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Full text of "Buch der Laune :"

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, Buch der Laune. 


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Tudwig Heveſt. 


Buch der Laune. 


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Im Verlag von Adolf Bonz & Comp. in Stuttgart ſind von 
demſelben Verfaſſer erſchienen: 


Auf der Schneide. 
Ein Geſchichkenbuch. 


Inhalt: Die Arbeiten des Herkules. — Raffael und Fornarina. — 
Zwiſchen Thorbach und Seefehlen. — Romanze. — Blau. — Durch 
nach Amerika! — Aus dem Krafö: I. Kormos Muki. II. Peti mit 
der krummen Seele. — Schneemanns Weihnachten. — Auf Poſten. 
— Das Oſterei. — Tomaſo und Angela. 


Oktav. Geh. HM 4.—, eleg. geb. / 5.— 


Neues Geſchichtenbuch. 


Inhalt: Der Kuß. — Im Czihaj. — Vater Joſts Geheimnis. — Die 
Überflüſſige. — Pygmalion und Aſpaſia. — Das verhängnisvolle 
Ligament. — Tauſendkuno. — Der Epouſeur. — Ja oder Nein. — 
Drei Weihnachten: I. Dr. Silbenſtechers Weihnachts-Abenteuer. 
II. Chriſtbeſcherung. III. Irmas Traum. — Balthaſar Storch. — 
Rote Pfingſten. — Moderne Kinder: I. Hans. II. Maud. III. Dora. 
IV. Kl. Hellmann. 


Oktav. Geh. /, 4.—, eleg. geb. / 5.— 


Auf der Bonnenleite. 
Ein Geſchichkenbuch. 


Inhalt: Ein ſtarkes Paar. — Die Naſe des großen Condé. — Daniel 
Löwengruber. — Lebende Bilder. — Alexanders Neujahrsnacht. — 
Schwarze Nieswurz. — Das Echo. — In der Chriſtnacht. — Dreißig 
Weihnachten. — Die Oſterinſel. — Aus dem Leben eines Hypochonders. 
— Der Junggeſellenbund. — Eine Frau, die keine Zeit hat, Frau 
zu fein. — Der Beſuch auf der Tanya. — Pongo. — Füſchtöſch 
Miſchi. — Franz. — Faſchingsgeſchichten: J. Die eiſerne Maske. 
II. Die berühmteſte Frau. III. Novellen ohne Schluß. 

Oktav. Geh. M 4.50, eleg. geb. A 5.60. 


Almanarcando. 


Bilder aus Halten. 


Inhalt: Sermione. — Ein Spaziergang nach Canoſſa. — Blutige 
Schollen: I. Solferino. II. San Martino. Cuſtozza. Villafranca. 
— Das Idyll Canovas. — Lagunenfahrt. — Dappertutto. — Cer⸗ 
taldo. — Montepulciano. — Pienza. — Carrara. — San Roſſore. 
Korſiſche Bilder: 1. Baſtia. 2. Die Grotte von Brando. 3. Mitten 
durch Korſika. 4. Caſo Bonaparte. 5. Methuſalem in Korſika. 
6. Italien in Korſika. 

Oktav. Geh. A 4.50, hocheleg. geb. / 5.60. 


Much der Banne. 


Neue Geſchichten 


Ludwig Beveli. 


Stuttgart. 
Verlag von Adolf Bonz & Comp. 
1889. 


Druck von A. Bonz' Erben in Stuttgart. 


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Die Amerifaner in Rothenburg 
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Digitized by the Internet Archive 
in 2015 


https://archive.org/details/buchderlauneOiheve 


Mofelfahrk. 


Eine Reiſegeſchichte. 


(1887. 


Heveſi, Buch der Laune. 


5 


N 


A uf der Schneiderhöhe jenſeits der Moſel 
SUR dſaßen drei und blickten mit ihren ſechs 


Augen hinab in den September-Abend, 
der über dem ehrwürdigen Trier zu dunkeln begann. 
Ein Nebelflor legte ſich über den andern und nur 
die Kirchen ſtachen noch mit ihren ſpitzen Türmen 
durch dieſe weiße Decke und die ſchwarze Römerpforte 
ragte wie ein Baſaltfelſen in die werdende Nacht 
empor. 

„Hier möcht' ich ewig träumen!“ rief in einem 
gegebenen Augenblick Fräulein Malwine, eingedenk der 
ſämtlichen Werke der unvergeßlichen Marlitt. 

„Es wird feucht, ich kriege den Schnupfen,“ nieſte 
gleichzeitig ihre gute Mama, Frau Roſa Barb, die 
Beſitzerin der berühmten Barbſchen Brauerei in Koblenz, 
und zog ihren perſianiſchen Palmenſhawl enger um 
die vollen Schultern. 


„„ 


„Dieſes Alſter Flaſchenbier könnte auch beſſer 
ſein,“ bemerkte in demſelben Augenblick ihr Koblenzer 
Nachbarsſohn Klaus Brett, dermalen in Trier an⸗ 
ſäſſig und ihr Führer durch die teils römiſch-katholiſche, 
teils katholiſch-römiſche Augusta Trevirorum. 

So genoß jedes der drei in feiner Weiſe die ſpät⸗ 
ſommerliche Abendſchönheit der Stunde. Ob das Bier 
in der That nicht tadellos war, ſei dahingeſtellt; ſicher 
iſt, daß die drei ſeine Fehler ſo lange gegen die Vor— 
züge des Barbſchen Bieres zu Koblenz abgewogen 
hatten, bis ihre Köpfe, beſonders einer, ziemlich ſchwer 
geworden waren. Sie ſaßen auf der luftigen Veranda 
zwiſchen den eiſernen Säulen und ließen ſich von zwei 
Windlichtern beleuchten. Herr Klaus hatte vor etwa 
zehn Minuten mit einer ſeiner Bärentatzen das Hand— 
gelenk Malwinens erfaßt, um ſie wegen drohender 
Erkältungsgefahr am Lüften ihres Strohhutes zu 
hindern, und hatte dann vergeſſen, jenes Gelenk wieder 
loszulaſſen. Sie ſchien übrigens an den Aufenthalt 
in dieſem Schraubſtocke ſchon gewöhnt zu ſein, denn 
ſie hielt darin ganz ſtill. Nur zuweilen ſtieß ſie einen 
hochromantiſchen Seufzer aus, z. B.: „Heilige Nacht!“ 
oder: „In deinen Schoß, hehres All!“ . .. worauf 
Klaus Brett ſtets etwas Verſtändnisinniges zu er— 
widern hatte, z. B.: „Verdammte Mücken!“ oder: 


a 


„Herein da, Azor!“, was jedoch nicht der blonden 
Schwärmerin galt, ſondern dem freundlichen Hauspudel, 
der die ſpäte Geſellſchaft umwedelte. 

Die Luft wurde ſchwärzer und flirrte in der 
Höhe von weißen Pünktchen und Punkten, denn kein 
Stern blieb an einem ſolchen Abend zu Hauſe, alle 
zogen zur großen Wachtparade am Himmel auf. 
„Helfen Sie mir die Sterne zählen,“ bat Malwine 
dringend. Aber Klaus zählte eben Markſtücke und 
Pfennige, mit denen er die Zeche zu bezahlen gedachte, 
und konnte, dank der angeblich ſchlechten Qualität des 
Alſter Bieres, nicht damit zu Ende kommen. Mal— 
wine fühlte ſich etwas verletzt, da Klaus es indirekt 
ablehnte, mit ihr Arm in Arm auf der Milchſtraße 
ſpazieren zu gehen, und ſagte ſchmollend: „Klaus, Sie 
ſind ein Proſaiker.“ 

„Ich?“ rief Klaus Brett auffallend gleichgültig. 

„Ich habe Sie mir anders vorgeſtellt,“ fuhr 
ſie fort, indem ſie einen Verſuch machte, ihr Hand— 
gelenk aus ſeinem Griff zu befreien. 

„Ich auch,“ entgegnete er ſchläfrig und leerte 
das ſo und ſo vielte Glas. 

„Sie ſind blind für das Schöne, taub für das 
Erhabene,“ klagte ſie weiter. 

„Blind für das Taube? Taub für das Blinde?“ 


6 


wiederholte er entſtellend. „Fräulein Malwine, das 
hab' ich niemals bemerkt.“ 

„Wenn Sie wenigſtens meine Hand losließen,“ 
rief ſie etwas ungeduldig, „und mich weniger hart 
mit dem Knie ſtoßen wollten.“ Womit ſie auch recht 
hatte, bis zum „und“ wenigſtens, denn nicht Herr 
Brett war es, der ſie unter dem Tiſche ſtieß, ſondern 
ihre Mutter, der das Geſpräch nachgerade zu ſpitz 
wurde und gefährlich für alte Koblenzer Projekte zwiſchen 
Nachbarhaus und Nachbarhaus. 

„Verzeihung, es iſt nicht gern geſchehen,“ ſagte 
Klaus mit unſicherer Zunge; er glaubte offenbar, wirk— 
lich geſtoßen zu haben. Und um die Sache wieder 
gut zu machen, ſchenkte er die Gläſer voll und erhob 
ſich mühſam zu folgendem Trinkſpruch: „Ich fordere 
hiemit meinen hochverehrten und geliebten Freund Klaus 
Brett auf, das Glas zu erheben und mit mir anzu— 
ſtoßen auf ſein Wohl; er lebe hoch, hoch, hoch!“ 
Verdutzt hörten ihm die Damen zu und niemand ſtieß 
mit ihm an; auch hatte er gar nicht darauf gewartet, 
ſondern ſich wieder ſchwer hingeſetzt. 

Es wurde ſtiller unter den dreien. Mama Barb 
ſchüttelte bedenklich das Haupt, und die blonde Mal— 
wine blickte mit feuchten Wimpern in den Nachthimmel 
hinein, der ſich nun auch mit Nebel überflort hatte. 


N 


Sie ſah die dunſtigen Streifen dahinziehen und ihr 
war, als zerrönne mit ihnen noch manches andere, 
was einſt jo feſt geſchienen, in Nebeldunſt. Nachbar: 
kinder, zuſammen klein geweſen und groß geworden, 
zuſammen geſpielt und zur Schule gegangen, . .. was 
hätte da nicht alles werden können? Die Eltern hatten 
darauf gerechnet, ... „R. Barbs Eidam“ wäre dann 
die große Braufirma gegangen. Und nun? Er paßt 
nicht zu mir, ſagte ſich Malwine, die Marlitt-Schülerin. 
Er hat keinen Sinn... für... für das Sinnige. Er 
verſteht mich nicht, er iſt ein „Proſaiker“ (ſo nannte 
ſie es ja). 

Und die vielen Sterne da droben waren alle er— 
loſchen. Vergebens ſchaute ſie in den ſchwarzgrauen 
Himmel hinein. Wenn nur ein einziger aufblinken 
wollte, ſehnte ſie ſich, er ſollte mir ein Hoffnungs— 
ſtern ſein. 

Da ſtieß ſie einen Schrei aus. Gerade vor ihr, 
himmelhoch und doch erdennah, hatte ſich ganz plötz— 
lich ein goldener Punkt entzündet. Groß und glänzend 
ſtand er am Firmament, er flackerte nicht, ſondern 
glühte mit ſanfter Stetigkeit, wie ein Planet. 

„Der Abendſtern, der durch den Nebel ſcheint,“ 
ſagte ſie laut, als ſie ſich wieder gefaßt hatte. 

„Nein, Fräulein,“ entgegnete die Kellnerin, welche 


Zu. Loy DE 


eben herantrat, „es iſt das ewige Licht am Fuße der 
großen Marienſtatue dort auf dem Waldgebirg; es 
wird jeden Samstag Abend angezündet und brennt bis 
zum Sonntag Morgen.“ Sie ſchlug ein Kreuz und 
betete einen Segen; die beiden Damen thaten etwas 
Ahnliches. 

Sie wollten nun in den Trierſchen Hof zurüd- 
kehren, aber das war leichter gewollt, als gethan. Herr 
Klaus Brett war nicht ganz ſicher auf den Beinen, 
welche mit ſchwerem Alſter Bier vollgegoſſen waren, 
und der unbeleuchtete Stufenpfad von der Schneider— 
höhe hinab bis zur Fähre und dann jenſeits des Fluſſes 
die verſchiedenen ſchwanken Stege über allerlei unnötiges 
Gewäſſer hinweg, waren nicht leicht zurückzulegen. 

„Nur keine Furcht, ich führe Sie beide,“ lallte 
er und bot ihnen beide Henkel ſeiner Perſönlichkeit. 
Sie klammerten ſich feſt hinein, rechts und links, und 
ſo führten ſie ihren Führer mühſelig heim. Der Kellner 
im Trierſchen Hof brachte ihn zu Bette. 

* * 
* 

„Wie geht es Ihnen denn heute, Herr Brett?“ 
fragte ihn den Morgen darauf Frau Barb mit auf— 
fallender Förmlichkeit. 

„Ich danke, ſo ſo,“ entgegnete er, „aber ſchon 
mehr ſo, als ſo.“ Er ſuchte nämlich durch eine ſcherz— 


gr 


hafte Bemerkung das leichte Rot Lügen zu trafen, 
das ihm in die Schläfen ſtieg, als er des geſtrigen 
beſchämenden Ereigniſſes gedachte. 

Sie hatten verabredet, Sonntags moſelabwärts 
heimzufahren nach Koblenz, vom jungen Brett be⸗ 
gleitet, der die Gegend erklären ſollte. Vom Dampf— 
boot hatte er ernſtlich abgeraten, wegen der hundert 
zeitraubenden Krümmungen des Fluſſes, der ordentlich 
wie ein Gürtelband mit einem doppelten Knoten um 
jeden begegnenden Hügel herumgebunden ſei, während 
die Moſelbahn mittelſt einer Reihe von Tunnels alle 
dieſe gordiſchen Knoten wie mit einem Damoklesſchwert 
durchſchneide. Und unterwegs wollte man noch bei 
Bullay ausſteigen, um die ſehr genießbare Marienburg 
zu erſteigen, und weiterhin in Cochem, wo Herr v. Ra— 
vené aus Berlin jo und fo viele hunderttauſend Thaler 
in die alte Burg hineinreſtauriert habe, die auch nie— 
mals wieder herauszureſtaurieren ſein würden. 

Klaus Brett war nämlich — wie ſich's ja auch 
bald zeigen wird — eigentlich ein ganz aufgeweckter 
Junge, der ſeinen Scherz machte wie Einer, wenn er 
nur nicht zufällig vorher nach Alſt geriet. Dieſen Mor- 
gen freilich war er etwas gedrückt. Er fühlte ſich blamiert, 
was ihm um ſo unangenehmer war, als er ſich nicht 
mehr erinnerte, wie weit ſeine Blamage eigentlich ging. 


10 


Bin ich vor den Damen noch möglich, dachte er bei 
ſich, oder bin ich es nicht mehr? Mama Barbs Ver— 
halten ließ immerhin noch einen Schein von Möglich— 
keit zu, während Malwine dies nicht zuzugeben ſchien. 
Sie behandelte den Unglücklichen in der That ſehr 
ſtreng, indem ſie ihn gar nicht behandelte. Das meiſte, 
war er zu ihr ſprach, hörte ſie nicht oder ſie hatte ein 
Ja oder Nein darauf, welches in der Regel nicht ein— 
mal paßte. 

Indeſſen reiſten ſie doch zuſammen ab und nahmen 
in dem nämlichen Coupé Platz. Klaus benahm ſich 
ſehr entſchloſſen und verſuchte mehrere ſcherzhafte Be— 
merkungen. 

„Nun fahren wir ſchon eine halbe Stunde,“ ſagte 
er einmal, „und haben die Moſel noch gar nicht zu 
Geſicht bekommen, rein als ob man ſie auch auf Flaſchen 
gezogen hätte.“ Malwine lachte nicht und ſchien nichts 
gehört zu haben, Frau Barb aber ſagte: „Wie meinen 
Sie?“ Natürlich wiederholte er den Scherz nicht. 

Eine Viertelſtunde ſpäter äußerte er: „Die Leute 
waren doch in früheren Zeiten ſehr vergeßlich; da ſtehen 
ſchon wieder ein paar Berge, auf die ſie vergeſſen 
haben, Burgen zu bauen.“ Auch dieſer ironiſche Aus 
fall gegen die guten Leute von annno dazumal wurde 
nicht gewürdigt, und als er gar hinzufügte, die Fran— 


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zoſen hätten nur darum jo viele Burgen in Deutſch— 
land zerſtört, damit die Touriſten mit deren Beſteigung 
nicht allzu viel Zeit verlören, da gähnte Malwine zum 
Fenſter hinaus und Mama ſagte: „Was iſt denn das 
wieder für eine Station?“ 

Dieſe müßige Frage hatte beinahe eine Kata- 
ſtrophe zur Folge. Begierig, der verehrten Dame eine 
Gefälligkeit zu erweiſen, riß Klaus ſein Fenſter auf, 
neigte ſich weit hinaus und rief, ehe noch der Zug 
hielt, dem Stationschef zu: „Wie heißt dieſe Station?“ 

„Schweig!“ donnerte ihm dieſer zu, und wie be— 
täubt von dieſer Grobheit taumelte der Jüngling auf 
ſeinen Sitz zurück. Die Damen kämpften nur mit Mühe 
ein aufſteigendes Gelächter nieder.! 

Eine halbe Stunde lang war er mehr oder weniger 
vernichtet. Etliche Stationen flogen vorüber, bis er 
ſich an einer Halteſtelle wieder ermannte und, als hätte 
er noch immer jenen groben Stationschef vor ſich, in 
gereiztem Tone zum Fenſter hinausfragte: „Wie heißt 
dieſe Station?“ | 

„Bengel!“ ſchrie ihm der Stationschef ins Geſicht?? 

Beſagte Station heißt nämlich wirklich Schweig, oder 
vielmehr Schweich. Der Verfaſſer. 

2 Auch dieſe Station iſt thatſächlich vorhanden; beide 


ſind übrigens unbedeutend und nur in den ausführlichen Fahr— 
plänen angeführt. Der Verfaſſer. 


Ein Glück, daß ſich in dieſem Augenblick der 
Schwerbeleidigte hinten am Rockkragen gefaßt fühlte. 
Er wandte ſich um und ſah, daß er ſelbſt es war, 
der ſich gewaltſam zurückhielt, um nicht zum Fenſter 
hinauszuſpringen und über den unhöflichen Beamten 
herzufallen. Und gar ſehr nöthig war dieſe Gewalt— 
anwendung, denn das ſchallende Gelächter, in welches 
die beiden Damen ausbrachen, ging ihm durch Mark 
und Bein. Wäre der Zug nicht in der nächſten 
Minute ſchon weitergefahren, ſo hätte es wohl doch 
ein Unglück geſetzt. So mußte der Gekränkte, die 
Zähne aufeinander gebiſſen und die Fäuſte in den 
Taſchen geballt, ſitzen bleiben und Grimm und Gram 
ſtumm hinunterwürgen. 

Endlich waren ſie in Bullay, ſtiegen aus und 
ſchlugen den Weg nach der Marienburg ein, welche 
jenſeits der Moſel auf hohem Rebengebirg erſchien, 
turmlos, zinnenlos, mehr winzer- und bäuerlich, als 
ritter- und herrenhaft anzuſehen. Es ließ ſich darüber 
gewiß manches Wort wechſeln, aber die drei ſchwiegen, 
am tiefſten der Eine. 

Schweigend ſchritten ſie über die gewaltige Gitter— 
brücke auf der unteren Fahrbahn, während über ihren 
Häuptern der Zug, der ſie gebracht, weiterpolterte. 
Auch darüber ließ ſich ſo Manches bemerken, aber 


1 


es blieb ungeſprochen. Dann wanderten ſie jenſeits 
den Berg hinan, in durchſonntem Jungwald; es war 
Mittag und jeder trat ſeinem eigenen Schatten auf 
den Kopf. Jetzt, das fühlte Junker Klaus ganz 

deutlich, jetzt mußte etwas geſchehen. Er reichte alſo 
Frau Barb ſeinen Arm, damit ſie leichter bergan 
ginge, und ſie nahm ihn dankend an. Fräulein 
Malwine ging vor ihnen her, federnden Schrittes, 
leicht und gleichmäßig, als ginge es bergab. Mit 
einer Art Zorn trat er in ihre Fußſtapfen, er zertrat 
förmlich jede einzelne, wie um ſich zu rächen. Aber 
je öfter er ſie anſah, deſto weniger gründlich führte 
er dieſe Zerſtörungsarbeiten aus und ſetzte ſchließlich 
ſeine ſchweren Füße ſorgfältig neben ihre leichten 
Spuren, um ihnen nicht wehzuthun. Sie war aber 
auch zu niedlich. Das feine Köpfchen mit dem leichten 
Strohhütchen, unter dem einiges helle Blond auf— 
flatterte, wie gekräuſelte Sonnenſtrahlen, ... der 
zierliche Wuchs, der noch zierlicher geweſen wäre, 
wenn ihn nicht ein grauleinener Staubmantel verhüllt 
hätte . .. Sieh da, wie zur Antwort auf dieſes un— 
geäußerte Kompliment, ſchwang ſie plötzlich den Grau— 
leinenen von der Schulter, knäuelte ihn in einen feſten 
Packen zuſammen und warf dieſen, ohne ein Wort zu 
ſagen, ohne ſich umzuſehen, mit beiden Händen aus— 


holend in weitem Bogen über ihren Kopf weg hinter 
ſich. Jemand werde ihn ſchon auffangen, dachte ſie, 
und in der That fing ihn jemand mit bemerkens⸗ 
werther Geſchicklichkeit auf. 

Einer war glücklich. Die Moſel, die ihm bisher 
merkwürdig grau vorgekommen, erſchien ihm plötzlich 
ſehr blau, und der Himmel, an dem er erſt kurz vorher 
einen Stich ins Schimmelgrüne wahrgenommen, des— 
gleichen. Auch gedieh der junge Wald jetzt mit einem 
Mal merkwürdig gut, und die Reben ſchienen für dieſes 
Jahr einen famoſen Tropfen in Ausſicht zu ſtellen. 

Als ſie oben anlangten, bedauerte er, ſo kurze 
Arme zu haben; er hätte ſie ſonſt noch viel weiter 
ausgebreitet und ein weit beträchtlicheres Stück Erdball 
an den Buſen gepreßt. Auch genügte ihm das 
„Juhuhu!“ nicht recht, welches er oben ausſtieß, um 
den Wirth herbeizurufen. An einem ländlichen Tiſch 
in köſtlichem Nußbaumſchatten ſaßen ſie alsbald, alle 
ſechs Arme auf den Tiſch geſtemmt, da ihre Bänke 
keine Lehnen hatten, Anlehnung aber wünſchenswert 
erſchien. 

„Hier möcht' ich ewig träumen!“ rief Malwine, 
ohne zu bedenken, daß ſie denſelben Wunſch erſt geſtern 
auf der Schneiderhöhe bei Trier geäußert und die da— 
malige Ewigkeit noch lange nicht vorüber war. 


rt 


„Ich bin erhitzt und das Lüftchen ftreicht kühl 
um dieſe Höhe,“ ſagte gleichzeitig ihre Mutter und 
wickelte ſich feſter ein. 

„Herr Wirt, um Gottes willen etwas zu trinken! 
Eine Flaſche, nein, zwei Flaſchen Moſelblümchen!“ 
rief Klaus, ſo laut er es herausbrachte. 

Ein Gedankenſchatten flog über Malwinens Stirne. 
Er hat für nichts Sinn, als fürs Trinken, dachte ſie 
bei ſich; er iſt doch ein Proſaiker. Aber trinken 
mußte ſie darum doch, als die Gläſer zuſammenklangen 
und das grüne Gold ſie ſo feucht anfunkelte. Denn 
auch die Romantik wird durſtig, wenn ſie ſich mittags 
zur Marienburg hinauf verſtiegen hat. 

„Im Becher blüht die flüſſige Blume,“ phantaſierte 
nach ungefähr einer Stunde ... wer? Klaus Brett 
war erſtaunt, daß es nicht Malwine war, und Malwine 
ſtaunte, daß es wirklich Klaus Brett war. Dieſer 
junge Mann zeigte ſich in der That ſtark verändert. 
Der dunkelbraune Geiſt von geſtern abend war von 
ihm gewichen, wie eine Fledermaus bei Tagesanbruch, 
und ein goldſchimmernder Geiſt mit grünlichen Libellen 
flügeln über ihn gekommen. 

„Die Moſel fließt durch mein Glas,“ jubelte er, 
indem er den geſchlängelten Strom da unten durch 


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das volle Weinglas betrachtete. Dieſes Bild war 
etwas kühn und Malwine horchte eifrig nach dem 
„Proſaiker“ von geſtern hin, der heute faſt romantiſch 
daherſprach. Soeben wieder hatte er die Sonne auf 
dem Grunde ſeines Glaſes entdeckt und trank ihr 
daraus „einen Schluck Sonnenſchein“ zu. Da mußte 
ſie wohl ihr Glas erheben und mit ihm anſtoßen. 

Der Schluck Sonnenſchein geſtaltete ſich etwas 
ausgiebig, denn die beiden ſahen einander beim 
Trinken durch das feuchte Glas in die Augen, welche 
zu ſchwimmen ſchienen. Doch das war wohl nur ein 
optiſches Phänomen, wie man es nach Tiſche ſchon 
öfters beobachtet haben will. 

Man erhob ſich dann, um Rundſchau zu halten 
auf der Marienburg. Eigentlich iſt fie ein Nonnen— 
kloſter aus einem grauen Jahrhundert und wurde erſt 
ſpäter Feſtung, um zuletzt durch die Franzoſen zum 
Abbruch verkauft zu werden. So wenigſtens erläuterte 
Klaus, während er mit den Damen durch den kleinen 
ſauberen Gaſthof ſchritt, den man der alten Ruine 
vorgebaut hat. Jenſeits des Neubaues angelangt, 
ſchrieen die Damen auf vor Ueberraſchung, denn es 
zeigte ſich ihnen das lieblichſte Schauſpiel, wie es auf 
der weiten Welt nicht wieder zu finden. Sie ſtanden 
im Küchengärtchen des Gaſthofes, aber dieſer Garten 


ee 


war in der alten Kloſterkirche angelegt. Das Dach 
fehlte, der blaue Himmel lag in voller Breite darüber; 
aber die Mauern ſtanden noch, von ſcheibenloſen 
Fenſtern durchbrochen, durch welche man gleichfalls 
in blaue Höhen und Weiten hinausſah. Die des 
Schiffes waren flachbogig, aus der Barockzeit, welche 
hier offenbar noch reſtauriert hatte, die drei des 
gotiſchen Chores jedoch hatten ihre aufrechten Spitz— 
bogen behalten, in deren zweien ſogar noch das Maß— 
werk aus rotbrauner Terracotta erhalten war. Von 
außen kletterte allerlei Grünes zu den Fenſtern herein 
und über die Mauern herüber, Windling und Epheu, 
Clematis und wilder Wein; grüne Ranken ſchnörkelten 
ſich in der Luft umher, ringelten ſich um ſteinerne 
Ecken, wehten um die Häupter der Wandelnden. Mitten 
durch das Kirchenſchiff ging ein Gartenpfad, zwiſchen 
zahlreichen Gemüſebeeten. Wie einſt in den Kirchen⸗ 
ſtühlen rechts und links die Reihen frommer Beter 
geſeſſen, ſo ordneten ſich jetzt links und rechts die 
Reihen blauer Kohlköpfe und grüner Salathäupter, 
dazwiſchen zartbefranſte Büſchel von Peterſilie und 
gelben Rüben und Sellerie, auf den Eckſitzen aber 
ſaßen die Honoratioren, ... Nelken- und Roſenſtöcke 
und ſogar etliche Thujen. Ein andächtiges Schweigen 
herrſchte in ihren Reihen, obgleich keine Meſſe I 


Heveji, Buch der Laune. 


a 


wurde, ſintemalen kein Altar mehr in dem wüſten 
Hauſe ſteht. Nur ein Eckchen, ein Niſchchen eher, iſt 
noch heilig geblieben an der Ruine; das iſt eine 
winzige Kapelle im Chore rechts, mit einem aller⸗ 
niedrigſten Pförtlein, über dem das handbreite Relief— 
bild einer Madonna gleichſam den Namen der Marien- 
burg nennt. Rechts und links der Thür lieſt man 
zwei Inſchriften, mit delphiſcher Zweideutigkeit abgefaßt. 
Die eine lautet: „Das Beſchreiben der Kapelle und 
Aufſtecken der Kerzen iſt verboten“; vermutlich ſoll 
ſie die zahlreichen Reiſe-Feuilletoniſten bändigen, welche 
die Marienburg gern beſchreiben möchten und dadurch 
ihren Leſern ein Licht aufſtecken. Die andere ſteht 
über einer Sammelbüchſe und beſagt: „Zur Unter- 
haltung für die Kapelle“; ſie hat nicht unrecht, 
denn Geld zu bekommen, iſt ſtets eine gute Unter⸗ 
haltung. 

Der Eindruck dieſes außergewöhnlichen Schau— 
platzes machte ſich augenblicklich geltend. 

„Warum bin ich nicht vor Jahrhunderten hierher 
gekommen, um zu Mariens Füßen zu ſitzen?“ ſeufzte 
Fräulein Malwine und warf ſich die weiße Serviette, 
die ſie zufällig am Arme behalten, wie einen Nonnen⸗ 
ſchleier über den Kopf. 

Dies war eigentlich nur ſozuſagen ein artikulierter 


Seufzer, der Proſaiker Klaus faßte ihn aber als 
förmliche Frage auf und antwortete: 

„Weil Sie damals noch nicht geboren waren, 
liebſte Malwine.“ 

Ein ſtrafender Blick traf ihn; er hatte alles 
wieder verdorben. Sie wandte ſich ab und ſchritt 
den Mittelpfad hinauf, in ihrem weißen Nonnentuch, 
wie ſie vor fünfhundert Jahren gethan haben würde. 
Die beiden folgten ihr bis an die Stelle, wo einſt 
der Altar geſtanden. Da kniete Malwine nieder, warf 
einen heißen Blick zum blauen Himmel empor und 
neigte dann das Haupt, als böte ſie die blonde Pracht 
ihrer Locken der klöſterlichen Schere dar. 

So ſprechend war das Bild, daß Klaus ein Etui 
aus der Taſche zog, ihm eine kleine Schere entnahm 
und unwillkürlich zur Tonſur ſchritt. Eines der feinen 
Löckchen am Nacken hatte er bereits losgetrennt, als 
der Schreckensſchrei der Mutter ſeine Hand aufhielt; 
er wäre ſonſt vermutlich noch weiter gegangen. Jetzt 
blickte auch Malwine auf und ſah, wie der Proſaiker 
die Locke an die Lippen drückte und dann ſamt der 
Schere im Etui barg. Tiefe Entrüſtung malte ſich 
in ihren Zügen, ſie erhob ſich raſch und eilte davon. 
Es wird wohl Zerſtreutheit geweſen ſein, daß ſie dabei 
ihren Arm durch den des verwegenen Junkers zog. 


ae 


Er führte ſie an den Tiſch unter dem Nußbaum 
zurück und winkte dem Wirt; dieſer brachte alsbald 
eine Flaſche, die gänzlich in ſchwefelgelbes Papier ein- 
gedreht war. „Piesporter Goldtröpfchen“, ſagte er dazu. 

„Flüſſige Dukaten,“ ſchwärmte Klaus, „die reine 
Goldwährung!“ Und das Glas gegen Malwinen er⸗ 
hebend, rief er kühn: „Dem Goldköpfchen ... das 
Goldtröpfchen!“ 

Sie wurde rot, Mama lachte und alle drei tranken. 

Es wurde immer ſchöner da oben. Das Licht 
der Nachmittagsſonne ergoß ſich wie ein Regen von 
Goldtröpfchen auf die Landſchaft. Die Berge rauchten 
von goldigem Dunſt und zwiſchen ihnen tief unten 
irrte die Moſel im Zickzack der Trunkenen umher, ver⸗ 
ſchwindend, wieder auftauchend, in großen Schlingen 
und Halbbogen, die eine grün, der andere blau, die 
dritte goldgelb, je nach Licht und Schatten. In dem 
Sommerhäuschen, am Ende der Terraſſe, ſaß ein junger 
Zeugsfeldwebel, der mit ſeiner Herzliebſten herauf— 
gepilgert, am Klavier und ſpielte einen Walzer, der 
ein wenig wie eine Polka klang, und die Herzliebſte 
tanzte dazu mit ihrem eigenen Schatten eine Art 
Ländler. Der jugendliche Dachshund des Hauſes 
aber ſchlief mitten auf dem Grasplatz, alle Viere von 
ſich geſtreckt, und einen Zoll weit von feinem Maule 


2 


lag ein Biſſen Brod, an dem er ſich in Schlaf getän- 
delt, . . . ein Sinnbild des Friedens und Überfluſſes. 

Malwine ſtreifte munter in dieſem Arkadien umher 
und Klaus begleitete fie, um ihr den beſten Ausſichts⸗ 
punkt ſuchen zu helfen. Wo der zu finden, wußte er 
übrigens genau. Vom alten Gebäu war noch ein 
ſteinerner Thorbogen quer über der Straße ſtehen ge— 
blieben, gerade nur ein halber Rundreif aus Steinen, 
ohne Thorſturz und Thorflügel. Saß man mitten auf 
dieſem Bogen, ſo ſah man am weiteſten in die Runde; 
aber freilich, dazu mußte man ein Vogel ſein, oder 
.. Piesporter Goldtröpfchen und nachher noch etwas 
Moſelperle getrunken haben. Nun, ein Vogel war 
man nicht, das andere aber hatte man weidlich gethan, 
und richtig, es dauerte gar nicht lange, ſo ſaßen die 
beiden hoch oben auf des Bogens Schlußſtein und ließen 
die Beine ſo in den milden September hineinbaumeln. 

Leute kamen und gingen unter ihnen durch und 
lachten hinauf, denn ſie hatten noch nie ſo lebens— 
wahre allegoriſche Figuren über einem Thorbogen ge— 
ſehen. Aber das ſtörte ſie nicht, denn ſie hatten 
Gold im Kopfe. Die erſten da oben waren ſie 
übrigens keineswegs, denn gerade zwiſchen ihnen 
beiden hatte ein Vorgänger ſeinen Namen mit Rötel 
breit hingemalt: „Adolf Schwarz“. Auf dem Adolf 


38 


ſaß Malwine und auf dem Schwarz ſaß Klaus, und ſie 
lachten aus vollem Halſe, weil man doch ein Narr oder 
farbenblind ſein müſſe, um ſein „Schwarz“ mit roter 
Farbe hinzuſchreiben. „Oder er muß gar nicht gewußt 
haben, wie er heißt,“ ſchloß Klaus das Intermezzo. 
Aber der Niederblick von da oben war wirklich 
ſchön. Da ſahen ſie auch wieder die doppelte eiſerne 
Gitterbrücke gewaltig über den Strom hinwegſchreiten. 
Die vierfache eigentlich, denn unter ihr, tief im Waſſer, 
begleitete ſie ihr ebenſo doppeltes Spiegelbild hinüber, 
als eine zweite Brücke, aus einem unnennbar feinen 
Etwas gebaut, aus einem Metall, leichter denn Luft. 
„Ja, ja,“ phantaſierte Klaus; „auch dieſe Schein- 
brücke da unter dem Waſſer wird ſtark benützt, auf ihr 
gehen nämlich die Moſelnixen hinüber und herüber; ſehen 
Sie nur, juſt kommt dort eine gegangen, den Kopf 
nach abwärts, wie eine Fliege an der Stubendecke.“ 
Es war nämlich das Spiegelbild einer Bäuerin, 
welche oben über die Brücke ging. Malwine lächelte. 
Ich habe ihm doch unrecht gethan, ſagte ſie bei ſich, 
er iſt doch kein Proſaiker, nur das fatale Bier hat 
ihn geſtern dazu gemacht, aber am Moſelfeuer iſt er 
wieder in Fluß geraten. 
Sie hätte ihm jetzt vielleicht ein warmes Wort 
geſagt, aber auf der Straße unter ihnen nahten 


ae 


Schritte. Der Zeugsfeldwebel wanderte mit der Seini- 
gen den Berg hinab. Sie hatte ſeine Soldatenmütze 
mit einem grünen Kranz aus Lindenblättern geſchmückt 
und ihren Strohhut desgleichen. Arm in Arm, eng 
in einander geknüpft, ſchritten ſie durch den Bogen und 
bemerkten gar nicht, daß oben ein Pärchen ſaß. Unter 
dem Bogen blieben ſie einen Augenblick ſtehen und 
küßten ſich laut, etlichemale. Dann gingen ſie weiter. 

„Malwine“, flüſterte ihr Klaus ins Ohr. Sie 
war feuerrot, denn ſie fühlte, daß ſie im nächſten 
Augenblick geküßt ſein werde. Aber ſie wehrte ſich 
tapfer, indem ſie eine ablenkende Frage wie mit Ge— 
walt hervorſtieß: 

„Da unten, ſehen Sie, am Ufer, was iſt das 
für eine Ortſchaft, mit dem großen Schlot über dem 
großen Hauſe?“ 

Er wurde blaß und zögerte. Aber ſie fragte 
noch einmal und da antwortete er: „Das iſt Alſt.“ 

„Alſt, wo unſer geſtriges Bier her iſt?“ rief 
ſie lachend. Alles Komiſche von geſtern abend war 
plötzlich wieder aufgeweckt, die bewegte Stimmung von 
ſoeben war verſcheucht, das Mädchen hatte ſich wieder. 

Und neben ihr ſaß der Proſaiker von geſtern, 
und das einzige Bewußtſein, das er hatte, war das 
der Blamage. 


* 


5„E . 


Sie gingen wieder nach Bullay hinüber und be⸗ 
ſtiegen den nächſten Koblenzer Zug. Der Himmel 
hatte ſich getrübt und wurde, je weiter moſelabwärts, 
deſto grauer. Dann regnete es gar und man beſchloß, 
in Cochem gar nicht auszuſteigen. 

Die beiden Damen waren ohnehin etwas ermüdet 
und ſprachen wenig, ſchienen aber ſonſt mit ihrem Tag 
ganz zufrieden zu ſein. Klaus Brett ſaß, in die ent⸗ 
legenſte Ecke des Coupés gedrückt und rauchte mit Er⸗ 
laubnis der Damen ſeine Cigarre. Er fühlte ſich nicht 
recht behaglich. Jener hochgeſpannte Augenblick, in dem 
er ſich beinahe ausgeſprochen hätte und von ihr plötzlich 
mit der verwünſchten Erinnerung an Alſt, wie mit einem 
Eimer kalten Waſſers übergoſſen wurde, . .. der wünſchte 
ſich keinen zweiten zu erleben. 

Ja, er liebte ſie! ... Er hätte es zu den Fenſtern 
hinausſchreien mögen, oder hineinrufen in das Gepolter 
des Bahnzuges, oder ſonſt irgendwie es äußern, nur daß 
es ihm nicht ſo im ſtillen ungehört das Herz abdrücke. 

Da fuhren ſie durch einen Tunnel. Es wurde 
ſchwarzdunkel im Coupé. Und da ſchrieb er halb 
mechaniſch mit der Hand in dieſe Schwärze hinein das 
Wort „Malwine.“ Er ſchrieb es in großen lateiniſchen 
Uncialbuchſtaben, als grübe er es mit dem Meißel in 
Granit. Er dachte gar nicht daran, daß er die brennende 


No 


Zigarre in der Hand hatte und ihr roter Feuerpunkt 
leuchtende Linien in die Finſternis hineinſchrieb, feurige 
Buchſtaben, lesbar für Augen, welche ſie bemerken 
wollten. 

Und wiederum ſchrieb er „Malwine“ . .. und 
noch einmal ... und dann war der Tunnel zu Ende, 
und es wurde wieder hell. 

Er wußte kaum, was er geſchrieben, und noch 
weniger, daß es geleſen worden. Er ſah auch nicht, mit 
welchen Augen Malwine jetzt an feinem Antlitz hing. 
Sie war in der That außer ſich. Welch anmutiger 
Einfall, zumal von einem Proſaiker, ihren Namen mit 
Feuer in die Luft zu ſchreiben! In der ganzen Marlitt 
kam dieſes Motiv nicht vor. Nein, gewiß, ſo ſieht ein 
Proſaiker nicht aus, dieſer Jüngling war einer poetiſchen 
Empfindung fähig. 

„Lieber Klaus,“ ſagte ſie raſch entſchloſſen, „haben 
Sie wohl eine Cigarrette bei ſich? Ich möchte ſo gern 
ein paar Züge thun.“ 

Klaus hörte alle Engel ſingen. Ein ſolches „Lieber“ 
von ihrem Munde, mit einem ſo langen, weich betonten 
„i“, es war, um an die Coupedede zu fahren! 

„Gewiß, liebe Malwine,“ ſtammelte er und bemühte 
ſich, das „i“ ja genau ſo zu bringen, wie ſie es gebracht. 

Er reichte ihr die Cigarrette, half ihr, ſie in Brand 


6 


zu ſtecken und ſah dann glücklich lächelnd zu, wie ſie 
rauchte. Ihm war, als rauchte ſie mit ihm aus einer 
Pfeife. Und dann kam plötzlich wieder ein Tunnel, es 
wurde dunkel und er ſah ihre liebe Geſtalt nicht mehr, 
obgleich er kein Auge von ihr wandte. Nur das Feuer: 
pünktchen der Cigarrette verriet ihm, wo ſie ſaß, und 
dieſer rote Punkt ... täuſchte er ſich auch nicht? 
waren es wirklich Buchſtaben, was da vor ihm in der 
Luft entſtand und verſchwand? Kein Irrtum möglich; 
deutlich las er nach einander K, L, A, U, 8, . .. feinen 
Namen! 

Er ſtieß einen Freudenſchrei aus, den ſelbſt das 
Getöſe des Zuges nicht übertäuben konnte. Dann faßte 
er ſeine Cigarre feſter und ſchrieb mit dieſem feurigen 
Bleiſtift haſtig in die Luft: „Liebſt Du mich?“ 

„Ja,“ antwortete das rote Pünktchen in der ent— 
gegengeſetzten Ecke. 


* 
* 


Es war der längſte Tunnel auf dieſer ganzen Strecke. 

Als es wieder hell geworden, machte Frau Roſa 
Barb große Augen, denn ihre beiden Reiſegefährten 
ſaßen ihr gegenüber und hielten ſich feſt umarmt. 

So hatte der goldene Tropfen doch wieder gut 
gemacht, was der braune Tropfen beinahe für immer 
verdorben hätte. 


Der Schlagſchatten. 


Ein Wiener Geſellſchaftsbild. 


(1886) 


. 


NT 


RL 


DL 
1 


der goldgeränderten Einladungskarte. Was ſie bedeuten 
ſollten, wußte ich einſtweilen nicht, aber als ich am an— 
beraumten Abend ſeinen mittleren Salon betrat, den 
orientaliſch⸗pariſeriſchen, da begann ich etwas zu ahnen. 
Es waren in dieſem merkwürdigen Junggeſellenheim, 
wie gewöhnlich bei dieſen kleinen Soupers, mehrere 
junge Ehepaare und flotte Junggeſellen vereinigt, da— 
runter einige berühmte Namen des Wiſſens oder Könnens, 
aber ſämtlich gute alte Bekannte. Nur eine Erſcheinung 
war mir fremd und einigen anderen auch. Auf einem 
Ruhebett, welches ganz unter einem rieſigen Königs— 
tigerfell verſchwand, ſo daß dieſes furchtbare Tier lebendig 


durch den Salon zu ſchreiten ſchien, ſaß oder lag ein 
verblüffendes Frauenbild, ganz wie die von Dannecker 
verlaſſene Ariadne auf ihrem marmelſteinernen Tiger⸗ 
tier. Sie hatte den rechten Arm, der faſt bis an die 
Achſel in einem ſchwarzen Handſchuh ſtak, auf den ge— 
waltigen Kopf des Tieres geſtützt, und ihr eigenes Haupt 
ruhte nachläſſig in dieſer Hand. Ein ſeltſamer Frauen⸗ 
kopf, die Haut gelb wie altes Elfenbein, die großen 
Augen ſchwarz wie das unbändig krauſe Haar, deſſen 
Schlangengeringel über eine Wachsbüſte von einem ge— 
wiſſen matten Schwung niederrollte. Den ſchwarzen, 
ſcharfgezogenen Brauen entſprachen zwei dunkle Halb— 
kreisſchatten unter den Augen, ſo daß dieſe wie in 
Parentheſe erſchienen. Einiges an alledem war jeden— 
falls Kunſterzeugnis, wie auch ein Hauch von Roſenrot 
auf ihren Wangen, ſo leicht, daß er von dem durch— 
ſchimmernden Gelb der Haut einen Stich ins Orange 
annahm. Sie trug ein ſchwarzes Surahkleid, auf Bruſt 
und Rücken tief herzförmig ausgeſchnitten und an Buſen, 
Gürtel, Achſeln, Schoß und Schleppe mit großen gelben 
Roſen aus Seide geſchmückt. Die überlange Schleppe 
ſtrömte in wirren Wogen über den Rücken des Königs- 
tigers nieder und verlor ſich weiterhin auf den blumigen 
Wieſen der mehrfach übereinandergeſchobenen perſiſchen, 
indiſchen und arabiſchen Teppiche. Ihr linker Arm lag ent⸗ 


. 


blößt in ihrem Schoße und ſchien ſich von dem ſchwarzen 
Meere dieſer Toilette willenlos ſchaukeln zu laſſen. 

Gleich mein erſter Blick galt dieſer exotiſchen Er⸗ 
ſcheinung. Wer iſt ſie? fragte ich mich. Die Göttin 
des gelben Fiebers, oder die Königin der Nacht aus 
der großen Oper von Paramaribo? Eine Prinzeſſin aus 
zweitauſend und zwei Nächten oder die Kurfürſtin der 
weißen Mohren in Mittelafrika? Rauenberg kam mir 
jedoch gleich entgegen und ſprudelte in ſeiner hurtigen 
Weiſe hervor: 

„So, lieber Doktor; vor zwei Jahren, am 17. 
Januar 1884 beklagten Sie ſich, es gehe bei mir immer 
zu luſtig her, es fehle an dem nötigen Schlagſchatten. 
Als muſterhafter Wirt ſuche ich alle Wünſche meiner 
Gäſte zu befriedigen. Der Schlagſchatten unſerer heutigen 
Luſtbarkeit heißt: Donna Clemencia Pardo y Ponce, 
Wittwe des unglücklichen Präſidenten von Colorado, 
General Don Joſé Pardo y Ponce.“ 

Ich hatte von der ſeltſamen Frau gehört, die ſchon 
ſeit Jahren geheimnisvolle Schritte bei der europäiſchen 
Diplomatie that und über ebenſo geheimnisvolle Hülfs— 
quellen verfügte. Rauenberg ſtellte mich ihr vor. Ich 
verneigte mich und ſagte galant: „Madame, Europa 
ritt auf einem Stiere, Südamerika reitet auf einem 
Tiger.“ Einen Augenblick ſah ich ihre beiden Augen 


ſtarr auf mich gerichtet, wie die Mündungen zweier 
ſcharfgelad ener Escopetas, dann bot ſie mir eine gelb— 
ſeidene Düte mit Chokoladebonbons und ſagte: 

„Nehmen Sie eine langue de chat. Dieſe War⸗ 
ſchauer Chokolade von Lourſe protegiere ich jetzt. Sie 
iſt wahrhaftig die beſte; Paris iſt nicht mehr zu eſſen, 
die Schweiz unverdaulich.“ Und als ich eines der goldbe— 
ſpritzten Plättchen verſpeiſt hatte, ſagte ſie: „Buen pro- 
vecho!“ (wohl bekomm's!) und griff nach einem Kriſtall⸗ 
gläschen mit Cognac, das ſie kurz vorher verlangt hatte. 

„Sie ſpricht nie von anderem, als von Eſſen oder 
Trinken,“ flüſterte hinter mir unſere ätheriſche Sopraniſtin 
Fräulein Lilla Bandt dem Hausherrn zu, worauf dieſer 
ſie in Schutz nahm: 

„Nein, ſehen Sie, die Generalin hat Trauriges 
erlebt, ſie hat einen Schlagſchatten in ihrem Leben, den 
kein Sonnenſtrahl auflöſen wird.“ 

„Einen Schlagſchatten, wieſo?“ zirpte die Künſtlerin. 

„Ich weiß es nicht. Ich glaube, kein Menſch 
weiß es. Daß der General Pardo y Ponce von den 
Aufſtändiſchen vor fünf Jahren in San Criſtobal er- 
ſchoſſen wurde, iſt alles, was man weiß, aber es ſcheint 
noch etwas Beſonderes damit verknüpft zu ſein.“ 

„Ich werde ſie befragen,“ ſagte Fräulein Lilla ſo 
vorlaut, wie nur ſie zu ſein verſtand. 


Se 

„Wird Ihnen nichts nützen. Sie wird die Ge— 
ſchichte vielleicht bereitwillig zu erzählen beginnen und 
dann irgendwo ſtecken bleiben. Es geht ihr immer ſo. 
Sie läßt ſich durch alles ablenken und hat die tauſend— 
mal begonnene Geſchichte noch nie zu Ende erzählt.“ 

Ich betrachtete die Generalin mit jenem Mitleid, 
das man dem Unglück ſchuldet. Sie hatte ſoeben die 
letzten Tropfen des Glaſes in ihre bloße linke Hand ge— 
goſſen und darin verrieben, jetzt zog ſie den Duft ihrer 
Handfläche mit geblähten Naſenflügeln ein und rief: 
„Que, qué! (na, na!) das ſcheint Revieère zu fein; 
etwas zu mild, kann ſeine dreißig Jahre haben.“ 

„Sehr richtig,“ bekräftigte Rauenberg. 

„Martell 1850 iſt mir lieber,“ fuhr ſie fort, 
„Reviere iſt für Frauen, für Pariſerinnen.“ 

Der Vicomte Roger de Bronze, von der franzöſiſchen 
Botſchaft, der eine eigene Kunſt beſaß, in zuſtimmendem 
Tone zu widerſprechen, wandte beifällig ein: „O Ma— 
dame, koſten Sie doch einmal goutte d'or, es giebt 
nichts Beſſeres.“ 

„Caramba!“ rief ſie, „als ob ich goutte d'or 
nicht kennte! Von Cavaillon in Bordeaux. Querido 
amigo (lieber Freund), viel zu aromatiſch. Iſt kein 
Cognac, ſondern Parfüm.“ Sie griff nach der Flaſche 
Martell, die auf dem Malachittiſchchen neben = ſtand, 


Heveſi, Buch der Laune. 


und roch an deren Mündung, erſt mit der rechten Nüſter, 
dann mit der linken. „Ah!“ 

„Schon leer,“ flüſterte der Vicomte erſtaunt dem 
Hausherrn zu. 

„Wird nicht ganz voll geweſen ſein,“ entſchuldigte 
dieſer; „übrigens iſt ja eine Flaſche bekanntlich nie leer, 
fünfzig Tropfen ſind immer noch drin.“ 

„Fünfzig Tropfen?“ ſagte unſer jugendlicher Freund, 
Herr von Pappe, der häufig ſo unbequem war, heim— 
lich Geflüſtertes womöglich laut zu wiederholen. „Fünf— 
zig Tropfen? Wohl möglich. Ich wette ſogar darauf.“ 

„Cinceuenta gotas!“ rief Donna Clemencia un⸗ 
gläubig und ſchüttelte die Flaſche. „Ich halte die 
Wette, Sennor; cuanto va? (Um wie viel geht's?)“ 

„Um gar nichts,“ lachte er, „ſagen wir zehn Gul— 
den .. . und ſetzen wir das Geld gleich ein, hier iſt 
ein gutes Plätzchen dazu.“ Er nahm eine blaue Bank- 
note aus ſeiner Brieftaſche und ſteckte ſie in den offenen 
Rachen des Tigers, unter deſſen blutrote Zunge. 

„Vo entgegnete die Sennora, hh; 
habe nicht den Mut, dem Tiger in den Rachen zu greifen.“ 

„Gut, Madame,“ lächelte Herr von Pappe, „mein 
Einſatz ſteht gleichwohl. Herr von Rauenberg, wir 
ſind begierig.“ 

Aber,“ zauderte dieſer, denn ſchon reute ihn ſein 


5 


Einfall, „es geht nicht, denn ich . . . brauche dazu eine 
Stricknadel und einen Strohhalm.“ 

„Sogleich,“ ſagte der Kammerdiener übereifrig und 
und eilte hinaus, zur Wirtſchafterin. Auf einer getriebenen 
Silbertaſſe aus dem ſechzehnten Jahrhundert brachte er 
die Stricknadel herbei, was aber den Strohhalm betraf, ge— 
ſtand er, daß um dieſe ſpäte Nachtſtunde . . . in Wien... 

„Ich ſchicke ſofort jemanden zu mir,“ rief der 
Vicomte, „im Stall . ..“ 

„Uutil,“ unterbrach ihn die Sennora und langte 
mit einer epiſchen Handbewegung nach einer Virginia— 
Cigarre, die ſie vorhin weggelegt hatte und die ja 
einen Strohhalm enthielt. 

„Das Ei des Columbus!“ rief ein Herr beifällig. 

„Que dice? (was jagt er?)“ fragte fie. 

„El huevo de Colon,“ erläuterte man ihr. 

Sie zuckte die Achſeln: „Colon? Kenne nicht. 
Iſt er hier?“ Und ſie ſchälte ſorgſam den Strohhalm 
aus der Cigarre, dann reichte ſie ihn mit einer maje— 
ſtätiſchen Geberde dem Hausherrn. 

„Wie heißt „ich danke“ auf ſpaniſch?“ ſcherzte dieſer. 

„Gracias,“ entgegnete ſie. 

„Alſo dann gracias, Madame,“ und er hielt die 
Nadel in eine Kerzenflamme. „Sehen Sie, nun durch— 
bohre ich dieſen Kork mit dieſer Stricknadel.“ 


„Bueno.“ 

„Und nun ziehe ich die Nadel heraus und ſtecke 
durch die Lücke dieſen Strohhalm.“ 

„Bueno.“ 

„Und nun verſchließe ich die Flaſche mit dieſem 
Kork und kehre ſie ſachte um.“ 

„Bonisimo.“ 

„Und nun zählen wir, wie viel Tropfen heraus⸗ 
fließen. Der Vorteil iſt nämlich, daß die Tropfen 
durch den Strohhalm viel kleiner werden ... Bah, 
alter Studentenſpaß.“ 

Und alles begann zu zählen, am eifrigſten Donna 
Clemencia. Sie rief immer mit lauter Stimme die 
Dekaden, während ſie die übrigen Zahlen nur leiſe vor 
ſich hinmurmelte: 

„Zehn zwanzig üreipig ns. por 
Dios, wie viel Tropfen! ... fünfunddreißig . . . 
vierzig, . .. nein, noch nicht.“ Sie ſetzte erregt beide 
Füße auf den Teppich; die plaſtiſche Stellung auf dem 
Tigerrücken war vorderhand verdorben. 

Und noch immer hatte der Strohhalm nicht ſeinen 
letzten Tropfen hergegeben. Er tropfte allerdings ſeit 
einer Viertelſtunde ſchon ſehr langſam. Donna Clemencia 
bekreuzte ſich einmal übers andere und ſchien ihre 
ſchwarzen Meduſenlocken mit zuckenden Fingern unter 


ag 


dem Rinne zuſammenbinden zu wollen, wie eine Spitzen— 
barbe. Da hielt es der Hausherr für angemeſſen, ein— 
zuhalten. Er gab dem Kammerdiener ein Zeichen, das 
dieſer weitergab und dann mit lauter Stimme rief: 
„Gnädiger Herr, die Suppe iſt aufgetragen!“ 
„Vive Dios! es war Zeit,“ ſtieß Donna Cle— 
mencia halblaut hervor und ergriff haſtig den Arm 
des Hausherrn. Ihre ſchwarze Schleppe überſtürzte ſich 
wie Meeresbrandung und zerſtäubte dann in unzählige 
Falbeln und Zacken, deren Gewoge die dicken gelben 
Roſen wie Schaumflöckchen hin und her ſchleuderte. Im 
Vorbeigehen hatte ſie noch eine raſche, heimliche Be— 
wegung der Hand . .. nach dem Maule des Königs— 
tigers, einen kühnen Griff unter deſſen blutrote Zunge. 
Offenbar hatte ſie mittlerweile den Mut dazu gefunden. 


* x 


9 
** 


Man begab ſich durch eine Thüre, welche hüben 
und drüben durch eine Portière aus je drei indiſchen 
Teppichen, in der Mitte aber durch einen brettharten 
indiſchen Vorhangteppich befeſtigt war, in die Bibliothek 
und von hier durch eine ſeltſam verſchnörkelte ſchmiede— 
eiſerne Pforte, deren beide Flügel offen ſtanden, in den 
Speiſeſaal. Einen Augenblick war der Durchgang ge— 
ſperrt, denn Donna Clemencia blieb mit ihren raujchen- 


aa 


den Gewändern rechts und links an den eifernen Blumen: 
ranken hängen und zog dadurch beide Flügel hinter ſich 
zu. Nur das behende Hinzuſpringen des Vicomte 
Roger de Bronze und des Herrn von Pappe befreite 
ſie aus der prächtigen Klemme. 

„Gracias,“ ſagte ſie ihren Rettern, „ich will dafür 
zwiſchen Ihnen beiden ſitzen.“ Sie bedachte nicht, daß 
ſie durch dieſe eigenmächtige Maßregel die ganze wohl— 
erwogene Sitzordnung über den Haufen warf. 

Der Anblick der Tafel war . .. nun, er war eben 
Rauenbergiſch. Das Licht des Barbedienneſchen Kron— 
leuchters zerſtob in den facettierten engliſchen Kriſtall— 
gläſern zu zahlloſen bunten Flimmern, zu pulveriſiertem 
Regenbogen, wie der bekannte Kunſtforſcher Dr. Hans 
Juften⸗Lennor ſich auszudrücken wagte. Auf dem Kamin⸗ 
ſims, der auf zwei antiken Porphyrſäulen ſtand (an jeder 
ihrer Cannelüren hatte nach Dr. Juften-Lennox' Ver: 
ſicherung ein altägyptiſcher Arbeiter ſechs Monate lang 
geſchliffen), ritt zwiſchen zwei hohen Empire-Leuchtern 
Napoleon J. hin und her, eine meiſterliche Verkleinerung 
jenes Rudeſchen Erzſtandbildes, das auf der Place du 
Diamant in Ajaccio ſteht. Die Wand gegenüber deckte 
ein alter flandriſcher Gobelin, ein gewebter Park, in 
dem gewebte Kavaliere und Damen mit verblichenen 
Hunden und verſchoſſenen Pferden luſtwandelten, als 


wären fie ſoeben von dieſer gedeckten Tafel aufgeſtanden. 
Man nahm die Suppe auf ſchwediſcher Majolika ein, 
die der Hausherr kürzlich auf der Amſterdamer Welt— 
ausſtellung gekauft hatte. Für die Bombe glace war 
ein neues Bijou⸗Service von Minton in Stoke upon 
Trent angekündigt, und den Kaffee ſollten die Damen 
aus den berühmten Soͤvres-Taſſen der Marie Antoinette, 
einſt in der Sammlung Caſtiglione, trinken. 

Die Gäſte ſchmückten ſich mit den duftigen Kamelien— 
ſträußen, die bei ihren Gedecken lagen, und einige warfen 
raſche Orientierungsblicke auf die Menus. 

„Meiſterhaft komponiert,“ ſagte Baron von Re— 
magen-Beaumenu, der ſtadtbekannte Feinſpeiſer, „denken 
Sie nur, lieber Rauenberg, vorige Woche bei dem Diner 
auf der ruſſiſchen Botſchaft gab es in dem Menu zwei 
braune Braten, . .. in einem und demſelben Menu! 
Sollte man das für möglich halten?“ 

Alles verurteilte einſtimmig dieſen unerhörten 
diplomatiſchen Mißgriff, aber Donna Clemencia fuhr 
mit einem lauten „Caramba!“ durch dieſe ganze zweck— 
loſe Kritikaſterei, ſchob den Sherry von ſich und ver— 
langte einen rohen Eidotter. Der Lakai hinter ihr zog 
die Augenbrauen hoch, eilte aber hinaus und brachte 
das gewünſchte Unding. Sie winkte Herrn von Pappe, 
und dieſer ſchenkte ihr aus der für ſie allein beſtimmten 


— 40 — 


Karaffe das Sherryglas voll Cognac Martell 1850, 
ſie ließ den Eidotter in die goldbraune Eſſenz gleiten, 
bog das ragende Haupt zurück und leerte das grün 
und rot aufglitzernde Glas mit wunderſamer Grandezza. 
Man ſah ſie nicht ſchlucken, das Nonplusultra-Knickebein 
war in einer Sekunde da und nicht mehr da, nur 
über die Spitzen ihrer langen dunkeln Wimpern huſchte 
ein leichter Schauer des Vergnügens. 

„Bravo!“ riefen mehrere Herren und verſicherten, 
ſich die Kombination merken zu wollen. 

„Valgame Dios!“ (Gott ſteh mir bei!) rief die 
Generalin, „das iſt noch gar nichts. Wiſſen Sie, was 
gut iſt? Friſche Erdbeeren mit Cognac und Zucker, ... 
viel Zucker natürlich .. . und viel Cognac!“ 

„Das wollen wir ſpäter verſuchen, das muß in 
der That köſtlich ſein!“ rief es da und dort. 

„Bah!“ warf ſie hin, mit einer Art Mitleid ob 
der Unerfahrenheit dieſer Geſellſchaft, „es giebt etwas 
noch Beſſeres.“ 

„Hört!“ 

„Wiſſen Sie, womit der Cognac am aller-, aller⸗ 
beſten iſt?“ 

„Hört, hört!“ 

„Mit . .. Cognac!“ ſagte ſie halb flüſternd, 
mit der Feierlichkeit einer Prieſterin, welche das 


„„ 


große Geheimnis, das unausſprechliche Wort aus— 
ſpricht. 


Die Geſpräche wurden lebhafter und kreuzten ſich 
über dem Tiſchtuch nach allen Richtungen. Die Blumen 
der mächtigen Rokoko-Jardinière in der Mitte der Tafel 
ſchienen ſich ſcheu zu ducken vor den ſchweren und leichten, 
ſtumpfen und ſpitzen Worten, die über ſie hinſchwirrten. 
Bei der „selle de chevreuil rötie, sauce Cumber- 
land“ verſtand man ſein eigenes Wort nicht mehr. 
Wem es gelang, das Stimmengetöſe in ſeine Einzel— 
heiten aufzulöſen, hörte von den verſchiedenſten Perſonen 
gleichzeitig Dinge wie die folgenden vorbringen: 

Baron von Remagen-Beaumenu erklärte einerſeits 
Fräulein Lilla Bandt, wie man die Sauce Cumberland 
ganz richtig bereiten müſſe, während er ſich auf der 
anderen Seite in hinhaltendem Gefechte gegen die An— 
griffe des berühmten Kunſtmäcens und Leinwandhauſes 
Ritter von Dreyweber verteidigte, der die Überzeugung 
verfocht, die Sauce Colbert ſei denn doch die ſchmack— 
hafteſte unter allen warmen Saucen. Herr Dr. Juften— 
Lennox rief um den nämlichen Zeitpunkt mit Emphaſe 
aus: „Ich muß doch einmal eigens nach Groß-Schwechat 
gehen, denn wenn ſchon das Klein-Schwechater Bier 


„„ a 


jo gut iſt, wie gut muß erſt das Groß-Schwechater 
ſein!“ (Er hatte ſich nämlich ſoeben ein friſches Glas 
Schwechater zwiſchen verſchiedene Champagner einge— 
ſchaltet, um ſeine Zunge wieder zurechnungsfähig zu 
machen.) Dieſer kräftige Witz verhallte leider in dem 
Gelächter, das der immer galante Damenfreund und 
Privatier Meyer von Meyerheim entfeſſelte, als er, 
zwiſchen einer ſtrammen Brünette und einer behaglichen 
Blondine eingezwängt, ausrief: „Meine Damen, in 
dieſem Augenblicke möchte ich der zweiköpfige Adler 
ſein!“ — „Ach,“ lachte die Brünette, „vermutlich um 
aus zwei Schüſſeln zugleich eſſen zu können!“ — „Meine 
Ungnädige, welcher Einfall!“ ſträubte ſich der Meyer— 
heimer, „um Ihnen beiden gleichzeitig die Hand küſſen 
zu können.“ Während er dieſe ſchöne Geiſtesblume an 
zwei Buſen zugleich ſteckte, entſetzte ſein Gegenüber, 
Dr. Adolf Spurius, der gefeierte Pamphletiſt, ſeine 
nächſte Umgebung mit finſteren Wahrſagungen über die 
Pläne Fraukreichs. „Frankreich, meine Herrſchaften,“ 
ſagte er, „kauft jetzt insgeheim ungeheure Mengen von 
Leim.“ — „Zu Kriegszwecken?“ ſtaunte die Nachbar— 
ſchaft. — „Jawohl, den Leim, aus dem ſeine Nachbar— 
ſtaaten gehen ſollen,“ ergänzte er und ſalvierte ſich, 
indem er ſeine ſchon wiederholt bewährte Spürnaſe in 
einem Glaſe Johannisberger vom Jahre 1847 vergrub, 


1 


der ſelbſt in den Kellern des Fürſten Metternich nicht 
mehr vorkommt. Dieſer kühne Scherz kreuzte ſich knapp 
über der Sardiniere mit der ernſthaften Behauptung des 
Sanitätsrats Profeſſor Dr. Au von Siechentroſt: „In 
Pyrawarth, liebes Fräulein (er ſprach zu Frl. Lilla), 
iſt ſchon der Boden ſo eiſenhaltig, daß man in der 
ganzen Gegend die Pferde gar nicht zu beſchlagen 
braucht.“ Fräulein Lilla Bandt, deren Köpfchen auf 
Scherze nicht eingerichtet war, verſtand ihn zwar nicht, 
aber ſie lachte doch, weil ihre Zähne vorzüglich gemacht 
waren. Unentſchieden blieb es, wer unter den Anweſen— 
den in dieſem Augenblicke die rührende Klage ausge— 
ſtoßen hatte, er laufe ſchon ſeit 13 Jahren zwei Diners 
nach, die er einſt verſchlafen, und könne ſie nicht ein— 
holen. Dagegen iſt es ſicher, daß es Frau Meyer von 
Meyerheim war, die das niedliche Geſtändnis machte, 
ſie habe in ihrer Naivetät als ganz junge Mutter die 
eben gemietete Amme wieder verabſchieden wollen, weil 
fie dahinter kam, daß dieſe ſchon . . . ein Kind habe. 
Hier hörte man ſogar ein „Unglaublich“ ausſtoßen, 
welches ziemlich allgemein unſerem Fräulein Lilla zu— 
geſchrieben wurde. 

Hundert anderes aber, was noch ſo hin und her 
ſchwirrte, blieb dem Horchenden verworrenes Geräuſch. 
Glücklicherweiſe brachten die Kiebitzeier, bei denen die 


U N 


Generalin noch immer hielt, ein beruhigendes Inter⸗ 
mezzo. Sie aß nämlich kein Fleiſch, woraufhin Herr 
Profeſſor Dr. Au von Siechentroſt aus feinerreichen Praxis 
ſogleich einen Irrſinnigen hervorholte, der auch kein 
Fleiſch gegeſſen habe, aus Furcht, es könnte das Fleiſch 
eines Engels ſein. Die Generalin aß aber auch die 
Kiebitzeier in ganz beſonderem Stile. Abgeſehen davon, 
daß ſie den linken Arm bloß, den rechten aber im 
langen ſchwarzen Handſchuh trug, ſo daß es ausſah, 
als äßen ein Mohr und ein Weißer aus der nämlichen 
Schüſſel, behandelte ſie die Eier des Kiebitzvogels in 
gar zierlicher Weiſe. Sie ſtellte das geſchälte Ei auf— 
recht in die Höhle der linken Hand und gab ihm dann 
mit der rechten einen kräftigen Schlag auf die Spitze. 
Dadurch ſank die obere Hälfte ein und bildete dann 
eine ſeichte Grube, aus der eine weiße Kuppe aufragte. 
Dieſe Kuppe trug ſie nun mit dem Meſſer ſäuberlich 
ab, . . . fie jet dickes Eiweiß, alſo ſchwer zu verdauen, 
ſagte ſie, und verſpeiſte nun das Übrige ohne Furcht. 
Dieſe zierliche Operation erregte allgemeines Entzücken. 
Ein großes Geſchrei nach Kiebitzeiern erhob ſich, Eil— 
boten rannten nach der Küche und der Koch ſchickte 
ſchleunigſt alles, was er noch von dem Artikel hatte, 
herein. Und nun kam alles zu Donna Clemencia 
gepilgert, ein Ei in der Hand, und jedem Ei mußte 


„ 


ſie mit ihrer ſchwarzen Sphinxtatze den Meiſterklaps 
auf den Scheitel verſetzen und dann mit dem zarten 
Meſſerchen den ſicheren Schnitt führen. 

Aber kaum waren die Kiebitzeier abgethan, ſo ging 
der Zungenſturm wieder an, ſchlimmer als vorher. 
Niemand bemerkte, welchen zarten Liebesdienſt Donna 
Clemencia dem Vicomte Roger de Bronze leiſtete, als 
er nach den Laibacher Krebſen ſich die Fingerſpitzen in 
der dargereichten Handſchale ſäuberte. Sie ſah ihm 
einen Augenblick mitleidig zu, dann fuhr ſie mit der 
Meſſerſpitze in das Salzfaß und ſtäubte ihm eine tüch— 
tige Ladung Salz auf die plätſchernden Finger. „Carisimo 
amigo,“ ſagte ſie, „das allein zerſtört den Krebsgeruch 
gänzlich.“ 

Mit einigem Neid ſah der einzige Herr von Pappe 
ſeinem Nebenbuhler, dem ſchönen Roger, dieſe Gunſt 
erweiſen und begann, um ſich Luft zu machen, dem 
Fräulein Lilla ſchräg über den Tiſch weg eine ſehr 
lange Geſchichte zu erzählen. Ich hörte nur, daß ein 
Elephant wiederholt darin auftauchte und allerlei Un— 
fug anrichtete, der nun leider nicht mehr gut zu machen 
war. So böſe Elephanten kommen ſonſt in unſerer 
Gegend gar nicht vor. Alle ſchändlichen Thaten des 
fremden Ungethüms alſo, in ihrer vollen Breitſpurig— 
keit, und was alles noch in den nächſten vierzehn 


Nu Ve 


Tagen oder drei Wochen darauf gefolgt ſei, berich— 
tete Herr von Pappe auf ſo beträchtliche Entfernung 
hin dem Fräulein Lilla Bandt; dieſe aber hörte gar 
nicht zu und lachte noch weniger, denn es war gerade 
nicht der günſtigſte Zeitpunkt, ihr Gebiß zu zeigen, da 
der Sanitätsrat ſoeben von einem Zerſtreuten erzählte, 
der eines Morgens bei der Toilette ſich die Perücke 
in den Mund geſtopft und ſein falſches Gebiß auf den 
Kopf geſtülpt habe. Glücklicherweiſe war der eben ent— 
brannte Streit um die beſten Champagnermarken viel 
zu heftig, als daß man ſolche Allotrien aufmerkſam an— 
gehört hätte, und auch der arithmetiſche Nachweis des 
Herrn Dr. Spurius, wie viele Stockwerke ein ſiebenzig— 
jähriger Wiener in ſeinem Leben erſtiegen habe und 
wie leicht er mittelſt all dieſer Stufen in den Mond 
hätte emporſteigen können (deſſen Erdnähe voraus— 
geſetzt), ging ungewürdigt vorüber, wie nicht minder die 
Schilderung, welche der gefeierte römiſche Maler Signore 
Fiorino Fiorini in ſeinem halbitalieniſchen Deutſch von 
der Herrlichkeit des Papſtes entwarf, wenn er „um— 
geben von ſechzig fidelen Kardinälen“ („fedeli“ meinte 
er) dem Volke den Segen erteile. 

