CARL STERNHEIM/ LIBUS SA
CARL STERNHEIM
LIBUSSA
DES KAISERS LEIBROSS
BERLIN -WILMERSDORF 1922
VERLAG DER WOCHENSCHRIFT DIE AKTION
<FRANZ PFEMFERT)
I
i.~5* Tausend
Titelzeichnung von Franz Masereel
Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung, vor«
behalten. Copyright 1922 by Franz Pfemfert, Berlin«
Wilmersdorf. Dieses Buch druckte die Hof-Buch-
und «Steindruckerei Dietsch <<£) Brückner, Weimar
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Erst nach Zögern entschließe ich mich, nachstehende Auf-
zeichnungen der Öffentlichkeit zu übergeben.
In einer Zeit, da flache Hirne entthronter Landes-
väter, Generäle, Diplomaten und Schlimmerer Welt mit
Erinnerungen an eine an und für sich peinliche Zeit lang-
weilen, scheint es ein starkes Stüde, das, was ein Pferd
aus gleicher Epoche zu sagen weiß, hinzuzufugen / erneute
Lektüre der mir anvertrauten Mitteilungen überzeugte
mich aber stets mehr, es wohnten Libussas, der berühm-
ten Schimmelstute Enthüllungen wesentlichere Wahr-
heiten bei, und sie seien dazu stellenweise viel amüsanter
als selbst weit und breit geschätzte Memoiren aus unserem
Jahrhundert.
Am ersten Januar 1921 empfing ich erstmals Herrn Anton
W. Müller, der mir mitteilte, gleich, als des entthronten
Kaiser Wilhelms II. Marstall aufgelöst wurde, habe er
beschlossen, des Herrschers langjährig bevorzugtes Leib-
roß Libussa durch Kauf an sich zu bringen und keine
Müh gescheut, durch gleiches Verfahren, das bei den
Elberfelder klugen Pferden, dem Hund Rolf der Frau
Mödcel erfolgreich gewesen sei, und das er eingehend
studiert habe, aus der Stute die fraglos wichtigen, hoch-
offiziösen und intimen Aufschlüsse aus Zeiten ihres Um-
gangs mit der Person seiner Majestät und anderer hoch-
gestellter Personen herauszuziehen, die insbesondere von
da ab orientieren könnten, wo die Bismarcksdien Ge-
danken und Erinnerungen aufhören.
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Er schilderte, wie über Erwarten schwer es war, Libussa,
die ein außerordentliches Alter erreicht hatte, mit Anfangs-
gründen des Denk- und Sprachunterrichts noch bekannt
zu machen, und wie es nur überirdischer Willenskraft und
eisernem Fleiß gelang, des Pferdes Hemmungen mählich
zu lockern, es denken, sich erinnern und auf bekannte Art
durch Klopfen der Vorderhufe zögernd und schließlich
flüssig sprechen zu machen.
Obwohl ich versicherte, es könnte, was er in schließlich
methodischen Unterhaltungen mit Libussa zu Papier ge-
bracht hatte, durch literarische Form auch verwöhnte Leser
befriedigen, bestand er in beteuerter Überzeugung, es
handle sich um einen unersetzlichen Zeitspiegel, ein Stan-
dard work der Epoche, darauf, es müsse ihm durch mich
Schmiß und ebenbürtige Aufmachung in deutscher Sprache
gegeben werden, die Dauer verspreche. Zugleich sei mein
Name Gewähr für weiteste Verbreitung der sicher rie-
siges Aufsehen machenden Enthüllungen.
Umsonst wies ich darauf hin, gerade von mir Ver-
öffentlichtes verfalle von vielen sonst lahmen Stellen
raffinierter Sabotage seitens der Verleger, der Buch-
händler, Parteipresse und des blöden Publikums/ mit
solchem Feuer bewies er die entgegengesetzte Behaup-
tung meiner Popularität und täglich wachsenden Ein-
flusses auf öffentliche Meinung, daß ich beschämt, und
ich gestehe, geschmeichelt, dem Drängen nachgab, mit
leichter Retouche über Libussas Aufzeichnungen fuhr und
sie als Herausgeber mit meinem Namen decke.
Doch vergesse der Leser keinen Augenblick: ist das
Folgende auch durch meines Menschenhirns Kontrolle
gegangen, und zu perfekten Sätzen geworden, es sich
durchaus als pferdßafte MentaCität äußert, und wolle
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daher manchem auf den nächsten Seiten Geäußertem
gegenüber in anbetracht dieses Umstands voll verstand*
nisvoller Rücksicht sein.
Libussa begann am ersten Tag erreichter sprachlicher
Fertigkeiten zu erzählen:
Im November 1897 wurde ich am Todestag Zar
Alexanders III. in Rußland in kleinem Landgestüt eines
Wolgadepartements geboren. Das europäische Publikum
hat von meiner Jugend aus Tolstois Buch »Leinwand*
messer«, in dem Leben von uns russischen Pferden natur*
getreu und mit Talent in menschliche Horizonte über*
setzt ist, die beste Vorstellung.
So recht die quikke Stute in der Art jener sprudelnden,
vom Dichter in seiner Erzählung geschilderten war ich,
kokett und auf fleckenloses weißes Fell stolzer als auf
makellose Herkunft aus uraltem Vollblutstammbaum.
In himmlischem Leben unter Altersgenossen, saftiger
Grasnatur, verwöhnt und gehätschelt, hatte ich ein paar
blöde, darum nicht minder süße Flirts. Träumte Traum
wie Glas und hatte keine Ahnung, zu was Außerordent-
lichem mich Schicksal bestimmt hatte.
Im Bewußtsein leiblicher Reize war ich ohne Sorge, da
ich erwartete, alles werde sich mit mir von selbst machen,
und soll ich von einer Charaktereigenschaft sprechen, dann
von meiner eigensinnigen Keuschheit. Ja, Herr, ich haßte,
was nur von weitem nach Libertinage roch und weiß,, es
gab während meiner ersten Lebensjahre im Gestüt den
einzigen drastischen Auftritt, als ein auch hochgezogener,
prachtvoller schwarzer Hengst mit Augen wie von Dela-
croix, den ich gern sah, sich auf einem Morgenspazier-^
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gang so unerbietig nahte, daß mein kleines Herz und mein
Gewissen in Aufruhr standen.
Beide Hinterhufe feuerte ich ihm so keß in Flanken,
daß sein Leben in Gefahr war/ was midi angesichts der
schnöden Tat keinen Augenblick berührte.
Ich weiß nicht, was Namenloses aus mir geworden
wäre, hätte man mich nicht eines Tags in einen Eisen-
bahnwagen geladen und nach Moskau gefrachtet, wo ich
mich bald in einer Box des kaiserlichen Marstalls fand.
Hier wars mit aller Freiheit brüsk vorbei. Ihnen ein
Bild zu geben, vergleiche ich meinen neuen Zustand mit
dem junger Mädchen in vornehmen europäischen Pen-
sionären. Von früh bis spät gab es Unterricht, Dressur
auf Begriffe tadelloser Führung und peinlicher Etikette.
Unbefangenheit, Nichtwissen oder Sotun, mit einem
Wort, die ungezügelte Visionslust machte gesellschaft-
licher Voreingenommenheit in Trense und Kantare Platz,
und am Leitseil lernte ich, was schließlich sich schickte und
nicht. Diese Zucht erstreckte sich bis auf meiner natür-
lichen Triebe Unterdrückung, wobei ich zugebe, manche
Äußerlichkeit der jungen Stute war bisher nicht kon-
venabel gewesen/ denn wir hatten schlechte Manieren,
die mit denen der pubertätsreifen männlichen Jugend wett-
eiferten.
Damit wars gründlich aus. Deutsch und englisch trabte
ich in Vollendung, galoppierte rechts und links auf An-
hieb an und sprang so weit und zierlich gestreckt, daß es
den Beschauern porzellanene Lust war. Hatte vorbild-
liche Kopf- und Rumpfhaltung. Kurz: wurde eines jeden
Reiters würdiges Reitpferd.
So war äußerer Umschwung/ der innere, das anstelle
Mannigfaltigkeit des an keine Wirklichkeit gebundenen
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Einbildens und Vergrößems, geordnetes Schauen und
Einprägen konkreter und begrenzter Welt trat. Früher
im Umgang mit triebhaften Kräften der Natur, nahm ich
aus immer wechselnden Panoramen nur Schein der Ober*
fläche mit. Jetzt in stets gleiche Umgebung, die muster*
hafter Ordnung huldigte, gefesselt, malte sich ein Stall,
eine Reitbahn und der von ihren Insassen gewollte Geist
als Stil in meine Hirnrinde.
Langsam begriff ich, noch nicht unter richtigem Namen,
jenes auf Erden überragende Prinzip, das später als
»Politik« auch in meinem Leben die entscheidende Rolle
spielte, und merkte, ohne sie geschah von keiner Seite
der Menschen oder Mittiere bis in belanglose Kleinig*
keiten das Geringste. Politik war auch unsres Stalls
' Angelpunkt. Keiner lebte eigner bunter, doch sehr prä*
ziser Erwartung der anderen, der er gefallen wollte, sollte
und mußte! Helas!
Diese Erkenntnis bedeutet für ein Pferd bei weitem
mehr als für den Menschen, der nur von seinesgleichen
abhängig, Herr der Welt ist, während wir, ich weiß nicht
aus welchen Gründen, neben Abhängigkeit von unser*
eins, ihm noch auf Gnade und Ungnade geliefert sind.
Der Sattel wurde meiner Leibeigenschaft Zeichen. Als
sich erste Männerschenkel um meine Hüften wölbten, war
es nicht mit meiner geschlechtlichen, doch kreatürlichen
Freiheit aus; ich begriff, daß Leben Demut und Ge*
horchen ist.
Pfeifender Hieb, mit Wollust auf ein Körperteil ge*
knallt, für das mir bis dahin zärtlichste Berührung zu grob
erschienen war, zertrümmerte Träume aristokratischer
Jugend und entjungferte mich in einem Schrei, den ich
nach innen drängte in brutalerem als erotischem Sinn.
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II
Denken Sie, wie jäh meines Lebens Sinn geändert hatte :
pure Romantik von zäher Zielstrebigkeit verdrängt!
Mochte anfangs mancher von Nachbarn aufgefangene
Klatsch an meinem Ohr verklingen, schließlich hörte ich
aus Langerweile hin und erfuhr historische Umstände,
in die ich geboren war.
Rußland, das unter des jetzigen Zaren Nikolaus II.
liberalem Großvater Alexander II. scheinheiligen An-
lauf zu gesetzgeberischer Verwaltung, an der Volk teil-
haben sollte, genommen hatte, war unter Alexander III.
in völlige Abhängigkeit von einem Selbstherrscher zu-
rückgefallen, und es wurde erstes großes Ereignis, das
im Stall mit Leidenschaft von Box zu Box bewiehert
wurde, als Nikolaus Deputationen des Adels und der
Landschaften erklärte, er halte am Prinzip der Selbst-
herrschaft wie sein hochseliger Vater felsenfest.
Mit Recht schlossen des kaiserlichen Marstalls Insassen,
des Zaren autokratisches Bekenntnis werde in schärferer
Zucht sich bis auf sie erstrecken, und ihre diversen Reiter
aus kaiserlicher Umgebung würden bald hitzigere Müt-
chen an ihnen kühlen.
Diese Befürchtungen wurden aus Erzählungen des
dritten Stallmeisters Wladimir Gregoro witsch wahr-
scheinlich, der einem Bekannten im Mittelgang mit
Gesten beschrieb, wie noch am gleichen Tag der Er-
klärung des Zaren, einer seiner Freunde, der Polizei-
inspektor Charka, zum erstenmal seit Jahren einer
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blonden Studentin, die wegen revolutionärer Umtriebe
verdächtig war, in seiner Gegenwart den blanken Hin*
tern bis in die Knie so lange vollgetrommelt habe, bis
sie bewußtlos und blutend zu seiner weiteren Verfügung
vom Stengel gestürzt sei.
Ich weiß, wie sich bei diesen Worten Fell auf meiner
eigenen Kruppe in schmerzlichemMitgefühl spannte, meine
Nachbarn peinlich berührt bei Seite schielten und müh*
sam keuchten. Am auffallendsten aber war auf einen eng*
lischen Wallach der Eindruck gewesen, den seine Maje*
stät mit Vorliebe ritt, und an dem ich bei steifer Hoch*
näsigkeit und dünkelhafter Unnahbarkeit bis jetzt kein
Zeichen Teilnahme für das, was um ihn vorging, bemerkt
hatte/ dieser Snob bebte in langen Zuckungen überschlan*
ker Flanken.
Nur schüchtern regte sich neben diesem jetzt wichtig*
sten Bedenken gang und gäber Hofklatsch, der mir bis
dahin jeden Tag erzählt hatte, mit welchem neuen Lieb*
haber aus Lakaien und Kutschervolk, die erste Palast*
dame, Fürstin Dolgoruka, trotz vorgerückten Alters
und der Spione, die des Synods Oberprokureur Pobje*
donoszew, um sie hielt, sich belustigte, welcher Schreiber
anonymer Skandalbriefe gefaßt, welche Verschwörung
gegen das Leben des Zaren entdeckt sei, und wen die
Majestäten beim letzten Abendkonzert ausgezeichnet
hatten.
Es ist natürlich, durch so viel Gerücht gereizt, war ich
gierig, die Urheber des Lebens um mich, den Zaren und
die Zarewna, von Angesicht zu Angesicht zu sehen/ ein
Wunsch, der bald erfüllt wurde, als eines Morgens das
Herrscherpaar höchstselbst zum Stall kam, ein neues Reit*
pferd für die Kaiserin zu finden.
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An meine Box gelangt, machte man Halt, und ich hörte
die stark nach Blumenrüchen duftende Alexandra Feo-
dorowna, die Kaiserin, eine geborene Prinzessin Hessen,
sagen: c Welch hübscher Schimmel! Ei!«
Ich wurde hervorgezogen, gesattelt und in Sonne zur
offenen Reitbahn geführt, wo die Selbstherrscherin in
Ulanenuniform auf mich aufsaß, und ich zu traben be-
gann. Der Zar aber mitten im ovalen Raum, stand und
schnalzte unter dem Spitzbart anfeuernd mit der Zunge.
Ein dünnes, kleines, im Gesicht gepidceltes Kerlchen.
