Lieber Robert
Schumanns
Krankheit
Paul Julius Möbius
DATE DUE
MAR n
1 iLUÜ2 —
*
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Ueber
Robert Schumanns Krankheit.
Von
P. J. Möbius.
Alle Rechte vorbehalten.
Halle a. d. S.
Verlag von Carl Marhold.
1906.
HARVARD^
'UNIVERSITYl
LIBRARY
DEC 19 1956 J
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Vorbemerkung
Bis vor Kurzem [habe ich „geglaubt,* Robert Schumann
sei an progressiver Paralyse (der sogenannten Gehirnerweichung)
gestorben. Denn die kurzen Aeusserungen über seine Krankheit,
die ich da und dort gelesen hatte, schienen sich nicht wohl
anders deuten zu lassen. Zwar belehrt einen schon das An-
hören Schumannscher Musikstücke darüber, dass der Componist
ein sehr nervöser Mensch gewesen ist, aber schliesslich kann
ein Nervöser ebensogut der Paralyse an heim fallen wie ein
Anderer. Vor einigen Monaten bekam ich zufällig das Buch
fron Litzmann über Clara Schumann in die Hände, und bei
-£ldem Lesen der dort abgedruckten Briefe und Tagebuchstücke
-^eagte ich mir, da muss noch etwas dahinter stecken. Ich Hess
jjnir die Schumann-Literatur kommen und gelangte bald zu der
^Auffassung, die in dem folgenden Aufsatze ausgesprochen ist.
^Zunächst ist die Sache für den Fachmann interessant: Inwie-
weit ist es möglich, rückblickend, auf Grund der Literatur eine
psychiatrische Differentialdiagnose zu machen? Aber das
Ergebniss bedeutet doch mehr. An Paralyse kann bei uns
schliesslich Jeder erkranken, der sich die Hauptbedingung
erwirbt, und für die Beziehung zwischen Seelenkrankheit und
genialer Anlage lässt sich aus der Thatsache, dass ein genialer
Mensch paralytisch wird, nicht viel entnehmen. Dagegen zeigt
es sich nun, dass Schumann von Jugend an seelenkrank war,
und dass diese Krankheit, die ihn schliesslich vorzeitig ins
Grab brachte, sozusagen das Gegenstück oder die Rückseite
des Talentes war. Wir sehen an einem ausgezeichneten Beispiele,
dass das grosse Talent mit der Krankheit bezahlt wird. —
Da in diesem Sommer Schumanns Todestag zum 50. Male
wiederkehrt, möge mein Gutachten als bescheidener Beitrag
zur Gedächtnissfeier angesehen werden.
Leipzig, im April 1906.
M.
Es wird dem Sachverständigen die Frage vorgelegt ob
Robert Schumann an progressiver Paralyse gestorben sei oder nicht.
h
Geschicht-Erzä h I u n g.
Folgende Schriften sind benutzt worden:
1. E rl e r , Herrn., Robert Schumanns Leben. Aus seinen Briefen
geschildert 2 Bände. Berlin 1887.
2. Jansen, F. G., Robert Schumanns Briefe. Neue Folge.
Leipzig 1886.
3. Jugendbriefe von Robert Schumann. Mitgetheilt
von Clara Schumann, Leipzig 1885.
4. Litzmann, Berthold, Clara Schumann. I. u. IL Band 1905.
(III. Band noch nicht erschienen.)
5. Richter, Carl Ernst, Biographie von August Schumann.
Zwickau. Gebr. Schumann 1826. Mit Porträt 66 SS.
6. Schaaffhausen, Robert Schumanns Gehirn- und Gehör-
organe. Corresp.-Bl. der deutschen Anthropolog. Gesell-
schaft, XVI. S. 149. 1885.
7. Wasielewski, Wilh. J. v., Robert Schumann. Leipzig 1880.
3. Aufl.
Wenn auf eine dieser Schrift hingewiesen wird, so wird
der Anfangsbuchstabe des Vfs. in Klammern angegeben : [RJ —
Richter, [W] = Wasielewski, und so fort.
Die Familie
Der Vater, August Schumaun, war geboren 1773, ist
gestorben 1826. Er war der Sohn eines Pastoren bei Gera,
der später Archidiaconus in Weida wurde. Wir erfahren, dass
er 5 Kinder (4 Söhne, 1 Tochter) hatte, sich wegen geringen
Einkommens kümmerlich durchschlug. (Jeher seine Gesundheit
wird nichts gesagt Seine Frau, eine geb. Böhme aus Eisenberg,
war „fortwährend kränklich" [R]. Ihr jüngerer Bruder war
der nächste Freund August Schumanns und diesem durch
leidenschaftliche Neigung zu Dichtkunst und Philosophie innig
verbunden. Obwohl August Schumann von seinen Eltern oder
von deren Armutb gezwungen wurde, Kaufmann zu werden,
war er doch immer der Literatur ergeben, las und schrieb,
wenn er nur irgend konnte. Youngs und Miltons Schriften
erregten ihn so, dass sie ihn „bisweilen dem Wahnsinn nahe
brachten' (eigene Aeusserung, nach R). Nach wechselnden
Schicksalen, Entbehrungen und Aufregungen wurde er Buch-
händler. Auch als solcher widmete er den grössten Theil
seiner Zeit der Schriftstellerei und schrieb nicht wenige der
Werke, die er verlegte, selbst (theils schöngeistige Arbeiten,
theils geographische, statistische, kaufmännische, Handbuch für
Kaufleute u. s. w.). Er wird als ein durchaus zuverlässiger
Mann, als wohlwollend und edel, aber ernst und still geschildert.
Mehrmals wird seine Neigung zur Melancholie erwähnt. Mu-
sikalisches Talent soll er nicht gehabt haben. Vor allem muss
er ein überaus fieissiger Arbeiter, unermüdlich und leiden-
schaftlich bei der Sache gewesen sein, dabei practisch. Er
verfasste nicht nur eine kleine Bibliothek, sondern er hinterliess
auch, obwohl er in bitterer Armuth angefangen hatte, 60 000
Thaler. Während er Byrons Gedichte übersetzte, erkrankte er.
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„Sein um diese Zeit gänzlich geschwächter Körper, welchen
wiederholte Badereisen kaum aufrecht zu erhalten vermochten,
unterlag den Unterleibsbeschwerdon und Nervenübeln, welche
ihn bis jetzt fortwährend gequält hatten. Von dieser Zeit an
litt sein Kopf an oft wiederkehrendem Schwindel." Sein Bild
zeigt einen wohlgebildeten Kopf, kräftige Nase, kräftiges Kinn,
sehr angenehme Gesichtszüge. Es scheint, dass der Sohn ihm
in gewissem Grade ähnlich gewesen ist Man sieht das be-
sonders, wenn man das Bild des Vaters mit dem Roberts von
Krishaber (bei Litzmann I, p. 268) vergleicht
Die Mutter, Johanne Christiane, geb. Schnabel (1771
bis 1836) war die Tochter eines Rathschirurgen in Zeitz, ver-
heiratete sich 1795, war, wie es scheint, in der Regel gesund,
starb 1836. „Johanna Schnabel, mit einem natürlichen Ver-
stände begabt, jedoch aufgewachsen unter der Einwirkung
kleinstädtischer beengender Verhältnisse, zeigte keine über das
Maass des Gewöhnlichen hinausgehende Bildung, wenn gleich
ihre äussere Erscheinung einnehmend und von einem gewissen
Repräsentationstalent begleitet war. In späteren Lebensjahren
stellte sich bei ihr ein Zustand schwärmerischer sentimentaler
Ueberspanntheit, verbunden mit momentan aufbrausender Heftig-
keit, und ein Hang zum Absonderlichen ein" [W]. Musikalisches
Talent hatte sie nicht, auch kein Verständniss. Während ihr
Mann die Musiker- Natur Roberts richtig erkannte und ihm
den Weg zu ebnen suchte, widersetzte sie sich lange hart-
näckig den Plänen des Sohnes um des Broterwerbes willen.
Robert spricht in seinen Briefen zu ihr mit grosser Zärtlichkeit
und Achtung.
Die Geschwister, drei Brüder und eine Schwester,
waren älter als Robert Zwei Brüder übernahmen die väter-
liche Buchhandlung, einer erwarb eine Buchdruckerei in
Schneeberg. Alle scheinen ehrenwerthe, ja vortreffliche Männer
ohne besondere Gaben gewesen zu sein. Keiner ist alt ge-
worden, alle sind noch vor Robert gestorben.
Die Schwester ist 1825 gestorben. „Sie war schon als
Kind sein (des Vaters) Liebling geworden, theils weil sie seine
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einzige Tochter war, theils weil sie durch aufgeweckten Ver-
stand und blühende Schönheit ihn innigst erfreute. Alle Hoff-
nungen jedoch . . . vernichtete eine Hautkrankheit, von
welcher sie als Kind in Ronneburg überfallen wurde, deren
Gift sich auf die edlen Theile des Körpers warf. Eine nie
wieder zu hebende Gemüthskrankheit, welche zu Zeiten Spuren
von stillem Wahnsinn verrieth, war die schreckliche Wirkung
dieser Krankheit" [R].
Robert Schumanns Leben.
i
Robert Schumann ist am 8. Juni 1850 abends 72 10 Uhr
geboren worden. Er galt für ein „schönes Kind". Als Knabe
war er ehrgeizig, freigebig, gutmüthig. In der Schule leistete
er während der ersten Jahre nur mittelmässiges, aber sehr
früh regten sich die ihm eigenen Kunsttriebe. Spätestens im
7. Lebensjahre begann der Musikunterricht, und schon im 7.
oder 8. Jahre soll Robert die ersten Versuche, zu componiren,
gemacht haben. „Es wird erzählt, dass Schumann schon als
Knabe eine besondere Neigung und Gabe besessen habe, Ge-
fühle und charakteristische Züge mit Tönen zu malen; ja, er
soll das verschiedene Wesen der um ihn herum stehenden
Spielkameraden durch gewisse Figuren und Gänge auf dem
Piano so präcis und komisch haben bezeichnen können, dass
jene in lautes Lachen über die Aehnlichkeit ihres Portraits
ausgebrochen seien" [W]. Im 12. oder 13. Jahre componirte
Schumann den 150. Psalm und Hess die Compositum durch
eine Knabencapello auffuhren. Auch die Neigung zur Poesie
soll schon im Knabenalter sehr stark gewesen sein. Später
begeisterte er sich besonders an Jean Paul, der in seinen
Jugendbriefen eine grosse Rolle spielt. Einmal sagt Schumann
von diesem Dichter, er habe ihn oft „dem Wahnsinn nahe
gebracht".*)
*) Schumann schreibt später (15/12. 1830) sehr richtig: „Wäre
mein Talent zur Dichtkunst und Musik nur in einem Punkte concentrirt,
so wäre das Licht nicht so gebrochen und ich getraute mir viel".
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War der Knabe heiter und neckisch gewesen, so zeigte
sich der Jüngling Schumann zurückhaltend, schweigsam, passiv,
träumerisch.
Schon auf dem Gymnasium begann der Kampf zwischen
der Neigung zur Kunst und der Nöthigung zum Studiuni.
Der Vater wollte dem Musiker den Weg ebenen, aber sein
früher Tod gab der Mutter das Ueberge wicht, und sie nöthigte
den Sohn, die Rechte zu studieren. Jedoch scheint Schumann
dabei nicht viel gelitten zu haben. Obwohl er einen grossen
Theil seiner Zeit den „Allotria" widmete, entsprach er ohne
Anstrengung den Forderungen des Gymnasium und verliess
die Schule mit der Note lb.
Von eigentlicher Krankheit wird bis dahin nichts berichtet.
Um so mehr aus dem Mannesalter. Ehe ich jedoch den
eigentlichen Krankheit-Bericht zusammenstelle, sei einiges über
Schumanns Charakter und seine Eigenthümlichkeit gesagt. Ich
lasse eine Schilderung Wasielewskis vorausgehen, die sich zwar
zunächst auf die Düsseldorfer Jahre bezieht, offenbar aber für
den Mann Schumann überhaupt gilt. „Robert Schumann war
von stattlicher und fast grosser Statur. Seine Körperhaltung
hatte in gesunden Tagen etwas Gehobenes, Vornehmes, Ruhe-
und Würdevolles, wogegen sein Gang gewöhnlich langsam,
leise auftretend, und ein wenig bequem hinschlotternd war.
Im Hause trug er gewöhnlich Filzschuhe. Nicht selten ging
er in seinem Zimmer ohne alle äussere Veranlassung auf den
Fussspitzen. Das Auge*) war meist gesenkt, halb geschlossen,
und belebte sich nur im Verkehr mit Näherbefreundeten, dann
aber in wohlthuendster Weise. Die Gesichtsbildung machte im
Ganzen einen angenehmen Eindruck. Der fein geschnittene
Mund, meist etwas vorgeschoben, und wie zum
Pfeifen zugespitzt**) war nächst dem Auge die an-
ziehendste Partie seines vollen, runden, ziemlich lebhaft ge-
färbten Antlitzes, lieber der stumpfen Nase erhob sich eine
*) Sch. war kurzsichtig. Er spricht in den Jugendbriefen von
seinen „blöden Augen". M.
**) Von mir gesperrt. M.
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gewölbte Stirn, die an den Schläfen merklich in die
Breite ging*). Ueberhaupt hatte sein, von dunkelbraunem,
vollem und ziemlich langem Haar bedecktes Haupt etwas
Derbes, durchaus Kräftiges.
Der Ausdruck der Physiognomie war bei einer gewissen
Geschlossenheit der Züge für gewöhnlich ein gleichmässig mild-
ernster und wohlwollender. Das reiche Seelenleben spiegelte
sich in derselben keineswegs lebendig ab. Wenn Schumann
die freundliche, zutrauliche Miene annahm, was indessen nicht
zu häufig geschah, so konnte er geradezu bestechend auf seine
Umgebung wirken.
Beim Stehen — langes Stehen wurde ihm leicht lästig —
hatte er entweder beide Hände auf dem Rücken, oder doch
eine Hand, während er mit der anderen das Haar an der
Seite, den Mund oder das Kinn nachdenklich strich. Sass
oder lag er unbeschäftigt, so Hess er oft die aufgerichteten
Finger beider Hände gegeneinander spielen.
Die Art seines Verkehrs mit Andern war sehr einfach.
