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Full text of "Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens 1900, Band 3m"

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Unterhaltung 
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Zu der Novellette „Die schöne Frau“ von Emma Merk. ($. 74) 
* 2222 Originalzeichnung von A. Wald. 


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Bis 


Unterhaltung ee 
e = md des Wissens 


Mit Original-Beitragen 
der hervorragendsten Schriftsteller und Gelehrten 
sowie zahlreichen Jllustrationen 


9 
. 


Jahrgang 1900 
Dritter Band 


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Stuttgart a Berlin a Leipzig 
Union Deutsche Verlagsgeselischaft 


Drum der 

Union Deutſche 
Verlagsgeſellſchaft 
in Stuttgart 


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J nhalts- Verzeichnis. 
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Um ein Wort. Roman in zwei Büchern von Woldemar: 


Urban (Fortsetzung). : . 
Die schöne Frau. Novellette von Emma Merk. 
Mit Illustrationen von A. Wald. 
Am Gardasee. Reiseerinnerungen von Fr. Regensberg 
Mit 14 Illustrationen. 
Der Tombsengel. Kriminalnovelle von Barry Sheff 
Wie Seevogeleier gesammelt werden. Englische Küsten- 
bilder von C. Koller 
mit $ Illustrationen. 
Das modernste Verkehrsmittel. Skizze aus dem Leben 
der Gegenwart. Uon Ulr. Myers 


Die Brillenschlange. Tropische Bilder von E. racial: 


Mit 5 Illustrationen. 
Ein Besuch bei dem Pondokönig Umaquikela. Siidafri- 
kanische Skizze von Fred Morris 
mit 5 Illustrationen. 
Mannigfaltiges: 
Graf und Kaufmann 
Neue Erfindungen: 
I. Elektrische Taschenlaterne . 
Mit Jllustration. 
II. Castaings Doppelscheiben zur immerwährenden 
Lüftung 
mit Illustration. 


Seite 


104 


169 


179 
190 


205 


219 


222 


223 


Inhalts-Derjeichnis. 


Seite 
Bettlerkniffe 2. > oo een. 225 
Eine wertvolle Bibliothek. . . . . 22 230 
Das grösste Geweih der Erde ee . 231 
Mit Illustration. 
Der Konsul und sein Pfeifer . . 2 . . . . . 233 
Sonderbare Münzennamen . . . . 2 ... + 235. 
Die Umgebung des Dauphins . . . ... . . 237 
Die Rotkebl-Anolis . . . . . 2m nn 238 
Mit Jllustration. 
Ein beherzter Diplomae =. 239 
Die Erbnnnnss 2240 
Die Belagerung von Gibraltar - . . . 32241 
Eine elektrische Schreibmaschie . . 243 
mit Illustration. 
Medizinische Trinkbeher . - . > 2 245 
Friedrich der Grosse in paris 245 
Dreizehn zu ishe! . . . . 2 nenn. 246 
Die Ceufelssonate . ........ 2247 
Eine angenehme Verwandlung . . g . . 248 


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EERDE 


Um ein Wort. 


Roman in zwei Büchern von Woldemar Urban. 


(Fortsetzung.) | % * Mach druck verboten.) 


Zweites Buch. 


1. 

err Aſſo d'Akkiri war recht zufrieden, daß er 
? das rote Villino, das er in Sorrent beſaß, 
nicht verkauft hatte, wie er vor einer längeren 
Reihe von Jahren beabſichtigt hatte. Er war 
ſehr gealtert und litt an einer Reizbarkeit 
und Nervoſität, die ihn häufig veranlaßte, das 
lärmende Neapel zu fliehen, um in den ſtillen Felsbuchten 
und Gärten des ſchönen Sorrent Zuflucht zu ſuchen. Da 
war es ihm denn lieb, dort auch in ſeinen vier Pfählen 
zu hauſen und nicht auf eine Mietswohnung angewieſen 
zu ſein. 

Er hatte das Landhaus umbauen und moderniſieren 
laſſen, er hätte fogar gern noch etwas von der benachbarten 
Villa Miramar hinzugekauft, um einen größeren Garten 
und einen eigenen Zugang zum Meeresufer zu haben, 
leider aber ließ ſich das nicht machen. Beſitzerin der Villa 
Miramar war eigentlich die nachgelaſſene Tochter der 
Gräfin di Monteverde, Conteſſina Santina, aber kein 


8 Um ein Wort. 


Menſch wußte, wo diefe war. Seit vierzehn Jahren hatte 
ſie niemand mehr in Neapel geſehen, und die Bank von 
Neapel, die als Verwalterin der Villa Miramar fungierte, 
war zu keinerlei Verkäufen ermächtigt und infolge früherer 
Anweiſungen von ſeiten der Pflegemutter der Beſitzerin 
auch gar nicht geneigt, auf ſolche Verhandlungen einzu⸗ 
gehen. So war die Grenze geblieben, wie ſie war. 

Es war eigentlich ſchade darum, und Herrn Mjo d' Akkiri 
that der herrliche Beſitz in der Seele leid. Seit fünfzehn 
Jahren ſtand die Villa Miramar leer, keine Seele hatte 
von all den Herrlichkeiten, welche Natur und Kunſt hier 
in ſo unvergleichlicher Fülle boten, den geringſten Nutzen. 
Traurig und einſam lag das Haus da, die Fenſterläden 
geſchloſſen, die Möbel verhängt, verpackt, die Teppiche 
und Matten zuſammengerollt, die wunderhübſchen Terraſſen 
öde und leer — ein verwunſchenes Schloß. Wenn nicht 
der alte, ewig hüſtelnde Gärtner, der ſeinen Lohn regel⸗ 
mäßig von der Bank ausbezahlt erhielt, wenigſtens den 
Park notdürftig im Stand gehalten hätte, ſo würde das 
Ganze ausgeſehen haben wie ein Ort, auf dem ein un— 
heimlicher Zauber ruht. 

Herr Mjo d' Akkiri war ein hochbetagter Mann, hatte 
ein langes, arbeit: und erfolgreiches Leben hinter ſich und 
machte infolgedeſſen das bißchen Philoſophie, was er zum 
Leben brauchte, für ſich ſelbſt zurecht. Er kannte die 
ganze Geſchichte, die mit dem verlaſſenen Hauſe zuſammen⸗ 
hing. Der Fluch des Verbrechens ruhte darauf, und dieſer 
fiel wie auf die Menſchen ſelbſt, ſo auch auf die Dinge. 
Er wußte nicht, was aus den Beteiligten geworden war, 
aber wenn er die traurige, verfallende Verlaſſenheit der 
hübſchen Villa Miramar anſah, ſo verglich er ſie unwill— 
kürlich mit dem Schickſal der an dem in dieſem Hauſe 
begangenen Verbrechen Beteiligten. 

Senhhr vergnügt und erheiternd waren ja dieſe Betrach— 


Roman von Woldemar Urban. 9 


tungen des alten Herrn freilich nicht, und da er außer: 
dem an Langeweile litt, ſo ging er nie gern allein nach 
Sorrent. Irgend jemand aus ſeiner ziemlich zahlreichen 
Familie mußte immer bei ihm ſein, entweder ſeine Frau 
oder eine ſeiner Töchter oder ſein jüngerer Sohn Ben⸗ 
venuto. Der ältere Sohn führte das Geſchäft. Dieſer 
konnte alſo nicht fort. Eigentlich hätte auch Benvenuto 
in Neapel bleiben müſſen, denn er ſtudierte Rechtswiſſen⸗ 
ſchaft, oder ſollte ſie wenigſtens ſtudieren. Aber damit 
hatte es ſeine eigene Bewandtnis. 

Benvenuto d' Akkiri war das Neſthäkchen der Familie, 
jetzt dreiundzwanzig Jahre alt und von ſeiner Mutter in 
ſchrecklicher Weiſe verhätſchelt. Benvenuto war ein hüb⸗ 
ſcher friſcher Burſche, der ſich natürlich den Vorteil, der 
daraus für ihn entſprang, weidlich zu nutze machte. Hatte 
er einmal keine Luſt zu arbeiten, oder kam ihm ein Examen 
gar zu raſch über den Hals, fo brauchte er nur über Kopf: 
ſchmerzen zu klagen, um ſeine Mutter ſofort in Aufregung 
zu bringen. Dann war von Ueberbürdung, von Quälereien, 
von nutzloſen Scherereien und ähnlichem die Rede, ſo 
lange, bis der alte Herr klein beigab, um nur wieder 
Ruhe zu haben. So war der junge Student der Rechte 
im Laufe der Zeit und unter der liebevollen Beihilfe ſeiner 
zärtlichen Mutter über das Studium der Rechtsgelehrtheit 
zu Anſichten gekommen, die nicht die Anſichten der übrigen 
Welt, beſonders nicht die ſeines Vaters waren. Wozu — 
ſo fragte er ſich — ſoll ich ſtudieren? Der Vater hat 
Geld, und es fehlt durchaus nicht an Advokaten, Richtern 
und anderen Rechtsgelehrten. Die armen Leute machen 
ſich ja jetzt ſchon durch eine ſtarke Konkurrenz unterein⸗ 
ander das Leben ſauer, wozu ſoll ich auch noch in dieſe 
Konkurrenz eintreten und ihnen das kärgliche Brot ſchmä— 
lern? Die Rechtsgelehrtheit kann ohne mich ganz gut 
exiſtieren, und ich ebenfalls ohne ſie. 


10 Um ein Wort. 


Das war die Philoſophie des dreiundzwanzigjährigen 
Studenten, die mit der ſeines Vaters durchaus nicht über⸗ 
einſtimmte, und wegen deren es manchen Verdruß gab. 
Nun ſtand wieder für den Spätherbſt eine Prüfung bevor, 
Benvenuto bekam alſo wieder einmal Kopfſchmerzen und 
ging bereits Anfang Juli mit ſeinem Vater nach Sorrent, 
um ſich zu erholen, wie er ſagte, und um ſich auf ſein 
Examen vorzubereiten, wie ſein Vater hartnäckig behauptete. 
Eine große Kiſte voll Bücher und Hefte wurde eingepackt 
und nach dem roten Villino in Sorrent geſchickt, der alte 
d' Akkiri kaufte einen neuen, ſehr ſoliden Schreibtiſch, der 
in Benvenutos Studierzimmer aufgeſtellt wurde; das war 
aber auch alles, was zur Vorbereitung für die Prüfung 
geſchah, denn Benvenuto ſelbſt trieb ſich meiſt unten am 
Meeresſtrand herum, badete, angelte, ruderte oder ſegelte, 
kurz, vertrieb ſich die Zeit mit jener Meiſterſchaft im 
Nichtsthun, wie man ſie nur in Neapel kennt. 

Eines Nachmittags — es war ein heißer Tag gegen 
Ende Juli — kam er die Felſentreppe herauf, und wollte 
durch den Park der Villa Miramar nach dem roten Villino 
gehen. Er hatte zwei Ruder auf der Schulter, die er im 
Schweiße ſeines Angeſichts über die unter glühheißen 
Sonnenſtrahlen liegende Treppe mit hinaufſchleppte, da: 
mit während ſeiner Abweſenheit kein Unfug mit ſeinem 
Boot geſchehen könne. Es war faſt ſechs Uhr, die Sonne 
ſtand ſchon tief und übergoß in jener für den Nordländer 
unglaublichen Farbenpracht des Südens alles mit einem 
ſatten ſchönen Rotbraun. Die See lag ruhig, der ganze 
Golf mit den Inſeln Ischia, Procida, Niſida, dem Poſi— 
lippo und Neapel ſelbſt bildeten ein einziges klares Tan: 
orama großartigſter Harmonie; das Laub der Feigenbäume 
duftete jenen ſüßen, undefinierbaren Geruch aus, der den 
Nerven ſo wohlthätig und beruhigend iſt. Kein Blatt 
regte ſich, nur die Meereswellen ſpielten leiſe raſchelnd 


Roman von Woldemar Urban. | 11 


und murmelnd im Uferfand, alle Zauber des glücklichen 
Sorrent ſchienen auf dieſe Stunde vereinigt. 

Plötzlich blieb Benvenuto ſtehen und ſtarrte — ſelbſt 
wie verzaubert — hinauf nach der letzten Rampe, die un⸗ 
mittelbar an den Park der Villa Miramar ſtieß und über 
die ſich eine junge Dame herabbeugte. In leichte helle 
Sommerkleider gehüllt, unter einem roten Sonnenſchirm 
ſah das friſche, luſtige Geſichtchen lächelnd auf den jungen 
Mann herunter. Benvenuto war als Neapolitaner an 
Frauenſchönheit gewöhnt und machte, wenn ihm etwas 
gefallen ſollte, ſehr hohe Anſprüche, aber ſo etwas kind⸗ 
lich Friſches, Schelmiſches, ſo große, dunkle, ruhige Augen 
hatte er noch nie geſehen. Die junge Dame mochte kaum 
ſiebzehn oder achtzehn Jahre ſein, war aber, wie meiſt 
die Südländerinnen in dieſem Alter, ſchon voll entwickelt, 
nur ihr Geſicht hatte das rührend Fromme und Naive 
des Kindes. Ihre Kleidung zeugte von vornehmem Ge: 
ſchmack und von untadelhafter Eleganz. 

Unwillkürlich riß Benvenuto die Mütze vom Kopfe und 
ſtotterte verwirrt: „Ich bitte um Verzeihung, Signorina —“ 

„Weshalb denn?“ fragte ſie lächelnd. 

„Je nun, wir ſind hier eigentlich beide auf fremdem 
Boden.“ 

„So?“ erwiderte ſie drollig. 

„Ja. Park und Treppe gehören zur Villa Miramar, 
während ich mit meinem Vater im roten Villino wohne 
und beides unerlaubterweiſe benutze. Es iſt aber niemand 
da, den man um Erlaubnis fragen könnte.“ 

Sie antwortete nichts, ſah ihn aber lächelnd und mit 
eigentümlichem Behagen vom Kopf bis zu den Füßen an. 

„Wo wohnen Sie denn, Signorina, wenn ich fragen 
darf?“ fuhr Benvenuto fort, indem er näher an fie heran: 
ſchritt. 


In dieſem Augenblick klang eine Frauenſtimme vom 


12 ; Um ein Wort. 


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Park her, laut und rufend: „Santina!“ und als fih Ben⸗ 
venuto umſah, bemerkte er eine Dame, vollſtändig in 
Schwarz gekleidet, die ſich eben von einer Gartenbank er⸗ 
hob, wo ſie in einem Journal geleſen hatte. 

„Mama?“ fragte die jüngere Dame zurück. 

„Komm zu mir, mein Kind. Ich möchte dir etwas 
zeigen.“ 

Die junge Dame ſah mit einem bedauernden Lächeln 
auf den vor ihr ſtehenden jungen Mann und ſagte höflich: 
„Sie verzeihen, Herr — Herr —“ 

„d'Akkiri, Signorina, ich heiße Benvenuto d' Akkiri 
und bin mit meinem Vater im roten Villino in der Sommer⸗ 
friſche. Es wird mir eine große Ehre und ein außer⸗ 
ordentliches Vergnügen ſein, wenn ich —“ 

„Mfo auf Wiederſehen, Herr d' Akkiri,“ unterbrach fie 
ihn und ging mit einer leichten Verbeugung davon. 

Natürlich ſah ihr Benvenuto nach, ziemlich verdutzt, 
aber doch ſehr geſpannt und erregt. Er hätte am liebſten 
mit der Dame in Schwarz anbinden mögen, weil ſie ihn 
im glücklichſten Moment ſeines Lebens geſtört und das 
Wunder, deſſen Betrachtung ihn momentan um die Be⸗ 
ſinnung gebracht, von ihm rief. 

„Nein,“ hörte er die Dame in Ser noch im Weiter⸗ 
gehen fagen, „es ſchickt fic) nicht, mein Kind, und be: 
ſonders hier ſollteſt du nicht mit Leuten verkehren, die du 
nicht kennſt.“ 

Was? brauſte Benvenuto innerlich auf, gehörte er zu 
den Leuten, die man nicht kennt? War er nicht wohl⸗ 
beſtallter Student der Rechtsgelehrtheit an der Univerſität 
zu Neapel? Hatte er ſich ihr nicht vorgeſtellt, wie es ſich 
gehörte? War es nicht ſchicklich, daß ſie auch ihm ihren 
Namen ſagte? 

Die „Leute, die man nicht kennt“, wurmten ihn, aber 
gleichwohl ließ ſich momentan nichts dagegen machen. 


Roman von Woldemar Urban. 13 


Langſam ging er die kleine Orangen⸗ und Limonenallee, 
die quer durch den Park der Villa Miramar und an 
dieſer vorüber nach dem Villino führte, entlang, als ihm 
auffiel, daß auf. der großen Terraſſe der Villa Miramar 
die Thüren und Fenſterläden aufſtanden, und auf der 
Terraſſe ſelbſt zwei Dienſtmädchen Decken oder Teppiche 
ausklopften. , 

Die Villa Miramar war alfo aus ihrem Zauberſchlaf 
erwacht und bewohnt. Natürlich von „ihr“ und ihrer 
Mutter. Denn daß die Dame in Schwarz ihre Mutter 
ſein mußte, war klar. Wer aber war denn die junge 
Schöne ſelbſt? „Santina“ hatte ihre Mutter ſie gerufen. 
Nun, dieſer Vorname iſt in Unteritalien nicht gerade 
ſelten. Santina heißen viele junge Mädchen. Indeſſen 
konnte es doch nicht ſchwer ſein, zu erfahren, wer die 
Villa Miramar gemietet hatte. 

Ein Gärtnerburſche, den der alte Gioachimo zu ſeiner 
Unterſtützung ſeit einiger Zeit bei ſich hatte, lief ihm in 
den Weg. Der Junge war freilich erſt vierzehn oder 
fünfzehn Jahre und ſo dumm, wie es die Polizei nur 
irgend geſtatten kann. Aber es war momentan niemand 
anders da, und warten wollte der junge Mann in ſeiner 
Ungeduld nicht. 

„He, Adi!” rief er den Burſchen an. „Die Villa 
Miramar iſt bewohnt?“ 

Achille nickte. „Seit heute früh.“ 

„Wie heißt die Herrſchaft?“ 

„Weiß nicht.“ 

„Woher kommt ſie?“ 

„Von Caſtellamare.“ 

Von Caſtellamare kamen in Sorrent alle Fremden, 
die nicht mit dem Schiff ankommen, und was anderes 
wußte Achille nicht. Verzweifelt ſah Benvenuto einen 
Augenblick zu, wie der Burſche einige Roſenſträuche und 


14 Um ein Wort. 


Salbeibeete begoß. „Wo it Gioachimo?“ fragte er dann 
in der Hoffnung, von dem alten Gärtner mehr erfahren 
zu können. 

„In Neapel,“ erwiderte Achille. „Heute früh mit 
dem Schiff fort. Beſorgung für die Herrſchaft.“ 

„Wann kommt er wieder?“ 

„Weiß nicht.“ 

Der Burſche mit ſeinem ewigen „Weiß nicht“ fing an, 


den jungen hitzigen Studenten nervös zu machen. Aber 


es half nichts, Benvenuto mußte warten, ſo ſchwer ihm 
das auch fiel, bis er ſich bei dem Gärtner beſſere Aus⸗ 
kunft holen konnte. 

Als er ſich dem roten Villino näherte, ſchickte ihm 
der Himmel ſeine Schweſter Beatrice in den Weg, die 
von der Poſt kam und Briefe und Zeitungen für ihren 
Vater geholt hatte. In Sorrent holt man meiſt ſeine 
Sachen ſelbſt von der Poſt, um nicht warten zu müſſen, 
bis es dem Briefträger zufällig einmal einfällt, ſie zu 
bringen. 

„Beatrice,“ rief der Student ſeine Schweſter an, „denke 
dir, Villa Miramar iſt bewohnt.“ 

; „Madonna santissima!“ rief die junge Dame erſchrocken, 

„biſt du nicht wohl, daß du mich ſo anfährſt? Was geht 
denn mich das an, ob die Villa Miramar bewohnt iſt 
oder nicht.“ 

„Zwei Damen, eine ältere und eine jüngere,“ fuhr 
er lebhaft fort, ohne den Einwurf ſeiner Schweſter zu be⸗ 
achten, „du mußt ihnen einen Beſuch machen.“ 

„Ich? Wie komme ich denn dazu?“ 

„Das ſchickt ſich ſo. Es ſind Fremde, und es gehört 
für uns zum guten Ton, daß wir uns ihnen vorſtellen 
und zu ihrer Verfügung halten. Da es Damen ſind, geht 
das dich an, wenn es Herren wären, hätte ich es ſelbſt 
beſorgt.“ 


Roman von Woldemar Urban. 15 


„Es fällt mir gar nicht ein,“ antwortete feine Schweſter 
ablehnend. „Wenn die Fremden etwas wollen, mögen 
ſie zu mir kommen.“ 

Aergerlich warf er feine Ruder hin. „Eine Neapoli: 
tanerin weiß doch nie, was ſich gehört! Du blamierſt 
die ganze Familie. Außerdem haben wir den Schaden. 
Wir können nicht mehr den Park der Villa Miramar be⸗ 
nutzen, wenn dieſe von für uns fremden Leuten bewohnt 
wird.“ 

„Ah bah, was thut's? Wir gehen eben auf der 
Straße durch Sant' Aniello nach dem Meer.“ 

„Danke ſchön! Man verſinkt auf der Straße ja bis 
an den Halskragen in den Staub.“ 

Durch den Streit war der alte d' Akkiri aufmerkſam 
geworden und trat näher. Nun wurde die Angelegenheit 
nochmals durchgeſprochen, Benvenuto ereiferte ſich immer 
mehr, ſo daß ſchließlich ſein Vater die Sache dahin regelte, 
daß er ſich ſelbſt bereit erklärte, den Damen am nächſten 
Morgen einen Beſuch zu machen, wobei er die Benutzung 
des Parkes der Villa Miramar zur Sprache bringen 


wollte. 


Dabei beruhigte ſich Benvenuto und ging auf den 
Balkon ſeines ſogenannten Studierzimmers, um von dort 
aus mit dem Feldſtecher hinüber nach der großen Terraſſe 
der Villa Miramar zu ſchauen, wo ſich Santina mit ihrer 
Mutter eben zum Eſſen niederſetzte. Es war freilich ſchon 
ziemlich dunkel, aber es ſtanden auf dem Tiſche zwei 
große Lampen, in deren Schein er Santina ſo genau wie 
in einem Theater hätte ſehen können, wenn fie nicht ge: 
rade hinter einer großen Fächerpalme Platz genommen 
hätte. So mußte er immer warten, bis die junge Dame 
eine Bewegung machte, entweder um nach etwas auf dem 
Tiſche zu langen oder dem aufwartenden Mädchen etwas 
abzunehmen oder hinzureichen. Aber er wartete geduldig 


16 | Um ein Wort. 


wie nie, fo daß er es ganz überhörte, wie er felbft zum 
Eſſen gerufen wurde. Dieſes Antlitz, diefe Figur und 
vor allem dieſes muntere, glockenreine Lachen, das der 
Wind manchmal zu ihm herübertrug, bezauberten ihn und 
verſetzten ihn in eine Aufregung, wie er ſie noch nie in 
ſeinem Leben empfunden. 

Plötzlich ſtand ſein Vater hinter ihm, ohne daß er ihn 
hätte kommen hören. 

„Du biſt doch wohl ganz und gar des Teufels,“ ſagte 
Don Aſſo ungehalten. „Was ſollen denn die Damen 
von uns denken, wenn ſie dich hier bemerken?“ 

„Wir könnten auch einmal im Freien eſſen,“ verſetzte 
er ausweichend. „Die Luft iſt ſo mild und ſchön.“ 

„Scher dich hinunter zum Eſſen,“ befahl ſein Vater 
ſtatt aller Antwort. „Alle warten nur auf dich.“ — 

Am nächſten Morgen weckte Benvenuto ſeinen Vater 
um ſechs Uhr, damit er den Nachbarbeſuch nicht verſäumen 
ſollte. Der alte Herr kannte ſeine Söhne ſehr wohl und 
erinnerte ſich vielleicht auch aus ſeiner eigenen Jugend, 
wie gefährlich dergleichen Anfälle werden konnten. Vor 
Jahren war es ihm ſchon einmal mit ſeinem älteſten Sohn 
ſo ergangen, der ſich plötzlich in eine Liederſängerin am 
Teatro Fondo verliebt hatte und ſie allen Ernſtes heiraten 
wollte. Damals war es ihm gelungen, durch die Polizei 
die bereits etwas anrüchige Perſon aus Neapel zu ent⸗ 
fernen, ſein Sohn hatte aber davon erfahren, und ein 
jahrelanger Zwiſt war die Folge geweſen, bis endlich eine 
neue Leidenſchaft die alte beſeitigt und ſeinen Sohn wieder 
zu Verſtand gebracht hatte. Sollte derſelbe Tanz nun 
noch einmal mit Benvenuto losgehen? Das Bürſchchen 
war jetzt dreiundzwanzig Jahre, war nichts und hatte 
nichts. Was alſo ſollte da werden? 

Gleichwohl ging der alte Herr ſeinem Verſprechen ge— 
mäß gegen Mittag nach der Villa Miramar hinüber, um 


Roman von Woldemar Urban. 17 


fih den fremden Damen zur Verfügung zu ftellen oder 
doch feine Karte abzugeben. Benvenuto wartete unter: 
deffen aufs höchſte geſpannt, mit der Uhr in der Hand, 
im Villino und wäre am liebſten gleich hinter ſeinem 
Vater hergelaufen. Schon nach verhältnismäßig kurzer 
Zeit ſah er ihn zurückkommen. 

„Nun?“ fragte er ungeduldig. 

Sein Vater ſah ſehr ernſt aus. „Komm mit auf mein 
Zimmer, Benvenuto,“ ſagte er kurz und ſtieg die Treppe 
hinauf. 

Etwas betroffen folgte Benvenuto. „Was ſagten ſie 
denn, Papa?“ fragte er ſchon unterwegs. „Du haſt doch 
mit ihnen geſprochen?“ 

„Nein.“ 

„Nicht?“ fuhr Benvenuto erſtaunt auf. „Aber —“ 

„Komm und rede nichts. Du wirft gleich alles wiſſen.“ 

In ſeinem Zimmer angekommen, ſetzte Don Aſſo ſich 
in einen Seſſel und begann mit leiſer, vorſichtiger Stimme, 
als ob er fürchte, belauſcht zu werden: „Die Damen, die 
du geſehen haft, find in der Villa Miramar und über: 
haupt in dieſer Gegend durchaus nicht fremd, denn ſie 
ſind die Beſitzerinnen der Villa.“ 

„Was? Sie ſind hier zu Hauſe?“ fragte der junge 
Mann überraſcht. 

„Höre mir zu, was ich dir ſage. Die ältere Dame 
iſt die Gräfin di Monteverde, nennt ſich aber hier Frau 
de Mendriſi nach ihrer Mutter, mit der ſie vor langen 
Jahren das rote Villino bewohnt hat.“ 

„Unſer Haus?“ 

„Ja. Die jüngere Dame iſt die Tochter des Grafen 
di Monteverde aus erſter Ehe, deren Mutter von eben 
dieſem Grafen Enea di Monteverde in der Villa Miramar 
ermordet wurde, und der ſeither drüben im Zuchthaus von 


Niſida ſeine Strafe abbüßte.“ 
1900. III. 2 


18 Um ein Wort. 

„Großer Gott, was fagit du da!“ 

„Nichts als die Wahrheit. Du weißt natürlich von 
dieſer ganzen Sache nichts, mein Junge, denn du warſt 
damals noch ein Kind. Ich aber beſinne mich noch gut 
genug darauf. Graf Enea di Monteverde wurde zu fünf— 
zehn Jahren Bagno verurteilt, und in dieſer ganzen Zeit 
ließ ſich ſeine zweite Frau wie auch ſeine Tochter in 
unſerer Gegend nicht blicken. Die Damen wußten wohl, 
warum. Nun muß aber nach meiner ungefähren Be: 
rechnung die Strafzeit des Grafen demnächſt um ſein, und 
deshalb ſind die Damen wohl auch wieder hier.“ 

„Und Santina? Die junge Dame, die ich geſehen?“ 

„Iſt die Tochter eines Zuchthäuslers,“ antwortete 

Don Aſſo nachdrücklich. „Du weißt, was das heißt. Ob 
Gräfin oder nicht, ob reich oder arm, geſchändet iſt ge: 
ſchändet. Laß dir das alſo geſagt ſein, Benvenuto. 
Du kannſt doch nicht wünſchen, mit ſolchen Leuten zu 
thun zu haben, und wenn du dich auch als junger un— 
überlegter Mann darüber hinwegſetzen ſollteſt, ſo darfſt 
du es doch deiner Familie, deinen Schweſtern und deinen 
Eltern nicht zumuten. Ich hoffe, Benvenuto, du biſt 
verſtändig genug, um das einzuſehen. Du biſt kein Knabe 
mehr.“ 
„Aber ich begreife nicht, Papa — du hätteſt ſie ſehen 
ſollen! Dieſe harmloſen, naiven Augen, dieſe zierliche 
Drolligkeit und Luſtigkeit. Nein, nein! Das iſt nicht 
möglich. Wer ſeinen Vater im Bagno weiß, kann nicht 
ſo ausſehen.“ 

„Benvenuto, von einem Irrtum meinerſeits iſt keine 
Rede. Alſo ſei vernünftig und laß dich von deinem Vater 
über das belehren, was du ſelbſt nicht weißt. Das Ver: 
brechen ift wie eine Kataſtrophe in der Natur, die weit 
hinter ſich ihre Furchen zieht. Bleib weg davon.“ 

„Vater!“ 


Roman von Woldemar Urban. 19 


„Laß es gut fein. Ich weiß ſchon, was du fagen 
willſt. Natürlich fällt jetzt jeder Verkehr mit der Villa 
Miramar fort. Wenn ihr nach dem Meer hinuntergeht, 
ſo geht ihr durch Sant' Aniello. Die Sache iſt nicht ſo 
ſchlimm, und um derartigem aus dem Wege zu gehen, 
kann man wohl einen noch größeren Bogen machen.“ 

„Aber —“ 

„Ich will es ſo und damit baſta!“ ſchnitt ihm ſein 
Vater ſtreng das Wort ab. „Wenn du die Notwendig: 
keit nicht einſiehſt, ſo muß ich dich zum Gehorſam zwingen. 
Du weißt, Benvenuto, daß ich mit dir nicht eben ſehr 
ſtreng bin und dir vieles nachſehe. In dieſem Punkt 
bin ich aber unerbittlich. Sowie ich merke, daß du mir 
nicht gehorchſt, oder wenn ich dich nur einmal drüben im 
Park der Villa Miramar ſehe, ſchicke ich dich ſofort nach 
Neapel zurück. Mein Wort darauf!“ 

Jetzt, im Hochſommer, in das heiße, ſtaubige, un: 
ſaubere Neapel zurückgeſandt zu werden, verlockte den 
jungen Mann natürlich nicht, auch wenn es in Neapel 
keine Univerſität gegeben hätte. Auch nahm ſein Vater 
bei dieſer Gelegenheit eine ſo ernſthafte und drohende 
Miene an, wie er fie an ihm nur bei ganz ernſten Ge: 
legenheiten geſehen, wo auch die Mutter nichts ausrichten 
konnte. Er nahm ſich deshalb vor, ſeinem Vater zunächſt 
keinen Anlaß zum Aeußerſten zu geben und den Park der 
Villa Miramar zu meiden. Vielleicht kannte und fühlte 
er auch in dieſem Augenblick die Tragweite ſeines Ver— 
ſprechens nicht, jeden falls dachte er nicht daran, daß viel— 
leicht einmal ein Tag kommen könne, wo es ihm unmög— 
lich ſein werde, es zu halten. Genug — er gab es, um 
ſeinen Vater zu beruhigen. 

Der Verkehr zwiſchen dem Villino roſſo und der Villa 
Miramar war von Stund an eingeſtellt. 


20 Um ein Wort. 


2. 


Gräfin Severa di Monteverde ſtand auf der kleinen 
Terraſſe und ſchaute mit thränenfeuchten, wehmütigen 
Augen über das weite dunkelblaue Meer nach der kleinen 
Inſel Niſida am Nordende des Golfes. Auf der höchſten 
Erhöhung der Inſel befand ſich ein weithin ſichtbares, 
weißglänzendes Haus, der Bagno oder das Zuchthaus von 
Niſida, der derzeitige Aufenthaltsort ihres Gatten, des 
Grafen Enea. Gräfin Severa war trotz der langen qual⸗ 
vollen Jahre und des inzwiſchen erfolgten Todes ihrer 
Mutter noch eine ſtattliche Frau, aber die verfloſſenen 
fünfzehn Jahre hatten doch zu ſchwer auf ihrer Seele ge: 
laſtet, als daß ſie nicht ihre Spuren hätten zurücklaſſen 
ſollen. Um die Augen hatte ſich eine Menge kleiner, 
kaum wahrnehmbarer Fältchen gebildet, und der Ausdruck 
der Augen ſelbſt war wie verſchleiert, durch ſchmerzliche 
Entſagung verdüſtert. Auch um den Mund ſah man bei 
jeder Bewegung dieſen müden, melancholiſchen Ausdruck. 
Was hatte ſie alles in dieſen fünfzehn Jahren gelitten! 
Wenn Severa jetzt zurückdachte an all die bitteren, trüben 
und einſamen Stunden, ſo ſchien es ihr wie ein Wunder, 
daß ſie ſie überhaupt überſtanden hatte. 

Wie aber hatte er, der unſchuldig Verurteilte, fie er: 
tragen? Das war es, was ſie jetzt zumeiſt beſchäftigte. 
Seine Prüfungszeit — ſeine Strafe, wie die Leute ſagten 
— war demnächſt vorüber, aber wie würde ſie ihn wieder⸗ 
ſehen? Was würde man aus dem Mann, der ihr alles 
war, gemacht haben? 

Ein müdes, trockenes Hüſteln ſtörte ſie aus ihrem 
Nachdenken auf. Sie fuhr raſch mit dem Taſchentuch 
über die thränennaſſen Augen und ſah ſich um. 

Der alte Gioachimo ſchritt über die Terraſſe und kam 
auf ſie zu. 


Roman von Woldemar Urban. 21 


„Gioachimo, was giebt's?“ fragte fie. 

„Eure Gnaden, Frau Gräfin werden verzeihen,“ ſagte 
der alte Mann und präſentierte ihr eine Viſitenkarte. 

Sie nahm die Karte und las: Mfo d' Akkiri. „Was 
iſt mit dieſer Karte?“ fragte ſie weiter. 

„Der Herr war unten —“ 

„Wann? Jetzt?“ 

„Ja, jetzt eben. Er fragte nach der neuen Herrſchaft 
und gab mir dabei ſeine Karte. Als ich ihm aber Ihren 
Namen nannte, Frau Gräfin, wandte er ſich wieder ab 
und ging davon, indem er ſagte, er habe ſich geirrt. Seine 
Karte ließ er da.“ 

Ihre Finger zuckten leiſe, und ſie ließ die Karte fallen. 
Der Ausdruck ſtummer Trauer und ergebungsvoller Melan: 
cholie, der ſie auf Augenblicke verlaſſen, kehrte wieder 
zurück. 

„Es iſt gut, Gioachimo,“ ſagte ſie müde. „Laß mich 
allein und vergiß nicht, was ich dir ſagte in Bezug auf 
Santina.“ 

„Frau Gräfin können ſich auf mich verlaſſen,“ erwiderte 
der alte Mann. „Ich werde ſchon acht geben.“ 

Der Gärtner ging wieder fort, und Severa blieb allein. 
Sie befann fih auf Herrn d' Akkiri ſehr gut. Damals, 
als ſie mit ihrer Mutter in ſeinem Hauſe gewohnt hatte, 
war er ſehr freundlich geweſen und hatte ſie häufig be⸗ 
ſucht. Jetzt freilich —! 

Sehr nahe ging ihr das Verhalten des Herrn d' Akkiri 
übrigens nicht, ſie war in den fünfzehn Jahren noch an 
ganz andere Vorkommniſſe gewöhnt worden, und wenn ſie 
auch manchmal hätte aufſchreien mögen vor Scham und 
Zorn, ſo war ſie doch in der langen Zeit duldſam und 
demütig genug geworden, um derartige Kränkungen ſtumm 
hinzunehmen. Aber um Santinas willen ſchmerzte es ſie. 
Dieſe war jetzt herangewachſen, und es wurde immer 


22 Um ein Wort. 


ſchwieriger, das junge Mädchen, das nach Geſellſchaft und 
Umgang verlangte, über den Grund ihrer Vereinſamung 
zu täuſchen. 

Plötzlich fuhr Severa aus ihren trüben Betrachtungen 
auf, und es war faſt, als ob ein hellerer Strahl über ihr 
Geſicht geflogen wäre. Santina kam mit der ihr eigenen 
Lebhaftigkeit auf die Terraſſe. Die prachtvollen ſchwarzen 
Haare hingen ihr noch offen über Hals und Schultern 
herab, nur mit einigen rotſeidenen Schleifen feſtgehalten, 
die großen Augen ſtrahlten vor Jugendluſt und Glück. 
Alles an ihr war Bewegung und Leben, und ihre Ge— 
ſtalt hob ſich feingegliedert und formvollendet unter den 
leichten, enganliegenden Sommerkleidern hervor. 

Santina hatte ſich in der Zwiſchenzeit körperlich und 
geiſtig in herrlicher Weiſe entwickelt. Man konnte es 
ſchon verſtehen, daß Severa bei ihrem Anblick ihr Elend 
vergaß in ſtolzer Freude über Santina. Sie ſehnte ſich 
nach dem Augenblick, wo ſie zu Enea ſagen konnte: „Das 
iſt dein Kind, rein und ſchuldlos, emporgeblüht wie die 
Blume auf dem Felde, harmlos und ahnungslos wie ſie 
war — ſo gebe ich ſie dir zurück.“ Sein Dank ſollte ihr 
ſchönſter Lohn ſein. 

Severa hatte ſich ſelbſt, ihre Jugend, ihr Lebensglück 
geopfert, ſich in die entlegenſten Städte zurückgezogen, wo 
niemand ſie kannte, damit Santina ohne Kummer, ohne 
Leid und Kränkung aufwachſen könne. Nun kam die 
Stunde immer näher, wo ſie die Tochter in die Arme 
des Vaters zurückgeben, ihre Aufgabe als erfüllt anſehen 
konnte. Deshalb war ſie hierher gekommen, um in Sorrent 
den Tag der Wiedervereinigung abzuwarten. 

„Biſt du ſchon hier, Mama? Biſt du ſchon fertig?“ 
fragte Santina, indem ſie ſich Severa ſtürmiſch in die 
Arme warf. 

„Längſt, mein Kind,“ antwortete dieſe, indem ſie 


Roman von Woldemar Urban. 23 


Santina lächelnd küßte, „ich habe leider nicht das Glück, 
ſo gut und feſt zu ſchlafen wie du.“ 

„Wieviel Tage noch, Mama?“ fuhr Santina in ihrer 
ungeduldigen, lebhaften Art fort. „O ſage, wieviel Tage 
noch?“ . 

„Noch fünf Tage, wenn alles gut geht.“ 

„O, es wird alles gut gehen, Mama. Sage, daß alles 
gut gehen wird und daß der Vater wirklich in fünf Tagen 
bei uns iſt.“ 

„Liebes Kind, er hat eine weite, weite Reiſe zurück⸗ 
zulegen, und das Meer iſt nicht zuverläſſig. Aber wenn 
er auch einen oder zwei Tage ſpäter kommt, ſo kommt 
er doch ſicher.“ 

„Wie heißt das Schiff, mit dem er kommt?“ 

„Es iſt die „Ancona“.“ 

„Wie lange braucht die „Ancona“ von Bahia bis 
Neapel?“ 

„Dreißig Tage, und wenn es ganz gutes Wetter iſt, 
ſieben⸗ bis achtundzwanzig Tage.“ 

„Und der Vater wird, wenn er einmal wieder hier 
iſt, nie, niemals wieder nach dem ſchrecklichen Braſilien 
gehen und uns hier allein zurücklaſſen?“ 

„Wenn wir recht lieb zu ihm ſind, wird er ſchon bei 
uns bleiben.“ 

„O, er ſoll nicht wieder fort,“ ſagte Santina ziemlich 
energiſch, „ich werde ihn ſo ſchrecklich lieb haben, daß er 
nicht wieder fortgeht. Kannſt du dich wohl noch gut auf 
den Vater beſinnen, Mama? Er iſt ja ſo entſetzlich lange 
Jahre fort.“ 

„O ja, ich beſinne mich noch recht gut auf ihn.“ 

„Ein ſchöner Mann, nicht wahr?“ 

„Ein ſehr ſchöner Mann, wenigſtens damals. Aber 
du weißt ja, daß er inzwiſchen am Fieber ſehr krank ges 
weſen iſt. Es kann ſchon ſein, daß er jetzt etwas kränk⸗ 


24 Um ein Wort. 


lich ausſieht. Aber du wirft ihn trotzdem lieb haben — 
nicht wahr, Santina?“ 

„Wie mich ſelbſt, oder nein, noch viel, viel mehr; ſo 
wie dich, Mama.“ 

„Recht, mein Kind.“ 

„Aber findeſt du es nicht auch ſonderbar, daß ich mich 
ſo ganz und gar nicht mehr an die Villa Miramar er: 
innern kann und daß mir auch das Bild des Vaters ſo 
vollſtändig entſchwunden iſt?“ 

„Du warſt damals noch ſehr klein, Santina.“ 

„Aber ich beſinne mich doch daran, als du mich auf 
dem Arme trugſt, und Papa dich plötzlich umarmte, und 
ich in aller Angſt, erdrückt zu werden, zwiſchen euch beiden 
hing. Erinnerſt du dich?“ 

„Ja, mein Kind.“ 

„Ich beſinne mich ſogar auf das Zimmer. Es waren 
knallrote Wände mit kleinen bunten Figürchen im pom— 
pejaniſchen Geſchmack. Aber ich finde das Zimmer in der 
ganzen Villa Miramar nicht wieder.“ 

„Es hat ſich viel verändert,“ antwortete Severa aus— 
weichend. Sie wußte wohl, welches Zimmer Santina 
meinte. Sie hatte merkwürdigerweiſe gerade den Augen— 
blick im Gedächtnis behalten, in dem ſich Enea mit Severa 
drüben im roten Villino verlobt hatte. Aber ſie fand es 
gefährlich, ihr nähere Aufklärungen darüber zu geben. 

„Auch ſonſt liegt mir die ganze Gegend, die Scenerie 
des Golfes, die Inſeln, das blaue Meer, die helle Sonne, 
die grünen Gärten, wie ein ferner, ferner Traum in den 
Sinnen,“ fuhr Santina fort. „Ich kenne es und kenne 
es wieder nicht. Ich habe alles das ſchon geſehen, vor 
langer, langer Zeit, und weiß doch nicht, was es iſt. 
Ich beſinne mich auf einen großen Mann, der immer ſehr 
ſorgfältig gekleidet und vornehm einherging, und möchte 
faſt behaupten, daß das Papa war. Aber ich glaube, 


Roman von Woldemar Urban. 25 


wenn ich ihn jetzt vor mir ſähe, würde ich ihn nicht er- 
kennen.“ 

„Du wirſt ihn ja bald ſelbſt ſehen und dann nicht 
mehr auf alte Bilder und verwiſchte Erinnerungen an: 
gewieſen ſein,“ tröſtete ſie ihre Mutter. 

Dann ſah Santina plötzlich die Karte am Boden 
liegen, die ihre Mutter vorher hatte fallen laſſen, und 
ehe es dieſe hindern konnte, hob das junge Mädchen 
ſie auf. 

„Was iſt das für eine Karte?“ fragte ſie lebhaft. 

„O nichts. Gieb ſie her, mein Kind.“ 

„Aſſo d' Akkiri, das ift wohl der Mann, der im roten 
Villino wohnt? Der Vater des jungen Herrn vermutlich, 
den wir im Garten trafen?” 

„Vermutlich,“ gab ihre Mutter, gleichgültig thuend, 
zur Antwort. 

„War er hier?“ 

„Ja, das heißt — — ach, laſſen wir das. Was geht 
uns der Mann an.“ l 

„Was wollte er denn, Mama?“ 

„Ich weiß nicht. Vielleicht Wein verkaufen oder der: 
gleichen.“ 

„O, du haſt ihn abgewieſen? Haſt gar nicht mit ihm 
geſprochen?“ 

„Nein. Wozu denn auch. Wir kaufen ihm ja doch 
nichts ab.“ 

„Aber — —“ begann Santina, ſchwieg dann aber 
plötzlich. Es war ihr unangenehm, daß ihre Mutter, 
wie ſie annahm, den Beſuch des alten Herrn abgewieſen 
hatte — um ſeines Sohnes willen. Nur mochte ſie vor 
ihrer Mutter nicht davon ſprechen. 

„Du mußt hier beſonders vorſichtig ſein, Santina, 
wenigſtens ſolange Papa noch nicht bei uns iſt.“ 

„Aber ich verſtehe nicht, weshalb?“ 


26 Um ein Wort. 


„Die Leute haben fo ſchlechte Angewohnheiten, daß 
es beſſer iſt, den Verkehr mit ihnen zu meiden.“ 

„Aber der junge d' Akkiri doch gewiß nicht,“ warf 
Santina unbedacht ein. 

„Je nun, es iſt auch nicht beſonders fein, eine junge 
Dame, die man nie geſehen hat, fo ohne weiteres anzu: 
ſprechen.“ 

Santina fand das nicht, aber ſie ſchwieg. Severa las 
in ihrem Inneren, ſie fühlte, es wurde für ſie immer 
ſchwieriger, Santina in jener ahnungsloſen Ruhe und 
kindlichen Abhängigkeit zu halten, die für ihren Seelen: 
frieden notwendig war. Santina war in dem Alter, wo 
eine junge Dame eben kein Kind mehr iſt und ſelbſt ſieht 
und denkt. Das war ja eben Severas größte Sorge, 
daß Santina durch irgend einen Zufall etwas erfahren 
könne, was ihre Ruhe erſchüttern mußte, was ein Unglück 
für ſie war. Nach dem, was Santina bisher wußte, war 
ihr Vater an großen Handelsunternehmungen in Braſilien 
beteiligt, die ſeine bisherige Anweſenheit in dieſem Lande 
notwendig gemacht hatten. Nun kam er notgedrungen 
infolge von Fieberanfällen wieder in die Heimat zurück. 
Um ihn zu erwarten, war Severa mit Santina nach Neapel 
geeilt. 

Alles war ſorgſam abgemacht, das Zuſammentreffen, 
das Wiederſehen aufs peinlichſte vorbereitet und vorher 
beſtimmt. Gleich nach der Vereinigung mit ihrem Gatten 
ſollte die Familie wieder nach Turin überſiedeln, aus 
Furcht, Santina könne durch einen unglücklichen Zufall 
hinter die Wahrheit kommen. 

Dieſe Gefahr beſtand ja anderswo auch und mußte 
ſpäter ſogar ſehr groß werden, wenn es ſich einmal darum 
handelte, Santina zu verheiraten. Aber das ſtand noch 
in weiter Ferne und beſchäftigte Severa momentan nicht 
ſo aufregend wie die Furcht, daß Santina während ihres 


Roman von Woldemar Urban. 27 


Aufenthaltes in der Heimat, wo doch noch viele Leute 
ſich an den Prozeß des Grafen Enea erinnern konnten, 
etwas davon erfahre. War erſt Graf Enea da, ſo konnte 
er als Mann weiter ſorgen. Seinen Händen konnte ſie 
anvertrauen, was fie vielleicht nicht bis zum Ende durch: 
ſühren konnte. — 

Gegen Sonnenuntergang ſtand Santina, obgleich es 
noch ſehr heiß war, wieder auf der oberen Treppenmauer, 
wo es zum Meeresſtrand hinunterging und wo ſie am 
Tage vorher mit Benvenuto zuſammengetroffen war. Aber 
ihre Erwartung, ihn heute wieder zu ſehen, ſchien ſich 
nicht zu erfüllen. Sie beugte ſich weit über die Mauer 
vor, ſo daß ſie den ganzen unter ihr befindlichen Strand 
überſehen konnte, aber weit und breit war keine Seele 
zu entdecken. Weit auf dem Meere draußen einige Schiffer— 
boote, ferner ein großes Kriegsſchiff, das, langſam und 
majeſtätiſch aus dem Kriegshafen von Caſtellamare kom— 
mend, dem offenen Meer zuſtrebte — ſonſt nichts. 

Das verdroß Santina, und ſie ſtieg immer mehr und 
mehr die Treppe hinunter, bis ſie an dem Sandſtrand 
unten ankam, den das Meer zwiſchen zwei hervorſprin⸗ 
genden Felſen gebildet und den man die Marina der Villa 
Miramar nannte. Vorſichtig ging ſie den Strand ent— 
lang, blieb hin und wieder ſtehen, um den Wogen zu— 
zuſehen, die ſchäumend und wie ſpielend auf dem Sand 
hin und her rollten, oder ſuchte Muſcheln, die das Meer 
ausgeworfen hatte. Das Leben des Meeres iſt ſo ab— 
wechslungsreich und unterhaltend, und für Santina war 
das alles ſo neu und fremd, daß ſie, ohne es zu merken, 
immer weiter ging. 

Der glatte Strand war nur einige hundert Meter lang, 
und ſo ſtand ſie plötzlich vor einem grauen Tuffſteinfelſen, 
der faſt ſenkrecht einige hundert Fuß aufſtieg und ein 
Glied in der ungeheuren Mauer bildete, auf der Sorrent 


28 Um ein Wort. 


fteht. Ein tiefes, finſteres Loch ging wie ein Schacht in 
den Felſen hinein. 

Neugierig ſtand ſie lange davor. Was konnte das 
zu bedeuten haben? Denn obgleich ſie in ihrer Heimat, 
ja ſogar auf ihrem Grund und Boden ſtand, hatte ſie 
doch keine Ahnung von der Beſchaffenheit desſelben. Wo— 
hin führte der finſtere Gang? Entdeckungsluſt überkam 
ſie, ſie vermutete, daß man da hindurch irgendwohin ge⸗ 
langen müſſe. Sie konnte ihre Neugier nicht mehr be— 
zwingen und ging langſam und vorſichtig den dunklen 
Felſengang entlang. Der Boden unter ihr war felſig und 
ſchien leicht anzuſteigen, aber je tiefer ſie in das Loch 
hineinkam, deſto finſterer wurde es drinnen, und deſto 
vernehmlicher drang das Gurgeln und Plätſchern der 
Meereswellen an ihr Ohr, die, durch die Felſen eingeengt, 
irgendwo an den Wänden anprallten. Es wurde ihr un⸗ 
heimlich, und fie wollte ſchon wieder furchtſam umkehren, 
als ſie plötzlich an einer Biegung des Ganges den jen— 
ſeitigen Ausgang und zugleich einen prachtvollen Auslug 
auf das herrlich leuchtende Meer und den rauchenden Vefuy 
ſah. Die Farbenpracht dieſes Schauſpiels, das durch die 
Dunkelheit in dem Felſengang zur vollen Wirkung kam, 
war ſo bezaubernd, daß ſie überraſcht ſtehen blieb. 

In demſelben Augenblick bemerkte ſie aber auch ihren 
Freund Benvenuto, der auf einem großen Stein im Meere 
ſaß und angelte. 

„Aoooooh!“ ſchrie fie ihm übermütig luftig zu, in der 
Art der Fiſcher, wenn ſie ſich gegenſeitig anrufen. 

„Aoooooh!“ antwortete er ebenſo und winkte ihr. 

„Wie ſind Sie da hinübergekommen?“ fragte ſie wieder. 

„Um den Felſen herum,“ antwortete er, „dort, wo 
das Brett liegt. Sie müſſen ſpringen. Nur Mut, es 
geht. Meerſand macht nicht ſchmutzig.“ 

Sie ging immer näher, hüpfte von Stein zu Stein 


Roman von Woldemar Urban. 29 


und fam fo zu einem ſchmalen Sandſtreifen, der zu dem 
Stein führte, auf dem Benvenuto ſaß. Nun aber ſtellte 
ſich erſt die Schwierigkeit heraus. Der Stein war ſo 
hoch, daß ſie allein unmöglich hinaufgelangen konnte. 
Gleichwohl wollte ſie auch nicht unverrichteter Sache wieder 
umkehren. 

„Reichen Sie mir die Hand und ziehen Sie mich hin: 
auf,“ bat ſie. 

Wenn der junge Student noch Bedenken irgend welcher 
Art gehabt hätte, ſo wären ſie wohl bei dem Blick ver⸗ 
ſcheucht worden, mit dem ſie ihn anſah und über dem 
er die Unterredung mit ſeinem Vater nebſt allen Bedenken 
vergaß, wenn er überhaupt welche gehabt hatte. Er ſprang 
von feinem Sitz auf, ſtemmte ſich mit den weißen Zeug: 
ſchuhen, die er trug, feſt auf den Felſen und hielt ihr 
beide Hände hin. | 

„Nur feft halten, Signorina, nicht los laffen, ſonſt 
fallen Sie ins Waſſer,“ mahnte er. 

Im nächſten Augenblick ſtand ſie neben ihm auf dem 
großen Stein, der übrigens nicht ſo groß war, daß ſie 
nicht hätten ſehr nahe bei einander ſtehen müſſen. Santina 
wurde etwas befangen und ſah ſich verlegen um. 

Er ſetzte ſich gemächlich wieder zu ſeiner Angel nieder. 
„Wollen Sie ſich nicht auch ſetzen, Signorina?“ fragte er. 
„Sie fallen ſonſt doch noch ins Waſſer, und Ihre Frau 
Mutter zankt mich dann aus, daß ich nicht beſſer acht auf 
Sie gegeben habe.“ 

„Wohin denn?“ fragte ſie drollig. 

„Hierher, zu mir. Groß iſt der Stein freilich nicht, 
aber für uns beide langt er gerade noch aus.“ 

Sie ſtützte ſich leicht auf ſeine Schulter und ließ ſich 
ſo neben ihm nieder. Ganz glatt ging dieſe Unterneh— 
mung indeſſen doch nicht ab. Bei der Berührung mit 
ihm ſtieg ihr unwillkürlich eine verräteriſche Röte ins 


30 Um ein Wort. 


Geſicht, und fie blickte verſtohlen zu ihm nieder, ob er das 
wohl auch bemerke. Und als ſie endlich neben ihm ſaß, 
trat noch eine verlegene Pauſe ein, über die ihnen aber 
glücklicherweiſe die Angel hinweghalf, nach der die vier 
Augen in einer Aufregung hinſahen, als ob mindeſtens 
ein Haifiſch daran gezappelt hätte. 

„Wie hübſch das hier iſt!“ ſagte ſie endlich, als ihre 
Naivität wieder die Oberhand über alle Befangenheit ge: 
wann, und ſah ſich heiter um. 

„Und nicht im mindeſten heiß,“ ergänzte er. 

Sie ließ ihre Blicke über das Meer hinübergleiten, bald 
daz, bald dorthin. 

„Was iſt das dort, die alte graue Stadt mit den 
kleinen verfallenen Häuſerchen?“ fragte ſie. 

„Das iſt das alte Pompeji, Signorina. Waren Sie 
noch nie dort?“ 

„Nein. Das heißt ich weiß es nicht. Vielleicht als 
Kind. Aber das iſt ſchon ſo lange her. Und dort liegt 
Neapel, nicht wahr?“ 

„Ja. Die große Stadt iſt Neapel.“ 

„Und was iſt das dort für eine Inſel?“ fragte ſie 
weiter. | 

„Das ift Ischia, Signorina.” 

„Nein, nein, ich meine die ganz kleine Inſel, die wie 
ein runder Kuchen ausſieht, neben dem Vorgebirge dort, 
mit dem großen weißen Haus auf der Spitze.“ | 

Betroffen fah Benvenuto ihr ins Geſicht. „Das ift 
Niſida, mein Fräulein,“ antwortete er etwas leiſer und 
verwundert. 

Kannte ſie dieſe Inſel nicht? fragte er ſich. Wollte 
ſie ihn zum beſten haben? 

„Und das große Haus?“ fragte ſie weiter. „Was iſt 
das für ein großes weißes Haus, das da auf dem Gipfel 
von Niſida ſteht?“ 


Roman von Woldemar Urban. 31 


Wieder fiel ein verſtohlener Blick aus feinen Augen 
auf ihr Geſicht, das von ihm fort in der Richtung der 
Inſel Niſida gerichtet war, die ſie auch noch mit der 
kleinen zierlichen Hand näher bezeichnete. 

„Das iſt das Zuchthaus, mein Fräulein,“ antwortete 
er noch leiſer und wie erſtaunt. 

„Mein Gott, wie ſchrecklich! Ein Zuchthaus hier in 
dieſer herrlichen Gegend! Aber das iſt ja ganz furchtbar. 
Sind da auch Menſchen drin?“ 

„Immer. Wozu hätte man es ſonſt?“ 

Jetzt ſah ſie ihm ins Geſicht. Ihre Blicke trafen ſich 
eine Sekunde. 

„Sie ſagen das ſo ruhig,“ fuhr ſie aufgeregt fort, 
„als ob Sie das ganz in der Ordnung fänden. Iſt das 
nicht gräßlich, daß hier ſo nahe bei uns ein Zuchthaus 
ſteht?“ 

„Je nun, man gewöhnt ſich daran. Drinnen mag es 
wohl noch viel gräßlicher zugehen.“ 

„Ach, die armen, armen Menſchen! Ich glaube, ich 
würde ſterben vor Mitleid, wenn ich ſo etwas ſähe,“ rief 
ſie, während es wie ein Schleier über ihr Geſicht fiel. 

Mit einem Schlage war Benvenuto überzeugt davon, 
daß Santina von all den entſetzlichen Geſchichten, die ſein 
Vater ihm erzählt, keine Ahnung habe. So weit ging 
keine Verſtellung, dieſes Engelsangeſicht log nicht, konnte 
nicht lügen. Wie ein Blitz durchzuckte der Gedanke ſein 
Hirn, daß das junge Mädchen ahnungslos über einem 
Abgrund taumele. Wenn ſie die Wahrheit erfuhr, wenn 
ſie den wirklichen Aufenthalt ihres Vaters während der 
letzten ſünfzehn Jahre kennen lernte, war ſie verloren, 
war alle Jugendfriſche, alle Lebensfreude fort. 

„Was haben Sie denn, Herr d' Akkiri?“ fragte Can: 
tina nach einer kleinen Pauſe erſtaunt und ſah ihm in 
das Geſicht. 


32 Um ein Wort. 


„Nichts, nichts,“ erwiderte er verwirrt, „ich dachte nur 
eben —“ 

„Nicht wahr, es iſt ſchrecklich? Aber Sie müſſen nicht 
mehr daran denken. Wir haben ja, Gott ſei Dank, nichts 
mit dem gräßlichen Hauſe zu ſchaffen. Sprechen wir von 
etwas anderem.“ ; 

„Ja, ſprechen wir von etwas anderem,“ wiederholte 
er. Aber beide blieben ſtill. Es trat eine ziemlich lange 
Verlegenheitspauſe ein, weil keines von beiden ſo weit Herr 
ſeiner Gedanken werden konnte, um der Unterhaltung eine 
beliebige andere Richtung zu geben. Santina mochte von 
Benvenuto erwarten, daß er ein anderes Thema anſchlage, 
und beſchränkte ſich darauf, ihn verſtohlen von der Seite 
zu betrachten. Die Lage, in der ſie ſich befand, war ihr 
ſo neu, ſo ungewohnt, und er ein ſo hübſcher junger 
Mann, daß ſie darüber vergaß, das Geſpräch fortzuſetzen, 
und Benvenuto war von der eben gemachten Entdeckung 
ſo aufgeregt, ſo von allerlei Vorſtellungen und Gedanken 
beſtürmt, daß er nichts fand, was er ihr ſagen konnte. 

„Wie kommt es,“ begann er endlich wieder, nur um 
etwas zu ſagen, „daß Sie die hübſche Villa Miramar ſo 
lange öde und leer ſtehen ließen?“ 

„Es gefällt der Mutter hier nicht. Wir wohnen meiſt 
in Piemont, oft auch in Tirol und werden auch wieder 
bald dorthin abreiſen.“ 

„Schon bald?“ fragte er beſtürzt. 

„Ja, leider. Wir erwarten hier nur die Ankunft 
meines Vaters.“ 

„die Ankunft des Herrn Grafen di Monteverde?” 

„Ja. Kennen Sie ihn?“ 

„Nein. Ich — ich habe nur von ihm ſprechen hören.“ 

„Ach, wenn Sie wüßten, wie lieb ich meinen Vater 
habe und wie ich mich nach ihm ſehne. Urſprünglich 
wollten wir ſeine Ankunft in Turin erwarten, aber das 


Roman von Woldemar Urban. 33 


dauerte mir und wohl aud) Mama zu lange, und jo habe 
ich fie fo lange gebeten, bis fie mit mir hierher fuhr, wo 
wir ihn doch zwei Tage früher empfangen können. Ach 
wenn es nach mir gegangen wäre, ſo würde ich ihm bis 
nach Bahia entgegengefahren fein, nur um ihn einige 
Wochen früher wiederzuſehen.“ 

„Ah, Ihr Herr Vater kommt von Bahia?“ 

„Ja. Wiſſen Sie, wo das iſt?“ 

„Gewiß. Es liegt in Braſilien. Wir erhalten mand: 
mal große Lederſendungen von dort.“ 

„Leder? Ich dachte, Sie hätten ein Weingeſchäft.“ 

„O bewahre.“ 

Sie ſah ihn betroffen an und ſchien zweifelhaft zu 
ſein, ob ihre Mutter ihr die Unwahrheit geſagt habe, 
oder er es thue. Es lag überhaupt über ihrer Unter— 
haltung etwas wie ein Schatten, der keine ruhige Ver— 
traulichkeit aufkommen ließ, wie man es doch in ihrer 
Lage hätte erwarten können und wie ſie es ſelbſt wohl 
auch wünſchten. Aber immer, wenn ihre jugendliche Leb— 
haftigkeit und gegenſeitige Zuneigung ſie fortreißen wollte, 
ſtand ein gewiſſes Befremden, ein Beobachten zwiſchen 
ihnen, das faſt wie ein Mißtrauen ausſah, denn auch 
Benvenuto ſagte ſich, daß die ganze Geſchichte, die ſie ihm 
da von ihrem Vater erzählte, vielleicht doch Komödie ſei, 
die aufzuführen fie ſchon durch lange Jahre gewohnt war. 

Die Sonne ging unter. Sie trennten ſich, aber der 
Schatten, der über ihnen lag, wollte nicht weichen. 


8. 

„Was Prügel ſind, das weiß die Welt ſehr wohl, was 
aber die Liebe iſt, das hat noch niemand herausgebracht,“ 
jagt Heine. Die Welt ſteht ſchon eine hübſche Weile, 
aber in dieſer ganzen langen Zeit iſt es noch niemand 
gelungen, zu erklären, was denn eigentlich die Liebe ſei, 

1900. III. 3 


34 Um ein Wort. 


diefe gewaltige Kraft, dieſes gleichzeitig geheimnisvolle 
und ſiegreiche Walten der Natur, das Geſchlecht auf Ge— 
ſchlecht, Frühling auf Frühling, Jahr auf Jahr hervor— 
bringt, wie eine lange Kette immer ein Glied aus dem 
anderen wieder neu formt und bildet. Und wenn auch 
der Menſch behauptet, daß die Liebe eine Sache ſei, die 
nur ihn anginge, ſo kann doch niemand wiſſen und be— 
haupten, ob nicht Tiere und Pflanzen bei jedem Frühlings: 
erwachen dieſelbe Macht in ſich fühlen, derſelben Gewalt 
gehorchen. 

Wie ſeiner Zeit Severa de Mendriſi trotz ihrer Unab— 
hängigkeit, ihrer unbeſchränkten Selbſtbeſtimmung Kummer 
und Sorge, ja Schmach und Entehrung auf ſich genommen 
hatte um ihrer Liebe willen, ſo verfiel nun auch Santina 
dieſer Macht, die rätſelhaft, ohne daß ſie es wußte oder 
hindern konnte, von ihrer Seele Beſitz ergriff. Sie wurde 
unruhig, nachdenklich, zweifelnd an allem, was ihr bisher 
als feſt und ſicher galt. Niemals in ihrem Leben hätte 
ſie es für möglich gehalten, daß es ihr einfallen könne, 
ſich an dritte Perſonen zu wenden, um irgend eine Aus— 
ſage ihrer Mutter zu kontrollieren, und doch hatte ſie ſich 
an den alten Gioachimo gewandt, um von ihm zu er— 
forſchen, ob Herr Aſſo d' Akkiri ein Weinhändler fei oder 
nicht. 