Leicht wog die Kaiserin und ritt schlecht. Ich vermutete,
sie habe einen Schaden im Unterleib, da sie durch Ver-
schieben des Gesäßes den Knicks im Trab in seinem
Druck auf ihren Bauch jedesmal abschwächte. Ich begann
zu bedauern, daß sie sich aus Repräsentationsrücksichten
zum Reiten bewegen ließ und gab meinem Gang ein
gefällig Gleitendes, das ihr zu behagen schien, doch des
Kaisers Mißfallen erregte, der mir mit langer Peitsche
um die Beine schmitzte und Flüche knallte. Unwillkürlich
flog ich vor Schmerz hoch und setzte mich mit Ruck zum
Boden nieder, wobei ich hörte, wie die Zarewna auf-
schrie und in Schenkeln zuckte. Arme kranke Frau!
Nach diesem mißglückten Anfang, der im Stall zu
meinem Schaden besprochen wurde, schien es mit jeder
Laufbahn vorbei. Acht Tage später aber wurde ich eines
Morgens aufgezäumt, und während ich vor Glück kicherte,
von neuem ihrer Majestät vorgeführt, die mir beim Auf-
sitz mit Klatschen am Hals bezeugte, sie habe meine
Haltung vom letztenmal begriffen und richtig eingeschätzt.
Ich ward dieser Frau aus weiblichem Mitgefühl zuge-
tan. Bald wußte ich, wie ich ihr jeweils meinen Rücken
am besten bot, und fiel ich vom Trab in Galopp, vom
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Galopp in Trab und in Schritt, gab ich ihr durch Kontrak-
tion meiner Rückenmuskeln Gelegenheit, allen Druck von
Weichteilen auf Gesäßknochen und ihren Steiß zu ver-
teilen. So konnte sie mich noch in ersten Monaten ihrer
Schwangerschaft mit dem Zarewitsch reiten.
Das war, nehme ich alles in allem, meines Lebens harm-
los glücklichste Zeit / die Reiterin die sympathischste, die
ich gehabt habe. Meine Stellung als Leibpferd gab mir
Rang, und Atmosphäre, blieb ich mit der Monarchin allein,
war unter Geschlechtsgenossinnen, die sich begriffen, sub-
lim. Aus ihren Seufzern entnahm ich indes, auch diese
Frau auf Menschheitsgipfeln war nicht glücklich, und das
gab mir in eigenen Lebens Peinlichkeiten Halt.
Als sie einmal auf weitem Ausritt Gefolge hinter sich
gelassen hatten, kamen die Majestäten auf des Nadel-
gelds der Kaiserin Verwendung zu sprechen und Niko-
laus behauptete, sie verschwende es sinnlos. .Erregung
stieg, ein Wort gab das schärfere andere, und endlich ließ
der Selbstherrscher, seiner Frau zuzurufen, sich hinreißen:
»Komm nur nach Haus du Aas! Ich werde dir gehörig
in den Bauch treten!«
In den kaiserlichen Bauch, der den werdenden Thron-
folger trug! Mir schwand viel Illusion fürs Leben. Wie
mir im Sinn unserer tief getroffenen weiblichen Würde
mit ihr zu Mut war!
Der Gipfel in gleicher Hinsicht ragt in dieselbe Zeit:
Den drei Beschälern des kaiserlichen Marstalls wurden
die durch sie zu deckenden Stuten bestimmt. Ich liebte
keinen, hatte für Pjotr ein Faible, Puschkin war mir
gleichgültig, und ich haßte mit allen Trieben den altern-
den Falben Muschik. Am Vorabend des Springtags
raste ich in Hoffnungen und Ängsten junger weiblicher
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Kreatur, triefte Schweiß, als man midi am Morgen zum
Akt zog.
In die betreffende Box gekommen, erbleidite idi, so»
weit mein schneeiges Weiß es erlaubte, als ich mich
Musdiik, gebäumt in allen Feuern seines Geschlechts
gegenübersah.
Ich machte schlapp. Was mir wie anderen verkauften
Bräuten nichts half. Überwältigt, wurde ich riesig ge-
schändet. Doch verhielt ich das Innerste in Abscheu-
krämpfen und blieb güst.
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III
Ich habe nie gefohlt und bereue es nicht. Noch drei-
mal warf man midi dem geilen Muschick hin, andreHengste
mußten sich an mir versuchen f doch fest stand mein schon
entschlossener Wille, keine neue leidende Kreatur in diese
Welt zu setzen, und ich blieb unfruchtbar.
Die Zarin, im Kampf schwerer Verantwortung zwi-
schen den nach menschenwürdigem Dasein heulenden ver-
folgten Untertanen und einem sich immer automatischer
führenden Herrscher, der Todes- und Verbannungs-
urteile, Zigarette im Maul, Walzerchen pfeifend zu tau-
senden mit roter Tinte und Schnörkeln zeichnete, geriet,
dem Chaos um sie nicht annähernd gewachsen, in Ab-
hängigkeit von einem Mystizismus, den ihr die Diener
der orthodoxen Kirche in stets stärkeren Dosen reichten,
und von dem auch ich mein Teil bekam.
Ich spürte, wie sie sich anfangs mit Kraft gegen die
lähmende Hypnose wehrte, doch ich gestehe: was man
schließlich bot, war so betäubend, daß aller Widerstand
brach. Wieviel Ritte in Waldklöster, in denen sich Wun-
der auf Wunder vor unseren Augen begab, Potemkin-
wunder wie ich später begriff, fanden statt! Schwerkranke
Kinder, die auf Anhauch der Herrscherin genasen. Tote,
die aufstanden, als sie die kaiserliche Hand auf sich fühlten.
Lahme, Taube, Blinde endlich, die mit Alexandra Fedo-
rownas Urin benetzt, niesten und sich wie Frischlinge ge-
heilt tummelten. Hundert Beweise fast göttlicher Allmacht,
die sie im Glauben an ihre Unfehlbarkeit stärkten.
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Ich selbst, trotz Argwohns gegen Aberglauben der
Menschen, geriet in Augenblicken außer mich, trug sich
inmitten fackelnder Beleuchtung, klagender Chöre, don~
nernder Orgeln, Achzens und Stöhnens das Unfaßbare
zu. Dann standen beim belfernden Atem halluzinierter
Menschen, zu der Zarin an meinen Flanken schüttemden
Schenkeln meine Nüstern wie aufgerissenes Brautbett
dem Wunder offen, und sie und ich zuckten in Schauern
frommer Bewußtlosigkeit.
Selbst ais christkafholischesMenschenkind würde ich das
metaphisische Element nicht stärker gespürt haben, das alle
Vernunft in Rußland erschlug und sich zu endgiltiger Ver-
blödung der Jugend bereits der Schulen bemächtigt hatte.
Fern vom Wunder, hätte ich im Besitz meines heutigen
Sprachvermögens manchen Zweifel äußern können, so
aber war ich nicht fähig, dem aberwitzigen Schwatz der
Fürstin Dolgoruka auf Morgenritten zu widersprechen, j
die durch Erzählungen von Träumen, die sie hinsichtlich
der Zarin überirdischer Bedeutung gehabt haben wollte,
die Herrscherin in noch höhere Extasen der Selbstver-
gottung setzte und sie einmal zu wirklichem Schaum am
Maul brachte. Hoch auf aber bäumte ich unter der kaiser~
liehen Reiterin, als endlich die Fürstin überzeugen wollte,
in anbetracht dessen, was ich, Libussa, an Metaphysischem
mitangesehn, in wie engen Kontakt ich mit geheimen
Wundern der griechischen Kirche gekommen sei, solle
man ernstlich bedenken, ob es kein Mittel gäbe, mich durch
Taufe in der Gläubigen Gemeinschaft aufzunehmen. So
viehisch und aller Dressur zum Trotz benahm ich mich da
minutenlang, daß die Monarchin atemlos froh war, heiler
Haut von meinem Rücken zu kommen und mir für einige
Zeit den Laufpaß gab.
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Das hätte gefehlt! Haben wir Haustiere schon keinen
Rest äußerer Freiheit mehr, wird man uns unser süßes
seelisches Chaos nie entreißen und durch Zwänge ersetzen
können ! Mit einem Schlag war ich von mystischem Spuk
befreit, und Freiheitsdrang erster Jugend besaß mich
wieder. Ich rauchte vor Aufruhr, sah aus wie ein flammen*
des Fanal, und des russischen Volks Schicksal, das mir so
lange fremd gewesen war, griff mit scharfen Krallen bis
in mein Herz.
Schaudernd hörte ich von der Einführung der Inquisi-
tion und Folter unter Leitung des heiligen Synods und,
welchen Martern die ersten von fanatischer Geistlichkeit
erwischten Opfern anheimfielen! Während meine Stall*
genossen gleich dem gesamten Menschenvolk um sie her
sich immer mehr in sich selbst duckten, breitete in meiner
Seele weiter und heiterer Entschlossenheit sich aus, aus
dieser, als einziger Scheiterhaufen pestenden russischen
Luft zu entkommen oder mir den Schädel am erstbesten
harten Gegenstand zu zerschmettern.
So viel Haß und Verachtung gelang, in meine Blicke
auch für die Kaiserin zu stellen, daß sie mir ein anderes
Reittier vorzog, und ich im Stall ein Weilchen Ferien
hatte, in dem sich das Erlebte verdichtete und mir für
alle Zukunft die kritische und melancholischste Ein*
Stellung gab.
2 Sternheim, Libussa
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IV
(Iber meinen ferneren Aufenthalt in Rußland fuge ich
nidits hinzu. Was ich in anderen Ländern später von
meiner Heimat, Tolstoi und allen unter seiner geistigen
Führung unternommenen Versuchen der Aufklärung
erfuhr, konnte mir für Osteuropas Zukunft keine Hoff»
nung geben, da ich zu scharf mit eigenen Augen gesehen
hatte, wie weit über das für Pferde erträgliche Maß
dieses Teils der Menschheit seelische Umnachtung in
Jahrhunderten schon unheilbar fortgeschritten war.
Kurz : anläßlich offiziellen Besuchs des Prinzen Eduard
von Wales mit großem Gefolge am russischen Hof, wurde
ich in Moskau auf glänzender Parade des Gardekorps von
dem illustren Gast geritten, und ihm auf sein Lob hin
vom Selbstherrscher der Reußen zum Geschenk gemacht.
Mit dieser Stunde trat so krasse Änderung meiner
Horizonte ein, daß ich bisherige Erfahrung als für Ge^
genwart ungültig vergessen durfte und wirklich wie ein
Frischgeborenes in neue Welt sprang.
Natürlich weiß ich nicht, was Fachhistoriker und Poli-
tiker über den Prinzen, nachmaligen König Eduard VII.
von Großbritannien und Irland, Kaiser von Indien der
Nachwelt überliefert haben; darf aber behaupten, Un»
geniertheit, in der er mit mir als der qualite negligeable
eines Schimmels verkehrte, war nicht zu übertreffen, und
✓
vieles, was ich zu berichten weiß, muß neu und unver-
gleichlich intim sein.
War er mit einem Wort ein Mensch sans gene, wuchs
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seine Ungebundenheit, mit dem Tier allein, oft ins
Monumentale. Nach Jahren eisernen Zwangs traute ich
meinen Sinnen nicht, als ich bei ihm in eine Welt des Vor*
behaltlosen ohne Gleichen traf. Nicht von Empfängen in
St. James und Windsor, ritt der Prinz bei höfischen An*
lassen dort wie in Petersburg und Moskau repräsen*
tierend auf, spreche kh, und nicht von seinem Londoner
Privatleben, obwohl ich als Reitpferd eines Mitglieds der
society oder des erstbesten businesman der City kein
nonchalanteres Leben geführt hätte. Wichtig ist, ihn auf
mannigfaltigen Reisen, in Paris vor allem zu kennen, sein
späteres Verhalten in europäischer Welt und englischer
Politik mit Sicherheit zu beurteilen.
Sagte ich, er war Lebemann, träfe ich nicht mehr von
ihm, als beschriebe ich Lord Brummei oder irgendeinen
berühmten Dandy. Er war mehr, weil für einen Fat das
Dandytum Selbstzweck ist, bei ihm nur eins der Mittel
war, sich den Fürsten in ihm, der zu sicher beglaubigt
war, in gehöriger Distanz zu halten. Den er nicht wie
Nikolaus auf alle Weise sublimierte und feierte, über
den er sich von früh bis spät graziös lustig machte, und
den er — ich beteure es — zu Stunden glühend haßte.
Vom Schicksal zum Herrschen bestellt, wehrte sich
diese besondere Natur gegen Zwang, der ohne seinen
Willen auf ihn ausgeübt wurde / gleichgültig war ihm, daß
diese Vergewaltigung ihn nicht zum Fabrikarbeiter und
Sklaven, doch zum Kaiser und König großer Länder be*
stimmt hatte. Alle Dinge sind ja, wie moderne Wissen*
Schaft beweist, relativ, und Aussicht, sich nicht wie der
simple Engländer seinen Beruf, Meinung und sein Milieu
selbst suchen zu dürfen, sondern unbedingt und unter
allen Umständen Herrscher und isoliert sein zu müssen,
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brachte diesen flotten Menschen außer sich, wie mich einst
Aussicht, gegen meinen Willen von Muschik geschwän-
gert zu werden.
Während in Rußland gepeinigte Masse sich gegen das
vergewaltigende Herrscherpaar gewehrt hatte, stand hier
ein Einzelner, der nichts als Ruh und Freiheit eines good
fellow man wollte, gegen ein ganzes Volk, das ihn im
wesentlichen bevormundete, und für nichts als seiner
Welfenfürsten vorbildliche Anpassung an konstitutio-
nelle Königspflichten Verständnis hatte: Honny soit, qui
mal y pense !
Kein Mensch seiner Umgebung, kein Unionist, aber
auch der ausgelassenste Radikale nicht, begriff ihn ganz,
und nahm man seine zur Schau getragene Widerhaarig-
keit ernst, dann nur soweit, daß man in ihm die glän-
zende Kopie von Shakespeares Prinzen Heinz erblickte,
der auch im gegebenen Moment sich zum besonnensten
Regenten gewandelt hatte, ein Vergleich, der Eduarden
besonders in Harnisch brachte, weil er ihn wieder in be-
kanntes Klischee drückte, dessen kleinste Nüance jedem
Briten feststand, während er nichts als originaler gentle-
man sein wollte.
Ich war das einzige Lebewesen, das die tolle Tragik, in i
die der Prinz verwebt stand, begriff. Denn kein Ereignis
seines Lebens hat zu meiner Annahme in Widerspruch '
gestanden, er tat, was er konnte, seine Landsleute schon
als Kronprinz von der Unmöglichkeit zu überzeugen, den
ihm gebührenden repräsentativen Platz je ausfüllen zu
können, indem er ihnen ein hübsches Schnippchen, das
Europa den Atem raubte, nach dem anderen schlug.
