturforschung eine warm empfindende Künstierseele finden; 
ich brauchte nur den Namen Helmholtz zu nennen. Aber ich will mich 
dieses Argumentes nicht bedienen; denn Sie könnten mir noch glänzendere 
Namen entgegenhalten, ja den glänzendsten aller Namen, den Namen 
Goethe* Die Erscheinung Goethes ist so riesengross, sein Geist durch- 
flutet so sehr alle Adern des geistigen Lebens unserer Zeit, dass wir nur 
mit unfrohen Geföhlen eine Bahn beschreiten möchten, auf welcher er 
nicht mit uns wäre. Aber ich glaube, wir dürfen mit seinem Segen 
reisen. Wohl hat Goethe, welcher alles verstand, was in dem mensch* 
liehen Gemfite und dem menschlichen Geiste sich regte, für die Mathe- 
matik kein freundliches Wort gehabt; und gerade ihre Anwendung auf 
die Naturwissenschaft war ihm zuwider. Aber das lag wohl mehr an 
den Mathematikern seiner Zeit als an der Mathematik. Die mathema- 



Die Mathematik der Natur. 



79 



tisebe Naturforscbnng war damalB noch eine junge Wissenschaft; und 
de war sieh über das, was sie su leisten im Stande ist, meht Toilkommen 
klar. Es war vielfach die Ansicht verbreitet, in der Mathematik finde 
sieh eine Erklärung der Dinge. Goethe, welcher wohl wusste, dass es 
eine Erklärung nicht geben könne, mnsste sich durch diese Auffassung 
abgestofisen fahlen. 

„Der Philosoph, der tritt herein 
Und beweist euch, es raüsst' so sein.* 

In diesen Versen hat Goethe — nach Schopenhauers treffendem Aus- 
spruche — den Standpunkt bezeichnet, welchen er in der Natarforschung 
am wenigsten leiden konnte. 

Aber wenn unsere AusfObrungen einigermasseo klar ausgedruckt 
haben, was sie darlegen sollten, so muss es einleuchten, dass in der 
Mathematik der Natnr nichts weniger als eine Brklftrang der Natur ge- 
sucht werden darf. Die Anerkennung gewisser Phänomene und die Be- 
schreibung ihres Zusammenhangs, also eine Phänomenologie der Natur, 
ist unser Sei; also genau das, was Goethe auch wdlte. Nor dass die 
Beschreibang genauer und umfassender sich gestaltet, wenn wir nicht 
nur qualitativ, sondern auch quantitativ, d. h. messend, mathematisch 
verfahren. Die blosse Beschreibung der Thatsachen ist seit Kirchhoti" 
das erklärte und deutlich ausgesprochene rrogramm der inathematisclieo 
Naturlbrsehung. Uod es Hesse sich leiclit /.eigen, dass die neueste Ge- 
stalt, welche dieselbe durch die Untersuchungen von Heinrich Hertz 
gewonnen hat, mehr als alle früheren dem Goethe'schen Ideale nahe- 
kommt. Also wir sind nicht wider Goethe, sondern auf dem W^e 
2U ihm. 

Und die ästhetische Naturbetrachtung erleidet durch die mathe- 
matische könen Schaden ; so wenig als unsere EmpiUnglichkeit für Musik 
eine Einbusse erleidet, wenn wir einen Einblick in die Gesetze der Har- 
monie und des Kontrapunktes erhalten, jene starren Gesetze, welchen 
auch die sublimsten Eingebungen des Künstlers sicli fügen müssen. 
Oder werden wir mit weniger erhabeneii Gefühlen den Stern!) imniel be- 
tracbten, weil wir das Gesetz kennen, nach welchem jene Weltkörper, 
die uns als leuchtende Punkte erscheinen, ihre Bahnen beschreiben? 
Gewiss nicht. Ünd wir werden uns nicht weniger ergötzen an dem Spiele 
der Wellen, wdl wir ffir derartige Bew^ungen mathematische Formeln 
besitzen, ünd der Anblick der untergehenden Sonne wird uns nicht 
weniger hinreissen, das Farben^iel des Begenbogens uns nicht weniger 



80 



Karl Boehm: Die Hutheioatik der Xatiir 



entzücken, weil wir gelernt habeD, die bunten Farben durch Brechung 
der Lichtstrahlen zu erklären. 

Weit entfernt also, dem ästhetischen Sinne etwas zu rauben, führt 
ihm die mathematische Wissenschaft sogar ein neues Element zu. Sclion 
die Beschäftigung mit der reinen Mathematik ist für den, welcher sie 
kennt, eine Qaelle hoher intellektueller Genfisse, welche den ästhetischen 
sehr nahe verwandt sind. Man klonte die Mathematik mit einer Art 
von Paradoxon als eine Kunst des Yerstandes beliehnen. Beicheren 
Qenuss gewfthrt ihre Anwendung auf die Natur. Wer sich vorübergehend 
dem Zauber der sinnlichen Eindrficke entriebt und in das freie Reich des 
Gedankens, aus der Domäne des Efinstlers in die des Mathematikers 
flüchtet, der wird auch hier eine reiche Quelle ästhetischer Erbauung 
finden. In den Formeln wird er nicht totee Gebilde erblicken, sondern 
einen Ausdruck des lebendigen Willens der Natur oder — wenn er den 
Namen nicht missen will — des Willens Gottes ; nicht des Gottee, den 
der Mensch geschaffen hat nach seinem Bilde, sondern des Gottes, wel- 
cher Eines ist mit der Natur, des Gottes Spinozas, des Gottes Goethes. 



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Ein TiM^ebueli aus Matthtoons Jagend. 



Von 

Earl Helm. 



Matth issons Tagebnehaufzelcbnungen sind zum grössten Teil in 
seinen Erinnerungen (Zürich 1810—1816 und später in der Ausgrabe 
letzter Hand, Bd. 2 — 8), andere aus seinem Nachlass von seinem Schwager, 
Gartendiroivtor Sc hoch in Dessau, veröffentlicht worden. Indessen ist 
auch noch ungedrucktes vorhanden. Über ein Tagebuch aus den Jahren 
1707—1800, das zum Teil iü deu Erinnerungen verwertet ist, zum Teil 
aber nocii unbekanntes enthält, hat M. Bosaus in der Allgemeinen 
Zeitung 1876 Beilage Nr. 246 kurz berichtet. Ein anderes, aus M.'s 
Jugend stammend, entdeckte vor etwa einena Jahre Herr Dr. K. Hauck 
in München in den Händen eines dortigen Anti(juars, von dem ich ea, 
durch den Entdecker aufmerksam gemacht, erwarb. 

Es ist ein (hiartheft von 39 Blättern, numeriert 105—143, davon 
105 und 143 die Deckblätter. Diese sind auf der äusseren Seite be- 
malt: oben und unten findet sich ein Streifen von Wellenlinien, blau 
auf weiss, in der Mitte eine Blumenguirlande auf rotem Grunde. Die 
Bemalung rührt jedenfalls von M. selbst her. Bd. 106 a enthält den 
Titel, 106 b ist leer, auf 107 a— 142 b folgen die Aufzeichnungen. Die 
Tage sind abgesetzt und jeweils mit dem Datum überschrieben. Die 
Schrift ist anfangs gross und deutlich und wird später kleiner, ohne aber 
aa Klarheit viel einzubüssen. Schwer lesbar sind our wenige Seiten, bei 
denen die Tinte durch das Papier gedrungen und gleichzeitig abge- 
blasBt ist. 

Die Zählung der Blätter legt den Gedanken nahe, dass diesem Heft 
frfihere Aufzeichnungen vorausgegangen sind, und diese Vermutung wird 
beatiltigt durch den Satz auf Bl. 109a (13. Jan.): ^Glüklieh sei der 
heutige Tag da ea mir einfiel wieder ein Tagebuch zu halten]^ Wir 
erkennen daraus gleichzeitig, dass zwischen jenen früheren und unseren 

NKUR IIRIDRr..R. JAHRBlTRCITRR X. 6 



82 Karl mm 

Aiifzeichmingen eine Pause lag. Ebenso lehrt uns die Bemerkung »Erste 
Abteilung" auf dem Titelblatt, dass M. seine Autzeichnungen mit dem 
Ende unseres Heftes nicht geschlossen sondern noch weiter fortgeführt 
hat. Die Fortsetzung ist wie alles vorhergehende w ihisciieinlich frühe 
vernichtet worden, und nur ein günstiger Zufall hat uns gerade dies eine 
Heft gerettet. 

Die uns hier ciiialLLiiua Aufzeichnungen umfassen nicht ganz ein 
Vierteljahr. Sie beginnen am 13. Jaiium 1777 mit M.'s Rückkehr nach 
Kl oster borgen aus den Ferien, die er bei Mutter und Schwester in 
H 0 h 0 n d 0 d e 1 e b e n zugebracht hatte, uua erstrecken sich über die 
Unterrichtszeit (bis 29. März) und einen sich daran anschliessenden 
Landaufenthalt bis zum lu. A^ iil 1777. Ihre Bedeutung liegt in erster 
Linie darin, dass sie uns ein ausserordentlich anschauliches Bild von 
dem seelischen Zustand des jungen secliszehnjährigen Mattliisson geben, 
und wir erkennen darin neben dem Originellen unschwer die Züge wieder, 
die typisch sind für jene so em]ttiridungsreiche Zeit. Wir haben dazu 
zu rechnen die Überschwanglichkeit im Ausdruck, die Neigung zu theo- 
retischen Eröterungen ^) und vor allem die Vorliebe zu Selbstbeobachtung, 
Selbstquälerei und Selbstvorwürfen, die bei Matthisson durch sein starkes 
religiöses Empfinden noch besonders gefördert wurde. Wie weit diese 
Selbstquälerei bei ihm geht, zeigt am besten sein Eintrag vom 24. Januar, 
in welchem er es als ein schweres Vergehen verzeichnet, dass er — zwei 
Tage vor der Kommunion — 7Mt Feier des Geburtstages des Königs 
mit den übrigen Schülern einige Glas Wein getrunken habe: ,0! wie 
viele waren da, welche so schlecht fär ihre Seele sorgten ! Übermorgen 
Kommnnionstag und heute in Sünden gelebt!* 

Der Eioflass, den die Lektfire von Lafators „Geheimem Tage- 
buch TOD einem Beobachter seiner sdhst* auf M.'s geistige £ntwi<Mung 
gehabt hat, ist bereits bekannt (vergl. Erinnernngai I, 2. Aosgsbe letzter 
Hand Bd. U S. 189 f.) ; auch hier ist er deutlich m Terspflien. Ja es 
Bchdnt, dass eben diese Lektdre M. angeregt hat, sdbst ein Tagebuch 
zu schreiben, und dass er in Brinnerung an Lavaters Schrift auch 
seine Aufiseichiniiigeii als »geheimes Tagebuch* bezeichnet hat. 

Nach diesen kurzen Angaben wird sich der Leser nicht wundem 
kdnnettf wenn im grössten Tdl des Tagebuches Bintfinigkeit herrscht, 

1) Ein vorz(l<];liches Heispiol dafbr bietet der Eiiitraii; vom lü. Januiur: Jin. der 
Rcsfllsolnft Vfiti vii i- Fn^KTulcn fern von inificsittptrn hihI rohen ScIierTen, wurde cWe 
Frage anfgcworten, ob eine keusche Liebe ani" Schuien zu hilligen sei? Und wir allo 
kamen darin Obereiii." 



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Ein Tagebuch um MattJussons Jugnul 



83 



die atellenvdse aelbat ermGdend ist Etwas lebendig« sind die letsfcen 
Biotrige, die aus der Zeit seines Landaafenthalts Btammen. An die 
Stelle der ftst aussehlieeslicben Betracfatung der eigenen Person, tritt 
in diesem Abschnitt die Beobachtung der Natnr. Eine Herzensangelegen- 
heit wird zwar mit der fiblichen Cberachwftnglichkeit dem Tagebuch 
anvertraut, aber wir erhalten dabei doch das Oefiübl, dass hier wirklich 
ein inneres Erlebnis vorliegt. Und wenn wir M. sehen, wie er in Sturm 
und Bogen sich aufmacht, den Kamen der Geliebten in eine Buche au 
schneiden, und das Dorf, in dem sie wohnt, von Feme anzuschauen, so 
ist diese Situation jedenfiills unendlich viel wahrer und natfirlicher als 
jene frühere: M. mit vier Freunden in theoretischen Erdterungen be- 
griffen über den erzieherischen Wert der Liebe. 

Leider lässt sich die Persönlichkeit dieser Angebeteten ebensowenig 
feststellen, als die der »geliebten H — die zu Beginn des Tagebuches 
mehr schemenhaft erscheint. Auch sonst ist die biographische Ausbeute 
nicht bedeutend. Die Verbältnisse in Elosterbergen, auf die gelegent- 
lich hingewiesen wird, sind uns bereits zur Genüge bekannt ; die Namen 
der Freunde, von denen stets nur die Anüuigsbuchstaben genannt sind, 
kennen wir überhaupt nur mit Hilfe unserer bisherigen Kenntnisse von 
M.*8 Jugend erschliessen ; wo uns diese im Stiebe lassen, müssen sogar 
ab und zu Angaben des Tagebuchs unaufgeklärt bleiben. 

Litterarhistoriöch interessant sind dte Berm'ikungen über den zweiten 
Teil des Siegwart (vergl. 20. ^lärz) und die an verschiedenen Stellen 
des Tagebuches eingefügten Verse. Unter diesen finden sicli zwei Stro- 
phen aus Siegwart (2. April,) zwei Strophen aus einem geistlichen 
Lied Chr. Chr. Sturms (U.März), zwei Stroplien von Hölty (1. April); 
die übrigen sind offenbar eigene poetische Versuche iMatthissoüs, die uns 
hier zum ersten Male begegnen, in die späteren Ausgaben seiner Ge- 
dichte bat keiner derselben Eingang gefunden 

Noch einige Bemerkungen sind zu machen über die Sprache des 
Tagebuchs. Es ist durchaus kein tadellos deutsch, in dem es abgefasst 
ist. Vieles ist ungeschickt ausgedrückt, einiges ist direkt falsch. Uns 
interessieren speziell die Fehler, deren Quelle wir auch unschwer er- 
kennen künnen. 



1) Ich gel>o (ItP Mnglichkoit f^oinc zu, dass noch für eines odrr «Iiis imdort» der Ce- 
dichtß fremder Ursyi-ung micbgewieseu wenle» kann, für die Mchrzjüxl (icrsclbi-n s<"heiiit 
mir aber MJt Antorscfaaft ganz zweifellos «i sein. T|^. aiidi die Anmeriningfia bd 
den einzelneii Gedichten. 

6* 



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84 



Karl Helm 



Dreimal wird mir als Acc., sechsmal mich als Dat gebraucht 
Der Orond dafär ist in MatthissoDs lieimatliehem Dialekt zu suchen, 
der in allein wesentlichen gewiss niederdeutsch war*). Auch heute noch 
wird in der ganzen Gegend um Magdeburg unterschiedslos mik für 
Dat und Acc. verwendet Belege daftr finden sich in ziemlicher Zahl 
bei Firmen ich, Yftlkerstimmen 1 8. 1&6^169: Mundarten tou Magde- 
burg und der Magdeburger BOrde'), andere bei F. Winter: Die Volks- 
sprache in den Landschaften am Zusammenflass Ton Bode und Saale 
speziell im Abschnitt über die Mundart westlich der Elbe von der Saale 
bis Magdeburg (Qeschichtsbl&tter för Magdeburg, Bd. IX. S. 97 ff.)'). 
Aus der bei M. herrachendeu Unsicherheit im Gebrauch von mir und 
mich ist zu ersehen, dass M. von Hause aus sich des niederdeutschen 
Idioms seiner Heimat bediente. Aus demselben Grunde erklären sich 
auch andere fehlerhafte Konstruktionen, die uns begegnen. Die Ver- 
wendung von ihr als acc. sg. fem: durch ihr glüddieh werden ist direkt 
niederdeutsch. Weniger einfach liegt der Fall, wenn sonst der Dat statt 
des Accus, gesetzt wird, z. B. teft traue auf seiner HUfe (23. Februar) ') 
Hier liegt eine Art bjperhochdeutsch vor. Auch abgesehen vom Fron, 
personale ist im Niederdeutschen bekanntlich eine Vermischung der Acc- 
und Dativ-Formen eingetreten, dergestalt dass die Accusativform fast 
ausschliesslich herrscht Beispiele für die Magdeburger Gegend finden 
sich bei Firmenich a. a. 0.^). Jän Niederdeutscher, der nun weiss, dass 

1) lass mir bald empfinden (14. Jan.), er wird mtr noch empfinden lassen 
(1. Fcl)r.>, hat mir die Tugend gelehrt (l<i. Jan.); steht er mich bei (15. Jan.), vor 
mek etlbtt erröten (18. Jaa.\ d» lummt micft Kritß gebe» (15. F^r.), er tnrd 
mtcft gnädig sein (2. Miirz), noch kleben rnttik vteim Vergekimgen an (26. Min), tdk 
Iran mich ihr Gesicht mmteUen (-1 Apr.). 

2) Über duä KiiHlriiigen hocli(ieutüclicr Elemente iu die Sprache jener Gegend 
vgl. K. Loewe: die Dinlektmischiniiir im Hai>deburgi8cheii Gebiete, 1889. Hoh«ndode> 
lebe» liegt /.ieinlioh an der Gren/e ^ lioi hdeutscheii Einflusses. 

'A) Mü'^MloliUri;: cens mott eck deck doch scfjrfni. Ostrrwcdd innen (I 1.57): 
bi wiki du kannst mik hüpen. Atzeudort (I IBü): schadet mik alles nischt. 
Alt-Stassfitrth (I Ui')): loOete ftldhten, «ati mueet du mik naher kommen, dat tft 
dik höreii kann, wat du mik bicliSt, 

Ii All-I^tassfnrth (S. 110); de weit dil gram. Hirre (S. 113): «MI hiri 
mik tau. LJI Ockendorf (S. 115): moak mik nidt de klider noat. 

')) Andere Beispiele : es kleide sich in der schmeichelhaftesten OestaÜ (17. Jan.), 
sidt im Stand» werfen (17. Jan.), du wiret dm £tiUehhu§ in meiner Sede prd^ 
(;'.. Felir.), der Blick den ich in dunkler Zukunft warf (G. Febr.), o $enk dich in 
meinem Herzen (2."). März), in dunkeln Wolken hüllen (1 -\pril). 

C) Magdeburg: uyp den markt Osterweddingen: op^t i'Wd (daL), 

m*n Kriedk dotetohoten, m de Kardte (dat). U agdclinrger Börde: tu dm deipen 
Sumpe, wifn KnQppeL 



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Eb Tajseibttdi ans Matdüssons Jugend 



85 



er oft Btatt des niederdeatsclieii Aeeusatiir im hd. den Dativ setzen moss, 
kann sehr leicht in den Fehler verfallen, dass er den Dativ auch ein» 
mal einsetzi, wo er nicht hisgehOrt, am aller Idchteskoi nach solchen 
Präpodtionon, die mit beiden Kaans verbunden erscheinen^); dahin ge- 
bühren die sftmtlicben im Tagebacb anzutreffenden Fälle*). 

Der Abdruck sehliesst ach in Interpunktion und Orthographie an 
die Handschrift genau an. Es ist also gedruckt: GWe, Seegen, jemahb, 
Ndkmmt foiiseezen, SchuZf BeSsiancU, darann, helffen, u. s. w. Eiue Aus« 
nähme machte ich jedoch, wenn die Orthographie der Handschrift ver- 
wirrend ist, 80 bei den Worten das und dasSf die in der Hs. vermengt 
sind*); diese habe ich nach moderner Orthographie auseinander gelialten, 
die Abweichung der Hs. jedoch in den Anmerkungen verzeichnet Ebenso 
habe ich einmal ein in der Hs. stehendes 8uh in si«, und ein las und 
iass geändert. 

Vollständig beseitigt sind die in der Hs. last regelmässig gebrauch- 
ten Abkünungen: m = mm, H = nn,u, = und; m = mm, -e, -es, -er, 

^Sffl, 'Ml» 

1) IlUliscIie Pfifft' rlafiir fiiuUni <u-h hvi }\pntvr. Woun Bräsi^ liestreltt ist, 
Uoclwleutsdi zu sprwlii'iij Iw'gegueu ilini gern solche Kutglciauugcu ; z. D. Kap. 45 auf 
Arem WMe, Mok$! xl a. 

2) Ii) anderen, die aitfzu/iihlen KU weit fohren -würde, ist lungekebrt der Acc. 
statt des riclitigcu r>;it. tri'schrielx'ii. 

3) Im allgemeiueu wird die Scheidung beider Furueii iti der Ortliograjiliie des 
18. Jabibunderts beridts genau beobachtet Mau darf deshalb m der hier an Tage 
tretoaden üuddierheit wohl ebenfalls eine Nttchwbrkiiug des NiederdeutscheD otblickeii, 
das diese FoimOD nidit trmot 



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86 



Karl Helm 



[106 a] Geheimes 

Tagebach worin ein Bekent- 
nies aller meiner Hand* 

lungen. 



J. F. Matthisdo ü 
Cl:berg : d. 13. Jan. 
1777. 



Symb. : Lebe wie da weun du stirbst, 

WOnsdien irirst gelebt zu haben. ') 



Brste Abtbeilung. 



[107 aj D. 13. Jäooer. 

Der heutige Tag Terging mir unter mancherlei Auftritten der Freude 
und des Schmenens, und nie hab* ich doch eine so milde wohlthfitige 
Seelenrahe empfanden als heute; eine sflsee wehmQthige Schwermnth 
die meinen Qeist heute zu angenehmen, ernsten Empfindungen stimmte, 
war die Quelle von manchen Betrachtungen, die ich über mein Schiksal 
in der Zukunft anstellte, und die immer dahinnaus liefen ich könne nie 
ohne Tugend und Gottesfurcht glüUieh werden; 0! möchte doch Gott 
mein Herz immer geschikter zur {107 b] Tugend machen, mir immer 
mehr Stärke geben das Laster zu bekämpfen! 0! wie glfiklich wflrd* 
ich sein! 

Ich war heute morgen noch in H *) dem Aufenthalt meiner 

Mutter, und hatte den beutigen Tag zu mdner Abreise nach Gl. b ^ 

bestimmt, wo ich schon zu lange abwesend gewesen war. Mein Ab- 
schied Ton mdnor Mutter und zärtlichen Schwester kostete mir Tbränen ; 

mit dankerfüllter gerührter Seele fasste ich die Seegenswünsehe , die 
Mutterlehren auf, die sie mir nachschikte. — Ich ging fort — es hatte 

1} Gelleft, Geistliche Oden. Vom Tode, Strophe 2, Vers 1. 3. 
2) HfliiendodelebeD. 
S) Ciosterberg»!. 



£än Togelmdi au M«tttiistoin Jugend 



87 



stark gethant und dw Sebnee war m«hr(mt-[108a]Üieil8 geschmoIzeD 
dasa idi also immer im Wasser gehen musste — ich hatte rerschiedene 

sieh dnrehcreusende Empfindangen. — Ich kam in M an nnd 

gieng m denen Dem : M *) wo ich einen ausseroidenflich ver- 

gnfigten Nachmittag hatte, ünachuldiger Sehen, und 3pifilo waren 
unser Zeitrertreib ; aHee traurige und kummefYolle war jetxt aus meiner 
Seele fort, ich war so heiter, so froh wie ein jeder der nur etwas em- 
pfindet in oiner solchen Gesellschaft nothwendig sein mus — denn : H — — 
fiind ich [108b | beate liebenswürdiger als jemahls und ihre Gegenwart 
machte allee um mich her zoElysiam. 0! was') yor feine Empfind- 
ungen, kan der unschuldige Reis eines liebenswürdigen Mädchens in eine 

empfindsame Jünglingsaeele regen Ich blieb noch einige Zeit 

und nahm dann iLbscbied, verlies das Haus mit dem leichtesten Herzen, 
und unter Begangen von Wonnen die sich nur empfinden aber nicht 

sagen lassen — Ich kam auf Cl. ber an und hatte den VerdruBS 

nicht, den ich mir wegen [109 aj meiner langen Abwesenheit versprach 
— ich eilte zu den Umarmungen meiner Freunde — . Glüklich sei der 
heutige Tag da es mir einfiel, wieder ein Tagebuch zu halten! Gott 
schenke mir seinen gnädigen Beistand dazu; dass ich nie'*) was aufeu- 
schreibon nöthig habe, wovor ich eröthen mus — Gott segne morgen 
den Anfang zu mdnen Geschäften mit seinem besten Segen, nie lasse 
er mich Tergessen wie gross das Glük des Tugendhaften ist. 



D. 14. Jftnn. 

Noch kan ich nicht, mit jenem süssen Selbstgefühl, von mir aa<;en 
ich lebe tugendliaft, ich erfülle die Vorschriften meines Schöpfers I — 
Noch Süll wankt meine Seele auf ein Meer von Leidenschaften bestürmt, 
wogegen zu kämpfen ich leider noch gar zu schwach bin! Herr! Herr! 
stärke meinen Geist, halte mich wenn ich strauchle! — 

Der Fleis in raeinen Geschäften war heute noch sehr mittelniiissig 
und oft'') sank icli sogar zur Trägheit herab; weim ich (UOaj mich 
bemühte in den Lebrstuuden achtsam zu sein, so hielt mich bald die 

1) Magdeburg. 

2) ' Wer diese deraolaelles M. aind, von denen eine: H. auf den jungen Bicbter 
beuHideren Eändnick gemacht hat, lAsst üth nicht festatellen. 

3) in d l Tis. VQT wtu ein dufchstrfcheneB wie. 

4) nie über der Zeile, 
d) Oß über der ZeUe. 



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Karl Htfiiu 



Unacfatäamkeit anderer theils Gedimken an den gestrigen Tage, die rndne 
ganze Seele füllen, davon ab — 

Zu leichtsinnig bin ich auch gewesen und habe maucbmahl ganz 
meinen guten Vorsäzzen zuwiedtr gthandelt — 

Ol möcht ich doch erst am Abend eines durchlebten Taue> mit 
Zuversicht sagen können : Heute bin ich der Tugend treu geblieben, 
heute hab i< h Gott nicht beleidigt I — Herrl Herrl lass mir bald dies 
seelige Vergnügen empfinden! 



LllObJ D. 16. Jänn. 

Ich kan mit dem Ende dieses Tages, das Zeugniss mir geben : ich 
Md der Tugend heute nftber gekommen ! — Glüklicher Ausspruch möch- 
test du doch ganz wahr sein! Möchte doch nicht das allzagfinstige 
Urtheil das ich von mir selbst ftUe schuld darann sein, dass ') ich oft 
denke ich bin tugendhafter geworden und mich denn doch von der Tagend 
entfernt habe! — Wiel viel viel Neigungen, viel Leidenschaften hab* 
ich noch zu bekämpfen, wie vid Fehler noch abzulegen, ehe ixk [lila] 
mit Wahrheit mich dnen Tugendhaften nennen kan! — Aber Gott 
wird hellffen ! Steht er mich bei, will ich alles öberwinden ! — 

Mit meinen Fleiss bin ich heute besser zufrieden als gestern, ich 
habe mehr Mühe uDguwandt achtsam zu sein und habe verschiedeuea 
angelangen das ich mit Gottes HüUffe fortsezzen werde. — 

Herr, ich flelie dirh, lass mich dem Laster immer mehr entsagen, 
und der Tugend in allen getreu bleilten so wird mir das Leben unter 
Lust entÜieben, wie der Bach durch Blumengeiilde. 



[111 b] Den 16. Jann, 

Ich stand heute hei guter Zeit auf, that damuf mein Morgengebet 
lind heute glaub ich mit mehrerer Andacht als sonst — gieng darauf 
mit Zufriedenheit und Heiterkeit an meine Geschäfte in Vertrauen dass 
Gott meine Arbeit segnen wolle — 

Ich war den Vormittag ziemlich aufmerksam in den Clausen, ausser 
in der letzten, wo ich*) theils meinen allzusüssen Empfindungen, die 
mich noch gar zu oft seit jenen schönen Nachmittag, dahinreissen, nach- 
hing theilä wurde ich durch nichtige Zänkereien gestört — 

1) IIb. da», 

2) ieh aber der Zeil«. 



Ein Tagebuch aus MattUasom Jugend 



89 



|112a] Bei Tische wurde ich. Dach einer alhugrofisen Lustigkeit^ 
bald dorch einen verhassten Umstand, in Traurigkeit und Nachdenken 
gesezt, (loch meine gewöhnliche Munterkeit siegte bald — 

In den Nachmittagsclasseo war ich mittelmässig aufmerksam — 

In den Studierstunden aber eben so gut als ') müssig (zu meiner Schande 
seis gesagt), denn ich schrieb ein Gedicht ab, das*) ich die^io Ferien 
gemacht hatte und dessen Inhalt niclit der Beste ist. Nach Tische 
war meine vergnflgteste Zeit dieses Tages ; in der Qttellscbaft von vier 
Freunden fern von ungesitteten und rohen Scherzen, wurde die Frage 
aufgeworffen, ob eine keusche Liebe [112 b] auf Schulen zu billigen sei? 
Und wir alle kamen darin überein; ich weis kein besseres Beispiel, 
dass ') die Liebe iliren Nuzzen habe, als mich selbst ; seit ') diese heilige, 
diese reine Liebe, in tiieiiiem Herzen wohnt, sind alles Laster, alles 
Rohe meiner Seele ein Abscheu; auf nichts deiikü ich^) als des geliebten 
Gegenstandes würdig zu werden; und wodurcli solto man, der*') voll- 
kommensten Tiiij:t'ii(l, der*') reizendsten Unschuld, des*') feinsten zart- 

empfindensten Mädchens [dein ganzes Bild geliebte H .p) wie*) 

die ist die raeine Seele zur Tugend geleitet, anders [ll3a] würdig wer- 
den, als durch ein tadelfreies, schuldloses Leben ; 0 ! seit ich geliebte 

H dich sah, als das Laster für micli allen Reiz verlohren; 

ddne sanfte, holde Seele, ist zu mir übergeströmt, und hat mir die Tu- 
gend gelehrt, und wie reiiend hab' ich sie gefunden die göttliclio Tugend ! 
Wie ist es möglich gewesen dass ich mich ohne Tugend und Gottes- 
furcht habe glüklicb schäzzen könnend 



Herr, Herr ich flehe dich, stärke immer mehr und mehr meinen 
Geist, zur Tugend, lass mich immer mehr und mehr das Laster verab- 
scbeuen, und bald ganz empftnden wie glQklich, wie unendlich glüklich 
der Tagendhafte seil 



1) aU doppelt gesduieben. 

2) Bii. dau, 
^ Hb. das. 

4) vor seit üi der Iis. di dnrclistrichen. 
•'*) denke ich ist ilojipdt 'jt'schriclioii. 

(!) statt der — der — des war zuerst emcr — einer — eima rlnii-licn 

7) Das in Parenthese fücsctztc steht in rln II-., in l'areuthcbe ain Kaiul. 

8) vor wie in der IJs. ein durc-hgestriihenc» ah. 



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90 



Kart Helm 



[USb] D. 17. Jäon. 

0! dasB^) doch meiM guten VcursSsce erat vest in meiner Seele 
stehen möditeo! — das*) doch meine QeainnuDg erat so tadelslos wäre, 
dasB*) ieh sagen könte: Eein Laster es kleide sich auch in der schmeichd- 
haftesten Gestalt» es nehme noeh so sehr die Hine an, als kOnne es 
einen glflUich machen, mfisse meine Sinnen blenden ! Nar mein Leben 
schuldlos zu fahren mflsse die stärkste Triebfeder aller meiner Hand- 
lungen sein! Ol möchte mein Geist nur immer recht lebhaft in die 
himlischen Scenen der Zukunft hineinschauen, die einen [114 aj tugend- 
haften Wandel b^leiten — Nichts als lachende reizende Kider erblik 
ich da, nichts ata die seeligste Wonne, die der Himmel erzeugte und die 
geschaflSön war den Tugendhaften zu lohnen, nemlich ein gutes Gewissen 
— 0 ! du heiliger edler Schaz, was bist du f&r ein Kleinod in der Brust 
eines Jfiuglings, o möchten alle*) deinen unschflzbaren Werth kennen, 
nie nie wfirdra Laster das Geschöpf entstellen das gemacht war Gotte 
gleich zu sdnl Nie mfisse mein Geiste der den Augenblik den er hier 
zu wallen hat nur zu oft [114 b] f&r seine Bestimmung hält^ seine 
wahre Bestimmung verkennen, der er geschaJTen iai Nicht*) ward 
ich, hier ein kurzes unroUkommenea Leben zu fahren, nein ich ward, 
damit ieh noch dann wenn die Bahn des Lebens durchlanffen ist, dort, 
wohin noch kein Auge geblikt, Gott schauen sollte 

Grosser Gedanke! ich bin nicht wflrdig dich zu denken, im Staub 
nur fcan ich mich werlFen und weinen und anbeten! — Herr stärke 
meinen Geist zur Tugend; damit ich noch am Ende meines Daseins 
ansruffen könne: Ruhig und heiter geh* ich ein zu meines Herrn Freude! 



L115a] D. 18. Jänn. 

Dieser Tag ist ganz für mich verlohron - Iii l'iitluUigkcit, Lciclit- 
sinn und niclitsbedeutenden Beschäftigungen, bracht itli ilin hin — Ich 
sage nichts weiter — diese Worte sind schon biureicbeud, mich^) vor 
mich selbst erröthend zu machen ; — — — — — — — — 



1) Hs. Am. 

2) Hb. allen. 

3) YOr nicfti in der Hs. ein durchgcstrichcnos de, 

4) mkh ober der Zdlo. 

')) Zwei and eine lialbe Zeile sind bier iii der Ue. mit Gedankenstrichen wie- 

gefiUlt 



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£b Tagebucb aus MatdiiBBous JtigMid 



91 



Gott! gedenke nicht der Sfinden m^er Jagend! sei mir gnftdtg nach 

deiner grundlosen Barmhendgkeit Stftrke mmsa Geist, wenn die 

Sfiode mich in Men gedenkt. 



1115 bj D. 19.Jftnner. 

Ich äcbmoicble mir beute Gott gefälliger gelobt zu haben als 
gestern! — 

Du kennst mein verderbtes Herz, Allrnächtiger, du weiset wie oft 
ich fehle — Ich erfuhr heute es würde über 8 Tage Oomraunion sein, 
ich entschloss mich mit zu gehen ~ — — Ich werde mich also dei- 
nem Versöhnungsaltar nahen? 0! möchte dieser hohe Gedanke mein 
Herz ganz nmt'oinion und würdig mich der heiligsten Handhiag machen ! 
Gieb 0 ! Gott deinen besten Segen mir zu diesen wichtigen Vorhaben : 
Lass alle Sünde fern von mir ^^eiu! denn ') du o Erlöser hast ja auch für 
mich auf Golgatha geblutet. 



[116 a] D. 20. Jänn. 

Noch nicht der Tugend treu gelobt ! — 0 ! Herr, wie laoge, soll 
ich noch fern von dir sein? Wie lange soll mein Herz noch zu schwach 
sein, dem Laster entgegen zu kämpfen? — Zu schwach bin ich. den 
schädlichen Eindrücken^) für mich zu wiederstehn — Sende o! Gott 
deinen Beistand von oben herab, heilige meine Seele, zu der heiligsten 
Handlung, lass^) unbeflekt und rein meinen künftigen Wandel sein — 
Ol wie glüklich, wie wunderseelig werde ich sein, wenn mir die gött- 
liche Tugend erst dieses Leben zum Paradiese macht 



[116bl D. 21. Jton. 

Dieser Tag ist wieder von mir in ünthätigkeit und LeichUjiuu hin- 
gebracht, und wenig nur lialie ich meiner Hestiminung nachgedacht — — 

Gott, (iott, sei mir gnädig und barmherzig und gieb mir Stärke 
allen Versuclumgen der Sünde /.u wiederbtehu, damit ich bald m nur 
sageo könne: ich bin tugeudhait! — 

1 ) Iis. den. 

2) I>ii>s ilcr unter iKt Mehntalil der ScIiUlor zu KliKtt'rli('rji<'ii liiMTScliemle Ton 
kemeewcgB lobeuswerl wai-, ial bektuuit : v^'l. aucb M. I>i>ring, Mutüiisüuu» Lebeit, ä. 13. 
Beideliungen darauf finden sich im riiKi>l>uch öfters: vgl. die Au&eicluiuiiigea sum 
14., 'i3. iitul 2ö. Januar. 

3) H». to. 



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92 



Karl Helm 



[ina] 



D. 22. Jänn. 



Mit der uusserbton lu'^cliriiiiiinu tniiss ich gestuheii, duäij ditiäer Tag 
wieUtir einer von denen ist die ieh lui verlohren schäzze. — 

Erbarmer, du Vater aller .Menschen gieb doch meiner Seele .Miith, 
meinem Geiste Stärke, allem Böseu zu wiederstehen, alle Lokuogea tk-r 
Sünde zu meiden ; i^telie doch die Ruhe meines Herzens wieder her ! da- 
mit ich mein Leben schuldlos lühren niö2:e — — 

0! Herr heile mein aündenkraukeö Merz — 



Heute ist der Tag an dem ich ward, beute sprach mau es ist ein 
En&bidn gebeien, ungeiriss ob ^) ich eins! secbzebn Jahre erracben 
wfirde, die jetzt unter des AUmftcbtigeD Schuz entfloben sind! 0! 
Dank, Dank, entfiamter weineodw Dank ströme von der Lippe, der 
Freude Tbiftne blizze im Auge dass Gott so g&Sdig meine Tage leitete; 

Denn unter seinen süssen Vaterschuz 
Entgleiteten der guten Tage viel 
Im steten Wechsel unter Freud und Schmerz 
Zum iingemessnen Meer der Ewigkeit; 
5 Zwar wankte oft mein sündenkrankes Herz 
Zur bluraeu vollen P»ahn des Lastors hin 
[118aJ VerL,MiS der Tiiua-nd iu dem Wcltt^'ewühl 

Und schwaiii in faden Schein. !ii]:[iüi,'en fort; 
Doch nie vergisst du Gott der deinen ganz! 
10 Denn jenes Laster was sonst*) schön mir schien 
Was gleich dem Morgentraum mich tiiiischete; 
Ist jetzt dem Herzen Abscheu; Tugend nur 
(0! hoher Nähme Silberton dem Ohr!) 
Kan Blumen auf des Lebens Piade streun.*) 

1) In (!(»r Iis. ist dann tlnrrhgpsfrifbcn uiul tlarflher ob geachridieu. 

2) In der Hs. vor sonst <'iii ilmch'iPSfrirJiiiU's mir. 

o) Diese Verse bis jetzt ungwlruckt. IMe Autorschaft M-'s Ist hier meines Er- 
achtens vüllig üdat. Man merkt den Versen noch deutHcb &e mangelnde Cbung an. 
Beachtenswert ist St^einvergnügm S), das eb Uebüngswort M atthissoDS ist (y^. 
16. Febr., 19. Man;), wiihrend es sonst selten voikonont; das Giivnn'sdie WB. bdegt 
C8 nur einmal ans Campe. 



Lll7bJ 



D. 23. Jan. 



Kiji 'J'iiiTcbucb aus MaUbissons Jugeuil 



93 



EiDige gute Oesprftcbe die ich heute Abend Ton der Yortreffiebkeit 
der Togend hielt, minderten vieUeiebt den Eindruck, den manches böse 
Beispiel auf mich gemacht haben könte!^) 

Der AUmftcbtige ändre meine Gesinnung mehr und mehr nnd lenke 
gans meine Seele nur Tugend! 

[118 bj D. 24.Jän. 

Der Herr hat beute Barmherzigkeit an meiner armen Seele getban, 
nnd mich gnftdig geleitet; ich habe beute öfter an den Allm&chtigeii 
gedacht, öffiter zu ihm gebetet^ Trost genug, Wcnne genug, mein Herz 
zu seeligen Em^ndungen des Danks zu stimmeu! 

Nur am Ende dieses Tages begieng ich einen Fehler, wovor ich 
enOthe; beute an dem Tage wo ich gänzlich nur an meine Sflnden hätte 
denken sollen, wo ich nur aufrichtige wahre Reue hätte empfinden 
BoUen, trank ich einige Gläser Wein, weil heute alle Scholaren, als 
[119 a] den Geburtstag unseres Königs feyrten! 0! wie viele waren da, 
welclie so schlecht für ihre Seele sorgten! 

Übermoigen Communiontag und heute in') Sfinden gelebt! 

Barmheruger Gott! Lehre mich doch den wichtigen Schritt be- 
denken den ich thuen will, lehre mich ganz deine Wege wallen, be- 
stärke in mir den Yorsaz auf ewig der Tugend zu leben. 0! dann 
wird dein heiliges Abendmahl fialsam meiner Seele sein! 

Lil9bJ D. 25. Jän. 

Ich verschweige den heutigen Tag vor mir — Genug es war der 
Tag der Beichte und brachte mein Herz nicht rein nicht geläutert 
genug meinem Gotte dar ! 0 ! die vielen Zerstreuungen denen man hier 
ausgesetzt ist waren schuld daran! — Wehe denen durch die Aerger- 
niss kernt !*) 

0! Gott stärke mich zu dem morgenden Tag! gieb Krafk und 
Linderung meiner armen Seele! 

[120a] D. 26. Jän. 

Ich habe sie genommen die fialsamtropfen, die Stärke meinem 
Gdstv Kraft meiner Seele gaben! 

1) Vgl. Sdte 91 Anm. 2. 

2) in ist doppelt gcsehrfelMm. 

3) Vgl. Seite 91 Amn. 1 



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94 



Karl Helm 



Mit Flammenschrift sei dieser Tag in meine Seele gegraben, an 
dem ich dem Allmächtigen mein Gelübde erneute! 

Doch 711 stark sind die Empfindungen die mich überströmen, sie 
übermuuueu mich, nur anbeten liann ich im Staub. 



[120 b] D. 27. Jan. 

Noch ist in meiner Seele nicht das wahre warme Qefähl der Tu- 
gend! Noch immer bin ich xu wankend in meinen Yorsftzzen! 0! Gott 
gib mir doch Beständigkeit nnd Festigkeit im Glauben! Lehre mich 
alle Tersnchnngen fiberwinden und mache so mein Leben mir zu einem 
Paradiese! 

Den 28. Jän. 

Wenig habe ich heute wieder meinen Pflichten getreu gelebt! Zu 
leichtsinnig bin ich immer noch und zu gefühllos gegen das Gute! 
Möchten doch durch Gottes Gnade alle Fehler auf einmahl aus meiner 
Seele ausgetilgt werden! Möchte ich nur erst so viel Tugend üben um 
sagen zu kOnnen: Ich habe um etwas meinen Pflichten getreu gelebt! 



[121 a] D. 29. Jfton. 

Ich glaube heute zwekroässiger als sonst gulebt zu haben, denn 

viele nüzliche Entschlüsse hab' ich in Gesellschaft von W R — 

— u. C heute «^efasst, und wir hubüii uns wirklicli mit einander 

vereinigt eine gelehrte Gesellschart zu schliessen, haben schon Gesezze 
vorgeschlagen und Regeln festgesezt und ich glaube unser Vorhaben 
wird von ausgebreitetem Nuzzen sein ! Nur der Allmächtige mus uns 
unterstüzzen und uns zur glüklichen Auslühruug unseres Zweks seinen 
guädigen Öeegen und Beistandt verleihen, damit wir uns als würdige 
Diener seines Worts, zum Nuzzen der Menschheit bilden mögen. 

[121 bj * D. 30. Jan, 

Mitten im Getfimmel mancher Freuden, numcher Angst und mancher 

1) Von tleu hier i^eiiauuteii Freundpii ist K. sicher der jung verstorbene Jakol) 
Rosenfchl, der zwar nicht in Klnsterbergen selbst lebte, aber in der Schule des Lieb- 
frauenldosters in Magdelnirg dcfa damals zur Univeroltat vorbereitete. C. ist Coppiua, 
der auf MatUiissMJg üitwicklunir wiUin tul seines Aufenthalts in Klosterber}<:en vott 
L'r<»'st>ni Kintluss war; Vgl. Döring S. 14. lö. W. ist wohl der spiUere Dessaner Ober- 
pliurcr Waith er. 

Von der hier erwähnten gelehrten Gesellschaft erfahren wir fcmrriiin nirgends etwas. 



£b Tagebuch aus HatttiiBsoiis Jugend 



95 



Henensnotb, entfloh mir dieser Teg! Der barmherzige Gott gebe mei- 
ner Seele nur immer melir St&ike dem Laster zu wiederetehen, o! so 
bin ich glüklich ewig glfiUichl 



D. 31. JäD. 

Mürrisch und unzufrieden endige ich diesen Tag den ich sonst in 
gröeter Zufriedenheit durchlebt habe; Gott stelle doch die wahre Ruhe 
in meiner Seele wieder her lass mich doch immer gut immer tugend- 
haft leben, gans meine Seele zum Guten hinlenken J Sei mir gnfidig 
nach deiner grossen Barmherzigkeit! 



[122 a] D.I. Febr. 

Gott hat heute Barmherzigkeit an meiner armen Seele gethan ! 
Mein Herz ist heute offener den feinen Kmptinclun'ijen gewesen! Tch 
weis Gott wird es thun. er wird mir noch eiumahl recht emptiodeo 
lassen, wie glüklich der Tugendhafte sei. 



D. 2. Febr. 

Ein im Misvergnngen, Schwermutli, Unzufriedenheit mit meinem 
Schiksahle durchlebter Tag! Aber Gott sei gedankt, ich war nicht die 
Uraach davon; ich verschweige hier Umstände dio mir violleicht der- 
einst noch traurige Stunden machen möchten. — Gott lasse mir seinen 
ferneren Trost und Beistand nicht fehlen, er führe mich immer nacli 
seinen Vorschriften. 

[122 b] D.S. Febr. 

Gott, Gott ich weis's du wirst bald das J^eidcn meiner Seele enden; 
du wirst immer vester den Entschluss in meiner Seele prägen, nur 
allein der Tugend y,u leben, nur durch ihr glüklich zu werden ! Du 
siehst mein Leiden du wirst es enden! o! bald! bald! 



D. 4. Febr. 

Zum wenigsten besser als gestern, glaube ich heute gelebt zu 
haben ! Aber das : besser, heist immer noch sfindhaft, schwach und un- 
vollkommen! Gott wird aber mein Herz ändern, mir seine St&rke, 



]) Tu <1er Iis. vor wirst i<in durchgestrichenes immer. 



Karl Hdm 



aeine beiligie belebmide Kraft verleihen gut und tugendhaft ta. sein md 
80 ganz das Glük zu empfinden das die Tagend begleitet. 



[128a] D. 5. Febr. 

Zwar war lieute so fohlerliaft als möglich mein ganzes Betragen; 
aber dcnnoeh glaub ich war es besser, als sonst : i«^h weis Gott wird 
mein Herz immer mehr läutern immer mehr von allen Sfin'jpn reinigen 
m\fh \mmev tugendhafter machen! dazu ?erbilf mir mein Heiland um 
deiner ewigen Erbarmuug willen! 

D. 6. Febr. 

Mit finstenn ünmiith meine Stirn umwOlkt 
Im Herzen Trübsinn, wallt ich diesen Tag — 
Der Blick den ich in dunkler Zukunft warf 
Wo meine Phantasie mir Schreckpbantomen schuf, 
Yerfaüllt' in Traurigkeit mein armes Herz! 
Doch wenn mein Leben erst von Sfinden fem 
Entgegen frohen Ewigkeitsn schwebt 
Dann wird auch meine Seele heiter sein, 
Dann wird die Schwermatb meine Tagen fliehn^). 



[123 b] D. 7. Febr. 

Zwar frohen Muthee und heiterer Seele war ich heute, aber waren 

■ 

meine Handlangen anch so wie sie der Allmächtige fordert? — Dies 
waren sie nicht! — 0! Schaam und Kene müssen jetzt meine Seele 
ersclifittern! — Du grosser Gott hilf meiner Sehivachbeit, heile meis 
krankes Herz, sei mir gnädig um Christi willen. 



D. 8. Febr. 

Ganz fern von den Wegen die die Tugend zu wallen gebeut, habe 
ich diesen Tag geendet! 0! wo sind die Gedanken an uieioo Bestim- 
mung? Sind sie ganz aus meiner Seele getilgt y 0! nein das wolle 
der Allmächtige nicht ! Er bewahre immer meinen Fuss, dass er nur 
die Pfade betrete, die zum ewig dauernden Uiük führen. 

1) UngednicH Auch hier halte ich M.'a Autondiaft tta getickt; daftlr aptechcn 
schon die faledien grammatischen Formen, die sich hier «faigeschttchen haben. 



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£iii Tagbbueb aus MatUiissons Jugend 



97 



[124 a| D. 9. Febr. 

Wie sehr! wie sehr geh' ich noch den Weg der Sünde. Diesen 
Tag brachte ich wieder so hin ohne das Heil meiner Seelen zu bedenken ! 
Aber Gott sei mir gnädig nach deioer grosseo Bannherzigkeit! Siehe 
gnädig mich armen Sander an. 

D. 10. Febr. 

0! wie efi mich noch ofl ergreift das Bewastsein, dass ich sfindig 
lebte! Noch giesst die Bdigion, die ao oft Stab dem Ermatteten war, 
nicht den süssen Balsam der Ruhe in mein Hers! — Aber du bil&t 
mir Allmächtiger ich weiss es! ganz traue ich deiner Barmherzigkeit! 

[124 b] D.H. Febr. 

Noch kann ich nicht ruhig sein! ich bin noch immer wie nmher- 

getrieben von meinen Sünden! Soll mein Herz sich nie der Tugend 
öffben? — Soll es nie den süssen Trost empfinden der die Tugendliaften 
beglükt? — 

Ich Uaue der Gnade des AllmüchtigeQ er wird mir helfen! 

D. 12. Febr. 

Viel habe ich heute wieder den Herrti gesündigt! Viel i.^t ineiiie 
Seelo zu den We^^on der Sünde liiiigeschweift ! 0! Allmachtiger lenke 
doch raeine Seele ganz zur Tugend bin, lass mich do( h die Wege wan- 
deln die du geboten hast, lenke du alle meine Fusätritte, dass ich immer 
dir gefälliger lebe. 

[I25a] D. 13. Febr. 

Noch lebe ich in Sünden, fern von den Geboten meines Gottes ! 
Er gebietet die Tugend und ich folge dem Laster! Möchte ich doch 
nur erst zur rechten Erkentniss meiner Sünden kommen ! Ich folge noch 
gar zu sehr der lokenden Sirenenstimme der Sünde, lass mich so leicht 
hinrcissenl Oott gib mir die allbelebende Kraft deines Wortes der 
Sünde immer mehr zu wiedersteben! 

Den 14. Febr. 

Noch kan der frohe Gedanke eines durch Tugend glnklichen Le- 
bens, nicht recht Wurzel in meiner Seele &ssen. — Ein allzuhizziges 

1) ich fOät in der Ib. 

NBUB HEIDKLB. JAHRBUBCHER X. 



Kurl Helm 



Temperament, das ^) mieh oft za so vielen Fehlem hinreisst^ ist schuld 
an all meinen Übertretungen, die andi den heutigen *) wieder fttr mieh 

traurig machen — 

Herr bezeige dich würksam auf meine arme Seele. 

[125 bj 1>. 15. Febr. 

Widrige und angenehme Schikaahle machten heute diesen Tag för 
mich merkwürdig — Ich mus heute mit Schaam und Beue (o! möchte 
diese aufrichtig sein) wieder tou mir gestehen dass ich mich gar zu 
leicht hinreissen lasse gar zu oft den Geboten des Herrn zuwieder handle, 
und auch dies that ich heute, ich weis es o! Qott wie schwach mdn 
Herz noch istt Du allein kanst mich zum Guten Kraft der Ansfflh- 
rung geben! 

D. 16. Febr. 

In taumelnden Scheinrergnägen, lebe ich immer noch fort^ ich 
heflfte gar zu sehr meine Seele auf das gegenwärtige und Ternachlfissiga 
das Efinftige! 0! gnädiger Erbarmer du kennst mein Herz, ich weis 
du wirst dich über mich erbarmen und mir gnädig sdn nach deiner 
grundlosen iBarmherzigkeit. 

[126 a] D. 17. Febr. 

Eh ich nicht einen gewissen Fehler, der mir jetzt so sehr anklebt, 
ablege, kan nie mein Leben schuldlos sein ; Ich weis es der Herr wird 
mir gewiss dazu verhelffen, dass ich meine Neigungen immer mehr be> 
kämpfe und mich ganz so bilde wie es der Allmächtige befiehlt^ der 
mir gewiss seinen Segen verleihen wird. 



D. 18. Febr. 

In einem einzigen Stfik hab ich heute regelmässiger gelebt in dnen 
Fehler bin ich heute nicht verfallen davor danke ich dem Allmäch- 
tigen ! Er wird Barmherzigkeit an mir thun, auf ihn allein will ich 
mich verlassen er wird mich nicht verlassen, so viel traue ich seiner 
Gnade! 

1) Iis. tla.<ts. 

2) Ks ist nicht jui/.iini'lmion, dass hiot Tag aus \'crsohcn aiisgelasscii worden sei; 
vgl. die AafiE(4«hnnngrn zum AI. Marz. 



Eän Tagetnidi am 11 atlhiBBons Jugsnd 



99 



[126 b] D. 19. Febr. 

Ich habe das Zutrauen zu Gott, er werde mir noch einmahl, hier 
in diesem Zeitpunkte meines Lebens so gnädig sein, und seinen väter- 
lichen Seegen auf all meinen ') Handlungen ruhen lassen ; dass ich mein 
Leben vor seinen und tier Menschen Augen unsträflich führen könne, 
mich mj nier seines Trostes erfreuen möge I Der Herr wird meiner Schwach- 
heit verzeihen! 

Den 20. Febr. 

Gott wird mich nicht verlassen ! — Diesen Gedanken hab' ich heut 
bei mir genährt \m\ gefunden, dass ich nach allen Vorfällen meines 
Lebens nicht anders urtheilen kann ! immer zeigt sich die grosse Lang- 
muth und Gnade des Allmächtigen in allen meinen Handlungen! Er 
trägt mich huldreich und wird es ewig thun! 



[127 a] D. 21. Febr. 

Vergnügt und heiter lies Qotl mir diesen Tag^ Torfiberfllehn — 
Hätt' ich seinen Geboten seinen Vorschriften nachgelebt, würde ich vie- 
leicht ruhiger sein als jetzt — doch dies that ich nicht; noch immer 
mus ich es zu meiner Schande gestehen — Doch mein verderbtes Herz 
wird Gott umwandeln, und mich .seinoii Geboten empfänglich machen — 
HErr mein Gott ich traue auf dicb. 



D. 22. Febr. 

Noch ganz fern von den Vorschrifften meines SchOpffers, in jugend- 
lichen Zierstreuungeo, lebe ich noch immer! Möchte doch der Herlr 
mein Ken erst einmahl allmächtig rühren! dass ich recht stark im 
Glanben mid immer geneigter zur Tugend werden möge! Nur dnen 
einen Fehler muss ich noch ablegen dann bin ich geschiht Gottes Vor- 
sohrifiten zu folgen und glüklich zu sein! Der HErr wird mir dazu 
verhelffen! . 

[127 b] D. 2a. Febr. 

Yielfilltig und schwer hab* ich mich heute wieder Gott versündigt, 
in mancherlei Fehler bin ich verfallen! nicht mit der Beruhigung eines 
Christen kann ich diesen Tag enden ! Schwer liegt er auf meinem Ge- 

1) Hs. Meine. 

7* 



100 



Ksri Hcfan 



wiGBen! Kann ieh von dem Allmächtigen noch Vergebnng hoffen? Ja 
ich tnrae auf seiner Hfilffe, er wird mane Seele roinigen tod allen Sfindeol 



D. 24. Febr. 

Mein ganzes Bemühen soll dahin gehen, den Vorschriften Gottes 
nachzuleben ! Aber biezu mus ich seinen Segen erflehen und den wird 
er mir nicht rersagen \ Er wird mich gewis got leiten ! Möchte ich 
nur immer seinen heiligen VorBchrifiten folgen! Verleihe mir o! Herr 
deinen Segen. 

Ll28a] D. 25. Febr. 

HErr ! HErr ! ich Üehe dich um deiner Erbarmang willen rühre doch 
einmahl mein Hers wieder, öffne ee doch dem sanften Qeföhle der Ta- 
gend ganz! Laas es mich immer mehr empfinden wie nothwendig die 
Qöttliche meinem Leben sein mfisae! Bin ich tugendhaft o! so mag 
alles wieder mich sein! Dann steht mir der HErr bei! 



D. 26. Febr. 

Tnter manchen Empfindungen des Sclinierzes und Schwermuth ent- 
schlüpfte mir dieser Tag ! — Deraohngeachtet sehr geschwind ! — 

Ein lieber Freund riss sich heute aus meinen Umarmungen, Thrä- 
nen fällten meine Augen, da ich ihn verliess! Vielleicht seh' ich ihn 
nie wieder! denn ein weiter ßaum trent ihn von mir — Wir hatten 
heute eine Lufterscheinung die der Materie nach ein Nordlicht zu sein 
schien; wie ein breiter Streif dehnte es sieb in Regenbogengestalt, über 
die ganze Uemisphähre aus, TOn Osten gegen Süden, und Terscfawand 
gegen 0 Uhr Abends. Die ungewöhnliche Gestalt machte es meifcwi&rdig. 



[128 b] D. 27. Febr. 

Den Geboten düä Alliiiäclitigen lehe ich jetzt in allem Stük zu- 
wieder, so .sorglos, so ruliig, walle ich meine Tage hin — Wenn die 
wahre Seelenruhe wilrey o: wie glüklieh wäre icli dann — Doch 
davon ))in ich noch leider alizuiern — der Herr siebt mein Elend und 
er wird es enden I 

1) Wer «lies ist, lilsst sich nicht feststellen. 



£iu Ta^ubucli aus Muttliis^suus Jugcud 



101 



D. 28. Febr. 

Ganz fern bin icli jetzt von den Wegen der Tugend 1 nocli iminor 
zu i>ehr zur Sinnlichkeit geneigt, vci felile ich ^auz den Weg der Tugend 
~ Kann ich hoffen Allmächtiger dass du mich der Sünde entreissen 
wirst? — Ja du wirst es gewiss thun, denn ich traue auf dichl Ob- 
gleich mein ilerz noch so sündhaft ist. — Wie glüklich werde ich 
sein wenn erst der Tugend mein Leben heilig ist! Dazu wolle mir Gott 
verhelüen nach seiiier Erbarmuug willen! — 

[129 a] a 1. Merz. 

Der Verlust meiDee beetea s&rtlichsteD Freundes') (ich sage nicht 
zu viel) der sich heute ans meinen Umarmungen wand; machte mich 
den ganzen Tag scbwermfitbig, die sflasesten Thr&nen so wie sie die 
wllrmste reinste Freundschaft weinen beisst, hab ich seinem Andenken 
geheiligt — die genauste Übereinstimmung fesselte Herz an Herz: OJ 
wie empfand ich seinen Verlust so hart, wie umwölkte er meine ganze 
Seele mit dfistrer Schwermnth! — Doch wir werden uns*) wiedersehen 
und freudiger! — 

D. 2. Merz. 

Einer schweren Sünde hab* ich durch Gottes Gnade') heute wieder* 
standen ! Der Herr wurd mich gewiss nicht verlassen, mich gewiss ohne 
mein Verdienst gnAdig sein; das Zutrauen hab' ich zu ihm. Erbarme 
dich meiner o! Herr um ddner Erbarmung willen! 

|129b] D.S. Merz. 

Mancherlei Vorfälle machen mir diesen 1 ag merkwürdig — Möchten 

nur meine Seelen umstände so Ijeschallen sein dass ich sagen konnte ich 
hätto Gott treu gedient, aber diesen süssen Trost kau ich nocii nicht 
hahen, aber durch üottes ( ruade denk ich meine Leidenschaften zu be- 
siegen, die nur noch zu oft mir zuwieder sind und mich am Guten ver- 
hiudern! Doch Gott wird helfl'en. 



D. 4. Merz. 

Endlich wird sich der Herr noch gewis fiber mich erbarmen, dies 



\) Vicllrirfit Coy.piiis Bi-stiiniiitos liisst »ich nicht fcsUitelien. 
2} werden uns ist tloppclt gcsdiriebeu. 
3) Gnade feUt m der Hs. 



102 



Karl lieiiu 



Zutrauen bab* ich zu ihm, wird mieh gaus rein von meinen Sfindeii 
machen, da8S ich sagen könne, ich tobe der Tugend getreu. 

[130a] D. 5. Merz. 

Immer leb' ich noch in Sünden, immer noch fern von den Wegen 
der Tugend I Gott inuche ') docli lueiu Herz erst einmahi ganz geschikt 
zur Tiicfcnd und zu ihren Freuden? Lass 68 mich endlich eininahl da- 
hin bringBü, dass ich sagen könne: Icii leb« so, wie es der Herr willJ 

D. 6. Merz. 

Noch bin ich in meinem Christenthum nicht weiter gekommen, noch 
bin ich immer so fern ?on dir o ! Qott, gieb mir doch den wahren 
Muth eines Christen, erbarme dich über meine arme Seele!! 0! ich 
bin jetzt wieder in so traariger Ver&Bwmg ! Srbarme dich o ! Herr 
dber mich nach demer grundlosen Barmherzigkeit! 

[180 bj D. 7. Merz. 

Beinahe hätt' ich mein Tagbach vergessen Aber ein schOnes Bnch 
das ich jetzt lese! Gott wird mir meine Sünde verzeihen! erbarme 
dich mein o! HErr mein erbarmender Heiland, lass mich doch immer 
mehr dber m^ne Leidensebalten siegen ! Sei mir gnädig um Jesu willen. 

D. 8. n. 9. Merz. 

Diese zwei Tage hab' ich sehr vergnügt ausserhalb dem Closter 
zugebracht! — Hab" ich aber immer an Gott gedacht? Habe ich immer 
meinen Pflichten getreu gelebt? Mit Scliaam und limc mus ich ge- 
stehen dass ich /.u h'ichtsinnig, zu nachhissig im Guten war — Heute 
taiid meine Seele in der (jesellschaft meines besten Freundes ^) ein ent- 
zükendes Vergnügen; denn*) ganz vereint unsere Empfindungen die 
genauste Harmonie! 

[ISl a] D. 10. Merz. 

Ganz habe ich die Wege des Herrn heute nicht verfelilt — denn er 
gab mir heute das Glück einer in Ihm freudigen und ruiiigen Seele! Wie 

1) mache ist (loj)j)elt gescbrieben. 

2) in fehlt in der Iis. 

8) Ebunfalls nicht gcuuu zu busüiumcii ; da aber die Ziisammeukiuifl iUiäserhiUb 
des Klosters stattfindet, so wird man wohl au Uosenfeld denken dürfen, vgl. olioii S. H 
Anm. 1. 

4) Us. den. 



Ein TageMi «u8 UTatthtwons Jugend 



103 



hdter wie jagendlicbstÜl verfliesst unser Leben, wenn die Tugend unsere 
Tage mit Bosen umkränzt, und Jede Bitterkeit um uns her entflieben macht, 
dass wir nichts sehen, als dn paradiesisches Eden das sie uns schuf. 