Nun wußte ſie, daß er keiner war, und ihre Mama 
ſie getäuſcht hatte. 

Auch das wäre ſchließlich noch nicht ſchlimm geweſen. 
Severa konnte hundert unſchuldige Urſachen dazu gehabt 
haben. Aber es kam eines zum anderen. Der Schatten, 
der auf ihr und Benvenuto lag, der jede Vertraulichkeit 
und Harmloſigkeit bannte, dieſer unheimliche Schatten be— 
unruhigte, quälte und peinigte ſie. Ohne daß ſie ſelbſt 
wußte, warum das ſo war, fragte ſie ſich ſtürmiſch, leiden— 
ſchaftlich, warum es nicht anders ſei, warum ſie nicht auch 


Roman von Woldemar Urban. 35 


frei und offen hören, reden und verkehren konnte, wie 
und mit wem ſie wollte. 

Am nächſten Tage fragte ſie Benvenuto, den ſie 
an der Grenze des Parkes, im Garten des Villino traf, 
warum er nicht mehr durch den Park der Villa Mira— 
mar gehe. Benvenuto war verlegen und antwortete aus— 
weichend. 

Unwillig, zornig, faſt weinend erzählte ſie das ihrer 
Mutter, die wieder in befremdlicher Weiſe beſtürzt und 
verlegen wurde. | 

„Mein liebes Kind,“ ſagte Severa haftig, „das ift 
fein Umgang für dih. Du mußt ihn aufgeben.” 

„Warum?“ fuhr es ihr heraus, fordernd und zurüd: 
weiſend zugleich. Sie erſchrak über ſich ſelbſt. Niemals 
in ihrem Leben hätte ſie es für möglich gehalten, daß ſie 
bei einem Rat ihrer Mutter in dieſer Weiſe nach dem 
Warum fragte. Sie konnte ſich das ebenſowenig erklären 
wie Severa ſelbſt, nur daß eines Tages früher oder ſpäter 
unter ſolchen Verhältniſſen ſolche Fragen auftauchen mußten, 
das fand Severa natürlich und darin beſtand ja ihre 
größte Sorge. Santina war in einem Alter, in dem 
die Warum dutzendweiſe entſtehen, ohne daß Severa 
irgend eine Antwort darauf geben konnte oder wollte. 

Santina war jetzt achtzehn Jahre und merkte es ſehr 
wohl, daß ihr Verkehr mit Benvenuto der Natürlichkeit, 
der Unbefangenheit entbehrte und daß ſich der junge Herr 
von ihr zurückzog. Er that das verlegen und wohl auch 
ungern, aber ſie empfand es deshalb nicht weniger bitter 
und ſchmerzlich. Früher genügte ein Wort ihrer Mutter, 
um ſolche Mißſtimmungen zu zerſtreuen. Sie ſchmiegte 
ſich an ſie, eine kleine Zärtlichkeit, ein Kuß und alles 
war vergeſſen, denn ſie war ein Kind. Jetzt aber war 
ſie das nicht mehr, der Hauch des Ewigen, Rätſelhaften, 
Unfaßbaren hatte ſie berührt, ihr Weſen gekräftigt und 


36 Um ein Wort. 


ſelbſtändig gemacht, und deshalb fragte ſie, mußte ſie 
fragen: „Warum — warum?“ 

„Liebes Kind,“ erwiderte Severa, „es giebt ſo man— 
cherlei Rückſichten, die eine junge Dame nehmen muß, 
auch wenn ſie nicht immer weiß weshalb. Beſonders 
wir beide müſſen uns in acht nehmen, den Leuten zu 
müßigem Gerede Anlaß zu geben, weil wir allein, ohne 
männlichen Schutz in der Welt ſtehen. Wenn erſt dein 
Vater wieder bei uns iſt, dann wird das alles anders 
werden.“ 

Es war keine Antwort auf ihre Frage, das wußte 
Santina wohl und das fühlte auch Severa. Aber es lag 
ein Troſt, eine gewiſſe Zuverſicht in den Worten, die 
ihre Hoffnung nährte. — 

Der Park der Villa Miramar lag, wie das bei allen 
Gärten in Sorrent mehr oder weniger der Fall iſt, höher 
als die Straße, die, ſchmal und auf beiden Seiten mit 
hohen Mauern begrenzt, außerhalb hinlief, zur Verbindung 
der einzelnen Gehöfte und Stadtteile. 

Santina ging nachdenklich und in ſich gekehrt im Park 
hin und her, wobei ſie in die Nähe der Gärtnerwohnung, 
die am Ausgang nach der Straße lag, kam. Plötzlich 
blieb ſie lauſchend ſtehen. Von jenſeits der Mauer, alſo 
von der Straße herein, von wo man ſie nicht ſehen konnte, 
klangen Stimmen. 

„II Postino!“ ) ſchrie jemand draußen. 

„Ich komme,“ antwortete der alte Gärtner und öffnete 
das Thor. 

„Schau, ſchau,“ ſagte der Briefträger nach einer kleinen 
Pauſe, „die Villa Miramar iſt alſo auch wieder bewohnt?“ 

„Ja. Seit einigen Tagen.“ 


*) „Der Briefträger!“ Mit dieſem Ruf kündigt fih gewöhnlich 
der Briefträger an, wenn er in einem Hauſe etwas abzugeben hat. 


Roman von Woldemar Urban. 37 


— — 


„An Frau Severa de Mendriſi — ſtimmt das?“ fragte 
der Briefträger wieder. 

„Ja. Geben Sie nur her.“ 

„Na, und der Graf? Er muß doch nun auch wieder 
freikommen?“ 

„Addio, addio!“ ſagte Gioachimo und ſchlug ſtatt aller 
Antwort das Thor zu. 

Einen Augenblick ſtand Santina wie erſtarrt. Sie 
faßte raſch mit der Hand nach dem Herzen, als ob ſie 
dort einen empfindlichen Schmerz fühle. Dann trat ſie 
langſam aus dem Seitenweg an der Mauer heraus auf 
den Hauptweg, wo ihr in demſelben Augenblick der Gärtner 
mit einem Brief in der Hand entgegentrat. 

„Für mich?“ fragte ſie kurz. 

„Nein, Conteſſina, für Ihre Frau Mutter.“ 

„Geben Sie her, Gioachimo. Ich will den Brief der 
Mama bringen.“ 

„Das darf ich Ihnen doch wohl nicht zumuten, Signo— 
rina,“ ſagte Gioachimo verlegen. 

„Geben Sie nur. Was iſt dabei zuzumuten?“ 

„Eure Gnaden werden verzeihen, aber — ich darf 
nicht,“ erwiderte der alte Mann und ging, alles weitere 
abſchneidend, vorüber. 

Santina blieb ſtehen und zupfte wie beſchämt eine Nelke, 
die ſie zufällig in der Hand trug, langſam, Blatt für Blatt, 
auseinander. „Geheimniſſe!“ murmelte ſie dabei leiſe. 
„Er darf nicht. Mama hat ihm alſo verboten — —“ 

Dann fuhr ſie mit der Hand über die Augen. Sie 
weinte. Warum? mochte ſie ſich innerlich wieder fragen. 
Und was war das für ein Graf, der nun „wieder frei“ 
kam? Von welchem Grafen konnte hier wohl die Rede 
ſein, wenn nicht von ihrem Vater? „Wieder frei!“ Das 
Wort hallte ihr wie ein Fluch in den Ohren. Was ſollte 
das heißen: wieder frei? 


38 Um ein Wort. 


Der Gärtner war eben in dem Hauſe verſchwunden, 
als auch ſie ſich umwandte und dem Hauſe zu ging. Sie 
wußte nicht, was ſie da wollte. Ihr war ſo beklommen, 
ſo elend und furchtſam zu Mute, daß ſie überhaupt keinen 
klaren Gedanken faſſen konnte. Nur das unbeſtimmte, 
dunkle Gefühl hatte ſie, daß ihr etwas Entſetzliches, was 
ihr verborgen werden ſollte, bevorjtand. Und das un: 
mittelbar vor dem Tage, auf den ſie ſeit Jahren all ihre 
Hoffnungen, all ihr Glück und ihre Freude geſetzt! 

Auf der Treppe begegnete ſie dem Gärtner wieder, der 
von Severa zurückkam. 

„Wo iſt meine Mutter?“ fragte ſie ihn. 

„Ich habe ſie ſoeben in ihrem Zimmer verlaſſen, Con— 
teſſina.“ 

Sie ging an ihm vorüber und achtete nicht weiter 
darauf, daß ihr der alte Mann mit einem tieftraurigen 
Blick nachſah. Aber auch in ihrem Zimmer fand ſie 
Severa nicht. Sie mußte es in dieſem Augenblick verlaſſen 
haben, denn auf ihrem Schreibtiſch lag noch alles ſo, als 
ob ſie eben dort geſchrieben habe und dann aufgeſtanden 
ſei, um etwas zu holen. Santina trat an den Schreibtiſch 
heran und ſah das Couvert des Briefes liegen, den 
Gioachimo ſoeben gebracht. Es war aufgeriſſen und leer, 
der Brief herausgenommen. Sie nahm das Couvert in 
die Hand und beſah es. Es war an ihre Mutter adreſ— 
ſiert, die Handſchrift kannte ſie nicht. Auf dem Poſt— 
ſtempel ſtand: Niſida. 

Plötzlich ließ ſie das Couvert fallen, als ob es ihr in 
der Hand gebrannt hätte, und in demſelben Augenblick 
hörte ſie, wie ihre Mutter ſie draußen auf der Terraſſe 
laut beim Namen rief. 

Offenbar war ihre Mutter eben fortgegangen, um ſie 
zu ſuchen. Sie ging alſo hinter ihr her, unſicher, wie 
im Traum, ohne an irgend etwas zu denken. 


Roman von Woldemar Urban. 39 


„Santina, Santina,” rief ihre Mutter bei ihrem An: 
blick Schon von weitem, „Nachricht von Papa!“ 

„Von — von Papa!“ hauchte ſie tonlos, wie zum 
Tode erſchrocken. 

Severa war ſo aufgeregt, daß ſie zunächſt die ſonder— 
bare Wirkung ihrer Mitteilung auf Santina gar nicht 
bemerkte. 

„Morgen abend kommt er in Neapel an. Wir ſollen 
ihn im Hotel Briſtol erwarten,“ ſagte ſie und küßte in 
der Freude ihres Herzens Santina auf die Stirn. 

„Im Hotel Briſtol!“ wiederholte Santina, noch immer 
wie abweſend. 

„Ja. Aber was iſt dir denn? Was haſt du? Deine 
Stirne iſt wie Eis. Iſt dir nicht wohl?“ 

„Doch — doch, Mama. Aber ſage mir, warum holen 
wir den Vater nicht am Schiff ab.“ 

„Aber liebes Kind, du kennſt doch das Gedränge, den 
Schmutz und den Wirrwarr am Hafen. Wie leicht könnten 
wir ihn verfehlen und dann — er wünſcht es einmal ſo.“ 

„Und der Brief? Iſt der Brief von Papa?“ 

„Nein. Wie könnte er denn vom Vater ſein? Er iſt 
ja doch auf dem Schiff. Wie kann er denn da ſchreiben?“ 

„Aber von wem iſt der Brief?“ 

„Von dem Schiffsagenten, bei dem die Nachricht vom 
Eintreffen der „Ancona“ telegraphiſch eingelaufen iſt, und 
den ich gebeten hatte —“ 

„In Niſida?“ 

Ihre Mutter ſah ſie erſchrocken an. 

„Ich verſtehe dich nicht — —“ 

„Der Brief kam doch von Niſida,“ fuhr Santina fort. 
„Ich habe es ſoeben auf dem Couvert geſehen.“ 

„Mein Gott, das mag ſein, daß er dort zur Poſt ge— 
geben iſt. Thatſächlich kommt er aber von dem Schiffs— 
agenten in Neapel.“ 


40 Um ein Wort. 


„Laß ſehen!“ warf Santina leiſe ein. 

Severa that, als höre ſie es nicht, und fuhr aufgeregt 
fort: „Aber ſo freue dich doch, mein Kind. Morgen abend 
um ſechs Uhr halten wir deinen Vater in unſeren Armen. 
Kannſt du das wirklich faſſen? Was wir ſo lange erſehnt 
und ſo heiß erwünſcht haben. Freuſt du dich nicht?“ 

„Natürlich freue ich mich,“ antwortete Santina in 
einem Tone, als wenn ſie zum Begräbnis gehen wollte. 
Dann ſchlug ſie in einer heftigen, gewaltſamen Bewegung 
ihre Arme um den Hals Severas und brach in krampf— 
haftes Weinen aus. 

Severa wußte im Augenblick nicht, was ſie von der 
ſeltſamen Bewegung Santinas halten ſollte. Daß das 
keine Aeußerung der Freude war, ſah ſie wohl, aber ſie 
konnte auch nicht glauben, daß Santina wußte, um was 
es ſich handelte. Es wäre ja zu ſchrecklich geweſen, wenn 
der Tag, der Santina den Vater wiedergeben ſollte, und 
auf den ſie ſich mit der ganzen kindlichen Freude ihres 
Herzens ſo lange Zeit gefreut, nun plötzlich ein Tag 
werden ſollte, der all ihre Hoffnungen zertrümmerte, ſie 
ausſtieß aus der Reihe der unbeſcholtenen, ehrlichen Leute 
als Kind des Verbrechers, von dem kein Menſch etwas 
wiſſen wollte. 

Sie redete ihr zu, ſo gut ſie konnte. Sollte ſie jetzt, 
ſo wenige Stunden vor dem heiß erſehnten Ziel, noch 
ſcheitern, ſollten all ihre Mühen und Sorgen ſo langer 
Jahre in einem Augenblick nutzlos und vergeblich gemacht 
werden? 

Wirklich gelang es ihr nochmals, Santina zu be— 
ruhigen. Wenn deren Verdachtsgründe ſich auch gerade 
an dieſem Tag unglücklich häuften, ſo hatte ſie doch keinen 
direkten Beweis. Alles, was ſie wußte, und von dem 
ſie nicht einmal vor Severa zu ſprechen wagte, konnte 
ſich ſchließlich auf eine natürliche Art erklären und löſen. 


Roman von Woldemar Urban. 41 


Selbſt das Betragen des jungen d' Akkiri, das fie als eine 
Zurückweiſung, als ein Verſchmähen ihrer Geſellſchaft ſo 
bitter empfand, konnte ſchließlich eine Täuſchung ihrer— 
ſeits ſein. Es kam alles darauf an, wie ſich die Ereig— 
niſſe entwickelten, und deshalb glaubte Santina ihrer Mutter 
auch diesmal noch. 

Sie konnte vor Aufregung und Erwartung die ganze 
Nacht nicht ſchlafen und war ſchon am nächſten Morgen 
vor Aufgang der Sonne auf der großen Terraſſe, um mit 
dem Fernrohr den Meereshorizont nach der „Ancona“ 
abzuſuchen. Ihre Mutter hatte ihr das Schiff, das unter 
italieniſcher Flagge fuhr, genau beſchrieben. 

Draußen auf dem Meer lag noch der wallende Dunſt 
der Nacht, ſo daß ſie nur die Berggipfel der Inſel Ischia 
klar unterſcheiden konnte. Das Schauſpiel war herrlich, 
als endlich die Sonne kam und in dieſe Nebel und Dunſt— 
maſſen Bewegung brachte. Aber Santina achtete darauf 
nicht, ſondern wollte die „Ancona“ ſehen, die, wie ihr 
ebenfalls ihre Mutter mitgeteilt hatte, nördlich der Inſel 
Capri auf dem freien Meer erſcheinen mußte, mit dem 
Kurs von Gibraltar her. Als es hell wurde, ſah ſie 
allerdings Schiffe, große und kleine Dampfer und Segel— 
ſchiffe, die den Golf von Neapel und das davor liegende 
Meer nach allen Richtungen durchzogen, viele davon auch 
unter italieniſcher Flagge, aber die mächtige „Ancona“ 
ſah ſie nicht. 

„Es iſt noch zu früh, oder du haſt die „Ancona“ viel— 
leicht auch geſehen und ſie der großen Entfernung wegen 
nicht erkannt,“ meinte ihre Mutter. 

Santina war in einer gehobenen Stimmung, in einer 
freudigen Aufregung. Es machte ihr Vergnügen, in 
dieſer hoffnungsvollen Erwartung immer von neuem die 
ungeheure Waſſerfläche abzuſuchen und jedes am Firma: 
ment auftauchende Schiff zu prüfen. Oft rief ſie nach 


42 Um ein Wort. 


ihrer Mutter, um ihr ein Schiff zu zeigen, das vom 
offenen Meer her kam und die „Ancona“ ſein konnte. 
Severa ſagte dann gewöhnlich: „Ja, das wird ſie wohl 
ſein.“ So waren ſchon vier große Schiffe im Laufe des 
Vormittags vorübergefahren, den Kurs nach dem Hafen 
von Neapel gerichtet. 

Nach Tiſch fuhren ſie im Wagen nach Caſtellamare, 
um von dort mit der Bahn nach Neapel zu gelangen. 
Da der Zug, der von Calabrien heraufkam, wie immer 
Verſpätung hatte, ſo mußten ſie damit rechnen, erſt um 
fünf Uhr oder noch etwas ſpäter in Neapel anzukommen, 
wo ſie vom Bahnhof bis hinauf nach dem Corſo Vittorio 
Emanuele zum Hotel Briſtol auch noch eine gute halbe 
Stunde zu fahren hatten. Santina wunderte ſich darüber, 
daß ſie nicht mit dem Dampfer von Sorrent nach Neapel 
gefahren waren, wodurch ſie nicht nur bequemer und raſcher 
angekommen, ſondern auch gleich in der Nähe des Hafens 
geweſen wären und ſich dort nach der „Ancona“ hätten 
umſehen können. Aber ihre Mutter ſagte, daß ſie die 
Meerfahrt nicht vertrage und immer ſeekrank werde. 

Der Zug, mit dem ſie weiterfahren wollten, hatte 
richtig faſt eine volle Stunde Verſpätung, und Severa 
trat mit Santina in das beſcheidene Bahnhofreſtaurant, um 
dort bei einer Taſſe Kaffee die Zeit abzuwarten. Auf 
dem Tiſch, an dem ſie Platz nahmen, lag eine Zeitung, 
eines jener kleinen Blätter, wie ſie in faſt jedem Städtchen 
von Unteritalien gedruckt und für einen Soldo die Num: 
mer auf der Straße verkauft werden. Schon von weitem 
ſah Santina in großer fetter Schrift den Titel einer Sen— 
ſationsnachricht der Zeitung, der lautete: „Gefangennahme 
des Brigantenhauptmanns Viggente in Reggio, Calabria.“ 
Obwohl nicht beſonders ſenſationslüſtern, las ſie doch den 
Artikel. Es handelte ſich um eines jener ziemlich häufigen 
Vorkommniſſe, bei denen ein ſogenannter „latitante“, das 


Roman von Woldemar Urban. 43 


heißt ein gewerbsmäßiger Brigant, der fih dem Arm der 
ſtrafenden Gerechtigkeit durch die Flucht entzogen, wieder 
abgeſaßt worden war. Der Mann hieß Viggente Vin— 
cenzo und hatte fich in Reggio für einen Cavaliere Mezzo: 
fanti ausgegeben, war aber an einem Zeichen, das ihm die 
Gefängnisverwaltung von Foggia früher in die Haut ein: 
tättowiert hatte, wiedererkannt und feſtgenommen worden. 

Für Leute, die in Unteritalien leben, haben ſolche 
Geſchichten nichts Aufregendes mehr, Santina aber, für 
die dergleichen noch neu war, geriet in Schrecken. 

„Mein Gott, Mama,“ ſagte ſie, „denke nur, ein 
Räuberhauptmann! Und ſie haben ihm ein Zeichen in 
die Haut gemacht, daran man ihn wiedererkennt.“ 

Severa war von der Sache ſehr unangenehm berührt. 
„Aber liebes Kind, wer wird ſolche Sachen leſen,“ ſagte 
ſie ſo heftig, daß ſich Santina darüber wunderte. 

„Es iſt aber doch ſchrecklich,“ ereiferte ſie ſich, „daß 
ſolch ein armer Menſch ſein ganzes Leben lang mit einem 
Brandmal behaftet ſein muß. Meinſt du nicht, Mama?“ 

„Ja, ja, mein Kind. Gieb dich nur zufrieden.“ 

Santina konnte nicht begreifen, was ihrer Mutter bei 
der Sache ſo unangenehm war, hatte aber bald darauf 
die ganze Geſchichte wieder vergeſſen und erquickte ſich an 
einigen kleinen Paſtetchen, die der Wirt für ſeine vor— 
nehmen Gäſte auf den Tiſch ſtellte. 

Endlich lief der erwartete Zug ein, und ſie fuhren 
weiter. Je mehr ſie ſich aber Neapel näherten, deſto mehr 
wuchs ihre Aufregung und wurde ſchließlich zu einem 
wahren Fieber. Beſonders Santina wurde nicht müde, 
ſich der verſchiedenſten Mutmaßungen über das bevor— 
ſtehende Wiederſehen hinzugeben. „Wie wird Papa aus— 
ſehen?“ fragte ſie, und ohne eine Antwort abzuwarten 
fuhr ſie lebhaft fort: „Er wird natürlich kränklich ausſehen 
von der langen Seereiſe und von dem Fieber, das er 


44 Um ein Wort. 


überſtanden hat. Nicht, Mama? Wir werden ihn ſehr 
pflegen müſſen. O, wie ich mich freue! Und wenn er 
auch krank iſt, wenn er nur erſt * wieder da iſt. 
Meinſt du nicht, Mama?“ 

Dann atmete ſie vor lauter Erwartung tief auf, ſah 
zum Fenſter hinaus und fing einen Augenblick ſpäter 
wieder an, ihren Vermutungen über das Ausſehen ihres 
Vaters und über die Einzelheiten des Wiederſehens Aus: 
druck zu geben. 

Severa blieb ruhig. Es war ſogar, als wenn von 
Zeit zu Zeit ein Schatten über ihr Geſicht hingeflogen 
wäre, als ob ſie ſich in Bezug auf das bevorſtehende 
Wiederſehen gewiſſen Befürchtungen hingebe oder Angſt 
habe vor irgend einer Zufälligkeit, die zu einer Entdeckung 
ihres Geheimniſſes führen konnte. Denn wenn ſie auch 
ſchon vor Monaten und Jahren alles mit Enea bis ins 
einzelne abgemacht hatte, und auch das Wiederſehen ſchon 
längſt geordnet und geregelt war, ſo blieb doch immer 
möglich, daß irgend eine Unaufmerkſamkeit, eine Kleinig— 
keit, auf die man nicht achtgab, zum Verräter werden 
konnte. Brieflich ließ ſich das nicht alles ſo regeln. Wenn 
ſie ſich erſt mündlich einmal ausgeſprochen hatten, konnte 
man ſich eher helfen. 

Endlich — es war kurz vor ſechs Uhr, wenige Minuten 
vor der anberaumten Stunde — hielt ihr Wagen vor 
dem Hotel Briſtol. Zitternd vor Aufregung ſprang San— 
tina heraus und ſtürmte an dem Portier vorüber ins 
Haus. 

„Er erwartet uns? Nicht wahr, Mama?“ rief fie. 

Severa ſprach noch mit dem Portier. 

„Ja, gnädige Frau, im zweiten Stock,“ hörte ſie den 
Mann ſagen. 

Santina war nicht zu halten und lief voraus. Sie 
haſtete die Treppen hinauf. „Papa — Papa!“ rief ſie laut. 


Roman von Woldemar Urban. 45 


Als fie den etwas dunklen Korridor des zweiten Stodes 
betrat, kam ihr raſch und aufgeregt ein älterer Herr ent— 
gegen. Sie ſtutzte einen Augenblick. Der Herr war ele— 
gant gekleidet, aber ſein Gang war etwas ſchleppend, 
ſein Geſicht müde und bleich, was um ſo mehr aufßfiel, 
als es bartlos war. Das Turzgefchorene Kopfhaar war 
vollſtändig ergraut. 

„Santina!“ ſtieß er kurz und heftig aus der gewalt— 
ſam arbeitenden Bruſt hervor. . 

„Vater! Mein Vater!“ ſchrie Santina ſchluchzend und 
warf ſich mit wildem Ungeſtüm in ſeine Arme. „Dank 
der Madonna und allen Heiligen, daß du wieder da biſt! 
Nun gehſt du nicht wieder fort, Papa, nicht wahr?“ 

„Mein Kind, mein einziges Kind!“ rief er mit Thränen 
im Auge. „Komm hier herein, hier iſt es heller und 
ſchöner, damit ich dich beſſer ſehen kann! — Wie groß 
du geworden biſt, und wie ſchön! Deine Mutter hat mir 
freilich deine Photographie geſchickt, aber du biſt doch 
viel, viel ſchöner als jedes Bild. O, wenn du wüßteſt, 
wie oft und wie ſehr ich mich nach dieſem Augen— 
blick geſehnt habe. Ich wäre geſtorben — ohne dieſe 
Hoffnung.“ | 

„Vater, du zitterſt,“ unterbrach ihn Cantina ängſtlich, 
„du biſt doch nicht krank?“ 

„Nein, nein, es iſt nur die Aufregung, das Glück, 
dich wiederzuſehen. Aber wo iſt denn die Mutter?“ 

Gerade in dieſem Augenblick trat Severa unter die 
Thür. Ein lauter, zitternder Schrei, und beide Gatten 
lagen fi) weinend in den Armen. Dieſe tiefen Atem: 
züge aus voller, befreiter und erlöſter Bruſt, dieſes halb 
unbewußte Stammeln und Schluchzen, dieſes zitternde 
Glück, das die beiden durchſchauerte, ſprach deutlicher, als 
alle Worte es ausdrücken konnten, von dem jahrelangen 
bitteren Weh, das ſie erlitten, von der Schmach und 


46 Um ein Wort. 


Schande, die fie unſchuldig ertragen, der Liebe und Sehn— 
ſucht, die ſie in Schmerz und Leid verbunden. 

„Ich dachte ſchon, ihr würdet nicht kommen,“ hörte 
Santina endlich ihren Vater noch halb im Taumel des 
Entzückens ſagen. „Du haſt alſo meinen geſtrigen Brief 
doch erhalten?“ 

„Geſtrigen Brief?“ ſtammelte Santina plötzlich wie 
aus einem ſchönen Traum erwachend. Alles Blut wich 
aus ihren Wangen, und ihre Augen nahmen einen er— 
ſchreckten, ſtarren Ausdruck an. 

„Aus Niſida!“ ſchrie ſie krampfhaft und zitternd auf. 

„Ums Himmels willen, was iſt dem Kinde?“ rief Graf 
Enea, ſich raſch nach ihr umwendend. 

Santina machte eine Bewegung mit den Armen, fing 
plötzlich an zu wanken und ſank mit einem herzbrechenden 
Stöhnen ohnmächtig zuſammen, noch ehe ihr Vater herzu— 
eilen und ſie ſtützen konnte. 

Zum Tode erſchrocken hoben Enea und Severa fie auf 
und legten ſie auf ein Sofa. 

„Was hat das zu bedeuten?“ fragte Graf Enea leiſe, 
als ob er fürchte, Santina könne ihn hören. 

„Sie weiß jetzt alles,“ antwortete Severa dumpf. 
„Ich habe gethan, was in meinen Kräften ſtand, bis auf 
dieſen Tag, bis zu dieſer Stunde. Ein Zufall, die Er— 
wähnung deines letzten Briefes, hat ihr die Augen ge— 
öffnet.“ 

„Und es iſt gut, daß ſie alles weiß,“ ſagte Graf Enea 
entſchloſſen. „Es war noch meine größte Sorge, das 
Kind vertraut zu machen mit dem, was das Schickſal 
über uns verhängt hat. Einmal mußte es doch ſein. 
Nun iſt auch dieſe Sorge beſeitigt, das Schwerſte über— 
wunden, nun ſoll ſie alles erfahren, alles wiſſen.“ 

Fragend ſah ihn Severa an. 

„Was hätte es uns genützt,“ fuhr Graf Enea fort, 


Roman von Woldemar Urban. 47 


„uns in der Einſamkeit zu verbergen, ſorgend von Tag 
zu Tag, von Stunde zu Stunde, daß unſer Kind Kenntnis 
erlangen könne von Dingen, die ſie ſchließlich doch einmal 
erfahren mußte? Nun ſind wir gezwungen, den Kampf um 
unſere Ehre mit der Welt aufzunehmen, um unſeres Kindes 
willen.“ 

4. 

Im roten Villino war wieder einmal Krieg. Die 
große Bücherkiſte, die Benvenuto zu ſeiner beſonderen 
Erbauung mit nach Sorrent genommen, ſtand noch un— 
eröffnet, auf dem neuen Schreibtiſch des jungen Mannes 
war nicht der kleinſte Klecks zu ſehen — alles lag noch 
unberührt wie ein Heiligtum. 

Das Fatale war nur, daß Don Aſſo von ſolchen 
Heiligtümern nichts wiſſen wollte und behauptete, daß 
ſein Sohn Benvenuto nicht nur kein ordentlicher Juriſt 
werden würde, ſondern überhaupt kein ordentlicher Menſch, 
wenn er nicht arbeiten wollte. Er war feſt entſchloſſen, 
ihn nach Neapel zurückzuſenden, damit er nicht in Sorrent 
noch mehr verbummele. Und gerade jetzt wollte Benvenuto 
nicht von Sorrent fort, um keinen Preis, ja er hätte 
vielleicht ſogar angefangen zu arbeiten, wenn ſein Vater 
dann Ruhe gegeben hätte. Aber auch darauf wollte dieſer 
ſich nicht einlaſſen. Er mochte den Dingen nicht recht 
truuen. So blieb denn dem Studenten nichts anderes 
übrig, als ſeine Hilfstruppen heranzuziehen und ins Ge— 
fecht zu ſchicken. Seit zwei Tagen war ſeine Mutter 
im Villino angekommen, und nun war der Krieg fertig. 

Soeben ſaß Benvenuto mit ſeiner Mutter auf dem 
Balkon ſeines Zimmers und ſprach ſehr eifrig und mit 
ganz ungewohnter Hitze, während Frau d' Akkiri aufgeregt 
und ſehr aufmerkſam zuhörte. 

„Geſtern vor acht Tagen fuhren ſie in die Stadt hin— 
über und kamen erſt ſpät in der Nacht wieder zurück,“ 


48 Um ein Wort. 


erzählte Benvenuto halblaut. „Seitdem ift fie krank, und 
ich habe ſie nicht mehr geſehen. Ueberhaupt leben ſie jetzt 
ſo ſtill und zurückgezogen, als ob ſie ſich vor den Leuten. 
ſchämten. Man ſieht ſie weder im Park noch am Meer 
unten, noch auf der Terraſſe. Alles, was ich weiß, habe ich 
vom Gärtner, der ſeinen Herrn ſofort wiedererkannt hat.“ 

„Der Graf wohnt alſo mit ihnen zuſammen?“ 

„Natürlich. Warum ſollte er denn nicht?“ 

„Ja, aber dann hat der Vater vielleicht doch recht, 
wenn er ſagt, daß man nicht mit ihnen verkehren könne.“ 

„Wie man's nimmt, Mama. Es iſt ſehr wohl denk— 
bar, daß der Graf wirklich, wie er behauptet, unſchuldig 
verurteilt worden iſt. Ich glaube ſogar —“ 

„Mein Gott, das ſagen alle Verbrecher. Natürlich 
wird er leugnen, daß er es gethan hat. Wer räumte ſo 
etwas wohl ein? Wenn er wirklich unſchuldig wäre, dann 
wäre er doch auch nicht verurteilt worden.“ 

„Mama, du verſtehſt nichts von der Gerechtigkeits— 
pflege. Wenn ich dir alle unſchuldig Verurteilten hier einen 
neben den anderen aufſtellen könnte, es gäbe eine Reihe 
bis nach Neapel. Wenn ſich zwei Lumpen zuſammen— 
finden, die einen dritten verderben wollen, ſo iſt die Juſtiz 
das ſicherſte Mittel, deſſen ſie ſich dazu bedienen können. 
Warum ſollte es unmöglich ſein, daß Graf Enea in dieſer 
Weiſe zu feiner Verurteilung gekommen ift? In eiter 
Stadt wie Neapel, wo die Camorra blüht, iſt alles mög— 
lich. Und nun bitte ich dich, Mama, ſtelle dir den Ge— 
mütszuſtand eines reinen, unſchuldsvollen Mädchens, wie 
Santina, in einer ſolchen Sachlage vor. Iſt das nicht 
fürchterlich? Iſt es nicht ein Verbrechen, das die Menſchen 
an dem armen Mädchen begehen, wenn ſie ſich von ihr 
zurückziehen wie von einem Ausſätzigen.“ 

„Mein Gott und Vater, es iſt aber doch in der Welt 
einmal ſo.“ | 


Roman von Woldemar Urban. 49 


„Gut, es iſt in der Welt fo. Ich ſehe ſchon, du kannſt 
dir nicht vorſtellen, um was es ſich handelt, Mama. 
Meine Worte genügen nicht, um dir auch nur annähernd 
zu beſchreiben, wer Santina iſt und wie dieſe furchtbare 
Situation auf ihr Gemüt wirkt. Sie iſt ſeit der Stunde, 
in der ſie erfahren hat, um was es ſich handelt, krank. 
Schmerz und Kummer haben die zarte Blüte gebrochen, 
niedergeworfen, aber alles das genügt nicht, um dir eine 
richtige Idee zu geben. Du mußt ſie ſehen, Mama, und 
dann erſt kannſt du reden.“ 

Frau d' Akkiri machte eine erſchrockene Bewegung, denn 
ihr Liebling ſprach jetzt ſo aufgeregt, daß ſie beſorgt 
wurde. 

„Aber du wirſt doch nicht verlangen, daß ich hinüber— 
laufe und —“ 

„Was wäre denn dabei? Iſt es denn nicht edel, 
ſeinen Mitmenſchen in der Not und Bedrängnis des 
Herzens zu Hilfe zu eilen? Nur das eine will ich dir 
noch ſagen, Mutter: Ich gehe nicht von Sorrent fort, 
eher ſtürze ich mich von dem Felſen dort ins Meer hin: 
unter.“ \ 

„Barmherziger Himmel, Benvenuto, biſt du von Sinnen, 
ſo etwas auch nur zu ſagen?“ ſchrie die alte Dame auf. 

„Ich werde es auch thun, mein Wort darauf, wenn 
man mich zwingt, unnatürlich und unmenſchlich zu han— 
deln. Ich habe bisher dem Vater Gehorſam geleiſtet und 
mich zurückgezogen von allem Verkehr in der Villa Mira: 
mar, ſo weit mir das möglich iſt. Ich will ihm auch zu 
willen ſein und im Oktober mein Examen machen, ich 
werde alles thun, was in meinen Kräften ſteht, um ein 
tüchtiger Juriſt zu werden, und wäre es nur deshalb, um 
früher oder ſpäter der Conteſſina Santina beiſtehen zu 
können. Aber der Vater darf mir nicht zumuten, daß ich 
der gleichgültig und feindſelig den Rücken kehre, die ich 


1900. III. 4 


50 Um ein Wort. 


für das Glück meines Lebens halte, er darf nicht von 
mir verlangen, daß ich von Conteſſina Santina laſſe. — 
Nun weißt du alles, Mutter. Nun kannſt du thun, was 
dir beliebt.“ 

Die gute, etwas dicke Frau d' Akkiri ſchlug die Hände 
über dem Kopf zuſammen. So hatte ſie ihren Jüngſten 
noch nie geſehen, ſo hatte er noch nie mit ihr geſprochen. 
Das war kein Junge mehr, als welchen ſie ihn bisher 
anzuſehen gewohnt war, das war ein Mann, und 
zwar ein verliebter. Denn nur ein Verliebter konnte 
ſo rückſichtslos, ſo kopflos, ſo alles über den Haufen wer⸗ 
fend ſprechen. Sich zum Felſen hinunterſtürzen, Examen 
machen, arbeiten! Das waren ja lauter halsbrecheriſche 
Sachen, das war die richtige Verliebtheit, Delirium, 
Wahnſinn. | 

Im Grunde genommen war ihre Ueberraſchung über 
dieſen leidenſchaftlichen Ausbruch ihres Neſthäkchens aber 
doch eine vorwiegend freudige. Ihr mütterlicher Stolz 
fühlte ſich durch ſein mannhaftes Auftreten geſchmeichelt, 
und daß ihr Sohn verliebt war, das machte ihr die Sache 
nun ſchon gar intereſſant. 

„Du haſt mich erſchreckt, Benvenuto,“ ſagte ſie nach 
einer kleinen Pauſe. „Allgütiger Schöpfer im Himmel, 
wie kann man nur fo hitzig fein! Du mußt doch Rid: 
ſicht nehmen —“ 

„Mutter —“ 

„Laß nur, ich weiß alles. Aber ich rate dir, mein 
Junge, nur keine Uebereilung, keine leidenſchaftliche Ueber— 
ſtürzung! Das führt zu nichts Gutem. Nein, ſage nichts! 
Mache du dein Examen, arbeite, wie der Vater es wünſcht 
und wie er ein Recht hat, zu wünſchen. Das übrige laß 
mich beſorgen.“ 

„Morgen fange ich an. Nein, heute noch, Mutter. 
Verlaß dich drauf.“ — 


Roman von Woldemar Urban. 51 


Das war in den Nachmittagsſtunden. Wenn alfo 
Benvenuto Wort halten wollte, ſo hätte er ſich eigentlich 
beeilen müſſen. Das that er aber nicht, ſondern er ſtarrte 
vielmehr aufgeregt und überraſcht vom Balkon herunter 
über die Mauer nach dem Park der Villa Miramar, wo 
er in der großen Allee, die nach der Treppe hin führte, 
zwiſchen den Orangenhainen hindurch, Menſchen ſich be— 
wegen ſah. 

„Was haſt du denn?“ fragte ſeine Mutter, der das 
auffiel. „Was iſt denn dort zu ſehen?“ 

„Dort gehen ſie,“ flüſterte Benvenuto geheimnis⸗ 
voll, als ob es ſich um Weſen höherer Art gehandelt 
hätte. „Siehſt du, dort hinter den Cypreſſen? Der 
Herr iſt Graf Enea. Er hat ganz weiße Haare. Siehſt 
du ihn?“ 

„Wo denn? Wo denn?“ 

„Auf der anderen Seite geht ſeine Gemahlin. Das 
iſt ſie. Ich kenne ſie genau, und in der Mitte, zwiſchen 
ihren Eltern, geht ſie, Mutter, ſie, für die ich ſo gerne 
ſterben möchte.“ 

„Du biſt wohl nicht recht bei Troſt!“ 

„Komm, du mußt ſie ſehen, du mußt ſie kennen lernen, 
damit du begreifſt, was ich ſagen will. Komm nur raſch. 
Wir gehen an der Mauer hin auf der Straße nach dem 
Meere hinunter und kommen dann von unten herauf ihnen 
entgegen. Das ſieht dann ſo aus, als ob wir uns zu— 
fällig träfen.“ 

„Aber —“ 

„Du mußt ſie ſehen! Dann kannſt du reden, ſo viel 
du willſt. Komm!“ 

Er war unwiderſtehlich, zog ſie an den Kleidern fort, 
und ohne Hut und Ueberwurf, als ob ſie nur auf einem 
kleinen Spaziergang durch den Garten wären, gingen ſie 
den von ihm bezeichneten Weg. Das dauerte immerhin 


52 Um ein Wort. 


eine kleine Weile, trotzdem fie liefen, daß der armen 
Signora d' Akkiri der Atem fait ausging. Sie mochte 
auch Bedenken haben wegen ihres Gatten und machte 
ihrem Sohn deshalb Vorwürfe. Er hörte aber nicht dar: 
auf, und da ſie andererſeits auch ſelbſt ungemein neu— 
gierig war auf die, welche das Herz ihres Sohnes ſo in 
Flammen geſetzt hatte, ſo ließ ſie ſich ohne nennenswerten 
Widerſtand von ihm führen. 

Alles ging ſehr gut. Auf der Treppe, die am Felſen 
hinunter zum Meere führte, trafen ſie aufeinander. An 
ein Ausweichen war nicht zu denken, und alles ſah ganz 
zufällig aus. Um Raum zum Niederſteigen zu gewinnen, 
ging die Treppe im Zickzack an dem ſteilen Felſen hin 
und her, und an einer dieſer Biegungen, wo ein kleiner, 
turmartiger Auslug in den Fels hineingehauen war, zum 
Ausruhen oder auch des hübſchen Ausblicks über den Golf 
und die Inſeln wegen, blieben ſie ſtehen, um ſich zu be⸗ 
grüßen. 

Benvenuto trat vor und vermittelte die Bekanntſchaft, 
und die Aufregung ſtieg ihm doch etwas zu Kopfe, als 
er ſagte: „Ich muß abermals um Verzeihung bitten, wenn 
wir uns hier in Ihrem Revier treffen. Es war uns um 
die Abkürzung zu thun, die der Weg durch Ihren Park 
nach dem Villino für uns bietet.“ 

Wie gut der Junge lügen kann, dachte Frau d' Akkiri. 
Der muß Advokat werden. 

„Durchaus keine Urſache, mein Herr,“ ſagte Graf 
Enea höflich. „Der Park der Villa Miramar ftand den 
Bewohnern des roten Villino von jeher offen, und es 
wird mich immer freuen, wenn Sie ihn benutzen. — Herr 
Benvenuto d' Wirt, wenn ich nicht irre?“ 

„Ja, ſo heiße ich, und ich habe offenbar die Ehre, 
den Herrn Grafen di Monteverde zu ſprechen?“ 

Die Herren verbeugten ſich und reichten ſich die Hände. 


Roman von Woldemar Urban. 53 


„Darf ich Ihnen meine Mutter vorſtellen?“ fuhr Ben: 
venuto fort, zu Severa gewandt. 

Die Gräfin Severa ftand etwas zurück und ftüßte 
Santina, die ſehr ſchwach und leidend zu ſein ſchien. 
Die großen ſchönen Augen ſchienen, ſeit ſie Benvenuto 
zuletzt geſehen, noch einmal ſo groß geworden zu ſein 
und machten auf die robuſte Frau d' Akkiri in ihrer 
Hilfloſigkeit und Kindlichkeit einen ungemein rührenden 
Eindruck. 

Kaum war die Vorſtellung der Damen vorüber, ſo 
begann auch Frau d' Akkiri ſofort der armen leidenden 
Santina aus dem reichen Schatz ihrer Hausmittel, von 
denen eine neapolitaniſche Hausfrau eine unerſchöpfliche 
Menge beſitzt, ihr Ratſchläge zu geben. 

„Wie blaß Sie ſind, Conteſſina!“ begann ſie. „Sie 
ſollten es doch einmal mit Karmelwaſſer verſuchen, ein 
halbes Weinglas voll nach jeder Mahlzeit. Es thut aus: 
gezeichnete Dienſte. Meine Töchter haben es alle ge— 
trunken, und es hat immer gute Dienſte geleiſtet. Ich 
ſchreibe es ihnen auf. Wollen Sie? Sie bekommen es 
in jeder Apotheke.“ 

„Sie ſind ſehr freundlich, Signora,“ erwiderte Severa 
an Stelle Santinas, „aber ich fürchte, Sie unterſchätzen 
das Leiden meines armen Kindes.“ 

Frau d' Akkiri tätſchelte Santina mit ihrer fleiſchigen, 
kurzfingerigen Hand, die über und über mit Ringen be— 
ſteckt war — ſelbſt am Zeigefinger und Mittelfinger, wie 
das die Neapolitanerinnen nun einmal lieben — und 
fuhr ihr damit zärtlich ums Kinn. 

„Ach, du lieber Himmel, wie ſchön ſie iſt! Trinken 
Sie nur einmal Karmelwaſſer, mein Engel, und Sie 
werden ſehen, wie geſund und ſtark Sie werden.“ 

„Sie will durchaus ins Kloſter,“ warf Severa halb— 
laut ein. 


54 Um ein Wort. 


„Was?“ fuhr Frau d' Akkiri betroffen auf. 

Die beiden Herren, die ſich miteinander unterhielten, 
ſchickten ſich an, vorauszugehen und die Treppe hinauf⸗ 
zuſteigen. Die Damen folgten langſam; aber ſehr inter⸗ 
effant ſchien Benvenuto d' Akkiri die Unterhaltung des 
Grafen Enea nicht zu fein, denn er ſah ſich öfter nach 
Santina um, die ihm wehmütig und müde zulächelte. 
Bei dem Wort „Kloſter“ blieb Benvenuto ſtehen, um die 
Damen näher herankommen zu laſſen und von ihrer Unter: 
haltung nichts zu verlieren. 

„Ja. Es war geſtern vor acht Tagen,“ fuhr Severa 
fort, „als wir von Neapel kommend am Kloſter der 
Kamaldulenſerinnen von Equenſe vorüberfuhren, und San— 
tina plötzlich ſo krank wurde, daß wir nicht weiter konnten. 
Wir ließen alſo den Wagen halten und baten, da ein 
anderes Haus nicht in der Nähe war, um kurze Auf— 
nahme und Hilfe im Kloſter. Die Nonnen waren auch 
ſehr liebenswürdig —“ 

„Ah, ich begreife. Ja, ja, ich weiß alles. Die kleinen, 
ruhigen Zellen, die langen weißen Talare, die Kloſter— 
ſtille — das hat Eindruck gemacht.“ 

„Ja. Nun will ſie ebenfalls —“ 

Benvenuto machte eine plötzliche Bewegung. 

„Aber lieber Schatz,“ fuhr Frau d' Akkiri fort, „das 
hat doch Zeit.“ Dann, nach einem verſtohlenen Augen: 
blinken zu Severa, ſetzte ſie mit einem gewiſſen Nachdruck 
hinzu: „Trinken Sie Karmelwaſſer. Ich habe ſieben Kinder 
gehabt, Conteſſina, und ſie haben alle ſieben Karmelwaſſer 
getrunken.“ 

Während Frau d' Akkiri in dieſer Weiſe ihr Karmel- 
waſſer laut und umſtändlich anpries, ſo daß Santina, 
die in der That außerordentlich ſchwach und nervös war, 
faſt Hören und Sehen verging, unterhielt ſich Graf Enea 
mit Benvenuto. 


Roman von Woldemar Urban. 55 


„Sie find Juriſt, wie ich gehört habe, Herr d' Akkiri?“ 
fragte er. . 

„Im letzten Semeſter. Im Oktober mache ich mein 
Examen.“ 

„Ein ſchönes Studium — wenn man's recht treibt.“ 

„Wie man's nimmt,“ verſetzte Benvenuto. 

„Ja, Herr d' Akkiri, freilich, ein wirklicher Rechts⸗ 
gelehrter muß man ſein, nicht ein Ignorant, Stellenjäger 
oder politiſcher Streber, wie leider die meiſten unſerer 
Rechtsgelehrten, Advokaten und Richter. Ich kann ein 
Lied davon ſingen. Nun, Sie wiſſen es ja.“ 

„Ich habe davon gehört, Herr Graf, wie alle Welt 
von ſo etwas hört, das heißt oberflächlich. Den Gang 
Ihres Prozeſſes kenne ich nicht.“ 

„Intereſſieren Sie ſich dafür?“ 

„Es würde mich allerdings ſehr ſtark intereſſieren, wenn 
es Ihnen nicht peinlich iſt, davon zu reden.“ 

„Nein. Weshalb ſoll ich ein Geheimnis daraus machen? 
Sie ſollen alles wiſſen, aber nicht jetzt. Beſuchen Sie 
mich morgen oder übermorgen. Wer weiß, ob wir nicht 
ein Geſchäft zuſammen machen können.“ 

„Ein Geſchäft, Herr Graf?“ fragte Benvenuto ver⸗ 
wundert. 

„Ja. Ich nenne es ein Geſchäft, weil ein Juriſt doch 
Prozeſſe haben muß, um ſeine Wiſſenſchaft auszuüben. 
Für ihn, in dieſem Falle für Sie, iſt es alſo ein Geſchäft. 
Für mich iſt es in dieſem Fall eine Lebensaufgabe. Ich 
habe auf dieſer Welt keine andere mehr, keine heiligere.“ 

Die letzten Worte ſprach er mit leiſerer und tieferer 
Stimme, durch die eine mächtige innere Bewegung zitterte. 

Es trat eine kleine Pauſe ein. 

„Herr Graf, wenn ich Ihnen in irgend einer Art 
dienſtbar ſein kann,“ ſagte Benvenuto, „ſo bitte ich Sie, 
ſich daran erinnern zu wollen, daß mir nichts erwünſchter 


56 Um ein Wort. 


fein könnte. Ja, noch mehr. Ich würde ſtolz darauf 
ſein, Ihnen einen Dienſt leiſten zu können.“ 

Graf Enea ſagte zunächſt nichts. Dann kam er noch⸗ 
mals auf das Geſchäftliche der Angelegenheit zurück. Es 
wäre ihm offenbar lieber geweſen, wenn der junge Juriſt, 
bei dem er wirkliches Intereſſe für die Sache wahrnahm, 
mehr das Geſchäft als den Freundſchaftsdienſt im muse 
gehabt hätte, 

„Hören Sie alfo, um was es ſich handelt,“ fuhr er 
dann fort. „Ich bin ſeiner Zeit verurteilt worden auf das 
falſche Zeugnis zweier Leute hin, und zwar des Doktors 
Enrico Gherardi und meines früheren Marinajo Giuſeppe 
Maregni, hier unter dem Namen Peppino bekannt. Der 
erſtere exiſtiert noch. Er führt eine traurige Exiſtenz in 
Neapel. Von dem letzteren aber konnte ich nichts in Er: 
fahrung bringen. Er iſt untergetaucht in den Schlamm 
der Großſtadt, der Himmel mag wiſſen, wie tief. Sie 
werden begreifen, wie ungeheuer wichtig für meine Redt: 
fertigung es ſein würde, den Mann wiederzufinden und 
womöglich gegen eine klingende Abfindung zu einer richtigen 
Darlegung der Vorgänge zu veranlaſſen.“ 

„Aber das würde ja gleichbedeutend mit einem Ein— 
geſtändnis eines Meineids ſein,“ warf Benvenuto ein. 
„Auch dürfen Sie den Mann nicht durch Beſtechung ver— 
anlaſſen wollen, ein Zeugnis abzugeben. Ein ſolches 
Zeugnis nimmt kein Gerichtshof in ſolchem Falle an.“ 

„Alles richtig. Und doch muß ich den Mann ſinden 
und ihn zur Bekennung der Wahrheit bringen. Daran 
hängt nicht nur meine Ehre, ſondern auch der gute Ruf, 
die ehrliche Stellung von Frau und Kind.“ 

„Gut. Sie wollen, daß ich dieſen Mann in Neapel 
ſuche?“ | 

„Ja, das möchte ich, und zwar aus dem Grunde, 
weil es Ihren Nachforſchungen leichter gelingen würde, 


Roman von Woldemar Urban. 57 


als den meinen. Vor mir verbirgt fih der Mann natür- 
lich. Das ſchlechte Gewiſſen weisſagt ihm nichts Gutes. 
Vor Ihnen wird er ſich nicht verbergen. Sie werden eher 
dazu kommen, ihn zu finden, und ihn vielleicht auch zum 
Sprechen bringen, denn Sie erſcheinen ihm bei der Sache 
als nicht beteiligt. Er kennt Sie nicht.“ 

Sie waren während dieſes Geſpräches an den Punkt 
gekommen, wo ſich ihre Wege wieder teilten, und blieben 
ſtehen, um die Damen zu erwarten. Benvenuto richtete 
ſeine Augen auf die nahende Santina, und ihr Blick be— 
gegnete dem ſeinen. Der junge Mann war davon wie 
elektriſiert. Es lag etwas wie ein Vorwurf, wie eine 
Anklage darin, als ob er ſchuld ſei, daß ſie ſo nieder— 
geſchlagen und krank ſei. 

„Ich werde dieſen Peppino ſuchen und finden, Herr 
Graf,“ antwortete der junge Mann plötzlich mit Be— 
ſtimmtheit. 

„Suchen Sie ihn, und denken Sie dabei daran, daß 
Sie einem Unglücklichen Lebensmut und Lebensluſt zurück⸗ 
geben, wenn Sie ihn finden,“ erwiderte Graf Enea leiſe. 
„Kommen Sie morgen früh zu mir. Ich ſage Ihnen 
alles, was Sie zu wiſſen nötig haben.“ 

„Ich bin morgen früh bei Ihnen.“ 

Die Verabſchiedung geſchah, wenigſtens von ſeiten 
der Frau d' Akkiri, in derſelben wortreichen und ausführ: 
lichen Art, wie die Neapolitanerinnen das nun einmal 
für praktiſch und paſſend halten. Dann ging Benvenuto 
mit ſeiner Mutter nach dem roten Villino zurück. 

Eben im Begriff, in den Hausflur einzutreten, ſah er 
ſeinen Vater von der anderen Seite der Straße heran— 
kommen. Wahrſcheinlich war er auf der Poſt geweſen 
und hatte ſeine Sachen geholt. 

„Es iſt nicht nötig, daß der Vater weiß, wo wir 
waren,“ flüſterte der junge Mann raſch ſeiner Mutter zu. 


58 Um ein Wort. 


Frau d' Akkiri fah ihren Sohn etwas überraſcht von 
der Seite an. Dann nickte ſie aber verſtändnisinnig und 
lächelte verſchmitzt. 

Von dieſem Tag an war ſie überzeugt, daß ihr 
Sohn einer der größten Advokaten ſeiner Zeit werden 
müßte. 

„Wo waret ihr denn?“ fragte Herr Aſſo ſeine Frau. 

„Angeln,“ antwortete Benvenuto an Stelle ſeiner 
Mutter. 

Die Ausrede war nicht ganz glücklich, denn ſein Vater 
konnte ſich offenbar die Vorliebe ſeiner beſſeren Hälfte 
für dieſen Sport nicht erklären und ſah deshalb beide 
ziemlich mißtrauiſch an. Aber er ſagte jetzt noch nichts. 
Die Gelegenheit dazu ſchien ihm nicht günſtig. Dagegen 
nahm er ſeine Frau nach dem Eſſen, als er mit ihr allein 
war, ziemlich energiſch ins Gebet. 

„Evroſina,“ ſagte er ernſt, „du weißt, daß ich in ge— 
wiſſen Sachen keinen Spaß verſtehe, und wenn ich einmal 
etwas für recht und richtig erkannt habe, ſo halte ich 
daran unter allen Umſtänden feſt.“ 

„Ich weiß nicht, was du willſt,“ erwiderte Frau d' Akkiri, 
unſchuldig thuend. ö 

„Ich will nicht, daß du dich zu allerhand Durchſteche— 
reien mit Benbenuto bereit finden läßt. Ich verlange, 
daß man in meiner Familie auf Achtbarkeit und Sitte 
hält. Wenn ich merke, daß man meinen Anſichten dar— 
über nicht in jeder Hinſicht nachkommt —“ 

„Aber, mein Gott, es fällt mir ja nicht ein, dieſe zu 
verletzen,“ verſicherte Frau d' Akkiri erſchrocken. 

„Baſta, du weißt nun meine Meinung. Richte dich 
danach.“ 

„Madonna mia, wie du aufbrauſeſt, Aſſo! Der arme 
Junge muß doch irgendwie einen Rückhalt haben.“ 

„Der arme Junge iſt ein Faulpelz, und von einer 


Roman von Woldemar Urban. 59 


verſtändigen Frau, wie du fein willft, folte man nicht 
glauben, daß ſie ſolchen Neigungen Vorſchub leiſtet.“ 

„Thue ich das?“ erwiderte Frau d' Akkiri in gerechter 
Entrüſtung. „Sitzt Benvenuto nicht in dieſem Augen— 
blick, in dem wir ſprechen, über ſeinen Büchern? Er 
hat mir ſein Ehrenwort gegeben, daß er ſein Examen im 
Oktober machen wird, und ich weiß, daß er es hält. Und 
das habe ich von ihm erreicht, nicht du mit all deiner 
Polterei. Das iſt ein rechtes Kunſtſtück, den armen Jungen 
zu knechten und zu peinigen! Als ob ſich ſo etwas er— 
zwingen ließe. Wohin kämſt du, wenn ich nicht da wäre, 
wenn ich nicht wieder ins Geleis brächte, was deine Heftig— 
keit verdirbt?“ 

Das ging noch ſo ein halbes Stündchen fort. Herr 
Aſſo wußte das ſchon und band daher nur mit ſeiner Frau 
an, wenn es ſich um Wichtiges handelte, ließ ſich aber 
dann auch durch den Strom ihrer ſehr ausgiebigen Beredt: 
ſamkeit nicht im geringſten beirren. Nur wußte er in 
dieſem Fall nicht recht, was er entgegnen ſolle. Seine 
Frau hatte recht, Benvenuto hatte wirklich angefangen zu 
arbeiten, und das war höchſt wahrſcheinlich der Dazwiſchen— 
kunft ſeiner Mutter zu danken. 

Er ſchwieg alſo und wartete das weitere ab. 

Am nächſten Tag erklärte Benvenuto plötzlich, daß er 
nach Neapel zurückkehren wolle. Er könne hier nicht ar: 
beiten, bald fehle es ihm an dem, bald an jenem, es ſei 
unmöglich, die ganze Univerſitätsbibliothek nach Sorrent 
zu holen. 

Sein Vater war verblüfft. Nachdem Benvenuto ſich 
noch vorgeſtern mit Händen und Füßen dagegen geſträubt 
hatte, von Sorrent fortzugehen, kam er jetzt ſelbſt aus 
freien Stücken darauf, nach Neapel zurückzukehren. Natür: 
lich hatte er dagegen nichts einzuwenden, mußte er doch 
annehmen, daß das Feuer, das Benvenuto für ſeine Nach— 


60 Um ein Wort. 


barin in der Villa Miramar entwickelt, und das fein 
Vater ſo ſehr gefürchtet, im Erkalten war. 

Er ließ ihn alſo ruhig ziehen. Auch ſeine Frau, die 
mit ihm abreiſte, weil ſie ſich in Sorrent nach Benvenutos 
Abreiſe überflüſſig gefühlt hätte, hielt er nicht zurück. Er 
war damit ganz zufrieden und blieb mit Beatrice allein 
im roten Villino. N 

(Fortſetzung folgt.) 


** 


Die schöne frau. 
Novellette von Emma Merk. 


mit Jllustrationen ¢ 


von A. Wald. (Machdruck verboten.) 


J. duftig weißen, mit roten Schleifen geſchmückten Morgen⸗ 
gewande ſchritt die ſchlanke Frau des Hauſes auf die 
Laube zu, in der ihr Gatte ſchon beim zweiten Frühſtück 
ſaß. Sie war eben aufgeſtanden. Obwohl die Sonne 
nur ganz ſchwach durch den grauen Himmel blinzelte, hielt 
ſie doch einen großen, rotgefütterten Schirm über ihr von 
einem ſpitzenumwogten Gartenhut geſchütztes, von einer 
Tüllwolke umſchleiertes Haupt. Sie haßte die Sonne, dies 
allzu helle Licht. Sie ſchwärmte für dämmerige Zimmer 
mit roſig verhüllten Lampen, für ungewiſſes Halbdunkel. 
Da ſie ſich aber während des Sommers doch zuweilen auch 
am hellen Tage ins Freie wagen mußte, verſäumte ſie nie, 
ihrem bleichen, gepuderten Geſicht durch einen Schirm, 
einen Fächer oder irgend eine Umhüllung einen warmen 
Ton zu geben, ſo daß ſie eigentlich immer nur in einer 
Art magiſcher Beleuchtung zu ſehen war. 

Ihr Gatte, der mit größtem Appetit ſein Frühſtück ver⸗ 
ſpeiſte, war ſchon ſeit Stunden beim Fiſchen geweſen. Sein 
kurzer, gedrungener Oberkörper ſteckte in einem groben Haus⸗ 
rock. Neben der duftigen, ſorgſam gepflegten Frau, die 
ihm ihre behandſchuhte Rechte hinhielt, ſah er mit ſeinem 
breiten roterhitzten Kopf wie ein Bauer aus. 


62 Die ſchöne Frau. 


„Bitte, Fräulein, wollen Sie mir den Thee beſorgen,“ 
wandte ſich die Dame an ein junges Mädchen, das ſich bei 
ihrem Eintreten in die Laube erhoben hatte. 

Das „Fräulein“ — ſie hieß Marie Meier, und der 
alltägliche Name war auch einer der vielen Dornen, die ihr 
im Fleiſche ſaßen — legte mit gekränkter Miene ihre Hand: 
arbeit weg. 

„Warum ſagt ſie das nicht dem Stubenmädchen, das 
doch eben hier war?“ grollte ſie heimlich. Sie war als 
Erzieherin der Tochter zu Rentier Ehrhardt gekommen und 
während deren Abweſenheit in die Stellung einer Geſell⸗ 
ſchafterin und Stütze der Hausfrau hineingerückt. Aber ſie 
fand, daß man ihr nun Dienſtleiſtungen zumutete, die ihr 
nicht zukamen. Frau Ehrhardt ſchien ganz zu vergeſſen, 
daß ihr Fräulein eine höhere Beamtentochter war. 

Während ſie der ſchönen Herrin, die ihre Handſchuhe 
nicht ablegte, ſondern nur den Schleier etwas emporſchob, 
den Thee einſchenkte, lag ein bitterer Zug um den Mund 
des Mädchens, der ihr friſches Geſicht verdarb. Sie hatte 
krauſes üppiges Haar, das ſich in ſchweren Flechten um 
ihren kleinen Kopf wand; aber ihre runden bräunlichen 
und leicht erhitzten Wangen wirkten allerdings ein wenig 
derb an der Seite der ätheriſch⸗bleichen Schönheit mit dem 
unter dem Hute hervorquellenden rotblonden Gelock. 

„Da iſt ein Brief von Frida,“ knurrte Ehrhardt. „Das 
Mädel möchte gern heimkommen. Hat ganz recht. Ich 
war gleich dagegen, daß du ſie während der Sommermonate 
in die dumme Haushaltungsſchule geſteckt haſt.“ 

„Aber lieber Ferdinand,“ hauchte Frau Sidonie mit 
einem müden Seufzer, „Frida muß doch kochen lernen. — 
Das lag gerade dir bei ihrer Erziehung am meiſten am 
Herzen,“ fügte ſie etwas ſpitzer hinzu. 

„Unſinn! Als ob ich je gewollt hätte, daß man ſie 
deswegen nach Thüringen ſchickt. Sie hätte doch auch hier 


Novellette von Emma merk. 63 


| kochen ler: 
| | nen können, 
bei unſerer 
vortrefflichen 
Wally und 

bei dem 

Fräulein.“ 
Marie 
nickte zu— 
ſtimmend. 


— 


Es war ihr ein großer Aerger, daß man das junge Mädchen 
zur Ausbildung in der Wirtſchaft fortgegeben hatte, weil 
ſie den Grund durchſchaute, warum die erwachſene Tochter 


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64 Die ſchöne Frau. 


möglichſt lange ferngehalten werden ſollte. Die gnädige 
Frau wollte nicht in das „mütterliche Fach“ übergehen. 
Sie wollte ewig die Schönſte, die Einzige, die Gefeiertſte 
ſein. 

Das Fräulein lächelte denn auch ſehr ironiſch über ihrer 
Handarbeit, als Sidonie nun mit würdevoller Strenge be⸗ 
merkte: „Du mußt doch zugeben, Ferdinand, daß wir gerade 
jetzt das Kind nicht zurückrufen können. Mit der Ein⸗ 
quartierung vor der Thür — während der Manöver! Die 
vielen Offiziere, die dann ein und aus gehen! Nein, das 
paßt mir nicht mit einem jungen Mädchen im Hauſe. Die 
Herren machen ſich ihren Spaß daraus, ſolch einem acht⸗ 
zehnjährigen Ding mit Komplimenten den Kopf zu ver⸗ 
drehen.“ 

„Was läg' denn daran, wenn ihr einer die Cour ſchneidet! 
Das haben wir auch gethan, als wir jung waren. Haben 
wir auch gethan,“ lachte Ehrhardt, ſtand auf und ſchritt 
rauchend zwiſchen den Roſenbeeten auf und ab, ſchnitt auch 
. einmal eine friſchaufgeblühte dunkelrote ab und warf fie 
ſeiner Frau, die ſich bequem in ihren Schaukelſtuhl zurück⸗ 
lehnte, in den Schoß. Dann trollte er ſich leiſe pfeifend 
ins Haus. 

