, Buch der Laune.
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een,
Tudwig Heveſt.
Buch der Laune.
=
Im Verlag von Adolf Bonz & Comp. in Stuttgart ſind von
demſelben Verfaſſer erſchienen:
Auf der Schneide.
Ein Geſchichkenbuch.
Inhalt: Die Arbeiten des Herkules. — Raffael und Fornarina. —
Zwiſchen Thorbach und Seefehlen. — Romanze. — Blau. — Durch
nach Amerika! — Aus dem Krafö: I. Kormos Muki. II. Peti mit
der krummen Seele. — Schneemanns Weihnachten. — Auf Poſten.
— Das Oſterei. — Tomaſo und Angela.
Oktav. Geh. HM 4.—, eleg. geb. / 5.—
Neues Geſchichtenbuch.
Inhalt: Der Kuß. — Im Czihaj. — Vater Joſts Geheimnis. — Die
Überflüſſige. — Pygmalion und Aſpaſia. — Das verhängnisvolle
Ligament. — Tauſendkuno. — Der Epouſeur. — Ja oder Nein. —
Drei Weihnachten: I. Dr. Silbenſtechers Weihnachts-Abenteuer.
II. Chriſtbeſcherung. III. Irmas Traum. — Balthaſar Storch. —
Rote Pfingſten. — Moderne Kinder: I. Hans. II. Maud. III. Dora.
IV. Kl. Hellmann.
Oktav. Geh. /, 4.—, eleg. geb. / 5.—
Auf der Bonnenleite.
Ein Geſchichkenbuch.
Inhalt: Ein ſtarkes Paar. — Die Naſe des großen Condé. — Daniel
Löwengruber. — Lebende Bilder. — Alexanders Neujahrsnacht. —
Schwarze Nieswurz. — Das Echo. — In der Chriſtnacht. — Dreißig
Weihnachten. — Die Oſterinſel. — Aus dem Leben eines Hypochonders.
— Der Junggeſellenbund. — Eine Frau, die keine Zeit hat, Frau
zu fein. — Der Beſuch auf der Tanya. — Pongo. — Füſchtöſch
Miſchi. — Franz. — Faſchingsgeſchichten: J. Die eiſerne Maske.
II. Die berühmteſte Frau. III. Novellen ohne Schluß.
Oktav. Geh. M 4.50, eleg. geb. A 5.60.
Almanarcando.
Bilder aus Halten.
Inhalt: Sermione. — Ein Spaziergang nach Canoſſa. — Blutige
Schollen: I. Solferino. II. San Martino. Cuſtozza. Villafranca.
— Das Idyll Canovas. — Lagunenfahrt. — Dappertutto. — Cer⸗
taldo. — Montepulciano. — Pienza. — Carrara. — San Roſſore.
Korſiſche Bilder: 1. Baſtia. 2. Die Grotte von Brando. 3. Mitten
durch Korſika. 4. Caſo Bonaparte. 5. Methuſalem in Korſika.
6. Italien in Korſika.
Oktav. Geh. A 4.50, hocheleg. geb. / 5.60.
Much der Banne.
Neue Geſchichten
Ludwig Beveli.
Stuttgart.
Verlag von Adolf Bonz & Comp.
1889.
Druck von A. Bonz' Erben in Stuttgart.
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Der Schlaginatten a. ea...
Die Amerifaner in Rothenburg
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in 2015
https://archive.org/details/buchderlauneOiheve
Mofelfahrk.
Eine Reiſegeſchichte.
(1887.
Heveſi, Buch der Laune.
5
N
A uf der Schneiderhöhe jenſeits der Moſel
SUR dſaßen drei und blickten mit ihren ſechs
Augen hinab in den September-Abend,
der über dem ehrwürdigen Trier zu dunkeln begann.
Ein Nebelflor legte ſich über den andern und nur
die Kirchen ſtachen noch mit ihren ſpitzen Türmen
durch dieſe weiße Decke und die ſchwarze Römerpforte
ragte wie ein Baſaltfelſen in die werdende Nacht
empor.
„Hier möcht' ich ewig träumen!“ rief in einem
gegebenen Augenblick Fräulein Malwine, eingedenk der
ſämtlichen Werke der unvergeßlichen Marlitt.
„Es wird feucht, ich kriege den Schnupfen,“ nieſte
gleichzeitig ihre gute Mama, Frau Roſa Barb, die
Beſitzerin der berühmten Barbſchen Brauerei in Koblenz,
und zog ihren perſianiſchen Palmenſhawl enger um
die vollen Schultern.
„„
„Dieſes Alſter Flaſchenbier könnte auch beſſer
ſein,“ bemerkte in demſelben Augenblick ihr Koblenzer
Nachbarsſohn Klaus Brett, dermalen in Trier an⸗
ſäſſig und ihr Führer durch die teils römiſch-katholiſche,
teils katholiſch-römiſche Augusta Trevirorum.
So genoß jedes der drei in feiner Weiſe die ſpät⸗
ſommerliche Abendſchönheit der Stunde. Ob das Bier
in der That nicht tadellos war, ſei dahingeſtellt; ſicher
iſt, daß die drei ſeine Fehler ſo lange gegen die Vor—
züge des Barbſchen Bieres zu Koblenz abgewogen
hatten, bis ihre Köpfe, beſonders einer, ziemlich ſchwer
geworden waren. Sie ſaßen auf der luftigen Veranda
zwiſchen den eiſernen Säulen und ließen ſich von zwei
Windlichtern beleuchten. Herr Klaus hatte vor etwa
zehn Minuten mit einer ſeiner Bärentatzen das Hand—
gelenk Malwinens erfaßt, um ſie wegen drohender
Erkältungsgefahr am Lüften ihres Strohhutes zu
hindern, und hatte dann vergeſſen, jenes Gelenk wieder
loszulaſſen. Sie ſchien übrigens an den Aufenthalt
in dieſem Schraubſtocke ſchon gewöhnt zu ſein, denn
ſie hielt darin ganz ſtill. Nur zuweilen ſtieß ſie einen
hochromantiſchen Seufzer aus, z. B.: „Heilige Nacht!“
oder: „In deinen Schoß, hehres All!“ . .. worauf
Klaus Brett ſtets etwas Verſtändnisinniges zu er—
widern hatte, z. B.: „Verdammte Mücken!“ oder:
a
„Herein da, Azor!“, was jedoch nicht der blonden
Schwärmerin galt, ſondern dem freundlichen Hauspudel,
der die ſpäte Geſellſchaft umwedelte.
Die Luft wurde ſchwärzer und flirrte in der
Höhe von weißen Pünktchen und Punkten, denn kein
Stern blieb an einem ſolchen Abend zu Hauſe, alle
zogen zur großen Wachtparade am Himmel auf.
„Helfen Sie mir die Sterne zählen,“ bat Malwine
dringend. Aber Klaus zählte eben Markſtücke und
Pfennige, mit denen er die Zeche zu bezahlen gedachte,
und konnte, dank der angeblich ſchlechten Qualität des
Alſter Bieres, nicht damit zu Ende kommen. Mal—
wine fühlte ſich etwas verletzt, da Klaus es indirekt
ablehnte, mit ihr Arm in Arm auf der Milchſtraße
ſpazieren zu gehen, und ſagte ſchmollend: „Klaus, Sie
ſind ein Proſaiker.“
„Ich?“ rief Klaus Brett auffallend gleichgültig.
„Ich habe Sie mir anders vorgeſtellt,“ fuhr
ſie fort, indem ſie einen Verſuch machte, ihr Hand—
gelenk aus ſeinem Griff zu befreien.
„Ich auch,“ entgegnete er ſchläfrig und leerte
das ſo und ſo vielte Glas.
„Sie ſind blind für das Schöne, taub für das
Erhabene,“ klagte ſie weiter.
„Blind für das Taube? Taub für das Blinde?“
6
wiederholte er entſtellend. „Fräulein Malwine, das
hab' ich niemals bemerkt.“
„Wenn Sie wenigſtens meine Hand losließen,“
rief ſie etwas ungeduldig, „und mich weniger hart
mit dem Knie ſtoßen wollten.“ Womit ſie auch recht
hatte, bis zum „und“ wenigſtens, denn nicht Herr
Brett war es, der ſie unter dem Tiſche ſtieß, ſondern
ihre Mutter, der das Geſpräch nachgerade zu ſpitz
wurde und gefährlich für alte Koblenzer Projekte zwiſchen
Nachbarhaus und Nachbarhaus.
„Verzeihung, es iſt nicht gern geſchehen,“ ſagte
Klaus mit unſicherer Zunge; er glaubte offenbar, wirk—
lich geſtoßen zu haben. Und um die Sache wieder
gut zu machen, ſchenkte er die Gläſer voll und erhob
ſich mühſam zu folgendem Trinkſpruch: „Ich fordere
hiemit meinen hochverehrten und geliebten Freund Klaus
Brett auf, das Glas zu erheben und mit mir anzu—
ſtoßen auf ſein Wohl; er lebe hoch, hoch, hoch!“
Verdutzt hörten ihm die Damen zu und niemand ſtieß
mit ihm an; auch hatte er gar nicht darauf gewartet,
ſondern ſich wieder ſchwer hingeſetzt.
Es wurde ſtiller unter den dreien. Mama Barb
ſchüttelte bedenklich das Haupt, und die blonde Mal—
wine blickte mit feuchten Wimpern in den Nachthimmel
hinein, der ſich nun auch mit Nebel überflort hatte.
N
Sie ſah die dunſtigen Streifen dahinziehen und ihr
war, als zerrönne mit ihnen noch manches andere,
was einſt jo feſt geſchienen, in Nebeldunſt. Nachbar:
kinder, zuſammen klein geweſen und groß geworden,
zuſammen geſpielt und zur Schule gegangen, . .. was
hätte da nicht alles werden können? Die Eltern hatten
darauf gerechnet, ... „R. Barbs Eidam“ wäre dann
die große Braufirma gegangen. Und nun? Er paßt
nicht zu mir, ſagte ſich Malwine, die Marlitt-Schülerin.
Er hat keinen Sinn... für... für das Sinnige. Er
verſteht mich nicht, er iſt ein „Proſaiker“ (ſo nannte
ſie es ja).
Und die vielen Sterne da droben waren alle er—
loſchen. Vergebens ſchaute ſie in den ſchwarzgrauen
Himmel hinein. Wenn nur ein einziger aufblinken
wollte, ſehnte ſie ſich, er ſollte mir ein Hoffnungs—
ſtern ſein.
Da ſtieß ſie einen Schrei aus. Gerade vor ihr,
himmelhoch und doch erdennah, hatte ſich ganz plötz—
lich ein goldener Punkt entzündet. Groß und glänzend
ſtand er am Firmament, er flackerte nicht, ſondern
glühte mit ſanfter Stetigkeit, wie ein Planet.
„Der Abendſtern, der durch den Nebel ſcheint,“
ſagte ſie laut, als ſie ſich wieder gefaßt hatte.
„Nein, Fräulein,“ entgegnete die Kellnerin, welche
Zu. Loy DE
eben herantrat, „es iſt das ewige Licht am Fuße der
großen Marienſtatue dort auf dem Waldgebirg; es
wird jeden Samstag Abend angezündet und brennt bis
zum Sonntag Morgen.“ Sie ſchlug ein Kreuz und
betete einen Segen; die beiden Damen thaten etwas
Ahnliches.
Sie wollten nun in den Trierſchen Hof zurüd-
kehren, aber das war leichter gewollt, als gethan. Herr
Klaus Brett war nicht ganz ſicher auf den Beinen,
welche mit ſchwerem Alſter Bier vollgegoſſen waren,
und der unbeleuchtete Stufenpfad von der Schneider—
höhe hinab bis zur Fähre und dann jenſeits des Fluſſes
die verſchiedenen ſchwanken Stege über allerlei unnötiges
Gewäſſer hinweg, waren nicht leicht zurückzulegen.
„Nur keine Furcht, ich führe Sie beide,“ lallte
er und bot ihnen beide Henkel ſeiner Perſönlichkeit.
Sie klammerten ſich feſt hinein, rechts und links, und
ſo führten ſie ihren Führer mühſelig heim. Der Kellner
im Trierſchen Hof brachte ihn zu Bette.
* *
*
„Wie geht es Ihnen denn heute, Herr Brett?“
fragte ihn den Morgen darauf Frau Barb mit auf—
fallender Förmlichkeit.
„Ich danke, ſo ſo,“ entgegnete er, „aber ſchon
mehr ſo, als ſo.“ Er ſuchte nämlich durch eine ſcherz—
gr
hafte Bemerkung das leichte Rot Lügen zu trafen,
das ihm in die Schläfen ſtieg, als er des geſtrigen
beſchämenden Ereigniſſes gedachte.
Sie hatten verabredet, Sonntags moſelabwärts
heimzufahren nach Koblenz, vom jungen Brett be⸗
gleitet, der die Gegend erklären ſollte. Vom Dampf—
boot hatte er ernſtlich abgeraten, wegen der hundert
zeitraubenden Krümmungen des Fluſſes, der ordentlich
wie ein Gürtelband mit einem doppelten Knoten um
jeden begegnenden Hügel herumgebunden ſei, während
die Moſelbahn mittelſt einer Reihe von Tunnels alle
dieſe gordiſchen Knoten wie mit einem Damoklesſchwert
durchſchneide. Und unterwegs wollte man noch bei
Bullay ausſteigen, um die ſehr genießbare Marienburg
zu erſteigen, und weiterhin in Cochem, wo Herr v. Ra—
vené aus Berlin jo und fo viele hunderttauſend Thaler
in die alte Burg hineinreſtauriert habe, die auch nie—
mals wieder herauszureſtaurieren ſein würden.
Klaus Brett war nämlich — wie ſich's ja auch
bald zeigen wird — eigentlich ein ganz aufgeweckter
Junge, der ſeinen Scherz machte wie Einer, wenn er
nur nicht zufällig vorher nach Alſt geriet. Dieſen Mor-
gen freilich war er etwas gedrückt. Er fühlte ſich blamiert,
was ihm um ſo unangenehmer war, als er ſich nicht
mehr erinnerte, wie weit ſeine Blamage eigentlich ging.
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Bin ich vor den Damen noch möglich, dachte er bei
ſich, oder bin ich es nicht mehr? Mama Barbs Ver—
halten ließ immerhin noch einen Schein von Möglich—
keit zu, während Malwine dies nicht zuzugeben ſchien.
Sie behandelte den Unglücklichen in der That ſehr
ſtreng, indem ſie ihn gar nicht behandelte. Das meiſte,
war er zu ihr ſprach, hörte ſie nicht oder ſie hatte ein
Ja oder Nein darauf, welches in der Regel nicht ein—
mal paßte.
Indeſſen reiſten ſie doch zuſammen ab und nahmen
in dem nämlichen Coupé Platz. Klaus benahm ſich
ſehr entſchloſſen und verſuchte mehrere ſcherzhafte Be—
merkungen.
„Nun fahren wir ſchon eine halbe Stunde,“ ſagte
er einmal, „und haben die Moſel noch gar nicht zu
Geſicht bekommen, rein als ob man ſie auch auf Flaſchen
gezogen hätte.“ Malwine lachte nicht und ſchien nichts
gehört zu haben, Frau Barb aber ſagte: „Wie meinen
Sie?“ Natürlich wiederholte er den Scherz nicht.
Eine Viertelſtunde ſpäter äußerte er: „Die Leute
waren doch in früheren Zeiten ſehr vergeßlich; da ſtehen
ſchon wieder ein paar Berge, auf die ſie vergeſſen
haben, Burgen zu bauen.“ Auch dieſer ironiſche Aus
fall gegen die guten Leute von annno dazumal wurde
nicht gewürdigt, und als er gar hinzufügte, die Fran—
N a Due
zoſen hätten nur darum jo viele Burgen in Deutſch—
land zerſtört, damit die Touriſten mit deren Beſteigung
nicht allzu viel Zeit verlören, da gähnte Malwine zum
Fenſter hinaus und Mama ſagte: „Was iſt denn das
wieder für eine Station?“
Dieſe müßige Frage hatte beinahe eine Kata-
ſtrophe zur Folge. Begierig, der verehrten Dame eine
Gefälligkeit zu erweiſen, riß Klaus ſein Fenſter auf,
neigte ſich weit hinaus und rief, ehe noch der Zug
hielt, dem Stationschef zu: „Wie heißt dieſe Station?“
„Schweig!“ donnerte ihm dieſer zu, und wie be—
täubt von dieſer Grobheit taumelte der Jüngling auf
ſeinen Sitz zurück. Die Damen kämpften nur mit Mühe
ein aufſteigendes Gelächter nieder.!
Eine halbe Stunde lang war er mehr oder weniger
vernichtet. Etliche Stationen flogen vorüber, bis er
ſich an einer Halteſtelle wieder ermannte und, als hätte
er noch immer jenen groben Stationschef vor ſich, in
gereiztem Tone zum Fenſter hinausfragte: „Wie heißt
dieſe Station?“ |
„Bengel!“ ſchrie ihm der Stationschef ins Geſicht??
Beſagte Station heißt nämlich wirklich Schweig, oder
vielmehr Schweich. Der Verfaſſer.
2 Auch dieſe Station iſt thatſächlich vorhanden; beide
ſind übrigens unbedeutend und nur in den ausführlichen Fahr—
plänen angeführt. Der Verfaſſer.
Ein Glück, daß ſich in dieſem Augenblick der
Schwerbeleidigte hinten am Rockkragen gefaßt fühlte.
Er wandte ſich um und ſah, daß er ſelbſt es war,
der ſich gewaltſam zurückhielt, um nicht zum Fenſter
hinauszuſpringen und über den unhöflichen Beamten
herzufallen. Und gar ſehr nöthig war dieſe Gewalt—
anwendung, denn das ſchallende Gelächter, in welches
die beiden Damen ausbrachen, ging ihm durch Mark
und Bein. Wäre der Zug nicht in der nächſten
Minute ſchon weitergefahren, ſo hätte es wohl doch
ein Unglück geſetzt. So mußte der Gekränkte, die
Zähne aufeinander gebiſſen und die Fäuſte in den
Taſchen geballt, ſitzen bleiben und Grimm und Gram
ſtumm hinunterwürgen.
Endlich waren ſie in Bullay, ſtiegen aus und
ſchlugen den Weg nach der Marienburg ein, welche
jenſeits der Moſel auf hohem Rebengebirg erſchien,
turmlos, zinnenlos, mehr winzer- und bäuerlich, als
ritter- und herrenhaft anzuſehen. Es ließ ſich darüber
gewiß manches Wort wechſeln, aber die drei ſchwiegen,
am tiefſten der Eine.
Schweigend ſchritten ſie über die gewaltige Gitter—
brücke auf der unteren Fahrbahn, während über ihren
Häuptern der Zug, der ſie gebracht, weiterpolterte.
Auch darüber ließ ſich ſo Manches bemerken, aber
1
es blieb ungeſprochen. Dann wanderten ſie jenſeits
den Berg hinan, in durchſonntem Jungwald; es war
Mittag und jeder trat ſeinem eigenen Schatten auf
den Kopf. Jetzt, das fühlte Junker Klaus ganz
deutlich, jetzt mußte etwas geſchehen. Er reichte alſo
Frau Barb ſeinen Arm, damit ſie leichter bergan
ginge, und ſie nahm ihn dankend an. Fräulein
Malwine ging vor ihnen her, federnden Schrittes,
leicht und gleichmäßig, als ginge es bergab. Mit
einer Art Zorn trat er in ihre Fußſtapfen, er zertrat
förmlich jede einzelne, wie um ſich zu rächen. Aber
je öfter er ſie anſah, deſto weniger gründlich führte
er dieſe Zerſtörungsarbeiten aus und ſetzte ſchließlich
ſeine ſchweren Füße ſorgfältig neben ihre leichten
Spuren, um ihnen nicht wehzuthun. Sie war aber
auch zu niedlich. Das feine Köpfchen mit dem leichten
Strohhütchen, unter dem einiges helle Blond auf—
flatterte, wie gekräuſelte Sonnenſtrahlen, ... der
zierliche Wuchs, der noch zierlicher geweſen wäre,
wenn ihn nicht ein grauleinener Staubmantel verhüllt
hätte . .. Sieh da, wie zur Antwort auf dieſes un—
geäußerte Kompliment, ſchwang ſie plötzlich den Grau—
leinenen von der Schulter, knäuelte ihn in einen feſten
Packen zuſammen und warf dieſen, ohne ein Wort zu
ſagen, ohne ſich umzuſehen, mit beiden Händen aus—
holend in weitem Bogen über ihren Kopf weg hinter
ſich. Jemand werde ihn ſchon auffangen, dachte ſie,
und in der That fing ihn jemand mit bemerkens⸗
werther Geſchicklichkeit auf.
Einer war glücklich. Die Moſel, die ihm bisher
merkwürdig grau vorgekommen, erſchien ihm plötzlich
ſehr blau, und der Himmel, an dem er erſt kurz vorher
einen Stich ins Schimmelgrüne wahrgenommen, des—
gleichen. Auch gedieh der junge Wald jetzt mit einem
Mal merkwürdig gut, und die Reben ſchienen für dieſes
Jahr einen famoſen Tropfen in Ausſicht zu ſtellen.
Als ſie oben anlangten, bedauerte er, ſo kurze
Arme zu haben; er hätte ſie ſonſt noch viel weiter
ausgebreitet und ein weit beträchtlicheres Stück Erdball
an den Buſen gepreßt. Auch genügte ihm das
„Juhuhu!“ nicht recht, welches er oben ausſtieß, um
den Wirth herbeizurufen. An einem ländlichen Tiſch
in köſtlichem Nußbaumſchatten ſaßen ſie alsbald, alle
ſechs Arme auf den Tiſch geſtemmt, da ihre Bänke
keine Lehnen hatten, Anlehnung aber wünſchenswert
erſchien.
„Hier möcht' ich ewig träumen!“ rief Malwine,
ohne zu bedenken, daß ſie denſelben Wunſch erſt geſtern
auf der Schneiderhöhe bei Trier geäußert und die da—
malige Ewigkeit noch lange nicht vorüber war.
rt
„Ich bin erhitzt und das Lüftchen ftreicht kühl
um dieſe Höhe,“ ſagte gleichzeitig ihre Mutter und
wickelte ſich feſter ein.
„Herr Wirt, um Gottes willen etwas zu trinken!
Eine Flaſche, nein, zwei Flaſchen Moſelblümchen!“
rief Klaus, ſo laut er es herausbrachte.
Ein Gedankenſchatten flog über Malwinens Stirne.
Er hat für nichts Sinn, als fürs Trinken, dachte ſie
bei ſich; er iſt doch ein Proſaiker. Aber trinken
mußte ſie darum doch, als die Gläſer zuſammenklangen
und das grüne Gold ſie ſo feucht anfunkelte. Denn
auch die Romantik wird durſtig, wenn ſie ſich mittags
zur Marienburg hinauf verſtiegen hat.
„Im Becher blüht die flüſſige Blume,“ phantaſierte
nach ungefähr einer Stunde ... wer? Klaus Brett
war erſtaunt, daß es nicht Malwine war, und Malwine
ſtaunte, daß es wirklich Klaus Brett war. Dieſer
junge Mann zeigte ſich in der That ſtark verändert.
Der dunkelbraune Geiſt von geſtern abend war von
ihm gewichen, wie eine Fledermaus bei Tagesanbruch,
und ein goldſchimmernder Geiſt mit grünlichen Libellen
flügeln über ihn gekommen.
„Die Moſel fließt durch mein Glas,“ jubelte er,
indem er den geſchlängelten Strom da unten durch
ee
das volle Weinglas betrachtete. Dieſes Bild war
etwas kühn und Malwine horchte eifrig nach dem
„Proſaiker“ von geſtern hin, der heute faſt romantiſch
daherſprach. Soeben wieder hatte er die Sonne auf
dem Grunde ſeines Glaſes entdeckt und trank ihr
daraus „einen Schluck Sonnenſchein“ zu. Da mußte
ſie wohl ihr Glas erheben und mit ihm anſtoßen.
Der Schluck Sonnenſchein geſtaltete ſich etwas
ausgiebig, denn die beiden ſahen einander beim
Trinken durch das feuchte Glas in die Augen, welche
zu ſchwimmen ſchienen. Doch das war wohl nur ein
optiſches Phänomen, wie man es nach Tiſche ſchon
öfters beobachtet haben will.
Man erhob ſich dann, um Rundſchau zu halten
auf der Marienburg. Eigentlich iſt fie ein Nonnen—
kloſter aus einem grauen Jahrhundert und wurde erſt
ſpäter Feſtung, um zuletzt durch die Franzoſen zum
Abbruch verkauft zu werden. So wenigſtens erläuterte
Klaus, während er mit den Damen durch den kleinen
ſauberen Gaſthof ſchritt, den man der alten Ruine
vorgebaut hat. Jenſeits des Neubaues angelangt,
ſchrieen die Damen auf vor Ueberraſchung, denn es
zeigte ſich ihnen das lieblichſte Schauſpiel, wie es auf
der weiten Welt nicht wieder zu finden. Sie ſtanden
im Küchengärtchen des Gaſthofes, aber dieſer Garten
ee
war in der alten Kloſterkirche angelegt. Das Dach
fehlte, der blaue Himmel lag in voller Breite darüber;
aber die Mauern ſtanden noch, von ſcheibenloſen
Fenſtern durchbrochen, durch welche man gleichfalls
in blaue Höhen und Weiten hinausſah. Die des
Schiffes waren flachbogig, aus der Barockzeit, welche
hier offenbar noch reſtauriert hatte, die drei des
gotiſchen Chores jedoch hatten ihre aufrechten Spitz—
bogen behalten, in deren zweien ſogar noch das Maß—
werk aus rotbrauner Terracotta erhalten war. Von
außen kletterte allerlei Grünes zu den Fenſtern herein
und über die Mauern herüber, Windling und Epheu,
Clematis und wilder Wein; grüne Ranken ſchnörkelten
ſich in der Luft umher, ringelten ſich um ſteinerne
Ecken, wehten um die Häupter der Wandelnden. Mitten
durch das Kirchenſchiff ging ein Gartenpfad, zwiſchen
zahlreichen Gemüſebeeten. Wie einſt in den Kirchen⸗
ſtühlen rechts und links die Reihen frommer Beter
geſeſſen, ſo ordneten ſich jetzt links und rechts die
Reihen blauer Kohlköpfe und grüner Salathäupter,
dazwiſchen zartbefranſte Büſchel von Peterſilie und
gelben Rüben und Sellerie, auf den Eckſitzen aber
ſaßen die Honoratioren, ... Nelken- und Roſenſtöcke
und ſogar etliche Thujen. Ein andächtiges Schweigen
herrſchte in ihren Reihen, obgleich keine Meſſe I
Heveji, Buch der Laune.
a
wurde, ſintemalen kein Altar mehr in dem wüſten
Hauſe ſteht. Nur ein Eckchen, ein Niſchchen eher, iſt
noch heilig geblieben an der Ruine; das iſt eine
winzige Kapelle im Chore rechts, mit einem aller⸗
niedrigſten Pförtlein, über dem das handbreite Relief—
bild einer Madonna gleichſam den Namen der Marien-
burg nennt. Rechts und links der Thür lieſt man
zwei Inſchriften, mit delphiſcher Zweideutigkeit abgefaßt.
Die eine lautet: „Das Beſchreiben der Kapelle und
Aufſtecken der Kerzen iſt verboten“; vermutlich ſoll
ſie die zahlreichen Reiſe-Feuilletoniſten bändigen, welche
die Marienburg gern beſchreiben möchten und dadurch
ihren Leſern ein Licht aufſtecken. Die andere ſteht
über einer Sammelbüchſe und beſagt: „Zur Unter-
haltung für die Kapelle“; ſie hat nicht unrecht,
denn Geld zu bekommen, iſt ſtets eine gute Unter⸗
haltung.
Der Eindruck dieſes außergewöhnlichen Schau—
platzes machte ſich augenblicklich geltend.
„Warum bin ich nicht vor Jahrhunderten hierher
gekommen, um zu Mariens Füßen zu ſitzen?“ ſeufzte
Fräulein Malwine und warf ſich die weiße Serviette,
die ſie zufällig am Arme behalten, wie einen Nonnen⸗
ſchleier über den Kopf.
Dies war eigentlich nur ſozuſagen ein artikulierter
Seufzer, der Proſaiker Klaus faßte ihn aber als
förmliche Frage auf und antwortete:
„Weil Sie damals noch nicht geboren waren,
liebſte Malwine.“
Ein ſtrafender Blick traf ihn; er hatte alles
wieder verdorben. Sie wandte ſich ab und ſchritt
den Mittelpfad hinauf, in ihrem weißen Nonnentuch,
wie ſie vor fünfhundert Jahren gethan haben würde.
Die beiden folgten ihr bis an die Stelle, wo einſt
der Altar geſtanden. Da kniete Malwine nieder, warf
einen heißen Blick zum blauen Himmel empor und
neigte dann das Haupt, als böte ſie die blonde Pracht
ihrer Locken der klöſterlichen Schere dar.
So ſprechend war das Bild, daß Klaus ein Etui
aus der Taſche zog, ihm eine kleine Schere entnahm
und unwillkürlich zur Tonſur ſchritt. Eines der feinen
Löckchen am Nacken hatte er bereits losgetrennt, als
der Schreckensſchrei der Mutter ſeine Hand aufhielt;
er wäre ſonſt vermutlich noch weiter gegangen. Jetzt
blickte auch Malwine auf und ſah, wie der Proſaiker
die Locke an die Lippen drückte und dann ſamt der
Schere im Etui barg. Tiefe Entrüſtung malte ſich
in ihren Zügen, ſie erhob ſich raſch und eilte davon.
Es wird wohl Zerſtreutheit geweſen ſein, daß ſie dabei
ihren Arm durch den des verwegenen Junkers zog.
ae
Er führte ſie an den Tiſch unter dem Nußbaum
zurück und winkte dem Wirt; dieſer brachte alsbald
eine Flaſche, die gänzlich in ſchwefelgelbes Papier ein-
gedreht war. „Piesporter Goldtröpfchen“, ſagte er dazu.
„Flüſſige Dukaten,“ ſchwärmte Klaus, „die reine
Goldwährung!“ Und das Glas gegen Malwinen er⸗
hebend, rief er kühn: „Dem Goldköpfchen ... das
Goldtröpfchen!“
Sie wurde rot, Mama lachte und alle drei tranken.
Es wurde immer ſchöner da oben. Das Licht
der Nachmittagsſonne ergoß ſich wie ein Regen von
Goldtröpfchen auf die Landſchaft. Die Berge rauchten
von goldigem Dunſt und zwiſchen ihnen tief unten
irrte die Moſel im Zickzack der Trunkenen umher, ver⸗
ſchwindend, wieder auftauchend, in großen Schlingen
und Halbbogen, die eine grün, der andere blau, die
dritte goldgelb, je nach Licht und Schatten. In dem
Sommerhäuschen, am Ende der Terraſſe, ſaß ein junger
Zeugsfeldwebel, der mit ſeiner Herzliebſten herauf—
gepilgert, am Klavier und ſpielte einen Walzer, der
ein wenig wie eine Polka klang, und die Herzliebſte
tanzte dazu mit ihrem eigenen Schatten eine Art
Ländler. Der jugendliche Dachshund des Hauſes
aber ſchlief mitten auf dem Grasplatz, alle Viere von
ſich geſtreckt, und einen Zoll weit von feinem Maule
2
lag ein Biſſen Brod, an dem er ſich in Schlaf getän-
delt, . . . ein Sinnbild des Friedens und Überfluſſes.
Malwine ſtreifte munter in dieſem Arkadien umher
und Klaus begleitete fie, um ihr den beſten Ausſichts⸗
punkt ſuchen zu helfen. Wo der zu finden, wußte er
übrigens genau. Vom alten Gebäu war noch ein
ſteinerner Thorbogen quer über der Straße ſtehen ge—
blieben, gerade nur ein halber Rundreif aus Steinen,
ohne Thorſturz und Thorflügel. Saß man mitten auf
dieſem Bogen, ſo ſah man am weiteſten in die Runde;
aber freilich, dazu mußte man ein Vogel ſein, oder
.. Piesporter Goldtröpfchen und nachher noch etwas
Moſelperle getrunken haben. Nun, ein Vogel war
man nicht, das andere aber hatte man weidlich gethan,
und richtig, es dauerte gar nicht lange, ſo ſaßen die
beiden hoch oben auf des Bogens Schlußſtein und ließen
die Beine ſo in den milden September hineinbaumeln.
Leute kamen und gingen unter ihnen durch und
lachten hinauf, denn ſie hatten noch nie ſo lebens—
wahre allegoriſche Figuren über einem Thorbogen ge—
ſehen. Aber das ſtörte ſie nicht, denn ſie hatten
Gold im Kopfe. Die erſten da oben waren ſie
übrigens keineswegs, denn gerade zwiſchen ihnen
beiden hatte ein Vorgänger ſeinen Namen mit Rötel
breit hingemalt: „Adolf Schwarz“. Auf dem Adolf
38
ſaß Malwine und auf dem Schwarz ſaß Klaus, und ſie
lachten aus vollem Halſe, weil man doch ein Narr oder
farbenblind ſein müſſe, um ſein „Schwarz“ mit roter
Farbe hinzuſchreiben. „Oder er muß gar nicht gewußt
haben, wie er heißt,“ ſchloß Klaus das Intermezzo.
Aber der Niederblick von da oben war wirklich
ſchön. Da ſahen ſie auch wieder die doppelte eiſerne
Gitterbrücke gewaltig über den Strom hinwegſchreiten.
Die vierfache eigentlich, denn unter ihr, tief im Waſſer,
begleitete ſie ihr ebenſo doppeltes Spiegelbild hinüber,
als eine zweite Brücke, aus einem unnennbar feinen
Etwas gebaut, aus einem Metall, leichter denn Luft.
„Ja, ja,“ phantaſierte Klaus; „auch dieſe Schein-
brücke da unter dem Waſſer wird ſtark benützt, auf ihr
gehen nämlich die Moſelnixen hinüber und herüber; ſehen
Sie nur, juſt kommt dort eine gegangen, den Kopf
nach abwärts, wie eine Fliege an der Stubendecke.“
Es war nämlich das Spiegelbild einer Bäuerin,
welche oben über die Brücke ging. Malwine lächelte.
Ich habe ihm doch unrecht gethan, ſagte ſie bei ſich,
er iſt doch kein Proſaiker, nur das fatale Bier hat
ihn geſtern dazu gemacht, aber am Moſelfeuer iſt er
wieder in Fluß geraten.
Sie hätte ihm jetzt vielleicht ein warmes Wort
geſagt, aber auf der Straße unter ihnen nahten
ae
Schritte. Der Zeugsfeldwebel wanderte mit der Seini-
gen den Berg hinab. Sie hatte ſeine Soldatenmütze
mit einem grünen Kranz aus Lindenblättern geſchmückt
und ihren Strohhut desgleichen. Arm in Arm, eng
in einander geknüpft, ſchritten ſie durch den Bogen und
bemerkten gar nicht, daß oben ein Pärchen ſaß. Unter
dem Bogen blieben ſie einen Augenblick ſtehen und
küßten ſich laut, etlichemale. Dann gingen ſie weiter.
„Malwine“, flüſterte ihr Klaus ins Ohr. Sie
war feuerrot, denn ſie fühlte, daß ſie im nächſten
Augenblick geküßt ſein werde. Aber ſie wehrte ſich
tapfer, indem ſie eine ablenkende Frage wie mit Ge—
walt hervorſtieß:
„Da unten, ſehen Sie, am Ufer, was iſt das
für eine Ortſchaft, mit dem großen Schlot über dem
großen Hauſe?“
Er wurde blaß und zögerte. Aber ſie fragte
noch einmal und da antwortete er: „Das iſt Alſt.“
„Alſt, wo unſer geſtriges Bier her iſt?“ rief
ſie lachend. Alles Komiſche von geſtern abend war
plötzlich wieder aufgeweckt, die bewegte Stimmung von
ſoeben war verſcheucht, das Mädchen hatte ſich wieder.
Und neben ihr ſaß der Proſaiker von geſtern,
und das einzige Bewußtſein, das er hatte, war das
der Blamage.
*
5„E .
Sie gingen wieder nach Bullay hinüber und be⸗
ſtiegen den nächſten Koblenzer Zug. Der Himmel
hatte ſich getrübt und wurde, je weiter moſelabwärts,
deſto grauer. Dann regnete es gar und man beſchloß,
in Cochem gar nicht auszuſteigen.
Die beiden Damen waren ohnehin etwas ermüdet
und ſprachen wenig, ſchienen aber ſonſt mit ihrem Tag
ganz zufrieden zu ſein. Klaus Brett ſaß, in die ent⸗
legenſte Ecke des Coupés gedrückt und rauchte mit Er⸗
laubnis der Damen ſeine Cigarre. Er fühlte ſich nicht
recht behaglich. Jener hochgeſpannte Augenblick, in dem
er ſich beinahe ausgeſprochen hätte und von ihr plötzlich
mit der verwünſchten Erinnerung an Alſt, wie mit einem
Eimer kalten Waſſers übergoſſen wurde, . .. der wünſchte
ſich keinen zweiten zu erleben.
Ja, er liebte ſie! ... Er hätte es zu den Fenſtern
hinausſchreien mögen, oder hineinrufen in das Gepolter
des Bahnzuges, oder ſonſt irgendwie es äußern, nur daß
es ihm nicht ſo im ſtillen ungehört das Herz abdrücke.
Da fuhren ſie durch einen Tunnel. Es wurde
ſchwarzdunkel im Coupé. Und da ſchrieb er halb
mechaniſch mit der Hand in dieſe Schwärze hinein das
Wort „Malwine.“ Er ſchrieb es in großen lateiniſchen
Uncialbuchſtaben, als grübe er es mit dem Meißel in
Granit. Er dachte gar nicht daran, daß er die brennende
No
Zigarre in der Hand hatte und ihr roter Feuerpunkt
leuchtende Linien in die Finſternis hineinſchrieb, feurige
Buchſtaben, lesbar für Augen, welche ſie bemerken
wollten.
Und wiederum ſchrieb er „Malwine“ . .. und
noch einmal ... und dann war der Tunnel zu Ende,
und es wurde wieder hell.
Er wußte kaum, was er geſchrieben, und noch
weniger, daß es geleſen worden. Er ſah auch nicht, mit
welchen Augen Malwine jetzt an feinem Antlitz hing.
Sie war in der That außer ſich. Welch anmutiger
Einfall, zumal von einem Proſaiker, ihren Namen mit
Feuer in die Luft zu ſchreiben! In der ganzen Marlitt
kam dieſes Motiv nicht vor. Nein, gewiß, ſo ſieht ein
Proſaiker nicht aus, dieſer Jüngling war einer poetiſchen
Empfindung fähig.
„Lieber Klaus,“ ſagte ſie raſch entſchloſſen, „haben
Sie wohl eine Cigarrette bei ſich? Ich möchte ſo gern
ein paar Züge thun.“
Klaus hörte alle Engel ſingen. Ein ſolches „Lieber“
von ihrem Munde, mit einem ſo langen, weich betonten
„i“, es war, um an die Coupedede zu fahren!
„Gewiß, liebe Malwine,“ ſtammelte er und bemühte
ſich, das „i“ ja genau ſo zu bringen, wie ſie es gebracht.
Er reichte ihr die Cigarrette, half ihr, ſie in Brand
6
zu ſtecken und ſah dann glücklich lächelnd zu, wie ſie
rauchte. Ihm war, als rauchte ſie mit ihm aus einer
Pfeife. Und dann kam plötzlich wieder ein Tunnel, es
wurde dunkel und er ſah ihre liebe Geſtalt nicht mehr,
obgleich er kein Auge von ihr wandte. Nur das Feuer:
pünktchen der Cigarrette verriet ihm, wo ſie ſaß, und
dieſer rote Punkt ... täuſchte er ſich auch nicht?
waren es wirklich Buchſtaben, was da vor ihm in der
Luft entſtand und verſchwand? Kein Irrtum möglich;
deutlich las er nach einander K, L, A, U, 8, . .. feinen
Namen!
Er ſtieß einen Freudenſchrei aus, den ſelbſt das
Getöſe des Zuges nicht übertäuben konnte. Dann faßte
er ſeine Cigarre feſter und ſchrieb mit dieſem feurigen
Bleiſtift haſtig in die Luft: „Liebſt Du mich?“
„Ja,“ antwortete das rote Pünktchen in der ent—
gegengeſetzten Ecke.
*
*
Es war der längſte Tunnel auf dieſer ganzen Strecke.
Als es wieder hell geworden, machte Frau Roſa
Barb große Augen, denn ihre beiden Reiſegefährten
ſaßen ihr gegenüber und hielten ſich feſt umarmt.
So hatte der goldene Tropfen doch wieder gut
gemacht, was der braune Tropfen beinahe für immer
verdorben hätte.
Der Schlagſchatten.
Ein Wiener Geſellſchaftsbild.
(1886)
.
NT
RL
DL
1
der goldgeränderten Einladungskarte. Was ſie bedeuten
ſollten, wußte ich einſtweilen nicht, aber als ich am an—
beraumten Abend ſeinen mittleren Salon betrat, den
orientaliſch⸗pariſeriſchen, da begann ich etwas zu ahnen.
Es waren in dieſem merkwürdigen Junggeſellenheim,
wie gewöhnlich bei dieſen kleinen Soupers, mehrere
junge Ehepaare und flotte Junggeſellen vereinigt, da—
runter einige berühmte Namen des Wiſſens oder Könnens,
aber ſämtlich gute alte Bekannte. Nur eine Erſcheinung
war mir fremd und einigen anderen auch. Auf einem
Ruhebett, welches ganz unter einem rieſigen Königs—
tigerfell verſchwand, ſo daß dieſes furchtbare Tier lebendig
durch den Salon zu ſchreiten ſchien, ſaß oder lag ein
verblüffendes Frauenbild, ganz wie die von Dannecker
verlaſſene Ariadne auf ihrem marmelſteinernen Tiger⸗
tier. Sie hatte den rechten Arm, der faſt bis an die
Achſel in einem ſchwarzen Handſchuh ſtak, auf den ge—
waltigen Kopf des Tieres geſtützt, und ihr eigenes Haupt
ruhte nachläſſig in dieſer Hand. Ein ſeltſamer Frauen⸗
kopf, die Haut gelb wie altes Elfenbein, die großen
Augen ſchwarz wie das unbändig krauſe Haar, deſſen
Schlangengeringel über eine Wachsbüſte von einem ge—
wiſſen matten Schwung niederrollte. Den ſchwarzen,
ſcharfgezogenen Brauen entſprachen zwei dunkle Halb—
kreisſchatten unter den Augen, ſo daß dieſe wie in
Parentheſe erſchienen. Einiges an alledem war jeden—
falls Kunſterzeugnis, wie auch ein Hauch von Roſenrot
auf ihren Wangen, ſo leicht, daß er von dem durch—
ſchimmernden Gelb der Haut einen Stich ins Orange
annahm. Sie trug ein ſchwarzes Surahkleid, auf Bruſt
und Rücken tief herzförmig ausgeſchnitten und an Buſen,
Gürtel, Achſeln, Schoß und Schleppe mit großen gelben
Roſen aus Seide geſchmückt. Die überlange Schleppe
ſtrömte in wirren Wogen über den Rücken des Königs-
tigers nieder und verlor ſich weiterhin auf den blumigen
Wieſen der mehrfach übereinandergeſchobenen perſiſchen,
indiſchen und arabiſchen Teppiche. Ihr linker Arm lag ent⸗
.
blößt in ihrem Schoße und ſchien ſich von dem ſchwarzen
Meere dieſer Toilette willenlos ſchaukeln zu laſſen.
Gleich mein erſter Blick galt dieſer exotiſchen Er⸗
ſcheinung. Wer iſt ſie? fragte ich mich. Die Göttin
des gelben Fiebers, oder die Königin der Nacht aus
der großen Oper von Paramaribo? Eine Prinzeſſin aus
zweitauſend und zwei Nächten oder die Kurfürſtin der
weißen Mohren in Mittelafrika? Rauenberg kam mir
jedoch gleich entgegen und ſprudelte in ſeiner hurtigen
Weiſe hervor:
„So, lieber Doktor; vor zwei Jahren, am 17.
Januar 1884 beklagten Sie ſich, es gehe bei mir immer
zu luſtig her, es fehle an dem nötigen Schlagſchatten.
Als muſterhafter Wirt ſuche ich alle Wünſche meiner
Gäſte zu befriedigen. Der Schlagſchatten unſerer heutigen
Luſtbarkeit heißt: Donna Clemencia Pardo y Ponce,
Wittwe des unglücklichen Präſidenten von Colorado,
General Don Joſé Pardo y Ponce.“
Ich hatte von der ſeltſamen Frau gehört, die ſchon
ſeit Jahren geheimnisvolle Schritte bei der europäiſchen
Diplomatie that und über ebenſo geheimnisvolle Hülfs—
quellen verfügte. Rauenberg ſtellte mich ihr vor. Ich
verneigte mich und ſagte galant: „Madame, Europa
ritt auf einem Stiere, Südamerika reitet auf einem
Tiger.“ Einen Augenblick ſah ich ihre beiden Augen
ſtarr auf mich gerichtet, wie die Mündungen zweier
ſcharfgelad ener Escopetas, dann bot ſie mir eine gelb—
ſeidene Düte mit Chokoladebonbons und ſagte:
„Nehmen Sie eine langue de chat. Dieſe War⸗
ſchauer Chokolade von Lourſe protegiere ich jetzt. Sie
iſt wahrhaftig die beſte; Paris iſt nicht mehr zu eſſen,
die Schweiz unverdaulich.“ Und als ich eines der goldbe—
ſpritzten Plättchen verſpeiſt hatte, ſagte ſie: „Buen pro-
vecho!“ (wohl bekomm's!) und griff nach einem Kriſtall⸗
gläschen mit Cognac, das ſie kurz vorher verlangt hatte.
„Sie ſpricht nie von anderem, als von Eſſen oder
Trinken,“ flüſterte hinter mir unſere ätheriſche Sopraniſtin
Fräulein Lilla Bandt dem Hausherrn zu, worauf dieſer
ſie in Schutz nahm:
„Nein, ſehen Sie, die Generalin hat Trauriges
erlebt, ſie hat einen Schlagſchatten in ihrem Leben, den
kein Sonnenſtrahl auflöſen wird.“
„Einen Schlagſchatten, wieſo?“ zirpte die Künſtlerin.
„Ich weiß es nicht. Ich glaube, kein Menſch
weiß es. Daß der General Pardo y Ponce von den
Aufſtändiſchen vor fünf Jahren in San Criſtobal er-
ſchoſſen wurde, iſt alles, was man weiß, aber es ſcheint
noch etwas Beſonderes damit verknüpft zu ſein.“
„Ich werde ſie befragen,“ ſagte Fräulein Lilla ſo
vorlaut, wie nur ſie zu ſein verſtand.
Se
„Wird Ihnen nichts nützen. Sie wird die Ge—
ſchichte vielleicht bereitwillig zu erzählen beginnen und
dann irgendwo ſtecken bleiben. Es geht ihr immer ſo.
Sie läßt ſich durch alles ablenken und hat die tauſend—
mal begonnene Geſchichte noch nie zu Ende erzählt.“
Ich betrachtete die Generalin mit jenem Mitleid,
das man dem Unglück ſchuldet. Sie hatte ſoeben die
letzten Tropfen des Glaſes in ihre bloße linke Hand ge—
goſſen und darin verrieben, jetzt zog ſie den Duft ihrer
Handfläche mit geblähten Naſenflügeln ein und rief:
„Que, qué! (na, na!) das ſcheint Revieère zu fein;
etwas zu mild, kann ſeine dreißig Jahre haben.“
„Sehr richtig,“ bekräftigte Rauenberg.
„Martell 1850 iſt mir lieber,“ fuhr ſie fort,
„Reviere iſt für Frauen, für Pariſerinnen.“
Der Vicomte Roger de Bronze, von der franzöſiſchen
Botſchaft, der eine eigene Kunſt beſaß, in zuſtimmendem
Tone zu widerſprechen, wandte beifällig ein: „O Ma—
dame, koſten Sie doch einmal goutte d'or, es giebt
nichts Beſſeres.“
„Caramba!“ rief ſie, „als ob ich goutte d'or
nicht kennte! Von Cavaillon in Bordeaux. Querido
amigo (lieber Freund), viel zu aromatiſch. Iſt kein
Cognac, ſondern Parfüm.“ Sie griff nach der Flaſche
Martell, die auf dem Malachittiſchchen neben = ſtand,
Heveſi, Buch der Laune.
und roch an deren Mündung, erſt mit der rechten Nüſter,
dann mit der linken. „Ah!“
„Schon leer,“ flüſterte der Vicomte erſtaunt dem
Hausherrn zu.
„Wird nicht ganz voll geweſen ſein,“ entſchuldigte
dieſer; „übrigens iſt ja eine Flaſche bekanntlich nie leer,
fünfzig Tropfen ſind immer noch drin.“
„Fünfzig Tropfen?“ ſagte unſer jugendlicher Freund,
Herr von Pappe, der häufig ſo unbequem war, heim—
lich Geflüſtertes womöglich laut zu wiederholen. „Fünf—
zig Tropfen? Wohl möglich. Ich wette ſogar darauf.“
„Cinceuenta gotas!“ rief Donna Clemencia un⸗
gläubig und ſchüttelte die Flaſche. „Ich halte die
Wette, Sennor; cuanto va? (Um wie viel geht's?)“
„Um gar nichts,“ lachte er, „ſagen wir zehn Gul—
den .. . und ſetzen wir das Geld gleich ein, hier iſt
ein gutes Plätzchen dazu.“ Er nahm eine blaue Bank-
note aus ſeiner Brieftaſche und ſteckte ſie in den offenen
Rachen des Tigers, unter deſſen blutrote Zunge.
„Vo entgegnete die Sennora, hh;
habe nicht den Mut, dem Tiger in den Rachen zu greifen.“
„Gut, Madame,“ lächelte Herr von Pappe, „mein
Einſatz ſteht gleichwohl. Herr von Rauenberg, wir
ſind begierig.“
Aber,“ zauderte dieſer, denn ſchon reute ihn ſein
5
Einfall, „es geht nicht, denn ich . . . brauche dazu eine
Stricknadel und einen Strohhalm.“
„Sogleich,“ ſagte der Kammerdiener übereifrig und
und eilte hinaus, zur Wirtſchafterin. Auf einer getriebenen
Silbertaſſe aus dem ſechzehnten Jahrhundert brachte er
die Stricknadel herbei, was aber den Strohhalm betraf, ge—
ſtand er, daß um dieſe ſpäte Nachtſtunde . . . in Wien...
„Ich ſchicke ſofort jemanden zu mir,“ rief der
Vicomte, „im Stall . ..“
„Uutil,“ unterbrach ihn die Sennora und langte
mit einer epiſchen Handbewegung nach einer Virginia—
Cigarre, die ſie vorhin weggelegt hatte und die ja
einen Strohhalm enthielt.
„Das Ei des Columbus!“ rief ein Herr beifällig.
„Que dice? (was jagt er?)“ fragte fie.
„El huevo de Colon,“ erläuterte man ihr.
Sie zuckte die Achſeln: „Colon? Kenne nicht.
Iſt er hier?“ Und ſie ſchälte ſorgſam den Strohhalm
aus der Cigarre, dann reichte ſie ihn mit einer maje—
ſtätiſchen Geberde dem Hausherrn.
„Wie heißt „ich danke“ auf ſpaniſch?“ ſcherzte dieſer.
„Gracias,“ entgegnete ſie.
„Alſo dann gracias, Madame,“ und er hielt die
Nadel in eine Kerzenflamme. „Sehen Sie, nun durch—
bohre ich dieſen Kork mit dieſer Stricknadel.“
„Bueno.“
„Und nun ziehe ich die Nadel heraus und ſtecke
durch die Lücke dieſen Strohhalm.“
„Bueno.“
„Und nun verſchließe ich die Flaſche mit dieſem
Kork und kehre ſie ſachte um.“
„Bonisimo.“
„Und nun zählen wir, wie viel Tropfen heraus⸗
fließen. Der Vorteil iſt nämlich, daß die Tropfen
durch den Strohhalm viel kleiner werden ... Bah,
alter Studentenſpaß.“
Und alles begann zu zählen, am eifrigſten Donna
Clemencia. Sie rief immer mit lauter Stimme die
Dekaden, während ſie die übrigen Zahlen nur leiſe vor
ſich hinmurmelte:
„Zehn zwanzig üreipig ns. por
Dios, wie viel Tropfen! ... fünfunddreißig . . .
vierzig, . .. nein, noch nicht.“ Sie ſetzte erregt beide
Füße auf den Teppich; die plaſtiſche Stellung auf dem
Tigerrücken war vorderhand verdorben.
Und noch immer hatte der Strohhalm nicht ſeinen
letzten Tropfen hergegeben. Er tropfte allerdings ſeit
einer Viertelſtunde ſchon ſehr langſam. Donna Clemencia
bekreuzte ſich einmal übers andere und ſchien ihre
ſchwarzen Meduſenlocken mit zuckenden Fingern unter
ag
dem Rinne zuſammenbinden zu wollen, wie eine Spitzen—
barbe. Da hielt es der Hausherr für angemeſſen, ein—
zuhalten. Er gab dem Kammerdiener ein Zeichen, das
dieſer weitergab und dann mit lauter Stimme rief:
„Gnädiger Herr, die Suppe iſt aufgetragen!“
„Vive Dios! es war Zeit,“ ſtieß Donna Cle—
mencia halblaut hervor und ergriff haſtig den Arm
des Hausherrn. Ihre ſchwarze Schleppe überſtürzte ſich
wie Meeresbrandung und zerſtäubte dann in unzählige
Falbeln und Zacken, deren Gewoge die dicken gelben
Roſen wie Schaumflöckchen hin und her ſchleuderte. Im
Vorbeigehen hatte ſie noch eine raſche, heimliche Be—
wegung der Hand . .. nach dem Maule des Königs—
tigers, einen kühnen Griff unter deſſen blutrote Zunge.
Offenbar hatte ſie mittlerweile den Mut dazu gefunden.
* x
9
**
Man begab ſich durch eine Thüre, welche hüben
und drüben durch eine Portière aus je drei indiſchen
Teppichen, in der Mitte aber durch einen brettharten
indiſchen Vorhangteppich befeſtigt war, in die Bibliothek
und von hier durch eine ſeltſam verſchnörkelte ſchmiede—
eiſerne Pforte, deren beide Flügel offen ſtanden, in den
Speiſeſaal. Einen Augenblick war der Durchgang ge—
ſperrt, denn Donna Clemencia blieb mit ihren raujchen-
aa
den Gewändern rechts und links an den eifernen Blumen:
ranken hängen und zog dadurch beide Flügel hinter ſich
zu. Nur das behende Hinzuſpringen des Vicomte
Roger de Bronze und des Herrn von Pappe befreite
ſie aus der prächtigen Klemme.
„Gracias,“ ſagte ſie ihren Rettern, „ich will dafür
zwiſchen Ihnen beiden ſitzen.“ Sie bedachte nicht, daß
ſie durch dieſe eigenmächtige Maßregel die ganze wohl—
erwogene Sitzordnung über den Haufen warf.
Der Anblick der Tafel war . .. nun, er war eben
Rauenbergiſch. Das Licht des Barbedienneſchen Kron—
leuchters zerſtob in den facettierten engliſchen Kriſtall—
gläſern zu zahlloſen bunten Flimmern, zu pulveriſiertem
Regenbogen, wie der bekannte Kunſtforſcher Dr. Hans
Juften⸗Lennor ſich auszudrücken wagte. Auf dem Kamin⸗
ſims, der auf zwei antiken Porphyrſäulen ſtand (an jeder
ihrer Cannelüren hatte nach Dr. Juften-Lennox' Ver:
ſicherung ein altägyptiſcher Arbeiter ſechs Monate lang
geſchliffen), ritt zwiſchen zwei hohen Empire-Leuchtern
Napoleon J. hin und her, eine meiſterliche Verkleinerung
jenes Rudeſchen Erzſtandbildes, das auf der Place du
Diamant in Ajaccio ſteht. Die Wand gegenüber deckte
ein alter flandriſcher Gobelin, ein gewebter Park, in
dem gewebte Kavaliere und Damen mit verblichenen
Hunden und verſchoſſenen Pferden luſtwandelten, als
wären fie ſoeben von dieſer gedeckten Tafel aufgeſtanden.
Man nahm die Suppe auf ſchwediſcher Majolika ein,
die der Hausherr kürzlich auf der Amſterdamer Welt—
ausſtellung gekauft hatte. Für die Bombe glace war
ein neues Bijou⸗Service von Minton in Stoke upon
Trent angekündigt, und den Kaffee ſollten die Damen
aus den berühmten Soͤvres-Taſſen der Marie Antoinette,
einſt in der Sammlung Caſtiglione, trinken.
Die Gäſte ſchmückten ſich mit den duftigen Kamelien—
ſträußen, die bei ihren Gedecken lagen, und einige warfen
raſche Orientierungsblicke auf die Menus.
„Meiſterhaft komponiert,“ ſagte Baron von Re—
magen-Beaumenu, der ſtadtbekannte Feinſpeiſer, „denken
Sie nur, lieber Rauenberg, vorige Woche bei dem Diner
auf der ruſſiſchen Botſchaft gab es in dem Menu zwei
braune Braten, . .. in einem und demſelben Menu!
Sollte man das für möglich halten?“
Alles verurteilte einſtimmig dieſen unerhörten
diplomatiſchen Mißgriff, aber Donna Clemencia fuhr
mit einem lauten „Caramba!“ durch dieſe ganze zweck—
loſe Kritikaſterei, ſchob den Sherry von ſich und ver—
langte einen rohen Eidotter. Der Lakai hinter ihr zog
die Augenbrauen hoch, eilte aber hinaus und brachte
das gewünſchte Unding. Sie winkte Herrn von Pappe,
und dieſer ſchenkte ihr aus der für ſie allein beſtimmten
— 40 —
Karaffe das Sherryglas voll Cognac Martell 1850,
ſie ließ den Eidotter in die goldbraune Eſſenz gleiten,
bog das ragende Haupt zurück und leerte das grün
und rot aufglitzernde Glas mit wunderſamer Grandezza.
Man ſah ſie nicht ſchlucken, das Nonplusultra-Knickebein
war in einer Sekunde da und nicht mehr da, nur
über die Spitzen ihrer langen dunkeln Wimpern huſchte
ein leichter Schauer des Vergnügens.
„Bravo!“ riefen mehrere Herren und verſicherten,
ſich die Kombination merken zu wollen.
„Valgame Dios!“ (Gott ſteh mir bei!) rief die
Generalin, „das iſt noch gar nichts. Wiſſen Sie, was
gut iſt? Friſche Erdbeeren mit Cognac und Zucker, ...
viel Zucker natürlich .. . und viel Cognac!“
„Das wollen wir ſpäter verſuchen, das muß in
der That köſtlich ſein!“ rief es da und dort.
„Bah!“ warf ſie hin, mit einer Art Mitleid ob
der Unerfahrenheit dieſer Geſellſchaft, „es giebt etwas
noch Beſſeres.“
„Hört!“
„Wiſſen Sie, womit der Cognac am aller-, aller⸗
beſten iſt?“
„Hört, hört!“
„Mit . .. Cognac!“ ſagte ſie halb flüſternd,
mit der Feierlichkeit einer Prieſterin, welche das
„„
große Geheimnis, das unausſprechliche Wort aus—
ſpricht.
Die Geſpräche wurden lebhafter und kreuzten ſich
über dem Tiſchtuch nach allen Richtungen. Die Blumen
der mächtigen Rokoko-Jardinière in der Mitte der Tafel
ſchienen ſich ſcheu zu ducken vor den ſchweren und leichten,
ſtumpfen und ſpitzen Worten, die über ſie hinſchwirrten.
Bei der „selle de chevreuil rötie, sauce Cumber-
land“ verſtand man ſein eigenes Wort nicht mehr.
Wem es gelang, das Stimmengetöſe in ſeine Einzel—
heiten aufzulöſen, hörte von den verſchiedenſten Perſonen
gleichzeitig Dinge wie die folgenden vorbringen:
Baron von Remagen-Beaumenu erklärte einerſeits
Fräulein Lilla Bandt, wie man die Sauce Cumberland
ganz richtig bereiten müſſe, während er ſich auf der
anderen Seite in hinhaltendem Gefechte gegen die An—
griffe des berühmten Kunſtmäcens und Leinwandhauſes
Ritter von Dreyweber verteidigte, der die Überzeugung
verfocht, die Sauce Colbert ſei denn doch die ſchmack—
hafteſte unter allen warmen Saucen. Herr Dr. Juften—
Lennox rief um den nämlichen Zeitpunkt mit Emphaſe
aus: „Ich muß doch einmal eigens nach Groß-Schwechat
gehen, denn wenn ſchon das Klein-Schwechater Bier
„„ a
jo gut iſt, wie gut muß erſt das Groß-Schwechater
ſein!“ (Er hatte ſich nämlich ſoeben ein friſches Glas
Schwechater zwiſchen verſchiedene Champagner einge—
ſchaltet, um ſeine Zunge wieder zurechnungsfähig zu
machen.) Dieſer kräftige Witz verhallte leider in dem
Gelächter, das der immer galante Damenfreund und
Privatier Meyer von Meyerheim entfeſſelte, als er,
zwiſchen einer ſtrammen Brünette und einer behaglichen
Blondine eingezwängt, ausrief: „Meine Damen, in
dieſem Augenblicke möchte ich der zweiköpfige Adler
ſein!“ — „Ach,“ lachte die Brünette, „vermutlich um
aus zwei Schüſſeln zugleich eſſen zu können!“ — „Meine
Ungnädige, welcher Einfall!“ ſträubte ſich der Meyer—
heimer, „um Ihnen beiden gleichzeitig die Hand küſſen
zu können.“ Während er dieſe ſchöne Geiſtesblume an
zwei Buſen zugleich ſteckte, entſetzte ſein Gegenüber,
Dr. Adolf Spurius, der gefeierte Pamphletiſt, ſeine
nächſte Umgebung mit finſteren Wahrſagungen über die
Pläne Fraukreichs. „Frankreich, meine Herrſchaften,“
ſagte er, „kauft jetzt insgeheim ungeheure Mengen von
Leim.“ — „Zu Kriegszwecken?“ ſtaunte die Nachbar—
ſchaft. — „Jawohl, den Leim, aus dem ſeine Nachbar—
ſtaaten gehen ſollen,“ ergänzte er und ſalvierte ſich,
indem er ſeine ſchon wiederholt bewährte Spürnaſe in
einem Glaſe Johannisberger vom Jahre 1847 vergrub,
1
der ſelbſt in den Kellern des Fürſten Metternich nicht
mehr vorkommt. Dieſer kühne Scherz kreuzte ſich knapp
über der Sardiniere mit der ernſthaften Behauptung des
Sanitätsrats Profeſſor Dr. Au von Siechentroſt: „In
Pyrawarth, liebes Fräulein (er ſprach zu Frl. Lilla),
iſt ſchon der Boden ſo eiſenhaltig, daß man in der
ganzen Gegend die Pferde gar nicht zu beſchlagen
braucht.“ Fräulein Lilla Bandt, deren Köpfchen auf
Scherze nicht eingerichtet war, verſtand ihn zwar nicht,
aber ſie lachte doch, weil ihre Zähne vorzüglich gemacht
waren. Unentſchieden blieb es, wer unter den Anweſen—
den in dieſem Augenblicke die rührende Klage ausge—
ſtoßen hatte, er laufe ſchon ſeit 13 Jahren zwei Diners
nach, die er einſt verſchlafen, und könne ſie nicht ein—
holen. Dagegen iſt es ſicher, daß es Frau Meyer von
Meyerheim war, die das niedliche Geſtändnis machte,
ſie habe in ihrer Naivetät als ganz junge Mutter die
eben gemietete Amme wieder verabſchieden wollen, weil
fie dahinter kam, daß dieſe ſchon . . . ein Kind habe.
Hier hörte man ſogar ein „Unglaublich“ ausſtoßen,
welches ziemlich allgemein unſerem Fräulein Lilla zu—
geſchrieben wurde.
Hundert anderes aber, was noch ſo hin und her
ſchwirrte, blieb dem Horchenden verworrenes Geräuſch.
Glücklicherweiſe brachten die Kiebitzeier, bei denen die
U N
Generalin noch immer hielt, ein beruhigendes Inter⸗
mezzo. Sie aß nämlich kein Fleiſch, woraufhin Herr
Profeſſor Dr. Au von Siechentroſt aus feinerreichen Praxis
ſogleich einen Irrſinnigen hervorholte, der auch kein
Fleiſch gegeſſen habe, aus Furcht, es könnte das Fleiſch
eines Engels ſein. Die Generalin aß aber auch die
Kiebitzeier in ganz beſonderem Stile. Abgeſehen davon,
daß ſie den linken Arm bloß, den rechten aber im
langen ſchwarzen Handſchuh trug, ſo daß es ausſah,
als äßen ein Mohr und ein Weißer aus der nämlichen
Schüſſel, behandelte ſie die Eier des Kiebitzvogels in
gar zierlicher Weiſe. Sie ſtellte das geſchälte Ei auf—
recht in die Höhle der linken Hand und gab ihm dann
mit der rechten einen kräftigen Schlag auf die Spitze.
Dadurch ſank die obere Hälfte ein und bildete dann
eine ſeichte Grube, aus der eine weiße Kuppe aufragte.
Dieſe Kuppe trug ſie nun mit dem Meſſer ſäuberlich
ab, . . . fie jet dickes Eiweiß, alſo ſchwer zu verdauen,
ſagte ſie, und verſpeiſte nun das Übrige ohne Furcht.
Dieſe zierliche Operation erregte allgemeines Entzücken.
Ein großes Geſchrei nach Kiebitzeiern erhob ſich, Eil—
boten rannten nach der Küche und der Koch ſchickte
ſchleunigſt alles, was er noch von dem Artikel hatte,
herein. Und nun kam alles zu Donna Clemencia
gepilgert, ein Ei in der Hand, und jedem Ei mußte
„
ſie mit ihrer ſchwarzen Sphinxtatze den Meiſterklaps
auf den Scheitel verſetzen und dann mit dem zarten
Meſſerchen den ſicheren Schnitt führen.
Aber kaum waren die Kiebitzeier abgethan, ſo ging
der Zungenſturm wieder an, ſchlimmer als vorher.
Niemand bemerkte, welchen zarten Liebesdienſt Donna
Clemencia dem Vicomte Roger de Bronze leiſtete, als
er nach den Laibacher Krebſen ſich die Fingerſpitzen in
der dargereichten Handſchale ſäuberte. Sie ſah ihm
einen Augenblick mitleidig zu, dann fuhr ſie mit der
Meſſerſpitze in das Salzfaß und ſtäubte ihm eine tüch—
tige Ladung Salz auf die plätſchernden Finger. „Carisimo
amigo,“ ſagte ſie, „das allein zerſtört den Krebsgeruch
gänzlich.“
Mit einigem Neid ſah der einzige Herr von Pappe
ſeinem Nebenbuhler, dem ſchönen Roger, dieſe Gunſt
erweiſen und begann, um ſich Luft zu machen, dem
Fräulein Lilla ſchräg über den Tiſch weg eine ſehr
lange Geſchichte zu erzählen. Ich hörte nur, daß ein
Elephant wiederholt darin auftauchte und allerlei Un—
fug anrichtete, der nun leider nicht mehr gut zu machen
war. So böſe Elephanten kommen ſonſt in unſerer
Gegend gar nicht vor. Alle ſchändlichen Thaten des
fremden Ungethüms alſo, in ihrer vollen Breitſpurig—
keit, und was alles noch in den nächſten vierzehn
Nu Ve
Tagen oder drei Wochen darauf gefolgt ſei, berich—
tete Herr von Pappe auf ſo beträchtliche Entfernung
hin dem Fräulein Lilla Bandt; dieſe aber hörte gar
nicht zu und lachte noch weniger, denn es war gerade
nicht der günſtigſte Zeitpunkt, ihr Gebiß zu zeigen, da
der Sanitätsrat ſoeben von einem Zerſtreuten erzählte,
der eines Morgens bei der Toilette ſich die Perücke
in den Mund geſtopft und ſein falſches Gebiß auf den
Kopf geſtülpt habe. Glücklicherweiſe war der eben ent—
brannte Streit um die beſten Champagnermarken viel
zu heftig, als daß man ſolche Allotrien aufmerkſam an—
gehört hätte, und auch der arithmetiſche Nachweis des
Herrn Dr. Spurius, wie viele Stockwerke ein ſiebenzig—
jähriger Wiener in ſeinem Leben erſtiegen habe und
wie leicht er mittelſt all dieſer Stufen in den Mond
hätte emporſteigen können (deſſen Erdnähe voraus—
geſetzt), ging ungewürdigt vorüber, wie nicht minder die
Schilderung, welche der gefeierte römiſche Maler Signore
Fiorino Fiorini in ſeinem halbitalieniſchen Deutſch von
der Herrlichkeit des Papſtes entwarf, wenn er „um—
geben von ſechzig fidelen Kardinälen“ („fedeli“ meinte
er) dem Volke den Segen erteile.
