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Zu der Novellette „Die schöne Frau“ von Emma Merk. ($. 74)
* 2222 Originalzeichnung von A. Wald.
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Um ein Wort. Roman in zwei Büchern von Woldemar:
Urban (Fortsetzung). : .
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Bettlerkniffe 2. > oo een. 225
Eine wertvolle Bibliothek. . . . . 22 230
Das grösste Geweih der Erde ee . 231
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Der Konsul und sein Pfeifer . . 2 . . . . . 233
Sonderbare Münzennamen . . . . 2 ... + 235.
Die Umgebung des Dauphins . . . ... . . 237
Die Rotkebl-Anolis . . . . . 2m nn 238
Mit Jllustration.
Ein beherzter Diplomae =. 239
Die Erbnnnnss 2240
Die Belagerung von Gibraltar - . . . 32241
Eine elektrische Schreibmaschie . . 243
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Medizinische Trinkbeher . - . > 2 245
Friedrich der Grosse in paris 245
Dreizehn zu ishe! . . . . 2 nenn. 246
Die Ceufelssonate . ........ 2247
Eine angenehme Verwandlung . . g . . 248
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EERDE
Um ein Wort.
Roman in zwei Büchern von Woldemar Urban.
(Fortsetzung.) | % * Mach druck verboten.)
Zweites Buch.
1.
err Aſſo d'Akkiri war recht zufrieden, daß er
? das rote Villino, das er in Sorrent beſaß,
nicht verkauft hatte, wie er vor einer längeren
Reihe von Jahren beabſichtigt hatte. Er war
ſehr gealtert und litt an einer Reizbarkeit
und Nervoſität, die ihn häufig veranlaßte, das
lärmende Neapel zu fliehen, um in den ſtillen Felsbuchten
und Gärten des ſchönen Sorrent Zuflucht zu ſuchen. Da
war es ihm denn lieb, dort auch in ſeinen vier Pfählen
zu hauſen und nicht auf eine Mietswohnung angewieſen
zu ſein.
Er hatte das Landhaus umbauen und moderniſieren
laſſen, er hätte fogar gern noch etwas von der benachbarten
Villa Miramar hinzugekauft, um einen größeren Garten
und einen eigenen Zugang zum Meeresufer zu haben,
leider aber ließ ſich das nicht machen. Beſitzerin der Villa
Miramar war eigentlich die nachgelaſſene Tochter der
Gräfin di Monteverde, Conteſſina Santina, aber kein
8 Um ein Wort.
Menſch wußte, wo diefe war. Seit vierzehn Jahren hatte
ſie niemand mehr in Neapel geſehen, und die Bank von
Neapel, die als Verwalterin der Villa Miramar fungierte,
war zu keinerlei Verkäufen ermächtigt und infolge früherer
Anweiſungen von ſeiten der Pflegemutter der Beſitzerin
auch gar nicht geneigt, auf ſolche Verhandlungen einzu⸗
gehen. So war die Grenze geblieben, wie ſie war.
Es war eigentlich ſchade darum, und Herrn Mjo d' Akkiri
that der herrliche Beſitz in der Seele leid. Seit fünfzehn
Jahren ſtand die Villa Miramar leer, keine Seele hatte
von all den Herrlichkeiten, welche Natur und Kunſt hier
in ſo unvergleichlicher Fülle boten, den geringſten Nutzen.
Traurig und einſam lag das Haus da, die Fenſterläden
geſchloſſen, die Möbel verhängt, verpackt, die Teppiche
und Matten zuſammengerollt, die wunderhübſchen Terraſſen
öde und leer — ein verwunſchenes Schloß. Wenn nicht
der alte, ewig hüſtelnde Gärtner, der ſeinen Lohn regel⸗
mäßig von der Bank ausbezahlt erhielt, wenigſtens den
Park notdürftig im Stand gehalten hätte, ſo würde das
Ganze ausgeſehen haben wie ein Ort, auf dem ein un—
heimlicher Zauber ruht.
Herr Mjo d' Akkiri war ein hochbetagter Mann, hatte
ein langes, arbeit: und erfolgreiches Leben hinter ſich und
machte infolgedeſſen das bißchen Philoſophie, was er zum
Leben brauchte, für ſich ſelbſt zurecht. Er kannte die
ganze Geſchichte, die mit dem verlaſſenen Hauſe zuſammen⸗
hing. Der Fluch des Verbrechens ruhte darauf, und dieſer
fiel wie auf die Menſchen ſelbſt, ſo auch auf die Dinge.
Er wußte nicht, was aus den Beteiligten geworden war,
aber wenn er die traurige, verfallende Verlaſſenheit der
hübſchen Villa Miramar anſah, ſo verglich er ſie unwill—
kürlich mit dem Schickſal der an dem in dieſem Hauſe
begangenen Verbrechen Beteiligten.
Senhhr vergnügt und erheiternd waren ja dieſe Betrach—
Roman von Woldemar Urban. 9
tungen des alten Herrn freilich nicht, und da er außer:
dem an Langeweile litt, ſo ging er nie gern allein nach
Sorrent. Irgend jemand aus ſeiner ziemlich zahlreichen
Familie mußte immer bei ihm ſein, entweder ſeine Frau
oder eine ſeiner Töchter oder ſein jüngerer Sohn Ben⸗
venuto. Der ältere Sohn führte das Geſchäft. Dieſer
konnte alſo nicht fort. Eigentlich hätte auch Benvenuto
in Neapel bleiben müſſen, denn er ſtudierte Rechtswiſſen⸗
ſchaft, oder ſollte ſie wenigſtens ſtudieren. Aber damit
hatte es ſeine eigene Bewandtnis.
Benvenuto d' Akkiri war das Neſthäkchen der Familie,
jetzt dreiundzwanzig Jahre alt und von ſeiner Mutter in
ſchrecklicher Weiſe verhätſchelt. Benvenuto war ein hüb⸗
ſcher friſcher Burſche, der ſich natürlich den Vorteil, der
daraus für ihn entſprang, weidlich zu nutze machte. Hatte
er einmal keine Luſt zu arbeiten, oder kam ihm ein Examen
gar zu raſch über den Hals, fo brauchte er nur über Kopf:
ſchmerzen zu klagen, um ſeine Mutter ſofort in Aufregung
zu bringen. Dann war von Ueberbürdung, von Quälereien,
von nutzloſen Scherereien und ähnlichem die Rede, ſo
lange, bis der alte Herr klein beigab, um nur wieder
Ruhe zu haben. So war der junge Student der Rechte
im Laufe der Zeit und unter der liebevollen Beihilfe ſeiner
zärtlichen Mutter über das Studium der Rechtsgelehrtheit
zu Anſichten gekommen, die nicht die Anſichten der übrigen
Welt, beſonders nicht die ſeines Vaters waren. Wozu —
ſo fragte er ſich — ſoll ich ſtudieren? Der Vater hat
Geld, und es fehlt durchaus nicht an Advokaten, Richtern
und anderen Rechtsgelehrten. Die armen Leute machen
ſich ja jetzt ſchon durch eine ſtarke Konkurrenz unterein⸗
ander das Leben ſauer, wozu ſoll ich auch noch in dieſe
Konkurrenz eintreten und ihnen das kärgliche Brot ſchmä—
lern? Die Rechtsgelehrtheit kann ohne mich ganz gut
exiſtieren, und ich ebenfalls ohne ſie.
10 Um ein Wort.
Das war die Philoſophie des dreiundzwanzigjährigen
Studenten, die mit der ſeines Vaters durchaus nicht über⸗
einſtimmte, und wegen deren es manchen Verdruß gab.
Nun ſtand wieder für den Spätherbſt eine Prüfung bevor,
Benvenuto bekam alſo wieder einmal Kopfſchmerzen und
ging bereits Anfang Juli mit ſeinem Vater nach Sorrent,
um ſich zu erholen, wie er ſagte, und um ſich auf ſein
Examen vorzubereiten, wie ſein Vater hartnäckig behauptete.
Eine große Kiſte voll Bücher und Hefte wurde eingepackt
und nach dem roten Villino in Sorrent geſchickt, der alte
d' Akkiri kaufte einen neuen, ſehr ſoliden Schreibtiſch, der
in Benvenutos Studierzimmer aufgeſtellt wurde; das war
aber auch alles, was zur Vorbereitung für die Prüfung
geſchah, denn Benvenuto ſelbſt trieb ſich meiſt unten am
Meeresſtrand herum, badete, angelte, ruderte oder ſegelte,
kurz, vertrieb ſich die Zeit mit jener Meiſterſchaft im
Nichtsthun, wie man ſie nur in Neapel kennt.
Eines Nachmittags — es war ein heißer Tag gegen
Ende Juli — kam er die Felſentreppe herauf, und wollte
durch den Park der Villa Miramar nach dem roten Villino
gehen. Er hatte zwei Ruder auf der Schulter, die er im
Schweiße ſeines Angeſichts über die unter glühheißen
Sonnenſtrahlen liegende Treppe mit hinaufſchleppte, da:
mit während ſeiner Abweſenheit kein Unfug mit ſeinem
Boot geſchehen könne. Es war faſt ſechs Uhr, die Sonne
ſtand ſchon tief und übergoß in jener für den Nordländer
unglaublichen Farbenpracht des Südens alles mit einem
ſatten ſchönen Rotbraun. Die See lag ruhig, der ganze
Golf mit den Inſeln Ischia, Procida, Niſida, dem Poſi—
lippo und Neapel ſelbſt bildeten ein einziges klares Tan:
orama großartigſter Harmonie; das Laub der Feigenbäume
duftete jenen ſüßen, undefinierbaren Geruch aus, der den
Nerven ſo wohlthätig und beruhigend iſt. Kein Blatt
regte ſich, nur die Meereswellen ſpielten leiſe raſchelnd
Roman von Woldemar Urban. | 11
und murmelnd im Uferfand, alle Zauber des glücklichen
Sorrent ſchienen auf dieſe Stunde vereinigt.
Plötzlich blieb Benvenuto ſtehen und ſtarrte — ſelbſt
wie verzaubert — hinauf nach der letzten Rampe, die un⸗
mittelbar an den Park der Villa Miramar ſtieß und über
die ſich eine junge Dame herabbeugte. In leichte helle
Sommerkleider gehüllt, unter einem roten Sonnenſchirm
ſah das friſche, luſtige Geſichtchen lächelnd auf den jungen
Mann herunter. Benvenuto war als Neapolitaner an
Frauenſchönheit gewöhnt und machte, wenn ihm etwas
gefallen ſollte, ſehr hohe Anſprüche, aber ſo etwas kind⸗
lich Friſches, Schelmiſches, ſo große, dunkle, ruhige Augen
hatte er noch nie geſehen. Die junge Dame mochte kaum
ſiebzehn oder achtzehn Jahre ſein, war aber, wie meiſt
die Südländerinnen in dieſem Alter, ſchon voll entwickelt,
nur ihr Geſicht hatte das rührend Fromme und Naive
des Kindes. Ihre Kleidung zeugte von vornehmem Ge:
ſchmack und von untadelhafter Eleganz.
Unwillkürlich riß Benvenuto die Mütze vom Kopfe und
ſtotterte verwirrt: „Ich bitte um Verzeihung, Signorina —“
„Weshalb denn?“ fragte ſie lächelnd.
„Je nun, wir ſind hier eigentlich beide auf fremdem
Boden.“
„So?“ erwiderte ſie drollig.
„Ja. Park und Treppe gehören zur Villa Miramar,
während ich mit meinem Vater im roten Villino wohne
und beides unerlaubterweiſe benutze. Es iſt aber niemand
da, den man um Erlaubnis fragen könnte.“
Sie antwortete nichts, ſah ihn aber lächelnd und mit
eigentümlichem Behagen vom Kopf bis zu den Füßen an.
„Wo wohnen Sie denn, Signorina, wenn ich fragen
darf?“ fuhr Benvenuto fort, indem er näher an fie heran:
ſchritt.
In dieſem Augenblick klang eine Frauenſtimme vom
12 ; Um ein Wort.
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Park her, laut und rufend: „Santina!“ und als fih Ben⸗
venuto umſah, bemerkte er eine Dame, vollſtändig in
Schwarz gekleidet, die ſich eben von einer Gartenbank er⸗
hob, wo ſie in einem Journal geleſen hatte.
„Mama?“ fragte die jüngere Dame zurück.
„Komm zu mir, mein Kind. Ich möchte dir etwas
zeigen.“
Die junge Dame ſah mit einem bedauernden Lächeln
auf den vor ihr ſtehenden jungen Mann und ſagte höflich:
„Sie verzeihen, Herr — Herr —“
„d'Akkiri, Signorina, ich heiße Benvenuto d' Akkiri
und bin mit meinem Vater im roten Villino in der Sommer⸗
friſche. Es wird mir eine große Ehre und ein außer⸗
ordentliches Vergnügen ſein, wenn ich —“
„Mfo auf Wiederſehen, Herr d' Akkiri,“ unterbrach fie
ihn und ging mit einer leichten Verbeugung davon.
Natürlich ſah ihr Benvenuto nach, ziemlich verdutzt,
aber doch ſehr geſpannt und erregt. Er hätte am liebſten
mit der Dame in Schwarz anbinden mögen, weil ſie ihn
im glücklichſten Moment ſeines Lebens geſtört und das
Wunder, deſſen Betrachtung ihn momentan um die Be⸗
ſinnung gebracht, von ihm rief.
„Nein,“ hörte er die Dame in Ser noch im Weiter⸗
gehen fagen, „es ſchickt fic) nicht, mein Kind, und be:
ſonders hier ſollteſt du nicht mit Leuten verkehren, die du
nicht kennſt.“
Was? brauſte Benvenuto innerlich auf, gehörte er zu
den Leuten, die man nicht kennt? War er nicht wohl⸗
beſtallter Student der Rechtsgelehrtheit an der Univerſität
zu Neapel? Hatte er ſich ihr nicht vorgeſtellt, wie es ſich
gehörte? War es nicht ſchicklich, daß ſie auch ihm ihren
Namen ſagte?
Die „Leute, die man nicht kennt“, wurmten ihn, aber
gleichwohl ließ ſich momentan nichts dagegen machen.
Roman von Woldemar Urban. 13
Langſam ging er die kleine Orangen⸗ und Limonenallee,
die quer durch den Park der Villa Miramar und an
dieſer vorüber nach dem Villino führte, entlang, als ihm
auffiel, daß auf. der großen Terraſſe der Villa Miramar
die Thüren und Fenſterläden aufſtanden, und auf der
Terraſſe ſelbſt zwei Dienſtmädchen Decken oder Teppiche
ausklopften. ,
Die Villa Miramar war alfo aus ihrem Zauberſchlaf
erwacht und bewohnt. Natürlich von „ihr“ und ihrer
Mutter. Denn daß die Dame in Schwarz ihre Mutter
ſein mußte, war klar. Wer aber war denn die junge
Schöne ſelbſt? „Santina“ hatte ihre Mutter ſie gerufen.
Nun, dieſer Vorname iſt in Unteritalien nicht gerade
ſelten. Santina heißen viele junge Mädchen. Indeſſen
konnte es doch nicht ſchwer ſein, zu erfahren, wer die
Villa Miramar gemietet hatte.
Ein Gärtnerburſche, den der alte Gioachimo zu ſeiner
Unterſtützung ſeit einiger Zeit bei ſich hatte, lief ihm in
den Weg. Der Junge war freilich erſt vierzehn oder
fünfzehn Jahre und ſo dumm, wie es die Polizei nur
irgend geſtatten kann. Aber es war momentan niemand
anders da, und warten wollte der junge Mann in ſeiner
Ungeduld nicht.
„He, Adi!” rief er den Burſchen an. „Die Villa
Miramar iſt bewohnt?“
Achille nickte. „Seit heute früh.“
„Wie heißt die Herrſchaft?“
„Weiß nicht.“
„Woher kommt ſie?“
„Von Caſtellamare.“
Von Caſtellamare kamen in Sorrent alle Fremden,
die nicht mit dem Schiff ankommen, und was anderes
wußte Achille nicht. Verzweifelt ſah Benvenuto einen
Augenblick zu, wie der Burſche einige Roſenſträuche und
14 Um ein Wort.
Salbeibeete begoß. „Wo it Gioachimo?“ fragte er dann
in der Hoffnung, von dem alten Gärtner mehr erfahren
zu können.
„In Neapel,“ erwiderte Achille. „Heute früh mit
dem Schiff fort. Beſorgung für die Herrſchaft.“
„Wann kommt er wieder?“
„Weiß nicht.“
Der Burſche mit ſeinem ewigen „Weiß nicht“ fing an,
den jungen hitzigen Studenten nervös zu machen. Aber
es half nichts, Benvenuto mußte warten, ſo ſchwer ihm
das auch fiel, bis er ſich bei dem Gärtner beſſere Aus⸗
kunft holen konnte.
Als er ſich dem roten Villino näherte, ſchickte ihm
der Himmel ſeine Schweſter Beatrice in den Weg, die
von der Poſt kam und Briefe und Zeitungen für ihren
Vater geholt hatte. In Sorrent holt man meiſt ſeine
Sachen ſelbſt von der Poſt, um nicht warten zu müſſen,
bis es dem Briefträger zufällig einmal einfällt, ſie zu
bringen.
„Beatrice,“ rief der Student ſeine Schweſter an, „denke
dir, Villa Miramar iſt bewohnt.“
; „Madonna santissima!“ rief die junge Dame erſchrocken,
„biſt du nicht wohl, daß du mich ſo anfährſt? Was geht
denn mich das an, ob die Villa Miramar bewohnt iſt
oder nicht.“
„Zwei Damen, eine ältere und eine jüngere,“ fuhr
er lebhaft fort, ohne den Einwurf ſeiner Schweſter zu be⸗
achten, „du mußt ihnen einen Beſuch machen.“
„Ich? Wie komme ich denn dazu?“
„Das ſchickt ſich ſo. Es ſind Fremde, und es gehört
für uns zum guten Ton, daß wir uns ihnen vorſtellen
und zu ihrer Verfügung halten. Da es Damen ſind, geht
das dich an, wenn es Herren wären, hätte ich es ſelbſt
beſorgt.“
Roman von Woldemar Urban. 15
„Es fällt mir gar nicht ein,“ antwortete feine Schweſter
ablehnend. „Wenn die Fremden etwas wollen, mögen
ſie zu mir kommen.“
Aergerlich warf er feine Ruder hin. „Eine Neapoli:
tanerin weiß doch nie, was ſich gehört! Du blamierſt
die ganze Familie. Außerdem haben wir den Schaden.
Wir können nicht mehr den Park der Villa Miramar be⸗
nutzen, wenn dieſe von für uns fremden Leuten bewohnt
wird.“
„Ah bah, was thut's? Wir gehen eben auf der
Straße durch Sant' Aniello nach dem Meer.“
„Danke ſchön! Man verſinkt auf der Straße ja bis
an den Halskragen in den Staub.“
Durch den Streit war der alte d' Akkiri aufmerkſam
geworden und trat näher. Nun wurde die Angelegenheit
nochmals durchgeſprochen, Benvenuto ereiferte ſich immer
mehr, ſo daß ſchließlich ſein Vater die Sache dahin regelte,
daß er ſich ſelbſt bereit erklärte, den Damen am nächſten
Morgen einen Beſuch zu machen, wobei er die Benutzung
des Parkes der Villa Miramar zur Sprache bringen
wollte.
Dabei beruhigte ſich Benvenuto und ging auf den
Balkon ſeines ſogenannten Studierzimmers, um von dort
aus mit dem Feldſtecher hinüber nach der großen Terraſſe
der Villa Miramar zu ſchauen, wo ſich Santina mit ihrer
Mutter eben zum Eſſen niederſetzte. Es war freilich ſchon
ziemlich dunkel, aber es ſtanden auf dem Tiſche zwei
große Lampen, in deren Schein er Santina ſo genau wie
in einem Theater hätte ſehen können, wenn fie nicht ge:
rade hinter einer großen Fächerpalme Platz genommen
hätte. So mußte er immer warten, bis die junge Dame
eine Bewegung machte, entweder um nach etwas auf dem
Tiſche zu langen oder dem aufwartenden Mädchen etwas
abzunehmen oder hinzureichen. Aber er wartete geduldig
16 | Um ein Wort.
wie nie, fo daß er es ganz überhörte, wie er felbft zum
Eſſen gerufen wurde. Dieſes Antlitz, diefe Figur und
vor allem dieſes muntere, glockenreine Lachen, das der
Wind manchmal zu ihm herübertrug, bezauberten ihn und
verſetzten ihn in eine Aufregung, wie er ſie noch nie in
ſeinem Leben empfunden.
Plötzlich ſtand ſein Vater hinter ihm, ohne daß er ihn
hätte kommen hören.
„Du biſt doch wohl ganz und gar des Teufels,“ ſagte
Don Aſſo ungehalten. „Was ſollen denn die Damen
von uns denken, wenn ſie dich hier bemerken?“
„Wir könnten auch einmal im Freien eſſen,“ verſetzte
er ausweichend. „Die Luft iſt ſo mild und ſchön.“
„Scher dich hinunter zum Eſſen,“ befahl ſein Vater
ſtatt aller Antwort. „Alle warten nur auf dich.“ —
Am nächſten Morgen weckte Benvenuto ſeinen Vater
um ſechs Uhr, damit er den Nachbarbeſuch nicht verſäumen
ſollte. Der alte Herr kannte ſeine Söhne ſehr wohl und
erinnerte ſich vielleicht auch aus ſeiner eigenen Jugend,
wie gefährlich dergleichen Anfälle werden konnten. Vor
Jahren war es ihm ſchon einmal mit ſeinem älteſten Sohn
ſo ergangen, der ſich plötzlich in eine Liederſängerin am
Teatro Fondo verliebt hatte und ſie allen Ernſtes heiraten
wollte. Damals war es ihm gelungen, durch die Polizei
die bereits etwas anrüchige Perſon aus Neapel zu ent⸗
fernen, ſein Sohn hatte aber davon erfahren, und ein
jahrelanger Zwiſt war die Folge geweſen, bis endlich eine
neue Leidenſchaft die alte beſeitigt und ſeinen Sohn wieder
zu Verſtand gebracht hatte. Sollte derſelbe Tanz nun
noch einmal mit Benvenuto losgehen? Das Bürſchchen
war jetzt dreiundzwanzig Jahre, war nichts und hatte
nichts. Was alſo ſollte da werden?
Gleichwohl ging der alte Herr ſeinem Verſprechen ge—
mäß gegen Mittag nach der Villa Miramar hinüber, um
Roman von Woldemar Urban. 17
fih den fremden Damen zur Verfügung zu ftellen oder
doch feine Karte abzugeben. Benvenuto wartete unter:
deffen aufs höchſte geſpannt, mit der Uhr in der Hand,
im Villino und wäre am liebſten gleich hinter ſeinem
Vater hergelaufen. Schon nach verhältnismäßig kurzer
Zeit ſah er ihn zurückkommen.
„Nun?“ fragte er ungeduldig.
Sein Vater ſah ſehr ernſt aus. „Komm mit auf mein
Zimmer, Benvenuto,“ ſagte er kurz und ſtieg die Treppe
hinauf.
Etwas betroffen folgte Benvenuto. „Was ſagten ſie
denn, Papa?“ fragte er ſchon unterwegs. „Du haſt doch
mit ihnen geſprochen?“
„Nein.“
„Nicht?“ fuhr Benvenuto erſtaunt auf. „Aber —“
„Komm und rede nichts. Du wirft gleich alles wiſſen.“
In ſeinem Zimmer angekommen, ſetzte Don Aſſo ſich
in einen Seſſel und begann mit leiſer, vorſichtiger Stimme,
als ob er fürchte, belauſcht zu werden: „Die Damen, die
du geſehen haft, find in der Villa Miramar und über:
haupt in dieſer Gegend durchaus nicht fremd, denn ſie
ſind die Beſitzerinnen der Villa.“
„Was? Sie ſind hier zu Hauſe?“ fragte der junge
Mann überraſcht.
„Höre mir zu, was ich dir ſage. Die ältere Dame
iſt die Gräfin di Monteverde, nennt ſich aber hier Frau
de Mendriſi nach ihrer Mutter, mit der ſie vor langen
Jahren das rote Villino bewohnt hat.“
„Unſer Haus?“
„Ja. Die jüngere Dame iſt die Tochter des Grafen
di Monteverde aus erſter Ehe, deren Mutter von eben
dieſem Grafen Enea di Monteverde in der Villa Miramar
ermordet wurde, und der ſeither drüben im Zuchthaus von
Niſida ſeine Strafe abbüßte.“
1900. III. 2
18 Um ein Wort.
„Großer Gott, was fagit du da!“
„Nichts als die Wahrheit. Du weißt natürlich von
dieſer ganzen Sache nichts, mein Junge, denn du warſt
damals noch ein Kind. Ich aber beſinne mich noch gut
genug darauf. Graf Enea di Monteverde wurde zu fünf—
zehn Jahren Bagno verurteilt, und in dieſer ganzen Zeit
ließ ſich ſeine zweite Frau wie auch ſeine Tochter in
unſerer Gegend nicht blicken. Die Damen wußten wohl,
warum. Nun muß aber nach meiner ungefähren Be:
rechnung die Strafzeit des Grafen demnächſt um ſein, und
deshalb ſind die Damen wohl auch wieder hier.“
„Und Santina? Die junge Dame, die ich geſehen?“
„Iſt die Tochter eines Zuchthäuslers,“ antwortete
Don Aſſo nachdrücklich. „Du weißt, was das heißt. Ob
Gräfin oder nicht, ob reich oder arm, geſchändet iſt ge:
ſchändet. Laß dir das alſo geſagt ſein, Benvenuto.
Du kannſt doch nicht wünſchen, mit ſolchen Leuten zu
thun zu haben, und wenn du dich auch als junger un—
überlegter Mann darüber hinwegſetzen ſollteſt, ſo darfſt
du es doch deiner Familie, deinen Schweſtern und deinen
Eltern nicht zumuten. Ich hoffe, Benvenuto, du biſt
verſtändig genug, um das einzuſehen. Du biſt kein Knabe
mehr.“
„Aber ich begreife nicht, Papa — du hätteſt ſie ſehen
ſollen! Dieſe harmloſen, naiven Augen, dieſe zierliche
Drolligkeit und Luſtigkeit. Nein, nein! Das iſt nicht
möglich. Wer ſeinen Vater im Bagno weiß, kann nicht
ſo ausſehen.“
„Benvenuto, von einem Irrtum meinerſeits iſt keine
Rede. Alſo ſei vernünftig und laß dich von deinem Vater
über das belehren, was du ſelbſt nicht weißt. Das Ver:
brechen ift wie eine Kataſtrophe in der Natur, die weit
hinter ſich ihre Furchen zieht. Bleib weg davon.“
„Vater!“
Roman von Woldemar Urban. 19
„Laß es gut fein. Ich weiß ſchon, was du fagen
willſt. Natürlich fällt jetzt jeder Verkehr mit der Villa
Miramar fort. Wenn ihr nach dem Meer hinuntergeht,
ſo geht ihr durch Sant' Aniello. Die Sache iſt nicht ſo
ſchlimm, und um derartigem aus dem Wege zu gehen,
kann man wohl einen noch größeren Bogen machen.“
„Aber —“
„Ich will es ſo und damit baſta!“ ſchnitt ihm ſein
Vater ſtreng das Wort ab. „Wenn du die Notwendig:
keit nicht einſiehſt, ſo muß ich dich zum Gehorſam zwingen.
Du weißt, Benvenuto, daß ich mit dir nicht eben ſehr
ſtreng bin und dir vieles nachſehe. In dieſem Punkt
bin ich aber unerbittlich. Sowie ich merke, daß du mir
nicht gehorchſt, oder wenn ich dich nur einmal drüben im
Park der Villa Miramar ſehe, ſchicke ich dich ſofort nach
Neapel zurück. Mein Wort darauf!“
Jetzt, im Hochſommer, in das heiße, ſtaubige, un:
ſaubere Neapel zurückgeſandt zu werden, verlockte den
jungen Mann natürlich nicht, auch wenn es in Neapel
keine Univerſität gegeben hätte. Auch nahm ſein Vater
bei dieſer Gelegenheit eine ſo ernſthafte und drohende
Miene an, wie er fie an ihm nur bei ganz ernſten Ge:
legenheiten geſehen, wo auch die Mutter nichts ausrichten
konnte. Er nahm ſich deshalb vor, ſeinem Vater zunächſt
keinen Anlaß zum Aeußerſten zu geben und den Park der
Villa Miramar zu meiden. Vielleicht kannte und fühlte
er auch in dieſem Augenblick die Tragweite ſeines Ver—
ſprechens nicht, jeden falls dachte er nicht daran, daß viel—
leicht einmal ein Tag kommen könne, wo es ihm unmög—
lich ſein werde, es zu halten. Genug — er gab es, um
ſeinen Vater zu beruhigen.
Der Verkehr zwiſchen dem Villino roſſo und der Villa
Miramar war von Stund an eingeſtellt.
20 Um ein Wort.
2.
Gräfin Severa di Monteverde ſtand auf der kleinen
Terraſſe und ſchaute mit thränenfeuchten, wehmütigen
Augen über das weite dunkelblaue Meer nach der kleinen
Inſel Niſida am Nordende des Golfes. Auf der höchſten
Erhöhung der Inſel befand ſich ein weithin ſichtbares,
weißglänzendes Haus, der Bagno oder das Zuchthaus von
Niſida, der derzeitige Aufenthaltsort ihres Gatten, des
Grafen Enea. Gräfin Severa war trotz der langen qual⸗
vollen Jahre und des inzwiſchen erfolgten Todes ihrer
Mutter noch eine ſtattliche Frau, aber die verfloſſenen
fünfzehn Jahre hatten doch zu ſchwer auf ihrer Seele ge:
laſtet, als daß ſie nicht ihre Spuren hätten zurücklaſſen
ſollen. Um die Augen hatte ſich eine Menge kleiner,
kaum wahrnehmbarer Fältchen gebildet, und der Ausdruck
der Augen ſelbſt war wie verſchleiert, durch ſchmerzliche
Entſagung verdüſtert. Auch um den Mund ſah man bei
jeder Bewegung dieſen müden, melancholiſchen Ausdruck.
Was hatte ſie alles in dieſen fünfzehn Jahren gelitten!
Wenn Severa jetzt zurückdachte an all die bitteren, trüben
und einſamen Stunden, ſo ſchien es ihr wie ein Wunder,
daß ſie ſie überhaupt überſtanden hatte.
Wie aber hatte er, der unſchuldig Verurteilte, fie er:
tragen? Das war es, was ſie jetzt zumeiſt beſchäftigte.
Seine Prüfungszeit — ſeine Strafe, wie die Leute ſagten
— war demnächſt vorüber, aber wie würde ſie ihn wieder⸗
ſehen? Was würde man aus dem Mann, der ihr alles
war, gemacht haben?
Ein müdes, trockenes Hüſteln ſtörte ſie aus ihrem
Nachdenken auf. Sie fuhr raſch mit dem Taſchentuch
über die thränennaſſen Augen und ſah ſich um.
Der alte Gioachimo ſchritt über die Terraſſe und kam
auf ſie zu.
Roman von Woldemar Urban. 21
„Gioachimo, was giebt's?“ fragte fie.
„Eure Gnaden, Frau Gräfin werden verzeihen,“ ſagte
der alte Mann und präſentierte ihr eine Viſitenkarte.
Sie nahm die Karte und las: Mfo d' Akkiri. „Was
iſt mit dieſer Karte?“ fragte ſie weiter.
„Der Herr war unten —“
„Wann? Jetzt?“
„Ja, jetzt eben. Er fragte nach der neuen Herrſchaft
und gab mir dabei ſeine Karte. Als ich ihm aber Ihren
Namen nannte, Frau Gräfin, wandte er ſich wieder ab
und ging davon, indem er ſagte, er habe ſich geirrt. Seine
Karte ließ er da.“
Ihre Finger zuckten leiſe, und ſie ließ die Karte fallen.
Der Ausdruck ſtummer Trauer und ergebungsvoller Melan:
cholie, der ſie auf Augenblicke verlaſſen, kehrte wieder
zurück.
„Es iſt gut, Gioachimo,“ ſagte ſie müde. „Laß mich
allein und vergiß nicht, was ich dir ſagte in Bezug auf
Santina.“
„Frau Gräfin können ſich auf mich verlaſſen,“ erwiderte
der alte Mann. „Ich werde ſchon acht geben.“
Der Gärtner ging wieder fort, und Severa blieb allein.
Sie befann fih auf Herrn d' Akkiri ſehr gut. Damals,
als ſie mit ihrer Mutter in ſeinem Hauſe gewohnt hatte,
war er ſehr freundlich geweſen und hatte ſie häufig be⸗
ſucht. Jetzt freilich —!
Sehr nahe ging ihr das Verhalten des Herrn d' Akkiri
übrigens nicht, ſie war in den fünfzehn Jahren noch an
ganz andere Vorkommniſſe gewöhnt worden, und wenn ſie
auch manchmal hätte aufſchreien mögen vor Scham und
Zorn, ſo war ſie doch in der langen Zeit duldſam und
demütig genug geworden, um derartige Kränkungen ſtumm
hinzunehmen. Aber um Santinas willen ſchmerzte es ſie.
Dieſe war jetzt herangewachſen, und es wurde immer
22 Um ein Wort.
ſchwieriger, das junge Mädchen, das nach Geſellſchaft und
Umgang verlangte, über den Grund ihrer Vereinſamung
zu täuſchen.
Plötzlich fuhr Severa aus ihren trüben Betrachtungen
auf, und es war faſt, als ob ein hellerer Strahl über ihr
Geſicht geflogen wäre. Santina kam mit der ihr eigenen
Lebhaftigkeit auf die Terraſſe. Die prachtvollen ſchwarzen
Haare hingen ihr noch offen über Hals und Schultern
herab, nur mit einigen rotſeidenen Schleifen feſtgehalten,
die großen Augen ſtrahlten vor Jugendluſt und Glück.
Alles an ihr war Bewegung und Leben, und ihre Ge—
ſtalt hob ſich feingegliedert und formvollendet unter den
leichten, enganliegenden Sommerkleidern hervor.
Santina hatte ſich in der Zwiſchenzeit körperlich und
geiſtig in herrlicher Weiſe entwickelt. Man konnte es
ſchon verſtehen, daß Severa bei ihrem Anblick ihr Elend
vergaß in ſtolzer Freude über Santina. Sie ſehnte ſich
nach dem Augenblick, wo ſie zu Enea ſagen konnte: „Das
iſt dein Kind, rein und ſchuldlos, emporgeblüht wie die
Blume auf dem Felde, harmlos und ahnungslos wie ſie
war — ſo gebe ich ſie dir zurück.“ Sein Dank ſollte ihr
ſchönſter Lohn ſein.
Severa hatte ſich ſelbſt, ihre Jugend, ihr Lebensglück
geopfert, ſich in die entlegenſten Städte zurückgezogen, wo
niemand ſie kannte, damit Santina ohne Kummer, ohne
Leid und Kränkung aufwachſen könne. Nun kam die
Stunde immer näher, wo ſie die Tochter in die Arme
des Vaters zurückgeben, ihre Aufgabe als erfüllt anſehen
konnte. Deshalb war ſie hierher gekommen, um in Sorrent
den Tag der Wiedervereinigung abzuwarten.
„Biſt du ſchon hier, Mama? Biſt du ſchon fertig?“
fragte Santina, indem ſie ſich Severa ſtürmiſch in die
Arme warf.
„Längſt, mein Kind,“ antwortete dieſe, indem ſie
Roman von Woldemar Urban. 23
Santina lächelnd küßte, „ich habe leider nicht das Glück,
ſo gut und feſt zu ſchlafen wie du.“
„Wieviel Tage noch, Mama?“ fuhr Santina in ihrer
ungeduldigen, lebhaften Art fort. „O ſage, wieviel Tage
noch?“ .
„Noch fünf Tage, wenn alles gut geht.“
„O, es wird alles gut gehen, Mama. Sage, daß alles
gut gehen wird und daß der Vater wirklich in fünf Tagen
bei uns iſt.“
„Liebes Kind, er hat eine weite, weite Reiſe zurück⸗
zulegen, und das Meer iſt nicht zuverläſſig. Aber wenn
er auch einen oder zwei Tage ſpäter kommt, ſo kommt
er doch ſicher.“
„Wie heißt das Schiff, mit dem er kommt?“
„Es iſt die „Ancona“.“
„Wie lange braucht die „Ancona“ von Bahia bis
Neapel?“
„Dreißig Tage, und wenn es ganz gutes Wetter iſt,
ſieben⸗ bis achtundzwanzig Tage.“
„Und der Vater wird, wenn er einmal wieder hier
iſt, nie, niemals wieder nach dem ſchrecklichen Braſilien
gehen und uns hier allein zurücklaſſen?“
„Wenn wir recht lieb zu ihm ſind, wird er ſchon bei
uns bleiben.“
„O, er ſoll nicht wieder fort,“ ſagte Santina ziemlich
energiſch, „ich werde ihn ſo ſchrecklich lieb haben, daß er
nicht wieder fortgeht. Kannſt du dich wohl noch gut auf
den Vater beſinnen, Mama? Er iſt ja ſo entſetzlich lange
Jahre fort.“
„O ja, ich beſinne mich noch recht gut auf ihn.“
„Ein ſchöner Mann, nicht wahr?“
„Ein ſehr ſchöner Mann, wenigſtens damals. Aber
du weißt ja, daß er inzwiſchen am Fieber ſehr krank ges
weſen iſt. Es kann ſchon ſein, daß er jetzt etwas kränk⸗
24 Um ein Wort.
lich ausſieht. Aber du wirft ihn trotzdem lieb haben —
nicht wahr, Santina?“
„Wie mich ſelbſt, oder nein, noch viel, viel mehr; ſo
wie dich, Mama.“
„Recht, mein Kind.“
„Aber findeſt du es nicht auch ſonderbar, daß ich mich
ſo ganz und gar nicht mehr an die Villa Miramar er:
innern kann und daß mir auch das Bild des Vaters ſo
vollſtändig entſchwunden iſt?“
„Du warſt damals noch ſehr klein, Santina.“
„Aber ich beſinne mich doch daran, als du mich auf
dem Arme trugſt, und Papa dich plötzlich umarmte, und
ich in aller Angſt, erdrückt zu werden, zwiſchen euch beiden
hing. Erinnerſt du dich?“
„Ja, mein Kind.“
„Ich beſinne mich ſogar auf das Zimmer. Es waren
knallrote Wände mit kleinen bunten Figürchen im pom—
pejaniſchen Geſchmack. Aber ich finde das Zimmer in der
ganzen Villa Miramar nicht wieder.“
„Es hat ſich viel verändert,“ antwortete Severa aus—
weichend. Sie wußte wohl, welches Zimmer Santina
meinte. Sie hatte merkwürdigerweiſe gerade den Augen—
blick im Gedächtnis behalten, in dem ſich Enea mit Severa
drüben im roten Villino verlobt hatte. Aber ſie fand es
gefährlich, ihr nähere Aufklärungen darüber zu geben.
„Auch ſonſt liegt mir die ganze Gegend, die Scenerie
des Golfes, die Inſeln, das blaue Meer, die helle Sonne,
die grünen Gärten, wie ein ferner, ferner Traum in den
Sinnen,“ fuhr Santina fort. „Ich kenne es und kenne
es wieder nicht. Ich habe alles das ſchon geſehen, vor
langer, langer Zeit, und weiß doch nicht, was es iſt.
Ich beſinne mich auf einen großen Mann, der immer ſehr
ſorgfältig gekleidet und vornehm einherging, und möchte
faſt behaupten, daß das Papa war. Aber ich glaube,
Roman von Woldemar Urban. 25
wenn ich ihn jetzt vor mir ſähe, würde ich ihn nicht er-
kennen.“
„Du wirſt ihn ja bald ſelbſt ſehen und dann nicht
mehr auf alte Bilder und verwiſchte Erinnerungen an:
gewieſen ſein,“ tröſtete ſie ihre Mutter.
Dann ſah Santina plötzlich die Karte am Boden
liegen, die ihre Mutter vorher hatte fallen laſſen, und
ehe es dieſe hindern konnte, hob das junge Mädchen
ſie auf.
„Was iſt das für eine Karte?“ fragte ſie lebhaft.
„O nichts. Gieb ſie her, mein Kind.“
„Aſſo d' Akkiri, das ift wohl der Mann, der im roten
Villino wohnt? Der Vater des jungen Herrn vermutlich,
den wir im Garten trafen?”
„Vermutlich,“ gab ihre Mutter, gleichgültig thuend,
zur Antwort.
„War er hier?“
„Ja, das heißt — — ach, laſſen wir das. Was geht
uns der Mann an.“ l
„Was wollte er denn, Mama?“
„Ich weiß nicht. Vielleicht Wein verkaufen oder der:
gleichen.“
„O, du haſt ihn abgewieſen? Haſt gar nicht mit ihm
geſprochen?“
„Nein. Wozu denn auch. Wir kaufen ihm ja doch
nichts ab.“
„Aber — —“ begann Santina, ſchwieg dann aber
plötzlich. Es war ihr unangenehm, daß ihre Mutter,
wie ſie annahm, den Beſuch des alten Herrn abgewieſen
hatte — um ſeines Sohnes willen. Nur mochte ſie vor
ihrer Mutter nicht davon ſprechen.
„Du mußt hier beſonders vorſichtig ſein, Santina,
wenigſtens ſolange Papa noch nicht bei uns iſt.“
„Aber ich verſtehe nicht, weshalb?“
26 Um ein Wort.
„Die Leute haben fo ſchlechte Angewohnheiten, daß
es beſſer iſt, den Verkehr mit ihnen zu meiden.“
„Aber der junge d' Akkiri doch gewiß nicht,“ warf
Santina unbedacht ein.
„Je nun, es iſt auch nicht beſonders fein, eine junge
Dame, die man nie geſehen hat, fo ohne weiteres anzu:
ſprechen.“
Santina fand das nicht, aber ſie ſchwieg. Severa las
in ihrem Inneren, ſie fühlte, es wurde für ſie immer
ſchwieriger, Santina in jener ahnungsloſen Ruhe und
kindlichen Abhängigkeit zu halten, die für ihren Seelen:
frieden notwendig war. Santina war in dem Alter, wo
eine junge Dame eben kein Kind mehr iſt und ſelbſt ſieht
und denkt. Das war ja eben Severas größte Sorge,
daß Santina durch irgend einen Zufall etwas erfahren
könne, was ihre Ruhe erſchüttern mußte, was ein Unglück
für ſie war. Nach dem, was Santina bisher wußte, war
ihr Vater an großen Handelsunternehmungen in Braſilien
beteiligt, die ſeine bisherige Anweſenheit in dieſem Lande
notwendig gemacht hatten. Nun kam er notgedrungen
infolge von Fieberanfällen wieder in die Heimat zurück.
Um ihn zu erwarten, war Severa mit Santina nach Neapel
geeilt.