Marie ſchickte ihm einen verächtlichen Blick nach. Sie 
ſelbſt hatte Frida geraten, ſich an den Vater zu wenden. 
Aber nie richtete er etwas Ernſtliches aus. All ſein Knurren 
blieb nur blinder Lärm. Immer ſetzte die Frau Sidonie 
ihren Willen durch. 

Man konnte von der Straße, die zu dem nahen See 
hinabführte, den Garten und die Leute überblicken, und da 
in dem hübſch gelegenen Gebirgsdorfe verſchiedene Münchener 
in der Sommerfriſche weilten, kamen um dieſe Zeit immer 
Bekannte vorüber. 

„Guten Morgen, Gnädige. Habe das helle Kleid im 
Garten geſehen — konnte nicht vorbei, ohne Ihnen die 


Novellette von Emma Merk. 65 


Hand zu küſſen,“ näſelte ein ſehr jugendlich gekleideter 
Herr, der über den Kiesweg herantänzelte. 

„Guten Morgen, lieber Baron. Bitte, nehmen Sie ein 
wenig Platz!“ 

Mehrere Radfahrer, die einen Blick hereinwarfen, ſpran⸗ 
gen ab, als ſie Stimmen hörten, und baten um die Er⸗ 
laubnis, trotz ihres verſtaubten Anzuges eintreten zu dürfen. 

„Ach, wer Sie ſo malen könnte, gnädige Frau!“ ſeufzte 
einer, ein junger Künſtler, und betrachtete bewundernd die 
reich hingegoſſene Geſtalt. 

„Ihre Schneiderin hat ſich mit dieſem Morgenkoſtüm 
ſelbſt übertroffen,“ verſicherte der andere, ein reicher Fabri: 
kantenſohn und Kenner in Toilettenfragen. 

Nur der dritte, ein etwas ſchüchterner junger Guts⸗ 
beſitzer aus der Nachbarſchaft, ſaß ſchweigſam in dem Halb⸗ 
kreis, der ſich um Sidonie wie um eine Fürſtin gebildet 
hatte. Manchmal heftete er ſeinen Blick wie gedanken⸗ 
verloren auf Marie, ſah aber ſtets ſchnell weg, wenn ſie 
es bemerkte. 

„Warum ſpricht er denn nicht mit mir,“ dachte ſie 
voll Zorn. 

Aber nein, um ſie kümmerte ſich kein Menſch. Sie 
blieb viel unbeachteter in ihrem Winkel als der zierliche 
kleine Schoßhund der gnädigen Frau, der nach einer Weile, 
mit einer roſa Schleife geputzt, herantrippelte und allgemein 

geliebkoſt und e wurde. 

Am nächſten Tage war das Dorfbild gänzlich verändert. 
Zwiſchen den Obſtgärten, auf den Wegen, überall hellblaue 
und dunkelblaue Uniformen. Soldaten, die ihr Quartier 
aufſuchten, die Gepäck hin und her ſchleppten; militäriſche 
Radfahrer, die zwiſchen dem Bahnhof und dem großen 
Gaſthauſe, in dem der Oberſt wohnte, auf und ab ſauſten; 
Pferdegewieher, das Geraſſel der Geſchütze, die im u 


1900. III. 


66 Die ſchöne Frau. 


grunde des Dorfes aufgepflanzt wurden, laute befehlende 
Stimmen, der kräftige Geſang eines einmarſchierenden 
Trupps Infanterie, Mädchengekicher, ſtaunende Kinder, die 
zum erſtenmal Offiziere ſahen und mit offenen Mäulchen 
die Uniformen anſtarrten; aufgeregte Bäuerinnen, die über 
ihren neuen Pflichten für die Einquartierung den Kopf 
verloren, und über all der fremden Unruhe und dem bunten 
Treiben ein klarer blauer Sommerhimmel. 

Sidonie lächelte ſehr befriedigt. Zwei der Herren, die 
in ihrem Hauſe wohnten, waren von Adel: ein Baron und 
ein Graf. Hübſcher hätte ſich das gar nicht treffen können! 
Das Zivil, mit dem ſie ſich während einiger Wochen unter⸗ 
halten, ſank plötzlich in ein ſchales Nichts zurück, ſeitdem 
ſie wieder Säbel klappern hörte. 

Während des dienſtfreien Nachmittags hatten mehrere 
bekannte Offiziere ihren Beſuch gemacht und eine Einladung 
für den Abend angenommen. Der erſte, der kam, war an 
jedem Fenſter von einem heimlichen Freudenaufſchrei aus 
weiblichem Munde begrüßt worden. 

„Jeſſes, Jeſſes, der Herr v. Kramer!“ rief Wally, die 
dicke Köchin, und klatſchte in die Hände. „Dem ſein' Bur⸗ 
ſchen kenn' ich, das iſt ein Landsmann von mir. Für den 
muß ich gleich ein gutes Bröckel von der Gans aufheben.“ 

„Ah, Oberleutnant v. Kramer!“ lächelte die Frau des 
Hauſes, die ihn eintreten ſah. „Das iſt ja reizend! Ein 
ſo famoſer Geſellſchafter! Er ſpielt ſo ausgezeichnet Vio⸗ 
line.“ — Im oberen Stock aber ſeufzte Marie Meier: 
„Das iſt ja der Offizier, der mich bei Kommerzienrats, wo 
ich zum Tanz auſſpielen mußte, zu Tiſch geführt hat! Alle 
anderen ſind an mir vorbeigegangen, als wäre ich Luft! 
Der hat ein gutes Herz, und ein ſehr geſcheiter Menſch 
iſt er auch. Er ſoll ja beim Generalſtab ſein! Der wird 
doch etwas anderes zu reden wiſſen als fade Komplimente 
für die gnädige Frau!“ — 


Novellette von Emma Merk. 67 


Sidonie hatte zu dem Mahl am Abend in allen Zim⸗ 
mern die Lampen anſtecken laſſen. Sie fand das feſtlicher. 
Einen letzten Blick warf ſie auf den Spiegel. Das glän⸗ 
zende helle Grün ſtand ihr wirklich gut. Noch eine leiſe 
Liebkoſung mit der Puderquaſte, dann trat ſie in den Salon. 
Das Fräulein ſtand hier und ſenkte friſche Blumen in eine 
Vaſe. 

„Ei, ſieh da, Sie haben ja heute eine merkwürdige 
Pracht entfaltet!“ bemerkte Sidonie etwas ſpitz und be⸗ 
trachtete mit der Lorgnette das junge Mädchen, das in 
einem hellen Muſſelinkleid mit bloßem Hals und kurzen 
Aermeln ſehr vorteilhaft ausſah. 

Marie warf ihr einen trotzigen Blick zu, als wolle ſie 
ſagen: „Gerüſtet zum Kampf! Heut gilt es! Heute will 
ich auch bewundert werden.“ Aber der ſelbſtbewußte Glanz 
ihrer Augen erloſch mehr und mehr, als ſich nun die Gäſte 
einfanden, und die heitere Mahlzeit begann. Die alte Ge⸗ 
ſchichte! Das Militär und das Zivil — alle hatten ſie 
nur Augen für die bleiche rotblonde Frau, und ſie blieb 
unbemerkt im Winkel. Auch er — Oberleutnant v. Kramer, 
mit dem ſie ſich einmal ſo vortrefflich unterhalten hatte! 
Ja, ein paar höfliche Redensarten hatte er ihr hingeworfen, 
und nun bemühte er ſich mit all ſeinem Geiſt und all 
ſeiner Liebenswürdigkeit, mit jedem Blick, mit jedem Lächeln 
ſeines hübſchen Geſichtes um die Gunſt der koketten Haus⸗ 
frau. 

Nach Tiſch mußte Marie mit dem Hausherrn im Neben⸗ 
zimmer eine Partie Pikett ſpielen, davon ließ er nicht ab, 
auch wenn Gäſte da waren. Verdroſſen warf ſie die Karten 
auf den Tiſch, während aus dem Saale das Violinſpiel 
des Oberleutnants herüberklang. Wieviel Glut, wieviel 
Wärme in ſeinem Vortrag lag! Ach, ſie hatte doch in 
ihrem kleinen Finger mehr Muſikverſtändnis als Frau 
Sidonie, die jedenfalls wieder ihre ſchmachtenden Augen 


68 Die ſchöne Frau. 


machte, als wäre ſie ganz weg vor Begeiſterung. Sie haßte 
ſie. Ja, ſie haßte ſie. 

Warum drehten ſich alle nur um ſie, gerade wie die 
dummen Mücken, die zum offenen Fenſter hereinflogen und 
um die Lampe ſchwirrten? Bloß aus Eitelkeit. Weil jeder 
ſeinen Ehrgeiz darein ſetzte, auf die „ſchöne Frau“ Eindruck 
zu machen. Ach, wenn ſie ihre ſchöne Frau nur einmal 
ſehen könnten vor der Toilette, ehe das Kunſtwerk vollendet 
war, da würden ihnen doch die Augen aufgehen über den 
Schwindel. Die alte Perſon mit ihrem geſchminkten Ge⸗ 
ſicht — ihrem künſtlich gefärbten Goldhaar! 

„Aber Fräulein, heute ſpielen Sie wirklich zum Er⸗ 
barmen!“ zankte der Hausherr. 


So oſt es ſeine Zeit N kam der Oberleutnant 
in die Villa, zuweilen nach einem ermüdenden Tag noch 
abends in der bequemen Litewka, welche die Offiziere auf 
dem Lande tragen durften. Marie wurde dann häufig an 
das Klavier befohlen, um ſein Violinſpiel zu begleiten. 
Aber wie warm ſie auch ihre Bewunderung ausdrückte, wie 
groß und feurig ſie auch ihre Augen zu ihm aufſchlug, ſeine 
Gleichgültigkeit gegen ſie blieb unerſchütterlich. Nur Si⸗ 
donies gnädiges Nicken ſchien ihm der erwartete Lohn, nur 
ihr lächelndes Bravo vermochte ihn anzuregen und zu be— 
geiſtern. Und Marie ſah es doch, daß ſie hinter ihrem 
Fächer gähnte! Mit ihrem Wohlgefallen an dem hübſchen, 
muſikaliſchen Offizier wuchs in dem Herzen des Fräuleins 
der Groll gegen ihre Herrin. Das Süßholzraſpeln des 
etwas altmodiſchen Herrn Oberſt, die abgedroſchenen Kom— 
plimente ihres Hausgenoſſen, des gräflichen Hauptmanns, 
alle die galanten Redensarten der Herren, die doch eigent— 
lich nur eine wertloſe Kleinmünze waren, wollte ſie der 
verwöhnten Dame ja gerne gönnen; aber die ernſte Liebens⸗ 
würdigkeit, dieſe herzliche Ergebenheit, mit der dieſer junge 


Novellette von Emma Merk. 69 


Mann um das Wohlgefallen der verblühten Frau warb, 
brachte ſie einfach zur Raſerei. 

Wenn ſie im Kahn auf den nahen See hinausfuhren, 
dann wandelte ſie oft plötzlich eine wilde Luſt an, durch 
eine ungeſchickte Bewegung das kleine Boot ins Schwanken zu 
bringen, damit es umſchlug, und ſie alle ins Waſſer fielen. 
Sie konnten ja ſchwimmen, und wenn es in der Nähe des 
Ufers geſchah, war die Gefahr nicht groß. Es ſchien ihr 
ein Hauptſpaß, ſich auszumalen, in welchem Zuſtande die 
„ſchöne Frau“ dem unfreiwilligen Bade entſteigen würde. 

Allmählich wurde es ihr förmlich zur fixen Idee, Frau 
Sidonie vor den Augen ihrer Verehrer — vor allem vor 
Kramers Augen — in eine Lage zu bringen, die allen 
falſchen Nimbus, mit dem ſie die Menſchen täuſchte, zer⸗ 
ſtörte. Die Gelegenheit, ihre boshaften Pläne auszuführen, 
hatte ihr bisher noch gefehlt. Aber als Frau Ehrhardt 
den lebhaften Wunſch äußerte, das Manöver mitanzuſehen, 
das in der Nähe ftattfinden folte, und ihr Gatte fih mit 
ſeltener Feſtigkeit weigerte, ſie zu begleiten, da prickelte es 
in Marie Meiers dunklem Kopf von hinterliſtigen Plänen 
und ſchadenfrohen Erwartungen. 

Früh ſchon brachen die beiden Damen auf und waren 
an dem trüben, ſchwülen Tag zunächſt eine Strecke weit 
gefahren. Die Scheinſchlacht ſpielte ſich jedoch auf einem 
weiten hügeligen Gelände ab, durch deſſen ſumpfige Wieſen 
keine Straße führte. Man mußte deshalb ausſteigen und 
den Wagen warten laſſen. 

Nun ſollte ihre teure Herrin einmal zu Fuße laufen, 
ſteigen, über ſchlechte Feldwege ſtapfen! Das war ihr ge— 
ſund! Mit inniger Schadenfreude eilte Marie bergan. 
Ihr lag nichts daran, daß ihre Wangen glühten vor Hitze. 
Es machte ihr nur ſo unbändigen Spaß, daß das ge— 
ſchminkte Geſicht hinter ihr unfehlbar bei dieſem mühſamen 
Marſch Schaden leiden mußte. 


70 Die ſchöne Frau. 


Sidonie wäre am liebſten wieder umgekehrt. Das Gehen 
fiel ihr ſchwer mit ihren engen, unbequemen Schuhen, mit 
ihren Spitzenröcken, und es wurde ihr ſchrecklich heiß unter 
dem Schleier. Aber es reizte ſie dennoch, einmal mitten 
in dem ungefährlichen Schlachtgetümmel zu ſtehen und ihre 
Bekannten zu begrüßen. Sie dachte ſich's ein wenig wie 
in einer Feſtvorſtellung, bei der ihr Erſcheinen doch auch 
immer Effekt machte. Marie lockte ſie auch noch mit heuch⸗ 
leriſcher Liebenswürdigkeit vorwärts. 

„Da oben auf dem Hügel treffen wir gewiß den Herrn 
Oberſt, und der Oberleutnant reitet als Adjutant des Ge: 
nerals auch mit den Schiedsrichtern. Wie er ſich freuen 
wird, daß die gnädige Frau Wort hält!“ 

Dabei beobachtete das tückiſche Geſellſchaftsfräulein mit 
Hochgenuß, daß die Stirnlöckchen der Dame ſich ſchon auf— 
löſten und in langen Strähnen herumhingen, und daß Hut 
und Schleier in dem anhebenden Wind in Unordnung ge⸗ 
rieten. Die Arme ſah ſchon jetzt etwas derangiert aus und 
zupfte nervös an ihrer Friſur herum, als ſie nun Uni⸗ 
formen blitzen ſah. 

Auf dem Hügel ſtand ein kleines Häuflein Manöver: 
bummler, die das militäriſche Schauſpiel mit dem Feld— 
ſtecher betrachteten. Man hatte von hier aus einen weiten 
Blick und konnte ſehen, wie die Truppen gerade wie auf 
einem rieſigen Schachbrette gegeneinander anrückten. Der 
Feind, der ſich von Weſten heranſchob, war durch die graue 
Helmkappe kenntlich gemacht. Auf den Boden gedrückt kroch 
eine Compagnie vorwärts und gab dann gedeckt von einer 
kleinen Erhöhung in dem Kartoffelfelde Feuer. Unabläſſig 
donnerten die Geſchütze, die hinter dem Waldſtreifen links 
irgendwo aufgepflanzt waren, man hörte nur das dumpfe 
Dröhnen, aber keine Rauchwolke, keine Bewegung verriet, 
woher der Angriff kam. Die lauten Kommandorufe der 
Offiziere klangen über das freie Feld hin; Adjutanten jagten 


Marie lockte sie auch noch mit heuchlerischer Liebenswürdigkeit vorwärts. ($. 70) 


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12 Die ſchöne Frau. 


auf keuchendem Pferd vorüber; Sidonie ſprang ein paar⸗ 
mal entſetzt zur Seite, als dicht neben ihr ein Meldereiter 
mit dem Fähnchen auf der Lanze vorbeigaloppierte. 

Einige der Offiziere legten grüßend die Hand an den 
Helm, als ſie die Damen bemerkten. Aber zu weiteren 
Höflichkeiten blieb ihnen keine Zeit, und Frau Ehrhardt 
ſah bald recht gelangweilt und müde aus. Sie hatte ſich 
die Geſchichte viel amüſanter gedacht. 

Wahrhaftig, die böſe Marie verſtand ſich auf Hexen⸗ 
künſte und hatte ſich mit dem Wetter verſchworen! Plötz⸗ 
lich fing es zu träufeln an. Erſt ganz langſam und leiſe, 
ein beſcheidenes Rieſeln, das aber bald in einen beharrlichen 
Landregen ausartete. 

„Wir wollen eiligſt zurück zu dem Wagen!“ rief Si⸗ 
donie verzweifelt. Sie hatte nur ihren rotgefütterten 
Sonnenſchirm, der ſich mit ſeinen Spitzenvolants recht 
wenig zum Schutz auf freiem Felde eignete. Leider war 
ſie ſehr kurzſichtig und hatte in dem einförmigen grünen 
Hügelland, das nun in ein trübſeliges Grau eingetaucht 
ſchien, vollſtändig die Richtung verloren, aus der fie her: 
gekommen waren. Ihr boshaftes Fräulein aber ſchleppte 
ſie abſichtlich in der Irre umher, kreuz und quer durch 
naſſe Wieſen, immer weiter fort von dem ſchönen gedeckten 
Landauer, der auf der Landſtraße unten ihrer harrte. 

Marie wollte ihre Rache auskoſten. 

Sie ſelbſt lief in ihrem dunklen Lodenkleid, mit ihrem 
einfachen Matroſenhut, unter dem ſich ihr naturkrauſes 
Haar ſo luſtig wie immer hervorlockte, unter der Traufe 
wohlgemut dahin. Sonſt war ſie recht ſparſam mit ihren 
Sachen. Aber nun kam es ihr nicht darauf an, ein Paar 
Stiefel zu opfern, da fie dafür in dem Anblick ihrer flag: 
lich zugerichteten Herrin ſchwelgen durfte. Faſt hätte ſie 
laut aufgelacht, als ein unhöflicher Windſtoß den weißen 
Schleier packte, der ſchon vom Regen ganz ſchlaff geworden, 


Novellette von Emma Merk. 73 


und ihn wie ſpottend davontrug. Nun ſtand einmal das 
zarte Gnadenbild ohne Hülle, ohne magiſche Beleuchtung 
in freier Luft, und Sturm und Regen fegten fort, was 
nicht waſchecht war. Die Haarfarbe verblaßte allerdings 
nicht, aber der künſtliche Aufbau, der ſich ſonſt über die 
Schläfen hinzog und Entzücken wachrief, klatſchte nun naß 
und ſo arm und dünn um das ſchmale Geſicht, das in dem 
ſcharfen Licht immer welker und faltiger erſchien. Unter 
den Augen bildeten ſich von der Näſſe und der Schminke 
verwiſchte Flecken, und das Tüllgekräuſel des Kleides am 
Halſe klatſchte fih dicht an, fo daß der Hagere, welke Hals 
zum Vorſchein kam. 

„Ihre Verehrer müſſen ſie ſo ſehen!“ Mit dämoniſcher 
Wildheit jagte der Wunſch durch die verbitterte Seele Ma⸗ 
riens, und ihre Augen ſpähten ſcharf durch das Grau. Sie 
hatte ſchon eine Weile beobachtet, daß bei dem einſamen 
Gehöft vor ihnen ein Trupp Reiter ſtand, halb verdeckt 
von den Bäumen. Wenn das die Schiedsrichter wären — 
der Oberleutnant unter ihnen! 

„Es bleibt uns nichts übrig, gnädige Frau, als dort, 
in dem einzigen Haus weit und breit, unterzuſtehen,“ ſagte 
Marie heuchleriſch und lief eifrig voran. Es ſollte Sidonie 
nicht gelingen, ſich unbemerkt in eine Ecke zu drücken. 

Jubeln hätte ſie mögen, als ſie in die Nähe kam. Ein 
Siegesgeſchrei wäre der Ausdruck ihrer Stimmung geweſen. 
Von weitem ſchon erkannte ſie Kramers ſchlanke Geſtalt. 

Der Trupp wollte ſich eben wieder in Bewegung ſetzen, 
und man würde wohl auf die beiden naſſen Geſtalten gar 
nicht geachtet haben, wenn nicht Marie dicht vor die Pferde 
hingelaufen wäre und laut gerufen hätte: „Verzeihen Sie 
gütigſt, wir haben uns bei dem Regen ganz verirrt. Wie 
finden wir uns wieder auf die Chauſſee zurück? Meine 
arme gnädige Frau kommt kaum mehr vorwärts.“ 

Und ſie deutete auf die ſich mühſam Heranſchleppende. 


74 Die ſchöne Frau. 


Oberleutnant v. Kramer flüſterte dem General ein paar 
entſchuldigende Worte zu und ritt Sidonie entgegen. Auch 
der Oberſt, der einigemal bei Ehrhardts zu Gaſt geweſen 
war, hielt ſich für verpflichtet, der verregneten Dame ſein 
Bedauern auszudrücken.“) Sämtliche Offiziere blickten nach 
der Aermſten, die nicht in die Erde verſinken konnte, die 
nicht einmal unter ihrem getreuen Sonnenſchirm, der längſt 
unbrauchbar geworden war, eine Deckung fand. 

Marie war neben ihre Herrin herangetreten. „Ein 
rechtes Glück, nicht wahr, gnädige Frau, daß wir nun doch 
über den Weg Beſcheid wiſſen?“ rief ſie, während ſie voll 
Schadenfreude bemerkte, daß mehrere der Herren ein Schmun⸗ 
zeln nicht zu verbergen vermochten, daß auch der galante 
Oberſt verblüfft zurückprallte, als er dieſe traurige Wandlung 
ſah, die der Regen bei der „ſchönen Frau“ angerichtet hatte. 

Er aber, der Unbegreifliche — er, der hübſche junge 
Oberleutnant, auf den Mariens Augen mit äußerfter Span: 
nung gerichtet waren, zuckte nicht mit der Wimper. Kein 
Zug in ſeinem Geſicht verriet Enttäuſchung, ja nur Be⸗ 
fremden, Verwunderung. War denn ſolche Verſtellung, 
ſolche Selbſtbeherrſchung überhaupt möglich? 

„Ach, verehrte gnädige Frau,“ ſagte er leiſe mit ſeinem 
einſchmeichelndſten Tone, „es giebt Augenblicke, in welchen 
man die Unerbittlichkeit des Dienſtes recht ſchwer empfindet. 
Wenn ich jetzt fortjagen dürfte, ſo raſch mein Pferd mich 
trägt, um Ihnen einen ſchützenden Mantel zu holen, und 
Sie dann warm und behaglich einzuwickeln — das wäre 
mir wirklich die größte Herzensfreude!“ 

Dabei ruhten ſeine Augen auf ihr mit unveränderter 
Liebenswürdigkeit, mit unerſchütterlicher Begeiſterung, mit 
einem ſo treuherzigen Blick, als könnte kein Falſch in ſeiner 
Seele ſein. 


*) Siehe das Titelbild. 


Novellette von Emma Merk. 75 


Marie hätte am liebſten auf den Boden geſtampft vor 
Zorn. Prallte an ihm denn alles ab? War er denn blind, 
behert? Sah er denn gar nicht, wie häßlich feine Schöne 
geworden? Verflog ſein Rauſch auch nicht vor ſolch er⸗ 
nüchternder Klarheit? 

Sie ſtarrte ihm noch kopfſchüttelnd nach, als längſt die 
Pferde über das Kleefeld dahingeſprengt waren. Uebel⸗ 
launig und ſchweigſam patſchten die beiden Damen über 
die durchweichten Wieſen, bis ſie den Wagen erreichten, der 
ihnen auf Befehl des Oberſten eine Strecke weit entgegen⸗ 
gefahren war. 


Am Abend mußte Marie den Tiſch decken, weil die 
Jungfer eine Beſorgung zu machen hatte. Der Ober: 
leutnant, der ſich erkundigen wollte, ob der naſſe Spazier⸗ 
gang der gnädigen Frau nicht geſchadet habe, wurde in den 
anſtoßenden Salon geführt. Sidonie lag da etwas bleich 
und abgeſpannt, aber wieder friſch aufgekräuſelt und bemalt 
auf dem Ruhebett unter der Lampe. Mit einer gewiſſen 
Unruhe blickte ſie dieſem Wiederſehen mit ihrem lebhafteſten 
Verehrer entgegen. Ob er wohl gänzlich abgekühlt war? 
Sein Geſicht und fein Gruß ſchienen fie angenehm zu über: 
raſchen, denn ihre Stimme klang ganz ungewöhnlich freund— 
lich und heiter, als ſie ihn bat, Platz zu nehmen und ihr 
ein wenig zu erklären, wie ſie eigentlich dieſes militäriſche 
Schauſpiel zu verſtehen hatte, das ſie heute mitangeſehen. 

Marie konnte deutlich hören, was die beiden ſprachen. 
Der behagliche Ton der Unterhaltung ärgerte ſie ſchon. 
Und dann nach einer Weile ſagte der Offizier, daß ſie nun 
in ein paar Tagen abmarſchieren müßten, und als Sidonie 
ein Wort des Bedauerns erwiderte, fügte er ſehr warm 
und bewegt hinzu: „Ach, verehrte gnädige Frau, Sie ahnen 
nicht, wie dankbar ich dem Zufall bin, der mich hierher 
führte, in Ihre Nähe! Ich möchte mir ſchmeicheln, daß 


76 Die ſchöne Frau. 


ich in dieſen wenigen Tagen, in denen ich die Gaſtfreund— 
ſchaft Ihres Hauſes genießen durfte, ein wenig Ihr Ver⸗ 
trauen gewonnen habe, Ihre gütige Geſinnung, Ihr Wohl⸗ 
wollen —“ 

„Gewiß, gewiß, Herr Oberleutnant,“ verſicherte Sidonie 
ſehr leiſe, offenbar etwas befangen, denn ſie wußte ja, daß 
das Fräulein im Nebenzimmer weilte. 

Marie war wütend. Bei offenen Thüren eine Liebes⸗ 
erklärung! Sie fand das ſtark. 

„Meinen wärmſten Dank, verehrte gnädige Frau! Und 
ich darf auf liebenswürdiges Gewähren rechnen, auch wenn 
ich — wenn ich eine recht große Bitte wagen ſollte?“ 

Er hatte nun auch in einem verſchleierten Tone ge⸗ 
ſprochen, und Marie hörte nur ein kokettes Lachen, das ihm 
zur Antwort wurde. Dann folgte ein Schweigen, als habe 
er in den Augen ein beglückendes Ja geleſen und zöge nun 
bewegt die Hand der Dame an die Lippen. 

In einer tiefen Entrüſtung klapperte Marie mit den 
Tellern. Sie überlegte, ob ſie wirklich ſchweigen ſollte zu 
einem ſo ſchnöden Verrat. — 

Sidonie ſchien etwas verlegen, als ſie ſpäter in das 
Eßzimmer trat. Aber der Oberleutnant begrüßte Marie 
mit ſeiner gewohnten kühlen Höflichkeit. Er war doch ein 
vollendeter Heuchler! 

Am nächſten Morgen war Sonntag und Raſttag für 
das Militär. Reizender blauer Himmel mit weißen Wolken, 
luſtiger Sonnenſchein. Marie ſaß noch vor dem Frühſtück 
in ihrem Zimmer und ſchrieb einen Brief, als ſie auf der 
Treppe Freudenrufe hörte, ein vielſtimmiges Lachen. Wally 
ſchrie voll Vergnügen: „Jeſſes, Jeſſes! Nein, die Ueber⸗ 
raſchung!“ Dazwiſchen brummte der Baß des Hausherrn. 
Aber über all den Lauten ſchwebte noch ein heller, jüngerer 
Ton. 


Novellette von Emma Merk. 77 


Das Fräulein riß eiligſt die Thür auf und ſprang 
die Treppe hinunter. Im erſten Stockwerke aber flog ihr 
ein großes lachendes Mädchen um den Hals und rief: 
„Marie, liebe gute Marie, nicht wahr, Sie helfen mir auch 
bei der Mama?“ 

Um Gottes willen, Fräulein Frida! Ja, wo kommen 
Sie denn her?“ 

„Von Thüringen und jetzt direkt von München. Die 
ganze Nacht habe ich im Eiſenbahnwagen geſeſſen und nicht 
ſchlafen können vor Angſt und doch zuweilen ein ungeheures 
Verlangen gehabt, hellauf zu jubeln, weil ich wieder heim⸗ 
kam. Wie ich die Berge ſah, da ward ich ganz närriſch 
vor Freude. Ich habe meiner Penſionsmutter geſagt, ich 
müſſe zu Papas Geburtstag hier ſein, obwohl er mich gar 
nicht haben wollte, der böſe, böſe Vater — und nun gehe 
ich um keinen Preis mehr weg.“ 

„O, wir wollen ſchon Ihre Partei nehmen, Frida! 
Nicht wahr, Herr Ehrhardt?“ ſagte Marie ganz erregt und 
kampfbereit. Etwas Lieberes hätte ihr gar nicht geſchehen 
können. Das mußte doch den blinden Thoren ernüchtern, 
wenn er ſah, welch große Tochter ſeine angebetete Schöne 
hatte. Schämen mußte er ſich, der Mutter den Hof zu 
machen vor dieſen hellen jungen Augen. 

Frau Sidonie erfuhr nicht gleich, was geſchehen war. 
Es war ſtreng verboten, ihr Zimmer zu betreten, wenn ſie 
nicht klingelte. Erſt als ſie gegen Mittag zum Frühſtück 
kam, legten ſich ein paar weiche, ſchmeichelnde Arme um 
ihren Hals, und die mutwillige Ausreißerin flüſterte ihr 
ins Ohr: „Ich hab's nicht ausgehalten vor Langeweile, 
Mama.“ 

Sie runzelte zwar finſter die Stirne, aber was half 
aller Aerger der einmal feſtſtehenden Thatſache gegenüber, 
daß die große Tochter da war! Sie wollte ſich durch keine 
Aufregungen ihr Ausſehen verderben; denn ſie hatte mehrere 


78 Die ſchöne Frau. 


Offiziere zu Tiſch, und es galt, den häßlichen Eindruck von 
geſtern zu verwiſchen. 

Der erſte, der ſich einfand, eine volle Viertelſtunde vor 
der feſtgeſetzten Zeit, war der Oberleutnant. Er ſah etwas 
erregt und befangen aus. Als er in den Salon trat, in 
dem die Familie ſchon verſammelt war, wollte Sidonie erſt 
mit einer ihrer müden Bewegungen die Tochter vorſtellen; 
aber das junge Mädchen ſprang auf, hing ſich an den 
Arm des Offiziers und rief mit leuchtenden, übermütigen 
Augen: „Liebe Eltern, als Verlobte empfehlen ſich Paul 
und Frida!“ | 

Der Oberleutnant aber küßte Frau Sidonie die Hand 
und flüſterte: „Ich erinnere Sie an Ihr Verſprechen: 
Wohlwollen — freundliches Gewähren, auch wenn ich eine 
ſehr große Bitte wagen ſollte!“ 

Sidonie erregte mit ihrer Selbſtbeherrſchung zum erſten⸗ 
mal die Bewunderung ihres boshaften Fräuleins. Merk⸗ 
würdig gefaßt fand ſie ſich in die veränderte Sachlage, 
blickte wie eine jugendliche Mutter auf dem Theater ergeben 
zu ihrem Gatten empor und lächelte mit großen, gerührten 
Augen: „Haſt du's geahnt, Ferdinand, daß der böſe Menſch 
uns unſer einziges Kind rauben will?“ 

„Aber Mädel,“ lachte dieſer ſeelenvergnügt, „wo und 
wie habt ihr euch denn nur kennen gelernt?“ 

Darauf erzählten die jungen Leute, ſich unterbrechend, 
ſich gegenſeitig verbeſſernd und ergänzend, in freudiger Haſt 
die Geſchichte einer entzückenden Eiſenbahnfahrt, bei der ſie 
ſich gegenüber geſeſſen hatten, bei der zum Glück eine freund— 
liche Dammrutſchung einen Aufenthalt in einem komiſchen 
kleinen Neſt verurſachte, in dem ſie miteinander zu Mittag 
aßen — die einzigen Paſſagiere zweiter Klaſſe. Und dann 
war er auch in Erfurt ausgeſtiegen, obwohl er eigentlich 
nach Wein ar wollte, und hatte ihr Fenſterparaden gemacht, 
während ſie in der langweiligen Penſion Gemüſe ſchälen 


Novellette von Emma Merk. 79 


oder etwas ähnliches thun mußte, und trotz der lauernden 
Penſionsmutter, die ihre jungen Damen wie Verbrecher 
gefangen hielt, hatten ſie ſich doch einmal fünf Minuten 
lang geſprochen und ſich zugeflüſtert, daß ſie ſich ſchreiben 
würden. Das hatten ſie auch gethan, und unter allerlei 
anderen hübſchen Dingen hatte Frida von ihm gehört, daß 
er hier ſei, und daß Vater und Mutter recht freundlich zu 
ihm wären. Da hatte ſie es einfach nicht mehr ausgehalten. 
Uebrigens könne ſie jetzt ſchon genug kochen. 

„Donnerwetter! Wie heutzutage die Kinder energiſch 
vorgehen!“ rief Ehrhardt, ſich die Hände reibend. „Aber 
jetzt ſoll die Wally gleich einige Flaſchen Pommery kalt 
ſtellen!“ 

Frau Sidonie lächelte nur. Sie entſagte „in Schön⸗ 
heit“. Marie aber beherrſchte ſich kaum mehr vor innerer 
Aufregung über dieſe unerwartete Wandlung. „Ich möchte 
Roſen holen für die Tafel, bei einer Verlobung muß doch 
ein großer Roſenſtrauß auf dem Tiſch ſtehen,“ ſagte ſie 
ganz verwirrt. 

Sie wollte nur eine Gelegenheit haben, um ihre erhitzten 
Wangen in der freien Luft zu kühlen, um in der Einſam⸗ 
keit ſich zu beruhigen und zu beſinnen. Sie gab ſich krampf⸗ 
hafte Mühe, nur ihrem Haß zu lauſchen, fih ganz zu be— 
täuben mit einer wilden Luſtbarkeit über die Niederlage 
ihrer Herrin. Ja, ja, nun war ſie eben doch ins „alte 
Fach“ hineingerutſcht, in das der Schwiegermutter. Der 
junge Oberleutnant hatte eben nur „der Mutter“ ſeine 
Huldigung dargebracht. O, dieſe Enttäuſchung gönnte ſie 
ihr von Herzen! 

In wilder Ausgelaſſenheit hüpfte Marie um die Beete 
herum und wütete in den Roſen; ſie merkte es kaum, wenn 
ein Dorn ſie ritzte, ſo berauſcht war ſie von ihrem Triumph. 

„Guten Tag, liebes Fräulein,“ ſagte da plötzlich eine 
freundliche Stimme hinter ihr. Vor dem Gartengitter ſtand 


80 Die ſchöne Frau. 


ein Radfahrer, der ſchüchterne Gutsbeſitzer, der einigemal 
zu Beſuch in der Villa geweſen war und fie immer ver: 
ſtohlen angeſehen, aber nie ein Wort mit ihr geſprochen 
hatte. 

Marie war ſo erſchrocken über die unerwartete Anrede, 
daß ſie das Körbchen mit den Roſen aus der Hand fallen 
ließ. „Ach, Herr Bentenrieder!“ rief ſie. 

„Verzeihen Sie, Fräulein; warten Sie, ich helfe Ihnen,“ 
fuhr er fort, lehnte ſein Rad an das Gitter und kam eilig 
in den Garten herein. Während er ſich bückte, um die 
Blumen aufzuheben, ſagte er etwas verlegen: „Seitdem die 
Offiziere hier ſind, bekommt unſereiner keinen Blick mehr ab.“ 

„Ja, ja,“ erwiderte Marie höhniſch. „Jetzt iſt die 
gnädige Frau anderweitig in Anſpruch genommen.“ 

„Ich meine nicht die gnädige Frau, ich meine Sie 
ſelbſt, Fräulein Meier,“ verſicherte er, indem er die Roſen 
behutſam in ihr Körbchen legte. 

Sie ſah ihn ſtarr an. Wollte der Menſch ſeinen Spaß 
mit ihr treiben? „Ach, ich weiß recht gut, daß ſich um 
mich niemand kümmert,“ warf ſie zornig hin, und es war ein 
Zittern in ihrer Stimme, das ſie kaum beherrſchen konnte. 

„Sagen Sie das nicht, Fräulein. Wie die anderen 
Herren denken, darüber weiß ich ja nicht Beſcheid. Aber 
das dürfen Sie mir glauben, daß ich ſtets nur hierher 
kam — Ihretwegen.“ 

„Aber warum haben Sie denn nie ein Wort mit mir 
geredet?“ gab ſie ganz verwirrt und überraſcht zur Antwort. 

„Ja, das iſt eben mein Unglück, daß ich ſo ſchüchtern 
bin, beſonders in einem größeren Kreis von Menſchen. 
Wie gerne hätte ich mich Ihnen genähert, aber das hätte 
vielleicht auffällig ausgeſehen, und — ja, ich wagte es eben 
nicht. Aber wie oft bin ich vor dem Garten vorbei ge— 
radelt, in der Hoffnung, Sie einmal allein zu treffen, ſo 
wie jetzt.“ 


Novellette von Emma Merk. 81 


Er ſah treuherzig zu ihr - 

auf mit warmen, guten | i 
Augen. | 

Der Blick hatte eine ; a. 
ganz ſeltſame Wirkung auf et 

fie. Sie ſchämte ſich, Ä 
ſchämte fich über alle Maßen 
der wilden Schadenfreude, 
in der ſie eben herumgeraſt 


war, ſchämte ſich ihres Neids und ihres Zorns und ihrer Bos— 

heit. Bei dieſem erſten guten Wort, das ihr galt, bei dieſem 

erſten warmen Intereſſe, das ſich ihr zuwendete, fühlte ſie 
1900. III. 6 5 


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82 Die ſchöne Frau. 


erſt, wie wund und arm und vereinſamt ihr Herz war, und 
wie ſchlecht ſie geworden in ihrer Verlaſſenheit, in dieſer grau⸗ 
ſamen Leere um ſie her. Am liebſten hätte ſie die Hände 
vor das Geſicht gedrückt und geweint wie ein Kind. 

Aber ſie mußte ſich ja zuſammennehmen. Ihre Finger 
zitterten und ihr Blick ſchimmerte feucht, als ſie eine hübſche 
Roſenknoſpe aus ihrem Körbchen hervorſuchte und dem Rad⸗ 
fahrer an die Joppe heftete. 

Er faßte in warmer Dankbarkeit ihre Hand und hielt 
ſie feſt. „Dank, Fräulein Marie, innigſten Dank! Ich 
bringe Ihnen Roſen aus meinem Garten, wenn ich wieder⸗ 
komme — ich darf doch recht bald wiederkommen, nicht 
wahr?“ 

Sie nickte wie im Traum. Sie hätte gar nicht zu 
ſprechen vermocht. 

Als ſie wieder in das Speiſezimmer zurückkehrte, zu 
dem flüſternden Brautpaar und zu der ſchmachtenden gnä⸗ 
digen Frau, da war ein ganz verklärter Ausdruck auf ihrem 
Geſicht, als hätte dieſer erſte warme Liebeshauch, der ſie 
geſtreift, im Nu den herben Zug um ihren Mund und 
jede neidiſche Regung aus ihrer Seele fortgezaubert. 


af 


Hm Gardasee. 


Reiseerinnerungen von Tr. Regensberg. 


mit 14 Jilustrationen. ¢ (Nachdruck verboten.) 


ür Reiſende aus Oeſterreich und Deutſchland, die in 

fhönen Herbſttagen auf der Fahrt nach Süden dem 
ſchönen Gardaſee, dem Lacus Benacus der Römer und dem 
„Gartenſee“ (ital.: Lago di Garda) des Mittelalters, einen 
Beſuch abzuſtatten gedenken, kommt in erſter Linie die bei 
Riva am Seegeſtade ausmündende Linie Mori-Arco-Riva in 
Betracht. Dieſe Schmalſpurbahn zweigt ſich auf der Station 
Mori von der Südbahnlinie ab, und wenn unſer von Bozen 
kommender Zug dort einläuft, ſteht der andere ſchon bereit. 

Wir beeilen uns, umzuſteigen, und gleich darauf ver— 
laſſen wir den Ort Mori mit ſeiner rieſigen Moräne und 
den „Lavini di Marco“, den Trümmern eines Bergſturzes 
von 883, die ſchon Dante in ſeiner „Hölle“ beſchreibt. Die 
Bahn erreicht, im Thale ſtetig anſteigend, die Station Loppio 
mit einem Schloß der Grafen v. Caſtelbarco und dem düſteren, 
felſenumſchloſſenen Loppioſee, einem Reſte des alten Bettes 
der Etſch, die ehemals hier floß, um bei Torbole in den 
Gardaſee zu münden, da wo jetzt die Sarca ihre vom Gletſcher— 
waſſer grau gefärbten Fluten einherwälzt. Keuchend ſtrebt 
das Dampfroß aufwärts, bis der höchſte Punkt der Bahn, 
97 Meter über der Station Mori, erreicht iſt, wo eine 
kleine Kapelle auf karſtähnlichen Felſentrümmern die Waſſer— 


84 Um Gardafee. 


ſcheide zwiſchen Gardaſee und Etſch bezeichnet. Auf einem 
Felſenhorn gewahrt der Reiſende bald darauf die Ruinen 


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Wossepieg səp apuspiou seg 


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des alten Schloſſes Penede oder Penedal, ehemals der 
Schlüſſel zu dem Uebergang vom Sarca- ins Etſchthal, und 


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Don fr. Regensberg. 85 


unterhalb 
davon Die 
Häufer der 
maleriſch 
am Rande 
einer 
Schlucht 
gelegenen 
Ortſchaft 
Nago, 
zwiſchen 
denen Cy⸗ 
preſſen 
emporra⸗ 
gen. Nago 
iſt Sta⸗ 
tion, und 
wer ſich an 
einem ge: 
radezu 
einzig ſchö— 
nen Qand: 
ſchaftsbilde 
erfreuen 
will, das 
keiner ver⸗ 
gißt, der 
es einmal 
geſchaut, 
der folge 
unſerem 
Rat und 
verlaſſe in Nago den Zug. Unterhalb des Dorfes führt 
die Straße durch das Thor des Sperrforts Nago, dem 


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Blick auf Nago. 


86 Am Gardafee. 


modernen Erſatz für das alte Kaſtell Penede. Mit dem 
letzten Schritt aus dem Feſtungsthor öffnet ſich eine über⸗ 
raſchend großartige, unbeſchreiblich herrliche Ausſicht über 
den blauen Gardaſee in ſeiner ganzen Ausdehnung bis zu 
den Hügeln von Solferino, auf den Monte Brione vor 
uns und auf das rebengrüne, von hohen Bergen umrahmte 
Sarcathal zu unſerer Rechten. Dieſer Blick iſt ſo impoſant 
und anmutig zu gleicher Zeit, daß ihm im Bereiche des 
Gardaſees, ja im ganzen Lande Tirol kein anderer gleich: 
kommt. 

Wir blicken aus einer Höhe von 300 Meter auf das 
größte Südwaſſerbecken (366 Quadratkilometer Umfang) 
am ſüdlichen Fuße der Alpen hinab. Der See erſcheint 
uns, wie Heinrich Nos treffend bemerkt, durchaus als eine 
„Verkörperung der Vorſtellungen, die ſofort in uns auf— 
tauchen, wenn man von einem am ttaltentfden Abhang 
des Gebirges gelegenen Alpengewäſſer ſpricht. Es iſt hier 
der Steilabfall der Felſen vorhanden, jener Vorſtaffeln hoher 
Berge, auf deren Gipfeln bis in den Hochſommer hinein 
Schnee blinkt. Es fehlen aber auch die Ufergärten mit 
ihren Goldfrüchten nicht, die marmorweißen Landhäuſer, 
die ſchwarzen Cypreſſen, die Inſeln und Halbinſeln, die wie 
große Blumenſträuße auf der Flut ſchwimmen, deren Bläue 
demjenigen nicht zu ſchildern iſt, der ſie nie geſehen hat.“ 

Der Gardaſee, der eine größte Länge von 52 Kilometer 
beſitzt, während ſeine Breite zwiſchen 3 Kilometer (bei Riva) 
und 16 Kilometer wechſelt, liegt gerade auf der Grenze 
von Tirol und Italien in einer dem Etſchthal parallelen, 
nordſüdlich verlaufenden Thalſenkung, öſtlich von dem das 
Etſchthal vom See trennenden, auf der Kuppe meiſt ſchnee— 
bedeckten Monte Baldo (2050 Meter) begrenzt, während auf 
der Weſtſeite die Ausläufer der judikariſchen Alpen ſteil ab— 
ſtürzen. Zu Oeſterreich gehört nur ein kleiner Teil des Sees, 
der weitaus umfaſſendere Reſt zu Italien. Seinen Hauptzufluß 


Von $r. Regensberg. 87 


bildet die bei Torbole mündende Sarca, die nach ihrem Aus: 
tritt aus dem See bei Peschiera an feinem Südoſtende den 
Namen Mincio annimmt. Auf der Weſtſeite ergießen ſich 


in den See die kleinen Gebirgsflüſſe: Ponale, Tignalga 
(Campione), Braſa und Toscolano; am Oſtgeſtade kommen 
viele kleinere Waſſerläufe vom Monte Baldo herab, und endlich 


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88 Am Gardaſee. 


ſteigen aus dem Seegrunde ſelbſt zahlreiche Quellen empor, 
darunter auch einige Schwefelthermen auf der Halbinſel 
Sermione. 

Ungemein maleriſch iſt die Umrahmung der Ufer des 
Gardaſees, und mit immer neuem Entzücken verfolgt das 
Auge den Uebergang von dem ernſten erhabenen Alpen⸗ 
charakter des oberen Teiles zu den in allen Reizen des 
Südens prangenden Hügeln der Mitte und den idylliſchen 
Geſtaden, die gegen die Lombardiſche Ebene hinziehen. Es 
fehlt nicht an Ruinen, Waſſerfällen und Schaumbächen, 
und der See ſelbſt iſt unerſchöpflich an den prachtvollſten 
Farbenſpielen. Es iſt daher recht ſchade, daß die meiſten 
Reiſenden den See gewöhnlich nur wie im Vogelfluge be- 
rühren, das heißt mit einem Dampfer der Gardajee-Dampf: 
ſchiffahrtsgeſellſchaft hinüberfahren, welche die regelmäßige 
Verbindung der Seeorte (zwiſchen Riva und Deſenzano, fo: 
wie Riva und Peschiera, mit Anſchluß an erſtere Linie 
in Gargnano) vermitteln. Es lohnt fih ganz außer: 
ordentlich ein längerer Aufenthalt in einem der intereſſanten 
Städtchen und Oertchen am Ufer, um von dort aus zu 
Fuß oder mittels des Dampfers überaus genußreiche Aus⸗ 
flüge zu machen. | 

Zu einer ſolchen Station eignet fic) gleich ſehr gut 
das von unſerem Standpunkte am Feſtungsthor von Nago 
aus geſehene Torbole, das unmittelbar zu unſeren Füßen 
liegt. Eine ſteil abfallende Straße, auf der die Vene⸗ 
tianer im Dezember 1438 eine Flotte von 6 großen und 
25 kleineren Schiffen von Mori aus nach dem See ſchafften, 
bringt uns in einer Viertelſtunde dorthin. | 

Die Mehrzahl der Reiſenden indeſſen bleibt im Zuge 
ſitzen. Die Bahnlinie ſenkt ſich in ſtarker Neigung nach 
Arco, dem bekannten klimatiſchen Winterkurort, den wir 
nach 50 Minuten Fahrt von Mori erreichen. Nach einer 
ferneren Viertelſtunde iſt der Bahnhof von Riva, einem 


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Gesamtansicht von Nago, Kastell Penede, Fort Nago und Corbole. 


90 Am Gardafee. 


lebhaften Handelsſtädtchen von 5000 Einwohnern an der 
nördlichſten Bucht des Sees, erreicht. Die Schönheit ſeiner 
Lage, namentlich vom See aus, und ſeiner Umgebung 
haben dem dicht 
am Fuß der ſteil 
aufragenden Roc: 
chetta (1517 Meter) 
ſich hinziehenden 
Platze, der zwar 
öſterreichiſch, aber 
ganz italieniſchen 
Charakters iſt, nicht 
nur einen ſtarken 


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Aus Riva. 


Paſſantenverkehr, ſondern auch eine in neueſter Zeit ftets 
wachſende ſtändige Fremdenkolonie verſchafft. Für die 
Unterkunft der Reiſenden iſt durch zum Teil ſehr ſchön ge— 
legene Gaſthöfe geſorgt, unter denen die „Goldene Sonne“ 


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Corbole. 


92 Am Gardaſee. 


(Sole d'oro) mit Terraſſe nach dem See und die „Hotel⸗ 
Penſion du Lac“ vor der Stadt an der Straße nach Tor: 
bole obenan ſtehen. Die kleine, enge Stadt hat eine inter⸗ 
eſſante Geſchichte, an welche verſchiedene Baulichkeiten und 
andere Denkmale der Vergangenheit erinnern, fo zum Bei: 
ſpiel die Rocca, das jetzt als Kaſerne dienende Stadtſchloß, 
der urkundlich ſchon ſeit 1273 bekannte Aponale oder Wart⸗ 
turm u. ſ. w. In der Umgegend von Riva bilden die 
Ponaleſtraße und der Ponalefall, ſowie Varone mit ſeinem 
Waſſerfall die Hauptziele für die Ausflügler. 

Auf der am Hotel du Lac und dem Sperrfort S. Ni⸗ 
colo vorüberziehenden Fahrſtraße erreicht man von Riva 
aus zu Fuß in drei Viertelſtunden das ungemein maleriſch 
am Seeufer gelegene, ſchon oben erwähnte kleine Fiſcher⸗ 
dorf Torbole mit ſeinem berühmten Olivenwalde. Nicht 
minder berühmt iſt die Ausſicht von der Plattform bei der 
über dem Ort auf einem Hügel gelegenen Kirche und von 
der Veranda des Gaſthauſes „Zum Gardaſee“ (Albergo 
Lago di Garda) mit ihren drei Cypreſſen. Hier am Nord⸗ 
ende kann man auch am beſten den Farbenwechſel des Sees 
beobachten, deſſen Flut je nach der Bewegung des Waſſers 
und nach dem Winde, ſowie nach der vorhandenen oder 
mangelnden Bewölkung bald hellgrün, bald braunrot oder 
tiefdunkelblau erſcheint. Grün iſt er beſonders an ſeichten 
Stellen, die Ultramarinfarbe aber tritt zumal an den tiefſten 
Stellen prachtvoll hervor, ſo zum Beiſpiel in der Nähe der 
Finanzwache am Monte Brione. 

Die Torbolaner ſind alle gewandte und verwegene Fiſcher 
und Schiffer, von denen auch nicht wenige den Schleichhandel 
betreiben, namentlich mit Spiritus, der in Italien ſehr hoch 
verzollt iſt und daher im Falle des Gelingens reichen Ge⸗ 
winn bringt. Eine damit beladene Barke, die glücklich über 
die Grenze, gewöhnlich nach Malceſine, gebracht wird, trägt 
gegen hundert Gulden ein. Meiſt wird der Schmuggel bei 


Don Fr. Regensberg. 93 


Nacht in ſtürmiſcher See betrieben, und trotz den guten 
Schiffen der italieniſchen Zollwächter, die mit elektriſchen 
Scheinwerfern die Seefläche ableuchten, kommt es recht 
ſelten vor, daß ſie einen Schwärzer erwiſchen. Einzelne 
von letzteren ſchaffen auch zu Lande auf den ſteilſten 


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Magugnano di Sopra. 


Pfaden, namentlich in Pregaſina, Magugnano di Sopra, 
Thoire, Caprino u. f. w., ihre Waren über die Grenze. 
Entlang dem See geht nämlich beiderſeits keine Straße; 
auf dem Oſtufer beginnt ſie erſt bei Malceſine, auf dem 
weſtlichen bei Gargnano — beides italieniſche Orte. 

Recht anziehend iſt die Beobachtung des Treibens der 
Schiffer und Fiſcher im Hafen von Torbole. Der 


94 Am Gardafee. 


Fiſchreichtum des Sees war ſchon bei den Römern ſprich⸗ 
wörtlich, und ſeine Lachs⸗ und Flußforellen (Saiblinge), 
Hechte, Sardinen, Aale, Karpfen, Barſche, Barben und andere 
bilden noch heute einen bedeutenden Ausfuhrartikel der See⸗ 
anwohner. In neuerer Zeit hat man auch eine Anſtalt 
für künſtliche Fiſchzucht in Torbole errichtet, die alljährlich 
im Frühjahr und Herbſt Hunderttauſende von winzigen 
Forellen, Aalen u. ſ. w. im ruhigſten Teil des Waſſers 
ausſetzt. Den reichſten Fang machen die Fiſcher gewöhnlich 
nach Stürmen, die keineswegs ſelten ſind; trotzdem weiß 
man kaum von Unglücksfällen zu erzählen. Ganz eigen⸗ 
tümlich ſind überhaupt die Winde am Gardaſee. In der 
Morgenfrühe weht meiſt der kühle Nordwind (il Sover), der 
bei regelrechter Witterung bis gegen 10 oder 11 Uhr vor⸗ 
mittags andauert. Dann kräuſeln ſich die Wellen, und nun 
ſetzt die Ora, der Südwind, ein. Dieſer Umſchlag erklärt 
ſich durch die Erwärmung der Luftſchichten: die kalte Luft 
ſtürzt herab von den Bergen, und die erwärmte ſteigt hinauf. 
Für die Segelſchiffahrt und Fiſcherei iſt dieſer Wechſel von 
Vorteil, da er einen faſt regelmäßigen Verkehr geſtattet. 
Von Torbole fährt man gewöhnlich direkt nach dem 
gleichfalls auf der Oſtküſte gelegenen Oertchen Malceſine, 
das an den ſteilen Abhängen des Monte Baldo liegt. Auf 
einem in den See ragenden Baſaltfelſen erhebt ſich ein 
altersgraues Schloß, das von Karl dem Großen herrühren 
ſoll, und deſſen Goethe in ſeiner „Italieniſchen Reiſe“ Er⸗ 
wähnung thut. Der Dichter hatte ſich im Schloßhofe dem 
alten, auf und in den Felſen gebauten Turm gegenübergeſetzt, 
um eine Skizze des Gemäuers aufzunehmen, wobei er faſt 
als vermeintlicher Spion verhaftet worden wäre. Weiter 
auf dem Oſtufer folgt Torri mit ſeinen Brüchen gelben 
Marmors, mit dem unter anderem die Galleria Vittorio 
Emanuele in Mailand gepflaſtert iſt, und Garda, das dem 
einſt zur Grafſchaft Garda gehörigen See den Namen gab, 


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Finanzwache am Monte Brione, 


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96 Am Gardafee. 


überragt von einer durch den jetzigen Beſitzer, den Conte 
Buri, wiederhergeſtellten altlangobardiſchen Burg. 

Zwiſchen Torri und Garda ſpringt als ſüdlichſter Aus: 
läufer des Monte Baldo die Punta di San Vigilio, der 
landſchaftlich ſchönſte Punkt der öſtlichen Uferſeite, in 
den See vor. Ein Spaziergang dorthin, auf dem man 
auch das Fort Vigilio berührt, führt an zahlreichen 
Landſitzen des Veroneſer Adels mit herrlichen Parks vor⸗ 
über und bietet die entzückendſten Seeuferbilder. In der 
Villa Albertini empfing am 10. Juni 1848 Karl Albert 
von Sardinien die Abordnung, welche ihm das Ergebnis 
der in der Lombardei vorgenommenen Volksabſtimmung 
überbrachte, die zu Gunſten der Vereinigung der Lombardei 
mit Piemont ausgefallen war. An demſelben Tage zwangen 
die Oeſterreicher Vicenza zur Uebergabe, und zwei Monate 
ſpäter war das „Schwert Italiens“, wie die italieniſchen 
Patrioten Karl Albert nannten, ein geſchlagener Flüchtling. 
Auf dem Vorgebirge ſelbſt liegt die im 16. Jahrhundert 
nach Plänen von Sanmicheli erbaute Villa Brenzoni, von 
dichten Lorbeergebüſchen und Cypreſſen umgeben. 

Von Garda aus wird vielfach der Aufſtieg nach einem 
der ſüdlichen Hauptgipfel des Baldozuges, der Punta del 
Telegrafo (2200 Meter), unternommen, deren Name daran 
erinnert, daß der erſte Napoleon von dort aus ſeinen in 
der lombardiſchen Ebene operierenden Truppen mit einem 
optiſchen Telegraphen Signale geben ließ. Die Fahrſtraße 
geht über Caprino und Spiazzi bis Ferrara di Montebaldo, 
von wo man noch vier Stunden bis zum Gipfel zu ſteigen 
hat. Die Anſtrengung wird belohnt durch eine großartige 
Ausſicht, die nach Norden die Spitzen des Monte Baldo 
ſelbſt, ſowie die dahinter und ſeitlich von jenen fih er: 
hebende Hochgebirgswelt von Süd⸗ und Mitteltirol umfaßt, 
nach Süden aber weit hinaus auf die italieniſche Ebene 
bis hinüber zu den Apenninen reicht. 


Don Fr. Regensberg. 97 


Das öftliche Seegeftade verliert von Garda aus erheblich 
an Reiz, weshalb wir uns nunmehr dem weſtlichen zuwenden, 


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Fischer in Torbole. 


auf dem von Riva aus Limone die erſte italieniſche Station 
iſt, die der Dampfer anläuft. Der in einer geſchützten Bucht 
1900. IH. 


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98 Am Gardaſee. 


gelegene Ort führt ſeinen Namen von der dort beginnen— 
den Zitronenzucht, denn die Zitrone heißt im Italieniſchen 
limone. Hier werden bereits als erſter Gruß des Landes, 
„wo die Zitronen blüh'n“, die Terraſſen mit Zitronenpflan— 
zungen (Cedraie) auf den Abhängen ſichtbar, die uns längs 
des ganzen Weſtufers bis nach Salò begleiten. Auch die 


Im hafen von Torbole. 


übrige Vegetation iſt eine nahezu ſubtropiſche längs der 
ſogenannten Riviera del Lago, wie man die Gegend 
zwiſchen den Orten Gargnano und Salò nennt, die 
durch eine ſchöne, teilweiſe in den Felſen geſprengte 
Fahrſtraße mit entzückenden Ausblicken auf den See ver— 
bunden ſind. 

Zwiſchen Maderno und Salo liegt Gardone Riviera, 
das in neueſter Zeit wegen ſeines milden Klimas und der 
ſonſtigen, namentlich für Bruſt- und Lungenkranke überaus 
günſtigen Verhältniſſe zu einem Winter- und Frühlingskurort 


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Von Fr. Regensberg. 99 


von hervorragender Bedeutung geworden iſt. Zwiſchen hier 
und dem auf dem Oſtufer gegenüberliegenden Laziſe, deſſen 
impoſante „Dogana“ oder Zollſtätte an der Piazza noch 
aus der Zeit der Venetianerherrſchaft ſtammt, beſitzt der 
See ſeine größte Breite. Im Hintergrunde einer ſchmalen 
und tief eingeſchnittenen Bucht erhebt ſich maleriſch am 
Fuße des Monte Bartolomeo Salò, die lebhafteſte Stadt 
am ganzen See. Hier ſind die größten Getreide- und Obſt— 


Malcesine. 


märkte, und hier kann man 
noch manche ſchöne Trachten 
bewundern, die man in der Lombardei vergebens ſucht. Der 
Ort bildet aber auch den Vereinigungspunkt mehrerer Dampf— 
ſtraßenbahnen, die weit hinauf in die Gebirgsthäler reichen 
und für den Reiſenden ungemein angenehm ſind. Calo 
hat eine intereſſante Geſchichte; am Telegraphengebäude beim 
Hafen fallen die Kanonenkugeln auf, die 1866 von den 
öſterreichiſchen Kriegsſchiffen gegen die Garibaldianer ab— 
geſchoſſen worden ſind. 

Außerhalb der Bucht von Salo taucht ein grünes Eiland, 
die Iſola di Garda, aus dem blauen See auf. Es wird 


100 i Am Gardafee. 


wegen der mangelhaften Dampferverbindung nur wenig be: 
ſucht, obwohl es an die Iſola Bella im Lago Maggiore 
erinnert und neben Sermione die anziehendſte Oertlichkeit 
des ganzen Sees bildet. Das idyllisch ſchöne, 1½ Kilometer 
lange und 800 Meter breite Eiland hat bereits in früh— 
römiſcher Zeit prächtige Bauten, Tempel- und Gartenanlagen 
getragen; es gehört ſeit 1895 dem Fürſten Borgheſe. 
Sermione iſt das Sirmio des römiſchen Dichters Ca— 
tullus, der dies herrliche Fleckchen Erde in begeiſterten 
Verſen beſungen hat. Der Ort liegt auf der gleichnamigen, 


Fort Vigilio, 


vom Südufer des Sees als ſchmale Landzunge weit vor— 
ſpringenden Halbinſel. Das Ufer iſt hier zu ſeicht, um den 
Dampfern ein unmittelbares Anlegen zu geſtatten, weshalb 
jedesmal ein Boot von dort herankommt, um Paſſagiere 
und Gepäck in Empfang zu nehmen. Schon von weitem 
fällt das Städtchen auf durch das trutzig mit Türmen und 
Zinnenmauern emporragende Kaſtell, ein Schloß der Scaliger 
aus dem 13. Jahrhundert, vor dem aber bereits eine Feſte 
dort geſtanden hat, da Sirmio fdon unter den Römern 
eine wichtige Station an der Straße nach Gallien war. 
Von beſonderem Intereſſe ſind die ſogenannten Grotten 
des Catull, anſcheinend Ueberreſte eines römiſchen Bades an 
der Nordſpitze der Halbinſel, ein Labyrinth von Bogengängen 
und Galerien, die vielleicht aus dem Anfange des 4. Jahr— 


Don Fr. Regensberg. 101 


hunderts unſerer Zeit: 
rechnung ſtammen. Mög⸗ 
licherweiſe hat die Er— 
richtung dieſer Bauten 
im Zuſammenhange ge— 
ſtanden mit den heißen 
und gasreichen Schwefel— 
quellen, die vielleicht 
urſprünglich auf der 
Halbinſel ſelbſt zu Tage 
traten, während ſie jetzt 
mitten im See, etwa 
300 Meter vomöſtlichen 
Ufer, mit ziemlicher Hef- 
tigkeitemporſteigen. Man 
hat neuerdings ein Rohr 
in die 18 Meter unter 
dem Waſſerſpiegel ent— 
ſpringende Hauptquelle 
geſetzt, um das äußerſt 
heilkräftige Schwefel— 
waſſer zu gewinnen, 
deſſen größter Teil lei— 
der unbenutzt in den See 
läuft. Man geht frei— 
lich längſt mit dem Plane 
der Herſtellung einer 
entſprechenden Leitung 
und Errichtung eines 
Schwefelbades in Ser— 
mione um, der aber 
bisher an der zu hohen 
Forderung des italienischen Staates 1 dem die 
Quellen gehören. 


Lazise, 


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Am Gardaſee. 


Die merkwürdige 
Erſcheinung dieſer hei— 
ßen Sprudel mitten im 
See bringt die jüngſten 
vulkaniſchen Vorgänge 
am Monte Baldo in 
Erinnerung. Dieſer iſt 
von jeher der Mittel— 
punkt von Erderſchütte⸗ 
rungen geweſen, die 
am Oſtufer des Sees 
ſchon ſo manche Ver— 

wüſtung angerichtet 
haben, ſo 1810 und in 
den ſechziger Jahren. 
Daß der Berg auch heute 
noch nicht zur Ruhe ge— 
kommen iſt, kündete 
dumpfes Rollen aus 
ſeinem Inneren im 
März 1899 drohend an. 
Am 24. März wuchs 
die kleine Iſola Tri— 
mellone um 30 Centi— 
meter aus den Fluten 
heraus, und ebenſo 
konnte bei Maleeſine 
eine Hebung des Ufers 
feſtgeſtellt werden. In 
der Einſattelung zwi— 
ſchen dem Monte Al— 
tiffimo auf dem Baldo 


und der Varagna bildeten ſich Felsſpalten, denen weiß— 
licher Rauch entquoll, und bei dem Dorfe Trichi trat 


Don Fr. Regensberg. 103 


eine bittere Thermalquelle zu Tage. In manchen Orten 
des Sarcathales iſt eine alte Prophezeiung von dem der: 
einſtigen Wiederausbruch eines feuerſpeienden Berges leben⸗ 
dig, mit dem der Baldo gemeint iſt. 