Der Jaqueſſon, signature rose, fand allgemeinen 
Beifall und man erklärte ihn für den dermaligen König 
der Champagne. Kraft und Milde, behauptete Dr. Juften⸗ 


a 


Lennox, feien in ihm gepaart, wie in Alexander dem 
Großen, er ſei beſonnen und feurig wie Raphael Sanzio. 

„Qué, qué!“ widerſprach Donna Clemencia und 
wies auf eine Flaſche, die ihr allein gehörte; „alles 
Zuckerwaſſer, dieſer iſt der einzige wirkliche Champagner, 
Billecart Salmon, . .. sec, sec, fo see als möglich, 
extra dry! Koſten Sie, querido amigo!“ Und fie 
ſchob Herrn von Pappe ihr eigenes Glas hin, denn ſie 
hatte ſeine Verſtimmung wohl bemerkt und wollte ihn 
verſöhnen. „Und zwanzig Tropfen Martell 1850 hinein 
. . . jo, jetzt trinken Sie . . . Ganz austrinken, ganz 
aus, den wenn man zu dem Reſt neuen gießt, kriegt 
man fluxion, Rheuma, . .. wie mein geliebter Gatte, 
que Dios tiene (der bei Gott iſt), ... er hat auch 
das reuma bekommen, nur davon.“ 

„Iſt er daran geſtorben?“ fragte Fräulein Lilla 
Bandt herüber, in ſo hellem Sopran, daß er zu einer 
ſo düſteren Frage gar nicht paßte. 

Donna Clemencia richtete ſich ſtolz auf, ſo daß 
ſie ſelbſt ſitzend groß ausſah, und ſchoß um die eine 
Ecke der Sardiniere einen finſteren Blick nach der vor— 
lauten Fragerin. 

„Vive Dios,“ ſagte ſie feierlich mit dumpfer 
Stimme, „der General Don Joſé Pardo y Ponce, 
Präſident der Republik Colorado, iſt an neun Kugeln 


4 


geſtorben, als guerrero valiente (tapferer Krieger), 
und hat vergoſſen ſein sangre de heroe (Heldenblut) 
zu San Criſtobal, beſiegt durch Verrat, gefangen durch 
Verrat, verurteilt durch Verräter. Die Geſchichte hat 
den Namen Antonio Ardeaga verflucht wegen dieſes 
Meuchelmordes, den Namen des Märtyrers aber wird 
Colorado ſegnen. Es war am 9. febrero 1879, um 
5 Uhr Morgens, als man ihn an die Mauer ſtellte. 
Ich hatte mir von Ardeaga die Gunſt erbeten, ihm die 
Augen verbinden zu dürfen. Aber er ließ ſie ſich nicht 
verbinden ... und das war mein Unglück. Ich . .. 
Demonio! (Teufel !)) .. 

Sie unterbrach ſich plötzlich, ihre Haltung ſank zu— 
ſammen und ſie ſuchte krampfhaft nach ihrer Taſche, 
welche ſie in den weitläufigen Bauſchen ihres Kleides 
nicht fand. 

„Sie ſind unwohl, Madame,“ rief der Vicomte 
beſorgt, und Herr von Pappe bückte ſich, um die Taſche 
des ſchwarzen Meeres zu ſuchen. Er war ſo glücklich, 
ſie zu finden, und griff hinein. 

„Das Fläſchchen,“ hauchte die Generalin, toten— 
gelb, und riß es ihm aus der Hand. 

Sie goß ſich die waſſerhelle Flüſſigkeit auf die 
Hand und rieb ſich damit Schläfen und Stirn. Dann 
lehnte ſie ſich einen Augenblick ſtill zurück, mit ge— 


N 


ſchloſſenen Augen. Alles war mäuschenſtill, Rauenberg 
winkte ſogar der Muſik, welche eben das Lied begleitet hatte: 
„Ja das is was für'n Weaner, 
Fürs Weaneriſche G'müat“ .. 
Nun ſchwieg auch ſie. 

Nur der Sanitätsrat trat, auf den Fußſpitzen 
ſchleichend, an die Leidende heran und ergriff das Fläſchchen, 
das ſie auf den Stuhl geſtellt hatte. „Elettricità 
verde,“ las er auf der Etikette, „rimedi Mattei, Bo- 
logna.“ Er verzog höhniſch den Mund und ſtellte das 
Wunderelixir wieder hin. 

Da öffnete die Generalin die Augen. 

„Valgame Dios, yo era muerta“ (Gott ſteh 
mir bei, ich war tot), ſagte ſie, „aber dieſes Mittel 
hilft augenblicklich.“ 

„Grüne Elektricität, vom Apotheker Mattei in 
Bologna,“ ſagte der Sanitätsrat ſpöttiſch. „Natürlich, 
das weckt ja Tote auf.“ 

„Wie ſchade,“ flüſterte die Sängerin dem Haus— 
herrn zu, „ſie war im beſten Zuge.“ 

„Sie macht es immer fo,“ entgegnete er, ihr den 
Arm reichend. Man begab ſich in die Bibliothek, den 
Kaffee zu nehmen. 


Heveſi, Buch der Laune. 4 


en 


Ein Duft von „kuhwarmem“ Mokka, wie Herr 
Dr. Spurius ſich ausdrückte, von Martell 1850, 
Chocolat Boiſſier und egyptiſchen Cigarretten wogte 
durch die Thüren ab und zu. Um die Carrara-Venus 
von Pradier kräuſelte ſich blaues Gewölk, ſie ſchien darauf 
gen Himmel fahren zu wollen. Die kleine Bacchanten- 
ſcene auf der Staffelei nahm glühendere Fleiſchfarben 
an und wurde für ein Stündchen ein unbezweifelbarer 
Rubens. Die lange Wand voll goldſchimmernder Bücher— 
rücken erſchien durch den duftigen Silbernebel nur noch 
als vergoldete Silbertapete. In Schaukelſtühlen und 
auf zweiſitzigen S-Fauteuild, auf Gobelin-Tabourets 
und eingelegten alten X-Seſſeln und in altdeutſchen Arm— 
ſtühlen von geſchnittenem Brettleder ſaßen und lagen 
die Gäſte umher. Die Generalin hatte für ihre nacht— 
ſchwarze Toilette den richtigen Hintergrund gefunden 
und ſich auf ein von Julius Payer aus Spitzbergen mit— 
gebrachtes Eisbärenfell hingeſtreckt, das vor dem Divan 
lag. Vicomte Roger de Bronze und Herr von Pappe 
hatten ihr rechts und links zwei ſeidene Kiſſen mit 
Eiderdunen unter die Taille geſtopft, um ihr die Hin— 
gegoſſenheit bequemer zu machen. Wie ein ſchwarzes 
Pfauenrad ging ihr Fächer unabläſſig auf und zu, hin 
und her. In der ſechseckigen Niſche, deren fünf Panneaux 
Makart mit Coeur-⸗, Carreau:, Pique und Treffdame in 


8 


Lebensgröße geſchmückt hatte, zeigte Signore Fiorino 
Fiorini den Damen Kartenkünſte, welche dieſe nicht be— 
greifen wollten, und man hörte ihn im reinſten Tos⸗ 
kaniſch⸗Deutſch verſichern: „Errgott, das iſt ja ſehr 
heinfach, die heine Elfte nehmen Sie von hoben, die 
handere Elfte nehmen Sie von hunten;“ die Damen 
brachen darauf in helles Gelächter aus, für welches 
ſich der berühmte Volksſänger Kuchelbäcker, der, auf der 
Thürſchwelle ſtehend, ſoeben ſeine beſten Couplets vor— 
trug und die Heiterkeit auf ſeine eigene Leiſtung bezog, 
ſehr geſchmeichelt verneigte. Von den verſchiedenen 
ſchwatzenden Gruppen kamen, wie Altweiberſommer, 
leichte Scherzreden durch die Luft dahergeſchwommen, 
halbe Sätze, Wörter mit künſtlichen Schnörkeln, ... 
hier ein Seufzer: „Ja, wem ein anderer eine Grube 
gräbt, fällt ſelbſt hinein,“ . . . dort ein Kalauer über 
eine „wohlgedrehte Wahrheitsnaſe,“ .. . noch weiter— 
hin eine Bemerkung darüber, daß Herr von Dreyweber, 
auf deſſen Frack ſich gewiſſe ungewiſſe Flecke zeigten, 
einen „Bratenrock mit Sauce“ trage, . .. dann ſah 
rechts einer auf die Uhr und konnte nicht begreifen, 
warum man drei Viertel auf drei ſagen könne und 
nicht auch drei Drittel auf vier, ... worauf ihm 
ſein Gegenüber links ſogleich ein analoges Problem 
hinwarf, nämlich warum man nicht auch die Handſchuhe 


o 


abwechſelnd an beiden Händen tragen könne, wie er 
als Student die Schuhe abwechſelnd an beiden Füßen 
getragen. Der Herr Sanitätsrat fand einen Spaß nicht 
fein genug und brummte mit ſeiner bekannten Lizenz: 
„Spiritus asini,“ und als der Beleidigte ſtirnrunzelnd 
„Was?“ fragte, erläuterte er hurtig: „Spiritus anisi 
möchte ich, Aniſette;“ . . . Fräulein Lilla Bandt und 
Herr Meyer von Meyerheim ſtießen auf Du an, jene 
mit einem Löffel voll ſchwarzen Kaffees, dieſer mit 
einem halben Biskuit; ... der Hausherr verleitete 
mehrere rauchſcheue Damen, es mit nikotinfreien Zigarren 
zu verſuchen, welche die Firma Jacquemin Barena in 
Utrecht ausſchließlich für den König von Holland fabri— 
ziere, und als die eine derſelben das Zeug zu fade 
fand und nach einer ſtarken Cigarrette aus ſchwarzem 
Birginia-Tabaf griff, äußerte Herr Dr. Spurius: 
„Ja, wer A ſagt, muß auch weiches B ſſagen“ . .. 
und Dr. Juften⸗Lennox bot der Dame die erſte Cigarre 
der neuen Regie-Sorte „Desperados“ an, welche der 
Finanzminiſter geſtern als beſondere Primeur dem Mi— 
niſter des Äußeren, dieſer aber in gewohnter Vorſicht 
geſtern dem Miniſterialrat von Leiſetritt, den er offen— 
bar nicht mochte, verehrt hatte, welcher jedoch gewitzigt 
genug war, ſie heute in der Akademieſitzung dem 
Herrn Mitglied Dr. Juften-Lennox weiterzuverehren, 


5 


der ja an ſtarken Tabak gewöhnt fein dürfte... Was 
den Signore Fiorino Fiorini betrifft, verlangte er nach 
„ruſchißem Thee,“ was ihm Frau von Meyerheim 
dringend in „ruſſiſchen“ verbeſſerte, worauf jener etwas 
gereizt erwiderte: „Sie wiſſen ja, gnädige Frau, ich kann 
das ſch nicht ausſprechen,“ worauf dieſe wieder nachwies, 
daß er ja thatſächlich ein ſchausgeſprochen habe, nur ſeiner 
Gewohnheit gemäß am unrechten Orte, worauf jener 
rundweg erklärte, jetzt verſtehe er ſie ſchon gar nicht . .. 

Und das alles durcheinander, kreuz und quer, in 
einem allgemeinen Summſumm und Brummbrumm, 
als plötzlich unter den Klängen des berühmten Kakophon— 
Virtuoſen John Bubble aus dem Orpheum, der ſich 
ſoeben im Billardzimmer hören ließ, eine erſtaunliche 
Geſtalt unter die Geſellſchaft trat. Eine Art marok— 
kaniſcher Indier aus Algeriſch⸗Syrien, mit einem gewal— 
tigen, agraffenblitzenden, reiherbuſchnickenden Mufjelin- 
turban, einem weltumſegelnden Gürtel voll koſtbarer 
Yatagans und Piſtolen, und einem Schlafrock aus gold— 
geſtreiftem Kaſchmir. Man hatte Mühe, in dieſem 
Orientalen den Leinen⸗Mäcen Ritter von Dreyweber zu 
erkennen, den der Hausherr mit Rückſicht auf die oben 
erwähnten Flecke nach ſeinem etwas kühnen Ausdruck 
dergeſtalt „veröſtlifiziert“ hatte. Dieſes glänzende Bei— 
ſpiel wirkte wie eine Epidemie. Augenblicklich wollte 


Zu una 


alles ſich ähnlich verkleiden, und die reiche Sammlung 
orientaliſcher Koſtüme, welche Herr von Rauenberg an- 
gelegt hatte, wurde weidlich geplündert. Der Hausherr 
war unerſchöpflich in maleriſchen Zuſammenſtellungen, 
überall legte er ſelbſt Hand an, er umſchlang die Damen 
mit den feinſten Shawls, daß ſie ausſahen wie Huris, 
mit Regenbogen umgürtet, er ſchmückte ihre Arme mit 
Goldmünzenſchnüren, er ſteckte ihre Füßchen in gold— 
geſtickte Babuſchen und beſprengte ſie mit Roſeneſſenz. 
Er ſelbſt trug den weißen Burnus und das kaffee— 
braune, gelb geſtreifte Gewand eines algeriſchen Scheikhs. 
Den Sanitätsrat ſteckte er in ein mit Goldtreſſen kreuz 
und quer überſponnenes und durchwirktes griechiſches 
Klephtengewand, deſſen ſchneeweiße Fuſtanella ihm drollig 
um die etwas dünnen Beine baumelte, während ſeine 
große Butzenſcheibenbrille, wie wir ſie wegen ihrer 
runden Gläſer nannten, immer erſtaunt nach dem roten 
Fez emporzuſchielen ſchien. Herr Meyer von Meyerheim 
ſtellte mit geſchwärztem Geſicht einen Kislar Aga dar, 
hatte aber keine Idee, was das für ein Tier ſei, und 
begriff von dem ganzen Koſtüm nur den Tſchibuk, an 
deſſen Bernſteinſpitze er unverdroſſen ſog. Signore 
Fiorino Fiorini ritt als indiſcher Rajah auf einem eben- 
hölzernen, mit Perlmutter ausgelegten Stecken, der als 
Elephant zu gelten hatte, und Herr Dr. Spurius als 


5 


Beduine feuerte unabläſſig eine lange, echte, glücklicher— 
weiſe aber nicht geladene Flinte ab, an der er nur 
auszuſetzen hatte, daß er aus Mangel an Kenntniſſen 
in dieſen techniſchen Künſten nicht ſicher angeben konnte, 
ob die Arbeit dieſes Schießgewehres eine aus- oder 
eingelegte ſei. Höchſt bedeutend ſah Herr Dr. Juften— 
Lennox aus, deſſen kugelrundes Ich in ein hemd— 
artiges perſiſches Silberbrokatgewand mit reichem Pelz— 
beſatz eingekapſelt war; auch die hohe Lammfellmütze 
fehlte nicht, und es war ihm in dieſem Koſtüme, wie 
er ſagte, ſo original-heiß, als befinde er ſich in Perſien 
ſelbſt, mitten im dortigen Hochſommer. Jedenfalls 
hatte er dabei mehr Perlen am Leibe als Harun-al- 
Raſchid, aber die ſeinigen waren nur tropfbar-flüſſig 
und er mußte ſich der Mühe unterziehen, ſie ſelbſt zu 
vergießen. Für Donna Clemencia hatte Rauenberg aus 
einem Karton ein funkelnagelneues lesghiſches Braut— 
gewand zu Tage gefördert, ganz aus ſchneeweißem 
Mouſſelin mit Spitzen und zarteſter Goldſtickerei, aber 
ſie zog es nicht an, denn ſie hätte dazu erſt ihren 
ſchwarzen Abendſtaat von ſich thun müſſen. 
Selbſtverſtändlich ſaß kein Menſch mehr auf einem 
Seſſel, alles lagerte auf den Teppichen und Fellen um— 
her, Tſchibuk und Beduinenflinte kreuzten ſich, man ſah 
nichts als untergeſchlagene Beine, und war ein Orts— 


wechſel nötig, jo mußte er wohl oder übel auf allen 
Vieren vor ſich gehen. Ein tragi⸗komiſches Intermezzo 
ereignete ſich, als Herr Dr. Juften-Lennox ſich neben 
den bekannten Dichter, Herrn Leander Graſel hinwälzte, 
der ſchon zwei Dutzend Romane „frei nach dem Eng— 
liſchen“ erfunden hatte. Dies führte zu folgendem 
fatalen Zwiegeſpräch: „Nun, lieber Herr Graſel, von 
wem iſt denn Ihr neuer Roman?“ ... Das war 
Tuſch. Der böſe Stich ließ den Geſtochenen vor 
Schmerz verſtummen, aber ſeine Umgebung machte 
ſeine Sache zu der ihrigen und rief einſtimmig: „Ge— 
nugthuung!“ Vergebens verſicherte Herr Leander Graſel, 
ein durchaus friedfertiger Mann, das ſei nicht der 
Mühe wert, er fühle ſich keineswegs getroffen, die Ge— 
ſellſchaft rief nur um ſo lauter: „Genugthuung! Blut! 
Er muß Ihnen vor die Klinge!“ Auch der Beleidiger 
war jedoch nicht in der Laune, ſich zu ſchlagen oder 
gar ſchlagen zu laſſen, und wollte ſich vielmehr ganz 
ſachte drücken, aber ſtarke Arme ergriffen ihn, und 
ehe beide es hindern konnten, ſtanden ſie mitten im 
Gemach einander gegenüber, der Vicomte Roger de 
Bronze und Herr von Pappe neben ihnen, der jetzt ins 
Türkiſche überſetzte Sanitätsrat aber als ärztlicher Bei— 
ſtand ſaß etwas abſeits und hatte ſchon ſein chirurgiſches 
Beſteck vor ſich und kramte blutgierig unter den krummen 


Nadeln darin. „Los! Los!“ ſchrie alles, die Damen 
am lauteſten. Die Situation war aufs höchſte ge— 
ſpannt. Da plötzlich ermannte ſich Dr. Hans Juften— 
Lennox und ſchwang ſeinen halbkreisförmigen Türkenſäbel 
ſoweit er konnte über ſeine Schulter zurück, — daß es 
ausſah, als wollte er ſeinen Gegner mit einem einzigen 
Hiebe bis auf den Sattelknopf ſpalten. Allen ſtockte 
der Atem, einer ſolchen Berſerkerwut hatten ſie ſich 
gerade von dem Herrn Doktor bei ſeiner nach allen 
Richtungen ſo ſehr abgerundeten Perſönlichkeit am wenig— 
ſten verſehen. Aber dieſer ſpaltete ſeinen Gegner nicht. 
Im Gegenteil ſtieß er ſelbſt einen durchdringenden 
Schmerzensſchrei aus, ließ den Säbel fallen und griff 
mit der Hand nach einer entlegenen Stelle ſeiner dem 
Weltgetriebe abgewendeten Seite. „Ich bin verwundet! 
Ich bin verwundet!“ ſchrie er und hüpfte mit gar 
ſauren Mienen auf einem Beine umher, ohne die Hand 
von der verletzten Stelle zu nehmen. Der Sanitätsrat 
begriff zwar die Sache nicht, ließ aber den Verwun— 
deten doch in ein einſames Kämmerchen ſchaffen, wo 
er gewiſſenhaft that, was ſeines Amtes war. Ein uner— 
hörter Fall! Herr Leander Graſel hatte nicht einmal 
ſein Schwert gezückt, und dennoch war Herr Dr. Juften⸗ 
Lennox thatſächlich verwundet. Als nämlich dieſer Tapfere 
mit ſeinem krummen Türkenſäbel gar ſo heftig ausge— 


als nee 


holt, hatte er mit deſſen Spitze hinten ſich ſelbſt ge— 
ſtochen, gerade unter dem Rücken ... „Nein,“ ſagte 
der Sanitätsrat, als er ihm das Pflaſter aufklebte, „eine 
ſolche Selbſtverwundung iſt mir in meiner ganzen Praxis, 
die Menſur mit eingerechnet, noch nicht vorgekommen.“ 
Draußen aber, in der Bibliothek, wurde unterdeſſen 
der Sieger in einem der blutigſten Duelle dieſes Jahres 
mit Glückwünſchen überhäuft und durch gemeinſamen 
Beſchluß gezwungen, zu geſtehen, daß dies der ſtolzeſte 
Tag ſeines Lebens ſei. Sein großartiger Triumphzug 
um das Billard herum beſchloß dieſe denkwürdige Epiſode. 


* * 
* 


Immer toller wurde die Stimmung. Im Neben— 
zimmer begannen Zigeuner zu geigen und die Hämmer 
des Cymbals tanzten ihren raſenden Csardas dazu. 
Die Damen hatten aus einem Dutzend großer Bon— 
bonnièren die zur Ausfüllung dienenden weißen Seiden— 
papierſtreifen, Handvoll um Handvoll, herausgegriffen 
und warfen ſich nun mit dieſen Stegreif-Schneebällen. 
Bald war die Schlacht allgemein, und die Herren 
konnten ihr am wenigſten fern bleiben. Die weißen 
Knäuel flogen kreuz und quer, ſie zerbarſten an den 
Friſuren und ſpießten ſich an den Schnurrbärten, die 
Papierſchnitzel wirbelten wie Schneeflocken in der Luft 
umher, bedeckten Teppiche und Divans, wurden wieder 


emporgerafft, zuſammengeknäuelt und in das nächſte 
lachende Geſicht geworfen. Das war wie eine Schar 
luſtiger Schuljungen im Winter, nach einem tüchtigen 
Schneefall. Der Schauplatz dieſes Gefechtes ſah aber 
auch danach aus. Es war Zeit, hier Frieden zu ſtiften. 
Rauenberg hatte ein gutes Mittel dazu. Er komman— 
dierte einen bereitgehaltenen Trompeter auf die Thür- 
ſchwelle und der blies aus voller Bruſt den Zapfenſtreich 
in den Saal hinein. Nichts bringt eine tolle Geſell— 
ſchaft ſo raſch zur Beſinnung. Lachend hielt ſich alles 
die Ohren zu und Donna Clemencia . .. erwachte plötzlich. 

Sie hatte nämlich all dieſe geräuſchvollen Scenen 
verſchlafen. . . Martell 1850! 

Darum alſo war es ſo toll hergegangen: der 
„Schlagſchatten“ hatte geſchlafen. 

„Meine Herrſchaften!“ rief Rauenberg, „auf, auf, 
zur Höllenbowle!“ 

Dieſes unheimliche Wort konnte nicht verfehlen, 
die allgemeine Aufmerkſamkeit zu erregen. „Zur Höllen— 
bowle?“ flüſterte man fragend rechts und links. Aber 
man ordnete ſich in doppeltem Gänſemarſch, den 
Trompeter vorauf, und marſchierte flott hinter dem Haus— 
herrn drein. 

Man gelangte in den orientaliſchen Salon zurück. 
Rauenberg hatte kürzlich den ſeltſamen Einfall gehabt, 


ar oo 


da dieſer Salon bereits unter dreifachen Teppichen 
erſtickte, auch an deſſen Plafond in der Mitte einen 
reizenden kleinen arabiſchen Teppich auszuſpannen, von 
deſſen vier Ecken vier perſiſche Bronze-Ampeln von 
feinſter Ciſelierung herabhingen. Jede Ampel trug in 
ihrem Schnabel ein ganz feines Flammenzünglein; das 
Gas mußte da mit Naphtaflämmchen brennen, welche 
nur Zwielicht verbreiteten. 

Unter dieſem Zeltdach ſtand ein ſchwarzer Tiſch 
und auf dieſem eine gewaltige engliſche Bowle mit 
tauſend geſchliffenen Kriſtallflächen. Sie enthielt eine 
Flüſſigkeit, die alle Farben ſpielte, als wären Topaſe 
und Rubinen in ihr aufgelöſt. Ein geiſtvoller Duft 
ging von ihr aus und löſte alle Zungen zu einem „Ah“, 
der Hausherr gebot jedoch unverbrüchliches Schweigen 
und ſtumm nahmen die Gäſte ihre Plätze um den Tiſch 
ein. Nur die Generalin murmelte: „Valgame Dios“ 
und leerte, ohne zu fragen, geſchwind noch eine Flaſche 
Cognac in den blitzenden Kübel. Ein Wink des Haus— 
herrn und alle Thüren ſchloſſen ſich. Noch ein Wink 
und die vier Gasflämmchen erloſchen. Schwarze Finſter— 
nis umhüllte die Geſellſchaft, bis plötzlich in deren 
Mitte eine feurige Lohe emporzüngelte, aus blauen und 
gelben Flammen gemiſcht, deren unſtäter Widerſchein 
die Köpfe ringsum geiſterhaft phosphoreszieren ließ. 


ee 


Im zuckenden Lichte ſchienen auch alle dieſe Geſichter 
ſchmerzlich zu zucken, als hätten ſich hier lauter Ver⸗ 
dammte zu einem tröſtenden Pünſchlein verſammelt. 
Und die Statuen in den Ecken wurden lebendig und 
rührten eherne Arme, als langten auch ſie nach einem 
Labetrunk; die marmorne Badende von Carrier-Belleuſe 
ſchien ſich immer von ihrem Seſſel zu erheben und ſich 
gleich wieder hinzuſetzen, als ſei ſie noch unſchlüſſig, ob 
ſie auch an den Tiſch treten ſolle; und auf dem Kamin 
der Baryeſche Bronzelöwe, deſſen Original im Tuilerien— 
garten ſteht, fuchtelte mit dem gewaltigen Schweife 
aufgeregt in der Luft umher, er oder ſein Schatten an 
der Wand, im flackernden Feuerſchein. Eine ſeltſam 
verworrene Muſik begleitete das Schauſpiel, es wurde 
nämlich hinter den geſchloſſenen Thüren gleichzeitig 
im Kabinett rechts Wagners Feuerzauber und im 
Boudoir links Meyerbeers Höllenballett aus Robert 
geſpielt, was ſich zu einer ganz ſchaurigen Diskordanz 
vereinigte. 

„Por amor de Dios! (um Gotteswillen),“ rief 
Donna Clemencia, „das iſt ja wie in der Hölle. Ich 
habe Angſt.“ Und da ihr zufällig eine Flaſche in die 
Hand geriet, goß ſie immerhin auch deren Inhalt, ohne 
ihn zu kennen, in die Flammen, welche nur um ſo 
fürchterlicher emporſchlugen. 


Design 2 


Ein gellender Schlag auf ein Tamtam. Die Thüre 
ſprang auf | 

„El Demonio!“ ſchrie die Generalin entſetzt, 
denn ſie glaubte, nun erſcheine der Teufel, um mitzu— 
trinken. Aber es war nur der Kammerdiener, der das 
Gas wieder entzündete und die Greuel der Hölle bannte. 
Bald war der Punſch fertig und dampfte in den bauchigen 
Gläſern, welche um die Wette leer und wieder voll wur— 
den. Die Verdammten gebärdeten ſich immer luſtiger. 

„Caramba! wir haben noch den ganzen Abend 
nicht geſpielt!“ rief die Generalin, deren Augen brannten. 
„Sind keine Würfel da?“ 

„Würfel?“ wiederholte der Hausherr, „warum 
gerade Würfel? In Wien ſpielt man das nicht.“ 

„Das einzige Spiel, Würfel!“ rief die Sennora. 
„Alles andere iſt nichts. Alſo keine Würfel da? ... 
Halt! Geben Sie mir Tinte und Feder!“ 

Man brachte ihr das Verlangte. 

„Man muß ſich zu helfen wiſſen,“ ſagte ſie und 
griff mit ihren langen gelben Fingern in die Zucker— 
doſe, welche Würfelzucker enthielt. Sie ſuchte zwei 
ganz genaue Würfel heraus und begann mit Tinte die 
Punkte auf deren Flächen zu malen. Erſtaunt ſah 
man ihr zu und fand den Einfall äußerſt praktiſch. 
Als ſie aber fertig war, ſagte ſie feierlich: „Vicomte!“ 


und winkte den Vicomte Roger de Bronze an ihre 
linke Seite, und dann eben ſo feierlich: „Monſieur!“ 
und Herr von Pappe mußte ſich an ihre rechte Seite 
ſtellen. Dann ſagte ſie jedem von ihnen etwas ins 
Ohr und rief: „Einen Becher!“ ... da aber kein 
Würfelbecher vorhanden war, ſtürzte ſie raſch den In— 
halt ihres Glaſes hinab und warf die beiden Würfel 
in das leere Glas. Sie ſchüttelte es und warf die 
Würfel vor Herrn von Pappe hin. „Oh pobrecito 
(o Armſter)!“ rief ſie, „eins und drei; das iſt ſchlimm 
für Sie.“ Dann warf ſie für den Vicomte und rief: 
„Por Dios! Sechs und vier. Sie haben gewonnen.“ 
Und ſie reichte ihm majeſtätiſch die Hand, die der 
Vicomte inbrünſtig küßte. 

„Um was wurde denn gewürfelt?“ fragte Frau 
Meyer von Meyerheim, welche der Fall nicht wenig zu 
intereſſieren ſchien. 

„Quien sabe? (wer weiß?) Vielleicht um ... 
alles,“ ſagte Donna Clemencia mit Pathos. 

„Ich darf mit Ihnen nur wetten, Madame,“ warf 
Herr von Pappe etwas gereizt hin, „im Wetten ge— 
winne ich, im Spiel verliere ich ... Apropos, da 
fällt mir eben ein 

Er trat zu dem großen Königstiger hin und griff 
in deſſen Maul unter die blutrote Zunge. „Ah,“ rief 


. 


er, „ich hatte dahier eine Banknote eingeſetzt ... und 
fie iſt nicht mehr da ... Sollte der Tiger fie ver⸗ 
ſchlungen haben, oder .. .“ 

„Sie muß da ſein,“ unterbrach ihn der Haus— 
herr, der ganz gut wußte, wer die Zehnernote genommen. 
„Ich will einmal ſelbſt nachſehen . . . Aber da iſt fie 
ja, ganz unverſehrt.“ Und er holte eine Zehnernote, 
die er erſt geſchickt hineingezaubert, aus dem Tigermaul. 
„Hier, mein Freund, nehmen Sie Ihr Eigentum wieder.“ 

„Sein Eigentum?“ rief jedoch die Generalin 
hitzig. „Nein! mir gehört ſie! Es waren alſo zwei 
Noten drin und ich habe nur eine genommen!“ 

„Sie, Madame?“ entgegnete Herr von Pappe, 
der vor Eiferſucht, oder Punſch, oder beidem ſchwierig 
wurde. „Eine fremde Banknote? ei ... ei!“ 

Der Hausherr ergriff ſeinen Arm und wollte 
ihn hinausführen, aber der Unglückſelige wiederholte 
immerfort: „Ei. ei!“ und zwar in immer be⸗ 
denklicherer Betonung. 

„Ei, ei?“ fuhr die Generalin auf, „was heißt 
das? Habe ich die Wette gewonnen oder nicht? Muerte 
de Dios! (Gottes Tod!) ich habe gewonnen. Sind 
fünfzig Tropfen aus der Flaſche gekommen? Nein, 
nein, nein! Alſo habe ich gewonnen.“ 

„Die fünfzig Tropfen wären aber gekommen,“ 


BE 


entgegnete Herr von Pappe mit lederner Zähigkeit, 
wenn man uns nicht im entſcheidenden Augenblick zu 
Tiſche gerufen hätte.“ 

„Quien sabe?“ entgegnete die Sennora purpur- 
rot, „ſiebenundvierzig Tropfen ſind gekommen, auf 
fünfzig haben wir gewettet! Meine Herrſchaften, ich 
frage Sie alle, iſt das wahr oder nicht?“ 

r a könte es da und dort. 

„Aber . ..“ begann Herr Dr. Spurius. 

„Sangre de Dios! was: aber?“ fuhr die Gene— 
ralin in hellem Grimm auf ihn los. „Thatſache iſt 
Thatſache, ich will nicht jugar del vocablo (mit dem 
Worte ſpielen). Das Wort iſt ſo gegeben worden und 
ſo genommen. Basta de esta cosa! (Genug davon.)“ 

„Jedenfalls,“ meinte der zähe Herr von Pappe, 
„iſt das eine etwas wunderliche Auffaſſung des 
Wortlauts.“ 

„Das will mir auch ſcheinen,“ ſagte Herr Dr. 
Spurius. | 

„Die Wette war nach meiner Anſicht nicht ent— 
ſchieden,“ rief Dr. Juften⸗Lennox, die Hand auf dem 
Schwertgriff, wie um dieſe Anſicht mit ſeinem bereits 
bewieſenen Heldenmut zu verteidigen. 

„Das iſt eine Rechtsverdrehung,“ fuhr Herr von 


Pappe fort. „Iſt das etwa das Recht von Colorado?“ 
Heveſi, Buch der Laune. 5 


ee 


„Ja, ja, und tauſendmal ja!“ rief die Generalin 
außer ſich! „Allerdings! EI derecho de Colorado! 
Das Wort gilt! Nichts als das Wort! ... Oh, 
Senores, wenn auch noch etwas anderes gelten würde 
als das Wort, mit jeder Silbe und jedem Buchſtaben .. .! 
Sangre de Dios, ich ſtünde jetzt nicht da und würde 
behandelt wie eine ladrona!“ Sie ſtürzte ein Glas des 
heißen Trankes hinab, wie um ſich die Zunge zu löſen, 
und ſtand hoch aufgerichtet hinter dem Hexenkeſſel, das 
halbgelöſte ſchwarze Haar, in dem noch weiße Papier- 
ſchnitzel hafteten, flog in ſchweren Maſſen um ihre 
Schultern, in ihren Augen brannte die vereinte Glut 
von Martell 1850 und der Höllenbowle. Beide Fäuſte 
auf den Tiſch geſtemmt, das krampfhaft zuckende Antlitz 
über die Bowle vorgeneigt, daß es von ihrem Dampfe 
umbrodelt war, entlud ſie ihre ganze Leidenſchaft mit 
einem Schwall von ſpaniſchen und deutſchen Worten: 

„Ja, meine Herren, das Wort allein iſt ent- 
ſcheidend. La palabra, das Wort! Das Wort war 
es auch, das mich tötete an jenem blutigen Tage des 
8. febrero 1879, um fünf Uhr morgens, zu San 
Criſtobal, als Don Joſé Pardo y Ponce ſtarb, der 
Held von Pichincha, Aguasfrias und San Juan del 
Norte. Ich wollte mit ihm ſterben, Ardeaga jedoch 
hatte mir nur geſtattet, ihm die Augen zu verbinden 


a 


mit meinem eigenen Taſchentuch. Aber er nahm es 
nicht an, der Held, ſondern ließ Ardeaga ſagen, er wolle 
ſeinen Musketen bis ans Ende in die Läufe ſehen und 
ſelbſt Feuer kommandieren ... Madre de Dios, hätte 
er ſich doch die Augen von mir verbinden laſſen! Alles 
wäre dann anders gekommen, Alles! . . .“ Sie ſchwieg 
eine Weile und fuhr dann mit gedämpfter Stimme 
ebenſo raſch fort: „Er ſtand aufrecht an der Mauer, 
welche er um den ganzen Kopf überragte. Er war 
ruhig wie ein Held und lächelte. „Hasta la vista!“ 
(Auf Wiederſehen !) rief er mir zu, dann trat das 
Peloton an und mit lauter Stimme kommandierte er: 
„Fuego!“ (Feuer.) Ich hörte noch das Wort, aber 
nicht mehr die Schüſſe; ich ſank bewußtlos zuſammen ... 
Tags darauf reiſte ich nach Port Guzman und ging in 
das Bureau der Compania general de seguros (All⸗ 
gemeine Verſicherungsgeſellſchaft), bei der mein Held 
und Gatte ſein Leben auf 100,000 Peſos zu meinen 
Gunſten verſichert hatte. Ich nannte dem Direktor 
meinen Namen, er drückte mir in wohlgeſetzten Worten 
ſein Mitgefühl aus. Ich reichte ihm die poliza, die 
ich während des ganzen Krieges in meinem Buſen ver— 
wahrt hatte, wegen der Unſicherheit; er nahm ſie und 
wandte ſie verlegen hin und her. Dann ſagte er kalt: 
„Entſchuldigen Sie, Sennora, aber die poliza iſt un⸗ 


Be 


gültig.“ Invalida, fagte er, nula! ... Ich erbleichte 
und konnte ihn nur fragend anſehen. Er fuhr fort: 
„Ihr beweinter Gatte iſt als Selbſtmörder geſtorben!“ 
Ich fuhr ihm ins Geſicht wie eine wilde Katze, aber 
er wich zwei Schritte zurück und ſagte ruhig: „Ihr 
Gatte hat mehrere Soldaten der Republik ausdrücklich 
und in ganz unabweislicher Form aufgefordert, ihn zu 
erſchießen, und ſie erſchoſſen ihn; das iſt qualifizierter 
Selbſtmord.“ — „Menſch!“ ſchrie ich außer mir, 
„Ardeaga hat ihn ja zum Tode verurteilt und erſchießen 
laſſen.“ — Kalt wie Eis entgegnete er: „Ihr unver— 
geßlicher Gatte, der Ruhm Colorados, ſtarb wie ein 
Held; er ſelbſt kommandierte Feuer und erſt auf ſein 
Kommando ſchoß das Peloton. Das iſt Selbſtmord, 
Sennora. Auch hat demgemäß der consejo de ad- 
ministracion (Verwaltungsrat) beſchloſſen, die Polizze 
im Sinne des S 67e der Statuten für nichtig zu er— 
klären und die Summe nicht auszubezahlen.“ 

Ein Gemurmel ging durch die ganze Geſellſchaft. 
„Unerhört! Unglaublich!“ hörte man da und dort 
ſagen. Der Vicomte Roger de Bronze küßte der Gene— 
ralin die rechte Hand, Herr von Pappe küßte ihr 
reuevoll die linke. 

„Ja, meine Herrſchaften,“ fuhr ſie ſtöhnend fort, 
„la palabra entſchied, das Wort! Die administracion 


erg, 


hielt ſich an den Buchſtaben des Wortes: mein Gatte 
hatte Feuer kommandiert und erſt daraufhin hatte man 
ihn erſchoſſen. Das galt als Selbſtmord ... Ich 
fiel in Ohnmacht .. . Als ich zu mir kam, eilte ich 
zu den Freunden meines Gatten; ſie übergaben die 
Sache dem erſten Advokaten unſerer Partei. Ein Jahr 
lang dauerte der Prozeß vor dem tribunal civil von 
Port Guzman; ich verlor den Prozeß. Wir appel— 
lierten an das tribunal superior de apelacion zu 
Manzanillos; zwei Jahre zog dieſes die Sache hin, 
dann wies es mich ab, auch bei ihm behielt der Buch— 
ſtabe recht und in der zehn Bogen ſtarken Urteils— 
begründung war es juriſtiſch, philoſophiſch und logiſch 
nachgewieſen, daß mein Mann durch ſeine unüberlegte 
Heldenthat ſich unter §S 67e jener Geſellſchaft geſtellt 
hatte. Noch einen Schritt that ich beim Juſtizminiſter; 
er konnte mir auch nicht helfen; übrigens iſt er Ardeagas 
Schwiegerſohn ... So, meine Herren, bin ich ge 
worden, was ich bin: eine Bettlerin! Ich bin ein 
Opfer des Wortes.“ 

„Schauderhaft! Welche Rechtszuſtände!“ rief Dr. 
Spurius. 

„Der Schlagſchatten . .. Ich hoffe, Sie ſind zu— 
frieden,“ raunte mir Rauenberg ins Ohr. 

„Und darum will auch ich auf dem Worte be— 


ſtehen, meine Herren,“ fuhr die Generalin fort. 
„Keinen Buchſtaben davon laſſ' ich mir nehmen. 
Wenn ich mit unſerer Wette unrecht habe, dann hätte 
ich auch in Manzanillos recht behalten müſſen! Da ich 
aber in Manzanillos unrecht behielt, muß ich wohl 
auch hier auf Grund des Buchſtabens recht haben!“ 

„Sie haben recht, Sennora!“ beteuerte Herr von 
Pappe tief erſchüttert und haſchte wiederholt nach 
ihrer Hand. 

Die ganze Geſellſchaft drängte ſich unter Zeichen 
der Teilnahme um die Generalin; die Damen küßten ihr 
die Wangen, die Herren die Hände. Sie netzte ſich wieder 
die Stirne mit ihrer „grünen Elektrizität“ aus Bologna 
und lag jetzt wie gelähmt auf dem Königstiger, der 
um ihretwillen noch ſachter aufzutreten ſchien als zuvor. 

„Ich will ſchon lange mein Leben verſichern laſſen,“ 
flüſterte Dr. Juften⸗Lennox der Sopranſängerin zu, 
„ich werde zu der Geſellſchaft in Port Guzman gehen.“ 

Aber Fräulein Lilla Bandt lachte nicht, .. . fie 
aß eben ein Täßchen Eis, um ſich nach dieſer auf— 
regenden Szene zu erfriſchen. Draußen ſpielten die 
Zigeuner einen Walzer und mehrere Paare verſuchten 
zu tanzen. Auf dem Tiger aber lag Donna Clemencia 
regungslos. Sie ſchlief wieder. 


— —— — 


Die 
Amerikaner in Rothenburg. 


Hiſtoriſche Erzählung. 


(1886. 


7 0 \E war am 15. Auguſt 1885, zwiſchen acht 
und neun Uhr abends. Im Speiſeſaale 
888 beim „Hirſch“ zu Rothenburg ob der Tauber 

ſtützten ich zwei knorrige Ellbogen auf das Wachstuch 
der Wirtstafel, und zwiſchen zwei entſprechenden Fäuſten 
eingeklemmt befand ſich ein Nußknacker, den aber Mr. 
U. S. Gibbs aus Chicago ſchon ſeit fünfzig Jahren 
als Geſicht benützte. Was die Buchſtaben „U. S.“ 
zu bedeuten hatten, wußte kein Zeitgenoſſe; vermutlich 
aber „United States.“ Ihm gegenüber ſaß ſeine einzige 
Tochter, Miß Carolina Gibbs; niemand wußte genau, 
ob North- oder South-Carolina. Sie ſah ihm auf— 
fallend ähnlich, aber Jugend und Weiblichkeit vernied— 
lichten den gewaltigen Nußknacker, der nun einmal der 
Typus der Familie Gibbs zu ſein ſchien, zu einem 
reizenden, blanken, rechts und links mit einem Brillanten- 
Bouton geſchmückten Haſelnußknackerchen, das ſo drollig 


war, daß man an feine Häßlichkeit vergeſſen konnte. 
In der That ſchien ein junger Mann am Tiſche dieſer 
Gedächtnisſchwäche unterworfen zu ſein, denn er ließ 
das Fräulein nicht aus den Augen. Er ſchien ſie aus— 
wendig zu lernen, obgleich er ſie längſt auswendig 
wußte, denn auch er war aus Chicago, einer der acht 
amerikaniſchen Maler, welche um dieſe Zeit Anſichten 
aus Rothenburg malten, teils in reinem Ol, teils in 
ſchmutzigem Waſſer. Er hieß Archibald und dieſer 
Name hatte ſchon, als ſie beide noch Kinder waren, 
Miß Carolinas Beifall gefunden, obgleich des Knaben 
Vater nur ein Oberaufſeher in Mr. Gibbs' berühmter 
Schweineſchlächterei war. Übrigens war er ein be— 
deutender Mann; er war um einen Kopf größer als 
George Waſhington, hatte weit dichteres Haar als 
Benjamin Franklin und trug weißere Hemdkragen als 
Abraham Lincoln; ſichtlich ging er einer glänzenden 
Zukunft entgegen. Freilich. .. 

„J say,“ begann in dieſem Augenblick Mr. Gibbs; 
er begann nämlich nie anders als mit dieſer Phraſe, 
wobei er den Nachdruck auf das „J“ legte. Wenn er 
ſprach, klang es, als rollten die Wallnüſſe zwiſchen den 
Kinnladen des Nußknackers hin und her. „IL say,“ 
begann er alſo, nachdem er eben ſeine vierte Flaſche 
geleert hatte, „dieſer Wein iſt ein... ein... Wein, 


Ei? ae 


der als Wein ... ſozuſagen . .. Wie heißt er denn 
eigentlich?“ 

„Das iſt Tauberſcheckenbacher Schillerwein,“ ant— 
wortete Archibald. 

„Schiller,“ fiel Miß Carolina lebhaft ein, „ja 
wohl, wir haben im Penſionat zu Minneapolis Ge— 
dichte von ihm geleſen. Johann Wolfgang Schiller, 
gewiß.“ Das Fräulein hatte nämlich eine feinere Er— 
ziehung genoſſen und ſprach ſogar ein wenig Deutſch. 

„J say,“ ſagte ihr Vater, „zweitauſend Dollars 
per annum iſt viel als Penſion für ein Mädchen, aber 
Du haſt wenigſtens was gelernt, Liebling. Da!“ Und 
er ſtreckte ihr die offene Hand über den Tiſch hin. 
Eine Hand, anderthalb Fuß lang. Das Fräulein machte 
vorſichtig eine Fauſt, ehe ſie einſchlug, denn ſie kannte 
ſchon dieſe vernichtenden Händedrücke. Dann fuhr er 


ort? Dieſer Trauben 
„Tauber,“ verbeſſerte Archibald. 
„Tauberſchnecken ...“ 


„Schecken,“ fiel er ein. 

„Well, well, kurzum dieſer Sillery⸗Wein .“ 

„Schillerwein, Pa,“ unterbrach ihn ſein Töchter⸗ 
chen mit ſchmeichelnder Stimme. „Schiller, . .. 
das iſt in Deutſchland, wie wenn Du bei uns ſagen 
würdeſt . . . Edgar Pos. Das Lied von den Glocken, 


der Ring von Meſſina, . .. die Braut des 
Polhykrates.“ 

„Dear me! eine deutſche Gelehrte!“ rief „Pa“ 
entzückt und leerte ſein Glas Traubenſchneckenbucher 
Goethe-Wein, — Friedrich von Goethe, Verfaſſer von 
Gotthold Ephraim Klopſtock und anderen klaſſiſchen 
Trauerſpielen, — worauf er plötzlich mit der Fauſt 
(Gedicht von Nikolaus Heine, wenn nicht gar von 
Heinrich Lenau) auf den Tiſch ſchlug und zornig aus— 
rief: „J say, es iſt doch eine verdammte Stadt voll 
Narren! Eine Büchſe Schweinefleiſchkonſerve aus meiner 
Schlächterei iſt mir lieber, als dieſes ganze Rothenbrunn. 
Es iſt ja da nichts zu kaufen! Nicht einmal ein paar 
Thorflügel vom Rathaus, und wären es gleich die 
älteſten . .. Zweitauſend Dollars geboten für den 
Sankt Georg auf dem Marktbrunnen; zweitauſend 
Dollars ohne den Drachen; mit dem Drachen drei— 
tauſend. Nicht verkäuflich! heißt es immer . . . Zünf- 
tauſend Dollars für den Ritter mit der Fahne, der 
auf dem Giebel des Rathauſes ſteht; was iſt darüber 
zu lachen? Aber die Kerle lachten, als hätte ich fünf 
Dollars geboten ... Das Fremdenbuch, wo der 
deutſche Kronprinz und Moltke eingeſchrieben ſind, 
fünfhundert Dollars; iſt das kein ſchöner Preis? „Wird 
nicht verkauft,“ hieß es. Aber, Gott verd .. ., ich 


kann doch nicht von Rothenbach abreiſen, ohne für 
mein Muſeum eine Antiquität gekauft zu haben! Hab' 
ich nicht in Paris die Wiege Ludwigs XXI. erworben, 
im reinſten Barackenſtil, und die goldgeſtickte Ball— 
ſchürze der Madame Montadour, und die Perücke 
Vol Bol 

„Jean Jacques Voltaires,“ half ihm Miß Caro— 
lina aus. 

„Richtig! Und in London die eiſerne Jungfrau, 
mit welcher James der ſoundſovielte hingerichtet wurde, 
was dieſem Despoten ganz recht geſchah, und überdies 
die Briefe der Königin Eliſabeth an den Grafen Suſſex; 
und in Florenz die Pantoffel des großen Michelangelo 
da Urbino und ſein eigenhändiges Selbſtporträt von 
Tizian; und in Rom eine Original-Kopie der Venus 
von Milwaukee ...“ 

„Milo,“ berichtigte das Töchterlein. 

„So ſagt' ich ja. Und das großartig ſchlechte 
Moſaik aus den Bädern des Caracallus, und das 
Brevier Papſt Pius X. aus dem dritten Jahrhundert 
vor Chriſtus, ... nein, es war doch ſchon nach 
Chriſtus und koſtete auch darum, ſtatt achthundert, nur 
vierhundert Büchſen salt pork. Und in Munich erſt! 
Die beiden identiſchen Lionardos, von denen ſelbſt die 
größten Kenner nicht zu unterſcheiden vermögen, welches 


ee 


der unechte und welches der nachgemachte iſt! Oho, 
mein Muſeum hat ſchon Kunſtwerke Nummer Al. Werd’ 
es auch nicht meiner Vaterſtadt vermachen, wenn ich 
ſterbe. Daß ich ein Narr wäre! Alles ſoll Dir ge— 
hören, Liebling, alles Dir!“ Und er ſtreckte ihr beide 
Hände quer über den Tiſch hin; zwei Hände, zuſammen 
drei Fuß lang. 

„Ja, es iſt verzweifelt, wie dieſe Deutſchen an 
ihren Raritäten hängen,“ pflichtete Archibald bei und 
ſah wirklich ſo verzweifelt drein, wie er eben behauptete. 
„Aber wer weiß, ... durch Verbindungen ...“ 

„Halloh!“ rief Mr. Gibbs, „was ſagen Sie da, 
Archibald?“ 5 

„Ich ſage, es giebt Verbindungen!“ 

„Verbindungen! Verbindungen!“ rief Mr. Gibbs, 
„was nützen auch die ſchönſten Verbindungen, wenn ſie 
kein Fremdenbuch haben?“ 

„Und wenn ſie eins hätten?“ 

„He?“ 

„Ein noch weit intereſſanteres als das im Nat- 
hauſe! Ein uraltes, wo ſogar König Chriſtian von 
Dänemark drin fehlt ... Sie haben ja die Gedenk⸗ 
tafel an jenem Haufe geleſen in der Herrengaſſe, . 
„in dieſem Hauſe wohnte vom 5. März 1999 bis“ 

sa. , e 


ge EN 


„Gott ver ... jegne mich! Wenn das möglich 
wäre! Tauſend Blechbüchſen, von den größten, zu zwei 
Dollars, Prima Minneſota pork!“ Er war von der 
romantiſchen Ausſicht auf ein ſolches Buch ſichtlich auf— 
geregt und ſtand auf, als wolle er den Schatz ſogleich 
holen. Er ſchwankte aber ſehr bedenklich und mußte 
ſich auf den Tiſch ſtützen: das war der Schiller— 
ſchecken⸗Traubenwein. | 

„Wird es nicht heute ſchon zu ſpät fein, Pa?“ 
fragte Miß Carolina. 

„Pa“ griff in die Uhrtaſche und fand ſie leer. 
„J say,“ rief er, das iſt doch ſeltſam. Auch Pick— 
pockets in Rothenberg. Meine Uhr iſt fort.“ 

„Sie haben ſie ja in der anderen Weſtentaſche, 
Mr. Gibbs,“ ſagte Archibald. In der That hatte 
jener im Nebel der Benebelung den Weg zur richtigen 
Taſche verfehlt. Jetzt aber riß er den Chronometer 
krampfhaft heraus, warf einen Blick darauf und lallte: 

„Acht Uhr dreißig Pfennige. Gehen wir.“ 

* * 


Vollmond in Rothenburg! 

Wie ein großer Schneefall ging das ſilberne Licht— 
geſtöber auf die alte Stadt nieder. Auf dem holperigen 
Pflaſter lag der Mondſchein wie blendender Jungſchnee, 
über den noch kein Menſch gegangen. Die Schmied- 


er son 


gaſſe, wie ſie zum Markte hinanſtieg, hatte eine Reihe 
ſchwarzer Häuſer, welche mit ſilberweißen Streiflichtern 
geſprenkelt waren, und eine Reihe weißer, mit kleinen 
tintenſchwarzen Schlagſchatten beſtäubt. Manche Dächer 
ſchienen mit blanken Silberthalern gedeckt zu ſein, und 
jeder Knauf glühte und dampfte wie ein Weihrauchfaß. 
Gegen den Markt hinauf wurde die Gaſſenenge immer 
ſchwärzer. Die ſteinernen Karyatiden am alten „Bau⸗ 
meiſterhauſe“ ſtanden wie Mohren mit gekreuzten 
Armen neben den Fenſtern, und nebenan der Greif 
über dem Thore des Toplerhauſes glich einem ſchwarzen 
Kater. 

Und nun aus dieſem tiefdunklen Straßenſchlund 
hinan zum mondhellen Markt. Mit einem Schritt aus 
dem Schwarzen ins Weiße. Da ſteht der ſchwere Würfel 
des Rathauſes mit einer ſchwarzen und einer weißen 
Wand, und an der Stirnſeite der ehemaligen Herren- 
trinkſtube wirft das große, goldene Strahlenrad der 
Sonnenuhr als ſilberne Monduhr ihren ſtundenzeigenden 
Schatten. Sie zeigt drei Viertel auf zwei, es iſt aber 
eigentlich neun. Und an den hohen Stufengiebeln der 
Altbürgerhäuſer wallt das Mondlicht in luftigen Kas⸗ 
kaden von Stufe zu Stufe nieder, an den ſteinernen 
Schnörkeln flattert es als ſilberſchimmerndes Spinnen⸗ 
gewebe in langen, gleißenden Fäden, wie Altweiber⸗ 


ſommer der Nacht. Die Simſe und Karnieſe alle find 
dick mit ſchwarzer Tuſche unterſtrichen, die Fenſter 
haben rechts herab und unten hin einen Trauerrand 
und zwiſchen den dicken Spundwürfeln der Säulenhalle 
am Rathaus werden die Fugen immer breiter und 
ſchwärzer, als wollte der ſchwere Bau in Quadern 
auseinanderkollern. Aber aus allen Turmſpitzen und 
Wappenzinken ſprühen elektriſche Funken und Sankt 
Georgs Lanze ſieht aus wie eine Wachskerze, deren 
Flämmchen im Winde lodert. Langſam läßt der alte 
Brunnen ſein Waſſer rinnen, das auch wie verdichteter 
Mondſchein flimmert, und das Gerieſel rechts und links 
miſcht ſich mit Mädchengeſchwätz links und rechts. An 
den alten weißen Herrenhäuſern der Herrengaſſe kann 
man alle Tafeln deutlich leſen: wo Karl V. und wo 
Maximilian, wo Ferdinand und wo Chriſtian dann 
und dann ſo und ſo lange gewohnt haben, und aus 
der Dickhautſchen Brauerei dringt Feſtgetöſe, dieweil 
dort eben die „Laterne“ zecht und der Herr Metzger— 
meiſter Mohr auf die Einigkeit aller Rothenburger 
trinkt. Aus der fleißigen unteren Schmiedgaſſe aber 
hört man noch mancherlei Geräuſch zum Markt herauf— 
hallen: Meiſter Kupferſchmied klopft an einem dringen— 
den Keſſel herum, Meiſter Schmied hämmert, Meiſter 
Schloſſer pocht, Meiſter Schuhmacher ſogar 5 noch 


Heveſi, Buch der Laune. 


„ 


Schuhnägel ein, und irgendwo muß ein Pferd beſchlagen 
werden, der gebrannte Huf riecht abſcheulich ſchön bis 
herauf. 

Und da ſtolpert ſoeben die hagere Berliner Malerin, 
die heute den alten Brunnenkaſten gezeichnet, über der 
unterſten Stufe des Goldſchmieds an der Ecke. Und 
dort die Reihe dunkler Geſtalten, ſo breit die Gaſſe 
iſt, das ſind Karlsruher Maler und Stuttgarter Archi— 
tekten, von der Kunſtakademie, die faſt alle im hinteren, 
alten, muffigen Rathaushof malen, wo die Luft ſo 
häßlich modrig iſt und die Wände ſo herrlich ange— 
ſchimmelt, der tauſendmal gemalten Thüre gar nicht zu 
gedenken, mit ihrem morſchen Steinzierrat und zer— 
bröckelten Stufenwerk. 

Aus dem pechſchwarzen Quergäßchen aber, neben 
der Löwenapotheke, deren goldener Löwe faſt hörbar 
gähnt, . . . aus dem rabenſchwarzen Quergäßchen, in 
deſſen Finſternis aus der hellblauen Luft drei alte 
Türme zugleich, ein runder, ein viereckiger und ein mit 
Erkerchen bewachſener, niedergucken, ſchallt ein ſchriller 
Diskant, welcher in dieſes eingepökelte ſechzehnte Jahr— 
hundert ſchamlos modern, aus der vorletzten Wiener 
Operette, hineineinſingt: „Komm herab, o Madonna 
Thereſaaa!“ . .. Ob fie wohl wirklich herabkommt, 
oder doch wenigſtens ein Fenſterchen öffnet an ihrem 


Erkerchen? Eines jener Fenſterchen mit jenen Buben: 
ſcheiben, die es bald nicht mehr echt geben wird in 
Rothenburg, dieweil es ſo lange als Butzenſcheiben— 
Bergwerk gedient hat für alle Welt, die irgend zu— 
langen wollen ... 

Die Mägde am Brunnen aber ſchwatzen mit den 
ehrbaren Jünglingen der Umgebung. Die heute ange— 
kommenen Amerikaner geben den Stoff dazu, und man 
iſt einſtimmig darüber, daß es ſehr lächerlich ſei, Gyps 
zu heißen. Der Herr von Gyps und das gypſene 
Fräulein! Zu lächerlich! ... Aber Geld müſſen fie 
haben, ſchweres Geld. 

„Dreißig Millionen,“ wiſpert Konrad, der Ge— 
hilfe des Herrn May, „Fuhrmann, Zigarren und 
Tapezierer“ am Spitalsthor. 

„Vierzig,“ behauptet dagegen Fritz, Buchhalter des 
Herrn Herterich, „Wechſelſtube, Zigarren und Leder— 
händler“ in der Schmiedgaſſe. 

„Vierzig Millionen,“ meint Jungfer Suſanna vom 
„Lamm,“ „das iſt ein gehörig Korbvoll.“ 

„Glaub's wohl,“ beſtärkt ſie Herr Fritz in ihrer 
Meinung, „ich habe einmal zweitauſend Mark auf einem 
Haufen geſehen; das Herz blieb mir ſtehen.“ 

„Und ich dreitauſend,“ ſteigert ihn Herr Konrad, 
im Intereſſe ſeiner Firma. „Ein Tauſendmarkſchein 


war auch dabei, jo groß, daß Sie ſich einen Bruſtlatz 
daraus könnten ſchneiden laſſen, Madame Hiebel.“ 
(Großes Aufſehen, denn Madame Hiebel, die Schlüſſel— 
frau der Schnitzſchule, braucht wohl den breiteſten Latz 
in der Stadt.) 

„Was iſt denn eigentlich der Herr von Gyps?“ 
fragt das Rathaus-Lieschen, das die Gypſenen vor- 
mittags in die Folterkammer hinuntergeführt hat; „er 
ſoll eine Diamantenfabrik haben, die Junge hat auch 
alles voll damit.“ 

„Bewahre!“ ruft Heinrich, der Hausmann des 
Bären⸗Apothekers, „eine Schweineſchlächterei mit Dampf 
hat er.“ 

Mit Ddaupf?; 

„Ei freilich, die größte in Amerika. Zweimal⸗ 
hunderttauſend Schweine ſchlachtet er täglich.“ 

„Zweimalhund .. .!“ 

Das weichherzige Lieschen kommt vor Schauder 
über den Hund nicht hinaus. 

„Da ſoll ein Beil ſein, mit einer Schneide, die iſt 
zehn Minuten Gehens lang, und ſchlägt mit einem 
Hieb fünfhundert Maſtſchweinen die Köpfe ab.“ 

„Zehn Minuten?!“ 

„Oder gar fünfzehn! Denn Amerika iſt ein langes 
Land, da geht alles in die Länge. Auf der amerikaniſchen 


Ausſtellung hatte dieſer Herr Gyps eine Leberwurſt 
ausgeſtellt, die war dreizehn engliſche Meilen lang.“ 

Unwillkürlich wiſchten ſich einige Zuhörer den 
Mund; ſogar der Sankt Georg oben auf der Brunnen— 
ſäule wurde aufmerkſam und beugte ſich etwas vorn— 
über, um dem Sprecher ins Geſicht zu ſehen. Aber 
die allgemeine Überraſchung verſtummte plötzlich, denn 
es hieß: „Pſt! die Gypſenen kommen!“ 


** ** 

Leicht hatte es nicht gehalten, den ehrenwerten 
Mr. U. S. Gibbs aus dem „Hirſch“ bis auf den 
Markt hinanzugängeln. Der Schneckenſchillerburger 
Traubenwein war ihm zum Teil in die Stiefel hinab— 
geſickert und zum anderen Teil unter den hohen hell— 
grauen, mit handbreitem ſchwarzem Band umgürteten 
Cylinderhut hinaufgedunſtet. Von dieſer gewaltigen 
Angſtröhre überragt und von dem ſchwarzen, lang— 
ſchößigen Gehrock umſchlottert, ſah er erſchreckend lang— 
ſtielig aus. Es ſchien, als fingen ſeine Beine gleich 
unter den Achſeln an. Dabei ſchlenkerte er ſowohl 
mit den unteren, als auch mit den oberen Extremitäten 
dermaßen nach rechts und links, daß es ausſah, als 
fege er mit einem unſichtbaren Beſen all den vielen 
Mondſchein auf dem Straßenpflaſter zu Schneehaufen 
beiſeite. In der Mitte der Gaſſe dahinwandelnd, ge— 


e 


langte er unter manchem Zick und Zack an eine Stelle, 
wo an einer gutgeſpannten Schnur eine Straßenlaterne 
mitten über der Straße hing. Angeſteckt war ſie nicht, 
wozu auch bei Vollmond? Das wurde dem langen 
Manne aus Chicago zum Verhängnis, denn er taumelte 
mit ſeinem ſteifen Deckel ſo heftig dagegen an, daß ſie 
klirrend in Stücke ging, aber auch den Hut des Lebens⸗ 
länglichen weithin in die Goſſe ſchleuderte. Ein ſolches 
Geklirr, wie es in Rothenburg wohl ſeit Tillys Zeiten 
nicht mehr gehört worden, mußte einen Auflauf ver— 
urſachen. In der That eilten die Bürger aus ihren 
Häuſern, zwei Nachtwächter gaben in der Ferne be— 
unruhigende Signalpfiffe von ſich und die plauderhafte 
Geſellſchaft vom Georgsbrunnen kam ſpornſtreichs mit 
lautem Getrappel die Gaſſe herabgelaufen. Glücklicher— 
weiſe ſchwärmte in dieſem Augenblicke juſt wieder die 
gaſſenbreite Plänklerkette des Bataillons Karlsruhe— 
Stuttgart heran. 

„Hieher, Gottfried!“ rief Archibald ihrem Führer 
zu, mit dem er eng befreundet war. 

„Vorwärts! Zum Carré!“ kommandierte dieſer 
ſofort, das Bataillon bildete ein Viereck und nahm die 
Gypſenen in die Mitte, Meiſter Gottfried von Ehingen 
— So nannte man den jungen Architekten — mat 
ſchierte mit Archibald im Stechſchritt voran, und ſo 


a 


ſchlug man ſich ohne Blutvergießen bis zum Markte 
durch. Den Rothenburgern ſchien das freilich nicht ganz 
zu paſſen, es knurrte mehrſtimmig hinter den Ab— 
ziehenden drein, und der Schuhmachermeiſter Hans Leiſten, 
einer vom alten Schrot und Korn, hob den grauen 
Röhrenhut aus der Goſſe und hängte ihn unter dem 
Halloh der Bürger an die Laterne, die er ſo ſchnöd 
vergewaltigt hatte. 

Auf dem Markte angelangt, löſte ſich angeſichts 
des Rathauſes das feſte Viereck des Bataillons. Mr. 
U. S. Gibbs ſtellte ſich mit ausgeſpreizten Beinen, um 
etwas feſter zu ſtehen, in die Mitte des Platzes und 
begann, die lange, ſchmale Brieftaſche im amerikaniſchen 
Banknotenformat ſchwingend, in ſeiner zu drei Vierteln 
überſeeiſchen Sprache einen Vortrag über die Kunſtwerke 
Rothenburgs zu halten. 

„JL say, gentlemen,“ hub er an, „hier in Rothen— 
bach iſt eigentlich doch keine richtige Renaiſſance, denn 
wo die Renaiſſance echt iſt, wie in Italien oder Frank— 
reich, da iſt alles zu kaufen, alles. „Sehen Sie das 
ſchöne Stadtthor,“ ſagt er. „Was koſtet es?“ ſage ich. 
„Hm,“ jagt er, „zweitauſend Dollars.“ „Abgemacht,“ 
ſage ich, „hier iſt ein Check auf meinen Bankier in 
Paris, oder London, oder Rom, oder Wien.“ Und 
ich nehme mein Stadtthor unter den Arm und trage 


oh 


es in mein Hotel. . .. Aber hier in Rothenberg? 
„Wird nicht verkauft!“ und damit baſta. „Zweitauſend 
Dollars!“ ſage ich. „Nicht zu verkaufen,“ ſagt er. 
„Dreitauſend!“ ſage ich. „Nichts da!“ ſagt er. Iſt 
das Renaiſſance? Nein, das iſt ſchon Barock! ... 
Ja wohl, Gentlemen, ich wollte von dem Haus des 
Baumeiſters, dort unten mit den Karyetüden, ein paar 
Valuten kaufen, . .. d. h. Valuten wollte ich geben, 
Voluten mit „o“ wollte ich kaufen, vom Giebel oben, 
und einige ſteinerne Konſulen, für mein Landhaus am 
Minnehaha River, aber ... „nicht zu verkaufen!“ 
. . . Eigentlich iſt es ſogar beſſer ſo. Die Architektur 
iſt hier nicht rein genug. So ſchmutzig, die ganze 
Stadt ein smoking room. Alte Scheibenbutzen ſchon 


alle fort, . .. dem Lindenwurm auf der Säule fehlt 
der Schwanz (warum hab' ich ihn nicht beizeiten ab— 
gebrochen und eingeſteckt?) .. . aus dem Thore dort 


wollte ich den alten Thürklopfer herausreißen, er wollte 
aber nicht los, . . . ſchlechter Stil, Gentlemen, .. am 
Sankt Georg die Platina vielleicht gar nicht echt . ..“ 

„Die Patina, Pa,“ flüſterte ihm Miß Carolina 
zu, aber „Pa“ wehrte ſie kräftig ab. 

„Miſchſtil, Gentlemen, gemiſchter Stil,“ fuhr er 
immer verwirrter fort, „gotiſche Spritzbogen auf 
kanaliſierten Säulen ...“ 


„Kannelierten, Pa,“ ſoufflierte Miß Carolina. 

„Traubenſchnecken . . . Batzenſcheiben . . . Schiller— 
fenſter . I say, gentlemen . .. Heda, Architekt! 
wollte jagen: Archibald! .. . Halloh, Archibald, wo 
find Sie? Schiebe mir den Seſſel da näher .. 
Schiller! ... Carolina, Liebling . ..“ 

Er wäre ſtehend eingeſchlafen, hätte nicht Meiſter 
Gottfried von Ehingen einen Krug kühlen Bieres von 
Dickhaut bringen laſſen und für ſolche Fälle bereit ge— 
halten. Ein tiefer Schluck brachte U. S. Gibbs 
wieder zu ſich, er ſchüttelte ſeine Gliedmaßen zurecht 
und ſagte: 

„J say, Carolina, ich muß da vierzehn Tage 
geſchlafen haben .. . Ja, richtig, Gentlemen, dort 
die ſteinerne Figur unter dem Erker, mit dem großen 
Bart, das bin ich ſelbſt. Wie aus dem Geſicht ge— 
ſchnitten. Nur daß ich raſiert bin und der dort nicht. 
Aber wenn ich ebenfalls raſiert wäre . . . Dreitauſend 
Dollars! „Nicht zu verkaufen!“ ſagt er. Die Thüre 
da auch nicht, die geſchnitzte, im Rathaus. Come 
along, gentlemen! Helfen Sie mir! Ich muß eine 
Thüre haben von dieſem Rathaus! Ich reiſe nicht ab, 
ohne eine alte Thüre aus Rothenbrunn. Chicago würde 
mich auslachen. Mich, U. S. Gibbs! Hahaha! Come 
along, gentlemen.“ 


a ol 


Meiſter Gottfried hatte während dieſer krauſen 
Reden ganz heimlich Zwieſprach gepflogen mit ſeinem 
Freunde Archibald. Ein ſchöner Plan war den beiden 
aufgegangen: wie Herrn Gibbs zu helfen wäre und 
auch dem jungen Pärchen Carolina plus Archibald. 
Jetzt trat Meiſter Gottfried würdevoll aufgerichtet vor 
Mr. Gibbs hin und ſagte: 

„Wohlan denn, Mr. Gibbs, ich als freiwilliger 
Stellvertreter des Stellvertreters von Rothenburg, will 
meinem Freunde Archibald den Gefallen thun und 
Ihnen die merkwürdigſte Thüre unſeres Rathauſes 
überlaſſen. Dem Gebietenden ſelbſt habe ich bereits 
Botſchaft geſchickt, damit er die Altbürger von Rothen— 
burg verſammle und einen günſtigen Beſchluß zu ſtande 
bringe. Hören Sie ſelbſt.“ 

Er wies mit der Hand nach der Herrengaſſe hin, 
wo vom Dickhautſchen Lokale her das laute Reden des 
Metzgermeiſters Mohr über die Einigkeit aller Rothen— 
burger noch immer ungeſchwächt zu vernehmen war. „Bür— 
ger von Rothenburg!“ ſo ſcholl es durch die Abendſtille da— 
her, „ich rufe mit Wilhelm Tell: ſeid einig, einig, einig!“ 

„Wilhelm Tell, oder: die Jungfrau von Orleans,“ 
erläuterte Miß Carolina, „das iſt auch von Johann 
Wolfgang Schiller, eine ſogenannte Trilogie. Wir haben 
daraus zwei Monologe auswendig gelernt.“ 


eo. 