Der Jaqueſſon, signature rose, fand allgemeinen
Beifall und man erklärte ihn für den dermaligen König
der Champagne. Kraft und Milde, behauptete Dr. Juften⸗
a
Lennox, feien in ihm gepaart, wie in Alexander dem
Großen, er ſei beſonnen und feurig wie Raphael Sanzio.
„Qué, qué!“ widerſprach Donna Clemencia und
wies auf eine Flaſche, die ihr allein gehörte; „alles
Zuckerwaſſer, dieſer iſt der einzige wirkliche Champagner,
Billecart Salmon, . .. sec, sec, fo see als möglich,
extra dry! Koſten Sie, querido amigo!“ Und fie
ſchob Herrn von Pappe ihr eigenes Glas hin, denn ſie
hatte ſeine Verſtimmung wohl bemerkt und wollte ihn
verſöhnen. „Und zwanzig Tropfen Martell 1850 hinein
. . . jo, jetzt trinken Sie . . . Ganz austrinken, ganz
aus, den wenn man zu dem Reſt neuen gießt, kriegt
man fluxion, Rheuma, . .. wie mein geliebter Gatte,
que Dios tiene (der bei Gott iſt), ... er hat auch
das reuma bekommen, nur davon.“
„Iſt er daran geſtorben?“ fragte Fräulein Lilla
Bandt herüber, in ſo hellem Sopran, daß er zu einer
ſo düſteren Frage gar nicht paßte.
Donna Clemencia richtete ſich ſtolz auf, ſo daß
ſie ſelbſt ſitzend groß ausſah, und ſchoß um die eine
Ecke der Sardiniere einen finſteren Blick nach der vor—
lauten Fragerin.
„Vive Dios,“ ſagte ſie feierlich mit dumpfer
Stimme, „der General Don Joſé Pardo y Ponce,
Präſident der Republik Colorado, iſt an neun Kugeln
4
geſtorben, als guerrero valiente (tapferer Krieger),
und hat vergoſſen ſein sangre de heroe (Heldenblut)
zu San Criſtobal, beſiegt durch Verrat, gefangen durch
Verrat, verurteilt durch Verräter. Die Geſchichte hat
den Namen Antonio Ardeaga verflucht wegen dieſes
Meuchelmordes, den Namen des Märtyrers aber wird
Colorado ſegnen. Es war am 9. febrero 1879, um
5 Uhr Morgens, als man ihn an die Mauer ſtellte.
Ich hatte mir von Ardeaga die Gunſt erbeten, ihm die
Augen verbinden zu dürfen. Aber er ließ ſie ſich nicht
verbinden ... und das war mein Unglück. Ich . ..
Demonio! (Teufel !)) ..
Sie unterbrach ſich plötzlich, ihre Haltung ſank zu—
ſammen und ſie ſuchte krampfhaft nach ihrer Taſche,
welche ſie in den weitläufigen Bauſchen ihres Kleides
nicht fand.
„Sie ſind unwohl, Madame,“ rief der Vicomte
beſorgt, und Herr von Pappe bückte ſich, um die Taſche
des ſchwarzen Meeres zu ſuchen. Er war ſo glücklich,
ſie zu finden, und griff hinein.
„Das Fläſchchen,“ hauchte die Generalin, toten—
gelb, und riß es ihm aus der Hand.
Sie goß ſich die waſſerhelle Flüſſigkeit auf die
Hand und rieb ſich damit Schläfen und Stirn. Dann
lehnte ſie ſich einen Augenblick ſtill zurück, mit ge—
N
ſchloſſenen Augen. Alles war mäuschenſtill, Rauenberg
winkte ſogar der Muſik, welche eben das Lied begleitet hatte:
„Ja das is was für'n Weaner,
Fürs Weaneriſche G'müat“ ..
Nun ſchwieg auch ſie.
Nur der Sanitätsrat trat, auf den Fußſpitzen
ſchleichend, an die Leidende heran und ergriff das Fläſchchen,
das ſie auf den Stuhl geſtellt hatte. „Elettricità
verde,“ las er auf der Etikette, „rimedi Mattei, Bo-
logna.“ Er verzog höhniſch den Mund und ſtellte das
Wunderelixir wieder hin.
Da öffnete die Generalin die Augen.
„Valgame Dios, yo era muerta“ (Gott ſteh
mir bei, ich war tot), ſagte ſie, „aber dieſes Mittel
hilft augenblicklich.“
„Grüne Elektricität, vom Apotheker Mattei in
Bologna,“ ſagte der Sanitätsrat ſpöttiſch. „Natürlich,
das weckt ja Tote auf.“
„Wie ſchade,“ flüſterte die Sängerin dem Haus—
herrn zu, „ſie war im beſten Zuge.“
„Sie macht es immer fo,“ entgegnete er, ihr den
Arm reichend. Man begab ſich in die Bibliothek, den
Kaffee zu nehmen.
Heveſi, Buch der Laune. 4
en
Ein Duft von „kuhwarmem“ Mokka, wie Herr
Dr. Spurius ſich ausdrückte, von Martell 1850,
Chocolat Boiſſier und egyptiſchen Cigarretten wogte
durch die Thüren ab und zu. Um die Carrara-Venus
von Pradier kräuſelte ſich blaues Gewölk, ſie ſchien darauf
gen Himmel fahren zu wollen. Die kleine Bacchanten-
ſcene auf der Staffelei nahm glühendere Fleiſchfarben
an und wurde für ein Stündchen ein unbezweifelbarer
Rubens. Die lange Wand voll goldſchimmernder Bücher—
rücken erſchien durch den duftigen Silbernebel nur noch
als vergoldete Silbertapete. In Schaukelſtühlen und
auf zweiſitzigen S-Fauteuild, auf Gobelin-Tabourets
und eingelegten alten X-Seſſeln und in altdeutſchen Arm—
ſtühlen von geſchnittenem Brettleder ſaßen und lagen
die Gäſte umher. Die Generalin hatte für ihre nacht—
ſchwarze Toilette den richtigen Hintergrund gefunden
und ſich auf ein von Julius Payer aus Spitzbergen mit—
gebrachtes Eisbärenfell hingeſtreckt, das vor dem Divan
lag. Vicomte Roger de Bronze und Herr von Pappe
hatten ihr rechts und links zwei ſeidene Kiſſen mit
Eiderdunen unter die Taille geſtopft, um ihr die Hin—
gegoſſenheit bequemer zu machen. Wie ein ſchwarzes
Pfauenrad ging ihr Fächer unabläſſig auf und zu, hin
und her. In der ſechseckigen Niſche, deren fünf Panneaux
Makart mit Coeur-⸗, Carreau:, Pique und Treffdame in
8
Lebensgröße geſchmückt hatte, zeigte Signore Fiorino
Fiorini den Damen Kartenkünſte, welche dieſe nicht be—
greifen wollten, und man hörte ihn im reinſten Tos⸗
kaniſch⸗Deutſch verſichern: „Errgott, das iſt ja ſehr
heinfach, die heine Elfte nehmen Sie von hoben, die
handere Elfte nehmen Sie von hunten;“ die Damen
brachen darauf in helles Gelächter aus, für welches
ſich der berühmte Volksſänger Kuchelbäcker, der, auf der
Thürſchwelle ſtehend, ſoeben ſeine beſten Couplets vor—
trug und die Heiterkeit auf ſeine eigene Leiſtung bezog,
ſehr geſchmeichelt verneigte. Von den verſchiedenen
ſchwatzenden Gruppen kamen, wie Altweiberſommer,
leichte Scherzreden durch die Luft dahergeſchwommen,
halbe Sätze, Wörter mit künſtlichen Schnörkeln, ...
hier ein Seufzer: „Ja, wem ein anderer eine Grube
gräbt, fällt ſelbſt hinein,“ . . . dort ein Kalauer über
eine „wohlgedrehte Wahrheitsnaſe,“ .. . noch weiter—
hin eine Bemerkung darüber, daß Herr von Dreyweber,
auf deſſen Frack ſich gewiſſe ungewiſſe Flecke zeigten,
einen „Bratenrock mit Sauce“ trage, . .. dann ſah
rechts einer auf die Uhr und konnte nicht begreifen,
warum man drei Viertel auf drei ſagen könne und
nicht auch drei Drittel auf vier, ... worauf ihm
ſein Gegenüber links ſogleich ein analoges Problem
hinwarf, nämlich warum man nicht auch die Handſchuhe
o
abwechſelnd an beiden Händen tragen könne, wie er
als Student die Schuhe abwechſelnd an beiden Füßen
getragen. Der Herr Sanitätsrat fand einen Spaß nicht
fein genug und brummte mit ſeiner bekannten Lizenz:
„Spiritus asini,“ und als der Beleidigte ſtirnrunzelnd
„Was?“ fragte, erläuterte er hurtig: „Spiritus anisi
möchte ich, Aniſette;“ . . . Fräulein Lilla Bandt und
Herr Meyer von Meyerheim ſtießen auf Du an, jene
mit einem Löffel voll ſchwarzen Kaffees, dieſer mit
einem halben Biskuit; ... der Hausherr verleitete
mehrere rauchſcheue Damen, es mit nikotinfreien Zigarren
zu verſuchen, welche die Firma Jacquemin Barena in
Utrecht ausſchließlich für den König von Holland fabri—
ziere, und als die eine derſelben das Zeug zu fade
fand und nach einer ſtarken Cigarrette aus ſchwarzem
Birginia-Tabaf griff, äußerte Herr Dr. Spurius:
„Ja, wer A ſagt, muß auch weiches B ſſagen“ . ..
und Dr. Juften⸗Lennox bot der Dame die erſte Cigarre
der neuen Regie-Sorte „Desperados“ an, welche der
Finanzminiſter geſtern als beſondere Primeur dem Mi—
niſter des Äußeren, dieſer aber in gewohnter Vorſicht
geſtern dem Miniſterialrat von Leiſetritt, den er offen—
bar nicht mochte, verehrt hatte, welcher jedoch gewitzigt
genug war, ſie heute in der Akademieſitzung dem
Herrn Mitglied Dr. Juften-Lennox weiterzuverehren,
5
der ja an ſtarken Tabak gewöhnt fein dürfte... Was
den Signore Fiorino Fiorini betrifft, verlangte er nach
„ruſchißem Thee,“ was ihm Frau von Meyerheim
dringend in „ruſſiſchen“ verbeſſerte, worauf jener etwas
gereizt erwiderte: „Sie wiſſen ja, gnädige Frau, ich kann
das ſch nicht ausſprechen,“ worauf dieſe wieder nachwies,
daß er ja thatſächlich ein ſchausgeſprochen habe, nur ſeiner
Gewohnheit gemäß am unrechten Orte, worauf jener
rundweg erklärte, jetzt verſtehe er ſie ſchon gar nicht . ..
Und das alles durcheinander, kreuz und quer, in
einem allgemeinen Summſumm und Brummbrumm,
als plötzlich unter den Klängen des berühmten Kakophon—
Virtuoſen John Bubble aus dem Orpheum, der ſich
ſoeben im Billardzimmer hören ließ, eine erſtaunliche
Geſtalt unter die Geſellſchaft trat. Eine Art marok—
kaniſcher Indier aus Algeriſch⸗Syrien, mit einem gewal—
tigen, agraffenblitzenden, reiherbuſchnickenden Mufjelin-
turban, einem weltumſegelnden Gürtel voll koſtbarer
Yatagans und Piſtolen, und einem Schlafrock aus gold—
geſtreiftem Kaſchmir. Man hatte Mühe, in dieſem
Orientalen den Leinen⸗Mäcen Ritter von Dreyweber zu
erkennen, den der Hausherr mit Rückſicht auf die oben
erwähnten Flecke nach ſeinem etwas kühnen Ausdruck
dergeſtalt „veröſtlifiziert“ hatte. Dieſes glänzende Bei—
ſpiel wirkte wie eine Epidemie. Augenblicklich wollte
Zu una
alles ſich ähnlich verkleiden, und die reiche Sammlung
orientaliſcher Koſtüme, welche Herr von Rauenberg an-
gelegt hatte, wurde weidlich geplündert. Der Hausherr
war unerſchöpflich in maleriſchen Zuſammenſtellungen,
überall legte er ſelbſt Hand an, er umſchlang die Damen
mit den feinſten Shawls, daß ſie ausſahen wie Huris,
mit Regenbogen umgürtet, er ſchmückte ihre Arme mit
Goldmünzenſchnüren, er ſteckte ihre Füßchen in gold—
geſtickte Babuſchen und beſprengte ſie mit Roſeneſſenz.
Er ſelbſt trug den weißen Burnus und das kaffee—
braune, gelb geſtreifte Gewand eines algeriſchen Scheikhs.
Den Sanitätsrat ſteckte er in ein mit Goldtreſſen kreuz
und quer überſponnenes und durchwirktes griechiſches
Klephtengewand, deſſen ſchneeweiße Fuſtanella ihm drollig
um die etwas dünnen Beine baumelte, während ſeine
große Butzenſcheibenbrille, wie wir ſie wegen ihrer
runden Gläſer nannten, immer erſtaunt nach dem roten
Fez emporzuſchielen ſchien. Herr Meyer von Meyerheim
ſtellte mit geſchwärztem Geſicht einen Kislar Aga dar,
hatte aber keine Idee, was das für ein Tier ſei, und
begriff von dem ganzen Koſtüm nur den Tſchibuk, an
deſſen Bernſteinſpitze er unverdroſſen ſog. Signore
Fiorino Fiorini ritt als indiſcher Rajah auf einem eben-
hölzernen, mit Perlmutter ausgelegten Stecken, der als
Elephant zu gelten hatte, und Herr Dr. Spurius als
5
Beduine feuerte unabläſſig eine lange, echte, glücklicher—
weiſe aber nicht geladene Flinte ab, an der er nur
auszuſetzen hatte, daß er aus Mangel an Kenntniſſen
in dieſen techniſchen Künſten nicht ſicher angeben konnte,
ob die Arbeit dieſes Schießgewehres eine aus- oder
eingelegte ſei. Höchſt bedeutend ſah Herr Dr. Juften—
Lennox aus, deſſen kugelrundes Ich in ein hemd—
artiges perſiſches Silberbrokatgewand mit reichem Pelz—
beſatz eingekapſelt war; auch die hohe Lammfellmütze
fehlte nicht, und es war ihm in dieſem Koſtüme, wie
er ſagte, ſo original-heiß, als befinde er ſich in Perſien
ſelbſt, mitten im dortigen Hochſommer. Jedenfalls
hatte er dabei mehr Perlen am Leibe als Harun-al-
Raſchid, aber die ſeinigen waren nur tropfbar-flüſſig
und er mußte ſich der Mühe unterziehen, ſie ſelbſt zu
vergießen. Für Donna Clemencia hatte Rauenberg aus
einem Karton ein funkelnagelneues lesghiſches Braut—
gewand zu Tage gefördert, ganz aus ſchneeweißem
Mouſſelin mit Spitzen und zarteſter Goldſtickerei, aber
ſie zog es nicht an, denn ſie hätte dazu erſt ihren
ſchwarzen Abendſtaat von ſich thun müſſen.
Selbſtverſtändlich ſaß kein Menſch mehr auf einem
Seſſel, alles lagerte auf den Teppichen und Fellen um—
her, Tſchibuk und Beduinenflinte kreuzten ſich, man ſah
nichts als untergeſchlagene Beine, und war ein Orts—
wechſel nötig, jo mußte er wohl oder übel auf allen
Vieren vor ſich gehen. Ein tragi⸗komiſches Intermezzo
ereignete ſich, als Herr Dr. Juften-Lennox ſich neben
den bekannten Dichter, Herrn Leander Graſel hinwälzte,
der ſchon zwei Dutzend Romane „frei nach dem Eng—
liſchen“ erfunden hatte. Dies führte zu folgendem
fatalen Zwiegeſpräch: „Nun, lieber Herr Graſel, von
wem iſt denn Ihr neuer Roman?“ ... Das war
Tuſch. Der böſe Stich ließ den Geſtochenen vor
Schmerz verſtummen, aber ſeine Umgebung machte
ſeine Sache zu der ihrigen und rief einſtimmig: „Ge—
nugthuung!“ Vergebens verſicherte Herr Leander Graſel,
ein durchaus friedfertiger Mann, das ſei nicht der
Mühe wert, er fühle ſich keineswegs getroffen, die Ge—
ſellſchaft rief nur um ſo lauter: „Genugthuung! Blut!
Er muß Ihnen vor die Klinge!“ Auch der Beleidiger
war jedoch nicht in der Laune, ſich zu ſchlagen oder
gar ſchlagen zu laſſen, und wollte ſich vielmehr ganz
ſachte drücken, aber ſtarke Arme ergriffen ihn, und
ehe beide es hindern konnten, ſtanden ſie mitten im
Gemach einander gegenüber, der Vicomte Roger de
Bronze und Herr von Pappe neben ihnen, der jetzt ins
Türkiſche überſetzte Sanitätsrat aber als ärztlicher Bei—
ſtand ſaß etwas abſeits und hatte ſchon ſein chirurgiſches
Beſteck vor ſich und kramte blutgierig unter den krummen
Nadeln darin. „Los! Los!“ ſchrie alles, die Damen
am lauteſten. Die Situation war aufs höchſte ge—
ſpannt. Da plötzlich ermannte ſich Dr. Hans Juften—
Lennox und ſchwang ſeinen halbkreisförmigen Türkenſäbel
ſoweit er konnte über ſeine Schulter zurück, — daß es
ausſah, als wollte er ſeinen Gegner mit einem einzigen
Hiebe bis auf den Sattelknopf ſpalten. Allen ſtockte
der Atem, einer ſolchen Berſerkerwut hatten ſie ſich
gerade von dem Herrn Doktor bei ſeiner nach allen
Richtungen ſo ſehr abgerundeten Perſönlichkeit am wenig—
ſten verſehen. Aber dieſer ſpaltete ſeinen Gegner nicht.
Im Gegenteil ſtieß er ſelbſt einen durchdringenden
Schmerzensſchrei aus, ließ den Säbel fallen und griff
mit der Hand nach einer entlegenen Stelle ſeiner dem
Weltgetriebe abgewendeten Seite. „Ich bin verwundet!
Ich bin verwundet!“ ſchrie er und hüpfte mit gar
ſauren Mienen auf einem Beine umher, ohne die Hand
von der verletzten Stelle zu nehmen. Der Sanitätsrat
begriff zwar die Sache nicht, ließ aber den Verwun—
deten doch in ein einſames Kämmerchen ſchaffen, wo
er gewiſſenhaft that, was ſeines Amtes war. Ein uner—
hörter Fall! Herr Leander Graſel hatte nicht einmal
ſein Schwert gezückt, und dennoch war Herr Dr. Juften⸗
Lennox thatſächlich verwundet. Als nämlich dieſer Tapfere
mit ſeinem krummen Türkenſäbel gar ſo heftig ausge—
als nee
holt, hatte er mit deſſen Spitze hinten ſich ſelbſt ge—
ſtochen, gerade unter dem Rücken ... „Nein,“ ſagte
der Sanitätsrat, als er ihm das Pflaſter aufklebte, „eine
ſolche Selbſtverwundung iſt mir in meiner ganzen Praxis,
die Menſur mit eingerechnet, noch nicht vorgekommen.“
Draußen aber, in der Bibliothek, wurde unterdeſſen
der Sieger in einem der blutigſten Duelle dieſes Jahres
mit Glückwünſchen überhäuft und durch gemeinſamen
Beſchluß gezwungen, zu geſtehen, daß dies der ſtolzeſte
Tag ſeines Lebens ſei. Sein großartiger Triumphzug
um das Billard herum beſchloß dieſe denkwürdige Epiſode.
* *
*
Immer toller wurde die Stimmung. Im Neben—
zimmer begannen Zigeuner zu geigen und die Hämmer
des Cymbals tanzten ihren raſenden Csardas dazu.
Die Damen hatten aus einem Dutzend großer Bon—
bonnièren die zur Ausfüllung dienenden weißen Seiden—
papierſtreifen, Handvoll um Handvoll, herausgegriffen
und warfen ſich nun mit dieſen Stegreif-Schneebällen.
Bald war die Schlacht allgemein, und die Herren
konnten ihr am wenigſten fern bleiben. Die weißen
Knäuel flogen kreuz und quer, ſie zerbarſten an den
Friſuren und ſpießten ſich an den Schnurrbärten, die
Papierſchnitzel wirbelten wie Schneeflocken in der Luft
umher, bedeckten Teppiche und Divans, wurden wieder
emporgerafft, zuſammengeknäuelt und in das nächſte
lachende Geſicht geworfen. Das war wie eine Schar
luſtiger Schuljungen im Winter, nach einem tüchtigen
Schneefall. Der Schauplatz dieſes Gefechtes ſah aber
auch danach aus. Es war Zeit, hier Frieden zu ſtiften.
Rauenberg hatte ein gutes Mittel dazu. Er komman—
dierte einen bereitgehaltenen Trompeter auf die Thür-
ſchwelle und der blies aus voller Bruſt den Zapfenſtreich
in den Saal hinein. Nichts bringt eine tolle Geſell—
ſchaft ſo raſch zur Beſinnung. Lachend hielt ſich alles
die Ohren zu und Donna Clemencia . .. erwachte plötzlich.
Sie hatte nämlich all dieſe geräuſchvollen Scenen
verſchlafen. . . Martell 1850!
Darum alſo war es ſo toll hergegangen: der
„Schlagſchatten“ hatte geſchlafen.
„Meine Herrſchaften!“ rief Rauenberg, „auf, auf,
zur Höllenbowle!“
Dieſes unheimliche Wort konnte nicht verfehlen,
die allgemeine Aufmerkſamkeit zu erregen. „Zur Höllen—
bowle?“ flüſterte man fragend rechts und links. Aber
man ordnete ſich in doppeltem Gänſemarſch, den
Trompeter vorauf, und marſchierte flott hinter dem Haus—
herrn drein.
Man gelangte in den orientaliſchen Salon zurück.
Rauenberg hatte kürzlich den ſeltſamen Einfall gehabt,
ar oo
da dieſer Salon bereits unter dreifachen Teppichen
erſtickte, auch an deſſen Plafond in der Mitte einen
reizenden kleinen arabiſchen Teppich auszuſpannen, von
deſſen vier Ecken vier perſiſche Bronze-Ampeln von
feinſter Ciſelierung herabhingen. Jede Ampel trug in
ihrem Schnabel ein ganz feines Flammenzünglein; das
Gas mußte da mit Naphtaflämmchen brennen, welche
nur Zwielicht verbreiteten.
Unter dieſem Zeltdach ſtand ein ſchwarzer Tiſch
und auf dieſem eine gewaltige engliſche Bowle mit
tauſend geſchliffenen Kriſtallflächen. Sie enthielt eine
Flüſſigkeit, die alle Farben ſpielte, als wären Topaſe
und Rubinen in ihr aufgelöſt. Ein geiſtvoller Duft
ging von ihr aus und löſte alle Zungen zu einem „Ah“,
der Hausherr gebot jedoch unverbrüchliches Schweigen
und ſtumm nahmen die Gäſte ihre Plätze um den Tiſch
ein. Nur die Generalin murmelte: „Valgame Dios“
und leerte, ohne zu fragen, geſchwind noch eine Flaſche
Cognac in den blitzenden Kübel. Ein Wink des Haus—
herrn und alle Thüren ſchloſſen ſich. Noch ein Wink
und die vier Gasflämmchen erloſchen. Schwarze Finſter—
nis umhüllte die Geſellſchaft, bis plötzlich in deren
Mitte eine feurige Lohe emporzüngelte, aus blauen und
gelben Flammen gemiſcht, deren unſtäter Widerſchein
die Köpfe ringsum geiſterhaft phosphoreszieren ließ.
ee
Im zuckenden Lichte ſchienen auch alle dieſe Geſichter
ſchmerzlich zu zucken, als hätten ſich hier lauter Ver⸗
dammte zu einem tröſtenden Pünſchlein verſammelt.
Und die Statuen in den Ecken wurden lebendig und
rührten eherne Arme, als langten auch ſie nach einem
Labetrunk; die marmorne Badende von Carrier-Belleuſe
ſchien ſich immer von ihrem Seſſel zu erheben und ſich
gleich wieder hinzuſetzen, als ſei ſie noch unſchlüſſig, ob
ſie auch an den Tiſch treten ſolle; und auf dem Kamin
der Baryeſche Bronzelöwe, deſſen Original im Tuilerien—
garten ſteht, fuchtelte mit dem gewaltigen Schweife
aufgeregt in der Luft umher, er oder ſein Schatten an
der Wand, im flackernden Feuerſchein. Eine ſeltſam
verworrene Muſik begleitete das Schauſpiel, es wurde
nämlich hinter den geſchloſſenen Thüren gleichzeitig
im Kabinett rechts Wagners Feuerzauber und im
Boudoir links Meyerbeers Höllenballett aus Robert
geſpielt, was ſich zu einer ganz ſchaurigen Diskordanz
vereinigte.
„Por amor de Dios! (um Gotteswillen),“ rief
Donna Clemencia, „das iſt ja wie in der Hölle. Ich
habe Angſt.“ Und da ihr zufällig eine Flaſche in die
Hand geriet, goß ſie immerhin auch deren Inhalt, ohne
ihn zu kennen, in die Flammen, welche nur um ſo
fürchterlicher emporſchlugen.
Design 2
Ein gellender Schlag auf ein Tamtam. Die Thüre
ſprang auf |
„El Demonio!“ ſchrie die Generalin entſetzt,
denn ſie glaubte, nun erſcheine der Teufel, um mitzu—
trinken. Aber es war nur der Kammerdiener, der das
Gas wieder entzündete und die Greuel der Hölle bannte.
Bald war der Punſch fertig und dampfte in den bauchigen
Gläſern, welche um die Wette leer und wieder voll wur—
den. Die Verdammten gebärdeten ſich immer luſtiger.
„Caramba! wir haben noch den ganzen Abend
nicht geſpielt!“ rief die Generalin, deren Augen brannten.
„Sind keine Würfel da?“
„Würfel?“ wiederholte der Hausherr, „warum
gerade Würfel? In Wien ſpielt man das nicht.“
„Das einzige Spiel, Würfel!“ rief die Sennora.
„Alles andere iſt nichts. Alſo keine Würfel da? ...
Halt! Geben Sie mir Tinte und Feder!“
Man brachte ihr das Verlangte.
„Man muß ſich zu helfen wiſſen,“ ſagte ſie und
griff mit ihren langen gelben Fingern in die Zucker—
doſe, welche Würfelzucker enthielt. Sie ſuchte zwei
ganz genaue Würfel heraus und begann mit Tinte die
Punkte auf deren Flächen zu malen. Erſtaunt ſah
man ihr zu und fand den Einfall äußerſt praktiſch.
Als ſie aber fertig war, ſagte ſie feierlich: „Vicomte!“
und winkte den Vicomte Roger de Bronze an ihre
linke Seite, und dann eben ſo feierlich: „Monſieur!“
und Herr von Pappe mußte ſich an ihre rechte Seite
ſtellen. Dann ſagte ſie jedem von ihnen etwas ins
Ohr und rief: „Einen Becher!“ ... da aber kein
Würfelbecher vorhanden war, ſtürzte ſie raſch den In—
halt ihres Glaſes hinab und warf die beiden Würfel
in das leere Glas. Sie ſchüttelte es und warf die
Würfel vor Herrn von Pappe hin. „Oh pobrecito
(o Armſter)!“ rief ſie, „eins und drei; das iſt ſchlimm
für Sie.“ Dann warf ſie für den Vicomte und rief:
„Por Dios! Sechs und vier. Sie haben gewonnen.“
Und ſie reichte ihm majeſtätiſch die Hand, die der
Vicomte inbrünſtig küßte.
„Um was wurde denn gewürfelt?“ fragte Frau
Meyer von Meyerheim, welche der Fall nicht wenig zu
intereſſieren ſchien.
„Quien sabe? (wer weiß?) Vielleicht um ...
alles,“ ſagte Donna Clemencia mit Pathos.
„Ich darf mit Ihnen nur wetten, Madame,“ warf
Herr von Pappe etwas gereizt hin, „im Wetten ge—
winne ich, im Spiel verliere ich ... Apropos, da
fällt mir eben ein
Er trat zu dem großen Königstiger hin und griff
in deſſen Maul unter die blutrote Zunge. „Ah,“ rief
.
er, „ich hatte dahier eine Banknote eingeſetzt ... und
fie iſt nicht mehr da ... Sollte der Tiger fie ver⸗
ſchlungen haben, oder .. .“
„Sie muß da ſein,“ unterbrach ihn der Haus—
herr, der ganz gut wußte, wer die Zehnernote genommen.
„Ich will einmal ſelbſt nachſehen . . . Aber da iſt fie
ja, ganz unverſehrt.“ Und er holte eine Zehnernote,
die er erſt geſchickt hineingezaubert, aus dem Tigermaul.
„Hier, mein Freund, nehmen Sie Ihr Eigentum wieder.“
„Sein Eigentum?“ rief jedoch die Generalin
hitzig. „Nein! mir gehört ſie! Es waren alſo zwei
Noten drin und ich habe nur eine genommen!“
„Sie, Madame?“ entgegnete Herr von Pappe,
der vor Eiferſucht, oder Punſch, oder beidem ſchwierig
wurde. „Eine fremde Banknote? ei ... ei!“
Der Hausherr ergriff ſeinen Arm und wollte
ihn hinausführen, aber der Unglückſelige wiederholte
immerfort: „Ei. ei!“ und zwar in immer be⸗
denklicherer Betonung.
„Ei, ei?“ fuhr die Generalin auf, „was heißt
das? Habe ich die Wette gewonnen oder nicht? Muerte
de Dios! (Gottes Tod!) ich habe gewonnen. Sind
fünfzig Tropfen aus der Flaſche gekommen? Nein,
nein, nein! Alſo habe ich gewonnen.“
„Die fünfzig Tropfen wären aber gekommen,“
BE
entgegnete Herr von Pappe mit lederner Zähigkeit,
wenn man uns nicht im entſcheidenden Augenblick zu
Tiſche gerufen hätte.“
„Quien sabe?“ entgegnete die Sennora purpur-
rot, „ſiebenundvierzig Tropfen ſind gekommen, auf
fünfzig haben wir gewettet! Meine Herrſchaften, ich
frage Sie alle, iſt das wahr oder nicht?“
r a könte es da und dort.
„Aber . ..“ begann Herr Dr. Spurius.
„Sangre de Dios! was: aber?“ fuhr die Gene—
ralin in hellem Grimm auf ihn los. „Thatſache iſt
Thatſache, ich will nicht jugar del vocablo (mit dem
Worte ſpielen). Das Wort iſt ſo gegeben worden und
ſo genommen. Basta de esta cosa! (Genug davon.)“
„Jedenfalls,“ meinte der zähe Herr von Pappe,
„iſt das eine etwas wunderliche Auffaſſung des
Wortlauts.“
„Das will mir auch ſcheinen,“ ſagte Herr Dr.
Spurius. |
„Die Wette war nach meiner Anſicht nicht ent—
ſchieden,“ rief Dr. Juften⸗Lennox, die Hand auf dem
Schwertgriff, wie um dieſe Anſicht mit ſeinem bereits
bewieſenen Heldenmut zu verteidigen.
„Das iſt eine Rechtsverdrehung,“ fuhr Herr von
Pappe fort. „Iſt das etwa das Recht von Colorado?“
Heveſi, Buch der Laune. 5
ee
„Ja, ja, und tauſendmal ja!“ rief die Generalin
außer ſich! „Allerdings! EI derecho de Colorado!
Das Wort gilt! Nichts als das Wort! ... Oh,
Senores, wenn auch noch etwas anderes gelten würde
als das Wort, mit jeder Silbe und jedem Buchſtaben .. .!
Sangre de Dios, ich ſtünde jetzt nicht da und würde
behandelt wie eine ladrona!“ Sie ſtürzte ein Glas des
heißen Trankes hinab, wie um ſich die Zunge zu löſen,
und ſtand hoch aufgerichtet hinter dem Hexenkeſſel, das
halbgelöſte ſchwarze Haar, in dem noch weiße Papier-
ſchnitzel hafteten, flog in ſchweren Maſſen um ihre
Schultern, in ihren Augen brannte die vereinte Glut
von Martell 1850 und der Höllenbowle. Beide Fäuſte
auf den Tiſch geſtemmt, das krampfhaft zuckende Antlitz
über die Bowle vorgeneigt, daß es von ihrem Dampfe
umbrodelt war, entlud ſie ihre ganze Leidenſchaft mit
einem Schwall von ſpaniſchen und deutſchen Worten:
„Ja, meine Herren, das Wort allein iſt ent-
ſcheidend. La palabra, das Wort! Das Wort war
es auch, das mich tötete an jenem blutigen Tage des
8. febrero 1879, um fünf Uhr morgens, zu San
Criſtobal, als Don Joſé Pardo y Ponce ſtarb, der
Held von Pichincha, Aguasfrias und San Juan del
Norte. Ich wollte mit ihm ſterben, Ardeaga jedoch
hatte mir nur geſtattet, ihm die Augen zu verbinden
a
mit meinem eigenen Taſchentuch. Aber er nahm es
nicht an, der Held, ſondern ließ Ardeaga ſagen, er wolle
ſeinen Musketen bis ans Ende in die Läufe ſehen und
ſelbſt Feuer kommandieren ... Madre de Dios, hätte
er ſich doch die Augen von mir verbinden laſſen! Alles
wäre dann anders gekommen, Alles! . . .“ Sie ſchwieg
eine Weile und fuhr dann mit gedämpfter Stimme
ebenſo raſch fort: „Er ſtand aufrecht an der Mauer,
welche er um den ganzen Kopf überragte. Er war
ruhig wie ein Held und lächelte. „Hasta la vista!“
(Auf Wiederſehen !) rief er mir zu, dann trat das
Peloton an und mit lauter Stimme kommandierte er:
„Fuego!“ (Feuer.) Ich hörte noch das Wort, aber
nicht mehr die Schüſſe; ich ſank bewußtlos zuſammen ...
Tags darauf reiſte ich nach Port Guzman und ging in
das Bureau der Compania general de seguros (All⸗
gemeine Verſicherungsgeſellſchaft), bei der mein Held
und Gatte ſein Leben auf 100,000 Peſos zu meinen
Gunſten verſichert hatte. Ich nannte dem Direktor
meinen Namen, er drückte mir in wohlgeſetzten Worten
ſein Mitgefühl aus. Ich reichte ihm die poliza, die
ich während des ganzen Krieges in meinem Buſen ver—
wahrt hatte, wegen der Unſicherheit; er nahm ſie und
wandte ſie verlegen hin und her. Dann ſagte er kalt:
„Entſchuldigen Sie, Sennora, aber die poliza iſt un⸗
Be
gültig.“ Invalida, fagte er, nula! ... Ich erbleichte
und konnte ihn nur fragend anſehen. Er fuhr fort:
„Ihr beweinter Gatte iſt als Selbſtmörder geſtorben!“
Ich fuhr ihm ins Geſicht wie eine wilde Katze, aber
er wich zwei Schritte zurück und ſagte ruhig: „Ihr
Gatte hat mehrere Soldaten der Republik ausdrücklich
und in ganz unabweislicher Form aufgefordert, ihn zu
erſchießen, und ſie erſchoſſen ihn; das iſt qualifizierter
Selbſtmord.“ — „Menſch!“ ſchrie ich außer mir,
„Ardeaga hat ihn ja zum Tode verurteilt und erſchießen
laſſen.“ — Kalt wie Eis entgegnete er: „Ihr unver—
geßlicher Gatte, der Ruhm Colorados, ſtarb wie ein
Held; er ſelbſt kommandierte Feuer und erſt auf ſein
Kommando ſchoß das Peloton. Das iſt Selbſtmord,
Sennora. Auch hat demgemäß der consejo de ad-
ministracion (Verwaltungsrat) beſchloſſen, die Polizze
im Sinne des S 67e der Statuten für nichtig zu er—
klären und die Summe nicht auszubezahlen.“
Ein Gemurmel ging durch die ganze Geſellſchaft.
„Unerhört! Unglaublich!“ hörte man da und dort
ſagen. Der Vicomte Roger de Bronze küßte der Gene—
ralin die rechte Hand, Herr von Pappe küßte ihr
reuevoll die linke.
„Ja, meine Herrſchaften,“ fuhr ſie ſtöhnend fort,
„la palabra entſchied, das Wort! Die administracion
erg,
hielt ſich an den Buchſtaben des Wortes: mein Gatte
hatte Feuer kommandiert und erſt daraufhin hatte man
ihn erſchoſſen. Das galt als Selbſtmord ... Ich
fiel in Ohnmacht .. . Als ich zu mir kam, eilte ich
zu den Freunden meines Gatten; ſie übergaben die
Sache dem erſten Advokaten unſerer Partei. Ein Jahr
lang dauerte der Prozeß vor dem tribunal civil von
Port Guzman; ich verlor den Prozeß. Wir appel—
lierten an das tribunal superior de apelacion zu
Manzanillos; zwei Jahre zog dieſes die Sache hin,
dann wies es mich ab, auch bei ihm behielt der Buch—
ſtabe recht und in der zehn Bogen ſtarken Urteils—
begründung war es juriſtiſch, philoſophiſch und logiſch
nachgewieſen, daß mein Mann durch ſeine unüberlegte
Heldenthat ſich unter §S 67e jener Geſellſchaft geſtellt
hatte. Noch einen Schritt that ich beim Juſtizminiſter;
er konnte mir auch nicht helfen; übrigens iſt er Ardeagas
Schwiegerſohn ... So, meine Herren, bin ich ge
worden, was ich bin: eine Bettlerin! Ich bin ein
Opfer des Wortes.“
„Schauderhaft! Welche Rechtszuſtände!“ rief Dr.
Spurius.
„Der Schlagſchatten . .. Ich hoffe, Sie ſind zu—
frieden,“ raunte mir Rauenberg ins Ohr.
„Und darum will auch ich auf dem Worte be—
ſtehen, meine Herren,“ fuhr die Generalin fort.
„Keinen Buchſtaben davon laſſ' ich mir nehmen.
Wenn ich mit unſerer Wette unrecht habe, dann hätte
ich auch in Manzanillos recht behalten müſſen! Da ich
aber in Manzanillos unrecht behielt, muß ich wohl
auch hier auf Grund des Buchſtabens recht haben!“
„Sie haben recht, Sennora!“ beteuerte Herr von
Pappe tief erſchüttert und haſchte wiederholt nach
ihrer Hand.
Die ganze Geſellſchaft drängte ſich unter Zeichen
der Teilnahme um die Generalin; die Damen küßten ihr
die Wangen, die Herren die Hände. Sie netzte ſich wieder
die Stirne mit ihrer „grünen Elektrizität“ aus Bologna
und lag jetzt wie gelähmt auf dem Königstiger, der
um ihretwillen noch ſachter aufzutreten ſchien als zuvor.
„Ich will ſchon lange mein Leben verſichern laſſen,“
flüſterte Dr. Juften⸗Lennox der Sopranſängerin zu,
„ich werde zu der Geſellſchaft in Port Guzman gehen.“
Aber Fräulein Lilla Bandt lachte nicht, .. . fie
aß eben ein Täßchen Eis, um ſich nach dieſer auf—
regenden Szene zu erfriſchen. Draußen ſpielten die
Zigeuner einen Walzer und mehrere Paare verſuchten
zu tanzen. Auf dem Tiger aber lag Donna Clemencia
regungslos. Sie ſchlief wieder.
— —— —
Die
Amerikaner in Rothenburg.
Hiſtoriſche Erzählung.
(1886.
7 0 \E war am 15. Auguſt 1885, zwiſchen acht
und neun Uhr abends. Im Speiſeſaale
888 beim „Hirſch“ zu Rothenburg ob der Tauber
ſtützten ich zwei knorrige Ellbogen auf das Wachstuch
der Wirtstafel, und zwiſchen zwei entſprechenden Fäuſten
eingeklemmt befand ſich ein Nußknacker, den aber Mr.
U. S. Gibbs aus Chicago ſchon ſeit fünfzig Jahren
als Geſicht benützte. Was die Buchſtaben „U. S.“
zu bedeuten hatten, wußte kein Zeitgenoſſe; vermutlich
aber „United States.“ Ihm gegenüber ſaß ſeine einzige
Tochter, Miß Carolina Gibbs; niemand wußte genau,
ob North- oder South-Carolina. Sie ſah ihm auf—
fallend ähnlich, aber Jugend und Weiblichkeit vernied—
lichten den gewaltigen Nußknacker, der nun einmal der
Typus der Familie Gibbs zu ſein ſchien, zu einem
reizenden, blanken, rechts und links mit einem Brillanten-
Bouton geſchmückten Haſelnußknackerchen, das ſo drollig
war, daß man an feine Häßlichkeit vergeſſen konnte.
In der That ſchien ein junger Mann am Tiſche dieſer
Gedächtnisſchwäche unterworfen zu ſein, denn er ließ
das Fräulein nicht aus den Augen. Er ſchien ſie aus—
wendig zu lernen, obgleich er ſie längſt auswendig
wußte, denn auch er war aus Chicago, einer der acht
amerikaniſchen Maler, welche um dieſe Zeit Anſichten
aus Rothenburg malten, teils in reinem Ol, teils in
ſchmutzigem Waſſer. Er hieß Archibald und dieſer
Name hatte ſchon, als ſie beide noch Kinder waren,
Miß Carolinas Beifall gefunden, obgleich des Knaben
Vater nur ein Oberaufſeher in Mr. Gibbs' berühmter
Schweineſchlächterei war. Übrigens war er ein be—
deutender Mann; er war um einen Kopf größer als
George Waſhington, hatte weit dichteres Haar als
Benjamin Franklin und trug weißere Hemdkragen als
Abraham Lincoln; ſichtlich ging er einer glänzenden
Zukunft entgegen. Freilich. ..
„J say,“ begann in dieſem Augenblick Mr. Gibbs;
er begann nämlich nie anders als mit dieſer Phraſe,
wobei er den Nachdruck auf das „J“ legte. Wenn er
ſprach, klang es, als rollten die Wallnüſſe zwiſchen den
Kinnladen des Nußknackers hin und her. „IL say,“
begann er alſo, nachdem er eben ſeine vierte Flaſche
geleert hatte, „dieſer Wein iſt ein... ein... Wein,
Ei? ae
der als Wein ... ſozuſagen . .. Wie heißt er denn
eigentlich?“
„Das iſt Tauberſcheckenbacher Schillerwein,“ ant—
wortete Archibald.
„Schiller,“ fiel Miß Carolina lebhaft ein, „ja
wohl, wir haben im Penſionat zu Minneapolis Ge—
dichte von ihm geleſen. Johann Wolfgang Schiller,
gewiß.“ Das Fräulein hatte nämlich eine feinere Er—
ziehung genoſſen und ſprach ſogar ein wenig Deutſch.
„J say,“ ſagte ihr Vater, „zweitauſend Dollars
per annum iſt viel als Penſion für ein Mädchen, aber
Du haſt wenigſtens was gelernt, Liebling. Da!“ Und
er ſtreckte ihr die offene Hand über den Tiſch hin.
Eine Hand, anderthalb Fuß lang. Das Fräulein machte
vorſichtig eine Fauſt, ehe ſie einſchlug, denn ſie kannte
ſchon dieſe vernichtenden Händedrücke. Dann fuhr er
ort? Dieſer Trauben
„Tauber,“ verbeſſerte Archibald.
„Tauberſchnecken ...“
„Schecken,“ fiel er ein.
„Well, well, kurzum dieſer Sillery⸗Wein .“
„Schillerwein, Pa,“ unterbrach ihn ſein Töchter⸗
chen mit ſchmeichelnder Stimme. „Schiller, . ..
das iſt in Deutſchland, wie wenn Du bei uns ſagen
würdeſt . . . Edgar Pos. Das Lied von den Glocken,
der Ring von Meſſina, . .. die Braut des
Polhykrates.“
„Dear me! eine deutſche Gelehrte!“ rief „Pa“
entzückt und leerte ſein Glas Traubenſchneckenbucher
Goethe-Wein, — Friedrich von Goethe, Verfaſſer von
Gotthold Ephraim Klopſtock und anderen klaſſiſchen
Trauerſpielen, — worauf er plötzlich mit der Fauſt
(Gedicht von Nikolaus Heine, wenn nicht gar von
Heinrich Lenau) auf den Tiſch ſchlug und zornig aus—
rief: „J say, es iſt doch eine verdammte Stadt voll
Narren! Eine Büchſe Schweinefleiſchkonſerve aus meiner
Schlächterei iſt mir lieber, als dieſes ganze Rothenbrunn.
Es iſt ja da nichts zu kaufen! Nicht einmal ein paar
Thorflügel vom Rathaus, und wären es gleich die
älteſten . .. Zweitauſend Dollars geboten für den
Sankt Georg auf dem Marktbrunnen; zweitauſend
Dollars ohne den Drachen; mit dem Drachen drei—
tauſend. Nicht verkäuflich! heißt es immer . . . Zünf-
tauſend Dollars für den Ritter mit der Fahne, der
auf dem Giebel des Rathauſes ſteht; was iſt darüber
zu lachen? Aber die Kerle lachten, als hätte ich fünf
Dollars geboten ... Das Fremdenbuch, wo der
deutſche Kronprinz und Moltke eingeſchrieben ſind,
fünfhundert Dollars; iſt das kein ſchöner Preis? „Wird
nicht verkauft,“ hieß es. Aber, Gott verd .. ., ich
kann doch nicht von Rothenbach abreiſen, ohne für
mein Muſeum eine Antiquität gekauft zu haben! Hab'
ich nicht in Paris die Wiege Ludwigs XXI. erworben,
im reinſten Barackenſtil, und die goldgeſtickte Ball—
ſchürze der Madame Montadour, und die Perücke
Vol Bol
„Jean Jacques Voltaires,“ half ihm Miß Caro—
lina aus.
„Richtig! Und in London die eiſerne Jungfrau,
mit welcher James der ſoundſovielte hingerichtet wurde,
was dieſem Despoten ganz recht geſchah, und überdies
die Briefe der Königin Eliſabeth an den Grafen Suſſex;
und in Florenz die Pantoffel des großen Michelangelo
da Urbino und ſein eigenhändiges Selbſtporträt von
Tizian; und in Rom eine Original-Kopie der Venus
von Milwaukee ...“
„Milo,“ berichtigte das Töchterlein.
„So ſagt' ich ja. Und das großartig ſchlechte
Moſaik aus den Bädern des Caracallus, und das
Brevier Papſt Pius X. aus dem dritten Jahrhundert
vor Chriſtus, ... nein, es war doch ſchon nach
Chriſtus und koſtete auch darum, ſtatt achthundert, nur
vierhundert Büchſen salt pork. Und in Munich erſt!
Die beiden identiſchen Lionardos, von denen ſelbſt die
größten Kenner nicht zu unterſcheiden vermögen, welches
ee
der unechte und welches der nachgemachte iſt! Oho,
mein Muſeum hat ſchon Kunſtwerke Nummer Al. Werd’
es auch nicht meiner Vaterſtadt vermachen, wenn ich
ſterbe. Daß ich ein Narr wäre! Alles ſoll Dir ge—
hören, Liebling, alles Dir!“ Und er ſtreckte ihr beide
Hände quer über den Tiſch hin; zwei Hände, zuſammen
drei Fuß lang.
„Ja, es iſt verzweifelt, wie dieſe Deutſchen an
ihren Raritäten hängen,“ pflichtete Archibald bei und
ſah wirklich ſo verzweifelt drein, wie er eben behauptete.
„Aber wer weiß, ... durch Verbindungen ...“
„Halloh!“ rief Mr. Gibbs, „was ſagen Sie da,
Archibald?“ 5
„Ich ſage, es giebt Verbindungen!“
„Verbindungen! Verbindungen!“ rief Mr. Gibbs,
„was nützen auch die ſchönſten Verbindungen, wenn ſie
kein Fremdenbuch haben?“
„Und wenn ſie eins hätten?“
„He?“
„Ein noch weit intereſſanteres als das im Nat-
hauſe! Ein uraltes, wo ſogar König Chriſtian von
Dänemark drin fehlt ... Sie haben ja die Gedenk⸗
tafel an jenem Haufe geleſen in der Herrengaſſe, .
„in dieſem Hauſe wohnte vom 5. März 1999 bis“
sa. , e
ge EN
„Gott ver ... jegne mich! Wenn das möglich
wäre! Tauſend Blechbüchſen, von den größten, zu zwei
Dollars, Prima Minneſota pork!“ Er war von der
romantiſchen Ausſicht auf ein ſolches Buch ſichtlich auf—
geregt und ſtand auf, als wolle er den Schatz ſogleich
holen. Er ſchwankte aber ſehr bedenklich und mußte
ſich auf den Tiſch ſtützen: das war der Schiller—
ſchecken⸗Traubenwein. |
„Wird es nicht heute ſchon zu ſpät fein, Pa?“
fragte Miß Carolina.
„Pa“ griff in die Uhrtaſche und fand ſie leer.
„J say,“ rief er, das iſt doch ſeltſam. Auch Pick—
pockets in Rothenberg. Meine Uhr iſt fort.“
„Sie haben ſie ja in der anderen Weſtentaſche,
Mr. Gibbs,“ ſagte Archibald. In der That hatte
jener im Nebel der Benebelung den Weg zur richtigen
Taſche verfehlt. Jetzt aber riß er den Chronometer
krampfhaft heraus, warf einen Blick darauf und lallte:
„Acht Uhr dreißig Pfennige. Gehen wir.“
* *
Vollmond in Rothenburg!
Wie ein großer Schneefall ging das ſilberne Licht—
geſtöber auf die alte Stadt nieder. Auf dem holperigen
Pflaſter lag der Mondſchein wie blendender Jungſchnee,
über den noch kein Menſch gegangen. Die Schmied-
er son
gaſſe, wie ſie zum Markte hinanſtieg, hatte eine Reihe
ſchwarzer Häuſer, welche mit ſilberweißen Streiflichtern
geſprenkelt waren, und eine Reihe weißer, mit kleinen
tintenſchwarzen Schlagſchatten beſtäubt. Manche Dächer
ſchienen mit blanken Silberthalern gedeckt zu ſein, und
jeder Knauf glühte und dampfte wie ein Weihrauchfaß.
Gegen den Markt hinauf wurde die Gaſſenenge immer
ſchwärzer. Die ſteinernen Karyatiden am alten „Bau⸗
meiſterhauſe“ ſtanden wie Mohren mit gekreuzten
Armen neben den Fenſtern, und nebenan der Greif
über dem Thore des Toplerhauſes glich einem ſchwarzen
Kater.
Und nun aus dieſem tiefdunklen Straßenſchlund
hinan zum mondhellen Markt. Mit einem Schritt aus
dem Schwarzen ins Weiße. Da ſteht der ſchwere Würfel
des Rathauſes mit einer ſchwarzen und einer weißen
Wand, und an der Stirnſeite der ehemaligen Herren-
trinkſtube wirft das große, goldene Strahlenrad der
Sonnenuhr als ſilberne Monduhr ihren ſtundenzeigenden
Schatten. Sie zeigt drei Viertel auf zwei, es iſt aber
eigentlich neun. Und an den hohen Stufengiebeln der
Altbürgerhäuſer wallt das Mondlicht in luftigen Kas⸗
kaden von Stufe zu Stufe nieder, an den ſteinernen
Schnörkeln flattert es als ſilberſchimmerndes Spinnen⸗
gewebe in langen, gleißenden Fäden, wie Altweiber⸗
ſommer der Nacht. Die Simſe und Karnieſe alle find
dick mit ſchwarzer Tuſche unterſtrichen, die Fenſter
haben rechts herab und unten hin einen Trauerrand
und zwiſchen den dicken Spundwürfeln der Säulenhalle
am Rathaus werden die Fugen immer breiter und
ſchwärzer, als wollte der ſchwere Bau in Quadern
auseinanderkollern. Aber aus allen Turmſpitzen und
Wappenzinken ſprühen elektriſche Funken und Sankt
Georgs Lanze ſieht aus wie eine Wachskerze, deren
Flämmchen im Winde lodert. Langſam läßt der alte
Brunnen ſein Waſſer rinnen, das auch wie verdichteter
Mondſchein flimmert, und das Gerieſel rechts und links
miſcht ſich mit Mädchengeſchwätz links und rechts. An
den alten weißen Herrenhäuſern der Herrengaſſe kann
man alle Tafeln deutlich leſen: wo Karl V. und wo
Maximilian, wo Ferdinand und wo Chriſtian dann
und dann ſo und ſo lange gewohnt haben, und aus
der Dickhautſchen Brauerei dringt Feſtgetöſe, dieweil
dort eben die „Laterne“ zecht und der Herr Metzger—
meiſter Mohr auf die Einigkeit aller Rothenburger
trinkt. Aus der fleißigen unteren Schmiedgaſſe aber
hört man noch mancherlei Geräuſch zum Markt herauf—
hallen: Meiſter Kupferſchmied klopft an einem dringen—
den Keſſel herum, Meiſter Schmied hämmert, Meiſter
Schloſſer pocht, Meiſter Schuhmacher ſogar 5 noch
Heveſi, Buch der Laune.
„
Schuhnägel ein, und irgendwo muß ein Pferd beſchlagen
werden, der gebrannte Huf riecht abſcheulich ſchön bis
herauf.
Und da ſtolpert ſoeben die hagere Berliner Malerin,
die heute den alten Brunnenkaſten gezeichnet, über der
unterſten Stufe des Goldſchmieds an der Ecke. Und
dort die Reihe dunkler Geſtalten, ſo breit die Gaſſe
iſt, das ſind Karlsruher Maler und Stuttgarter Archi—
tekten, von der Kunſtakademie, die faſt alle im hinteren,
alten, muffigen Rathaushof malen, wo die Luft ſo
häßlich modrig iſt und die Wände ſo herrlich ange—
ſchimmelt, der tauſendmal gemalten Thüre gar nicht zu
gedenken, mit ihrem morſchen Steinzierrat und zer—
bröckelten Stufenwerk.
Aus dem pechſchwarzen Quergäßchen aber, neben
der Löwenapotheke, deren goldener Löwe faſt hörbar
gähnt, . . . aus dem rabenſchwarzen Quergäßchen, in
deſſen Finſternis aus der hellblauen Luft drei alte
Türme zugleich, ein runder, ein viereckiger und ein mit
Erkerchen bewachſener, niedergucken, ſchallt ein ſchriller
Diskant, welcher in dieſes eingepökelte ſechzehnte Jahr—
hundert ſchamlos modern, aus der vorletzten Wiener
Operette, hineineinſingt: „Komm herab, o Madonna
Thereſaaa!“ . .. Ob fie wohl wirklich herabkommt,
oder doch wenigſtens ein Fenſterchen öffnet an ihrem
Erkerchen? Eines jener Fenſterchen mit jenen Buben:
ſcheiben, die es bald nicht mehr echt geben wird in
Rothenburg, dieweil es ſo lange als Butzenſcheiben—
Bergwerk gedient hat für alle Welt, die irgend zu—
langen wollen ...
Die Mägde am Brunnen aber ſchwatzen mit den
ehrbaren Jünglingen der Umgebung. Die heute ange—
kommenen Amerikaner geben den Stoff dazu, und man
iſt einſtimmig darüber, daß es ſehr lächerlich ſei, Gyps
zu heißen. Der Herr von Gyps und das gypſene
Fräulein! Zu lächerlich! ... Aber Geld müſſen fie
haben, ſchweres Geld.
„Dreißig Millionen,“ wiſpert Konrad, der Ge—
hilfe des Herrn May, „Fuhrmann, Zigarren und
Tapezierer“ am Spitalsthor.
„Vierzig,“ behauptet dagegen Fritz, Buchhalter des
Herrn Herterich, „Wechſelſtube, Zigarren und Leder—
händler“ in der Schmiedgaſſe.
„Vierzig Millionen,“ meint Jungfer Suſanna vom
„Lamm,“ „das iſt ein gehörig Korbvoll.“
„Glaub's wohl,“ beſtärkt ſie Herr Fritz in ihrer
Meinung, „ich habe einmal zweitauſend Mark auf einem
Haufen geſehen; das Herz blieb mir ſtehen.“
„Und ich dreitauſend,“ ſteigert ihn Herr Konrad,
im Intereſſe ſeiner Firma. „Ein Tauſendmarkſchein
war auch dabei, jo groß, daß Sie ſich einen Bruſtlatz
daraus könnten ſchneiden laſſen, Madame Hiebel.“
(Großes Aufſehen, denn Madame Hiebel, die Schlüſſel—
frau der Schnitzſchule, braucht wohl den breiteſten Latz
in der Stadt.)
„Was iſt denn eigentlich der Herr von Gyps?“
fragt das Rathaus-Lieschen, das die Gypſenen vor-
mittags in die Folterkammer hinuntergeführt hat; „er
ſoll eine Diamantenfabrik haben, die Junge hat auch
alles voll damit.“
„Bewahre!“ ruft Heinrich, der Hausmann des
Bären⸗Apothekers, „eine Schweineſchlächterei mit Dampf
hat er.“
Mit Ddaupf?;
„Ei freilich, die größte in Amerika. Zweimal⸗
hunderttauſend Schweine ſchlachtet er täglich.“
„Zweimalhund .. .!“
Das weichherzige Lieschen kommt vor Schauder
über den Hund nicht hinaus.
„Da ſoll ein Beil ſein, mit einer Schneide, die iſt
zehn Minuten Gehens lang, und ſchlägt mit einem
Hieb fünfhundert Maſtſchweinen die Köpfe ab.“
„Zehn Minuten?!“
„Oder gar fünfzehn! Denn Amerika iſt ein langes
Land, da geht alles in die Länge. Auf der amerikaniſchen
Ausſtellung hatte dieſer Herr Gyps eine Leberwurſt
ausgeſtellt, die war dreizehn engliſche Meilen lang.“
Unwillkürlich wiſchten ſich einige Zuhörer den
Mund; ſogar der Sankt Georg oben auf der Brunnen—
ſäule wurde aufmerkſam und beugte ſich etwas vorn—
über, um dem Sprecher ins Geſicht zu ſehen. Aber
die allgemeine Überraſchung verſtummte plötzlich, denn
es hieß: „Pſt! die Gypſenen kommen!“
** **
Leicht hatte es nicht gehalten, den ehrenwerten
Mr. U. S. Gibbs aus dem „Hirſch“ bis auf den
Markt hinanzugängeln. Der Schneckenſchillerburger
Traubenwein war ihm zum Teil in die Stiefel hinab—
geſickert und zum anderen Teil unter den hohen hell—
grauen, mit handbreitem ſchwarzem Band umgürteten
Cylinderhut hinaufgedunſtet. Von dieſer gewaltigen
Angſtröhre überragt und von dem ſchwarzen, lang—
ſchößigen Gehrock umſchlottert, ſah er erſchreckend lang—
ſtielig aus. Es ſchien, als fingen ſeine Beine gleich
unter den Achſeln an. Dabei ſchlenkerte er ſowohl
mit den unteren, als auch mit den oberen Extremitäten
dermaßen nach rechts und links, daß es ausſah, als
fege er mit einem unſichtbaren Beſen all den vielen
Mondſchein auf dem Straßenpflaſter zu Schneehaufen
beiſeite. In der Mitte der Gaſſe dahinwandelnd, ge—
e
langte er unter manchem Zick und Zack an eine Stelle,
wo an einer gutgeſpannten Schnur eine Straßenlaterne
mitten über der Straße hing. Angeſteckt war ſie nicht,
wozu auch bei Vollmond? Das wurde dem langen
Manne aus Chicago zum Verhängnis, denn er taumelte
mit ſeinem ſteifen Deckel ſo heftig dagegen an, daß ſie
klirrend in Stücke ging, aber auch den Hut des Lebens⸗
länglichen weithin in die Goſſe ſchleuderte. Ein ſolches
Geklirr, wie es in Rothenburg wohl ſeit Tillys Zeiten
nicht mehr gehört worden, mußte einen Auflauf ver—
urſachen. In der That eilten die Bürger aus ihren
Häuſern, zwei Nachtwächter gaben in der Ferne be—
unruhigende Signalpfiffe von ſich und die plauderhafte
Geſellſchaft vom Georgsbrunnen kam ſpornſtreichs mit
lautem Getrappel die Gaſſe herabgelaufen. Glücklicher—
weiſe ſchwärmte in dieſem Augenblicke juſt wieder die
gaſſenbreite Plänklerkette des Bataillons Karlsruhe—
Stuttgart heran.
„Hieher, Gottfried!“ rief Archibald ihrem Führer
zu, mit dem er eng befreundet war.
„Vorwärts! Zum Carré!“ kommandierte dieſer
ſofort, das Bataillon bildete ein Viereck und nahm die
Gypſenen in die Mitte, Meiſter Gottfried von Ehingen
— So nannte man den jungen Architekten — mat
ſchierte mit Archibald im Stechſchritt voran, und ſo
a
ſchlug man ſich ohne Blutvergießen bis zum Markte
durch. Den Rothenburgern ſchien das freilich nicht ganz
zu paſſen, es knurrte mehrſtimmig hinter den Ab—
ziehenden drein, und der Schuhmachermeiſter Hans Leiſten,
einer vom alten Schrot und Korn, hob den grauen
Röhrenhut aus der Goſſe und hängte ihn unter dem
Halloh der Bürger an die Laterne, die er ſo ſchnöd
vergewaltigt hatte.
Auf dem Markte angelangt, löſte ſich angeſichts
des Rathauſes das feſte Viereck des Bataillons. Mr.
U. S. Gibbs ſtellte ſich mit ausgeſpreizten Beinen, um
etwas feſter zu ſtehen, in die Mitte des Platzes und
begann, die lange, ſchmale Brieftaſche im amerikaniſchen
Banknotenformat ſchwingend, in ſeiner zu drei Vierteln
überſeeiſchen Sprache einen Vortrag über die Kunſtwerke
Rothenburgs zu halten.
„JL say, gentlemen,“ hub er an, „hier in Rothen—
bach iſt eigentlich doch keine richtige Renaiſſance, denn
wo die Renaiſſance echt iſt, wie in Italien oder Frank—
reich, da iſt alles zu kaufen, alles. „Sehen Sie das
ſchöne Stadtthor,“ ſagt er. „Was koſtet es?“ ſage ich.
„Hm,“ jagt er, „zweitauſend Dollars.“ „Abgemacht,“
ſage ich, „hier iſt ein Check auf meinen Bankier in
Paris, oder London, oder Rom, oder Wien.“ Und
ich nehme mein Stadtthor unter den Arm und trage
oh
es in mein Hotel. . .. Aber hier in Rothenberg?
„Wird nicht verkauft!“ und damit baſta. „Zweitauſend
Dollars!“ ſage ich. „Nicht zu verkaufen,“ ſagt er.
„Dreitauſend!“ ſage ich. „Nichts da!“ ſagt er. Iſt
das Renaiſſance? Nein, das iſt ſchon Barock! ...
Ja wohl, Gentlemen, ich wollte von dem Haus des
Baumeiſters, dort unten mit den Karyetüden, ein paar
Valuten kaufen, . .. d. h. Valuten wollte ich geben,
Voluten mit „o“ wollte ich kaufen, vom Giebel oben,
und einige ſteinerne Konſulen, für mein Landhaus am
Minnehaha River, aber ... „nicht zu verkaufen!“
. . . Eigentlich iſt es ſogar beſſer ſo. Die Architektur
iſt hier nicht rein genug. So ſchmutzig, die ganze
Stadt ein smoking room. Alte Scheibenbutzen ſchon
alle fort, . .. dem Lindenwurm auf der Säule fehlt
der Schwanz (warum hab' ich ihn nicht beizeiten ab—
gebrochen und eingeſteckt?) .. . aus dem Thore dort
wollte ich den alten Thürklopfer herausreißen, er wollte
aber nicht los, . . . ſchlechter Stil, Gentlemen, .. am
Sankt Georg die Platina vielleicht gar nicht echt . ..“
„Die Patina, Pa,“ flüſterte ihm Miß Carolina
zu, aber „Pa“ wehrte ſie kräftig ab.
„Miſchſtil, Gentlemen, gemiſchter Stil,“ fuhr er
immer verwirrter fort, „gotiſche Spritzbogen auf
kanaliſierten Säulen ...“
„Kannelierten, Pa,“ ſoufflierte Miß Carolina.
„Traubenſchnecken . . . Batzenſcheiben . . . Schiller—
fenſter . I say, gentlemen . .. Heda, Architekt!
wollte jagen: Archibald! .. . Halloh, Archibald, wo
find Sie? Schiebe mir den Seſſel da näher ..
Schiller! ... Carolina, Liebling . ..“
Er wäre ſtehend eingeſchlafen, hätte nicht Meiſter
Gottfried von Ehingen einen Krug kühlen Bieres von
Dickhaut bringen laſſen und für ſolche Fälle bereit ge—
halten. Ein tiefer Schluck brachte U. S. Gibbs
wieder zu ſich, er ſchüttelte ſeine Gliedmaßen zurecht
und ſagte:
„J say, Carolina, ich muß da vierzehn Tage
geſchlafen haben .. . Ja, richtig, Gentlemen, dort
die ſteinerne Figur unter dem Erker, mit dem großen
Bart, das bin ich ſelbſt. Wie aus dem Geſicht ge—
ſchnitten. Nur daß ich raſiert bin und der dort nicht.
Aber wenn ich ebenfalls raſiert wäre . . . Dreitauſend
Dollars! „Nicht zu verkaufen!“ ſagt er. Die Thüre
da auch nicht, die geſchnitzte, im Rathaus. Come
along, gentlemen! Helfen Sie mir! Ich muß eine
Thüre haben von dieſem Rathaus! Ich reiſe nicht ab,
ohne eine alte Thüre aus Rothenbrunn. Chicago würde
mich auslachen. Mich, U. S. Gibbs! Hahaha! Come
along, gentlemen.“
a ol
Meiſter Gottfried hatte während dieſer krauſen
Reden ganz heimlich Zwieſprach gepflogen mit ſeinem
Freunde Archibald. Ein ſchöner Plan war den beiden
aufgegangen: wie Herrn Gibbs zu helfen wäre und
auch dem jungen Pärchen Carolina plus Archibald.
Jetzt trat Meiſter Gottfried würdevoll aufgerichtet vor
Mr. Gibbs hin und ſagte:
„Wohlan denn, Mr. Gibbs, ich als freiwilliger
Stellvertreter des Stellvertreters von Rothenburg, will
meinem Freunde Archibald den Gefallen thun und
Ihnen die merkwürdigſte Thüre unſeres Rathauſes
überlaſſen. Dem Gebietenden ſelbſt habe ich bereits
Botſchaft geſchickt, damit er die Altbürger von Rothen—
burg verſammle und einen günſtigen Beſchluß zu ſtande
bringe. Hören Sie ſelbſt.“
Er wies mit der Hand nach der Herrengaſſe hin,
wo vom Dickhautſchen Lokale her das laute Reden des
Metzgermeiſters Mohr über die Einigkeit aller Rothen—
burger noch immer ungeſchwächt zu vernehmen war. „Bür—
ger von Rothenburg!“ ſo ſcholl es durch die Abendſtille da—
her, „ich rufe mit Wilhelm Tell: ſeid einig, einig, einig!“
„Wilhelm Tell, oder: die Jungfrau von Orleans,“
erläuterte Miß Carolina, „das iſt auch von Johann
Wolfgang Schiller, eine ſogenannte Trilogie. Wir haben
daraus zwei Monologe auswendig gelernt.“
eo.
