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Full text of "Ueber Robert Schumanns Krankheit"

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Lieber Robert 
Schumanns 
Krankheit 




Paul Julius Möbius 



DATE DUE 



MAR n 


1 iLUÜ2 — 


























































































































* 





























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Ueber 

Robert Schumanns Krankheit. 



Von 



P. J. Möbius. 



Alle Rechte vorbehalten. 




Halle a. d. S. 
Verlag von Carl Marhold. 
1906. 



HARVARD^ 
'UNIVERSITYl 
LIBRARY 
DEC 19 1956 J 



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Vorbemerkung 



Bis vor Kurzem [habe ich „geglaubt,* Robert Schumann 
sei an progressiver Paralyse (der sogenannten Gehirnerweichung) 
gestorben. Denn die kurzen Aeusserungen über seine Krankheit, 
die ich da und dort gelesen hatte, schienen sich nicht wohl 
anders deuten zu lassen. Zwar belehrt einen schon das An- 
hören Schumannscher Musikstücke darüber, dass der Componist 
ein sehr nervöser Mensch gewesen ist, aber schliesslich kann 
ein Nervöser ebensogut der Paralyse an heim fallen wie ein 
Anderer. Vor einigen Monaten bekam ich zufällig das Buch 
fron Litzmann über Clara Schumann in die Hände, und bei 
-£ldem Lesen der dort abgedruckten Briefe und Tagebuchstücke 
-^eagte ich mir, da muss noch etwas dahinter stecken. Ich Hess 
jjnir die Schumann-Literatur kommen und gelangte bald zu der 
^Auffassung, die in dem folgenden Aufsatze ausgesprochen ist. 
^Zunächst ist die Sache für den Fachmann interessant: Inwie- 
weit ist es möglich, rückblickend, auf Grund der Literatur eine 
psychiatrische Differentialdiagnose zu machen? Aber das 
Ergebniss bedeutet doch mehr. An Paralyse kann bei uns 
schliesslich Jeder erkranken, der sich die Hauptbedingung 
erwirbt, und für die Beziehung zwischen Seelenkrankheit und 
genialer Anlage lässt sich aus der Thatsache, dass ein genialer 
Mensch paralytisch wird, nicht viel entnehmen. Dagegen zeigt 
es sich nun, dass Schumann von Jugend an seelenkrank war, 
und dass diese Krankheit, die ihn schliesslich vorzeitig ins 
Grab brachte, sozusagen das Gegenstück oder die Rückseite 
des Talentes war. Wir sehen an einem ausgezeichneten Beispiele, 
dass das grosse Talent mit der Krankheit bezahlt wird. — 
Da in diesem Sommer Schumanns Todestag zum 50. Male 
wiederkehrt, möge mein Gutachten als bescheidener Beitrag 
zur Gedächtnissfeier angesehen werden. 



Leipzig, im April 1906. 



M. 



Es wird dem Sachverständigen die Frage vorgelegt ob 
Robert Schumann an progressiver Paralyse gestorben sei oder nicht. 

h 

Geschicht-Erzä h I u n g. 

Folgende Schriften sind benutzt worden: 

1. E rl e r , Herrn., Robert Schumanns Leben. Aus seinen Briefen 

geschildert 2 Bände. Berlin 1887. 

2. Jansen, F. G., Robert Schumanns Briefe. Neue Folge. 

Leipzig 1886. 

3. Jugendbriefe von Robert Schumann. Mitgetheilt 

von Clara Schumann, Leipzig 1885. 

4. Litzmann, Berthold, Clara Schumann. I. u. IL Band 1905. 

(III. Band noch nicht erschienen.) 

5. Richter, Carl Ernst, Biographie von August Schumann. 

Zwickau. Gebr. Schumann 1826. Mit Porträt 66 SS. 

6. Schaaffhausen, Robert Schumanns Gehirn- und Gehör- 

organe. Corresp.-Bl. der deutschen Anthropolog. Gesell- 
schaft, XVI. S. 149. 1885. 

7. Wasielewski, Wilh. J. v., Robert Schumann. Leipzig 1880. 

3. Aufl. 

Wenn auf eine dieser Schrift hingewiesen wird, so wird 
der Anfangsbuchstabe des Vfs. in Klammern angegeben : [RJ — 
Richter, [W] = Wasielewski, und so fort. 



Die Familie 



Der Vater, August Schumaun, war geboren 1773, ist 
gestorben 1826. Er war der Sohn eines Pastoren bei Gera, 
der später Archidiaconus in Weida wurde. Wir erfahren, dass 
er 5 Kinder (4 Söhne, 1 Tochter) hatte, sich wegen geringen 
Einkommens kümmerlich durchschlug. (Jeher seine Gesundheit 
wird nichts gesagt Seine Frau, eine geb. Böhme aus Eisenberg, 
war „fortwährend kränklich" [R]. Ihr jüngerer Bruder war 
der nächste Freund August Schumanns und diesem durch 
leidenschaftliche Neigung zu Dichtkunst und Philosophie innig 
verbunden. Obwohl August Schumann von seinen Eltern oder 
von deren Armutb gezwungen wurde, Kaufmann zu werden, 
war er doch immer der Literatur ergeben, las und schrieb, 
wenn er nur irgend konnte. Youngs und Miltons Schriften 
erregten ihn so, dass sie ihn „bisweilen dem Wahnsinn nahe 
brachten' (eigene Aeusserung, nach R). Nach wechselnden 
Schicksalen, Entbehrungen und Aufregungen wurde er Buch- 
händler. Auch als solcher widmete er den grössten Theil 
seiner Zeit der Schriftstellerei und schrieb nicht wenige der 
Werke, die er verlegte, selbst (theils schöngeistige Arbeiten, 
theils geographische, statistische, kaufmännische, Handbuch für 
Kaufleute u. s. w.). Er wird als ein durchaus zuverlässiger 
Mann, als wohlwollend und edel, aber ernst und still geschildert. 
Mehrmals wird seine Neigung zur Melancholie erwähnt. Mu- 
sikalisches Talent soll er nicht gehabt haben. Vor allem muss 
er ein überaus fieissiger Arbeiter, unermüdlich und leiden- 
schaftlich bei der Sache gewesen sein, dabei practisch. Er 
verfasste nicht nur eine kleine Bibliothek, sondern er hinterliess 
auch, obwohl er in bitterer Armuth angefangen hatte, 60 000 
Thaler. Während er Byrons Gedichte übersetzte, erkrankte er. 



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„Sein um diese Zeit gänzlich geschwächter Körper, welchen 
wiederholte Badereisen kaum aufrecht zu erhalten vermochten, 
unterlag den Unterleibsbeschwerdon und Nervenübeln, welche 
ihn bis jetzt fortwährend gequält hatten. Von dieser Zeit an 
litt sein Kopf an oft wiederkehrendem Schwindel." Sein Bild 
zeigt einen wohlgebildeten Kopf, kräftige Nase, kräftiges Kinn, 
sehr angenehme Gesichtszüge. Es scheint, dass der Sohn ihm 
in gewissem Grade ähnlich gewesen ist Man sieht das be- 
sonders, wenn man das Bild des Vaters mit dem Roberts von 
Krishaber (bei Litzmann I, p. 268) vergleicht 

Die Mutter, Johanne Christiane, geb. Schnabel (1771 
bis 1836) war die Tochter eines Rathschirurgen in Zeitz, ver- 
heiratete sich 1795, war, wie es scheint, in der Regel gesund, 
starb 1836. „Johanna Schnabel, mit einem natürlichen Ver- 
stände begabt, jedoch aufgewachsen unter der Einwirkung 
kleinstädtischer beengender Verhältnisse, zeigte keine über das 
Maass des Gewöhnlichen hinausgehende Bildung, wenn gleich 
ihre äussere Erscheinung einnehmend und von einem gewissen 
Repräsentationstalent begleitet war. In späteren Lebensjahren 
stellte sich bei ihr ein Zustand schwärmerischer sentimentaler 
Ueberspanntheit, verbunden mit momentan aufbrausender Heftig- 
keit, und ein Hang zum Absonderlichen ein" [W]. Musikalisches 
Talent hatte sie nicht, auch kein Verständniss. Während ihr 
Mann die Musiker- Natur Roberts richtig erkannte und ihm 
den Weg zu ebnen suchte, widersetzte sie sich lange hart- 
näckig den Plänen des Sohnes um des Broterwerbes willen. 
Robert spricht in seinen Briefen zu ihr mit grosser Zärtlichkeit 
und Achtung. 

Die Geschwister, drei Brüder und eine Schwester, 
waren älter als Robert Zwei Brüder übernahmen die väter- 
liche Buchhandlung, einer erwarb eine Buchdruckerei in 
Schneeberg. Alle scheinen ehrenwerthe, ja vortreffliche Männer 
ohne besondere Gaben gewesen zu sein. Keiner ist alt ge- 
worden, alle sind noch vor Robert gestorben. 

Die Schwester ist 1825 gestorben. „Sie war schon als 
Kind sein (des Vaters) Liebling geworden, theils weil sie seine 



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einzige Tochter war, theils weil sie durch aufgeweckten Ver- 
stand und blühende Schönheit ihn innigst erfreute. Alle Hoff- 
nungen jedoch . . . vernichtete eine Hautkrankheit, von 
welcher sie als Kind in Ronneburg überfallen wurde, deren 
Gift sich auf die edlen Theile des Körpers warf. Eine nie 
wieder zu hebende Gemüthskrankheit, welche zu Zeiten Spuren 
von stillem Wahnsinn verrieth, war die schreckliche Wirkung 
dieser Krankheit" [R]. 



Robert Schumanns Leben. 

i 

Robert Schumann ist am 8. Juni 1850 abends 72 10 Uhr 
geboren worden. Er galt für ein „schönes Kind". Als Knabe 
war er ehrgeizig, freigebig, gutmüthig. In der Schule leistete 
er während der ersten Jahre nur mittelmässiges, aber sehr 
früh regten sich die ihm eigenen Kunsttriebe. Spätestens im 
7. Lebensjahre begann der Musikunterricht, und schon im 7. 
oder 8. Jahre soll Robert die ersten Versuche, zu componiren, 
gemacht haben. „Es wird erzählt, dass Schumann schon als 
Knabe eine besondere Neigung und Gabe besessen habe, Ge- 
fühle und charakteristische Züge mit Tönen zu malen; ja, er 
soll das verschiedene Wesen der um ihn herum stehenden 
Spielkameraden durch gewisse Figuren und Gänge auf dem 
Piano so präcis und komisch haben bezeichnen können, dass 
jene in lautes Lachen über die Aehnlichkeit ihres Portraits 
ausgebrochen seien" [W]. Im 12. oder 13. Jahre componirte 
Schumann den 150. Psalm und Hess die Compositum durch 
eine Knabencapello auffuhren. Auch die Neigung zur Poesie 
soll schon im Knabenalter sehr stark gewesen sein. Später 
begeisterte er sich besonders an Jean Paul, der in seinen 
Jugendbriefen eine grosse Rolle spielt. Einmal sagt Schumann 
von diesem Dichter, er habe ihn oft „dem Wahnsinn nahe 
gebracht".*) 



*) Schumann schreibt später (15/12. 1830) sehr richtig: „Wäre 
mein Talent zur Dichtkunst und Musik nur in einem Punkte concentrirt, 
so wäre das Licht nicht so gebrochen und ich getraute mir viel". 



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War der Knabe heiter und neckisch gewesen, so zeigte 
sich der Jüngling Schumann zurückhaltend, schweigsam, passiv, 
träumerisch. 

Schon auf dem Gymnasium begann der Kampf zwischen 
der Neigung zur Kunst und der Nöthigung zum Studiuni. 
Der Vater wollte dem Musiker den Weg ebenen, aber sein 
früher Tod gab der Mutter das Ueberge wicht, und sie nöthigte 
den Sohn, die Rechte zu studieren. Jedoch scheint Schumann 
dabei nicht viel gelitten zu haben. Obwohl er einen grossen 
Theil seiner Zeit den „Allotria" widmete, entsprach er ohne 
Anstrengung den Forderungen des Gymnasium und verliess 
die Schule mit der Note lb. 

Von eigentlicher Krankheit wird bis dahin nichts berichtet. 
Um so mehr aus dem Mannesalter. Ehe ich jedoch den 
eigentlichen Krankheit-Bericht zusammenstelle, sei einiges über 
Schumanns Charakter und seine Eigenthümlichkeit gesagt. Ich 
lasse eine Schilderung Wasielewskis vorausgehen, die sich zwar 
zunächst auf die Düsseldorfer Jahre bezieht, offenbar aber für 
den Mann Schumann überhaupt gilt. „Robert Schumann war 
von stattlicher und fast grosser Statur. Seine Körperhaltung 
hatte in gesunden Tagen etwas Gehobenes, Vornehmes, Ruhe- 
und Würdevolles, wogegen sein Gang gewöhnlich langsam, 
leise auftretend, und ein wenig bequem hinschlotternd war. 
Im Hause trug er gewöhnlich Filzschuhe. Nicht selten ging 
er in seinem Zimmer ohne alle äussere Veranlassung auf den 
Fussspitzen. Das Auge*) war meist gesenkt, halb geschlossen, 
und belebte sich nur im Verkehr mit Näherbefreundeten, dann 
aber in wohlthuendster Weise. Die Gesichtsbildung machte im 
Ganzen einen angenehmen Eindruck. Der fein geschnittene 
Mund, meist etwas vorgeschoben, und wie zum 
Pfeifen zugespitzt**) war nächst dem Auge die an- 
ziehendste Partie seines vollen, runden, ziemlich lebhaft ge- 
färbten Antlitzes, lieber der stumpfen Nase erhob sich eine 



*) Sch. war kurzsichtig. Er spricht in den Jugendbriefen von 
seinen „blöden Augen". M. 
**) Von mir gesperrt. M. 



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gewölbte Stirn, die an den Schläfen merklich in die 
Breite ging*). Ueberhaupt hatte sein, von dunkelbraunem, 
vollem und ziemlich langem Haar bedecktes Haupt etwas 
Derbes, durchaus Kräftiges. 

Der Ausdruck der Physiognomie war bei einer gewissen 
Geschlossenheit der Züge für gewöhnlich ein gleichmässig mild- 
ernster und wohlwollender. Das reiche Seelenleben spiegelte 
sich in derselben keineswegs lebendig ab. Wenn Schumann 
die freundliche, zutrauliche Miene annahm, was indessen nicht 
zu häufig geschah, so konnte er geradezu bestechend auf seine 
Umgebung wirken. 

Beim Stehen — langes Stehen wurde ihm leicht lästig — 
hatte er entweder beide Hände auf dem Rücken, oder doch 
eine Hand, während er mit der anderen das Haar an der 
Seite, den Mund oder das Kinn nachdenklich strich. Sass 
oder lag er unbeschäftigt, so Hess er oft die aufgerichteten 
Finger beider Hände gegeneinander spielen. 