Er sprach raeist eben wenig oder garnicht, selbst wenn er um
etwas befragt wurde, oder doch nur in abgebrochenen Aeusse-
rungen, die indess stets seine Denkthätigkeit bei einem angeregten
Gegenstande verriethen. Eine manierirte Absichtlichkeit war
hierin nicht zu suchen. Seine Art zu reden erschien grossen-
theils wie ein Fürsichhinsprechen, um so mehr, da er sein
Organ dabei nur schwach und tonlos verwendete. Heber ge-
wöhnliche, alltägliche Dinge und Erscheinungen des Lebens
verstand er sich durchaus nicht zu unterhalten, denn leere
Redensarten waren ihm zuwider, und über wichtige, ihn leb-
haft interessirende Gegenstände Hess er sich nur ungern und
im Ganzen selten aus. Man musste bei ihm den günstigen
Moment abpassen. War dieser eingetreten, so konnte Schumann
auf seine Art auch beredt sein. Er überraschte dann durch
bedeutende, geistig hervorragende Bemerkungen, die den be-
rührten Gegenstand wenigstens nach einer Seite hin scharf
*) Von mir gesperrt. M.
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beleuchteten. Doch nur den wenigen vertrauten Personen
seines näheren Umganges gewährte er gelegentlich diese Gunst,
da er denn auch oft wieder lange mit ihnen zusammen sein
konnte, ohne dass es zu einer Unterhaltung gekommen wäre.
Von seiner Schweigsamkeit einer Person gegenüber durfte man
aber durchaus nicht auf eine Antipathie seinerseits schliessen.
Es war eben Charakterzug bei ihm, und zwar ein früh aus-
gebildeter. Sehr wohl war er sich dessen bewusst. . . .
Fremden, oder seinem Wesen nicht zusagenden Persön-
lichkeiten gegenüber konnten Schumanns gesellige Formen
leicht etwas Abstossendes annehmen. Namentlich war er
ebenso leicht durch eine gewisse unberufene cordiale Zutraulich-
keit wie durch Zudringlichkeit verletzt Von Launen und
einem etwas störrischen Sinn, namentlich während der letzten,
durch anhaltende, innere Leiden getrübten Lebensjahre, ist er
allerdings nicht ganz freizusprechen. Doch war der Kern
immer ein so edler und vortrefflicher, dass die angreifbaren
Seiten seiner Persönlichkeit kaum dagegen in Betracht kommen.
Am gemüthlichsten befand und zeigte er sich im engeren
Freundeskreise bei einem Glase Bier oder Wein. Zu gewissen
Zeiten bevorzugte er den Champagner, indem er ausdrücklich
zu bemerken pflegte : „Dieser schlägt Funken ans dem Geiste."
Bei solchen Gelegenheiten durfte die Cigarre nicht fehlen.
Schumann führte sehr feine und starke Cigarren, die er mit-
unter scherzweise „kleine Teufel" nannte.
Im Familienkreise war Schumann selten zugänglich;
genoss man aber diese [Bevorzugung, so empfing man den
wohlthuendsten Eindruck. Seine Kinder liebte er nicht minder
als seine Gattin, obschon er nicht die Gabe besass, mit jenen
sich andauernd und eindringlich zu beschäftigen. Traf er sie
zufällig auf der Strasse, so blieb er wohl stehen, langte seine
Lorgnette heraus und betrachtete sie einen Augenblick, indem
er mit zugespitzten Lippen freundlich sagte: „Nun ihr lieben
Kleinen?" Dann aber nahm er sogleich die vorige Miene an,
und setzte seinen Weg fort, als ob garnichts vorgefallen sei.
Das äussere Leben, welches Schumann während der
letzten Lebensjahre führte, war sehr einförmig und höchst
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regelmässig. Vormittags bis gegen 12 Uhr arbeitete er. Bann
unternahm er gewöhnlich in Begleitung seiner Gattin, und des
einen oder andern nähern Bekannten einen Spaziergang. Um
1 Uhr speiste er, und arbeitete dann nach kurzer Ruhe bis
5 oder 6 Uhr. Hierauf besuchte er meist einen öffentlichen
Ort, oder eine geschlossene Gesellschaft, deren Mitglied er war,
um Zeitungen zu lesen, und ein Glas Bier oder Wein zu
trinken. Um 8 Uhr kehrte er gewöhnlich zum Nachtmahl
nach Hause zurück.
Sogenannte Thee- und Abendgesellschaften besuchte
Schumann nicht häufig. Bisweilen sah er einen gewissen Kreis
von Bekannten und Kunstfreunden in seinem Hause. Er
konnte dann, wenn er sich in guter Stimmung befand, ein sehr
angenehmer Wirth sein; ja, es kamen einzelne Fälle während
des Düsseldorfer Lebens vor, bei denen er sich ungemein
heiter und aufgeräumt zeigte. Einmal schlug er sogar, nachdem
musicirt und soupirt worden war, einen allgemeinen Tanz
vor, an dem er sich zur freudigen Verwunderung aller An-
wesenden selbst lebhaft betheiligte.
In Berufsangelegenheiten war Schumann streng und gewissen-
haft, obgleich er fast niemals zu Aeusserungen der Heftigkeit oder
Leidenschaftlichkeit bei vorkommenden Ungehörigkeiten sich fort-
roissen Hess, und wenn es der Fall war, bald wieder in versöhntem
Tone sprach. Dies Letztere geschah auch , wenn er gegen eine ihm
sonst werthe Persönlichkeit einmal unfreundlich gewesen war, was
er hinterher sogleich empfand und wieder gut zu machen suchte.
Bei abweichenden Ansichten verhielt er sich gewöhnlich
schweigend; dies war dann aber ein sicheres Zeichen seiner,
nur nicht verlautbarten Opposition, auf Grund deren er bloss
handelte, wie er es für Recht erkannte. Bei einer Comite-
sitzung des Allgemeinen Musikvereins in Düsseldorf sollte ein
Beschluss gefasst werden, mit dem Schumann nicht einver-
standen war. Ohne ein Wort zu sprechen, griff er nach seinem
Hute, und verliess das Sitzungslokal. Gegen Böswilligkeit und
Gemeinheit der Gesinnung war er unerbittlich streng, und, wo
sie einmal sich ihm gezeigt hatte, auch für immer unversöhnlich.
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Von der Art und Weise, wie Schumann Kunstgenossen
begegnete (als Musiker und Kritiker), ist bereits im Verlaufe
der Darstellung ausführlich die Rede gewesen; in dieser Hin-
sicht wäre er als Muster aufzustellen. Von Neid oder Scheel-
sucht war keine Spur in ihm. Mit inniger Wärme und Freude
erkannte er das Grosse, Bedeutende und Talentvolle an,
namentlich wenn er sich durch verwandte Elemente an-
gesprochen fühlte. Im letzteren Falle zeigte er auch, was bei
seiner durch und durch deutschen Denkweise und Richtung
auffällt, begeisterte Theilnahme für fremdländische Kunst, obschou
er sich durchaus abwehrend gegen die neuere dramatische
Musik Frankreichs und Italiens verhielt, und in Bezug auf diese
auch niemals zu einer angemessenen in objektiver Anschauung
beruhenden Würdigung kam. Während der letzten Lebensjahre
bekundete er sogar für einige grosse Meister der Vergangenheit,
namentlich für Haydns und Mozarts Kunst zeitweilig weniger
Interesse. Ja, er liess selbst mituuter geringschätzende Worte
über namhafte Werke derselben fallen, und musste hierin
natürlich von den Meisten missverstanden werden; denn haupt-
sächlich war doch zunächst seine Krankheit die Ursache solcher
Aeusserungen, wenn auch nicht zu bezweifeln ist, dass das,
mit den vorrückenden Jahren immer mehr überhand nehmende
Einspinnen in seine eigene Ideenwelt, einen gewissen Antheil
daran hatte."
Vom Charakter im engeren Sinne zu reden, Schumann
glich seinem Vater durchaus durch Herzensgüte und unermüd-
lichen Fleiss. Seinen edlen Sinn zeigte er z. B. in seinem
Verhalten gegen die Schikanen Wiecks und in seiner bei einem
Musiker unerhörten Neidlosigkeit. Als Componist und Dichter
kannte er keine Trägheit, unerschöpflich brachte er aus seinem
Inneren Neues zu Tage. Wie später zu zeigen ist, wurde seine
Thätigkeit oft durch Krankheit unterbrochen, und Schumanns
Umgebung, sowie die Biographen sprechen dann von Ueber-
anstrengung, sehen in der Arbeit die Ursache der Krankheit,
eine Auffassung, die kaum das Rechte treffen dürfte. Schumann
war ein überaus zärtlicher Liebhaber und treuer Gatte, was in
rührender Weise durch die Briefe und Tagebuchauszüge in
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Litzmanns Buche über Clara Schumann dargethan wird. Als
Vater scheint er mehr passiv gewesen zu sein. In hohem
Grade besass er Eigenschaften, die man den Künstlern im
Allgemeinen zuzuschreiben pflegt: Hingegebensein an Stim-
mungen, rasche üebergänge von Traurigkeit oder Muthlosigkeit
zu Heiterkeit und Zuversicht, einen gewissen Leichtsinn dem
Alltäglichen, dem sogenannten Practischen gegenüber und ge-
wisse weibliche Züge. Die meisten Künstler haben mehr Weib
in sich als der gewöhnliche Mann, bei Schumann aber war
dies in hohem Grade der Fall. Schon das Aeussere, besonders
der durchaus weibliche Unterkiefer deutet es an. „Was Schu-
mann als Liedersänger den anderen epochemachenden Meistern
gegenüber ganz besonders auszeichnet, ist jene edle Gefühls-
schwärmerei, die man als eine echt weibliche bezeichnen
könnte 44 [W]. In einem Briefe aus dem Jahre 1833 erzählt
der junge Schumann von einem „Psychometer". Er spricht
von Magnetstäben u. s. w. ; wahrscheinlich ist der Apparat so
eingerichtet gewesen, dass der Untersuchte durch unwillkür-
liche Bewegungen den Zeiger lenkte. Wir würden also eine
Art von Selbstschilderung vor uns haben. Abgesprochen
werden Schumann folgende Eigenschaften : kühn, heldenmuthig,
neidisch, prachtliebend, rechthaberisch, listig. Zugesprochen:
hypochondrisch, still, schüchtern, zartsinnig, gutmüthig, eigen-
sinnig, gefühlreich, genial, schwärmerisch, tiefsinnig, empfindlich,
edelmüthig, gesellig.
Ferner schalte ich hier eine graphologische Analyse ein,
die Frau Thumm-Kintzel in Lichterfelde bei Berlin auf meinen
Wunsch hin angestellt hat. Es lagen ihr eine Schriftprobe
aus dem Jahr 1842 und eine kürzere vor, die wahrscheinlich
um mehrere Jahre jünger ist.
„Ein weicher, äusserst gemüthvoller und durch und durch
nobler und generöser Charakter spricht aus diesen Schriftzügen.
Das Weiche streift fast ans Weichliche, zumal es Schumann
an Entschlussfähigkeit ermangelte und er besonders in seinen
Gefühlen sehr leicht zu beeinflussen war.
Viel Eifer und Fleiss, ja ein fast hastiger Drang nach
Beschäftigung machen sich geltend, der zu dem sonst Bequem-
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lichkeit-Liebenden, fast Schlaffen dieser Handschrift in merk-
würdigem Gegensatz steht und vermutlich nervösen Charakters ist.
Starker Argwohn und intensives Misstrauen raachen sich
geltend, auch zeigt schon diese Handschriftprobe leichte psy-
chische Anomalien.
Schumann war von Hause aus eine heitere Natur mit
viel Sinn für die Freude, viel Sinn für Scherz und Komik, —
auch viel Sinn für erotische Freuden. Und doch zeigt seine
Handschrift — besonders in der zweiten Schriftprobe — eine
tiefe Schwermuth, eine fast krankhafte Melancholie.
Die Handschrift ist wunderbar ästhetisch, nicht nur reich
an den mannigfaltigsten musikalischen Kurven, sondern auch
reich an bildnerischen Zeichen, Kurven, die auf ein starkes
Talent für Formen und Farben hinweisen. Endlich zeigt sie
noch eine sehr poetische Phantasie.
Die Handschrift ist geistvoll und scharfsinnig. Sie deutet
auf einen philosophischen Kopf, der an der Form der Dinge
nicht haften blieb, sondern nach ihrem Wesen forschte.
Ein guter Geschäftsmann war Schumann nicht, viel zu
sehr Künstler und Philosoph, auch viel zu grossmüthig ver-
anlagt.. Sein Geld hat er wohl vielfach unbedachtsam, ja
ungeschickt verausgabt
In Bezug auf Ordnung war er mindestens genial, und
zwar von Hause aus.
Die Handschrift macht einen ausgesprochen blonden,
blauäugigen Eindruck, — es würde mich sehr interessiren zu
erfahren, ob das zutreffend ist
Bei aller Weichheit und Liebenswürdigkeit seines Charakters
konnte Schumann übrigens auch scharf, ja feindlich werden,
besonders unliebsamen Leuten gegenüber.
Eine gewisse Diplomatie und endlich ein schauspielerisches
Talent sind noch zu erwähnen.
Schliesslich möchte ich noch bemerken, dass das Miss-
trauische und auch das Scharfe, Feindliche in der späteren
Schriftprobe sehr viel entwickelter ist, dass es hier einen fast
bösartigen Charakter zeigt"
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Von den „kleinen Eigenheiten" ist Schumanns Schweig-
samkeit am auffallendsten. Richard Wagner bat sich ganz
entsetzt über sie geäussert Wie weit die Sache ging, zeigt ein
von Wasielewski berichteter Vorgang. Der junge Schumann kam
eines Abends unangemeldet zu der befreundeten Familie Voigt,
nickte freundlich, „die Lippen in pfeifender Stellung, wie er
gewöhnlich that, wenn ihm innerlich wohl war", legte den
Hut ab, öffnete das Ciavier, griff ein paar Accorde, schloss
das Instrument und verschwand, wie er gekommen war, ohne
ein Wort gesprochen zu haben. Immer war Schumann zu
einem gleichmässigen, ruhigen Leben geneigt. In jüngeren
Jahren scheint er etwas viel Bier getrunken zu haben, doch
scheint auch damals die Massigkeit im weiteren Sinne des
Wortes nicht oft verletzt worden zu sein. In Leipzig hat er
Abends gewöhnlich still im „Kaffeebaum" gesessen, hat dann
zu Hause noch geschrieben. Als er bei Frau Devrient im
rothen Colleg wohnte, spricht er von „künstlichen Mitteln",
um seine Abspannung su beseitigen. Auch scheint es damals
einen Krach mit der Wirthin gegeben zu haben, an dem viel-
leicht diese Mittel schuld waren. Er schrieb dann, das
melancholische Wetter und innere schwere Leiden hätten ihn
wüst gemacht.
Eigentliche Noth hat Schumann nie erfahren. Der Kampf
um die Braut war zwar lang und peinlich, aber die Ehe war
durchaus glücklich. Schumann wurde Vater von acht Kindern.