Von innen nach außen will ich ihn zu beschreiben
suchen: Wie roch er gut, saß er morgens in Herrgotts*
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frühe auf, und mit ihm kam unbeschreiblicher Duft von
Haut und Wäsche her. Keinen Augenblick zweifle ich,
auch die russische Kaiserin war sorgfältig wie er ge-
waschen und an allen schwer zugänglichen Körperteilen
gepflegt,- aber es ist wie bei Pferden des Menschen Tem-
perament, das seinen Geruch wie Eduards süß natürlich
oder trotz aller Parfüms muffig wie bei Alexandra Feo-
dorowna macht.
Und wie mollert war seine Bewegung ! Nicht mit Fäu-
sten und Absätzen hing er in mir, sondern schwebte trotz
gewisser Beleibtheit auf mir und segelte leicht gegen
schwersten Wind. Freilich verstehe ich nicht viel vom
menschlichen Anzug, aber mir schien er stets der strah-
lendste Kavalier. Ohne im Sinn Epsoms oder Hyde Parks
korrekt zu sein, war Wäsche, Schuh, Kravatte, Kostüm
an ihm nicht nur unnachahmlich geschnitten, genäht und
gebügelt, sondern wurde auch einzig getragen. Ich be-
greife, die Art, wie er das Einglas einklemmte, den Hut
schief in den Nacken setzte, konnte ein Weib berauschen.
Wie er Ringe trug, Geste winkte, sonores Lachen lachte,
sich schnaubte, spuckte — all das war ohne Übertreibung
zum Entzücken gar!
Während in der Zarin Umgebung kein Mensch auf-
getaucht war, der sich durch eines Hofamts Würde, hohe
Abstammung und Gesinnung nicht legitimierte, verkehrte
frei der Prinz mit aller Welt und sprach besonders auf
Ritten Bekannte aus allen Kreisen, Lebemänner, Sport-
und Kaufleute, Schauspieler und Künstler an. Schwatzte
Blaues vom Himmel in einem Ton herunter, der an Re-
spektlosigkeit vor der Menschheit heiligsten Gütern nicht
zu übertreffen war.
Seine Lieblinge im Theater waren neben dem Ballet
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Dumas und Sardou. Sonst in der Literatur Voltaire.
Ein toller Kerl, nach dem, was ich von ihm mit anhören
mußte. Es war da ein reicher Nichtsnutz, Sir Francis
Beer, der auch eine Vorliebe für diesen Schriftsteller
hatte, und mit dem Eduard auf stundenlangen Ritten
die große Parkstraße nach Hampton Court hinaus plau*
derte. Wie er die königliche Regierung Frankreichs seiner
Zeit, den Hof, Minister, große Herren und Damen,
öffentliche Einrichtungen, Kriege, Gesetze und vor allem
die Pfaffen immer wieder angeulkt und in Augen noch
des letzten Untertans lächerlich gemacht hatte, bis alle für
die Guillotine reif waren, das wurde vom Prinzen in Ein*
zelheiten mit einem Schwung erzählt, daß man glauben
mußte, er sei gegen diese Gewalten der stürmischste
Rebell. In solchem Zusammenhang sprach er auch von
Louis XVI. und Marie Antoinettes Enthauptung wie
vom gelungensten Witz der Weltgeschichte und häufte
mit Wollust krasse Farben.
Volk nannte er: diesen Trottelhaufen! Und fügte hinzu
»Wüßten die Armen, wie auch hier von Tories und Whigs
seit ewig mit ihnen verfahren wird! Aber sie wollen nichts
wissen / brauchten nur Voltaire und nichts als den zu lesen ,
den »Mann mit vierzig Talern« etwa, sich in allen Listen,
Lügen und Griffen der herrschenden Kasten bis zum
Weltuntergang auszukennen. Und zum Schluß aller ge*
sellschaftlichen Greuel und Verworfenheiten, die er an
Hand Voltairescher Schriften entlarvt hatte, rief er mit
einer Stimme, in der der gehabte tiefe Genuß nachklang:
»Und Fußball, Cricket, Polo, Golf und Tennis wurde
ihnen nur eingebläut, damit sie allen anderen Sinn der
Welt vergessen. That's wunderfull indeed!«
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V
In Paris, in den Champs Elysees, hatte er ein wenig hin*
ter Bäume von der Straße gerückt, die lauschigste Jung*
gesellenwohnung. Natürlich habe ich ihre köstliche Be*
quemlichkeit so wenig mit Augen gesehen wie das, was
in ihr vorging. Durch Jones, den Trainer und den Kammer*
diener Alphonse aber, die abends im Stall, den ich mit
einem Reit* und zwei Wagenpferden teilte, kaustisch den
Tag abrechneten, blieb ich über Vorgefallenes auf dem
Laufenden.
Und aus dem von den mit allen Wassern Gewäsche*
nen Erzähltem merkte ich, trotz seiner vollendeten Hai*
tung würde ich meinen Herrn nicht, wie ichs glühend
wünschte, lieben können, weil meine früher erwähnte
Eigenschaft ängstlicher Keuschheit es seinen Manövern
des abgefeimten Wüstlings gegenüber einfach nicht litt.
Seiner zahllosen Liebschaften Register aufzuzählen,
versuche ich nicht, sondern begnüge mich mit des Außer*
ordentlichen Erwähnung. Durch die verglaste Stalltür sah
ich junge Mädchen, Frauen aller Gesellschaftsklassen und
Rassen einzeln und zu Paaren Stufen zum Parterre er*
rötend aufwärtstreten, und ein wenig zerzaust, doch hei*
ter und froh wieder herabkommen. Keine aber versäumte
der Prinz, selbst zur Tür zu bringen, und ich sah das un*
nachahmliche Lächeln in seinen Mundwinkeln.
Jones leitete des Fürsten Liebreiz und üppige Galan*
terie von seiner koburgischen Abstammung her. Ich
aber, die andere Koburger kannte, fand das meiste höchst*
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persönlich, zumal fast keine der weiblichen Kömmlinge
erfuhr, mit wem sie ein zärtliches Verhältnis hatte.
Sondern, das war sein Trumpf: Als gutaussehender
Engländer ließ er sich in Konkurrenz mit anscheinend
Bessergestellten inkognito lieben. Denn obwohl in ganz
großer Mittel Besitz, kam er bei riesigen Spielverlusten
immer häufiger in Bredouille, und es gab Tage, an denen
er, nicht aus Mangel an Kredit, doch aus Scham und Be-
quemlichkeit ein paar hundert Franken von Jones leihen
mußte.
Aus dem früher Erzählten begreift man, wie trotz der
Situation Bedenklichkeit ihn gerade das reizen mußte:
Der Erbe einer der stolzesten Throne Europas wie der
erstbeste Sohn beliebiger Bürgerfamilie in der Klemme!
Je weniger er sich seiner oft mehr als kritischen Lage Re-
gelung zutraute, umsomehr faszinierte sie ihn, und umso
eigensinniger ließ er sie bis zur Katastrophe dauern.
Mehrmals, mein Herr, und das wird Sie überraschen,
habe ich den Gerichtsvollzieher ins Parterre und eines
Morgens mit meinem Herrn zu uns in den Stall treten
sehn, wo der Bote des Gerichts mir und meinen Gefährten
die gewappelte Marke auf die Kinnkette klebte, wozu
unser Eigentümer wie ein Junge lachte und immer wieder
rief: »That's wunderfull indeed!« Als der Beamte fort
war, schrie er Alphonse zu, der schnöde grinste: »So
weit muß es kommen, daß ich selbst wie ein wirklicher
Wertgegenstand gepfändet werde!«
Welch tragische Ironie! Der Prinz von Wales schien
sich selbst kein solcher!
Sie erinnern sich, wie durch die europäische Presse von
Zeit zu Zeit die Nachricht ging, ein gewisser Jemand sei
in kriminellem Fall in flagranti, in üblen Häusern, beim
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t
Falschspiel, Handgemenge, auf einer Razzia ertappt, und
habe sich bei Feststellung seiner Personalien als Eduard,
Prinz von Großbritannien und Irland, legitimiert.
Das mag für unbeteiligte Zeitungsleser pikant gewesen
sein, für uns, die mit und von ihm lebten, bedeuteten die
sich wirklich ereignenden Vorfälle jedesmal ein Unmaß
Angst und Scham.
Entwaffnend blieb seines Standpunkts naive Beständig*
keit: Wegen des bißchens Zufalls fürstlicher Geburt nichts
Allzumenschliches zu versäumen ! Und wie ein anderer es
für seines Lebens Gipfel hält, bei Gelegenheit als Graf
oder Prinz genommen zu werden, blendete ihn die Vor*
Stellung, richtiger Strolch, Vagabund oder Zuhälter schei*
nen zu können, bis zur Unzurechnungsfähigkeit/ hinter
welchem Wunsch bestimmt die tiefere Sehnsucht schmach*
tete, dem »Menschen an sich« täuschend zu gleichen.
Politischer Sinn war ihm damals fremd: Und nur der
Gedanke, wie er durch die unerwartetste Blume im Knopf*
loch, einen zum Cutaway statt des korrekten Cylinders ge*
tragenen weichen grünen Hut mit Feder die fashionable
Welt verblüffen, aus Laune eine anscheinend eherne mon*
daine Giltigkeit erschüttern könnte, bewegte ihn. Er be*
griff die innerste Pflicht gegen sich, Abstand zwischen
seinem offiziellen englischen und persönlich menschlichen
Sein auf solche Spannung zu bringen, daß er höher als
sonst Berufene aus ihr federn und beweglich sein konnte.
Nach jeder besonders schlimmen Nacht ließ er mit
Tagesanbruch satteln, und im Galopp gings in Landschaft
hinaus, wo sie am herrlichsten prangte. Wo an einer Seine*
krümmung aus Nacht und Nebeln das Bois de Boulogne
sich prachtvoll keusch entschleierte, hielt er, ein Reiter*
Standbild und erfrischte sich urtief am Anblidc natürlicher
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Jungfräulichkeit. Dies Bedürfnis innerlicher Reinigung
war es, daß mich trotz seiner zur Schau getragenen Scham«
losigkeit immer wieder für ihn einnahm, bis er sich mir
gegenüber so weit vergaß, daß alles Außerordentlichen
unbeschadet, das ich mit ihm noch durchzumachen hatte,
ein innerstes Band schon zerriß.
Eines Balkanfürstentums blendend schöne, jungver«
heiratete Kronprinzessin in tollem Blond der Haare *—
ich weiß, was sich schickt, und nenne keinen Namen —
war in Paris wie ein Komet aufgetaucht, und von ahn«
liehen Trieben wie mein Herr besessen, hatte sie den in
einer Gesellschaft getroffen, wo für sie beide ein Vcr«
dacht, sie könnten sich dort befinden, shoking war. In des
Engländers Wohnung, der ihr gefiel, hatte sie für nach«
sten Tag ein Stelldichein angenommen. Dort ergab sich
sofort das gegenseitige Erkennen.
Beide über der Lage Unvergleichlichkeit beglückt, hatten
aus Impuls getan, als wüßten sie trotzdem nichts von ihren
Wirklichkeiten, und spielten weiter die gierige Abenteue«
rin und ihren zufälligen Aushälter. Da ihnen für ihr Ent«
zücken und plötzlich neue Glücksfülle die Wohnung aber
zu eng schien, wurde ich flink für die Prinzessin, mein
Boxnachbar für den Prinzen fertig gemacht, und, von
Feuern unserer Reiter gespornt, sprengten wir an stau«
nenden Fußgängern vorbei am hellichten Tag wilde Jagd
durchs Bois über den Fluß weit in dichtere Wälder, wo
wir in Einöden verschwanden.
An gestrüppumwachsener Lichtung gabs in grünen
Kulissen jähen Halt. Es flog vom Sattel der Prinz und
holte die Frau, die schon entgegenjauchzte, von mir zur
Erde nieder. Nicht einmal, uns festzubinden nahm man
Zeit, sondern — nie wurde so schmählich mit meiner
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Scham gespielt — gleich ging in einem Katarakt erlauchter
Frauenwäsche das Ganze in Entfesselung vor sich. Nicht
nur im leiblichen, in geistigem Veitstanz entspreizte sich
völlig das distinguierte Paar und entkochte in Tat und
Wort so glühende Ressentiments, feierte so holde Re*
volte, daß ich in Zukunft keiner Beherrschung mehr
traute, doch den Menschen als das bestverlarvte immer
glühende Raubtier sah.
27
VI
Außer nach Trouville, Deauville, St. Sebastien, wo er die
Mode startete, das Herrenhemd vom von oben bis unten
durchzuschneiden und zu knöpfen, um, war man frisiert,
es nicht über den festgelegten Scheitel zu stülpen, kam
ich mit ihm nach Homburg, Baden-Baden und Marien-
bad in Böhmen, seinem Sommerlieblingsaufenthalt.
Überall blieb seine freie Art die gleiche. Frauen
schwärmte er und der Natur bewegte Buntheit an,
pflegte die eigene heikle Persön und wußte allmählich,
trotz fürstlichen Bluts und königlicher Auspizien war er
quelquun. Koschere Küche aß er, weil sie ihm besser als
europäische bekam und zog den Umgang guterzogener
Juden dem seiner Rasse im Instinkt vor, auch die hätten,
über den angeborenen Juden hinaus sich als Menschen zu
beweisen, nicht kleinere Vorurteile der Mitbürger als er,
Prinz von Wales, zu überwinden gehabt.
In seine Rede wimmelte er hebräische Brocken. Parierte
ich nicht, bekam ich eins ins Ponem oder auf den Tochus,
und als ich ihm einst durch stundenlanges Traben in
böhmischen Wäldern besondere Freude gemacht hatte,
ließ er mir zum Lohn eine gehäufte Platte Schalet reichen,
die ich entrüstet zurückwies.
Noch immer galt ihm die politische Tatsache nichts,
Sensation war der albernste Bubenstreich. Als der Köni-
gin Viktoria kritischer Zustand im Sommer 1900 die
britische Regierung, ihn mit Kurieren in Marienbad zu
überschütten, zwang, hörte er kaum die dringendsten
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Botschaften, sondern bewirtete die Lords abwechselnd mit
koscheren Gerichten und gepfefferten jüdischen Witzen,
die die einen weniger als die anderen vertrugen, worüber
sich Eduard königlich amüsierte.