Aber ihr Vater achtete auf dieſe Belehrung nicht,
ſondern ſtarrte halb ungläubig auf Meiſter Gottfried,
den er nur halb verſtand; der aber zog jetzt einen langen
weißen Bart aus der Taſche — der Himmel weiß, zu
welchem ſeiner ſtadtbekannten Poſſen er den heute ge—
braucht hatte — und band ſich den ehrwürdigen ge—
ſchickt um das Kinn.
„J say, was thun Sie da?“ rief Mr. Gibbs er—
ſtaunt.
„Wer in Rothenburg als Gebietender auftritt,
muß im Graubart auftreten,“ ſagte der Architekt und
fügte auf das mißtrauiſche „hm, hm,“ des Amerikaners
ſchleunig hinzu: „Das ſcheint Ihnen wohl ſeltſam?“
„Bei Gott, ja,“ rief Mr. Gibbs in faſt gereiztem
Tone.
„Aber Sie wiſſen doch,“ fuhr Meiſter Gottfried fort,
„daß der Lord Mayor von London, wenn er eine Amts—
handlung vornimmt, eine große, weiße Perücke aufſetzt.“
„Ja, Sir
„Nun denn, in Rothenburg binde ich einen großen
weißen Bart um. Iſt das nicht das nämliche? Eine
ganz analoge Formalität.“
„J say,“ ſagte Mr. Gibbs, „Sie haben recht.“
Die Stuttgarter ſchlugen eine ausgiebige Lache
auf und die Karlsruher ſtimmten fröhlich ein. Auch
u OO
die Gypſenen lachten aus vollem Halſe, denn fie fanden
den Brauch recht drollig. Meiſter Gottfried aber, der
mit dem weißwallenden Bart im Mondſchein gar ver—
trauenswürdig ausſah, ſchritt nun voran und führte
die ganze Geſellſchaft rechts um die Ecke des Rathauſes
herum. Er hatte bereits durch einen Sendboten an die
Hauptpforte das Nötige verfügen laſſen. Ein ſicherer
Führer harrte, den Schlüſſel in der Hand, an jenem
Thore, das in den älteren gotiſchen Teil des Rat—
hauſes führt. Andächtig, wie einen Weihwedel, ſchwenkte
er den Schlüſſel dem Schlüſſelloch zu, .. . ein drei⸗
maliges Knirſchen verlautete, als krähe der Hahn Petri
das erſte, zweite und dritte Mal, ... dann ein
dumpfes Knarren und das Thor ſtand offen. Das
tiefe, ſtockfinſtere Thorgewölbe that feinen Schlund auf,
wie ein Eiſenbahntunnel.
„Ich fürchte mich,“ flüſterte Miß Carolina Archi-
bald zu.
„Ich auch,“ entgegnete dieſer ebenſo leiſe.
Beide fürchteten ſich ſo ſehr, daß ſie draußen
blieben. Und es wurden doch drei Laternen ange—
zündet und zwanzig Perſonen drangen durch den ſchwarzen
Gang in den Hof ein.
„I say,“ begann Mr. Gibbs erſtaunt, blieb aber
dann ſtecken, und zwar mit dem Fuße in einem halb—
weichen gotiſchen Schutthaufen.
„
Es ſah ſonderbar genug aus in dem engen Hofe,
mit ſeinen kahlen, turmhoch emporſchießenden Wänden,
die aus ihm eine Art Kamin machten. Der volle
Mond hing wie eine ungeheure Lampenkugel aus Milch—
glas gerade in dieſen Kamin herein und goß ihn bis
an den oberſten Rand voll mit weißem Licht.
„J say,“ fuhr Mr. Gibbs fort, nachdem er ſich
befreit hatte, „es riecht gotiſch hier.“
In der That duftete es ſpitzbogig genug. Der
Bewurf der Wände war voll mit quadratmetergroßen
Sommerſproſſen, deren manche ein Fenſterchen enthielt.
Ganze Strecken der Wand ſahen aus, als wären ſie
aus verſchimmeltem Käſe gebaut; da wies Meiſter
Gottfried hinauf und ſagte: „Das Grüne iſt beſonders
ſchön, das wird am liebſten gemalt!“ Dann wieder
kamen ungeheure roſtbraune Flecke, von denen der
feuchte Moder in ſenkrechten Franſen niedertroff; da
wies er ebenfalls hin und ſagte: „Auch das iſt herrlich,
beſonders in Ol.“ Rechts aber in der Wand war eine
Thüre — jene weltberühmte Thüre — vor die ſtellte
er ſich zehn Schritt weit hin und erhob mit den beiden
Händen, ſo hoch er konnte, zwei Laternen, deren Licht er
auf jenen Kunſtſchatz fallen ließ. Das rötliche Kerzenlicht
verſchmolz mit dem weißen Mondſchein und hauchte einen
leiſen Goldton über das ſteinerne Zierwerk der Thüre.
ee,
„Dieſes Juwel der deutſchen Renaiſſance,“ begann
er, „wird gegenwärtig von achtzehn Künſtlern gemalt,
darunter fünf aus Chicago in Amerika! Hier ſtehen
die achtzehn Staffeleien, denn es wäre beſchwerlich,
dieſe täglich heimzutragen und wieder herzubringen.
Gebaut im Jahre ...“
Aber Meiſter Gottfried ſchnitt ſich das Datum,
ſo wohlverbürgt es war, im Munde ab, ergriff Mr.
Gibbs, den das Erſtaunen halbwegs ernüchtert hatte,
kräftig am Arm und gab ihm eine Drehung um ſeine
eigene Achſe. Dadurch kehrte er nun dem Juwel der
deutſchen Renaiſſance ſeinen Rücken zu, das Antlitz
aber einer anderen Thüre.
„J say,“ rief er betroffen, „das iſt etwas ganz
Neues, niemals hab' ich ſo eine Thüre geſehen.“
„Das iſt eine gewöhnliche Thüre,“ ſagte der
Führer gewiſſenhaft, „die zu einer Holzkammer führt;
ſie iſt ganz beſudelt, weil die Maler, welche die
berühmte Thüre dort malen, vor dem Weggehen
jedesmal an dieſer Holzthüre ihre Pinſel auszuwiſchen
pflegen.“ |
Mit offenem Munde hörte Mr. Gibbs zu; aber
er öffnete denſelben noch viel weiter, als Meiſter Gott—
fried hinzufügte:
„Und eben das macht dieſe Holzthüre zu unſerem
allermerkwürdigſten Kunſtdenkmal. Bedenken Sie nur,
welche großen und ſchwerbezahlten Künſtler jenes Portal
ſchon abgemalt und dann hier gegenüber ihre Pinſel
ausgewiſcht haben. Dieſe Thüre enthält die ganze
moderne Kunſtgeſchichte. Sie iſt eine ungeheure Palette,
welche das geſamte Kolorit uuſerer Zeit aufweiſt. Hier
dieſe dicken, blaugrünen Flecke, ſie ſind die Hand—
ſchrift Arnold Böcklins; mit dieſem Blaugrün hat er
ſeine mythologiſchen Meere gemalt. Dort jenes tiefe
Rot aus Krapplack und Zinnober iſt unverkennbares
Makartrot; Hans Makart verdankt ihm ſeinen Namen.
Dieſe Wolke von froſchgrünen Flocken iſt die Spur
Emil J. Schindlers; in jener neapelgelben Pfütze hat
Hildebrandt die Abfälle eines Sonnenunterganges ab—
geſtreift. Dieſes Weiß und Citronengelb . . . Gabriel
Mar; jenes Perlgrau und Roſa . .. der Düſſeldorfer
Seel. Hier, die dicken Kienrußſtreifen ... Munkäcsy,
als er noch ſchwarz malte; dort, die grünlichen Kruſten
. . lauter Diez⸗Schüler. Erkennen Sie dieſes Grün
und Braun? Der Asphalt des großen Andreas Achen—
bach!“
Lange ſprach Meiſter Gottfried ſo fort. Mit
großen Augen hörte man ihm zu und der Führer leuchtete
ganz nahe heran, um all das Merkwürdige, was man
gar nicht geahnt, genau betrachten zu laſſen. Die Karls—
ruher aber ſtießen die Stuttgarter mit den Ellbogen
in die Seite und die Stuttgarter ſchnaubten ſich im
Chorus die Naſe, um ihr Lachen zu erſticken.
Und Mr. Gibbs ſchrie plötzlich auf:
„J say, was koſtet die Thüre?“
„Davon ſpäter,“ entgegnete Meiſter Gottfried von
Ehingen, „aber ich verſpreche Ihnen, daß Sie ſie kriegen
ſollen.“
Da ſchlug der Gypſene ſeine beiden Arme um
den Jüngling, ſo daß dieſer ſich verloren gab, und
küßte ihn fo heftig auf den Mund, daß er die Empfin-
dung einer Maulſchelle hatte. Nur mit vereinter Anz
ſtrengung gelang es den Genoſſen, Meiſter Gottfried
aus dieſer argen Klemme zu befreien.
„J say, Carolina, Liebling!“ rief nun Mr. Gibbs,
„ich bin der glücklichſte Menſch in Chicago. Ich werde
dieſe Thüre in Gold faſſen laſſen. Carolina, Liebling,
wo biſt Du?“
Aber Miß Carolina war nicht da. Sie war
nirgends im Hofe zu ſehen. Mr. Gibbs griff ver—
ſtört in mehrere ſeiner Taſchen, als könnte er ſie dort
verlegt haben. Dann eilte er zu jenem gotiſchen Schutt⸗
haufen hin, in dem er ſelbſt vorhin faſt verſunken, um
ſeine Tochter vielleicht noch zu retten. Dann ſchrie er
und tobte und machte ganz Ehingen, Karlsruhe und
„„ gg
Stuttgart dafür verantwortlich, wenn feiner Tochter
ein Haar gekrümmt ſein ſollte. Nicht leicht war es,
ihn zu beſänftigen, indem man ihm begreiflich machte,
daß fie mit Mr. Archibald auf den nahen Wall hinaus—
gegangen fein müſſe, um das Tauberthal im Mond-
ſchein zu ſehen. Die drei Laternen voran, machte ſich
ſofort die ganze Truppe auf, die Verlorene zu ſuchen.
Man ging die Herrengaſſe hinab, deren Spaziergänger
ſich alsbald den drei Laternen anſchloſſen. Manches
kichernde Pärchen war darunter, daß ſich ſein Teil
wohl dachte und ſogar die Geſuchten erblickt haben
wollte, wie ſie durch das Burgthor in den Stadtgarten
hinausgewandelt ſeien, Arm in Arm.
Mr. Gibbs eilte, von brennender Unruhe getrieben,
voran; aber die Neugier der übrigen war ſo groß,
daß ſie ihm dicht auf den Ferſen waren. Und ſonder—
bar — ſo iſt nun einmal die Menſchennatur — dieſe
hundert Menſchen machten jo wenig Geräuſch, als mar—
ſchierten ſie in Strümpfen, denn gar zu gern hätten
ſie das Liebespaar ſo recht überraſcht.
Das Burgthor war paſſiert, die Anlagen dehnten
ſich ſtill zwiſchen den Mauern der alten Burg dahin.
Eine Schar ging rechts, die andere links der Stadt—
mauer entlang. Die linker Hand hatte das Richtige
getroffen.
He veſi, Buch der Laune. 7
on
Auf der erſten runden Baſtei hemmte fie den
Schritt. Der Anblick war nämlich zu romantiſch. Tief
unten im Thale machte die Tauber ein glänzendes 8
nach dem anderen; ſie ſchien gar kein Waſſer zu führen,
ſondern eitel Mondſchein. Links auf der Höhe dahin
lag die ſtille Stadt, mit ihrer alten Mauer wie mit
einem breiten Ledergürtel umſchlungen, an dem die
Thore mit ihren Türmen als ſtattliche Schnallen er—
ſchienen. Aus dem Thal herauf glänzte das Turm—
kreuz des ſteinalten Kobolzeller Kirchleins, wie ein
Zeigefinger, an dem ein Goldring ſteckt. Und auf einer
Ecke der Baſtei ſaß eine ſteinerne Gruppe, offenbar
aus der Mythologie, in ſtummer Umarmung und ließ
ſich vom lauen Mondſchein baden.
Wenigſtens hielt Mr. U. S. Gibbs die Gruppe
für Stein — vermutlich aus echtem Monolith, den er
für die koſtbarſte Steingattung hielt — und ſchoß an
ihr vorüber, als ein ſeltſamer Doppellaut ihn umzu-
blicken bewog. Sollte die Lebenswahrheit dieſer alten
Statuen ſo weit gehen, daß ſie ſich ſogar hörbar küſſen
und wiederküſſen? Das müßte denn doch womöglich
für ſein Muſeum in Chicago erworben werden.
Da ging aber auch ſchon die Lebenswahrheit der
Gruppe ſo weit, daß ſie von der Baſteiecke herabſprang
und in zwei Geſtalten getrennt das Weite ſuchen wollte.
eu gg
Von der Schar der Suchenden umringt, fand ſie
keinen Ausweg und mußte bleiben.
„L say,“ rief Mr. Gibbs, „Carolina, Liebling,
biſt Du von Sinnen? Nachts mit einem jungen
Mann
„Mein Gott, die Gypſenen haben auch Blut im
Leibe,“ kicherte eine weibliche Stimme, der eine männ⸗
liche herzhaft ſekundierte.
„In Chicago ſind eben die Mädchen auch nur
Rothenburgerinnen,“ lachte es weiterhin, „und wiſſen
einen Mitbürger zu ſchätzen.“
„J say,“ fauchte Mr. Gibbs, „was Chicago ..
Rothenburg ... Was Blut im Leibe? ... Ladies
and gentlemen, was glauben Sie denn? Meine
Tochter und Mr. Archibald . . .“
„Sind Brautleute!“ raunte ihm Meiſter Gottfried
ins Ohr.
„Sind Breutlaute,“ wiederholte etwas ungenau
Mr. Gibbs, erfreut ob der unerwarteten Hülfe. Im
Drange des Augenblicks, unter den kompromittierenden
Verhältniſſen, ... die Ehre ſeiner Tochter und die
Thüre im Rathaushof ſchwirrten ihm im Kopfe herum,
und dazu dieſer Traubenſchmecker ... Tauben⸗
ſchrecker . .. Schrauben ... kurz, dieſer Johann
Wolfgang Schiller mit ſeinem Wein.
— 100 —
Das Wort war ausgeſprochen.
Mr. Gibbs fand an ſeinem Leibe vier Arme, die
nicht die ſeinigen waren und die ihn teils zärtlich,
teils ehrfurchtsvoll umſchlangen. Er hob etwas un—
ſchlüſſig zwei Hände, die zuſammen drei Fuß lang
waren, in die Luft und ließ ſie, da ſie erheblich zitterten,
aus Müdigkeit auf zwei Gegenſtände herabſinken, welche
ſchwerlich etwas anderes waren, als die Köpfe zweier
glücklichen Menſchen.
Die Stuttgarter aber und die Karlsruher riefen
dazu Vivat, und die Rothenburger lachten und wünſchten
viel Glück. So ging es im Triumphzug nach der
Stadt zurück. Glücklich kam man bis zu Dickhaut, wo
der Herr Metzgermeiſter Mohr ſoeben mit donnernder
Stimme die denkwürdigen Worte rief: „Denn ohne
Einigkeit, meine teuren Mitbürger, werden die Rothen—
burger immerfort uneinig ſein!“ Auch der Einzug des
Brautpaares unterbrach ſein edles Redefeuer nicht, luſtig
praſſelte es weiter, während Stuttgart und Karlsruhe
den Nebenſaal in Beſchlag nahmen. Bald klapperten
die Gläſer ganz ſalamanderhaft zu Ehren Chicagos.
Mr. Gibbs aber hörte nichts davon, denn kaum daß
er einen Stuhl unter ſich ſpürte, ſank ſein Haupt nach
vorne und er wußte nichts weiter.
Die Runde aber machte nun ein Skizzenbuch
— 101° —
Archibalds, voll mit feinen Zeichnnngen aus Nothen-
burg. Und jeder Kollege mußte einen fremden Namen
und ein recht altes Datum unter eine der Skizzen
ſchreiben, z. B. „Antoine Du Cerceau 1684“ oder
„Wolfram von Eiſenhuet 1714,“ ja ſogar Albrecht
Dürers heiliges Meiſterzeichen vermaß ſich einer hinein⸗
zulinieren. Und dann begoß man das Buch mit Bier
und ſchliff die feuchten Deckel mit einem Stück Ziegel⸗
ſtein ab, worauf man ſie mit Käſerinde hübſch wieder
polierte. Zuletzt räucherte man es über einer Petroleum—
flamme und zündete es an allen vier Ecken an, aber
nicht allzu ſtark.
Dann erhob ſich Meiſter Gottfried von Ehingen
und ſagte feierlich: „Dies iſt das alte Künſtlerbuch
der Stadt Rothenburg ob der Tauber, geſtiftet im
Jahre des Heils 1906 . . . das heißt vielleicht 1609,
bei dem Brande der alten Ratsſtube Anno dazumal arg
beſchädigt, aber doch noch glücklich gerettet. Wer's nicht
glaubt, hat's mit mir zu thun.“
Ein großes Lebehoch wurde nun auf das
Brautpaar ausgebracht und Miß Carolina wollte
es tief gerührt erwidern. Sie kam aber nicht ſehr
weit, denn ſchon nach ihren erſten Worten: „Meine
Herren! Ihr großer Dichter Friedrich Wolfgang von
Uhland“ war das Bravo fo laut, daß das
— 102 —
Zitat aus dieſem gemiſchten Dichter nicht mehr gehört
wurde.
* 5 *
Mr. U. S. Gibbs hat niemals begriffen, wie er
an jenem Abend ins Bett gelangt war. Auch die vor—
hergehenden Ereigniſſe ſind ihm nie recht klar geworden.
Nur die merkwürdige Thüre aus dem Rathauſe und
das unſchätzbare Künſtlerbuch der Stadt Rothenburg
vom Jahre 1906, was vermutlich ein Schreibfehler
für 1609 war, begriff er voll und ganz. Er hatte
dafür nichts zu leiſten, als eine neue Thüre für jene
Holzkammer und ein neues Skizzenbuch für einen un—
ſerer Bekannten. Unter dieſem freudigen Eindruck hätte
er dem wackeren Archibald, wäre dieſer zufällig Mor-
mone geweſen, auch noch ſeine anderen Töchter, die er
aber nicht hatte, zur Frau gegeben.
Aller
Eine Jaſchingsgeſchichte aus Ungarn.
(1886.)
ſ das noch hinaus ſoll, wer weiß es?
re Erſt frißt der Wurm den Reps, dann
trifft den Weizen der Roſt. Drei Sommer hinterein—
ander Hagel. Und zwei Überſchwemmungen in zwei
Frühlingen.
Und dabei ſoll der Bauer beſtehen! Nein, er
fault am Halm, wie ſein Korn. Und dann kommen
die länglichen Papierſtreifen, die grün geſtempelten mit
dem quer geſchriebenen Namen. Und dann kommt der
Eintreiber, und dann der Feilbieter, und Haus und
Hof und Kuh und Kalb „ſchwimmen davon,“ im Auf—
ſtrich, eins, zwei, drei, ohne Hexerei.
Anderen iſt es damals auch ſo ergangen in der
Doroger Gegend, aber immer haben ſie den alten
Rezneky beneidet: „Ja Ihr, Onkel Andraſch, Ihr habt
es gut. Euch ſchiert das alles den blauen Teufel.
— 106 —
Habt ja in der Hauptſtadt den Vetter Mihok, der iſt
ein Großer und wohnt in einem gelben Hauſe, auf
welchem ſogar das „K. K.“ von ehedem noch ein
wenig zu ſehen iſt unter der Tünche.“
Ja, ein Vetter Mihok in der Stadt iſt ein
rechter Troſt in ſchlechten Jahren. Jeder Chriſtenmenſch
ſollte ſo einen goldenen Vetter haben, oder doch einen
ſilbernen, in der Hauptſtadt. |
Onkel Andraſch weint auch nicht viel um Kuh
und Kalb. Mag ſich das Pferd grämen, dazu hat
es den großen Kopf.! Er weiß ſchon, was er zu
thun hat. Die Kleider vom lebendigen Leibe hat man
ihnen doch nicht verkaufen können, und er iſt klug genug
geweſen, Mutter und Tochter das Allerbeſte anziehen
zu laſſen, den geretteten Sonntagsſtaat aus der guten
Zeit, damit der Vetter Mihok ſeine Freude an ihnen
habe, wenn er ſie, nun nach dreißig Jahren, wiederſähe.
Und im Zipfel von Tante Boriſchs beſtem Sack—
tüchlein hat ſich, ſo ganz im ſtillen, juſt genug rundes
Silber angeſammelt, daß die drei nach der Haupt—
ſtadt fahren können, dritter Klaſſe. Auf den Kreuzer
langt's.
Und nun ſind ſie in der Hauptſtadt. Gut, daß
ſie nur ſechs Hände haben; es wäre ſonſt zu viel
I Ungariſches Sprichwort.
— 107 —
Arbeit, fie immer zuſammenzuſchlagen vor Erſtaunen.
Unglaublich, daß die Einwohner ſich da nicht verirren,
in den vielen fremden Gaſſen, zwiſchen den vielen
unbekannten Häuſern, die ſo viel Fenſter haben, als
ſollte jeder Bürger zu ſechs Fenſtern gleichzeitig heraus—
gucken können. Und wie die Leute ſich drollig kleiden;
ganz anders als in Dorog. Nicht einmal Bundſchuhe
haben ſie. Und wie man da angeſchaut wird, wenn
man vorübergeht, und, hilf Jeſus, ſogar belächelt.
„Was iſt denn an uns zu belächeln?“ ſagt Onkel
Andraſch zu Tante Boriſch, „in Dorog hat man nie
über uns gelächelt, wenn wir uns das Sonntägliche
anzogen. Sieh mal, Mutter, ob an der Jutka alles
beim Rechten iſt.“
Aber an der Jutka war alles beim Rechten.
Alles. Von dem dicken rabenſchwarzen Zopf, der
buntdurchflochten über den Rücken herabhing, bis an
die Abſätze der ſpitzen Korduanſtiefel. Blendend weiß,
nur mit einem blauen Waſchblauſtich, die Puffärmel
des Ingwall, welche die rundeſten Mädchenarme von
Dorog frei ließen; keine Hofrichterstochter braucht
ſchönere. Prächtig mit ſeidenen Blumen ausgenäht der
rote Grund des hochgewölbten Prußlik. Und die
ſchwarze Seidenſchürze mit Silberſpitzen an den Rän—
dern und der vielfaltige blaue Rock. Und das geſtickte
— 108 —
Taſchentuch in der Hand und ſogar der filberne Ring
mit weinrotem Stein am Finger. Nein, alles war in
ſchönſter Ordnung; kein Mädchen in der Hauptſtadt
konnte ſo „modiſch“ gekleidet ſein.
„Daß die Vögel nicht an ihr picken!“ raunte die
Mutter bewundernd dem Vater ins Ohr.
„Sie iſt zum Stehlen ſchön!“ raunte dieſer zurück.
Ein Herr in blauem Tuch mit rotgelben Schnüren,
eine ſchwarzlederne Säbelſcheide an der Seite und eine
meſſingene Nummer auf der Bruſt, zeigte ihnen den
Weg zum gelben Hauſe.
Ein anderer ähnlich gekleideter Herr ſtand am
Thore, bei dem begann Onkel Andraſch ſeine Nach—
fragen. Aber der Vetter Mihok war nicht leicht zu
finden. Man wies die drei Treppen auf und Treppen
ab, durch Höfe und Gänge und Thüren, alle mit
Nummern, mit gewöhnlichen und auch mit ungewöhn—
lichen, die ſie gar nicht leſen konnten. Verſchiedene
Herren wieſen ſie in Eile hierhin und dorthin, einmal
ſtanden ſie eine Stunde in einem dunklen Vorzimmer,
wo ſie hinter vier Thüren zugleich ſprechen hörten,
hinter der einen gar deutſch. Dann war es plötzlich
wieder das unrechte Vorzimmer geweſen und es hieß
in den nächſten Hof hinübergehen, in ein anderes
dunkles Vorzimmer, diesmal mit fünf Thüren, hinter
— 109 —
denen fünf Stimmen zugleich gedämpft ſprachen. Ein
Bienenſtock, wenn nicht gar ein Weſpenneſt!
Endlich gegen Abend ſtanden ſie wirklich und wahr—
haftig vor Herrn Michael von Rezneky, dem guten
Vetter Mihok von Anno dazumal. Dieſer ſperrte die
Augen kreisrund auf, als Onkel Andraſch ihm heftig
um den Hals fiel, und wandte behutſam den grauen
Schnurrbart beiſeite, ſo daß der verwandtſchaftliche
Kuß kaum ſeine Wange ſtreifte. Onkel Andraſchs Um—
armung ſchien ihm wohl etwas herzlicher als nötig,
denn er klopfte ſich hinterher ſorgfältig die Bruſt ab.
„So ſo ſo ſo ſo,“ ſagte er einmal übers andere.
„Alſo der Vetter Andraſch. Aber Ihr müßt ja längſt
tot ſein. Iſt mir nicht, als hätte ich vor zehn Jahren
oder vor fünfzehn gehört .. .? Nun, gleichviel, Ihr
ſeht, ich ſtecke jetzt in der dickſten Arbeit ... Wann
reiſt Ihr denn wieder heim nach Bereg? . . . Ach fo,
Dorog heißt es! Nun ja, ganz einverſtanden . .. Und
das find die beiden Töchter, nicht wahr?) .. Wie?
RNichtig, nur die eine iſt die Tochter So
meint' ich's ja auch ... Es iſt recht ſchön in der
Hauptſtadt, nicht wahr? Seid hoffentlich gut unter—
gekommen. Na, ich ſehe Euch jedenfalls noch ...
und unterhaltet Euch recht gut.“
Wo war er geblieben? Plötzlich war er nicht mehr
„ 110, —_
da. Die drei ſtanden mäuschenſtill und ſahen erit
den Fußboden an, dann die Wände, und zuletzt eines
das andere. Es verging einige Zeit und alles war
ſtill im Gemach. Dann kam ein Herr, der die Dienſt—
mütze aufhatte und einen Beſen in der Hand, und ſagte,
das Amt werde nun geſchloſſen und ſie könnten nicht
länger da bleiben.
Und dann ſtanden ſie wieder auf der Straße und
die fremden Leute wimmelten um ſie herum. Und es
war grauer Abend geworden, Laternen blinzelten ein—
äugig, es fror und ſie waren hungrig. Jener Zipfel
aber in Tante Boriſchs beſtem Sonntagstaſchentuch war
leer. Nur ein klein wenig roch er noch nach Silber—
gulden.
Sie wanderten mutlos und ſchweigſam durch
Straßen, auf deren Namen ſie nicht neugierig waren.
Sie kamen an jene große Theiß hinab, welche Donau
heißt, und hörten den Strom tief unter dem Quai
rauſchen. Ein dunkles Gitter umſchloß einen finſteren
Garten, kahle Bäume ſtanden drin und feuchte Sitz—
bänke. Die beiden Alten ſanken totmüde auf eine Bank
und begannen traurige Sachen zu wiſpern, ganz leiſe,
damit Jutka nichts höre, und die alte Frau wiſchte ſich
zuweilen die Stirne, — ſo ſagte ſie, denn es ſei ihr
heiß geworden, — aber es waren eigentlich die Augen.
— 111° - ——
Und das gewaltig hohe, nachtdüſtre Haus gegen-
über mit den weiten ſteinernen Bogen und den feuer—
flammenden Fenſtern ſah ſchweigend auf ſie nieder.
Sie wußten nicht, daß es die Redoute war. Zwei
Flammen waren vorn aufgeſteckt, in die konnte man
nicht hineinſchauen, denn ſie waren wie zwei Tropfen
glühendes Sonnenlicht, grellweiß, und hüllten den Platz
wie in einen weißen Nebel, aus Nacht und Tag gemiſcht.
Jutka konnte ſich nicht enthalten, unter die hohen
Steinbogen zu treten. Wagen rollten ein und aus,
überquellend von ſeltſamen, flimmernden Bauſchen aus
Schleiern, Pelzwerk und Gott weiß was. Herren
kamen und gingen, hohe ſchwarze Röhren auf dem
Kopfe und die Kragen bis an die Krämpen hinauf—
geſtülpt. Alles eilte eine gewaltig breite Treppe hinan
und von oben ſcholl verworrenes Toſen und Brauſen
herab, wie wenn Muſik und Menſchengelärm ſich gegen—
ſeitig erſticken.
Jutka betrat die Treppe, kein Menſch hielt ſie
auf. Nur die Bilder des Treppenhauſes wollte ſie
ſich anſehen, ſie ſpielten zu ſchöne Farben. Dabei kam
ſie immer höher; ſie vergaß ganz, wie hell es ringsum
geworden war. Jetzt ſpürte ſie gar etwas unter ihrem
Fuß. Sie hob es auf. Es war ein ganz ſpaßiges
Ding, länglich rund, von ſchwarzem Samt, mit zwei
— 112 —
runden Löchern und einem Bändchen rechts und links.
Was in aller Welt konnte das ſein? Eine maskierte
Dame ſtrich juſt an ihr vorbei, mit einem ganz ſchwarzen
Geſicht, aus ſchwarzem Samt. Sie taumelte zurück
vor Schreck; ſie glaubte, des Teufels Schwägerin be—
gegnet zu ſein, für ſeine Großmutter ſchien ihr dieſelbe
doch noch etwas zu jugendlich. Dann beſann ſie ſich
und ſagte: „Aha.“ Ein Spiegel war auch in der
Nähe und im nächſten Nu lachten zwei jamtraben-
ſchwarze Geſichter einander helllaut an, eins in den
Spiegel hinein, das andere aus dem Spiegel heraus.
O Eva!
Und war das nicht ein köſtlicher Spaß? Wenn
das die guten Leutchen von Dorog ſähen! Keinem fiele
es ein, daß das die Rezneky Jutka ſein könnte, hinter
dem pechkohlenrabenteufelsſchwarzen Ding da. Und
ſie lachte, daß ihr die Augen übergingen. Gerade kam
eine Schar vermummter Geſtalten die Treppe herauf-
geſtürmt, der Wirbel ergriff ſie und — das Herz
ſtand ihr ſtill — in der nächſten Minute ſtand ſie
mitten im Ballſaale.
Herr des Himmels! Ein Saal wie ein Haus.
Das Dach mit feurigen Sternen beſetzt und in allen
Ecken ungeheure goldene Chriſtbäume voll lodernder
Kerzen. Keine Kirche kann ſo ſchön ſein.
— 113 —
Aber das Getümmel! Es ſchob und ſpülte ſie da
und dorthin wie ein Strom, ſie hatte gar keinen Willen.
Und das ſollen lauter lebendige Menſchen ſein, dachte
ſie, aus Fleiſch und Bein. Unglaublich! Wie lauter
Luftpölſter und Schwimmblaſen fühlten ſie ſich an,
wenn ſie ſich ſo vorbeidrückten. Augenſcheinlich ſind
die Stadtdamen zum größten Teil aus Fiſchbein und
Roßhaar gemacht.
Dieſer Anſicht ſchien auch ein Herr zu ſein, der
mit ihr zufällig hart zuſammenſtieß. Sehr hart. „Alle
Wetter!“ rief er, „was iſt denn das? Von welchem
Sockel iſt denn das ſteinerne Mädel herabgeſtiegen?“
Der Herr hatte eine abſcheuliche, lange, krumme, rote,
wie lackiert glänzende Naſe im Geſicht, einen roten
Schopf rechts und links und einen in der Mitte, und
ſtak übrigens mit dem ganzen Leibe in einem bunten
Strickſtrumpf; dafür ſah Jutka ſein Trikot an.
Sie ſchauderte zurück, als der Herr ſie mit der
Spitze ſeiner fürchterlichen Naſe auf den bloßen Arm
tupfte, und eine unwillkürliche Bewegung ihrer Hand
traf gerade dieſe unverſchämte Naſe. Wahrhaftig, nur
mit dem kleinen Finger traf ſie dieſelbe, aber auch das
war ſchon genug. Die Naſe krachte jäh entzwei und
ihre vorderen zwei Drittel fielen zu Boden. Jutka
war ſtarr vor Schreck. Sie hatte einem Menſchen die
Heveſi, Buch der Laune. 8
„ EA —
Naſe abgebrochen! Sie war verloren, fie fah ſich ſchon
im Gefängnis, bei Waſſer und Brod, auf Lebenszeit.
Ein Halloh erhob ſich, ein Johlen und Heulen, da
und dort bellte es ſogar. Alles drängte herzu, daß
ihr angſt und bange wurde. Der naſenloſe Herr er—
griff ſie am Arme, ſchrie nach ſeiner Naſe und wollte
einſtweilen die der Übelthäterin als Pfand behalten.
Er zog ihren Arm durch den ſeinen, aber ſie hatte
glücklicherweiſe zwei Arme, und des anderen bemächtigte
ſich eine ehrwürdige gebeugte Geſtalt in ſchwarzem
Talar und ſpitzer Haube, alles ganz mit Sonnen,
Monden und Sternen in allen Farben geſprenkelt.
Das runzlige, bleiche Antlitz dieſer blutleeren Perſönlich—
keit flößte Jutka Vertrauen ein, ſo daß ſie ihr ins
Ohr ſagte: „Liebe, gute gnädige Frau, bitte, können
ſie mich wohl von dieſem gnädigen Herrn mit der
zerbrochenen Naſe losmachen?“ Die Ehrwürdige ließ
hierauf den Naſenloſen hart an. „Ich bin die Mutter
dieſes Mädchens; loslaſſen, ſonſt ...“ Da ließ er
los, aber er ſtieß zugleich ein wieherndes Gelächter
aus. „Ihre Mutter! Ha, haha! Der Herr Stern-
gucker iſt plötzlich Mutter geworden!“ Gelächter ringsum.
Wüſte Fratzen grinſten Jutka ins Geſicht, mit Gewalt
riß ſie ſich von dem alten Sterndeuter los, den ſie
in ihrer Unerfahrenheit für eine alte Dame im Schlaf-
— 15 —
rock gehalten. Aber er ſtürzte ihr durch das Getümmel
nach. In ihrer Angſt wandte ſie ſich an einen jungen
Herrn in kurzem Sammethöschen und prallen Strümpfen,
ein keckes Barett auf dem linken Ohre. „Ach, bitte,
gnädiger Herr, wo komm' ich denn am eheſten aus
dieſem Saale hinaus?“ Neues Gelächter rundum.
Sie hatte einen weiblichen Debardeur für einen Mann
gehalten.
„Sie ſpielt die Naive köſtlich,“ ſagte ein eleganter
Herr, im ſchimmernden Seidenhut, indem er zwei kräftige
Arme zu ihrem Schutze ausſtreckte. Er war nicht
maskiert und nicht koſtümiert, und das flößte ihr ein
merkwürdiges Vertrauen ein. Endlich ein Menſch mit
einem echten Menſchengeſicht. Er war mit drei anderen
Herren, alle ohne Larven. Sie umringten ſie, wie
eine Schutzwache, und machten einen Weg für ſie frei.
Wie ſie da aufatmete.
„Sie ſpielt die Unſchuld vom Lande,“ ſagte einer
der Herren zu dem von vorhin, „aber ſie ſpielt ſie
gut. Seht Ihr, man trifft doch noch Geiſt auf den
Mittwochs-Redouten; etwas ſelten freilich.“
„Und ſogar ein echtes Koſtüm,“ ſagte der dritte,
„das iſt ja auch eine förmliche Rarität geworden auf
unſeren Maskeraden. Wo haſt Du denn die Kleider
her?“ wandte er ſich an Jutka ſelbſt.
— 116 —
„Hab' fie aus Dorog mitgebracht, gnädiger Herr,“
entgegnete ſie.
„So, jo, mitgebracht,“ lächelte jener, „kommſt
wohl geradenwegs aus Dorog hier an, auf dem Re—
doutenball? Natürlich!“
„Ja wohl, gnädiger Herr, bin erſt vor zwei
Stunden hier angekommen und ganz zufällig da herein—
geraten,“ ſagte ſie, „aber bitte, ſeien Sie nicht böſe,
die Leute haben mich ſo hereingedrängt; ich wollte ja
nicht, gewiß nicht. Will auch gleich wieder hinaus,
die Eltern warten draußen, . . . ſie werden ſich recht
ängſtigen, wenn ich lange fortbleibe.“
„So, ſo, die Eltern warten; warum ſollten ſie
denn nicht, die guten Eltern? Weiß ſchon, mein Kind,
man kennt das, . .. haft Du denn aber auch ſchon
zu Nacht gegeſſen?“
„Zu Nacht?“ ſchrie ſie hell auf, denn dieſes
Wort öffnete ihr plötzlich die Ausſicht in eine ganze
Küche voll guter Sachen. Sie war ſo jung und hatte
den ganzen Tag nichts gegeſſen, noch getrunken. Ihr
ſiebzehnjähriger Hunger war es, der aus ihr ſprach:
„Zu Nacht? . .. Weiß Gott, nicht einmal zu
Mittag.“
„Selbſtverſtändlich,“ lachte der eine ihrer Begleiter.
„Das wußten wir im voraus. Man hat ja niemals
— bl.
zu Mittag gegeſſen. Haft alſo einen rechtſchaffenen
Appetit, Kleine?“
„Wie ein Rudel Wölfe!“ platzte ſie heraus.
„Ei freilich!“ ſagte der von vorhin. „Im Winter
gehen die Wölfe immer gleich rudelweiſe. Dir ſoll
aber auch geſchwind geholfen ſein, Panna, mein Herz.
Du heißt ja wohl Panna?“
„Panna? warum nicht gar!“ rief ſie und warf
ſtolz das braune Köpfchen mit dem dicken Zopf in den
Nacken. „Panna heißt ja jeder Menſch. Ich heiße Jutka.“
Sie waren mittlerweile ins Buffet gelangt, in
ein Nebengemach desſelben. Ein äußerſt feiner Herr
in ſchwarzem Frack, mit weißer Serviette über dem
Arm, tänzelte herbei und fragte Jutka höflich, was ſie
befehle. Er war wunderbar friſiert und hatte einen
weißen Strich ſenkrecht über den Kopf hinauf, zwiſchen
zwei ſchimmernden Scheiteln. „O, gnädiger Herr, be—
mühen Sie ſich nicht,“ entgegnete ſie ſo ehrfurchtsvoll,
daß ihre Begleiter ſich die Seiten hielten. Selbſt der
Kellner, der nicht gewohnt war, als gnädiger Herr
behandelt zu werden, ſchmunzelte geſchmeichelt.
„Sie ſpielt das Gäuschen vom Lande ganz köſt—
lich,“ ſagte der eine Herr zu ſeinem Nachbar. „Wie
froh könnte Fräulein Zora vom Nationaltheater ſein,
wenn ſie dieſen naiven Ton hätte.“
— 118 —
Und der andere darauf: „Offenbar nur ein ges
wöhnliches Mädchen, aber ein Talent für das naive
Fach. Wie ſie die Schüchterne und Unerfahrene giebt.
Und wie reizend ſie ſich dieſes Koſtüm zuſammengeſtellt
hat. Übrigens auffallender Weiſe noch ganz junges
Blut, ein ſtrammes Ding, Sapriſti!“
Er entkorkte mit lautem Knall eine Champagner:
flaſche. Sie ſtieß einen Schrei aus, ganz ſilberhell,
und ſchrak ſo aufrichtig zuſammen, daß die vier ſie
erſtaunt anſahen.
„Siehſt Du, liebe Jutka, ſo erſchießt ſich mein
Freund Gyuri, wenn er verliebt iſt,“ ſcherzte ihr linker
Nachbar.
„Jeſus Maria,“ ſagte ſie, als ſie ſich erholt hatte,
„ich habe das Ding für eine Flaſche gehalten und es
iſt eine Piſtole.“
Die vier lachten ſchon wieder. „Köſtlich geſpielt!“
verſicherten ſie, „ſuperb! Haſt Du denn noch keine
Champagnerflaſche geſehen, Herzchen?“
„Was für eine Flaſche?“ fragte Jutka.
„Ach, die Kleine iſt nicht zu bezahlen!“ rief Herr
Gyuri, indem er ihr das volle Glas reichte. „Auf
Deine Geſundheit, ſchöne Jutka! Trink aus!“ Und
er ſtieß mit ihr an und leerte ſein Glas.
Sie aber hielt das ihre zitternd in der Hand,
— 119 —
nur mit zwei Fingerſpitzen, am Stengel, ganz behut—
ſam, und ſtarrte ihn eine ganze Weile mit großen
Augen an. „Jeſus Maria,“ ſtammelte ſie endlich im
Tone echten Schauders, „er hat das ſiedende Waſſer
ausgetrunken!“
„Wa . . a. . as?“ riefen die vier aus einem
Munde. „Siedendes Waſſer?“
„Nein, was dieſe Stadtherren für Kehlen und
Magen haben müſſen!“ wunderte ſie ſich und ſchüttelte
noch immer den Kopf, „unſereins würde ſich mit dem
kleinſten Schlückchen durch und durch verbrühen. Brr!“
Und ſie ſchauderte, mit einem ganzen Dutzend „r“
zwiſchen Gaumen und Zunge.
„Aber ſo thu doch Beſcheid, liebes Kind,“ redete
ihr Herr Gyuri zu, „haſt Du noch niemals Champagner
geſehen?“
„Cham .. .,“ wiederholte fie.
fuhr er fort.
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„F Waner
Sie ſagte ihm die Silben aufmerkſam nach, ganz
behutſam, um ſie nicht zu fehlen, aber dann, als ſie
das ganze Wort auf einmal ausſprechen ſollte, kollerten
die Buchſtaben doch wieder durcheinander. Die vier
— 120 —
Herren lachten wieder. Was die aber auch immer zu
lachen hatten! Und dann ſollte ſie wirklich trinken,
das roſenrote, ſiedende Waſſer da, das überfloß wie
die Suppe am Herd . .. Nun, es ſchien mittlerweile
etwas ausgekühlt zu ſein, denn es ſchäumte nicht mehr
ſo heiß wie zuvor und warf nur Garben winzig kleiner
Stecknadelköpfchen auf, die aber doch was anderes ſein
mochten, vielleicht gar Luft. Und, da die vier gnädigen
Herren ihr gar jo zuredeten, von vier Seiten auf ein⸗
mal, . . . huſch, hatte fie auf einen Zug das Glas—
voll geſchluckt. Wo ſie nur die Keckheit dazu herge—
nommen, fragte ſie ſich und ſaß nun da, die Augen
feſt geſchloſſen, die eine Hand mit dem kunſtvoll zer—
löcherten Tüchlein feſt vor die Herzgrube gepreßt, und
wartete mäuschenſtill. Als ſie dann doch merkte, daß
ſie innerlich nicht verbrüht war und daß im Gegenteil
ein ſeltſames Prickeln, wie Kälte und Wärme zugleich,
durch ihre Adern rieſelte, bis in ihre Fingerſpitzen
hinein, that ſie plötzlich die Augen wieder auf und
lachte wie ein Kind.
„Sie iſt zum Anbeißen,“ murmelte Herr Gyuri
und rückte ihr noch näher, obgleich er ihr ſchon vorher
nicht gar fern geſeſſen.
Und das erſte Glas that Wunder. Jutka aß und
trank und lachte dazu. Und dann wurde ihr heiß und
— 121 —
fie riß ſich die Sammetlarve, die ſie bisher nicht um
die Welt hatte ablegen wollen, mit eigener Hand vom
Geſichte. Das war wie ein Sonnenaufgang, als dieſes
ſprühende, jugendfriſche Antlitz ſichtbar ward, mit ſeinen
unberührten, jetzt feurig erhöhten Farben. Die viere
ſaßen ordentlich betroffen da und ſtießen ſich unter dem
Tiſch mit den Knieen.
„Alle Wetter!“
„Alle Hagel!“
„Alle Teufel!“
„Alle guten Geiſter!“
Sie murmelten dieſe vier Empfindungslaute nur
leiſe vor ſich hin, gleichzeitig; ſie hätten ebenſogut
das nämliche ſagen können. Nein, darauf waren ſie
nicht gefaßt geweſen. Nein, dieſes Geſicht log nicht.
Das war keine geſpielte Einfalt vom Lande, ſondern
die wirkliche Unſchuld, vom Himmel gefallen mitten
hinein in dieſen Sündenwuſt, um eine Schürze voll
gebeſſerter Männerherzen zu ſammeln und mitzunehmen,
da hinauf, über die Wolken
Und Jutka lachte noch immer. Hatte freilich auch
die Zähne dazu, lauter echte Perlen, mit harter Brod—
rinde poliert. Die Zigeuner draußen ſtimmten eben
einen Csardas an, unter hundertſtimmigem Juchhe
des Maskenpöbels. Schon dröhnte der Takt ſtampfen—
— 122 —
der Sohlen und Hacken durch den Saal. Der Taumel
griff durch die Thüren herein, über die ſpaniſchen
Wände herüber . . . Jutka fühlte ſich von acht Armen
zugleich ergriffen, aber ſechs fielen wieder ab und auf
zweien ſchwebte ſie davon. Sie glaubte nicht auf dem
gewichſten Boden zu tanzen, ſondern auf roſenfarbenen
Wolken, wie die Heiligen des großen Altarbildes da—
heim in Dorog, zweihundert Meilen, zehntauſend Meilen
von ihr, — was wußte ſie noch, wie weit. Und dann
ſchwiegen die Zigeuner wieder, nach einer halben Stunde
erſt, nach dreimaligem „Ujra,“ ! und als Herr Gyuri
ſie wieder zu ihrem Seſſel führte und ihr vorlog:
„weißt Du aber auch, liebe Jutka, daß man in der
Hauptſtadt das erſte Tänzchen mit einem Kuſſe be—
zahlt?“ da ſchien ihr das faſt natürlich und nur ein
Etwas in ihr regte ſich unwillkürlich, daß ſie nur ge—
ſchwind noch vorher die Sammetmaske vor das Geſicht
band. So bot fie ihm den Mund, . .. da das doch
in der Hauptſtadt ſo Sitte ſei.
ba!
Ihr ſchwindelte, . .. vom langen Tanz oder
vom kurzen Kuß? ... und Herr Gyuri drehte ſich
den vollen Schnurrbart mit der rechten Fauſt und
ı „Ujra“ (von neuem), der Ruf, mit dem ein Tanz zur Wiederholung
begehrt wird.
— 123 —
ſchnalzte dann mit den Fingern ſo laut, daß der Kellner
hereingeſtürzt kam und fragte: „Befehlen, Herr Ball-
ordner?“
Ungeſchickter Burſche! In einem ſolchen Augen—
blick die amtliche Würde des Ballordners zu ver—
raten!
Nun war der ganze Zauber gebrochen. Das ſtrenge
Wort „Ordner“ zerſtreute in Jutkas Seele ſofort den
ganzen ſchönen, roſenroten, taubengrauen, ſilberblauen
Duſel. Nüchtern, wie am frühen Morgen, ſtand ſie
da und rief angſtvoll:
„Jeſus, meine Mutter, mein Vater! Wo ſind
fie? Wie ſpät es geworden iſt! . .. Ach Gott, ich
muß fort, fort, ich muß ſie ſuchen, ſie werden ſchon
in Verzweiflung ſein, weil fie mich verloren haben ...
O, bitte, bitte, halten Sie ein armes Mädchen nicht
zurück, zeigen Sie mir den Ausgang. Gewiß, meine
Eltern erwarten mich noch immer, auf der Bank, im
Garten, vor dieſem großen Hauſe.“
Und aus ihren großen, ängſtlichen Augen ſtürzten
ſchwere Tropfen, einer nach dem anderen, über den
ſchwarzen Sammet ihrer Larve hinab, daß es ſchien,
als wären dieſe Augen ſo ſchwarz, daß ſie auch nur
ſchwarze Perlen weinen könnten.
„Thränen, das iſt nichts für mich,“ ſagte einer
— 124 —
der Herren achſelzuckend und wollte ſich drücken. Aber
Herr Gyuri befahl ihm, hinunter zu gehen in den
kleinen Park und Jutkas Eltern zu ſuchen und zu be—
ruhigen.
„Und bringe ſie gleich mit herauf,“ rief ihm ein
dritter nach. Dann tröſteten ſie die Verwaiſte mit den
thörichteſten Vernunftgründen, alle drei, am eifrig—
ſten der Herr Ballordner, ſo daß Jutka nach und
nach einen beträchtlichen Teil ihrer Angſt vor dieſem
gewaltigen Herrn verlor. Nur die Beſorgnis blieb noch,
ob jener gute gnädige Herr (Nummer vier) die beiden
Alten auch noch finden würde. Aber Herr Gyuri nahm
die Amtsmiene vor und beruhigte ſie: der Bote eines
Ballordners wiſſe jeden Menſchen in jedem Augen-
blicke zu finden.
Und ſie kamen. Sie waren da. Halb verſtört,
halb entzückt. Sie hatten erſt lange Zeit da unten
ſtill geſeſſen, weil ſie nicht wußten, wo ſie Jutka ſuchen
ſollten, und dann wieder eine lange Zeit, damit Jutka
ſie fände, wenn ſie etwa zurückkehren ſollte. Und nun
hatten ſie ſie wieder, ſo viel wie unverſehrt und ſogar
ſatt. O, dieſe Hauptſtadt, jo grauſam und jo liebens—
würdig, wie ſchön nahm ſie ſo eine wildfremde Familie
vom Lande auf! Nein, ſo eine Stadt giebt es auf der
ganzen Welt nicht wieder, in Dorog am allerwenigſten.
— 125 —
Und der feine Herr mit den ölglatten Scheiteln,
dem fliegenden Schwalbenſchwanz hinter ſich und der
Serviette über dem Arm, ſchenkte nun auch ihnen
fleißig ein und tiſchte ihnen auf, was gar keinen
Namen hatte, und ſie befahlen ihre Seele Gott, von
wegen der Bezahlung, und aßen und tranken.
War es das Glück, war es der Cham-pa⸗gner,
was Jutka den Kopf ſo ſchwer machte und das Herz
ſo leicht? Sie neigte die glühende Stirne auf ihre
beiden weißen Arme, denn der Schlaf wollte ſie er—
drücken. Doch da, im Buffet, war kein Ort zum
Schlafen. Herr Gyuri wußte einen beſſeren. Nur ein
paar Schritte, bis zum Komiteezimmer; die ſchöne
Maske ſei unwohl, da könne ſie ſich ungeſtört erholen,
niemand werde ſie ſtören, er ſelbſt ſtecke den Schlüſſel
in die Taſche.
Die beiden Alten aber ſollten ſich nur in Ruhe
den Maskenball anſehen, nach Herzensluſt, er und ſeine
Freunde wollten ſie geleiten und ihnen alles erklären.
Das prächtige alte Paar in ſeiner urwüchſigen
Bauerntracht machte, als man erfuhr, dies ſeien die
Eltern jenes wunderbaren Doroger Mädchens, kein ge—
ringes Aufſehen. Man bedauerte nur, daß das Töchter—
lein ſich einſtweilen zurückgezogen habe. Sie wurden
von dem buntſcheckigen Janhagel arg umdrängt und
— 126 —
mußten hundert Hände ſchütteln, darunter fogar etliche
behandſchuhte, und aus hundert Gläſern Beſcheid thun,
darunter ſogar aus etlichen vollen. Alles war ein-
ſtimmig darin, die drei ſeien die Krone des Feſtes,
die waſchechteſten Koſtümfiguren, die man im heurigen
Faſching zu Geſicht bekommen. Ein alter Herr be—
ſonders hatte ſie ganz und gar in ſein Herz geſchloſſen.
In einem Augenblick, als ſie ihre frühere Begleitung
im Gedränge verloren hatten, nahm er ſich ihrer an
und rettete ſie ins Buffet, wo er flugs den beſten
Tokayer auffahren ließ. Reines Gold, gelbes Feuer.
Und der Mann konnte es thun, denn er war Direktor
der Singſpielhalle „Zum lachenden Ferkel,“ ganz weit
draußen in der feinſten Vorſtadt, wo die luſtige Welt
ihr Stelldichein hat, ſo ſagte er, und der noble Herr
mit dem Schwalbenſchwanz und der Serviette beſchwor
es franzöſiſch. Und nach dem zweiten Glaſe Tokayer
ließ er ſich vom Alten in alle feine Verhältniſſe ein—
weihen. Und nach dem dritten ſchlug er ihm ein
Engagement vor; ſie ſollten jeden Abend in ihrem
eigenen prächtigen Koſtüm bei ihm auftreten, und die
ſchöne Jutka ſollte nichts als ein Lied ſingen und einen
Tanz tanzen, und dafür wollte er ihnen jeden Abend
zehn Gulden bezahlen, oder in Gottes Namen zwanzig.
Und nach dem vierten Glaſe drückte er ihm ſogar eine
— 127 —
Note von fünfzig Gulden in die Hand, als Angabe;
dem Alten gingen die Augen über und er dachte ſich:
am Ende iſt ſie gar nicht echt. Aber der noble Herr mit
Schwalbenſchwanz und Serviette wechſelte ſie ihm augen—
blicklich in fünf blaue Zehnernoten um, fo daß jeder
Zweifel ſchwand. Und nach dem ſechſten Glaſe ſchrieb
der Alte richtig ſeinen Namen auf ein Papier, ganz
breit und leſerlich: Rezneky Andraſch, und machte mit
der Feder einen großen Zug darunter, daß die kugel—
runden ſchwarzen Kleckschen weithin über das Papier
ſprühten.
Ein gewaltiges Gefühl des Gerettetſeins, des
Glücks, erfüllte ſein Herz. Er umarmte ſeine alte
Boriſch und ſie weinten eine Thräne aus vier Augen,
eine recht ausgiebige, wie billig, wenn es einem recht
gut geht auf Erden. Und dann wollten ſie das ganze
heidenmäßige Chineſenglück, das ſie betroffen, der Jutka
mitteilen, damit auch ſie ihren Luftſprung thue auf
einem Beine oder keinem. Aber wo war Jutka? Wo,
ja wo? Wo, bei allen Engeln, oder Teufeln ..
Jutka! Jutka! ... Sie durchirrten alle Säle und
ſuchten ihre verlorene Stecknadel; ſie fragten jede Stein
figur auf ihrem Sockel, ob ſie die Jutka nicht geſehen.
Es war ſehr ſpät geworden, oder ſehr früh, wie man's
nimmt; die Säle leerten ſich zuſehends; man ſah nur
— 128 —
noch Pärchen, Pärchen und wieder Pärchen umher:
flattern, noch immer oder ſchon wieder.
Der Herr Direktor ſuchte die alten Leute zu
tröſten, mit einem Geſicht, als ob er ein großes Stück
Zucker im Munde hielte: der Herr Ballordner ſelbſt
habe ja die Geſuchte unter ſeinem mächtigen Schutz,
es könne ihr unmöglich das Geringſte zuſtoßen. Aber
die Alten gaben nicht nach, beſonders Mutter Boriſch,
welche durchaus den Herrn Ballordner ſprechen wollte.
Aber der war ſchon fort, jo ſagte der Thürſteher, und
der log ſchwerlich, denn er war in den Hausfarben ver—
ſchnürt, an allen wichtigeren Stellen ſeiner Perſon.
„Gut,“ ſagte Tante Boriſch, „im gelben Hauſe muß er
zu finden ſein, ich gehe ins gelbe Haus.“ Der Herr
Direktor mußte ſie führen und ſie gelangten in dasſelbe
große Gebäude, in dem ſie den Vetter Mihok geſprochen.
O, das traf ſich vorzüglich; Vetter Mihok war ja all—
mächtig in dieſer Gegend. Wo er denn ſei, der gute
Mihok? . .. Der ſchlafe jetzt zu Haufe, in feinem
Bette... Ob man ihn nicht wecken könne? Der Fall
ſei dringend .. . Welche Idee, das gäbe einen ſchönen
Tanz, der Bote käme nicht zur Hälfte wieder.
Es hieß warten, bis zum Morgen. Der Nacht⸗
beamte riet es gutmütig und ſtellte ſogar ein ledernes
Kanapee zur Verfügung und drei Rohrſeſſel, da könnten
—_ 29292
die beiden ſchlafen. Und Onkel Andraſch ſchlief wirklich,
Tante Boriſch aber ſaß neben ihm und ſchüttelte die
ganze Zeit nur den Kopf und murmelte ſtundenlang
nur: „O Du mein Gott, o Du mein Herr und Gott,“
und dann wieder umgekehrt.
Es dauerte länger als lang, bis Vetter Mihok
kam. Die beiden Alten erzählten unterdes ihren Fall
wohl ein dutzendmal den verſchiedenſten Beamten. Als
Vettern des hochmögenden Michael von Rezneky fehlte
es ihnen nicht an teilnehmenden Zuhörern. Endlich kam
der Erſehnte an und ſie wurden ihm ſchleunigſt vor—
geführt. Der Herr Direktor des „lachenden Ferkels“
humpelte beſcheiden hinterdrein.
Das war ein eſſigſaurer Empfang. Vetter Mihok
ſchien an rauhem Hals zu leiden, denn er ſprach lauter
Raſpeln und Sägefeilen. Er nahm erſt gar keine Notiz
von den dreien, ſondern ſchellte nur und befahl, ſo—
bald ſein Sohn im Amt erſchiene, ihn hereinzuſchicken.
Und dann ging der Sturm los. Er donnerte und
wetterte, was nicht einmal im hundertjährigen Kalender
ſtand, ſo daß der Herr Direktor hinter den Alten immer
kleiner wurde.
„Schöne Geſchichte das, mit dem Mädchen! Sich
ſo wegzuwerfen. Pfui! (Er ſpuckte auf den Boden.)
Und wieder Pfui! (Er ſpuckte wieder auf den Boden.)
Heveſi, Buch der Laune. 9
— 130 —
Auf einem gemeinen Maskenball, wo gar fein an-
ſtändiges Mädchen hingeht. Und ſich vom erſten beſten
füttern und tränken laſſen, wie das liebe V. ..!
Skandal! Und das trägt meinen Namen! Hoffent—
lich habt Ihr wenigſtens Euren Namen keiner Seele
geſagt, he?“
„Unſeren Namen,“ ſtammelte Onkel Andraſch,
„nein, nein, keiner Sterbensſeele.“
„Das iſt Euer Glück, ſonſt . . .“
„Das heißt, nur . . . aufgeſchrieben hab' ich ihn.“
„Aufgeſchrieben? Ei, da ſoll ja doch gleich der
kreuzweis geflochtene Himmelsdonner ...“
„Aber nur ein einziges Mal, lieber Vetter Mihok,
deu Herrn Direktor da, unter den Vertrag ...“
„Direktor? Vertrag? . . . Was ſoll das heißen?
Du wirſt doch nicht .. . Wo iſt dieſer Vertrag? . . .“
Der Herr Direktor aus der feinſten Vorſtadt zog
das Schriftſtück aus der Bruſttaſche und reichte es ihm
mit einer Art von beſcheidenem Trotz. Der Hoch—
mögende warf nur einen Blick darauf und wurde puter—
rot und puterblau am ganzen Kopfe. Er preßte ſich
beide Fäuſte auf die Bruſt und rang nach Faſſung. End—⸗
lich konnte er wieder ſprechen, mit verſagender Stimme.
„Und unter Eurem Namen wollt Ihr auf dieſer
Schandbühne auftreten? Unter meinem Namen?
— 131 —
Nimmermehr! Ihr werdet einen falſchen Namen auf
den Zettel ſetzen. Der Name Rezneky wird nicht auf
dem Pranger ſtehen.“
„Auf dem Pranger, Vetter Mihok? Ich trage
den Namen Rezneky in Ehren ſeit 65 Jahren; wo ich
bin, iſt auch mein Name gut aufgehoben,“ ſagte Onkel
Andraſch und richtete ſich ſtolz auf, faſt drohend, denn
man hatte ſeinen Namen anzutaſten gewagt.
„Pfui,“ rief Vetter Mihok und ſpuckte ſchon wieder
auf den Boden. „Ein ungariſcher Bauer und auf dem
Pranger! Hundertmal pfui!“
„Ich bin kein Bauer,“ rief Onkel Andraſch, jetzt
ſchon aufs höchſte gereizt. „Nicht mehr. Um lumpige
tauſend Gulden hat Nachbar Fekete mein belaſtetes Erbe
gekauft, bei der Verſteigerung. Er iſt freilich ein Ehren
mann und bleibt mir acht Tage im Worte, falls ich's
ihm noch irgendwie ablöſen kann, um fünfzehnhundert.
Heda, Herr Direktor von der luſtigen Vorſtadt, kann
ich mir bei Ihnen in acht Tagen fünfzehnhundert Gulden
verdienen?“
Der Direktor des lachenden Ferkels kratzte ſich
grinſend den Kopf: „Fünfzehnhundert Gulden ſind ein
rundes Geld. Aber... wiſſen Sie, Herr von Rezneky,
ſolche Leute pflegen mit ſich reden zu laſſen. Viel⸗
leicht giebt er zu den acht Tagen noch ſechs Monate
— 12 —
zu... und läßt von den Fünfzehnhundert noch etwas
nach. Verſuchen kann man's auf jeden Fall.“
„Topp!“ rief Onkel Andraſch freudig. „Herr
Direktor, Sie ſind ein Mann. Sie machen mich wieder
zum Bauer ... und einſtweilen wollen wir für Sie
ſingen und tanzen, alle drei; Mutter Boriſch muß auch
tanzen!“
„Schweig, alter Faſelhans!“ donnerte ihn Herr
Michael an. „Was weißt Du davon? Dieſe Sing—
ſpielhalle iſt eine Höhle des Laſters. Kein anſtändiger
Menſch ſetzt den Fuß da hinein, am allerwenigſten ein
Mädchen.“
„Jeſus Maria und heiliger Joſef!“ ſchrie Mutter
Boriſch auf. „Meine arme Jutka!“ Und ein ſchluchzen⸗
der Krampf ging durch ihre Bruſt.
„Übrigens,“ fügte Herr Michael hinzu, „das
wäre auch umſonſt, den Namen zu fälſchen; alle Welt
wüßte doch, wer Ihr ſeid.“
„Rettung! Liebſter Vetter Mihok, rettet meine
Jutka!“ flehte Mutter Boriſch und warf ſich dem
Großmächtigen zu Füßen.
Dieſer ſah ſie gar nicht an und ſtudierte nur den
Vertrag. Dann ſagte er: „Da iſt ein Reugeld von
zweihundert Gulden ſtipuliert, für etwaigen Rücktritt.“
Er griff in die Brieftaſche ... „Hier, Herr Dingsda,
— 133 —
nehmen Sie das Reugeld. Der Vertrag iſt null.“
Und er riß ihn mitten auseinander.
Das alte Paar ſtaunte ſprachlos ſeine Hände an,
wie die eines Zauberers. Der Direktor griff zögernd
nach dem Gelde und kratzte ſich am Hinterkopf. „Und
fünfzig Gulden Vorſchuß hab' ich dem Herrn Rezneky
gegeben,“ ſagte er dann leiſe, als wolle er das nicht
an die große Glocke hängen. Da griff Onkel Andraſch
haſtig in die Taſche, holte mit bebenden Fingern
die fünf blauen Noten hervor und ſtopfte ſie dem
Manne in die offene Hand. „Da, da, da; nehmt,
geht, . .. geht,“ ſtotterte er und wandte ſich taumelnd
von ihm.
Der Herr Direktor ſchlich unter Bücklingen der
Thüre zu, die er geräuſchlos hinter ſich ſchloß.
„Und Eurem Nachbar Fekete will ich ſchreiben,
noch heute,“ brummte Vetter Mihok.
Sie dankten ihm nicht. Sie fanden das Wort
nicht. Aber ſie ſanken einander in die Arme, Onkel
Andraſch und Mutter Boriſch, und umarmten ſich ſo
feſt, als müßten ſie ſich gegenſeitig ſtützen, um nicht
hinzufallen.
Eben ging die Thür auf und herein trat Herr
Gyuri. Er ſchien ein längere Rede in raſcheſtem Fluß
halten zu wollen und auf dieſelbe gründlich vorbereitet
— 134 —
zu ſein, aber fein Vater winkte ungeduldig mit der
Hand und er ſchwieg.
„Wo hat Jutka die Nacht verbracht?“ fragte
Herr Michael. Nicht recht heil kamen die Worte
zwiſchen ſeinen zuſammengebiſſenen Zähnen hervor.
„Auf dem Komiteezimmer,“ ſagte Gyuri feſt.
„Allein?“ fragte ſein Vater ſcharf.
„Allein“, entgegnete der junge Mann, etwas
weniger feſt. |
Herr Michael ſtampfte mit dem Fuße und warf
ihm einen durchbohrenden Blick zu. „Und wo iſt ſie
jetzt?“ ſchrie er leidenſchaftlich, denn die Selbſtbe—
herrſchung verließ ihn und er trat heftig einen Schritt
näher. 5
„Bei meiner Mutter,“ ſagte Herr Gyuri ſehr ge—
faßt und beſtimmt; nur war ihm das Blut plötzlich
bis unter die dunklen Stirnlocken geſtiegen und die
linke Spitze ſeines Schnurrbarts zuckte merklich.
„Bei... meiner Frau?“ ſtieß Herr Michael
ſchwer hervor.
„Ja,“ ſagte Herr Gyuri, „die Mutter weiß alles
und hat ſie umarmt und geküßt.“
„Meine Frau hat fie geküßt?“ ſchrie Herr Michael
außer ſich. „Du lügſt, das iſt nicht wahr!“
„Vater!“ rief der junge Mann drohend, „ich
—_ . 199
füge nie, ich bin Dein Sohn.“ Er holte tief Atem. „Und
am wenigſten lüge ich vor den Eltern meiner Braut.“
Sprachlos, mit offenem Munde ſtarrte ihm Herr
Michael ins Geſicht. Er fuhr ſich mit der Hand über
das eine Ohr, das ſchwächer hörte, und räuſperte ſich
und ſchluckte ein großes Wort hinunter; man ſah es
deutlich, es war ein ſehr dickes, ſchweres Wort, mit
Widerhaken.
Er ſagte nichts und ging langſam, mit ſteifen
Beinen, als hätte er ein wildes Fohlen geritten, ins
Nebenzimmer, deſſen Thür er hinter ſich ſchloß. Die
drei ſahen ihm geſpannten Auges nach und konnten
auch, nachdem er verſchwunden war, die Augen nicht
von der geſchloſſenen Thüre löſen. Aber im Neben—
zimmer war alles ſtill; dann, nach einer Weile, hörte
man den Alten auf und nieder ſtapfen, am Fenſter
blieb er ab und zu ſtehen und trommelte auf den
Scheiben, man vernahm es deutlich, immer ein Paar
Takte vom Zapfenſtreich. Einmal hörte man ihn mit
Waſſer hantieren und er ließ dabei etwas fallen, was
in Scherben ging, er fluchte darauf laut, aber nicht
allzu arg.
Dann öffnete er die Thüre und wollte heraus—
treten, aber er that es nicht, ſondern warf die Thüre
wieder zu.
— 136 —
Nach einigen Minuten erſchien ein Amtsdiener
und entbot den jungen Herrn „hinüber“ zu ſeinem
Herrn Vater.
Herr Michael ſtand aufrecht in der Mitte des
Zimmers. Sein Antlitz war ernſt, aber nicht finſter.
Er trat hart vor ſeinen Sohn hin, der faſt an der
Thüre ſtehen geblieben war, und ſagte, Aug' in Auge,
jede Silbe betonend:
„Jetzt, von Mann zu Mann, mußt Du?“
„Ich muß,“ antwortete Herr Gyuri ohne Zaudern.