Letzte Dampferſtation am weſtlichen Südufer des Sees 
ift der auf römiſcher Grundlage ruhende Flecken Defen: 
zano mit einem einſt berühmten und noch heute lebhaft be- 
ſuchten Dienstagsmarkt, zu dem von Riva und Peschiera 
(über Maderno) beſondere Marktdampfer den Verkehr ver— 
mitteln. Wem es um einen ſchönen Abſchiedsblick auf den 
Gardaſee zu thun iſt, der begebe ſich auf den Altan des 
Gaſthauſes „Zu den zwei Tauben“ (Due Colombe) in 
Deſenzano, um das entzückende Bild noch einmal recht in 
ſich aufzunehmen, bevor ihn die Eiſenbahn weiter in das 
italieniſche Land hineinträgt. 


* 


Der Tombsengel. # „ e s 


Kriminalnovelle von Harry Sheff. 


Er 


(Machdruck verboten.) 
1. 

er herrlichſte Sonnenſchein lag über Long Island, jener 

langgeſtreckten, durch Naturſchönheit und Fruchtbar⸗ 
keit ausgezeichneten Inſel, welche nur durch einen ſchmalen 
Meeresarm von New Pork getrennt und ſübdlich wie öſtlich 
vom Atlantiſchen Ozean beſpült wird. 

Ueber die Turnpike, eine der großen Verkehrsſtraßen, 
welche das Eiland durchſchneiden, ſchritt ein junger, hoch— 
gewachſener Mann. Frei und mutig blickten ſeine hellen 
braunen Augen, ſeine ſonſt wohl ein wenig blaſſen Wangen 
hatten durch die Wanderung ſo nahe der Küſte, von welcher 
eine friſche Seebriſe herüberwehte, den Hauch einer zarten 
Röte empfangen, welche vortrefflich zu ſeinem blonden, unter 
dem breiten Strohhut lockig hervorquellenden Haupthaar 
paßte, und aus jeder ſeiner Bewegungen ſprach jugendliche 
Kraft und Entſchloſſenheit. 

Diejenigen freilich, welche ihm auf feinem Wege be: 
gegneten, wußten, auch ohne hervorragende Menſchenkenner 
zu ſein, ſofort, daß dieſer junge Mann ein „Greenhorn“, 
das heißt ein kürzlich erſt in Amerika Gelandeter, und 
ſpeziell ein Deutſcher ſein müſſe. Sein höflicher Gruß, 


Kriminalnovelle von Harry Sheff. 105 


bei welchem er niemals das Haupt zu entblößen verfehlte, 
und nicht zum mindeſten ſein grauer Anzug, der ſicherlich 
nicht aus der Werkſtatt eines amerikaniſchen Bekleidungs— 
künſtlers hervorgegangen war, bewieſen das eine wie das 
andere. 

In der That befand ſich Franz Schneider noch keine 
volle zwei Tage im Lande der Yankees. Geſtern morgen 
erſt war er mit einem Dampfer der Hamburger Linie in 
Hoboken eingetroffen, hatte als Paſſagier zweiter Kajüte 
ohne Weiterungen landen dürfen und war in einem be— 
ſcheidenen Gaſthauſe in New Pork eingekehrt. Da er unter: 
wegs ziemlich ſtark von der Seekrankheit gelitten, ſo hatte 
er den erſten Tag dazu benutzt, ſich gründlich auszuruhen. 
Am nächſten Morgen aber ſchon machte er ſich frühzeitig 
auf, den Hauptzweck ſeiner amerikaniſchen Reiſe zu er— 
füllen, zum mindeſten das ernſte, er durfte in ſeinem Fall 
ſogar ſagen das „heilige“ Geſchäft, welches ihn bewogen, die 
Heimat zu verlaſſen und die Fahrt über den Ozean an— 
zutreten, in Angriff zu nehmen. 

Und während der junge Deutſche nun das meerumfloſſene 
Long Island durchkreuzte, während er an den ſchmucken, 
hell angeſtrichenen Holzhäuſern mit ihren wohlgepflegten 
Gärten, den Farmen mit ihren weit ausgedehnten Feldern 
und Wieſen vorübereilte, wandten ſich ſeine geiſtigen Blicke 
rückwärts zur Heimat und weilten bei einem geliebten Bilde, 
welches ſeine Seele erfüllte, und das mit dieſer Reiſe in 
das fremde, ihm ſo ganz unbekannte Land aufs innigſte 
zuſammenhing. 

Wilde gelbe Kanarienvögel begleiteten ihn auf ſeinem 
Weg und ſchwangen ſich zwitſchernd von der Silberpappel 
zum wilden Kirſchenbaum hinüber, rotbrüſtige Amſeln ſpran— 
gen vor ihm her, und der Katzenvogel ließ aus dem Buſch, 
dem ſpärlichen Reſt, den die Axt des Pioniers der Zivili— 
ſation von der Wirrnis des Urwalds hier übrig gelaſſen, 


106 Der Tombsengel. 


feinen miauenden Ruf ertönen, große, in den herrlichſten 
Farben ſchillernde Schmetterlinge gaukelten über endlos 
ſcheinende Erdbeerpflanzungen dahin, die Tomatenfelder 
prangten im Schmuck der gelben Blüte, und der Mais hob 
ſeine ſchmalen grünen Büſchel fußhoch über das Erdreich 
empor. 

Der Wanderer ſah in dieſem Augenblick nichts von alle⸗ 
dem — ernſt, ja düſter ſogar waren ſeine Blicke geworden, 
denn er dachte daran, daß ſich, vielleicht vor Ablauf einer 
Stunde noch, eine für ſein und ein anderes ihm teures Leben 
überaus wichtige Entſcheidung vollziehen werde. 

War er doch nach Amerika gekommen, um einen treu⸗ 
loſen, pflichtvergeſſenen Vater und Gatten zu ſeiner Pflicht 
anzuhalten, von ihm Rechenſchaft zu fordern, daß er einſt 
herzlos und kaltblütig zwei Menſchenleben in den Schatten 
des Elends und der Verlaſſenheit gedrängt und — dieſes 
erſchien dem Jüngling als der bedeutſamſte Teil ſeiner 
Miſſion — Verſöhnung und Liebe zu bringen, wenn das 
Herz jenes egoiſtiſchen Mannes beſſeren Gefühlen überhaupt 
noch zugänglich war. 

Es war eine traurige Familiengeſchichte, welche am 
geiſtigen Auge Franz Schneiders vorüberzog. Vor fünf— 
undzwanzig Jahren hatte in Dresden das Verſchwinden 
des Bauunternehmers Alfred Schneider, eines Mannes, 
den man allgemein für reich und achtbar gehalten, das 
größte Aufſehen erregt. Kurz zuvor erſt hatte Schneider 
ein hübſches, liebenswürdiges Mädchen aus beſter Familie 
als Gattin heimgeführt, und der anſcheinend glücklichen 
Ehe war ein Knabe entſproſſen. Der erſte Geburtstag 
des kleinen Franz war noch durch eine prächtige Geſell— 
ſchaft gefeiert worden, aber zwei Tage ſpäter war Schneider 
flüchtig geworden, und hinter ihm brach ſein ganzes Ge— 
ſchäft, welches man für ſolid und feſt fundiert erachtet hatte, 
in Trümmer zuſammen. Schneider war bankerott, und 


Kriminalnovelle von Harry Sheff. 107 


nicht ein Pfennig blieb für die von ihm zurückgelaſſene 
Frau und das Kind übrig. Das war wohl ſchlimm genug, 
doch bei weitem nicht ſo niederdrückend und traurig für 
die arme Frau als die fih nur zu bald herausſtellende Ge: 
wißheit, daß Schneider nicht allein gegangen war. 

In ſeiner Begleitung befand ſich eine in Dresden wohl⸗ 
bekannte Operettenſängerin, ein ſchönes, reizvolles Weib, 
deſſen galante Abenteuer der ſächſiſchen Reſidenz oft genug 
Stoff für pikanten Klatſch geliefert hatten. Man rühmte 
ihr zwar auch große Herzensgüte und einen ausgeprägten 
Wohlthätigkeitsſinn nach, aber ſelbſt ihre beſten Freunde 
und Gönner mußten ihren bodenloſen Leichtſinn zugeſtehen, 
durch welchen nunmehr die ſchöne, begabte Künſtlerin ihre 
Carriere ruiniert und das ſchärfſte Verdammungsurteil auf 
ſich gezogen hatte. 

Das ſaubere Paar blieb trotz eifriger Nachforſchungen 
ſeitens der Verwandten der Frau Schneider wie vom Erd— 
boden verſchwunden; gewiſſe Anzeichen deuteten zwar darauf 
hin, daß ſich Schneider und ſeine Begleiterin nach Amerika 
gewandt hätten, doch trotzdem der deutſche Generalkonſul 
in New Pork ſich für den Fall intereſſierte und umfang: 
reiche Recherchen anſtellte, war ihr Aufenthalt doch nicht zu 
ermitteln geweſen. i 

Frau Schneider fügte ſich mit ſtiller Reſignation in ihr 
Schickſal. Sie erwarb durch feinere Handarbeiten den Lebens: 
unterhalt für ſich und ihr Kind, und als ihr nach einigen 
Jahren ein kleines Kapital durch Erbſchaft zufiel, war ſie 
der ſchwerſten materiellen Sorgen wenigſtens überhoben. 
Aber das ihr angethane Herzeleid ließ ſie frühzeitig altern 
und machte ſie unempfänglich für die Freuden des Lebens. 
Nur der Erziehung ihres Knaben gab fie fih mit glüd- 
erfüllter Aufopferung hin, und Franz enttäuſchte das Mutter⸗ 
herz in keiner Beziehung. Körperlich und geiſtig vortrefflich 
entwickelt, wurde er ein guter, dankbarer Sohn und ein 


108 Der Tombsengel. 


— 


tüchtiger, brauchbarer Menſch. Er abſolvierte das Gym⸗ 
naſium und wurde dann, da er entſchiedene Begabung für 
Malerei und Zeichnen bewieſen, Lithograph — ein Künſtler 
in ſeinem Fach. 

So lebten Mutter und Sohn in inniger Harmonie und 
ſtiller Zufriedenheit, bis eines Tages Frau Schneider durch 
den Beſuch eines alten Freundes ihrer Familie überraſcht 
wurde, welcher lange Jahre in Amerika gelebt hatte und 
ſoeben nach Deutſchland zurückgekehrt war, um ſeine alten 
Tage in Europa zu beſchließen. 

Dieſer Mann brachte Mutter und Sohn eine ſie im 
höchſten Grade erregende Nachricht. Der treuloſe Gatte 
und Vater, den ſie bereits tot gewähnt, lebte! Der Ueber⸗ 
bringer dieſer Kunde hatte ihn ſelbſt in New Vork geſehen 
und geſprochen. Er ſei alt und grau, ein einſilbiger, mür: 
riſcher, unfreundlicher Menſch geworden. Seinen deutſchen 
Namen Schneider habe er in die engliſche Ueberſetzung des⸗ 
ſelben Taylor umgewandelt. Der Gewährsmann hatte nicht 
ohne Schwierigkeit ermittelt, daß der frühere Dresdener 
Bauunternehmer im Laufe der Zeit ein reicher Mann ge⸗ 
worden ſei. Sein Vermögen werde auf mehrere hundert— 
tauſend Dollars geſchätzt, von denen er ſelbſt jedoch nicht 
den geringſten Genuß habe, ebenſowenig wie irgend ein 
anderer. Denn Taylor ſei als Geizhals und Sonderling 
verſchrieen. Er habe fih von der Welt faſt ganz zurück⸗ 
gezogen und hauſe einſam und gemieden auf einer kleinen 
Farm auf Long Island, die er nur verlaſſe, wenn unauf— 
ſchiebbare Geſchäfte ihn nach New Pork riefen. Sein ein: 
ziges Beſtreben und ſein ausſchließliches Vergnügen beſtehe 
darin, ſein Vermögen immer noch zu vergrößern und dem 
Dollar nachzujagen, ein Unternehmen, in welchem er be— 
züglich der Wahl ſeiner Mittel nicht ſehr gewiſſenhaft ſein 
ſollte. f 

Dieſe Nachricht raubte der kleinen Familie den Frieden. 


Kriminalnovelle von Harry Sheff. 109 


Die Mutter vergoß heiße Thränen in dem Gedanken, 
daß der Mann, den ſie einſt über alles geliebt, einſam und 
unglücklich ſei, daß er vielleicht im geheimen von Reue 
und Gewiſſensqualen gefoltert werde und nur nicht wage, 
zu Frau und Kind zurückzukehren, weil er befürchten müſſe, 
ſtolz und rauh abgewieſen zu werden, und der Sohn litt, 
da er die geliebte Mutter ruhelos und ſchmerzverloren ſah. 

Von jetzt an ſprachen ſie faſt an jedem Abend über 
den Vater — ſie gaben dem Pflichtvergeſſenen dieſen Namen 
wieder —, die Mutter erzählte von den zwei glücklichen 
Jahren ihrer Ehe und ſuchte ſorgfältig alles heraus, was 
den Abtrünnigen entſchuldigen, was ihn in der Meinung 
des Sohnes erhöhen konnte. Gewiß, jene niedrige Perſon, 
mit welcher er auf und davon gegangen war, hatte ihn 
verführt, hatte ihn in einer ſchwachen Stunde zur Flucht 
überredet, dann hatte ſie ihn drüben in Amerika verlaſſen, 
und nun war er einſam und unglücklich — trotz des Neid): 
tums, den er ſich erworben. 

Nun, Mutter und Sohn dachten mit keinem Gedanken 
daran, daß die Kenntnis des Aufenthaltes ihres Gatten 
und Vaters für ſie von materiellem Vorteil ſein könne, 
ſie berechneten nicht, ſie hofften nicht, ſie erwarteten nichts. 
Wozu auch? Sie beſaßen und erwarben ja genug, ihnen 
fehlte nur die Liebe deſſen, der verpflichtet geweſen wäre, 
ſie ihnen für das ganze Leben zu geben. 

Und eines Tages ſprachen ſie es beide aus, was ſie 
beide längſt heimlich beſchäftigt hatte. 

Franz ſollte nach Amerika reiſen, ſeinen Vater auf⸗ 
ſuchen, ihm Verſöhnung bringen! — Wer von ihnen zuerſt 
den Vorſchlag ausgeſprochen, dieſem geheimen Gedanken 
Worte geliehen, das wußten ſie ſelbſt ſpäter nicht zu ſagen. 
Der Plan war geboren, mit Thränen und Seufzen ſeitens 
Frau Schneiders wurde er großgezogen, und eines Tages be- 
fand ſich Franz an Bord eines Schnelldampfers und hielt die 


110 Der Tombsengel. 


weinende Mutter, welche ihm bis Hamburg das Geleit ge: 
geben, zärtlich tröſtend in ſeinen Armen. 

„Bring ihm Verſöhnung — denk, daß er unglücklicher 
geworden iſt als ich — geh nicht mit ihm ins Gericht, er 
iſt dein Vater — das vergiß nie — niemals! Und dich, 
mein guter, geliebter Sohn, ſchütze Gott auf dem weiten 
Meere und im fernen Land!“ 

Das waren die letzten Worte, welche Franz von den 
Lippen ſeiner Mutter vernahm, ehe ſie mit den vielen an⸗ 
deren Abſchiednehmenden vom Schiffe ging und das Läuten 
der Glocke, der ſchrille Ton der Dampfpfeife und das 
Lärmen und Treiben an Bord den herben Schmerzen: 
ausbruch der einſamen Frau übertönten. 


Der junge Lithograph hatte einen Seitenweg eingeſchla⸗ 
gen, der zur Küſte hinabführte. Vorübergehende hatten 
ihm auf ſein Befragen die Auskunft gegeben, daß der „alte 
Taylor“ dort unten ſein Haus habe. Der „alte“ Taylor? 
Franz rechnete aus, daß der Vater das fünfundfünfzigſte 
Lebensjahr noch nicht vollendet haben könne, und die Leute 
nannte ihn ſchon „alt“? Sonderbar! Aber Einſamkeit und 
Enttäuſchung machen vorzeitig alt. — 

Unwillkürlich beflügelten ſich jetzt die Schritte des jungen 
Mannes, ſein Herz pochte ſtürmiſch, und erregungsvolle Er— 
wartung ließ ihn kaum Atem holen. Vor ihm, vom Buſch— 
werk halb verborgen, tauchte ein verwahrloſtes Haus auf. 
Wie alle amerikaniſchen Landhäuſer war es aus Holz er— 
baut und mit Schindeln gedeckt, doch, während die anderen 
Gebäude, an denen er vorübergekommen war, ſauber, ge— 
pflegt und einladend ausgeſehen, ſchien dieſes einſtöckige 
Haus ſeit langen Jahren nicht von einer ausbeſſernden 
Hand berührt worden zu ſein. 

Es fröſtelte Franz bei dem Gedanken, daß hier ein 
Menſch ſein halbes Leben habe zubringen können, es war 


Kriminalnovelle von Harry Sheff. 111 


ein gar trauriges Heim, und nur die Nähe des Meeres, 
welches ſilberglänzend kaum dreihundert Schritte weit ent: 
fernt lag, verſöhnte einigermaßen mit dem düſteren, un⸗ 
freundlichen Anblick. 

Durch die in roſtigen Angeln hängende Thür eines 
morſchen Fichtenholzzaunes trat Franz auf den Vorplatz 
und näherte fih dem Haufe. Aber ehe er dasſelbe er: 
reichte, fuhr heulend und kläffend ein Köter auf ihn zu. 
Zum Glück lag der Hund an der Kette und mußte es 
dabei bewenden laſſen, ſeine Wut in ohnmächtigem Bellen 
zu erſchöpfen. Franz ſchritt furchtlos der Thür zu, doch ehe 
er an dieſelbe anpochen konnte, wurde ſie von innen ge⸗ 
öffnet. Der junge Mann ſchrak zuſammen, und tiefe Bläſſe 
überzog ſein Antlitz. Wußte er doch, daß er vor ſeinem 
Vater ſtehe. 

Sein Vater! War dieſer alte, grauhaarige Mann mit 
dem gelben, eingefallenen, von Falten und Furchen ver: 
wüſteten Geſicht, den ſtechenden grauen Augen und den 
ſchmalen, blutleeren Lippen, um welche die zitternde Furcht 
und die Heimtücke eines Geizhalſes lauerten, wirklich ſein 
Vater, deſſen Bild er als das eines ſtattlichen, ſogar ſchönen 
Mannes kannte? War dieſer bäuerlich gekleidete Bewohner 
des einſamen, vernachläſſigten Hauſes, der auf einen Stock ge— 
ſtützt unbeweglich im Rahmen der Thür ſtand und feinen un: 
erwarteten Beſucher mit unverhohlenem Mißtrauen und Un⸗ 
willen anſtarrte, wirklich derſelbe Alfred Schneider, den ſeine 
früheren Freunde und Bekannten als einen formvollendeten, 
eleganten und lebensluſtigen Geſellſchafter ſchilderten? 

Franz gab ſich, während die beiden Männer ſchweigend 
eine Minute lang einander gegenüberſtanden, der Hoffnung 
hin, ſich im Hauſe und in der Perſon geirrt zu haben. 

„Verzeihung, mein Herr,“ ſagte er den Hut lüftend, 
„ich fürchte, Sie umſonſt geſtört zu haben — ich ſuche Miſter 
Taylor.“ 


112 Der Tombsengel. 


„Der bin ich,“ verſetzte der Alte rauh, „was kann ich 
für Sie thun, Sir?“ 

„Sie ſind's — alſo — wirklich?“ fuhr Franz mit leiſe 
erzitternder Stimme fort, „dann alſo auch Alfred Schneider, 
der vor fünfundzwanzig Jahren als Bauunternehmer in 
Dresden lebte, deſſen Frau Eliſabeth —“ 

Der junge Mann brach plötzlich mitten in ſeiner Rede 
ab, die Worte, die er noch hatte ſagen wollen, blieben ihm 
in der Kehle ſtecken, und er empfand gleichzeitig einen 
körperlichen Schmerz am Herzen. 

Es ſchien ihm auch völlig überflüſſig, weitere Fragen 
zu ſtellen, er wußte, was er wiſſen wollte: dieſer un⸗ 
ſympathiſche Alte mit dem Aeußeren eines Geizhalſes und 
den Manieren eines verwahrloſten Bauern — war ſein 
Vater! Das blitzſchnelle Zurückfahren des Alten, der kurze, 
heiſere, unartikulierte Laut, der ſich ſeinen Lippen ent⸗ 
rungen, als Franz ihm ſeinen wahren Namen und ſeine 
Herkunft genannt — dieſe Aeußerung der Beſtürzung und 
eines auf dieſe Ueberraſchung nicht gefaßten Gewiſſens 
waren dem jungen Manne Beweis genug. 

Der Alte hatte ſich ſchnell gefaßt. „Sie irren,“ rief 
er, indem er ſich einige Schritte zurückzog, „mein Name 
iſt Taylor — die ganze Gegend kennt mich — ich habe 
mit dem Manne, den Sie ſuchen, nichts zu ſchaffen.“ 

„Das iſt nicht wahr,“ rief Franz mit großer Beſtimmt⸗ 
heit, „du biſt Alfred Schneider ſo ſicher und wahr, wie ich 
dein Sohn Franz bin!“ 

Der bartloſe Alte riß die Augen weit auf, und ſeine 
Lippen gingen für einen kurzen Augenblick auseinander, 
ſo daß die gelben ungepflegten Zähne zum Vorſchein kamen, 
der Stock in ſeiner Hand geriet in zitternde Bewegung 
und ſchlug mehrmals auf den Fußboden auf. 

„Und nun, Vater,“ rief der junge Mann, „nun bitte 
ich dich, gieb jede Verſtellung auf, verleugne nicht länger 


Kriminalnovelle von Harry Sheff. 113 


den ſchönſten, heiligften Namen, den ein Menſch von eines 
anderen Lippen hören kann! — Ich bringe dir Liebe und 
Verſöhnung, ich bringe dir die Grüße der Mutter. Ihr 
edles Herz will vergeſſen und vergeben, und es wird dich 
nur ein Wort koſten, und du kannſt die Tage deines Alters 
im Kreiſe der Deinen zubringen, du kannſt dieſer entſetzlichen 
Einſamkeit entfliehen und unter fühlenden, ehrlich für dich 
empfindenden Menſchen glücklich ſein.“ 

In heißer Wallung, in tiefer Ergriffenheit hatte Franz 
geſprochen und war dabei, ohne es zu wollen, dem Vater 
viel weiter entgegengekommen, als er es urſprünglich be- 
abſichtigt hatte. War es doch ſein Vorſatz geweſen, dem 
Manne, der ſo ſchwer an der Mutter und ihm ſelbſt ge⸗ 
ſündigt, die Brücke nicht ſo ſchnell zu bauen und ihm das 
erlöſende Wort „Vergebung“ nicht allzu ungeſtüm zu über⸗ 
bringen. Nun hatte er zum mindeſten erwartet, die Hand 
des Vaters der ſeinen entgegengeſtreckt zu ſehen, von den 
Lippen des Alten ein Echo ſeines eigenen warmen Tones 
zu vernehmen. 

Er wurde grauſam enttäuſcht. 

Ein kurzes höhniſches Lachen klang an ſein Ohr. „Well, 
ihr ſeid ſmart genug! Habt gewiß drüben gehört, daß ich 
ein paar Dollars gemacht habe. Wollt lachende Erben 
werden — wie? Oder gar bei Lebzeiten ſchon ziehen? 
He?“ 

Franz trat einen Schritt zurück, und dunkle Röte über⸗ 
zog ſein Antlitz. „Vater,“ ſchrie er, „Vater, das iſt der 
Empfang, den du deinem Sohne bereiteſt?“ 

„Sohn? Ich weiß von keinem Sohn. Unſinn! Bin 
ich nicht fünfundzwanzig Jahre ohne euch fertig geworden? 
Jeder für ſich ſelbſt. Ich habe mich geplagt und auf— 
gebraucht in dieſem Lande. Und was ich mir erarbeitet 
habe, ſoll ich jetzt mit Leuten, die mir ganz fremd geworden 
ſind, teilen? Ha, ha — das kann ſich nur ein Greenhorn 

1900. III . 8 


114 Der Tombsengel. 


einbilden. Aber ſelbſt wenn ich wollte — ich habe nicht 
viel — ich habe kein Vermögen — kaum, was ich brauche — 
ich muß darben, ich muß jeden Cent in meiner Hand drei: 
mal herumdrehen, ehe ich ihn ausgebe. — Ein Lügner, 
ſage ich, ein Lügner iſt der Mann, welcher behauptet hat, 
ich ſei reich — ich werde ihm ins Geſicht ſpeien — pfui — 
dem verdammten Lügner!“ 

Und der Alte, der während ſeiner in wahnſinniger Er⸗ 
regung hervorgeſtoßenen Worte am ganzen Leibe gezittert 
hatte, ſpie ſeinen Kautabak in weitem Bogen von ſich. 

Franz ſenkte traurig das Haupt — er wußte jetzt, daß 
er die weite Reiſe über das Meer vergeblich unternommen. 
Nicht einmal über die Schwelle des väterlichen Hauſes 
durfte er treten, und nach dem, was er gehört, hatte er 
nicht einmal mehr Luſt dazu. Mit dieſem Manne, der, 
vom Wahnſinn des Geizes beherrſcht, nicht mehr mit dem 
dünnſten Fädchen an ſeine Vergangenheit und ſeine Pflichten 
geknüpft war, der beim erſten Anblick ſeines Sohnes, 
ſeines eigenen Fleiſches und Blutes, nichts anderes em- 
pfand als die Angſt, um einige hundert oder tauſend 
Dollars erleichtert zu werden — mit dieſem hatte er nichts 
gemein. 

„Arme Mutter,“ murmelte er, „wie erſpare ich dir nun 
den Gram dieſer neuen Enttäuſchung?“ 

Den Alten aber ſchien plötzlich ein neuer, ihm fürd)ter: 
licher Gedanke erfaßt zu haben. „Ihr wollt mich vielleicht 
verklagen?“ ſtieß er hervor, und ſeine Züge verzerrten ſich, 
als ſpräche er zu ſeinem ärgſten Feinde. „Wollt mich zur 
Zahlung zwingen — wollt entſchädigt ſein? Macht euch 
und mir keine Advokatenkoſten, das rate ich euch. Ich 
werde Einwände erheben — ich werde behaupten, daß 
nicht ich der Schuldige war damals, als ich von Dresden 
fortging. Ja, ja — die Frau war der ſchuldige Teil, ihre 
Untreue trieb mich fort — ich war der Betrogene, ich —“ 


Kriminalnovelle von Harry Sheff. 115 


„Elender, du wagſt es noch, meine Mutter zu be⸗ 
ſchimpfen!“ l 

Seiner Sinne nicht mehr mächtig, hatte fih Franz auf 
den Alten geworfen, der, auf diefe raſche That nicht ge: 
faßt, beim erſten Anprall in die Kniee zuſammenbrach. 
Mit eiſernem Griff hatte der junge Mann ihn an den 
Schultern gefaßt, und eine Sekunde hatte es den Anſchein, 
als wolle er ihn zu Boden ſchlagen. 

Aber als habe er etwas Unreines angefaßt, ſtieß Franz 
den Beleidiger feiner Mutter von fic) und trat beiſeite. 
„Nein, ich will meine Hand nicht an dich legen,“ rief er 
von Schmerz und Zorn übermannt, „ich will mich nicht 
beflecken, obwohl ich Sie von dieſem Augenblick an als 
einen Fremden betrachte und eigentlich die Verpflichtung 
zu erfüllen hätte, den meiner Mutter angethanen Schimpf 
zu rächen. Aber ich nehme zu meinem und Ihrem Glück 
an, daß ich es mit einem Wahnſinnigen zu thun habe. 
Denn wären Sie im Beſitz Ihres Verſtandes, ſo gäbe es 
unter Gottes Sonne keinen elenderen, verabſcheuungs⸗ 
werteren Menſchen als Sie, und meine Mutter und ich, 
wir müßten täglich dem Allmächtigen auf den Knieen 
danken, daß er uns von einem ſolchen Menſchen rechtzeitig 
befreit hat. Und nun mögen Sie ruhig und ohne Be: 
ſorgnis ſein: Ihr Geld iſt ſicher, niemand ſtreckt die Hand 
nach einem Dollar aus, an welchem der Fluch, Ihr Eigen⸗ 
tum geweſen zu ſein, haftet. Scharren Sie zuſammen, 
häufen Sie Kapital auf Kapital und ſterben Sie einſam 
und verlaſſen — ein Mann, dem niemand eine Thräne 
nachweint!“ 

„Na, dem alten Filz weint gewiß keiner eine Thräne 
nach,“ rief eine helle Stimme in deutſcher Sprache hinter 
Franz, der in feiner unbeſchreiblichen Erregung nicht wahr: 
genommen hatte, daß die unerquickliche Scene zwiſchen 
ſeinem Vater und ihm Zuſchauer erhalten. 


116 Der Tombsengel. 


Als er fih umſchaute, fah er drei ſonderbare Geſtalten 
vor ſich ſtehen. 

Es waren drei Männer in zerriſſenen, ſchmutzigen und 
ohne Wahl zuſammengeſtellten Kleidern, ſie trugen Stiefeln, 
welche ſo manches Loch und manchen Riß aufwieſen, und 
ihre Köpfe hatten lange kein Scher- und Raſiermeſſer ge⸗ 
ſehen. Sie gehörten jener weitverbreiteten Species von 
Menſchenkindern an, welche nirgends und doch überall zu 
Hauſe ſind, die überall ihren gedeckten Tiſch finden, wo 
es entweder gutmütige Menſchen oder reichbehangene Objt- 
bäume giebt, die man in Deutſchland Vagabunden, in 
Amerika aber Tramps nennt. 

„Hallo, junger Mann,“ rief der deutſch ſprechende 
Tramp dem Lithographen zu, „Ihr ſcheint einen ernſtlichen 
Streit mit dem alten Taylor zu haben. Wünſcht Ihr 
vielleicht, daß meine Kollegen und ich dem ſchuftigen 
Geizhals einmal ordentlich die Jacke verhauen? Könnte 
zu ermäßigtem Preiſe und mit außerordentlicher Gründlich— 
keit geſchehen. Hier, meine Freunde Iriſh-Bill und der 
lange Kalifornier würden ſich ſogar ein Vergnügen daraus 
machen, dem herzloſen Schuft, von dem noch kein Armer 
einen roten Cent geſehen hat, eine tüchtige Lektion zu 
geben.“ 

Franz zog ſeine Börſe und händigte dem Sprecher 
einen halben Dollar ein. „Da nehmt, Landsmann,“ ſagte 
er, „und thut mir den Gefallen und geht weiter. Was 
ich mit dieſem Manne abzumachen habe, dazu bedarf ich 
keines Zeugen. Wandert weiter und — mit Glück!“ 

Der Tramp, ein noch junger Mann, der noch nicht 
allzulange der würdigen Zunft der „fahrenden Ritter“ an: 
gehören mochte, betrachtete mit ehrlichem Erſtaunen das 
empfangene Geld. „Ein halber Dollar?“ rief er freudig 
aus. „Gentleman, Ihr ſeid zu großmütig für dieſes Land, 
folgt meinem Rat und werdet hart — nicht ſo hart und 


Kriminalnovelle von Harry Sheff. 117 


erbarmungslos wie der da, aber haltet Eure Cents hübſch 
zuſammen, alldieweil hundert einen Dollar ausmachen. Thut 
Ihr das nicht, ſo kann es Euch leicht ſo ergehen wie dem 
„Kölſchen Jungen“, Kaſpar Drill, der wie Ihr mit Geld 
in der Taſche in dieſes Country gekommen iſt und der jetzt 
— auf einer großen Inſpektionstour durch die Vereinigten 
Staaten begriffen iſt. Na, Ihr verſteht doch, und nichts 
für ungut!“ 

„Ihr ſcheint beſſere Tage geſehen zu haben,“ verſetzte 
Franz Schneider, „vielleicht kann ich etwas für Euch thun. Hier 
iſt meine Karte, ich logiere in New York im Hotel Grütli: 
wenn Sie wollen und können, ſuchen Sie mich dort auf.“ 

Der Tramp betrachtete die Viſitenkarte ſchmunzelnd von 
allen Seiten. „Schade, ich habe meine Karten zu Hauſe 
auf dem Toilettentiſch liegen laſſen,“ ſagte er humorvoll, 
„alſo ich heiße, wie bereits bemerkt, Kaſpar Drill und 
bin oder beſſer geſagt war, als ich noch nicht Philoſoph und 
Weltenbummler, ſondern nur Arbeiter war, Schriftſetzer — 
Schwarzkünſtler, wenn Sie wollen. Im übrigen werde ich 
ſo frei ſein, Sie im Grütli zu beſuchen. Bis dahin leben 
Sie wohl und nehmen Sie ſich vor dem alten Hals: 
abſchneider da in acht!“ 

Der Tramp winkte ſeinen Genoſſen, zeigte ihnen 
triumphierend das erhaltene Geldſtück, und wenige Minuten 
ſpäter waren die drei tragikomiſchen Geſtalten des Kölſchen 
Jungen, Iriſh-Bills und des langen Kaliforniers im Buſch 
verſchwunden. Franz trat noch einmal an den Alten heran 
und betrachtete ihn mit traurigen, wehmütigen Blicken. 

„Haben Sie mir wirklich nichts zu ſagen?“ fragte er 
weich. „Gar nichts?“ 

Taylor hatte ſich auf die Treppe vor ſeinem Hauſe nieder⸗ 
gelaffen und zeichnete mit feinem Stock Kreiſe in den Sand. 
Man merkte es ihm an, daß ſeine Gedanken in heftiger 
Arbeit begriffen waren. 


118 Der Tombsengel. 


„Nichts,“ erwiderte er endlich auf die Frage feines 
Sohnes. 

Dieſer wandte ſich zum Gehen, doch hielt er noch einmal 
inne. „Meine Mutter erzählte mir oft,“ ſagte er, „daß 
Sie bei Ihrer Flucht ein Wertſtück mitnahmen, welches 
von ihr und unſerer ganzen Familie ſchmerzlich vermißt 
wurde. Es war eine goldene Uhr, die der Mutter Vater, 
der alte Schiffskapitän Heller, von der Königin von Eng: 
land erhielt, weil er während eines furchtbaren Sturmes 
acht ihrer Unterthanen rettete. Sollten Sie dieſe Uhr 
vielleicht noch im Beſitz haben?“ 

Taylor nickte. 

„Nun wohl,“ fuhr Franz fort, „ich bin erbötig, Ihnen 
einen angemeſſenen Preis dafür zu zahlen, würden Sie 
mir die Uhr meines Großvaters verkaufen?“ 

Der Alte überlegte einige Sekunden, dann erhob er ſich 
und verſchwand im Hauſe. Als er nach einigen Minuten 
zurückkehrte, hielt er eine große goldene Uhr in der Hand. 
„Da,“ ſagte er, indem er ſie dem Jüngling reichte, „nimm 
ſie für deine Mutter — ſie iſt ihr Eigentum — ich will 
nichts von ihr haben und behalten — ſie könnte es gegen 
mich verwenden und nun — ich habe keine Zeit — good 
bye, Sir!“ 

Die Thür fiel hinter dem Alten ins Schloß und Franz 
ſtand allein, die teure, wiedererlangte Reliquie feiner Familie 
in der Hand. 

Es war ihm ein peinliches Gefühl, dieſelbe ohne Ent— 
gelt annehmen zu ſollen, und ſo pochte er noch einmal an 
die Thür. Aber es wurde nicht mehr aufgethan. 

Langſam wandte er dem Hauſe ſeines Vaters den 
Rücken. 

Ohne ſich ſelbſt über ſeinen Weg Rechenſchaft zu geben, 
lenkte er ſeine Schritte zur Küſte hinab. Das gewaltige, 
unendliche, das brauſende Meer übte auf ihn in ſeinem 


Kriminalnovelle von Harry Sheff. 119 


tiefen Schmerz eine eigentümliche Anziehungskraft aus. Er 
achtete nicht darauf, daß er, um zum Waſſer zu gelangen, 
über ſumpfigen, mit hohem Gras bewachſenen Grund, der 
unter ſeinen Füßen nachzugeben ſchien, hinwegſchreiten 
mußte; die Blicke ſtarr auf die grenzenloſe Wellenfläche 
gerichtet, eilte er vorwärts. Und als er den unmittelbaren 
Strand erreicht hatte, ſetzte er ſich erſchöpft auf ein um⸗ 
geſtürztes Boot. 

Er ſchlug die Hände vor das Geſicht, und heiße Thränen 
quollen zwiſchen ſeinen Fingern hervor. 

Erſt das Rauſchen ſeidener Gewänder, welches plötzlich 
in ſeiner unmittelbaren Nähe erklang, entriß ihn ſeinem 
regungsloſen Hinbrüten. Er ſchaute auf und ſah nur wenige 
Schritte von ſich entfernt eine hohe Frauengeſtalt vorüber⸗ 
ſchreiten. 

Es war eine elegante, ſtolze Erſcheinung. Das Ge⸗ 
ſicht vermochte er nicht mehr zu ſehen, da die Dame ſchon 
an ihm vorübergegangen war, doch drang der Duft eines 
eigenartigen Parfüms zu ihm und umwehte ihn einige 
Sekunden lang. Die Dame ſchien nicht mehr jung zu ſein, 
graublonde Löckchen ſtahlen ſich in ihren Nacken hinab, aber 
ihre Figur ließ an Formvollendung nichts zu wünſchen 
übrig, und auch ihr Schritt, mit welchem ſie ſich über den 
trügeriſchen Grund fortbewegte, war ſicher und elaſtiſch. 

Offenbar war die Fremde auf der eleganten Segeljacht 
ſoeben gelandet, welche ſich am Strande auf den Wellen 
ſchaukelte. Ein alter Neger bediente das Fahrzeug und 
raffte behend die Segel ein. 

Franz erhob ſich, um ſich langſam zu entfernen. 

Als er nach wenigen Minuten an der Dame vorüber⸗ 
ging, zog er ehrerbietig ſeinen Hut. 

Sie dankte ihm mit abgewendetem Geſicht. 


120 Der Tombsengel. 


2 


Am nächſten Morgen ſchlief Franz Schneider länger, als 
er ſonſt pflegte. Die Ereigniſſe des vergangenen Tages, 
welche ihn tief erſchüttert hatten, raubten ihm während des 
größten Teiles der Nacht die Ruhe, und gegen vier Uhr 
war er ſogar von ſeinem Lager aufgeſprungen, hatte das 
Fenſter weit geöffnet und über eine Stunde in den langſam 
heraufdämmernden Morgen hinausgeſchaut. 

Er war nervös, ſeine Phantaſie arbeitete unabläſſig, und 
der gleichgültigſte Umſtand gewann für ihn Bedeutung. 

Die Greenwich⸗Street war auch während der Nacht un⸗ 
unterbrochen belebt, auf dem Teil derſelben, auf welchem 
Franz im Grütlihotel wohnte, war faſt jedes Haus ein Gait: 
hof, und des Ein- und Ausfliegens von Nachtſchwärmern, 
zu⸗ und abreiſenden Paſſagieren war kein Ende. Die Keller⸗ 
räumlichkeiten dieſer Häuſer wurden überdies noch von 
Agenturen jeder Art und Stellenvermittelungsbureaus ein⸗ 
genommen, und kaum wurde es hell, ſo ſammelten ſich vor 
den Thüren der letzteren zahlreiche Männer an, welche ent: 
weder als Farmknechte ins Innere geſchickt zu werden 
wünſchten oder deren heißerſehntes Ziel es war, auf einem 
Ochſentransportſchiff ſich nach Europa „hinüberarbeiten“ zu 
dürfen. Sie hatten das Wunderland Amerika genügend 
kennen gelernt, um nur den einen Wunſch noch zu hegen, 
den der ſchleſiſche Dichter Karl v. Holtei in die ſchlichten, 
rührenden Worte gekleidet hat: „Suſte niſcht — ad heem!” *) 

Franz beobachtete eine Weile das Leben und Treiben 
des nächtlichen New Yorks, deſſen durch verdächtiges Ge: 
ſindel aller Nationen herbeigeführte Skandalſcenen ihn 
anwiderten, und er wollte ſich ſoeben vom Fenſter zurück⸗ 
ziehen, als die Erſcheinung eines Mannes ihm auffiel, der 


*) Sonſt nichts — nur heim! 


Kriminalnovelle von Harry Sheff. 121 


ſchon eine geraume Zeit unaufhörlich und unermüdlich unter 
ſeinem Fenſter auf und nieder ging. Seine erregte Phan⸗ 
taſie ſpiegelte ihm ſogar vor, daß dieſer Mann im dunklen 
Anzug und einem kleinen grauen Hut auf dem Kopf von 
Zeit zu Zeit zu ihm emporſchaue, dann ſeine Uhr konſul⸗ 
tiere und ſich verſtohlen Notizen mittels Bleiſtift auf ſeine 
Manſchetten mache. 

Faſt eine Stunde lang beobachtete Franz das ſonder⸗ 
bare Treiben dieſes Menſchen, dann veranlaßte ihn doch 
das Schlafbedürfnis, ſich auf ſein Lager zurückzuziehen, und 
trotzdem die Hochbahn in kurzen Zwiſchenräumen mit ihrem 
puſtenden, rollenden, klappernden Lärm ſeinen Schlummer 
bedrohte, erwachte der junge Deutſche erſt, als die Sonne 
ſchon ziemlich hoch am Himmel ſtand. Schnell kleidete er 
ſich an und begab ſich nach dem Speiſeſaal, der auch als 
Schenkzimmer diente. Er war offenbar der letzte Gaſt, der 
für heute zum Frühſtück erſchien, denn an der langen ge— 
deckten Tafel war niemand zu ſehen, und auch ſonſt ſtanden 
nur an der Bar zwei Herren, die, einen kühlen Mild: 
punſch ſchlürfend, ſich mit dem Kellner in engliſcher Sprache 
über gleichgültige Dinge unterhielten. 

Es erregte Franz, ohne daß er ſich ſelbſt Rechenſchaft 
darüber ablegen konnte, ein unbehagliches Gefühl, daß er 
in einem dieſer Herren den nächtlichen Spaziergänger er— 
kannte, der ihm gegen Morgen durch ſeine Wanderungen 
vor der Thür des Hotels aufgefallen war. Doch was 
kümmerte ihn im Grunde jener Menſch, mochte er thun 
und treiben, was er wollte, ihm war er ja gänzlich fremd. 

Franz beſtellte ſein Frühſtück, verzehrte es und zündete 
ſich dann eine Zigarre an. Nachdenklich blies er den Rauch 
derſelben vor ſich hin, er dachte darüber nach, wie er der 
armen Mutter, die ein ganz anderes Reſultat ſeiner Reiſe 
erwartete, die niederſchmetternde Nachricht vom Verhalten 
des Vaters beibringen ſolle. Am beſten ſchien es ihm, ihr 


122 Der Tombsengel. 


erft perſönlich die ganze Wahrheit zu jagen, diefelbe nicht 
einem Briefe anzuvertrauen, und dazu war e3 notwendig, 
daß er bald möglichſt die Rückreiſe antrat. Das fremde, 
ſo viel des Intereſſanten bietende Land war ihm gründ⸗ 
lich verleidet, und er empfand eine förmliche Sehnſucht, 
ihm wieder zu entfliehen. Nun, dazu bot ſich ihm ja jeden 
Tag Gelegenheit, auf einem Schiff der deutſchen, engliſchen 
oder amerikaniſchen Linien die Rückfahrt zu bewerkſtelligen. 

„Sie ſind Franz Schneider aus Dresden — nicht wahr?“ 

Der junge Mann blickte betroffen auf, als er ſeinen 
Namen nennen hörte. Die beiden Herren, die eben noch 
vor der Bar geplaudert hatten, ſtanden jetzt vor ihm, und 
der eine von ihnen hatte dieſe Frage an ihn gerichtet. 

„Gewiß — ich heiße Franz Schneider. Was wünſchen 
Sie von mir?“ | 

„Wir find Detektive des Polizeihauptquartiers. Sie 
ſind unſer Gefangener!“ 

Franz ſprang auf. Beſtürzung, Schreck, Unglaube und 
die Ueberzeugung, daß es ſich nur um einen Irrtum dieſer 
Leute handeln könne, drückten ſich gleichzeitig auf ſeinem 
erblaſſenden Antlitz aus. 

„Sie täuſchen ſich ohne Zweifel in der Perſon,“ ſtieß 
er hervor; „ich befinde mich erſt ſeit zwei Tagen im Lande 
und habe in meinem ganzen Leben noch nichts gethan, was 
mich mit dem Geſetz in Konflikt gebracht hätte — meine 
Papiere ſind in Ordnung, wünſchen Sie vielleicht meinen 
Paß zu ſehen?“ 

Statt einer Antwort bemächtigten ſich die Detektives 
der Hände des jungen Deutſchen, und im nächſten Augen⸗ 
blicke waren ſeine Handgelenke mittels einer feinen Stahl⸗ 
kette zuſammengefeſſelt. 

„Ich proteſtiere gegen dieſen Gewaltakt,“ ſchrie Schneider. 
„Der Konſul wird Rechenſchaft für dieſe unwürdige Be: 
handlung eines deutſchen Unterthanen verlangen. Man 


Kriminalnovelle von Harry Sheff. 123 


fefjelt mich wie einen Verbrecher und fagt mir nicht einmal, 
wefjen man mich beſchuldigt —“ 

„Wenn Sie zu wünſchen wiſſen, auf Grund welcher 
Anklage Ihre Verhaftung erfolgt,“ antwortete der Detektive, 
„ſo will ich es Ihnen mitteilen. Hier iſt der vom Richter 
ausgeſtellte Verhaftsbefehl. Sie ſtehen im Verdacht, einen 
Mord begangen zu haben.“ 

Franz ſank auf einen Stuhl zurück. „Einen Mord?“ 
ſtöhnte er. „Ich — ſoll — einen Menſchen gemordet 
haben?“ 

Und der Unglückliche begann laut zu lachen, während 
ihm heiße Thränen aus den Augen ſchoſſen. 

„Spielen Sie keine Komödie!“ herrſchte ihn der Beamte 
an, „es iſt ſo gut wie bewieſen, daß Sie den alten Taylor 
auf Long Island ermordet haben. Es ſind bereits Zeugen 
da, welche gegen Sie auftreten werden, und wenn wir nicht 
noch gewiſſe Nachrichten hätten abwarten wollen, ſo wären 
wir ſchon um Mitternacht in der Lage geweſen, Sie zu 
verhaften. — Kommen Sie!“ 

Aber Franz war nicht im ſtande, ſich zu erheben, er 
zitterte am ganzen Leibe, und große Schweißtropfen perlten 
von ſeiner Stirn. „Der Vater tot?“ ſtöhnte er. „Er⸗ 
mordet? O mein Gott, hätte er mich nicht zurückgewieſen, 
hätte er mich, ſeinen Sohn, nicht ſchroff zurückgeſtoßen — 
das Fürchterliche hätte nie und nimmer geſchehen können!“ 
Das Gaſtzimmer hatte ſich indeſſen mit Neugierigen 
gefüllt, auch der Verwalter des Hotels, der vorher von der 
bevorſtehenden Verhaftung benachrichtigt worden war, war 
herbeigeeilt. Er war ein intelligenter, liebenswürdiger 
Mann von deutſcher Abkunft. Er ſchüttelte den Kopf und 
muſterte Franz mit aufrichtiger Teilnahme. 

„Junger Mann,“ ſagte er, „Sie ſehen gewiß nicht aus 
wie ein Mörder und noch dazu ein Vatermörder. Nehmen 
Sie meinen Rat an und laſſen Sie es Ihre erſte Sorge 


124 Der Tombsengel. 


fein, fic) einen tüchtigen Anwalt zu verſchaffen. Ihr Fall 
ſcheint verzweifelt ernſt zu fein.” 

„Aber ich bin ja unſchuldig wie das Licht der Sonne 
dort oben an der verruchten That,“ rief Franz. 

„Das werden Sie beweiſen müſſen. Amerikaniſches 
Recht ift vom deutſchen himmelweit verſchieden. Die Polizei 
ſtellt die Theorie auf, daß Sie der Mörder ſind, und an 
Ihnen iſt es, dieſelbe zu erſchüttern und umzuſtürzen. Dazu 
aber bedürfen Sie eines geſchickten Anwalts.“ 

Der Detektive bedeutete dem Hotelier, daß er eine 
weitere Unterhaltung nicht geſtatten werde. Der von ſeinem 
Kameraden herbeigerufene Polizeiwagen fuhr vor, und 
Schneider mußte denſelben beſteigen. Man trug noch ſeinen 
Koffer und ſonſtige kleinere Effekten hinein, und fort ging 
es im ſcharfen Trab zum nächſten Polizeigericht. 

Die Vorgänge, welche ſich jetzt abſpielten, erſchienen 
Franz wie ein böſer Traum. Er wurde vor einen Richter 
geführt, welcher ihn kaum zu Worte kommen ließ. Er er⸗ 
klärte dem unglücklichen jungen Mann in geſchäftsmäßigem 
Tone, daß die Polizei ihn des an Taylor verübten Mordes 
für ſchuldig erachte, und daß er, der Richter, ihn in Ver— 
wahrſam halten müſſe, bis eine Coronersjury entſchieden 
habe, ob er auf die vorliegenden Beweiſe hin den Ge— 
ſchworenen zur Aburteilung zu überweiſen ſei oder nicht. 

Franz wiederholte bald in tiefem Schmerz, bald in 
dumpfem Zorn ſein beſtändiges „Ich bin ja aber unſchuldig“. 
Der Richter zuckte die Achſeln und befahl, ihn in die Zelle 
abzuführen. 

Als jedoch die Beamten Hand an ihn legen wollten, 
um ihn, da er zu gehen zögerte, gewaltſam aus dem Ge— 
richtsſaal zu entfernen, brach der junge Mann in einen 
Wutausbruch aus. 

„Ich will freigelaſſen werden,“ ſchrie er, „auf der Stelle 
will ich frei ſein. Ich bin ein Deutſcher — kein Ameri— 


Kriminalnovelle von Harry Sheff. 125 


kaner hat ein Recht, Hand an mich zu legen. Das nennt 
ihr Gerechtigkeit — das ſind eure Geſetze? Sagt mir doch 
wenigſtens, welche Beweiſe ihr gegen mich habt — ich 
fordere ein Verhör — ich will den Konſul — — —“ 

Ein Fauſtſchlag ins Geſicht ließ ihn verſtummen, dann 
trieb man ihn mit Stößen ins Genick vorwärts, aus dem 
Saal heraus über eine ſchmale eiſerne Brücke — und er 
befand ſich im Polizeigefängnis. Man nahm ihm die Feſſeln 
ab und ſperrte ihn in eine Zelle ein. 

Sie glich einem Raubtierkäfig. Acht Fuß lang und 
fünf Fuß breit, alſo nicht viel geräumiger als auf deutſchen 
Friedhöfen Gräber gegraben werden, beſaß ſie keine Fenſter, 
ſondern empfing ihr Licht von einem breiten Korridor aus 
durch die eiſernen Gitterſtäbe, welche die Thür der Zelle 
bildeten. Mit Ausnahme einer erbärmlichen Lagerſtatt war 
kein Möbelſtück in dieſem eines ae unwürdigen Raum 
zu erblicken. 

Franz warf fidh auf das Bett nieder, er war dem Wahn: 
ſinn nahe und zweifelte ſelbſt daran, ob dies nicht alles 
ein wüſtes Bild ſeines plötzlich erkrankten Gehirns ſei. Er 
wünſchte ſogar, es wäre ſo, und er befände ſich ſtatt in 
einem Gefängnis in der vergitterten Zelle eines Irren— 
hauſes. 

Mörder! Vatermörder! Unter dem Verdacht, das furcht— 
barſte Verbrechen begangen zu haben, mit welchem Menſchen⸗ 
hände ſich beflecken können — eingeſperrt wie ein wildes 
Tier — gefeſſelt — geſtoßen — geſchlagen — geſchändet — 
ja geſchändet, er, der noch niemals die Schmach einer Züchti— 
gung erfahren, ſelbſt als Knabe nicht — und geſtern noch 
ein freier Mann, der in ſeinem Vaterlande in ſeinem engen 
Kreis geehrt, geachtet, geliebt worden war! 

O verflucht der Augenblick, in welchem er den Entſchluß 
zu dieſer Reiſe gefaßt, verflucht dieſes Land, in welchem ſo 
erbarmungslos, ſo geringſchätzig mit eines Mannes Ehre 


126 Der Tombsengel. 


umgegangen wird — hätte er es nie betreten, niemals die 
Mutter — — — 

Die Mutter! Sie würde ſterben, wenn ſie erfahren 
würde, was man ihrem Sohne, zu dem ſie mit Stolz 
emporzublicken gewöhnt war, angethan. 

Vielleicht zum Glück für ihn ſelbſt wurde Franz ſehr 
bald aus ſeinem bohrenden, herzzerreißenden Nachdenken 
aufgeſchreckt. In raſcher Aufeinanderfolge erſchienen eine 
Anzahl Advokaten vor ſeiner Zelle und boten ihm ihre 
Dienſte für ſeinen Prozeß an. Die Unterhandlungen dieſer 
Herren wurden durch die Gitterſtäbe der Zelle mit dem 
Gefangenen geführt. 

Auch hierbei lernte der junge Deutſche eine Eigentüm⸗ 
lichkeit des amerikaniſchen Lebens kennen. Die New Yorfer 
„Lawyers“ übertrafen den geriebenſten, an Vorſchlagen und 
Ablaſſen gewöhnten Roßkamm an Geſchäftsgewandtheit. Zu 
wahren „Schleuderpreiſen“ offerierten ſie ihre Rechtshilfe. 

„Haben Sie Geld?“ lautete faſt ohne Ausnahme ihre 
erſte Frage. „Wenn Sie nicht bar zahlen können, nehme 
ich auch Pretioſen. Sie tragen da einen ſchönen Brillant⸗ 
ring, der würde mir für den Anfang genügen — verlaſſen 
Sie ſich darauf, ich fire die Sache für Sie, ich habe Ein: 
fluß, obwohl der Fall ziemlich ſchwer iſt — der Coroner 
iſt mit mir in derſelben politiſchen Vereinigung, er wird 
keine Beweiſe finden, Sie den Großgeſchworenen zu über⸗ 
weiſen.“ 

„Ich bin unſchuldig — ich ſchwöre Ihnen, Herr, ich bin 
unſchuldig.“ 

Der kleine Lawyer mit dem kurzgeſchorenen rotblonden 
Haupthaar, auf welchem der Cylinderhut ſchaukelte, dem 
eleganten hellen Anzug und dem haſelnußgroßen Brillant⸗ 
knopf im Hemd lächelte überlegen. 

„Unſchuldig? Ganz gut — ich glaube es Ihnen ganz 
gern, vielleicht findet ſich auch ein Geſchworener, der dieſe 


Kriminalnovelle von Harry Sheff. 127 


günftige Meinung faßt, aber im übrigen thut es nicht viel 
zur Sache. Es hat ſchon mancher den elektriſchen Stuhl 
beſteigen müſſen, der unſchuldig war. Und weshalb? Sein 
Anwalt taugte nichts, hatte das Geſchäft nicht von der 
richtigen Seite angepackt. Wenn Sie Geld haben, läßt ſich 
alles machen. Für Geld bekommt man vortreffliche Ent⸗ 
laſtungszeugen, wohlwollende Geſchworene, für Geld ver: 
ſchwinden in dieſem Lande Akten, für Geld kauft man 
wunderhübſche ärztliche Gutachten über erbliche Belaſtung 
durch Geiſteskrankheit — das wäre übrigens etwas für 
Sie — ich habe mich über die Wutſcene, die Sie dem 
Richter ſo brillant vorſpielten, herzlich gefreut. Das war 
ein guter Anfang für die Wahnſinnstheorie — ſehr ſmart, 
ſehr talentvoll — alſo, wie geſagt, ſpenden Sie Geld und 
übergeben Sie mir Ihren Prozeß, es iſt das geſcheiteſte, 
was Sie thun können.“ 

Der kleine Lawyer wollte Franz mit dem Schluß ſeiner 
Auseinanderſetzung ſeine Geſchäftskarte durch die Stäbe 
reichen, aber Franz wies dieſelbe mit einer entſchiedenen 
Handbewegung zurück. 

„Geben Sie ſich keine Mühe, Herr,“ ſagte er, jetzt voll⸗ 
kommen gefaßt, „erſchwindeln will ich mir meine Freiheit 
oder mein Leben nicht. Ich bin unſchuldig, und dieſes 
Bewußtſein wird mich ſicherer und ſchneller zum Ziele 
führen als alle Ihre Geſchäftskniffe. Ich wünſche mit 
dieſen wie mit Ihnen und Ihresgleichen nichts zu thun zu 
haben.“ 

„Greenhorn!“ murmelte der kleine Lawyer, ſchob ſeinen 
Cylinder feſter in die Denkerſtirn hinein und wandte ſich 
achſelzuckend ab. 

„Bravo!“ rief in dieſem Augenblick eine helle Männer⸗ 
ſtimme, „haſt recht, Franz Schneider, daß du dich mit den 
„Ferkelſtechern“ nicht abgiebſt. Ja, ſo nennen wir New 
Yorker dieſe Sorte von Advokaten, welche die Unerfahrenen 


128 Der Tombsengel. 


nach allen Regeln der Kunſt abſchlachten, und deren es 
leider ſo viele giebt, daß man die wenigen anſtändigen 
Elemente mit der Laterne ſuchen kann. Gieb mir die Hand, 
alter Junge — du biſt ebenſowenig ein Mörder, wie ich 
Präſident der Vereinigten Staaten!“ 

Beim Klang dieſer Stimme, die in gutem Deutſch jene 
Worte mit herzlicher Wärme rief, war Franz zuerſt zu- 
ſammengefahren, aber diesmal war es ein freudiges Er⸗ 
ſchrecken, welches die Züge des unglücklichen Gefangenen 
mit einem Schimmer der Hoffnung verklärte. Seine Blicke 
hingen mit Entzücken an einer hohen, kraftvollen Männer⸗ 
geſtalt, die ſich an die Gitterſtäbe ſeiner Zelle herandrängte 
und ſeine beiden Hände ergriff. 

„Ja, ſtaune nur,“ rief der braunbärtige Fremde, „du 
ſiehſt keinen Geiſt — ich bin es wirklich und wahrhaftig — 
na, du erkennſt mich doch noch?“ 

„Edmund Schlieben! — Edmund — mein Jugend⸗ 
freund — mein —“ 

„Ja, dein Freund,“ nahm der elegant gekleidete junge 
Mann das Wort, als Franz Schneiders Stimme in Thränen 
erſtickte. „Dein Freund, der die glücklichen Jugendjahre 
nicht vergeſſen hat, die er mit dir zuſammen verlebte. Weißt 
du noch, mein Junge, wie wir auf dem Kreuzgymnaſium 
in unſerem alten lieben Dresden die Schulbank zuſammen 
drückten? Ach wie viele lateiniſche und deutſche Aufſätze 
find aus deinem Kopf in mein Heft gewandert! Unzählige: 
mal haſt du mich aus der Tinte gezogen und jetzt — jetzt 
hoffe ich dir ein Gleiches thun zu können.“ 

„Edmund — man hält mich hier gegen alles Recht ge⸗ 
fangen. Du weißt, daß ich keiner niedrigen That fähig bin — 
und nun ſoll ich gar ein Mörder — ein Vatermörder ſein.“ 

„Ja, in dieſem herrlichen Lande kann man ſchnell zu 
den ſeltenſten Situationen gelangen. Aber nur Mut, mein 
Junge — wir arbeiten dich ſchon wieder heraus.“ 


Kriminalnovelle von Harry Sheff. 129 


„O, jetzt hoffe ich wieder, feit ich dich in meiner Nähe 
weiß. Aber ich hatte ja keine Ahnung, daß du in New 
York lebſt. Du warſt doch nach Petersburg als Jn: 
genieur gegangen.“ 

„Man wird eben, wie du ſiehſt, in der Welt herum⸗ 
geſchleudert gerade wie ein Blatt Papier im Winde. Mein 
Petersburger Haus hat mich vor fünf Jahren ſchon nach 
Amerika geſchickt, weil wir hier gewiſſe Maſchinenteile billiger 
fabrizieren können. Ich leite dieſes amerikaniſche Unter⸗ 
nehmen und bin dabei ſchon ein halber Yankee geworden. 
Uebrigens, meine Schweſter Gertrud iſt hier und führt 
mir haus, ein prächtiges Frauenzimmerchen — du er⸗ 
innerſt dich doch noch ihrer? Ihr waret ja immer gute 
Freunde.“ 

Für einen Moment flammte helle Röte auf den Wangen 
des Gefangenen auf, und ſeine Augen leuchteten. 

„Ob ich mich erinnere!“ erwiderte er, „wie hätte ich 
eine ſo liebe Freundin vergeſſen können!“ 

„Well — du wirſt ſie hoffentlich bald wiederſehen. 
Wenn wir dich nur erſt aus dieſem verwünſchten Loch 
heraus haben.“ 

„Wie haſt du denn überhaupt von meinem Unglücke 
Kenntnis erlangt?“ 

„Durch die Zeitungen, mein Junge. Die Morgenblätter 
ſind ja voll von der ſchrecklichen Geſchichte. Als ich ſie 
las, begegnete ich plötzlich dem Namen Franz Schneider 
aus Dresden, der als der mutmaßliche Mörder des alten 
Geizhalſes noch während der Nacht in Haft genommen 
werden ſollte. „Das iſt unſer Franz Schneider,“ rief ich 
meiner Schweſter zu, „ich erinnere mich, daß ſein Vater 
einſt nach Amerika verſchwunden iſt — aber er — Franz 
ein Mörder? Das iſt einfach lächerlich.“ Wie ich noch ſo 
ſpreche, fängt das Mädel, die Gertrud, an zu weinen und 
beſchwört mich, alles aufzubieten, um dich zu u Es 

1900. II. 


130 Der Tombsengel. 


hätte natürlich gar nicht erft ihrer Thränen bedurft, um 
mich auf die Beine zu bringen.“ 

„Alſo die Zeitungen brachten heute morgen ſchon die 
Kunde von der Ermordung meines Vaters?“ rief Franz. 
„Könnteſt du mir nicht eines der Blätter verſchaffen, damit 
ich doch wenigſtens auf dieſem Wege erfahre, welche Be⸗ 
weiſe man gegen mich zu haben glaubt.“ 

„Man hat mir die Zeitungen fortgenommen,“ ant⸗ 
wortete Edmund Schlieben, „ehe man mich zu dir ließ, 
was übrigens nur durch einen echt amerikaniſchen Hände⸗ 
druck ermöglicht wurde. Aber ich kann dir ja ſagen, um 
was es ſich handelt. Geſtern abend um ſieben Uhr etwa 
wollten zwei Geſchäftsleute aus Brooklyn den alten Taylor 
in ſeinem Hauſe auf Long Island aufſuchen. Sie waren 
im Buggy herausgefahren und klopften an die Thür. Aber 
ſie erhielten keinen Einlaßruf. Dagegen vernahmen ſie ein 
leiſes Stöhnen und dumpfes Röcheln. Sie verſuchten die 
Thür zu öffnen, was ihnen auch ohne jede Schwierigkeit 
gelang, denn ſie war nicht verſchloſſen. Als ſie eintraten, 
bot ſich ihnen ein furchtbares Bild, welches ſelbſt die kalt— 
blütigen Amerikaner entſetzte. In ſeiner düſteren Stube 
lag Taylor in den letzten Zügen. Er ſchwamm in einer 
Blutlache, und neben ihm lag ein ſpitzes und ſcharfes Brot⸗ 
meſſer, mit welchem die Mordthat ausgeführt worden war.“ 

„Entſetzlich!“ unterbrach Franz den Bericht ſeines 
Freundes. 