D. 11. Merz. 

Könnt ich einen Fehler nur noch ablegen wftre ich ?leleicht bald 
80 gluklioh der Tugend naher zu komm«! — doch Got^ Geist wird 
mich heeeden, dass ich erst ganz tugendhaft weide, und mit reinem 
unTerf&lscbten Herzen ihm allein diene — dazu Terleibe mur der Herr 
seinen besten Segen — Heute war der Geburtstag imseres Hßrm Abts 
Beseriz^); verschiedene Unordnungen die vorgingen werden ihm vermuth- 
licb diesen Tag in etwas verbittert haben. 



L131 b] D. 12. Merz. 

Ich habe lietitc sehr fehlerhaft und leichtsinnig gelebt ; habe man- 
ches Vergnügen gehabt, aber an den Geber desselben leider gar zu 
wonig gedacht; kann ich mich denn noch nicht zum Guten entschliessen ? 
Soll ich immer noch zwisclicii Tugend und Ilster wanken? Gott Gott 
sei mir gnädig um deiner Erbarmung willen — 



D. 13. Merz. 

Ich kann noch nicht von mir sagen, ich bin in iii' moni Thristeu- 
thiim weiter gekommen — immer noch quält mich der Uodanke, dass 
ich meine Jugendzeit so schlecht anwende, dass ich*) immer meiner 
Bestimmung noch so sehr zuwieder handle I — Bin ich nicht in der 
Welt, Gott, und meinen Mitgeschöpfen zu dienen? — Erlülle ich diese 
Bestimmung? — Ol ich möchte vor Schaam vergehen wenn ich bedenke 
wie unvermögend wie schwach ich noch bin! 



[132 a] D. 14. Merz. 

üiiter üram und Unniuth verging mir dieser Tag und noch Inii 
ich nicht wieder heiter; es scheint als wenn eine Krauklioit in 



1) Friodiidi Gabriel Iteseritz, seil 1771 Abt von KlosterberKeii, woliin er als 
Nachtblger Fioiiiuianus aus Kopeiüiageii bemfeu viwde; später üeucralsuperiuteudeut 
iD Magdebuig, f 1^6> 

2) mA fehlt in der Ha. 



104 



Kail Hdm 



meinem Inern scbliebei, die nielits als der Tod heilen werde — Oft 
aehne ich mich nach der Ewigkeit, and wurde ihr in manchen Stunden 
des Nachdenkens mit offenen Armen entgegeneilen, oft hefitet sich wie- 
der meine ganze Seele auf Erdgedanken — Es scheint jetzt als ob Un* 
glük und Kummer, meine Bestimmung wftre — Oder ich verkenne 
vielleicht meine edle Bestimmung, die mir Yorsebriftett gebeut, die ich 
nur leider allzu wenig halte ^ Doch der Herr wird mir Helffer sein, 
und an mir seinen Nahmen Terberlicben. — 

Einst geh' ich ohne Beben 
zu meinem Vater hin 
denn Christus ist luuiii ]>l'1jcu 
Und Sterben mein Gewinn. 

leb fürchte nicht die Schreken 
der fireudeleeren Gruft. 
Der wird mich anferweken 
der mich zum Grabe ruft^. 



[132 b] D. 15. Merz. 

Noch ^.a /u waukcnd bin icii meiueu Vorsazzoii. ich schwanke 
iiniiiei iiuch /wischen Guten und Bösen. 0! möchte doch meine Seele 
erst die rechte Festigkeit haheii, allflm Laster m wiederstehen! mich 
ganz zum Guten zu keiiren ! So schw erniüthig als gestern, ach ! viel- 
leicht ist meiner Seele Heilung nah. — Erbarme dich Herr uui deiner 
Erbarmung willen über mich! 



D. lt>. Merz. 

Zwar meinen Geschäften habe ich heute treu nachgeleht, aber dem 
Herrn hab ich nicht so gedient wie ich ihm hätte dienen sollen; Gott, 
bestärke doch erst recht den Entschluss in meiner Seele^ die nur allein 
zu leben auf dich mein ganzes Vertrauen zu sezzen, o ! so wird es mir 
gewis wohl gehn! 

1) kh ist dopiicU gpscluriobeD. 

•.') Strophe 1 utui oims geistlichen LietK;? von ( lirisiüpli ( liristiiui Sturm, dw 
von 17<l'.l— 1T7S /weiter rrodiixer an der licil. (loislkinlic zn .Matr<k'l)nr<i war Müs 
Gc'dii'ht ist ;i:uei'äl ({fdrut'kt iit <lcr /weiluii Atidujzo seium' „(ieheti' luui i.icder für 
Kimtcr«, Halte 1772. 



Eilt Togebucli ans MattluBWiiS Jugend 



105 



L13äa] 



D. 17. Merz. 



Gott lasse nur meine Entscbliessungen die ich auf die Zakonft 
geüust babe mir lecht ernstlich sein, daes ich recht dabin sehen möge, 
dass mein Herz aufrichtig und von allem Laster frei sei! o! dann will 
ich vergnügt die Tage meines Lebens durchleben und mich immer mit 
der angenehmen Hoffnung trOsten, Gott habe mich zu einer höfaern 
Seeligkeit bestimmt 



Wie wenig habe ich heut* an Gott gedacht ! Wie wonig bin ich 
int'iiion Pflichten getreu Seewesen! 0! könnt ich doch erst an dem 
Abend eines durchlebt^en Tages, die innre Seelen rnhp «^'eniessün, die aus 
dem Bewiisstsein guter Handlun?»en entsteht! Vielcicht ist mir dieses 
Glük noch aufbohalten ! O! ich traue dein ol erbarmender Heiland! 
Sei mir gnädig nach deiner grossen Güte und Barmherzigkeit! — 



Ein stilles ruhiges Leben, von allem Getümmel entfenit^ im Cirkel 
xftrtlicber Freunde, dabei ein schuldloses*) Gewissen; dies sind die see- 
ligen Vorzüge, wodurch ein Mensch zar heimlichen Freude gelangen 
kan! — Warum wftbl ich denn dieses Loos nicht« das auch mir von 
der Vorsicht beschieden ist? — leb könnte dadurch das seltenste Glük 
geniessen! 0! noch zu sehr folg ich den Scheinvefgnfigungen! 



Sanfte Empfiiulnngen und ein ruhiges Scolengefühl zeichnen mir 
diesen Tag vor den übrigen aus! — Kin herrliches Buch sliiute nieiiie 
Seele hiezu — es war der zweite Tlu'il vom Siep^wart — Dank sei es 
dem Herzen des edelsten Dichters, der mir dies Glük beschied! So 
schön und so gefühlvoll fand ich Doch keine Geschiclite dnrchgeführth, 
ganz [134 aj die Sprache der ungeschminkten Natur! Und so viele 
Edle und ihr betrübtes Schiksahl, wie müssen sie nicht das Gefühl 
eines jeden so hoch spannen ! — Ich habe mich in die Stelle eines der 
Edlen gewünscht um aucli so sanften Todt m sterben! 0! wie selig 
wurde ich sein, ein solches Mädchen wie Marianne nur oinmahl zu sehn - 
doch dies ist ein phantastischer Wunsch ! Wo wäre jetzt die Welt, die *) 

1) Iis. schiihllosen. 

2) vor die iu der Hü. ein ilurcbgestrichüues durcA. 



D. 18. Merz. 



L133bJ 



D. Id. Merz. 



D. 20. Merz. 



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106 



Karl Helm 



wfiidig w&i« durch ein so göttliches Geschöpf sich verschöDert zu sehen ! 
Die süsseste Schw&rmerei umfängt meine Seele wenn ich denke, nur 
einen so seeligen Tag meines Lehens za leben, wie ihn Si^wart und 
Mariane in ihrem Glflke lebten! 0! dies würde Wonne des Himmels 
für mich sein! Ich müsste unter dem allzugrossen Olflk unterliegen. 



L134bl D. 21. Merz. 

Der heitre Frühlingstag den wir heute hatten und der schöne 
monderhellte Abend, setzten meine Seele in das süsseste Enteükken; 
tausendmahl macht' ich mir Vorwürfl'e, dass ich den TOrigen Sommer 
so wenig genuzl. doch diesmahl will ich ihn hesser nuzzen, ich will 
ganz ein Schüler der lieben Natur werden, und sie soll mich allein leiten ! 
— Wie oft bükt' ich heute zum hohen Mond auf, und dann überfiel 
mich ein Schaudern und der Gedanke an Tod und Ewigkeit ward hell 
in meiner Seele — Seelen abgeschiedener Freunde^ schienen mich zu 
umschweben; und alles ward so wehmüthig feyerlich um mich her [135 a] 
dass ich der Welt vergass und mit offenen Armen in dieser heiligen 
Stunde des Nachdenkens dem Todt würde entgegen geeilet sein ! Möchte 
er bald kommen — doch Gott hat mein Ziel befestigt, er wird mich 
durch^s Thal der Leiden führen — 0! dann wird sich verklürt mein 
Geist zu Ihm aufschwingen, dann werd ich keine Noth keinen Kummer 
mehr kennen — meine Geliebtesten folgen mir bald — Im Anschauen 
des Höchsten sind dann unaussprechliche fiberirdische Wonnen — Ich 
werde Gott schaun, vor seinem Throne aller Leiden vergessen! — Ewig! 
Ewig! Ewig! - 

Bist du noch fern gewünscht« stille Stunde? 

Bist du nocli fern i 
ich stehe jetzt mit meinem Gott im Hunde 

Und stürbe gern — ') 

1) H«. «äft. 

2) Veretnriieno FixuimU' Matthissons im eigentlichen Sinne «les Wortes sind in 
der <l;n)i;i!i<_'cit Zoit nicht nacli/uweisen. Man hat wohl sphip vcrntorhcnen Ver- 
wuuUten 'fM «lüukcn, spmcll ou suiueu 1771 gestorbenen Olieini Diukonus Mattliisöuu 
in Grossensalza, in dessen Hain H. in den Jafami 1770—1771 war, ond an dessen 
Scliwester, die 177;) starb nnd dt'ren 'l'od anf »len damals zwölfjährijfen Mutthissuu 
einen tiefm Eiiulntck inachte. Vielleiclit I<t auch an M/s Grossvater MatSkias M. zu 
denken, »1er in demselben .lahre starb; vgl. Döring, S. 9 ff. 

3) Die gewandte Form dieser N'erse ist geeignet, Zweifel au M.'s Verfasserochaft 
2tt erwedEeo. Indessen ist es mir nicht geglflekt, einen anderweitigen Vofitsser aus- 
findig Sil machen, 



Eili Tu^ebucb aus Mutthissuus Jugeud 



107 



(135 Dl 



D. 22. Merz. 



üaiiz von dem gestrigen ist dieser Tag verschieden; Warum er- 
fßllt nicht jenes seelige Gefühl auch heute meioe SefU'"-' — Wuium 
denk ich iieute niclit so lebhaft an Gott? — O! ihr Engel des Him- 
mels leitet auf Gottes Wink, meinen Fusstrit, dass ich vergnügter Seele 
dies Thal der Leiden durchwalle uod dauu fröhlich eingehe zu meines 
Herren Freude! — 



Deinen Tag ol Höchster der dir ganz heilig sein sollte, hab' ich 
nicht so durchlebt, wie es dein Gebot von mir fordert — 

0! wie wohl wird mirs sein wenn ich einst ein Engel (iottes, auf- 
geflogen bin in die Wohnstatt der Auserwählten ! Wenn ich die Sonne 
trinive die nicht untergeht und keine Tlirancu sieht ! 0 ! dass ') icli 
erst überwunden hatte! — Meine Seele ist trüb' und wünscht zu ster- 
ben! — 



0 ! heute hatte micli das härteste Schiksahl darnieder geschlagen, 
als ich wieder einigen Trost empfing! — Möchtest du o! Hoffnung mich 

doch niclit täuschen I — Gott wird mir heißen, er iiUein wiril mein 
Selm/, und Trost sein! -- Auf ihn. auf ihn will ich allein trauen I — 
üiezu verleihe o! Herr deinen Seegen um Jesu Christi willen! 



Noch kann ich nicht wieder zufriedeu sein, noch die Seelenruhe 
nicht wieder zurückruffen! — Möchte mir Gott doch bald helffen — 
0! senk in meinem kumnaervoUeo Herzen 
Geliebte Hoffnung dich 
Dass^) bald entfesselt aller ScbmenoD 
meiD Geist sich jugendlich 
dem niedern Staube wird entscbwingeo 
Und unter Engelchören singen 
Was nie ein sterblich Ohr gehört! — 
0! bin ich wohl der süssen Hoifnung werth?*) 

1) Hs das. 

2) Hs. das. 

'A) .M/s Autorsi-haft wird liiii isiliuii (lunh ilt>ii Keim Herzen : iijclinienscn, der 
auf einem gnuumatiscbeQ Fehler licnilit, •;i>sirli«>rt 



D. 23. Merz. 



[186a] 



D. 24. Merz. 



D. 25. Merz. 



108 



Karl Hdm 



|t36b] D.26.Men. 

Noch bin ich nicht von Sünden frei, noch nicht von Fehlern rein 
— Immer noch kleben mich meint vorigen Vergehunf^en an — Wie 
lange soll ich noch so schreiben? — Wie huii^e soll meine Seele noch 
trostlos selirnucliten ? — 0! Gott Gutt unter deiuciii lieisitund kann ich 
alles enden, kann ich ein gutes Gewissen wieder erhalten — lliezu gieb 
mir deinen gnädigen Beistand! — 

D. 27. Merz. 

Recht vergnügt und heiter bin ich diesen ganzen 'i ag gewesen — 
Gott du gabst mir dieses Vergnügen! Schon empfinde ich die Schön- 
heiten der Natur lebhafter, eine Stunde hab ich heute gesessen und 
den Untergang der Sonne, und den rothen Abendhimmel wie er sich 
spiegelte in die klaren Teiche in den ioigsten Seelenvergnugungen aDgeseho. 

11878] D.28.Mer2. 

Heiter und ftoh bin icb geweaeD, aber ich habe meinem Gott nicht 
mit dem gehörigen Bifer gedient! noch beobachte icb nicht die gehörige 
Selbstverleugnung! — Gott möchte doch bald balsamischen Trost in 
meine Seele herabtrftuffen, möchte deine Gotteskrafk mich erst stark ge- 
nug die AnMe der Sonde abzuhalten machen! 

D. 29. Men. 

Morgen werde icb diesen Ort verlassen und auf das Land reissen; 
den Kleist und Yhrgil werde ich xu mir steken um dort recht die 
Scenen zu f&hlen worin die Herlichen uns fähren! 

Jedes Blümchen auf der Flur 

Jede Schönheit der Natur! 

Sei dort meinen Büken hpilig! 

Alles scheint mir znzuruüen — siehe! 

Gott der ists durch den ich blühe — 

Und ihm weiht mein Dank sich nur!*) 

L137bl I). 30. Merz. 

Heiter wie meine Seele ist heute der Frühlingshimmel ; — Gestern 
bin ich hier angelangt; ich geniesse nun aller ländlichen Freuden, wo- 



1) Den Ort tlimca LaudHul'i'iitiiults ym bustiuiinou, ist mir nicht geglückt. 
WahtseheinUdi von M. selbst 



Ein TuRdmch aitt HatddMona Jageml 



109 



durch Gott «in gef&lilTolleB Herz beglfikt, mit einer Seele vell zftrüieher 
Gefable ?oll sfisBer Bafa! Die angeneliine Stille, das reizende Ckmiscb 
80 vieler Gegenetftode, wiegt meine Fbantasie in angenehme Trftune der 
Zukunft Und ganz rest iet der Gedanke in meiner Seele geworden, 
«nmabl anf dem Lande meine Tage an durchleben. Hier nur fühlt 
mm die wahren Vorzöge der Menschheit, hier nur predigt die ganze 
herlicbe Natur, die in all ihren Schönheiten vor uns daliegt, uns die 
Weisheit Gottes — 

Gott wie selig, wie ftoh machst du den Sterblichen 
Jedes Blümchen der Flur Metet ihm Freuden dar 
Alles athmet fintzfiken 
Alles ermuntert zur Fröhlichkeit ihn^). 



[138 a] D.Sl.Merz. 

Der heutige'') tloh unter unschuldigen Vergnügen und unter Scher- 
zen dahin; wir wurden zum Prediger dieses Urts gebeten; ein aufrich- 
tiger Mann, ohne die geringste Ader von Falschheit — der ehrliche 
Mann feyrte den Geburtstag seiner Frau, die er ausserordentlich liebt; 
ich seh mit stillem Entzükken ihr gegenseitiges Vergnügen — und mehr 
als einmahl stieg der Wansch in mir auf auch einst so glüklich zu 
werden — Ich werde immer heiterer und meine Seele lebt immer mehr 
in den manigfaltigen Schönheiten der Natur auf. 



|l88b] D.I.April. 

Was heute njein Herz empfand das kan icli nicht schreiben; So 
still und wonnereicli sah icli hier meine Tage entschlüpfen und jetzt? — 

Würde mein heisser Seelenwunsch Erfüllung, 
Brächt ein gütig Geschik mich Ihr entgegen 
Eine fiügelschnelle Minut in ihrem 
Himmel zu athmen; 

1) Sicher von M. s, ll><t die Vertue siüd ein« Nadiilunang der ersten Strophe 
▼Oa Höltf 8 Gcdiclit: d:i- I ,;iiH]|i'!K'n flTT"); 

WundcrsoügtT Mauu, woicluT der Stadt ciiUlohl 
Jedes Stosetn des Banm.s, jedes Gcraned) des Baebs, 
Jeder blinkende Kiesel 
Predigt Tilgend und WdBheit ihm. 

2) Vgl. S. 98 Anm. 2. 



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110 



Kurl Helm 



Seeliger wftr ich dann als Staubbewohner 
0! dann würd ich den Frübting besser fahlen 
Besser meinen Schöpfer in jeder Blume 
Schanen und lieben!'). 

Was Ists was du empfindest mein Herz? Ist es schmelseode Weh- 
mutb? — Was ists was mir den Bosen so hocb bebt? — Kanst") 
dos &8sea Herz? — Klopfe mhiger! du störmst wie draassen der sans- 
sende Nord der an dem scbtaen Hinunel die Wolken nmhertreibt — 
da bist trübe meine Seele, wie draussen der lenzisehe Him-[139a]mel 
den der b9se Nord in dunkeln Wolken bOllt — Mein Herz schwimt 
zwischen Wehmuth und SS&rtliebkeit; Gott Ton welcher Begung wallet 
mein gepresster Busen so hodi? — Mir wirds besser denn mne bal- 
samische Thrflne macht meinem gepressten Herzen Luft — Heilig! tau- 
sendmahl heilig] sei mir dieser Tag! — 

Hoffende Liebe verschönert das Leben 

Ohne sie sind alle Herzen todt! 

Von den goldnen Tftgen die um Engel schweben 

Mahlt die Liebe schon das Morgenrotb! 

Erhaben ging die Huldin aller Herzen 

Durch die blüthenbewMkte Luft 

Wie der Glaube geht zwischen geweihten Kerzen 

Durch den blauen Tempelduft! 

Sebdner als alles; neu wie des Lenzen Gestalten 

Beiner als der Than in seine Nftchte fleusstt 

Werth dem Himmel zu diraen und die Erde zu verwalten 

Ist Dapbnes Geist'). 

1) Gedicht vou Ilülty: dk' Gdielttc, geiUuiitet 1774. 
3) vor kamt in der Hs. eb dnrchgestrichenes ist, 

'.)] Sirlipr von Matthisson seihst. Darutitcr oino Zficlimiiifr: eine schiof stehtuulo 
Fmi ilir-iii ilcinl. ihr Asche ciitrillr ; ilnnchcn cino nhiiiio l's ist ihirdmiis die Vor- 
steltuug, die auch ilie vierte atrophe der weit später, wold I7«'J (vgl. Hosäus in der 
Boilago zur AIlRcmeinen ZeiUmut 1876 Kr. 246) gediditeteo, Adelaide, wiedergiebt Bei 
dieser (u'legcnboit mag darauf hingewiesen sein, dasB eben diese ^hnsstrophe der 
V i iaiilr i iiio /sveit'elloso ReDÜDisoeiut ist an die vierte Stropbe von Hölty'a Ode an 
die Apfelbäume 11775): 

Ein BUbnchen »presse, wann wir gestorben sind, 

aus jedem Baseii, «eichen ilir Fass berührt, 

und trajf auf jedem seiner Blatter 

meines vcrherrlicliten Mädcliens Namen. 
Eine eingehendere Untersuclning dürfte wohl noch weitere ISenUirnngen zwisciicn 
HOlty'B und Matthisson'a Ljrrilc zn Tage filrdem. 



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Ein Ti^idiadi aus MatlMssnnB Jugend 



III 



ri89b] D. 2. April. 

Der Himmel war heute stürmisch und trübe. Ich aber muste 
demohngeachtet hinaus denn mein Herz war so voll und ich dachte 
in der freien Luft sollte mirs besser werden. Ich wolte zu einem meiner 
Freunde der sich auf eioem nahgelegeoen Dorfe') aufhielt. Ich gieng 
schnell, achtete die Natur nicht um mich her; meine Seele war ausser 
meinem Cörper; Ich sah zur Linken neben mich hin, sah den Kirch- 
thurm wie er hinter dem Hügel hervorblikte; dort dort wohnt die Aas- 
erwihlte! — Ich blikte wehmöthig hin und eine Thräne schoss mir 
ina Auge! — Auf einmahl ward mir das wieder so lebhaft, ich sab 
den Engel vor mir mit all seinen Beizen, aud er füllte wieder meine 
ganze Seele — Oft rief ich ans: 

Meine Seele lebt nicht h'mr 

Sie ist hingewandelt zu der Trauten 

die bald ewig mein ist. 

Sag 0 1 Hauch des Abends mir 

du umwehest sie mit deinen Schwingen 

Wo bie jezo wandelt!*) 

Unter diesen Gedanken kam ich unvermerkt an das Dorf, frug nach 
meinem Freunde und prfuhr dass er mit seiner Schwester zu mir [I40a] 
gegangen sei; ich uiuste also des Wegs verfehlt haben; ich achtete 
nicht und kehrte ohngeachtet ich heftig schwizte sogleich wieder um, 
kam eben so schnell und nocli schneller fast, wieder zurück, denn meine 
Seele war so angenehm l)escjiättigt ; Meinen Freund traf ich mit srinnr 
Schwester an, zwei gute wahre teutsciie Seelen! - Der Naclimittag 
gieng mir vergnügt genug hin! — beim Zurückgelin begleitete ich sie 
— die Sonne war schon gesunken da ich umkehrte und der Abendstern 
war aufgegangen — Das ist der Stern der Liebe dacht ich, ein her- 
liches Gestirn — Er sei das Merkzeicben meiner Liebe, wenn ich zu 
ihm hinauf blikke will ich immer denken an die gluklichen Stunden! — 

Ich denke jetzt nichts als das schöne Mädchen. Zuweilen sizze 
ich und kan mich ihr Gesicht nicht mehr deutlich vorstellen, es schwebt 
nur hlns noch sein ümriss vor mir herum und dan vverd ich auf mich 
selbst böse und gebe mir alle mögliche Mühe das ganze Bild wieder 
zurükzurutten ! — Morgen werde ich sie sehen 1 — Alles verschlingt 
sich in dieser Aussicht! 

1) XHit nfihcr zu hostinimon; vgl. Kiiil. S. 83. 

2) Au8 HicgwarU TcU 11. Strophe J und 2 vou Siegwarts Gedicht au den Mnnd. 



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112 



Karl Ildm 



[UOb] D. 3. April. 

Ich habe diesen Tag bei guten Freunden vergnügt zugebracht — 
^lanclierltM Gesprilclie machten dass ich ganz heiter und tVöh ward: — 
Gott lass meine Seele standhaft sein, ich kenne mich selbst nicht mehr! 
Wds will ich was fehlt mir? Warum denke ich iiiiiiior an den Engel. 
Wenn es Sünde ist o! Gott so vergieb mir! Ach wo mag sie sein die 
Heilige wo mag sie seinY 

D. 4. April. 

Ich soll sie beute sehen! — Ein ganzer Himmel liegt in diesen 
Gedanken! — Aber graue Regenwolken ziehen über das Thal benmf 
und der Sturm brausst — Tausendmal habe ich Gott schon gebeten, 
dasg er dem Sturm zu sehweigon gebiete. — 0! Hofflnmg wie selig 
machst du mich — Ich soll ihn sehn den Engel Gottes! 



Von der sflssesten HofFhung bin ich zur tiefsten Traurigkeit herab- 
gesunken. Denn ach ! sie kam nicht ! — Mein Seelenwunsch ward 
nielit Erfüllung! — Engel: der Hauch des Aliend.s [1-11 aj lispele dir 
»»ein Seufzen zu, ich grüsse dich Geliebte und umarme dich uiit meiner 
Seele. — Mir würde wohl sein wenn ich noch einmahl dich gesehen 
hätte ; ich habe dich heute gesucht mit Thränen und habe dich nicht 
gefunden, nun ist meine Seele trüb' und sucht die Stille. Dein gedenk 
ich wenn der Tag anfUngt, wenn der Mond durch die Bäume herab- 
scheint gedenk ich noch dein und der ersten Stunden der Liebe und 
weine. — Stets will icli zum Mond hinauf lilikken so oft er scheint: 
immer soll meine Seele au ihm hangen und mein Aug au ihm verweilen, 
vielleicht dass du auch zu ihm aufblik.st und mein gedenkst! — 

Noch einmahl muss ich heute hinaus; der Sturm wüthet heflftiger, 
vielleicht tinde ich Trost für mein sinkendes Herz; ich will Ihren Nah- 
men in Buchen einschneiden und dabei den Wohnplaz der stillen liuhe 
das kleine Dorf anblikken, das den Engel oinschliosst. — 

0 ! ich rouss sie sehen ! — £ber wird keine Hube wieder in meiner 
Seele wohnen! 

[141 b] D. 5. April. 

Ich hab* ihr gesehrieben und sie wird morgen kommen! — 0! 
kein Wölkchen müsse den Frühlingshimmel trüben ! — der West müsse 
sie umsäuseln und den ersten Woblgerueh des Lenzen zu ihr hintragen! 



Eb Tagdmch miB MattbiaBoin Jugend 



113 



Spriesse Blumen o ! Frühling ; lass früher Aurikelu und Primeln dem 
Beete entblühen ! Einen Busch Schneeflökchen habe ich für sie be- 
wahret; sie gleichen ihr! — anch so das weisse Gewand der Unschuld 

— 0 ! käme sie, Rull und Seelenfrieden würde mit ihr wieder io meiner 
Brost wohoeDl — Aber ach wie lange? 

D. 6. April. 

Ich hab' ihn gesebn ! — Tch hab' ihn gesehn den Engel Gottes ! 

— Kanst dus fassen Herz? — Brich nur! Schmelz hin in Thränenl 
Denn ich habe sie gesehn die Auserwählte Gottes! — Tausend Leben 

gab ich für diesen Tag! — Ich kann nicht mehr schreiben sie füllt 
meine ganze Seele. 

[142 a] D. 7. AprU. 

Es begegnete mir heute nichts woran ich wahren Herzensanthcil 
genommen hätte. - Nimmer verlässt mich das geliebte Biid, wachend 
und träumend füllt es meine ganze Seelei — 

D. 8. April. 

0! der seligste Tag meines ganzen Lebens! — So glücklich bin 
ich in ihrem Anschaun noch nie gewesen, alles alles verging um mich 
her, nur sie füllte meine ganze Seele! — Es war der schönste Frühlings- 
tag: ich gieng zu ihr und fand ihren Blick heute himlischer als jemahls. 
Mein Arm hatte an dem ihrigen gebebt, meine Üand in der ihrigen 
gezittert, mein Auge Wonne des Hiimiiels aus den ihrigen getrunken. — 

Liebe I Liebe welche Freuden 
Giebst du mit der Holden mir 
Engel müssen mich beneiden 
Geh ich an den Armen ihr ! ') 

All mein Wesen hat sich umgewandelt, die ganze Natur lächelt 
mir fröhliclier; denn sie ist mein die Auserwählte ! — Muss mein sein! 
Es ewig sein! — Denk ich aber der Scheidestande — o! dann nezt der 
Wehmuth Z&bre mir die Wange! 

LU2b| I). 9. April. 

So leb denn wohl du Theure, die ich wie mein eigenes Leben liebe 

— doch nicht auf ewig. — Bald sehen wir uns wieder und vielleicht 

1) Wahnehdnldi von MatthtaMHi selbst. 

VBUH UBlOSia, JAHRBUBOHBB X. 8 



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114 



Karl Hebn; Ein Tagebndi «m UatfliinoiiB Jugcod 



freudiger! — Vereinigt uds Gott nicht hier im Leben wird er es thiia 
im Tode! — Die AbscliieJsthräne ist ^jpwf^int; ich habe sie verlassen, 
die Auserwählte, den Engel Gottes, der mich zur Tugend leitet! — 
Qottee Segen umschwebe dich wo du auch wandelst ! — Denk* dass oft 
meine Seele im Hauch des Abends zu dir hin wandelt; wfito da deo 
Mond anbükst, so denk dass mein Auge anch an ihm verweilt und 
ich an die seligen Stunden denke und weine! — Leb wohl! — Leb 
wohl du Engel Gottes, Ich umarme dich mit meiner Seele! — 



D. 10. April. 

Der Tag des Schciileiis ist da! ich^ verlasse sie die Gctilde dou 
Friedens und der stillen Kuhe, wo ich wie Gessners Schäft'er meine 
Tage der Uiischulil heiliiite, wo ich glüklich war wie Gessners Schäffer ! 
Denn stark und feurig hat mein Herz geliebt. — Gott! Gott! lass es 
dem Engel wolil gehn ! Allen Segen des Himmels über die Aoserw&blte! 
Gottes Segen geleite mich! 

D. F. A. B. '). 

]) Diese vier Buchstaben finden sieb auch am Ilaiide neben dem Datum dua 
9. Aprils. Ihr Sinn ist dunkel, es ist nur zu Temoten, dass sie Irgend eine Sehhus* 
fonnel enthalten. 



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Joseph Ton GSrres' Briefe an Actafin von Aniim. 



Eraie Hälfte: Bis zu den Freiheitskriegen. 

Von 

fteinliold Steig. 



In der Bearbeitung der zwischen Achim von Arnim und den Brüdern 
Jacob und Wilhelm Grimm gepflogenen Korrespondenz begriffen, empfand 
ich 68 als einen Mangel der mich hemmte, dass in der wichtigen Samm- 
Irnig Briefe, die von Franz Binder den Gesammelten Schriften QOrres* 
aogebftDgt worden sind, GOrres' Briefe an Arnim dUntlicb fehlen. Denn in 
Aroim'B und GOrres' Freundschaft und Ideengemeinschaft wuchsen auch 
die Br&der Grimm hinein, erst als junge Gelehrte freundlich gefördert 
TOD ihnen, dann ebenhfirtig an ihre Seits tretend, und zuletzt Er- 
wartungen erregend, die Alles, was sie selber leisten konnten, überflügeln 
würden. Der Gedankenaustanscb dieser, vier in firenndschaftlichem Ver- 
trauen sich erschliesaenden ]ltenner ist dicht verflochten in einander, so 
dass, wenn uns ein ganzer Teil ihrer Briefe und Gedanken fehlte wir in 
der historischen Gesamtauffissung ihres geistigen Emporstrebens gehin- 
dert werden. 

Es müssen, als Marie QOries und Fiant Binder an die Sammlung 
gingen, die Briefe GOrres* im Naehlass Amim's nicht auffindbar gewesen 
sein. Ich hatte mich auch für meine Arbeiten vergeblich in Wiepers- 
dorf nach ihnen umgesehen. Nur zwei Briefe^ unter firemde Blätter 
geraten, fand ich dort; dn paar andere, die einst an Yarnbagen*s Fingern 
hängen blieben, sind auf die Königliche Bibliothek zu Berlin gekommen. 
All das Bruchstücke nur, aus denen sich nichts Ganzes machen Hess. 
Da kam jetzt plötzlich die Hauptmasse an unvermuteter Stelle hervor: 
die verebruttgswürdige Hand, die sie reichte, nehme die nachfolgende 
Arbeit gütig als Dank dafür entgegen. 



NBUB HBIDBLB. JABBBUESCHBR X. 9 



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116 



Iteinhold Steig 



T)or ]\\mn ist die goldene Ader, die durch Arnim s Dichtun? zieht. 
Arnim war ein Märker von Geburt und liinj: mit spiiiom e;;in/( n Dasein 
an der märkischen Scholle Landes fest, die or spin eigen ntnuf n lüifte. 
Keine Macht der Welt hätte ihn hestimriiPii k"innen, spin lilmk wo 
anders in der Fremde anzuhauen S- kic i n' l;iiiken aber, tiie diciiterisciien, 
zogen in die weite Welt liinaus und nirgeiius mocliten sie lieber weilen, 
al» am Rhein, am Main und Neckar, wo er Diejenigen fand, die ihm im 
Leben die niiclisten wurden, und wo sich seine Dichtung für immer 
heimisch maclite. Wenn Arnim die Mark verliess: seine Keisea strebten 
am liebsten dem llheine zu. 

Durch Clemens Brentano war der Khein sein eigen geworden, seit 
beide Freunde in schwärmenden Jugendjahren sich gefunden hatten. 
An Clemens' Seite fuhr Arnim zuerst den Khein binab. Um Clemens' Willen 
kehrte er zum Rhein zurück. Durch Clemens gtuann er Freunde dort 
am Rhein: als einen der liebsten unter ihnen Joseph Görres. 

G<>rres trat Arnim zuerst persönlu ii nahe, als dieser, im J;i:iuar 1808, 
zur Fortsetzung des Wunderhorns in Heidelberg erschien. Ainim wusste 
von ihm durch Clemens und hatte sein Buch, die teutschen Volksbücher, 
gelesen, worin er ein dem seinigcn verwandtes Streben nicht verkennen 
konnte, obgleich er mit dem Buche unzufirieden war. Eine Würdigung 
der Volksbücher schien ihm unnütz, solange nicht die Volksbücher selbst 
durch neuen Druck wieder zugänglich wären. Aber im persönlichen Ver- 
kehre verstanden sich die beiden M&noer bald. Arnim hegte die grösste 
Achtung far Görres' Studien und Person. Er betrachtete es wie ein 
Wunderwerk, da» neh Gtores dundi daa BeTolaüoimresen, dem er in 
jungen Jahren augethan geweeen war, durchgearbatet hatte m nationaler 
ErbsBung dos deutschen Lebens in Wissenachafl und Kunst Er erkannte 
rasch, dass die Freandschaft mit Görres seinem zweiten Aufenthalte in 
Heidelberg einen eignen Wert Terleihen werde. 

GGrrea betrieb litterartsch-historische und naturwissenschaftliche Studien 
neben und durcheinander, und begegnete sich auf beiden Geisten mit 
Arnim gleichen Weges. GOrres hielt in Heidelberg, wohin er 1806 ?on 
Kohlenz gekommen war, Vorlesungen an der Universit&t und schlosa sich 
der Gruppe Derer an, die der Yossischen Partei als antiklassiscbe Ro- 
mantiker gegenfibertraten. Voss mit seinem Anhang gebot Aber das 
Horgenblatt. Die Gegenpartei, voran Grenzer, begrAndete 1808 wissen- 
schafUich die Heidelbeiger Jahrbficher, Achim von Arnim im selben 
Jabre litterarisch die Zeitung fär Einsiedler, in der das Moi^nblatt 
bekämpft werden sollte, wozu (wie Grenzer meinte) jeder Ehrenmann 



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^08^ WH OArm' Briefe an AiMm faa Aniftt 



11? 



seinen BeifUl geben musste. Creaier, GOires, Arnim, neben ihnen noßh 
B5ßkb, Harheineke n. A., hielten fast zusammen. Clemens Brentano 
kam Ton Kassel herfiber, und Ludwig Grimm, Jacob und Wilhelm'g 
jüngerer Bruder, begann fttr Wnnderhom und Binsiedlerzeitung zu ra- 
dieren. Auf ihren Verleger Zimmer konnten sich die Freunde verlassen. 
Und 80 ging es lustig auf die «Yösse* los. 

Das Spiel dauerte nur das Jahr 1808 hindurch. Das Wnnderhom 
wurde fertig, die Einsiedlerzeitung hörte zu Michaelis auf, und die Jahr' 
bftcher begannen, unter dem Einflüsse der »unpartaüsehen* Redaktions- 
mitglieder, sich Ton der Alleinherrschaft der Romantiker frei zu maehen 
und sich der Gegenseite zuzuneigen. Entscheidend flir diese Umbildung 
war, dass Graf Benzel-Stemau, der damalige badiscbe (in heutiger Art 
zu sprechen:) Kultusminister, als eingefleischter Humanitftts- und Fran- 
zosenfrennd, die national gesinnten Romantiker amtlieb in Heidelberg 
nicht aufkommen lassen wollte und die Vossische Partei begünstigte. 
Darin lag es, dass fftr GOnes alb Aussieht schwand, in ein festes Ver- 
hältnis zur Universität eingesetzt zu werden. Er konnte nicht au& Un- 
gewisse in Heidelberg dozieren. Er war verheiratet und Vater dreier 
Kinder, für die er sorgen musste: das jüngste war erst kdrzlicb binzu- 
gekommen, und Arnim und Creuzer hatten bei der Taufe, 3. Juli 1808, 
Gevatter gestanden. Zum Wintersemester 1808 kehrte G^^rres also in 
sein früheres Schulamt nach Koblenz zurück. Einer nacti dem Andern 
verliesR Heidelberg, und der Freundeskreis löste sicli ciul. 

Zum Abschied schrieb Görres sich mit Frau und Kindern in Ar- 
nim's Stammbuch ein, lauter Scherze, die das lustige Leben in Heidel- 
berg betrafen, in ungeniertestem Schelmufsky-Tone, und scliioss: 

Lieber ßinsiedler, lass Dir die Flflgei an Kopf und Füssen nicht 
stutzen, werde kein Hermbuther und behalte mich lieb. 

Gevatter GOrres. 

Heidelberg am 3. October 1808. 

Er nahm bei seiner Abreise die Hoffnung mit, dass Arnim ihn in Koblenz 
noch beeuehwi werde. Aus Koblenz kam dann, den gleichen Ton noch 
festhaltend, der erste Brief von GOrres an Arnim nach Heidelberg: 

Koblenz am 14tea Oktober 1808. 

Ich hatte gefürchtet, mein Brief mögte nass werden unter Wegs bey 
dem gar zu schlechten Wetter, daruiu habe ich mich gescheut bis her 
zu schreiben, jetzt wo's etwas säuberlicher geworden ist, setze ich mich 

9* 



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118 



ReinhoM Steig 



hiD UDd Rchirke Boten zur Rinsiedeley zuerst mit der GratoUtion tarn 
zweyten Fieber, das nicht ausgeblieben seyn wird, wenn noch fernorhin 
in dem niedlichsten aller Siechb&iiser ^'ewohnt worden ist. Die Haare 
jedoch mflsstti «ehr schön krau?? wprdon <](m- liygrometischen Eigenschaft 
der Luft wegen, und die darinn gebohrnen Mädchen sehr weise, wal sie 
es an Flüssen schon bekanntlich sind der Nebel wegen. 

Ihr werdet schon selbst oben euere Bemerkungen darüber gemacht 
haben, wie ans der Himmel angelacht hat auf der ganzen Reisse, das 
Rheingan hatte recht sein hochzeitlich Kleid an, jetzt aber hat's wie 
ich hier sehe, sich schon kommod gemacht und die Pracht abgelegt und 
verschlossen bis zum näclisteti Jahre. Wir haben ihr zu Ehre auch recht 
geschwitzt auf dem Verdecke. Darauf sind wir hier angekommen, am 
Ufer warteten die Douaniers und wnlltfn den 7ten Theil von Allem haben, 
von Manchem den vierten, ich habe ihn aber von nichts gegeben, als 
von meiner Ersparniss und dazu haben sie sehr saure Gesichter gemacht. 
Zwölf FroYexeiiipbrn von flon Sdiriftprolipn. und Eines voth Rinsiedlcr habe 
ich iliticn auch anj^obott'n. sio liahen aber das prosont nicht einen Ptiffer- 
lin<:f i,'eaplitet. Sclimiiggelrid bin ich darauf eingezogen bis in den Kern 
meiner guten Stadt, und habe all den alten Dreck, den ich von früherem 
Frasse von mir gegeben, wieder gefunden wohl konservirt und angenehm 
riechend. Es ist mir merkwürdig, wie eine Stadt so lange unverändert 
gleichen Charakter hehalteu kann, ich finde hevn ilio nocli für jede Kerbe 
den einpassenden Stutz. Alles gut und schini, icti habe sie gebeten zum 
Maiilen zu sitzen der künftigen Vergleichuntr wegen. In der biessigen 
Lüge habe ich auch Brüder und Freunde gefunden, und wir mauern 
fort, wo oben nachgelaijsen, wir sind heym grossen Orient, und haben 
den grösten P^intiuss in die spanischen Angelegenheiten. Einige Kinder 
sind unterdessen gross gewürdeii. einige Grosse Kinder, ich habe nichts 
dagegen eingewendet, weil das so Brauch zu seyn pfleirt. Wir selbst 
sind Alle wohlbehalten, nur dass mein Kleines seit einigeü Tagen •lie 
Gewohnheit angenommen hat und es alsdann gewecb.selt in vielen kleinen 
Summen hinten wieder von sich zu geben, ein lästiges Gewerbe das aber 
seit einiger Zeit als Influenza hier herrscht. Das macht uns denn viele 
Arbeit mitten in den Ferien. 

Ich wäre glückselig, wenn nun noch ein Gruss bestellt würde an 
Zimmer, an Grimm und die Leute in i.andshut und was sonst grüss- 
bar ist, dann wenn die laufenden Neuigkeiten mir gefaliight konnnuni- 
zirt Wörden. Zum Durchsaufen wird wohl bald Anstalt getrotfen werden 
müssen, weil das Getränke sonst mit soviel Wasser temperirt wird, dass 



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Joseph vou Gürres' Brietie an Achim vou Arnim 



119 



allen Feuer darinn ausgeht, und nicht mehr angeblassen werden kann 
durch den Posauneneogel. Wünsche wohl zu leben. 

Görres.«) 

Aroim antwortete aus Heidelberg am 22. Oktobei I0Ü8; der Brief 
ist in Görres' Schrilten (8, 34) gedruckt. Arnim dankte lüi die 'IVil- 
nahme an seiner Gestuidheit, die seit seiner schweren Erkrankung in 
England immer iiocli nicht siclier war. Kv habe von Jung Stilliii,L,''s 
Güisterkunde eine Kecension für die Heidelber<,^er Jahrbücher (die aber 
erst 1817 in Gubitz' Berln.t r Gesellj^chafter erschien) m schreiben Ite- 
gonnen. Ludwig Grimm komme zum Maler uod Kupferstecher Hess 
nach München in die Lehre. Görres erwiderte: 

Koblenz am lOm Kovember 1808. 

Wir haben gestern St. HartiDsabend auf dem Berge meines Schwie^ 
gerraten gefeyert Sdt vielen Tftgen war Feuerfatter xmammengescbleppt 
mid geMren worden, nnd wir hatten eine respektable Hauebobe Flamme 
dem Heiligen tarn Beeten gegeben. Bs war wirklieh bey dem vielen Feuer 
ein Schimmer guter Zeit, die scbftne grosse, krausse Funken werfende 
Flamme, die nächste Beleuchtung unter den Hfigeln in der Tiefe auf 
allerley umgehende Figuren, rund um auf allen Bergen gleiche Feuer, 
das Geschrey der Buben in der Ebene, das scbdne Wetter und die Sterne 
am Himmel, die man immer mit den aus&hrenden Funken verwechselte, 
alles sang und jauchzte recht gut zussmmen, die Sterne hinunter, die 
Feuer und die Buben hinauf. Ich hfttte die ganze Pfaifeostrasse so 
hinunter^) durch den Fackelzug fahren mögen. Wären Sie gekommen, 
da Sie die Weinflammen versäumt, an diesen hätten Sie wenigstens noch 
sich wärmen können. Ich war sehr andächtig vor der grosen Flamme 
und ihrem Ungestümm, und dem LlIjcu und dem Zorne, nnd dasmal 
in Zoroasters Kirche, nnd obgleich im Wasser getauft, hatte ich mich 
im Feuer wiedcrtautt ti lassen. Könnte das Fleisch eine solche Gluth 
fassen, Gott sey uns gnädig, wenn die ('reatur ungehalten auf uns arme 
Kühlgefässe wurde. Aber auch zum vierten Elemente hätten .Sie zurecht 
kommen können, da Sie nämlich so gern in der Erde arbeiten, so hätten 
wir Ihnen auch damit ein Fest bereiten können, weil ich meinen Garten 
so verwildert angetroffen habe, dass es einige Tage Zeit erfoderte, ehe 
ich meinen wenigen Tulpen ihr Unterkommen verschaffen konnte. lu- 

1) Ich merke an, dass ich das MiuM?nrtlithe, die < )rtli(i'!;ra|>bie und die Inter- 
punktion der (Tschriften nach der Möglirlikeit wahre, aiirli Sfitzr. die einmal formell nicht 
geraten siud, uuberührt stehcu lasse; nm- die Sclireilumg der iVnrede liube ich normiert 

2) d. h. dm gamien Rhdn «0 fainimter. 



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120 



Beinliokl Steig 



dessen spreclie ich noch nutiitT im Optativns. und denke wohl noch Sie 
äcblittächulie den iitiem hinuiiter m uus lauten zu sehen. 

Die Rezension des Wuaderhoros hab ich voUeodet, und damit wieder 
einen kleinen Denkstein unsenm Zusammenseyn gesetzt, da wir keine 
Münzen darauf schlagen lassen können. Es bat micb Hübe genug 
gekostet den AmeiseDhaufen in Beib und Glied zu ordnen, und über 
der Arbeit ist manchmal mit der Geduld der Malt von binnen gegangen. 
Indessen bin ich zuletzt doch über das Gewimmel Herr geworden, und 
Sie werden im Ganzen wobl damit zufrieden seyn. Abet die Berision, 
wenn Sie noch oben sind, wfirden Sie sich entschliessen müssen, darüber 
zu machen, und darum wünschte ich dass es vor ihrer Abreiase wo m5g- 
lieh noch abgedruckt würde. 

Ich war eben an Jun^'s Geistertheorie als ich ihren Biief empfing), 
und habe nicht gern meine Arbeit aufgegeben, und auch wieder gern, 
weil ich nii(h daraul l:euc die Ihrige zu sehen. Ich finde das Buch 
bis aut Kleinigkeiten, die aber für sein eigentliches Publikum gehören, 
sehr gescheidt, verständig, schartsinnig, ja steilenweisse sogar genial. Ks 
ist mir merkwürdig wegen der Erfahrungen die er aus seinem Umgänge 
mit Menschen anführt, die allein noch dergleichen machen können, die 
aber darüber keinem Andern als eben ihm Rede stehen. Ich gebe auf 
die Ehrlichkeit die zwischen iiim und seinen Anhängern besteht, und auf 
den Glauben in dem Einer für den Andern sich verbürgen kann, unend- 
lich mehr als aut dto Wahrhaftii'keit unserer expenmentirenden Physiker, 
die Unmöglichkeit der Clorrektioa durch Nachexperimentiren hat der 
Gegenstand schon mit der Medizin gemein. Ich habe hier schon viel 
Streit und Zank über das Buch gehabt. 

Dass Grimm nach München kümmt freut mich für ihn, er ist dort 
recht gut aufgehoben, und wird gerade die ndthige Wärme finden, um 
vollends ausgebrütet zu werden« Schreiben Sie mir doch ob er noch bey 
Ihnen ist, ich mOgte ihm gern einen Brief von einem der Freunde von 
Hess mit einigen Zusätzen von mir selbst mitgeben. Schreiben Sie mir 
weiter, was Brentano seither geschrieben hat von dem bayerischen Wesen. 
Ich fiberzeuge micb mit jedem Tage mehr, dass meines Bleibens in 
diesem Lande nicht ist, das Wesen wird mir immer khirer und immer * 
unverständlicher. Aber während ich so überlege, rückt Teutschland auch 
so in sdnem kleinen Trappe imm«r weiter vorwärts in derselben Ge- 
sinnung. Das ist die Verdammniss dieser Generation, dass sie nicht auf 
einem Strome sondern auf stürmischen Wellen getragen, nicht weis wo 



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Josepl) TOQ Görres' Briefe ron Achim von Aniim 



121 



sin ilir Hanpt hinleejen soll, weil alles noch schneller wechselt als das 
Fleisch, uod jeder Gedanken jeden Augenblick einen neuen Herren be- 
kömmt. 

Das ist Alles was ich iür den Augenblick weiss, wenn ich Ihnen 
nnn noch erzähle, wie einige Spasvögel neulich Laiui gemacht, es brenne 
in einem H— haus, wie alle Leute hingelaufen, und nachdem sie mit 
Gewalt die Thüren erbrochen und das Haus voll Wasser gegossen, eine 
Menge geistlicher Herren aus der üeberschwemmung sich geflüchtet haben 
zam grossen Ergötzen aller Zuschauer, dann sind Sie vollkommen au fait 
der hiessigen Begebenheiten. 

Die Parabel mit dem Bienenvater in meiner Rezension habe ich 
gestern auch schon ii ihrer Nachrede gefunden, wie das uns schon mehr- 
mal b^egnet ist Wenn Sie wirklich die Bevision machen, dann dfirfen 
Sie nur bintDattzen »wie auch der Nachredner beimerkt*^. Wir sind fort- 
dauernd Alle Wehl, ihr Pathcbeo wird mit jedem Tage lieber und freund- 
licher. 

Leben Sie wohl und behalten Sie uns lieb. 

Gftrres. 

Um die nämliche Zeit aber, wo Görres den Kieund in Koljlenz 
noüh erwartete, röstete sich dieser auf die Nachrichten, die er von 
Hause erhielt, zur raschen Heimkohr in die Mark. In sein Stammbuch 
haben sich zum Abschied die Heide! berger Freunde eingezeichnet. Creuzer 
schrieb : 

fies severa ?ernm gaudium 

Scnecft, 

Hac philoeophi sententia sui memoriam commendare voluit 
Heiddbergae Fridericus Creuzer. 

d. XIV Novenibr. 
MDCCCVIII 

wälirend, aus seinen Piudar-Studien heraus, Böckh sich mit den Worten 

Find. Pylfa. I, Btr. 7 zu Ende. 

Denken Sie so lang an mich, als verhältnissmftssig dieser 
Vers ist 

Heiddbnrg d. 11 IfoTember 1808 

Aug. BOckh. 



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122 



BeioboU Steig 



von Arnim verabschiedete. Aus Pindar nahm auch Wilken seine losobrift, 
damals MitreJcikteiir der Jahrbücher und bestrebt, parteilos zmscbeii 
den gegiierischeii Tarteien seine Stellung zu behaupten; er schrieb: 

l'iuilut'. 

Erinnern Sie sich hiehey zuweilen der angenehmen Abende 
Heidelberg, deu 15. November 1ÖÜ8 

Fr. Wilken. 

und seine Frau, eine geborene Tischbein, die ein Portrait Arnim's aus 
der Heidelberger Zeit gemalt hat (das noch vorhanden ist, heute aber 
von Wenigen gekannt wird), zeichnete ihm einen wunderschönen Frauen- 
kopf in Kreide ein .Zum Andenken an Caroline Wilken*. 

Am gleichen Tage, so dass die Briefe sich kreuzten, wandte sich 
Arnim auch an Görres (8. 38). In ein paar Tagen reise er über Kassel, 
zu Grimm s und Keichardt's, von Heidelberg ab. Clemens mache Görre^s 
für Landshut und München schlechte Aussichten. Er, Arnim, hoffe noch 
etwas von Johannes von Müller, damals in Kassel, und von Goethe, den 
er zu besuchen Willens war: „Es wäre doch schändlieh, wenn Sie lange 
Zeit bei Ihren Schulbuben verschwenden inüsslen". Man könne künftig an 
Berlin, gegenwärtig wenigstens an Göttingen denken. In Baden herrschten 
heillose Zustünde. An Or»rres' neuem Buche, der Mythengeschichte der 
asiatischen Welt*, drucke Zimmer; so und so viel Bogen seien fertig. 

Arnim ging über Frankfurt nach Kassel, wo iim eine Beinverletzung, 
die er sich unterwegs durch einen Unfall zugezogen hatte, zu längerem 
Verbleiben nötigte. Er war täglich mit Jacol) und Wilhelm Grimm 
zusammen. Im Einvernehmen mit ihnen erliess er von dort an Voss ein 
Schreiben auf dessen AngrilVe auf das Wunderhorn in dem Morgenblatt. 
Eine Kopie von der Hand Wilhelm (irimm's sandte Arnim mit seiner 
eigenen Unterschrift und der Datierung „Cassel, 8. Dezember 1808* an 
Görres ab (8, 40). Dies ^Schreiben und die Entgegnung von Voss er- 
schien in den Intelligenz-Blättern der Jenaischen Litteratur-Zeitung und 
noch an andren Stellen. Görres hatte aucli von Creuzer (8, 46) einige 
Aufschlüsse erhalten. Er schrieb an Arnim nach Berlin: 

Koblenz am Iten Februar 1809. 
Dann habe iob Ibnen die traurige Nachriebt mitautheilen, daas 
unser Arnim neulich im Zweykampfo mit Voss geblieben ist« todtge- 
schlagen und im Morgenblatte begraben: Have Anima pia. Wirklieh 
niedergeMen ohne ein Zeichen Ton sich zu geben. Da Sie der nftchste 



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Joseph von Corres' Driefe au Actiim von Amim 



123 



Angehörige des Verblichenen Bind, so will ich die Korreepondeoc mit 
Ihnen fortsetzen, als ob nichts Torge&Uen wftre. Das InTentarium des 
Tisches auf dem ich gegenwärtiges oiederscbreibe ist ein Kapuziner aof 
einem Esel meinem Baben angebOrig, den ich so eben mit Siegellak 
reparirt. Eine Lichtputxe, die das Maol schändlich weit au&perrt, wenn 
man sie nor berdhrt, wenigstens so weit wie der Knabe der alle Tage 
das Brod brachte, ein Wassergeftss mit einem schwimmenden Gftnsefoss 
oder dergldchen, etwas Beiebley znm Tiegel, nnd ein Leuchter von 
EeidenkOpfen. Nun m9gte ich gern einen Koman anspinnen zwischen 
den Allotrien, aber es ist keine Sintiacht und Hertlicbltdt in ihnen, 
und kein Liebesbandel einzuftdeln, weil die einsige Dame darunter nur 
Schnuppenfresserin ist, und der stattliche Kavalier leider den GOlibat 
balten muss. Vor dem Fenster indessen hittt schon seit mehreren Tagen 
eine Maske, und giebt sieb fttr den Frfihling aus« hat auch alle &ux 
airs davon, Gang und Schritt und den leisen Tritt, und das freundliche 
Gesicht, die dummen Bftume glaubens auch, und legen sich weit heraus, 
hat er sie, klaps wird ers Nets zuziehen. Das stelle ich ihnen beweg- 
lich genug fBr, und wie ich noch Schnee haben müsse zu mdnen Ex- 
perimenten, hilft alles nichts, die unbesonnoie Jugend Usst sieh nicht 
zurfickhalten. Einstweilen habe ich Bittersporen gesftet, wenn zuftllig 
an die Sporen auch Bitter anwachsen, dann will ich sie den Spaniern 
zu Hilfe schicken. 

Gross Wasser haben wir gesehen, der Bhein hat allen Schnee ge- 
trunken, und berauscht davon ist er fibw seine Ufer binübergetauraelt, 
da und dort hat er viel zertreten nnd sonst Schaden augerichtet. Alles 
Wasser liegt schon im Heer und wird dort eingep(^kelt für die kleine 
biusliche Oekonomie der Natur. Darauf ist ein Sturm Aber uns ge- 
gangen, h&tten die H&usser Segel zum Aufqwnnen, die Stadt bitte in 
der Nacht ein gut Stück Weg zurficklegen können, und h&tte sie sich 
nun mit ihrem Weichbild auf irgend eine fremde Mark aufgesetzt, nach 
dem rdmischen Eechte wäre ihr nichts an ihrem Besitze verkfimmerfc 
worden, und der Unterliegende hätte auch vor Gerichte untergelegen. Sie 
sdien, dass ich unterdessen schöne juristische Kenntnisse eingesammelt 
habe. Ich lese Naturrecht an der hiessigen hohen aber weder weiten 
noch tiefen Schule. Sonst bin icli gegenwärtig meines eigentlichen Hand- 
werks ein Cyklope, ein halb Fuder Kohlen habe ich schon verbrannt, 
mein Tint verdirbt sich ganz jämmerlich, die Metalle, zwey ausgenommen, 
sind mir dienstbar, ich suche den Karfunkel. Nun habe ich auch 
seine Mutter und die Sippschaft, Hangendes und Liegendes gefimden. 



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ReiulioM Steig 



ich warte niii aui tiue recht dunkle Nacht und ein Gewitter darin, um 
die Königsschlange mit den Jungen in dem Neste zu übenaschen. 
Meiner Mytholoj^ie ^ehts jämmerlich, Zimmer hat von Natur ein zu 
eng gebautes Becken, die gesamnuc Hausgenoasenschaft zieht uud reisst 
mit Zangen und Brecheisen, und Alles will nicht gedeihen. Ich habe 
hundertmal gewünscht, dass die Druckerpressen Keltern wären, die 
Schriftsteller schütteten ihr GeAvik-hs dahin auf, und das Publikum käme 
und lullte sich die Krüge mit dem Satte und nicht die Papiertütten. 
Oder noch lieber wie bey der Transfui^ion des eme iiuhre aus 

einer Ader in die Andre, etwas wiit iii L'i liait* ii, dann ist alles gethan. 
Jetzt gebts jämmerlich besonders iu Stroitsacüeu, erst der Blitz, nach 
einem halben Jahre der Donner, in andern sechs Monathen die Kugel. 

Das sehe ich jetzt recht im Vossisrljen Streite. Ihre Mitraille hätte 
ich mvh nicht aufschlagen hören, wenn mir Kreuzer nicht Kxtrabericht 
danihci abgelegt hätte. Da.s (Jeschütz war gut bedient. 80 geht eine 
Zeit vorüber, zwey Zeiten und eine halbe Zeit, endlich wird zu Gericht 
gegangen mit denen, die dem Thiere und der Hure dienen. Lächerlich 
war mir, dass sie den Verdruss gegen den Einsiedler sogar in den 
Kartenall manach ') hineingeschleppt haben, er hat ein Bild und eine Er- 
klärung dazu, wo auch wieder der Hund sammt Zubehör paradiert, was 
wir doch alles zuerst in Besitz genommen haben. Der lächerliche Graf, 
der immerfort die Schrauben ohne Ende wie Jason dreht, hat wie Sie 
gesehen haben werden, sich auch hineingelegt, natürlich wo der Dreck 
am dicksten war. Ein Narr in subjektiver und objektiver Hinsicht, 
aber ein Fabriknarr, kein gebohrner, vor denen ich Respekt habe. Wenn 
Sie haben wollen, dass ich mehr weiss von den B^ebenheiten, dann 
mfissen Sie mirs selbst schreiben. Zugbrücken sind vor und hinter mir 
aafgecogen, und ich stehe auf dem Söller und Micke ins Land binans. 
Da ich (Iberhaupt meinen Stuhl dahin xu stellen pflege, wo andre Leute 
nicht viel hinkommen, so lebe ich als eine Art von Robinson pruzlieb 
und mir ists wenn ich ehrlich seyn will, so wohl als mir» nor bereitet 
werden kann. Wie im li&hrcben ist mir der Mantel mit dem der Staat 
mich bekleiden kannte immer entweder zu lang oder zu kurz, niemal 
passend. Ihr guter Wille ffir mich in Ihrem letzten Briefe hat mich 
indessen gefreut, Sie sind aber doch auch selber in der nftmlicfaen Schule 
krank. Ich mnss lachen, wie Sie mit dem Philosophen im Kasten um- 

1) Der Earten-Afanaiiach erschien bd Cotta in TQbingen. Es Ist ndr, trotz vieler 
Bcmfifaimg, nicht gohuir^on, dos •luhrf^aiiges fQr 1801) habhaft zu werden. Görres' An- 
gabe wird (Ins- Thatsüchlichc üIkt den Almanach und <lii' I"nisii (llerzeitunj^ enthalten. 

^acbtrüglich: muu vergleiche jedouh die Au^führungcu uuteu 172. 



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Juseph von liorres" Briefe aii Achim von Arnim 



125 



zogen, den in der Welt niemand brauchen kum, so «in altes astrono- 
miseheB Instrument, dessen Nutten- nionand absehen, dessen Bepaiatur 
kein tihrmadier fibemehmen mag. 

Heine Kinder gedeihen ftohlich, Ihr Pathehen mass sich Ihiie Br- 
sfthlung von lehnstandigen Spaaiergftogen in Schlangenbad gemerkt 
haben, es marschirt im rechten Trott und macht alle Pas des Eosakken- 
tanses dabey. Naehts aber Ahrt riebs keineswegs eiemplarisch auf. 
Ifeine Frau ist deawegen nicht alhowohl 

Von Brentano habe ich die längste Zeit nichts gebtot. Br schrieb 
mir einen salbungsvollen Brief über seine Bflcher, um mir das Gewissen 
in Aufruhr so bringen. Sie wissen selbst wie gans sufitllig ich sie mit^ 
genommen habe. Ich habe ne dligst zusammengepackt und abgeschickt. 
Seither habe ich nicht ein Wort von ihm vernommen. Man schreibt 
mir Sie seyen lange in Weimar gewesen, schreiben Sie mir etwas von 
Oöthe. Schicken Sie mir auch ihre direkte Adresse, da ich die Mittel- 
stationen nicht leiden mag. Da Sie doch nun wohl in Berlin sind, so 
sehen Sie sich doch einmal um, ob Sie mir nicht eine Spanne SUber- 
fhden in mein Fernrohr auftreiben kdnnen. Von MAnchen bat mir 
Boisser^ Nachrichten gebracht, die mich orientirt haben. Mir ist lieb, 
dass ich nicht nach Landshut gegangen. Die allerarmseligste und un- 
geschicktnte Intrigue rumort an dieser Akademie. Jakold ist durch 
seine Weiber und seine Schwache ganz erbftrmlich befaagen. Mit Bettine 
sind sie gar Abel daran, sie windet sich ihnen wie eine zahme Schlange 
um die Beine, sie fürchten aber die Oiftzfthne s^en nicht gehörig aus- 
gebrochen und jeden Augenblick kftnne ein tödtlicber Qiss folgen. 
Savigny trauen .sie nicht mehr, so sehr auch seine Frau alles gleich 
zu streichen sucht. Clemens können sie natflrlicb gar nicht leiden, 
und haben den Schmerzeosaosnif bey der Gelegenheit- «ch entfUtren 
Lüsen: der wird wohl auch noch den Arnim ins Land bringen. Leben 
Sie wohl und behalten Sie uns lieb. J. G. 

Ein liriet" Aniim's aus dieser Zeit, ,,seine Reisegeschichte und Uu- 
glQcksialle enthaltend", ist für uns verloren. Arnim wird dem Freunde 
berichtet liaben, wie er bei (irimm's in Kassel war, einen Abstecher 
iiacli Götliugen niuclitc, dann nach Weimar zu Goethe ging, und Neu- 
jahr 1809 in l^erlin eintraf. 