Eins starb früh an „Drüsenauszehrung", zwei sind nach des
Vaters Tode in reifem Alter gestorben, fünf haben 1880 noch
gelebt. Im Jahr 1832 ist von „vorzeitiger Niederkunft" der
Frau die Rede: Ich weiss nicht, ob es sich um eine Fehlgeburt
gehandelt hat, ein Kind wird nicht erwähnt. Sonst sind keine
Fehlgeburten vorgekommen. An Verdruss und Aufregung hat
es natürlich bei Schumann auch nicht gefehlt, aber es war
schliesslich nicht mehr, eher weniger als die meisten Menschen
zu erdulden haben.
Nun zu dem eigentlich Krankhaften.
Im Jahr 1830 hatte sich Schumann durch gewaltsame
Fingerübungen, bei denen er sich in sein Zimmer einge-
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schlössen hatte, den dritten Finger der rechten Hand beschädigt,
so dass dieser sich aufwärts bewegte, wenn er die Taste be-
rühren sollte. Etwas Genaueres über die Sache ist nicht bekannt.
Schumann bedient sich nur allgemeiner Ausdrücke. Im Herbste
1831 wird von „Erlahmung" der ganzen rechten Hand ge-
sprochen. Dann aber ist es offenbar allmählich besser geworden,
denn Schumann hat sein Lebenlang viel Klavier gespielt, wenn
auch der Fingerkrampf ihm ein für allemal die Virtuosenthätig-
keit verleidet hatte. Im Jahre 1831 wurde Schumann von
Choleraangst ergriffen: „Ich hatte mir aber vor 14 Tagen so
himmelfest eingebildet, ich bekäme die Cholera, und ich müsste
daher reisen, weit, sehr weit, etwa nach Neapel oder Sicilien —
die ganze Furcht ist seit einigen Tagen verschwunden mitsammt
der Reiselust".
Im Sommer 1833 hatte sich Schumann, als er in Reichels
Oarten wohnte, Malaria zugezogen, die damals längs des Pleissen-
ufers häufig war. Er klagt sehr, spricht von der „martervollen
Krankheit". „Nicht einmal waschen darf ich mich". Im
September hatte Schumann eine hochgelegene Wohnung (Burg-
strasse 21, IV) bezogen. Als nun seine Schwägerin Rosalie
gestorben war, gerieth er in heftige Gemüthsbewegung, und
er soll sich zum Fenster hinauszustürzen versucht haben. Er
selbst spricht von „der fürchterlichen Nacht des 17. Oktober"
und von peinigendem Angstgefühle. Es folgte „fürchterliche
Melancholie" mit Apathie. Seitdem hatte er eine Scheu vor
hohen Stockwerken. „Ich bekomme an solchen Stellen Schwindel
und Uebligkeiten, und kann mich in hohen Stocks nicht lange
aufhalten" (Brief vom 5. August 1838). Ueber die „fürchter-
liche Nacht u schreibt Schumann Folgendes an Clara Wieck am
11. Februar 1838: „Dies war im Sommer 1833. Dennoch
fühlte ich mich nur selten glücklich: es fehlte mir etwas; die
Melancholie, durch den Tod eines lieben Bruders noch mehr
über mich herrschend, nahm auch noch immer zu. Und so
sah es in meinem Herzen aus, als ich den Tod von Rosalien
erfuhr. — Nur wenige Worte hierüber, in der Nacht
vom 17. zum 18. Oktober 1833 kam mir auf einmal der fürchter-
lichste Gedanke, den je ein Mensch haben kann, — der fürchter-
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lichste, mit dem der t Himmel strafen kann — der ,den Verstand
zu verlieren' — er bemächtigte sich meiner aber mit so einer
Heftigkeit, dass aller Trost, alles Gebet wie Hohn und Spott
dagegen verstummte. — Diese Angst aber trieb mich von Ort
zu Ort — der Athem verging mir bei dem Gedanken, ,wenn
es — [? unleserlich] würde, dass du nicht mehr denken könntest —
Clara, der kennt keine Leiden, keine Krankheit, keine Ver-
zweiflung, der einmal — so vernichtet war — damals lief ich
denn auch in einer ewigen fürchterlichen Aufregung zu einem
Arzt — sagte ihm alles, dass nur die Sinne oft vergingen,
dass ich nicht wüsste, wohin vor der Angst, ja dass ich nicht
dafür einstehen könnte, dass ich in so einem Zustand der
äussersten Hilflosigkeit Hand an mein Leben lege". Bemerkens-
werth ist noch folgendes Crtheil Schumanns über sich selbst
(28. Nov. 1837): „Was aber diese ganze dunkle Seite meines
Lebens anlangt, so möchte ich Dir ein tiefes Geheimniss eines
schweren psychischen Leidens, das mich früher befallen
hatte, einmal offenbaren; es gehört aber viel Zeit [da] zu und
umschliesst die Jahre vom Sommer 1833 an. Du sollst es
aber noch erfahren einmal und hast dann den Schlüssel zu
allen meinen Handlungen, meinem ganzen sonderbaren Wesen".
Im November 1833 schreibt er: da „ich nicht den Muth habe,
allein nach Zwickau zu reisen, aus Furcht, es könne mir
etwas geschehen. Heftiger Blutandrang, unaussprechliche
Angst; Vergehen des Athems, augenblickliche Sinnesohnmacht
wechseln rasch, obgleich jetzt weniger als in den vergangenen
Tagen. Wenn Du eine Ahnung dieses ganz durch Melancholie
eingesunkenen Zustandes hättest, so verziehest Du gewiss, dass
ich nicht geschrieben".
Am 31. Dezember 1836 schreibt er an seine Schwägerin
Therese: „Ach bleibe mir gut! In einer tödtlichen Herzens-
angst, die mich manchmal befällt, hab' ich Niemanden als Dich".
An Clara schreibt er 1838, der Beginn des Jahres 1837 sei
eine schlimme Zeit gewesen wegen der Entfremdung zwischen
beiden. „Da sagte ich oft des Nachts zu Gott — , nur das
Eine lass geduldig vorübergehen, ohne dass ich wahnsinnig
werde, ich dachte einmal Deine Verlobung in den Zeitungen
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zu finden — da zog es mich am Nacken zu Boden, dass ich
laut schrie". Doch dauerten wahrscheinlich die Verstimmungen
nicht lange an. Am 11. September 1837 z. B. schreibt
er Goethes Enkel: „Ich bin jetzt trefflicher Laune und
fliege viel".
Aus den nächsten Jahren erfahren wir nicht viel über
ernstliche Störungen. Jedoch fehlte es an vorübergehenden
Verstimmungen nicht. Am 14. April 1838 schrieb Schumann
zwar: „Das ist ein göttlich Ding, dieses nüchterne, arbeitsame
Leben. Ja, ich glaube — und dies Geständniss soll Dir merk-
würdig sein — meine Melancholie ist gar nicht so weit her
und war nur Folge des Sitzens in die Nacht hinein". Aber
am 20. Juni heisst es: „Krank bin ich. Und wie lange wird
dies alles währen. Es steht alles so schreckhaft still jetzt".
Am 1. August: „Ich war die Tage her so schrecklich traurig,
krank und angegriffen, dass ich dachte, meine Auflösung wäre
nahe 1 '. Am 10. April 1839 berichtet er von seinen „Ahnungen"
vor dem Tode seines Bruders Eduard: er habe zur Zeit des
Sterbens einen Choral von Posaunen gehört. Auch im Sommer
zeigt sich wieder Verdüsterung. „Nun bitte ich Dich, meinen
Namen manchmal leise dem Höchsten auszusprechen, dass er
mich beschützen möge; denn ich kann Dir sagen, ich kann
kaum noch beten, so bin ich vom Schmerz niedergebeugt und
verstockt. Ich habe doch eine grosse Schuld auf mir, dass
ich Dich von Deinem Vater getrennt habe — und dies foltert
mich oft". Dann folgen wieder Ahnungen von Todesfällen.
„Das alles sag ich Dir mit recht schwacher Stimme; denn mir
ist es hier, als müsst ich mich auch gleich hinauslegen, wo so
viele liegen, die mich geliebt .... nur bin ich manchmal sehr
krank jetzt, so eigen schwach im ganzen Körper und namentlich
auch im Kopf; das ist vom vielen Sinnen. Du musst es auch
an meinen Briefen merken. Es greift mich Alles so fürchterlich
an*'. Auch im Herbste des Jahres 1839 zeigte Schumann
manchmal seltsame Launen. Im Jahre .1840 heirathete
Schumann, und in den folgenden Jahren soll er sich in
gehobener Stimmung befunden und viel componirt haben. Von
nun an liegen nicht nur Briefe vor, sondern auch Angaben
2*
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des Tagebuches, das von dem Ehepaare, besonders aber von
der Frau geführt wurde.*)
Im Herbste 1842 erkrankte Schumann an „Nerven-
schwäche", wie er selbst es nennt, angeblich durch Ueber-
arbeitung. Im Frühjahre 1843 wurde es besser und Schumann
konnte seine Arbeit wieder aufnehmen.
Im Jahre 1844 unternahm Frau Schumann eine Concert-
reise nach Russland, auf der Schumann sie begleitete. In
Dorpat erkältete er sich stark und lag sechs Tage lang zu Bett.
Es waren „rheumatische Beschwerden mit Angsterscheinungen* 4 .
Dann folgte „trübste Melancholie". In Moskau traten heftige
Schwindelanfälle auf, und Schumann zeigte sich sehr reizbar.
Er litt unter dem Gedanken, nur der Mann seiner Frau zu
sein, und notirte: „Kränkungen kaum zu ertragen". In Moskau
schrieb Schumann auch fünf Gedichte nieder. „Man kann sie
nicht ohne schmerzliche Erschütterung lesen, diese in der Form
wie im Inhalt eine merkwürdige Hilflosigkeit verrathenden
Zeugen dunkelster Stunden. Erscheinen sie jetzt doch wie
Vorboten der Schatten, die zehn Jahre später für immer über
sein Leben Macht gewannen." Nach der Rückkehr bestand
noch körperliches Unbehagen, aber Schumann konnte doch
arbeiten. Im August „ernstliche Erkrankung", „eine gänzliche
Abspannung der Nerven, die ihm jede Arbeit unmöglich
machte" (T). Eine im September zur Erholung unternommene
Harzreise verlief schlecht. Er „konnte kaum über das Zimmer
ohne grösste Anstrengung gehen" (T). Im October siedelte die
Familie nach Dresden über. „Es vergingen nun acht schreck-
liche Tage. Robert schlief keine Nacht, seine Phantasie malte
ihm die schrecklichsten Bilder aus, früh fand ich ihn gewöhn-
lich in Thränen schwimmend, er gab sich gänzlich auf" (T).
Nur langsam wurde der Zustand besser. Der behandelnde
Arzt war damals Dr. Heibig, ein Homöopath. Sein Bericht folgt.
„Robert Schumann kam im October 1844 nach Dresden
und war namentlich durch die Composition des Epilogs von
Goethes Faust so sehr in Anspruch genommen worden, dass
T = Tagebuch.
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er bei Abfassung des Schlusses dieses Musikstückes in einen
krankhaften Zustand verfiel, der sich durch folgende Erschei-
nungen aussprach: Sobald er sich geistig beschäftigte, stellten
sich Zittern, Mattigkeit und Kälte in den Füssen und ein angst-
voller Zustand ein mit einer eigentümlichen Todesfurcht, die
sich durch Furcht vor hohen Bergen und Wohnungen, vor
allen metallenen Werkzeugen (selbst Schlüsseln), vor Arzneien
und Vergiftungen zu erkennen gab. Er litt dabei viel an
Schlaflosigkeit und befand sich in den Morgenstunden am
schlechtesten. Da er an jedem ärztlichen Recepte so lange
studirte, bis er einen Grund gefunden hatte, die ihm ver-
schriebene Arznei nicht einzunehmen, so verordnete ich kalte
Sturzbäder, welche auch seinen Zustand so weit verbesserten,
dass er wieder seiner gewöhnlichen (einzigen!) Beschäftigung,
der Compositum, nachhängen konnte. Da ich eine ähnliche
Gruppe von Krankheitszufällen mehrmals bei solchen Männern,
namentlich bei Expeditionern beobachtet hatte, welche im
Uebermaass mit einer und derselben Sache (stetem Addiren etc.)
beschäftigt waren, so führte dies zu dem Rathe, dass Schumann
sich mindestens zeitweise mit einer Geistesarbeit anderer Art,
als Musik, beschäftigen und zerstreuen möge. Er wählte selbst
bald Naturgeschichte, bald Physik etc., stand aber schon nach
ein bis zwei Tagen davon ab, und hing, er mochte sein wo er
wollte, in sich gekehrt seinen musikalischen Ideen nach."
„Lehrreich für den Beobachter waren die mit dem hohen
Grad von Entwickelung des Musik- und Gehörsinnes zusammen-
hängenden Gehörstäuschungen und das eigentümliche Gemüths-
leben des Mannes. Das Ohr ist der Sinn, welcher in Nacht
und Finsterniss am thätigsten ist, am spätesten einschläft, am
frühesten erwacht, durch den sich selbst bei Fortdauer des
Schlafs auf den Menschen durch Zuflüstern wirken lässt, der
am meisten mit dem Gefühlsvermögen in Verbindung steht
und in dessen Nähe die Organe der Vorsicht, Rache, Offensive,
des Tonsinns etc. gelegen sind. Wer die Attribute der Finster-
niss und Nacht, welche aufzuzählen der Raum nicht gestattet,
sich vergegenwärtigt und damit Schumanns Gemüthsleben ver-
gleicht, dem wird hierüber vieles erklärlich werden. Wenn
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wir bedenken, dass das Auge kein Licht empfinden, das Hirn
keinen Gedanken verstehen könnte, wenn ersteres nicht Licht,
letzteres nicht Gedanken in sich schaffen könnte, so wird uns
auch ein Aufschluss über Schumanns Gehörstäuschungen
werden."
Hier hören wir zum ersten Male von Gehörstäuschungen !
Im December schreibt Schumann selbst an Dr. E. Krüger:
. . . „wie sehr krank ich war an einem allgemeinen Nerven-
leiden, das mich schon seit einem Vierteljahre heimgesucht/ 4
Im Mai 1845 heisst es: „Roberts Nervenübel will noch
immer nicht weichen' 1 (T). Schumann schreibt am 17. Juli
an Mendelssohn : . . . „was für einen schönen Winter ich
gehabt, wie eine gänzliche Nervenabspannung und in ihrem
Geleit ein Andrang von schrecklichen Gedanken mich fast zur
Verzweiflung gebracht." Eine im August beabsichtigte Rhein-
reise musste wegen starker Schwindelanfälle abgebrochen werden.