Alles war ſorgſam abgemacht, das Zuſammentreffen,
das Wiederſehen aufs peinlichſte vorbereitet und vorher
beſtimmt. Gleich nach der Vereinigung mit ihrem Gatten
ſollte die Familie wieder nach Turin überſiedeln, aus
Furcht, Santina könne durch einen unglücklichen Zufall
hinter die Wahrheit kommen.
Dieſe Gefahr beſtand ja anderswo auch und mußte
ſpäter ſogar ſehr groß werden, wenn es ſich einmal darum
handelte, Santina zu verheiraten. Aber das ſtand noch
in weiter Ferne und beſchäftigte Severa momentan nicht
ſo aufregend wie die Furcht, daß Santina während ihres
Roman von Woldemar Urban. 27
Aufenthaltes in der Heimat, wo doch noch viele Leute
ſich an den Prozeß des Grafen Enea erinnern konnten,
etwas davon erfahre. War erſt Graf Enea da, ſo konnte
er als Mann weiter ſorgen. Seinen Händen konnte ſie
anvertrauen, was fie vielleicht nicht bis zum Ende durch:
ſühren konnte. —
Gegen Sonnenuntergang ſtand Santina, obgleich es
noch ſehr heiß war, wieder auf der oberen Treppenmauer,
wo es zum Meeresſtrand hinunterging und wo ſie am
Tage vorher mit Benvenuto zuſammengetroffen war. Aber
ihre Erwartung, ihn heute wieder zu ſehen, ſchien ſich
nicht zu erfüllen. Sie beugte ſich weit über die Mauer
vor, ſo daß ſie den ganzen unter ihr befindlichen Strand
überſehen konnte, aber weit und breit war keine Seele
zu entdecken. Weit auf dem Meere draußen einige Schiffer—
boote, ferner ein großes Kriegsſchiff, das, langſam und
majeſtätiſch aus dem Kriegshafen von Caſtellamare kom—
mend, dem offenen Meer zuſtrebte — ſonſt nichts.
Das verdroß Santina, und ſie ſtieg immer mehr und
mehr die Treppe hinunter, bis ſie an dem Sandſtrand
unten ankam, den das Meer zwiſchen zwei hervorſprin⸗
genden Felſen gebildet und den man die Marina der Villa
Miramar nannte. Vorſichtig ging ſie den Strand ent—
lang, blieb hin und wieder ſtehen, um den Wogen zu—
zuſehen, die ſchäumend und wie ſpielend auf dem Sand
hin und her rollten, oder ſuchte Muſcheln, die das Meer
ausgeworfen hatte. Das Leben des Meeres iſt ſo ab—
wechslungsreich und unterhaltend, und für Santina war
das alles ſo neu und fremd, daß ſie, ohne es zu merken,
immer weiter ging.
Der glatte Strand war nur einige hundert Meter lang,
und ſo ſtand ſie plötzlich vor einem grauen Tuffſteinfelſen,
der faſt ſenkrecht einige hundert Fuß aufſtieg und ein
Glied in der ungeheuren Mauer bildete, auf der Sorrent
28 Um ein Wort.
fteht. Ein tiefes, finſteres Loch ging wie ein Schacht in
den Felſen hinein.
Neugierig ſtand ſie lange davor. Was konnte das
zu bedeuten haben? Denn obgleich ſie in ihrer Heimat,
ja ſogar auf ihrem Grund und Boden ſtand, hatte ſie
doch keine Ahnung von der Beſchaffenheit desſelben. Wo—
hin führte der finſtere Gang? Entdeckungsluſt überkam
ſie, ſie vermutete, daß man da hindurch irgendwohin ge⸗
langen müſſe. Sie konnte ihre Neugier nicht mehr be—
zwingen und ging langſam und vorſichtig den dunklen
Felſengang entlang. Der Boden unter ihr war felſig und
ſchien leicht anzuſteigen, aber je tiefer ſie in das Loch
hineinkam, deſto finſterer wurde es drinnen, und deſto
vernehmlicher drang das Gurgeln und Plätſchern der
Meereswellen an ihr Ohr, die, durch die Felſen eingeengt,
irgendwo an den Wänden anprallten. Es wurde ihr un⸗
heimlich, und fie wollte ſchon wieder furchtſam umkehren,
als ſie plötzlich an einer Biegung des Ganges den jen—
ſeitigen Ausgang und zugleich einen prachtvollen Auslug
auf das herrlich leuchtende Meer und den rauchenden Vefuy
ſah. Die Farbenpracht dieſes Schauſpiels, das durch die
Dunkelheit in dem Felſengang zur vollen Wirkung kam,
war ſo bezaubernd, daß ſie überraſcht ſtehen blieb.
In demſelben Augenblick bemerkte ſie aber auch ihren
Freund Benvenuto, der auf einem großen Stein im Meere
ſaß und angelte.
„Aoooooh!“ ſchrie fie ihm übermütig luftig zu, in der
Art der Fiſcher, wenn ſie ſich gegenſeitig anrufen.
„Aoooooh!“ antwortete er ebenſo und winkte ihr.
„Wie ſind Sie da hinübergekommen?“ fragte ſie wieder.
„Um den Felſen herum,“ antwortete er, „dort, wo
das Brett liegt. Sie müſſen ſpringen. Nur Mut, es
geht. Meerſand macht nicht ſchmutzig.“
Sie ging immer näher, hüpfte von Stein zu Stein
Roman von Woldemar Urban. 29
und fam fo zu einem ſchmalen Sandſtreifen, der zu dem
Stein führte, auf dem Benvenuto ſaß. Nun aber ſtellte
ſich erſt die Schwierigkeit heraus. Der Stein war ſo
hoch, daß ſie allein unmöglich hinaufgelangen konnte.
Gleichwohl wollte ſie auch nicht unverrichteter Sache wieder
umkehren.
„Reichen Sie mir die Hand und ziehen Sie mich hin:
auf,“ bat ſie.
Wenn der junge Student noch Bedenken irgend welcher
Art gehabt hätte, ſo wären ſie wohl bei dem Blick ver⸗
ſcheucht worden, mit dem ſie ihn anſah und über dem
er die Unterredung mit ſeinem Vater nebſt allen Bedenken
vergaß, wenn er überhaupt welche gehabt hatte. Er ſprang
von feinem Sitz auf, ſtemmte ſich mit den weißen Zeug:
ſchuhen, die er trug, feſt auf den Felſen und hielt ihr
beide Hände hin. |
„Nur feft halten, Signorina, nicht los laffen, ſonſt
fallen Sie ins Waſſer,“ mahnte er.
Im nächſten Augenblick ſtand ſie neben ihm auf dem
großen Stein, der übrigens nicht ſo groß war, daß ſie
nicht hätten ſehr nahe bei einander ſtehen müſſen. Santina
wurde etwas befangen und ſah ſich verlegen um.
Er ſetzte ſich gemächlich wieder zu ſeiner Angel nieder.
„Wollen Sie ſich nicht auch ſetzen, Signorina?“ fragte er.
„Sie fallen ſonſt doch noch ins Waſſer, und Ihre Frau
Mutter zankt mich dann aus, daß ich nicht beſſer acht auf
Sie gegeben habe.“
„Wohin denn?“ fragte ſie drollig.
„Hierher, zu mir. Groß iſt der Stein freilich nicht,
aber für uns beide langt er gerade noch aus.“
Sie ſtützte ſich leicht auf ſeine Schulter und ließ ſich
ſo neben ihm nieder. Ganz glatt ging dieſe Unterneh—
mung indeſſen doch nicht ab. Bei der Berührung mit
ihm ſtieg ihr unwillkürlich eine verräteriſche Röte ins
30 Um ein Wort.
Geſicht, und fie blickte verſtohlen zu ihm nieder, ob er das
wohl auch bemerke. Und als ſie endlich neben ihm ſaß,
trat noch eine verlegene Pauſe ein, über die ihnen aber
glücklicherweiſe die Angel hinweghalf, nach der die vier
Augen in einer Aufregung hinſahen, als ob mindeſtens
ein Haifiſch daran gezappelt hätte.
„Wie hübſch das hier iſt!“ ſagte ſie endlich, als ihre
Naivität wieder die Oberhand über alle Befangenheit ge:
wann, und ſah ſich heiter um.
„Und nicht im mindeſten heiß,“ ergänzte er.
Sie ließ ihre Blicke über das Meer hinübergleiten, bald
daz, bald dorthin.
„Was iſt das dort, die alte graue Stadt mit den
kleinen verfallenen Häuſerchen?“ fragte ſie.
„Das iſt das alte Pompeji, Signorina. Waren Sie
noch nie dort?“
„Nein. Das heißt ich weiß es nicht. Vielleicht als
Kind. Aber das iſt ſchon ſo lange her. Und dort liegt
Neapel, nicht wahr?“
„Ja. Die große Stadt iſt Neapel.“
„Und was iſt das dort für eine Inſel?“ fragte ſie
weiter. |
„Das ift Ischia, Signorina.”
„Nein, nein, ich meine die ganz kleine Inſel, die wie
ein runder Kuchen ausſieht, neben dem Vorgebirge dort,
mit dem großen weißen Haus auf der Spitze.“ |
Betroffen fah Benvenuto ihr ins Geſicht. „Das ift
Niſida, mein Fräulein,“ antwortete er etwas leiſer und
verwundert.
Kannte ſie dieſe Inſel nicht? fragte er ſich. Wollte
ſie ihn zum beſten haben?
„Und das große Haus?“ fragte ſie weiter. „Was iſt
das für ein großes weißes Haus, das da auf dem Gipfel
von Niſida ſteht?“
Roman von Woldemar Urban. 31
Wieder fiel ein verſtohlener Blick aus feinen Augen
auf ihr Geſicht, das von ihm fort in der Richtung der
Inſel Niſida gerichtet war, die ſie auch noch mit der
kleinen zierlichen Hand näher bezeichnete.
„Das iſt das Zuchthaus, mein Fräulein,“ antwortete
er noch leiſer und wie erſtaunt.
„Mein Gott, wie ſchrecklich! Ein Zuchthaus hier in
dieſer herrlichen Gegend! Aber das iſt ja ganz furchtbar.
Sind da auch Menſchen drin?“
„Immer. Wozu hätte man es ſonſt?“
Jetzt ſah ſie ihm ins Geſicht. Ihre Blicke trafen ſich
eine Sekunde.
„Sie ſagen das ſo ruhig,“ fuhr ſie aufgeregt fort,
„als ob Sie das ganz in der Ordnung fänden. Iſt das
nicht gräßlich, daß hier ſo nahe bei uns ein Zuchthaus
ſteht?“
„Je nun, man gewöhnt ſich daran. Drinnen mag es
wohl noch viel gräßlicher zugehen.“
„Ach, die armen, armen Menſchen! Ich glaube, ich
würde ſterben vor Mitleid, wenn ich ſo etwas ſähe,“ rief
ſie, während es wie ein Schleier über ihr Geſicht fiel.
Mit einem Schlage war Benvenuto überzeugt davon,
daß Santina von all den entſetzlichen Geſchichten, die ſein
Vater ihm erzählt, keine Ahnung habe. So weit ging
keine Verſtellung, dieſes Engelsangeſicht log nicht, konnte
nicht lügen. Wie ein Blitz durchzuckte der Gedanke ſein
Hirn, daß das junge Mädchen ahnungslos über einem
Abgrund taumele. Wenn ſie die Wahrheit erfuhr, wenn
ſie den wirklichen Aufenthalt ihres Vaters während der
letzten ſünfzehn Jahre kennen lernte, war ſie verloren,
war alle Jugendfriſche, alle Lebensfreude fort.
„Was haben Sie denn, Herr d' Akkiri?“ fragte Can:
tina nach einer kleinen Pauſe erſtaunt und ſah ihm in
das Geſicht.
32 Um ein Wort.
„Nichts, nichts,“ erwiderte er verwirrt, „ich dachte nur
eben —“
„Nicht wahr, es iſt ſchrecklich? Aber Sie müſſen nicht
mehr daran denken. Wir haben ja, Gott ſei Dank, nichts
mit dem gräßlichen Hauſe zu ſchaffen. Sprechen wir von
etwas anderem.“ ;
„Ja, ſprechen wir von etwas anderem,“ wiederholte
er. Aber beide blieben ſtill. Es trat eine ziemlich lange
Verlegenheitspauſe ein, weil keines von beiden ſo weit Herr
ſeiner Gedanken werden konnte, um der Unterhaltung eine
beliebige andere Richtung zu geben. Santina mochte von
Benvenuto erwarten, daß er ein anderes Thema anſchlage,
und beſchränkte ſich darauf, ihn verſtohlen von der Seite
zu betrachten. Die Lage, in der ſie ſich befand, war ihr
ſo neu, ſo ungewohnt, und er ein ſo hübſcher junger
Mann, daß ſie darüber vergaß, das Geſpräch fortzuſetzen,
und Benvenuto war von der eben gemachten Entdeckung
ſo aufgeregt, ſo von allerlei Vorſtellungen und Gedanken
beſtürmt, daß er nichts fand, was er ihr ſagen konnte.
„Wie kommt es,“ begann er endlich wieder, nur um
etwas zu ſagen, „daß Sie die hübſche Villa Miramar ſo
lange öde und leer ſtehen ließen?“
„Es gefällt der Mutter hier nicht. Wir wohnen meiſt
in Piemont, oft auch in Tirol und werden auch wieder
bald dorthin abreiſen.“
„Schon bald?“ fragte er beſtürzt.
„Ja, leider. Wir erwarten hier nur die Ankunft
meines Vaters.“
„die Ankunft des Herrn Grafen di Monteverde?”
„Ja. Kennen Sie ihn?“
„Nein. Ich — ich habe nur von ihm ſprechen hören.“
„Ach, wenn Sie wüßten, wie lieb ich meinen Vater
habe und wie ich mich nach ihm ſehne. Urſprünglich
wollten wir ſeine Ankunft in Turin erwarten, aber das
Roman von Woldemar Urban. 33
dauerte mir und wohl aud) Mama zu lange, und jo habe
ich fie fo lange gebeten, bis fie mit mir hierher fuhr, wo
wir ihn doch zwei Tage früher empfangen können. Ach
wenn es nach mir gegangen wäre, ſo würde ich ihm bis
nach Bahia entgegengefahren fein, nur um ihn einige
Wochen früher wiederzuſehen.“
„Ah, Ihr Herr Vater kommt von Bahia?“
„Ja. Wiſſen Sie, wo das iſt?“
„Gewiß. Es liegt in Braſilien. Wir erhalten mand:
mal große Lederſendungen von dort.“
„Leder? Ich dachte, Sie hätten ein Weingeſchäft.“
„O bewahre.“
Sie ſah ihn betroffen an und ſchien zweifelhaft zu
ſein, ob ihre Mutter ihr die Unwahrheit geſagt habe,
oder er es thue. Es lag überhaupt über ihrer Unter—
haltung etwas wie ein Schatten, der keine ruhige Ver—
traulichkeit aufkommen ließ, wie man es doch in ihrer
Lage hätte erwarten können und wie ſie es ſelbſt wohl
auch wünſchten. Aber immer, wenn ihre jugendliche Leb—
haftigkeit und gegenſeitige Zuneigung ſie fortreißen wollte,
ſtand ein gewiſſes Befremden, ein Beobachten zwiſchen
ihnen, das faſt wie ein Mißtrauen ausſah, denn auch
Benvenuto ſagte ſich, daß die ganze Geſchichte, die ſie ihm
da von ihrem Vater erzählte, vielleicht doch Komödie ſei,
die aufzuführen fie ſchon durch lange Jahre gewohnt war.
Die Sonne ging unter. Sie trennten ſich, aber der
Schatten, der über ihnen lag, wollte nicht weichen.
8.
„Was Prügel ſind, das weiß die Welt ſehr wohl, was
aber die Liebe iſt, das hat noch niemand herausgebracht,“
jagt Heine. Die Welt ſteht ſchon eine hübſche Weile,
aber in dieſer ganzen langen Zeit iſt es noch niemand
gelungen, zu erklären, was denn eigentlich die Liebe ſei,
1900. III. 3
34 Um ein Wort.
diefe gewaltige Kraft, dieſes gleichzeitig geheimnisvolle
und ſiegreiche Walten der Natur, das Geſchlecht auf Ge—
ſchlecht, Frühling auf Frühling, Jahr auf Jahr hervor—
bringt, wie eine lange Kette immer ein Glied aus dem
anderen wieder neu formt und bildet. Und wenn auch
der Menſch behauptet, daß die Liebe eine Sache ſei, die
nur ihn anginge, ſo kann doch niemand wiſſen und be—
haupten, ob nicht Tiere und Pflanzen bei jedem Frühlings:
erwachen dieſelbe Macht in ſich fühlen, derſelben Gewalt
gehorchen.
Wie ſeiner Zeit Severa de Mendriſi trotz ihrer Unab—
hängigkeit, ihrer unbeſchränkten Selbſtbeſtimmung Kummer
und Sorge, ja Schmach und Entehrung auf ſich genommen
hatte um ihrer Liebe willen, ſo verfiel nun auch Santina
dieſer Macht, die rätſelhaft, ohne daß ſie es wußte oder
hindern konnte, von ihrer Seele Beſitz ergriff. Sie wurde
unruhig, nachdenklich, zweifelnd an allem, was ihr bisher
als feſt und ſicher galt. Niemals in ihrem Leben hätte
ſie es für möglich gehalten, daß es ihr einfallen könne,
ſich an dritte Perſonen zu wenden, um irgend eine Aus—
ſage ihrer Mutter zu kontrollieren, und doch hatte ſie ſich
an den alten Gioachimo gewandt, um von ihm zu er—
forſchen, ob Herr Aſſo d' Akkiri ein Weinhändler fei oder
nicht.
Nun wußte ſie, daß er keiner war, und ihre Mama
ſie getäuſcht hatte.
Auch das wäre ſchließlich noch nicht ſchlimm geweſen.
Severa konnte hundert unſchuldige Urſachen dazu gehabt
haben. Aber es kam eines zum anderen. Der Schatten,
der auf ihr und Benvenuto lag, der jede Vertraulichkeit
und Harmloſigkeit bannte, dieſer unheimliche Schatten be—
unruhigte, quälte und peinigte ſie. Ohne daß ſie ſelbſt
wußte, warum das ſo war, fragte ſie ſich ſtürmiſch, leiden—
ſchaftlich, warum es nicht anders ſei, warum ſie nicht auch
Roman von Woldemar Urban. 35
frei und offen hören, reden und verkehren konnte, wie
und mit wem ſie wollte.
Am nächſten Tage fragte ſie Benvenuto, den ſie
an der Grenze des Parkes, im Garten des Villino traf,
warum er nicht mehr durch den Park der Villa Mira—
mar gehe. Benvenuto war verlegen und antwortete aus—
weichend.
Unwillig, zornig, faſt weinend erzählte ſie das ihrer
Mutter, die wieder in befremdlicher Weiſe beſtürzt und
verlegen wurde. |
„Mein liebes Kind,“ ſagte Severa haftig, „das ift
fein Umgang für dih. Du mußt ihn aufgeben.”
„Warum?“ fuhr es ihr heraus, fordernd und zurüd:
weiſend zugleich. Sie erſchrak über ſich ſelbſt. Niemals
in ihrem Leben hätte ſie es für möglich gehalten, daß ſie
bei einem Rat ihrer Mutter in dieſer Weiſe nach dem
Warum fragte. Sie konnte ſich das ebenſowenig erklären
wie Severa ſelbſt, nur daß eines Tages früher oder ſpäter
unter ſolchen Verhältniſſen ſolche Fragen auftauchen mußten,
das fand Severa natürlich und darin beſtand ja ihre
größte Sorge. Santina war in einem Alter, in dem
die Warum dutzendweiſe entſtehen, ohne daß Severa
irgend eine Antwort darauf geben konnte oder wollte.
Santina war jetzt achtzehn Jahre und merkte es ſehr
wohl, daß ihr Verkehr mit Benvenuto der Natürlichkeit,
der Unbefangenheit entbehrte und daß ſich der junge Herr
von ihr zurückzog. Er that das verlegen und wohl auch
ungern, aber ſie empfand es deshalb nicht weniger bitter
und ſchmerzlich. Früher genügte ein Wort ihrer Mutter,
um ſolche Mißſtimmungen zu zerſtreuen. Sie ſchmiegte
ſich an ſie, eine kleine Zärtlichkeit, ein Kuß und alles
war vergeſſen, denn ſie war ein Kind. Jetzt aber war
ſie das nicht mehr, der Hauch des Ewigen, Rätſelhaften,
Unfaßbaren hatte ſie berührt, ihr Weſen gekräftigt und
36 Um ein Wort.
ſelbſtändig gemacht, und deshalb fragte ſie, mußte ſie
fragen: „Warum — warum?“
„Liebes Kind,“ erwiderte Severa, „es giebt ſo man—
cherlei Rückſichten, die eine junge Dame nehmen muß,
auch wenn ſie nicht immer weiß weshalb. Beſonders
wir beide müſſen uns in acht nehmen, den Leuten zu
müßigem Gerede Anlaß zu geben, weil wir allein, ohne
männlichen Schutz in der Welt ſtehen. Wenn erſt dein
Vater wieder bei uns iſt, dann wird das alles anders
werden.“
Es war keine Antwort auf ihre Frage, das wußte
Santina wohl und das fühlte auch Severa. Aber es lag
ein Troſt, eine gewiſſe Zuverſicht in den Worten, die
ihre Hoffnung nährte. —
Der Park der Villa Miramar lag, wie das bei allen
Gärten in Sorrent mehr oder weniger der Fall iſt, höher
als die Straße, die, ſchmal und auf beiden Seiten mit
hohen Mauern begrenzt, außerhalb hinlief, zur Verbindung
der einzelnen Gehöfte und Stadtteile.
Santina ging nachdenklich und in ſich gekehrt im Park
hin und her, wobei ſie in die Nähe der Gärtnerwohnung,
die am Ausgang nach der Straße lag, kam. Plötzlich
blieb ſie lauſchend ſtehen. Von jenſeits der Mauer, alſo
von der Straße herein, von wo man ſie nicht ſehen konnte,
klangen Stimmen.
„II Postino!“ ) ſchrie jemand draußen.
„Ich komme,“ antwortete der alte Gärtner und öffnete
das Thor.
„Schau, ſchau,“ ſagte der Briefträger nach einer kleinen
Pauſe, „die Villa Miramar iſt alſo auch wieder bewohnt?“
„Ja. Seit einigen Tagen.“
*) „Der Briefträger!“ Mit dieſem Ruf kündigt fih gewöhnlich
der Briefträger an, wenn er in einem Hauſe etwas abzugeben hat.
Roman von Woldemar Urban. 37
— —
„An Frau Severa de Mendriſi — ſtimmt das?“ fragte
der Briefträger wieder.
„Ja. Geben Sie nur her.“
„Na, und der Graf? Er muß doch nun auch wieder
freikommen?“
„Addio, addio!“ ſagte Gioachimo und ſchlug ſtatt aller
Antwort das Thor zu.
Einen Augenblick ſtand Santina wie erſtarrt. Sie
faßte raſch mit der Hand nach dem Herzen, als ob ſie
dort einen empfindlichen Schmerz fühle. Dann trat ſie
langſam aus dem Seitenweg an der Mauer heraus auf
den Hauptweg, wo ihr in demſelben Augenblick der Gärtner
mit einem Brief in der Hand entgegentrat.
„Für mich?“ fragte ſie kurz.
„Nein, Conteſſina, für Ihre Frau Mutter.“
„Geben Sie her, Gioachimo. Ich will den Brief der
Mama bringen.“
„Das darf ich Ihnen doch wohl nicht zumuten, Signo—
rina,“ ſagte Gioachimo verlegen.
„Geben Sie nur. Was iſt dabei zuzumuten?“
„Eure Gnaden werden verzeihen, aber — ich darf
nicht,“ erwiderte der alte Mann und ging, alles weitere
abſchneidend, vorüber.
Santina blieb ſtehen und zupfte wie beſchämt eine Nelke,
die ſie zufällig in der Hand trug, langſam, Blatt für Blatt,
auseinander. „Geheimniſſe!“ murmelte ſie dabei leiſe.
„Er darf nicht. Mama hat ihm alſo verboten — —“
Dann fuhr ſie mit der Hand über die Augen. Sie
weinte. Warum? mochte ſie ſich innerlich wieder fragen.
Und was war das für ein Graf, der nun „wieder frei“
kam? Von welchem Grafen konnte hier wohl die Rede
ſein, wenn nicht von ihrem Vater? „Wieder frei!“ Das
Wort hallte ihr wie ein Fluch in den Ohren. Was ſollte
das heißen: wieder frei?
38 Um ein Wort.
Der Gärtner war eben in dem Hauſe verſchwunden,
als auch ſie ſich umwandte und dem Hauſe zu ging. Sie
wußte nicht, was ſie da wollte. Ihr war ſo beklommen,
ſo elend und furchtſam zu Mute, daß ſie überhaupt keinen
klaren Gedanken faſſen konnte. Nur das unbeſtimmte,
dunkle Gefühl hatte ſie, daß ihr etwas Entſetzliches, was
ihr verborgen werden ſollte, bevorjtand. Und das un:
mittelbar vor dem Tage, auf den ſie ſeit Jahren all ihre
Hoffnungen, all ihr Glück und ihre Freude geſetzt!
Auf der Treppe begegnete ſie dem Gärtner wieder, der
von Severa zurückkam.
„Wo iſt meine Mutter?“ fragte ſie ihn.
„Ich habe ſie ſoeben in ihrem Zimmer verlaſſen, Con—
teſſina.“
Sie ging an ihm vorüber und achtete nicht weiter
darauf, daß ihr der alte Mann mit einem tieftraurigen
Blick nachſah. Aber auch in ihrem Zimmer fand ſie
Severa nicht. Sie mußte es in dieſem Augenblick verlaſſen
haben, denn auf ihrem Schreibtiſch lag noch alles ſo, als
ob ſie eben dort geſchrieben habe und dann aufgeſtanden
ſei, um etwas zu holen. Santina trat an den Schreibtiſch
heran und ſah das Couvert des Briefes liegen, den
Gioachimo ſoeben gebracht. Es war aufgeriſſen und leer,
der Brief herausgenommen. Sie nahm das Couvert in
die Hand und beſah es. Es war an ihre Mutter adreſ—
ſiert, die Handſchrift kannte ſie nicht. Auf dem Poſt—
ſtempel ſtand: Niſida.
Plötzlich ließ ſie das Couvert fallen, als ob es ihr in
der Hand gebrannt hätte, und in demſelben Augenblick
hörte ſie, wie ihre Mutter ſie draußen auf der Terraſſe
laut beim Namen rief.
Offenbar war ihre Mutter eben fortgegangen, um ſie
zu ſuchen. Sie ging alſo hinter ihr her, unſicher, wie
im Traum, ohne an irgend etwas zu denken.
Roman von Woldemar Urban. 39
„Santina, Santina,” rief ihre Mutter bei ihrem An:
blick Schon von weitem, „Nachricht von Papa!“
„Von — von Papa!“ hauchte ſie tonlos, wie zum
Tode erſchrocken.
Severa war ſo aufgeregt, daß ſie zunächſt die ſonder—
bare Wirkung ihrer Mitteilung auf Santina gar nicht
bemerkte.
„Morgen abend kommt er in Neapel an. Wir ſollen
ihn im Hotel Briſtol erwarten,“ ſagte ſie und küßte in
der Freude ihres Herzens Santina auf die Stirn.
„Im Hotel Briſtol!“ wiederholte Santina, noch immer
wie abweſend.
„Ja. Aber was iſt dir denn? Was haſt du? Deine
Stirne iſt wie Eis. Iſt dir nicht wohl?“
„Doch — doch, Mama. Aber ſage mir, warum holen
wir den Vater nicht am Schiff ab.“
„Aber liebes Kind, du kennſt doch das Gedränge, den
Schmutz und den Wirrwarr am Hafen. Wie leicht könnten
wir ihn verfehlen und dann — er wünſcht es einmal ſo.“
„Und der Brief? Iſt der Brief von Papa?“
„Nein. Wie könnte er denn vom Vater ſein? Er iſt
ja doch auf dem Schiff. Wie kann er denn da ſchreiben?“
„Aber von wem iſt der Brief?“
„Von dem Schiffsagenten, bei dem die Nachricht vom
Eintreffen der „Ancona“ telegraphiſch eingelaufen iſt, und
den ich gebeten hatte —“
„In Niſida?“
Ihre Mutter ſah ſie erſchrocken an.
„Ich verſtehe dich nicht — —“
„Der Brief kam doch von Niſida,“ fuhr Santina fort.
„Ich habe es ſoeben auf dem Couvert geſehen.“
„Mein Gott, das mag ſein, daß er dort zur Poſt ge—
geben iſt. Thatſächlich kommt er aber von dem Schiffs—
agenten in Neapel.“
40 Um ein Wort.
„Laß ſehen!“ warf Santina leiſe ein.
Severa that, als höre ſie es nicht, und fuhr aufgeregt
fort: „Aber ſo freue dich doch, mein Kind. Morgen abend
um ſechs Uhr halten wir deinen Vater in unſeren Armen.
Kannſt du das wirklich faſſen? Was wir ſo lange erſehnt
und ſo heiß erwünſcht haben. Freuſt du dich nicht?“
„Natürlich freue ich mich,“ antwortete Santina in
einem Tone, als wenn ſie zum Begräbnis gehen wollte.
Dann ſchlug ſie in einer heftigen, gewaltſamen Bewegung
ihre Arme um den Hals Severas und brach in krampf—
haftes Weinen aus.
Severa wußte im Augenblick nicht, was ſie von der
ſeltſamen Bewegung Santinas halten ſollte. Daß das
keine Aeußerung der Freude war, ſah ſie wohl, aber ſie
konnte auch nicht glauben, daß Santina wußte, um was
es ſich handelte. Es wäre ja zu ſchrecklich geweſen, wenn
der Tag, der Santina den Vater wiedergeben ſollte, und
auf den ſie ſich mit der ganzen kindlichen Freude ihres
Herzens ſo lange Zeit gefreut, nun plötzlich ein Tag
werden ſollte, der all ihre Hoffnungen zertrümmerte, ſie
ausſtieß aus der Reihe der unbeſcholtenen, ehrlichen Leute
als Kind des Verbrechers, von dem kein Menſch etwas
wiſſen wollte.
Sie redete ihr zu, ſo gut ſie konnte. Sollte ſie jetzt,
ſo wenige Stunden vor dem heiß erſehnten Ziel, noch
ſcheitern, ſollten all ihre Mühen und Sorgen ſo langer
Jahre in einem Augenblick nutzlos und vergeblich gemacht
werden?
Wirklich gelang es ihr nochmals, Santina zu be—
ruhigen. Wenn deren Verdachtsgründe ſich auch gerade
an dieſem Tag unglücklich häuften, ſo hatte ſie doch keinen
direkten Beweis. Alles, was ſie wußte, und von dem
ſie nicht einmal vor Severa zu ſprechen wagte, konnte
ſich ſchließlich auf eine natürliche Art erklären und löſen.
Roman von Woldemar Urban. 41
Selbſt das Betragen des jungen d' Akkiri, das fie als eine
Zurückweiſung, als ein Verſchmähen ihrer Geſellſchaft ſo
bitter empfand, konnte ſchließlich eine Täuſchung ihrer—
ſeits ſein. Es kam alles darauf an, wie ſich die Ereig—
niſſe entwickelten, und deshalb glaubte Santina ihrer Mutter
auch diesmal noch.
Sie konnte vor Aufregung und Erwartung die ganze
Nacht nicht ſchlafen und war ſchon am nächſten Morgen
vor Aufgang der Sonne auf der großen Terraſſe, um mit
dem Fernrohr den Meereshorizont nach der „Ancona“
abzuſuchen. Ihre Mutter hatte ihr das Schiff, das unter
italieniſcher Flagge fuhr, genau beſchrieben.
Draußen auf dem Meer lag noch der wallende Dunſt
der Nacht, ſo daß ſie nur die Berggipfel der Inſel Ischia
klar unterſcheiden konnte. Das Schauſpiel war herrlich,
als endlich die Sonne kam und in dieſe Nebel und Dunſt—
maſſen Bewegung brachte. Aber Santina achtete darauf
nicht, ſondern wollte die „Ancona“ ſehen, die, wie ihr
ebenfalls ihre Mutter mitgeteilt hatte, nördlich der Inſel
Capri auf dem freien Meer erſcheinen mußte, mit dem
Kurs von Gibraltar her. Als es hell wurde, ſah ſie
allerdings Schiffe, große und kleine Dampfer und Segel—
ſchiffe, die den Golf von Neapel und das davor liegende
Meer nach allen Richtungen durchzogen, viele davon auch
unter italieniſcher Flagge, aber die mächtige „Ancona“
ſah ſie nicht.
„Es iſt noch zu früh, oder du haſt die „Ancona“ viel—
leicht auch geſehen und ſie der großen Entfernung wegen
nicht erkannt,“ meinte ihre Mutter.
Santina war in einer gehobenen Stimmung, in einer
freudigen Aufregung. Es machte ihr Vergnügen, in
dieſer hoffnungsvollen Erwartung immer von neuem die
ungeheure Waſſerfläche abzuſuchen und jedes am Firma:
ment auftauchende Schiff zu prüfen. Oft rief ſie nach
42 Um ein Wort.
ihrer Mutter, um ihr ein Schiff zu zeigen, das vom
offenen Meer her kam und die „Ancona“ ſein konnte.
Severa ſagte dann gewöhnlich: „Ja, das wird ſie wohl
ſein.“ So waren ſchon vier große Schiffe im Laufe des
Vormittags vorübergefahren, den Kurs nach dem Hafen
von Neapel gerichtet.
Nach Tiſch fuhren ſie im Wagen nach Caſtellamare,
um von dort mit der Bahn nach Neapel zu gelangen.
Da der Zug, der von Calabrien heraufkam, wie immer
Verſpätung hatte, ſo mußten ſie damit rechnen, erſt um
fünf Uhr oder noch etwas ſpäter in Neapel anzukommen,
wo ſie vom Bahnhof bis hinauf nach dem Corſo Vittorio
Emanuele zum Hotel Briſtol auch noch eine gute halbe
Stunde zu fahren hatten. Santina wunderte ſich darüber,
daß ſie nicht mit dem Dampfer von Sorrent nach Neapel
gefahren waren, wodurch ſie nicht nur bequemer und raſcher
angekommen, ſondern auch gleich in der Nähe des Hafens
geweſen wären und ſich dort nach der „Ancona“ hätten
umſehen können. Aber ihre Mutter ſagte, daß ſie die
Meerfahrt nicht vertrage und immer ſeekrank werde.
Der Zug, mit dem ſie weiterfahren wollten, hatte
richtig faſt eine volle Stunde Verſpätung, und Severa
trat mit Santina in das beſcheidene Bahnhofreſtaurant, um
dort bei einer Taſſe Kaffee die Zeit abzuwarten. Auf
dem Tiſch, an dem ſie Platz nahmen, lag eine Zeitung,
eines jener kleinen Blätter, wie ſie in faſt jedem Städtchen
von Unteritalien gedruckt und für einen Soldo die Num:
mer auf der Straße verkauft werden. Schon von weitem
ſah Santina in großer fetter Schrift den Titel einer Sen—
ſationsnachricht der Zeitung, der lautete: „Gefangennahme
des Brigantenhauptmanns Viggente in Reggio, Calabria.“
Obwohl nicht beſonders ſenſationslüſtern, las ſie doch den
Artikel. Es handelte ſich um eines jener ziemlich häufigen
Vorkommniſſe, bei denen ein ſogenannter „latitante“, das
Roman von Woldemar Urban. 43
heißt ein gewerbsmäßiger Brigant, der fih dem Arm der
ſtrafenden Gerechtigkeit durch die Flucht entzogen, wieder
abgeſaßt worden war. Der Mann hieß Viggente Vin—
cenzo und hatte fich in Reggio für einen Cavaliere Mezzo:
fanti ausgegeben, war aber an einem Zeichen, das ihm die
Gefängnisverwaltung von Foggia früher in die Haut ein:
tättowiert hatte, wiedererkannt und feſtgenommen worden.
Für Leute, die in Unteritalien leben, haben ſolche
Geſchichten nichts Aufregendes mehr, Santina aber, für
die dergleichen noch neu war, geriet in Schrecken.
„Mein Gott, Mama,“ ſagte ſie, „denke nur, ein
Räuberhauptmann! Und ſie haben ihm ein Zeichen in
die Haut gemacht, daran man ihn wiedererkennt.“
Severa war von der Sache ſehr unangenehm berührt.
„Aber liebes Kind, wer wird ſolche Sachen leſen,“ ſagte
ſie ſo heftig, daß ſich Santina darüber wunderte.
„Es iſt aber doch ſchrecklich,“ ereiferte ſie ſich, „daß
ſolch ein armer Menſch ſein ganzes Leben lang mit einem
Brandmal behaftet ſein muß. Meinſt du nicht, Mama?“
„Ja, ja, mein Kind. Gieb dich nur zufrieden.“
Santina konnte nicht begreifen, was ihrer Mutter bei
der Sache ſo unangenehm war, hatte aber bald darauf
die ganze Geſchichte wieder vergeſſen und erquickte ſich an
einigen kleinen Paſtetchen, die der Wirt für ſeine vor—
nehmen Gäſte auf den Tiſch ſtellte.
Endlich lief der erwartete Zug ein, und ſie fuhren
weiter. Je mehr ſie ſich aber Neapel näherten, deſto mehr
wuchs ihre Aufregung und wurde ſchließlich zu einem
wahren Fieber. Beſonders Santina wurde nicht müde,
ſich der verſchiedenſten Mutmaßungen über das bevor—
ſtehende Wiederſehen hinzugeben. „Wie wird Papa aus—
ſehen?“ fragte ſie, und ohne eine Antwort abzuwarten
fuhr ſie lebhaft fort: „Er wird natürlich kränklich ausſehen
von der langen Seereiſe und von dem Fieber, das er
44 Um ein Wort.
überſtanden hat. Nicht, Mama? Wir werden ihn ſehr
pflegen müſſen. O, wie ich mich freue! Und wenn er
auch krank iſt, wenn er nur erſt * wieder da iſt.
Meinſt du nicht, Mama?“
Dann atmete ſie vor lauter Erwartung tief auf, ſah
zum Fenſter hinaus und fing einen Augenblick ſpäter
wieder an, ihren Vermutungen über das Ausſehen ihres
Vaters und über die Einzelheiten des Wiederſehens Aus:
druck zu geben.
Severa blieb ruhig. Es war ſogar, als wenn von
Zeit zu Zeit ein Schatten über ihr Geſicht hingeflogen
wäre, als ob ſie ſich in Bezug auf das bevorſtehende
Wiederſehen gewiſſen Befürchtungen hingebe oder Angſt
habe vor irgend einer Zufälligkeit, die zu einer Entdeckung
ihres Geheimniſſes führen konnte. Denn wenn ſie auch
ſchon vor Monaten und Jahren alles mit Enea bis ins
einzelne abgemacht hatte, und auch das Wiederſehen ſchon
längſt geordnet und geregelt war, ſo blieb doch immer
möglich, daß irgend eine Unaufmerkſamkeit, eine Kleinig—
keit, auf die man nicht achtgab, zum Verräter werden
konnte. Brieflich ließ ſich das nicht alles ſo regeln. Wenn
ſie ſich erſt mündlich einmal ausgeſprochen hatten, konnte
man ſich eher helfen.
Endlich — es war kurz vor ſechs Uhr, wenige Minuten
vor der anberaumten Stunde — hielt ihr Wagen vor
dem Hotel Briſtol. Zitternd vor Aufregung ſprang San—
tina heraus und ſtürmte an dem Portier vorüber ins
Haus.
„Er erwartet uns? Nicht wahr, Mama?“ rief fie.
Severa ſprach noch mit dem Portier.
„Ja, gnädige Frau, im zweiten Stock,“ hörte ſie den
Mann ſagen.
Santina war nicht zu halten und lief voraus. Sie
haſtete die Treppen hinauf. „Papa — Papa!“ rief ſie laut.
Roman von Woldemar Urban. 45
Als fie den etwas dunklen Korridor des zweiten Stodes
betrat, kam ihr raſch und aufgeregt ein älterer Herr ent—
gegen. Sie ſtutzte einen Augenblick. Der Herr war ele—
gant gekleidet, aber ſein Gang war etwas ſchleppend,
ſein Geſicht müde und bleich, was um ſo mehr aufßfiel,
als es bartlos war. Das Turzgefchorene Kopfhaar war
vollſtändig ergraut.
„Santina!“ ſtieß er kurz und heftig aus der gewalt—
ſam arbeitenden Bruſt hervor. .
„Vater! Mein Vater!“ ſchrie Santina ſchluchzend und
warf ſich mit wildem Ungeſtüm in ſeine Arme. „Dank
der Madonna und allen Heiligen, daß du wieder da biſt!
Nun gehſt du nicht wieder fort, Papa, nicht wahr?“
„Mein Kind, mein einziges Kind!“ rief er mit Thränen
im Auge. „Komm hier herein, hier iſt es heller und
ſchöner, damit ich dich beſſer ſehen kann! — Wie groß
du geworden biſt, und wie ſchön! Deine Mutter hat mir
freilich deine Photographie geſchickt, aber du biſt doch
viel, viel ſchöner als jedes Bild. O, wenn du wüßteſt,
wie oft und wie ſehr ich mich nach dieſem Augen—
blick geſehnt habe. Ich wäre geſtorben — ohne dieſe
Hoffnung.“ |
„Vater, du zitterſt,“ unterbrach ihn Cantina ängſtlich,
„du biſt doch nicht krank?“
„Nein, nein, es iſt nur die Aufregung, das Glück,
dich wiederzuſehen. Aber wo iſt denn die Mutter?“
Gerade in dieſem Augenblick trat Severa unter die
Thür. Ein lauter, zitternder Schrei, und beide Gatten
lagen fi) weinend in den Armen. Dieſe tiefen Atem:
züge aus voller, befreiter und erlöſter Bruſt, dieſes halb
unbewußte Stammeln und Schluchzen, dieſes zitternde
Glück, das die beiden durchſchauerte, ſprach deutlicher, als
alle Worte es ausdrücken konnten, von dem jahrelangen
bitteren Weh, das ſie erlitten, von der Schmach und
46 Um ein Wort.
Schande, die fie unſchuldig ertragen, der Liebe und Sehn—
ſucht, die ſie in Schmerz und Leid verbunden.
„Ich dachte ſchon, ihr würdet nicht kommen,“ hörte
Santina endlich ihren Vater noch halb im Taumel des
Entzückens ſagen. „Du haſt alſo meinen geſtrigen Brief
doch erhalten?“
„Geſtrigen Brief?“ ſtammelte Santina plötzlich wie
aus einem ſchönen Traum erwachend. Alles Blut wich
aus ihren Wangen, und ihre Augen nahmen einen er—
ſchreckten, ſtarren Ausdruck an.
„Aus Niſida!“ ſchrie ſie krampfhaft und zitternd auf.