In diesem Winter vollendete Aruiiu seinen »Wintergarten**. Kino 
vornehme Geselligkeit hat sicli in einem Wintergarten zusammengefunden. 
Zur Erheiterung der hingen Abende trügt man sieh (Jedichte und ErziiL- 
lungen vor. Die Eizählungeu, die Aruiui iüi äeiu liuch auswählte, waren 



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126 



Eflüüiold Steig 



meist aus alten Bflehero gezogen, die dk EinMIer von Hddelberg der 
Vergeasenbeit ta entreissen wünsebten. Daher war das Werk, als es er- 
schkD, GOrres und Clemens Brentano so vertraut. Sie verstanden jede Be- 
fiehlig in jedem Worte. Die »Zneignung* galt Bettinen, die, als sie im 
Herbste 1808 mit Savigny's nach Landshut und Hfinchen mitging, von 
Arnim bis Aschaftenburg begleitet worden war: wo an eines Orangen- 
gartens Pforte sie Abschied von einander nehmen. Der Gärtner pflückt 
die schöne Frucht in einen Helm von altem, rostigen Eisen; der Helm 
zefbrieht, die Frucht Mt nieder: 

Da hört kh bI« a» Boden tünend scbdleD 
Uad Sdidlen schmetterten mit leichte v Spiel; 
Ich faiMl das Tambarin mit Woblgeftlleii, 

Das unten lag. worauf sie Uinend ticl: 
Das Schöne ist nii!" Knien luiverloren, 
Ks klin},t zur rei hieu /vit, ilen rechu-n iMiren. 

So drückte Arnim, als Dichter, seinen und seiner Heidelberger Fremde 
nianben an die Un Vergänglichkeit des Tüchtigen und Schönen in unserer 
Littexatur aus. 

Während Arnim so in Gedanken an die Freunde fortarbeitete und 
ihnen gldchsam einen .grossen gedruckten Brief* zuschrieb, hatte auch 
Görres nicht aufgehört, für die gemeinsamen Tendenzen thätig zu sein. 
Seine Rezension des Wunderhorus, die der Vossischen Partei das Gegen- 
gewicht halten sollte, lag fertig auf der Redaktion in Heidelberg, traf 
aber auf die ver7ftgernde Meinungsverschiedenheit der Redaktoren der 
Jahrbücher. Iii der breit angelegten Kinleitung setzte sich Görres als 
.Romantiker" sehr lebhalt mit den .Klassikern* auseinander, verfocht das 
Becht der Naturpoesie gegen das der Kunstpoesie und klopfte lustig aaf 
den alten Voss; die eigentliche Hauptmasse der Kezension bestand aas 
einer grnppenweisen Vorführung und Charakterisierung der gesammelten 
Lieder. Creuzer, der Uedakteur des bistorisüli litterarischen Teiles, fand 
die Rezension zwar sehr gelehrt, aber zu weitläuftig und der Amputation 
bedürftig: „Das thäten Sie nun am besten selbst, wenn Sie hier in loco 
wären. So aber werde ich mich daran machen müssen. Da gedenke ich 
denn etwas zu warmes Blut der Einleitung abzuzapfen. Böckh, der mit 
mir las, meinte auch, es fange etwas zu juhilirend an, welches dann 
der guten Sache Schaden thun möchte.* Es ist nicht bezeugt, ob und wie 
Treiizer amputiert hat; immerhin erscheint jetzt noch die Einleitung 
wann und weitlfiufig genuf?. Auch Arnim iiuisä noch Görres' Manu- 
skript in Händen gehabt haben, iu das er, wahrscheinlich zum Bilde 



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Jtmegh von Götres* Briefe an Achim von Arnim 



127 



Yom BifiDflnvater, die von GOms gewflnBchte Notiz, und tma auf 
Croiiser*s Stutn, mit eigeoer Hand dntrni^: dn Vorgang, der, an sich 
ganz unsehnidigor Natur, die nidit «ngeweibten Mitredakteuie atutzig 
machen konnte.- Ja, sogar nach Landshut war das Haouskript an Savigny 
und Brentano geachiekt worden, und der letztere hatte ein paar Notiien, 
die G&rres nicht gewusst, mit eigener Hand eingetragen, ein Yerfiihren, 
das Arnim selbst nicht billigte (8, 105; Zimmer 190). Arnim's Zusati 
ist jedoch in den Heidelberger Jahrbüchern (1809, S. 231) nicht mit 
abgedruckt. ,Wie Bienen väter (heisst es da) haben die Heraaagebw 
durch Spruch und Klang und Gesang die Fliegenden um sich her ge- 
sammelt"; man bemerke Görres' geistreiches Spiel mit den fliegen- 
den Bienen und den fliegenden Bl&ttem. Die erste Hälfte der Re- 
zension hat offenbar in Heidelberg viel böses Blut gemacht: es ist ein 
Zeichen des sunehmendon Vossiscben Einflusses auf die Jahrbücher, dass, 
nachdem Creuzer seinen Kedaktionsanteil, beim Abgang naehLejden 1809, 
an Böckh abgetreten hatte, die zweite Hälfte der Besension erst viel 
später, im Jahrgang 1810, erscheinen konnte. 

Der erste Teil kam Arnim Ende April 1809 unt«r die Augen. Auch 
Wilhelm Grimm damals in Halle, dem Görres* Bezeosion so hell und 
anmutig gehalten schien, wie weniges sonst von ihm. Die Freude ver- 
anlasste Arnim sofort, am 28. April, an Görres m schreiben und ihm 
für all die bethätigte gute Gesinnung zu danken (8, 55). Er sei, was 
das Historische anlange, mit Görres Einer Meinung gegen Brentano. 
Jetzt sende er ihm seinen Wintergarten. Auch hier habe das lieber- 
lieferte, in der Verwandlung zu abgesonderten Novellen, verwandelt wer- 
den müssen: so das Stück aus dem Schelmufsky und andere ku- 
riose Geschichten. Er wohne jetzt, der Physik sehr nahe, bei seinem 
guten Freunde Pistor, der von Natur Geheimrat, aus Liebhaberei aber 
Mechaniker sei; dessen Instrumente könne er, wenn in Koblenz der Art 
etwas nötig sei, aufrichtig emjifehlen; er sende von ihm Silberdraht mit. 
Dass auch Creuzer Heidelberg verlasse, um Meermanu's Kufe nach Ley- 
den zu folgen, thue ilim sehr leid. «Alle Gevattern (scherzt Arnim) 
reisen da fort, weil das Kind (Görres' jüngstes) nicht geblieben": ein 
Scherz, der natürlich die Beziehung auf die allgemeinen Verhältnisse 
in Heidel])erg zulassen sollte. Es verstrich lange Zeit, endlich liess 
sich GOrres hören: 

Koblenz am 1»*'" September 1809. 

Seit dem Frühjahr, lieber Arnim, habe icii die Hoffnung erhalten, 
die alte lieiselust würde Sie einmal wieder bescbleicben, Sie durch- 



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128 



BeUhold Stdf 



fttbren die Diagonale von TeataehUmcl, und wftreo etwa einmal mit 
einem tficbtigen Safate in meiner Stalle, nnd aebtttelten den Staub ab 
und die böaen Errinnerungeo, md was sonst von Best nnd Schmutze 
sich ansetzt in dem fibeln Jahre. Sie l[onnten wissen, dasB Hauas, Tisch 
und Bette so gut icbs habe Ihnen au Gebote standen auch onangeboten. 
Aber der Summer der is kummen und bat den Herbst mitgebracht, 
aber keinen Arnim. Das kömmt wohl mit daher, weil es dem Menseben, 
wenn er noch lange Ffisse hat, ein leichtee ist um die Welt zu spa- 
zieren, dann von Schottland nach Genua, dann Ton Fohlen an den 
Bhein,' über die Berge hinüber, um die Stadtmauern durch die Stube, 
bis er endlich noch dreymal mit Clemens zu reden ums Hünerloch 
geht, und dann von einer Hand die herausfiÜirt, eingefangen wird. 
Aber heutiges Tags, ehe man soweit gekommen ist, dass einem die 
Federn von selbst ausgeMen sind, an den Fussfiügeln, wird man ge- 
rnpft und gestutzt dass man herumgeht jämmerlich wie in der Mause 
und nicht überfliegen kann ins Nachbars Hauss, die Federn aber füllen 
sich Andere in die Eiderdunenbetten. Das ist übrigens ein Uebel, was 
noch niemal ausgegangen ist in der Welt und ich bin schon längst 
darnbw getröstet, Sie werden sich auch damit abtinden. Werden Sie 
indessen wieder flügge, heute oder Morgen, oder über Winter, der alte 
Rhein fliesst noch hell und kühl, und die Berge kochen Feuer, und es 
ist doch noch ein wenig blauer Montag an ihm, weil die Natur noch 
geputzt ist. Der Weg zu ihm hin ist gut finden, er ist überall mit 
zerbrochenen Scherhon bedeckt. Wenn ich vom Blatt aufsehe an den 
schönen Hergkranz vor meinem Fenster, dann muss mir doch änderst zu 
Muth seyn wie Ihnen wenn Sie zum Berliner Thor hinausgehen in das 
geplättete Land. Die Natur ist doch gut, und der Mensch passabel, 
wenn er satt ist, bey Ihnen aber sind viele Hungerige, und da lässt 
sich der Teufel ^pvn hfuislich nieder. Es ist ein Jammer, was droy 
Haupteinsiedler auf den Sand gerathen sind, der Eine sitzt auf baye- 
riscliem Sand in Wassers und Fenersnoth, der andere auf dem Branden- 
burger auch in schwerer Niith. der Dritte Crenzer auf Holländischem, 
mit stinkendem Wasser zur Salbe gemacht und aufgestrichcn, er hat 
mir ganz klägliche Melodien schon aus dem Köhrig zugesungen, dahey 
ist indessen etwas viel kvilnkliche Weichlichkeit und Gewöhnung an die 
dicken Schuhe nnd warmen Mützen, die die Zeit doch durchaus ab- 
geschaüt liaben will. Er ist übrigens den Holländern nur geliehen, so 
habe iclis gleich betrachtet, ijrnl sonst würde selbst ein Feldzug gegen 
die Engelländer bey guter warmer Witterung nicht schaden. In seinen 



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Joseph Ton G5ne8* Bri^ «n Acbim von Aniini 120 

Finanzen hat er freylich Einiges verloreD, das wird indessen die Frau 
schon wieder ins Gleiche bringen, ein Apparat fär sein Studiuna und 
eine Armatur seiner Thfttigkeit, wie er sie sonst nirgend findet, muss 
doch auch für etwas gereclmet werden. Brentano hat den Gebrauch 
der Sprache noch nicht wieder erlangt, ich weiss nichts von ihm. Ihnen 
aber habe ich für den grossen gedruckten Brief und einen gescbriebnen 
obendrein ?m danken. 

Das Buch war mir gar angenehm und wfireuUch, Ihr ganze» 
Wesen ruht auf den Worten, die doch alle aus der Allerweltspraehe 
sind, wie ein angehanclit^ Schdn, und wie eine Seele auf dem 
Staub lind Wasser ruht, in dem sie wie 2ur Ifiethe wohnt. Ihr 
leichter ScUittsehuhseliritt, der bisweilen so tief einschneidet^ dass das 
Grundwasser durchbricht und den Leuten in die Augen spritzt^ der 
zierliche Wurf, das scherzhafte Tanzen, das gefilUige Cantabile, das 
freundliche Lachen das wie Tageslicht durchs Ganze durchscheint, alles 
bat mich an Sie und das Heidelberger Leben eninnert. Das sind wahre 
Geistererscheinungen an hellem Tage, so lebendig kann mirs werden, 
als ob Sie vor mir stünden, nur kein Gespr&ch kann man auf diese 
Weisse, als in. I&ogeren Zwischenrftumen etwa miteinander Ähren, es 
hat mich Terdrossen, dass ich stumm da sitzen musste, und Ihnen nun 
nicht auch verständlich machen konnte, dass ich Sie sfthe. Bannen kann 
ich, 80 oft ich will, diesen Geiste ob ich selbst bannbar bin, weiss ich 
nicht, es kann mich sehr erschrecken wenn ich in halbdunkler Mitter- 
nacht im Hemde am Fenster stehe, und etwa ein einzelner vorfiber- 
gehender aufblickt, und mich fiSr einen Gebt halten mögte, das ist 
ein ganz entgegengesetztes Gefähl, als die gewöhnliche Geisterfiircht, 
man blickt aus dem Tod ins Leben, wie dort aus dem Leben in den 
Tod. Ich danke Ihnen fllr den Nachruf in der Zueignung, sind die 
Frflchte ans dem alten Helm hinabgeronnen, dann mag das TamburiD, 
das sie iflingend autgenommen, leicht eine zerschlagene Trommel seyn, 
schwer wird sich der Helm, aber leicht kann sieb die Trommel wieder 
zusaramenfüfjen, jetzt sind die Töne mir lieb, sie kommen von Sirenen, 
die mitten im Sturme singen, und wenn das Donnern und Nothschiesseii 
vorüber, hört man docli immer wieder gern auf das Singen. Wer so 
gut gemaciit ist im Frieden wie dieser Gärtner, darf sich nicht ent- 
schuldigen, dass er den Krieg nicht mitgeschlagen, Nationen werden 
noch auf viel andere Weissen als mit Schwerdten geschlagnen; jetzt 
volieiids wo die Verwirrung so rathlos pfeworden ist, dass was die eine 
Hälfte mit Blut an Ehre mühsam gewinnt, die andere leichtsinnig und 



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130 



Renibold Steig 



verkehrt an Schimpf wieder ziisetzt, ist inirs leid um alles gute Blnt 
was Hipsst lind peflossen ist, und ich mögte kein Blutzeuge seyn im 
Krimplf^ der matten Tugend mit der kranken Siinde. Sonst habe ich 
mich hev der ganzen Sache überzeugt, dass der Himmel ohne Schuld 
ist, wie er j^ern Sieg gegeben hätte, wenn nur einer da gewesen wäre, 
der den Hauslialt fortgesetzt hätte. 

In Ihrer Schrift hat mir das Erste ganz unendlich wohl geiallen, 
wenn Sie das gema< lit oder nur viel hinzugeraacht haben, dann erstaune 
ich über ihre Kunstfertigkeit.') Die Zigeunergfischichte in den Simpli- 
cissimus eingelegt iiat mich auch ergfttzt. *) In dem Fragmente von 
Schelmiifsky habe ich durchaus nichts Stüiendes, aus dem Geiste des 
Ganzen Herausfallendes bemerkt, nur das Hundegebelle am Anfange 
hat etwas gewürgt, die reinen Verelirer werden nicht zu klagen haben, 
wenn man keine Näthc sieht, dann ists als hätte der Verfasser selbst 
eine zweyte vermehrte Ausgabe veranstaltet.') Mehr Anstoss werden 
die reinen Verehrer Nelsons an der wunderlichen Weisse nehmen, wie 
Sie ihn in den vortrefflichen Romanzen durcli die Meduse nicht aus 
Fleisch in Bein, sondern aus Bein in Fleisch verwandelt haben, 's ist 
ein unendlich spröder Gegenstand, dieser einäugigte, einannigte, eben 
noch verwesende englische Seeheld, uiiUen in dem grossen algebraischen 
Formelwerk, seinem Schiffe und seiner Schlacht, Lind den nun in den 
heissen Feuerofen der Meduse hineingeworfen, wo er wie einer der Ba- 
bylonischen Knaben aus den Flammen singt, die er als ein Salamander 
immer durch sein Element das Wasser wieder löscht. Sie haben eng- 
lischen Rostf beef mit einer Brühe von Pfeffer und Muskaten, und Areka 
und Palmwein übergössen, und es soll mich Wunder nehmen, was die 
Welt zu dem sonderbaren Gerichte sagen wird. In mich, bey der 
philosophischen Weite meines Geschmacks geht dergleichen leicht 
hinein, und ich habe mich gefreut an der Lost mit der Sie viele Keminis- 
zensen ans dem Leben hiiieiugewiBfen in dei fearigen Strudel, aber leb 



1) Die Licbcsgeschichie des Kanzler Schlick und der schönen Sienerin, uacli 
Nidas von Wyle^ TnuutatioD der lateiiindien EteBblmig des Aeneas Silrini. 

2) hetriftTt den vierten Winterabend: an welchem Eraiihhuif^-n aus Moscherosch' 
(losichten voigetragen werden, in die eine Zigeuner-Episode aas dem BintpUcissimiis 
eingelegt ist 

3) betrifft den siebenten Winterabend: Autnage «os Weise's Drei EnmaneB 

mit Teilen aus Reuter's Si iRlumfsky zusamnicnjreai-bL'itet. — Das Folgende gelit auf 
die acht Bonian^-cn „Nelson und die Meduse" aiti fdnftr n Wintoralund, ilie einen 
imwirklich-pbantatischen Liebesrauscb den Sceheldcn Nelson /m Heiner schönen Meduse 
besingt. 



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Joseph vou Güires' Briofe an Achim von Anum 



131 



Iwgreife auch Idebt, wie viele su mg seyn mögen ohne unmittelbare 
YergflndiguDg. Das ganze Buch ist mir lieb nnd werth, wie^s da liegt, 
und ich habe ee unter meise andern Freunde aufgeetollt 

Mit meinen eignen Arbeiten gehta nicht so rasch wie mit Ihrem 
Gartenbau, meine Saehen werden immer die gehörige Zeit lang im 
Packbofe zwt Visitation zurfiekbebalten, ehe sie in die Welt hionnter 
<(lört)en, mit meiner Mythologie sind wir glftckKch am zehnten Bogen 
angekommen, da das Ganze nun 30 werden soll, so mftosen Sie sich 
wohl noch vier Jahre gedulden. Mäne physikalischen üntersuchuDgen 
( . . ) Zweige schreiten auch langsam fort, weil ich eigensinnig auf 
mathematischer Schftrfe und üeberzeugung beharre, und da ich die 
mythologischen noch nicht beendigt habe, und mit der alten Liebe ver- 
folge, so werde ich unbarmherzig zwischen den zwey Idebschaften 
hcrnmgezerrt, deren keine ich lassen kann, so sehr immer die Eine die 
Andere kriinkt Bine dritte der Ihrigen nfther liegende halte ich mit 
Gewalt noch ron mir weg, damit die drey mich hiebt vollends ans dem 
Hause treiben. Danken Sie Ihrem Freunde Pistor für den Silberfaden, 
ich habe ihn schon verwendet Es mOgte vielleicht möglich sein, dass 
ich für seine Arbeiten in einiger Zeit Auskunft wfiaate, da es in kurzer 
Zeit entschieden werden soll, ob eine Akademie hierher kömmt, und 
diese doch einer Instrumentensammlnng bedarf. — Ich bin am Bande 
und habe nicht viel geschrieben, nnd habe doch solange gezögert mit 
Schreiben, weil ich recht viel schreiben wollte und immer nicht recht 
viel Zeit für das viele Schreiben finden konnte. Drum wArs besser 
wenn Sie selbst kämen, und sich Alles erzählen liessen. Sie wurden 
mich und Alle wohl treffen, ihr Patheben gross und gesund uud herum- 
laufend auf allen Wegen, und krazbflrstig und eigensinnig und lieb, 
dazu mit einem zollbreiten Loch im Kopf, das es sich vor acht . Tagen 
gefiilkm, und wovim es die Narbe noch nach vielen Jahren wird vor- 
zeigen können. Meine Frau grfisst Sie herzlich, und ich scbliesae den 
Meinigen in den ihrigen ein. 

Görres. 

üeber deo Wintergarten bracliten die Heidelberger Jahrbücher mit 
geschäftiger Eile, noch 1809 (2, 164), eine anonyme Kritik, die, wie 
ich einer Notiz in Wilhelm Grimm's Exemplare entnehme, von dem Philo- 
sophen Joh, Jak, Wagner stammte. Dieser Wagner, bis daliin Professor 
in Würzburg, hatte sich nach Görres' Abgänge in Heidelberg als Privat- 
dozent niedergelassen und verstärkte, als alter Feind und Gegner der 
Romantiker, die Macht der G^enpartei. Görres lag mit ihm schon 

NfiU£ HIi;UJKL.H. JAUUBUKCllKU X, 10 



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132 



Befinhokl Steig 



lange in Fehde. Grenzer nannte ihn einen firtcharlatan, der allem 
historischen Wissen Hohn spreche. Durch und durch rheiobllndisch 
gesinnt^ erfreute sich Wagner der Protektion des Grafen Benzel, dessen 
Zeitschrift Statin* ihn heransstrich und Arnim schlecht machte. In 
E1ei8t*8 Abendblättern haben 1810 die Berliner Freunde den Geist des 
Jason gebrandmarkt (was ich in meinem Buche «Heinrich Yon Kleist^s 
Berliner Kampfe' n&her ausfahre). Wagner machte sich jetzt , wie 
sein gräflicher Protektor, an Arnim henn. Dieser hatte im Winter« 
garten sehr scharf den mftrkisch-brandenburgischen Patriotismus und 
die Wflnsche der Berliner Eriegspartei durchblicken lassen. Daher kehrt 
Wagner in seiner Bezension nunmehr den rheinbAndischen, antiprensei- 
schen Geist heraus. In die jetzige „norddeutsche Uebellaunigkeit*', die 
im Wintergarten herrsche, konnten sich „süddeutsche, leichtblütigere 
und längst versöhnte Leser' schwerlich finden ; Arnim's Standpunkt sei 
nur „provinziell"; er, der Rezensent, „prätendire wirklich deutsch 
zu fühlen". Man empfindet, wie das Litterarische gänzlich schon in 
das Politische sich verliert. Savigny äusserte sich ärgerlich ül)er dieses 
Machwerk; ebenso empfaudeti die übrigen Freunde. Auch in der Jena- 
ischen Litteratur-Zeitnng (Nr. 276 von Ha. Ha.), unter Goethe's Augen, 
entlud ein anonvuiei Hezensent weniger seine sachliche Meinungsvorschie- 
denheit, als persönliche Gehässigkeit gegen Arnim. Diese und andere, 
besonders aucl) des Dünen Baggesen, Angriffe hatte Gdrres wohl ioa Sinne, 
als er Arnim schrieb: 

Koblenz am Itm Jftnner 1810. 

Glück auf mein armer Kreuzbruder, mein lieber Wintergärtner, zum 
neuen Jahre glück auf! Im vorigen haben sie Dich übel zugedeckt, du 
liebreicher Kunstgärtner. Dir die dargebotnen Sträusser zerrissen, mit 
Prügeln die Blüthen von den Bäumen geworfen, die Nachtigallen aus- 
gehoben mni geblendet, und die Füchse in den Garten gejagt mit den 
brennenden Schwänzen. Und du . . . dunkler, zerstreuter, unver- 
ständlicher . . Ariel ') , wie gehen die Weissagungen des Propheten 
Jesaias c. 20 an dir in Erfüllung! ,Weh, Ariel, Ariel! ihr haltet 
Jahrszeiten und feyert Feste (den K5nigseinzng) . aber ich will den 
Ariel ängstigen, dass er traurig und jänimerig sey, und .soll mir ein 
rechter Ariel seyn. Alsdann sollt du geniedrigt seyn und aus der 
Erden reden (unverständlich Zeug) und aus dem Staube mit deiner 
Kede murmeln (scherzhafte Gemische), dass deine Stimme sejr wie 

1) unt» welchem Namen Anim sidi selber auch Im Winterjpurten elnfUurte; die 
fittgeoden KlamoieniulUce rltbran von Görres lelbst her. 



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Josj'[)h von Görres' Briefe an Achim von Xmim 



133 



eines Zauberen aus der Erde (wie die Leute klagen) und deine fiede 
aus dmn Siaube wispele. Und die Menge, die dich zerstreueii, werden 
80 yiel aeyn als ein dönner Staub (die Leser der Glassiker) und die 
Menge der Feinde wie eine wehende Spreu, und das soll plötzlich bald 
geschehen. Wie ein Nachtgesicht im Traum, so soll seyn die Menge 
aller Heyden, so wieder Ariel streiten, sammt allem ihrem Heer und 
Bollwerk, und die ihn ängstigen. Denn gleich wie einem Hungerleben 
träumt, dass er esse, wenn er aber aufwachet, so ist seine Seele noch 
leer, und wie einem Durstigen trauuiet, dass er trinket, wenn er aber 
aulwacht, 80 ist er matt und durstig (also die Käufer Deiner Bücher), 
also sollen sejn die Menge aller Heyden, die wieder dich streiten. Er- 
starret und werdet verstürzt, verblendet euch und werdei trunken, doch 
nicht vom Wein (sondern vom Brenz) luuniülL, doch nicht vom starken 
Getränke. All deiner Propheten (Einsiedler) Gesichte werden seyn wie 
ein versiegeltes Buch, welches so man es gebe Einem, der lesen kann, 
und spräche Lieber Iis das! und er spräche, Ich kann nicht, denn es 
ist versiegelt. Oder gleich als wenn maus gebe dem, df^r nicht lesen 
kann, und spräche Lieber lies das! und er spräche Lieber ich kann nicht 
lesen." Gehst du in dich erschrecklicher Sünder, vor 2550 Jahren ist 
das geweissagt, md im vergangenen Jahre erst wahr geworden an dir, 
ich hätte wahrlich nicht so viel Hundert Jahre geduldig warten können, 
und viel früher drein geschlagen mit allen Fäusten an des Himmels 
Stelle. 0 Fauste, Fauste, wie hat dich der dänische Qnirlstock ge- 
quirt, der idyllische Rührlöffel geschwungen, der Teufelsbesen ge- 
kehrt. Warum hat der WürgEngel nur die geheime Furcht, dass 
man die verborgene Sau in seinem Namen auswittern und verschneiden 
mögte. Ich habe recht applaudirt zu allen Schlägen, die auf Dich ge- 
Men sind mein Seelenbruder, die waren mir Alle geschenkt, die Meinen 
waren versüsst mit dem süssen Honig socios habere etc. und hatten da- 
her den Geschmack von Manna und Lebkuchen, ich dachte immer an 
den vielen Rheinwein den wir zusammen getrunken und tröstete mich, 
alles Leben müsse widerlebt seyn. — Eben beults Patchen, das süsse 
Dornröslein jämmerlich in die Prophezeyung hinein, und ruft mit 
weh fiber den gepritscbten Pathen, dessen es sich nun und nimmer in 
der Welt rühmen darf, denn es ist die Enkeltochter des Jesaias und 
soll ebe Jungfirau werden, wie sie seyn soll. — Nun aber habe ich 
mich sattsam an obigen Schiftgen erbaut, wie schon gesagt, und mögte 
die Ruthe küssen, die solche Dinge getban, der Torigjfthrige Komet war 
wie GeissenEnüdel zur Weynachtsbescheerung daran aufgehängt. Ar« 

10* 



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tu 



ltdiilMlii Stdg 



nica montana, liebliche Blume, mit dir will ich meine Schlafstätte be> 
streaeo, und alle Abend mir eioen Kraos davon flecbteo um die heiaaen 
Scblftfen zu kahleo. Bs ist so gar tröstlich, dass wfthrend das Schick- 
sal mit Siebenmeilensiiefolii in der Kelter herurostampft, und Blut kel- 
tert, oben auf dem Dache die Spatzen rammeln, und die Mftnsse in den 
Büchern, und die Hotten ihm wieder im Pelze schaben. Eben kömmt 
mir nun auch anm üeberflttsse die Rezension des Winteigarteos in der 
Jenaer vor Augen, Erbarmen ruf ich den Schindern zu, aber sie schichten 
fort mit Gesichtern wie die Juden, die den Herren kreuzigten. Das 
hast du gut gemacht du geschundener Ariel, dass du ihnen gesagt hast^ 
dass aller Tadel dich verletze, wissen sie erst den wunden Flech, dann 
setzt alles Qeschmeiss sich hin, wie die Mucken anf die Gipsnasen, 
und h«zen dich mfirb wie einen Hasen im Essig. Wie ein Hirschkäfer 
gepanzert muss man sejn, und hnge Scheeren am Kopfe und einigen 
Gestank, um ihnen in die Augen zu pissen, und die heilsame innerliche 
Verachtung vor allem AaBgerueh. Meine Frau hat nicht fiblen Vor- 
schlag, künftig nur Manuskripte für Freunde durch Frohreich, ein Dutzend, 
zwey Dutzend zu drucken, dann kann man all das Volk aussperren nach 
Belieben, und bitten sie sich ein Exemplar zum Rezranren aus, dann 
schlägt maus ihnen rund ab. Das gute Schaf allenfalls, das in den 
Jahrbüchern einiges Laub im Wintergarten abgebissen und gegessen bat, 
und prätendirt gut deutsch zu seyn, was es auch ist, kann allenfids 
über die Schulter hineinsehen. Die in Heidelberg müssen nach der Ab- 
reisse das scherzhafte Gemisch auch näher besehen haben und berochen 
und allerley darin gefunden von Hexenkram, Nadeln, Haare, Borsten, 
Nägel aus den Gedärmen eines unscliuldigen Kindes, und mancheiley 
aus ihrem Lel)en.slaiife wotiiit sie schlecht gemacht werden sollten vor 
der Welt, oliiic iii hat mau sie mit der famösen noch eiiiiiiul in der 
Literaturzeittmg abgedruckten gleichenlosoii Erklärung hintergangen und 
besclilichen') und ihr gutniüthiges Her/ damit gegen ilnen Nebenmenschen 
verhärtet, genug sie sdieinen ganz giftig und vevbreit (sie !), meine 
Rezension des Wunderliorns lassen sie zwischen Thür und Angel, 
wie einen vürgeluUenen Mastdarm im Steisse stecken. Ich habe ganz 
feyerlich mir eine Erklärung durch Zimmer bey der liedaktion darüber 
ausgebeten, kann aber nicht dazu gelangen. Denn unseliger VV^dsse ist 
mein mythologisches Werk nach und nach durch den äegen Gottes 

1) idi weiss nicibl, welche Erkllfang Glteres nidat; von den die Fdide betref- 
fenden Erklärungen der Jenaiscben litteratur-Zeittnig des Jahfvs 1809 scheint mir 
küne recht zu passen. 



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Joseph von Qörreg' Briefe an Achim von Arnim 



1S5 



um des frommen Bestrebens wegen bis zu etwa 40 Bogen angewachsen, 
und das Ende ist noch nicht siclithar, das hat dem Verleger, der es 
seit kurzem erst entdeckt, den Athem versetzt, und der gutmüthige 
Man weis vor Schrecken keine Worte 7u finden wie es sclieint. um 
mir seinen Schrecken auszudrücken über die ewig lange Perspektive 
vom 22ten Bogen bis zum 40ten. und schweigt nun L'anz stilie, und 
giebt nicht an Tag was die Kedak/.ion ihm aufgetragen. Creiizer aber 
ist eine Schlafmüze, und sitzt wie ich mir vorstelle, wieder voller 
Verdruss oben, und nakelicher Unruhe und TJn/.ufriedenheit, und wagt 
nicht mir sie zu klagen, weil ich ihn über seine Holländische Geschichte 
einen Kindskopf gescholten habe. So stehen die Freunde alle mit langen 
Gesichtern im Kreise und nehmen Prisen, die verbitterten Feinde aber 
sind guter Uinge und quäken. Ihre Sünden stinken zum Himmel, es ist 
Zeit dass die Peitsche wieder knalle, nicht um das Ebenbild Gottes zu 
schimptiren, sondern nur damit die Lust nicht ausgehe. Es gewährt 
mir unverwundbaren ein reines menschenfreundliches Vergnügen diesem 
Lumpenkram zuzusehen, der durch die inwohnenden Lause lebendig 
wird, die grosse Made die sezirt wieder kleine Maden und die wieder 
lA&dchen gehen, wie alles tanzt nach einer schlechten Fidel und dabey 
in guten Büchern liesst und in ausgeworfenem Speichel sich besäuft, 
und „Freude schöner Götterfunken*' dazu singt, dass einem die Haare 
2U Berge stehen, wenn man hört, auch die Todten sollen leben, und 
man alle Augenblicke meint, die kämen nun auch dazu und machten 
Gemeinschaft mit der Bettlerbochzeit ohne Braut. Mich verlangt sehr, 
ihnen wieder einen Verdruss anzuthun, ein Skrupel ist dabej wegen 
des Zeitverderbs, den ich gern durch einige Ueberredung weggeschafft 
hätte, man wird nach und nach so ernsthaft, daea man die Lust gar 
nicht mehr fflr ein GeschftSt hält und das Lachen für faullenzen. Es 
18t dne gar zu schöne Bosheit den Leuten inwendig ein i[lein Mäusslein 
zu serquetschen und sie nun entspringen zu lassen mit dem Leibschaden, 
dass sie hingehen und emsig an ihrer Geschichte fortbauen aber alles 
nun etwas schief flberhftngt und grimassirt, und die Geschnittenen laufen 
und weissagen närrisch Zeug all ihr Leben lang ohne weiter unser Zu* 
thun. Es ist freylich eine Art Todschlag, indessen habe ich auch die 
ersten Enhpocken hier ins Land hineingebracht, und mit den geretteten 
Seelen will ich mich abkaufen. Der Plfttscherkieis wird immer grösser, 
ich mogte auch die hineinziehen, die bisher klGglich still geschwiegen 
haben, fiöttiger ist unter andern ein solcher Kandidat, wegen seiner 
politischen Niederträchtigkeit habe ich grosse Bosheit auf ihn während 



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136 



Reinhold Steig 



dem Kriege eingefresseii, Adam Müller muss gut von ihm su sprocheo 
wisaen. Aber mein Oott, lieber Ariel, was haben wir nicht eine Menge 
unschuldiger Leute ins Verderben bindngeriseen, es ist ein Zug zu- 
sammengekoebelter wie ehmals jener der Klnbistei, als sie hier auf 
die Festnng geführt wurden. Meinem Schwager, der immer mit ge- 
stftupt wird, habe ich schon einen grAnen seidneii Beotel zur Satisfiik- 
zion stricken lassen, ich mOgte den Andern Allen etwas Gutes und 
Liebes erzeigen, wenn ich nur an sie kommen konnte. Hier boy meinen 
etwas unkundigen Landsleuten muss ich dagegen wieder Alles vennt* 
Worten, was die Romantik nur hervorgebracht, die Niobe, dass sie immer 
Gä statt Erde sagen,^) die Sprache erachweren, sich nicht an der Mytho- 
logie des Ovid genau halten u. s. w., was mir denn sehr empfindlich 
fällt. Ich babe gut sagen, ich hätte nicht dabey gesessen, und nichts 
gemacht, man behält mich als Geisel ffir Alle und läset mich nicht 
aus der Haft entspringen, und ich muss geduldig harren, wenn der 
Witz überall von mir herabträufelt, den sie auf die neue Schule giessen. 
Das sind Sachen, die mir das Herz abfressen. Sonst glaube ich dass 
Wilkm auf bestem Wege ist ein Klassiker zu werden, er hat wie mir 
Creuzer schreibt, in der Rezension des Wunderhoros eine Landesverderb- 
liche Conspiration zwischen Verfasser, Verlegor und Rezensent entdeckt, 
und darauf hat ihn als erste Spur eine eigenhändige Note des Autors 
unter das Konzept gebracht. 80 weiss ich doch nun, dass er die spitze 
Nase nicht umsonst hat, Böckh aber hat das entsetzlichste Hauskreutz, 
da eine neugenommene Frau nicht zu ihm ins Bett will, ich weiss nicht 
ob wegen allzugrossem Platonism oder allzugeringem Realism (vgl. 8, 76). 
So ist der gute Mann mitten im Drucke der neuen Äusgnbe von sich 
selbst, die füglich noch zur Messe hätte kommen können, aufgelialten, 
und es ist zu befahren dass iliin noch andere vorspringen, und manke 
fehlerhafte Sachen gelten, die iliin Vayn rufen. Ich hübe Maschinen 
in meinem Sinne dalür aiisgedaeht. die Kaltbrüchigkeit dieser Ehe zu 
heilen mitScliinen wie eine Beinl)i ücliigkeit. die mangelnde Verwandschaft 
wird am Ende dundi ein drittes Aneignendes noch vermittelt werden 
müs^sen, allein dann ist die obige (letahr zu befahren. 

Das bringt natürlich auf üothes Wahlverwaudschaften. Ich habe 
mich gefreut über das Kunstwerk, wie mau aus Suickc^hen Jui^end die 
ins Älter hineiuscheineu, ein Ganzes zusammensetzen kann, das aus 

1) In ilor Niobo von Schütz, Berlin 1807, gleuli auf diT ersten Textscite: 
irtl's lirr Wechsel war die Frucht der G&^\ ood: „in dorn Bott der Gä vom Uranus 

guzeugt" 



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J«Mf>h von GdtTtt* Briefe an Achim von Arnim 



187 



einem Stücke nach purer Jugend aussieht. Das ist noeh eine starkschla- 
gendd Ader, die Ottilien herausgeblutet hat, die verspricht hundert Jahre 
Leben, ein warmer Blutstrom treibt wundersame Werke und Kunsti^'e- 
atänge, und es quillt wie rother Wein oben für alles Volk, Eduard aber 
ist gleichsam der Ochs der zur Krönung der schönen Gestalt |3:ebraten 
wird. Einiges mir fatale Beywerk iat auch dabey wie bei Wilhelm 
Meister, gefrorne Fensterblumen und wohl ausgesprizte Präparate. Icii kann 
mich gar nicht gewöhnen ans genieino Loljen in der Poesie, weit eher an 
die Poesie im Leben, es kömmt mir Manches blos wie gehöhnt und nicht 
geschnizt vor. Gar sauber ist aufgeräumt, und jedes an seinem Ort, 
es sind keine Kinder in der Haushaltung die Alles durcheinander- 
würfen, und kleine Tünipelchen hineinpissten, alles wie hoy einem alten 
Jiin^l,'esellen, wo eine gieichfals etwas hejalirte Junf,'fer Ordnung lullt. 
Die allzu grosse Absichtlichkeit in allen Anlagen hat mich auch ge- 
stört. Kurz ich schneide nur Ottilie heraus und fas-o sie in einen gold- 
nen Kähmen, den Kest verehre ich .Mad. Creuzer zum Christgeschenk, 
habe aber doch den größten Respekt dafür, und weiss dass ich nichts 
derf?leichen machen kann, gehe aber wieder im Wintergarten lieber mit 
meinen Stiefeln herum als auf diesem glatten Spiegel in Wintcrschtihen. 
Und er hat nichtsdestoweniger liecht, der Kegenbogeu kann mit sfiruMi 
Füssen auf zwey Häuserdächern stehen, wo in einem Thee genoinmen 
wird, im andern eine Laxirung nelist Zwetschen und dem zugehörigen 
Kostüme, ich habs aber lieber aut einem blühenden Baum und einem 
grünen Berge. Es ist gar nicht wunderlich dass bey den Alten so was 
ohiie Gefahr auf dem Leben stehen konnte und immer stand, weil das 
Leben da selbst, wenn auch von schlechteTii Stein, gefällige Form hatte, 
bey uns aber hats aufs höchste Keichthum und Böhaglichkeit, und darin 
haben die niederländischen Maler Alles rein ausgeschöpft. 

Man hat hier versichern wollen, Clemens würde Professor der 
Kameralwissenschaft an Sukkows Stelle bey der jetzigen neuen Organi- 
sation, und wolle nebenbey Privatissima über die Heraldik lesen, ich 
mögte gern einige Auskunft darüber haben, da er selbst taubstumm 
geworden ist. An Zimmer habe ich geschrieben seinen Schreibkasten 
wegzurücken, es müssen sich dahinter mehrere Ikiefschaften finden, die 
ich ihm zu besorgen zugeschickt. Ich wühle daher jetzt den direkten 
Weg nach der Adresse die ich mir ehmals ans dem Freymüthigen ge- 
merkt. Gott zum Uruss, die Meinigen sind Alle wohl und schlagen 
mit ein. G. 



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1S8 



Rehhold Steig 



Zugleich sobrieb Gdrres, wie er es in den Schlnssworten sodeatefc, 
doen zweiten Brief an Clemens« der uns aber fehlt Clemens' Antwort* 
brief liegt vor (8,72). Er schlftgt einen ansgelaasen-bunaoristischen Ton 
air. Zwei grosse historisch-biographische Schreiben, die er inzwischen 
an GOrres erlassen, seien demnach verloren. Er enfthlt ihm von seinem 
Aufenthalt in Landshnt und Hünchen. Wie er dann, auf der Beise zu 
Arnim, in Nürnberg bei Hegel, Schubert und Kanne gewesen, in Jena 
Goethe getroffen, in Halle Beichardt's und Steffens besucht, und von 
dort Wilhelm Grimm mit nach Berlin genommen habe, woselbst er 
seit August weile und zu bleiben gedenke. Er schildert GOrree das 
litterarische Treiben Berlins, in das soeben Kleist eingetreten sei. 
Savigny werde auch kommen. Arnim und er sammelten jetzt Selbst» 
biographien aller Art, und schrieben ibre eigenen auf: „Ihr sollt das 
auch . . schreibt sie, lieber GOrres!** 

Diese Mahnung muss Arnim, in dem gleichzeitigeo, verlorenen 
Briefe, noch dringlicher an Görres gerichtet haben. Er muss ihm, aus- 
ftthrlicher als Clemens (8, 78), Aber die „Gräfin Doloree*" und fiber 
«Halle und Jerusalem*, an denen er schrieb und druckte, berichtet, 
ihm auch die Zueignung von Halle und Jerusalem angetragen haben, 
die, als das Buch am Ende des Jahres 1810 erschien, lautete: , Seinen 
Freunden und Gevattern C. Brentano und J. Gönes widmet dieses 
Trauerspiel in zwei Lustspielen zur ünuueruag guter und böser Tage 
in Heidelberg der Verfasser. " 

Inzwischen war nun auch bei Zimmer in Heidelberg Görres' 
»Mythengeschiclite der asiatischen Welt" in zwei Banden fertig ge- 
worden, über deren unaufhörliches Anwachsen Görres selber Scherze 
genug gemacht hat. Das Werk war aus Vorlesungen in Heidelberg 
hervorgegangen. Die Idee, die Görres leitete, war, die ürpoesie der 
Menschheit an der Quelle zu schöpfen und ihren Fortstrom durch die 
Geschichte der Menschheit zu verfoU^^en. Er war von der Einheit aller 
mythischen Grundanschammgen bei allen Völkern libfrzeugt. Indem er 
in seiueui Buche zuerst die hinterasiatischen, dann die vorderasiatischen 
Mythen behandelte, schuf er sich die Grundlage und die Vorstufen 7n 
der Erfassung der gerinanischen und deutschen Mytheuweit, auf die als 
sein letztes Ziel » r fs abiresehen hatte. Von der deutsclien Sa<,'e und 
Poesie nahm er eme v orcxisteuz in asiatischer ür/eit au. In seiner Sprache 
ausgedrückt: Der Scheiterhaufen der Hrynhild werde einst auf dem 
Caucasiis gebrannt haben. Görres setzte aber das Deutsche nicht ohne 
Weiteres mit dem Asiatischen gleich. Es sollte vielmehr die Auf- 



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Joseph von G4]fTtt* Bilrfe an Acym von Anim 



189 



gäbe einer neuen Arbeit sein, von der grossen allgemeinen Einheit 
aus nun erst das jeder Zeit und jedem Volke Eigeatömlicbe, die 
Mannicb&ltigkeit der Kinheit gegenüber, zu erkennen und zur Dar- 
stellung zu bringen. So mündete seine Mythengescbichte in den Alt- 
nordischen und Altgermanischen Mythenvorrat ans. Wie waren doch 
diese Ideen, ohne dass es jetzt von ihm ausgesprochen würde, von 
Herder vorbereitet worden! Mit Creiizer's Symbolik und Mythologie 
der alten Völker, die gleichzeitig erschien, berührten sich Görres' Stu- 
dien. Daher lautet Görres' Widmung seines Werkes: „Herrn Professor 
Creuzer und meinen ehmaligen Zuhörern in Heidelberg zugeeignet/* 
AU diese Dinge liegen dem Briefe vorauf, den Qdrree an Arnim sandte: 

Koblenz am liwn May 1810. 

Just von Berlin her, Ostnordost kömmt der Wind geweht, meine 
Gedanken müssen stromaufwärts geben, wollen sie za Dir, lieber Ariel 
hingelangen, was denn, da der kontraire Wind schon so lange gedauert, 
im Vorbeygehen gesagt, auch ihre Abreisse so lange aufgehalten hat. 
Meine Nachtigallen werden stutzig ob diesem Zephyr, mein Citronenbaum 
betet zum Heiligen Servatius, dass er sein verschone; wir senden euch 
guten fruchtbaren Südwest, den Favonius, Gottes Athem, undankbar 
gebt ihr uns Gefrornes und ungebetene Refraichissemens zurück. Es miiss 
doch was daran seyn an dem Geschrey über das norddeutsche Unwesen; 
geht meine Orangerie verloren, dann schlage ich mich auch zu den 
Appelsinon gegen die Tcltauer Rüben, und schlage vor eine Mauer zu 
ziehen quer durcli ganz 'J'eutschland, und die Zinnen zu besetzen mit 
Landshuther Studenten, und alle Chissiker zu euch herüberzudeportiren 
mit Weib und Kind und aller fahrenden Habe. Die besten Früherbsen 
und Pfirschen und Sonetten und sonstige gute Saciien könnten wir 
ziehen an der Sonnenseite der Wand, ihr an der sciiattigen nichts als 
Champignons; die Zepliire die zu euch durch wollten, müssten verzollen 
am Tliore, von Nachtigallen wäre alle Ausfuhr prohibirt, sentimentale 
Reisende passirten ohne zu repassiren, die Poesie süsse oben auf dem 
Höchsten der Mauer und kehrte euch die posteriora zu, aber angemahlt 
von Kopf bis zu Füssen just als würens die Auteriora, nur dass man 
an der tiefen Bauchsprache bemerkte, dass es nicht mit rechten Dingen 
zugehe. Das Alles jedoch für euch sauf lo recours an Dänen, Schweden, 
Norweger, Isländer, die euch wieder gute »Vorte geben müssen, um ein 
wenig warmen Wind und Lehen und poetische Herzstiirkung, wir aber 
verdaukens niemand, sondern produziren Alles im Lande. 



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140 



Retohold Steig 



Meinem Briefe lege ich bey einen kleinen abgekürzten Anhang von 
zwey Alphabeten in zwey Bänden ein scherzhaftes Gemisch vom Heiligen, 
worin ich gesagt habe, was nicht wohl in diesen halben Bogen gehen 
will. ') Es bandelt von Gott und seinem Gebot und lauter erbaulichen 
Dingen. Besonders ein schönes Magazin von wohlklingenden gutgesetzten 
Tauf und Zunamen ist darin angeli Lrt, woraus eine ganze Kindbettemde 
Nazion sich rersorgen könnte mit Wohllaut und guten Benennungen, 
was besonders Clemens sehr erfreuen wird, der an dergleichen sein be- 
sonderes Wohlge&llen hat. Ich selbst muss dem Himmel ?or Allem 
danken, dass er mich das £nde hat finden lassen, denn die Saehe war 
80 intrikat, dass eine lange Zeit hindurch billig gezweyfelt werden mnsste, 
ob überhaupt auch nur eines aussufinden wäre, da man eben so gut 
Bficher wie Schrauben ohne Ende haben könnte. Der Faden läuft immer 
wie in rdmischen oder ägyptischen Katakomben fort, mau steigt ein, der 
grosse Gang führt in kleinere, die in Nebenglinge und und und, auf und 
nieder von einem Stockwerk tum andern Inschriften, Bilder, Krfige^ Mumien 
alles durcheinander, dass das InTentarium in keines Menschen Leben gebt, 
licht und Salt muss man sich dabey selber auf eigene Kosten stellen. 
Nun habe ich mancberley Verschüttetes herausgegrabeii, ein freylich 
etwas schadhaft gewordenes Bild der alten Welt im Zustande wie jenes 
Basrelief des alten Bom oder wie die Mondlandschaften bey Schröter, 
oder wie GuTiers Skelette, manchmal auch wie die Rollen in Pomp^i, 
ich habe wahrhaftig Bergnoannslieder dabey gesungen, die indischen 
Palmenstftmme und Betelblättor und Arekanfisse liegen wie fiberall bis 
in den nordischen Torf hinein, so auch aller Orten in der Geschichte 
zerstreut. 

Nun trete ich damit vor Fiftulein Dolores, und bitte die Gnä- 
dige damit vorlieb au Böhmen und das kauderwelsche IHng mit ihren 
schönen Augen sich vorzulesen. Sie wird nun auch ihren Kirchgang 
halten, seit sie nach ihrer Niederkunft mit sich selbst von sich selbst 
in unverletzter Juagirauschaft empfangen, wieder ausgesegnet, aber ich 
glaube ihre Herablassung gegen das grosse Publikum wird ihr nicht 
von sonderlichem Nutzen seyn, da ilir Name aclion für eine Satire ge- 
halten wird. Ich aber habe ihr schon Quartier bereitet, boy mir soll 
sie ihr Gefangniss finden, und wenn alles sie verstiesse, aus meinem 
Bücherschranke heraus hat sie, wenn ich die Thüre öflne, die reizendste 
Aussicht in die schöne Natur, und bey übelm Wetter um sich lier die 
gewählteste Gesellschaft von Homantikern und schöner Welt, leb werde 

1) «Bogen** d b. Brief-Bogen; Göms legt aeine Msriheog^schiclite bet 



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Joseph von Gürres' Briefe an Achim von Arnim 



Ul 



mir alle ihre Drangsale zu Herzen iiebmeo, und bitte nur dafür Beel- 
proca ana; so ktonen mt zuletat, wenn Alles misUngt, uns zosammen 
in unsere breite Scbwerdter stflrzen. Wir wollen uns auch immer ein- 
ander dediziren, und uns einander immer zu Pathen nehmen, und rezen- 
siren, und der L&ngstlebende soll den Andern im Nekrolog begraben. 
An der ?origen Bedikazion geh ich mdn bescheiden Thell niefat 
heraus, so viel ich mir gleich damal schon davon genommen n&mlich; den 
Grundton habe ich nie auf mich gedeutet, aber den Nachklang, den 
der Zufall mir zugewendet, habe ic)i sogleich in Besitz genommen und 
ich lasse ihn mir nicht wieder aus den Händon winden. Meine Kaben 
flogen zur Rechten, es sind Othins Raben die am Himmel stehen, der 
Becher daneben ist der Helm, der AUar dabey das Kreuz, folglich ist 
die Szene am Himmel, und an Viele ausser uns Beyden ist das Wort 
gerichtet. Mein Buch habe ich Creuzern zugeschrieben, dem ältesten 
solid aussehenden Kindskopf den ich kenne, dann meinen Zuliörern, 
worunter auch, als Hospitant wenigstens, der Einsiedlerguardian, er mag 
sich also sein bescheiden Theil davon wiedernehmen. Halle und Jerusa- 
lem, Kochsalz und Asphalt nehme ich mit Danke an, und werde, wie 
gesagt, wieder meine Erkenntliehkea bezeugen. Nur sage mir, wie Du 
mit den entsetzlichen Buchstaben so viele Bogen zusammenschriebst. 
Der alte Rolfink in Jen-i schrieb, wie ich lose, daumesdick, eine kleine 
Dissertation musste zur Druckerey gefahren werden, 40 Bogen Deiner 
Hand müssen auch Manneslast seyn. Bey mir war gerade die kontraire 
Klage, ich schickte Bogen wie Tapeten grandios mit der kleinsten 
Miniaturschrift beschrieben, so dass einer 5 gedruckte gab, und vier 
Setzer, wie Zimmer^mir schriftlich jammerte, darüber das Weite such- 
ten. Der Druck ist ein wahres miserables Duodez gegen dies Riesen- 
abcbnch, woher es denn auch leider so fatal au^efollen ist, dass ich 
in den zwey Bänden kaum zu Wort gekommen bin, und das Beste gar 
nicht vorbringen konnte. Sonst habe ich auch das Pikante dabey, dass 
ich um das Buch ansichtig zu werden, es herein schmuggeln muss, wie 
ein Verbotenes. 

Für raeine Lebensbeschreibung, von der Du sprichst, mag wohl 
fiath werden, nur noch nicht Ich habe mit Astronomie angefangen, 
dann machte ich Entdeckungsreisen in Afrika, dann setzte ich das Land 

1) Was Corres wirl^liih. n;icb .Vruim's Tode, getban bat. 

2) Des Wiiiterfüartens <oben S. 12(1). 

3) Dies und das 1* olgeude scbcizhafte Beuieikuiigcu über Amim's sehr grosse 
imd Gdnes* sebr Ideiae Schrifbttge. 



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142 



in Aufruhtf dann bin ich Professor gsworden, und dann habe ich Kin- 
der bekommen, dann ban ich mein Hans, schreibe mein Leben, mache 
mein Testament und gehe ab. Man hat allerley von sieh au geben, die 
ganze Welt die mao verscblockt bat, wie die Kinder die Winde die sie 
plagen, ehe man au dem kleinen FersOncheo kömmt« das in der Uitte 
emsig sitzt und spinnt. Bitte ich fincb gehalten wie ein Kaofmann 
fleisig und ordentlich Aber Allee von Tkge zu Tage, das wftre ein sehr 
wichtiges Buch ffir mich und die Welt, wohl anch beynahe Alles was zu 
erleben ist habe icb so ziemlich mit erlebt, Alles ist mir durch Kopf und 
Leib und L^n gezogen, und ich habe es auf meine Weisse aufgenommen. 
Konnte ichs wieder geben, das wäre etwas, aber liederlich wie ich bin, 
und gar nicht geizig auf Geld wie auf Geldeswerth habe ich Alles nur 
im Resultat behalten, das Meiste vom Erlebten und Erdachten habe 
ich vergessen, Vieles kann icli nicht sagen aus innerlicher Scheu, Vieles 
i.st noch Fragment und muss erst in der andern Hälfte meines Lebens 
ergänz 1 werden, Alles was ich jedoch weiss gäbe ein ganz angenehmes 
Ull i interessantes Buch, weil ich das ernsthafteste wohl verschwiege, 
was doch so iioth wendig ergänzender Theil des Ganzen ist, dass ich 
nicht weiss wie daran vorbey zu kommen, wenn ich eine würklich 
lyrische und nicht hlos epische Biographie schreiben wollte. Ich werde 
daran denken, wenns letzte Drittheil anfangt. Für jetzt bin ich recht 
wohl, alle meine Crisen habe icli durchgelaufen, die letzte war in Hei- 
delberg eine periodische täglich zwey Stunden nach ävA- Kulmination 
der Sonne wie Ebbe und Fluth wietl rki Inende leichte Vertinsterung 
oder vielmehr Verneblung die gegen Abend aufzog und nicht nieder- 
fi- 1. lud darum am folgenden Tage immer wiecierkehrte. Das habe ich 
nun herausgearbeitet, und geschwitzt und gekakt, und nun ist mir 
vollkommen wohl, geh nun hin und thu desgleichen. Meine Frau ist 
wohl, so gut es bey der fortdanernden Nachtunrube von Fatchen mög- 
lich ist. Die kleine braune Hexe kömmt eben herauf mir ihre neue 
braune Schürze zeigen, und trägt mir in aller Geschwindigkeit ein halb 
Dutzend Gläschen mit chemischen Spezereyen fort. Sie soll Dir selbst 
eigenhändig schreiben. ^) Guten Morgm, lieber Pathe in Pretissenlandf 
besuch mich bald, ich bin rcvhf perfekt geivorden^ strecke die Zunge nuM 
fMkr hmm^ zische statt zu redm^ trinke Wein und BraiUemin, hmn 
ichreye» wie ein BoTf und kerne wie die Ka^eenn 

Marie Louise, 



l) Das cuniv Gedruckte ist von des Emdes Hand, die Göires fährt, Inngescbriebea. 



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Joseph von Görres' Briefe an Acbüu von Arnim 



143 



Die andern Kinder sind ^deichluls wohl und seliiessen auf wie inu^ 
Strauc'lnverk, und fressen in Uer theucren Zeit, dass es Gott erbarmen 
möge. Sie reden noch öfters von Dir und würden Dich wiederkeuuen. 
Wir grüsseu Dich Alle herzlich, gehabe Dich wohl! 

Gdrres. 

Mit diesem Schreiben kreuzte sich Arnim's Sendung vom 28. Mtti 
1810 (8, 103): „Lieber Görres! Anbei mein Roman. Nimm ihn aus 
alter Freundschaft auf; er enthält manches, ich wünsche, dass es Dir 
gefalle." Es war dies in dem jiolitischen Sinne gemeint, in welchem 
auch Adam Müller und die übrigen Berliner Romantiker die Gräfin 
Dolores willkommen hiessen. Das Emporsteigen, Sündigwerden und Sich- 
reinigen der vom Zeitgeist vernichteten Gräfin Dolores ist in christlich- 
romantiache Lebensluft gestellt, und insofern, wie Halle und Jerusaleoii 
ein bewusster Gegensatz zu den nclassischen' Romanen, selbst denen 
Goethe's. Arnim schrieb an Gdrees kurz und abspringend; er stehe im 
Begriff, mit Brentano, Sayigny en^^en, nach Böhmen za reisen. Im 
Juni sah er dort Bettina mit den Ihrigen wieder. 

Nach Berlin zurückgekehrt, empfing Arnim folgenden Brief von 
Gi^rres: 

Koblenz am 2ten July lg 10. 
Ich habe, lieber Arnim, Dein Buch jetzt von der Me;5se erhalten, 
und danke Dir dafür. Noch habe ichs nicht gelesen, ich itabe e^ aber 
in den acht Tagen herumgegeben in meiner Bekann t$( ha ft, um Dich 
loben zu hören, und wörklich musst Dus diesmal getrotlen haben, Alle 
preisen Dich und das junge Kälbcben einstimmig, ich streiche das Lob 
ein als Dein Cassirer, und werde was ich en detail ein^^enommen, Dir 
en gros versireo, zuletzt aher erst mit meiner Schuldigkeit mich ein- 
stellen. Wo Du vorhergehst im Leben fimgen die dfirren BAume an 
zu grfinen und die grfinen zu blühen und Dir nachzuwachsen, die Vögel 
siogen und fliegen Dir nach, selbst die brünstigen Katzen mauen me- 
lodisch und ziehen hinterdrein, am Ende machst Du dnen grossen 
Stranss aus dem ganzen, in dem all das musikalische Getbier sich ein- 
nistelt, und die Realschulbuchhandlung*) wird das Strftusserm&dohen, das 
die fiinsiedlergärtchen feil bietet Ich musste lachen, wenn ich in ein- 
zelnen Fragmenten, die ich hörte, gewahr wurde, wie Du Anekdoten 
und Begegnisse am Wege alle aufhebst, wie der Herr Jesns das Huf- 
eisen, und sie wie Steine hinter Dich wirfst, und dann Menschen daraus 
werden, die sich wie ein Negerschiventransport alle mit Stricken und 

1) wo, bei Hi'iinei' in Berlin, die Dolores em-Uieueu war. 



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144 



Keinhold Steig 



Oabeln aneinanderknebelD, und sich Dir wie ein Drachenaehweif aohtagen, 
mit dem Du dann immer hftber ad astra steigst Das ist die wahre 
Selbstbiographie, ein verbextes venaubertes Leben, ein Scblittsehuhlanfen 
mit solcher Oescbwindigkeit, dass der Flosa unter den Fdssen scbmilzt 
und die Wiesen am Ufer grünen, die Bretter und die Balken in den 
Wftnden errinnern sich dabey dass sie einmal grün gewesen sind, und 
solltest Da einmal ins F^gfeoer hinein lom Braten Temrthetlt werden, 
ich glaube die Flammen legten sich Dir auch als sahme Bestien zu 
Ffissen nnd liessen sich in Togelk<^rbe einsperren. Clemens bat diese 
poetische Scblangenbeschwörung auch, nur auf etwas andere Weisse, er 
flbt sie mehr mündlich und im Leben aus, nnd bat immer alle Taschen 
voll Ejer, NachtigallenEyer und Basilisken, ErOten, Grasmücken, Bothkefal* 
eben, Heber und Sperber, und wo er irgend eine Glucke brütend sitien 
findet, da schiebt er sie unter, den zahmen die Wilden und den Wilden 
die zahmen, und wenn die angebrannt haben, und mit Schrecken die 
wunderliche Kreaturen, doch von ihrem eigenen Fleisch und Blute er> 
blickm, dann kommen sie sich selbst als Fabelhanse vor, und mOgten 
sich im Aerger selbst auffiressen. Dabey stochert er sich mit dem 
Zahnstocher ganz rabig die Zähne, und sieht verwundert der Jagd zu, 
oder niest sein Lied dazu. So seyd Ihr zusammen Kastor und Follux, 
wo die Leute Eucb auf ihrer Segelstang» erblicken, ahnden sie em be- 
vorstehendes Ungewitter und legen bey mit eingezogenen Segeln, und 
darum sagte auch Jacobi in München zu Boisser4e «ist da der Brentano 
gekommen, und der wird auch noch den Arnim Ins Land bringen, und 
dann haben wir die Bescheerung**. Von mir sprach er nichts, ein Be- 
weis in welchem guten Credite ich im Auslande stehe. Von Bettine, 
die sich ihm wie eine Schlange um die Fasse gewickelt, hatte der alte 
Mann auch grosse üngemächlichkeit, weil er gar nicht versichert war, 
ob gleich wie die Vögelwoibchen nicht zu singen pflegen, so auch die 
Weihchen in dieser Familie keine Giftzähne fahren. Drum legt Euch 
auf ein besseres Gott gefälliges Leben, Du insbesondere schreibe einmal 
^n ernsthaftes Traktätlein für Dein Pathchen, worin Du ihr die Unan- 
ständigkeit des Eneipens und Kratzens, des Barfasslaufens, und des 
Hinlegens mit blossem Hintern und aufgerichteteil strampelnden Beinen 
recht einleuchtend und herzerschütternd und dabey populär und begreif- 
lich für ihre zarte Jugend, also ohne Einmischung aller philosophischen 
Kunstworte zeigst, das wird Dich bey verständigen Menschen mehr 
fördern als zehn Bände Boman, die doch nichts sind als ein Fakt 
tausend Ellen langer Schneidermase, die man an allerley Leute ange- 



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Joseph von Odmes* ßri^ m Achim von Anlm 



145 



leg^ und mit denen man ihre Proportionen genommen, fiber Buekel 
and krumme und gerade Beine herflber, um aie in Marmor darnach 
aosnifttbren, in dem kostbaren Steine» wies die Natar ans Dreek nnd 
feaolitein Sehlamm gemacht Dann ists gotUos mit Oott selbst in 
solchen Bfichern in Wettkampf sich, einzulassen, und die Sachra besser 
machen za wollen wie er, Ihr werdet darum noch geschunden werden, 
und die Bälge werden als blauer Fuchspelz an die Höfe verkauft. Ich 
merke eben dass ich gar viele Schreibfehler in diesem Briefe mache, 
woraus ich sehr betrübt auf ein höchlich geschwächtes Gediichtniss 
meiner Faust scbliesse, lasse ihr doch von Hufeiand, den Ihr ja bej 
Euch habt^ etwas restaurirendes verschreiben. Zum Danke für das ge- 
Migst besorgte Rezept will ich mit der geheilten Faust sogleich eine 
Beaension schreiben: 

Armuth, Reicfathnm, Schuld und Busse der Grftfin 
Dolores, ein Boman von A. t. Arnim. 