Nach seiner MutterTod bestieg er im Januar 1901, ohne
mit der Wimper zu zucken, die Throne von Großbritan-
nien und Indien, gewillt, der Majestät Bürde nicht schwerer
als die des Kronprinzen auf sich lasten zu lassen, auch
weiter mehr Freund der Sirs Cassel und Speyer, als
Eduard der Siebente und repräsentierende Affiche zu sein.
Nicht der Purpur, den er trug, doch reifendes Alter
ließ ihn auf zu reichliche Liebesfreuden und ein wenig
auch schon auf die der Tafel verzichten, und oft hörte ich
ihn jetzt den neben ihn Reitenden fragen: »Was wird
weiter?« Womit er sagen wollte, er suchte neuen Anlaß,
der lohnte, sich auf persönliche Art in die Welt zu hängen.
Und alle Antwort pries ihm Politik, die einzige politische
Sorge um Großbritannien / aber es schien, der König sah
zu ihr immer nur Beziehungen von Amts-, nicht eigenen
Bedürfnisses wegen.
Da kam Wilhelm II., deutscher Kaiser 1902 zum Besuch
seines königlichen Oheims nach London. Was vorher
zwischen den Monarchen vorgefallen war, bin ich nicht
unterrichtet. Ich sah den Hohenzoller erst am vierten Tag
seines Aufenthalts in einer maikäferbraunen Reitjoppe,
die gewiß nicht hervorragend geschnitten, doch nicht be-
leidigend war. Aber schon hörte ich Eduard zu dem neben
ihm haltenden Lord Sandone sagen: »Sehen Sie den Sack,
den jener trägt! Bei welchem Schuster hat der Mensch den
bauen lassen!«
Am nächsten Morgen erfuhr ich, zum Abendbrot im
engsten Familienkreis sei der Kaiser in einem Kostüm
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erschienen, das den König von England jäh habe erblassen
und vor Erbitterung schwindeln lassen, weil er nicht durch-
schaut habe, ob sein Neffe das aus stupider Ahnungs-
losigkeit oder um ihn, den vorbildlichen elegant, anzu-
öden, trug: zu weißen Schuhen und Beinkleidern den
Smoking mit roter Kravatte !
Der nicht Unterrichtete begreift nicht, wie eine Äußer-
lichkeit solche in Zukunft wahrhaft furchtbare Wirkung
auf meinen Herrn haben konnte. Aber \sar der König
sonst vorurteilsfrei, vertrug er keinen unkorrekt angezo-
genen Menschen. Wohl durfte man im Kleid des Berufs
ärmlich und abgerissen sein, wie man gezwungen war ,
doch gab es für jeden Stand und jede Stunde des Tags
die aus Gründen richtige Tracht, die zeigte, der Träger
stand zur Situation, in der er sie trug, in bewußtem Ver-
hältnis.
Die Tournüre aber, in der der Kaiser aufgetreten war,
bewies dem König und ersten gentleman seines Reichs
so arrogantes desinteressement an allem Menschlichen,
das nicht Soldatentum hieß, so militärische Preußenhoch-
näsigkeit,geistigen Uniformismus und bomierteAhnungs-
losigkeit des Herzens, daß seines Wesens empfindliche
Saite tief und für immer verletzt war, und er, wie ich
später von ihm gehört habe, vor dem Hohenzoller kör-
perlichen Abscheu wie vor einem Orang-Utang nicht mehr
los wurde.
Noch eine Reihe Taktlosigkeiten hatte sich Wilhelm in
London nach der Meinung meines Herrn zu schulden
kommen lassen : daß er dem König sein Bild in Kürassier-
uniform in ein Hufeisen gerahmt geschenkt hatte, »als sei
ich Stallknecht oder Kutscher«, sagte Eduard/ daß er einen
seiner Prinzen-Söhne, ihm die gefalteten Hände als Steig-
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bügel beim Aufsteigen unterzuhalten, veranlaßte, sich
von anwesenden deutschen Prinzessinnen die Hand hatte
küssen lassen und unter den Dienern des Schlosses eine
Broschüre verteilt hatte, die in englischer Sprache solche
Einzelzüge aus dem Leben des Kaisers mitteilte:
Kaiser und Leiermann.
Einst machte der Kaiser in Begleitung eines Adjutanten
eine Spazierfahrt im Schlitten. Es war bitter kalt, und das
Gefährt glitt rasch über den knirschenden Schnee weg.
Da wurde Se. Majestät auf einen Leiermann aufmerk-
sam, der, vor Kälte zitternd, seinem Instrument Töne
entlockte, die nicht gerade sehr annmutig klangen, wes-
halb die Vorübergehenden auch wenig Neigung ver-
spürten, dem Spielmeister eine Gabe zu reichen. Mitleidig
schaute der Kaiser auf den Armen und gab dem Kutscher
ein Zeichen zum Halten. Alsdann beauftragte er den Ad-
jutanten, dem Mann ein Almosen zu reichen. Der Offizier
zog die Börse, fand aber, daß er kein kleines Geld bei sich
hatte. »Ei, so geben Sie ihm großes«, sagte der Monarch,
»damit der arme Kerl nicht so lange im Frost zu stehen
braucht.« Der Adjutant gab dem Leiermann ein Zehn-
markstück, wofür dieser mit Tränen in den Augen dankte.
Nach Wilhelms II. Abreise schäumte Eduard in einem
Ekel, den ich vorher auch vor scheußlichsten Abnormi-
täten bei ihm nicht gesehen hatte.
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VII
Plötzlich interessierten ihn , Daily Mail' und firnes' des
Herrn Harmsworth, den er später zum Lord Northcliffe
machte, die eine scharfe deutschfeindliche Politik wegen
des beabsichtigten deutschen Flottenbaus in die öffentliche
englische Meinung trugen. Er schüttelte Chamberlain, der
auf deutsche Vorwürfe über Grausamkeiten der Eng*
länder gegen die Buren brüsk geantwortet hatte, sie reich*
ten nicht an das heran, was 1870 die Deutschen verbrochen
hätten, bemerkenswert öffentlich die Hand.
Am 1. Mai 1903 ging er mit mir zum erstenmal als
König wieder nach Paris, freundlich vom Präsidenten
Loubet und der Bevölkerung empfangen, obwohl Frank*
reich den Engländern seine politische Niederlage von
Faschoda nicht vergessen hatte.
Hatte ich geglaubt, er werde stürmisch alter Freuden
Stätte, galante Freundinnen aufsuchen, den Mai, wo Paris
mit silbernem Licht die Sinne kitzelt, zum Wonnemonat
machen, wurde ich enttäuscht. Nichts als ein flüchtig*
elegantes Ding mit einer Minderjährigen geschah.
Nur ein Mann wurde dort sein unzertrennlicher Ge*
fährte : Delcasse, des Auswärtigen französischer Minister,
der ursprünglich kein Feind Deutschlands, Eduards stür*
mender Werbung und leidenschaftlicher Beteuerung von
des deutschen Kaisers grotesker europäischer Gefahr*
lichkeit, für die der König hundert phantastische Beweise
anführte, auf die Dauer nicht widerstand.
Ich fand, meines Herrn reicher Erlebnistrieb, der früher
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Mannigfaltigstes geschätzt und gekostet hatte, stellte sich
wie auf fixe Idee einseitig auf Wilhelms II. Verächtlich-
machung ein, und sprudelte Anekdoten aus des Hohen-
zollern täglichem Lehen, die brühwarm zu erfahren, er
Späher am preußischen Hof hielt. Wie der Kaiser ihn
nachzuahmen, einen ganzen Schwarm glatzköpfiger Ber-
liner Israeliten auf seine Nordlandsfahrt geladen, aber
den jüdischen Witz vom hungernden Hahn und der
Henne, mit dem er ihnen habe gefallen wollen, und den
er sorgfältig studiert hatte, so jämmerlich verpatzt hätte,
daß sogar der aufwartende, blöde Stewart verlegen grin-
sen mußte. Wie er sich einerseits als preußischen Feudal-
adels Standesgenossen und primus inter pares aufspiele
und gleichzeitig Schiebern und Kapitalpiraten wie Cecil
Rhodes, Morgan und Vanderbilt zu Füßen liege.
Vor allem erregte ihm des Kaisers stets stärker be-
kräftigte Überzeugung von der Fürsten göttlicher Sen-
dung und der Hohenzollern vorweg Erbrechen, diese
schwärmerisch feudale germanische Anschauung, die Wil-
helm beim sonntäglichen Gottesdienst auf der Hohen-
zollern als Prediger vor Juden und Christen zum Besten
gab, indem er Preußen mit Israel als Gottes auserwähltem
Volk verglich unter Anlehnung an den Text etwa: »So-
lange Moses seine Hände im Gebet emporhielt, siegte
Israel, ließ er sie aber sinken, siegte Amalek«/ und es
wuchs gegen »Moses«, wie er fortan seinen Neffen
nannte, eine Leidenschaft des Hasses in ihm, die ich arme
Kreatur in manch sausendem Peitschenhieb aus erster
Hand spürte, und die im Grad ihres Feuers meiner ein-
stigen Herrin Alexandra Feodorownas Besessenheit nicht
nachstand.
»Moses« tat dies und sagte das, ward seiner täglichen
3 Stern heim, Libussa 33
Ergüsse Kehrreim, und er ging endlich so weit, zu be-
haupten, des Kaisers Mutter, seine Schwester, müsse
unbedingt Frucht eines Fehltritts der Queen Viktoria mit
ihrem meist in Eau de Cologne besoffenem Kammerdiener
Brown sein, dessen Mentalität der Kaiser so geerbt hätte.
Ich selbst war von so fieberhafter Geflissentlichkeit be-
rührt, alle Pein der Welt, Schuld an jedem Unglück und
aller Abscheulichkeit einem Menschen zuzuschieben. Ich
wußte vor, jedes Gespräch, das von Porterbier, einer
Kravatte, eines Mädchens Strumpfband oder Shake-
speares Päderastie anfänglich gehandelt hatte, vom König
wie von einem Maniakalischen unbedingt auf Wilhelm II.
zugesteuert wurde und ihn belastete. Das erzeugte in mir
schließlich den Zustand der Besessenheit. War auch nicht
von ihm die Rede, sah und hörte ich nur des Hohenzoflern
martialische Erscheinung. Ein Menetekel wuchs er, wo
ich stand und trabte, starrte gepanzert aus Hintergründen
und war mit aufgewichstem Schnurrbart an den flam-
menden Himmel gerändert. Schließlich schlief ich nicht
mehr, mein Stuhl versagte, und eine gespentische Kugel
würgte mich im Schlund.
Seelische Reaktion blieb nicht aus. Alles in mir bäumte
gegen solche Entstellung des Weltbilds. Früher, als mein
König Starrheit des durch Geburt aufgezwungenen Schick-
sals in bunte Mannigfaltigkeit lächelnd zerspellt hatte,
liebte ich ihn aus angeführten Gründen nicht, doch be-
wunderte ihn sehr. Jetzt, da er unzählige, blitzende Fa-
zetten des Alls zu einem schwarzen Schatten mischte,
verabscheute ich ihn, und begann das Opfer seiner Ran-
künen zu bedauern und endlich zu schätzen.
Mochte schwarzer Smoking mit roter Kravatte zu
weißen Schuhen und Beinkleidern auch die ärgste'mensch-
34
Digitlzed by Google
liehe Gemeinheit sein — kein Grund, den Träger nicht
nur mit fanatischem Haß, doch schließlich das ganze von
ihm beherrschte deutsche Volk, das nicht dafür konnte,
als Ausschuß der Welt zu betrachten.
Ich wurde mager, grämte mich. Ich bin nicht, wie Men*
sehen sagen, ethisch veranlagt, doch habe ich gemerkt, Haß
und Bosheit um mich laden Luft mit Giften, die ich nicht
vertrage, und die an mir zehren. Ich kann keine mit den
vergewaltigenden Willen anderer Kreatur geschwängerte
Atmosphäre atmen, die, voreingenommen, für mich er*
ledigt ist.
Ich fiel vom Knochen. Mein an mich gewöhnter Eduard
ließ den Tierarzt kommen, der die brutalen Mätzchen, die
an Tieren als Heilkunst gelten, bei mir versuchte. Der
Erfolg war katastrophal, ich hielt mich kaum auf Beinen
und sah meinen erschreckten Herrn mit erloschenen
Lichtern an. Hätte ich midi wie heute ausdrüdeen können,
dem König wäre von mir rechtzeitig warnender Bescheid
gestoßen worden, der Europas spätere Katastrophen in
etwa verhindert hätte.
Man sah, Besonderes mußte mit mir versucht werden,
und der König berief die erste Autorität für Frauen- und
Nervenkrankheiten, die mich gewissenhaft auf meiner
Organe und Reflexe Funktion untersuchte und feststellte:
Hysterie! Den Knödel im Schlund aber als den echten
Globus hystericus bewies. Liege- und Mastkur empfahl
der Arzt, Arsenik und Biocitin dazu/ die monatelang
mit Klystieren angewandt, meinen Zustand besserten.
Sicher aber waren es nicht die gebrauchten Heilmittel,
die mich herstellten, sondern des Hohenzollern Alb, der
von mir wich, da ich ihn nicht mehr erwähnen hörte. Welt
um mich schien wieder reich, und in mir regten sich ver-
3 - 35
Digitlzed by Google
gcsscne zarte Komplexe wieder, die in des englischen
Monarchen zynischer Gesellschaft verkümmert waren.
Als ich gesund war, ritt er mich noch einigemal, doch
war unser langjähriges Verhältnis zu Ende, und der fein-
nervige Reiter merkte, wir stimmten in nichts mehr über-
ein. Auch zeigte ich das offen bei Gelegenheit, war ge-
reizt, parierte nicht und wurde ein schlechtes Reitpferd
wie in letzter Zeit des Diensts bei der russischen Kaiserin.
Ob nur meine verschlechterte Qualität als Reittier oder
Ahnung der in mir wirkenden Vorgänge Eduard veran-
laßte — eines Tags, im Sommer 1904 erfuhr ich in Kiel,
ich bliebe, Andenken und Geschenk des englischen Königs
an seinen Neffen, dessen Eigentum. Ein Danaergeschenk,
das mit der Verlegung des Schwergewichts der englischen
Flotte aus dem Mittelmeer in die Nordsee, den Kanal
und der Stapellegung des ersten englischen Dreadnoughts
von siebzehntausend Tonnen zum gleichen Zeitpunkt
verbunden war.