„Ums Himmels willen, was iſt dem Kinde?“ rief Graf
Enea, ſich raſch nach ihr umwendend.
Santina machte eine Bewegung mit den Armen, fing
plötzlich an zu wanken und ſank mit einem herzbrechenden
Stöhnen ohnmächtig zuſammen, noch ehe ihr Vater herzu—
eilen und ſie ſtützen konnte.
Zum Tode erſchrocken hoben Enea und Severa fie auf
und legten ſie auf ein Sofa.
„Was hat das zu bedeuten?“ fragte Graf Enea leiſe,
als ob er fürchte, Santina könne ihn hören.
„Sie weiß jetzt alles,“ antwortete Severa dumpf.
„Ich habe gethan, was in meinen Kräften ſtand, bis auf
dieſen Tag, bis zu dieſer Stunde. Ein Zufall, die Er—
wähnung deines letzten Briefes, hat ihr die Augen ge—
öffnet.“
„Und es iſt gut, daß ſie alles weiß,“ ſagte Graf Enea
entſchloſſen. „Es war noch meine größte Sorge, das
Kind vertraut zu machen mit dem, was das Schickſal
über uns verhängt hat. Einmal mußte es doch ſein.
Nun iſt auch dieſe Sorge beſeitigt, das Schwerſte über—
wunden, nun ſoll ſie alles erfahren, alles wiſſen.“
Fragend ſah ihn Severa an.
„Was hätte es uns genützt,“ fuhr Graf Enea fort,
Roman von Woldemar Urban. 47
„uns in der Einſamkeit zu verbergen, ſorgend von Tag
zu Tag, von Stunde zu Stunde, daß unſer Kind Kenntnis
erlangen könne von Dingen, die ſie ſchließlich doch einmal
erfahren mußte? Nun ſind wir gezwungen, den Kampf um
unſere Ehre mit der Welt aufzunehmen, um unſeres Kindes
willen.“
4.
Im roten Villino war wieder einmal Krieg. Die
große Bücherkiſte, die Benvenuto zu ſeiner beſonderen
Erbauung mit nach Sorrent genommen, ſtand noch un—
eröffnet, auf dem neuen Schreibtiſch des jungen Mannes
war nicht der kleinſte Klecks zu ſehen — alles lag noch
unberührt wie ein Heiligtum.
Das Fatale war nur, daß Don Aſſo von ſolchen
Heiligtümern nichts wiſſen wollte und behauptete, daß
ſein Sohn Benvenuto nicht nur kein ordentlicher Juriſt
werden würde, ſondern überhaupt kein ordentlicher Menſch,
wenn er nicht arbeiten wollte. Er war feſt entſchloſſen,
ihn nach Neapel zurückzuſenden, damit er nicht in Sorrent
noch mehr verbummele. Und gerade jetzt wollte Benvenuto
nicht von Sorrent fort, um keinen Preis, ja er hätte
vielleicht ſogar angefangen zu arbeiten, wenn ſein Vater
dann Ruhe gegeben hätte. Aber auch darauf wollte dieſer
ſich nicht einlaſſen. Er mochte den Dingen nicht recht
truuen. So blieb denn dem Studenten nichts anderes
übrig, als ſeine Hilfstruppen heranzuziehen und ins Ge—
fecht zu ſchicken. Seit zwei Tagen war ſeine Mutter
im Villino angekommen, und nun war der Krieg fertig.
Soeben ſaß Benvenuto mit ſeiner Mutter auf dem
Balkon ſeines Zimmers und ſprach ſehr eifrig und mit
ganz ungewohnter Hitze, während Frau d' Akkiri aufgeregt
und ſehr aufmerkſam zuhörte.
„Geſtern vor acht Tagen fuhren ſie in die Stadt hin—
über und kamen erſt ſpät in der Nacht wieder zurück,“
48 Um ein Wort.
erzählte Benvenuto halblaut. „Seitdem ift fie krank, und
ich habe ſie nicht mehr geſehen. Ueberhaupt leben ſie jetzt
ſo ſtill und zurückgezogen, als ob ſie ſich vor den Leuten.
ſchämten. Man ſieht ſie weder im Park noch am Meer
unten, noch auf der Terraſſe. Alles, was ich weiß, habe ich
vom Gärtner, der ſeinen Herrn ſofort wiedererkannt hat.“
„Der Graf wohnt alſo mit ihnen zuſammen?“
„Natürlich. Warum ſollte er denn nicht?“
„Ja, aber dann hat der Vater vielleicht doch recht,
wenn er ſagt, daß man nicht mit ihnen verkehren könne.“
„Wie man's nimmt, Mama. Es iſt ſehr wohl denk—
bar, daß der Graf wirklich, wie er behauptet, unſchuldig
verurteilt worden iſt. Ich glaube ſogar —“
„Mein Gott, das ſagen alle Verbrecher. Natürlich
wird er leugnen, daß er es gethan hat. Wer räumte ſo
etwas wohl ein? Wenn er wirklich unſchuldig wäre, dann
wäre er doch auch nicht verurteilt worden.“
„Mama, du verſtehſt nichts von der Gerechtigkeits—
pflege. Wenn ich dir alle unſchuldig Verurteilten hier einen
neben den anderen aufſtellen könnte, es gäbe eine Reihe
bis nach Neapel. Wenn ſich zwei Lumpen zuſammen—
finden, die einen dritten verderben wollen, ſo iſt die Juſtiz
das ſicherſte Mittel, deſſen ſie ſich dazu bedienen können.
Warum ſollte es unmöglich ſein, daß Graf Enea in dieſer
Weiſe zu feiner Verurteilung gekommen ift? In eiter
Stadt wie Neapel, wo die Camorra blüht, iſt alles mög—
lich. Und nun bitte ich dich, Mama, ſtelle dir den Ge—
mütszuſtand eines reinen, unſchuldsvollen Mädchens, wie
Santina, in einer ſolchen Sachlage vor. Iſt das nicht
fürchterlich? Iſt es nicht ein Verbrechen, das die Menſchen
an dem armen Mädchen begehen, wenn ſie ſich von ihr
zurückziehen wie von einem Ausſätzigen.“
„Mein Gott und Vater, es iſt aber doch in der Welt
einmal ſo.“ |
Roman von Woldemar Urban. 49
„Gut, es iſt in der Welt fo. Ich ſehe ſchon, du kannſt
dir nicht vorſtellen, um was es ſich handelt, Mama.
Meine Worte genügen nicht, um dir auch nur annähernd
zu beſchreiben, wer Santina iſt und wie dieſe furchtbare
Situation auf ihr Gemüt wirkt. Sie iſt ſeit der Stunde,
in der ſie erfahren hat, um was es ſich handelt, krank.
Schmerz und Kummer haben die zarte Blüte gebrochen,
niedergeworfen, aber alles das genügt nicht, um dir eine
richtige Idee zu geben. Du mußt ſie ſehen, Mama, und
dann erſt kannſt du reden.“
Frau d' Akkiri machte eine erſchrockene Bewegung, denn
ihr Liebling ſprach jetzt ſo aufgeregt, daß ſie beſorgt
wurde.
„Aber du wirſt doch nicht verlangen, daß ich hinüber—
laufe und —“
„Was wäre denn dabei? Iſt es denn nicht edel,
ſeinen Mitmenſchen in der Not und Bedrängnis des
Herzens zu Hilfe zu eilen? Nur das eine will ich dir
noch ſagen, Mutter: Ich gehe nicht von Sorrent fort,
eher ſtürze ich mich von dem Felſen dort ins Meer hin:
unter.“ \
„Barmherziger Himmel, Benvenuto, biſt du von Sinnen,
ſo etwas auch nur zu ſagen?“ ſchrie die alte Dame auf.
„Ich werde es auch thun, mein Wort darauf, wenn
man mich zwingt, unnatürlich und unmenſchlich zu han—
deln. Ich habe bisher dem Vater Gehorſam geleiſtet und
mich zurückgezogen von allem Verkehr in der Villa Mira:
mar, ſo weit mir das möglich iſt. Ich will ihm auch zu
willen ſein und im Oktober mein Examen machen, ich
werde alles thun, was in meinen Kräften ſteht, um ein
tüchtiger Juriſt zu werden, und wäre es nur deshalb, um
früher oder ſpäter der Conteſſina Santina beiſtehen zu
können. Aber der Vater darf mir nicht zumuten, daß ich
der gleichgültig und feindſelig den Rücken kehre, die ich
1900. III. 4
50 Um ein Wort.
für das Glück meines Lebens halte, er darf nicht von
mir verlangen, daß ich von Conteſſina Santina laſſe. —
Nun weißt du alles, Mutter. Nun kannſt du thun, was
dir beliebt.“
Die gute, etwas dicke Frau d' Akkiri ſchlug die Hände
über dem Kopf zuſammen. So hatte ſie ihren Jüngſten
noch nie geſehen, ſo hatte er noch nie mit ihr geſprochen.
Das war kein Junge mehr, als welchen ſie ihn bisher
anzuſehen gewohnt war, das war ein Mann, und
zwar ein verliebter. Denn nur ein Verliebter konnte
ſo rückſichtslos, ſo kopflos, ſo alles über den Haufen wer⸗
fend ſprechen. Sich zum Felſen hinunterſtürzen, Examen
machen, arbeiten! Das waren ja lauter halsbrecheriſche
Sachen, das war die richtige Verliebtheit, Delirium,
Wahnſinn. |
Im Grunde genommen war ihre Ueberraſchung über
dieſen leidenſchaftlichen Ausbruch ihres Neſthäkchens aber
doch eine vorwiegend freudige. Ihr mütterlicher Stolz
fühlte ſich durch ſein mannhaftes Auftreten geſchmeichelt,
und daß ihr Sohn verliebt war, das machte ihr die Sache
nun ſchon gar intereſſant.
„Du haſt mich erſchreckt, Benvenuto,“ ſagte ſie nach
einer kleinen Pauſe. „Allgütiger Schöpfer im Himmel,
wie kann man nur fo hitzig fein! Du mußt doch Rid:
ſicht nehmen —“
„Mutter —“
„Laß nur, ich weiß alles. Aber ich rate dir, mein
Junge, nur keine Uebereilung, keine leidenſchaftliche Ueber—
ſtürzung! Das führt zu nichts Gutem. Nein, ſage nichts!
Mache du dein Examen, arbeite, wie der Vater es wünſcht
und wie er ein Recht hat, zu wünſchen. Das übrige laß
mich beſorgen.“
„Morgen fange ich an. Nein, heute noch, Mutter.
Verlaß dich drauf.“ —
Roman von Woldemar Urban. 51
Das war in den Nachmittagsſtunden. Wenn alfo
Benvenuto Wort halten wollte, ſo hätte er ſich eigentlich
beeilen müſſen. Das that er aber nicht, ſondern er ſtarrte
vielmehr aufgeregt und überraſcht vom Balkon herunter
über die Mauer nach dem Park der Villa Miramar, wo
er in der großen Allee, die nach der Treppe hin führte,
zwiſchen den Orangenhainen hindurch, Menſchen ſich be—
wegen ſah.
„Was haſt du denn?“ fragte ſeine Mutter, der das
auffiel. „Was iſt denn dort zu ſehen?“
„Dort gehen ſie,“ flüſterte Benvenuto geheimnis⸗
voll, als ob es ſich um Weſen höherer Art gehandelt
hätte. „Siehſt du, dort hinter den Cypreſſen? Der
Herr iſt Graf Enea. Er hat ganz weiße Haare. Siehſt
du ihn?“
„Wo denn? Wo denn?“
„Auf der anderen Seite geht ſeine Gemahlin. Das
iſt ſie. Ich kenne ſie genau, und in der Mitte, zwiſchen
ihren Eltern, geht ſie, Mutter, ſie, für die ich ſo gerne
ſterben möchte.“
„Du biſt wohl nicht recht bei Troſt!“
„Komm, du mußt ſie ſehen, du mußt ſie kennen lernen,
damit du begreifſt, was ich ſagen will. Komm nur raſch.
Wir gehen an der Mauer hin auf der Straße nach dem
Meere hinunter und kommen dann von unten herauf ihnen
entgegen. Das ſieht dann ſo aus, als ob wir uns zu—
fällig träfen.“
„Aber —“
„Du mußt ſie ſehen! Dann kannſt du reden, ſo viel
du willſt. Komm!“
Er war unwiderſtehlich, zog ſie an den Kleidern fort,
und ohne Hut und Ueberwurf, als ob ſie nur auf einem
kleinen Spaziergang durch den Garten wären, gingen ſie
den von ihm bezeichneten Weg. Das dauerte immerhin
52 Um ein Wort.
eine kleine Weile, trotzdem fie liefen, daß der armen
Signora d' Akkiri der Atem fait ausging. Sie mochte
auch Bedenken haben wegen ihres Gatten und machte
ihrem Sohn deshalb Vorwürfe. Er hörte aber nicht dar:
auf, und da ſie andererſeits auch ſelbſt ungemein neu—
gierig war auf die, welche das Herz ihres Sohnes ſo in
Flammen geſetzt hatte, ſo ließ ſie ſich ohne nennenswerten
Widerſtand von ihm führen.
Alles ging ſehr gut. Auf der Treppe, die am Felſen
hinunter zum Meere führte, trafen ſie aufeinander. An
ein Ausweichen war nicht zu denken, und alles ſah ganz
zufällig aus. Um Raum zum Niederſteigen zu gewinnen,
ging die Treppe im Zickzack an dem ſteilen Felſen hin
und her, und an einer dieſer Biegungen, wo ein kleiner,
turmartiger Auslug in den Fels hineingehauen war, zum
Ausruhen oder auch des hübſchen Ausblicks über den Golf
und die Inſeln wegen, blieben ſie ſtehen, um ſich zu be⸗
grüßen.
Benvenuto trat vor und vermittelte die Bekanntſchaft,
und die Aufregung ſtieg ihm doch etwas zu Kopfe, als
er ſagte: „Ich muß abermals um Verzeihung bitten, wenn
wir uns hier in Ihrem Revier treffen. Es war uns um
die Abkürzung zu thun, die der Weg durch Ihren Park
nach dem Villino für uns bietet.“
Wie gut der Junge lügen kann, dachte Frau d' Akkiri.
Der muß Advokat werden.
„Durchaus keine Urſache, mein Herr,“ ſagte Graf
Enea höflich. „Der Park der Villa Miramar ftand den
Bewohnern des roten Villino von jeher offen, und es
wird mich immer freuen, wenn Sie ihn benutzen. — Herr
Benvenuto d' Wirt, wenn ich nicht irre?“
„Ja, ſo heiße ich, und ich habe offenbar die Ehre,
den Herrn Grafen di Monteverde zu ſprechen?“
Die Herren verbeugten ſich und reichten ſich die Hände.
Roman von Woldemar Urban. 53
„Darf ich Ihnen meine Mutter vorſtellen?“ fuhr Ben:
venuto fort, zu Severa gewandt.
Die Gräfin Severa ftand etwas zurück und ftüßte
Santina, die ſehr ſchwach und leidend zu ſein ſchien.
Die großen ſchönen Augen ſchienen, ſeit ſie Benvenuto
zuletzt geſehen, noch einmal ſo groß geworden zu ſein
und machten auf die robuſte Frau d' Akkiri in ihrer
Hilfloſigkeit und Kindlichkeit einen ungemein rührenden
Eindruck.
Kaum war die Vorſtellung der Damen vorüber, ſo
begann auch Frau d' Akkiri ſofort der armen leidenden
Santina aus dem reichen Schatz ihrer Hausmittel, von
denen eine neapolitaniſche Hausfrau eine unerſchöpfliche
Menge beſitzt, ihr Ratſchläge zu geben.
„Wie blaß Sie ſind, Conteſſina!“ begann ſie. „Sie
ſollten es doch einmal mit Karmelwaſſer verſuchen, ein
halbes Weinglas voll nach jeder Mahlzeit. Es thut aus:
gezeichnete Dienſte. Meine Töchter haben es alle ge—
trunken, und es hat immer gute Dienſte geleiſtet. Ich
ſchreibe es ihnen auf. Wollen Sie? Sie bekommen es
in jeder Apotheke.“
„Sie ſind ſehr freundlich, Signora,“ erwiderte Severa
an Stelle Santinas, „aber ich fürchte, Sie unterſchätzen
das Leiden meines armen Kindes.“
Frau d' Akkiri tätſchelte Santina mit ihrer fleiſchigen,
kurzfingerigen Hand, die über und über mit Ringen be—
ſteckt war — ſelbſt am Zeigefinger und Mittelfinger, wie
das die Neapolitanerinnen nun einmal lieben — und
fuhr ihr damit zärtlich ums Kinn.
„Ach, du lieber Himmel, wie ſchön ſie iſt! Trinken
Sie nur einmal Karmelwaſſer, mein Engel, und Sie
werden ſehen, wie geſund und ſtark Sie werden.“
„Sie will durchaus ins Kloſter,“ warf Severa halb—
laut ein.
54 Um ein Wort.
„Was?“ fuhr Frau d' Akkiri betroffen auf.
Die beiden Herren, die ſich miteinander unterhielten,
ſchickten ſich an, vorauszugehen und die Treppe hinauf⸗
zuſteigen. Die Damen folgten langſam; aber ſehr inter⸗
effant ſchien Benvenuto d' Akkiri die Unterhaltung des
Grafen Enea nicht zu fein, denn er ſah ſich öfter nach
Santina um, die ihm wehmütig und müde zulächelte.
Bei dem Wort „Kloſter“ blieb Benvenuto ſtehen, um die
Damen näher herankommen zu laſſen und von ihrer Unter:
haltung nichts zu verlieren.
„Ja. Es war geſtern vor acht Tagen,“ fuhr Severa
fort, „als wir von Neapel kommend am Kloſter der
Kamaldulenſerinnen von Equenſe vorüberfuhren, und San—
tina plötzlich ſo krank wurde, daß wir nicht weiter konnten.
Wir ließen alſo den Wagen halten und baten, da ein
anderes Haus nicht in der Nähe war, um kurze Auf—
nahme und Hilfe im Kloſter. Die Nonnen waren auch
ſehr liebenswürdig —“
„Ah, ich begreife. Ja, ja, ich weiß alles. Die kleinen,
ruhigen Zellen, die langen weißen Talare, die Kloſter—
ſtille — das hat Eindruck gemacht.“
„Ja. Nun will ſie ebenfalls —“
Benvenuto machte eine plötzliche Bewegung.
„Aber lieber Schatz,“ fuhr Frau d' Akkiri fort, „das
hat doch Zeit.“ Dann, nach einem verſtohlenen Augen:
blinken zu Severa, ſetzte ſie mit einem gewiſſen Nachdruck
hinzu: „Trinken Sie Karmelwaſſer. Ich habe ſieben Kinder
gehabt, Conteſſina, und ſie haben alle ſieben Karmelwaſſer
getrunken.“
Während Frau d' Akkiri in dieſer Weiſe ihr Karmel-
waſſer laut und umſtändlich anpries, ſo daß Santina,
die in der That außerordentlich ſchwach und nervös war,
faſt Hören und Sehen verging, unterhielt ſich Graf Enea
mit Benvenuto.
Roman von Woldemar Urban. 55
„Sie find Juriſt, wie ich gehört habe, Herr d' Akkiri?“
fragte er. .
„Im letzten Semeſter. Im Oktober mache ich mein
Examen.“
„Ein ſchönes Studium — wenn man's recht treibt.“
„Wie man's nimmt,“ verſetzte Benvenuto.
„Ja, Herr d' Akkiri, freilich, ein wirklicher Rechts⸗
gelehrter muß man ſein, nicht ein Ignorant, Stellenjäger
oder politiſcher Streber, wie leider die meiſten unſerer
Rechtsgelehrten, Advokaten und Richter. Ich kann ein
Lied davon ſingen. Nun, Sie wiſſen es ja.“
„Ich habe davon gehört, Herr Graf, wie alle Welt
von ſo etwas hört, das heißt oberflächlich. Den Gang
Ihres Prozeſſes kenne ich nicht.“
„Intereſſieren Sie ſich dafür?“
„Es würde mich allerdings ſehr ſtark intereſſieren, wenn
es Ihnen nicht peinlich iſt, davon zu reden.“
„Nein. Weshalb ſoll ich ein Geheimnis daraus machen?
Sie ſollen alles wiſſen, aber nicht jetzt. Beſuchen Sie
mich morgen oder übermorgen. Wer weiß, ob wir nicht
ein Geſchäft zuſammen machen können.“
„Ein Geſchäft, Herr Graf?“ fragte Benvenuto ver⸗
wundert.
„Ja. Ich nenne es ein Geſchäft, weil ein Juriſt doch
Prozeſſe haben muß, um ſeine Wiſſenſchaft auszuüben.
Für ihn, in dieſem Falle für Sie, iſt es alſo ein Geſchäft.
Für mich iſt es in dieſem Fall eine Lebensaufgabe. Ich
habe auf dieſer Welt keine andere mehr, keine heiligere.“
Die letzten Worte ſprach er mit leiſerer und tieferer
Stimme, durch die eine mächtige innere Bewegung zitterte.
Es trat eine kleine Pauſe ein.
„Herr Graf, wenn ich Ihnen in irgend einer Art
dienſtbar ſein kann,“ ſagte Benvenuto, „ſo bitte ich Sie,
ſich daran erinnern zu wollen, daß mir nichts erwünſchter
56 Um ein Wort.
fein könnte. Ja, noch mehr. Ich würde ſtolz darauf
ſein, Ihnen einen Dienſt leiſten zu können.“
Graf Enea ſagte zunächſt nichts. Dann kam er noch⸗
mals auf das Geſchäftliche der Angelegenheit zurück. Es
wäre ihm offenbar lieber geweſen, wenn der junge Juriſt,
bei dem er wirkliches Intereſſe für die Sache wahrnahm,
mehr das Geſchäft als den Freundſchaftsdienſt im muse
gehabt hätte,
„Hören Sie alfo, um was es ſich handelt,“ fuhr er
dann fort. „Ich bin ſeiner Zeit verurteilt worden auf das
falſche Zeugnis zweier Leute hin, und zwar des Doktors
Enrico Gherardi und meines früheren Marinajo Giuſeppe
Maregni, hier unter dem Namen Peppino bekannt. Der
erſtere exiſtiert noch. Er führt eine traurige Exiſtenz in
Neapel. Von dem letzteren aber konnte ich nichts in Er:
fahrung bringen. Er iſt untergetaucht in den Schlamm
der Großſtadt, der Himmel mag wiſſen, wie tief. Sie
werden begreifen, wie ungeheuer wichtig für meine Redt:
fertigung es ſein würde, den Mann wiederzufinden und
womöglich gegen eine klingende Abfindung zu einer richtigen
Darlegung der Vorgänge zu veranlaſſen.“
„Aber das würde ja gleichbedeutend mit einem Ein—
geſtändnis eines Meineids ſein,“ warf Benvenuto ein.
„Auch dürfen Sie den Mann nicht durch Beſtechung ver—
anlaſſen wollen, ein Zeugnis abzugeben. Ein ſolches
Zeugnis nimmt kein Gerichtshof in ſolchem Falle an.“
„Alles richtig. Und doch muß ich den Mann ſinden
und ihn zur Bekennung der Wahrheit bringen. Daran
hängt nicht nur meine Ehre, ſondern auch der gute Ruf,
die ehrliche Stellung von Frau und Kind.“
„Gut. Sie wollen, daß ich dieſen Mann in Neapel
ſuche?“ |
„Ja, das möchte ich, und zwar aus dem Grunde,
weil es Ihren Nachforſchungen leichter gelingen würde,
Roman von Woldemar Urban. 57
als den meinen. Vor mir verbirgt fih der Mann natür-
lich. Das ſchlechte Gewiſſen weisſagt ihm nichts Gutes.
Vor Ihnen wird er ſich nicht verbergen. Sie werden eher
dazu kommen, ihn zu finden, und ihn vielleicht auch zum
Sprechen bringen, denn Sie erſcheinen ihm bei der Sache
als nicht beteiligt. Er kennt Sie nicht.“
Sie waren während dieſes Geſpräches an den Punkt
gekommen, wo ſich ihre Wege wieder teilten, und blieben
ſtehen, um die Damen zu erwarten. Benvenuto richtete
ſeine Augen auf die nahende Santina, und ihr Blick be—
gegnete dem ſeinen. Der junge Mann war davon wie
elektriſiert. Es lag etwas wie ein Vorwurf, wie eine
Anklage darin, als ob er ſchuld ſei, daß ſie ſo nieder—
geſchlagen und krank ſei.
„Ich werde dieſen Peppino ſuchen und finden, Herr
Graf,“ antwortete der junge Mann plötzlich mit Be—
ſtimmtheit.
„Suchen Sie ihn, und denken Sie dabei daran, daß
Sie einem Unglücklichen Lebensmut und Lebensluſt zurück⸗
geben, wenn Sie ihn finden,“ erwiderte Graf Enea leiſe.
„Kommen Sie morgen früh zu mir. Ich ſage Ihnen
alles, was Sie zu wiſſen nötig haben.“
„Ich bin morgen früh bei Ihnen.“
Die Verabſchiedung geſchah, wenigſtens von ſeiten
der Frau d' Akkiri, in derſelben wortreichen und ausführ:
lichen Art, wie die Neapolitanerinnen das nun einmal
für praktiſch und paſſend halten. Dann ging Benvenuto
mit ſeiner Mutter nach dem roten Villino zurück.
Eben im Begriff, in den Hausflur einzutreten, ſah er
ſeinen Vater von der anderen Seite der Straße heran—
kommen. Wahrſcheinlich war er auf der Poſt geweſen
und hatte ſeine Sachen geholt.
„Es iſt nicht nötig, daß der Vater weiß, wo wir
waren,“ flüſterte der junge Mann raſch ſeiner Mutter zu.
58 Um ein Wort.
Frau d' Akkiri fah ihren Sohn etwas überraſcht von
der Seite an. Dann nickte ſie aber verſtändnisinnig und
lächelte verſchmitzt.
Von dieſem Tag an war ſie überzeugt, daß ihr
Sohn einer der größten Advokaten ſeiner Zeit werden
müßte.
„Wo waret ihr denn?“ fragte Herr Aſſo ſeine Frau.
„Angeln,“ antwortete Benvenuto an Stelle ſeiner
Mutter.
Die Ausrede war nicht ganz glücklich, denn ſein Vater
konnte ſich offenbar die Vorliebe ſeiner beſſeren Hälfte
für dieſen Sport nicht erklären und ſah deshalb beide
ziemlich mißtrauiſch an. Aber er ſagte jetzt noch nichts.
Die Gelegenheit dazu ſchien ihm nicht günſtig. Dagegen
nahm er ſeine Frau nach dem Eſſen, als er mit ihr allein
war, ziemlich energiſch ins Gebet.
„Evroſina,“ ſagte er ernſt, „du weißt, daß ich in ge—
wiſſen Sachen keinen Spaß verſtehe, und wenn ich einmal
etwas für recht und richtig erkannt habe, ſo halte ich
daran unter allen Umſtänden feſt.“
„Ich weiß nicht, was du willſt,“ erwiderte Frau d' Akkiri,
unſchuldig thuend. ö
„Ich will nicht, daß du dich zu allerhand Durchſteche—
reien mit Benbenuto bereit finden läßt. Ich verlange,
daß man in meiner Familie auf Achtbarkeit und Sitte
hält. Wenn ich merke, daß man meinen Anſichten dar—
über nicht in jeder Hinſicht nachkommt —“
„Aber, mein Gott, es fällt mir ja nicht ein, dieſe zu
verletzen,“ verſicherte Frau d' Akkiri erſchrocken.
„Baſta, du weißt nun meine Meinung. Richte dich
danach.“
„Madonna mia, wie du aufbrauſeſt, Aſſo! Der arme
Junge muß doch irgendwie einen Rückhalt haben.“
„Der arme Junge iſt ein Faulpelz, und von einer
Roman von Woldemar Urban. 59
verſtändigen Frau, wie du fein willft, folte man nicht
glauben, daß ſie ſolchen Neigungen Vorſchub leiſtet.“
„Thue ich das?“ erwiderte Frau d' Akkiri in gerechter
Entrüſtung. „Sitzt Benvenuto nicht in dieſem Augen—
blick, in dem wir ſprechen, über ſeinen Büchern? Er
hat mir ſein Ehrenwort gegeben, daß er ſein Examen im
Oktober machen wird, und ich weiß, daß er es hält. Und
das habe ich von ihm erreicht, nicht du mit all deiner
Polterei. Das iſt ein rechtes Kunſtſtück, den armen Jungen
zu knechten und zu peinigen! Als ob ſich ſo etwas er—
zwingen ließe. Wohin kämſt du, wenn ich nicht da wäre,
wenn ich nicht wieder ins Geleis brächte, was deine Heftig—
keit verdirbt?“
Das ging noch ſo ein halbes Stündchen fort. Herr
Aſſo wußte das ſchon und band daher nur mit ſeiner Frau
an, wenn es ſich um Wichtiges handelte, ließ ſich aber
dann auch durch den Strom ihrer ſehr ausgiebigen Beredt:
ſamkeit nicht im geringſten beirren. Nur wußte er in
dieſem Fall nicht recht, was er entgegnen ſolle. Seine
Frau hatte recht, Benvenuto hatte wirklich angefangen zu
arbeiten, und das war höchſt wahrſcheinlich der Dazwiſchen—
kunft ſeiner Mutter zu danken.
Er ſchwieg alſo und wartete das weitere ab.
Am nächſten Tag erklärte Benvenuto plötzlich, daß er
nach Neapel zurückkehren wolle. Er könne hier nicht ar:
beiten, bald fehle es ihm an dem, bald an jenem, es ſei
unmöglich, die ganze Univerſitätsbibliothek nach Sorrent
zu holen.
Sein Vater war verblüfft. Nachdem Benvenuto ſich
noch vorgeſtern mit Händen und Füßen dagegen geſträubt
hatte, von Sorrent fortzugehen, kam er jetzt ſelbſt aus
freien Stücken darauf, nach Neapel zurückzukehren. Natür:
lich hatte er dagegen nichts einzuwenden, mußte er doch
annehmen, daß das Feuer, das Benvenuto für ſeine Nach—
60 Um ein Wort.
barin in der Villa Miramar entwickelt, und das fein
Vater ſo ſehr gefürchtet, im Erkalten war.
Er ließ ihn alſo ruhig ziehen. Auch ſeine Frau, die
mit ihm abreiſte, weil ſie ſich in Sorrent nach Benvenutos
Abreiſe überflüſſig gefühlt hätte, hielt er nicht zurück. Er
war damit ganz zufrieden und blieb mit Beatrice allein
im roten Villino. N
(Fortſetzung folgt.)
**
Die schöne frau.
Novellette von Emma Merk.
mit Jllustrationen ¢
von A. Wald. (Machdruck verboten.)
J. duftig weißen, mit roten Schleifen geſchmückten Morgen⸗
gewande ſchritt die ſchlanke Frau des Hauſes auf die
Laube zu, in der ihr Gatte ſchon beim zweiten Frühſtück
ſaß. Sie war eben aufgeſtanden. Obwohl die Sonne
nur ganz ſchwach durch den grauen Himmel blinzelte, hielt
ſie doch einen großen, rotgefütterten Schirm über ihr von
einem ſpitzenumwogten Gartenhut geſchütztes, von einer
Tüllwolke umſchleiertes Haupt. Sie haßte die Sonne, dies
allzu helle Licht. Sie ſchwärmte für dämmerige Zimmer
mit roſig verhüllten Lampen, für ungewiſſes Halbdunkel.
Da ſie ſich aber während des Sommers doch zuweilen auch
am hellen Tage ins Freie wagen mußte, verſäumte ſie nie,
ihrem bleichen, gepuderten Geſicht durch einen Schirm,
einen Fächer oder irgend eine Umhüllung einen warmen
Ton zu geben, ſo daß ſie eigentlich immer nur in einer
Art magiſcher Beleuchtung zu ſehen war.
Ihr Gatte, der mit größtem Appetit ſein Frühſtück ver⸗
ſpeiſte, war ſchon ſeit Stunden beim Fiſchen geweſen. Sein
kurzer, gedrungener Oberkörper ſteckte in einem groben Haus⸗
rock. Neben der duftigen, ſorgſam gepflegten Frau, die
ihm ihre behandſchuhte Rechte hinhielt, ſah er mit ſeinem
breiten roterhitzten Kopf wie ein Bauer aus.
62 Die ſchöne Frau.
„Bitte, Fräulein, wollen Sie mir den Thee beſorgen,“
wandte ſich die Dame an ein junges Mädchen, das ſich bei
ihrem Eintreten in die Laube erhoben hatte.
Das „Fräulein“ — ſie hieß Marie Meier, und der
alltägliche Name war auch einer der vielen Dornen, die ihr
im Fleiſche ſaßen — legte mit gekränkter Miene ihre Hand:
arbeit weg.
„Warum ſagt ſie das nicht dem Stubenmädchen, das
doch eben hier war?“ grollte ſie heimlich. Sie war als
Erzieherin der Tochter zu Rentier Ehrhardt gekommen und
während deren Abweſenheit in die Stellung einer Geſell⸗
ſchafterin und Stütze der Hausfrau hineingerückt. Aber ſie
fand, daß man ihr nun Dienſtleiſtungen zumutete, die ihr
nicht zukamen. Frau Ehrhardt ſchien ganz zu vergeſſen,
daß ihr Fräulein eine höhere Beamtentochter war.
Während ſie der ſchönen Herrin, die ihre Handſchuhe
nicht ablegte, ſondern nur den Schleier etwas emporſchob,
den Thee einſchenkte, lag ein bitterer Zug um den Mund
des Mädchens, der ihr friſches Geſicht verdarb. Sie hatte
krauſes üppiges Haar, das ſich in ſchweren Flechten um
ihren kleinen Kopf wand; aber ihre runden bräunlichen
und leicht erhitzten Wangen wirkten allerdings ein wenig
derb an der Seite der ätheriſch⸗bleichen Schönheit mit dem
unter dem Hute hervorquellenden rotblonden Gelock.
„Da iſt ein Brief von Frida,“ knurrte Ehrhardt. „Das
Mädel möchte gern heimkommen. Hat ganz recht. Ich
war gleich dagegen, daß du ſie während der Sommermonate
in die dumme Haushaltungsſchule geſteckt haſt.“
„Aber lieber Ferdinand,“ hauchte Frau Sidonie mit
einem müden Seufzer, „Frida muß doch kochen lernen. —
Das lag gerade dir bei ihrer Erziehung am meiſten am
Herzen,“ fügte ſie etwas ſpitzer hinzu.
„Unſinn! Als ob ich je gewollt hätte, daß man ſie
deswegen nach Thüringen ſchickt. Sie hätte doch auch hier
Novellette von Emma merk. 63
| kochen ler:
| | nen können,
bei unſerer
vortrefflichen
Wally und
bei dem
Fräulein.“
Marie
nickte zu—
ſtimmend.
—
Es war ihr ein großer Aerger, daß man das junge Mädchen
zur Ausbildung in der Wirtſchaft fortgegeben hatte, weil
ſie den Grund durchſchaute, warum die erwachſene Tochter
Digitized by Google
64 Die ſchöne Frau.
möglichſt lange ferngehalten werden ſollte. Die gnädige
Frau wollte nicht in das „mütterliche Fach“ übergehen.
Sie wollte ewig die Schönſte, die Einzige, die Gefeiertſte
ſein.
Das Fräulein lächelte denn auch ſehr ironiſch über ihrer
Handarbeit, als Sidonie nun mit würdevoller Strenge be⸗
merkte: „Du mußt doch zugeben, Ferdinand, daß wir gerade
jetzt das Kind nicht zurückrufen können. Mit der Ein⸗
quartierung vor der Thür — während der Manöver! Die
vielen Offiziere, die dann ein und aus gehen! Nein, das
paßt mir nicht mit einem jungen Mädchen im Hauſe. Die
Herren machen ſich ihren Spaß daraus, ſolch einem acht⸗
zehnjährigen Ding mit Komplimenten den Kopf zu ver⸗
drehen.“
„Was läg' denn daran, wenn ihr einer die Cour ſchneidet!
Das haben wir auch gethan, als wir jung waren. Haben
wir auch gethan,“ lachte Ehrhardt, ſtand auf und ſchritt
rauchend zwiſchen den Roſenbeeten auf und ab, ſchnitt auch
. einmal eine friſchaufgeblühte dunkelrote ab und warf fie
ſeiner Frau, die ſich bequem in ihren Schaukelſtuhl zurück⸗
lehnte, in den Schoß. Dann trollte er ſich leiſe pfeifend
ins Haus.
Marie ſchickte ihm einen verächtlichen Blick nach. Sie
ſelbſt hatte Frida geraten, ſich an den Vater zu wenden.
Aber nie richtete er etwas Ernſtliches aus. All ſein Knurren
blieb nur blinder Lärm. Immer ſetzte die Frau Sidonie
ihren Willen durch.
Man konnte von der Straße, die zu dem nahen See
hinabführte, den Garten und die Leute überblicken, und da
in dem hübſch gelegenen Gebirgsdorfe verſchiedene Münchener
in der Sommerfriſche weilten, kamen um dieſe Zeit immer
Bekannte vorüber.
„Guten Morgen, Gnädige. Habe das helle Kleid im
Garten geſehen — konnte nicht vorbei, ohne Ihnen die
Novellette von Emma Merk. 65
Hand zu küſſen,“ näſelte ein ſehr jugendlich gekleideter
Herr, der über den Kiesweg herantänzelte.
„Guten Morgen, lieber Baron. Bitte, nehmen Sie ein
wenig Platz!“
Mehrere Radfahrer, die einen Blick hereinwarfen, ſpran⸗
gen ab, als ſie Stimmen hörten, und baten um die Er⸗
laubnis, trotz ihres verſtaubten Anzuges eintreten zu dürfen.
„Ach, wer Sie ſo malen könnte, gnädige Frau!“ ſeufzte
einer, ein junger Künſtler, und betrachtete bewundernd die
reich hingegoſſene Geſtalt.
„Ihre Schneiderin hat ſich mit dieſem Morgenkoſtüm
ſelbſt übertroffen,“ verſicherte der andere, ein reicher Fabri:
kantenſohn und Kenner in Toilettenfragen.
Nur der dritte, ein etwas ſchüchterner junger Guts⸗
beſitzer aus der Nachbarſchaft, ſaß ſchweigſam in dem Halb⸗
kreis, der ſich um Sidonie wie um eine Fürſtin gebildet
hatte. Manchmal heftete er ſeinen Blick wie gedanken⸗
verloren auf Marie, ſah aber ſtets ſchnell weg, wenn ſie
es bemerkte.
„Warum ſpricht er denn nicht mit mir,“ dachte ſie
voll Zorn.
Aber nein, um ſie kümmerte ſich kein Menſch. Sie
blieb viel unbeachteter in ihrem Winkel als der zierliche
kleine Schoßhund der gnädigen Frau, der nach einer Weile,
mit einer roſa Schleife geputzt, herantrippelte und allgemein
geliebkoſt und e wurde.
Am nächſten Tage war das Dorfbild gänzlich verändert.
Zwiſchen den Obſtgärten, auf den Wegen, überall hellblaue
und dunkelblaue Uniformen. Soldaten, die ihr Quartier
aufſuchten, die Gepäck hin und her ſchleppten; militäriſche
Radfahrer, die zwiſchen dem Bahnhof und dem großen
Gaſthauſe, in dem der Oberſt wohnte, auf und ab ſauſten;
Pferdegewieher, das Geraſſel der Geſchütze, die im u
1900. III.
66 Die ſchöne Frau.
grunde des Dorfes aufgepflanzt wurden, laute befehlende
Stimmen, der kräftige Geſang eines einmarſchierenden
Trupps Infanterie, Mädchengekicher, ſtaunende Kinder, die
zum erſtenmal Offiziere ſahen und mit offenen Mäulchen
die Uniformen anſtarrten; aufgeregte Bäuerinnen, die über
ihren neuen Pflichten für die Einquartierung den Kopf
verloren, und über all der fremden Unruhe und dem bunten
Treiben ein klarer blauer Sommerhimmel.
Sidonie lächelte ſehr befriedigt. Zwei der Herren, die
in ihrem Hauſe wohnten, waren von Adel: ein Baron und
ein Graf. Hübſcher hätte ſich das gar nicht treffen können!
Das Zivil, mit dem ſie ſich während einiger Wochen unter⸗
halten, ſank plötzlich in ein ſchales Nichts zurück, ſeitdem
ſie wieder Säbel klappern hörte.
Während des dienſtfreien Nachmittags hatten mehrere
bekannte Offiziere ihren Beſuch gemacht und eine Einladung
für den Abend angenommen. Der erſte, der kam, war an
jedem Fenſter von einem heimlichen Freudenaufſchrei aus
weiblichem Munde begrüßt worden.
„Jeſſes, Jeſſes, der Herr v. Kramer!“ rief Wally, die
dicke Köchin, und klatſchte in die Hände. „Dem ſein' Bur⸗
ſchen kenn' ich, das iſt ein Landsmann von mir. Für den
muß ich gleich ein gutes Bröckel von der Gans aufheben.“
„Ah, Oberleutnant v. Kramer!“ lächelte die Frau des
Hauſes, die ihn eintreten ſah. „Das iſt ja reizend! Ein
ſo famoſer Geſellſchafter! Er ſpielt ſo ausgezeichnet Vio⸗
line.“ — Im oberen Stock aber ſeufzte Marie Meier:
„Das iſt ja der Offizier, der mich bei Kommerzienrats, wo
ich zum Tanz auſſpielen mußte, zu Tiſch geführt hat! Alle
anderen ſind an mir vorbeigegangen, als wäre ich Luft!
Der hat ein gutes Herz, und ein ſehr geſcheiter Menſch
iſt er auch. Er ſoll ja beim Generalſtab ſein! Der wird
doch etwas anderes zu reden wiſſen als fade Komplimente
für die gnädige Frau!“ —
Novellette von Emma Merk. 67
Sidonie hatte zu dem Mahl am Abend in allen Zim⸗
mern die Lampen anſtecken laſſen. Sie fand das feſtlicher.
Einen letzten Blick warf ſie auf den Spiegel. Das glän⸗
zende helle Grün ſtand ihr wirklich gut. Noch eine leiſe
Liebkoſung mit der Puderquaſte, dann trat ſie in den Salon.
Das Fräulein ſtand hier und ſenkte friſche Blumen in eine
Vaſe.
„Ei, ſieh da, Sie haben ja heute eine merkwürdige
Pracht entfaltet!“ bemerkte Sidonie etwas ſpitz und be⸗
trachtete mit der Lorgnette das junge Mädchen, das in
einem hellen Muſſelinkleid mit bloßem Hals und kurzen
Aermeln ſehr vorteilhaft ausſah.