Die Art seines Verkehrs mit Andern war sehr einfach. 
Er sprach raeist eben wenig oder garnicht, selbst wenn er um 
etwas befragt wurde, oder doch nur in abgebrochenen Aeusse- 
rungen, die indess stets seine Denkthätigkeit bei einem angeregten 
Gegenstande verriethen. Eine manierirte Absichtlichkeit war 
hierin nicht zu suchen. Seine Art zu reden erschien grossen- 
theils wie ein Fürsichhinsprechen, um so mehr, da er sein 
Organ dabei nur schwach und tonlos verwendete. Heber ge- 
wöhnliche, alltägliche Dinge und Erscheinungen des Lebens 
verstand er sich durchaus nicht zu unterhalten, denn leere 
Redensarten waren ihm zuwider, und über wichtige, ihn leb- 
haft interessirende Gegenstände Hess er sich nur ungern und 
im Ganzen selten aus. Man musste bei ihm den günstigen 
Moment abpassen. War dieser eingetreten, so konnte Schumann 
auf seine Art auch beredt sein. Er überraschte dann durch 
bedeutende, geistig hervorragende Bemerkungen, die den be- 
rührten Gegenstand wenigstens nach einer Seite hin scharf 



*) Von mir gesperrt. M. 



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beleuchteten. Doch nur den wenigen vertrauten Personen 
seines näheren Umganges gewährte er gelegentlich diese Gunst, 
da er denn auch oft wieder lange mit ihnen zusammen sein 
konnte, ohne dass es zu einer Unterhaltung gekommen wäre. 
Von seiner Schweigsamkeit einer Person gegenüber durfte man 
aber durchaus nicht auf eine Antipathie seinerseits schliessen. 
Es war eben Charakterzug bei ihm, und zwar ein früh aus- 
gebildeter. Sehr wohl war er sich dessen bewusst. . . . 

Fremden, oder seinem Wesen nicht zusagenden Persön- 
lichkeiten gegenüber konnten Schumanns gesellige Formen 
leicht etwas Abstossendes annehmen. Namentlich war er 
ebenso leicht durch eine gewisse unberufene cordiale Zutraulich- 
keit wie durch Zudringlichkeit verletzt Von Launen und 
einem etwas störrischen Sinn, namentlich während der letzten, 
durch anhaltende, innere Leiden getrübten Lebensjahre, ist er 
allerdings nicht ganz freizusprechen. Doch war der Kern 
immer ein so edler und vortrefflicher, dass die angreifbaren 
Seiten seiner Persönlichkeit kaum dagegen in Betracht kommen. 
Am gemüthlichsten befand und zeigte er sich im engeren 
Freundeskreise bei einem Glase Bier oder Wein. Zu gewissen 
Zeiten bevorzugte er den Champagner, indem er ausdrücklich 
zu bemerken pflegte : „Dieser schlägt Funken ans dem Geiste." 
Bei solchen Gelegenheiten durfte die Cigarre nicht fehlen. 
Schumann führte sehr feine und starke Cigarren, die er mit- 
unter scherzweise „kleine Teufel" nannte. 

Im Familienkreise war Schumann selten zugänglich; 
genoss man aber diese [Bevorzugung, so empfing man den 
wohlthuendsten Eindruck. Seine Kinder liebte er nicht minder 
als seine Gattin, obschon er nicht die Gabe besass, mit jenen 
sich andauernd und eindringlich zu beschäftigen. Traf er sie 
zufällig auf der Strasse, so blieb er wohl stehen, langte seine 
Lorgnette heraus und betrachtete sie einen Augenblick, indem 
er mit zugespitzten Lippen freundlich sagte: „Nun ihr lieben 
Kleinen?" Dann aber nahm er sogleich die vorige Miene an, 
und setzte seinen Weg fort, als ob garnichts vorgefallen sei. 

Das äussere Leben, welches Schumann während der 
letzten Lebensjahre führte, war sehr einförmig und höchst 



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regelmässig. Vormittags bis gegen 12 Uhr arbeitete er. Bann 
unternahm er gewöhnlich in Begleitung seiner Gattin, und des 
einen oder andern nähern Bekannten einen Spaziergang. Um 
1 Uhr speiste er, und arbeitete dann nach kurzer Ruhe bis 
5 oder 6 Uhr. Hierauf besuchte er meist einen öffentlichen 
Ort, oder eine geschlossene Gesellschaft, deren Mitglied er war, 
um Zeitungen zu lesen, und ein Glas Bier oder Wein zu 
trinken. Um 8 Uhr kehrte er gewöhnlich zum Nachtmahl 
nach Hause zurück. 

Sogenannte Thee- und Abendgesellschaften besuchte 
Schumann nicht häufig. Bisweilen sah er einen gewissen Kreis 
von Bekannten und Kunstfreunden in seinem Hause. Er 
konnte dann, wenn er sich in guter Stimmung befand, ein sehr 
angenehmer Wirth sein; ja, es kamen einzelne Fälle während 
des Düsseldorfer Lebens vor, bei denen er sich ungemein 
heiter und aufgeräumt zeigte. Einmal schlug er sogar, nachdem 
musicirt und soupirt worden war, einen allgemeinen Tanz 
vor, an dem er sich zur freudigen Verwunderung aller An- 
wesenden selbst lebhaft betheiligte. 

In Berufsangelegenheiten war Schumann streng und gewissen- 
haft, obgleich er fast niemals zu Aeusserungen der Heftigkeit oder 
Leidenschaftlichkeit bei vorkommenden Ungehörigkeiten sich fort- 
roissen Hess, und wenn es der Fall war, bald wieder in versöhntem 
Tone sprach. Dies Letztere geschah auch , wenn er gegen eine ihm 
sonst werthe Persönlichkeit einmal unfreundlich gewesen war, was 
er hinterher sogleich empfand und wieder gut zu machen suchte. 
Bei abweichenden Ansichten verhielt er sich gewöhnlich 
schweigend; dies war dann aber ein sicheres Zeichen seiner, 
nur nicht verlautbarten Opposition, auf Grund deren er bloss 
handelte, wie er es für Recht erkannte. Bei einer Comite- 
sitzung des Allgemeinen Musikvereins in Düsseldorf sollte ein 
Beschluss gefasst werden, mit dem Schumann nicht einver- 
standen war. Ohne ein Wort zu sprechen, griff er nach seinem 
Hute, und verliess das Sitzungslokal. Gegen Böswilligkeit und 
Gemeinheit der Gesinnung war er unerbittlich streng, und, wo 
sie einmal sich ihm gezeigt hatte, auch für immer unversöhnlich. 



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Von der Art und Weise, wie Schumann Kunstgenossen 
begegnete (als Musiker und Kritiker), ist bereits im Verlaufe 
der Darstellung ausführlich die Rede gewesen; in dieser Hin- 
sicht wäre er als Muster aufzustellen. Von Neid oder Scheel- 
sucht war keine Spur in ihm. Mit inniger Wärme und Freude 
erkannte er das Grosse, Bedeutende und Talentvolle an, 
namentlich wenn er sich durch verwandte Elemente an- 
gesprochen fühlte. Im letzteren Falle zeigte er auch, was bei 
seiner durch und durch deutschen Denkweise und Richtung 
auffällt, begeisterte Theilnahme für fremdländische Kunst, obschou 
er sich durchaus abwehrend gegen die neuere dramatische 
Musik Frankreichs und Italiens verhielt, und in Bezug auf diese 
auch niemals zu einer angemessenen in objektiver Anschauung 
beruhenden Würdigung kam. Während der letzten Lebensjahre 
bekundete er sogar für einige grosse Meister der Vergangenheit, 
namentlich für Haydns und Mozarts Kunst zeitweilig weniger 
Interesse. Ja, er liess selbst mituuter geringschätzende Worte 
über namhafte Werke derselben fallen, und musste hierin 
natürlich von den Meisten missverstanden werden; denn haupt- 
sächlich war doch zunächst seine Krankheit die Ursache solcher 
Aeusserungen, wenn auch nicht zu bezweifeln ist, dass das, 
mit den vorrückenden Jahren immer mehr überhand nehmende 
Einspinnen in seine eigene Ideenwelt, einen gewissen Antheil 
daran hatte." 

Vom Charakter im engeren Sinne zu reden, Schumann 
glich seinem Vater durchaus durch Herzensgüte und unermüd- 
lichen Fleiss. Seinen edlen Sinn zeigte er z. B. in seinem 
Verhalten gegen die Schikanen Wiecks und in seiner bei einem 
Musiker unerhörten Neidlosigkeit. Als Componist und Dichter 
kannte er keine Trägheit, unerschöpflich brachte er aus seinem 
Inneren Neues zu Tage. Wie später zu zeigen ist, wurde seine 
Thätigkeit oft durch Krankheit unterbrochen, und Schumanns 
Umgebung, sowie die Biographen sprechen dann von Ueber- 
anstrengung, sehen in der Arbeit die Ursache der Krankheit, 
eine Auffassung, die kaum das Rechte treffen dürfte. Schumann 
war ein überaus zärtlicher Liebhaber und treuer Gatte, was in 
rührender Weise durch die Briefe und Tagebuchauszüge in 



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Litzmanns Buche über Clara Schumann dargethan wird. Als 
Vater scheint er mehr passiv gewesen zu sein. In hohem 
Grade besass er Eigenschaften, die man den Künstlern im 
Allgemeinen zuzuschreiben pflegt: Hingegebensein an Stim- 
mungen, rasche üebergänge von Traurigkeit oder Muthlosigkeit 
zu Heiterkeit und Zuversicht, einen gewissen Leichtsinn dem 
Alltäglichen, dem sogenannten Practischen gegenüber und ge- 
wisse weibliche Züge. Die meisten Künstler haben mehr Weib 
in sich als der gewöhnliche Mann, bei Schumann aber war 
dies in hohem Grade der Fall. Schon das Aeussere, besonders 
der durchaus weibliche Unterkiefer deutet es an. „Was Schu- 
mann als Liedersänger den anderen epochemachenden Meistern 
gegenüber ganz besonders auszeichnet, ist jene edle Gefühls- 
schwärmerei, die man als eine echt weibliche bezeichnen 
könnte 44 [W]. In einem Briefe aus dem Jahre 1833 erzählt 
der junge Schumann von einem „Psychometer". Er spricht 
von Magnetstäben u. s. w. ; wahrscheinlich ist der Apparat so 
eingerichtet gewesen, dass der Untersuchte durch unwillkür- 
liche Bewegungen den Zeiger lenkte. Wir würden also eine 
Art von Selbstschilderung vor uns haben. Abgesprochen 
werden Schumann folgende Eigenschaften : kühn, heldenmuthig, 
neidisch, prachtliebend, rechthaberisch, listig. Zugesprochen: 
hypochondrisch, still, schüchtern, zartsinnig, gutmüthig, eigen- 
sinnig, gefühlreich, genial, schwärmerisch, tiefsinnig, empfindlich, 
edelmüthig, gesellig. 

Ferner schalte ich hier eine graphologische Analyse ein, 
die Frau Thumm-Kintzel in Lichterfelde bei Berlin auf meinen 
Wunsch hin angestellt hat. Es lagen ihr eine Schriftprobe 
aus dem Jahr 1842 und eine kürzere vor, die wahrscheinlich 
um mehrere Jahre jünger ist. 

„Ein weicher, äusserst gemüthvoller und durch und durch 
nobler und generöser Charakter spricht aus diesen Schriftzügen. 
Das Weiche streift fast ans Weichliche, zumal es Schumann 
an Entschlussfähigkeit ermangelte und er besonders in seinen 
Gefühlen sehr leicht zu beeinflussen war. 

Viel Eifer und Fleiss, ja ein fast hastiger Drang nach 
Beschäftigung machen sich geltend, der zu dem sonst Bequem- 



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lichkeit-Liebenden, fast Schlaffen dieser Handschrift in merk- 
würdigem Gegensatz steht und vermutlich nervösen Charakters ist. 

Starker Argwohn und intensives Misstrauen raachen sich 
geltend, auch zeigt schon diese Handschriftprobe leichte psy- 
chische Anomalien. 

Schumann war von Hause aus eine heitere Natur mit 
viel Sinn für die Freude, viel Sinn für Scherz und Komik, — 
auch viel Sinn für erotische Freuden. Und doch zeigt seine 
Handschrift — besonders in der zweiten Schriftprobe — eine 
tiefe Schwermuth, eine fast krankhafte Melancholie. 

Die Handschrift ist wunderbar ästhetisch, nicht nur reich 
an den mannigfaltigsten musikalischen Kurven, sondern auch 
reich an bildnerischen Zeichen, Kurven, die auf ein starkes 
Talent für Formen und Farben hinweisen. Endlich zeigt sie 
noch eine sehr poetische Phantasie. 

Die Handschrift ist geistvoll und scharfsinnig. Sie deutet 
auf einen philosophischen Kopf, der an der Form der Dinge 
nicht haften blieb, sondern nach ihrem Wesen forschte. 

Ein guter Geschäftsmann war Schumann nicht, viel zu 
sehr Künstler und Philosoph, auch viel zu grossmüthig ver- 
anlagt.. Sein Geld hat er wohl vielfach unbedachtsam, ja 
ungeschickt verausgabt 

In Bezug auf Ordnung war er mindestens genial, und 
zwar von Hause aus. 

Die Handschrift macht einen ausgesprochen blonden, 
blauäugigen Eindruck, — es würde mich sehr interessiren zu 
erfahren, ob das zutreffend ist 

Bei aller Weichheit und Liebenswürdigkeit seines Charakters 
konnte Schumann übrigens auch scharf, ja feindlich werden, 
besonders unliebsamen Leuten gegenüber. 

Eine gewisse Diplomatie und endlich ein schauspielerisches 
Talent sind noch zu erwähnen. 

Schliesslich möchte ich noch bemerken, dass das Miss- 
trauische und auch das Scharfe, Feindliche in der späteren 
Schriftprobe sehr viel entwickelter ist, dass es hier einen fast 
bösartigen Charakter zeigt" 



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Von den „kleinen Eigenheiten" ist Schumanns Schweig- 
samkeit am auffallendsten. Richard Wagner bat sich ganz 
entsetzt über sie geäussert Wie weit die Sache ging, zeigt ein 
von Wasielewski berichteter Vorgang. Der junge Schumann kam 
eines Abends unangemeldet zu der befreundeten Familie Voigt, 
nickte freundlich, „die Lippen in pfeifender Stellung, wie er 
gewöhnlich that, wenn ihm innerlich wohl war", legte den 
Hut ab, öffnete das Ciavier, griff ein paar Accorde, schloss 
das Instrument und verschwand, wie er gekommen war, ohne 
ein Wort gesprochen zu haben. Immer war Schumann zu 
einem gleichmässigen, ruhigen Leben geneigt. In jüngeren 
Jahren scheint er etwas viel Bier getrunken zu haben, doch 
scheint auch damals die Massigkeit im weiteren Sinne des 
Wortes nicht oft verletzt worden zu sein. In Leipzig hat er 
Abends gewöhnlich still im „Kaffeebaum" gesessen, hat dann 
zu Hause noch geschrieben. Als er bei Frau Devrient im 
rothen Colleg wohnte, spricht er von „künstlichen Mitteln", 
um seine Abspannung su beseitigen. Auch scheint es damals 
einen Krach mit der Wirthin gegeben zu haben, an dem viel- 
leicht diese Mittel schuld waren. Er schrieb dann, das 
melancholische Wetter und innere schwere Leiden hätten ihn 
wüst gemacht. 