36
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VIII
Bevor ich midi meines neuen Besitzers erlauchter Person
zuwende, teile icfi zum besseren Verständnis geschieht*
licher Zusammenhänge Eduards VII. weitere Schritte von
1905 bis 1907, über die ich mir aus Gesprächen maß*
gebender Personen nachhinein Rechenschaft gab, zur Ein*
kreisung des von ihm Gehaßten und seines Volks mit:
Frankreich, durch Rußlands Niederlage im japanischen
Krieg 1904 seines stärksten europäischen Rückhalts be*
raubt, schloß auf Eduards Drängen mit England über
Ägypten und Marokko Vertrag, in dem man sich in ge*
heimen Artikeln freie Hand in den betreffenden Ländern
gab. Diesem Vertrag trat Spanien, das man in Tanger
wirtschaften ließ, und dessen König Alfons XII. der eng*
lische Souverän mit seiner Nichte Viktoria Eugenie ver*
mählt hatte, bei. Mit Portugal und Belgien, von der
Koburger Mischpoche regiert, wurde freundschaftliche
Verabredung getroffen, und Eduards Schwiegersohn,
Haakon, in Norwegen auf den Thron gesetzt.
1905 wurde das japanisch*englische Bündnis auf ein
Jahrzehnt verlängert, und es fehlte zu Deutschlands völ*
liger Umzingelung, nachdem der unermüdliche Welfe noch
Viktor Emanuel zu Rom in seinem Sinn verführt hatte,
nur Rußland, das, nachdem es durch die japanische Nieder*
läge auf weitere ostasiatische Eroberungen verzichtet
hatte, sich dem alten Interesse für Konstantinopel und
dem Balkan wieder zuwandte, wo ihm nicht England,
doch Österreich und Deutschland im Weg waren. 1908
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besuchte Eduard den Zaren in Reval und betonte em-
phatisch in Toasten das englisch-russische Einvernehmen,
womit, was er an jener denkwürdigen Abendgesellschaft
1902 in London begonnen hatte, erreicht war.
Auch über innere deutsche Zusammenhänge war ich
dank Eduard VII. und seinen langen Auseinander-
setzungen darüber unterrichtet, sah, wie seit dem Sieg
von 1871 über Frankreich die deutschen Sozialistenführer
aus Respekt vor der von Bismarcks Faust umklammerter
allmächtiger Staatsmacht versuchten, aller revolutionären
Bewegung Europas andere Ziele zu geben, nämlich auch
die Macht innerhalb, nicht wie bisher außerhalb bestehen-
der Staatsordnung zu erobern, die sich in der von Bismarck
geschaffenen zentralistischen Form als rocher de bronze
stabiliert hatte/ das heißt, man hatte in Deutschland in
allen Sparten politischen, wirtschaftlichen und geistigen
Lebens begonnen, Macht zu zentralisieren, und jeder
rebellische Versuch des Einzelnen, der nicht von der Spitze
einer Pyramide den Massen befohlen war, stieß auch bei
radikalsten Sozialdemokraten auf erbitterten Widerstand,
wie man die Attentate auf des alten Kaiser Wilhelms
Person allseitig verwünscht hatte, und der ungenierte
politische Meuchelmord in Deutschland später erst gesell-
schaftsfähig wurde.
Deutsche Gewißheit hieß: Es gibt nur Massen zu wel-
chen Zwecken immer Geführter und geborene Führer;
und W ilhelmsll.absolute Gewißheit seines Gottesgnaden -
tums entsprach genau so Instinkten adeliger und bürger-
licher Patrioten wie Karl Marx's Behauptung, ohne seinen
Wink aus London dürfe nicht das geringste Revolutio-
näre geschehen, schon lange das Credo deutscher Prole*
tarier gewesen war.
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Es ist dies, wie ich später feststellte, der tiefgewurzelte
Glaube des deutschen Volks: Revolution sei Umsturz
auf Kommando, Parademarsch mit Augen links zu mar*
kierten Freiheitszielen / und aus solcher Gewißheit war
auch die Kieler Ordre des Kaisers etwa, die im Ausland
böses Blut machte und Englands König zur Raserei
brachte, nichts aus dem deutschen System Herausfallen*
des, Wilhelm II. Belastendes, sondern nur Symptom:
»Seine Majestät der Kaiser haben befohlen, daß das
»Hurrarufen innerhalb des einzelnen Schiffs absolut
»gleichmäßig unter Hochnehmen der Mützen zu erfolgen
»habe. Beim Paradieren und Hurrarufen ist daher nach
»folgendem Befehl zu verfahren:
»Es sind Posten mit Winkelflaggen auf beiden Brücken*
»nocken, auf der Hütte, am Bug, am Heck und sonst ge*
»eigneten Stellen des Schiffs aufzustellen.«
»Auf das Kommando: ,Drei Hurras für die allergnä*
»digste Person Seiner Majestät!' werden die Flaggen
»hochgenommen. Gleichzeitig verläßt die rechte Hand
»der paradierenden Leute das Geländer und fliegt an
»den Mützenrand.«
»Auf das erste Kommando »Hurra!« gehn die Winkel*
»flaggen nieder, das Hurra wird wiederholt, während
»die Mützen durch Strecken des rechten Arms unter einem
»Winkel von fünfundvierzig Grad kurz hochgenommen
»und, sobald das Hurra verklungen ist, unter Krümmung
%
»des Arms vor die Mitte des Oberkörpers genommen
»werden. Gleichzeitig gehn die Winkelflaggen wieder
»hoch.«
»Beim zweiten und dritten Hurra wird dementsprechend
»verfahren, nur werden die Mützen nach dem dritten
»Hurra nicht wieder vor die Mitte des Oberkörper ge*
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»nommen, sondern kurz aufgesetzt, worauf die rechte
»Hand wieder auf ihren Platz am Geländer geht.«
»Bei der bevorstehenden Anwesenheit Seiner Majestät
»des Kaisers 2ur Rekruten Vereidigung ist bereits nach
»diesen Bestimmungen zu verfahren.«
Hätte Eduard mit mir das Auspeitschen langer Ketten
Russen, Männer und Frauen auf ihre blanken Hinter-
teile, deren Mittelpunkte in einer Wagerechten strickt zu-
sammenfallen, und zu denen die gebeugten Rücken in
einem Winkel von sogar neunzig Grad stehen mußten,
als gang und gäbe mitangesehn, der Lederpeitschen rhyth-
misches Niedersausen auf zuckende Menschenhaut in
Viervierteltakt mitangehört, wären ihm solche Dinge bei
Völkern östlicherer Breitengrade nicht gar so gräßlich und
verhängnisvoll auf die englischen Nerven gefallen.
I
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IX
Hatte Abstand, den er zu seinem königlichen Amt
wollte, Eduard schon in jungen Jahren geführt, empfand
Wilhelm als des Herrn auserwähltes Rüstzeug an das
Königstum von Gottes Gnaden gleich begeisterte Hin-
gabe. Und wie sein Onkel lauer Christ gewesen war, be-
tonte mit Inbrunst ferventes Protestantentum der Hohen-
zoller, das für ihn militant geblieben war, und das er sich
bis an Zähne bewaffnet und zu Land und Wasser auf
gepanzerter Hut vorstellte.
Vor wem? Das war klar: Vor jedem, der das Gott-
gewollte, mächtige Preußendeutschland in seinen vom
Kaiser als vom Himmel erleuchteten Haupt gewiesenen
Zielen auf halten wollte, wie auch Fürst Bismarck, bis da-
hin allmächtig, ins Dunkel hatte verschwinden müssen,
als er es wagte, eine a priori überirdische Gültigkeit kaiser-
licher Einfälle zu bezweifeln und der Verfassung Aner-
kennung auch durch des Reichs höchste Spitze zu fordern.
Ich aber spürte nach erstem Beisammensein mit dem
Monarchen, einem Frühritt in den herbstlichen Tier-
garten, der Mann wußte sich vom Morgen zum Abend
in unmittelbarem Rapport mit Gott auch von klügsten
Menschen unbelehrbar, weil unfehlbar, und wer ihn ein-
mal unter seinem schöngesträubten Schnurrbart raunzen
hörte, begriff, dem Mund entkam nichts menschlich
Beiläufiges, sondern erzene Wahrheiten entschmetter-
ten. Noch als ich das Deutsche nicht fließend verstand,
packten mich seine im Takt geschnarrten Wortkatarakte,
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in dem Vokal auf Vokal knallte, bis ins schlotternde
Mark.
Ich beugte mich tief. Denn je weniger die skeptische
Kreatur an des Menschen geistige Unfehlbarkeit glaubt,
umsomehr ist sie, das sich transzendent in ihm Ankün-
digende zu grüßen gläubig geneigt, und niemand, der
Wilhelms Majestät gekannt hat, wird leugnen, daß my-
stische Wucht aus seinem Blick und Haltung sich allemal
kund tat.
Man begreift nun ohne weiteres, wie gleichgültig ihm
im Gegensatz zum englischen König Wirkung war, die
er, trat er als schlichter Mensch auf, hervorrief. Wie er
zwar sein Kleid des Herrschers, obersten Kriegsherrn und
Bischofs als geheiligtes Ornat empfand, es ihn aber kalt
ließ, ob er als Zivilist in weißen, roten oder schwarzen
Hosen zum Smoking herkam, gemäß seiner Anrede an
die zu vereidigenden Rekruten: »Ihr tragt des Kaisers
Rock und seid dadurch gewöhnlichen Menschen vorge-
zogen!«
Höhere Gewißheit, ihm stehe zur Abwehr nach außen
ein erprobtes unüberwindliches Heer zur Seite, noch aber
fehle die ebenbürtige Flotte, und nie werde England dem
Bau einer solchen Zusehen, machte ihn jeder freundlichen
Politik diesem Land gegenüber von vornherein abgeneigt,
und ich glaube, behaupten zu dürfen, wiesen auch deutsche
Stimmen dringend auf ein Bündnis mit England, sah der
Kaiser seines Oheims persönliche Abneigung gegen ihn
nicht ungern, weil sie ihm erlaubte, dem von oben ein-
geblasenen Rat der schleunigst zu schaffenden deutschen
Riesenflotte zu folgen.
Es versteht sich, daß nach ersten sichtbaren Erfolgen
englischer Einkreisungspolitik ein Einlenken und An-
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lehnungsbedürfnis Deutschlands an einen starken Bundes*
genossen, Amerika etwa, sich logisch ergab, und doch ist
es verfehlt, dem Kaiser, Schlüssen so einfacher Vernunft
nicht gefolgt zu sein, vorzuwerfen, nachdem man wußte,
er wollte durchaus nicht vernünftig, sondern in allem,
was er tat, Visionen und himmlischen Gesichten unmittel*
bar verhaftet sein, die niemand außer ihm durchschaute.
Ich selbst der ihm innewohnenden höheren Gnade ein
für allemal gewiß, habe mir nie Kritik an ihm erlaubt,
sondern das war mein besonderes Glück, daß ich das Seit*
samste von ihm her Erlebte als entzückenden Ausgleich
zu einer von vernünftigen Zwängen gefesselten modernen
Welt empfand.
Was verschlugs in so viel irdischer Gemessenheit, trat
statt eines beschränkten, pflichtbewußten feudalen Sou*
veräns im Plüsch*Stil Wilhelms I. etwa, einmal ein Uni*
versalmensch, Verwandlungskünstler, neuer Gulliver in
des Kaisers Person auf eigener Spur einher? Der in
romantischem Pomp als Cäsar, Commis voyageur, Jäger,
Nordland* und Kreuzfahrer, Sportsmann, Lotse, Kunst*
sachverständiger und Erzengel schablonierter augenblick*
lieber Wirklichkeit nicht nur den höchsteignen Sinn ent*
gegensetzte, doch die nach Zwang gedachte und klischierte
Historie bei jeder Gelegenheit in bunten Freisinn wieder
auflöste und in ihr Fäden fand, die über Goten, Römer,
Griechen, Juden hinaus noch Adam und Evas Liebes*
leben im Paradies für ihn als eine preußische und Hohen*
zollernsche, von Gott betreute, Angelegenheit entlarvte.
Wie er mit herrlicher Überzeugung Deutschlands ver*
sammelten Professoren und Lehrern in bezug auf die Er*
Ziehung der Jugend zurief: »Bisher hat unser Weg von
den Thermopylen über Cannä nach Roßbach und Vion*
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ville geführt. Ich führe die Jugend von Sedan und Grave*
lotte über Leuthen und Roßbach zurück nach Mantinäa
und den Thermopylen.«
Niemand außer ihm brauchte mitzuwissen, was um des
zwanzigsten Jahrhunderts Wende Preußens Jugend bei
den Thermopylen zu tun hatte. Just das alleinige Kennen
solches,fem von Alltagsvemunft liegenden Z wecks, machte
für mich des Kaisers grandiose Einzigkeit in strahlendem
Gottesgnadentum aus.
44
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X
Einer der schärfsten Widersprüche menschlicher Natur
wird für mich die Kluft zwischen ihren heiligsten Vor*
Sätzen und ihren Taten bleiben. Während auf der Basis
des Christentums Europa des Schwachen Beistand seit
Jahrhunderten predigt, mißhandelt und beraubt es ihn mit
Ausdauer, wo es kann.
Darum empfand ich es im Gegensatz zu Wilhelms II.
Nörglern gerade als seiner religiösen Neigung strickten
Schluß, er fühlte sich nicht nur im täglichen Sein, doch in
Politik als irdischen Lebens höchstem Gleichnis, mehr zu
Schwachen als Überlegenen gezogen, schnitt den selbst*
sicheren Engländer, Russen, Franzosen, und stellte sich
starr vor das wankende Österreich, die schwankende
Pforte und das englischen und französischen Flotten*
angriffen widerstandslos preisgegebene Italien.
Wie er besonders den durch Familienkrisen zusammen*
gebrochenen Greis und Kaiser Franz Josef durch bundes*
brüderlichen Trost und soldatischen Zuspruch immerwie*
der von krassem Verfall aufrichtete, war für mich seiner
unvoreingenommenen Nächstenliebe Beweis. Denn er
mußte gewiß sein, dieser als Sinnbild seiner in Grund und
Boden verkrachten Staaten ohnmächtige Habsburger
würde ihm nie Beistand lohnen können. Keinmal hat Wil*
heim II. den Starken gestützt, sich und sein Volk ihm
durch Liebenswürdigkeit empfohlen, kein Beispiel einer
an die Adresse wirklicher Macht gewandten Höflichkeit
erinnere ich mich, so sehr blieb er von Gewißheit durch*
45
blutet, er sei der von Gott auf Erden bestellte Hort der
völlig Hilflosen.