Marie warf ihr einen trotzigen Blick zu, als wolle ſie
ſagen: „Gerüſtet zum Kampf! Heut gilt es! Heute will
ich auch bewundert werden.“ Aber der ſelbſtbewußte Glanz
ihrer Augen erloſch mehr und mehr, als ſich nun die Gäſte
einfanden, und die heitere Mahlzeit begann. Die alte Ge⸗
ſchichte! Das Militär und das Zivil — alle hatten ſie
nur Augen für die bleiche rotblonde Frau, und ſie blieb
unbemerkt im Winkel. Auch er — Oberleutnant v. Kramer,
mit dem ſie ſich einmal ſo vortrefflich unterhalten hatte!
Ja, ein paar höfliche Redensarten hatte er ihr hingeworfen,
und nun bemühte er ſich mit all ſeinem Geiſt und all
ſeiner Liebenswürdigkeit, mit jedem Blick, mit jedem Lächeln
ſeines hübſchen Geſichtes um die Gunſt der koketten Haus⸗
frau.
Nach Tiſch mußte Marie mit dem Hausherrn im Neben⸗
zimmer eine Partie Pikett ſpielen, davon ließ er nicht ab,
auch wenn Gäſte da waren. Verdroſſen warf ſie die Karten
auf den Tiſch, während aus dem Saale das Violinſpiel
des Oberleutnants herüberklang. Wieviel Glut, wieviel
Wärme in ſeinem Vortrag lag! Ach, ſie hatte doch in
ihrem kleinen Finger mehr Muſikverſtändnis als Frau
Sidonie, die jedenfalls wieder ihre ſchmachtenden Augen
68 Die ſchöne Frau.
machte, als wäre ſie ganz weg vor Begeiſterung. Sie haßte
ſie. Ja, ſie haßte ſie.
Warum drehten ſich alle nur um ſie, gerade wie die
dummen Mücken, die zum offenen Fenſter hereinflogen und
um die Lampe ſchwirrten? Bloß aus Eitelkeit. Weil jeder
ſeinen Ehrgeiz darein ſetzte, auf die „ſchöne Frau“ Eindruck
zu machen. Ach, wenn ſie ihre ſchöne Frau nur einmal
ſehen könnten vor der Toilette, ehe das Kunſtwerk vollendet
war, da würden ihnen doch die Augen aufgehen über den
Schwindel. Die alte Perſon mit ihrem geſchminkten Ge⸗
ſicht — ihrem künſtlich gefärbten Goldhaar!
„Aber Fräulein, heute ſpielen Sie wirklich zum Er⸗
barmen!“ zankte der Hausherr.
So oſt es ſeine Zeit N kam der Oberleutnant
in die Villa, zuweilen nach einem ermüdenden Tag noch
abends in der bequemen Litewka, welche die Offiziere auf
dem Lande tragen durften. Marie wurde dann häufig an
das Klavier befohlen, um ſein Violinſpiel zu begleiten.
Aber wie warm ſie auch ihre Bewunderung ausdrückte, wie
groß und feurig ſie auch ihre Augen zu ihm aufſchlug, ſeine
Gleichgültigkeit gegen ſie blieb unerſchütterlich. Nur Si⸗
donies gnädiges Nicken ſchien ihm der erwartete Lohn, nur
ihr lächelndes Bravo vermochte ihn anzuregen und zu be—
geiſtern. Und Marie ſah es doch, daß ſie hinter ihrem
Fächer gähnte! Mit ihrem Wohlgefallen an dem hübſchen,
muſikaliſchen Offizier wuchs in dem Herzen des Fräuleins
der Groll gegen ihre Herrin. Das Süßholzraſpeln des
etwas altmodiſchen Herrn Oberſt, die abgedroſchenen Kom—
plimente ihres Hausgenoſſen, des gräflichen Hauptmanns,
alle die galanten Redensarten der Herren, die doch eigent—
lich nur eine wertloſe Kleinmünze waren, wollte ſie der
verwöhnten Dame ja gerne gönnen; aber die ernſte Liebens⸗
würdigkeit, dieſe herzliche Ergebenheit, mit der dieſer junge
Novellette von Emma Merk. 69
Mann um das Wohlgefallen der verblühten Frau warb,
brachte ſie einfach zur Raſerei.
Wenn ſie im Kahn auf den nahen See hinausfuhren,
dann wandelte ſie oft plötzlich eine wilde Luſt an, durch
eine ungeſchickte Bewegung das kleine Boot ins Schwanken zu
bringen, damit es umſchlug, und ſie alle ins Waſſer fielen.
Sie konnten ja ſchwimmen, und wenn es in der Nähe des
Ufers geſchah, war die Gefahr nicht groß. Es ſchien ihr
ein Hauptſpaß, ſich auszumalen, in welchem Zuſtande die
„ſchöne Frau“ dem unfreiwilligen Bade entſteigen würde.
Allmählich wurde es ihr förmlich zur fixen Idee, Frau
Sidonie vor den Augen ihrer Verehrer — vor allem vor
Kramers Augen — in eine Lage zu bringen, die allen
falſchen Nimbus, mit dem ſie die Menſchen täuſchte, zer⸗
ſtörte. Die Gelegenheit, ihre boshaften Pläne auszuführen,
hatte ihr bisher noch gefehlt. Aber als Frau Ehrhardt
den lebhaften Wunſch äußerte, das Manöver mitanzuſehen,
das in der Nähe ftattfinden folte, und ihr Gatte fih mit
ſeltener Feſtigkeit weigerte, ſie zu begleiten, da prickelte es
in Marie Meiers dunklem Kopf von hinterliſtigen Plänen
und ſchadenfrohen Erwartungen.
Früh ſchon brachen die beiden Damen auf und waren
an dem trüben, ſchwülen Tag zunächſt eine Strecke weit
gefahren. Die Scheinſchlacht ſpielte ſich jedoch auf einem
weiten hügeligen Gelände ab, durch deſſen ſumpfige Wieſen
keine Straße führte. Man mußte deshalb ausſteigen und
den Wagen warten laſſen.
Nun ſollte ihre teure Herrin einmal zu Fuße laufen,
ſteigen, über ſchlechte Feldwege ſtapfen! Das war ihr ge—
ſund! Mit inniger Schadenfreude eilte Marie bergan.
Ihr lag nichts daran, daß ihre Wangen glühten vor Hitze.
Es machte ihr nur ſo unbändigen Spaß, daß das ge—
ſchminkte Geſicht hinter ihr unfehlbar bei dieſem mühſamen
Marſch Schaden leiden mußte.
70 Die ſchöne Frau.
Sidonie wäre am liebſten wieder umgekehrt. Das Gehen
fiel ihr ſchwer mit ihren engen, unbequemen Schuhen, mit
ihren Spitzenröcken, und es wurde ihr ſchrecklich heiß unter
dem Schleier. Aber es reizte ſie dennoch, einmal mitten
in dem ungefährlichen Schlachtgetümmel zu ſtehen und ihre
Bekannten zu begrüßen. Sie dachte ſich's ein wenig wie
in einer Feſtvorſtellung, bei der ihr Erſcheinen doch auch
immer Effekt machte. Marie lockte ſie auch noch mit heuch⸗
leriſcher Liebenswürdigkeit vorwärts.
„Da oben auf dem Hügel treffen wir gewiß den Herrn
Oberſt, und der Oberleutnant reitet als Adjutant des Ge:
nerals auch mit den Schiedsrichtern. Wie er ſich freuen
wird, daß die gnädige Frau Wort hält!“
Dabei beobachtete das tückiſche Geſellſchaftsfräulein mit
Hochgenuß, daß die Stirnlöckchen der Dame ſich ſchon auf—
löſten und in langen Strähnen herumhingen, und daß Hut
und Schleier in dem anhebenden Wind in Unordnung ge⸗
rieten. Die Arme ſah ſchon jetzt etwas derangiert aus und
zupfte nervös an ihrer Friſur herum, als ſie nun Uni⸗
formen blitzen ſah.
Auf dem Hügel ſtand ein kleines Häuflein Manöver:
bummler, die das militäriſche Schauſpiel mit dem Feld—
ſtecher betrachteten. Man hatte von hier aus einen weiten
Blick und konnte ſehen, wie die Truppen gerade wie auf
einem rieſigen Schachbrette gegeneinander anrückten. Der
Feind, der ſich von Weſten heranſchob, war durch die graue
Helmkappe kenntlich gemacht. Auf den Boden gedrückt kroch
eine Compagnie vorwärts und gab dann gedeckt von einer
kleinen Erhöhung in dem Kartoffelfelde Feuer. Unabläſſig
donnerten die Geſchütze, die hinter dem Waldſtreifen links
irgendwo aufgepflanzt waren, man hörte nur das dumpfe
Dröhnen, aber keine Rauchwolke, keine Bewegung verriet,
woher der Angriff kam. Die lauten Kommandorufe der
Offiziere klangen über das freie Feld hin; Adjutanten jagten
Marie lockte sie auch noch mit heuchlerischer Liebenswürdigkeit vorwärts. ($. 70)
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12 Die ſchöne Frau.
auf keuchendem Pferd vorüber; Sidonie ſprang ein paar⸗
mal entſetzt zur Seite, als dicht neben ihr ein Meldereiter
mit dem Fähnchen auf der Lanze vorbeigaloppierte.
Einige der Offiziere legten grüßend die Hand an den
Helm, als ſie die Damen bemerkten. Aber zu weiteren
Höflichkeiten blieb ihnen keine Zeit, und Frau Ehrhardt
ſah bald recht gelangweilt und müde aus. Sie hatte ſich
die Geſchichte viel amüſanter gedacht.
Wahrhaftig, die böſe Marie verſtand ſich auf Hexen⸗
künſte und hatte ſich mit dem Wetter verſchworen! Plötz⸗
lich fing es zu träufeln an. Erſt ganz langſam und leiſe,
ein beſcheidenes Rieſeln, das aber bald in einen beharrlichen
Landregen ausartete.
„Wir wollen eiligſt zurück zu dem Wagen!“ rief Si⸗
donie verzweifelt. Sie hatte nur ihren rotgefütterten
Sonnenſchirm, der ſich mit ſeinen Spitzenvolants recht
wenig zum Schutz auf freiem Felde eignete. Leider war
ſie ſehr kurzſichtig und hatte in dem einförmigen grünen
Hügelland, das nun in ein trübſeliges Grau eingetaucht
ſchien, vollſtändig die Richtung verloren, aus der fie her:
gekommen waren. Ihr boshaftes Fräulein aber ſchleppte
ſie abſichtlich in der Irre umher, kreuz und quer durch
naſſe Wieſen, immer weiter fort von dem ſchönen gedeckten
Landauer, der auf der Landſtraße unten ihrer harrte.
Marie wollte ihre Rache auskoſten.
Sie ſelbſt lief in ihrem dunklen Lodenkleid, mit ihrem
einfachen Matroſenhut, unter dem ſich ihr naturkrauſes
Haar ſo luſtig wie immer hervorlockte, unter der Traufe
wohlgemut dahin. Sonſt war ſie recht ſparſam mit ihren
Sachen. Aber nun kam es ihr nicht darauf an, ein Paar
Stiefel zu opfern, da fie dafür in dem Anblick ihrer flag:
lich zugerichteten Herrin ſchwelgen durfte. Faſt hätte ſie
laut aufgelacht, als ein unhöflicher Windſtoß den weißen
Schleier packte, der ſchon vom Regen ganz ſchlaff geworden,
Novellette von Emma Merk. 73
und ihn wie ſpottend davontrug. Nun ſtand einmal das
zarte Gnadenbild ohne Hülle, ohne magiſche Beleuchtung
in freier Luft, und Sturm und Regen fegten fort, was
nicht waſchecht war. Die Haarfarbe verblaßte allerdings
nicht, aber der künſtliche Aufbau, der ſich ſonſt über die
Schläfen hinzog und Entzücken wachrief, klatſchte nun naß
und ſo arm und dünn um das ſchmale Geſicht, das in dem
ſcharfen Licht immer welker und faltiger erſchien. Unter
den Augen bildeten ſich von der Näſſe und der Schminke
verwiſchte Flecken, und das Tüllgekräuſel des Kleides am
Halſe klatſchte fih dicht an, fo daß der Hagere, welke Hals
zum Vorſchein kam.
„Ihre Verehrer müſſen ſie ſo ſehen!“ Mit dämoniſcher
Wildheit jagte der Wunſch durch die verbitterte Seele Ma⸗
riens, und ihre Augen ſpähten ſcharf durch das Grau. Sie
hatte ſchon eine Weile beobachtet, daß bei dem einſamen
Gehöft vor ihnen ein Trupp Reiter ſtand, halb verdeckt
von den Bäumen. Wenn das die Schiedsrichter wären —
der Oberleutnant unter ihnen!
„Es bleibt uns nichts übrig, gnädige Frau, als dort,
in dem einzigen Haus weit und breit, unterzuſtehen,“ ſagte
Marie heuchleriſch und lief eifrig voran. Es ſollte Sidonie
nicht gelingen, ſich unbemerkt in eine Ecke zu drücken.
Jubeln hätte ſie mögen, als ſie in die Nähe kam. Ein
Siegesgeſchrei wäre der Ausdruck ihrer Stimmung geweſen.
Von weitem ſchon erkannte ſie Kramers ſchlanke Geſtalt.
Der Trupp wollte ſich eben wieder in Bewegung ſetzen,
und man würde wohl auf die beiden naſſen Geſtalten gar
nicht geachtet haben, wenn nicht Marie dicht vor die Pferde
hingelaufen wäre und laut gerufen hätte: „Verzeihen Sie
gütigſt, wir haben uns bei dem Regen ganz verirrt. Wie
finden wir uns wieder auf die Chauſſee zurück? Meine
arme gnädige Frau kommt kaum mehr vorwärts.“
Und ſie deutete auf die ſich mühſam Heranſchleppende.
74 Die ſchöne Frau.
Oberleutnant v. Kramer flüſterte dem General ein paar
entſchuldigende Worte zu und ritt Sidonie entgegen. Auch
der Oberſt, der einigemal bei Ehrhardts zu Gaſt geweſen
war, hielt ſich für verpflichtet, der verregneten Dame ſein
Bedauern auszudrücken.“) Sämtliche Offiziere blickten nach
der Aermſten, die nicht in die Erde verſinken konnte, die
nicht einmal unter ihrem getreuen Sonnenſchirm, der längſt
unbrauchbar geworden war, eine Deckung fand.
Marie war neben ihre Herrin herangetreten. „Ein
rechtes Glück, nicht wahr, gnädige Frau, daß wir nun doch
über den Weg Beſcheid wiſſen?“ rief ſie, während ſie voll
Schadenfreude bemerkte, daß mehrere der Herren ein Schmun⸗
zeln nicht zu verbergen vermochten, daß auch der galante
Oberſt verblüfft zurückprallte, als er dieſe traurige Wandlung
ſah, die der Regen bei der „ſchönen Frau“ angerichtet hatte.
Er aber, der Unbegreifliche — er, der hübſche junge
Oberleutnant, auf den Mariens Augen mit äußerfter Span:
nung gerichtet waren, zuckte nicht mit der Wimper. Kein
Zug in ſeinem Geſicht verriet Enttäuſchung, ja nur Be⸗
fremden, Verwunderung. War denn ſolche Verſtellung,
ſolche Selbſtbeherrſchung überhaupt möglich?
„Ach, verehrte gnädige Frau,“ ſagte er leiſe mit ſeinem
einſchmeichelndſten Tone, „es giebt Augenblicke, in welchen
man die Unerbittlichkeit des Dienſtes recht ſchwer empfindet.
Wenn ich jetzt fortjagen dürfte, ſo raſch mein Pferd mich
trägt, um Ihnen einen ſchützenden Mantel zu holen, und
Sie dann warm und behaglich einzuwickeln — das wäre
mir wirklich die größte Herzensfreude!“
Dabei ruhten ſeine Augen auf ihr mit unveränderter
Liebenswürdigkeit, mit unerſchütterlicher Begeiſterung, mit
einem ſo treuherzigen Blick, als könnte kein Falſch in ſeiner
Seele ſein.
*) Siehe das Titelbild.
Novellette von Emma Merk. 75
Marie hätte am liebſten auf den Boden geſtampft vor
Zorn. Prallte an ihm denn alles ab? War er denn blind,
behert? Sah er denn gar nicht, wie häßlich feine Schöne
geworden? Verflog ſein Rauſch auch nicht vor ſolch er⸗
nüchternder Klarheit?
Sie ſtarrte ihm noch kopfſchüttelnd nach, als längſt die
Pferde über das Kleefeld dahingeſprengt waren. Uebel⸗
launig und ſchweigſam patſchten die beiden Damen über
die durchweichten Wieſen, bis ſie den Wagen erreichten, der
ihnen auf Befehl des Oberſten eine Strecke weit entgegen⸗
gefahren war.
Am Abend mußte Marie den Tiſch decken, weil die
Jungfer eine Beſorgung zu machen hatte. Der Ober:
leutnant, der ſich erkundigen wollte, ob der naſſe Spazier⸗
gang der gnädigen Frau nicht geſchadet habe, wurde in den
anſtoßenden Salon geführt. Sidonie lag da etwas bleich
und abgeſpannt, aber wieder friſch aufgekräuſelt und bemalt
auf dem Ruhebett unter der Lampe. Mit einer gewiſſen
Unruhe blickte ſie dieſem Wiederſehen mit ihrem lebhafteſten
Verehrer entgegen. Ob er wohl gänzlich abgekühlt war?
Sein Geſicht und fein Gruß ſchienen fie angenehm zu über:
raſchen, denn ihre Stimme klang ganz ungewöhnlich freund—
lich und heiter, als ſie ihn bat, Platz zu nehmen und ihr
ein wenig zu erklären, wie ſie eigentlich dieſes militäriſche
Schauſpiel zu verſtehen hatte, das ſie heute mitangeſehen.
Marie konnte deutlich hören, was die beiden ſprachen.
Der behagliche Ton der Unterhaltung ärgerte ſie ſchon.
Und dann nach einer Weile ſagte der Offizier, daß ſie nun
in ein paar Tagen abmarſchieren müßten, und als Sidonie
ein Wort des Bedauerns erwiderte, fügte er ſehr warm
und bewegt hinzu: „Ach, verehrte gnädige Frau, Sie ahnen
nicht, wie dankbar ich dem Zufall bin, der mich hierher
führte, in Ihre Nähe! Ich möchte mir ſchmeicheln, daß
76 Die ſchöne Frau.
ich in dieſen wenigen Tagen, in denen ich die Gaſtfreund—
ſchaft Ihres Hauſes genießen durfte, ein wenig Ihr Ver⸗
trauen gewonnen habe, Ihre gütige Geſinnung, Ihr Wohl⸗
wollen —“
„Gewiß, gewiß, Herr Oberleutnant,“ verſicherte Sidonie
ſehr leiſe, offenbar etwas befangen, denn ſie wußte ja, daß
das Fräulein im Nebenzimmer weilte.
Marie war wütend. Bei offenen Thüren eine Liebes⸗
erklärung! Sie fand das ſtark.
„Meinen wärmſten Dank, verehrte gnädige Frau! Und
ich darf auf liebenswürdiges Gewähren rechnen, auch wenn
ich — wenn ich eine recht große Bitte wagen ſollte?“
Er hatte nun auch in einem verſchleierten Tone ge⸗
ſprochen, und Marie hörte nur ein kokettes Lachen, das ihm
zur Antwort wurde. Dann folgte ein Schweigen, als habe
er in den Augen ein beglückendes Ja geleſen und zöge nun
bewegt die Hand der Dame an die Lippen.
In einer tiefen Entrüſtung klapperte Marie mit den
Tellern. Sie überlegte, ob ſie wirklich ſchweigen ſollte zu
einem ſo ſchnöden Verrat. —
Sidonie ſchien etwas verlegen, als ſie ſpäter in das
Eßzimmer trat. Aber der Oberleutnant begrüßte Marie
mit ſeiner gewohnten kühlen Höflichkeit. Er war doch ein
vollendeter Heuchler!
Am nächſten Morgen war Sonntag und Raſttag für
das Militär. Reizender blauer Himmel mit weißen Wolken,
luſtiger Sonnenſchein. Marie ſaß noch vor dem Frühſtück
in ihrem Zimmer und ſchrieb einen Brief, als ſie auf der
Treppe Freudenrufe hörte, ein vielſtimmiges Lachen. Wally
ſchrie voll Vergnügen: „Jeſſes, Jeſſes! Nein, die Ueber⸗
raſchung!“ Dazwiſchen brummte der Baß des Hausherrn.
Aber über all den Lauten ſchwebte noch ein heller, jüngerer
Ton.
Novellette von Emma Merk. 77
Das Fräulein riß eiligſt die Thür auf und ſprang
die Treppe hinunter. Im erſten Stockwerke aber flog ihr
ein großes lachendes Mädchen um den Hals und rief:
„Marie, liebe gute Marie, nicht wahr, Sie helfen mir auch
bei der Mama?“
Um Gottes willen, Fräulein Frida! Ja, wo kommen
Sie denn her?“
„Von Thüringen und jetzt direkt von München. Die
ganze Nacht habe ich im Eiſenbahnwagen geſeſſen und nicht
ſchlafen können vor Angſt und doch zuweilen ein ungeheures
Verlangen gehabt, hellauf zu jubeln, weil ich wieder heim⸗
kam. Wie ich die Berge ſah, da ward ich ganz närriſch
vor Freude. Ich habe meiner Penſionsmutter geſagt, ich
müſſe zu Papas Geburtstag hier ſein, obwohl er mich gar
nicht haben wollte, der böſe, böſe Vater — und nun gehe
ich um keinen Preis mehr weg.“
„O, wir wollen ſchon Ihre Partei nehmen, Frida!
Nicht wahr, Herr Ehrhardt?“ ſagte Marie ganz erregt und
kampfbereit. Etwas Lieberes hätte ihr gar nicht geſchehen
können. Das mußte doch den blinden Thoren ernüchtern,
wenn er ſah, welch große Tochter ſeine angebetete Schöne
hatte. Schämen mußte er ſich, der Mutter den Hof zu
machen vor dieſen hellen jungen Augen.
Frau Sidonie erfuhr nicht gleich, was geſchehen war.
Es war ſtreng verboten, ihr Zimmer zu betreten, wenn ſie
nicht klingelte. Erſt als ſie gegen Mittag zum Frühſtück
kam, legten ſich ein paar weiche, ſchmeichelnde Arme um
ihren Hals, und die mutwillige Ausreißerin flüſterte ihr
ins Ohr: „Ich hab's nicht ausgehalten vor Langeweile,
Mama.“
Sie runzelte zwar finſter die Stirne, aber was half
aller Aerger der einmal feſtſtehenden Thatſache gegenüber,
daß die große Tochter da war! Sie wollte ſich durch keine
Aufregungen ihr Ausſehen verderben; denn ſie hatte mehrere
78 Die ſchöne Frau.
Offiziere zu Tiſch, und es galt, den häßlichen Eindruck von
geſtern zu verwiſchen.
Der erſte, der ſich einfand, eine volle Viertelſtunde vor
der feſtgeſetzten Zeit, war der Oberleutnant. Er ſah etwas
erregt und befangen aus. Als er in den Salon trat, in
dem die Familie ſchon verſammelt war, wollte Sidonie erſt
mit einer ihrer müden Bewegungen die Tochter vorſtellen;
aber das junge Mädchen ſprang auf, hing ſich an den
Arm des Offiziers und rief mit leuchtenden, übermütigen
Augen: „Liebe Eltern, als Verlobte empfehlen ſich Paul
und Frida!“ |
Der Oberleutnant aber küßte Frau Sidonie die Hand
und flüſterte: „Ich erinnere Sie an Ihr Verſprechen:
Wohlwollen — freundliches Gewähren, auch wenn ich eine
ſehr große Bitte wagen ſollte!“
Sidonie erregte mit ihrer Selbſtbeherrſchung zum erſten⸗
mal die Bewunderung ihres boshaften Fräuleins. Merk⸗
würdig gefaßt fand ſie ſich in die veränderte Sachlage,
blickte wie eine jugendliche Mutter auf dem Theater ergeben
zu ihrem Gatten empor und lächelte mit großen, gerührten
Augen: „Haſt du's geahnt, Ferdinand, daß der böſe Menſch
uns unſer einziges Kind rauben will?“
„Aber Mädel,“ lachte dieſer ſeelenvergnügt, „wo und
wie habt ihr euch denn nur kennen gelernt?“
Darauf erzählten die jungen Leute, ſich unterbrechend,
ſich gegenſeitig verbeſſernd und ergänzend, in freudiger Haſt
die Geſchichte einer entzückenden Eiſenbahnfahrt, bei der ſie
ſich gegenüber geſeſſen hatten, bei der zum Glück eine freund—
liche Dammrutſchung einen Aufenthalt in einem komiſchen
kleinen Neſt verurſachte, in dem ſie miteinander zu Mittag
aßen — die einzigen Paſſagiere zweiter Klaſſe. Und dann
war er auch in Erfurt ausgeſtiegen, obwohl er eigentlich
nach Wein ar wollte, und hatte ihr Fenſterparaden gemacht,
während ſie in der langweiligen Penſion Gemüſe ſchälen
Novellette von Emma Merk. 79
oder etwas ähnliches thun mußte, und trotz der lauernden
Penſionsmutter, die ihre jungen Damen wie Verbrecher
gefangen hielt, hatten ſie ſich doch einmal fünf Minuten
lang geſprochen und ſich zugeflüſtert, daß ſie ſich ſchreiben
würden. Das hatten ſie auch gethan, und unter allerlei
anderen hübſchen Dingen hatte Frida von ihm gehört, daß
er hier ſei, und daß Vater und Mutter recht freundlich zu
ihm wären. Da hatte ſie es einfach nicht mehr ausgehalten.
Uebrigens könne ſie jetzt ſchon genug kochen.
„Donnerwetter! Wie heutzutage die Kinder energiſch
vorgehen!“ rief Ehrhardt, ſich die Hände reibend. „Aber
jetzt ſoll die Wally gleich einige Flaſchen Pommery kalt
ſtellen!“
Frau Sidonie lächelte nur. Sie entſagte „in Schön⸗
heit“. Marie aber beherrſchte ſich kaum mehr vor innerer
Aufregung über dieſe unerwartete Wandlung. „Ich möchte
Roſen holen für die Tafel, bei einer Verlobung muß doch
ein großer Roſenſtrauß auf dem Tiſch ſtehen,“ ſagte ſie
ganz verwirrt.
Sie wollte nur eine Gelegenheit haben, um ihre erhitzten
Wangen in der freien Luft zu kühlen, um in der Einſam⸗
keit ſich zu beruhigen und zu beſinnen. Sie gab ſich krampf⸗
hafte Mühe, nur ihrem Haß zu lauſchen, fih ganz zu be—
täuben mit einer wilden Luſtbarkeit über die Niederlage
ihrer Herrin. Ja, ja, nun war ſie eben doch ins „alte
Fach“ hineingerutſcht, in das der Schwiegermutter. Der
junge Oberleutnant hatte eben nur „der Mutter“ ſeine
Huldigung dargebracht. O, dieſe Enttäuſchung gönnte ſie
ihr von Herzen!
In wilder Ausgelaſſenheit hüpfte Marie um die Beete
herum und wütete in den Roſen; ſie merkte es kaum, wenn
ein Dorn ſie ritzte, ſo berauſcht war ſie von ihrem Triumph.
„Guten Tag, liebes Fräulein,“ ſagte da plötzlich eine
freundliche Stimme hinter ihr. Vor dem Gartengitter ſtand
80 Die ſchöne Frau.
ein Radfahrer, der ſchüchterne Gutsbeſitzer, der einigemal
zu Beſuch in der Villa geweſen war und fie immer ver:
ſtohlen angeſehen, aber nie ein Wort mit ihr geſprochen
hatte.
Marie war ſo erſchrocken über die unerwartete Anrede,
daß ſie das Körbchen mit den Roſen aus der Hand fallen
ließ. „Ach, Herr Bentenrieder!“ rief ſie.
„Verzeihen Sie, Fräulein; warten Sie, ich helfe Ihnen,“
fuhr er fort, lehnte ſein Rad an das Gitter und kam eilig
in den Garten herein. Während er ſich bückte, um die
Blumen aufzuheben, ſagte er etwas verlegen: „Seitdem die
Offiziere hier ſind, bekommt unſereiner keinen Blick mehr ab.“
„Ja, ja,“ erwiderte Marie höhniſch. „Jetzt iſt die
gnädige Frau anderweitig in Anſpruch genommen.“
„Ich meine nicht die gnädige Frau, ich meine Sie
ſelbſt, Fräulein Meier,“ verſicherte er, indem er die Roſen
behutſam in ihr Körbchen legte.
Sie ſah ihn ſtarr an. Wollte der Menſch ſeinen Spaß
mit ihr treiben? „Ach, ich weiß recht gut, daß ſich um
mich niemand kümmert,“ warf ſie zornig hin, und es war ein
Zittern in ihrer Stimme, das ſie kaum beherrſchen konnte.
„Sagen Sie das nicht, Fräulein. Wie die anderen
Herren denken, darüber weiß ich ja nicht Beſcheid. Aber
das dürfen Sie mir glauben, daß ich ſtets nur hierher
kam — Ihretwegen.“
„Aber warum haben Sie denn nie ein Wort mit mir
geredet?“ gab ſie ganz verwirrt und überraſcht zur Antwort.
„Ja, das iſt eben mein Unglück, daß ich ſo ſchüchtern
bin, beſonders in einem größeren Kreis von Menſchen.
Wie gerne hätte ich mich Ihnen genähert, aber das hätte
vielleicht auffällig ausgeſehen, und — ja, ich wagte es eben
nicht. Aber wie oft bin ich vor dem Garten vorbei ge—
radelt, in der Hoffnung, Sie einmal allein zu treffen, ſo
wie jetzt.“
Novellette von Emma Merk. 81
Er ſah treuherzig zu ihr -
auf mit warmen, guten | i
Augen. |
Der Blick hatte eine ; a.
ganz ſeltſame Wirkung auf et
fie. Sie ſchämte ſich, Ä
ſchämte fich über alle Maßen
der wilden Schadenfreude,
in der ſie eben herumgeraſt
war, ſchämte ſich ihres Neids und ihres Zorns und ihrer Bos—
heit. Bei dieſem erſten guten Wort, das ihr galt, bei dieſem
erſten warmen Intereſſe, das ſich ihr zuwendete, fühlte ſie
1900. III. 6 5
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82 Die ſchöne Frau.
erſt, wie wund und arm und vereinſamt ihr Herz war, und
wie ſchlecht ſie geworden in ihrer Verlaſſenheit, in dieſer grau⸗
ſamen Leere um ſie her. Am liebſten hätte ſie die Hände
vor das Geſicht gedrückt und geweint wie ein Kind.
Aber ſie mußte ſich ja zuſammennehmen. Ihre Finger
zitterten und ihr Blick ſchimmerte feucht, als ſie eine hübſche
Roſenknoſpe aus ihrem Körbchen hervorſuchte und dem Rad⸗
fahrer an die Joppe heftete.
Er faßte in warmer Dankbarkeit ihre Hand und hielt
ſie feſt. „Dank, Fräulein Marie, innigſten Dank! Ich
bringe Ihnen Roſen aus meinem Garten, wenn ich wieder⸗
komme — ich darf doch recht bald wiederkommen, nicht
wahr?“
Sie nickte wie im Traum. Sie hätte gar nicht zu
ſprechen vermocht.
Als ſie wieder in das Speiſezimmer zurückkehrte, zu
dem flüſternden Brautpaar und zu der ſchmachtenden gnä⸗
digen Frau, da war ein ganz verklärter Ausdruck auf ihrem
Geſicht, als hätte dieſer erſte warme Liebeshauch, der ſie
geſtreift, im Nu den herben Zug um ihren Mund und
jede neidiſche Regung aus ihrer Seele fortgezaubert.
af
Hm Gardasee.
Reiseerinnerungen von Tr. Regensberg.
mit 14 Jilustrationen. ¢ (Nachdruck verboten.)
ür Reiſende aus Oeſterreich und Deutſchland, die in
fhönen Herbſttagen auf der Fahrt nach Süden dem
ſchönen Gardaſee, dem Lacus Benacus der Römer und dem
„Gartenſee“ (ital.: Lago di Garda) des Mittelalters, einen
Beſuch abzuſtatten gedenken, kommt in erſter Linie die bei
Riva am Seegeſtade ausmündende Linie Mori-Arco-Riva in
Betracht. Dieſe Schmalſpurbahn zweigt ſich auf der Station
Mori von der Südbahnlinie ab, und wenn unſer von Bozen
kommender Zug dort einläuft, ſteht der andere ſchon bereit.
Wir beeilen uns, umzuſteigen, und gleich darauf ver—
laſſen wir den Ort Mori mit ſeiner rieſigen Moräne und
den „Lavini di Marco“, den Trümmern eines Bergſturzes
von 883, die ſchon Dante in ſeiner „Hölle“ beſchreibt. Die
Bahn erreicht, im Thale ſtetig anſteigend, die Station Loppio
mit einem Schloß der Grafen v. Caſtelbarco und dem düſteren,
felſenumſchloſſenen Loppioſee, einem Reſte des alten Bettes
der Etſch, die ehemals hier floß, um bei Torbole in den
Gardaſee zu münden, da wo jetzt die Sarca ihre vom Gletſcher—
waſſer grau gefärbten Fluten einherwälzt. Keuchend ſtrebt
das Dampfroß aufwärts, bis der höchſte Punkt der Bahn,
97 Meter über der Station Mori, erreicht iſt, wo eine
kleine Kapelle auf karſtähnlichen Felſentrümmern die Waſſer—
84 Um Gardafee.
ſcheide zwiſchen Gardaſee und Etſch bezeichnet. Auf einem
Felſenhorn gewahrt der Reiſende bald darauf die Ruinen
— —— —
Wossepieg səp apuspiou seg
4- — — —
; *
4 5
des alten Schloſſes Penede oder Penedal, ehemals der
Schlüſſel zu dem Uebergang vom Sarca- ins Etſchthal, und
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Don fr. Regensberg. 85
unterhalb
davon Die
Häufer der
maleriſch
am Rande
einer
Schlucht
gelegenen
Ortſchaft
Nago,
zwiſchen
denen Cy⸗
preſſen
emporra⸗
gen. Nago
iſt Sta⸗
tion, und
wer ſich an
einem ge:
radezu
einzig ſchö—
nen Qand:
ſchaftsbilde
erfreuen
will, das
keiner ver⸗
gißt, der
es einmal
geſchaut,
der folge
unſerem
Rat und
verlaſſe in Nago den Zug. Unterhalb des Dorfes führt
die Straße durch das Thor des Sperrforts Nago, dem
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Blick auf Nago.
86 Am Gardafee.
modernen Erſatz für das alte Kaſtell Penede. Mit dem
letzten Schritt aus dem Feſtungsthor öffnet ſich eine über⸗
raſchend großartige, unbeſchreiblich herrliche Ausſicht über
den blauen Gardaſee in ſeiner ganzen Ausdehnung bis zu
den Hügeln von Solferino, auf den Monte Brione vor
uns und auf das rebengrüne, von hohen Bergen umrahmte
Sarcathal zu unſerer Rechten. Dieſer Blick iſt ſo impoſant
und anmutig zu gleicher Zeit, daß ihm im Bereiche des
Gardaſees, ja im ganzen Lande Tirol kein anderer gleich:
kommt.
Wir blicken aus einer Höhe von 300 Meter auf das
größte Südwaſſerbecken (366 Quadratkilometer Umfang)
am ſüdlichen Fuße der Alpen hinab. Der See erſcheint
uns, wie Heinrich Nos treffend bemerkt, durchaus als eine
„Verkörperung der Vorſtellungen, die ſofort in uns auf—
tauchen, wenn man von einem am ttaltentfden Abhang
des Gebirges gelegenen Alpengewäſſer ſpricht. Es iſt hier
der Steilabfall der Felſen vorhanden, jener Vorſtaffeln hoher
Berge, auf deren Gipfeln bis in den Hochſommer hinein
Schnee blinkt. Es fehlen aber auch die Ufergärten mit
ihren Goldfrüchten nicht, die marmorweißen Landhäuſer,
die ſchwarzen Cypreſſen, die Inſeln und Halbinſeln, die wie
große Blumenſträuße auf der Flut ſchwimmen, deren Bläue
demjenigen nicht zu ſchildern iſt, der ſie nie geſehen hat.“
Der Gardaſee, der eine größte Länge von 52 Kilometer
beſitzt, während ſeine Breite zwiſchen 3 Kilometer (bei Riva)
und 16 Kilometer wechſelt, liegt gerade auf der Grenze
von Tirol und Italien in einer dem Etſchthal parallelen,
nordſüdlich verlaufenden Thalſenkung, öſtlich von dem das
Etſchthal vom See trennenden, auf der Kuppe meiſt ſchnee—
bedeckten Monte Baldo (2050 Meter) begrenzt, während auf
der Weſtſeite die Ausläufer der judikariſchen Alpen ſteil ab—
ſtürzen. Zu Oeſterreich gehört nur ein kleiner Teil des Sees,
der weitaus umfaſſendere Reſt zu Italien. Seinen Hauptzufluß
Von $r. Regensberg. 87
bildet die bei Torbole mündende Sarca, die nach ihrem Aus:
tritt aus dem See bei Peschiera an feinem Südoſtende den
Namen Mincio annimmt. Auf der Weſtſeite ergießen ſich
in den See die kleinen Gebirgsflüſſe: Ponale, Tignalga
(Campione), Braſa und Toscolano; am Oſtgeſtade kommen
viele kleinere Waſſerläufe vom Monte Baldo herab, und endlich
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88 Am Gardaſee.
ſteigen aus dem Seegrunde ſelbſt zahlreiche Quellen empor,
darunter auch einige Schwefelthermen auf der Halbinſel
Sermione.
Ungemein maleriſch iſt die Umrahmung der Ufer des
Gardaſees, und mit immer neuem Entzücken verfolgt das
Auge den Uebergang von dem ernſten erhabenen Alpen⸗
charakter des oberen Teiles zu den in allen Reizen des
Südens prangenden Hügeln der Mitte und den idylliſchen
Geſtaden, die gegen die Lombardiſche Ebene hinziehen. Es
fehlt nicht an Ruinen, Waſſerfällen und Schaumbächen,
und der See ſelbſt iſt unerſchöpflich an den prachtvollſten
Farbenſpielen. Es iſt daher recht ſchade, daß die meiſten
Reiſenden den See gewöhnlich nur wie im Vogelfluge be-
rühren, das heißt mit einem Dampfer der Gardajee-Dampf:
ſchiffahrtsgeſellſchaft hinüberfahren, welche die regelmäßige
Verbindung der Seeorte (zwiſchen Riva und Deſenzano, fo:
wie Riva und Peschiera, mit Anſchluß an erſtere Linie
in Gargnano) vermitteln. Es lohnt fih ganz außer:
ordentlich ein längerer Aufenthalt in einem der intereſſanten
Städtchen und Oertchen am Ufer, um von dort aus zu
Fuß oder mittels des Dampfers überaus genußreiche Aus⸗
flüge zu machen. |
Zu einer ſolchen Station eignet fic) gleich ſehr gut
das von unſerem Standpunkte am Feſtungsthor von Nago
aus geſehene Torbole, das unmittelbar zu unſeren Füßen
liegt. Eine ſteil abfallende Straße, auf der die Vene⸗
tianer im Dezember 1438 eine Flotte von 6 großen und
25 kleineren Schiffen von Mori aus nach dem See ſchafften,
bringt uns in einer Viertelſtunde dorthin. |
Die Mehrzahl der Reiſenden indeſſen bleibt im Zuge
ſitzen. Die Bahnlinie ſenkt ſich in ſtarker Neigung nach
Arco, dem bekannten klimatiſchen Winterkurort, den wir
nach 50 Minuten Fahrt von Mori erreichen. Nach einer
ferneren Viertelſtunde iſt der Bahnhof von Riva, einem
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Gesamtansicht von Nago, Kastell Penede, Fort Nago und Corbole.
90 Am Gardafee.
lebhaften Handelsſtädtchen von 5000 Einwohnern an der
nördlichſten Bucht des Sees, erreicht. Die Schönheit ſeiner
Lage, namentlich vom See aus, und ſeiner Umgebung
haben dem dicht
am Fuß der ſteil
aufragenden Roc:
chetta (1517 Meter)
ſich hinziehenden
Platze, der zwar
öſterreichiſch, aber
ganz italieniſchen
Charakters iſt, nicht
nur einen ſtarken
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Aus Riva.
Paſſantenverkehr, ſondern auch eine in neueſter Zeit ftets
wachſende ſtändige Fremdenkolonie verſchafft. Für die
Unterkunft der Reiſenden iſt durch zum Teil ſehr ſchön ge—
legene Gaſthöfe geſorgt, unter denen die „Goldene Sonne“
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Corbole.
92 Am Gardaſee.
(Sole d'oro) mit Terraſſe nach dem See und die „Hotel⸗
Penſion du Lac“ vor der Stadt an der Straße nach Tor:
bole obenan ſtehen. Die kleine, enge Stadt hat eine inter⸗
eſſante Geſchichte, an welche verſchiedene Baulichkeiten und
andere Denkmale der Vergangenheit erinnern, fo zum Bei:
ſpiel die Rocca, das jetzt als Kaſerne dienende Stadtſchloß,
der urkundlich ſchon ſeit 1273 bekannte Aponale oder Wart⸗
turm u. ſ. w. In der Umgegend von Riva bilden die
Ponaleſtraße und der Ponalefall, ſowie Varone mit ſeinem
Waſſerfall die Hauptziele für die Ausflügler.
Auf der am Hotel du Lac und dem Sperrfort S. Ni⸗
colo vorüberziehenden Fahrſtraße erreicht man von Riva
aus zu Fuß in drei Viertelſtunden das ungemein maleriſch
am Seeufer gelegene, ſchon oben erwähnte kleine Fiſcher⸗
dorf Torbole mit ſeinem berühmten Olivenwalde. Nicht
minder berühmt iſt die Ausſicht von der Plattform bei der
über dem Ort auf einem Hügel gelegenen Kirche und von
der Veranda des Gaſthauſes „Zum Gardaſee“ (Albergo
Lago di Garda) mit ihren drei Cypreſſen. Hier am Nord⸗
ende kann man auch am beſten den Farbenwechſel des Sees
beobachten, deſſen Flut je nach der Bewegung des Waſſers
und nach dem Winde, ſowie nach der vorhandenen oder
mangelnden Bewölkung bald hellgrün, bald braunrot oder
tiefdunkelblau erſcheint. Grün iſt er beſonders an ſeichten
Stellen, die Ultramarinfarbe aber tritt zumal an den tiefſten
Stellen prachtvoll hervor, ſo zum Beiſpiel in der Nähe der
Finanzwache am Monte Brione.