In der bekannten mystisdien Haarkrftuslermanier des Verfassers 
erhalten wir hier einen neuen Boman in awey Bftnden. Alles was 
wir schon gähnend einmal in der yerschoUenen Einsiedlerzeitung ge- 
lesen haben, der Dichtergarten, Ring, das scherzhafte Gemisch, die 
Briefe der Mobrin, werden hier von nenem aufgewärmt, nur dass 
die dort vermissten musikalischen Kompontionen hier mit obenein- 
gegeben werden. Die Domenkrone auf der Titelvignette ist wahr- 
scheinlich seinen Lesern bestimmt, der Kosenkrans seinem Verleger, 
der Verf. bätte nocb den bitteren Leidenskelch hinzufügen sollen 
und den Schwamm mit Essig und Galle getränkt, den wir hier er- 
gänzend und berichtigend ihm hinreichen wollen. Der päpstliche 
Eammerhusar, der eine so grosse Bolle in dem Buche spielt, soll 
wie wir ▼emehoMin ein abgedankter Bedienter des Yerfessers von 
phlegmatischem Temperamente seyn. Die Geschichte eines sehr 
aehtungswerthen Hannes und bekannten Psychologen bat er gleich- 
faUs auf eine sehr undelikate Weisse hineingebracht Seine besten 
Freunde hat er mit allerley boshaften Anspielungen blos gegeben. 
Wir warnen jedermann vor dem Ankaufe des theueren Buches, und 
rathen dem Verfiisser, vom Bomanschrdben abzustehen, und lieber 
wieder das Beisebarometer, die Elektrisirmaschine, die galvanische 
Batterie, und den magnetischen Stahl vorzunehmen. — 
So weit das Morgenblatt Ich will nun für jetzt ablassen von Dir 
und Deinem Buche, und zu andern Dingen übergehen. Fürs erste will 
ich Dir ankündigen, dass Du zusammt den Landsmanschaften nahe von 



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146 



Rdnhold fltelg 



HeidpH)prg relegirt worden wärest. VVilken und Thibaut in grosser 
Kostüm sind mit dem förmlichen Antrage bey der Redaktion der Jahr- 
bftcher vorträglich eiugekommen, Dich ausxuscliliesäen, wie ich glaube 
wegen Blödäinn und um des Mangels an natärUchem Talente willen, 
womit Da ihr Blatt verunziertedt. Die Veranlassaag war Euere Er- 
khiriin^ lim meine inhaftirte Rezension des Wunderhornes zu bcfreyen.') 
Der Vorschlag ist indessen nicht durcligegangen, da auch Böckh Deiner 
sich annahm, und Du bist mithin in Gnaden beybehalten. Ich werde 
daraus sehen, ob Du Dich über dergleichen noch ärgerst, wenn Du auf- 
hörst, die Leute mit Deinen Beyträgen zu ängstigen, mich kann der- 
gleichen erst recht hitzig machen, ich thiie doch beynahe mehr dem 
Teufel zum Spott') als Gott zu Liebe. Der Arrest der Rezension hiintjt 
daher auch weit tiefer zusainnieii als Du meynst. es ist die eisernfi 
Maske, ein .Mtaatsgefanf^cncr, man darl' nicht wohl davon sprochei). Du 
ma^^st mit Deinem Patriotism sa^^en was Du willst, ich kann mir 
Teutschland unter keinem passendem Bilde dänken, als dem alten des 
Schaf küses von den Maden halbzerfressen, und auf das Bajonett eines 
Franzosen aufgespiesst. lieber jeden Zeitungsartikel der aus euerem 
Lande kömmt, ärgere ich mich von neuem, es ist als wenn die Ge- 
sindestubo aufgienge, und (^ualm und Bier^^esang einem eutgegendampfte. 
Ich komme nicht zu euch lesen, bis ihr euch besser aufführt. All das 
bischen guter Wille geht gleich in der Mattigkeit bis an die Knie 
unter, und bekömmt denn auch wie Seume das l>r>se Wesen in die 
Därme, woran es bald stirbt, und in der Sülze gleich aucii sein Grabmal 
findet. Aus eurer Universität kann leicht einiges werden, aber so blos 
wie sie da steht in dem Flugsande, gehalten von nichts rund um, ist 
sie auch nur so eiu Almanach mit giaiieu Bildern und gutem säubern 

1) Amiui und Brentano hatten von lierliu aus, luitcr dem 1. Miuz 1810, im 
IntelligenzUatt der Jenoisdieii Litteratnr-Zeitnnfr Nr. 31 nod der Heidelberger Jahr- 

hüclier Nr. 11 die PortfÜtann^ tli^ WiKnI- ihiirns anj^ekiimliftt. iiihI J»ei einer Musterung 
der lüsher erseliienenen TJezonsioitcn ln iiictkt : ..ciii'' aiMlrrc il'c/t'Tisi'ni) in *tpn lieido!- 
berger Jahrbuchcru, die luis vollkoniniou zu vcrätehcu sdiien uud maiicliOH l.eltra'iche 
hoffen ßeSB, ist mit der Eänleitiin^' ahgebrocben wonlen imd unbeendigt geblieben." 
Und weiter zur .Tt'naer Rexensikin, Ton welcher im Folgenden die Bede ist: ,,das ernst'' 
ficlir l'i'mnln n (tc^ TJozeii'pnten. «idi in d;is Littcrarisclic iiineinzuarbeiten, venlient 
alles Loh, ein paar Nachweisuagen Ober dpu friüieren AlKlni(*k von I jedem Bind ims 
lieb; wenn er üda nach ein paar Jahre Üeiäsig mit dem Gegenstände Iteschüftigt, wird 
er viellefclit anders darftber nrtbeilen; m einer Snoimtimg In unserer Geabmung gehSit 
Qbcr]iaii]if iiu'lir. als or /u alimlcn s-<-}idiit.*' 

2) In der ilandäehriit stfJit etwa „Sj)ritz'', die mittleren Huelistaben des Wortes 
misiclier und nicht hestJiumbar : wohl einer der vtm (iörres selbst bcmerkteu Schreibfehler. 



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Joseph von Corres' Briefe an Achini von Arnim 



147 



Drneke, aber nur geltend für dn Jahr. Daboy wird die Sache in Tentsch- 
]and, durch allerlej Niederträchtigkeit immer versaiister. So sehe idi 
ans dem. letzten Hefte des Jasons das ich einmal wieder gelesen habe, 
wie der Streit zwischen Romantikern und Ehissikern jetzt politisch ge- 
worden, Ad^m Mfiller und ihr Preussen alle und was sonst Gallizismen 
nicht liebt, sind die Karfnnkler, der rheinische Bund aber klassisch. 
Es ist eine klägliche Misere um diese teutschen Oppositionsmänner. 
Müllers Staatsbuch habe ich noch nicht gesehen, es muss wohl etwas 
daran sovn, da es schon ziemlich angefeindet wird. GlÖckle ist noch 
iiumcr in Kom, er ist selir tieissig gewesen, aber sein Vater will nicht 
langer Geld hergeben. Icli iiabe schon hey vielen Buchhändlern um 
Kömcrmonate und Kammerzieler für ihn gebettelt, aber ohne grossen 
Erfolg. Ich lasse indessen den Lohengrin liier drucken, 8000 Verse 
recht zierlich und geschickt von Wolfram von Eschilbacii ausgearbeitet, 
dabey wie ein klarer Hohlspiegel den Geist der fernen Zeit wieder her- 
beyziiehend, überhaupt ein recht sehr interessantes Gedicht. Dieterichs 
Flucht zu den Hunnen an poetischem Verdienst nicht damit zu ver- 
gleichen, aber nicht ohne Historisches habe ich an von der Hagen für 
sein Museum ab</egeben.') Die Entdeckung des Alphart interessirt niicb, 
ich mögtegern etwas Näheres davon wissen, v. d. Hagen habe übel^el/',t eiu 
Fragment erhalten (8, 104), was heisst das? ist es denn welsch geschrieben ? 
Die Rezension des Wunderhorns soll nun auch endlich gedruckt werden, 
ich h-ihc ihr noch einige vatikanische Lieder beygefügt. Ich habe wohl 
ans Eurer Erklärung vermutiiet, v. d. Hagen habe die Rezension des 
Wunderhorns in der Jenaer gemacbt, die ich übrigens so wenig wie die 
meiner Volksbücher gesehen habe. Creuzern habe ich geschrieben, dass 
er durch Böckh Deine Dolores Jeanpaul zur Rezension zu weisse, da- 
mit das dumme Schaf, das Deinen Wintergarten abgefressen, nicht 
wieder hineingeräth. Seyd ihr auf Eurer Keisse durch Weimar ge- 
kommen^), dann habt Ihr wohl den Dom der Kölner bey Göthe ge- 
sehen, es ist recht brav und fleissig ausgeführt, es hat mir aber doch 
beym Anblick geschienen, als sey der ganze gothische Kunstgeschmack 
vor seiner völligen Durchbildung von der Zeit überrascht und vernichtet 
worden. Somit gehabe Dich wohl und behalte mich lieb. 

Görres. 

Die Einlage für Brentano batte ich meinem vorigen Briefe zur 
Messe nachgeschickt, sie kommt aber zufällig zurück, darum schliesse 
ich sie hier ein. 

1) nicht tldit mehr crsclüctten. 

2) was nicht Ln'^diali. 

NKUB IIKIUEL«. JAHRHUKCnKU X. H 



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148 



Rdnhold Steig 



Es kamen jetrt für Arnim Monate angeregter politischer und litte- . 
rarischer Betliäiigung. Hardenberg ging mit seinen Reformgesetzen 
vor, gegen die Arnim, Schulter an Schulter mit Heinrich von Kleist* 
Adam Müller und anderen Freunden, Stellung nahm. Ihr publicistiscbee 
Organ waren die Berliner Abendblätter, die vom l. Oktober 1810 ab 
erschienen. An diesen arbeitete Arnim eifrig mit. Daneben förderte 
er seine begonnenen grösseroi Werke. Am 4. December 1810 — wenn 
dieses Datum richtipf ist sandte er Halle und Jerusalem (8, 158) 
mit einem kurzen Hillet an Görres ab. Alles Politische gehe in Berlin 
schlecht, a])er der Universität gehe es gut. Qörres möge kommen. 
Alle Freundschaft könne in einem Moment Zögerung so kalt werden, wie 
das wärmste Essen in einer Stunde. Er wolle ihn daher nicht mit 
solchen Versicherungen bewirten, die ganz ansdrfickten, was er in diesem 
Augenblicke für ihn und di^^ Soinigen fühle. 

Für „Halle und Jerusalem* hatte Arnim eine alte, von Andreas 
Gryphius schon behandelte italienische Novelle wieder verwendet. Aber 
die Tendenz, in der es Arnim tliat, war eine ganz moderne, romantische. 
Er schildert Halle, wie er aus eigner studentischer Erfahrung und Er- 
innerung es vermochte. Aber aucli anderswo erlehte Züge hat er in 
dies Zeitbild eingetragen. Wir finden ihn, seine Freunde, selbst Goethe 
darin gezeichnet ; Professoren und Studenten. Bürger und Philister, Juden 
und Wucherer; Iröhlichen Ju^pudmiit und sittliches Elend. Auch in 
Halle lässt Arnim die handelnden Personen schuldig werden. Welche 
KrhebuTii: iriebt es aus der Sünde aber? Nur die, die in Jerusalem 
einst für die Christenheit verkündigt worden war. Dahin reisen in roman- 
tisch-phantastischem Pilgerzuge die Reuigen, in Leid und Schmerzen 
sich bewährend. Darum nannte Arnim diese Dichtung: Halle und Je- 
rusalem. Empfangen wir nun den Reflex der Dichtung aus Öörres' 
Seele, der nicht in Allem einverstanden war und Arnim auch das 
ihm oft vorgeworfene allzu freie Schalten mit den historischen That- 
sacben verargte. Arnim's Billet ging vielleicht zunächst an Zimmer 
nach Heidelberg (8. 163), und von da mit dem Werke zu Qörres nach 
Koblenz. Görres schrieb: 

Koblenz am 25ten April 1811. 

Sehr wohl gemacht, sehr gut gemacht, fahr er nur weiter fort 
Herr ürian! Ich habe mir Halle und Jerusalem eben vorlesen lassen, 
weil 80 all das Deinige sich am besten ausnimmt, und habe mich ge- 
wundert, was des Menschen Geist eine reiche Schatzkammer ist, und 
wie der Herr Dich sehr gesegnet mit Heerden und Kameleu und Gold 



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Joseph von Gitrres' Briefe au Achim von Arnim 



149 



und Silber, nnd Wildpret und bellem Himmd und Sonnenachdn. Da 
bist wie in dem Kapferatioh in der Bibel, icb weiss nicht bey welcher 
Parabel, der Mann der in der Mfitee da steht, unter Iant«r Geldsäkken, 
während an der Wand Sehflsseln nnd schöne Gefasse und Becher Im an 
die Decke aufgeschichtet stehen, Du wirfst Deine Worte aus wio Blumen- 
samen, nnd der steigt in die Höhe und geht über den Wolken auf, und 
da hast Du Dein Carthausergärtchen neben den besten der Congre- 
gation des Heiligen Bruno angelegt, und zieiisL raro Sachen, die die 
Sterne auskochen und destilliren. Kocht etwas über und fallt auf die 
Erde, dann haben wii andere Menschenkinder i i uhliiig wie jetzt eben. 
In der Tliat freut michs täglich mehr wie das transzendentale über- 
fliegerische Teutschland über dem andern mit jedem Tage mehr fertig 
gezimmert wird und ;iuämüblirt, dass man darin wohnen kann und sich 
darin aufnaltcn all sein Lebenlang. Es ist einem sehr tröstlich, dass 
man eine solche Zutiuclit hat und ein sicheres Stipendium, wenn die 
Sohlen durchgegangen sind, und man das eindringende Wasser verspüren 
thnt. Ists einmal fertig, kein lluisser kann mehr eine contrainte par 
Corps exequiren, stehen sie da und passen auf, um den Insolventen zu 
greifen, dann thut er nur einen Satz auf den Fersen, und gleich ist er 
oben mitten drinne, zum Erstaunen der ungetlügelten Justiziare, die 
nicht einmal einen Steckbrief nachschicken können. In der That, Du 
hast ein sehr gutes Ruch gemacht, und hast mich sehr geehrt, dass Du 
mir es zugeeignet, ich bin verzagt geworden beym T.e?en, ob ich Dir 
es wiederver^elten kann, das Beste was ich in Jahr und Tag mache, 
soll dafür i.)ir angehören, wenn Dus magst. Den zweyten Deiner Zwil- 
linge, den Blonden, Frommen will ich für mich behalten, und ihn ver- 
treten gegen jedermänniglich. das andere Angesicht, das gottlose Welt- 
kiud der.Erstgebohrne soll Clemens heissen, da er ein so guter Schläger 
ist, so wirds nicht Noth mit ihm haben in der Welt. Er gefallt all- 
gemein, hiessige Studenten, obgleich nur von der apanagirten Neben- 
branche, haben sich in der kurzen Zeit schon sehr an ihm ergötzt, nach 
dem heiligen Qrabe aber bat noch keiner mitzazieben Lust bezeigt. In 
der That ist gegen dieses Halle auch gar niclits einzuwenden, es ist 
der Tabor der Studenten, die Frau Gevatterinn sitzt unten und hat 
Pastenbretzel feil, oben glorifizirt Gardenie, allüberall Bursche und Göthe 
und Schläger. Oljmpie hast Du besonders sehr schön und gut gezeich- 
net, eine kleine (drey Fauste kleiner als ihr Name) schöne, ruhige, sehr 
liebliche Gestalt, ihr Wesen wie dreyraal durchlautert Gold, ihre Seele 
wie ein heller Wassertropfen in klarem durcbsicbtigen Oristall, alles an 

11* 



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150 



ihr in zarter Linie eingebogen, alles schön wie der Mund gescblosaen, 
sie bat mich gar sehr gefreut, Du hast Dich gut bey ihr zusammen- 
genommen, dass alle Farben in dem Bilde statt zu brilliren wie bey 
Gardenie sich vielmehr zusammendrängen, und Wohlge&Uen die Be* 
schauer wieder zu dem Bilde drängt. Cardenio ist dagegen aus gutem 
Stahl zjim blanken Schwerdt geschmiedet, das zuletzt vom Blitz ge- 
troffen in Flammen anfgeht und sich verzehrt Mit dem Philosophen 
bist Du fitx'l umgesprungen, Friese und Wagner werden jeder für sich 
Dir darüber erbossen und sich gemeint glauben, obgleich der erste keinen 
kurzen dicken Hals hat, und der andere die Offenbarungen nicht weg- 
disputirt'). In allem Lumpenvolk bist Du kapital, die Judenszene ist 
ganz vortrefflich, nur hat michs verdrossen, dass Du nicht geschrieben 
Räiss nit Mutter, ich räiss u. s. w. statt reiss. Das Schreizvveli, nnd 
die sechso, und das Oespäs und viol desgleichen sind mindestens des 
Juden Wechsel werth*). Der Spektakel vor Celindens Fenster ist wieder 
prnt. Was soll ich aber Alles iStück vor Stück durclis Maul ziehen, ich 
sage Dir, es hat mir Alles woMf^pfnllon, ganz unbestochen, was Du auch 
wieder wissen inusst, ich bin bey gar nichts angestos^en, am Ende dünkte 
mich es könnte mit der Abreisse Cardenios und Celindens aus seyn, was 
man Dir wohl auch schon mehr als einmal gesagt haben wird. Das Eine 
und das Folgende ist mir dabey erstaunlich lang, ganz in perspektivi- 
scher Täusclning vorgekommen, weil die Begebenheiten sich drängen, 
und so rasch einander folgen, das ist eine Art Langeweile, die Dir Wohl- 
gefallen muss. 

Ueber Halle werden die Stimmen wenig getheilt seyn, Jerusalem 
aber wird mehr Widers]iruch erwecken. Die Ernsten werden sagen, ein 
Altarblatt, das zu einem Kulissenstück gemaliU sey, wäre ungeziemend, 
die spielenden werden sich an dem Ernst ärgern der im Spiele liegt, 
und besonders in der Verdammniss der neupoetischen Religion liegt. So- 
viele die sich neu überredet, oder darin ergeben, Religion sey Poesie, 
werden wieder irre, sie haben schon die Stufen neue, neueste, allerneuste 
eingehauen, und üoUcu nun noch eine andere steigen, für die ihnen alle 
Namen ausgegangen und beynahe der Athem. Ich will gar nicht von 

)j Krips imd Wa^riier boido in Ileidellierjr. vom loizterou war vorhiu die liede; in 
Halle und Jerusalem erscheint „der Philosoph Wagner". 

8) Die Jadai-Sceii«n int 5. bis 9. Auftritt dea xwdten Au&agM von HftH« und 
Jerusalem: die „Soc-hse" bezieht sich darauf, dass Natliiui für ein Wecliselchen 
9 Procent verlangt und sicli damit beruhigt, der liebe Gott sehe von oben die 9 blos 
für eine Ci an. 



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Wdscph von (j<trres' Ilriefe an Acliim von Aniim 



151 



d6D neoen Heiden reden, die den Hittelpankt der Welt» den ersten 
Meridian nicht nach Jernsalem oder Greenwieh sondern nach Ddplios 
setsen« und das Ofaristentbum Teraehten, weil es die Liebe zum Welt- 
prinzip gemacht, und die Beflexion gebracht mit den Hoseo, gegen die 
Doktor Faust so sehr geeifert, und mehr Anderes, denen wirst Du nun 
vollends ein Greuel seyn, sie wftrden lieber mit Wagner am Teufelsdroelc 
ersticken, als mit Cardenio in der Kutte sich begraben lassen. Rechne 
Ton dieser Seite auf keine Barmherzigkeit, derjenigen aber die all der- 
gleichen nicht irrt, und die Gott anbeten unter allen Gestalten, «ind 
nicht viele. Unsere Kunst ist wie ein botanischer Garten, unsere Kri- 
tiker wie Insekten in dem Garten, jede Pflanze hat ihre Bigenen die 
sich alldn an ihr erlaben. Du wirst wohl auch Deine Lftnse bekommen, 
wftrst Du von Apuntienart, es wftre zu hoffen dass jene Scharrlach gftben. 
Deine Weisse, lebendigen umhergehenden Menschen noch einen ganzen 
blühenden poetischen Mandelbanm, wie jenem Spanier den Dorn in die 
Brost einzuimpfen und Aber den Kopf ihm seinen eignen Ferger, persisch 
zu redtti, achwebend anzubinden, die in Jerusalem wieder recht in ihrer 
Glorie ist^ hat mich hier und dort geirrt Es kann freylich dergleichen 
der Poesie nicht untersagt werden, kann der Mahler im Portrait ideali- 
sirtti, dann auch der Dichter in ganzer Figur, aber die Kunst hat doch 
ihren guten Grund gehabt, warum sie bisher nur selten von diesem 
Rechte Gebrauch gemacht Bin wirklicher lebender Mensch wiegt seine 
anderthalb Centner, denke Dir wie viel poetisches Gas Du aufwenden 
musst, bis er auf Deinen Morgen und Abendröthen herumspazieren kann, 
ein todter Schatten aber braucht so zu sagen nichts. Du kannst ihn mit 
einem Hauche bewegen. So Hegt der tohme einäugige Nelson in Deinem 
Wintergarten immer noch wie Bley, ohngeaehtet Du ein Dutzend Adler 
vorgespannt. Jeder öffentliche Charakter hat sich uns in die Seele ge- 
schnitten in einer ganz bestimmten Form, wir leidens nicht, dass diese 
uns aufgelöst werde im poetischen Alkahest, weil der Mensch durch 
sein Leben selbst wiederstrebt und durch sein beharrliches Daseyn jede 
Täuschung die sich ansetzen mögtc, zu nichte macht. Ich weiss wohl. 
Da willst eindringender werden in die Zeit, indem Du sie selbst um- 
setzest in Deine Poesie und aus ihrem Munde v.w ihren Ohren sprichst, 
und Du gewinnst auch wieder unläugbar dadurch von manchen Seiten, 
andrerseits aber büsest Du das Gewonnene wieder ein, da die Würklich- 
keit, die Du so nahe gerückt. Deine Dichtung iininci Lügen straft, und 
wie gut und schön und ernst Du auch gesprochen, Dein Ernst wird doch 
verdächtig, weil die Weit Dirs leicht nachweisen kann, dass Du das 



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152 



Reiuliold Steig 



Wahre und das Walirscheinlielie mit gleichem Brnst bebandelt, and 
jenes diesem aufgeopfert hast Bs k5mmt.Dir gut au statten, dass der 
Continent so eng gesehlossen ist, die Douanenlinie macht schon eher so 
eine Art poetischer Illusion mi^glich, sonst mftgte es wohl sich einmal 
fügen, dass Sidney Smith im T<ymischen König da oder dort dnmal ab- 
stiege und Wirth und Keller bey gehöriger Untersuchung und Du selber 
auch nicht eine Ader vom Poetischen ftnde. Unter meinen tausend 
Projekten, die ich wohl schon gemacht, und die alle Kind und Kindes- 
kinder bis ins zwantigste Glied nicht auBfUbren mdgten, ist auch eines 
gewesen ganz nahe verwandt mit dem was Du hier, besser als ich ge- 
konnt, dargestellt. Ich hatte mich geftrgert am Titan, und (mit Deiner 
ErtaubniSB seys gesagt) am Wilhelm Meister, dass sie so miserabel aus- 
gehen, dass man den Ballon, den man (Iber den Wolken gesehen, immer 
mehr ond mehr sinken, und endlich durch den Koth ratschen sieht, wo 
ihn die Bauern mit den Mistgabeln und Dreschflegeln empfemgen. Albane 
ist in diesem Augenblicke in Paris, und gratulirt zum jungen Frinaeo, 
Meister hat freylich wieder frischen Qflseht entbunden, und wird nach 
Italien gehen, er hat aber auch seit zwanzig Jahren Zeit gehabt, die 
Wirthschaft zu bestellen, dass die darttber nicht untergeht. Wie gesagt 
ich ftrgerte mich daran, und wollte lieber eine Himmelfahrt im Elias- 
wagen machen. Der Koman sollte in den mittleren Jahrhunderten spielen, 
ich wollte auch das Stiidentenwesen in Prag, Cöln. Paris und Bologna 
lirr> iiibrinj^u n, die Mystiker der damaligen Zeit, eine Liebschaft mit der 
Heiligen Catbarina von Siena, zuletzt sollte es auch durch die Mablmrey 
zum heiligen Lande geben, wo die Ereutzzäge noch nachklangen, und 
die Kirche nicht verbrannt war, und die Pilger nicht rar, und nicht 
über Athen dahin zogen. Der Jude sollte auch dabey seyn, und die 
drey Könige wiederkehren, und ihr Stern das Kind wiederbringen, und 
der Stern am finde auch die ganze Erscheinung mit hinauf zum Himmel 
nehmen. Ich glaube dass dieser Plan weniger nahe der Zeit, ihr doch 
näher gekommen wäre, und die Dichtung sich ihr glaublicher gemacht 
hätte, eben weil sie an so viel Steheudes, Historisches sich angelehnt, 
und was davon untergegangen ist, eben der Phantasie Freyheit gelassen 
liattf! mit ihren Perspektiven ans^nfüllen. Es ist mir wiirklich als düiften 
wir (las Poetisrlie unserer Zeit den Urenkeln nicht vorwegnehmen, da 
uns so viele JahrhuiRlerte riiekwärts geöll'net sind. Freylich was ganz 
von heute ist in Deinem Uiiche, und in dessen Behandlung Du grosse 
Meisterschalt und Liehe zeii^st, liessc sich nicht in die andere Weisse 
logen, und darum auch ist mir Dein Buch lieb wie es da ist ohne Vor- 



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Joseph von Görres' Briefe au Achhn vou iVraim. 



153 



belialt, die Poesie liut .Mor^'en, Kulinination und Abend. Jede Gegen- 
wart als Endlichkeit zwischen zwey Unemilii iikeiten ist beschränkt und 
arm und eng und daniiii uupoetisch, betrachtet aber als die blosse Grenze 
zweyer ünendlu-iikeiten wird sie selbst wieder in Deyde autgenonimen, 
und daher Gegenstand der Kunst, und so weisst Du immer sie zu nehmen. 
Das Komische in Jerusalem ist gut, wie das im Üktavianus, das Ernste 
wuidifT, in vielem hast J^n die alte Lecrpnde erreicht. Nur bey der 
Haiemsszene bin ich angesto^<se[l, sie iiat eiiropäisciien Kümmeli^eschmack, 
und hat mich an den mir aus Grund der Seele fatalen goldnen Spiegel 
Wielands und älinliclie feiste Orientalismen von Anton Wall errinnert. 
Was Du von Göthe in dem Buche sagst, muss ihn wohl erfreuen, er 
hat Keinen in Teutschland, ders treuer mit ihm meynt. Was hat er 
denn zu Jerusalem gesagt, seine Liebhaberey ists doch wohl schwerlich ? 
Du hattest sonst wohl recht als Da schriebest, die Schüssel die du mir 
dampfend hinstellest, mögte geronnen und erkaltet seyn, ehe sie nur zu 
mir gelaugte. Vor Wintersanfang hast Du das Buch abgeschickt, und 
nacii Frühlingsanfang ist es erst zu mir gekommen. Daran ist wohl 
zum Theil Zimmer schuld, mit dem ich in dergleichen Besorgungen sehr 
unzufrieden bin. Inzwischen ist mir unter andern auch das lieb, dass 
man bey Dir sicher sein kann, da^s Du trotz so langer Verzögerung 
nicht auf arge Oedanken kömmst. Was sie sonst über Deine Arbeiten 
salbadern, davon erfahre ich wenig, da mir ausser den Jahrbüchern, und 
die spät genug, sonst beynahe nichts vorkömmt. 

Ueber Deine Dolores, von der ich Dir noch besondere Rechen- 
Schaft schuldig bin, die ich Dir geben werde, wenn ich sie nächstens 
noch einmal gelesen habe, habe ich eine Rezension darin gelesen, die 
Dich gefreut haben wird ; ich habe sie in manchem meine eigene Arbeit, 
etwa im Schlafe niedergeschrieben geglaubt, bis mich einzelne kleine 
Minenzüge doch errinnert^ dass es ein Anderer sey. ') Sie haben übrigens 
die BeseDsioD ooeh ins nachgelieferte Heft des vorigen Jahrgangs hinein- 
getban, um ja den ange&ngnen neuen miserabeln nicht damit m ver- 
derben. 

Man schreibt mir eben, dass Du am eüften vorigen Monaths 
Hochzeit gemacht, Du kannst glauben, dass ich sicher an dem Tage 
wenigstens einmal an Dich gedacht habe. Nimm meine besten Wünsche 
in Dein neues Leben über, soviele Blüthen als der gegenwärtige Früh- 
ling zeigt, soviel Früchte als er verspricht. Da hast in der That eine 

1) Vou Bettina und Wilhelm Grimm, über dirt-u Aiiteilschaft ich IS'JO in Bd. 31 
der ZeitBchrift fittr dwtsdie FhOologle berichtet habe^ 



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154 



Rcüüjold Steig 



sohöne Z«it zum Werk getroffeo, und das ist zoverlftssig niebt ohno 
YorbedeotuDg. Aber swey Qewittor scbon siod seit jenein Tag über uns 
Torbeygezogen, bsst Du deren auch gebabt, dami bast Du doch wohl 
auigipasst, sie konunen nacb der ilten Haosregel alle ans demselben 
Striebe. Wunsch und Oruss f&r Deine Frau masst Da ihr selber flber- 
briDgeo, und ihr dabey Staad und Herkunft ttplinran, da sie mich gar 
nicht kennt. 

Was sonst die Meinigen betrifft, so sind wir Alle wohl, Dein 
Pathchen ist ziemlich gross geworden, macht sich aber nur wenig ans 
mir, es sagt sein Vater sey verloren, im Wasssr ersoffen, und es brauche 
keinen Anderen mehr. Meine Famiiie iial sicli ubii^'ens um zwölf Vögel 
zwey Distelfinken, zwei Zeisige, zwey Dompfatlen. zwei Canarienvögel, 
zwey Stockfinken und zwey liuehfinken vermehrt, die mir nun zusamiuen 
nebst den Kindern ein mörderlieh Gescbrey um den Kojd' machen. In 
all dem Lärm habe ich in Jahr und Tag Persisch gelernt, und das so 
ernsthaft, dass ich alle Tage den Schah Nameli des Ferdusi erwarte, 
und mit seinen 60ÜOO Versen bis gegen den Winter zu Stande zu seyn 
gedenke. Weiter habe ich die Zeit meine Mathematik, Differenzial- 
reciinung inclusive wieder aufgefrischt, in der Mechanik viel gethan, 
viel über das Liclit experimentirt. die Studien zu meinem Mythenbiiche 
fortiresot'/.t, über Naturrecht gelesen, und sonst meine Stuniieu if j* ben, 
niemeu grossen Garten selbst und allein nniL'earbeitet. also wie Du 
siehst nicht auf der Bärenhaut gelegen, und doeii fürchte ich waclisen 
die Sai;hen mir alle über den Kopf zusammen, ich muss siebenzig Jahre 
bcy <,Miteni Verstände alt werden, wenns was werden soll. Nächsten 
Winter denke ich nach Göttingen zu gehen, wenn ich das Geld dazu 
auttreibe, um mich einmal einer guten Bibliothek zu nähern. !>ann 
mache ich wohl auch einen Sprung zu euch hinüber, mich freuts dass 
eure Universität so wohl gedeiht, wäre die Armuth nicht, bey dem 
jetzigen guten Willen und der Bescheidenheit könnte was Vortreffliches 
werden. Alles gefallt mir darinn wohl, weil so wenig Lärm damit ge- 
macht wird. Das Inaugurationsgedicht von Clemens') hat mir wohl 
gefallen, ob er sich gleich dabey mehr als gewöhnlich besonnen zu 
haben scheint. Ohne Göthes Nachahmer zu seyn, kömmt er ihm doch 
in der Art und Weisse unter allen am nächsten. Was treibt er denn, 



1) Diü Cautute auf die feierlich«.* K,n»liiiimg der berliner liiiiversitat am 15.<>ktol)er 
1810, die aber in Wirkfichkeit nicht Btattgefundcn hat: «ieh Heinridi von Kleiat's 
Beriiner Kämpfe S. 301 f. 



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Joseph von GöiTes' hiietc iui Acliim von Aruim 



155 



ich höre nichts von ihm, und Da schreibst mir nichts, er selber gar 
nichts, meinen Dir eingeschlossenen Brief bat er doch wohl erhalten? 
ist er denn wirktich PioiSassor, oder bats ihm Zschokke nur so ange- 
hängt, niemand wills glanben. Grfisse mir ihn viel und gut, er soll mir 
schreiben, sonst lass ich ihn auch laden. ^) 

Zum Schlosse rnuss ich Dir noch sagen, wie ich in Halle und 
Jerusalem Dich nkkh auf den ersten Blick mit vielem Vergnügen darin 
wieder erkLitiiit. dass voin unter den spielenden Personen Lysander gänz- 
lich fehlt. ) Druckfehler waren sonst leider nicht viele aufzutreiben. 

Und so lebe denn wohl, und mache Dirs wohl, und behalte mich 
lieb wie ich Dich lieb behalte von ganzem üerzen. 

Görres. 

Es war ein sonderbares Spiel des Zufalls, dass sich auch mit die- 
sem Schreiben ein Brief Arnim's, vom 14. April 1811, kreuzte (8, 195). 
Er erzählte Görres, wie er sich mit Bettina verheiratet habe; lud 
ihn abermals auf ein halbes Jahr, um Vorlesungen zu halten, zu 
sich nach Berlin ein; und kündigte ihm an, er gedenke, nun Bettina 
sein sei, noch diesen Sommer mit ihr alle geliebten Wege und Höhen 
des Rheins wieder zu besuchen. 

Die Heise wurde im August 1811 angetreten. In Weimar feierten 
sie Goethe's iielantstag mit und bchiedeu in Unmut und Verdruss mit 
Goethe's Frau. Es war schon tief in den .September hinein, si ^ in i^'rank- 
furt eintrafen, und wenn sie den herrlichen Herbst dieses Jaiires am Rheine 
g«»nie8}»'en wollten, dann war es Zeit, in Eile dahin aufzubrechen. Die 
Familie Brentano besass ein Weingut vai Winkel unterm Johannesberg. 
Wie im Sommer 1808, bestieg jetzt wieder Arnim an Bettinens Seite 
den kloinen Tempel auf dem Niederwald. Alles so vertraut, und docli 
ganz anders geworden. Zum ersten Male trennte sicii iiier Arnim auf 
ein paar Tage von seiner jungen Frau und fuhr lustig nach Koblenz 
zu Görres hinunter. Er traf nun leider Görres' Frau und die Kinder 
an der Kühr erkrankt, so dass die Unterhaltung beider Freunde nach 
so langer Trennung, insbesondere die Gänge ins Freie sehr gehindert 
wurden. „Aber es mehrte" — ich entnehme dies einem ungedruckten 
Briefe Arnim's an Grimmas — «meine Achtung gegen den herrlichen 

1) iu Zachokke's Miscelleii für diu nouestp Weltkundc (1811, S. 1Ö8) war in 
einer Berliner Correspoudeuz von C'lcmeus als dem „Professor Bi'eutauo" fillscbüch 
die Bede gewesen. 

^ Dies Btinunt, ist «ich im Neudnick der Sftnrtlidieii Werke bo verblieben. 



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156 



Ketuhold Steig 



Menschen, der sich mitten unter solchen Stöninf,'en, von niemand be- 
gleitet, so entfernten Studien ergeben kann, iiiid die Niederträchtigkeit 
der Literatoreii gegen ihn fiel mir bitter in den Geschmack ; diu li hätte 
ich gewünscht, Götiie niclit über Görres gehört zu haben, was ich aber 
natürlicii dem Gfirres verschwieg und ihn vielmehr so fröhlich wie mög- 
lich mit allem bekannt zu machen suchte, wo ich ihn anerkannt ge- 
funden hatte. Diö Heidelberger Jahrbücher hatten sich vor kurzem wieder 
an ihn gewendet (8, 219) und er hatte eine Rezension von Jean Pauls 
sämtlichen Schriften verfasst. Noch arbeitet er an einem Werk über 
die christlichen Mythen, er sprach sehr genügend über die Berülirung 
zwischen den cliristlichen Mythen und Indien, über die verschiedeneu 
Evangelisten u. s. w."* Görres war damals also mit einer Fortführung 
seiner Mythengeschi<iite beschäftigt. Es stimmt dies Alles zu dem, 
was Arnim über Gorres aucli an Clemens Brentano (S. 290) schrieb. 
8o wohnte Arnim ein paar Tage in Görres' Nllho. Der Komet leuchtete 
hell hernieder, wenn Arnim Nachts, weil die Brücke nicht mehr abging, 
auf einem Nachen über den schwarzen Rhein nach Thal Ehrenbreitstein 
hinüberfuhr, wo er aus Mangel an Pässen sein Nachtquartier genommen 
hatte. Mit herzlicher Ungeduld kehrte Arnim am 12. Oktober 1811 zu 
seiner Frau nach Frankfurt zurück ; und ein kurzes Empfehlungsschreiben, 
das er Tags darauf einem jungen Bekannten mitgab (8, 254), war das 
erste, rasche Lebenszciclien seit der Trennung von dem Freunde. 

Görres' Jean Paul- Rezension erschien im Jahrgang 1811 der Heidel- 
berger Jahrbücher. Wie sie im Ganzen die Neigung der Heidelberger 
Romantiker für Jean Panl zum Ausdruck brachte, so liess auch 
QOrres* eigene Stimmungen aus jenen Tagen deutlich durchblicken* 
Görres empfand Goethe gegenüber, dessen üeberlegenheit er keinen 
Augenblick in Zweifel zog, doch das Trennende mehr als Arnim. Bei 
Goethe war es ebenso. Es stimmte zwischen ihm und Görres nie. In der 
Jean Paul-Rezension (S. 1287) spricht Görres von dem sicheren inneren 
Takt, von dem sarfeen berfihrsamen Nerrengdst, dem sicheren nnbetrüg- 
liehen Gefflhl des Rechten und Schönen, kurz des ftsthetischen Ge- 
wissens, und &hrt fort: «Von dieser Seite darf Jean Faul sieh mit 
jedem, auch dem besten Dichter messen, und keiner fibertrifft ihn in 
jener schönen hohen imd genialen Lebensgiazie, in jenem reinen Eben- 
masse, in jener Zartheit aller Laute des Gefflhls* das ging natfirlicb 
gegen Goethe! Weiter heisst es(S. 1289): »Esistuns erqnicklieb, hier 
im Hanse eines guten Geistes zu seyn, dem wir vertrauen können, dass 
er nicht mit Trug umgeht, und mit schönen Empfindungen uns belögt. 



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Joseph vou Gürres' Briefe aa Achim voa Aroim 



157 



öiue freudige Siclierheit, die uns auch in den Werken eines andern in 
allem Outen diesem Geiste verwandten wertheu Freundes, imniür so 
wolilthuend und tröstlich gewesen ist." Wer emptäiide nicht, dass 
Achim von Arnim hier von Görres gemeint sei. 

Im Novtiniber machte Arnim eiuen neuen Ausflug; eine Woche in 
Heidelberg, fünf Tage in Strasshurg. dann noch einen Tag wieder in 
Heidelberg, und /iirück nach Frankfurt. Tn Stiassburg halt« or littera- 
rische Absichten, die sich nicht erfüllten. Gorres erfuhr dies zunächst 
von Zimmer und Creuzer (8, 257). Dana aber, iii nälierer Ausführung 
von Arnim selber, durch einen Brief, der aus Görres' Nachla.ss nicht 
wieder aufgetaucht ist, über dessen lobalt Gdrres' Autwort uns aber 
Aufschlüsse gewährt. 

Das Wichtige sind Görres' politische Selbstbekenntnisse. Man be- 
denke, wie die preussischen Patrioten in Berlin, zu denen Arnim gehörte, 
damals ihre politische Stellung nahmen. Als Kriegspartei forderten sie 
den Bntscheidungskampf gegen Napoleon; als alte konservativ-feudale 
Grund besitzerpartei suchten sie dem Eändriogen re?olutioaär-fianzösischer 
Ideen in die innere Verwaltung Preussens zu wehren. Es war nicht anders 
möglich, als dass diese Ding« jeist zwiscfaen den beiden Freunden zur 
Sprache kamen. Görres wurde, so oft es seinen Gegnern bequem war, 
als Jakobiner ausgegeben und verdächtigt. Die publizistischen Schriften 
seiner Jünglingsjahre : das ,Hothe Blatt" und der , Rübezahl*, auch noch 
die „Resultate meiner Endung nach Paris", die kaum mehr als ein 
Jahrzehnt zarücklagen, konnten jeden Augenblick als Beweis dafür her- 
vorgelangt werden. In glühendem Freiheitstaumel hatte Görres damals 
die Pfaffen- und Herrenwirtschaft in den Rheinlanden mit beseitigen 
helfen, und als sittlidliflr Idealist in der Erklärung der Menschenrechte, 
der Aufrichtung der Bepublik, der Lostrennung des linken Bheinufers 
vom abgestorbenen BeiehskOrper das künftige Heil erbUckt, bis ihm die 
Augen darüber aufgingen, was der aus solchen Idealen tbats&chlich heraus- 
entwickelte Imperialismus eines Bonaparte zu bedeuten habe. Gdrres 
war jetzt der sch&rfste Gegner Napoleon's und seiner Machtgelfiste, in 
Deutschland wie in Spanien. Er stand jetzt genau so wie die Berliner 
Patrioten und wie Arnim, ünd trotzdem beschfiflagte sieh Gdrres 
mit der Möglichkeit, der Fortsetzung seiner Studien wegen überhaupt 
nach Paris zu gehen, ein Plan, aus dem in der Folge doch nichts 
wurde. Den Gang der politischen Entwickelnng bei Görres zu beob- 
aohteu, mochte für Arnim etwas höchst Anziehendes und Beizyolles 
haben. Er nahm — wahrscbdnlich in Strassburg — die Gelegenheit 



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158 



IMnhoU Steig 



wahr, Görres* Jugendschriften durebzolesaD. Was er darüber an QOrres 
BCbrieb, gab die AnregoDg zu der BückftusseruDg des nachfolgenden 
Briefes; es ist yielleicbt das frObeste^ aber nicbt das einzige Mal, dass 
QOrres zu Selbsterklftrungen fiber sein erstes politisches Auftreten sich 
genötigt sah: 

Koblenz am 18ten Jänner 1812. 

Ich schreibe Dir schnell, lieber Arnim, auf Deinen Brief, weil ich 
hoffe, dass der Meinige Dich noch in Frankfurt antrifft, gerade die Un^ 
gewissheit, ob dabin oder nach Berlin, hat mich abgehalteo, früher Dir 
einen Brief nachzuschicken. Ich hätte wohl gewollt^ dass Dn bis zum 
Frfihjabr oben geblieben, und mich dann noch einmal besucht hättest 
zusammt Deinem Buben, den ich wohl eben so gern wie den König von 
Born sehen mögt«. Wenns aber nun ein Mädchen wird, dann wäre 
freylieb besser gewesen dass es statt guten Weines reichliches Oel ge- 
geben hätte. Dn musst es Jetzt beynahe wissen könoen, ich weiss nicbt 
ob ich Dir meine physiologischen Zeichen, worans schon im vierten Monath 
zu sehen ist, gesagt liabe. Schreibe mirs doch gleich, wenns ans Tages- 
licht kömmt, bey jt dem Glase neuen Wein denk ich daran, der Jahr- 
gang ist gar zu gut, nnd der Boden auch, es kann nichts Schlechtes 
gewachsen seyn. 

Dass Du meinen Rübezahl gelesen, ist mir lieb. Ich hätte Dir 
ihn recht wobl geben können, wenn ich ihn gehabt hätte, aber nicht 
vielen Andern. Wozu Da und ich in aller Gutmfithigkeit lachen, weil 

Du in Deiner allgemeinen Billigkeit, und ich in meiner Ueberzeugung 
wissen, dass der tiiuiid gut ist. das würden die meisten mit hoch- 
niütliiger Ironie ansehen und ^ich gescheidt dünkeu dass manches Thö- 
rigte von ihnen niclit gedruckt ist. Ich kenne noch ganz genau meine 
damalige Stimmung, und weiss dass sie gerade so viel werth war wie 
meine gegenwärtige, ohne alle Welteifalinuig, ohne Geschichte, wusste 
ich recht gut was ich wollte, in meiner Gesinnung war kein Makel, ich 
habe mich über gar niclits zu schiimen, mir gar nichts vorzuwerfen, ich 
würde jetzt in ähnliciien Füllen Manches gescheidter anfangen, aber 
redlicher nnd wolilnieynender niemal. Allerley Unbeholfenes, Unge- 
schicktes und Besciiranktüs ist in dem ganzen Wesen, aber tüchtig wars 
in seiner Art, und hätten alle so gearbeitet, Teutschland wäre nicht in 
der Erniedrigung wie jetzt; das Ganze war eigentlich ein bürgerlicher 
Krieg mit den Franzosen in ihrer eigenen Taktik, und vom Äus.sern 
ausser dem Umfang i)auj»tsilclilich dadurch verschieden, dass ich nie 
geschlagen wurde. Ich will Dir nun auch mein politisches Tesia- 



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Joseph von (»«»rros' Briefe an Achim von Anütn X59 

ment nach* meiner Bfickknoft tob Fans mit dem n&cbsten Post- 
wagen ncUdEen. Bis aaf einige Blitter k&nnte ieba wohl jetzt noch 
BchreibeD, wie ieh beym Darchleeen vor einiger Zeit geftinden habe. 
LasB Dirs nachschicken, wenn Do weg bist. Was m^ne damaligen Mit- 
arbeiter betrifft, so waren gerade nur die schwftchsten, die sich mit 
diesem gewissermassen Literärischen abgeben konnten, es war sonst viel 
Tüchtiges dabey, nioine Stimmung war die herrschende, und niemal 
wäre es zu solchen Dingen, wie bey den Franzosen gekommen. Ich 
kenne nicht das Strassbiirß-er Irlich, aber ich muss Dich doch warnen, 
nicht zu unbedingt dar au t zu vertrauen. Diese Sachen sind von den 
sogenannten Moderantisten, diesem lauen Fischfleischgeschlechte, das 
immer bey jeder heftigen Anstrent,ning der menschlichen Natur zusammen- 
läuft, wie Schleimsäfte bey Verwundungen, was denn freylich eine gute 
NaturveranstaltiincT ist, weil alle Extreme einmal nicht t'fir unsere Erde 
sind. Diese .In kubinergreuel sind doch nichts als einmal ein akuter An- 
fall in das ewjge chronische Uebel der Welt, diese zahmen Sünden sind 
doch unter allen die widerwärtigsten. Die bessern Jakul in r wie Danton 
und Andere hatte keine andere Sünde, als dass yie etwas ernsthaft woll- 
ten, die sclilechtern waren nichts als leichtsinnige Franzosen, der Haufen 
schwamm nach, und ersoff zum Theil. Jene Geraäsigten sind gerade 
die Schreyer auch in der tcutsehen Literatur, Du weisst wie viel Glauben 
eine Geschichte von diesem Packe geschrieben, verdienen würde. Jetzt 
in Spanien lassen sie sich ohne Murren zu Tausenden binrnotzeln zu 
ganz gemeinen Zwecken wenn die Idee aber von ein paar Berauschten 
gehandhabt in der Guillotine ein paar Dutzende frass, dann erheben sie 
gross Geschrey. Wer nicht mitgespielt, kann kaum ein sicheres ürtheil 
gewinnen, weil die Leidenschaft alles verdreht hat. Dass Deine Prophe- 
aeyung *) übrigens auf gatem Grunde ruht, kann ich am besten wiasenf 
denn ich sehe gar nicht an wie ich mitten unter Franzosen je einer 
ihres gleichen im Guten wie im Bösen werden kann, sie müssten mich 
erst verkuppeln und durch ein halb Dutzend Generationen durchlaufen 
lassen. Aber das kann ich schon wieder nicht leiden, dass meine Mädchen 
FranaoBon hejrathen sollten, und das Hesse sich doch gleich z. B. beym 



1) Es klingt dies an eine Stelle des Rothen FHattes <19. Febraar 1798) an, wo 

Görrcs sarkastisch als zu verkaufen anbietet : „1*2000 Stürk Menschenvieh, vortrefflich 
thrcssirt, können hauen, schiosson, steclien, rechts- und Hnksuni machen. Ein zwölf- 
jähriges Abrichten mit Stock und Prügel hat es endlich dahin gebracht, dass sie 
sich fttr ihren Herrn todtschiessen lassen, ohne nur dabei zn murren.* 

2) (MfenlNur: GOnes werde «ich in Paris nie heimisch ftdilen. 



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160 



Rcnliold Steig 



Leben in Frankreich nicht vermeiden. Doch habe ich mich nach langem 
Streite nach Abwägung aller für und wieder, doch schon seit geraumer 
Zeit für Paris entschieden. Meine Zeit ist gemessen, soll etwas geschehen, 
dann muss ich mich der Werkzeuge bemeistero, die Bänder von vielen 
sind dort, und man muss deo Franzo^^en schon als Zugabe 8( hluckeo. 
Höflich sind sie ja anch, und man braucht sich eben nicht mit ihnen 
kopoliren zu 1as(;en. Wie den Teutschen der politische Apparat der 
Franzosen Noth thäte, wenn sie es zu etwas briogen sollten, so müssen 
sie auch ihren wissenschaftlichen Apparat haben, wenn die Freyheit der 
Qesinnung etwas Lebendiges werden soll. So fehlts an meinem Willen 
nicht mehr, wies bisher der Fall war, ob aber die Umstände sich fügen 
werden, ist eine andere Frage. In diesem Lande ist das Interesse so 

viel, und ( , dass es kaum im änssersteii Winkel Platz hat. Die 

Teutschen ohneliin sind (. . . nichts) als eine Art von Biischltritten, und 
bloss dass ihre Sachen so wenig praktisch, ' . . sicher . . vor Verfolgung. Sonst 
sind die Leute dort im Einzelnen billiger und neidloser als die Teutschen, 
und gefälliger vor Allem. leh denke nächster Tage an Humbold zu 
schreiben, er ist ja auch aus dem tollen Lande, und muss mit seinen 
Landsleuteu halten. Wenn Du jemand in Berlin kennst, der mit ihm 
in genaueren YerhäUnissen steht, dann lass ihm doch wegen mir ein 
paar gute Worte sciiieiben. 

Dass Dir meine Rezensionen nicltt misifalleu, ist mir lieb gewesen. 
Bey Dalberg hat die Eine (über desst-n Aieteor-Cultus) ihren Zweck er- 
reicht, er ist in heilsames Feuer gerathcn, und will kein »ield und keine 
Mühe sparen zum Zwecke, wie ich schriftlich von ihm geötliLii habe 
(8, 276) Bey Jean Paul dachte ich an die lange Herabwürdigung die 
er erfaiiren, an seine Ehrlichkeit, und an den elenden Botenlohn, der 
den Besten gereicht wird, und den kalten, faden Bezensionsschleim, mit 
dem Alles bekrochen wird, Dass Dir die Rezension nicht ganz zusagt, 
ist theils ihre Schuld, der Anfang z. B. hat mir selbst durchaus mis- 
falleu, indessen liatte ich doch zu viel Zeit schon an die Sache gewendet, 
als dass ich sie noch einmal hätt« umschreiben können. Dann aber hast 
Du auch Einiges gegen Jean Paul, über das ich Dich zu fragen schon 
mehrmal vergessen habe. In der That lass Dich nicht durch Aensser- 
lichkeiten stören, die mii nun nie etwas sind, und lies einmal seine 
Schriften, mitten unter dem Schutte einer eingestürzten Bibliothek hat 
er Schloss und Garten und wohnt wie ein Sylphe und die schweins- 
ledernen Bücher kommen einem am Ende wie helle Sterne vor. Ich 
kaiiii^ gar nicht leiden, dass Du auch unter denen bist, die ihn nicht 
gelesen. 



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Joseph TOR GSites* Brie6B an Adiim von Anum 161 

Deine Nachrichten über Heidelberg habe ich gerne gelesen, schreibe 
mir auch wie Du Berlin wiederfindest. Obgleich ich auch an Creuzer 
das fatale unstäte Zucken und die ewige Nakeley nicht leiden kann, so 
halte ich doch Wilkeu für falsch, ob Je was rechtes aus ihm heraus* 
kömmt, daran knnn man wohl oiir aua allgemeiner Menschenliebe glauben, 
er ist zu eingebildet. Aber was er in der Bibliothek gethan, daran 
glaube ich gern, das und viel Aehnliches ist sein Fach, und von der 
Seite ist Heidelberg za enge für ihn. Dass unter den Studenten einiges 
ist, kann eioen wohl auch erfreuen, immer wird die wahre Zeit doch 
wie mit Chronometern von Einigen erhalten, dass man wdss, wo man 
in der Welt daran ist. 

In meinem Hausse bSttest Du, wärst Da diesmal gekommen alles 
hesser in Ordnung gefunden, die bOsen Geister sind vertrieben, meine 
Frau ist wieder wohl und grOsst Dich. Die Kinder haben sich auch 
wieder herau^firessen, Dein Pathehen bringt mir mit langer Schnauze 
ein Kussmaul fSr Dich wies sagt. Seinen Tyrolem hata bald alle Kdpfe 
abgeschlagen, es will sie aber tagtAglich geleimt haben. Sonst zeigt es 
sich als einen treuen Anhfinger von seinem Pathen, weils die H&lfbe 
der Lieder im Anhange vom Wimderhoni beynahe auswendig kann. 
So reisse nun wohl und glüddich, zum neuen Jahre will ich Dir nur 
die Fortsetzung des alten wfinschen, behalte mich lieb, und schreibe 
mir bald. 

GOrres. 

Arnim nahm seinen Heimweg über Kassel zu Grinun's und traf im 
Februar 1812 wieder in Berlin ein. Hier bereiteten sich schon die 
grossen Ereignisse des mssisch'französischen Krieges vor. Die Patrioten 
von der preussischen Kriegspartei traten trauernd zur Seite, oder wer 
von ihnen Offizier war und seinen preussischen D^en für keinen Na« 
poleon ziehen wollte, nahm den Abschied, um in den russischen Begi- 
mentem gegen den gemeinsamen Feind zu kftmpfen. Arnim hielt sich 
still turfick. Den Umgang sdner nächsten Beriiaer Freunde, KIdst, 
Adam MfiUer, Brentano, die nicht mehr da waren, musste er entbehren. In 
dem stillen Gartenhause, das er mit seiner jungen Frau bewohnte, 
baute er sich sein eignes, der Welt entferntes Lebens- und Arbeits- 
heiin. Und hier vollendete er seine Ausgabe der Vier Novellen, die, 
am Rhein und Main entstanden, er den Freunden Görres und Grimm 
schon iu Koblenz und Kassel vorgelesen hatte: den Brüdern Grimm 
sind sie daher auch /.ugeeignet. 



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162 



BdnhoM Stmg 



Diese Tier Novellen werden heute noch gelesen^ so dass sie als 
bekannt vorausgesetzt werden dürfen. Nur wenige Bemerkungen sind 
im Hinblick auf das Foljrende nötig. In die erste Novelle, Isabella oder 
Karl's des Fünften Jugendliebe, hat Ainiin die Romantik des Zigeuner- 
lebens mit Spuck und Wurzelmännehen liincin^parbeitet. In der zweiten 
beruht das Geheimnisvolle auf der wunderbaren Aufopferung der Ara- 
beriii Melfik Maria Blainville für ihre Freunde. Im glficklichen Ffirber 
Golno and der pifichtigen Lebne gab er, in der dritten Novelle, die 
woblgelnngenen Personen eines thfttig-bflrgerlicben Sittengemäldes. Die 
vierte Noyelle, Angeliba die Genaeeerin und Gosmns der Seilspringer, 
behandelt das Sichwiederfinden von Sohn and Matter, die getrennt 
waren. 

Die Novellen gelangten an Orimm*s nach Kassel und von ihnen in 
Aniim*8 Auftrage ein Exemplar zu Görres. Wilhelm schrieb dazu an 
Görres (8, 815): ,Die lebendige Begeisterung, die wahrhaft treue Poe^ 
sein reiner Styl wird nicht leicht von einem Aufrichtigea verkannt 
werden, mir ist auch das individuelle darin recht eigentlich lieb und 
zusagoid, und darum kehr ich Immer gern zu Amim*8 Dichtungen su- 
rflck. Der ersten Erzfthlnng gönn ich auch den ersten Platz, er bat 
sie uns schon vorgelesen, und viele recht herrlich erfundene ganz origi- 
nelle Situationen stehen mir lebendig vor dem Herzen. Oft fingt er 
mit einem charakteristischen ganz heimlichen Leben im Walde^ in 
Felsen an, und in dieser scbOnen Begrenzung tritt alles nah, klar und 
ergreifend vor uns hin; dieses flihrt er bis zu einem gewissen Punkt, 
dann aber thun sich alle verborgenen Thfiren auf und wir treten in 
die ganze Welt, in welche sich die Geschichte nach allen Gegenden 
verbreitet und ihr Resultat als ein allgemeines und grosses an jene 
knöpft". Freilich erliege Arnim der aus einem gewissen Beiebtum 
springenden Gefahr, den Strom seiner Poesie, an dessen Ufer man be- 
haglich hingehe, unbeschränkt zu einem Weltmeer werden zu lassen, 
dem man nicht folgen könne: „So lifittc ich gewettet, die Geschichte 
der Tsabella wäre zu Ende, wo sie Nachts lierabsjiringt aus dem Fenster 
und zu den Ihrigen ziirückkelirt". So könne er sich den Färber Golno 
kaum vor den Augen behalten, bei dem das üeberspringen in neue Ver- 
hältnisse am meisten auffalle, wolil aber die drei liebreichen Schwestern, 
vor allen Lehnchen, die wieder vortrefflich sei. Lauter feine Be- 
merkungen, mit denen Görres sicli in seiner Antwort an Wilhelm Grimm 
(8, 329) grösstenteils einverstanden erklären konnte. Arnim achte aller- 
dings zu wenig die Begein der Perspektive in seiner Komposition: 



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Joseph Ton Gdrres' Briefe an Adum von Arnim 



163 



JSonat ist Allea in dem Baebe wobl gemacht, und ea steht da wie ein 
herrlicher blähender and fruchtbarer Banm, den die Tflgel weit über 
Meer hin kennen, und su dem sie hingezogen kommen*. Zo Arnim 
selber sprach sich GOrree in dem folgendem Briefe ans: 

Köhlens am lOtra Jnny 1812. 

Ich habe lange nichts gehört toh Dir nnd Deinem Kinde, die paar 
Worte in Deinen ürzahlnngen 

Und ein Jalur ist so vergangen 

Und ein Kind, vun Dir empfangen, 
Zei<(t des .Jahres liobroioli Hild: 
Grossor Gott, wie bist Du mild! 

hast Du im Herbste niodeigeschrieben, ich kann also nichts daraus neh- 
men Sonst bist Du so veignügt darin, wäre üchermuth dabey, dann 
könnte man Böses fürchten, das ist aber auch nicht, dio Zeit aber ist 
vorüber, und so hin ich nur in imbestimmter Sorge, und weiss nicht 
was ich denken soll, darum schreibe mir wies stellt. Sonst wirst Du 
wohl gar angenehmen Zeitvertreib haben mit Kanonen und Bajonetten 
und Trommeln und Allem was man so in die Trophäen zusammenbindet, 
und die Zerstreuung ist Dir wohl zu gönnen bey Deinem gegenwärtigen 
sitzenden Leben in Vergleich mit früheren Wandeljahreu. Ich glaube 
würklich, dass meine werthen Landsleute mit dem, was sie hiessigem 
Boden vertragen, am Knde nocii euern Sand fruchtbar machen werden. 
Auch lese ich dio drev Prozente eben in den Zeitungen, schöne Divi- 
deiideu aus dem Tvompagniehandel mit dem Vaterland in französischer 
Waare gezogen : mich Wörden sie freilich niciit sehr drücken, was ich 
ohne Hochmuth sagen kann. 

Deine Erzählungen habe ich, wie Du aus dem Anlaiige schon 
sehen kannst erhalten, und wie Du denken magst mit viel Lust und 
Ergözlichkeit gelesen. Ein sehr angenehmes Männchen hast Du unter 
dem Galgen hervorgcscliarrt, man muss sagen, dass noch kein Klassiker 
an diesem Orte nach Poesie gegraben, obgleich der Galgen mit den drey 
Füssen ein prächtiger Molossus ist. Die Erzählung ist bis auf einige 
kleine Astlöcher über die Maassen wohl gemacht, meist lauter erlogenes 
Volk geht darin herum, und doch spricht man mit ihnen, und erkundigt 
sich, und sieht sie an und nimmt Theil an ihnen, als wärs etwas. Ich 
glaube würklich dass auch einmal eine Zeit gewesen ist, wo die Natur 

]) Die Vene, dtc gemeint sind, habe ich ans ÄRiim^s Enfihlmigen oben In den 
Brief eingesetxL 

KSUB HRIUBLIt. MHRBtlBClIRK X. Iii 



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m 



I 



solchen Mathwillen getrieben hat, und dass unter irgend einem Bergzag 
eine ganie Ranpelkammer solcher komischen Masken, und Oapita der 
Hanswurstpfailoeophie rergraben Hegt, die einmal sur Verzweyflang der 
Systematiker aofgegraben wird, es wird sehr schön seyn wenn wir so 
die Puppen der erasten Matrone einmal zu sehen bekommen. All das 
Terzweifelte Volk hat also in der Lederbose beysammengelegeD, und 
wird za jetziger Zeit heransgelassen, ich wundere mich nur immer dass 
sich nicht irgend einmal jemand darauf gesetzt, und etwa vor dem 
schönen vielstimmigen Gequicke erschrocken aufgefahren ist wie vom 
musikalischen Stuhl, und wies so lange gut gethau in dem engen Be- 
hfilter, und wie so mancherley sehr honette Leute der Graf, Olympia 
und einige andere mit vielen Landstreichern zurecbt gekommen sind. Ich 
muss sagen, dass wenn alle Deine Leute mit Dir einst beulend zur Leiche 
gehen, kein ftrger Spektakel je erhört seyn wird, auf das die Leute weit 
und breit wie zur Krönung zusammenlaufen. Sitzest Du aber unter 
ihnen, dann ists die Versuchung des heiligen Antonius'), und Da musst 
nicht beten können, ja nicht einmal recht fluchen. Unterdessen fiibien 
immer wieder neue Krfiglein mit aparten Bäuchen und Henkeln von der 
Töpferscheibe, und tanzen fort um die Scheibe, wie Du im machen sie 
gelehrt. Ich muss dabey hichen, wenn ich denke wie Du lachend sitzest, 
und die schwarzen Fäden spinnst, und wie Dein Lachen in die paar 
Tropfen Tinte fölirt, und sie in die allerliebsten Klexe auseinanderschlägt. 
Im Ernsthaften machst Du aber aurh ein elirenvest Gesicht, da kömmts 
Dir wohl zu statten, dass Du nahe an die sechs Füsse missest. 

Die Araberin ist sehr gut, nur in der Erzählung der Einschlag 
vun anderer Materie als der Aufzug, und es ist in alten Gesetzbüchern 
schon verboten, zweyerle^ m einem Zeug zu wählen, weil eins das An- 
dere aufreibt. 