Bis in seine nächste Umgebung ließ er von so christ-
licher Praxis nicht ab, rief nie eine starke Natur in seine
Nähe, überzeugt, die helfe sich auch ohne ihn am inoffi-
ziellen Ort weiter. Bismarck, ich versichere es, mußte nicht
nur, weil er des Herrschers himmlische Sendung nicht un-
bedingtgeglaubt hatte, Platz mitMinderbegabten tauschen,
sondern der neue König von Preußen erkannte besser als
Vorfahren, der eiserne Kanzler brauchte kein nodi so
hohes Amt als Relief, doch könnte privatim als knorrige
Eiche im Sachsenwald weiter wurzeln.
So war er, mit allen Gnaden des Himmels geschmückt, I
in einem in neueren Zeiten nicht gekanntem Maß und
gegen die preußische und die Reichsverfassung entschei-
dender Lenker seines Volks mit felsenfestem Glauben,
ginge es dennoch in Deutschland schief, läge nicht sein
Versagen, doch des lieben Gottes flüchtiges Versehen,
vor, das der schon andern Tags wieder ausgleichen würde.
Also drohe in keinem Fall Gefahr.
Damit blieb er Spitzfindigkeiten, umständlichen Über-
legungen von vornherein entzogen, und jähe Plötzlichkeit
vielmehr war seiner unmittelbaren Erleuchtung Ausdruck.
Begründeten Erwägungen von Fachleuten durfte er spon-
tanes Besserwissen entgegensetzen, historische Erfah-
rung galt vor seinen Visionen nichts. Was man bei Krea-
turen ohne Gottesgnadentum Frechheit und Vorwitz
genannt hätte, war Blitz und himmlische Helligkeit bei
ihm, mit der er in alle Gebiete deutschen Lebens hinab-
leuchtete. Kein Ding gab es, um das er sich, berufen, nicht
kümmerte. Nicht minder prompt entschied er über Kunst-
werke, wie technische und wissenschaftliche Errungen-
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sdiaften, und seine Entscheide, waren sie im Augenblick
dunkel, hatten die vorausschauende Gnade künftiger
Geltung.
So erinnere ich mich, wie noch bei meiner Ankunft in
Berlin das Erstaunen aller Welt darüber kraß war, daß
der Kaiser im Dezember 1901 bei Vollendung der Sieges-
allee den versammelten Künstlern und riesiger Menschen-
menge folgendes frappante Glaubensbekenntnis in Sachen
der Kunst abgelegte hatte:
»Mit Stolz und Freude erfüllt mich der Gedanke, daß
Berlin vor der ganzen Welt mit einer Künstlerschaft da-
steht, die so Großartiges auszuführen vermochte! Es zeigt
das, daß die Berliner Bildhauerei auf einer Höhe steht,
wie es wohl kaum in der Renaissance schöner hätte sein
können! Das kann ich Ihnen jetzt schon mitteilen, meine
Herrn, der Eindruck, den die Siegesallee auf Fremde
macht, ist ein überwältigender/ überall macht sich be-
merkbar ein ungeheuerer Respekt für die deutsche Bild-
hauerei! Möge sie auf dieser Höhe stehen bleiben, und
mögen auch meinen Enkeln und Urenkeln, wenn sie mir
dereinst erstehen werden, stets die gleichen Meister zur
Seite stehen!«
Da soll zwar im ersten Augenblickes reichten Begas
und Eberlein an Michelangelo und Donatello nicht heran,
die öffentliche deutsche Meinung gewesen sein. Daß aber
kein allgemeines Veto gegen des Kaisers Proklamation
schallte, bewies, die Deutschen in großer Mehrzahl an-
erkannten wie ich, es seien auch die Gescheitesten unter
ihnen für die Kaiserliche Voraussicht in dieser Frage ein-
fach nicht reif.
Und diese Haltung ihm gegenüber änderte ich jahraus,
jahrein so wenig, daß ich auch in seiner Laufbahn kritisch-
47
%
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stem Moment, als am 28. Oktober 1908 die halbamtliche
Norddeutsche Allgemeine Zeitung über eine Veröffent*
lichung des Londoner Daily Telegraph, des Kaiser Unter*
redung mit einem Engländer betreffend, berichtete, die
ihm die schwerste Einbuße königlichen Ansehens bis tief
in Reihen fanatischer Anhänger kostete, nicht wankte, weil
seine Superiorität für mich noch immer und in jedem Fall
feststand.
Zudem wußte ich aus persönlicher Kenntnis, auch dieser
schrecklichste Schlag, des Kaisers Zerwürfnis mit dem
eignen Volk, nachdem er mit aller Welt schon überworfen
war, ging wieder von Eduard VII. aus, der mit ihm und
kurz vor seinem Tod das an dem Hohenzoller gewollte
niederträchtige Werk vollendete.
Nach diesem Bericht hatte im angeführten Gespräch
der Kaiser behauptet, der englischen Presse ständige An*
griffe auf ihn sähe er endlich als persönliche Beleidigung.
Beweisen wollte er, wie er Beziehungen zu England stets
gepflegt hatte, sogar während des Kriegs mit den
Buren, in dem er zwar Ohm Krüger das bekannte hilfe*
versprechende Telegramm gesandt hatte, aber, als die
Burenbeauftragten Europas Intervention wirklich wollten
und in Frankreich stürmisch gefeiert wurden, er ihren
Empfang sowohl wie Rußlands und Frankreichs offizielles
Ersuchen an Deutschland, England aufzufordern, die
Burenrepubliken in Ruh zu lassen und es damit zu de*
mütigen, abgelehnt hatte. Im Gegenteil habe er persön*
lieh einen Feldzugsplan gegen die Buren entworfen und
das von seinem Generalstab geprüfte Schriftstück nach
London gesandt, wo es in Archiven läge. Dieser Plan aber
sei im großen und ganzen der gleiche gewesen, mit dem
Lord Roberts die Buren zur Strecke gebracht hätte.
48
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Selbst in diesem Fall konnte ich midi der vernichtenden
Kritik fast des gesamten deutschen Volks mit bestem
Willen nicht fügen: Der Kaiser habe Frankreichs und
Rußlands vertrauliche Anerbietungen nicht nur schnöde
an England verraten, sondern unter Bruch seiner Neu*
tralität dem Engländer auch noch den Kriegsplan gemacht!
Und gerade der allgemeine empörte Einwurf, was Wil*
heim sich bei diesen Widersprüchen gedacht habe, kam
für mich nicht in Frage.
Denn darauf lief es ja, wie ich gezeigt habe, gerade hin*
aus: Nach seiner besonderen Art hatte der Kaiser in
großen historischen Momenten nicht zu denken !
4 Sternheia), Libassa
49
XI
Audi ferner hat midi menschliche Beeinflussung in meiner
Zustimmung nicht wankend gemacht.
Da geschah es, daß eines Tags aus einem Transport
rassiger Braunen, die der Zar für seines sechsten Branden-
burgischen Kürassierregiments erste Schwadron als Ge-
schenk bestimmt hatte, der schönste für den kaiserlichen
Marstall in Berlin gefordert und neben mich einquartiert
wurde.
Man kann sich denken, was das zwischen »Potemkin«
und mir für Geschwätz und Austauschungen alter Erin-
nerungen gab! Wochen hindurch erlebten wir Mütterchen
Rußland, gleiche Jugend, Wonnen, Enttäuschungen des
Lebens wieder. Nicht anders war es ihm als mir ergangen/
auch er hatte Angehörigen des Zarenhauses als Reittier
gedient, in Moskau und Petersburg Erlebtes ihn jedoch
aus seiner störrigeren Natur nicht melancholisch, sondern
rebellisch gemacht. Hätte ihm jemand in seine kommu-
nistischen Urteile und Ziele schauen können, er wäre
statt nach Berlin, nach Sibirien oder glatt an den Galgen
gekommen.
Er wars, der meine Ergebung in mein Schicksal nicht
nur sondern in das der von Menschen gelenkten Welt
gehässig verlachte, behauptete, stünde alsbald nicht Krea-
tur gegen die von einer irrsinnig gewordenen Mensdi-
heitselite gebrauchten Methoden auf, verrecke chaotisch
das bewohnte All.
Und an tausend Beispielen bewies er, wie das heilige
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Rußland voran nur zuckende Beute zweier Erzschelme,
desMöndhs Grigori Rasputin und Protopopoffs war, die es
aus einem Grund, daß Rußland dem Zaren, der Zar der
Zarewna, die aber ihnen beiden blind zu allem mit ihr
körperlich und geistig Gewolltem gehorchte, erdrosselten,
indem sie Vernunft erschlugen und an ihre Stelle mannig-
faltigen, angeblich von Gott befohlenen mystischen Blöd-
sinn setzten.
Zuverlässig wisse er durch Berichte von der Kaiserin
erster Kammerfrau, aus zwei täglich auf den nackten
Bauch der Zarin geschlagenen, noch brodelnden Spiegel-
eiern, je nachdem sie den Nabel der Dulderin freiließen,
ganz oder teilweise bedeckten, sage Rasputin, was Ruß-
land jeweils für innere oder äußere Politik gebrauche, vor-
aus, und Nikolaus baue trotz aller Warnungen trotzig
auf diese Orakel, glaube sich durch sie von Gott erleuchtet,
eigenen Zutuns zur Weltgeschichte enthoben.
Die letzte Mitteilung traf mich tief. Verriet sich wirk-
lich Gott aus Eiern so auf russisch und anders auf deutsch
dem deutschen Kaiserr — denn ich sah doch, der Hohen-
zoller floh England, russische Politik aber ging nach Wor-
ten meines Kameraden unter Iswolski, Ssasonow und
Beneckendorfschonganz in Englands Schlepptau — mußte
sich über kurz oder lang aus solchem Mißverständnis ein
Kataklisma türmen, das uns alle, Wilhelm und Nikolaus
voraus, verschlang.
Dazu sah ich, wie nach Eduards VII. Tod, der der maß-
los übersinnlichen Gier sämtlicher europäischer Souveräne
aus seiner realen Begabung ein Paroli geboten hatte, Eu-
ropa, aus seiner Herrscher Beispiel, alles Verhältnis zur
Wirklichkeit verloren hatte, daß gerade im Zeitalter exak-
ter Wissenschaften nur Volk nach Formeln und Kom-
4 * 51
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mando am Schnürchen ging, alles Entscheidende aber aus
hellseherischer Offenbarung und einem bejahenden Zu-
stand des Gemüts der Mächtigen geschah, die das be-
sessene allerhöchste Vorbild nachahmten, Mystik aus
Spiegeleiern, Bierschaum, Fischeingeweiden in dem Sinn
erkannten. »Daß es nie und nimmermehr geschehe, daß
sich zwischen Uns und Unseren Herrgott im Himmel
ein Menschenwort, beschriebenes Blatt gleichsam als
zweite Vorsehung dränge, sondern daß die göttliche, aller
irdischen Pflichten entbundene Macht des Königtums
allein rede!«
Wies ich Potemkins so radikale Dogmen weit von mir:
Verflucht, daß in jedem Land verfassungsmäßig die Macht
den ausgesuchten Trotteln gehört, und es durch des
Menschengeschlechts geistige Faulheit auch in Zukunft
ausgeschlossen ist, es käme je die Gesamtheit der zu eige-
ner V erantwortung Gewillten ans Ruder, verwarf ich auch
seine strikte Voraussage, in Rußland wenigstens werde
es bald gewaltig tagen, als Utopie.
Doch berührten mich jetzt des Kaisers bald folgende
Worte, die er hoch auf mir zur Seite der Kaiserin auf
Potemkin riesiger Zuhörerschaft zurief: »Es schleicht ein
Geist des Ungehorsams durchs Land! Ich lasse mich
durch ihn nicht beirren! Im Gegenteil Brandenburger!
Zu Großem sind wir noch bestimmt und herrlichen Tagen
führe ich euch entgegen! Wißt, daß ich meine ganze
Stellung als eine vom Himmel mir gesetzte auffasse, und
daß ich im Auftrag eines Höheren berufen bin!«
Ich erschrak bis ins Mark, als nach dieser Anrede Po-
temkin sich unter der Kaiserin bäumte, krümmte, streckte,
würgte, schlang und jäh vor aller Welt seinen unverdauten
Mageninhalt zur Erde kippte.
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Dieser Eindruck in Verbindung mit dem daraufhin
geprägtem und von den Stallmeistern in bedenklichen
Situationen oft angewandtem Wort: »Man hat schon
Pferde kotzen sehen!« ließ mich nicht mehr los und
begann meine reine Heiterkeit zu trüben.
Auch Franz Josef, den ich in Berlin und Wien sah,
glotzte so glasig verklärt in die mit politischen Miasmen
geschwängerte Luft, schien für sich und die Seinen mit
einem katholisch apostolischen Gott auf so gutem Fuß zu
stehen, daß es mir manchmal zu viel der allseitigen Gott«
Seligkeit Unruhen gegenüber war, von denen Potemkin,
die elementarste Witterung zu haben, beschwor.
Digitlzed by Google
XII
Immerhin merkte ich an Wilhelm II. seit jenem 17. No*
vember 1908 einen Umschwung, an dem ihn Fürst Bülow
als Reichskanzler offiziell vor die Entscheidung gestellt
hatte, entweder endlich im Sinn der Verfassung oder
glücklicher im Bund mit dem Himmel zu regieren.
Für mich wurde dabei klar, aus seiner Natur mußte
der Kaiser, um besser hinter des Himmlischen Winke zu
kommen, Hemmungen in der Leitung zwischen ihm und
Oben annehmen und forträumen wollen. Da über der
Verbindung Dichte von Gott zu ihm kein Zweifel auf*
kommen durfte, mußte es für ihn im Technischen hapern,
an dessen Unvollkommenheit er sich ohne weiteres mann*
haft Schuld gab.
Ich hörte, wie er auf unvergeßlichem Spazierritt seiner
Frau erstmals die Absicht gestand, die in seiner Er*
Ziehung vernachlässigte »metaphysische Empirie«, das,
was man von der Mechanik der Transzendenz kennen
mußte, durch das Studium der Schriften Fichtes, Schellings
und Hegels hinzugewinnen zu wollen. Und wie auch mit
Hinblick auf die Belehrung, die er sich leichter beim Ober*
hofprediger Dryander holen könnte, die Kaiserin warnte,
der Kaiser bestand darauf, an Quellen zurück zu müssen,-
und während sie leise weinte, beteuerte er, er sei gewiß,
nichts wesentlich Neues erfahren zu können, doch wollte
er, seinen Tadlern den letzten Vorwand zu nehmen,
göttlicher Gnade in ihm die wissenschaftlich theologische
Grundlage geben.