Aber ihr Vater achtete auf dieſe Belehrung nicht, 
ſondern ſtarrte halb ungläubig auf Meiſter Gottfried, 
den er nur halb verſtand; der aber zog jetzt einen langen 
weißen Bart aus der Taſche — der Himmel weiß, zu 
welchem ſeiner ſtadtbekannten Poſſen er den heute ge— 
braucht hatte — und band ſich den ehrwürdigen ge— 
ſchickt um das Kinn. 

„J say, was thun Sie da?“ rief Mr. Gibbs er— 
ſtaunt. 

„Wer in Rothenburg als Gebietender auftritt, 
muß im Graubart auftreten,“ ſagte der Architekt und 
fügte auf das mißtrauiſche „hm, hm,“ des Amerikaners 
ſchleunig hinzu: „Das ſcheint Ihnen wohl ſeltſam?“ 

„Bei Gott, ja,“ rief Mr. Gibbs in faſt gereiztem 
Tone. 

„Aber Sie wiſſen doch,“ fuhr Meiſter Gottfried fort, 
„daß der Lord Mayor von London, wenn er eine Amts— 
handlung vornimmt, eine große, weiße Perücke aufſetzt.“ 

„Ja, Sir 

„Nun denn, in Rothenburg binde ich einen großen 
weißen Bart um. Iſt das nicht das nämliche? Eine 
ganz analoge Formalität.“ 

„J say,“ ſagte Mr. Gibbs, „Sie haben recht.“ 

Die Stuttgarter ſchlugen eine ausgiebige Lache 
auf und die Karlsruher ſtimmten fröhlich ein. Auch 


u OO 


die Gypſenen lachten aus vollem Halſe, denn fie fanden 
den Brauch recht drollig. Meiſter Gottfried aber, der 
mit dem weißwallenden Bart im Mondſchein gar ver— 
trauenswürdig ausſah, ſchritt nun voran und führte 
die ganze Geſellſchaft rechts um die Ecke des Rathauſes 
herum. Er hatte bereits durch einen Sendboten an die 
Hauptpforte das Nötige verfügen laſſen. Ein ſicherer 
Führer harrte, den Schlüſſel in der Hand, an jenem 
Thore, das in den älteren gotiſchen Teil des Rat— 
hauſes führt. Andächtig, wie einen Weihwedel, ſchwenkte 
er den Schlüſſel dem Schlüſſelloch zu, .. . ein drei⸗ 
maliges Knirſchen verlautete, als krähe der Hahn Petri 
das erſte, zweite und dritte Mal, ... dann ein 
dumpfes Knarren und das Thor ſtand offen. Das 
tiefe, ſtockfinſtere Thorgewölbe that feinen Schlund auf, 
wie ein Eiſenbahntunnel. 

„Ich fürchte mich,“ flüſterte Miß Carolina Archi- 
bald zu. 

„Ich auch,“ entgegnete dieſer ebenſo leiſe. 

Beide fürchteten ſich ſo ſehr, daß ſie draußen 
blieben. Und es wurden doch drei Laternen ange— 
zündet und zwanzig Perſonen drangen durch den ſchwarzen 
Gang in den Hof ein. 

„I say,“ begann Mr. Gibbs erſtaunt, blieb aber 
dann ſtecken, und zwar mit dem Fuße in einem halb— 
weichen gotiſchen Schutthaufen. 


„ 


Es ſah ſonderbar genug aus in dem engen Hofe, 
mit ſeinen kahlen, turmhoch emporſchießenden Wänden, 
die aus ihm eine Art Kamin machten. Der volle 
Mond hing wie eine ungeheure Lampenkugel aus Milch— 
glas gerade in dieſen Kamin herein und goß ihn bis 
an den oberſten Rand voll mit weißem Licht. 

„J say,“ fuhr Mr. Gibbs fort, nachdem er ſich 
befreit hatte, „es riecht gotiſch hier.“ 

In der That duftete es ſpitzbogig genug. Der 
Bewurf der Wände war voll mit quadratmetergroßen 
Sommerſproſſen, deren manche ein Fenſterchen enthielt. 
Ganze Strecken der Wand ſahen aus, als wären ſie 
aus verſchimmeltem Käſe gebaut; da wies Meiſter 
Gottfried hinauf und ſagte: „Das Grüne iſt beſonders 
ſchön, das wird am liebſten gemalt!“ Dann wieder 
kamen ungeheure roſtbraune Flecke, von denen der 
feuchte Moder in ſenkrechten Franſen niedertroff; da 
wies er ebenfalls hin und ſagte: „Auch das iſt herrlich, 
beſonders in Ol.“ Rechts aber in der Wand war eine 
Thüre — jene weltberühmte Thüre — vor die ſtellte 
er ſich zehn Schritt weit hin und erhob mit den beiden 
Händen, ſo hoch er konnte, zwei Laternen, deren Licht er 
auf jenen Kunſtſchatz fallen ließ. Das rötliche Kerzenlicht 
verſchmolz mit dem weißen Mondſchein und hauchte einen 
leiſen Goldton über das ſteinerne Zierwerk der Thüre. 


ee, 


„Dieſes Juwel der deutſchen Renaiſſance,“ begann 
er, „wird gegenwärtig von achtzehn Künſtlern gemalt, 
darunter fünf aus Chicago in Amerika! Hier ſtehen 
die achtzehn Staffeleien, denn es wäre beſchwerlich, 
dieſe täglich heimzutragen und wieder herzubringen. 
Gebaut im Jahre ...“ 

Aber Meiſter Gottfried ſchnitt ſich das Datum, 
ſo wohlverbürgt es war, im Munde ab, ergriff Mr. 
Gibbs, den das Erſtaunen halbwegs ernüchtert hatte, 
kräftig am Arm und gab ihm eine Drehung um ſeine 
eigene Achſe. Dadurch kehrte er nun dem Juwel der 
deutſchen Renaiſſance ſeinen Rücken zu, das Antlitz 
aber einer anderen Thüre. 

„J say,“ rief er betroffen, „das iſt etwas ganz 
Neues, niemals hab' ich ſo eine Thüre geſehen.“ 

„Das iſt eine gewöhnliche Thüre,“ ſagte der 
Führer gewiſſenhaft, „die zu einer Holzkammer führt; 
ſie iſt ganz beſudelt, weil die Maler, welche die 
berühmte Thüre dort malen, vor dem Weggehen 
jedesmal an dieſer Holzthüre ihre Pinſel auszuwiſchen 
pflegen.“ | 

Mit offenem Munde hörte Mr. Gibbs zu; aber 
er öffnete denſelben noch viel weiter, als Meiſter Gott— 
fried hinzufügte: 

„Und eben das macht dieſe Holzthüre zu unſerem 


allermerkwürdigſten Kunſtdenkmal. Bedenken Sie nur, 
welche großen und ſchwerbezahlten Künſtler jenes Portal 
ſchon abgemalt und dann hier gegenüber ihre Pinſel 
ausgewiſcht haben. Dieſe Thüre enthält die ganze 
moderne Kunſtgeſchichte. Sie iſt eine ungeheure Palette, 
welche das geſamte Kolorit uuſerer Zeit aufweiſt. Hier 
dieſe dicken, blaugrünen Flecke, ſie ſind die Hand— 
ſchrift Arnold Böcklins; mit dieſem Blaugrün hat er 
ſeine mythologiſchen Meere gemalt. Dort jenes tiefe 
Rot aus Krapplack und Zinnober iſt unverkennbares 
Makartrot; Hans Makart verdankt ihm ſeinen Namen. 
Dieſe Wolke von froſchgrünen Flocken iſt die Spur 
Emil J. Schindlers; in jener neapelgelben Pfütze hat 
Hildebrandt die Abfälle eines Sonnenunterganges ab— 
geſtreift. Dieſes Weiß und Citronengelb . . . Gabriel 
Mar; jenes Perlgrau und Roſa . .. der Düſſeldorfer 
Seel. Hier, die dicken Kienrußſtreifen ... Munkäcsy, 
als er noch ſchwarz malte; dort, die grünlichen Kruſten 
. . lauter Diez⸗Schüler. Erkennen Sie dieſes Grün 
und Braun? Der Asphalt des großen Andreas Achen— 
bach!“ 

Lange ſprach Meiſter Gottfried ſo fort. Mit 
großen Augen hörte man ihm zu und der Führer leuchtete 
ganz nahe heran, um all das Merkwürdige, was man 
gar nicht geahnt, genau betrachten zu laſſen. Die Karls— 


ruher aber ſtießen die Stuttgarter mit den Ellbogen 
in die Seite und die Stuttgarter ſchnaubten ſich im 
Chorus die Naſe, um ihr Lachen zu erſticken. 

Und Mr. Gibbs ſchrie plötzlich auf: 

„J say, was koſtet die Thüre?“ 

„Davon ſpäter,“ entgegnete Meiſter Gottfried von 
Ehingen, „aber ich verſpreche Ihnen, daß Sie ſie kriegen 
ſollen.“ 

Da ſchlug der Gypſene ſeine beiden Arme um 
den Jüngling, ſo daß dieſer ſich verloren gab, und 
küßte ihn fo heftig auf den Mund, daß er die Empfin- 
dung einer Maulſchelle hatte. Nur mit vereinter Anz 
ſtrengung gelang es den Genoſſen, Meiſter Gottfried 
aus dieſer argen Klemme zu befreien. 

„J say, Carolina, Liebling!“ rief nun Mr. Gibbs, 
„ich bin der glücklichſte Menſch in Chicago. Ich werde 
dieſe Thüre in Gold faſſen laſſen. Carolina, Liebling, 
wo biſt Du?“ 

Aber Miß Carolina war nicht da. Sie war 
nirgends im Hofe zu ſehen. Mr. Gibbs griff ver— 
ſtört in mehrere ſeiner Taſchen, als könnte er ſie dort 
verlegt haben. Dann eilte er zu jenem gotiſchen Schutt⸗ 
haufen hin, in dem er ſelbſt vorhin faſt verſunken, um 
ſeine Tochter vielleicht noch zu retten. Dann ſchrie er 
und tobte und machte ganz Ehingen, Karlsruhe und 


„„ gg 


Stuttgart dafür verantwortlich, wenn feiner Tochter 
ein Haar gekrümmt ſein ſollte. Nicht leicht war es, 
ihn zu beſänftigen, indem man ihm begreiflich machte, 
daß fie mit Mr. Archibald auf den nahen Wall hinaus— 
gegangen fein müſſe, um das Tauberthal im Mond- 
ſchein zu ſehen. Die drei Laternen voran, machte ſich 
ſofort die ganze Truppe auf, die Verlorene zu ſuchen. 
Man ging die Herrengaſſe hinab, deren Spaziergänger 
ſich alsbald den drei Laternen anſchloſſen. Manches 
kichernde Pärchen war darunter, daß ſich ſein Teil 
wohl dachte und ſogar die Geſuchten erblickt haben 
wollte, wie ſie durch das Burgthor in den Stadtgarten 
hinausgewandelt ſeien, Arm in Arm. 

Mr. Gibbs eilte, von brennender Unruhe getrieben, 
voran; aber die Neugier der übrigen war ſo groß, 
daß ſie ihm dicht auf den Ferſen waren. Und ſonder— 
bar — ſo iſt nun einmal die Menſchennatur — dieſe 
hundert Menſchen machten jo wenig Geräuſch, als mar— 
ſchierten ſie in Strümpfen, denn gar zu gern hätten 
ſie das Liebespaar ſo recht überraſcht. 

Das Burgthor war paſſiert, die Anlagen dehnten 
ſich ſtill zwiſchen den Mauern der alten Burg dahin. 
Eine Schar ging rechts, die andere links der Stadt— 
mauer entlang. Die linker Hand hatte das Richtige 


getroffen. 
He veſi, Buch der Laune. 7 


on 


Auf der erſten runden Baſtei hemmte fie den 
Schritt. Der Anblick war nämlich zu romantiſch. Tief 
unten im Thale machte die Tauber ein glänzendes 8 
nach dem anderen; ſie ſchien gar kein Waſſer zu führen, 
ſondern eitel Mondſchein. Links auf der Höhe dahin 
lag die ſtille Stadt, mit ihrer alten Mauer wie mit 
einem breiten Ledergürtel umſchlungen, an dem die 
Thore mit ihren Türmen als ſtattliche Schnallen er— 
ſchienen. Aus dem Thal herauf glänzte das Turm— 
kreuz des ſteinalten Kobolzeller Kirchleins, wie ein 
Zeigefinger, an dem ein Goldring ſteckt. Und auf einer 
Ecke der Baſtei ſaß eine ſteinerne Gruppe, offenbar 
aus der Mythologie, in ſtummer Umarmung und ließ 
ſich vom lauen Mondſchein baden. 

Wenigſtens hielt Mr. U. S. Gibbs die Gruppe 
für Stein — vermutlich aus echtem Monolith, den er 
für die koſtbarſte Steingattung hielt — und ſchoß an 
ihr vorüber, als ein ſeltſamer Doppellaut ihn umzu- 
blicken bewog. Sollte die Lebenswahrheit dieſer alten 
Statuen ſo weit gehen, daß ſie ſich ſogar hörbar küſſen 
und wiederküſſen? Das müßte denn doch womöglich 
für ſein Muſeum in Chicago erworben werden. 

Da ging aber auch ſchon die Lebenswahrheit der 
Gruppe ſo weit, daß ſie von der Baſteiecke herabſprang 
und in zwei Geſtalten getrennt das Weite ſuchen wollte. 


eu gg 


Von der Schar der Suchenden umringt, fand ſie 
keinen Ausweg und mußte bleiben. 

„L say,“ rief Mr. Gibbs, „Carolina, Liebling, 
biſt Du von Sinnen? Nachts mit einem jungen 
Mann 

„Mein Gott, die Gypſenen haben auch Blut im 
Leibe,“ kicherte eine weibliche Stimme, der eine männ⸗ 
liche herzhaft ſekundierte. 

„In Chicago ſind eben die Mädchen auch nur 
Rothenburgerinnen,“ lachte es weiterhin, „und wiſſen 
einen Mitbürger zu ſchätzen.“ 

„J say,“ fauchte Mr. Gibbs, „was Chicago .. 
Rothenburg ... Was Blut im Leibe? ... Ladies 
and gentlemen, was glauben Sie denn? Meine 
Tochter und Mr. Archibald . . .“ 

„Sind Brautleute!“ raunte ihm Meiſter Gottfried 
ins Ohr. 

„Sind Breutlaute,“ wiederholte etwas ungenau 
Mr. Gibbs, erfreut ob der unerwarteten Hülfe. Im 
Drange des Augenblicks, unter den kompromittierenden 
Verhältniſſen, ... die Ehre ſeiner Tochter und die 
Thüre im Rathaushof ſchwirrten ihm im Kopfe herum, 

und dazu dieſer Traubenſchmecker ... Tauben⸗ 
ſchrecker . .. Schrauben ... kurz, dieſer Johann 
Wolfgang Schiller mit ſeinem Wein. 


— 100 — 


Das Wort war ausgeſprochen. 

Mr. Gibbs fand an ſeinem Leibe vier Arme, die 
nicht die ſeinigen waren und die ihn teils zärtlich, 
teils ehrfurchtsvoll umſchlangen. Er hob etwas un— 
ſchlüſſig zwei Hände, die zuſammen drei Fuß lang 
waren, in die Luft und ließ ſie, da ſie erheblich zitterten, 
aus Müdigkeit auf zwei Gegenſtände herabſinken, welche 
ſchwerlich etwas anderes waren, als die Köpfe zweier 
glücklichen Menſchen. 

Die Stuttgarter aber und die Karlsruher riefen 
dazu Vivat, und die Rothenburger lachten und wünſchten 
viel Glück. So ging es im Triumphzug nach der 
Stadt zurück. Glücklich kam man bis zu Dickhaut, wo 
der Herr Metzgermeiſter Mohr ſoeben mit donnernder 
Stimme die denkwürdigen Worte rief: „Denn ohne 
Einigkeit, meine teuren Mitbürger, werden die Rothen— 
burger immerfort uneinig ſein!“ Auch der Einzug des 
Brautpaares unterbrach ſein edles Redefeuer nicht, luſtig 
praſſelte es weiter, während Stuttgart und Karlsruhe 
den Nebenſaal in Beſchlag nahmen. Bald klapperten 
die Gläſer ganz ſalamanderhaft zu Ehren Chicagos. 
Mr. Gibbs aber hörte nichts davon, denn kaum daß 
er einen Stuhl unter ſich ſpürte, ſank ſein Haupt nach 
vorne und er wußte nichts weiter. 

Die Runde aber machte nun ein Skizzenbuch 


— 101° — 


Archibalds, voll mit feinen Zeichnnngen aus Nothen- 
burg. Und jeder Kollege mußte einen fremden Namen 
und ein recht altes Datum unter eine der Skizzen 
ſchreiben, z. B. „Antoine Du Cerceau 1684“ oder 
„Wolfram von Eiſenhuet 1714,“ ja ſogar Albrecht 
Dürers heiliges Meiſterzeichen vermaß ſich einer hinein⸗ 
zulinieren. Und dann begoß man das Buch mit Bier 
und ſchliff die feuchten Deckel mit einem Stück Ziegel⸗ 
ſtein ab, worauf man ſie mit Käſerinde hübſch wieder 
polierte. Zuletzt räucherte man es über einer Petroleum— 
flamme und zündete es an allen vier Ecken an, aber 
nicht allzu ſtark. 

Dann erhob ſich Meiſter Gottfried von Ehingen 
und ſagte feierlich: „Dies iſt das alte Künſtlerbuch 
der Stadt Rothenburg ob der Tauber, geſtiftet im 
Jahre des Heils 1906 . . . das heißt vielleicht 1609, 
bei dem Brande der alten Ratsſtube Anno dazumal arg 
beſchädigt, aber doch noch glücklich gerettet. Wer's nicht 
glaubt, hat's mit mir zu thun.“ 

Ein großes Lebehoch wurde nun auf das 
Brautpaar ausgebracht und Miß Carolina wollte 
es tief gerührt erwidern. Sie kam aber nicht ſehr 
weit, denn ſchon nach ihren erſten Worten: „Meine 
Herren! Ihr großer Dichter Friedrich Wolfgang von 

Uhland“ war das Bravo fo laut, daß das 


— 102 — 


Zitat aus dieſem gemiſchten Dichter nicht mehr gehört 
wurde. 
* 5 * 

Mr. U. S. Gibbs hat niemals begriffen, wie er 
an jenem Abend ins Bett gelangt war. Auch die vor— 
hergehenden Ereigniſſe ſind ihm nie recht klar geworden. 
Nur die merkwürdige Thüre aus dem Rathauſe und 
das unſchätzbare Künſtlerbuch der Stadt Rothenburg 
vom Jahre 1906, was vermutlich ein Schreibfehler 
für 1609 war, begriff er voll und ganz. Er hatte 
dafür nichts zu leiſten, als eine neue Thüre für jene 
Holzkammer und ein neues Skizzenbuch für einen un— 
ſerer Bekannten. Unter dieſem freudigen Eindruck hätte 
er dem wackeren Archibald, wäre dieſer zufällig Mor- 
mone geweſen, auch noch ſeine anderen Töchter, die er 
aber nicht hatte, zur Frau gegeben. 


Aller 


Eine Jaſchingsgeſchichte aus Ungarn. 


(1886.) 


ſ das noch hinaus ſoll, wer weiß es? 
re Erſt frißt der Wurm den Reps, dann 
trifft den Weizen der Roſt. Drei Sommer hinterein— 
ander Hagel. Und zwei Überſchwemmungen in zwei 
Frühlingen. 

Und dabei ſoll der Bauer beſtehen! Nein, er 
fault am Halm, wie ſein Korn. Und dann kommen 
die länglichen Papierſtreifen, die grün geſtempelten mit 
dem quer geſchriebenen Namen. Und dann kommt der 
Eintreiber, und dann der Feilbieter, und Haus und 
Hof und Kuh und Kalb „ſchwimmen davon,“ im Auf— 
ſtrich, eins, zwei, drei, ohne Hexerei. 

Anderen iſt es damals auch ſo ergangen in der 
Doroger Gegend, aber immer haben ſie den alten 
Rezneky beneidet: „Ja Ihr, Onkel Andraſch, Ihr habt 
es gut. Euch ſchiert das alles den blauen Teufel. 


— 106 — 


Habt ja in der Hauptſtadt den Vetter Mihok, der iſt 
ein Großer und wohnt in einem gelben Hauſe, auf 
welchem ſogar das „K. K.“ von ehedem noch ein 
wenig zu ſehen iſt unter der Tünche.“ 

Ja, ein Vetter Mihok in der Stadt iſt ein 
rechter Troſt in ſchlechten Jahren. Jeder Chriſtenmenſch 
ſollte ſo einen goldenen Vetter haben, oder doch einen 
ſilbernen, in der Hauptſtadt. | 

Onkel Andraſch weint auch nicht viel um Kuh 
und Kalb. Mag ſich das Pferd grämen, dazu hat 
es den großen Kopf.! Er weiß ſchon, was er zu 
thun hat. Die Kleider vom lebendigen Leibe hat man 
ihnen doch nicht verkaufen können, und er iſt klug genug 
geweſen, Mutter und Tochter das Allerbeſte anziehen 
zu laſſen, den geretteten Sonntagsſtaat aus der guten 
Zeit, damit der Vetter Mihok ſeine Freude an ihnen 
habe, wenn er ſie, nun nach dreißig Jahren, wiederſähe. 

Und im Zipfel von Tante Boriſchs beſtem Sack— 
tüchlein hat ſich, ſo ganz im ſtillen, juſt genug rundes 
Silber angeſammelt, daß die drei nach der Haupt— 
ſtadt fahren können, dritter Klaſſe. Auf den Kreuzer 
langt's. 

Und nun ſind ſie in der Hauptſtadt. Gut, daß 
ſie nur ſechs Hände haben; es wäre ſonſt zu viel 


I Ungariſches Sprichwort. 


— 107 — 


Arbeit, fie immer zuſammenzuſchlagen vor Erſtaunen. 
Unglaublich, daß die Einwohner ſich da nicht verirren, 
in den vielen fremden Gaſſen, zwiſchen den vielen 
unbekannten Häuſern, die ſo viel Fenſter haben, als 
ſollte jeder Bürger zu ſechs Fenſtern gleichzeitig heraus— 
gucken können. Und wie die Leute ſich drollig kleiden; 
ganz anders als in Dorog. Nicht einmal Bundſchuhe 
haben ſie. Und wie man da angeſchaut wird, wenn 
man vorübergeht, und, hilf Jeſus, ſogar belächelt. 
„Was iſt denn an uns zu belächeln?“ ſagt Onkel 
Andraſch zu Tante Boriſch, „in Dorog hat man nie 
über uns gelächelt, wenn wir uns das Sonntägliche 
anzogen. Sieh mal, Mutter, ob an der Jutka alles 
beim Rechten iſt.“ 

Aber an der Jutka war alles beim Rechten. 
Alles. Von dem dicken rabenſchwarzen Zopf, der 
buntdurchflochten über den Rücken herabhing, bis an 
die Abſätze der ſpitzen Korduanſtiefel. Blendend weiß, 
nur mit einem blauen Waſchblauſtich, die Puffärmel 
des Ingwall, welche die rundeſten Mädchenarme von 
Dorog frei ließen; keine Hofrichterstochter braucht 
ſchönere. Prächtig mit ſeidenen Blumen ausgenäht der 
rote Grund des hochgewölbten Prußlik. Und die 
ſchwarze Seidenſchürze mit Silberſpitzen an den Rän— 
dern und der vielfaltige blaue Rock. Und das geſtickte 


— 108 — 


Taſchentuch in der Hand und ſogar der filberne Ring 
mit weinrotem Stein am Finger. Nein, alles war in 
ſchönſter Ordnung; kein Mädchen in der Hauptſtadt 
konnte ſo „modiſch“ gekleidet ſein. 

„Daß die Vögel nicht an ihr picken!“ raunte die 
Mutter bewundernd dem Vater ins Ohr. 

„Sie iſt zum Stehlen ſchön!“ raunte dieſer zurück. 

Ein Herr in blauem Tuch mit rotgelben Schnüren, 
eine ſchwarzlederne Säbelſcheide an der Seite und eine 
meſſingene Nummer auf der Bruſt, zeigte ihnen den 
Weg zum gelben Hauſe. 

Ein anderer ähnlich gekleideter Herr ſtand am 
Thore, bei dem begann Onkel Andraſch ſeine Nach— 
fragen. Aber der Vetter Mihok war nicht leicht zu 
finden. Man wies die drei Treppen auf und Treppen 
ab, durch Höfe und Gänge und Thüren, alle mit 
Nummern, mit gewöhnlichen und auch mit ungewöhn— 
lichen, die ſie gar nicht leſen konnten. Verſchiedene 
Herren wieſen ſie in Eile hierhin und dorthin, einmal 
ſtanden ſie eine Stunde in einem dunklen Vorzimmer, 
wo ſie hinter vier Thüren zugleich ſprechen hörten, 
hinter der einen gar deutſch. Dann war es plötzlich 
wieder das unrechte Vorzimmer geweſen und es hieß 
in den nächſten Hof hinübergehen, in ein anderes 
dunkles Vorzimmer, diesmal mit fünf Thüren, hinter 


— 109 — 


denen fünf Stimmen zugleich gedämpft ſprachen. Ein 
Bienenſtock, wenn nicht gar ein Weſpenneſt! 

Endlich gegen Abend ſtanden ſie wirklich und wahr— 
haftig vor Herrn Michael von Rezneky, dem guten 
Vetter Mihok von Anno dazumal. Dieſer ſperrte die 
Augen kreisrund auf, als Onkel Andraſch ihm heftig 
um den Hals fiel, und wandte behutſam den grauen 
Schnurrbart beiſeite, ſo daß der verwandtſchaftliche 
Kuß kaum ſeine Wange ſtreifte. Onkel Andraſchs Um— 
armung ſchien ihm wohl etwas herzlicher als nötig, 
denn er klopfte ſich hinterher ſorgfältig die Bruſt ab. 

„So ſo ſo ſo ſo,“ ſagte er einmal übers andere. 
„Alſo der Vetter Andraſch. Aber Ihr müßt ja längſt 
tot ſein. Iſt mir nicht, als hätte ich vor zehn Jahren 
oder vor fünfzehn gehört .. .? Nun, gleichviel, Ihr 
ſeht, ich ſtecke jetzt in der dickſten Arbeit ... Wann 
reiſt Ihr denn wieder heim nach Bereg? . . . Ach fo, 
Dorog heißt es! Nun ja, ganz einverſtanden . .. Und 
das find die beiden Töchter, nicht wahr?) .. Wie? 
RNichtig, nur die eine iſt die Tochter So 
meint' ich's ja auch ... Es iſt recht ſchön in der 
Hauptſtadt, nicht wahr? Seid hoffentlich gut unter— 
gekommen. Na, ich ſehe Euch jedenfalls noch ... 
und unterhaltet Euch recht gut.“ 

Wo war er geblieben? Plötzlich war er nicht mehr 


„ 110, —_ 


da. Die drei ſtanden mäuschenſtill und ſahen erit 
den Fußboden an, dann die Wände, und zuletzt eines 
das andere. Es verging einige Zeit und alles war 
ſtill im Gemach. Dann kam ein Herr, der die Dienſt— 
mütze aufhatte und einen Beſen in der Hand, und ſagte, 
das Amt werde nun geſchloſſen und ſie könnten nicht 
länger da bleiben. 

Und dann ſtanden ſie wieder auf der Straße und 
die fremden Leute wimmelten um ſie herum. Und es 
war grauer Abend geworden, Laternen blinzelten ein— 
äugig, es fror und ſie waren hungrig. Jener Zipfel 
aber in Tante Boriſchs beſtem Sonntagstaſchentuch war 
leer. Nur ein klein wenig roch er noch nach Silber— 
gulden. 

Sie wanderten mutlos und ſchweigſam durch 
Straßen, auf deren Namen ſie nicht neugierig waren. 
Sie kamen an jene große Theiß hinab, welche Donau 
heißt, und hörten den Strom tief unter dem Quai 
rauſchen. Ein dunkles Gitter umſchloß einen finſteren 
Garten, kahle Bäume ſtanden drin und feuchte Sitz— 
bänke. Die beiden Alten ſanken totmüde auf eine Bank 
und begannen traurige Sachen zu wiſpern, ganz leiſe, 
damit Jutka nichts höre, und die alte Frau wiſchte ſich 
zuweilen die Stirne, — ſo ſagte ſie, denn es ſei ihr 
heiß geworden, — aber es waren eigentlich die Augen. 


— 111° - —— 


Und das gewaltig hohe, nachtdüſtre Haus gegen- 
über mit den weiten ſteinernen Bogen und den feuer— 
flammenden Fenſtern ſah ſchweigend auf ſie nieder. 
Sie wußten nicht, daß es die Redoute war. Zwei 
Flammen waren vorn aufgeſteckt, in die konnte man 
nicht hineinſchauen, denn ſie waren wie zwei Tropfen 
glühendes Sonnenlicht, grellweiß, und hüllten den Platz 
wie in einen weißen Nebel, aus Nacht und Tag gemiſcht. 

Jutka konnte ſich nicht enthalten, unter die hohen 
Steinbogen zu treten. Wagen rollten ein und aus, 
überquellend von ſeltſamen, flimmernden Bauſchen aus 
Schleiern, Pelzwerk und Gott weiß was. Herren 
kamen und gingen, hohe ſchwarze Röhren auf dem 
Kopfe und die Kragen bis an die Krämpen hinauf— 
geſtülpt. Alles eilte eine gewaltig breite Treppe hinan 
und von oben ſcholl verworrenes Toſen und Brauſen 
herab, wie wenn Muſik und Menſchengelärm ſich gegen— 
ſeitig erſticken. 

Jutka betrat die Treppe, kein Menſch hielt ſie 
auf. Nur die Bilder des Treppenhauſes wollte ſie 
ſich anſehen, ſie ſpielten zu ſchöne Farben. Dabei kam 
ſie immer höher; ſie vergaß ganz, wie hell es ringsum 
geworden war. Jetzt ſpürte ſie gar etwas unter ihrem 
Fuß. Sie hob es auf. Es war ein ganz ſpaßiges 
Ding, länglich rund, von ſchwarzem Samt, mit zwei 


— 112 — 


runden Löchern und einem Bändchen rechts und links. 
Was in aller Welt konnte das ſein? Eine maskierte 
Dame ſtrich juſt an ihr vorbei, mit einem ganz ſchwarzen 
Geſicht, aus ſchwarzem Samt. Sie taumelte zurück 
vor Schreck; ſie glaubte, des Teufels Schwägerin be— 
gegnet zu ſein, für ſeine Großmutter ſchien ihr dieſelbe 
doch noch etwas zu jugendlich. Dann beſann ſie ſich 
und ſagte: „Aha.“ Ein Spiegel war auch in der 
Nähe und im nächſten Nu lachten zwei jamtraben- 
ſchwarze Geſichter einander helllaut an, eins in den 
Spiegel hinein, das andere aus dem Spiegel heraus. 

O Eva! 

Und war das nicht ein köſtlicher Spaß? Wenn 
das die guten Leutchen von Dorog ſähen! Keinem fiele 
es ein, daß das die Rezneky Jutka ſein könnte, hinter 
dem pechkohlenrabenteufelsſchwarzen Ding da. Und 
ſie lachte, daß ihr die Augen übergingen. Gerade kam 
eine Schar vermummter Geſtalten die Treppe herauf- 
geſtürmt, der Wirbel ergriff ſie und — das Herz 
ſtand ihr ſtill — in der nächſten Minute ſtand ſie 
mitten im Ballſaale. 

Herr des Himmels! Ein Saal wie ein Haus. 
Das Dach mit feurigen Sternen beſetzt und in allen 
Ecken ungeheure goldene Chriſtbäume voll lodernder 
Kerzen. Keine Kirche kann ſo ſchön ſein. 


— 113 — 


Aber das Getümmel! Es ſchob und ſpülte ſie da 
und dorthin wie ein Strom, ſie hatte gar keinen Willen. 
Und das ſollen lauter lebendige Menſchen ſein, dachte 
ſie, aus Fleiſch und Bein. Unglaublich! Wie lauter 
Luftpölſter und Schwimmblaſen fühlten ſie ſich an, 
wenn ſie ſich ſo vorbeidrückten. Augenſcheinlich ſind 
die Stadtdamen zum größten Teil aus Fiſchbein und 
Roßhaar gemacht. 

Dieſer Anſicht ſchien auch ein Herr zu ſein, der 
mit ihr zufällig hart zuſammenſtieß. Sehr hart. „Alle 
Wetter!“ rief er, „was iſt denn das? Von welchem 
Sockel iſt denn das ſteinerne Mädel herabgeſtiegen?“ 
Der Herr hatte eine abſcheuliche, lange, krumme, rote, 
wie lackiert glänzende Naſe im Geſicht, einen roten 
Schopf rechts und links und einen in der Mitte, und 
ſtak übrigens mit dem ganzen Leibe in einem bunten 
Strickſtrumpf; dafür ſah Jutka ſein Trikot an. 

Sie ſchauderte zurück, als der Herr ſie mit der 
Spitze ſeiner fürchterlichen Naſe auf den bloßen Arm 
tupfte, und eine unwillkürliche Bewegung ihrer Hand 
traf gerade dieſe unverſchämte Naſe. Wahrhaftig, nur 
mit dem kleinen Finger traf ſie dieſelbe, aber auch das 
war ſchon genug. Die Naſe krachte jäh entzwei und 
ihre vorderen zwei Drittel fielen zu Boden. Jutka 


war ſtarr vor Schreck. Sie hatte einem Menſchen die 
Heveſi, Buch der Laune. 8 


„ EA — 


Naſe abgebrochen! Sie war verloren, fie fah ſich ſchon 
im Gefängnis, bei Waſſer und Brod, auf Lebenszeit. 
Ein Halloh erhob ſich, ein Johlen und Heulen, da 
und dort bellte es ſogar. Alles drängte herzu, daß 
ihr angſt und bange wurde. Der naſenloſe Herr er— 
griff ſie am Arme, ſchrie nach ſeiner Naſe und wollte 
einſtweilen die der Übelthäterin als Pfand behalten. 
Er zog ihren Arm durch den ſeinen, aber ſie hatte 
glücklicherweiſe zwei Arme, und des anderen bemächtigte 
ſich eine ehrwürdige gebeugte Geſtalt in ſchwarzem 
Talar und ſpitzer Haube, alles ganz mit Sonnen, 
Monden und Sternen in allen Farben geſprenkelt. 
Das runzlige, bleiche Antlitz dieſer blutleeren Perſönlich— 
keit flößte Jutka Vertrauen ein, ſo daß ſie ihr ins 
Ohr ſagte: „Liebe, gute gnädige Frau, bitte, können 
ſie mich wohl von dieſem gnädigen Herrn mit der 
zerbrochenen Naſe losmachen?“ Die Ehrwürdige ließ 
hierauf den Naſenloſen hart an. „Ich bin die Mutter 
dieſes Mädchens; loslaſſen, ſonſt ...“ Da ließ er 
los, aber er ſtieß zugleich ein wieherndes Gelächter 
aus. „Ihre Mutter! Ha, haha! Der Herr Stern- 
gucker iſt plötzlich Mutter geworden!“ Gelächter ringsum. 
Wüſte Fratzen grinſten Jutka ins Geſicht, mit Gewalt 
riß ſie ſich von dem alten Sterndeuter los, den ſie 
in ihrer Unerfahrenheit für eine alte Dame im Schlaf- 


— 15 — 


rock gehalten. Aber er ſtürzte ihr durch das Getümmel 
nach. In ihrer Angſt wandte ſie ſich an einen jungen 
Herrn in kurzem Sammethöschen und prallen Strümpfen, 
ein keckes Barett auf dem linken Ohre. „Ach, bitte, 
gnädiger Herr, wo komm' ich denn am eheſten aus 
dieſem Saale hinaus?“ Neues Gelächter rundum. 
Sie hatte einen weiblichen Debardeur für einen Mann 
gehalten. 

„Sie ſpielt die Naive köſtlich,“ ſagte ein eleganter 
Herr, im ſchimmernden Seidenhut, indem er zwei kräftige 
Arme zu ihrem Schutze ausſtreckte. Er war nicht 
maskiert und nicht koſtümiert, und das flößte ihr ein 
merkwürdiges Vertrauen ein. Endlich ein Menſch mit 
einem echten Menſchengeſicht. Er war mit drei anderen 
Herren, alle ohne Larven. Sie umringten ſie, wie 
eine Schutzwache, und machten einen Weg für ſie frei. 
Wie ſie da aufatmete. 

„Sie ſpielt die Unſchuld vom Lande,“ ſagte einer 
der Herren zu dem von vorhin, „aber ſie ſpielt ſie 
gut. Seht Ihr, man trifft doch noch Geiſt auf den 
Mittwochs-Redouten; etwas ſelten freilich.“ 

„Und ſogar ein echtes Koſtüm,“ ſagte der dritte, 
„das iſt ja auch eine förmliche Rarität geworden auf 
unſeren Maskeraden. Wo haſt Du denn die Kleider 
her?“ wandte er ſich an Jutka ſelbſt. 


— 116 — 


„Hab' fie aus Dorog mitgebracht, gnädiger Herr,“ 
entgegnete ſie. 

„So, jo, mitgebracht,“ lächelte jener, „kommſt 
wohl geradenwegs aus Dorog hier an, auf dem Re— 
doutenball? Natürlich!“ 

„Ja wohl, gnädiger Herr, bin erſt vor zwei 
Stunden hier angekommen und ganz zufällig da herein— 
geraten,“ ſagte ſie, „aber bitte, ſeien Sie nicht böſe, 
die Leute haben mich ſo hereingedrängt; ich wollte ja 
nicht, gewiß nicht. Will auch gleich wieder hinaus, 
die Eltern warten draußen, . . . ſie werden ſich recht 
ängſtigen, wenn ich lange fortbleibe.“ 

„So, ſo, die Eltern warten; warum ſollten ſie 
denn nicht, die guten Eltern? Weiß ſchon, mein Kind, 
man kennt das, . .. haft Du denn aber auch ſchon 
zu Nacht gegeſſen?“ 

„Zu Nacht?“ ſchrie ſie hell auf, denn dieſes 
Wort öffnete ihr plötzlich die Ausſicht in eine ganze 
Küche voll guter Sachen. Sie war ſo jung und hatte 
den ganzen Tag nichts gegeſſen, noch getrunken. Ihr 
ſiebzehnjähriger Hunger war es, der aus ihr ſprach: 
„Zu Nacht? . .. Weiß Gott, nicht einmal zu 
Mittag.“ 

„Selbſtverſtändlich,“ lachte der eine ihrer Begleiter. 
„Das wußten wir im voraus. Man hat ja niemals 


— bl. 


zu Mittag gegeſſen. Haft alſo einen rechtſchaffenen 
Appetit, Kleine?“ 

„Wie ein Rudel Wölfe!“ platzte ſie heraus. 

„Ei freilich!“ ſagte der von vorhin. „Im Winter 
gehen die Wölfe immer gleich rudelweiſe. Dir ſoll 
aber auch geſchwind geholfen ſein, Panna, mein Herz. 
Du heißt ja wohl Panna?“ 

„Panna? warum nicht gar!“ rief ſie und warf 
ſtolz das braune Köpfchen mit dem dicken Zopf in den 
Nacken. „Panna heißt ja jeder Menſch. Ich heiße Jutka.“ 

Sie waren mittlerweile ins Buffet gelangt, in 
ein Nebengemach desſelben. Ein äußerſt feiner Herr 
in ſchwarzem Frack, mit weißer Serviette über dem 
Arm, tänzelte herbei und fragte Jutka höflich, was ſie 
befehle. Er war wunderbar friſiert und hatte einen 
weißen Strich ſenkrecht über den Kopf hinauf, zwiſchen 
zwei ſchimmernden Scheiteln. „O, gnädiger Herr, be— 
mühen Sie ſich nicht,“ entgegnete ſie ſo ehrfurchtsvoll, 
daß ihre Begleiter ſich die Seiten hielten. Selbſt der 
Kellner, der nicht gewohnt war, als gnädiger Herr 
behandelt zu werden, ſchmunzelte geſchmeichelt. 

„Sie ſpielt das Gäuschen vom Lande ganz köſt— 
lich,“ ſagte der eine Herr zu ſeinem Nachbar. „Wie 
froh könnte Fräulein Zora vom Nationaltheater ſein, 
wenn ſie dieſen naiven Ton hätte.“ 


— 118 — 


Und der andere darauf: „Offenbar nur ein ges 
wöhnliches Mädchen, aber ein Talent für das naive 
Fach. Wie ſie die Schüchterne und Unerfahrene giebt. 
Und wie reizend ſie ſich dieſes Koſtüm zuſammengeſtellt 
hat. Übrigens auffallender Weiſe noch ganz junges 
Blut, ein ſtrammes Ding, Sapriſti!“ 

Er entkorkte mit lautem Knall eine Champagner: 
flaſche. Sie ſtieß einen Schrei aus, ganz ſilberhell, 
und ſchrak ſo aufrichtig zuſammen, daß die vier ſie 
erſtaunt anſahen. 

„Siehſt Du, liebe Jutka, ſo erſchießt ſich mein 
Freund Gyuri, wenn er verliebt iſt,“ ſcherzte ihr linker 
Nachbar. 

„Jeſus Maria,“ ſagte ſie, als ſie ſich erholt hatte, 
„ich habe das Ding für eine Flaſche gehalten und es 
iſt eine Piſtole.“ 

Die vier lachten ſchon wieder. „Köſtlich geſpielt!“ 
verſicherten ſie, „ſuperb! Haſt Du denn noch keine 
Champagnerflaſche geſehen, Herzchen?“ 

„Was für eine Flaſche?“ fragte Jutka. 

„Ach, die Kleine iſt nicht zu bezahlen!“ rief Herr 
Gyuri, indem er ihr das volle Glas reichte. „Auf 
Deine Geſundheit, ſchöne Jutka! Trink aus!“ Und 
er ſtieß mit ihr an und leerte ſein Glas. 

Sie aber hielt das ihre zitternd in der Hand, 


— 119 — 


nur mit zwei Fingerſpitzen, am Stengel, ganz behut— 
ſam, und ſtarrte ihn eine ganze Weile mit großen 
Augen an. „Jeſus Maria,“ ſtammelte ſie endlich im 
Tone echten Schauders, „er hat das ſiedende Waſſer 
ausgetrunken!“ 

„Wa . . a. . as?“ riefen die vier aus einem 
Munde. „Siedendes Waſſer?“ 

„Nein, was dieſe Stadtherren für Kehlen und 
Magen haben müſſen!“ wunderte ſie ſich und ſchüttelte 
noch immer den Kopf, „unſereins würde ſich mit dem 
kleinſten Schlückchen durch und durch verbrühen. Brr!“ 
Und ſie ſchauderte, mit einem ganzen Dutzend „r“ 
zwiſchen Gaumen und Zunge. 

„Aber ſo thu doch Beſcheid, liebes Kind,“ redete 
ihr Herr Gyuri zu, „haſt Du noch niemals Champagner 
geſehen?“ 


„Cham .. .,“ wiederholte fie. 
fuhr er fort. 
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age Sn% 

„F Waner 


Sie ſagte ihm die Silben aufmerkſam nach, ganz 
behutſam, um ſie nicht zu fehlen, aber dann, als ſie 
das ganze Wort auf einmal ausſprechen ſollte, kollerten 
die Buchſtaben doch wieder durcheinander. Die vier 


— 120 — 


Herren lachten wieder. Was die aber auch immer zu 
lachen hatten! Und dann ſollte ſie wirklich trinken, 
das roſenrote, ſiedende Waſſer da, das überfloß wie 
die Suppe am Herd . .. Nun, es ſchien mittlerweile 
etwas ausgekühlt zu ſein, denn es ſchäumte nicht mehr 
ſo heiß wie zuvor und warf nur Garben winzig kleiner 
Stecknadelköpfchen auf, die aber doch was anderes ſein 
mochten, vielleicht gar Luft. Und, da die vier gnädigen 
Herren ihr gar jo zuredeten, von vier Seiten auf ein⸗ 
mal, . . . huſch, hatte fie auf einen Zug das Glas— 
voll geſchluckt. Wo ſie nur die Keckheit dazu herge— 
nommen, fragte ſie ſich und ſaß nun da, die Augen 
feſt geſchloſſen, die eine Hand mit dem kunſtvoll zer— 
löcherten Tüchlein feſt vor die Herzgrube gepreßt, und 
wartete mäuschenſtill. Als ſie dann doch merkte, daß 
ſie innerlich nicht verbrüht war und daß im Gegenteil 
ein ſeltſames Prickeln, wie Kälte und Wärme zugleich, 
durch ihre Adern rieſelte, bis in ihre Fingerſpitzen 
hinein, that ſie plötzlich die Augen wieder auf und 
lachte wie ein Kind. 

„Sie iſt zum Anbeißen,“ murmelte Herr Gyuri 
und rückte ihr noch näher, obgleich er ihr ſchon vorher 
nicht gar fern geſeſſen. 

Und das erſte Glas that Wunder. Jutka aß und 
trank und lachte dazu. Und dann wurde ihr heiß und 


— 121 — 


fie riß ſich die Sammetlarve, die ſie bisher nicht um 
die Welt hatte ablegen wollen, mit eigener Hand vom 
Geſichte. Das war wie ein Sonnenaufgang, als dieſes 
ſprühende, jugendfriſche Antlitz ſichtbar ward, mit ſeinen 
unberührten, jetzt feurig erhöhten Farben. Die viere 
ſaßen ordentlich betroffen da und ſtießen ſich unter dem 
Tiſch mit den Knieen. 

„Alle Wetter!“ 

„Alle Hagel!“ 

„Alle Teufel!“ 

„Alle guten Geiſter!“ 

Sie murmelten dieſe vier Empfindungslaute nur 
leiſe vor ſich hin, gleichzeitig; ſie hätten ebenſogut 
das nämliche ſagen können. Nein, darauf waren ſie 
nicht gefaßt geweſen. Nein, dieſes Geſicht log nicht. 
Das war keine geſpielte Einfalt vom Lande, ſondern 
die wirkliche Unſchuld, vom Himmel gefallen mitten 
hinein in dieſen Sündenwuſt, um eine Schürze voll 
gebeſſerter Männerherzen zu ſammeln und mitzunehmen, 
da hinauf, über die Wolken 

Und Jutka lachte noch immer. Hatte freilich auch 
die Zähne dazu, lauter echte Perlen, mit harter Brod— 
rinde poliert. Die Zigeuner draußen ſtimmten eben 
einen Csardas an, unter hundertſtimmigem Juchhe 
des Maskenpöbels. Schon dröhnte der Takt ſtampfen— 


— 122 — 


der Sohlen und Hacken durch den Saal. Der Taumel 
griff durch die Thüren herein, über die ſpaniſchen 
Wände herüber . . . Jutka fühlte ſich von acht Armen 
zugleich ergriffen, aber ſechs fielen wieder ab und auf 
zweien ſchwebte ſie davon. Sie glaubte nicht auf dem 
gewichſten Boden zu tanzen, ſondern auf roſenfarbenen 
Wolken, wie die Heiligen des großen Altarbildes da— 
heim in Dorog, zweihundert Meilen, zehntauſend Meilen 
von ihr, — was wußte ſie noch, wie weit. Und dann 
ſchwiegen die Zigeuner wieder, nach einer halben Stunde 
erſt, nach dreimaligem „Ujra,“ ! und als Herr Gyuri 
ſie wieder zu ihrem Seſſel führte und ihr vorlog: 
„weißt Du aber auch, liebe Jutka, daß man in der 
Hauptſtadt das erſte Tänzchen mit einem Kuſſe be— 
zahlt?“ da ſchien ihr das faſt natürlich und nur ein 
Etwas in ihr regte ſich unwillkürlich, daß ſie nur ge— 
ſchwind noch vorher die Sammetmaske vor das Geſicht 
band. So bot fie ihm den Mund, . .. da das doch 
in der Hauptſtadt ſo Sitte ſei. 


ba! 
Ihr ſchwindelte, . .. vom langen Tanz oder 
vom kurzen Kuß? ... und Herr Gyuri drehte ſich 


den vollen Schnurrbart mit der rechten Fauſt und 


ı „Ujra“ (von neuem), der Ruf, mit dem ein Tanz zur Wiederholung 
begehrt wird. 


— 123 — 


ſchnalzte dann mit den Fingern ſo laut, daß der Kellner 
hereingeſtürzt kam und fragte: „Befehlen, Herr Ball- 
ordner?“ 

Ungeſchickter Burſche! In einem ſolchen Augen— 
blick die amtliche Würde des Ballordners zu ver— 
raten! 

Nun war der ganze Zauber gebrochen. Das ſtrenge 
Wort „Ordner“ zerſtreute in Jutkas Seele ſofort den 
ganzen ſchönen, roſenroten, taubengrauen, ſilberblauen 
Duſel. Nüchtern, wie am frühen Morgen, ſtand ſie 
da und rief angſtvoll: 

„Jeſus, meine Mutter, mein Vater! Wo ſind 
fie? Wie ſpät es geworden iſt! . .. Ach Gott, ich 
muß fort, fort, ich muß ſie ſuchen, ſie werden ſchon 
in Verzweiflung ſein, weil fie mich verloren haben ... 
O, bitte, bitte, halten Sie ein armes Mädchen nicht 
zurück, zeigen Sie mir den Ausgang. Gewiß, meine 
Eltern erwarten mich noch immer, auf der Bank, im 
Garten, vor dieſem großen Hauſe.“ 

Und aus ihren großen, ängſtlichen Augen ſtürzten 
ſchwere Tropfen, einer nach dem anderen, über den 
ſchwarzen Sammet ihrer Larve hinab, daß es ſchien, 
als wären dieſe Augen ſo ſchwarz, daß ſie auch nur 
ſchwarze Perlen weinen könnten. 

„Thränen, das iſt nichts für mich,“ ſagte einer 


— 124 — 


der Herren achſelzuckend und wollte ſich drücken. Aber 
Herr Gyuri befahl ihm, hinunter zu gehen in den 
kleinen Park und Jutkas Eltern zu ſuchen und zu be— 
ruhigen. 

„Und bringe ſie gleich mit herauf,“ rief ihm ein 
dritter nach. Dann tröſteten ſie die Verwaiſte mit den 
thörichteſten Vernunftgründen, alle drei, am eifrig— 
ſten der Herr Ballordner, ſo daß Jutka nach und 
nach einen beträchtlichen Teil ihrer Angſt vor dieſem 
gewaltigen Herrn verlor. Nur die Beſorgnis blieb noch, 
ob jener gute gnädige Herr (Nummer vier) die beiden 
Alten auch noch finden würde. Aber Herr Gyuri nahm 
die Amtsmiene vor und beruhigte ſie: der Bote eines 
Ballordners wiſſe jeden Menſchen in jedem Augen- 
blicke zu finden. 

Und ſie kamen. Sie waren da. Halb verſtört, 
halb entzückt. Sie hatten erſt lange Zeit da unten 
ſtill geſeſſen, weil ſie nicht wußten, wo ſie Jutka ſuchen 
ſollten, und dann wieder eine lange Zeit, damit Jutka 
ſie fände, wenn ſie etwa zurückkehren ſollte. Und nun 
hatten ſie ſie wieder, ſo viel wie unverſehrt und ſogar 
ſatt. O, dieſe Hauptſtadt, jo grauſam und jo liebens— 
würdig, wie ſchön nahm ſie ſo eine wildfremde Familie 
vom Lande auf! Nein, ſo eine Stadt giebt es auf der 
ganzen Welt nicht wieder, in Dorog am allerwenigſten. 


— 125 — 


Und der feine Herr mit den ölglatten Scheiteln, 
dem fliegenden Schwalbenſchwanz hinter ſich und der 
Serviette über dem Arm, ſchenkte nun auch ihnen 
fleißig ein und tiſchte ihnen auf, was gar keinen 
Namen hatte, und ſie befahlen ihre Seele Gott, von 
wegen der Bezahlung, und aßen und tranken. 

War es das Glück, war es der Cham-pa⸗gner, 
was Jutka den Kopf ſo ſchwer machte und das Herz 
ſo leicht? Sie neigte die glühende Stirne auf ihre 
beiden weißen Arme, denn der Schlaf wollte ſie er— 
drücken. Doch da, im Buffet, war kein Ort zum 
Schlafen. Herr Gyuri wußte einen beſſeren. Nur ein 
paar Schritte, bis zum Komiteezimmer; die ſchöne 
Maske ſei unwohl, da könne ſie ſich ungeſtört erholen, 
niemand werde ſie ſtören, er ſelbſt ſtecke den Schlüſſel 
in die Taſche. 

Die beiden Alten aber ſollten ſich nur in Ruhe 
den Maskenball anſehen, nach Herzensluſt, er und ſeine 
Freunde wollten ſie geleiten und ihnen alles erklären. 

Das prächtige alte Paar in ſeiner urwüchſigen 
Bauerntracht machte, als man erfuhr, dies ſeien die 
Eltern jenes wunderbaren Doroger Mädchens, kein ge— 
ringes Aufſehen. Man bedauerte nur, daß das Töchter— 
lein ſich einſtweilen zurückgezogen habe. Sie wurden 
von dem buntſcheckigen Janhagel arg umdrängt und 


— 126 — 


mußten hundert Hände ſchütteln, darunter fogar etliche 
behandſchuhte, und aus hundert Gläſern Beſcheid thun, 
darunter ſogar aus etlichen vollen. Alles war ein- 
ſtimmig darin, die drei ſeien die Krone des Feſtes, 
die waſchechteſten Koſtümfiguren, die man im heurigen 
Faſching zu Geſicht bekommen. Ein alter Herr be— 
ſonders hatte ſie ganz und gar in ſein Herz geſchloſſen. 
In einem Augenblick, als ſie ihre frühere Begleitung 
im Gedränge verloren hatten, nahm er ſich ihrer an 
und rettete ſie ins Buffet, wo er flugs den beſten 
Tokayer auffahren ließ. Reines Gold, gelbes Feuer. 
Und der Mann konnte es thun, denn er war Direktor 
der Singſpielhalle „Zum lachenden Ferkel,“ ganz weit 
draußen in der feinſten Vorſtadt, wo die luſtige Welt 
ihr Stelldichein hat, ſo ſagte er, und der noble Herr 
mit dem Schwalbenſchwanz und der Serviette beſchwor 
es franzöſiſch. Und nach dem zweiten Glaſe Tokayer 
ließ er ſich vom Alten in alle feine Verhältniſſe ein— 
weihen. Und nach dem dritten ſchlug er ihm ein 
Engagement vor; ſie ſollten jeden Abend in ihrem 
eigenen prächtigen Koſtüm bei ihm auftreten, und die 
ſchöne Jutka ſollte nichts als ein Lied ſingen und einen 
Tanz tanzen, und dafür wollte er ihnen jeden Abend 
zehn Gulden bezahlen, oder in Gottes Namen zwanzig. 
Und nach dem vierten Glaſe drückte er ihm ſogar eine 


— 127 — 


Note von fünfzig Gulden in die Hand, als Angabe; 
dem Alten gingen die Augen über und er dachte ſich: 
am Ende iſt ſie gar nicht echt. Aber der noble Herr mit 
Schwalbenſchwanz und Serviette wechſelte ſie ihm augen— 
blicklich in fünf blaue Zehnernoten um, fo daß jeder 
Zweifel ſchwand. Und nach dem ſechſten Glaſe ſchrieb 
der Alte richtig ſeinen Namen auf ein Papier, ganz 
breit und leſerlich: Rezneky Andraſch, und machte mit 
der Feder einen großen Zug darunter, daß die kugel— 
runden ſchwarzen Kleckschen weithin über das Papier 
ſprühten. 

Ein gewaltiges Gefühl des Gerettetſeins, des 
Glücks, erfüllte ſein Herz. Er umarmte ſeine alte 
Boriſch und ſie weinten eine Thräne aus vier Augen, 
eine recht ausgiebige, wie billig, wenn es einem recht 
gut geht auf Erden. Und dann wollten ſie das ganze 
heidenmäßige Chineſenglück, das ſie betroffen, der Jutka 
mitteilen, damit auch ſie ihren Luftſprung thue auf 
einem Beine oder keinem. Aber wo war Jutka? Wo, 
ja wo? Wo, bei allen Engeln, oder Teufeln .. 
Jutka! Jutka! ... Sie durchirrten alle Säle und 
ſuchten ihre verlorene Stecknadel; ſie fragten jede Stein 
figur auf ihrem Sockel, ob ſie die Jutka nicht geſehen. 
Es war ſehr ſpät geworden, oder ſehr früh, wie man's 
nimmt; die Säle leerten ſich zuſehends; man ſah nur 


— 128 — 


noch Pärchen, Pärchen und wieder Pärchen umher: 
flattern, noch immer oder ſchon wieder. 

Der Herr Direktor ſuchte die alten Leute zu 
tröſten, mit einem Geſicht, als ob er ein großes Stück 
Zucker im Munde hielte: der Herr Ballordner ſelbſt 
habe ja die Geſuchte unter ſeinem mächtigen Schutz, 
es könne ihr unmöglich das Geringſte zuſtoßen. Aber 
die Alten gaben nicht nach, beſonders Mutter Boriſch, 
welche durchaus den Herrn Ballordner ſprechen wollte. 
Aber der war ſchon fort, jo ſagte der Thürſteher, und 
der log ſchwerlich, denn er war in den Hausfarben ver— 
ſchnürt, an allen wichtigeren Stellen ſeiner Perſon. 
„Gut,“ ſagte Tante Boriſch, „im gelben Hauſe muß er 
zu finden ſein, ich gehe ins gelbe Haus.“ Der Herr 
Direktor mußte ſie führen und ſie gelangten in dasſelbe 
große Gebäude, in dem ſie den Vetter Mihok geſprochen. 
O, das traf ſich vorzüglich; Vetter Mihok war ja all— 
mächtig in dieſer Gegend. Wo er denn ſei, der gute 
Mihok? . .. Der ſchlafe jetzt zu Haufe, in feinem 
Bette... Ob man ihn nicht wecken könne? Der Fall 
ſei dringend .. . Welche Idee, das gäbe einen ſchönen 
Tanz, der Bote käme nicht zur Hälfte wieder. 

Es hieß warten, bis zum Morgen. Der Nacht⸗ 
beamte riet es gutmütig und ſtellte ſogar ein ledernes 
Kanapee zur Verfügung und drei Rohrſeſſel, da könnten 


—_ 29292 


die beiden ſchlafen. Und Onkel Andraſch ſchlief wirklich, 
Tante Boriſch aber ſaß neben ihm und ſchüttelte die 
ganze Zeit nur den Kopf und murmelte ſtundenlang 
nur: „O Du mein Gott, o Du mein Herr und Gott,“ 
und dann wieder umgekehrt. 

Es dauerte länger als lang, bis Vetter Mihok 
kam. Die beiden Alten erzählten unterdes ihren Fall 
wohl ein dutzendmal den verſchiedenſten Beamten. Als 
Vettern des hochmögenden Michael von Rezneky fehlte 
es ihnen nicht an teilnehmenden Zuhörern. Endlich kam 
der Erſehnte an und ſie wurden ihm ſchleunigſt vor— 
geführt. Der Herr Direktor des „lachenden Ferkels“ 
humpelte beſcheiden hinterdrein. 

Das war ein eſſigſaurer Empfang. Vetter Mihok 
ſchien an rauhem Hals zu leiden, denn er ſprach lauter 
Raſpeln und Sägefeilen. Er nahm erſt gar keine Notiz 
von den dreien, ſondern ſchellte nur und befahl, ſo— 
bald ſein Sohn im Amt erſchiene, ihn hereinzuſchicken. 
Und dann ging der Sturm los. Er donnerte und 
wetterte, was nicht einmal im hundertjährigen Kalender 
ſtand, ſo daß der Herr Direktor hinter den Alten immer 
kleiner wurde. 

„Schöne Geſchichte das, mit dem Mädchen! Sich 
ſo wegzuwerfen. Pfui! (Er ſpuckte auf den Boden.) 


Und wieder Pfui! (Er ſpuckte wieder auf den Boden.) 
Heveſi, Buch der Laune. 9 


— 130 — 


Auf einem gemeinen Maskenball, wo gar fein an- 
ſtändiges Mädchen hingeht. Und ſich vom erſten beſten 
füttern und tränken laſſen, wie das liebe V. ..! 
Skandal! Und das trägt meinen Namen! Hoffent— 
lich habt Ihr wenigſtens Euren Namen keiner Seele 
geſagt, he?“ 

„Unſeren Namen,“ ſtammelte Onkel Andraſch, 
„nein, nein, keiner Sterbensſeele.“ 

„Das iſt Euer Glück, ſonſt . . .“ 

„Das heißt, nur . . . aufgeſchrieben hab' ich ihn.“ 

„Aufgeſchrieben? Ei, da ſoll ja doch gleich der 
kreuzweis geflochtene Himmelsdonner ...“ 

„Aber nur ein einziges Mal, lieber Vetter Mihok, 
deu Herrn Direktor da, unter den Vertrag ...“ 

„Direktor? Vertrag? . . . Was ſoll das heißen? 
Du wirſt doch nicht .. . Wo iſt dieſer Vertrag? . . .“ 

Der Herr Direktor aus der feinſten Vorſtadt zog 
das Schriftſtück aus der Bruſttaſche und reichte es ihm 
mit einer Art von beſcheidenem Trotz. Der Hoch— 
mögende warf nur einen Blick darauf und wurde puter— 
rot und puterblau am ganzen Kopfe. Er preßte ſich 
beide Fäuſte auf die Bruſt und rang nach Faſſung. End—⸗ 
lich konnte er wieder ſprechen, mit verſagender Stimme. 

„Und unter Eurem Namen wollt Ihr auf dieſer 
Schandbühne auftreten? Unter meinem Namen? 


— 131 — 


Nimmermehr! Ihr werdet einen falſchen Namen auf 
den Zettel ſetzen. Der Name Rezneky wird nicht auf 
dem Pranger ſtehen.“ 

„Auf dem Pranger, Vetter Mihok? Ich trage 
den Namen Rezneky in Ehren ſeit 65 Jahren; wo ich 
bin, iſt auch mein Name gut aufgehoben,“ ſagte Onkel 
Andraſch und richtete ſich ſtolz auf, faſt drohend, denn 
man hatte ſeinen Namen anzutaſten gewagt. 

„Pfui,“ rief Vetter Mihok und ſpuckte ſchon wieder 
auf den Boden. „Ein ungariſcher Bauer und auf dem 
Pranger! Hundertmal pfui!“ 

„Ich bin kein Bauer,“ rief Onkel Andraſch, jetzt 
ſchon aufs höchſte gereizt. „Nicht mehr. Um lumpige 
tauſend Gulden hat Nachbar Fekete mein belaſtetes Erbe 
gekauft, bei der Verſteigerung. Er iſt freilich ein Ehren 
mann und bleibt mir acht Tage im Worte, falls ich's 
ihm noch irgendwie ablöſen kann, um fünfzehnhundert. 
Heda, Herr Direktor von der luſtigen Vorſtadt, kann 
ich mir bei Ihnen in acht Tagen fünfzehnhundert Gulden 
verdienen?“ 

Der Direktor des lachenden Ferkels kratzte ſich 
grinſend den Kopf: „Fünfzehnhundert Gulden ſind ein 
rundes Geld. Aber... wiſſen Sie, Herr von Rezneky, 
ſolche Leute pflegen mit ſich reden zu laſſen. Viel⸗ 
leicht giebt er zu den acht Tagen noch ſechs Monate 


— 12 — 


zu... und läßt von den Fünfzehnhundert noch etwas 
nach. Verſuchen kann man's auf jeden Fall.“ 

„Topp!“ rief Onkel Andraſch freudig. „Herr 
Direktor, Sie ſind ein Mann. Sie machen mich wieder 
zum Bauer ... und einſtweilen wollen wir für Sie 
ſingen und tanzen, alle drei; Mutter Boriſch muß auch 
tanzen!“ 

„Schweig, alter Faſelhans!“ donnerte ihn Herr 
Michael an. „Was weißt Du davon? Dieſe Sing— 
ſpielhalle iſt eine Höhle des Laſters. Kein anſtändiger 
Menſch ſetzt den Fuß da hinein, am allerwenigſten ein 
Mädchen.“ 

„Jeſus Maria und heiliger Joſef!“ ſchrie Mutter 
Boriſch auf. „Meine arme Jutka!“ Und ein ſchluchzen⸗ 
der Krampf ging durch ihre Bruſt. 

„Übrigens,“ fügte Herr Michael hinzu, „das 
wäre auch umſonſt, den Namen zu fälſchen; alle Welt 
wüßte doch, wer Ihr ſeid.“ 

„Rettung! Liebſter Vetter Mihok, rettet meine 
Jutka!“ flehte Mutter Boriſch und warf ſich dem 
Großmächtigen zu Füßen. 

Dieſer ſah ſie gar nicht an und ſtudierte nur den 
Vertrag. Dann ſagte er: „Da iſt ein Reugeld von 
zweihundert Gulden ſtipuliert, für etwaigen Rücktritt.“ 
Er griff in die Brieftaſche ... „Hier, Herr Dingsda, 


— 133 — 


nehmen Sie das Reugeld. Der Vertrag iſt null.“ 
Und er riß ihn mitten auseinander. 

Das alte Paar ſtaunte ſprachlos ſeine Hände an, 
wie die eines Zauberers. Der Direktor griff zögernd 
nach dem Gelde und kratzte ſich am Hinterkopf. „Und 
fünfzig Gulden Vorſchuß hab' ich dem Herrn Rezneky 
gegeben,“ ſagte er dann leiſe, als wolle er das nicht 
an die große Glocke hängen. Da griff Onkel Andraſch 
haſtig in die Taſche, holte mit bebenden Fingern 
die fünf blauen Noten hervor und ſtopfte ſie dem 
Manne in die offene Hand. „Da, da, da; nehmt, 
geht, . .. geht,“ ſtotterte er und wandte ſich taumelnd 
von ihm. 

Der Herr Direktor ſchlich unter Bücklingen der 
Thüre zu, die er geräuſchlos hinter ſich ſchloß. 

„Und Eurem Nachbar Fekete will ich ſchreiben, 
noch heute,“ brummte Vetter Mihok. 

Sie dankten ihm nicht. Sie fanden das Wort 
nicht. Aber ſie ſanken einander in die Arme, Onkel 
Andraſch und Mutter Boriſch, und umarmten ſich ſo 
feſt, als müßten ſie ſich gegenſeitig ſtützen, um nicht 
hinzufallen. 

Eben ging die Thür auf und herein trat Herr 
Gyuri. Er ſchien ein längere Rede in raſcheſtem Fluß 
halten zu wollen und auf dieſelbe gründlich vorbereitet 


— 134 — 


zu ſein, aber fein Vater winkte ungeduldig mit der 
Hand und er ſchwieg. 

„Wo hat Jutka die Nacht verbracht?“ fragte 
Herr Michael. Nicht recht heil kamen die Worte 
zwiſchen ſeinen zuſammengebiſſenen Zähnen hervor. 

„Auf dem Komiteezimmer,“ ſagte Gyuri feſt. 

„Allein?“ fragte ſein Vater ſcharf. 

„Allein“, entgegnete der junge Mann, etwas 
weniger feſt. | 

Herr Michael ſtampfte mit dem Fuße und warf 
ihm einen durchbohrenden Blick zu. „Und wo iſt ſie 
jetzt?“ ſchrie er leidenſchaftlich, denn die Selbſtbe— 
herrſchung verließ ihn und er trat heftig einen Schritt 
näher. 5 
„Bei meiner Mutter,“ ſagte Herr Gyuri ſehr ge— 
faßt und beſtimmt; nur war ihm das Blut plötzlich 
bis unter die dunklen Stirnlocken geſtiegen und die 
linke Spitze ſeines Schnurrbarts zuckte merklich. 

„Bei... meiner Frau?“ ſtieß Herr Michael 
ſchwer hervor. 

„Ja,“ ſagte Herr Gyuri, „die Mutter weiß alles 
und hat ſie umarmt und geküßt.“ 

„Meine Frau hat fie geküßt?“ ſchrie Herr Michael 
außer ſich. „Du lügſt, das iſt nicht wahr!“ 

„Vater!“ rief der junge Mann drohend, „ich 


—_ . 199 


füge nie, ich bin Dein Sohn.“ Er holte tief Atem. „Und 
am wenigſten lüge ich vor den Eltern meiner Braut.“ 

Sprachlos, mit offenem Munde ſtarrte ihm Herr 
Michael ins Geſicht. Er fuhr ſich mit der Hand über 
das eine Ohr, das ſchwächer hörte, und räuſperte ſich 
und ſchluckte ein großes Wort hinunter; man ſah es 
deutlich, es war ein ſehr dickes, ſchweres Wort, mit 
Widerhaken. 

Er ſagte nichts und ging langſam, mit ſteifen 
Beinen, als hätte er ein wildes Fohlen geritten, ins 
Nebenzimmer, deſſen Thür er hinter ſich ſchloß. Die 
drei ſahen ihm geſpannten Auges nach und konnten 
auch, nachdem er verſchwunden war, die Augen nicht 
von der geſchloſſenen Thüre löſen. Aber im Neben— 
zimmer war alles ſtill; dann, nach einer Weile, hörte 
man den Alten auf und nieder ſtapfen, am Fenſter 
blieb er ab und zu ſtehen und trommelte auf den 
Scheiben, man vernahm es deutlich, immer ein Paar 
Takte vom Zapfenſtreich. Einmal hörte man ihn mit 
Waſſer hantieren und er ließ dabei etwas fallen, was 
in Scherben ging, er fluchte darauf laut, aber nicht 
allzu arg. 

Dann öffnete er die Thüre und wollte heraus— 
treten, aber er that es nicht, ſondern warf die Thüre 
wieder zu. 


— 136 — 


Nach einigen Minuten erſchien ein Amtsdiener 
und entbot den jungen Herrn „hinüber“ zu ſeinem 
Herrn Vater. 

Herr Michael ſtand aufrecht in der Mitte des 
Zimmers. Sein Antlitz war ernſt, aber nicht finſter. 
Er trat hart vor ſeinen Sohn hin, der faſt an der 
Thüre ſtehen geblieben war, und ſagte, Aug' in Auge, 
jede Silbe betonend: 

„Jetzt, von Mann zu Mann, mußt Du?“ 

„Ich muß,“ antwortete Herr Gyuri ohne Zaudern. 