„Die beiden Brooklyner,“ fuhr Schlieben fort, „trugen 
den Sterbenden auf ſein Bett und verſuchten die Blutung 
aus der Bruſtwunde zu ſtillen. Doch ſchon nach wenigen 
Minuten gab der Alte unter ihren Händen ſeinen Geiſt 
auf. Leider erwachte er vorher noch einmal aus ſeiner 
Bewußtloſigkeit und hatte die Kraft, einige Worte, die 
letzten für ihn, hervorzuſtoßen.“ 

„Leider — ſagſt du?“ 


Kriminalnovelle von Harry Sheff. 131 


„Ich wiederhole: leider! Denn diefe Worte find es 
hauptſächlich, welche deine Verhaftung herbeiführten. Der 
Alte richtete ſich mit äußerſter Kraftanſtrengung auf und 
preßte mühſam hervor: „Alles — mein Sohn Franz — 
Schneider — — —“ So erzählen die beiden Geſchäfts⸗ 
leute, und die Polizei glaubt, daß der Ermordete damit 
ſagen wollte: Alles, was geſchehen, hat mein Sohn Franz 
Schneider gethan.“ 

„Welch ein verhängnisvoller Irrtum!“ rief der Ge⸗ 
fangene, „aber mir iſt es noch ganz unerklärlich, wie die 
Polizei mich ſo ſchnell ausfindig machen konnte.“ 

„Ich werde es dir ſogleich erklären. Natürlich wurde 
ſofort der Sheriff benachrichtigt, er kam mit dem Richter 
und dem Konſtabler, und dieſe Beamten ſtellten feſt, daß 
kein Raubmord vorliege. Nichts von dem Eigentum Taylors 
war angetaſtet, nichts durchſucht oder in Unordnung ge: 
bracht. In dem Strohſack, auf welchem der Geizhals zu 
ſchlafen pflegte, fanden ſich zehntauſend Dollars unberührt 
vor, obwohl es dem Mörder ein leichtes geweſen wäre, die 
Scheine dort zu finden. Auch verſchiedene Bankbücher, 
Aktien und Obligationen wurden in den Winkeln des Hauſes 
ohne Mühe entdeckt. Man ſah daher ſogleich von der 
Theorie ab, daß der Alte ſeines Geldes wegen erſtochen 
worden ſei, ſondern neigte ſich der Anſicht zu, Taylor ſei 
mit einer Perſon, die ihn beſucht habe, in Streit geraten 
und von dieſer niedergeſtreckt worden. Wer aber war dieſer 
geheimnisvolle Beſucher geweſen? Ein Zufall ſollte der 
Polizei ſchon wenige Stunden ſpäter die Antwort geben. 
Wie immer in ſolchen Fällen veranſtaltete man ohne Ver⸗ 
zug eine Razzia auf alle Tramps, die ſich während der 
letzten vierundzwanzig Stunden in der Gegend gezeigt 
hatten. Die Beute war ſehr reich, eine Menge von den 
Kerlen fiel der Polizei in die. Hände. Unter anderen auch 
ein dreiblätteriges Kleeblatt — Iriſh Bill, der lange Kali— 


132 Der Tombsengel. 


fornier und der Kölſche Junge genannt. Natürlich wurden 
ſie bis auf die Haut durchſucht, und ſiehe da — bei einem 
von dieſen drei Tramps fand ſich deine Viſitenkarte, auf 
welcher du ſogar dein New Yorker Quartier angegeben 
hatteſt. Franz Schneider! Derſelbe Name, welchen der 
Sterbende als den ſeines Sohnes genannt hatte. Du mußt 
ſelbſt zugeben, daß die Behörde eine gewiſſe Berechtigung 
hatte, den erſten Verdacht gegen dich zu richten.“ 

Franz erklärte dem Freunde mit wenigen Worten, auf 
welche Weiſe der Tramp zu ſeiner Viſitenkarte gekommen 
ſei, und Edmund Schlieben nickte befriedigt. Wenn keine 
ſtärkeren Beweiſe ins Feld geführt werden könnten, ſei die 
Anklage nicht aufrecht zu erhalten, meinte er. Vorläufig 
müſſe fidh Franz freilich in Geduld ſchicken, doch fet Hoff: 
nung vorhanden, daß er morgen ſchon wieder ein freier 
Mann ſei, denn für den nächſten Tag ſei die Coroners⸗ 
unterſuchung angeſetzt, welche vorläufig über ſein Schickſal 
entſcheide. 

„Werde ich dich morgen wiederſehen?“ fragte Franz 
niedergeſchlagen, weil er ſich jetzt von ſeinem einzigen 
Freunde in Amerika verabſchieden mußte. 

„Natürlich, ich bin mit einem tüchtigen Anwalt zur 
Stelle. Du ſelbſt thuſt am beſten, nichts über deine Sache 
zu äußern, auch den Reportern gegenüber ſei ſehr zurüd: 
haltend, ſie werden dich vermutlich bald beſtürmen. — Lebe 
wohl, mein guter Junge, und Kopf hoch! — Biſt du übrigens 
mit Geld verſehen? Ja? Nun du wirſt noch mehr brauchen, 
als dir gegenwärtig zur Verfügung ſteht, und dann iſt 
meine Kaſſe die deinige. Alſo noch einmal — lebe wohl.“ 

„Lebe wohl und bringe Gertrud viele Grüße — wenn 
ſie von einem Mörder gegrüßt ſein will.“ : 

Der Ingenieur drückte lächelnd dem Freunde die Hand 
und verließ ihn. 

Franz ließ ſich bewegt auf ſein Lager nieder. So elend 


Kriminalnovelle von Barry Sheff. 133 


—— —— 


feine Lage auch fein mochte, fo bang und weh es ihm ums 
Herz war, Edmund Schliebens Erſcheinen war wie ein 
Sonnenſtrahl in ſeine düſtere Zelle gefallen. 

Edmund und Gertrud, die liebliche, kluge Gertrud, die 
ihm ſtets mehr geweſen war als die Schweſter eines Freun⸗ 
des, glaubten an ſeine Unſchuld, ſie kämpften mit ihm. 
Franz war es plötzlich, als fliege die Schale feiner Hoff: 
nungen hoch hinauf. 


3. 


Gertrud Schlieben war wirklich ein „prächtiges Frauen⸗ 
zimmerchen“, wie ihr Bruder Edmund ſie genannt hatte. 
Wie wenige deutſche Frauen oder Mädchen wußte ſie ſich 
den amerikaniſchen Verhältniſſen anzupaſſen, und ſo ſtand 
ſie nicht nur der kleinen Haushaltung ihres Bruders mit 
vollkommener Sicherheit vor, ſondern ſie hatte auch ſehr 
ſchnell das amerikaniſche Prinzip erfaßt, welches jedes 
Können und jedes Talent in die entſprechende Anzahl 
Dollars umzuſetzen beſtrebt iſt und das Brachliegen irgend 
einer Fähigkeit als eine Verſündigung an der dem Menſchen 
gewährten Lebenschance anſieht. Ihr Bruder verdiente zwar 
reichlich genug Geld, um ſeine wie ihre Anſprüche an das 
Daſein erfüllen zu können, aber er ſandte auch allmonat⸗ 
lich den in Deutſchland lebenden alten Eltern eine anſehn⸗ 
liche Summe für ihren Unterhalt, und an dieſer ſchönen 
Pflichterfüllung wollte Gertrud auch ihren vollgültigen Anteil 
haben. Sie hatte in Dresden ihre Prüfung als Lehrerin 
mit höchſter Auszeichnung beſtanden, und ſo fiel es ihr, 
beſonders bei Edmunds feiner, gewählter Bekanntſchaft, gar 
nicht ſchwer, lohnende, gut zahlende Unterrichtsſtunden zu 
finden. 

Auch heute — zwei Tage nach Franz Schneiders Ver— 
haftung — lag Gertrud ihrer Thätigkeit ob, und zwar be: 
fand ſie ſich im Hauſe ihrer vornehmſten und reichſten, wie 
auch begabteſten und liebenswürdigſten Schülerin. 


134 Der Tombsengel. 


Maud Jefferſon war die einzige Tochter des Senators 
und Millionärs Andrew George Jefferſon, eines Politikers, 
der nicht allein im Kreiſe der New Yorker oberen „Bier: 
hundert“ eine Rolle ſpielte, ſondern auch im „Weißen 
Hauſe“ zu Waſhington gern geſehen wurde. Während der 
Sitzungsperiode des Senats lebte er faſt ausſchließlich in 
Waſhington, während ſeine Gattin und Tochter es vor⸗ 
zogen, ihr elegantes Haus an der fünften Avenue in New 
York zu bewohnen. Maud zählte ſechzehn Jahre, fie ver: 
ſprach mit ihrem welligen braunen Haupthaar, ihren dunkel⸗ 
blauen Augen und der friſchen Geſundheit, die auf ihren 
Wangen blühte, ebenſo ſchön zu werden wie ihre Mutter, 
welche, trotzdem ſie nicht weit von der Vollendung des 
fünfzigſten Lebensjahres entfernt war, immer noch als eine 
imponierend ſchöne Frau galt. Frau Edith Jefferſon erfreute 
ſich jedoch eines weit wertvolleren, für ſie um vieles ſchätz⸗ 
bareren Rufes als deſſen ihrer Schönheit, ſie war ihres 
warmblütigen Intereſſes wegen für alles, was hilfsbedürftig, 
arm und krank war, in ganz New Pork berühmt; die reichen 
Mittel, welche ihr Gatte ihr zur Verfügung ſtellte, wurden 
von ihr nicht den Launen der Mode geopfert, floſſen nicht 
in die Kaſſen der Leute, welche vornehmen Damen den 
Glanz und die Bequemlichkeiten ihres Daſeins verſchaffen, 
ſondern wurden zum weitaus größten Teil für Akte der 
Großmut, des Edelſinns und der Nächſtenliebe verwendet, 
durch welche unzählige Thränen getrocknet, tiefe Wunden 
geheilt, erſchütterte Exiſtenzen aufs neue verankert wurden. 
Zumal auf einem beſtimmten Gebiet der Wohlthätigkeit 
pflegte Frau Edith Jefferſon ſich hervorzuthun — wenn 
dieſes Wort auf die taktvolle, geräuſchloſe Art des Sama— 
ritertums dieſer Frau anwendbar iſt — und gerade hierbei 
wurde ihr Name wieder und immer wieder in den Zeitungen 
genannt und ihrer in der Oeffentlichkeit Erwähnung gethan, 
ſo oft und ſo nachdrücklich, daß ſich nach und nach ein 


Kriminalnovelle von Harry Sheff. 135 


ganzer Legendenkranz um Frau Ediths Perſönlichkeit ge: 
woben, und der Volksmund, der ſich ſeit Jahren ſchon mit 
ihr beſchäftigte, der Gattin des Senators einen ehrenden 
Namen beigelegt. 

Man nannte Frau Edith den „Tombsengel“. 

In dem düſteren, ſo oft unter Thränen oder mit Ver⸗ 
wünſchungen genannten Gefängnis New Yorks, den „Tombs“, 
in welchen, meiſt in unterirdiſchen Zellen, Tauſende von 
Gefangenen dem Urteilsſpruch durch die Geſchworenen 
entgegenharren, hatte ſich Frau Edith Jefferſon durch un⸗ 
ermüdliche praktiſche Ausübung der Barmherzigkeit dieſen 
Beinamen erworben. Sie beſuchte die Unglücklichen und 
Elenden in ihren dumpfen Kerkern und erleichterte ihnen, 
wenn ſie nur einigermaßen der Hilfe würdig ſchienen, im 
Rahmen des geſetzlich erlaubten Beiſtandes ihr trauriges 
Los. Für manchen Familienvater ſtellte ſie Bürgſchaft oder 
ſorgte während ſeiner Haft für die notleidende, an dem 
Verbrechen des Vaters unſchuldige Familie, manchem armen 
Teufel gab ſie einen Anwalt zur Seite und bewirkte ſo, 
daß er ſeine Unſchuld erweiſen konnte, und ſelbſt den bös⸗ 
willigſten Verbrechern gegenüber verſagte ihre Güte nicht, 
ſie trug an Feiertagen in ihre weltvergeſſenen Zellen einen 
Abglanz der Freude, welcher ſich die Freien und Glück⸗ 
lichen hingeben konnten. 

Edith wurde für ihre werkthätige Nächſtenliebe durch 
ein überaus glückliches Familienleben belohnt. Ihr Gatte 
vergötterte ſeine ſchöne, edle Frau, und Maud blickte mit 
ſchwärmeriſcher Bewunderung zu der Mutter empor. Sie 
liebte ſie mit Zärtlichkeit und Ehrfurcht. Die Behaglichkeit 
und geſchmackvolle Eleganz, welche ein ſolider Reichtum ge⸗ 
währen, umgaben die Frau des Senators; keine Wolke 
trübte den Himmel, welcher ſich über dieſer Familie wölbte, 
und ſelbſt die Neider, welche ſonſt, häßlichen Raupen gleich, 
den edelſten Baum nicht verſchonen und ihn zu vernichten 


136 Der Tombsengel. 


trachten, ſchienen vor der Reinheit dieſes Hauſes, in welchem 
es kein „Skelett“ zu 5 gab, Halt zu machen. 

„Sie ſind heute nicht wie ſonſt, Miß Schlieben,“ rief 
Maud und ließ das deutſche Buch, aus welchem ſie ſoeben 
noch vorgeleſen hatte — es geſchah dies, um die Ausſprache 
des jungen Mädchens zu verbeſſern — in den Schoß ſinken, 
„und ſelbſt auf die Gefahr hin, daß Sie mich für ſehr 
neugierig halten, werde ich nicht eher ruhen, bis Sie mir 
den Grund Ihres Kummers mitgeteilt haben. Denn ich 
leſe etwas in Ihren Zügen, was mich leider befürchten 
läßt, daß Ihnen ein Leid widerfahren iſt. Miß Gertrud, 
Sie haben mir wiederholt verſichert, daß Sie mich lieb 
haben. Wenn dem wirklich ſo iſt, ſo müſſen Sie mich zur 
Mitwiſſerin Ihrer Sorgen machen.“ 

Gertrud Schlieben hob die Lider ihrer Augen langſam 
empor und blickte einige Sekunden nachdenklich zu ihrer 
Schülerin hinüber. Das hübſche volle Geſicht, deſſen hohe 
Stirn zum Teil hinter zierlichen ſchwarzen Löckchen ver⸗ 
ſchwand, zeigte die Spuren eines verhaltenen Schmerzes, 
und ein ſcharfer Beobachter würde ohne Zweifel an den 
langen ſeidenen Wimpern die Spuren kürzlich vergoſſener 
Thränen haben blinken ſehen. 

Edmunds Schweſter ergriff Mauds Hand. „Mein liebes, 
gutes Kind,“ ſagte ſie weich und innig, „Sie haben ſich 
nicht geirrt, Sie beſitzen das Feingefühl einer Seele, welche 
die Leiden einer anderen zu ahnen fähig iſt. Ja, ich bin 
recht traurig und bedarf des Beiſtandes. Nicht für mich — 
für einen Freund, einen Gefährten meiner Jugend, welcher 
mir teuer iſt.“ 

Die junge Tochter des Senators ſchlang ihren Arm 
zärtlich um Gertruds Schultern. „Sie ſprechen von 
Ihrer Jugend? Als ob Sie nicht jung und ſchön wären! 
Doch nun ſchnell heraus mit Ihrem Geheimnis, es wird 


Kriminalnovelle von Barry Sheff. 137 


fih doch irgend eine Hilfe gegen Ihre Sorgen finden 
laſſen.“ 

„Nicht Sie, Maud, vermögen mir beizuſtehen,“ erwiderte 
Gertrud, „aber — meine Hoffnung iſt auf Ihre Frau 
Mutter gerichtet. Sie, die unzähligen Unglücklichen ſchon 
als rettender Engel erſchienen iſt, ſie iſt vielleicht die 
einzige, welche auch meinem Freunde beiſtehen kann.“ 

Maud ſprang auf. „Kommen Sie, Miß Schlieben, 
kommen Sie,“ rief das anmutige junge Geſchöpf, während 
ihre Augen leuchteten und den Eifer verrieten, mit welchem 
Maud ihrer Freundin zu dienen erfüllt war, „ich führe 
Sie ſogleich zu Mama, und obwohl ſie ſeit einigen Tagen 
von ihren böſen Kopfſchmerzen geplagt wird und für jeder⸗ 
mann unſichtbar blieb, wird ſie doch in dieſem Fall mit 
Ihnen eine Ausnahme machen. Kommen Sie.“ 

Und ſie nahm Gertruds Hand und zog die junge Leh— 
rerin durch eine Reihe fürſtlich eingerichteter Gemächer zum 
Boudoir ihrer Mutter. 

Maud pochte an die Thür und rief mit einſchmeicheln⸗ 
der Stimme: „Mama, liebe ſüße Mama — verzeihe, daß 
ich dich ſtöre. Ich bringe dir Miß Schlieben, welche in 
einer wichtigen Angelegenheit um deinen Rat und Beiſtand 
bitten möchte. Dürfen wir eintreten?“ 

Einen Augenblick blieb alles ſtill, dann vernahmen die 
vor der Thür Harrenden ein Rauſchen und Knittern, als 
würde Papier haſtig fortgeräumt, und wenige Sekunden 
ſpäter öffnete ſich von innen die Thür, und Maud und 
Gertrud traten ein. 

Maud hatte kaum ihre Mutter erblickt, als ſie ihre 
Arme um ſie ſchlang und mit zärtlicher Beſorgnis ausrief: 
„Um Gott, Mama, wie ſiehſt du aus! So blaß, ſo müde. 
Ich fürchte, du biſt ernſtlich krank, und ich will ſofort Be⸗ 
fehl geben, Doktor Lewis herbeizuholen.“ 

Frau Edith ſtrich liebkoſend über das Haupt ihres Kindes. 


138 Der Tombsengel. 


„Aengſtige dich nicht, mein Liebling,“ fagte fie ſanft, „es 
ſind nur die alten neuralgiſchen Schmerzen, die mich peinigen. 
Doktor Lewis hat dagegen bereits alle ſeine Mittel ins 
Feld geführt. Seine Anweſenheit könnte an meinem Zu⸗ 
ſtand nichts beſſern. — Und nun willkommen, Miß Schlie⸗ 
ben. Ich werde mich von Herzen freuen, Ihnen einen 
Dienſt erweiſen zu können. Laſſen Sie ſich hier neben mir 
nieder und teilen Sie mir mit, was ich zu thun habe, um 
Ihnen nützlich zu ſein.“ 

„O, Sie ſind ſo gütig, Miſſis Jefferſon,“ rief Gertrud, 
„ich fühle, daß ich Ihnen vertrauen darf — und daß Sie 
mich nicht falſch beurteilen werden.“ 

„Gewiß nicht, mein Kind, ſprechen Sie ganz rückhaltlos.“ 

Die Gattin des Senators zog Gertrud neben ſich auf 
die ſchwellenden Polſter des Ruhebettes nieder, während 
Maud auf einem geſtickten Schemel zu Füßen ihrer Mutter 
Platz nahm und mit Blicken ſchwärmeriſcher Liebe zu ihr 
emporſah. Frau Ediths ſtolze, ausgeglichene Schönheit 
wurde durch ihr Leiden nicht beeinträchtigt. Wie Silber— 
ſtaub lag es über den dunkelblonden Haaren, ein paar 
Falten unter den Augen, eine Linie, welche die Mund: 
winkel verlängerte, das war alles, was die Jahre dieſen 
gleichmäßig ſchönen Zügen hatten anhaben können. | 

Gertrud Schlieben aber blickte in die großen hellgrauen 
Augen der Frau, in Augen, welche ein tiefes Seelenleben 
widerſpiegelten, und ſie fand in ihnen ſo viel echte Teil— 
nahme, ſo große Bereitwilligkeit, die Schmerzen anderer zu 
empfangen und zu teilen, daß ſie tapfer ihr ganzes Herz 
ausſchüttete. Sie erzählte die Leidensgeſchichte Franz Schnei⸗ 
ders, ſeine Verhaftung unter dem entſetzlichen Verdacht des 
Vatermordes, ſeine unwürdige Gefangenſchaft und ſeine 
Hilfloſigkeit, ſich derſelben zu entziehen. Denn die Coroners: 
jury habe nicht die Hoffnungen des verzweifelten jungen 
Mannes erfüllt, ſie habe nicht an ſeine Unſchuld geglaubt, 


Kriminalnovelle von Harry Sheff. 139 


fondern ihn den Geſchworenen überwieſen. Sie fei da: 
bei von der Annahme ausgegangen, daß Franz mit der 
Abſicht, ſeine und ſeiner Mutter Rechte auf den Beſitz des 
geizigen, reichen Taylor geltend zu machen, nach Amerika 
gekommen ſei. Er habe den pflichtvergeſſenen Vater auf: 
geſucht und wahrſcheinlich eine beſtimmte Summe von ihm 
gefordert. Natürlich ſei er von Taylor ſchroff abgewieſen 
worden. Es habe ſich ein Streit zwiſchen Vater und Sohn 
entſponnen, welcher von Zeugen, den drei Tramps, be— 
lauſcht wurde. Die Tramps, und beſonders der eine von 
ihnen, Kaſpar Drill, wollten zwar ausdrücklich gehört haben, 
daß der Angeklagte dem Alten zugerufen, er möge ſein Geld 
behalten, er wolle nicht einen Cent davon, aber die Ge— 
ſchworenen legten dieſer Ausſage um ſo weniger Gewicht 
bei, als erwieſen wurde, daß Franz Schneider ſich unbedingt 
eines Wertgegenſtandes aus dem Beſitz ſeines Vaters „be⸗ 
mächtigt“ habe. Es ſei dies eine goldene Uhr, welche 
Zeugen als Eigentum Taylors mit aller Beſtimmtheit er⸗ 
kannt hatten, nachdem die Polizei dieſelbe aus dem Koffer 
Schneiders hervorgezogen und als ſchwerwiegendes Beweis— 
material gegen ihn den Geſchworenen vorgelegt. Selbſt 
die Erklärung des jungen Deutſchen, Taylor habe ihm die 
Uhr geſchenkt, trotzdem er ihm dafür Bezahlung angeboten, 
begegnete dem höchſten Unglauben und wurde belaſtend für 
ihn. Denn daß der alte Wucherer Geld zurückgewieſen und 
die wertvolle Uhr verſchenkt haben ſollte, erklärten die 
Zeugen, die aus Taylors Nachbarſchaft erwählt worden 
waren, für eine Unmöglichkeit. 

Und ſo ſchloſſen die Verhandlungen mit dem für den 
Gefangenen traurigen Reſultat, daß die Coronersjury ihn 
ohne Zulaſſung von Bürgſchaft feſthielt. Ein Verzweifelter, 
unter der Wucht dieſer furchtbaren Anklage Zufammen: 
gebrochener wurde Franz Schneider in die Tombs gebracht, 
um hier ſeinen Prozeß abzuwarten. 


140 Der Tombsengel. 


„Und er ift fo unſchuldig,“ rief Gertrud in Thränen 
ausbrechend, „ſo unſchuldig wie ich oder wie Sie ſelbſt, 
Miſſis Jefferſon, an dieſer That; man würde einen un: 
erhörten Juſtizmord begehen, wenn man Franz Schneider 
für dieſes blutige Verbrechen büßen laſſen wollte — nein, 
nein, das darf nie und nimmer geſchehen. Und es wird 
nicht geſchehen, gute Menſchen werden ſich finden, welche 
dieſe Ungerechtigkeit, dieſe himmelſchreiende Gewaltthat ver⸗ 
hindern werden — und Sie, die man den Engel der Ge⸗ 
fangenen nennt, Sie, verehrte Frau, werden dem Unglück⸗ 
lichen gewiß Ihren Beiſtand nicht verſagen!“ 

Die warme Beredſamkeit des jungen Mädchens ſchien 
eine tiefe Wirkung auf Frau Edith hervorgebracht zu haben. 
Langſam, wie einem inneren Zwange folgend, hatte ſie ſich 
während Gertruds letzten Worten erhoben und ſchaute mit 
feſt aufeinander gepreßten Lippen und düſter zuſammen⸗ 
gezogenen Brauen nachdenklich vor ſich nieder. 

„Ja, ich will ihm beiſtehen. Was in meiner Macht 
ſteht, Ihrem Freund die Freiheit wiederzugeben, das ſoll 
geſchehen — ja — das ſoll geſchehen.“ 

Frau Edith wandte ſich haſtig ab und ſchritt zu ihrem 
Schreibtiſch. Derſelbe war mit Papieren und Zeitungs: 
blättern bedeckt, und Gertrud bemerkte mit Staunen, daß 
in letzteren die den Prozeß Franz Schneider betreffenden 
Artikel mit Rotſtift angeſtrichen waren. 

„Wie Sie ſehen, mein liebes Fräulein,“ wandte ſich 
Frau Edith an Gertrud, „habe ich mich, bevor Sie mir 
davon ſprachen, ſchon für den Fall intereſſiert. Leider erſah 
ich aus den Zeitungen, daß die Situation Ihres Freundes 
eine ſehr ernſte iſt. Die Beweiſe ſind gegen ihn, die 
Zeugenausſagen ſind belaſtend und — was nicht unweſent— 
lich iſt — er iſt ein Deutſcher!“ 

„Kommt denn die Nationalität in dieſem Falle in Be⸗ 
tracht?“ fragte Gertrud. 


Kriminalnovelle von Harry Sheff. 141 


„Sie follte e3 nicht, aber e3 ift erwiefen, daß man einen 
Deutſchen in dieſem Lande mit erftaunlicher Schnelligkeit 
an den Galgen oder in den elektriſchen Stuhl bringt.“ 

„Und das jagen Sie, Madame, eine geborene Ameri⸗ 
kanerin, mit ſo viel Freimut?“ rief Gertrud bewundernd aus. 

„Aber Mama iſt ja keine geborene Amerikanerin,“ rief 
Maud lächelnd, „ihrer Sprache freilich iſt es nicht an— 
zumerken, ſie ſpricht ohne Accent. Aber meine Mutter hat 
in Deutſchland das Licht der Welt erblickt, ſie iſt alſo Ihre 
Landsmännin, Miß Schlieben.“ 

Gertrud wollte ſoeben ihr freudiges Erſtaunen über 
dieſe ihr ganz unerwartete Entdeckung äußern, als ſie be— 
merkte, daß ſich eine leichte Falte zwiſchen die Augenbrauen 
der Mutter Mauds geſchoben hatte. Die Gattin des Sena⸗ 
tors ſchien peinlich berührt, ſie ſandte Maud einen ſchnellen 
mißbilligenden Blick hinüber und wandte ſich dann haſtig 
an Gertrud: „Ich will ſogleich ſelbſt nach den Tombs 
fahren, um nach Ihrem Freunde zu ſehen. Vor allem muß 
er einen guten Anwalt bekommen.“ 

„Für den hat mein Bruder ſchon geſorgt.“ 

„Nun, ich denke, wenn mein eigener Anwalt den Fall 
übernimmt, ſo dürfte Ihrem Freunde beſſer geholfen ſein. 
Mein Lawyer iſt Mr. Baker von der Firma Graham, 
Baker & Comp., einer berühmten Anwaltsfirma, welche auch 
bedeutenden Einfluß ausübt. Doch laſſen Sie uns keine 
Zeit verlieren, bleiben Sie, wenn Sie es ſo wollen, bei 
Maud, ich werde, wenn ich zurückkehre, Ihnen ſagen können, 
was für unſeren Schützling zu geſchehen hat.“ 

„Miſſis Jefferſon, Sie verpflichten mich zu ewiger 
Dankbarkeit. Niemals werde ich es Ihnen vergeſſen, wie 
ſchnell Sie einem Unglücklichen Ihre Hilfe angedeihen ließen, 
Sie gute, großmütige Menſchenfreundin.“ 

Gertrud hatte in der Aufwallung ihrer Empfindungen 
die Hand der Senatorsgattin ergriffen und wollte ſie ſchnell 


142 Der Tombsengel. 


an ihre Lippen führen, aber Edith wußte dieſen Ausdruck 
der Dankbarkeit zu verhindern. 

„Sprechen Sie nicht davon, daß Sie mir Dank ſchul⸗ 
den. Ich erfülle nur eine Pflicht — hören Sie — nur 
eine Pflicht. Denken Sie doch, wie ſchrecklich es wäre, 
einen Unſchuldigen zu Grunde gehen zu laſſen. Nein — 
nein, es muß alles geſchehen, was in Menſchenmacht liegt, 
den Juſtizmord zu verhindern. Ich will es — ich werde 
es. Er wird nicht ſterben, Ihr Freund, ich werde es ver: 
hindern.“ 

Und kaum hatte Frau Edith Jefferſon dieſe Worte ge: 
ſprochen, als ſie mit einem leiſen Schmerzenslaut auf das 
Ruhebett zuſammenbrach. Ihre Augen waren geſchloſſen, 
und Marmorbläſſe bedeckte ihr Antlitz. 

Maud warf ſich aufſchreiend über ihre Mutter und be: 
deckte ihre Wangen mit Küſſen. Gertrud aber eilte zum 
Tiſch, nahm eine Flaſche Floridawaſſer von demſelben und 
benetzte mit dem wohlriechenden Inhalt der Flaſche das 
Geſicht der Bewußtloſen. 

Es währte auch nicht lange, und die Gattin des Senators 
hatte den Schwächeanfall überwunden. 

„Du biſt krank, Mama,“ rief Maud weinend, „laß mich 
zum Arzt ſchicken.“ 

Aber Frau Edith ſchüttelte den Kopf: „Ich habe jetzt 
keine Zeit, an mich zu denken. Es giebt Menſchen, welche 
viel, viel kränker ſind als ich, und deren Arzt ich ſein 
muß, um ſie zu retten. Geh, meine Tochter, und gieb 
Auftrag, meinen Wagen bereit zu halten. Ich fahre nach 
den Tombs.“ 

4. | 

In den Tombs herrſchte immer eine gehobene, hoff: 
nungsvolle Stimmung, ſo oft der „Engel“ das Innere 
des düſteren Gefängniſſes betreten hatte. Die Aufſeher 
flüſterten es den Gefangenen zu, daß „er“ da ſei, und die 


Kriminalnovelle von Barry Sheff. 143 


Elenden und Freiheitsloſen drückten ihre bleichen eingefallenen 
Geſichter an die Gitterſtäbe ihrer Kerker, um einen Blick 
der barmherzigen Frau aufzufangen und ihre Aufmerkſam⸗ 
keit, wenn es irgend anging, auf ſich zu lenken. 

Doch heute ſchritt Frau Edith Jefferſon nicht, wie ſie 
ſonſt pflegte, von Zelle zu Zelle und ſammelte nicht die 
Klagen und Bitten, die Seufzer und Thränen ein, heute 
wandte ſie ſich ſogleich an den Wärter mit dem Erſuchen, 
ſie zu dem in Unterſuchungshaft befindlichen angeblichen 
Mörder Franz Schneider zu führen und eine Unterhaltung 
mit dem Gefangenen zu geſtatten. 

Der Beamte war der Frau des einflußreichen Senators 
gegenüber ganz und gar Bereitwilligkeit und Eifer, er 
wußte, daß Frau Jefferſon ein für allemal das Recht be: 
ſaß, alle Räumlichkeiten der Tombs zu beſichtigen, und daß 
jeder ihrer Wünſche, ſoweit dieſelben mit dem Geſetz und 
den Gefängnisvorſchriften in Einklang ſtünden, Berück⸗ 
ſichtigung finden müßte. 

„Darf ich Sie bitten, Miſſis Jefferſon, mir zu folgen,“ 
ſagte er, „es freut mich, daß Sie ſich für den jungen 
Mann intereſſieren. Der Unglückliche iſt völlig zuſammen⸗ 
gebrochen, und meine Leute müſſen die Augen offen halten, 
um ihn von einer Verzweiflungsthat zurückzuhalten.“ 

„Führen Sie mich ſchnell zu ihm,“ bat Frau Edith. 
„Befindet er ſich allein in ſeiner Zelle?“ 

„Ja, er bat mich inſtändigſt, ihm dieſe Wohlthat zu 
gewähren und ihn wenigſtens, wie er ſich ausdrückte, vor 
der Geſellſchaft von Verbrechern zu bewahren. Obwohl 
nun die Tombs, wie immer, überfüllt ſind, ſo daß in 
mancher Zelle vier oder fünf Gefangene ſich befinden müſſen, 
ſo mochte ich doch dem Manne dieſe Bitte nicht abſchlagen. 
Ich denke mir, er iſt ja kein gemeiner Mörder, ſondern 
hat die That vielleicht mehr im Jähzorn begangen, nachdem 
der geizige Alte ihn aufs äußerſte gereizt hatte.“ 


144 Der Tombsengel. 


„Demnach glauben Sie nicht, daß man auf die Anklage 
des Mordes im erſten Grade gegen ihn ein „Schuldig“ 
ausſprechen könnte?“ 

Der Mann zuckte die Achſeln. „Das iſt nicht abzuſehen,“ 
meinte er, „aber ſchade wäre es, wenn er den elektriſchen 
Stuhl beſteigen müßte.“ 

Edith zuckte zuſammen, aber ſie erwiderte nichts und 
folgte dem Beamten, der ſie in die unter der Erde gelegene 
Abteilung des Gefängniſſes führte. Vor einer der Zellen 
machte er Halt, und auf ſeinen Ruf wankte eine vergrämte 
gebeugte Geſtalt an die Stäbe. 

„Dieſe Dame wünſcht Sie zu ſehen,“ ſprach der Wärter. 
„Sie dürfen das als eine Auszeichnung und ein Glück be⸗ 
trachten, denn Miſſis Jefferſon iſt ebenſo einflußreich und 
vielvermögend, als ſie gütig und wohlthätig iſt.“ 

„Sie dürfen mir vertrauen,“ ſagte Edith und ſchaute 
Franz mit ſeltſamen Blicken an, „Sie ſind fremd in dieſem 
Lande und beſitzen nur wenige Herzen, die mit Ihnen 
fühlen. Aber ich nehme an Ihrem Geſchick ehrlichen An⸗ 
teil, und ich hoffe manches für Sie thun zu können. — . 
Laſſen Sie ſich, bitte, nicht in der Erfüllung Ihrer anderen 
Pflichten ſtören. Sie wiſſen ja, Sie dürfen mich mit dem 
Gefangenen allein laſſen.“ 

Dieſe letzten Worte, welche an den Wärter gerichtet 
waren, fanden das vollſte Verſtändnis. Der Beamte zog 
ſich mit einer Verbeugung zurück. 

„Und nun erzählen Sie mir Ihre ganze Lebensgeſchichte,“ 
bat Frau Edith den Gefangenen, ſobald ſie mit ihm allein 
war, „dieſer — Mann, den Sie gemordet haben ſollen, 
war — Ihr Vater?“ 

Zögernd, ſtockend kamen dieſe Worte von den Lippen 
der ſtolzen, bleichen Frau, und ihre Hände umfaßten die 
Gitterſtäbe, welche ſie von dem Gefangenen trennten. 

„Ja, er war mein Vater,“ erwiderte Franz, „aber er 


Kriminalnovelle von Harry Sheff. 145 


hat niemals die heiligen Verpflichtungen erfüllt, welche er 
mit meiner Geburt übernommen. Eines gewiſſenloſen Weibes 
wegen verließ er meine arme Mutter, verzichtete er auf 
das ſchöne Recht, ſein Kind zu erziehen. Er iſt geſtorben, 
wie er gelebt hat — auf unnatürliche Weiſe.“ 

Die Gattin des Senators war während dieſer Worte 
Schneiders ſo blaß geworden wie der Kalk, der die Wände 
der Gefängniszelle bedeckte. 

„Um eine — Frau alſo,“ ſtieß ſie hervor, „hat Ihr 
Vater Sie und die Mutter preisgegeben. Wer war ſie 
und — wie hat ſie geendet?“ 

Franz zuckte die Achſeln. „Darüber kann ich Ihnen 
herzlich wenig ſagen, gnädige Frau,“ antwortete er, „meine 
Mutter war ſelbſt, als ich bereits erwachſen war und wohl 
ein Urteil darüber hätte haben können, zu zartfühlend, mir 
über dieſe Frau, deren Verführungskünſte und Gewiſſen⸗ 
loſigkeit unſer Unglück herbeigeführt haben, mehr zu ſagen, 
als ich unbedingt wiſſen mußte. Dieſe Begleiterin meines 
Vaters war eine Sängerin, fie fol ſchön und begabt ge: 
weſen ſein, doch ihr Leichtſinn Lu fie und uns ins Ber: 
derben.“ 

Die bleiche Frau neigte nachdenklich das Haupt. „Was 
iſt — aus ihr geworden?“ fragte ſie; „wurde ſie glücklich 
oder ſchlug auch ihre Stunde?“ 

„Ich weiß es nicht. Sie hat ſich bald genug von 
meinem Vater getrennt, wahrſcheinlich, weil er ſich zu ſchlecht 
mit Geld verſorgt hatte, ehe er Dresden verließ. Solche 
Frauen lieben ja nur ſolange, als ihre Neigung auf gol: 
denen Stützen ſtehen kann. Was aus ihr geworden? 
Schwerlich das, was ſie verdient hat! Denn ich habe jetzt 
einſehen gelernt, daß das Schickſal die Schlußfolgerung des 
Lebens mit launenhafter Willkür geſtaltet. Wer kann wiſſen, 
ob jenes Weib nicht an der vollbeſetzten Tafel des Glücks 
ſchwelgt, während ich, eines ihrer Opfer —“ 

1900. III. 10 


146 Der Tombsengel. 


Franz brach kurz ab und biß fih auf die Lippe. Er 
wollte nicht zu verbittert erſcheinen. 

„Vielleicht irren Sie auch,“ erwiderte Edith Jefferſon 
langſam, „vielleicht iſt jene Frau elend und unglücklich ge— 
worden — wie ſie es verdiente. Selbſt wenn ſie, wie Sie 
meinten, an des Lebens reich beſetzter Tafel ſchwelgt, kann 
ſie doch innerlich elend ſein und die Erinnerung an dieſe 
niedrige That, welche ſie begangen, mag wie eine langſam 
verzehrende Flamme in ihrem Herzen brennen. — Freilich, 
wenn alle Verwünſchungen Ihrer Mutter dieſe Frau ge⸗ 
troffen hätten —“ 

„Sie irren, gnädige Frau,“ unterbrach ſie Franz, „meine 
Mutter hat niemals dieſer Frau geflucht, obwohl ſie wahr⸗ 
lich Grund dazu gehabt hätte. Sie hat ſie nur bedauert, 
weil ſie, ein Weib von Bildung und Erziehung, ſo tief 
fallen konnte, und hat ſich geſchämt, daß eine ſolche Perſon 
ihr vorgezogen wurde.”  ž 

Der „Engel der Tombs” wandte das Antlitz ab und 
bedeckte für einen Augenblick die Stirne mit der Hand. Es 
trat eine minutenlange Pauſe in der Unterhaltung ein. 

Dann ſagte Frau Edith: „Hoffen Sie, die Richter von 
Ihrer Unſchuld überzeugen zu können?“ 

„Ich hoffe nichts mehr. Dieſe Fähigkeit iſt mir in 
den letzten Tagen abhanden gekommen. Die Umſtände ſind 
gegen mich und die Beweiſe werden mich erdrücken. Man 
wird mich zum Tode verurteilen, und ich werde in der 
Blüte meiner Jahre hingemordet werden. Nur eines hoffe 
ich noch, und wenn ich mit dieſem Gedanken ſterben könnte, 
würde ich um vieles gefaßter den Tod erleiden: ich möchte 
davon überzeugt ſein, daß meine arme geliebte Mutter nie⸗ 
mals erfahren wird, wie ihr Sohn, der Liebling ihres 
Herzens, geendet hat!“ 

Des jungen Mannes Augen ſchwammen in Thränen, 
als er diesmal den Namen „Mutter“ ausſprach. 


Kriminalnovelle von Barry Sheff. 147 


Auch Ediths hatte fih eine tiefe Rührung bemächtigt, 
ſie verſuchte vergeblich ihre Ergriffenheit niederzukämpfen. 
„Und hegen Sie nicht die Hoffnung, daß der wahre Mörder 
noch ergriffen wird?“ 

„Nein, gnädige Frau! Wäre Taylor von einem Schurken 
erſtochen worden, der mit der Abſicht, ihn zu berauben, 
das Verbrechen ausgeführt und auch einige Beute davon⸗ 
getragen hätte, dann würde ich es für möglich halten, daß 
man den Mörder bei der Verwertung des geſtohlenen Gutes 
dingfeſt macht. Dies aber iſt nicht der Fall. Taylor iſt 
meiner Anſicht nach von einem Menſchen ermordet worden, 
von welchem er es vielleicht am wenigſten erwartete, dem 
er vertrauend die Thür geöffnet hatte.“ 

Nach einigem Schweigen fragte die vornehme Frau: 
„Und vermuten Sie nicht — wer dieſe Perſon geweſen 
ſein könnte, hat Ihr Anwalt keine Spur gefunden — 
nichts ermittelt?“ 

„Nichts, obwohl mein Freund Edmund Schlieben auch 
noch einen geſchickten Detektive engagiert hat. Aber nicht 
der geringſte Hinweis, wer der rätſelhafte Mörder ſein 
könnte, iſt zu entdecken, und ſo bleibt mir keine andere Aus⸗ 
ſicht als — ſchimpflich zu Grunde zu gehen!“ 

„Das werden Sie nicht, Franz Schneider — das wer⸗ 
den Sie nicht! Verzweifeln Sie nicht, der Mörder, der 
wahre Mörder, er wird entdeckt werden. Schlafen Sie 
ruhig, harren Sie aus — nur wenige Wochen noch — nur 
ein paar armſelige Wochen — ach, dies iſt ja eine ſo 
kurze, kurze Zeit — Sie werden leiden, ich weiß es, dieſe 
wenigen Wochen werden Ihnen ſo viel Jahre dünken, doch 
denken Sie daran, daß der Mörder, für den Sie im Ge— 
fängnis ſchmachten müſſen, vielleicht viel elender und un: 
glücklicher iſt als Sie, obwohl er ſich der goldenen Freiheit 
erfreut. Doch daß Sie nicht für ihn werden büßen müſſen, 
daß Sie frei werden ſollen, in die Arme Ihrer Mutter 


148 Der Tombsengel. 


werden zurückkehren können — daran brauchen Sie nicht 
einen Augenblick zu zweifeln. Der wahre Mörder wird 
vor Gericht da ſein — wenn es Zeit iſt. Gönnen Sie mir 
nur ein paar armſelige Wochen — ihn zu finden! Und 
nun leben Sie wohl — leben Sie in der Hoffnung, daß 
es einen Gott giebt, der den Unſchuldigen nicht zu Grunde 
gehen läßt, der den Schuldigen mit e Ge⸗ 
walt der Vergeltung entgegentreibt.“ 

Mit dieſen Worten eilte die Dame baren und ſtieg 
mit ſchwankenden Schritten die Treppe hinauf. 

In ſprachloſem Erſtaunen blickte ihr der Gefangene durch 
die Gitterthür ſeiner Zelle nach. Das Weſen, die Worte 
des „Engels der Tombs“ hatten ihn ſonderbar berührt. 


. 2 5. : 
Sechs Wochen waren ſeit Franz Schneiders Verhaftung 
vergangen, und die amerikaniſche Geſetzesmaſchine hatte ſchnell 
genug gearbeitet. Der Prozeß gegen den Mörder des alten 
Taylor war für den nächſten Montag feſtgeſetzt, an dieſem 
Tage traten die Geſchworenen zum letztenmal vor den 
Gerichtsferien zuſammen. Franz hatte während dieſer Zeit 
ein materiell ziemlich erträgliches Leben geführt. Durch den 
Einfluß der Gattin des Senators war ihm manche Er⸗ 
leichterung ſeiner Haft zu teil geworden. Er durfte ſich 
während eines großen Teils des Tages frei im Korridor 
des Gefängniſſes, an welchem ſeine Zelle lag, bewegen, er 
erhielt aus einem benachbarten Hotel vortreffliche Mahlzeiten, 
und Bücher und Zeitungen ſtanden ihm jederzeit zur Ver⸗ 
fügung. Auch Beſuche empfing er. Edmund und Gertrud 
Schlieben widmeten jede Minute ihrer freien Zeit dem 
Gefangenen und gaben ſich alle Mühe, ihm die trüben 
Gedanken über die Zukunft und das Schickſal der Mutter 
zu verſcheuchen. 
Denn trübe Ahnungen beſchlichen Franz. Er durfte 


Kriminalnovelle von Harry Sheff. 149 


fih nicht verhehlen, daß feine Lage fih noch um nichts 
gebeſſert habe. Selbſt feine Beſchützerin, Frau Edith 
Jefferſon, ſchien alle Hoffnung auf Entdeckung des Thäters 
aufgegeben zu haben. Seit der erſten Unterredung mit 
dem Gefangenen hatte ſie ſich nicht mehr in den Tombs 
ſehen laſſen, wohl aber ihren Einfluß geltend gemacht, Franz 
alle jene erwähnten Freiheiten zu verſchaffen. Sie ſelbſt 
hatte er nicht mehr wiedergeſehen. | 

Um ſo eifriger hatte ihn der Advokat aufgeſucht, welchen 
die Gattin des Senators für ihn engagiert hatte. Doktor 
Baker war eine erſte Autorität in Kriminalprozeſſen und hatte 
eine lange, an Erfahrungen reiche Praxis hinter ſich. Für 
eine ſeiner berühmten Verteidigungsreden pflegte er ein 
Vermögen zu erhalten, und nur reiche Leute konnten ſich 
daher ſeine bewährte Kraft ſichern. Die Gattin des Ses 
nators ſchien eine große Summe geopfert zu haben, um 
Baker für den des Mordes Angeklagten zu intereſſieren, 
denn der Advokat machte ganz außergewöhnliche Anſtrengun⸗ 
gen, um wenigſtens einen Aufſchub des Prozeſſes zu be⸗ 
wirken und ſo das Leben ſeines Klienten zu verlängern, 
aber es gelang ihm nicht. Der Generalanwalt beſtand 
darauf, daß der Fall Schneider zu Ende geführt werde, 
und ſo ward der verhängnisvolle Tag feſtgeſetzt. 

Am meiſten litt wohl Gertrud Schlieben unter der un⸗ 
heilvollen Wendung der Angelegenheit. Das hübſche Mäd⸗ 
chen war kaum noch zu erkennen, ſo hatten Gram und 
Aufregung ſie verändert. In Thränen aufgelöſt, das Haupt 
mit dem lieben Geſicht in die Hand geſtützt, ſaß ſie an 
dem Morgen, an welchem die Verhandlung gegen Franz 
ſtattfand, in ihrer beſcheidenen Wohnung. | 

Unruhvoll ſchaute fie auf das Zifferblatt der Uhr. Sie 
ſeufzte — es war gegen elf Uhr, jetzt mußte die Verhand⸗ 
lung ſchon im Gange ſein. Sie hatte Edmund in den 
Gerichtsſaal begleiten wollen, aber der Bruder hatte ſie 


150 Der Tombsengel. 


inſtändigſt gebeten, davon Abſtand zu nehmen, fie würde 
das ergreifende Schauſpiel nicht ertragen können, und auch 
für den Angeklagten würde ihre Gegenwart drückend und 
beirrend ſein. So war ſie denn allein, und niemals vorher 
war ihr die Einſamkeit ſo öde und grauenhaft geweſen. 
Sie hatte verſucht, ihren Gedanken ein anderes Ziel zu 
geben, ſie auf Dinge des gewöhnlichen Lebens zu richten, 
ſie hatte ſich Mühe gegeben, ihre alltäglichen Pflichten zu 
verrichten, aber es gelang ihr nicht. Das Bild des un⸗ 
glücklichen, ſchwergeprüften Freundes ſtand vor ihr, und es 
war ihr, als hörte ſie fortwährend ſeinen herzzerreißenden 
Ruf: „Mordet mich nicht — ich bin unſchuldig!“ 

Würden ſie es wirklich wagen, ihn ſchuldig zu ſprechen, 
jene fürchterliche Strafe über ihn zu verhängen, welche ihn 
für immer ſeinen Lieben entreißen mußte? Sollte es denn 
wahrhaftig möglich ſein, daß ihn dieſer entſetzliche Irrtum 
das Leben koſten könne? Es überlief Gertrud kalt. Und 
keine Rettung, keine? — Gertrud konnte ſich nicht ent⸗ 
halten, mit einem Gefühl der Bitterkeit an die einflußreiche 
vornehme Dame zu denken, welche ihr die Rettung des 
armen Franz ſo beſtimmt in Ausſicht geſtellt und im Grunde 
genommen ſo wenig erreicht hatte. Geld hatte ſie aller⸗ 
dings für den Gefangenen aufgeboten, Geld und nur Geld! 
Sie ſelbſt aber hatte ſich herzlich wenig um ihn gekümmert. 
Frau Edith hatte auch offenbar keine Zeit dazu gehabt. 
Niemals vorher hatte ſie ſo geſellig, ſo ganz ihre Zeit der 
Familie und ihren Freunden widmend gelebt. Gertrud 
hatte von Maud erfahren, daß die Mutter ihr ganz ver— 
ändert erſcheine. Früher zurückgezogen lebend, nur im Zu: 
ſammenſein mit dem Gatten und ihrer lieblichen Tochter 
glücklich, hatte Frau Edith Jefferſon ſeit einigen Wochen 
ganz andere, und wie Maud meinte, ſehr glücklich gewechſelte 
Anſchauungen von den Freuden des Lebens angenommen. 

Die Familie des Senators hatte vor einigen Tagen 


Kriminalnovelle von Harry Sheff. 151 


ihren Sommerſitz am Strande bezogen, ein Schloß, wie 
es kaum ein herrlicheres in der Umgebung von New York 
. gab. Der Senator hatte auf Wunſch feiner Gattin auf 
ſeine alljährliche Europareiſe verzichtet und war bei ſeiner 
Familie geblieben. Edith aber lud alle ihre Freundinnen 
und jeden, den ſie lieb hatte, auf ein oder mehrere Tage zu 
ſich auf die Villa ein, und ſo wurde des Senators Haus 
von Beſuchen gar nicht leer. Und jeder ging mit dem 
Bewußtſein hinweg, die Liebenswürdigkeit und Herzlichkeit 
Frau Ediths diesmal in ſo hohem Maße, ſo überraſchend 
innig und erquickend empfangen zu haben, wie niemals 
vorher. Die immer noch reizende Frau hatte ſich jeder 
ihrer Freundinnen mit einer Hingebung gewidmet, als wolle 
ſie jeder die mit ihr verlebten Stunden unvergeßlich machen. 

Für dieſe Abſicht ſprach auch der Umſtand, daß die 
Gattin des Senators jeden ihrer Beſucher mit einem wert: 
vollen Andenken zum Abſchied überraſchte. Sie plünderte 
förmlich ihren Schmuckkaſten und gab bis auf die Fa: 
milienkoſtbarkeiten, welche ſie längſt für Maud beſtimmt 
hatte, alles fort. 

Der Senator ſprach endlich lächelnd ſeine Verwunderung 
darüber aus und fragte, ob denn ſeine Gattin ſich gar 
nicht mehr ſelbſt ſchmücken wollte, da lächelte die blaſſe 
Frau, ſchmiegte fih zärtlich an ihn und ſagte mit leiſe be: 
wegter Stimme: „Ich habe wohl aufbewahrt, womit ich 
geſchmückt ſein werde, wenn — wenn ich am Ziele bin 
und — das große Feſt feiere.“ 

„Das große Feſt? Ah, du meinſt Mauds Verlobung — 
ja gewiß, das wird ein ſchönes Feſt werden, und du ſollſt 
deinen beſten Schmuck anlegen.“ 

Edith lächelte — es war ein wehmütiges und doch 
glückliches Lächeln. 

Denn die Gattin des Senators fühlte ſich glücklich in 
dem Gedanken, daß vor einigen Tagen Maud und der 


152 Der Tombsengel. 


junge Daly, ein reicher, unabhängiger und tüchtiger Mann, 
ſich heimlich verlobt hatten. Mauds Mutter hatte bis 
vor kurzem dieſer Verlobung ihrer Tochter noch widerſtrebt, 
aus dem einzigen Grunde, weil Maud ihr noch zu jung 
erſchienen war, um den bedeutſamen Schritt, einem Manne 
ihr Wort für das Leben zu verpfänden, thun zu können. 
Aber auch in dieſer Hinſicht hatte Edith, wie es ſchien, 
ihre Meinung vollkommen gewechſelt, war ſie es doch ge⸗ 
weſen, welche den jungen Mann ſelbſt auf ihren reizenden 
Sommerſitz eingeladen und ſein Liebeswerben um Maud 
ſichtlich begünſtigt hatte. 

Und als Maud und Daly eines Abends im Garten 
unter dem Weinſpalier, deſſen Trauben in der zarten Blüte 
ſtanden, um ihren Segen baten, da ſchloß ſie ihre Kinder 
in die Arme und heiße Thränen floſſen über ihre Wangen 
herab, als ſie ausrief: „Werdet glücklich und vergeßt mich 
niemals — nie — nie!“ 

Aber als ſie an demſelben Abend mit ihrem Gatten 
allein war, fragte ſie plötzlich ohne alle Veranlaſſung: 
„Nicht wahr, du hältſt Daly auch für einen Mann von 
feſtem Charakter und unerſchütterlicher Konſequenz?“ 

„Ohne Zweifel — er iſt ein Mann, auf den man un⸗ 
bedingt vertrauen kann.“ 

„Und er würde ſicherlich niemals von Maud ablaſſen?“ 

„Welche Frage! Er liebt doch unſer Kind von ganzem 
Herzen.“ 

„Ich weiß es. Aber ſelbſt wenn irgend etwas geſchähe, 
was Daly dieſe Verbindung nicht mehr ſo wünſchenswert 
erſcheinen ließe, wenn unſere Familie nicht mehr dieſelbe 
Reputation beſäße — nein, nein, fahre nicht auf, mein 
Freund — ich weiß, daß das ein ganz unmöglicher Fall 
iſt — ich wählte ihn nur als Beiſpiel.“ 

Der Senator ſchüttelte unwillig den Kopf. „Solche 
Beiſpiele ſind gar nicht zu diskutieren,“ erwiderte er, „im 


Kriminalnovelle von Harry Sheff. 153 


übrigen — Daly iſt der Mann meines Herzens und meines 
Vertrauens.“ — — — 

Gertrud hatte durch Maud, mit welcher ſie in Kor⸗ 
reſpondenz geblieben war, alle dieſe wichtigen Ereigniſſe 
erfahren und Kenntnis von dem heiteren, ſonnigen Daſein, 
welches die Familie des Senators führte; ſie vermochte, 
trotzdem ſie alle Vernunftgründe ſelbſt gegen ihre An⸗ 
ſchauung ins Feld führte, nicht die Empfindung los zu 
werden, daß Frau Edith Jefferſon ihrem Verſprechen in 
Bezug auf den armen Franz Schneider treulos geworden 
ſei und nun die Sache gehen ließe, wie ſie eben ging. 

„O, die reichen Leute,“ ſeufzte Gertrud, „ſie vergeſſen 
im Genuß die Leiden ihrer Mitmenſchen und ſelbſt die 
Edelſten, die Beſten glauben die Pflichten der Barmherzig⸗ 
keit erfüllt zu haben, wenn ſie eine beſtimmte Summe 
Geldes opfern. Und ich habe ſo feſt auf die Hilfe dieſer 
Frau gerechnet — ſie ſchien ihrer Sache ſo gewiß zu ſein. 
Armer, lieber, guter Franz — nur Gott kann dir noch 
helfen in deiner Not!“ 

Träge und langſam krochen die Stunden dahin. Ger⸗ 
truds Unruhe wuchs von Minute zu Minute. Sie wußte 
zwar, daß ein Urteilsſpruch noch nicht erfolgt ſein könne, 
daß die Verhandlungen ſich bis zum ſpäten Abend hinziehen, 
und die Beratung der Geſchworenen vielleicht die ganze 
Nacht andauern würden, aber Edmund hatte ihr verſprochen, 
von Zeit zu Zeit Nachricht zu ſchicken, welche Wendung 
der Prozeß genommen, und daß dieſe ausblieb, ſteigerte 
Gertruds Angſt um beträchtliches. 

Sie war nicht im ſtande, eine Speiſe zu berühren, und 
nirgends fand fie Ruhe. Der Abend fam heran, die Sonne 
ſank, und ihre Schatten erfüllten die Straße. Das junge 
Mädchen trat vom Fenſter, durch welches ſie ſtundenlang 
hinausgeſchaut, als könne ſie dadurch Edmunds Botſchaft 
beſchleunigen, zurück. 


154 Der Tombsengel. 


Verzweifelt ſank fie auf einen Seſſel nieder und ſchlug 
die Hände vor das Geſicht. 

Da erklang plötzlich die Glocke, ſchrill und ungeſtüm. 
Und ehe Gertrud die Thür noch erreichen konnte, um zu 
öffnen, wiederholte ſich dieſes Erregung und Haſt verratende 
Klingeln mehreremal. 

„Nachricht! O, mein Gott, du guter, milder Gott — 
laß ſie eine freudige Nachricht ſein!“ 

Mit dieſem Gedanken öffnete Gertrud die Thür. Be⸗ 
troffen prallte ſie jedoch zurück, denn ſtatt des ſehnlichſt 
erwarteten Boten ſtand — eine elegant gekleidete Dame 
vor ihr. 

„Miß Schlieben, ſind Sie allein?“ fragte eine in Un⸗ 
ruhe erbebende Stimme. 

„Sie? — Miſſis Jefferſon — Sie — o Gott, was 
führt Sie heute hierher?“ 

Die Gattin des Senators trat haſtig ein, und ohne 
Gertruds Erlaubnis abzuwarten, ſchritt ſie in das nächſte 
Zimmer. Ihr Gang war unſicher und ſchwankend wie 
der einer Trunkenen, und Gertrud fuhr aufs tiefſte er— 
ſchrocken zuſammen, als ſie einen Blick in das Geſicht der 
Frau that. Es ſah aus, als habe eine innere Krankheit dieſe 
ſonſt ſo gleichmäßig ſchönen Züge verwüſtet. Graue Ringe 
umlagerten die Augen, deren flackernder Glanz ein unnatür⸗ 
licher war und dem Widerſchein des Fiebers glich. Tiefe 
Falten waren in die hohe Stirn eingegraben und zeichneten 
ihre Spuren um Augen und Mund. Gertrud wollte es 
ſogar ſcheinen, als ſei das volle Haar Ediths viel grauer 
geworden, ſeit ſie die Gattin des Senators zum letztenmal 
geſehen. Alles in allem — das war keine lebensfrohe, 
keine glückliche Frau, nicht die zufriedene Mutter einer ge— 
liebten und liebenden Braut, nicht die Gattin eines Mannes, 
auf deſſen Beſitz ſie mit Recht ſtolz ſein konnte — das 
war ein von inneren Qualen verzehrtes, gehetztes, von 


Kriminalnovelle von Harry Sheff. 155 


Fieber geſchütteltes Weib, welches nur mit äußerſter Wn: 
ſtrengung ihre Selbſtbeherrſchung bewahrte. 

„Sie ſind krank, Miſſis Jefferſon,“ ſtieß Gertrud her⸗ 
vor, nachdem Mauds Mutter mit einem gebrochenen Laut 
auf einen Stuhl gefallen war, was kann ich für Sie thun?“ 

Edith wehrte mit einer energiſchen Bewegung ab. „Nein, 
nein, ich bin ganz wohl,“ ſtieß ſie hervor, „nur die Er⸗ 
regung — die Haſt, in welcher ich hierherfuhr. Ich bringe 
eine — eine — Freudenkunde!“ 

„In Bezug auf Franz Schneider? O, ſäumen Sie 
nicht, zögern Sie nicht. Während wir hier dieſe Worte 
wechſeln, wird vielleicht ſein Schickſal entſchieden. Sind 
Beweiſe ſeiner Unſchuld entdeckt — wird er endlich von der 
furchtbaren Anklage gereinigt daſtehen? Sprechen Sie — 
beenden Sie meine qualvolle Ungewißheit, ich flehe Sie an!“ 

Edith Jefferſon hatte ſich langſam erhoben. Ihre Lippen 
zuckten, ihre Augen ſtarrten ins Leere. Sie zog aus der 
Taſche ihres dunklen Sommerkleides ein in Briefform ge— 
faltetes, mit einem Siegel verſehenes Papier. Wie von 
einem elektriſchen Strom durchfloſſen zitterte die Hand, 
welche dieſes Dokument hielt. 

„Da — da nehmen Sie es,“ kam es ſtöhnend von ihren 
Lippen, als verurſache ihr jedes Wort, welches ſie ſprach, 
unendliche Schmerzen, „ſo — nehmen Sie es doch, damit — 
es nicht — abhanden kommt — nicht in dieſer Minute 
noch — von — irgend jemand vernichtet wird — dieſes 
Papier. Bringen Sie es ſo ſchnell als möglich zum Ge— 
richt — übergeben Sie es Doktor Baker, dem Verteidiger — 
es enthält alles — jeden Aufſchluß — Franz Schneider iſt 
unſchuldig und ich — ich — ich habe in dieſem Dokument 
den wahren Mörder genannt. — Nun — ſo nehmen Sie 
doch, greifen Sie doch zu — und geben Sie es niemand — 
hören Sie, niemand zurück — wer Sie auch darum bittet — 
ſelbſt mir nicht — mir am wenigſten!“ 


156 Der Tombsengel. 


Seltſame Angſt erfaßte Gertrud. Sie verſtand nur 
halb, was die namenlos erregte Frau zu ihr ſprach, doch 
das eine war ihr klar, daß ſie ſich unter allen Umſtän⸗ 
den jenes für Franz ſo koſtbaren Papieres bemächtigen 
mußte. Sie that es und barg das Dokument in ihrer 
Taſche. 

„Wird man aber auch jenen Zeilen, jenen ſchriftlichen 
Angaben Glauben ſchenken?“ fragte ſie die Gattin des 
Senators. 

Dieſe hatte ſich zur Schwelle des Gemaches zurück⸗ 
gezogen. In völliger Erſchöpfung lehnte ſie am Thür⸗ 
pfoſten, krampfhaftes Erbeben ſchüttelte die ſtolze Geſtalt. 

Gedankenlos nickte ſie. „Man wird — dieſen Zeilen 
glauben — o man wird glauben, aber eilen Sie, Mädchen, 
eilen Sie — bedenken Sie, es gilt den Mann zu retten, 
welchen — Sie lieben! Nicht wahr — Sie lieben dieſen 
jungen Mann?“ 

„Ja — ich liebe ihn!“ antwortete Gertrud ſchlicht und 


einfach. 
„Und er liebt Sie gewiß auch. Ihr werdet glücklich 
werden. — Maud, meine Maud, mein Kind wird es auch 


ſein — liebt treu, liebt für immer — wenn Sie Maud 
ſehen, ſagen Sie ihr, daß ich ſegnend meine Hände über 
ihr halte, ſegnend und ſchützend, auch wenn — o, mein 
Kind — mein Kind — mein geliebtes Kind!“ 

„Miſſis Jefferſon — ich laſſe Sie nicht fort — Sie 
find ſehr krank — hören Sie doch, ich beſchwöre Sie —“ 

Gertruds Rufe verhallten ungehört, ſie erreichten ihr 
Ziel nicht mehr. Mauds Mutter war bereits die Treppe 
hinabgeeilt. 

Gertrud war allein — allein mit ihrer fürchterlichen 
Ahnung. Doch es blieb ihr keine Zeit, ihren Gedanken 
nachzuhängen. Es war keine Minute zu verlieren, das 
Dokument mußte in die Hände des Verteidigers des Ge— 


Kriminalnovelle von Harry Sheff. 157 


liebten gelegt werden! Sie kleidete fih in fieberhafter 
Eile an. — 

Eine halbe Stunde ſpäter betrat ſie den Gerichtsſaal. 
Der Diſtriktsattorney hatte ſoeben ſeine Rede beendet und 
den Geſchworenen auseinandergeſetzt, daß die Schuld des 
Angeklagten klar erwieſen ſei. Der nüchterne Menſchenver⸗ 
ſtand müſſe zugeben, daß zwiſchen dem gewaltſamen Tod 
Taylors und dem plötzlichen Auftauchen ſeines Sohnes und 
einzigen vollberechtigten Erben in Amerika ein Zuſammen⸗ 
hang beſtehe. Als Motiv des Mordes ſehe er, der öffent: 
liche Ankläger, das Beſtreben des Angeklagten an, ſich ſo 
ſchnell als möglich in den Beſitz des väterlichen Vermögens 
zu ſetzen. Selbſt aber wenn die Jury dieſe gewinnſüchtige 
Abſicht nicht als Grund des Verbrechens anſehen wolle, ſo 
müſſe doch zugeſtanden werden, daß der Angeklagte die 
blutige That im Streit mit dem Vater begangen habe. Das 
Verbrechen ſtelle ſich als ein um ſo ſtrafwürdigeres dar, 
als es von dem Sohn an ſeinem Vater begangen ſei. In 
jedem Falle liege Mord im erſten Grade vor, und die Jury 
erfülle nur ihre Pflicht, wenn ſie einen Menſchen, der den 
amerikaniſchen Boden nur betreten, um Blut zu vergießen, 
die ganze Schwere des Geſetzes fühlen laſſe. 