„Ah!“ entfuhr es dem Alten und unwillkürlich
ballte er die Fauſt.
„Denn ich liebe fie und ſie iſt ein Schatz,“ er—
gänzte Herr Gyuri.
„Wir wollen ſehen,“ ſagte Herr Michael, „bringe
die Alten zu ihrem Kinde.“
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Anna.
(1887.)
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8 —
8
5
n dem eleganten Speiſeſaale, der an das
ſtadtbekannte Atelier des großen Malers
Karl Rieſe ſtieß, ging es hoch her. Seit
en ſchon klangen die Gläſer und weinfröhliches
Lachen erſchütterte die Flammen des Kronleuchters.
Eine angenehme Tollheit hatte ſich der Gemüter be—
mächtigt und jedermann hatte die Empfindung, unter
ſo vielen Glücklichen der Glücklichſte zu ſein. Wenn
man dieſes Dutzend ſprühender, glänzender Leutchen
anſah, mußte man unwillkürlich ausrufen: Nein, das
Leben iſt doch ſchön! Glück und Freude iſt alles hie—
nieden! Das Unglück iſt ein Märchen, um Kinder zu,
ichreden, und Thränen fallen nur im Traume, wie
Tau nur in der Nacht.
Ach, hätten dieſe Fröhlichen nur einen Schritt
über die Schwelle des ſchwach erleuchteten Ateliers
gethan. Sie hätten ſich beſchämt geſtehen müſſen: ja,
— 140 —
es giebt auch Unglückliche, Verlaſſene; hart bei der
Geſelligkeit wohnt die Einſamkeit; Luſt und Trauer
ſind Wandnachbarn.
In einer Ecke des Ateliers, als hätte ſie ſich vor
dem Luſtgetöſe dahin geflüchtet, ſtand ein junges Mäd⸗
chen. Sie war hoch und ſchlank gewachſen, ein vene-
tianiſches Sammtkleid umſpannte ihre friſchen Formen.
Aber ihr Antlitz war blaß und ſtill; über das edle
Oval desſelben glitt nicht der Schimmer eines Lächelns,
wenn durch die offene Doppelthür ein ſtürmiſches Ge⸗
lächter hereinſcholl. Halb abgewandt und doch mit
einem Ohre hinaushorchend ſtand ſie da, wie zwiſchen
Furcht und Verlangen . .. und keine Thräne glänzte
im Auge der Verlaſſenen, kein bitterer Zug kräuſelte
die roten Lippen der Vergeſſenen. Sie hätte nur hinaus⸗
zutreten gebraucht in ihrer ſammtenen Fürſtenpracht
und fie wäre die Königin des Feſtes geweſen, ..
aber ſie trat nicht hinaus, ſie ſtand und ſchwieg.
Da plötzlich entſtand ein Getümmel im Speiſe⸗
ſaale. Aufgeregte Stimmen kreuzten ſich, darunter
eine neue, ſeltſam ſchwankende Baß-Tenorſtimme. Wer
ſollte dieſe nicht kennen in der Künſtlerſchaft? Der
Prophet Bezechiel war ſoeben eingetreten, mit dem
Ausruf: „Kinder, heut wollen wir einmal animaliſch
fein!" Eigentlich hieß er Hans Jung und war Hunde-
— 141 —
maler, der größte Hundemaler ſeiner Zeit, aber weil
er immer gleich vom erſten Glaſe Wein bezecht war,
hatte man ihm jenen prophetiſchen Beinamen gegeben.
Er galt übrigens wegen der Unordnungen, die er in
dieſem Zuſtande anrichtete, für einen in den weiteſten
Kreiſen hinausgeworfenen Menſchen.
„Um aller Propheten willen, Bezechiel,“ erſcholl
die Stimme der Hausfrau, „mit Ihnen ſind wir ja
dreizehn am Tiſche.“
„Gut,“ entgegnete er mit ſchwerer Zunge, „ſo
zählen wir von rechts nach links, . . . nein, von...
links nach rechts, dann ſind wir einunddreißig.“ Uns
ſicheren Schrittes ging er auf einen Seſſel los, er
wußte trotz ſeines Nebels den rechten zu finden. Den-
jenigen nämlich, auf welchem Fräulein Suſanne ſaß,
die Schweſter des Hausherrn, eine Seele von einem
Mädchen, ... das hatte er ja längſt heraus. In
der That erhob ſie ſich ſofort und ließ ihn niederſitzen.
Kein Menſch hörte, wie ſie ihm dabei ins Ohr flüſterte:
„Aber, Hans, ſchon wieder!“ Er wollte darauf ant—
worten, vergaß aber nur ſeinen Mund auf ihrer Hand,
die ſie auf ſeiner Stuhllehne vergeſſen hatte.
Fräulein Suſanne wollte ſich nun nicht wieder
an den Tiſch ſetzen, wegen der fatalen Dreizehn, . ..
nein, durchaus nicht, ... fie wolle an nichts ſchuld
— 142 —
ſein, ſie würde ſich für eine Mörderin halten. Man
ſann auf einen Ausweg und da rief der Hausherr
plötzlich: „Wie wär's denn, wenn wir Anna zur Tafel
zögen?“ .
Allgemeines Gelächter folgte. „Anna! Lächerlich!
Wer hat ſchon ſolches erlebt?“
„Warum nicht?“ meinte Rieſe, „Anna iſt eine
hochanſtändige Perſon, kann ihr irgend jemand böſes
nachſagen?“
Neues Gelächter. „Nein, nein, gewiß nicht!
Böſes? Ha ha ha!“
„Hat ſie je ein unerlaubtes Verhältnis gehabt?“
fuhr Rieſe fort.
„Ha ha ha! Anna ein Verhältnis! Wie käme
dieſe ſteifleinene Tugend zu einem Geliebten?“
„Wohlan,“ rief Rieſe entſchloſſen, „ſo mag ſie
unſere Vierzehnte ſein!“
Er ſtand auf und begab ſich ins Atelier. Das
ſtille Mädchen ſtand noch immer in derſelben Ecke.
Sie rührte ſich nicht, als er herantrat, fie ſchien geiſtes⸗
abweſend. Ohne ein Wort zu ſagen, zog er ihren
Arm durch den ſeinen; ohne ein Wort zu ſagen, ließ
ſie es geſchehen. Sie folgte nicht freiwillig, aber ſie
ſträubte ſich auch nicht.
Er hatte den Arm etwas keck um ihre Taille
— 143 —
gelegt, als ſie in den Speiſeſaal traten. Sie duldete
es; ſie wußte ja gar nicht, wie ihr geſchah. Er ſtellte
ſie vor: „Meine liebe Hausgenoſſin, Fräulein Anna
von Werg.“ Alles ſtand auf und begrüßte ſie mit
großer Herzlichkeit, man rückte ihr einen Stuhl an
Bezechiels linke Seite, während Suſanne ſich zu ſeiner
Rechten niederließ.
Niemals in ihrem Leben war Anna dieſe Ehre
widerfahren, denn ſie war nur eine Gliederpuppe. Eine
auffallend wohlgebildete Gliederpuppe freilich, von
einem geſchickten Plaſtiker ausgeſtopft und mit feinem,
roſenrotem Trikot überzogen. Man hatte ihr im Hauſe
den Namen Anna gegeben, denn es iſt ſtets unan⸗
genehm, jemanden nicht beim Namen rufen zu können.
Anna war anfangs förmlich betäubt von den
Gefühlen, die auf ſie einſtürmten, und von den Liebens—
würdigkeiten, mit denen man ſie überſchüttete. Ja
wohl, ſie hatte nur zu erſcheinen gebraucht, und war
der Mittelpunkt des Feſtes. Wie herrlich ſtand ihr
aber auch das Prachtkleid, in dem ſie Herrn Rieſe
ſeit acht Tagen für eine Beatrice Cenci zu Modell
ſaß. Welcher majeſtätiſche Anſtand, welcher ...
Selbſt der Prophet Bezechiel war durch ſeine
neue Nachbarin förmlich elektriſiert. Er, der aner⸗
kannte Meiſter der Hundemalerei, warf zum erſtenmal
— 144 —
ſein Auge auf das Modell zu einem Hiſtorienbild.
Allerdings hatte er auch bisher ſchon viel Seltſames
getrieben, ſo daß wiederholt in pleno über ſeine Ver⸗
bannung von der Tafel verhandelt worden war, —
nur Suſannens eifrige Verwendung hatte immer wieder
das äußerſte verhütet. Schon daß er den mit einem
großen Löffel kredenzten Punſch für Suppe hielt und
demgemäß aus einem heruntergeholten Majolika⸗Wand⸗
teller mit einem Löffel ſchlürfte, erregte einiges Miß⸗
fallen. Er entſchuldigte ſich zwar mit der leeren Phraſe,
daß er „teils ca, teils put“ ſei, aber trotzdem wurde
es übel vermerkt, daß er, um beſſer zu hören, die
jeden Winter getragene Baumwolle aus dem Ohre
nahm und einſtweilen neben ſeinen Teller legte. Auch
daß er, in einem heftigen Anfall von Ordnungsſinn,
den eben benützten Zahnſtocher hübſch wieder in das
allgemeine Behältnis zurückſteckte, brachte die Nach—
barſchaft gegen ihn auf. Sein Sologeſang von „drei
Elementen, innig geſellt,“ rief vollends eine ſolche Be⸗
ſtürzung hervor, daß er in der richtigen Erkenntnis,
zu wenig Elemente genommen zu haben, die Zahl
derſelben ſchleunigſt verdoppelte, — Fräulein Suſanne
hielt ihm mit ihrer eigenen warmen Hand den lieder⸗
frohen Mund zu, um ihn nur vor Prügeln zu ſchützen.
Er küßte ihr zwar bei dieſer günſtigen Gelegenheit
—= le)
beinahe ein Loch in die flache Hand, worüber ſie hoch
erfreut war, aber ach, dieſe Befriedigung ſollte nicht
lange dauern.
Denn dieſer Augenblick war es, in dem ſich
Fräulein Anna von Werg an ſeine linke Seite ſetzte.
Dieſe Nähe machte ihn ganz und gar toll. Ein ſchüch⸗
terner Streifblick über die verheißungsvolle Profillinie
ihrer Figur, dann ein voller Blick in ihr klares, ruhiges
Antlitz . .. und er machte eine halbe Wendung um
ſeine eigene Achſe. Er wandte Suſannen den Rücken
und ergriff Annas Hand, die er zärtlich an ſeine
Lippen drückte.
Ein „Ah!“ des Aufſehens und der Entrüſtung
ging durch den Saal.
Anna ſaß ſtarr vor Überraſchung da und hatte
nicht die Kraft, ihm ihre Hand zu entziehen. Nie, nie
in ihrem Leben war ihr das zugeſtoßen. Der Atem
ſtockte in ihrer Bruſt und ihre andere Hand, die auf
dem Tiſche lag, wurde feucht, denn Bezechiel hatte bei
ſeiner raſchen Wendung ihr Punſchglas darüber aus⸗
gegoſſen.
Und das mußte Suſanne mit anſehen! Auch in
ihrer Bruſt ſtockte das Herz und zwei glänzende Punkte
erſchienen in ihren Augenwinkeln. Sie ſtand auf und
ging hinaus.
Heveſi, Buch der Laune. 10
— 146, _
Da ſtanden auch alle anderen auf. Wie aus einem
Munde ſcholl es jenem flatterhaften Bezechiel entgegen:
„Nichtswürdiger!“ Dieſe allgemeine Bewegung und
dieſes einſtimmige Verdammungsurteil ernüchterten den
Unglücklichen ſo weit, daß er Annas Hand ziemlich be—
behutſam wieder auf ihr Knie deponierte. Er ſuchte
nach ſeiner Baumwolle, die er nicht fand, und wollte
eben Suſannen fragen, ob ſie derſelben nicht irgendwo
begegnet wäre. Da bemerkte er, daß ſie nicht da war.
Ihr Seſſel ſtand leer, ſie war verſchwunden. Er
fuhr ſich mit der Hand über die Augen und ſtammelte
etwas Unverſtändliches.
„Ja, ja, das ſind die Folgen der Untreue,“ donnerte
ihm ſein Gegenüber, ein Marinemaler zu. „Geh nur
hinaus, Du loſer Vogel, geh augenblicklich und ſieh
zu, daß Du unſere liebe Suſe wieder gut machſt.“
Da ging er hinaus . . . und machte fie wieder gut.
Sie ſchmollte zwar anfangs, und das nachdrück—
lich genug, denn wie groß — ſagte ſie — müſſe ſeine
Flatterhaftigkeit ſein, wenn ſchon eine Gliederpuppe
ſein Herz von ihr ablenken konnte, und was hätte er
erſt gethan, wie weit hätte er ſich vergeſſen, wenn Anna
ein ſchönes Weib aus Fleiſch und Bein wäre!?
Bezechiel war in hohem Grade zerknirſcht und
bat ſie auf ſeinen Knieen um Verzeihung.
— 147 —
Sie kamen Arm in Arm in den Saal zurück
und die Geſellſchaft ließ ſie um Mitternacht ſtürmiſch
leben, alle beide, in Gemeinſchaft.
Nur Anna ſaß dabei und ſtimmte nicht mit ein.
Die Unglückliche! Ein Augenblick der Seligkeit. ..
und dann wieder alles kalt, leer, ſtumm. Es giebt
Weſen, die geboren ſind, einſam und ungeliebt durch das
Leben zu gehen. Ein ſolches Weſen war Anna von
Werg.
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Die drei Eismänner.
Eine kühle Geſchichte.
(1886. )
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55
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„Das iſt im Leben häßlich eingerichtet.“
Scheffel.
7 an ſollte ſich immer hüten, auf den erſten
Ne 19 Schein hin jemanden ungünſtig zu be—
a urteilen. Beſonders eine Dame, und
ganz beſonders ein Mädchen, wenn dieſes auch gar
nicht ſchön iſt und gar nicht ſo jung, wie ſie ſein könnte.
Nein, man würde entſchieden geirrt haben, wenn man
unſer gutes Fräulein Betty für eitel gehalten hätte,
d. h. für eitler, als nun einmal jedes weibliche Weſen
ſein muß und ſoll. Es iſt wahr, ſie trank den ganzen
Winter des Morgens bitteren Kaffee, welche Flüſſigkeit
bei innerlichem Gebrauche bekanntermaßen in hohem
Grade ſchönheitbefördernd iſt, aber die wenigſten, denen
dieſe Thatſache bekannt geworden, wiſſen den wahren
Grund davon. Nicht um ſchöner zu werden, that ſie
das, o beileibe! Denn ſchön genug iſt ſie ſich immer
geweſen, ſie that dies vielmehr aus zweien der ſeltenſten
2
O
a
und ehrenwerteſten Eigenſchaften des Weibes: aus Selbſt⸗
verleugnung und Opfermut. Eigentlich aus dreien, denn
auch die Verſchwiegenheit iſt hoch zu rühmen, mit der
ſie dieſen ganzen Sachverhalt als unverbrüchliches Ge—
heimnis bewahrte.
Ihre gute Mutter, in deren Hotel garni wir ſo und
ſo viele Studenten wohnten, war nämlich merkwürdig
knapp mit dem Zucker und lebte in der volkswirtſchaft—
lichen Einbildung, daß an dieſem zur Verſüßung des
menſchlichen Lebens beſtimmten Mineral am leichteſten
ein bedeutendes Vermögen zu erſparen ſei. Wir freilich
verurteilten dieſes Syſtem als ganz unwiſſenſchaftlich,
unſer Frühtrunk wurde aber dadurch keineswegs ſüßer.
Mit einer Ausnahme allerdings. Um nämlich der Wahr—
heit die Ehre zu geben, ſei immerhin eingeſtanden, daß
täglich einer von uns den Kaffee weit ſüßer bekam,
als alle anderen. Ganz ungewöhnlich ſüß ſogar. Ach,
wir ahnten es damals nicht, daß die gute Betty auch
ihren Zucker zu dem ſeinigen that; wir waren eben
noch zu jung, um den richtigen Einblick zu haben in
die Zuſammenhänge des Lebens. Nur fiel es uns nach
und nach auf, daß der Kaffee jenes einzigen immer
gleich acht oder vierzehn Tage lang ſüß blieb und dann
auf einmal wieder ebenſo bitter wurde wie der all—
gemeine Kaffee, während die Süßigkeit ſich urplötzlich
— 153 —
in eine andere Taſſe verſchlug, um auch da längere
oder kürzere Zeit hindurch ſtändig zu bleiben. Es fiel
uns ferner auf, daß dieſe intereſſante Naturerſcheinung
ſich ſtets nur im erſten Stockwerk ereignete, wo auf
den Nummern 12, 13 und 14 drei Bevorzugte wohnten,
gegen höhere Penſion, als wir Oberen. Und nicht
minder wurde beobachtet, daß die Verſüßung ſtets noch
gewiſſe andere Vorteile im Gefolge hatte: blanker ge—
putzte Schuhe zum Beiſpiel und einen eigentümlichen
Wohlgeruch, der von einer gewiſſen feineren Seife her—
rührte, namentlich aber die beſondere Zierde, daß dem
jeweiligen Günſtling meiſtens etliche feine Flaumfederchen
da und dort an der Kleidung hafteten. Mit dieſen
hatte es nun ſeine eigene Bewandtnis. Der erſte Stock
verfügte unter anderen Annehmlichkeiten über ein ſeidenes
Sofakiſſen, das mit den feinſten Dunen gefüllt war
und jedes Nachmittagsſchläfchen zu einem hohen Genuß
machen mußte. Daß es ein wenig Fläumchen ließ,
that keinem Menſchen weh, es freute ſich doch jeder,
das liebe Kiſſen auf ſeinem Ruhebett zu haben, und
vermißte es ſchmerzlich, wenn es nach einem gewiſſen
Zeitraum, gleichzeitig mit der Süße des Kaffees, plötzlich
verſchwand, um in einem anderen Zimmer aufzutauchen.
Wie kurzſichtig iſt doch die Jugend, oder wie un—
bekümmert! Alle dieſe ſeltſamen Erſcheinungen nahmen
— 154 —
wir nur ganz allmälig wahr und es dauerte Monate,
bis wir den Schlüſſel dazu fanden. Freilich war dieſer
Schlüſſel in einem gar geheimen Schrein verſteckt, im
Herzen unſerer guten Betty. Sollte man es für mög—
lich halten, daß das Leben dieſer ſonſt muſterhaften
Haustochter ganz und gar im Banne eines unbegreif—
lichen Vorurteils ſtand? Sie ging, bei allem was ſie
that und ließ, von der in dieſer Allgemeinheit ſchwer—
lich gerechtfertigten Annahme aus, daß die Beſitzerin
eines Hotel garni die Schwiegermutter eines der Miets—
herren werden müſſe. Auf welchen, vielleicht uralten
Überlieferungen dieſer bei damaligen Zeitläuften ſchon
etwas unverläßlich gewordene Grundſatz beruhte, war
und iſt unſereinem unerfindlich; ſicher ſcheint nur, daß
die Sache ſich ſo verhielt. Dabei mag es auf einen
gewiſſen romantiſchen Idealismus gedeutet werden, daß
Fräulein Betty nur die Inſaſſen des vornehmen Stock—
werkes ins Auge faßte und es verſchmähte, ihren Em—
pfindungen ein höheres Ziel zu geben, welches in dieſem
Falle das niedrigere geweſen wäre. Daß ſie dabei
praktiſcheren Erwägungen, z. B. der betreffenden Ver—
mögensverhältniſſe, gefolgt ſei, möchte doch nicht ſo
ohne triftige Beweisgründe anzunehmen ſein.
Die Schwierigkeit einer ſolchen Stellung zu drei
jungen Leuten, und doch wieder zu keinem von ihnen,
„
leuchtet wohl jedermann ein. Sie war um ſo größer,
als unſer Fräulein Betty für ein anſtändiges Mädchen
galt, hinauf und hinab, ſoweit unſere Gaſſe reichte.
Man konnte ihr wahrhaftig nicht ſo bald etwas Ver—
fängliches nachſagen; in den oberen Stockwerken wenig—
ſtens hätte man dazu entſchieden lügen müſſen, eine
Kunſt, mit der ſich doch, ganz unter uns geſagt, nur
der Bewohner von Nr. 25 befaßte. Zu dergleichen
Verdrehungen, Schnüffeleien und Geheimnisriechereien
gehört denn doch eine eigene Naſe und ein Herz mit
Krallen. Unſer Kollege auf Nr. 25 allerdings war
weit und breit berühmt als Couleur-Diplomat. Er
wußte alles und erriet noch mehr als alles. Er und
kein anderer war es auch, der uns zuerſt mit einem
Strahl aus der Diebslaterne ſeiner Logik hinableuchtete
in die dunkeln Umtriebe des erſten Stockwerks.
Nun denn, man darf wohl ſagen, daß Fräulein
Betty ſich in den Ungewißheiten und Spannungen
ihrer Stellung verzehrte. Die Bewohner des erſten
Stockwerkes waren auch gerade in dieſem Jahre ſchlecht
geraten. Sie waren von einer Gleichgültigkeit und
Hochnaſigkeit, wie ſie zum Glück in jenen Kreiſen nicht
oft vorkommen. Auf Nr. 12 wohnte ein Amerikaner,
welcher chirurgiſche Spezialkurſe hörte, vermutlich im
Skalpieren und dergleichen Künſten, die er daheim
— 156
brauchen kann. Dieſer Herr drückte feine Gedanken
immer entweder durch „Ves“ oder „No“ aus, roch
abſcheulich nach Karbol und brachte täglich irgend einen
höchſt verdächtig ausſehenden Packen mit nach Hauſe,
an dem ſich hie und da rötliche Flecken zeigten. Wenn
er beim Ausgehen an Fräulein Betty vorbeikam, ſtieß
er regelmäßig einen zuſammengeſetzten Laut aus, der
ungefähr wie „Heooooh!“ klang. Begegnete er ihr
aber auf dem Heimweg, ſo kehrte er die Geſchichte
gänzlich um und äußerte ſich folgendermaßen: „Hoeeeh!“
Einen eingehenderen Meinungs- oder gar Gefühlsaus—
tauſch mit ihm hatte unſere gute Betty bisher vergeb—
lich angeſtrebt.
Der Jüngling auf Nr. 13 war, wie wir alle 1
können, ganz anders geartet. Er war von einer ſeltenen
Kurzſichtigkeit und dies mag der Grund ſein, warum
er täglich bis Mittag ſchlief; hätte er doch mit offenen
Augen kaum viel mehr geſehen als mit geſchloſſenen.
Er gedachte ſich der Geologie zu widmen und hatte
die Taſchen meiſt voll mit intereſſanten Geſteinproben,
welche ein bedeutendes Gewicht ausmachten. Geologie
giebt aber mit Kurzſichtigkeit keine ſonderlich empfehlens⸗
werte Miſchung, das erfuhr Fräulein Betty einſt mit
nicht geringem Schrecken. Sie ſtand eines Tages im
Vorſaale, nahe bei der Stube Nr. 13, als deren Be—
el
wohner bei ſtrömendem Regen von einem geologijchen
Ausflug heimkehrte. Er hatte einen triefnaſſen Gummi—
mantel an und warf denſelben mit einer kecken Schwen—
kung um die Schultern der Haustochter, die er in ſeiner
Blödſichtigkeit für den Kleiderſtock hielt, — und dieſer
ſtand doch auf der anderen Seite der Thür. Der
naſſe Gummirock, deſſen Taſchen etliche Pfund Geologie
enthielten, war ſo ſchwer, daß das arme Mädchen unter
der Laſt in die Kniee ſank, ohne daß der Gelehrte es
auch nur bemerkt hätte. Man darf wohl die Be—
hauptung wagen, daß dieſer Herr ſeit Monaten täglich
an unſerem Fräulein vorüberging, ohne ſie jemals ge—
ſehen zu haben.
Was Nr. 14 betrifft, war dieſe Stube von einem
Befliſſenen der Archäologie bewohnt, der ſich auf eine
Muſeallaufbahn vorbereitete. Der Übung halber hatte
er ſein Zimmerchen als archäologiſches Muſeum ein—
gerichtet, in dem jedes Gerät mit einer laufenden
Nummer beklebt war. Er hatte dazu einen beſchreiben—
den Katalog nach den neueſten Grundſätzen der Muſeen—
kunde angelegt. Es war dies eine merkwürdige, ja
bahnbrechende Arbeit über einen bis dahin ganz ver—
nachläſſigten Bezirk der Altertumsforſchung. Sein Waſch—
becken war darin folgendermaßen geſchildert: „184.
Antikes Thongefäß zu Tempelzwecken, auf der Töpfer—
— 158 —
ſcheibe gedreht, mit weißer Glaſur; 4. Jahrh. vor Chr.,
Eleuſis. Aus der Sammlung Scherbenberg.“ Sein
Tiſch war eingetragen wie folgt: „93. Tiſch mit ge—
ſchweiften Füßen. Nußbaumholz. Vermutlich 17. Jahrh.
Platte, Schublade und Füße ſind neu, leider von geringer
Hand. 1834 aus der fürſtl. Trödlerſchen Sammlung
erworben.“ Über ſeine Bettdecke äußerte ſich der Ka—
talog in folgender Weiſe: 114. Prunkdecke in charaf-
teriſtiſcher Stepparbeit. Mitte des 19. Jahrh. Scheint
urſprünglich mit Purpur gefärbt geweſen zu ſein. Her:
kunft unbekannt.“ Dieſer Katalog umfaßte über drei—
hundert Nummern und wurde fortwährend verbeſſert,
je nachdem die Forſchung neues über die verſchiedenen
Gegenſtände ans Licht brachte. An der Thüre aber
war ein Zettel befeſtigt mit der Kundmachung: „Die
Sammlung iſt dem Publikum jeden Tag von 8 Uhr
morgens bis 10 Uhr abends gegen Anmeldung beim
Kuſtos zugänglich; in den Ferien bleibt dieſelbe ge—
ſchloſſen.“ Die große Liberalität, mit welcher das
ſehenswerte Muſeum allen Gebildeten eröffnet war, ver—
dient gewiß die höchſte Anerkennung, obgleich es ſich
etwas ſonderbar traf, daß der Kuſtos gerade von 8 Uhr
morgens bis 10 Uhr abends niemals zu Hauſe war,
was das Studium der von ihm ſo gewiſſenhaft ver—
walteten Kunſtſchätze einigermaßen erſchwerte.
— 189. —
Unſere gute Betty hatte die Bewohner des erſten
Stockwerkes, als ſie einzogen, mit nicht geringen Er—
wartungen begrüßt, dieſe aber im Laufe der Zeit wohl
mehr und mehr herabgeſtimmt. Daß Nr. 12 nicht
deutſch verſtand, Nr. 13 ſo kurzſichtig war und Nr. 14
den ganzen Tag abweſend blieb, das ließ ihre Be—
ziehungen zu dieſen Nummern nicht recht warm werden.
Vergebens ſorgte ſie in muſterhafter Weiſe für die Be—
quemlichkeit der drei, ſie bemerkten es gar nicht oder
hielten das für ſelbſtverſtändlich. Die gute Seele war
aber auch gar zu beſcheiden und ſtellte ihr Lichtchen,
das ohnehin nicht brannte, auch noch unter den Scheffel.
Sie ſeufzte ſtets nur auf ihrem Stübchen, wo das erſte
Stockwerk es ſchlechterdings nicht hören konnte, denn
es lagen zwei Stockwerke dazwiſchen. Auch die fehlenden
Knöpfe nähte ſie immer an, wenn die Perſonen, denen
der Fruchtgenuß derſelben zufiel, nicht zugegen waren,
ſo daß in dieſen die Meinung entſtehen mochte, die
Knöpfe wüchſen ſo von ſelbſt nach, wie ſie von ſelbſt
abfallen, gleich den Blättern an den Bäumen. Und
wenn ſie abends vor dem Schlafengehen, im Stock—
dunkeln, ganz leiſe in das große Vorzimmer ſchlich,
welches zu den Nummern 12 — 14 führte, und an allen
drei Thüren horchte, um ſich zu überzeugen, daß die
drei nach ihrer leidigen Gewohnheit auch diesmal noch
— 1060,
nicht zu Haufe waren, fo vergaß fie dabei, daß dieſe
zarte Sorgfalt, welche bei genügender Beleuchtung einen
perſönlich anweſenden Mietsmann vielleicht gerührt haben
könnte, im Dunkeln, wo man nicht die Hand vor den
Augen ſah, von drei Mietsleuten, die überdies nicht
einmal zu Hauſe waren, ſchlechterdings nicht bemerkt
werden konnte.
Nichtsdeſtoweniger hatte Fräulein Betty ihre zu—
verſichtlichen Tage, mit gewiſſen Augenblicken, in denen
plötzlich etwas Unbeſtimmtes in ihr aufloderte, etwas
Ahnungsvolles, ja Verheißendes. Die äußeren An
läſſe dazu möchten freilich dritten Perſonen kaum wichtig
genug erſcheinen, wie es denn überhaupt geraten iſt,
lieber aus großen Thatſachen kleine Schlüſſe zu ziehen,
als aus kleinen große. Nach dieſem Verfahren hätte
wenigſtens unſere liebe Haustochter nicht alſobald, nach—
dem Nr. 13 ihr jenen Kautſchukmantel umgehängt,
darin ein Zeichen von Gott weiß was erblickt und ihr
Zuckeropfer an dieſe Adreſſe gerichtet. Jedesmal, wenn
im Zuckergehalt der Kaffeeportionen wieder einmal ein
unerwarteter Umſchlag eintrat, ſcheint etwas Derartiges
vorhergegangen zu ſein, was ſich aber in den meiſten
Fällen der auf Nr. 25 betriebenen geſchichtlichen Forſch—
ung entzog.
Nr. 25 war übrigens ſo ziemlich der einzige unter
— 161 —
*
uns, der Zeit für ſolche Dinge hatte. Er war ſchon
ſeit fünf oder ſechs Jahren Rigoroſant und ſchien es
bis an ſein Lebensende bleiben zu ſollen. Immer mehr
Moos wuchs auf ſeinem Haupte und er war bereits
eines der älteſten Häuſer an der Univerſität. Es ſcheint
auch aus mancherlei Anzeichen hervorzugehen, daß er
in dem hier in Frage kommenden Semeſter nicht eigent—
lich mit gelehrten Abſichten umging. Wenigſtens machten
wir eines Tages die Entdeckung, daß er genau wußte,
welche Farbe das Haar unſerer gemeinſamen Haus—
tochter habe, während wir anderen über dieſen Gegen—
ſtand, der uns nicht „obligat“ ſchien, gar keine ver—
läßlichen Beobachtungen geſammelt hatten. Ein eigen-
tümlicher Vorfall, der kurz darauf ſtattfand, rückte
dann dieſen Punkt der Farbenlehre in ein etwas helleres
Licht. Eines Tages ging Nr. 25 die Treppe hinab
und begegnete im erſten Stockwerk Fräulein Betty. Sie
ſtand an der Thüre jenes Vorzimmers dreier Stuben
und hatte, als Nr. 25 in Sicht kam, den unglücklichen
Einfall, die Thüre raſch ſo weit zu öffnen, daß ſie
im Winkel hinter derſelben verborgen blieb. Warum
ſie an dieſer Stelle nicht geſehen ſein wollte, wäre
ſchwer mit Sicherheit zu ermitteln, Mutmaßungen aber
ſind in ſolchen Dingen nie ganz unbedenklich, dürften
alſo hier beſſer unterbleiben. Auf alle Fälle war ihre
Heveſi, Buch der Laune. 11
— 162 —
Handlungsweiſe, um keinen beſtimmteren Ausdruck zu
gebrauchen, etwas auffallend; Nr. 25 wenigſtens mochte
dies finden und war unzart genug, ſtatt ruhig vor—
beizugehen und zu thun, als ob er nichts bemerkt, ge—
rade vor die Verborgene hinzutreten und ſcherzender—
weiſe zu ſagen: „Ei, Fräulein Betty, Sie haben hier
wohl gar ein Stelldichein?“ Darüber iſt wohl alle
Welt einig, daß ſolche Scherze in nicht geringem Grade
unpaſſend ſind, und ſchwerlich hätte irgend ein anderer
Mieter des Hauſes ſich eine ſolche Frage geſtattet. Man
denke ſich Fräulein Bettys Zuſtand, oder vielmehr ihre
Farbe. Ein hohes Rot übergoß ihr Antlitz, fie warf
die Thüre laut zu und ſagte im Davongehen ſtreng:
„Ich werde doch erſuchen, mich nicht zu duzen.“
Einer von uns Oberen, der hinter Nr. 25 die
Treppe hinabſtieg, war unfreiwilliger Zeuge dieſer Be—
gebenheit geweſen und hatte auch alles Geſprochene
deutlich vernommen. Er hätte es vielleicht nicht aus—
geplaudert; gewiß, die Möglichkeit einer ſolchen Dis⸗
kretion iſt nicht ausgeſchloſſen; aber er mußte wohl,
denn Fräulein Bettys Antwort erſchien ihm rätſelhaft,
um nicht zu ſagen unverſtändlich. Er mußte uns den
ſeltſamen Fall vorlegen, mußte ihn mit uns durchbe—
raten, um vielleicht doch eine annehmbare Deutung des
dunklen Ausſpruchs zu erzielen. Auch wir waren zu—
— 163 —
erſt von der unlogiſchen Antwort betroffen und nicht
ungeneigt, einen Hörfehler unſeres Berichterſtatters an-
zunehmen. Dieſer aber verteidigte ſein Gehör, das
durch zweijähriges Auskultieren auf der Klinik für
Bruſtkrankheiten noch beſonders geſchärft ſei, und be—
ſtritt eifrig die Möglichkeit, daß er falſch gehört hätte.
Von anderer Seite wurde daher die Mutmaßung auf—
geſtellt, daß ja auch Fräulein Betty unrecht gehört
haben könnte. Glücklicherweiſe hatten wir einen Ger—
maniſten und einen Philoſophen unter uns, welche mit
gleichem Scharfſinne an die Löſung des Problems gingen
und die Sache ſchließlich in ganz annehmbarer Weiſe
klarſtellten. Der Germaniſt, in moderner Textkritik
aufgewachſen, unterzog vor allem die Anrede von Nr. 25
einer genauen Unterſuchung. Sie hatte gelautet: „Ei,
Fräulein Betty, Sie haben hier wohl gar ein Stell—
dichein?“ Ein Wort nach dem andern ſtellte er unter
die philologiſche Lupe und fand richtig im Worte „Stell:
dichein“ ein unverkennbares „Dich“. Wir waren da—
rüber nicht wenig betreten und wollten nicht zugeben,
daß Nr. 25 dadurch Fräulein Betty wirklich geduzt
habe. Hätte er etwa, wendeten wir ein, im Wider:
ſpruch zum anerkannten Sprachbrauch, fragen ſollen:
„Sie haben hier wohl gar ein Stellenſieſichein?“ Dieſes
ſchien allen unthunlich, auch dem Germaniſten mit der
— 164 —
Lupe. Da legte ſich unſer Philoſoph ins Mittel, der
ein Semeſter Psychologie gehört hatte und bereits Ver:
faſſer mehrerer bei Familienblättern eingereichten No⸗
velletten war. Er legte die Seele unſerer lieben Haus⸗
tochter vor uns auf den Seciertiſch und zergliederte ſie
nach allen Regeln der Kunſt. Niemals hatten wir
anderen auch nur von ferne geahnt, wie es in einem
ſolchen ätheriſchen Organismus zugehe. Und er ſchilderte
uns die erwartungsvolle Bangigkeit einer ſolchen Seele,
wie fie jo zum Überquellen voll von allerlei Unaus⸗
geſprochenem, ja Unartikuliertem, vielleicht ein lang er—
wartetes, ſeit Jahren ſtill erſehntes „Du“ gleich einer
fernen Muſik in den Ohren, nun plötzlich, gerade in
einem ſo leicht zu mißdeutenden, peinlichen Augenblicke,
überreizt und eingeſchüchtert zugleich, eine kecke Frage
hört, deren Bedeutung ſie in ſolcher Stimmung und
Verſtimmung vermutlich gar nicht auffaſſen kann und
von der ihr nur eine Silbe, die ihrem Denken und
Träumen geläufigſte, verſtändlich ins Ohr tönt: die
Silbe „Dich“ . .. Mit offenem, weit offenem Munde
ſaßen wir und hörten unſerem Pſychologen zu, der ſich
darüber ganz warm ſprach, ſich und ſein Bier, und
beifälliges Gemurmel erhob ſich, als er den letzten
pſychologiſchen Skalpellſchnitt führte, und wir kamen
ſchließlich überein, daß er zwar wiſſenſchaftlich nichts
— 165 —
bewieſen habe, aber doch eine Hypotheſe aufgeſtellt, der
ein gewiſſer Grad von Annehmbarkeit nicht zu be—
ſtreiten ſei. Auf alle Fälle habe wieder einmal das
Sprichwort recht behalten, daß es gar nicht ratſam
ſei, zwiſchen Thür und Angel zu jtehen....
Wie wäre es, wenn der Leſer hier annähme, daß
in den Wochen, welche nun folgten, eine gewiſſe Span—
nung zwiſchen der guten Betty und Nr. 25 eingetreten
ſei? Vielleicht ſogar eine gewiſſe Feindſeligkeit des
gekränkten Mädchens, von der anderen Seite möglicher—
weiſe erwidert durch unerwünſchte Neckereien, vielleicht
gar hie und da durch einen kleinen Schabernack, deſſen
man Nr. 25 gar wohl für fähig halten könnte? Denn
Nr. 25 war ein ſchneidiger Geſell, mit drei höchſt
reputierlichen Schmiſſen im Angeſicht und einer ſchweren
Menge von Semeſtern auf dem Rücken, der nachge⸗
rade etwas breit geworden war. Man munkelte ſo⸗
gar, daß er voriges Jahr Fräulein Schnittling, die
Soubrette des Joſefſtädter Theaters, ſehr gern geſehen
habe; ob auch ſie ihn, darüber waren die Meinungen
geteilt.
Einer Annahme wie der oben angedeuteten ſeitens
des Leſers ſtünde alſo nichts im Wege; nur müßte
er ſich dazu aus freien Stücken entſchließen, denn
unſererſeits kann die Verantwortung, ihn zu ſolchen,
— 166 —
immerhin kühnen Deduktionen veranlaßt zu haben, im
Sinne der induktiven Forſchungsmethode gar nicht ent:
ſchieden genng abgelehnt werden. Was uns Anderen
von der Sache weiter zu Augen und Ohren kam, war
ja viel zu wenig, um Rückſchlüſſen dieſer heiklen Art
den erforderlichen Grad von Sicherheit zu geben. Ja,
wenn der Verlauf der Angelegenheit wenigſtens in
ſeinen Hauptpunkten ſo ſicher feſtzuſtellen wäre, wie
die Thatſache, daß im Laufe des Monats Mai an
drei aufeinanderfolgenden Tagen der 12., 13. und 14.
Mai geſchrieben wurde! Und daß unſer Hausger—
maniſt, als er früh morgens im Hinuntergehen an
jenem Vorzimmer im erſten Stock vorbeikam und zu—
fällig einen Blick nach jenen drei Thüren warf, über
jeder derſelben eine Inſchrift bemerkte, welche in dicken
Kreidezügen vom dunkelbraunen Anſtrich abſtach und
allem Anſcheine nach ausdrücklich geleſen zu werden
wünſchte! Und daß unſer Hausphiloſoph, als er drei
Viertelſtunden ſpäter desſelben Weges ging und einen
Blick in denſelben Raum warf, dieſe Inſchriften nicht
mehr ſah! Aber ach, für wie wenige Begebenheiten
der Weltgeſchichte laſſen ſich ſolche klaſſiſche Augen—
zeugen anführen!
Jene drei Inſchriften waren alſo gar nicht lange
vorhanden, und nur das vorzügliche Gedächtnis unſeres
— 167 —
Germaniſten hat jie für die Nachwelt bewahrt. Ihm
verdanken wir auch den Wortlaut des Textes, für
deſſen Genauigkeit der philologiſche Drill ſeines Auges
wohl hinreichend bürgt. Er lautete folgendermaßen:
„12. Mai. Pankratius.“
„13. Mai. Servatius.“
„14. Mai. Bonifazius.“
Die drei Nummern waren nicht mit Kreide ge—
ſchrieben, ſondern ſtanden auf Metall geprägt ſeit jeher
über jenen Thüren; nur Monat und Name waren in
Handſchrift hinzugefügt. i
Wir andern fanden, ſchwerlich mit Ungrund, in
dieſem ſeltſamen Vorkommnis Stoff zu mannigfachem
Gedanken-Austauſch. Unſere Erörterungen gingen in
die Kreuz und Quere und, es kann leider nicht ver—
ſchwiegen werden, ſo mancher ließ ſich durch den Mangel
an verbürgten Thatſachen verleiten, mehr oder weniger
romantiſche Aufſtellungen zu machen, deren durchaus
hypothetiſche Natur auf der Hand liegt. Es wäre
vor dem nüchternen Verſtand, ja vor dem Geiſte der
bürgerlichen Schicklichkeit gar nicht zu rechtfertigen,
wenn all dieſes Hin und Her und Für und Wider
ſo unberufener Zungen hier im einzelnen wiederholt
würde. Es muß jedoch im Hinblick auf eine große
und heilſame Lehre, die daraus hervorgeht, berichtet
— 168 —
werden, welche der vielen Vermutungen ſchließlich allen
als die annehmbarſte erſchien. Die gerichtliche Seelen⸗
obduktion, welche unſer Philoſoph vor einiger Zeit vor—
genommen, mußte die Grundlage zu der Annahme
bieten, daß unſer gutes Fräulein Betty ſelbſt es ge⸗
weſen ſei, welche nach ſo vielen Monaten vergeblicher
Liebesmühe und unſcheinbar ſtiller Bewerbung nach
drei Richtungen, ſchließlich in einem Augenblicke drei—
facher Entmutigung ob der erſichtlichen Hoffnungsloſig—
keit ihres Strebens, auch wohl eines erklärlichen Rache—
gefühls, jene drei in ihrer Schlichtheit ſo vielſagenden
Epigramme verfaßt und an die Thüren jener drei gleich-
gültigen Mieter geſchrieben habe, jener drei Blinden
und Tauben am Herzen, welche ihr wahrlich als die
rechten „drei Eismänner“ des Maimonats erſcheinen
| mußten, als Pankraz, Servaz und Bonifaz, die be—
rüchtigten Froſtheiligen des 12., 13. und 14. Mai,
durch geheimnisvoll weiſe waltende Schickſalsfügung
gleich von allem Anfang an auf den Stuben Nr. 12,
13 und 14 einquartiert, gleichſam zur Warnung für
ein thörichtes Mädchenherz, das dieſen Wink eines
namenloſen Schutzgeiſtes nicht verſtand. ..
Schmach über uns ſtudierte Jünglinge! Viel
ſpäter erſt ſahen wir ein, daß dieſe unſere Auffaſſung
grundfalſch geweſen war und daß die angebliche Schrei—
— 169
berin auch nicht aus Reue und Furcht vor Entdeckung
bald darauf mit eigener Hand ihre Schrift wieder ver—
wiſcht habe, wie unſer Philoſoph mit tadelnswerter
Zuverſicht behauptete. Ja wohl, Schmach über uns
und die Anmaßlichkeit eines lückenhaften Wiſſens, das
ſich nicht entblödet, auf nichts etwas bauen zu wollen!
Nach einigen Wochen, da mittlerweile noch etliches
andere vorgefallen war, geſtand uns Nr. 25 offen, er
und kein anderer habe jene Worte über jene Thüre
geſchrieben, um unſer armes Fräulein zu hänſeln, aber
auch, um ihr nebenbei einen praktiſchen Wink zu geben,
wie ihr unerhört leiſes Klopfen an den verſchloſſenen
Thüren dieſer drei Eismänner ganz vergeblich ſei. Und
gar wohl müſſe ſie es gemerkt haben, wer der Urheber
dieſes Streiches geweſen, und ſie ſelbſt habe ſchleunigſt
die gefährliche Schrift gelöſcht, welche ſo geeignet war,
unberechenbare Verwicklungen hervorzurufen. Als wir
alle dieſe Dinge erfuhren, ging ein gemeinſames Er—
röten über unſere Geſichter. Nur unſer Philoſoph wurde
um eine Schattierung weniger rot, weil er doch wenig—
ſtens den Vernichter der Schrift richtig „konſtruiert“,
d. h. erraten habe; er hatte jedoch unrecht, darauf
ſtolz zu ſein, denn auch dieſer ſcheinbare Erfolg war
ja das Ergebnis einer falſchen Rechnung. Ja wohl,
wir hatten uns ganz und gar verrechnet. Wie ein
— 170 —
Kartenhaus fiel der ganze, hochgetürmte Trugſchlußbau
unſerer Geſamtweisheit in ſich zuſammen. Vermiß
dich nur wieder einmal, blödſichtiger menſchlicher Witz,
die Welt zu begreifen, ehe du ihre Atome verſtehſt
und deren Zuſammenhang!
Vielleicht wären uns übrigens dieſe wichtigen Auf-
klärungen gar nicht geworden, hätte nicht die ganze
Angelegenheit unverſehens eine Wendung genommen,
welche einige von uns für geradezu dramatiſch erklärt
haben. Eines Abends, als die Uhr ſoeben fünf Mi—
nuten nach halb zehn geſchlagen hatte . .. doch nein,
kein leichtfertiger Scherz ſoll dieſe hochernſte Epiſode
um ihre entſprechend düſtere Stimmung bringen. Es
kann nur ſo ungefähr angegeben werden, daß es ſchon
neun Uhr vorbei, aber noch nicht zehn war. Das
Treppengas war jedoch ſchon ausgethan, es war ſtill und
dunkel im Flur, noch mehr auf der Treppe, am ſtillſten
und dunkelſten aber in jenem Vorzimmer des erſten
Stockwerks. Und doch hätte es in dieſem Raume ganz
anders ſein ſollen, denn unruhig hämmerte darin ein
unſichtbares Herz, und dazu brannte eine zarte Flamme,
welche keinen Namen hat. Es war nämlich die Stunde,
zu welcher unſere ſorgſame Haustochter auf ihrem
abendlichen Rundgange durch das ganze Haus auch
in dieſes Vorgemach ihres dreithorigen und dennoch
— a
verſchloſſenen Himmelreiches kam und nach einander
an allen drei Pforten horchte, ob ſich nicht innen etwas
Unregelmäßiges rühre, was aber dank der viel ſpäteren
Heimkehr der drei Eismänner niemals geſchah. Da
ſtand ſie denn im Dunkeln und ſpannte mit einer Art
Inbrunſt das Gehör. Plötzlich fühlte ſie die Beine
unter ſich erſtarren und ihre Arme ſanken ſchlaff herab,
ſie waren keiner Bewegung mächtig.
Sie hörte Schritte.
Zwar nicht da innen in einer dieſer Stuben, was
übrigens noch die mindere Gefahr geweſen wäre, aber
unten im Flur, und dann die Treppe herauf, trapp,
trapp, feſt und ſchwer, von unverkennbaren männlichen
Schuhen. Im erſten Stockwerk angelangt, hörten die
Tritte einen Augenblick auf und ein tiefer Seufzer ließ
ſich vernehmen, als habe der Betreffende etwas ſchwer
geladen und müſſe ein wenig verſchnaufen, ehe er
weiterſteige. Und dann wieder, trapp, trapp, trapp,
aber nicht mehr die Stiege hinan, ſondern — hilf
Himmel! — gerade herein in das Vorzimmer. Fräu—
lein Betty ſtand wie feſtgewurzelt in der Mitte des
Gemaches und die Bruſt wollte ihr zerſpringen vor
Herzklopfen und zurückgepreßtem Atem, denn das Nie—
geſchehene war ſoeben im Begriff zu geſchehen, einer
der drei kam nach Hauſe und mußte ſie da vor ſeiner
— or
Thüre ertappen, wenn ſich nicht noch im letzten Augen:
blick ein Wunder ereignete und der Froſt ihrer Glieder
ſich löſte, daß ſie ſeitwärts in eine Ecke huſchen konnte.
Aber kein Wunder begab ſich, ſie blieb gelähmt und
vermochte nicht zu fliehen. Schwarze Finſternis
ringsum; wer da kam, ſie ſah es ebenſo wenig, als
er ſie unterſcheiden konnte.
Aber er kam.
Trapp, trapp, trapp; in drei Schritten war er
bei ihr, hinter ihr, jetzt hart an ihr. Sie wollte
ſchreien und brachte keinen Ton aus der Kehle. Sie
fühlte eine fremde Hand, . .. noch eine fremde Hand,
und hörte gebrummte oder gewiſperte Worte, die ſie
nicht verſtand, weil ihr eigenes Blut ihr in beiden
Ohren ſummte und rauſchte und mit ſeiner heißen
Brandung alles Geſprochene übertäubte. Zwei Arme
ſchloſſen ſich um ihre Geſtalt, ſie konnte ſich nicht
wehren, ſie konnte nicht rufen und auch nichts denken,
nur den einen Eindruck hatte ſie, als ſähe ſie vor ſich
in der ſchwarzen Luft ein wohlbekanntes Bild ſchweben,
bald näher, bald ferner, einen alten, verſtaubten Kupfer⸗
ſtich, der ſeit ihrer Geburt ins Geſindezimmer verbannt
war und auf dem eine ſchwarze Wolke mit unheim—
lich lüſternen Nebelarmen eine mythologiſche Frauens⸗
perſon umſchlang, welche laut Unterſchrift Jo hieß.
, e,
Sie taumelte, . .. jetzt ſaß ſie gar auf dem
Schoße jenes Unſichtbaren, immer von jenen Armen
umfaßt, deren immer mehr zu werden ſchienen, als
hätte er vier, ſechs, acht Arme am Leibe, die er wie
lauter eiſerne Reifen um ſie ſchlug, einen nach dem
anderen. Und jetzt, . .. nein, das war zu viel, . ..
ein unvorhergeſehener Brand auf ihren Lippen. Hatte
er fie wohl gar geküßt? Ei, das wäre doch . . .!
Und es konnte doch nur ein Kuß geweſen ſein. So
hatte ſie ſich ja das immer vorgeſtellt, ungefähr ſo.
Ein Kuß! Ein Kuß! Und noch eine ganze Menge
ähnlicher hinterdrein ... Und das wäre ein Eismann?
Ach, wie freute fie ſich jetzt, daß fie damals jene häß—
lichen Aufſchriften früh genug bemerkt und verlöſcht
hatte! Ach, dieſer liebe, wackere Eismann! Es wurde
ihr jetzt ſo wohl und traut bei ihm, ſie hatte ſchier
alle Furcht verloren und lehnte ihr Haupt an ſeine
Bruſt und war ſelig, und ſchwieg, und jubelte dabei
in ihrer Seele: endlich! endlich!...
Dieſe Schilderung macht natürlich keinen Anſpruch
darauf, in allen Einzelheiten zuverläſſig zu ſein. Die
Scene hatte eben keinen Zeugen, und wäre einer zu—
gegen geweſen, er hätte müſſen eine Nachteule ſein,
um in ſolcher handgreiflichen Finſternis die Vorgänge
genau unterſcheiden zu können. Ob alſo in dieſer
— 1714 —
Darſtellung mehr, oder wohl gar, was aufrichtig zu
bedauern wäre, weniger geſagt wurde, als damals
wirklich geſchehen, iſt begreiflicherweiſe nicht zu er-
mitteln; doch ſei verſchämten Leſern geraten, immerhin
etwas weniger, begehrlicheren aber, auf ihre eigene
Verantwortung etwas mehr anzunehmen.
Als Thatſache kann hingeſtellt werden, daß unſere
gute Betty während dieſer lang und ſchwer erſehnten
Augenblicke, deren Dauer nicht mehr genau zu be—
rechnen iſt, in all dem Meer von Süßigkeit auch
einen ... nicht gerade bitteren, aber doch ſäuerlichen
Tropfen ſpürte. Der nur zu allgemeine Mißbrauch,
das Gas auf den Treppen ſo früh ſchon abzudrehen,
rächte ſich jetzt empfindlich genug an ihr. Sie fühlte
ſich, ach, ſo heiß geliebt, und hatte bei der herrſchen—
den Dunkelheit keine Ahnung, von wem! Der wackere
Mann, der ihr ſo zärtlich entgegengekommen, war nach
alledem, was vorgefallen, doch nur ein Unbekannter,
in ſchwarzes Gewölk gehüllt, wie jener da unten im
Geſindezimmer, der freilich dieſem nicht das Waſſer
reichen konnte. Vergeblich ſtrengte ſie ſich an, die
ſchwarze Sammtlarve zu durchſchauen, welche die Nacht
vor ſein Antlitz gelegt hatte. Er ſagte kein einzigesmal
„Heoobooh“ oder „Hoeeeeh“, wie Nr. 12; er hatte
auch, wovon ſie ſich eigens überzeugte, keine Steine in
„5
der Taſche, wie Nr. 13; hingegen aber war er vor
zehn Uhr zu Hauſe, was bei Nr. 14 noch niemals
der Fall geweſen. Und dennoch, dennoch mußte es
einer von dieſen Dreien ſein! Es wäre mißlich,
Fräulein Bettys Verlegenheit in Worten darzuſtellen,
denn das geſchriebene Wort hat etwas ſo Sicheres, Un—
bezweifelbares, während im Gegenteil jene Armſte, in
anonymen Armen gefangen, ihres Glückes von Augen⸗
blick zu Augenblick weniger ſicher zu ſein glaubte.
Gewiß, ſie hätte den Unſichtbaren geradehin fragen
können: „Mein Herr, wer ſind Sie?“ Aber ... fie
hatte ihn ja wiedergeküßt und hielt ſeinen Nacken fort—
geſetzt mit ihren Armen umſchlungen. Wie durfte ſie
ihn merken laſſen, daß ſie ſo Unerhörtes gethan hatte
und noch that, ohne ihn auch nur zu kennen? Ein
neuer und, man mag kühn behaupten, unwiderleglicher
Beweis, daß — Mädchen im Dunkeln bei ſo ver—
fänglichen Außerungen ihres Herzens ſo vorſichtig als
möglich verfahren ſollen.
Da plötzlich ereignete ſich ein Zwiſchenfall, der
die Erwartung berechtigt erſcheinen ließ, daß dieſe
Zweifel noch in abſehbarer Zeit geklärt werden möchten.
Unten ging das Hausthor, . .. trapp, trapp, trapp, kam
abermals jemand die Treppe herauf. Die beiden fuhren
zuſammen und umſchlangen ſich enger. Himmel, er
— 176 —
blieb im erſten Stock und kam mit knirſchenden Schuhen,
denn die Treppe war nachmittags mit Sand geſcheuert
worden, gerade zu ihnen herein. Mäuschenſtill ſaßen
ſie in ihrer Ecke, auf dem alten Divan. Jener merkte
nichts und ſchritt durch das finſtere Vorzimmer, ein
Liedchen ſummend, auf Thüre Nr. 14 zu. Der Schlüſſel
tappte ins Loch, die Thüre ging auf und wieder zu,
der Ruheſtörer war daheim. Die beiden atmeten auf,
am tiefſten unſere gute Betty; nun wußte ſie doch
wenigſtens, daß ihr Unſichtbarer nicht Nr. 14 war
und nur noch Nr. 12 oder 13 ſein konnte. Wenn
es ihr gelang, noch einen zu „eliminieren“, wie man
bei den Diagnoſen ſagt, ſo war ſie glücklich, denn ſie
wußte dann endlich, wen ſie da eigentlich ſo im Dunkeln
ſo aus tiefſtem Herzensgrunde liebte. Der Unſichtbare
jedoch ſchien ſeinerſeits auf dieſen Punkt nicht beſonders
neugierig und traf unverkennbare Anſtalten, der Situ—
ation ein Ende zu machen. „Geh, geh,“ flüſterte er
der Geliebten immer dringender zu und verabreichte
ihr ſchon den zehnten Abſchiedskuß. Sie aber ſchien
ſich jetzt gar nicht losreißen zu können von ihrem
Glücke und verzögerte das Scheiden in einer für ihn
zwar ſchmeichelhaften, aber gerade jetzt unzweckmäßigen
Weiſe. Und was gelingt nicht einem liebenden Weibe? ...
Trapp, trapp, trapp, ging es wieder auf der Treppe.
„ N
Nochmals Mäuschenſtille, und dann wieder die knir⸗
ſchenden Schuhe, und dann geradenwegs zur Thüre her—
ein und . .. Welch ein Augenblick der Spannung für
dieſes arme Fräulein Betty! Dieſe drei Schritte, die
der Ankömmling nun thun wird, zu dieſer Thüre hin
oder zu jener, werden ihr alles jagen, und dieſe fürchter-
liche Dunkelheit wird plötzlich taghelles Licht werden!
Himmel! Er ging zu Nr. 13
Sie erſchauderte am ganzen Leibe vor Entzücken
und zugleich Befremdung. Alſo er war es, er! Der
Amerikaner! Nr. 121 . .. Wer hätte das gedacht?
wer, wer? Der grauſame Mann mit den verdäch—
tigen Päckchen, an denen die unheimlichen roten Flecke
zu ſehen waren. O, wie ſchauerlich! Und doch, wie
zärtlich war er, wie lieb. Und wie hatte ihm die
Liebe ſogar die Zunge gelöſt, daß er jetzt ſo fließend
und verſtändlich deutſch zu wiſpern vermochte. Und
nicht einmal nach Karbol duftete er heute, nein, nicht
im geringſten. O Gott, welche Enthüllung! ..
Freilich, nach Amerika werde ſie jetzt reiſen müſſen,
in ſeine Heimat, über das große Waſſer, auf dem die
Seekrankheit zu Haufe iſt, aber... o alles, alles
wollte ſie für ihn thun. |
Wie Spreu im Winde wirbelten dieſe Gedanfen-
ſplitter in ihrem verwirrten Hirne durcheinander, und
He ve ſi, Buch der Laune. 12
— 178 —
weniger als je dachte ſie daran, den unſichtbaren Ge—
liebten, der nun plötzlich eine Nummer, einen Namen
erhalten hatte, aus ihren Armen zu entlaſſen. Es
war auch gerade jetzt nicht der Zeitpunkt dazu, denn...
trapp, trapp, trapp, kam es draußen ſchon wieder die
Treppe herauf. Diesmal blieb Fräulein Betty ruhig,
o ganz ruhig; das ging ja hinauf in den zweiten oder
dritten Stock, da herein kam es nicht.
Aber welcher Schreck; es kam doch da herein!
Alles Blut ſtockte in ihr; fie glaubte nie wieder auf—
ſtehen zu ſollen von dieſen unſichtbaren Knieen, auf
denen ſie noch immer ſaß. Entſetzlich! Wie wird das
enden! . . . Die Schuhe knirſchten wieder und kamen
ohne alles Beſinnen ſo recht gewohnheitsmäßig ins
Vorzimmer herein, durchſchritten es ruhig in der Rich—
tung nach links, zu Thür Nr. 12, ein Schlüſſel ſtocherte
nach dem Schlüſſelloch umher . . . Und nun war auch
der dritte in ſeinem Zimmer.
Der zärtliche Unſichtbare war alſo keiner der drei!
Als dieſer vernichtende Gedanke in ihr aufblitzte,
ſtieß ſie einen Schrei der Verzweiflung aus, ſo laut,
ſo grell, daß die drei Thüren faſt gleichzeitig auf—
gingen und auf den drei Schwellen drei mehr oder
weniger entkleidete Eismänner ſtanden, drei brennende
Lichter in der Hand.
„ le —
Die arme Betty ſaß auf dem alten, verſchoſſenen
Divan, die Arme vor ſich ins Leere geſtreckt, und
ſtarrte mit glaſigen Augen auf ihre drei Geliebten,
deren keiner es geweſen war. Wer in aller Heiligen
Namen war es denn aber geweſen? ... Sie war
allein. Er war verſchwunden, der Unſichtbare mit den
ſechs oder acht Armen und noch viel mehr Küſſen.“
Spurlos; nur ſeinen Schatten hatte ſie noch hinter
ihm her zur Thüre hinaus huſchen ſehen.
„Heooooh!“ rief Nr. 12 mit Augen, die vor
Verwunderung ganz kreisrund waren. Nr. 13 kam
in ſeiner Kurzſichtigkeit ganz nahe herzu, um ſich zu
überzeugen, ob das die Hauskatze oder die Hausmagd
geweſen ſei; er leuchtete ihr mit der Kerze ins ver—
ſtörte Geſicht und ſtellte feſt, daß es nicht die erſtere,
ſondern die letztere geweſen. Nur Nr. 14 war der
Sachlage völlig gewachſen und fragte ſchalkhaft: „Ei,
Fräulein Betty, Sie haben wohl etwas Schreckliches
geträumt?“
„Ich?“ entgegnete ſie und rieb ſich die Augen;
ihr war es wirklich wie ein Traum.
Und dann gingen die drei wieder in ihre Zimmer
zurück, nachdem ſie gute Nacht gewünſcht hatten; nur
Nr. 12 hatte ſich darauf beſchränkt, in übrigens durd-
aus wohlwollendem Tone „Hoeeeeh“ zu rufen.
— 180 —
Kein Einſichtiger wird hier eine ausführliche
Schilderung der Nacht erwarten, welche unſer liebes,
ſchwergeprüftes Fräulein Betty nach dieſem Erlebnis
verbrachte. Es giebt Dinge, welche ſelbſt ein ſchlafen—
der Homer beſſer der Phantaſie ſpäter Gymnaſiaſten
überläßt. Aber die Sonne des nächſten Morgens
durchbrach alle Trübſal und fand die Heimgeſuchte im
reinen mit ſich und der Welt. Sie war dieſen
Morgen beinahe hübſch, vor Hoffnung und Erwartung
eines nunmehr Unausbleiblichen. Mancherlei Umſtände,
die ſie vordem gar nicht beachtet hatte, weil ſie nur
den dritten Stock betrafen, erſchienen ihr jetzt in einem
neuen, verheißungsvollen Lichte. Wie war es nur
möglich geweſen, daß fie Nr. 25 jo lange nicht zu
würdigen wußte? Dieſer gute . .. nein, dieſer ſchlechte
Menſch! Sie fo jämmerlich im Stiche zu laſſen ange—
ſichts der drei Eismänner! Wahrlich, er, er hatte erſt
den rechten Eisklumpen von einem Herzen in der Bruſt,
er war ein noch viel ärgerer Eismann, er war der...
Und im Uebermut ihrer Freude holte ſie ſich ein
Stück Kreide, eilte in den dritten Stock hinauf, ganz
ſachte an die Thüre des Böſewichts, und da ſie ſelbſt
mit dem ausgeſtreckten Arme nicht jo hoch hinan—
reichte, ſtellte ſie einen Seſſel vor die Thüre und
ſtellte ſich auf den Seſſel und ſchrieb neben die
„
blecherne Nummer „25“ zwei Worte hin, daß die Auf—
ſchrift lautete:
„25. Mai. Urban“.
Auch dieſe Unbeſonnenheit hält freilich vor dem
kritiſchen Auge des Moraliſten nicht Stich und es
wäre zu wünſchen, daß nur ſelten ein Mädchen auf
dergleichen verfalle. Konnte denn nicht, während Fräu⸗
lein Betty ſo heikel auf dem Seſſel ſtand, die Thüre
aufgehen und jener ... Urban heraustreten und fie
ſamt der Seſſellehne mit jenen ſechs bis acht Armen
von geſtern abend umklaftern, daß an ein Ent⸗
rinnen aus ſo beſchämender Lage gar nicht zu denken
wäre?
Er ſoll nämlich, wie es ſpäter allgemein hieß,
in jenem Augenblick wirklich dergeſtalt hervorgetreten
ſein und derartiges unternommen haben. Die Sefjel-
lehne wenigſtens wurde einigermaßen beſchädigt aufge—
funden, über das weitere Befinden unſerer liebens⸗
würdigen Betty ſelbſt verlautete nichts Sicheres. Aber
Aufſehen hat es erregt, daß an dieſem Morgen der
ſüße Kaffee auf Nr. 25 getrunken wurde. Im dritten
She:
Ob Nr. 25 feinen Kaffee auch jetzt noch jo ſüß
kredenzt bekommt, darf nur in ſeinem Intereſſe ver⸗
hofft werden. Es wäre ſchade, wenn er ihn nicht bis
— 182 —
ans Lebensende fo ſüß kriegte, denn das könnte die
Zahl der Eismänner im Kalender bedenklich vermehren,
und der ſogenannte Wonnemonat iſt in der Regel
ohnehin ſchon rauh und verſchnupft genug.
*
Die Zweiunddreißig.
DHormärzliche Skizze aus dem ungariſchen Provinzleben.
(1886.)
% 3 ift ein ſchöner Vormittag. Man ſieht
Ku 9 es dem weißen Storche deutlich an, daß
er ſich nur mühſam davon zurückhält, mit
1 1 roten Schnabel wohlgemut zu klappern, obgleich
er bloß der Storch iſt, den das Komitat in ſeinem
Wappen führt, wie ja über der Thüre der Apotheke
„zum Komitatswappen“ für männiglich zu ſehen. Eine
ſehenswerte Thüre das, ſchon wegen der drei ſteinernen
Stufen, die zu ihr hinanführen und auf dreißig Stun—
den die Runde die größten Steine ſind, dieweil man
ſich ja im ſteinloſen Alföld befindet. Noch merfwür-
diger freilich iſt die Thüre, weil ſich gleich links neben
ihr ein Fenſter befindet, das noch viel merkwürdiger
iſt. Dieſes Fenſter iſt nämlich das Barometer für die
ganze Gemeinde. Wer da irgend im Orte genau wiſſen
will, ob es regnet oder nicht, geht hin oder ſchickt hin,
— 186 —
um nachzuſehen, ob der große Kopf des alten Herrn
zum Fenſter herausgeſteckt iſt oder nicht. Sein Pfeifen-
kopf nämlich, den er ſich ſtets drei Schritt vom Leibe
halten muß, weil eben das Pfeifenrohr ſo lang iſt.
Ragt aber der altersſchwarze Meerſchaumkopf durch
das Fenſtergitter hinaus in die freie Gottesnatur, ſo
weiß der ganze Marktflecken, daß es nicht regnet; ragt
dagegen er nicht hinaus, ſo weiß man, daß es regnet,
denn gar nicht gerne läßt ſich der alte Herr in ſeine
brennende Pfeife hineinregnen.
Es regnet aber keineswegs, ſondern die Luft iſt
voll Sonnenſchein; aber freilich, das kann auch täuſchen,
denn der alte Adam kommt juſt die Straße herauf
und der macht immer ein ſo gottsjämmerlich vergnügtes
Geſicht, daß er damit eine ganze Gaſſe entlang leuchtet.
„Er lacht wie ein hölzerner Hund,“ ſagen darauf die
Leute; als ob je einer einen hölzernen Hund hätte
lachen hören. Übrigens ſcheint er gar nicht eitel zu
ſein, der alte Adam, denn wenn er lacht, höhlt ſich
mitten in ſeinem Geſichte eine ſchwarze Grube aus,
man weiß gar nicht, wie tief, und kein einziger Zahn
iſt darin ſichtbar, ſoweit das Auge reicht. Aber darum
lacht er doch, der alte Adam, der Melonenhüter von
der Salzigen Pußta, und ſetzt ſeine drei Beine rüſtig
vor einander hin, immer zwei zugleich, nämlich einen
18
aus Fleiſch und Bein und Bagaria (Juchtenleder), den
andern aus hartem Kornelkirſchholz, . . . . das iſt der
hohe „Cſater“ Stecken, der ihm bis ans Kinn reicht,
ſo daß er ihn im zweiten Drittel gefaßt hält.