Eigentliche Noth hat Schumann nie erfahren. Der Kampf 
um die Braut war zwar lang und peinlich, aber die Ehe war 
durchaus glücklich. Schumann wurde Vater von acht Kindern. 
Eins starb früh an „Drüsenauszehrung", zwei sind nach des 
Vaters Tode in reifem Alter gestorben, fünf haben 1880 noch 
gelebt. Im Jahr 1832 ist von „vorzeitiger Niederkunft" der 
Frau die Rede: Ich weiss nicht, ob es sich um eine Fehlgeburt 
gehandelt hat, ein Kind wird nicht erwähnt. Sonst sind keine 
Fehlgeburten vorgekommen. An Verdruss und Aufregung hat 
es natürlich bei Schumann auch nicht gefehlt, aber es war 
schliesslich nicht mehr, eher weniger als die meisten Menschen 
zu erdulden haben. 

Nun zu dem eigentlich Krankhaften. 

Im Jahr 1830 hatte sich Schumann durch gewaltsame 
Fingerübungen, bei denen er sich in sein Zimmer einge- 



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schlössen hatte, den dritten Finger der rechten Hand beschädigt, 
so dass dieser sich aufwärts bewegte, wenn er die Taste be- 
rühren sollte. Etwas Genaueres über die Sache ist nicht bekannt. 
Schumann bedient sich nur allgemeiner Ausdrücke. Im Herbste 
1831 wird von „Erlahmung" der ganzen rechten Hand ge- 
sprochen. Dann aber ist es offenbar allmählich besser geworden, 
denn Schumann hat sein Lebenlang viel Klavier gespielt, wenn 
auch der Fingerkrampf ihm ein für allemal die Virtuosenthätig- 
keit verleidet hatte. Im Jahre 1831 wurde Schumann von 
Choleraangst ergriffen: „Ich hatte mir aber vor 14 Tagen so 
himmelfest eingebildet, ich bekäme die Cholera, und ich müsste 
daher reisen, weit, sehr weit, etwa nach Neapel oder Sicilien — 
die ganze Furcht ist seit einigen Tagen verschwunden mitsammt 
der Reiselust". 

Im Sommer 1833 hatte sich Schumann, als er in Reichels 
Oarten wohnte, Malaria zugezogen, die damals längs des Pleissen- 
ufers häufig war. Er klagt sehr, spricht von der „martervollen 
Krankheit". „Nicht einmal waschen darf ich mich". Im 
September hatte Schumann eine hochgelegene Wohnung (Burg- 
strasse 21, IV) bezogen. Als nun seine Schwägerin Rosalie 
gestorben war, gerieth er in heftige Gemüthsbewegung, und 
er soll sich zum Fenster hinauszustürzen versucht haben. Er 
selbst spricht von „der fürchterlichen Nacht des 17. Oktober" 
und von peinigendem Angstgefühle. Es folgte „fürchterliche 
Melancholie" mit Apathie. Seitdem hatte er eine Scheu vor 
hohen Stockwerken. „Ich bekomme an solchen Stellen Schwindel 
und Uebligkeiten, und kann mich in hohen Stocks nicht lange 
aufhalten" (Brief vom 5. August 1838). Ueber die „fürchter- 
liche Nacht u schreibt Schumann Folgendes an Clara Wieck am 
11. Februar 1838: „Dies war im Sommer 1833. Dennoch 
fühlte ich mich nur selten glücklich: es fehlte mir etwas; die 
Melancholie, durch den Tod eines lieben Bruders noch mehr 
über mich herrschend, nahm auch noch immer zu. Und so 
sah es in meinem Herzen aus, als ich den Tod von Rosalien 

erfuhr. — Nur wenige Worte hierüber, in der Nacht 

vom 17. zum 18. Oktober 1833 kam mir auf einmal der fürchter- 
lichste Gedanke, den je ein Mensch haben kann, — der fürchter- 

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lichste, mit dem der t Himmel strafen kann — der ,den Verstand 
zu verlieren' — er bemächtigte sich meiner aber mit so einer 
Heftigkeit, dass aller Trost, alles Gebet wie Hohn und Spott 
dagegen verstummte. — Diese Angst aber trieb mich von Ort 
zu Ort — der Athem verging mir bei dem Gedanken, ,wenn 
es — [? unleserlich] würde, dass du nicht mehr denken könntest — 
Clara, der kennt keine Leiden, keine Krankheit, keine Ver- 
zweiflung, der einmal — so vernichtet war — damals lief ich 
denn auch in einer ewigen fürchterlichen Aufregung zu einem 
Arzt — sagte ihm alles, dass nur die Sinne oft vergingen, 
dass ich nicht wüsste, wohin vor der Angst, ja dass ich nicht 
dafür einstehen könnte, dass ich in so einem Zustand der 
äussersten Hilflosigkeit Hand an mein Leben lege". Bemerkens- 
werth ist noch folgendes Crtheil Schumanns über sich selbst 
(28. Nov. 1837): „Was aber diese ganze dunkle Seite meines 
Lebens anlangt, so möchte ich Dir ein tiefes Geheimniss eines 
schweren psychischen Leidens, das mich früher befallen 
hatte, einmal offenbaren; es gehört aber viel Zeit [da] zu und 
umschliesst die Jahre vom Sommer 1833 an. Du sollst es 
aber noch erfahren einmal und hast dann den Schlüssel zu 
allen meinen Handlungen, meinem ganzen sonderbaren Wesen". 
Im November 1833 schreibt er: da „ich nicht den Muth habe, 
allein nach Zwickau zu reisen, aus Furcht, es könne mir 
etwas geschehen. Heftiger Blutandrang, unaussprechliche 
Angst; Vergehen des Athems, augenblickliche Sinnesohnmacht 
wechseln rasch, obgleich jetzt weniger als in den vergangenen 
Tagen. Wenn Du eine Ahnung dieses ganz durch Melancholie 
eingesunkenen Zustandes hättest, so verziehest Du gewiss, dass 
ich nicht geschrieben". 

Am 31. Dezember 1836 schreibt er an seine Schwägerin 
Therese: „Ach bleibe mir gut! In einer tödtlichen Herzens- 
angst, die mich manchmal befällt, hab' ich Niemanden als Dich". 
An Clara schreibt er 1838, der Beginn des Jahres 1837 sei 
eine schlimme Zeit gewesen wegen der Entfremdung zwischen 
beiden. „Da sagte ich oft des Nachts zu Gott — , nur das 
Eine lass geduldig vorübergehen, ohne dass ich wahnsinnig 
werde, ich dachte einmal Deine Verlobung in den Zeitungen 



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zu finden — da zog es mich am Nacken zu Boden, dass ich 
laut schrie". Doch dauerten wahrscheinlich die Verstimmungen 
nicht lange an. Am 11. September 1837 z. B. schreibt 
er Goethes Enkel: „Ich bin jetzt trefflicher Laune und 
fliege viel". 

Aus den nächsten Jahren erfahren wir nicht viel über 
ernstliche Störungen. Jedoch fehlte es an vorübergehenden 
Verstimmungen nicht. Am 14. April 1838 schrieb Schumann 
zwar: „Das ist ein göttlich Ding, dieses nüchterne, arbeitsame 
Leben. Ja, ich glaube — und dies Geständniss soll Dir merk- 
würdig sein — meine Melancholie ist gar nicht so weit her 
und war nur Folge des Sitzens in die Nacht hinein". Aber 
am 20. Juni heisst es: „Krank bin ich. Und wie lange wird 
dies alles währen. Es steht alles so schreckhaft still jetzt". 
Am 1. August: „Ich war die Tage her so schrecklich traurig, 
krank und angegriffen, dass ich dachte, meine Auflösung wäre 
nahe 1 '. Am 10. April 1839 berichtet er von seinen „Ahnungen" 
vor dem Tode seines Bruders Eduard: er habe zur Zeit des 
Sterbens einen Choral von Posaunen gehört. Auch im Sommer 
zeigt sich wieder Verdüsterung. „Nun bitte ich Dich, meinen 
Namen manchmal leise dem Höchsten auszusprechen, dass er 
mich beschützen möge; denn ich kann Dir sagen, ich kann 
kaum noch beten, so bin ich vom Schmerz niedergebeugt und 
verstockt. Ich habe doch eine grosse Schuld auf mir, dass 
ich Dich von Deinem Vater getrennt habe — und dies foltert 
mich oft". Dann folgen wieder Ahnungen von Todesfällen. 
„Das alles sag ich Dir mit recht schwacher Stimme; denn mir 
ist es hier, als müsst ich mich auch gleich hinauslegen, wo so 
viele liegen, die mich geliebt .... nur bin ich manchmal sehr 
krank jetzt, so eigen schwach im ganzen Körper und namentlich 
auch im Kopf; das ist vom vielen Sinnen. Du musst es auch 
an meinen Briefen merken. Es greift mich Alles so fürchterlich 
an*'. Auch im Herbste des Jahres 1839 zeigte Schumann 
manchmal seltsame Launen. Im Jahre .1840 heirathete 
Schumann, und in den folgenden Jahren soll er sich in 
gehobener Stimmung befunden und viel componirt haben. Von 
nun an liegen nicht nur Briefe vor, sondern auch Angaben 

2* 



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des Tagebuches, das von dem Ehepaare, besonders aber von 
der Frau geführt wurde.*) 

Im Herbste 1842 erkrankte Schumann an „Nerven- 
schwäche", wie er selbst es nennt, angeblich durch Ueber- 
arbeitung. Im Frühjahre 1843 wurde es besser und Schumann 
konnte seine Arbeit wieder aufnehmen. 

Im Jahre 1844 unternahm Frau Schumann eine Concert- 
reise nach Russland, auf der Schumann sie begleitete. In 
Dorpat erkältete er sich stark und lag sechs Tage lang zu Bett. 
Es waren „rheumatische Beschwerden mit Angsterscheinungen* 4 . 
Dann folgte „trübste Melancholie". In Moskau traten heftige 
Schwindelanfälle auf, und Schumann zeigte sich sehr reizbar. 
Er litt unter dem Gedanken, nur der Mann seiner Frau zu 
sein, und notirte: „Kränkungen kaum zu ertragen". In Moskau 
schrieb Schumann auch fünf Gedichte nieder. „Man kann sie 
nicht ohne schmerzliche Erschütterung lesen, diese in der Form 
wie im Inhalt eine merkwürdige Hilflosigkeit verrathenden 
Zeugen dunkelster Stunden. Erscheinen sie jetzt doch wie 
Vorboten der Schatten, die zehn Jahre später für immer über 
sein Leben Macht gewannen." Nach der Rückkehr bestand 
noch körperliches Unbehagen, aber Schumann konnte doch 
arbeiten. Im August „ernstliche Erkrankung", „eine gänzliche 
Abspannung der Nerven, die ihm jede Arbeit unmöglich 
machte" (T). Eine im September zur Erholung unternommene 
Harzreise verlief schlecht. Er „konnte kaum über das Zimmer 
ohne grösste Anstrengung gehen" (T). Im October siedelte die 
Familie nach Dresden über. „Es vergingen nun acht schreck- 
liche Tage. Robert schlief keine Nacht, seine Phantasie malte 
ihm die schrecklichsten Bilder aus, früh fand ich ihn gewöhn- 
lich in Thränen schwimmend, er gab sich gänzlich auf" (T). 
Nur langsam wurde der Zustand besser. Der behandelnde 
Arzt war damals Dr. Heibig, ein Homöopath. Sein Bericht folgt. 

„Robert Schumann kam im October 1844 nach Dresden 
und war namentlich durch die Composition des Epilogs von 
Goethes Faust so sehr in Anspruch genommen worden, dass 



T = Tagebuch. 



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er bei Abfassung des Schlusses dieses Musikstückes in einen 
krankhaften Zustand verfiel, der sich durch folgende Erschei- 
nungen aussprach: Sobald er sich geistig beschäftigte, stellten 
sich Zittern, Mattigkeit und Kälte in den Füssen und ein angst- 
voller Zustand ein mit einer eigentümlichen Todesfurcht, die 
sich durch Furcht vor hohen Bergen und Wohnungen, vor 
allen metallenen Werkzeugen (selbst Schlüsseln), vor Arzneien 
und Vergiftungen zu erkennen gab. Er litt dabei viel an 
Schlaflosigkeit und befand sich in den Morgenstunden am 
schlechtesten. Da er an jedem ärztlichen Recepte so lange 
studirte, bis er einen Grund gefunden hatte, die ihm ver- 
schriebene Arznei nicht einzunehmen, so verordnete ich kalte 
Sturzbäder, welche auch seinen Zustand so weit verbesserten, 
dass er wieder seiner gewöhnlichen (einzigen!) Beschäftigung, 
der Compositum, nachhängen konnte. Da ich eine ähnliche 
Gruppe von Krankheitszufällen mehrmals bei solchen Männern, 
namentlich bei Expeditionern beobachtet hatte, welche im 
Uebermaass mit einer und derselben Sache (stetem Addiren etc.) 
beschäftigt waren, so führte dies zu dem Rathe, dass Schumann 
sich mindestens zeitweise mit einer Geistesarbeit anderer Art, 
als Musik, beschäftigen und zerstreuen möge. Er wählte selbst 
bald Naturgeschichte, bald Physik etc., stand aber schon nach 
ein bis zwei Tagen davon ab, und hing, er mochte sein wo er 
wollte, in sich gekehrt seinen musikalischen Ideen nach." 

„Lehrreich für den Beobachter waren die mit dem hohen 
Grad von Entwickelung des Musik- und Gehörsinnes zusammen- 
hängenden Gehörstäuschungen und das eigentümliche Gemüths- 
leben des Mannes. Das Ohr ist der Sinn, welcher in Nacht 
und Finsterniss am thätigsten ist, am spätesten einschläft, am 
frühesten erwacht, durch den sich selbst bei Fortdauer des 
Schlafs auf den Menschen durch Zuflüstern wirken lässt, der 
am meisten mit dem Gefühlsvermögen in Verbindung steht 
und in dessen Nähe die Organe der Vorsicht, Rache, Offensive, 
des Tonsinns etc. gelegen sind. Wer die Attribute der Finster- 
niss und Nacht, welche aufzuzählen der Raum nicht gestattet, 
sich vergegenwärtigt und damit Schumanns Gemüthsleben ver- 
gleicht, dem wird hierüber vieles erklärlich werden. Wenn 



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wir bedenken, dass das Auge kein Licht empfinden, das Hirn 
keinen Gedanken verstehen könnte, wenn ersteres nicht Licht, 
letzteres nicht Gedanken in sich schaffen könnte, so wird uns 
auch ein Aufschluss über Schumanns Gehörstäuschungen 
werden." 

Hier hören wir zum ersten Male von Gehörstäuschungen ! 
Im December schreibt Schumann selbst an Dr. E. Krüger: 
. . . „wie sehr krank ich war an einem allgemeinen Nerven- 
leiden, das mich schon seit einem Vierteljahre heimgesucht/ 4 

Im Mai 1845 heisst es: „Roberts Nervenübel will noch 
immer nicht weichen' 1 (T). Schumann schreibt am 17. Juli 
an Mendelssohn : . . . „was für einen schönen Winter ich 
gehabt, wie eine gänzliche Nervenabspannung und in ihrem 
Geleit ein Andrang von schrecklichen Gedanken mich fast zur 
Verzweiflung gebracht." Eine im August beabsichtigte Rhein- 
reise musste wegen starker Schwindelanfälle abgebrochen werden. 
Im September heisst es in einem Briefe an Mendelssohn : „Et- 
was besser geht mir's schon: Hofrath Carus hat mir Früh- 
Morgen-Spaziergänge angerathen, die mir denn auch sehr gut 
bekommen: doch langt es überall noch nicht und es juckt und 
zuckt |?J mich täglich an hundert verschiedenen Stellen. Ein 
geheimnissvolles Leiden — wenn es der Arzt anpacken will, 
scheint es zu entschlüpfen". Die Besserung schritt fort und 
der Winter scheint gut gewesen zu sein. 