Tiefe Stille herrſchte in dem dicht gefüllten Gerichts⸗ 
ſaal. Die Rede des jungen Diſtriktsattorney, der mit 
feuriger Beredſamkeit geſprochen, hatte augenſcheinlich ihre 
Wirkung weder auf die Geſchworenen noch auf das Publi: 
kum verfehlt, man las es den Anweſenden von den Ge⸗ 
ſichtern ab, daß der Stab über Franz Schneiders Haupt 
gebrochen war. Nur ein einziger im Saal ſchaute nach wie 
vor freundlich lächelnd zu dem Angeklagten hinüber und 
ſchien ihm durch Kopfnicken und vergnügliches Schmunzeln 
allerlei ermunternde Zeichen zu geben — Kaſpar Drill, der 
Tramp, einer der wenigen, welche von des Angeklagten 
Unſchuld überzeugt waren. 


158 Der Tombsengel. 


| Nun machte fih Doktor Baker, der Verteidiger, bereit, 

die Angriffe des öffentlichen Anklägers zurückzuſchlagen. Der 
ſtattliche weißhaarige Herr erhob ſich, rückte das Pincenez 
auf dem Sattel der feingeſchnittenen Naſe zurecht und wollte 
ſeine Rede ſoeben beginnen, als eine junge Dame an die 
Schranken herantrat und ihm ein verſiegeltes Papier über⸗ 
reichte. Der Advokat warf einen höchſt erſtaunten Blick 
auf den Brief wie auf die Ueberbringerin, dieſe aber gab 
ihm im Flüſterton eine Erklärung und zog ſich dann an 
die Seite eines jungen Mannes zurück, der in der Nähe 
des Angeklagten im Publikum ſeinen Platz hatte. Die Blicke 
des jungen Deutſchen, über deſſen Wohl und Wehe ſoeben 
verhandelt wurde, folgten der lieblichen Geſtalt, und ein 
flüchtiges Rot huſchte für einige Augenblicke über ſeine ver⸗ 
grämten Wangen. 

Eine noch viel auffallendere Veränderung ging jedoch 
mit dem Verteidiger vor. Der alte Herr hatte haſtig das 
Siegel, welches das ihm überbrachte Papier verſchloſſen, 
gelöſt, den Brief entfaltet und den Inhalt desſelben über⸗ 
flogen. Dabei nahmen ſeine Züge mehr und mehr den 
Ausdruck der Beſtürzung an, und endlich lehnte ſich der ſonſt 
ſo kühl und ruhig erſcheinende Mann in ſeinen Seſſel 
zurück, und das Papier entſank ſeinen zitternden Händen. 

Nach einigen Minuten erſt hatte er ſich einigermaßen 
gefaßt. Langſam erhob er ſich, überſchaute den Gerichts— 
faal mit unruhigen Blicken und ſagte dann mit hohlklingen⸗ 
der Stimme, ſich an den Präſidenten des Gerichtshofes 
wendend: „Euer Ehren! Ich habe ſoeben den Beweis er— 
halten, daß eine Verurteilung des Angeklagten einem 
Juſtizmord gleichen würde. In letzter Stunde hat der 
wahre Thäter, der an dem Tode Taylors die alleinige 
Schuld trägt, ein volles und umfaſſendes Geſtändnis ab— 
gelegt. Da giebt es keinen Zweifel, da giebt es für mich 
auch kein Zögern, der Wahrheit in ihrem vollen Umfange 


Kriminalnovelle von Harry Sheff. 159 


Geltung zu verſchaffen. Dieſer brave junge Mann tft vor 
all dieſen Zeugen, vor der Welt als Mörder gebrandmarkt 
worden — möge denn auch die Welt erfahren, daß nicht 
er jenes Mannes Tod verſchuldet, ſondern daß Taylor, am 
Ende eines verbrecheriſchen und makelvollen Lebens angelangt, 
getötet wurde durch die Hand einer Frau, für welche er 
zur Geißel ihres Lebens geworden war, einer Frau, die 
durch ein Daſein voll von edlen Thaten und leuchtenden 
Tugenden die Schwachheit und die Sünde einer dunklen 
Stunde abzubüßen beſtrebt war, und welche doch ſchließlich 
durch die Feſſel in den Abgrund geriſſen wurde, welche ſie 
ſelbſt in jener unheilvollen Stunde ſich um den Fuß ge⸗ 
wunden. — Sie ſahen mich ſoeben bereit, Euer Ehren, 
Gentlemen der Jury, meine Verteidigungsrede für den An: 
geklagten zu beginnen. Aber alles, was ich ſagen wollte, 
ift hinfällig und überflüſſig geworden durch das Selbſt— 
bekenntnis der Schuldigen, deren herzbewegende Beichte ich, 
wenn Sie es geſtatten, Ihnen zu Gehör bringe.“ 

Der Präſident neigte zuſtimmend das Haupt, die Ge: 
ſchworenen ſchauten erwartungsvoll auf den greiſen Anwalt, 
und der Angeklagte hatte die Hände wie zum Dankgebet 
gefaltet und blickte ſinnend vor ſich nieder. 

Der Verteidiger aber las mit anfangs ein wenig un: 
ſicherer, dann aber klarer und feſter werdender Stimme die 
Selbſtanklage einer Unglücklichen. — — — 

„Es ift Zeit! Morgen werden fie das „Schuldig“ 
über den ausſprechen, der um meiner Schuld willen 
büßen fol. Und man iſt ſchnell in dieſem Lande, der Ber: 
urteilung folgt die Strafe auf dem Fuß. Wer weiß, ob 
man ihn nicht ſchon ſehr bald zum elektriſchen Stuhl ſchleppt, 
und dann — oder er macht, von der Verzweiflung erfaßt, 
mit eigener Hand ſeinem Leben ein Ende! 

Was dann? — Dann ſteigt die Summe meines Ver— 
brechens rieſenhoch und — dann, dann erſt habe ich gemordet! 


160 Der Tombsengel. 


Nein, es iſt Zeit! Die Friſt, die ich mir ſelbſt, meinem 
Daſein und meinem Glück verſchafft — ſie iſt abgelaufen. 
Ich darf nicht länger auf Koſten eines anderen glücklich 
ſein. Ach, dieſe wenigen Wochen, die mir noch vergönnt 
waren, im Kreiſe der Meinen Stunde um Stunde zu ge⸗ 
nießen, ſie waren von Seligkeit und Freude erfüllt, aber 
auch von folternder Angſt, von Seelenpein, von tauſend 
Schmerzen, die um ſo qualvoller mein Herz zerriſſen, als 
jeder entfliehende Augenblick mich dem Ende näher brachte, 
dem Ende, welches nun da iſt. 

Es iſt Zeit — ich will bekennen! 

Nichts will ich beſchönigen, nichts bemänteln. Ich ſtehe 
vor keinem irdiſchen Richter, ich ſtehe vor meinem Gott. 
Sein Auge, welches das Dunkel durchdringt, ſieht in die 
geheimſte Kammer meiner Gedanken. 

Es iſt Zeit — ich will mich ſchuldig bekennen! Ich 
habe Taylor erſtochen, ich allein und niemand hat darum 
gewußt — kaum ich ſelbſt! 

Iſt es wirklich ein Verbrechen, daß ich einen Teufel 
aus der Welt geſchafft, daß ich ein Ungeziefer zertreten 
habe, eine Schlange vernichtet? Menſchen müſſen mich ver: 
urteilen — Gott wird mir verzeihen! 

Fünfundzwanzig Jahre ſind vergangen, ſeit ich meine 
Verzweiflung, den nagenden Schmerz, meine Liebe ver⸗ 
ſchmäht zu ſehen, durch die unſeligſte That meines Lebens 
zu vergeſſen ſuchte. 

Ich war eine gefeierte Sängerin in Dresden. Obwohl 
meine Stimme durchaus für die Oper genügend ausgiebig 
geweſen wäre, wandte ich mich doch dem leichteren Genre der 
Operette zu. Dort war ich die Erſte, an der Großen Oper 
hätte ich die Lorbeeren mit anderen teilen müſſen. Ich erreichte 
mein Ziel. Ich wurde gefeiert, man überſchüttete mich 
mit Geſchenken und Aufmerkſamkeiten, und die eleganteſten 
Männer der Reſidenz lagen mir zu Füßen. Ich leerte den 


Kriminalnovelle von Barry Sheff. 161 


Becher des Genuſſes in vollen Zügen. Aber niemals beugte 
ich einem Manne meinen Stolz. Ich ſcherzte mit denen, 
die mir gefielen, ich nahm ihre Blumen und Juwelen. 
Aber niemals verkaufte ich meine Gunſt. Nein, der himm⸗ 
liſche Vater weiß es, niemals! 

Auch trug ich den beſten Schutz gegen jede Verſuchung 
in mir. Ich liebte! Aber dieſe Liebe war hoffnungslos, 
denn der Mann, welchem mein Herz entgegenſchlug, war 
mit einem reichen, ſchönen und liebenswürdigen Mädchen 
verlobt. Er war unſer Kapellmeiſter, ein begabter Künſtler, 
ein Muſiker und Komponiſt von Gottes Gnaden. Die 
Flammen verzehrender Leidenſchaft ſchlugen über mir zu— 
ſammen, dieſe Liebe beugte meinen Stolz und beraubte 
mich jeder Ueberlegung. Ich war nicht mehr dieſelbe, ich 
träumte Tag und Nacht nur von jenem Manne und lebte 
nur, wenn ich mich in ſeiner Nähe befand. Er aber blieb 
kühl, höflich und gleichmäßig freundlich mir gegenüber, ja, 
es wollte mir ſogar ſcheinen, als ſpräche er in meiner Gegen— 
wart mit wohlüberlegter Abſicht von ſeiner Braut. Ich 
war dem Wahnſinn nahe. Glaubte ich doch ohne dieſen 
Mann nicht leben zu können, und in drei Tagen ſollte 
ſeine Hochzeit mit einer anderen ſtattfinden. Und ich that 
den letzten verzweifelten Schritt. Wie wenige Frauen wer— 
den ihn verſtehen! Ich ſank ſchluchzend vor dem Manne 
meiner heißen Liebe nieder und geſtand ihm, was ich für 
ihn empfand. 

Er ſprach gütig, brüderlich, tröſtend mit mir, doch der 
Inhalt ſeiner Erwiderung war — meine Zurückweiſung! 

Und nun trieb mich die Verzweiflung — zum Selbſt— 
mord. Ja, ich beging Selbſtmord, obwohl ich nichts unter— 
nahm, um meinen Lebensfaden abzuſchneiden. Doch ich 
tötete meine Ehre, mein bisheriges Leben und, ohne es 
zu wiſſen, auch meine Zukunft — an demſelben Tage, an 
welchem der Kapellmeiſter ſeine Hochzeit feierte. 

1900. III. 11 


162 Der Tombsengel. 


Unter meinen Verehrern befand fic) ein Bauunter⸗ 
nehmer Schneider. Der Mann war verheiratet und beſaß 
ein Kind. Man ſagte, er ſei reich, er warf auch mit dem 
Gelde um ſich, ſobald es ſich um mich handelte. Oft hatte 
er mich ſchon angefleht, mit ihm zu entfliehen, die Seine 
zu werden in einem fremden Lande, in welchem ſeine Ehe— 
feſſeln ihn nicht hinderten, mich zu beſitzen, doch ſtets hatte 
ich ihn entrüſtet zurückgewieſen. Aber als ich von jener 
Unterredung mit dem von mir geliebten, mich aber ver⸗ 
ſchmähenden Manne zurückkehrte, war Schneider der erſte, 
dem ich in meiner Wohnung begegnete. 

„Sind Sie noch bereit, mit mir zu entfliehen?“ fragte 
ich ihn ohne jede Einleitung. 

„Heute noch, wenn Sie es ſo wollen,“ erwiderte er 
und erfaßte meine Hände. 

„Gut. Erwarten Sie mich nach der Vorſtellung — 
ich gehe mit Ihnen, nur führen Sie mich weit, weit fort 
von hier.“ 

Wir flohen, wir wandten uns nach den Vereinigten 
Staaten. Hinter uns ließen wir eine arme, unglückliche 
Frau, ein verlaſſenes Kind und zwei zertrümmerte Exi⸗ 
ſtenzen. 

In Chicago ließen wir uns nieder. Ich liebte Schnei⸗ 
der nicht, aber ich hatte beſchloſſen, ihm eine treue, nützliche 
Lebensgefährtin zu ſein, und ich traf Anſtalten, mein Wort 
zu halten. Es ſtellte ſich nämlich heraus, daß Schneider 
nur eine ſehr geringe Barſchaft mitgenommen hatte, und 
ſehr bald trat die Frage an uns heran, wie wir unſeren 
Lebensunterhalt erwerben könnten. Schneider, der indeſſen 
ſeinen Namen in Taylor umgewandelt hatte, fand ſchließlich 
Stellung, ich aber erteilte Geſangsunterricht und erwarb 
damit mehr, als er an Gehalt erhielt. 

Doch meine Einnahmen genügten dem gewinnſüchtigen 
Manne bald nicht mehr. Ich konnte ja weit mehr ver: 


Kriminalnovelle von Barry Sheff. 163 


dienen. War ich doch jung und ſchön und im Beſitz einer 
vortrefflichen Stimme, in jeder Singſpielhalle mußte ich 
Triumphe feiern und hätte viel Geld verdienen können. 
Taylor drängte mich, dieſen Weg zu betreten. Er hatte 
glänzende Engagementsanträge für mich in der Taſche. 
Ich aber weigerte mich auf das entſchiedenſte. Er bat, er 
befahl, er drohte — ich blieb beharrlich. 

Ein Jahr lang kämpften wir miteinander — endlich 
kam es zum Bruch. Ich hatte ſeine elenden Eigenſchaften 
und ſeine Charakterloſigkeit zur Genüge kennen gelernt, ich 
verachtete dieſen Mann und verließ ihn. 

Dieſer Entſchluß ſchien zu meinem Glück zu ſein. Ich 
wandte mich nach dem Süden und langte mit nur wenigen 
Dollars in New Orleans an. Aber bald gelang es mir, 
mich in die erſten Familien der Stadt einzuführen und 
gegen vortreffliche Bezahlung Unterricht zu erteilen. Ich 
hatte meinen Mädchennamen wieder angenommen. Nach 
zwei Jahren lernte ich meinen jetzigen Gatten kennen. Er 
war vornehm, ritterlich und klug — ein Mann, den man 
achten und gern haben mußte. Wir prüften uns ein Jahr 
lang, dann erſt vereinigten wir uns fürs Leben. War ich 
zu tadeln, daß ich Jefferſon mein Vorleben, beſonders meine 
Flucht mit Taylor, verſchwieg? Ihm dieſe Epiſode meiner 
Vergangenheit geſtehen, wäre gleichbedeutend mit dem Ber: 
luſt des teuren Mannes geweſen. Und ich war ſo ſtolz 
darauf, ſein Weib zu ſein. 

Unſere Ehe wurde eine ungetrübt glückliche. Alle guten 
Inſtinkte und Fähigkeiten, welche ich in mir trug, wurden 
durch das Zuſammenleben mit einem hochintelligenten, geiſt— 
vollen und edlen Mann entwickelt, ich wurde eine andere, 
ich erfaßte den Kern des Daſeins. Die Geburt einer Tochter 
beſiegelte unſer Glück. Mein Gatte, welcher ſich der poli— 
tiſchen Thätigkeit gewidmet hatte, ward, als unſere Maud 
zwölf Jahre zählte, als Senator nach Waſhington geſendet, 


164 Der Tombsengel. 


und wir begleiteten ihn und bewohnten dann ein herrliches 
Heim in New Port. 

Als ich die Schwelle desſelben überſchritt, ahnte ich 
nicht, daß neben mir, unſichtbar meinem Auge, das Un: 
glück ſchritt. 

Ich widmete mich Werken der Barmherzigkeit und der 
Nächſtenliebe. Was ich that und was ich in dieſer Be— 
ziehung opferte, erſchien mir alles noch zu wenig im Ber: 
gleich mit jener hohen Schuldſumme, welche ich dem Himmel 
zu zahlen hatte. Mein beſcheidenes Wirken, beſonders den 
Elendeſten der Elenden, den Verbrechern und Gefallenen 
gegenüber, fand in der großen Oeffentlichkeit Anerkennung, 
man gab mir einen ehrenden Beinamen, und von Zeit zu 
Zeit brachten die Zeitungen mein Bild. Dies ſollte mein 
Verderben werden. 

Es war vor drei Jahren an einem ſchneetrüben Winter⸗ 
nachmittag. Maud war mit ihrer Erzieherin in die Oper 
gefahren, mein Gatte hatte fih in fein Arbeitszimmer zurück⸗ 
gezogen, und ich ſaß in meinem Boudoir und las in einem 
kürzlich erſchienenen Reiſewerk. 

Da trat unſer alter Diener ein und meldete mir, daß 
ein alter, ärmlich gekleideter Mann mich zu ſprechen wünſche. 
Er habe ſich nicht abweiſen laſſen und dem Diener ge— 
antwortet, die Dame kenne ihn ſchon gut genug — er ſei 
ihr von Chicago her bekannt. : 

Von Chicago! Ich ſchrak zuſammen. Taylors Bild 
ſtand plötzlich vor mir. Kaum hatte ich ſeiner noch jemals 
gedacht — ich hatte ihn tot gewähnt, zum mindeſten tot 
für mich und nun — doch es war ja unmöglich, daß er, 
er ſelbſt es wirklich ſein ſollte! 

Doch er war es. Zwar nicht mehr derſelbe Alfred 
Schneider, den ich gekannt, denn er war alt geworden, 
grauhaarig, zuſammengeſchrumpft, und ſeine Kleidung be— 
wies, daß er nichts mehr auf das Urteil der Welt gab, 


Kriminalnovelle von Harry Sheff. 165 


aber er war es doch — ich erkannte ihn ſofort wieder, als 
er die liſtigen blaugrauen Augen auf mich richtete und mir 
höhniſch zurief: „Haſt alſo dein Glück gemacht, Frauchen, 
haſt einen reichen Gimpel eingefangen? Nun, ich bin's 
zufrieden, denn du wirſt mir doch auch ein paar Biſſen aus 
der goldenen Schüſſel gönnen?“ 

Ich ſtarrte ihn ſtumm und faſſungslos an. Er war 
alſo gekommen, um Geld zu erpreſſen, und er hatte mich 
in der Hand, der Elende, das wußte er gut genug. 

„Stopfe mir den Mund mit Bankbillets, Liebchen,“ 
raunte er mir mit heiſerer Stimme zu, „ſonſt erzähle ich 
deinem Mann, dem Herrn Senator, einige pikante Ge— 
ſchichten.“ 

Ich wußte, daß ich von dieſem Schurken kein Erbarmen 
zu hoffen hatte, ich drückte ihm eine namhafte Summe in 
die Hand, und er verſchwand. Verſchwand, um wieder 
zu kommen, immer wieder und immer wieder, bald mit 
ſeiner eigenen verhaßten Perſönlichkeit mir Todesangſt einzu— 
flößen, bald mir durch Briefe, durch ſchimpfliche Drohungen 
die Ruhe meiner Nächte zu rauben. 

Ich mußte zahlen — zahlen und immer wieder zahlen. Der 
Vampir kniete auf meiner Bruſt und ſaugte mein Herzblut. 

Und doch beſaß ich nicht den Mut, meinem Manne 
ein offenes Geſtändnis abzulegen. Die Scham drohte mich 
zu töten bei dieſem Gedanken. Lieber opferte ich alles, 
was mir an Geld und Juwelen entbehrlich war, und was 
ich durch die Güte meines Gatten erlangen konnte. Vier 
Jahre führte ich ein Doppelleben voll Qual und Entſetzen. 
Ich mußte Ruhe heucheln, mußte lächeln, fröhlich und 
glücklich ſcheinen, und doch wurde ich in jeder Minute von 
dem Gedanken gefoltert: Wo bekomme ich das nächſte Geld 
her, den Dämon niederzuhalten, den unerſättlichen Mahner 
zu befriedigen? 

Und er war niemals zufrieden mit meinen Opfern. 


166 Der Tombsengel. 


Seine Forderungen hörten niemals auf, ich mußte zu Vor: 
wänden, zu Unwahrheiten meine Zuflucht nehmen, um von 
meinem Gatten die bedeutenden Summen zu erhalten, welche 
ſeine Geldgier mir abpreßte und verſchlang. 

Da empfing ich eines Morgens einen Brief von ihm. 
In befehlendem Ton gab er mir zu verſtehen, daß er mich 
in ſeiner Behauſung auf Long Island zu ſprechen wünſche. 
Ich durfte dieſem Befehl nicht trotzen. Ich ließ mich in 
meiner Segeljacht hinüberfahren. 

„Was willſt du von mir?“ fragte ich rauh. „Welche 
neue Forderungen haſt du erſonnen? Ich kann, hörſt du, 
ich kann nicht mehr meinen Mann betrügen, ihm für dich 
große Summen ablocken — ich werde es auch nicht thun, 
und wenn es zum Aeußerſten kommt.“ 

Frech und finſter blickte er, am Tiſche ſitzend, zu mir 
auf. „Du wirſt folgſam ſein, ſchöne Edith,“ lachte er, 
„ich habe ſoeben einen ausgezeichneten Bundesgenoſſen be⸗ 
kommen, der deinem Mann noch mehr erzählen kann als 
ich ſelbſt. Biſt du nicht auf dem Wege zu meinem Hauſe 
einem hübſchen jungen Mann begegnet?“ 

Es war in der That der Fall geweſen. Ich nickte zu- 
ſtimmend. , 

„Das war mein Sohn,“ fuhr er fort, „der Junge, den 
ich um dich im Stich gelaſſen habe. Haha — ich werde 
ihn zum Herrn Senator ſchicken, er mag ihm erzählen, was 
ſeine Mutter über dich zu ſagen hat.“ 

Meine Kniee drohten zu brechen, ich hielt mich an der 
Platte des Tiſches nur mühſam aufrecht. 

„Das wirſt du nicht!“ ſtöhnte ich. „Du biſt elend und 
verworfen, aber deinen eigenen Sohn zu einer fluchwürdigen 
Erpreſſung brauchen — nimmermehr!“ 

„Warum nicht? Dem Jungen wird der Herr Senator 
glauben, deſſen bin ich gewiß. Aber du kannſt es ver⸗ 
hüten, wenn du meine letzte Forderung bewilligſt.“ 


Kriminalnovelle von Harry Sheff. 167 


„Deine letzte? Wie oft haft du das ſchon geſagt!“ 

„Diesmal iſt's Ernſt. Ich werde Amerika verlaſſen. 
Aber ich brauche dreißigtauſend Dollars.“ 

„Biſt du wahnſinnig? Wie ſoll ich ein ſolches Ver— 
mögen auftreiben?“ 

„Ich verlange es nicht in bar. Unterſchreibe Wechſel 
für dieſen Betrag.“ 

„Wechſel? Ich ſollte dir meine Schande, meine Schwäche 
ſchwarz auf weiß geben — lieber ſtürze ich mich noch 
heute in die Fluten des Ozeans.“ 

Der grauſame Mann zuckte kalt und überlegen die 
Achſeln. „Du ſchreibſt — oder morgen weiß „er“ alles!“ 

Ich ſank ihm zu Füßen, ich bat, ich flehte, ich bettelte 
um Schonung. Doch eher hätte ich einem Felſen Gefühl 
einflößen können als dieſem Schurken. 

„Schreibe, denn ich werde meine Forderung nicht um 
einen Cent ermäßigen,“ rief er, „eher ſoll dieſes Meſſer 
in meiner Hand Leben bekommen und ſprechen können, 
ehe deine Thränen mich erweichen.“ 

Das Meſſer! Er ſelbſt hatte den Funken in meine 
Seele geworfen. Das Meſſer! Ja, es bekam plötzlich 
Leben — es ſprach zu ihm. 

Mit einem Schrei warf ich mich auf ihn — das 
Meſſer blitzte in meiner Hand und dann — — — Ich 
ſah ihn am Boden liegen, ſah ſein Herzblut fließen. — 
Menſchen, die ihr keine Engel ſein wollt, die ihr menſchlich 
fühlt, verachtet mich dafür, daß ich jubelte, lachte. Ich 
war ja frei — frei — frei! — 

Männer der Jury, ich bin zu Ende! Das Urteil will 
ich von euch und der Welt empfangen, vollſtrecken werde 
ich es ſelbſt. Möge der höchſte Richter mir gnädig ſein! —“ 

Thränen erſtickten die Stimme des greiſen Advokaten, 
als er die Verleſung dieſer ergreifenden Selbſtanklage be— 
endet hatte. 


168 Der Tombsengel. 


Der Präſident flüfterte dem Obmann der Jury einige 
Worte zu, dann erhob er ſich und ſagte feierlich: „Der 
Angeklagte iſt bis zum nächſten Termin dieſer Sache auf 
freien Fuß geſetzt und der Obhut ſeines Anwalts über: 
geben.” 

Und leiſe, ohne Geräuſch und in tiefem Ernſt entfernte 
ſich die Jury und das Publikum aus dem Saale. 

Einige Tage ſpäter zogen Fiſcher aus den Fluten der 
Bai, welche die Küſte Long Islands beſpült, die Leiche 
einer elegant gekleideten Frau. | 

„Du,“ ſagte der eine, während er die vom Waſſer 
triefende Geſtalt auf dem Boden ſeines Fahrzeuges bettete, 
und der andere ſein Netz vom Schlamm reinigte, „wir 
haben den beſten Zug unſeres Lebens gethan. Fünftauſend 
Dollars Belohnung, welche auf die Bergung dieſer Leiche 
geſetzt waren, ſind verdient. Wir haben den Tombsengel 
in unſerem Netz gehabt!“ 


Franz Schneider verließ mit Gertrud und deren Bruder 
bald darauf den ungaſtlichen Boden der Neuen Welt. Langes 
ungetrübtes Glück erſt vermochte den düſteren Ernſt, den 
jene Erlebniſſe auf ſeinen Zügen eingegraben, verſchwinden 
zu machen. Er ſelbſt war es, der mir dieſes tragiſche 
Stück Menſchenſchickſal vor kurzem erzählte. 


H 


SS ge —r . — u. —̃ —-—ʒ q g ——u— I —t„:᷑:᷑ 
= — — E — . — Z — — —— 


ie Seevogeleier 
gesammelt werden. 
Englische Küstenbilder von E. Koller. 


Mit $ Jllustrationen. 


nach Photographien von W. J. Clarke 
in Scarborough. 


© 

(Machdruck verboten.) 
W er ſich der engliſchen Küſte nähert, 
der ſieht bei hellem Wetter 
ſchon aus weiter Ferne die hohen 
Felſen auftauchen, welche die Inſel 
wie ein natürliches Bollwerk um: | — 
ſchließen. Am bekannteſten ſind die here bei vet: 
die bis zu einer Höhe von 106 Meter ſenkrecht aus dem Meere 
emporſteigen und von denen einer ſogar den Namen Shake— 
ſpeares trägt, der ſie in ſeinem König Lear zum denkwür— 
digen Schauplatz einer ergreifenden Handlung gewählt und 

folgendermaßen geſchildert hat: 


170 Wie Seevogeleier gefammelt werden. 


Wie grauenvoll 
Und ſchwindelnd iſt's, fo tief hinabzuſchau'n! — 
Die Krähn und Dohlen, in der Mitte flatternd, 
Sehn kaum wie Käfer aus. Halbwegs hinab 
Hängt einer, Fenchel ſammelnd — ſchrecklich Handwerk! — 
Mir dünkt, er ſcheint nicht größer als ſein Kopf. 
Die Fiſcher, die am Strande gehn entlang, 
Sind Mäuſen gleich. Das mächt'ge Schiff vor Anker 
Verkleinert ſich zum Boot, das Boot zur Boje, 
Beinah' zu klein dem Blick. Die dumpfe Brandung, 
Die rauſchend mit zahlloſen Kieſeln ſpielt, 
Schallt nicht ſo hoch. — Ich ſchau' nicht mehr hinab, 
Sonſt wird mir ſchwindlig, und mein wirrer Blick 
Stürzt taumelnd mich kopfüber in die Tiefe. 


Nicht nur von Krähen und Dohlen allein ſind die 
Klippen der engliſchen Küſte umſchwärmt, ſondern auch im 
Norden und Oſten von ganzen Scharen von Seevögeln, die 
in den vielen Höhlen, Spalten und Klüften günſtige Niſt⸗ 
plätze finden. Je weiter man nach Norden vorrückt, deſto 
zahlreicher und mannigfaltiger iſt unter dieſen befiederten 
Küſtenbewohnern die arktiſche Vogelwelt vertreten. So trifft 
man zum Beiſpiel an den ſteilen Uferfelſen von York den zu 
der Ordnung der Taucher gehörigen Tordalk, der im Winter 
auch die Küſten Deutſchlands, der Niederlande und Frankreichs 
beſucht und zur Brutzeit im Frühlinge wieder nach dem Norden 
zurückkehrt; ferner die zu derſelben Familie gehörige Lumme 
oder Trottellumme, die zur Brutzeit die ſogenannten Vogel⸗ 
berge aufſucht, welche alsdann von dichtgedrängten Scharen 
ganz bedeckt ſind. Das Weibchen legt auf das nackte Ge— 
ſtein ein einziges, etwa 3 Zoll langes, dunkel getüpfeltes 
Ei, welches es abwechſelnd mit dem Männchen bebrütet. 

Wird dieſes Ei zerbrochen oder weggenommen, ſo legt 
das Weibchen ein zweites, vielleicht auch noch ein drittes. 
Die Eier der genannten beiden Arten ſind wohlſchmeckend 
und deshalb ſehr geſucht, wie auch, obſchon in etwas ge⸗ 


Don €. Koller. 171 


— 
— 


eine eigene 
Niſthöhle 
für das zu 
legende Ei 
oder ſuchen 
ſich hierzu 
eine geeig— 
nete Fels- 
ſpalte aus, 
deren Zu— 
gang ſie 
gegen Ein— 
dringlinge 
mit ihrem 


ſcharfen 


2 AA 


| ringerem Grade, die der Lund 
und Stummelmöwen, die ebenfalls 
an den Küſten der Nordſee vor— 
kommen. Die Lunde graben ſich 


FETTE 


| 
| 


Eiersammler beim Abstieg an der Felswand. 


Schnabel lebhaft verteidigen. Auch die Stummelmöwe baut 
ſich, hauptſächlich aus Seetang, in den Höhlen und Spalten 


172 Wie Seevogeleier gefammelt werden. 


der Felſen ein eigenes Neft, in welches das Weibchen drei 
oder vier roſtgelbe, dunkel gefleckte und getüpfelte Eier legt. 

Für die Bewohner des hohen Nordens ſind dieſe und 
ähnliche Vögel von der größten Wichtigkeit, da ſie neben 
dem Seehund ihre Hauptnahrung ausmachen, und die Fe⸗ 


— rr ree ~ 


3 
= €Eiersammier beim Aufstieg 
über die Felswand. 


dort ſehr geſucht. 


dern einen geſuchten 
Handelsartikel bilden. 
Aber auch in weniger 
nördlichen Breiten ſpielt 
die Vogelwelt noch eine 
große Rolle im Erwerbs⸗ 
leben der Bevölkerung; 
ſo giebt es zum Beiſpiel 
an der ſchottiſchen Küſte 
Inſeln, deren Strand: 
felſen, wie anderswo der 
Grund und Boden, un: 
ter die ſämtlichen Ein⸗ 
wohner des nächſten 
Dorfes verteilt ſind, um 
jedem Gelegenheit zu 
bieten, durch die Vogel⸗ 
jagd etwas zu verdie- 
nen. In England wer⸗ 


den die Seevögel ſelten gejagt, weil ihr Fleiſch 
nicht ſchmackhaft ift; dagegen find ihre Eier 


Die Eierſammler der engliſchen Oſtküſte 


haben ihre beſondere, ſeit alters her von Ge⸗ 
ſchlecht auf Geſchlecht vererbte Verfahrungsart, mit welcher 
ſie ähnlichen Gefahren trotzen können wie die über ſteilen 
Felswänden arbeitenden Wildheuer der Alpen. Gewöhnlich 
arbeiten vier Männer zuſammen, von denen der eine die 
Eier ſammelt, während die anderen ihn an einem langen 


Don E. Koller. 173 


Seile halten und je nach Bedürfnis über die Felſen hin— 
unterlaſſen oder heraufziehen. Der Kletterer trägt um 
den Leib einen ſtarken, mit zwei die Schenkel umſchließen— 
den Bändern verſehenen Ledergurt, durch deſſen Oeſen— 
ringe das Seil derartig verſchlungen iſt, daß er, ſelbſt 
im Zuſtande etwaiger Bewußtloſigkeit, nicht herausfallen 


n 
n 


Seevogeleiersammler mit der Ausbeute eines Morgens an den Felsen bei 
Bempton in York. 


kann. Neben dieſem Tragſeil hängt ein an einem Setzhaken 
befeſtigtes Leitſeil, das zur Erleichterung der Hin- und Her— 
bewegungen und des Aufſtieges dient. 

Nach Anlegung des Tragſeils ſchreitet der Kletterer rück— 
lings die ſteile Böſchung hinunter, die an den Rand der 
ſenkrechten oder überhangenden Felswand führt, und treibt 
dort eine mit einer langen Spitze verſehene Stahlrolle in 
den Boden oder in eine Felsritze ein. Dann läßt er das 


174 Wie Seevogeleier gefammelt werden. 


Seil über diefe Rolle laufen, erfaßt e8 mit den Händen und 
gleitet langſam über die Wand hinunter. Das obere Ende 
des Tragſeils iſt um den durch einen gepolſterten Gürtel 
geſchützten Leib eines auf dem Boden ſitzenden und ſich mit 
den Füßen gegen ein Widerlager ſtemmenden Mannes ge⸗ 


Ein Trompetenstichknoten. 


ſchlungen, der deffen Bewegungen nach Bedürfnis leitet. 
Hat der Sammler eine mit Eiern belegte Stelle erreicht, 
die etwas rechts oder links von ihm liegt, ſo verſetzt er 
das Seil und ſich durch ſanftes Abſtoßen mit den Füßen 
in eine pendelartige Bewegung, die es ihm ermöglicht, zu 
den ſonſt nicht mehr erreichbaren Stellen zu gelangen und 
ſeine zwei auf dem Rücken befindlichen Taſchen zu füllen, 


Ein von einer scharfen Felskante beinahe durchgeschnittenes Tragseil. 


worauf er vermittelſt des Leitſeils das Zeichen zum Auf: 
ziehen giebt. 

Die Hauptſchwierigkeit, namentlich bei ſtark überhangenden 
Felſen, beſteht in der richtigen Abmeſſung und Ausnützung 
dieſer Pendelbewegung; indeſſen eignen ſich die Sammler 
hierin durch langjährige Uebung eine erſtaunliche Gewandt⸗ 
heit und Fertigkeit an, ſo daß ſie im ſtande ſind, auch in 


Don E. Koller. 175 


ſchwierigen und gefährlichen Lagen eine ſchöne Anzahl Eier 
zu ſammeln, wie unſer Bild zeigt, welches die Ausbeute 
eines Morgens an den Felſen bei Bempton in Pork darſtellt. 


Der Knoten (Sst sich! 


Dieſer Teil der Küſte mit ſeinen kühnen Klippen iſt 
beſonders reich an Sees und Landvögeln. Außer den ſchon e 
genannten finden ſich daſelbſt auch viele Mauerſchwalben, 


176 Wie Seevogeleier gefammelt werden. 


Holztauben und Dohlen, welch letztere auch ihrerſeits Eier⸗ 
ſammler find. Ganze Scharen umflattern unter ohren: 
betäubendem Geſchrei den an der Felswand hängenden Eier⸗ 
ſammler, der ihnen Konkurrenz macht und bisweilen auch 
von ihnen gepickt wird, weshalb er gewöhnlich dicke Leder⸗ 
handſchuhe trägt. 

Derartige Angriffe ſind zwar für den Kletterer höchſt 
läſtig, aber nicht gefährlich; eigentliche Gefahren drohen 
ihm nur durch Steinfälle oder durch das Reißen des Seiles. 
Erſtere kommen ziemlich häufig vor und verurſachen zuweilen 
Unglücksfälle mit tödlichem Ausgange; letzteres dagegen er⸗ 
eignet ſich ſelten, weil zu dieſer gefährlichen Kletterei natürlich 
nur ſtarke Seile verwendet werden. Früher wurden dieſe 
gewöhnlich aus rohen, zu Riemen zerſchnittenen Kuhhäuten 
hergeſtellt, und ſie ſollen ſo dauerhaft geweſen ſein, daß ſie 
zwei Generationen aushielten und als wertvoller Familien: 
beſitz vom Vater auf den Sohn vererbt wurden. Jetzt werden 
gewöhnlich ſtarke Hanfſeile gebraucht, die im allgemeinen 
für ganz ſicher gelten können. Daß ſie aber nicht jede 
Gefahr ausſchließen, zeigt folgender Vorfall, der ſich erſt 
kürzlich auf der ſchottiſchen Inſel St. Kilda ereignet hat. 
Das Tragſeil war durch einen in der Seemannsſprache 
unter dem Namen „Trompetenſtich“ bekannten, auf dem 
Bilde S. 174 dargeſtellten Knoten verkürzt worden, deſſen 
Eigentümlichkeit darin beſteht, daß er die größte Spannung 
aushalten und doch durch einen beſonderen Zug mit Leid: 
tigkeit gelöſt werden kann. Während das Seil über die 
hohe Felswand hinuntergelaſſen wurde, blieb der Knoten 
an einem Vorſprung hängen und löſte ſich, wodurch der 
Kletterer plötzlich etwa zehn Meter in die Tiefe ſtürzte. 
Schon glaubte er ſich verloren, da er vermutete, daß das 
Seil geriſſen ſei, als er auf einmal durch einen jähen Ruck 
‚ aufgehalten wurde, der ihm auf einen Augenblick die Be: 
ſinnung raubte. Als er wieder zu ſich kam, bemerkte er 


Pendelnder Eiersammler. 


12 


III. 


1900. 


178 Wie Seevogeleier gefammelt werden. 


zu feinem Entſetzen, daß eine ſcharfe Felskante das Seil 
beinahe entzwei geſchnitten hatte, und daß er nur noch an 
einer Litze hing. Unterdeſſen zogen ihn ſeine Genoſſen, 
die nicht ſehen konnten, was vorgegangen war, wieder 
hinauf. Jeden Augenblick konnte die Litze reißen; dann 
wäre er rettungslos verloren geweſen. Als einzige Hoffnung 
blieb ihm nur noch das in feiner Nähe hangende Leitſeil, 
das ihm bei dem Sturz entfahren war und das er mit den 
Händen nicht mehr erreichen konnte. Er begann deshalb 
ſich ganz ſachte hin und her zu ſchwingen, bis es ihm endlich 
nach wiederholten vergeblichen Verſuchen gelang, das Leitſeil 
gerade in dem Augenblick zu erfaſſen, als das Tragſeil riß. 
Nun kletterte er behend hinauf zu ſeinen Gefährten, die 
voll banger Sorge um ihn waren und ſchon geglaubt hatten, 
er ſei mit dem abgeriſſenen Seil in die Tiefe geſtürzt. 
An der ſchottiſchen Küſte kommt es auch vor, daß. ver: 
wegene Kletterer ganz allein auf die Eierſuche gehen und 
das Seil, an welchem ſie hinabſteigen, oben vorher ſelbſt 
befeſtigen. Einem ſolchen Waghals entglitt einſt, als er 
auf dem Geſims einer überhangenden Felswand ſtand, das 
Seil, ſo daß er es nicht mehr erfaſſen konnte. In ſeiner 
gefährlichen Lage blieb ihm nichts anderes übrig, als einen 
verzweifelten Luftſprung nach dem herunterhangenden Seil 
zu wagen, der ihm glücklicherweiſe auch gelang und ſeine 
Rettung ermöglichte. 
Da, wo die Felſen zugänglich ſind, werden ſie auch 
von unten herauf von Vogelfängern und Eierſammlern er— 
klettert, die zu dieſem Zwecke mit Stangen und Netzen 
verſehen ſind. Durch dieſe Nachſtellungen wird die Zahl 
der jungen Vögel zwar beträchtlich vermindert, aber ihre 
Menge iſt ſo außerordentlich groß, daß trotzdem noch keine 
Abnahme bemerkt worden iſt. 


wf 


BEEBREBEEEERESR 


Das modernste 
Verkebrsmittel. 


Skizze aus dem Leben der Gegenwart. 
Uon Ulr. Myers. 


¢ (Nachdruck verboten.) 


Ke begegnete ich einem alten Bekannten, einem 
Ingenieur, von dem ich wußte, daß er ſich beſonders 
für Luftſchiffahrt intereſſierte. 

„Nun was giebt es Neues aus Ihren luftigen Regio⸗ 
nen?“ fragte ich ihn. 

„Nächſtens wohl gar nichts mehr,“ antwortete er zu 
meinem Erſtaunen. „Der ganzen Luftſchiffahrt droht eine 
große Gefahr. Das Intereſſe geht nämlich für uns ver⸗ 
loren, und es bleibt nur noch die blaſſe Theorie übrig. Um 
die Praxis der Luftſchiffahrt wird man ſich in abſehbarer 
Zeit durchaus nicht mehr kümmern. Viel wichtiger ſind die 
Motorfahrzeuge oder Automobilen, wie die internatio⸗ 
nale Benennung dieſes modernſten Verkehrsmittels lautet. 
— Sehen Sie mich nicht ſo erſtaunt an. Die Automobile hat 
eine rieſenhafte Zukunft und ſie wird einen noch größeren 
Einfluß ausüben, ſie wird noch weit mehr alle unſere Ver⸗ 
kehrs⸗, ja unſere ſozialen Verhältniſſe umgeſtalten als 
das Zweirad. Ich weiß genau, was ich mit dieſer Be— 
hauptung ſage. Der Einfluß, den das Zweirad auf alle 
Verhältniſſe des öffentlichen Lebens gewonnen hat, iſt ein 


180 Das modernſte Verkehrsmittel. 


ungeheurer. Er wird, ich erkläre es noch einmal, von der 
Automobile weit übertroffen werden, und wir in Deutfd: 
land haben nur noch nicht das richtige Verſtändnis für die 
Zukunft der Automobile, weil wir auf dieſem Gebiete hinter 
Frankreich und England weit zurückſtehen. In den beiden 
genannten Ländern iſt man in der Konſtruktion von Auto⸗ 
mobilen, noch mehr aber in der Benutzung dieſes neuen 
Verkehrsmittels viel weiter als bei uns. Indes regt ſich 
auch in Deutſchland das Intereſſe für die Automobile, und 
es iſt nur eine Frage kurzer Zeit, daß auch bei uns die 
praktiſchen Einrichtungen getroffen werden, die ſich durch ſie 
ſchaffen laſſen.“ 

„Sie glauben alſo im Ernſte, daß eine Zeit kommen 
wird, in der wir die Pferde nicht mehr brauchen?“ 

„Es giebt wichtigere Geſichtspunkte bei der Beurteilung 
der Automobile als den, an die Ueberflüſſigkeit des Pferdes 
zu denken. Laſſen Sie mich etwas weiter ausholen. Raum 
und Zeit ſind die beiden großen Faktoren, mit denen die 
Menſchheit rechnen muß. Ihre Ueberwindung hat ſie ſeit 
Jahrtauſenden beſchäftigt, und unabläſſig ſind Fortſchritte 
gemacht worden. Um ſchnell große Strecken zurückzulegen, 
benutzte man ſchon im grauen Altertum das Pferd, ſei es 
zum Reiten, zum Fahren, und unſer Jahrhundert brachte 
den denkbar größten Fortſchritt, nämlich die Eiſenbahn. 
Damit war viel für die Ueberwindung von Raum und Zeit 
geſchehen. Aber die Eiſenbahn iſt doch nur an einzelnen 
Stellen verwendbar, man kann mit der Eiſenbahn nicht 
überall hin, zum Betriebe der Bahnen gehört vor allen 
Dingen ein ſehr koſtſpieliger Unterbau, auf dem die Schienen 
liegen, und man muß ſich bei der Herſtellung dieſes Unter⸗ 
baues nach dem Gelände richten, man kann nicht ohne wei⸗ 
teres Geleiſe legen, wo man will. Flüſſe, Berge, ja ſelbſt 
ſchon ſtarke Hügel bilden Hinderniſſe, die fih wohl über: 
winden laſſen, aber nur mit außerordentlichen Koſten. Des— 


Don Ur. Myers. | 181 


halb hielt man bisher die Luftſchiffahrt für die Löſung der 
großen Frage: „Wie komme ich raſch nach jedem beliebigen 
Orte, ohne von den Schwierigkeiten des Geländes abhängig 
zu ſein?“ Seit hundert Jahren arbeitet man jetzt an der 
Vervollkommnung der Luftſchiffahrt; aber die Fortſchritte, 
die man gemacht hat, ſind äußerſt gering. Selbſt wenn die 
Lenkbarkeit des Luftſchiffes wirklich erfunden würde, ſo wäre 
die Praxis der Luftſchiffahrt noch immer nicht fertig. Man 
wird ſelbſt mit dem lenkbaren Luftſchiff gegen ſtarken Wind 
nicht fahren können oder nur ſehr langſam. Das, was man 
aber von dem modernen Verkehr verlangt, iſt Schnelligkeit. 
Unſicher wird die Luftſchiffahrt auch immer bleiben, und die 
zweite Forderung des modernen Verkehrs, die Sicherheit 
neben der Schnelligkeit, dürfte ſich mit ihr ſchwerlich erreichen 
laſſen. Da kommt nun die Automobile und überwindet den 
größten Teil aller Schwierigkeiten, die ſich bisher uns in 
den Weg ſtellten, wenn wir ſchnell und ſicher nach jedem 
beliebigen Orte gelangen wollten. Die automobilen Fahr⸗ 
zeuge machen jetzt ſchon 50 Kilometer in der Stunde, und 
zwar nicht nur ſolche, die mit Perſonen beſetzt, ſondern auch 
mit ſchweren Ballen, mit Kiſten u. ſ. w. beladene. Steigungen 
überwindet die Automobile ſpielend. Da, wo man für die 
Eiſenbahnen mindeſtens eine Zahnſtange anbringen muß, 
um Abhänge hinaufzuklettern, gelangt die Automobile ſelbſt 
mit ſchwerer Beladung ohne weiteres hinauf. Auch die 
anderen Geländehinderniſſe verſchwinden. Will man einen 
Eiſenbahnzug über einen Fluß bringen, fo muß man grop: 
artige und koſtſpielige Brückenbauten herſtellen. Die Brücken 
müſſen nicht nur meiſt eine weite Spannung haben, ſondern 
auch ganz beſonders maſſiv und feſt ſein. Die Automobile 
kann man wie jeden gewöhnlichen Wagen auf eine Fähre 
ſetzen und über den Fluß bringen, und ſobald ſie wieder 
auf feſtem Boden iſt, jagt ſie ohne Rückſicht darauf, ob es 
bergauf oder bergab geht, davon. Man braucht für den 


182 Das modernfte Derfehrsmittel. 


Automobilbetrieb keine Tunnels, man braucht keine koſt⸗ 
ſpieligen Geleisanlagen, keine Weichenanlagen und Bahn⸗ 
hofseinrichtungen. Kurzum, der Automobilomnibus oder 
der Automobillaſtwagen bietet mehr Vorteile als die heutige 
Eiſenbahn und iſt viel billiger und einfacher.“ 

„Sie wollen damit ſagen, daß dieſer Automobil⸗ 
omnibus die Exiſtenz der Eiſenbahnen bedroht und gewiſſer⸗ 
maßen die Ablöſung für den bisherigen ſo koſtſpieligen Eiſen⸗ 
bahnbetrieb bilden wird?“ 

„Das zu behaupten liegt keineswegs in meiner Abſicht, 
ſondern die Automobile wird vielmehr ein Helfer der 
Eiſenbahn werden. Für den Maſſentransport von Menſchen 
und Gütern, auch für außerordentliche Geſchwindigkeit 
werden wir die Eiſenbahn immer brauchen. Die Auto⸗ 
mobile aber wird höchſt wahrſcheinlich an die Stelle der Klein: 
bahnen und Sekundärbahnen treten, die ſich von den Haupt⸗ 
eiſenbahnſtrecken abzweigen. Auch dieſe verhältnismäßig 
koſtſpieligen Kleinbahnen konnte man bisher nur dort an⸗ 
legen, wo keine Geländehinderniſſe vorlagen. Ueber Berge 
und Flüſſe, in durchſchnittenem Gelände war die Anlage 
einer Kleinbahn ſo koſtſpielig, daß man oft auf ſie verzichten 
mußte. Die Automobile wird jetzt mit Leichtigkeit alle dieſe 
Hinderniſſe überwinden und ſo von rechts und links der 
Eiſenbahnhauptſtrecke Perſonen und Laſten zuführen, die 
dieſe benutzen. Ebenſo wird die Automobile Perſonen und 
Laſten, die mit der Eiſenbahn gekommen ſind, nach rechts und 
links in das Land weiter befördern, und zwar nach jedem 
beliebigen Ort. Sehen Sie, das iſt der Kernpunkt: nach 
jedem beliebigen Ort hat man dann eine Verbin— 
dung von der Eiſenbahn. Ortſchaften, die weitab vom 
Verkehr lagen, ſind mit einemmal in gewiſſem Sinne an die 
Hauptverkehrsadern herangerückt. Ein Ort, der 10 Meilen 
von einer Eiſenbahn entfernt war, lag heute außerhalb der 
Welt. Wollte man mit Pferden eine Verbindung zwiſchen der 


Don Ulr. Myers. 183 


Eiſenbahn und dieſem entlegenen Ort herſtellen, fo brauchte 
man beinahe zwei Tage, um Laſten hin und her zu beför: 
dern, während man mit der Automobile, ſelbſt wenn ſie ſchwer 
beladen iſt und in ungünſtigem Gelände, nicht mehr als 
einige Stunden brauchen wird. Was es aber bedeutet, wenn 
zahlreiche Ortſchaften und deren Bewohner, die bis her weitab 
vom Weltverkehr lagen, gewiſſermaßen unmittelbar an die 
Hauptverkehrsadern der Welt und des Weltverkehrs heran⸗ 
gebracht werden, können Sie ſich ſelbſt ſagen. Was ſind 
dagegen die Veränderungen, die das Zweirad gebracht hat? 
Es dient doch immer nur zur Beförderung einer Perſon 
(abgeſehen von den ſogenannten „Tandems“, die an dem 
Geſamturteil jedoch nichts ändern); der Transport von be: 
trächtlichen Laſten war auf dem Zweirad vollſtändig aus⸗ 
geſchloſſen. Und was war der verwickelte, koſtſpielige und 
ſchwerfällige Apparat der Pferdebeförderung bisher gegen 
die Verhältniſſe, die nun die Automobile ſchaffen wird? 
Sie fährt außerordentlich raſch, viel ſchneller als Pferde 
laufen können. Die Unterhaltungskoſten einer Automobile 
betragen nicht den zehnten Teil der Unterhaltungskoſten 
für ein paar Pferde, und eine Strecke, die man mit ein 
paar Pferden bisher in einem Tage zurücklegen konnte, 
macht man mit der Automobile jetzt drei⸗, viermal hin und 
zurück. Das Fahren mit der Automobile iſt ſicherer als 
mit Pferden, ja als mit der Eiſenbahn. Sie wird nicht 


ſcheu, fie geht nicht durch, fie entgleiſt nicht, fie läßt ſich 


leicht anhalten und ebenſo raſch wieder in Bewegung ſetzen, 
kurzum, ſie hat unberechenbare Vorteile, und deshalb wird 
ſie ſich in verhältnismäßig kurzer Zeit auch bei uns in 
Deutſchland einbürgern und eine vollkommene Umgeſtaltung 
unſerer Verkehrs⸗ und ſozialen Verhältniſſe herbeiführen. 
Bisher hat man in Deutſchland die Automobile für eine 
Art Spielzeug gehalten, trotzdem in einzelnen Städten die 
Automobilen ſchon vollſtändig am Droſchkenverkehr, ja auch 


184 Das modernfte Derfehrsmittel. 


am Laſtwagenverkehr teilnehmen. Die Bedeutung dieſer 
neuen Erfindung aber iſt, wie geſagt, eine viel größere. 
Ihre Vorzüge für das flache Land wurden bereits erwähnt. 
Aber auch im Umkreiſe der großen Städte wird ſie bedeu⸗ 
tende Veränderungen bringen. Die Einwohner der großen 
Städte beziehungsweiſe die Leute, die in den großen Städten 
arbeiten, werden ihre Wohnſitze jetzt noch weiter hinaus⸗ 
verlegen können als bisher. Die bisherigen Verkehrsver⸗ 
hältniſſe ſteckten dem Draußenwohnen der Großſtädter be: 
ſtimmte Grenzen. Wenn der Großſtädter in der glück⸗ 
lichen Lage war, ſich eine Equipage zu halten, ſo mußte er 
ſeine Villa doch ſo nahe an der Großſtadt bauen, daß er 
ſeinen Pferden nicht eine allzu große Arbeit zumutete, wenn 
er täglich nur einmal in die Stadt gelangen wollte. Man 
kann annehmen, daß diefe Grenze durchſchnittlich 10 Kilo: 
meter von dem Zentrum der Großſtadt fich befand. Nach 
Einführung der Automobile rückt dieſe Grenze bis auf 
50 Kilometer hinaus, denn dieſe fährt man bequem in 
einer Stunde. Für die Vororte der Großſtädte war bisher 
der Eiſenbahnverkehr von außerordentlicher Wichtigkeit. Aber 
auch für dieſen Verkehr gab es gewiſſe Grenzen. Die Züge 
konnten nicht mit der Schnelligkeit fahren, welche die großen, 
durchgehenden Eilzüge haben, denn ſie mußten unterwegs 
zu oft anhalten, und das Material, aus dem dieſe Züge 
beſtanden, ihre Lokomotiven und Wagen, waren eben nicht 
Fahrzeuge, wie man ſie in den Schnellzügen benutzt. Dann 
aber konnte man mit Rückſicht auf die Koſtſpieligkeit eines 
Eiſenbahnzuges nicht ſo viele Züge verkehren laſſen, als 
notwendig geweſen wäre. Zwanzigmal hin und zwanzigmal 
zurück galt als Verbindung zwiſchen einem Vorort und einer 
Großſtadt ſchon für etwas ganz beſonders Großartiges. Die 
Grenze für den Eiſenbahnvorortverkehr lag ungefähr 30 Kilo— 
meter von der Großſtadt entfernt. Sie wird jetzt zum min— 
deſten um 20 Kilometer weiter vorgerückt; denn auch der auto: 


Don Ulr. Myers. 185 


mobile Omnibus kann ebenfo wie das Privatautomobile in 
einer Stunde 50 Kilometer fahren, und zwar unvergleichlich 
viel billiger als die Eiſenbahn. Während ſelbſt im ſtärkſten 
Vorortverkehr die Eiſenbahn höchſtens alle 15 Minuten 
fährt, kann man bei genügendem Vorrat von Automobil⸗ 
wagen alle 5 Minuten, ja, wenn es ſein muß, alle 2 Minuten 
einen Wagen abgehen laſſen. Sobald der Wagen voll iſt, 
fährt er eben ab, und iſt 2 Minuten ſpäter ein anderer 
Wagen beſetzt, ſo fährt auch dieſer davon. Die Vorteile 
für den Großſtädter oder für den Umwohner, der in der 
Großſtadt zu thun hat, liegen auf der Hand. Je weiter 
von der Großſtadt, deſto beſſer iſt die Luft, deſto günſtiger 
ſind die Wohnungsverhältniſſe, denn die Gelände ſind um 
ſo billiger, je weiter entfernt ſie von der Großſtadt liegen, 
und welch gewaltige Flächen werden jetzt für die Zwecke 
der Großſtädter erſchloſſen! Bedenken Sie, welch ein Unter: 
ſchied in der Fläche zwiſchen einem Kreiſe mit einem Radius 
von 30 Kilometer und einem von 50 Kilometer beſteht. 
Ich verſichere Sie, es vergehen keine zehn Jahre, und alles 
das, was ich Ihnen hier erzählt habe, werden Sie ver⸗ 
wirklicht, ja ſelbſt die kühnſten Erwartungen, die man heute 
an die Automobile knüpft, werden wir wahrſcheinlich in 
dieſer Zeit übertroffen ſehen. Vergeſſen Sie nicht: die 
Automobile iſt noch in der Entwickelung begriffen. Noch 
find uns die Techniker und Ingenieure eine Menge Er: 
findungen ſchuldig, die unzweifelhaft aber ſchon in aller: 
nächſter Zeit gemacht werden, und die den Automobil⸗ 
verkehr immer ſicherer, billiger, bequemer und einfacher ge: 
ſtalten werden. Wir fahren ja meiſt noch mit Automobilen, 
die nicht elektriſch betrieben ſind.“ 

„Allerdings hat ſich bei der Automobile eine eigentüm— 
liche Entwickelung gezeigt. Während ſonſt überall die Clef- 
tricität heute als Bewegungskraft verwendet wird, ſpielt ſie 
bei der Automobile erſt eine verhältnismäßig kleine Rolle.“ 


186 Das modernſte Verkehrsmittel. 


„Man wird ſie auch noch mit Elektricität betreiben. 
Schon hat man Accumulatoren konſtruiert, die ſo leicht 
ſind, daß ſich Betriebskraft für mehrere Stunden bequem 
an jedem kleinen Wagen mitführen läßt.“ 

„Hier liegt doch aber eine Grenze für den Automobil⸗ 
verkehr. Was geſchieht, wenn eine Automobile eine weite 
Fahrt über Land machen ſoll und ihr plötzlich die elektriſche 
Betriebskraft ausgeht? Die Benzinfeuerung iſt dann doch 
beſſer. Benzin kann man immer mit ſich führen, um neu 
aufzugießen; man erhält Benzin ſelbſt in einem kleinen 
Orte käuflich.“ 

„Sehr richtig. Aber auch Elektricität wird man bald 
käuflich ſelbſt in kleineren Orten erhalten. Denken Sie an 
die elektriſchen Kraftſtationen. Unzählige Fabriken haben 
heute eigene elektriſche Beleuchtung, ſelbſt auf größeren Gü⸗ 
tern finden Sie ſchon elektriſche Kraftſtationen. Viele ganz 
kleine Orte haben elektriſche Beleuchtung. An allen dieſen 
Stellen wird man gegen Bezahlung die Accumulatoren des 
Wagens neu laden können, oder man wird die Accumulatoren 
direkt austauſchen können, was allerdings noch weniger Beit: 
verluſt verurſachen würde. Wo ein Bedürfnis iſt, da findet ſich 
aber auch die Befriedigung dieſes Bedürfniſſes. Auf der 
Straße zwiſchen Paris und Brüſſel liegen heute ſchon an 
ſo und ſo viel Stellen elektriſche Ladeſtationen, die einfach 
dadurch entſtanden ſind, daß die Automobilfahrer von 
Paris und Brüſſel, die auf dieſer Strecke fortwährend unter⸗ 
wegs ſind, eben an gewiſſen Stellen eine Erneuerung ihrer 
elektriſchen Kraft brauchen. Solche Ladeſtationen wird man 
anlegen, ſo wie man in früheren Zeiten Wirtshäuſer baute, 
wo die Fuhrleute Halt machen und ausſpannen konnten. 
Es wird eben im Intereſſe jedes Gaſtwirts an der Qand: 
ſtraße liegen, eine kleine elektriſche Kraftanlage aufzuſtellen, 
denn die Automobilen, die bei ihm vorüberkommen und ihre 
Accumulatoren friſch laden laſſen, haben Inſaſſen, die bei 


Don Ulr. Myers. 187 


ihm etwas verzehren. Wie ſchon jetzt viele Gaſtwirte an 
der Landſtraße von den Radfahrern Vorteile haben, wird 
das in noch höherem Maße durch die Motorfahrzeuge der 
Fall ſein.“ 

„Und meinen Sie, daß die Automobilen weniger von 
Privaten angeſchafft werden, als daß vielmehr überall ein 
Automobilomnibusdienſt entſteht?“ 

„Natürlich wird derjenige im Vorteil ſein, der ſelbſt 
eine Automobile beſitzt. Noch iſt der Preis dieſer Motor⸗ 
wagen ja ein ziemlich hoher, aber es iſt nur eine Frage 
der Zeit, bis eine Verbilligung eintritt. Denken Sie doch 
an die Zweiräder. Die erſten guten Fabrikate koſteten bis 
500 Mark pro Stück. Heute kaufen Sie für 150 bis 
200 Mark ein ſehr gutes Rad. Gegenwärtig koſtet ein 
Automobilwagen 3000 bis 5000 Mark, aber es wird nicht 
lange dauern, und man wird wahrſcheinlich für 1000 bis 
1500 Mark einen ſolchen herſtellen. Dieſe 1000 Mark 
bilden ja ein Anlagekapital, das bedeutend größer iſt als 
bei einem Zweirad; aber die Automobile erfordert auch lange 
nicht ſo viel Reparaturen als das Zweirad, denn ſie iſt feſter 
und haltbarer gebaut. Man fährt auf der Automobile ohne 
Anſtrengung, und es können, je nach der Konſtruktion, bis 
zu vier Perſonen mit einem ſolchen Fahrzeug befördert 
werden. Wenn heutzutage eine Familie von vier Perſonen 
ſich vier Räder anſchaffte, von denen das Stück 250 Mark 
koſtete, ſo würden auch eben 1000 Mark verauslagt, und 
die Familie könnte dann nur mit körperlicher Anſtrengung 
fahren, während ſie in einem Motorwagen leicht, raſch und 
bequem dahinrollt, denn die Räder der Automobile haben 
koloſſale Pneumatiks von einer Dicke und Stärke, welche 
dieſe Gummireifen faſt unzerreißbar machen. Es kommt eben 
auf ein paar Kilogramm Gewicht mehr bei der Automobile 
nicht an, ja, ein Belaſtungsunterſchied von ein bis zwei 
Zentnern macht gar nichts aus. Iſt die Konſtruktion nur 


—— — — 


188 Das modernſte Verkehrsmittel. 


eine geſchickte, iſt die Betriebskraft gehörig ausgenutzt, ſo 
fährt die Automobile auch mit der Mehrbelaſtung ſelbſt 
im durchſchnittenen Gelände und ziemlich ſteil bergauf mit 
unverminderter Geſchwindigkeit.“ 

„So liegt alſo nach Ihrer Anſicht die Zukunft der 
Automobile nicht in der Großſtadt, ſondern außerhalb der 
großen Städte?“ 

„Ganz gewiß. Die Zukunft der Automobile liegt auf 
dem flachen Lande. Die Verbindung der Großſtadt mit 
weit entfernten Vororten, die Verbindung der Orte des 
Flachlandes mit der weit entfernten Eiſenbahn, die Ver⸗ 
bindung der Provinzorte untereinander, das ſind die 
Zukunftsaufgaben der Automobile, und die Löſung 
dieſer Aufgaben wird nicht nur einen immenſen Aufſchwung 
des Verkehrs, ſondern auch eine Veränderung auf ſozialem, 
auf induſtriellem Gebiete bringen, wie wir das im kleinen ja 
zu unſerer eigenen Ueberraſchung ſchon mit dem Zweirad erlebt 
haben. Letzteres wird jedoch durch die Automobile keineswegs 
beſeitigt werden. Seine Benutzung wird ſich vielleicht vermin⸗ 
dern, aber „totgemacht“ wird es nicht durch die Automobile. 
Ebenſowenig wird dieſe die Eiſenbahn ſchädigen. Sie wird 
im Gegenteil den Eiſenbahnverkehr für Perſonen und Güter 
vermehren, wenn auch nur indirekt. Die einzige ſchwere 
Konkurrenz werden wohl nur die elektriſchen Straßenbahnen 
erfahren, die zur Verbindung ziemlich weit voneinander 
entfernter Orte dienten. Auch die elektriſche Bahn erfordert 
eben Geleiſeanlagen, an manchen Stellen koſtſpielige Ueber⸗ 
brückungen, Geländeveränderungen und eine immerwährende 
Zuleitung durch ein Syſtem von Drähten, deren Anlage 
und Montierung ebenfalls große Koſten verurſacht. Die 
Automobile iſt von allen dieſen Dingen unabhängig. Sie 
fährt auf jeder nur einigermaßen fahrbaren Straße; ſie 
fährt im Sommer und im Winter, bei ſchönem Wetter und 
bei Regen. Selbſt ein Schneetreiben macht für die Auto⸗ 


Don Ulr. Myers. 189 


mobile nichts aus. Ihre Fahrt wird dadurch vielleicht 
verlangſamt, aber der Winter hat keine Schrecken für ſie. 
Die Automobile läuft eben nicht auf Schienen, ſie kommt 
ſelbſt durch dicke Schneehaufen, die der Wind auf der Straße 
vielleicht zuſammengetrieben hat, ſpielend hindurch, und ſo 
iſt ſie ein Gefährt, das ſelbſt im Winter den Verkehr ſicher 
vermittelt, wenn alle anderen Gefährte den Dienſt verſagen, 
wenn ſelbſt das alte Syſtem des Pferdebetriebes keine An⸗ 
wendung mehr finden kann, weil die Pferde infolge von 
Glätte ſtürzen oder wegen Kälte und Wind nicht mehr 
weiter können.“ 

Wie die jüngſte Automobilausſtellung in Paris gezeigt, 
hat die Konſtruktion der Motorfahrzeuge, um die ſich die 
beiden deutſchen Mechaniker Daimler und Benz die weſent⸗ 
lichſten Verdienſte erworben, ſchon ſo gewaltige Fortſchritte 
gemacht, und zwar gerade bezüglich der Elektromobile, daß 
die vorſtehend gemachten Ausführungen über ihre a 
vollkommen gerechtfertigt erſcheinen. 