Nein, ſchön iſt er nicht, der alte Adam. Er ſcheint
nicht mehr ganz jung zu ſein; zweihundert Jahre giebt
er ja ſelbſt zu, aber vermutlich leugnet er etliche Dutzend
ab. Sein Geſicht ſieht aus, wie ein friſchgepflügtes
Ackerfeld; eine neben der anderen, laufen die ungezählten
Furchen darüber hin, alle natürlich im ſchrägen Bogen,
durch gute braune Erde. Dazwiſchen ſind aber auch
Strecken, die Salpeter halten müſſen, denn ſie ſchimmern
weißlich und ſind kurz und ſpärlich bewachſen, ſo daß
man nicht einmal die Schafe darauf treiben möchte zur
Weide. Sein linkes Auge hat er irgendwo verloren
und der Finder (an den Galgen mit ihm!) hat es nicht
zurückgebracht. Aber das rechte brennt lichterloh, ſo
daß es ſchon alle Wimpern abgeſengt hat; man könnte
den Keſſel mit Schöpſenpörkölt darüber ſtellen zum
Kochen. Im ganzen keine ſchöne Gegend, dieſes Ge—
ſicht. Auf ſeinem Schädel ſcheint noch der Schnee vom
vorigen Winter zu liegen; hat wohl zu viel zu thun
als Melonenhirt der Stadt, und kommt nicht dazu,
ihn abzukehren, die Sonne aber kann den Schnee nicht
ſchmelzen, wegen der Mütze, die der alte Adam nicht
a
einmal zum Schlafen abnimmt. Eine ſchöne alte Mütze;
vor zwanzig Jahren aus Tur gekommen auf den großen
Jahrmarkt, und hält noch immer Farbe, wenn auch
gerade nicht die ſchwarze von ehedem. Etwas fett iſt
ſie, ja, aber nur inwendig .. .. und ein wenig auch
außen, ein wenig ſtark ſogar; was thut's? deſto beſſer
gedeiht auf ihrem linken Abhang, wo die meiſte Sonne
hinſcheinen mag, das feingefiederte Stämmchen „Katzen—
ſchweif“, das im Winde hin und her zu wedeln ſcheint.
Auch der Szür, der Lodenmantel, hält noch prächtig
Stich; die bunten wollgeſtickten Tulpen daran ſind
zwar längſt heruntergewelkt und haben nur hie und da
ein fahles Stengelchen hinterlaſſen, aber Löcher hat er
wenigſtens keine, außer wo man die Arme durchſteckt,
und das will ſchon was ſagen; kein Zweifel, der ehr—
liche Kerl, der Szürſchneider, der ihn vor einem Viertel—
jahrhundert gemacht, iſt ins Himmelreich eingegangen,
. . . . denn daß er bereits tot iſt, duldet ja keinen Zweifel,
bei ſolcher Ehrlichkeit muß ein Szürſchneider bald ver—
hungern. Nur gegen die „weißen“ Kleider des alten
Adam ließe ſich einiges einwenden. Sie werden wohl
oft genug gewaſchen, und zwar in Regenwaſſer, wie
alles Weißzeug im weiten und breiten Alföld, aber der
alte Adam behält ſie dabei am Leibe, das iſt der eine
Fehler, und läßt ſie auch mit dem Schlägel nicht klopfen,
— 189 —
vielleicht eben weil er ſie am Leibe hat, und das iſt
der andere Fehler, wie jede gute Hausfrau zugeben
wird. Nun, er iſt dabei friſch und geſund und hat
einen vorzüglichen Magen . . .. Das letztere ſieht man
genau, da ſein Hemd ſchon knapp über dem Magen
endet und ſeine Gatya (Leinenhoſe) erſt knapp unter
dem Magen beginnt; das iſt nun einmal nicht anders
dort herum, es iſt die letzte Mode und iſt auch die
erſte geweſen, nur daß anfangs, bevor die Menſchheit
gar ſo gebildet geworden, der ganze Menſch Magen
war und ſein Weißzeug nirgends begann, ſo daß es
nirgends aufzuhören brauchte.
Zu jener Zeit hätte der alte Adam aber auch
nicht gethan, was er jetzt thut. Geradeswegs auf das
Fenſter neben der Apothekenthüre geht er in ſeinem
hölzernen Dreiſchritt los, ganz ſachte, als ſchliche er
einen Melonendieb an. Eine Kreisbewegung ſeines
rechten Auges, ob er denn auch unbemerkt ſei, dann
tritt er dicht neben den großen Meerſchaumkopf und
hält ſeine Nüſtern darüber, erſt die rechte, dann die
linke und dann alle beide. Er trinkt an der Quelle,
aber kein Waſſer, ſondern Rauch. Köſtlichen blauen
Dunſt, weit köſtlicher als der in der Kirche drinnen,
der gemalte, auf deſſen Gewölk die heilige Jungfrau
gen Himmel fährt. Ein Dutzend tiefer Atemzüge thut
a ON
er, dann ſtöhnt er wonnig: „Verpeléèter“; und noch
ein halbes Dutzend, da fügt er bei: „Auch Debröer
muß darunter gemiſcht ſein;“ und nach einigen weiteren
Atemzügen: „Keinen „Finanzer' hat der nicht geſehen.“
Und noch manches würde er wohl als geriebener
Tabakſchnüffler fo feſtſtellen, wenn nicht die Pfeife plöß-
lich einen kräftigen Ruck nach oben thäte, ſo daß ſeine
Naſenſpitze tief in ihre feurige Aſche gerät. Hat ſie
es aus Bosheit gethan, oder aus Gutherzigkeit, um
ihm den Genuß unmittelbarer zu machen? Er ſcheint
der erſteren Anſicht zuzuneigen, denn er fährt mit einem
halb erſtickten Knurrlaut zurück, nieſt und puſtet durch—
einander und ſcheuert ſich das grau beſtaubte Riech—
organ nachdrücklich mit dem groben Hemdärmel. Ja,
's iſt ſtarker Tabak, obgleich der Verpeléter mild ſein
ſoll, beſonders mit Debröer gemiſcht, und ganz be—
ſonders ehe ihn der „‚Finanzer“ mit feiner verf ....
führeriſchen ärarialiſchen Beize getauft hat.
Zum Fenſter heraus ſchallt aber Gelächter, in
hohen und tiefen Fanfaren; es müſſen viel Herren drin
fein. Natürlich, es iſt ja die Silvorium-(Slbiowitz)⸗
Stunde vor dem Mittageſſen, da ſitzen ſie immer drin
im Nebenſtübchen, die Herren „vom Kaputrock“, die
„großgnädigen“, die „wohledlen“ und ſogar einige nur
„wohlanſehnliche“. Jetzt iſt die große Plauderſtunde,
ut
in der es ſich um Wohl und Wehe des Ortes handelt,
ja des Komitates, ja mitunter ſogar des ganzen Landes,
wo nicht gar der Weltkugel. Die Löcher in der Ko—
mitatsſtraße wachſen ſichtlich während ihrer akademiſchen
Behandlung in dieſem Sitzungsſaal; Sebaſtopol wird
heute genommen und morgen nicht genommen, je nach—
dem hier die Abſtimmung ausfällt; dazwiſchen verkündet
der Herr „Apothekermeiſter“ ein von ihm erfundenes
Heilmittel gegen die Cholera, welche eben in Perſien
wütet, und der „alte Herr“, wie man den ehrwürdigen
Raucher der Barometerpfeife in der ganzen Gegend
nennt, obwohl er ſonſt „Seine Wohledelgeboren Herr
Abraham von Mäsläs de eadem” heißt, ergeht ſich
in Jugenderinnerungen an den hochwohlgeſtorbenen
Herrn Obergeſpan Gedeon von Szentkeresztvizi de
Szentkereszt und Keresztviz, der „damals“ jene be—
rühmte Antwort gegeben, die hier nicht wiederholt zu
werden braucht, da ſie ja jedermann kennt.
Das dunkelrote, glänzende Geſicht des alten Herrn
erſcheint im Fenſter; es ſieht aus, als habe er ſich ſo—
eben von einer ſchweren Mahlzeit erhoben, beſonders
auch da er das Kinn raſiert und darunter oder viel—
mehr dahinter einen ſchneeweißen Halsbart à la Koſſuth
trägt, von einem Ohr bis zum anderen, einer umge—
bundenen Serviette gar nicht unähnlich.
— 192 —
„Na, Ihr ſeid's, Adam?“ ruft der alte Herr
zwiſchen den dicken Stäben des Fenſtergitters durch,
„ſehr ſchön von Euch, daß Ihr mir mein Pfeifenfeuer
zurechtſtopft mit Eurer Naſenſpitze; mit meinem Zeige—
finger kann ich doch ſo weit nicht hinauslangen. Will
hoffen, daß Ihr Euch die Schnauze nicht verbrannt
habt.“ :
„Das wäre ſchlimm, großgnädiger Herr,“ ent—
gegnet der Alte, der aber noch immer das Bedürfnis
zu reiben empfindet, „denn kein Menſch kann ſeine
eigene Naſenſpitze blaſen, um ſie zu kühlen; ohne
Spiegel wenigſtens nicht.“ Und er lacht, daß man
alle ſeine Zähne nicht ſieht.
„Da, ſtopft Euch Euren Stummel aus meinem
Beutel,“ ſagt der alte Herr und reicht ihm das lang—
befranſte, ungenähte Säckchen aus Widderhaut hinaus.
„Tjüh!“ ruft der alte Adam, „das iſt ja Palm—
ſonntag für mich; aber mein Gott und Herr mag auch
dafür meinen hochwohlgebornen Herrn ſegnen, mit allen
beiden Händen.“ Und ſchon hat er den ziegelroten
Debrecziner Stummel aus dem Stiefelſchaft herauf ge—
langt und gleichzeitig den herrſchaftlichen Tabakbeutel
vom Fenſter herunter. Es dauert lange, bis der
Stummel geſtopft iſt, denn ein Melonenhirt weiß ſolche
Miſchung zu ſchätzen und möchte am liebſten drei Pfeifen
— 2193 —
voll in die eine hineinquetſchen. Selten iſt eine Pfeife
ſo feſt geſtopft worden; wie ein hölzerner Spund im
Faß ſteckt der hartgeſtampfte Tabakpfropfen im roten
Scherben. „'thänigſten Dank, mein großgütiger Herr,“
ſagt er dann und reicht mit einem gewiſſen Anſtand
den ſorgſam zugedrehten Beutel wieder hinauf. Im
zugebundenen Armel ſeines Szür treibt er eine „Ma—
ſchine“ (Zündhölzchen) auf, zieht ſie am grünen Fenſter—
rahmen entlang und ſetzt dann den Blaſebalg in ſeinem
Bruſtkaſten gehörig in Bewegung, um den allzu feſt
geſtopften Tabak zu entzünden.
„Richtig, es brennt,“ ſagt oben der alte Herr,
„hätt's nicht gedacht; Ihr raucht wohl auch einen
hölzernen Pfahl aus, als wär' er eine Cigarre?“
„Gewiß, wenn der Tag lang iſt und der Beutel
kurz,“ lacht der alte Adam und zeigt ſchon wieder
ſeine zweiunddreißig Zahnlücken.
„Mir ſcheint, Adam, Ihr zahnt zum zweitenmal,“
ſcherzt der alte Herr, „ſind das nicht Milchzähne da
vorn in Eurem Kiefer?“
„Mag wohl ſein, gnädigſter Herr,“ ſchmunzelt
Adam unter angeſtrengtem Paffen, bei ſehr geringem
Rauch, „mag wohl ſein; bin ja eben jetzt ſechs Wochen
alt geworden, da fangen ſie an durchzubrechen ...
Ausgebrochen ſind ſie freilich leichter.“
Heveſi, Buch der Laune. 13
— 194 —
„Ausgebrochen? Ihr ſcherzt. Habt Ihr denn
jemals Zähne gehabt?“
„Ei, das will ich meinen, gnädigſter Herr; eine
ganze Menge. . . . Hundert ſind's zum mindeſten ge—
weſen; aber alles futſch, alles weggeſchwommen. Wenn
ich ſo dran denke, das waren ſchöne Geſchichten!“
„Geſchichten?“
„Ei freilich, Geſchichten. Meine Zähne haben
jeder ſeine Geſchichte gehabt, jeder. Aber das iſt lang
zu erzählen und nicht gar unterhaltend.“
In verſchiedenen Geſichtern jedoch, die ſich nach—
gerade neben das des alten Herrn gedrängt haben,
ſteht das Gegenteil geſchrieben. Geſchichten! Zum
Morgen-Silvorium! Das iſt niemals zu verachten.
Kein Wunder, daß plötzlich die Schelle an der Apotheken—
thüre ihr heiſeres Gebimmel von ſich giebt und die
Thür aufgeht und der Herr Apothekermeiſter auf die
Schwelle tritt mit den Worten: „Na, alter Adam,
was iſt denn? Soll ich Euch wieder mal einen Apo—
thekerſchnaps miſchen? ... Ihr kennt ihn ja ſchon.“
„Tjüh!“ ſchnalzt Adam mit der Zunge, „ich ſag's
ja, es iſt Palmſonntag, ohne daß der Herr Pfarrer
auch nur den Stock ſeines Ohres bewegt.“
„Hoho, alter Burſche,“ droht eine ſcharfe Stimme
über die Schulter des alten Herrn vom Fenſter herab,
— 195 —
„den Hochwürdigen laßt mir nur aus dem Spiel,
ſonſt . . .“ Es iſt die Stimme des jungen, noch etwas
feurigen Kaplans; aber eine raſſelnde Gurgelſtimme,
die des Herrn Stadtchirurgus Magiſter Farkas, be—
ſchwichtigt den drohenden in dem gern geſprochenen
Küchenlatein:
„Eminentia vestra (denn er giebt dem Kaplan
ſcherzweiſe den Kardinalstitel) non debet perdere
bonum humorem, quia possibiliter deterreret istum
bonum hominem de narratione historiarum suarum.“
(Euer Eminenz darf nicht den guten Humor verlieren,
ſonſt könnte ſie möglicherweiſe jenen guten Mann von
der Erzählung ſeiner Geſchichten abſchrecken.)
„Habet rectum, magister“ (Sie haben recht,
Magiſter), entgegnet der Kaplan lachend und ſchweigt.
Der alte Adam hat aber gar nicht zugehört,
ſondern ohne jeglichen Zeitverluſt die drei berühmten
Steinſtufen erklommen, auf deren Höhe ihm der Apo—
thekerſchnaps winkt. Der Herr Apothekermeiſter tummelt
ſich auch bereits hurtig zwiſchen den weißen Gläſern
und braunen Büchſen ſeiner Wandſchränke und greift
bald da hinauf, bald dort hinunter, um die Beſtand—
teile der Herzſtärkung zuſammenzuholen. Zwinkernd
hängt Adams einziges Auge an jeder Bewegung, und
auch die Herren drin lugen durch die Thür heraus,
— 196 —
obgleich ſie ſchon manchen Apothekerſchnaps haben brauen
ſehen und ſogar ſelber ausgetrunken.
„Alſo, laßt hören, Adam,“ drängt der alte Herr,
und Adam muß beginnen, obgleich feine ganze Auf-
merkſamkeit dem in Entſtehung begriffenen Schnapſe
gilt. Kein Wunder, daß es ſo konfus klingt, was er
ſagt; die Wörter in ſeinem Munde ſtolpern übereinander:
„Ja wohl, meine großgnädigen Herren,“ beginnt
er, „auch ich habe einmal dreiundzwanzig Zähne im
Munde gehabt . ..“
„Nur dreiundzwanzig?“ fällt ihm der alte Herr
ins Wort.
„Ei, was ſag' ich da!“ berichtigt er ſich, „drei—
unddreißig waren's ja, . . . lauter Zwillinge, denn fie
ſind immer paarweiſe zur Welt gekommen, oder auch
einzeln, je nachdem. Und weiß wie Elfenholz, ...
eh, ich wollte ſagen: wie Ebenbein, . .. ja wohl, weiß
wie Ebenholz waren ſie alle, und wahre Wolfszähne,
Eiſen und Stahl. Als ich damals das Mädchen auf-
hob, die Schari .. ., die Klari, mein’ ich, ... ja, als
ich damals den Eimer aufhob, da haben die Leute
Augen gemacht . .. Wenn ich unterthänigſt bitten dürfte,
wohlanſehnlicher Herr Apothekermeiſter, von dem Hellen,
was Sie jetzt in der Hand zu haben belieben, noch
ein paar Tröpfchen hinein, jo einhundert .. . oder
„ I
zweihundert .. .“ Und er ſchnuppert ſcharf gegen die
große viereckige Flaſche hin, die der Apotheker ſoeben
über das Stengelglas geneigt hält.
„Spiritus vini dilutus, verdünnter Weingeiſt,“
lacht der Apotheker, „der ſticht Euch in die Naſe, was?“
„Tauſendmal Verzeihung, mein wohlanſehnlicher
Herr, ich meine nur ...,“ er ſchnuppert noch nach:
drücklicher hinüber .. ., „ich meine nur, ob er, näm-
lich der Schnaps, 'terthänigſt zu melden, ob der Schnaps
nicht etwas zu . . . zu ſchwach ausfallen wird?“
„Hol' Euch der Tatar, mein Süßer, wenn Euch
dilutus zu ſchwach iſt: 70 Teile Weingeiſt auf 100 de—
ſtilliertes Waſſer; meine Gurgel thäte ſich bedanken.
Wollt am Ende gar rectificatissimus, he?“
„Wenn ich bitten dürfte, mein wohlangeſehener
Herr; issimus, issimus, das muß das richtige ſein.“
„Ein richtiger Schelm!“ lachen die Herren.
„Na gut,“ beruhigt ihn der Apotheker und greift
nach einer andern großen Flaſche, „ich will Euch noch
einen Schluck ‚issimus‘ hineingießen. Es iſt nur aqua
destillata,“ flüſtert er den Herren hinter ſich zu, „der
Schnaps würde ihm ja die Gurgel abſchneiden wie ein
Raſiermeſſer . . . Und jetzt etwas Milderndes hinein,
etwas recht Sanftes, . .. jagen wir syrupus corticum
aurantiorum, Pomeranzenſchalenſyrup . . .“
1
„Brrr!“ ſchüttelt ſich der alte Adam, „dann doch
lieber, thänigſt zu bitten, etwas Bitterliches, was
einem ſo die Seele zurechtrüttelt.“
„Gut, alter Naſchkater; da ſind eins, zwei, drei
Tropfen aqua amygdalarum amararum concentrata,
Bittermandelabſud; ich ſag' Euch, das ſchüttelt Euch
aus Eurem Hemde heraus.“
„Dürft' ich wohl bitten, wohlanſehnlicher Herr,“
drängt der Alte in ſeinen unwiderſtehlichſten Flehe—
lauten.
„Na, was denn noch?“ fährt ihn der Apotheker an.
„Wenn es vielleicht möglich wäre, noch drei
Tropfen von dem... arum barum hinein . ..“
„Meinethalben,“ jagt der Schnapsfabrikant achſel—⸗
zuckend, „aber ich ſag's Euch voraus, es wird Euch
alle Därme zu einem einzigen Strick zuſammendrehen.“
Der alte Adam aber ſchnalzt laut im Vorgefühl
dieſer Wonne und reibt ſich ſchon mit ſanften, kreis—
runden Handbewegungen den Magen.
„Nun noch eine Spur oleum rosmarini, Ros⸗
marinöl,“ ſagt der Apotheker, „das Ding ſoll ja
ordentlich hinuntergleiten.“
Da ſchreit jener auf, als wäre man im Begriff,
ein beinahe vollendetes Kunſtwerk noch im letzten
Augenblick zu verderben: „Gnädigſter Herr, gnädigſter
— 199 —
Herr! . .. Es wär' doch ſchade drum, der Schnaps
iſt bisher ſo gut im Gange.“
„Was ſchreit Ihr denn wie am Spieße?“ ver-
weiſt ihn der Apotheker, „ich wollt' es Euch ja gut;
das iſt ja kein Rosmarinöl, ſondern rauchende Schwefel—
ſäure, . . . wird aus Schwefelhölzern bereitet, durch
Abſud.“
„Ah, dann, Hochwohlgeboren, bitt' ich nur nach
der eigenen gnädigen Weisheit ... ich bin nur ein
dummer Bauer... bitte, gießen gnädigſt nur immer zu.“
Und der Apotheker gießt ordentlich zu, ſo daß
ihm von rückwärts der Kaplan beſorgt in den Arm
fällt. Aber der Apotheker flüſtert ihm hinüber: „Un—
beſorgt; es iſt nur aqua florum aurantii, Pomeranzen⸗
blütenwaſſer.“ Und nun laut zum alten Feldhüter:
„Da, Adam, der Schnaps iſt fertig; er iſt würdig,
von einem Komitatsheiducken imbibiert zu werden. Be-
dient Euch, Alter, und wohl bekomm's!“
„Mit hoher Erlaubnis,“ ſagt der Alte höflich
und langt mit leiſe zitternder Hand nach dem Glaſe.
Wie er aber das Glas hält, zittert die Hand nicht
mehr, kein Tropfen geht verloren. Er ſchließt die
Augen, auch das blinde, während er den Kopf zurück—
biegt und das rötlichtrübe Naß hinter den Adams—
apfel gleiten läßt. Ein Augenblick tiefer Stille, während
— 200
alle Blicke an feinem Angeſichte hängen; dann öffnet
er die Augen wieder und ſtößt ein langes, rauhes
„Ah!“ aus und macht eine Bewegung, als müßte er
ſich einen verrenkten Rückenwirbel geſchwind wieder zu—
rechtſchrauben.
„War's ſo recht?“ fragt ihn der Apotheker mit
unwirſcher Freundlichkeit.
„Küſſ' das Herz, mein wohlanſehnlicher Herr, es
war ſchon recht fo, aber . . . .“
„Aber?“
„Ich meine nur, . . .. das zweite Glas pflegt
meiſtens noch richtiger auszufallen.“
Alles lacht, der alte Adam auch, und der Kaplan
ſagt zum Herrn Stadtchirurgus: „Semper audivi de
coquina latina, sed nunquam de cellario latino.“
(Ich habe immer von der lateiniſchen Küche, aber nie
vom lateiniſchen Keller gehört.)
Jedenfalls hat der alte Adam durch das Gläschen
Magentroſt den grobgedrehten Faden ſeiner Erzählung
wieder gefunden und fährt, vom alten Herrn kräftig—
lich getreten, fort:
„Ach ja, richtig! die Boriſch, nun, mit der war's
eine eigene Sache. Die Burſchen neckten mich damals
in der Kiſchkereker Csarda und glaubten nicht, daß ich
mit den Zähnen ein Zentnergewicht vom Boden heben
— 201 —
könnte. Da ſtand der Eimer auf dem Brunnenrand,
nun ja, der Waſſereimer; ich holte ihn und ſtellte ihn
in die Mitte der Schenkſtube. ‚Sa, wenn er voll wäre,‘
höhnte der Bodnär Peti, ... er ſaß ſpäter in Sze⸗
gedin zwanzig Jahre, wegen . ... kurz und gut: ‚Sa,
wenn er voll Waſſer wäre, höhnte er. Da ſpuckte ich
aus: ‚Waſſer? Waſſer macht mich ſchwach, ſag' ich,
‚einen Eimer Waſſer kann ich freilich nicht heben; aber
komm' mal da herüber, Eva, mein Täubchen.“ Sie
will nicht, da heb' ich fie aus dem Gitter des ‚Schaden—
hüters“ heraus, wie eine Ente, bei einem Flügel; ſie
lacht und kratzt dazu; nützt nichts, ich ſetze ſie in den
Eimer und ſtemme ihr die beiden Hände auf die zwei
Schultern, daß fie ſich nicht rühren kann, der Sovany
Ferkö muß einen Gurt in die zwei Oſen des Eimers
ſchlingen und mir die Mitte quer durchs Maul legen
wie eine Gebißſtange. Ich bücke mich .. . . ‚na, Jeſus,
hilf!“ . . . . ich ſtemme mich in die Höhe und hebe
den ganzen Eimer voll Frauenzimmerfleiſch kerzengrad
empor, bis an meine Kniee. In meinem Munde
kracht's, ich hör's genau, aber ich halte feſt und ſetze
den Eimer ganz ſachte wieder zu Boden. Hat aber
mindeſtens zwei Zentner gehabt, das Gewicht, denn die
Jutka war ein . . .. rund und geſund, drall und prall,
22222
— 202 —
er von gebratenem Spanferkel geſprochen), „und ....
und . . . . was Wunder, daß mir dabei drei Vorder-
zähne, die unteren da, in die Brüche gingen? Nein,
mit Verlaub, wohlgeboren Herr Stadtarzt, unbeſchadet
Ihrer Zange, aber mit einem Ruck ohne Zange gleich
drei Zähne, . . . die Jutka hätte ſollen ein Zahnbrecher
werden, nicht wahr?“
„Hieß ſie nicht eben erſt Eva?“ fällt der Kaplan
ein, der an richtig ausgefüllte Taufregiſter gewöhnt iſt.
„Ach, mein Jeſus, ſie heißen ja alle Eva,“ ruft
jener und hebt das Stengelglas gegen das Licht, ob
nicht unverſehens noch ein Tröpfchen drin geblieben.
„Na, laß nur ſtehen, bin ſchon bei der Hand,“
beruhigt ihn der Apotheker und greift nach einer Flaſche.
„Wollt Ihr aus dieſem vitrum epistomio vitreo clau-
sum (mit Glasſtöpſel geſchloſſenen Flaſche)? Hallerſche
Säure drin, acidum Halleri, ... auch ein guter
Grundſtoff für Apothekerſchnaps, drei Teile spiritus
vini concentrati.....“
„Spiritus centrali, das kann nur gut ſein,“
ſtimmt der alte Adam bei.
„Und ein Teil acidi sulfurici concentrati puri
(reine, verdichtete Schwefelſäure).“
„Puri!“ wiederholt Adam, halb erſchrocken vor
einem ſolchen Wirbel unverſtändlicher Silben.
— 203
„Und jo habt Ihr die drei Vorderzähne ein-
gebüßt,“ knüpft der alte Herr wieder an.
„Mit Gottes Hilfe ja, mein gnädiger Herr, aber
es blieben ja noch an die achtzig übrig, wenn nicht
gar ſiebzig, oder noch weniger. Aber du lieber Himmel,
das viele Sauerwaſſer hat mich wieder etliche gekoſtet.
Nichts Schädlicheres für die Zähne als Sauerwaſſer.“
„So!“ brummt der Herr Stadtchirurg ungläubig,
wenn auch nicht um einen gelehrten Streit zu beginnen,
aber doch um ſeinen Standpunkt zu wahren.
„So gewiß als ich da ſtehe und Durſt habe,“
ſchwört der alte Adam, indem er an ſeinem Kehlkopf
umherfingert, als verſuche er den Fingerſatz auf der
Flöte. „Die Boriſch . . . doch, wozu das? Genug,
ich ging arbeiten an den Vereber Sauerbrunnen, der
ſo gut riecht, daß die Vögel, die über ihn wegfliegen,
nachher lauter faule Eier legen. Dort hab' ich Tauſende
von Flaſchen verkorkt und dadurch gewiß ein paar
tauſend Seelen in die Hölle befördert. Denn, der
hochwürdige Herr Kaplan wird es auch bezeugen: wer
flucht, kommt in die Hölle; die Leute aber, die meine
Flaſchen zu entkorken hatten, müſſen dabei ganz mör—
deriſch geflucht haben, ſo feſt ſaßen meine Korke. Und
erſt ihre Verdrahtung! Nur hätte ich mich nicht ge—
wöhnen ſollen, den Draht immer mit den Zähnen ab—
„
zubeißen; aber als die Brunnenverwaltung ſah, daß
ich auch das konnte, zog ſie mir die Drahtſchere ein,
um zu ſparen. Da, dieſer rechte Hundszahn war das
Opfer; ich weine noch jetzt, wenn ich an ihn denke,
aber nur mit meinem blinden Auge. Freilich, die
oberen da vorne waren noch beſſer, auf dieſen hab'
ich die meiſten Haare gehabt. Aber, mein Jeſus, das
viele Zahnpulver . . .“
„Dann war es gewiß ſchlechtes Zahnpulver,“
meint achſelzuckend der Herr Magiſter.
„Mit Verlaub, Wohlgeboren, ausgezeichnetes.
Aber es iſt beſſer, nicht davon zu reden... Es iſt
viel luſtiger, wie ich mir einmal mit einem Hufeiſen
die Zähne ſtocherte, und zwar vor dem Eſſen. Es
war noch dazu an einen Pferdehuf genagelt, und ein
Huſarenwachtmeiſter ſaß im Sattel, und ich, ſo ſchwer
ich war, hing am Zügel. Und das alles im Galopp.
Und dieſelbe Eva ſah zu, ſie ſtand hinter dem Zaune,
und vor dem Zaune hatte kurz vorher der Huſar ge—
ſtanden, bis ich .. . Ja, man iſt fo dumm, ſolang
man Zähne im Munde hat; mit Verlaub, wohlgeborne
und hochwohlgeborne Herren ſind ausgenommen, ich
meine nur uns Bauern ... Verzeihung, wohlanſehn—
licher Herr Apothekermeiſter, iſt auch von dem gewiſſen
issimus drin?“
— 205 —
„Beruhigt Euch, Adam,“ ſagt der Apotheker,
„alles nach Eurem Geſchmack; ein Tropfen Eſſigäther
iſt diesmal auch dabei; aqua kreosoti hab' ich doch
nicht hineingeben wollen . ..“
„Schade, ſchade!“ jammert der Melonenhirt. „Na,
in Gottes Namen; thänigſten Dank, gnädiger Herr,
für alles Gute.“ Und auch das zweite Glas iſt ver—
ſchlungen. Jetzt wird aber der alte Adam lebendig.
„Tjüh“, ruft er, „das war heidenmäßig gut! Ich
ſpüre den issimus bis in die Stiefel hinab; hei, wie
kneipt er mich in die kleine Zehe und kraut mir die
Fußſohle. Haha, das Gefühl hatt' ich früher ſo
manchesmal, damals tanzte ich noch mehr als jetzt,
aber es iſt unglaublich, wie das Tanzen die Zähne
erſchüttert. Beſonders wenn ſie dabei hie und da mit
einer Zahnbürſte in Berührung kommen, mit einer
Zahnbürſte ohne Borſten, wie dieſe da in meiner Hand“
. . er ſtieß die Eiſenzwinge ſeines Steckens knirſchend
auf die Steinplatten. . .. „Übrigens beſſer fo, juft
die paar Zähne, da auf der linken Backenſeite, haben
mir damals arg weh gethan, auf die Eva. War auch
ein goldenes Schätzchen; war noch viel mehr Zähne
wert. Dann kam das gewiſſe Jahr, wo ſo viel ge—
ſchoſſen wurde. Ich war auch mit, wie die anderen.
Einmal aber, an der gewiſſen Brücke in Siebenbürgen,
— e
. . . wir ſtürmen vorwärts, immer vorwärts, jenſeits
ſteht die Batterie und feuert in uns herein, rechts und
links von mir krach! ſumm! brumm! ich lache nur
dazu. Bajonett gefällt und vorwärts! Da ſteh' ich
vor einer feindlichen Kanone, und ein Kerl daneben
mit dem Wiſcher in der Hand. Noch heut weiß ich
nicht, warum ich dem Kerl ins Geſicht lachen mußte,
er aber nimmt das ſchief und fährt mir mit dem
Wiſcher ins Maul, bis in den Hals hinab, als wär'
ich ein Kanonenrohr. Ei du unmanierlicher Schorn—
ſteinfeger! Das hat mich wieder auf der nämlichen
Seite getroffen; da war ich nun ganz gewiß, daß ich
auf dieſer Seite keine Zahnbürſte vertrage. Von den
Stockzähnen da herum hatte ich nur noch einen be—
halten; den Stock habe ich noch jetzt“ ... er grüßt
mit feinem Stecken militäriſch, als wär's ein Degen...
„den Zahn aber nicht mehr. Wo er hingeraten? ich
glaube nicht, daß ich es noch weiß, will aber morgen
meine Eva fragen.“
„Alſo die Eva habt Ihr dann doch geheiratet?“
fragt der alte Herr, der den Liebeshandel gern da—
heim wieder erzählen möchte, ſeiner Wirtſchafterin, der
blonden Karolinka.
„Mit hoher Erlaubnis, nein,“ entgegnete der
Melonenhüter, „aber jeder Adam muß ſeine Eva haben,
und fo Heiß’ ich fie Eva. Die andere, die erſte, die
goldene, ja, die hat mich an den Galgen gebracht,
aber zum Glück nicht ganz. Ich hatte noch den Zahn—
ſtocher ihres Huſarenwachtmeiſters zwiſchen den Zähnen,
da kam die Infanterie angerückt. Zwei weiße Zwirn—
ſterne am Kragen ... er war Korporal . . . So tief
war fie geſunken, ſie liebte ſchon zu Fuß. Und trotz—
dem trug ich ſie noch immer im Eimer, in dem kleinen
roten Eimer da innen“ .. . er ſchlägt ſich auf die
Bruſt ... „und hab's nicht ertragen. Vom Kriege
her war mir eine alte Piſtole geblieben, eben noch gut
genug, um einen kalt zu machen, . . . wenn man ihm
mit dem Kolben auf den Hirnkaſten klopfte. Aber
einen einzigen Lauf hatte ſie, wie der Haſe, den ich
vor zwanzig Jahren auf der Sonnenſchein-Pußta trotz—
dem nicht einholen konnte. Ich aber hatte zwei Pa—
tronen dazu, man kann ja nicht vorſichtig genug ſein.
Die eine alſo ſteck' ich in den Lauf, die andere, um ſie
im Notfall gleich bereit zu haben, in den Mund. Weiß
ich, wie's kam? Die im Lauf ging nicht los, wohl
aber die im Maul. Tjüh, alle Engel hört' ich ſingen;
klang juſt, als ob tauſend ungeſchmierte Thürangeln
ſich auf einmal drehten. Gottes Holz! Das war eine
Muſik, um den kalten Froſt zu kriegen. Pfrrrrummm!
machte es, wenigſtens hab' ich nichts weiter gehört.
— 208 —
Wie ich mich nach einer guten Weile wieder ſpüre und
in den Himmel hinaufſtarre, ſehe ich über mir, ſo hoch
wie zweimal unſer Kirchturm, einen ſchwarzen Punkt.
Der wird immer größer, und bald merk' ich, daß das
eigentlich etwas iſt, was aus der Höhe herabfällt . . .“
Hier langt der alte Adam ſchon zum fünftenmal
nach dem Stengelglas, in das ihm der ſittlich ent—
rüſtete Apotheker diesmal auch vier Tropfen acetum
quatuor latronum (Eſſig der vier Diebe) geträufelt
hat. Dann ſpuckt er zur Thür hinaus, fährt ſich mit
dem offenen Hemdärmel zweimal quer über den Mund
und plaudert weiter:
„. . herabfällt, ja, und grad auf meinen Kopf
los. Ich will ihn geſchwind beiſeite rücken, um dem
vermaledammten Himmelsſtein, oder was es war, aus—
zuweichen, aber ich kann mich nicht rühren. Nun iſt
auch das Ding ſchon ganz nahe, ich kann darin gerade
nur noch meinen ſchönſten Backenzahn erkennen, da
vergeht mir das Einmaleins, und alles iſt ſchwarz.
Wie ein Stein hat er mich an den Schädel getroffen
und ein tüchtiges Loch drein geſchlagen. Viel ſpäter
erſt kam ich auf den Zuſammenhang. Das verfl . ..
ammte ſchwarze Zahnpulver in der Patrone war mir
zwiſchen Gaumen und Zunge losgebrannt und hatte
mir ein Dutzend Zähne zum Teufel geſprengt. Tjüh,
— 209 —
war das eine Gewalt! Ein Backenzahn war kerzen—
gerade gen Himmel gefahren und erſt nach einer Viertel—
ſtunde, juſt als ich eben wieder zu mir kam, ebenſo
kerzengerade wieder auf meinen Schädel heruntergeſauſt,
wie ein Kieſelſtein. Wie hoch muß der geflogen ſein,
daß er im Fallen ſchwer genug wurde, um mir das
Dach einzuſchlagen?!“
„Iste nebulo in una secunda plus mentitur,
quam in uno anno confiteri posset“ (der Kerl lügt
in einer Sekunde mehr, als er in einem Jahre beichten
könnte), ſagt Seine Eminenz der Herr Kaplan zum
Herrn Stadtchirurgus, „sed clarum est, quod ta-
lentum habet, et magnum damnum est, quod non
in diplomatia servit“ (aber es iſt klar, daß er Talent
hat, und es iſt ſehr ſchade, daß er nicht in der Diplo—
matie dient).
„Wie meine Kinnbacken dann wieder halbwegs
eingerenft waren,“ phantaſiert der Erzähler weiter,
„ging ich aus, meine zerſprengten Zähne wieder zu
ſuchen. Einige hab' ich auch wirklich gefunden, in den
verſchiedenen Höfen ringsum zerſtreut, und, was das
merkwürdigſte iſt ... ich glaub's auch noch heute
nicht . . . einer flog durchs Schlüſſelloch der geſchloſſenen
Kirchenthür hinein bis auf den Hochaltar, wo er zu
Füßen der heiligſten Jungfrau ſtecken blieb; vor zehn
Heveſi, Buch der Laune. 14
— 210 —
Jahren erſt iſt er vor Alter locker geworden und von
ſelbſt herausgefallen.“
„Nunc est tempus obturare os ejus, quia post
et post in veram blasphemiam incidit“ (jetzt iſt
es Zeit, ihm den Mund zu ſtopfen, denn nach und
nach verfällt er in wahre Gottesläſterung), ſagt der
Herr Kaplan kopfſchüttelnd. „Sed vide, digitus Dei!“
(doch ſchau, der Finger Gottes!) ruft er, als der alte
Adam plötzlich kreidebleich wird und zu ſchwanken be—
ginnt. Der viele Apothekerſchnaps mag ihm zu Kopfe
geſtiegen ſein. Krampfhaft ſucht er ſich an ſeinem
Hirtenſtab aufrecht zu erhalten, aber umſonſt, der
Apotheker und der Wundarzt müſſen hinzuſpringen und
ſeine haltloſen Gebeine in einen geflochtenen Lehnſtuhl
niederlegen. n
„Gut, daß ich mein Aderlaßzeug bei mir habe,“
ſagt der Stadtchirurgus und holt auch ſchon das rot—
lederne Beſteck aus der Taſche, während der Apotheker
dem Leidenden kaltes Waſſer ins Geſicht ſchleudert, ſo
daß er ſich geſchwind erholt.
„Gyurka, die grüne Schüſſel!“ ruft der Apotheker
in den Hof hinaus, und, ohne ihn zu fragen, wird der
alte Adam für den Aderlaß fertig gemacht. Man hat
ihm ſeinen Stecken in die linke Hand gegeben zur
Stütze, den offenen Hemdärmel bis über die Schulter
— 211
zurückgeſchlagen und mit jenem breiten roten Seiden—
band, das die ganze Bauernſchaft der Umgegend nur
zu gut kennt, den Oberarm über der Armbeuge um—
ſchnürt. Schon blinkt der Schnepper, den der Herr
Chirurgus freudig ſchwenkt, . . . ein kurzes Knackſen ...
und ein ſchwarzer Strahl ſpringt aus dem Arm des
Gepeinigten ſeitwärts in die ortsbekannte grüne Schüſſel
hinab. |
„Niger sieut tinta, .. tempus erat“ (ſchwarz
wie Tinte, es war Zeit) brummt der Operateur und
beobachtet mit dem einen Auge die Farbe des warmen
Springquells, während er mit dem andern das Antlitz
des Angezapften prüft. Kein Zwiſchenfall, nur daß
Gyurka, dem es vom Anblick des Blutes plötzlich ſchwül
ums Zwerchfell wird, die grüne Schüſſel fallen läßt und
ſelber mitten in die Blutlache hinſinkt.
Endlich iſt alles wieder in Ordnung; der alte
Adam, den verbundenen Arm in der Schlinge, ſteht
mühſam am Stocke auf und ſucht mit unſicheren Sohlen,
die immer zu kurz tappen, die Steinplatten des Eſtrichs.
„Auch der Herrgott ſoll den gnädigen Herrn
Chirurgus ſegnen,“ ſagt er mit ſchwacher Stimme und
möchte gerne lachen, wenn er könnte; „und den gnädigen
Herrn Apothekermeiſter für den guten Schna. ..
Schnaps, und den hochwohlgebornen Herrn, Gott ſoll
— 212 —
ihn leben laſſen, für den Verpeléter, ... der arme
Mann hat es doch gut, wenn es noch ſolche wohl—
geborne und hochwohlgeborne Herren giebt, Gott
laſſe ſie leben, . .. mit gnädiger Erlaubnis werde
ich mich jetzt wieder etwas weiter ſtellen, . .. meine
Herde draußen auf der Salzigen Pußta iſt zwar feſt—
gebunden, jedes einzelne Stück am Erdreich, und die
griechiſchen Melonen (Waſſermelonen) laufen mir nicht
fort, und die gelben auch nicht, aber es iſt doch beſſer
bei ihnen zu ſein, denn ſie haben doch eine ganz
verf ... verfängliche Neigung zum Fortrollen; mein
Gott, rund ſind ſie ja, und das Erdreich ſenkt ſich
dort herum ſo etwas abſchüſſig, ſo daß leicht etwas
ſozuſagen geſtohlen werden kann. Glücklichen guten
Tag, Wohlgeboren, Hochwohlgeboren ... alle guten
Dinge
So ſchwankt der alte Adam zur Thür hinaus,
ſtolpert die drei Stufen hinab und ſtelzt auf ſeinen
drei Beinen auffallend behutſam die ſtaubige Straße
entlang. Er fühlt ſich durch den Aderlaß und das
übrige ungeheuer gekräftigt; jetzt lebt er gewiß um
drei Jahre länger. Aber lachen thut er einſtweilen
nicht mehr.
2
Miß Digg.
Ein Reiſeabentfeuer.
(1887.
AR
RR
155
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ENT,
Fee
RK
„Theodor!“
Und in den Armen lagen ſich beide,
als wären ſie von Friedrich Schiller.
Sie konnten nicht umhin, dieſes unvermutete Wieder⸗
ſehen nach acht Jahren ſowohl feucht als auch trocken
zu feiern, indem ſie die reichliche halbe Stunde bis
zum Abgang des Zuges mit einem ebenſo reichlichen
Wiederſehens-Imbiß ausfüllten. Der Eß- und Trink-
garten des Weſtbahnhofes zu Wien war nur leider
ſehr voll, ſo daß die ganze Nachbarſchaft den beiden
Freudigen in die vollen Teller, Gläſer und Herzen
hineinſah. Nur eine einzige Perſon, die mit am näm⸗
lichen Tiſche ſpeiſte, machte eine rühmliche Ausnahme.
Das war eine noch ziemlich junge, aber auch bereits
ziemlich alte Dame, welche dem Kellner ein geläufiges,
ae
freilich ſilbenweiſe abgewogenes Deutſch widmete, ob—
gleich auf dem roten Juchtentäſchchen, das neben ihrem
Teller ſtand, ein blankes Metallplättchen zu ſehen war,
mit der unverkennbar engliſchen Aufſchrift: „Miß Nigg.“
Auch im übrigen war ſie mehr als halbengliſch. Ihre
feinen Züge waren etwas ſtreng und ſpitz; das dunkel—
graue Lodenkleid verlief, beſonders vom Hals bis zum
Gürtel, in gewiſſen langen, geometriſch geraden Linien;
ſie ſaß und aß in einem tadelloſen „style“ und hatte
eine gewiſſe Weiſe, nirgendshin zu ſchauen, ohne doch
die Augen niederzuſchlagen, ſo daß es unmöglich war,
ihren Blick zu kreuzen oder gar ihm zu begegnen.
„Mein lieber, alter Anton!“
„Mein guter, braver Theodor!“
Und die Gläſer klangen zum zehntenmal an ein-
ander und alle Nachbarn wandten zum ebenſovieltenmal
die Köpfe, um den Händedruck über den Tiſch weg,
den ſie ſchon auswendig wußten, nochmals zu belächeln
und um noch ein ehevorletztesmal mitanzuhören, daß
Theodor bereits Bureauchef ſei und Witwer und Vater
von drei Kindern, und Hausbeſitzer im vierten Bezirk,
und Beſitzer des goldenen Verdienſtkreuzes mit der
Krone, und Vizevorſtand der Sektion Auſtria des inter—
nationalen Bergſteigerbundes, und Jägero-Wagnerianer
u. ſ. w., während andererſeits Anton drei Weltteile
oe
bereiſt habe und ein großes Vermögen erworben, und
jedes Jahr eine Kaltwaſſerkur mache, und gebratene
Kartoffeln dem beſten Faſan vorziehe, im übrigen aber
gänzlich unverheiratet geblieben ſei, weil, weil, weil . . .
mein Gott, die heutigen Mädchen! und die Weiber
ſchon gar!! und vollends die Witwen!!! leichtes Volk,
kein Verlaß auf ſie, Sonnenblumen (und man ſteckt
keine Sonnenblume ins Knopfloch), Wendehälſe (und
man ſetzt ſich keinen Wendehals in den Käfig als Nach—
tigall), alle gefallſüchtig, unſolid, auf den Mann dreſſiert
wie Doggen, . .. er wenigſtens habe noch keine von
anderem Schlage geſehen, keine einzige, wofür der beſte
Beweis eben ſein Junggeſellentum ſei, denn die erſte
beſte Andersgeartete hätte er ja, wie er ſich kenne,
vom Fleck weg geheiratet.
„Zweites Läuten! Einſteigen nach Sankt-Pölten,
Kemmelbach, Ybbs, Amſtetten, Linz, Wels, Lambach“
e u. e w.
Miß Nigg zahlte und ging hinaus, ohne auch nur
mit einer Wimperſenkung zu grüßen oder den, aller—
dings etwas unentſchiedenen, Gruß ihrer beiden Tiſch—
nachbarn zur Kenntnis zu nehmen.
„Siehſt Du,“ ſagte Anton, der Vielerfahrene,
„das iſt die ſchlimmſte Sorte; die Steifen, die Prüden,
die ſind alles imſtande ... Doch was iſt das? Sie
218,00
hat ihre Börſe auf dem Tiſch vergeſſen; noch dazu
offen . . . und das gerade Gegenteil von leer.“
„Wir folgen ihr und ſtellen ihr die Börſe feier-
lich zurück,“ meinte Theodor.
„Ja, aber ein Weilchen laſſen wir ſie erſt zappeln,“
ergänzte Anton, im überlegenen Tone eines Amen—
dements.
Und ſie ſtiegen in das nämliche Coupé, in dem
Miß Nigg Platz genommen hatte. Da der Zug ſehr
beſetzt war, brauchte es keiner weiteren Entſchuldigung.
Übrigens hatte Miß Nigg von ihrem Eintreten
nicht mehr Notiz genommen, als wären die Schatten
zweier vorüberſchießenden Telegraphenſtangen durch das
Coupé gehuſcht. Auf ihren ſorgfältig zuſammengefaßten
Zügen lag eine Gleichgültigkeit, aus der nicht das ge—
ringſte Für oder Wider herauszuleſen war.
Als der Zug ſich in Bewegung geſetzt hatte, ent—
faltete ſie eine Zeitung und begann das Feuilleton zu
leſen. Ihr Profil war hübſch, obwohl es ganz gut
um einen Zoll hätte kürzer ſein können.
„Eine feine Naſe,“ bemerkte Anton laut in eng⸗
liſcher Sprache, als hielte er die Reiſegefährtin für eine
Deutſche und wollte von ihr nicht verſtanden ſein.
„Aber zu große Hände und Füße,“ entgegnete
Theodor noch engliſcher, alſo entſprechend lauter.
— a)
Was ſie aber weiter ſagten, ſagten ſie deutſch und
ganz leiſe flüſternd.
„Das iſt ſtark,“ meinte Anton; „die Flügel einer
Naſe, die man lobt, pflegen doch gewöhnlich in ange—
nehmer Erregung zu zucken, wie von einem inneren
Lächeln; und dieſe hier, wie aus Marmor gemeißelt.“
„Ich finde es noch weit merkwürdiger,“ entgegnete
Theodor, „daß der Tadel ſie nicht bewog, die Man—
ſchetten ein wenig über die zu großen Hände hervor—
zuziehen, beſonders aber die zu großen Füße unauf—
fällig hinter dem Kleidrande verſchwinden zu laſſen.“
„Das letztere iſt in der That auffallend,“ be—
ſtätigte Anton, „ich hätte das bei einer jungen, oder
doch jedenfalls jüngeren Dame nicht erwartet.“
„Lob und Tadel von Fremden ſcheinen für ſie
gar nicht vorhanden zu ſein.“
„Nun, wir wollen doch einmal verſuchen, wie
weit ihre Starrheit geht,“ ſagte Anton. „Den Teufel
auch! ſollte es uns nicht gelingen, etwas zu ſagen,
was ſie aus ihrer Zurückhaltung herauslockt?“
Sie verſuchten dieſes Ziel auf den verſchiedenſten
Wegen zu erreichen. Theodor hatte zufällig die näm—
liche Zeitung bei ſich, in der die Dame ſo aufmerkſam
das Feuilleton las. Er ſchlug es alſo auf und begann
ein kritiſches Geſpräch über dieſen Aufſatz.
— 220 —
„Ach Gott,“ ſagte er in gelangweiltem Tone,
„ein Feuilleton über emanzipierte Frauen. Giebt es
denn wirklich noch Leute, die das abgedroſchene Zeug
leſen?“ (Miß Nigg las ruhig weiter.) „Frauen leſen
es gewiß nicht, denn die wiſſen genau, daß dieſer Herr
Verfaſſer davon nichts verſteht.“ (Miß Nigg las ge—
laſſen weiter.) „Emanzipierte Frauen! Giebt es denn
auch nicht emanzipierte? Alle ſind ſie emanzipiert,
nur ſind die meiſten nicht aufrichtig und zeigen es
nicht.“ (Miß Nigg las unentwegt weiter.) „Und
merkwürdig, gerade in England, wo ſie ſich am
ſittſamſten gebärden, wo das Pedantiſch-Anſtändige
geſellſchaftliche Vorſchrift iſt, ſind fie am emanzi—
pierteſten.“
Miß Nigg ſchien nicht das geringſte zu hören.
Sie las weiter, ja ſie unterließ es ſogar, was die
meiſten in ihrem Falle gethan haben würden, ſo zu
thun, als ob fie mit geſteigerter Aufmerkſamkeit läſe.
Nichts dergleichen; ſie las, wie ſie geleſen, mit voll—
kommener Unbefangenheit.
Das bewog die beiden, ein anderes Manöver zu
beginnen. Gut, meinten ſie, dem Ernſt könne man
immerhin Trotz bieten, aber dem Komiſchen nicht. Das
Lachen ſei etwas Unwillkürliches und das Zwerchfell
kein Trommelfell, das ſich taub ſtellen könne. Und
— 221 —
daraufhin begannen ſie tragikomiſche Erlebniſſe zu er—
zählen, ſchauerliche Sachen mit grotesken Wendungen.
„Ja, Du haſt recht,“ ſagte Anton, „auch ich bin
ein geborener Arkadier und war einſt dick und fett,
wie Du, aber dieſe leibliche Pracht iſt nun dahin . ..,
ach, das war die fürchterlichſte Minute meines Lebens.“
„Minute?“ fragte Theodor erſtaunt.
„Ja wohl,“ entgegnete Anton mit tiefem Ernſt.
„Eben jetzt, da ich an das Abenteuer zurückdenke, ſträubt
ſich jedes Haar auf meinem Kopfe und es rieſelt mir
eiskalt über den Rücken. Doch ich will mich ſammeln
und Dir jenes Erlebnis erzählen. Auf meinen Fahrten
in Italien kam ich eines Tages nach Carrara. Ich
wollte mir den Marmorblock anſehen, aus dem dereinſt
Tilgner mein Denkmal für den Wiener Stadtpark gießen
wird . .. Lache nicht, mir iſt nicht danach zu Mute...
Der Lieblingsſpaziergang der guten Leute von Carrara
iſt die ſogenannte Marmorbahn, unter der Du Dir
aber keine Wandelbahn, mit Platten aus echtem Car—
raramarmor belegt, denken darfſt, ſondern eine Eiſen—
bahn, die ſich ins Gebirg hinaufſchlängelt, um von
dort die ſchweren Marmorlaſten zu Thale zu ſchaffen.
Es war ein ſonniger Nachmittag und, gleich den Ein—
geborenen, ſchlug auch ich dieſen Schienenpfad ein, um
mich in friſcher Luft zu ergehen. O, es war herrlich.
— 222 —
Aber ich war doch froh, als ich aus der Sonnenglut
plötzlich in einen langen Tunnel kam. Ich knöpfte
mich bis an den Hals zu und ſchritt rüſtig ins Schwarze
hinein, oder vielmehr hinauf, denn das Terrain ſtieg,
auf einen goldblinkenden Stern zu, in welcher Geſtalt
ich nämlich die jenſeitige Offnung erblickte. Da plötz—
lich höre ich ein ſonderbares dumpfes Brauſen. Der
Boden zittert unter mir. Ein Erdbeben, ſage ich mir
und will mich mit beiden Händen an die feuchte Fels—
wand klammern, die aber nicht den geringſten Halt
bietet. Aber auch die Felswand zittert, wie meine
Hände, und durch die Luft geht ein Beben und Wellen—
ſchlagen, wie durch ein dunkles Gewäſſer. Wird der
Tunnel einſtürzen? Soll ich da begraben werden?
Ich hatte keine Zeit zu Gedanken, denn ein neuer
Schreck machte jeden Blutstropfen in mir erſtarren.
Der goldene Stern vor mir verſchwand plötzlich, alles
war in Nacht gehüllt, . . . ein Bahnzug war heulend
in den Tunnel eingefahren, ein Laſtzug mit den ge—
wohnten ſechstauſend Zentnern Marmor. Ich ſah ihn
nicht, denn ſeine roten Augen waren nicht angezündet;
wozu auch bei Tage, wegen eines einzigen Tunnels?“
Miß Nigg wandte ſoeben die Zeitung um und
las auf der anderen Seite weiter, über die emanzi—
pierten Frauen.
„5
„Wie mir zu Mute war?“ fuhr Anton fort, „ich
weiß es nicht. Der Boden, auf dem ich ſtand, bebte;
der Fels, an den ich meinen Rücken preßte, mit einer
Kraft, als wollte ich mich durch den Stein drücken,
zitterte jo heftig, daß ich ihn pulſieren fühlte,. ..
das war aber mein eigenes Blut, dem er ein Echo
gab. Und nun fühlte ich gar nichts mehr, ich hörte
nur. Jener heulende Pfiff der Maſchine gellte in
meinen Ohren weiter, und ich glaubte tauſend Hämmer
zu hören, deren betäubende Schläge im Begriff ſtanden,
den ganzen Berg zu zertrümmern. Es ging in einem
vierſilbigen Rhythmus, die erſte Silbe immer am
ſchärfſten und hellſten, ſo daß ſie förmlich ſchmerzte,
.. tik tak tak tak, tik tak tak tak, und fo fort, tage—
lang, jahrelang, wie mir ſchien. Ich gab mich ver—
loren und hatte nur Bewußtſein für eines auf dieſer
Welt: für die Schmalheit des Tunnels. Wenn ich
mich recht an die Wand klebte, die glücklicherweiſe ge—
rade an dieſer Stelle etwas eingebaucht war, konnte
das unſichtbare, heulende, ſchnaubende Etwas, deſſen
heißen Atem ich bereits fühlte, vielleicht an mir vor—
beikommen, ohne mich zu erdrücken oder mich mit einer
ſeiner fuchtelnden Eiſenſtangen zu zerreißen. Und ich war
damals ſo dick! Ach, wenn ich damals ſo hager ge—
weſen wäre, wie jetzt! Aber ich hatte ein ſtattliches
— 224 —
Embonpoint, ich war im Hochrelief gearbeitet, und das
konnte jetzt mein Verderben werden . .. Weiter wußte
ich nichts. Ich könnte Dir heute nicht ſagen, wie die
Sache abgelaufen iſt. Der Zug ſchob ſich langſam an
mir vorüber, ohne daß ich genau wußte, wann und
wie; ich war halb bewußtlos, aber unverſehrt. Nur
meine Stiefel zeigten ſich etwas angeſengt von Funken,
und eine Rußſchichte bedeckte mich vom Kopf bis zu
den Füßen. ... Erſt nach und nach gewann ich Be—
wußtſein und Beweglichkeit wieder. Ich ſchwankte
aus dem Tunnel hinaus und geradenwegs in den Gaſt—
hof zurück. Dort empfing man mich wie einen Fremden.
Der Padrone fragte mich, ob ich eine Stube wünſchte.
„Ich habe ja ſchon eine,‘ entgegnete ich. Er rief den
Kellner und fragte ihn, wann ich angekommen wäre.
Der Kellner wollte auch nichts von mir wiſſen. Da
fiel mein Blick in den großen Spiegel des Veſtibuls
und .. . ich erkannte mich ſelbſt nicht. Ich ſah das
Spiegelbild eines langen, hageren Herrn. Ich glaubte
verrückt zu ſein und griff krampfhaft an meinen Kleidern
umher, ſie waren mir um das Doppelte zu weit, be—
ſonders das Beinkleid. . . .“
Beide lugten ſcharf nach Miß Nigg hinüber;
„Beinkleid“, ein ſo unausſprechliches Wort, davon
mußte ſie doch zuſammenzucken, oder wenigſtens er—
— 225 —
röten. Aber ſie ſchien nicht zu hören; während dieſer
ſpannenden Erzählung hatte ſie das Feuilleton zu Ende ge=
leſen und ſtudierte nun ein großes Inſerat über Serbenloſe.
„Ja wohl,“ rief Anton, „dick war ich in den
Tunnel eingetreten, mager trat ich heraus. In einer
Minute hatte mich die Angſt mager gemacht.“
„Unglaublich!“ ſagte Theodor aufatmend.
„Aber wahr,“ erwiderte Anton. „Du weißt ja,
daß man plötzlich grau werden kann; warum nicht
auch mager? Und dann ... der Wille! Lies nur
Schopenhauer; Wille iſt alles. Der feſte, konzentrierte
Wille, mager zu werden, unter dem Druck der drin—
gendſten Lebensgefahr, mag wohl in einzelnen Fällen
ſeinen Zweck erreichen. Nach Kant kann man durch
den Willen ſogar einer Krankheit Herr werden. Nun
denn, ich habe gewollt.“
Er ſchwieg.
Theodor ſchwieg auch.
Miß Nigg las eben mit geſpannter Aufmerkſam⸗
keit die Bezugsbedingungen der Serbenloſe ... Und
ihr Näschen war ſo fein, und im Kinn hätte ſie bei—
nahe ein Grübchen gehabt. Das war denn doch ſo—
zuſagen ärgerlich.
„Das mit dem Grauwerden kann ich beſtätigen,“
hub nun Theodor an. „Ich bin das lebendige Bei—
Heveſi, Buch der Laune. 15
— 226 —
ſpiel dafür. Achtunddreißig Jahre und eisgrau. Es
iſt mir wahrhaftig beinahe ſo ergangen wie Dir.“
„Auch ein Tunnel?“ rief Anton etwas gering⸗
ſchätzig, wegen der vermeintlichen Nachahmung.
„Warum nicht gar!“ verwahrte ſich Theodor.
„Ein Tunnel iſt dagegen ein Kinderſpiel.“
„Oho!“ ſteifte ſich jetzt Anton, „meinen Tunnel
laß Du nur ſchön ungeſchoren, denn der geht von
Kiſſingen bis Marienbad.“
„Und meine Patrone ſprengt Dich gar ins Jen—
ſeits hinüber.“
„Welche Patrone? Du haſt doch keine bei Dir?“
„Leider nicht bei mir, ſondern in mir.“
„Unglückſeliger! Du wirſt ſie doch nicht ver—
ſchluckt haben?“ i
„Leider hab' ich das gethan.“
„Dynamit?“
„Gott ſei Dank, nur Pulver ... Es war vor
drei Jahren, auf dem Lande, wir unterhielten uns mit
Piſtolenſchießen nach der Scheibe. . .. Ich warne Dich,
liebſter Anton; thue mir den einzigen Gefallen und
nimm niemals eine Patrone in den Mund. Du ver-
ſäumſt es ja nicht und wirſt noch immer raſch genug
geladen haben. Verſprich mir das, beſter Anton; da,
gieb mir die Hand darauf.“ |
— 227 —
Feierlich ſtreckte er ihm die Hand hin und feier⸗
lich ſchlug Anton ein.
„Als ich das Ding unten hatte,“ fuhr Theodor
fort, „hielt ich meinen Tod für nahe bevorſtehend. Ich
blieb unbeweglich ſitzen, bis der Arzt kam, denn ein
Erſchüttern der Zündmaſſe, wenn ich mich rührte, konnte
ja die Patrone zum Losgehen bringen.“
„Armer Freund,“ ſagte Anton und wiſchte ſich
das eine Auge.
Der Arzt kam und gab mir die gebräuchlichen ...
Miktel
„Beide ſchielten in die Ecke hinüber, um ſich von
der Wirkung dieſer Mittel zu überzeugen. Da lag
nun Miß Nigg in der Ecke und ſchlummerte. Sie
hatte ſich ein rotes maroquinledernes Kiſſen unter den
Nacken geſchoben, und vom roten Leder ging ein roſiger
Wiederſchein über die entſprechende Wange; die andere
aber war jo weiß wie vorher, ſamt dem Ohre, . ..
einem ganz bemerkenswert niedlichen Ohre, das den
unwillkürlichen Wunſch erregte, nachzuſehen, ob denn
auch das andere ſo hübſch geraten ſei.
„Die Mittel fruchteten nichts,“ fuhr der ent—
täuſchte Erzähler fort, etwas lauter, als durchaus nötig,
ſo daß die Schlummernde erwachte. Das war wieder
etwas ganz Überraſchendes, beſonders für Anton.
— 228 —
„Jede andere wäre nicht erwacht,“ flüſterte er,
„das heißt, ſie hätte ſo gethan; und ich glaubte auch,
daß unſere Miß den Schlummer nur heuchelte; aber
ſiehe da, ſie muß wirklich geſchlafen haben, da ſie auf
Dein lautes Wort erwacht iſt. Sollte ſie eine von
jenen Engländerinnen ſtrengſter Obſervanz ſein, welche
wirklich imſtande ſind, ſich in ſich ſelbſt einzuknöpfen
und die ihnen nicht offiziell vorgeſtellte Außenwelt als
thatſächlich nicht vorhanden zu betrachten?“ ...
„Und wenn ſie nur naturgetreuer heuchelte?“
wandte Theodor ein. „Doch höre weiter . .. Seit
drei Jahren lebe ich mit dieſer Patrone im Leibe. Ich
habe mein Teſtament gemacht, da ich nicht weiß, in
welchem Augenblick ſie losgehen wird.“
„Um Gottes willen, nur jetzt nicht!“ rief Anton
erſchreckt. |
„Wie Gott will,“ entgegnete Theodor mit der
Reſignation des geprüften Weiſen.
Unglaublich; auch die Ausſicht, daß ihr Nachbar
plötzlich wie eine Bombe platzen könnte, machte keinen
Eindruck auf Miß Nigg, welche jetzt den Leitartikel
über die bulgariſche Regentſchaft las. Der Nachbar
war eben ein Fremder, von dem fie als Muſter eng-
liſcher Ehrbarkeit ſelbſt „wenn geſchoſſen wird“ keinen
Vermerk nehmen durfte.
.
„Ich habe nicht nur die erſten Arzte, ſondern
auch die berühmteſten Waffenfabrikanten zu Rate ge⸗
zogen,“ fuhr Theodor fort, „und mein Leben nach
ihren Anſichten eingerichtet. Ich gehe nie in ein Ge—
dränge, um nicht unverſehens einen Stoß vor den
Magen zu bekommen, der zur Patrontaſche geworden
iſt. Ich eſſe auch nichts Saures oder Gewürztes, um
das Roſten der Kupferkapſel nicht zu befördern, da
nach ihrer Zerſtörung der Zündſatz offen daläge. Ich
nehme keine metalliſche Arznei, da ſchon eine Metall-
ſpur genügt, um Kupfer brüchig zu machen. Kurz, ich
lebe im Vorzimmer der Ewigkeit, ich antichambriere
bei Sr. Majeſtät dem Tode... Darüber bin ich auch
ſo grau geworden.“
„Armer Freund,“ murmelte Anton im tiefſten
Baß des Mitleids und wiſchte ſich jenes Auge, das
er ſich vorhin nicht gewiſcht hatte.
Miß Nigg las ſoeben den Reichsratsbericht; daß
ſie ihn wirklich las, merkte man daran, daß ſie ſich
ein Lorgnon vorhielt, denn der Bericht war kleiner
gedruckt, als die Artikel.
Die beiden Intriganten waren über dieſes Ver⸗
halten oder vielmehr über dieſes abſolute Nichtver—
halten höchſt mißmutig. Theodor wollte ſich nicht
weiter anſtrengen. Anton aber gab noch immer nicht
— 230 —
nach, ſondern begann vom Jahre 1874 zu ſprechen,
in dem er ſeine erſte Million fertig gehabt habe. Und
da Miß Niggs Reichsratsbericht ſich ſehr lang erwies,
gab er ſodann noch die Biographie ſeiner zweiten und
dritten Million, obgleich der böſe Mann nicht einmal
die erſte ganz beſaß. Miß Nigg würdigte auch dieſe
Millionen keines Seitenblickes, ſo daß Anton ſchließlich
auf ein Thema überging, das ſeiner Meinung nach bei
jedem Weibe ohne Ausnahme verfangen mußte. Näm⸗
lich auf den Schmuck. Er beſchrieb mit unerwünſchter
Genauigkeit die Brillanten ſeiner ſeligen Mutter, welche
nun im Dunkel einer eiſernen Kaſſe das Funkeln ganz
verlernen müßten, und wies ſogar, um den Eindruck
noch zu verſtärken, den Schlüſſel dieſer Kaſſe vor.
Jetzt endlich ſchien das Eis bei Miß Nigg ge—
brochen, denn ſie erhob ſich. Aber nur, um ſich leicht
zum Fenſter hinauszuneigen und die Lage von Linz
beſſer zu ſehen, wo man eben eintraf.
In Linz ſtieg Theodor aus, unter vielen Um-
armungen.
„Wenn ich wieder nach Wien komme, ſuche ich Dich
jedenfalls auf; hoffentlich haſt Du dann ſchon ein braves
Weibchen im Hauſe und einen nahrhaften Mittagstiſch,
aber für mich ohne Saures und Gewürztes, wenn ich
bitten darf ... wegen meiner Patrone.“
de
„Damit hat's keine Not,“ lachte Anton, „ich
müßte nur eine finden, ſo wie ich ſie Dir auf dem
Weſtbahnhof negativ geſchildert habe.“
„Anton!“ 5
„Theodor!“
Und in den Armen lagen ſich beide, als wären
ſie noch immer von Friedrich Schiller.
Und doch waren ſeit jener erſten Begegnung drei
Jahre verfloſſen.
„Wie, Anton, Du haſt Dir Dein Embonpoint
aus Carrara noch immer nicht nachkommen laſſen?“
„Und Du, Theodor, biſt noch immer die alte
Patrontaſche? Alle Wetter, Du mußt das bißchen
Pulver und Blei ja längſt verdaut haben.“
Sie freuten ſich in der That ſehr, daß ſie wieder
einmal wohlbehalten in einem Bahnhof zuſammentrafen,
diesmal in dem von Linz, und eine Strecke weit mit
einander reiſen ſollten. Ach, die Welt iſt doch ſo weit—
ſchichtig; die beſten Freunde treffen ſich darin nicht.
Von Wien nach Linz waren es für ſie netto dreimal
dreihundertfünfundſechzig Tagereiſen geweſen.
Und als ſie denn traulich im Coupé ſaßen und
das Geplauder im Gang war, rief Theodor plötzlich:
„Potz Wetterchen! was wohl aus unſerer da—
— 232 —
maligen Reiſegefährtin geworden ſein mag, der hübſchen
Perſon, wie hieß fie nur? Miß Pegg . . . oder
Nagg
„Nigg! Nigg!“ verbeſſerte Anton etwas unwirſch.
„Richtig, Miß Nigg!“ ſtimmte Theodor zu.