Die Torbolaner ſind alle gewandte und verwegene Fiſcher
und Schiffer, von denen auch nicht wenige den Schleichhandel
betreiben, namentlich mit Spiritus, der in Italien ſehr hoch
verzollt iſt und daher im Falle des Gelingens reichen Ge⸗
winn bringt. Eine damit beladene Barke, die glücklich über
die Grenze, gewöhnlich nach Malceſine, gebracht wird, trägt
gegen hundert Gulden ein. Meiſt wird der Schmuggel bei
Don Fr. Regensberg. 93
Nacht in ſtürmiſcher See betrieben, und trotz den guten
Schiffen der italieniſchen Zollwächter, die mit elektriſchen
Scheinwerfern die Seefläche ableuchten, kommt es recht
ſelten vor, daß ſie einen Schwärzer erwiſchen. Einzelne
von letzteren ſchaffen auch zu Lande auf den ſteilſten
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Magugnano di Sopra.
Pfaden, namentlich in Pregaſina, Magugnano di Sopra,
Thoire, Caprino u. f. w., ihre Waren über die Grenze.
Entlang dem See geht nämlich beiderſeits keine Straße;
auf dem Oſtufer beginnt ſie erſt bei Malceſine, auf dem
weſtlichen bei Gargnano — beides italieniſche Orte.
Recht anziehend iſt die Beobachtung des Treibens der
Schiffer und Fiſcher im Hafen von Torbole. Der
94 Am Gardafee.
Fiſchreichtum des Sees war ſchon bei den Römern ſprich⸗
wörtlich, und ſeine Lachs⸗ und Flußforellen (Saiblinge),
Hechte, Sardinen, Aale, Karpfen, Barſche, Barben und andere
bilden noch heute einen bedeutenden Ausfuhrartikel der See⸗
anwohner. In neuerer Zeit hat man auch eine Anſtalt
für künſtliche Fiſchzucht in Torbole errichtet, die alljährlich
im Frühjahr und Herbſt Hunderttauſende von winzigen
Forellen, Aalen u. ſ. w. im ruhigſten Teil des Waſſers
ausſetzt. Den reichſten Fang machen die Fiſcher gewöhnlich
nach Stürmen, die keineswegs ſelten ſind; trotzdem weiß
man kaum von Unglücksfällen zu erzählen. Ganz eigen⸗
tümlich ſind überhaupt die Winde am Gardaſee. In der
Morgenfrühe weht meiſt der kühle Nordwind (il Sover), der
bei regelrechter Witterung bis gegen 10 oder 11 Uhr vor⸗
mittags andauert. Dann kräuſeln ſich die Wellen, und nun
ſetzt die Ora, der Südwind, ein. Dieſer Umſchlag erklärt
ſich durch die Erwärmung der Luftſchichten: die kalte Luft
ſtürzt herab von den Bergen, und die erwärmte ſteigt hinauf.
Für die Segelſchiffahrt und Fiſcherei iſt dieſer Wechſel von
Vorteil, da er einen faſt regelmäßigen Verkehr geſtattet.
Von Torbole fährt man gewöhnlich direkt nach dem
gleichfalls auf der Oſtküſte gelegenen Oertchen Malceſine,
das an den ſteilen Abhängen des Monte Baldo liegt. Auf
einem in den See ragenden Baſaltfelſen erhebt ſich ein
altersgraues Schloß, das von Karl dem Großen herrühren
ſoll, und deſſen Goethe in ſeiner „Italieniſchen Reiſe“ Er⸗
wähnung thut. Der Dichter hatte ſich im Schloßhofe dem
alten, auf und in den Felſen gebauten Turm gegenübergeſetzt,
um eine Skizze des Gemäuers aufzunehmen, wobei er faſt
als vermeintlicher Spion verhaftet worden wäre. Weiter
auf dem Oſtufer folgt Torri mit ſeinen Brüchen gelben
Marmors, mit dem unter anderem die Galleria Vittorio
Emanuele in Mailand gepflaſtert iſt, und Garda, das dem
einſt zur Grafſchaft Garda gehörigen See den Namen gab,
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Finanzwache am Monte Brione,
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96 Am Gardafee.
überragt von einer durch den jetzigen Beſitzer, den Conte
Buri, wiederhergeſtellten altlangobardiſchen Burg.
Zwiſchen Torri und Garda ſpringt als ſüdlichſter Aus:
läufer des Monte Baldo die Punta di San Vigilio, der
landſchaftlich ſchönſte Punkt der öſtlichen Uferſeite, in
den See vor. Ein Spaziergang dorthin, auf dem man
auch das Fort Vigilio berührt, führt an zahlreichen
Landſitzen des Veroneſer Adels mit herrlichen Parks vor⸗
über und bietet die entzückendſten Seeuferbilder. In der
Villa Albertini empfing am 10. Juni 1848 Karl Albert
von Sardinien die Abordnung, welche ihm das Ergebnis
der in der Lombardei vorgenommenen Volksabſtimmung
überbrachte, die zu Gunſten der Vereinigung der Lombardei
mit Piemont ausgefallen war. An demſelben Tage zwangen
die Oeſterreicher Vicenza zur Uebergabe, und zwei Monate
ſpäter war das „Schwert Italiens“, wie die italieniſchen
Patrioten Karl Albert nannten, ein geſchlagener Flüchtling.
Auf dem Vorgebirge ſelbſt liegt die im 16. Jahrhundert
nach Plänen von Sanmicheli erbaute Villa Brenzoni, von
dichten Lorbeergebüſchen und Cypreſſen umgeben.
Von Garda aus wird vielfach der Aufſtieg nach einem
der ſüdlichen Hauptgipfel des Baldozuges, der Punta del
Telegrafo (2200 Meter), unternommen, deren Name daran
erinnert, daß der erſte Napoleon von dort aus ſeinen in
der lombardiſchen Ebene operierenden Truppen mit einem
optiſchen Telegraphen Signale geben ließ. Die Fahrſtraße
geht über Caprino und Spiazzi bis Ferrara di Montebaldo,
von wo man noch vier Stunden bis zum Gipfel zu ſteigen
hat. Die Anſtrengung wird belohnt durch eine großartige
Ausſicht, die nach Norden die Spitzen des Monte Baldo
ſelbſt, ſowie die dahinter und ſeitlich von jenen fih er:
hebende Hochgebirgswelt von Süd⸗ und Mitteltirol umfaßt,
nach Süden aber weit hinaus auf die italieniſche Ebene
bis hinüber zu den Apenninen reicht.
Don Fr. Regensberg. 97
Das öftliche Seegeftade verliert von Garda aus erheblich
an Reiz, weshalb wir uns nunmehr dem weſtlichen zuwenden,
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Fischer in Torbole.
auf dem von Riva aus Limone die erſte italieniſche Station
iſt, die der Dampfer anläuft. Der in einer geſchützten Bucht
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98 Am Gardaſee.
gelegene Ort führt ſeinen Namen von der dort beginnen—
den Zitronenzucht, denn die Zitrone heißt im Italieniſchen
limone. Hier werden bereits als erſter Gruß des Landes,
„wo die Zitronen blüh'n“, die Terraſſen mit Zitronenpflan—
zungen (Cedraie) auf den Abhängen ſichtbar, die uns längs
des ganzen Weſtufers bis nach Salò begleiten. Auch die
Im hafen von Torbole.
übrige Vegetation iſt eine nahezu ſubtropiſche längs der
ſogenannten Riviera del Lago, wie man die Gegend
zwiſchen den Orten Gargnano und Salò nennt, die
durch eine ſchöne, teilweiſe in den Felſen geſprengte
Fahrſtraße mit entzückenden Ausblicken auf den See ver—
bunden ſind.
Zwiſchen Maderno und Salo liegt Gardone Riviera,
das in neueſter Zeit wegen ſeines milden Klimas und der
ſonſtigen, namentlich für Bruſt- und Lungenkranke überaus
günſtigen Verhältniſſe zu einem Winter- und Frühlingskurort
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Von Fr. Regensberg. 99
von hervorragender Bedeutung geworden iſt. Zwiſchen hier
und dem auf dem Oſtufer gegenüberliegenden Laziſe, deſſen
impoſante „Dogana“ oder Zollſtätte an der Piazza noch
aus der Zeit der Venetianerherrſchaft ſtammt, beſitzt der
See ſeine größte Breite. Im Hintergrunde einer ſchmalen
und tief eingeſchnittenen Bucht erhebt ſich maleriſch am
Fuße des Monte Bartolomeo Salò, die lebhafteſte Stadt
am ganzen See. Hier ſind die größten Getreide- und Obſt—
Malcesine.
märkte, und hier kann man
noch manche ſchöne Trachten
bewundern, die man in der Lombardei vergebens ſucht. Der
Ort bildet aber auch den Vereinigungspunkt mehrerer Dampf—
ſtraßenbahnen, die weit hinauf in die Gebirgsthäler reichen
und für den Reiſenden ungemein angenehm ſind. Calo
hat eine intereſſante Geſchichte; am Telegraphengebäude beim
Hafen fallen die Kanonenkugeln auf, die 1866 von den
öſterreichiſchen Kriegsſchiffen gegen die Garibaldianer ab—
geſchoſſen worden ſind.
Außerhalb der Bucht von Salo taucht ein grünes Eiland,
die Iſola di Garda, aus dem blauen See auf. Es wird
100 i Am Gardafee.
wegen der mangelhaften Dampferverbindung nur wenig be:
ſucht, obwohl es an die Iſola Bella im Lago Maggiore
erinnert und neben Sermione die anziehendſte Oertlichkeit
des ganzen Sees bildet. Das idyllisch ſchöne, 1½ Kilometer
lange und 800 Meter breite Eiland hat bereits in früh—
römiſcher Zeit prächtige Bauten, Tempel- und Gartenanlagen
getragen; es gehört ſeit 1895 dem Fürſten Borgheſe.
Sermione iſt das Sirmio des römiſchen Dichters Ca—
tullus, der dies herrliche Fleckchen Erde in begeiſterten
Verſen beſungen hat. Der Ort liegt auf der gleichnamigen,
Fort Vigilio,
vom Südufer des Sees als ſchmale Landzunge weit vor—
ſpringenden Halbinſel. Das Ufer iſt hier zu ſeicht, um den
Dampfern ein unmittelbares Anlegen zu geſtatten, weshalb
jedesmal ein Boot von dort herankommt, um Paſſagiere
und Gepäck in Empfang zu nehmen. Schon von weitem
fällt das Städtchen auf durch das trutzig mit Türmen und
Zinnenmauern emporragende Kaſtell, ein Schloß der Scaliger
aus dem 13. Jahrhundert, vor dem aber bereits eine Feſte
dort geſtanden hat, da Sirmio fdon unter den Römern
eine wichtige Station an der Straße nach Gallien war.
Von beſonderem Intereſſe ſind die ſogenannten Grotten
des Catull, anſcheinend Ueberreſte eines römiſchen Bades an
der Nordſpitze der Halbinſel, ein Labyrinth von Bogengängen
und Galerien, die vielleicht aus dem Anfange des 4. Jahr—
Don Fr. Regensberg. 101
hunderts unſerer Zeit:
rechnung ſtammen. Mög⸗
licherweiſe hat die Er—
richtung dieſer Bauten
im Zuſammenhange ge—
ſtanden mit den heißen
und gasreichen Schwefel—
quellen, die vielleicht
urſprünglich auf der
Halbinſel ſelbſt zu Tage
traten, während ſie jetzt
mitten im See, etwa
300 Meter vomöſtlichen
Ufer, mit ziemlicher Hef-
tigkeitemporſteigen. Man
hat neuerdings ein Rohr
in die 18 Meter unter
dem Waſſerſpiegel ent—
ſpringende Hauptquelle
geſetzt, um das äußerſt
heilkräftige Schwefel—
waſſer zu gewinnen,
deſſen größter Teil lei—
der unbenutzt in den See
läuft. Man geht frei—
lich längſt mit dem Plane
der Herſtellung einer
entſprechenden Leitung
und Errichtung eines
Schwefelbades in Ser—
mione um, der aber
bisher an der zu hohen
Forderung des italienischen Staates 1 dem die
Quellen gehören.
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duo
Am Gardaſee.
Die merkwürdige
Erſcheinung dieſer hei—
ßen Sprudel mitten im
See bringt die jüngſten
vulkaniſchen Vorgänge
am Monte Baldo in
Erinnerung. Dieſer iſt
von jeher der Mittel—
punkt von Erderſchütte⸗
rungen geweſen, die
am Oſtufer des Sees
ſchon ſo manche Ver—
wüſtung angerichtet
haben, ſo 1810 und in
den ſechziger Jahren.
Daß der Berg auch heute
noch nicht zur Ruhe ge—
kommen iſt, kündete
dumpfes Rollen aus
ſeinem Inneren im
März 1899 drohend an.
Am 24. März wuchs
die kleine Iſola Tri—
mellone um 30 Centi—
meter aus den Fluten
heraus, und ebenſo
konnte bei Maleeſine
eine Hebung des Ufers
feſtgeſtellt werden. In
der Einſattelung zwi—
ſchen dem Monte Al—
tiffimo auf dem Baldo
und der Varagna bildeten ſich Felsſpalten, denen weiß—
licher Rauch entquoll, und bei dem Dorfe Trichi trat
Don Fr. Regensberg. 103
eine bittere Thermalquelle zu Tage. In manchen Orten
des Sarcathales iſt eine alte Prophezeiung von dem der:
einſtigen Wiederausbruch eines feuerſpeienden Berges leben⸗
dig, mit dem der Baldo gemeint iſt.
Letzte Dampferſtation am weſtlichen Südufer des Sees
ift der auf römiſcher Grundlage ruhende Flecken Defen:
zano mit einem einſt berühmten und noch heute lebhaft be-
ſuchten Dienstagsmarkt, zu dem von Riva und Peschiera
(über Maderno) beſondere Marktdampfer den Verkehr ver—
mitteln. Wem es um einen ſchönen Abſchiedsblick auf den
Gardaſee zu thun iſt, der begebe ſich auf den Altan des
Gaſthauſes „Zu den zwei Tauben“ (Due Colombe) in
Deſenzano, um das entzückende Bild noch einmal recht in
ſich aufzunehmen, bevor ihn die Eiſenbahn weiter in das
italieniſche Land hineinträgt.
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Der Tombsengel. # „ e s
Kriminalnovelle von Harry Sheff.
Er
(Machdruck verboten.)
1.
er herrlichſte Sonnenſchein lag über Long Island, jener
langgeſtreckten, durch Naturſchönheit und Fruchtbar⸗
keit ausgezeichneten Inſel, welche nur durch einen ſchmalen
Meeresarm von New Pork getrennt und ſübdlich wie öſtlich
vom Atlantiſchen Ozean beſpült wird.
Ueber die Turnpike, eine der großen Verkehrsſtraßen,
welche das Eiland durchſchneiden, ſchritt ein junger, hoch—
gewachſener Mann. Frei und mutig blickten ſeine hellen
braunen Augen, ſeine ſonſt wohl ein wenig blaſſen Wangen
hatten durch die Wanderung ſo nahe der Küſte, von welcher
eine friſche Seebriſe herüberwehte, den Hauch einer zarten
Röte empfangen, welche vortrefflich zu ſeinem blonden, unter
dem breiten Strohhut lockig hervorquellenden Haupthaar
paßte, und aus jeder ſeiner Bewegungen ſprach jugendliche
Kraft und Entſchloſſenheit.
Diejenigen freilich, welche ihm auf feinem Wege be:
gegneten, wußten, auch ohne hervorragende Menſchenkenner
zu ſein, ſofort, daß dieſer junge Mann ein „Greenhorn“,
das heißt ein kürzlich erſt in Amerika Gelandeter, und
ſpeziell ein Deutſcher ſein müſſe. Sein höflicher Gruß,
Kriminalnovelle von Harry Sheff. 105
bei welchem er niemals das Haupt zu entblößen verfehlte,
und nicht zum mindeſten ſein grauer Anzug, der ſicherlich
nicht aus der Werkſtatt eines amerikaniſchen Bekleidungs—
künſtlers hervorgegangen war, bewieſen das eine wie das
andere.
In der That befand ſich Franz Schneider noch keine
volle zwei Tage im Lande der Yankees. Geſtern morgen
erſt war er mit einem Dampfer der Hamburger Linie in
Hoboken eingetroffen, hatte als Paſſagier zweiter Kajüte
ohne Weiterungen landen dürfen und war in einem be—
ſcheidenen Gaſthauſe in New Pork eingekehrt. Da er unter:
wegs ziemlich ſtark von der Seekrankheit gelitten, ſo hatte
er den erſten Tag dazu benutzt, ſich gründlich auszuruhen.
Am nächſten Morgen aber ſchon machte er ſich frühzeitig
auf, den Hauptzweck ſeiner amerikaniſchen Reiſe zu er—
füllen, zum mindeſten das ernſte, er durfte in ſeinem Fall
ſogar ſagen das „heilige“ Geſchäft, welches ihn bewogen, die
Heimat zu verlaſſen und die Fahrt über den Ozean an—
zutreten, in Angriff zu nehmen.
Und während der junge Deutſche nun das meerumfloſſene
Long Island durchkreuzte, während er an den ſchmucken,
hell angeſtrichenen Holzhäuſern mit ihren wohlgepflegten
Gärten, den Farmen mit ihren weit ausgedehnten Feldern
und Wieſen vorübereilte, wandten ſich ſeine geiſtigen Blicke
rückwärts zur Heimat und weilten bei einem geliebten Bilde,
welches ſeine Seele erfüllte, und das mit dieſer Reiſe in
das fremde, ihm ſo ganz unbekannte Land aufs innigſte
zuſammenhing.
Wilde gelbe Kanarienvögel begleiteten ihn auf ſeinem
Weg und ſchwangen ſich zwitſchernd von der Silberpappel
zum wilden Kirſchenbaum hinüber, rotbrüſtige Amſeln ſpran—
gen vor ihm her, und der Katzenvogel ließ aus dem Buſch,
dem ſpärlichen Reſt, den die Axt des Pioniers der Zivili—
ſation von der Wirrnis des Urwalds hier übrig gelaſſen,
106 Der Tombsengel.
feinen miauenden Ruf ertönen, große, in den herrlichſten
Farben ſchillernde Schmetterlinge gaukelten über endlos
ſcheinende Erdbeerpflanzungen dahin, die Tomatenfelder
prangten im Schmuck der gelben Blüte, und der Mais hob
ſeine ſchmalen grünen Büſchel fußhoch über das Erdreich
empor.
Der Wanderer ſah in dieſem Augenblick nichts von alle⸗
dem — ernſt, ja düſter ſogar waren ſeine Blicke geworden,
denn er dachte daran, daß ſich, vielleicht vor Ablauf einer
Stunde noch, eine für ſein und ein anderes ihm teures Leben
überaus wichtige Entſcheidung vollziehen werde.
War er doch nach Amerika gekommen, um einen treu⸗
loſen, pflichtvergeſſenen Vater und Gatten zu ſeiner Pflicht
anzuhalten, von ihm Rechenſchaft zu fordern, daß er einſt
herzlos und kaltblütig zwei Menſchenleben in den Schatten
des Elends und der Verlaſſenheit gedrängt und — dieſes
erſchien dem Jüngling als der bedeutſamſte Teil ſeiner
Miſſion — Verſöhnung und Liebe zu bringen, wenn das
Herz jenes egoiſtiſchen Mannes beſſeren Gefühlen überhaupt
noch zugänglich war.
Es war eine traurige Familiengeſchichte, welche am
geiſtigen Auge Franz Schneiders vorüberzog. Vor fünf—
undzwanzig Jahren hatte in Dresden das Verſchwinden
des Bauunternehmers Alfred Schneider, eines Mannes,
den man allgemein für reich und achtbar gehalten, das
größte Aufſehen erregt. Kurz zuvor erſt hatte Schneider
ein hübſches, liebenswürdiges Mädchen aus beſter Familie
als Gattin heimgeführt, und der anſcheinend glücklichen
Ehe war ein Knabe entſproſſen. Der erſte Geburtstag
des kleinen Franz war noch durch eine prächtige Geſell—
ſchaft gefeiert worden, aber zwei Tage ſpäter war Schneider
flüchtig geworden, und hinter ihm brach ſein ganzes Ge—
ſchäft, welches man für ſolid und feſt fundiert erachtet hatte,
in Trümmer zuſammen. Schneider war bankerott, und
Kriminalnovelle von Harry Sheff. 107
nicht ein Pfennig blieb für die von ihm zurückgelaſſene
Frau und das Kind übrig. Das war wohl ſchlimm genug,
doch bei weitem nicht ſo niederdrückend und traurig für
die arme Frau als die fih nur zu bald herausſtellende Ge:
wißheit, daß Schneider nicht allein gegangen war.
In ſeiner Begleitung befand ſich eine in Dresden wohl⸗
bekannte Operettenſängerin, ein ſchönes, reizvolles Weib,
deſſen galante Abenteuer der ſächſiſchen Reſidenz oft genug
Stoff für pikanten Klatſch geliefert hatten. Man rühmte
ihr zwar auch große Herzensgüte und einen ausgeprägten
Wohlthätigkeitsſinn nach, aber ſelbſt ihre beſten Freunde
und Gönner mußten ihren bodenloſen Leichtſinn zugeſtehen,
durch welchen nunmehr die ſchöne, begabte Künſtlerin ihre
Carriere ruiniert und das ſchärfſte Verdammungsurteil auf
ſich gezogen hatte.
Das ſaubere Paar blieb trotz eifriger Nachforſchungen
ſeitens der Verwandten der Frau Schneider wie vom Erd—
boden verſchwunden; gewiſſe Anzeichen deuteten zwar darauf
hin, daß ſich Schneider und ſeine Begleiterin nach Amerika
gewandt hätten, doch trotzdem der deutſche Generalkonſul
in New Pork ſich für den Fall intereſſierte und umfang:
reiche Recherchen anſtellte, war ihr Aufenthalt doch nicht zu
ermitteln geweſen. i
Frau Schneider fügte ſich mit ſtiller Reſignation in ihr
Schickſal. Sie erwarb durch feinere Handarbeiten den Lebens:
unterhalt für ſich und ihr Kind, und als ihr nach einigen
Jahren ein kleines Kapital durch Erbſchaft zufiel, war ſie
der ſchwerſten materiellen Sorgen wenigſtens überhoben.
Aber das ihr angethane Herzeleid ließ ſie frühzeitig altern
und machte ſie unempfänglich für die Freuden des Lebens.
Nur der Erziehung ihres Knaben gab fie fih mit glüd-
erfüllter Aufopferung hin, und Franz enttäuſchte das Mutter⸗
herz in keiner Beziehung. Körperlich und geiſtig vortrefflich
entwickelt, wurde er ein guter, dankbarer Sohn und ein
108 Der Tombsengel.
—
tüchtiger, brauchbarer Menſch. Er abſolvierte das Gym⸗
naſium und wurde dann, da er entſchiedene Begabung für
Malerei und Zeichnen bewieſen, Lithograph — ein Künſtler
in ſeinem Fach.
So lebten Mutter und Sohn in inniger Harmonie und
ſtiller Zufriedenheit, bis eines Tages Frau Schneider durch
den Beſuch eines alten Freundes ihrer Familie überraſcht
wurde, welcher lange Jahre in Amerika gelebt hatte und
ſoeben nach Deutſchland zurückgekehrt war, um ſeine alten
Tage in Europa zu beſchließen.
Dieſer Mann brachte Mutter und Sohn eine ſie im
höchſten Grade erregende Nachricht. Der treuloſe Gatte
und Vater, den ſie bereits tot gewähnt, lebte! Der Ueber⸗
bringer dieſer Kunde hatte ihn ſelbſt in New Vork geſehen
und geſprochen. Er ſei alt und grau, ein einſilbiger, mür:
riſcher, unfreundlicher Menſch geworden. Seinen deutſchen
Namen Schneider habe er in die engliſche Ueberſetzung des⸗
ſelben Taylor umgewandelt. Der Gewährsmann hatte nicht
ohne Schwierigkeit ermittelt, daß der frühere Dresdener
Bauunternehmer im Laufe der Zeit ein reicher Mann ge⸗
worden ſei. Sein Vermögen werde auf mehrere hundert—
tauſend Dollars geſchätzt, von denen er ſelbſt jedoch nicht
den geringſten Genuß habe, ebenſowenig wie irgend ein
anderer. Denn Taylor ſei als Geizhals und Sonderling
verſchrieen. Er habe fih von der Welt faſt ganz zurück⸗
gezogen und hauſe einſam und gemieden auf einer kleinen
Farm auf Long Island, die er nur verlaſſe, wenn unauf—
ſchiebbare Geſchäfte ihn nach New Pork riefen. Sein ein:
ziges Beſtreben und ſein ausſchließliches Vergnügen beſtehe
darin, ſein Vermögen immer noch zu vergrößern und dem
Dollar nachzujagen, ein Unternehmen, in welchem er be—
züglich der Wahl ſeiner Mittel nicht ſehr gewiſſenhaft ſein
ſollte. f
Dieſe Nachricht raubte der kleinen Familie den Frieden.
Kriminalnovelle von Harry Sheff. 109
Die Mutter vergoß heiße Thränen in dem Gedanken,
daß der Mann, den ſie einſt über alles geliebt, einſam und
unglücklich ſei, daß er vielleicht im geheimen von Reue
und Gewiſſensqualen gefoltert werde und nur nicht wage,
zu Frau und Kind zurückzukehren, weil er befürchten müſſe,
ſtolz und rauh abgewieſen zu werden, und der Sohn litt,
da er die geliebte Mutter ruhelos und ſchmerzverloren ſah.
Von jetzt an ſprachen ſie faſt an jedem Abend über
den Vater — ſie gaben dem Pflichtvergeſſenen dieſen Namen
wieder —, die Mutter erzählte von den zwei glücklichen
Jahren ihrer Ehe und ſuchte ſorgfältig alles heraus, was
den Abtrünnigen entſchuldigen, was ihn in der Meinung
des Sohnes erhöhen konnte. Gewiß, jene niedrige Perſon,
mit welcher er auf und davon gegangen war, hatte ihn
verführt, hatte ihn in einer ſchwachen Stunde zur Flucht
überredet, dann hatte ſie ihn drüben in Amerika verlaſſen,
und nun war er einſam und unglücklich — trotz des Neid):
tums, den er ſich erworben.
Nun, Mutter und Sohn dachten mit keinem Gedanken
daran, daß die Kenntnis des Aufenthaltes ihres Gatten
und Vaters für ſie von materiellem Vorteil ſein könne,
ſie berechneten nicht, ſie hofften nicht, ſie erwarteten nichts.
Wozu auch? Sie beſaßen und erwarben ja genug, ihnen
fehlte nur die Liebe deſſen, der verpflichtet geweſen wäre,
ſie ihnen für das ganze Leben zu geben.
Und eines Tages ſprachen ſie es beide aus, was ſie
beide längſt heimlich beſchäftigt hatte.
Franz ſollte nach Amerika reiſen, ſeinen Vater auf⸗
ſuchen, ihm Verſöhnung bringen! — Wer von ihnen zuerſt
den Vorſchlag ausgeſprochen, dieſem geheimen Gedanken
Worte geliehen, das wußten ſie ſelbſt ſpäter nicht zu ſagen.
Der Plan war geboren, mit Thränen und Seufzen ſeitens
Frau Schneiders wurde er großgezogen, und eines Tages be-
fand ſich Franz an Bord eines Schnelldampfers und hielt die
110 Der Tombsengel.
weinende Mutter, welche ihm bis Hamburg das Geleit ge:
geben, zärtlich tröſtend in ſeinen Armen.
„Bring ihm Verſöhnung — denk, daß er unglücklicher
geworden iſt als ich — geh nicht mit ihm ins Gericht, er
iſt dein Vater — das vergiß nie — niemals! Und dich,
mein guter, geliebter Sohn, ſchütze Gott auf dem weiten
Meere und im fernen Land!“
Das waren die letzten Worte, welche Franz von den
Lippen ſeiner Mutter vernahm, ehe ſie mit den vielen an⸗
deren Abſchiednehmenden vom Schiffe ging und das Läuten
der Glocke, der ſchrille Ton der Dampfpfeife und das
Lärmen und Treiben an Bord den herben Schmerzen:
ausbruch der einſamen Frau übertönten.
Der junge Lithograph hatte einen Seitenweg eingeſchla⸗
gen, der zur Küſte hinabführte. Vorübergehende hatten
ihm auf ſein Befragen die Auskunft gegeben, daß der „alte
Taylor“ dort unten ſein Haus habe. Der „alte“ Taylor?
Franz rechnete aus, daß der Vater das fünfundfünfzigſte
Lebensjahr noch nicht vollendet haben könne, und die Leute
nannte ihn ſchon „alt“? Sonderbar! Aber Einſamkeit und
Enttäuſchung machen vorzeitig alt. —
Unwillkürlich beflügelten ſich jetzt die Schritte des jungen
Mannes, ſein Herz pochte ſtürmiſch, und erregungsvolle Er—
wartung ließ ihn kaum Atem holen. Vor ihm, vom Buſch—
werk halb verborgen, tauchte ein verwahrloſtes Haus auf.
Wie alle amerikaniſchen Landhäuſer war es aus Holz er—
baut und mit Schindeln gedeckt, doch, während die anderen
Gebäude, an denen er vorübergekommen war, ſauber, ge—
pflegt und einladend ausgeſehen, ſchien dieſes einſtöckige
Haus ſeit langen Jahren nicht von einer ausbeſſernden
Hand berührt worden zu ſein.
Es fröſtelte Franz bei dem Gedanken, daß hier ein
Menſch ſein halbes Leben habe zubringen können, es war
Kriminalnovelle von Harry Sheff. 111
ein gar trauriges Heim, und nur die Nähe des Meeres,
welches ſilberglänzend kaum dreihundert Schritte weit ent:
fernt lag, verſöhnte einigermaßen mit dem düſteren, un⸗
freundlichen Anblick.
Durch die in roſtigen Angeln hängende Thür eines
morſchen Fichtenholzzaunes trat Franz auf den Vorplatz
und näherte fih dem Haufe. Aber ehe er dasſelbe er:
reichte, fuhr heulend und kläffend ein Köter auf ihn zu.
Zum Glück lag der Hund an der Kette und mußte es
dabei bewenden laſſen, ſeine Wut in ohnmächtigem Bellen
zu erſchöpfen. Franz ſchritt furchtlos der Thür zu, doch ehe
er an dieſelbe anpochen konnte, wurde ſie von innen ge⸗
öffnet. Der junge Mann ſchrak zuſammen, und tiefe Bläſſe
überzog ſein Antlitz. Wußte er doch, daß er vor ſeinem
Vater ſtehe.
Sein Vater! War dieſer alte, grauhaarige Mann mit
dem gelben, eingefallenen, von Falten und Furchen ver:
wüſteten Geſicht, den ſtechenden grauen Augen und den
ſchmalen, blutleeren Lippen, um welche die zitternde Furcht
und die Heimtücke eines Geizhalſes lauerten, wirklich ſein
Vater, deſſen Bild er als das eines ſtattlichen, ſogar ſchönen
Mannes kannte? War dieſer bäuerlich gekleidete Bewohner
des einſamen, vernachläſſigten Hauſes, der auf einen Stock ge—
ſtützt unbeweglich im Rahmen der Thür ſtand und feinen un:
erwarteten Beſucher mit unverhohlenem Mißtrauen und Un⸗
willen anſtarrte, wirklich derſelbe Alfred Schneider, den ſeine
früheren Freunde und Bekannten als einen formvollendeten,
eleganten und lebensluſtigen Geſellſchafter ſchilderten?
Franz gab ſich, während die beiden Männer ſchweigend
eine Minute lang einander gegenüberſtanden, der Hoffnung
hin, ſich im Hauſe und in der Perſon geirrt zu haben.
„Verzeihung, mein Herr,“ ſagte er den Hut lüftend,
„ich fürchte, Sie umſonſt geſtört zu haben — ich ſuche Miſter
Taylor.“
112 Der Tombsengel.
„Der bin ich,“ verſetzte der Alte rauh, „was kann ich
für Sie thun, Sir?“
„Sie ſind's — alſo — wirklich?“ fuhr Franz mit leiſe
erzitternder Stimme fort, „dann alſo auch Alfred Schneider,
der vor fünfundzwanzig Jahren als Bauunternehmer in
Dresden lebte, deſſen Frau Eliſabeth —“
Der junge Mann brach plötzlich mitten in ſeiner Rede
ab, die Worte, die er noch hatte ſagen wollen, blieben ihm
in der Kehle ſtecken, und er empfand gleichzeitig einen
körperlichen Schmerz am Herzen.
Es ſchien ihm auch völlig überflüſſig, weitere Fragen
zu ſtellen, er wußte, was er wiſſen wollte: dieſer un⸗
ſympathiſche Alte mit dem Aeußeren eines Geizhalſes und
den Manieren eines verwahrloſten Bauern — war ſein
Vater! Das blitzſchnelle Zurückfahren des Alten, der kurze,
heiſere, unartikulierte Laut, der ſich ſeinen Lippen ent⸗
rungen, als Franz ihm ſeinen wahren Namen und ſeine
Herkunft genannt — dieſe Aeußerung der Beſtürzung und
eines auf dieſe Ueberraſchung nicht gefaßten Gewiſſens
waren dem jungen Manne Beweis genug.
Der Alte hatte ſich ſchnell gefaßt. „Sie irren,“ rief
er, indem er ſich einige Schritte zurückzog, „mein Name
iſt Taylor — die ganze Gegend kennt mich — ich habe
mit dem Manne, den Sie ſuchen, nichts zu ſchaffen.“
„Das iſt nicht wahr,“ rief Franz mit großer Beſtimmt⸗
heit, „du biſt Alfred Schneider ſo ſicher und wahr, wie ich
dein Sohn Franz bin!“
Der bartloſe Alte riß die Augen weit auf, und ſeine
Lippen gingen für einen kurzen Augenblick auseinander,
ſo daß die gelben ungepflegten Zähne zum Vorſchein kamen,
der Stock in ſeiner Hand geriet in zitternde Bewegung
und ſchlug mehrmals auf den Fußboden auf.
„Und nun, Vater,“ rief der junge Mann, „nun bitte
ich dich, gieb jede Verſtellung auf, verleugne nicht länger
Kriminalnovelle von Harry Sheff. 113
den ſchönſten, heiligften Namen, den ein Menſch von eines
anderen Lippen hören kann! — Ich bringe dir Liebe und
Verſöhnung, ich bringe dir die Grüße der Mutter. Ihr
edles Herz will vergeſſen und vergeben, und es wird dich
nur ein Wort koſten, und du kannſt die Tage deines Alters
im Kreiſe der Deinen zubringen, du kannſt dieſer entſetzlichen
Einſamkeit entfliehen und unter fühlenden, ehrlich für dich
empfindenden Menſchen glücklich ſein.“
In heißer Wallung, in tiefer Ergriffenheit hatte Franz
geſprochen und war dabei, ohne es zu wollen, dem Vater
viel weiter entgegengekommen, als er es urſprünglich be-
abſichtigt hatte. War es doch ſein Vorſatz geweſen, dem
Manne, der ſo ſchwer an der Mutter und ihm ſelbſt ge⸗
ſündigt, die Brücke nicht ſo ſchnell zu bauen und ihm das
erlöſende Wort „Vergebung“ nicht allzu ungeſtüm zu über⸗
bringen. Nun hatte er zum mindeſten erwartet, die Hand
des Vaters der ſeinen entgegengeſtreckt zu ſehen, von den
Lippen des Alten ein Echo ſeines eigenen warmen Tones
zu vernehmen.
Er wurde grauſam enttäuſcht.
Ein kurzes höhniſches Lachen klang an ſein Ohr. „Well,
ihr ſeid ſmart genug! Habt gewiß drüben gehört, daß ich
ein paar Dollars gemacht habe. Wollt lachende Erben
werden — wie? Oder gar bei Lebzeiten ſchon ziehen?
He?“
Franz trat einen Schritt zurück, und dunkle Röte über⸗
zog ſein Antlitz. „Vater,“ ſchrie er, „Vater, das iſt der
Empfang, den du deinem Sohne bereiteſt?“
„Sohn? Ich weiß von keinem Sohn. Unſinn! Bin
ich nicht fünfundzwanzig Jahre ohne euch fertig geworden?
Jeder für ſich ſelbſt. Ich habe mich geplagt und auf—
gebraucht in dieſem Lande. Und was ich mir erarbeitet
habe, ſoll ich jetzt mit Leuten, die mir ganz fremd geworden
ſind, teilen? Ha, ha — das kann ſich nur ein Greenhorn
1900. III . 8
114 Der Tombsengel.
einbilden. Aber ſelbſt wenn ich wollte — ich habe nicht
viel — ich habe kein Vermögen — kaum, was ich brauche —
ich muß darben, ich muß jeden Cent in meiner Hand drei:
mal herumdrehen, ehe ich ihn ausgebe. — Ein Lügner,
ſage ich, ein Lügner iſt der Mann, welcher behauptet hat,
ich ſei reich — ich werde ihm ins Geſicht ſpeien — pfui —
dem verdammten Lügner!“
Und der Alte, der während ſeiner in wahnſinniger Er⸗
regung hervorgeſtoßenen Worte am ganzen Leibe gezittert
hatte, ſpie ſeinen Kautabak in weitem Bogen von ſich.
Franz ſenkte traurig das Haupt — er wußte jetzt, daß
er die weite Reiſe über das Meer vergeblich unternommen.
Nicht einmal über die Schwelle des väterlichen Hauſes
durfte er treten, und nach dem, was er gehört, hatte er
nicht einmal mehr Luſt dazu. Mit dieſem Manne, der,
vom Wahnſinn des Geizes beherrſcht, nicht mehr mit dem
dünnſten Fädchen an ſeine Vergangenheit und ſeine Pflichten
geknüpft war, der beim erſten Anblick ſeines Sohnes,
ſeines eigenen Fleiſches und Blutes, nichts anderes em-
pfand als die Angſt, um einige hundert oder tauſend
Dollars erleichtert zu werden — mit dieſem hatte er nichts
gemein.
„Arme Mutter,“ murmelte er, „wie erſpare ich dir nun
den Gram dieſer neuen Enttäuſchung?“
Den Alten aber ſchien plötzlich ein neuer, ihm fürd)ter:
licher Gedanke erfaßt zu haben. „Ihr wollt mich vielleicht
verklagen?“ ſtieß er hervor, und ſeine Züge verzerrten ſich,
als ſpräche er zu ſeinem ärgſten Feinde. „Wollt mich zur
Zahlung zwingen — wollt entſchädigt ſein? Macht euch
und mir keine Advokatenkoſten, das rate ich euch. Ich
werde Einwände erheben — ich werde behaupten, daß
nicht ich der Schuldige war damals, als ich von Dresden
fortging. Ja, ja — die Frau war der ſchuldige Teil, ihre
Untreue trieb mich fort — ich war der Betrogene, ich —“
Kriminalnovelle von Harry Sheff. 115
„Elender, du wagſt es noch, meine Mutter zu be⸗
ſchimpfen!“ l
Seiner Sinne nicht mehr mächtig, hatte fih Franz auf
den Alten geworfen, der, auf diefe raſche That nicht ge:
faßt, beim erſten Anprall in die Kniee zuſammenbrach.
Mit eiſernem Griff hatte der junge Mann ihn an den
Schultern gefaßt, und eine Sekunde hatte es den Anſchein,
als wolle er ihn zu Boden ſchlagen.
Aber als habe er etwas Unreines angefaßt, ſtieß Franz
den Beleidiger feiner Mutter von fic) und trat beiſeite.
„Nein, ich will meine Hand nicht an dich legen,“ rief er
von Schmerz und Zorn übermannt, „ich will mich nicht
beflecken, obwohl ich Sie von dieſem Augenblick an als
einen Fremden betrachte und eigentlich die Verpflichtung
zu erfüllen hätte, den meiner Mutter angethanen Schimpf
zu rächen. Aber ich nehme zu meinem und Ihrem Glück
an, daß ich es mit einem Wahnſinnigen zu thun habe.
Denn wären Sie im Beſitz Ihres Verſtandes, ſo gäbe es
unter Gottes Sonne keinen elenderen, verabſcheuungs⸗
werteren Menſchen als Sie, und meine Mutter und ich,
wir müßten täglich dem Allmächtigen auf den Knieen
danken, daß er uns von einem ſolchen Menſchen rechtzeitig
befreit hat. Und nun mögen Sie ruhig und ohne Be:
ſorgnis ſein: Ihr Geld iſt ſicher, niemand ſtreckt die Hand
nach einem Dollar aus, an welchem der Fluch, Ihr Eigen⸗
tum geweſen zu ſein, haftet. Scharren Sie zuſammen,
häufen Sie Kapital auf Kapital und ſterben Sie einſam
und verlaſſen — ein Mann, dem niemand eine Thräne
nachweint!“
„Na, dem alten Filz weint gewiß keiner eine Thräne
nach,“ rief eine helle Stimme in deutſcher Sprache hinter
Franz, der in feiner unbeſchreiblichen Erregung nicht wahr:
genommen hatte, daß die unerquickliche Scene zwiſchen
ſeinem Vater und ihm Zuſchauer erhalten.
116 Der Tombsengel.
Als er fih umſchaute, fah er drei ſonderbare Geſtalten
vor ſich ſtehen.
Es waren drei Männer in zerriſſenen, ſchmutzigen und
ohne Wahl zuſammengeſtellten Kleidern, ſie trugen Stiefeln,
welche ſo manches Loch und manchen Riß aufwieſen, und
ihre Köpfe hatten lange kein Scher- und Raſiermeſſer ge⸗
ſehen. Sie gehörten jener weitverbreiteten Species von
Menſchenkindern an, welche nirgends und doch überall zu
Hauſe ſind, die überall ihren gedeckten Tiſch finden, wo
es entweder gutmütige Menſchen oder reichbehangene Objt-
bäume giebt, die man in Deutſchland Vagabunden, in
Amerika aber Tramps nennt.