Auch Cosmus, der am Anfang sich meisterlich anzukundif^en 
v/e'm, schlägt gegen das Ende etwas um, der berühmte Mann in Heidel- 
berg wild Dir übrigens seinen Dank zu bezeugen wissen auf die schon 
bekannte Weisse'). 

1) Aneh in der Einsiedlerzeitnng benotet. 

2) Der „bernbnite Mann in Heidelliorg" ist Voss, und G&mi besieht sich auf 

tlii* fiiI};oii(U> Stelle bei Aniini (Wcrko 1. -^W), wo „ein heriiliiiiter Äraiiii, den sie (tlie 
aus Ileidplltnr? Kliehemlen) kennen fielernt liattPii. ihnen «ie vnr (hm schönen 
Kreuze am l liore dankhur heteten) in den Weg trui. umi \ ni wiirle marhle, wie sie 
(jötzeobltder ans Steinen anbeten kAnnten; an«li war es (lern Manne nidif. radit) dasa 
sie dem Ifaiiix s eine Livree mit Tressen iri i/ilnii li.'itti ii. weil er das für aristo» 
Itratische Auszeicbnung Itielt'*. , Aul' die schon bekannte Weise" bedeutet: im Moigenblatt. 



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Joseph vou Uürrea' Briefe au Acbün von Amuu 



165 



Im Färber hat der heilige Geist einige Tage zu kurz gebrütet, 
und zuletzt aus Ungeduld das Ey in etwas aufgepickt. Der Stott 
mag für Deine JNatur etwas widerbellend seyn, doch hast Du iiin recht 
wolil bezwungen, und die Lehne besonders ist recht gut gelungen, und 
kann Deinem andern poetischen Volke die Hausshaitang fuhren. Alles 
zusammen ist ein sehr guter Wurf, denn Du wirfst ganz eigentlich, und 
mich verlangt nur wieder, wo Du jetzt mit trächtig gehst. Kanntest 
Du soviel scbafien, als ich im Jahre lese, ich stellte wahrhaftig meine 
Arbeit ein, und hörte imnifM- nur Deinen Narrentoudunfipr! zu Winkel- 
mann besrhf'nkst Du {Werke 1, 371) nach gewohnter Weisse wieder im 
Grabe mit einem Sölinclien, ein altes Orakel sagte bey ähnlicher Ge- 
legenheit, der Nehmer habe Brod in den kalten Ofen geschoben, Du 
aber bringst es gar vollkommen gebacken heraus. Deine geheimen Denk- 
würdigkeiten von Karl dem Fünften ergänzen auch recht schön Schlegels 
Vorlesungen über ihn, nur durch das vertluchto Männlein hast Du Deiner 
Glaubwürdigkeit etwas weniges Abbruch gethan. 

Du rühmst in dem Buche die Trauben vom vorigen Jahre so sehr, 
dass sie verschämt unter dem grünen Laube hervorgesehen ist ein recht 
gutes Bild, dass Du sie aber hernach aufgefressen doch auch sehr kaoni- 
balisch. Aber hast Du denn auch von dem Weine daraus in Deinem 
fatalen Land getrunken? Du kannst glauben, sämmtliche Rheinländer 
^aben Ehre davon and ich trage solchen ungeheuchelten Respekt davor, 
dass ich, wo er nur vorkömmt, mich so in ihn vertiefe, dass er selbst 
bey all seinem grossen Qeiste doch ganz seiebt wird, ich wünsche mir 
keinen Keller voll, weil man sich daran m schänden trinken könnte. 
Nahe an 1000 Fuder sind schon in biessiger Stadt verzehrt, und dabey 
lesen die Leute keine Literatarzeitung, nicht einmal das Morgenblatt. 
WQsstest Du nur Wege anzugeben in die Sireasandbüebse, ich wollte 
Dir mige TiOpfeben zum Danke för Deine Erzäfalangen senden so gut 
wie sie. Habt ihr aucb ganze Fnder oben, ists nicht Johannisberger, 
dann reichen sie weit nicht an den EngenhOller, den jetzigen G^enstand 
meiner Andacht. Wirst Da dann den Herbst wieder za nns hemas* 
• kommen P Du solltest das niemal unterhssen, so lange Da noch be- 
weglich bist Mich wirst Du dasmal auch hoffentlich in besserer Fas- 
sung treffen, Frau und Kinder sind längst wieder wohl. Eben stehen 
die Trauben wieder in der Blüthe, so reichlich an den Stock geriet, 
wie man es lange nicht mehr gesehen, einige Tage fiber war nicht sonder- 
liches Wetter zum Dnrchblühen, jetzt aber hat sichs zum Vortrefflichen 
gewendet, und es mag wieder einen lustigen Herbst geben. Hast Da 

12* 



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166 



lUiiiiliold Steig 



den Krieg und die Eioquartirong Dir wieder aus dem Leib gedampft, 
dann gehst Du wieder heim. 

Ich lebe in meinem gewolmten Qleicbmntli fort, den langen Perser 
habe ich jetzt rein abgethan, Du kannst Dir denken, welch ein Neet 
?oli Sachen mit den Hacken wieder hinuntergelassen ist Es ist mir 
als sey ick mit in der Verfolgung Mosi gewesen, und Über das rothe 
Meer geschwommen, doch kann Ichs m keinem ordentlichen Respekte 
vor mir selber bringen, ich meine nun die Sprache sey ein Fillal mei- 
ner Muttersprache, und das Buch das mir vorher wie das Buch des 
Lammes mit den sieben Siegeln erschienen, ein kleines Tasehenbfiohldn 
mv Unterhaltung. Sonst l&nft ein Strom von Poesie darin, gross wie 
der Euphrat, viele berfihmte Männer unter uns rinnen als winzig kleine 
Bächlein darneben, es steigt kein Lachs binein, um darin zu laichen. 
Einen Auszug habe ich daraus gemacht, . nach Art der alten Prosaromane, 
wage aber doch niclit recht, ilin drucken au lassen, ans Furcht zu bhis- 
pfaemiren, denn es ist unbarmherzig wie man zusammenziehen muss, will 
man nicht auch wieder einen Folianten füllen. Sonst liest sicbs gut weg^. 

Was treibt ihr sonst wohl in den langen Strassen unter den 80 000, 
oder wieviel sind eurer; ich raeyne immer, stiogc ich nur drüben auf 
die Berge, ich müsste euch sehen können und winken, aber aus Furcht 
vor dem Auslachen versiuliP ichs doch uiemal, denn die Optik giebts 
schon, dass es nicht möglich ist. Dafür sehe ich Dich trotz Optik 
desto öfter in meiner Stubo, beym Losen Deines Buches bist Du mir 
nicht von der Seite gewichen, es war als ob Du selbst es vorläsest. Was 
macht Savigny? in dem Rektorate wird er viel angenehme Zerstreuung 
finden, grüsse ihn mir. Clemens wird wohl noch in Pra^' auf dem alten 
Flecke sitzen, und an den jetzigen Feyerlichkeiten sich wohl erbauen, 
ihn desgleichen. Dann auch Böckh und Marheineke, wenn Du ihnen 
begegnest. Eure Universität wird nun auch böse Zeit haben. Zuletzt 
sey Du seihst gegrüsst und Deine Fruu, da ich sie ni( lit kenne, so kann 
ich ihr nur gut äe.vn, dass sie Dirs so wohl macht iu der Welt. 

Görres. 

Ehe Görres diesen Hrief abschickte, empfinf,' er von Arnim die 
Nachricht, dass ihm, im Mni, ein Söhnclieii geboren sei. Mutter und 
Kind liatten in der äussersten Gefahr peschwebt. Die Anzeige wird 
;Unilich. wie die an Brentano {S. 302), gelautet haben, weiche mit den 
W orten schloss: ,VVas icli gelitten, <rehetfit, und dass ich mich nach 
all der Noth des Kindes erst nur wenig erfreuen konnte, das weiss 



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Josepb von Görres* Briefe an Adum vod Arnim IQJ 

üott und wirds mir nicht annn-linen." Aruim's Sohn empfing die Namen 
Johannes Freimund. Die Zuschrift, aus dem Mai 1812, war unter 
Görres' Briefen nicht mehr vorhanden; sie muss ausser der Geburts- 
anzeige noch andere Naclirichten enthalten haben. Görres legte sofort 
noch ein neues lilatt zu seinem Briefe an: 

,Ich erhalte, da ich meinen Brief schliessen will, den Deinen von 
der Geburt Deines Johannes Freymund her datirt, wozu ich Dir, be- 
sonders Deiner Frau, meinen wohlgemeynten Glückwunsch voran sende. 
Das sind wohl freylich schwere Tage, und ich kann noch nicht recht 
begreifen, warum der Mensch unter Schmerzen muss geboren werden, 
die forbin habens auch nicht begriffen, und darum dem Sündenfiille zu- 
geschrieben. Gebt die Frau sonst auch auf weiten Flügeln, da wird sie 
gar Ell unsanft an irdisebe Abkunft gemahnt. (Folgen sehr aiisführliebe 
und Instig gehaltene Anweisungen über Pflege und Wartung klMner 
Kinder.) Was Hombold betrifft, so bat mir Dorow von Paris ge- 
sehrieben'), er siebt ihn, wie er sagt, aUe Tage, und so ist das wohl 
die beste Gelegenheit mit ihm in Verkehr ui kommen. Bey den zwey 
Tranerspieleo von CI<nnen8 wird wohl das Eine, was in Wahrheit be- 
steht, die Erzfthlung von ihrem Verkommen seyn, ist die Geschichte so 
unglaublich, dann ist sie wohl auch nicht wahr." Zum Scblass reklamiert 
Görres den kleinen Freymnnd kiunig als Rheinlftnder und Landsmann. 

Die letzten Bemerkungen ftber Brentano können nur auf den Mit^ 
teilungen beruhen, die Clemens (S. 800) Arnim gemacht, und dieser 
nun Görres weiter gegeben hatte. Bs war für Vamhagen nutzlos, daas 
er die Stelle in Brentano's Originalbrief weggeschnitten hat. Denn die 
Wahrheit ist doch herausgekommen, demens, seit Jani 1811 in Prag und 
Bukowan weilend, hatte zwei dramatische Arbeiten zustande gebracht: 
Libussa und Gomingo, von denen die letztere ihm von Vamhagen «auf 
eine verfluchter Art in der ersten Bearbeitung gestohlen worden war*. Die 
Libussa las Clemens im Sommer 1812 seinen Geschwistern Savigny und 
Arnim in Töplitz vor, wohin sie sich alle zum Eurgebranch begeben 
hatten. Von hier schrieb Arnim, am 8. September 1812, an Görres 
(8, 852). Br dankte ihm allen guten Bat fdr seinen Freimund, dem aber 
die Knhblattem schon eingeimpft gewesen seien, ehe Görres* Brief an« 
gekommen und davor gewarnt habe. Arnim berichtete Aber Clemens* 
Lage und Arbeiten. Die im Bade anwesende höchst merkwfirdige Gesell- 
schaft mit Kaiserinnen die Komödien schrieben, mit Feldmarschftllen von 

1) Der Brief fehlt bei Görres: der 8, 20.3 abgedruckte aber ist ein Vorläufer 
dMBdben, 



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168 



HeinhoUi SU'ig 



80 Jahren die Komödie spielten, mit Königen Incognito {Qnf Leu), nnd mit 
Goetbe der Napoleon besinge, gedenke er könftig einmal in einem Buche 
unter dem Titel Badegeeellschaft recht lustig xu schildern. Sehr wichtig 
sind die kurzeu, nur andeutenden Bemerkungen Arnira's über Goethe. 
Die Spannung, die seit dem Torjährigen Auftritte awischeo Goethe und 
Arnim bestand, wurde beiden Teilen jetxt in persönlicher Nfthe nur um 
so fühlbarer und schmerzhafter. Ich besitze das ungedruckte Konsept 
des Briefes, den Arnim nach der Affaire 1811 an Goethe schrieb (den 
dieser also, da er aus Qoethe*s Nacbhus nicht zum Vorschein gekommen 
ist, doch wohl rernichtet haben wird): danach lässt sich das Schmerz- 
hafte der Bnteweiung auf Goethe's wie auf Amim*s Seite, woran sich 
für den Augenblick nichts ftndern Hess, wohl nachempfinden. Goethe 
schrieb jetzt, 1812, aus Töplitz an seine im nahen Karlsbad weilende 
Frau Christiane, offenbar um sie, die noch gereizt war, zu beruhigen, die 
bösen Worte (28, 51): »Von Arnim's nehme ich nicht die mindeste Notiz, 
ich bin sehr Aroh dass ich die ToUbftusler los bin* deren ungewöhn- 
lich erregte INktion, meinem Empfinden nach, uns heute das Gegenteil 
von dem yerrät, was sie zu besagen scheinen. Arnim schrieb gleicher- 
massen Görres: ,Ich habe Goethe nicht gesprochen, ich fühle mich von 
ihm getrennt* ; man empfindet auch hier, wie schwer nnd gepiesst das 
Wort herauskommt Arnim motiviert diese ^Trennung* nicht blos per- 
sönlich, wie Goethe gegen Christiane, sondern er spielt sie auf das AU- 
gemein-Politischo hinüber. Schon 1811 glaubte er in Goethe eine Stim- 
mung herrschend gefunden zu haben, die deijenigen nicht günstig war, 
welche die Berliner Patrioten, Aniim selbst mit seinen Freunden Kleist 
und Adam Müller, in den Berliner Abendblättern zur Geltung gebracht 
hatten. Sie forderten da den militärischen, politischen und geistigen 
Kampf gegen dasjenigo System, das Napoleon*s Namen trug, bis zum 
Untergang. Wie bitten sie gewünscht, dass Goethe Eines Weges mit 
ihnen vorgegangen wftre! Goethe aber wollte sich von Niemanden zum 
Parteiclief erklären lassen. Er teilte nicht den Standpunkt der Berliner 
Patrioten, deren geheimstes Empfinden er nicht begrift' und nicht begreifen 
konnte. Die Art, wie Goethe das ihm Fremde in den Berliner Bestrebungen 
1811 Arnim gegenüber abwehrte, fasste dieser damals wie eine Ablehnung 
des patriotischen Gedankens überhaupt auf. An seine Freunde Grimm in 
Kassel hat Arnim in dem Sinne geschrieben, Görres in Koblenz gewiss 
mündlich so berichtet. Görres hegte ohnehin schon ein gewisses Miss^ 
behagen gegen Goethe, wie es, im Grunde genommen, bei all den jüngeren 
Talenten vorhanden war, die sich, in Kunst^ Litteratur und Wissenschaft^ 



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Joseph von Gürres' Briefe au Acbiin von Arnim 



169 



mit Ausschliesslichkeit den deutschen und den christlichen Stoffen zu- 
wandten. So stelHe sich auch bei GOrres die in die Jean Paul-Rezension 
eingeflossene Animosit&t gegen Goetho ganz natürlich ein, gleichwie 
Goethe zu Arnim unzufrieden über Görres geurteilt hatte. Nun, 1812, 
dichtete Goethe gar „Ihro der Kaiserin von Frankieii-h Majestäf* zu 
ihrer Ankunli lu Kailsbad den Willkomraens^n'uss. mit Wendlingen, die 
selbst einem Napoleon als etwas bisher niclit Genossenes schmeicheln 
durften. Bitter schreibt dazu Arnim an Görres: »Goethe hat das Continen- 
talsystem besungen und zwar im Namen der Carlsbador, die niclits davon 
wissen mögeo. Was wird die Zukunft von den grossen Männern unsrer 
Zeit denken !• All diese Stimmungen und Verstimmungen miiss man 
sich vergegenwärtigen, um namentlich auch, in Görres' Antwortbriefe 
das über Goethe Gesagte, dem Tone und der Bedeutung nach, richtig, 
und nicht einseitig dem Wortsinne nach, 7U verstehen; man bemerke 
auch, wie in dem wunderschönen Worte iil)cr die damals noch so jungen 
Brüder Jacob und Wilhelm Orinim schon eine gegensätzliche Auwendung 
des Aroim'schen Urteils über Goethe hervordringt: 

Koblenz am 3ten Februar 1813. 

Ich habe Dir, lieber Arnim, lange nicht geschrieben, von Heidel- 
berg berichtet man mir indessen, wie Du einen ganz muntern, lustigen 
Brief dahingesendet (an Creuzer, nach 8, 381), und das beweisst mir, 
dass Du noch auf die alte W^sse vergnügt bist, was mir denn sehr 
lieb gewesen. Jetzt brechen wieder die verdröslichen Kriegahändel über 
euch herein, indessen bin ieb ruhig, weil ich euch in einer grossen 
Stadt weiss, wo immer weniger zu besorgen, übordem steht ihr auf 
breiterem Fusse als viel tausend Andere, und könnt ja immer, wenns 
euch gut dünkt, an den Hbein oder nach Böhmen gehen. Darum ists 
mir leider um euer Land als um euch, zur Yerdrüslicbkeit hast Du 
eben wenig Anlage, und magst darum leicht den Sturm an Deinem 
wohl versorgten Hausse vorbeyfahren lassen. Du wirst mir wohl ein- 
mal schreiben wie Dirs xu Hutbe ist Ich seihst lebe in grosser Ge- 
müthsstille meine Zeit so fort, sehr ruhig und behaglich, einzig nur in 
meinen Arbeiten von Zeit zu Zeit durch Abgang der Hfil&mittel 
nnaogenehm gestOrfc, da helfe ich mir danu in dem weiten Felde, 
was ich beherrsche und lasse liegen, was ich nicht bezwingen kann, 
und gehe zum Andern, was mir gestattet ist. So schreite ich denn 
freylieh intensiv immer fort, nur zum Ende kann nichts kommen, was 
denn wieder recht gut in die Zeitumstände eingreift, da man ohnehin 



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170 



Heiuhotd Steig 



nichts mehr gedruckt beMmmi. In den Journalen wirst Da £imges 
TOD mir lesen, eine Abhandlung über die Vedae sollte Zimmer drucken, 
bäte aber aufgegeben, mein Auszug aus dem Sebah Nameb liegt zum 
Drucke fertig, die Bibliotiieca Vaticana (8,326) hat hier herum 40 drfiben 
20 Abonnenten gefunden, das Alles ist nicht zu verwunden, macht mir 
auch weiter nicht sonderlichen Yerdruss. Darflber ist denn der Lohen- 
grin endlich fertig geworden,') ich habe an Orimm zwey Exemplare 
eben abgesendet, er wird sie Dir zuschicken, sobald ein kleiner Biss auf 
dem Titelblatt in Hddelberg radirt seyn wird. Eines ist ftür Dich, ein 
Anderes gieb an Fouqne und auch den eiDgeschlossenen Brief. Ich mOgte 
dasB er mir seine Sachen sendete, die gar nicht hierher kommen, und 
ihm dafür in sein Journal von Zeit zu Zeit Einiges geben. *) Du wirst 
am Lohengrin ein ziemlich gutes, mitunter auch etwas langweHiges 
Gedicht finden; weil mirs nicht ganz recht und auch nicht meine Ar« 
beit ist, habe ich Dirs nicht zueignen wollen. An die etwas gross ge- 
rathne Einleitung wirst Du wohl einmal eine Stunde wenden, sie bat 
Manches was Dir wohl recht seyn wird, obgleich iJreylich Alles nur 
Stfickwerk ist, weil man in der Geschichte wie die Todten am jüngsten 
Tage, die Glieder in der ganzen Welt zusammensuchen müsste, wenn 
Alles wie ein ganzer Mensch umhergehen sollte. Deiner angekOndigten 
wunderlichen Badgesellscbaft sehe ich mit Verlangen entgegen, da Du 
Alles das in der besten und freudigsten Stimmung schreibet, so dient 
mirs immer als ein Attestat, dass Du während all der Zeit wieder ein 
Stück Leben in Fröhligkeit heruntergelebt hast. Das Volk ftogt an 
Dich zu loben, die Mattherzigkeit dabey ist so verdrfislich wie die feind- 
selige Widerbellerey vorhin, dass sie sichs so sp&t erpressen lassen, 
nimmt vollends das wenige Verdienst. Glorreich herrscht der Un- 
verstand in diesem Lande, und darum glaube ich auch kaum, dass 
etwas Erspriessliches aus den jetzt geftnderten öffentlichen Verhiltnissen 
hervorgehen wird, sie werden die Düpe von beyden Theilen werden. 

Die Grimms haben mir ihr gar angenehmes M&hrchenbnch ge- 
sendet, es hat uns, besonders den Kindern vielen Spass gemacht. Es 
ergftnzt sehr wohl das Wunderhom, ich hfttte wfirklich nicht gedacht, 

1) z.B. in Pertfa«e^ Yaterlfindisdiein Museum, in den Heidelberger JahrbflcheiD, 

in S( |ik<gi>rs Deiitäclieni Museum; über die Vedas vgl. Briefe 8, 347; der Schah Kaineh 
erschien erst 1820, (leiii I'rrilinrii vom Stein ztitjeeijjnet. 

2) Den Brüdern Uriunu iu Kussel zugeeigueU 

3) Hier der sltinsierte lohalt des bisher oirbt aufgetauchteD Briefes an Fouqiie, 
auf den der von Fouqne (bei GOrres 8,40^ die Antwort ist tiörres bat in Fouquö's 
JooRial Die Müsen kräieu Beitrag geliefert. 



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Joseph von tiörres' Briefe an Acbim von Amim 171 

dass die Poesie bey ihrem Durch/aige so viel GoldÜittcrti und Glitzer- 
sand den Kindern hätte fallen lassen, als diese hier zusammengelesen 
haben. Beyde werden mir immer lieber in ihren» Wesen, was sie machen 
ist tüchtig und gut gemacht; es ist alles bester Weizen, und der böse 
Feind hat kein Unkraut hineingesäPt. Von ihnen und ihresgleichen 
wird die Zukunft einmal ein viel zu gutes Urtheil von unserer Zeit sich 
abziehen, wenn diese nicht dafür sorgte, dass auch ihre Erbärmlichkeitea 
bis zu ihr geiaDgeu. 

Ich haiie nun Göthea beyde Bande gelesen, der erste hat mir durch- 
bin sehr Wohlgefallen, der zweyte ist mir btellenweisbo angenehm, andin-- 
wärts unangenehm und langweilig gewesen. Verdrüslich ist mir vor 
Allem, dass der Jüngling gar nicht heraus dari, weil der alte Geheime- 
rath ihn in so strenger Zucht zu Hausse hält. Dem Knaben wurde 
wojii noch etwas durchgesehen, wie er aber zur Universität gezogen, be- 
ginnt die Disziplin, und nun hört man nichts als den verständigen Mann, 
der immer corrigirt und zurechtweisst, schätzbare Ketiexionen aber kaum 
mehr ein rechter Naturlaut, vielerley verschwiegen und auch wohl be- 
mäntelt, und alles gar altklug und gezirkelt. Darum will sichs auch 
gar nicht in ein rechtes Bild zusammenfügen, alle seine Bestrebungen 
liegen zerstückt und auseinandergeworfen da, denn der alte gereifte 
Geist, der da wohnt, weiss sich in ail den Plunder nicht zu finden, 
und der Junge der ihn zusammenband ist verdampft und vergessen. 
Darum kömmt auch selbst bey den Liebschaften nichts rechts heraus, 
es weht oft einem an wie grosse verputzte Laulichkeit, denn wenn es 
auch za einem Kind gekommen, so wirds verschwiegen und verläugnet, 
und nun muss ein kleiner aiis|;ebalgter Schelm unterschoben werden. 
Mich soll Wunder nehmen, was aus der dritten Liebschaft (wird). Das 
Ganze ist eine sehr anmuthige Auseinandersetzung der Gedanken die 
der Herr Gebeimerath jetzt über sein Leben bat^ aber nicht recht dies 
Leben selbst. Auch auf die Zeit passt die grosse Kedseligkeit nicht, 
diese die viel tausend verlorne Leben in ein beyläufig gesprochnes gleich- 
gültiges Wort zttsammenfasst, verträgts nicht ohne Misbehagen, wenn 
Ton einem gewonnenen so gar viel Worte gemacht werden. Wills Gott^ 
so kömmt wieder eine Zeit, wo die Menschen dnj Stunden beym Morgen- 
thee und eben so Tiele bejm nachmittäglichen sitzen können, und eine 
blübttide Aloe in allen Zeitungen steht. Wenn er das Wesen der Glei- 
misehen so gerecht tadelt, so hat er vergessen einen Theil dieses Zadels 
auch auf sich zu nehmen; haben jene mehr geaflndigt« so hatten sie 



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172 



Rcinhnid Steig 



aueh nicht das Gorrektiv der Zeit Die Bbrenerkiftrang an die gothisehe 
Baukunst will mir auch keineswegs gefallen. 

Dein Freymund wird sich ohne Zweifel wohl befinden, und jetzt 
Anstalten zum Fortlaufen machen. Da Da mit ihm in die Welt ge- 
zogen, so hast Du wohl getban ibn vorher mit den Kabpocken lu taufen. 
Grosse mir ibn und seine Mutter, und behalte mich lieb 

Gtores. 

Dies war der letzte Brief vor den Freiheitskriegen, denen Arnim 
und Görres, der Mftrker und der Bheinlftnder, der Protestant und der 
Katholik, in gleicher Treue gegen die höchsten Gflter ihres Volkes sich 
entgegen gesehnt hatten. Der Bhdn und die Mark waren nun, da die 
feindlichen Heere dazwischen standen, unerreichbar weit getrennt von 
einander. Arnim in Berlin und Görres am Rhein hatten Anderes jetzt 
zu thun, als sich zu schreiben. Kein Blatt wftre durchgekommen. End- 
lieh führte Blücher seine Truppen über den Rhein. Die Mark und der 
Rhein gehörten von nun an zusammen. Und die Freundschaft Arnim's 
und Görree' blähte in guten und bOeon Tagen von Neaem wieder auf. 



Der Karten- AI mamich. 

(Nadiüüglicli zu S. 124.) 

Es war mir, wie ich oben anmerken musste, nicht gelungen, des 
Karten-Almanaches, von dem Gftrres zu Arnim spricht, zu rechter Zeit 
habhaft zu werden. Endlich hatte eine Anfrage bei der Cotta*8chen 
Buchhandlung, in der der Karten-Almanach von 1805 bis 1811 erschien, 
einigen Erfolg. Herr Dr. Otto Rommel hatte die Gute, mir die im 
Cotta'schen Archire vorhandenen Bände 1807. 1808. 1810. 1811 zur Be- 
nutzung zuzusenden. Ich bin daher im Stande, mir und Anderen eine 
Vorstellung von dieser merkwürdigen, beinahe verschollenen Erscheinung 
auf dem Gebiete des Altnanachwesens eine Vorstellung zu machen. 

Nicht um Welt- oder Landkarten handelt es sich bei diesem Al- 
üKuiach, sondern um Spielkarten mit Coeur, Carreau, Treffe! und Pik! 
Jedes Bfindchen enthült ein volles Spiel Karten. In die Karten sind 
allerlei Figuren, kleine Scenen und sonstige Darstellungen bindngezeich- 



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Jose|)b von Gürrcs' Briefe ao Adiiiu vou Aniim 



173 



net Jedes Blatt ist dne Spielkarte für sich, ron der Grdsse derer, die 
wir beute noch gelmii»^. Eine besonders gedmekte Vorrede tod 
gleicher QrOese giebt dem Benntier einige A^nleitimg zum Verstftndiiis 
der eiogeveiebneteD Bilder. Die Gesamtheit steckt in fester Pappbfilse 
und bildet einen Earten-Almanach. Das Bftndehen kostete den ftlr da- 
malige Zeit erstaunlichen Preis von drei Tbalern. Die Vorreden rühmen 
immer die günstige Anfnabme seitens des Publikums, nnd die Thataache, 
dass der Almanach sieh die Reihe von Jahren hielte darf ans wohl als 
BestätigDQg gelten. 

Derartige Untemehmnngen mit Spielkarten mfissen doch beliebt nnd 
lukrativ gewesen sein. Auch in Norddeutschland wurde Aehnliches ver- 
sucht. Selbst ein Efinstler, wie Philipp Otto Bange, lieferte einer Ham- 
burger Kartenfabrik zu den Königen, Damen und Buben wunderbare 
Zeichnnngen, von denen Gubitz in Berlin die Stempel schnitt. «Ich 
habe (urteilt Clemens Brentano 1810) nie etwas Phantastischeres, Gdst- 
reicheres gesehen, als dm weisen, begeisterten, romantisch königlichen 
Ausdruck dieser KSnigakOpfe, die bizarre, galante, reizende Koketterie 
der Damenbilder, und die abentheuerlicbe, kecke, treue nnd glflcksritter- 
liche Haltung der Buben, und doch schienen es nur Karten, doch wyren 
es nnr leichte lose Zeichen eines spielenden Glücks.' Man siebt, wie 
die litteiariscbe oder kfinstleriscbe Ausnutzung der Spielkartenfiftche dem 
damaligen Geecbmacke zusagte oder ihm entsprach. Das Gegenteil ist 
heute der Fall, wo die-einfiiche Uebersichtlichkeit der sog. franzflsiscben 
Karten die umstftndlicbere^ aber gemütvollere Flllchen-Behandlang der 
sog. deutschen Karten fast bereits verdrILngt bat. 

Natfirlich nimmt die Kartenflftche, wenn sie anders als rein spiel- 
mlssig bebandelt wird, die Gesinnung dessen an, der das Interesse an 
der Herstellung hat In dem Tabingischen Karten-Almanach steckt im 
Allgemeinen der Bheinbundsgeist Die Unteracbrift unter den Karten 
ist zu grossem Teil französisch. Aber auch das Litterarische beginnt 
schon frfth sich einzumischen. Der Almanach für 1807 entnimmt zabl- 
rdcbe Illustrationen Schillers Wallenstein. Herzkönig ist Wallenstein 
selbst, Hozkönigin die Herzogin, Herzbube Seni. In Carreau ebenso: 
Max nceolomini, Tbekhi, Bosenberg. In Pik: lUo, Gräfin Terzky, Neu- 
mann. In Treff: Octavio Piceolomini, Fr&ulein Neubrunn, Deveroux. 
Die übrigen Blätter sind nicht litterarisch behandelt Der Almanach 
fär 1808 wählt für König, Dame, Bube arabische Volkstypen aus und 
bildet weiter Neger oder sonstige Afrikaner ab. Der für 1811 versiebt 
die Hauptkarten mit ritteriichen Gestalten. Im übiigen behaupten Wits, 



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174 



Reinhold ^teig 



Homor, Satira, RQbrseligkeit und Empfindelei bunt durcfaeinander für 
du» geringeren Karten ihr Bechi 

Gftnzlich Tersefaieden ist von diesen Bftndeo der Jahrgang für 1810. 
Die Vorreden der früheren sind Q. oder Adolf G. nnteneichnet. Die 
sinnreichen Ideen der Kartenbilder habe, verrftt das IntelligenK^BIatt 
Nr. 25 des Morgenblattes von 1809, bis dahin eine carte weibliche Hand 
hittgescberzt. Den Band für 1810 besorgte dagegen Georg Bnnbeek. Bs 
ist jetst an wirltlicher Almanach geworden. Nicht mehr die Spielkarte, 
in die Etwas hineingezeichnet ist^ sondern eine bildliche Darstellnng, auf 
der dann auch eine Spielkarte rermerkt wird, bildet den Grund der neuen 
Unternehmung. Aus den losen Spielkarten sind fest mtteingebundene Kupfer 
geworden, zu denen erklftrende Texte in Poesie oder Prosa hinzutreten. 
Z. B. auf einem ungeschickten Ganle galoppiert ein karrikierter Kerl 
einher. Die Oeffnung des Bockes ISssi unten ein Stück Weste siebtbar 
werden, das als die Form eines Hönes behandelt ist. Dies herzförmige 
Stück Weste ist auf dem schwarzen Kupfer rot illuminiert Und das 
Ganze erhält dadurch den Wert und Charakter von Goenr-Ass. Über 
die Entstehung von Bild und Erklärung sagt Reinbeck in der Vorrede: 
„Was der Zeichner, Hr. Oslander in Tübingen, aus den ein&chen 
Kartenzeichen mit reicher, ofb muthwiUiger Phantasie schuf, unternahm 
der Dichter, auf seine Weise anschaulich zu machen. Zeichner und 
Dichter arbeiteten übrigens ganz unabhängig von einander." Es leuchtet 
ein, dass mit dieser Aenderung, die 1811 wiedeiu schwand, die Möglich- 
keit satirischer, polemischer oder kritischer Ausnutzung des Almanachs 
in viel höherem Grade, als früher, gegeben war. Und nun sn daran 
erinnert, dass Reinbeck, als geborener Berliner und Anhänger der Berliner 
Aufklärung, in den Heidelberger Kämpfen zwischen den „Klassikern'* 
und „Romantikem** natürlieb auf die Vossisebe Sdte trat. Dersdbe 
Geist, der damals das Morgenblatt leitete, ging nunmehr in den Karten« 
Almanach über. 

Es schdnt^ dass der Jahrgang für 1809 noch nicht in dieser neuen 
Manier hergestellt war. Trotzdem war schon, wie Görres oben an Arnim 
schreibt, der auf der Vossischen Seite angesammelte Verdruss über die 
Eiosiedlerzeitung in den Karten-AImanach hineingeschleppt worden. Es 
ist mir leid, dass ich, da der Band für 1809 im Cotta'schen Archive 
fehlt, Görres* Andeutungen nicht ins Einzelne verfolgen kann. Aber es 
hat mit ihnen gewiss seine Richtigkeit. In Nr. 314 des Morgenblattes von 
1808 findet sich eine Anzeige des Karten-Almaoachs für 1809, aus welcher 
sich die gleiche Vorstellung gewinnen läset. „Zieht nun in alle Welt 



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Joseph von Görres' Briefe an Achim von Arnim 



1?5 



(hdsst 4» da), ihr donvoUen lithographischen Blätter, mit dem lehr- und 
spottreichen EommeDtar, und gewinnt mit enorm snmuthigen Fabelweeen 
und idealischen Gestalten den Beyfall, welchen Jung mit seinen Phan* 
taamen (oben S. 119--120) bey dem Publikum niemals hätte erringen 
sollen . . . Bewahrt die glücklichen Impromptü^s der lustwandelnden 
Dichter, und wie könntet ihr 6m gewaltigen Rom antiker widerstehen? 
Fügt euch in Geduld, wenn er euch Plunderhorn-Schnickschnack 
aufbürdet etc." Die Polemik gegen die Heidelberger lioiuantikoi tritt 
denn auch in dem Almanach für 1810 hervor. 

Zunächst wird anspieliin^sweise in den Kikldiunf^en mit dem „Kar- 
funkelstein" (Baggesen), den „Kindermythen" (Gönos), don „mytholo- 
logischen l^riefen" (Voss) herumgeplänkelt. Dann aber erschein i auf 
Seite 59 ein Kupfer zu Pik VII, das angeblich „die lustigste Gesell- 
schaft von der Welt" darstellt. Vor einer Mauer tanzt ein Paar im 
Freien, nnd ein Narr tritt mit dem Fnsse auf dem Rücken eines Kindes 
den Takt dazu. Ein anderer Tän/er fordert eine sitzende Tänzerin zum 
Tanze auf. Diese erhebt die Rechte wie zur Zusage für den Tänzer, 
Ganz anders aber, als es der Zeichner meinte, deutet Keinbeck die 
Sitzende aus: „Jene, welclie den Blick voll Weihe zum Himmel erhebt, 
kann ihr neuestes So n nett noch nicht zu Stande bringen. Es ist das 
Kind des göttlichsten Wahnsinns, voll der herrlichsten Assonanzen ; nur 
das letzte Terzet will ihr nicht gelingen . . . Vielleicht ist einer unsrer 
wahusinnbegabten Romantiker so gut, ihr auszuhelfen. Das Stichwort 
ist klangvoll (bangvoll, zwangvoll sind ihr natürlich zu klassisch). 
Oben gibt es einen Walzer, wie es scheint, mit Figuren. — Nicht übel! 
— Was will denn der Störenfried da? Er wird sie wahrhaftig ganz 
aus dem Takte bringen." Und damit der Ausfall noch etwas gepfeftert 
werde, hängt Reinbeck an das Stichwort „klangvoll" die folgende Be- 
merkung unter dem Texte an: „Soeben finden wir in dem Klinklingel- 
almanach, dem Notli- und Hülfsbüchlein aller mystischen Romantiker, 
oder romantischen Mystiker den ausdrucksvollen Reim gesangtoll, 
welcher eine herrli^^lip Assonanz in sich schliesst. Wir hoffen, dass jedes 
Narrenhospital ein Exemplar dieses Noth- und Hülfsbüchleins sich an- 
schaffen wird, da dies Produkt eigentlich für dergleichen Anstalten v«r- 
fasst ist." Es erfibrigt sich, auf Baggesen's Karfunkel oder Kling« 
klinge!- Almanach, der gemeint ist^ hier näher einzugehen. Die 
Stellung dieser Farteiscbrift in dem Streite ist bekannt 

Sieht man die Bilder und Erklärungen des Karten -Almanaches 
sämtlich durch, so kann man sich des Gefühls nicht erwehren, dass die 



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tf6 Bebifaold Steig: Joseph von Gfiim* Briefe an Addm von Anfan 

Widentdier der Heidelberger Romantiker doch recht minderwertige In- 
genien waren. Was für eine Summe \ron platten, bedeokUchen und zwei- 
deutigen Witzen findet sich auf diesen Blättern zusammen. Arnim and 
Corres verfttgteo in der Einsiedlerzeitung über andere Waften. Und nun 
das Seltsame: während Keinbeck im Almanach einen ganz schönen Na- 
poleon-Cultus treibt, ist das Bftndcben doch von ibm „Ihrer lligestit 
Louisen Königinn von Pnnasen, seiner erhabenen Landesnmtter, in 
tiefster Ehrfarcbt gewidmet" Man iweifelt, ob wirkliche oder absicht- 
liche Vfrkennung der Zeitverbältnisse hinter dieser Widmung steckt 
Denn Napoleon und Luise waren Namen damals, zwischen denen es keine 
Verständigung gab, namentlich nicht in der politisehen Anfikssnng Ar- 
niflos lind seiner Gesinnungsgenossen, gegen die der Ansfiül Beinbecks 
gerichtet war. 

Beinbold Steig. 



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Der Zeu8 des Phldtas« 



Vortrag, gehalten «im Besten dos I Vaueiiroroins in der Ania der TrnIvmitAt 

am 11 Febniar IdOl 

von 

F. TOn Dalin. 



Wir denken an die himmlische Mutter mit dem Kinde — nnwill- 
kürlich tritt vor unser geistiges Ange das lieblichf» Bild der Madonna 
della Sedia oder die erhat)ene Gestalt der Sixtina ; wollen wir uns Moses 
in Gedanken vergegenwärtigen, so schauen wir ihn, wir rnrigen wollen 
oder nicht, im Bilde von Michelangelo's gewaltiger Statue. Kbenso ge- 
bunden stand die gesamte antike Welt der Vorstellung vom Vater der 
Götter gegenüber : es war das thronende Bild des Zeus in seinem Tempel 
zu Olympia, von Phidias geschalTen, die Krone aller Werke dieses un- 
bestritten ersten Bildhauers des Altertums, welches für alle Zeiten die 
Phantasie band, das klassische Ideal, wie wir sagen würden: von allen 
Q6tterbildern auf Erden das schönste und gottgefälligste, nennt es ein 
600 Jahre nach seiner ScliaiViing schreibender feinsinniger griechischer 
Schriftsteller; derselbe spricht es aus, dass wer dies Bildwerk gesehen 
habe, nicht mehr im Stande sei, sich den höchsten Gott jemals in 
anderer Gestalt vorzustellen; ein Epigramm formuliert diese Wirkung 
in pointierter Weise so, dass es sagt, entweder kam Gott aus dem 
Himmel auf die Erde, um Dir, o Phidiaa, sein Bild zu zeigen, oder aber 
Du hast den Olymp selber erklommen, um den Gott zu schauen. Frommer 
Glauhe zeigte im Fussboden des Tempels vor der Statue eine Stelle, in 
welche der Blitz niedergefahren sei, um das Wohlgefallen des himm- 
liaehen Herrsehers an dem Werk des grossen Kfinstlers zu bezeugen. 
Über kein anderes Werk der alten Kunst besitzen wir so viele Lob- 
preisnngen, oder Äusserungen, die in ähnlicher Weise seinen allgemein- 
giltigen Charakter betonen. 



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178 



1". von Dahn 



Tiefe Fttrehen siebt die grosse ScbOplung auch in der apftienn 
kftnstlerischeD Dberlieferang des Altertums. In gleicher Weise tbroDes 
zahllose Kultnsstatiten des höchsten Gottes, die sich fortan in den Tem- 
peln der immer weiter werdenden griechisehenf asiatischen, rdmischen 
Welt erhoben; Attribute und Haltung sind meist die gleichen und der 
Charahter der Gottheit wird nur leicht abgewandelt, entsprechend der 
verSnderten Auffassung vom antiken Gottvater, die in dieser oder jener 
späteren Zeit obwaltete. Aber Yon all diesen späteren Bildungen, die 
uns sahireich teils im Marmororiginal, teils in Relief oder Halerd oder 
anf langen Reihen von Silbermfinsen entgegentreten, ist keine, von der 
nicht auch uns nocli greifbare Linien zur grossen Schdpfang des Phidias 
hinauffßhrten und bei ihr endeten. Die christliche Kirche verzichtete 
lieber auf Darstellungen des Gott Vater, als dass sie sich der Gelaiir 
ausisetzte, dcnt Jehova die Zü<re des hcidnisclicn Juppiter geliehen zu 
sehen. Als sogar Jesus Cliristns, den das ^littelalter meistens an Stelle 
des Vaters rückte, iiä)iili( Ii als das urantangliche Wort, einmal in Ge- 
stalt des luppiier gemalt wurde, verdorrten, so erzählt die byzantinische 
Legende, dem Kiinstler beide Hunde ob solcher Missethat; erst die Für- 
bitt« des Erzbischofs Gennadios von Konstantinopel gab ihm die Gesund- 
heit zurück. 

So gewaltitr, so nacliliallij? war die Wirkung des 1000 Jaliro früher 
gesclialVenen Meisterwerks des Phidias: er hatte in seinem Zeus deu 
höchsten Fürsten Hitiiuifls und der Erde, den Allf'-ewaltigen und gleich- 
zeitig Allgütigen mit so überzeiigendor Tiefe und Wahrheit dargestellt, 
dass keine Veränderung religiöser, ästhetischer, kultureller AnschauuiiLn n 
im Stande war, eine andere Vorstellung als richtiger zu erweisen. Die 
um Hille und Guade Üehenden, die ihren Dank aussprechenden Menschen 
langer Generationen bis tief in die christliche Zeit hinein, ja bis zu 
manchen Gottvaterschöpfungen der Kenaissance erkannten in diesem ]5ilde 
und seinen Abwandlungen wieder, was ihr Hens im Innersten bewegte: 
fürwahr ein wunderthätiges Gebilde, noch lebendig wirksam, auch nach- 
dem es selbst lange untergegangen war! 

Unter ging es im fünften Jahrhundert, als das Christentum schon 
zieuilii h lange herrscliende Religion war. Die hohe Achtung vor dem 
weltberühmten Kunstwerk, einem der sog. sieben Weltwunder, hatte es 
bis dahin gerettet. Ein Brand vernichtete Tempel und Statue zur Re- 
gierongszeit des oströmischen Kaisers Theodosios IT. Die gänzliche Zer» 
Störung erklärt sich durch die Beschaffenheit des Werkes: sein Inneres 
bestand aus einem Holzgerfist, um das wahrscheinlich ein Uolzmantel 



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I>er Zern d«8 FUdlaa 



179 



gelegt war; dieser Holzmaotel dieote als ünterlage für die Elfenbdtt- 
pkiteo, welche die nackten Tdle der Statae darstallteDf wäbiend die 
Bekleidung darch reieh emaillierte Goldplattierung gebildet worde. Biese 
sonderbare und schwierige, aber nach eiBstinimigem Zeagnis der Alten 
äusserst wirkungsvolle Technik ist nicht auf griechischem Boden er- 
wachsen. Sie weist nach Ländern, welche kdn edles Steinmaterial för 
Ausfohmng grosser oder überlebensgrosser Bildwerke besassen. Die Er- 
ifthlnngen, welche genan um die Zeit^ wo die grossen Elfenbeinbildwerke 
des Ffaidias und Folyklet entstanden, Herodot hdmbrachte von Babylon, 
wo er von goldenen KolosBalstataen in den dortigen Tempeln au be- 
richten wdss, lenken unsere Blicke dorthin. Und so ist denn auch neuer- 
dings durch allerlei Kleinkunstwerke erwiesen, dass in Chaldaea und 
Babylonien eine ähnliche, auf dem Inkrostationspriosip beruhende Kunst- 
fertigkeit schon Jahrtausende hing in Übung war, ehe sie, wohl um die 
Wende vom 7. zum 6. Jahrhundert, in die griechische Welt verpflanzt 
wurde. 

Was wur sonst über die Statue wissen, beruht auf Beschreibungen, 
auf Schilderungen des Eindrucks, den sie auf empftnglicbe Gemflter 
machte, und scfaliessiieh auf dem Wiederhall, den sie in der sp&teren 
Kunst gefunden hat, namentlich aber auf Nachbildungen, welche die Ein- 
wohner der Landsdiaft Elis in der Zeit des Kaisers Hadrian auf eloige 
ihrer Kupfarmünzen prftgten. Sdiliesslich hat uns die Wiederaufdeckung 
des Tempels durch die deutsche Olympiaexpedition wichtige Anhalts- 
punkte g^hen, tun GrOsse und Aufetellangsart der Statue zu bestimmen. 

Zunächst über dies Letzte einige Worte. Der Zeustempel innerhalb 
des heiligen Hains tod Olympia, des geweihten Festplatzes, wurde vor 
der Mitte des fünften Jahrhunderts t. Chr. errichtet und war um 456 
im Wesentlichen fertig. Das Tempelinnere war durch eine Säulenstellung 
in ein breiteres Mittelschiff und schmalere Seitenschiffe zerlegt. Diese 
innere Säulenstellung trug noch eine zweite, wodurch ein emporenartiger 
Umgang über den Seitenschiffen mit Vereinigung der Emporen am Schluss 
dcii I^Iittelschiff's ermöglicht war. lieber dem ganzen Innern war eine 
flache Holzdecke gespannt. Licht trat ein durch die grosse, weite und 
holie Thüröffnung im Osten; ob noch in der westlichen Abschlusswand 
der Gella oder im oberen Teil der Seitenmauem für jedenfalls bescheidene 
anderweitige Lichtzufuhr gesorgt war, wissen wir nicht; doch macht die 
Verteilung des bildnerischen Schmucks an der Statue das wahrscheinlich. 
Das Mittelschiff war in seiner ganzen Breite von der thronenden Statue 
eingenommen; m volles Drittel sieiner Länge, das letzte, war der Statae 

Nim HBIDBLB. JAHRBUBCHBR Z. 18 



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180 



F. T€ii Didia 



Torbebalten. Den Fiats ihrer Basis Termögen wir noch gomiii zn er- 
kenaeD. Wie der grosse Tempel mit Ausnahme seines marmofnen Skulp- 
tnrenschmucks ans bescheidenem einheimischen Kall»tein erbaut war, 
dessen Unscheinbarkeit und üngleichmftssigkeit durch einen Stuckühenag 
?erdeckt werden mnsste, so war urq^rfinglich auch im Innern der Fuss- 
boden mit jenen rauben gelblich-weissen Platten belegt. Der Bau stand 
schon einige Zeit, als eine Änderung der Ausstattang beliebt wurde: 
das mittlere Drittel des Mittelschiffs, also der Raum unmittelbar ror 
der Statue, wurde vom ftbrigen Tempd durch ein Metallgitter abge- 
sehlossen und mit schwarten Steinplatten belegt, die man aus Elenais 
im fernen Attika gewiss mfihsam herbeischaffte; aus demselben schwarzen 
Stein bestand das Fnssgestell der Statue. Der ringsura aufsteigende 
Rand dieses schwarzen Quadrats wurde durch weissen Marmor herge- 
stellt, den man ebenfalls aus Attika, vom Peiitolikoii. holte. Da diese 
Änderungen nach Massgabe des Befundes an Ort und SLel!- luchtrag- 
licli «^t'iiiacht wurden, da der gleiche scliwar/.o Stein tui das Fiissijestell 
der Statue Verwendung fand, liegt die Vermutaug nahe, daüs die.si^ Armie- 
rungen mit der Aurstelliing der Statue zusammen hingen, dass der athe- 
niiäciie Bildhauer seine ästhetischen (ininde hatte, die ihn zu dieser 
Forderung bewogen. Ist dem so, so dürfen wir weiter folgern, dass 
zwischen Fertigstellung des Tempels und Errichtung der Statue einige 
Zeit verHossen war, und dass die Statue des Phidias an die Stelle eines 
andern besclieideneren Kultbildes getreten ist, welches schon aufgestellt 
war oder aulge^itellt werden sollte, Gan?, ausserordentliche Verhältnisse 
müssen eingetreten sein, um die Eleer zn iiestiniinen, für das Kultiis- 
bild den grossen Atiiener zu gewinnen, wäiirend am gany.en Tempel Hin- 
aus dem Peloponnes oder von den agaeisidien Inseln stammende Künstler 
bis dahin beschäftigt waren, Athens Mitwirkung geradezu ausgeschlossen 
erschien: verkündete doch seit Vollendung des Tempels ein an dem 
Giebelfirst angebrachter goldener Schild triumphierend die Niederlage 
der Athener bei Tanagra, den Sieg der Böoter tmd vereinigten Pelopoo- 
nesier. Und auch für Phidias müssen ausserordentliche t)inge bestim- 
mend geworden sein, seine glänzende, vielbewunderte Thätigkeit in Athen 
aufzugeben, um die Arbeit im stillen Olympia zu öbernehmen, wo jahre- 
lange Thätigkeit seine Anwesenheit forderte, wo ihm eine besonders 
grosse Werkstatt gel ton werden mu,sste, die noch späten Geschlechtern 
gezeigt wurde. Wir glauben unterriclitet zu sein über die Voig&nge, 
welche den Eleern das ganz unerwartete Geschenk in den Schooss warfen, 
einen Mann wie Phidias für ihren Zeus zu gewinnen. Im Jahre 



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Der Zern des Phidhs 



181 



wurde im Parthenon zn Athen das grosse GoldelfenbeiDbild der .'Stadt^ 
g4)ttin Athens, der BundesgOttin des attischen Reiches, enthflllt. Der 
ganze Prachtbau war errichtet mit Bflcfcsieht auf diese Statne, welche 
bestimmt war, des attischen Reiches Uacht nnd Herrlichkeit Athenern 
nnd Bandesgenossen in stolzem Bilde vor Augen zu halten. Das schönste 
bis dahin auf Erden gebaute Gkittedians sollte das schönste bis dahin 
geschaffene Bild nmsehliessen. Schon bald nach den Perserkriegen war 
der Bau des nenen grossen Burgtetnpels in Angriff genommen. Ereig- 
nisse innerer oder äusserer Politik, vielleiclit beides, brachten dem Bau 
langen Stillstand. Als man ihn wieder aufnehmen wollte — es war ura 
dieselbe Zeit, als der Tempel in Olympia gerade fertig gestellt wurde — , 
war inzwischen Pliuiias erstanden: er hatte sich bereit erklärt, ein 
Götterbild so majestätisch, huldvoll und scliön zu^'leich zu schaffen, wie 
bis dahin die Welt noch keins besass, aber er knüpfte an seine Zusage für 
den Architekten sehr erschwerende Bedingungen. Fast alles, was vom 
Tempel schon über der Erde stand, wurde abgetragen und nach ganz neu^n 
breiten, lichten Verhältnissen musste die Tempelcella errichtet werden. 
Das Kolossalbild der Göttin sollte nicht hineingezwängt erscheinen in den 
Bau, sondern frei und würdevoll in liim sich erheben: genau ein Drittel 
der 100' langen Celia wurde für das Götterbild reserviert, ein Drittel 
davor blieb, eingehegt durch ein Gitter, vor dem Bilde frei, um es für 
die optische Wirkung zu isolieren, nur das letzte Drittel blieb für die 
Andächtigen zur Benutzung offen, ausserdem die Seitenschilfe und die 
über denselben stich herumziehenden Emporen. Man sieht, die (iberein- 
stimmuüg mit der in Olympia wiedergefundenen Einrichtung des Tempel- 
innern ist vollkommen ; der Unterschied ist nur der, dass im Parthenon 
Alles von vornherein so vorgesehen war, im olympischen Tempel erst 
nachträglich eingerichtet werden musste, und zwar mit athenischem 
Material ; dass im Parthenon das Grössenverhältnis der Statue zum Tem- 
pel ein völlig harmonisches war, während in Olympia das grosse Tempel- 
bild das enge Mittelschifl' überknapp ausfällte, und der Gott für das 
Tempelinnere trotz aller Anpassungsversuche au gross erschien: erhöbe 
er sich von ^inem Thron, so würde er das ganze Tempeldach abheben, 
meint ein antiker Beschauer. Der Schluss liegt auf der Hand: durch 
die Parthenos in ihrem Tempel auf der Akropolis war eine schwierige 
künstlerische Angabe in gl&nzender Weise gelöst worden; die fiewnnde* 
mng für W«^ und KGnstler war allgemein. Man sah fotrtan'.in ihm 
den einsig begnadeten Qötterbildnerf Olympia wttnsehte nicht zurück- 
zustehen hinter der Akropolis Athens, und als besondere Verhältnisse den 

13* 



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182 



F. von Dukn 



Gedankoi möglich eneheinon liessen, Phidias Ar AwfShniDg des oljni' 
pischen ZeaB zn gewinDOD, da konnte man zwar nieht den Iftngst stehenden 
olympischen Tempel wieder einreisseD, aber man erklärte sich dem Künste 
1er gegenüber su jeder Ändening, sa Jeder Konzession bereit, welche 
dem Zens eine anofthernd fthnliche Wirkung in Ausnebt stellen konnte, 
wie sie die vielbewanderte Partbenos ausübte; ja man fihrte nicht nur 
diese z. T. gewiss recht schwierigen Änderungen des Tempelinnern durch, 
sondern man zog augenscheinlich noch Nutzen aus in Athen gemachten 
optischen Erfahrungen und brachte durch die schwarze Pflasterung des 
Raums vor der Statue eine Verbesserang an, die in Athen fehlte. Und 
dass die Sleer so glUcklich waren, einen Phidias zn erhalten, das erklärt 
sich durch ein Ereignis in des Phidias Leben, das wohl geeignet war, 
ihm Aufenthalt und Thfttigkeit in Athen zu verleiden. Er wurde, wahr- 
scheinlich doch bald nach Vollendung der Statue der Partbenos, unter 
AnkUge gestellt Angeber behaupteten, er habe von dem flir die Statue 
benötigten Elfenbein und.Qold gewisse Mengen unterschlagen. Er wurde 
verurteilt ob mit Becht oder Unrecht, vermögen wir nicht mehr zn 
entscheiden. Sein grosser Freund und Gönner Perikles vermochte ihm 
nicht zu helfen, musste vielmehr diesen Prosess als gogen nch selbst 
gerichtet empfinden. Phidias ging dann nach Elis, so wird uns fiber- 
liefert, und schuf dort den Zeus in Olympia. Er starb dann in Elis im 
Jahre 432 oder 431. Dass Phidias etwa in einer früheren Epoche seines 
Lebens den Zeus gearbeitet habe, wie man vielfach angeDommen hat, ist 
nicht mehr glaubhaft, nach Allem, was wir jetzt wissen fiber den Gang 
der Banthätigkeit in Athen, insbesondere auf der Burg, mit der sein 
Name und seine Thätigkeit so eng verbunden ist, dass eine jahrelange 
Abwesenheit in Elis nirgends mehr einzuschalten ist. Phidias war schon 
bei Scfaaffang der Partbenos ein bejahrter Mann mit kahlem Haupte: 
so hat er sich selbst dargesteUt anf dem fielief des Amazonenkampfee, 
das die Aussenseite des grossen Schildes der Gottheit schmückte, so 
zeigm ihn uns noch erhaltene Nachbildungen jenes Schildes. Die letzten 
Jahre also seines langen, arbeitsreichen, schon vor der Zeit der grossen 
Freiheitskämpfe mit den Persern begonnenen Eünstlerlebeos, die Jahre, 
in denen Phidias zurückschaute auf viel Hohes und Ernstes, viel Wirres 
und Herbes, das er erlebt hatte, sie waren dem reifsten und am meisten 
abgeklärten Gottesbilde geweiht: vergegenwärtigen wir uns jenes edelste 
Bild Mensch gewordener Göttlichkeit, machen wir uns namentlich die 
2Qge klar, die Phidias dem überlieferten Zeusbilde neu hinzugethan hat, 
so mögen wir uns schwer entscbUessen, in diesem Werk die Arbeit eines 



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I>er Zeus des Phidias 



183 



mit Kc(-l)t verurteilten Verbrechers, eines gemeinen Diebet? an göttlichem 
Eigentum, zu erkennen. Hätten ihn die Eieer für einen solelien {,^> 
halten, so hätten sie ihn schwerlich zu einer Aufgabe berufen, die aber- 
mals eine grosse Vertrauonsprobo darstellen musste auf seine Khrlichkeit 
gegenüber all den edlen Materialien, die ihm anvertraut werden mussten, 
und schwerlich hätten sie nach Vollendung des Werks ihrem Dank in 
der eigenartigOD Weise Ausdruck gegeben, dass den Nachkommen des 
Pbidias das Ehrenamt zugesprochen wurde, die technische Aufsicht über 
die Statne zu führen, ihre jährliche Reinigung und Neuinstandsetzung 
Yommehmen, eine heilige Handlung, durch feierliches Opfer eingeleitet, 
die wir nocli 600 Jahre später, zu finde dee zweiten Jahrhunderts n. Chr., 
als Privileg der Familie des Phidias beieugt findea. 

Wie sah ana der Zeas des Phidiaa aus? Er sass auf einem Thron, 
die Ffisse, den linkea etwas vor, den rechteu etwas aarückgesetzt, auf 
einem Schemel; Thron und Schemel ruhten auf einem Fnsfltgestell aus 
schwarzem Stein. Die rechte Hand des Gottes war vorgestreckt und 
trug ein Bild der Siegesgöttin, ebenfalls aus Qold und Elfenhein; sie 
war gekrftazt und trug in beiden Händen die Siegerfaiade, ein Abbild 
derjenigen, welche dem Siegor in einem der grossen nationalen Wettspiele 
winkte, wenn er, um den Siegerpreis lu empfangen, in dem Tempel vor 
den Gott bintreten durfte und smner Dankbarkeit ffir den ihm vom Gott 
verlieheoeii Sieg Ausdruck geben. Denn der Gott gibt den Sieg, wem 
er will, im Ernst des männermordenden Kampfes wie im Spiel der Benn- 
bahn; darum bat sich Nike, die beflfigelte Güttin des Sieges, auf seine 
Rechte niedergelassen, und kehrt, wohin der Flug sie auch trftgt, immor 
wieder zu ihm zurQck. Die linke Hand des Gottes um&sste das Seepter, 
eineu langen, auf den^Boden aufgeatHtzten Stab, reich mit metallischer 
Ornamentik umsponnen und gekrönt durch den k<>niglichen Vogel des 
Zeus, den Adler, beides, Seepter wie Adler, bis heute gebrftuchlich ge« 
bliebene Sinnbilder der KAnigswfirde. 

Ruhig und majest&tisch, mit senkrecht aufgerichtetem Oberkörper, 
thronte der Gott; nichts von jener Aufregung, jenem Streben nach 
äusserer Kraftentwieklung, das in späteren Zeusbildungen sich oft verrät^ 
war hier bemerkbar. Während spätere Bildwerke den Oberkörper meist 
nackt zeigen, um das gewaltige, alles irdische flbarsteigaide Mass der 
Formen, die Kraft der Muskeln zu zeigen, verbällt Phidias den Oberleib 
und die Arme bis etwas oberhalb der Ellbogen mit einem Unteigewand, 
einem sog. ionischen Chiton, Uber das ein um den Hals geknflpfter Mantel, 
der den Bficken herabfiel, so gebreitet war, dass er an den Hflften vor- 



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184 



F. von Ihihn 



genommen, sich Aber Soboss und Beine legte, jedoch w> kräftig aoge- 
zogeu, dass die KOrperfonnen nicht versteckt, sondeni in völlig klarar 
Modellierong herausgehoben worden; ein reiches SpitA tiefer Falten legte 
sich zwischen die Schenkel sowie «wischen Thron und TJnterscheikel: 
soweit die kleinen aber sorgflUtigen Wiederholangen auf den Hadria* 
niachen Mfinzen von Elis tn sehen erhmben, haben Körper und Gemnd 
im gleichen Yerhftltnis gestanden, wie auf den Statuen aoa den Giebeln 
dfs Parthenon; Ar Anlage und Einielbehandlung derFftltdmig scheinen 
eben&lls jene herllichen Gestalten die nftchsten Vergleichspunkte zn 
bieten. Die QoldflAchen der Gewandung waron anf das rncbste belebt 
darch in fiurbigem Email eingelegte Dekoration ~ laufende Tiere und 
Falmettenstreifen werdoi uns besonders genannt — erhaltene Marmor- 
werke und zabhreiche Nachbildungen solcher Stoffe anf bemalten Vasen 
geben uns eine lebhafte Vontellong von ^terartigen kostbaren Gewftndem, 
in wdehe die reichsten Musterungen mngewebt waren: im Südwesten 
KleinasienSf namentlich in der reichen Handels- und Miikstadt Milet 
war ihre Herstelluug zu Hanse. In denselben Gegenden war die Eanst, 
das Elfenbein in f&rbeo, ihm einen warmen Ton zn geben, eben&Us 
frAh gefibt worden: in Ägypten und PbOnisien konnte man das schon 
länger. Auch Phldias hat selbstTerstftndlich die blendende harte Wdsae 
des Elfenbeins gemildert, und anf diese Weise jeden harten Kontrast 
Tem^edea, in den sonst Füase und Arme zn den bekleideten EOrper- 
teilen getreten wiien. — Das Haupt war nur ganz unmerklich geneigt, 
sicberlicb nicht mehr als nötig war, um die Augen des durch die grosse 
Tempeltbtlr Eintretenden mit sdnem Gottesblick zn treffen. Eine wunder- 
same Mflde und Sanftmut muss den Zfigen eigen gewesen sefn: das 
sagen uns einstimmig die Berichte der Alten, das bestätigen diejenigen 
eUscfaen Münzen, welche den Kopf allein zur Darstellung bringen. Die 
weit aber ruhig geofineten Augen bHekten fest und still gerade ans; sie 
higen beschattet unter der rund und ebenfalls völlig ruhig sich vor- 
wdlbenden Stirn. Diese geht, mit ganz unmerklicher Einsenkang am 
Nasenbeinansatz so in die Nase über, dass die Linie fast eine grade zu 
nennen ist Die Lippen liegen leicht und lose aufeinander, weder ge- 
presst, noch zum Sprechen geftffnet. Weich wird der Mund umrahmt 
durch den Schnurrbart, der an beiden Seiten herabfliesst auf den maje- 
sti&tisch niederwallenden Wangen- und Einnbart: auch hier nur ruhige 
weiche fülle, nirgends der Versuch, durch Aufbftumnng, Individuali- 
sierung der Locken, Mittelteilung des Bartes irgend energische Effekte 
zu erzielen! Und wie der Bart, so das Hauptliaar selbst. Die bisherigen 



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Der Zeus des Pliidias 



185 



GdtterbildniigeD offenbarten sieb ancfa darin als Kinder ibrer und nur 
ihrer Zeit, ^las de dem jedesmaligen Zeükostfim in ihrer Haarbildang 
Beehnuttg zu tragen sachten. Phidias Terallgemeinert und streift das 
leitiich und persönlich Gebundene ab, um an dessen Stelle eine edle, aber 
fflr alle Zeiten wahre Natur zu setsen. Gleichmftasig Tertealten sich die 
Tom Wirbel auBgehenden Haarmassen nach allen Seiten; wftbrend sie aber 
Aber der Stirn in zuaammengenimimenen, aber nicht etwa gebundenen 
oder geflocbtenen Wellen wieder rfickwftrts gefiihrt sind nnd nur vor 
den Ohren unterhalb den Schlafen ein paar freie aber durchaus natftr^ 
liehe LOckchen herabsenden, flieesen sie vom Hinterhaupt in weicher, 
ungeteilter und völlig offner Masse auf die Schultern nieder, auf denen 
sich ihre Spitzen zu LSdtchen brechen wie die plätschernden Wellen am 
Uferrand. Somit trat im ganzen obem Teil des göttlichen Hau[)tes die 
gewaltige Schfldellbrm klar und völlig rein hervor, und wurde abgegrenzt 
durch einen nur ganz leicht einsehneidenden Kranz von wildem Oelzweig; 
im wirkungsvollen Gegensatz zu diesem unbewegten Teil des Hauptes 
wurde die Empfindung der Beweglichkeit im Besehauer erweckt, wenn 
er zu hdden Seite des Halses die gewaltigen Lockenmasaen in natürlicher 
Fülle und Weichheit herahwallen sah: 

Spracb'8 der Krouidc imd wiukte Gewfthr mit deu duukelcu üraueu. 
Und cBe tmdoSiwteD Locken de« Hen«diet« waHeten viNrwirts 
Von den UDSterbDcluNi Haupt. Es eibelyt* der gewaltige O^pos. 