„Eine recht ſaubere Perſon, kann ich Dir ſagen; und
gar nicht unintereſſant mit ihrem ſteifleinenen engliſchen
Weſen. Ich begreife es noch heute nicht, wie ſie bei
unſeren ſchrecklichen Scherzen ſo ſtandhaft bleiben konnte.“
„Ich begreife es nur zu gut,“ brummte Anton.
„Ei ſieh, ei ſieh! Richtig, Du biſt ja damals
bis Salzburg mit ihr gefahren, während ich ſchon in
Linz ausſtieg. Nun, ich wäre wahrhaftig lieber auch
mitgefahren; die Kleine intereſſierte mich doch ein
wenig.“
„Mich auch . . . Das hat ſich aber ſeitdem ge-
geben. Ich bin von ihr geſchieden.“
„Natürlich; in Salzburg, wo die Reiſe zu Ende
war.“
„Nein, in Wien; gerichtlich.“
Theodor ſtarrte ihn mit offenem Munde an und
ſtammelte dann: „Du haft Miß Pegg ge... hei...
tan. bet 2%
„Nicht Pegg; Nigg,“ berichtigte Anton und jeufzte
dann: „Ja wohl; gründlich.“
388 —
„Und Du haſt mir das nicht einmal mitgeteilt?“
„Ich . . . ich; um die Wahrheit zu geſtehen, ich
war auf Dich eiferſüchtig. Sie ſchwatzte mir in einem
fort von Dir und daß eigentlich Du der richtige Mann
für ſie geweſen wäreſt.“
„Der liebe Schatz! Sie hat mir aber auch gleich
jo beſonders gut gefallen. Dieſes feine Näschen ...
und die winzigen Füßchen ...“
„Die Du damals ſo groß fandeſt, ohne daß ſie
ſie deshalb verſteckte. Oh, das war eine Heuchlerin,
ſag' ich Dir, wie ich noch keine geſehen. Stelle Dir
nur vor, was geſchehen, nachdem Du uns verlaſſen
hatteſt . . . Sie ſah mich noch immer mit keinem Auge
an. Eine halbe Stunde fuhren wir ſtumm dahin, da
fiel mir plötzlich ihre Börſe ein, die ich alle die Zeit
her in der Taſche trug. Am Ende vergaß ich ganz
und gar daran und fie kam dadurch in Geldverlegen—
heit. Das war entſcheidend. Ich alſo faßte mir ein
rechtes Herz; weiß der Himmel, ich brauchte einen be—
ſonderen Mut dazu; ihre Unnahbarkeit, . .. ſie ſaß Dir
da, wie von einer unſichtbaren Mauer umgeben, an
der ich mir den Kopf zu zerſchellen dachte. Kurz und
gut, ich unternahm es auf jede Gefahr hin, ſtand auf,
trat zu ihr hin und ſagte, ich weiß nicht mehr was,
während ich ihr die ſchwere Börſe reichte. Sie...
— 234 —
nimmt die Börſe, offenbar ſehr überraſcht, ja ſozu⸗
ſagen erſchrocken, ein flüchtiges Rot zuckt über ihre
Wangen und eine Sekunde lang ſieht ſie mir in die
Augen. Sie weiß augenſcheinlich nicht, was ſie in
dieſem Falle thun ſoll, beſinnt ſich aber plötzlich und
tritt an das Notſignal heran, welches in der Coupé⸗
wand angebracht iſt.“
„Aber Du hältſt mich zum beſten!“
„Keineswegs. Haſtig ſtößt ſie mit dem Finger
die dünne Papierſcheibe desſelben ein, die Feder da-
runter weicht ... und in zwölf Sekunden hält unſer
Eilzug, mitten auf freiem Felde. Miß Nigg wird
unterdeſſen bald rot, bald bleich, und ich ſtehe da,
keines Wortes mächtig. Kontrolor und Schaffner
kommen gelaufen und gucken, da nirgends um Hilfe
gerufen wird, in jedes Coupé, um zu ſehen, wo die
Scheibe des Notſignals eingeſtoßen worden. Unſere
Thür wird aufgeriſſen, die beiden ſtürmen herein und
meſſen mich gleich mit einem vernichtenden, ganz poli—
zeilichen Blick, denn ſie können nur annehmen, daß
ich mir etwas ganz Unerlaubtes erlaubt habe. Aber
Miß Nigg zerſtreut dieſen Verdacht ſofort, indem
ſie dem Schaffner ſagt: „Ach bitte, wollen Sie
dieſem Herrn gefälligſt in meinem Namen ſagen: ich
danke!“
— 235 —
„Teufel! Teuſel! Da iſt ſie denn ordentlich ins
Gebet genommen worden, wie?“
„Das will ich meinen. Ein wahres Verhör
ſtellten ſie mit ihr an und fie mußte ſogleich eine Kon—
ventionalſtrafe — ſo nannten ſie's — von zehn Gulden
erlegen, in Salzburg aber noch überdies vor dem Be—
zirksgericht erſcheinen, um ſich wegen Übermut3 —
wie man es nannte — zu verantworten. Und es war
doch eigentlich Mangel an Übermut, nicht wahr? oder
ſah wenigſtens danach aus. Das Bezirksgericht wollte
ſie auch wirklich zu fünf Gulden verdonnern, gab je—
doch zuletzt ihrer Verteidigung Folge, daß fie als an—
ſtändiges, ſtreng engliſch erzogenes Mädchen mit einem
ihr niemals vorgeſtellten Herrn nicht habe ſprechen
dürfen ... Was ſoll ich Dir weiter ſagen? Dieſe
ſtrenge, wenn auch allzu ſtrenge Auffaſſung des nach
ihren Begriffen Schicklichen imponierte mir gewaltig.
So etwas war mir noch nicht begegnet. Ich ſetzte
die Bekanntſchaft fort. Miß Nigg verzichtete auf ihre
angenehme Stellung als Geſellſchafterin der Fürſtin
Schönhof in Salzburg und wurde nach drei Monaten
meine Frau.“
nid dam 2.
„Warum wir uns geſchieden haben? Ach, man
ſpricht nicht gern davon. Es ging nicht anders. Sie
— 236 —
hatte damals, auf der Reiſe, ihre Rolle gut geſpielt.
Eine vollkommene Schauſpielerin, ſag' ich Dir. Ich
glaube, ſie hatte ſich die ganze Rolle ſchon ſo zurecht—
gelegt, als ſie in der Bahnhof-Reſtauration an unſerem
Tiſche meine Bemerkungen über die Weiber und über
das Heiraten hörte. Und es iſt der Schlange ge—
lungen. Als wir einmal verheiratet waren ...“
Er ſtockte.
„Laß gut ſein,“ unterbrach ihn Theodor, aus
Schonung. Nach einer Weile aber konnte er nicht
umhin, noch eine Frage zu ſtellen: „Du, lieber Anton,
nur noch eins.“
„Frage nur zu.“
„Du ſagteſt, ſie habe erklärt, ich wäre der rich—
tigere Gatte für ſie geweſen.“
„Ja wohl; ſie glaubte nämlich, Du habeſt jene
Patrone wirklich verſchluckt und Du würdeſt eines
Tages ...“
„In die Luft gehen und fie als Witwe zurüd-
laſſen? Dieſe Petroleuſe! Dieſe Dynamitarde! Nun,
ich werde mir den Fall gut merken und nie wieder
mit einer Dame ſprechen wollen, die mit mir nicht
ſprechen will.“
Domenico Fanulla.
Eine buchſtäblich wahre Gelchichte.
(1874.)
SA N
1
Br
NL eine Wiege, wenn er je in einer gelegen,
ꝶõꝙ Q2 hätte an dem ſchönſten Plätzchen dieſer
SE, Welt geſtanden, am Ufer des Buſens von
Neapel. Aber ſeine Wiege war nur der warme Sand
des Meeres, ein Wiegenlied ſangen ihm die Wellen
der blauen Meerflut, auch ſeine Amme war das Meer,
denn ihre Muſcheln ſog er aus als Nahrung, ja das
Meer war ihm vielleicht auch Vater und Mutter, —
wenigſtens hat er nie andere Eltern gekannt.
So ein armer Lazzarone wird geboren, er weiß
nicht: wie. Noch weniger weiß er: wo. Und am
allerwenigſten weiß er: von wem. Es iſt das ſo eine
Art Urzeugung, ein Entſtehen ohne Eltern, deſſen Mög—
lichkeit freilich die Naturwiſſenſchaft leugnet.
Niemals hat ein Menſch ſeinen Namen mit größerem
Rechte geführt als Domenico Fanulla. Iſt doch Do—
menico ohne jeglichen Zweifel das Masculinum von
— 240 —
„Domenica“, welches „Sonntag“ bedeutet, und war
doch Domenicos Leben eine ewige Domenica, ein immer—
währender Sonntag, der nur hie und da angenehm
belebt wurde .. .. durch einen Wochentag? Ach nein,
durch einen Feiertag! Und Fanulla, ei, das Wort
bedeutet „Thunichts,“ und welcher Familienname wäre
wohl paſſender für einen geborenen Nichtsthuer, als
Fanulla, der Familienname, den die ganze, ſo viele
Tauſend Köpfe zählende Lazzaronifamilie Neapels
führen ſollte?
Wovon lebte denn aber Domenico Fanulla?
Mein Gott, von nichts. Und an großen Feſt⸗
tagen, wo er ſich ein Extra-Bene anthun wollte, ohne
Zweifel von gar nichts.
Dieſe Söhne des Lazarus leben von nichts und
werden mitunter ſogar fett davon. Auch unſerem
Manne that dieſe karge Lebensweiſe ſehr gut. Er
beſaß eine hohe ſchlanke Geſtalt, kräftige Muskeln,
elaſtiſche Sehnen, ein ſchwarzer Vollbart umrahmte
prächtig ſein Geſicht, welches gebräunt war von der
Sonne Parthenopes, von dieſer goldenen, warmen,
noch immer großgriechiſchen Sonne.
Er wußte ſich auch danach zu kleiden. Er trug
Maſaniellos phrygiſche Mütze mit jener unbewußten
Gefallſucht, die dieſem Menſchenſchlag im Blute liegt.
— 241 —
Eine phantaſtiſche Tracht, welche der Zufall launenhaft
genug zuſammengewürfelt, deckte ſeine Glieder, ein
Nationalkoſtüm von nirgendwo, welches aber ganz echt
wurde durch die behaglich freie Art, wie er ſich darin
bewegte.
Domenico hatte auch einen Sohn. Ob er je ein
Weib gehabt, wußte er wohl ſelbſt nicht. Übrigens
war es ja auch nicht ausgemacht, daß der Knabe
Cecco wirklich Domenicos leiblicher Sprößling ſei.
Vielleicht hatte er ihn auf der Straße gefunden und
nicht mehr zurückgegeben. Vielleicht hatte er ihn ge—
ſchenkt bekommen, als Trinkgeld. Chi lo sa?
Genug: Domenico war der Vater, Cecco war der
Sohn. a
Beide ſpielten auf dem Dudelſack und hätten ſich
ganz gewiß wie tauſend andere in Italien als Pifferari
durchs Leben ſchlagen können, hätte nicht Lazzaroni—
blut in ihren Adern gerollt, welches ſich überhaupt
nicht durchs Leben ſchlägt, ſo lange es auch mit dem
Durchſchlüpfen geht. Aber nachts, wenn Diana auf
ſilbernem Wagen durch die dunkelblauen Höhen des
neapolitaniſchen Himmels dahinfuhr und ihr liebliches
Bleichgeſicht in den phosphoriſch ſchimmernden Tiefen
des Golfes widerſpiegelte, hatte Domenico Fanulla
der milden Göttin oft ſchon Serenaden gebracht, welche
Heveſi, Buch der Laune. 16
— 242 —
einen weiten Kreis von Zuhörern aus den Fremden—
vierteln von Chiatamone, Santa Lucia und der Chiaja
um ihn verſammelten und ſtets einen kleinen Silber—
regen zur Folge hatten.
„Luna bedeutet Silber,“ pflegte er dann ſchmun⸗
zelnd zu ſagen, eines Abends aber bedeutete Luna
ſogar Gold.
Ein fremder Signore, ein „Signor Tedesco“,
der weit her aus „Germania“ kam, wo es ſo kalt
iſt, daß gar keine Maccaroni wachſen können, hatte
Domenico Fanulla ſamt Cecco, dem Monde und dem
Dudelſack erblickt und die ganze Geſellſchaft zu ſich
beſchieden. Der Mond freilich kam nicht, die übrigen
aber ließen ſich nicht zweimal bitten, und jener Signore
malte ſie dann mit Farbe auf Leinwand ab — nicht
einmal, ſondern zwanzigmal — und zahlte ihnen da—
für gelbes Gold.
Gelbes Gold war unſerem Domenico nicht gerade
zuwider, ſofern er nur nichts dafür zu thun brauchte,
als ſtill zu ſtehen, welche Arbeit ihm von allen die
angenehmſte war, das Stillliegen ausgenommen. Aber
mit der Zeit nahm die Goldernte ein Ende, der Signor
Pittore reiſte zurück in die kalte „Germania“, wo die
Tedeschi wohnen, und Trauer zog ein in das Herz
und den Sack Domenico Fanullas. Die erſte Thräne,
— 243 —
die er je vergoſſen, galt dem Abſchied vom deutſchen
Künſtler, ſo daß dieſer den Einfall hatte, ihm einen
praktiſchen Vorſchlag zu machen. |
„Weißt Du was, Domenico? Nimm Deinen
Dudelſack und Deinen Cecco und geh nach Deutſch—
land in die Stadt, die da heißt München und be—
wohnt wird von Leinewandbekleckſern und Farbenver—
ſpritzern. Laß Dich von ihnen malen und Du wirſt
ein reicher Mann werden. Geh als Lazzarone und
kehre als Nabob zurück.“
Der Deutſche reiſte ab und ſein Rat wollte nicht
mehr weichen aus dem Gehirn Domenicos. Das Gold—
land im fernen Norden jenſeits der Alpen ſuchte ihn
in ſeinen Träumen heim, an den ſo viel herrlicheren
Geſtaden ſeiner ſonnigen Heimat. Und eines Tages
brach er mit Cecco auf nach dem germaniſchen El—
dorado. f
Nach mancherlei Kreuz- und Querfahrt trafen die
beiden glücklich am Ufer der rauſchenden Iſar ein. Als
ſie zum erſtenmal in ihrem ſeltſamen Aufzug vor dem
Café Maximilian erſchienen und ihre nationalen Weiſen
zu ſpielen begannen, ging eine tiefe Bewegung durch
ganz München. Alle Künſtlerkreiſe gerieten in Auf⸗
ruhr. Alles, was einen Pinſel führte, eilte herbei,
drängte ſich an die beiden Pifferari heran, bot ihnen
— 244 —
ſchweres Geld, wenn ſie als Modelle ſtehen wollten,
und bald hatte Domenico Fanulla nicht mehr nötig,
Muſik zu machen, ein Hagel von ſchweren Silber—
gulden “) praſſelte auf ſein glückliches Haupt nieder,
und dafür hatte er wiederum nichts zu thun, als fein
ſtille zu halten.
Seine in allen Abſchattungen von Rot, Gelb
und Braun ſpielende neapolitaniſche Fiſchermütze mit
der bleiernen Madonna daran, ſeine ſchäbige, zerſchliſſene
Sammtjacke, deren unerklärliche Farbe die begabteſten
Koloriſten der Piloty-Schule ſchier zur Verzweiflung
brachte, ſeine mit tauſend Flicken und Flecken geſchmückte
Hoſe, an welcher ſich bereits für jede mögliche Be—
wegung ihres Inhabers ein beſonderer naturnotwendiger
Faltenwurf organiſch herausgebildet hatte, dann das
herrlich zerfetzte Schuhwerk mit den kreuz und quer
gehenden Lederriemen, das alles war ſo maleriſch und
göttlich, daß die geſamte Münchener Malerwelt dafür
Feuer und Flamme war.
Und was war das alles noch gegen den wunder—
baren Schafpelz des Knaben Cecco! Dieſes uralte
Lammfell, die rauhe Seite nach außen gekehrt, durch
Fett, Regen, Staub, Flecke aller Art mit einem herr⸗
!Unſere Geſchichte ſpielt nämlich in den ſechziger Jahren.
5
lichen, unvergleichlichen Schmutz durch und durch ge—
ſättigt, mit einer wahren Patina von unverfälſchteſter
Unreinlichkeit bedeckt, — dieſes unbezahlbare Objekt
war das köſtlichſte Stück im ganzen Inventarium der
beiden Pifferari.
Die ganze Münchener Akademie malte damals
nichts als Pifferari. Alle Kunſtausſtellungen waren
überſchwemmt mit den Bildniſſen von Domenico und
Cecco. Wo man nur hinſah, überall erblickte man
das koloriſtiſche Rätſel der Jacke Domenicos und den
göttlichen Schmutz des Ceccoſchen Schafpelzes. Die
berühmteſten Münchener Maler von heute, oder doch von
geſtern, wetteiferten damals in der Nachahmung dieſer
koſtbaren Vorbilder und überboten ſich gegenſeitig an
geiſtreicher Auffaſſung des Schafpelzſchmutzes und effekt—
voller Wiedergabe der Hoſenflicken. Und als jeder
Münchener Maler die beiden Pifferari ein dutzend—
mal abkonterfeit hatte, erkundigten dieſe ſich, ob es
in „Germania“ außer München auch noch andere
Städte gebe, und in dieſen andere Kunſtakademien.
Und auf die bejahende Auskunft hin traten ſie eine
Rundfahrt an durch ganz Deutſchland, und an allen
Akademieen wiederholten ſich die Münchener Scenen.
Im Laufe einiger Jahre war Domenico Fanulla
ein wohlhabender Mann, ein wahrer Kröſus unter
— 246 —
den Lazzaroni. Da regte ſich in ihm das Heimweh.
Fort wollte er aus dem nebligen Norden, zurück in
die herrliche, warme Bucht, in welcher ewiger Sonnen-
ſchein herrſcht und alle Reize des Paradieſes vereinigt
ſind. Dort, wo er von allen gekannt war, wollte er
nun auch von allen beneidet und hochgeachtet werden
und ſein Leben als Lazzarone beſchließen, aber als
reicher Lazzarone, der es eigentlich nicht nötig hat.
So wechſelte er denn alles Geld, das er in
Deutſchland verdient hatte, in ſchöne blanke Goldſtücke
um, deren er bereits ein paar Hundert beiſammen
hatte. Welch nagende Sorge, dieſe fo ſicher als mög—
lich unterzubringen! Ach, wo findet einer ein Ver⸗
ſteck, in dem kein menſchlicher Vorwitz den goldenen
Schatz ahnen kann!
Domenico Fanulla trennte das Jutter feines
ſchäbigen Rockes auf und nähte alle die hundert und
aberhundert Goldfüchſe, jeden beſonders, aufs ſorg—
fältigſte in den Rock ein. Das war unſtreitig der
koſtbarſte Rock, den je ein Lazzarone getragen, durch
und durch mit goldenem Speck geſpickt, ſchwerer als
der ſchwerſte Sammtſtoff, und dabei ſo unſcheinbar
und ärmlich von Außen, daß niemand den leiſeſten
Verdacht ſchöpfen konnte.
Auf der Heimreiſe ſchwelgte Domenico in groß—
— 247 —
artigen Phantaſien. Nun wollte er ſein lebelang
Maccaroni eſſen vom frühen Morgen bis in die ſpäte
Nacht und jeden Tag eine Flaſche roten Capri trinken
und aus einem neuen Thonpfeifchen ſeinen Tabak
rauchen. Einen Augenblick dachte er auch daran, vom
Könige von Neapel die Villa Reale zu mieten und
darin zu wohnen, aber dies ſchien ihm dann für ſeine
jetzigen Verhältniſſe doch zu ärmlich, und er ſann hin
und her, ob er ſich für ſein Geld das Königreich Neapel
kaufen ſolle, oder das Königreich Sizilien, oder gar beide.
Unter den wonnigſten Gefühlen fuhr er nach ſo
langer Abweſenheit wieder ein in den Meerbuſen ſeiner
Sehnſucht und betrat freudeſtrahlend den Boden ſeiner
Vaterſtadt.
Die königlichen Zollwächter, welche damals noch
alle Eingänge in „beide Sizilien“ bewachten, nahmen
ihn in Empfang. Nach der Sitte jener Zeit durch—
ſuchten ſie nicht nur ſein Bündel, ſondern betaſteten
ihn auch um ganzen Leibe nach ſtaatsgefährlichem
Schmuggel. Ach, beim Betaſten fühlte die Hand des
Zöllners viele runde, auffallend harte Gegenſtände im
Rocke des Ankömmlings. Ohne viel Federleſens ein
Riß in den Rock, . . . ha! ein Goldſtück rollt heraus,
gefolgt von anderen, von vielen, ſehr vielen Gold—
ſtücken. Immer neue Riſſe, immer neue Goldſtücke.
— 248 —
Alle Douaniers, ſo viele ihrer ſind, ſtürzen herzu,
den „Aktionsmann“, den Garibaldianer, den Camor—
riſten, den Carbonaro, kurz, den Verbrecher zu um—
ringen und die „revolutionären Subſidien“ ihm ab—
zunehmen. Und ehe der arme Domenico von ſeinem
erſten Entſetzen zu ſich kommen konnte, war ſein ganzer
Rock zerfetzt und zerfaſert und ſämtliche Goldfüchſe
waren davongerollt, wer könnte ſagen, in wie viele
Taſchen.
Nachdem die Zollwächter beider Sizilien den
armen Lazzarone nach damaliger Sitte und Gepflogen—
heit „unſchädlich gemacht“ hatten, ließen ſie ihn gnädig
laufen und ſchärften ihm ein, ſich ſeinen Galgen anders—
wo zu verdienen, da ihm nur dies einemal noch ver—
ziehen ſein ſolle.
Und ſo betrat der arme reiche Lazzarone das
Pflaſter ſeiner heißgeliebten Vaterſtadt um einen ganzen
Rock ärmer, als er dasſelbe vor Jahren verlaſſen,
und er kaufte ſich weder das Königreich Neapel, noch
das Königreich Sizilien, noch alle beide, welche ſeit—
dem bekanntlich der König von Piemont erworben
hat, ja er mietete ſich nicht einmal in der Villa Reale
ein, ſondern ging wieder hinab an den Strand von
Santa Lucia und ſchlürfte Meermuſcheln und ſonnte
ſich im Sonnenſchein, welchen der Staat Italien glück—
— 249 —
licherweiſe noch nicht beſteuert hat, und brachte der
ſilbernen Luna Serenaden wie vor Jahren, nur frei—
lich in einer etwas melancholiſcheren Tonart als damals.
„Ein Lazzarone darf nicht reich werden“, das
iſt ſeitdem die unerſchütterliche Überzeugung Domenico
Fanullas.
2
Maria Schrein.
Eve weltbihe legenoe
(1888.)
ung
F ES
Zar ser fennt nicht Maria Schrein? Hoch über
Sul, dem Thal ſteht es, wie auf einem Altar.
Ir Se 5 Hinter ihm hebt ſich dunkelſchattiger Berg—
ai hoch und höher, vor ihm ſenkt ſich hellſonnige
Grashalde tief und tiefer. Wie eine goldene Mon—
ſtranz ſteht das gelbe Kirchlein oben mit ſeinen zwei
Türmen, und ſein Glanz geht weithin durch das Land.
Und viele kommen im Sommer weither und holen
ſich Heil, ſoviel ſie für den ganzen Winter brauchen;
es iſt noch keiner umſonſt gekommen.
Neben dem Haus der Gnaden ſteht das Pilger—
haus mit den einfachen Betten ſeiner Schlafſäle und
den doppelten Stückfäſſern ſeines Kellers. Denn juſt
das iſt das richtige Verhältnis, haben noch alle ge—
ſagt, die daher gepilgert. Und der Hauspfleger Martin
kennt die Welt und weiß genau, weſſen Leib und
2
2
— 254 —
Seele bedürfen, um Arm in Arm im Lichte zu wandeln
durch die Finſternis des Erdentages.
Martin iſt noch jung, vor zwei Jahren erſt hat
er die Pflegerſchaft von ſeinem Vater übernommen.
„Wenn Du Dich nicht auskennſt in der Wirtſchaft,“
hatte ihm damals die Roſel geſagt, „ſo komm nur zu
mir herauf und ſag mir ein Wörtlein; ich geb' Dir
ſchon Beſcheid.“ Sie war nämlich die Bäuerin auf
dem Bühlhof, ein handfeſtes Weib, wie ihr Mann,
der Florian Bühlhofer, bezeugen konnte, denn er kannte
die Feſtigkeit ihrer Hand, und ein kreuzbraves Weib,
wie er gleichfalls bezeugen konnte, denn er hatte mit
ihr ſein rechtes Kreuz wegen der Bravheit. Und ſo
ging Martin ſchier jeden Abend zum Bühlhof hinauf
und ſagte der Roſel ein Wörtlein und ſie gab ihm
Beſcheid darauf.
Als dies ein Jahr lang ſo gegangen war, merkte
es die Kreszenz, die ledige Schweſter der Bäuerin.
Und als das zweite Jahr um war, merkte es endlich
auch der Florian Bühlhofer. Denn die Kreszenz war
noch ein halbes Kind, der Florian aber war ein Ehe—
mann, wie viele Ehemänner. Und da fragten ſich beide
im ſtillen, warum der Martin immerdar genau um
dieſelbe Stunde zum Florian heraufkomme, wann der
Florian zum Martin hinabgehe, um dort ſeinen Krug
25
zu trinken mit dem lahmen Briefträger Waſtl und dem
Schullehrer Thaddäus von Schreindorf unten. Mitt:
wegs, ungefähr beim Steg über den Kalchgraben, pflegten
ſich die beiden auf ihrem Gang zu treffen, und dann
ſagte wohl der Martin: „Dieſe ſakriſchen Leintücher
wollen nicht bleichen, muß wieder die Roſel fragen,“
oder auch: „Ob die Roſel wohl meint, daß es für
den Moſt beſſer wär', die Apfel noch acht Tag' auf
den Zweigen zu laſſen.“ Und dann pflegte der Florian
zu ſchmunzeln: „Ah ja, das Bleichen verſteht ſie,“
oder auch: „Glaub's wohl, beim Moſt kennt ſie ſich aus.“
Als ſich die Sache aber gejährt hatte, wurde die
Kreszenz weiß im Geſicht und immer weißer. Und als
ſich die Sache zweimal gejährt hatte, wurde der Florian
rot im Geſicht und immer röter. Sie aß immer weniger
und er trank immer mehr. Weil aber keines ein Wort
ſagte, kochte es nur um ſo heißer in ihnen, wie wenn
der Deckel feſt auf dem Topfe liegt.
An einem ſtockfinſtern Abend — es war beſonders
ſpät geworden — hatte Martin der Bäuerin noch auf
der Schwelle beim Abſchiednehmen eine ganze Litanei
zu ſagen. Man ſtand knapp vor dem Schnitt und
zwei Knechte hatten abgeſagt; ohne Zweifel handelte
es ſich um dieſe Verlegenheit. „Regnen wird's auch,“
ſagte Martin laut und warf einen Blick nach oben,
— 256 —
denn ihm war, als habe er Tropfen fallen geſpürt.
In der That waren etliche gefallen, denn oben im
Fenſter ihrer Dachkammer lag das „Kind“, die Kres—
zenz, und horchte mit gepreßtem Herzen hinab und
mit naſſen Augen.
Dann hörte ſie, wie man ſich unten küßte, und hörte
flüſtern: „Komm gut heim.“ Da ſtieg es ihr ſiedend
heiß bis in den Hals, ſie ballte die Fäufte in die
Nacht hinaus und murmelte tonlos: „Daß Du im
Kalchgraben lägſt!“ Gut, daß es ſo ſtockfinſter war;
ſie muß ja ausgeſehen haben wie eine Hexe, mit dieſer
grauſen Verwünſchung auf den Lippen.
Drunten ſchloß ſich die Thür. Schritte taſteten
vorſichtig durch die Nacht, thalwärts, ein beſchlagener
Stock ſtieß von Zeit zu Zeit an einen Stein. Noch
als jedes Geräuſch verſtummt war, lag die Kreszenz
im Fenſter und horchte ins Unſichtbare hinein. „Komm
gut heim,“ flüſterte es in ihr, „komm gut heim.“ In⸗
brünſtig wie ein Gebet dachte ſie es, als wollte ſie
ihren böſen Wunſch wieder gutmachen.
Die Nacht war ſo ſchwarz, ſo ſchwarz. Wenn
er nur ſchon über den Kalchgraben wäre! Sie würde
leichter atmen.
Jeſus Maria, was war das? ... Ein Schrei
in der Ferne. Dann Totenſtille.
— 257 —
„Ich hab's ihm angewünſcht! . . . Ich hab' ihn
umgebracht!“ jammerte ſie. Auch die Roſel hatte den
Schrei gehört und weckte ſchon die Knechte. Sie war
käſebleich und zitterte an allen Giedern. Sie faßte die
Kreszenz an beiden Händen krampfhaft, als müßte die
um den Hergang wiſſen, und ſtöhnte in Todesangſt:
w Wenn ich nur ſchon wüßt', ob's der eine iſt oder
der andere.“
Während die Knechte die Laternen anzündeten
und ſich mit Stangen und Stricken verſahen und einer
Leiter, die als Tragbahre dienen ſollte, kam der Bühl-
hofer heim. Er war betrunken und hatte das Hemd
auf der Bruſt zerriſſen. Er ſang aus heiſerer Kehle
und unterbrach ſich: „Drunten im Kalchgraben liegt
einer; weiß nicht wer.“ Mit der Fauſt, die vom
Kampfe her noch jetzt geballt war, ſtieß er ſein Weib
zurück und warf ſich angekleidet auf das Bett.
„Florian, was haſt Du gethan!“ ſchrie ihm die
Roſel ins Ohr. Aber er ſchlief ſchon, bleiſchwer, als
wäre er's, der da drunten lag im Kalchgraben.
2.
*
Wochen vergingen. Der Schnitt war vorbei, der
Herbſtanbau ſtand bevor. Im Pilgerhaus lag der
Martin noch immer und konnte keinen Finger rühren.
Heveſi, Buch der Laune. 17
— 258 —
Bis Mariä Himmelfahrt war er gar bewußtlos ge—
legen, wegen einer ſchweren Gehirnerſchütterung, wie
der Regimentsarzt aus der nächſten Garniſonsſtadt
ſagte. „Er hat ſich auf den Kopf getreten,“ ſagten
die Leute in Schreindorf. Er wäre wohl noch länger
ſo gelegen, wenn nicht die Kreszenz ihm geholfen hätte.
Wußte ſie doch, was ſonſt kein Menſch wußte:
daß ſie allein ſchuld an dem Unglück war. Sie hatte
es ihm ja angewünſcht in jener ſchrecklichen Nacht, wo
es in ihrem Herzen drin noch viel, viel ſchwärzer war
als droben am ſternloſen Himmel.
Schwer hatte ſie es gebüßt. Wie eine arme Seele
um Mitternacht ſchlich ſie ſeitdem umher. Sie ſchlief
nicht und aß nicht, ſie ging langſam ein, wie ein an—
geſchoſſenes Tier im Walde. Da kam der Tag Mariens,
und als die frommen Scharen von allen Seiten den
Hügel erklommen und die bunten Fahnen im Sonnen:
ſchein wehten und die Luft von ihrem „Ave, Ave, Ave
Maria“ klang, da ergriff es ſie mächtig, und ein
brennender Durſt nach Frieden trieb ſie in das Heilig—
tum. Sie beichtete dem Prieſter ihre Sünde, ſo ſchwarz
ſie war, und der Mann Gottes erleichterte ſie durch
Auflegung ſchwerer Bußen. Dann ward ihr ganz
wunderbar wohl . .. und auch dem Martin, denn ſiehe,
an dem Tage erwachte er plötzlich aus ſeiner langen
— 259 —
Nacht und wußte wieder von ſich und der Welt, und
lag nicht mehr da, „wie ein überfahrener Hund“, . ..
ſo drückte ſich nämlich der lahme Briefträger Waſtl aus.
Nur das mehrfach gebrochene Bein war noch
lange nicht heil. Aber auch da half die gute Ein-
gebung der Kreszenz, welche meinte, es ſei doch eine
Sünde, daß die Roſel noch kein wächſernes Bein auf-
gehangen habe am gnadenreichen Altare, da man doch
wiſſe, wie oft ſolches von Nutzen geweſen, und da doch
der Martin ſozuſagen ihretwegen . .. nun ja, ... denn
wenn er nicht an jenem Abend bei ihr ... wegen der
ausgebliebenen Ernteknechte natürlich ... Als jüngere
Schweſter wollte ſie nicht mehr ſagen.
Da ging die Roſel geſchwind hinunter, kaufte ein
wächſernes Bein, ſo groß wie ein Mittelfinger, und
hing es heimlich an den gnadenreichen Altar.
Und ſiehe da, ſchon wenige Wochen ſpäter konnte
der Martin an der Krücke zur Roſel hinaufhinken, ihr
Vergelt's Gott zu ſagen.
Die Kreszenz ſtand juſt am Brunnen und ſcheuerte
einen Milchkübel. Sie ließ ihn fallen und den Strob-
wiſch auch, als ſie jenen erblickte. Feuerrot wurde ſie,
ſogar an den bloßen Armen. Und fie trat ihm ent-
gegen, klopfenden Herzens, und rief: „Martin, biſt bös
auf mich?“
„„
Verwundert ſah er ſie an. „Bös auf Dich?
Weswegen denn, Du rote Tulpe Du? Haſt mir ja
nichts zu leid gethan.“
„So gieb mir die Hand drauf, damit ich's ſicher
weiß,“ drang ſie in ihn und ſtreckte ihm ihre Hand
entgegen.
Er drückte ſie kräftig, ließ ſie aber gleich wieder
los. „Sakra! Sie iſt voll Sand und Näſſe! .
Reibſt Dir wohl 's Geſichtel mit Sand ab, daß es
recht leuchtet, he? Biſt ja eh' ſchon wie eine Pfingit-
roſe.“
„Warum nicht gar! Eine Pfingſtroſe um Michaeli!“
lachte ſie und griff wieder nach ihrem Strohwiſch.
„Wenn ich Dich jetzt küſſen thät', könnteſt Du
gar nimmer rot werden,“ ſcherzte er weiter und ſtapfte
ihr dreibeinig nach.
Kein Wunder, daß ſie ihm auf zwei Beinen nicht
entwiſchen konnte. Zwar fuhr ſie ihm mit dem Stroh—
wiſch über das Geſicht, aber er küßte ſie dennoch.
*
Seit dieſem Kuß war die Kreszenz eine ganz
andere. Um einen Schuh höher kam ſie ſich vor, und
wenn ſie ſich das Mieder zuneſtelte, blieb ihr eine
Spanne lang Schnürband weniger übrig als vorher.
— 261 —
Geſtern noch das „Kind“, war ſie heute ein Weib.
Auch aus ihren Augen ſchaute ſie ganz anders heraus,
beſonders wenn ſie ihre Schweſter anſah. Da ſchaute
ſie ſo ſchwarz daher wie der alte Herr Pfarrer, der
in der Sonne immer eine dunkle Brille trug. Sie
war nämlich eiferſüchtig auf die Roſel, weil der Martin
ſchon wiederum jeden Abend bei ihr ſaß. Er war
offenbar dem Florian nicht böſe, wohl aber ſchien dieſer
etwas gegen den Dreibeinigen zu haben, denn er ſuchte
jetzt ſeinen Abendkrug lieber im Dorfe unten.
Wochen vergingen. Aus Martins Krücke war
ein einfacher Stock geworden und flinker als je kam
er den Bühl herauf; zur Roſel, wie die Kreszenz
zornig dachte; zur Kreszenz, wie die Roſel ihm herb
vorwarf. Denn wiederholt hatte ſie ihn ſchon dabei
betroffen, wie er heimlich das „Kind“ am Zipfel hatte,
bald an dieſem, bald an jenem; ſie haben ja eine ganze
Menge ſolcher Zipfel, die Weiberleute. Und das war
zuweilen bös abgelaufen, unter Donnerwetter und
Hagelſchlag. Deſto wärmer ſchien dann die Sonne,
wenn ſie ſich wieder verſöhnten.
Einmal hätte ſo eine Ausſöhnung bald das größte
Unglück angerichtet, denn die Kreszenz ſah und hörte
alles. Deutlich hörte ſie den Martin ſagen: „Geh,
Roſel, ſei geſcheit; wirſt doch nicht glauben, daß ich
— 262 —
mit dem Schulmädel was hab'. Die ſpielt ſich ja
noch mit der Docken; der Martin braucht eine Handige!
Ja, wenn ſie jo was wär' wie Du, . .. weiß ich
wirklich nicht, ob ich nicht drauf fliegen thät'. Aber
Du weißt ja, ich da drunten im Pilgerhaus brauch'
eine, die alles zuſamm'reißt und die einen Haufen
Leut' nur ſo mit dem Beſen aus der Stube hinaus—
fegt und die nur einen Schrei zu thun braucht, daß
alle untern Tiſch ducken, . .. ich zu allererſt. Ja,
weißt, wenn ich da den Reſpekt hätt', wie vor Dir,
Roſel . ..“ Und er umſpannte mit beiden Händen
ihren gewaltigen Oberarm. |
Da ſchoß die Kreszenz aus ihrem Verſteck hin—
aus und ſtürzte ſich in ihr Bett. Sie ſprang kopf—
über in die Pölſter, als werfe ſie ſich ins Waſſer, um
ſich zu erſäufen. Lange lag ſie ſo, in Grimm und
Weh. Dennoch hörte ſie es, als unten die Hausthür
ging, und ſprang auf. Ans Fenſter gelehnt, horchte
ſie im Dunkeln ſeinen Schritten, die ſich thalwärts
entfernten. Sie ſtieß das Fenſter auf und horchte
hinter ihm drein. Tapp, tapp, tapp, gingen ſeine
Tritte feſt und ſicher durch die Nacht, als wäre er nie
im Kalchgraben gelegen, wo jie, fie, ja wohl ...
ſie allein ihn hinabgeworfen 2
Da kam es plötzlich über ſie, ganz wie in jener
— 263 —
ſchwarzen Nacht. Was ſie einmal gekonnt, mußte ſie
ein zweites Mal können. Und in ihrem jähen Zorn—
mut drohte ſie mit der geballten Fauſt hinaus in
die Nacht und murmelte: „Da herauf kommſt Du mir
nimmer!“ i
Die ganze Nacht wälzte ſie ſich fieberiſch auf
ihrem Lager. Der Tag graute kaum, da ſchlüpfte
ſie lautlos zum Hauſe hinaus und den Bühl hinab.
Schaudernd huſchte ſie über den Steg, von dem ſie
ihn einſt hinabgeſtürzt, ja, ſie und kein anderer. Bald
war die Gnadenkirche erreicht, fröſtelnd drückte ſie auf
die kalte Klinke, ſchaudernd trat ſie über die Schwelle.
Drinnen war es grau und ſtill wie in einer Gruft.
In der kalten Helle der erſten Dämmerfrühe ſtanden
die weißen Heiligengeſtalten auf ihren Sockeln bleich
wie Tote da. Das große Bild über dem Altare, ſo
ſonnenhell bei Tage, glich einer Friedhofsſzene bei
Mondſchein, und der Schrein Mariens ſtand darunter
unheimlich dunkel wie ein Sarg. Fahler als Aller-
ſeelenkränze auf einem Grabe hingen und lagen die
bunten Gewinde um den Altar.
Wie ein kalter Guß rieſelte es Kreszenz über den
Rücken. Feſter zog ſie das wollene Tuch um ſich her,
ſchlug ein Kreuz und zwang ihre Füße mit Gewalt,
die wenigen Schritte zu thun, die ſie noch vom Altare
— 264 —
trennten. „Ich thu's!“ rief fie dann und erhob die
Hand.
Sie ſchloß die Augen, als ſie den frevlen Griff
that, aber ſie that ihn. Ein leichtes Surren die Wand
herab, dann ein kleiner, dumpfer Krach .. . und ein
wächſernes Bein lag in Trümmern auf den Flieſen.
Das Feuer einer wilden Freude ſchoß durch ihr
Blut. Sie lohte plötzlich auf im Bewußtſein, ſich ge—
rächt zu haben. Als dieſes Bein aus Wachs hier
aufgehangen ward, heilte jenes Bein aus Fleiſch.
Wenn ſie dieſes Bein aus Wachs wieder herabſchlug,
mußte jenes Bein aus Fleiſch auch wieder entzwei ſein.
Nochmals fuhr ihr dieſer Gedanke in ſeiner vollen Un—
widerleglichkeit durch den Kopf und ſperrangelweit
öffnete ſie jetzt die Augen.
Doch was war das? Da hing ja noch ein Bein
aus Wachs. Und ein zweites, ein drittes, ein zwan—
zigſtes daneben, darüber, darunter; alle wie aus einem
Model, unmöglich ſie auseinander zu kennen. Für
gar manchen Lahmen war im Laufe der Jahre das
heilige Sinnbild da ſchon aufgehangen worden; welches
unter den vielen galt nun dem Martin?
Ihr ſchwindelte, die Wände der Kirche ſchienen
ſich über ihr zuſammenzuneigen, in ihren Schläfen
ſummte das grimme Blut, vor ihren Augen tanzte es
— 200 —
in der Luft wie tauſend Mücken. Außer ſich, griff fie
nach dem zweiten, dem dritten Bein aus Wachs.
Krach, krach, krach, ging es der Reihe nach. Ein
Blutdurſt hatte ſich ihrer bemächtigt, wie des Soldaten
in der Schlacht; alles riß ſie herab, was wie ein
Bein ausſah, und hatte nur den einen wilden Ge—
danken: „Da muß ja wohl das ſeine mit drunter ſein!“
Dann ſtieß ſie einen langen Schrei aus und ſtürzte
ohnmächtig zuſammen.
Als der warme Schein der Herbſtſonne ſie traf,
erwachte ſie wieder zum Leben. Sie meinte einen
furchtbaren Traum gehabt zu haben und raffte ſich
mühſam auf. Aber als ſie ſich die ganze Wirklichkeit
zuſammenreimte, glaubte ſie ſterben zu müſſen vor
Gram und Scham.
Entſetzt floh ſie von dannen und ſchlug den Heim—
weg ein. Auf dem Steg über den Kalchgraben ſtand
ſie ſtill und blickte irr hinab in die ſteinige Schlucht.
Lange ſtand ſie da, ſtumpf an allen Gedanken. Da
nahten Tritte, ſie blickte auf und ſah den lahmen Brief—
träger Waſtl herankommen. Mühſelig hinkte er auf
ſeinem böſen Bein daher, und da fuhr es ihr plötzlich
durch Haupt und Bruſt: „Auch dem haſt du ſein
— 266 —
wächſern Bein heruntergeſchlagen, nun iſt er wieder
lahm.“
In ihrer großen Herzensangſt eilte ſie nun quer⸗
feldein, denn ſie wollte keinen Menſchen ſehen. Ihr
war, als müßten ſie alle lahm ſein, lahm durch ihre
Schuld, da ſie ihnen die wächſernen Beine am Altare
zertrümmert. Dort in der Ferne ſaß einer auf einem
Stein, die Bürde auf dem Rücken; ach, er konnte ja
nicht mehr weiter, da ſie ihm plötzlich ſein Bein ent—
zweigemacht. Unten im Thal hörte ſie Räder kreiſchen;
nicht um die Welt hätte ſie hinabgeſchaut, aus Angſt,
es möchten etliche ihrer Opfer auf dem Karren liegen,
von einem Samariter mitleidig aufgeleſen, wie ſie mit
geknickten Gliedmaßen hilflos auf die Straße hinge—
fallen.
Stundenlang irrte ſie ſo umher, dann kam ſie
irgendwie heim. Die roten Augen, die verſtörten
Mienen erregten Beſorgnis. Die Roſel hörte nicht
auf zu fragen und ſelbſt der Florian ließ den Kopf
hängen und warf ihr gute Blicke zu. Aber ſie ſaß
ſtockſtarr und ſchluchzte nur hie und da krampfhaft auf,
um gleich wieder in ihren Scheintod zu verfallen.
Es wurde Mittag und keinen Löffel Suppe brachte
man über ihre Lippen.
Es wurde Abend und der Florian ging nach
— 267 —
Schreindorf hinab, nicht ohne ihr einmal leiſe mit der
flachen Hand über den Kopf hinzufahren; ſie ſpürte es nicht.
„Wenn nur der Martin ſchon käme!“ ſeufzte
nach einer Weile die Roſel ſehr bekümmert.
Da fuhr die Kreszenz plötzlich aus ihrer Starr—
heit auf: „Er wird nicht kommen, Roſel! Ach Gott,
er wird nicht kommen! Nicht heut und nicht morgen
und vielleicht gar nimmermehr!“ Und ein Strom von
Thränen ſchoß über ihre bleichen Wangen herab.
„Geh zu, närriſch Ding!“ rief die Roſel halb
ärgerlich, halb froh, daß die Stumme doch nicht ganz
ſtumm war. „Da kommt er ja ſchon!“
In der That wurden draußen die bekannten Tritte
hörbar.
Die Kreszenz ſprang auf, in krampfhafter Er—
regung; ihr Atem flog ſtürmiſch und die Augen wurden
ihr ganz kugelrund von Anſtrengung, wie ſie dem
Nahenden entgegenlauſchte.
Ja, das waren ſeine Tritte. Schwer und feſt
kamen ſie immer näher, ganz regelmäßig, nicht zu
raſch und nicht zu langſam und . .. jo zweibeinig als
nur möglich.
Nein, das konnte er doch nicht ſein! Beide Füße
traten ja ſo ganz gleich auf; nicht einmal nachſchleppen
ließ ſich der eine.
— 268 —
Und er war es doch. Die Thür ging auf und
der Martin ſtand auf der Schwelle, ſo hoch und breit
er war. Und jetzt ſtand er auch ſchon in der Stube
. . . und machte ein ganz verdutztes Geſicht und ſtieß
ein „Oho“ und „Aha“ nach dem andern aus vor
Überraſchung. Denn vor ihm auf den Knieen lag die
Kreszenz und umſchlang ſeine Beine mit beiden Armen
und preßte ihr Antlitz heftig wider ſeine Knieſcheiben
und ſchluchzte ganz herzbrechend. Es war ſchwer und
die Roſel mußte ſcheltend mithelfen, um die Dirn' da
loszureißen und wieder auf die Beine zu ſtellen; aber
kaum ſtand ſie, ſo lag ſie auch ſchon wieder, und zwar
diesmal an des Martins Bruſt und hatte ihre Arme
um ſeinen Nacken geknüpft wie ein Halstuch, deſſen
Knoten gar nicht mehr aufgehen will. Und küſſen that
ſie ihn, wo ſie ihn traf, vor unbändigem Entzücken,
daß ihm ganz ſchwül davon wurde. Auch lachte und
weinte ſie ſo durcheinander und rang die Hände vor
Freud' und Leid zugleich.
„Verf . .. lixtes Mädel!“ rief der Martin ganz
atemlos von dem ſcharfen Küſſen und wiſchte ſich den
Mund, der ordentlich davon brannte.
„Am End' wird ſie uns gar noch verrückt,“
ſchmälte die Roſel, der die Geſchichte ganz und gar
nicht recht war, und dann leiſer zum Martin: „Na
„ e —
weißt, Martin, zurückzuküſſen hätt'ſt Du ſie juſt nicht
brauchen . .. und fo ſtark auch noch, es hat ja jedes—
mal ordentlich gekleſcht.“
„Aber geh,“ entgegnete er, „der Menſch muß
doch eine Antwort geben, wenn er fo freundlich ...
angeredt wird. Du haſt mich freilich noch nie ſo
ſchön empfangen, wenn ich gekommen bin. Sakra, die
Kreszenz iſt ein Mordsweib worden.“
Aber ſeine Verwunderung wurde noch viel
größer, als die Dirn ihr Gewiſſen zu erleichtern be—
gann; nach einander erzählte ſie alles, was ſie ihm
angethan.
Zuerſt, wie ſie ihm damals in der Nacht nach—
gerufen: „Daß Du im Kalchgraben lägſt.“
Er zwinkerte ſeltſam mit den Augen: „Weißt
denn auch ſicher, daß ich juſt des wegen vom Steg
geſtürzt bin?“
„Da ſchwör' ich einen Eid d'rauf!“ rief fie zer-
knirſcht. „Denn kaum war mein böſ' Wort draußen,
ſo hab' ich auch ſchon den Schrei gehört.“
„Sakra!“ rief der Martin, „was in dem Mädel
ſteckt! Mir ſcheint, die iſt doch eine Handige! ...
Und ich hätt' d'rauf geſchworen, daß es der .. . Dings
war, der mich hinuntergeſtoßen hat.“
Und dann erzählte ſie ihm, was ſie dieſe Nacht
— 270 —
erſt angeſtellt, das Schreckliche, in der Kirche. Er
pfiff zwiſchen den Zähnen vor Überraſchung und ſchnalzte
wiederholt mit den Fingern und ſagte nur: „Sakra!
Sakra!“ Aber als ſie die wächſernen Beine nur ſo
über den Haufen rumpeln ließ, in tauſend Scherben,
da ſchrie er unwillkürlich „Au!“ und griff ſich ans
betreffende Bein.
Er ſtand ſogar auf und that ein paar Schritte,
um es auf alle Fälle zu verſuchen. „Es geht, es
geht,“ ſagte er. „Na, Kreszenz, ſei nur ruhig, Du
haſt ein anderes hinuntergeſchmiſſen, nicht meins. Meins
iſt ja auch nicht von Wachs, und ich häng's nie in
die Kirche hinein, bevor ich ſchlafen gehe. Und daß
ich damals in den Kalchgraben geſtürzt bin, da kannſt
wohl auch ruhig ſein, Kreszenz, das hat mir ganz
ein anderer ... angewünſcht.“
„Glaubſt wirklich, Martin?“ fragte ſie und hob
ein ſchüchternes Auge zu ihm.
„Frag die Roſel.“
„Na, ich mein' ſelber,“ bekräftigte dieſe.
„Aber eine Handige biſt Du, das ſteht feſt!“
rief der Martin und legte dem Mädchen die Hand
auf die Schulter. „Wenn Du die Courage gehabt
haſt, mir ſo expreß wider das Schienbein zu treten,
abſichtlich, zweimal, dann iſt Dein Blut kein Waſſer
— 271 —
nicht und ich bitt' Dir alles ab, Kreszenz, von geſtern
abend, denn ich hab' mich in Dir geirrt. Und ich
glaub', Du möchteſt mir drunten im Pilgerhaus ſchon
ſakriſch Ordnung halten, wann Du zufällig meine Frau
wärſt. Und es thut mir wahrhaftig jetzt recht leid,
daß die Roſel das niemals erlauben wird . ..“
„Wer? ich?“ fuhr dieſe auf. „Was gehſt Du
mich denn an, Du gottvergeſſener Schürzenjäger?
Meinetwegen kannſt gleich den Florian heiraten, ich
ſchenk' Dir den auch.“
Der Martin war klug genug, den Verdruß als
Scherz aufzunehmen und bemächtigte ſich daraufhin
ſogleich eines beträchtlichen Teiles der Kreszenz.
Als der Florian ſpäter heimkam, fuhr er mit
einem Donnerwetter von der Schwelle zurück, wie er
den Martin noch immer daſitzen ſah. Als er aber
den Zuſammenhang erfuhr, verzog ſich ſein Geſicht,
erſt der Breite nach und gleich darauf nach der Höhe,
und er kratzte ſich längere Zeit hinter den Ohren.
Er war nämlich in nicht geringer Verlegenheit und
vermochte nur ſilbenweiſe herauszubringen, was er
eigentlich meinte. Schließlich ging er auf den Martin
los, ſtreckte ihm die breite Hand hin und ſagte in
ſeiner Einfalt:
„Nichts für ungut, Martin, es iſt nicht gern ge—
— 272 —
ſchehen, . .. damals; hab' halt nicht gewußt, daß
Du nur wegen der... Kreszenz jeden Abend herauf⸗
kommſt.“
„Na freilich!“ rief der Martin und ſchlug ge—
räuſchvoll ein, „wegen wem hätt' ich denn ſonſt kommen
ſollen?“
eier Bot
(1887.)
Heve si „Buch der Laune.
18
des reichen Bankiers Ritter von 1
e pfennig jeder Faſching am Sylveſterabend.
Der Neujahrsball war daſelbſt zur Geſchäfts-Uſance
geworden, wie ihn denn auch alle Geladenen ganz ge—
ſchäftlich betrieben, beſonders die ſchöne Haustochter,
Fräulein Thusnelda, und der Prokuriſt des Hauſes,
Herr Chriſtoph Zwirner. Das Programm war ein—
für allemal feſtgeſtellt und eine Abweichung von der
Norm durchaus unſtatthaft. Fräulein Thusnelda, oder
wie ihr Vater fie in zärtlicheren Augenblicken zu nennen
pflegte: Neſthulda, hatte alle Hände voll zu thun;
ſie wußte genau, daß ſie dieſen Abend ſo und ſo viele
Hände zu drücken, ſo und ſo viele freundliche Blicke
zu verteilen, mit ſo und ſo vielen Gläſern anzuſtoßen,
ſo und ſo viele Touren zu tanzen haben würde. Wurde
— 276 —
ein Blick mehr verlangt, ſo erklärte ſie, ihr Vorrat
ſei zu Ende. Was Herrn Zwirner betrifft, ſo gipfelte
ſeine Rolle an dieſem Abend in einer großen Szene;
in der dritten Quadrille war er nämlich Fräulein Thus—
neldas ſtändiges Gegenüber, eine Auszeichnung, die
ihn jedesmal ebenſo ſtolz als unruhig machte. Er
war nämlich kein großer Tänzer vor dem Herrn, und
vor dem holden Hausfräulein ſchon gar nicht. In der
Regel beging er unter ihren Augen irgend eine haar—
ſträubende Ungeſchicklichkeit, auf die man auch ſchon
gefaßt, ja ordentlich geſpannt war, ſo daß die dritte
Quadrille ſtets als ein Hauptſtück der Unterhaltung galt.
So ungeſchickt aber, wie an dieſem Abend, war
Herr Chriſtoph Zwirner noch nie geweſen. Er beging
nämlich diesmal nicht die geringſte Ungeſchicklichkeit.
Mit der größten Pünktlichkeit tanzte er die Quadrille—
Bilanz zu Ende, fie ſtimmte jo genau, daß die Ver—
ſtimmung darob eine allgemeine war. Er merkte dies
gar wohl an den fragenden Blicken, mit denen ihn
alles anſah, an dem mißbilligenden Kopfſchütteln, mit
dem Herr von Kiſtenpfennig ihn während der chaine
des dames muſterte und ganz beſonders daran’, daß
Fräulein Thusnelda, der er ſonſt am Schluſſe immer
den Handſchuh küſſen durfte, dieſes Kleidungsſtück jetzt
im entſcheidenden Augenblicke raſch zurückzog, ſo daß
a
er mit geſpitztem Munde ſtehen blieb. Die allgemeine
Enttäuſchung machte ſich in mannigfachen Fragen Luft,
und man erfuhr, daß der Herr Prokuriſt ſeit dem
vorigen Jahre eifrig, ja geradezu leidenſchaftlich Schlitt—
ſchuh laufe und ſich dadurch nachgerade eine Geſchmei—
digkeit des Körpers angeeignet habe, welche es ihm
fürderhin unmöglich mache, bei einer ſimplen Quadrille
auszugleiten, hinzufallen und dadurch für das gewohnte
komiſche Intermezzo zu ſorgen.
Chriſtoph Zwirner ſah alſo ein, daß er ſich mit
einem Schlage unbeliebt gemacht habe, und zog ſich
beſchämt ans Buffet zurück, um ſein Weh durch ſchmerz—
ſtillende Tropfen zu lindern. Lange Zeit behandelte
er ſich in dieſer Weiſe und verzog ſich zuletzt gar mit
einer ſeinem Zuſtand entſprechenden Flaſche in ein
Palmengebüſch des Wintergartens, um fortan bloß der
Reue über ſeine verhängnisvolle Eislaufpaſſion zu
leben und in dieſem nagenden Bewußtſein nach und
nach zu entſchlummern.
Es war ein prachtvoller Eislauftag. Die Sonne
ſchien all ihre Wärme in Glanz verwandelt zu haben,
und die Gebäude ringsum hatte der letzte Schnee an
allen Ecken und Kanten mit Hermelin verbrämt. Das
Vereins⸗Eis wimmelte von ſchöner Welt, welche wie
„ 28.
ein Schwarm von Winterſchmetterlingen durcheinander
flatterte. An den Rändern des Eiſes, wo das Gewühl
weniger dicht war, ergingen ſich bekannte Virtuoſen
einzeln oder paarweiſe in ſchwierigen Figuren. Eines
dieſer Paare war beſonders auffallend, denn es lief
Achterfiguren, welche höchſt unkorrekt ausfielen, offen—
bar weil die beiden dabei eine ſehr bewegte Unter—
haltung führten. In einem gegebenen Augenblick fuhr
der Altere ſogar ſo überraſcht zurück, daß er beinahe
das Gleichgewicht verloren hätte und ein überlautes
„Ha!“ ausſtieß. Hierauf fuhr er mit kräftigem Ab—
ſtoß aus der gemeinſamen Figur heraus und ſchoß
vorwärts, in weitem Kreiſe um ſeinen Partner herum.
Aber dieſer holte ihn ein und es entſpann ſich fol—
gendes Geſpräch:
„Lieber Zwirner! Sie ſind vor zwanzig Jahren
als Volontär in mein Haus eingetreten. Ich ſagte
damals: das iſt ein aufgeweckter, anſtelliger Burſche.“
„Ich danke Ihnen, Herr von Kiſtenpfennig.“
„Vor zwölf Jahren machte ich Sie zum Buch—
halter und ſagte: das iſt ein geſchickter, ein geſcheiter
Jüngling, der ſeinen Weg machen wird.“
„Ich danke Ihnen, Herr von Kiſtenpfennig.“
„Als Sie mich vor acht Jahren zu der großen Spe—
kulation überredeten, welche mir ſchließlich die Kohlen—
ng —
werke von Sankt Wendelin eintrug, da ſagte ich:
dieſer junge Mann iſt ein Genie.“
„Ich danke Ihnen, Herr von Kiſtenpfennig.“
„Als vor ſechs Jahren die große Kriſe ausbrach
und Ihr diplomatiſches Talent mein Haus ſozuſagen
rettete, da nannte ich Sie einen unbezahlbaren Men-
ſchen und erhöhte Ihr Jahresgehalt um volle 600
Gulden.“
„Ich danke Ihnen, Herr von Kiſtenpfennig.“
„Als ich meine zehnte Million mit Gottes und
Ihrer Hilfe beiſammen hatte, da nannte ich Sie einen
klaren, vernünftigen Kopf und gab Ihnen die Prokura.“
„Ich danke Ihnen, Herr von Kiſtenpfennig.“
„Jetzt aber, lieber Zwirner, wo Sie plötzlich mit
dem — Sie verzeihen ſchon — unverſchämten Ver—
langen an mich herantreten, ich ſolle Ihnen meine
Tochter Neſthulda zur Frau geben, jetzt, lieber Zwirner
— Sie müſſen ſchon entſchuldigen — ſage ich Ihnen
da im Angeſicht der Zentral-Markthalle und des Haupt—
zollamtes: lieber Zwirner, Sie ſind ein E. ..!“
Diesmal vergaß Chriſtoph Zwirner zu ſagen: „ich
danke Ihnen, Herr von Kiſtenpfennig“; vielmehr ging
er ſo raſch als möglich in den Rückwärtslauf über. Als
ſie am anderen Ende des Kreiſes wieder zuſammen—
kamen, fuhr der Bankier in ſtolzem, feſtem Tone fort:
— 280 —
„Sie haben meine zwanzig Millionen eigenhändig
gezählt, Herr Zwirner, und auch die lumpigen 8000
Gulden, die ich Ihnen als Jahresgehalt bezahle. Sie
wiſſen alſo, daß der Abſtand zwiſchen uns zu groß
iſt, gar zu groß. Gewiß, Sie find mir lieb und
wert; es thut mir weh, daß Sie E. .. genug find,
ſich dergleichen in den Kopf zu ſetzen, aber Neſthulda
kann wählen unter Grafen und Baronen, mit Neſt—
hulda haben ſchon Prinzen getanzt, Neſthulda iſt ver—
wöhnt, ſehr verwöhnt, ihr gefällt nicht jo leicht jemand ...
der Rittmeiſter Baron von Klingenſtahl iſt doch einer
unſerer ſchönſten Offiziere und Neſthulda hat ihn den—
noch ausgeſchlagen ... wie ſollten Sie ihr gefallen,
Chriſtoph Zwirner, der Prokuriſt ihres Vaters?“
„Wie aber, Herr von Kiſtenpfennig, wenn Fräu—
lein Thusnelda mich liebte? Mich, Chriſtoph Zwirner,
den Prokuriſten ihres Vaters? Wie, wenn ſie meinet—
halben die Hand des Rittmeiſters Baron von Klingen—
ſtahl ausgeſchlagen hätte?“
Herr von Kiſtenpfennig machte plötzlich mit beiden
Füßen Einwärtsbögen nach rückwärts, um im Rück⸗
wärtslauf ſtehen zu bleiben. Dabei mußte er ſich
ſtark vorwärtsbiegen, bei welcher Stellung auch ein
Gelächter bekanntlich am wirkſamſten ausfällt. Er
ſchüttelte ſich nämlich vor Lachen, daß ihm die Thränen
oa
in die Augen traten. Als fein Zwerchfell endlich wieder
ſtille ſtand, ſagte er mitleidig: „Gehen Sie ins Ru—
dolfinerhaus, lieber Zwirner; Sie ſcheinen krank zu
ſein. Ich will eigens ein neues Bett dahin ſtiften,
für Sie; man wird Sie dort heilen. Und woher...
hahaha . . . woher wiſſen Sie denn eigentlich, wenn
man fragen darf, daß Neſthulda Sie liebt? Sind
wohl in den Prater gegangen und haben jämtlichen
Bäumen die Blätter ausgerupft vom erſten bis zum
letzten mit „Sie liebt mich — liebt mich nicht?“
Hab' ich's getroffen, lieber Zwirner? Hahaha, darum
alſo iſt der Prater jetzt ſo kahl!“
So ſprach Herr von Kiſtenpfennig mit ſchneiden—
dem Hohne und legte ſich dann mit ausgelaſſener
Fröhlichkeit in einen gewaltigen Vorwärts-Auswärts—
bogen hinein. Aber Chriſtoph Zwirner hatte ihn bald
wieder eingeholt und entgegnete:
„Herr von Kiſtenpfennig, Sie ſprechen, wie Sie
zu ſprechen berechtigt zu ſein glauben, als mein Chef
und Fräulein Thusneldas Vater. Aber ich, der E. ..
Chriſtoph Zwirner, ſage Ihnen, daß es keine Macht
auf Erden giebt, auch die Ihrige nicht, die .. .“
Zwei gute Bekannte ſtießen in dieſem Augenblick
zu ihnen und unterbrachen Zwirners energiſche Auße—
rung. Herr von Kiſtenpfennig konnte ſeiner Entrüſtung
— 282 —
nicht beſſer Luft machen, als indem er ihnen brüh—
warm die Werbung ſeines Prokuriſten mitteilte. Un⸗
bändig lachten die zwei über den „originellen Einfall“
und der eine ſagte:
„Iſt's möglich, Herr Zwirner? Haben ſich denn
Ihre Vermögensverhältniſſe neueſtens ſo glänzend ge—
ſtaltet? Ich glaube, wenn man Ihnen heute einen
Bon auf eine Million präſentiert, ſind Sie nicht ein—
mal imſtande, die Bagatelle ſofort einzulöſen.“
Allgemeines Gelächter folgte dieſer etwas ſpöt—
tiſchen Bemerkung. Herr von Kiſtenpfennig wollte
ſchier platzen vor verzweifeltem Lachen und wiederholte
einmal über das andere: „Hahaha! ein Bon auf eine
Million! auf eine runde Million, hahaha!“
„Sie ſcheinen meine Verhältniſſe doch nicht ſo
ganz genau zu kennen, Herr von Kiſtenpfennig,“ ſagte
Zwirner mit eiſiger Ruhe. „Wer weiß, ob ich einen
ſolchen Bon nicht wirklich einlöſen könnte!“
Herr von Kiſtenpfennig lachte, die anderen zwei
lachten ebenfalls.
„So wetten Sie doch mit Herrn von Kiſten—
pfennig um die Hand ſeiner Tochter, Herr Zwirner!“
rief der Spötter von vorhin.
Herr von Kiſtenpfennig lachte aus vollem Halſe:
„Hahaha, haben Sie vielleicht unvermutet eine rieſige
Erbſchaft gemacht, lieber Zwirner?“
— 283 —
„Nein, Herr von Kiſtenpfennig.“
„Oder haben Sie zehn Haupttreffer nacheinander
gewonnen?“
„Nein, Herr von Kiſtenpfennig.“
„Wenn Herr Zwirner die Wette eingeht und ge—
winnt, verdient er wahrhaftig die Hand Fräulein
Thusneldas,“ ſtichelte der erſte Spötter neuerdings.
„Ein köſtlicher Spaß wäre das!“ rief der zweite.
Zwirner ſagte kein Wort, ruhig glitt er mit den
anderen weiter. |
„Nun, lieber Zwirner, was meinen Sie?“, hub
jetzt Herr von Kiſtenpfennig an. „Da ſind zwei
Zeugen und.. durch zweier Zeugen Mund wird
allerwärts die Wahrheit kund. Von meiner Seite ſteht
die Wette. Sie geben mir einen Bon im Betrag von
einer Million, ich präſentiere Ihnen den Wiſch nach
Ablauf von zwei Stunden in Ihrer Wohnung; können
Sie ihn ſofort einlöſen, ſo iſt Neſthulda Ihre Frau.“
„Stellen wir die Sache ganz klar,“ nahm Spötter
Nummer eins das Wort. „Die Wette ſteht alſo
folgendermaßen: Herr Chriſtoph Zwirner ſtellt ſofort
den Bon aus. In zwei Stunden wird ihm der Bon
in ſeiner Wohnung durch Herrn von Kiſtenpfennig prä—
ſentiert. Herr Chriſtoph Zwirner bezahlt eine bare
Million an Herrn von Kiſtenpfennig. Erfüllt Herr
— 284
Chriſtoph Zwirner alle dieſe Bedingungen, oder unter-
läßt Herr von Kiſtenpfennig eine derſelben, ſo wird
es dem Fräulein Thusnelda von Kiſtenpfennig anheim—
geſtellt, Herrn Chriſtoph Zwirner ihre Hand zur Ehe
zu reichen. Iſt es ſo recht?“
„Ja,“ entgegneten beide Kontrahenten.
„Jede der wettenden Parteien bürgt mit ihrer
perſönlichen und geſchäftlichen Ehre für ſtrenges Ein—
halten der Bedingungen.“
Auf dem herausgeriſſenen Blatte eines Taſchen—
buches wurde ein kurzes Protokoll aufgenommen und
von allen Beteiligten unterſchrieben.
„Und nun bitte ich um den Bon,“ ſagte Herr
von Kiſtenpfennig lachend.
„Augenblicklich!“ ſagte Zwirner, um deſſen Mund
ein eigentümlicher Zug ſpielte.
Er hatte ſich ſeit dem vorigen Jahre mit Leiden—
ſchaft dem Eislauf gewidmet und ſich ganz beſondere
Künſte angeeignet. Man nannte ihn nur den „Buch—
ſtabenläufer“. Kräftig ſtieß er jetzt ab und ſchwebte
in anmutigen Schwenkungen einige Minuten lang über
die Eisfläche. Verwundert ſah ihm Herr von Kiſten—
pfennig zu.
„Ich bitte um den Bon!“ rief er endlich un-
geduldig.
— 285 —
„Da iſt er!“ ſagte Zwirner, kaltblütig an ihn
herangleitend, und deutete mit der Hand auf den Eis—
plan, auf dem mit rieſigen runden Buchſtaben graviert
die Worte ſtanden:
„Gut für eine Million Gulden. Chriſtoph Zwirner.“
In Herrn von Kiſtenpfennigs Kopfe ging ein
düſteres Licht auf. Er ſah ſich überliſtet. Er hatte
offenbar die Wette verloren, denn dieſen Bon konnte
er Zwirner unmöglich in feiner Wohnung präfentieren.