Schon im März 1846 traten wieder neue Störungen ein. 
Angeblich durch Ueberanstrengung bekam Schumann Singen 
und Brausen im Ohre, „sodass ihm jedes Geräusch zu Klang 
wurde." Ruhe und Biliner Wasser schienen Besserung zu 
bringen. Im Mai Schwindelanfälle; „dabei tiefe Hypochondrie". 
Als er sich in Maxen bei Pirna aufhielt, heisst es im Tage- 
buche: „er kann es nicht überwinden, dass er (von seinem 
Zimmer aus) immer den Sonnenstein sehen muss." Dabei 
fühlte er sich sehr matt, und jeder Spaziergang wurde ihm 
zur Qual. Im Juni starker Blutandrang nach dem Kopfe, 
grosse Unruhe und vollständige Unfähigkeit, zu arbeiten. Eine 
im Juli und August unternommene Reise nach Norderney 
wirkte, obwohl die trüben Gedanken nicht aufhörten, ent- 



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schieden günstig. Vor der Seereise klagte Schumann in einem 
Briefe über sein Gehör: „ich verlor jede Melodie wieder, wenn 
ich sie eben erst in Gedanken gefasst hatte, das innere Hören 
hatte mich zu sehr angegriffen*'. Der Winter war gut bis auf 
einzelne Schwindelanfälle und Verstimmungen. 

Auch in den folgenden Jahren scheinen die schlechten 
Zeiten verhältnissmässig kurz gewesen zu sein. Im Januar 
1848 z. B.: Üeberreizung und Abspannung der Kopfnerven, 
,,wie er sie selten schlimmer empfunden' 1 . „Trübe Tage" (T). 
Im Februar: Besserung, leichte Arbeiten. Die vielfach unter- 
brochene Production nahm nach Wasielewski von 1847 an wesent- 
lich zu und erreichte mit 30 grösseren und kleineren Werken 
im Jahre 1849 ihren Höhepunkt Dabei muss sich Schumanns 
Zustand doch allmählich verschlechtert haben, denn in dieser 
Zeit wird zuerst von thörichten Handlungen berichtet, von plötz- 
lichen und unmotivirten Abänderungen festgefasster Beschlüsse. 
Schumann Hess z. B. die schon gepackten Koffer wieder aus- 
packen , „weil die Ausgabe für das Vergnügen zu gross sei." 
Keferstein erzählte später, Schumanns Zustand in Dresden sei 
ihm recht bedenklich vorgekommen. Schumann habe ihm z. B. 
Steinwein vorgesetzt, den er für theures Geld vom Brocken- 
wirthe verschrieben hatte. 

Ueber die Zeit bis 1850 schreibt Litzmann (X. S. 128): 
„Man gewinnt aus diesen Angaben, auch wenn man sonst 
gar nichts weiter von der Vergangenheit und Zukunft des 
Betreffenden wüsste, doch sicher das Bild der Lebenslinie 
eines kranken Mannes und einer Krankheit, die in wechselnder 
Stärke und mit längern Ruhepausen und mit wechselnden 
Symptomen, aber doch mit unheimlicher Regelmässigkeit immer 
wieder in TJeberreizungserscheinungen zu tage tritt, die wieder, 
was hier allerdings nur erst zwischen den Zeilen zu lesen war, 
ausnahmslos mit geistiger Ueberanstrengung in ursächlichem 
Zusammhange stehen, die allemal bei längerer Enthaltung von 
aller anstrengenden Arbeit sich verlieren, aber immer wieder 
wie ein Feind aus dem Hinterhalte hervorbrechen, sobald der 
Patient seiner neugewonnen Kraft froh zu werden beginnt und 
zur Arbeit zurückkehrt. 



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Und wenn man nun einen Blick in das Kompositions- 
verzeichniss Schumanns aus den Jahren 1845—1850 wirft und 
sich dabei klar macht, welch eine überwältigende Fülle von 
schöpferischer Kraft nach den verschiedensten Richtungen hin 
dieser, von solchen Dämonen unablässig belauerte und ver- 
folgte Geist, den versagenden Nerven zum Trotz, mit eiserner 
Energie seinem schwachen Körper und seinem zartorganisirten 
seelischen Organismus abzuringen gewusst, so weht es einem 
an wie der Anhauch vom Grabe eines Helden. Keiner, auch 
die nächsten nicht, hatten doch eine deutliche Vorstellung 
davon, mit welchen Gewalten der oft so verdüsterte, unzu- 
gängliche, reizbare, launische Mann zu kämpfen hatte, und vor 
allen Dingen keiner, dass das, was er da in schier unerschöpf- 
licher Fülle an Wohllaut über seine Zeit ausströmen liess, 
erkauft war im eigentlichen Sinne des Wortes mit der langsamen 
Zerstörung seiner Lebenskraft. 

Schumanns letzte verderbliche Krankheit, urth eilte nach- 
mals die berufenste Stimme*), war nicht .... eine primäre 
spezifische Geisteskrankheit; sie bestand vielmehr in einem 
langsam aber unaufhaltsam sich vollziehenden Verfall der 
Organisation und der Kräfte des Gesammtnerven Systems, von 
welchem die psychische Alienation nur eine Theilerscheinung 
war. Abgesehen von einem etwa in seiner ursprünglichen 
Organisation gelegenen Krankheitskeim, wie ihn wohl jeder 
Mensch in sich trägt, hatte dieses Leiden, wie immer, seine 
Ursache in einem durch Ueberanstrengung herbeigeführten 
Verbrauch und Hinschwinden der Substanz der psychisch 
fungirenden Zentraltheile des Nervensystems, mit welchem die 
Wiederherstellung derselben nicht mehr gleichen Schritt zu 
halten vermochte. Ein ungemessenes geistiges, zumal künstle- 
risches Produciren muss als die ergiebigste Quelle für diese 
schreckliche, allen Heilbemühungen trotzende Krankheit be- 
trachtet werden". 



*) Geh. Rath Richarz, der Leiter der Endenicher Anstalt, 
Schumanns letzter Arzt, in einem Aufsatze der Kölnischen Zeitung 
a. d. J. 1873: Rob. Schumann. 



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Im Jahre 1850 wird wieder „Ueberanstrengung", „Ueber- 
reizung" citirt; die Angst vor hochgelegenen Wohnungen tritt 
stärker hervor; der Gedanke, so zu sterben wie Mendelssohn, 
wird zur fixen Idee. In einem Brief an F. Hiller von 1849 
erkundigte er sich, ob er in Düsseldorf ein Irrenhaus erblicken 
müsse. „Ich muss mich sehr vor allen melancholischen Ein- 
drücken der Art in Acht nehmen' 1 . „Die ganze Zeit her litt 
ich an Kopfschmerzen, die mich an allem Arbeiten und Denken 
hinderten". 

Am 1. September 1850 siedelte Schumann nach Düsseldorf 
über. Ueber die erste Zeit erfährt man nicht viel, dann aber 
scheint es deutlich abwärts gegangen zu sein. Freilich die 
Frau scheint bis kurze Zeit vor der Katastrophe nichts gemerkt 
zu haben, wir wissen aber, dass die Angehörigen, besonders 
die weiblichen, recht beträchtliche Veränderungen des Geistes- 
zustandes oft gar nicht wahrnehmen. Schon 1852 werden 
„Apathie, Verträumtheit, eigentümliche, sich zeitweise bemerkbar 
machende Schwerfälligkeit im Sprechen, Nachlassen der musika- 
lischen Gestaltungskraft"' erwähnt. Nach Spitta soll man manche 
der Düsseldorfer Compositionen „nicht ohne peinliche Empfindung" 
hören können. Wasielewski sagt, die schwerfällige Sprache sei vor- 
her schon vorhanden gewesen, sei nur in höherem Grade jetzt auf- 
getreten. Schumanns körperliche Haltung war schlaff, es ging 
ihm alles zu rasch, und er verlangte beim Dirigiren Verlang- 
samung der Tempi. Dabei war das subjektive Krankheitgefühl 
geringer als früher und der Drang zur Composition sehr lebhaft 
Im Sommer 1852 „ernstliche Erkrankung 4 '. Zuerst „rheumatisches 
Leiden". Dann „Schlaflosigkeit, Gemüthsverstimmung". Schumann 
suchte Erholung in Godesberg, schadete sich aber wohl mehr 
durch Herumlaufen in der Hitze. Am 2. Juli „nervöser Krampf- 
anfall". In Düsseldorf brauchte Schumann dann Rhein-Bäder. 
„Robert ist schrecklich heimgesucht von hypochondrischen Ge- 
danken" (T). Doch dirigirte er zuweilen noch. Im August 
notirt er selbst: „Traurige Ermattung meiner Kräfte". „Schwere 
Leidenszeit". Im Herbste wurde es besser. Im October wieder 
ein Schwindelanfall. Im November schreibt Schumann : „Besuch 
von Hill er. Merkwürdige Gehörsaffectionen". Im December 



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heisst es in einem Briefe an R. Pohl: „Ich lag fast die Hälfte 
dieses Jahres sehr krank darnieder an einer tiefen Nerven- 
verstimmung — Folge vielleicht zu angestrengter Arbeit. Erst 
seit 5 — 6 Wochen geht es mir wieder besser". 

Im Jahre 1853 begeisterte sich Schumann für das Tisch- 
rücken, und zwar, wie seine Freunde meinten, in krankhafter 
Weise. Er componirte viel und war in der Regel heiter. 
Am 30. Juli ein Anfall, den Schumann „Nervenschlag" nannte, 
den der Arzt ihm zum Tröste als Hexenschuss bezeichnete, den 
Freunden gegenüber aber als bedenkliches Zeichen. Mehr und 
mehr traten die Gehörstäuschungen hervor: „ich kann nicht 
mehr lesen, ich höre fortwährend A." Im August notirt Schumann 
selbst: „sonderbare Sprachorganschwäche a . Dabei immer „heitere, 
fast gehobene Stimmung". Im Tagebuche findet man: „heiter", 
„Freude". Auf einer Reise nach Holland im November nächt- 
licher Anfall der „unnatürlichen Gehörsaffectionen". Im Winter 
glaubte Schumann einen Ton zu hören, aus dem sich allmählich 
Harmonieen, ja ganze Tonstücke entwickelten. Endlich traten 
auch Geisterstimmen hinzu, die bald in versöhnendem, bald in 
verfolgendem, vorwurfsvollem Tone ihm Zuflüsterungen machten. 

Im Anfange des Jahres 1854 brach der Kranke zusammen. 

Schumanns eigenhändige Eintragungen in sein Ausgaben- 
buch lauten (Litzmann II p. 295): 

„10. [Februar 1854.] Abends sehr starke und peinliche 
Gehöraffection. 

11. Traurige Nacht (Gehör- und Kopfleiden). Mit Dietrich 
auf der Bibliothek. 

12. Noch schlimmer, aber auch wunderbar zeigt 
sich Ein fest Burg.*) 

13. Wunderbare Leiden. 

14. Am Tage ziemlich verschont. Gegen Abend sehr 
stark, musiciren. (Wunderschöne Musik.) 

15. Leidenzeit Dr. Hasenclever. 

16. Nicht besser. Alle Gedichte zusammengetragen. 



•) Brief an Jul. Stern vom 12. Februar: „Ich lebe oft in lieb- 
lichen Sphären, wo es mir sehr gut gefällt". 



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27 — 



17. Besser". 

18. und 19. fehlt jede Eintragung. 

Am 20. ist noch das „Wochengeld" gebucht. 

Am 21. eine ganze Reihe von Ausgaben. 

Am 22. nichts: am 23. noch einmal Ausgaben. 24., 25., 
26. noch vorgezeichnet, aber nicht mehr ausgefüllt. 

Die Aufzeichnungen der Frau Sch. giebt ebenfalls Litz- 
mann (II p. 95) wieder. „Freitag, den 10., in der Nacht auf 
Sonnabend, den 11., bekam Robert eine so heftige Gehörs- 
affektion die ganze Nacht hindurch, dass er kein Auge schloss. 
Er hörte immer ein und denselben Ton und dazu zuweilen 
noch ein andres Intervall. Den Tag über legte es sich. Die 
Nacht auf Sonntag, den 12., war wieder ebenso schlimm und 
der Tag auch, denn das Leiden blieb nur zwei Stunden am 
Morgen aus und stellte sich schon um 10 Uhr wieder ein. 
Mein armer Robert leidet schrecklich! Alles Geräusch klingt 
ihm wie Musik ! Er sagt, es sei Musik so herrlich mit so 
wundervoll klingenden Instrumenten, wie man auf der Erde 
nie hörte! Aber es greift ihn natürlich furchtbar an. Der 
Arzt sagt, er könne gar nichts thun. Die nächstfolgenden 
Nächte waren sehr schlimm — wir schliefen fast gar nicht 

Den Tag über versuchte er zu arbeiten, doch es gelang 

ihm nur mit entsetzlicher Anstrengung. Er äusserte mehrmals, 

wenn das nicht aufhöre, müsse es seinen Geist zerstören 

Die Gehörsaffektionen hatten sich soweit gesteigert, dass er 
ganze Stücke wie von einem vollen Orchester hörte, von An- 
fang bis zum Ende, und auf dem letzten Akkorde blieb der 
Klang, bis Robert die Gedanken auf ein andres Stück lenkte. 
Ach, und nichts konnte man thun zu seiner Erleichterung ! 

Die Gehörstäuschungen steigerten sich vom 10. — 17. Fe- 
bruar in hohem Grade. Wir nahmen einen andern Arzt, 
Regimentsarzt Dr. Böger, an, und auch Hasenclever kam tag- 
lieh, jedoch nur als rathender Freund. 