„Ah!“ entfuhr es dem Alten und unwillkürlich 
ballte er die Fauſt. 

„Denn ich liebe fie und ſie iſt ein Schatz,“ er— 
gänzte Herr Gyuri. 

„Wir wollen ſehen,“ ſagte Herr Michael, „bringe 
die Alten zu ihrem Kinde.“ 


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Anna. 


(1887.) 


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E 
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8 
5 


n dem eleganten Speiſeſaale, der an das 
ſtadtbekannte Atelier des großen Malers 
Karl Rieſe ſtieß, ging es hoch her. Seit 

en ſchon klangen die Gläſer und weinfröhliches 

Lachen erſchütterte die Flammen des Kronleuchters. 

Eine angenehme Tollheit hatte ſich der Gemüter be— 

mächtigt und jedermann hatte die Empfindung, unter 

ſo vielen Glücklichen der Glücklichſte zu ſein. Wenn 
man dieſes Dutzend ſprühender, glänzender Leutchen 
anſah, mußte man unwillkürlich ausrufen: Nein, das 

Leben iſt doch ſchön! Glück und Freude iſt alles hie— 

nieden! Das Unglück iſt ein Märchen, um Kinder zu, 

ichreden, und Thränen fallen nur im Traume, wie 

Tau nur in der Nacht. 

Ach, hätten dieſe Fröhlichen nur einen Schritt 
über die Schwelle des ſchwach erleuchteten Ateliers 
gethan. Sie hätten ſich beſchämt geſtehen müſſen: ja, 


— 140 — 


es giebt auch Unglückliche, Verlaſſene; hart bei der 
Geſelligkeit wohnt die Einſamkeit; Luſt und Trauer 
ſind Wandnachbarn. 

In einer Ecke des Ateliers, als hätte ſie ſich vor 
dem Luſtgetöſe dahin geflüchtet, ſtand ein junges Mäd⸗ 
chen. Sie war hoch und ſchlank gewachſen, ein vene- 
tianiſches Sammtkleid umſpannte ihre friſchen Formen. 
Aber ihr Antlitz war blaß und ſtill; über das edle 
Oval desſelben glitt nicht der Schimmer eines Lächelns, 
wenn durch die offene Doppelthür ein ſtürmiſches Ge⸗ 
lächter hereinſcholl. Halb abgewandt und doch mit 
einem Ohre hinaushorchend ſtand ſie da, wie zwiſchen 
Furcht und Verlangen . .. und keine Thräne glänzte 
im Auge der Verlaſſenen, kein bitterer Zug kräuſelte 
die roten Lippen der Vergeſſenen. Sie hätte nur hinaus⸗ 
zutreten gebraucht in ihrer ſammtenen Fürſtenpracht 
und fie wäre die Königin des Feſtes geweſen, .. 
aber ſie trat nicht hinaus, ſie ſtand und ſchwieg. 

Da plötzlich entſtand ein Getümmel im Speiſe⸗ 
ſaale. Aufgeregte Stimmen kreuzten ſich, darunter 
eine neue, ſeltſam ſchwankende Baß-Tenorſtimme. Wer 
ſollte dieſe nicht kennen in der Künſtlerſchaft? Der 
Prophet Bezechiel war ſoeben eingetreten, mit dem 
Ausruf: „Kinder, heut wollen wir einmal animaliſch 
fein!" Eigentlich hieß er Hans Jung und war Hunde- 


— 141 — 


maler, der größte Hundemaler ſeiner Zeit, aber weil 
er immer gleich vom erſten Glaſe Wein bezecht war, 
hatte man ihm jenen prophetiſchen Beinamen gegeben. 
Er galt übrigens wegen der Unordnungen, die er in 
dieſem Zuſtande anrichtete, für einen in den weiteſten 
Kreiſen hinausgeworfenen Menſchen. 

„Um aller Propheten willen, Bezechiel,“ erſcholl 
die Stimme der Hausfrau, „mit Ihnen ſind wir ja 
dreizehn am Tiſche.“ 

„Gut,“ entgegnete er mit ſchwerer Zunge, „ſo 
zählen wir von rechts nach links, . . . nein, von... 
links nach rechts, dann ſind wir einunddreißig.“ Uns 
ſicheren Schrittes ging er auf einen Seſſel los, er 
wußte trotz ſeines Nebels den rechten zu finden. Den- 
jenigen nämlich, auf welchem Fräulein Suſanne ſaß, 
die Schweſter des Hausherrn, eine Seele von einem 
Mädchen, ... das hatte er ja längſt heraus. In 
der That erhob ſie ſich ſofort und ließ ihn niederſitzen. 
Kein Menſch hörte, wie ſie ihm dabei ins Ohr flüſterte: 
„Aber, Hans, ſchon wieder!“ Er wollte darauf ant— 
worten, vergaß aber nur ſeinen Mund auf ihrer Hand, 
die ſie auf ſeiner Stuhllehne vergeſſen hatte. 

Fräulein Suſanne wollte ſich nun nicht wieder 
an den Tiſch ſetzen, wegen der fatalen Dreizehn, . .. 
nein, durchaus nicht, ... fie wolle an nichts ſchuld 


— 142 — 


ſein, ſie würde ſich für eine Mörderin halten. Man 
ſann auf einen Ausweg und da rief der Hausherr 
plötzlich: „Wie wär's denn, wenn wir Anna zur Tafel 
zögen?“ . 

Allgemeines Gelächter folgte. „Anna! Lächerlich! 
Wer hat ſchon ſolches erlebt?“ 

„Warum nicht?“ meinte Rieſe, „Anna iſt eine 
hochanſtändige Perſon, kann ihr irgend jemand böſes 
nachſagen?“ 

Neues Gelächter. „Nein, nein, gewiß nicht! 
Böſes? Ha ha ha!“ 

„Hat ſie je ein unerlaubtes Verhältnis gehabt?“ 
fuhr Rieſe fort. 

„Ha ha ha! Anna ein Verhältnis! Wie käme 
dieſe ſteifleinene Tugend zu einem Geliebten?“ 

„Wohlan,“ rief Rieſe entſchloſſen, „ſo mag ſie 
unſere Vierzehnte ſein!“ 

Er ſtand auf und begab ſich ins Atelier. Das 
ſtille Mädchen ſtand noch immer in derſelben Ecke. 
Sie rührte ſich nicht, als er herantrat, fie ſchien geiſtes⸗ 
abweſend. Ohne ein Wort zu ſagen, zog er ihren 
Arm durch den ſeinen; ohne ein Wort zu ſagen, ließ 
ſie es geſchehen. Sie folgte nicht freiwillig, aber ſie 
ſträubte ſich auch nicht. 

Er hatte den Arm etwas keck um ihre Taille 


— 143 — 


gelegt, als ſie in den Speiſeſaal traten. Sie duldete 
es; ſie wußte ja gar nicht, wie ihr geſchah. Er ſtellte 
ſie vor: „Meine liebe Hausgenoſſin, Fräulein Anna 
von Werg.“ Alles ſtand auf und begrüßte ſie mit 
großer Herzlichkeit, man rückte ihr einen Stuhl an 
Bezechiels linke Seite, während Suſanne ſich zu ſeiner 
Rechten niederließ. 

Niemals in ihrem Leben war Anna dieſe Ehre 
widerfahren, denn ſie war nur eine Gliederpuppe. Eine 
auffallend wohlgebildete Gliederpuppe freilich, von 
einem geſchickten Plaſtiker ausgeſtopft und mit feinem, 
roſenrotem Trikot überzogen. Man hatte ihr im Hauſe 
den Namen Anna gegeben, denn es iſt ſtets unan⸗ 
genehm, jemanden nicht beim Namen rufen zu können. 

Anna war anfangs förmlich betäubt von den 
Gefühlen, die auf ſie einſtürmten, und von den Liebens— 
würdigkeiten, mit denen man ſie überſchüttete. Ja 
wohl, ſie hatte nur zu erſcheinen gebraucht, und war 
der Mittelpunkt des Feſtes. Wie herrlich ſtand ihr 
aber auch das Prachtkleid, in dem ſie Herrn Rieſe 
ſeit acht Tagen für eine Beatrice Cenci zu Modell 
ſaß. Welcher majeſtätiſche Anſtand, welcher ... 

Selbſt der Prophet Bezechiel war durch ſeine 
neue Nachbarin förmlich elektriſiert. Er, der aner⸗ 
kannte Meiſter der Hundemalerei, warf zum erſtenmal 


— 144 — 


ſein Auge auf das Modell zu einem Hiſtorienbild. 
Allerdings hatte er auch bisher ſchon viel Seltſames 
getrieben, ſo daß wiederholt in pleno über ſeine Ver⸗ 
bannung von der Tafel verhandelt worden war, — 
nur Suſannens eifrige Verwendung hatte immer wieder 
das äußerſte verhütet. Schon daß er den mit einem 
großen Löffel kredenzten Punſch für Suppe hielt und 
demgemäß aus einem heruntergeholten Majolika⸗Wand⸗ 
teller mit einem Löffel ſchlürfte, erregte einiges Miß⸗ 
fallen. Er entſchuldigte ſich zwar mit der leeren Phraſe, 
daß er „teils ca, teils put“ ſei, aber trotzdem wurde 
es übel vermerkt, daß er, um beſſer zu hören, die 
jeden Winter getragene Baumwolle aus dem Ohre 
nahm und einſtweilen neben ſeinen Teller legte. Auch 
daß er, in einem heftigen Anfall von Ordnungsſinn, 
den eben benützten Zahnſtocher hübſch wieder in das 
allgemeine Behältnis zurückſteckte, brachte die Nach— 
barſchaft gegen ihn auf. Sein Sologeſang von „drei 
Elementen, innig geſellt,“ rief vollends eine ſolche Be⸗ 
ſtürzung hervor, daß er in der richtigen Erkenntnis, 
zu wenig Elemente genommen zu haben, die Zahl 
derſelben ſchleunigſt verdoppelte, — Fräulein Suſanne 
hielt ihm mit ihrer eigenen warmen Hand den lieder⸗ 
frohen Mund zu, um ihn nur vor Prügeln zu ſchützen. 
Er küßte ihr zwar bei dieſer günſtigen Gelegenheit 


—= le) 


beinahe ein Loch in die flache Hand, worüber ſie hoch 
erfreut war, aber ach, dieſe Befriedigung ſollte nicht 
lange dauern. 

Denn dieſer Augenblick war es, in dem ſich 
Fräulein Anna von Werg an ſeine linke Seite ſetzte. 
Dieſe Nähe machte ihn ganz und gar toll. Ein ſchüch⸗ 
terner Streifblick über die verheißungsvolle Profillinie 
ihrer Figur, dann ein voller Blick in ihr klares, ruhiges 
Antlitz . .. und er machte eine halbe Wendung um 
ſeine eigene Achſe. Er wandte Suſannen den Rücken 
und ergriff Annas Hand, die er zärtlich an ſeine 
Lippen drückte. 

Ein „Ah!“ des Aufſehens und der Entrüſtung 
ging durch den Saal. 

Anna ſaß ſtarr vor Überraſchung da und hatte 
nicht die Kraft, ihm ihre Hand zu entziehen. Nie, nie 
in ihrem Leben war ihr das zugeſtoßen. Der Atem 
ſtockte in ihrer Bruſt und ihre andere Hand, die auf 
dem Tiſche lag, wurde feucht, denn Bezechiel hatte bei 
ſeiner raſchen Wendung ihr Punſchglas darüber aus⸗ 
gegoſſen. 

Und das mußte Suſanne mit anſehen! Auch in 
ihrer Bruſt ſtockte das Herz und zwei glänzende Punkte 
erſchienen in ihren Augenwinkeln. Sie ſtand auf und 
ging hinaus. 

Heveſi, Buch der Laune. 10 


— 146, _ 


Da ſtanden auch alle anderen auf. Wie aus einem 
Munde ſcholl es jenem flatterhaften Bezechiel entgegen: 
„Nichtswürdiger!“ Dieſe allgemeine Bewegung und 
dieſes einſtimmige Verdammungsurteil ernüchterten den 
Unglücklichen ſo weit, daß er Annas Hand ziemlich be— 
behutſam wieder auf ihr Knie deponierte. Er ſuchte 
nach ſeiner Baumwolle, die er nicht fand, und wollte 
eben Suſannen fragen, ob ſie derſelben nicht irgendwo 
begegnet wäre. Da bemerkte er, daß ſie nicht da war. 

Ihr Seſſel ſtand leer, ſie war verſchwunden. Er 
fuhr ſich mit der Hand über die Augen und ſtammelte 
etwas Unverſtändliches. 

„Ja, ja, das ſind die Folgen der Untreue,“ donnerte 
ihm ſein Gegenüber, ein Marinemaler zu. „Geh nur 
hinaus, Du loſer Vogel, geh augenblicklich und ſieh 
zu, daß Du unſere liebe Suſe wieder gut machſt.“ 

Da ging er hinaus . . . und machte fie wieder gut. 

Sie ſchmollte zwar anfangs, und das nachdrück— 
lich genug, denn wie groß — ſagte ſie — müſſe ſeine 
Flatterhaftigkeit ſein, wenn ſchon eine Gliederpuppe 
ſein Herz von ihr ablenken konnte, und was hätte er 
erſt gethan, wie weit hätte er ſich vergeſſen, wenn Anna 
ein ſchönes Weib aus Fleiſch und Bein wäre!? 

Bezechiel war in hohem Grade zerknirſcht und 
bat ſie auf ſeinen Knieen um Verzeihung. 


— 147 — 


Sie kamen Arm in Arm in den Saal zurück 
und die Geſellſchaft ließ ſie um Mitternacht ſtürmiſch 
leben, alle beide, in Gemeinſchaft. 

Nur Anna ſaß dabei und ſtimmte nicht mit ein. 
Die Unglückliche! Ein Augenblick der Seligkeit. .. 
und dann wieder alles kalt, leer, ſtumm. Es giebt 
Weſen, die geboren ſind, einſam und ungeliebt durch das 
Leben zu gehen. Ein ſolches Weſen war Anna von 
Werg. 


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Die drei Eismänner. 
Eine kühle Geſchichte. 


(1886. ) 


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55 


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„Das iſt im Leben häßlich eingerichtet.“ 
Scheffel. 


7 an ſollte ſich immer hüten, auf den erſten 
Ne 19 Schein hin jemanden ungünſtig zu be— 
a urteilen. Beſonders eine Dame, und 
ganz beſonders ein Mädchen, wenn dieſes auch gar 
nicht ſchön iſt und gar nicht ſo jung, wie ſie ſein könnte. 
Nein, man würde entſchieden geirrt haben, wenn man 
unſer gutes Fräulein Betty für eitel gehalten hätte, 
d. h. für eitler, als nun einmal jedes weibliche Weſen 
ſein muß und ſoll. Es iſt wahr, ſie trank den ganzen 
Winter des Morgens bitteren Kaffee, welche Flüſſigkeit 
bei innerlichem Gebrauche bekanntermaßen in hohem 
Grade ſchönheitbefördernd iſt, aber die wenigſten, denen 
dieſe Thatſache bekannt geworden, wiſſen den wahren 
Grund davon. Nicht um ſchöner zu werden, that ſie 
das, o beileibe! Denn ſchön genug iſt ſie ſich immer 
geweſen, ſie that dies vielmehr aus zweien der ſeltenſten 


2 
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und ehrenwerteſten Eigenſchaften des Weibes: aus Selbſt⸗ 
verleugnung und Opfermut. Eigentlich aus dreien, denn 
auch die Verſchwiegenheit iſt hoch zu rühmen, mit der 
ſie dieſen ganzen Sachverhalt als unverbrüchliches Ge— 
heimnis bewahrte. 

Ihre gute Mutter, in deren Hotel garni wir ſo und 
ſo viele Studenten wohnten, war nämlich merkwürdig 
knapp mit dem Zucker und lebte in der volkswirtſchaft— 
lichen Einbildung, daß an dieſem zur Verſüßung des 
menſchlichen Lebens beſtimmten Mineral am leichteſten 
ein bedeutendes Vermögen zu erſparen ſei. Wir freilich 
verurteilten dieſes Syſtem als ganz unwiſſenſchaftlich, 
unſer Frühtrunk wurde aber dadurch keineswegs ſüßer. 
Mit einer Ausnahme allerdings. Um nämlich der Wahr— 
heit die Ehre zu geben, ſei immerhin eingeſtanden, daß 
täglich einer von uns den Kaffee weit ſüßer bekam, 
als alle anderen. Ganz ungewöhnlich ſüß ſogar. Ach, 
wir ahnten es damals nicht, daß die gute Betty auch 
ihren Zucker zu dem ſeinigen that; wir waren eben 
noch zu jung, um den richtigen Einblick zu haben in 
die Zuſammenhänge des Lebens. Nur fiel es uns nach 
und nach auf, daß der Kaffee jenes einzigen immer 
gleich acht oder vierzehn Tage lang ſüß blieb und dann 
auf einmal wieder ebenſo bitter wurde wie der all— 
gemeine Kaffee, während die Süßigkeit ſich urplötzlich 


— 153 — 


in eine andere Taſſe verſchlug, um auch da längere 
oder kürzere Zeit hindurch ſtändig zu bleiben. Es fiel 
uns ferner auf, daß dieſe intereſſante Naturerſcheinung 
ſich ſtets nur im erſten Stockwerk ereignete, wo auf 
den Nummern 12, 13 und 14 drei Bevorzugte wohnten, 
gegen höhere Penſion, als wir Oberen. Und nicht 
minder wurde beobachtet, daß die Verſüßung ſtets noch 
gewiſſe andere Vorteile im Gefolge hatte: blanker ge— 
putzte Schuhe zum Beiſpiel und einen eigentümlichen 
Wohlgeruch, der von einer gewiſſen feineren Seife her— 
rührte, namentlich aber die beſondere Zierde, daß dem 
jeweiligen Günſtling meiſtens etliche feine Flaumfederchen 
da und dort an der Kleidung hafteten. Mit dieſen 
hatte es nun ſeine eigene Bewandtnis. Der erſte Stock 
verfügte unter anderen Annehmlichkeiten über ein ſeidenes 
Sofakiſſen, das mit den feinſten Dunen gefüllt war 
und jedes Nachmittagsſchläfchen zu einem hohen Genuß 
machen mußte. Daß es ein wenig Fläumchen ließ, 
that keinem Menſchen weh, es freute ſich doch jeder, 
das liebe Kiſſen auf ſeinem Ruhebett zu haben, und 
vermißte es ſchmerzlich, wenn es nach einem gewiſſen 
Zeitraum, gleichzeitig mit der Süße des Kaffees, plötzlich 
verſchwand, um in einem anderen Zimmer aufzutauchen. 

Wie kurzſichtig iſt doch die Jugend, oder wie un— 
bekümmert! Alle dieſe ſeltſamen Erſcheinungen nahmen 


— 154 — 


wir nur ganz allmälig wahr und es dauerte Monate, 
bis wir den Schlüſſel dazu fanden. Freilich war dieſer 
Schlüſſel in einem gar geheimen Schrein verſteckt, im 
Herzen unſerer guten Betty. Sollte man es für mög— 
lich halten, daß das Leben dieſer ſonſt muſterhaften 
Haustochter ganz und gar im Banne eines unbegreif— 
lichen Vorurteils ſtand? Sie ging, bei allem was ſie 
that und ließ, von der in dieſer Allgemeinheit ſchwer— 
lich gerechtfertigten Annahme aus, daß die Beſitzerin 
eines Hotel garni die Schwiegermutter eines der Miets— 
herren werden müſſe. Auf welchen, vielleicht uralten 
Überlieferungen dieſer bei damaligen Zeitläuften ſchon 
etwas unverläßlich gewordene Grundſatz beruhte, war 
und iſt unſereinem unerfindlich; ſicher ſcheint nur, daß 
die Sache ſich ſo verhielt. Dabei mag es auf einen 
gewiſſen romantiſchen Idealismus gedeutet werden, daß 
Fräulein Betty nur die Inſaſſen des vornehmen Stock— 
werkes ins Auge faßte und es verſchmähte, ihren Em— 
pfindungen ein höheres Ziel zu geben, welches in dieſem 
Falle das niedrigere geweſen wäre. Daß ſie dabei 
praktiſcheren Erwägungen, z. B. der betreffenden Ver— 
mögensverhältniſſe, gefolgt ſei, möchte doch nicht ſo 
ohne triftige Beweisgründe anzunehmen ſein. 

Die Schwierigkeit einer ſolchen Stellung zu drei 
jungen Leuten, und doch wieder zu keinem von ihnen, 


„ 


leuchtet wohl jedermann ein. Sie war um ſo größer, 
als unſer Fräulein Betty für ein anſtändiges Mädchen 
galt, hinauf und hinab, ſoweit unſere Gaſſe reichte. 
Man konnte ihr wahrhaftig nicht ſo bald etwas Ver— 
fängliches nachſagen; in den oberen Stockwerken wenig— 
ſtens hätte man dazu entſchieden lügen müſſen, eine 
Kunſt, mit der ſich doch, ganz unter uns geſagt, nur 
der Bewohner von Nr. 25 befaßte. Zu dergleichen 
Verdrehungen, Schnüffeleien und Geheimnisriechereien 
gehört denn doch eine eigene Naſe und ein Herz mit 
Krallen. Unſer Kollege auf Nr. 25 allerdings war 
weit und breit berühmt als Couleur-Diplomat. Er 
wußte alles und erriet noch mehr als alles. Er und 
kein anderer war es auch, der uns zuerſt mit einem 
Strahl aus der Diebslaterne ſeiner Logik hinableuchtete 
in die dunkeln Umtriebe des erſten Stockwerks. 

Nun denn, man darf wohl ſagen, daß Fräulein 
Betty ſich in den Ungewißheiten und Spannungen 
ihrer Stellung verzehrte. Die Bewohner des erſten 
Stockwerkes waren auch gerade in dieſem Jahre ſchlecht 
geraten. Sie waren von einer Gleichgültigkeit und 
Hochnaſigkeit, wie ſie zum Glück in jenen Kreiſen nicht 
oft vorkommen. Auf Nr. 12 wohnte ein Amerikaner, 
welcher chirurgiſche Spezialkurſe hörte, vermutlich im 
Skalpieren und dergleichen Künſten, die er daheim 


— 156 


brauchen kann. Dieſer Herr drückte feine Gedanken 
immer entweder durch „Ves“ oder „No“ aus, roch 
abſcheulich nach Karbol und brachte täglich irgend einen 
höchſt verdächtig ausſehenden Packen mit nach Hauſe, 
an dem ſich hie und da rötliche Flecken zeigten. Wenn 
er beim Ausgehen an Fräulein Betty vorbeikam, ſtieß 
er regelmäßig einen zuſammengeſetzten Laut aus, der 
ungefähr wie „Heooooh!“ klang. Begegnete er ihr 
aber auf dem Heimweg, ſo kehrte er die Geſchichte 
gänzlich um und äußerte ſich folgendermaßen: „Hoeeeh!“ 
Einen eingehenderen Meinungs- oder gar Gefühlsaus— 
tauſch mit ihm hatte unſere gute Betty bisher vergeb— 
lich angeſtrebt. 

Der Jüngling auf Nr. 13 war, wie wir alle 1 
können, ganz anders geartet. Er war von einer ſeltenen 
Kurzſichtigkeit und dies mag der Grund ſein, warum 
er täglich bis Mittag ſchlief; hätte er doch mit offenen 
Augen kaum viel mehr geſehen als mit geſchloſſenen. 
Er gedachte ſich der Geologie zu widmen und hatte 
die Taſchen meiſt voll mit intereſſanten Geſteinproben, 
welche ein bedeutendes Gewicht ausmachten. Geologie 
giebt aber mit Kurzſichtigkeit keine ſonderlich empfehlens⸗ 
werte Miſchung, das erfuhr Fräulein Betty einſt mit 
nicht geringem Schrecken. Sie ſtand eines Tages im 
Vorſaale, nahe bei der Stube Nr. 13, als deren Be— 


el 


wohner bei ſtrömendem Regen von einem geologijchen 
Ausflug heimkehrte. Er hatte einen triefnaſſen Gummi— 
mantel an und warf denſelben mit einer kecken Schwen— 
kung um die Schultern der Haustochter, die er in ſeiner 
Blödſichtigkeit für den Kleiderſtock hielt, — und dieſer 
ſtand doch auf der anderen Seite der Thür. Der 
naſſe Gummirock, deſſen Taſchen etliche Pfund Geologie 
enthielten, war ſo ſchwer, daß das arme Mädchen unter 
der Laſt in die Kniee ſank, ohne daß der Gelehrte es 
auch nur bemerkt hätte. Man darf wohl die Be— 
hauptung wagen, daß dieſer Herr ſeit Monaten täglich 
an unſerem Fräulein vorüberging, ohne ſie jemals ge— 
ſehen zu haben. 

Was Nr. 14 betrifft, war dieſe Stube von einem 
Befliſſenen der Archäologie bewohnt, der ſich auf eine 
Muſeallaufbahn vorbereitete. Der Übung halber hatte 
er ſein Zimmerchen als archäologiſches Muſeum ein— 
gerichtet, in dem jedes Gerät mit einer laufenden 
Nummer beklebt war. Er hatte dazu einen beſchreiben— 
den Katalog nach den neueſten Grundſätzen der Muſeen— 
kunde angelegt. Es war dies eine merkwürdige, ja 
bahnbrechende Arbeit über einen bis dahin ganz ver— 
nachläſſigten Bezirk der Altertumsforſchung. Sein Waſch— 
becken war darin folgendermaßen geſchildert: „184. 
Antikes Thongefäß zu Tempelzwecken, auf der Töpfer— 


— 158 — 


ſcheibe gedreht, mit weißer Glaſur; 4. Jahrh. vor Chr., 
Eleuſis. Aus der Sammlung Scherbenberg.“ Sein 
Tiſch war eingetragen wie folgt: „93. Tiſch mit ge— 
ſchweiften Füßen. Nußbaumholz. Vermutlich 17. Jahrh. 
Platte, Schublade und Füße ſind neu, leider von geringer 
Hand. 1834 aus der fürſtl. Trödlerſchen Sammlung 
erworben.“ Über ſeine Bettdecke äußerte ſich der Ka— 
talog in folgender Weiſe: 114. Prunkdecke in charaf- 
teriſtiſcher Stepparbeit. Mitte des 19. Jahrh. Scheint 
urſprünglich mit Purpur gefärbt geweſen zu ſein. Her: 
kunft unbekannt.“ Dieſer Katalog umfaßte über drei— 
hundert Nummern und wurde fortwährend verbeſſert, 
je nachdem die Forſchung neues über die verſchiedenen 
Gegenſtände ans Licht brachte. An der Thüre aber 
war ein Zettel befeſtigt mit der Kundmachung: „Die 
Sammlung iſt dem Publikum jeden Tag von 8 Uhr 
morgens bis 10 Uhr abends gegen Anmeldung beim 
Kuſtos zugänglich; in den Ferien bleibt dieſelbe ge— 
ſchloſſen.“ Die große Liberalität, mit welcher das 
ſehenswerte Muſeum allen Gebildeten eröffnet war, ver— 
dient gewiß die höchſte Anerkennung, obgleich es ſich 
etwas ſonderbar traf, daß der Kuſtos gerade von 8 Uhr 
morgens bis 10 Uhr abends niemals zu Hauſe war, 
was das Studium der von ihm ſo gewiſſenhaft ver— 
walteten Kunſtſchätze einigermaßen erſchwerte. 


— 189. — 


Unſere gute Betty hatte die Bewohner des erſten 
Stockwerkes, als ſie einzogen, mit nicht geringen Er— 
wartungen begrüßt, dieſe aber im Laufe der Zeit wohl 
mehr und mehr herabgeſtimmt. Daß Nr. 12 nicht 
deutſch verſtand, Nr. 13 ſo kurzſichtig war und Nr. 14 
den ganzen Tag abweſend blieb, das ließ ihre Be— 
ziehungen zu dieſen Nummern nicht recht warm werden. 
Vergebens ſorgte ſie in muſterhafter Weiſe für die Be— 
quemlichkeit der drei, ſie bemerkten es gar nicht oder 
hielten das für ſelbſtverſtändlich. Die gute Seele war 
aber auch gar zu beſcheiden und ſtellte ihr Lichtchen, 
das ohnehin nicht brannte, auch noch unter den Scheffel. 
Sie ſeufzte ſtets nur auf ihrem Stübchen, wo das erſte 
Stockwerk es ſchlechterdings nicht hören konnte, denn 
es lagen zwei Stockwerke dazwiſchen. Auch die fehlenden 
Knöpfe nähte ſie immer an, wenn die Perſonen, denen 
der Fruchtgenuß derſelben zufiel, nicht zugegen waren, 
ſo daß in dieſen die Meinung entſtehen mochte, die 
Knöpfe wüchſen ſo von ſelbſt nach, wie ſie von ſelbſt 
abfallen, gleich den Blättern an den Bäumen. Und 
wenn ſie abends vor dem Schlafengehen, im Stock— 
dunkeln, ganz leiſe in das große Vorzimmer ſchlich, 
welches zu den Nummern 12 — 14 führte, und an allen 
drei Thüren horchte, um ſich zu überzeugen, daß die 
drei nach ihrer leidigen Gewohnheit auch diesmal noch 


— 1060, 


nicht zu Haufe waren, fo vergaß fie dabei, daß dieſe 
zarte Sorgfalt, welche bei genügender Beleuchtung einen 
perſönlich anweſenden Mietsmann vielleicht gerührt haben 
könnte, im Dunkeln, wo man nicht die Hand vor den 
Augen ſah, von drei Mietsleuten, die überdies nicht 
einmal zu Hauſe waren, ſchlechterdings nicht bemerkt 
werden konnte. 

Nichtsdeſtoweniger hatte Fräulein Betty ihre zu— 
verſichtlichen Tage, mit gewiſſen Augenblicken, in denen 
plötzlich etwas Unbeſtimmtes in ihr aufloderte, etwas 
Ahnungsvolles, ja Verheißendes. Die äußeren An 
läſſe dazu möchten freilich dritten Perſonen kaum wichtig 
genug erſcheinen, wie es denn überhaupt geraten iſt, 
lieber aus großen Thatſachen kleine Schlüſſe zu ziehen, 
als aus kleinen große. Nach dieſem Verfahren hätte 
wenigſtens unſere liebe Haustochter nicht alſobald, nach— 
dem Nr. 13 ihr jenen Kautſchukmantel umgehängt, 
darin ein Zeichen von Gott weiß was erblickt und ihr 
Zuckeropfer an dieſe Adreſſe gerichtet. Jedesmal, wenn 
im Zuckergehalt der Kaffeeportionen wieder einmal ein 
unerwarteter Umſchlag eintrat, ſcheint etwas Derartiges 
vorhergegangen zu ſein, was ſich aber in den meiſten 
Fällen der auf Nr. 25 betriebenen geſchichtlichen Forſch— 
ung entzog. 

Nr. 25 war übrigens ſo ziemlich der einzige unter 


— 161 — 


* 
uns, der Zeit für ſolche Dinge hatte. Er war ſchon 
ſeit fünf oder ſechs Jahren Rigoroſant und ſchien es 
bis an ſein Lebensende bleiben zu ſollen. Immer mehr 
Moos wuchs auf ſeinem Haupte und er war bereits 
eines der älteſten Häuſer an der Univerſität. Es ſcheint 
auch aus mancherlei Anzeichen hervorzugehen, daß er 
in dem hier in Frage kommenden Semeſter nicht eigent— 
lich mit gelehrten Abſichten umging. Wenigſtens machten 
wir eines Tages die Entdeckung, daß er genau wußte, 
welche Farbe das Haar unſerer gemeinſamen Haus— 
tochter habe, während wir anderen über dieſen Gegen— 
ſtand, der uns nicht „obligat“ ſchien, gar keine ver— 
läßlichen Beobachtungen geſammelt hatten. Ein eigen- 
tümlicher Vorfall, der kurz darauf ſtattfand, rückte 
dann dieſen Punkt der Farbenlehre in ein etwas helleres 
Licht. Eines Tages ging Nr. 25 die Treppe hinab 
und begegnete im erſten Stockwerk Fräulein Betty. Sie 
ſtand an der Thüre jenes Vorzimmers dreier Stuben 
und hatte, als Nr. 25 in Sicht kam, den unglücklichen 
Einfall, die Thüre raſch ſo weit zu öffnen, daß ſie 
im Winkel hinter derſelben verborgen blieb. Warum 
ſie an dieſer Stelle nicht geſehen ſein wollte, wäre 
ſchwer mit Sicherheit zu ermitteln, Mutmaßungen aber 
ſind in ſolchen Dingen nie ganz unbedenklich, dürften 
alſo hier beſſer unterbleiben. Auf alle Fälle war ihre 
Heveſi, Buch der Laune. 11 


— 162 — 


Handlungsweiſe, um keinen beſtimmteren Ausdruck zu 
gebrauchen, etwas auffallend; Nr. 25 wenigſtens mochte 
dies finden und war unzart genug, ſtatt ruhig vor— 
beizugehen und zu thun, als ob er nichts bemerkt, ge— 
rade vor die Verborgene hinzutreten und ſcherzender— 
weiſe zu ſagen: „Ei, Fräulein Betty, Sie haben hier 
wohl gar ein Stelldichein?“ Darüber iſt wohl alle 
Welt einig, daß ſolche Scherze in nicht geringem Grade 
unpaſſend ſind, und ſchwerlich hätte irgend ein anderer 
Mieter des Hauſes ſich eine ſolche Frage geſtattet. Man 
denke ſich Fräulein Bettys Zuſtand, oder vielmehr ihre 
Farbe. Ein hohes Rot übergoß ihr Antlitz, fie warf 
die Thüre laut zu und ſagte im Davongehen ſtreng: 
„Ich werde doch erſuchen, mich nicht zu duzen.“ 
Einer von uns Oberen, der hinter Nr. 25 die 
Treppe hinabſtieg, war unfreiwilliger Zeuge dieſer Be— 
gebenheit geweſen und hatte auch alles Geſprochene 
deutlich vernommen. Er hätte es vielleicht nicht aus— 
geplaudert; gewiß, die Möglichkeit einer ſolchen Dis⸗ 
kretion iſt nicht ausgeſchloſſen; aber er mußte wohl, 
denn Fräulein Bettys Antwort erſchien ihm rätſelhaft, 
um nicht zu ſagen unverſtändlich. Er mußte uns den 
ſeltſamen Fall vorlegen, mußte ihn mit uns durchbe— 
raten, um vielleicht doch eine annehmbare Deutung des 
dunklen Ausſpruchs zu erzielen. Auch wir waren zu— 


— 163 — 


erſt von der unlogiſchen Antwort betroffen und nicht 
ungeneigt, einen Hörfehler unſeres Berichterſtatters an- 
zunehmen. Dieſer aber verteidigte ſein Gehör, das 
durch zweijähriges Auskultieren auf der Klinik für 
Bruſtkrankheiten noch beſonders geſchärft ſei, und be— 
ſtritt eifrig die Möglichkeit, daß er falſch gehört hätte. 
Von anderer Seite wurde daher die Mutmaßung auf— 
geſtellt, daß ja auch Fräulein Betty unrecht gehört 
haben könnte. Glücklicherweiſe hatten wir einen Ger— 
maniſten und einen Philoſophen unter uns, welche mit 
gleichem Scharfſinne an die Löſung des Problems gingen 
und die Sache ſchließlich in ganz annehmbarer Weiſe 
klarſtellten. Der Germaniſt, in moderner Textkritik 
aufgewachſen, unterzog vor allem die Anrede von Nr. 25 
einer genauen Unterſuchung. Sie hatte gelautet: „Ei, 
Fräulein Betty, Sie haben hier wohl gar ein Stell— 
dichein?“ Ein Wort nach dem andern ſtellte er unter 
die philologiſche Lupe und fand richtig im Worte „Stell: 
dichein“ ein unverkennbares „Dich“. Wir waren da— 
rüber nicht wenig betreten und wollten nicht zugeben, 
daß Nr. 25 dadurch Fräulein Betty wirklich geduzt 
habe. Hätte er etwa, wendeten wir ein, im Wider: 
ſpruch zum anerkannten Sprachbrauch, fragen ſollen: 
„Sie haben hier wohl gar ein Stellenſieſichein?“ Dieſes 
ſchien allen unthunlich, auch dem Germaniſten mit der 


— 164 — 


Lupe. Da legte ſich unſer Philoſoph ins Mittel, der 
ein Semeſter Psychologie gehört hatte und bereits Ver: 
faſſer mehrerer bei Familienblättern eingereichten No⸗ 
velletten war. Er legte die Seele unſerer lieben Haus⸗ 
tochter vor uns auf den Seciertiſch und zergliederte ſie 
nach allen Regeln der Kunſt. Niemals hatten wir 
anderen auch nur von ferne geahnt, wie es in einem 
ſolchen ätheriſchen Organismus zugehe. Und er ſchilderte 
uns die erwartungsvolle Bangigkeit einer ſolchen Seele, 
wie fie jo zum Überquellen voll von allerlei Unaus⸗ 
geſprochenem, ja Unartikuliertem, vielleicht ein lang er— 
wartetes, ſeit Jahren ſtill erſehntes „Du“ gleich einer 
fernen Muſik in den Ohren, nun plötzlich, gerade in 
einem ſo leicht zu mißdeutenden, peinlichen Augenblicke, 
überreizt und eingeſchüchtert zugleich, eine kecke Frage 
hört, deren Bedeutung ſie in ſolcher Stimmung und 

Verſtimmung vermutlich gar nicht auffaſſen kann und 
von der ihr nur eine Silbe, die ihrem Denken und 
Träumen geläufigſte, verſtändlich ins Ohr tönt: die 
Silbe „Dich“ . .. Mit offenem, weit offenem Munde 
ſaßen wir und hörten unſerem Pſychologen zu, der ſich 
darüber ganz warm ſprach, ſich und ſein Bier, und 
beifälliges Gemurmel erhob ſich, als er den letzten 
pſychologiſchen Skalpellſchnitt führte, und wir kamen 
ſchließlich überein, daß er zwar wiſſenſchaftlich nichts 


— 165 — 


bewieſen habe, aber doch eine Hypotheſe aufgeſtellt, der 
ein gewiſſer Grad von Annehmbarkeit nicht zu be— 
ſtreiten ſei. Auf alle Fälle habe wieder einmal das 
Sprichwort recht behalten, daß es gar nicht ratſam 
ſei, zwiſchen Thür und Angel zu jtehen.... 

Wie wäre es, wenn der Leſer hier annähme, daß 
in den Wochen, welche nun folgten, eine gewiſſe Span— 
nung zwiſchen der guten Betty und Nr. 25 eingetreten 
ſei? Vielleicht ſogar eine gewiſſe Feindſeligkeit des 
gekränkten Mädchens, von der anderen Seite möglicher— 
weiſe erwidert durch unerwünſchte Neckereien, vielleicht 
gar hie und da durch einen kleinen Schabernack, deſſen 
man Nr. 25 gar wohl für fähig halten könnte? Denn 
Nr. 25 war ein ſchneidiger Geſell, mit drei höchſt 
reputierlichen Schmiſſen im Angeſicht und einer ſchweren 
Menge von Semeſtern auf dem Rücken, der nachge⸗ 
rade etwas breit geworden war. Man munkelte ſo⸗ 
gar, daß er voriges Jahr Fräulein Schnittling, die 
Soubrette des Joſefſtädter Theaters, ſehr gern geſehen 
habe; ob auch ſie ihn, darüber waren die Meinungen 
geteilt. 

Einer Annahme wie der oben angedeuteten ſeitens 
des Leſers ſtünde alſo nichts im Wege; nur müßte 
er ſich dazu aus freien Stücken entſchließen, denn 
unſererſeits kann die Verantwortung, ihn zu ſolchen, 


— 166 — 


immerhin kühnen Deduktionen veranlaßt zu haben, im 
Sinne der induktiven Forſchungsmethode gar nicht ent: 
ſchieden genng abgelehnt werden. Was uns Anderen 
von der Sache weiter zu Augen und Ohren kam, war 
ja viel zu wenig, um Rückſchlüſſen dieſer heiklen Art 
den erforderlichen Grad von Sicherheit zu geben. Ja, 
wenn der Verlauf der Angelegenheit wenigſtens in 
ſeinen Hauptpunkten ſo ſicher feſtzuſtellen wäre, wie 
die Thatſache, daß im Laufe des Monats Mai an 
drei aufeinanderfolgenden Tagen der 12., 13. und 14. 
Mai geſchrieben wurde! Und daß unſer Hausger— 
maniſt, als er früh morgens im Hinuntergehen an 
jenem Vorzimmer im erſten Stock vorbeikam und zu— 
fällig einen Blick nach jenen drei Thüren warf, über 
jeder derſelben eine Inſchrift bemerkte, welche in dicken 
Kreidezügen vom dunkelbraunen Anſtrich abſtach und 
allem Anſcheine nach ausdrücklich geleſen zu werden 
wünſchte! Und daß unſer Hausphiloſoph, als er drei 
Viertelſtunden ſpäter desſelben Weges ging und einen 
Blick in denſelben Raum warf, dieſe Inſchriften nicht 
mehr ſah! Aber ach, für wie wenige Begebenheiten 
der Weltgeſchichte laſſen ſich ſolche klaſſiſche Augen— 
zeugen anführen! 

Jene drei Inſchriften waren alſo gar nicht lange 
vorhanden, und nur das vorzügliche Gedächtnis unſeres 


— 167 — 


Germaniſten hat jie für die Nachwelt bewahrt. Ihm 
verdanken wir auch den Wortlaut des Textes, für 
deſſen Genauigkeit der philologiſche Drill ſeines Auges 
wohl hinreichend bürgt. Er lautete folgendermaßen: 

„12. Mai. Pankratius.“ 

„13. Mai. Servatius.“ 

„14. Mai. Bonifazius.“ 

Die drei Nummern waren nicht mit Kreide ge— 
ſchrieben, ſondern ſtanden auf Metall geprägt ſeit jeher 
über jenen Thüren; nur Monat und Name waren in 
Handſchrift hinzugefügt. i 

Wir andern fanden, ſchwerlich mit Ungrund, in 
dieſem ſeltſamen Vorkommnis Stoff zu mannigfachem 
Gedanken-Austauſch. Unſere Erörterungen gingen in 
die Kreuz und Quere und, es kann leider nicht ver— 
ſchwiegen werden, ſo mancher ließ ſich durch den Mangel 
an verbürgten Thatſachen verleiten, mehr oder weniger 
romantiſche Aufſtellungen zu machen, deren durchaus 
hypothetiſche Natur auf der Hand liegt. Es wäre 
vor dem nüchternen Verſtand, ja vor dem Geiſte der 
bürgerlichen Schicklichkeit gar nicht zu rechtfertigen, 
wenn all dieſes Hin und Her und Für und Wider 
ſo unberufener Zungen hier im einzelnen wiederholt 
würde. Es muß jedoch im Hinblick auf eine große 
und heilſame Lehre, die daraus hervorgeht, berichtet 


— 168 — 


werden, welche der vielen Vermutungen ſchließlich allen 
als die annehmbarſte erſchien. Die gerichtliche Seelen⸗ 
obduktion, welche unſer Philoſoph vor einiger Zeit vor— 
genommen, mußte die Grundlage zu der Annahme 
bieten, daß unſer gutes Fräulein Betty ſelbſt es ge⸗ 
weſen ſei, welche nach ſo vielen Monaten vergeblicher 
Liebesmühe und unſcheinbar ſtiller Bewerbung nach 
drei Richtungen, ſchließlich in einem Augenblicke drei— 
facher Entmutigung ob der erſichtlichen Hoffnungsloſig— 
keit ihres Strebens, auch wohl eines erklärlichen Rache— 
gefühls, jene drei in ihrer Schlichtheit ſo vielſagenden 
Epigramme verfaßt und an die Thüren jener drei gleich- 
gültigen Mieter geſchrieben habe, jener drei Blinden 
und Tauben am Herzen, welche ihr wahrlich als die 
rechten „drei Eismänner“ des Maimonats erſcheinen 
| mußten, als Pankraz, Servaz und Bonifaz, die be— 
rüchtigten Froſtheiligen des 12., 13. und 14. Mai, 
durch geheimnisvoll weiſe waltende Schickſalsfügung 
gleich von allem Anfang an auf den Stuben Nr. 12, 
13 und 14 einquartiert, gleichſam zur Warnung für 
ein thörichtes Mädchenherz, das dieſen Wink eines 
namenloſen Schutzgeiſtes nicht verſtand. .. 
Schmach über uns ſtudierte Jünglinge! Viel 
ſpäter erſt ſahen wir ein, daß dieſe unſere Auffaſſung 
grundfalſch geweſen war und daß die angebliche Schrei— 


— 169 


berin auch nicht aus Reue und Furcht vor Entdeckung 
bald darauf mit eigener Hand ihre Schrift wieder ver— 
wiſcht habe, wie unſer Philoſoph mit tadelnswerter 
Zuverſicht behauptete. Ja wohl, Schmach über uns 
und die Anmaßlichkeit eines lückenhaften Wiſſens, das 
ſich nicht entblödet, auf nichts etwas bauen zu wollen! 

Nach einigen Wochen, da mittlerweile noch etliches 
andere vorgefallen war, geſtand uns Nr. 25 offen, er 
und kein anderer habe jene Worte über jene Thüre 
geſchrieben, um unſer armes Fräulein zu hänſeln, aber 
auch, um ihr nebenbei einen praktiſchen Wink zu geben, 
wie ihr unerhört leiſes Klopfen an den verſchloſſenen 
Thüren dieſer drei Eismänner ganz vergeblich ſei. Und 
gar wohl müſſe ſie es gemerkt haben, wer der Urheber 
dieſes Streiches geweſen, und ſie ſelbſt habe ſchleunigſt 
die gefährliche Schrift gelöſcht, welche ſo geeignet war, 
unberechenbare Verwicklungen hervorzurufen. Als wir 
alle dieſe Dinge erfuhren, ging ein gemeinſames Er— 
röten über unſere Geſichter. Nur unſer Philoſoph wurde 
um eine Schattierung weniger rot, weil er doch wenig— 
ſtens den Vernichter der Schrift richtig „konſtruiert“, 
d. h. erraten habe; er hatte jedoch unrecht, darauf 
ſtolz zu ſein, denn auch dieſer ſcheinbare Erfolg war 
ja das Ergebnis einer falſchen Rechnung. Ja wohl, 
wir hatten uns ganz und gar verrechnet. Wie ein 


— 170 — 


Kartenhaus fiel der ganze, hochgetürmte Trugſchlußbau 
unſerer Geſamtweisheit in ſich zuſammen. Vermiß 
dich nur wieder einmal, blödſichtiger menſchlicher Witz, 
die Welt zu begreifen, ehe du ihre Atome verſtehſt 
und deren Zuſammenhang! 

Vielleicht wären uns übrigens dieſe wichtigen Auf- 
klärungen gar nicht geworden, hätte nicht die ganze 
Angelegenheit unverſehens eine Wendung genommen, 
welche einige von uns für geradezu dramatiſch erklärt 
haben. Eines Abends, als die Uhr ſoeben fünf Mi— 
nuten nach halb zehn geſchlagen hatte . .. doch nein, 
kein leichtfertiger Scherz ſoll dieſe hochernſte Epiſode 
um ihre entſprechend düſtere Stimmung bringen. Es 
kann nur ſo ungefähr angegeben werden, daß es ſchon 
neun Uhr vorbei, aber noch nicht zehn war. Das 
Treppengas war jedoch ſchon ausgethan, es war ſtill und 
dunkel im Flur, noch mehr auf der Treppe, am ſtillſten 
und dunkelſten aber in jenem Vorzimmer des erſten 
Stockwerks. Und doch hätte es in dieſem Raume ganz 
anders ſein ſollen, denn unruhig hämmerte darin ein 
unſichtbares Herz, und dazu brannte eine zarte Flamme, 
welche keinen Namen hat. Es war nämlich die Stunde, 
zu welcher unſere ſorgſame Haustochter auf ihrem 
abendlichen Rundgange durch das ganze Haus auch 
in dieſes Vorgemach ihres dreithorigen und dennoch 


— a 


verſchloſſenen Himmelreiches kam und nach einander 
an allen drei Pforten horchte, ob ſich nicht innen etwas 
Unregelmäßiges rühre, was aber dank der viel ſpäteren 
Heimkehr der drei Eismänner niemals geſchah. Da 
ſtand ſie denn im Dunkeln und ſpannte mit einer Art 
Inbrunſt das Gehör. Plötzlich fühlte ſie die Beine 
unter ſich erſtarren und ihre Arme ſanken ſchlaff herab, 
ſie waren keiner Bewegung mächtig. 

Sie hörte Schritte. 

Zwar nicht da innen in einer dieſer Stuben, was 
übrigens noch die mindere Gefahr geweſen wäre, aber 
unten im Flur, und dann die Treppe herauf, trapp, 
trapp, feſt und ſchwer, von unverkennbaren männlichen 
Schuhen. Im erſten Stockwerk angelangt, hörten die 
Tritte einen Augenblick auf und ein tiefer Seufzer ließ 
ſich vernehmen, als habe der Betreffende etwas ſchwer 
geladen und müſſe ein wenig verſchnaufen, ehe er 
weiterſteige. Und dann wieder, trapp, trapp, trapp, 
aber nicht mehr die Stiege hinan, ſondern — hilf 
Himmel! — gerade herein in das Vorzimmer. Fräu— 
lein Betty ſtand wie feſtgewurzelt in der Mitte des 
Gemaches und die Bruſt wollte ihr zerſpringen vor 
Herzklopfen und zurückgepreßtem Atem, denn das Nie— 
geſchehene war ſoeben im Begriff zu geſchehen, einer 
der drei kam nach Hauſe und mußte ſie da vor ſeiner 


— or 


Thüre ertappen, wenn ſich nicht noch im letzten Augen: 
blick ein Wunder ereignete und der Froſt ihrer Glieder 
ſich löſte, daß ſie ſeitwärts in eine Ecke huſchen konnte. 
Aber kein Wunder begab ſich, ſie blieb gelähmt und 
vermochte nicht zu fliehen. Schwarze Finſternis 
ringsum; wer da kam, ſie ſah es ebenſo wenig, als 
er ſie unterſcheiden konnte. 

Aber er kam. 

Trapp, trapp, trapp; in drei Schritten war er 
bei ihr, hinter ihr, jetzt hart an ihr. Sie wollte 
ſchreien und brachte keinen Ton aus der Kehle. Sie 
fühlte eine fremde Hand, . .. noch eine fremde Hand, 
und hörte gebrummte oder gewiſperte Worte, die ſie 
nicht verſtand, weil ihr eigenes Blut ihr in beiden 
Ohren ſummte und rauſchte und mit ſeiner heißen 
Brandung alles Geſprochene übertäubte. Zwei Arme 
ſchloſſen ſich um ihre Geſtalt, ſie konnte ſich nicht 
wehren, ſie konnte nicht rufen und auch nichts denken, 
nur den einen Eindruck hatte ſie, als ſähe ſie vor ſich 
in der ſchwarzen Luft ein wohlbekanntes Bild ſchweben, 
bald näher, bald ferner, einen alten, verſtaubten Kupfer⸗ 
ſtich, der ſeit ihrer Geburt ins Geſindezimmer verbannt 
war und auf dem eine ſchwarze Wolke mit unheim— 
lich lüſternen Nebelarmen eine mythologiſche Frauens⸗ 
perſon umſchlang, welche laut Unterſchrift Jo hieß. 


, e, 


Sie taumelte, . .. jetzt ſaß ſie gar auf dem 
Schoße jenes Unſichtbaren, immer von jenen Armen 
umfaßt, deren immer mehr zu werden ſchienen, als 
hätte er vier, ſechs, acht Arme am Leibe, die er wie 
lauter eiſerne Reifen um ſie ſchlug, einen nach dem 
anderen. Und jetzt, . .. nein, das war zu viel, . .. 
ein unvorhergeſehener Brand auf ihren Lippen. Hatte 
er fie wohl gar geküßt? Ei, das wäre doch . . .! 
Und es konnte doch nur ein Kuß geweſen ſein. So 
hatte ſie ſich ja das immer vorgeſtellt, ungefähr ſo. 
Ein Kuß! Ein Kuß! Und noch eine ganze Menge 
ähnlicher hinterdrein ... Und das wäre ein Eismann? 
Ach, wie freute fie ſich jetzt, daß fie damals jene häß— 
lichen Aufſchriften früh genug bemerkt und verlöſcht 
hatte! Ach, dieſer liebe, wackere Eismann! Es wurde 
ihr jetzt ſo wohl und traut bei ihm, ſie hatte ſchier 
alle Furcht verloren und lehnte ihr Haupt an ſeine 
Bruſt und war ſelig, und ſchwieg, und jubelte dabei 
in ihrer Seele: endlich! endlich!... 

Dieſe Schilderung macht natürlich keinen Anſpruch 
darauf, in allen Einzelheiten zuverläſſig zu ſein. Die 
Scene hatte eben keinen Zeugen, und wäre einer zu— 
gegen geweſen, er hätte müſſen eine Nachteule ſein, 
um in ſolcher handgreiflichen Finſternis die Vorgänge 
genau unterſcheiden zu können. Ob alſo in dieſer 


— 1714 — 


Darſtellung mehr, oder wohl gar, was aufrichtig zu 
bedauern wäre, weniger geſagt wurde, als damals 
wirklich geſchehen, iſt begreiflicherweiſe nicht zu er- 
mitteln; doch ſei verſchämten Leſern geraten, immerhin 
etwas weniger, begehrlicheren aber, auf ihre eigene 
Verantwortung etwas mehr anzunehmen. 

Als Thatſache kann hingeſtellt werden, daß unſere 
gute Betty während dieſer lang und ſchwer erſehnten 
Augenblicke, deren Dauer nicht mehr genau zu be— 
rechnen iſt, in all dem Meer von Süßigkeit auch 
einen ... nicht gerade bitteren, aber doch ſäuerlichen 
Tropfen ſpürte. Der nur zu allgemeine Mißbrauch, 
das Gas auf den Treppen ſo früh ſchon abzudrehen, 
rächte ſich jetzt empfindlich genug an ihr. Sie fühlte 
ſich, ach, ſo heiß geliebt, und hatte bei der herrſchen— 
den Dunkelheit keine Ahnung, von wem! Der wackere 
Mann, der ihr ſo zärtlich entgegengekommen, war nach 
alledem, was vorgefallen, doch nur ein Unbekannter, 
in ſchwarzes Gewölk gehüllt, wie jener da unten im 
Geſindezimmer, der freilich dieſem nicht das Waſſer 
reichen konnte. Vergeblich ſtrengte ſie ſich an, die 
ſchwarze Sammtlarve zu durchſchauen, welche die Nacht 
vor ſein Antlitz gelegt hatte. Er ſagte kein einzigesmal 
„Heoobooh“ oder „Hoeeeeh“, wie Nr. 12; er hatte 
auch, wovon ſie ſich eigens überzeugte, keine Steine in 


„5 


der Taſche, wie Nr. 13; hingegen aber war er vor 
zehn Uhr zu Hauſe, was bei Nr. 14 noch niemals 
der Fall geweſen. Und dennoch, dennoch mußte es 
einer von dieſen Dreien ſein! Es wäre mißlich, 
Fräulein Bettys Verlegenheit in Worten darzuſtellen, 
denn das geſchriebene Wort hat etwas ſo Sicheres, Un— 
bezweifelbares, während im Gegenteil jene Armſte, in 
anonymen Armen gefangen, ihres Glückes von Augen⸗ 
blick zu Augenblick weniger ſicher zu ſein glaubte. 

Gewiß, ſie hätte den Unſichtbaren geradehin fragen 
können: „Mein Herr, wer ſind Sie?“ Aber ... fie 
hatte ihn ja wiedergeküßt und hielt ſeinen Nacken fort— 
geſetzt mit ihren Armen umſchlungen. Wie durfte ſie 
ihn merken laſſen, daß ſie ſo Unerhörtes gethan hatte 
und noch that, ohne ihn auch nur zu kennen? Ein 
neuer und, man mag kühn behaupten, unwiderleglicher 
Beweis, daß — Mädchen im Dunkeln bei ſo ver— 
fänglichen Außerungen ihres Herzens ſo vorſichtig als 
möglich verfahren ſollen. 

Da plötzlich ereignete ſich ein Zwiſchenfall, der 
die Erwartung berechtigt erſcheinen ließ, daß dieſe 
Zweifel noch in abſehbarer Zeit geklärt werden möchten. 
Unten ging das Hausthor, . .. trapp, trapp, trapp, kam 
abermals jemand die Treppe herauf. Die beiden fuhren 
zuſammen und umſchlangen ſich enger. Himmel, er 


— 176 — 


blieb im erſten Stock und kam mit knirſchenden Schuhen, 
denn die Treppe war nachmittags mit Sand geſcheuert 
worden, gerade zu ihnen herein. Mäuschenſtill ſaßen 
ſie in ihrer Ecke, auf dem alten Divan. Jener merkte 
nichts und ſchritt durch das finſtere Vorzimmer, ein 
Liedchen ſummend, auf Thüre Nr. 14 zu. Der Schlüſſel 
tappte ins Loch, die Thüre ging auf und wieder zu, 
der Ruheſtörer war daheim. Die beiden atmeten auf, 
am tiefſten unſere gute Betty; nun wußte ſie doch 
wenigſtens, daß ihr Unſichtbarer nicht Nr. 14 war 
und nur noch Nr. 12 oder 13 ſein konnte. Wenn 
es ihr gelang, noch einen zu „eliminieren“, wie man 
bei den Diagnoſen ſagt, ſo war ſie glücklich, denn ſie 
wußte dann endlich, wen ſie da eigentlich ſo im Dunkeln 
ſo aus tiefſtem Herzensgrunde liebte. Der Unſichtbare 
jedoch ſchien ſeinerſeits auf dieſen Punkt nicht beſonders 
neugierig und traf unverkennbare Anſtalten, der Situ— 
ation ein Ende zu machen. „Geh, geh,“ flüſterte er 
der Geliebten immer dringender zu und verabreichte 
ihr ſchon den zehnten Abſchiedskuß. Sie aber ſchien 
ſich jetzt gar nicht losreißen zu können von ihrem 
Glücke und verzögerte das Scheiden in einer für ihn 
zwar ſchmeichelhaften, aber gerade jetzt unzweckmäßigen 
Weiſe. Und was gelingt nicht einem liebenden Weibe? ... 
Trapp, trapp, trapp, ging es wieder auf der Treppe. 


„ N 


Nochmals Mäuschenſtille, und dann wieder die knir⸗ 
ſchenden Schuhe, und dann geradenwegs zur Thüre her— 
ein und . .. Welch ein Augenblick der Spannung für 
dieſes arme Fräulein Betty! Dieſe drei Schritte, die 
der Ankömmling nun thun wird, zu dieſer Thüre hin 
oder zu jener, werden ihr alles jagen, und dieſe fürchter- 
liche Dunkelheit wird plötzlich taghelles Licht werden! 

Himmel! Er ging zu Nr. 13 

Sie erſchauderte am ganzen Leibe vor Entzücken 
und zugleich Befremdung. Alſo er war es, er! Der 
Amerikaner! Nr. 121 . .. Wer hätte das gedacht? 
wer, wer? Der grauſame Mann mit den verdäch— 
tigen Päckchen, an denen die unheimlichen roten Flecke 
zu ſehen waren. O, wie ſchauerlich! Und doch, wie 
zärtlich war er, wie lieb. Und wie hatte ihm die 
Liebe ſogar die Zunge gelöſt, daß er jetzt ſo fließend 
und verſtändlich deutſch zu wiſpern vermochte. Und 
nicht einmal nach Karbol duftete er heute, nein, nicht 
im geringſten. O Gott, welche Enthüllung! .. 
Freilich, nach Amerika werde ſie jetzt reiſen müſſen, 
in ſeine Heimat, über das große Waſſer, auf dem die 
Seekrankheit zu Haufe iſt, aber... o alles, alles 
wollte ſie für ihn thun. | 

Wie Spreu im Winde wirbelten dieſe Gedanfen- 


ſplitter in ihrem verwirrten Hirne durcheinander, und 
He ve ſi, Buch der Laune. 12 


— 178 — 


weniger als je dachte ſie daran, den unſichtbaren Ge— 
liebten, der nun plötzlich eine Nummer, einen Namen 
erhalten hatte, aus ihren Armen zu entlaſſen. Es 
war auch gerade jetzt nicht der Zeitpunkt dazu, denn... 
trapp, trapp, trapp, kam es draußen ſchon wieder die 
Treppe herauf. Diesmal blieb Fräulein Betty ruhig, 
o ganz ruhig; das ging ja hinauf in den zweiten oder 
dritten Stock, da herein kam es nicht. 

Aber welcher Schreck; es kam doch da herein! 
Alles Blut ſtockte in ihr; fie glaubte nie wieder auf— 
ſtehen zu ſollen von dieſen unſichtbaren Knieen, auf 
denen ſie noch immer ſaß. Entſetzlich! Wie wird das 
enden! . . . Die Schuhe knirſchten wieder und kamen 
ohne alles Beſinnen ſo recht gewohnheitsmäßig ins 
Vorzimmer herein, durchſchritten es ruhig in der Rich— 
tung nach links, zu Thür Nr. 12, ein Schlüſſel ſtocherte 
nach dem Schlüſſelloch umher . . . Und nun war auch 
der dritte in ſeinem Zimmer. 

Der zärtliche Unſichtbare war alſo keiner der drei! 

Als dieſer vernichtende Gedanke in ihr aufblitzte, 
ſtieß ſie einen Schrei der Verzweiflung aus, ſo laut, 
ſo grell, daß die drei Thüren faſt gleichzeitig auf— 
gingen und auf den drei Schwellen drei mehr oder 
weniger entkleidete Eismänner ſtanden, drei brennende 
Lichter in der Hand. 


„ le — 


Die arme Betty ſaß auf dem alten, verſchoſſenen 
Divan, die Arme vor ſich ins Leere geſtreckt, und 
ſtarrte mit glaſigen Augen auf ihre drei Geliebten, 
deren keiner es geweſen war. Wer in aller Heiligen 
Namen war es denn aber geweſen? ... Sie war 
allein. Er war verſchwunden, der Unſichtbare mit den 
ſechs oder acht Armen und noch viel mehr Küſſen.“ 
Spurlos; nur ſeinen Schatten hatte ſie noch hinter 
ihm her zur Thüre hinaus huſchen ſehen. 

„Heooooh!“ rief Nr. 12 mit Augen, die vor 
Verwunderung ganz kreisrund waren. Nr. 13 kam 
in ſeiner Kurzſichtigkeit ganz nahe herzu, um ſich zu 
überzeugen, ob das die Hauskatze oder die Hausmagd 
geweſen ſei; er leuchtete ihr mit der Kerze ins ver— 
ſtörte Geſicht und ſtellte feſt, daß es nicht die erſtere, 
ſondern die letztere geweſen. Nur Nr. 14 war der 
Sachlage völlig gewachſen und fragte ſchalkhaft: „Ei, 
Fräulein Betty, Sie haben wohl etwas Schreckliches 
geträumt?“ 

„Ich?“ entgegnete ſie und rieb ſich die Augen; 
ihr war es wirklich wie ein Traum. 

Und dann gingen die drei wieder in ihre Zimmer 
zurück, nachdem ſie gute Nacht gewünſcht hatten; nur 
Nr. 12 hatte ſich darauf beſchränkt, in übrigens durd- 
aus wohlwollendem Tone „Hoeeeeh“ zu rufen. 


— 180 — 


Kein Einſichtiger wird hier eine ausführliche 
Schilderung der Nacht erwarten, welche unſer liebes, 
ſchwergeprüftes Fräulein Betty nach dieſem Erlebnis 
verbrachte. Es giebt Dinge, welche ſelbſt ein ſchlafen— 
der Homer beſſer der Phantaſie ſpäter Gymnaſiaſten 
überläßt. Aber die Sonne des nächſten Morgens 
durchbrach alle Trübſal und fand die Heimgeſuchte im 
reinen mit ſich und der Welt. Sie war dieſen 
Morgen beinahe hübſch, vor Hoffnung und Erwartung 
eines nunmehr Unausbleiblichen. Mancherlei Umſtände, 
die ſie vordem gar nicht beachtet hatte, weil ſie nur 
den dritten Stock betrafen, erſchienen ihr jetzt in einem 
neuen, verheißungsvollen Lichte. Wie war es nur 
möglich geweſen, daß fie Nr. 25 jo lange nicht zu 
würdigen wußte? Dieſer gute . .. nein, dieſer ſchlechte 
Menſch! Sie fo jämmerlich im Stiche zu laſſen ange— 
ſichts der drei Eismänner! Wahrlich, er, er hatte erſt 
den rechten Eisklumpen von einem Herzen in der Bruſt, 
er war ein noch viel ärgerer Eismann, er war der... 

Und im Uebermut ihrer Freude holte ſie ſich ein 
Stück Kreide, eilte in den dritten Stock hinauf, ganz 
ſachte an die Thüre des Böſewichts, und da ſie ſelbſt 
mit dem ausgeſtreckten Arme nicht jo hoch hinan— 
reichte, ſtellte ſie einen Seſſel vor die Thüre und 
ſtellte ſich auf den Seſſel und ſchrieb neben die 


„ 


blecherne Nummer „25“ zwei Worte hin, daß die Auf— 
ſchrift lautete: 

„25. Mai. Urban“. 

Auch dieſe Unbeſonnenheit hält freilich vor dem 
kritiſchen Auge des Moraliſten nicht Stich und es 
wäre zu wünſchen, daß nur ſelten ein Mädchen auf 
dergleichen verfalle. Konnte denn nicht, während Fräu⸗ 
lein Betty ſo heikel auf dem Seſſel ſtand, die Thüre 
aufgehen und jener ... Urban heraustreten und fie 
ſamt der Seſſellehne mit jenen ſechs bis acht Armen 
von geſtern abend umklaftern, daß an ein Ent⸗ 
rinnen aus ſo beſchämender Lage gar nicht zu denken 
wäre? 

Er ſoll nämlich, wie es ſpäter allgemein hieß, 
in jenem Augenblick wirklich dergeſtalt hervorgetreten 
ſein und derartiges unternommen haben. Die Sefjel- 
lehne wenigſtens wurde einigermaßen beſchädigt aufge— 
funden, über das weitere Befinden unſerer liebens⸗ 
würdigen Betty ſelbſt verlautete nichts Sicheres. Aber 
Aufſehen hat es erregt, daß an dieſem Morgen der 
ſüße Kaffee auf Nr. 25 getrunken wurde. Im dritten 
She: 

Ob Nr. 25 feinen Kaffee auch jetzt noch jo ſüß 
kredenzt bekommt, darf nur in ſeinem Intereſſe ver⸗ 
hofft werden. Es wäre ſchade, wenn er ihn nicht bis 


— 182 — 


ans Lebensende fo ſüß kriegte, denn das könnte die 
Zahl der Eismänner im Kalender bedenklich vermehren, 
und der ſogenannte Wonnemonat iſt in der Regel 
ohnehin ſchon rauh und verſchnupft genug. 


* 


Die Zweiunddreißig. 


DHormärzliche Skizze aus dem ungariſchen Provinzleben. 


(1886.) 


% 3 ift ein ſchöner Vormittag. Man ſieht 
Ku 9 es dem weißen Storche deutlich an, daß 
er ſich nur mühſam davon zurückhält, mit 

1 1 roten Schnabel wohlgemut zu klappern, obgleich 

er bloß der Storch iſt, den das Komitat in ſeinem 

Wappen führt, wie ja über der Thüre der Apotheke 

„zum Komitatswappen“ für männiglich zu ſehen. Eine 

ſehenswerte Thüre das, ſchon wegen der drei ſteinernen 

Stufen, die zu ihr hinanführen und auf dreißig Stun— 

den die Runde die größten Steine ſind, dieweil man 

ſich ja im ſteinloſen Alföld befindet. Noch merfwür- 
diger freilich iſt die Thüre, weil ſich gleich links neben 
ihr ein Fenſter befindet, das noch viel merkwürdiger 
iſt. Dieſes Fenſter iſt nämlich das Barometer für die 
ganze Gemeinde. Wer da irgend im Orte genau wiſſen 
will, ob es regnet oder nicht, geht hin oder ſchickt hin, 


— 186 — 


um nachzuſehen, ob der große Kopf des alten Herrn 
zum Fenſter herausgeſteckt iſt oder nicht. Sein Pfeifen- 
kopf nämlich, den er ſich ſtets drei Schritt vom Leibe 
halten muß, weil eben das Pfeifenrohr ſo lang iſt. 
Ragt aber der altersſchwarze Meerſchaumkopf durch 
das Fenſtergitter hinaus in die freie Gottesnatur, ſo 
weiß der ganze Marktflecken, daß es nicht regnet; ragt 
dagegen er nicht hinaus, ſo weiß man, daß es regnet, 
denn gar nicht gerne läßt ſich der alte Herr in ſeine 
brennende Pfeife hineinregnen. 

Es regnet aber keineswegs, ſondern die Luft iſt 
voll Sonnenſchein; aber freilich, das kann auch täuſchen, 
denn der alte Adam kommt juſt die Straße herauf 
und der macht immer ein ſo gottsjämmerlich vergnügtes 
Geſicht, daß er damit eine ganze Gaſſe entlang leuchtet. 
„Er lacht wie ein hölzerner Hund,“ ſagen darauf die 
Leute; als ob je einer einen hölzernen Hund hätte 
lachen hören. Übrigens ſcheint er gar nicht eitel zu 
ſein, der alte Adam, denn wenn er lacht, höhlt ſich 
mitten in ſeinem Geſichte eine ſchwarze Grube aus, 
man weiß gar nicht, wie tief, und kein einziger Zahn 
iſt darin ſichtbar, ſoweit das Auge reicht. Aber darum 
lacht er doch, der alte Adam, der Melonenhüter von 
der Salzigen Pußta, und ſetzt ſeine drei Beine rüſtig 
vor einander hin, immer zwei zugleich, nämlich einen 


18 


aus Fleiſch und Bein und Bagaria (Juchtenleder), den 
andern aus hartem Kornelkirſchholz, . . . . das iſt der 
hohe „Cſater“ Stecken, der ihm bis ans Kinn reicht, 
ſo daß er ihn im zweiten Drittel gefaßt hält. 