Sollte er die ganze Eistafel ausſägen und nach der
Behauſung ſeines Prokuriſten ſchleppen laſſen? Un—
möglich, denn dazu waren zwei Stunden nicht ge—
nügend und das Eis reichte bis auf den Grund. Ihm
ſchwindelte, er mußte ſich an einem der Herren feſt—
halten, um nicht zu fallen.
„Wohlan denn, Herr von Kiſtenpfennig“, ſagte
Zwirner, „ich eile nach Hauſe, um die Million aus
dem Kaſten zu nehmen; in zwei Stunden erwarte ich,
daß Sie mir meinen Bon präſentieren.“
Mit höflichem Gruße an ſeinen Chef entfernte
ſich Zwirner, nachdem er noch dem Herrn, der ihn am
meiſten verſpottet hatte, warm die Hand gedrückt und
ihm zugeflüſtert: „Der Coup iſt gelungen, ich werde
Ihnen Ihre Hilfe nie vergeſſen.“
* *
*
— 286 —
Ein kräftiger Schlag auf die Schulter weckte den
Schlummernden. Er ſprang auf und rieb ſich krampf—
haft die Augen. Er befand ſich im Wintergarten und
vor ihm ſtand Herr von Kiſtenpfennig, hinter dieſem
Fräulein Thusnelda, am Arme des Rittmeiſters Grafen
von Klingenſtahl, und um ſie her noch etliche Syl—
veſtergäſte.
„Ah, Sie bringen den Bon?“ rief Zwirner
etwas verſchlafen. „Sofort ſollen Sie die Million
haben.“
„Aber, lieber Zwirner, Sie reden ja irre!“ ſagte
der Bankier. „Was für ein Bon? Was für eine
Million?“
„Herr von Kiſtenpfennig, durch zweier Zeugen
Mund . . ..“ begann Zwirner wieder, aber da ver:
wirrte er ſich und ſtockte. Er fühlte ſein Gehirn kreiſen
und griff an die Bruſt, an die Stirne. Was war
das? Er befand ſich ja im Wintergarten ſeines Chefs.
Es war Sylveſter. Er hatte eine Quadrille getanzt,
ohne eine Ungeſchicklichkeit zu begehen. ... Doch
nein, ſoeben hatte er ſie ja begangen! Einen unge—
heuren Bock, einen Bock von nie dageweſener Größe
hatte er geſchoſſen!
Mit einem Schlage wurde ihm alles klar. Er
hatte geträumt. Die meiſten Gäſte waren ſchon fort
—, —
und man hatte ihn beim Souper vermißt und ſpäter
auch. Und da hatte man ihn ſchließlich geſucht und
ſchlafend gefunden, und da ſtand nun alles um ihn
her und lachte. |
„Iſt Ihnen ſchon beſſer, lieber Zwirner?“ fragte
ihn der Bankier mit mühſam behauptetem Ernſt.
„Ich danke, ja, Herr von Kiſtenpfennig!“ſtammelte er.
„Sie waren heute ein tadelloſes Vis-à-vis, Herr
Zwirner,“ ſagte Fräulein Thusnelda und reichte ihm
(ſpät, aber doch!) den Handſchuh zum Kuß.
Chriſtoph Zwirner küßte ihn und war glücklich.
Freilich, die Träume ſind meiſtens noch viel ſchöner
als die Wirklichkeit.
Beil
Eine Skizze aus dem Müllerſchen Familienleben.
1887.)
Heveſi, Buch der Laune. 19
ie Stimmung im Müllerſchen Hauſe war
ſeit einigen Tagen eine ſehr gedrückte ge-
worden. Dem Vater ging das Nach—
gs echen regelmäßig etlichemale aus, bis er es
zu Ende bringen konnte, und das war ihm früher in
Jahren nicht begegnet. Die Mutter gar hatte erſt
letzthin das Tiſchtuch zuſammengefaltet, ehe noch die
Brotkrumen hinweggefegt waren; ein Fall, der ſich
zum letztenmal vor ſiebenzehn Jahren und zehn Monaten
ereignet hatte, als Herr Müller, der abſichtlich ganz
nahe dabei ſtand, ſie mit der Frage im Ohre kitzelte,
ob ſie wohl Luſt hätte, Frau Müller zu werden.
Es war offenbar etwas nicht richtig in der At—
moſphäre des Müllerſchen Hauſes.
Schon ſeit dem letzten Sonntag hatten die Eltern
an Fräulein Marie eine eigentümliche Schwermut wahr—
— 292 —
genommen. Die Munterkeit des Mädchens war einer
gewiſſen Nachdenklichkeit gewichen, die vom Aktuar Karl
ſchon wiederholt geprieſenen Roſen ihrer Wangen be—
gannen zu erbleichen, ihre Augen, welche der Herr
Aktuar noch immer beharrlich blau nannte, hafteten
meiſt am Boden, ihr Appetit gefiel der ſorgſamen
Mutter ganz und gar nicht, und wenn man zu ihr
ſprach, gab ſie entweder ſchiefe Antworten oder gar keine.
Vater und Mutter hatten unter vier Augen das
Thema ſchon wiederholt erörtert.
„Du hätteſt,“ ſagte die Mutter, „dem Aktuar
doch nicht ſagen ſollen, Marie ſei nicht zu Hauſe; er
hörte ja ihren Geſang bis hinaus . . . Seitdem iſt er
nicht wiedergekommen, und ſeitdem . . .“
„Hör mir mit dem Aktuar auf, Mutter,“ rief
Herr Müller, „mit Aktenbindfaden hält man Leib und
Seele nicht zuſammen, und von Streuſand werden Weib
und Kind nicht ſatt!“ Und heftig rieb er ein neues
Streichholz an, natürlich am unrechten Ende.
Die Mutter ſeufzte nur und ſteckte den Kopf in
die Morgenzeitung, zog ihn aber haſtig wieder zurück.
„Man kann wahrhaftig keine Zeitung mehr leſen!“
rief ſie. „Jeden lieben Morgen dieſe ekligen Dinge!
Schon der dritte Doppelſelbſtmord ſeit Sonntag!“
Sie hatte recht. Es war eine förmliche Seuche.
„ 208
Salt jeder Tag brachte feinen Selbſtmord, einfach oder
doppelt, und meiſt wegen nichts, zuweilen um weniger
als nichts . . . und fait immer jo ein armes, junges,
blitzdummes Ding von einem Mädchen dabei, das da
geglaubt haben mochte, man fange das Leben am beſten
an, indem man es ende .. der liebe Gott tröſte ſie
im Jenſeits!
Herr Mäller ſtudierte nun ſeinerſeits die Zeitung
unter erklecklichem Gebrumm, dann ſagte er plötzlich:
„Marie hat ſie geheißen!“ und ſchob das Blatt weit
von ſich. Er vermochte nicht weiter zu leſen, er wollte
gar nicht wiſſen, wie ſich jene Marie umgebracht habe.
Frau Müller hatte, als ſie den Namen des armen
Opfers hörte, einen Schrei unterdrückt und krampf—
haft die Hände gefaltet. Als ſie aber die Verdüſterung
ihres Gatten bemerkte, ſuchte ſie zu feiner Beruhigung
die Sache mehr ins allgemeine zu wenden und ſagte:
„Ach Gott, erwachſene Kinder brauchen noch mehr
Aufſicht als kleine ... Ich muß doch in der Küche
nachſehen, ob der Metzger heute richtig gewogen hat,“
und huſchte hinaus, aber nur, um zu ſchauen, wo denn
Marie ſchon wieder geblieben.
Kein Wunder, daß die Veränderung in Mariens
Weſen die Eltern ſehr beunruhigte. Aber vergebens
drangen ſie mit Fragen in die junge Dame, ſie lächelte
— 294 —
nur ſo wehmütig oder zerſtreut, oder antwortete aus—
weichend und ſchwieg dann weiter.
„Ob ich nicht den Aktuar für nächſten Sonntag
zum Abendeſſen laden ſollte?“ äußerte die Mutter
etwas ſpäter.
„Nötig hätt' er's wohl!“ erwiderte der Vater,
ſagte aber weder ja noch nein.
Nachts konnnte Frau Müller vor innerem Nagen
nicht einſchlafen. Da hörte ſie plötzlich aus dem Neben-
gemach ein ſeltſames Geräuſch wie von Papierfalten
oder Umblättern, und Mitternacht war doch längſt
vorüber. „Was nur das Mädel ſchon wieder treibt?“
dachte ſie bei ſich; „ſie wird doch um dieſe Zeit keine
.. . Briefe ſchreiben?“ Aber ehe ſie darüber ins reine
kommen konnte, hatte doch der verſpätete Schlaf ihre
Gedanken betäubt.
Den andern Morgen teilte ſie dem Gatten ihre
nächtlichen Wahrnehmungen mit. Er nahm dieſelben
mit mürriſchem Geſicht auf und ſchwieg.
Mittags ſtöberte Marie in einer Schublade herum,
welche als Handrumpelkammer diente und unter anderem
zahlreiche Arzneiflaſchen enthielt, große und kleine, dicke
und ſchlanke, wie ſie eben im Lauf der Jahre nach
Morphiumtropfen, Kirſchlorbeer und Franzbranntwein
ſich anſammeln. Aus dieſem Arſenal wählte ſie ein
e
mittelgroßes Fläſchchen und ſteckte es ganz heimlich zu
ſich, in der Meinung, es habe ſie niemand bemerkt.
Aber was könnte dem Auge einer beſorglichen
Mutter entgehen? Bei Tiſche teilte Frau Müller ihrem
Gatten ganz leiſe auch dieſe Neuigkeit mit. Er em-
pfing ſie mit noch mürriſcherem Geſicht und ſchwieg
abermals.
„Ich werde ihn einladen, ja?“ flüſterte die Mutter.
Der Vater ſagte nicht ja, ſondern zuckte nur die
Achſeln.
Nach Tiſche, während Frau Müller ihr Verdau—
ihläfchen hielt, verließ das Fräulein ganz verſtohlen
das Haus und kehrte juſt wieder zurück, als ſie erwachte.
„Wo warſt Du, mein Kind?“
„Nirgends, Mama.“
„Nirgends?“
„Gewiß, Mama, nirgends.“
Mehr konnte ſie aus ihr nicht herausbringen;
das Stubenmädchen jedoch, welches um dieſelbe Zeit
einen Gang in die Stadt gehabt, verriet der Gnädigen,
ſie habe Fräulein Marie in der Sonnengaſſe geſehen,
wie ſie eben aus dem Droguerieladen „Zum roten
Mohren“ herausgekommen und auf ſo ſonderbare Weiſe
um und um geblickt, als beſorge ſie heftig, von jemand
ertappt zu werden. Auch dieſes teilte die Mutter
e
dem Vater mit. Ihre Unruhe hatte nun den höchſten
Grad erreicht, denn gerade an dieſem Tage ſtanden
wieder zwei ſolche Vergiftungsfälle in der Zeitung, und
die gingen ihr nicht mehr aus dem Kopfe. Was in
aller Welt konnte auch ihr armes, ſchwermütiges, ſchlaf—
loſes Kind beim roten Mohren zu thun haben, der
nur mit Gewürzen und Farbwaren handelt und —
hilf Himmel! — mit Giften?
„Du, Papa, ich bin in der ſchrecklichſten Angſt!“
geſtand ſie ihrem Gatten.
„Ach, geh, das wär' doch . . .“
„Die Sache mit dem Mädel ...“
„Hm!“
„Nein, Anton, durchaus nicht ‚Hm!‘ Ich weiß
nur das eine, daß ich heute nacht aufbleibe und das
Kind belauſche; ich habe den Schlüſſel von ihrer Thür
abgezogen .. . Ich bitte Dich, Du Haft ja heute ſchon
wieder geleſen, nicht?“
„Ja wohl.“
„Die eine war auch ganz fo ein junger Fratz ...
iſt vielleicht auch tags zuvor beim roten Mohren ge—
weſen! o Gott, o Gott!“
Abends küßte Marie Vater und Mutter auf die
Wange — viel inniger und wärmer als ſonſt, be—
merkten ſie — und zog ſich auf ihre Stube zurück.
on
„Wie ihr Kuß heute brennt! Ich fühle ihn noch
jetzt da auf meiner Wange wie Feuer!“ rief die Mutter,
in helle Thränen ausbrechend; „o Anton, das war
kein gewöhnlicher Kuß . .. ein Abſchiedskuß war es!“
Unter lautem Schluchzen ſank ſie an die Bruſt
ihres Mannes.
„Nun gut, ſo ſchreibe dem Federfuchſer drüben,
er ſoll Sonntags kommen!“ rief Herr Müller und
fuhr ſich mit beiden Händen in die Haare.
„Sonntags?“ entgegnete die Mutter; „das kann
ja zu ſpät ſein! Heute nacht wer weiß
„Nun gut, ſo paſſen wir 'mal heute nacht auf,“
rief der Vater, „was denn das vertrackte Mädel eigent—
lich im Schilde führt.“
Und beide Eltern ſchlichen ſich ganz leiſe an die
Thüre der Tochter und begannen zu horchen. In
dieſem Augenblick knirſchte ein Riegel; Marie hatte
ihn von innen vorgeſchoben. Nur mit Mühe konnte
die Mutter einen Ausruf des Schreckens unterdrücken.
Zitternd kniete ſie vor das Schlüſſelloch hin und lugte
atemlos, pochenden Herzens und die Augen in Thränen,
durch die enge Lücke.
Was ſie ſah, war in der That fürchterlich. Halb be—
wußtlos taumelte die entſetzte Frau zurück auf den Teppich
und ihr Gatte ſtürzte in hellem Schreck ans Schlüſſelloch.
— 298 —
Beim erſten Blick wollte auch ihm das Blut in
den Adern erſtarren. Sein Auge fiel gerade auf das
Bett ſeiner Tochter. Auf dem Rande des Bettes ſaß
das junge Mädchen mit aufgelöſtem Haar, halb ent—
kleidet. Den Tiſch hatte ſie vor das Bett hingerückt
und eine ſchwarze Decke darüber gebreitet. An den
vier Ecken brannten vier hohe weiße Stearinkerzen
wie bei einer Leichenzeremonie. Und das Mädchen
ſaß da, die Hände im Schoß gefaltet, einen ernſten,
ſchmerzlichen Zug im Geſicht, und ſtarrte unverwandt
vor ſich hin auf die ſchwarze Decke, in deren Mitte
ein kleines glänzendes Ding ſtand. Was für ein Ding,
das konnten die alten Augen des Vaters nicht unter—
ſcheiden.
Und jetzt ſprang das Mädchen wie mit einem
gewaltſamen Entſchluß auf, ergriff jenen glänzenden
Gegenſtand und hob ihn hoch empor, ſo daß die Kerzen—
flamme darin aufblitzte ... dann hörte man das
Schnalzen des Korkſtöpſels, den fie herauszog ...
Hilf Himmel! die Thüre verriegelt, die Stunde Mitter—
nacht, und die ſchwarze Tiſchdecke, die vier brennenden
Kerzen, das aufgelöſte Haar, der ſchmerzliche Zug im
Antlitz, das rätſelhafte Fläſchchen, der Kork und ſein
verhängnisvolles Schnalzen . . . Gift!
Dieſer ganze Gedankengang zuckte in einem ein—
„„
zigen Augenblick mit überwältigender Plötzlichkeit durch
des Vaters Kopf. Nun war keine Sekunde mehr zu
verlieren. „Marie! Marie!“ rief er und rüttelte mit
aller Macht an der Thüre. Darüber kam auch die
Mutter wieder zu ſich und trug das Ihrige bei, den
Lärmen zu vermehren . .. Noch ein Augenblick banger
Erwartung, dann knirſchte der Riegel, die Thüre ſtand
offen und auf die Schwelle trat eine weiße Geſtalt,
welche verwundert ein bleiches Antlitz auf die verſtörten
Ruheſtörer richtete.
„Du lebſt! Du lebſt! Marie, mein teures Kind!“
riefen Vater und Mutter mit einer Stimme und um—
armten ſchluchzend den Schatz ihres Lebens.
„Aber das Fläſchchen, der Stöpſel .. . Haſt Du
getrunken? Nein, nein; ſage, Du haſt 05 nicht ge⸗
trunken, mein Kind!“ keuchte der Vater und um—
klammerte krampfhaft die Hände ſeiner Tochter.
„Was ſoll ich getrunken haben?“ fragte das
Mädchen befremdet.
„O, Du haſt nicht getrunken, nicht getrunken, Du
teures, ſüßes, garſtiges Geſchöpf Du!“ brach die Mutter
jauchzend los und bedeckte mit ihren Küſſen das blaſſe
Mädchen, das den ganzen Auftritt nicht begriff.
Da auf einmal fuhr Marie zuſammen und ſchlug
die Hände vor die Augen.
„ 300 —
„Ach Gott,“ rief ſie, „nun werden ſie alles er—
fahren! Ich bitte Dich, teuerſte Mutter, werde nur
nicht böſe, ſo will ich Dir ja alles geſtehen.“
„Wie ſollt' ich böſe werden, Du Kind, da ich ſo
froh bin, daß wir Dich nur noch haben!“
„Warum ſolltet ihr mich nicht haben?“ ſagte
Marie; „hätt' ich nur auch ſchon mein . . .“
„Deinen Karl?“ unterbrach ſie die Mutter. „Sei
ruhig, mein Schatz, den ſollſt Du haben, ich ſchwöre
es Dir!“
„Welchen Karl?“ rief Marie erſtaunt; „ich meinte
ja mein ſchwarzes Seidenkleid.“
„Welches Seidenkleid?“ rief jetzt die Mutter,
nicht minder erſtaunt.
„Das nämliche, das ich vorigen Sonntag zum
erſtenmal anhatte . . . ach Gott, ich fand nicht den Mut,
Dir das Unglück zu verraten, denn Du wäreſt gewiß
ſehr böſe geworden . . . aber, ſiehſt Du, ich kann ja
nichts dafür, im Salon ſaß jener unausſtehliche Aktuar. . .“
„Oho!“ riefen Vater und Mutter, außer ſich vor
Erſtaunen. „Aktuar Karl?“
„Derſelbe ... und da wollte ich den Salon
vermeiden und ging durch die Küche, und da hatte
es die Suſanne juſt mit der friſch geſchmolzenen Butter
zu thun; und auf einmal, da ſah ich, daß mein
a
neues Kleid ein einziger ungeheurer Fettfleck war, und
r
„Und dann?“
„Und dann zerbrach ich mir nicht wenig den Kopf,
wie ich das wieder gutmachen ſollte; ich war die ganze
Woche ſo niedergeſchlagen, und einmal in der Nacht
durchblätterte ich zehn Jahrgänge des ‚Bazar‘ und
ſuchte darin, womit ein Fettfleck am beſten zu tilgen
ej
„Ach, alſo jenes Papiergeraſchel kam nicht vom
Korreſpondieren? Du haſt keine Abſchiedsbriefe ge—
ſchrieben?“
„Abſchiedsbriefe? Wozu? . . . Nun, zuletzt fand
ich doch als beſtes Mittel das Benzin geprieſen —
und das hatt’ ich doch ſchon früher gewußt — und
und ſo ſuchte ich mir alſo in der Schublade ein paſſen—
des Arzneifläſchchen . . .“
Ah!
„Und ging heute nachmittag .. .“
„Zum roten Mohren, ich weiß es, und kaufteſt
D
„Benzin, und jetzt vor dem Schlafengehen ver—
riegelte ich meine Thüre ganz feſt — ich weiß nur
nicht, wo in aller Welt der Schlüſſel hin ſein mag —
aber der Riegel hält ja auch, es konnte mich niemand
— 302 —
überraſchen, und da breitete ich mein armes ſchwarzes
Seidenkleid über den Tiſch . . .“
„Das alſo war die ſchwarze Totendecke?“
„Und denke Dir nur, bei dem Scheine von vier
Kerzen war ich gerade daran, auf die dummen Fett—
flecke loszugehen, hatte ſogar ſchon das Benzinfläſch—
chen in der Hand und den Kork heraus, als ihr mich ſo zum
Tod erſchrecken mußtet, ich weiß noch jetzt nicht, warum.“
Herr und Frau Müller ſchwiegen, ſahen ſich aber
ganz ſonderbar an. Dann ſagte er zu ihr, indem er
die Naſe ſpöttiſch ſpitzte: „Na, Mutter, morgen in
aller Frühe ſchreibſt Du wohl, he?“
„Keinen Buchſtaben, Anton!“ rief ſie, förmlich
zornig; „der Aktuar iſt ja an allem ſchuld! Der ſoll
mir wieder kommen!“
„Der Aktuar?“ wiederholte Marie etwas zögernd,
„eigentlich, Mama, muß man gerecht ſein, der Herr
Aktuar iſt nicht am Unglück ſchuld.“
„Nicht?“
„Ich hätte ja ebenſo gut durch den Salon gehen
können, aber ich . . .“ Sie errötete ein wenig.
„Sprich, Kind, ſprich geſchwind,“ ſagte die Mutter,
„ſonſt geſchieht ein Fehler!“
„Ich wollte ihn nur ein wenig necken,“ fuhr
Marie fort Er ie for. . ü
0
„Unausſtehlich, ſagteſt Du vorhin?“
„Nun ... unausſtehlich iſt wohl doch nicht das
Rhlige Wort
„Alſo jagen wir . . abſcheulich!“ fiel der Vater ein.
„Aber, Papa!“ verwahrte ſich Marie, „im Gegen—
eit
„Ach ſo!“ rief Herr Müller, halb enttäuſcht, halb
reſigniert. „Mutter, ich fürchte ſehr, Du mußt morgen
doch ſchreiben!“
„Was man heute thun kann,“ rief Frau Müller
entſchloſſen, „ſoll man nicht auf morgen verſchieben.
Ich ſchreibe noch heute!“
*
ae
(1882.)
Heveji, Buch der Laune.
20
ae
EN zweckmäßigſte Einrichtung eines Dorf—
N 193 ſchulhauſes iſt doch unzweifelhaft die mit
8 PS
ee
3 % zwei Thüren, über deren einer geſchrieben
ſteht: „Mädchen“, über der anderen: „Knaben“. Be-
ſonders zweckmäßig aber iſt ſie, wenn auch Herr Knaben—
ſchullehrer Peter und Fräulein Mädchenſchullehrerin
Pauline im Schulhauſe ſogenannte „Naturalwohnung“
haben, natürlich nicht auf derſelben Stiege (das fehlte
noch!) oder auch nur in demſelben Flügel des Hauſes
(warum nicht gar!) — ſondern hübſch abgeſondert,
wie es den Baſen im Dorfe recht ſein kann, und dem
Herrn Kirchenpatron, und dem Herrn Kurator, und
ſo fort bis zur hohen Statthalterei hinauf, welche alle
ein Auge haben auf die Sitten des ſogenannten „Lehr—
perſonals“. Als ganz beſonders zweckmäßig aber muß
es andererſeits auch anerkannt werden, wenn der Herr
308°.
Baumeiſter die menſchenfreundliche Idee hatte, den
beiden Lehrerwohnungen, deren Eingänge einander ſo
fern liegen, je ein Fenſterlein zu gönnen hinten hinaus
auf den Kindergarten, und wenn dieſe beiden Fenſter
ſich dicht nebeneinander öffnen. Wäre dies nicht der
Fall, ſo könnten ja Herr Peter und Fräulein Pauline
trotz der nahen Nachbarſchaft gar nie ein herzlich Wört—
chen miteinander wechſeln, von dem die hohe Statt—
halterei, und der Herr Kurator, und der Herr Kirchen—
patron, und ſelbſt die Baſen im Dorfe juſt nichts zu
wiſſen brauchen, da das kein eigentlich amtlicher Ver—
kehr iſt. Iſt doch die bekannte böſe Zunge, die ehr—
ſame Jungfer Nanett, des Großkrämers Töchterlein,
ohnehin ſchon darauf verfallen, die beiden ſpöttiſch
Paul und Petronella zu nennen, bloß auf Grund eines
alten Fernrohres, mit dem ſie jenes Fenſterpaar be—
ſtreichen kann; ein rechtes Glück, daß dieſes von einem ver⸗
ewigten Großoheim herrührende Inſtrument nur für ein
Auge eingerichtet iſt und ſchon ſehr trübe Gläſer hat, denn
ein neumodiſches Doppelglas mit klaren Linſen würde
ihr vielleicht noch weit ſchlimmere Spitznamen eingeben.
Beſonders vortrefflich bewährt ſich der eben ge—
ſchilderte Bauſtil an einem Feiertag, oder nach den Lehr—
ſtunden, wenn die Schulſtuben verlaſſen ſind und im
Kindergarten unten nur die lauten Spatzen von Zweig
309°
zu Zweig hüpfen, denn die ſchwatzen ſelber jo viel,
daß ſie unmöglich das bißchen Menſchengeplauder von
Fenſter zu Fenſter hören können. Wie es eben jetzt
wieder ſtattfindet; gerade jetzt.
„Alſo heut abend iſt Sylveſter,“ ſagte Herr Peter
mit einer Wichtigkeit, als ſei es ihm nach langer Ar-
beit endlich gelungen, ein vielbezweifeltes chronologiſches
Datum unanfechtbar feſtzuſtellen.
„Ein ſchöner Abend,“ entgegnete Fräulein Pauline,
„das Jahr ſcheidet mit einem frohen Lächeln von uns.“
In der That lächelte der Himmel wie ein roſiges Mäd—
chenangeſicht, wie dasſelbige, das da aus dem Fenſter
zu ihm hinanblickte.
Dann wieder zog es plötzlich wie eine Wolke über
die Stirne des einſamen Mädchens, daß ihre Augen
davon um eine Schattierung dunkler wurden. Und
ganz ſo zog auch eine Wolke über das ſchimmernde
Firmament, erſt feuerrot, dann kupferbraun, dann grau
und immer grauer.
„Was thun Sie denn um die Neujahrſtunde,
Fräulein Pauline?“ fragte Herr Peter.
„Laubheimers waren jo gütig, mich zur Sylveſter—
Bowle zu bitten, — und Sie, Herr Peter?“
„Blaue Flaſche ... Extraſtübchen ... mit dem
Chirurgus, dem Forſtgehilfen und ſo fort.“
— 310 —
„Ohne Damen.“
„Leider ... Die anderen ſagen: gottlob.“
„Tauſchen wir,“ ſcherzte das Mädchen, „ich gehe
in die Blaue Flaſche zum Chirurgus, Forſtgehilfen und
ſo fort, Sie aber fallen bei Laubheimers ein.“
„Gewiß nicht!“ rief der junge Mann ſehr ent—
ſchieden, „was thäte ich bei Laubheimers, wo mich
niemand kümmert? Und Sie bei der Blauen Flaſche,
zwiſchen dem ledernen Feldſcher und dem klotzigen
Forſtgehilfen, . . . nein, den Gedanken ertrüge ich gar
nicht, dazu bin ich Ihnen ein zu guter . .. Nachbar.“
„Wir werden übrigens auch Blei gießen bei Laub—
heimers,“ bemerkte das Mädchen. „Um zu erfahren,
was heuer wiederum ... nicht eintreffen wird, wie
alle Jahre.“
„Das Blei, das iſt auch ſo eine Promeſſe, mit
der man nie einen Treffer macht. Nun, wenigſtens
koſtet es kein Geld.“
„Das nicht,“ ſagte die Lehrerin mit einem kleinen
Seufzer, „aber es koſtet doch immer etwas.“
„Daß ich nicht wüßte! Was ſollte es koſten?“
„Wenn Sie es nicht empfinden, dann koſtet es
Sie freilich nichts.“
„Was koſtet es alſo? Bitte, ſagen Sie es mir!
Bei unſerer guten Nachbarſchaft!“
— 311 —
„Nun denn, vielleicht .. . eine Hoffnung. Das
iſt ja doch die Münze, in der wir, d. h. meinesgleichen,
dem Geſchick unſeren ſchuldigen Tribut bezahlen.“
„Ei, wer wird denn ſo ernſt werden?“ mahnte
Herr Peter und ſuchte nach etwas, womit er ſie er—
heitern könnte. Da fiel ſein Blick auf obgedachte Wolke
an obgedachtem Himmelsgewölbe. „Sieh da,“ rief
er, „wie das unbedeutende Wölkchen dick und ſchwer
und undurchſichtig geworden iſt. Ganz ſchwer und grau,
jo recht bleigrau. .. Sehen Sie, Fräulein Pauline,
nun könnten wir auch gleich Blei gießen, auf unſre Weiſe.“
„Gut, Herr Peter,“ lachte ſie, „langen Sie mir
mal einen Löffel voll von der bleiernen Wolke dort
herab, ich will unterdes eine Schüſſel mit Waſſer füllen
zum Ablöſchen.“
„Nicht ſo, nicht ſo, liebe Nachbarin, aber Wolken
nehmen bekanntlich gewiſſe Geſtalten an, bald wie ein
Wieſel, bald wie ein Kamel, nach Polonius nämlich.
Nun paſſen Sie mal auf, und ich werde auch acht geben,
was das himmlische Blei für prophetiſche Formen an—
nimmt, denn es iſt ja ganz klar, daß eine hohe Hand
dort oben jetzt Blei gießt für zwei arme kleine Menſchen—
kinder, die ihr von ſo tief unten mit geſpanntem Auge
zuſehen.“
„Wie kindiſch, Herr Peter,“ ſchmälte Pauline,
VVV
halb ſcherzend, halb ernſthaft, aber ſie konnte doch nicht
umhin, erſt mit einem Augenwinkel und dann mit zweien,
gar bald aber mit beiden weit geöffneten Augen nach
der bedeutſamen Wolke aufzublicken.
„Sonderbar!“ rief Herr Peter, „was das Ding
ſich drollig in die Länge zieht. Jetzt ſchnürt es ſich
oben ein, immer mehr, wie ein Hals und ein Kopf
drüber. Ein Frauenkopf!“
„Ein Männerkopf,“ behauptete Fräulein Pauline,
„ſehen Sie nicht, daß er einen Vollbart hat?“
Herr Peter ſtrich ſich über ſeinen ſchönen blonden
Vollbart und rief: „Ei, wie wäre das ein Vollbart?
Was Sie dafür anſehen, iſt nichts anderes als die Büſte.“
Mit einer Art Schreck rückte Fräulein Pauline
plötzlich einen Schuh weiter ins Stübchen hinein; ſie
hatte ſich in der That etwas weit hinausgelehnt.
„Aber der Bart wächſt ja zuſehends,“ fuhr ſie
nach einer Sekunde der Verlegenheit fort.
„Im Gegenteil, die Dame ſieht, wie man zu ſagen
pflegt, von Minute zu Minute beſſer aus, ſie entwickelt
ſich zu einem rechten runden Weibchen.“
„Zu drollig, wie die kleinen Wolkenflöckchen rechts
und links heranſchießen an die Schultern, daß ſie zu
richtigen Armen werden. Ach Gott, der arme Mann!
der eine Arm iſt ihm zu kurz geraten.“
ale
„Er? Ihm? Ich ſage Ihnen ja, liebes Fräulein,
daß es eine Sie iſt. Der eine Arm ſcheint nur darum
ſo kurz, weil ſie ihn vorn über die Taille gelegt hat.“
Fräulein Pauline ließ geſchwind den Arm ſinken,
denn ſie hatte ihn juſt dort liegen, wo das Wolken—
bild nach Herrn Peters Behauptung.
„Ich kann mir nicht helfen, ich ſehe die Figur
doch für einen Mann an,“ ſagte ſie, nachdem ſie dem
Prozeß dieſer Menſchwerdung noch ein Weilchen zugeſehen.
„Und ich ganz entſchieden für eine Dame, ein
Fräulein,“ beteuerte ihr Nachbar. „Das iſt ja übrigens
meiſtens ſo mit dieſen Bleifiguren, ſie ſind zweideutig
wie rechte Orakel.“
Während ſie aber ſo fortſtritten, begannen etwas
unterhalb der Figur etliche kleine Dunſtwölkchen ſich
ſeltſam zu vermiſchen und zu verſchränken.
„Was ſoll denn da wieder werden?“ ſagte Herr
Peter auf das neue Wunder deutend.
„Das ſieht faſt aus wie ein Buchſtabe,“ meinte
Fräulein Pauline.
„Vielleicht ſchreibt jene hohe Hand gleich den
Namen der Figur darunter. Das wäre ſchön, da wüßten
wir genau, ob mit dem Bilde ein Herr oder eine Dame
gemeint war.“
„Nein, es bleibt ein einziger Buchſtabe, alſo nur
= 9511 —
der Anfangsbuchſtabe des Namens. Wahrhaftig, es ift
ein großes P.“
„Das bedeutet offenbar Pauline!“ rief Herr Peter.
„Wieſo denn?“ proteſtierte ſie, „da die Figur
ein Mann iſt? Das P bedeutet ...“
„Was bedeutet das P?“ rief Herr Peter raſch
und lehnte ſich weit heraus.
Aber das Mädchen hatte ſich ſchleunigſt in ihr
Zimmer zurückgezogen und ihr Fenſter war geſchloſſen.
Herr Peter war abends etwas nachdenklich bei
der Bowle im Extraſtübchen der Blauen Flaſche. Erſt
gegen Mitternacht taute er auf und ſchrie dann am
lauteſten, als man das große „Proſt“ ausbrachte nach
dem zwölften Glockenſchlage. Nur hielt er das Glas
merkwürdig lang in der Luft und gegen das Fenſter
hin, als ſchicke er ſein Proſt zum Fenſter hinaus. Er
hatte übrigens nicht lange mehr Geduld, ſondern em—
pfahl ſich, was ihm der Herr Forſtgehilfe faſt übelge—
nommen hätte, weil er nun rechts ohne Flankenſchutz blieb.
Herr Peter ſchritt heiß vom Punſch durch den
blanken Schnee, aber nicht heimwärts, ſondern gegen
das Laubheimerſche Haus hin, wo er doch gar nicht
geladen war. Er blickte zu den hellen Fenſtern hinauf;
dort dachten ſie augenſcheinlich noch nicht daran, ein
a
Ende zu machen. Es war recht kalt, und als Herr
Peter ſich tüchtig durchgefroren hatte, kehrte er wieder
in die Blaue Flaſche zurück. Es war denn doch das
beſte, was er thun konnte. In einer halben Stunde
war er wieder recht heiß und verſchwand abermals,
aber diesmal ohne Abſchied, um die Gefühle des Herrn
Forſtgehilfen nicht aufzuregen. Bei Laubheimers war
es noch immer ganz hell; konnten denn die heute gar
nicht fertig werden? Er trottete eine halbe Stunde.
im Schnee auf und ab, bis ihn die Zehen ſchmerzten,
und flüchtete ſchließlich nochmals in die warme Flaſche
zurück. Als er dann die Expedition an den Laub—
heimerſchen Nordpol zum drittenmal wiederholte, fand
er bereits alle Fenſter dunkel und den Schnee vor
dem Hauſe voll friſcher Fußſpuren. Er ſtieß ein ärger—
liches Wort aus, das aus einem Wetter, einem Donner
und einem Kreuz beſtand, aber nicht ganz in dieſer
Reihenfolge; dann eilte er ſpornſtreichs gegen das Schul—
haus hin. Wie er an der Mühlenecke vorbeikam, wo ein
großer Kreuzweg iſt, ſah er eine dichte Menſchengruppe
in geräuſchvoller Weiſe kreuz und quer Abſchied nehmen.
Er wartete im Schatten, bis ſie ſich zerſtreute, dann
ſchoß er mit ſehenswerter Behendigkeit hinter einer einzel—
nen weiblichen Geſtalt her, die in die Schulgaſſe einbog.
Kurz vor des Großkrämers Hauſe holte er ſie ein.
„„ 3
Sie ſchrie auf, als er ſie anredete. Er ergriff
ihre Hand und ſah ihr ſtramm in die Augen.
„Ich wollte nur noch einmal fragen, liebes Fräu—
lein, was das P bedeutet hat,“ ſagte er; „für mich
bedeutet es Pauline.“
Ihre Hand zitterte heftig in der ſeinen, ſein Ge—
ſicht glühte vom Punſch, von der Kälte, von zärtlichem
Verlangen, er hielt ſich nicht länger und ſchlang einen
Arm um ihre Schultern.
„Das Wort! das Wort!“ rief er dringender,
und ſie konnte es ja gar nicht ausſprechen, weil er
ſeine Lippen ſo feſt auf die ihren gedrückt hatte.
Da ſcholl von oben ein ſcharfes, ſpitzes, höhniſches
Lachen herab und ein Guckfenſterchen ſchloß ſich klirrend.
Das verbrecheriſche Paar fuhr jäh auf und floh von
der gefährlichen Stelle hinweg. Erſt vor dem Schul—
hauſe hielt es ſtill.
„O weh, das war Jungfer Nanett,“ ſagte Fräu—
lein Pauline mit Thränen in der Stimme. „Ich bin
verloren.“
„Gewonnen!“ rief er und ſchloß ſie in ſeine Arme.
„Hier ſteh' ich und verlange Dich zur Frau, nicht
von Vater und Mutter, ſondern von Dir ſelbſt.“
Sie konnte nichts antworten als: „Mein Peter,
mein lieber Peter!“
— 317 —
„War das vielleicht auch der Name, den jenes P
für Dich bedeutete?“ fragte Herr Peter nach einem
langen Augenblick des Glückes.
Ein Kuß war ihre Antwort.
„Siehſt Du nun, wir haben beide gut geſehen,“
ſagte Herr Peter, als ſie endlich nach der Klinke griff.
„Das Wolkenbild war für mich ein Mädchen, das
Pauline hieß.“
„Und für mich ein Mann, der gottlob Peter heißt.“
„Und glaubſt Du nun ans Bleigießen in der
Sylveſternacht?“
„Wie meine Schulmädchen ans Einmaleins.“
Die Thüre knarrte in ihren Angeln, das ver—
ſchlafene Geſicht des Schuldieners wurde ſichtbar.
„Gute Nacht, Peter.“
„Gute Nacht, Pauline.“
Deue weihnachksgelchichten.
RR
Ma
1728
I.
Das Christkind.
(1887.)
8 1 nachtsglanz ſchlug auf einmal in die Augen
der Harrenden wie die Flamme eines Blitzes. „Mama!“
klagte Hans, „Lottchen hält mir die Augen zu.“ In
ſeiner Verwirrung merkte es der kleine Mann gar nicht,
daß er ſelbſt ſich mit beiden Händen die geblendeten
Augen zuhielt. Die übrigen riefen nichts als „Ah!“
und wieder „Ah!“ Nur Onkel Joſef, aus Paris, der
ſich ja immer etwas apart ausdrückte, rief „O!“
Und nun wurde die Schwelle des Himmelreichs
überſchritten. Mama führte die drei Kinder an der
Hand; wie ſie das mit zwei Händen zuwege brachte,
weiß nur ſie allein. Im Saale war es hell und warm,
wie im Sommer um Mittagszeit. Ein Wunder, daß
Heveſi, Buch der Laune. 2
„„
der weiße Schnee nicht ſchmolz und die kriſtallklaren
Eiszapfen, von denen der gewaltige Tannenbaum ſchim—
merte und funkelte. Der Schnee war nämlich Baum—
wolle, mit welcher Chriſtine alle Zweige ſorgfältig be—
legt hatte, und die Eiszapfen waren auch nicht aus
gefrorenem Waſſer verfertigt, ſondern aus Glas, wes—
halb Onkel Joſef das Wunder nicht einmal ſo groß
fand. Und Kerzen brannten ſo viele, als wäre Papa
ein Lichtzieher; und die Nüſſe dazwiſchen waren alle
vergoldet, o viel beſſer noch als Onkel Joſefs Siegel—
ring; und bunte Zuckerſachen baumelten an allen Zweigen,
o ein ganzer Zuckerbäcker war da aufgehängt. Und
was nun erſt alles unter dem Baume lag und auf
den Tiſchen rings an den Wänden ſtand! Ein Zirkus,
eine Menagerie, zwei Küchen, eine Waſchtoilette, ein...
eine ... ein... Nein, fo brav war Chriſtkind noch
niemals geweſen, niemals! Ob es wohl heuer wieder
perſönlich kommen wird, das liebe Chriſtkind?
Da iſt es!
Ein freudiger Schreck fuhr durch alle die kleinen
Herzen. Hans klammerte ſich zwar ängſtlich am Fenſter⸗
vorhang feſt, den er in ſeiner Verwirrung für Mamas
Kleid hielt, verſicherte aber ſeine beiden Schweſterchen, es
ſei kein Grund zur Furcht vorhanden, er werde ſie ſchon
beſchützen. In der That war der Anblick übernatür-
— ——
lich. Die Thüre von Mamas kleinem Salon hatte
ſich lautlos geöffnet, und auf der Schwelle ſtand das
Chriſtkind in Perſon. Es war ſehr groß, weit größer
als Mama, und hatte ein Geſicht wie ein Engel. Zwei
Wänglein hatte es wie Roſen, und einen ſo kleinen
roten Mund, und ſo große blaue Augen, und ſo lange
gelbe Haare, die floſſen über das milchblaue Kleid
rechts und links bis an die Kniee herab wie ein
goldener Mantel. Ein Heiligenſchein mit vielen hellen
Goldſtrahlen umgab das ſtille, lächelnde Antlitz. Und
ein himmelblaues Seidenband war ſein Gürtel, und in
der Hand hielt es aufrecht einen hohen, grünen Stengel
mit einer ſchneeweißen Lilie an der Spitze. Selbſt
Onkel Joſef konnte nicht umhin, dicht vor ſein ewiges
Augenglas noch einen Kneifer auf die Naſenwurzel zu
ſetzen, was er meiſtens that, wenn es ihm der Mühe
wert ſchien, . . . was allerdings nicht oft der Fall war.
„Iſt das Chriſtine?“ fragte er die Hausfrau leiſe.
„Gewiß,“ raunte dieſe zurück.
„Sappp!“ rief er, faſt zu laut, und verſchluckte
etwas; vermutlich die Silben „riſti“; das pflegt näm—
lich ein Pariſer in ſolchen Fällen zu thun.
In der That, Mühmchen Chriſtine hatte ſich ſeit
den zwei Jahren, daß er ſie nicht geſehen, merkwürdig
entwickelt. Damals in Tobelbad war ſie ſo ein langes
— 324 —
Etwas geweſen, mit langen Armen und Beinen, mit
langen Fingern an den langen Händen, und nichts als
Ecken rundherum, an denen er ſich immer ſtieß, wenn
fie ſeinen Arm nahm, . .. was fie viel zu oft that,
bis dann plötzlich jener große Verdruß kam, die fatale
Geſchichte mit dem Hut . . . „In Spanien tauſend und
drei, da biſt du auch dabei“ u. ſ. w. Ein ſolcher
Schabernack! Ihm, dem ruhigen Onkel Joſef, der
nur der Verwaltung ſeiner Geſundheit lebte, dieſer
„gußeiſernen, innen weiß emaillierten“ Geſundheit, wie
ſie einmal geſtichelt hatte! Ihm, der gar nie in Spanien
geweſen war, auch bei weitem keine tauſend und drei
Lippen in ſeinem Leben gekü . .. War es ein Wunder,
daß er damals verhältnismäßig ſo raſch aus Tobelbad
verſchwunden und erſt dieſen Abend wieder erſchienen
war? „Teuerſter Joſef,“ hatte ihm ſeine Schweſter
nach Paris geſchrieben, „das Weihnachtsgeſchenk, das
ich von Dir erwarte, biſt Du ſelbſt; ich rechne ſicher
darauf und nehme auch durchaus kein anderes an.“
Auf eine ſo ſchmeichelhafte Einladung kann ein Pariſer
freilich nicht nein ſagen.
Und nun that das Chriſtkind einige Schritte vor—
wärts. Die Blumen des perſiſchen Teppichs ſchienen
bunter aufzublühen, wo es hintrat mit ſeinen lautloſen
Engelsſchuhen. Leiſe ſchwankte der Lilienſtengel in
32
ſeiner Hand, als es unter dem Kronleuchter ſtehen
blieb, deſſen Licht wie ein goldiger Schauer über den
Heiligenſchein und den goldenen Lockenmantel rieſelte.
Und nun öffnete es die roten Lippen und ſprach mit
einer gar hellen, weichen Stimme das Folgende:
„Ich bin das Chriſtkind wunderhold
Und will euch ſingen und ſagen
Vom Bäumchen, das andere Blätter gewollt
Juſt vor einigen Tagen.“
„Vom Bäumchen, das andere Blätter gewollt,“
brummte Onkel Joſef, „das iſt ja, wenn ich mich recht
erinnere, von Rückert; ſchon als Kind hab' ich es
auswendig lernen müſſen, . .. leider.“ Das Chriſt—
kind aber hörte nicht, was man in Paris brummte,
ſondern fuhr fort:
„Erſt wünſcht' es ſich ſtatt Nadeln Laub, —
Und ſieh, da kriegt' es Blätter;
Doch ach, bald wurde des Winters Raub
Dieſe Gabe der Götter.
Nun wünſcht' es ſilberne Blätter ſich, —
Gleich wuchſen ſie, groß wie Thaler;
Da kam ein Bauer und mörderlich
Rupfte das Bäumlein kahl er.“
„Es iſt wenigſtens umgeformt,“ kritiſierte Onkel
Joſef, „andere Strophen, kreuzweis gereimt, und das
ganze kürzer gefaßt; alſo ein Blauſtrumpf iſt ſie
926
geworden.“ Das Chriſtkind aber hörte nicht, was in
jenen Bart gebrummt wurde, ſondern fuhr fort:
„Nun wünſcht' es ſich goldene Blätter gar, —
Flugs ſproßten ſie, gelb wie Dukaten;
Da kamen drei Räuber und plötzlich war
Die ganze Geſchichte mißraten.
Nun wünſcht' es ſich Blätter von blankem Glas, —
Gleich fühlt' es ſie klirren und zittern;
Da kam der Sturm und blies mit Geblas
Die gläſerne Pracht zu Splittern.
So ſtand's, ach, als juſt ich ging durch den Wald,
Sah nackend das Bäumchen frieren.
„Du Armes, ſagt' ich, ‚nun warte, will bald
Mit anderen Blättern dich zieren.“
„Schau, ſchau, ein ganz neues Finale,“ ſagte
Onkel Joſef zu einem Mandarin aus Porzellan, der
neben ihm ſtand. Aber dieſer antwortete nicht und
auch das Chriſtkind ſchien nicht zu hören, ſondern
fuhr fort:
„Beſteckt' es mit hellen Kerzelein,
Umſchlang es mit Kettlein, papiernen,
Bajazzo und Püppchen baumelten drein,
Goldnüſſe an goldenen Zwirnen,
Und Zuckerplätzchen und Marzipan
Und Schokolade-Huſaren
Und Knallbonbons in Goldfiligran
Hing ich einzeln auf und in Paaren.
— 327 —
Da ſtand denn das Bäumchen ganz verdutzt,
Harzthränen in allen Augen:
„Ach, Chriſtkind, für wen Haft jo ſchön mich geputzt?
Ach, Chriſtkind, für wen ſoll das taugen?“
Da jagt’ ich: ‚Ei nun, für Lottchen und Hans
Hab' ich dich geputzt .. . und endlich
Für die Gretel auch, die kleinſte; 's iſt ganz
Und gar doch ſelbſtverſtändlich.“
„Für die Lott' und die Gret' und den Hans? ſchrie's auf
Vor Freuden, ‚das ift ja prächtig!‘
Und ſo bracht' ich's denn her in raſchem Lauf
Und ſtellt's in den Winkel bedächtig.
Und dem Hans und dem Lottchen und der Gret'
Gehört es und keinem andern, —
Doch das Chriſtkind, dieweil's ja ſchon etwas ſpät,
Muß ſchleunig jetzt weiter wandern.“
„Ei, ei, nicht übel,“ raunte Onkel Joſef dem
Chineſen ins Ohr, deſſen Wackelkopf darauf leiſe „ja
ja“ nickte. Das Chriſtkind aber merkte das nicht,
ſondern ſenkte nur, bereits zum Gehen gewendet, ganz
ſachte ſeinen Lilienſtengel und berührte damit ſegnend
ein Haupt nach dem anderen. Nur das des Chineſen
ließ es aus, wahrſcheinlich um deſto länger auf Onkel
Joſefs etwas gelichtetem Scheitel verweilen zu können,
den es kaum merklich mit dem Lilienkelche kraute.
Eine eigentümliche Empfindung. Er fühlte den Segen
— 323 —
durch ſeine ganze rechte Seite hinabrieſeln bis in die
Fußſohle und dann durch die ganze linke Seite wieder
heraufquellen bis ans Herz. Vielleicht hatten auch
die Kinder etwas Ahnliches empfunden, denn die kleine
Gret' zuerſt, nach ihr aber auch die beiden größeren,
waren, vom Zauber dieſes geheimnisvollen Weſens
überwältigt, vor dem Chriſtkind in die Kniee geſunken
und küßten ihm den Saum des Kleides und die Spitzen
der Finger. Und Mama und Papa knieten auch da,
nur der einzige Chineſe nicht, und um dieſem nicht
zu gleichen, kniete ſchließlich auch Onkel Joſef nieder
und drückte ſeine Lippen auf eine Hand, die ihnen
allerdings ein Streckchen weit entgegenkam. Er ver—
gaß ſogar wieder aufzuſtehen, denn dieſe Hand war
eine zu große Überraſchung für ihn. War ſie doch
weiß und glatt geworden ſeit zwei Jahren, und fo
merkwürdig voll, ... das Ringlein daran mit dem
blauen Stein kannte er gar wohl, damals war es an
der inneren Seite dick mit weißer Stickwolle umwickelt,
denn es war viel zu weit für den hageren Backfiſch—
finger, jetzt aber ... keine Spur von der Stickwolle,
die er immer fo abſcheulich gefunden, und .. . und trotz—
dem ſaß der Ring jetzt ganz feſt, Onkel Joſef mußte
ſich ſchon beinahe anſtrengen, um ihn herunterzukriegen.
Und als ihm dies endlich gelungen, da war der Finger
— 329 —
plötzlich verſchwunden, und mit ihm die Hand und das
ganze Chriſtkind.
„Lieber Joſef, Du könnteſt vielleicht jetzt wieder
aufſtehen,“ ſagte ſeine Schweſter lächelnd.
Er gehorchte in einer leichten Verwirrung und
ſtaubte ſich dann ſorgfältig beide Kniee ab, als wäre
der Salon makadamiſiert, wie der Boulevard Saint—
Michel, und nicht mit einem weichen Teppich belegt
geweſen. Hierauf zog er ſeine Uhr und ſchlang einen
loſen Knoten in die goldene Schnurkette; ſo konnte er
nicht vergeſſen, Chriſtinen ihren Ring wiederzugeben.
Einſtweilen betrachtete er ihn ſehr ſorgfältig und be—
gann einen erſchöpfenden Vortrag über die grünliche
Farbe der längere Zeit getragenen Türkiſe, welche, wie
ihm ein Pariſer Juwelier verraten, aus der menſch—
lichen Haut Fett an ſich zögen und dadurch jenen
Stich ins Grüne erhielten. Da indeſſen Zirkus, Me—
nagerie, Küche und Waſchtoilette ringsum ſchon in
vollem Betriebe waren, ſo erſchien ſein Vortrag wohl
nicht recht zeitgemäß, auch merkte er bald, daß er kein
Publikum hatte. Da dachte er ſich dann: du drückſt dich
jetzt ganz ſachte und machſt mit Joſefinen einen Spazier—
gang über den Boulevard des Italiens ... d. h.
über den Opernring, ſchöpfſt einen Eimer Luft und
kommſt dann ebenſo ſachte wieder. Mit dieſem Vor—
— 330 —
ſatz begann er ſich in der That der Thüre zuzuſchlängeln,
als er an der Ecke der Zirkusgaſſe, wo Hans ſoeben
eine Vorſtellung in der höheren Pferdedreſſur gab, un—
vermutet auf ſeine Schweſter ſtieß.
„Nun, hat ſie es nicht reizend gemacht?“ dieſen
Revolver ſetzte ſie ihm auf die Bruſt. „Seitdem die
Kinder größer werden, macht ſie das alle Weihnachten
ſo, und ſeitdem ſchwören die Kleinen auf das Chriſt—
kind. Es liegt doch eine gewiſſe Poeſie darin, nicht
wahr? Und das Gedicht hat ſie auch ſelbſt gemacht,
ich war ganz erſtaunt darüber. Mit gar nicht üblem
Humor hat ſie das lange Zeug von Rückert kurz ſkiz—
ziert und der Gelegenheit angepaßt. O, Chriſtine hat
ſich ſeit zwei Jahren ſehr ſchön entwickelt. Damals,
weißt Du, war ſie eine wilde Hummel.“
„Das iſt wahr, ihren Stachel hab' ich oft genug
empfunden,“ ſagte Onkel Joſef, „ſie war ſtets auf dem
Kriegsfuße mit mir. Ich weiß auch gar nicht, ob
ich ihr denn ſchon den ſchlimmen Streich mit dem Stroh—
hut ganz verziehen habe.“
„Ei, davon weiß ich ja gar 1 hat man
mir das ſo ganz verſchwiegen?“
„Nun, Du weißt, ich trug damals einen Stroh—
hut mit breitem Bande. Das Band war weiß und
hatte fünf ſchwarze Linien quer durch; man trug ſie
damals jo. Eines Tages nun gehe ich ganz ruhig
über die Promenade, da begegnet mir der Geiger
Fröhlich, guckt ſcharf nach meinem Kopfe, lacht mich
an und ſingt: „In Spanien tauſend und drei, da biſt
du auch dabei. Ich denke mir, der Mann hat ge—
trunken und gehe weiter. Da treffe ich den Kapell—
meiſter Jobſt. Der guckt mir auch nach dem Kopfe,
lacht auch und dudelt: ‚Sn Spanien tauſend und drei,
da biſt du auch dabei“. Haben denn heut alle Muſiker
zu ſtark gefrühſtückt? frag' ich mich und ſchlendere
weiter. Ich merke aber, daß von Zeit zu Zeit immer
wieder einer lächelnd nach meinem Kopfe guckt, und als
ich mich ſchließlich auf einen Stuhl ſetze, geht gar eine
Geſellſchaft von Damen rund um mich herum und lieſt
gleichſam von meinem Hute ab: ‚Sn Spanien tauſend
und drei, da biſt du auch dabei‘. Sapppriſti! ruf
ich und nehme den Hut ab, da ſehe ich, daß auf die
fünf Linien des Bandes, als wären es Notenlinien,
die ganze Melodie in Noten aufgeſchrieben iſt, ganz
korrekt: „In Spanien tauſend und drei, da biſt du
auch dabei‘. Ich war außer mir vor Zorn, ich ſah
mich als Geſpött von ganz Tobelbad und . . .“
„Das iſt allerdings böſe, aber woher weißt Du,
daß ſie es gethan?“
„Woher? Als ich ihr eine Stunde ſpäter be—
gegnete, ſah ſie ſogleich nach meinem Hut und rief un-
willkürlich: „Ach Gott, nun muß ich mir weiße Tinte
kaufen!“ Ich hatte nämlich das Band mittlerweile
ſchleunigſt durch ein ſchwarzes mit weißen Linien er—
ſetzen laſſen. Und fo hat fie ſich halb in ihrer Über⸗
raſchung, halb in ihrem Mutwillen verraten.“
„Das hab' ich nicht gewußt. Ja, ſie war ein
Unband damals. Aber Du halt fie auch oft geneckt,
und vor allen Leuten. Gerade fo mit vierzehn Jahren
nimmt ein Mädchen das gern übel. Ich erinnere mich
ſelbſt, wie Du einmal auf der Promenade ihre lange
Figur karikiert haſt. Du legteſt Deinen Spazierſtock
an ſie, wie einen Zollſtock, einmal und dann etwas
höher noch einmal, und ſagteſt: ‚Ach, Du biſt ja noch
ein ganz kleines Ding, erſt zwei Stock hoch.“ Ich
ſah ſie an, ſie wurde nicht rot, ſondern blaß; ſie em—
pfand eben ſchon wie ein großes Mädchen.“
„Sie verſtand eben keinen Scherz,“ meinte Onkel
Joſef, der für ſeine Scherze Verſtändnis erwartete.
„Übrigens hat ſie mir ja nichts geſchenkt. Ich ſcherzte
öfters über ihre auffallende Länge, mein Gott, in
harmlofer Weiſe, wie ja meine Art iſt. Ich ſagte
ihr zum Beiſpiel einmal: „Chriſtine, Du biſt an—
haltend wie das Regenwetter“. Darauf trumpfte fie
mich aber mit dem ſchlechten Witz ab: ‚Monfteur‘ ...
das Sollte auf mein Pariſertum anſpielen ... „Mon-
ſieur, um Ihre Hand werde ich nie anhalten.“ Das
war doch gewiß ſpitz genug.“
„Hand aufs Herz, Joſef, das war Notwehr.“
„Auch gut; aber ich machte wenigſtens immer
gute Witze, wenn ich ſie neckte. Weißt Du, was ich
ihr auf ihren Stich erwidert habe? ‚Liebe Chrijtine‘,
ſagte ich, einmal wirſt Du doch die Geiſtesgegenwart
verlieren; ich gehe nämlich jetzt fort und da verlierſt
Du die Gegenwart meines Geiſtes.“ War das etwa
nicht fein?“
„Sehr, lieber Joſef.“
„Und ich gehe fort und komme nicht mehr wieder,‘
fügte ich hinzu, vielleicht im Ton einer leiſen Drohung,
das iſt ja möglich. Aber weißt Du, was ſie darauf
erwidert hat? ‚Nun,‘ ſagte ſie, ‚dann beweiſeſt Du
nur, daß Du ein Menſch biſt.“ — ‚Wieſo?“ frage ich.
— „Das ſteht ja ſchon im alten Liede,‘ jagt ſie und
trällert nach bekannter Melodie: „Aber der Menſch,
wann der fortgeht, der kommt nimmer mehr.““
Die Schweſter lachte und fand den Trumpf im
Grunde gut. Onkel Joſef lachte auch und empfahl
ſich, auf eine halbe Stunde.
Er zog im Vorzimmer den Pelz an, auch die
Winterhandſchuhe, ergriff den Stock und ſetzte ſich den
— 334 —
ſchimmernden Cylinder auf. Dann zog er ein an—
mutig geſchweiftes Meerſchaumpfeifchen aus dem YFut-
teral, ſtopfte es mit echtem franzöſiſchen Caporal,
zündete es an, paffte etlichemale, öffnete endlich die
Thür, trat über die Schwelle und . ..
Verſteinert blieb er ſtehen. Er hatte die unrechte
Thür geöffnet und war nicht auf den Vorplatz hinaus-,
ſondern in eine Stube hineingetreten. Niemals in ſeinem
Leben hatte er eine ſolche geſehen. Eine große Puppen-
ſtube für eine große Puppe, vollgeſtopft mit den putzig—
ſten Dingen, brauchbaren und unbrauchbaren, bunt
durch einander. Wände, Decke und Möbel mit Zitz
überzogen, weiß mit ſchmalen hellblauen Streifen, und
die Bordüren ſämtlich aus ähnlichem Zitz, aber hell—
blau mit ſchmalen weißen Streifen. Und über alle
Wände hin, in allen Ecken, auf allen Möbeln ein
Krimskrams von Nichtſen, die wie Etwas ausſahen.
Auf den erſten Blick ein genial arrangiertes Boudoir,
ein wahres Stillleben von eleganten Kleinigkeiten in
geſchmackvoller Zuſammenſtellung, näher beſehen jedoch
nichts als niedlicher Plunder. Da waren Bonbon—
nieren, die niemand mehr mochte, abgelegte Fächer,
Tanzordnungen aus mehreren Generationen, verwelkte
Ballbouquets von jener zarten Fadheit der Farben,
wie Makart ſie liebte, zierliche Kränze von Vergiß—
_ a
meinnicht oder Immortellen über verblichenen Photo—
graphien, kleine Geſtelle voll mit Gott weiß was,
Tiſchdecken aus Dingen, nicht zu enträtſeln, Kiſſen aus
namenloſen Beſtandteilen, und in der Mitte hing eine
Ampel, in deren roſigem Scheine Chriſtine ſelbſt da—
ſtand. Den Lilienſtengel und den Heiligenſchein hatte
ſie ſchon abgelegt, aber ſie trug noch immer das glatte
milchblaue Engelskleid mit dem himmelblauen Gürtel—
band und darüber das loſe Blondhaar.
Der Anblick des Geſtiefelten und Geſpornten, den
fie ſogleich erkannte, ſchreckte ſie nicht. „Ah, monsieur
Joseph macht dem Chriſtkind feinen Gegenbeſuch,“
ſcherzte ſie und reichte ihm eine Hand. „Darauf war
ich nicht gefaßt, aber um ſo mehr weiß ich die Ehre zu
ſchätzen. Bitte, Onkel Joſef, da iſt ein beſonders
paſſender Seſſel für Dich, mit Seitenlehnen. Ich ſitze
abſichtlich auf dieſem Stutzſtühlchen ohne Lehne, weil
es mich veranlaßt, mich recht gerade zu halten, ..
jo zum Beiſpiel.“ Und ſchon ſaß ſie kerzengerade auf
dem „Puff“ und Onkel Joſef im Lehnſtuhl, mit beiden
Armen flach auf den Armlehnen; ſie ſelbſt hatte ihm
dieſe Extremitäten ſorgfältig ſo hingelegt. Glücklicher—
weiſe war er nicht überrumpelt genug geweſen, den
Hut aufzubehalten, nur Pelz und Handſchuhe hatte er
noch an und Stock und Pfeife in der Hand.
— 336 —
„Onkel Joſef, ſo ſitzt man im Schlitten, wenn
man nach Sibirien deportiert wird,“ lachte Chriſtine;
„nun, da haſt Du noch ein Kiſſen, die Kniee zu
wärmen.“
Er war etwas verlegen und beſchäftigte ſich da—
her vorderhand mit dieſem Kiſſen, das ihm ſehr merk—
würdig vorkam. „Ein ſehr ſchönes, reiches Kiſſen,“
ſagte er endlich, „ſehr geſchmackvoll, vermutlich auch . ..
entſprechend teuer?“ Denn ein Pariſer kennt das ſofort.
Chriſtine machte ganz runde Augen. „Teuer?“
rief ſie, „ich hab' es ja ſelbſt gemacht; etwas Seiden—
faden hat's gekoſtet, ſonſt nichts.“
„Aber der Rohſtoff,“ meinte Onkel Joſef und
ſtrengte ſein Augenglas ein wenig an, „ich ſehe da
Gold, Perlen, Brokat . . .“ Denn in Paris lernt man
dergleichen auf den erſten Blick erkennen.
„Ach ſo,“ lachte ſie, „laß einmal ſehen; woraus
hab' ich denn das eigentlich fabriziert? Dieſer Brokat
iſt im Grunde die unrechte Seite des einzigen Seiden—
lappens, der an Tantens altem Arbeitsbeutel noch
brauchbar war, aber auch nur noch auf dieſer Seite.
Ich habe nur etliche farbige Perlen aufgenäht, um die
Lücken des verkehrten Muſters zu füllen. Die vier
Roſetten in der Mitte, . . . richtig, die ſtammen von
dem alten Lehnſtuhl, der vorigen Winter in den Koch—
— —
herd wanderte; ich habe ſie jedoch mit Goldfaden aus—
genäht, den ich aus der Einfaſſungsſchnur desſelben
Möbels herauszog. Es macht ſich ganz prächtig, nicht
wahr? Was dieſen bordeauxroten Atlas betrifft, geht
er, wenn ich mich recht erinnere, auf einen Capuchon
Großmamas zurück; da er ſchon ziemlich fadenſcheinig
iſt, mußte ich ihn als Rüſche verwenden, um den Effekt
zu retten. Dieſe ſchwarzen Spitzen, die ſo koſtbar
dreinſchauen, habe ich aus jener alten Bonbonniere
herausgetrennt, und mit dieſer rotſeidenen Schnur iſt
einſt kein Großvezier erwürgt, ſondern das Leibchen
eines Zigeunerkoſtüms aus Mamas Brautzeit einge—
ſchnürt worden. Die untere Seite des Kiſſens aber
iſt ſchwarzer Taffet, . . . doch nein, wo der her iſt,
das kann ich Dir gar nicht ſagen, Onkel Joſef, das
würde ſich nicht ſchicken.“
„Nein, ein Blauſtrumpf iſt ſie nicht,“ dachte er
halblaut.
Dann führte ſie ihn im ganzen Zimmer umher
und erklärte es ihm im einzelnen. Er hörte nicht
genau auf die Worte, er hörte nur ihre Stimme perlen
und folgte mit den Augen ihren Armen, wenn ſie ſich
hoben, und ſie ſchienen ihm gar nicht mehr ſo lang
wie vor zwei Jahren. „Auch Deine Stimme hat ſich
zu ihrem Vorteil geändert, Chriſtine,“ ſagte er einmal,
Heveſi, Buch der Laune. 22
— 338 —
über welches „Auch“ ſie ſich einen Augenblick beleidigt
ſtellte, dann aber, um des lieben Friedens willen, ſich
entſchloß, es als Schmeichelei aufzufaſſen. Die muntere
Plauderei wurde dadurch nicht geſtört und dauerte
ziemlich lange, bis Onkel Joſef ſich plötzlich beſann:
„Halt, ich wollte ja fort, einen Gang im Freien
zu thun; Joſefine wartet.“
„Joſe . . . fine?“ ſtieß fie mühſam hervor und
trat weit von ihm hinweg.
„Ja wohl,“ ſagte er mit einem gewiſſen Feuer,
„ich ſehne mich förmlich nach ihr. Nur ſchwer könnt'
ich ſie den ganzen Abend miſſen.“
Sie richtete ſich ſtolz auf und ſagte, ſo kalt ſie
konnte: „Gehen Sie, Monſieur.“
„Schau, ſchau,“ neckte er, „Du wirſt doch auf
meine alte Joſefine nicht eiferſüchtig ſein?“
„Eiferſüchtig?“ fuhr ſie auf und ſetzte dann mit
einer gewiſſen Förmlichkeit fort: „O, Monſieur, welch
ein Recht hätte ich dazu? Sie find ja frei, ... das
wird wohl in Paris ſo Mode ſein.“
„Gewiß, liebes Kind, iſt das Mode; jeder Mann
hat dort feine Joſefine, die ihn nie verläßt; ſelbſt Ehe⸗
manner. 22.4
„Pfui, Onkel Joſef,“ rief fie empört. „Ich ſollte
Dir gar nicht weiter zuhören, wenn Du ſolche Dinge
— 339
erzählſt, aber ich bin jetzt glücklicherweiſe ſchon ein
großes Mädchen und habe einen Begriff von der Welt.
Übrigens haſt Du ja auch ſchon vor zwei Jahren in
Tobelbad immer von ihr geſchwärmt, von dieſer ...
Perſon, die immer mit Dir zu reiſen ſcheint. Daß
ich Dir's nur einmal ſage, als erwachſenes Mädchen
darf ich es ja, . .. ſchon damals, obgleich ich ein
Kind war, hat mich dieſes Verhältnis mit Abſcheu er—
füllt. Wenn Du ſo plötzlich von uns wegliefſt, um
mit Joſefinen im Walde zu luſtwandeln, hätte ich oft
weinen mögen vor Entrüſtung. Und dann wieder war
ich neugierig, ſie einmal zu erblicken; wer weiß, ich
hätte ihr vielleicht etwas Unartiges geſagt oder ge—
than, aber kein Menſch kannte ſie, unter die Leute
gingſt Du mit ihr nicht, vermutlich weil ſie nirgends
zugelaſſen worden wäre. Freilich, ich war damals
noch ein Fratz, ein ſogenannter Backfiſch, und die
haben meiſtens ſolche Mucken; heute iſt mir das ganz
gleichgültig, o ganz und gar, aber damals ... aus
bloßem Arger, ſiehſt Du, weil Du mit ihr eine Land—
partie gemacht hatteſt, ſpielte ich Dir den Schabernack
mit dem Hute, damit Dir Don Juan jeder, der Dich
ſah, zurufen ſollte: „In Spanien tauſend und drei, da
biſt du auch dabei.“
„Chriſtine!“ rief Onkel Joſef, der dieſen plötz—
— 340 —
lichen Ausbruch mit einem eigentümlichen Lächeln,
ordentlich wie beluſtigt, angehört hatte. „Iſt es denn
wahr, Chriſtine, darum haſt Du es gethan?“
Er griff nach ihrer Hand, aber ſie ſtieß die ſeine
zurück und ſprudelte im Zorne weiter: „Ja wohl, und
damit Du nur alles weißt, ich hatte gerade damals
einen beſonderen Grund dazu. Ich war ja ein när—
riſches Kind und wurde als ſolches behandelt, beſonders
von Dir, abſcheulicher Don Juan, aber ich war Dir
darum doch ... doch ... ich war Dir eine gute
Nichte. Und da hatt' ich einſt den kindiſchen Einfall,
eine rote Roſe ins Schlüſſelloch Deiner Thüre zu ſtecken.