Diese titanenhafte Vorstellung, dass der Olymp erbebt, wenn Zeus 
nur leise mit dem Haupte Gewährung winkt, sie trat dem an home- 
rischen Bildern grossgezogenen Hellenen vor die Seele, wenn er sich der 
M^estät der PhidiasschCpfuDg gegenüber sab. Gerade je unmerklicher 
die Vorneigung des Hanptos, je weniger augenfällig das Torwallen der 
Locken, um so grossartiger ist das homerische Bild, um so bezeichnender 
für den Eindruck der Statue musste es dem Beschauer erseheitten. 
Spätere Bildbauer, welchen die Meinung vertraut war, dem Phidias 
hätten jene homerischen Verse vorgeschwebt, als er das Haupt seines 
Zeus bildete, waren nicht mehr so feinfühlig, einzusehen, dass gerade 
durch die Zurückhaltung in der Bewegung die innere Wahrheit jener 
Verse begründet, durch sie in ihrer Wirkung bestärkt wird; ihrer An- 
sicht nach hätte Phidias den Homertezt besser illustrieren müssen, sie 
versuchten das dann auf ihre Weise und gelangten so zu Übertreibungen, 
die sie von ihrem eigenen Vorbild bedenklich entfernten: eine solche 
Übertreibung oder rohe Verdeutlichung der klaasischen Verse zeigt z. B. 
der bekannte schöne Kopf von Otricoli im vatikanischen Museum, 



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F. voQ Duhn 



Je einfacher das Bild des (Jottes selbst, um so reicher seine un- 
mittelbare Umgebung, zweifellos ein vom Künstler gewollter und unge- 
mein wirkungsvoller Gegensatz. Der Gott selbst sollte nichts vom iiii- 
nalibaren Übermenschen an sich haben, er sollte in der Seele des an- 
dächtigen Bescliauers Zutrauen, ja Liebe erwecken, wie sie ein Kind dem 
Vater g(*<ienüber empfinden mag, ohne Furcht und Sclireckeo sollte der 
Mensch dem ailgütigeu Gottvater nahen und durch den Anblick der mit 
Majestät gepaarten Sanftmut und Milde sieh emporheben lassen zu herz- 
lichem Vertrauen in ihn. Der Thron dat'Ptren zeigte die ganze Pracht, 
wie sie dem Herrscher des Olymp an seiner vornehmsten Kultusstütte 
zustand, ein Thron, wie ihn selbst der Perserkönig, der grösste weltliche 
Fürst jener Zeit, nicht schöner haben konnte. Ebenholz und Elfenbein, 
Gold und Edelgestein, dazu eine Fülle plastischen Schmuckes, war über 
ihn verteilt, Armlehnen, Rücklehne, Schwingen, die Füsse des Thrones, 
sogar der Raum unter deo Armlehnen, der Schemel, alles war aufs 
Reichste geschmückt mit sinoToUen statuenreichen Gruppe und Relief- 
darstelluDgen ; reich bemalte Schranken verbanden unten die Füsse des 
Throns, in goldenem Relief hoben vom schwarzen Sockel sich Bilder ab, 
die die Geburt der Aphrodite aus dem Meere im Beisein der olympischen 
und elementaren Götter in reizvollster Darstellang brachten. 

Von der optischen Wirkung des ganzen gewaltigen Werkes — der 
Gott hatte 7— 8 fache Lebensgrösse — ist es nicht ganz leicht, uns eine 
klare VorstelloDg zu machen. Doeh kann der Phantasie immerhin ta 
Bilfe kommen der fiändruck, den heute der Beschauer einer gewObnIicbeo 
Kirche des griechisch-katholischen Ritus erhält. Tritt man aus dem 
hellen Licht des Sfidens durch die Hauptthtr in eine derartige Kirche 
ein, so sieht man sich lunftchst von starkem Dunkel um&ngen. Je mehr 
das Auge sich an das gedämpfte Jücht gewöhnt^ das nur durch meist 
sehr kleine Fenster und die geöffnete Tbfir eindringt, um so intensiver 
wirkt auf die Phantasie die sog. schOne Wand, die dem Eintretenden 
gerade gegenüber das AUerheiligste, Altaiplatz und Gbomische, vom Schiff 
der Kirche abtrennt. Ifaren Namen hat sie von ihrem typischen Schmuck, 
Heiligenbildern auf Goldgrund. Da die Hauptlichtquelle in ziemlicher 
Entfernung und gerade vor der Wand liegt, verschwinden die Lokal- 
&rben, und dunkel, ernst heben sich die in den strengen, &st architek- 
tonisch gebundenen Pormen der byzantinischen Tradition ausgeführten 
Heiligen ab von der das Licht intensiv znrflckwerfenden Qoldwand. Sind 
nun auch noch Teile der OhorwOlbung, etwa die Apsis, mit Ithnlich aus- 
gefUirteu Gestalten bedeckt, so ist der Eindruck gewiss ein ftbnlicher. 



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Der Zeus des l'hidias 



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wie ihn die im Hintergrunde der Tempel in einsamer Grösse sich er- 
hebenden Götterbilder, ähnlich reich an metallischen Kctiexen, müssen 
hervorgerufen haben : nur wirkte das Elfenbein selbstverständlich gegen- 
über den dunkel-wachsfarbenen Fleischtönen der düsteren Hy/antiner 
lieiterer, lichter, fröhlicher, entsprechend dem Unterschied zwischen by- 
zantinischen Heiligeü und hellenischen olympischen Göttern, zwischen 
griecbisch-katho1iF;cher in den Fesseln des starrsten Dogma eingespann- 
ter Orthodoxie und sonniger altgriechischer Frömmigkeit. 

Hören wir, was uns emp&nglicbe antike Beschauer über die Wirkung 
des Phidiassischen Zeus zu sagen haben ! Einige charakteristische Äusse- 
rungen habe ich bereits vorher erwähnt. Ein wahrhaft beseligendes Bild 
wird er genannt; Zeus sei als erhabenster Friedeasfürst dargestellt, ge- 
wissermassen der Wächter übrr cm von keinen Stürmen zerrissenes ein- 
heitlich empfindendes Griechenland. Er erscheine ehrwürdig, frei von 
jedem irdischen Kummer oder Erregung, als der Geber von allen Gaben, 
als gemeinsamer Vater, Heiland und Wächter der Menschheit. Als 
unglücklich sei zu beklagen, sagt ein liebenswürdiger Philosoph etwa 
120 Jahre n. Chr., wer sterben müsse, ohne den Zeus des Pbidias ge- 
schaut zu haben: daher macht Buch auf die Reise nach Olympia, damit 
Ihr ihn seht, mahnt er seine Hörer und Leser. Und dass er dies Un- 
glück in tieferem Sinne gemeint hat, sagen Worte wie die des Quin- 
talianus, der ein Mensehenalter früher die Bemerkung machte, die Schön- 
heit des olympischen Zeus scheine der überkommenen Religion ein neaes 
Element hinzugeffigt zu haben ; in so hohem Grade habe die Würde des 
Werkes die Höhe des Gottes selbst erreicht. Und 2Vi Jahrhunderte 
früher trat der römische Sieger L. Aemilius Paullus vor den Zeus mit 
der Empfindung, dem Gotte selbst gegenüber zu stehen: nur Phidias, 
meinte der Römer, habe die Grösse des homerischen Zeus toU zum Aus- 
druck gebracht. Nur noch einer, wie ich meine besonders für die Art 
der Wirkung des Bildes bezeichnenden Äusserung des Dio Chrysostomos 
sei hier gedacht. Der feinsinnige Redner schreibt: ,Und sollte ein Mensch 
ganz mühsel^f und beladen ma, viel Unglück und Kummer im Leben 
durchgemacht haben, keines ruhigen, süssen Schlafes mehr firoh werden 
können — und ein solcher Mensch würde vor des Phidias Götterbild 
treten — gewiss, er würde vor diesem Bilde All«; vergessen, was im 
menschlichen Leben Hartes und Schweres auf ihm lastet: wie ein Trank 
aus dem Letbequell, der alles Leid vergessen mache, so würde dies Bild 
auf einen derartig vom Leben hart aDgefa^sten Menschen wirken.* 



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188 



F. von Dulia 



Muten lins soklie Töne nicht beinahe christlich an? Wer sie an- 
schlägt, ist fieilicli ein Philosoph des zweiten Jahrhunderts nach Chr. Im 
fünften Jahrhundert vor Chr. dürfte die Ausdrucksform für solche Stim- 
mung etwas anders gelautet haben: dass aber auch den empfänglichsten 
(iemütern jener Zeit angesichts der Statue nicht ähnlich tim's Herz ge- 
worden sei, wer möchte wagen, das von vornherein in Abrede zu stellen ? 

Es ging ein eigenartiger Zug zum Monotheismus durch das fünfte 
Jahrhundert v. Chr. Im sechsten Jahrhundert vollzog sich die Wand- 
lung, besondei-s durch den Kiuthiss Delphi's, dass Gott nicht bloss Macht, 
sondern LSittlicbkeit sei, dass die Handlungen der Menschen nicht nur 
selbst nach sittlichen Grundsätzen sich regeln müssen, sondern dass 
die Befolgung solch sittlicher Grundsätze unter göttlicher Aufsicht stehe, 
dass die Götter selbst in ihrem Handeln und Denken durch sittliche 
Normen gebunden seien. Stellten die Götter nicht mehr nur verschie- 
denartige Mächte dar, dio unter einuider auch gelegentlich einmal in 
Konflikt geraten konnten, sondern war es ein sittliches Ideal, das auch 
sie regierte und nach dem sie die Menschheit regierten, so lag die weitere 
Folgerung sehr nahe, dies höchste sittliche Ideal auch verkörpert zu 
sehen in der von Alters her mächtigsten Göttergestalt, eben dem Götter- 
herrscher selbst, dem Zeus. Ein grosser Schritt monotheistischer Auf- 
fassung entgegen war damit gethan, ein Schritt zur Allgemeingiltigkeit 
des Zeus bei allen griechischen Stämmen in höherem Sinne, als sie bisher 
üblich und geglaubt war. 

Grosse starkbewegte Zdten politischer Erregung und nationaler Er- 
hebung lagen damals hinter den Hellenen. Der Herrschaft einer wenn 
auch mitunter gewiss recht heilsamen Einaelmacht war fast fiberall in 
griechischen Landen g^gen Ausgang des sechsten Jahrhunderts ein finde 
gemacht; an Stelle der Gewalt und Willkür waren Gleichberechtigung 
aller Bürger und neue Ordnungen auf rittlicher Grundhige errichtet 
Nicht mehr ging Ifacht vor Becht In grossartiger jedem zu Herzen 
gehender Weise hatten das die GOtter erwiesen, dieselben Götter, welche 
nach damaliger griechischer Aufihsaung auch aber die Perser herrschten, 
als sie in geradesu wunderbarer Wmse die Freiheit und Kultur des 
kleinen Griechenvolkes in ihren Schutz genommen hatten gegen die schier 
unerschöpflich erscheinenden Kräfte des damals grössten Beichs der 
Welt. Schon lag die Axt an der Wurzel der nationalen Existenz der 
Hellenen, schon waren die Tempel auf Athens Akropolis in rauchende 
Trfimmer gesunken, da ersdifitterten unerhört glflckliche Schlachten die 
Angrill'skraft der Gegner, da brach in Babylon ein fOx die ganze Existenz 



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Per Zern des PhiiUas 



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der persischen Dynastie so geffilirlicher Aufstand ans, dass Xei'xes eiligst 
Heer und Flotte verlassen und ins ferne Tnnerasien heimkehren niusste. 
Niehl hur ungläubig, sondern blind musste sein, wer hier nicht göttliche 
Fügung erkennen wollte, sich nicht beugen vor der Majestät göttlicher 
Weltregieriing ! p]in Gottesgericht scliieo hereingebrochen über die über- 
mütigen und auf ihre ungemessenen Mittel an Gold und Menschen- 
materiai sLolzeo Asiaten : sichtlich hatte Zeus seine Hand über ^uz 
Griechenland gehalten! 

Das war die Stimmung nach den Perserkriegen, il r /.uhheiche neue 
Tempel, neue Götterbilder und religiöse Dankeshautiliuigeii aller Art ihren 
Ursprung verdankten. Ihren stärksten litterarischen Ausdruck f\ind diese 
Stimmung bei Aischylos, dem ältesten der drei grossen tragisclien Dichter 
Athens im fünften Jahrhundert. Nicht nur sein herrliches dramatisches 
Öiegeslied, die Perser, sondern alle seine Diclitungen heben sich ab von 
einem ernsten tiefreligiösen Hintergrund, der die ganze Anschauung des 
Dichters innig beherrscht. Nichts erscheint iiim gross, umfassend ge- 
nug, um die Allgegenwart und Allgewalt des himmlischen Vaters aus- 
zudrücken. Im liruchstück einer verlorenen Dichtung heisst es: »Zeus 
ist der Aether, Zeus ist Knie, der Himmel ist Zeus, Zeus ist das All, 
und was noch höher, als dies All". 

Im Agamemnon singt der Chor der greisen Ratsherren von Argos : 

Zeus, Zeus 

Mit (lieseni Naniou ruf idi ihu, 
Mit jedem, den er burea luog. 
Und ob leb Altos wSgp, 
Zu toicbt befind' i«b Alles. 

Von SoTjfKn uml von Sinnen 
Und /weifein lüät das Uorze 
Mir y.i^m allein, 
liin, hin, 

Vergeuen ist, der euut gdiensdit, 
I>OT Urwelt «ngebeurer €k)tt. 

TiUuieulist bt'zwiuig ihn. 

Auch sie fand ihren Meister, 

T>orli aller W eisheit Ktulc 

Ist anilaclitsvoll zu preisen 

Des Zein' Triompb. 

Er wies den Weg nur Weisheit, 

Uns 2«ingt <fie ew'ge Sutzong, 

I)iircli Leiden lernen. 

Auf unser müde«? H«'rzR 

Süukt i][uidcud sich imd iiu^teud 



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190 



F. rm Dnlui 



Statt ScfalaDunm Reue. 

Auch wider Willen konmt der Mensch zur Einsicht : 
(ktit lenkt dita WolieDregimeut gewaltsam, 
Itodi Gott ist gati|{. 

Aa andoni Stelleo wird die Qerochtigkeit Qottes gepriesen, welebe 
nach nttlieheo GroiidBätseii die Welt regiert, z. B. in einem Oherlied, 
das^die Über Troia hereingebrochene göttliche Strafe besingt: 

Zeus (ierirhl IiuIh'h .sie erfahren. 

Seine Hand sclüug sie. Wer verkennt es ? 

Er gebot. Ihr Geachidi folgte dem Gebole. 

Mancher gUtibt, nm die Bfenschen kQmm'fe sich die Gottheit nicht, 

Wvnn sie frech brechen die vevbotne Fhicht. 

Süudig ist solcher Glaube. 

In Phidias* Jugendzeit brauste der schrecken bringende Perserstnrm 
hinein ; er sah die Tempel der Götter auf der Burg Athens in Flammen 
aufgeben, er erlebte nach schwerem Ringen die Siegesfreude, sah wie die 
Sache von Recht und Freiheit siegreich emporstieg; seine ersten staat> 
liehen Auftrage galten der Schaffung von Götterbildern in Delphi, Pla- 
taeae und auf der Akropolis Athens, welche, aus dem Zehnten der Beute 
errichtetf den fei<^ichen Danic för Hilfe in der Not den Göttern aus* 
drücken sollten. Er hiess geradem «der Götterbildner*, die hehre Schön- 
beit, die erhabene Majestät sanei QStteratatnen wussten die Alten nicht 
genug zu prelaeii: gewiss hat er manchem jeuer gewaltigen religiösen 
Schauspiele des Aiscbylos selbst gelanscht, vnd in den hohen Dichter- 
worten die Empfindungen ausgesprochen gefunden, die stin für aUes 
Grosse emprängliche Hens bewegten und im Werk semer Binde künstle- 
rischen Ausdruck fiinden. So wie Aischyloe mit beschwingtem Worte 
der vornehmste Prophet der neuen durchgeistigten, sittlich getragenen 
Gottesauffassung wurde, so wurde es Pbidias mit seiner Kunst Und 
die Kunst war damals und in der Hand des Pbidias ein Werkzeug ge- 
worden, das dem feinsten Wege des Verstandes, der zartesten Empfin- 
dung des Herzens gerecht zu werden wusste. üeberwunden war die Zdt 
des Suchens, des Kingens mit der Form, welche ein Jahrhundert, etwa 
von 550—450 ausgefüllt hatte. Noch des Pbidias* älterer Zeitgenosse 
Myron, der Donatello unter den Künstlern Athens, zeigte in seinen 
genial erdachten, reich bewegten Werken, welche Freude es ihm machte, 
die Lehrzeit hinter sich zu haben und die Natur meistern zu können. 
Pbidias* Kunst verr&t nichts mehr vom Schweiss der Arbeit: in höchster 
Vollendung standen seine Oütterbilder, zu olympischer Buhe abgeklärt 



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Der Ztm des PUdlas 



191 



und selige Buhe Terbreitend, vor dem Besebauer: was wir Terloran 
habeo, TemOgen wir m abnen angesiehts des erbalteneo Skulpturen- 
Schmucks des- PartbenoD. Völlige Harmonie toq Inhalt und Form war 
erreicht, so etwa wie bei den zwischen 1508—18 entstandenen Werken 
BafEaels : die Folgezeit brachte mit dem so viel zerrüttenden SOjftbrigen 
Krieg Griechenlands andere Zustünde, andere Menschen, anderen Glauben, 
und immer mehr musste die Form ersetzen, was der Inhalt nicht mehr 
zu geben vermochte. Es war einer jener glücklichen Augenblicke der 
Weltgeschichte, denen die Zeitgenossen gewiss gern ein sehnendes Halt 
zugerufen hätten, als die Sonne des innem Glücks Ober einem io jeder 
Hinsieht frei gewordenen Hellas aufgegangen, die einzige groese Staats- 
bildung Griechenlands, das attische Büch unter Athens Aegide erstanden 
war, geniale Mftnner die Geschicke des Landes leiteten, grosse Dichter 
dem höchsten Empfinden des dankbaren Menschen Ausdruck gaben und 
gleicbzmtig die Kunst gerade auf der Höhe angelangt war, wo sie das 
Empfinden der Nation wie des einzelnen Menschen in der ToUkommensten 
Weise zum Ausdruck bringen konnte, und zwar in allen ihren Zweigen, 
in Baukunst, Bildhauerei und Malerei. Erst die Kunst dieser Zeit war 
der Aufgabe gewachsen, den Herrscher der Himmlischen zu wirklich 
befriedigender greifbarer Darstellung zu bringen. Viele andere Götter 
hatten längst künstlerische Formen erhalten, als noch kein Biidiiuucr 
wagte, Zeus zu bilden. Und als die plastisclic Kunst damit begann, erst 
sehr spät, im letzten Jahrhundert vor Phidias, da war es zunächst die 
Autzeigung äusserer Kraft und Macht, welche ihren Meissel lenkte: die 
ältesten, spärlichen, plastischen Darstellungen zeigen uns Zeus nackt, 
weit ausschreitend, den Blitz gegen dif> Gegner schwingend, „der Herr 
in den Höhen des Himmels, der Donui k r drohen, Zeus", wie Hesiodos 
ihn besingt als den Allgewaltigen. Eine grosse Kluft ist zwischen diesem 
Zeus und den Menschen, welche in der Dichtung schon des Homer ihn 
anrufen als „Vater Zeus" in Verbindung mit Athene und Apnllon : auch 
dieser homerische Zeus hoisst zwar gelegentlich „Vater der Menschen 
und Götter", aber als selbsliierrlicher Gottvater, der Alles nach seinem 
souveränen Willen zu lenken weiss, steht er da. Vertrauensvoll naht 
sich das hilfsbedürftige Menschenherz nicht ihm, sondern andern Göttern, 
Fürsprechern und Helfern. Erst um die Zeit der l^erserkiiege beginnen 
in der Grosskunst ruhige Darstellungen des entweder nackt oder mit 
umgeworfenem Qewand dastehenden Zeus : aber seine Machtmittel, seinen 
Blitz, lässt er auch da noch nicht aus den Händen. Die erste ruhig 
thronende Statue des Zeus ist diejenige des Phidias. Erst jetst bedarf es 



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F. TOR Ihibo 



nicht mehr des kvimgem der fibermenaehlichen Knft und flbernatfir- 
lieber Kampfmittel, um an die Allgewalt des Himmelsgottes zn glaabeo. 
An Stelle der blossen Forcht ist kindliobe Liebe nnd dankbares Vertranen 
eingezogen in die Herzen der durch ganz HelUis nunmehr einig empfin- 
denden Menschen: an die Stelle eines scbreekhaften Jehova erscheint 
fast ein christlicher Gottvater getreten. 

Viele Faktoren mussten zusammenkommen, am diese höchste Yer- 
geistigtmg der Gottheit, deren die vorchristliche Welt fithig geworden 
ist, herbeizafilhren. Einige gerade fDr Phidias besonders wichtige habe 
ich schon genannt. Aber auch lokale Einflösse mögen mitgewirkt haben, 
als die Elser aof den glQcklichen Gedanken kamen, gerade um ein Bild 
des thronenden Zeus den Phidias anzugehen. Olympia, immer mehr, je 
mehr die griechische Welt ihr Licht über das ganze Mittefaneergebiet, 
namentlich Aber Italien nnd Sicilien an^breitet hatte, Hittelpunkt der 
nationalen Agonistik geworden« begann als Kultnsst&tte der dem Thsl 
des Alpheios, des gröaaten peloponnesischen Flusses, benachbarten Land- 
schaften. Der Alpheios kommt aus Arkadien, an Arindien^s Schwelle 
liegt Olympia^s heiliger Hain, vom Eronosberge überragt, auf dessen 
Gipfel der älteste Kultus seinen Sitz hatte. Je bdher man einen Berg 
hinansteigt, um so nfther glaubt man dem Firmament zu gelangen, um 
so mehr weitet sich der Ausblick Aber den die ganze sichtbare Eide 
umfhssenden lichten Ts^eshimmel, in dem man die urspiüugliche Be- 
deutung des höchsten Himmelsgottes bei allen Yölkem unseres Stammes 
zu erkennen glaubt. Was Wunder, dass gerade auf dem Gipfel der ar- 
kadischen Berge, der höchsten des Peloponnes, wo es, der Vorstellung nach 
keinen Schatten mehr gab, auf Bergen, deren einer x. B. direkt den 
Namen ,Lichtberg* führte, der höchste Himmelsgott ohne Bild, ohne 
Tempelhaas, lange in Andacht verehrt wurde. Auf solchen Bergeshöhen, 
die oft in die Wollten hineinragen und dann menschlichem Blick ver- 
schlossen dnd, wohnten die Götter nach uralter Vorstellung, mochten die 
Berge nun Ida oder Olympos oder Lykeion oder Krooion heissen; sie 
tiironten dort, und der Platz ihres ^ronens warde mitunter durch in 
den Fels gehauene Thronsessel Iraintlieh gemacht, Tbronsesseloder Thron- 
plätze, denen sich die religiöse Verehrung andachtsvoll zuwandte. Und 
gerade in Arkadien, und zwar in der unmittelbaren Nachbarschaft Olym- 
pia*8 wurde, dem Zeugnis alter arkadischer Münzen zufolge, schon Jahr- 
zehnte vor der Schöpfung des Phidias Zeus thronend verehrt, den Körper 
völlig in ein Gewand gehüllt, ohne Waffen in Händen, aber den Adler, 
seinen Boten, vor sieb, dessen enge natfirliche Beziehung zum Zeus, der 



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Der Ztm des Plndias 



anf den Bergen thront, jetzt klar liegen dürfte : aus dem PeloponneA nach 
Nordafrika, Kyrcne, ausgewanderte KoloniBten nahmen diese Vorstellung 
sogar dorthin mit, wo uns eine wenigstens 100 Jahre vor Phidias* thro- 
nendem Zeusbild gemalte Schale als Innenbild den thronenden, ganz in 
sein Gewand gehallten Zeus mit dem Adler, ebenso wie in Arkadien, zeigt 

Also anf heimischen Glauben, auf heimische UeberlieferuDg stfitzten 
sich die Tempelbehörden ?on Olympia, als sie dem Phidtas den kühneu 
Auftrag gaben, diese VorstelluRg in Form eines grossen Tempelbildee 
sichtbar und greifbar zu fassen. Eühn war der Auftrag, wdl er brach 
mit der alten Überlieferung des Feloponnes, in dessen entlegene Gebirgs- 
falten die plastisch hellen homerischen Götter so spät eingezogen sind, 
mit der UeherUefemng des dort besonders Mm bildlosen Kultus. Schon 
Jahrhunderte lang hatte am Hand dee heiligen Hains der Himmels- 
königin, der Hera, ein Tempel gestanden, und in ihm der Göttin ehr- 
wfirdiges Bild; dem Weib fUhlt sich der hilfebedörftige Mensch früher 
nah und Tortrant und wagt es, sie durch ein Bild in seinen Gesichts- 
kreis herabzuziehen — ich erinnere an die Erscheinungen des Madonnen- 
knltus — , aber dem Zeus erhob sich nur ein Brandaltar, und mit dem 
Bauch der verbrannten Opfertiere hoben sich die Hände der Anbetenden 
frei zum hellen Tageshimmel, zum Zeus selbst empor. Der Tempel des 
Zeus hatte unseres Wissens keine Vorgänger, erst so spät, erst um 460, 
wurde er dort errichtet, während z. B. Athen schon seit bald einem 
Jahrhundert einen grossen Tempel des Zeus hatte gründen sehen. Und 
noch später fiisste man den Entschluss, das Bild des Zeus in dem 
Tempel zur Anfstellnng zu bringen. Es war due grosse That des 
Phidias, als er die alte in den Gemütern der dortigen Menschen 
schlummernde Vorstellung, die nie an ein Bild gebunden und daher 
doppelt gross und mächtig war, zum ersten Mal fixierte; und als er 
das thatf da verstand er es, in ein Bild, zu dessen Füssen die Bifite 
TOD ganz Helhis diesseits und jenseits der Meere, ja auch manche Nicht- 
griechen zu den regelmässig wiederkehrenden grossen nationalen Fest- 
feiem sich vereinigen sollten, eine solche Majestät, eine solche Tiefe, nnd 
dabei eine solche Fülle Menschlichkeit und Väterlichkeit zu legen, dass 
das neue Ideal, kaum geschaffen, sofort allgemeingiltig wurde, und all- 
gemeingiltig blieb, als reinster Ausdruck edelsten Griechentums, das 
ganze Altertum hindurch. 

In Staub gesunken ist dies grOsste und berühmteste Gottesbild des 
Altertums: aber die Empfindungen, die Anschauungen über das Ver- 
hältnis zwischen Mensch und Gott, denen Phidias durch dies Bild zum 



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194 von Duhn: Ikt Zern des Phidias 

«nteD Mal Körperlichkeit verlieh, sie seokten sich derartig innig in das 
Herz Aller, die griechischer Bildung teilhaftig wurden, dass der vom 
Judentum losgelöste christliche Gottesglaube den Boden beraitot £Mid, 
auf dem allein er festwurzeln und gedeihen konnte. 

Zur Eriäntaung de« Vortrages dienteo iriUiroml desseübeii vorgefikhrte riojektioofl- 
bilder: die Altis, der Tempd, das EekonstnifctionBmateriid Ibr den Zeus, namentlidi 
die in der bedeutend vergriisserton Gestalt selur montunentaJ wirkenden Dar8tclluntJ:en 

auf den elischen Münzen, eine Auswahl wn plastischen und i^emalten Zeus- und As- 
klepioshildungen aus den Zeiten vnr und narli Tilidins, das Vasenl»il(l. welche«? Kroe^oä 
auf dem Scheiterhaufen thronend zei>(t im Kunigskogtütit «ler ionischen Ktuist, mit dem 
gleicUeu ionischen Chiton, den i^hidias dem Himmelskünig verlieh, u. a, m. 



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Die^Entstehnng Ton »»Werthers Leiden^^ 

Von 

W«lth«r Ansp«vfer, 

Es ist immer intorMsant, den Spuren des Genius nachzugeben und 
die Entstehung eines seiner Werke aufmerksam zu belauschen. Dieses 
Interesse steigert sich aber noeh erheblich, wenn es sich nicht um eine 
rein der dichterischen Phantasie entstammende Schöpfung handelt, sen- 
den um eine solche, die Erlebnisse des Dichters selbst darstellt oder 
poetisch umkleidet. Eine solche Verknüpfung von Leben und Dichtung 
ist bei Wenigen so vielfach zu sehen, wie bei Goethe und keines seiner 
Werlte bietet für dieselbe ein so klassisches Beispiel, wie der Jugend- 
roman: Die Leiden des jungen Werthers. 

Das merkwürdige, aber poetisch wie wirklich schöne Seelenbündnis 
zwischen den zwei so ver.schiedenartigen Freunden und dem von Heidon 
geliebten und verehrten Mädchen, welches im ersten Teile des Kornaus 
geschildert und diclitcrisch verklärt wird, ist ein so unmittelbares und 
naturgetreues Abbild der Erlebnisse des jungen Goethe in Wetzlar, dass 
kaum ein Wort der Erklärung dazu nötig ist; so dass schon der geal- 
terte Goethe in seiner Selbstbiographie in Verlegenheit kommt, wenn er 
von seinen verdüsterten Seelenkräften fordern sollte, dass sie jene lieb- 
lichen VerhülliH^se von neuem vergegenwärtigen möchten, welche ihm 
den Aufenthalt im Lahntlialo so hoch verschönten. „Glücklicherweise", 
fahrt er fort, „hatte der Genius schon früher dafür gesorgt und ihn an- 
getrieben, in vermögender Jugendzeit das nächst Vergangene festzuhalten, 
zu schildern und kühn genug zur günstigen Stunde öffentlich aufzustellen". 

Einen schönen Beweis der Xaturwahrheit und zugleich eine reizvolle 
Ergänzung jenes Bildes bietet die Briefsammlung, welche Lotteus Sohn, 
der hannöversche Legationsrat Kestner im Jahre 1854 veröffentlicht hat 
und die neben den jetzt bevorzugten Gesamtausgaben der Goethischen 

VSEV& IlKlUKI.li. JAIlKJil KClliiUi X. 14 



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Walther Arasperger 



falls genfigt dies, um eine genauere Orieutiemitg Aber diese tDSikwfirdige 
Persönlichkeit» fiber dieses «Urbild des Werther", wie man ihn gen 
nenntt m rechtfertigen*). 

Zwei der grOssten unter seineii Zeitgenossen haben dem iiogUiiMcben 
Jüngling, jeder in seiner Art einer den andern ergänzend, ein schfoes Denk- 
mal errichtet, denn zwei Jahre nach dem Erscheinen des Werther bat kein 
Geringerer als Gottbold Ephraim Lessing, was er noch an Aufsfttsen des 
Verstorbenen in H&nden hatte, unter dem Titel TOn «pbiloeopbiachen Auf*- 
sfttzen* herausgegeben und mit einer bei dem kalten Verstandesmenschen 
seltenen Wärme eingel^tei £s war seine ausgesprochene Absicht, durch die 
Bekanntmachung dieser „Ueberbleibsel seines hellen Verstandes** das Bild 
des einstigen Freundes »völlig zu rflnden". Doch hören wir ihn selbst^. 

«Der Ver&sser dieser AuMtze war der einzige Sohn des wftrdigen 
Hannes, den alle, welchen die Beligion eine Angelegenheit ist, so TOr- 
ehren und lieben. Seine Laufbahn war kurz; sein Lauf schnell. Doch 
lange leben, ist nicht viel leben. Und wenn vid denken allein, viel leben 
ist: so waren seiner Jahre nur fAr uns zu wenig .... Der junge Mann, 
als er hier in Wolfenbfittel sein bürgerliches Leben antrat, schenkte mir 
seine Freundschaft. Ich genoes sie nicht viel fiber Jahr und Tag; aber 
gleichwohl wflsste ich nicht, dass ich einen Menschen in Jahr und Tag 
lieber gewonnen hätte, als ihn. Und dazu lernte ich ihn eigentlich nur 
Ton einer Seite kennen. 

Allerdings zwar war das gleich diejenige Seite, Ton der sich, meines 
Bedfinkens, so viel auf alle übrige schlieesen lässi Es war die Neiguug, 
das Talent, mit der sich alle gute Neigungen so wohl vertragen, welche 
kein einziges Talent ausschliesst; nur dass man bei ihm so viele andere 

1) Nachdem Herbst a. a. O. das bis dahin bekannte und wisspnswprtp Material 
znsamnieugestellt hatte, wurde dasselbe noch iui gleicheu Jahre erhebhch vermehrt durch 
dnen TOD KoMewey im braimschweigisdien Ortsvetem übr Gescliichte und Ateertiuns- 
kunde gehaltenen A'ortr^, den er in seinen Lebens- iHld Cliarakterbildcrn als Nr. (5 
nnter dem Titel: Wprth<'rs Tiiliilil Ii.it abdnicken lassen. Dt'r^clfif ist wichtig weil 
er sich auf akteumasüige. V orlagen aus dem wolfenbüttelschcn Archiv stützt. 

Zu den im «Neuen Rdcb" 1874 von üdBeauim verSffeiiUidhtn elf Briefen J.'s 
an Eschenhurg hat Eugen Wolf neun au den Yater wentgatens auszugsweise bekannt 
(lemaclu in der Vierteljahrsschrift für T.iftpr;ifiirirf*srbir}if(i 1889: ohrnsn anderf „Blätter 
aus den» Wertiierkreise" (Bruchsmcke aus Kestnors Tagebuch etc.; in Nord imd Snd 
1893. Ausserdem hat mich Herr Dr. Löwe zwei im Künigl. Staatsarchiv zu Hannover 
auffirefundaie Schreiben des Abtes aber seinen Solm an den Grafen Wallmoden, ban>- 
no versehen Gesandten in Wien, (Ge er im „Enphorion" TerOffentlit'hen wird, freund- 
liehst einsehen lassen. 

2) Philosophische AutsiU/e von Karl Wiliielni .ieruKnIeni, herausgegeben von (iott- 
bold Epbrann Lessing. Braimarbweig 1776. 



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Die fintstehuDR von „Werthere I^eideo'' 

■ 



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Daneben die begeisterte, echt künstlerisch nachempfindende nod 
nachgestaltende Lektflre Homers und Pindars, die ihn an seinem Ideb- 
Hngsbrunnen beim Bilde der Wasser holenden M&dchen die patriarcha- 
lischen Zeiten hervorzaubern lässt: „Das harmloseste Geschäft und das 
nötigste, das ehemals die Töchter der Könige selbst venichteten". 

Knrz alles atmet in so hohem Grade Unmittelbarkeit und Lebens- 
wahrheit, dass man die Vermutung schon ausgesprochen hat, dass dem 
Dichter bei der Ausarbeitung des ersten Teils seine eigenen Wetzlarer 
Briefe etwa an Heik oder an seine Schwester Eornelia vorgelegen haben. 
Dass diese Korresi^oiideBien gerade für diese Zeit ganz fehlen ~ es ut 
aus Weta^T neben BHlets an Kestner und Lotte nur ein einziger Brief 
an Herder vwtaanden — das hat man dann stets als eine Besarkang in 
dieser Annahme angeführt^ da sie dem Dichter zurückgegeben und von 
ihm eben seines Wertes wegen vemiehtet worden seien. 

Wir begnügen uns hier damit, diese Ansicht kennen zu lernen und 
ihre Voranssetzung zu konstatieren, vor allem aber die einer solchen Er- 
klftrang entgegenkommende Yerscbiedenbeit in der Bearbeitung, in den 
T^mnm und in der Grondstimmmig des zweiten Teiles berrorzubeben, 
die denselben innerlich viel schärfer ron dem ersten trennen, als es in 
der Klaren Fassung schon geschehen ist. Wenn in Letzteram noch 
das Leben fiberwiegt, so haben wir es dort mit wirklicher Dichtung zu 
thun. Ihm gilt daher vor allem unsere Betrachtung. 

n. 

Den ilusseron Anstoss zu einer poetiscl;en Bescliiiftigung mit den 
Wetzlarer Erlebnissen hat Goethe, wie bekannt, der am 30. Oktober 
1772 — sieben Wochen nach seinem Abschied — erfolgte Selbstmord 
des jungen Gesandtschaftssekretiirs Jerusalem gegeben. Schon die von 
dem Dichter in einem Briefe vom 20. November erbetene, am 29. d. M. 
erhaltene und am 19. Januar des folgenden Jahres zurückgeschickte 
Nacliricht Kcstners über die Katastrophe trägt auf dein Foliobogen dos 
aktenartig behandelten Originals die Überschrift^): „8toif zur Erzäh- 
lung den unglücklichen Tod Jerusalems betreifend'. Dann hat ja 
Goethe später auch in seiner Selbstbiographie die Entstehung seiner 
Dichtung ganz eng mit diesem Ereignis und dem erwähnten Berichte 
verknüpft. Wie weit das richtig ist, wird das Folgende zeigen ; jeden« 

1) Herbst: lioctlii- in Wet/Jar 1772. \'ii>r MunaU' aus iles DicUtiTS JngoiMllo}nMi. 
Gotha 1881 S. 73. 

14* 



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200 



liebteo JüDgliog trühreiier und gaiatig an^rachsvoUer tu maclien, ab 
ihm gut war. 

Da mit einem Male wurde er aus dieser glücklichen Umgebung 
heransgerissen, und von Wolfen büttel, wo er ein Jahr lang Assessor am 
obersten Qerichtshof (der Justizkanzlei) gewesen war, nach Wetzlar ver- 
setzt, wo er als Sekretär bei der zur Visitation des dortigen Reichs- 
kammergerichts deputierten braunschweigiscben Oesandtschaft fungioien 
sollte. Sein Vorgesetzter hier war der Hofrat von Höfler, ein vorzflg- 
lieber Jurist, aber — niebt nur nach Jerusalems Bericht — ein ver- 
knöcherter Baiesukrat und eltler Streber und — wie der sonst so 
sanfte Abt sich schon vor dem Tod des Sohnes ausdrAckt — der nieder- 
trftcbtigste und boshafteste Cbarakter*), als welcher er fibrigens auch 
in Wetzlar bekannt und von seinen Kollegen gemieden war. 

Die Yersetzttng war an sich ein Beweis des Wohlwollens der Vor- 
gesetzten; er sollte dort, wie üblich, das Bdchsjnstizwesen kennen lernen 
um dann einen Posten in Btannschweig zu erhalten, der ihm nach einer 
Ausserang des Vaters schon mit Sicherheit zugesagt war. Wie nnge* 
dgnet er aber fttr sein neues Amt war, zeigen zwei Vorgftnge, die sich 
gleich anfangs ereignen, auf seine Denkungsart ein interessantes Licht 
werfen und seine Stellung nach zwei Fronten sofort gefthrden oder un- 
haltbar machen. Sie sind von Koldewey ans den Akten des wolfen- 
büttelschen Archivs mitgeteilt worden*): 

Sein Vorgänger war entlassen worden infolge von Nachlässigkeit 
im Dienste und tollen Streichen ; es ist August Siegfried von Gou^, der 
aus Goethes Charakteristik bekannt ist als Grfinder und eifriger Teil- 
nehmer jener „Bittortafer^ im Kronprinzen, an der sich die jüngeren 
Assessoren ihre reichlichen Mussestunden verkQrzten. Auf seine Führung 
hin war in Jerusalems Instruktion der Passus aufgenommen worden, «dass 
derselbe fiberflfissige Gesellschaften und solche Gelegenheiten, die den 
Zweck seiner Bestimmung hind^, die nötige Aufmerksamkdt unter- 
brechen oder wohl gar Verdriesslicbkeiten und schädliche Folgen nach 
sich ziehen kftnneo, äusserst zu vermeideu und sdnem Stande und 
caract&re gemässen Wohlstand allenthalben sorgfältigst zu beobachten 
hidbe.** Der junge Mann bat nun um Weglassung dieses Passus, da er 
fQrcfatete, dass dadurch „gar widrige B^riffe von seinem caiactäre ge- 
fasset werden" kannten. Dag Gesuch ward vom Ministerium befürwortet, 



1) au Graf Waflmoden 31. August l?7ä. 
3) a.iuO, S.1781 und 187. 



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Die Eutatehung vou „WerUiers Leiden" 



201 



auch genehmigt, kun aber lurQek mit der eigeohäudigen Bandbemericang 
des Herzogs: „Es ist etwas naseweis von dem jungen Menschen, dass 
man seinetwegen meine Instruktion ändern soll, jedoch ans consideration 
wioes Vaters kanns geändert werden, wie vorgeschlagen.* 

Die zweite an sich ebenso mbedeuteode AfSlre sog ihm von Anfang 
an die Misqgimat seines neuen Vorgesetsten zu. Die Mitglieder der Visi- 
tationskommission hatten den Bang von Subdelegaten, spielten sich aber 
allgemein wie die Mitglieder des Gerichts als wirkliche Oeeaodten auf, 
woran in Wetzlar schon alles gewöhnt war. Jemsalfim bat nun bei der 
ersten Begegnung mit Herrn von HOfler diesen nicht: Herr Gesandter, 
sondern — was er wirklich war — Herr Hofirat angeredet, „worauf ihm 
denn Herr von HOfter selbst gesaget, dass er sich dieses PrSdikat von 
ihm, so wie er es von allen Anderen beläbne, ausbitten wo]le*^ Diese 
Vorkommnisse sind deshalb erwfthnenswigrt, weil sie in sich bereits den 
Keim tmgoa, dieses der unhaltbaren Stellung zu seinem Chef, jenes 
der nicht mehr allzu wohlwollenden Behandlung von Seiten des Hofes, 
wenigstens der offiziellen Stellen. Dieser wird nämlich gleich von An- 
ftng an von Höfler mit Beschwerden fiber seinen neuen Sekretär voll 
unberechtigter und ungkublicher Behauptungen beetftrmt, während 
Jerusalem Verteidigung auf Verteidigung absendet erst an die Minister, 
dann an den Herzog selbst. Sowohl der Sekretär als der Hofrat erhalten 
dann — da dw gleich&lls stets gehörte braunschweigiache Gesandte beim 
Gericht mebt ffir den Brsteien eintritt ^ Brmahnungen, Jerusalem 
weiterhin officiell eine scharfe Rflge, während er unter der Hand mehr- 
foch, einmal vom Erbprinzen persönlich, zur Geduld ermahnt wird. Auf 
seine Unschuld pochend, siebt er trotzdem die auf seine Verteidigung bin 
nicht zurnckgenommene scharfe Bfige als Kränkung seiner Ehre an, die 
ihm ein Verbleiben im Dienste seines Vaterlands unmöglich mache. 
Dazu kommen sonstige Ghikanen Höflers, auch eine Kränkung von ganz 
anderer Seite, die ihn um so schwerer traf, als sein Chef nicht nnter- 
liess, sie in seinem Sinne anszubenten. Die aristokratische Gesellschafb 
des Wetslarer Gerichts hat im Bewusstsein ihrer numerischen Stärke 
und wegen ifarar engen Verbindung mit dem umwohnenden Adel eine 
gesellscbaftliche Exklusivität anörecht erhalten, wie man sie an den 
Höfen — besonders den norddmtscben — sdion längst nicht mehr 
kannte. Nun war Jerusalon durch die Bdnmntschaften seines Vaters 
in einem dieser aristokratischen Häuser eingeführt, bei dem Präsidenten 
Graf Bassenheim und dori; passierte ihm jene im Werther ausführlich 
geschilderte Scene: er mosste eine Gesellschaffc, in die er auf dne Auf- 



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202 



Wallher Armpofer 



forderting des Grafea gekommwi war, verlassen, um einen drohenden 
Skandal zu verhüten. 

Diese beiden ^Motive: Die unerquicklichen dienstlichen Verhältnisse 
und die geselischafUiche Kränkung sind wichtig im Leben, nicht in der 
Dichtung, wo sie nur in der ersten Bearbeitung und auch da nur als 
Nebenmotive weitere Verwendung finden. All diese verschiedenen Miss- 
gescbicke haben eine krankhaft melancholische Stimmung in dem jungen 
Manne nur genährt, nicht erst geweckt. Denn dass eine solche von früh 
an vorlag, zeigt gleicii der erste uns erhaltene Brief des achtzehnjährigen 
Stadeoten an seinen Vater'): „Mein letzter Brief an Sie'S so beginnt er, 
,,muss mehr Hypochondrie verraten haben, als ich wirkMob selber besitze. 
Ich scliliesse es wenigstens aus Ihrer gdtigen Antwort, worin sie meine 
vielleicht zuweilen zu finstern Gedanken mit so vieler Grändiichkeit 
wiedorlegen*. Seine nach Kestners Bericht unermüdliche Lektüre aller 
erreichbaren Romane, aller Tragödien, besonders der grässlichsten, auch 
pinlosopbischer, besonders psychologischer Schriften trug nicht zur Ver- 
minderung, sondern nur zur Stärkung dieses Zuges bei und wenn Lessing 
in der erwähnten Vorrede sagt: „Das Ermattende, Abzehrende, Ent- 
nervende, womit kränkelnde oder um ilire Gesundheit allzn besorgte 
Geister diese Art von Untersuchung, diese Entwickelung unserer Gefühle, 
diese Zergliederung des SchOnen, so gern verschreien, war ihm nicht im 
mindesten förchterlich", so hat er diese gefährliche Wirkung treffender 
geschildert als selbst erkannt Ein solcher krftnkelnder Geist ist eben 
sein Freund nur allzusehr gewesen, und das Forschen und Grübeln, das 
er in Gemeinschaft mit dem grossen Kritiker einst den Objekten gegen- 
über so trefflieli gebiaucbt hatte, ward aur Qefkbr, als er es in einsamen 
Stunden auf snne eigenen Geftthle anwandte. 

In der geschilderten Weise haben auch die beiden Männer, welche, 
der eine in Braunschweig, der andere in Wetzlar, ihm zuletzt noch am 
nftchsten gestanden haben, sein Schickaal erUftrt: der schon erwähnte 
Esehenbarg, mit dem er bis an sein Ende korrespondiert hat, schreibt 
nach seinem Tode an einen seiner Verwandten*): „Ich glaube es gern, 
dass die ganze Lage, Worin er sich dort befand, zu seinem Missvergnfigen 
viel beigetragen, dass der Mangel eines vertrauten Freundes ihm das Leben 
gleichgültiger gemacht bat; aber in seinem Temperamente, das wirkUch, 
wie Sie selbst bemerkt haben müssen, viel melancholische Mischung hatte, 



1) V. f. L. G. n 1889 s. m 

2) ebd. 8. 5U. 



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t 



Die Entstehuug von „Werthers Leicien" 203 

in 8«iDer ungiaeklichen Fertigkeit, dae schwane Idee unverrAckt ver* 
folgoo, sieb ibr Widriges eher zu vergrOssern, als zu aerstreuen, itnd alles 
Dor von der tmaDgeaehmen Seite ancasehen, und nicht anders ansehen 
zu wollen, dann in seiner oft flbertriebenen Delikatesse und einem viel- 
Idcfat zu wenig gemässigten, wiewohl auf strenge Reebtscbaffenheit ge- 
gründeten Ehrgeiz, endüeh in doem Hange zu gewissen veriiebfen . 
Schwärmereien, die ihm so manche Stunde verbitterten, und von denen 
er, wie ich gewiss weiss, auch in der letzten Zeit nicht frei gewesen, 
in allen diesen ümstftnden, glaube ich, Edme zu finden, woraus wahr- 
schdilieher Weise Tielleieht aus dnem mdir aki dem andom der Int- 
schluss zu jener schrecklichen That nach und nach erwachsen ist". 

Und der andere, der Mecklenburgibche Freiherr von Kielmannsegg, 
der zur Beschleunigung eines Prozesses in Wetzlar sich aufhielt und 
einer der wenigen war, die dem jungen Sonderling näher standen, sagte 
zu Goethe*): „Das was mir wenige glauben werden, was ich Ihnen wohl 
sagen kann, das ängstlicbe Bestreben nach Wahrheit und moralischer 
GSte hat sdn Herz so untergraben, dass misslungene Versuche des Lobeos 
und Leidenschaft ihn zu dem traurigen Entschluss hindrängten'^ 

In beiden Aussprüchen ist neben dieser geistigen Selbstzernichtung 
noch eines anderen Grundes gedacht, den wir jetzt noch näher ins Auge 
fassen müsse o. 

III. 

Die gel&hrliche Gharakteraolage und deren Stärkung durch die 
fortwährende Selbstqu&lerd ebenso die unerquicklichen dienstlichen Ver- 
hältnisse hatten eben jene Katastrophe nur vorbereitet; zum wirklichen 
Ausbruch kam es erst durch dne unglückliche Lddenschaft. So lange 
er vor sdnem Qewissen gerechtfertigt dastand, hatte er dch wie die 
Briefe idgen an diese seine ühsobnld angeklammert; erst als dieser 
letzte Halt ihm entzogen war, griff er zur Waffe. 

Schon Lessing hatte von seinem .immer beschäftigten Herzen* ge- 
wusst, und auch in Wetzlar ruhte dasselbe nicht trotz oder vidleicht 
gerade wegen des von allen Sdten auf ihn dndring<»den Missgeschickes. 
Der Gegenstand dieser Leidenschaft aber war nicht ein heiteres Natur- 
kind, wie Lotte Buff, sondern die glänzendste und verfäbrerischste Br- 
schdnung der dortigen Wdt, die Frau sdnes chuipiälzischen Koliken, 
Elisabeth Heerdt, dne Mannheimerin von Geburt, Tochter des dortigen 
Hof bildhauers Bgell. 

1} G.'8 Briete (W. A.; Bd. il S. 40. 



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204 Walther Atraperger 

,Sie ist eine Scbdoheit', sagt der siciier verlässliche Kestoer') in 
seinem Tagebuch am 25. Januar 1772, Dachdem er die übrigen juag 
Terbeirateten Gesandschaftssecretäre teilweiM mit sehr sarkastischen Be- 
merkungen aufgezählt hatte, ,und ohne Frage die schönste Frau aller 
hiesigen Kreise. Ausserdem hat sie fast alle Eigenschaften einer vol- 
lendeten Weltdame, auch Talent für die Wissenscbaften, sie spricht 
unter anderem französisch und italienisch; sie hat 0dst, ein sehr gutes 
Hera, einen edeln Charakter und um das Mass vollzumacheii ist sie so 
scliön sie ist, von untadeliger Sittsamkeit. Ihr Qatte ist ausserordent- 
lieh eiferaftchtig, obgleich de ihm nicht den geringsten Anlass bietet 

Trots dieser Bifersucht hatte Heerdt den jungen Kollagen in seinem 
Hanse eingefllhrt^ in dem der gesellschaftescheue Sonderling riei Ter- 
kehrte; er selbst war mebrfoeh dessen Qast an den Festtaffaln der Ritter 
im Kronprinzen. Eine derartige Gelegenheit bot denn auch den Anlass 
«ur Katastrophe, die wir in Kästners nflcbtemer aber auverlässiger 
Schilderung kennen lemoi wollen, nm dem Ausgang des Romans die 
fast noch romanhaftere Wirklichkeit gegenfibensnstellen. 

Niemand, auch nicht den ihm am nächsten stehenden Kielmanns- 
egg hatte Jerusalem zum Vertrauten seines Herzensgeheimnisses gemacht; 
nur Goethe will es schon damals dem einsamen Nachtwandler an- 
gesehen haben. .Der arme Junge", schreibt er nach seinem Tode. 
.Wenn ich zurückkam vom Simziergang und er mir begegnete hinaus 
im Mondschein, sagt icli er ist verliebt. Lotte muss sich noch erinnern, 
dass ich darüber lächelte." Übrigens ein Beweis, wie weit er selbst vom 
wirklichen Verliebtseio entfernt war! 

Wir lassen nun Eeetner erzählen: 

^Vergangenen *) Dienstag kommt er vom kranken Eielmannsegg, mit 
einem missvergnügten Gesiebte. Dieser fragt ihn, wie er sich befi&ndep 
£r: Besser als mir lieb ist. Er hat auch den Tag viel von der Liebe 
gesprochen, welches er sonst nie getban; . . . Nachmittags (Dienstag) 
ist er bei Secretflr H . . . gewesen. Bis Abends 8 Ubr spielten sie 
Tarok xusammen. Annchen Brandt war auch da; Jerusalem begleitet 
diese nach Haus. Im Geben schlug Jerusalem oft unmntSToU vor die 

1) .Nord uiKl Stitl lSit3 S. 30G. 

2) (ioothe iiiul WertluT. IJriefe Goctho's moi'sfons aus seiner Jugendzeit mit er- 
lilutcnideu Dokumeuleu hcrauägegebeu von A. Kestner. 2. Aull. Stuttgart und Augs- 
biug 165S. S.91ff. 



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IKe Entstebuug vod ,,Wertliei's Leiden'' 



205 



Stirne und sagt wiederholt: Wer doch erst todt — wer doch erst im 
Himmel wäre ! — Annchen spasst darüber . . . Am Mittwochen, da iin 
Kronprinz gross Fest war und jeder jemanden zu Gaste hatte, ging er, 
ob er gleich sonst zu Hause ass, zu Tisch und brachte den Secretäv H . . . 
mit sich. Er hat sich da nicht anders als sonst, vielmehr muntrer 
betragen. Nach dem Essen nimmt ihu Secretiir H . . . niit nach Haus 
zu seiner Frau. Sie iniikeii Ivaft'ee. Jerusalem sapt zu der H. . . .: 
Liebe Frau Secretärin. das ist der IcUte Kalt'ee, deü ich mit Ihnen 
trinke. Sie hält es für Spass und antwortet in diesem Tone. Diesen 
Nachmittag (Mittwoch) ist Jerusalem allein bei H. . . .s gewesen, was 
da vorgefallen, weiss man nicht" . . . und als Ki^unzung dieses Berichtes^): 
.Man will geheime Nachrichten aus dem Munde des .Secretiir 11 . . . 
haben, dass am Mittwochen vor Jerusalems Tode, da dieser beim H . . . 
und seiner Frau zum KaÜ'ee war, der Mann zum Gesandten gehen 
müssen. Nachdem der Mann wiederkömmt, bemerkt er an seiner Frau 
eine uusscrordeotliche Ernsthaftigkeit und bei Jerusalem eine Stille, 
welche beide ihm sonderbar und bedenklich geschienen, zumal da er sie 
nach seiner Zurückkunft so sehr verändert findet. — Jerusalem geht 
weg. Secretär H . . . macht über obiges seine Betrachtungen; er fasst 
Argwohn, ob etwa in seiner Abwesenheit etwas ihm nachteiliges vorge- 
gangen sein möchte, denn er ist sehr argwöhnisch und eifersüchtig. Er 
stellte sich jedoch ruhig und lustig; und will seine Frau auf die Probe 
stellen. Er sagt: Jerusalem habe ihn doch oft zum Essen gehabt, was 
sie meinte, ob sie Jerusalem nicht auch einmal zum Essen bei sich haben 
wollten? — Sie, die Frau, antwortet: Nein; und sie müssten den Um- 
gang mit Jerusalem ganz abl)rechen; er finge an sich so zu betragen, 
dass sie seinen Umgang ganz vermeiden müsste. Und sie hielte sich 
verbunden ihm, dem Manne, zu erzählen, was in seiner Abwesenheit vor- 
gegangen sei. Jerusalem habe sich vor ihr auf die Knie geworfen und 
ihr eine förmliche Liebeserklärung thun wollen. Sie sei natrulu tn i Weise 
darüber aufgebracht worden und hätte ihm viele Vorwürle gernaclit etc. 
Sie verlange nun. dass ihr Mann ihm, dem Jerusalem, das Haus ver- 
bieten solle, denn sie könne und wolle nichts weiter von ihm hören nocii 
sehen". 

In der Nacht vom Donnerstag auf Freitag hat er sich dann er- 
schossen, bekanntlich mit den Pistolen Kestners, die er sich am Tage 
vorher unter dem Vorgeben einer iieise geliehen hatte. 



1) ebd. S. 101 f. 



I 



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Wahber Arnspergvr 



Elisabeth Heerdt hat $ich nacii dem Erscheinen der Goethiscben 
Dichtung durch eine gemeiiischafUiche Freundin — die im Berichte er- 
wähnte auch bei Goethe vielfach genannte Nachbarin Annchen Brandt — 
an Charlotte Kestner gewendet und um deren Gedanken über den Ro- 
man gebeten aber von diesem Meinungsaustausch der beiden weiblichen 
.Urbilder* des Komans ist leider nar der Brief der Vermittlerin erhalten 
geblieben. 

IV, 

Wir haben die dem Hauptereignisse des Romana su Grunde übende 
historische Thatsache und PersOnlichktnt mAgücbst eingehend kennen 
gelernt, well Qoethe dieselben bei der Aiisarbeitnng genau kannte; — 
nicht nur durch Kestne» Bericht, denn eine Woche nach Jeruealen» 
Tode, war er mit seinem späteren Schwager Schlosser, der dort Qeschftfte 
hatte, für einige Tage — vom 6.— 10. November — nach Wetzlar ge- 
wandert und hatte an verschiedenen Stellen — sicher bei dem Freiherrn 
von Kielmannsegg — Erkundigungen eingeaogen. Dass aber gerade die 
letzten Ereignisse dort recht bekannt geworden waren, dafür hatte — 
nach Kestoers Mitteilung — der Herr von Höfler gesorgt^ der sich 
damit etwas zu entlasten dachte, dem die Sache indessen, wie seine 
weitere Karriere zeigt, von seinem Hofe doch nicht ganz vetgeben wor- 
den istb 

Kehren wir nnn aber zum Dichter selbst zurück : In der sonst, wie 
wir betont haben, so genau seinen eigenen Erlebnissen nachgebildeten 
Erzählung dee ersten Teils hatte Qoethe nar einen Vorgang ganz 
unerwähnt gelassen: 

Am 13. August') — während Kestner in Glessen war — hatte er, 
wohl mehr in jugendlichem Uebermut, ab im Verlaufe eines Mdenschaft" 
liehen Geständnisses die Braut des Freundes gekässt. Diese selbst hat 
dem Vorfall keine weitere Bedeutung beigemessen und beide waren noch 
mit einer Freundin dem Heimkehrenden eotgegeugcgangeo. Bei der 
Beichte am Abend hatte es — wie Kestner sich ansdrftckt — eine 
«kleine BrouiUerie* gegeben; Qoethe war an den nächsten Tagen »glmeh- 
gültig traktiert*^ worden und erst eine Aussprache mit dem Freund in 
der Nacht vom 15. zum 16, und eine Abkanzlung durch Lotte am fol- 
geuden Tag battedie kleine Verstimmung, wieder beseitigt, worauf dann 
der Besuch Mercks, die gemeinsame Wanderung nach Qiessen am 



1) Noid und Sad 1893 S. 301. 



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Die Entstehung von „Wcrthers Leiden'' 



207 



19. August, eDdlich die Feier des gemeinsamen Geburtstags Goethes 
und Kestners am 28. ds. Mts. das alte Verh&ltnis wiederherstellte. 
Wie rückhaltlos und ernst die vorangegangenen AuseinandersetzunjSfen 
waren, das spiegelt der dazu gehörige, erst vor kurzem vollständig be- 
kannt gewordene Brief Kestners an Lotte wieder, der für seinen Oha* 
rakter, wie für seine Liebe eines der schönsten Zeugnisse ist. 

In dem Liebesspiel Goethes mit Lotte war dieser Kuss eine Episode, 
in dem Boman wird er — und deshalb imissten wir auf ihn zurück- 
greifen — verbunden mit jenen Nachrichten von Jerusalems letztem 
Besuch bei der Gattin des Freundes — auch mit weiteren Zuthaten — 
zum Höhepunkt der Entwicklung, zur direkten Veranlassung der Kata- 
strophe. 

iliei verknüpfen sich die beiden Erlebnisse, das haiiiilos heitere 
Liebeegetändel und das tragiscli-düstere Hervorbrechen elementarer un- 
bezwinglicher Leidenschaft. Die Verbindung aber herzustellen zwischen 
beiden, das war die Aufgabe des zweiten Teils der Dichtung, ja wir 
können sagen der eigentlichen Dichtung. 

Dass dazu die Charaktere der Personen, wie die ganze sie beherr- 
schende Grundstimmung eine wesentlich andere werden musste, ist leicht 
erklärlich und wir werden gleich sehen, wie ihm auch die äusseren Ver- 
hältnisse dann zu Hilfe kamen. 

Zunächst aber noch ein Anderes! 

V. 

Ein genauer Eenner Goethes bat dessen .Art £u arbeiten* in einem 
diesem Tliema gewidmeten An&atze') einmal in zwar etwas pedantischer 
Einkleidung etwa docb im Ganzen zutreffend gerade am Wertber so 
eharakterisiert: »Wir dürfen sagen: Das Aper^a verleiht dem noch nn- 
beetimmten Stoffe seine innere Form . . . Gegeben sind die Empfin- 
dungen, die Goethe selbet durchstfirmten, die ganze sentimentale Natur- 
liebe, der Hass gegen die Konvention, das Gefühl der Isolierung, die 
Liebe zu Lotte. Nun erfthrt der Dichter Jerusalems Schicksal — und 
das Apercu ist da: sein indiridaeller Fall wird durch die Analogie 
eines zweiten Einzelfalles ihm zum typischen Fall. Goethes Erlebnisse 
in Wetzhir erhalten die innere Form, die den Werther zu einem ein- 
heitlichen Kunstwerk macht, indem sie auf die typischen Gefühle eines 
Jfinglings dieser Zeit zurückgeführt werden ohne ihre Individualität zu 

1) Hicbard M. Meyer: U. J. XIV 170. 