Nein, ſchön iſt er nicht, der alte Adam. Er ſcheint 
nicht mehr ganz jung zu ſein; zweihundert Jahre giebt 
er ja ſelbſt zu, aber vermutlich leugnet er etliche Dutzend 
ab. Sein Geſicht ſieht aus, wie ein friſchgepflügtes 
Ackerfeld; eine neben der anderen, laufen die ungezählten 
Furchen darüber hin, alle natürlich im ſchrägen Bogen, 
durch gute braune Erde. Dazwiſchen ſind aber auch 
Strecken, die Salpeter halten müſſen, denn ſie ſchimmern 
weißlich und ſind kurz und ſpärlich bewachſen, ſo daß 
man nicht einmal die Schafe darauf treiben möchte zur 
Weide. Sein linkes Auge hat er irgendwo verloren 
und der Finder (an den Galgen mit ihm!) hat es nicht 
zurückgebracht. Aber das rechte brennt lichterloh, ſo 
daß es ſchon alle Wimpern abgeſengt hat; man könnte 
den Keſſel mit Schöpſenpörkölt darüber ſtellen zum 
Kochen. Im ganzen keine ſchöne Gegend, dieſes Ge— 
ſicht. Auf ſeinem Schädel ſcheint noch der Schnee vom 
vorigen Winter zu liegen; hat wohl zu viel zu thun 
als Melonenhirt der Stadt, und kommt nicht dazu, 
ihn abzukehren, die Sonne aber kann den Schnee nicht 
ſchmelzen, wegen der Mütze, die der alte Adam nicht 


a 


einmal zum Schlafen abnimmt. Eine ſchöne alte Mütze; 
vor zwanzig Jahren aus Tur gekommen auf den großen 
Jahrmarkt, und hält noch immer Farbe, wenn auch 
gerade nicht die ſchwarze von ehedem. Etwas fett iſt 
ſie, ja, aber nur inwendig .. .. und ein wenig auch 
außen, ein wenig ſtark ſogar; was thut's? deſto beſſer 
gedeiht auf ihrem linken Abhang, wo die meiſte Sonne 
hinſcheinen mag, das feingefiederte Stämmchen „Katzen— 
ſchweif“, das im Winde hin und her zu wedeln ſcheint. 
Auch der Szür, der Lodenmantel, hält noch prächtig 
Stich; die bunten wollgeſtickten Tulpen daran ſind 
zwar längſt heruntergewelkt und haben nur hie und da 
ein fahles Stengelchen hinterlaſſen, aber Löcher hat er 
wenigſtens keine, außer wo man die Arme durchſteckt, 
und das will ſchon was ſagen; kein Zweifel, der ehr— 
liche Kerl, der Szürſchneider, der ihn vor einem Viertel— 
jahrhundert gemacht, iſt ins Himmelreich eingegangen, 
. . . . denn daß er bereits tot iſt, duldet ja keinen Zweifel, 
bei ſolcher Ehrlichkeit muß ein Szürſchneider bald ver— 
hungern. Nur gegen die „weißen“ Kleider des alten 
Adam ließe ſich einiges einwenden. Sie werden wohl 
oft genug gewaſchen, und zwar in Regenwaſſer, wie 
alles Weißzeug im weiten und breiten Alföld, aber der 
alte Adam behält ſie dabei am Leibe, das iſt der eine 
Fehler, und läßt ſie auch mit dem Schlägel nicht klopfen, 


— 189 — 


vielleicht eben weil er ſie am Leibe hat, und das iſt 
der andere Fehler, wie jede gute Hausfrau zugeben 
wird. Nun, er iſt dabei friſch und geſund und hat 
einen vorzüglichen Magen . . .. Das letztere ſieht man 
genau, da ſein Hemd ſchon knapp über dem Magen 
endet und ſeine Gatya (Leinenhoſe) erſt knapp unter 
dem Magen beginnt; das iſt nun einmal nicht anders 
dort herum, es iſt die letzte Mode und iſt auch die 
erſte geweſen, nur daß anfangs, bevor die Menſchheit 
gar ſo gebildet geworden, der ganze Menſch Magen 
war und ſein Weißzeug nirgends begann, ſo daß es 
nirgends aufzuhören brauchte. 

Zu jener Zeit hätte der alte Adam aber auch 
nicht gethan, was er jetzt thut. Geradeswegs auf das 
Fenſter neben der Apothekenthüre geht er in ſeinem 
hölzernen Dreiſchritt los, ganz ſachte, als ſchliche er 
einen Melonendieb an. Eine Kreisbewegung ſeines 
rechten Auges, ob er denn auch unbemerkt ſei, dann 
tritt er dicht neben den großen Meerſchaumkopf und 
hält ſeine Nüſtern darüber, erſt die rechte, dann die 
linke und dann alle beide. Er trinkt an der Quelle, 
aber kein Waſſer, ſondern Rauch. Köſtlichen blauen 
Dunſt, weit köſtlicher als der in der Kirche drinnen, 
der gemalte, auf deſſen Gewölk die heilige Jungfrau 
gen Himmel fährt. Ein Dutzend tiefer Atemzüge thut 


a ON 


er, dann ſtöhnt er wonnig: „Verpeléèter“; und noch 
ein halbes Dutzend, da fügt er bei: „Auch Debröer 
muß darunter gemiſcht ſein;“ und nach einigen weiteren 
Atemzügen: „Keinen „Finanzer' hat der nicht geſehen.“ 

Und noch manches würde er wohl als geriebener 
Tabakſchnüffler fo feſtſtellen, wenn nicht die Pfeife plöß- 
lich einen kräftigen Ruck nach oben thäte, ſo daß ſeine 
Naſenſpitze tief in ihre feurige Aſche gerät. Hat ſie 
es aus Bosheit gethan, oder aus Gutherzigkeit, um 
ihm den Genuß unmittelbarer zu machen? Er ſcheint 
der erſteren Anſicht zuzuneigen, denn er fährt mit einem 
halb erſtickten Knurrlaut zurück, nieſt und puſtet durch— 
einander und ſcheuert ſich das grau beſtaubte Riech— 
organ nachdrücklich mit dem groben Hemdärmel. Ja, 
's iſt ſtarker Tabak, obgleich der Verpeléter mild ſein 
ſoll, beſonders mit Debröer gemiſcht, und ganz be— 
ſonders ehe ihn der „‚Finanzer“ mit feiner verf .... 
führeriſchen ärarialiſchen Beize getauft hat. 

Zum Fenſter heraus ſchallt aber Gelächter, in 
hohen und tiefen Fanfaren; es müſſen viel Herren drin 
fein. Natürlich, es iſt ja die Silvorium-(Slbiowitz)⸗ 
Stunde vor dem Mittageſſen, da ſitzen ſie immer drin 
im Nebenſtübchen, die Herren „vom Kaputrock“, die 
„großgnädigen“, die „wohledlen“ und ſogar einige nur 
„wohlanſehnliche“. Jetzt iſt die große Plauderſtunde, 


ut 


in der es ſich um Wohl und Wehe des Ortes handelt, 
ja des Komitates, ja mitunter ſogar des ganzen Landes, 
wo nicht gar der Weltkugel. Die Löcher in der Ko— 
mitatsſtraße wachſen ſichtlich während ihrer akademiſchen 
Behandlung in dieſem Sitzungsſaal; Sebaſtopol wird 
heute genommen und morgen nicht genommen, je nach— 
dem hier die Abſtimmung ausfällt; dazwiſchen verkündet 
der Herr „Apothekermeiſter“ ein von ihm erfundenes 
Heilmittel gegen die Cholera, welche eben in Perſien 
wütet, und der „alte Herr“, wie man den ehrwürdigen 
Raucher der Barometerpfeife in der ganzen Gegend 
nennt, obwohl er ſonſt „Seine Wohledelgeboren Herr 
Abraham von Mäsläs de eadem” heißt, ergeht ſich 
in Jugenderinnerungen an den hochwohlgeſtorbenen 
Herrn Obergeſpan Gedeon von Szentkeresztvizi de 
Szentkereszt und Keresztviz, der „damals“ jene be— 
rühmte Antwort gegeben, die hier nicht wiederholt zu 
werden braucht, da ſie ja jedermann kennt. 

Das dunkelrote, glänzende Geſicht des alten Herrn 
erſcheint im Fenſter; es ſieht aus, als habe er ſich ſo— 
eben von einer ſchweren Mahlzeit erhoben, beſonders 
auch da er das Kinn raſiert und darunter oder viel— 
mehr dahinter einen ſchneeweißen Halsbart à la Koſſuth 
trägt, von einem Ohr bis zum anderen, einer umge— 
bundenen Serviette gar nicht unähnlich. 


— 192 — 


„Na, Ihr ſeid's, Adam?“ ruft der alte Herr 
zwiſchen den dicken Stäben des Fenſtergitters durch, 
„ſehr ſchön von Euch, daß Ihr mir mein Pfeifenfeuer 
zurechtſtopft mit Eurer Naſenſpitze; mit meinem Zeige— 
finger kann ich doch ſo weit nicht hinauslangen. Will 
hoffen, daß Ihr Euch die Schnauze nicht verbrannt 
habt.“ : 

„Das wäre ſchlimm, großgnädiger Herr,“ ent— 
gegnet der Alte, der aber noch immer das Bedürfnis 
zu reiben empfindet, „denn kein Menſch kann ſeine 
eigene Naſenſpitze blaſen, um ſie zu kühlen; ohne 
Spiegel wenigſtens nicht.“ Und er lacht, daß man 
alle ſeine Zähne nicht ſieht. 

„Da, ſtopft Euch Euren Stummel aus meinem 
Beutel,“ ſagt der alte Herr und reicht ihm das lang— 
befranſte, ungenähte Säckchen aus Widderhaut hinaus. 

„Tjüh!“ ruft der alte Adam, „das iſt ja Palm— 
ſonntag für mich; aber mein Gott und Herr mag auch 
dafür meinen hochwohlgebornen Herrn ſegnen, mit allen 
beiden Händen.“ Und ſchon hat er den ziegelroten 
Debrecziner Stummel aus dem Stiefelſchaft herauf ge— 
langt und gleichzeitig den herrſchaftlichen Tabakbeutel 
vom Fenſter herunter. Es dauert lange, bis der 
Stummel geſtopft iſt, denn ein Melonenhirt weiß ſolche 
Miſchung zu ſchätzen und möchte am liebſten drei Pfeifen 


— 2193 — 


voll in die eine hineinquetſchen. Selten iſt eine Pfeife 
ſo feſt geſtopft worden; wie ein hölzerner Spund im 
Faß ſteckt der hartgeſtampfte Tabakpfropfen im roten 
Scherben. „'thänigſten Dank, mein großgütiger Herr,“ 
ſagt er dann und reicht mit einem gewiſſen Anſtand 
den ſorgſam zugedrehten Beutel wieder hinauf. Im 
zugebundenen Armel ſeines Szür treibt er eine „Ma— 
ſchine“ (Zündhölzchen) auf, zieht ſie am grünen Fenſter— 
rahmen entlang und ſetzt dann den Blaſebalg in ſeinem 
Bruſtkaſten gehörig in Bewegung, um den allzu feſt 
geſtopften Tabak zu entzünden. 

„Richtig, es brennt,“ ſagt oben der alte Herr, 
„hätt's nicht gedacht; Ihr raucht wohl auch einen 
hölzernen Pfahl aus, als wär' er eine Cigarre?“ 

„Gewiß, wenn der Tag lang iſt und der Beutel 
kurz,“ lacht der alte Adam und zeigt ſchon wieder 
ſeine zweiunddreißig Zahnlücken. 

„Mir ſcheint, Adam, Ihr zahnt zum zweitenmal,“ 
ſcherzt der alte Herr, „ſind das nicht Milchzähne da 
vorn in Eurem Kiefer?“ 

„Mag wohl ſein, gnädigſter Herr,“ ſchmunzelt 
Adam unter angeſtrengtem Paffen, bei ſehr geringem 
Rauch, „mag wohl ſein; bin ja eben jetzt ſechs Wochen 
alt geworden, da fangen ſie an durchzubrechen ... 
Ausgebrochen ſind ſie freilich leichter.“ 

Heveſi, Buch der Laune. 13 


— 194 — 


„Ausgebrochen? Ihr ſcherzt. Habt Ihr denn 
jemals Zähne gehabt?“ 

„Ei, das will ich meinen, gnädigſter Herr; eine 
ganze Menge. . . . Hundert ſind's zum mindeſten ge— 
weſen; aber alles futſch, alles weggeſchwommen. Wenn 
ich ſo dran denke, das waren ſchöne Geſchichten!“ 

„Geſchichten?“ 

„Ei freilich, Geſchichten. Meine Zähne haben 
jeder ſeine Geſchichte gehabt, jeder. Aber das iſt lang 
zu erzählen und nicht gar unterhaltend.“ 

In verſchiedenen Geſichtern jedoch, die ſich nach— 
gerade neben das des alten Herrn gedrängt haben, 
ſteht das Gegenteil geſchrieben. Geſchichten! Zum 
Morgen-Silvorium! Das iſt niemals zu verachten. 
Kein Wunder, daß plötzlich die Schelle an der Apotheken— 
thüre ihr heiſeres Gebimmel von ſich giebt und die 
Thür aufgeht und der Herr Apothekermeiſter auf die 
Schwelle tritt mit den Worten: „Na, alter Adam, 
was iſt denn? Soll ich Euch wieder mal einen Apo— 
thekerſchnaps miſchen? ... Ihr kennt ihn ja ſchon.“ 

„Tjüh!“ ſchnalzt Adam mit der Zunge, „ich ſag's 
ja, es iſt Palmſonntag, ohne daß der Herr Pfarrer 
auch nur den Stock ſeines Ohres bewegt.“ 

„Hoho, alter Burſche,“ droht eine ſcharfe Stimme 
über die Schulter des alten Herrn vom Fenſter herab, 


— 195 — 


„den Hochwürdigen laßt mir nur aus dem Spiel, 
ſonſt . . .“ Es iſt die Stimme des jungen, noch etwas 
feurigen Kaplans; aber eine raſſelnde Gurgelſtimme, 
die des Herrn Stadtchirurgus Magiſter Farkas, be— 
ſchwichtigt den drohenden in dem gern geſprochenen 
Küchenlatein: 

„Eminentia vestra (denn er giebt dem Kaplan 
ſcherzweiſe den Kardinalstitel) non debet perdere 
bonum humorem, quia possibiliter deterreret istum 
bonum hominem de narratione historiarum suarum.“ 
(Euer Eminenz darf nicht den guten Humor verlieren, 
ſonſt könnte ſie möglicherweiſe jenen guten Mann von 
der Erzählung ſeiner Geſchichten abſchrecken.) 

„Habet rectum, magister“ (Sie haben recht, 
Magiſter), entgegnet der Kaplan lachend und ſchweigt. 

Der alte Adam hat aber gar nicht zugehört, 
ſondern ohne jeglichen Zeitverluſt die drei berühmten 
Steinſtufen erklommen, auf deren Höhe ihm der Apo— 
thekerſchnaps winkt. Der Herr Apothekermeiſter tummelt 
ſich auch bereits hurtig zwiſchen den weißen Gläſern 
und braunen Büchſen ſeiner Wandſchränke und greift 
bald da hinauf, bald dort hinunter, um die Beſtand— 
teile der Herzſtärkung zuſammenzuholen. Zwinkernd 
hängt Adams einziges Auge an jeder Bewegung, und 
auch die Herren drin lugen durch die Thür heraus, 


— 196 — 


obgleich ſie ſchon manchen Apothekerſchnaps haben brauen 
ſehen und ſogar ſelber ausgetrunken. 

„Alſo, laßt hören, Adam,“ drängt der alte Herr, 
und Adam muß beginnen, obgleich feine ganze Auf- 
merkſamkeit dem in Entſtehung begriffenen Schnapſe 
gilt. Kein Wunder, daß es ſo konfus klingt, was er 
ſagt; die Wörter in ſeinem Munde ſtolpern übereinander: 

„Ja wohl, meine großgnädigen Herren,“ beginnt 
er, „auch ich habe einmal dreiundzwanzig Zähne im 
Munde gehabt . ..“ 

„Nur dreiundzwanzig?“ fällt ihm der alte Herr 
ins Wort. 

„Ei, was ſag' ich da!“ berichtigt er ſich, „drei— 
unddreißig waren's ja, . . . lauter Zwillinge, denn fie 
ſind immer paarweiſe zur Welt gekommen, oder auch 
einzeln, je nachdem. Und weiß wie Elfenholz, ... 
eh, ich wollte ſagen: wie Ebenbein, . .. ja wohl, weiß 
wie Ebenholz waren ſie alle, und wahre Wolfszähne, 
Eiſen und Stahl. Als ich damals das Mädchen auf- 
hob, die Schari .. ., die Klari, mein’ ich, ... ja, als 
ich damals den Eimer aufhob, da haben die Leute 
Augen gemacht . .. Wenn ich unterthänigſt bitten dürfte, 
wohlanſehnlicher Herr Apothekermeiſter, von dem Hellen, 
was Sie jetzt in der Hand zu haben belieben, noch 
ein paar Tröpfchen hinein, jo einhundert .. . oder 


„ I 


zweihundert .. .“ Und er ſchnuppert ſcharf gegen die 
große viereckige Flaſche hin, die der Apotheker ſoeben 
über das Stengelglas geneigt hält. 

„Spiritus vini dilutus, verdünnter Weingeiſt,“ 
lacht der Apotheker, „der ſticht Euch in die Naſe, was?“ 

„Tauſendmal Verzeihung, mein wohlanſehnlicher 
Herr, ich meine nur ...,“ er ſchnuppert noch nach: 
drücklicher hinüber .. ., „ich meine nur, ob er, näm- 
lich der Schnaps, 'terthänigſt zu melden, ob der Schnaps 
nicht etwas zu . . . zu ſchwach ausfallen wird?“ 

„Hol' Euch der Tatar, mein Süßer, wenn Euch 
dilutus zu ſchwach iſt: 70 Teile Weingeiſt auf 100 de— 
ſtilliertes Waſſer; meine Gurgel thäte ſich bedanken. 
Wollt am Ende gar rectificatissimus, he?“ 

„Wenn ich bitten dürfte, mein wohlangeſehener 
Herr; issimus, issimus, das muß das richtige ſein.“ 
„Ein richtiger Schelm!“ lachen die Herren. 

„Na gut,“ beruhigt ihn der Apotheker und greift 
nach einer andern großen Flaſche, „ich will Euch noch 
einen Schluck ‚issimus‘ hineingießen. Es iſt nur aqua 
destillata,“ flüſtert er den Herren hinter ſich zu, „der 
Schnaps würde ihm ja die Gurgel abſchneiden wie ein 
Raſiermeſſer . . . Und jetzt etwas Milderndes hinein, 
etwas recht Sanftes, . .. jagen wir syrupus corticum 
aurantiorum, Pomeranzenſchalenſyrup . . .“ 


1 


„Brrr!“ ſchüttelt ſich der alte Adam, „dann doch 
lieber, thänigſt zu bitten, etwas Bitterliches, was 
einem ſo die Seele zurechtrüttelt.“ 

„Gut, alter Naſchkater; da ſind eins, zwei, drei 
Tropfen aqua amygdalarum amararum concentrata, 
Bittermandelabſud; ich ſag' Euch, das ſchüttelt Euch 
aus Eurem Hemde heraus.“ 

„Dürft' ich wohl bitten, wohlanſehnlicher Herr,“ 
drängt der Alte in ſeinen unwiderſtehlichſten Flehe— 
lauten. 

„Na, was denn noch?“ fährt ihn der Apotheker an. 

„Wenn es vielleicht möglich wäre, noch drei 
Tropfen von dem... arum barum hinein . ..“ 

„Meinethalben,“ jagt der Schnapsfabrikant achſel—⸗ 
zuckend, „aber ich ſag's Euch voraus, es wird Euch 
alle Därme zu einem einzigen Strick zuſammendrehen.“ 

Der alte Adam aber ſchnalzt laut im Vorgefühl 
dieſer Wonne und reibt ſich ſchon mit ſanften, kreis— 
runden Handbewegungen den Magen. 

„Nun noch eine Spur oleum rosmarini, Ros⸗ 
marinöl,“ ſagt der Apotheker, „das Ding ſoll ja 
ordentlich hinuntergleiten.“ 

Da ſchreit jener auf, als wäre man im Begriff, 
ein beinahe vollendetes Kunſtwerk noch im letzten 
Augenblick zu verderben: „Gnädigſter Herr, gnädigſter 


— 199 — 


Herr! . .. Es wär' doch ſchade drum, der Schnaps 
iſt bisher ſo gut im Gange.“ 

„Was ſchreit Ihr denn wie am Spieße?“ ver- 
weiſt ihn der Apotheker, „ich wollt' es Euch ja gut; 
das iſt ja kein Rosmarinöl, ſondern rauchende Schwefel— 
ſäure, . . . wird aus Schwefelhölzern bereitet, durch 
Abſud.“ 

„Ah, dann, Hochwohlgeboren, bitt' ich nur nach 
der eigenen gnädigen Weisheit ... ich bin nur ein 
dummer Bauer... bitte, gießen gnädigſt nur immer zu.“ 

Und der Apotheker gießt ordentlich zu, ſo daß 
ihm von rückwärts der Kaplan beſorgt in den Arm 
fällt. Aber der Apotheker flüſtert ihm hinüber: „Un— 
beſorgt; es iſt nur aqua florum aurantii, Pomeranzen⸗ 
blütenwaſſer.“ Und nun laut zum alten Feldhüter: 
„Da, Adam, der Schnaps iſt fertig; er iſt würdig, 
von einem Komitatsheiducken imbibiert zu werden. Be- 
dient Euch, Alter, und wohl bekomm's!“ 

„Mit hoher Erlaubnis,“ ſagt der Alte höflich 
und langt mit leiſe zitternder Hand nach dem Glaſe. 
Wie er aber das Glas hält, zittert die Hand nicht 
mehr, kein Tropfen geht verloren. Er ſchließt die 
Augen, auch das blinde, während er den Kopf zurück— 
biegt und das rötlichtrübe Naß hinter den Adams— 
apfel gleiten läßt. Ein Augenblick tiefer Stille, während 


— 200 


alle Blicke an feinem Angeſichte hängen; dann öffnet 
er die Augen wieder und ſtößt ein langes, rauhes 
„Ah!“ aus und macht eine Bewegung, als müßte er 
ſich einen verrenkten Rückenwirbel geſchwind wieder zu— 
rechtſchrauben. 

„War's ſo recht?“ fragt ihn der Apotheker mit 
unwirſcher Freundlichkeit. 

„Küſſ' das Herz, mein wohlanſehnlicher Herr, es 


war ſchon recht fo, aber . . . .“ 
„Aber?“ 
„Ich meine nur, . . .. das zweite Glas pflegt 


meiſtens noch richtiger auszufallen.“ 

Alles lacht, der alte Adam auch, und der Kaplan 
ſagt zum Herrn Stadtchirurgus: „Semper audivi de 
coquina latina, sed nunquam de cellario latino.“ 
(Ich habe immer von der lateiniſchen Küche, aber nie 
vom lateiniſchen Keller gehört.) 

Jedenfalls hat der alte Adam durch das Gläschen 
Magentroſt den grobgedrehten Faden ſeiner Erzählung 
wieder gefunden und fährt, vom alten Herrn kräftig— 
lich getreten, fort: 

„Ach ja, richtig! die Boriſch, nun, mit der war's 
eine eigene Sache. Die Burſchen neckten mich damals 
in der Kiſchkereker Csarda und glaubten nicht, daß ich 
mit den Zähnen ein Zentnergewicht vom Boden heben 


— 201 — 


könnte. Da ſtand der Eimer auf dem Brunnenrand, 
nun ja, der Waſſereimer; ich holte ihn und ſtellte ihn 
in die Mitte der Schenkſtube. ‚Sa, wenn er voll wäre,‘ 
höhnte der Bodnär Peti, ... er ſaß ſpäter in Sze⸗ 
gedin zwanzig Jahre, wegen . ... kurz und gut: ‚Sa, 
wenn er voll Waſſer wäre, höhnte er. Da ſpuckte ich 
aus: ‚Waſſer? Waſſer macht mich ſchwach, ſag' ich, 
‚einen Eimer Waſſer kann ich freilich nicht heben; aber 
komm' mal da herüber, Eva, mein Täubchen.“ Sie 
will nicht, da heb' ich fie aus dem Gitter des ‚Schaden— 
hüters“ heraus, wie eine Ente, bei einem Flügel; ſie 
lacht und kratzt dazu; nützt nichts, ich ſetze ſie in den 
Eimer und ſtemme ihr die beiden Hände auf die zwei 
Schultern, daß fie ſich nicht rühren kann, der Sovany 
Ferkö muß einen Gurt in die zwei Oſen des Eimers 
ſchlingen und mir die Mitte quer durchs Maul legen 
wie eine Gebißſtange. Ich bücke mich .. . . ‚na, Jeſus, 
hilf!“ . . . . ich ſtemme mich in die Höhe und hebe 
den ganzen Eimer voll Frauenzimmerfleiſch kerzengrad 
empor, bis an meine Kniee. In meinem Munde 
kracht's, ich hör's genau, aber ich halte feſt und ſetze 
den Eimer ganz ſachte wieder zu Boden. Hat aber 
mindeſtens zwei Zentner gehabt, das Gewicht, denn die 
Jutka war ein . . .. rund und geſund, drall und prall, 


22222 


— 202 — 


er von gebratenem Spanferkel geſprochen), „und .... 
und . . . . was Wunder, daß mir dabei drei Vorder- 
zähne, die unteren da, in die Brüche gingen? Nein, 
mit Verlaub, wohlgeboren Herr Stadtarzt, unbeſchadet 
Ihrer Zange, aber mit einem Ruck ohne Zange gleich 
drei Zähne, . . . die Jutka hätte ſollen ein Zahnbrecher 
werden, nicht wahr?“ 

„Hieß ſie nicht eben erſt Eva?“ fällt der Kaplan 
ein, der an richtig ausgefüllte Taufregiſter gewöhnt iſt. 

„Ach, mein Jeſus, ſie heißen ja alle Eva,“ ruft 
jener und hebt das Stengelglas gegen das Licht, ob 
nicht unverſehens noch ein Tröpfchen drin geblieben. 

„Na, laß nur ſtehen, bin ſchon bei der Hand,“ 
beruhigt ihn der Apotheker und greift nach einer Flaſche. 
„Wollt Ihr aus dieſem vitrum epistomio vitreo clau- 
sum (mit Glasſtöpſel geſchloſſenen Flaſche)? Hallerſche 
Säure drin, acidum Halleri, ... auch ein guter 
Grundſtoff für Apothekerſchnaps, drei Teile spiritus 
vini concentrati.....“ 

„Spiritus centrali, das kann nur gut ſein,“ 
ſtimmt der alte Adam bei. 

„Und ein Teil acidi sulfurici concentrati puri 
(reine, verdichtete Schwefelſäure).“ 

„Puri!“ wiederholt Adam, halb erſchrocken vor 
einem ſolchen Wirbel unverſtändlicher Silben. 


— 203 


„Und jo habt Ihr die drei Vorderzähne ein- 
gebüßt,“ knüpft der alte Herr wieder an. 

„Mit Gottes Hilfe ja, mein gnädiger Herr, aber 
es blieben ja noch an die achtzig übrig, wenn nicht 
gar ſiebzig, oder noch weniger. Aber du lieber Himmel, 
das viele Sauerwaſſer hat mich wieder etliche gekoſtet. 
Nichts Schädlicheres für die Zähne als Sauerwaſſer.“ 

„So!“ brummt der Herr Stadtchirurg ungläubig, 
wenn auch nicht um einen gelehrten Streit zu beginnen, 
aber doch um ſeinen Standpunkt zu wahren. 

„So gewiß als ich da ſtehe und Durſt habe,“ 
ſchwört der alte Adam, indem er an ſeinem Kehlkopf 
umherfingert, als verſuche er den Fingerſatz auf der 
Flöte. „Die Boriſch . . . doch, wozu das? Genug, 
ich ging arbeiten an den Vereber Sauerbrunnen, der 
ſo gut riecht, daß die Vögel, die über ihn wegfliegen, 
nachher lauter faule Eier legen. Dort hab' ich Tauſende 
von Flaſchen verkorkt und dadurch gewiß ein paar 
tauſend Seelen in die Hölle befördert. Denn, der 
hochwürdige Herr Kaplan wird es auch bezeugen: wer 
flucht, kommt in die Hölle; die Leute aber, die meine 
Flaſchen zu entkorken hatten, müſſen dabei ganz mör— 
deriſch geflucht haben, ſo feſt ſaßen meine Korke. Und 
erſt ihre Verdrahtung! Nur hätte ich mich nicht ge— 
wöhnen ſollen, den Draht immer mit den Zähnen ab— 


„ 


zubeißen; aber als die Brunnenverwaltung ſah, daß 
ich auch das konnte, zog ſie mir die Drahtſchere ein, 
um zu ſparen. Da, dieſer rechte Hundszahn war das 
Opfer; ich weine noch jetzt, wenn ich an ihn denke, 
aber nur mit meinem blinden Auge. Freilich, die 
oberen da vorne waren noch beſſer, auf dieſen hab' 
ich die meiſten Haare gehabt. Aber, mein Jeſus, das 
viele Zahnpulver . . .“ 

„Dann war es gewiß ſchlechtes Zahnpulver,“ 
meint achſelzuckend der Herr Magiſter. 

„Mit Verlaub, Wohlgeboren, ausgezeichnetes. 
Aber es iſt beſſer, nicht davon zu reden... Es iſt 
viel luſtiger, wie ich mir einmal mit einem Hufeiſen 
die Zähne ſtocherte, und zwar vor dem Eſſen. Es 
war noch dazu an einen Pferdehuf genagelt, und ein 
Huſarenwachtmeiſter ſaß im Sattel, und ich, ſo ſchwer 
ich war, hing am Zügel. Und das alles im Galopp. 
Und dieſelbe Eva ſah zu, ſie ſtand hinter dem Zaune, 
und vor dem Zaune hatte kurz vorher der Huſar ge— 
ſtanden, bis ich .. . Ja, man iſt fo dumm, ſolang 
man Zähne im Munde hat; mit Verlaub, wohlgeborne 
und hochwohlgeborne Herren ſind ausgenommen, ich 
meine nur uns Bauern ... Verzeihung, wohlanſehn— 
licher Herr Apothekermeiſter, iſt auch von dem gewiſſen 
issimus drin?“ 


— 205 — 


„Beruhigt Euch, Adam,“ ſagt der Apotheker, 
„alles nach Eurem Geſchmack; ein Tropfen Eſſigäther 
iſt diesmal auch dabei; aqua kreosoti hab' ich doch 
nicht hineingeben wollen . ..“ 

„Schade, ſchade!“ jammert der Melonenhirt. „Na, 
in Gottes Namen; thänigſten Dank, gnädiger Herr, 
für alles Gute.“ Und auch das zweite Glas iſt ver— 
ſchlungen. Jetzt wird aber der alte Adam lebendig. 
„Tjüh“, ruft er, „das war heidenmäßig gut! Ich 
ſpüre den issimus bis in die Stiefel hinab; hei, wie 
kneipt er mich in die kleine Zehe und kraut mir die 
Fußſohle. Haha, das Gefühl hatt' ich früher ſo 
manchesmal, damals tanzte ich noch mehr als jetzt, 
aber es iſt unglaublich, wie das Tanzen die Zähne 
erſchüttert. Beſonders wenn ſie dabei hie und da mit 
einer Zahnbürſte in Berührung kommen, mit einer 
Zahnbürſte ohne Borſten, wie dieſe da in meiner Hand“ 
. . er ſtieß die Eiſenzwinge ſeines Steckens knirſchend 
auf die Steinplatten. . .. „Übrigens beſſer fo, juft 
die paar Zähne, da auf der linken Backenſeite, haben 
mir damals arg weh gethan, auf die Eva. War auch 
ein goldenes Schätzchen; war noch viel mehr Zähne 
wert. Dann kam das gewiſſe Jahr, wo ſo viel ge— 
ſchoſſen wurde. Ich war auch mit, wie die anderen. 
Einmal aber, an der gewiſſen Brücke in Siebenbürgen, 


— e 


. . . wir ſtürmen vorwärts, immer vorwärts, jenſeits 
ſteht die Batterie und feuert in uns herein, rechts und 
links von mir krach! ſumm! brumm! ich lache nur 
dazu. Bajonett gefällt und vorwärts! Da ſteh' ich 
vor einer feindlichen Kanone, und ein Kerl daneben 
mit dem Wiſcher in der Hand. Noch heut weiß ich 
nicht, warum ich dem Kerl ins Geſicht lachen mußte, 
er aber nimmt das ſchief und fährt mir mit dem 
Wiſcher ins Maul, bis in den Hals hinab, als wär' 
ich ein Kanonenrohr. Ei du unmanierlicher Schorn— 
ſteinfeger! Das hat mich wieder auf der nämlichen 
Seite getroffen; da war ich nun ganz gewiß, daß ich 
auf dieſer Seite keine Zahnbürſte vertrage. Von den 
Stockzähnen da herum hatte ich nur noch einen be— 
halten; den Stock habe ich noch jetzt“ ... er grüßt 
mit feinem Stecken militäriſch, als wär's ein Degen... 
„den Zahn aber nicht mehr. Wo er hingeraten? ich 
glaube nicht, daß ich es noch weiß, will aber morgen 
meine Eva fragen.“ 

„Alſo die Eva habt Ihr dann doch geheiratet?“ 
fragt der alte Herr, der den Liebeshandel gern da— 
heim wieder erzählen möchte, ſeiner Wirtſchafterin, der 
blonden Karolinka. 

„Mit hoher Erlaubnis, nein,“ entgegnete der 
Melonenhüter, „aber jeder Adam muß ſeine Eva haben, 


und fo Heiß’ ich fie Eva. Die andere, die erſte, die 
goldene, ja, die hat mich an den Galgen gebracht, 
aber zum Glück nicht ganz. Ich hatte noch den Zahn— 
ſtocher ihres Huſarenwachtmeiſters zwiſchen den Zähnen, 
da kam die Infanterie angerückt. Zwei weiße Zwirn— 
ſterne am Kragen ... er war Korporal . . . So tief 
war fie geſunken, ſie liebte ſchon zu Fuß. Und trotz— 
dem trug ich ſie noch immer im Eimer, in dem kleinen 
roten Eimer da innen“ .. . er ſchlägt ſich auf die 
Bruſt ... „und hab's nicht ertragen. Vom Kriege 
her war mir eine alte Piſtole geblieben, eben noch gut 
genug, um einen kalt zu machen, . . . wenn man ihm 
mit dem Kolben auf den Hirnkaſten klopfte. Aber 
einen einzigen Lauf hatte ſie, wie der Haſe, den ich 
vor zwanzig Jahren auf der Sonnenſchein-Pußta trotz— 
dem nicht einholen konnte. Ich aber hatte zwei Pa— 
tronen dazu, man kann ja nicht vorſichtig genug ſein. 
Die eine alſo ſteck' ich in den Lauf, die andere, um ſie 
im Notfall gleich bereit zu haben, in den Mund. Weiß 
ich, wie's kam? Die im Lauf ging nicht los, wohl 
aber die im Maul. Tjüh, alle Engel hört' ich ſingen; 
klang juſt, als ob tauſend ungeſchmierte Thürangeln 
ſich auf einmal drehten. Gottes Holz! Das war eine 
Muſik, um den kalten Froſt zu kriegen. Pfrrrrummm! 
machte es, wenigſtens hab' ich nichts weiter gehört. 


— 208 — 


Wie ich mich nach einer guten Weile wieder ſpüre und 
in den Himmel hinaufſtarre, ſehe ich über mir, ſo hoch 
wie zweimal unſer Kirchturm, einen ſchwarzen Punkt. 
Der wird immer größer, und bald merk' ich, daß das 
eigentlich etwas iſt, was aus der Höhe herabfällt . . .“ 

Hier langt der alte Adam ſchon zum fünftenmal 
nach dem Stengelglas, in das ihm der ſittlich ent— 
rüſtete Apotheker diesmal auch vier Tropfen acetum 
quatuor latronum (Eſſig der vier Diebe) geträufelt 
hat. Dann ſpuckt er zur Thür hinaus, fährt ſich mit 
dem offenen Hemdärmel zweimal quer über den Mund 
und plaudert weiter: 

„. . herabfällt, ja, und grad auf meinen Kopf 
los. Ich will ihn geſchwind beiſeite rücken, um dem 
vermaledammten Himmelsſtein, oder was es war, aus— 
zuweichen, aber ich kann mich nicht rühren. Nun iſt 
auch das Ding ſchon ganz nahe, ich kann darin gerade 
nur noch meinen ſchönſten Backenzahn erkennen, da 
vergeht mir das Einmaleins, und alles iſt ſchwarz. 
Wie ein Stein hat er mich an den Schädel getroffen 
und ein tüchtiges Loch drein geſchlagen. Viel ſpäter 
erſt kam ich auf den Zuſammenhang. Das verfl . .. 
ammte ſchwarze Zahnpulver in der Patrone war mir 
zwiſchen Gaumen und Zunge losgebrannt und hatte 
mir ein Dutzend Zähne zum Teufel geſprengt. Tjüh, 


— 209 — 


war das eine Gewalt! Ein Backenzahn war kerzen— 
gerade gen Himmel gefahren und erſt nach einer Viertel— 
ſtunde, juſt als ich eben wieder zu mir kam, ebenſo 
kerzengerade wieder auf meinen Schädel heruntergeſauſt, 
wie ein Kieſelſtein. Wie hoch muß der geflogen ſein, 
daß er im Fallen ſchwer genug wurde, um mir das 
Dach einzuſchlagen?!“ 

„Iste nebulo in una secunda plus mentitur, 
quam in uno anno confiteri posset“ (der Kerl lügt 
in einer Sekunde mehr, als er in einem Jahre beichten 
könnte), ſagt Seine Eminenz der Herr Kaplan zum 
Herrn Stadtchirurgus, „sed clarum est, quod ta- 
lentum habet, et magnum damnum est, quod non 
in diplomatia servit“ (aber es iſt klar, daß er Talent 
hat, und es iſt ſehr ſchade, daß er nicht in der Diplo— 
matie dient). 

„Wie meine Kinnbacken dann wieder halbwegs 
eingerenft waren,“ phantaſiert der Erzähler weiter, 
„ging ich aus, meine zerſprengten Zähne wieder zu 
ſuchen. Einige hab' ich auch wirklich gefunden, in den 
verſchiedenen Höfen ringsum zerſtreut, und, was das 
merkwürdigſte iſt ... ich glaub's auch noch heute 
nicht . . . einer flog durchs Schlüſſelloch der geſchloſſenen 
Kirchenthür hinein bis auf den Hochaltar, wo er zu 
Füßen der heiligſten Jungfrau ſtecken blieb; vor zehn 


Heveſi, Buch der Laune. 14 


— 210 — 


Jahren erſt iſt er vor Alter locker geworden und von 
ſelbſt herausgefallen.“ 

„Nunc est tempus obturare os ejus, quia post 
et post in veram blasphemiam incidit“ (jetzt iſt 
es Zeit, ihm den Mund zu ſtopfen, denn nach und 
nach verfällt er in wahre Gottesläſterung), ſagt der 
Herr Kaplan kopfſchüttelnd. „Sed vide, digitus Dei!“ 
(doch ſchau, der Finger Gottes!) ruft er, als der alte 
Adam plötzlich kreidebleich wird und zu ſchwanken be— 
ginnt. Der viele Apothekerſchnaps mag ihm zu Kopfe 
geſtiegen ſein. Krampfhaft ſucht er ſich an ſeinem 
Hirtenſtab aufrecht zu erhalten, aber umſonſt, der 
Apotheker und der Wundarzt müſſen hinzuſpringen und 
ſeine haltloſen Gebeine in einen geflochtenen Lehnſtuhl 
niederlegen. n 

„Gut, daß ich mein Aderlaßzeug bei mir habe,“ 
ſagt der Stadtchirurgus und holt auch ſchon das rot— 
lederne Beſteck aus der Taſche, während der Apotheker 
dem Leidenden kaltes Waſſer ins Geſicht ſchleudert, ſo 
daß er ſich geſchwind erholt. 

„Gyurka, die grüne Schüſſel!“ ruft der Apotheker 
in den Hof hinaus, und, ohne ihn zu fragen, wird der 
alte Adam für den Aderlaß fertig gemacht. Man hat 
ihm ſeinen Stecken in die linke Hand gegeben zur 
Stütze, den offenen Hemdärmel bis über die Schulter 


— 211 


zurückgeſchlagen und mit jenem breiten roten Seiden— 
band, das die ganze Bauernſchaft der Umgegend nur 
zu gut kennt, den Oberarm über der Armbeuge um— 
ſchnürt. Schon blinkt der Schnepper, den der Herr 
Chirurgus freudig ſchwenkt, . . . ein kurzes Knackſen ... 
und ein ſchwarzer Strahl ſpringt aus dem Arm des 
Gepeinigten ſeitwärts in die ortsbekannte grüne Schüſſel 
hinab. | 

„Niger sieut tinta, .. tempus erat“ (ſchwarz 
wie Tinte, es war Zeit) brummt der Operateur und 
beobachtet mit dem einen Auge die Farbe des warmen 
Springquells, während er mit dem andern das Antlitz 
des Angezapften prüft. Kein Zwiſchenfall, nur daß 
Gyurka, dem es vom Anblick des Blutes plötzlich ſchwül 
ums Zwerchfell wird, die grüne Schüſſel fallen läßt und 
ſelber mitten in die Blutlache hinſinkt. 

Endlich iſt alles wieder in Ordnung; der alte 
Adam, den verbundenen Arm in der Schlinge, ſteht 
mühſam am Stocke auf und ſucht mit unſicheren Sohlen, 
die immer zu kurz tappen, die Steinplatten des Eſtrichs. 

„Auch der Herrgott ſoll den gnädigen Herrn 
Chirurgus ſegnen,“ ſagt er mit ſchwacher Stimme und 
möchte gerne lachen, wenn er könnte; „und den gnädigen 
Herrn Apothekermeiſter für den guten Schna. .. 
Schnaps, und den hochwohlgebornen Herrn, Gott ſoll 


— 212 — 


ihn leben laſſen, für den Verpeléter, ... der arme 
Mann hat es doch gut, wenn es noch ſolche wohl— 
geborne und hochwohlgeborne Herren giebt, Gott 
laſſe ſie leben, . .. mit gnädiger Erlaubnis werde 
ich mich jetzt wieder etwas weiter ſtellen, . .. meine 
Herde draußen auf der Salzigen Pußta iſt zwar feſt— 
gebunden, jedes einzelne Stück am Erdreich, und die 
griechiſchen Melonen (Waſſermelonen) laufen mir nicht 
fort, und die gelben auch nicht, aber es iſt doch beſſer 
bei ihnen zu ſein, denn ſie haben doch eine ganz 
verf ... verfängliche Neigung zum Fortrollen; mein 
Gott, rund ſind ſie ja, und das Erdreich ſenkt ſich 
dort herum ſo etwas abſchüſſig, ſo daß leicht etwas 
ſozuſagen geſtohlen werden kann. Glücklichen guten 
Tag, Wohlgeboren, Hochwohlgeboren ... alle guten 
Dinge 

So ſchwankt der alte Adam zur Thür hinaus, 
ſtolpert die drei Stufen hinab und ſtelzt auf ſeinen 
drei Beinen auffallend behutſam die ſtaubige Straße 
entlang. Er fühlt ſich durch den Aderlaß und das 
übrige ungeheuer gekräftigt; jetzt lebt er gewiß um 
drei Jahre länger. Aber lachen thut er einſtweilen 


nicht mehr. 
2 


Miß Digg. 
Ein Reiſeabentfeuer. 


(1887. 


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155 


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„Theodor!“ 
Und in den Armen lagen ſich beide, 
als wären ſie von Friedrich Schiller. 

Sie konnten nicht umhin, dieſes unvermutete Wieder⸗ 
ſehen nach acht Jahren ſowohl feucht als auch trocken 
zu feiern, indem ſie die reichliche halbe Stunde bis 
zum Abgang des Zuges mit einem ebenſo reichlichen 
Wiederſehens-Imbiß ausfüllten. Der Eß- und Trink- 
garten des Weſtbahnhofes zu Wien war nur leider 
ſehr voll, ſo daß die ganze Nachbarſchaft den beiden 
Freudigen in die vollen Teller, Gläſer und Herzen 
hineinſah. Nur eine einzige Perſon, die mit am näm⸗ 
lichen Tiſche ſpeiſte, machte eine rühmliche Ausnahme. 
Das war eine noch ziemlich junge, aber auch bereits 
ziemlich alte Dame, welche dem Kellner ein geläufiges, 


ae 


freilich ſilbenweiſe abgewogenes Deutſch widmete, ob— 
gleich auf dem roten Juchtentäſchchen, das neben ihrem 
Teller ſtand, ein blankes Metallplättchen zu ſehen war, 
mit der unverkennbar engliſchen Aufſchrift: „Miß Nigg.“ 
Auch im übrigen war ſie mehr als halbengliſch. Ihre 
feinen Züge waren etwas ſtreng und ſpitz; das dunkel— 
graue Lodenkleid verlief, beſonders vom Hals bis zum 
Gürtel, in gewiſſen langen, geometriſch geraden Linien; 
ſie ſaß und aß in einem tadelloſen „style“ und hatte 
eine gewiſſe Weiſe, nirgendshin zu ſchauen, ohne doch 
die Augen niederzuſchlagen, ſo daß es unmöglich war, 
ihren Blick zu kreuzen oder gar ihm zu begegnen. 

„Mein lieber, alter Anton!“ 

„Mein guter, braver Theodor!“ 

Und die Gläſer klangen zum zehntenmal an ein- 
ander und alle Nachbarn wandten zum ebenſovieltenmal 
die Köpfe, um den Händedruck über den Tiſch weg, 
den ſie ſchon auswendig wußten, nochmals zu belächeln 
und um noch ein ehevorletztesmal mitanzuhören, daß 
Theodor bereits Bureauchef ſei und Witwer und Vater 
von drei Kindern, und Hausbeſitzer im vierten Bezirk, 
und Beſitzer des goldenen Verdienſtkreuzes mit der 
Krone, und Vizevorſtand der Sektion Auſtria des inter— 
nationalen Bergſteigerbundes, und Jägero-Wagnerianer 
u. ſ. w., während andererſeits Anton drei Weltteile 


oe 


bereiſt habe und ein großes Vermögen erworben, und 
jedes Jahr eine Kaltwaſſerkur mache, und gebratene 
Kartoffeln dem beſten Faſan vorziehe, im übrigen aber 
gänzlich unverheiratet geblieben ſei, weil, weil, weil . . . 
mein Gott, die heutigen Mädchen! und die Weiber 
ſchon gar!! und vollends die Witwen!!! leichtes Volk, 
kein Verlaß auf ſie, Sonnenblumen (und man ſteckt 
keine Sonnenblume ins Knopfloch), Wendehälſe (und 
man ſetzt ſich keinen Wendehals in den Käfig als Nach— 
tigall), alle gefallſüchtig, unſolid, auf den Mann dreſſiert 
wie Doggen, . .. er wenigſtens habe noch keine von 
anderem Schlage geſehen, keine einzige, wofür der beſte 
Beweis eben ſein Junggeſellentum ſei, denn die erſte 
beſte Andersgeartete hätte er ja, wie er ſich kenne, 
vom Fleck weg geheiratet. 

„Zweites Läuten! Einſteigen nach Sankt-Pölten, 
Kemmelbach, Ybbs, Amſtetten, Linz, Wels, Lambach“ 
e u. e w. 

Miß Nigg zahlte und ging hinaus, ohne auch nur 
mit einer Wimperſenkung zu grüßen oder den, aller— 
dings etwas unentſchiedenen, Gruß ihrer beiden Tiſch— 
nachbarn zur Kenntnis zu nehmen. 

„Siehſt Du,“ ſagte Anton, der Vielerfahrene, 
„das iſt die ſchlimmſte Sorte; die Steifen, die Prüden, 
die ſind alles imſtande ... Doch was iſt das? Sie 


218,00 


hat ihre Börſe auf dem Tiſch vergeſſen; noch dazu 
offen . . . und das gerade Gegenteil von leer.“ 

„Wir folgen ihr und ſtellen ihr die Börſe feier- 
lich zurück,“ meinte Theodor. 

„Ja, aber ein Weilchen laſſen wir ſie erſt zappeln,“ 
ergänzte Anton, im überlegenen Tone eines Amen— 
dements. 

Und ſie ſtiegen in das nämliche Coupé, in dem 
Miß Nigg Platz genommen hatte. Da der Zug ſehr 
beſetzt war, brauchte es keiner weiteren Entſchuldigung. 

Übrigens hatte Miß Nigg von ihrem Eintreten 
nicht mehr Notiz genommen, als wären die Schatten 
zweier vorüberſchießenden Telegraphenſtangen durch das 
Coupé gehuſcht. Auf ihren ſorgfältig zuſammengefaßten 
Zügen lag eine Gleichgültigkeit, aus der nicht das ge— 
ringſte Für oder Wider herauszuleſen war. 

Als der Zug ſich in Bewegung geſetzt hatte, ent— 
faltete ſie eine Zeitung und begann das Feuilleton zu 
leſen. Ihr Profil war hübſch, obwohl es ganz gut 
um einen Zoll hätte kürzer ſein können. 

„Eine feine Naſe,“ bemerkte Anton laut in eng⸗ 
liſcher Sprache, als hielte er die Reiſegefährtin für eine 
Deutſche und wollte von ihr nicht verſtanden ſein. 

„Aber zu große Hände und Füße,“ entgegnete 
Theodor noch engliſcher, alſo entſprechend lauter. 


— a) 


Was ſie aber weiter ſagten, ſagten ſie deutſch und 
ganz leiſe flüſternd. 

„Das iſt ſtark,“ meinte Anton; „die Flügel einer 
Naſe, die man lobt, pflegen doch gewöhnlich in ange— 
nehmer Erregung zu zucken, wie von einem inneren 
Lächeln; und dieſe hier, wie aus Marmor gemeißelt.“ 

„Ich finde es noch weit merkwürdiger,“ entgegnete 
Theodor, „daß der Tadel ſie nicht bewog, die Man— 
ſchetten ein wenig über die zu großen Hände hervor— 
zuziehen, beſonders aber die zu großen Füße unauf— 
fällig hinter dem Kleidrande verſchwinden zu laſſen.“ 

„Das letztere iſt in der That auffallend,“ be— 
ſtätigte Anton, „ich hätte das bei einer jungen, oder 
doch jedenfalls jüngeren Dame nicht erwartet.“ 

„Lob und Tadel von Fremden ſcheinen für ſie 
gar nicht vorhanden zu ſein.“ 

„Nun, wir wollen doch einmal verſuchen, wie 
weit ihre Starrheit geht,“ ſagte Anton. „Den Teufel 
auch! ſollte es uns nicht gelingen, etwas zu ſagen, 
was ſie aus ihrer Zurückhaltung herauslockt?“ 

Sie verſuchten dieſes Ziel auf den verſchiedenſten 
Wegen zu erreichen. Theodor hatte zufällig die näm— 
liche Zeitung bei ſich, in der die Dame ſo aufmerkſam 
das Feuilleton las. Er ſchlug es alſo auf und begann 
ein kritiſches Geſpräch über dieſen Aufſatz. 


— 220 — 


„Ach Gott,“ ſagte er in gelangweiltem Tone, 
„ein Feuilleton über emanzipierte Frauen. Giebt es 
denn wirklich noch Leute, die das abgedroſchene Zeug 
leſen?“ (Miß Nigg las ruhig weiter.) „Frauen leſen 
es gewiß nicht, denn die wiſſen genau, daß dieſer Herr 
Verfaſſer davon nichts verſteht.“ (Miß Nigg las ge— 
laſſen weiter.) „Emanzipierte Frauen! Giebt es denn 
auch nicht emanzipierte? Alle ſind ſie emanzipiert, 
nur ſind die meiſten nicht aufrichtig und zeigen es 
nicht.“ (Miß Nigg las unentwegt weiter.) „Und 
merkwürdig, gerade in England, wo ſie ſich am 
ſittſamſten gebärden, wo das Pedantiſch-Anſtändige 
geſellſchaftliche Vorſchrift iſt, ſind fie am emanzi— 
pierteſten.“ 

Miß Nigg ſchien nicht das geringſte zu hören. 
Sie las weiter, ja ſie unterließ es ſogar, was die 
meiſten in ihrem Falle gethan haben würden, ſo zu 
thun, als ob fie mit geſteigerter Aufmerkſamkeit läſe. 
Nichts dergleichen; ſie las, wie ſie geleſen, mit voll— 
kommener Unbefangenheit. 

Das bewog die beiden, ein anderes Manöver zu 
beginnen. Gut, meinten ſie, dem Ernſt könne man 
immerhin Trotz bieten, aber dem Komiſchen nicht. Das 
Lachen ſei etwas Unwillkürliches und das Zwerchfell 
kein Trommelfell, das ſich taub ſtellen könne. Und 


— 221 — 


daraufhin begannen ſie tragikomiſche Erlebniſſe zu er— 
zählen, ſchauerliche Sachen mit grotesken Wendungen. 

„Ja, Du haſt recht,“ ſagte Anton, „auch ich bin 
ein geborener Arkadier und war einſt dick und fett, 
wie Du, aber dieſe leibliche Pracht iſt nun dahin . .., 
ach, das war die fürchterlichſte Minute meines Lebens.“ 

„Minute?“ fragte Theodor erſtaunt. 

„Ja wohl,“ entgegnete Anton mit tiefem Ernſt. 
„Eben jetzt, da ich an das Abenteuer zurückdenke, ſträubt 
ſich jedes Haar auf meinem Kopfe und es rieſelt mir 
eiskalt über den Rücken. Doch ich will mich ſammeln 
und Dir jenes Erlebnis erzählen. Auf meinen Fahrten 
in Italien kam ich eines Tages nach Carrara. Ich 
wollte mir den Marmorblock anſehen, aus dem dereinſt 
Tilgner mein Denkmal für den Wiener Stadtpark gießen 
wird . .. Lache nicht, mir iſt nicht danach zu Mute... 
Der Lieblingsſpaziergang der guten Leute von Carrara 
iſt die ſogenannte Marmorbahn, unter der Du Dir 
aber keine Wandelbahn, mit Platten aus echtem Car— 
raramarmor belegt, denken darfſt, ſondern eine Eiſen— 
bahn, die ſich ins Gebirg hinaufſchlängelt, um von 
dort die ſchweren Marmorlaſten zu Thale zu ſchaffen. 
Es war ein ſonniger Nachmittag und, gleich den Ein— 
geborenen, ſchlug auch ich dieſen Schienenpfad ein, um 
mich in friſcher Luft zu ergehen. O, es war herrlich. 


— 222 — 


Aber ich war doch froh, als ich aus der Sonnenglut 
plötzlich in einen langen Tunnel kam. Ich knöpfte 
mich bis an den Hals zu und ſchritt rüſtig ins Schwarze 
hinein, oder vielmehr hinauf, denn das Terrain ſtieg, 
auf einen goldblinkenden Stern zu, in welcher Geſtalt 
ich nämlich die jenſeitige Offnung erblickte. Da plötz— 
lich höre ich ein ſonderbares dumpfes Brauſen. Der 
Boden zittert unter mir. Ein Erdbeben, ſage ich mir 
und will mich mit beiden Händen an die feuchte Fels— 
wand klammern, die aber nicht den geringſten Halt 
bietet. Aber auch die Felswand zittert, wie meine 
Hände, und durch die Luft geht ein Beben und Wellen— 
ſchlagen, wie durch ein dunkles Gewäſſer. Wird der 
Tunnel einſtürzen? Soll ich da begraben werden? 
Ich hatte keine Zeit zu Gedanken, denn ein neuer 
Schreck machte jeden Blutstropfen in mir erſtarren. 
Der goldene Stern vor mir verſchwand plötzlich, alles 
war in Nacht gehüllt, . . . ein Bahnzug war heulend 
in den Tunnel eingefahren, ein Laſtzug mit den ge— 
wohnten ſechstauſend Zentnern Marmor. Ich ſah ihn 
nicht, denn ſeine roten Augen waren nicht angezündet; 
wozu auch bei Tage, wegen eines einzigen Tunnels?“ 

Miß Nigg wandte ſoeben die Zeitung um und 
las auf der anderen Seite weiter, über die emanzi— 
pierten Frauen. 


„5 


„Wie mir zu Mute war?“ fuhr Anton fort, „ich 
weiß es nicht. Der Boden, auf dem ich ſtand, bebte; 
der Fels, an den ich meinen Rücken preßte, mit einer 
Kraft, als wollte ich mich durch den Stein drücken, 
zitterte jo heftig, daß ich ihn pulſieren fühlte,. .. 
das war aber mein eigenes Blut, dem er ein Echo 
gab. Und nun fühlte ich gar nichts mehr, ich hörte 
nur. Jener heulende Pfiff der Maſchine gellte in 
meinen Ohren weiter, und ich glaubte tauſend Hämmer 
zu hören, deren betäubende Schläge im Begriff ſtanden, 
den ganzen Berg zu zertrümmern. Es ging in einem 
vierſilbigen Rhythmus, die erſte Silbe immer am 
ſchärfſten und hellſten, ſo daß ſie förmlich ſchmerzte, 
.. tik tak tak tak, tik tak tak tak, und fo fort, tage— 
lang, jahrelang, wie mir ſchien. Ich gab mich ver— 
loren und hatte nur Bewußtſein für eines auf dieſer 
Welt: für die Schmalheit des Tunnels. Wenn ich 
mich recht an die Wand klebte, die glücklicherweiſe ge— 
rade an dieſer Stelle etwas eingebaucht war, konnte 
das unſichtbare, heulende, ſchnaubende Etwas, deſſen 
heißen Atem ich bereits fühlte, vielleicht an mir vor— 
beikommen, ohne mich zu erdrücken oder mich mit einer 
ſeiner fuchtelnden Eiſenſtangen zu zerreißen. Und ich war 
damals ſo dick! Ach, wenn ich damals ſo hager ge— 
weſen wäre, wie jetzt! Aber ich hatte ein ſtattliches 


— 224 — 


Embonpoint, ich war im Hochrelief gearbeitet, und das 
konnte jetzt mein Verderben werden . .. Weiter wußte 
ich nichts. Ich könnte Dir heute nicht ſagen, wie die 
Sache abgelaufen iſt. Der Zug ſchob ſich langſam an 
mir vorüber, ohne daß ich genau wußte, wann und 
wie; ich war halb bewußtlos, aber unverſehrt. Nur 
meine Stiefel zeigten ſich etwas angeſengt von Funken, 
und eine Rußſchichte bedeckte mich vom Kopf bis zu 
den Füßen. ... Erſt nach und nach gewann ich Be— 
wußtſein und Beweglichkeit wieder. Ich ſchwankte 
aus dem Tunnel hinaus und geradenwegs in den Gaſt— 
hof zurück. Dort empfing man mich wie einen Fremden. 
Der Padrone fragte mich, ob ich eine Stube wünſchte. 
„Ich habe ja ſchon eine,‘ entgegnete ich. Er rief den 
Kellner und fragte ihn, wann ich angekommen wäre. 
Der Kellner wollte auch nichts von mir wiſſen. Da 
fiel mein Blick in den großen Spiegel des Veſtibuls 
und .. . ich erkannte mich ſelbſt nicht. Ich ſah das 
Spiegelbild eines langen, hageren Herrn. Ich glaubte 
verrückt zu ſein und griff krampfhaft an meinen Kleidern 
umher, ſie waren mir um das Doppelte zu weit, be— 
ſonders das Beinkleid. . . .“ 

Beide lugten ſcharf nach Miß Nigg hinüber; 
„Beinkleid“, ein ſo unausſprechliches Wort, davon 
mußte ſie doch zuſammenzucken, oder wenigſtens er— 


— 225 — 


röten. Aber ſie ſchien nicht zu hören; während dieſer 
ſpannenden Erzählung hatte ſie das Feuilleton zu Ende ge= 
leſen und ſtudierte nun ein großes Inſerat über Serbenloſe. 

„Ja wohl,“ rief Anton, „dick war ich in den 
Tunnel eingetreten, mager trat ich heraus. In einer 
Minute hatte mich die Angſt mager gemacht.“ 

„Unglaublich!“ ſagte Theodor aufatmend. 

„Aber wahr,“ erwiderte Anton. „Du weißt ja, 
daß man plötzlich grau werden kann; warum nicht 
auch mager? Und dann ... der Wille! Lies nur 
Schopenhauer; Wille iſt alles. Der feſte, konzentrierte 
Wille, mager zu werden, unter dem Druck der drin— 
gendſten Lebensgefahr, mag wohl in einzelnen Fällen 
ſeinen Zweck erreichen. Nach Kant kann man durch 
den Willen ſogar einer Krankheit Herr werden. Nun 
denn, ich habe gewollt.“ 

Er ſchwieg. 

Theodor ſchwieg auch. 

Miß Nigg las eben mit geſpannter Aufmerkſam⸗ 
keit die Bezugsbedingungen der Serbenloſe ... Und 
ihr Näschen war ſo fein, und im Kinn hätte ſie bei— 
nahe ein Grübchen gehabt. Das war denn doch ſo— 
zuſagen ärgerlich. 

„Das mit dem Grauwerden kann ich beſtätigen,“ 
hub nun Theodor an. „Ich bin das lebendige Bei— 


Heveſi, Buch der Laune. 15 


— 226 — 


ſpiel dafür. Achtunddreißig Jahre und eisgrau. Es 
iſt mir wahrhaftig beinahe ſo ergangen wie Dir.“ 

„Auch ein Tunnel?“ rief Anton etwas gering⸗ 
ſchätzig, wegen der vermeintlichen Nachahmung. 

„Warum nicht gar!“ verwahrte ſich Theodor. 
„Ein Tunnel iſt dagegen ein Kinderſpiel.“ 

„Oho!“ ſteifte ſich jetzt Anton, „meinen Tunnel 
laß Du nur ſchön ungeſchoren, denn der geht von 
Kiſſingen bis Marienbad.“ 

„Und meine Patrone ſprengt Dich gar ins Jen— 
ſeits hinüber.“ 

„Welche Patrone? Du haſt doch keine bei Dir?“ 

„Leider nicht bei mir, ſondern in mir.“ 

„Unglückſeliger! Du wirſt ſie doch nicht ver— 
ſchluckt haben?“ i 

„Leider hab' ich das gethan.“ 

„Dynamit?“ 

„Gott ſei Dank, nur Pulver ... Es war vor 
drei Jahren, auf dem Lande, wir unterhielten uns mit 
Piſtolenſchießen nach der Scheibe. . .. Ich warne Dich, 
liebſter Anton; thue mir den einzigen Gefallen und 
nimm niemals eine Patrone in den Mund. Du ver- 
ſäumſt es ja nicht und wirſt noch immer raſch genug 
geladen haben. Verſprich mir das, beſter Anton; da, 
gieb mir die Hand darauf.“ | 


— 227 — 


Feierlich ſtreckte er ihm die Hand hin und feier⸗ 
lich ſchlug Anton ein. 

„Als ich das Ding unten hatte,“ fuhr Theodor 
fort, „hielt ich meinen Tod für nahe bevorſtehend. Ich 
blieb unbeweglich ſitzen, bis der Arzt kam, denn ein 
Erſchüttern der Zündmaſſe, wenn ich mich rührte, konnte 
ja die Patrone zum Losgehen bringen.“ 

„Armer Freund,“ ſagte Anton und wiſchte ſich 
das eine Auge. 

Der Arzt kam und gab mir die gebräuchlichen ... 
Miktel 

„Beide ſchielten in die Ecke hinüber, um ſich von 
der Wirkung dieſer Mittel zu überzeugen. Da lag 
nun Miß Nigg in der Ecke und ſchlummerte. Sie 
hatte ſich ein rotes maroquinledernes Kiſſen unter den 
Nacken geſchoben, und vom roten Leder ging ein roſiger 
Wiederſchein über die entſprechende Wange; die andere 
aber war jo weiß wie vorher, ſamt dem Ohre, . .. 
einem ganz bemerkenswert niedlichen Ohre, das den 
unwillkürlichen Wunſch erregte, nachzuſehen, ob denn 
auch das andere ſo hübſch geraten ſei. 

„Die Mittel fruchteten nichts,“ fuhr der ent— 
täuſchte Erzähler fort, etwas lauter, als durchaus nötig, 
ſo daß die Schlummernde erwachte. Das war wieder 
etwas ganz Überraſchendes, beſonders für Anton. 


— 228 — 


„Jede andere wäre nicht erwacht,“ flüſterte er, 
„das heißt, ſie hätte ſo gethan; und ich glaubte auch, 
daß unſere Miß den Schlummer nur heuchelte; aber 
ſiehe da, ſie muß wirklich geſchlafen haben, da ſie auf 
Dein lautes Wort erwacht iſt. Sollte ſie eine von 
jenen Engländerinnen ſtrengſter Obſervanz ſein, welche 
wirklich imſtande ſind, ſich in ſich ſelbſt einzuknöpfen 
und die ihnen nicht offiziell vorgeſtellte Außenwelt als 
thatſächlich nicht vorhanden zu betrachten?“ ... 

„Und wenn ſie nur naturgetreuer heuchelte?“ 
wandte Theodor ein. „Doch höre weiter . .. Seit 
drei Jahren lebe ich mit dieſer Patrone im Leibe. Ich 
habe mein Teſtament gemacht, da ich nicht weiß, in 
welchem Augenblick ſie losgehen wird.“ 

„Um Gottes willen, nur jetzt nicht!“ rief Anton 
erſchreckt. | 
„Wie Gott will,“ entgegnete Theodor mit der 
Reſignation des geprüften Weiſen. 

Unglaublich; auch die Ausſicht, daß ihr Nachbar 
plötzlich wie eine Bombe platzen könnte, machte keinen 
Eindruck auf Miß Nigg, welche jetzt den Leitartikel 
über die bulgariſche Regentſchaft las. Der Nachbar 
war eben ein Fremder, von dem fie als Muſter eng- 
liſcher Ehrbarkeit ſelbſt „wenn geſchoſſen wird“ keinen 
Vermerk nehmen durfte. 


. 


„Ich habe nicht nur die erſten Arzte, ſondern 
auch die berühmteſten Waffenfabrikanten zu Rate ge⸗ 
zogen,“ fuhr Theodor fort, „und mein Leben nach 
ihren Anſichten eingerichtet. Ich gehe nie in ein Ge— 
dränge, um nicht unverſehens einen Stoß vor den 
Magen zu bekommen, der zur Patrontaſche geworden 
iſt. Ich eſſe auch nichts Saures oder Gewürztes, um 
das Roſten der Kupferkapſel nicht zu befördern, da 
nach ihrer Zerſtörung der Zündſatz offen daläge. Ich 
nehme keine metalliſche Arznei, da ſchon eine Metall- 
ſpur genügt, um Kupfer brüchig zu machen. Kurz, ich 
lebe im Vorzimmer der Ewigkeit, ich antichambriere 
bei Sr. Majeſtät dem Tode... Darüber bin ich auch 
ſo grau geworden.“ 

„Armer Freund,“ murmelte Anton im tiefſten 
Baß des Mitleids und wiſchte ſich jenes Auge, das 
er ſich vorhin nicht gewiſcht hatte. 

Miß Nigg las ſoeben den Reichsratsbericht; daß 
ſie ihn wirklich las, merkte man daran, daß ſie ſich 
ein Lorgnon vorhielt, denn der Bericht war kleiner 
gedruckt, als die Artikel. 

Die beiden Intriganten waren über dieſes Ver⸗ 
halten oder vielmehr über dieſes abſolute Nichtver— 
halten höchſt mißmutig. Theodor wollte ſich nicht 
weiter anſtrengen. Anton aber gab noch immer nicht 


— 230 — 


nach, ſondern begann vom Jahre 1874 zu ſprechen, 
in dem er ſeine erſte Million fertig gehabt habe. Und 
da Miß Niggs Reichsratsbericht ſich ſehr lang erwies, 
gab er ſodann noch die Biographie ſeiner zweiten und 
dritten Million, obgleich der böſe Mann nicht einmal 
die erſte ganz beſaß. Miß Nigg würdigte auch dieſe 
Millionen keines Seitenblickes, ſo daß Anton ſchließlich 
auf ein Thema überging, das ſeiner Meinung nach bei 
jedem Weibe ohne Ausnahme verfangen mußte. Näm⸗ 
lich auf den Schmuck. Er beſchrieb mit unerwünſchter 
Genauigkeit die Brillanten ſeiner ſeligen Mutter, welche 
nun im Dunkel einer eiſernen Kaſſe das Funkeln ganz 
verlernen müßten, und wies ſogar, um den Eindruck 
noch zu verſtärken, den Schlüſſel dieſer Kaſſe vor. 

Jetzt endlich ſchien das Eis bei Miß Nigg ge— 
brochen, denn ſie erhob ſich. Aber nur, um ſich leicht 
zum Fenſter hinauszuneigen und die Lage von Linz 
beſſer zu ſehen, wo man eben eintraf. 

In Linz ſtieg Theodor aus, unter vielen Um- 
armungen. 

„Wenn ich wieder nach Wien komme, ſuche ich Dich 
jedenfalls auf; hoffentlich haſt Du dann ſchon ein braves 
Weibchen im Hauſe und einen nahrhaften Mittagstiſch, 
aber für mich ohne Saures und Gewürztes, wenn ich 
bitten darf ... wegen meiner Patrone.“ 


de 


„Damit hat's keine Not,“ lachte Anton, „ich 
müßte nur eine finden, ſo wie ich ſie Dir auf dem 
Weſtbahnhof negativ geſchildert habe.“ 

„Anton!“ 5 

„Theodor!“ 

Und in den Armen lagen ſich beide, als wären 
ſie noch immer von Friedrich Schiller. 

Und doch waren ſeit jener erſten Begegnung drei 
Jahre verfloſſen. 

„Wie, Anton, Du haſt Dir Dein Embonpoint 
aus Carrara noch immer nicht nachkommen laſſen?“ 

„Und Du, Theodor, biſt noch immer die alte 
Patrontaſche? Alle Wetter, Du mußt das bißchen 
Pulver und Blei ja längſt verdaut haben.“ 

Sie freuten ſich in der That ſehr, daß ſie wieder 
einmal wohlbehalten in einem Bahnhof zuſammentrafen, 
diesmal in dem von Linz, und eine Strecke weit mit 
einander reiſen ſollten. Ach, die Welt iſt doch ſo weit— 
ſchichtig; die beſten Freunde treffen ſich darin nicht. 
Von Wien nach Linz waren es für ſie netto dreimal 
dreihundertfünfundſechzig Tagereiſen geweſen. 

Und als ſie denn traulich im Coupé ſaßen und 
das Geplauder im Gang war, rief Theodor plötzlich: 

„Potz Wetterchen! was wohl aus unſerer da— 


— 232 — 


maligen Reiſegefährtin geworden ſein mag, der hübſchen 
Perſon, wie hieß fie nur? Miß Pegg . . . oder 
Nagg 

„Nigg! Nigg!“ verbeſſerte Anton etwas unwirſch. 

„Richtig, Miß Nigg!“ ſtimmte Theodor zu. 
„Eine recht ſaubere Perſon, kann ich Dir ſagen; und 
gar nicht unintereſſant mit ihrem ſteifleinenen engliſchen 
Weſen. Ich begreife es noch heute nicht, wie ſie bei 
unſeren ſchrecklichen Scherzen ſo ſtandhaft bleiben konnte.“ 

„Ich begreife es nur zu gut,“ brummte Anton. 