Ich hätte es nicht thun ſollen. Und als ich dann
hörte, daß Du anderen Tags mit Joſefinen über Land
fahren wollteſt, da reute mich's und es kochte ſo in
mir auf und ich eilte hin, was ich laufen konnte, um
die Roſe geſchwind wieder wegzunehmen. Aber da
war fie ſchon fort. O, was hab' ich mich damals
geärgert! Mir war ganz wurmbergeriſch zu Mute!
Ich dachte mir nämlich, Du würdeſt ſie ſogleich Jo—
ſefinen ſchenken.“
„Alſo von Dir war ſie?“ rief Onkel Joſef ganz
verklärt. „O, ich habe ſie lange verwahrt; drei Tage,
glaub' ich.“
„Du dachteſt vermutlich, fie käme von ... ihr?“
a
„Ach Gott nein, Joſefine ſchenkt niemals Blumen
und nimmt auch keine geſchenkt. Sie iſt nicht ſo ſenti—
mental. Eine kleine brünette Pariſerin, nicht ohne
Feuer, aber ohne eigentliches Herz. Fein iſt ſie auch
nicht, das muß ich geſtehen. Ich könnte ſie z. B. in
keinen Salon mitnehmen, ſie würde von keiner Dame
neben ſich gelitten werden. Und dennoch, ſiehſt Du,
kann ich ohne ſie nicht leben. Abſolut nicht! Ich liebe
fie nicht jo wie Dich ... Denn, daß Du es nur
weißt, Du ſüßes Chriſtkind, ich liebe Dich, ich bete
Dich an, wie vor einer Stunde auf den Knieen . ..“
er ergriff ihre beiden Hände und zog die Erglühende
an ſich .. . „aber ich liebe fie anders, ganz anders,
und wenn Du Dich mit meiner Joſefine verſöhnen
willſt, ja dann ſollſt Du mein Weib, meine Herrin,
meine Göttin ſein ...“
Jetzt endlich wurde ihm der Pelz etwas hinder—
lich und er warf ihn mit einem Ruck ab, um Chriſtinen
in ſeine Arme zu ſchließen. Sie wollte ſich wehren,
aber ſie mußte ihn doch wiederküſſen; ſie mußte. Sie
vergaß ganz an Joſefinen und dachte nur an Joſef.
„Ich will ſie Dir vorſtellen, ſogleich,“ ſagte er,
als dieſe Epiſode vorüber war.
„Aber . . .“ wandte ſie ſchüchtern ein.
„Kein Aber!“ rief er. „Du biſt ein unwiſſendes
— 342 —
Kind. Sieh her, hier ſteht meine Joſefine, verſöhne
Dich mit ihr.“
Er zog ſeine Pariſer Meerſchaumpfeife aus der
Taſche und hielt fie ihr anmutig mit zwei Finger—
ſpitzen hin.
War das Scherz? War das Ernſt? Sie traute
ihren Ohren nicht. Aber er beharrte durchaus darauf:
„Erfahre denn, Du unſchuldvolles Chriſtkind —
und das ſoll meine Rache für den Don Juan-Hut
ſein —, erfahre, daß der Franzoſe ſeine Tabakspfeife
‚ma Josephine‘ nennt. Josephine erwartet ihn mit
Ungeduld, er geht mit Josephine ſpazieren, auf den
Boulevard und über Land; ſogar nach Tobelbad nimmt
er ſie mit, wo ſie ſich dann die grimmige Feindſchaft ge—
wiſſer junger Damen zuzieht, welche nicht genug Fran—
zöſiſch wiſſen und aus Mißverſtand ſogar Roſen aus
Schlüſſellöchern wieder zurücknehmen wollen. Kurz,
er kann ohne Josephine nicht leben, und obgleich ſie
nicht ſalonfähig iſt, muß ſelbſt feine Frau ſich mit Jo-
sephine vertragen. Willſt Du das auch verſuchen,
mein liebes, kindiſches Chriſtkind?“
Auf ſprang ſie und lief um ein Streichholz. Im
Nu brannte Joſefine und Chriſtine that die erſten Züge
aus ihr. So war es noch die vielgeſchmähte kleine
Pariſerin, welche den Bund dieſer beiden Herzen ein-
„
weihte. In dem keuſchen Mädchenſtübchen da mußte
er ſie ausrauchen, ganz, bis auf den Grund. Er hätte
nicht geglaubt, daß er fern von Paris ſo glücklich ſein
könnte, wie da zwiſchen Chriſtinen und Joſefinen, welche
beide nur für ihn glühten.
Aber nun hieß es, zur Geſellſchaft zurückkehren.
Das gab eine große Überrafchung, beſonders für die
Kinder, welche es nicht recht begriffen, wie Chriſtine
zum Kleide des Chriſtkindes kam. Auch nachdem ſie
ſchließlich ſchon erfahren hatten, daß infolge einer eigen—
tümlichen Verkettung von Umſtänden Onkel Joſef das
Chriſtkind heiraten werde, ſchienen ſie ſich eine ganz
eigene Vorſtellung von der Sache zu machen; wenig—
ſtens fragte Lottchen, welche dabei überhaupt die aller—
größten Augen machte: „Mama, heiratet das Chriſtkind
in jedem Hauſe den Onkel Joſef?“
Es war ſchon ſehr lange nach Mitternacht, als
Onkel Joſef auf die Uhr ſah und in ſeiner Uhrkette
jenen Gedächtnisknoten fand. Da rief er: „Chriſtine,
ich muß Dir ja Deinen Ring zurückgeben!“ und ſteckte
ihr geſchwind den Ring an den Finger. In dem aber
hatte ſich mittlerweile der blaugrüne Türkis wunder—
barerweiſe in einen blutroten Rubin verwandelt. Es
iſt aber auch möglich, daß der Ring nicht der näm—
liche geweſen.
——
II.
Onkel Fritz
(1887.)
nter dem ſonderbaren Gerät, mit dem meine
ö Kindheit möbliert war, iſt mir eines der
e unvergeßlichſten Stücke eine große ſchwarz—
weiß⸗rote Kugel mit zwei ſeltſamen nußgroßen Höckern.
Oft genug fällt ſie mir ein, bei verſchiedenen Anläſſen,
auch habe ich ſchon wiederholt von ihr geträumt. Dieſe
Kugel war der Kopf meines guten ſeligen Onkels Fritz.
Er hatte nämlich ein ganz dunkelrotes Antlitz und in
jüngeren Jahren einen pechſchwarzen, ungewöhnlich
dichten Haarwuchs, der jedoch zu meiner Zeit auf dem
Schädel ſchon ſchlohweiß geworden war, während Bart
und Schnurrbart, ſorgfältig raſiert, eine kohlſchwarze
Spur in Geſtalt eines ſeltſam ausgezackten und aus—
gebuchteten Fleckes rings um das Geſicht zurückgelaſſen
hatten. Dieſer dreifarbige Kopf war natürlich ein ſtadt—
ie
bekanntes Naturſpiel, auf das man ſogar die Fremden
aufmerkſam machte. Was die beiden Höcker daran be—
trifft, konnte ich ihre Bedeutung damals noch nicht recht
würdigen; ſpäter erfuhr ich, daß zu jener Zeit die
Gallſche Schädellehre noch ſehr in Mode geweſen, und
erinnerte mich, daß ich Onkel Fritz oft ſtundenlang
hatte ruhig daſitzen ſehen, jene Kugel in beiden Händen
haltend und die Mittelfinger rechts und links feſt auf
jene beiden Höcker gepreßt. „Er erfindet wieder,“
hatte dann der oder jener gemurmelt, leiſe, um ihn
nicht zu ſtören, und ſo reime ich mir zuſammen, daß
jene Höcker damals für den Sitz der ſpezifiſchen Er—
findungsfähigkeit gegolten haben müſſen.
Auch in ſeiner Kleidung hatte Onkel Fritz manches
Auffallende. Beſonders erinnerlich — weil ich ihn
nicht wenig darum beneidete — ſind mir ſeine Knöpfe.
Sie waren nicht angenäht, wie die der übrigen Menſch—
heit, ſondern gleich unſeren Hemdknöpfen alle zum Durch—
ſtecken durch zwei Knopflöcher eingerichtet, ſogar die des
Winterrockes. Das immer ärgerliche Abreißen von
Knöpfen kam alſo bei ihm niemals vor. Er hatte dieſe
ebenſo einfache als geniale Verbeſſerung ſelbſt erfunden
und ſeiner Zeit ſogar große geſchäftliche Hoffnungen daran
geknüpft. Leider kann man in der Welt der Mode
nur mit unpraktiſchen Neuerungen durchdringen, die ver—
— 346 —
beſſerten Patent-Knöpfe fanden bei den Schneidern keinen
Anklang und Onkel Fritz blieb der einzige, der ſich
ihrer unleugbaren Vorteile zeitlebens erfreuen durfte.
Und während ich dies ſchreibe, kann ich nicht um—
hin, die Lade meines Schreibtiſches aufzuziehen und
ein verſchoſſenes rotes Futteral herauszunehmen. Ich
bin immer ein wenig gerührt, wenn ich es öffne, und
thue dabei gewöhnlich die Außerung: „Armer Onkel
Fritz!“ Denn das Futteral enthält ſeine goldene Taſchen—
uhr, die er dreißig Jahre lang getragen und in ſeinem
letzten Willen ausdrücklich mir vermacht hat. An dem
Werk iſt nichts beſonderes, das Ding iſt eben eine ge—
wöhnliche Spindeluhr aus den Vierziger-Jahren. Aber
man würde ganz vergebens an dem bekannten Knopfe
drücken, damit der Deckel aufſpringe, wobei mindeſtens
einmal im Jahre die Feder zu brechen pflegt. Onkel
Fritz hatte die Möglichkeit dieſes unangenehmen Zwiſchen—
falles ein- für allemal beſeitigt, indem er eine überaus
ſinnreiche und dennoch ganz zweckmäßige Anderung des
herrſchenden Typus erſann. Der Deckel ſeiner Taſchen—
uhr hat nämlich gar keine ſtählerne Feder, ſondern wird
einfach mittelſt zweier Halbkreisbewegungen der Hand
abgeſchraubt, wie der Deckel einer runden Sandauer
Schnupftabaksdoſe, und dann auf dieſelbe Art wieder
angeſchraubt. Ich muß geſtehen, daß ich mir etwas
.
Vollkommeneres in dieſer Hinſicht nur ſchwer denken
kann, und dennoch — ſollte man es glauben? — ver—
hielten ſich ſeiner Zeit die Uhrmacher, ſelbſt die Genfer
und Londoner, gegen dieſe Verbeſſerung auffallend kühl,
und eine Berühmtheit wie Bréguet in Paris kaufte
zwar das Modell, für ſeine Kurioſitätenſammlung, lehnte
aber die Erwerbung des Patentes ohne eingehende Be—
gründung ab.
In unſerer Familie konnten ſolche Mißerfolge
Onkel Fritzen nicht ſchaden. Er galt trotzdem für das
Genie der Familie, das aber vermutlich um hundert
Jahre zu früh geboren worden ſei. Wir Kinder wurden
von den Eltern gelegentlich ſogar beneidet, weil „wir
es noch erleben würden“. Onkel Fritz ſelbſt war
Philoſoph genug, ſein Los gelaſſen zu tragen. Immer
heiter und zuverſichtlich, zweifelte er niemals an ſich
ſelbſt und erfand ganz munter drauf los, ſo daß er
eine ganze Sammlung von Patenten hinterlaſſen hat.
Namentlich für Weihnachten hatte er immer etwas Neues
erſonnen, und dieſes Etwas bildete ſtets das ſpannende
Moment des Chriſtabends. Ich ſelbſt habe leider nur
einen einzigen ſolchen Abend miterlebt, aber ich werde
den Eindruck, den mir Onkel Fritz damals machte, nie
verlieren. Um einen Kopf größer erſchien er mir, ſein
Antlitz leuchtete noch röter als ſonſt, und infolgedeſſen
— 348 —
war der Schimmer ſeines Haares noch weißer und
der Schatten um Kinn und Wangen noch ſchwärzer.
Wie ein Zauberer aus einem vorgeſtrigen Jahrhundert
ſtand er in unſerer Mitte, oder wie der Prophet eines
übermorgigen. Wenn er meine Wange geſtreichelt hatte,
blickte ich ängſtlich in den Spiegel, ob ich nicht plötz—
lich ein ganz anderer geworden. Und wenn er ſich
zum Sprechen anſchickte, erwartete ich irgend eine ver—
blüffende Mitteilung, z. B. daß er ſoeben das Pulver
erfunden habe oder dergleichen.
Nun, an jenem einzigen Weihnachtsabend hat es
mir nicht an wirklichen Überraſchungen gefehlt. Der
Weihnachtsbaum war, nach einer von Onkel Fritzens
früheſten Ideen, mittelſt einer einzigen Kurbeldrehung
am Tiſche feſtgeſchraubt; jene noch unvergeſſene Kata—
ſtrophe, welche ein zufällig umgeſtürzter brennender
Chriſtbaum einſt in einer angeſehenen Familie verur-
ſacht hatte, war ihm zum Anlaß dieſer Erfindung ge—
worden, die unglaublicherweiſe gar keine Beachtung
gefunden hat. Und unter dem flammenden Baume lag
auf dem wohlbekannten roten Sammtkiſſen ein Zettel,
der den Namen meiner Baſe Annette trug. Sie war
Onkel Fritzens erklärter Liebling und ihr hatte er ſein
diesmaliges Geiſteskind gewidmet. Da lag denn das
unbekannte Etwas auf dem Zettel, in einem niedlichen
ag
Etui, das täuſchend dem Futteral einer Zigarrenſpitze
glich. Um ſo größer war Annettens Aufregung, welche
ihren Gipfelpunkt erreichte, als Bäschen das Etui öffnete
und darin . .. richtig eine Zigarrenſpitze aus Meer—
ſchaum fand.
Annette war nämlich damals keine Raucherin; ſie
raucht meines Wiſſens auch jetzt nicht, und nun hatte
gerade ſie als Weihnachtsgeſchenk eine Zigarrenſpitze
erhalten. Auch die übrigen Anweſenden ſchienen etwas
betreten, doch ſagten ſie nichts, denn Onkel Fritz mußte
ja wiſſen, was er wollte. Und in der That, er wußte
es. Er trat vor, in den hellen Lichtſchein des Chriſt—
baumes, ergriff den geheimnisvollen Gegenſtand und
hielt folgende Anſprache:
„Meine liebe Annette. Seit drei Jahren hat
mich ein techniſches Problem Tag und Nacht beſchäftigt.
Eine ganze Reihe von Verſuchen habe ich gemacht,
um es zu löſen. Wünſchet mir Glück, denn es iſt mir
gelungen.“
Ein heftiger Gratulationsſturm brauſte auf und er—
ſchütterte ganz merklich den mächtigen Bau des Redners,
der vor lauter Umarmungen, Küſſen und Händedrücken
erſt nach einer geraumen Weile wieder zu Worte kam.
„Ich will kurz ſein,“ fuhr er dann fort; „hier
in meiner Hand halte ich etwas Niedageweſenes. Es
— 350 —
it, mit zwei Worten gejagt, eine rauchverzehrende
Zigarrenſpitze.“ |
Eine tiefe Bewegung ging durch den dichtgedräng—
ten Kreis. Offenen Mundes ſahen wir uns, ihn, die
Zigarrenſpitze an; er aber fuhr fort:
„Seit hundert Jahren liegt dieſe Erfindung in
der Luft; in der That, ſeitdem man Zigarren raucht.
Der Zigarrenrauch iſt nicht nur der Geſundheit ſo vieler
Leute ſchädlich, deren Atmungsorgane angegriffen ſind,
ſondern er ſcheidet die Menſchheit förmlich in zwei
Hälften. Für Raucher — für Nichtraucher: heißt es
in der ganzen Welt, im Omnibus und auf der Eiſen—
bahn, ſogar im Salon, in der Häuslichkeit. Dieſe
Spaltung, welche durch das ganze moderne Leben geht und
die Menſchen ſich entfremdet, hoffe ich geheilt zu haben.
Ich griff das Übel an der Wurzel ſelbſt an und nun,
meine Lieben, iſt es ausgerottet. Die rauchverzehrende
Zigarrenſpitze — welche übrigens eine ganz andere
Einrichtung hat, als die ſogenannten rauchverzehrenden
Kaminſchlote — iſt ſo konſtruiert, daß von dem ſich
entwickelnden Rauche einerſeits nicht das geringſte Teil—
chen in die Luft entweichen kann, da er durch einen
konſtant wirkenden Aſpirator nach innen gezogen wird,
wo er andererſeits, durch eine zwiſchen Rohr und Pfeife
eingefügte Vorrichtung gebannt, auch nicht in Mund
Be
und Naſe des Rauchers zu gelangen vermag. That—
ſächlich alſo, meine Lieben, wird der ganze Rauch inner-
halb der Pfeife verzehrt.“
| Er warf einen großen Blick um ſich her; in
ſtummer Bewunderung ſtanden wir da. Dann erklärte
er uns den ganzen Mechanismus, indem er die Spitze
auseinanderſchraubte und uns die einzelnen Beſtandteile
zeigte. Nur eines teilte er uns nicht mit. „Woraus
dieſer rauchverzehrende Mineralſchwamm beſteht,“ ſagte
er, „das, meine Lieben, geſtattet mir einſtweilen noch
geheim zu halten. Es iſt ein von mir neu dargeſtellter
Stoff, der hier zum erſtenmal in die Technik eintritt
und noch zu großen Aufgaben berufen iſt. Ein ver—
ſiegeltes Couvert in meinem Schreibtiſch enthält übrigens
das Geheimnis, für den Fall, daß mich etwas Plötz—
liches treffen ſollte.“ a
Er ſagte dies mit einer gewiſſen Ergebung, welche
ſo rührend klang, daß mehrere anweſende Damen ſich
die Augen wiſchen mußten.
„Und nun,“ rief er hell und heiter wie ein
Trompetenſtoß, „auf zum Experiment!“
Er ſteckte eine Zigarre in die Spitze, zündete ſie
an und reichte ſie meinem Bruder Hans, der alsbald
mächtig zu paffen begann. Geſpannt hingen aller Augen
an ſeinem Munde. Er war ein ſtarker Raucher und
— 352
hatte einen guten Blaſebalg in der Bruſt, auch wurde
die Zigarre zuſehends kleiner, und dennoch gelang es
ihm nicht, auch nur das leiſeſte Rauchwölkchen aus
dem Munde zu blaſen. Er bekam in der That keinen
Rauch in den Mund und auch die Luft des Zimmers
blieb ganz rein.
Da brach ein Beifallsſturm los, wie im Theater.
Das Experiment war glänzend gelungen und Onkel
Fritz wurde faſt erdrückt von der allgemeinen Aner-
kennung. Mit berechtigtem Stolze hub er denn auch
wieder an:
„Ihr ſeht ein, meine Lieben, welche Wichtigkeit für
die Entwicklung der menſchlichen Geſellſchaft dieſes un—
ſcheinbare Gerät hat. Es wird die Friedenspfeife der
Welt werden. Aber auch das hohe Arar“ — hier
nahm ſeine Stimme eine gewiſſe Feierlichkeit an —
„wird dadurch ein namhaftes gewinnen, denn ſelbſt
die eingefleiſchteſten Nichtraucher können von jetzt an
getroſt rauchen, und das Erträgnis des Tabakmonopols
geht daher einer unerhörten Steigerung entgegen.“
„Wenn nur,“ murmelte mein Vetter Leonhard,
ein ziemlich boshafter Herr, „wenn nur die Raucher
auf den Rauch werden verzichten wollen.“
Glücklicherweiſe wurde dieſe ſkeptiſche Bemerkung
von unſerem Jubel übertäubt und Onkel Fritz ſchloß
— 353 —
ſeine Rede mit den ſchlichten Sätzen: „Wohlan denn,
meine geliebte Annette, dieſe reifſte Frucht meines Er—
finderlebens lege ich Dir in den Schoß. Du rauchſt
zwar nicht ſelbſt, ... obgleich Du aus dieſer Spitze
unbeſorgt rauchen kannſt; aber Du kommſt jetzt nach—
gerade in ein Alter, wo . . ., in ein Alter, das .. .,
kurz und gut, dieſe Zigarrenſpitze ſoll Deine Mitgift ſein.“
Annette errötete bis weit hinter die Ohren, jo
daß ſelbſt ich, der hinter ihr ſtand, es bemerkte, und
ihre Mutter umarmte ſie ſchluchzend, Onkel Fritz aber
fügte hinzu: „Sie wird Dich und Deinen Zukünftigen
reich machen.“
Mit andächtiger Bewunderung hatte ich zugehört
und fragte mich in meinem Innern, ob denn der be—
rühmte Gutenberg ſo großes für die Menſchheit ge—
leiſtet. Ich hätte vermutlich ſtatt Gutenbergs Ediſon
geſetzt, wenn dieſer damals ſchon bekannt geweſen wäre.
Indeſſen legte ſich nach und nach die Aufregung, denn
man war hungrig geworden. Wir gingen zu Tiſche,
wo obenan Onkel Fritzens Haupt leuchtete; kein grünes
Lorbeerreis umkränzte es, aber mir war, als ſähe ich
auf ſeinen zwei bedeutſamen Höckern geheimnisvolle
Feuerfünkchen glimmen. Übrigens bot mir auch die
Mahlzeit noch zwei große Überraſchungen. Als die
Beſtecke das erſte Mal gewechſelt wurden, war ich ſehr
Heveſi, Buch der Laune. 23
— 354 —
=
betroffen, daß wir ſämtlich ſchwarze Teller bekamen.
Ganz ſchwarze Porzellanteller, ohne irgend ein buntes
Blümchen oder auch nur den zarteſten Goldrand. Ich
dachte an irgend eine Trauerzeremonie, deren Veran—
laſſung mir unbekannt war, ſozuſagen an einen gegeſſenen
Trauer⸗Salamander. Dazu kamen auf ſchwarzer Schüſſel
vortreffliche Donaukarpfen.
„Ja, ja,“ ſeufzte Onkel Fritz, als er ſich davon
einen rechtſchaffenen Biſſen langte.
Weiter ſagte er nichts, aber aus dem Geſpräch
der anderen erfuhr ich, daß die zahlreichen Erſtickungs—
fälle infolge verſchluckter Fiſchgräten, namentlich beim
Karpfeneſſen, ihn vor etwa zwölf Jahren bewogen hät—
ten, auf ein Mittel zur Beſeitigung dieſes Übelſtandes
zu ſinnen, und da hätte er denn richtig die ſchwarzen
Fiſchſervices erfunden. Das Ei des Columbus! Oder
giebt es etwas Einfacheres und Verläßlicheres, als
einen ſchwarzen Teller, um die weißen Gräten, ſelbſt
die feinſten, augenblicklich zu entdecken und zu beſei—
tigen? Von einem weißen Teller ſtechen ſie nicht ab,
auf einem ſchwarzen aber können ſie ſich keine Sekunde
lang verſtecken, ſelbſt wenn ſie nur mit den äußerſten
Nadelſpitzchen aus dem Biſſen hervorragen. Die Zweck—
mäßigkeit dieſer Neuerung war ſo einleuchtend, daß
eine Porzellanfabrik ſeiner Zeit wirklich zwei ſolche Fiſch—
= 35,
ſervices herſtellen ließ; des einen bediente fich Onkel
Fritz ſelbſt, das andere ... war noch immer zu haben.
Die Menſchen aber fuhren fort, Fiſche zu eſſen und
Gräten zu ſchlucken, und ſelbſt die furchtſamſte Fami-
lienmutter ſchwang ſich nicht ſo weit aus dem Pfuhl
des Herkömmlichen empor, um jenes noch immer ver—
käufliche zweite Service und mit ihm die Sicherheit
ihrer Kinder zu erwerben.
Tiefe Schwermut legte ſich über mein junges Ge—
müt, während ich mir meinen Fiſch auf dem ſchwarzen
Teller ſchmecken ließ. „Sie vos non nobis“, dachte
ich, denn erſt ganz kürzlich hatte ich in der Schule
dieſen lateiniſchen Vers erlernt, der übrigens vielleicht
gar nicht recht auf den vorliegenden Fall paßte. Erſt
als das Gefrorene kam, entraffte ich mich wieder dieſer
Betäubung, denn niemals vorher und nachher hatte ich
ſolches Gefrorene gekoſtet. Es ſchmeckte nämlich ganz
eigentümlich ſalzigſüß und war, wie man mir ſpäter
erklärte, Fleiſchgefrorenes. Onkel Fritz hatte es erſt
kurz vorher erfunden, als das Ideal einer, wie er
ſich ausdrückte, „nahrhaften Näſcherei“. Eigentlich war
es aber weit mehr als das, wenn man nur bedachte,
wie viele Kranke überhaupt nichts als Gefrorenes zu
ſich nehmen können, dem Fleiſchgefrorenen alſo unter
Umſtänden die Friſtung, wenn nicht gar die Rettung
„ 356 —>
ihres Lebens danken könnten. In der That war Onkel
Fritz bereits nahe daran geweſen, dieſerhalb einen
Vertrag mit einem Konditor zu ſchließen, aber die Ge—
werbebehörde qualifizierte dieſes Gefrorene als Fleiſch—
ſpeiſe, und zur Bereitung einer ſolchen fehlte dem Kondi—
tor die Befugnis, während hinwiederum die Gaſtwirte
erklärten, ſie könnten ſich nicht mit der Herſtellung von
Gefrorenem befaſſen, das ſie lieber fertig vom Kon—
ditor bezögen. So blieb denn auch die Ausnützung
dieſer Erfindung auf den engſten Familienkreis be—
ſchränkt; erſt eine weniger engherzige Gewerbeordnung
könnte den Bann löſen, der auf ihr ruht.
— — Ich habe den guten Onkel Fritz in den
letzten Jahren ſeines Lebens nicht geſehen. Aber daß
er tapfer fortfuhr, an der Schwerfälligkeit ſeiner Zeit—
genoſſen mit immer neuen Erfindungen zu ſcheitern,
verriet mir viel ſpäter ein Zeitungs-Inſerat unter dem
Titel: „Kein Schnupfen mehr!“ Von der alten Er—
fahrung ausgehend, daß Flanell das beſte Mittel gegen
Erkältung ſei, hatte nämlich Onkel Fritz Schnupftücher
aus Flanell als probates Schnupfenmittel empfohlen
und ſogar eine Niederlage davon errichtet. Aber auch
damit drang er nicht durch; dieſelbe Zeit, die ſich mit
wahrer Leidenſchaft in Jägerſche Wolle kleidet, ließ
ſich um keinen Preis bewegen, ſich in Onkel Fritzſches
m
Flanell zu ſchneuzen. Es ſcheint jogar, daß jene Nie—
derlage den Bedauernswerten um einen namhaften Teil
ſeines Vermögens gebracht hat. Auch der Verſtand
des Greiſes hielt nicht mehr recht ſtand und die Welt
hatte nur noch ein Lächeln für den ſonderbaren Schwär—
mer, als er angeſichts des Vorſchlages, die brennbaren
Stoffe der Theater mit pikrinſaurem Ichweißnichtwas
zu imprägnieren, in einer Zeitung mit dem Gegen:
vorſchlag hervortrat, lieber das Publikum mit dieſem
Stoffe zu imprägnieren, da es doch eigentlich darauf
ankomme, die ſes unverbrennbar zu machen.
Wenige Wochen ſpäter ſtarb er, ohne den Triumph
auch nur einer ſeiner großen Ideen erlebt zu haben.
Aber ich zweifle keinen Augenblick, daß die Zukunft
ſo manche derſelben verwirklichen wird.
W
III.
Die goldene Nuß.
(1881.
EN ch erſtaune noch heute, wie es gekommen,
daß nicht Karl Heller, ſondern Heinrich
Köhler die hübſche kleine Bertha Jung
at. Nur Karl Heller war darüber noch
mehr erſtaunt ... und Heinrich Köhler. Allerdings
iſt die Sache nicht ganz richtig hergegangen, und einem
Manne iſt dabei groß Unrecht geſchehen, oder vielmehr
zweien. Das war die Geſchichte mit der vergoldeten
Nuß. Vergoldet! Haha! Sie hätte ſollen pechkohl—
rabenſchwarz angeſtrichen ſein.
Es war nämlich am Weihnachtsabend. Bei Herrn
Jung, dem Kunſtblumen-Fabrikanten, brannte der Chriſt—
baum lichterloh. Die Kinder plünderten ihn unter lau—
tem Jubel, auch die größeren. Bei Jungs gab es
nämlich immer eine Menge Kinder, beſonders Mädchen.
„5
Und darum handelte Frau Jung ſehr klug, wenn ſie
die jungen, ledigen Beamten des Hauſes alljährlich mit
unter den Chriſtbaum zog. Schon fünfmal hatten die
kleinen Flammen bräutliche Scheitel beglänzt, und der
betreffende Chriſtbaum ſtand dann auch für ewige Zei—
ten im Ehrenwinkel des betreffenden neugegründeten
Salons, wie ein natürlicher Kleiderſtock. Die Beamten
waren mit dieſer Überlieferung des Hauſes Jung wohl—
bekannt und befolgten ſie mit derſelben Gewiſſenhaf—
tigkeit, wie alle anderen Geſchäfts-Uſancen.
Die Jungſchen Weihnachtsabende hatten infolge—
deſſen eine eigene Stimmung. Es lag immer eine jelt-
ſame Rührung in der Luft. Etwas Unausgeſprochenes
zuckte in vielen Zungen. Das Fräulein, welches eben
an der Tour war („außertourlich“, wie man beim
Militär ſagt, geſchah in dieſer Richtung nie etwas),
ſchien meiſt ein wenig befangen und errötete, wenn
auch nur das Stubenmädchen ſie fragte, ob ſie den
Kellerſchlüſſel nicht geſehen habe. Auch die jungen
Leute waren mitunter etwas aufgeregt, es war ſogar
vorgekommen, daß einer oder der andere ſich wegen
Unwohlſeins entſchuldigen ließ; aber dieſe Gebrechlichen
wurden immer bald entlaſſen, denn eine Kunſtblumen⸗
fabrik braucht vor allem geſunde, kräftige Leute.
Fräulein Bertha war erſt fünfzehn Jahre alt,
und darum war die Spannung auf die Weihnachts—
Ereigniſſe diesmal noch nicht bedeutend. Erſt mit
ſechzehn Jahren pflegte das Verhältnis zwiſchen den
Töchtern und Beamten des Hauſes Jung ein geſpann—
tes, das heißt in unſerem Falle ein dertraulicheres zu
werden.
Darum hatte der Buchhalter Herr Heinrich Köh—
ler ganz unbefangen und ahnungslos den Salon ſeines
Chefs betreten. Er war munter und ſpaßhaft geweſen
wie immer, hatte Frau Jung die linke Hand geküßt,
weil die vom Herzen käme, hatte Herrn Jung gegen—
über bemerkt, daß die Kunſtblumen-Fabrikation ſich doch
auch auf die Herſtellung von künſtlichen Chriſtbäumen
erſtrecken ſollte, und hatte Fräulein Bertha gefragt,
wer ihr denn etwas ins rechte Ohr geſagt hätte, daß
es ſo rot ſei. Worauf das rechte Ohr ſofort erblaßt
war und dafür das linke Feuer gefangen hatte. Frau
Jung hatte ihm darauf geſagt: „Wann werden Sie
endlich ernſt werden?“ Herr Jung hatte beigefügt:
„Sie Spaßvogel, Sie!“ Und Fräulein Bertha hatte
gedroht: „Herr Köhler! Herr Köhler!“ Man ſieht
alſo, daß die Zeitgenoſſen in ihrer Meinung über Herrn
Köhler auffallend einig waren. 2
Dann war drin im Zimmer des Weihnachts-Ge—
heimniſſes ein ſchwerer Fall geſchehen, begleitet von
— 361
hundertfachem Gekoller kreuz und quer über den Fuß—
boden hin. Und Frau Jung hatte lachend geſagt:
„So, warum habe ich auch Herrn Heller geſtattet, bei
dem Aufputzen des Baumes zu helfen? Nun hat er
den Korb mit Nüſſen hinuntergeworfen.“ Herr Köhler
guckte durch das Schlüſſelloch und rief dann geſchwind
die anderen, damit ſie ſähen, wie Herr Heller auf
allen Vieren unter Tiſchen und Kanapees umherkrieche,
um die entwichenen Nüſſe wieder einzufangen. Man
lachte weidlich über den Ungeſchickten.
Als man genug gelacht hatte, ſchlug ſich Herr
Köhler plötzlich vor die Stirn. „Warum prügeln Sie
ſich denn ſo unbarmherzig durch?“ fragte die ſchalk—
hafte Bertha. Herr Köhler legte geheimnisvoll den
Zeigefinger an die Lippen, dann nahm er einen Seſſel
und ſtellte ihn auf einen gewiſſen Punkt des Salons.
Hierauf bückte er ſich und ſchlug einen Zipfel des gro—
ßen Teppichs um, ſo daß er eine Schlinge bildete.
Dann ergriff er ein Spiel Whiſtkarten, das auf dem
Tiſche lag, und häufte es auf einem runden Marmor-
tiſchchen auf. Sodann ſtellte er ein Glas Waſſer auf
ein Wandſchränkchen. Alsdann pochte er an der Thür,
bis Herr Heller den Kopf herausſtreckte und fragte,
was er denn wünſche. „Ach, Heller, geben Sie mir
doch ein paar Nüſſe heraus, ich brauche ſie dringend.“
Herr Heller reichte ihm ſofort das Gewünſchte und
zog ſich ſchlau ſchmunzelnd wieder zurück. Hierauf
legte Herr Köhler etliche Nüſſe unfern der Ecke des
Schränkchens auf den Boden. Endlich ſtellte er ſeinen
Cylinderhut auf den nächſten Lehnſtuhl.
Erſtaunt ſahen die drei zu. Was mochte er wol—
len? Aber Herr Köhler winkte ihnen zu ſchweigen,
und ſie ſchwiegen.
Eine Minute ſpäter that ſich die Thür leiſe auf.
Noch leiſer trat der Herr Kaſſierer Karl Heller ein.
Noch viel leiſer, geradezu unhörbar, ſchloß er die Pforte
hinter ſich. Seine blauen Augen lächelten mit frohem
Gezwinker durch die kreisrunden Brillenſcheiben. Um
ſeine Lippen ſchnörkelte ſich ein merkwürdig ſchlauer
Ausdruck. Er rieb ſich die Hände, wenn auch nur
hinter dem Rücken, und ſchielte dabei nach Fräulein
Bertha.
Nun that er zwei Schritte und ſtolperte über den
Seſſel, welchen Herr Köhler mit weiſer Berechnung
hingeſtellt hatte. Faſt wäre er gefallen, aber noch er—
hielt er ſich geſchickt im Gleichgewicht. Nur geriet er
dabei leider mit der linken Fußſpitze in den aufgeroll—
ten Teppichzipfel und mußte einen wahren Salto mor—
tale machen, um ſeine Haltung zu retten. Daß er
dabei mit den Händen Stützpunkte ſuchte und erſt mit
„„
der einen Hand das Spiel Karten auf den Boden
ſtreute, dann, an die andere Hand appellierend, mit
dieſer in das volle Waſſerglas auf dem Schränkchen
tappte, konnte gar nicht ausbleiben. Erſchreckt, ver—
wirrt, ſchlug er nunmehr die entgegengeſetzte Richtung
ein. Selbſtverſtändlich trat er ſogleich auf eine Nuß,
deren Krach ſeinen ſchon erſchütterten Nerven einen
ſolchen Riß gab, daß er außer ſich auf den Lehnſtuhl
niederſank, aber nur um durch das Krachen des Cy—
linders gleich wieder in hellem Entſetzen aufgeſcheucht
zu werden.
In einer Viertelminute hatte Herr Heller alle
dieſe ſchwierigen Wendungen und Handgriffe ausgeführt.
Ganz verdutzt ſahen die Anweſenden zu; jetzt erſt be—
griffen ſie alle verſteckten Abſichten des Herrn Köhler.
So gutherzig ſie waren, bei einer ſolchen Poſſe kann
das beſte Herz nicht ernſthaft bleiben. Sie löſten ſich
auf in hellem Gelächter.
„Köhler, Sie find ein großer Menſchenkenner!“—
rief Herr Jung und hielt ſich die Seiten.
„Haben Sie auch nichts ausgelaſſen, Herr Hel—
ler?“ fragte Frau Jung, die ſich vor Lachen krümmte.
„Nein, gnädige Frau,“ entgegnete Herr Heller,
noch immer außer ſich. Er dachte, ſie frage nach der
Ausrüſtung des Chriſtbaumes, und ſie meinte doch die
„ 364 ;
verſchiedenen Fußangeln, die ſeiner Ungeſchicklichkeit ge—
legt worden waren. Er war eine ahnungsloſe Natur.
Weil er niemandem etwas Böſes hätte thun können,
fiel es ihm auch nicht entfernt ein, daß er ſelbſt das
Opfer teufliſch ſchlauer Veranſtaltungen geworden ſei.
Er glaubte, der boshafte Zufall allein habe ſo viel
und ſo ausgeſuchtes Mißgeſchick auf ſeiner kurzen Reiſe
aus dem einen Zimmer ins andere zuſammengehäuft.
Nur eines verdroß ihn dabei. Fräulein Bertha hatte
alles mitangeſehen. Sie hatte mitgelacht .. . Nein,
nein, er hatte ſie nicht lachen ſehen; allerdings hatte
ſie ſich den Fächer vor das Geſicht gehalten. „O, ſie
iſt gut,“ ſagte er bei ſich, und eine eigene Zuverſicht
illuminierte ſein Augenglas. Er lächelte in ſeine Hals—
binde hinein, wie einer, der da weiß, was nicht jeder
weiß. Was mochte der Mann in petto haben?
— — — Nun denn, wie geſagt, die Kinder
plünderten den Weihnachtsbaum. Das Barometer der
Freude ſtand auf Stürmiſch. In dem Toben des freund—
lichen Unwetters ſtand nur einer ſtill und gefaßt da
und heftete ſeine Augen unverwandt auf einen Punkt
des Baumes. So faßt der Steuermann den Polar-
ſtern ins Auge, der ſein Schifflein ſicher durch alle
Fährnis geleiten ſoll. Plötzlich gab es ihm einen elek—
triſchen Schlag. Und es war doch nichts geſchehen.
— 365 —
Nur der jüngſte des Hauſes, der geräuſchvolle Otto,
hatte eine goldgleißende Nuß vom Baume gepflückt, die
ganz beſonders in die Augen ſtach, weil ſie nach allen
Seiten goldene und ſilberne Strahlen aus feinſtem
Flimmerdraht ſchoß, ganz wie der wirkliche Polarſtern.
Gerade dieſe hatte auch Karl Heller unverwandt ins
Auge gefaßt, und nun zitterte er und bebte, als hätte
er die Fabrikkaſſe erbrochen und geleert vorgefunden.
Es wurde ihm ſchwarz vor dem einen Auge und vor
dem andern blendend hell.
Otto hatte ſich mit ſeiner goldenen Beute aus
dem Staube gemacht. Aber ſelbſt die ſchönſte Nuß
will geknackt ſein, und ſo kam er bald wieder heran—
geſtürmt, damit Bertha ihm die ſeltſame Nuß öffne.
Der kleine Schreihals duldete keinen Aufſchub, Bertha
that ihm alſo feinen Willen. Aber als Otto ans Ver-
ſpeiſen ging, machte er eine unheimliche Entdeckung.
Mitten durch die Nuß ging ein länglicher, walzenför—
miger Gegenſtand von ganz rätſelhafter Natur. Nie—
mals noch in den ſechs Jahren ſeines Lebens war ihm
ſolches begegnet. In größter Aufregung eilte er zu
Frau Jung. „Mama, Mama, ein hölzerner Wurm!“
Frau Jung konnte die Verſtörtheit ihres Lieblings
nicht überſehen; um ihn zu beruhigen, unterwarf ſie
die geheimnisvolle Nuß einer eingehenden Prüfung.
e ee,
„Ein hölzerner Wurm? Närrchen, ſo was giebt es ja
gar nicht,“ meinte ſie.
Aber der Gegenſtand war unzweifelhaft vorhan—
den und war wirklich ein ſonderbares Gewächs. „Ein
Naturſpiel,“ meinte Herr Jung, der ſeine reifere Er—
fahrung nun auch in die Wagſchale warf. „Aber
Holz iſt das nicht,“ warf Frau Jung ein, indem
ſie die Brille aufſetzte, „eher ſcheint es ein papier—
artiger Stoff zu ſein, eine Art Pergament, möchte
man ſagen.“
Und gleich darauf rief ſie erſtaunt: „Sieh da,
ſieh da, wie es ſich blättert! Es rollt ſich ja ordent—
lich auf, wie ein Zettelchen. Ei der tauſend, es iſt
wirklich ein Zettel . .. und Geſchriebenes ſteht auch
darauf!“
Mittlerweile hatte ſich die ganze Geſellſchaft her—
beigedrängt, um das Naturſpiel zu ſehen. Herr Jung,
den eine freundliche Ahnung überſchlich, tippte ſeiner
Gattin mit dem Daumen zwiſchen die ſechſte und ſie—
bente Rippe, wo ſie beſonders empfindlich ſein mochte,
denn ſie ſtieß ein halblautes „Ha!“ aus. Es iſt aber
auch möglich, daß dieſer Ausruf nur der unerwarteten
Entdeckung eines Manuſkripts „in nuce‘ galt. Herr
Jung ſeinerſeits hatte unterdeſſen bereits ſeinen Kneifer
auf die Naſe geſetzt und las, nicht ohne Mühe, die
ae
mikroſkopiſch kleine Schrift. Laut vor allen Leuten
las er ſie:
„Blickt mich an, ihr blauen Augen,
Euer Strahl iſt warm und gut,
Rühren ſoll euch meine Liebe,
Treue iſt mein höchſtes Gut;
„Heil Dir“ wünſcht ein ehrlich Herz
Achtungsvoll und ohne Scherz.“
„Alle Wetter! Noch giebt es echte Poeſie im
Jahrhundert der Maſchinen!“ rief Herr Jung lachend.
„Das nenn' ich einmal ein Gedicht!“
Alle Hände ſtreckten ſich nach dem Schriftſtück
aus. Nur Fräulein Bertha rührte ſich nicht, aber ſie
glühte wie eine Roſe. Frau Jung lernte das Gedicht
augenſcheinlich auswendig, und im Hintergrunde, nun,
da zerbrach ſoeben ein Lampenglas; man vermutete
daher mit einiger Wahrſcheinlichkeit, daß Herr Karl
Heller ſich dort aufhalten dürfte.
„Halt, das iſt ja gar ein Akroſtichon!“ rief Frau
Jung jetzt überraſcht aus. Fräulein Bertha verſteckte
ſich augenblicklich in ein unzerreißbares Bilderbuch.
„B—E—R—“ buchſtabierte Frau Jung mit trium—
phierender Stimme. Fräulein Bertha klappte das Bil—
derbuch über ihrer ganzen kleinen Perſon zu. „T—9
— A!“ fuhr Frau Jung unbeirrt fort. „Es iſt Bertha,
beim Himmel! Papa, unſerer Bertha gilt das ſchöne
— 968 —
Gedicht . . . „Achtungsvoll und ohne Scherz,“ iſt das
nicht zart und höflich zugleich? Und kein Name ...
Doch, da ſtehen zwei Buchſtaben: K. H.“
„K. H.,“ wiederholten ſämtliche Anweſende im
Chor. Die Lampe im Hintergrunde mit dem zerbroche—
nen Glaſe räuſperte ſich heftig und erloſch.
Herr Jung trat zu Herrn Heinrich Köhler hin,
blinzelte ihn von der Seite an, ſtieß ihn ſachte mit
dem Ellbogen und flüſterte ihm ins Ohr: „Potz Wet—
ter, ein Jahr hätten Sie doch noch warten können
mit Ihrer Liebeserklärung, Sie ungeduldiger Jüng—
ling; das Kind iſt ja erſt fünfzehn Jahre gewor—
den!“
„Aber Herr Jung!“ ſtotterte Herr Köhler etwas
verlegen.
„Schon gut, ſchon gut,“ fiel ihm Herr Jung
ins Wort; „haben ganz recht; war auch einmal jung
und begreife Sie.“
„K. H.,“ ſpintiſierte Frau Jung nachdrücklich,
„wer in aller Welt kann dieſer kühne Menſch ſein?“
Da fiel ihr Blick auf Herrn Köhler, welcher noch immer
etwas verlegen daſtand. „Holla, und das fiel mir nicht
augenblicklich ein? K. H., das iſt: Köhler Heinrich!
Nun ja, wer könnte auch ſonſt eine ſo verwegene Idee
faſſen?“
— 369 —
Im Hintergrunde fiel eine Schachtel Bauſteine
mit Gepolter zu Boden.
„Gnädige Frau,“ begann Herr Köhler mit einer
gewiſſen Feierlichkeit, „bin ich denn der einzige K. H.
im Hauſe? Und würde ich als Heinrich Köhler nicht
vielmehr H. K. geſetzt haben?“
Das unzerreißbare Bilderbuch ſenkte ſich wie be—
troffen, und ein großes blaues Auge funkelte unruhig
den Sprecher an.
Man ſtutzte einen Augenblick. Herr Jung be—
trachtete das Gedicht aufmerkſamer und murmelte: „Bei
Gott, es iſt Karl Hellers Kaſſiererſchrift.“ Dann lachte
er fröhlich auf und ſchrie: „Sie, lieber Köhler, der
Spaß iſt gut, denn er bleibt ja unter uns, aber die
Schrift eines andern nachzuahmen, und ſo täuſchend
nachzuahmen, das geht doch etwas zu weit! Sie ſind
ein Teufelsmenſch! Wenn es nicht ganz unmöglich
wäre, daß unſer wackerer Heller ein Gedicht dichte,
und was für ein Gedicht! „Blickt mich an, ihr blauen
Augen“ — „Achtungsvoll und ohne Scherz”...
Das Gedicht iſt famos! Nein, Heller, Sie ſind ein
kreuzbraver Kerl, und ich liebe Sie wie einen Sohn,
aber ſo ein Gedicht bringen Sie nicht zuſammen, nicht
wahr, Heller?“
Herr Karl Heller tauchte aus dem dunklen Hin—
He vefi, Buch der Laune. 24
tergrunde auf, wie ein Geſpenſt. Er war totenblaß
und kalte Tropfen ſtanden auf ſeiner Stirn. Wirr
durcheinander zuckte es in feinem Kopfe ... Ja, ſie
hatte doch über ihn gelacht hinter ihrem Fächer, jetzt
wußte er es gewiß .. . Und dieſer unruhige Blick
vorhin, nach Heinrich Köhler, als er die Autorſchaft
leugnen zu wollen ſchien . . . Es iſt gewiß, ſie liebt ihn.
„Nicht wahr, lieber Heller, jo etwas ſchreiben
Sie nicht?“ wiederholte Herr Jung.
„Nein,“ entgegnete Heller mit feſter Stimme.
Wie ein Feuerfunken ſchoß es aus jenem blauen
Auge durchs Zimmer „dann hob ſich das unzerreiß—
bare Bilderbuch wieder wie eine ſpaniſche Wand.
„Das Souper iſt aufgetragen,“ meldete eine will—
kommene Stimme.
Die ganze Geſellſchaft brach auf. Nur die bei—
den jungen Männer ſtanden regungslos wie Bildſäu—
len auf ihren Plätzen. Einen Augenblick ſahen ſie ſich
in die Augen, Karl Heller ſtolz und ſtarr, Heinrich
Köhler ſchmerzvoll, flehentlich. Aber das war nur
ein Augenblick, dann ſagte Herr Heller mit weicher
Stimme:
„Herr Köhler, reichen Sie doch dem Fräulein Ihren
Arm.“
Da konnte ſich Herr Köhler nicht mehr halten.
— 371 —
Er ſtürzte zu Herrn Heller hin und ſchloß ihn ſtür—
miſch in ſeine Arme. Sie waren beide tief erſchüttert.
Niemand wußte, warum. Es ſtand wie ein gro—
ßes Fragezeichen über der reich beſetzten Tafel.
Aber der erſte Trinkſpruch, von Herrn Köhler
auf ſeinen teuren Freund Heller ausgebracht, machte
alles klar. Niemals wieder hat Herr Karl Heller ſo
hoch gelebt, als man ihn jetzt leben ließ. Er fiel aus
einer Umarmung in die andere, und über ihm leuchteten
zwei blaue Sterne, zu denen er wehmütig- ergeben
aufblickte . .. „achtungsvoll und ohne Scherz“.
2
IV.
Waldmuhme.
(1880. )
77 5 EN irgends auf Erden vielleicht herrſcht unter
den Kochlöffeln ein ſeltſamerer Brauch,
> ne als zu Dornau. Sie müſſen ihn wohl
den Glocken abgeguckt haben, denn wie dieſe ihren Kar⸗
freitag haben, an dem ſie regelmäßig nach Rom wan⸗
dern, ſo haben auch die Kochlöffel von Dornau ihren
gewiſſen Adventſonntag, an dem ſie aus den kleinen
Bauernwirtſchaften des Dorfes alle miteinander plötz—
lich verſchwinden. Wohin? Das weiß keine Bäuerin,
oder ſie forſcht wenigſtens nicht darnach. Sicher wiſſen
es aber alle im vorhinein, denn tags darauf, ſchon
ganz früh morgens, holt die Bäuerin in jedem Hauſe
den neuen Kochlöffel aus dem Schrank, den Jahres-
Kochlöffel, der in weiſer Vorausſicht jenes rätſelhaften
Verſchwindens ſchon früher angeſchafft worden und übers
eu —
Jahr um die nämliche Zeit wieder verſchwunden fein
wird. Darum haben die Leute in Dornau das Sprich⸗
wort: „Beſſer, Advent holt den Löffel, als die Katz'
holt den Brei“, womit es auch gewiß feine Richtig⸗
keit hat.
Iſt dieſes ſchon an ſich ſeltſam, ſo iſt es noch
ſonderbarer, daß die Kochlöffel von Dornau regelmäßig
unter den Schürzen verſchiedener kleiner Mädchen ver-
ſchwinden und ſich nach einer gewiſſen Hütte am Wald-
ende des Dorfes begeben, wo „Waldmuhme“ hauſt.
So haben ſie nämlich die kleinen Mädchen zubenannt,
teils aus topographiſchen Gründen, teils aber auch, weil
ihnen „Muhme Georgine“ zu dorffremd klingen würde
und gar nicht zu merken.
Waldmuhme iſt aber eine merkwürdige alte Dame.
Alle kleinen Mädchen haben Angſt vor ihr, denn ſie
trägt eine große Radhaube, wie die Eule, die an des
Herrn Okonomierats Scheunenthor genagelt iſt, und
überdies hat fie einen langen, dünnen, runzligen Zeige⸗
finger, der iſt eiskalt und feucht dazu, und den pflegt
ſie den kleinen Mädchen, welche ihr acht Tage vor
Weihnachten die Kochlöffel bringen, in die Grübchen
der roten Backen zu bohren, und brummt dazu zwiſchen
ihren einzigen drei Zähnen: „Komm nur her, mein
dummes hölzernes Kochlöffelchen, ich will eine Braut
— 374 —
aus dir machen; war auch mal eine und bin doch nur
ein alter dummer Kochlöffel geblieben.“ Am Ende haben
die Leute gar recht, daß es in Waldmuhmes Ober⸗
ſtübchen nicht recht richtig ſei, — die kleinen Mädchen
aber gucken immer umſonſt nach dem Dach der Hütte,
um dieſes berühmte Oberſtübchen zu ſuchen, und können
immer keines finden, denn die Hütte hat nur ein Erd-
geſchoß, und ſo verſtehen ſie die Sache zuletzt gar nicht.
Acht Tage vor Weihnachten hat aber Waldmuhme
richtig immer zwei Dutzend alte, ſchwarze Kochlöffel
bei ſich verſammelt und iſt dann die ganze Woche nicht
mehr zu erblicken. Nur von fern umſchleichen mittler-
weile die kleinen Mädchen die geheimnisvolle Hütte,
in der ſich nun ihre Kochlöffel auf wunderſame Weiſe
in lauter niedliche, bräutlich gekleidete Weihnachtspuppen
umwandeln. Es werden allerdings keine vornehmen
ſtädtiſchen Damen daraus, mit ziegenledernen Händen
und fein lackierten Geſichtern, und mit echten goldenen
Meſſingringen an den Armen, ſondern nur arme bäuer-
liche Dorfpuppen, dieſe ſind aber dafür deſto vollkom⸗
mener und laſſen ſich nicht ſpotten.
Denn Waldmuhme hat in ihrer Stube einen gro—
ßen Schrank, der iſt voll mit lauter Putz und Pracht,
und war ehedem noch viel voller. Des Schulmeiſters
Annchen, die den Schrank einſt zufällig offen geſehen,
u
erzählt ſeitdem voll Bewunderung von Sammt und
Seide und einem langen, weißen Schleier, der wohl
vom Scheitel bis an die Ferſen reichen möchte, und
von einem weißen, aber vergilbten Atlasſchuh, nicht
größer als ihre Hand — der wäre juſt herausgekollert,
ſagt ſie, die Alte hätte ihn jedoch raſch in den Schrank
zurückgeſchleudert und beide Flügel heftig zugeſchlagen.
„Ei, das iſt ja ein ganzer Brautſtaat!“ hatte die
Köchin des Herrn Hofrichters bei dieſer Schilderung
ausgerufen, und die alte Beſchließerin hatte darauf
entgegnet: „Nichts Lächerlicheres, als ſo eine ewige
Braut!“ — „Ja, ſitzen bleiben thut weh,“ meinte
hierauf die Köchin ganz nachdenklich, und die Beſchlie—
ßerin erwiderte mit einem Achſelzucken: „Jeder Huſar
iſt ein Schmetterling,“ was aber Annchen für einen
Scherz hielt, denn ein Huſar und ein Schmetterling
ſehen doch ganz verſchieden aus, — auch habe das
Herrenhaus da früher „Georginenhof“ geheißen —
und in Italien bleibe ſo mancher hängen — und noch
anderes mehr, lauter wirres Zeug, was Annchen gar
nicht verſtand.
Auf Puppen aber verſteht ſich Waldmuhme meiſter—
lich, das müſſen alle kleinen Mädchen einräumen.
So ein Kochlöffel, wenn er aus ihren Händen kommt,
iſt gar nicht wieder zu erkennen; er trägt aber auch
— 376 —
freilich ein gut Stück Brautſtaat der Muhme am Leibe.
Vor allem bekommt er von ihr einen anſtändigen Kopf,
der iſt ausgeſtopft mit allem, was eine wirkliche junge
Braut darin zu haben pflegt, ſo ſagt Waldmuhme,
beſonders mit Werg und alten Lappen nnd Sägeſpä—
nen. Darüber iſt ein feiner roſenfarbener Flor ge—
ſpannt, der Flor der Jugend, ſo ſagt Waldmuhme,
wenn ſie die fertigen Brautpuppen abliefert, und der
allein hält den ganzen Kopf zuſammen. Unter dieſem
Flor aber bringt ſie eine Menge feiner Sächelchen an,
welche das Lärvchen einer Braut zu ſchmücken pflegen.
Vor allem ſchneidet ſie aus ihrem roſenfarbenen Sei—
denleibchen zwei kleine eirunde Fleckchen, die ſchiebt
ſie unter den Flor und zupft und ſtochert ſie dann
von außen her mit einer Nadel geſchickt zurecht, bis
ſie an der richtigen Stelle ſitzen als zwei roſige Wäng—
lein, blühend vor Brautfreude und holder Verſchämt—
heit. Dann ſchneidet ſie ein kurzes weißes Schnürchen
vom Saume ihres Brautkleides und ſchiebt es gleich—
falls unter den Flor, aufrecht zwiſchen beide ſeidene
Roſenwangen, und das iſt die Naſe. Quer darunter
kommt ein ſcharlachrotes Streifchen Strumpfband, das
giebt doch gewiß einen Mund zum Küſſen. Etliche
ſchwarze Sammtbändchen aber haben ſchon eine Un—
zahl rabenſchwarzer Scheitel geliefert und Hunderte fei—
e
ner halbmondförmiger Augenbrauen, unter denen eine
große himmelblaue Perle als Augenſtern eingenäht wird.
Und das alles ſteckt feſt und genau unter dem feinen
Flor, jedes an ſeinem Platze, wo es juſt hingehört,
nur zum Verlieben. Beneidenswerteſter aller Koch—
löffel! In dieſem Stadium ſeines Lebens würde einer
gewiß ſelbſt mit einem Quirl nicht tauſchen, und der
iſt doch von Geburt ein weit vornehmeres Geſchöpf
und hat auf dieſer Erdenwelt nichts weiter zu thun,
als Walzer zu tanzen, noch dazu in lauter ſüßem Zeug.
Und dann kommt aber erſt noch der bräutliche Staat,
den jeder Kochlöffel auf den Leib geſchneidert kriegt,
als ſollte er mit nächſtem vor den Altar treten mit
einem vornehmen Quirl und ihm zugetraut werden fürs
Leben — aber ach, dieſe Quirle ſind ja wahre Schmet—
terlinge — nein doch, Schmetterlinge ſind ja die Hu—
ſaren, — wie fagte nur Schulmeiſters Annchen?
Und wenn die prunkenden Brautpüppchen dann
fertig ſtehen, angethan mit feſtlicher Zier, in roſenroten
Seidenleibchen und weißen Seidenröcklein, lange, weiße
Schleier den Rücken herabwallend, und wenn die him—
melblauen Perlen ihrer Auglein ſich faſt vom Zwirn—
faden losreißen vor Sehnſucht, während die roſa Seide
ihrer Wangen ſich vergeblich bemüht, wechſelweiſe zu
erbleichen und zu erglühen, dann kichert Waldmuhme
recht hämiſch unter ihrer dünnen Naſe und patſcht in
ihre dürren Knochenhände mit unheimlichem Geklapper,
während ihr bittere Thränen die hohlen Wangen herab—
rinnen. O gewiß, es ſteht nicht richtig mit ihr da
oben! N
Und dann kommen im erſten Zwielicht des hei-
ligen Abends, lange ehe noch zu Hauſe ein Bäumchen
brennt, die kleinen Mädchen herbei, um ihre verzau—
berten Kochlöffel zu holen. Mit ſtillem Grauen vor
jo unbegreiflicher Hexenmacht und dennoch freudig be—
wegt, empfangen ſie die merkwürdigen Puppenweſen,
während Waldmuhme immerzu knurrt und krächzt:
„Da nimm, da nimm — hol Dir die Braut —
andere waren 'mal grad' ſo ſchön und ſchmuck —
nimm hin, Kleine, nimm — bah, was bleibt davon?
— Heute noch Braut in Sammt und Seide, morgen
ein alter Kochlöffel, klapperdürr und ſplitternackt, vom
Wurm geſtochen — hu, wie der ſticht!“ Und dann
erſchrecken die kleinen Mädchen in der Regel und lau—
fen geſchwind nach Hauſe; aber die Kochlöffel haben
ſie alle mitgenommen.
Das ſind nun glückliche Tage für die kleinen
Mädchen von Dornau. Keine ohne ihre Puppe; wo
wurde ſo gleiches Recht für alle je gehört? Und wie
ſchön die lieben Dinger alle ſind, wie herrſchaftlich!
ag
Roſaſeidene Backen hat nicht einmal die Frau Gräfin
drüben im Haſenfelder Schloß und eine ſchwarzſammtene
Glatze trägt ſelbſt der Erzbiſchof nicht, denn die ſei—
nige iſt nur von violetter Seide.
Aber ach, Schönheit vergeht und nur Häßlichkeit
kann beſtehen unter der Sonne. Die armen Kochlöffel-
bräute vertragen das Herzen und Küſſen nicht gut und
zeigen bald krankhafte organiſche Veränderungen. Unter
dem zarten, durchſichtigen Flor, der das Antlitz um—
ſpannt, beginnen die auserleſenen Reize ſich in gefähr—
licher Weiſe zu verſchieben. Hier iſt ein roſiges Wäng—
lein ins Gleiten geraten und ſenkt ſich immer tiefer
hinab gegen das Kinn, während dort wieder ein Pur—
purmund ſich ſchief und immer ſchiefer zieht und ſich
zuletzt gewiß um ſeinen eigenen Mittelpunkt gedreht
haben wird, wie der Zeiger einer Uhr. Schrecklich iſt
es auch, wenn die Naſe plötzlich rechts oder links aus—
zuweichen beginnt und in naſeweiſer Fragezeichenkrüm—
mung ſich zwiſchen den Rotbäcklein hin und her win—
det. Und über alle Maßen unheimlich iſt der böſe
Blick der blauen Perlenaugen, wenn ſie die ſchwarz—
ſammtenen Halbmonde der Brauen nicht mehr über ſich
gewölbt haben, ſondern neben oder gar unter ſich, was
ein Sterndeuter, der ſich auf den Mond verſteht, gewiß
nur übel deuten kann. Zwei oder drei Wochen nur —
— 380 —
und es wäre wahrhaftig eine Kunſt, ſich in irgend eines
dieſer Püppchen zu verlieben. Welche läſtigen Unregel-
mäßigkeiten müßte hier auch jedes zarte Verhältnis
notwendig nach ſich ziehen! Was könnte es dem Lie—
benden für eine Freude machen, wenn die Geliebte ihn
heute unter dem linken Ohrläppchen anlächelte und mor—
gen rechts gegen die Schläfe hin? Und wie müßte er
erſchrecken, wenn ſein Engel die Brauen plötzlich dro—
hend zuſammenzöge, noch dazu bei der Naſenſpitze,
oder wenn ſie die Naſe über ihn rümpfte, aber nicht
nach allgemeinem Brauch über den Flügeln, ſondern
an der Wurzel — und mit dem Küſſen wär's doch
gar gefehlt, beſonders im Dunkeln, denn da iſt ein
Mund, der fortwährend im Geſichte hin und her wan—
dert, ſehr ſchwer zu finden, oder gar nicht.
Und haben ſich dieſe Schönheitsleiden eingeſtellt,
dann kommen die kleinen Mädchen nacheinander ge—
laufen und zeigen Waldmuhme betrübt die Schäden
ihrer Teuren und flehen um Hilfe und Rettung. Wald—
muhme aber verzieht ſchadenfreudig ihre Runzeln und
knarrt höchſt ſonderbar mit ihren Halswirbeln — ſie
meint wohl damit gelacht zu haben — und klatſcht
wieder in die Hände, daß die Fingerknöchelchen grell
durcheinander klappern, und fie weiſt die kleinen Mäd—
chen von dannen: „Schert euch, Kochlöffelchen, ſchert
ee
euch! — Schön iſt ſchön, aber wie lange? hi hi —
andere waren auch 'mal ſchön und ſind alte, dürre
Kochlöffel geworden, hi hi — ſchert euch, kleines Pack,
und haltet nur eure eigenen Wänglein feſt, ganz feſt
mit beiden Händen, ſo — was hilft's? gehn euch doch
durch, da iſt kein Kraut für!“
Und die kleinen Mädchen von Dornau gehen
trübſelig nach Hauſe mit ihren entſtellten Schönheiten,
die ſie nun gar nicht mehr mögen und wohl gar in
den Winkel werfen, — über ein Jahr vor Weihnach—
ten aber ſtehen die Kochlöffel doch alle wieder vor
Waldmuhmes Pförtlein, um ſich zu Brautpüppchen um⸗
zaubern zu laſſen, denn kein Kochlöffel in Dornau
läßt ſich witzigen durch das Beiſpiel anderer, und jeder
will ſie einmal im Leben durchmachen, die buntgoldige
Herrlichkeit, die doch in eitel Kummer und Trübſal
endet.
Und es wird fo fortgehen, ſolange der Wald-
muhme Brautſtaat langt, der aber erſchöpft ſich noch
lange nicht, denn Jungfer Georgine war ihrer Zeit eine
reiche Dorfbraut, und wenn Huſaren keine Schmetter-
linge wären — — —
*
erlag von Adolf Bonz & Comp. in Stuttgart.
5
Werke von Ludwig Ganghofer.
Die Sünden der Räter.
Roman.
Oktav. 2 Bände. Geh. A 10.—,
eleg. geb. A 12.—
Bergluft.
Hochlands-Geſchichten.
Inhalt: Der Herrgottſchnitzer von
Ammergau. — Aſſi Manlaſſe. — Die
Seeleithnersleut'. — Der ſchwarze
Teufel. — Hochwürden Herr Pfarrer.
— 's Geigenkröpfl. — Die Hauſerin.
Oktav. Geh. M 4.—, eleg. geb. M 5.—
Almer und Jüägerleut'.
Nene Hochlandsgeſchichten.
Inhalt: Ein Schuß in der Nacht. —
Die Mühle am Fundenſee. — Der
Letzte — Dſchapei. — Der Falken⸗
fang.
Oktav. Geh. A4 4.—, eleg. geb. M 5.—
Dramatiſche Schriften.
Erſte Sammlung:
Oberbayeriſche Volksſchanſpiele.
Inhalt: Der Herrgottſchnitzer von
Ammergau. — Auf der Alm. — Der
Prozeßhansl. — Der zweite Schatz.
— 19 5 Geigenmacher von Mitten-
wald.
Oktav. Geh. M 5.—, eleg. geb. A 6.—
Der Geigenmacher von Mittenwald.
Volksſchanſpiel in fünf Aufzügen.
Oktav. Geheftet A 1.—
Der zweite Schatz.
Volksſchanſpiel in vier Auffügen.
2. Aufl. Oktav. Geheftet A 1.—
Der Edelweißkönig.
Eine Hochlandsgeſchichte.
80. 2 Bände. Geh. 4 5.—, in einen Band
eleg. geb. # 6.—
Aus Heimat und Fremde.
Novellen.
In 0 alt: Künſtlerfahrt an den Königs⸗
ſee. — Das rote Band. — „Herr
Doktor Heinrich Heine.“ Racchelle
Scarpa.
Oktav. Geh. 1 4.80, eleg. geb. 1 5.80.
Der Jager von Fall.
Eine Erzählung
ans dem banyeriſchen Hochlande.
Oktav. Geh. 4 3.50, eleg. geb. # 4.50.
Oberland.
Erzählungen aus den Bergen.
Inhalt: Auf der Wallfahrt. — Der
Santrigel. — Im Vorübergehen. —
Die Fuhrmännin.
Oktav. Geh. # 4.—, eleg. geb. I 5.—
Der Herrgottſchnitzer von Ammergau.
Volksſchanſpiel in fünf Auffügen.
Siebente Auflage.
Oktav. Geheftet #4 1.—
Der Pruzeßhansl.
Volksſchanſpiel in vier Aufzügen.
3. Aufl. Oktav. Geheftet AM 1—
Bunte Zeit.
Gedichte.
Bweite Auflage.
Oktav. Eleg. geb. mit Goldſchnitt V 4.80
Heimkehr.
Beue Gedichte.
Oktav. Eleg. geb. mit Goldſchn. A 4. 80
Der Anfried.
Ein Dorfroman.
80. Geheftet #4 4.—, eleg. geb. 4 5.—
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