Freitag, den 17., nachts, als wir nicht lange zu Bett 
waren, stand Robert wieder auf und schrieb ein Thema auf, 



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welches, wie er sagte, ihm die Engel vorsangen;*) nachdem er 
es beendet, legte er sich nieder und phantasirte nun die ganze 
Nacht, immer mit offenen, zum Himmel aufgeschlageneu 
Blicken; er war des festen Glaubens, Engel umschweben ihn 
und machen ihm die herrlichsten Offenbarungen, alles das in 
wundervoller Musik; sie riefen uns Willkommen zu, und wir 
würden beide vereint, noch ehe das Jahr verflossen, bei ihnen 
sein . . . Der Morgen kam und mit ihm eine furchtbare 
Änderung! Die Engelstiramen verwandelten sich in Dämonen- 
stimmen mit grässlicher Musik; sie sagten ihm, er sei ein 
Sünder, und sie wollen ihn in die Hölle werfen, kurz, sein 
Zustand wuchs bis zu einem förmlichen Nervenparoxysraus; 
er schrie vor Schmerzen (denn wie er mir nachher sagte, 
waren sie in Gestalten von Tigern und Hyänen auf ihn los- 
gestürzt, um ihn zu packen), und zwei Aerzte, die glücklicher- 
weise schnell genug kamen, konnten ihn kaum halten. Nie 
will ich diesen Anblick vergessen, ich litt mit ihm wahre 
Folterqualen. Nach etwa einer halben Stunde wurde er 
ruhiger und meinte, es lassen sich wieder freundlichere 
Stimmen hören, die ihm Muth zusprechen. Die Aerzte brachten 
ihn zu Bett, und einige Stunden Hess er es sich auch gefallen, 
dann stand er aber wieder auf und machte Korrekturen von 

f 

«einem Violoncellkonzert, er meinte dadurch etwas erleichtert 
zu werden von dem ewigen Klange der Stimmen. Sonntag, 
den 19., brachte er im Bett zu unter grossen Qualen der bösen 
Geister! Dass wirklich überirdische und unterirdische Menschen 
ihn umschweben, liess er sich durchaus nicht ausreden; wohl 
glaubte er, wenn ich ihm sagte, er sei sehr krank, seine Kopf- 
nerven furchtbar überreizt, aber von dem Glauben an die 
Geister brachte ich ihn keinen Augenblick ab, im Gegentheil 

*) Bei Erler heisst es, Schumann habe „jene rührend frommeMelodie 
in Esdur" aufgeschrieben, „deren Entstehung eine so merkwürdige ist 
Schubert, der Liebling des Jünglings Schumann, und Mendelssohn, das 
Vorbild des gereiften Meisters, waren ihm in der Nacht erschienen 
und hatten ihm, wie er fest versicherte, jene Weise vorgesungen' 4 . 
In der Folge habe „der Meister noch eine Reihe von Variationen, ich 
glaube deren fünf, zu jener in der Nacht gefundenen Esdur-Melodie 
niedergeschrieben'«. 



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— 29 — 



sagte er mir mehrmals mit wehmüthiger Stimme, du wirst mir 
doch glauben, liebe Clara, dass ich dir keine Unwahrheiten 
sage! Es blieb mir nichts übrig, als ihm ruhig zuzugeben, 
denn ich regte ihn durch Zureden nur noch mehr auf. Abends 
11 Uhr wurde er plötzlich ruhiger, die Engel versprachen ihm 
Schlaf .... Montag, den 20., verbrachte Robert den ganzen 
Tag an seinem Schreibpult, Papier, Feder und Tinte vor sich, 
und horchte auf die Engelstimmen, schrieb dann wohl öfter 
einige Worte, aber wenig, und horchte immer wieder. Er 
hatte dabei einen Blick voll Seligkeit, den ich nie vergessen 
kann: und doch zerschnitt mir diese unnatürliche Seligkeit das 
Herz ebenso, als wenn er unter bösen Geistern litt. Ach es 
erfüllte ja dies alles mein Herz mit der furchtbarsten Sorge, 
welch ein Ende das nehmen solle; ich sah seinen Geist immer 
mehr gestört und hatte doch noch nicht die Idee von dem, 
was ihm und mir noch bevorstand. Dienstag, den 21. Februar, 
schliefen wir wieder die ganze Nacht nicht; er sprach immer 
davon, er sei ein Verbrecher und solle eigentlich immer in 
der Bibel lesen u. s. w. Ich merkte überhaupt, dass sein Zu- 
stand immer aufgeregter wurde, wenn er in der Bibel las, und 
kam dadurch auf die Idee, dass er sich beim Lesen derselben, 
als er für seinen Dichtergarten sammelte, vielleicht zu sehr in 
Dinge hinein vertieft, die seinen Geist verwirrten, wie denn sein 
Leiden fast durchgängig religiöser Art, förmliche Ueber- 
spannung war. 

Die nächstfolgenden Tage blieb es immer dasselbe, immer 
abwechselnd gute und böse Geister um ihn, aber nicht mehr 
immer in Musik, sondern oft nur sprechend. Dabei aber hatte 
er so viel Klarheit des Geistes, dass er zu dem wundervoll 
rührenden, wirklich frommen Thema, welches er in der Nacht 
des 10. niedergeschrieben, ebenso rührende, ergreifende 
Variationen machte, auch schrieb er noch zwei Briefe, einen 
Geschäftsbrief an Arnold nach Elberfeld und einen an Holl 
in Amsterdam. 

In den Nächten hatte er oft Momente, wo er mich bat 
von ihm zu gehen, weil er mir ein Leid anthun könnte! ich 
ging dann wohl auf Augenblicke, um ihn zu beruhigen; kam 



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- 30 — 



ich dann wieder zu ihm, so war es wieder gut .... Oft 
klagte er, dass es in seinem Gehirn herumwühle, und dann 
behauptete er, es sei in kurzer Zeit aus mit ihm, nahm dann 
Abschied von mir, traf allerlei Verordnungen über sein Geld 
und Kompositionen u. s. w. . . . Sonntag, den 26. war die 
Stimmung etwas besser, und da spielte er dem Herrn Dietrich 
abends noch mit grösstem Interesse eine Sonate von einem 
jungen Musiker, Martin Cohn, vor, geriet aber dabei in eine so 
freudige Exaltation, dass ihm der Schweiss nur so herunterfloss 
von der Stirn. Darauf ass er mit furchtbarer Hast viel zu 
Abend. Da plötzlich 9 1 /* Uhr stand er vom Sopha auf uud 
wollte seine Kleider haben, denn er sagte, er müsse in die 
Irrenanstalt, da er seiner Sinne nicht mehr mächtig sei und 
nicht wissen könne, was er in der Nacht am Ende thäte .... 
Herr Aschenberg, unser Hauswirt, kam sogleich herauf, ihn zu 
beruhigen, ich sandte nach dem Dr. Böger; Robert legte sich 
alles zurecht, was er mitnehmen wolle, Uhr, Geld, Notenpapier, 
Federn, Zigarren, kurz, alles mit der klarsten Ueberlegung; und 
als ich ihm sagte: „Robert willst du deine Frau und Kinder 
verlassen?" erwiderte er: „es ist ja nicht auf lange, ich komme 
bald genesen zurück!" 

Dr. Böger bewog ihn aber, zu Bett zu gehen, und ver- 
tröstete ihn auf morgen. Mir erlaubte er die Nacht nicht, bei 
ihm zu bleiben, ich musste einen Wärter holen lassen, blieb 
aber natürlich im Nebenzimmer. Anfangs unterhielt er sich 
mit dem Herrn Bremer (den ich hatte holen lassen) ziemlich 
unbefangen, dann las er viel in Journalen, und zuletzt 
schlummerte er wohl minutenweise. 

Frl. Junge war mir neben der Bertha, die sich wirklich 
als eine treue Seele zeigte, eine recht trostreiche Stütze; sie 
verbrachte mehrere Nächte mitwachend hier. . . . Ach welch 
schrecklicher Morgen sollte heranbrechen. Robert stand auf, 
aber so tief melancholisch, dass es sich nicht beschreiben lässt! 
Wenn ich ihn nur berührte, sagte er: „Ach, Clara, ich bin 
deiner Liebe nicht werth". Das sagte Er, zu dem ich immer 
in grösster, tiefster Verehrung aufblickte . . . ach, und alles 
Zureden half nichts. Er schrieb die Variationen aufs Reine, 



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— 31 — 



noch war er an der letzten, da plötzlich — ich hatte nur auf 
wenige Augenblicke das Zimmer verlassen und Mariechen zu 
ihm sitzen lassen, um mit Dr. Hasenclever etwas im andern 
Zimmer zu sprechen (überhaupt aber hatte ich ihn schon seit 
10 Tagen keinen Augenblick allein gelassen) — verliess er sein 
Zimmer und ging seufzend ins Schlafzimmer. Marie glaubte, 
er werde gleich wiederkehren, doch er kam nicht, sondern lief, 
nur im Rock, im schrecklichsten Regenwetter, ohne Stiefel, 
ohne Weste fort. Bertha stürzte plötzlich herein und sagte es 
mir. dass er fort sei — was ich empfand, ist nicht zu be- 
schreiben, nur so viel weiss ich, dass es mir war, als höre das 
Herz auf zu schlagen. Dietrich, Hasenclever, kurz alle, die 
nur da waren, liefen fort, ihn zu suchen, fanden ihn aber 
nicht, bis zwei Fremde ihn nach etwa einer Stunde nach Haus 
geführt brachten ; wo sie ihn gefunden und wie, ich konnte 

es nicht erfahren aber ich Unglückliche sah 

ihn nicht mehr! Als man ihn zu Haus ins Bett gebracht, 
wollte man ihn nicht aufregen durch das Wiedersehen mit 
mir, und so entschloss ich mich, für diesen Tag zu Frl. Leser 
mitzugehen, denn im Haus bleiben und ihn nicht sehen, das 

wäre mir zuviel gewesen! 1 

Der Kranke hatte sich in den Rhein gestürzt. Er wurde 
nun in die Privatheilanstalt Endenich bei Bonn, deren Director 
Dr. Richarz war, gebracht Im März heisst es, Schumann sei 
im Ganzen besser, habe aber oft Beängstigungen, wo er dann 
unruhig auf- und abgehe, zuweilen auch niederknie und die 
Hände ringe. Im August schreibt Grimm an Frau Schumann, 
er habe den Kranken gesehen. Dieser sei gerade vom Spazier- 
gange zurückgekommen und habe freundlich geantwortet. Zu- 
weilen habe er gelacht, Verworrenes sei nicht zum Vorscheine 
gekommen. Dabei sehe er wohl aus. Dr. Peters klage über 
Schumanns Schweigsamkeit Wenn er nicht sprach, hielt er 
sein Taschentuch mit der rechten Hand vor die Lippen. Auf- 
regung und Gehörstäuschungen seien nicht mehr vorhanden, 
jedoch zuweilen wunderliche Vorstellungen von Vergiftung. 
,,Schreiben soll er manches, aber so unleserlich, dass weder 
Dr. Richarz noch Dr. Peters mehr als einzelne Worte entziffern 



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— 32 — 



können." Meist seien es abgebrochene Sätze über Musik. 
Einmal habe er geschrieben: „Robert Schumann, Ehren- 
mitglied des Himmels." Im Frühjahre 1855 trat deutliche 
Besserung ein. Schumann fing wieder an, sich zu beschäftigen, 
und schrieb wieder Briefe. Es liegen manche Aeusserungen 
von Besuchern über seinen Zustand vor, doch erfährt man aus 
ihnen nicht viel, und die Aussagen der Aerzte sind sehr vor- 
sichtig gefasst Die Briefe geben den meisten Aufschluss. Man 
muss bei ihnen Inhalt und Form unterscheiden. Anstösse 
durch den Inhalt habe ich nur bei zwei der veröffentlichten 
Briefe gefunden, die kurz vor dem Zusammenbruche geschrieben 
sind. Am 17. Jan. 1854 schreibt Schumann an Strackerjan: 
„Könnte ich doch manchmal in einen unsichtbaren Faust- 
mantel gehüllt, Ihren Aufführungen beiwohnen". Am 6. Febr. 
schreibt er an Joachim: „Ja, ich glaub es auch — die 
Virtuosenraupe wird nach und nach abfallen und ein 
prächtiger Compositionsfalter herausfliegen. Nur nicht zu viel 
Trauermantel, auch manchmal Distelfink." Es ist ja nicht 
allzu schlimm, aber in älteren Briefen finden sich solche Ent- 
gleisungen niemals. Die Form der Briefe Schumanns war von 
jeher durch eine schlechte, oft unleserliche Handschrift und 
durch eine gewisse Flüchtigkeit gekennzeichnet.*) Jansen sagt 
ausdrücklich: „Schumann schrieb seine Briefe ausserordentlich 
rasch, und es passirte ihm nicht selten, dass er ein Wort aus- 
liess". Auf solche Fehler wird daher bei Beurtheilung der letzten 
Briefe kein Gewicht zu legen sein. Diese sind theils geschäft- 
licher Art, theils an die Frau gerichtet. Von den Briefen 
Schumanns an den Verleger Simrock aus 1855 sagt Erler, sie 
seien „merkwürdig klaren Inhalts und stilistisch vollkommen. 
Die Handschrift selbst hat eine merkwürdige Veränderung er- 
fahren, sie ist viel stärker in den Strichen geworden, hat so- 
zusagen einen starren Ausdruck angenommen, während sie bis 
zur Mitte der vierziger Jahre den Charakter der Leichtigkeit 
oder, noch besser gesagt, den der Flüchtigkeit wahrte. Schon 



*) In dem bilderreichen Buche von Abert über Robert Schumann 
findet man eine Anzahl von Schriftproben. 



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— 33 - 



in der Zeit des Dresdener Aufenthaltes wird die Handschrift 
klarer; Yermochte man früher einzelne Worte nur aus dem 
Sinne zu construiren — ich habe thatsächlich oft stundenlang 
grübeln müssen — so geben die Briefe aus Dresden und noch 
weniger die aus Düsseldorf jemandem durch ihre Schrift 
keinerlei Räthsel auf. Aehnlich sagt Litzmann von dem 
letzten Briefe Schumanns an seine Frau: „Die Schriftzüge 
sind, wie überhaupt die meisten Briefe aus der Krankheit, 
gegen früher auffallend klar und deutlich, und durchaus im 
Charakter der Handschrift 44 . Dieser letzte Brief ist am 
5. Mai 1855 geschrieben und lautet: 

„Liebe Clara! 

Am 1. Mai sandte ich Dir einen Frühlingsboten; die 
folgenden Tage waren aber sehr unruhige; Du erfährst aus 
meinem Brief, den Du bis übermorgen erhältst, mehr. Es 
wehet ein Schatten darin; aber was er sonst enthält, das wird 
Dich, meine Holde, erfreuen. 

Den Geburtstag unseres Geliebten wusste ich nicht; 
darum muss ich Flügel anlegen, dass die Sendung noch morgen 
mit der Partitur ankommt. 

Die Zeichnung von Felix Mendelssohn hab' ich beigelegt, 
dass Du [sie] doch ins Album legtest. Ein unschätzbares 
Andenken ! 

Leb wohl, Du Liebe! 
Dein 

Robert. 44 

Recht lehrreich ist der Inhalt der an die Frau gerichteten 
Briefe. Sie sind durchaus freundlich, aber auffallend stimmungs- 
los. Obwohl er aus so betrübenden Gründen seiner Familie 
für lange Zeit entrissen ist, äussert er weder Schmerz, noch 
Sehnsucht, und diese Affectlosigkeit tritt um so mehr hervor, 
wenn man an das Verhalten des noch gesunden Schumann 
zur Frau denkt. Er schreibt so, als wäre er für einige Wochen 
in einer Sommerfrische, und macht sich offenbar auch um die 
Zukunft wenig Sorgen. Dagegen lebt er in der Vergangenheit, 
erinnert an das und jenes, und ist offenbar dabei ganz gut 
orientirt. 

3 



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— 34 — 



Die Besserung hielt nicht Stand. Die alten Störungen 
zeigten sich wieder, und sowohl die geistigen wie die körper- 
lichen Kräfte Schumanns nahmen stetig ab. In der letzten 
Zeit schreibt Brahms an Frau Schumann nach einem Besuche 
in Endenich, es sei keine Hoffnung mehr, der Kranke habe 
sich zwar bei seinem Anblicke gefreut, „war aber nicht im 
Stande gewesen, sich anders als in einzelnen wirr durcheinander 
huschenden, unarticulirten Worten verständlich zu machend 

Am 9. Juli 1856 beendete ein sanfter Tod die Leiden 
Schumanns. Dr. Richarz hat auf Wasielewskis Bitte, „Mit- 
theilungen" über Schumanns Krankheit und Tod gemacht, die 
hier folgen mögen. Den Aufsatz in der Kölnischen Zeitung 
kenne ich nicht 

„Mittheilungen des Geh. Sanitätsraths Dr. Richarz in 
Endenich bei Bonn über Robert Schumanns Krankheitsverlauf 
und Tod. 