„Ei ſieh, ei ſieh! Richtig, Du biſt ja damals 
bis Salzburg mit ihr gefahren, während ich ſchon in 
Linz ausſtieg. Nun, ich wäre wahrhaftig lieber auch 
mitgefahren; die Kleine intereſſierte mich doch ein 
wenig.“ 

„Mich auch . . . Das hat ſich aber ſeitdem ge- 
geben. Ich bin von ihr geſchieden.“ 

„Natürlich; in Salzburg, wo die Reiſe zu Ende 
war.“ 

„Nein, in Wien; gerichtlich.“ 

Theodor ſtarrte ihn mit offenem Munde an und 
ſtammelte dann: „Du haft Miß Pegg ge... hei... 
tan. bet 2% 

„Nicht Pegg; Nigg,“ berichtigte Anton und jeufzte 
dann: „Ja wohl; gründlich.“ 


388 — 


„Und Du haſt mir das nicht einmal mitgeteilt?“ 

„Ich . . . ich; um die Wahrheit zu geſtehen, ich 
war auf Dich eiferſüchtig. Sie ſchwatzte mir in einem 
fort von Dir und daß eigentlich Du der richtige Mann 
für ſie geweſen wäreſt.“ 

„Der liebe Schatz! Sie hat mir aber auch gleich 
jo beſonders gut gefallen. Dieſes feine Näschen ... 
und die winzigen Füßchen ...“ 

„Die Du damals ſo groß fandeſt, ohne daß ſie 
ſie deshalb verſteckte. Oh, das war eine Heuchlerin, 
ſag' ich Dir, wie ich noch keine geſehen. Stelle Dir 
nur vor, was geſchehen, nachdem Du uns verlaſſen 
hatteſt . . . Sie ſah mich noch immer mit keinem Auge 
an. Eine halbe Stunde fuhren wir ſtumm dahin, da 
fiel mir plötzlich ihre Börſe ein, die ich alle die Zeit 
her in der Taſche trug. Am Ende vergaß ich ganz 
und gar daran und fie kam dadurch in Geldverlegen— 
heit. Das war entſcheidend. Ich alſo faßte mir ein 
rechtes Herz; weiß der Himmel, ich brauchte einen be— 
ſonderen Mut dazu; ihre Unnahbarkeit, . .. ſie ſaß Dir 
da, wie von einer unſichtbaren Mauer umgeben, an 
der ich mir den Kopf zu zerſchellen dachte. Kurz und 
gut, ich unternahm es auf jede Gefahr hin, ſtand auf, 
trat zu ihr hin und ſagte, ich weiß nicht mehr was, 
während ich ihr die ſchwere Börſe reichte. Sie... 


— 234 — 


nimmt die Börſe, offenbar ſehr überraſcht, ja ſozu⸗ 
ſagen erſchrocken, ein flüchtiges Rot zuckt über ihre 
Wangen und eine Sekunde lang ſieht ſie mir in die 
Augen. Sie weiß augenſcheinlich nicht, was ſie in 
dieſem Falle thun ſoll, beſinnt ſich aber plötzlich und 
tritt an das Notſignal heran, welches in der Coupé⸗ 
wand angebracht iſt.“ 

„Aber Du hältſt mich zum beſten!“ 

„Keineswegs. Haſtig ſtößt ſie mit dem Finger 
die dünne Papierſcheibe desſelben ein, die Feder da- 
runter weicht ... und in zwölf Sekunden hält unſer 
Eilzug, mitten auf freiem Felde. Miß Nigg wird 
unterdeſſen bald rot, bald bleich, und ich ſtehe da, 
keines Wortes mächtig. Kontrolor und Schaffner 
kommen gelaufen und gucken, da nirgends um Hilfe 
gerufen wird, in jedes Coupé, um zu ſehen, wo die 
Scheibe des Notſignals eingeſtoßen worden. Unſere 
Thür wird aufgeriſſen, die beiden ſtürmen herein und 
meſſen mich gleich mit einem vernichtenden, ganz poli— 
zeilichen Blick, denn ſie können nur annehmen, daß 
ich mir etwas ganz Unerlaubtes erlaubt habe. Aber 
Miß Nigg zerſtreut dieſen Verdacht ſofort, indem 
ſie dem Schaffner ſagt: „Ach bitte, wollen Sie 
dieſem Herrn gefälligſt in meinem Namen ſagen: ich 
danke!“ 


— 235 — 


„Teufel! Teuſel! Da iſt ſie denn ordentlich ins 
Gebet genommen worden, wie?“ 

„Das will ich meinen. Ein wahres Verhör 
ſtellten ſie mit ihr an und fie mußte ſogleich eine Kon— 
ventionalſtrafe — ſo nannten ſie's — von zehn Gulden 
erlegen, in Salzburg aber noch überdies vor dem Be— 
zirksgericht erſcheinen, um ſich wegen Übermut3 — 
wie man es nannte — zu verantworten. Und es war 
doch eigentlich Mangel an Übermut, nicht wahr? oder 
ſah wenigſtens danach aus. Das Bezirksgericht wollte 
ſie auch wirklich zu fünf Gulden verdonnern, gab je— 
doch zuletzt ihrer Verteidigung Folge, daß fie als an— 
ſtändiges, ſtreng engliſch erzogenes Mädchen mit einem 
ihr niemals vorgeſtellten Herrn nicht habe ſprechen 
dürfen ... Was ſoll ich Dir weiter ſagen? Dieſe 
ſtrenge, wenn auch allzu ſtrenge Auffaſſung des nach 
ihren Begriffen Schicklichen imponierte mir gewaltig. 
So etwas war mir noch nicht begegnet. Ich ſetzte 
die Bekanntſchaft fort. Miß Nigg verzichtete auf ihre 
angenehme Stellung als Geſellſchafterin der Fürſtin 
Schönhof in Salzburg und wurde nach drei Monaten 
meine Frau.“ 

nid dam 2. 

„Warum wir uns geſchieden haben? Ach, man 
ſpricht nicht gern davon. Es ging nicht anders. Sie 


— 236 — 


hatte damals, auf der Reiſe, ihre Rolle gut geſpielt. 
Eine vollkommene Schauſpielerin, ſag' ich Dir. Ich 
glaube, ſie hatte ſich die ganze Rolle ſchon ſo zurecht— 
gelegt, als ſie in der Bahnhof-Reſtauration an unſerem 
Tiſche meine Bemerkungen über die Weiber und über 
das Heiraten hörte. Und es iſt der Schlange ge— 
lungen. Als wir einmal verheiratet waren ...“ 

Er ſtockte. 

„Laß gut ſein,“ unterbrach ihn Theodor, aus 
Schonung. Nach einer Weile aber konnte er nicht 
umhin, noch eine Frage zu ſtellen: „Du, lieber Anton, 
nur noch eins.“ 

„Frage nur zu.“ 

„Du ſagteſt, ſie habe erklärt, ich wäre der rich— 
tigere Gatte für ſie geweſen.“ 

„Ja wohl; ſie glaubte nämlich, Du habeſt jene 
Patrone wirklich verſchluckt und Du würdeſt eines 
Tages ...“ 

„In die Luft gehen und fie als Witwe zurüd- 
laſſen? Dieſe Petroleuſe! Dieſe Dynamitarde! Nun, 
ich werde mir den Fall gut merken und nie wieder 
mit einer Dame ſprechen wollen, die mit mir nicht 
ſprechen will.“ 


Domenico Fanulla. 
Eine buchſtäblich wahre Gelchichte. 


(1874.) 


SA N 
1 
Br 


NL eine Wiege, wenn er je in einer gelegen, 
ꝶõꝙ Q2 hätte an dem ſchönſten Plätzchen dieſer 
SE, Welt geſtanden, am Ufer des Buſens von 
Neapel. Aber ſeine Wiege war nur der warme Sand 
des Meeres, ein Wiegenlied ſangen ihm die Wellen 
der blauen Meerflut, auch ſeine Amme war das Meer, 
denn ihre Muſcheln ſog er aus als Nahrung, ja das 
Meer war ihm vielleicht auch Vater und Mutter, — 
wenigſtens hat er nie andere Eltern gekannt. 

So ein armer Lazzarone wird geboren, er weiß 
nicht: wie. Noch weniger weiß er: wo. Und am 
allerwenigſten weiß er: von wem. Es iſt das ſo eine 
Art Urzeugung, ein Entſtehen ohne Eltern, deſſen Mög— 
lichkeit freilich die Naturwiſſenſchaft leugnet. 

Niemals hat ein Menſch ſeinen Namen mit größerem 
Rechte geführt als Domenico Fanulla. Iſt doch Do— 
menico ohne jeglichen Zweifel das Masculinum von 


— 240 — 


„Domenica“, welches „Sonntag“ bedeutet, und war 
doch Domenicos Leben eine ewige Domenica, ein immer— 
währender Sonntag, der nur hie und da angenehm 
belebt wurde .. .. durch einen Wochentag? Ach nein, 
durch einen Feiertag! Und Fanulla, ei, das Wort 
bedeutet „Thunichts,“ und welcher Familienname wäre 
wohl paſſender für einen geborenen Nichtsthuer, als 
Fanulla, der Familienname, den die ganze, ſo viele 
Tauſend Köpfe zählende Lazzaronifamilie Neapels 
führen ſollte? 

Wovon lebte denn aber Domenico Fanulla? 

Mein Gott, von nichts. Und an großen Feſt⸗ 
tagen, wo er ſich ein Extra-Bene anthun wollte, ohne 

Zweifel von gar nichts. 

Dieſe Söhne des Lazarus leben von nichts und 
werden mitunter ſogar fett davon. Auch unſerem 
Manne that dieſe karge Lebensweiſe ſehr gut. Er 
beſaß eine hohe ſchlanke Geſtalt, kräftige Muskeln, 
elaſtiſche Sehnen, ein ſchwarzer Vollbart umrahmte 
prächtig ſein Geſicht, welches gebräunt war von der 
Sonne Parthenopes, von dieſer goldenen, warmen, 
noch immer großgriechiſchen Sonne. 

Er wußte ſich auch danach zu kleiden. Er trug 
Maſaniellos phrygiſche Mütze mit jener unbewußten 
Gefallſucht, die dieſem Menſchenſchlag im Blute liegt. 


— 241 — 


Eine phantaſtiſche Tracht, welche der Zufall launenhaft 
genug zuſammengewürfelt, deckte ſeine Glieder, ein 
Nationalkoſtüm von nirgendwo, welches aber ganz echt 
wurde durch die behaglich freie Art, wie er ſich darin 
bewegte. 

Domenico hatte auch einen Sohn. Ob er je ein 
Weib gehabt, wußte er wohl ſelbſt nicht. Übrigens 
war es ja auch nicht ausgemacht, daß der Knabe 
Cecco wirklich Domenicos leiblicher Sprößling ſei. 
Vielleicht hatte er ihn auf der Straße gefunden und 
nicht mehr zurückgegeben. Vielleicht hatte er ihn ge— 
ſchenkt bekommen, als Trinkgeld. Chi lo sa? 

Genug: Domenico war der Vater, Cecco war der 
Sohn. a 

Beide ſpielten auf dem Dudelſack und hätten ſich 
ganz gewiß wie tauſend andere in Italien als Pifferari 
durchs Leben ſchlagen können, hätte nicht Lazzaroni— 
blut in ihren Adern gerollt, welches ſich überhaupt 
nicht durchs Leben ſchlägt, ſo lange es auch mit dem 
Durchſchlüpfen geht. Aber nachts, wenn Diana auf 
ſilbernem Wagen durch die dunkelblauen Höhen des 
neapolitaniſchen Himmels dahinfuhr und ihr liebliches 
Bleichgeſicht in den phosphoriſch ſchimmernden Tiefen 
des Golfes widerſpiegelte, hatte Domenico Fanulla 


der milden Göttin oft ſchon Serenaden gebracht, welche 
Heveſi, Buch der Laune. 16 


— 242 — 


einen weiten Kreis von Zuhörern aus den Fremden— 
vierteln von Chiatamone, Santa Lucia und der Chiaja 
um ihn verſammelten und ſtets einen kleinen Silber— 
regen zur Folge hatten. 

„Luna bedeutet Silber,“ pflegte er dann ſchmun⸗ 
zelnd zu ſagen, eines Abends aber bedeutete Luna 
ſogar Gold. 

Ein fremder Signore, ein „Signor Tedesco“, 
der weit her aus „Germania“ kam, wo es ſo kalt 
iſt, daß gar keine Maccaroni wachſen können, hatte 
Domenico Fanulla ſamt Cecco, dem Monde und dem 
Dudelſack erblickt und die ganze Geſellſchaft zu ſich 
beſchieden. Der Mond freilich kam nicht, die übrigen 
aber ließen ſich nicht zweimal bitten, und jener Signore 
malte ſie dann mit Farbe auf Leinwand ab — nicht 
einmal, ſondern zwanzigmal — und zahlte ihnen da— 
für gelbes Gold. 

Gelbes Gold war unſerem Domenico nicht gerade 
zuwider, ſofern er nur nichts dafür zu thun brauchte, 
als ſtill zu ſtehen, welche Arbeit ihm von allen die 
angenehmſte war, das Stillliegen ausgenommen. Aber 
mit der Zeit nahm die Goldernte ein Ende, der Signor 
Pittore reiſte zurück in die kalte „Germania“, wo die 
Tedeschi wohnen, und Trauer zog ein in das Herz 
und den Sack Domenico Fanullas. Die erſte Thräne, 


— 243 — 


die er je vergoſſen, galt dem Abſchied vom deutſchen 
Künſtler, ſo daß dieſer den Einfall hatte, ihm einen 
praktiſchen Vorſchlag zu machen. | 

„Weißt Du was, Domenico? Nimm Deinen 
Dudelſack und Deinen Cecco und geh nach Deutſch— 
land in die Stadt, die da heißt München und be— 
wohnt wird von Leinewandbekleckſern und Farbenver— 
ſpritzern. Laß Dich von ihnen malen und Du wirſt 
ein reicher Mann werden. Geh als Lazzarone und 
kehre als Nabob zurück.“ 

Der Deutſche reiſte ab und ſein Rat wollte nicht 
mehr weichen aus dem Gehirn Domenicos. Das Gold— 
land im fernen Norden jenſeits der Alpen ſuchte ihn 
in ſeinen Träumen heim, an den ſo viel herrlicheren 
Geſtaden ſeiner ſonnigen Heimat. Und eines Tages 
brach er mit Cecco auf nach dem germaniſchen El— 
dorado. f 

Nach mancherlei Kreuz- und Querfahrt trafen die 
beiden glücklich am Ufer der rauſchenden Iſar ein. Als 
ſie zum erſtenmal in ihrem ſeltſamen Aufzug vor dem 
Café Maximilian erſchienen und ihre nationalen Weiſen 
zu ſpielen begannen, ging eine tiefe Bewegung durch 
ganz München. Alle Künſtlerkreiſe gerieten in Auf⸗ 
ruhr. Alles, was einen Pinſel führte, eilte herbei, 
drängte ſich an die beiden Pifferari heran, bot ihnen 


— 244 — 


ſchweres Geld, wenn ſie als Modelle ſtehen wollten, 
und bald hatte Domenico Fanulla nicht mehr nötig, 
Muſik zu machen, ein Hagel von ſchweren Silber— 
gulden “) praſſelte auf ſein glückliches Haupt nieder, 
und dafür hatte er wiederum nichts zu thun, als fein 
ſtille zu halten. 

Seine in allen Abſchattungen von Rot, Gelb 
und Braun ſpielende neapolitaniſche Fiſchermütze mit 
der bleiernen Madonna daran, ſeine ſchäbige, zerſchliſſene 
Sammtjacke, deren unerklärliche Farbe die begabteſten 
Koloriſten der Piloty-Schule ſchier zur Verzweiflung 
brachte, ſeine mit tauſend Flicken und Flecken geſchmückte 
Hoſe, an welcher ſich bereits für jede mögliche Be— 
wegung ihres Inhabers ein beſonderer naturnotwendiger 
Faltenwurf organiſch herausgebildet hatte, dann das 
herrlich zerfetzte Schuhwerk mit den kreuz und quer 
gehenden Lederriemen, das alles war ſo maleriſch und 
göttlich, daß die geſamte Münchener Malerwelt dafür 
Feuer und Flamme war. 

Und was war das alles noch gegen den wunder— 
baren Schafpelz des Knaben Cecco! Dieſes uralte 
Lammfell, die rauhe Seite nach außen gekehrt, durch 
Fett, Regen, Staub, Flecke aller Art mit einem herr⸗ 


!Unſere Geſchichte ſpielt nämlich in den ſechziger Jahren. 


5 


lichen, unvergleichlichen Schmutz durch und durch ge— 
ſättigt, mit einer wahren Patina von unverfälſchteſter 
Unreinlichkeit bedeckt, — dieſes unbezahlbare Objekt 
war das köſtlichſte Stück im ganzen Inventarium der 
beiden Pifferari. 

Die ganze Münchener Akademie malte damals 
nichts als Pifferari. Alle Kunſtausſtellungen waren 
überſchwemmt mit den Bildniſſen von Domenico und 
Cecco. Wo man nur hinſah, überall erblickte man 
das koloriſtiſche Rätſel der Jacke Domenicos und den 
göttlichen Schmutz des Ceccoſchen Schafpelzes. Die 
berühmteſten Münchener Maler von heute, oder doch von 
geſtern, wetteiferten damals in der Nachahmung dieſer 
koſtbaren Vorbilder und überboten ſich gegenſeitig an 
geiſtreicher Auffaſſung des Schafpelzſchmutzes und effekt— 
voller Wiedergabe der Hoſenflicken. Und als jeder 
Münchener Maler die beiden Pifferari ein dutzend— 
mal abkonterfeit hatte, erkundigten dieſe ſich, ob es 
in „Germania“ außer München auch noch andere 
Städte gebe, und in dieſen andere Kunſtakademien. 
Und auf die bejahende Auskunft hin traten ſie eine 
Rundfahrt an durch ganz Deutſchland, und an allen 
Akademieen wiederholten ſich die Münchener Scenen. 

Im Laufe einiger Jahre war Domenico Fanulla 
ein wohlhabender Mann, ein wahrer Kröſus unter 


— 246 — 


den Lazzaroni. Da regte ſich in ihm das Heimweh. 
Fort wollte er aus dem nebligen Norden, zurück in 
die herrliche, warme Bucht, in welcher ewiger Sonnen- 
ſchein herrſcht und alle Reize des Paradieſes vereinigt 
ſind. Dort, wo er von allen gekannt war, wollte er 
nun auch von allen beneidet und hochgeachtet werden 
und ſein Leben als Lazzarone beſchließen, aber als 
reicher Lazzarone, der es eigentlich nicht nötig hat. 

So wechſelte er denn alles Geld, das er in 
Deutſchland verdient hatte, in ſchöne blanke Goldſtücke 
um, deren er bereits ein paar Hundert beiſammen 
hatte. Welch nagende Sorge, dieſe fo ſicher als mög— 
lich unterzubringen! Ach, wo findet einer ein Ver⸗ 
ſteck, in dem kein menſchlicher Vorwitz den goldenen 
Schatz ahnen kann! 

Domenico Fanulla trennte das Jutter feines 
ſchäbigen Rockes auf und nähte alle die hundert und 
aberhundert Goldfüchſe, jeden beſonders, aufs ſorg— 
fältigſte in den Rock ein. Das war unſtreitig der 
koſtbarſte Rock, den je ein Lazzarone getragen, durch 
und durch mit goldenem Speck geſpickt, ſchwerer als 
der ſchwerſte Sammtſtoff, und dabei ſo unſcheinbar 
und ärmlich von Außen, daß niemand den leiſeſten 
Verdacht ſchöpfen konnte. 

Auf der Heimreiſe ſchwelgte Domenico in groß— 


— 247 — 


artigen Phantaſien. Nun wollte er ſein lebelang 
Maccaroni eſſen vom frühen Morgen bis in die ſpäte 
Nacht und jeden Tag eine Flaſche roten Capri trinken 
und aus einem neuen Thonpfeifchen ſeinen Tabak 
rauchen. Einen Augenblick dachte er auch daran, vom 
Könige von Neapel die Villa Reale zu mieten und 
darin zu wohnen, aber dies ſchien ihm dann für ſeine 
jetzigen Verhältniſſe doch zu ärmlich, und er ſann hin 
und her, ob er ſich für ſein Geld das Königreich Neapel 
kaufen ſolle, oder das Königreich Sizilien, oder gar beide. 

Unter den wonnigſten Gefühlen fuhr er nach ſo 
langer Abweſenheit wieder ein in den Meerbuſen ſeiner 
Sehnſucht und betrat freudeſtrahlend den Boden ſeiner 
Vaterſtadt. 

Die königlichen Zollwächter, welche damals noch 
alle Eingänge in „beide Sizilien“ bewachten, nahmen 
ihn in Empfang. Nach der Sitte jener Zeit durch— 
ſuchten ſie nicht nur ſein Bündel, ſondern betaſteten 
ihn auch um ganzen Leibe nach ſtaatsgefährlichem 
Schmuggel. Ach, beim Betaſten fühlte die Hand des 
Zöllners viele runde, auffallend harte Gegenſtände im 
Rocke des Ankömmlings. Ohne viel Federleſens ein 
Riß in den Rock, . . . ha! ein Goldſtück rollt heraus, 
gefolgt von anderen, von vielen, ſehr vielen Gold— 
ſtücken. Immer neue Riſſe, immer neue Goldſtücke. 


— 248 — 


Alle Douaniers, ſo viele ihrer ſind, ſtürzen herzu, 
den „Aktionsmann“, den Garibaldianer, den Camor— 
riſten, den Carbonaro, kurz, den Verbrecher zu um— 
ringen und die „revolutionären Subſidien“ ihm ab— 
zunehmen. Und ehe der arme Domenico von ſeinem 
erſten Entſetzen zu ſich kommen konnte, war ſein ganzer 
Rock zerfetzt und zerfaſert und ſämtliche Goldfüchſe 
waren davongerollt, wer könnte ſagen, in wie viele 
Taſchen. 

Nachdem die Zollwächter beider Sizilien den 
armen Lazzarone nach damaliger Sitte und Gepflogen— 
heit „unſchädlich gemacht“ hatten, ließen ſie ihn gnädig 
laufen und ſchärften ihm ein, ſich ſeinen Galgen anders— 
wo zu verdienen, da ihm nur dies einemal noch ver— 
ziehen ſein ſolle. 

Und ſo betrat der arme reiche Lazzarone das 
Pflaſter ſeiner heißgeliebten Vaterſtadt um einen ganzen 
Rock ärmer, als er dasſelbe vor Jahren verlaſſen, 
und er kaufte ſich weder das Königreich Neapel, noch 
das Königreich Sizilien, noch alle beide, welche ſeit— 
dem bekanntlich der König von Piemont erworben 
hat, ja er mietete ſich nicht einmal in der Villa Reale 
ein, ſondern ging wieder hinab an den Strand von 
Santa Lucia und ſchlürfte Meermuſcheln und ſonnte 
ſich im Sonnenſchein, welchen der Staat Italien glück— 


— 249 — 


licherweiſe noch nicht beſteuert hat, und brachte der 
ſilbernen Luna Serenaden wie vor Jahren, nur frei— 
lich in einer etwas melancholiſcheren Tonart als damals. 

„Ein Lazzarone darf nicht reich werden“, das 
iſt ſeitdem die unerſchütterliche Überzeugung Domenico 
Fanullas. 


2 


Maria Schrein. 


Eve weltbihe legenoe 


(1888.) 


ung 
F ES 


Zar ser fennt nicht Maria Schrein? Hoch über 
Sul, dem Thal ſteht es, wie auf einem Altar. 
Ir Se 5 Hinter ihm hebt ſich dunkelſchattiger Berg— 
ai hoch und höher, vor ihm ſenkt ſich hellſonnige 
Grashalde tief und tiefer. Wie eine goldene Mon— 
ſtranz ſteht das gelbe Kirchlein oben mit ſeinen zwei 
Türmen, und ſein Glanz geht weithin durch das Land. 
Und viele kommen im Sommer weither und holen 
ſich Heil, ſoviel ſie für den ganzen Winter brauchen; 
es iſt noch keiner umſonſt gekommen. 

Neben dem Haus der Gnaden ſteht das Pilger— 
haus mit den einfachen Betten ſeiner Schlafſäle und 
den doppelten Stückfäſſern ſeines Kellers. Denn juſt 
das iſt das richtige Verhältnis, haben noch alle ge— 
ſagt, die daher gepilgert. Und der Hauspfleger Martin 
kennt die Welt und weiß genau, weſſen Leib und 


2 
2 


— 254 — 


Seele bedürfen, um Arm in Arm im Lichte zu wandeln 
durch die Finſternis des Erdentages. 

Martin iſt noch jung, vor zwei Jahren erſt hat 
er die Pflegerſchaft von ſeinem Vater übernommen. 
„Wenn Du Dich nicht auskennſt in der Wirtſchaft,“ 
hatte ihm damals die Roſel geſagt, „ſo komm nur zu 
mir herauf und ſag mir ein Wörtlein; ich geb' Dir 
ſchon Beſcheid.“ Sie war nämlich die Bäuerin auf 
dem Bühlhof, ein handfeſtes Weib, wie ihr Mann, 
der Florian Bühlhofer, bezeugen konnte, denn er kannte 
die Feſtigkeit ihrer Hand, und ein kreuzbraves Weib, 
wie er gleichfalls bezeugen konnte, denn er hatte mit 
ihr ſein rechtes Kreuz wegen der Bravheit. Und ſo 
ging Martin ſchier jeden Abend zum Bühlhof hinauf 
und ſagte der Roſel ein Wörtlein und ſie gab ihm 
Beſcheid darauf. 

Als dies ein Jahr lang ſo gegangen war, merkte 
es die Kreszenz, die ledige Schweſter der Bäuerin. 
Und als das zweite Jahr um war, merkte es endlich 
auch der Florian Bühlhofer. Denn die Kreszenz war 
noch ein halbes Kind, der Florian aber war ein Ehe— 
mann, wie viele Ehemänner. Und da fragten ſich beide 
im ſtillen, warum der Martin immerdar genau um 
dieſelbe Stunde zum Florian heraufkomme, wann der 
Florian zum Martin hinabgehe, um dort ſeinen Krug 


25 


zu trinken mit dem lahmen Briefträger Waſtl und dem 
Schullehrer Thaddäus von Schreindorf unten. Mitt: 
wegs, ungefähr beim Steg über den Kalchgraben, pflegten 
ſich die beiden auf ihrem Gang zu treffen, und dann 
ſagte wohl der Martin: „Dieſe ſakriſchen Leintücher 
wollen nicht bleichen, muß wieder die Roſel fragen,“ 
oder auch: „Ob die Roſel wohl meint, daß es für 
den Moſt beſſer wär', die Apfel noch acht Tag' auf 
den Zweigen zu laſſen.“ Und dann pflegte der Florian 
zu ſchmunzeln: „Ah ja, das Bleichen verſteht ſie,“ 
oder auch: „Glaub's wohl, beim Moſt kennt ſie ſich aus.“ 

Als ſich die Sache aber gejährt hatte, wurde die 
Kreszenz weiß im Geſicht und immer weißer. Und als 
ſich die Sache zweimal gejährt hatte, wurde der Florian 
rot im Geſicht und immer röter. Sie aß immer weniger 
und er trank immer mehr. Weil aber keines ein Wort 
ſagte, kochte es nur um ſo heißer in ihnen, wie wenn 
der Deckel feſt auf dem Topfe liegt. 

An einem ſtockfinſtern Abend — es war beſonders 
ſpät geworden — hatte Martin der Bäuerin noch auf 
der Schwelle beim Abſchiednehmen eine ganze Litanei 
zu ſagen. Man ſtand knapp vor dem Schnitt und 
zwei Knechte hatten abgeſagt; ohne Zweifel handelte 
es ſich um dieſe Verlegenheit. „Regnen wird's auch,“ 
ſagte Martin laut und warf einen Blick nach oben, 


— 256 — 


denn ihm war, als habe er Tropfen fallen geſpürt. 
In der That waren etliche gefallen, denn oben im 
Fenſter ihrer Dachkammer lag das „Kind“, die Kres— 
zenz, und horchte mit gepreßtem Herzen hinab und 
mit naſſen Augen. 

Dann hörte ſie, wie man ſich unten küßte, und hörte 
flüſtern: „Komm gut heim.“ Da ſtieg es ihr ſiedend 
heiß bis in den Hals, ſie ballte die Fäufte in die 
Nacht hinaus und murmelte tonlos: „Daß Du im 
Kalchgraben lägſt!“ Gut, daß es ſo ſtockfinſter war; 
ſie muß ja ausgeſehen haben wie eine Hexe, mit dieſer 
grauſen Verwünſchung auf den Lippen. 

Drunten ſchloß ſich die Thür. Schritte taſteten 
vorſichtig durch die Nacht, thalwärts, ein beſchlagener 
Stock ſtieß von Zeit zu Zeit an einen Stein. Noch 
als jedes Geräuſch verſtummt war, lag die Kreszenz 
im Fenſter und horchte ins Unſichtbare hinein. „Komm 
gut heim,“ flüſterte es in ihr, „komm gut heim.“ In⸗ 
brünſtig wie ein Gebet dachte ſie es, als wollte ſie 
ihren böſen Wunſch wieder gutmachen. 

Die Nacht war ſo ſchwarz, ſo ſchwarz. Wenn 
er nur ſchon über den Kalchgraben wäre! Sie würde 
leichter atmen. 

Jeſus Maria, was war das? ... Ein Schrei 
in der Ferne. Dann Totenſtille. 


— 257 — 


„Ich hab's ihm angewünſcht! . . . Ich hab' ihn 
umgebracht!“ jammerte ſie. Auch die Roſel hatte den 
Schrei gehört und weckte ſchon die Knechte. Sie war 
käſebleich und zitterte an allen Giedern. Sie faßte die 
Kreszenz an beiden Händen krampfhaft, als müßte die 
um den Hergang wiſſen, und ſtöhnte in Todesangſt: 

w Wenn ich nur ſchon wüßt', ob's der eine iſt oder 
der andere.“ 

Während die Knechte die Laternen anzündeten 
und ſich mit Stangen und Stricken verſahen und einer 
Leiter, die als Tragbahre dienen ſollte, kam der Bühl- 
hofer heim. Er war betrunken und hatte das Hemd 
auf der Bruſt zerriſſen. Er ſang aus heiſerer Kehle 
und unterbrach ſich: „Drunten im Kalchgraben liegt 
einer; weiß nicht wer.“ Mit der Fauſt, die vom 
Kampfe her noch jetzt geballt war, ſtieß er ſein Weib 
zurück und warf ſich angekleidet auf das Bett. 

„Florian, was haſt Du gethan!“ ſchrie ihm die 
Roſel ins Ohr. Aber er ſchlief ſchon, bleiſchwer, als 
wäre er's, der da drunten lag im Kalchgraben. 


2. 
* 


Wochen vergingen. Der Schnitt war vorbei, der 
Herbſtanbau ſtand bevor. Im Pilgerhaus lag der 


Martin noch immer und konnte keinen Finger rühren. 
Heveſi, Buch der Laune. 17 


— 258 — 


Bis Mariä Himmelfahrt war er gar bewußtlos ge— 
legen, wegen einer ſchweren Gehirnerſchütterung, wie 
der Regimentsarzt aus der nächſten Garniſonsſtadt 
ſagte. „Er hat ſich auf den Kopf getreten,“ ſagten 
die Leute in Schreindorf. Er wäre wohl noch länger 
ſo gelegen, wenn nicht die Kreszenz ihm geholfen hätte. 

Wußte ſie doch, was ſonſt kein Menſch wußte: 
daß ſie allein ſchuld an dem Unglück war. Sie hatte 
es ihm ja angewünſcht in jener ſchrecklichen Nacht, wo 
es in ihrem Herzen drin noch viel, viel ſchwärzer war 
als droben am ſternloſen Himmel. 

Schwer hatte ſie es gebüßt. Wie eine arme Seele 
um Mitternacht ſchlich ſie ſeitdem umher. Sie ſchlief 
nicht und aß nicht, ſie ging langſam ein, wie ein an— 
geſchoſſenes Tier im Walde. Da kam der Tag Mariens, 
und als die frommen Scharen von allen Seiten den 
Hügel erklommen und die bunten Fahnen im Sonnen: 
ſchein wehten und die Luft von ihrem „Ave, Ave, Ave 
Maria“ klang, da ergriff es ſie mächtig, und ein 
brennender Durſt nach Frieden trieb ſie in das Heilig— 
tum. Sie beichtete dem Prieſter ihre Sünde, ſo ſchwarz 
ſie war, und der Mann Gottes erleichterte ſie durch 
Auflegung ſchwerer Bußen. Dann ward ihr ganz 
wunderbar wohl . .. und auch dem Martin, denn ſiehe, 
an dem Tage erwachte er plötzlich aus ſeiner langen 


— 259 — 


Nacht und wußte wieder von ſich und der Welt, und 
lag nicht mehr da, „wie ein überfahrener Hund“, . .. 
ſo drückte ſich nämlich der lahme Briefträger Waſtl aus. 

Nur das mehrfach gebrochene Bein war noch 
lange nicht heil. Aber auch da half die gute Ein- 
gebung der Kreszenz, welche meinte, es ſei doch eine 
Sünde, daß die Roſel noch kein wächſernes Bein auf- 
gehangen habe am gnadenreichen Altare, da man doch 
wiſſe, wie oft ſolches von Nutzen geweſen, und da doch 
der Martin ſozuſagen ihretwegen . .. nun ja, ... denn 
wenn er nicht an jenem Abend bei ihr ... wegen der 
ausgebliebenen Ernteknechte natürlich ... Als jüngere 
Schweſter wollte ſie nicht mehr ſagen. 

Da ging die Roſel geſchwind hinunter, kaufte ein 
wächſernes Bein, ſo groß wie ein Mittelfinger, und 
hing es heimlich an den gnadenreichen Altar. 

Und ſiehe da, ſchon wenige Wochen ſpäter konnte 
der Martin an der Krücke zur Roſel hinaufhinken, ihr 
Vergelt's Gott zu ſagen. 

Die Kreszenz ſtand juſt am Brunnen und ſcheuerte 
einen Milchkübel. Sie ließ ihn fallen und den Strob- 
wiſch auch, als ſie jenen erblickte. Feuerrot wurde ſie, 
ſogar an den bloßen Armen. Und fie trat ihm ent- 
gegen, klopfenden Herzens, und rief: „Martin, biſt bös 
auf mich?“ 


„„ 


Verwundert ſah er ſie an. „Bös auf Dich? 
Weswegen denn, Du rote Tulpe Du? Haſt mir ja 
nichts zu leid gethan.“ 

„So gieb mir die Hand drauf, damit ich's ſicher 
weiß,“ drang ſie in ihn und ſtreckte ihm ihre Hand 
entgegen. 

Er drückte ſie kräftig, ließ ſie aber gleich wieder 
los. „Sakra! Sie iſt voll Sand und Näſſe! . 
Reibſt Dir wohl 's Geſichtel mit Sand ab, daß es 
recht leuchtet, he? Biſt ja eh' ſchon wie eine Pfingit- 
roſe.“ 

„Warum nicht gar! Eine Pfingſtroſe um Michaeli!“ 
lachte ſie und griff wieder nach ihrem Strohwiſch. 

„Wenn ich Dich jetzt küſſen thät', könnteſt Du 
gar nimmer rot werden,“ ſcherzte er weiter und ſtapfte 
ihr dreibeinig nach. 

Kein Wunder, daß ſie ihm auf zwei Beinen nicht 
entwiſchen konnte. Zwar fuhr ſie ihm mit dem Stroh— 
wiſch über das Geſicht, aber er küßte ſie dennoch. 


* 


Seit dieſem Kuß war die Kreszenz eine ganz 
andere. Um einen Schuh höher kam ſie ſich vor, und 
wenn ſie ſich das Mieder zuneſtelte, blieb ihr eine 
Spanne lang Schnürband weniger übrig als vorher. 


— 261 — 


Geſtern noch das „Kind“, war ſie heute ein Weib. 
Auch aus ihren Augen ſchaute ſie ganz anders heraus, 
beſonders wenn ſie ihre Schweſter anſah. Da ſchaute 
ſie ſo ſchwarz daher wie der alte Herr Pfarrer, der 
in der Sonne immer eine dunkle Brille trug. Sie 
war nämlich eiferſüchtig auf die Roſel, weil der Martin 
ſchon wiederum jeden Abend bei ihr ſaß. Er war 
offenbar dem Florian nicht böſe, wohl aber ſchien dieſer 
etwas gegen den Dreibeinigen zu haben, denn er ſuchte 
jetzt ſeinen Abendkrug lieber im Dorfe unten. 

Wochen vergingen. Aus Martins Krücke war 
ein einfacher Stock geworden und flinker als je kam 
er den Bühl herauf; zur Roſel, wie die Kreszenz 
zornig dachte; zur Kreszenz, wie die Roſel ihm herb 
vorwarf. Denn wiederholt hatte ſie ihn ſchon dabei 
betroffen, wie er heimlich das „Kind“ am Zipfel hatte, 
bald an dieſem, bald an jenem; ſie haben ja eine ganze 
Menge ſolcher Zipfel, die Weiberleute. Und das war 
zuweilen bös abgelaufen, unter Donnerwetter und 
Hagelſchlag. Deſto wärmer ſchien dann die Sonne, 
wenn ſie ſich wieder verſöhnten. 

Einmal hätte ſo eine Ausſöhnung bald das größte 
Unglück angerichtet, denn die Kreszenz ſah und hörte 
alles. Deutlich hörte ſie den Martin ſagen: „Geh, 
Roſel, ſei geſcheit; wirſt doch nicht glauben, daß ich 


— 262 — 


mit dem Schulmädel was hab'. Die ſpielt ſich ja 
noch mit der Docken; der Martin braucht eine Handige! 
Ja, wenn ſie jo was wär' wie Du, . .. weiß ich 
wirklich nicht, ob ich nicht drauf fliegen thät'. Aber 
Du weißt ja, ich da drunten im Pilgerhaus brauch' 
eine, die alles zuſamm'reißt und die einen Haufen 
Leut' nur ſo mit dem Beſen aus der Stube hinaus— 
fegt und die nur einen Schrei zu thun braucht, daß 
alle untern Tiſch ducken, . .. ich zu allererſt. Ja, 
weißt, wenn ich da den Reſpekt hätt', wie vor Dir, 
Roſel . ..“ Und er umſpannte mit beiden Händen 
ihren gewaltigen Oberarm. | 

Da ſchoß die Kreszenz aus ihrem Verſteck hin— 
aus und ſtürzte ſich in ihr Bett. Sie ſprang kopf— 
über in die Pölſter, als werfe ſie ſich ins Waſſer, um 
ſich zu erſäufen. Lange lag ſie ſo, in Grimm und 
Weh. Dennoch hörte ſie es, als unten die Hausthür 
ging, und ſprang auf. Ans Fenſter gelehnt, horchte 
ſie im Dunkeln ſeinen Schritten, die ſich thalwärts 
entfernten. Sie ſtieß das Fenſter auf und horchte 
hinter ihm drein. Tapp, tapp, tapp, gingen ſeine 
Tritte feſt und ſicher durch die Nacht, als wäre er nie 
im Kalchgraben gelegen, wo jie, fie, ja wohl ... 
ſie allein ihn hinabgeworfen 2 

Da kam es plötzlich über ſie, ganz wie in jener 


— 263 — 


ſchwarzen Nacht. Was ſie einmal gekonnt, mußte ſie 
ein zweites Mal können. Und in ihrem jähen Zorn— 
mut drohte ſie mit der geballten Fauſt hinaus in 
die Nacht und murmelte: „Da herauf kommſt Du mir 
nimmer!“ i 

Die ganze Nacht wälzte ſie ſich fieberiſch auf 
ihrem Lager. Der Tag graute kaum, da ſchlüpfte 
ſie lautlos zum Hauſe hinaus und den Bühl hinab. 
Schaudernd huſchte ſie über den Steg, von dem ſie 
ihn einſt hinabgeſtürzt, ja, ſie und kein anderer. Bald 
war die Gnadenkirche erreicht, fröſtelnd drückte ſie auf 
die kalte Klinke, ſchaudernd trat ſie über die Schwelle. 

Drinnen war es grau und ſtill wie in einer Gruft. 
In der kalten Helle der erſten Dämmerfrühe ſtanden 
die weißen Heiligengeſtalten auf ihren Sockeln bleich 
wie Tote da. Das große Bild über dem Altare, ſo 
ſonnenhell bei Tage, glich einer Friedhofsſzene bei 
Mondſchein, und der Schrein Mariens ſtand darunter 
unheimlich dunkel wie ein Sarg. Fahler als Aller- 
ſeelenkränze auf einem Grabe hingen und lagen die 
bunten Gewinde um den Altar. 

Wie ein kalter Guß rieſelte es Kreszenz über den 
Rücken. Feſter zog ſie das wollene Tuch um ſich her, 
ſchlug ein Kreuz und zwang ihre Füße mit Gewalt, 
die wenigen Schritte zu thun, die ſie noch vom Altare 


— 264 — 


trennten. „Ich thu's!“ rief fie dann und erhob die 
Hand. 

Sie ſchloß die Augen, als ſie den frevlen Griff 
that, aber ſie that ihn. Ein leichtes Surren die Wand 
herab, dann ein kleiner, dumpfer Krach .. . und ein 
wächſernes Bein lag in Trümmern auf den Flieſen. 

Das Feuer einer wilden Freude ſchoß durch ihr 
Blut. Sie lohte plötzlich auf im Bewußtſein, ſich ge— 
rächt zu haben. Als dieſes Bein aus Wachs hier 
aufgehangen ward, heilte jenes Bein aus Fleiſch. 
Wenn ſie dieſes Bein aus Wachs wieder herabſchlug, 
mußte jenes Bein aus Fleiſch auch wieder entzwei ſein. 
Nochmals fuhr ihr dieſer Gedanke in ſeiner vollen Un— 
widerleglichkeit durch den Kopf und ſperrangelweit 
öffnete ſie jetzt die Augen. 

Doch was war das? Da hing ja noch ein Bein 
aus Wachs. Und ein zweites, ein drittes, ein zwan— 
zigſtes daneben, darüber, darunter; alle wie aus einem 
Model, unmöglich ſie auseinander zu kennen. Für 
gar manchen Lahmen war im Laufe der Jahre das 
heilige Sinnbild da ſchon aufgehangen worden; welches 
unter den vielen galt nun dem Martin? 

Ihr ſchwindelte, die Wände der Kirche ſchienen 
ſich über ihr zuſammenzuneigen, in ihren Schläfen 
ſummte das grimme Blut, vor ihren Augen tanzte es 


— 200 — 


in der Luft wie tauſend Mücken. Außer ſich, griff fie 
nach dem zweiten, dem dritten Bein aus Wachs. 
Krach, krach, krach, ging es der Reihe nach. Ein 
Blutdurſt hatte ſich ihrer bemächtigt, wie des Soldaten 
in der Schlacht; alles riß ſie herab, was wie ein 
Bein ausſah, und hatte nur den einen wilden Ge— 
danken: „Da muß ja wohl das ſeine mit drunter ſein!“ 

Dann ſtieß ſie einen langen Schrei aus und ſtürzte 
ohnmächtig zuſammen. 


Als der warme Schein der Herbſtſonne ſie traf, 
erwachte ſie wieder zum Leben. Sie meinte einen 
furchtbaren Traum gehabt zu haben und raffte ſich 
mühſam auf. Aber als ſie ſich die ganze Wirklichkeit 
zuſammenreimte, glaubte ſie ſterben zu müſſen vor 
Gram und Scham. 

Entſetzt floh ſie von dannen und ſchlug den Heim— 
weg ein. Auf dem Steg über den Kalchgraben ſtand 
ſie ſtill und blickte irr hinab in die ſteinige Schlucht. 
Lange ſtand ſie da, ſtumpf an allen Gedanken. Da 
nahten Tritte, ſie blickte auf und ſah den lahmen Brief— 
träger Waſtl herankommen. Mühſelig hinkte er auf 
ſeinem böſen Bein daher, und da fuhr es ihr plötzlich 
durch Haupt und Bruſt: „Auch dem haſt du ſein 


— 266 — 


wächſern Bein heruntergeſchlagen, nun iſt er wieder 
lahm.“ 

In ihrer großen Herzensangſt eilte ſie nun quer⸗ 
feldein, denn ſie wollte keinen Menſchen ſehen. Ihr 
war, als müßten ſie alle lahm ſein, lahm durch ihre 
Schuld, da ſie ihnen die wächſernen Beine am Altare 
zertrümmert. Dort in der Ferne ſaß einer auf einem 
Stein, die Bürde auf dem Rücken; ach, er konnte ja 
nicht mehr weiter, da ſie ihm plötzlich ſein Bein ent— 
zweigemacht. Unten im Thal hörte ſie Räder kreiſchen; 
nicht um die Welt hätte ſie hinabgeſchaut, aus Angſt, 
es möchten etliche ihrer Opfer auf dem Karren liegen, 
von einem Samariter mitleidig aufgeleſen, wie ſie mit 
geknickten Gliedmaßen hilflos auf die Straße hinge— 
fallen. 

Stundenlang irrte ſie ſo umher, dann kam ſie 
irgendwie heim. Die roten Augen, die verſtörten 
Mienen erregten Beſorgnis. Die Roſel hörte nicht 
auf zu fragen und ſelbſt der Florian ließ den Kopf 
hängen und warf ihr gute Blicke zu. Aber ſie ſaß 
ſtockſtarr und ſchluchzte nur hie und da krampfhaft auf, 
um gleich wieder in ihren Scheintod zu verfallen. 

Es wurde Mittag und keinen Löffel Suppe brachte 
man über ihre Lippen. 

Es wurde Abend und der Florian ging nach 


— 267 — 


Schreindorf hinab, nicht ohne ihr einmal leiſe mit der 
flachen Hand über den Kopf hinzufahren; ſie ſpürte es nicht. 

„Wenn nur der Martin ſchon käme!“ ſeufzte 
nach einer Weile die Roſel ſehr bekümmert. 

Da fuhr die Kreszenz plötzlich aus ihrer Starr— 
heit auf: „Er wird nicht kommen, Roſel! Ach Gott, 
er wird nicht kommen! Nicht heut und nicht morgen 
und vielleicht gar nimmermehr!“ Und ein Strom von 
Thränen ſchoß über ihre bleichen Wangen herab. 

„Geh zu, närriſch Ding!“ rief die Roſel halb 
ärgerlich, halb froh, daß die Stumme doch nicht ganz 
ſtumm war. „Da kommt er ja ſchon!“ 

In der That wurden draußen die bekannten Tritte 
hörbar. 

Die Kreszenz ſprang auf, in krampfhafter Er— 
regung; ihr Atem flog ſtürmiſch und die Augen wurden 
ihr ganz kugelrund von Anſtrengung, wie ſie dem 
Nahenden entgegenlauſchte. 

Ja, das waren ſeine Tritte. Schwer und feſt 
kamen ſie immer näher, ganz regelmäßig, nicht zu 
raſch und nicht zu langſam und . .. jo zweibeinig als 
nur möglich. 

Nein, das konnte er doch nicht ſein! Beide Füße 
traten ja ſo ganz gleich auf; nicht einmal nachſchleppen 
ließ ſich der eine. 


— 268 — 


Und er war es doch. Die Thür ging auf und 
der Martin ſtand auf der Schwelle, ſo hoch und breit 
er war. Und jetzt ſtand er auch ſchon in der Stube 
. . . und machte ein ganz verdutztes Geſicht und ſtieß 
ein „Oho“ und „Aha“ nach dem andern aus vor 
Überraſchung. Denn vor ihm auf den Knieen lag die 
Kreszenz und umſchlang ſeine Beine mit beiden Armen 
und preßte ihr Antlitz heftig wider ſeine Knieſcheiben 
und ſchluchzte ganz herzbrechend. Es war ſchwer und 
die Roſel mußte ſcheltend mithelfen, um die Dirn' da 
loszureißen und wieder auf die Beine zu ſtellen; aber 
kaum ſtand ſie, ſo lag ſie auch ſchon wieder, und zwar 
diesmal an des Martins Bruſt und hatte ihre Arme 
um ſeinen Nacken geknüpft wie ein Halstuch, deſſen 
Knoten gar nicht mehr aufgehen will. Und küſſen that 
ſie ihn, wo ſie ihn traf, vor unbändigem Entzücken, 
daß ihm ganz ſchwül davon wurde. Auch lachte und 
weinte ſie ſo durcheinander und rang die Hände vor 
Freud' und Leid zugleich. 

„Verf . .. lixtes Mädel!“ rief der Martin ganz 
atemlos von dem ſcharfen Küſſen und wiſchte ſich den 
Mund, der ordentlich davon brannte. 

„Am End' wird ſie uns gar noch verrückt,“ 
ſchmälte die Roſel, der die Geſchichte ganz und gar 
nicht recht war, und dann leiſer zum Martin: „Na 


„ e — 


weißt, Martin, zurückzuküſſen hätt'ſt Du ſie juſt nicht 
brauchen . .. und fo ſtark auch noch, es hat ja jedes— 
mal ordentlich gekleſcht.“ 

„Aber geh,“ entgegnete er, „der Menſch muß 
doch eine Antwort geben, wenn er fo freundlich ... 
angeredt wird. Du haſt mich freilich noch nie ſo 
ſchön empfangen, wenn ich gekommen bin. Sakra, die 
Kreszenz iſt ein Mordsweib worden.“ 

Aber ſeine Verwunderung wurde noch viel 
größer, als die Dirn ihr Gewiſſen zu erleichtern be— 
gann; nach einander erzählte ſie alles, was ſie ihm 
angethan. 

Zuerſt, wie ſie ihm damals in der Nacht nach— 
gerufen: „Daß Du im Kalchgraben lägſt.“ 

Er zwinkerte ſeltſam mit den Augen: „Weißt 
denn auch ſicher, daß ich juſt des wegen vom Steg 
geſtürzt bin?“ 

„Da ſchwör' ich einen Eid d'rauf!“ rief fie zer- 
knirſcht. „Denn kaum war mein böſ' Wort draußen, 
ſo hab' ich auch ſchon den Schrei gehört.“ 

„Sakra!“ rief der Martin, „was in dem Mädel 
ſteckt! Mir ſcheint, die iſt doch eine Handige! ... 
Und ich hätt' d'rauf geſchworen, daß es der .. . Dings 
war, der mich hinuntergeſtoßen hat.“ 

Und dann erzählte ſie ihm, was ſie dieſe Nacht 


— 270 — 


erſt angeſtellt, das Schreckliche, in der Kirche. Er 
pfiff zwiſchen den Zähnen vor Überraſchung und ſchnalzte 
wiederholt mit den Fingern und ſagte nur: „Sakra! 
Sakra!“ Aber als ſie die wächſernen Beine nur ſo 
über den Haufen rumpeln ließ, in tauſend Scherben, 
da ſchrie er unwillkürlich „Au!“ und griff ſich ans 
betreffende Bein. 

Er ſtand ſogar auf und that ein paar Schritte, 
um es auf alle Fälle zu verſuchen. „Es geht, es 
geht,“ ſagte er. „Na, Kreszenz, ſei nur ruhig, Du 
haſt ein anderes hinuntergeſchmiſſen, nicht meins. Meins 
iſt ja auch nicht von Wachs, und ich häng's nie in 
die Kirche hinein, bevor ich ſchlafen gehe. Und daß 
ich damals in den Kalchgraben geſtürzt bin, da kannſt 
wohl auch ruhig ſein, Kreszenz, das hat mir ganz 
ein anderer ... angewünſcht.“ 

„Glaubſt wirklich, Martin?“ fragte ſie und hob 
ein ſchüchternes Auge zu ihm. 

„Frag die Roſel.“ 

„Na, ich mein' ſelber,“ bekräftigte dieſe. 

„Aber eine Handige biſt Du, das ſteht feſt!“ 
rief der Martin und legte dem Mädchen die Hand 
auf die Schulter. „Wenn Du die Courage gehabt 
haſt, mir ſo expreß wider das Schienbein zu treten, 
abſichtlich, zweimal, dann iſt Dein Blut kein Waſſer 


— 271 — 


nicht und ich bitt' Dir alles ab, Kreszenz, von geſtern 
abend, denn ich hab' mich in Dir geirrt. Und ich 
glaub', Du möchteſt mir drunten im Pilgerhaus ſchon 
ſakriſch Ordnung halten, wann Du zufällig meine Frau 
wärſt. Und es thut mir wahrhaftig jetzt recht leid, 
daß die Roſel das niemals erlauben wird . ..“ 

„Wer? ich?“ fuhr dieſe auf. „Was gehſt Du 
mich denn an, Du gottvergeſſener Schürzenjäger? 
Meinetwegen kannſt gleich den Florian heiraten, ich 
ſchenk' Dir den auch.“ 

Der Martin war klug genug, den Verdruß als 
Scherz aufzunehmen und bemächtigte ſich daraufhin 
ſogleich eines beträchtlichen Teiles der Kreszenz. 

Als der Florian ſpäter heimkam, fuhr er mit 
einem Donnerwetter von der Schwelle zurück, wie er 
den Martin noch immer daſitzen ſah. Als er aber 
den Zuſammenhang erfuhr, verzog ſich ſein Geſicht, 
erſt der Breite nach und gleich darauf nach der Höhe, 
und er kratzte ſich längere Zeit hinter den Ohren. 
Er war nämlich in nicht geringer Verlegenheit und 
vermochte nur ſilbenweiſe herauszubringen, was er 
eigentlich meinte. Schließlich ging er auf den Martin 
los, ſtreckte ihm die breite Hand hin und ſagte in 
ſeiner Einfalt: 

„Nichts für ungut, Martin, es iſt nicht gern ge— 


— 272 — 


ſchehen, . .. damals; hab' halt nicht gewußt, daß 
Du nur wegen der... Kreszenz jeden Abend herauf⸗ 
kommſt.“ 

„Na freilich!“ rief der Martin und ſchlug ge— 
räuſchvoll ein, „wegen wem hätt' ich denn ſonſt kommen 
ſollen?“ 


eier Bot 


(1887.) 


Heve si „Buch der Laune. 


18 


des reichen Bankiers Ritter von 1 

e pfennig jeder Faſching am Sylveſterabend. 
Der Neujahrsball war daſelbſt zur Geſchäfts-Uſance 
geworden, wie ihn denn auch alle Geladenen ganz ge— 
ſchäftlich betrieben, beſonders die ſchöne Haustochter, 
Fräulein Thusnelda, und der Prokuriſt des Hauſes, 
Herr Chriſtoph Zwirner. Das Programm war ein— 
für allemal feſtgeſtellt und eine Abweichung von der 
Norm durchaus unſtatthaft. Fräulein Thusnelda, oder 
wie ihr Vater fie in zärtlicheren Augenblicken zu nennen 
pflegte: Neſthulda, hatte alle Hände voll zu thun; 
ſie wußte genau, daß ſie dieſen Abend ſo und ſo viele 
Hände zu drücken, ſo und ſo viele freundliche Blicke 
zu verteilen, mit ſo und ſo vielen Gläſern anzuſtoßen, 
ſo und ſo viele Touren zu tanzen haben würde. Wurde 


— 276 — 


ein Blick mehr verlangt, ſo erklärte ſie, ihr Vorrat 
ſei zu Ende. Was Herrn Zwirner betrifft, ſo gipfelte 
ſeine Rolle an dieſem Abend in einer großen Szene; 
in der dritten Quadrille war er nämlich Fräulein Thus— 
neldas ſtändiges Gegenüber, eine Auszeichnung, die 
ihn jedesmal ebenſo ſtolz als unruhig machte. Er 
war nämlich kein großer Tänzer vor dem Herrn, und 
vor dem holden Hausfräulein ſchon gar nicht. In der 
Regel beging er unter ihren Augen irgend eine haar— 
ſträubende Ungeſchicklichkeit, auf die man auch ſchon 
gefaßt, ja ordentlich geſpannt war, ſo daß die dritte 
Quadrille ſtets als ein Hauptſtück der Unterhaltung galt. 

So ungeſchickt aber, wie an dieſem Abend, war 
Herr Chriſtoph Zwirner noch nie geweſen. Er beging 
nämlich diesmal nicht die geringſte Ungeſchicklichkeit. 
Mit der größten Pünktlichkeit tanzte er die Quadrille— 
Bilanz zu Ende, fie ſtimmte jo genau, daß die Ver— 
ſtimmung darob eine allgemeine war. Er merkte dies 
gar wohl an den fragenden Blicken, mit denen ihn 
alles anſah, an dem mißbilligenden Kopfſchütteln, mit 
dem Herr von Kiſtenpfennig ihn während der chaine 
des dames muſterte und ganz beſonders daran’, daß 
Fräulein Thusnelda, der er ſonſt am Schluſſe immer 
den Handſchuh küſſen durfte, dieſes Kleidungsſtück jetzt 
im entſcheidenden Augenblicke raſch zurückzog, ſo daß 


a 


er mit geſpitztem Munde ſtehen blieb. Die allgemeine 
Enttäuſchung machte ſich in mannigfachen Fragen Luft, 
und man erfuhr, daß der Herr Prokuriſt ſeit dem 
vorigen Jahre eifrig, ja geradezu leidenſchaftlich Schlitt— 
ſchuh laufe und ſich dadurch nachgerade eine Geſchmei— 
digkeit des Körpers angeeignet habe, welche es ihm 
fürderhin unmöglich mache, bei einer ſimplen Quadrille 
auszugleiten, hinzufallen und dadurch für das gewohnte 
komiſche Intermezzo zu ſorgen. 

Chriſtoph Zwirner ſah alſo ein, daß er ſich mit 
einem Schlage unbeliebt gemacht habe, und zog ſich 
beſchämt ans Buffet zurück, um ſein Weh durch ſchmerz— 
ſtillende Tropfen zu lindern. Lange Zeit behandelte 
er ſich in dieſer Weiſe und verzog ſich zuletzt gar mit 
einer ſeinem Zuſtand entſprechenden Flaſche in ein 
Palmengebüſch des Wintergartens, um fortan bloß der 
Reue über ſeine verhängnisvolle Eislaufpaſſion zu 
leben und in dieſem nagenden Bewußtſein nach und 
nach zu entſchlummern. 

Es war ein prachtvoller Eislauftag. Die Sonne 
ſchien all ihre Wärme in Glanz verwandelt zu haben, 
und die Gebäude ringsum hatte der letzte Schnee an 
allen Ecken und Kanten mit Hermelin verbrämt. Das 
Vereins⸗Eis wimmelte von ſchöner Welt, welche wie 


„ 28. 


ein Schwarm von Winterſchmetterlingen durcheinander 
flatterte. An den Rändern des Eiſes, wo das Gewühl 
weniger dicht war, ergingen ſich bekannte Virtuoſen 
einzeln oder paarweiſe in ſchwierigen Figuren. Eines 
dieſer Paare war beſonders auffallend, denn es lief 
Achterfiguren, welche höchſt unkorrekt ausfielen, offen— 
bar weil die beiden dabei eine ſehr bewegte Unter— 
haltung führten. In einem gegebenen Augenblick fuhr 
der Altere ſogar ſo überraſcht zurück, daß er beinahe 
das Gleichgewicht verloren hätte und ein überlautes 
„Ha!“ ausſtieß. Hierauf fuhr er mit kräftigem Ab— 
ſtoß aus der gemeinſamen Figur heraus und ſchoß 
vorwärts, in weitem Kreiſe um ſeinen Partner herum. 
Aber dieſer holte ihn ein und es entſpann ſich fol— 
gendes Geſpräch: 

„Lieber Zwirner! Sie ſind vor zwanzig Jahren 
als Volontär in mein Haus eingetreten. Ich ſagte 
damals: das iſt ein aufgeweckter, anſtelliger Burſche.“ 

„Ich danke Ihnen, Herr von Kiſtenpfennig.“ 

„Vor zwölf Jahren machte ich Sie zum Buch— 
halter und ſagte: das iſt ein geſchickter, ein geſcheiter 
Jüngling, der ſeinen Weg machen wird.“ 

„Ich danke Ihnen, Herr von Kiſtenpfennig.“ 

„Als Sie mich vor acht Jahren zu der großen Spe— 
kulation überredeten, welche mir ſchließlich die Kohlen— 


ng — 


werke von Sankt Wendelin eintrug, da ſagte ich: 
dieſer junge Mann iſt ein Genie.“ 
„Ich danke Ihnen, Herr von Kiſtenpfennig.“ 
„Als vor ſechs Jahren die große Kriſe ausbrach 
und Ihr diplomatiſches Talent mein Haus ſozuſagen 
rettete, da nannte ich Sie einen unbezahlbaren Men- 
ſchen und erhöhte Ihr Jahresgehalt um volle 600 
Gulden.“ 
„Ich danke Ihnen, Herr von Kiſtenpfennig.“ 
„Als ich meine zehnte Million mit Gottes und 
Ihrer Hilfe beiſammen hatte, da nannte ich Sie einen 
klaren, vernünftigen Kopf und gab Ihnen die Prokura.“ 
„Ich danke Ihnen, Herr von Kiſtenpfennig.“ 
„Jetzt aber, lieber Zwirner, wo Sie plötzlich mit 
dem — Sie verzeihen ſchon — unverſchämten Ver— 
langen an mich herantreten, ich ſolle Ihnen meine 
Tochter Neſthulda zur Frau geben, jetzt, lieber Zwirner 
— Sie müſſen ſchon entſchuldigen — ſage ich Ihnen 
da im Angeſicht der Zentral-Markthalle und des Haupt— 
zollamtes: lieber Zwirner, Sie ſind ein E. ..!“ 
Diesmal vergaß Chriſtoph Zwirner zu ſagen: „ich 
danke Ihnen, Herr von Kiſtenpfennig“; vielmehr ging 
er ſo raſch als möglich in den Rückwärtslauf über. Als 
ſie am anderen Ende des Kreiſes wieder zuſammen— 
kamen, fuhr der Bankier in ſtolzem, feſtem Tone fort: 


— 280 — 


„Sie haben meine zwanzig Millionen eigenhändig 
gezählt, Herr Zwirner, und auch die lumpigen 8000 
Gulden, die ich Ihnen als Jahresgehalt bezahle. Sie 
wiſſen alſo, daß der Abſtand zwiſchen uns zu groß 
iſt, gar zu groß. Gewiß, Sie find mir lieb und 
wert; es thut mir weh, daß Sie E. .. genug find, 
ſich dergleichen in den Kopf zu ſetzen, aber Neſthulda 
kann wählen unter Grafen und Baronen, mit Neſt— 
hulda haben ſchon Prinzen getanzt, Neſthulda iſt ver— 
wöhnt, ſehr verwöhnt, ihr gefällt nicht jo leicht jemand ... 
der Rittmeiſter Baron von Klingenſtahl iſt doch einer 
unſerer ſchönſten Offiziere und Neſthulda hat ihn den— 
noch ausgeſchlagen ... wie ſollten Sie ihr gefallen, 
Chriſtoph Zwirner, der Prokuriſt ihres Vaters?“ 

„Wie aber, Herr von Kiſtenpfennig, wenn Fräu— 
lein Thusnelda mich liebte? Mich, Chriſtoph Zwirner, 
den Prokuriſten ihres Vaters? Wie, wenn ſie meinet— 
halben die Hand des Rittmeiſters Baron von Klingen— 
ſtahl ausgeſchlagen hätte?“ 

Herr von Kiſtenpfennig machte plötzlich mit beiden 
Füßen Einwärtsbögen nach rückwärts, um im Rück⸗ 
wärtslauf ſtehen zu bleiben. Dabei mußte er ſich 
ſtark vorwärtsbiegen, bei welcher Stellung auch ein 
Gelächter bekanntlich am wirkſamſten ausfällt. Er 
ſchüttelte ſich nämlich vor Lachen, daß ihm die Thränen 


oa 


in die Augen traten. Als fein Zwerchfell endlich wieder 
ſtille ſtand, ſagte er mitleidig: „Gehen Sie ins Ru— 
dolfinerhaus, lieber Zwirner; Sie ſcheinen krank zu 
ſein. Ich will eigens ein neues Bett dahin ſtiften, 
für Sie; man wird Sie dort heilen. Und woher... 
hahaha . . . woher wiſſen Sie denn eigentlich, wenn 
man fragen darf, daß Neſthulda Sie liebt? Sind 
wohl in den Prater gegangen und haben jämtlichen 
Bäumen die Blätter ausgerupft vom erſten bis zum 
letzten mit „Sie liebt mich — liebt mich nicht?“ 
Hab' ich's getroffen, lieber Zwirner? Hahaha, darum 
alſo iſt der Prater jetzt ſo kahl!“ 

So ſprach Herr von Kiſtenpfennig mit ſchneiden— 
dem Hohne und legte ſich dann mit ausgelaſſener 
Fröhlichkeit in einen gewaltigen Vorwärts-Auswärts— 
bogen hinein. Aber Chriſtoph Zwirner hatte ihn bald 
wieder eingeholt und entgegnete: 

„Herr von Kiſtenpfennig, Sie ſprechen, wie Sie 
zu ſprechen berechtigt zu ſein glauben, als mein Chef 
und Fräulein Thusneldas Vater. Aber ich, der E. .. 
Chriſtoph Zwirner, ſage Ihnen, daß es keine Macht 
auf Erden giebt, auch die Ihrige nicht, die .. .“ 

Zwei gute Bekannte ſtießen in dieſem Augenblick 
zu ihnen und unterbrachen Zwirners energiſche Auße— 
rung. Herr von Kiſtenpfennig konnte ſeiner Entrüſtung 


— 282 — 


nicht beſſer Luft machen, als indem er ihnen brüh— 
warm die Werbung ſeines Prokuriſten mitteilte. Un⸗ 
bändig lachten die zwei über den „originellen Einfall“ 
und der eine ſagte: 

„Iſt's möglich, Herr Zwirner? Haben ſich denn 
Ihre Vermögensverhältniſſe neueſtens ſo glänzend ge— 
ſtaltet? Ich glaube, wenn man Ihnen heute einen 
Bon auf eine Million präſentiert, ſind Sie nicht ein— 
mal imſtande, die Bagatelle ſofort einzulöſen.“ 

Allgemeines Gelächter folgte dieſer etwas ſpöt— 
tiſchen Bemerkung. Herr von Kiſtenpfennig wollte 
ſchier platzen vor verzweifeltem Lachen und wiederholte 
einmal über das andere: „Hahaha! ein Bon auf eine 
Million! auf eine runde Million, hahaha!“ 

„Sie ſcheinen meine Verhältniſſe doch nicht ſo 
ganz genau zu kennen, Herr von Kiſtenpfennig,“ ſagte 
Zwirner mit eiſiger Ruhe. „Wer weiß, ob ich einen 
ſolchen Bon nicht wirklich einlöſen könnte!“ 

Herr von Kiſtenpfennig lachte, die anderen zwei 
lachten ebenfalls. 

„So wetten Sie doch mit Herrn von Kiſten— 
pfennig um die Hand ſeiner Tochter, Herr Zwirner!“ 
rief der Spötter von vorhin. 

Herr von Kiſtenpfennig lachte aus vollem Halſe: 
„Hahaha, haben Sie vielleicht unvermutet eine rieſige 
Erbſchaft gemacht, lieber Zwirner?“ 


— 283 — 


„Nein, Herr von Kiſtenpfennig.“ 

„Oder haben Sie zehn Haupttreffer nacheinander 
gewonnen?“ 

„Nein, Herr von Kiſtenpfennig.“ 

„Wenn Herr Zwirner die Wette eingeht und ge— 
winnt, verdient er wahrhaftig die Hand Fräulein 
Thusneldas,“ ſtichelte der erſte Spötter neuerdings. 

„Ein köſtlicher Spaß wäre das!“ rief der zweite. 

Zwirner ſagte kein Wort, ruhig glitt er mit den 
anderen weiter. | 

„Nun, lieber Zwirner, was meinen Sie?“, hub 
jetzt Herr von Kiſtenpfennig an. „Da ſind zwei 
Zeugen und.. durch zweier Zeugen Mund wird 
allerwärts die Wahrheit kund. Von meiner Seite ſteht 
die Wette. Sie geben mir einen Bon im Betrag von 
einer Million, ich präſentiere Ihnen den Wiſch nach 
Ablauf von zwei Stunden in Ihrer Wohnung; können 
Sie ihn ſofort einlöſen, ſo iſt Neſthulda Ihre Frau.“ 

„Stellen wir die Sache ganz klar,“ nahm Spötter 
Nummer eins das Wort. „Die Wette ſteht alſo 
folgendermaßen: Herr Chriſtoph Zwirner ſtellt ſofort 
den Bon aus. In zwei Stunden wird ihm der Bon 
in ſeiner Wohnung durch Herrn von Kiſtenpfennig prä— 
ſentiert. Herr Chriſtoph Zwirner bezahlt eine bare 
Million an Herrn von Kiſtenpfennig. Erfüllt Herr 


— 284 


Chriſtoph Zwirner alle dieſe Bedingungen, oder unter- 
läßt Herr von Kiſtenpfennig eine derſelben, ſo wird 
es dem Fräulein Thusnelda von Kiſtenpfennig anheim— 
geſtellt, Herrn Chriſtoph Zwirner ihre Hand zur Ehe 
zu reichen. Iſt es ſo recht?“ 

„Ja,“ entgegneten beide Kontrahenten. 

„Jede der wettenden Parteien bürgt mit ihrer 
perſönlichen und geſchäftlichen Ehre für ſtrenges Ein— 
halten der Bedingungen.“ 

Auf dem herausgeriſſenen Blatte eines Taſchen— 
buches wurde ein kurzes Protokoll aufgenommen und 
von allen Beteiligten unterſchrieben. 

„Und nun bitte ich um den Bon,“ ſagte Herr 
von Kiſtenpfennig lachend. 

„Augenblicklich!“ ſagte Zwirner, um deſſen Mund 
ein eigentümlicher Zug ſpielte. 

Er hatte ſich ſeit dem vorigen Jahre mit Leiden— 
ſchaft dem Eislauf gewidmet und ſich ganz beſondere 
Künſte angeeignet. Man nannte ihn nur den „Buch— 
ſtabenläufer“. Kräftig ſtieß er jetzt ab und ſchwebte 
in anmutigen Schwenkungen einige Minuten lang über 
die Eisfläche. Verwundert ſah ihm Herr von Kiſten— 
pfennig zu. 

„Ich bitte um den Bon!“ rief er endlich un- 
geduldig. 