„Hallo, junger Mann,“ rief der deutſch ſprechende
Tramp dem Lithographen zu, „Ihr ſcheint einen ernſtlichen
Streit mit dem alten Taylor zu haben. Wünſcht Ihr
vielleicht, daß meine Kollegen und ich dem ſchuftigen
Geizhals einmal ordentlich die Jacke verhauen? Könnte
zu ermäßigtem Preiſe und mit außerordentlicher Gründlich—
keit geſchehen. Hier, meine Freunde Iriſh-Bill und der
lange Kalifornier würden ſich ſogar ein Vergnügen daraus
machen, dem herzloſen Schuft, von dem noch kein Armer
einen roten Cent geſehen hat, eine tüchtige Lektion zu
geben.“
Franz zog ſeine Börſe und händigte dem Sprecher
einen halben Dollar ein. „Da nehmt, Landsmann,“ ſagte
er, „und thut mir den Gefallen und geht weiter. Was
ich mit dieſem Manne abzumachen habe, dazu bedarf ich
keines Zeugen. Wandert weiter und — mit Glück!“
Der Tramp, ein noch junger Mann, der noch nicht
allzulange der würdigen Zunft der „fahrenden Ritter“ an:
gehören mochte, betrachtete mit ehrlichem Erſtaunen das
empfangene Geld. „Ein halber Dollar?“ rief er freudig
aus. „Gentleman, Ihr ſeid zu großmütig für dieſes Land,
folgt meinem Rat und werdet hart — nicht ſo hart und
Kriminalnovelle von Harry Sheff. 117
erbarmungslos wie der da, aber haltet Eure Cents hübſch
zuſammen, alldieweil hundert einen Dollar ausmachen. Thut
Ihr das nicht, ſo kann es Euch leicht ſo ergehen wie dem
„Kölſchen Jungen“, Kaſpar Drill, der wie Ihr mit Geld
in der Taſche in dieſes Country gekommen iſt und der jetzt
— auf einer großen Inſpektionstour durch die Vereinigten
Staaten begriffen iſt. Na, Ihr verſteht doch, und nichts
für ungut!“
„Ihr ſcheint beſſere Tage geſehen zu haben,“ verſetzte
Franz Schneider, „vielleicht kann ich etwas für Euch thun. Hier
iſt meine Karte, ich logiere in New York im Hotel Grütli:
wenn Sie wollen und können, ſuchen Sie mich dort auf.“
Der Tramp betrachtete die Viſitenkarte ſchmunzelnd von
allen Seiten. „Schade, ich habe meine Karten zu Hauſe
auf dem Toilettentiſch liegen laſſen,“ ſagte er humorvoll,
„alſo ich heiße, wie bereits bemerkt, Kaſpar Drill und
bin oder beſſer geſagt war, als ich noch nicht Philoſoph und
Weltenbummler, ſondern nur Arbeiter war, Schriftſetzer —
Schwarzkünſtler, wenn Sie wollen. Im übrigen werde ich
ſo frei ſein, Sie im Grütli zu beſuchen. Bis dahin leben
Sie wohl und nehmen Sie ſich vor dem alten Hals:
abſchneider da in acht!“
Der Tramp winkte ſeinen Genoſſen, zeigte ihnen
triumphierend das erhaltene Geldſtück, und wenige Minuten
ſpäter waren die drei tragikomiſchen Geſtalten des Kölſchen
Jungen, Iriſh-Bills und des langen Kaliforniers im Buſch
verſchwunden. Franz trat noch einmal an den Alten heran
und betrachtete ihn mit traurigen, wehmütigen Blicken.
„Haben Sie mir wirklich nichts zu ſagen?“ fragte er
weich. „Gar nichts?“
Taylor hatte ſich auf die Treppe vor ſeinem Hauſe nieder⸗
gelaffen und zeichnete mit feinem Stock Kreiſe in den Sand.
Man merkte es ihm an, daß ſeine Gedanken in heftiger
Arbeit begriffen waren.
118 Der Tombsengel.
„Nichts,“ erwiderte er endlich auf die Frage feines
Sohnes.
Dieſer wandte ſich zum Gehen, doch hielt er noch einmal
inne. „Meine Mutter erzählte mir oft,“ ſagte er, „daß
Sie bei Ihrer Flucht ein Wertſtück mitnahmen, welches
von ihr und unſerer ganzen Familie ſchmerzlich vermißt
wurde. Es war eine goldene Uhr, die der Mutter Vater,
der alte Schiffskapitän Heller, von der Königin von Eng:
land erhielt, weil er während eines furchtbaren Sturmes
acht ihrer Unterthanen rettete. Sollten Sie dieſe Uhr
vielleicht noch im Beſitz haben?“
Taylor nickte.
„Nun wohl,“ fuhr Franz fort, „ich bin erbötig, Ihnen
einen angemeſſenen Preis dafür zu zahlen, würden Sie
mir die Uhr meines Großvaters verkaufen?“
Der Alte überlegte einige Sekunden, dann erhob er ſich
und verſchwand im Hauſe. Als er nach einigen Minuten
zurückkehrte, hielt er eine große goldene Uhr in der Hand.
„Da,“ ſagte er, indem er ſie dem Jüngling reichte, „nimm
ſie für deine Mutter — ſie iſt ihr Eigentum — ich will
nichts von ihr haben und behalten — ſie könnte es gegen
mich verwenden und nun — ich habe keine Zeit — good
bye, Sir!“
Die Thür fiel hinter dem Alten ins Schloß und Franz
ſtand allein, die teure, wiedererlangte Reliquie feiner Familie
in der Hand.
Es war ihm ein peinliches Gefühl, dieſelbe ohne Ent—
gelt annehmen zu ſollen, und ſo pochte er noch einmal an
die Thür. Aber es wurde nicht mehr aufgethan.
Langſam wandte er dem Hauſe ſeines Vaters den
Rücken.
Ohne ſich ſelbſt über ſeinen Weg Rechenſchaft zu geben,
lenkte er ſeine Schritte zur Küſte hinab. Das gewaltige,
unendliche, das brauſende Meer übte auf ihn in ſeinem
Kriminalnovelle von Harry Sheff. 119
tiefen Schmerz eine eigentümliche Anziehungskraft aus. Er
achtete nicht darauf, daß er, um zum Waſſer zu gelangen,
über ſumpfigen, mit hohem Gras bewachſenen Grund, der
unter ſeinen Füßen nachzugeben ſchien, hinwegſchreiten
mußte; die Blicke ſtarr auf die grenzenloſe Wellenfläche
gerichtet, eilte er vorwärts. Und als er den unmittelbaren
Strand erreicht hatte, ſetzte er ſich erſchöpft auf ein um⸗
geſtürztes Boot.
Er ſchlug die Hände vor das Geſicht, und heiße Thränen
quollen zwiſchen ſeinen Fingern hervor.
Erſt das Rauſchen ſeidener Gewänder, welches plötzlich
in ſeiner unmittelbaren Nähe erklang, entriß ihn ſeinem
regungsloſen Hinbrüten. Er ſchaute auf und ſah nur wenige
Schritte von ſich entfernt eine hohe Frauengeſtalt vorüber⸗
ſchreiten.
Es war eine elegante, ſtolze Erſcheinung. Das Ge⸗
ſicht vermochte er nicht mehr zu ſehen, da die Dame ſchon
an ihm vorübergegangen war, doch drang der Duft eines
eigenartigen Parfüms zu ihm und umwehte ihn einige
Sekunden lang. Die Dame ſchien nicht mehr jung zu ſein,
graublonde Löckchen ſtahlen ſich in ihren Nacken hinab, aber
ihre Figur ließ an Formvollendung nichts zu wünſchen
übrig, und auch ihr Schritt, mit welchem ſie ſich über den
trügeriſchen Grund fortbewegte, war ſicher und elaſtiſch.
Offenbar war die Fremde auf der eleganten Segeljacht
ſoeben gelandet, welche ſich am Strande auf den Wellen
ſchaukelte. Ein alter Neger bediente das Fahrzeug und
raffte behend die Segel ein.
Franz erhob ſich, um ſich langſam zu entfernen.
Als er nach wenigen Minuten an der Dame vorüber⸗
ging, zog er ehrerbietig ſeinen Hut.
Sie dankte ihm mit abgewendetem Geſicht.
120 Der Tombsengel.
2
Am nächſten Morgen ſchlief Franz Schneider länger, als
er ſonſt pflegte. Die Ereigniſſe des vergangenen Tages,
welche ihn tief erſchüttert hatten, raubten ihm während des
größten Teiles der Nacht die Ruhe, und gegen vier Uhr
war er ſogar von ſeinem Lager aufgeſprungen, hatte das
Fenſter weit geöffnet und über eine Stunde in den langſam
heraufdämmernden Morgen hinausgeſchaut.
Er war nervös, ſeine Phantaſie arbeitete unabläſſig, und
der gleichgültigſte Umſtand gewann für ihn Bedeutung.
Die Greenwich⸗Street war auch während der Nacht un⸗
unterbrochen belebt, auf dem Teil derſelben, auf welchem
Franz im Grütlihotel wohnte, war faſt jedes Haus ein Gait:
hof, und des Ein- und Ausfliegens von Nachtſchwärmern,
zu⸗ und abreiſenden Paſſagieren war kein Ende. Die Keller⸗
räumlichkeiten dieſer Häuſer wurden überdies noch von
Agenturen jeder Art und Stellenvermittelungsbureaus ein⸗
genommen, und kaum wurde es hell, ſo ſammelten ſich vor
den Thüren der letzteren zahlreiche Männer an, welche ent:
weder als Farmknechte ins Innere geſchickt zu werden
wünſchten oder deren heißerſehntes Ziel es war, auf einem
Ochſentransportſchiff ſich nach Europa „hinüberarbeiten“ zu
dürfen. Sie hatten das Wunderland Amerika genügend
kennen gelernt, um nur den einen Wunſch noch zu hegen,
den der ſchleſiſche Dichter Karl v. Holtei in die ſchlichten,
rührenden Worte gekleidet hat: „Suſte niſcht — ad heem!” *)
Franz beobachtete eine Weile das Leben und Treiben
des nächtlichen New Yorks, deſſen durch verdächtiges Ge:
ſindel aller Nationen herbeigeführte Skandalſcenen ihn
anwiderten, und er wollte ſich ſoeben vom Fenſter zurück⸗
ziehen, als die Erſcheinung eines Mannes ihm auffiel, der
*) Sonſt nichts — nur heim!
Kriminalnovelle von Harry Sheff. 121
ſchon eine geraume Zeit unaufhörlich und unermüdlich unter
ſeinem Fenſter auf und nieder ging. Seine erregte Phan⸗
taſie ſpiegelte ihm ſogar vor, daß dieſer Mann im dunklen
Anzug und einem kleinen grauen Hut auf dem Kopf von
Zeit zu Zeit zu ihm emporſchaue, dann ſeine Uhr konſul⸗
tiere und ſich verſtohlen Notizen mittels Bleiſtift auf ſeine
Manſchetten mache.
Faſt eine Stunde lang beobachtete Franz das ſonder⸗
bare Treiben dieſes Menſchen, dann veranlaßte ihn doch
das Schlafbedürfnis, ſich auf ſein Lager zurückzuziehen, und
trotzdem die Hochbahn in kurzen Zwiſchenräumen mit ihrem
puſtenden, rollenden, klappernden Lärm ſeinen Schlummer
bedrohte, erwachte der junge Deutſche erſt, als die Sonne
ſchon ziemlich hoch am Himmel ſtand. Schnell kleidete er
ſich an und begab ſich nach dem Speiſeſaal, der auch als
Schenkzimmer diente. Er war offenbar der letzte Gaſt, der
für heute zum Frühſtück erſchien, denn an der langen ge—
deckten Tafel war niemand zu ſehen, und auch ſonſt ſtanden
nur an der Bar zwei Herren, die, einen kühlen Mild:
punſch ſchlürfend, ſich mit dem Kellner in engliſcher Sprache
über gleichgültige Dinge unterhielten.
Es erregte Franz, ohne daß er ſich ſelbſt Rechenſchaft
darüber ablegen konnte, ein unbehagliches Gefühl, daß er
in einem dieſer Herren den nächtlichen Spaziergänger er—
kannte, der ihm gegen Morgen durch ſeine Wanderungen
vor der Thür des Hotels aufgefallen war. Doch was
kümmerte ihn im Grunde jener Menſch, mochte er thun
und treiben, was er wollte, ihm war er ja gänzlich fremd.
Franz beſtellte ſein Frühſtück, verzehrte es und zündete
ſich dann eine Zigarre an. Nachdenklich blies er den Rauch
derſelben vor ſich hin, er dachte darüber nach, wie er der
armen Mutter, die ein ganz anderes Reſultat ſeiner Reiſe
erwartete, die niederſchmetternde Nachricht vom Verhalten
des Vaters beibringen ſolle. Am beſten ſchien es ihm, ihr
122 Der Tombsengel.
erft perſönlich die ganze Wahrheit zu jagen, diefelbe nicht
einem Briefe anzuvertrauen, und dazu war e3 notwendig,
daß er bald möglichſt die Rückreiſe antrat. Das fremde,
ſo viel des Intereſſanten bietende Land war ihm gründ⸗
lich verleidet, und er empfand eine förmliche Sehnſucht,
ihm wieder zu entfliehen. Nun, dazu bot ſich ihm ja jeden
Tag Gelegenheit, auf einem Schiff der deutſchen, engliſchen
oder amerikaniſchen Linien die Rückfahrt zu bewerkſtelligen.
„Sie ſind Franz Schneider aus Dresden — nicht wahr?“
Der junge Mann blickte betroffen auf, als er ſeinen
Namen nennen hörte. Die beiden Herren, die eben noch
vor der Bar geplaudert hatten, ſtanden jetzt vor ihm, und
der eine von ihnen hatte dieſe Frage an ihn gerichtet.
„Gewiß — ich heiße Franz Schneider. Was wünſchen
Sie von mir?“ |
„Wir find Detektive des Polizeihauptquartiers. Sie
ſind unſer Gefangener!“
Franz ſprang auf. Beſtürzung, Schreck, Unglaube und
die Ueberzeugung, daß es ſich nur um einen Irrtum dieſer
Leute handeln könne, drückten ſich gleichzeitig auf ſeinem
erblaſſenden Antlitz aus.
„Sie täuſchen ſich ohne Zweifel in der Perſon,“ ſtieß
er hervor; „ich befinde mich erſt ſeit zwei Tagen im Lande
und habe in meinem ganzen Leben noch nichts gethan, was
mich mit dem Geſetz in Konflikt gebracht hätte — meine
Papiere ſind in Ordnung, wünſchen Sie vielleicht meinen
Paß zu ſehen?“
Statt einer Antwort bemächtigten ſich die Detektives
der Hände des jungen Deutſchen, und im nächſten Augen⸗
blicke waren ſeine Handgelenke mittels einer feinen Stahl⸗
kette zuſammengefeſſelt.
„Ich proteſtiere gegen dieſen Gewaltakt,“ ſchrie Schneider.
„Der Konſul wird Rechenſchaft für dieſe unwürdige Be:
handlung eines deutſchen Unterthanen verlangen. Man
Kriminalnovelle von Harry Sheff. 123
fefjelt mich wie einen Verbrecher und fagt mir nicht einmal,
wefjen man mich beſchuldigt —“
„Wenn Sie zu wünſchen wiſſen, auf Grund welcher
Anklage Ihre Verhaftung erfolgt,“ antwortete der Detektive,
„ſo will ich es Ihnen mitteilen. Hier iſt der vom Richter
ausgeſtellte Verhaftsbefehl. Sie ſtehen im Verdacht, einen
Mord begangen zu haben.“
Franz ſank auf einen Stuhl zurück. „Einen Mord?“
ſtöhnte er. „Ich — ſoll — einen Menſchen gemordet
haben?“
Und der Unglückliche begann laut zu lachen, während
ihm heiße Thränen aus den Augen ſchoſſen.
„Spielen Sie keine Komödie!“ herrſchte ihn der Beamte
an, „es iſt ſo gut wie bewieſen, daß Sie den alten Taylor
auf Long Island ermordet haben. Es ſind bereits Zeugen
da, welche gegen Sie auftreten werden, und wenn wir nicht
noch gewiſſe Nachrichten hätten abwarten wollen, ſo wären
wir ſchon um Mitternacht in der Lage geweſen, Sie zu
verhaften. — Kommen Sie!“
Aber Franz war nicht im ſtande, ſich zu erheben, er
zitterte am ganzen Leibe, und große Schweißtropfen perlten
von ſeiner Stirn. „Der Vater tot?“ ſtöhnte er. „Er⸗
mordet? O mein Gott, hätte er mich nicht zurückgewieſen,
hätte er mich, ſeinen Sohn, nicht ſchroff zurückgeſtoßen —
das Fürchterliche hätte nie und nimmer geſchehen können!“
Das Gaſtzimmer hatte ſich indeſſen mit Neugierigen
gefüllt, auch der Verwalter des Hotels, der vorher von der
bevorſtehenden Verhaftung benachrichtigt worden war, war
herbeigeeilt. Er war ein intelligenter, liebenswürdiger
Mann von deutſcher Abkunft. Er ſchüttelte den Kopf und
muſterte Franz mit aufrichtiger Teilnahme.
„Junger Mann,“ ſagte er, „Sie ſehen gewiß nicht aus
wie ein Mörder und noch dazu ein Vatermörder. Nehmen
Sie meinen Rat an und laſſen Sie es Ihre erſte Sorge
124 Der Tombsengel.
fein, fic) einen tüchtigen Anwalt zu verſchaffen. Ihr Fall
ſcheint verzweifelt ernſt zu fein.”
„Aber ich bin ja unſchuldig wie das Licht der Sonne
dort oben an der verruchten That,“ rief Franz.
„Das werden Sie beweiſen müſſen. Amerikaniſches
Recht ift vom deutſchen himmelweit verſchieden. Die Polizei
ſtellt die Theorie auf, daß Sie der Mörder ſind, und an
Ihnen iſt es, dieſelbe zu erſchüttern und umzuſtürzen. Dazu
aber bedürfen Sie eines geſchickten Anwalts.“
Der Detektive bedeutete dem Hotelier, daß er eine
weitere Unterhaltung nicht geſtatten werde. Der von ſeinem
Kameraden herbeigerufene Polizeiwagen fuhr vor, und
Schneider mußte denſelben beſteigen. Man trug noch ſeinen
Koffer und ſonſtige kleinere Effekten hinein, und fort ging
es im ſcharfen Trab zum nächſten Polizeigericht.
Die Vorgänge, welche ſich jetzt abſpielten, erſchienen
Franz wie ein böſer Traum. Er wurde vor einen Richter
geführt, welcher ihn kaum zu Worte kommen ließ. Er er⸗
klärte dem unglücklichen jungen Mann in geſchäftsmäßigem
Tone, daß die Polizei ihn des an Taylor verübten Mordes
für ſchuldig erachte, und daß er, der Richter, ihn in Ver—
wahrſam halten müſſe, bis eine Coronersjury entſchieden
habe, ob er auf die vorliegenden Beweiſe hin den Ge—
ſchworenen zur Aburteilung zu überweiſen ſei oder nicht.
Franz wiederholte bald in tiefem Schmerz, bald in
dumpfem Zorn ſein beſtändiges „Ich bin ja aber unſchuldig“.
Der Richter zuckte die Achſeln und befahl, ihn in die Zelle
abzuführen.
Als jedoch die Beamten Hand an ihn legen wollten,
um ihn, da er zu gehen zögerte, gewaltſam aus dem Ge—
richtsſaal zu entfernen, brach der junge Mann in einen
Wutausbruch aus.
„Ich will freigelaſſen werden,“ ſchrie er, „auf der Stelle
will ich frei ſein. Ich bin ein Deutſcher — kein Ameri—
Kriminalnovelle von Harry Sheff. 125
kaner hat ein Recht, Hand an mich zu legen. Das nennt
ihr Gerechtigkeit — das ſind eure Geſetze? Sagt mir doch
wenigſtens, welche Beweiſe ihr gegen mich habt — ich
fordere ein Verhör — ich will den Konſul — — —“
Ein Fauſtſchlag ins Geſicht ließ ihn verſtummen, dann
trieb man ihn mit Stößen ins Genick vorwärts, aus dem
Saal heraus über eine ſchmale eiſerne Brücke — und er
befand ſich im Polizeigefängnis. Man nahm ihm die Feſſeln
ab und ſperrte ihn in eine Zelle ein.
Sie glich einem Raubtierkäfig. Acht Fuß lang und
fünf Fuß breit, alſo nicht viel geräumiger als auf deutſchen
Friedhöfen Gräber gegraben werden, beſaß ſie keine Fenſter,
ſondern empfing ihr Licht von einem breiten Korridor aus
durch die eiſernen Gitterſtäbe, welche die Thür der Zelle
bildeten. Mit Ausnahme einer erbärmlichen Lagerſtatt war
kein Möbelſtück in dieſem eines ae unwürdigen Raum
zu erblicken.
Franz warf fidh auf das Bett nieder, er war dem Wahn:
ſinn nahe und zweifelte ſelbſt daran, ob dies nicht alles
ein wüſtes Bild ſeines plötzlich erkrankten Gehirns ſei. Er
wünſchte ſogar, es wäre ſo, und er befände ſich ſtatt in
einem Gefängnis in der vergitterten Zelle eines Irren—
hauſes.
Mörder! Vatermörder! Unter dem Verdacht, das furcht—
barſte Verbrechen begangen zu haben, mit welchem Menſchen⸗
hände ſich beflecken können — eingeſperrt wie ein wildes
Tier — gefeſſelt — geſtoßen — geſchlagen — geſchändet —
ja geſchändet, er, der noch niemals die Schmach einer Züchti—
gung erfahren, ſelbſt als Knabe nicht — und geſtern noch
ein freier Mann, der in ſeinem Vaterlande in ſeinem engen
Kreis geehrt, geachtet, geliebt worden war!
O verflucht der Augenblick, in welchem er den Entſchluß
zu dieſer Reiſe gefaßt, verflucht dieſes Land, in welchem ſo
erbarmungslos, ſo geringſchätzig mit eines Mannes Ehre
126 Der Tombsengel.
umgegangen wird — hätte er es nie betreten, niemals die
Mutter — — —
Die Mutter! Sie würde ſterben, wenn ſie erfahren
würde, was man ihrem Sohne, zu dem ſie mit Stolz
emporzublicken gewöhnt war, angethan.
Vielleicht zum Glück für ihn ſelbſt wurde Franz ſehr
bald aus ſeinem bohrenden, herzzerreißenden Nachdenken
aufgeſchreckt. In raſcher Aufeinanderfolge erſchienen eine
Anzahl Advokaten vor ſeiner Zelle und boten ihm ihre
Dienſte für ſeinen Prozeß an. Die Unterhandlungen dieſer
Herren wurden durch die Gitterſtäbe der Zelle mit dem
Gefangenen geführt.
Auch hierbei lernte der junge Deutſche eine Eigentüm⸗
lichkeit des amerikaniſchen Lebens kennen. Die New Yorfer
„Lawyers“ übertrafen den geriebenſten, an Vorſchlagen und
Ablaſſen gewöhnten Roßkamm an Geſchäftsgewandtheit. Zu
wahren „Schleuderpreiſen“ offerierten ſie ihre Rechtshilfe.
„Haben Sie Geld?“ lautete faſt ohne Ausnahme ihre
erſte Frage. „Wenn Sie nicht bar zahlen können, nehme
ich auch Pretioſen. Sie tragen da einen ſchönen Brillant⸗
ring, der würde mir für den Anfang genügen — verlaſſen
Sie ſich darauf, ich fire die Sache für Sie, ich habe Ein:
fluß, obwohl der Fall ziemlich ſchwer iſt — der Coroner
iſt mit mir in derſelben politiſchen Vereinigung, er wird
keine Beweiſe finden, Sie den Großgeſchworenen zu über⸗
weiſen.“
„Ich bin unſchuldig — ich ſchwöre Ihnen, Herr, ich bin
unſchuldig.“
Der kleine Lawyer mit dem kurzgeſchorenen rotblonden
Haupthaar, auf welchem der Cylinderhut ſchaukelte, dem
eleganten hellen Anzug und dem haſelnußgroßen Brillant⸗
knopf im Hemd lächelte überlegen.
„Unſchuldig? Ganz gut — ich glaube es Ihnen ganz
gern, vielleicht findet ſich auch ein Geſchworener, der dieſe
Kriminalnovelle von Harry Sheff. 127
günftige Meinung faßt, aber im übrigen thut es nicht viel
zur Sache. Es hat ſchon mancher den elektriſchen Stuhl
beſteigen müſſen, der unſchuldig war. Und weshalb? Sein
Anwalt taugte nichts, hatte das Geſchäft nicht von der
richtigen Seite angepackt. Wenn Sie Geld haben, läßt ſich
alles machen. Für Geld bekommt man vortreffliche Ent⸗
laſtungszeugen, wohlwollende Geſchworene, für Geld ver:
ſchwinden in dieſem Lande Akten, für Geld kauft man
wunderhübſche ärztliche Gutachten über erbliche Belaſtung
durch Geiſteskrankheit — das wäre übrigens etwas für
Sie — ich habe mich über die Wutſcene, die Sie dem
Richter ſo brillant vorſpielten, herzlich gefreut. Das war
ein guter Anfang für die Wahnſinnstheorie — ſehr ſmart,
ſehr talentvoll — alſo, wie geſagt, ſpenden Sie Geld und
übergeben Sie mir Ihren Prozeß, es iſt das geſcheiteſte,
was Sie thun können.“
Der kleine Lawyer wollte Franz mit dem Schluß ſeiner
Auseinanderſetzung ſeine Geſchäftskarte durch die Stäbe
reichen, aber Franz wies dieſelbe mit einer entſchiedenen
Handbewegung zurück.
„Geben Sie ſich keine Mühe, Herr,“ ſagte er, jetzt voll⸗
kommen gefaßt, „erſchwindeln will ich mir meine Freiheit
oder mein Leben nicht. Ich bin unſchuldig, und dieſes
Bewußtſein wird mich ſicherer und ſchneller zum Ziele
führen als alle Ihre Geſchäftskniffe. Ich wünſche mit
dieſen wie mit Ihnen und Ihresgleichen nichts zu thun zu
haben.“
„Greenhorn!“ murmelte der kleine Lawyer, ſchob ſeinen
Cylinder feſter in die Denkerſtirn hinein und wandte ſich
achſelzuckend ab.
„Bravo!“ rief in dieſem Augenblick eine helle Männer⸗
ſtimme, „haſt recht, Franz Schneider, daß du dich mit den
„Ferkelſtechern“ nicht abgiebſt. Ja, ſo nennen wir New
Yorker dieſe Sorte von Advokaten, welche die Unerfahrenen
128 Der Tombsengel.
nach allen Regeln der Kunſt abſchlachten, und deren es
leider ſo viele giebt, daß man die wenigen anſtändigen
Elemente mit der Laterne ſuchen kann. Gieb mir die Hand,
alter Junge — du biſt ebenſowenig ein Mörder, wie ich
Präſident der Vereinigten Staaten!“
Beim Klang dieſer Stimme, die in gutem Deutſch jene
Worte mit herzlicher Wärme rief, war Franz zuerſt zu-
ſammengefahren, aber diesmal war es ein freudiges Er⸗
ſchrecken, welches die Züge des unglücklichen Gefangenen
mit einem Schimmer der Hoffnung verklärte. Seine Blicke
hingen mit Entzücken an einer hohen, kraftvollen Männer⸗
geſtalt, die ſich an die Gitterſtäbe ſeiner Zelle herandrängte
und ſeine beiden Hände ergriff.
„Ja, ſtaune nur,“ rief der braunbärtige Fremde, „du
ſiehſt keinen Geiſt — ich bin es wirklich und wahrhaftig —
na, du erkennſt mich doch noch?“
„Edmund Schlieben! — Edmund — mein Jugend⸗
freund — mein —“
„Ja, dein Freund,“ nahm der elegant gekleidete junge
Mann das Wort, als Franz Schneiders Stimme in Thränen
erſtickte. „Dein Freund, der die glücklichen Jugendjahre
nicht vergeſſen hat, die er mit dir zuſammen verlebte. Weißt
du noch, mein Junge, wie wir auf dem Kreuzgymnaſium
in unſerem alten lieben Dresden die Schulbank zuſammen
drückten? Ach wie viele lateiniſche und deutſche Aufſätze
find aus deinem Kopf in mein Heft gewandert! Unzählige:
mal haſt du mich aus der Tinte gezogen und jetzt — jetzt
hoffe ich dir ein Gleiches thun zu können.“
„Edmund — man hält mich hier gegen alles Recht ge⸗
fangen. Du weißt, daß ich keiner niedrigen That fähig bin —
und nun ſoll ich gar ein Mörder — ein Vatermörder ſein.“
„Ja, in dieſem herrlichen Lande kann man ſchnell zu
den ſeltenſten Situationen gelangen. Aber nur Mut, mein
Junge — wir arbeiten dich ſchon wieder heraus.“
Kriminalnovelle von Harry Sheff. 129
„O, jetzt hoffe ich wieder, feit ich dich in meiner Nähe
weiß. Aber ich hatte ja keine Ahnung, daß du in New
York lebſt. Du warſt doch nach Petersburg als Jn:
genieur gegangen.“
„Man wird eben, wie du ſiehſt, in der Welt herum⸗
geſchleudert gerade wie ein Blatt Papier im Winde. Mein
Petersburger Haus hat mich vor fünf Jahren ſchon nach
Amerika geſchickt, weil wir hier gewiſſe Maſchinenteile billiger
fabrizieren können. Ich leite dieſes amerikaniſche Unter⸗
nehmen und bin dabei ſchon ein halber Yankee geworden.
Uebrigens, meine Schweſter Gertrud iſt hier und führt
mir haus, ein prächtiges Frauenzimmerchen — du er⸗
innerſt dich doch noch ihrer? Ihr waret ja immer gute
Freunde.“
Für einen Moment flammte helle Röte auf den Wangen
des Gefangenen auf, und ſeine Augen leuchteten.
„Ob ich mich erinnere!“ erwiderte er, „wie hätte ich
eine ſo liebe Freundin vergeſſen können!“
„Well — du wirſt ſie hoffentlich bald wiederſehen.
Wenn wir dich nur erſt aus dieſem verwünſchten Loch
heraus haben.“
„Wie haſt du denn überhaupt von meinem Unglücke
Kenntnis erlangt?“
„Durch die Zeitungen, mein Junge. Die Morgenblätter
ſind ja voll von der ſchrecklichen Geſchichte. Als ich ſie
las, begegnete ich plötzlich dem Namen Franz Schneider
aus Dresden, der als der mutmaßliche Mörder des alten
Geizhalſes noch während der Nacht in Haft genommen
werden ſollte. „Das iſt unſer Franz Schneider,“ rief ich
meiner Schweſter zu, „ich erinnere mich, daß ſein Vater
einſt nach Amerika verſchwunden iſt — aber er — Franz
ein Mörder? Das iſt einfach lächerlich.“ Wie ich noch ſo
ſpreche, fängt das Mädel, die Gertrud, an zu weinen und
beſchwört mich, alles aufzubieten, um dich zu u Es
1900. II.
130 Der Tombsengel.
hätte natürlich gar nicht erft ihrer Thränen bedurft, um
mich auf die Beine zu bringen.“
„Alſo die Zeitungen brachten heute morgen ſchon die
Kunde von der Ermordung meines Vaters?“ rief Franz.
„Könnteſt du mir nicht eines der Blätter verſchaffen, damit
ich doch wenigſtens auf dieſem Wege erfahre, welche Be⸗
weiſe man gegen mich zu haben glaubt.“
„Man hat mir die Zeitungen fortgenommen,“ ant⸗
wortete Edmund Schlieben, „ehe man mich zu dir ließ,
was übrigens nur durch einen echt amerikaniſchen Hände⸗
druck ermöglicht wurde. Aber ich kann dir ja ſagen, um
was es ſich handelt. Geſtern abend um ſieben Uhr etwa
wollten zwei Geſchäftsleute aus Brooklyn den alten Taylor
in ſeinem Hauſe auf Long Island aufſuchen. Sie waren
im Buggy herausgefahren und klopften an die Thür. Aber
ſie erhielten keinen Einlaßruf. Dagegen vernahmen ſie ein
leiſes Stöhnen und dumpfes Röcheln. Sie verſuchten die
Thür zu öffnen, was ihnen auch ohne jede Schwierigkeit
gelang, denn ſie war nicht verſchloſſen. Als ſie eintraten,
bot ſich ihnen ein furchtbares Bild, welches ſelbſt die kalt—
blütigen Amerikaner entſetzte. In ſeiner düſteren Stube
lag Taylor in den letzten Zügen. Er ſchwamm in einer
Blutlache, und neben ihm lag ein ſpitzes und ſcharfes Brot⸗
meſſer, mit welchem die Mordthat ausgeführt worden war.“
„Entſetzlich!“ unterbrach Franz den Bericht ſeines
Freundes.
„Die beiden Brooklyner,“ fuhr Schlieben fort, „trugen
den Sterbenden auf ſein Bett und verſuchten die Blutung
aus der Bruſtwunde zu ſtillen. Doch ſchon nach wenigen
Minuten gab der Alte unter ihren Händen ſeinen Geiſt
auf. Leider erwachte er vorher noch einmal aus ſeiner
Bewußtloſigkeit und hatte die Kraft, einige Worte, die
letzten für ihn, hervorzuſtoßen.“
„Leider — ſagſt du?“
Kriminalnovelle von Harry Sheff. 131
„Ich wiederhole: leider! Denn diefe Worte find es
hauptſächlich, welche deine Verhaftung herbeiführten. Der
Alte richtete ſich mit äußerſter Kraftanſtrengung auf und
preßte mühſam hervor: „Alles — mein Sohn Franz —
Schneider — — —“ So erzählen die beiden Geſchäfts⸗
leute, und die Polizei glaubt, daß der Ermordete damit
ſagen wollte: Alles, was geſchehen, hat mein Sohn Franz
Schneider gethan.“
„Welch ein verhängnisvoller Irrtum!“ rief der Ge⸗
fangene, „aber mir iſt es noch ganz unerklärlich, wie die
Polizei mich ſo ſchnell ausfindig machen konnte.“
„Ich werde es dir ſogleich erklären. Natürlich wurde
ſofort der Sheriff benachrichtigt, er kam mit dem Richter
und dem Konſtabler, und dieſe Beamten ſtellten feſt, daß
kein Raubmord vorliege. Nichts von dem Eigentum Taylors
war angetaſtet, nichts durchſucht oder in Unordnung ge:
bracht. In dem Strohſack, auf welchem der Geizhals zu
ſchlafen pflegte, fanden ſich zehntauſend Dollars unberührt
vor, obwohl es dem Mörder ein leichtes geweſen wäre, die
Scheine dort zu finden. Auch verſchiedene Bankbücher,
Aktien und Obligationen wurden in den Winkeln des Hauſes
ohne Mühe entdeckt. Man ſah daher ſogleich von der
Theorie ab, daß der Alte ſeines Geldes wegen erſtochen
worden ſei, ſondern neigte ſich der Anſicht zu, Taylor ſei
mit einer Perſon, die ihn beſucht habe, in Streit geraten
und von dieſer niedergeſtreckt worden. Wer aber war dieſer
geheimnisvolle Beſucher geweſen? Ein Zufall ſollte der
Polizei ſchon wenige Stunden ſpäter die Antwort geben.
Wie immer in ſolchen Fällen veranſtaltete man ohne Ver⸗
zug eine Razzia auf alle Tramps, die ſich während der
letzten vierundzwanzig Stunden in der Gegend gezeigt
hatten. Die Beute war ſehr reich, eine Menge von den
Kerlen fiel der Polizei in die. Hände. Unter anderen auch
ein dreiblätteriges Kleeblatt — Iriſh Bill, der lange Kali—
132 Der Tombsengel.
fornier und der Kölſche Junge genannt. Natürlich wurden
ſie bis auf die Haut durchſucht, und ſiehe da — bei einem
von dieſen drei Tramps fand ſich deine Viſitenkarte, auf
welcher du ſogar dein New Yorker Quartier angegeben
hatteſt. Franz Schneider! Derſelbe Name, welchen der
Sterbende als den ſeines Sohnes genannt hatte. Du mußt
ſelbſt zugeben, daß die Behörde eine gewiſſe Berechtigung
hatte, den erſten Verdacht gegen dich zu richten.“
Franz erklärte dem Freunde mit wenigen Worten, auf
welche Weiſe der Tramp zu ſeiner Viſitenkarte gekommen
ſei, und Edmund Schlieben nickte befriedigt. Wenn keine
ſtärkeren Beweiſe ins Feld geführt werden könnten, ſei die
Anklage nicht aufrecht zu erhalten, meinte er. Vorläufig
müſſe fidh Franz freilich in Geduld ſchicken, doch fet Hoff:
nung vorhanden, daß er morgen ſchon wieder ein freier
Mann ſei, denn für den nächſten Tag ſei die Coroners⸗
unterſuchung angeſetzt, welche vorläufig über ſein Schickſal
entſcheide.
„Werde ich dich morgen wiederſehen?“ fragte Franz
niedergeſchlagen, weil er ſich jetzt von ſeinem einzigen
Freunde in Amerika verabſchieden mußte.
„Natürlich, ich bin mit einem tüchtigen Anwalt zur
Stelle. Du ſelbſt thuſt am beſten, nichts über deine Sache
zu äußern, auch den Reportern gegenüber ſei ſehr zurüd:
haltend, ſie werden dich vermutlich bald beſtürmen. — Lebe
wohl, mein guter Junge, und Kopf hoch! — Biſt du übrigens
mit Geld verſehen? Ja? Nun du wirſt noch mehr brauchen,
als dir gegenwärtig zur Verfügung ſteht, und dann iſt
meine Kaſſe die deinige. Alſo noch einmal — lebe wohl.“
„Lebe wohl und bringe Gertrud viele Grüße — wenn
ſie von einem Mörder gegrüßt ſein will.“ :
Der Ingenieur drückte lächelnd dem Freunde die Hand
und verließ ihn.
Franz ließ ſich bewegt auf ſein Lager nieder. So elend
Kriminalnovelle von Barry Sheff. 133
—— ——
feine Lage auch fein mochte, fo bang und weh es ihm ums
Herz war, Edmund Schliebens Erſcheinen war wie ein
Sonnenſtrahl in ſeine düſtere Zelle gefallen.
Edmund und Gertrud, die liebliche, kluge Gertrud, die
ihm ſtets mehr geweſen war als die Schweſter eines Freun⸗
des, glaubten an ſeine Unſchuld, ſie kämpften mit ihm.
Franz war es plötzlich, als fliege die Schale feiner Hoff:
nungen hoch hinauf.
3.
Gertrud Schlieben war wirklich ein „prächtiges Frauen⸗
zimmerchen“, wie ihr Bruder Edmund ſie genannt hatte.
Wie wenige deutſche Frauen oder Mädchen wußte ſie ſich
den amerikaniſchen Verhältniſſen anzupaſſen, und ſo ſtand
ſie nicht nur der kleinen Haushaltung ihres Bruders mit
vollkommener Sicherheit vor, ſondern ſie hatte auch ſehr
ſchnell das amerikaniſche Prinzip erfaßt, welches jedes
Können und jedes Talent in die entſprechende Anzahl
Dollars umzuſetzen beſtrebt iſt und das Brachliegen irgend
einer Fähigkeit als eine Verſündigung an der dem Menſchen
gewährten Lebenschance anſieht. Ihr Bruder verdiente zwar
reichlich genug Geld, um ſeine wie ihre Anſprüche an das
Daſein erfüllen zu können, aber er ſandte auch allmonat⸗
lich den in Deutſchland lebenden alten Eltern eine anſehn⸗
liche Summe für ihren Unterhalt, und an dieſer ſchönen
Pflichterfüllung wollte Gertrud auch ihren vollgültigen Anteil
haben. Sie hatte in Dresden ihre Prüfung als Lehrerin
mit höchſter Auszeichnung beſtanden, und ſo fiel es ihr,
beſonders bei Edmunds feiner, gewählter Bekanntſchaft, gar
nicht ſchwer, lohnende, gut zahlende Unterrichtsſtunden zu
finden.
Auch heute — zwei Tage nach Franz Schneiders Ver—
haftung — lag Gertrud ihrer Thätigkeit ob, und zwar be:
fand ſie ſich im Hauſe ihrer vornehmſten und reichſten, wie
auch begabteſten und liebenswürdigſten Schülerin.
134 Der Tombsengel.
Maud Jefferſon war die einzige Tochter des Senators
und Millionärs Andrew George Jefferſon, eines Politikers,
der nicht allein im Kreiſe der New Yorker oberen „Bier:
hundert“ eine Rolle ſpielte, ſondern auch im „Weißen
Hauſe“ zu Waſhington gern geſehen wurde. Während der
Sitzungsperiode des Senats lebte er faſt ausſchließlich in
Waſhington, während ſeine Gattin und Tochter es vor⸗
zogen, ihr elegantes Haus an der fünften Avenue in New
York zu bewohnen. Maud zählte ſechzehn Jahre, fie ver:
ſprach mit ihrem welligen braunen Haupthaar, ihren dunkel⸗
blauen Augen und der friſchen Geſundheit, die auf ihren
Wangen blühte, ebenſo ſchön zu werden wie ihre Mutter,
welche, trotzdem ſie nicht weit von der Vollendung des
fünfzigſten Lebensjahres entfernt war, immer noch als eine
imponierend ſchöne Frau galt. Frau Edith Jefferſon erfreute
ſich jedoch eines weit wertvolleren, für ſie um vieles ſchätz⸗
bareren Rufes als deſſen ihrer Schönheit, ſie war ihres
warmblütigen Intereſſes wegen für alles, was hilfsbedürftig,
arm und krank war, in ganz New Pork berühmt; die reichen
Mittel, welche ihr Gatte ihr zur Verfügung ſtellte, wurden
von ihr nicht den Launen der Mode geopfert, floſſen nicht
in die Kaſſen der Leute, welche vornehmen Damen den
Glanz und die Bequemlichkeiten ihres Daſeins verſchaffen,
ſondern wurden zum weitaus größten Teil für Akte der
Großmut, des Edelſinns und der Nächſtenliebe verwendet,
durch welche unzählige Thränen getrocknet, tiefe Wunden
geheilt, erſchütterte Exiſtenzen aufs neue verankert wurden.
Zumal auf einem beſtimmten Gebiet der Wohlthätigkeit
pflegte Frau Edith Jefferſon ſich hervorzuthun — wenn
dieſes Wort auf die taktvolle, geräuſchloſe Art des Sama—
ritertums dieſer Frau anwendbar iſt — und gerade hierbei
wurde ihr Name wieder und immer wieder in den Zeitungen
genannt und ihrer in der Oeffentlichkeit Erwähnung gethan,
ſo oft und ſo nachdrücklich, daß ſich nach und nach ein
Kriminalnovelle von Harry Sheff. 135
ganzer Legendenkranz um Frau Ediths Perſönlichkeit ge:
woben, und der Volksmund, der ſich ſeit Jahren ſchon mit
ihr beſchäftigte, der Gattin des Senators einen ehrenden
Namen beigelegt.
Man nannte Frau Edith den „Tombsengel“.
In dem düſteren, ſo oft unter Thränen oder mit Ver⸗
wünſchungen genannten Gefängnis New Yorks, den „Tombs“,
in welchen, meiſt in unterirdiſchen Zellen, Tauſende von
Gefangenen dem Urteilsſpruch durch die Geſchworenen
entgegenharren, hatte ſich Frau Edith Jefferſon durch un⸗
ermüdliche praktiſche Ausübung der Barmherzigkeit dieſen
Beinamen erworben. Sie beſuchte die Unglücklichen und
Elenden in ihren dumpfen Kerkern und erleichterte ihnen,
wenn ſie nur einigermaßen der Hilfe würdig ſchienen, im
Rahmen des geſetzlich erlaubten Beiſtandes ihr trauriges
Los. Für manchen Familienvater ſtellte ſie Bürgſchaft oder
ſorgte während ſeiner Haft für die notleidende, an dem
Verbrechen des Vaters unſchuldige Familie, manchem armen
Teufel gab ſie einen Anwalt zur Seite und bewirkte ſo,
daß er ſeine Unſchuld erweiſen konnte, und ſelbſt den bös⸗
willigſten Verbrechern gegenüber verſagte ihre Güte nicht,
ſie trug an Feiertagen in ihre weltvergeſſenen Zellen einen
Abglanz der Freude, welcher ſich die Freien und Glück⸗
lichen hingeben konnten.