Recht gerne entspreche ich Ihrem Wunsche, über das 
Wesen der Krankheit und die Todesart Robert Schumanns von 
mir einige Mittheilungen zu erhalten. Am zweckmässigsten 
werde ich dabei von dem Befunde bei Obduction der Leiche, 
als von einer sichern , objectiv gegebenen Basis ausgehen und 
einer einfachen Aufzählung der vorgefundenen hauptsächlichsten 
materiellen Producte der tödtlichen Krankheit eine kurze 
Erläuterung aus dem Grundcharacter und den Verlauf derselben 
folgen lassen. Was ausser dem Gehirn Abnormes in der Leiche 
entdeckt wurde, übergehe ich als überhaupt unbedeutend und 
für Ihren Zweck gänzlich irrelevant. Die Hauptergebnisse 
der Untersuchung bot natürlich, und wie mit Sicherheit zu 
erwarten stand, das Gehirn dar. Es wird nicht uninteressant 
sein, wenn ich hier die Bemerkung vorausschicke, dass sich 
die transversalen Markstreifen am Boden der 4ten Hirnhöhle 
(die Wurzeln der Gehörnerven) zahlreich und fein gebildet 
fanden. Von Abnormitäten zeigten sich dann, nach steigender 
Wichtigkeit, wie nach ihrer genetischen Wichtigkeit geordnet, 
folgende: 

1. Ueberfüllung aller Blutgefässe, vorzüglich an der Basis 
des Gehirns. 



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— 35 — 



2. Knochenwucherung an der Basis des Schädels, und 
zwar sowohl abnorm starke Entwickelung ^normaler Hervor- 
ragungen, als Neubildung anormaler Knochenmassen, die zum 
Theil mit ihrem spitzigen Ende die äusserste (die harte) Hirn- 
haut durchdrangen. 

3. Verdickung und Entartimg der beiden innern (der 
weichen) Häute des Gehirns und Verwachsung der innersten 
(der Gefäss-) Haut mit der Rindensubstanz des grossen Gehirns 
an mehreren Stellen. 

4. Ein nicht unbedeutender Schwund (Atrophie) des 
Gehirns im Ganzen, indem das Gewicht desselben beinahe 
7 Unzen (preuss. Medic.-Gewicht) weniger betrug, als es nach 
Schumanns Lebensalter sollte. 

Dies« 4 Punkte stehen in der allernächsten Verbindung 
mit den seit vielen Jahren bei Schumann vorhanden gewesenen 
psychischen Zuständen; sie bezeichnen in ihrem Verein ein 
sehr schweres Leiden der ganzen Persönlichkeit, welches seine 
zartesten Wurzeln in der Regel schon im frühen Lebensalter 
des Menschen treibt, immer nur allmählich sich ausbildet, mit 
der ganzen Individualität verwächst und erst nach langer Vor- 
bereitung in offenbares Irresein auszubrechen pflegt. Dieser 
Krankheitsverlauf lässt sich auch in Schumann's Leben deutlich 
genug nachweisen und wird insbesondere die schon seit Langem 
bemerkbar gewesene Schwerfälligkeit seiner Sprache gewöhnlich 
als die erste der von diesem Hirnzustande ausgehenden 
Lähmungen beobachtet Eine der vorzüglichsten äussern Ur- 
sachen dieser Krankheit bildet geistige Ueberanstrengung, über- 
mässige psychische Thätigkeit im allgemeinen, geistige Aus- 
schweifung möchte ich sagen: eine Gefahr, welcher das künst- 
lerische, namentlich das musikalische Schaffen sehr leicht aus- 
gesetzt ist Kein Zweifel, dass solche Excesse auch bei Schu- 
mann bestanden und die Krankheit herbeigeführt haben. Dem 
Gehirn strömt dabei, wie jedem überangestrengten Organe, für 
eine gewisse Zeit und bis zu einem gewissen Maasse eine, der 
übermässigen Thätigkeit entsprechend vermehrte Blutmenge zu. 
Nächste Folge aber ist Gefässerweiterung, constante Blutfulle, 
Ausschwitzungen aus dem Blute (hier Knochen Wucherung), 

3* 



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- 36 — 



Verdickung und Entartung der Häute: weitere Folge, Ver- 
wachsung der innersten (der Gefäss-) Haut mit der Hirnsubstanz, 
Unfähigkeit dieser Haut, ihre Function der Blutzufuhr zum 
Gehirn zu erfüllen, Abnahme der Ernährung der Gehirnmasse, 
Schwinden derselben. 

Das psychische Leiden, welches aus dieser organischen 
Hirnkrankheit entspringt, trägt immer den Charakter des Schwach- 
sinns an sich. d. h. einer allmählichen Abnahme der intellec- 
tuellen Kräfte, die übrigens bei Schumann erst spät bis zu 
höhern Graden sich entwickelte. Die Gemüthsverfassung ist 
dabei in der Regel die der Exaltation, und wenn intercurrent 
auch kurze Perioden der Depression auftreten, so bleibt doch 
jene stets vorwaltend. 

Unserm grossen Tonkünstler war es anders beschieden: in 
seiner Organisation müssen die Bedingungen dafür gelegen 
haben, dass seine geistige Schwäche von Anfang bis zu Ende 
von melancholischer Depression begleitet war, wie dieses aller- 
dings in seltenen Fällen dieser Art vorkommt. Statt der narren- 
haften Heiterkeit, des eitel erhöhten Selbstgefühls und des 
flachen Optimismus, die gewöhnlich solche Kranke trotz des 
Zusammenbrechens ihrer Kräfte beseligen und mit grandiosen 
Wahnbildern umgaukeln, war der diesem Geiste anerschaffene 
Ernst, die ihm eigene Ruhe und Schweigsamkeit, sein in sich 
gekehrtes beschauliches Wesen in gesunden Tagen auch die 
Unterlage der Gemüthsverstimmung in der Krankheit, der 
Schwermuth nämlich und des Trübsinnes mit den entsprechenden 
Wahnvorstellungen der Verfolgung, der geheimen Berückung, 
Verkürzung seines Rechtes und seines Werthes, des Versagens 
der ihm gebührenden Anerkennung, endlich der geheimen Ver- 
giftung. 

Diese während Schumanns Krankheit ununterbrochen an- 
dauernde Melancholie war sicher das Ergebniss eines grösseren 
Fonds von primitiver geistiger Kraft, als er da vorhanden ist, 
wo wie gewöhnlich die Exaltation bei diesem Leiden sich ein- 
stellt. Das ruhige Beharren und Ansichhalten der Melancholie 
im Leiden ist der Ausdruck von Kraft gegenüber jener 
Neigung zu ohnmächtigen Reactionen, welche die Schwäche 



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- 37 — 



kennzeichnet. Umschwebt doch der poetische Duft einer hehren 
Melancholie wie ein Hauch der Vergänglichkeit jede grosse 
und erhabene Erscheinung in der Weltgeschichte, wie in der 
Kunst (man denke nur an Beethoven). 

Die Melancholie erhielt dem Kranken ein höheres Be- 
wusstsein seiner selbst; aber auch seiner Krankheit, als es 
sonst unter gleichen Umständen der Fall ist; sie entstellte 
weniger die ursprüngliche Persönlichkeit, und bedingte eine 
der Schwere des Leidens angemessene Stimmung, als die 
Exaltation gethan haben würde, die solchen Kranken bei 
augenscheinlichem Verfall der leiblichen und geistigen Kräfte 
nicht nur meistens jedes Bewusstsein eines Leidens raubt, 
sondern auch eine mit der Wirklichkeit auf's Grässlichste con- 
trastirende Stimmung verleiht, die das Gefühl des Beobachters 
auf's Tiefste verletzt, weil sie von der früheren Persönlichkeit 
gemeinlich nur noch ein Zerrbild erkennen lässt 

Diese Melancholie machte denn auch eine so grosse 
scheinbare Besserung möglich, wie sie Schumann im Frühjahr 
1855 darbot, bei der übrigens die Fortdauer einiger der 
schlimmsten Erscheinungen, wenn auch im geänderten Grade, 
den Kundigen nicht über den Werth der günstigen Verände- 
rung im äusseren Verhalten täuschen konnte, die den Patienten 
damals nur wenig von seinem gewöhnlichen Erscheinen, vor 
der Katastrophe in Düsseldorf, verschieden zeigte. 

Die Melancholie stand ferner im engsten ursächlichen 
Zusammenhang mit den Hallucinationen, die, anfänglich nur, oder 
doch hauptsächlich im Gehör vorkamen (als Stimmenhören, Hören 
von Worten und Redensarten, deren Bedeutung den obengenannten 
Wahnvorstellungen entsprach), und erst später bei zunehmender 
Schwäche auch im Geruch und Geschmack auftreten, gegen das 
Lebensende aber in diesen Sinnen die höchste Stufe erreichten, 
als sie für das Gehörorgan schon längst erloschen waren. 

Die Melancholie endlich war es, die, obschon im obigen 
Sinne ein Zeichen höherer Kräftigkeit, gleichwohl das Ende 
des verehrten Meisters beschleunigte: während nämlich bei der 
Exaltation in dieser Krankheit oft ungeachtet des rapiden Unter- 
ganges aller höhern Kräfte des Organismus die vegetative Seite 



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— 38 — 



desselben nur wenig beeinträchtigt erscheint, war hier der 
Gang insofern ein umgekehrter, als die geistigen Fähigkeiten 
und die ihnen zugesellten Triebe, Neigungen und Gewohnheiten 
sich bis in die letzte Lebenszeit, wenngleich stetig sinkend, 
auf einer verhältnissmässig grossen Höhe behaupteten, dahingegen 
die allgemeine körperliche Ernährung unter dem Einflüsse des 
auf dem Nervensystem lastenden Druckes der Melancholie nur 
eine gewisse Zeitlang künstlich und mühsam aufrecht erhalten 
werden konnte, wonach dieselbe unter häufiger Nahrungsver- 
weigerung in ein unaufhaltsames Sinken gerieth, so dass bei 
äusserster Abmagerung der Tod erfolgen rausste". 

In einem Aufsatze Schaafhausens über Schumanns Gehirn 
und Gehörorgan findet sich noch Folgendes. Der Vf. hat im 
Jahre 1880 Gelegenheit gehabt Schumanns Schädel dem Grabe 
zu entnehmen und einen Schädelabguss, sowie einen Ausguss 
der Schädelhöhle anfertigen zu lassen. Richarz gebe an, „dass 
die Knochenvorragungen, Punkte, Linien und Leisten in den 
beiden mittleren Gruben der Schädelbasis ungewöhnlich stark 
und scharf waren, weniger in den vorderen Schädelgruben. 
Wiewohl Richarz in der linken mittleren Grube ein erbsengrosses 
Osteophyt erwähnt, wird man die Tiefe der Furchen, in die 
sich die Schläfenlappen gleichsam eingebohrt haben, nicht für 
eine pathologische Erscheinung halten dürfen. Das Schädel- 
organ zeigt hier eine besonders starke Entwickelung der 
Windungen, die man mit dem musikalischen Genie in eine 
Beziehung wird bringen dürfen. Richarz sagt ferner: Die 
Windungen der Hirnoberflächen waren zahlreich und dünn, 
womit wohl die kleineren Faltungen bezeichnet sind, die Striae 
transversales am Boden des 4. Ventrikels, Ursprünge des Gehör- 
nerven, waren zahlreich und fein gebildet. Das Hirn wog ohne 
dura mater 2 Pfund 28 1 / 2 Loth Norraalgewicht = 1475 g. 
Ich fand die Capacität des Schädels 1510 ccm. Richarz nahm 
Hirnschwund an. Dazu gibt das Verhältniss des Hirngewichtes 
zum Schädelvolum keine Veranlassung". Endlich sollen die 
Gehörknöchelchen Schumanns sehr kräftig gebildet gewesen sein. 

In dem Nekrologe Schaafhausens (Archiv f. Anthropol. 
XXII. p. 1 1894) wird erwähnt, dass sich ungedruckte Auf- 



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— 39 — 



Zeichnungen über „Gehirn und Gehör Schumanns 11 im Nach- 
lasse gefunden haben. Was daraus geworden ist, weiss ich nicht. 

Durch die Güte des Herrn Geheimrath Pelman in Bonn 
bin ich in den Stand gesetzt, noch einiges nachzutragen. Herr 
Dr. Erich Prieger erwähnt in einem Briefe an Pelman einen 
der letzten Briefe Schumanns, der an Robert Franz gerichtet 
worden ist. Darin heisst es: „ich kann nicht nur mit Pistolen 
schiessen, sondern auch mit Kanonen 11 . Schumann soll sich 
damals von einem Verwandten des Adressaten durch ungünstige 
Beurtheilung verletzt gefühlt haben. Der Brief sei jetzt im 
Besitze des Herrn Superintendent Bethge in Giebichenstein bei 
Halle. Ferner habe J. J. B. Laurens, der im October 1853 
Schumann viermal gezeichnet hat, eine Schrift über Schumann 
veröffentlicht (Robert Schumann, sa vie et ses oeuvres. Carpen- 
tras 1899) und darin gesagt: „Während ich ihn zeichnete, 
war ich betroffen und erschrocken über die abnorme Weite 
seiner Pupillen 4 '. Dr. Prieger fügt noch hinzu, es seien ihm 
schon lange in den musikalischen Werken Schumanns gewisse 
Eigentümlichkeiten aufgefallen, namentlich die grosse Unruhe, 
die einzelne Sätze völlig beherrscht Wenn man diese Seite 
weiter verfolgte, so könnten schon in recht frühen Werken 
sonderbare Keime aufgezeigt werden.*) Herr Pelman hat einen 
Brief Schumanns vom Februar 1854 im Original gesehen. Er 
zeige in Inhalt und Form keine paralytischen Symptome, und 
die Schrift sei vollkommen die gleiche wie in anderen um 
einige Jahre älteren Briefen. 

Die wenigen Lebenden, die Schumann noch gesehen haben, 
waren damals jung und in der Regel zum Urtheilen nicht 
geeignet. Um so erfreulicher ist es, dass noch in Herrn Geh.- 
Rath Oebeke ein urtheilsfähiger Zeuge lebt Er hat die Freund- 
lichkeit gehabt, mir Folgendes zu schreiben. „Ich selbst habe 
Schumann noch gekannt, da ich 1856 als Student in Bonn 
war und der Section der Leiche beigewohnt habe. Schon vor 



*) Das ist gewiss richtig, aber natürlich könnte nur ein Musiker 
eine solche Untersuchung ausführen. M. 