= 


stab abatatotat at 


Die Brillenschlange. 


Cropische Bilder von €. Appenzeller. 


8 


mit s Illustrationen. Machdruck verboten.) 


u den furchtbarſten Plagen der Bevölkerung heißer 


Länder, beſonders Indiens, gehören die Giftſchlangen, 


denen jährlich viele Tauſende von Menſchenleben zum Opfer 
fallen. So iſt für Indien von dem engliſchen Arzte Fayrer 
nachgewieſen worden, daß auf einem Gebiete mit etwa hun⸗ 
dertzwanzig Millionen Einwohnern jährlich zwölftauſend bis 
zwanzigtauſend Menſchen durch Schlangen ihr Leben ver⸗ 
lieren, alſo vielleicht hundertmal ſo viel wie durch Löwen, 
Tiger, Panther, Leoparden und andere wilde Tiere zu⸗ 
ſammen. Unter dieſen Giftſchlangen iſt die gefährlichſte die 
zu der Gattung der Nattern gehörige Brillenſchlange, von 
den Portugieſen Cobra de Capello oder Hutſchlange ge⸗ 
nannt. Erſtere Bezeichnung rührt von einer im Nacken 
befindlichen Zeichnung her, welche mit einer Brille Aehn⸗ 
lichkeit hat, letztere von der Eigentümlichkeit, daß dieſe 
Schlange die Rippen des Halſes ſeitlich richten und dadurch 
den Hals ſcheibenförmig ausbreiten kann, ſo daß er, von 
hinten betrachtet, einem breitkrempigen Hute gleicht. Von 
vorne geſehen macht dieſe Halsſcheibe eher den Eindruck 
eines Schildes, was zu der weiteren Bezeichnung „Schild— 
otter“ Anlaß gegeben hat. 

„Wer ein einziges Mal eine Schildotter geſehen hat,“ 


Don E. Appenzeller. | 191 


jagt Brehm in feinem „Tierleben“, „wenn fie durch den 
Anblick eines Gegners, insbeſondere eines Menſchen, er⸗ 
ſchreckt und gereizt, ſich erhoben, das vordere Dritteil ihres 
Leibes emporgereckt, den Schild ausgebreitet hat und nun 
langſamer oder ſchneller in dieſer majeſtätiſchen Haltung, 
zum Angriffe oder mindeſtens zur Abwehr gerüſtet, ſich 


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Brillenschlange saugt am Euter einer Kuh. 


auf den Gegenſtand ihres Bornes zu ſchlängelt, vorn un: 
beweglich wie eine Bildſäule fih haltend, hinten jeden ein: 
zelnen Muskel anſtrengend, und wer da weiß, daß ihr Biß 
ebenſo tödlich wirkt wie der der Lanzen⸗ oder Klapper- 
ſchlange, begreift, daß ſie von jeher die Aufmerkſamkeit des 
Menſchen erregen mußte.“ 

Die Brillenſchlange erreicht eine Länge von 1,4 bis 
ls Meter und einen Umfang von 15 bis 18 Centimeter; 
auf dem Rücken iſt ſie von lohgelber, dunkel getüpfelter, 
am Bauche von ſchmutzigweißer Färbung. Je nach der 


192 Die Brillenſchlange. 


Farbe, den Flecken und der Brillenzeichnung werden ver⸗ 
ſchiedene Spielarten unterſchieden. Wie alle Giftſchlangen 
hat ſie im Oberkiefer auf beiden Seiten je einen aus⸗ 
gebildeten Giftzahn und dahinter noch mehrere in der Ent⸗ 
wickelung begriffene Zähne, die dazu beſtimmt ſind, ab⸗ 
gebrochene oder ausgeriſſene Gifthaken zu erſetzen. Die 
Giftzähne zeichnen ſich außer durch ihre Größe und pfriemen⸗ 
förmige Geſtalt namentlich dadurch aus, daß ſie auf der 
Vorderſeite eine der Länge nach verlaufende Röhre beſitzen, 
durch welche das Gift aus der dahinterliegenden Giftdrüſe 
in die durch die Zähne en, 8 Wunden 
geleitet wird. ö 

„Wenn ein Giftzahn ausgebrochen wiih, “ jagt Brehm, 
„jo tritt oft ſchon nach drei Tagen, ſpäteſtens aber nach 
ſechs Wochen ein Erſatzzahn an ſeine Stelle, und nur wenn 
man, wie Schlangenbeſchwörer zu thun pflegen, auch die 
Schleimhautfalte, in welcher die Gifthaken eingebettet liegen, 
ausſchneidet oder einen Teil der Kinnlade verletzt, alſo alle 
Zahnkeime zerſtört, erſetzt ſich derſelbe nicht wieder.“ 

Wünſcht die Schlange von ihrer todbringenden Gift⸗ 
waffe Gebrauch zu machen, ſei es um Beute zu erhaſchen 
und zu erlegen, ſei es, um ſich ihrer Feinde zu erwehren, 
ſo richtet ſie das vordere Dritteil ihres Leibes in die Höhe, 
während der übrige Teil ſpiralförmig zuſammengerollt auf 
dem Boden bleibt und den nötigen Halt für die bevor⸗ 
ſtehende Kraftentwickelung bietet. Der Kopf iſt aufgeblaſen, 
der Schild weit ausgebreitet, furchtbar droht ihr ſtarrer 
Blick, während ſie beſtändig lebhaft züngelt und ziſcht. 
Plötzlich wirft ſie ihren Kopf zurück, ſchnappt dann blitz⸗ 
ſchnell vorwärts und erfaßt mit weitgeöffnetem Rachen ihre 
Beute, in deren Fleiſch die beiden ſcharfen Giftzähne tief 
eindringen, und durch dieſe auch das aus den Drüſen 
fließende Gift, welches in kürzeſter Zeit, bei kleinen Tieren 
ſchon nach wenigen Minuten, den Tod durch Blutzerſetzung 


Don E. Appenzeller. 193 


herbeiführt. Der Giftvorrat reicht gewöhnlich für mehr 
als einen Biß aus, ſo daß eine Brillenſchlange im ſtande 
ift, zwei oder fo- 
gar drei Opfer 
nacheinander zu 
töten. Um zu 
wirken, muß das 
Gift in das Blut 
gelangen; wenn 
alſo eine Schlange 
ihre Zähne aus 
den Wunden 
zieht, ehe das 
Gift Zeit gehabt 
hat, in letztere 
einzudringen, 
oder wenn Dag: 
ſelbe durch ir- 
gend etwas, zum 
Beiſpiel durch 
Kleider, aufge⸗ 
fangen und auf⸗ 
geſaugt wird, ſo 
iſt keine Gefahr 
vorhanden; um⸗ 
gekehrt wirkt das 
Gift natürlich auch 
ohne Schlangen: 
biß, wenn es auf 


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irgend etne an: S O N 

dere Weife, zum 

Beiſpiel durch eine ſchon vorhandene Wunde, mit dem 
Blute in Berührung kommt. 


Der Verlauf der Vergiftung wird von Brehm folgender— 
1900. III. 13 


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Der Schlangenbeschwörer in Lebensgefahr, 


194 Die Brillenſchlange. 


maßen geſchildert: „Unmittelbar nach dem Biſſe, welcher 
zwei nebeneinander ſtehende kleine Stichwunden — wenn nur 
ein Gifthaken traf, auch bloß eine ſolche — hinterläßt und 
oft nicht einmal blutet, fühlt das Opfer gewöhnlich einen 
heftigen, mit nichts zu vergleichenden Schmerz, welcher wie 
ein elektriſcher Schlag durch den Körper geht; in vielen 
Fällen aber findet auch das Gegenteil inſofern ſtatt, als 
der Gebiſſene glaubt, eben nur von einem Dorn geritzt 
worden zu fein, den Schmerz alſo durchaus nicht für erheb: 
lich achtet. Unmittelbar darauffolgende Ermüdung des 
ganzen Körpers, überaus raſches Sinken aller Kräfte, 
Schwindelanfälle und wiederholte Ohnmachten ſind die erſten 
untrüglichen Zeichen der beginnenden Veränderung des 
Blutes; ſehr häufig ſtellt ſich Erbrechen, oft auch Blut⸗ 
brechen ein, faſt ebenſo oft Durchfall, zuweilen Blutungen 
aus Mund, Naſe und Ohren. Die Entkräftung bekundet 
ſich ferner in kaum zu bewältigender Schläfrigkeit und er⸗ 
ſichtlicher Abnahme der Gehirnthätigkeit, namentlich wird 
die Wirkſamkeit der Sinne im höchſten Grade beeinträchtigt, 
ſo daß zum Beiſpiel vollſtändige Blindheit oder Taubheit 
eintreten kann. Mit zunehmender Schwäche nimmt das 
Gefühl des Schmerzes ab, und wenn das Ende des Ber: 
gifteten herannaht, ſcheint derſelbe keine Schmerzen mehr 
zu fühlen, ſondern in dumpfer Bewußtloſigkeit allmählich 
zu verenden.“ 

Die Brillenſchlange kommt in ganz Südaſien, mit Aus⸗ 
nahme einiger Inſeln, vor, und zwar ſowohl in den Ebenen, 
als auch in den Gebirgsgegenden bis zu einer Höhe von 
2400 Meter. In den kühlen Monaten November bis 
Februar hält ſie ſich gewöhnlich verſteckt; in der heißen 
Jahreszeit dagegen kommt ſie zum Vorſchein und bildet 
für Menſchen und Tiere eine beſtändige Gefahr, die ſich 
während der Regenzeit, vom Juni bis September, noch 
ſteigert, weil die Schlangen durch die Waſſermaſſen aus 


Don E. Appenzeller. 195 


ihren Schlupfwinkeln herausgetrieben und gezwungen wer— 
den, höher gelegene, oft in der Nähe menſchlicher Woh⸗ 
nungen befindliche Stellen aufzuſuchen. Dieſe unangenehme 
und gefährliche Nachbarſchaft führt oft zu ſehr aufregenden 
Vorfällen, von denen wir unſeren Leſern einige vorführen 


Eine seltsame Zuhörerin. 


wollen, die wir den ſpannenden Schilderungen des Indiers 
A. Sarathkumar Ghoſh entnehmen. 

Die Nahrung der Cobra beſteht vorzugsweiſe aus kleinen 
Tieren, Eidechſen, Fröſchen, Kröten, Fiſchen, Mäuſen, Ratten 
und Hühnern; auch Eier frißt ſie gerne, weshalb ſie oft 
Hühnerſtälle, Taubenſchläge und Vogelneſter plündert; ſie 


196 Die Brillenſchlange. 


kann wochen⸗ und monatelang ohne Schaden Durſt leiden, 
trinkt jedoch im allgemeinen viel und hat eine beſondere 
Vorliebe für Milch, wie die folgenden zwei Beiſpiele zeigen. 

Ein indiſcher Bauer bemerkte an mehreren aufeinander 
folgenden Tagen, daß der Milchertrag feiner Kuh viel ge: 
ringer war als gewöhnlich. Um der Sache auf den Grund 
zu kommen, legte er ſich eines Abends auf die Lauer, konnte 
jedoch die ganze Nacht hindurch nichts Verdächtiges ent⸗ 
decken. In der Morgendämmerung ſah er von ſeinem 
Verſteck aus, wie die von jähem Schrecken ergriffene Kuh 
plötzlich an allen Gliedern zitternd zuſammenfuhr, während 
ihre Augen einen gläſernen Ausdruck annahmen, und als⸗ 
dann bewegungslos, wie gelähmt, ſtehen blieb. Als er ſich 
behutſam näherte, hörte er ein leiſes Saugen, und zugleich 
bot ſich ihm ein überraſchender Anblick dar. Eine gewaltige 
Brillenſchlange hatte ſich derart um die Hinterbeine des 
Tieres geſchlungen, daß ſie mit dem Kopf das Euter er⸗ 
reichen und die Milch ausſaugen konnte. Aus Furcht, ſeine 
wertvolle Kuh durch einen Biß der Giftſchlange zu ver⸗ 
lieren, hielt ſich der Bauer ganz ruhig, bis die Schlange 
ſich geſättigt und in ihren unter dem Strohdach der Hütte 
befindlichen Schlupfwinkel zurückgezogen hatte, wo er ſie 
nachher erſchlug. , 

Noch bemerkenswerter ift der andere Vorfall: In einer 
ärmlichen Hütte wohnten zwei Brüder, die als Schlangen⸗ 
beſchwörer neben anderen etwa ein halbes Dutzend Cobras 
hielten, denen ſie die Giftzähne noch nicht ausgebrochen 
hatten. Die Deckelkörbchen mit den Schlangen ſtanden im 
Wohnzimmer, das zugleich auch als Schlafraum diente, 
weshalb deſſen Fußboden mit einer einfachen Matte und 
einem Leintuch belegt war. Eines Morgens ſtand der eine 
Bruder früh auf und begab ſich in die anſtoßende Küche, 
während der andere ruhig weiterſchlief. Bei ſeinem Er— 
wachen bot ſich ihm ein entſetzlicher Anblick dar, denn rings 


Don E. Appenzeller. 197 


um ſein Lager ſtreckten ſechs aus ihren Körbchen gekrochene 
Schlangen züngelnd und ziſchend und mit drohenden Blicken 


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22 


Indische Mutter und Kind zerdrücken den Kopf einer Brillenschlange 
mit den Füssen. 


ihre aufgeblaſenen Köpfe in die Höhe. Ohne ſich zu rühren, 
ſchloß er ſeine Augen wieder, da er wohl wußte, daß die 


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198 Die Brillenſchlange. 


geringſte Bewegung die Schlangen zum Beißen reizen und 
dadurch ſeinen Tod herbeiführen könnte. Seine Lage war 
verzweifelt. Gegen eine einzelne Schlange hätte er ſich wohl 
mit Erfolg wehren können, aber gegen ſechs zugleich zu 
kämpfen war hoffnungslos. Aber warum, dachte er bei 
ſich, hatten ſie ihn nicht ſchon angegriffen? Warum hielten 
ſie ſich beinahe regungslos, während ihre leuchtenden Augen 
gierig auf ihn gerichtet waren? Er konnte die Löſung dieſes 
Rätſels nur in dem Umſtande finden, daß der lehmige 
Fußboden dunkel, ſein Lager dagegen hell war, und daß 
die durch dieſen Gegenſatz überraſchten Schlangen ſich zögernd 
zurückhielten. Wenn dieſe Vorausſetzung richtig war, ſo 
durfte er hoffen, von ihren Angriffen ſicher zu ſein, ſolange 
er ruhig liegen bliebe; aber wie lange konnte er dieſen 
ſchrecklichen Zuſtand aushalten? Schon fühlte er die zu⸗ 
nehmende Abſpannung ſeiner Nerven. Vielleicht konnte ein 
plötzlicher Sprung in das Nebenzimmer ihn retten? Doch 
nein! Denn rings um ihn erhoben ſich ziſchend die gefähr> 
lichen Reptilien. Schreckerfüllt ſchloß er die Augen wieder. 

Auf einmal hörte er ein Geräuſch in der Küche, wo 
ſein Bruder, an den er in ſeiner Angſt bis jetzt nicht ge⸗ 
dacht hatte, mit der Zubereitung des Frühſtücks beſchäftigt 
war. Die Lippen kaum bewegend, flüſterte er deſſen Namen. 
Dadurch aufmerkſam gemacht, näherte ſich der Angerufene 
leiſe der Thür, warf einen flüchtigen Blick in das Zimmer 
und erkannte die gefährliche Lage ſeines Bruders. Schnell 
goß er die eben geſottene, dampfende Milch in einen großen 
Napf und ſtellte ihn durch die halbgeöffnete Thür auf den 
Boden des Zimmers. Durch ihr Lieblingsgetränk angelockt, 
krochen die Schlangen auf den Napf zu und ſteckten ihre 
Köpfe hinein. Dieſe günſtige Gelegenheit benutzend, rettete 
ſich der Schlangenbeſchwörer durch einen Sprung ins Neben⸗ 
zimmer. 

Die üblichſte Art des Schlangenfangs ift folgende: Der 


Don E. Appenzeller. 199 


eine von zwei ſogenannten Beſchwörern ſpielt auf einem 
dudelſackähnlichen Inſtrument eine eintönige Melodie, durch 
welche die für Muſik ſehr empfängliche Brillenſchlange aus 
ihrem Verſteck hervorgelockt wird. Während ſie mit er⸗ 
hobenem Kopfe aufmerkſam lauſcht, ſchleicht ſich ſein Genoſſe 
von hinten heran und wirft ihr Staub in die Augen. Die 
Schlange fällt plötzlich der Länge nach auf den Boden, und 
in demſelben Augenblicke erfaßt ſie der Mann mit Blitzes⸗ 
ſchnelle im Nacken. Wie ſehr ſie ſich nun auch winden und 
krümmen und um ſeinen Arm ſchlingen mag, ſo ſind doch 
alle ihre Anſtrengungen vergeblich, ſolange ſie nicht beißen 
kann. Gewöhnlich werden ihr in dieſer hilfloſen Lage gleich 
die Giftzähne mit einer Zange ausgebrochen, indem man ſie 
durch einen Druck mit dem Daumen auf die Kehle zwingt, 
den Rachen zu öffnen. Sollen ihr dagegen die Zähne ge⸗ 
laſſen werden, ſo windet der Dudelſackſpieler die Schlange, 
deren Kopf natürlich immer noch feſtgehalten wird, vom 
Arme des Fängers los und ſchiebt ſie in ein Körbchen, 
worauf letzterer mit einer raſchen Handbewegung den Kopf 
ebenfalls hineinſteckt und den Deckel zuſchlägt. 

Ein geſchickter Fänger kann eine Giftſchlange auch ohne 
Mithilfe eines Genoſſen auf folgende Weiſe fangen: Er 
hält ſein Muſikinſtrument mit der einen Hand, wirft den 
Staub mit der anderen und erfaßt dann blitzſchnell den 
Hals der Schlange, welcher er ſofort die Giftzähne aus⸗ 
zieht. Wird letzteres nicht beabſichtigt, ſo hält er nun mit 
der freien Hand den Kopf der um den Arm gewundenen 
Schlange feſt, macht dann dieſen zur Hälfte von den Win⸗ 
dungen frei und zieht den vorderen Teil der Schlange durch 
ſeine Hand, wodurch eine Muskelverſchiebung bewirkt wird, 
welche das Krümmen und Winden des Leibes vorübergehend 
verhindert. Darauf löſt er die hintere Hälfte von ſeinem 
Arm und zieht fie ebenfalls durch die Hand, fo daß als: 
dann die ganze Schlange wie ein Gummiſchlauch ſchlaff 


200 Die Brillenſchlange. 


herabhängt und mit Leichtigkeit in einen Korb gebracht 
werden kann. 

Wird eine Cobra am Schwanze erfaßt, ſo iſt ſie im 
ſtande, ſich herumzuſchnellen und die ſie haltende Hand zu 
beißen. Um dies zu verhindern, faßt man ſie möglichſt 
raſch auch mit der anderen Hand, zieht ſie ſchnell durch, 
bis man ſie im Nacken packen kann, und läßt dann den 
Schwanz los, worauf ſie ſchlaff herunterhängt. Eine ähn⸗ 
liche Wirkung kann dadurch erzielt werden, daß man die 
am Schwanze ergriffene Schlange peitſchenartig in der Luft 
ſchwingt. 

Der Schlangenfang bietet auch Gelegenheit zur Erlan⸗ 
gung des Schlangengiftes, das zu Experimenten und medi⸗ 
ziniſchen Zwecken verwendet wird. Während die Aufmerk⸗ 
ſamkeit einer Cobra durch Muſik gefeſſelt wird, ſetzt ſich 
ein Mann gerade vor ſie hin, der einen mit einem großen 
Krautblatte bedeckten Teller in der Hand hält. Auf ein 
gegebenes Zeichen hört die Muſik auf; alsbald ſchnappt die 
Schlange wütend nach dem vor ihr ſitzenden Manne. Dieſer 
aber hält ihr blitzſchnell den Teller vor, welcher den Biß 
auffängt und auf dem nachher ein eiweißähnlicher Gift⸗ 
tropfen liegen bleibt. 

Die große Muſikliebe der Brillenſchlange kann für die 
Hausbewohner ſehr unangenehm werden, wie folgender 
Vorfall zeigt. 

Eine in Indien wohnende Engländerin ſaß an einem 
mondhellen Sommerabend auf der Veranda ihres Garten⸗ 
hauſes und vertrieb ſich die Zeit mit Violinſpiel. Plötzlich 
bemerkte ſie zu ihrem Entſetzen in einer Entfernung von 
kaum einem Meter eine große Cobra, welche, durch die 
Klänge angelockt, auf die Veranda geklettert war und leb— 
haft züngelnd ihre glühenden Blicke auf die Spielerin richtete. 
Dieſe wollte zuerſt ihr Heil in der Flucht ſuchen; aber die 
Schlange war zu nahe und hätte ſie erreichen können, in⸗ 


Don E. Appenzeller. 201 


folgedeſſen fuhr ſie fort, zu ſpielen, während ſie gleichzeitig 
leiſe immer weiter wegrückte. Nachdem ſie ſo der unmittel⸗ 
baren Gefahr entronnen war, faßte ſie den mutigen Ent⸗ 
ſchluß, die Wirkung der Muſik auf die Schlange noch weiter 
zu verfolgen, und ſpielte nacheinander verſchiedenartige Me⸗ 
lodien. Dabei machte ſie die überraſchende Entdeckung, daß 
mit dem Charakter der Muſik auch die entſprechende Hal⸗ 
tung der Cobra wechſelte. Bei luſtiger Tanzmuſik wiegte 
ſie ihren Kopf lebhaft und mit zierlichen Bewegungen hin 


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und her, während ſie bei den feierlichen Klängen ernſter 
Muſik ſofort ruhig wurde und in einen Zuſtand der Schlaf: 
trunkenheit überzugehen ſchien. Je harmoniſcher die Muſik 
war, um ſo größere Befriedigung zeigte die Schlange, 
während ſie bei einigen abſichtlich geſpielten ſcharfen Miß⸗ 
klängen ihr Unbehagen durch zuckende Bewegungen erkennen 
ließ. Während ihres Spiels hatte ſich die Dame langſam 
der Thür genähert, durch welche ſie ſich in das Haus 
rettete, worauf die Cobra fic) wieder in den Garten zu: 
rückzog. 

Natürlich finden die Schlangen auch ſonſt, ohne durch 
Muſik angelockt zu werden, ihren Weg in die menſchlichen 


202 Die Brillenſchlange. 


Wohnungen, wodurch bisweilen ſchreckliche Auftritte herbei⸗ 
geführt werden. Eines Abends ſchritt ein junges, nach 
indiſcher Sitte im Inneren des Hauſes barfuß gehendes 
Mädchen durch ein dunkles Zimmer, vor deſſen Fenſter ein 
Feigenbaum mit weit ausgebreiteten, bis an das Haus 
reichenden Aeſten ſtand. Plötzlich blieb ſie ſprachlos vor 
Schrecken und an allen Gliedern zitternd wie feſtgebannt 
ſtehen. Endlich brachte ſie den jammernden Hilferuf: „Mut⸗ 
ter!“ über die Lippen. — „Was haſt du, mein liebes Kind?“ 
rief dieſe aus dem Nebenzimmer. — „Ich — ich bin einer 
Schlange auf den Kopf getreten.“ — „Bleib ruhig ſtehen,“ 
antwortete die Mutter ſchnell gefaßt, „und drücke den Fuß 
ſo kräftig auf, als du kannſt! Ich komme.“ Indem ſie 
dieſe Worte ausrief, näherte ſie ſich vorſichtig mit einem 
Lichte. Da ſah ſie ihr Kind, leichenblaß vor Entſetzen, mit 
ſchreckerfüllten Blicken, unbeweglich daſtehen. Die Schlange 
hatte ſich um den Fuß des Kindes gewickelt und gab ſich 
alle Mühe, ihren Kopf frei zu machen; doch reichte ihre 
Kraft dazu nicht aus. Die Mutter drückte ihren Fuß feſt 
auf den ihrer Tochter und umſchlang ſie mit den Armen. 
So ſtanden ſie lange voll banger Erwartung, ob es ihren 
gemeinſamen Anſtrengungen gelingen werde, die Cobra zu 
töten. Nach und nach wurden die Windungen des Schlangen⸗ 
leibes ſchlaffer, und endlich fielen ſie ganz zu Boden. Die 
Giftſchlange war erſtickt, ihr Kopf zerdrückt, das beinahe 
ohnmächtig gewordene Kind gerettet. 

Gegen den Schlangenbiß giebt es zahlreiche Mittel, wie 
Ausſchneiden und Brennen der Wunde, Auflegen von 
„Schlangenſteinen“, zerſtoßenen Wurzeln und Blättern, Ein⸗ 
geben von Pflanzenſäften, Salmiakgeiſt, Chlor, Arſen und 
anderen Giften; aber ein zuverläſſiges Heilmittel hat man 
bis jetzt noch nicht entdeckt. Das wirkſamſte von allen 
ſcheint der in irgend einer Form reichlich genoſſene Alkohol 
zu ſein; wenigſtens hat man ſchon wiederholt die Beob— 


Don E. Appenzeller. 203 


achtung gemacht, daß ſchwer betrunkene oder auch durch 
Opium berauſchte Menſchen von giftigen Schlangen ohne 
nachteilige Folgen gebiſſen wurden. Falls ein Finger oder 
eine Zehe durch einen Biß vergiftet worden iſt, ſo iſt das 
ſicherſte, aber auch radikalſte Mittel das ſofortige Abſchneiden 
dieſes Gliedes, in anderen Fällen kann das tiefe Aus⸗ 
ſchneiden und Ausbrennen der Wunde helfen. Allerdings 
gehört zu einer ſolchen Operation viel Energie, und nicht 
jeder würde es wohl jenem engliſchen Lokomotivführer in 
Indien nachmachen, welcher, als er beim Kohlenfaſſen von 
einer Cobra in die Hand gebiſſen worden war, den Arm 
in den Feuerkaſten der Lokomotive ſtreckte, was ihm zwar 
fürchterliche Schmerzen verurſachte und ihn zum Krüppel 
machte, aber ihm das Leben rettete. 

Unter den begreiflicherweiſe ſehr wenig zahlreichen Fein⸗ 
den der Brillenſchlange iſt der gefährlichſte der Mungos 
oder die indiſche Manguſte, ein durch geſchmeidige, flinke 
Bewegungen ausgezeichnetes kleines Raubtier von geſtrecktem 
Körperbau mit niedrigen Beinen, ſtarrhaarigem Pelz und 
langem Schwanz. Unſer Gewährsmann war einſt durch 
einen günſtigen Zufall Augenzeuge eines zwiſchen einer 
Brillenſchlange und einem Mungos entbrannten Kampfes, 
von welchem er eine ausführliche Schilderung giebt, die wir 
hier zuſammenfaſſend wiedergeben wollen. 

Auf einem Spaziergange hatte er auf einem Stein⸗ 
haufen eine Cobra angetroffen, die ſich eben in das nahe 
Gebüſch flüchten wollte, als plötzlich ein Mungos ihr den 
Weg verſperrte. Sofort nahm erſtere ihre bekannte An⸗ 
griffsſtellung ein, während letzterer unbeweglich vor ihr 
ſtand und ſeine glühenden Blicke auf ſie heftete. Nach 
längeren Schwankungen ihres aufgerichteten Kopfes, der ſich 
zuerſt ſeitwärts, dann vor⸗ und rückwärts wiegte, ſchnellte 
die Schlange blitzartig auf ihren Feind los, der jedoch ebenſo 
ſchnell zurückwich, fo daß ihr Bip ihn nicht erreichen konnte 


204 Die Brillenſchlange. 


und nur den harten Boden traf. Sofort nahm die Cobra 
wieder ihre frühere Stellung ein, ebenſo der Mungos, der 
es darauf abgeſehen zu haben ſchien, ſeine Gegnerin zu 
ermüden. Ein zweiter Angriff hatte denſelben Mißerfolg. 
Darauf änderte der Mungos ſeine Taktik und fing an, um 
die Schlange herumzuhüpfen und ſie dadurch noch mehr zu 
reizen und zu ermüden. Dann ſtellte er ſich wie eine von 
einem Hunde bedrohte Katze wieder vor ſie hin, und als 
ein neuer Angriff erfolgte, gelang es ihm, dem gefährlichen 
Biß ſeitwärts auszuweichen und an dem Kopfe ſeiner 
Feindin vorbeizuſchießen; aber ſofort drehte er ſich um und 
packte ſie mit ſeinen ſcharfen Zähnen von hinten im Nacken. 
Nun umſchlang die Cobra ſeinen Leib mit ihren fürchter⸗ 
lichen Windungen und ſuchte ihn zu erdrücken. Ihr Schwanz 
bewegte ſich lebhaft hin und her und peitſchte die Seite 
des Gegners, der jedoch ſeinen Halt nicht losließ. Nach 
und nach hörte jede Bewegung der Schlange auf, und ihre 
Windungen wurden ſchlaffer. Der Mungos richtete ſich 
auf, erfaßte ihren Kopf mit ſeinen Vordertatzen, ſchüttelte 
den Schlangenleib ab und verſchwand im Dickicht. Die 
Cobra aber blieb tot liegen, denn die ſcharfen Krallen ihres 
Feindes hatten ihr den Kopf zerriſſen. 


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Ein Besuch bei dem 
Pondokönig Umquikela. 


Südafrikanische Skizze von Sred Morris. 


Mit s Illustrationen. * Machdruck verboten.) 


J. den zwanziger Jahren unſeres Jahrhunderts wurden 
durch die Eroberungszüge des Zulukönigs Tſchaka ver: 
ſchiedene große Kaffernſtämme zertrümmert und weiter ſüd⸗ 
lich gedrängt. Zu den letzteren gehörten die Fingus, dagegen 
gelang es den Pondos, ihre alten Stammſitze wenigſtens 
teilweiſe feſtzuhalten. Sie zählen etwa 60,000 Köpfe und 
ſind heute im ſüdöſtlichen Teile des Kaffernlandes zuſammen⸗ 
gedrängt und ſeit 1884 unter britiſche Oberhoheit geſtellt. 

Das Pondoland umfaßt 9324 Quadratkilometer zwiſchen 
Tembuland, Oſtgriqualand, Natal und dem Indiſchen Ozean. 
Es wird von den Flüſſen Umtata und Umtamvuna begrenzt 
und vom St. John's River und zahlreichen Nebenflüſſen 
durchzogen. Geradezu entzückend ſind nach der Schilderung 
des deutſchen Reiſenden E. Nagel die Küſtengebiete von der 
St. Johnsmündung bis zur Delagoabai. Sie haben zahl⸗ 
reiche Waldungen aufzuweiſen, während das Innere meiſt 
freies Grasland bildet. Jene Waldungen ſind in der Breite 
nicht ſehr ausgedehnt, ſondern ziehen ſich als ſchmaler Gürtel 
längs der Flußufer hin. Die Flüſſe der Küſtengebiete er⸗ 
weitern ſich buchtartig ſchon mehrere Meilen vor ihrer 


206 Ein Beſuch bei dem Pondokönig Umquikela. 


Mündung, die nach dem Meere zu von einer Sandbarre 
verſchloſſen zu ſein pflegt. 

Eine charakteriſtiſche Eigenart der ſüdafrikaniſchen Land⸗ 
ſchaften bilden die ſogenannten Flußthore (Poorts), die 
durch das Hervorbrechen der Flüſſe aus den Plateaurändern 
entſtanden ſind, und ſich in ihrem Laufe mehrfach wieder⸗ 
holen können, wenn die Waſſerläufe mehrere Plateauränder 
zu paſſieren haben, bevor ſie ſich durch das letzte, unterſte 
„Thor“ ins Meer ergießen. Beſonders majeſtätiſch ijt das 
Flußthor des St. Johnsfluſſes oder Umzimvubo, und hier 
entfaltet ſich auf beiden Ufern eine ſolche reizvolle Scenerie, 
in der ſchroffe Felsvorſprünge und blumige Ufer, düſtere 
Baumgruppen und Bananenhaine miteinander abwechſeln, 
daß man ſich nur ſchwer von dieſen lieblichen Bildern 
trennen mag. 

Der genannte Reiſende befand ſich in Durban, der 
Hafenſtadt der britiſchen Kolonie Natal in Südoſtafrika, 
an der gleichnamigen Bai, als er eine Einladung des 
„Pondokönigs“ Umquikela erhielt, ihn in ſeiner „Reſidenz“ 
zu beſuchen. Er begab ſich längs der Küſte über Umkomanzi, 
Umzinto, Umzimkulu und Marburg dorthin, und wir folgen 
ihm auf ſeinem intereſſanten Streifzuge durch dies wenig 
bekannte Gebiet. Wo der Weg nach dem Inneren des 
Landes umbog, wurde die Landſchaft kahler und die Berge 
höher und ſteiler. Die Waldungen verſchwanden mehr und 
mehr, und nur noch vereinzelte Büſche und Bäume kamen 
in tiefen Klüften und auf feuchten Abhängen zum Vor⸗ 
ſchein, während die wenigen Anſiedelungen ſchon von fern⸗ 
her durch die fie umgebenden ſchlanken auſtraliſchen Gummi: 
bäume kenntlich gemacht wurden. 

In einer der letzteren traf der Reiſende einen alten 
Buren, der dort ſchon ſeit 24 Jahren ganz einſam mit ſeiner 
guten, nie fehlenden Büchſe, einem treuen Hunde und einer 
kleinen Herde Vieh hauſte, nur ſelten von einigen Ein⸗ 


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208 Ein Beſuch bei dem Pondokönig Umquikela. 


geborenen beſucht, von denen er Mais oder getrocknete 
Häute eintauſchte. Dieſer Einſiedler war hoch erfreut über 
den Beſuch, der bei ihm einige Stunden Raſt machte. Er 
fragte ihn nach echter Burenart erſt gründlich über das 
Woher, Wohin und Warum aus und begann dann Jagd: 
geſchichten zu erzählen, bis Nagel ſich wieder reiſefertig 
machte. 

Dieſer traf weiterhin eine größere Karawane, die ſtatt der 
ſonſt in Südafrika meiſt üblichen ſchweren Ochſenfuhrwerke 
leichte, mit Pferden beſpannte Wagen hatte. Er ſchloß ſich 
ihr aber nicht an, ſondern ſetzte ſeinen Weg zu Pferd allein 
fort. Am Abend desſelben Tages erreichte er die Grenze 
zwiſchen Natal und dem Pondolande an der Umtamvuna⸗ 
drift. 

Bis dorthin hatte ihm Umquikela den Häuptling 
Umhlangaſo (ſprich: Umſchlangaſo) nebſt fünfzig Pondo⸗ 
kriegern zu ſeinem Empfange entgegengeſandt. Da dieſem 
das Warten aber zu lange währte, ſo war er mit ſeinen 
Leuten wieder nach ihren heimatlichen Kralen zurückgeritten, 
hatte aber einen Führer und einen Brief für den Reifen: 
den mit der Bitte, ihm ungeſäumt zu folgen, zurückgelaſſen. 
Wie Nagel von einem Engländer erfuhr, der an der Pondo— 
grenze eine Schmuggelſtation errichtet hatte und recht gute 
Geſchäfte zu machen ſchien, waren die Pondos erſt kurz 
vor ſeinem Eintreffen wieder fortgeritten, ſo daß er wohl 
hoffen durfte, ſie noch in derſelben Nacht einzuholen 

Er raſtete, bis der Mond aufgegangen war, und ſetzte 
dann ſeinen Weg auf einem von dem Engländer gemieteten 
Klepper fort, da er ſeinem eigenen Pferde bis zur Rück— 
reiſe Ruhe gönnen wollte. Mit dem Pondoburſchen, der den 
Führer machte, konnte er keine Unterhaltung führen, da er 
von deſſen eigentümlichem Dialekt nur wenig verſtand. So 
ritten beide denn ſchweigend durch die ſtille Mondlandſchaft, 
durch Klüfte, über Felſen und ſteile Abhänge. Endlich 


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Karawane im Jnneren von Natal (Siidostafrika). 


210 Ein Beſuch bei dem Pondokönig Umquikela. 


wurde eine Hütte erreicht, deren lückenreiche Wände aus 
Lehmwerk errichtet waren, während man das dem Ein⸗ 
ſtürzen nahe Dach aus alten Blechkiſten notdürftig zuſammen⸗ 
genagelt hatte. Im Inneren hatten zwei europäiſche Händler 
ein kleines Warenlager von Bedarfsartikeln für die Ein⸗ 
geborenen eingerichtet. Sie boten dem ſpäten Ankömmling 
bereitwillig ein Nachtquartier am Boden an, da dieſer aber 
gleich beim Eintritt in die Hütte ein höchſt verdächtiges 
Jucken an den Beinen verſpürte, ſo dankte er verbindlichſt 
und beeilte ſich, ſeinen Weg fortzuſetzen. Es war eine 
herrliche Nacht, deren Zauber der Reiſende tief empfand. 
„In einem wilden, von der Natur großartig angelegten 
Lande allein in die Nacht hineinzureiten, hat einen eigen⸗ 
tümlichen Reiz, der nicht wiederzugeben iſt. Es ſind dies 
die Augenblicke, die nur der empfinden und verſtehen kann, 
der ſie ſelbſt gekoſtet hat, beſonders wenn, wie hier, eine 
überwältigende Natur die Größe des Augenblicks erhöht.“ 

Die Wälder in ihrer tropiſchen Fülle lehnten ſich an 
maſſiv aufſteigende Felspartien, überragt von noch mad: 
tigeren Steinkoloſſen, die im Schein des Mondes wie 
Burgen ausſahen. Die nächtliche Stille wurde nur durch 
den klagenden Ruf des Qualaquala, der Nachtigall des 
Pondolandes, unterbrochen. Mitunter huſchte auch wohl 
ein aufgeſcheuchtes Wild über den ſchmalen Pfad, um im 
nächſten Augenblick wieder in dem Dickicht zu verſchwinden. 
Die ſtolzen Wipfel der breitblätterigen Bananen wiegte ein 
ſanftes Nachtlüftchen, ihnen leiſe ächzende Laute entlockend. 

Zahlreiche kleine Schluchten wurden paſſiert, auf den 
ſchmalen, durch die Urwaldungen führenden Wildpfaden 
mußte man oft abſteigen und die Pferde am Zügel nad: 
ziehen, dann wieder ging es auf beſchwerlichen Fußſteigen 
ſteil an Klüften bergan. Die eingeborenen Pferde haben 
aber einen außerordentlich ſicheren Schritt, und wenn ihnen 
der Reiſende die Zügel ruhig überläßt, ſo tragen ſie ihn 


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In Umquikelas Kral. 


212 Ein Beſuch bei dem Pondokönig Umquikela. 


über die gefährlichſten Saumpfade und an ſchwindelerregen⸗ 
den Abgründen vorbei, ohne nur ein einziges Mal zu 
ſtolpern. 

Gegen Morgen wurde der Kral Emaguſheni erreicht, 
bei dem eine große Anzahl von Pferden weidete. Der 
Reiſende vermutete ganz richtig, die Abgeſandten Umquikelas 
bereits eingeholt zu haben, und kroch in die erſte beſte 
Hütte, auf deren Fußboden bereits einige dunkle Geſtalten 
ſchnarchten, um wenigſtens etwas von der verſäumten 
Nachtruhe nachzuholen. Die Schläfer ließen ſich durch 
ſeinen Eintritt nicht im mindeſten ſtören und entdeckten 
ſeine Anweſenheit erſt im hellen Tageslichte. 

Dann erſchien auch der Häuptling Umhlangaſo und 
begrüßte den Weißen in herzlicher Weiſe. Nach eingenom⸗ 
menem Frühſtück, nach Kaffernart aus einem Maisbrei be⸗ 
ſtehend, wurden zunächſt die frei umherlaufenden Pferde 
eingefangen und hierauf der Ritt gemeinſam fortgeſetzt. 
Die kräftigen Pondos boten auf den kleinen eingeborenen 
Pferden ein ungemein wildes, kriegeriſches Bild; jeder von 
ihnen war im vollſtändigen Kriegsſchmuck, mit aus Ochſen⸗ 
haut geſchnittenen Streifen um Kopf, Hals, Lende und 
Knie, und führte den Kriegsſchild nebſt mehreren Wurf⸗ 
ſpießen. So ging es in ſchärfſter Gangart, bergab und 
bergauf, durch Bäche und über ſandige Ebenen nach Eſin⸗ 
ſhloyaneni, dem Kral des Häuptlings Umhlangaſo. 

Die begleitenden Krieger blieben außerhalb des Krals und 
machten ſich ſofort eifrig über das beliebte Kaffernbier Uty⸗ 
wala (ſprich: Utſchuala) her, das ihnen kredenzt wurde. Die 
Eingeborenen kochen es aus einer Art Hirſe, die Amabeli 
heißt, und trinken es nach der erſten Gärung in dickflüſſigem 
Zuſtande. Sein Geſchmack iſt ein ſtark rauchiger, erinnert 
aber etwas an junggekelterten Wein, der am Rhein als 
„Federweißer“ bezeichnet wird. 

Dem Fremdling trat auf der Kotla, dem kreisförmigen 


Don Fred Morris. 213 


Plage, wo die großen Verfammlungen abgehalten werden, 
die erſte Frau des Häuptlings entgegen, um ihm den Will: 
kommengruß darzubieten. Dann wurde im Innern der 


Im Egosa- (Ekossj-) Busch. 


Hütte, in der ſich noch fünf niedere Frauen Umhlangaſos 
befanden, ein Imbiß eingenommen. 

Der Königskral Umquikelas lag von dort noch dreißig 
engliſche Meilen entfernt. Das Weiterreiſen geſchah in 
gemäßigterem Tempo, und unterwegs ſchloſſen ſich noch 
viele Pondos zu Fuß dem Trupp an. Gegen 9 Uhr 


214 Ein Beſuch bei dem Pondokönig Umquikela. 


abends wurde der Kral des Königs bei vollſtändiger Dunkel⸗ 
heit erreicht. 

Seine Majeſtät waren bereits ſchlafen gegangen, ge— 
ruhten aber doch, nachdem Umhlangaſo das Eintreffen des 
Weißen gemeldet hatte, aus ihrer Hütte hervorzukriechen 
und dieſen zu umarmen und zu küſſen, wobei ſich allerdings 
ein verdächtiger Branntweinduft verbreitete. Umquikela iſt 
ein Bruder des Häuptlings Umhlangaſo und gleich dieſem von 
ſtattlichem Körpermaß, jedoch entnervt durch den übermäßigen 
Genuß geiſtiger Getränke. Er überläßt deswegen ſeinem 
Bruder, dem „Chief Councillor of Pondoland“, bereitwillig 
alle Regierungsſorgen, ſoweit von ſolchen unter dem britiſchen 
Protektorate überhaupt noch die Rede ſein kann. 

Am anderen Morgen fand der Fremdling vor dem Ein— 
gange feiner Hütte zu feiner angenehmen Ueberraſchung 
Waſchwaſſer nebſt Seife und zwei Handtüchern bereitgeſtellt. 
Nicht minder „ziviliſiert“ erwies ſich das ſpäter aufgetragene 
Frühſtück, beſtehend aus Kaffee und gut zubereiteten Beef: 
ſteaks nebſt Eiern. 

Nachher ließ ihn Umquikela in ſeine Hütte bitten, die 
an der Kotla lag, um Verhandlungen einzuleiten, die den 
ganzen Tag über währten, da die Kaffern es lieben, der— 
artige Geſchäfte möglichſt in die Länge zu ziehen. Als 
Nagel gegen Sonnenuntergang die Hütte verließ, war er 
glücklicher Beſitzer eines bedeutenden Areals, das ſich von 
der St. Johnsmündung bis zum Übazifluſſe oſtwärts er: 
ſtreckte und insbeſondere den herrlichen Egoſa- oder Cfoffi- 
buſch einſchloß. 

Er veranlaßte nun, daß noch in derſelben Nacht einige 
Pondos mit allerlei Hausrat aus dem Kral des Königs 
nach einer Stelle im Ekoſſibuſch, die Umhlangaſo ihnen 
angegeben hatte, vorausgeſandt wurden. Dorthin verfügte 
er ſich in Begleitung des Häuptlings am anderen Morgen; 
es wurde ein Zelt aufgeſchlagen und mit einem Feldbett, 


Cropisches Uegetationsbild aus dem Umzimvubo- (St. Johns-) Chale. 


216 Ein Beſuch bet dem Pondokönig Umquikela. 


— 


einem gebrechlichen Tiſch, einigen Decken und dem not⸗ 
wendigſten Kochgeſchirr ausgeſtattet. Bevor der Häuptling 
wieder fortritt, ließ er dem Fremdling einen alten Pondo 
als Diener zurück. Der Mann hieß Ikanda, was „Ei“ 
bedeutet, ohne daß Nagel ergründen konnte, auf welche 
Weiſe der Schwarze zu dieſem Namen gekommen war. Die 
Kaffern geben nämlich mit Vorliebe jedem einzelnen einen 
Namen, der ſich auf irgend eine Gewohnheit oder Eigentüm⸗ 
lichkeit des Betreffenden bezieht, wie zum Beiſpiel Utango⸗ 
fala (Einzäunungszerſtörer), Iſidhlova (der Heftige). Auch 
bei Europäern thun ſie das; ſo nannten ſie beiſpielsweiſe 
einen Reiſenden, der jeden Morgen nach heißem Waſſer 
zum Raſieren ſchrie, Tyiſayo amanzi (Heißwaſſer), und einen 
ſchwindſüchtigen Miſſionar, der entſetzlich an Huſtenanfällen 
litt, Ipapu (Lunge). 

Ueberaus reizvoll war die Scenerie des Ekoſſibuſches, 
in deſſen Einſamkeit der Reiſende ſich nun eine Zeitlang 
aufhielt. Im Oſten wurde der dichte tropiſche Urwald von 
gigantiſchen Felspartien überragt; mehr nach dem Inneren 
des Landes zu bauten ſich grasbewachſene Bergkegel, einer 
hinter dem anderen, auf und ganz in der Ferne ſchloß der 
tiefblaue Ozean dies herrliche Bild ab. In der Tiefe aber 
ſtrömte der Umzimvubo oder St. Johnsfluß dem Meere zu, 
der aus den Drakensgebirgen kommt. 

Eine reiche tropiſche Vegetation erfüllt das ſonnige 
Thal dieſes Fluſſes, in den Zweigen ſpielen unzählige 
buntgefiederte Vögel, und hier wie im Ekoſſibuſch konnte 
der Reiſende nun nach Herzensluſt Steine ſammeln, Pflan⸗ 
zen preſſen und der Jagd obliegen. Letzteres geſchah in: 
deſſen nicht bloß zum Vergnügen, denn außer einer Kiſte 
Biskuits und einer Flaſche Salz hatte er nichts bei ſich, 
um ſeinen Hunger und den ſeines dunkelhäutigen Dieners 
zu ſtillen. Es fehlte aber durchaus nicht an Auswahl für 
die Küche: der Fluß lieferte Fiſche, Schildkröten und Krebſe, 


Don Fred Morris. 217 


der Wald Perlhühner und andere Vögel der verſchiedenſten 
Arten, ſowie von Vierfüßlern die zierliche Ipitiantilope, 
den Rietbock (eine kleine Antilope) und den größeren 
Umkonka oder Buſchbock und andere, welche delikate Braten 
abgaben. 

Außerdem brachten an jedem Morgen Ikankas beide 
Töchter aus ihrem nicht weit entfernten Kral gegen eine 
kleine Vergütung nach dem Zelte ein großes Gefäß mit 
friſcher Milch, das mittags durch ein neues erſetzt wurde. 
Die beiden Kaffernmädchen zählten noch nicht fünfzehn Jahre 
und waren wirklich hübſch mit ihren fröhlich und unbefan⸗ 
gen in die Welt blickenden Augen. Sie trugen einen Len⸗ 
denſchurz aus Perlen und außerdem noch einige meſſingene 
oder eiſerne Armringe und jede ein Perlenhalsband. Ihr 
Betragen war ein heiter⸗kindliches, dem jedoch eine gewiſſe 
jungfräuliche Schüchternheit nicht fehlte. Die ältere hieß 
Umnandi (zu deutſch: ſüß); der gewöhnliche Morgengruß 
der Mädchen lautete: „Sa ku bona 'nkosi“ (Ich habe dich 
geſehen, o Herr). 

Für eine größere Treibjagd ließ ſich Nagel von einem 
in der Nachbarſchaft wohnenden Inkoſi (Häuptling) die 
erforderlichen acht bis zehn Treiber zum Abſuchen der. 
Büſche geben. Dieſer hatte ein anſehnliches Dorf unter 
ſich, das an den waldigen Hängen des Umfila, eines Neben⸗ 
fluſſes des St. John, lag und etwa zwei Stunden von 
dem Standquartier des Weißen entfernt war. Der Weg 
dorthin führte durch einen Hain mit mächtigen Aloen. 
Der Kral oder Umuſi ſelbſt beſtand, wie die meiſten der⸗ 
artigen Niederlaſſungen der Eingeborenen, aus einer kreis⸗ 
förmigen Einfriedung aus Flechtwerk, etwa 100 Meter im 
Durchmeſſer, in deren Innerem fic) 40 bis 50 Hütten er: 
heben. Sie waren aus dünnen Zweigen geflochten und 
mit langem Graſe überdeckt, im Aeußeren großen Bienen⸗ 
körben gleichend. 


218 Ein Beſuch bei dem Pondokönig Umquikela. 


Eine Meute kläffender Kaffernhunde meldete das Nahen 
eines Fremden, dem dann ein Pondo mit den Worten ent— 
gegentrat: „U funani na?“ (Was ſuchſt du?) Nachdem 
ihm mitgeteilt worden war, daß der Weiße den Häuptling 
zu ſprechen begehre, übertrug er die Wache einem Genoſſen 
und entfernte ſich, um den Inkoſi zu benachrichtigen. Gleich 
darauf erſchien ein alter Pondoneger mit einer zierlich ge: 
flochtenen Grasdecke, die er, ohne ein Wort dabei zu reden, 
vor dem Fremdling auf der Erde ausbreitete. Hierauf 
kamen etwa 20 bis 30 hübſche, kräftig gebaute junge Neger 
und zuletzt der Häuptling. Ihm folgte ſein Mundſchenk, 
ein weißhaariger Greis, mit einem mächtigen Napfe voll 
Kaffernbier zum Zwecke gaſtfreundlicher Bewirtung. Dieſer 
Mundſchenk that zuerſt einen kräftigen Zug aus dem Bier⸗ 
gefäß und überreichte es dann ſeinem Gebieter, nach dem 
es erſt der Fremde bekam. Nach dem bei den Pondos 
herrſchenden „Komment“ müſſen nämlich zuvor der älteſte 
Mann des betreffenden Krals und deſſen Herr dem Gaſte 
Beſcheid gethan haben, ehe dieſer trinken darf. 

Als der Reiſende ſich von Umquikela und Umhlangaſo 
nach dieſem erſten Aufenthalte im Pondolande verabſchiedete, 
gaben beide ihm ihre älteſten Söhne nach Deutſchland mit. 
Er ritt mit dieſen Pondoprinzen nach Durban zurück, von 
wo er die erſte Schiffsgelegenheit benutzte, um heimwärts 
zu ſteuern. 


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Mannigfaltiges. 
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Graf und Kaufmann. — In Rennes, derſelben franzöſiſchen 
Stadt, auf die vor kurzem die Augen aller Welt gerichtet waren, 
verſammelten ſich im Frühling des Jahres 1722 die Stände der 
Bretagne, um, wie alljährlich, über die Angelegenheiten der Pro— 
vinz zu beraten und zu beſchließen. Da erklärte am Schluſſe einer 
Tagesſitzung der alte Adelsmarſchall, der junge Graf Raoul v. Ker— 
briand ſei in einer beſonderen Veranlaſſung erſchienen. Er wünſche 
nämlich kraft eines alten, im Herzogtum Bretagne zu Recht be— 
ſtehenden Geſetzes ſeinen Adel und ſein altes Ahnenſchwert bei 
den Ständen auf unbeſtimmte Zeit zu deponieren, da er ge— 
ſonnen ſei, ſich nach der Inſel Martinique zu begeben, um dort 
zu verſuchen, durch ein bürgerliches Gewerbe, nämlich als Handels— 
mann, ſich Vermögen zu erwerben. Er ſei, wenn auch nicht 
durch eigene Schuld, fo verarmt, daß er zu dieſem Schritte ge: 
zwungen ſei. 

Raoul v. Kerbriands Vater, Großvater und Urgroßvater 
hatten ein Jahrhundert hindurch ſo arg darauf los gewirtſchaftet 
und in Saus und Braus gelebt, daß eines ihrer Güter nach 
dem anderen verloren gegangen war. Für den armen Raoul, 
den letzten Sproß der gräflichen Familie, war nach dem Tode 
ſeiner Eltern faſt gar nichts übrig geblieben. Das alſo brachte 
ihn zu ſolchem Entſchluſſe. 

Mit aller Förmlichkeit deponierte er bei den Ständen ſeinen 
Adel durch Ueberreichung ſeiner Familienpapiere und des alten 


220 Mannigfaltiges. 


Ahnenſchwerts, mit dem ausdrücklichen Vorbehalt, ſeinen Adel 
ſpäter wieder reklamieren zu dürfen. Ueber die Verhandlung 
wurde ordnungsgemäß ein Protokoll aufgenommen, dann ließ 
der ſolchermaßen zum Bürger gewordene junge Edelmann auf 
Grund des Protokolls vom Magiſtrat der Stadt Rennes ſich 
einen Paß ausſtellen, lautend auf den Namen Raoul Briand, 
Stand: Kaufmann. 

Indem er alles verkaufte, was er noch ſein nannte, brachte 
er eine Summe Geldes zuſammen, die hinreichte zur Beſchaffung 
eines kleinen Warenlagers von allerlei Pariſer Galanterie-, 
Mode: und Luxusartikeln. Damit begab er ſich nach Nantes 
und ſegelte mit feinen Waren nach Weſtindien, wo er wohl— 
behalten anlangte und in St. Pierre, der Hauptſtadt der Inſel 
Martinique, einen kleinen Laden mietete, in welchem er ſeine 
Waren zur Schau und zum Verkauf ausſtellte. 

Bald erlangte er gute Kundſchaft, beſonders ſeitens der 
ſchönen und reichen Damen der Inſel. Denn es hatte ſich — 
wahrſcheinlich durch den Kapitän des Schiffes, welches ihn her— 
gebracht — die Kunde verbreitet, daß er in Wahrheit nicht der 
einfache Kaufmann Briand, ſondern vielmehr der vornehme 
bretagniſche Graf Kerbriand ſei. Das erregte ſo viel Intereſſe 
für den auch ſonſt liebenswürdigen und hübſchen jungen Kauf: 
mann, daß ſein Geſchäft derartig gut ging, daß er bald von 
den Großhändlern in St. Pierre neue Vorräte beziehen mußte. 
Bereitwillig gaben die Großkaufleute ihm Kredit. Solche an— 
genehme Erfolge entflammten ſeinen ſpekulativen Geiſt zu den 
kühnſten Hoffnungen und in ſeinen Träumen ſah er ſich ſchon 
als zukünftigen großen Handelsherrn und Millionär. 

Auch der Gouverneur der Inſel, Baron v. Breteuil, erhielt 
Kunde von ihm. Dieſer, ein Landsmann, war einſt der ver- 
traute Freund von Raouls Vater geweſen. Er ließ den jungen 
Mann zu ſich bitten, empfing ihn mit ausgezeichneter Artig— 
keit, bewirtete ihn und bot ihm ein Leutnantspatent an, falls er 
ſeinen in Rennes deponierten Adel reklamieren und ſich nach— 
ſchicken laſſen wolle. Andernfalls könne er eine gute Anſtellung 
als Sekretär in einem Bureau des Gouvernements bekommen 
mit ſicherer Ausſicht auf baldiges Avancement. Raoul lehnte 


Manniafaltiges. 221 


dankend beides ab und ſagte, er ſei ja nach Martinique gekom⸗ 
men, in der Hoffnung, ſich ein anſehnliches Vermögen zu er⸗ 
werben, und dies glaube er am beſten durch einträgliche Handels⸗ 
geſchäfte zu erzielen. 

Es ſtand aber in den Sternen geſchrieben, daß der junge 
Graf nicht lange mehr hinter dem Ladentiſche ſtehen ſolle. In 
St. Pierre wohnte die millionenreiche Witwe des verſtorbenen 
Zuckerplantagenbeſitzers Duponchel. Ihre einzige Tochter Loui⸗ 
ſon, ein reizendes Mädchen von achtzehn Jahren, verliebte ſich 
ſterblich in den intereſſanten Raoul. Die jungen Herzen fanden 
ſich, und bald kam es zu einer Erklärung. 

Madame Duponchel, eine ſehr vernünftige Frau, ſagte zu 
ihrer Tochter: „Wenn er wirklicher Graf iſt, habe ich durchaus 
nichts gegen dieſe Verbindung; doch ſoll er natürlich die Krämerei 
aufgeben. Profitiert er von unſeren Millionen, ſo wollen wir 
von ſeiner Vornehmheit profitieren. Nicht Frau Briand ſollſt 
du werden, ſondern Frau Gräfin Kerbriand. So ſoll's mir 
recht ſein. Um aber volle Sicherheit zu erlangen, daß hier kein 
Irrtum vorliegt, gehe ich zum Gouverneur und werde mit ihm 
darüber ſprechen.“ 

Dieſer beſtätigte ihr auf ſein Wort, daß die Sache voll⸗ 
kommen in Richtigkeit ſei. Raoul könne jederzeit, wenn es ihm 
beliebe, ſeinen in Rennes deponierten Grafentitel wieder an⸗ 
nehmen. Nicht ſeine Schuld ſei es, daß er ſo verarmt, ſondern 
die ſeiner Vorfahren, und die Tugend der Sparſamkeit, welche 
dieſen gefehlt hätte, ſcheine er zu beſitzen. 

Sehr zufriedengeſtellt durch ſolches Zeugnis, ließ die reiche 
Witwe den jungen Mann zu ſich bitten. Gerührt ſegnete ſie 
den Liebesbund, machte jedoch zur Bedingung, daß Raoul die 
Kaufmannſchaft aufgebe und wieder in ſeiner Heimat ein vor⸗ 
nehmer Graf werde. Sie ſelbſt wolle mit nach Frankreich, um 
an ſolcher Vornehmheit teilzunehmen. Natürlich war ihm dies 
ganz recht. Nun flogen ihm die Millionen nur ſo zu; er brauchte 
ſie nicht erſt zu verdienen. Bald wurde die Hochzeit zu St. Pierre 
mit großer Pracht gefeiert. Er verkaufte ſein kleines Geſchäft, 
Frau Duponchel ihre großen Plantagen, und dann ſchiffte ſich 
das glückliche Ehepaar nach Nantes ein. 


222 Mannigfaltiges. 


Nach gerade einjähriger Abweſenheit kam Raoul wieder in 
der Heimat an. Er begab ſich nach Rennes, wo eben wieder 
die Stände verſammelt waren, und reklamierte ſeinen deponier⸗ 
ten Adel. Er empfing auf feierliche Weiſe ſeine Familienpapiere 
und ſein altes Ahnenſchwert. Der Adelsmarſchall und die vielen 
anderen anweſenden Edelleute ſchüttelten ihm die Hände und 
beglückwünſchten ihn, daß er in Weſtindien ſo raſch ſeinen Zweck 
erreicht habe. Jetzt gehöre er, wie früher, wieder zu ihnen, 
zum alten Adel des Landes. 

Mit Hilfe der erheirateten Millionen kaufte Raoul, ſoweit es 
ihm möglich, die Güter, welche ſeinen Vorfahren früher gehört 
hatten, wieder an, und fortan lebte er in der Bretagne glücklich 
und zufrieden mit ſeiner lieben Louiſon und ſeiner guten Schwieger⸗ 
mutter Frau Duponchel. F. L. 