Im September heisst es in einem Briefe an Mendelssohn : „Et-
was besser geht mir's schon: Hofrath Carus hat mir Früh-
Morgen-Spaziergänge angerathen, die mir denn auch sehr gut
bekommen: doch langt es überall noch nicht und es juckt und
zuckt |?J mich täglich an hundert verschiedenen Stellen. Ein
geheimnissvolles Leiden — wenn es der Arzt anpacken will,
scheint es zu entschlüpfen". Die Besserung schritt fort und
der Winter scheint gut gewesen zu sein.
Schon im März 1846 traten wieder neue Störungen ein.
Angeblich durch Ueberanstrengung bekam Schumann Singen
und Brausen im Ohre, „sodass ihm jedes Geräusch zu Klang
wurde." Ruhe und Biliner Wasser schienen Besserung zu
bringen. Im Mai Schwindelanfälle; „dabei tiefe Hypochondrie".
Als er sich in Maxen bei Pirna aufhielt, heisst es im Tage-
buche: „er kann es nicht überwinden, dass er (von seinem
Zimmer aus) immer den Sonnenstein sehen muss." Dabei
fühlte er sich sehr matt, und jeder Spaziergang wurde ihm
zur Qual. Im Juni starker Blutandrang nach dem Kopfe,
grosse Unruhe und vollständige Unfähigkeit, zu arbeiten. Eine
im Juli und August unternommene Reise nach Norderney
wirkte, obwohl die trüben Gedanken nicht aufhörten, ent-
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schieden günstig. Vor der Seereise klagte Schumann in einem
Briefe über sein Gehör: „ich verlor jede Melodie wieder, wenn
ich sie eben erst in Gedanken gefasst hatte, das innere Hören
hatte mich zu sehr angegriffen*'. Der Winter war gut bis auf
einzelne Schwindelanfälle und Verstimmungen.
Auch in den folgenden Jahren scheinen die schlechten
Zeiten verhältnissmässig kurz gewesen zu sein. Im Januar
1848 z. B.: Üeberreizung und Abspannung der Kopfnerven,
,,wie er sie selten schlimmer empfunden' 1 . „Trübe Tage" (T).
Im Februar: Besserung, leichte Arbeiten. Die vielfach unter-
brochene Production nahm nach Wasielewski von 1847 an wesent-
lich zu und erreichte mit 30 grösseren und kleineren Werken
im Jahre 1849 ihren Höhepunkt Dabei muss sich Schumanns
Zustand doch allmählich verschlechtert haben, denn in dieser
Zeit wird zuerst von thörichten Handlungen berichtet, von plötz-
lichen und unmotivirten Abänderungen festgefasster Beschlüsse.
Schumann Hess z. B. die schon gepackten Koffer wieder aus-
packen , „weil die Ausgabe für das Vergnügen zu gross sei."
Keferstein erzählte später, Schumanns Zustand in Dresden sei
ihm recht bedenklich vorgekommen. Schumann habe ihm z. B.
Steinwein vorgesetzt, den er für theures Geld vom Brocken-
wirthe verschrieben hatte.
Ueber die Zeit bis 1850 schreibt Litzmann (X. S. 128):
„Man gewinnt aus diesen Angaben, auch wenn man sonst
gar nichts weiter von der Vergangenheit und Zukunft des
Betreffenden wüsste, doch sicher das Bild der Lebenslinie
eines kranken Mannes und einer Krankheit, die in wechselnder
Stärke und mit längern Ruhepausen und mit wechselnden
Symptomen, aber doch mit unheimlicher Regelmässigkeit immer
wieder in TJeberreizungserscheinungen zu tage tritt, die wieder,
was hier allerdings nur erst zwischen den Zeilen zu lesen war,
ausnahmslos mit geistiger Ueberanstrengung in ursächlichem
Zusammhange stehen, die allemal bei längerer Enthaltung von
aller anstrengenden Arbeit sich verlieren, aber immer wieder
wie ein Feind aus dem Hinterhalte hervorbrechen, sobald der
Patient seiner neugewonnen Kraft froh zu werden beginnt und
zur Arbeit zurückkehrt.
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Und wenn man nun einen Blick in das Kompositions-
verzeichniss Schumanns aus den Jahren 1845—1850 wirft und
sich dabei klar macht, welch eine überwältigende Fülle von
schöpferischer Kraft nach den verschiedensten Richtungen hin
dieser, von solchen Dämonen unablässig belauerte und ver-
folgte Geist, den versagenden Nerven zum Trotz, mit eiserner
Energie seinem schwachen Körper und seinem zartorganisirten
seelischen Organismus abzuringen gewusst, so weht es einem
an wie der Anhauch vom Grabe eines Helden. Keiner, auch
die nächsten nicht, hatten doch eine deutliche Vorstellung
davon, mit welchen Gewalten der oft so verdüsterte, unzu-
gängliche, reizbare, launische Mann zu kämpfen hatte, und vor
allen Dingen keiner, dass das, was er da in schier unerschöpf-
licher Fülle an Wohllaut über seine Zeit ausströmen liess,
erkauft war im eigentlichen Sinne des Wortes mit der langsamen
Zerstörung seiner Lebenskraft.
Schumanns letzte verderbliche Krankheit, urth eilte nach-
mals die berufenste Stimme*), war nicht .... eine primäre
spezifische Geisteskrankheit; sie bestand vielmehr in einem
langsam aber unaufhaltsam sich vollziehenden Verfall der
Organisation und der Kräfte des Gesammtnerven Systems, von
welchem die psychische Alienation nur eine Theilerscheinung
war. Abgesehen von einem etwa in seiner ursprünglichen
Organisation gelegenen Krankheitskeim, wie ihn wohl jeder
Mensch in sich trägt, hatte dieses Leiden, wie immer, seine
Ursache in einem durch Ueberanstrengung herbeigeführten
Verbrauch und Hinschwinden der Substanz der psychisch
fungirenden Zentraltheile des Nervensystems, mit welchem die
Wiederherstellung derselben nicht mehr gleichen Schritt zu
halten vermochte. Ein ungemessenes geistiges, zumal künstle-
risches Produciren muss als die ergiebigste Quelle für diese
schreckliche, allen Heilbemühungen trotzende Krankheit be-
trachtet werden".
*) Geh. Rath Richarz, der Leiter der Endenicher Anstalt,
Schumanns letzter Arzt, in einem Aufsatze der Kölnischen Zeitung
a. d. J. 1873: Rob. Schumann.
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Im Jahre 1850 wird wieder „Ueberanstrengung", „Ueber-
reizung" citirt; die Angst vor hochgelegenen Wohnungen tritt
stärker hervor; der Gedanke, so zu sterben wie Mendelssohn,
wird zur fixen Idee. In einem Brief an F. Hiller von 1849
erkundigte er sich, ob er in Düsseldorf ein Irrenhaus erblicken
müsse. „Ich muss mich sehr vor allen melancholischen Ein-
drücken der Art in Acht nehmen' 1 . „Die ganze Zeit her litt
ich an Kopfschmerzen, die mich an allem Arbeiten und Denken
hinderten".
Am 1. September 1850 siedelte Schumann nach Düsseldorf
über. Ueber die erste Zeit erfährt man nicht viel, dann aber
scheint es deutlich abwärts gegangen zu sein. Freilich die
Frau scheint bis kurze Zeit vor der Katastrophe nichts gemerkt
zu haben, wir wissen aber, dass die Angehörigen, besonders
die weiblichen, recht beträchtliche Veränderungen des Geistes-
zustandes oft gar nicht wahrnehmen. Schon 1852 werden
„Apathie, Verträumtheit, eigentümliche, sich zeitweise bemerkbar
machende Schwerfälligkeit im Sprechen, Nachlassen der musika-
lischen Gestaltungskraft"' erwähnt. Nach Spitta soll man manche
der Düsseldorfer Compositionen „nicht ohne peinliche Empfindung"
hören können. Wasielewski sagt, die schwerfällige Sprache sei vor-
her schon vorhanden gewesen, sei nur in höherem Grade jetzt auf-
getreten. Schumanns körperliche Haltung war schlaff, es ging
ihm alles zu rasch, und er verlangte beim Dirigiren Verlang-
samung der Tempi. Dabei war das subjektive Krankheitgefühl
geringer als früher und der Drang zur Composition sehr lebhaft
Im Sommer 1852 „ernstliche Erkrankung 4 '. Zuerst „rheumatisches
Leiden". Dann „Schlaflosigkeit, Gemüthsverstimmung". Schumann
suchte Erholung in Godesberg, schadete sich aber wohl mehr
durch Herumlaufen in der Hitze. Am 2. Juli „nervöser Krampf-
anfall". In Düsseldorf brauchte Schumann dann Rhein-Bäder.
„Robert ist schrecklich heimgesucht von hypochondrischen Ge-
danken" (T). Doch dirigirte er zuweilen noch. Im August
notirt er selbst: „Traurige Ermattung meiner Kräfte". „Schwere
Leidenszeit". Im Herbste wurde es besser. Im October wieder
ein Schwindelanfall. Im November schreibt Schumann : „Besuch
von Hill er. Merkwürdige Gehörsaffectionen". Im December
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heisst es in einem Briefe an R. Pohl: „Ich lag fast die Hälfte
dieses Jahres sehr krank darnieder an einer tiefen Nerven-
verstimmung — Folge vielleicht zu angestrengter Arbeit. Erst
seit 5 — 6 Wochen geht es mir wieder besser".
Im Jahre 1853 begeisterte sich Schumann für das Tisch-
rücken, und zwar, wie seine Freunde meinten, in krankhafter
Weise. Er componirte viel und war in der Regel heiter.
Am 30. Juli ein Anfall, den Schumann „Nervenschlag" nannte,
den der Arzt ihm zum Tröste als Hexenschuss bezeichnete, den
Freunden gegenüber aber als bedenkliches Zeichen. Mehr und
mehr traten die Gehörstäuschungen hervor: „ich kann nicht
mehr lesen, ich höre fortwährend A." Im August notirt Schumann
selbst: „sonderbare Sprachorganschwäche a . Dabei immer „heitere,
fast gehobene Stimmung". Im Tagebuche findet man: „heiter",
„Freude". Auf einer Reise nach Holland im November nächt-
licher Anfall der „unnatürlichen Gehörsaffectionen". Im Winter
glaubte Schumann einen Ton zu hören, aus dem sich allmählich
Harmonieen, ja ganze Tonstücke entwickelten. Endlich traten
auch Geisterstimmen hinzu, die bald in versöhnendem, bald in
verfolgendem, vorwurfsvollem Tone ihm Zuflüsterungen machten.
Im Anfange des Jahres 1854 brach der Kranke zusammen.
Schumanns eigenhändige Eintragungen in sein Ausgaben-
buch lauten (Litzmann II p. 295):
„10. [Februar 1854.] Abends sehr starke und peinliche
Gehöraffection.
11. Traurige Nacht (Gehör- und Kopfleiden). Mit Dietrich
auf der Bibliothek.
12. Noch schlimmer, aber auch wunderbar zeigt
sich Ein fest Burg.*)
13. Wunderbare Leiden.
14. Am Tage ziemlich verschont. Gegen Abend sehr
stark, musiciren. (Wunderschöne Musik.)
15. Leidenzeit Dr. Hasenclever.
16. Nicht besser. Alle Gedichte zusammengetragen.
•) Brief an Jul. Stern vom 12. Februar: „Ich lebe oft in lieb-
lichen Sphären, wo es mir sehr gut gefällt".
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17. Besser".
18. und 19. fehlt jede Eintragung.
Am 20. ist noch das „Wochengeld" gebucht.
Am 21. eine ganze Reihe von Ausgaben.
Am 22. nichts: am 23. noch einmal Ausgaben. 24., 25.,
26. noch vorgezeichnet, aber nicht mehr ausgefüllt.
Die Aufzeichnungen der Frau Sch. giebt ebenfalls Litz-
mann (II p. 95) wieder. „Freitag, den 10., in der Nacht auf
Sonnabend, den 11., bekam Robert eine so heftige Gehörs-
affektion die ganze Nacht hindurch, dass er kein Auge schloss.
Er hörte immer ein und denselben Ton und dazu zuweilen
noch ein andres Intervall. Den Tag über legte es sich. Die
Nacht auf Sonntag, den 12., war wieder ebenso schlimm und
der Tag auch, denn das Leiden blieb nur zwei Stunden am
Morgen aus und stellte sich schon um 10 Uhr wieder ein.
Mein armer Robert leidet schrecklich! Alles Geräusch klingt
ihm wie Musik ! Er sagt, es sei Musik so herrlich mit so
wundervoll klingenden Instrumenten, wie man auf der Erde
nie hörte! Aber es greift ihn natürlich furchtbar an. Der
Arzt sagt, er könne gar nichts thun. Die nächstfolgenden
Nächte waren sehr schlimm — wir schliefen fast gar nicht
Den Tag über versuchte er zu arbeiten, doch es gelang
ihm nur mit entsetzlicher Anstrengung. Er äusserte mehrmals,
wenn das nicht aufhöre, müsse es seinen Geist zerstören
Die Gehörsaffektionen hatten sich soweit gesteigert, dass er
ganze Stücke wie von einem vollen Orchester hörte, von An-
fang bis zum Ende, und auf dem letzten Akkorde blieb der
Klang, bis Robert die Gedanken auf ein andres Stück lenkte.
Ach, und nichts konnte man thun zu seiner Erleichterung !
Die Gehörstäuschungen steigerten sich vom 10. — 17. Fe-
bruar in hohem Grade. Wir nahmen einen andern Arzt,
Regimentsarzt Dr. Böger, an, und auch Hasenclever kam tag-
lieh, jedoch nur als rathender Freund.