* 54
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Wer anders als ich spürte seines Unternehmens erste
Folgen? War es nicht auf endlosen Durchquerungen des
Grunewalds morgens im Zwielicht zwischen sechs und
acht, daß er in Selbstgesprächen Gelerntes in seines
WesensGründe zu fuhren suchte? Kreatürlich es Mitleid
mit diesem durch Kämpfe schon zermürbten Mann trieb
mich, einer meinem Charakter fremden Materie gespannt
teste Aufmerksamkeit zu schenken, an einem Lehrgang
teilzunehmen, der mich aufs neue Kraft meiner Nerven
und Lenden kostete.
Die ganze Hypothese höherer Physik ging ich mit ihm
durch, erfuhr, die Körper sind im Weltraum selbstleuch-
tend und ziehen in dem Maß des Lichts positive Materie
an, wie sie die negative abstoßen und umgekehrt. Ich
lernte mit ihm, das Oxygene spiele bei der Irritabilität
bedeutende Rolle, und in des Lebens sämtliche Funktio-
nen müsse Kontinuität gebracht werden / wußte schließlich,
alle diese Funktionen seien nur Zweige einer und der-
selben Kraft, und das Naturprinzip, das wir als Ursache
des Lebens annehmen müssen, träte in ihnen nur als in
seinen einzelnen Erscheinungen hervor. Ich sah Wilhelm
nach Erkenntnis dieses aufatmen und wieder sicher und
bewußter werden. Nach kurzer Pause aber stürzte er sich
tiefer in der Physiktheologie Probleme und kam über die
Offenbarung »göttlicher Allgenugsamkeit« endlich zur
Seele Gottes selbst.
Indem er dabei von Schellings Grundsatz als von einem
»unvordenklichen Sein Gottes«, was nichts als die Spino-
zasche Substanz ist, ausging, definierte er den Höchsten
richtig als absolut transzendent oder als »einen für sich
seienden« Gott. Das aber war für dessen enge Verbin-
dung mit dem deutschen Kaiser kein Beweis, sondern
55
das Gegenteil davon, und so warf sich der Hohenzoller
blitzschnell um so brünstiger auf den Hegelschen, der,
als »Geist an sich« gedacht, in aller Natur als eigentliches
Subjekt, vornehmlich also auch als Menschengeist vor-
kam, und um so gewaltiger in dem von ihm Besessenen
wirkte, je bedeutender das irdisch menschliche Subjekt
war.
So beruhigend dieser letzten Spekulation Ergebnis für
Wilhelm II. war, denn in welches Subjekt konnte sich
mehr göttlicher Geist als in das des deutschen Kaisers
und Königs von Preußen inkarnieren, so fest bin ich von
dem Riß überzeugt, der nach diesen Offenbarungen in
des Kaisers Seele klaffte. Denn wie auch des Hegelschen
Gottes Gewißheit sich in ihn gesenkt hatte und endlich
als Fels in ihm ragte, das Wissen um einen, mindestens
in der Vorstellung großer Leserkreise dazu noch vor-
handenen Schellingschen Gotts, von Wolffschen, Kanti-
schen, Fichteschen und Feuerbachschen Gottformen ab-
gesehen, hatte ihm für mein Gefühl die zyklopische Ge-
schlossenheit, die er früher, auf den nicht näher definierten
Gott gestützt, besaß, genommen.
Und wußte er nun genaueres von der Liebestätigkeit,
dem Verstandes- und Beredungsglauben, der Buße,
Wiedergeburt, Zurechnung, dem ethischen Naturzu-
stand, dem Phlogiston und der Körperleitungskraft, für
meine im Leid um ihn geschärften Nerven entbehrten
seine tönenden Worte letzter Durchschlagskraft und for-
derten Kritik heraus.
Dieser meiner Gewißheit schienen auch Augusta Vik*
torias Blicke recht zu geben, die tränenfeucht mit gemisdv-
tem Ausdruck schwärmerischer Liebe und weiblicher
Verzweiflung an dem Gatten hingen.
56
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Man begreift, wie unerträglich für mich in so schwere
seelische Pein Potemkins radikaler Angriff fiel : Ist irgend*
wo und wann eine andere höhere Säugergattung auf den
Hinfall gekommen, ein noch so ausgewähltes Exemplar
der Rasse zum alleinigen Herrn über folgenschwere Ent*
schlösse für alle zu machen? Ist es nicht unerhört und in
einem Maß fahrlässig, für das uns übrigen Warmblütern
der Begriff fehlt, besonders, da aus Erfahrung feststeht,
diesen Auserwählten mangeln meist des Durchschnitts
Eigenschaften? Das ist — er zeterte vor Wut und schwi*
tzender Erregung — da fehlt der Ausdruck!
Mir fiel er ein : »Meschugge«, hätte Eduard VII. gesagt.
Es hieß, der Kaiser probe morgens am Spiegel seines
stahlblauen Auges faszinierenden Hohenzollernblick, der
ihm früher ohne weiteres beliebig oft zur Verfügung
gestanden hatte/ das heißt, mit gewolltem Ruck warf er
des Antlitzes Fassade und ein stechendes Basiliskenauge
gegen den Anzuredenden. An ein dutzendmal habe man
ihn die Geste prüfen sehen, bis präziser Eindruck er*
reicht war.
Mochte das wahr oder Märchen sein, für mich blieb es
Beweis, weite Kreise gaben meinen Befürchtungen recht
umsomehr, seit der Kaiser aus Rache für den Schritt vom
November 1908 den Fürsten Bülow nach Scheitern der
Erbanfallsteuer schlicht entlassen hatte, aber wußte, der
war, weil er für sein Gesetz keine Mehrheit gefunden
hatte, als erster Kanzler auf Grund eines parfamenta *
rischen nicht mehr monarchischen Prinzips gegangen,
dem er vielmehr mit solchem Abgang den Dolch in die
Flanke stieß, als er vom Publikum jubelnd begrüßt, ein
Triumphator, Berlin verließ.
War Wilhelm II. früher unbelehrbar und keinem Ein*
57
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fluß zugänglich gewesen, hing er jetzt wie die russischen
Souveräne nicht nur vom Klatsch der Priester*, Hof»
und Militärkamarilla, sondern von Einflüsterungen der
Kriegsindustriellen und des jüdischen Großkapitals ab,*
stürzte sich mit Eifer auf tausend Zeitungsausschnitte,
die man ihm zum ersten Frühstück servierte. Und nicht
die Kreuzzeitung, die Berliner Börsenblätter mit ihrem
Kurszettel und talmudischen Geschwätz wurden ihm
tägliches Orakel.
Potemkin erzählte von Tränenströmen, die die Kaiserin,
war sie mit ihm allein, vergoß und suchte mich gewaltiger
zu überreden, Wahnsinn sei, statt das eigene Leben mit
kommendem großen Umsturz in Einklang zu bringen,
sich mit Herz und Huf einem Mann zu widmen, der längst
nur eine einzige Katastrophe sei. Mache ich nicht schnell
das innere Kehrt, zerschelle ich fürchterlich mit übrigen
Trümmern.
Nun, ich war alt genug dazu / und nützte meines Lebens
Rest zu sonst nichts mehr, wollte ich mir zu diesem altern»
den Mann die kleine unbedingte Treue leisten.
So gut wie Potemkin sah ich, Inschriften, die der Kaiser
nun in erzene Tafeln meißeln ließ: »Hier erlegte Aller»
höchst Seine Majestät am 2. Dezember Seine fünfzig»
tausendste Kreatur, einen weißen Fasanenhahn«, dienten
zu nichts, als des Herrschers aufsteigende Zweifel an
dieser allerhöchsten Majestät zu betäuben, wie auch
Alfanzereien und immer gesteigertes Glanzverlangen
nur Ausgleich deutlicher Ahnung war. Hoffen der Jugend
drohe schrecklich zu zerbrechen.
Digitized
XIII
Hier unterbrach Libussa das bisher zusammenhängend
Vorgetragene, und war durch Herrn Müller zum Weiter*
sprechen nicht zu bewegen. Als dieser mehrere Tage
nacheinander in sie drang, mit dem Bericht der durch den
Weltkrieg eingetretenen Katastrophe ihre Mitteilungen
zu krönen, schüttelte sie immer wieder den Kopf und
sah ihn mit traurigen Augen an.
Nachdem Herr M. sie einen vollen Monat in Ruh ge*
lassen hatte, fand er Libussa beim Wiedersehen in so
kläglichem Zustand, daß er begriff, gelänge nicht, sie
schnell zum reden zu bringen, sie ihre Geheimnisse mit
ins Grab nehmen würde. Hs mochte aber die Stute ihres
Gasts Gedanken erraten haben, denn plötzlich erklärte
sie, Scham hielte sie ab, weiteres, das in erster Linie sie
selbst und dann erst Wilhelm II. betreffe, hinzuzufügen,
und nur Herrn Ms. dringender Hinweis, durch das schon
Erzählte gehöre sie zu den großen historischen Figuren
aus wichtiger Epoche deutscher Geschichte, und es inte*
ressiere auch ihr eigenes Schicksal Deutsche bedeutend,
bezwang Libussas Widerstand, und in rührenden, be*
scheidenen Tönen fügte sie hinzu:
Als ich im Lauf letzter Monate vor dem Weltkrieg mir
nicht mehr verhehlen konnte, alles von Eduard VII. Vor*
ausgesagte. Gedrohte und mir bis in letzte Kalküle Be-
kannte werde durch des Kaisers Haltung grauenhafte
Wirklichkeit, ich durch Potemkins Einwand, dem ich mein
Wissen um die englischen Pläne mitgeteilt hatte, ich dürfe
59
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unter solchen Umständen mit innerer Umkehr nicht zögern
— als ich in Qualen der Hoffnung und besserer Einsicht
schwankte — ward mir in meines Lebens höchstem
Augenblick erschütternd klar : was ich so trotzig als Treue
zum deutschen Kaiser in mir behauptet hatte, war schran-
kenlose Liebe und Leidenschaft weiblicher Kreatur zu
dem von guten Geistern schon verlassenen angebeteten
Mann.
Hier sehe ich Sie, Herr, erschüttert. Ich wußte nur zu
gut, warum ich schweigen wollte. Doch da ich auf ihr Ge-
heiß gesprochen habe, lassen sie mich sagen, diese Be-
stürzung sollte für Sie nicht gar so groß sein, wie sie scheint.
Hält es der Mensch nicht für natürlich, denen, die durch
vertrauten Umgang seine Lieblinge, seis Vogel, Pferd,
Hund oder Katze unter den Tieren geworden sind, eine
oft geradezu närrische Liebe über das Grab hinaus zu
schenken? Und war doch fast in keinem Fall so eng an
das Seelenleben dessen, dem seine Zärtlichkeit galt, wie
ich angeschlossen, die meinem König und Herrn mit vielen
Fäden schon verhaftet war, ehe sie ihn sah. Und ich, die
andere als bloß bürgerliche, historische und transzendente
Schicksale, mit ihm oft körperlich zusammengewachsen,
litt, ich sollte, ausdrücklich befragt, kein Recht und nicht
die Pflicht haben, auch tiefste Zusammenhänge mit ihm
zu gestehn?
Erst als gerührter Zustimmung Herr Müller nickte,
fuhr sie fort:
Vielleicht aber werden, da nicht mehr der geringste
Zweifel ist, sie stammen von einer durch Mitleiden be-
fugten Seite, meine Mitteilungen um so wertvoller. Was
ferner aller Welt nur Grund boshaften Vergnügens war,
das Grinsen über des Kaisers stets mehr entgleisende
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Proklamationen, ehe der Funke ins Pulverfaß fiel, wurde
für mich wie sonst nur noch für seine Frau Ursache stets
hellerer Verzweiflung.
Begriff ich freilich das Aufsehen so plausibler Urteile
von ihm über Kunst und Künstler nicht: »Der Suder-
mann hat umgesattelt! , Strandkinder' bezeichnen eine
neue Epoche seiner nunmehr idealistischen Richtung. Uns,
dem deutschen Volk, sind die großen Ideale zu dauern-
den Gütern geworden, während sie den anderen Völ-
kern mehr oder weniger verloren gegangen sind!« oder
die hämische Kritik darüber, daß er Künste aus starrem
Schlaf der Unkultur weckte, indem er aus stumpfsinnigen
Ruinen zum Beispiel die Hohkönigsburg im Elsaß mit
Butzenscheiben, Zinnen und Wetterfahnen zu einer nagel-
neuen weithinblitzenden Angelegenheit machte, mußte
mir der trostlose Eindruck seiner politischen Anreden,
die er letzthin mit kurzer, energischer Geste der geballten
Faust wie mit einem Hieb nach unten begleitete und be-
sonders das wachsende Fiasko seiner Taten, hinter denen
kein geschlossenes Gottesbewußtsein mehr stand, umso
einleuchtender sein.
Agadir, das deutsch-französische Marokkoabkommen,
mit dem der türkisch-italienische Krieg in Tripolis zu-
sammenhing, waren auf des grauenhaften Pessimisten
Bethmann Hollwegs V erführungen hin nur Etappen auf
dem Weg zu den Kriegserklärungen von 19*4, von denen
Wilhelm II. mit Recht — ich bezeuge es — hat erklären
dürfen :
»Die ganze Politik der letzten Wochen vor dem Kriegs-
ausbruch hat Bethmann Hollweg und Jagow allein ge-
macht. Ich wußte nichts mehr davon. Denn sie haben mich
durchaus gegen meinen Willen nach Norwegen geschickt.
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Ich wollte die Reise nicht machen, da die Gespanntheit
der Lage nach Franz Ferdinands Ermordung auf der
Hand lag. Der Reichskanzler erklärte indessen: ,Majestät
müssen die Reise antreten, um den Frieden zu bewahren.
Wenn Majestät hierbleiben, gibt es Krieg und die Welt
wird Ew. Majestät die Schuld daran zuschieben'. Darauf-
hin bin ich abgereist und habe während der ganzen Zeit
meiner Abwesenheit von meiner Regierung keine Nach-
richt mehr über die Vorgänge erhalten. Nur aus nor-
wegischen Zeitungen erfuhr ich, was in der Welt geschah,
so auch von dem Fortgang der russischen Mobilmachungs-
vorbereitungen. Als ich vom Auslaufen der englischen
Flotte hörte, bin ich auf eigene Faust zurüdegekehrt. Bei-
nahe hätten sie mich abgefangen.c
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XIV
Denn als er, der Zar, Franz Josef und Georg von Eng-
land, als alle Souveräne, durch ihre Götter endlich aufs
Laufende gebracht, einander zu telegraphieren begannen,
war es zu spät. Schon hatten die kriegsdurstigen General-
stäbe Armeen gegeneinander in Marsch geschraubt, der
Stein war im Rollen, und das größte Verhängnis letzter
Jahrhunderte ging seinen Lauf.