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verlieren*'. Wir können nocb weiter gehen: Goethe oder wenigstens der 
junge Goethe wählte diesen zweiten Einzelfall stets so ans, dass er ge- 
wissermasscn die Steigerung, die Potenzierung seines eigenen Erlebnisses 
bildet and ihn selbst daran erinnert^ an welchen Klippen ihn sein guter 
Genius vorbeigeföhrt hat, der ihn nur innerlich durchleben liees, was 
ihn &nsserlich vernichtet hätte. 

So wird der gute redliche Mensch, der allein auf diese seine Red- 
lichkeit vertrauend allem Kleinkram von Bechten und Herkommen die 
Stirn zu bieten wagt^ zum Ritter Götz, der mit dem besten Willen zum 
Recht« in Unrecht, Unglftck und Unehre unteiigebt. 

So wird der eigene faustische Erkenntnisdrang in der Person des 
aagenhaflen TorMtda zum kflbnen Trotze des himnMlatarmenden Magus, 
der im Bund mit der Hölle unglflcklich macht und nnglQcklieh wird — 
denn von einer Kettung Faosts ist in dieser ältesten Form der Dichtung 
noch keine Redt». 

So wild die Figur dor plul/licli verlassenen Juj^enälVeuiiiliii, »lor 
er nur hofTnnn[rs1ose Liebe erweckt und damit das Herz gebrocm ii liat, 
an der Hand kriiniiiiilistiselier Heispiele zum Urbild einer {grausigen Vtn- 
fülirungstragddie, deren ganzen Jammer er in seinem Helden selbst durch- 
kostet. 

So wird auch der liaimlose jugendliche Anbeter der Braut seines 
Freundes zum Werther zum dämonischen Opfer seiner unerlaubten aber 
unbezwinglichen Leidenschaft. 

Solche dämonische Naturen sind selbst stets stumm; ae beweiaen 
durch Thaten, nicht durch Reden und Dichten; und nur ein grosser 
Künstler kann nachstammelnd annähernd verdoUmetsoben, welche Kämpfe 
in ihnen vorgeben, denn er fühlt Blut von ihrem Blute, das ihm sein 
Genius glücklich gezfigelt bat Und wenn nach dem Ausspruch eines 
grossen Psychologen die Tugenden und die Fehler lüeht nur eines Volkes 
sondern auch eines Zeitalters im Laufe der Geechicbte zu Menschen 
werden, so gilt das besonders von solchen Naturen und der Dkhter, der 
hier fthig ist, in seinem Vorwurf nicht nur den dämonischen Charakter 
an sich, aondem auch das Opfer des Zeitgeistes zu schildern, wird den 
höchsten Preis erringen. Das aber bat Goethe mit Bewusstsein gethan 
in seinem Werther. Er hat nicht nur die Zfige in den Vordergrund 
gerückt, in denen er sich dem UnglQcklicbe» verwandt f&blte^ sondern 
vor allem die, in welchen ihm die gesamte Geistesricbtung der Zeit an 
seinem Schicksal mitschuldig zu sein schien. Darum wuchs ihm auch 



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Die Eatätcliung vod „Werthers Leiden" 



209 



in seinen Gedanken die Dichtung weit binaoe Aber den Ueiottt Kreis, in 
dem sie begonnen ; er verlor ganz das Gelttbl für die nngehenre Takt- 
loeigkeit, die er mit der Publiaeruug seinen Freunden gegenfiber begangen 
hat; ja de ihm dieselbe doreh Kestaers ungehaltenen Brief «im Be- 
wnsstscin kam, da sehrieb er — noch ehe er eine Nachricht halten konnte 
von der Wirkung seines Werkes — mit prophetischer Siegesznvarsicbt: 
«Ich wollt um meines eigenen Lebens Ge&hr willen Werthem nicht 
xurfickrufen, und glaub mir, glaub an mich, deine Besofgntise, deine 
Gravamina schwinden, wie Gespenster dar Nacht, wenn du Geduld hast . . . 
Werther muss — muss sein — Ihr fllhlt ihn nichts ihr Ahlt nur mich 
und euch, und was ihr angeklebt h eiset — truts euch und andern — 
eingewoben ist*). 

Um aber der Sprechei- einer solchen Zeitstimmung zu werden und 
sich selbst dazu berufen zu fühlen, musste er einmal diese selbst in 
sich oder um sich völlig — bis zur Karrilcatur — erleben und erblicken. 
Dann aber der grosse Dichter sein, der das Recht und die FHicht fühlt, 
für sein Volk und zu seinem Volke zu reden. Das erst-e konnte er nicht 
in der gesunden und heiter-klaren geistigen Atmosphäre seines Wetzlarer 
Kreises. Das andere war er noch nicht in der Lalmstadt, wo Jerusalem 
nichts von ihm zu melden weiss, als dass er, der schon in Leipzig ein 
Geck war, nun auch noch frankfurter Zeitungsschreiher gewiirden sei, 
sondern erst als der von seinem Vateriande bereits anerkannte und ge- 
leierte Uicliter des Götz. 

VI. 

Es war wolil vor allem das Drängen Mercks, welches Goethe end- 
lich bewogen hat, Wctzhir in der schon angedeuteten Weise plötzlich 
zu verlassen. — Dbrigens hatte er auch die gewöhnliche Ausbildungs- 
zeit der Praktikanten am dortigen Gerichtshof — 3 Monate — schon 
längst beendet. Nach seiner Kückkehr schloss er sich dann wieder mit 
Feuereifer jenem Kiuise des Darmst»idtii Freundes an, in dessen empfind- 
sauu'i Atmosphäre er schon \ or der Wetzlarer Zeit mehrfach und gerne 
geweilt hatte: der .Darmstädter Gemeinschaft der Heiligen" wie sie 
sich selbst nannten'). 



1) Briofp II S. 207 f. 

'2) Die Cliarakteristik dos ParmstiulltM- Kicisos schliosst si«'li viclturh wörtlich 
der trclUicLeii Brhikleruiig in Heinciuauji: Goethe, I.Band. Leipzig 18d5 182 fi*. an. 



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210 



\V«ltltfir AiDspeiiger 



Auch der sonst so scharfe Kritiker nnd VerataDdesmeDsch Herck 
spielte hier den .sentimentslen OeUBhlsmeiiBcheD, der Terliebte^ empfind- 
aame Gedichte schmiedete* ; ja er war der Mittelpunkt des Kreises, von 
dem ausser ihm noch das gefftblsseeliga weibliche Kleebhittf das Goethe 
unter den Namen Psyche, Urania und Lila im Tone der Znt und des 
Kreises angesungen hat« erwftbnt werden sollen. (Karoline Flachsland, 
Herders Braut und die Hofdamen von Boussillon und von Ziegler). Hier 
war Ben und Gefühl Trumpf; Freandschafb und Liebe Losung. Hau 
kannte nur Liebe und Hass; massvolle Empfindung galt für GefÜhllosig- 
kat Lieber wollte man Empfindung heucheln, als für geffibllos gelten. 
In diesem Freundeskreise, der gewissermassen die Empfindsamkeit rer- 
kOrperte, sehen wir ein ewiges Wogen der GefShle, von Hass, Liebe und 
Eifersucht; zehnmal beschworene Freundachafl;, die doch wieder ange- 
zweifelt wird; durch Eide versicherte Überzeugung Ton der Treue und 
dem Seelenadel des Freundes und bald darauf einen Bruch um dner 
Kleinigkeit, eines der unendlichen «HIssrerständnisse'* willen. In diesem 
Meere von auf- und absteigenden Gefühlen, von Ebbe und Flnth ohne 
Übergang verrücken sich auch die Grenzen von Freundschaft und Liebe. 
Hinter der Freundschaft verbergen sich helsse Empfindungen, Kuss, Um- 
armung wurde etwas Gewöhnliches zwischen Freund und Freundin, und 
nicht ohne Grund murrte der Bräutigam Herder, wenn er die begeisterten 
Berichte suner Braut von den Zusammenkünften der Freunde erhftlt 
Hier konnte man die k la mode Liebe und Eifersucht an der Quelle 
studieren. Und als dann in jenen Kreis noch der in Gefühlsseeligkeit 
schwimmende, aber, wie sich bald zeigte, scheinheilige und im Träben 
fischende Leucbsenring — damals Erzieher des Erbprinzen — trat, da 
fehlte unter den Originalen aucli die Karrikatur nicht mehr. Das war 
die Atmosphäre, in welclicr der junge Dichter Trost suchte und fand 
für die wirklichen und eingebildeten Wunden seines Herzchens. „Denken 
Sie nur*, schreibt seine Schwester am Samstag den 21. November an 
Kestner „er ist schon seit Montag weg und hat noch kein Wort von 
sich hören lassen, ist das nicht zu arg — aber so macht ers*, ja wie 
Sie 8 Tage später mitteilt, hat er zwar gescli rieben aber „denkt nicht 
ans Wiederkommen." Thatsächlich ist er yier Wochen dort geblieben 
und „es hat mir viel Wohl durch meine Glieder grossen der Aufent- 
halt hier**, schreibt er selbst in einem ganz neuen Tone dem Wetzlarer 
Freunde. Ein neuer Besuch dort im A]^ril des folgenden Jahres traf 
eine woiiioglicli noch anfgewflliltere Gefühlswelt: der Tod der einen 
Freundin, der bevorstehende Abschied der andern, vor allem die durch 



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Die EntstehoDg too „Werdiera Leiden*' 



211 



Lenehsenrings Uinirsrbeit hervorgorafenen Ventimioiiiigen batteo die 
Empfindsamkeit eben solehen Ealminatioaspinkt erreichen lassen, dass 
nnr das baldige Anseinandergehen die «Heiligen* vor einem sehr nn- 
heiligen Aufnnaiidefplatzen bewahrte. 

Das ist die krankhafte Stimmimg, welche den zwdten Teil durch- 
weht, und in der Art des Naturgenuases, wie in der Lektüre des Helden 
ihren Ausdruck findet. 

«»Ossiatt') hat in meinem Herzen den Homer verdrängt. Welch 
ane Welt, in die der herrliche mich führt. Zu wandern über die Haide, 
timsansst vom Sturmwinde, der in dampfenden Nebeln, die Geister der 
Väter im dämmernden Lichte des Mondes hinfährt. Zu hOren vom Ge* 
birge her, im GebrfiUe des Waldstroms, halb verwehtes Achten der 
Geister aus ihren Höhlen, und die Wehklagen des zu Tode gejammerten 
Mädgens, um die vier moosbedeckten, grasbewachsenen Steine des edel- 
gefidlenen ihres Geliebten. Wenn ich ihn dann finde den wandelnden 
grauen Barden, der auf der weiten Haide die Fnssstapfen seiner Väter 
sucht und ach ! ihre Grabsteine findet Und dann jammernd nach dem 
lieben Sterne des Abends hinblickt, der sich ins rollende Meer verbirgt, 
und die Zdten der Vergangenheit in des Helden Seele lehendig werden, 
da noch der freundliche Stral den Gefiihren der Tapferen leuchtete, 
und der Mond ihr bekränztes, siegrückkehrendes Schiff besehen. Wenn 
ich so den tiefen Kummer auf seiner Stime lese, so den lotsten ver- 
lassenen Herrlichen in aller Ermattung dem Grabe zu wanken sehe, wie 
er immer neue sehmerzlicb glfihende Freuden in der kraftlosen Gegen* 
wart der Schatten seiner Abgeschiedeneu einsaugt, und nach der kalten 
Brde dem hohen wachsenden Grase niedergeht und ausruft: Der Wanderer 
wird kommen, kommen, der mich kannte in meiner Schönheit und Fragen, 
wo ist der Sänger, Fingals trefflicher Sohn? Sein Fnsstritt geht fiber 
man Grab bin, und er fragt vergebens nach mir auf der Erde. 

0 Freund ! ich möchte gleich einem edlen Waffenträger das Schwert 
ziehen und meinen Fürsten von der zückenden Qual des langsam ab' 
sterbenden Lebens auf einmal befreien, und dem befreiten Halbgott meine 
Seele nachsenden.* 

Und nicht ohne Grund ist es am Schlüsse die Lektüre des Ossian, 
die den Liebenden die Fassung raubt nnd zum Ausbruch der beherrschten 
Leidenschaft führt! 

Welch* andere Tdne als die vorher citicrten des ersten Teiles. 



1) s. m 

NBUfi HBIDKUB. JAHRBUECHliUl X. 15 



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212 



Wahlier Amiperger 



Niiigeods aber spriiigt diese Venchiedenbeit dentiicher bemr als 
bei dem Gedanken, der beiden Gefühlswelten gemeineam ist nnd doeb 
so uneodlicb vorschieden gefaast wird: 

Beim Gedanken des Todes vor allem des Todes dnrcb eigene Hand. 

Der Selbstmordgedanke ist nicht etwa, wie man vielfiieh liest, dnrcb 
den Wertlier in Dentschland so verbreitet worden; er war vielmehr schon 
vorher der damaligen Generation besonders der Jugend vertraut und ein 
Gegenstand der pMloaopbiseheii Betrachtung, wie der praktiseben Be- 
thätigung. Von dem Helden der jungen Generation, dem grossen Fried- 
rich wasste man, dass er fest entschlossen war, eine unverbesserliche Wen- 
dung des Krieges nicht zu fiberleben und diese Stimmung hat unter den 
Heroen des Altertums — Goethes Lieblingsbeisptel ist der Kaiser Otho — 
noch viele andere Vorbilder gefunden und auch in kleineren Kreisen an 
Boden gewonnen. Auch Mendelasobos Polemik im ,Phftdon* bat der- 
selben wenig Abbruch thun können nnd Jerusalem, sonst ein getreuer 
Anliättger der Berliner Philosophen hat ihr g(>genäber eine ausföbrliche 
Verteidigung des freiwilligen Todes in einem seiner Anfs&tze gcscbriebeo. 
Auch am Wetzlarer Juristentisch hatte, wie wir nicht nur von Goethe 
wissen, diese Streitfrage häufig das Thema der Gespräche gebildet; be- 
sonders einmal, als — allerdings ftlschlicb — das Gerächt ging, ein 
Mitglied der Tafelrunde — eben der frfiher genannte Gene — habe 
auf diese Weise geendet. Wie lebendig aber die damaligen Sindrficke 
nnd Gedanken darüber noch in dem gealterten GoeUie fortlebten, das 
zeigt der breite Baum, den er ihnen in seiner Selbstbiographie an dieser 
Stelle noch gewidmet bat. 

In allen solchen Betrachtungen und Gesprächen aber handelt es sich 
um jene- der stoischen Philosophie entstammende Todesveraebtung, die 
das Leben von sich wirft, wie ein abgetragenes Kleid, die wie Faust 
sagt, aiicli zu jenem Schritt heiter sieb entscbliesst, oder wie der Werther 
des ersten Teiles es ausdrflckt: „das sfisse Gefilhl von Frdbeit des 
Geistes, dass er diesen Kerker verlassen kann, wann er will". So — 
kalt und besonnen — war Jerusalem aus der Welt gegangen, iüs er 
nicht mehr leben »i dflrfen glaubte; nachdem er bis ins Einxelne lünein 
adne Angelegenheiten geordnet hatte ; auf dem Tisclie vor sich die eben- 
falls jene Stimmung atmende fimilia Galotti des grossen Froundes und 
seinen eigenen Aufiiatz „über die Freiheit". Wie ganz anders die Stim- 
mung Wertbers am Schlüsse des Honians: Jenes Wählen in der Todes- 
Stimmung, die Wollirst im Ansnialen der ersclifitterndsten Vorstellungen, 
das Koquettieren mit dem B^urchtbaren im Abschiedsbrief an Lotte und 



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IHe Entsteliiing von „Weitben Leiden" 



218 



dum dann die verbSiigiikroIle VorbindiiDg mit einer Teilnahme der Ge* 
liebten, welche dem Diener die Pistolen übergeben hat, dnreh die der 
Werther so vielen fiberspannten Seelen gefiihrlich geworden ist: „Sie sind 
durch ddne Hftnde gegangen. Do hast den Staub davon geputst, ich 
kfisse sie tansendmal. Du hast sie berührt. Und Do Geist des Himmels 
b^finstigest meinen Eotschluss! Und Du, Lotte, reichst mir das Werk- 
seng, Du, Ton deren Hftnden ich den Tod an empfiingen wönscbte nnd 
auch nun empfhnge^^ 

Nicht in dem Selbstmord an sieb, in disser sentimentalen Ver- 
knnpfnng mit der Liebe und in der geföhlsaeligen Vorbereitung durch 
Ausmalung des Todes lag das neue Element, das so packend, aber auch 
teilweise 80 verderblich anf die Geistmr bf^ondm der damaligen Jugend 
gewirkt hat 

VIL 

Wir sehen, die Stimmungen, die er schildern und erwecken wollte, 
hatte der Dichter erlebt und geschaut, er hatte eine grosse Keihe von 
Vorbildern, um seine Gestalten mit lebendigen Zügen auszustatten und 
zu individualisieren. Die Fabel war in einem einfachen und ors( liüttern^ 
den Ereignis lange zur Hand und doch dauerte es noch ein volles Jahr, 
ehe aus diesen, wie er selbst sich ausdrückt, „so langen und vielen ge- 
heimen Vorbereitungen^^ das Werk selbst hervorging. 

Inzwischen war im Juni 1773 der „G^ts von Beriichingen** eracbie« 
nen und hatte seinen Autor mit einem Sehlage zum berfihmten Drama- 
tiker gemacht^ zum anerkannten Haupte des jungen Deutscbbind, oder, 
wie sie sieh selbst nannten, der Stfirmer und Dr&nger, weil sie einen 
Sturmlauf gegen alle bestehenden Autoritäten organisieren zu können 
gbmbten. 

„Der grosse Erfolg seines Dramas ist ihm ein wenig in den Kopf 
gestiegen'S schreibt Merck seiner Gattin. Er war sich eben der Macht 
bewusst geworden, die ihm sein Genius gab; der Gewalt seines Wortes 
über das bOrende und lesende Publikum. „Ich habe an dem Herzen des 
Volkes angefragt, ohne erst am Stapel der Kritik anzufahren^ schrieb 
er selbst, und an das Herz des Volkes gedachte er sich von neuem zu 
wenden. Wenn er bis jetzt die Schwftchen seines Freundeskreises in 
seinen erst viel spftter gedruckten Fastnachtsspielen schonungslos und 
teilweise überderb gegeisselt hatte, wollte er nun noch einmal aus dem 
eigenen Leben und aus der nächsten Umgebung schöpfen, aber nicht 
scheltend und spottend, sondern rührend und verklärend. Darum wandte 

15^ 



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214 



Wftldier Anrnperger 



er sich anch toh einer anftngs in Aoenebt genoromeneD dramatischen 
Bearbeitung ab — der Wechsel in der Grundstimmung hätte ihm eine 
solche ganz unmöglich gemacht — nnd wählte den Boman aaeret rein 
in Briefen, im nreitea Teile und gegen Ende mehr wid mehr Briefe und 
Erzählung verknflpfend. 

Immer merkbarer verbiassten oder verfilrbten sich dabd die Urbilder. 
Die Lotte des aweiten Teils ist nicht mehr das hdtere Natorhiad nnd 
sorgsame Hausmfitterehen des frftheren; sie wird rdcb ausgestattet mit 
Zfigen des empfindsamen Darmstädter Kreises, wo eine Lektflre des Ossian 
zn seligem Teigessen aller Schranken und Pflichten fähren konnte. 

Albert war nicht mehr das dessen andere VonQge willig aner- 
kennende, charakterfeste Gegenbild des charakterschwachen Freundes, 
sondern jener mfirrige und pedantische Typus des dfersachtigen Ehe> 
mannes, der Kestner so verstimmt und zu dem ein weiteres Erlebnis 
Goethe*», das wir gleich berflhren werden, noch einige lebendige Zäge 
geliefert hat 

Vor allem war aber Wertber — der Werther des aweiten Tmls — 
nicht mehr Goethe und noch weniger Jerusalem, denn ?on diesem seinem 
Urbild hatte er fiist nur noch die gemeinsame Art des Endes beibehalten. 
Er wolle, schreibt der Dichter änem Freunde, dem Eonsnlatssekretär 
Schönbom in Algior, einen Menschen darstellen, „der mit einer tiefen, 
reinen Empfindung und wahrer Penetration begabt, sich in schwärmende 
Träume verliert, sich durch Spekulation untergräbt, bis er auletzt durch 
seine dazntretenden Leidenschaften, besonders eine endlose Liebe zerrfittet, 
sich eine Kugel vor den Kopf schiesst*^ % 

Er schildert damit treffend das Urbild, nicht seinen Werther, bei 
dem wir nach der „wahren Penetration'* wie nach der untergrabenden 
Spekulation vergeblich suchen würden. 

Es ist dem Dichter hier gegangen, wie mit seiner frQhesten Faust* 
dichtung, in der er, ganz erftlllt von der erkenntnis- und thatondurstigen 
Gesinnung der Straasburger Studienzeit, es unternahm, den unbefriedigten 
Grübler, den rastlosen Forscher darzustellen, und wo ihm unvermerkt 
die Tragödie des strebenden Mannes sich unter seiner Hand verwandelte 
in die Lmdensgeschichte des liebenden Weibes; wo Faust zurücktritt bis 
zum Verblassen und Greteben zur Heldin des Dramas wird. 

Weder der grübelnde Magns, noch der seine Schmerzen tief in sich 
verschliessende und an dieser Verschlossenhdt zu Grunde gehende Jüng- 



1) Briefe n S. 171. 



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Die Eatstelmng 



215 



]ing waren Gestalten, denen der sonnige und mitteilsame junge Goetlie 
seine eigeneu Gefühle hätte leihen können. 

Kur/., äberall bat die Dichtang neue Figuren geschaffen nnd nur 
«nesteils die naturgetreue Schilderung des ersten Teiles, andererseits die 
unglaubliche Nachspürerei und die Oefäbtsrohheit, mit der sich der all- 
gemeine Klatsch bald dieses Themas bemächtigte, hat das Auffinden der 
„Urbilder'' ermöglicht, das erst die Forschung in die Dotwendigen Grenzen 
wieder zoräekged&mmt hat. 

VIII. 

Wir haben die innerea Bedingungen aar Entstehung der Dichtung 
alle kennen gelernt; unter den ftusstoren fehlt uns nur noch eine und 
zwar die, welche die direkte Veranlassang zur Vollendung des nach 
Goethe*8 eigfflien Worten lange nnd geheim vorbereiteten Werkes ge- 
worden ist. 

Nach seiner Abreise von Wetzlar war der Diclitei mchi gleich nacli 
Frankfurt ge^uiigün, sondern iiatte liiit Merck eine zehntägige Kiieinreise 
gemacht und auf dieser in Koblenz die geistreiche und emptindsaino 
Gattin des kiirtrierischen Geheimrats von La Kociio und deren 1 6jährige 
Tochter Maximiliane kennen gelernt. Mit der letzteren schloss er seiner 
Gewohnheit gejiiiiss eines jener geschwisterlichen Freundschaftsbündnisse, 
au denen Goethe's Jugend so reich ist; und ein reger Briefwechsel mit 
Mutter und Tochter, auch ein Besuch der La Roches in Frankfurt Hessen 
diese Verbindung schnell zu einer engeren werden. 

Als dann ein Jahr später die junge Maximiliane — oder wie Goethe 
sagt „Maxe" — als Gattin des weit alteren Handelsherrn Peter Hrentano 
nach Frankfurt kam, setzte er diesen vei trauten Verkelir lui t und ward 
in ihrem Hause bald ebenso heimisch, wie einst in der Buttschen Fa- 
milie, um so mehr, als auch „die Bübchen" hier nicht felilten, da Bren- 
tano bereits Witwer mit fünf Kindern war. ,,Goethe'\ spottet Merck, 
„hat die kleine Brentano über den Gel- und Käsegeruch und ül)er die 
Manieren iiircs Gatten zu trösten'*. Dieser aber trat dem Dichter nun 
wirklich bald als jener eifersüchtige Ehemann entgegen, den er dann in 
seinem Albert verkörperte, wie ja auch Lotte jetzt Maxens schwarze 
Augen erhalten hat. Nach einer sehr heftigen Szene zwischen den beiden 
Männern verschwur sich Goethe, das Haus nicht wieder zu betreten und 
die Vermittlungsversuche der damals noch in Frankfurt anwesenden Frau 
von La Koche blieben ohne £rfolg. Dieses Wiederaufleben der alten 



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216 



Wahher Anupecger 



teils erlebU'ii, teils erdichteten Situationen ward aber uiiu die äussere 
Veraiilassuiif,' zur eiid},'iltigen Aufzeiclitiuiij^ des Werther. lilti li am 
Tage nach Frau von La Koeho's Ahreise hat er die Dichtung In L^nisiien 
und nach „so hingen und vielen geli imen Vorbereitungeu" jetzt in einem 
Zuge wie im Traume niedergesclinebeu und vollendet. 

Zur Herbstmesse 1774 sind ,,Die Leiden des juDgeu VVertber^i'* er- 
schienen. 

Das Werk ist wohl eines der wirkungsvollsten in der ganzen Welt- 
litteratur gewesen und es wär*^ t^ine neue interessante und wichtige Auf- 
gahe, dieser seiner Wirlsung im Einzelnen nacli/.ugehon und damit seioe 
iitterarische und kulturhistorische Bedeutung festzustellen. 

Wir beschrfinken uns liier zum Schlüsse darauf, noch einen anderen 
Teil dieser IJedeutung klarzustellen: die liiographische, d. h, die Bedeu- 
tung, welche die Dichtung tür Goethe's Lehen gehabt hat: 

Zunächst hat sie ihm, wie jede reine — von Nebenabsichten freie — 
poetische Beichte innerlich den gerade durch das letzterwähnte Ereignis 
von neuem gestörten Frieden wiedergegeben; dann hat sie den Kuhni 
des Dichters, der sich mit deni Götz bereits die erste Stelle unter dem 
damaligen ..jungen Deutschland'' erobert hätte, weit hiaausgetragen über 
die Grenzen seines Vaterlandes. 

Endlich aber stehen zwei Freundschaftsbündnisse, die für sein ganzes 
künftiges Leben bestimmend werden sollten, im engsten Zusammenhang 
mit dieser Schöpfung seines Geistes: 

Dem Dichter des Werther galt in erster Linie der Besuch Karl 
Augusts und auf die Einladung nach Weimar mag das Vorbild jenes 
„Fürsten", der im zweiten Teil des Romans den jungen Worther aus 
seiner peinlichen Situation zeitweise herauareisst, nicht ohne Einfluss ge- 
blieben sein. 

Sein Werther aber empfahl ihn, schon ehe sie ihn selbst gesehen 
hat, jener Frau, die dem männlicher Leitung und Führung entwachsenen 
Dichterjüngling nun für rin Jahrzehnt Muse und Mentor in einer Person 
werden sollte. Bei Charlotte von Stein sollte er auch die Liebesschmerzen. 
Werthers durchkosten, gegen welche die Schwärmerei för die Wetalarer 
Lotte nur ein tändelndes Vorspiel gewesen war. 

„Hier, liebe Lotte'', schreibt er bei Übersendung einer englisoiiea 
Übersetzung, „endlich den Werther ond die Lotte, die auf Dich tot- 
spuckt''. 

Wie gegenwärtig und wie leijondig aber diese Kämpfe und dieser 
Jammer gefade damals in seinem Innern waren, das zeigen TOr allem 



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Die Entstehimg von „Werthers Leiden^' 



217 



einige aus tiefster Seele hervorquellenden Worte, die der zweiten Aiis- 
<;al)e des WerUier von 1787 eingeschoben worden sind und von denen 
iüii nooli ein Beispiel anführen möchte; 

„Ich kann nicht beten: Lass mir sie! Und doch kommt tiie mir 
oft als die Meine vor. Ich kann nicht beten: Gieh mir sie! Denn sie 
ist eines andern. Ich witzle mich mit meinen 8climer/en herum; wenn 
mirs nachliesse, es gäbe eine ganze Litanei von Antithesen'**). 

Ich achUesae endlich mit noch einer solchen Zusatzstelle der spateren 
Auflage, die weniger nach einer Bemerkung Werthers aussieht, als nach 
einem tiefempfundenen Selbstbekenntnis des ger^ften Dichters:*) 

„Mein Tagebuch, das ich seit einiger Zeit vernachl&ssiget, fiel mir 
heute wieder in Hünde und ich bin erstaunt, wie ich so wissentlich in 
das alles. Schritt vor Schritt hineingegaogen bin ! Wie ich über meinen 
Zustand immer so klar gesehen, und doch gehandelt habe, wie ein Kind; 
jetzt noch so klar sehe, und es noch keinen Anschein zur Besserung hat". 

1) GoetlieV Sdiriiten I Leipzig 1787 8. 917. 

2) ebd. S. 101. 



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Der Trui>peusold der Kaiserzeii. 



Von 

A» v«B INmaiMwakL 



Dem bolde des Lcgionur.s K^' Kaiserzeit We^t als Kechtnin^^seinlieit 
ein Stipendium zu Gnmde, desseu geoaueu Betrug wir aus der Sold- 
erhöhung Domitians kennen lernen. 

Sueton Domit. 7 addidit et oiid! tum Stipendium tnilHi, aiireos ternos. 

Zonaras 11, 19 (= Cassius Dio ed. Boiss. 3 p. 168): xm zocc arpu.' 

Dcmnacli f'iind Domitian einen Jahressold der Legionär*; ^ i\ der iii drei 
Katen bezalilt wurde. Jede dieser drei Katen betrug 75 Dcnaro == 3 aurei 
und ein solcher Betrag führte den Namen Stipendium. Der Jahresüold 
bestand aus drei stipeudia und hatte die Höhe von 226 Denaren. 

Dass dieser Jahressold von 225 Denaren oder drei stipendia zu 
75 Denaren durch Augustus testgesetzt wurde, wissen wir aus Tacitus' 
Erzählung über die Revolten, welche nach Augustus' Tode in Pannonien 
und Gerniiinien ausbrachen. Ann. 1, 17 deois in diem assibus ainuuini et 
corpus aestimari; hinc vestem, arma, teiitoria, hinc saevitiam centnrionum 
et vaeutiones munerum redimi. — ncc aliud levamentum, (luam si certis 
sub legibus railitia iriiretur, ut singulos deuarios mererent. Da die Soldaten 
eine Steigernng des Tagessoldes von 10 Assen auf einen Denar fordern, 
so liegt der Kechnung der Mfinzfuss zu Grunde, nach welchem der Denar 
in lö Asse geteilt wird. Ein Tagessold von 10 Assen giebt als Jahres- 
sold 3650 Asse, während der wirkliche Jahressold 3600 Asse oder 
225 Denare betrug. Der geringfügige Überschuss von 50 Assen ist 
natürlich nur durch die runde Summe von 10 Assen veranlasst und 
zwingt durchaus nicht ein Keclinnngsjahr von 360 Tagen anzuneiimen. 
Demnach erhielten die Legionäre am Ende der Regierung des Kaisers 
Augustus drei süpeudia von 75 Deuareu als Jabressold. 



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A. TOD Domaazewski: l>er Xiuppeosold der Kaiseraeit 



219 



Diese Einheit des Kechuungüstipeudiumss von 75 Denareu gelit auf 
den Jahressold des Legionars am Ende der Republik zurück. Polybius 
6, 39, 12 sagt vom Solde seiner Zeit o^''(i)-^iir^ <T <n nh^ -t^o't /MHi'i'v^'rjat 
TTjQ Vffiifia^ o'jfi Ujiahi'jc. Da hier die attische Draoliine von 6 Obolen 
dem Denar gleich gesetzt wird, betrug das stipenduuii 720 Obolen oder 
120 Denare*). Auch diesem Sat/.o liegt eine noch ältere Bemessung 
des Stipendiums nacii Äijäen zu Grunde und zwar jenes Münzfnsses, nach 
welchem 10 Asse auf den Denar gerechnet werden. Denn Plinius sagt 
n. Ii. 33, 45 in militari stipendio seraper '*) denarius pro decem assibas 
datus est. Demnach betrug der älteste für uns erkennbare Hold 12Uü Asse 
des schweren Fusscs. Aber von diesem Solde wurden in polybianischer 
Zeit die Kosten für die Verpflegung und die Ausrüstung abgezogen zttlq 

Dagegen werden die Kosten der Verpflegung unter Augustus') nicht 
mehr vom Solde bestritten, sondern der Staat liefert dem Soldaten die 

Verpflegung kostenlos. 

Hierin ist die p]rklärung zu suchen für die Difl'erenz des Stipendiums 
der iiepublik von P2(> Denaren und dem daraus hervorgegangenen Kech- 
nungsstipeiiduiui der Kaiserzeit von 75 Denaren. Man wird annehmen 
müssen, dass das Stipendium bereits am Ende der Republik um den Be- 
trag der Verpflegungökösteu verkürzt war und dieser Betrag auf 45 De- 
nare bemes.scn war*). Dieser Abzug ist so bemessen, dass die übrig- 
bleibende Summe ebenfalls 1200 Asse, die alte Soldeiuheit, beträgt; aber 
es sind Asse des seit langem geläutigen Fusses, von denen 16 auf den 
Denar gehen. 

lu dieser veMiiinuerten Grösse von 75 I>onaren liegt da.^ Stipendium 
der Republik nicht nur dum Solde der Legionare in der Kaiserzeit, son- 
dern auch den {»raemia militiae, d. h. den Versorgungsgeldern der Vete- 
ranen, sowie den doiiat;\u oder largitiones, d. h. den ausserordentliciien 
Geldgeschenken als Rechnungseinheit zu Grunde, Nach diesem Satze 
hatte Augustus das Donativ bemeüsen, welches er in seineia Testamente 

l; V>,'I. Marciiumlt St. V. II, 11.3. 

2) I)a.s ist tiiclit die Zeit dos I'liiiiiis, snndern die Zeit seiucr Quelle. Ueiin 
scboii unter Augiutus gilt die Hcchniuig uicbt uielu-. 

3) Bd Tadt um. t, 17, vf^. oben, nennen die Soldalcii unter den Aufwendungen 
ans dem Solde iiidit das fhuncntiiin. iJio .iL'yjitisdie Ordnung Ilermes 35 S. 450 kann 
meiues F.rachtons irt L'on Taritnw iiii-lits hewciseii. 

■4) Duwiwih ist der von Ai;iiquardt (vgl, Auui. 1) bcievlmetu uud von ilun selbst 
als wfdirsdieinttdi zu nieder beisdchnete Stlz to» 36 Denaren fittr die Kosten der Ver- 
pflegung tbatsidüidi um dn Ffluftel {9 Denare) zu Iddn. 



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220 



A. von Domus:u;waki 



den LegionareD vim iiuu lite Sueton Aiip. 101 leffavit — |iraetorianis mili- 
tibus siugula milia iiuniiuonini, colioitibiis urbaiiis (|uinf^(Mio.s, k'j^ioiiariis 
Irecenos niiminos = Tacit. anu. 1, Ö praetoriuruni coliortium niilitibiis 
singiila niimmum milia, (iirbanis (jnitii^enos), legionariis ac coliortibus 
civium Komaiiorum treccnos iiutmiKis viritim dedit; ebenso Die jö. 32. 
Ddä Dotiativ für den Legionär ist eben ein stijtendiiiin von 75 Deiiureu 
=: 300 Sesterzeii. Vgl. auch Dio 59, 2. iacit. bist. 1, 66. 

Diese Stpllen lehren auch, dass die entsprechende Kinlicit des PrÄ- 
torianersoldes 250 Denare betragt; diese Summe ist also das Rechnungs- 
stipeiidiuni dca Prätorianersoldes. Die gleiche Höhe hatte doshalb das 
Legat, das Tiberius den Prätorianern hinterliess, und das Donativ, das 
Caligula bei stiiiier Tlironbesteigung gab. Dio 59, 2 rag ts xazaht^- 
ifzifti/^ tTfftfft xfiTU. revnjarovr« xat dtuxi/mag Doiv/na^ mivttftz xui kriotiq. 
Toaa'jraQ rzpofferridojxe. Das Vierfache gab Tiberius nach dem Sturze 
Seians, Sueton Tib. 48; das Zweifache Nero nach der Vorschwürung 
Pisos, Tacit. ann. 15, 72. 

Wie bei den Legionaren betrfigt am Ende der liegierung des Kaisers 
Augustus der Jahressold des Praetoriauers da^ Dreifache des Rechniings- 
stipendiums, also 750 Deiiaro. Das zeipren die Klaj,'en der Legionare 
bei Taeitus ann. 1, 17 un praetorias ci)hort«s, quae binos denarios ac- 
ceperint. Genau genommen, sind dies 730 Denare für den Jahre^sold. 
Aber niemand wird verlangen, daüs Tucitus an dieser emphatischen Stelle 
des vorscliwindenden Bruchteiles gedacht haben soll, um den er den Tages- 
»old /.u klein angiebt. 

Eben jene Stellen über das Legat de?» Augustus lehren, dass das 
Keclniungsslijn'iiiütim der coliortes urbanae 125 Denare betrug, also die 
Hallte des iiechnungsstipendiuras der Prätorianer. Demnach betrug der 
Jahrcssold der cohortes urbanae am Ende der Kegierun*; des Kaisers 
Augustus das Dreifache dieser Einheit, 875 Denare. Vgl. auch Dio 59, 2. 

Zu dieser Höhe von 225 Denaren tür den Legionär, 375 Denaren 
für die cohortes urbanae, 750 Denaren für die Praetorianer ist aber der 
Jahressold dieser Pürgertruppen nicht auf einmal emporgewachsen. Viel- 
mehr bildet die Erhöhung des Soldes der iiepublik durch Cäsar eine 
Vorstufe. Sueton L'aes. 2ü Legionibus Stipendium in perpetuum dupli- 
cavit. Es geschah diese Verdojtplung des Soldes, wie die Rechnung der 
Kaiserzeit nach süpendia von 75 Denaren beweist, durch dio Hinzu- 
fügung eines zweiten Stipendiums, so dass der Sold 2 X 75 Denare oder 
150 Denare betrug. Diesen Satz hat Augustus vorgelunaen und, wie 
später gezeigt werden soll, noch im Jahre 5 u. Ohr. festgehalten. Erst 



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Der Tnippenaold der Kaisersdt 



221 



am Ende meiner langen Rtigiurung ist der Jahressold des Legionärs durch 
Hinzuf'ügung eines dritten Stipendiums auf die Höhe von 225 Denaren 
gestiegen, die er bei seineni Tode erreicht hatte. 

Demnach ist die gleiche Entwicklung auch für den Sold der Prä- 
torianer anzunehmen und es hat auch dieser Sold in der älteren Periode 
des Principates aus /.wei Kechnungsstipendieu bestanden, oder aus 
2 X 250 Denaren = 5(J0 Denaren. 

Auch dieser Sold hat sich aus dem Stipendium der Prätorianer ent- 
wickelt, wie er in repuhlikanischer Zeit bestand. Festiis berichtet über 
die Entstehung der Prätorianer ep. p. 223: praetoria cohors est dicta 
quod a praetore uoa discedebat. Scipio eiiiiu AtVicanus primus Ibrtissi- 
mutu quemque delegit, qui ab eo in belle non discederent et cctero imi- 
nere militiae vacarent et sesquiplex Stipendium acciporeiit. Demnach 
betrug der Sold 180 Denare oder 1800 Asse des schweren Fusses. Es 
ist zwar nicht bezeugt, aber selbstverstrmdlich, dass Cäsar den Sold der 
cohors praetoria') in demselben YeiluilLnis gesteigert hat, wie den der 
Le!,noneD. Hätte er den Satz der Republik ohne Abzug der VerptieL,Miiii^s- 
kuslen verdoppelt, so wäre der Sold der Prätorianer auf 360 Deiiare 
gestiegen. Wenn er dennoch unter Augustus zur Zeit, als für den Le- 
ttionssold noch der cäsarische Satz galt, 500 Denare betrug, so mms 
Augustus den Prätorianersold einmal ohne Rücksicht auf den L^ious- 
sold gesteigert haben. Dies ist auch geschehen und zwar bei Begrün- 
dung des Principates. Dio 53, 11 zotg ooftoipop/^ntrjni'^ a/rov fli-zAnutif 
Tou (utTttnu To'j zol^ akhitc nr nazimratg ocdo/iiuo'j (^>7^^ia(ß?/^ac inz-ixi^au-cn^ 
oTTtoz dxp'.ßr^ z'f^'j (ffitfjpw^ zyr^- //'jrtog (og «/jj'Vwc '/arwUnthu njv fiovap- 
■/ioy izz'h'jurjas. Hier liegt ein offenkundiger Irrtum Dio's vor. Dio hat 
die Angabe seiner Quelle, praetorianis niilitibus duplex Stipendium impe- 
traverunt, so verstanden, dass der erhölite Sold das Doppelte des Leirions- 
Soldes betrug, während die Quelle nur eine Verdopplung des Pratorianer- 
soldes im Sinne hatte. Denn das Doppelte des Legionssoldcs jener Zeit 
wären nur 300 Denare, also weniger als der Satz der Prätorianer zur Zeit 
Casars, immer vorausgesetzt, dass ihnen das VerpÜegungsgeld nicht abge- 
zogen wurde. Und doch hat Dio selbst, oder vielmehr seine Quelle auf das 
ausserordentliche Missverhältnis, das zwischen dem Solde der Präton;iner 
und dem Solde der Legiooare bestand, bingewieseo, ein Missverhältnis, 

IJ Casar erwäliut seine coLora praeturia uie, weil sie uuter eiueni h eldherra seiucr 
Art war, was sie biess, eine blosse Stabswache. Doch ist ihre Exlsteiut aus seinen 
eigenen Worten gesichert BeU. Gall. 1, 40, 15 tarnen sc cum sola dedna iegiooe itumiii, 
de qua non did)itaret, sibique eam praetariam ooluwtein futuraro. 



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222 



A. von Domaszewsld 



das am Ende der Regierung des Kaisers Augastus aach thatsächlich 
nachzuweisen ist. Versteht man dagegen die Nachricht so, dass der 
Prätorianersold verdoppelt wurde, so ist alles klar. Dann betrug bei Be- 
gründung des Principates der verdoppelte Sold der Prätorianer 500 De- 
nare, der cäsarische Satz, den Augustus vorgefunden, 250 Denare. Dieser 
wieder bestand aus 2 stipendia der Republik von 125 Denaren. Dem- 
nach ist der ursprüngliche Satz der Republik von 180 Denaren um 
55 Denare verkürzt. Es sind diese 55 Denare der Abzug der Verpfleg- 
uugskosten, die entsprechend dem höheren Solde um 10 Denare grösser 
sind als bei den Legionaren. 

Dass diese Konstruktion lichtiL' ist, beweist das Rechnungsstipen- 
dium der cohortes urbanae; nach dem Legate des Augustus betrug es 
125 Denare; das ist das ursprüngliche Rechnungsstipendium des Trä- 
torianersoldciä ; als Augustus den Prätorianersold bei Begründung des 
Principates verdoppelte, geschah dies durch die Verdopplung dieses Kech- 
nungsstipendiums auf 250 l)enare, das nunmehr als Rechnungseinheit 
dem Prätorianersolde der Kaiserzeit zu Grunde liegt*). 

Wie lange Augustus deu von Cäsar festgestdlten Sold beibehalten 
hat, zeigen die Angaben Dio's über die Regelung der praemia militae, 
die dann seit dem Jahre 6 n. Chr. aus dem neugeschaffenen aorarium 
militare*) bezahlt werden sollten. Dio 55, 23: -/(üeruoi ok Sr^ twv <npa- 
zuozuiy Zfjoi xi^v zmv a^^eov (jfuxpozr^zu. dtä -obi nukifjumq zobi zoze 

1) Es ist ganz iu Au<nistus Art, dass er Mittslsmäiuier vorschob (die Coigectur 
oitzpr/.^ar». die Uoisscviiiii in dfMi Text nufgennrnmen. zerstört ilie lii^^töiisdie Fein- 
heit des Berichtes), uiu die i5<)ldcrliOhuu({ fQr die Prätoriaucr zu bcautrageu, Auch 
hatten die FMUndaner die Kosten der Verpfiegimg wieder »n dem Sdde «i beslniten» 
aller micb dos nur zum Scheine. Denn sie eridelten das Qetrelde nach dem Preiee der 
uinioiia, bis endlich Nero ihnen audi die Veqiflesjinig kostenlos lieferte. Tarit. niui. 15. 72 
addiditijue sine ])rotin fnimenfiim, quo riiifp px inoilo sninorme «tohaiitiir. Siu-ton Nero 10. 

•i) Es fehlt au jedem Auzeiclieu, dass die pruemiu uülitae und die donativa auch 
deu peregriiicn Truppen zu TeH wurden. Wenn die Batavi Tadt bist. 4, 19 (vgl tmlen 
S.225) eUi l>t)nativ verlangen, su i-t das mir ein Zeichen mehr, dass sie revoltiereo. 
Schon deslialli ist eine Ressm tii iliinji; il r drei piMi tVcti aerarii niilitiuis, wie sie llirsch- 
feld, Untersuchungen S. 2 Anm. 1 voisctdägt, nach Legioues, Auxilia, stiidtiscbc Tnippcu 
uud Elottcumauitsdiaften, uumOgUch. Sie widerspricht auch der orgaiiischcu Ciliede- 
ntug des r&ndschen Heeres, welche die auxilia ausserhaib des Verbandes der exerdtus 
Icf^ionum streng {genommen nicht kennt. Ebensowenig erhalten die peregrioen Tnippen 
I.ruid angewi("?('it J ilircsh. d mt. Inst, 3 (lS;i;>) S. 182 .\imi. '»!). Bei den grundsütz- 
licheu Kegelungen des Dienstes der liiirgortruppen iuUieu weidgsteiu» Augustus uud 
Tibeiitis den Senat befragt. Vgl. ol»en Dio 53, 11. 55, *23. Selbst fbr die Ergfinsung 
der Legionen durch Aushehungen in deu Senuts|>rovin/eu wird die /Zustimmung des 
Senates pintrelinlf, T;i<if. ann. 4, ) = Siiotoji Tü». 30. T:uit. nnn. M", 13. Weil diese 
Dinge iu deu äeiuUäakteu staudeu, wurdeu sie m die ^^alcu aulgeuommeu. 



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Der Tnippensold der Kanmeit 



223 



arparetas «fiat j[povou Sjtia iaßtw üfilmftoQ, i^n^u^ xmq ph» ix 
rm dopufOfHXOü Tavtaxtaj^tUttz dpajffiiott kmtSwß kxxaUtixa Sn^f Toig dk 
hipots TpufjpMagf imidä» eatt*at ^paztOamrait J^An^at» Die Höbe 
der pnumia militiae ist sichtlich nach der H&be des Jabressoldes be- 
messen. Denn das kann kein Zofidl sein, dass die Legionäre nach 
swaniigjfthrigar Dienstzeit das swanzigfsche des Oftsarischen Jabressoldes 
(20 X ISO Denare = 3000 Denare) erhalten, also einen Betrag, der 
dem Solde ihrer gxnzen iwanngjährigen Dienstzeit gleichkommt. Und 
ebensowenig kann es Zu&U sein, dass die praemia militiae derPr&torianer 
das Zehn&che ihres Jahressoldes (10 X 500 = 5000 Denare) betragen. 

Die letzte SolderbdhnDg, die das stipendinm der Republik v^rdrei« 
fachte, moBS demnach in die lotste Begierongszeit des EaiserBsMen 
und wird eine Folge sein der ferlustreicfaen Kriege, di^ seit dem Jahre 
6 n. Cbr. in die pannonischen und germanischen Heere so nngeheuero 
Lücken gerissen hatten'). Für diese Zeit liegen die Annalen des Dio 
nur mehr in Trfimmern vor, so dass der Bericht über die SolderhShnng^ 
TO'Iorai gegangen sein wird. Auf die grundlegoiden Begelungen des 
Jahres 5 n. Ohr. gehen auch die Worte Sueton Äng. 49: quidquid autem 
nbique militmn esaet, ad certam stipendiorum praemiorumque formulam 
adstrinxit, definitis pro gradii cuiusque et temporibus militiae et commodis 
misflionum. 

Aber das mflhsam gewonnene Gleichgewicht dieser neuen Dienst- 
ordnung wurde durch jene Kriege am Ende der Begiemng des Kaisers 
wieder gestört; die Snflasanng der Tetenmen, wie die Auszahlung der 
praemia militiae unterblieb, bis endlich die Erbitterung der Soldaten 
nach dem Tode des Kaisers in Revolten zum Ausbrach kam. Die Forde- 
rung der Soldaten, deren Erfüllung sie för den Augenblick erzwingen, 
gehen auf die Wiederherstellung einer älteren Dienstordnung, die Augus- 
tus im Jahre 13 v. Chr. festgesetzt hatte*). Dio 54, 25 dtszal^ rd ts iz^ 
Sau ot aoXerat mpaxe&aotvTo, xat tu ypy^aaxa oaa itmaäfsvot arpa- 
tüoQf dunit f^c /«u/MtC ^'te jrouu*), X^^MVrtf Sime im pijToti 

1) Die Vorzweiflung des üitvn Kaisers Siioton Aug. '2'X der sirli vor die Notwen- 
4B|^«it gcBtcUt sali, (Uc Variaiiiscben Legionen ucu zu hihlcu, ersciiuint wühlbei-cclitigi. 

2) Nachdon dio EntJassan^ seit der BegrOndmig des Pifndpates vollständig 
gestockt hatten, wurden im .fahre 11 v. Chr. durch Massenentlaaanntrrn ilir Heere von 
den altersschwach on Lünten LTri'iuin't (Res Oestae) ji. fi;? tirul jetzt iiutdiimil iler neuen 
Dienstordnung das irleer ergiin/.t, um es hrauchhur /.u machen iur die geiilauten Kr- 
obenrngsiGrii^ «m BbeiD und der Dodau. 

3) Noch im Jalm 14 edudtea die TetenuMi Landliesits Res gestio p. 62. 



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224 



xai dpfupmv roiq ftkv ilatTov wii Si vXeiov^), Mit dieser ältereD 
IHöiiBtordDung dedren eicli die Fordernngen, welche die empörten Sol- 
dateo im Jahre 14 n. Chr. «ofetellen. Tacit aon. 1, 17 aextus dedmus 
stipendii amins fioem adferret; nee ultra sab veriUle tenerentar, eet 
isdem in castris praeminm pecnnla aoheretar. Brgftmend ana. 1, 36 
miflsionein dari vioena stipendia meritis; exanctorari, qoi tena dena fe- 
dasent, ac retinori sab veadllo oeterorum immnDes nisi propuleandi hostis. 
Noeh klarer werden die Bedingfoogen dieser filteren Dienstordnung dnrch 
zwei Inschriften, die eben der Zeit aogehdren, wo sie in Geltung stand. 

G. I. L. V 5832 P. Tntilius P. f. 0[nt] reteranus 8igni[fer], aqni- 
lifer") leg. V . . . eniator Teter[an jemm], accepit ab impe[rat(ore)] prae- 
mia dnplicia; natns est A. Hirtio [C] Vibio Panaa oos. (a. 43 a. Chr.) 
de[€eesit] G. Fnfio Gemino L. Bn[be11io] Oemino cos. (a. 29 p. Chr.). 

Brambach 717 .... princeps II*) leg. XIII Gem. an. lÄlIII stip. 
XLVI milit(aria) XVI cnratoria veteian(orum) IUI eTOcativa IIL 

Der in der ersten Inschrift genannte Hann hat etwa mit 18 bis 
20 Jahren seinen Dienst begonnen, also im Jahre 25—28 Chr. ; seine 
fintlassnng ans der Legion fUlt demnach in die Zeit« wo die im Jahre 
18 ?. Chr. gesehafiene Dienstordnung in Wirksamkeit war. Bei seinem 
Obertritt nnter die Veteranen erhält er die praemia militiae zum erstea 
Male. Dann dient er als cnrator veteranomm in einer Stellung, die, 
wie das Avancement zum aqnilifer beweist, dem Centnrionate nahestand^). 
Bei seinem Aastritt aus dem Tezillom veteranomm erhslt er abermals 
die praemia militiae. Also die Forderung, dass die praemia „isdem in 
castris** gezahlt werden sollen, ist damals erfüllt worden'^). 

1) Dio hat hier die Höhe der praemia militiae nicht geuannt, weil sie keine Dauer 
hatten. Dagegeo die im Jahre 5 n. Gbr. festgesetzten, die er neiuit, gclteu noch in 
winer Zelt Vgl. unten S. 336. 

2) Noch im fraiizeu ersten Jahrhundoii nennen die CJrahsteijie der Soldaten nie 
die Charpe, die der Todte bekleidet hat Eine Ausnahme bilden nur si'jnifrr und 
aquilifcr, weil zu die^jer Stellung nur die Tapfersten berufen werden und ihr Dienst 
religiöse BedeotnnK hat V^. anrJi Religion d. r. H. S. 15 und Tadt hist 4, 25. 

:V) Die boiik'ii IT.töten von II sind ohen heschüdlgt; aher es kann nur das Zahl- 
aeichr ii iri stimden haben. 

4) i>er aquUifer kann direkt zum ( euturionat gehiogen C. I. L. XII 2234; Rram- 
bMk n. 1078. 1753. 

5) Augustns selbst lierichtet die Bescahlimg der Praemia fltr die Jahre 7, 4, 

3, 2 V. Chr. l^es pestae p. (J'). Demnach ist dieser Veteran mit .Tahrcti einjietreten 
im Julire 2^ und nach 16jährij,'er I>iensty.eH im Jahn' 7 naeh Ansziilihni.; der praiTniii 
uutcr die Veteranen versetzt worden und hat im Jahre 3 bei der iiiissiu die praemia 
nochmab eriudten. 



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Der Tnipipensold der Knieeneit 



225 



Die Bedingnngen dieses Dienstes unter den Veteranen sind in der 
oben citierten Stolle des Tncitus besehrftnkt auf die Abwehr des Feindes. 
Ebenso entspricht in der sweiten Inadirift die Dienstdaner nntor den 
Veteranen der Forderung der empörten Soldaten; sie betrftgt vier Jabre. 
Und xwar galt dieser Dienst als effeetiver Hilitirdienst^ wie die enopdr- 
ten Soldaten auch einr&iraoen, da die Dienstjahie unter den Veteranen 
als stipendia zftblen. Dass die Inschrift der früheren Begiernngszeit des 
Kaisers Angustns angehört, Iftsst auch die Beseichaiiag des Gentnrio als 
princeps (secnndus) erkennen. Denn diese Art der Benennung findet 
sich nur unter der Bepublik und in Zeugnissen der TrinmTiralieit^. 
Spftter bfttte die Benennung gelautet II pr. pr. = (in coborte secunda) 
pr(inceps) pr(ior). Ebenso beweist f&r das hohe Alter der Insohrift der 
Übertritt des Legionais unter die OTOcati. Denn späterhin war die evo- 
catio auf die VeteranMi des praetoriums beschrSnkt^. Unter Ai^gnstus 
dagt^en konnte die erocatio sogar Auxiliare treffiro*). 

Der Sold der Anxilia ist nur aus einer einzigen Stelle bdcannt. 
TacituR berichtet von den batavischeü Cohorten bist 4, 19: Intomoeni 
stetim snperbia ferociaque et pretinm itineris, donatirum, duplex 
Stipendium, augeri equitum nnmerum promissa sane a Vitellio postniabant. 
Ein Doppeisold nach Art der milites duplarii der Spfttaeit*) kann hier 
nicht gemeint sein. Denn das ist erst eine Neuerang CaracaUa's und 
ein Ersatz ffir die beseitigten dona militaria"). Deshalb erscheiot es 
mir als gesichert dass die anxilia den einfachen Sold der republikani- 
schen Zeit erhielten, ein Stipendium von 75 Denaren. Was die Baterer 
verlangen, ist eine Annäherung an den Sold der Legionäre durch Bezah- 
lung eines doppelton Stipendiums (duplex Stipendium), also eines Jahres- 
Boldes von 2 X Denaren. Die volle Gleichstollung erlangen auch die 
Anxilia durch die Verleihung der GivitAt an die ganze Truppe Denn 

1) Die Eritlarong MoaunseiiB Ephem. opigr. IT p. 988 m. l iiprine^ Us fiiit in 

dnabiis lej^ionihus" i<?t mir unvprstinullidi, da ilio zweite T.cLnnti nicht genannt ist und 
wenn sie in der i^iicke vorher verloren gefranpen sein sollte, der Titel mit dem Itera- 
tiooszeichcn nicht an zweiter SStellc stehen köiuitc. 

3) Cicero ad Brat 1, 9. C. J. L. IX 3T70 princeps tertius. 

3) Dass der Mann Prätoriuner gewesm, nie Monimsen, Hermes 7 S. 317 Epheni. 
ep. ]\ p. '2:18 not. 1. V p. 152 not '6 angenommen tiat, Ist im Wortlaute der Insclirift 
nicht begrtmdet. 

4> C. I. L. XIII 1041. Tgl. Mommaen, Hermes 22, 547. 

ö) Vefiet. 2. 7 duplares dnas, sesqniplicareB tinam semia conscquebantar annonam. 

fi) Westd. Korr.-lti. 1!>00 S. MO ff. 

") 'i'nippen dieser Art kimneti auch als (Jesamtheit die dona niilitaria erlialten. 
ffir deren Verleihung die Civitat des Emptaugers Voraussetzung ist. Vgl. C. i. L. Iii 



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286 



A. von tHmuwfwM 



der Sold hAngt von der RechtstelluDg der Soldaten ab. Deshalb bat 
AngQstuB diesen cohortes dnnm Bomanoram dasselbe Legat Termacht, 
wie den Legionen')* 

Der niedere Sold der perogrinen Truppen tind der Mangel eines An- 
spmehes auf die praenna mititiae und donativa ist der entscheidende 
Grond, wanim eich die HeereeTermebrung der Eaieerzeit in immer 
Bteigendffls Maasse auf die Nenanfstellong von auxilia heachiAnkt Wäh- 
rend in aagnateieeber Zeit das Rheinheer acht Legionen zahlte genügen 
seit Hadrian scheinbar vier Legionen sum Schotae der Grenze. Daes 
die Germanen des streiten Jahrhunderts nicht minder kampflustig waren 
als die des ersten, aeigen die Befestigungen am Limes. Aber eben diese 
Befestigungen sind der überwiegenden Mehnahl nach mit Auxilia xweiter 
Oidnung, mit numeri besetzt, die Legionen fehlen ganz am Limes selbst 

Die erste Steigerung des augusteischen Soldes der Legionare erfolgte 
durch Domitian, der ein viertes Stipendium von 75 Denaren hinaufftgte*), 
so dass er fortan 300 Denare betrug. Aber auch der Prfttorianersold 
ist im gleichen Verhältnis durch Verleihung eines vierten Stipendiums 
auf 1000 Denare gewachsen. Diese Entwicklung erkennt man an dem 
Wachsen der Donative, die den Prfttorianem aus Aolass der Thron- 
besteigung verabreicht wurden. So sagt Suetou von Ghiudius, der den 
Thron im Prfttorianerlager erkaufte, Claud. 10: promisit aingulis quina 
dena sestertia, primus Caesamm fidem militis etiam praemio pigueratus. 
Claudius gab also 15 stipendia von 250 Denaren od^r den f&Dfüachen 
Jahressold. Dasselbe Donativ gab Nero bei seiner Thronbesteigung Dio 
61, 8 ÜKsaj^zn aizot^ tiaa Khiodtoq ideddtxst, Die Zufriedenheit der 
Söldner war aber f&r die innere und ftussere Sicherheit des Prindpates 

G748. WXW. 11!):«. VI ;i.1.'58. VII Der i'inzeluc Auxiliar hat nie dit- dona or- 

luiltpn. Douu dio doua tuilitaria wi>rden ob hoiior(»n et viitutem verliehen, Kigeu- 
scbaften, die nur der ROiner besitzt. Vgl. Religioii d. r. H. 8. 43. WisBowa*« Polemik 

in den Stitna IIHhigiiina p. :!.'(') fT. trifft mirh gar nicht. Ich habe durchaus nicht be< 
Iinnptci) wnlli ii. il.iss die Sahis und Felicitiis, welche die eqnites siufndares veivhn'ii. 
nicht die roniisclien Staatsgütter siod. Sie sind es, ebenso wie luppitcr, Mars und 
Yittnria. Aber dass sie an StcHe von Honos und Vfrtns im Kulte der Truppen pere- 
L'i iiicr IIerl<mift eintreten, hat einen tiefen Sinn. Iloims et Virtus Itoninnomm wird zur 
H iliis i f IMiritns der Provinzialen, weil das tilQck der Provinzen auf der Yorheirscbaft 
des römischen Volkes bendit. 

1) Die cohortes civium Bomanonim sind immer periKiiiie Tnippen, dencji die 
ClvHat als Belobiumg filr die Tapferkeit veriiehen wivde. Sie balien dfe Virtua et 
Honos lionianonnn im Dienste des römischen Stajitrs i Viir eine scheinliare 
AnsnalinH' InMi-n die ans FrciLTla^^' tion ircliildt'teii coliorles voluutariomm, die ebetl- 
talls die livitüt erlangen. \ gl. Westd. l\orr.-iil. IHtil S. (J2- 

2) Vgl. oben & 2ia 



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Der Tmi^eitBold der Kaiieneit 



227 



so unerlftsslich, dass auch alle späteren Kaiser dem Beispiele des Claudius 
>^ folgen muflsten Das Vorhandensein eines fixten Satzes in späterer Zeit 

erkennt man ans den Worten der vita Hadriani 5, 7 iiulitibi]8,ob auspicia 
imperii duplicem largitionem dedit. Wenn Hadrian sich ao genitt%l 
sab, den herkömmlichen 8at« sogar zu verdoppeln, so ist dies ein Beweis 
inebrf dass er keinen gesicherten Anspruch anf dien Thron besass*). 
• Jedoch Ist thatsäcblich der Ton Claudius aufgestellte Preis fftr die Prä- 

'.."i torianer festgehalten worden. Bs zeigen dies die Nachrichten ftber das 

DonatiT, das Kaiser Marcus bei seiner Thronbesteigung gab. Denn anch 
\-i er, der keine Menschenftircht kannte und eine Auflehnung der Truppen 

'■<: weniger ssu befilrchtett hatte als irgend einer der Herrseber, die sieh 

Impenitoien genannt, mnsste das nngdienere Geldopfer bringen, der tief 
i-*^ eingewurzelten Sitte folgend*). Vita Mard 7, 9 castra praetoria pe- 

tiermit et vicena milia nummum singulia ob partieipatum imperium 
militibns promiserunt et ceteris pro rata. Dio 73, 8 i^tuww fdu 6 

^ 1) Sm'toii sajrt 08 duiitlich genug, iler i'lmi un «Iii' Rinrichtnugen seiner Zeit denkt. 

3) Was Gron«;, Ii(^m. Mitth. 1899 S. 2G9 gegen Deeian nnd mich vorbringt Ist 
2.' haltioa. Wenn in der Scene des Benevent^bogeiis, «He die ITnterwerfitng Mesopote» 

mions darstellt, der Mann iiolifii doin Kaiser, wio TV'torsfMi und Iluhi »iigen, eine Titga 
trüfit, so ist es Abganis von Omkicup. iK uii ;il.s Clii'iiteüürst nnd Freund des Kaisers 
(I)io (IS, 21) besass er den büchston nmiist hi'n Oalen, die ornauiouta couKiüariu. Monuii- 

. . J sen St B. I S. 464. 