Freitag, den 17., nachts, als wir nicht lange zu Bett
waren, stand Robert wieder auf und schrieb ein Thema auf,
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welches, wie er sagte, ihm die Engel vorsangen;*) nachdem er
es beendet, legte er sich nieder und phantasirte nun die ganze
Nacht, immer mit offenen, zum Himmel aufgeschlageneu
Blicken; er war des festen Glaubens, Engel umschweben ihn
und machen ihm die herrlichsten Offenbarungen, alles das in
wundervoller Musik; sie riefen uns Willkommen zu, und wir
würden beide vereint, noch ehe das Jahr verflossen, bei ihnen
sein . . . Der Morgen kam und mit ihm eine furchtbare
Änderung! Die Engelstiramen verwandelten sich in Dämonen-
stimmen mit grässlicher Musik; sie sagten ihm, er sei ein
Sünder, und sie wollen ihn in die Hölle werfen, kurz, sein
Zustand wuchs bis zu einem förmlichen Nervenparoxysraus;
er schrie vor Schmerzen (denn wie er mir nachher sagte,
waren sie in Gestalten von Tigern und Hyänen auf ihn los-
gestürzt, um ihn zu packen), und zwei Aerzte, die glücklicher-
weise schnell genug kamen, konnten ihn kaum halten. Nie
will ich diesen Anblick vergessen, ich litt mit ihm wahre
Folterqualen. Nach etwa einer halben Stunde wurde er
ruhiger und meinte, es lassen sich wieder freundlichere
Stimmen hören, die ihm Muth zusprechen. Die Aerzte brachten
ihn zu Bett, und einige Stunden Hess er es sich auch gefallen,
dann stand er aber wieder auf und machte Korrekturen von
f
«einem Violoncellkonzert, er meinte dadurch etwas erleichtert
zu werden von dem ewigen Klange der Stimmen. Sonntag,
den 19., brachte er im Bett zu unter grossen Qualen der bösen
Geister! Dass wirklich überirdische und unterirdische Menschen
ihn umschweben, liess er sich durchaus nicht ausreden; wohl
glaubte er, wenn ich ihm sagte, er sei sehr krank, seine Kopf-
nerven furchtbar überreizt, aber von dem Glauben an die
Geister brachte ich ihn keinen Augenblick ab, im Gegentheil
*) Bei Erler heisst es, Schumann habe „jene rührend frommeMelodie
in Esdur" aufgeschrieben, „deren Entstehung eine so merkwürdige ist
Schubert, der Liebling des Jünglings Schumann, und Mendelssohn, das
Vorbild des gereiften Meisters, waren ihm in der Nacht erschienen
und hatten ihm, wie er fest versicherte, jene Weise vorgesungen' 4 .
In der Folge habe „der Meister noch eine Reihe von Variationen, ich
glaube deren fünf, zu jener in der Nacht gefundenen Esdur-Melodie
niedergeschrieben'«.
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sagte er mir mehrmals mit wehmüthiger Stimme, du wirst mir
doch glauben, liebe Clara, dass ich dir keine Unwahrheiten
sage! Es blieb mir nichts übrig, als ihm ruhig zuzugeben,
denn ich regte ihn durch Zureden nur noch mehr auf. Abends
11 Uhr wurde er plötzlich ruhiger, die Engel versprachen ihm
Schlaf .... Montag, den 20., verbrachte Robert den ganzen
Tag an seinem Schreibpult, Papier, Feder und Tinte vor sich,
und horchte auf die Engelstimmen, schrieb dann wohl öfter
einige Worte, aber wenig, und horchte immer wieder. Er
hatte dabei einen Blick voll Seligkeit, den ich nie vergessen
kann: und doch zerschnitt mir diese unnatürliche Seligkeit das
Herz ebenso, als wenn er unter bösen Geistern litt. Ach es
erfüllte ja dies alles mein Herz mit der furchtbarsten Sorge,
welch ein Ende das nehmen solle; ich sah seinen Geist immer
mehr gestört und hatte doch noch nicht die Idee von dem,
was ihm und mir noch bevorstand. Dienstag, den 21. Februar,
schliefen wir wieder die ganze Nacht nicht; er sprach immer
davon, er sei ein Verbrecher und solle eigentlich immer in
der Bibel lesen u. s. w. Ich merkte überhaupt, dass sein Zu-
stand immer aufgeregter wurde, wenn er in der Bibel las, und
kam dadurch auf die Idee, dass er sich beim Lesen derselben,
als er für seinen Dichtergarten sammelte, vielleicht zu sehr in
Dinge hinein vertieft, die seinen Geist verwirrten, wie denn sein
Leiden fast durchgängig religiöser Art, förmliche Ueber-
spannung war.
Die nächstfolgenden Tage blieb es immer dasselbe, immer
abwechselnd gute und böse Geister um ihn, aber nicht mehr
immer in Musik, sondern oft nur sprechend. Dabei aber hatte
er so viel Klarheit des Geistes, dass er zu dem wundervoll
rührenden, wirklich frommen Thema, welches er in der Nacht
des 10. niedergeschrieben, ebenso rührende, ergreifende
Variationen machte, auch schrieb er noch zwei Briefe, einen
Geschäftsbrief an Arnold nach Elberfeld und einen an Holl
in Amsterdam.
In den Nächten hatte er oft Momente, wo er mich bat
von ihm zu gehen, weil er mir ein Leid anthun könnte! ich
ging dann wohl auf Augenblicke, um ihn zu beruhigen; kam
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ich dann wieder zu ihm, so war es wieder gut .... Oft
klagte er, dass es in seinem Gehirn herumwühle, und dann
behauptete er, es sei in kurzer Zeit aus mit ihm, nahm dann
Abschied von mir, traf allerlei Verordnungen über sein Geld
und Kompositionen u. s. w. . . . Sonntag, den 26. war die
Stimmung etwas besser, und da spielte er dem Herrn Dietrich
abends noch mit grösstem Interesse eine Sonate von einem
jungen Musiker, Martin Cohn, vor, geriet aber dabei in eine so
freudige Exaltation, dass ihm der Schweiss nur so herunterfloss
von der Stirn. Darauf ass er mit furchtbarer Hast viel zu
Abend. Da plötzlich 9 1 /* Uhr stand er vom Sopha auf uud
wollte seine Kleider haben, denn er sagte, er müsse in die
Irrenanstalt, da er seiner Sinne nicht mehr mächtig sei und
nicht wissen könne, was er in der Nacht am Ende thäte ....
Herr Aschenberg, unser Hauswirt, kam sogleich herauf, ihn zu
beruhigen, ich sandte nach dem Dr. Böger; Robert legte sich
alles zurecht, was er mitnehmen wolle, Uhr, Geld, Notenpapier,
Federn, Zigarren, kurz, alles mit der klarsten Ueberlegung; und
als ich ihm sagte: „Robert willst du deine Frau und Kinder
verlassen?" erwiderte er: „es ist ja nicht auf lange, ich komme
bald genesen zurück!"
Dr. Böger bewog ihn aber, zu Bett zu gehen, und ver-
tröstete ihn auf morgen. Mir erlaubte er die Nacht nicht, bei
ihm zu bleiben, ich musste einen Wärter holen lassen, blieb
aber natürlich im Nebenzimmer. Anfangs unterhielt er sich
mit dem Herrn Bremer (den ich hatte holen lassen) ziemlich
unbefangen, dann las er viel in Journalen, und zuletzt
schlummerte er wohl minutenweise.
Frl. Junge war mir neben der Bertha, die sich wirklich
als eine treue Seele zeigte, eine recht trostreiche Stütze; sie
verbrachte mehrere Nächte mitwachend hier. . . . Ach welch
schrecklicher Morgen sollte heranbrechen. Robert stand auf,
aber so tief melancholisch, dass es sich nicht beschreiben lässt!
Wenn ich ihn nur berührte, sagte er: „Ach, Clara, ich bin
deiner Liebe nicht werth". Das sagte Er, zu dem ich immer
in grösster, tiefster Verehrung aufblickte . . . ach, und alles
Zureden half nichts. Er schrieb die Variationen aufs Reine,
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noch war er an der letzten, da plötzlich — ich hatte nur auf
wenige Augenblicke das Zimmer verlassen und Mariechen zu
ihm sitzen lassen, um mit Dr. Hasenclever etwas im andern
Zimmer zu sprechen (überhaupt aber hatte ich ihn schon seit
10 Tagen keinen Augenblick allein gelassen) — verliess er sein
Zimmer und ging seufzend ins Schlafzimmer. Marie glaubte,
er werde gleich wiederkehren, doch er kam nicht, sondern lief,
nur im Rock, im schrecklichsten Regenwetter, ohne Stiefel,
ohne Weste fort. Bertha stürzte plötzlich herein und sagte es
mir. dass er fort sei — was ich empfand, ist nicht zu be-
schreiben, nur so viel weiss ich, dass es mir war, als höre das
Herz auf zu schlagen. Dietrich, Hasenclever, kurz alle, die
nur da waren, liefen fort, ihn zu suchen, fanden ihn aber
nicht, bis zwei Fremde ihn nach etwa einer Stunde nach Haus
geführt brachten ; wo sie ihn gefunden und wie, ich konnte
es nicht erfahren aber ich Unglückliche sah
ihn nicht mehr! Als man ihn zu Haus ins Bett gebracht,
wollte man ihn nicht aufregen durch das Wiedersehen mit
mir, und so entschloss ich mich, für diesen Tag zu Frl. Leser
mitzugehen, denn im Haus bleiben und ihn nicht sehen, das
wäre mir zuviel gewesen! 1
Der Kranke hatte sich in den Rhein gestürzt. Er wurde
nun in die Privatheilanstalt Endenich bei Bonn, deren Director
Dr. Richarz war, gebracht Im März heisst es, Schumann sei
im Ganzen besser, habe aber oft Beängstigungen, wo er dann
unruhig auf- und abgehe, zuweilen auch niederknie und die
Hände ringe. Im August schreibt Grimm an Frau Schumann,
er habe den Kranken gesehen. Dieser sei gerade vom Spazier-
gange zurückgekommen und habe freundlich geantwortet. Zu-
weilen habe er gelacht, Verworrenes sei nicht zum Vorscheine
gekommen. Dabei sehe er wohl aus. Dr. Peters klage über
Schumanns Schweigsamkeit Wenn er nicht sprach, hielt er
sein Taschentuch mit der rechten Hand vor die Lippen. Auf-
regung und Gehörstäuschungen seien nicht mehr vorhanden,
jedoch zuweilen wunderliche Vorstellungen von Vergiftung.
,,Schreiben soll er manches, aber so unleserlich, dass weder
Dr. Richarz noch Dr. Peters mehr als einzelne Worte entziffern
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können." Meist seien es abgebrochene Sätze über Musik.
Einmal habe er geschrieben: „Robert Schumann, Ehren-
mitglied des Himmels." Im Frühjahre 1855 trat deutliche
Besserung ein. Schumann fing wieder an, sich zu beschäftigen,
und schrieb wieder Briefe. Es liegen manche Aeusserungen
von Besuchern über seinen Zustand vor, doch erfährt man aus
ihnen nicht viel, und die Aussagen der Aerzte sind sehr vor-
sichtig gefasst Die Briefe geben den meisten Aufschluss. Man
muss bei ihnen Inhalt und Form unterscheiden. Anstösse
durch den Inhalt habe ich nur bei zwei der veröffentlichten
Briefe gefunden, die kurz vor dem Zusammenbruche geschrieben
sind. Am 17. Jan. 1854 schreibt Schumann an Strackerjan:
„Könnte ich doch manchmal in einen unsichtbaren Faust-
mantel gehüllt, Ihren Aufführungen beiwohnen". Am 6. Febr.
schreibt er an Joachim: „Ja, ich glaub es auch — die
Virtuosenraupe wird nach und nach abfallen und ein
prächtiger Compositionsfalter herausfliegen. Nur nicht zu viel
Trauermantel, auch manchmal Distelfink." Es ist ja nicht
allzu schlimm, aber in älteren Briefen finden sich solche Ent-
gleisungen niemals. Die Form der Briefe Schumanns war von
jeher durch eine schlechte, oft unleserliche Handschrift und
durch eine gewisse Flüchtigkeit gekennzeichnet.*) Jansen sagt
ausdrücklich: „Schumann schrieb seine Briefe ausserordentlich
rasch, und es passirte ihm nicht selten, dass er ein Wort aus-
liess". Auf solche Fehler wird daher bei Beurtheilung der letzten
Briefe kein Gewicht zu legen sein. Diese sind theils geschäft-
licher Art, theils an die Frau gerichtet. Von den Briefen
Schumanns an den Verleger Simrock aus 1855 sagt Erler, sie
seien „merkwürdig klaren Inhalts und stilistisch vollkommen.
Die Handschrift selbst hat eine merkwürdige Veränderung er-
fahren, sie ist viel stärker in den Strichen geworden, hat so-
zusagen einen starren Ausdruck angenommen, während sie bis
zur Mitte der vierziger Jahre den Charakter der Leichtigkeit
oder, noch besser gesagt, den der Flüchtigkeit wahrte. Schon
*) In dem bilderreichen Buche von Abert über Robert Schumann
findet man eine Anzahl von Schriftproben.
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in der Zeit des Dresdener Aufenthaltes wird die Handschrift
klarer; Yermochte man früher einzelne Worte nur aus dem
Sinne zu construiren — ich habe thatsächlich oft stundenlang
grübeln müssen — so geben die Briefe aus Dresden und noch
weniger die aus Düsseldorf jemandem durch ihre Schrift
keinerlei Räthsel auf. Aehnlich sagt Litzmann von dem
letzten Briefe Schumanns an seine Frau: „Die Schriftzüge
sind, wie überhaupt die meisten Briefe aus der Krankheit,
gegen früher auffallend klar und deutlich, und durchaus im
Charakter der Handschrift 44 . Dieser letzte Brief ist am
5. Mai 1855 geschrieben und lautet:
„Liebe Clara!
Am 1. Mai sandte ich Dir einen Frühlingsboten; die
folgenden Tage waren aber sehr unruhige; Du erfährst aus
meinem Brief, den Du bis übermorgen erhältst, mehr. Es
wehet ein Schatten darin; aber was er sonst enthält, das wird
Dich, meine Holde, erfreuen.
Den Geburtstag unseres Geliebten wusste ich nicht;
darum muss ich Flügel anlegen, dass die Sendung noch morgen
mit der Partitur ankommt.
Die Zeichnung von Felix Mendelssohn hab' ich beigelegt,
dass Du [sie] doch ins Album legtest. Ein unschätzbares
Andenken !
Leb wohl, Du Liebe!
Dein
Robert. 44
Recht lehrreich ist der Inhalt der an die Frau gerichteten
Briefe. Sie sind durchaus freundlich, aber auffallend stimmungs-
los. Obwohl er aus so betrübenden Gründen seiner Familie
für lange Zeit entrissen ist, äussert er weder Schmerz, noch
Sehnsucht, und diese Affectlosigkeit tritt um so mehr hervor,
wenn man an das Verhalten des noch gesunden Schumann
zur Frau denkt. Er schreibt so, als wäre er für einige Wochen
in einer Sommerfrische, und macht sich offenbar auch um die
Zukunft wenig Sorgen. Dagegen lebt er in der Vergangenheit,
erinnert an das und jenes, und ist offenbar dabei ganz gut
orientirt.
3
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— 34 —
Die Besserung hielt nicht Stand. Die alten Störungen
zeigten sich wieder, und sowohl die geistigen wie die körper-
lichen Kräfte Schumanns nahmen stetig ab. In der letzten
Zeit schreibt Brahms an Frau Schumann nach einem Besuche
in Endenich, es sei keine Hoffnung mehr, der Kranke habe
sich zwar bei seinem Anblicke gefreut, „war aber nicht im
Stande gewesen, sich anders als in einzelnen wirr durcheinander
huschenden, unarticulirten Worten verständlich zu machend
Am 9. Juli 1856 beendete ein sanfter Tod die Leiden
Schumanns. Dr. Richarz hat auf Wasielewskis Bitte, „Mit-
theilungen" über Schumanns Krankheit und Tod gemacht, die
hier folgen mögen. Den Aufsatz in der Kölnischen Zeitung
kenne ich nicht
„Mittheilungen des Geh. Sanitätsraths Dr. Richarz in
Endenich bei Bonn über Robert Schumanns Krankheitsverlauf
und Tod.