Edith wurde für ihre werkthätige Nächſtenliebe durch
ein überaus glückliches Familienleben belohnt. Ihr Gatte
vergötterte ſeine ſchöne, edle Frau, und Maud blickte mit
ſchwärmeriſcher Bewunderung zu der Mutter empor. Sie
liebte ſie mit Zärtlichkeit und Ehrfurcht. Die Behaglichkeit
und geſchmackvolle Eleganz, welche ein ſolider Reichtum ge⸗
währen, umgaben die Frau des Senators; keine Wolke
trübte den Himmel, welcher ſich über dieſer Familie wölbte,
und ſelbſt die Neider, welche ſonſt, häßlichen Raupen gleich,
den edelſten Baum nicht verſchonen und ihn zu vernichten
136 Der Tombsengel.
trachten, ſchienen vor der Reinheit dieſes Hauſes, in welchem
es kein „Skelett“ zu 5 gab, Halt zu machen.
„Sie ſind heute nicht wie ſonſt, Miß Schlieben,“ rief
Maud und ließ das deutſche Buch, aus welchem ſie ſoeben
noch vorgeleſen hatte — es geſchah dies, um die Ausſprache
des jungen Mädchens zu verbeſſern — in den Schoß ſinken,
„und ſelbſt auf die Gefahr hin, daß Sie mich für ſehr
neugierig halten, werde ich nicht eher ruhen, bis Sie mir
den Grund Ihres Kummers mitgeteilt haben. Denn ich
leſe etwas in Ihren Zügen, was mich leider befürchten
läßt, daß Ihnen ein Leid widerfahren iſt. Miß Gertrud,
Sie haben mir wiederholt verſichert, daß Sie mich lieb
haben. Wenn dem wirklich ſo iſt, ſo müſſen Sie mich zur
Mitwiſſerin Ihrer Sorgen machen.“
Gertrud Schlieben hob die Lider ihrer Augen langſam
empor und blickte einige Sekunden nachdenklich zu ihrer
Schülerin hinüber. Das hübſche volle Geſicht, deſſen hohe
Stirn zum Teil hinter zierlichen ſchwarzen Löckchen ver⸗
ſchwand, zeigte die Spuren eines verhaltenen Schmerzes,
und ein ſcharfer Beobachter würde ohne Zweifel an den
langen ſeidenen Wimpern die Spuren kürzlich vergoſſener
Thränen haben blinken ſehen.
Edmunds Schweſter ergriff Mauds Hand. „Mein liebes,
gutes Kind,“ ſagte ſie weich und innig, „Sie haben ſich
nicht geirrt, Sie beſitzen das Feingefühl einer Seele, welche
die Leiden einer anderen zu ahnen fähig iſt. Ja, ich bin
recht traurig und bedarf des Beiſtandes. Nicht für mich —
für einen Freund, einen Gefährten meiner Jugend, welcher
mir teuer iſt.“
Die junge Tochter des Senators ſchlang ihren Arm
zärtlich um Gertruds Schultern. „Sie ſprechen von
Ihrer Jugend? Als ob Sie nicht jung und ſchön wären!
Doch nun ſchnell heraus mit Ihrem Geheimnis, es wird
Kriminalnovelle von Barry Sheff. 137
fih doch irgend eine Hilfe gegen Ihre Sorgen finden
laſſen.“
„Nicht Sie, Maud, vermögen mir beizuſtehen,“ erwiderte
Gertrud, „aber — meine Hoffnung iſt auf Ihre Frau
Mutter gerichtet. Sie, die unzähligen Unglücklichen ſchon
als rettender Engel erſchienen iſt, ſie iſt vielleicht die
einzige, welche auch meinem Freunde beiſtehen kann.“
Maud ſprang auf. „Kommen Sie, Miß Schlieben,
kommen Sie,“ rief das anmutige junge Geſchöpf, während
ihre Augen leuchteten und den Eifer verrieten, mit welchem
Maud ihrer Freundin zu dienen erfüllt war, „ich führe
Sie ſogleich zu Mama, und obwohl ſie ſeit einigen Tagen
von ihren böſen Kopfſchmerzen geplagt wird und für jeder⸗
mann unſichtbar blieb, wird ſie doch in dieſem Fall mit
Ihnen eine Ausnahme machen. Kommen Sie.“
Und ſie nahm Gertruds Hand und zog die junge Leh—
rerin durch eine Reihe fürſtlich eingerichteter Gemächer zum
Boudoir ihrer Mutter.
Maud pochte an die Thür und rief mit einſchmeicheln⸗
der Stimme: „Mama, liebe ſüße Mama — verzeihe, daß
ich dich ſtöre. Ich bringe dir Miß Schlieben, welche in
einer wichtigen Angelegenheit um deinen Rat und Beiſtand
bitten möchte. Dürfen wir eintreten?“
Einen Augenblick blieb alles ſtill, dann vernahmen die
vor der Thür Harrenden ein Rauſchen und Knittern, als
würde Papier haſtig fortgeräumt, und wenige Sekunden
ſpäter öffnete ſich von innen die Thür, und Maud und
Gertrud traten ein.
Maud hatte kaum ihre Mutter erblickt, als ſie ihre
Arme um ſie ſchlang und mit zärtlicher Beſorgnis ausrief:
„Um Gott, Mama, wie ſiehſt du aus! So blaß, ſo müde.
Ich fürchte, du biſt ernſtlich krank, und ich will ſofort Be⸗
fehl geben, Doktor Lewis herbeizuholen.“
Frau Edith ſtrich liebkoſend über das Haupt ihres Kindes.
138 Der Tombsengel.
„Aengſtige dich nicht, mein Liebling,“ fagte fie ſanft, „es
ſind nur die alten neuralgiſchen Schmerzen, die mich peinigen.
Doktor Lewis hat dagegen bereits alle ſeine Mittel ins
Feld geführt. Seine Anweſenheit könnte an meinem Zu⸗
ſtand nichts beſſern. — Und nun willkommen, Miß Schlie⸗
ben. Ich werde mich von Herzen freuen, Ihnen einen
Dienſt erweiſen zu können. Laſſen Sie ſich hier neben mir
nieder und teilen Sie mir mit, was ich zu thun habe, um
Ihnen nützlich zu ſein.“
„O, Sie ſind ſo gütig, Miſſis Jefferſon,“ rief Gertrud,
„ich fühle, daß ich Ihnen vertrauen darf — und daß Sie
mich nicht falſch beurteilen werden.“
„Gewiß nicht, mein Kind, ſprechen Sie ganz rückhaltlos.“
Die Gattin des Senators zog Gertrud neben ſich auf
die ſchwellenden Polſter des Ruhebettes nieder, während
Maud auf einem geſtickten Schemel zu Füßen ihrer Mutter
Platz nahm und mit Blicken ſchwärmeriſcher Liebe zu ihr
emporſah. Frau Ediths ſtolze, ausgeglichene Schönheit
wurde durch ihr Leiden nicht beeinträchtigt. Wie Silber—
ſtaub lag es über den dunkelblonden Haaren, ein paar
Falten unter den Augen, eine Linie, welche die Mund:
winkel verlängerte, das war alles, was die Jahre dieſen
gleichmäßig ſchönen Zügen hatten anhaben können. |
Gertrud Schlieben aber blickte in die großen hellgrauen
Augen der Frau, in Augen, welche ein tiefes Seelenleben
widerſpiegelten, und ſie fand in ihnen ſo viel echte Teil—
nahme, ſo große Bereitwilligkeit, die Schmerzen anderer zu
empfangen und zu teilen, daß ſie tapfer ihr ganzes Herz
ausſchüttete. Sie erzählte die Leidensgeſchichte Franz Schnei⸗
ders, ſeine Verhaftung unter dem entſetzlichen Verdacht des
Vatermordes, ſeine unwürdige Gefangenſchaft und ſeine
Hilfloſigkeit, ſich derſelben zu entziehen. Denn die Coroners:
jury habe nicht die Hoffnungen des verzweifelten jungen
Mannes erfüllt, ſie habe nicht an ſeine Unſchuld geglaubt,
Kriminalnovelle von Harry Sheff. 139
fondern ihn den Geſchworenen überwieſen. Sie fei da:
bei von der Annahme ausgegangen, daß Franz mit der
Abſicht, ſeine und ſeiner Mutter Rechte auf den Beſitz des
geizigen, reichen Taylor geltend zu machen, nach Amerika
gekommen ſei. Er habe den pflichtvergeſſenen Vater auf:
geſucht und wahrſcheinlich eine beſtimmte Summe von ihm
gefordert. Natürlich ſei er von Taylor ſchroff abgewieſen
worden. Es habe ſich ein Streit zwiſchen Vater und Sohn
entſponnen, welcher von Zeugen, den drei Tramps, be—
lauſcht wurde. Die Tramps, und beſonders der eine von
ihnen, Kaſpar Drill, wollten zwar ausdrücklich gehört haben,
daß der Angeklagte dem Alten zugerufen, er möge ſein Geld
behalten, er wolle nicht einen Cent davon, aber die Ge—
ſchworenen legten dieſer Ausſage um ſo weniger Gewicht
bei, als erwieſen wurde, daß Franz Schneider ſich unbedingt
eines Wertgegenſtandes aus dem Beſitz ſeines Vaters „be⸗
mächtigt“ habe. Es ſei dies eine goldene Uhr, welche
Zeugen als Eigentum Taylors mit aller Beſtimmtheit er⸗
kannt hatten, nachdem die Polizei dieſelbe aus dem Koffer
Schneiders hervorgezogen und als ſchwerwiegendes Beweis—
material gegen ihn den Geſchworenen vorgelegt. Selbſt
die Erklärung des jungen Deutſchen, Taylor habe ihm die
Uhr geſchenkt, trotzdem er ihm dafür Bezahlung angeboten,
begegnete dem höchſten Unglauben und wurde belaſtend für
ihn. Denn daß der alte Wucherer Geld zurückgewieſen und
die wertvolle Uhr verſchenkt haben ſollte, erklärten die
Zeugen, die aus Taylors Nachbarſchaft erwählt worden
waren, für eine Unmöglichkeit.
Und ſo ſchloſſen die Verhandlungen mit dem für den
Gefangenen traurigen Reſultat, daß die Coronersjury ihn
ohne Zulaſſung von Bürgſchaft feſthielt. Ein Verzweifelter,
unter der Wucht dieſer furchtbaren Anklage Zufammen:
gebrochener wurde Franz Schneider in die Tombs gebracht,
um hier ſeinen Prozeß abzuwarten.
140 Der Tombsengel.
„Und er ift fo unſchuldig,“ rief Gertrud in Thränen
ausbrechend, „ſo unſchuldig wie ich oder wie Sie ſelbſt,
Miſſis Jefferſon, an dieſer That; man würde einen un:
erhörten Juſtizmord begehen, wenn man Franz Schneider
für dieſes blutige Verbrechen büßen laſſen wollte — nein,
nein, das darf nie und nimmer geſchehen. Und es wird
nicht geſchehen, gute Menſchen werden ſich finden, welche
dieſe Ungerechtigkeit, dieſe himmelſchreiende Gewaltthat ver⸗
hindern werden — und Sie, die man den Engel der Ge⸗
fangenen nennt, Sie, verehrte Frau, werden dem Unglück⸗
lichen gewiß Ihren Beiſtand nicht verſagen!“
Die warme Beredſamkeit des jungen Mädchens ſchien
eine tiefe Wirkung auf Frau Edith hervorgebracht zu haben.
Langſam, wie einem inneren Zwange folgend, hatte ſie ſich
während Gertruds letzten Worten erhoben und ſchaute mit
feſt aufeinander gepreßten Lippen und düſter zuſammen⸗
gezogenen Brauen nachdenklich vor ſich nieder.
„Ja, ich will ihm beiſtehen. Was in meiner Macht
ſteht, Ihrem Freund die Freiheit wiederzugeben, das ſoll
geſchehen — ja — das ſoll geſchehen.“
Frau Edith wandte ſich haſtig ab und ſchritt zu ihrem
Schreibtiſch. Derſelbe war mit Papieren und Zeitungs:
blättern bedeckt, und Gertrud bemerkte mit Staunen, daß
in letzteren die den Prozeß Franz Schneider betreffenden
Artikel mit Rotſtift angeſtrichen waren.
„Wie Sie ſehen, mein liebes Fräulein,“ wandte ſich
Frau Edith an Gertrud, „habe ich mich, bevor Sie mir
davon ſprachen, ſchon für den Fall intereſſiert. Leider erſah
ich aus den Zeitungen, daß die Situation Ihres Freundes
eine ſehr ernſte iſt. Die Beweiſe ſind gegen ihn, die
Zeugenausſagen ſind belaſtend und — was nicht unweſent—
lich iſt — er iſt ein Deutſcher!“
„Kommt denn die Nationalität in dieſem Falle in Be⸗
tracht?“ fragte Gertrud.
Kriminalnovelle von Harry Sheff. 141
„Sie follte e3 nicht, aber e3 ift erwiefen, daß man einen
Deutſchen in dieſem Lande mit erftaunlicher Schnelligkeit
an den Galgen oder in den elektriſchen Stuhl bringt.“
„Und das jagen Sie, Madame, eine geborene Ameri⸗
kanerin, mit ſo viel Freimut?“ rief Gertrud bewundernd aus.
„Aber Mama iſt ja keine geborene Amerikanerin,“ rief
Maud lächelnd, „ihrer Sprache freilich iſt es nicht an—
zumerken, ſie ſpricht ohne Accent. Aber meine Mutter hat
in Deutſchland das Licht der Welt erblickt, ſie iſt alſo Ihre
Landsmännin, Miß Schlieben.“
Gertrud wollte ſoeben ihr freudiges Erſtaunen über
dieſe ihr ganz unerwartete Entdeckung äußern, als ſie be—
merkte, daß ſich eine leichte Falte zwiſchen die Augenbrauen
der Mutter Mauds geſchoben hatte. Die Gattin des Sena⸗
tors ſchien peinlich berührt, ſie ſandte Maud einen ſchnellen
mißbilligenden Blick hinüber und wandte ſich dann haſtig
an Gertrud: „Ich will ſogleich ſelbſt nach den Tombs
fahren, um nach Ihrem Freunde zu ſehen. Vor allem muß
er einen guten Anwalt bekommen.“
„Für den hat mein Bruder ſchon geſorgt.“
„Nun, ich denke, wenn mein eigener Anwalt den Fall
übernimmt, ſo dürfte Ihrem Freunde beſſer geholfen ſein.
Mein Lawyer iſt Mr. Baker von der Firma Graham,
Baker & Comp., einer berühmten Anwaltsfirma, welche auch
bedeutenden Einfluß ausübt. Doch laſſen Sie uns keine
Zeit verlieren, bleiben Sie, wenn Sie es ſo wollen, bei
Maud, ich werde, wenn ich zurückkehre, Ihnen ſagen können,
was für unſeren Schützling zu geſchehen hat.“
„Miſſis Jefferſon, Sie verpflichten mich zu ewiger
Dankbarkeit. Niemals werde ich es Ihnen vergeſſen, wie
ſchnell Sie einem Unglücklichen Ihre Hilfe angedeihen ließen,
Sie gute, großmütige Menſchenfreundin.“
Gertrud hatte in der Aufwallung ihrer Empfindungen
die Hand der Senatorsgattin ergriffen und wollte ſie ſchnell
142 Der Tombsengel.
an ihre Lippen führen, aber Edith wußte dieſen Ausdruck
der Dankbarkeit zu verhindern.
„Sprechen Sie nicht davon, daß Sie mir Dank ſchul⸗
den. Ich erfülle nur eine Pflicht — hören Sie — nur
eine Pflicht. Denken Sie doch, wie ſchrecklich es wäre,
einen Unſchuldigen zu Grunde gehen zu laſſen. Nein —
nein, es muß alles geſchehen, was in Menſchenmacht liegt,
den Juſtizmord zu verhindern. Ich will es — ich werde
es. Er wird nicht ſterben, Ihr Freund, ich werde es ver:
hindern.“
Und kaum hatte Frau Edith Jefferſon dieſe Worte ge:
ſprochen, als ſie mit einem leiſen Schmerzenslaut auf das
Ruhebett zuſammenbrach. Ihre Augen waren geſchloſſen,
und Marmorbläſſe bedeckte ihr Antlitz.
Maud warf ſich aufſchreiend über ihre Mutter und be:
deckte ihre Wangen mit Küſſen. Gertrud aber eilte zum
Tiſch, nahm eine Flaſche Floridawaſſer von demſelben und
benetzte mit dem wohlriechenden Inhalt der Flaſche das
Geſicht der Bewußtloſen.
Es währte auch nicht lange, und die Gattin des Senators
hatte den Schwächeanfall überwunden.
„Du biſt krank, Mama,“ rief Maud weinend, „laß mich
zum Arzt ſchicken.“
Aber Frau Edith ſchüttelte den Kopf: „Ich habe jetzt
keine Zeit, an mich zu denken. Es giebt Menſchen, welche
viel, viel kränker ſind als ich, und deren Arzt ich ſein
muß, um ſie zu retten. Geh, meine Tochter, und gieb
Auftrag, meinen Wagen bereit zu halten. Ich fahre nach
den Tombs.“
4. |
In den Tombs herrſchte immer eine gehobene, hoff:
nungsvolle Stimmung, ſo oft der „Engel“ das Innere
des düſteren Gefängniſſes betreten hatte. Die Aufſeher
flüſterten es den Gefangenen zu, daß „er“ da ſei, und die
Kriminalnovelle von Barry Sheff. 143
Elenden und Freiheitsloſen drückten ihre bleichen eingefallenen
Geſichter an die Gitterſtäbe ihrer Kerker, um einen Blick
der barmherzigen Frau aufzufangen und ihre Aufmerkſam⸗
keit, wenn es irgend anging, auf ſich zu lenken.
Doch heute ſchritt Frau Edith Jefferſon nicht, wie ſie
ſonſt pflegte, von Zelle zu Zelle und ſammelte nicht die
Klagen und Bitten, die Seufzer und Thränen ein, heute
wandte ſie ſich ſogleich an den Wärter mit dem Erſuchen,
ſie zu dem in Unterſuchungshaft befindlichen angeblichen
Mörder Franz Schneider zu führen und eine Unterhaltung
mit dem Gefangenen zu geſtatten.
Der Beamte war der Frau des einflußreichen Senators
gegenüber ganz und gar Bereitwilligkeit und Eifer, er
wußte, daß Frau Jefferſon ein für allemal das Recht be:
ſaß, alle Räumlichkeiten der Tombs zu beſichtigen, und daß
jeder ihrer Wünſche, ſoweit dieſelben mit dem Geſetz und
den Gefängnisvorſchriften in Einklang ſtünden, Berück⸗
ſichtigung finden müßte.
„Darf ich Sie bitten, Miſſis Jefferſon, mir zu folgen,“
ſagte er, „es freut mich, daß Sie ſich für den jungen
Mann intereſſieren. Der Unglückliche iſt völlig zuſammen⸗
gebrochen, und meine Leute müſſen die Augen offen halten,
um ihn von einer Verzweiflungsthat zurückzuhalten.“
„Führen Sie mich ſchnell zu ihm,“ bat Frau Edith.
„Befindet er ſich allein in ſeiner Zelle?“
„Ja, er bat mich inſtändigſt, ihm dieſe Wohlthat zu
gewähren und ihn wenigſtens, wie er ſich ausdrückte, vor
der Geſellſchaft von Verbrechern zu bewahren. Obwohl
nun die Tombs, wie immer, überfüllt ſind, ſo daß in
mancher Zelle vier oder fünf Gefangene ſich befinden müſſen,
ſo mochte ich doch dem Manne dieſe Bitte nicht abſchlagen.
Ich denke mir, er iſt ja kein gemeiner Mörder, ſondern
hat die That vielleicht mehr im Jähzorn begangen, nachdem
der geizige Alte ihn aufs äußerſte gereizt hatte.“
144 Der Tombsengel.
„Demnach glauben Sie nicht, daß man auf die Anklage
des Mordes im erſten Grade gegen ihn ein „Schuldig“
ausſprechen könnte?“
Der Mann zuckte die Achſeln. „Das iſt nicht abzuſehen,“
meinte er, „aber ſchade wäre es, wenn er den elektriſchen
Stuhl beſteigen müßte.“
Edith zuckte zuſammen, aber ſie erwiderte nichts und
folgte dem Beamten, der ſie in die unter der Erde gelegene
Abteilung des Gefängniſſes führte. Vor einer der Zellen
machte er Halt, und auf ſeinen Ruf wankte eine vergrämte
gebeugte Geſtalt an die Stäbe.
„Dieſe Dame wünſcht Sie zu ſehen,“ ſprach der Wärter.
„Sie dürfen das als eine Auszeichnung und ein Glück be⸗
trachten, denn Miſſis Jefferſon iſt ebenſo einflußreich und
vielvermögend, als ſie gütig und wohlthätig iſt.“
„Sie dürfen mir vertrauen,“ ſagte Edith und ſchaute
Franz mit ſeltſamen Blicken an, „Sie ſind fremd in dieſem
Lande und beſitzen nur wenige Herzen, die mit Ihnen
fühlen. Aber ich nehme an Ihrem Geſchick ehrlichen An⸗
teil, und ich hoffe manches für Sie thun zu können. — .
Laſſen Sie ſich, bitte, nicht in der Erfüllung Ihrer anderen
Pflichten ſtören. Sie wiſſen ja, Sie dürfen mich mit dem
Gefangenen allein laſſen.“
Dieſe letzten Worte, welche an den Wärter gerichtet
waren, fanden das vollſte Verſtändnis. Der Beamte zog
ſich mit einer Verbeugung zurück.
„Und nun erzählen Sie mir Ihre ganze Lebensgeſchichte,“
bat Frau Edith den Gefangenen, ſobald ſie mit ihm allein
war, „dieſer — Mann, den Sie gemordet haben ſollen,
war — Ihr Vater?“
Zögernd, ſtockend kamen dieſe Worte von den Lippen
der ſtolzen, bleichen Frau, und ihre Hände umfaßten die
Gitterſtäbe, welche ſie von dem Gefangenen trennten.
„Ja, er war mein Vater,“ erwiderte Franz, „aber er
Kriminalnovelle von Harry Sheff. 145
hat niemals die heiligen Verpflichtungen erfüllt, welche er
mit meiner Geburt übernommen. Eines gewiſſenloſen Weibes
wegen verließ er meine arme Mutter, verzichtete er auf
das ſchöne Recht, ſein Kind zu erziehen. Er iſt geſtorben,
wie er gelebt hat — auf unnatürliche Weiſe.“
Die Gattin des Senators war während dieſer Worte
Schneiders ſo blaß geworden wie der Kalk, der die Wände
der Gefängniszelle bedeckte.
„Um eine — Frau alſo,“ ſtieß ſie hervor, „hat Ihr
Vater Sie und die Mutter preisgegeben. Wer war ſie
und — wie hat ſie geendet?“
Franz zuckte die Achſeln. „Darüber kann ich Ihnen
herzlich wenig ſagen, gnädige Frau,“ antwortete er, „meine
Mutter war ſelbſt, als ich bereits erwachſen war und wohl
ein Urteil darüber hätte haben können, zu zartfühlend, mir
über dieſe Frau, deren Verführungskünſte und Gewiſſen⸗
loſigkeit unſer Unglück herbeigeführt haben, mehr zu ſagen,
als ich unbedingt wiſſen mußte. Dieſe Begleiterin meines
Vaters war eine Sängerin, fie fol ſchön und begabt ge:
weſen ſein, doch ihr Leichtſinn Lu fie und uns ins Ber:
derben.“
Die bleiche Frau neigte nachdenklich das Haupt. „Was
iſt — aus ihr geworden?“ fragte ſie; „wurde ſie glücklich
oder ſchlug auch ihre Stunde?“
„Ich weiß es nicht. Sie hat ſich bald genug von
meinem Vater getrennt, wahrſcheinlich, weil er ſich zu ſchlecht
mit Geld verſorgt hatte, ehe er Dresden verließ. Solche
Frauen lieben ja nur ſolange, als ihre Neigung auf gol:
denen Stützen ſtehen kann. Was aus ihr geworden?
Schwerlich das, was ſie verdient hat! Denn ich habe jetzt
einſehen gelernt, daß das Schickſal die Schlußfolgerung des
Lebens mit launenhafter Willkür geſtaltet. Wer kann wiſſen,
ob jenes Weib nicht an der vollbeſetzten Tafel des Glücks
ſchwelgt, während ich, eines ihrer Opfer —“
1900. III. 10
146 Der Tombsengel.
Franz brach kurz ab und biß fih auf die Lippe. Er
wollte nicht zu verbittert erſcheinen.
„Vielleicht irren Sie auch,“ erwiderte Edith Jefferſon
langſam, „vielleicht iſt jene Frau elend und unglücklich ge—
worden — wie ſie es verdiente. Selbſt wenn ſie, wie Sie
meinten, an des Lebens reich beſetzter Tafel ſchwelgt, kann
ſie doch innerlich elend ſein und die Erinnerung an dieſe
niedrige That, welche ſie begangen, mag wie eine langſam
verzehrende Flamme in ihrem Herzen brennen. — Freilich,
wenn alle Verwünſchungen Ihrer Mutter dieſe Frau ge⸗
troffen hätten —“
„Sie irren, gnädige Frau,“ unterbrach ſie Franz, „meine
Mutter hat niemals dieſer Frau geflucht, obwohl ſie wahr⸗
lich Grund dazu gehabt hätte. Sie hat ſie nur bedauert,
weil ſie, ein Weib von Bildung und Erziehung, ſo tief
fallen konnte, und hat ſich geſchämt, daß eine ſolche Perſon
ihr vorgezogen wurde.” ž
Der „Engel der Tombs” wandte das Antlitz ab und
bedeckte für einen Augenblick die Stirne mit der Hand. Es
trat eine minutenlange Pauſe in der Unterhaltung ein.
Dann ſagte Frau Edith: „Hoffen Sie, die Richter von
Ihrer Unſchuld überzeugen zu können?“
„Ich hoffe nichts mehr. Dieſe Fähigkeit iſt mir in
den letzten Tagen abhanden gekommen. Die Umſtände ſind
gegen mich und die Beweiſe werden mich erdrücken. Man
wird mich zum Tode verurteilen, und ich werde in der
Blüte meiner Jahre hingemordet werden. Nur eines hoffe
ich noch, und wenn ich mit dieſem Gedanken ſterben könnte,
würde ich um vieles gefaßter den Tod erleiden: ich möchte
davon überzeugt ſein, daß meine arme geliebte Mutter nie⸗
mals erfahren wird, wie ihr Sohn, der Liebling ihres
Herzens, geendet hat!“
Des jungen Mannes Augen ſchwammen in Thränen,
als er diesmal den Namen „Mutter“ ausſprach.
Kriminalnovelle von Barry Sheff. 147
Auch Ediths hatte fih eine tiefe Rührung bemächtigt,
ſie verſuchte vergeblich ihre Ergriffenheit niederzukämpfen.
„Und hegen Sie nicht die Hoffnung, daß der wahre Mörder
noch ergriffen wird?“
„Nein, gnädige Frau! Wäre Taylor von einem Schurken
erſtochen worden, der mit der Abſicht, ihn zu berauben,
das Verbrechen ausgeführt und auch einige Beute davon⸗
getragen hätte, dann würde ich es für möglich halten, daß
man den Mörder bei der Verwertung des geſtohlenen Gutes
dingfeſt macht. Dies aber iſt nicht der Fall. Taylor iſt
meiner Anſicht nach von einem Menſchen ermordet worden,
von welchem er es vielleicht am wenigſten erwartete, dem
er vertrauend die Thür geöffnet hatte.“
Nach einigem Schweigen fragte die vornehme Frau:
„Und vermuten Sie nicht — wer dieſe Perſon geweſen
ſein könnte, hat Ihr Anwalt keine Spur gefunden —
nichts ermittelt?“
„Nichts, obwohl mein Freund Edmund Schlieben auch
noch einen geſchickten Detektive engagiert hat. Aber nicht
der geringſte Hinweis, wer der rätſelhafte Mörder ſein
könnte, iſt zu entdecken, und ſo bleibt mir keine andere Aus⸗
ſicht als — ſchimpflich zu Grunde zu gehen!“
„Das werden Sie nicht, Franz Schneider — das wer⸗
den Sie nicht! Verzweifeln Sie nicht, der Mörder, der
wahre Mörder, er wird entdeckt werden. Schlafen Sie
ruhig, harren Sie aus — nur wenige Wochen noch — nur
ein paar armſelige Wochen — ach, dies iſt ja eine ſo
kurze, kurze Zeit — Sie werden leiden, ich weiß es, dieſe
wenigen Wochen werden Ihnen ſo viel Jahre dünken, doch
denken Sie daran, daß der Mörder, für den Sie im Ge—
fängnis ſchmachten müſſen, vielleicht viel elender und un:
glücklicher iſt als Sie, obwohl er ſich der goldenen Freiheit
erfreut. Doch daß Sie nicht für ihn werden büßen müſſen,
daß Sie frei werden ſollen, in die Arme Ihrer Mutter
148 Der Tombsengel.
werden zurückkehren können — daran brauchen Sie nicht
einen Augenblick zu zweifeln. Der wahre Mörder wird
vor Gericht da ſein — wenn es Zeit iſt. Gönnen Sie mir
nur ein paar armſelige Wochen — ihn zu finden! Und
nun leben Sie wohl — leben Sie in der Hoffnung, daß
es einen Gott giebt, der den Unſchuldigen nicht zu Grunde
gehen läßt, der den Schuldigen mit e Ge⸗
walt der Vergeltung entgegentreibt.“
Mit dieſen Worten eilte die Dame baren und ſtieg
mit ſchwankenden Schritten die Treppe hinauf.
In ſprachloſem Erſtaunen blickte ihr der Gefangene durch
die Gitterthür ſeiner Zelle nach. Das Weſen, die Worte
des „Engels der Tombs“ hatten ihn ſonderbar berührt.
. 2 5. :
Sechs Wochen waren ſeit Franz Schneiders Verhaftung
vergangen, und die amerikaniſche Geſetzesmaſchine hatte ſchnell
genug gearbeitet. Der Prozeß gegen den Mörder des alten
Taylor war für den nächſten Montag feſtgeſetzt, an dieſem
Tage traten die Geſchworenen zum letztenmal vor den
Gerichtsferien zuſammen. Franz hatte während dieſer Zeit
ein materiell ziemlich erträgliches Leben geführt. Durch den
Einfluß der Gattin des Senators war ihm manche Er⸗
leichterung ſeiner Haft zu teil geworden. Er durfte ſich
während eines großen Teils des Tages frei im Korridor
des Gefängniſſes, an welchem ſeine Zelle lag, bewegen, er
erhielt aus einem benachbarten Hotel vortreffliche Mahlzeiten,
und Bücher und Zeitungen ſtanden ihm jederzeit zur Ver⸗
fügung. Auch Beſuche empfing er. Edmund und Gertrud
Schlieben widmeten jede Minute ihrer freien Zeit dem
Gefangenen und gaben ſich alle Mühe, ihm die trüben
Gedanken über die Zukunft und das Schickſal der Mutter
zu verſcheuchen.
Denn trübe Ahnungen beſchlichen Franz. Er durfte
Kriminalnovelle von Harry Sheff. 149
fih nicht verhehlen, daß feine Lage fih noch um nichts
gebeſſert habe. Selbſt feine Beſchützerin, Frau Edith
Jefferſon, ſchien alle Hoffnung auf Entdeckung des Thäters
aufgegeben zu haben. Seit der erſten Unterredung mit
dem Gefangenen hatte ſie ſich nicht mehr in den Tombs
ſehen laſſen, wohl aber ihren Einfluß geltend gemacht, Franz
alle jene erwähnten Freiheiten zu verſchaffen. Sie ſelbſt
hatte er nicht mehr wiedergeſehen. |
Um ſo eifriger hatte ihn der Advokat aufgeſucht, welchen
die Gattin des Senators für ihn engagiert hatte. Doktor
Baker war eine erſte Autorität in Kriminalprozeſſen und hatte
eine lange, an Erfahrungen reiche Praxis hinter ſich. Für
eine ſeiner berühmten Verteidigungsreden pflegte er ein
Vermögen zu erhalten, und nur reiche Leute konnten ſich
daher ſeine bewährte Kraft ſichern. Die Gattin des Ses
nators ſchien eine große Summe geopfert zu haben, um
Baker für den des Mordes Angeklagten zu intereſſieren,
denn der Advokat machte ganz außergewöhnliche Anſtrengun⸗
gen, um wenigſtens einen Aufſchub des Prozeſſes zu be⸗
wirken und ſo das Leben ſeines Klienten zu verlängern,
aber es gelang ihm nicht. Der Generalanwalt beſtand
darauf, daß der Fall Schneider zu Ende geführt werde,
und ſo ward der verhängnisvolle Tag feſtgeſetzt.
Am meiſten litt wohl Gertrud Schlieben unter der un⸗
heilvollen Wendung der Angelegenheit. Das hübſche Mäd⸗
chen war kaum noch zu erkennen, ſo hatten Gram und
Aufregung ſie verändert. In Thränen aufgelöſt, das Haupt
mit dem lieben Geſicht in die Hand geſtützt, ſaß ſie an
dem Morgen, an welchem die Verhandlung gegen Franz
ſtattfand, in ihrer beſcheidenen Wohnung. |
Unruhvoll ſchaute fie auf das Zifferblatt der Uhr. Sie
ſeufzte — es war gegen elf Uhr, jetzt mußte die Verhand⸗
lung ſchon im Gange ſein. Sie hatte Edmund in den
Gerichtsſaal begleiten wollen, aber der Bruder hatte ſie
150 Der Tombsengel.
inſtändigſt gebeten, davon Abſtand zu nehmen, fie würde
das ergreifende Schauſpiel nicht ertragen können, und auch
für den Angeklagten würde ihre Gegenwart drückend und
beirrend ſein. So war ſie denn allein, und niemals vorher
war ihr die Einſamkeit ſo öde und grauenhaft geweſen.
Sie hatte verſucht, ihren Gedanken ein anderes Ziel zu
geben, ſie auf Dinge des gewöhnlichen Lebens zu richten,
ſie hatte ſich Mühe gegeben, ihre alltäglichen Pflichten zu
verrichten, aber es gelang ihr nicht. Das Bild des un⸗
glücklichen, ſchwergeprüften Freundes ſtand vor ihr, und es
war ihr, als hörte ſie fortwährend ſeinen herzzerreißenden
Ruf: „Mordet mich nicht — ich bin unſchuldig!“
Würden ſie es wirklich wagen, ihn ſchuldig zu ſprechen,
jene fürchterliche Strafe über ihn zu verhängen, welche ihn
für immer ſeinen Lieben entreißen mußte? Sollte es denn
wahrhaftig möglich ſein, daß ihn dieſer entſetzliche Irrtum
das Leben koſten könne? Es überlief Gertrud kalt. Und
keine Rettung, keine? — Gertrud konnte ſich nicht ent⸗
halten, mit einem Gefühl der Bitterkeit an die einflußreiche
vornehme Dame zu denken, welche ihr die Rettung des
armen Franz ſo beſtimmt in Ausſicht geſtellt und im Grunde
genommen ſo wenig erreicht hatte. Geld hatte ſie aller⸗
dings für den Gefangenen aufgeboten, Geld und nur Geld!
Sie ſelbſt aber hatte ſich herzlich wenig um ihn gekümmert.
Frau Edith hatte auch offenbar keine Zeit dazu gehabt.
Niemals vorher hatte ſie ſo geſellig, ſo ganz ihre Zeit der
Familie und ihren Freunden widmend gelebt. Gertrud
hatte von Maud erfahren, daß die Mutter ihr ganz ver—
ändert erſcheine. Früher zurückgezogen lebend, nur im Zu:
ſammenſein mit dem Gatten und ihrer lieblichen Tochter
glücklich, hatte Frau Edith Jefferſon ſeit einigen Wochen
ganz andere, und wie Maud meinte, ſehr glücklich gewechſelte
Anſchauungen von den Freuden des Lebens angenommen.
Die Familie des Senators hatte vor einigen Tagen
Kriminalnovelle von Harry Sheff. 151
ihren Sommerſitz am Strande bezogen, ein Schloß, wie
es kaum ein herrlicheres in der Umgebung von New York
. gab. Der Senator hatte auf Wunſch feiner Gattin auf
ſeine alljährliche Europareiſe verzichtet und war bei ſeiner
Familie geblieben. Edith aber lud alle ihre Freundinnen
und jeden, den ſie lieb hatte, auf ein oder mehrere Tage zu
ſich auf die Villa ein, und ſo wurde des Senators Haus
von Beſuchen gar nicht leer. Und jeder ging mit dem
Bewußtſein hinweg, die Liebenswürdigkeit und Herzlichkeit
Frau Ediths diesmal in ſo hohem Maße, ſo überraſchend
innig und erquickend empfangen zu haben, wie niemals
vorher. Die immer noch reizende Frau hatte ſich jeder
ihrer Freundinnen mit einer Hingebung gewidmet, als wolle
ſie jeder die mit ihr verlebten Stunden unvergeßlich machen.
Für dieſe Abſicht ſprach auch der Umſtand, daß die
Gattin des Senators jeden ihrer Beſucher mit einem wert:
vollen Andenken zum Abſchied überraſchte. Sie plünderte
förmlich ihren Schmuckkaſten und gab bis auf die Fa:
milienkoſtbarkeiten, welche ſie längſt für Maud beſtimmt
hatte, alles fort.
Der Senator ſprach endlich lächelnd ſeine Verwunderung
darüber aus und fragte, ob denn ſeine Gattin ſich gar
nicht mehr ſelbſt ſchmücken wollte, da lächelte die blaſſe
Frau, ſchmiegte fih zärtlich an ihn und ſagte mit leiſe be:
wegter Stimme: „Ich habe wohl aufbewahrt, womit ich
geſchmückt ſein werde, wenn — wenn ich am Ziele bin
und — das große Feſt feiere.“
„Das große Feſt? Ah, du meinſt Mauds Verlobung —
ja gewiß, das wird ein ſchönes Feſt werden, und du ſollſt
deinen beſten Schmuck anlegen.“
Edith lächelte — es war ein wehmütiges und doch
glückliches Lächeln.
Denn die Gattin des Senators fühlte ſich glücklich in
dem Gedanken, daß vor einigen Tagen Maud und der
152 Der Tombsengel.
junge Daly, ein reicher, unabhängiger und tüchtiger Mann,
ſich heimlich verlobt hatten. Mauds Mutter hatte bis
vor kurzem dieſer Verlobung ihrer Tochter noch widerſtrebt,
aus dem einzigen Grunde, weil Maud ihr noch zu jung
erſchienen war, um den bedeutſamen Schritt, einem Manne
ihr Wort für das Leben zu verpfänden, thun zu können.
Aber auch in dieſer Hinſicht hatte Edith, wie es ſchien,
ihre Meinung vollkommen gewechſelt, war ſie es doch ge⸗
weſen, welche den jungen Mann ſelbſt auf ihren reizenden
Sommerſitz eingeladen und ſein Liebeswerben um Maud
ſichtlich begünſtigt hatte.
Und als Maud und Daly eines Abends im Garten
unter dem Weinſpalier, deſſen Trauben in der zarten Blüte
ſtanden, um ihren Segen baten, da ſchloß ſie ihre Kinder
in die Arme und heiße Thränen floſſen über ihre Wangen
herab, als ſie ausrief: „Werdet glücklich und vergeßt mich
niemals — nie — nie!“
Aber als ſie an demſelben Abend mit ihrem Gatten
allein war, fragte ſie plötzlich ohne alle Veranlaſſung:
„Nicht wahr, du hältſt Daly auch für einen Mann von
feſtem Charakter und unerſchütterlicher Konſequenz?“
„Ohne Zweifel — er iſt ein Mann, auf den man un⸗
bedingt vertrauen kann.“
„Und er würde ſicherlich niemals von Maud ablaſſen?“
„Welche Frage! Er liebt doch unſer Kind von ganzem
Herzen.“
„Ich weiß es. Aber ſelbſt wenn irgend etwas geſchähe,
was Daly dieſe Verbindung nicht mehr ſo wünſchenswert
erſcheinen ließe, wenn unſere Familie nicht mehr dieſelbe
Reputation beſäße — nein, nein, fahre nicht auf, mein
Freund — ich weiß, daß das ein ganz unmöglicher Fall
iſt — ich wählte ihn nur als Beiſpiel.“
Der Senator ſchüttelte unwillig den Kopf. „Solche
Beiſpiele ſind gar nicht zu diskutieren,“ erwiderte er, „im
Kriminalnovelle von Harry Sheff. 153
übrigen — Daly iſt der Mann meines Herzens und meines
Vertrauens.“ — — —
Gertrud hatte durch Maud, mit welcher ſie in Kor⸗
reſpondenz geblieben war, alle dieſe wichtigen Ereigniſſe
erfahren und Kenntnis von dem heiteren, ſonnigen Daſein,
welches die Familie des Senators führte; ſie vermochte,
trotzdem ſie alle Vernunftgründe ſelbſt gegen ihre An⸗
ſchauung ins Feld führte, nicht die Empfindung los zu
werden, daß Frau Edith Jefferſon ihrem Verſprechen in
Bezug auf den armen Franz Schneider treulos geworden
ſei und nun die Sache gehen ließe, wie ſie eben ging.
„O, die reichen Leute,“ ſeufzte Gertrud, „ſie vergeſſen
im Genuß die Leiden ihrer Mitmenſchen und ſelbſt die
Edelſten, die Beſten glauben die Pflichten der Barmherzig⸗
keit erfüllt zu haben, wenn ſie eine beſtimmte Summe
Geldes opfern. Und ich habe ſo feſt auf die Hilfe dieſer
Frau gerechnet — ſie ſchien ihrer Sache ſo gewiß zu ſein.
Armer, lieber, guter Franz — nur Gott kann dir noch
helfen in deiner Not!“
Träge und langſam krochen die Stunden dahin. Ger⸗
truds Unruhe wuchs von Minute zu Minute. Sie wußte
zwar, daß ein Urteilsſpruch noch nicht erfolgt ſein könne,
daß die Verhandlungen ſich bis zum ſpäten Abend hinziehen,
und die Beratung der Geſchworenen vielleicht die ganze
Nacht andauern würden, aber Edmund hatte ihr verſprochen,
von Zeit zu Zeit Nachricht zu ſchicken, welche Wendung
der Prozeß genommen, und daß dieſe ausblieb, ſteigerte
Gertruds Angſt um beträchtliches.
Sie war nicht im ſtande, eine Speiſe zu berühren, und
nirgends fand fie Ruhe. Der Abend fam heran, die Sonne
ſank, und ihre Schatten erfüllten die Straße. Das junge
Mädchen trat vom Fenſter, durch welches ſie ſtundenlang
hinausgeſchaut, als könne ſie dadurch Edmunds Botſchaft
beſchleunigen, zurück.