— 285 — 


„Da iſt er!“ ſagte Zwirner, kaltblütig an ihn 
herangleitend, und deutete mit der Hand auf den Eis— 
plan, auf dem mit rieſigen runden Buchſtaben graviert 
die Worte ſtanden: 

„Gut für eine Million Gulden. Chriſtoph Zwirner.“ 

In Herrn von Kiſtenpfennigs Kopfe ging ein 
düſteres Licht auf. Er ſah ſich überliſtet. Er hatte 
offenbar die Wette verloren, denn dieſen Bon konnte 
er Zwirner unmöglich in feiner Wohnung präfentieren. 
Sollte er die ganze Eistafel ausſägen und nach der 
Behauſung ſeines Prokuriſten ſchleppen laſſen? Un— 
möglich, denn dazu waren zwei Stunden nicht ge— 
nügend und das Eis reichte bis auf den Grund. Ihm 
ſchwindelte, er mußte ſich an einem der Herren feſt— 
halten, um nicht zu fallen. 

„Wohlan denn, Herr von Kiſtenpfennig“, ſagte 
Zwirner, „ich eile nach Hauſe, um die Million aus 
dem Kaſten zu nehmen; in zwei Stunden erwarte ich, 
daß Sie mir meinen Bon präſentieren.“ 

Mit höflichem Gruße an ſeinen Chef entfernte 
ſich Zwirner, nachdem er noch dem Herrn, der ihn am 
meiſten verſpottet hatte, warm die Hand gedrückt und 
ihm zugeflüſtert: „Der Coup iſt gelungen, ich werde 
Ihnen Ihre Hilfe nie vergeſſen.“ 


* * 
* 


— 286 — 


Ein kräftiger Schlag auf die Schulter weckte den 
Schlummernden. Er ſprang auf und rieb ſich krampf— 
haft die Augen. Er befand ſich im Wintergarten und 
vor ihm ſtand Herr von Kiſtenpfennig, hinter dieſem 
Fräulein Thusnelda, am Arme des Rittmeiſters Grafen 
von Klingenſtahl, und um ſie her noch etliche Syl— 
veſtergäſte. 

„Ah, Sie bringen den Bon?“ rief Zwirner 
etwas verſchlafen. „Sofort ſollen Sie die Million 
haben.“ 

„Aber, lieber Zwirner, Sie reden ja irre!“ ſagte 
der Bankier. „Was für ein Bon? Was für eine 
Million?“ 

„Herr von Kiſtenpfennig, durch zweier Zeugen 
Mund . . ..“ begann Zwirner wieder, aber da ver: 
wirrte er ſich und ſtockte. Er fühlte ſein Gehirn kreiſen 
und griff an die Bruſt, an die Stirne. Was war 
das? Er befand ſich ja im Wintergarten ſeines Chefs. 
Es war Sylveſter. Er hatte eine Quadrille getanzt, 
ohne eine Ungeſchicklichkeit zu begehen. ... Doch 
nein, ſoeben hatte er ſie ja begangen! Einen unge— 
heuren Bock, einen Bock von nie dageweſener Größe 
hatte er geſchoſſen! 

Mit einem Schlage wurde ihm alles klar. Er 
hatte geträumt. Die meiſten Gäſte waren ſchon fort 


—, — 


und man hatte ihn beim Souper vermißt und ſpäter 
auch. Und da hatte man ihn ſchließlich geſucht und 
ſchlafend gefunden, und da ſtand nun alles um ihn 
her und lachte. | 
„Iſt Ihnen ſchon beſſer, lieber Zwirner?“ fragte 
ihn der Bankier mit mühſam behauptetem Ernſt. 
„Ich danke, ja, Herr von Kiſtenpfennig!“ſtammelte er. 
„Sie waren heute ein tadelloſes Vis-à-vis, Herr 
Zwirner,“ ſagte Fräulein Thusnelda und reichte ihm 
(ſpät, aber doch!) den Handſchuh zum Kuß. 
Chriſtoph Zwirner küßte ihn und war glücklich. 
Freilich, die Träume ſind meiſtens noch viel ſchöner 
als die Wirklichkeit. 


Beil 


Eine Skizze aus dem Müllerſchen Familienleben. 


1887.) 


Heveſi, Buch der Laune. 19 


ie Stimmung im Müllerſchen Hauſe war 
ſeit einigen Tagen eine ſehr gedrückte ge- 
worden. Dem Vater ging das Nach— 
gs echen regelmäßig etlichemale aus, bis er es 
zu Ende bringen konnte, und das war ihm früher in 
Jahren nicht begegnet. Die Mutter gar hatte erſt 
letzthin das Tiſchtuch zuſammengefaltet, ehe noch die 
Brotkrumen hinweggefegt waren; ein Fall, der ſich 
zum letztenmal vor ſiebenzehn Jahren und zehn Monaten 
ereignet hatte, als Herr Müller, der abſichtlich ganz 
nahe dabei ſtand, ſie mit der Frage im Ohre kitzelte, 
ob ſie wohl Luſt hätte, Frau Müller zu werden. 

Es war offenbar etwas nicht richtig in der At— 
moſphäre des Müllerſchen Hauſes. 

Schon ſeit dem letzten Sonntag hatten die Eltern 
an Fräulein Marie eine eigentümliche Schwermut wahr— 


— 292 — 


genommen. Die Munterkeit des Mädchens war einer 
gewiſſen Nachdenklichkeit gewichen, die vom Aktuar Karl 
ſchon wiederholt geprieſenen Roſen ihrer Wangen be— 
gannen zu erbleichen, ihre Augen, welche der Herr 
Aktuar noch immer beharrlich blau nannte, hafteten 
meiſt am Boden, ihr Appetit gefiel der ſorgſamen 
Mutter ganz und gar nicht, und wenn man zu ihr 
ſprach, gab ſie entweder ſchiefe Antworten oder gar keine. 

Vater und Mutter hatten unter vier Augen das 
Thema ſchon wiederholt erörtert. 

„Du hätteſt,“ ſagte die Mutter, „dem Aktuar 
doch nicht ſagen ſollen, Marie ſei nicht zu Hauſe; er 
hörte ja ihren Geſang bis hinaus . . . Seitdem iſt er 
nicht wiedergekommen, und ſeitdem . . .“ 

„Hör mir mit dem Aktuar auf, Mutter,“ rief 
Herr Müller, „mit Aktenbindfaden hält man Leib und 
Seele nicht zuſammen, und von Streuſand werden Weib 
und Kind nicht ſatt!“ Und heftig rieb er ein neues 
Streichholz an, natürlich am unrechten Ende. 

Die Mutter ſeufzte nur und ſteckte den Kopf in 
die Morgenzeitung, zog ihn aber haſtig wieder zurück. 

„Man kann wahrhaftig keine Zeitung mehr leſen!“ 
rief ſie. „Jeden lieben Morgen dieſe ekligen Dinge! 
Schon der dritte Doppelſelbſtmord ſeit Sonntag!“ 

Sie hatte recht. Es war eine förmliche Seuche. 


„ 208 


Salt jeder Tag brachte feinen Selbſtmord, einfach oder 
doppelt, und meiſt wegen nichts, zuweilen um weniger 
als nichts . . . und fait immer jo ein armes, junges, 
blitzdummes Ding von einem Mädchen dabei, das da 
geglaubt haben mochte, man fange das Leben am beſten 
an, indem man es ende .. der liebe Gott tröſte ſie 
im Jenſeits! 

Herr Mäller ſtudierte nun ſeinerſeits die Zeitung 
unter erklecklichem Gebrumm, dann ſagte er plötzlich: 
„Marie hat ſie geheißen!“ und ſchob das Blatt weit 
von ſich. Er vermochte nicht weiter zu leſen, er wollte 
gar nicht wiſſen, wie ſich jene Marie umgebracht habe. 

Frau Müller hatte, als ſie den Namen des armen 
Opfers hörte, einen Schrei unterdrückt und krampf— 
haft die Hände gefaltet. Als ſie aber die Verdüſterung 
ihres Gatten bemerkte, ſuchte ſie zu feiner Beruhigung 
die Sache mehr ins allgemeine zu wenden und ſagte: 

„Ach Gott, erwachſene Kinder brauchen noch mehr 
Aufſicht als kleine ... Ich muß doch in der Küche 
nachſehen, ob der Metzger heute richtig gewogen hat,“ 
und huſchte hinaus, aber nur, um zu ſchauen, wo denn 
Marie ſchon wieder geblieben. 

Kein Wunder, daß die Veränderung in Mariens 
Weſen die Eltern ſehr beunruhigte. Aber vergebens 
drangen ſie mit Fragen in die junge Dame, ſie lächelte 


— 294 — 


nur ſo wehmütig oder zerſtreut, oder antwortete aus— 
weichend und ſchwieg dann weiter. 

„Ob ich nicht den Aktuar für nächſten Sonntag 
zum Abendeſſen laden ſollte?“ äußerte die Mutter 
etwas ſpäter. 

„Nötig hätt' er's wohl!“ erwiderte der Vater, 
ſagte aber weder ja noch nein. 

Nachts konnnte Frau Müller vor innerem Nagen 
nicht einſchlafen. Da hörte ſie plötzlich aus dem Neben- 
gemach ein ſeltſames Geräuſch wie von Papierfalten 
oder Umblättern, und Mitternacht war doch längſt 
vorüber. „Was nur das Mädel ſchon wieder treibt?“ 
dachte ſie bei ſich; „ſie wird doch um dieſe Zeit keine 
.. . Briefe ſchreiben?“ Aber ehe ſie darüber ins reine 
kommen konnte, hatte doch der verſpätete Schlaf ihre 
Gedanken betäubt. 

Den andern Morgen teilte ſie dem Gatten ihre 
nächtlichen Wahrnehmungen mit. Er nahm dieſelben 
mit mürriſchem Geſicht auf und ſchwieg. 

Mittags ſtöberte Marie in einer Schublade herum, 
welche als Handrumpelkammer diente und unter anderem 
zahlreiche Arzneiflaſchen enthielt, große und kleine, dicke 
und ſchlanke, wie ſie eben im Lauf der Jahre nach 
Morphiumtropfen, Kirſchlorbeer und Franzbranntwein 
ſich anſammeln. Aus dieſem Arſenal wählte ſie ein 


e 


mittelgroßes Fläſchchen und ſteckte es ganz heimlich zu 
ſich, in der Meinung, es habe ſie niemand bemerkt. 

Aber was könnte dem Auge einer beſorglichen 
Mutter entgehen? Bei Tiſche teilte Frau Müller ihrem 
Gatten ganz leiſe auch dieſe Neuigkeit mit. Er em- 
pfing ſie mit noch mürriſcherem Geſicht und ſchwieg 
abermals. 

„Ich werde ihn einladen, ja?“ flüſterte die Mutter. 

Der Vater ſagte nicht ja, ſondern zuckte nur die 
Achſeln. 

Nach Tiſche, während Frau Müller ihr Verdau— 
ihläfchen hielt, verließ das Fräulein ganz verſtohlen 
das Haus und kehrte juſt wieder zurück, als ſie erwachte. 

„Wo warſt Du, mein Kind?“ 

„Nirgends, Mama.“ 

„Nirgends?“ 

„Gewiß, Mama, nirgends.“ 

Mehr konnte ſie aus ihr nicht herausbringen; 
das Stubenmädchen jedoch, welches um dieſelbe Zeit 
einen Gang in die Stadt gehabt, verriet der Gnädigen, 
ſie habe Fräulein Marie in der Sonnengaſſe geſehen, 
wie ſie eben aus dem Droguerieladen „Zum roten 
Mohren“ herausgekommen und auf ſo ſonderbare Weiſe 
um und um geblickt, als beſorge ſie heftig, von jemand 
ertappt zu werden. Auch dieſes teilte die Mutter 


e 


dem Vater mit. Ihre Unruhe hatte nun den höchſten 
Grad erreicht, denn gerade an dieſem Tage ſtanden 
wieder zwei ſolche Vergiftungsfälle in der Zeitung, und 
die gingen ihr nicht mehr aus dem Kopfe. Was in 
aller Welt konnte auch ihr armes, ſchwermütiges, ſchlaf— 
loſes Kind beim roten Mohren zu thun haben, der 
nur mit Gewürzen und Farbwaren handelt und — 
hilf Himmel! — mit Giften? 

„Du, Papa, ich bin in der ſchrecklichſten Angſt!“ 
geſtand ſie ihrem Gatten. 

„Ach, geh, das wär' doch . . .“ 

„Die Sache mit dem Mädel ...“ 

„Hm!“ 

„Nein, Anton, durchaus nicht ‚Hm!‘ Ich weiß 
nur das eine, daß ich heute nacht aufbleibe und das 
Kind belauſche; ich habe den Schlüſſel von ihrer Thür 
abgezogen .. . Ich bitte Dich, Du Haft ja heute ſchon 
wieder geleſen, nicht?“ 

„Ja wohl.“ 

„Die eine war auch ganz fo ein junger Fratz ... 
iſt vielleicht auch tags zuvor beim roten Mohren ge— 
weſen! o Gott, o Gott!“ 

Abends küßte Marie Vater und Mutter auf die 
Wange — viel inniger und wärmer als ſonſt, be— 
merkten ſie — und zog ſich auf ihre Stube zurück. 


on 


„Wie ihr Kuß heute brennt! Ich fühle ihn noch 
jetzt da auf meiner Wange wie Feuer!“ rief die Mutter, 
in helle Thränen ausbrechend; „o Anton, das war 
kein gewöhnlicher Kuß . .. ein Abſchiedskuß war es!“ 

Unter lautem Schluchzen ſank ſie an die Bruſt 
ihres Mannes. 

„Nun gut, ſo ſchreibe dem Federfuchſer drüben, 
er ſoll Sonntags kommen!“ rief Herr Müller und 
fuhr ſich mit beiden Händen in die Haare. 

„Sonntags?“ entgegnete die Mutter; „das kann 
ja zu ſpät ſein! Heute nacht wer weiß 

„Nun gut, ſo paſſen wir 'mal heute nacht auf,“ 
rief der Vater, „was denn das vertrackte Mädel eigent— 
lich im Schilde führt.“ 

Und beide Eltern ſchlichen ſich ganz leiſe an die 
Thüre der Tochter und begannen zu horchen. In 
dieſem Augenblick knirſchte ein Riegel; Marie hatte 
ihn von innen vorgeſchoben. Nur mit Mühe konnte 
die Mutter einen Ausruf des Schreckens unterdrücken. 
Zitternd kniete ſie vor das Schlüſſelloch hin und lugte 
atemlos, pochenden Herzens und die Augen in Thränen, 
durch die enge Lücke. 

Was ſie ſah, war in der That fürchterlich. Halb be— 
wußtlos taumelte die entſetzte Frau zurück auf den Teppich 
und ihr Gatte ſtürzte in hellem Schreck ans Schlüſſelloch. 


— 298 — 


Beim erſten Blick wollte auch ihm das Blut in 
den Adern erſtarren. Sein Auge fiel gerade auf das 
Bett ſeiner Tochter. Auf dem Rande des Bettes ſaß 
das junge Mädchen mit aufgelöſtem Haar, halb ent— 
kleidet. Den Tiſch hatte ſie vor das Bett hingerückt 
und eine ſchwarze Decke darüber gebreitet. An den 
vier Ecken brannten vier hohe weiße Stearinkerzen 
wie bei einer Leichenzeremonie. Und das Mädchen 
ſaß da, die Hände im Schoß gefaltet, einen ernſten, 
ſchmerzlichen Zug im Geſicht, und ſtarrte unverwandt 
vor ſich hin auf die ſchwarze Decke, in deren Mitte 
ein kleines glänzendes Ding ſtand. Was für ein Ding, 
das konnten die alten Augen des Vaters nicht unter— 
ſcheiden. 

Und jetzt ſprang das Mädchen wie mit einem 
gewaltſamen Entſchluß auf, ergriff jenen glänzenden 
Gegenſtand und hob ihn hoch empor, ſo daß die Kerzen— 
flamme darin aufblitzte ... dann hörte man das 
Schnalzen des Korkſtöpſels, den fie herauszog ... 
Hilf Himmel! die Thüre verriegelt, die Stunde Mitter— 
nacht, und die ſchwarze Tiſchdecke, die vier brennenden 
Kerzen, das aufgelöſte Haar, der ſchmerzliche Zug im 
Antlitz, das rätſelhafte Fläſchchen, der Kork und ſein 
verhängnisvolles Schnalzen . . . Gift! 

Dieſer ganze Gedankengang zuckte in einem ein— 


„„ 


zigen Augenblick mit überwältigender Plötzlichkeit durch 
des Vaters Kopf. Nun war keine Sekunde mehr zu 
verlieren. „Marie! Marie!“ rief er und rüttelte mit 
aller Macht an der Thüre. Darüber kam auch die 
Mutter wieder zu ſich und trug das Ihrige bei, den 
Lärmen zu vermehren . .. Noch ein Augenblick banger 
Erwartung, dann knirſchte der Riegel, die Thüre ſtand 
offen und auf die Schwelle trat eine weiße Geſtalt, 
welche verwundert ein bleiches Antlitz auf die verſtörten 
Ruheſtörer richtete. 

„Du lebſt! Du lebſt! Marie, mein teures Kind!“ 
riefen Vater und Mutter mit einer Stimme und um— 
armten ſchluchzend den Schatz ihres Lebens. 

„Aber das Fläſchchen, der Stöpſel .. . Haſt Du 
getrunken? Nein, nein; ſage, Du haſt 05 nicht ge⸗ 
trunken, mein Kind!“ keuchte der Vater und um— 
klammerte krampfhaft die Hände ſeiner Tochter. 

„Was ſoll ich getrunken haben?“ fragte das 
Mädchen befremdet. 

„O, Du haſt nicht getrunken, nicht getrunken, Du 
teures, ſüßes, garſtiges Geſchöpf Du!“ brach die Mutter 
jauchzend los und bedeckte mit ihren Küſſen das blaſſe 
Mädchen, das den ganzen Auftritt nicht begriff. 

Da auf einmal fuhr Marie zuſammen und ſchlug 
die Hände vor die Augen. 


„ 300 — 


„Ach Gott,“ rief ſie, „nun werden ſie alles er— 
fahren! Ich bitte Dich, teuerſte Mutter, werde nur 
nicht böſe, ſo will ich Dir ja alles geſtehen.“ 

„Wie ſollt' ich böſe werden, Du Kind, da ich ſo 
froh bin, daß wir Dich nur noch haben!“ 

„Warum ſolltet ihr mich nicht haben?“ ſagte 
Marie; „hätt' ich nur auch ſchon mein . . .“ 

„Deinen Karl?“ unterbrach ſie die Mutter. „Sei 
ruhig, mein Schatz, den ſollſt Du haben, ich ſchwöre 
es Dir!“ 

„Welchen Karl?“ rief Marie erſtaunt; „ich meinte 
ja mein ſchwarzes Seidenkleid.“ 

„Welches Seidenkleid?“ rief jetzt die Mutter, 
nicht minder erſtaunt. 

„Das nämliche, das ich vorigen Sonntag zum 
erſtenmal anhatte . . . ach Gott, ich fand nicht den Mut, 
Dir das Unglück zu verraten, denn Du wäreſt gewiß 
ſehr böſe geworden . . . aber, ſiehſt Du, ich kann ja 
nichts dafür, im Salon ſaß jener unausſtehliche Aktuar. . .“ 

„Oho!“ riefen Vater und Mutter, außer ſich vor 
Erſtaunen. „Aktuar Karl?“ 

„Derſelbe ... und da wollte ich den Salon 
vermeiden und ging durch die Küche, und da hatte 
es die Suſanne juſt mit der friſch geſchmolzenen Butter 
zu thun; und auf einmal, da ſah ich, daß mein 


a 


neues Kleid ein einziger ungeheurer Fettfleck war, und 
r 

„Und dann?“ 

„Und dann zerbrach ich mir nicht wenig den Kopf, 
wie ich das wieder gutmachen ſollte; ich war die ganze 
Woche ſo niedergeſchlagen, und einmal in der Nacht 
durchblätterte ich zehn Jahrgänge des ‚Bazar‘ und 
ſuchte darin, womit ein Fettfleck am beſten zu tilgen 
ej 

„Ach, alſo jenes Papiergeraſchel kam nicht vom 
Korreſpondieren? Du haſt keine Abſchiedsbriefe ge— 
ſchrieben?“ 

„Abſchiedsbriefe? Wozu? . . . Nun, zuletzt fand 
ich doch als beſtes Mittel das Benzin geprieſen — 
und das hatt’ ich doch ſchon früher gewußt — und 
und ſo ſuchte ich mir alſo in der Schublade ein paſſen— 
des Arzneifläſchchen . . .“ 

Ah! 

„Und ging heute nachmittag .. .“ 

„Zum roten Mohren, ich weiß es, und kaufteſt 
D 

„Benzin, und jetzt vor dem Schlafengehen ver— 
riegelte ich meine Thüre ganz feſt — ich weiß nur 
nicht, wo in aller Welt der Schlüſſel hin ſein mag — 
aber der Riegel hält ja auch, es konnte mich niemand 


— 302 — 


überraſchen, und da breitete ich mein armes ſchwarzes 
Seidenkleid über den Tiſch . . .“ 

„Das alſo war die ſchwarze Totendecke?“ 

„Und denke Dir nur, bei dem Scheine von vier 
Kerzen war ich gerade daran, auf die dummen Fett— 
flecke loszugehen, hatte ſogar ſchon das Benzinfläſch— 
chen in der Hand und den Kork heraus, als ihr mich ſo zum 
Tod erſchrecken mußtet, ich weiß noch jetzt nicht, warum.“ 

Herr und Frau Müller ſchwiegen, ſahen ſich aber 
ganz ſonderbar an. Dann ſagte er zu ihr, indem er 
die Naſe ſpöttiſch ſpitzte: „Na, Mutter, morgen in 
aller Frühe ſchreibſt Du wohl, he?“ 

„Keinen Buchſtaben, Anton!“ rief ſie, förmlich 
zornig; „der Aktuar iſt ja an allem ſchuld! Der ſoll 
mir wieder kommen!“ 

„Der Aktuar?“ wiederholte Marie etwas zögernd, 
„eigentlich, Mama, muß man gerecht ſein, der Herr 
Aktuar iſt nicht am Unglück ſchuld.“ 

„Nicht?“ 

„Ich hätte ja ebenſo gut durch den Salon gehen 
können, aber ich . . .“ Sie errötete ein wenig. 

„Sprich, Kind, ſprich geſchwind,“ ſagte die Mutter, 
„ſonſt geſchieht ein Fehler!“ 

„Ich wollte ihn nur ein wenig necken,“ fuhr 
Marie fort Er ie for. . ü 


0 


„Unausſtehlich, ſagteſt Du vorhin?“ 

„Nun ... unausſtehlich iſt wohl doch nicht das 
Rhlige Wort 

„Alſo jagen wir . . abſcheulich!“ fiel der Vater ein. 

„Aber, Papa!“ verwahrte ſich Marie, „im Gegen— 
eit 

„Ach ſo!“ rief Herr Müller, halb enttäuſcht, halb 
reſigniert. „Mutter, ich fürchte ſehr, Du mußt morgen 
doch ſchreiben!“ 

„Was man heute thun kann,“ rief Frau Müller 
entſchloſſen, „ſoll man nicht auf morgen verſchieben. 
Ich ſchreibe noch heute!“ 


* 


ae 


(1882.) 


Heveji, Buch der Laune. 


20 


ae 
EN zweckmäßigſte Einrichtung eines Dorf— 


N 193 ſchulhauſes iſt doch unzweifelhaft die mit 


8 PS 
ee 


3 % zwei Thüren, über deren einer geſchrieben 
ſteht: „Mädchen“, über der anderen: „Knaben“. Be- 
ſonders zweckmäßig aber iſt ſie, wenn auch Herr Knaben— 
ſchullehrer Peter und Fräulein Mädchenſchullehrerin 
Pauline im Schulhauſe ſogenannte „Naturalwohnung“ 
haben, natürlich nicht auf derſelben Stiege (das fehlte 
noch!) oder auch nur in demſelben Flügel des Hauſes 
(warum nicht gar!) — ſondern hübſch abgeſondert, 
wie es den Baſen im Dorfe recht ſein kann, und dem 
Herrn Kirchenpatron, und dem Herrn Kurator, und 
ſo fort bis zur hohen Statthalterei hinauf, welche alle 
ein Auge haben auf die Sitten des ſogenannten „Lehr— 
perſonals“. Als ganz beſonders zweckmäßig aber muß 
es andererſeits auch anerkannt werden, wenn der Herr 


308°. 


Baumeiſter die menſchenfreundliche Idee hatte, den 
beiden Lehrerwohnungen, deren Eingänge einander ſo 
fern liegen, je ein Fenſterlein zu gönnen hinten hinaus 
auf den Kindergarten, und wenn dieſe beiden Fenſter 
ſich dicht nebeneinander öffnen. Wäre dies nicht der 
Fall, ſo könnten ja Herr Peter und Fräulein Pauline 
trotz der nahen Nachbarſchaft gar nie ein herzlich Wört— 
chen miteinander wechſeln, von dem die hohe Statt— 
halterei, und der Herr Kurator, und der Herr Kirchen— 
patron, und ſelbſt die Baſen im Dorfe juſt nichts zu 
wiſſen brauchen, da das kein eigentlich amtlicher Ver— 
kehr iſt. Iſt doch die bekannte böſe Zunge, die ehr— 
ſame Jungfer Nanett, des Großkrämers Töchterlein, 
ohnehin ſchon darauf verfallen, die beiden ſpöttiſch 
Paul und Petronella zu nennen, bloß auf Grund eines 
alten Fernrohres, mit dem ſie jenes Fenſterpaar be— 
ſtreichen kann; ein rechtes Glück, daß dieſes von einem ver⸗ 
ewigten Großoheim herrührende Inſtrument nur für ein 
Auge eingerichtet iſt und ſchon ſehr trübe Gläſer hat, denn 
ein neumodiſches Doppelglas mit klaren Linſen würde 
ihr vielleicht noch weit ſchlimmere Spitznamen eingeben. 

Beſonders vortrefflich bewährt ſich der eben ge— 
ſchilderte Bauſtil an einem Feiertag, oder nach den Lehr— 
ſtunden, wenn die Schulſtuben verlaſſen ſind und im 
Kindergarten unten nur die lauten Spatzen von Zweig 


309° 


zu Zweig hüpfen, denn die ſchwatzen ſelber jo viel, 
daß ſie unmöglich das bißchen Menſchengeplauder von 
Fenſter zu Fenſter hören können. Wie es eben jetzt 
wieder ſtattfindet; gerade jetzt. 

„Alſo heut abend iſt Sylveſter,“ ſagte Herr Peter 
mit einer Wichtigkeit, als ſei es ihm nach langer Ar- 
beit endlich gelungen, ein vielbezweifeltes chronologiſches 
Datum unanfechtbar feſtzuſtellen. 

„Ein ſchöner Abend,“ entgegnete Fräulein Pauline, 
„das Jahr ſcheidet mit einem frohen Lächeln von uns.“ 
In der That lächelte der Himmel wie ein roſiges Mäd— 
chenangeſicht, wie dasſelbige, das da aus dem Fenſter 
zu ihm hinanblickte. 

Dann wieder zog es plötzlich wie eine Wolke über 
die Stirne des einſamen Mädchens, daß ihre Augen 
davon um eine Schattierung dunkler wurden. Und 
ganz ſo zog auch eine Wolke über das ſchimmernde 
Firmament, erſt feuerrot, dann kupferbraun, dann grau 
und immer grauer. 

„Was thun Sie denn um die Neujahrſtunde, 
Fräulein Pauline?“ fragte Herr Peter. 

„Laubheimers waren jo gütig, mich zur Sylveſter— 
Bowle zu bitten, — und Sie, Herr Peter?“ 

„Blaue Flaſche ... Extraſtübchen ... mit dem 
Chirurgus, dem Forſtgehilfen und ſo fort.“ 


— 310 — 


„Ohne Damen.“ 

„Leider ... Die anderen ſagen: gottlob.“ 

„Tauſchen wir,“ ſcherzte das Mädchen, „ich gehe 
in die Blaue Flaſche zum Chirurgus, Forſtgehilfen und 
ſo fort, Sie aber fallen bei Laubheimers ein.“ 

„Gewiß nicht!“ rief der junge Mann ſehr ent— 
ſchieden, „was thäte ich bei Laubheimers, wo mich 
niemand kümmert? Und Sie bei der Blauen Flaſche, 
zwiſchen dem ledernen Feldſcher und dem klotzigen 
Forſtgehilfen, . . . nein, den Gedanken ertrüge ich gar 
nicht, dazu bin ich Ihnen ein zu guter . .. Nachbar.“ 

„Wir werden übrigens auch Blei gießen bei Laub— 
heimers,“ bemerkte das Mädchen. „Um zu erfahren, 
was heuer wiederum ... nicht eintreffen wird, wie 
alle Jahre.“ 

„Das Blei, das iſt auch ſo eine Promeſſe, mit 
der man nie einen Treffer macht. Nun, wenigſtens 
koſtet es kein Geld.“ 

„Das nicht,“ ſagte die Lehrerin mit einem kleinen 
Seufzer, „aber es koſtet doch immer etwas.“ 

„Daß ich nicht wüßte! Was ſollte es koſten?“ 

„Wenn Sie es nicht empfinden, dann koſtet es 
Sie freilich nichts.“ 

„Was koſtet es alſo? Bitte, ſagen Sie es mir! 
Bei unſerer guten Nachbarſchaft!“ 


— 311 — 


„Nun denn, vielleicht .. . eine Hoffnung. Das 
iſt ja doch die Münze, in der wir, d. h. meinesgleichen, 
dem Geſchick unſeren ſchuldigen Tribut bezahlen.“ 

„Ei, wer wird denn ſo ernſt werden?“ mahnte 
Herr Peter und ſuchte nach etwas, womit er ſie er— 
heitern könnte. Da fiel ſein Blick auf obgedachte Wolke 
an obgedachtem Himmelsgewölbe. „Sieh da,“ rief 
er, „wie das unbedeutende Wölkchen dick und ſchwer 
und undurchſichtig geworden iſt. Ganz ſchwer und grau, 
jo recht bleigrau. .. Sehen Sie, Fräulein Pauline, 
nun könnten wir auch gleich Blei gießen, auf unſre Weiſe.“ 

„Gut, Herr Peter,“ lachte ſie, „langen Sie mir 
mal einen Löffel voll von der bleiernen Wolke dort 
herab, ich will unterdes eine Schüſſel mit Waſſer füllen 
zum Ablöſchen.“ 

„Nicht ſo, nicht ſo, liebe Nachbarin, aber Wolken 
nehmen bekanntlich gewiſſe Geſtalten an, bald wie ein 
Wieſel, bald wie ein Kamel, nach Polonius nämlich. 
Nun paſſen Sie mal auf, und ich werde auch acht geben, 
was das himmlische Blei für prophetiſche Formen an— 
nimmt, denn es iſt ja ganz klar, daß eine hohe Hand 
dort oben jetzt Blei gießt für zwei arme kleine Menſchen— 
kinder, die ihr von ſo tief unten mit geſpanntem Auge 
zuſehen.“ 

„Wie kindiſch, Herr Peter,“ ſchmälte Pauline, 


VVV 


halb ſcherzend, halb ernſthaft, aber ſie konnte doch nicht 
umhin, erſt mit einem Augenwinkel und dann mit zweien, 
gar bald aber mit beiden weit geöffneten Augen nach 
der bedeutſamen Wolke aufzublicken. 

„Sonderbar!“ rief Herr Peter, „was das Ding 
ſich drollig in die Länge zieht. Jetzt ſchnürt es ſich 
oben ein, immer mehr, wie ein Hals und ein Kopf 
drüber. Ein Frauenkopf!“ 

„Ein Männerkopf,“ behauptete Fräulein Pauline, 
„ſehen Sie nicht, daß er einen Vollbart hat?“ 

Herr Peter ſtrich ſich über ſeinen ſchönen blonden 
Vollbart und rief: „Ei, wie wäre das ein Vollbart? 
Was Sie dafür anſehen, iſt nichts anderes als die Büſte.“ 

Mit einer Art Schreck rückte Fräulein Pauline 
plötzlich einen Schuh weiter ins Stübchen hinein; ſie 
hatte ſich in der That etwas weit hinausgelehnt. 

„Aber der Bart wächſt ja zuſehends,“ fuhr ſie 
nach einer Sekunde der Verlegenheit fort. 

„Im Gegenteil, die Dame ſieht, wie man zu ſagen 
pflegt, von Minute zu Minute beſſer aus, ſie entwickelt 
ſich zu einem rechten runden Weibchen.“ 

„Zu drollig, wie die kleinen Wolkenflöckchen rechts 
und links heranſchießen an die Schultern, daß ſie zu 
richtigen Armen werden. Ach Gott, der arme Mann! 
der eine Arm iſt ihm zu kurz geraten.“ 


ale 


„Er? Ihm? Ich ſage Ihnen ja, liebes Fräulein, 
daß es eine Sie iſt. Der eine Arm ſcheint nur darum 
ſo kurz, weil ſie ihn vorn über die Taille gelegt hat.“ 

Fräulein Pauline ließ geſchwind den Arm ſinken, 
denn ſie hatte ihn juſt dort liegen, wo das Wolken— 
bild nach Herrn Peters Behauptung. 

„Ich kann mir nicht helfen, ich ſehe die Figur 
doch für einen Mann an,“ ſagte ſie, nachdem ſie dem 
Prozeß dieſer Menſchwerdung noch ein Weilchen zugeſehen. 

„Und ich ganz entſchieden für eine Dame, ein 
Fräulein,“ beteuerte ihr Nachbar. „Das iſt ja übrigens 
meiſtens ſo mit dieſen Bleifiguren, ſie ſind zweideutig 
wie rechte Orakel.“ 

Während ſie aber ſo fortſtritten, begannen etwas 
unterhalb der Figur etliche kleine Dunſtwölkchen ſich 
ſeltſam zu vermiſchen und zu verſchränken. 

„Was ſoll denn da wieder werden?“ ſagte Herr 
Peter auf das neue Wunder deutend. 

„Das ſieht faſt aus wie ein Buchſtabe,“ meinte 
Fräulein Pauline. 

„Vielleicht ſchreibt jene hohe Hand gleich den 
Namen der Figur darunter. Das wäre ſchön, da wüßten 
wir genau, ob mit dem Bilde ein Herr oder eine Dame 
gemeint war.“ 

„Nein, es bleibt ein einziger Buchſtabe, alſo nur 


= 9511 — 


der Anfangsbuchſtabe des Namens. Wahrhaftig, es ift 
ein großes P.“ 

„Das bedeutet offenbar Pauline!“ rief Herr Peter. 

„Wieſo denn?“ proteſtierte ſie, „da die Figur 
ein Mann iſt? Das P bedeutet ...“ 

„Was bedeutet das P?“ rief Herr Peter raſch 
und lehnte ſich weit heraus. 

Aber das Mädchen hatte ſich ſchleunigſt in ihr 
Zimmer zurückgezogen und ihr Fenſter war geſchloſſen. 

Herr Peter war abends etwas nachdenklich bei 
der Bowle im Extraſtübchen der Blauen Flaſche. Erſt 
gegen Mitternacht taute er auf und ſchrie dann am 
lauteſten, als man das große „Proſt“ ausbrachte nach 
dem zwölften Glockenſchlage. Nur hielt er das Glas 
merkwürdig lang in der Luft und gegen das Fenſter 
hin, als ſchicke er ſein Proſt zum Fenſter hinaus. Er 
hatte übrigens nicht lange mehr Geduld, ſondern em— 
pfahl ſich, was ihm der Herr Forſtgehilfe faſt übelge— 
nommen hätte, weil er nun rechts ohne Flankenſchutz blieb. 

Herr Peter ſchritt heiß vom Punſch durch den 
blanken Schnee, aber nicht heimwärts, ſondern gegen 
das Laubheimerſche Haus hin, wo er doch gar nicht 
geladen war. Er blickte zu den hellen Fenſtern hinauf; 
dort dachten ſie augenſcheinlich noch nicht daran, ein 


a 


Ende zu machen. Es war recht kalt, und als Herr 
Peter ſich tüchtig durchgefroren hatte, kehrte er wieder 
in die Blaue Flaſche zurück. Es war denn doch das 
beſte, was er thun konnte. In einer halben Stunde 
war er wieder recht heiß und verſchwand abermals, 
aber diesmal ohne Abſchied, um die Gefühle des Herrn 
Forſtgehilfen nicht aufzuregen. Bei Laubheimers war 
es noch immer ganz hell; konnten denn die heute gar 
nicht fertig werden? Er trottete eine halbe Stunde. 
im Schnee auf und ab, bis ihn die Zehen ſchmerzten, 
und flüchtete ſchließlich nochmals in die warme Flaſche 
zurück. Als er dann die Expedition an den Laub— 
heimerſchen Nordpol zum drittenmal wiederholte, fand 
er bereits alle Fenſter dunkel und den Schnee vor 
dem Hauſe voll friſcher Fußſpuren. Er ſtieß ein ärger— 
liches Wort aus, das aus einem Wetter, einem Donner 
und einem Kreuz beſtand, aber nicht ganz in dieſer 
Reihenfolge; dann eilte er ſpornſtreichs gegen das Schul— 
haus hin. Wie er an der Mühlenecke vorbeikam, wo ein 
großer Kreuzweg iſt, ſah er eine dichte Menſchengruppe 
in geräuſchvoller Weiſe kreuz und quer Abſchied nehmen. 
Er wartete im Schatten, bis ſie ſich zerſtreute, dann 
ſchoß er mit ſehenswerter Behendigkeit hinter einer einzel— 
nen weiblichen Geſtalt her, die in die Schulgaſſe einbog. 
Kurz vor des Großkrämers Hauſe holte er ſie ein. 


„„ 3 


Sie ſchrie auf, als er ſie anredete. Er ergriff 
ihre Hand und ſah ihr ſtramm in die Augen. 

„Ich wollte nur noch einmal fragen, liebes Fräu— 
lein, was das P bedeutet hat,“ ſagte er; „für mich 
bedeutet es Pauline.“ 

Ihre Hand zitterte heftig in der ſeinen, ſein Ge— 

ſicht glühte vom Punſch, von der Kälte, von zärtlichem 
Verlangen, er hielt ſich nicht länger und ſchlang einen 
Arm um ihre Schultern. 

„Das Wort! das Wort!“ rief er dringender, 
und ſie konnte es ja gar nicht ausſprechen, weil er 
ſeine Lippen ſo feſt auf die ihren gedrückt hatte. 

Da ſcholl von oben ein ſcharfes, ſpitzes, höhniſches 
Lachen herab und ein Guckfenſterchen ſchloß ſich klirrend. 
Das verbrecheriſche Paar fuhr jäh auf und floh von 
der gefährlichen Stelle hinweg. Erſt vor dem Schul— 
hauſe hielt es ſtill. 

„O weh, das war Jungfer Nanett,“ ſagte Fräu— 
lein Pauline mit Thränen in der Stimme. „Ich bin 
verloren.“ 

„Gewonnen!“ rief er und ſchloß ſie in ſeine Arme. 
„Hier ſteh' ich und verlange Dich zur Frau, nicht 
von Vater und Mutter, ſondern von Dir ſelbſt.“ 

Sie konnte nichts antworten als: „Mein Peter, 
mein lieber Peter!“ 


— 317 — 


„War das vielleicht auch der Name, den jenes P 
für Dich bedeutete?“ fragte Herr Peter nach einem 
langen Augenblick des Glückes. 

Ein Kuß war ihre Antwort. 

„Siehſt Du nun, wir haben beide gut geſehen,“ 
ſagte Herr Peter, als ſie endlich nach der Klinke griff. 
„Das Wolkenbild war für mich ein Mädchen, das 
Pauline hieß.“ 

„Und für mich ein Mann, der gottlob Peter heißt.“ 

„Und glaubſt Du nun ans Bleigießen in der 
Sylveſternacht?“ 

„Wie meine Schulmädchen ans Einmaleins.“ 

Die Thüre knarrte in ihren Angeln, das ver— 
ſchlafene Geſicht des Schuldieners wurde ſichtbar. 

„Gute Nacht, Peter.“ 

„Gute Nacht, Pauline.“ 


Deue weihnachksgelchichten. 


RR 
Ma 


1728 


I. 


Das Christkind. 


(1887.) 


8 1 nachtsglanz ſchlug auf einmal in die Augen 
der Harrenden wie die Flamme eines Blitzes. „Mama!“ 
klagte Hans, „Lottchen hält mir die Augen zu.“ In 
ſeiner Verwirrung merkte es der kleine Mann gar nicht, 
daß er ſelbſt ſich mit beiden Händen die geblendeten 
Augen zuhielt. Die übrigen riefen nichts als „Ah!“ 
und wieder „Ah!“ Nur Onkel Joſef, aus Paris, der 
ſich ja immer etwas apart ausdrückte, rief „O!“ 
Und nun wurde die Schwelle des Himmelreichs 
überſchritten. Mama führte die drei Kinder an der 
Hand; wie ſie das mit zwei Händen zuwege brachte, 
weiß nur ſie allein. Im Saale war es hell und warm, 


wie im Sommer um Mittagszeit. Ein Wunder, daß 
Heveſi, Buch der Laune. 2 


„„ 


der weiße Schnee nicht ſchmolz und die kriſtallklaren 
Eiszapfen, von denen der gewaltige Tannenbaum ſchim— 
merte und funkelte. Der Schnee war nämlich Baum— 
wolle, mit welcher Chriſtine alle Zweige ſorgfältig be— 
legt hatte, und die Eiszapfen waren auch nicht aus 
gefrorenem Waſſer verfertigt, ſondern aus Glas, wes— 
halb Onkel Joſef das Wunder nicht einmal ſo groß 
fand. Und Kerzen brannten ſo viele, als wäre Papa 
ein Lichtzieher; und die Nüſſe dazwiſchen waren alle 
vergoldet, o viel beſſer noch als Onkel Joſefs Siegel— 
ring; und bunte Zuckerſachen baumelten an allen Zweigen, 
o ein ganzer Zuckerbäcker war da aufgehängt. Und 
was nun erſt alles unter dem Baume lag und auf 
den Tiſchen rings an den Wänden ſtand! Ein Zirkus, 
eine Menagerie, zwei Küchen, eine Waſchtoilette, ein... 
eine ... ein... Nein, fo brav war Chriſtkind noch 
niemals geweſen, niemals! Ob es wohl heuer wieder 
perſönlich kommen wird, das liebe Chriſtkind? 

Da iſt es! 

Ein freudiger Schreck fuhr durch alle die kleinen 
Herzen. Hans klammerte ſich zwar ängſtlich am Fenſter⸗ 
vorhang feſt, den er in ſeiner Verwirrung für Mamas 
Kleid hielt, verſicherte aber ſeine beiden Schweſterchen, es 
ſei kein Grund zur Furcht vorhanden, er werde ſie ſchon 
beſchützen. In der That war der Anblick übernatür- 


— —— 


lich. Die Thüre von Mamas kleinem Salon hatte 
ſich lautlos geöffnet, und auf der Schwelle ſtand das 
Chriſtkind in Perſon. Es war ſehr groß, weit größer 
als Mama, und hatte ein Geſicht wie ein Engel. Zwei 
Wänglein hatte es wie Roſen, und einen ſo kleinen 
roten Mund, und ſo große blaue Augen, und ſo lange 
gelbe Haare, die floſſen über das milchblaue Kleid 
rechts und links bis an die Kniee herab wie ein 
goldener Mantel. Ein Heiligenſchein mit vielen hellen 
Goldſtrahlen umgab das ſtille, lächelnde Antlitz. Und 
ein himmelblaues Seidenband war ſein Gürtel, und in 
der Hand hielt es aufrecht einen hohen, grünen Stengel 
mit einer ſchneeweißen Lilie an der Spitze. Selbſt 
Onkel Joſef konnte nicht umhin, dicht vor ſein ewiges 
Augenglas noch einen Kneifer auf die Naſenwurzel zu 
ſetzen, was er meiſtens that, wenn es ihm der Mühe 
wert ſchien, . . . was allerdings nicht oft der Fall war. 

„Iſt das Chriſtine?“ fragte er die Hausfrau leiſe. 

„Gewiß,“ raunte dieſe zurück. 

„Sappp!“ rief er, faſt zu laut, und verſchluckte 
etwas; vermutlich die Silben „riſti“; das pflegt näm— 
lich ein Pariſer in ſolchen Fällen zu thun. 

In der That, Mühmchen Chriſtine hatte ſich ſeit 
den zwei Jahren, daß er ſie nicht geſehen, merkwürdig 
entwickelt. Damals in Tobelbad war ſie ſo ein langes 


— 324 — 


Etwas geweſen, mit langen Armen und Beinen, mit 
langen Fingern an den langen Händen, und nichts als 
Ecken rundherum, an denen er ſich immer ſtieß, wenn 
fie ſeinen Arm nahm, . .. was fie viel zu oft that, 
bis dann plötzlich jener große Verdruß kam, die fatale 
Geſchichte mit dem Hut . . . „In Spanien tauſend und 
drei, da biſt du auch dabei“ u. ſ. w. Ein ſolcher 
Schabernack! Ihm, dem ruhigen Onkel Joſef, der 
nur der Verwaltung ſeiner Geſundheit lebte, dieſer 
„gußeiſernen, innen weiß emaillierten“ Geſundheit, wie 
ſie einmal geſtichelt hatte! Ihm, der gar nie in Spanien 
geweſen war, auch bei weitem keine tauſend und drei 
Lippen in ſeinem Leben gekü . .. War es ein Wunder, 
daß er damals verhältnismäßig ſo raſch aus Tobelbad 
verſchwunden und erſt dieſen Abend wieder erſchienen 
war? „Teuerſter Joſef,“ hatte ihm ſeine Schweſter 
nach Paris geſchrieben, „das Weihnachtsgeſchenk, das 
ich von Dir erwarte, biſt Du ſelbſt; ich rechne ſicher 
darauf und nehme auch durchaus kein anderes an.“ 
Auf eine ſo ſchmeichelhafte Einladung kann ein Pariſer 
freilich nicht nein ſagen. 

Und nun that das Chriſtkind einige Schritte vor— 
wärts. Die Blumen des perſiſchen Teppichs ſchienen 
bunter aufzublühen, wo es hintrat mit ſeinen lautloſen 
Engelsſchuhen. Leiſe ſchwankte der Lilienſtengel in 


32 


ſeiner Hand, als es unter dem Kronleuchter ſtehen 
blieb, deſſen Licht wie ein goldiger Schauer über den 
Heiligenſchein und den goldenen Lockenmantel rieſelte. 
Und nun öffnete es die roten Lippen und ſprach mit 
einer gar hellen, weichen Stimme das Folgende: 

„Ich bin das Chriſtkind wunderhold 

Und will euch ſingen und ſagen 

Vom Bäumchen, das andere Blätter gewollt 

Juſt vor einigen Tagen.“ 

„Vom Bäumchen, das andere Blätter gewollt,“ 
brummte Onkel Joſef, „das iſt ja, wenn ich mich recht 
erinnere, von Rückert; ſchon als Kind hab' ich es 
auswendig lernen müſſen, . .. leider.“ Das Chriſt— 
kind aber hörte nicht, was man in Paris brummte, 
ſondern fuhr fort: 

„Erſt wünſcht' es ſich ſtatt Nadeln Laub, — 
Und ſieh, da kriegt' es Blätter; 

Doch ach, bald wurde des Winters Raub 
Dieſe Gabe der Götter. 


Nun wünſcht' es ſilberne Blätter ſich, — 
Gleich wuchſen ſie, groß wie Thaler; 
Da kam ein Bauer und mörderlich 
Rupfte das Bäumlein kahl er.“ 
„Es iſt wenigſtens umgeformt,“ kritiſierte Onkel 
Joſef, „andere Strophen, kreuzweis gereimt, und das 
ganze kürzer gefaßt; alſo ein Blauſtrumpf iſt ſie 


926 


geworden.“ Das Chriſtkind aber hörte nicht, was in 
jenen Bart gebrummt wurde, ſondern fuhr fort: 


„Nun wünſcht' es ſich goldene Blätter gar, — 
Flugs ſproßten ſie, gelb wie Dukaten; 

Da kamen drei Räuber und plötzlich war 

Die ganze Geſchichte mißraten. 


Nun wünſcht' es ſich Blätter von blankem Glas, — 
Gleich fühlt' es ſie klirren und zittern; 

Da kam der Sturm und blies mit Geblas 

Die gläſerne Pracht zu Splittern. 


So ſtand's, ach, als juſt ich ging durch den Wald, 
Sah nackend das Bäumchen frieren. 

„Du Armes, ſagt' ich, ‚nun warte, will bald 

Mit anderen Blättern dich zieren.“ 


„Schau, ſchau, ein ganz neues Finale,“ ſagte 
Onkel Joſef zu einem Mandarin aus Porzellan, der 
neben ihm ſtand. Aber dieſer antwortete nicht und 
auch das Chriſtkind ſchien nicht zu hören, ſondern 
fuhr fort: 

„Beſteckt' es mit hellen Kerzelein, 

Umſchlang es mit Kettlein, papiernen, 


Bajazzo und Püppchen baumelten drein, 
Goldnüſſe an goldenen Zwirnen, 


Und Zuckerplätzchen und Marzipan 
Und Schokolade-Huſaren 

Und Knallbonbons in Goldfiligran 
Hing ich einzeln auf und in Paaren. 


— 327 — 


Da ſtand denn das Bäumchen ganz verdutzt, 
Harzthränen in allen Augen: 

„Ach, Chriſtkind, für wen Haft jo ſchön mich geputzt? 
Ach, Chriſtkind, für wen ſoll das taugen?“ 


Da jagt’ ich: ‚Ei nun, für Lottchen und Hans 
Hab' ich dich geputzt .. . und endlich 

Für die Gretel auch, die kleinſte; 's iſt ganz 
Und gar doch ſelbſtverſtändlich.“ 


„Für die Lott' und die Gret' und den Hans? ſchrie's auf 
Vor Freuden, ‚das ift ja prächtig!‘ 

Und ſo bracht' ich's denn her in raſchem Lauf 

Und ſtellt's in den Winkel bedächtig. 


Und dem Hans und dem Lottchen und der Gret' 
Gehört es und keinem andern, — 

Doch das Chriſtkind, dieweil's ja ſchon etwas ſpät, 
Muß ſchleunig jetzt weiter wandern.“ 


„Ei, ei, nicht übel,“ raunte Onkel Joſef dem 
Chineſen ins Ohr, deſſen Wackelkopf darauf leiſe „ja 
ja“ nickte. Das Chriſtkind aber merkte das nicht, 
ſondern ſenkte nur, bereits zum Gehen gewendet, ganz 
ſachte ſeinen Lilienſtengel und berührte damit ſegnend 
ein Haupt nach dem anderen. Nur das des Chineſen 
ließ es aus, wahrſcheinlich um deſto länger auf Onkel 
Joſefs etwas gelichtetem Scheitel verweilen zu können, 
den es kaum merklich mit dem Lilienkelche kraute. 
Eine eigentümliche Empfindung. Er fühlte den Segen 


— 323 — 


durch ſeine ganze rechte Seite hinabrieſeln bis in die 
Fußſohle und dann durch die ganze linke Seite wieder 
heraufquellen bis ans Herz. Vielleicht hatten auch 
die Kinder etwas Ahnliches empfunden, denn die kleine 
Gret' zuerſt, nach ihr aber auch die beiden größeren, 
waren, vom Zauber dieſes geheimnisvollen Weſens 
überwältigt, vor dem Chriſtkind in die Kniee geſunken 
und küßten ihm den Saum des Kleides und die Spitzen 
der Finger. Und Mama und Papa knieten auch da, 
nur der einzige Chineſe nicht, und um dieſem nicht 
zu gleichen, kniete ſchließlich auch Onkel Joſef nieder 
und drückte ſeine Lippen auf eine Hand, die ihnen 
allerdings ein Streckchen weit entgegenkam. Er ver— 
gaß ſogar wieder aufzuſtehen, denn dieſe Hand war 
eine zu große Überraſchung für ihn. War ſie doch 
weiß und glatt geworden ſeit zwei Jahren, und fo 
merkwürdig voll, ... das Ringlein daran mit dem 
blauen Stein kannte er gar wohl, damals war es an 
der inneren Seite dick mit weißer Stickwolle umwickelt, 
denn es war viel zu weit für den hageren Backfiſch— 
finger, jetzt aber ... keine Spur von der Stickwolle, 
die er immer fo abſcheulich gefunden, und .. . und trotz— 
dem ſaß der Ring jetzt ganz feſt, Onkel Joſef mußte 
ſich ſchon beinahe anſtrengen, um ihn herunterzukriegen. 
Und als ihm dies endlich gelungen, da war der Finger 


— 329 — 


plötzlich verſchwunden, und mit ihm die Hand und das 
ganze Chriſtkind. 

„Lieber Joſef, Du könnteſt vielleicht jetzt wieder 
aufſtehen,“ ſagte ſeine Schweſter lächelnd. 

Er gehorchte in einer leichten Verwirrung und 
ſtaubte ſich dann ſorgfältig beide Kniee ab, als wäre 
der Salon makadamiſiert, wie der Boulevard Saint— 
Michel, und nicht mit einem weichen Teppich belegt 
geweſen. Hierauf zog er ſeine Uhr und ſchlang einen 
loſen Knoten in die goldene Schnurkette; ſo konnte er 
nicht vergeſſen, Chriſtinen ihren Ring wiederzugeben. 
Einſtweilen betrachtete er ihn ſehr ſorgfältig und be— 
gann einen erſchöpfenden Vortrag über die grünliche 
Farbe der längere Zeit getragenen Türkiſe, welche, wie 
ihm ein Pariſer Juwelier verraten, aus der menſch— 
lichen Haut Fett an ſich zögen und dadurch jenen 
Stich ins Grüne erhielten. Da indeſſen Zirkus, Me— 
nagerie, Küche und Waſchtoilette ringsum ſchon in 
vollem Betriebe waren, ſo erſchien ſein Vortrag wohl 
nicht recht zeitgemäß, auch merkte er bald, daß er kein 
Publikum hatte. Da dachte er ſich dann: du drückſt dich 
jetzt ganz ſachte und machſt mit Joſefinen einen Spazier— 
gang über den Boulevard des Italiens ... d. h. 
über den Opernring, ſchöpfſt einen Eimer Luft und 
kommſt dann ebenſo ſachte wieder. Mit dieſem Vor— 


— 330 — 


ſatz begann er ſich in der That der Thüre zuzuſchlängeln, 
als er an der Ecke der Zirkusgaſſe, wo Hans ſoeben 
eine Vorſtellung in der höheren Pferdedreſſur gab, un— 
vermutet auf ſeine Schweſter ſtieß. 

„Nun, hat ſie es nicht reizend gemacht?“ dieſen 
Revolver ſetzte ſie ihm auf die Bruſt. „Seitdem die 
Kinder größer werden, macht ſie das alle Weihnachten 
ſo, und ſeitdem ſchwören die Kleinen auf das Chriſt— 
kind. Es liegt doch eine gewiſſe Poeſie darin, nicht 
wahr? Und das Gedicht hat ſie auch ſelbſt gemacht, 
ich war ganz erſtaunt darüber. Mit gar nicht üblem 
Humor hat ſie das lange Zeug von Rückert kurz ſkiz— 
ziert und der Gelegenheit angepaßt. O, Chriſtine hat 
ſich ſeit zwei Jahren ſehr ſchön entwickelt. Damals, 
weißt Du, war ſie eine wilde Hummel.“ 

„Das iſt wahr, ihren Stachel hab' ich oft genug 
empfunden,“ ſagte Onkel Joſef, „ſie war ſtets auf dem 
Kriegsfuße mit mir. Ich weiß auch gar nicht, ob 
ich ihr denn ſchon den ſchlimmen Streich mit dem Stroh— 
hut ganz verziehen habe.“ 

„Ei, davon weiß ich ja gar 1 hat man 
mir das ſo ganz verſchwiegen?“ 

„Nun, Du weißt, ich trug damals einen Stroh— 
hut mit breitem Bande. Das Band war weiß und 
hatte fünf ſchwarze Linien quer durch; man trug ſie 


damals jo. Eines Tages nun gehe ich ganz ruhig 
über die Promenade, da begegnet mir der Geiger 
Fröhlich, guckt ſcharf nach meinem Kopfe, lacht mich 
an und ſingt: „In Spanien tauſend und drei, da biſt 
du auch dabei. Ich denke mir, der Mann hat ge— 
trunken und gehe weiter. Da treffe ich den Kapell— 
meiſter Jobſt. Der guckt mir auch nach dem Kopfe, 
lacht auch und dudelt: ‚Sn Spanien tauſend und drei, 
da biſt du auch dabei“. Haben denn heut alle Muſiker 
zu ſtark gefrühſtückt? frag' ich mich und ſchlendere 
weiter. Ich merke aber, daß von Zeit zu Zeit immer 
wieder einer lächelnd nach meinem Kopfe guckt, und als 
ich mich ſchließlich auf einen Stuhl ſetze, geht gar eine 
Geſellſchaft von Damen rund um mich herum und lieſt 
gleichſam von meinem Hute ab: ‚Sn Spanien tauſend 
und drei, da biſt du auch dabei‘. Sapppriſti! ruf 
ich und nehme den Hut ab, da ſehe ich, daß auf die 
fünf Linien des Bandes, als wären es Notenlinien, 
die ganze Melodie in Noten aufgeſchrieben iſt, ganz 
korrekt: „In Spanien tauſend und drei, da biſt du 
auch dabei‘. Ich war außer mir vor Zorn, ich ſah 
mich als Geſpött von ganz Tobelbad und . . .“ 

„Das iſt allerdings böſe, aber woher weißt Du, 
daß ſie es gethan?“ 

„Woher? Als ich ihr eine Stunde ſpäter be— 


gegnete, ſah ſie ſogleich nach meinem Hut und rief un- 
willkürlich: „Ach Gott, nun muß ich mir weiße Tinte 
kaufen!“ Ich hatte nämlich das Band mittlerweile 
ſchleunigſt durch ein ſchwarzes mit weißen Linien er— 
ſetzen laſſen. Und fo hat fie ſich halb in ihrer Über⸗ 
raſchung, halb in ihrem Mutwillen verraten.“ 

„Das hab' ich nicht gewußt. Ja, ſie war ein 
Unband damals. Aber Du halt fie auch oft geneckt, 
und vor allen Leuten. Gerade fo mit vierzehn Jahren 
nimmt ein Mädchen das gern übel. Ich erinnere mich 
ſelbſt, wie Du einmal auf der Promenade ihre lange 
Figur karikiert haſt. Du legteſt Deinen Spazierſtock 
an ſie, wie einen Zollſtock, einmal und dann etwas 
höher noch einmal, und ſagteſt: ‚Ach, Du biſt ja noch 
ein ganz kleines Ding, erſt zwei Stock hoch.“ Ich 
ſah ſie an, ſie wurde nicht rot, ſondern blaß; ſie em— 
pfand eben ſchon wie ein großes Mädchen.“ 

„Sie verſtand eben keinen Scherz,“ meinte Onkel 
Joſef, der für ſeine Scherze Verſtändnis erwartete. 
„Übrigens hat ſie mir ja nichts geſchenkt. Ich ſcherzte 
öfters über ihre auffallende Länge, mein Gott, in 
harmlofer Weiſe, wie ja meine Art iſt. Ich ſagte 
ihr zum Beiſpiel einmal: „Chriſtine, Du biſt an— 
haltend wie das Regenwetter“. Darauf trumpfte fie 
mich aber mit dem ſchlechten Witz ab: ‚Monfteur‘ ... 


das Sollte auf mein Pariſertum anſpielen ... „Mon- 
ſieur, um Ihre Hand werde ich nie anhalten.“ Das 
war doch gewiß ſpitz genug.“ 

„Hand aufs Herz, Joſef, das war Notwehr.“ 

„Auch gut; aber ich machte wenigſtens immer 
gute Witze, wenn ich ſie neckte. Weißt Du, was ich 
ihr auf ihren Stich erwidert habe? ‚Liebe Chrijtine‘, 
ſagte ich, einmal wirſt Du doch die Geiſtesgegenwart 
verlieren; ich gehe nämlich jetzt fort und da verlierſt 
Du die Gegenwart meines Geiſtes.“ War das etwa 
nicht fein?“ 

„Sehr, lieber Joſef.“ 

„Und ich gehe fort und komme nicht mehr wieder,‘ 
fügte ich hinzu, vielleicht im Ton einer leiſen Drohung, 
das iſt ja möglich. Aber weißt Du, was ſie darauf 
erwidert hat? ‚Nun,‘ ſagte ſie, ‚dann beweiſeſt Du 
nur, daß Du ein Menſch biſt.“ — ‚Wieſo?“ frage ich. 
— „Das ſteht ja ſchon im alten Liede,‘ jagt ſie und 
trällert nach bekannter Melodie: „Aber der Menſch, 
wann der fortgeht, der kommt nimmer mehr.““ 

Die Schweſter lachte und fand den Trumpf im 
Grunde gut. Onkel Joſef lachte auch und empfahl 
ſich, auf eine halbe Stunde. 

Er zog im Vorzimmer den Pelz an, auch die 
Winterhandſchuhe, ergriff den Stock und ſetzte ſich den 


— 334 — 


ſchimmernden Cylinder auf. Dann zog er ein an— 
mutig geſchweiftes Meerſchaumpfeifchen aus dem YFut- 
teral, ſtopfte es mit echtem franzöſiſchen Caporal, 
zündete es an, paffte etlichemale, öffnete endlich die 
Thür, trat über die Schwelle und . .. 

Verſteinert blieb er ſtehen. Er hatte die unrechte 
Thür geöffnet und war nicht auf den Vorplatz hinaus-, 
ſondern in eine Stube hineingetreten. Niemals in ſeinem 
Leben hatte er eine ſolche geſehen. Eine große Puppen- 
ſtube für eine große Puppe, vollgeſtopft mit den putzig— 
ſten Dingen, brauchbaren und unbrauchbaren, bunt 
durch einander. Wände, Decke und Möbel mit Zitz 
überzogen, weiß mit ſchmalen hellblauen Streifen, und 
die Bordüren ſämtlich aus ähnlichem Zitz, aber hell— 
blau mit ſchmalen weißen Streifen. Und über alle 
Wände hin, in allen Ecken, auf allen Möbeln ein 
Krimskrams von Nichtſen, die wie Etwas ausſahen. 
Auf den erſten Blick ein genial arrangiertes Boudoir, 
ein wahres Stillleben von eleganten Kleinigkeiten in 
geſchmackvoller Zuſammenſtellung, näher beſehen jedoch 
nichts als niedlicher Plunder. Da waren Bonbon— 
nieren, die niemand mehr mochte, abgelegte Fächer, 
Tanzordnungen aus mehreren Generationen, verwelkte 
Ballbouquets von jener zarten Fadheit der Farben, 
wie Makart ſie liebte, zierliche Kränze von Vergiß— 


_ a 

meinnicht oder Immortellen über verblichenen Photo— 
graphien, kleine Geſtelle voll mit Gott weiß was, 
Tiſchdecken aus Dingen, nicht zu enträtſeln, Kiſſen aus 
namenloſen Beſtandteilen, und in der Mitte hing eine 
Ampel, in deren roſigem Scheine Chriſtine ſelbſt da— 
ſtand. Den Lilienſtengel und den Heiligenſchein hatte 
ſie ſchon abgelegt, aber ſie trug noch immer das glatte 
milchblaue Engelskleid mit dem himmelblauen Gürtel— 
band und darüber das loſe Blondhaar. 

Der Anblick des Geſtiefelten und Geſpornten, den 
fie ſogleich erkannte, ſchreckte ſie nicht. „Ah, monsieur 
Joseph macht dem Chriſtkind feinen Gegenbeſuch,“ 
ſcherzte ſie und reichte ihm eine Hand. „Darauf war 
ich nicht gefaßt, aber um ſo mehr weiß ich die Ehre zu 
ſchätzen. Bitte, Onkel Joſef, da iſt ein beſonders 
paſſender Seſſel für Dich, mit Seitenlehnen. Ich ſitze 
abſichtlich auf dieſem Stutzſtühlchen ohne Lehne, weil 
es mich veranlaßt, mich recht gerade zu halten, .. 
jo zum Beiſpiel.“ Und ſchon ſaß ſie kerzengerade auf 
dem „Puff“ und Onkel Joſef im Lehnſtuhl, mit beiden 
Armen flach auf den Armlehnen; ſie ſelbſt hatte ihm 
dieſe Extremitäten ſorgfältig ſo hingelegt. Glücklicher— 
weiſe war er nicht überrumpelt genug geweſen, den 
Hut aufzubehalten, nur Pelz und Handſchuhe hatte er 
noch an und Stock und Pfeife in der Hand. 


— 336 — 


„Onkel Joſef, ſo ſitzt man im Schlitten, wenn 
man nach Sibirien deportiert wird,“ lachte Chriſtine; 
„nun, da haſt Du noch ein Kiſſen, die Kniee zu 
wärmen.“ 

Er war etwas verlegen und beſchäftigte ſich da— 
her vorderhand mit dieſem Kiſſen, das ihm ſehr merk— 
würdig vorkam. „Ein ſehr ſchönes, reiches Kiſſen,“ 
ſagte er endlich, „ſehr geſchmackvoll, vermutlich auch . .. 
entſprechend teuer?“ Denn ein Pariſer kennt das ſofort. 

Chriſtine machte ganz runde Augen. „Teuer?“ 
rief ſie, „ich hab' es ja ſelbſt gemacht; etwas Seiden— 
faden hat's gekoſtet, ſonſt nichts.“ 

„Aber der Rohſtoff,“ meinte Onkel Joſef und 
ſtrengte ſein Augenglas ein wenig an, „ich ſehe da 
Gold, Perlen, Brokat . . .“ Denn in Paris lernt man 
dergleichen auf den erſten Blick erkennen. 

„Ach ſo,“ lachte ſie, „laß einmal ſehen; woraus 
hab' ich denn das eigentlich fabriziert? Dieſer Brokat 
iſt im Grunde die unrechte Seite des einzigen Seiden— 
lappens, der an Tantens altem Arbeitsbeutel noch 
brauchbar war, aber auch nur noch auf dieſer Seite. 
Ich habe nur etliche farbige Perlen aufgenäht, um die 
Lücken des verkehrten Muſters zu füllen. Die vier 
Roſetten in der Mitte, . . . richtig, die ſtammen von 
dem alten Lehnſtuhl, der vorigen Winter in den Koch— 


— — 


herd wanderte; ich habe ſie jedoch mit Goldfaden aus— 
genäht, den ich aus der Einfaſſungsſchnur desſelben 
Möbels herauszog. Es macht ſich ganz prächtig, nicht 
wahr? Was dieſen bordeauxroten Atlas betrifft, geht 
er, wenn ich mich recht erinnere, auf einen Capuchon 
Großmamas zurück; da er ſchon ziemlich fadenſcheinig 
iſt, mußte ich ihn als Rüſche verwenden, um den Effekt 
zu retten. Dieſe ſchwarzen Spitzen, die ſo koſtbar 
dreinſchauen, habe ich aus jener alten Bonbonniere 
herausgetrennt, und mit dieſer rotſeidenen Schnur iſt 
einſt kein Großvezier erwürgt, ſondern das Leibchen 
eines Zigeunerkoſtüms aus Mamas Brautzeit einge— 
ſchnürt worden. Die untere Seite des Kiſſens aber 
iſt ſchwarzer Taffet, . . . doch nein, wo der her iſt, 
das kann ich Dir gar nicht ſagen, Onkel Joſef, das 
würde ſich nicht ſchicken.“ 

„Nein, ein Blauſtrumpf iſt ſie nicht,“ dachte er 
halblaut. 

Dann führte ſie ihn im ganzen Zimmer umher 
und erklärte es ihm im einzelnen. Er hörte nicht 
genau auf die Worte, er hörte nur ihre Stimme perlen 
und folgte mit den Augen ihren Armen, wenn ſie ſich 
hoben, und ſie ſchienen ihm gar nicht mehr ſo lang 
wie vor zwei Jahren. „Auch Deine Stimme hat ſich 
zu ihrem Vorteil geändert, Chriſtine,“ ſagte er einmal, 

Heveſi, Buch der Laune. 22 


— 338 — 


über welches „Auch“ ſie ſich einen Augenblick beleidigt 
ſtellte, dann aber, um des lieben Friedens willen, ſich 
entſchloß, es als Schmeichelei aufzufaſſen. Die muntere 
Plauderei wurde dadurch nicht geſtört und dauerte 
ziemlich lange, bis Onkel Joſef ſich plötzlich beſann: 

„Halt, ich wollte ja fort, einen Gang im Freien 
zu thun; Joſefine wartet.“ 

„Joſe . . . fine?“ ſtieß fie mühſam hervor und 
trat weit von ihm hinweg. 