Recht gerne entspreche ich Ihrem Wunsche, über das
Wesen der Krankheit und die Todesart Robert Schumanns von
mir einige Mittheilungen zu erhalten. Am zweckmässigsten
werde ich dabei von dem Befunde bei Obduction der Leiche,
als von einer sichern , objectiv gegebenen Basis ausgehen und
einer einfachen Aufzählung der vorgefundenen hauptsächlichsten
materiellen Producte der tödtlichen Krankheit eine kurze
Erläuterung aus dem Grundcharacter und den Verlauf derselben
folgen lassen. Was ausser dem Gehirn Abnormes in der Leiche
entdeckt wurde, übergehe ich als überhaupt unbedeutend und
für Ihren Zweck gänzlich irrelevant. Die Hauptergebnisse
der Untersuchung bot natürlich, und wie mit Sicherheit zu
erwarten stand, das Gehirn dar. Es wird nicht uninteressant
sein, wenn ich hier die Bemerkung vorausschicke, dass sich
die transversalen Markstreifen am Boden der 4ten Hirnhöhle
(die Wurzeln der Gehörnerven) zahlreich und fein gebildet
fanden. Von Abnormitäten zeigten sich dann, nach steigender
Wichtigkeit, wie nach ihrer genetischen Wichtigkeit geordnet,
folgende:
1. Ueberfüllung aller Blutgefässe, vorzüglich an der Basis
des Gehirns.
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— 35 —
2. Knochenwucherung an der Basis des Schädels, und
zwar sowohl abnorm starke Entwickelung ^normaler Hervor-
ragungen, als Neubildung anormaler Knochenmassen, die zum
Theil mit ihrem spitzigen Ende die äusserste (die harte) Hirn-
haut durchdrangen.
3. Verdickung und Entartimg der beiden innern (der
weichen) Häute des Gehirns und Verwachsung der innersten
(der Gefäss-) Haut mit der Rindensubstanz des grossen Gehirns
an mehreren Stellen.
4. Ein nicht unbedeutender Schwund (Atrophie) des
Gehirns im Ganzen, indem das Gewicht desselben beinahe
7 Unzen (preuss. Medic.-Gewicht) weniger betrug, als es nach
Schumanns Lebensalter sollte.
Dies« 4 Punkte stehen in der allernächsten Verbindung
mit den seit vielen Jahren bei Schumann vorhanden gewesenen
psychischen Zuständen; sie bezeichnen in ihrem Verein ein
sehr schweres Leiden der ganzen Persönlichkeit, welches seine
zartesten Wurzeln in der Regel schon im frühen Lebensalter
des Menschen treibt, immer nur allmählich sich ausbildet, mit
der ganzen Individualität verwächst und erst nach langer Vor-
bereitung in offenbares Irresein auszubrechen pflegt. Dieser
Krankheitsverlauf lässt sich auch in Schumann's Leben deutlich
genug nachweisen und wird insbesondere die schon seit Langem
bemerkbar gewesene Schwerfälligkeit seiner Sprache gewöhnlich
als die erste der von diesem Hirnzustande ausgehenden
Lähmungen beobachtet Eine der vorzüglichsten äussern Ur-
sachen dieser Krankheit bildet geistige Ueberanstrengung, über-
mässige psychische Thätigkeit im allgemeinen, geistige Aus-
schweifung möchte ich sagen: eine Gefahr, welcher das künst-
lerische, namentlich das musikalische Schaffen sehr leicht aus-
gesetzt ist Kein Zweifel, dass solche Excesse auch bei Schu-
mann bestanden und die Krankheit herbeigeführt haben. Dem
Gehirn strömt dabei, wie jedem überangestrengten Organe, für
eine gewisse Zeit und bis zu einem gewissen Maasse eine, der
übermässigen Thätigkeit entsprechend vermehrte Blutmenge zu.
Nächste Folge aber ist Gefässerweiterung, constante Blutfulle,
Ausschwitzungen aus dem Blute (hier Knochen Wucherung),
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Verdickung und Entartung der Häute: weitere Folge, Ver-
wachsung der innersten (der Gefäss-) Haut mit der Hirnsubstanz,
Unfähigkeit dieser Haut, ihre Function der Blutzufuhr zum
Gehirn zu erfüllen, Abnahme der Ernährung der Gehirnmasse,
Schwinden derselben.
Das psychische Leiden, welches aus dieser organischen
Hirnkrankheit entspringt, trägt immer den Charakter des Schwach-
sinns an sich. d. h. einer allmählichen Abnahme der intellec-
tuellen Kräfte, die übrigens bei Schumann erst spät bis zu
höhern Graden sich entwickelte. Die Gemüthsverfassung ist
dabei in der Regel die der Exaltation, und wenn intercurrent
auch kurze Perioden der Depression auftreten, so bleibt doch
jene stets vorwaltend.
Unserm grossen Tonkünstler war es anders beschieden: in
seiner Organisation müssen die Bedingungen dafür gelegen
haben, dass seine geistige Schwäche von Anfang bis zu Ende
von melancholischer Depression begleitet war, wie dieses aller-
dings in seltenen Fällen dieser Art vorkommt. Statt der narren-
haften Heiterkeit, des eitel erhöhten Selbstgefühls und des
flachen Optimismus, die gewöhnlich solche Kranke trotz des
Zusammenbrechens ihrer Kräfte beseligen und mit grandiosen
Wahnbildern umgaukeln, war der diesem Geiste anerschaffene
Ernst, die ihm eigene Ruhe und Schweigsamkeit, sein in sich
gekehrtes beschauliches Wesen in gesunden Tagen auch die
Unterlage der Gemüthsverstimmung in der Krankheit, der
Schwermuth nämlich und des Trübsinnes mit den entsprechenden
Wahnvorstellungen der Verfolgung, der geheimen Berückung,
Verkürzung seines Rechtes und seines Werthes, des Versagens
der ihm gebührenden Anerkennung, endlich der geheimen Ver-
giftung.
Diese während Schumanns Krankheit ununterbrochen an-
dauernde Melancholie war sicher das Ergebniss eines grösseren
Fonds von primitiver geistiger Kraft, als er da vorhanden ist,
wo wie gewöhnlich die Exaltation bei diesem Leiden sich ein-
stellt. Das ruhige Beharren und Ansichhalten der Melancholie
im Leiden ist der Ausdruck von Kraft gegenüber jener
Neigung zu ohnmächtigen Reactionen, welche die Schwäche
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kennzeichnet. Umschwebt doch der poetische Duft einer hehren
Melancholie wie ein Hauch der Vergänglichkeit jede grosse
und erhabene Erscheinung in der Weltgeschichte, wie in der
Kunst (man denke nur an Beethoven).
Die Melancholie erhielt dem Kranken ein höheres Be-
wusstsein seiner selbst; aber auch seiner Krankheit, als es
sonst unter gleichen Umständen der Fall ist; sie entstellte
weniger die ursprüngliche Persönlichkeit, und bedingte eine
der Schwere des Leidens angemessene Stimmung, als die
Exaltation gethan haben würde, die solchen Kranken bei
augenscheinlichem Verfall der leiblichen und geistigen Kräfte
nicht nur meistens jedes Bewusstsein eines Leidens raubt,
sondern auch eine mit der Wirklichkeit auf's Grässlichste con-
trastirende Stimmung verleiht, die das Gefühl des Beobachters
auf's Tiefste verletzt, weil sie von der früheren Persönlichkeit
gemeinlich nur noch ein Zerrbild erkennen lässt
Diese Melancholie machte denn auch eine so grosse
scheinbare Besserung möglich, wie sie Schumann im Frühjahr
1855 darbot, bei der übrigens die Fortdauer einiger der
schlimmsten Erscheinungen, wenn auch im geänderten Grade,
den Kundigen nicht über den Werth der günstigen Verände-
rung im äusseren Verhalten täuschen konnte, die den Patienten
damals nur wenig von seinem gewöhnlichen Erscheinen, vor
der Katastrophe in Düsseldorf, verschieden zeigte.
Die Melancholie stand ferner im engsten ursächlichen
Zusammenhang mit den Hallucinationen, die, anfänglich nur, oder
doch hauptsächlich im Gehör vorkamen (als Stimmenhören, Hören
von Worten und Redensarten, deren Bedeutung den obengenannten
Wahnvorstellungen entsprach), und erst später bei zunehmender
Schwäche auch im Geruch und Geschmack auftreten, gegen das
Lebensende aber in diesen Sinnen die höchste Stufe erreichten,
als sie für das Gehörorgan schon längst erloschen waren.
Die Melancholie endlich war es, die, obschon im obigen
Sinne ein Zeichen höherer Kräftigkeit, gleichwohl das Ende
des verehrten Meisters beschleunigte: während nämlich bei der
Exaltation in dieser Krankheit oft ungeachtet des rapiden Unter-
ganges aller höhern Kräfte des Organismus die vegetative Seite
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desselben nur wenig beeinträchtigt erscheint, war hier der
Gang insofern ein umgekehrter, als die geistigen Fähigkeiten
und die ihnen zugesellten Triebe, Neigungen und Gewohnheiten
sich bis in die letzte Lebenszeit, wenngleich stetig sinkend,
auf einer verhältnissmässig grossen Höhe behaupteten, dahingegen
die allgemeine körperliche Ernährung unter dem Einflüsse des
auf dem Nervensystem lastenden Druckes der Melancholie nur
eine gewisse Zeitlang künstlich und mühsam aufrecht erhalten
werden konnte, wonach dieselbe unter häufiger Nahrungsver-
weigerung in ein unaufhaltsames Sinken gerieth, so dass bei
äusserster Abmagerung der Tod erfolgen rausste".
In einem Aufsatze Schaafhausens über Schumanns Gehirn
und Gehörorgan findet sich noch Folgendes. Der Vf. hat im
Jahre 1880 Gelegenheit gehabt Schumanns Schädel dem Grabe
zu entnehmen und einen Schädelabguss, sowie einen Ausguss
der Schädelhöhle anfertigen zu lassen. Richarz gebe an, „dass
die Knochenvorragungen, Punkte, Linien und Leisten in den
beiden mittleren Gruben der Schädelbasis ungewöhnlich stark
und scharf waren, weniger in den vorderen Schädelgruben.
Wiewohl Richarz in der linken mittleren Grube ein erbsengrosses
Osteophyt erwähnt, wird man die Tiefe der Furchen, in die
sich die Schläfenlappen gleichsam eingebohrt haben, nicht für
eine pathologische Erscheinung halten dürfen. Das Schädel-
organ zeigt hier eine besonders starke Entwickelung der
Windungen, die man mit dem musikalischen Genie in eine
Beziehung wird bringen dürfen. Richarz sagt ferner: Die
Windungen der Hirnoberflächen waren zahlreich und dünn,
womit wohl die kleineren Faltungen bezeichnet sind, die Striae
transversales am Boden des 4. Ventrikels, Ursprünge des Gehör-
nerven, waren zahlreich und fein gebildet. Das Hirn wog ohne
dura mater 2 Pfund 28 1 / 2 Loth Norraalgewicht = 1475 g.
Ich fand die Capacität des Schädels 1510 ccm. Richarz nahm
Hirnschwund an. Dazu gibt das Verhältniss des Hirngewichtes
zum Schädelvolum keine Veranlassung". Endlich sollen die
Gehörknöchelchen Schumanns sehr kräftig gebildet gewesen sein.
In dem Nekrologe Schaafhausens (Archiv f. Anthropol.
XXII. p. 1 1894) wird erwähnt, dass sich ungedruckte Auf-
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Zeichnungen über „Gehirn und Gehör Schumanns 11 im Nach-
lasse gefunden haben. Was daraus geworden ist, weiss ich nicht.
Durch die Güte des Herrn Geheimrath Pelman in Bonn
bin ich in den Stand gesetzt, noch einiges nachzutragen. Herr
Dr. Erich Prieger erwähnt in einem Briefe an Pelman einen
der letzten Briefe Schumanns, der an Robert Franz gerichtet
worden ist. Darin heisst es: „ich kann nicht nur mit Pistolen
schiessen, sondern auch mit Kanonen 11 . Schumann soll sich
damals von einem Verwandten des Adressaten durch ungünstige
Beurtheilung verletzt gefühlt haben. Der Brief sei jetzt im
Besitze des Herrn Superintendent Bethge in Giebichenstein bei
Halle. Ferner habe J. J. B. Laurens, der im October 1853
Schumann viermal gezeichnet hat, eine Schrift über Schumann
veröffentlicht (Robert Schumann, sa vie et ses oeuvres. Carpen-
tras 1899) und darin gesagt: „Während ich ihn zeichnete,
war ich betroffen und erschrocken über die abnorme Weite
seiner Pupillen 4 '. Dr. Prieger fügt noch hinzu, es seien ihm
schon lange in den musikalischen Werken Schumanns gewisse
Eigentümlichkeiten aufgefallen, namentlich die grosse Unruhe,
die einzelne Sätze völlig beherrscht Wenn man diese Seite
weiter verfolgte, so könnten schon in recht frühen Werken
sonderbare Keime aufgezeigt werden.*) Herr Pelman hat einen
Brief Schumanns vom Februar 1854 im Original gesehen. Er
zeige in Inhalt und Form keine paralytischen Symptome, und
die Schrift sei vollkommen die gleiche wie in anderen um
einige Jahre älteren Briefen.
Die wenigen Lebenden, die Schumann noch gesehen haben,
waren damals jung und in der Regel zum Urtheilen nicht
geeignet. Um so erfreulicher ist es, dass noch in Herrn Geh.-
Rath Oebeke ein urtheilsfähiger Zeuge lebt Er hat die Freund-
lichkeit gehabt, mir Folgendes zu schreiben. „Ich selbst habe
Schumann noch gekannt, da ich 1856 als Student in Bonn
war und der Section der Leiche beigewohnt habe. Schon vor
*) Das ist gewiss richtig, aber natürlich könnte nur ein Musiker
eine solche Untersuchung ausführen. M.
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1856 war ich mehrmals längere Zeit bei meinem Onkel Richarz
in Endenich zu Besuch und sah Schumann häufig im Garten.
Er blieb im Gehen oft stehen und sagte manchmal laut zu
sich: Das ist nicht wahr, das ist gelogen. Wie raein Onkel
mich belehrte, bezogen sich diese Aeusserungen Schumanns
darauf, dass er Stimmen hörte, die sagten, er habe seine Com-
positionen Anderen entlehnt. Neben Schumanns Zimmer im
Haupthause stand in einem Gesellschaftszimmer ein Ciavier,
und auf diesem spielte ich manchmal. Wenn ich nicht gut
spielte, klopfte Schumann an die Zwischenthüre und bemerkte,
das sei nicht richtig gewesen.' 1
Leider ist die Krankengeschichte Schumanns aus Endenich
verschwunden. Vielleicht hat sie Richarz an sich genommen.