8) Wie unmöglirli es war, den 'l'nippen ein einmal erlangtes \"orreebt zu ent- 
reisson, zeigt. Tacitus' Angabe über die Vacationos liist. 1, 4fi: Klagitatuin itt vat-ationes 
praestari centuriDnibns solitae reniiftorentur. Nain<iue gregarius uiiles ut üibutuni anninira 
]icndebat. Quarta pars iiiani)nili äparsa per comineatiis aiit in ipsts caatris vaga, dum 
mercedeni centtirionibos solveret: noque modiim oneris quisqtiam nequc genus quaestus 
ponsi halw h.it; por latroeinia et rajitns atit servilibus niinisti iiis militrtre ntinm mliim liant. 
'riuii lot upietininais quisque miles labnre ac sacvitia fatinari, donet \ acatiimeni inueret : 
ubi snntptibua cxhaustus soeordia insuper elanguerat, iiiops pro loeuplcte et iners pn» 
streimo in maiupnlinn redUMit; ac rursus aüus atqne alias eadem egpstale ae liecntia 
(orrnpti ad sodiÜMies et disconüas et ad oxtremum bclla dvüia ruebaut Scd Oiho ne 
viilgi Iruirltiono r(>titurionmn finimos averteiot. tipcinn smini liirtrifioiioe nnnu^if: ox^joIm- 
tiirniu proiiiisii, rem Uaud dul)io ntilem et a bonis postea prineipibus perpetuitate dis- 
ciplinae firmatam. Din gkdehe Klag» kehrt in den Legtonea wieder Tac, ann. 1, 17; 
vgl. nlicn s. 218. Diese ganze Klnrielitnng ist nur verständlich, wenn die ( enturioneo 
den S<dd an die Soldntc^ii aus/.ablton und berecbtigt waren, den hcitrhuiltten oder vom 

■ Dienst befreiten den Sold /n kiu-zen: dass sie diest' Abziige in tlie eigene T.osdie 

stecken, kaiui nur ein Missbraueli sein. Und dotii gab es im Interesse des Dienstes 
Icein anderes Mittel, als diesen Misslvaut^ m. sanktionieren, indem dem Befreiten der 
volle Sold bezablt wird und der Kiskus die gesetzliclien Abzüge den Oii'ininn' !! nlu i 
dies oiiszabb. Man ^ii lit. was für Zustiinilo in diesem Söldncrlit^in lu riM liti n Italier 
tUc stete Klage über die corrupta disciplina und die auf die Dauer ort'olgioscn \ ersnelie 
einzelner Feldlierm imd Kaiser, dem Übel sn steuern. So bat Hadrian, der am encr- 
gisclisten eingritf, die disdplina znr Ileeresgpttin gemacbt, Beligion d. r. H. S. 44 und 
C. I. L. S. VIII 18056. 



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228 



A. von iVnBMMwiln 



auTo («< yäft ig zsvmrttryiXiac, u ot i: Trnny.liag^) (VKoIq hhowxst). 
Marcus gab daher den Prätorinnern doii tünffacben JahreHsold ihrer Zeit, 
&000 Denare auf den Mann. Die Worte der vita Marci ceteris pro rata 
mfissen sich auf andere Truppeokörper bezieben und das pro rata ist 
nach Analogie der L^te in Augustus' Teetainent zu interpretieren. 

l>ass djpsp ungeheuere Geldvergeudung regelmässig erfolgte, erfahren 
wir bei der Erhebung des L. Aelius Caesar, Vita Hadrian! 23, 12 ob 
enius adoptionem lados drcrases dedit et donativum populo ac militibus 
expendit ~ quem cum minus saoum vidcret, saepissime dictitavit. In 
cadneum parietem dos ioclinavimus et perdidimns quater milies sestertiiim, 
quod populo et militibus pro adoptione Commodi dedimus. Vita Helii 
3, 3 datam ettam popnlo con^iarium causa eins adoptionis conlatnmqae 
militibus sestertinm ter') roilies. Für die Berechnung des Congiariuma 
ist derjenige Satz m Grunde za legen, den Hadrian bei seiner eigenen 
Thronbesteigung gab, von 75 Denaren (Vita Hadrian! c. 7) und der 
überhaupt der normale f&r die Congiaria ist. Das Congiarium betrug 
also 15000000 Denare. Die Soldaten erhielten 85000000 Denare. Da- 
ren entfallen allein auf die Garde 50000000 Denare (5000 X 10000). 
Dann erhielten jedenfalls, wie die vita Marci im gleichen Falle andeutet, 
die cohortes urbanae ein Donativ ,pro rata", d. h. nach Massgabe ihres 
Soldes. Da die cohortes urbanae io jener Zeit mit den cohortes prao- 
toriae eine Einheit bilden^, so ist mit Sicherheit anzunehmen, dass ihnen 
wie den Legionaren und Prfttorianem der Sold durch Domitian um ein 
viertes Stipendium von 125 Denaren erhöht wurde, also seither 500 De- 
nare betrug. Die Stärke der cohors arbana ist gleich der der cobors 
praetoria auf 1000 Mann anzusetzen*). Es standen damals 4 Gobortee 

1) In Wirklichkeit liat er auch das nicht gezahlt Vita I'ertinacis 15 congiarium 
dedit popnlo denarioB centraot. praetoriaaiB pironiiit duodena niUa nanimiini aed 
didit sena, d. h. nur 1500 Denare. 

2) Es ist dies einer der nicht zu seltenen Fille, wo die Nebenviten, obwohl 
sie dem Wortlaute nach mit den HauptTiten ühereiiistimmeo, doch den Schein eines 
•elbstftndigen Zasatzes zeigoB. DIt stilistiaehe Unblldang dieser SAtce ia den Nebon* 
Titen bat nur den Zweck, den Schein hervomirufen, als w&ro für die Nebenviten 

eine selbsläodigp Quelle bentttzt. Denn die Tlypotliese Dessan's, dass die Sammliin«; 
der scriptores histcrine Aiigiistae in der (Jestalt, in der sie uns vorliegt, das Work 
eines liiterariächeo Scbwindierä iät^ bleibt trotz Mommseu's zweimaligem Verdict 
Hermes S5 p. 928 und 80 p. 106 eine befieiend« Tbit. Die Ziffer ter ntUes hat also 
gar keine Glaubwürdigkeit. 

3) Religion d. r. H. S. 70. 

4) Tacit. bist. 2, 93. Dio 55, 24. der 1500 Mann nennt, denkt an seine eigene 
Zeit, wie er in einem Atem dt« eqniteB singiilares nennt, die erst Traiaa errichtet hat 



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Der Tnippcnsold der Kaiscrzcit 



229 



nrbanae in Born Demnach ist das Donativ für die cohortes nrbanae 
auf (2$00 X 1000) 2500000 Denare m bereebnen. Ausser dieser Truppe 
standen an donativberectitigten Soldaten in Born nur nocli die frumen- 
tarii und die statoree, deren Zahl sich awar nicht bestimnea Iftsst, die 
aber Iteineswegs gross gewesen sein kann, fijg^ <^ 30 reehnet im Nor- 
mallager auf 4 Cohortes praetoriast 2 centoriae statorom. Demnach 
dfirfte es im ganzen 5 centariae statorum gegeben haben. Nach den Übei^ 
resten einer Liste, die Henaen G. J. L. VI n. 2409 wahrseheinlich mit 
Recht auf die Arumentarii besieht^ scheint es, dass nnr je drei dieser 
Principales aus jeder Legion nach Born abkommandiert waren. Jeden- 
fiills können die Donative dieser beiden TrnppeakOrper nicht die Höhe 
der Siraime erreicht haben, welche nach Abzug der Donative für die 
Pnetoriani und ürbanieiani noch ohne Verwendung bleiben. Der Betrag 
32500000 ist so hoch, dass auch die Legionäre, wie es ihrer Stellung 
als Bfirgertmppen entspricht^ bedacht worden sind. Die Starke einer 
Legion ist für die Zeit Hadrians ans Sneton bekannt fir. ed. BeiiTer. 278 
legio dieitur Tirorum electio fortium oertns militum numerus, id. , 
est TDC. Hadrian hatte aber am Bude seiner Bagierung nur 28 Legio- 
nen*). Die Zahl der Legionare ist demnach 156800 (5600 X 28). 
Diese Zahl in 32500000 dividiert, zeigt, dass das Donatir fSr die Le- 
gionare nicht weniger als 200 Denare betrug. 200 X 156800 = 
81360000*). Aber da allen diesen DonatiTen das Bechnungsstipendium 
des Truppenkörpers zu Grunde liegt, so wird es richtiger sein, das Do- 
natiT fSr den Legionär auf 225 Denare oder drei Becbnungsstipendia 
anzusetzen^). 

Im Aligemeinen ist «sichtlich, dass die Legionäre bei diesem Do- 
nativ noch mehr zurückgesetzt sind, als zur Zdit des Angustns. Es 
entspricht dies nur der Umbildung der Legion«! in eine rein provinziale 



1) Marquardt, St. V. II S. 483. 

2) Die Inschrift ('. !. L. VI 3493 a. b. beweist dies eicher. Die unprflngliebe 
Liste ist unter Pius geschrieben. 

3) Es ist dabei vorausgesetzt, dass die Legionen volliiäblig waren, was gerade 
anter Hadrian im Wesentlichen richtig sein wird. 

4) Die Sununc wächst dadurch um 3920000 Penare, die aber bei der Gesarot* 
summe von 100000000 Denaren umeoaidir vemachlSseigt erin kSnnen, als bei der 

Summe für das Donativ von 20O Bpuan-n ein Ühorsiiinss von 1 140 000 geWifhen 
war. Jedcnfalle ist die Di£fereoz nicht gross genug, um die Bechuung nach stipeodia 
aufzugeben. 

16* 



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230 



A. von Donuunewsld 



Tiii])p(?, die den Charakter einer rdmiacbeo Bürgertrappe immer mehr 

einbüsste 

Nofli unter Commodus ist der Sold abermals gestiegen. Man er- 
kennt dies an dem Preis, um den lulianus den Tliron gekauft hat, Dio 
73, 11 o TS -o>)).7:txtavi)Q xac o lo'jXtavoq OTZspßdlAovTSi dkXijh>0Q — 
fiiytn ys 7:svraxi<T^i?.itov f)/myn(7)i/ xaz ilvdpa xarä Trpoazit^iuTeg 
jTpofTfjÄ'iou — '/o'jhavnc yiXiutQ xat iiiaxomaiz xa: rrsvzr^xouTn ann (intv/- 
fiaiQ hntpißtdz. Der Entsclilnss Inlians, plötzlicli um volle 1250 De- 
nare, also ein Fünftaches des Kechnungsstipendiums der Prätorianer von 
250 Denaren, mehr zu bieten, erklärt sich am Einfachsten, wenn dieser 
Betrag den Jahrossold der Priitorianer jener Zeit repräsentiert. Es ist 
dies um so wahrscheinlicher, weil lulianus bei der Auszahlung jenes 
Donativs den Satz der Auction, um dem ihm die Krone zugeschlagen 
wurde, wieder um 1250 Denare überbietet. Vita luliani 3, 2 sane cum 
vicena quina milia militibus promisisset, tricena dedit. 

Stieg der Sold der Legionare in demselben Verhältnis, so wurde 
. auch ihnen ein fünftes Stipendium, also ein Jahressold von 375 Denaren 
verliehen. Auch dies erscheint glaubhaft, weil Commodus ganz am Ende 
seiner Kegierung das Äusserste aufbot, die Provinzialheere an sich zu 
fesseln, wie dies in der Verleihung des Namens Oommodiana an alle 
Legionen des Heiches hervortritt^). Auch wird damit ein Übergang 
gewonnen, der die Solderhöhung des Kaisers Ssptimius Severus weoig- 
steus begreiflich erscheinen lässt. 

Dass Septimius Severus den Sold über alles zulässige Mass gesteigert, 
bezeugen nicht nur die Schriftsteller^), sondern vor allem die Inschriften 
der Soldaten selbst, die seine largissima stipwdia preisen*). Die ent- 
scheidende Angabe ist io der Überlieferung verstümmelt. Nach der 
Tbronbesteigoi^ in Gamuntum bemerkt die vita 5, 2: qui etiam ses- 
tertia quod nemo nmquam principum inilitibus dedit. Dass hier nicht 
das Donati V der Thronbe5?teigung gemeint ist, zeigt der Zusammenhang 
der Erzählung selbst. Denn das Donativ fordern die Truppen arst nach 

1) Deutlicher wird dies noch durch das Avancementsgesetz jener Zeit, welches 
dea inilitM der Legionen das Emponteigen snn CeDtniioiial venchlicMt 

3) Dio 72, 15. Es ist kein ZqMI, eondern psyehologisdi bedingt, dass die 

drei Kaiser, welche allein ohne politische Notwendigkeit den Sold gesteigert hohen: 
Domitian, f'ommodus nnd Caracalla, den Legionen ihren Namen verliehen, um das 
enge Band, das Kaiser und Heer vereinigte, zum Ausdruck zu bringen. 

3) Ilcrodiam 3, 8, b und die Stellen weiter im Texte. 

4) Vgl. die Insdirifton der scholae Religion d. r. H. 8. 68—95; Keue Hddelb. 
Jalirb. IX (1899) p. 148-163. 



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Der Truppeosokl der Kaiser/eit 



231 



dem Einzug in Rom; auch besass Septimius Severus im Augenblick meines 
Pronunciamentos gar nicht die Mittel, das Donativ zu bezahlen. Viel- 
mehr hat die ausgezeichnete Quelle, die in einer letzten Verkürzung vor- 
liegt, von der für die ganze Regierung des Kaisers cntscheidcndon .Sold- 
regulierung gesprochen. Das Regiment des Septirains Severus Ijezeichutt 
den Sieg des orientalischen Geistes, dem der Wertmesser V) uuch mili- 
türischer Tüchtigkeit im Oelde liegt*) und so hat denn Septimius Severus 
gleich Antonius, der zuerst die römische Welt orientalisieren wollte, den 
Sold der Soldaten in Denaren auszahlen lassen, die luit deui \\ uppen 
der Legionen geprägt waren ^). Wessen ist das Bild, fragt nicht oliuo 
Grund die Schrift: Die Legionare sind die Herren der Welt'). 

lu der Stelle der vita Severi über die Solderhöhung it,t ua^ Zahl- 
zeichen vor sestcrtia ausgefallen; es kann nichts anderes gewesen sein 
als hiua^), also eiu Jahressold von 500 Denaren. Denn jede höhere Zahl 
führt auf eine unmögliche Steigerung des Soldes. Die hlmeiidalioü bma 
milia, also 500 Denare, sichern die Inschriften der scholae, die aus eben 
dem largissima stipendia erbaut, als stets wiederkehrende Kiuheit die 
öunime von 500 Denaren oder deren Hälfte nennen. 

Religion d. r. H. S. 85 n. 180 scliola der optiones nennt folgende Sätze: 
8000 Sesterzen (= 2000 Denare); 6000 Sesterzen (= 1500 Denare). 

n. 181 schola der tesserarii: ein Vielfaches von 1000 Sesterzen 
(= 250 Denaren), n. 182 scbola der coruicines: 750, 200. 500. 500. 
500. 500. 250 Denare. 



1) Schon Plato SbMt 4 p. 195 ed. Bekk. siebt in dem tpOjr/^itiiHaxm den 
Gniodiag dee orienUdiadien Charakten. 

2) Septimius SeT«nis sah den Nerv der Politik von Anfang an in der Bcstecli- 
ung. So Hess er, der einzige aller Kaiser, der solches gcthan. den Gesandten des 
Senates, die ihn zu seinem Siege beglückwünschen, 720 Aurel auf den Kopf vrrub- 
reich«n Vita C, 1—4. Vgl lUido. Homiud 54 p. 31S. M«a nuM bedenken, duss 
unter dem Principat niehl einmal die Gentarionen ein Donativ erhalten. Niemals 
werden bei den Donativen die CiMitnrionen berücksichtigt, immer nur die milites. 
Vgl. oben S. 'l'Yl Anm «lea Umweg, deo Otbo eioschlageu muaste, um die Centn- 
rioneu nicht £U beleidigeu. 

3) Die Fahnen B. 65. 

4) Die Legionenflnien hq^Innen wieder mit Galtienae nod reichen Ina Die- t 

clelian. Es i>t die Zeit, in der die Flerrschaft der Ticke unbedingt gilt. Vgl. Reli- 
gion d. r. H. S. ;;4 lind S. 77 f. Anm. 3'??. Nocli deutlicher wird dies durch das 
Avaucementsgesetie dieser i'eriode. Die iiegioiiaiiiünzeD des Carausius sind ein lieweis 
fOr die Auflehnung der Pieke gegen den neuen Staat Diecletiaus. 

5) Wahrscheinlich war in der Handschrift aestertia mit SS al^jekant, wie auf 
der Inschrift des dritten Jahrhunderts (vgl. z. B. 0. .T. L. XIV 1. 70 = Dessau 1433), 
also bina milia geschrieben U SS. Das wurde mit dem gelftutigea U S verwechselt 



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232 



A, von Domaszewski 



D. 184 sehola dm Spitalperwimltti: m Vielfaches von 1000 Sesterzen 
(s 250 Denare); 1000 Sestenen (= 250 Denare). Keae Heidelb. 
Jahrb. IX p. 152 n. 6 tabuhiriam: 1000. 800. 500 Denare. 

n. 8 officium des praefiMStos caBbroram : 4000 Sestenea (:=: 1000 De- 
nare), ein Vielfaches von 1000 SesterzeD (s 250 Denare). 

Dieser Satx von 500 Denarmi ist wieder beweisend Ar die Eitstenz 
eines Legionssoldes von 375 Denaien (= 5 stipendia von 75 Denaren) 
sehon unter Gomraedus. ScTeros hat, wie ähnlich Domitian, jedem der 
flllnf bestehenden stipendia einen aureus = 25 Denare zugelegt. 

Was dem Ansturm der illyrischeo Legionen eine so unwiderstehliche 
Gewalt gegebeu, war der Schlachtruf, mit dem sie ins Feld zogen: 
Stuns des italiseh-TÖmischen Elementes im Heere. Nach dem Siege über 
lulian erffillt der Kaiser sein Versprechen. Das neue Prätorium wurde 
aus provinzialen Legionären gebildet und damit staudeu ihnen die höchsten 
Ämter des Reiches offen. 

So fordern denn die Legionäre, die sich alle als die neue Garde des 
Kaisers fühlen, als Donativ den ffinffachen Satz ihres Jahressoldes, d. h. 
2500 Denare. Vita Severi 7, 6 Sed cum in senatu esset, niilites per 
seditionem dena milia poposcerunt a senatii exeinjdo eorum qui Augus- 
tum Octavianum Komam deduxorant tantuniqne acceperant. et cum eos 
voluisset comprimere Severus noc potuisset, tarnen mitigatos addita liber- 
alitatc demisit. Dio 4.6, 46 nach Aiigiistus" Einzug in Korn: rMf>axu>j- 
aavzsq oi rti/eg z^rj-n, zdo^au dzi ~um azMaQ zniq -nÄiT'./jtic (TZfJUTozitJotg, 
ofTu fiu z/^u '/'(öfir^i^ fiS'Y dtfixr^zut, r«? otayiAoiQ xat zsuzaxoatag 

«ifniyjtdi uuayxahtu sluat dcdoat/a.c ///} rhu Z'vjza xat n; r/szd zoD ^eßijfto'j 
i-Tf zr. zo'j 7o'j/,(fmt'j xaffuipinti iz zu daz) i/ßny-., c hhotozuzot wjztd 



xiKjiatc i)ouynalc. Die flrsache, warum die Truppen gerade 2500 Denare 
lürdeiten, ist eben aus dem herkömmlichen Donativ der Prätorianer bei 
der Thronbesteigung, das das l'uul fache des jeweiligen Soldes betrug, 
erklart worden. Unmöglich können sich die Provinzialsoldaten der Donau- 
länder auf einen Vorgang berufen haben, der sich 2oü Jahre früher zu- 
getragen hatte uud anders als in der gelehrten Erinnerung nicht fort- 
lebte'). Vielmehr ist diese Bemerkung der Vita Severi einer Erörterung 
der Quelle entnommen über die Bedeutung dieses Douatives und seine 
Bereclitigung nach Analogie des augusteischen. Dieser ausgezeichnete 

1 ) Dio, der im Senate anwesend war, sogt ausdittckticb, dan nan im SIlBUHgi^ 
BMle nicht verstand, vas die Truppen Ibiderten. 



zs zxeiutiß xat YjUvj zyt 
zu» u/Mou. o zt ~OZS I, 




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Der TruppensoUi der Kaiserzeit 



233 



SehriflsUdler, dem das Wertrollsto in dar alteren Reihe der Kaieernten 
eotstammt, bat sein aonalistiscbes Geschiehtswerk^) mit dem Siege des 
Septimios Sevems Uber seine drei Gegenkaiser geschlossen. Wenigstens 
fehlt in den Viten sp&terblQ jedo Spur seiner Benutzung*). Er wird 
demnach noch unter Septimios Sevems gesebriehen haben. Dio dagegeo 
hat seitte Saisergesohichte weit spiter verüetsst Schon die Einkleidung 
der Notiz*) zeigt, dass er gegen die Anf&ssung eines Zei^jenossen pole- 
misiert, den Schriftsteller, der der Vita Seren zu Grunde liegt, kannte. 

Der Vergleich mit Augustus in der Behandlung der Söldner, der 
in der Vita wiederklingt, ist vollkommen zutreffend. Severus wie Augus- 
tus als Staatsmänner hochbegabt, versagten völlig als Führer ihrer oigenen 
Heere *). Nicht sie, sondern iiire Keldherrn haben die entscheidenden 
Siege der Burgerkriege gewonnen. Um so hoher war der Preis, mit dem 
sie die Schwerter ihrer Söldner erkauten mnssten. Wie der Mord der 
Besitzenden in den Provinzen und ungeheuere Kontiskationen die Spur von 
Severus' Siegeslaufbahn bezeichnen, so ist Augustus durch das Blut der 
Proscriptionen dem Throne zugescliritten. Aber beide verachteten das 
Werkzeug, wie sie es fürchteten. Wie Augustus der Begehrlichkeit der 
Söldner Schranken') setzt, als er im sicheren Besitze der Macht war, 
so auch Severus. Nur in der ersten Zeit seiner Kerjierung schwelgen 
die Soldateninschriften in der Erinnerung an die Donative, später ver- 
stummen sie gänzlich*'). Und so hat Severus, als sein Thron gegen jeden 
An^MÜf sicher stand, das Donativ an die Prütoriaiier bei seinen Decennaiien 
auf denselben »Satz beschränkt, den Augustus ihuen im Testament iiinter- 
lasseu hatte. Dio 7ö, 1 V> ok Is^^rjoog e^Tt z^g dsxszr^f/ifhi^ -^g d/*/7^g 
u'jzf»') kdwfjT^aazfi — zitlg öTftuTuotf/.'.q rote üoo'tcoootc '.na.oi'ifarrg zolg 
rr^g rjefwuiag hem ynnauhc. 10 Aurel = 250 Denare siud das einfache 
liecbuuDgsstipendium der Prätorianer. 

1) Man mus8 seine Augen gewaltsam der Walirheit verschliessen, wenn man 
die chronologische Erzählung der Viten von Pertinax bis SSeptimius Severus ver- 
ksuwn loll. 

2) Sidioii in der Vita Severt geht nadi der Besiegung det Clodiiw Albinin der 
cbronologteke Faden, der bis dahin die &i&hliiiig geldtet, vollitindig verloireo. 

3) mpaxo^mi}fTtz di tate^ Touvtt* Wer hat dai miseventandeii? 

4) Bhdii. Mos. 53 & 688. 

5) In dem monnmentimi Anoyramim berichtet Anglist us auf das Geoaneate 
über soiue Heeresaudagen; aber von den Donativen, die er als Triumvir geapendet, 

schweigt er 

6) Auch die Legionsmttozeu wurden nur am Anfang seiner Begieruog geprägt 



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23i 



A. vuQ Donuuizewski 



Aus den KonfiskationeD des Severus ist der neue Zweig der kaiser- 
IkheB Fioamverwaltung, die ratio rei privatae, hervorgegaDgen. Vita 12 
loterfectis innumeris Albini partium viris inter qaes midti priucipes 
dvitatis, multae teioae ialustrea foemnt, omninin bona publicata sunt 
aerariumque auzerant '); tom et Hispanoruin et Gallonim procercs oceisi 
sunt denique miUtilnis taatam stipendionim quantiini nemo prindpam 
dedit filiis etiam suis ex bae preaeriptioiie tantam reliqnit quantam naUus 
imperatorum cnin magoam partem agri per Gallias, per Hispanias, per 
Italiam imperatoiiam feeiaset tuncque primum priTataniin rerum proca- 
ratio constitata est Keines Eraebtens war die ratio rei privatae vor 
Allem daiu bestimmt, die Heefesanslageii zu decken; das zdgt der 
Zusammenhang der Stelle mit der Erwfthnnng der stipendia — ako des 
dauernden Jabressoldes — zwisehen den Konfiskationen und der ürrich- 
tung der ratio rei privatae. Daraus erktftrt sieb dann auch der Name. 
Denn das Heer des Severus ist nicht mehr das Heer des populus Bo- 
manus"), sonderu das Heer des Kaisers. Die Soldaten bezeichnen sich 
selbst gegenüber dem Kaiser als numini maiestatique eius devotiasimi^) et 
dicatissimi und nehmen seit Garacalla dauernd den Namen der regierenden 
Kaiser an. Das Patrimonium war im Laufe der BntwicUnng thatsftch- 
lieb zum Staatsgut geworden; so sollten die neuen Erwerbungen, welche 
die res privata bildoi, den rein persönlichen Zwecken des Kaisers 
dienend, eine isolierte StsUung in der Verwaltung erhalten, um Aber den 
Ertrag freier schalten zu können, während der Ertrag des Patrimoniums 
längst eine feste Zweckbestimmung im Staatshaushalte erhalten hatte. 

Die laufenden Ausgaben für den Jahressold der Bfirgertruppen wer- 
den unter dem älteren Principate aus dem aerarinm Satnmi bestritten 
worden sein. Deshalb auch die Verhandlungen mit dem Senate fiber 
SolderhDbung und Heereoergänzung*). Tbatsäcblich werden die Principes, 
wie Augustos das aerarium militare bei seiner Grfindung unterstützte, 
durch Zuschfisse aus dem Patrimonium helfend eing^riffen haben*). Die 



1) AerariuQi iil diesMn Vitcnsehiclber bo viel wie fiscus. Vgl Hinchfeld, Unter- 
auclmogin ]i. 47, wo jedoch diese Stelle fehlt 

9) Rhehi. Mateum 54 p. 312. 

.■>) In dem Gebete der Saccularspiele hcIs-,1 es logioncs populi Roroani Qiüri- 
Uum Saec. Ang. Il'S und so tralalicisch auch utiler .Severus Saec. Scv. IV 11. 

4) Was devotus bedentet, xeigt am Besten Lucau. Piiais. 4, 632 und die ganze 
vorhergehende SchOderung. 

5) Vgl Oben S.m 

6) Vgl HominseD, St. R. 2. 8. tOO& 



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Der Tnq^BoId der Kabeneit 



285 



Donativa fiiUen nicht unter diese Ausgaben; es sind Ehrengeschenke des 
Feldherrn. Dass das aerariotn müitare eine Kasse des popiilns Bomanas 
ist, zeigt der Name» wie auch die Fundierung auf die Steuer der civee 
Romani und die Bestellang der praefecti durch das Loos. Qerade diese 
Einrichtung wird erst recht verständlich, wenn auch die laufenden Aus- 
gaben, die stipendia filr die Blirgertruppen aas dem aerarium Satarni 
dem Princeps fiberwiesen werden. Man fersteht dann auch, warum der 
Princeps spftterhin das aerarium seiner Verwaltung unterstellte. 

Als auf den grossen Staatsmann Severus sein unwürdiger Sohn Cara- 
calla folgte, da brach die wiedergewonnene Herrschaft über die Söldner 
rettungslos zusammen, üm Veraeihung für den Brudermord zu erlangen, 
Mte Caracalla die Hflnde der SOldner mit Gold und erstickte die Stimme 
ihres Gewissens Herodian 4, 4, 7 (tmopeimt de oArmg oidf» i^c ^ott*ToB 
MangpiuQ xat fimapjpac ixdaviift f»kv arpaxtmxT^ du/)pJltaQ xat TXVTaxomuQ 
ifpajfftäg UrtatiQ^ j^oariä^ J& amjpta^ iSUXn rm nJittuftivou 
^fuau. xeXe&et dasM^vrag admltc Itnod&xea^ ht rt t&v vawv xat 
T&v ^T^mop&v T& j^fiaxoy puS^ ^Ift^pttQ äfstSm^ ^xx^ näura Saa 
ireaa/ dxtmxaUkxa 6 IxßjpoQ i^poud re xta xaxixhtaeu i$ ä^ihnpimv 
oofMpop&v, oi ^ üTpaxmtat ntamiTou j^yj^ftdroKU itX^l^oQ dxowuiPTe^ xat 
üWf&mQ r6 iteT^jjdvov ^ihj xat tou ^umu dtaßa^Tou j^voftsvot} 07m 
zw» Svdo&6V ^upivnav, ftfivov re adroxparopa d»ap>pe6otMm adrint xat 

Dass auch der Sold der Legionare in demselben Verhältnis erbdht 
wurde, zeigt die Gesamtsumme der Solderhöhung CaracaUa's'). Dem- 
nach betrug der Sold des Legionärs 750 Denare, das heist die HOhe 
des Prätorianei'soldes unter Augustus. Dieser Satz ist auch noch erkenn- 
bar an dem Donativ, das Macrinus bei der Erhebung seines Sohnes Diar 
dumenianus zum Gftsar geben musste. Dio 78, Id äXkte inraxtHttag xtd 
itevT^xwra adrnlQ dpaj^q ^nmw'tayr^xau äXXag zeigt, dass Macrinus 



1) Wenn eiwu den BradermOrder rechtferUgen kQnnte, bo Ist ee die That- 

Sache, dass er um seine Existenz kämpfte. Deon der Bruderzwist war so weit {gediehen, 
dass einer oder der andere fallen musste. Die Massenexekution von '20 QUO Mami 
im Heere Dio 77, 3, 4 zeigt, wie stark der Anbang Geta'a war. Wenn Mommsea 
ia G. J. L. III 1464 mit Recht in dem «radierten Befnamen der Legio Xllf Gemina 
den Namen Getica erkannt bat, so batte sieb Dacien bereits für Geta erhoben. Aber 
seit wir wissen, dass Plant ian erst im Julire 205 stürzte, ist die Zahl der Amter, 
weiche auf das Amt procurutur ad bona Tlautiaui folgen, für die Frist bis zur Er- 
mordanf Geta*8 im EVQhjahre 219 sa gross. Vielmdir dürfte etm wegen dieses 
Zeitabstaades der Name des Macrinus oder des Elagabal erodiert edn. 

2) Siehe unten S. 837. 



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.236 



bereits fröher ciD Donatir von dieser HOhe gespendet hatte'). Nocb 
deatlicb« tritt dk Bichtigkeit dieses Ansatzes hervor in der Wechsd- 
beziehnng zu den praemia militiae jener Zat Dio 77, 24: V dk adrhg 
(GaracaUa) ttHQ üvpaneataxi ääXa z^c tfr/Mcr«ac r"«!» ttf dapofo- 

^ofußtiveof. Wie die iM^ionare Caracalla's den augusteischen Prfttomner- 
seid erhalten, so aueh die augusteischen praemia militiae der Prfttorianer. 
Der Satc Caraeal1a*8 filr die praemia der Prfttorianer ist verdorben und 
l&sst sich durch keine Bucbstabeoconjectur herstellen. Dass auch den 
Pi^torianern der Sold um die IfiÜfte erhobt wurde, ist ans Herodian 
sicher, denn gerade an die Prfttorianer hatte Caracalla zuerst sein An- 
gebot gerichtet. Da die Legionäre den doppelten Sold der commodia- 
nischen Zeit erfaielttti, so muss dies auch ffir die Pr&torianer gelton, die 
demnach 2500 Denare als Jahressold empfingen, d. h. die H5be des Do- 
nati vs, das ihnen Caracalla als erste Liebesgabe bietet. Dann war der 
Sold unter Septimins Severus um die H&Ifte niederer, betrog also 1700 De- 
nare. Es entspricht dies vollkommen der Erhöhung des Legionssoldes 
Ulli ein Viertel. Zu dem ursprünglichen Satz von 1250 Denaren gewährt 
Septimius Severus seinen Frätorianern ein Aufgeld von 450 Donaren, 
d. h. 18 Aurei, also bei jeder der viermonatlichen Zahlungen des Soldes 
Aurei mehr als früher. Die praemia militiae der Prätorianer und der 
liCgionare stehen zur Zeit des Augustus im Verhältnis von 5 zu 3. Es 
liut deshalb grosse Wahrscheinlichkeit für sich, dass auch Caracalla dieses 
Verhältnis beibehalten hat und demnach in dem verdorbenen Texte des 
Dio oxraxca^t/iuc otuxomug TrsvrrjxouTa herzustellen ist. 

Die Richtigkeit dieser Berechnungen erhellt endlich aus dem ver^ • 
zweifelten Schreiben, das Kaisers Macrinus nach seiner Thronbesteigung 
an den Senat richtet. Dio 78, 36: xui hu yi n: alÄa, uaa Tzapd « 
Tou l'sß^ptiü, xtu Tito uiioQ abzo^j -fjoQ dunfi^opav zi^<; dxptßt^og azpa- 
Xtiuq sijprjUTtt zapfxAtTzr^, o'jzs oidoaikd a^tm xr^v tutrHofftinav r^v e»»- 
tE/jj ~tinQ zrÜQ izc^'o/*(/h, !l: iÄdn^iavnVf otov rs shai s(prf ig yäp kTitUr 
xuf^tÄtai fmptädae ixi^mooQ rrjy aü^ijatv adr^s n^v um t»o TapwfTou 

Unter niahinfopd ist nur das Stipendium der milites zu verstehen; 
schon der Gebalt der evocati wurd als salarium bezdchnet') und die 

1) Die Red« des Macrinus in der Vita Diftdumeniani 2 hobete igitur, coniDili- 
tones, pro imperio uueos ternos, pro Aotonini nomine aureos quinos et solitas pro- 
moüones sed geminatas. — nabimus autcin per cuncta quin^ttennia id qaod bodie 
patavimus ist reiner Schwindel des Yitenschreiberg. 

2) Mommseu, EpLem. epigr. V p. 151. 



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Der TrappenmM der KaiBerieit 



237 



Qelialte der Centurioneo &ll6ii nicht mehr anter den Begriff des Tmppen- 
soldes*). Diese angeheuere Summe von 70000000 Denaren entspricht 
den nachgewiesenen Solderhdhnngen"). 

Die Stftr1[e der Legion giebt Vegetius 2, 6 nach der antiqua ordinatio 
auf 6100 Mann an"), die Stärke der eingehen Gohorte auf 565 Hann. 
Gerade diese Zahl kehrt aber unter der Begierong des Septimins Severos in 
einem Zusammenhange wieder, wo ne wahrscheinlich eine Legionscohorte 
beieichnet Nach den Tergeblichen Stürmen auf Atra, bei welchen die 
Wertloeigkeit der orientalischen Trappen wieder einmal hervortritt^), er- 
bietet mch ein Offiiier Die 75, 12, 5 idi^ jt abt^^ dwFQ mvnatfmttog 
xeu TxvT^xovra /nmußQ t&v Edpmiatianf üTpanmT&Ut &/to roo twv iU^ion* 
xßßdwmu r^v nuhv i$atp^oew. Dass diese TiSes mit Absicht dne tak- 
tische Einheit umschreibt, ist khur. Deshalb halte ich die Angabe des 
Y^etins fftr richtig. Dann zfthlten die 38 Legionen^) des Septimins 
Severus rund 200000 Mann und es giebt dies fnr die Steigerung des 
Soldes der Legionäre allein 50000000 Denare (250 X 200000). Die 
Stärke der prätoriscben Geborte wurde durch Septimins Severus wahr* 
scheinlieh auf 1500 Mann erhobt. Auf einem von Hülsen^ glänzend 
hergestellten Altare dieser Z^t nennen sich Ifannscfaafiton aner prae- 
torischen Oohorte als Dedicanten und zwar aas jeder Gehörte 85 bis 
90 Mann. Die Ghargeo der Liste entsprechen vollkommen den Gfaargen, 
die sbh in den Entlassungslisten') der Prätorianer finden. Ich halte 
deshalb diesen Altar für das Weihegeschenk*) der Prätorianer eines 

1) In d«r Kaiserzeit bat sich der Ceaturionat volUtiindig losgelöst von dem 
IMeoste unter den milites. Aber scboa nnter der Repvbtik gilt nur der Sold der 
miUtes als aes militare. Yarro bei Nonius p. 344H: qui in ordine erat, is aes mili« 
tare aerebat, wo cnio im nnlitiinsi'hen Sione zu verstehen Ut und wie das gelAufige 
in ordine merere den Dienst ula manipularis bezeicliuet. 

2) Die praemla niUtiae feilen nidtt unter die Jabreeausgabe, weil die Bot- 
lassungen jedes zweite Jahr erfolgten. Mommsen, Arcb. epigr. Mitth. VII p. 18'J. 

3) Die 730 Reiter seiner Legion leaaen aidi nicht iccntroliieren und acbeinen 
mir recht bedenklieb. 

4) Vgl. Tacit. ann. 13, 35. Fronto p. 200 ed. Nah. 

5) Die ZaU Im eldier aus C. J. L. VI 8498 a. b. 

0) Bull, cointn. 1F;14 p. 109—125. Hülsen hat durch seine Restitution des 
MonuDicnts auch bewiesen, dass die Gehörtes praetoriae, gleich den I.pgionsi ohorleii, 
6 Centuriae zäbken. FrUher hatte ich dies bereits vermutet auf Grund der sigua 
der Pritoiianer. Die Fabnen S. 27 und 59 Ann. 1. 

7) Es Milen, wie dort, jene Chargen, welche nach der Dienstordnung bei der 
Kntlassnng m evocati aufrQckon. Vgl. Religion S. 91. 

8) Uas veratQmmeUe PA . . . AI:*, welches Ußlsen mit Recht für den Beinamen 
einer weiUialuii Oatiin hält, wfkrde ich m pa[teni]au ergänzen, weil die Piitoriaiier 
jener Zeit irgend eine wilde Gottheit der Donanlinder verahreo. 



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288 



A. von Domtuewdd 



Jahrganges; da die Prätorianer 16 Jahre dienen, so ergiebt sich eine 
Stärke der Prrttorianer<50horte von 1500 Mann. Demnach beträgt die 
Erhöhung des rrätorianersoldes 12000000 Deoare (800 X 15000). 

Die cobortes urbanae werden gleichfalls auf je 1500 Mann anzu- 
setzen sein ') und der Sold wird in dem gleichen Yerb&ltaiis gestiegen 
sein, wie der Sold der Prätorianer *) ; also unter Severus auf 850 De* 
nare, unter üaracalla auf 1250 Denare. Dies giebt für Soldsteigerung 
der cobortes urbanae 2 400 000 Denare (400 X 6000). Kin unbestimm- 
barer Teil fallt auf die centuriae statorum und die milites frumentarii. 
Aiicli für die Vigiles wird eine Solderhöhiing anzusetzen sein, da die 
bewaffneten Porapiers unter dieser Dynastie auch etwas bedeuten. Denn 
die Vigiles sind jedenfalls den Legionaren gleichgestellt worden; gleich 
diesen können sie in das Prätorium übertreten 

Am deutlichsten war der Sieg der Pronnzialen im Heere durch die 
Solderhöbung zum Ausdruck gekommen, die den Legionaren gleichen Be- 
günstigungen gewährte, wie sie die Prätorianer italischer Herkunft durch 
Augustus erhalten hatten. Um die praemia militiae der bevorzugten 
Bürgertruppen bestreiten zu können, hatte Augustus der römischen 
Bürgerschaft die lästige Erbschaftssteuer aufgezwungen. So war es nur 
billig, dass Caracalla allen reichsanghörigen Peregrinen das Bürgerrecht 
verlieh, aber mit diesem Geschenk sie auch der Erbschaftssteuer unter- 
warf, um seine wabnsinoigen Heeresausgaben bestreiten zu können. i>io 
77, 9 TüH) TS zsho'j zStv re ä?2a>v 3t xawä rz/joaxaziostzs^, xa\ rou r^g 
dsxdrrjQ 3jv uuri r^c etxoar^g ujdp rwv flzehoHeftnofiiviov xdt 'j-z(j twv 
xa-ahczo/iiviou uffi xXyjftioy xai S(onsu<; iTTocrjfrs rrdar^gt 'dg re dtadnyäg 
xai -äg dzekstag rag £-f zo'hotg zag dsrhniivag Toig Jravy 7:fnKnjXnüai 
zdiu zsÄBrjzeouzMU xazu/offag" o'j iu£xu xui U\ofiatti'jg zdvzag zo'jg ev zi^ 
d(>/r] a'jzoh, h't^o) //ss/ zifuo)/^ V^/'V' oTZiag z^.situ auzw xat ix zoiaozoo 
TifHKTtfj, i)td zo zfi'): ^ivo'jc za rjOla (Vjzu)V ftri «7vv"/cfv, aTTSflsi^su. 
Mochte ihn auch die ganze römische Welt darum verttuchen, seine Sol- 
daten liebten ihn doch, so ptiegtc er vm sagen. Wie das Heer sein An- 
denken liocbgebalteo, tritt in den Monumenten de» Lagerbeiligtums zu 

1) Das ist die SSffnr, welche Die bereits fQr die auginteiBcbe ÜMt aegislit. 
Vgl. oben S. 228 Anm. 4. 

2) Dass diese Truppe ihren Rang unter Hej)timiu8 behielt, ersieht man aas der 
Zulassung der Veteranen unter die cvocati. Vgl. Jahresb. d. öst. arcb. Inst. IV BeibL 
p. 7. Auf dem Rauguuterscliied Lerulit der Solduoterscbied. Vgl. Suetou Aug. 49 
oben Sw323. 

3) C. I. L. VI 3780. FrQber kOnnen sie nur unter die statoret venetst werden. 
DmtM 3160. 



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Der Trappensoltl der Xaiaendt 3^ 

GftTnantum merkwfirdig hemr. Id diesam Heiligtimi, das lolian, der 
Apoatal, nea geordnet*), bat sieb nur eineEaiserstatne gefanden ond zwar 
die des Oamealla. Bezeicbnender Weise ist sie erriebtet von den comi- 
cularü, eommentarienses und specidatores, das basst jenen Principales, die 
nach der neuen Dienstordnung snm Legionscenturionat gelangen Das 
tböriehte Gerede der scriptores Historiae Angustae Aber die Bedeutung 
des Namens Antoninus spiegelt nur das Andenken wieder, das dieser Träger 
des Namens noeh awei Jahrbunderte später bdm gemeinen Hanne besass. 

I'flr die Bearteilnng der SolderbObung der Gentorkmen besitzen wir 
nur das Zeugnis einer Inacbrift. Sie nennt die GeMgescbenke, welche 
Caraealla Ihnen an Stelle der alten dona militaria verliehen hat. 

Westd. Korr.-Bl. 1900 S. 146: Ti Aurelio T. £ Papir. Flavino primi- 
pilari et prineipi ordinis col. Oe8(censium) et bnleutae dvitatiu[m] Ty> 
ranoriim, Dionysiopol. MareianopoL Tungrorum et Aquineensium patrono 
Gollegi fobr. bonorato a divo Magno Antonino Aug. (sestertinm) quinquap 
ginta milia »((immiim) et vigiati quinqiie [et] gradum promotionis [ob] 
alacritatem vlrtu[tia] adversus bostee Ca[rpos] et res prospere et TB[Iide] 
gestas. 

Es ist deutlich, dass hier zw« Stufen unterschieden werden, eine 
von 6250 Denaren und eine höhere von 12500 Denaren. Da die Sol- 
daten an Stelle der dona einen doppelten Sold erhielten ^, so sind auch 
in diesen Sätzen Soldstiifcn der Centurionen zu erkennen. 

Zur Zeit des Polybius erhielten die Centurionen den doppelten Sold 
der Legionaro 6, 39, 12 ung ra^tfip^öu; dtnXuuv* Demnach 240 Denare. 
Aber die Bedeutung der Centurionen von langffl* Dienstzeit war in der 
Periode der Bürgerkriege eine völlig andere geworden"). Ihr Hold muss 
in einem ganz anderen Verhältnis gewachsen sein, als der der Legionare. 
Wenn man bedenkt, dass die Severe sich wesentlich auf die milites ge- 
stützt haben, so halte ich es fQr wahrscheinlich, dass weder Severus 

1) Religion d. r. II. S. 3G und 82. 

S) Jahresb. d. Mterr. aretu Imt IV Beiblatt p. 7. 

3) Westd. Kon. Bl. a. a. 0. Bereits Hcptimius Severus bat die dona militarift 
Hl senatorisohe Ofti/iere nicht mohr verliehen. Denn für Rlireninschriften seiner 
gnwsen Generale schweigen von den dona. Aber den Oenturiones und miiites wagte 
•r niebt den glftnimdstea Teil ihrer WaAurOstung zu nMib«i. Vgl. Tkdt. hist % 89 
cetnri (centnrioiMn) Inxta anam qniiqne eentmriain, umis deoitqne falgentes; et nilU 
tllin phalerae torqnesqnc splendebant 

4) Jedermann kennt — um nur eine Stelle zu nennen — Horaz sat 1, 6, 73 bij. 
magni quo pueri magnis e centnriooibus orti. Aber von einem Bettelstols, wie Eiess- 
ling Witt, iit Uer gewiw nidit die.Bed«. Die Centoriooea waien groaae Henmi} daa 
laigan die Inachriftaii, die aie ala doofiri üuer SlAdte nenneD. 



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240 



A. von fHmiMKewflki 



noeb GuracalU den Sold der CeDtnrioneii erhöhte'). Die leUte Sold- 
stoigernng wftre dann in die Zeit des Commodos zu setsen, der den Sold 
der Legionaro am ein ffinlkee Stipendium erhöhte. Der mindere Sats 
der Insehriften besteht aus fäsf Einheiten von 1250 Denaren. Deshalb 
glaube ich, dag» der Sold der GeotnrioDen schon am finde der Republik 
1250 Denare betrag und dass dieser Sata das Bechnangssttpendium der 
Kaiserzeit wnrde. Entsprechend der Verleihung der sp&teren SlapendiA 
an die Legionare stieg dann der Ceotarionensold immer um den Betrog 
dieses Bechnnugsstipendiunis. Der doppelte Sata eotspricht der Scheid- 
ung der Centorionen in prinii ordines et centutiones*), wobei die primi 
ordines das sind, was ae beissen, die Genturionen d« ersten Cohorte. 

Dagegen scheint der Oebalt der militia equestris und der Generale 
in der ganaeu Eaiseneit niemals gewechselt au haben*). Das Terbrecbe- 
rischo der Solderbdhoog för die milites wird dann etat recht klar. Und 
doch, das immerwfthrende Steigen der Militftrlasten ist die unvermeidliche 
Folge des augusteischen Militftrsystems, das die Bfirgerschaft entwaffnete 
um der Sicherheit des Frineeps willen. Dio, der die reifen Frfiehte dieses 
Systemes sah, spricht offen aus* was Augnstus sieb selbst verbarg, 
wenn er Haecenas sagen iBsst 52, 27: imrpi^wfav Ttam tkmc 

i^hxia mim nm xä Sida xexzi^aSm xm ra ifiiatXifua ämasiVj ordaetQ 
«u TaiXefuu dir* adräm kfsfuhnt äst yevi^vTat. * 

So erwuchs das Heer allmählich su einem Qiftbanm, der das Mark 
des Staates aussog, und die ganze B^gierungskunst des dritten Jahrhun- 
derts gipfelt darin, Geld für die Qier der Söldner zu schaffeo^). 

Die moderne Civilisation hat dem Bürger das Beeht und die Bhre, 
die Waffen zum Schutze des Vaterlandes zu fuhren, wiedergegeben. Nur 
das Heer des englischen Weltreiches ruht auf der gleichen, unsittlichen 
Grundlage wie das rOmisehe der Kaiserzeit^ um denn auch im Greuel 
nnmenscblicher Eriegltthrung mit den SOldnem des imperinms zu wett* 
eifern 

'solitudinem iaciunt, paoem appelhut*. 

1) Sertras, der ja nur aus polMsehen OrOndmi den Sold eriiOhte, httte kdne 

Veranlattong, da er d<as römisch-italische Oni7.iercorps beseitigte und die Princi- 
palcs der LeKlon zn Cniturionen lieforderte. .lahresl». d. ßsterr, arrh. Inst. lY Bei- 
blatt S. 7. C^racalla wollte, wie er immer wieder sagte, nichts anderes sein, als ein 
miles grcgarius. 

2) Marquardt, St. V. II S. 370. Die Zahl der priml ordines bat Se? emi erhtthL 

üntpr Marcus sind es 7, C. I. L. Snppl. VIII, 1S065, unter Sevemi 11, Brambacli 
n. 1038, Vgl, Koerber, Cat. des M lin/er Museums n. 25. 

3) Es lässt sich dios in diesem Znsammenhange nicht näher begründen. 

4) Herodian 6, 1, 8; 6, 4; 8, 8; 9, 4. 7, 3, 3; 8, 8 fg. 8, 7, 7. 



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tkr Trappemtoid der Kalamdt 241 



Übersicht der Soldsteigerung, 

in Donaron. 





Praetoriani 


Urbaniciani 


Legioncs 


Auxilia 


Republik 


125 

— . . . 




75 


- 


Cäsar .... 


250 ' 




150 




Augustus 


500 


250 


150 






750 

ff vv 


375. 


^ 


75 


Domitian 


1000 


500 


300 


? 


Gominodas . 


1250 


625 


875 


? 


Saf srna .... 


1700 


850 


500 


<f 


Gantcalla 


2500 


1250 


750 


9 



I 



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tfber den OroHius-Codex F. y. 1. Nr. \) in der Kaiser- 
lichen Öffentlichen Bibliothek zu 8t. Petersburg. 

Von 

Albert Bäckst röm, Oberlehrer io St Petersburg. 



Eine Bitte des Herrn Professor Dr. Karl Zangemeister erfüllend« 
beabsiehtij^e ich in nachstehendem Artikel anch die deutschen Leser 
mit einer bisher nicht bescbriebeneQ Handschrift des Paulus Orosius 
bekannt zu machen. Der Beschreibung und Beurteilung dieser Hand« 
Schrift habe ich in einer schon im August-November des vorigen 
Jahres (1900) in dem russischen Journal des Ministeriums der Volks- 
aufkl&rnng gednickten Schrift «Orosius und seine Petersburger Ab» 
Schriften* die Seiten 63—100 gewidmet. Die Handschrift hat 161 Blätter 
grossen Formats, die mit einer karolingischen Minuskelsehrift vom VIII., 
kaum IX. Jahrhundert bedeckt sind, und stammt ans der westlälischen 
Abtei Corvey, wie nicht nur drei versebiedeuhändige Unterschriften, 
sondern anch einige in dem Codex sich befindende angeltiichsische Glossen 
beaeugen. Die Unterschriften lauten: foL l^S(an)c(t)i petri corbeieqni 
furatus fnerit anathema [liic?] sit (m. s. XIV); fol. 2' corbeiensis mo- 
nasterii (ro.s.XVI); fol. 162 v (as 163^) lib(er) s(an)c(t)i pe[tri co]rbeje 
(m. saec. X ?). Die Glossen, welche sich von den in der Sammlung von 
Steinmeyer und Sievern *) stehenden unterscheiden, sind folgende: Ed. mai. 
p. 10 u. 1 ab Oriente Aoste», welches in der angelsächsischen Mundart 
gewöhnlich nur in den zusammengesetzten Wörtern Ost-Gotao, Ost-säe 
(An anglo-saxon Dictionary etc. by T. Northcote Toller, Oxford, P. III, 
1887, p. 768) vorkommt und im Ahd. eine Analogie in der Glosse oriens 
ostdn (Steinmeyer und Sievers, 1, c, Bd. III, 1895, S. 606, 23) findet; 
u. 2 ab euro SidM (wahrscheinlich *sütheäsr in einer ursprünglichen 
Form von ^suthdst'): a meridie Suiki ab africo Suthiu nest (^ söthwest); 
u. 3 ab occasu WesHum (= westan) a circio Nort tm^ (= north» 
west); u. 4 a septentrione Nwihan; u. 30 Galliam asUfrainea (vgl. 'Eäst> 

1 ) Stfiniuo) er und Sicvcis. 1 iiltlKHluii-ulstiien (ilossen. Jierliu, üd. il, ISöl', 

s. :i:>ii (Nr. 7;}'j~742); M. iv, s. ;uor. 



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Albert Bäckström: Über den Petersburger Orosius*Codex Nr. 9 243 

Fnmcan* bei Northcote Toller P. 1, 1882, p. 236, Steinmeyer und Sievers 
Bd. m 8. 206, 50); Alpes cottias 

Im XVII. und XVIII. Jahrhundert befand sich die Handschrift in 
dar Parisar Nationalbibliothek, von wo sie während der grossen frunzö- 
aiecben Revolution von dem damaligen russischen Gesandten in Paris 
Peter Dobrowskij, dem die Kaiserliche Öffentliche Bibliothek iii St. Peters- 
burg auch viele andere nicht minder wertvolle Handschriften zu ver- 
danken hat, nach Russland gebracht worden ist. Der Text ist von ver- 
schiedenen Händen, dtien Zahl bis 7 od» r 8 hinanreicht, uii mehreren 
Stellen verbessert und enthfilt am Anfan^^e der einzelnen Bücher, wie 
es auch in der Donaueschinger, St. Gallener, Hernei und vielen späteren 
Hundschriften vorküiimit, iiecapitulationen, die nur am Aiil.Lii<;e des 
letzten siebenten Buches fehlen. Auf dem Tapierblatte A i^l die von 
Gennadius verfasste Biographie des Orosius, sowie eine andere mit Un- 
recht dem Isidorus Hispal. zugeschriebene ') zu lesen. Letztere findet der 
gelehrte Leser in meiner oben genannten russischen Schrift^). Später hübe 
ich diese Biographie auch in einigen anderen Handschriften gefunden^). 

Wenn wir die Petersburger mit den einzelnen Handschriften der 
beiden Klassen L und P vergleichen und von dem Standpunkte der in 
den beiden Klassen vorkommenden Lakunen über den Wert unserer Hand- 
schrift, die ich // genannt habe, urteilen, sehen wir, dass /7 nur fünf 
auch im Codex L befindliche Lakunen hat, wobei die Anzahl der 
Lakunen in L, die sozusagen einen individuellen Charakter haben, bis 
101 hinreicht. Die Gruppe Dfl lässt sich mit der Aii/alil von 18 La- 
kunen ausdrücken, während 1) allein 314 individueller Lakunen, mehr als 
irgend eine andere Handschrift, hat. Die vier Lakunen der Art DL, 
die fast überall, nur zwei Fälle ausgenommen, mit 77 übereinstimmen, 
sind ohne Bedeutung. 

Herr Professor Dr. Zangemeister vermutet, dass D aus einer und 
der.selben Quelle mit L ausHiesse, aber in diesem Falle miissten wir auch 
zugeben, dass 77 ebenfalls der ersten Klasse der Orosius-Hundschriften 
angeliore. Dieses ist aber keineswegs der Fall, da in Bezug auf die 
Gruppe Pli folgendes Schema sicli zusammensi« 11 n lässt: 
. //PR: 39, 8 in; 48, 9 peccatores — 10 qualiter; 121, 16 et; lö4, 
1 et; 289, 15 a (auch i^); 350, 7 idem; 487, 2 et; 516, 11 e. 

1) Migue, PatroLhit t81 col. 796. 

2) S. 44—46. 

•A) Z. Ii. üi einer HandBclufift der Leips. Stadttiibliothek Bepert. 1. fol. Kr. 15 

g. XV. Chart, foll. 140. 



L/iyiii^ü<j by Google 



244 



Albert Bäck9tr<>iii 



PÄ; 34, ß et {U spatio relicto); 50, 12 ei; 314, 12 iit; 335, Q 
in; 343, 2 ac; 352, S ut; 370, 5 ex; 378, 1 ac; 387, 13 Caesar; 
387, Iii et; 404, 5 -que; 415, 4 -que; 415, Iii lioram; 416, Ö ab; 
417, LS iion; 432, 5 potens; 436, 2ü miric; 437, L5 et; 456, IS et; 
417. 11 apertissime; 482, Zest; 492, 12 Galerio — cessit; 495, 12 et; 
405. 12 suis; 499, U postea; 517, \Ä et; 529, 12 mente; 533, 2 io ; 
535, 17 ac; 541, lö pugna; 545, 1 priiis; 545, 1 in; 547, 1 o sacra — 

2 discretio; 556, 4 est. 

Ä; 5L 4 siipplenda — 5 malitia; 64, lü se; 90, 9 uita; 95, 12 
nunc; 100, 3 qui; 107, 12 primiim; 123, Z civitatem; 151, 11 est; 
151, lü in; 173, 12 non; 187, LS caesa; 194^ 13 aniissis copiis; 208, 

3 peditum; 227, IS a; 229, Ifi iu (iniqualibet n}\ 244, 1 bello; 244, 
II ab ascensu; 255, Ö ab; 257, lü ad (cf. // in); 266, Q ad; 268, Ifi 
erit; 274, 12 ex; 281, 22 -quo; 288, 23 cum; 293, 4 ut; 307, Iii in; 
309, L5 C; 309, lÄ tunc; 336, 14. circa; 339, 4 uictos; 342, 13 ad; 
357, 1 post; 361, 12 poenas; 379, ü consilio; 393, \h ad extremos; 
405, 20 uindicavit; 441, U de; 445, 1 est; 448, 11 in; 456, 6 sui; 
473, 11 cunctis; 487, Z quo; 511, 5 cum; 544, 1 et; 558, 8 et; 555, 
U ut; 560, 4 ille. 

Von dem Standpunkte dieses Schema's aus ist die Sache ganz deut- 
lich : IL ist das Original für P, wie auch P das Original für R war ; 
aber dieses Ergebnis wird etwas vorzeitig sein, da auch ü. und P eine 
gewisse Individualität besitzen. Die in P vorkommenden Lakunen sind : 
2, Z tantum; 28, 1 a meridie; 29, Z ab — occurrentem; 47, 10 non; 
59. fi non (cf. IL nun); 61, 1 enim; 62, 5. de; 82, 6 mundi cardines 
qnatuor; 86, 5 suo; 106, 9 se — tradcrentur; 109, 3 Leonida — Lace- 

n 

daemoniorum; 127, 15 apparatibus magnis; 132, 2 en (cf. IL et corr. 
m *); 140, 8 sui; 141, IZ quidem; 153, ß si; 153, Ö arma; 153, ID 
suis; 153, 12 autem; 155, 15 rex; 162, 10 soli; (cf. IL oli) ; 16L lü 
quis - essi't; L72, 12 Alexandri; 183, 10 meas; 184, 8 pacem; 187, 
S Samnites; 189. 12 -norura — sunt {P^ spatio relicto); 193, ß cum; 
197. a et; 198, 11 alterius — decipi se; 202, ß tanta; 205, ö gelu; 
295. 18 cum; 297, 17 a quo istae; 315, 9 praedae — nihil; 372, 8 
Menapi — X miiia; 418, 9 penes ; 428, 12 idem; 439, Ifi sub; 440, 13 
bella; 445, Z cum; 454, 15 impietatis; 492, 8 Galerius et — 9 partes 
diuiserunt. 

Dabei muss ich aber bemerken, dass diese Lakunen zum Teil von 
m ^ zum Teil auch schon von m * (= m '') verbessert sind. Die Gruppe 
Uli ist nur in vier Fällen zu finden. Danach lässt sich vermuten, dass 



über den Petersburger Urosius-Ck)dex Nr. 9 



245 



?0D einem Codex x zwei Klasseo der Hundschriften, y und z, entstanden 
sind, von denen ij dem Codex L sich annähert, von wo aneh die Ähn- 
litlikeit von 1) mit L zu erklären ist; von z stammen die Uandscbriften 
der zweiten Klasse a ab. Von der llandsclirift a, die andl als Original 
für eine vermutliche AbschrilL b diente, ist 77 abgeschrieben, gleichwie 
von h und c die Handsuliniten P und R abstammen. Durch diese Ver- 
mutung läsüät sich erifläron einerseits die Verwandtschaft der Handschrif- 
ten nPR, andererseits auch ihre individuellen Laknnen. Daraus können 
wir scbliessen, dass c derselbe Codex Theodgrim's ist» der in dem 
Zwischenräume von den Jahren 827—840 geschrieben tind spftter ver- 
loren gegangen ist. Graphisch wird die^>e8 Schema iolgeudermassen dar- 
gestellt: 

Archetypen 

/ 

/ 

L X 

\f j 

D a 



Meine Meinung Aber den Ursprung der Handschrift P, dass sie 
nämlich nicht unmittelbar von der Handschrift /7, sondern durch die 
verbindenden Mittelglieder a und b abstamme, wird auch dadurch be- 
stärkt, dass wir keine Lakunen von der Art 1>P vorenden. Tbeodgrim's 
Codex «, welcher später als P von b abgeschrieben worden, folgte den 
Lesarten der Hand b\ wodurch die Verwandtschaft P>JS' und P*B^ 
sich erklären läset Durch diese Vermutung Aber die Abstammung der Hss. 
P und R von dem Originale der Handschrift /7 kOnnen wir auch erklären, 
dass hinter dem Texte des Orosius ein Brief von Severus an den Bischof 
Paulinus in P und E steht, während Jl diesen Brief nicht enthält. Augen- 
scheinlich ist dieser Brief in den Codex b aus einer anderen Handschrift 
als a eingetragen und zwar nachdem mit einer Handschrift ß(=b*) 
verglichen worden. Aus diesem 6' ist der Brief des Severus in die Hand- 
schriften Cf P und jS der Reihe nach überg^angen. 



17* 




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Herr Professor Dr. J. A. Fridericin in Küpcuhu^jeii teilto mir mit, 
dass sicli auf dem dortip^eti lieicbsarchiv Abschrift e'ums lirielüs von 
Gabriel zur Neddon, der nicht Augenzeuge war, aber in Wolfenbüttel 
von den Entkommenen Nachricht erhalten hat, an Herzog; Adolf Fried- 
rich von Mecklenburg findet, datiert Wolfeubüttel am Ib. August 1626, 
also Tags nach der Sililacht. Das Original ist im Grossherzogliuhen 
Avcliive zu Schwerin nicht mehr. Der Brief berichtet kurz und nicht 
immer richtig über die Hergänge, die zur Schlacht führtun, und bemerkt 
über diese nichts Neues, als dasts im Beginn widersprechende Befehle 
gegeben worden seien und dass der Wind den Königlichen den iiauch 
der Geöchütüe Tillys entgegengetrieben habe. 

la Nov. 1900. 

O. Seliftfer. 



Ualveiiiil4ta-fiuehtituck«Tei }. UoiDiog, Boidolttsig. 



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I. 

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