„Ja wohl,“ ſagte er mit einem gewiſſen Feuer, 
„ich ſehne mich förmlich nach ihr. Nur ſchwer könnt' 
ich ſie den ganzen Abend miſſen.“ 

Sie richtete ſich ſtolz auf und ſagte, ſo kalt ſie 
konnte: „Gehen Sie, Monſieur.“ 

„Schau, ſchau,“ neckte er, „Du wirſt doch auf 
meine alte Joſefine nicht eiferſüchtig ſein?“ 

„Eiferſüchtig?“ fuhr ſie auf und ſetzte dann mit 
einer gewiſſen Förmlichkeit fort: „O, Monſieur, welch 
ein Recht hätte ich dazu? Sie find ja frei, ... das 
wird wohl in Paris ſo Mode ſein.“ 

„Gewiß, liebes Kind, iſt das Mode; jeder Mann 
hat dort feine Joſefine, die ihn nie verläßt; ſelbſt Ehe⸗ 
manner. 22.4 

„Pfui, Onkel Joſef,“ rief fie empört. „Ich ſollte 
Dir gar nicht weiter zuhören, wenn Du ſolche Dinge 


— 339 


erzählſt, aber ich bin jetzt glücklicherweiſe ſchon ein 
großes Mädchen und habe einen Begriff von der Welt. 
Übrigens haſt Du ja auch ſchon vor zwei Jahren in 
Tobelbad immer von ihr geſchwärmt, von dieſer ... 
Perſon, die immer mit Dir zu reiſen ſcheint. Daß 
ich Dir's nur einmal ſage, als erwachſenes Mädchen 
darf ich es ja, . .. ſchon damals, obgleich ich ein 
Kind war, hat mich dieſes Verhältnis mit Abſcheu er— 
füllt. Wenn Du ſo plötzlich von uns wegliefſt, um 
mit Joſefinen im Walde zu luſtwandeln, hätte ich oft 
weinen mögen vor Entrüſtung. Und dann wieder war 
ich neugierig, ſie einmal zu erblicken; wer weiß, ich 
hätte ihr vielleicht etwas Unartiges geſagt oder ge— 
than, aber kein Menſch kannte ſie, unter die Leute 
gingſt Du mit ihr nicht, vermutlich weil ſie nirgends 
zugelaſſen worden wäre. Freilich, ich war damals 
noch ein Fratz, ein ſogenannter Backfiſch, und die 
haben meiſtens ſolche Mucken; heute iſt mir das ganz 
gleichgültig, o ganz und gar, aber damals ... aus 
bloßem Arger, ſiehſt Du, weil Du mit ihr eine Land— 
partie gemacht hatteſt, ſpielte ich Dir den Schabernack 
mit dem Hute, damit Dir Don Juan jeder, der Dich 
ſah, zurufen ſollte: „In Spanien tauſend und drei, da 
biſt du auch dabei.“ 

„Chriſtine!“ rief Onkel Joſef, der dieſen plötz— 


— 340 — 


lichen Ausbruch mit einem eigentümlichen Lächeln, 
ordentlich wie beluſtigt, angehört hatte. „Iſt es denn 
wahr, Chriſtine, darum haſt Du es gethan?“ 

Er griff nach ihrer Hand, aber ſie ſtieß die ſeine 
zurück und ſprudelte im Zorne weiter: „Ja wohl, und 
damit Du nur alles weißt, ich hatte gerade damals 
einen beſonderen Grund dazu. Ich war ja ein när— 
riſches Kind und wurde als ſolches behandelt, beſonders 
von Dir, abſcheulicher Don Juan, aber ich war Dir 
darum doch ... doch ... ich war Dir eine gute 
Nichte. Und da hatt' ich einſt den kindiſchen Einfall, 
eine rote Roſe ins Schlüſſelloch Deiner Thüre zu ſtecken. 
Ich hätte es nicht thun ſollen. Und als ich dann 
hörte, daß Du anderen Tags mit Joſefinen über Land 
fahren wollteſt, da reute mich's und es kochte ſo in 
mir auf und ich eilte hin, was ich laufen konnte, um 
die Roſe geſchwind wieder wegzunehmen. Aber da 
war fie ſchon fort. O, was hab' ich mich damals 
geärgert! Mir war ganz wurmbergeriſch zu Mute! 
Ich dachte mir nämlich, Du würdeſt ſie ſogleich Jo— 
ſefinen ſchenken.“ 

„Alſo von Dir war ſie?“ rief Onkel Joſef ganz 
verklärt. „O, ich habe ſie lange verwahrt; drei Tage, 
glaub' ich.“ 

„Du dachteſt vermutlich, fie käme von ... ihr?“ 


a 


„Ach Gott nein, Joſefine ſchenkt niemals Blumen 
und nimmt auch keine geſchenkt. Sie iſt nicht ſo ſenti— 
mental. Eine kleine brünette Pariſerin, nicht ohne 
Feuer, aber ohne eigentliches Herz. Fein iſt ſie auch 
nicht, das muß ich geſtehen. Ich könnte ſie z. B. in 
keinen Salon mitnehmen, ſie würde von keiner Dame 
neben ſich gelitten werden. Und dennoch, ſiehſt Du, 
kann ich ohne ſie nicht leben. Abſolut nicht! Ich liebe 
fie nicht jo wie Dich ... Denn, daß Du es nur 
weißt, Du ſüßes Chriſtkind, ich liebe Dich, ich bete 
Dich an, wie vor einer Stunde auf den Knieen . ..“ 
er ergriff ihre beiden Hände und zog die Erglühende 
an ſich .. . „aber ich liebe fie anders, ganz anders, 
und wenn Du Dich mit meiner Joſefine verſöhnen 
willſt, ja dann ſollſt Du mein Weib, meine Herrin, 
meine Göttin ſein ...“ 

Jetzt endlich wurde ihm der Pelz etwas hinder— 
lich und er warf ihn mit einem Ruck ab, um Chriſtinen 
in ſeine Arme zu ſchließen. Sie wollte ſich wehren, 
aber ſie mußte ihn doch wiederküſſen; ſie mußte. Sie 
vergaß ganz an Joſefinen und dachte nur an Joſef. 

„Ich will ſie Dir vorſtellen, ſogleich,“ ſagte er, 
als dieſe Epiſode vorüber war. 

„Aber . . .“ wandte ſie ſchüchtern ein. 

„Kein Aber!“ rief er. „Du biſt ein unwiſſendes 


— 342 — 


Kind. Sieh her, hier ſteht meine Joſefine, verſöhne 
Dich mit ihr.“ 

Er zog ſeine Pariſer Meerſchaumpfeife aus der 
Taſche und hielt fie ihr anmutig mit zwei Finger— 
ſpitzen hin. 

War das Scherz? War das Ernſt? Sie traute 
ihren Ohren nicht. Aber er beharrte durchaus darauf: 

„Erfahre denn, Du unſchuldvolles Chriſtkind — 
und das ſoll meine Rache für den Don Juan-Hut 
ſein —, erfahre, daß der Franzoſe ſeine Tabakspfeife 
‚ma Josephine‘ nennt. Josephine erwartet ihn mit 
Ungeduld, er geht mit Josephine ſpazieren, auf den 
Boulevard und über Land; ſogar nach Tobelbad nimmt 
er ſie mit, wo ſie ſich dann die grimmige Feindſchaft ge— 
wiſſer junger Damen zuzieht, welche nicht genug Fran— 
zöſiſch wiſſen und aus Mißverſtand ſogar Roſen aus 
Schlüſſellöchern wieder zurücknehmen wollen. Kurz, 
er kann ohne Josephine nicht leben, und obgleich ſie 
nicht ſalonfähig iſt, muß ſelbſt feine Frau ſich mit Jo- 
sephine vertragen. Willſt Du das auch verſuchen, 
mein liebes, kindiſches Chriſtkind?“ 

Auf ſprang ſie und lief um ein Streichholz. Im 
Nu brannte Joſefine und Chriſtine that die erſten Züge 
aus ihr. So war es noch die vielgeſchmähte kleine 
Pariſerin, welche den Bund dieſer beiden Herzen ein- 


„ 


weihte. In dem keuſchen Mädchenſtübchen da mußte 
er ſie ausrauchen, ganz, bis auf den Grund. Er hätte 
nicht geglaubt, daß er fern von Paris ſo glücklich ſein 
könnte, wie da zwiſchen Chriſtinen und Joſefinen, welche 
beide nur für ihn glühten. 

Aber nun hieß es, zur Geſellſchaft zurückkehren. 
Das gab eine große Überrafchung, beſonders für die 
Kinder, welche es nicht recht begriffen, wie Chriſtine 
zum Kleide des Chriſtkindes kam. Auch nachdem ſie 
ſchließlich ſchon erfahren hatten, daß infolge einer eigen— 
tümlichen Verkettung von Umſtänden Onkel Joſef das 
Chriſtkind heiraten werde, ſchienen ſie ſich eine ganz 
eigene Vorſtellung von der Sache zu machen; wenig— 
ſtens fragte Lottchen, welche dabei überhaupt die aller— 
größten Augen machte: „Mama, heiratet das Chriſtkind 
in jedem Hauſe den Onkel Joſef?“ 

Es war ſchon ſehr lange nach Mitternacht, als 
Onkel Joſef auf die Uhr ſah und in ſeiner Uhrkette 
jenen Gedächtnisknoten fand. Da rief er: „Chriſtine, 
ich muß Dir ja Deinen Ring zurückgeben!“ und ſteckte 
ihr geſchwind den Ring an den Finger. In dem aber 
hatte ſich mittlerweile der blaugrüne Türkis wunder— 
barerweiſe in einen blutroten Rubin verwandelt. Es 
iſt aber auch möglich, daß der Ring nicht der näm— 
liche geweſen. 


—— 


II. 


Onkel Fritz 


(1887.) 


nter dem ſonderbaren Gerät, mit dem meine 
ö Kindheit möbliert war, iſt mir eines der 
e unvergeßlichſten Stücke eine große ſchwarz— 
weiß⸗rote Kugel mit zwei ſeltſamen nußgroßen Höckern. 
Oft genug fällt ſie mir ein, bei verſchiedenen Anläſſen, 
auch habe ich ſchon wiederholt von ihr geträumt. Dieſe 
Kugel war der Kopf meines guten ſeligen Onkels Fritz. 
Er hatte nämlich ein ganz dunkelrotes Antlitz und in 
jüngeren Jahren einen pechſchwarzen, ungewöhnlich 
dichten Haarwuchs, der jedoch zu meiner Zeit auf dem 
Schädel ſchon ſchlohweiß geworden war, während Bart 
und Schnurrbart, ſorgfältig raſiert, eine kohlſchwarze 
Spur in Geſtalt eines ſeltſam ausgezackten und aus— 
gebuchteten Fleckes rings um das Geſicht zurückgelaſſen 
hatten. Dieſer dreifarbige Kopf war natürlich ein ſtadt— 


ie 


bekanntes Naturſpiel, auf das man ſogar die Fremden 
aufmerkſam machte. Was die beiden Höcker daran be— 
trifft, konnte ich ihre Bedeutung damals noch nicht recht 
würdigen; ſpäter erfuhr ich, daß zu jener Zeit die 
Gallſche Schädellehre noch ſehr in Mode geweſen, und 
erinnerte mich, daß ich Onkel Fritz oft ſtundenlang 
hatte ruhig daſitzen ſehen, jene Kugel in beiden Händen 
haltend und die Mittelfinger rechts und links feſt auf 
jene beiden Höcker gepreßt. „Er erfindet wieder,“ 
hatte dann der oder jener gemurmelt, leiſe, um ihn 
nicht zu ſtören, und ſo reime ich mir zuſammen, daß 
jene Höcker damals für den Sitz der ſpezifiſchen Er— 
findungsfähigkeit gegolten haben müſſen. 

Auch in ſeiner Kleidung hatte Onkel Fritz manches 
Auffallende. Beſonders erinnerlich — weil ich ihn 
nicht wenig darum beneidete — ſind mir ſeine Knöpfe. 
Sie waren nicht angenäht, wie die der übrigen Menſch— 
heit, ſondern gleich unſeren Hemdknöpfen alle zum Durch— 
ſtecken durch zwei Knopflöcher eingerichtet, ſogar die des 
Winterrockes. Das immer ärgerliche Abreißen von 
Knöpfen kam alſo bei ihm niemals vor. Er hatte dieſe 
ebenſo einfache als geniale Verbeſſerung ſelbſt erfunden 
und ſeiner Zeit ſogar große geſchäftliche Hoffnungen daran 
geknüpft. Leider kann man in der Welt der Mode 
nur mit unpraktiſchen Neuerungen durchdringen, die ver— 


— 346 — 


beſſerten Patent-Knöpfe fanden bei den Schneidern keinen 
Anklang und Onkel Fritz blieb der einzige, der ſich 
ihrer unleugbaren Vorteile zeitlebens erfreuen durfte. 

Und während ich dies ſchreibe, kann ich nicht um— 
hin, die Lade meines Schreibtiſches aufzuziehen und 
ein verſchoſſenes rotes Futteral herauszunehmen. Ich 
bin immer ein wenig gerührt, wenn ich es öffne, und 
thue dabei gewöhnlich die Außerung: „Armer Onkel 
Fritz!“ Denn das Futteral enthält ſeine goldene Taſchen— 
uhr, die er dreißig Jahre lang getragen und in ſeinem 
letzten Willen ausdrücklich mir vermacht hat. An dem 
Werk iſt nichts beſonderes, das Ding iſt eben eine ge— 
wöhnliche Spindeluhr aus den Vierziger-Jahren. Aber 
man würde ganz vergebens an dem bekannten Knopfe 
drücken, damit der Deckel aufſpringe, wobei mindeſtens 
einmal im Jahre die Feder zu brechen pflegt. Onkel 
Fritz hatte die Möglichkeit dieſes unangenehmen Zwiſchen— 
falles ein- für allemal beſeitigt, indem er eine überaus 
ſinnreiche und dennoch ganz zweckmäßige Anderung des 
herrſchenden Typus erſann. Der Deckel ſeiner Taſchen— 
uhr hat nämlich gar keine ſtählerne Feder, ſondern wird 
einfach mittelſt zweier Halbkreisbewegungen der Hand 
abgeſchraubt, wie der Deckel einer runden Sandauer 
Schnupftabaksdoſe, und dann auf dieſelbe Art wieder 
angeſchraubt. Ich muß geſtehen, daß ich mir etwas 


. 


Vollkommeneres in dieſer Hinſicht nur ſchwer denken 
kann, und dennoch — ſollte man es glauben? — ver— 
hielten ſich ſeiner Zeit die Uhrmacher, ſelbſt die Genfer 
und Londoner, gegen dieſe Verbeſſerung auffallend kühl, 
und eine Berühmtheit wie Bréguet in Paris kaufte 
zwar das Modell, für ſeine Kurioſitätenſammlung, lehnte 
aber die Erwerbung des Patentes ohne eingehende Be— 
gründung ab. 

In unſerer Familie konnten ſolche Mißerfolge 
Onkel Fritzen nicht ſchaden. Er galt trotzdem für das 
Genie der Familie, das aber vermutlich um hundert 
Jahre zu früh geboren worden ſei. Wir Kinder wurden 
von den Eltern gelegentlich ſogar beneidet, weil „wir 
es noch erleben würden“. Onkel Fritz ſelbſt war 
Philoſoph genug, ſein Los gelaſſen zu tragen. Immer 
heiter und zuverſichtlich, zweifelte er niemals an ſich 
ſelbſt und erfand ganz munter drauf los, ſo daß er 
eine ganze Sammlung von Patenten hinterlaſſen hat. 
Namentlich für Weihnachten hatte er immer etwas Neues 
erſonnen, und dieſes Etwas bildete ſtets das ſpannende 
Moment des Chriſtabends. Ich ſelbſt habe leider nur 
einen einzigen ſolchen Abend miterlebt, aber ich werde 
den Eindruck, den mir Onkel Fritz damals machte, nie 
verlieren. Um einen Kopf größer erſchien er mir, ſein 
Antlitz leuchtete noch röter als ſonſt, und infolgedeſſen 


— 348 — 


war der Schimmer ſeines Haares noch weißer und 
der Schatten um Kinn und Wangen noch ſchwärzer. 
Wie ein Zauberer aus einem vorgeſtrigen Jahrhundert 
ſtand er in unſerer Mitte, oder wie der Prophet eines 
übermorgigen. Wenn er meine Wange geſtreichelt hatte, 
blickte ich ängſtlich in den Spiegel, ob ich nicht plötz— 
lich ein ganz anderer geworden. Und wenn er ſich 
zum Sprechen anſchickte, erwartete ich irgend eine ver— 
blüffende Mitteilung, z. B. daß er ſoeben das Pulver 
erfunden habe oder dergleichen. 

Nun, an jenem einzigen Weihnachtsabend hat es 
mir nicht an wirklichen Überraſchungen gefehlt. Der 
Weihnachtsbaum war, nach einer von Onkel Fritzens 
früheſten Ideen, mittelſt einer einzigen Kurbeldrehung 
am Tiſche feſtgeſchraubt; jene noch unvergeſſene Kata— 
ſtrophe, welche ein zufällig umgeſtürzter brennender 
Chriſtbaum einſt in einer angeſehenen Familie verur- 
ſacht hatte, war ihm zum Anlaß dieſer Erfindung ge— 
worden, die unglaublicherweiſe gar keine Beachtung 
gefunden hat. Und unter dem flammenden Baume lag 
auf dem wohlbekannten roten Sammtkiſſen ein Zettel, 
der den Namen meiner Baſe Annette trug. Sie war 
Onkel Fritzens erklärter Liebling und ihr hatte er ſein 
diesmaliges Geiſteskind gewidmet. Da lag denn das 
unbekannte Etwas auf dem Zettel, in einem niedlichen 


ag 


Etui, das täuſchend dem Futteral einer Zigarrenſpitze 
glich. Um ſo größer war Annettens Aufregung, welche 
ihren Gipfelpunkt erreichte, als Bäschen das Etui öffnete 
und darin . .. richtig eine Zigarrenſpitze aus Meer— 
ſchaum fand. 

Annette war nämlich damals keine Raucherin; ſie 
raucht meines Wiſſens auch jetzt nicht, und nun hatte 
gerade ſie als Weihnachtsgeſchenk eine Zigarrenſpitze 
erhalten. Auch die übrigen Anweſenden ſchienen etwas 
betreten, doch ſagten ſie nichts, denn Onkel Fritz mußte 
ja wiſſen, was er wollte. Und in der That, er wußte 
es. Er trat vor, in den hellen Lichtſchein des Chriſt— 
baumes, ergriff den geheimnisvollen Gegenſtand und 
hielt folgende Anſprache: 

„Meine liebe Annette. Seit drei Jahren hat 
mich ein techniſches Problem Tag und Nacht beſchäftigt. 
Eine ganze Reihe von Verſuchen habe ich gemacht, 
um es zu löſen. Wünſchet mir Glück, denn es iſt mir 
gelungen.“ 

Ein heftiger Gratulationsſturm brauſte auf und er— 
ſchütterte ganz merklich den mächtigen Bau des Redners, 
der vor lauter Umarmungen, Küſſen und Händedrücken 
erſt nach einer geraumen Weile wieder zu Worte kam. 

„Ich will kurz ſein,“ fuhr er dann fort; „hier 
in meiner Hand halte ich etwas Niedageweſenes. Es 


— 350 — 


it, mit zwei Worten gejagt, eine rauchverzehrende 
Zigarrenſpitze.“ | 

Eine tiefe Bewegung ging durch den dichtgedräng— 
ten Kreis. Offenen Mundes ſahen wir uns, ihn, die 
Zigarrenſpitze an; er aber fuhr fort: 

„Seit hundert Jahren liegt dieſe Erfindung in 
der Luft; in der That, ſeitdem man Zigarren raucht. 
Der Zigarrenrauch iſt nicht nur der Geſundheit ſo vieler 
Leute ſchädlich, deren Atmungsorgane angegriffen ſind, 
ſondern er ſcheidet die Menſchheit förmlich in zwei 
Hälften. Für Raucher — für Nichtraucher: heißt es 
in der ganzen Welt, im Omnibus und auf der Eiſen— 
bahn, ſogar im Salon, in der Häuslichkeit. Dieſe 
Spaltung, welche durch das ganze moderne Leben geht und 
die Menſchen ſich entfremdet, hoffe ich geheilt zu haben. 
Ich griff das Übel an der Wurzel ſelbſt an und nun, 
meine Lieben, iſt es ausgerottet. Die rauchverzehrende 
Zigarrenſpitze — welche übrigens eine ganz andere 
Einrichtung hat, als die ſogenannten rauchverzehrenden 
Kaminſchlote — iſt ſo konſtruiert, daß von dem ſich 
entwickelnden Rauche einerſeits nicht das geringſte Teil— 
chen in die Luft entweichen kann, da er durch einen 
konſtant wirkenden Aſpirator nach innen gezogen wird, 
wo er andererſeits, durch eine zwiſchen Rohr und Pfeife 
eingefügte Vorrichtung gebannt, auch nicht in Mund 


Be 


und Naſe des Rauchers zu gelangen vermag. That— 
ſächlich alſo, meine Lieben, wird der ganze Rauch inner- 
halb der Pfeife verzehrt.“ 

| Er warf einen großen Blick um ſich her; in 
ſtummer Bewunderung ſtanden wir da. Dann erklärte 
er uns den ganzen Mechanismus, indem er die Spitze 
auseinanderſchraubte und uns die einzelnen Beſtandteile 
zeigte. Nur eines teilte er uns nicht mit. „Woraus 
dieſer rauchverzehrende Mineralſchwamm beſteht,“ ſagte 
er, „das, meine Lieben, geſtattet mir einſtweilen noch 
geheim zu halten. Es iſt ein von mir neu dargeſtellter 
Stoff, der hier zum erſtenmal in die Technik eintritt 
und noch zu großen Aufgaben berufen iſt. Ein ver— 
ſiegeltes Couvert in meinem Schreibtiſch enthält übrigens 
das Geheimnis, für den Fall, daß mich etwas Plötz— 
liches treffen ſollte.“ a 

Er ſagte dies mit einer gewiſſen Ergebung, welche 
ſo rührend klang, daß mehrere anweſende Damen ſich 
die Augen wiſchen mußten. 

„Und nun,“ rief er hell und heiter wie ein 
Trompetenſtoß, „auf zum Experiment!“ 

Er ſteckte eine Zigarre in die Spitze, zündete ſie 
an und reichte ſie meinem Bruder Hans, der alsbald 
mächtig zu paffen begann. Geſpannt hingen aller Augen 
an ſeinem Munde. Er war ein ſtarker Raucher und 


— 352 


hatte einen guten Blaſebalg in der Bruſt, auch wurde 
die Zigarre zuſehends kleiner, und dennoch gelang es 
ihm nicht, auch nur das leiſeſte Rauchwölkchen aus 
dem Munde zu blaſen. Er bekam in der That keinen 
Rauch in den Mund und auch die Luft des Zimmers 
blieb ganz rein. 

Da brach ein Beifallsſturm los, wie im Theater. 
Das Experiment war glänzend gelungen und Onkel 
Fritz wurde faſt erdrückt von der allgemeinen Aner- 
kennung. Mit berechtigtem Stolze hub er denn auch 
wieder an: 

„Ihr ſeht ein, meine Lieben, welche Wichtigkeit für 
die Entwicklung der menſchlichen Geſellſchaft dieſes un— 
ſcheinbare Gerät hat. Es wird die Friedenspfeife der 
Welt werden. Aber auch das hohe Arar“ — hier 
nahm ſeine Stimme eine gewiſſe Feierlichkeit an — 
„wird dadurch ein namhaftes gewinnen, denn ſelbſt 
die eingefleiſchteſten Nichtraucher können von jetzt an 
getroſt rauchen, und das Erträgnis des Tabakmonopols 
geht daher einer unerhörten Steigerung entgegen.“ 

„Wenn nur,“ murmelte mein Vetter Leonhard, 
ein ziemlich boshafter Herr, „wenn nur die Raucher 
auf den Rauch werden verzichten wollen.“ 

Glücklicherweiſe wurde dieſe ſkeptiſche Bemerkung 
von unſerem Jubel übertäubt und Onkel Fritz ſchloß 


— 353 — 


ſeine Rede mit den ſchlichten Sätzen: „Wohlan denn, 
meine geliebte Annette, dieſe reifſte Frucht meines Er— 
finderlebens lege ich Dir in den Schoß. Du rauchſt 
zwar nicht ſelbſt, ... obgleich Du aus dieſer Spitze 
unbeſorgt rauchen kannſt; aber Du kommſt jetzt nach— 
gerade in ein Alter, wo . . ., in ein Alter, das .. ., 
kurz und gut, dieſe Zigarrenſpitze ſoll Deine Mitgift ſein.“ 

Annette errötete bis weit hinter die Ohren, jo 
daß ſelbſt ich, der hinter ihr ſtand, es bemerkte, und 
ihre Mutter umarmte ſie ſchluchzend, Onkel Fritz aber 
fügte hinzu: „Sie wird Dich und Deinen Zukünftigen 
reich machen.“ 

Mit andächtiger Bewunderung hatte ich zugehört 
und fragte mich in meinem Innern, ob denn der be— 
rühmte Gutenberg ſo großes für die Menſchheit ge— 
leiſtet. Ich hätte vermutlich ſtatt Gutenbergs Ediſon 
geſetzt, wenn dieſer damals ſchon bekannt geweſen wäre. 
Indeſſen legte ſich nach und nach die Aufregung, denn 
man war hungrig geworden. Wir gingen zu Tiſche, 
wo obenan Onkel Fritzens Haupt leuchtete; kein grünes 
Lorbeerreis umkränzte es, aber mir war, als ſähe ich 
auf ſeinen zwei bedeutſamen Höckern geheimnisvolle 
Feuerfünkchen glimmen. Übrigens bot mir auch die 
Mahlzeit noch zwei große Überraſchungen. Als die 


Beſtecke das erſte Mal gewechſelt wurden, war ich ſehr 
Heveſi, Buch der Laune. 23 


— 354 — 


= 


betroffen, daß wir ſämtlich ſchwarze Teller bekamen. 
Ganz ſchwarze Porzellanteller, ohne irgend ein buntes 
Blümchen oder auch nur den zarteſten Goldrand. Ich 
dachte an irgend eine Trauerzeremonie, deren Veran— 
laſſung mir unbekannt war, ſozuſagen an einen gegeſſenen 
Trauer⸗Salamander. Dazu kamen auf ſchwarzer Schüſſel 
vortreffliche Donaukarpfen. 

„Ja, ja,“ ſeufzte Onkel Fritz, als er ſich davon 
einen rechtſchaffenen Biſſen langte. 

Weiter ſagte er nichts, aber aus dem Geſpräch 
der anderen erfuhr ich, daß die zahlreichen Erſtickungs— 
fälle infolge verſchluckter Fiſchgräten, namentlich beim 
Karpfeneſſen, ihn vor etwa zwölf Jahren bewogen hät— 
ten, auf ein Mittel zur Beſeitigung dieſes Übelſtandes 
zu ſinnen, und da hätte er denn richtig die ſchwarzen 
Fiſchſervices erfunden. Das Ei des Columbus! Oder 
giebt es etwas Einfacheres und Verläßlicheres, als 
einen ſchwarzen Teller, um die weißen Gräten, ſelbſt 
die feinſten, augenblicklich zu entdecken und zu beſei— 
tigen? Von einem weißen Teller ſtechen ſie nicht ab, 
auf einem ſchwarzen aber können ſie ſich keine Sekunde 
lang verſtecken, ſelbſt wenn ſie nur mit den äußerſten 
Nadelſpitzchen aus dem Biſſen hervorragen. Die Zweck— 
mäßigkeit dieſer Neuerung war ſo einleuchtend, daß 
eine Porzellanfabrik ſeiner Zeit wirklich zwei ſolche Fiſch— 


= 35, 

ſervices herſtellen ließ; des einen bediente fich Onkel 
Fritz ſelbſt, das andere ... war noch immer zu haben. 
Die Menſchen aber fuhren fort, Fiſche zu eſſen und 
Gräten zu ſchlucken, und ſelbſt die furchtſamſte Fami- 
lienmutter ſchwang ſich nicht ſo weit aus dem Pfuhl 
des Herkömmlichen empor, um jenes noch immer ver— 
käufliche zweite Service und mit ihm die Sicherheit 
ihrer Kinder zu erwerben. 

Tiefe Schwermut legte ſich über mein junges Ge— 
müt, während ich mir meinen Fiſch auf dem ſchwarzen 
Teller ſchmecken ließ. „Sie vos non nobis“, dachte 
ich, denn erſt ganz kürzlich hatte ich in der Schule 
dieſen lateiniſchen Vers erlernt, der übrigens vielleicht 
gar nicht recht auf den vorliegenden Fall paßte. Erſt 
als das Gefrorene kam, entraffte ich mich wieder dieſer 
Betäubung, denn niemals vorher und nachher hatte ich 
ſolches Gefrorene gekoſtet. Es ſchmeckte nämlich ganz 
eigentümlich ſalzigſüß und war, wie man mir ſpäter 
erklärte, Fleiſchgefrorenes. Onkel Fritz hatte es erſt 
kurz vorher erfunden, als das Ideal einer, wie er 
ſich ausdrückte, „nahrhaften Näſcherei“. Eigentlich war 
es aber weit mehr als das, wenn man nur bedachte, 
wie viele Kranke überhaupt nichts als Gefrorenes zu 
ſich nehmen können, dem Fleiſchgefrorenen alſo unter 
Umſtänden die Friſtung, wenn nicht gar die Rettung 


„ 356 —> 


ihres Lebens danken könnten. In der That war Onkel 
Fritz bereits nahe daran geweſen, dieſerhalb einen 
Vertrag mit einem Konditor zu ſchließen, aber die Ge— 
werbebehörde qualifizierte dieſes Gefrorene als Fleiſch— 
ſpeiſe, und zur Bereitung einer ſolchen fehlte dem Kondi— 
tor die Befugnis, während hinwiederum die Gaſtwirte 
erklärten, ſie könnten ſich nicht mit der Herſtellung von 
Gefrorenem befaſſen, das ſie lieber fertig vom Kon— 
ditor bezögen. So blieb denn auch die Ausnützung 
dieſer Erfindung auf den engſten Familienkreis be— 
ſchränkt; erſt eine weniger engherzige Gewerbeordnung 
könnte den Bann löſen, der auf ihr ruht. 

— — Ich habe den guten Onkel Fritz in den 
letzten Jahren ſeines Lebens nicht geſehen. Aber daß 
er tapfer fortfuhr, an der Schwerfälligkeit ſeiner Zeit— 
genoſſen mit immer neuen Erfindungen zu ſcheitern, 
verriet mir viel ſpäter ein Zeitungs-Inſerat unter dem 
Titel: „Kein Schnupfen mehr!“ Von der alten Er— 
fahrung ausgehend, daß Flanell das beſte Mittel gegen 
Erkältung ſei, hatte nämlich Onkel Fritz Schnupftücher 
aus Flanell als probates Schnupfenmittel empfohlen 
und ſogar eine Niederlage davon errichtet. Aber auch 
damit drang er nicht durch; dieſelbe Zeit, die ſich mit 
wahrer Leidenſchaft in Jägerſche Wolle kleidet, ließ 
ſich um keinen Preis bewegen, ſich in Onkel Fritzſches 


m 


Flanell zu ſchneuzen. Es ſcheint jogar, daß jene Nie— 
derlage den Bedauernswerten um einen namhaften Teil 
ſeines Vermögens gebracht hat. Auch der Verſtand 
des Greiſes hielt nicht mehr recht ſtand und die Welt 
hatte nur noch ein Lächeln für den ſonderbaren Schwär— 
mer, als er angeſichts des Vorſchlages, die brennbaren 
Stoffe der Theater mit pikrinſaurem Ichweißnichtwas 
zu imprägnieren, in einer Zeitung mit dem Gegen: 
vorſchlag hervortrat, lieber das Publikum mit dieſem 
Stoffe zu imprägnieren, da es doch eigentlich darauf 
ankomme, die ſes unverbrennbar zu machen. 

Wenige Wochen ſpäter ſtarb er, ohne den Triumph 
auch nur einer ſeiner großen Ideen erlebt zu haben. 
Aber ich zweifle keinen Augenblick, daß die Zukunft 
ſo manche derſelben verwirklichen wird. 


W 


III. 


Die goldene Nuß. 


(1881. 


EN ch erſtaune noch heute, wie es gekommen, 
daß nicht Karl Heller, ſondern Heinrich 
Köhler die hübſche kleine Bertha Jung 
at. Nur Karl Heller war darüber noch 
mehr erſtaunt ... und Heinrich Köhler. Allerdings 
iſt die Sache nicht ganz richtig hergegangen, und einem 
Manne iſt dabei groß Unrecht geſchehen, oder vielmehr 
zweien. Das war die Geſchichte mit der vergoldeten 
Nuß. Vergoldet! Haha! Sie hätte ſollen pechkohl— 
rabenſchwarz angeſtrichen ſein. 

Es war nämlich am Weihnachtsabend. Bei Herrn 
Jung, dem Kunſtblumen-Fabrikanten, brannte der Chriſt— 
baum lichterloh. Die Kinder plünderten ihn unter lau— 
tem Jubel, auch die größeren. Bei Jungs gab es 
nämlich immer eine Menge Kinder, beſonders Mädchen. 


„5 


Und darum handelte Frau Jung ſehr klug, wenn ſie 
die jungen, ledigen Beamten des Hauſes alljährlich mit 
unter den Chriſtbaum zog. Schon fünfmal hatten die 
kleinen Flammen bräutliche Scheitel beglänzt, und der 
betreffende Chriſtbaum ſtand dann auch für ewige Zei— 
ten im Ehrenwinkel des betreffenden neugegründeten 
Salons, wie ein natürlicher Kleiderſtock. Die Beamten 
waren mit dieſer Überlieferung des Hauſes Jung wohl— 
bekannt und befolgten ſie mit derſelben Gewiſſenhaf— 
tigkeit, wie alle anderen Geſchäfts-Uſancen. 

Die Jungſchen Weihnachtsabende hatten infolge— 
deſſen eine eigene Stimmung. Es lag immer eine jelt- 
ſame Rührung in der Luft. Etwas Unausgeſprochenes 
zuckte in vielen Zungen. Das Fräulein, welches eben 
an der Tour war („außertourlich“, wie man beim 
Militär ſagt, geſchah in dieſer Richtung nie etwas), 
ſchien meiſt ein wenig befangen und errötete, wenn 
auch nur das Stubenmädchen ſie fragte, ob ſie den 
Kellerſchlüſſel nicht geſehen habe. Auch die jungen 
Leute waren mitunter etwas aufgeregt, es war ſogar 
vorgekommen, daß einer oder der andere ſich wegen 
Unwohlſeins entſchuldigen ließ; aber dieſe Gebrechlichen 
wurden immer bald entlaſſen, denn eine Kunſtblumen⸗ 
fabrik braucht vor allem geſunde, kräftige Leute. 

Fräulein Bertha war erſt fünfzehn Jahre alt, 


und darum war die Spannung auf die Weihnachts— 
Ereigniſſe diesmal noch nicht bedeutend. Erſt mit 
ſechzehn Jahren pflegte das Verhältnis zwiſchen den 
Töchtern und Beamten des Hauſes Jung ein geſpann— 
tes, das heißt in unſerem Falle ein dertraulicheres zu 
werden. 

Darum hatte der Buchhalter Herr Heinrich Köh— 
ler ganz unbefangen und ahnungslos den Salon ſeines 
Chefs betreten. Er war munter und ſpaßhaft geweſen 
wie immer, hatte Frau Jung die linke Hand geküßt, 
weil die vom Herzen käme, hatte Herrn Jung gegen— 
über bemerkt, daß die Kunſtblumen-Fabrikation ſich doch 
auch auf die Herſtellung von künſtlichen Chriſtbäumen 
erſtrecken ſollte, und hatte Fräulein Bertha gefragt, 
wer ihr denn etwas ins rechte Ohr geſagt hätte, daß 
es ſo rot ſei. Worauf das rechte Ohr ſofort erblaßt 
war und dafür das linke Feuer gefangen hatte. Frau 
Jung hatte ihm darauf geſagt: „Wann werden Sie 
endlich ernſt werden?“ Herr Jung hatte beigefügt: 
„Sie Spaßvogel, Sie!“ Und Fräulein Bertha hatte 
gedroht: „Herr Köhler! Herr Köhler!“ Man ſieht 
alſo, daß die Zeitgenoſſen in ihrer Meinung über Herrn 
Köhler auffallend einig waren. 2 

Dann war drin im Zimmer des Weihnachts-Ge— 
heimniſſes ein ſchwerer Fall geſchehen, begleitet von 


— 361 


hundertfachem Gekoller kreuz und quer über den Fuß— 
boden hin. Und Frau Jung hatte lachend geſagt: 
„So, warum habe ich auch Herrn Heller geſtattet, bei 
dem Aufputzen des Baumes zu helfen? Nun hat er 
den Korb mit Nüſſen hinuntergeworfen.“ Herr Köhler 
guckte durch das Schlüſſelloch und rief dann geſchwind 
die anderen, damit ſie ſähen, wie Herr Heller auf 
allen Vieren unter Tiſchen und Kanapees umherkrieche, 
um die entwichenen Nüſſe wieder einzufangen. Man 
lachte weidlich über den Ungeſchickten. 

Als man genug gelacht hatte, ſchlug ſich Herr 
Köhler plötzlich vor die Stirn. „Warum prügeln Sie 
ſich denn ſo unbarmherzig durch?“ fragte die ſchalk— 
hafte Bertha. Herr Köhler legte geheimnisvoll den 
Zeigefinger an die Lippen, dann nahm er einen Seſſel 
und ſtellte ihn auf einen gewiſſen Punkt des Salons. 
Hierauf bückte er ſich und ſchlug einen Zipfel des gro— 
ßen Teppichs um, ſo daß er eine Schlinge bildete. 
Dann ergriff er ein Spiel Whiſtkarten, das auf dem 
Tiſche lag, und häufte es auf einem runden Marmor- 
tiſchchen auf. Sodann ſtellte er ein Glas Waſſer auf 
ein Wandſchränkchen. Alsdann pochte er an der Thür, 
bis Herr Heller den Kopf herausſtreckte und fragte, 
was er denn wünſche. „Ach, Heller, geben Sie mir 
doch ein paar Nüſſe heraus, ich brauche ſie dringend.“ 


Herr Heller reichte ihm ſofort das Gewünſchte und 
zog ſich ſchlau ſchmunzelnd wieder zurück. Hierauf 
legte Herr Köhler etliche Nüſſe unfern der Ecke des 
Schränkchens auf den Boden. Endlich ſtellte er ſeinen 
Cylinderhut auf den nächſten Lehnſtuhl. 

Erſtaunt ſahen die drei zu. Was mochte er wol— 
len? Aber Herr Köhler winkte ihnen zu ſchweigen, 
und ſie ſchwiegen. 

Eine Minute ſpäter that ſich die Thür leiſe auf. 
Noch leiſer trat der Herr Kaſſierer Karl Heller ein. 
Noch viel leiſer, geradezu unhörbar, ſchloß er die Pforte 
hinter ſich. Seine blauen Augen lächelten mit frohem 
Gezwinker durch die kreisrunden Brillenſcheiben. Um 
ſeine Lippen ſchnörkelte ſich ein merkwürdig ſchlauer 
Ausdruck. Er rieb ſich die Hände, wenn auch nur 
hinter dem Rücken, und ſchielte dabei nach Fräulein 
Bertha. 

Nun that er zwei Schritte und ſtolperte über den 
Seſſel, welchen Herr Köhler mit weiſer Berechnung 
hingeſtellt hatte. Faſt wäre er gefallen, aber noch er— 
hielt er ſich geſchickt im Gleichgewicht. Nur geriet er 
dabei leider mit der linken Fußſpitze in den aufgeroll— 
ten Teppichzipfel und mußte einen wahren Salto mor— 
tale machen, um ſeine Haltung zu retten. Daß er 
dabei mit den Händen Stützpunkte ſuchte und erſt mit 


„„ 


der einen Hand das Spiel Karten auf den Boden 
ſtreute, dann, an die andere Hand appellierend, mit 
dieſer in das volle Waſſerglas auf dem Schränkchen 
tappte, konnte gar nicht ausbleiben. Erſchreckt, ver— 
wirrt, ſchlug er nunmehr die entgegengeſetzte Richtung 
ein. Selbſtverſtändlich trat er ſogleich auf eine Nuß, 
deren Krach ſeinen ſchon erſchütterten Nerven einen 
ſolchen Riß gab, daß er außer ſich auf den Lehnſtuhl 
niederſank, aber nur um durch das Krachen des Cy— 
linders gleich wieder in hellem Entſetzen aufgeſcheucht 
zu werden. 

In einer Viertelminute hatte Herr Heller alle 
dieſe ſchwierigen Wendungen und Handgriffe ausgeführt. 
Ganz verdutzt ſahen die Anweſenden zu; jetzt erſt be— 
griffen ſie alle verſteckten Abſichten des Herrn Köhler. 
So gutherzig ſie waren, bei einer ſolchen Poſſe kann 
das beſte Herz nicht ernſthaft bleiben. Sie löſten ſich 
auf in hellem Gelächter. 

„Köhler, Sie find ein großer Menſchenkenner!“— 
rief Herr Jung und hielt ſich die Seiten. 

„Haben Sie auch nichts ausgelaſſen, Herr Hel— 
ler?“ fragte Frau Jung, die ſich vor Lachen krümmte. 

„Nein, gnädige Frau,“ entgegnete Herr Heller, 
noch immer außer ſich. Er dachte, ſie frage nach der 
Ausrüſtung des Chriſtbaumes, und ſie meinte doch die 


„ 364 ; 


verſchiedenen Fußangeln, die ſeiner Ungeſchicklichkeit ge— 
legt worden waren. Er war eine ahnungsloſe Natur. 
Weil er niemandem etwas Böſes hätte thun können, 
fiel es ihm auch nicht entfernt ein, daß er ſelbſt das 
Opfer teufliſch ſchlauer Veranſtaltungen geworden ſei. 
Er glaubte, der boshafte Zufall allein habe ſo viel 
und ſo ausgeſuchtes Mißgeſchick auf ſeiner kurzen Reiſe 
aus dem einen Zimmer ins andere zuſammengehäuft. 
Nur eines verdroß ihn dabei. Fräulein Bertha hatte 
alles mitangeſehen. Sie hatte mitgelacht .. . Nein, 
nein, er hatte ſie nicht lachen ſehen; allerdings hatte 
ſie ſich den Fächer vor das Geſicht gehalten. „O, ſie 
iſt gut,“ ſagte er bei ſich, und eine eigene Zuverſicht 
illuminierte ſein Augenglas. Er lächelte in ſeine Hals— 
binde hinein, wie einer, der da weiß, was nicht jeder 
weiß. Was mochte der Mann in petto haben? 

— — — Nun denn, wie geſagt, die Kinder 
plünderten den Weihnachtsbaum. Das Barometer der 
Freude ſtand auf Stürmiſch. In dem Toben des freund— 
lichen Unwetters ſtand nur einer ſtill und gefaßt da 
und heftete ſeine Augen unverwandt auf einen Punkt 
des Baumes. So faßt der Steuermann den Polar- 
ſtern ins Auge, der ſein Schifflein ſicher durch alle 
Fährnis geleiten ſoll. Plötzlich gab es ihm einen elek— 
triſchen Schlag. Und es war doch nichts geſchehen. 


— 365 — 


Nur der jüngſte des Hauſes, der geräuſchvolle Otto, 
hatte eine goldgleißende Nuß vom Baume gepflückt, die 
ganz beſonders in die Augen ſtach, weil ſie nach allen 
Seiten goldene und ſilberne Strahlen aus feinſtem 
Flimmerdraht ſchoß, ganz wie der wirkliche Polarſtern. 
Gerade dieſe hatte auch Karl Heller unverwandt ins 
Auge gefaßt, und nun zitterte er und bebte, als hätte 
er die Fabrikkaſſe erbrochen und geleert vorgefunden. 
Es wurde ihm ſchwarz vor dem einen Auge und vor 
dem andern blendend hell. 

Otto hatte ſich mit ſeiner goldenen Beute aus 
dem Staube gemacht. Aber ſelbſt die ſchönſte Nuß 
will geknackt ſein, und ſo kam er bald wieder heran— 
geſtürmt, damit Bertha ihm die ſeltſame Nuß öffne. 
Der kleine Schreihals duldete keinen Aufſchub, Bertha 
that ihm alſo feinen Willen. Aber als Otto ans Ver- 
ſpeiſen ging, machte er eine unheimliche Entdeckung. 
Mitten durch die Nuß ging ein länglicher, walzenför— 
miger Gegenſtand von ganz rätſelhafter Natur. Nie— 
mals noch in den ſechs Jahren ſeines Lebens war ihm 
ſolches begegnet. In größter Aufregung eilte er zu 
Frau Jung. „Mama, Mama, ein hölzerner Wurm!“ 
Frau Jung konnte die Verſtörtheit ihres Lieblings 
nicht überſehen; um ihn zu beruhigen, unterwarf ſie 
die geheimnisvolle Nuß einer eingehenden Prüfung. 


e ee, 


„Ein hölzerner Wurm? Närrchen, ſo was giebt es ja 
gar nicht,“ meinte ſie. 

Aber der Gegenſtand war unzweifelhaft vorhan— 
den und war wirklich ein ſonderbares Gewächs. „Ein 
Naturſpiel,“ meinte Herr Jung, der ſeine reifere Er— 
fahrung nun auch in die Wagſchale warf. „Aber 
Holz iſt das nicht,“ warf Frau Jung ein, indem 
ſie die Brille aufſetzte, „eher ſcheint es ein papier— 
artiger Stoff zu ſein, eine Art Pergament, möchte 
man ſagen.“ 

Und gleich darauf rief ſie erſtaunt: „Sieh da, 
ſieh da, wie es ſich blättert! Es rollt ſich ja ordent— 
lich auf, wie ein Zettelchen. Ei der tauſend, es iſt 
wirklich ein Zettel . .. und Geſchriebenes ſteht auch 
darauf!“ 

Mittlerweile hatte ſich die ganze Geſellſchaft her— 
beigedrängt, um das Naturſpiel zu ſehen. Herr Jung, 
den eine freundliche Ahnung überſchlich, tippte ſeiner 
Gattin mit dem Daumen zwiſchen die ſechſte und ſie— 
bente Rippe, wo ſie beſonders empfindlich ſein mochte, 
denn ſie ſtieß ein halblautes „Ha!“ aus. Es iſt aber 
auch möglich, daß dieſer Ausruf nur der unerwarteten 
Entdeckung eines Manuſkripts „in nuce‘ galt. Herr 
Jung ſeinerſeits hatte unterdeſſen bereits ſeinen Kneifer 
auf die Naſe geſetzt und las, nicht ohne Mühe, die 


ae 


mikroſkopiſch kleine Schrift. Laut vor allen Leuten 
las er ſie: 

„Blickt mich an, ihr blauen Augen, 

Euer Strahl iſt warm und gut, 

Rühren ſoll euch meine Liebe, 

Treue iſt mein höchſtes Gut; 

„Heil Dir“ wünſcht ein ehrlich Herz 

Achtungsvoll und ohne Scherz.“ 

„Alle Wetter! Noch giebt es echte Poeſie im 
Jahrhundert der Maſchinen!“ rief Herr Jung lachend. 
„Das nenn' ich einmal ein Gedicht!“ 

Alle Hände ſtreckten ſich nach dem Schriftſtück 
aus. Nur Fräulein Bertha rührte ſich nicht, aber ſie 
glühte wie eine Roſe. Frau Jung lernte das Gedicht 
augenſcheinlich auswendig, und im Hintergrunde, nun, 
da zerbrach ſoeben ein Lampenglas; man vermutete 
daher mit einiger Wahrſcheinlichkeit, daß Herr Karl 
Heller ſich dort aufhalten dürfte. 

„Halt, das iſt ja gar ein Akroſtichon!“ rief Frau 
Jung jetzt überraſcht aus. Fräulein Bertha verſteckte 
ſich augenblicklich in ein unzerreißbares Bilderbuch. 
„B—E—R—“ buchſtabierte Frau Jung mit trium— 
phierender Stimme. Fräulein Bertha klappte das Bil— 
derbuch über ihrer ganzen kleinen Perſon zu. „T—9 
— A!“ fuhr Frau Jung unbeirrt fort. „Es iſt Bertha, 
beim Himmel! Papa, unſerer Bertha gilt das ſchöne 


— 968 — 


Gedicht . . . „Achtungsvoll und ohne Scherz,“ iſt das 
nicht zart und höflich zugleich? Und kein Name ... 
Doch, da ſtehen zwei Buchſtaben: K. H.“ 

„K. H.,“ wiederholten ſämtliche Anweſende im 
Chor. Die Lampe im Hintergrunde mit dem zerbroche— 
nen Glaſe räuſperte ſich heftig und erloſch. 

Herr Jung trat zu Herrn Heinrich Köhler hin, 
blinzelte ihn von der Seite an, ſtieß ihn ſachte mit 
dem Ellbogen und flüſterte ihm ins Ohr: „Potz Wet— 
ter, ein Jahr hätten Sie doch noch warten können 
mit Ihrer Liebeserklärung, Sie ungeduldiger Jüng— 
ling; das Kind iſt ja erſt fünfzehn Jahre gewor— 
den!“ 

„Aber Herr Jung!“ ſtotterte Herr Köhler etwas 
verlegen. 

„Schon gut, ſchon gut,“ fiel ihm Herr Jung 
ins Wort; „haben ganz recht; war auch einmal jung 
und begreife Sie.“ 

„K. H.,“ ſpintiſierte Frau Jung nachdrücklich, 
„wer in aller Welt kann dieſer kühne Menſch ſein?“ 
Da fiel ihr Blick auf Herrn Köhler, welcher noch immer 
etwas verlegen daſtand. „Holla, und das fiel mir nicht 
augenblicklich ein? K. H., das iſt: Köhler Heinrich! 
Nun ja, wer könnte auch ſonſt eine ſo verwegene Idee 
faſſen?“ 


— 369 — 


Im Hintergrunde fiel eine Schachtel Bauſteine 
mit Gepolter zu Boden. 

„Gnädige Frau,“ begann Herr Köhler mit einer 
gewiſſen Feierlichkeit, „bin ich denn der einzige K. H. 
im Hauſe? Und würde ich als Heinrich Köhler nicht 
vielmehr H. K. geſetzt haben?“ 

Das unzerreißbare Bilderbuch ſenkte ſich wie be— 
troffen, und ein großes blaues Auge funkelte unruhig 
den Sprecher an. 

Man ſtutzte einen Augenblick. Herr Jung be— 
trachtete das Gedicht aufmerkſamer und murmelte: „Bei 
Gott, es iſt Karl Hellers Kaſſiererſchrift.“ Dann lachte 
er fröhlich auf und ſchrie: „Sie, lieber Köhler, der 
Spaß iſt gut, denn er bleibt ja unter uns, aber die 
Schrift eines andern nachzuahmen, und ſo täuſchend 
nachzuahmen, das geht doch etwas zu weit! Sie ſind 
ein Teufelsmenſch! Wenn es nicht ganz unmöglich 
wäre, daß unſer wackerer Heller ein Gedicht dichte, 
und was für ein Gedicht! „Blickt mich an, ihr blauen 
Augen“ — „Achtungsvoll und ohne Scherz”... 
Das Gedicht iſt famos! Nein, Heller, Sie ſind ein 
kreuzbraver Kerl, und ich liebe Sie wie einen Sohn, 
aber ſo ein Gedicht bringen Sie nicht zuſammen, nicht 
wahr, Heller?“ 

Herr Karl Heller tauchte aus dem dunklen Hin— 

He vefi, Buch der Laune. 24 


tergrunde auf, wie ein Geſpenſt. Er war totenblaß 
und kalte Tropfen ſtanden auf ſeiner Stirn. Wirr 
durcheinander zuckte es in feinem Kopfe ... Ja, ſie 
hatte doch über ihn gelacht hinter ihrem Fächer, jetzt 
wußte er es gewiß .. . Und dieſer unruhige Blick 
vorhin, nach Heinrich Köhler, als er die Autorſchaft 
leugnen zu wollen ſchien . . . Es iſt gewiß, ſie liebt ihn. 

„Nicht wahr, lieber Heller, jo etwas ſchreiben 
Sie nicht?“ wiederholte Herr Jung. 

„Nein,“ entgegnete Heller mit feſter Stimme. 

Wie ein Feuerfunken ſchoß es aus jenem blauen 
Auge durchs Zimmer „dann hob ſich das unzerreiß— 
bare Bilderbuch wieder wie eine ſpaniſche Wand. 

„Das Souper iſt aufgetragen,“ meldete eine will— 
kommene Stimme. 

Die ganze Geſellſchaft brach auf. Nur die bei— 
den jungen Männer ſtanden regungslos wie Bildſäu— 
len auf ihren Plätzen. Einen Augenblick ſahen ſie ſich 
in die Augen, Karl Heller ſtolz und ſtarr, Heinrich 
Köhler ſchmerzvoll, flehentlich. Aber das war nur 
ein Augenblick, dann ſagte Herr Heller mit weicher 
Stimme: 

„Herr Köhler, reichen Sie doch dem Fräulein Ihren 
Arm.“ 

Da konnte ſich Herr Köhler nicht mehr halten. 


— 371 — 


Er ſtürzte zu Herrn Heller hin und ſchloß ihn ſtür— 
miſch in ſeine Arme. Sie waren beide tief erſchüttert. 

Niemand wußte, warum. Es ſtand wie ein gro— 
ßes Fragezeichen über der reich beſetzten Tafel. 

Aber der erſte Trinkſpruch, von Herrn Köhler 
auf ſeinen teuren Freund Heller ausgebracht, machte 
alles klar. Niemals wieder hat Herr Karl Heller ſo 
hoch gelebt, als man ihn jetzt leben ließ. Er fiel aus 
einer Umarmung in die andere, und über ihm leuchteten 
zwei blaue Sterne, zu denen er wehmütig- ergeben 
aufblickte . .. „achtungsvoll und ohne Scherz“. 


2 


IV. 
Waldmuhme. 


(1880. ) 


77 5 EN irgends auf Erden vielleicht herrſcht unter 
den Kochlöffeln ein ſeltſamerer Brauch, 

> ne als zu Dornau. Sie müſſen ihn wohl 
den Glocken abgeguckt haben, denn wie dieſe ihren Kar⸗ 
freitag haben, an dem ſie regelmäßig nach Rom wan⸗ 
dern, ſo haben auch die Kochlöffel von Dornau ihren 
gewiſſen Adventſonntag, an dem ſie aus den kleinen 
Bauernwirtſchaften des Dorfes alle miteinander plötz— 
lich verſchwinden. Wohin? Das weiß keine Bäuerin, 
oder ſie forſcht wenigſtens nicht darnach. Sicher wiſſen 
es aber alle im vorhinein, denn tags darauf, ſchon 
ganz früh morgens, holt die Bäuerin in jedem Hauſe 
den neuen Kochlöffel aus dem Schrank, den Jahres- 
Kochlöffel, der in weiſer Vorausſicht jenes rätſelhaften 
Verſchwindens ſchon früher angeſchafft worden und übers 


eu — 


Jahr um die nämliche Zeit wieder verſchwunden fein 
wird. Darum haben die Leute in Dornau das Sprich⸗ 
wort: „Beſſer, Advent holt den Löffel, als die Katz' 
holt den Brei“, womit es auch gewiß feine Richtig⸗ 
keit hat. 

Iſt dieſes ſchon an ſich ſeltſam, ſo iſt es noch 
ſonderbarer, daß die Kochlöffel von Dornau regelmäßig 
unter den Schürzen verſchiedener kleiner Mädchen ver- 
ſchwinden und ſich nach einer gewiſſen Hütte am Wald- 
ende des Dorfes begeben, wo „Waldmuhme“ hauſt. 
So haben ſie nämlich die kleinen Mädchen zubenannt, 
teils aus topographiſchen Gründen, teils aber auch, weil 
ihnen „Muhme Georgine“ zu dorffremd klingen würde 
und gar nicht zu merken. 

Waldmuhme iſt aber eine merkwürdige alte Dame. 
Alle kleinen Mädchen haben Angſt vor ihr, denn ſie 
trägt eine große Radhaube, wie die Eule, die an des 
Herrn Okonomierats Scheunenthor genagelt iſt, und 
überdies hat fie einen langen, dünnen, runzligen Zeige⸗ 
finger, der iſt eiskalt und feucht dazu, und den pflegt 
ſie den kleinen Mädchen, welche ihr acht Tage vor 
Weihnachten die Kochlöffel bringen, in die Grübchen 
der roten Backen zu bohren, und brummt dazu zwiſchen 
ihren einzigen drei Zähnen: „Komm nur her, mein 
dummes hölzernes Kochlöffelchen, ich will eine Braut 


— 374 — 


aus dir machen; war auch mal eine und bin doch nur 
ein alter dummer Kochlöffel geblieben.“ Am Ende haben 
die Leute gar recht, daß es in Waldmuhmes Ober⸗ 
ſtübchen nicht recht richtig ſei, — die kleinen Mädchen 
aber gucken immer umſonſt nach dem Dach der Hütte, 
um dieſes berühmte Oberſtübchen zu ſuchen, und können 
immer keines finden, denn die Hütte hat nur ein Erd- 
geſchoß, und ſo verſtehen ſie die Sache zuletzt gar nicht. 

Acht Tage vor Weihnachten hat aber Waldmuhme 
richtig immer zwei Dutzend alte, ſchwarze Kochlöffel 
bei ſich verſammelt und iſt dann die ganze Woche nicht 
mehr zu erblicken. Nur von fern umſchleichen mittler- 
weile die kleinen Mädchen die geheimnisvolle Hütte, 
in der ſich nun ihre Kochlöffel auf wunderſame Weiſe 
in lauter niedliche, bräutlich gekleidete Weihnachtspuppen 
umwandeln. Es werden allerdings keine vornehmen 
ſtädtiſchen Damen daraus, mit ziegenledernen Händen 
und fein lackierten Geſichtern, und mit echten goldenen 
Meſſingringen an den Armen, ſondern nur arme bäuer- 
liche Dorfpuppen, dieſe ſind aber dafür deſto vollkom⸗ 
mener und laſſen ſich nicht ſpotten. 

Denn Waldmuhme hat in ihrer Stube einen gro— 
ßen Schrank, der iſt voll mit lauter Putz und Pracht, 
und war ehedem noch viel voller. Des Schulmeiſters 
Annchen, die den Schrank einſt zufällig offen geſehen, 


u 


erzählt ſeitdem voll Bewunderung von Sammt und 
Seide und einem langen, weißen Schleier, der wohl 
vom Scheitel bis an die Ferſen reichen möchte, und 
von einem weißen, aber vergilbten Atlasſchuh, nicht 
größer als ihre Hand — der wäre juſt herausgekollert, 
ſagt ſie, die Alte hätte ihn jedoch raſch in den Schrank 
zurückgeſchleudert und beide Flügel heftig zugeſchlagen. 
„Ei, das iſt ja ein ganzer Brautſtaat!“ hatte die 
Köchin des Herrn Hofrichters bei dieſer Schilderung 
ausgerufen, und die alte Beſchließerin hatte darauf 
entgegnet: „Nichts Lächerlicheres, als ſo eine ewige 
Braut!“ — „Ja, ſitzen bleiben thut weh,“ meinte 
hierauf die Köchin ganz nachdenklich, und die Beſchlie— 
ßerin erwiderte mit einem Achſelzucken: „Jeder Huſar 
iſt ein Schmetterling,“ was aber Annchen für einen 
Scherz hielt, denn ein Huſar und ein Schmetterling 
ſehen doch ganz verſchieden aus, — auch habe das 
Herrenhaus da früher „Georginenhof“ geheißen — 

und in Italien bleibe ſo mancher hängen — und noch 
anderes mehr, lauter wirres Zeug, was Annchen gar 
nicht verſtand. 

Auf Puppen aber verſteht ſich Waldmuhme meiſter— 
lich, das müſſen alle kleinen Mädchen einräumen. 
So ein Kochlöffel, wenn er aus ihren Händen kommt, 
iſt gar nicht wieder zu erkennen; er trägt aber auch 


— 376 — 


freilich ein gut Stück Brautſtaat der Muhme am Leibe. 
Vor allem bekommt er von ihr einen anſtändigen Kopf, 
der iſt ausgeſtopft mit allem, was eine wirkliche junge 
Braut darin zu haben pflegt, ſo ſagt Waldmuhme, 
beſonders mit Werg und alten Lappen nnd Sägeſpä— 
nen. Darüber iſt ein feiner roſenfarbener Flor ge— 
ſpannt, der Flor der Jugend, ſo ſagt Waldmuhme, 
wenn ſie die fertigen Brautpuppen abliefert, und der 
allein hält den ganzen Kopf zuſammen. Unter dieſem 
Flor aber bringt ſie eine Menge feiner Sächelchen an, 
welche das Lärvchen einer Braut zu ſchmücken pflegen. 
Vor allem ſchneidet ſie aus ihrem roſenfarbenen Sei— 
denleibchen zwei kleine eirunde Fleckchen, die ſchiebt 
ſie unter den Flor und zupft und ſtochert ſie dann 
von außen her mit einer Nadel geſchickt zurecht, bis 
ſie an der richtigen Stelle ſitzen als zwei roſige Wäng— 
lein, blühend vor Brautfreude und holder Verſchämt— 
heit. Dann ſchneidet ſie ein kurzes weißes Schnürchen 
vom Saume ihres Brautkleides und ſchiebt es gleich— 
falls unter den Flor, aufrecht zwiſchen beide ſeidene 
Roſenwangen, und das iſt die Naſe. Quer darunter 
kommt ein ſcharlachrotes Streifchen Strumpfband, das 
giebt doch gewiß einen Mund zum Küſſen. Etliche 
ſchwarze Sammtbändchen aber haben ſchon eine Un— 
zahl rabenſchwarzer Scheitel geliefert und Hunderte fei— 


e 


ner halbmondförmiger Augenbrauen, unter denen eine 
große himmelblaue Perle als Augenſtern eingenäht wird. 
Und das alles ſteckt feſt und genau unter dem feinen 
Flor, jedes an ſeinem Platze, wo es juſt hingehört, 
nur zum Verlieben. Beneidenswerteſter aller Koch— 
löffel! In dieſem Stadium ſeines Lebens würde einer 
gewiß ſelbſt mit einem Quirl nicht tauſchen, und der 
iſt doch von Geburt ein weit vornehmeres Geſchöpf 
und hat auf dieſer Erdenwelt nichts weiter zu thun, 
als Walzer zu tanzen, noch dazu in lauter ſüßem Zeug. 
Und dann kommt aber erſt noch der bräutliche Staat, 
den jeder Kochlöffel auf den Leib geſchneidert kriegt, 
als ſollte er mit nächſtem vor den Altar treten mit 
einem vornehmen Quirl und ihm zugetraut werden fürs 
Leben — aber ach, dieſe Quirle ſind ja wahre Schmet— 
terlinge — nein doch, Schmetterlinge ſind ja die Hu— 
ſaren, — wie fagte nur Schulmeiſters Annchen? 
Und wenn die prunkenden Brautpüppchen dann 
fertig ſtehen, angethan mit feſtlicher Zier, in roſenroten 
Seidenleibchen und weißen Seidenröcklein, lange, weiße 
Schleier den Rücken herabwallend, und wenn die him— 
melblauen Perlen ihrer Auglein ſich faſt vom Zwirn— 
faden losreißen vor Sehnſucht, während die roſa Seide 
ihrer Wangen ſich vergeblich bemüht, wechſelweiſe zu 
erbleichen und zu erglühen, dann kichert Waldmuhme 


recht hämiſch unter ihrer dünnen Naſe und patſcht in 
ihre dürren Knochenhände mit unheimlichem Geklapper, 
während ihr bittere Thränen die hohlen Wangen herab— 
rinnen. O gewiß, es ſteht nicht richtig mit ihr da 
oben! N 

Und dann kommen im erſten Zwielicht des hei- 
ligen Abends, lange ehe noch zu Hauſe ein Bäumchen 
brennt, die kleinen Mädchen herbei, um ihre verzau— 
berten Kochlöffel zu holen. Mit ſtillem Grauen vor 
jo unbegreiflicher Hexenmacht und dennoch freudig be— 
wegt, empfangen ſie die merkwürdigen Puppenweſen, 
während Waldmuhme immerzu knurrt und krächzt: 
„Da nimm, da nimm — hol Dir die Braut — 
andere waren 'mal grad' ſo ſchön und ſchmuck — 
nimm hin, Kleine, nimm — bah, was bleibt davon? 
— Heute noch Braut in Sammt und Seide, morgen 
ein alter Kochlöffel, klapperdürr und ſplitternackt, vom 
Wurm geſtochen — hu, wie der ſticht!“ Und dann 
erſchrecken die kleinen Mädchen in der Regel und lau— 
fen geſchwind nach Hauſe; aber die Kochlöffel haben 
ſie alle mitgenommen. 

Das ſind nun glückliche Tage für die kleinen 
Mädchen von Dornau. Keine ohne ihre Puppe; wo 
wurde ſo gleiches Recht für alle je gehört? Und wie 
ſchön die lieben Dinger alle ſind, wie herrſchaftlich! 


ag 


Roſaſeidene Backen hat nicht einmal die Frau Gräfin 
drüben im Haſenfelder Schloß und eine ſchwarzſammtene 
Glatze trägt ſelbſt der Erzbiſchof nicht, denn die ſei— 
nige iſt nur von violetter Seide. 

Aber ach, Schönheit vergeht und nur Häßlichkeit 
kann beſtehen unter der Sonne. Die armen Kochlöffel- 
bräute vertragen das Herzen und Küſſen nicht gut und 
zeigen bald krankhafte organiſche Veränderungen. Unter 
dem zarten, durchſichtigen Flor, der das Antlitz um— 
ſpannt, beginnen die auserleſenen Reize ſich in gefähr— 
licher Weiſe zu verſchieben. Hier iſt ein roſiges Wäng— 
lein ins Gleiten geraten und ſenkt ſich immer tiefer 
hinab gegen das Kinn, während dort wieder ein Pur— 
purmund ſich ſchief und immer ſchiefer zieht und ſich 
zuletzt gewiß um ſeinen eigenen Mittelpunkt gedreht 
haben wird, wie der Zeiger einer Uhr. Schrecklich iſt 
es auch, wenn die Naſe plötzlich rechts oder links aus— 
zuweichen beginnt und in naſeweiſer Fragezeichenkrüm— 
mung ſich zwiſchen den Rotbäcklein hin und her win— 
det. Und über alle Maßen unheimlich iſt der böſe 
Blick der blauen Perlenaugen, wenn ſie die ſchwarz— 
ſammtenen Halbmonde der Brauen nicht mehr über ſich 
gewölbt haben, ſondern neben oder gar unter ſich, was 
ein Sterndeuter, der ſich auf den Mond verſteht, gewiß 
nur übel deuten kann. Zwei oder drei Wochen nur — 


— 380 — 


und es wäre wahrhaftig eine Kunſt, ſich in irgend eines 
dieſer Püppchen zu verlieben. Welche läſtigen Unregel- 
mäßigkeiten müßte hier auch jedes zarte Verhältnis 
notwendig nach ſich ziehen! Was könnte es dem Lie— 
benden für eine Freude machen, wenn die Geliebte ihn 
heute unter dem linken Ohrläppchen anlächelte und mor— 
gen rechts gegen die Schläfe hin? Und wie müßte er 
erſchrecken, wenn ſein Engel die Brauen plötzlich dro— 
hend zuſammenzöge, noch dazu bei der Naſenſpitze, 
oder wenn ſie die Naſe über ihn rümpfte, aber nicht 
nach allgemeinem Brauch über den Flügeln, ſondern 
an der Wurzel — und mit dem Küſſen wär's doch 
gar gefehlt, beſonders im Dunkeln, denn da iſt ein 
Mund, der fortwährend im Geſichte hin und her wan— 
dert, ſehr ſchwer zu finden, oder gar nicht. 

Und haben ſich dieſe Schönheitsleiden eingeſtellt, 
dann kommen die kleinen Mädchen nacheinander ge— 
laufen und zeigen Waldmuhme betrübt die Schäden 
ihrer Teuren und flehen um Hilfe und Rettung. Wald— 
muhme aber verzieht ſchadenfreudig ihre Runzeln und 
knarrt höchſt ſonderbar mit ihren Halswirbeln — ſie 
meint wohl damit gelacht zu haben — und klatſcht 
wieder in die Hände, daß die Fingerknöchelchen grell 
durcheinander klappern, und fie weiſt die kleinen Mäd— 
chen von dannen: „Schert euch, Kochlöffelchen, ſchert 


ee 


euch! — Schön iſt ſchön, aber wie lange? hi hi — 
andere waren auch 'mal ſchön und ſind alte, dürre 
Kochlöffel geworden, hi hi — ſchert euch, kleines Pack, 
und haltet nur eure eigenen Wänglein feſt, ganz feſt 
mit beiden Händen, ſo — was hilft's? gehn euch doch 
durch, da iſt kein Kraut für!“ 

Und die kleinen Mädchen von Dornau gehen 
trübſelig nach Hauſe mit ihren entſtellten Schönheiten, 
die ſie nun gar nicht mehr mögen und wohl gar in 
den Winkel werfen, — über ein Jahr vor Weihnach— 
ten aber ſtehen die Kochlöffel doch alle wieder vor 
Waldmuhmes Pförtlein, um ſich zu Brautpüppchen um⸗ 
zaubern zu laſſen, denn kein Kochlöffel in Dornau 
läßt ſich witzigen durch das Beiſpiel anderer, und jeder 
will ſie einmal im Leben durchmachen, die buntgoldige 
Herrlichkeit, die doch in eitel Kummer und Trübſal 
endet. 

Und es wird fo fortgehen, ſolange der Wald- 
muhme Brautſtaat langt, der aber erſchöpft ſich noch 
lange nicht, denn Jungfer Georgine war ihrer Zeit eine 
reiche Dorfbraut, und wenn Huſaren keine Schmetter- 
linge wären — — — 


* 


erlag von Adolf Bonz & Comp. in Stuttgart. 


5 


Werke von Ludwig Ganghofer. 


Die Sünden der Räter. 
Roman. 
Oktav. 2 Bände. Geh. A 10.—, 
eleg. geb. A 12.— 


Bergluft. 
Hochlands-Geſchichten. 
Inhalt: Der Herrgottſchnitzer von 
Ammergau. — Aſſi Manlaſſe. — Die 
Seeleithnersleut'. — Der ſchwarze 
Teufel. — Hochwürden Herr Pfarrer. 
— 's Geigenkröpfl. — Die Hauſerin. 


Oktav. Geh. M 4.—, eleg. geb. M 5.— 


Almer und Jüägerleut'. 
Nene Hochlandsgeſchichten. 
Inhalt: Ein Schuß in der Nacht. — 
Die Mühle am Fundenſee. — Der 
Letzte — Dſchapei. — Der Falken⸗ 


fang. 
Oktav. Geh. A4 4.—, eleg. geb. M 5.— 


Dramatiſche Schriften. 


Erſte Sammlung: 
Oberbayeriſche Volksſchanſpiele. 


Inhalt: Der Herrgottſchnitzer von 
Ammergau. — Auf der Alm. — Der 
Prozeßhansl. — Der zweite Schatz. 
— 19 5 Geigenmacher von Mitten- 


wald. 
Oktav. Geh. M 5.—, eleg. geb. A 6.— 


Der Geigenmacher von Mittenwald. 
Volksſchanſpiel in fünf Aufzügen. 
Oktav. Geheftet A 1.— 


Der zweite Schatz. 


Volksſchanſpiel in vier Auffügen. 
2. Aufl. Oktav. Geheftet A 1.— 


Der Edelweißkönig. 
Eine Hochlandsgeſchichte. 
80. 2 Bände. Geh. 4 5.—, in einen Band 
eleg. geb. # 6.— 


Aus Heimat und Fremde. 


Novellen. 


In 0 alt: Künſtlerfahrt an den Königs⸗ 
ſee. — Das rote Band. — „Herr 
Doktor Heinrich Heine.“ Racchelle 
Scarpa. 


Oktav. Geh. 1 4.80, eleg. geb. 1 5.80. 


Der Jager von Fall. 


Eine Erzählung 
ans dem banyeriſchen Hochlande. 


Oktav. Geh. 4 3.50, eleg. geb. # 4.50. 


Oberland. 


Erzählungen aus den Bergen. 


Inhalt: Auf der Wallfahrt. — Der 
Santrigel. — Im Vorübergehen. — 
Die Fuhrmännin. 


Oktav. Geh. # 4.—, eleg. geb. I 5.— 


Der Herrgottſchnitzer von Ammergau. 
Volksſchanſpiel in fünf Auffügen. 
Siebente Auflage. 

Oktav. Geheftet #4 1.— 


Der Pruzeßhansl. 


Volksſchanſpiel in vier Aufzügen. 
3. Aufl. Oktav. Geheftet AM 1— 


Bunte Zeit. 


Gedichte. 
Bweite Auflage. 
Oktav. Eleg. geb. mit Goldſchnitt V 4.80 


Heimkehr. 
Beue Gedichte. 
Oktav. Eleg. geb. mit Goldſchn. A 4. 80 


Der Anfried. 
Ein Dorfroman. 
80. Geheftet #4 4.—, eleg. geb. 4 5.— 


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