Nach steigenden Erregungen vorausgegangener
Wochen und Monate tat mir Entscheidung wohl. Denn
nicht mehr schwebte ich in tausend besonderen Ängsten
um den, den ich liebte, politisches und religiöses Chaos
war von mir gefallen, und mit aller Weiblichkeit hatte
ich nur no<h naive Angst um des Herrn und Gebieters
jetzt bedrohtes Leben. Bald aber sah ich midi vor allen
Weibern gebenedeit, weil, wo sie mit Einschluß der
Kaiserin zu Haus blieben, ich mit ins Feld ging, ihm
noch in Augenblicken höchster Gefahr als einzig Leben-
diges nahzusein.
Da fand ich beim Abschied Potemkins Hohn, für sen-
timentale Neigung werde mir nun verdienter schlimmer
Lohn nur bodenlos lächerlich, und auf seine Erwähnung
des Kugelregens, der mich erwartete, konnte ich in großer
Haltung und Überlegenheit betonen, nichts sonst wünschte
ich als den, und meines ausgedienten Lebens letzte Lust
werde sein, im dichtesten just für den angebeteten Mann
zu zerstäuben.
Ja, Herr, in des Weltkriegs ersten Wochen wurde
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meine jahrelang von widerstreitenden Dämonen ge*
rittene Seele wieder einfach, heiter und frei, unteilbar
großem Sein verhaftet und so, daß Ton und Farbe der
Welt unmittelbar und rein in ihr wiederstrahlten. Ich ritt
an der Spitze von Regimentern und Brigaden, flog wie
lachender Pfeil Paraden auf und ab, badete in Ekstasen
der Hurras und spiegelte mich im Blitzen züngelnder
Degen. Mich umrauschte der meinem Kaiser zugedon*
nerte Beifall ganzer Armeen und, zwischen seinen Sehen*
kein ihm hingegeben, zerriß Freude über den für ihn
steigenden Jubel begeisterter Soldaten mein Herz.
Jetzt war Lebens Einerlei und Zeit, Befürchtungen
und Melancholien nachzuhängen, vorbei. Jetzt war Tag
und Nacht, Natur*, Kultur, Haß und Liebe atemlos
und von Gebrüll, Granatenkrach und Telegrammen zer*
stampft. Es gab keinen Anfang und Ende, kein Begreifen
und Mißverstehn, doch helle Witterung und von praller
Kraft geschwellte Triebe. Heissasa!
In die kämpfende Mannschaft war nicht nur der formi*
dabelste Drang gefahren, sondern alles Sein spielte sich
im Krieg auf neuer Ebene ab, die ihrerseits mit riesiger
Brisanz an ein Ziel sauste, daß Kreatur das berauschende
Bewußtsein hatte, Boden, Luft und Himmel rasten der
eigenen besessenen Gewalt überstürzter voran, und des
Friedens sämtliche Voraussetzungen, in einen festen
Punkt verankert, waren dahin.
Da nahm auch von mir unerhörtestes Hoffen Besitz.
Unmögliches begriff ich möglich und harrte seiner im
Transzustand. Meinem Ideal feuerte ich die heißesten
Blicke zu, gab mich dem inneren Taumel hin und fühlte
in Stunden, da der Weltkern glühend rotierte, zwischen
Mensch und Tier die Grenzen verwischt.
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Bis in der Atome Winkel war idi mit blutrotem Gluck
durchnässt und durchdampft. Saß der Geliebte mir heim«
bebuscht und beschärpt auf, zerschmolz ich bei Tuben«
stoßen und kriegerischer Brunst mit ihm in ein Denkmal
hehrsten Preußen« und Deutschentums und spürte uns
aus Bronze in Ewigkeit gegossen.
Was war noch Vergangenheit, Mütterchen Rußland,
König Eduard, Potemkin! Wie wenig bedeutete das
alles vor solcher Apotheose, die sich von Sieg zu Sieg
mit Fanfaren golden erhöhte?
Erst 1917, bei einem Besuch der Kaiserin im Haupt«
quartier erwachte ich durch Potemkins in mein verklärtes
Glück gezischte Anmerkungen aus Verzauberung. In an«
betracht der wirklich glänzenden Aufmachung und des
kaiserlichen Standorts ausgesuchtem Komfort hatte er mit
widerwärtigem Blick ebenjenen Kugelregen erwähnt, auf
den ich mich beim Abschied von Berlin versteift hatte, und
von dem an diesem Ort des Wiedersehens, hundert Kilo«
meter hinter Schlachtfeldern, allerdings nichts zu merken
war.
Hatte mich diese Gewißheit im ersten Augenblick nicht
angefochten, stand nach Potemkins Abreise fest, ich hätte
erst des Kriegs erhöhte Glücksfülle, nicht aber seine Kata«
Strophen und Paniken an der Front, was Potemkin mit
einem Wort als »Kugelregen« bezeichnet hatte, erlebt,
und irre Angst vor solchen drohenden Möglichkeiten,
bald aber nur noch unstillbarer Wunsch nach dieser Not «
Wendigkeit hielt mich gepackt.
Denn, als risse man vor meines Lebens Schlußakt den
Vorhang auf, begriff ich, der Krieg, einmal beendet, schleu«
dere mich aus paradiesisch erhöhtem Sein für immer in
Abgründe zurück, in dem es nichts mehr von meinem
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5 Sternhelm, Libossa
Kaiser Wilhelm und unseren himmlischen Gemeinsam-
keiten großer Zeit gäbe.
Wünschte ich ihm langes Leben — für mich gab es als
strahlendes Ende meines dramatisch gestarteten und ent-
wickelten Seins nur noch seligen Tod unter ihm im Kugel-
regen — und wie tragisch ich auch für midi und die Welt
sein damit vielleicht verbundenes Hinscheiden wußte, nur
noch der Traum besaß mich, es fände sich im Prasseln
stählerner Projektile das winzige Spitzchen, das auch mich
durchbohrte.
Man spürt, in welchen Fiebern ich den Moment er-
wartete, der mich endlich dem ersten Gefecht wirklich aus-
setzte. Stets fürchtete ich, das Schlachten, das drei Jahr
dauerte, werde, ehe ich an letzte seelige Bestimmung ge-
langt sei, enden.
Der Herrschender sich bedeutend teilnehmend in einem
Radius bis zu fünfzig Kilometern hinter den Fronten un-
aufhörlich hin und her bewegte, manchmal auf zwanzig
Kilometer impulsiv an die Feuerlinie vorstoßend, war
aus Rücksicht auf seines zahlreichen und anspruchvollen
Gefolges Verpflegung trotzdem gewungen, Verbindung
zu den Küchenwagen, die ihrer Schwere wegen nicht
überallhin folgen konnten, nicht ganz zu verlieren.
Eines Morgens aber — o dieser Morgen! — als hätte
er meinem sprühenden Drang nicht länger widerstanden -
von einer Höhe sahen wir die Wolkenbälle unaufhörlich
platzender Granaten — gab Wilhelm II. mir plötzlich
Sporen, und wie von entbundenen Gasen gesprengt und
geschleudert, fegte ich Irrwisch vorbeiwehende Abhänge
hinunter. Und obwohl und wie kraß mir gleich seine
bremsende Faust ins Maul griff, als sausenden Ball
schraubten mich übermächtige Impulse eigener Geschwin-
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4
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digkeit voraus, vorwärts den Explosionen zu, tind alle
Rufe und bittenden Haltsdireie meines sich überkreischen-'
den Reiters verhallten an meinem ganz verbohrten Ohren.
Da hätte sich mir die eigene Ekstase herrlich erfüllt,
wäre nicht ein verfolgender Reiter mir schneidig vorge*
sprengt und in die Trensen gefallen, der mich, während
wütend der Kaiser seinen Reitstock an mir in Stücke
hieb, aus aller Gefahr in sichere Hintergründe riß, in
die ich mit gleichem Augenblick wie ein Stück Lumpen
für immer verschwand.
In meinen rapiden Verfall, Zustände lethargischer
Auflösung, die ich in den Berliner Ställen bewußtlos ver*
brachte, fiel noch als schwacher, versöhnender Lichtstrahl
die Nachricht, der deutsche Kaiser, der auch meinen Nach*
folger nie in vorderste Treffen geführt hatte, verschmähte
ihn, wie er mich verschmäht hätte, in dem einzigen noch fol*
genden historischen Augenblick, der mich Erlittenes hätte
vergessen machen können: als ihn im Spätherbst 1918 an
der holländischen Grenze sein entsetzliches Loos ereilte,
sprengte Wilhelm II. nicht wie Napoleon I. nach Water*
loo, besiegt, doch irdischer und überirdischer Zukunft
gewiß, in stolzer Haltung nach Holland hinein, sondern
verbarg sich flüchtend, gebrochen und völlig ausgelöscht,
in Polster einer sechszylindrigen Maschine.
»Hier bin ich fertig!« hatte mit Ruck Libussa als mit
letzten Worten gerufen.
Wie sehr sie es aber war, wußte sie selbst und da-
mals auch Herr Müller nicht. Erst in den Schluß vor-
liegender Arbeit hinein brachte er mir die Nachricht ihres
großen stolzen Todes.
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CARL STERNHEIM
FA I R FA X
EINE POLITISCHE ERZÄHLUNG
Kartoniert Mark 15.00
Einerseits:
I A finde Sternheim zum Kotzen !
Herr Mütter im Hamburgischen Correspondent
Es gibt für Fairfax nur eine Kritik: die Prügelstrafe.
Herr Witbowshi, Zeitschrift für Bücherfreunde
Andererseits:
Es ist nicht übertrieben, wenn man behauptet, daß es ein solches
Format von Satire in Deutschland seit Heine nicht gegeben hat.
Dies Buch ist Sternheims Höhepunkt! Vorwärts Berlin
Man hat den einen Sternheim, den wir haben, aber wir müßten
zwanzig Sternheime haben. Ein Volk, das sich nicht faul hinlegen,
sondern mit den Tatsachen beschäftigen will, müßte diesem Autor
ein Denkmal setzen. Tranbfurter Zeitung
Fairfax sollte man der europäischen Kulturviehherde und ihren
Leithämmeln um die Ohren sAlagen. Das sehen sogar die Intellek-
tuellen in England und Frankreich ein, wo man von Sternheim ver-
hältnismäßig mehr weiß und begreift als bei uns. Köln. Tageblatt
Ein Satz von Sternheim wiegt zehn politische Leitartikel.
Prager Tageblatt
Das verpfuschte Europa hat hier seinen verwegensten Grabredner
gefunden. Es scheint statthaft, diesen Sternheim mit dem revolutio-
nären Humor Voltaires in einem Atem zu nennen. Das Tagebuch
Wie ist zu erklären, daß die gallische, belgische und auch eng-
lische Presse Sternheim als den stärksten deutschen Dichter, als
einen Molifcre allemand, den vollendetsten deutschen Dramatiker
feiert? Die Gründe liegen tiefer: Nicht umsonst nimmt Sternheim
für sich in Anspruch, der einzige wirklich politisch aufgeklärte
Di Ater der Gegenwart zu sein. Leipziger Neuesten Nachrichten
Diese Skizze hat Sternheim in souveräner StilbeherrsAung hin-
gelegt. Er hat die europäisAe Satire gesArieben.
Braunschweiger Kurier
There is at times an almost Swiftian strength an savagery in
this sketA. Tbe Times
ERNST ROWOHLT VERLAG
BERLIN W35
KURT WOLTT VERLAG
MÜNCHEN
Soeben erschien:
CARL STERNHEIM
BERLIN
oder JU5TE MILIEU
broschiert 7 Mark
*
Die m Gazette de Lausanne " vom 29 - 3 . 2 t
scBreißt: Ein kleines Buch, gerade erschienen,
erregt in diesem Augenblick in Deutschland
stürmische Diskussion. Es hat einen der
geistreichsten Autoren des zeitgenössischen
Deutschlands, Carl Sternheim, zum Verfasser.
Sternheims Buch ist glänzend! Es ist
über die tieferen Ursachen des Scheiterns der
deutschen Revolution nichts Eindrucksvolleres
erschienen.
Die „Revue Universelle Paris", April 192 t
scBreißt: Man muß Stemheim für seinen Frei»
mut danken. Ich akzeptiere, was er über die
verblüffende Ähnlichkeit des Berlins von 1914
mit dem von 1921 schreibt. Und daß ein Deut-
scher diese Ähnlichkeit gesteht, gibt zu denken.
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Prosaschriften Carl Sternheims
I m D r 9 i m a s b e n Verlag München:
CHRONIK VON DES ZWANZIGSTEN
JAHRHUNDERTS BEGINN. Zwei Bände
Im Kurt Wo fff Verlag: EUROPA, Roman. 2 Bände
BERLIN ODER JUSTE MILIEU
Im Abt ions»Verlag Berlin:
PROSA / DIE DEUTSCHE REVOLUTION
URTEILE ÜBER CARL STERNHEIM
Sternheim ist der einzige wirklich politisch aufgeklärte deutsche
Dichter der Zeit. bleuer lag Wien
Sternheim allein schuf sich seinem Inhalt adäquate Formen,
Berliner läge Statt
Sternheim kann als einziger gelten, der über das Experiment zu
großer Leistung gekommen ist. Karf Vietor
Sternheims Zyklus bürgerlicher Komödien ist die geschlossenste
Leistung des deutschen Theaters. Zeitschrift für Bücherfreunde
Sternheim schreibt den klassischsten deutschen Stil.
Kasimir Edschmid
Sternheim schrieb Komödien von aristophanischem Rang.
Otto Tlahe
Sternheim ist Prophet. Seine zyklische Satire auf die deutsche
Bourgeoisie hat die Revolution vorbereiten helfen. Wefthühne
Sternheims Sprache ist Genuß. Vossische Zeitung
Sternheim ist einer der stärksten deutschen Dichter.
Neue Züricher Zeitung
Sternheim a saisi avec le plus de profondeur et d'amertume les
complexites de l'epoque. Art Lihre Bruxeffes
Sternheim est un des esprits les plus ing£nieux de l'Allemagne.
Gazette de Lausanne
Sternheim est un isole soHtaire. Cfarte Paris
Sternheim, je ne crois pas exag£rer, est le plus parfait dramaturge
allemand. Tigaro Paris
Sternheim se nomme lui m&ne Le Molifcre allemand. On verra,
si le si&cle lui donne raison. L’ esprit nouveau Paris
Sternheim has invented a new form of fiction in German litera»
ture. The Times London
Sternheim est un des esprits les plus ind£pendants de l'Allemagne.
L'Opinion Paris
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