— Von einem Ungenannten ist im „Leipziger Kalender 4 ' für
1904 auf S. 227 eine Gesellschaft bei Moscheies beschrieben
worden, die am 15. März 1852 dem Ehepaare Schumann zu
Ehren gegeben worden ist Schumann sass still auf einem
Stuhle mit gesenktem Blicke und geschlossenen Lippen. Während
Moscheies spielte, fand man Schumann in einem Nebenzimmer,
wo er träumerisch vor sich hin pfiff. Beim Essen sprach er
nur ein einziges Wort, indem er auf einen leeren Stuhl weisend
„Banko" sagte. Im Uebrigen sah er auf seinen Teller und
sprach nicht. —
Nach dem Corr. Bl. f. Authropol. XXVIII. 8. Aug. 1897
befindet sich der Schädelabguss jetzt im Provinzial-Museum zu
Bonn.
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II.
Gutachten.
Es liegt auf der Hand, dass Schumann von vornherein
ein von der Art Gewichener war, dass er erblich belastet und
abnorm veranlagt war.
Beide Eltern waren „nervös", und zwar, wie es scheint,
in beträchtlichem Grade. Leider fehlen Nachrichten über die
Gesundheit der Vorfahren. Aber am deutlichsten zeugt für
die krankhafte Art der Erzeuger das Schicksal von Schumanns
Schwester. Diese ist offenbar an einer schweren Form von
Dementia praecox erkrankt Freilich könnte jemand auf den
Gedanken kommen, es habe sich um Paralyse bei Jugendlichen
gehandelt, da der geistigen Störung eine Hautkrankheit voraus-
gegangen ist, die dann als Syphilid zu deuten wäre. Jedoch
scheint mir das recht unwahrscheinlich zu sein; es wird wohl
ein einfaches Ekzem gewesen sein, eine Krankheit, die man
ja früher gern als Vorläufer oder Ausdruck innerer Störungen
ansah. Endlich findet das Krankhafte in der Familie seinen
Ausdruck in der Kurzlebigkeit der männlichen Mitglieder.
Schumanns Art ist zunächst gekennzeichnet durch sein
künstlerisches Talent und den damit verbundenen Feminismus.
Da beide Eltern unmusikalisch waren, ist Schumanns hervor-
ragende musikalische Begabung eine Art von Räthsel. Man
könnte an Atavismus denken, aber wenn sich bei den Vor-
fahren ein irgendwie erhebliches Talent kundgegeben hätte, so
würde doch wohl eine Erinnerung daran übrig geblieben sein.
Näher liegt es, Schumanns geniale Anlage als Perle in der
Muschel anzusehen, d. h. als Zeichen abnormer Bildung. Die
„Determinanten" ordneten sich nicht in typischer Weise: Es
bildete sich die kostbare Perle, und das Ganze musste leiden.
— 42 —
Die ersten 20 Jahre von Schumanns Leben verliefen
ohne ernstliche Störungen. Dann zeigten sich einzelne be-
denkliche Zufälle, und mit 23 Jahren beginnt die erste ernste
Erkrankung. Ohne dass eine irgendwie ausreichende Ursache
nachweisbar wäre, tritt das Leiden auf. Merkwürdigerweise
ist sich Schumann ganz klar darüber, dass es eine Geistes-
krankheit war. Das Hauptsymptom scheint die sinnlose Angst
gewesen zu sein. Wenn er in der „fürchterlichen Nacht" vom
17. October wirklich durch die Angst zu einem Selbstmord-
versuche, d. h. zu dem Versuche, aus dem Fenster des 4. Stockes
zu springen, getrieben worden ist, so versteht man, dass die
Erinnerung daran eine dauernde „Höhenangst" hinterliess. Es
handelt sich aber dabei nicht um eine eigentliche Zwangs-
vorstellung, sondern um einen motivirten Vorgang. Wie die
Furcht vor der Geisteskrankheit Schumann eigentlich nie wieder
verliess, so mag auch der Gedanke, dass er sich doch einmal
tödten werde, dauernd in ihm gewohnt haben, und jede hoch-
gelegene Wohnung mag ihn, wenn er sich unwohl fühlte, an
die Scene in der Burgstrasse zu Leipzig haben denken lassen.
An die Angstzufälle schloss sich dann „Melancholie" an, und
diese wieder scheint von kürzeren Zeiten krankhaften Ueber-
muthes unterbrochen worden zu sein. Gelegentlich liefen
hypochondrische Zustände dazwischen. Wenn nach langer Dauer
das Leiden allmählich nachliess, schien Schumann zu genesen.
Aber er war nicht mehr derselbe, und der Feind zog sich so-
zusagen nur zurück, um neue Kräfte zum Angriffe zu sammeln.
Die einzelnen Schübe der Krankheit folgten einander in un-
regelmässigen Abständen und glichen einander nicht. Nach
der ersten grossen Leidenszeit, die 1833 begann, folgte 1842
eine kürzere Erkrankung, die Schumann als Nervenschwäche
bezeichnet. Im Frühjahr 1844 erkrankte er von neuem; im
Herbste wurde es schlimmer, und vor dem Herbste 1845 trat
keine deutliche Besserung ein. Auch das Jahr 1847 war nicht
frei von Krankheit Ernstlicher als je ergriff das Leiden
Schumann im Jahre 1852. Diesmal folgte auf die Depression
im Jahre 1853 eine deutliche Periode krankhaft gesteigerten
Wohlbefindens, und im Anfange des Jahres 1854 erfolgte die
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Katastrophe, die den Leidenden zur Ruine machte. Noch ein-
mal wandte sich der Zustand 1855 zum Bessern, aber es war
eine kurze Täuschung. Bald folgten weiterer Verfall und 1856
der Tod.
Eine unscheinbare, aber wichtige Veränderung brachte,
wie es scheint, die erste Periode der Krankheit. Auf dem
Bilde von Krishaber zeigt Schumanns Gesicht keinen auf-
fallenden Zug. Aber bald nach 1833 wird die Pfeifstellung
der Lippen erwähnt, die auf den späteren Bildern sichtbar ist
und auch dem Unbefangenen auffällt. Der Volkswitz hat des-
halb den auf dem hiesigen Denkmale im Profil-Relief dar-
gestellten Schumann „den Stadtpfeifer" genannt. Mit der Pfeif-
stellung scheinen sich wunderliche Manieren eingestellt zu haben :
das Gehen auf den Zehen, die übertriebene Schweigsamkeit, die
solche Scenen wie die im Voigtschen Hause (S. 16) möglich
machte.
Jede neue Erkrankung brachte neue böse Gaben. Bei
der Krankheit der dreissiger Jahre ist eine Beschädigung der
geistigen Fähigkeiten nicht zu erkennen. Im Jahre 1844
scheint nach dem, was wir über die in Moskau entstandenen
Gedichte hören, eine gewisse Geistesschwäche entschieden vor-
handen gewesen zu sein. Ausserdem zeigte sich damals eine
auffallende Reizbarkeit Schumann glaubte an böse Absichten
der Leute und fühlte sich beleidigt, wenn seine Frau gar
nichts derart bemerkt hatte. Während der Dresdner Krankheit-
Zeit traten zum ersten Male die Gehörstäuschungen auf.
Dabei körperliche Schwäche, heftige Schwindelanfälle. Auch
scheint hie und da ein läppisches Wesen hervorgetreten zu
sein, wie die Geschichte vom Stein- Wein des Brocken wirthes
und die unmotivirten Willensänderungen darthun. Als er in
Düsseldorf war, wird zuerst die schleppende schwere Sprache
bemerkt Die Gehörstäuschungen kamen nun mehr und mehr
hervor. Geist und Körper werden hinfällig. Der Werth der
Compositionen nimmt deutlich ab, und Schumanns Schwer?
fälligkeit führt zu Zerwürfnissen, dazu, dass ihm die Direction
entzogen wird. Auf die Begeisterung für das Tischrücken
möchte ich nicht das Gewicht legen wie die Biographen, denn
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jeder Unbefangene, der nicht weiss, dass durch den Tisch un-
willkürlich die Gedanken der Anwesenden wiedergegeben werden,
muss über diese Erscheinungen in das höchste Erstaunen ge-
rathen, und Gleichgültigkeit dagegen würde eher auf Stumpf-
sinn deuten als Begeisterung dafür.
Nach alledem kann die Diagnose nicht zweifelhaft sein,
Angst und Verstimmung, wunderliche Manieren, Neigung zur
Stummheit, Misstrauen, Gehörstäuschungen, schwere Sprache,
allmähliches Abnehmen der Geisteskräfte, alles schubweise her-
vortretend und langsam, aber unaufhaltsam zunehmend, das ist
die Krankheit, die jetzt Dementia praecox genannt wird.
Freilich passt gerade hier der unglückliche Name recht schlecht.
Man kann doch von einem Manne, der im Laufe der mehr
als zwanzig Jahre dauernden Krankheit geniale Werke schafft,
sich auch auf nichtmusikalischem Gebiete auszeichnet, Schrift-
steller, Dichter, Kritiker ist, als Freund, Gatte, Vater sich
tüchtig zeigt, nicht sagen, er sei blödsinnig. Es ist aber so
gekommen, dass die Bezeichnung von den schweren Fällen
hergenommen worden ist, die im Irrenhause vorzugsweise be-
obachtet werden. Es kommt ja Einer nur dann in die Anstalt,
wenn es draussen nicht mehr geht, und überdem gehören fast
alle Pfleglinge der unteren Ciasse der Bevölkerung an, wo
auch die Krankheiten grobe Züge tragen. Aber gerade zu der
sogenannten Dementia praecox gehören sehr viele Erkrankungen,
deren Träger nie in das Irrenhaus kommen. Neben den
schweren Fällen stehen die leichten, und es möchte wohl sein,
dass sie die Mehrzahl bilden. Ein nicht geringer Theil der
Nervenschwäche bei Jugendlichen ist dieser Art Nach einigen
Jahren scheint Genesung einzutreten, aber die Patienten sind
gegen früher verändert, wenn auch oft nur ein scharfes Auge
den Schaden sieht Ausser denen, die massig schwachsinnig
werden, in der Schule nicht mehr fortkommen oder sonst den
Beruf wechseln, zu mehr mechanischer Thätigkeit herabsteigen
müssen, giebt es nicht wenige, deren Geisteskraft unvermindert
zu sein scheint, die aber doch beschädigt sind, sei es, dass sie
nur ihren Frohmuth und ihre Jugendfrische verloren haben,
sei es, dass sie aus schwungvollen ideal angelegten Naturen zu
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nüchternen Praktikern geworden sind, dass sie der Leiden-
schaft, der Passion nicht mehr fähig sind, sei es, dass sie mir
dauernd müde, leicht erschöpfbar bleiben. Von diesen leichtesten
Formen führen Uebergänge bis zu den schweren Formen des
Irrenhauses, und in dieses Zwischenreich gehört Schumann
hinein. Es ist ein grosser Gewinn, dass wir gelernt haben,
trotz aller Verschiedenheit die Zusammengehörigkeit aller dieser
Formen zu begreifen. Wollte man einen besseren Namen
haben, so könnte man etwa sagen: das zerstörende Jugend-
irresein (Psychosis destruens endogenes). Kann man sich nicht
von dem alten Namen trennen, so muss man ihn eben als
blosse Formel ansehen, wie wir es bei der Hysterie, der
Melancholie usw. thun, indem wir über den eigentlichen Wort-
sinn wegsehen.
Dass Schumann an Dementia praecox gelitten hat, das
scheint mir unzweifelhaft zu sein. Aber ist er auch daran
gestorben? Mit anderen Worten, hat sich nicht zuletzt zu der
schon vorhandenen Krankheit die progressive Paralyse gesellt?
Es kann natürlich Jemand, der in der Weise Schumanns krank
ist, ebensogut von Paralyse befallen werden wie ein Anderer.
Die Frage ist also die, welche Gründe sprechen dafür, dass bei
Schumann progressive Paralyse bestanden habe? Ohne solche
Gründe hätte der behandelnde Arzt die Diagnose auf Paralyse
nicht stellen können. Zwar wird in den gedruckten Stücken
von Richarz der Name der Krankheit nicht erwähnt, aber der
Arzt sieht doch, was er meinte. Ausserdem schreibt mir Herr
Geheimrath Oebeke, sein Onkel Richarz habe „die melancholische
Form der Paralyse" bei Schumann angenommen. Das ist auch
nicht verwunderlich. Wenn wir hören, dass ein Mann in den
mittleren Jahren an Gehirnerscheinungen mit Sprachstörung
erkrankt, nachdem er bis dahin sein Amt versehen hat, dass
er dann nach einigen Jahren verblödet stirbt, so sagt sich Jeder,
das muss progressive Paralyse sein. Wenn dann weiter berichtet
wird, bei der Section habe man Schwund der Gehirnwindungen,
Verwachsungen des Gehirns mit der zarten Gehirnhaut gefunden,
so scheint die Sache ganz sicher zu sein. Bei näherem Zusehen
aber ist es anders. Die bei der Section gefundenen Ver-
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änderungen sind nach unseren Anschauungen durchaus nicht
beweisend. Alles, was Richarz gefunden hat, kann nach jeder
lange dauernden Geisteskrankheit gefunden werden, kann im
besonderen bei Dementia praecox ebenso gut vorkommen wie
bei Paralyse. Entscheidend würde nur der mikroskopische,
für die Paralyse charakteristische Befund sein. Mikroskopische
Untersuchungen sind aber 1856 nicht angestellt worden. Ueber-
haupt war damals die Kenntniss der Paralyse in Deutschland
unvollkommen. Geheim-Rath Pelman schreibt mir: „Speziell
Richarz, ein Schüler Jacobis, wird sie [die Paralyse] damals
kaum genauer studirt haben, denn erst Fr. Hoffmann in Siegburg,
1861—63, hat die Kenntniss auch in Deutschland verbreitet".
Wie in anatomischer, so war auch in klinischer Hinsicht die
Einsicht noch mangelhaft. Die Sprachstörung wird nicht genauer
geprüft worden sein, ob sie auch wirklich die der Paralyse
eigene sei. Esquirol hatte gesagt: l'embarras de la parole est
un signe mortel, und daran hielt man sich wohl. Auch die
später zu besprechenden Eigentümlichkeiten der Krankheit
Schumanns, das starke Hervortreten der Gehörstäuschungen, das
Verhalten des Gedächtnisses u. s. w., werden für Richarz nicht
das Gewicht gehabt haben, das sie heute für uns haben. Ueber-
dem war Richarz über die Vergangenheit des Kranken weniger
unterrichtet, als wir es sind. Uns liegen Biographie, Briefe
und Tagebuchauszüge vor. Er wird in der Hauptsache auf die
mangelhaften Angaben der Frau angewiesen gewesen sein.