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— 40 — 

1856 war ich mehrmals längere Zeit bei meinem Onkel Richarz 
in Endenich zu Besuch und sah Schumann häufig im Garten. 
Er blieb im Gehen oft stehen und sagte manchmal laut zu 
sich: Das ist nicht wahr, das ist gelogen. Wie raein Onkel 
mich belehrte, bezogen sich diese Aeusserungen Schumanns 
darauf, dass er Stimmen hörte, die sagten, er habe seine Com- 
positionen Anderen entlehnt. Neben Schumanns Zimmer im 
Haupthause stand in einem Gesellschaftszimmer ein Ciavier, 
und auf diesem spielte ich manchmal. Wenn ich nicht gut 
spielte, klopfte Schumann an die Zwischenthüre und bemerkte, 
das sei nicht richtig gewesen.' 1 

Leider ist die Krankengeschichte Schumanns aus Endenich 
verschwunden. Vielleicht hat sie Richarz an sich genommen. 
— Von einem Ungenannten ist im „Leipziger Kalender 4 ' für 
1904 auf S. 227 eine Gesellschaft bei Moscheies beschrieben 
worden, die am 15. März 1852 dem Ehepaare Schumann zu 
Ehren gegeben worden ist Schumann sass still auf einem 
Stuhle mit gesenktem Blicke und geschlossenen Lippen. Während 
Moscheies spielte, fand man Schumann in einem Nebenzimmer, 
wo er träumerisch vor sich hin pfiff. Beim Essen sprach er 
nur ein einziges Wort, indem er auf einen leeren Stuhl weisend 
„Banko" sagte. Im Uebrigen sah er auf seinen Teller und 
sprach nicht. — 

Nach dem Corr. Bl. f. Authropol. XXVIII. 8. Aug. 1897 
befindet sich der Schädelabguss jetzt im Provinzial-Museum zu 
Bonn. 



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II. 

Gutachten. 

Es liegt auf der Hand, dass Schumann von vornherein 
ein von der Art Gewichener war, dass er erblich belastet und 
abnorm veranlagt war. 

Beide Eltern waren „nervös", und zwar, wie es scheint, 
in beträchtlichem Grade. Leider fehlen Nachrichten über die 
Gesundheit der Vorfahren. Aber am deutlichsten zeugt für 
die krankhafte Art der Erzeuger das Schicksal von Schumanns 
Schwester. Diese ist offenbar an einer schweren Form von 
Dementia praecox erkrankt Freilich könnte jemand auf den 
Gedanken kommen, es habe sich um Paralyse bei Jugendlichen 
gehandelt, da der geistigen Störung eine Hautkrankheit voraus- 
gegangen ist, die dann als Syphilid zu deuten wäre. Jedoch 
scheint mir das recht unwahrscheinlich zu sein; es wird wohl 
ein einfaches Ekzem gewesen sein, eine Krankheit, die man 
ja früher gern als Vorläufer oder Ausdruck innerer Störungen 
ansah. Endlich findet das Krankhafte in der Familie seinen 
Ausdruck in der Kurzlebigkeit der männlichen Mitglieder. 

Schumanns Art ist zunächst gekennzeichnet durch sein 
künstlerisches Talent und den damit verbundenen Feminismus. 
Da beide Eltern unmusikalisch waren, ist Schumanns hervor- 
ragende musikalische Begabung eine Art von Räthsel. Man 
könnte an Atavismus denken, aber wenn sich bei den Vor- 
fahren ein irgendwie erhebliches Talent kundgegeben hätte, so 
würde doch wohl eine Erinnerung daran übrig geblieben sein. 
Näher liegt es, Schumanns geniale Anlage als Perle in der 
Muschel anzusehen, d. h. als Zeichen abnormer Bildung. Die 
„Determinanten" ordneten sich nicht in typischer Weise: Es 
bildete sich die kostbare Perle, und das Ganze musste leiden. 



— 42 — 

Die ersten 20 Jahre von Schumanns Leben verliefen 
ohne ernstliche Störungen. Dann zeigten sich einzelne be- 
denkliche Zufälle, und mit 23 Jahren beginnt die erste ernste 
Erkrankung. Ohne dass eine irgendwie ausreichende Ursache 
nachweisbar wäre, tritt das Leiden auf. Merkwürdigerweise 
ist sich Schumann ganz klar darüber, dass es eine Geistes- 
krankheit war. Das Hauptsymptom scheint die sinnlose Angst 
gewesen zu sein. Wenn er in der „fürchterlichen Nacht" vom 
17. October wirklich durch die Angst zu einem Selbstmord- 
versuche, d. h. zu dem Versuche, aus dem Fenster des 4. Stockes 
zu springen, getrieben worden ist, so versteht man, dass die 
Erinnerung daran eine dauernde „Höhenangst" hinterliess. Es 
handelt sich aber dabei nicht um eine eigentliche Zwangs- 
vorstellung, sondern um einen motivirten Vorgang. Wie die 
Furcht vor der Geisteskrankheit Schumann eigentlich nie wieder 
verliess, so mag auch der Gedanke, dass er sich doch einmal 
tödten werde, dauernd in ihm gewohnt haben, und jede hoch- 
gelegene Wohnung mag ihn, wenn er sich unwohl fühlte, an 
die Scene in der Burgstrasse zu Leipzig haben denken lassen. 
An die Angstzufälle schloss sich dann „Melancholie" an, und 
diese wieder scheint von kürzeren Zeiten krankhaften Ueber- 
muthes unterbrochen worden zu sein. Gelegentlich liefen 
hypochondrische Zustände dazwischen. Wenn nach langer Dauer 
das Leiden allmählich nachliess, schien Schumann zu genesen. 
Aber er war nicht mehr derselbe, und der Feind zog sich so- 
zusagen nur zurück, um neue Kräfte zum Angriffe zu sammeln. 
Die einzelnen Schübe der Krankheit folgten einander in un- 
regelmässigen Abständen und glichen einander nicht. Nach 
der ersten grossen Leidenszeit, die 1833 begann, folgte 1842 
eine kürzere Erkrankung, die Schumann als Nervenschwäche 
bezeichnet. Im Frühjahr 1844 erkrankte er von neuem; im 
Herbste wurde es schlimmer, und vor dem Herbste 1845 trat 
keine deutliche Besserung ein. Auch das Jahr 1847 war nicht 
frei von Krankheit Ernstlicher als je ergriff das Leiden 
Schumann im Jahre 1852. Diesmal folgte auf die Depression 
im Jahre 1853 eine deutliche Periode krankhaft gesteigerten 
Wohlbefindens, und im Anfange des Jahres 1854 erfolgte die 



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4a - 



Katastrophe, die den Leidenden zur Ruine machte. Noch ein- 
mal wandte sich der Zustand 1855 zum Bessern, aber es war 
eine kurze Täuschung. Bald folgten weiterer Verfall und 1856 
der Tod. 

Eine unscheinbare, aber wichtige Veränderung brachte, 
wie es scheint, die erste Periode der Krankheit. Auf dem 
Bilde von Krishaber zeigt Schumanns Gesicht keinen auf- 
fallenden Zug. Aber bald nach 1833 wird die Pfeifstellung 
der Lippen erwähnt, die auf den späteren Bildern sichtbar ist 
und auch dem Unbefangenen auffällt. Der Volkswitz hat des- 
halb den auf dem hiesigen Denkmale im Profil-Relief dar- 
gestellten Schumann „den Stadtpfeifer" genannt. Mit der Pfeif- 
stellung scheinen sich wunderliche Manieren eingestellt zu haben : 
das Gehen auf den Zehen, die übertriebene Schweigsamkeit, die 
solche Scenen wie die im Voigtschen Hause (S. 16) möglich 
machte. 

Jede neue Erkrankung brachte neue böse Gaben. Bei 
der Krankheit der dreissiger Jahre ist eine Beschädigung der 
geistigen Fähigkeiten nicht zu erkennen. Im Jahre 1844 
scheint nach dem, was wir über die in Moskau entstandenen 
Gedichte hören, eine gewisse Geistesschwäche entschieden vor- 
handen gewesen zu sein. Ausserdem zeigte sich damals eine 
auffallende Reizbarkeit Schumann glaubte an böse Absichten 
der Leute und fühlte sich beleidigt, wenn seine Frau gar 
nichts derart bemerkt hatte. Während der Dresdner Krankheit- 
Zeit traten zum ersten Male die Gehörstäuschungen auf. 
Dabei körperliche Schwäche, heftige Schwindelanfälle. Auch 
scheint hie und da ein läppisches Wesen hervorgetreten zu 
sein, wie die Geschichte vom Stein- Wein des Brocken wirthes 
und die unmotivirten Willensänderungen darthun. Als er in 
Düsseldorf war, wird zuerst die schleppende schwere Sprache 
bemerkt Die Gehörstäuschungen kamen nun mehr und mehr 
hervor. Geist und Körper werden hinfällig. Der Werth der 
Compositionen nimmt deutlich ab, und Schumanns Schwer? 
fälligkeit führt zu Zerwürfnissen, dazu, dass ihm die Direction 
entzogen wird. Auf die Begeisterung für das Tischrücken 
möchte ich nicht das Gewicht legen wie die Biographen, denn 



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i 

■ 



— 44 — 

jeder Unbefangene, der nicht weiss, dass durch den Tisch un- 
willkürlich die Gedanken der Anwesenden wiedergegeben werden, 
muss über diese Erscheinungen in das höchste Erstaunen ge- 
rathen, und Gleichgültigkeit dagegen würde eher auf Stumpf- 
sinn deuten als Begeisterung dafür. 

Nach alledem kann die Diagnose nicht zweifelhaft sein, 
Angst und Verstimmung, wunderliche Manieren, Neigung zur 
Stummheit, Misstrauen, Gehörstäuschungen, schwere Sprache, 
allmähliches Abnehmen der Geisteskräfte, alles schubweise her- 
vortretend und langsam, aber unaufhaltsam zunehmend, das ist 
die Krankheit, die jetzt Dementia praecox genannt wird. 
Freilich passt gerade hier der unglückliche Name recht schlecht. 
Man kann doch von einem Manne, der im Laufe der mehr 
als zwanzig Jahre dauernden Krankheit geniale Werke schafft, 
sich auch auf nichtmusikalischem Gebiete auszeichnet, Schrift- 
steller, Dichter, Kritiker ist, als Freund, Gatte, Vater sich 
tüchtig zeigt, nicht sagen, er sei blödsinnig. Es ist aber so 
gekommen, dass die Bezeichnung von den schweren Fällen 
hergenommen worden ist, die im Irrenhause vorzugsweise be- 
obachtet werden. Es kommt ja Einer nur dann in die Anstalt, 
wenn es draussen nicht mehr geht, und überdem gehören fast 
alle Pfleglinge der unteren Ciasse der Bevölkerung an, wo 
auch die Krankheiten grobe Züge tragen. Aber gerade zu der 
sogenannten Dementia praecox gehören sehr viele Erkrankungen, 
deren Träger nie in das Irrenhaus kommen. Neben den 
schweren Fällen stehen die leichten, und es möchte wohl sein, 
dass sie die Mehrzahl bilden. Ein nicht geringer Theil der 
Nervenschwäche bei Jugendlichen ist dieser Art Nach einigen 
Jahren scheint Genesung einzutreten, aber die Patienten sind 
gegen früher verändert, wenn auch oft nur ein scharfes Auge 
den Schaden sieht Ausser denen, die massig schwachsinnig 
werden, in der Schule nicht mehr fortkommen oder sonst den 
Beruf wechseln, zu mehr mechanischer Thätigkeit herabsteigen 
müssen, giebt es nicht wenige, deren Geisteskraft unvermindert 
zu sein scheint, die aber doch beschädigt sind, sei es, dass sie 
nur ihren Frohmuth und ihre Jugendfrische verloren haben, 
sei es, dass sie aus schwungvollen ideal angelegten Naturen zu 



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nüchternen Praktikern geworden sind, dass sie der Leiden- 
schaft, der Passion nicht mehr fähig sind, sei es, dass sie mir 
dauernd müde, leicht erschöpfbar bleiben. Von diesen leichtesten 
Formen führen Uebergänge bis zu den schweren Formen des 
Irrenhauses, und in dieses Zwischenreich gehört Schumann 
hinein. Es ist ein grosser Gewinn, dass wir gelernt haben, 
trotz aller Verschiedenheit die Zusammengehörigkeit aller dieser 
Formen zu begreifen. Wollte man einen besseren Namen 
haben, so könnte man etwa sagen: das zerstörende Jugend- 
irresein (Psychosis destruens endogenes). Kann man sich nicht 
von dem alten Namen trennen, so muss man ihn eben als 
blosse Formel ansehen, wie wir es bei der Hysterie, der 
Melancholie usw. thun, indem wir über den eigentlichen Wort- 
sinn wegsehen. 

Dass Schumann an Dementia praecox gelitten hat, das 
scheint mir unzweifelhaft zu sein. Aber ist er auch daran 
gestorben? Mit anderen Worten, hat sich nicht zuletzt zu der 
schon vorhandenen Krankheit die progressive Paralyse gesellt? 
Es kann natürlich Jemand, der in der Weise Schumanns krank 
ist, ebensogut von Paralyse befallen werden wie ein Anderer. 
Die Frage ist also die, welche Gründe sprechen dafür, dass bei 
Schumann progressive Paralyse bestanden habe? Ohne solche 
Gründe hätte der behandelnde Arzt die Diagnose auf Paralyse 
nicht stellen können. Zwar wird in den gedruckten Stücken 
von Richarz der Name der Krankheit nicht erwähnt, aber der 
Arzt sieht doch, was er meinte. Ausserdem schreibt mir Herr 
Geheimrath Oebeke, sein Onkel Richarz habe „die melancholische 
Form der Paralyse" bei Schumann angenommen. Das ist auch 
nicht verwunderlich. Wenn wir hören, dass ein Mann in den 
mittleren Jahren an Gehirnerscheinungen mit Sprachstörung 
erkrankt, nachdem er bis dahin sein Amt versehen hat, dass 
er dann nach einigen Jahren verblödet stirbt, so sagt sich Jeder, 
das muss progressive Paralyse sein. Wenn dann weiter berichtet 
wird, bei der Section habe man Schwund der Gehirnwindungen, 
Verwachsungen des Gehirns mit der zarten Gehirnhaut gefunden, 
so scheint die Sache ganz sicher zu sein. Bei näherem Zusehen 
aber ist es anders. Die bei der Section gefundenen Ver- 



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änderungen sind nach unseren Anschauungen durchaus nicht 
beweisend. Alles, was Richarz gefunden hat, kann nach jeder 
lange dauernden Geisteskrankheit gefunden werden, kann im 
besonderen bei Dementia praecox ebenso gut vorkommen wie 
bei Paralyse. Entscheidend würde nur der mikroskopische, 
für die Paralyse charakteristische Befund sein. Mikroskopische 
Untersuchungen sind aber 1856 nicht angestellt worden. Ueber- 
haupt war damals die Kenntniss der Paralyse in Deutschland 
unvollkommen. Geheim-Rath Pelman schreibt mir: „Speziell 
Richarz, ein Schüler Jacobis, wird sie [die Paralyse] damals 
kaum genauer studirt haben, denn erst Fr. Hoffmann in Siegburg, 
1861—63, hat die Kenntniss auch in Deutschland verbreitet". 
Wie in anatomischer, so war auch in klinischer Hinsicht die 
Einsicht noch mangelhaft. Die Sprachstörung wird nicht genauer 
geprüft worden sein, ob sie auch wirklich die der Paralyse 
eigene sei. Esquirol hatte gesagt: l'embarras de la parole est 
un signe mortel, und daran hielt man sich wohl. Auch die 
später zu besprechenden Eigentümlichkeiten der Krankheit 
Schumanns, das starke Hervortreten der Gehörstäuschungen, das 
Verhalten des Gedächtnisses u. s. w., werden für Richarz nicht 
das Gewicht gehabt haben, das sie heute für uns haben. Ueber- 
dem war Richarz über die Vergangenheit des Kranken weniger 
unterrichtet, als wir es sind. Uns liegen Biographie, Briefe 
und Tagebuchauszüge vor. Er wird in der Hauptsache auf die 
mangelhaften Angaben der Frau angewiesen gewesen sein. 