Neue Erfindungen: I. Elektriſche Taſchenlaterne. 
— Obwohl unſere moderne Art, mit Sicherheitszündhölzern Licht 
zu machen, der ehemaligen mittels Schwefelfaden, Stahl und 
Schwamm oder Phosphorhölzern bedeutend überlegen iſt, kann 
man doch nicht ſagen, daß ſie allen Anforderungen entſpricht. 
Beſonders in zugigen Durchgängen oder dort, wo größte Schnellig— 
keit erforderlich iſt, läßt ſie viel zu wünſchen übrig. Wer zum 
Beiſpiel einen Dieb in ſeinem Hauſe oder in ſeinem Zimmer 
vermutet, dem werden die beſten „ſchwediſchen“ und eine Kerze 
ſehr wenig nützen. Das Verfahren iſt zu zeitraubend. Wer 
nachts nach Hauſe kommt, und bei Sturm und Wetter ſein 
Wachsſtreichholz in Brand ſetzen will, um ſich in ſeine Wohnung 
hinaufzutappen, wird ebenfalls einigen Schwierigkeiten begegnen. 
Dem hilft auf die einfachſte Weiſe eine kürzlich in den Handel 
gelangte elektriſche Taſchenlaterne ab, die in verſchiedenen Größen 
angefertigt wird. Es iſt ein Cylinder von 21 bis 34 Centimeter 
Länge und gegen 4 Centimeter Dicke. Unſer Bild zeigt oben 
rechts in der Ecke die äußere Geſtalt des Apparates, darunter 
die praktiſche Anwendung. Man kann ihn bequem in der Rod: 
taſche tragen, und ein einziger Druck auf den am Handgriff be— 
findlichen Ring geſtattet es dem Beſitzer, entweder ein kurzes 
Blitzlicht oder einen längere Zeit dauernden Lichtſtrahl aus 
der an der Spitze des Cylinders befindlichen Glühlampe zu er: 


Mannigfaltiges. 223 


zeugen. Die nützliche Erfindung wird ſicherlich ſchnell Verbrei— 
tung finden. | F. 3. 
II. Caſtaings Doppelſcheiben zur immerwährenden 
Lüftung. — Trotz der großen Fortſchritte in der Erkenntnis 
richtiger hygieiniſcher Grundſätze und ihrer Verbreitung geſchieht 


Eine elektrische Taschenlaterne. 


vielfach noch immer zu wenig für Erneuerung der Luft in be: 
wohnten Räumen. Wenn man weiß, daß jeder Menſch täglich 
72 Kubikmeter reiner Luft verbraucht, und daß ferner durch die 
ausgeatmete Luft, ſowie durch Heizung und Beleuchtung die in 
den Zimmern vorhandene Luftmenge fortwährend verſchlechtert 


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224 Mannigfaltiges. 


wird, ſo kann man ſich nicht wundern, daß bei mangelnder 
Lüftung üble Folgen entſtehen. Die natürliche Ventilation, das 
heißt der Austauſch zwiſchen reiner und ſchlechter Luft durch 
Wände, Fenſter⸗ und Thürritzen, genügt keineswegs und muß 
durch gleichzeitiges Oeffnen der Fenſter, noch beſſer durch gleich⸗ 
zeitiges Oeffnen von 
Thüren und Fenſtern, 
ſo daß Gegen⸗ und 
Durchzug entſteht, von 
Zeit zu Zeit erhöht 
werden. Es genügt 
auch nicht, im Neben⸗ 
zimmer auf einige 
Stunden einen Fen⸗ 
ſterflügel zu öffnen, 
ſondern die Lufter⸗ 
neuerung muß in dem 
Zimmer ſelbſt ge⸗ 
ſchehen. Bei der ängſt⸗ 
lichen Scheu, die viele 
Perſonen nicht nur 
vor der gefürchteten 
Zugluft, ſondern auch 


vor dem Eindringen 
Fenster mit Doppelscheiben nach Dr. Castaing npon 
zum Zweck immerwährender Lüftung. kälterer : Luft über: 
haupt in bewohnte 


Räume hegen, ſucht man die Lüftung vielfach durch Anbrin⸗ 
gung von Luftöffnungen oder Klappen an den oberen Fenſter⸗ 
ſcheiben zu bewirken, doch iſt auch dies keineswegs ausreichend. 
Vortrefflich bewährt hat ſich dagegen ein Verfahren von dem 
franzöſiſchen Generalarzt Dr. Caſtaing, dem die Pariſer Akademie 
der Wiſſenſchaften für feine Methode der immerwährenden Lüj- 
tung von Wohn: und Schlafräumen mittels Doppelſcheiben einen 
Preis zuerkannt hat. Das Verfahren iſt einfach und praktiſch; es 
findet keinerlei Zug oder plötzliches Zuſtrömen kalter Luft ſtatt, 
ſondern der Ausgleich zwiſchen der inneren verdorbenen und der 
äußeren guten Luft geht fortwährend und ganz unmerklich von 


Mannigfaltiges. 225 


ſtatten. Unſere Abbildung macht das Verfahren genügend an⸗ 
ſchaulich. Man läßt einfach bei einer ſchon vorhandenen Scheibe 
die untere Partie etwa 4 Centimeter hoch wegſchneiden, ſo daß 
alfo eine verkürzte Scheibe (EF G H) übrig bleibt. Hierauf wird 
eine zweite Scheibe angebracht, die in derſelben Weiſe oben ab⸗ 
geſchnitten und dadurch verkürzt worden ift (A BDM). Die 
Anbringung dieſer zweiten Scheibe iſt in allen Fenſterrahmen 
leicht ausführbar, ſei es in der aus unſerem Bilde erſichtlichen 
Art oder in ähnlicher Weiſe. Mit Rückſicht auf die Reinigung 
der Fenſter wird es jedenfalls zu empfehlen ſein, die zweite 
Scheibe nicht etwa in den Rahmen einzulaſſen und mittels Glaſer⸗ 
kitt feſt einzukitten. Auf dieſe Weiſe findet eine fortwährende 
Zufuhr friſcher und guter Luft ftatt, die durch die Lücke G HD M 
von außen zwiſchen die Scheiben tritt und durch den Zwiſchen⸗ 
raum EF AB nach dem Plafond des betreffenden Raumes hin: 
ſtrömt und ſo einen ſtetigen Ausgleich bewirkt, der ſelbſt von em⸗ 
pfindlichen Perſonen nicht unangenehm empfunden wird. Dieſer 
Ausgleich iſt um ſo kräftiger, da die innere Scheibe, die ſtets 
wärmer iſt als die äußere, die zwiſchen den beiden befindliche 
Luft gleichf alls erwärmt, wodurch ihr Emporſteigen beſchleunigt 
wird. Die Anbringung von Dr. Caſtaings Doppelſcheiben em⸗ 
pfiehlt ſich nicht nur für Wohn⸗ und Schlafzimmer, ſondern auch 
für Schulen, Reſtaurationen u. ſ. w. Fr. R. 
Rettleräniſſe. — „Wohlzuthun und mitzuteilen“ ift gewiß 
eine ſchöne Sitte, aber es wird dem Eingeweihten, namentlich 
in der Großſtadt, oft recht ſchwer gemacht, das Mitgefühl mit 
den Leiden und der Not ſeiner Mitmenſchen rege zu halten und 
ſein Herz nicht verhärten zu laſſen, wenn er ſieht, wie Unver⸗ 
ſchämtheit, Laſter und Faulheit ſich breit machen und immer 
neue Kniffe erfunden werden, die Bethätigung dieſes Mitge⸗ 
fühls und der Barmherzigkeit für ſich auszubeuten und die zu⸗ 
fließenden Gaben in ſorgloſem Nichtsthun zu verpraſſen. Dem 
Bettlerunfug, wie er ſich thatſächlich in Berlin herausgebildet 
hat, zu ſteuern, iſt natürlich Sache der Polizei, und jedes Revier 
hat zwei Beamte, die ſogenannte Bettlerpatrouille, ausdrücklich 
und ausſchließlich damit betraut. Und doch treibt dieſes Un⸗ 
kraut immer neue Blüten und nur zu oft wird der Menſchen⸗ 
1900. III. 15 


226 Mannigfaltiges. 


freund gewahr, daß er feine Hilfe einem durchaus Unwürdigen 
hat zu teil werden laſſen. 

So hatte ſeit Jahren ein älterer Mann an der Ecke der 
Potsdamerſtraße in Berlin, da wo dieſelbe auf den gleichnamigen 
Platz mündet, ſeinen Standort inne und verkaufte Streichhölzer, 
die in einem an einem Bande vom Hals herabhängenden Kaſten 
geborgen waren. Seine linke Hand war verkrüppelt, ſein linkes 
Bein war unter dem Knie von einem Stelzfuß geſtützt, während 
der Unterſchenkel in einem formloſen Klumpen nach hinten ragte, 
ſeine Rechte ſtützte ſich ſchwer auf einen Knotenſtock. Da der 
Mann eine Militärmütze trug und ſeine Bruſt die Ehrenzeichen 
der Kriegsjahre 1864, 1866 und 1870/71 ſchmückten, fo hatte 
man augenſcheinlich einen jener Tapferen vor ſich, die im Dienſte 
des Vaterlandes ihre geſunden Gliedmaßen geopfert. Der In⸗ 
valide, der beſcheiden und ruhig, ohne aufdringlich zu ſein, auf 
ſeinem Standorte auf und ab humpelte, hatte ſich eine regelmäßige 
ſichere Kundſchaft geſchaffen in den zahlreichen Offizieren, die 
nach drei Uhr nachmittags vom Generalſtabsgebäude oder vom 
Kriegsminiſterium her ihren im Weſten gelegenen Wohnungen 
regelmäßig zuſtreben, in zahlreichen Paſſanten, die dies ſahen 
und nun ein Gleiches thaten, und in den Bewohnern der um: 
liegenden Paläſte und Häuſer, welche ihren Bedarf, und über dieſen 
hinaus, von ihm entnahmen. Da wurde der Mann eines Mittags 
von einem Betrunkenen angerannt und zu Boden geriſſen, ſo daß 
er mit dem Hinterkopf auf die Bordſchwelle des Bürgerſteiges ſchlug. 
Den Blutenden, der ſich aufzurichten ſuchte, brachte, während 
der Trunkenbold von einem Schutzmann ſiſtiert wurde, trotz ſei⸗ 
nes energiſchen Sträubens ein mitleidiger Generalſtabsoffizier 
in einer Droſchke zur nächſten Sanitätswache, wo man ihm 
eine klaffende Wunde am Hinterkopfe zunähte. Bei dieſer Ge⸗ 
legenheit beſah ſich der Arzt die verſtümmelte Hand. Aber, was 
war das — die Hand war ja gar nicht verſtümmelt, ſondern die 
beiden Mittelfinger nur künſtlich gegen die Handfläche, und die 
Hand gegen den Unterarm zurückgebogen. Das linke, von dem 
Stelzfuß und ſeiner Hülle ſchnell befreite Bein völlig geſund — 
der Kerl war, wie dann die Polizei ſehr bald feſtſtellte, nie 
Soldat geweſen, ſondern nur ein nichtswürdiger Betrüger, der 


Manniafaltiges. 227 


am Abend und die Nacht hindurch in einer Kneipe im Norden 
Berlins das große Wort führte und ſpielte und trank, und 
trotzdem im Laufe der Jahre ſich mehr als tauſend Mark er— 
ſpart hatte. Man überwies ihn auf ein Jahr der Landespolizei— 
behörde und dieſe ſteckte ihn in ein Arbeitshaus. — 

Unter den Linden ſtrömten gegen Mittag die dort flanierenden 
Herrſchaften plötzlich nach einem Punkte zuſammen. Ein armes 
altes Mütterchen iſt ohnmächtig zuſammengeſunken. Hilfreiche 
Hände tragen ſie in einen Hausflur, man netzt ihr die Stirn 
mit Waſſer, ein Herr holt aus einer benachbarten Reſtauration 
ein Glas Portwein, das die Aermſte gierig ausſaugt — dann 
ſinkt ſie wieder zuſammen, und nur das eine, entſetzliche Wort: 
„Hunger“ haucht ihr halbgeöffneter Mund. Schreckensbleich ſehen 
die Umſtehenden ſich an — da nimmt ein Herr ſeinen Hut ab, 
wirft ein Zweimarkſtück hinein, und flugs öffnen ſich die Herzen 
und die Geldtaſchen der anderen und alles drängt ſich, fith an 
dem Liebeswerke zu beteiligen. Die Silberſtücke fliegen in den 
Hut des Barmherzigen, der die Situation ſo richtig erfaßt, und 
im Nu iſt eine erkleckliche Summe beiſammen. Aber der Herr 
thut fein Liebeswerk nicht bloß halb; er winkt einer Drojchle 
und bringt die Aermſte, die nur blöde um ſich ſchaut und kaum 
im ſtande iſt, ihre ferne Wohnung anzugeben, und ſtumpfſinnig 
auf den ihr in die Schürze geknüpften Schatz niederſchaut, in 
das nächſte Krankenhaus — das heißt, er fährt mit ihr außer 
Sichtweite des weiterflutenden hilfreichen Publikums, läßt halten 
und im nächſten Hausflur nimmt der erfindungsreiche Sohn mit 
cyniſchem Lachen der wieder munter gewordenen Alten den Raub 
ab, ihr einen Thaler überlaſſend, und wandelt erhobenen Haup⸗ 
tes in eine Weinkneipe, um dort zu dinieren. — 

Ein kleines, ſauber gekleidetes Mädchen läuft, bitterlich 
ſchluchzend und ſuchend, einen Teil der Friedrichſtraße auf und 
ab. Einzelne werden aufmerkſam, endlich fragt eine Dame, 
was ihr fehle oder was ſie ſuche. Sie ſollte dem Hauswirt, 
der in der K.⸗Straße wohne und der die kranke Mutter exmit⸗ 
tieren laſſen wolle, einen Teil des ſchuldigen Mietszinſes, 
zwanzig Mark, bringen. Die Mutter habe das Letzte, was ſie 
noch vom Vater von früher her gehabt, die goldene Uhr des 


228 Manniafaltiges. 


Verſtorbenen, verſetzt, und nun habe fie das Geld verloren. Auch 
hier bleiben Spaziergänger und geſchäftig Dahineilende ſtehen. 
Die Dame greift in ihr Portemonnaie und giebt der Kleinen mit⸗ 
leidig einen Thaler; ſie erzählt das eben Vernommene den 
Umſtehenden; die eben noch nur Neugierigen beteiligen ſich in 
ſpontaner Aufwallung an der freundlichen Spende, und in kurzer 
Zeit hält die Kleine, deren Thränen immer noch reichlich fließen, 
in der krampfhaft geſchloſſenen Hand den gleichen Betrag in 
Silber, den ſie ſoeben in Gold verloren, und noch etwas mehr, 
und eilt nach haſtig geſtammelten Dankesworten von dannen, den 
Hartherzigen zu befriedigen — d. h. in einer der nächſten Straßen 
wartet ihrer „die kranke Mutter“, entreißt ihr mit höhniſchem 
Grinſen das Geld und ſendet das Kind, ihm mit Schlägen 
drohend, wenn es ſich dumm benehme, nach dem Süden oder 
Norden der Stadt, um hier die gleiche Komödie aufzuführen. 
Auch dieſer Krug geht zu Waſſer, bis er bricht — aber welch ein 
Keim wird in ſolch eine junge Menſchenſeele von der eigenen 
Mutter hineingelegt! — 

Iſt das Wetter ſchön, ſo gelingt es den oben erwähnten 
Bettlerpatrouillen nur ſelten, eines „Hausbettlers“ habhaft zu 
werden, und gerade dieſe ſind häufig eine Plage und eine große 
Gefahr namentlich der im Parterre wohnenden Familien. Nicht 
allein, daß ſie häufig frech werden, wenn das ihnen gereichte 
Almoſen nach ihrer Anſicht zu ſpärlich ausfällt, ſie baldowern 
auch oftmals bei ihren Rundgängen günſtige Gelegenheit zu 
Diebſtählen und Einbrüchen, ja Ueberfällen aus. Bei öfteren 
Gängen erfahren ſie leicht, wann der Hausherr ausgegangen 
und die Hausfrau oder die Kinder allein, oder gar niemand zu 
Hauſe iſt. Weht dagegen ein eiſiger Wind über das unendliche 
Häuſermeer, oder öffnet der Himmel ohne Aufhören ſeine Schleuſen, 
dann fallen bei jedem Rundgang den Patrouillen zahlreiche Bettler 
in die Hände. Der Grund iſt ein ſehr einfacher: bei ſchönem 
Wetter nächtigt es ſich herrlich bei „Mutter Grün“, in den 
Schauern der Regenböen iſt dies Vergnügen aber ein zweifel⸗ 
haftes. Bei ſeiner Siſtierung in letzterem Falle giebt der er⸗ 
tappte Bettler dem Beamten und auf der Wache einen falſchen 
Namen an; natürlich muß er, da dies ſehr bald feſtgeſtellt wird, 


Manniafaltiges. 229 


eingeliefert werden. Vor dem Unterſuchungsrichter ftreitet der 
Menſch zuerft, überhaupt gebettelt zu haben, dann erklärt er, 
direkt aus Oſtpreußen oder Polen zugewandert zu ſein. Bis nun 
von dort die Nachricht eintrifft, daß der Kerl gelogen, muß er in 
Unterſuchungshaft bleiben. Dies bedeutet aber für ihn: bei ſeiner 
Einlieferung ein warmes Bad und Säuberung ſeiner Kleidungs⸗ 
ſtücke durch Dampf, warmes Eſſen und warmes Lager, und keine 
Arbeit! Sowie dann die Sonne wieder in ſein vergittertes 
Fenſterchen hineinlacht und die Schwalben luſtig zwitſchernd 
vorüberziehen, läßt er ſich ſofort dem Unterſuchungsrichter vor⸗ 
führen und erklärt, nunmehr die Wahrheit ſagen zu wollen. 
Da er ſie nun bei dem köſtlichen warmen Wetter auch wirklich 
ſagt, ſo muß man ihn ſofort entlaſſen, denn die durch ſeine 
Bettelei und Schwindelei verwirkte geringe Strafe muß ihm 
auf die Unterſuchungshaft angerechnet werden. 

Zum Schluſſe ſei noch kurz bemerkt, daß auch die Bettler eine 
ſtändige Börſe haben. Hier ſind auf Stunden, Tage und Wochen 
unglückliche, mit allerhand Gebrechen behaftete oder verkrüppelte 
Kinder zu vermieten. Je erbärmlicher ein ſo bejammernswertes 
Geſchöpfchen ausſieht, je kläglicher es wimmert — deſto mehr 
wird es begehrt, deſto höher ſteigt ſein Wert bei den vertierten 
Eltern, die, das Kind mit ſeiner neuen Pflegemutter allen Un⸗ 
bilden der Witterung ausſetzend, den Sündenlohn auf der Börſe 
oder in einer anderen Kneipe verjubeln. Hiergegen iſt die Polizei 
faſt machtlos, aber gottlob hat die Aufmerkſamkeit der Berliner 
Behörde es abſolut verhindert, daß auf dieſer Börſe, wie in an⸗ 
deren Weltſtädten, Krüppel zum Zweck der Vermietung erſt her⸗ 
geſtellt werden. 

Ein ingeniöſer Kopf, der im Begriff iſt, ſich ein Vermögen 
zu erwerben, iſt auf den Gedanken gekommen, ein „Bettler: 
adreßbuch“ herzuſtellen und die Durchſicht der einzelnen Abtei⸗ 
lungen desſelben — es ſind etwa fünfzig — auf je fünf Minuten 
zu vermieten. Die Preiſe der einzelnen Abteilungen variieren 
zwiſchen fünf und fünfzig Pfennig pro fünf Minuten. Ich habe 
ſeiner Zeit in dieſes Adreßbuch durch die Liebenswürdigkeit 
eines „alten Freundes“, eines Zuchthäuslers, der in ſeinen 
Mußeſtunden auch gebettelt und dabei, wie ich vorhin erwähnt, 


230 Manniafaltiges. 


alles nur mögliche ausbaldowert hat, Einblick nehmen können. 
Es iſt ſehr ſinnreich hergeſtellt, nach Straßenzügen, und auf den 
einzelnen Blättern genau fixiert, ob, was und wieviel in ein⸗ 
zelnen Familien verabreicht wird. Ob Geld, ob nur „Stullen“, 
wer am meiſten giebt, der Mann oder die Frau, wann erſterer 
zu Haus iſt und zu welcher Zeit er die beſte Laune hat. So 
ſtand hinter dem Namen eines meiner Bekannten: „jiebt nach⸗ 
mittags bis fufzig Pfennig, läßt aber davor acht Paar Stiebeln 
und Schuhe putzen.“ Hinter meinem Namen war angeführt: „am 
beſten, wenn er jejeſſen hat un noch nicht ſchlafen duht, um fünfe; 
jtebt immer zehn Pfennige un Eſſen; die Frau keen Geld und 
bloß eene jeſchmierte Stulle!“ Je nachdem nun der Fechtbruder 
zahlt, erhält er eine Abteilung, ſchreibt ſich aus dieſer ſo viel 
Namen und Wohnungen ab, als er in der kurzen Zeit vermag, 
und begiebt ſich dann auf die Wanderung. Aus dem Buche geht 
hervor, daß es nicht immer die vornehmſten Viertel und Häuſer 
ſind, in denen am meiſten gegeben wird. Th. Gandert. 
Eine wertvolle Bibliothek. — Bevor Napoleon I. nach Ruß: 
land zog, beſchied er den Generalpoſtmeiſter Lavalette, einen 
Mann, zu dem er unbedingtes Vertrauen hatte, zu ſich und über— 
gab ihm eine Anweiſung auf 1,600,000 Franken mit dem Be⸗ 
fehle, dieſen Betrag zu beheben und betreffs deſſen Verwendung 
weitere Ordre abzuwarten. Anfangs war es nicht ſchwer, dieſem 
Befehle zu entſprechen, ſpäter aber, als ſich infolge der Nach— 
richten über das große Unglück, das die franzöſiſche Armee in 
Rußland getroffen, in Paris eine höchſt bedenkliche Stimmung 
gegen den auf dem Rückzuge aus Moskau befindlichen Kaiſer 
bemerkbar machte, mußte Lavalette beſorgen, der ihm anver— 
trauten Summe, die er als perſönliches Eigentum Napoleons 
betrachtete, irgendwie verluſtig zu werden. Der Beſitz des Geldes 
bereitete dem gewiſſenhaften Manne daher manche ſchlafloſe Nacht. 
Er fürchtete namentlich den Finanzminiſter, der das Geld nahm, 
wo er's eben fand, und ſann, wie er den Schatz des Kaiſers 
möglichſt ſicher verwahren könnte. Endlich verfiel er auf den 
Gedanken, ſich Holzkäſtchen machen und dieſelben ſo ausſtatten 
zu laſſen, daß ſie vollkommen jenen Quartbänden glichen, aus 
denen ſeine Amtsbibliothek beſtand. In jedem dieſer Käſtchen — 


Manniafaltiges. 231 


es waren deren im ganzen 54 — brachte er 30,000 Franken 
unter und miſchte dieſe „Bücher“ unter die anderen auf den 
Regalen befindlichen Bände. Niemand hatte eine Ahnung von 
der Koſtbarkeit dieſer Bibliothek, und Lavalette konnte dem Kaiſer 
nach deſſen Rückkehr melden, daß ſein Eigentum unangetaſtet ge⸗ 
blieben ſei. 

„Ich habe nichts anderes erwartet,“ entgegnete Napoleon. 
„In Ihrer Hand iſt alles ſicher und deshalb bitte ich Sie, auch 
ferner der Hüter meines Schatzes zu ſein. Die Zeiten ſind un⸗ 
ruhig, ich muß wieder fort, und wer weiß, wann ich wiederkehre. 
Indes — ich wiederhole es — das Geld bleibt in Ihrer Ver⸗ 
wahrung.“ | 

Dagegen war nichts zu machen. Lavalette mußte fih be: 
quemen, Napoleons Eigentum auch ferner zu hüten, und er 
that's während der Wirren und Stürme der Jahre 1813 und 
1814, er that's auch nach der Abdankung des Korſen, und war 
ſo glücklich, demſelben nach deſſen Rückkehr von Elba (1815) 
die 54 Bände mit je 30,000 Franken Inhalt unverſehrt über⸗ 
geben zu können. Napoleon war außerordentlich erfreut und 
hat mit Hilfe der koſtbaren Bibliothek Lavalettes, reſpektive der 
darin ſteckenden 1,600,000 Franken, ſeine Herrſchaft noch einmal, 
allerdings nur für kurze Zeit, befeſtigt. N. M. 

Das größte Geweih der Erde. — In den Geweihſamm⸗ 
lungen der fürſtlichen Jagdſchlöſſer Europas befindet ſich manch 
ſeltenes und gewaltiges Stück, aber das größte Geweih der Erde 
iſt gegenwärtig im Beſitz eines Amerikaners — die ja bekanntlich 
von allem ſtets das Größte haben müſſen —, und zwar wurde 
es erſt in jüngſter Zeit erbeutet, nämlich im Oktober 1897. Es 
iſt das Geweih eines kanadiſchen Elentieres oder Elches. Dieſer 
gewaltigſte Vertreter aus der Familie der Hirſche, der einſt auch 
in ganz Nord⸗ und Mitteleuropa vorkam, findet ſich noch zahl⸗ 
reich im Nordweſten Kanadas. Er erreicht eine Länge von 
2,9 Meter, eine Höhe von 1,9 Meter und wird bis 300 Kilo⸗ 
gramm ſchwer. Das Geweih beſteht aus einer großen, ſehr aus⸗ 
gebreiteten, dreieckigen, glatten Krone, die am Rande mit zahl⸗ 
reichen Zacken beſetzt iſt und auf kurzen, dicken, gerundeten 
Stangen getragen wird. Das ungeheure Geweih jenes Elen⸗ 


232 Manniafaltiges. 


Geweih eines kanadischen Elentieres, das grösste der Erde. 
Nad einer Photographie. 


tieres, das unſere Abbildung zeigt, hat eine beſondere Geſchichte. 
Bereits ſeit mehreren Jahren erzählten die Indianer um Fort 


Manniafaltiges. 233 


Selkirk an der Mündung des Stewartfluſſes von einem Rieſen⸗ 
elch, der allen Nachſtellungen der Jäger trotzte, weshalb ſie ihn 
für ein Zaubertier hielten, das von dem Geiſte eines verſtorbenen 
tapferen Kriegers bewohnt werde. Sie gaben daher in aber⸗ 
gläubiſcher Furcht alle Verfolgungen des Tieres auf. Ein Halb⸗ 
blutindianer, der der Pelzgeſellſchaft als Trapper diente, erlegte 
es endlich, nachdem er es vier Tage verfolgt hatte. Das un⸗ 
geheure Geweih, deffen Durchmeſſer 6 Fuß 6 ½ Zoll engliſch, 
alſo etwas über 2 Meter beträgt, hat vierzig Zacken oder Enden, 
wie der Jäger jagt. Es wurde im Sommer 1898 den Pukon⸗ 
fluß hinab nach Tacoma im amerikaniſchen Territorium Waſhing⸗ 
ton geſandt, woſelbſt es der Pelzhändler W. F. Sheard kaufte, 
in deſſen Händen ſich dieſe einzigartige und herrliche Jagd⸗ 
trophäe noch gegenwärtig befindet. F. 3. 

Der Konſul und ſein Pfeifer. — Gajus Duilius erfocht 
als Konſul im erſten Puniſchen Krieg (264—241 v. Chr.) mit 
der erſten römiſchen Kriegsflotte den großen Seeſieg der Römer 
bei Mylä an der Nordküſte von Sizilien über die Karthager. 
Duilius hatte eine Kriegsmaſchine erfunden, die ſich auf das 
vortrefflichſte bewährt und nicht zum wenigſten dazu beigetragen 
hatte, einen ſo glänzenden Sieg zu erringen. Bei ſeiner Rück⸗ 
kehr erwartete ihn ganz Rom vor den Thoren und führte ihn 
im Triumph zum Kapitol, wo der Senat ſeiner harrte. 

Als er dort erſchien, verkündete ihm der Senat, daß er ihm 
zur Belohnung ſeines Sieges eine Auszeichnung zugedacht habe, 
die ſeinem Stolze ungemein ſchmeicheln würde; er ſolle nämlich 
niemals ſeine Wohnung verlaſſen, ohne daß ihm ein Muſiker 
voranginge, der unter Pfeifenklang der Menge verkündete, daß 
derjenige, welcher ihm folge, „der berühmte Duilius, der Be⸗ 
ſieger der Karthager“ ſei. 

Duilius war über dieſe Ehre ungemein glücklich. Er kehrte 
in ſeine Behauſung zurück, begleitet von dem Pfeifer, welcher 
mit lauter Stimme verkündete, wer er ſei, und jubelnd ſchrie 
das Volk: „Es lebe Duilius, der Befreier Roms!“ Der Konſul 
war trunken vor Entzücken, und mehrmals verließ er ſeine 
Wohnung, wenn er auch außerhalb derſelben nichts zu thun 
hatte, nur um ſich der ruhmvollen Auszeichnung zu erfreuen. 


234 Mannigfaltiges. 


So ging alles vortrefflich bis zum Abend. Der Konſul 
hatte nämlich eine Braut, die er anbetete und nach deren An⸗ 
blick ihn verlangte. Als ſeine Sanduhr die ſechſte Stunde ver⸗ 
kündete, ſchickte er ſich an, den Palaſt zu verlaſſen, um ſich 
unbemerkt zu ſeiner Braut zu begeben. Er hatte aber die 
Rechnung ohne ſeinen Pfeifer gemacht. Kaum hatte er die Straße 
betreten, als auch ſein Pfeifer, der beſtändig in ſeinem Dienſt 
war und ſein Hinaustreten aus der Pforte gewahrt hatte, ihm 
voraneilte und unter hellem Pfeifenton mit lauter Stimme ver⸗ 
kündete: „Seht her, hier kommt der Konſul Duilius, der Be— 
freier Roms!“ Wer noch auf den Straßen war, hemmte feine 
Schritte und ſtarrte den Ruhmgekrönten an; alle Fenſter und 
Hausthüren thaten ſich auf, kurz, die ganze Bevölkerung des 
Stadtviertels kam auf die Beine und jubelte und ſchrie: „Es 
lebe Duilius, der Befreier Roms!“ 

Das war nun ſehr ſchmeichelhaft für ihn, aber auch ſehr be— 
läſtigend. Der Konſul gebot ſeinem Pfeifer, zu ſchweigen; dieſer 
aber entgegnete, daß er viel zu ſtrengen Befehl von dem Senat 
erhalten habe und daß er pfeifen und rufen würde, bis ihm 
der Atem ausginge. Aus dem erwünſchten Stelldichein bei 
der Geliebten konnte unter ſolchen Umſtänden natürlich nichts 
werden. Verzweiflungsvoll kehrte der Gefeierte in ſeinen Palaſt 
zurück. 

Während der nächſten Abende wiederholte er ſeine Verſuche, 
unauffällig zu ſeiner Braut zu gelangen, allein auch dieſe 
ſchlugen fehl und er kam ganz auper fih, niemals fein Xn- 
fognito bewahren zu können. Da begab er fih kurze Zeit dar: 
auf wieder nach Sizilien, wo er ſeinen Zorn an den Karthagern 
ausließ und ſie noch einmal ſchlug und zwar ſo tapfer, daß man 
glaubte, es ſei mit den puniſchen Kriegen auf immer zu Ende. 
Rom war vor Freude außer ſich, und man beſchloß, den Sieger 
auf noch glänzendere Weiſe zu empfangen als das erſte Mal. 
Der Senat verſammelte ſich und ſaß darüber gerade zu Rate, 
als man plötzlich den durchdringenden Schall der Pfeife und 
das Jubelgeſchrei des Volkes vernahm. Es war der Sieger, der 
früher, als man erwartet hatte, heimkehrte. Vor den Senat 
geführt, vermutete er den Grund der Beratung; raſch trat er 


Mannigfaltiges. 235 


vor und ſprach: „Ihr Väter Roms, nicht wahr, ihr beratſchlaget 
miteinander, welche Ehren mir zu teil werden ſollen?“ 

„Wir möchten,“ lautete die Antwort, „dich gern zu dem 
Glücklichſten der Sterblichen machen.“ 

„Wohlan,“ ſprach Duilius, „wollt ihr mir das gewähren, 
was ich am meiſten wünſche?“ 

„Sprich, ſprich,“ rief der ganze Senat wie mit einer 
Stimme, „beim Jupiter, was du verlangſt, es ſoll dir gewährt 
werden!“ | 

„Gut, ihr Väter Roms,“ entgegnete der Konful, „nehmt mir 
zur Belohnung dieſes meines zweiten Sieges den verwünſchten 
Pfeifer wieder ab, den ihr mir als Auszeichnung für den erſten 
verliehen habt!“ E. T. 

Sonderbare Münzennamen. — Die Verſchiedenheit der 
Münzen in Deutſchland und den angrenzenden Ländern war, 
ſowohl der Form wie dem Feingehalte nach, zur Zeit des Dreißig: 
jährigen Krieges — es gab damals mehr als zweitauſend prä⸗ 
gende Münzherren — eine ſehr große. 

Daher kam es auch, daß die Benennungen dieſer Münzen 
oft ſehr ſonderbare waren und letztere Namen erhielten, die 
ihnen häufig der Volkswitz beizulegen pflegte. So wurden 
mehrere Scheidemünzen in Schleſien und Böhmen des ſchlecht 
geprägten ſchleſiſchen Adlers wegen, und eine kleine ſächſiſche 
Münze (Halle) des äußerſt undeutlich und ſonderbar geprägten 
hl. Moritz halber „Fledermäuſe“ genannt. 

Silbermünzen, welche am Rhein (in Jülich, Kleve u. ſ. w.) 
im Verkehr ſtanden und auf der Kehrſeite einen Reiter mit zu⸗ 
rückgeſtrecktem Schwerte aufwieſen, hießen allgemein „Schnapp: 
hähne“ (Raubritter). 

„Knackkuchen“ nannte man in Oſtfriesland die rheiniſchen 
Goldgulden, weil das Münzenbild einem oſtfrieſiſchen Backwerke 
gleichen Namens ähnlich war. 

„Seufzer“ wiederum hießen diejenigen Sechſer, welche 
1709 mit den Stempeln von 1701 bis 1703 geprägt wurden, 
zur Zeit, als der König von Schweden, Karl XII., Sachſen als 
eroberte Provinz beſetzt hielt. Sie hatten ſo ſchlechtes Gepräge, 
namentlich ſo geringen Feingehalt, daß gleichſam jedermann zu 


236 Manniafaltiges. 


feufzen pflegte, wenn er gezwungen war, diefe Münzen als Be: 
zahlung anzunehmen, daher der Name. 

Bei manchen dieſer Münzennamen iſt ihre Herleitung nicht 
bekannt geworden, wie z. B. bei den „Stockfiſchgulden“, einer 
braunſchweigiſchen Spott⸗ oder Stachelmünze des Herzogs Julius 
vom Jahre 1612 und 1614, welche auf der Hauptſeite einen 
Stockfiſch aufwies mit der Umſchrift „Non nisi contusus“, auf 
der Rückſeite aber die Umſchrift: „Wan mans Stockfiſchs ge⸗ 
nießen ſol, muß man ihn zuvor klopfen wol. So findet man 
viel fauler Leut, die nichts thun, wenn man ſie nicht blewt.“ 

Ebenſowenig bekannt iſt die Urſache, warum die kleinen 
Silbermünzen im Kleveſchen und Kölniſchen „Fettmännchen“ 
oder „Fettmängel“ hießen. 

Häufig ſind die Benennungen auf die Prägebilder der Münzen 
zurückzuführen, wie bei den „Brillenthalern“ und den „Licht⸗ 
thalern“ auf die Brille beziehungsweiſe das Licht, welche der 
„wilde Mann“ auf dem braunſchweigiſchen Wappen in den 
Händen hält; ferner bei den verſchiedenen „Bettlerthalern“ 
auf das Bild des hl. Martin, welcher dem Bettler ein Stück 
ſeines Mantels abgiebt; bei dem hamburgiſchen „Neidthaler“, 
auf deſſen Hauptſeite die Darſtellung des vom Neide angefallenen 
Glückes zu bemerken iſt. Hierher zählen auch die heſſiſchen 
„Schweinsdukaten“, welche zu den Weidmann: oder Jagd⸗ 
thalern gehören, deren Reihen ebenſo ſchöne als ſeltene Stücke 
aufweiſen; die genannten Goldmünzen mit dem Bilde eines 
Wildſchweines auf der Rückſeite ließ Landgraf Ludwig VIII. um 
das Jahr 1470 ausprägen; ſie dienten gleich den „Hirſch— 
dukaten“ als Jagdprämien. 

Weiter find in dieſem Cyklus zu bemerken die „Gluck⸗ 
hennenthaler“ der Stadt Baſel vom Jahre 1691 mit dem 
Bilde einer Gluckhenne und ſechs Küchlein; die „Bremſen⸗ 
thaler“ der Stadt Lübeck vom Jahre 1537, welche eine Bremſe 
aufwieſen; die böhmiſchen „Eulendukaten“ von 1712 bis 
1715; die „Schafträger“ und „Schafe“, „Bockspfennige“ u. v. a. m. 

Manche Münzen wiederum wurden nach der Umſchrift be⸗ 
nannt, wie der „Makelosthaler“ der Königin Chriſtine vom 
Jahre 1665. Das Wort „makelos“ hielt man für griechiſch, 


Manniafaltiges. 237 


und feine Entzifferung hat anfangs viel Kopfzerbrechen gemacht, 
bis man auf die nächſtliegende Deutung des deutſchen Wortes 
„makellos“, rein, ohne Fehl und Tadel, kam. 

Sehr zahlreich ſind die Prägungen, welche ihre merkwürdigen 
Benennungen von beſonderen Ereigniſſen herleiten und häufig 
gleichfalls auch darauf bezügliche Münzenbilder aufweiſen, wie 
die „Heuſchreckenthaler“ vom Jahre 1693; die „Faßthaler“ 
vom Jahre 1664, auf den Bau des berühmten Heidelberger Faſſes 
Bezug nehmend, deren es mehrere gab; auf jeder dieſer Prägungen 
war aus der Umſchrift zu leſen, daß das genannte Faß 204 Fuder, 
5 Ohm und 4 Viertel Wein halte. Ferner die „Kometen⸗ 
thaler“ der Stadt Straßburg vom Jahre 1681, durch welche 
man den Verluſt der Reichsfreiheit beklagte und das Unglück 
mit einem kurz vorher ſichtbar gewordenen Kometen in Verbin⸗ 
dung brachte. 

Hierher zählen ferner die preußiſchen „Schiffthaler“ vom 
Jahre 1750; die „Scharfrichterpfennige“, hamburgiſche 
Denkmünzen, welche jährlich beim Rücktritte des älteſten Richters 
von ſeinem Amte durch den Scharfrichter überreicht wurden; die 
„Luftpumpenthaler“ von 1702, „Eheſtandsthaler“ von 
1669, die verſchiedenen „Eintrachtsthaler“ u. a. m. 

Zu erwähnen ſind endlich die verſchiedenen Münzen, welchen 
der Aberglaube merkwürdige Namen beilegte, wie die „Sarg⸗ 
pfennige”, „Rabendukaten“, „Fraiſchlemspfennige“, 
„Heckmünzen“ u. ſ. w. G. B. 

Die Amgebung des Dauphins. — Sobald in Frankreich 
früher ein Kronprinz geboren wurde, übergab man ihn den Frauen 
des für ihn gebildeten Hauſes. An der Spitze dieſes Hauſes 
ſtand die Gouvernante, eine Dame vom höchſten Range, der eine 
oder mehrere Untergouvernanten beigegeben waren. Des Prinzen 
Amme, dem Range nach eine Kammerfrau, hatte ihre eigene 
Gouvernante, welche nicht nur die von der Amme zu genießen⸗ 
den Speiſen, ſondern überhaupt ihre ganze Lebensweiſe beauf: | 
ſichtigte. Außerdem gehörten zu des Dauphins Hauſe acht oder 
neun Kammerfrauen, zwei Kammerdiener, zwei Garcons de la 
chambre, eine Wäſcherin, eine Küchenfrau, ein Arzt und ein 
Silberdiener. 


238 Mannigfaltiges. 


Nach zurückgelegtem dritten oder vierten Jahre wurde dem 
Prinzen ein Präzeptor beigegeben, der ihn im Leſen und in der 
Religion zu unterrichten hatte. Mit ſieben Jahren wurde er der 
Aufſicht der Frauen entnommen. Er erhielt einen Gouverneur, 
der entweder ein Marſchall oder ein Herzog und Pair von 
Frankreich war, zwei Untergouverneure, einen Präzeptor, zwei 
Gentilhommes de la Manche, die jeden ſeiner Schritte begleiteten, 
einen Beichtvater, drei oder vier Kammerdiener, drei Garcons 
de la chambre, zwei Kammerportiers, einen Wundarzt, einen 
Büchſenſpanner, einen Barbier, einen Tapezier, einen Kürſchner, 
einen Maultierkapitän, vier Garderobediener, eine Wäſcherin, 
Schreibe⸗, Zeichnen⸗, Fedt- und Tanzmeiſter u. f. w., fo daß der 
Siebenjährige über ein ganzes Heer von Dienern zu gebieten 
hatte. W. H. 

Die Rofkehl-Anolis. — Zu den anmutigſten Eidechſen 
gehören die in Nordamerika weit verbreiteten Rotkehl⸗Anolis, 
etwa 25 Centimeter lange Tierchen, mit grüner Ober-, weißer 
Unterſeite, roter Kehle und ſchwarz punktiertem, ſehr langem und 
ſchlankem Schwanz. In der Erregung wechſelt ihre Farbe von 
Grünlichgrau durch Dunkelgrau und Braun in allen Sdjattie- 
rungen bis zum glänzendſten Grün. Da die Eidechſen höchſt 
dreift und zutraulich find, und in Nord- und Südkarolina, wo 
ſie am häufigſten vorkommen, ſogar in den Gärten auf der Jagd 
nach Inſekten Stühle und Tiſche erklettern, ohne der Wnwefen: 
heit der Menſchen zu achten, eignen ſie ſich auch vorzüglich als 
Inſaſſen des Terrariums, und man hat dann in der Beobad): 
tung ihres Thuns und Treibens ſeine wahre Freude an ihnen. 
Eine engliſche Dame, Liebhaberphotographin, die ein Terrarium 
mit einer ſolchen Rotkehl-Anoli beſitzt, hatte ſchon öfters bemerkt, 
wie die muntere Eidechſe ſich in Momenten der Beſchaulichkeit 
mit ſichtbarem Vergnügen an der Naſe kratzte oder kitzelte, wozu 
ſie ihren langen Schwanz benutzte, und es gelang ihr kürzlich, 
das Tierchen in dieſer ſonderbaren Stellung, in der unſer Bild 
es zeigt, aufzunehmen. Wäre unſere Illuſtration nach einer 
Zeichnung gemacht, ſo würde man dem Zeichner vielleicht vor⸗ 
werfen, daß er ſeiner Phantaſie zu ſtark habe die Zügel ſchießen 
laſſen, aber die photographiſche Platte kann ein ſolcher Verdacht 


Mannigfaltiges. 239 
nicht treffen, und die Momentaufnahme bildet daher eines der 
merkwürdigſten und zugleich komiſcheſten Beiträge zum Leben der 
intelligenteren Tierwelt, dem wir, faſt ausſchließlich mit unſeren 


Rotkehl-Hnoli, sich mit der Schwanzspitze die Dase kitzelnd. 


eigenen Angelegenheiten beſchäftigt, noch immer nicht die Auf— 
merkſamkeit ſchenken, die es in jeder Hinſicht verdient. F. 3. 
Ein beherzter Diplomat. — In früherer Zeit, als die 
türkiſchen Kaiſer oder Sultane noch mächtiger waren als heute, 
verletzten ſie nicht ſelten die ſchuldige Achtung gegen die Ge— 


240 Mannigfaltiges. 


ſandten fremder Monarchen. Ein ſolcher Vorfall ſpielte ſich einſt 
vor dem Sultan Soliman ab, der den Geſandten des deutſchen 
Kaiſers Karl V. wohl empfing, ihn aber ganz unbeachtet ſtehen 
ließ. Sobald der Geſandte die Ueberzeugung gewonnen hatte, 
daß es nicht Vergeßlichkeit, ſondern ſtolze Abficht war, ihn zu 
kränken, weil man ihm nicht, wie die Etikette es vorſchrieb, einen 
der niedrigen Sitze hinlegte, um ſich, wie die anderen anweſen⸗ 
den Geſandten bereits gethan, darauf niederlaſſen zu können, 
nahm er raſch entſchloſſen feinen koſtbaren Mantel ab, warf ihn 
an den Boden und ſetzte fih darauf, als ob das ganz in Ord- 
nung ſei. Nachdem er dann mit großer Geduld und Würde 
ſich ſeines Auftrages entledigt hatte, empfahl er ſich, ohne jedoch 
ſeinen koſtbaren Mantel mit fortzunehmen. Eilfertig erinnerte 
man den Deutſchen an ſeinen Mantel, denn man glaubte, er 
habe ihn vergeſſen, doch dieſer erwiderte kräftig und ſtolz: „Die 
Geſandten des deutſchen Kaiſers, meines erhabenen Herrn, ſind 
es nicht gewohnt, ihre Sitze wegzutragen!“ C. T. 

Die Erbin. — Ein Advokat in Portsmouth erhielt aus 
Amerika die Nachricht, daß ein Mann Namens Withers dort 
geſtorben ſei und daß er ſeine in Portsmouth lebende einzige 
Tochter Lucy Withers zur alleinigen Erbin ſeines mehrere hundert⸗ 
tauſend Dollars betragenden Vermögens eingeſetzt habe. Dieſe 
Lucy Withers ausfindig zu machen, war der Auftrag des be⸗ 
treffenden Advokaten. Er nahm ſogleich die Hilfe der Polizei 
in Anſpruch, ohne daß es jedoch gelungen wäre, durch ſie die 
Erbin zu ermitteln. Durch ſeine ausgedehnte Praxis ſehr in 
Anſpruch genommen, beauftragte er nun den Direktor eines 
Detektivbureaus mit der Nachforſchung, und dieſer ſandte drei 
ſeiner Leute ab, welche, jeder für ſich, nach der geſuchten Lucy 
Withers forſchen ſollten. 

Nach etwa drei Wochen erſchien der Direktor mit ſeinen drei 


Agenten im Bureau des Advokaten. : 
„Nun,“ fragte der letztere, „Sie haben wohl nichts aus⸗ 
gerichtet?“ 


„Im Gegenteil,“ erwiderte der Direktor, „meine Leute haben 
nur zu viel gefunden. Jeder von ihnen hat eine Lucy Withers 
ausfindig gemacht.“ 


Mannigfaltiges. 241 


Der Advokat ſchüttelte erſtaunt den Kopf. „Haben die Agenten 
ihre Findlinge denn nicht mitgebracht?“ 

„Nein, ſie haben ſie bei ſich zu Hauſe gelaſſen. Die prä⸗ 
ſumtiven Erbinnen ſind nämlich die Frauen meiner Agenten.“ 

„Welch unerhörter Zufall! Dieſe Frauen heißen doch nicht 
alle Lucy Withers?“ | 

„Allerdings heißen oder vielmehr hießen fie fo. Das Ratfel 
erklärt ſich ganz einfach. Als meine Leute die Erbinnen gefunden 
zu haben glaubten, heirateten ſie dieſelben auf der Stelle. Die 
eine iſt Gouvernante auf einem Gute bei Portsmouth geweſen, 
die zweite Köchin in einem Greenwicher Reſtaurant und die dritte 
Nähterin in einem Hafenvorort — alle drei in Portsmouth ge⸗ 
bürtig.“ 

„Und doch keine die Rechte!“ 

Entſetzt ſchauten alle auf den Advokaten, der nun an ein 
Sprachrohr trat und hineinrief: „Mr. Black ſoll kommen.“ 

Ein Mann mit einem langen ſchwarzen Bart trat ein. 

„Die richtige Lucy Withers,“ erklärte der Advokat, „hat ſich 
infolge eines Aufrufes in den Zeitungen inzwiſchen freiwillig 
gemeldet. Hier ſteht fie.” 

„Wie? Dieſer Mann hier? Das ſoll wohl nur ein Scherz ſein?“ 

„Nein, Herr Direktor, dieſer Mann iſt der Sohn der rich— 
tigen Erbin, der im Alter von fünfzig Jahren verſtorbenen 
Lucy Withers, die einen gewiſſen, ebenfalls nicht mehr lebenden 
Mr. Black geheiratet hatte.“ 

Der Advokat konnte die Richtigkeit ſeiner Behauptungen mit 
Schriftſtücken belegen, und die Agenten zogen mit dem nieder: 
ſchmetternden Bewußtſein ab, durchaus keine reichen Erbinnen 
geheiratet zu haben. M. Hd. 

Die Belagerung von Gibraltar. — Eine Beſatzung von 
nur drei Bataillonen Soldaten verteidigte die Feſtung Gibraltar, 
als dieſe im Jahre 1782 von den ſpaniſchen und franzöſiſchen 
Truppen zu Waſſer und zu Lande eingeſchloſſen, und der Stadt 
und der Feſtung alle Zufuhr abgeſchnitten wurde. In einem Zeit— 
raum von mehr als drei Jahren hatte man die umfaſſendſten An: 
ſtalten zur Belagerung getroffen, die in den Annalen der Kriegs— 
geſchichte immer eine der merkwürdigſten bleiben wird. 

1900. III. 16 


242 Mannigfaltiges. 


Im Juni des Jahres 1782 kam der Herzog von Crillon, 

oberſter Befehlshaber der ſpaniſchen Armeen, der eben die Inſel 
Minorka von den Engländern erobert hatte, mit ſeinen Truppen 
zur Verſtärkung vor Gibraltar an. Eine Armee von 30,000 Mann 
ſtand am Fuße des Berges. Schwimmende Batterien, eine Er: 
findung d'Arçons, ſollten die Eroberung vollenden. Sie waren 
mit zwei Dächern ſo verwahrt, daß ihnen die Kugeln und Bomben 
keinen Schaden zufügen konnten; es waren deren zehn, die zu— 
ſammen 147 bronzene und 150 eiſerne Kanonen führten; zur 
Bedienung jeder Kanone waren 36 Mann gerechnet. 
Am 13. September 1782, morgens um 8 Uhr, näherten ſich 
die ſchwimmenden Batterien der Feſtung, und die auf ihnen be— 
findlichen Mannſchaften (aus Soldaten verſchiedener Art be— 
ſtehend, denen man, wenn ſie ihre Schuldigkeit thun würden, 
eine Penſion von je 200 Livres verſprochen hatte) fingen an 
zu feuern. Der Kommandant Elliot, der ſchon längſt von dieſem 
fürchterlichen Angriff wußte, war darauf bedacht geweſen, ihm 
eine ebenſo fürchterliche Verteidigung entgegenzuſetzen; nur wußte 
er anfangs kein Mittel, wie er die glühenden Kugeln, mit denen 
er die Batterien nämlich zu begrüßen gedachte, in großer An— 
zahl zubereiten laſſen ſollte. Allein ein deutſcher Nagelſchmied, 
Schwänkendiek mit Namen, der ſich in der Feſtung befand, half 
ihm aus der Verlegenheit, indem er einen Ofen erbaute, in 
welchem die Kugeln glühend gemacht wurden. 

Ueber 4000 derartig glühende Geſchoſſe regneten nun auf 
die feindlichen Batterien und richteten die ſchrecklichſten Ber- 
wüſtungen an. Schon am Nachmittag ſtieg der Rauch aus der 
Hauptbatterie und zwei ſchwimmenden Fahrzeugen auf. Vergebens 
gab die Mannſchaft auf denſelben der ſpaniſchen Flotte durch 
Raketen Signale. Man konnte bei dem immer ſtärker werden— 
den Kugelregen den Batterien nicht zu Hilfe kommen, und man 
verſuchte deshalb nur die Mannſchaft zu retten. 

Allein zwölf Kanonenboote, die aus der Feſtung unter dem 
Kommando eines Kapitäns ausliefen, verhinderten die Boote 
der Belagerer, zu den Ihrigen heranzukommen. Sie veranftalteten 
zugleich ein vernichtendes Feuer auf die ſchwimmenden Batterien. 
Bei Tagesanbruch ſah man, welchen unermeßlichen Schaden die 


Mannigfaltiges. 243 


Belagerten ihren Feinden zugefügt hatten, indem die Mann⸗ 
ſchaften der ſchwimmenden Batterien zum Teil auf Holzſtücken 
in der See herumtrieben, zum Teil auf den brennenden Batterien 
fürchterlich um Hilfe ſchrieen. l 

Jetzt eilten die Belagerten ſelbſt, fo gefahrvoll dies auch war, 
den unglücklichen Mannſchaften zu Hilfe, und Kapitän Curtis 
rettete mit eigener und ſeiner Leute Lebensgefahr 13 Offiziere 
und 344 Gemeine. | i 

Noch blieb den Belagerern ein Hauptangriff von der Land: 
ſeite übrig; allein auch dieſen vereitelte Gouverneur Elliot, und 
da überdies ein Orkan großen Schaden an der ſpaniſchen Flotte 
anrichtete, jo verwandelte ſich ſeit Mitte November 1782 die 


Belagerung in eine bloße Einſchließung, welcher der am 20. Januar 


1783 zu Verſailles unterzeichnete Friede ein Ende machte. 

Für dieſe tapfere Verteidigung erhielt der Gouverneur Elliot 
von ſeinem König den Bathorden und wurde zugleich zum Lord 
Heathfield ernannt. Die drei Bataillone erhielten je eine Fahne 
mit der Deviſe: „Mit Elliot Ruhm und Sieg!“, während jeder 
Soldat eine ſilberne Medaille bekam, die Elliot mit Bewilligung 
des Königs ſchlagen ließ. W. Stelljes. 

Eine elektriſche Schreibmaſchine. — Auch die Schreib— 
maſchine, die ſich bereits in allen größeren Comptoiren, Bureaus, 
Agenturen u. ſ. w. einen Platz erobert hat, wird binnen kurzem 
elektriſch betrieben werden können. Und zwar iſt es die rühm⸗ 
lichſt bekannte Blickensderfer Schreibmaſchine, welche als erſte 
für elektriſchen Betrieb eingerichtet worden iſt; das Modell arbeitet 
bereits in tadelloſer Vollkommenheit und ganz erſtaunlicher 
Schnelligkeit. Wir wollen daher unſere Lefer mit der Blickens⸗ 
derfer Schreibmaſchine, die ſich durch Einfachheit, Bequemlichkeit 
der Handhabung und Billigkeit auszeichnet, bekannt machen. 

Das kleine Griffbrett dieſer Schreibmaſchine enthält 28 Taſten, 
mittels deren man 84 Buchſtaben, Zahlen und Zeichen zu ſchreiben 
vermag, die, galvanoplaſtiſch geformt, fich auf dem leicht aus- 
wechſelbaren Typenrade befinden. Trotz ihrer Leichtigkeit ſind 
dieſe Typenräder ſehr dauerhaft; man kann ſie ohne Zeitverluſt 
gegen ſolche mit anderer Schriftart oder fremden Sprachen aug: 
wechſeln. Die Taſten mit den Buchſtaben find entſprechend der 


244 Mannigfaltiges. 


Häufigkeit ihres Vorkommens in deutſcher Sprache derart an— 
geordnet, daß die Bewegung der Hände auf das geringſte Maß 
beſchränkt iſt und etwa 70 Prozent aller Schrift durch die unterſte 
Taſtenreihe ausgeführt wird. 

Die Schrift iſt ohne weiteres ſichtbar. Das Einfärben der 
Typen geſchieht weder durch Farbband noch Farbkiſſen, ſondern 


=A 
u 
a = 
— 


| 


Elektrische Schreibmaschine, 


wird jedesmal im Moment des Abdruckes durch eine kleine Farb: 
rolle beſorgt, die bei Bedarf ſtets wieder friſch mit Farbe ge— 
tränkt werden kann. Dadurch wird nicht allein eine ſchöne, 
gleichmäßige Schrift erzielt, ſondern es vermindern ſich auch die 
Unterhaltungskoſten. Die Herſtellung der Wortzwiſchenräume 
erfolgt automatiſch, das heißt gleichzeitig mit dem Schreiben des 
Endbuchſtabens der Wörter. 

Der Tabulator, eine äußerſt ſinnreiche mechaniſche Vorrich— 
tung, ermöglicht das müheloſe Schreiben von Zahlenkolonnen, 
Tabellen und dergleichen Arbeiten. Stahlrollenlager verbürgen 
einen beſonders leichten Gang des Papierwagens und tragen zur 
Erhöhung der Schreibgeſchwindigkeit weſentlich bei. Durch eine 
automatiſche Zeileneinſtellvorrichtung iſt ein Abbrechen vermieden, 


Mannigfaltiges. 245 


da es nur eines einfachen Zurückſchiebens des Wagens bedarf, 
um ſofort mit dem Schreiben in der neuen Zeile fortfahren zu 
können. Da das Typenrad ſelbſt ſchlägt (der Abdruck alſo nicht, 
wie bei anderen Syſtemen, durch einen beſonderen Hammer 
erzeugt wird), können auf der Blickensderfer auch Durchſchlag⸗ 
kopien in größerer Anzahl angefertigt werden. Endlich hat die 
Maſchine an beiden Seiten Vorrichtungen zum Einſtellen der 
Randbreite, ſo daß wohl links wie auch rechts der Rand beliebig 
bemeſſen und verſtellt werden kann. Die Schriftſtücke laſſen ſich, 
außer durch Durchdruck, auch mittels des Mimeographen, Cyklo⸗ 
ſtyle und ähnlicher Apparate vervielfältigen. 
i Die Schreibmaſchinen gehören zu den ſinnreichſten und 
nützlichſten Erfindungen der jüngſten Zeit. Ihr einziger Nach⸗ 
teil, der ziemlich ſtarke Druck, den ſie bisher im Handbetrieb 
mit Fingerſpitze oder Ballen erforderten, wird durch die Cin: 
führung des elektriſchen Betriebs beſeitigt. Es iſt dann nur 
noch ein leichtes Berühren der Taſten erforderlich und damit 
der Sieg der Schreibmaſchine im Geſchäftsbetrieb über die bis— 
her übliche Kurſivſchrift endgültig entſchieden, wodurch auch 
der ſo ſehr gefürchtete Schreibkrampf hinfort gänzlich verſchwin⸗ 
den wird. F. 3. 
Mediziniſche TrinkGeder. — Im 17. und 18. Jahrhundert 
kam das metalliſche Antimon zur medizinischen Anwendung. Be: 
achtenswert für die jetzigen Ankämpfer gegen die Trunkſucht 
dürften die damals aus dieſem Metall hergeſtellten Trinkbecher 
ſein. Dieſelben wurden dazu benutzt, um Perſonen, welche dem 
Becher zu ſehr ergeben waren, den Geſchmack am edlen Reben: 
blut zu verleiden. Ihnen wurde der Wein in ſolchen Bechern 
gereicht; ſtand derſelbe mit dem Antimonmetall eine Zeitlang 
in Berührung, ſo löſte die natürliche Säure des Weins etwas 
vom Antimon auf, und es entſtand ein Brechwein, welcher in 
dem Trinker Uebelkeit und Widerwillen gegen jegliches Trinken 
erzeugte. Probatum est! — C. T. 
Friedrich der Große in Paris. — Vor der erſten franzö— 
ſiſchen Revolution wurde das Stück eines unbekannten Verfaſſers 
„Die beiden Pagen“ oft am Théâtre Francais zu Paris auf- 
geführt. Darin glänzte der Schauſpieler Fleury in der Rolle 


ei — — 


- — — 


EE ii 


246 Mannigfaltiges. 


Friedrichs des Großen. Die Aehnlichkeit war eine ſo täuſchende, 
daß Perſonen, die den König in ſeinen letzten Jahren geſehen 
hatten, erklärten, Gang, Sprache, Blick, alle Eigentümlichkeiten 
Friedrichs fänden in Fleury den täuſchendſten Nachahmer. Als 
Prinz Heinrich, Friedrichs Bruder, nach Paris kam, war er bis 
zu Thränen gerührt, als er auf der Bühne den Verſtorbenen, 
wie er leibte und lebte, auftreten ſah. | 

Diefe Maske Fleurys war berühmt. In der Schreckenszeit 
der Revolution wurde er und die übrigen Mitglieder des ge- 
nannten Schauſpielhauſes ins Gefängnis geworfen. Wenn er 
dort auf dem ſchmutzigen Korridor den gleichfalls gefangenen 
Herrn v. Perigord traf, fragte dieſer immer reſpektvoll: „Wie 
befinden ſich Eure Majeſtät?“ Sofort nahm Fleury ganz das 
Aeußere Friedrichs des Großen an und antwortete ganz in deſſen 
Weiſe. 5 D. 

Dreizehn zu Tiſche! — Das allgemeine Vorurteil, das gegen 
dreizehn Perſonen bei Tiſche herrſcht, weil eine derſelben binnen 
Jahresfriſt ſterben müſſe, iſt bekanntlich ſo allgemein verbreitet, 
daß es nicht nur in Deutſchland, ſondern auch in Frankreich, 
England, Amerika u. ſ. w. als Sitte beziehungsweiſe Unſitte 
ſich vorfindet. Geht dieſes Vorurteil doch fo. weit, daß bei auf⸗ 
merkſamen Gaſtgebern ſtets und überall die „Sitte“ es als 
Pflicht gebeut, dafür zu ſorgen, daß die fatale, mißbeliebte Zahl 
vom Tiſche fernbleibt, um nicht bei irgend jemand Anſtoß zu 
erregen oder eine unangenehme Empfindung zu erwecken, von 
welcher ſelbſt der ſonſt Vorurteilsloſeſte ſich nicht immer ganz 
frei fühlt. : | 

Die aufmerkſamen Franzoſen haben deshalb in Paris vor. 
etwa zwanzig Jahren ein eigenes Inſtitut der „Vierzehnten“ ge— 
gründet, durch das man ſchnell, im letzten Augenblicke noch, nach 
der erſchreckenden Entdeckung: „Dreizehn bei Tiſche!“ einen „Vier⸗ 
zehnten“ herbeiſchaffen kann. Selbſtverſtändlich muß „Monsieur 
le Quatorze“, dieſer Vierzehnte alſo, ein guter Geſellſchafter, 
ein Mann von Erziehung und feinen Manieren ſein. | 

Praktiſcher zieht der freie Amerikaner gegen dieſes merk: 
würdige Vorurteil zu Felde. Er thut dies teils durch einen 
„Dreizehnerklub“, in welchem nur zu dreizehn geſpeiſt wird, 


Mannigfaltiges, 247 


teils auf arithmetiſchem Wege, den Miſter Harvey in Miſſouri, 
ein Verſicherungsbeamter, einſchlug, indem er auf Grund der 
Erfahrungen der Lebensverſicherung nachwies, daß die Mitglieder 
einer aus dreizehn Perſonen beſtehenden Geſellſchaft ſämtlich 
ſchon das ſiebzigſte Jahr hinter ſich haben müßten, um es wahr⸗ 
ſcheinlich zu machen, daß von dieſen dreizehn einer innerhalb 
eines Jahres ſterben werde. Durch diefe auf Zahlen geſtützte 
Annahme, die ferner lehrt, daß, ein Durchſchnittsalter von vierzig 
Jahren angenommen, hundert Gäſte vorhanden ſein müßten, um 
einen Todesfall pro Jahr mutmaßen zu laſſen, wird Harvey viel 
dazu beigetragen haben, um den uralten Aberglauben gegen 
die böſe Zahl dreizehn wirkſam auszurotten. | | 
Wie lange derſelbe ſchon zurückdatiert und wo er eigentlich 
herſtammt, darüber ſind ſelbſt die gelehrteſten Anſichten ver⸗ 
ſchieden. Schon die nordiſche Mythe erzählt, daß von den drei⸗ 
zehn Göttern in Walhall der eine, Baldur, ſterben mußte, und 
eine ſehr natürliche Deutung erklärt, daß die auf eine ſo oft 
und leicht teilbare Zahl wie zwölf folgende, unteilbare, un: 
harmoniſche dreizehn ſehr unglücklich erſcheint, und daß man 
nur durch Entfernung einer Einheit ihr wieder zur erwünſchten 
Harmonie verhelfen könne. | K. R. 
Die Teufelsſonate ift unter den gleichartigen Kompoſitionen 
Giuſeppe Tartinis (1692— 1770) die berühmteſte. Warum ſie 
dieſen Namen führt, und wie es kam, daß ſie eines ſeiner vor⸗ 
züglichſten Werke geworden iſt, darüber giebt uns der Meiſter 
ſelbſt folgenden höchſt intereſſanten Aufſchluß: „Im Jahre 1713 
träumte mir des Nachts einmal, ich habe einen Pakt mit dem 
Teufel gemacht, der ganz zu meinem Gebote ſtand. Alles ging 
mir nach Herzensluſt; meine Wünſche wurden mir von dem neu 
angeſtellten Diener ſtets erfüllt, ja noch übertroffen. Es fiel 
mir bei, ihm eine Violine in die Hand zu geben, um zu ſehen, 
ob es ihm gelänge, hübſche Sonaten zu ſpielen. In welch Er— 
ſtaunen geriet ich nun, als ich eine in ihrer Art fo unübertreff: 
lich ſchöne Sonate zu hören bekam, daß ſich nichts damit ver: 
gleichen ließ! Ich war ſo überraſcht und hingeriſſen, daß ich 
faſt den Atem verlor. Die gewaltige Erſchütterung weckte mich, 
gleich ergriff ich meine Violine und hoffte wenigſtens einen Teil 


248 Ä Mannigfaltiges. 


des ſoeben Gehörten wiederzufinden. Aber umſonſt — die So: 
nate, welche ich damals komponierte, iſt zwar die beſte von 
allen, und ich nenne ſie immer noch die Teufelsſonate, allein ſie 
ſteht ſo weit unter demjenigen, was mich im Traum ergriffen 
hatte, daß ich meine Geige entzwei geſchlagen und alle Muſik 
für immer aufgegeben haben würde, wenn ich ohne ſie leben 
könnte.“ J. D. 

Eine angenehme Verwandlung. — Ein Unteroffizier von 
der Garde Friedrich Wilhelms III., der ſchon mannigfache Proben 
ſeiner Tapferkeit abgelegt, aber auch die Schwäche hatte, ſehr 
eitel zu ſein, trug eine Uhrkette, an welcher in Ermangelung 
einer Uhr eine Flintenkugel befeſtigt war. Der König erfuhr 
dies und redete ihn eines Tages auf der Parade an: „Er muß 
ſehr ſparſam ſein, daß Er ſich eine Uhr anſchaffen konnte. Wie 
ſpät iſt's nach der Seinigen?“ 

„Majeſtät,“ erwiderte der Korporal und zog die Kugel ber: 
vor, „die meine zeigt keine Zeit an, aber ſie ſagt mir, daß ich 
jeden Augenblick bereit ſein ſoll, für Eure Majeſtät zu ſterben.“ 

Sofort zog der König ſeine eigene goldene, mit Edelſteinen 
verzierte Uhr hervor und reichte ſie dem wackeren Krieger. „Da 
nehme Er dieſe Uhr,“ ſagte er, „aber hebe Er ſich auch die 
Flintenkugel auf, die ſo gute Geſinnungen gegen mich hervor— 
gerufen hat.“ D. C. 


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UNIV. SF MICHIGAN, 


JUL 15 1912 


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