Leider fehlen alle Einzelheiten über die Sprachstörung
Aber sie wird als Schwerfälligkeit des Sprechens bezeichnet
Schumann selbst schreibt: „Sprachorganschwäche". Das klingt
doch gar nicht nach dem paralytischen „Silbenstolpern", viel-
mehr scheint es sich um eine Hemmung gehandelt zu haben.
Wir müssen die Sprachstörung wahrscheinlich als negativistisches
Zeichen auffassen: Gegen den Willen, zu sprechen, richtet sich
ein Gegenwille, der oft zur Stummheit führt, gelegentlich auch
zu schwerfälliger, stockender Sprache führen kann.
Besonders wichtig sind die Gehörstäuschungen. Krae-
pelin, der betont, dass bei Kranken in den mittleren Lebens-
jahren die Abgrenzung der Dementia praecox von der Paralyse
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— 47 —
sehr schwierig werden kann, sagt wörtlich: „Das Auftreten
deutlicher Gehörstäuschungen uud die Ausbildung von stehen-
den Manieren*) machen die Dementia praecox sehr wahr-
scheinlich." Es mag sein, dass ein Musiker eher zu Gehörs-
täuschungen geneigt ist als ein Anderer, aber so, wie diese bei
Schumann aufgetreten sind, würde sie die Paralyse wobl auch
bei einem Musiker nicht bewirken. Gerade zur Zeit der Kata-
strophe scheinen diese Hallucinationen am stärksten entwickelt
gewesen zu sein.
Kaum minder bedeutsam ist das Verhalten des Gedächt-
nisses. Es ist der Dementia praecox eigen, dass die Kranken
ihre Kenntnisse und Erfahrungen ziemlich unversehrt erhalten,
während beim Paralytischen Gedächtnisslücken und gefälschte
Erinnerungen vorhanden zu sein pflegen. Schumann scheint
nun bis an sein Ende über seine Vergangenheit gut orientirt
gewesen zu sein. Es ist geradezu auffallend, wie er an diese
und jene kleinen Ereignisse erinnert, und wie er, als im Jahre
1855 der Zustand besser wird, die geschäftlichen Beziehungen
zum Verleger wieder aufnimmt. Verkehrte Urtheile kommen
vor (er meinte z. B. einmal, die auf dem Spaziergange erblickte
Stadt könne nicht Bonn sein, denn sonst müsste man doch
das Beethoven-Denkmal sehen), aber im Allgemeinen scheint
Schumann auch in der Anstalt seine Lage und die Umgebung
ganz richtig beurtheilt zu haben. Auffällig ist nur der Mangel
an natürlicher Reaktion, die Gleichgültigkeit, mit der er die
Trennung von seiner Familie, die Einschüessung in der Irren-
anstalt erträgt. Diese Verödung des Gemüthes aber ist wieder
kennzeichnend für die Dementia praecox.
Einen sehr starken Grund gegen die Diagnose der pro-
gressiven Paralyse bildet das Verhalten der Handschrift. Ob
es vorkommt, dass bei Paralyse die charakteristische Schreib-
störung bis zum Ende fehlt, das mag dahingestellt sein, auf
jeden Fall finden wir sie fast immer ziemlich zeitig. Bei
Schumann hat sie durchaus gefehlt. Ich habe früher auf die
Aussagen der Biographen und auf das Urtheil Pelmaus hinge-
*) Das an die Lippen gedrückte Taschentuch, vergl. S. 31.
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wiesen. Bei der Bedeutung dieser Frage schien es mir richtig
zu sein, die letzten Briefe noch genauer betrachten zu lassen.
Frau Thumm-Kintzel hat sich auf meine Veranlassung hin an
Herrn Simrock gewandt, und dieser hat ihr bereitwillig die
Briefe Schumanns vorgelegt (besonders die Briefe vom 11. März,
18. März, 13. April 1855). Sie hat mir folgende Analyse zu-
kommen lassen.
„Analyse.
Für die Melancholie spricht Folgendes:
1. Eine tiefe Schwermuth, die nicht nur darin zum Ausdruck
kommt, dass sämmtliche Zeichen für Melancholie und
Resignirtheit im höchsten Grade ausgeprägt sind, sondern
auch darin, dass es dem Kranken unmöglich wird, auch
nur einen der Züge, die das Heiterkeitzeichen tragen,
ohne starke Knickungen auszuführen. Und dasselbe gilt
für die Züge des Muths und des Stolzes. Das Selbst-
gefühl ist schwer geschädigt.
2. Die Thatkraft ist gelähmt Zwar finden sich hier und
da Zeichen von einem Drange nach nervöser, hastiger
Beschäftigung, aber sie sieht dem konsequenten Fleiss,
dem Schaffensdrange, wie wir ihn in früheren Schrift-
proben Schumanns fanden, kaum noch ähnlich. Auch
Energie und Festigkeit, die übrigens nie sehr stark ent-
wickelt waren, und vor allem die Entschlussfähigkeit sind
sehr geschwächt
3. Es findet sich eine grosse Anzahl von psychologisch
ängstlichen, misstrauischen Zeichen: auch physiologische
Angsterscheinungen machen sich geltend, wie sie mög-
licherweise mit den vorhandenen sehr tief gehenden und
komplizierten Herzstörungen in Verbindung stehen.
Praekordialangst? Auch Asthma?
4. Leichte Zuckungen und tiefste Gemüthserschütterungen
sind zu verzeichnen.
5. Es zeigen sich seltsame Sensationen, Wahnideen, ja
Halluzinationen, vorwiegend trüben Charakters.
6. Der Kranke ist reizbar, heftig, stark zum Aerger neigend.
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7. Das Gedäcbtni8s ist gut, die Geisteskräfte sind fast un-
gestört, auch ethisch ist der Kranke ira Grunde noch der
Alte, denn das Trübe, Misstrauische und selbst das Reiz-
bare kommt nicht als etwas Neues hinzu, sondern ist
nur krankhaft gesteigert.
Gegen die Paralyse spricht Folgendes:
Es finden sich in der Handschrift keinerlei Zeichen von
Verwirrtheit oder Desorientirtheit,
Zittern (sondern nur leichte Zuckungen),
Lähmungen,
Tabischen Erscheinungen,
Verblödung,
Ethischer Veränderung,
Grössenideen,
Beeinträchtigung von Gang und Sprache.
Es finden sich auch keine oder nur sehr geringfügige
sogenannte „Hirnzeichen", d. h. Fehler im willkür-
lichen Theil des Schreibaktes, Auslassungen oder
Zusätze.
Der Charakter der Handschrift ist bis zuletzt fast unver-
ändert, während sich die Handschrift bei der Paralyse schon
in den Anfangstadien dermaassen verändert, dass sie selbst für
ein geübtes Auge kaum wiederzuerkennen ist.
Es findet sich auch nichts von dem steten Sich- Ver-
bessern, Korrigiren, wie wir das in der Schrift des Paralytikers
finden, nichts von der Ungleichheit in der Schreibweise, mit
der er einen und denselben Buchstaben bald durchaus korrekt
und dann wieder ganz verkehrt bildet.
Schliesslich sprechen auch die tiefen Gemüthserschütto-
rungen gegen Paralyse und auch die grosse Schwermuth, die
sich fast nie beim Paralytiker findet, der im Gegen theile seine
trostlose Lage meist wunderbar rosig und optimistisch auffasst.
Magdalene Thumm-Kintzel."
Bedenkt man nun noch, dass die Handschrift in den
letzten Jahren gegen früher „auffallend klar 4 ' geworden ist,
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d. h. doch wohl, dass sie ihre Leichtigkeit verloren hat, dass
etwas Starres hineingekommen ist, so sieht man, dass die Schrift-
betrachtung nicht nur gegen Paralyse, sondern direct für
Dementia praecox spricht
Damit scheint mir das eigentlich Wichtige besprochen
zu sein. Die Depression und die auch bei Schumann gelegent-
lich auftretenden Grössen Vorstellungen beweisen nach keiner
Seite hin etwas. Die von Laurens beobachtete Erweiterung
der Pupillen dürfte nur vorübergehender Ausdruck der inneren
Erregung gewesen sein, denn hätte es sich um ein dauerndes
Symptom gehandelt, so würde Richarz doch etwas darüber ge-
sagt haben. Auffallend weite, nicht starre Pupillen werden bei
Dementia praecox nicht selten beobachtet. Manchen wird der
frühe Tod für Paralyse zu sprechen scheinen, aber Richarz
weist selbst darauf hin, dass Schumann durch Nahrungs-
verweigerung auf das Aeusserste abgezehrt war. Ausserdem
wird Schumann von vornherein wenig Widerstandskraft gehabt
haben, da doch auch er an der Kurzlebigkeit der Familie Au-
theil gehabt haben muss. Ob sich etwa auch tuberkulöse Ver-
änderungen entwickelt haben, wird nicht gesagt.
Es muss auch noch darauf hingewiesen werden, dass
nichts bei Schumann auf die eigentliche Ursache der progressiven
Paralyse hindeutet. Unter Ursache einer Krankheit verstehen
wir die Gesammtheit ihrer Bedingungen. Die Bedingungen
aber sind nicht gleich werthig, manche sind nebensächlich,
können durch andere Umstände vertreten werden oder fehlen.
Die Bedingung aber, die unersetzlich ist, ohne die die Krank-
heit nicht zu Stande kommt, wenn auch die Nebenbedingungen
da sind, die heisst die Ursache im engeren Sinne. Die Haupt-
bedingung der progressiven Paralyse ist die Syphilis, die Para-
lyse ist Metasyphilis, d. h. Niemand bekommt sie, der nicht
angesteckt gewesen ist, und sie folgt der Syphilis nach einer
Reihe von Jahren nach, durchschnittlich nach etwa 8 Jahren.
Beweisen kann man es bei keinem Menschen, dass er keine
Syphilis gehabt habe, aber bei dem Einen ist es unwahr-
scheinlicher als bei dem Anderen. Auch der solideste Mensch
kann einmal eine unglückliche Stunde haben, aber der, der ein
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lockeres Leben führt, ist mehr bedroht Dass Schumann je
locker gelebt, in bedenklicher Gesellschaft verkehrt habe, das
ist durchaus nicht anzunehmen. Nichts spricht dafür, und
Schumanns ganze Art, seine saubere, schwärmerisch angelegte
Natur musste ihm ein gewisser Schutz sein. Auch verlobte er
sich so frühzeitig und war dann von der Verlobten so erfüllt,
dass man den gleichen Schluss ziehen kann. Endlich kommen
in seinem Leben niemals verdächtige Krankheiten vor, eine
schmerzhafte Augenentzündung etwa. Als Schumann geheirathet
hat, bringt seine Frau eine ganze Reihe von ausgetragenen
Kindern zur Welt, und man hat nichts davon gehört, dass die
Neugeborenen etwa an Hautausschlägen, Ohren- oder Augen-
entzündung gelitten hätten. Alles das ist kein Beweis, ein
Inficirter kann z. B. gelegentlich gesunde Kinder haben, aber
es zählt doch bei der Abwägung der Gründe für und wider mit
Die Frage nach der Ueberanstrengung hat bei unserer
Darlegung keine grosse Bedeutung, aber es ist vielleicht zweck-
mässig, auf sie noch mit einigen Worten einzugehen. Keine
Geisteskrankheit, auch die Dementia praecox nicht und die Para-
lyse nicht, wird durch geistige Ueberanstrengung hervorgerufen.
Das wissen wir, aber wie gross die Bedeutung der Kopf-
strapazen als einer der Nebenbedingungen ist, das wissen wir
eigentlich nicht. Von der Paralyse z. B. ist es bekannt, dass
sie vor dem 19. Jahrhundert fast gar nicht vorgekommen ist,
auch jetzt noch in manchen Ländern trotz häufiger Syphilis
sehr selten ist. Es muss also das Gehirn der jetzigen Cultur-
menschen irgendwie verändert sein, so dass es leichter den
Nachwirkungen der Syphilis erliegt Aber ob bei dem Einzelnen
die Art seiner geistigen Thätigkeit in Betracht kommt, das kann
man nicht sagen. Es ist möglich, dass üeberreizung des Kopfes
den Eintritt der Krankheit begünstige, und es ist sicher, dass
sie bei einmal vorhandener Krankheit schädlich wirkt. Und
dieser Satz mag auch von der Dementia praecox gelten. Deren
Hauptbedingung oder eigentliche Ursache ist eine bestimmte
ererbte Anlage, eine von vornherein abnorme Beschaffenheit
des Gehirns. Hat einer diese nicht, so kann er sich anstrengen
soviel, wie er will, er bekommt keine Dementia praecox. Hat
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einer sie aber, so mag wohl die Ueberanstrengung die Ent-
wickelung des Keimes fördern. Man sieht die Dementia praecox
nicht selten gerade in den Schulklassen beginnen, in denen
der Schüler besonders hart arbeiten muss. Bei Schumann ist
die Schulzeit gut vorübergegangen, und als er zuerst erkrankte,
da war von besonderer Anstrengung eigentlich keine Rede.
Auch späterhin scheint mir die Anstrengung nicht die Bedeutung
zu haben, die die Zeitgenossen und die Biographen ihr zu-
schreiben. Alle Laien (gewöhnliche Laien und ärztliche Laien)
denken gern pragmatisch in dem Sinne, dass sie die Erkrankung
eines Menschen von seinen vorhergehenden Erlebnissen ableiten,
und wenn vorhandene Störungen bei Ermüdung stärker hervor-
treten, so meinen sie, die Ermüdung sei die Ursache. Schumann
arbeitete freiwillig und zu seiner Freude. Solche Arbeit bekommt
eigentlich gut, und wir sehen ja auch, dass sie anderen Compo-
nisten gut bekommen ist. Aber freilich schöpferische Thätig-
keit macht müde. Ist einer leidlich gesund, so geht die
Ermüdung ohne Schaden vorüber; ist aber einer krank, so wird
sie leicht zur Erschöpfung. Also, Schumann vertrug in den
späteren Jahren die Arbeit schlecht, weil er krank war, er
wurde nicht krank, weil er arbeitete. —
Fassen wir nun das Gesagte zusammen, so geht das Gut-
achten dahin, dass
1. Robert Schumann auf Grund ererbter Anlage geistes-
krank gewesen ist,
2. die Annahme einer zu der primären Krankheit hinzu-
tretenden progressiven Paralyse sehr unwahrscheinlich ist.
K. I'aul Xivtschmann. Hallo a. d. S.
AU
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