Leider fehlen alle Einzelheiten über die Sprachstörung 
Aber sie wird als Schwerfälligkeit des Sprechens bezeichnet 
Schumann selbst schreibt: „Sprachorganschwäche". Das klingt 
doch gar nicht nach dem paralytischen „Silbenstolpern", viel- 
mehr scheint es sich um eine Hemmung gehandelt zu haben. 
Wir müssen die Sprachstörung wahrscheinlich als negativistisches 
Zeichen auffassen: Gegen den Willen, zu sprechen, richtet sich 
ein Gegenwille, der oft zur Stummheit führt, gelegentlich auch 
zu schwerfälliger, stockender Sprache führen kann. 

Besonders wichtig sind die Gehörstäuschungen. Krae- 
pelin, der betont, dass bei Kranken in den mittleren Lebens- 
jahren die Abgrenzung der Dementia praecox von der Paralyse 



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sehr schwierig werden kann, sagt wörtlich: „Das Auftreten 
deutlicher Gehörstäuschungen uud die Ausbildung von stehen- 
den Manieren*) machen die Dementia praecox sehr wahr- 
scheinlich." Es mag sein, dass ein Musiker eher zu Gehörs- 
täuschungen geneigt ist als ein Anderer, aber so, wie diese bei 
Schumann aufgetreten sind, würde sie die Paralyse wobl auch 
bei einem Musiker nicht bewirken. Gerade zur Zeit der Kata- 
strophe scheinen diese Hallucinationen am stärksten entwickelt 
gewesen zu sein. 

Kaum minder bedeutsam ist das Verhalten des Gedächt- 
nisses. Es ist der Dementia praecox eigen, dass die Kranken 
ihre Kenntnisse und Erfahrungen ziemlich unversehrt erhalten, 
während beim Paralytischen Gedächtnisslücken und gefälschte 
Erinnerungen vorhanden zu sein pflegen. Schumann scheint 
nun bis an sein Ende über seine Vergangenheit gut orientirt 
gewesen zu sein. Es ist geradezu auffallend, wie er an diese 
und jene kleinen Ereignisse erinnert, und wie er, als im Jahre 
1855 der Zustand besser wird, die geschäftlichen Beziehungen 
zum Verleger wieder aufnimmt. Verkehrte Urtheile kommen 
vor (er meinte z. B. einmal, die auf dem Spaziergange erblickte 
Stadt könne nicht Bonn sein, denn sonst müsste man doch 
das Beethoven-Denkmal sehen), aber im Allgemeinen scheint 
Schumann auch in der Anstalt seine Lage und die Umgebung 
ganz richtig beurtheilt zu haben. Auffällig ist nur der Mangel 
an natürlicher Reaktion, die Gleichgültigkeit, mit der er die 
Trennung von seiner Familie, die Einschüessung in der Irren- 
anstalt erträgt. Diese Verödung des Gemüthes aber ist wieder 
kennzeichnend für die Dementia praecox. 

Einen sehr starken Grund gegen die Diagnose der pro- 
gressiven Paralyse bildet das Verhalten der Handschrift. Ob 
es vorkommt, dass bei Paralyse die charakteristische Schreib- 
störung bis zum Ende fehlt, das mag dahingestellt sein, auf 
jeden Fall finden wir sie fast immer ziemlich zeitig. Bei 
Schumann hat sie durchaus gefehlt. Ich habe früher auf die 
Aussagen der Biographen und auf das Urtheil Pelmaus hinge- 



*) Das an die Lippen gedrückte Taschentuch, vergl. S. 31. 



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wiesen. Bei der Bedeutung dieser Frage schien es mir richtig 
zu sein, die letzten Briefe noch genauer betrachten zu lassen. 
Frau Thumm-Kintzel hat sich auf meine Veranlassung hin an 
Herrn Simrock gewandt, und dieser hat ihr bereitwillig die 
Briefe Schumanns vorgelegt (besonders die Briefe vom 11. März, 
18. März, 13. April 1855). Sie hat mir folgende Analyse zu- 
kommen lassen. 

„Analyse. 

Für die Melancholie spricht Folgendes: 

1. Eine tiefe Schwermuth, die nicht nur darin zum Ausdruck 
kommt, dass sämmtliche Zeichen für Melancholie und 
Resignirtheit im höchsten Grade ausgeprägt sind, sondern 
auch darin, dass es dem Kranken unmöglich wird, auch 
nur einen der Züge, die das Heiterkeitzeichen tragen, 
ohne starke Knickungen auszuführen. Und dasselbe gilt 
für die Züge des Muths und des Stolzes. Das Selbst- 
gefühl ist schwer geschädigt. 

2. Die Thatkraft ist gelähmt Zwar finden sich hier und 
da Zeichen von einem Drange nach nervöser, hastiger 
Beschäftigung, aber sie sieht dem konsequenten Fleiss, 
dem Schaffensdrange, wie wir ihn in früheren Schrift- 
proben Schumanns fanden, kaum noch ähnlich. Auch 
Energie und Festigkeit, die übrigens nie sehr stark ent- 
wickelt waren, und vor allem die Entschlussfähigkeit sind 
sehr geschwächt 

3. Es findet sich eine grosse Anzahl von psychologisch 
ängstlichen, misstrauischen Zeichen: auch physiologische 
Angsterscheinungen machen sich geltend, wie sie mög- 
licherweise mit den vorhandenen sehr tief gehenden und 
komplizierten Herzstörungen in Verbindung stehen. 
Praekordialangst? Auch Asthma? 

4. Leichte Zuckungen und tiefste Gemüthserschütterungen 
sind zu verzeichnen. 

5. Es zeigen sich seltsame Sensationen, Wahnideen, ja 
Halluzinationen, vorwiegend trüben Charakters. 

6. Der Kranke ist reizbar, heftig, stark zum Aerger neigend. 



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7. Das Gedäcbtni8s ist gut, die Geisteskräfte sind fast un- 
gestört, auch ethisch ist der Kranke ira Grunde noch der 
Alte, denn das Trübe, Misstrauische und selbst das Reiz- 
bare kommt nicht als etwas Neues hinzu, sondern ist 
nur krankhaft gesteigert. 

Gegen die Paralyse spricht Folgendes: 
Es finden sich in der Handschrift keinerlei Zeichen von 
Verwirrtheit oder Desorientirtheit, 
Zittern (sondern nur leichte Zuckungen), 
Lähmungen, 

Tabischen Erscheinungen, 
Verblödung, 

Ethischer Veränderung, 
Grössenideen, 

Beeinträchtigung von Gang und Sprache. 

Es finden sich auch keine oder nur sehr geringfügige 
sogenannte „Hirnzeichen", d. h. Fehler im willkür- 
lichen Theil des Schreibaktes, Auslassungen oder 
Zusätze. 

Der Charakter der Handschrift ist bis zuletzt fast unver- 
ändert, während sich die Handschrift bei der Paralyse schon 
in den Anfangstadien dermaassen verändert, dass sie selbst für 
ein geübtes Auge kaum wiederzuerkennen ist. 

Es findet sich auch nichts von dem steten Sich- Ver- 
bessern, Korrigiren, wie wir das in der Schrift des Paralytikers 
finden, nichts von der Ungleichheit in der Schreibweise, mit 
der er einen und denselben Buchstaben bald durchaus korrekt 
und dann wieder ganz verkehrt bildet. 

Schliesslich sprechen auch die tiefen Gemüthserschütto- 
rungen gegen Paralyse und auch die grosse Schwermuth, die 
sich fast nie beim Paralytiker findet, der im Gegen theile seine 
trostlose Lage meist wunderbar rosig und optimistisch auffasst. 

Magdalene Thumm-Kintzel." 

Bedenkt man nun noch, dass die Handschrift in den 
letzten Jahren gegen früher „auffallend klar 4 ' geworden ist, 

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d. h. doch wohl, dass sie ihre Leichtigkeit verloren hat, dass 
etwas Starres hineingekommen ist, so sieht man, dass die Schrift- 
betrachtung nicht nur gegen Paralyse, sondern direct für 
Dementia praecox spricht 

Damit scheint mir das eigentlich Wichtige besprochen 
zu sein. Die Depression und die auch bei Schumann gelegent- 
lich auftretenden Grössen Vorstellungen beweisen nach keiner 
Seite hin etwas. Die von Laurens beobachtete Erweiterung 
der Pupillen dürfte nur vorübergehender Ausdruck der inneren 
Erregung gewesen sein, denn hätte es sich um ein dauerndes 
Symptom gehandelt, so würde Richarz doch etwas darüber ge- 
sagt haben. Auffallend weite, nicht starre Pupillen werden bei 
Dementia praecox nicht selten beobachtet. Manchen wird der 
frühe Tod für Paralyse zu sprechen scheinen, aber Richarz 
weist selbst darauf hin, dass Schumann durch Nahrungs- 
verweigerung auf das Aeusserste abgezehrt war. Ausserdem 
wird Schumann von vornherein wenig Widerstandskraft gehabt 
haben, da doch auch er an der Kurzlebigkeit der Familie Au- 
theil gehabt haben muss. Ob sich etwa auch tuberkulöse Ver- 
änderungen entwickelt haben, wird nicht gesagt. 

Es muss auch noch darauf hingewiesen werden, dass 
nichts bei Schumann auf die eigentliche Ursache der progressiven 
Paralyse hindeutet. Unter Ursache einer Krankheit verstehen 
wir die Gesammtheit ihrer Bedingungen. Die Bedingungen 
aber sind nicht gleich werthig, manche sind nebensächlich, 
können durch andere Umstände vertreten werden oder fehlen. 
Die Bedingung aber, die unersetzlich ist, ohne die die Krank- 
heit nicht zu Stande kommt, wenn auch die Nebenbedingungen 
da sind, die heisst die Ursache im engeren Sinne. Die Haupt- 
bedingung der progressiven Paralyse ist die Syphilis, die Para- 
lyse ist Metasyphilis, d. h. Niemand bekommt sie, der nicht 
angesteckt gewesen ist, und sie folgt der Syphilis nach einer 
Reihe von Jahren nach, durchschnittlich nach etwa 8 Jahren. 
Beweisen kann man es bei keinem Menschen, dass er keine 
Syphilis gehabt habe, aber bei dem Einen ist es unwahr- 
scheinlicher als bei dem Anderen. Auch der solideste Mensch 
kann einmal eine unglückliche Stunde haben, aber der, der ein 



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lockeres Leben führt, ist mehr bedroht Dass Schumann je 
locker gelebt, in bedenklicher Gesellschaft verkehrt habe, das 
ist durchaus nicht anzunehmen. Nichts spricht dafür, und 
Schumanns ganze Art, seine saubere, schwärmerisch angelegte 
Natur musste ihm ein gewisser Schutz sein. Auch verlobte er 
sich so frühzeitig und war dann von der Verlobten so erfüllt, 
dass man den gleichen Schluss ziehen kann. Endlich kommen 
in seinem Leben niemals verdächtige Krankheiten vor, eine 
schmerzhafte Augenentzündung etwa. Als Schumann geheirathet 
hat, bringt seine Frau eine ganze Reihe von ausgetragenen 
Kindern zur Welt, und man hat nichts davon gehört, dass die 
Neugeborenen etwa an Hautausschlägen, Ohren- oder Augen- 
entzündung gelitten hätten. Alles das ist kein Beweis, ein 
Inficirter kann z. B. gelegentlich gesunde Kinder haben, aber 
es zählt doch bei der Abwägung der Gründe für und wider mit 
Die Frage nach der Ueberanstrengung hat bei unserer 
Darlegung keine grosse Bedeutung, aber es ist vielleicht zweck- 
mässig, auf sie noch mit einigen Worten einzugehen. Keine 
Geisteskrankheit, auch die Dementia praecox nicht und die Para- 
lyse nicht, wird durch geistige Ueberanstrengung hervorgerufen. 
Das wissen wir, aber wie gross die Bedeutung der Kopf- 
strapazen als einer der Nebenbedingungen ist, das wissen wir 
eigentlich nicht. Von der Paralyse z. B. ist es bekannt, dass 
sie vor dem 19. Jahrhundert fast gar nicht vorgekommen ist, 
auch jetzt noch in manchen Ländern trotz häufiger Syphilis 
sehr selten ist. Es muss also das Gehirn der jetzigen Cultur- 
menschen irgendwie verändert sein, so dass es leichter den 
Nachwirkungen der Syphilis erliegt Aber ob bei dem Einzelnen 
die Art seiner geistigen Thätigkeit in Betracht kommt, das kann 
man nicht sagen. Es ist möglich, dass üeberreizung des Kopfes 
den Eintritt der Krankheit begünstige, und es ist sicher, dass 
sie bei einmal vorhandener Krankheit schädlich wirkt. Und 
dieser Satz mag auch von der Dementia praecox gelten. Deren 
Hauptbedingung oder eigentliche Ursache ist eine bestimmte 
ererbte Anlage, eine von vornherein abnorme Beschaffenheit 
des Gehirns. Hat einer diese nicht, so kann er sich anstrengen 
soviel, wie er will, er bekommt keine Dementia praecox. Hat 

4» 



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einer sie aber, so mag wohl die Ueberanstrengung die Ent- 
wickelung des Keimes fördern. Man sieht die Dementia praecox 
nicht selten gerade in den Schulklassen beginnen, in denen 
der Schüler besonders hart arbeiten muss. Bei Schumann ist 
die Schulzeit gut vorübergegangen, und als er zuerst erkrankte, 
da war von besonderer Anstrengung eigentlich keine Rede. 
Auch späterhin scheint mir die Anstrengung nicht die Bedeutung 
zu haben, die die Zeitgenossen und die Biographen ihr zu- 
schreiben. Alle Laien (gewöhnliche Laien und ärztliche Laien) 
denken gern pragmatisch in dem Sinne, dass sie die Erkrankung 
eines Menschen von seinen vorhergehenden Erlebnissen ableiten, 
und wenn vorhandene Störungen bei Ermüdung stärker hervor- 
treten, so meinen sie, die Ermüdung sei die Ursache. Schumann 
arbeitete freiwillig und zu seiner Freude. Solche Arbeit bekommt 
eigentlich gut, und wir sehen ja auch, dass sie anderen Compo- 
nisten gut bekommen ist. Aber freilich schöpferische Thätig- 
keit macht müde. Ist einer leidlich gesund, so geht die 
Ermüdung ohne Schaden vorüber; ist aber einer krank, so wird 
sie leicht zur Erschöpfung. Also, Schumann vertrug in den 
späteren Jahren die Arbeit schlecht, weil er krank war, er 
wurde nicht krank, weil er arbeitete. — 

Fassen wir nun das Gesagte zusammen, so geht das Gut- 
achten dahin, dass 

1. Robert Schumann auf Grund ererbter Anlage geistes- 
krank gewesen ist, 

2. die Annahme einer zu der primären Krankheit hinzu- 
tretenden progressiven Paralyse sehr unwahrscheinlich ist. 



K. I'aul Xivtschmann. Hallo a. d. S. 



AU 

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