154 Der Tombsengel.
Verzweifelt ſank fie auf einen Seſſel nieder und ſchlug
die Hände vor das Geſicht.
Da erklang plötzlich die Glocke, ſchrill und ungeſtüm.
Und ehe Gertrud die Thür noch erreichen konnte, um zu
öffnen, wiederholte ſich dieſes Erregung und Haſt verratende
Klingeln mehreremal.
„Nachricht! O, mein Gott, du guter, milder Gott —
laß ſie eine freudige Nachricht ſein!“
Mit dieſem Gedanken öffnete Gertrud die Thür. Be⸗
troffen prallte ſie jedoch zurück, denn ſtatt des ſehnlichſt
erwarteten Boten ſtand — eine elegant gekleidete Dame
vor ihr.
„Miß Schlieben, ſind Sie allein?“ fragte eine in Un⸗
ruhe erbebende Stimme.
„Sie? — Miſſis Jefferſon — Sie — o Gott, was
führt Sie heute hierher?“
Die Gattin des Senators trat haſtig ein, und ohne
Gertruds Erlaubnis abzuwarten, ſchritt ſie in das nächſte
Zimmer. Ihr Gang war unſicher und ſchwankend wie
der einer Trunkenen, und Gertrud fuhr aufs tiefſte er—
ſchrocken zuſammen, als ſie einen Blick in das Geſicht der
Frau that. Es ſah aus, als habe eine innere Krankheit dieſe
ſonſt ſo gleichmäßig ſchönen Züge verwüſtet. Graue Ringe
umlagerten die Augen, deren flackernder Glanz ein unnatür⸗
licher war und dem Widerſchein des Fiebers glich. Tiefe
Falten waren in die hohe Stirn eingegraben und zeichneten
ihre Spuren um Augen und Mund. Gertrud wollte es
ſogar ſcheinen, als ſei das volle Haar Ediths viel grauer
geworden, ſeit ſie die Gattin des Senators zum letztenmal
geſehen. Alles in allem — das war keine lebensfrohe,
keine glückliche Frau, nicht die zufriedene Mutter einer ge—
liebten und liebenden Braut, nicht die Gattin eines Mannes,
auf deſſen Beſitz ſie mit Recht ſtolz ſein konnte — das
war ein von inneren Qualen verzehrtes, gehetztes, von
Kriminalnovelle von Harry Sheff. 155
Fieber geſchütteltes Weib, welches nur mit äußerſter Wn:
ſtrengung ihre Selbſtbeherrſchung bewahrte.
„Sie ſind krank, Miſſis Jefferſon,“ ſtieß Gertrud her⸗
vor, nachdem Mauds Mutter mit einem gebrochenen Laut
auf einen Stuhl gefallen war, was kann ich für Sie thun?“
Edith wehrte mit einer energiſchen Bewegung ab. „Nein,
nein, ich bin ganz wohl,“ ſtieß ſie hervor, „nur die Er⸗
regung — die Haſt, in welcher ich hierherfuhr. Ich bringe
eine — eine — Freudenkunde!“
„In Bezug auf Franz Schneider? O, ſäumen Sie
nicht, zögern Sie nicht. Während wir hier dieſe Worte
wechſeln, wird vielleicht ſein Schickſal entſchieden. Sind
Beweiſe ſeiner Unſchuld entdeckt — wird er endlich von der
furchtbaren Anklage gereinigt daſtehen? Sprechen Sie —
beenden Sie meine qualvolle Ungewißheit, ich flehe Sie an!“
Edith Jefferſon hatte ſich langſam erhoben. Ihre Lippen
zuckten, ihre Augen ſtarrten ins Leere. Sie zog aus der
Taſche ihres dunklen Sommerkleides ein in Briefform ge—
faltetes, mit einem Siegel verſehenes Papier. Wie von
einem elektriſchen Strom durchfloſſen zitterte die Hand,
welche dieſes Dokument hielt.
„Da — da nehmen Sie es,“ kam es ſtöhnend von ihren
Lippen, als verurſache ihr jedes Wort, welches ſie ſprach,
unendliche Schmerzen, „ſo — nehmen Sie es doch, damit —
es nicht — abhanden kommt — nicht in dieſer Minute
noch — von — irgend jemand vernichtet wird — dieſes
Papier. Bringen Sie es ſo ſchnell als möglich zum Ge—
richt — übergeben Sie es Doktor Baker, dem Verteidiger —
es enthält alles — jeden Aufſchluß — Franz Schneider iſt
unſchuldig und ich — ich — ich habe in dieſem Dokument
den wahren Mörder genannt. — Nun — ſo nehmen Sie
doch, greifen Sie doch zu — und geben Sie es niemand —
hören Sie, niemand zurück — wer Sie auch darum bittet —
ſelbſt mir nicht — mir am wenigſten!“
156 Der Tombsengel.
Seltſame Angſt erfaßte Gertrud. Sie verſtand nur
halb, was die namenlos erregte Frau zu ihr ſprach, doch
das eine war ihr klar, daß ſie ſich unter allen Umſtän⸗
den jenes für Franz ſo koſtbaren Papieres bemächtigen
mußte. Sie that es und barg das Dokument in ihrer
Taſche.
„Wird man aber auch jenen Zeilen, jenen ſchriftlichen
Angaben Glauben ſchenken?“ fragte ſie die Gattin des
Senators.
Dieſe hatte ſich zur Schwelle des Gemaches zurück⸗
gezogen. In völliger Erſchöpfung lehnte ſie am Thür⸗
pfoſten, krampfhaftes Erbeben ſchüttelte die ſtolze Geſtalt.
Gedankenlos nickte ſie. „Man wird — dieſen Zeilen
glauben — o man wird glauben, aber eilen Sie, Mädchen,
eilen Sie — bedenken Sie, es gilt den Mann zu retten,
welchen — Sie lieben! Nicht wahr — Sie lieben dieſen
jungen Mann?“
„Ja — ich liebe ihn!“ antwortete Gertrud ſchlicht und
einfach.
„Und er liebt Sie gewiß auch. Ihr werdet glücklich
werden. — Maud, meine Maud, mein Kind wird es auch
ſein — liebt treu, liebt für immer — wenn Sie Maud
ſehen, ſagen Sie ihr, daß ich ſegnend meine Hände über
ihr halte, ſegnend und ſchützend, auch wenn — o, mein
Kind — mein Kind — mein geliebtes Kind!“
„Miſſis Jefferſon — ich laſſe Sie nicht fort — Sie
find ſehr krank — hören Sie doch, ich beſchwöre Sie —“
Gertruds Rufe verhallten ungehört, ſie erreichten ihr
Ziel nicht mehr. Mauds Mutter war bereits die Treppe
hinabgeeilt.
Gertrud war allein — allein mit ihrer fürchterlichen
Ahnung. Doch es blieb ihr keine Zeit, ihren Gedanken
nachzuhängen. Es war keine Minute zu verlieren, das
Dokument mußte in die Hände des Verteidigers des Ge—
Kriminalnovelle von Harry Sheff. 157
liebten gelegt werden! Sie kleidete fih in fieberhafter
Eile an. —
Eine halbe Stunde ſpäter betrat ſie den Gerichtsſaal.
Der Diſtriktsattorney hatte ſoeben ſeine Rede beendet und
den Geſchworenen auseinandergeſetzt, daß die Schuld des
Angeklagten klar erwieſen ſei. Der nüchterne Menſchenver⸗
ſtand müſſe zugeben, daß zwiſchen dem gewaltſamen Tod
Taylors und dem plötzlichen Auftauchen ſeines Sohnes und
einzigen vollberechtigten Erben in Amerika ein Zuſammen⸗
hang beſtehe. Als Motiv des Mordes ſehe er, der öffent:
liche Ankläger, das Beſtreben des Angeklagten an, ſich ſo
ſchnell als möglich in den Beſitz des väterlichen Vermögens
zu ſetzen. Selbſt aber wenn die Jury dieſe gewinnſüchtige
Abſicht nicht als Grund des Verbrechens anſehen wolle, ſo
müſſe doch zugeſtanden werden, daß der Angeklagte die
blutige That im Streit mit dem Vater begangen habe. Das
Verbrechen ſtelle ſich als ein um ſo ſtrafwürdigeres dar,
als es von dem Sohn an ſeinem Vater begangen ſei. In
jedem Falle liege Mord im erſten Grade vor, und die Jury
erfülle nur ihre Pflicht, wenn ſie einen Menſchen, der den
amerikaniſchen Boden nur betreten, um Blut zu vergießen,
die ganze Schwere des Geſetzes fühlen laſſe.
Tiefe Stille herrſchte in dem dicht gefüllten Gerichts⸗
ſaal. Die Rede des jungen Diſtriktsattorney, der mit
feuriger Beredſamkeit geſprochen, hatte augenſcheinlich ihre
Wirkung weder auf die Geſchworenen noch auf das Publi:
kum verfehlt, man las es den Anweſenden von den Ge⸗
ſichtern ab, daß der Stab über Franz Schneiders Haupt
gebrochen war. Nur ein einziger im Saal ſchaute nach wie
vor freundlich lächelnd zu dem Angeklagten hinüber und
ſchien ihm durch Kopfnicken und vergnügliches Schmunzeln
allerlei ermunternde Zeichen zu geben — Kaſpar Drill, der
Tramp, einer der wenigen, welche von des Angeklagten
Unſchuld überzeugt waren.
158 Der Tombsengel.
| Nun machte fih Doktor Baker, der Verteidiger, bereit,
die Angriffe des öffentlichen Anklägers zurückzuſchlagen. Der
ſtattliche weißhaarige Herr erhob ſich, rückte das Pincenez
auf dem Sattel der feingeſchnittenen Naſe zurecht und wollte
ſeine Rede ſoeben beginnen, als eine junge Dame an die
Schranken herantrat und ihm ein verſiegeltes Papier über⸗
reichte. Der Advokat warf einen höchſt erſtaunten Blick
auf den Brief wie auf die Ueberbringerin, dieſe aber gab
ihm im Flüſterton eine Erklärung und zog ſich dann an
die Seite eines jungen Mannes zurück, der in der Nähe
des Angeklagten im Publikum ſeinen Platz hatte. Die Blicke
des jungen Deutſchen, über deſſen Wohl und Wehe ſoeben
verhandelt wurde, folgten der lieblichen Geſtalt, und ein
flüchtiges Rot huſchte für einige Augenblicke über ſeine ver⸗
grämten Wangen.
Eine noch viel auffallendere Veränderung ging jedoch
mit dem Verteidiger vor. Der alte Herr hatte haſtig das
Siegel, welches das ihm überbrachte Papier verſchloſſen,
gelöſt, den Brief entfaltet und den Inhalt desſelben über⸗
flogen. Dabei nahmen ſeine Züge mehr und mehr den
Ausdruck der Beſtürzung an, und endlich lehnte ſich der ſonſt
ſo kühl und ruhig erſcheinende Mann in ſeinen Seſſel
zurück, und das Papier entſank ſeinen zitternden Händen.
Nach einigen Minuten erſt hatte er ſich einigermaßen
gefaßt. Langſam erhob er ſich, überſchaute den Gerichts—
faal mit unruhigen Blicken und ſagte dann mit hohlklingen⸗
der Stimme, ſich an den Präſidenten des Gerichtshofes
wendend: „Euer Ehren! Ich habe ſoeben den Beweis er—
halten, daß eine Verurteilung des Angeklagten einem
Juſtizmord gleichen würde. In letzter Stunde hat der
wahre Thäter, der an dem Tode Taylors die alleinige
Schuld trägt, ein volles und umfaſſendes Geſtändnis ab—
gelegt. Da giebt es keinen Zweifel, da giebt es für mich
auch kein Zögern, der Wahrheit in ihrem vollen Umfange
Kriminalnovelle von Harry Sheff. 159
Geltung zu verſchaffen. Dieſer brave junge Mann tft vor
all dieſen Zeugen, vor der Welt als Mörder gebrandmarkt
worden — möge denn auch die Welt erfahren, daß nicht
er jenes Mannes Tod verſchuldet, ſondern daß Taylor, am
Ende eines verbrecheriſchen und makelvollen Lebens angelangt,
getötet wurde durch die Hand einer Frau, für welche er
zur Geißel ihres Lebens geworden war, einer Frau, die
durch ein Daſein voll von edlen Thaten und leuchtenden
Tugenden die Schwachheit und die Sünde einer dunklen
Stunde abzubüßen beſtrebt war, und welche doch ſchließlich
durch die Feſſel in den Abgrund geriſſen wurde, welche ſie
ſelbſt in jener unheilvollen Stunde ſich um den Fuß ge⸗
wunden. — Sie ſahen mich ſoeben bereit, Euer Ehren,
Gentlemen der Jury, meine Verteidigungsrede für den An:
geklagten zu beginnen. Aber alles, was ich ſagen wollte,
ift hinfällig und überflüſſig geworden durch das Selbſt—
bekenntnis der Schuldigen, deren herzbewegende Beichte ich,
wenn Sie es geſtatten, Ihnen zu Gehör bringe.“
Der Präſident neigte zuſtimmend das Haupt, die Ge:
ſchworenen ſchauten erwartungsvoll auf den greiſen Anwalt,
und der Angeklagte hatte die Hände wie zum Dankgebet
gefaltet und blickte ſinnend vor ſich nieder.
Der Verteidiger aber las mit anfangs ein wenig un:
ſicherer, dann aber klarer und feſter werdender Stimme die
Selbſtanklage einer Unglücklichen. — — —
„Es ift Zeit! Morgen werden fie das „Schuldig“
über den ausſprechen, der um meiner Schuld willen
büßen fol. Und man iſt ſchnell in dieſem Lande, der Ber:
urteilung folgt die Strafe auf dem Fuß. Wer weiß, ob
man ihn nicht ſchon ſehr bald zum elektriſchen Stuhl ſchleppt,
und dann — oder er macht, von der Verzweiflung erfaßt,
mit eigener Hand ſeinem Leben ein Ende!
Was dann? — Dann ſteigt die Summe meines Ver—
brechens rieſenhoch und — dann, dann erſt habe ich gemordet!
160 Der Tombsengel.
Nein, es iſt Zeit! Die Friſt, die ich mir ſelbſt, meinem
Daſein und meinem Glück verſchafft — ſie iſt abgelaufen.
Ich darf nicht länger auf Koſten eines anderen glücklich
ſein. Ach, dieſe wenigen Wochen, die mir noch vergönnt
waren, im Kreiſe der Meinen Stunde um Stunde zu ge⸗
nießen, ſie waren von Seligkeit und Freude erfüllt, aber
auch von folternder Angſt, von Seelenpein, von tauſend
Schmerzen, die um ſo qualvoller mein Herz zerriſſen, als
jeder entfliehende Augenblick mich dem Ende näher brachte,
dem Ende, welches nun da iſt.
Es iſt Zeit — ich will bekennen!
Nichts will ich beſchönigen, nichts bemänteln. Ich ſtehe
vor keinem irdiſchen Richter, ich ſtehe vor meinem Gott.
Sein Auge, welches das Dunkel durchdringt, ſieht in die
geheimſte Kammer meiner Gedanken.
Es iſt Zeit — ich will mich ſchuldig bekennen! Ich
habe Taylor erſtochen, ich allein und niemand hat darum
gewußt — kaum ich ſelbſt!
Iſt es wirklich ein Verbrechen, daß ich einen Teufel
aus der Welt geſchafft, daß ich ein Ungeziefer zertreten
habe, eine Schlange vernichtet? Menſchen müſſen mich ver:
urteilen — Gott wird mir verzeihen!
Fünfundzwanzig Jahre ſind vergangen, ſeit ich meine
Verzweiflung, den nagenden Schmerz, meine Liebe ver⸗
ſchmäht zu ſehen, durch die unſeligſte That meines Lebens
zu vergeſſen ſuchte.
Ich war eine gefeierte Sängerin in Dresden. Obwohl
meine Stimme durchaus für die Oper genügend ausgiebig
geweſen wäre, wandte ich mich doch dem leichteren Genre der
Operette zu. Dort war ich die Erſte, an der Großen Oper
hätte ich die Lorbeeren mit anderen teilen müſſen. Ich erreichte
mein Ziel. Ich wurde gefeiert, man überſchüttete mich
mit Geſchenken und Aufmerkſamkeiten, und die eleganteſten
Männer der Reſidenz lagen mir zu Füßen. Ich leerte den
Kriminalnovelle von Barry Sheff. 161
Becher des Genuſſes in vollen Zügen. Aber niemals beugte
ich einem Manne meinen Stolz. Ich ſcherzte mit denen,
die mir gefielen, ich nahm ihre Blumen und Juwelen.
Aber niemals verkaufte ich meine Gunſt. Nein, der himm⸗
liſche Vater weiß es, niemals!
Auch trug ich den beſten Schutz gegen jede Verſuchung
in mir. Ich liebte! Aber dieſe Liebe war hoffnungslos,
denn der Mann, welchem mein Herz entgegenſchlug, war
mit einem reichen, ſchönen und liebenswürdigen Mädchen
verlobt. Er war unſer Kapellmeiſter, ein begabter Künſtler,
ein Muſiker und Komponiſt von Gottes Gnaden. Die
Flammen verzehrender Leidenſchaft ſchlugen über mir zu—
ſammen, dieſe Liebe beugte meinen Stolz und beraubte
mich jeder Ueberlegung. Ich war nicht mehr dieſelbe, ich
träumte Tag und Nacht nur von jenem Manne und lebte
nur, wenn ich mich in ſeiner Nähe befand. Er aber blieb
kühl, höflich und gleichmäßig freundlich mir gegenüber, ja,
es wollte mir ſogar ſcheinen, als ſpräche er in meiner Gegen—
wart mit wohlüberlegter Abſicht von ſeiner Braut. Ich
war dem Wahnſinn nahe. Glaubte ich doch ohne dieſen
Mann nicht leben zu können, und in drei Tagen ſollte
ſeine Hochzeit mit einer anderen ſtattfinden. Und ich that
den letzten verzweifelten Schritt. Wie wenige Frauen wer—
den ihn verſtehen! Ich ſank ſchluchzend vor dem Manne
meiner heißen Liebe nieder und geſtand ihm, was ich für
ihn empfand.
Er ſprach gütig, brüderlich, tröſtend mit mir, doch der
Inhalt ſeiner Erwiderung war — meine Zurückweiſung!
Und nun trieb mich die Verzweiflung — zum Selbſt—
mord. Ja, ich beging Selbſtmord, obwohl ich nichts unter—
nahm, um meinen Lebensfaden abzuſchneiden. Doch ich
tötete meine Ehre, mein bisheriges Leben und, ohne es
zu wiſſen, auch meine Zukunft — an demſelben Tage, an
welchem der Kapellmeiſter ſeine Hochzeit feierte.
1900. III. 11
162 Der Tombsengel.
Unter meinen Verehrern befand fic) ein Bauunter⸗
nehmer Schneider. Der Mann war verheiratet und beſaß
ein Kind. Man ſagte, er ſei reich, er warf auch mit dem
Gelde um ſich, ſobald es ſich um mich handelte. Oft hatte
er mich ſchon angefleht, mit ihm zu entfliehen, die Seine
zu werden in einem fremden Lande, in welchem ſeine Ehe—
feſſeln ihn nicht hinderten, mich zu beſitzen, doch ſtets hatte
ich ihn entrüſtet zurückgewieſen. Aber als ich von jener
Unterredung mit dem von mir geliebten, mich aber ver⸗
ſchmähenden Manne zurückkehrte, war Schneider der erſte,
dem ich in meiner Wohnung begegnete.
„Sind Sie noch bereit, mit mir zu entfliehen?“ fragte
ich ihn ohne jede Einleitung.
„Heute noch, wenn Sie es ſo wollen,“ erwiderte er
und erfaßte meine Hände.
„Gut. Erwarten Sie mich nach der Vorſtellung —
ich gehe mit Ihnen, nur führen Sie mich weit, weit fort
von hier.“
Wir flohen, wir wandten uns nach den Vereinigten
Staaten. Hinter uns ließen wir eine arme, unglückliche
Frau, ein verlaſſenes Kind und zwei zertrümmerte Exi⸗
ſtenzen.
In Chicago ließen wir uns nieder. Ich liebte Schnei⸗
der nicht, aber ich hatte beſchloſſen, ihm eine treue, nützliche
Lebensgefährtin zu ſein, und ich traf Anſtalten, mein Wort
zu halten. Es ſtellte ſich nämlich heraus, daß Schneider
nur eine ſehr geringe Barſchaft mitgenommen hatte, und
ſehr bald trat die Frage an uns heran, wie wir unſeren
Lebensunterhalt erwerben könnten. Schneider, der indeſſen
ſeinen Namen in Taylor umgewandelt hatte, fand ſchließlich
Stellung, ich aber erteilte Geſangsunterricht und erwarb
damit mehr, als er an Gehalt erhielt.
Doch meine Einnahmen genügten dem gewinnſüchtigen
Manne bald nicht mehr. Ich konnte ja weit mehr ver:
Kriminalnovelle von Barry Sheff. 163
dienen. War ich doch jung und ſchön und im Beſitz einer
vortrefflichen Stimme, in jeder Singſpielhalle mußte ich
Triumphe feiern und hätte viel Geld verdienen können.
Taylor drängte mich, dieſen Weg zu betreten. Er hatte
glänzende Engagementsanträge für mich in der Taſche.
Ich aber weigerte mich auf das entſchiedenſte. Er bat, er
befahl, er drohte — ich blieb beharrlich.
Ein Jahr lang kämpften wir miteinander — endlich
kam es zum Bruch. Ich hatte ſeine elenden Eigenſchaften
und ſeine Charakterloſigkeit zur Genüge kennen gelernt, ich
verachtete dieſen Mann und verließ ihn.
Dieſer Entſchluß ſchien zu meinem Glück zu ſein. Ich
wandte mich nach dem Süden und langte mit nur wenigen
Dollars in New Orleans an. Aber bald gelang es mir,
mich in die erſten Familien der Stadt einzuführen und
gegen vortreffliche Bezahlung Unterricht zu erteilen. Ich
hatte meinen Mädchennamen wieder angenommen. Nach
zwei Jahren lernte ich meinen jetzigen Gatten kennen. Er
war vornehm, ritterlich und klug — ein Mann, den man
achten und gern haben mußte. Wir prüften uns ein Jahr
lang, dann erſt vereinigten wir uns fürs Leben. War ich
zu tadeln, daß ich Jefferſon mein Vorleben, beſonders meine
Flucht mit Taylor, verſchwieg? Ihm dieſe Epiſode meiner
Vergangenheit geſtehen, wäre gleichbedeutend mit dem Ber:
luſt des teuren Mannes geweſen. Und ich war ſo ſtolz
darauf, ſein Weib zu ſein.
Unſere Ehe wurde eine ungetrübt glückliche. Alle guten
Inſtinkte und Fähigkeiten, welche ich in mir trug, wurden
durch das Zuſammenleben mit einem hochintelligenten, geiſt—
vollen und edlen Mann entwickelt, ich wurde eine andere,
ich erfaßte den Kern des Daſeins. Die Geburt einer Tochter
beſiegelte unſer Glück. Mein Gatte, welcher ſich der poli—
tiſchen Thätigkeit gewidmet hatte, ward, als unſere Maud
zwölf Jahre zählte, als Senator nach Waſhington geſendet,
164 Der Tombsengel.
und wir begleiteten ihn und bewohnten dann ein herrliches
Heim in New Port.
Als ich die Schwelle desſelben überſchritt, ahnte ich
nicht, daß neben mir, unſichtbar meinem Auge, das Un:
glück ſchritt.
Ich widmete mich Werken der Barmherzigkeit und der
Nächſtenliebe. Was ich that und was ich in dieſer Be—
ziehung opferte, erſchien mir alles noch zu wenig im Ber:
gleich mit jener hohen Schuldſumme, welche ich dem Himmel
zu zahlen hatte. Mein beſcheidenes Wirken, beſonders den
Elendeſten der Elenden, den Verbrechern und Gefallenen
gegenüber, fand in der großen Oeffentlichkeit Anerkennung,
man gab mir einen ehrenden Beinamen, und von Zeit zu
Zeit brachten die Zeitungen mein Bild. Dies ſollte mein
Verderben werden.
Es war vor drei Jahren an einem ſchneetrüben Winter⸗
nachmittag. Maud war mit ihrer Erzieherin in die Oper
gefahren, mein Gatte hatte fih in fein Arbeitszimmer zurück⸗
gezogen, und ich ſaß in meinem Boudoir und las in einem
kürzlich erſchienenen Reiſewerk.
Da trat unſer alter Diener ein und meldete mir, daß
ein alter, ärmlich gekleideter Mann mich zu ſprechen wünſche.
Er habe ſich nicht abweiſen laſſen und dem Diener ge—
antwortet, die Dame kenne ihn ſchon gut genug — er ſei
ihr von Chicago her bekannt. :
Von Chicago! Ich ſchrak zuſammen. Taylors Bild
ſtand plötzlich vor mir. Kaum hatte ich ſeiner noch jemals
gedacht — ich hatte ihn tot gewähnt, zum mindeſten tot
für mich und nun — doch es war ja unmöglich, daß er,
er ſelbſt es wirklich ſein ſollte!
Doch er war es. Zwar nicht mehr derſelbe Alfred
Schneider, den ich gekannt, denn er war alt geworden,
grauhaarig, zuſammengeſchrumpft, und ſeine Kleidung be—
wies, daß er nichts mehr auf das Urteil der Welt gab,
Kriminalnovelle von Harry Sheff. 165
aber er war es doch — ich erkannte ihn ſofort wieder, als
er die liſtigen blaugrauen Augen auf mich richtete und mir
höhniſch zurief: „Haſt alſo dein Glück gemacht, Frauchen,
haſt einen reichen Gimpel eingefangen? Nun, ich bin's
zufrieden, denn du wirſt mir doch auch ein paar Biſſen aus
der goldenen Schüſſel gönnen?“
Ich ſtarrte ihn ſtumm und faſſungslos an. Er war
alſo gekommen, um Geld zu erpreſſen, und er hatte mich
in der Hand, der Elende, das wußte er gut genug.
„Stopfe mir den Mund mit Bankbillets, Liebchen,“
raunte er mir mit heiſerer Stimme zu, „ſonſt erzähle ich
deinem Mann, dem Herrn Senator, einige pikante Ge—
ſchichten.“
Ich wußte, daß ich von dieſem Schurken kein Erbarmen
zu hoffen hatte, ich drückte ihm eine namhafte Summe in
die Hand, und er verſchwand. Verſchwand, um wieder
zu kommen, immer wieder und immer wieder, bald mit
ſeiner eigenen verhaßten Perſönlichkeit mir Todesangſt einzu—
flößen, bald mir durch Briefe, durch ſchimpfliche Drohungen
die Ruhe meiner Nächte zu rauben.
Ich mußte zahlen — zahlen und immer wieder zahlen. Der
Vampir kniete auf meiner Bruſt und ſaugte mein Herzblut.
Und doch beſaß ich nicht den Mut, meinem Manne
ein offenes Geſtändnis abzulegen. Die Scham drohte mich
zu töten bei dieſem Gedanken. Lieber opferte ich alles,
was mir an Geld und Juwelen entbehrlich war, und was
ich durch die Güte meines Gatten erlangen konnte. Vier
Jahre führte ich ein Doppelleben voll Qual und Entſetzen.
Ich mußte Ruhe heucheln, mußte lächeln, fröhlich und
glücklich ſcheinen, und doch wurde ich in jeder Minute von
dem Gedanken gefoltert: Wo bekomme ich das nächſte Geld
her, den Dämon niederzuhalten, den unerſättlichen Mahner
zu befriedigen?
Und er war niemals zufrieden mit meinen Opfern.
166 Der Tombsengel.
Seine Forderungen hörten niemals auf, ich mußte zu Vor:
wänden, zu Unwahrheiten meine Zuflucht nehmen, um von
meinem Gatten die bedeutenden Summen zu erhalten, welche
ſeine Geldgier mir abpreßte und verſchlang.
Da empfing ich eines Morgens einen Brief von ihm.
In befehlendem Ton gab er mir zu verſtehen, daß er mich
in ſeiner Behauſung auf Long Island zu ſprechen wünſche.
Ich durfte dieſem Befehl nicht trotzen. Ich ließ mich in
meiner Segeljacht hinüberfahren.
„Was willſt du von mir?“ fragte ich rauh. „Welche
neue Forderungen haſt du erſonnen? Ich kann, hörſt du,
ich kann nicht mehr meinen Mann betrügen, ihm für dich
große Summen ablocken — ich werde es auch nicht thun,
und wenn es zum Aeußerſten kommt.“
Frech und finſter blickte er, am Tiſche ſitzend, zu mir
auf. „Du wirſt folgſam ſein, ſchöne Edith,“ lachte er,
„ich habe ſoeben einen ausgezeichneten Bundesgenoſſen be⸗
kommen, der deinem Mann noch mehr erzählen kann als
ich ſelbſt. Biſt du nicht auf dem Wege zu meinem Hauſe
einem hübſchen jungen Mann begegnet?“
Es war in der That der Fall geweſen. Ich nickte zu-
ſtimmend. ,
„Das war mein Sohn,“ fuhr er fort, „der Junge, den
ich um dich im Stich gelaſſen habe. Haha — ich werde
ihn zum Herrn Senator ſchicken, er mag ihm erzählen, was
ſeine Mutter über dich zu ſagen hat.“
Meine Kniee drohten zu brechen, ich hielt mich an der
Platte des Tiſches nur mühſam aufrecht.
„Das wirſt du nicht!“ ſtöhnte ich. „Du biſt elend und
verworfen, aber deinen eigenen Sohn zu einer fluchwürdigen
Erpreſſung brauchen — nimmermehr!“
„Warum nicht? Dem Jungen wird der Herr Senator
glauben, deſſen bin ich gewiß. Aber du kannſt es ver⸗
hüten, wenn du meine letzte Forderung bewilligſt.“
Kriminalnovelle von Harry Sheff. 167
„Deine letzte? Wie oft haft du das ſchon geſagt!“
„Diesmal iſt's Ernſt. Ich werde Amerika verlaſſen.
Aber ich brauche dreißigtauſend Dollars.“
„Biſt du wahnſinnig? Wie ſoll ich ein ſolches Ver—
mögen auftreiben?“
„Ich verlange es nicht in bar. Unterſchreibe Wechſel
für dieſen Betrag.“
„Wechſel? Ich ſollte dir meine Schande, meine Schwäche
ſchwarz auf weiß geben — lieber ſtürze ich mich noch
heute in die Fluten des Ozeans.“
Der grauſame Mann zuckte kalt und überlegen die
Achſeln. „Du ſchreibſt — oder morgen weiß „er“ alles!“
Ich ſank ihm zu Füßen, ich bat, ich flehte, ich bettelte
um Schonung. Doch eher hätte ich einem Felſen Gefühl
einflößen können als dieſem Schurken.
„Schreibe, denn ich werde meine Forderung nicht um
einen Cent ermäßigen,“ rief er, „eher ſoll dieſes Meſſer
in meiner Hand Leben bekommen und ſprechen können,
ehe deine Thränen mich erweichen.“
Das Meſſer! Er ſelbſt hatte den Funken in meine
Seele geworfen. Das Meſſer! Ja, es bekam plötzlich
Leben — es ſprach zu ihm.
Mit einem Schrei warf ich mich auf ihn — das
Meſſer blitzte in meiner Hand und dann — — — Ich
ſah ihn am Boden liegen, ſah ſein Herzblut fließen. —
Menſchen, die ihr keine Engel ſein wollt, die ihr menſchlich
fühlt, verachtet mich dafür, daß ich jubelte, lachte. Ich
war ja frei — frei — frei! —
Männer der Jury, ich bin zu Ende! Das Urteil will
ich von euch und der Welt empfangen, vollſtrecken werde
ich es ſelbſt. Möge der höchſte Richter mir gnädig ſein! —“
Thränen erſtickten die Stimme des greiſen Advokaten,
als er die Verleſung dieſer ergreifenden Selbſtanklage be—
endet hatte.
168 Der Tombsengel.
Der Präſident flüfterte dem Obmann der Jury einige
Worte zu, dann erhob er ſich und ſagte feierlich: „Der
Angeklagte iſt bis zum nächſten Termin dieſer Sache auf
freien Fuß geſetzt und der Obhut ſeines Anwalts über:
geben.”
Und leiſe, ohne Geräuſch und in tiefem Ernſt entfernte
ſich die Jury und das Publikum aus dem Saale.
Einige Tage ſpäter zogen Fiſcher aus den Fluten der
Bai, welche die Küſte Long Islands beſpült, die Leiche
einer elegant gekleideten Frau. |
„Du,“ ſagte der eine, während er die vom Waſſer
triefende Geſtalt auf dem Boden ſeines Fahrzeuges bettete,
und der andere ſein Netz vom Schlamm reinigte, „wir
haben den beſten Zug unſeres Lebens gethan. Fünftauſend
Dollars Belohnung, welche auf die Bergung dieſer Leiche
geſetzt waren, ſind verdient. Wir haben den Tombsengel
in unſerem Netz gehabt!“
Franz Schneider verließ mit Gertrud und deren Bruder
bald darauf den ungaſtlichen Boden der Neuen Welt. Langes
ungetrübtes Glück erſt vermochte den düſteren Ernſt, den
jene Erlebniſſe auf ſeinen Zügen eingegraben, verſchwinden
zu machen. Er ſelbſt war es, der mir dieſes tragiſche
Stück Menſchenſchickſal vor kurzem erzählte.
H
SS ge —r . — u. —̃ —-—ʒ q g ——u— I —t„:᷑:᷑
= — — E — . — Z — — ——
ie Seevogeleier
gesammelt werden.
Englische Küstenbilder von E. Koller.
Mit $ Jllustrationen.
nach Photographien von W. J. Clarke
in Scarborough.
©
(Machdruck verboten.)
W er ſich der engliſchen Küſte nähert,
der ſieht bei hellem Wetter
ſchon aus weiter Ferne die hohen
Felſen auftauchen, welche die Inſel
wie ein natürliches Bollwerk um: | —
ſchließen. Am bekannteſten ſind die here bei vet:
die bis zu einer Höhe von 106 Meter ſenkrecht aus dem Meere
emporſteigen und von denen einer ſogar den Namen Shake—
ſpeares trägt, der ſie in ſeinem König Lear zum denkwür—
digen Schauplatz einer ergreifenden Handlung gewählt und
folgendermaßen geſchildert hat:
170 Wie Seevogeleier gefammelt werden.
Wie grauenvoll
Und ſchwindelnd iſt's, fo tief hinabzuſchau'n! —
Die Krähn und Dohlen, in der Mitte flatternd,
Sehn kaum wie Käfer aus. Halbwegs hinab
Hängt einer, Fenchel ſammelnd — ſchrecklich Handwerk! —
Mir dünkt, er ſcheint nicht größer als ſein Kopf.
Die Fiſcher, die am Strande gehn entlang,
Sind Mäuſen gleich. Das mächt'ge Schiff vor Anker
Verkleinert ſich zum Boot, das Boot zur Boje,
Beinah' zu klein dem Blick. Die dumpfe Brandung,
Die rauſchend mit zahlloſen Kieſeln ſpielt,
Schallt nicht ſo hoch. — Ich ſchau' nicht mehr hinab,
Sonſt wird mir ſchwindlig, und mein wirrer Blick
Stürzt taumelnd mich kopfüber in die Tiefe.
Nicht nur von Krähen und Dohlen allein ſind die
Klippen der engliſchen Küſte umſchwärmt, ſondern auch im
Norden und Oſten von ganzen Scharen von Seevögeln, die
in den vielen Höhlen, Spalten und Klüften günſtige Niſt⸗
plätze finden. Je weiter man nach Norden vorrückt, deſto
zahlreicher und mannigfaltiger iſt unter dieſen befiederten
Küſtenbewohnern die arktiſche Vogelwelt vertreten. So trifft
man zum Beiſpiel an den ſteilen Uferfelſen von York den zu
der Ordnung der Taucher gehörigen Tordalk, der im Winter
auch die Küſten Deutſchlands, der Niederlande und Frankreichs
beſucht und zur Brutzeit im Frühlinge wieder nach dem Norden
zurückkehrt; ferner die zu derſelben Familie gehörige Lumme
oder Trottellumme, die zur Brutzeit die ſogenannten Vogel⸗
berge aufſucht, welche alsdann von dichtgedrängten Scharen
ganz bedeckt ſind. Das Weibchen legt auf das nackte Ge—
ſtein ein einziges, etwa 3 Zoll langes, dunkel getüpfeltes
Ei, welches es abwechſelnd mit dem Männchen bebrütet.
Wird dieſes Ei zerbrochen oder weggenommen, ſo legt
das Weibchen ein zweites, vielleicht auch noch ein drittes.
Die Eier der genannten beiden Arten ſind wohlſchmeckend
und deshalb ſehr geſucht, wie auch, obſchon in etwas ge⸗
Don €. Koller. 171
—
—
eine eigene
Niſthöhle
für das zu
legende Ei
oder ſuchen
ſich hierzu
eine geeig—
nete Fels-
ſpalte aus,
deren Zu—
gang ſie
gegen Ein—
dringlinge
mit ihrem
ſcharfen
2 AA
| ringerem Grade, die der Lund
und Stummelmöwen, die ebenfalls
an den Küſten der Nordſee vor—
kommen. Die Lunde graben ſich
FETTE
|
|
Eiersammler beim Abstieg an der Felswand.
Schnabel lebhaft verteidigen. Auch die Stummelmöwe baut
ſich, hauptſächlich aus Seetang, in den Höhlen und Spalten
172 Wie Seevogeleier gefammelt werden.
der Felſen ein eigenes Neft, in welches das Weibchen drei
oder vier roſtgelbe, dunkel gefleckte und getüpfelte Eier legt.
Für die Bewohner des hohen Nordens ſind dieſe und
ähnliche Vögel von der größten Wichtigkeit, da ſie neben
dem Seehund ihre Hauptnahrung ausmachen, und die Fe⸗
— rr ree ~
3
= €Eiersammier beim Aufstieg
über die Felswand.
dort ſehr geſucht.
dern einen geſuchten
Handelsartikel bilden.
Aber auch in weniger
nördlichen Breiten ſpielt
die Vogelwelt noch eine
große Rolle im Erwerbs⸗
leben der Bevölkerung;
ſo giebt es zum Beiſpiel
an der ſchottiſchen Küſte
Inſeln, deren Strand:
felſen, wie anderswo der
Grund und Boden, un:
ter die ſämtlichen Ein⸗
wohner des nächſten
Dorfes verteilt ſind, um
jedem Gelegenheit zu
bieten, durch die Vogel⸗
jagd etwas zu verdie-
nen. In England wer⸗
den die Seevögel ſelten gejagt, weil ihr Fleiſch
nicht ſchmackhaft ift; dagegen find ihre Eier
Die Eierſammler der engliſchen Oſtküſte
haben ihre beſondere, ſeit alters her von Ge⸗
ſchlecht auf Geſchlecht vererbte Verfahrungsart, mit welcher
ſie ähnlichen Gefahren trotzen können wie die über ſteilen
Felswänden arbeitenden Wildheuer der Alpen. Gewöhnlich
arbeiten vier Männer zuſammen, von denen der eine die
Eier ſammelt, während die anderen ihn an einem langen
Don E. Koller. 173
Seile halten und je nach Bedürfnis über die Felſen hin—
unterlaſſen oder heraufziehen. Der Kletterer trägt um
den Leib einen ſtarken, mit zwei die Schenkel umſchließen—
den Bändern verſehenen Ledergurt, durch deſſen Oeſen—
ringe das Seil derartig verſchlungen iſt, daß er, ſelbſt
im Zuſtande etwaiger Bewußtloſigkeit, nicht herausfallen
n
n
Seevogeleiersammler mit der Ausbeute eines Morgens an den Felsen bei
Bempton in York.
kann. Neben dieſem Tragſeil hängt ein an einem Setzhaken
befeſtigtes Leitſeil, das zur Erleichterung der Hin- und Her—
bewegungen und des Aufſtieges dient.
Nach Anlegung des Tragſeils ſchreitet der Kletterer rück—
lings die ſteile Böſchung hinunter, die an den Rand der
ſenkrechten oder überhangenden Felswand führt, und treibt
dort eine mit einer langen Spitze verſehene Stahlrolle in
den Boden oder in eine Felsritze ein. Dann läßt er das
174 Wie Seevogeleier gefammelt werden.
Seil über diefe Rolle laufen, erfaßt e8 mit den Händen und
gleitet langſam über die Wand hinunter. Das obere Ende
des Tragſeils iſt um den durch einen gepolſterten Gürtel
geſchützten Leib eines auf dem Boden ſitzenden und ſich mit
den Füßen gegen ein Widerlager ſtemmenden Mannes ge⸗
Ein Trompetenstichknoten.
ſchlungen, der deffen Bewegungen nach Bedürfnis leitet.
Hat der Sammler eine mit Eiern belegte Stelle erreicht,
die etwas rechts oder links von ihm liegt, ſo verſetzt er
das Seil und ſich durch ſanftes Abſtoßen mit den Füßen
in eine pendelartige Bewegung, die es ihm ermöglicht, zu
den ſonſt nicht mehr erreichbaren Stellen zu gelangen und
ſeine zwei auf dem Rücken befindlichen Taſchen zu füllen,
Ein von einer scharfen Felskante beinahe durchgeschnittenes Tragseil.
worauf er vermittelſt des Leitſeils das Zeichen zum Auf:
ziehen giebt.
Die Hauptſchwierigkeit, namentlich bei ſtark überhangenden
Felſen, beſteht in der richtigen Abmeſſung und Ausnützung
dieſer Pendelbewegung; indeſſen eignen ſich die Sammler
hierin durch langjährige Uebung eine erſtaunliche Gewandt⸗
heit und Fertigkeit an, ſo daß ſie im ſtande ſind, auch in
Don E. Koller. 175
ſchwierigen und gefährlichen Lagen eine ſchöne Anzahl Eier
zu ſammeln, wie unſer Bild zeigt, welches die Ausbeute
eines Morgens an den Felſen bei Bempton in Pork darſtellt.
Der Knoten (Sst sich!
Dieſer Teil der Küſte mit ſeinen kühnen Klippen iſt
beſonders reich an Sees und Landvögeln. Außer den ſchon e
genannten finden ſich daſelbſt auch viele Mauerſchwalben,
176 Wie Seevogeleier gefammelt werden.
Holztauben und Dohlen, welch letztere auch ihrerſeits Eier⸗
ſammler find. Ganze Scharen umflattern unter ohren:
betäubendem Geſchrei den an der Felswand hängenden Eier⸗
ſammler, der ihnen Konkurrenz macht und bisweilen auch
von ihnen gepickt wird, weshalb er gewöhnlich dicke Leder⸗
handſchuhe trägt.
Derartige Angriffe ſind zwar für den Kletterer höchſt
läſtig, aber nicht gefährlich; eigentliche Gefahren drohen
ihm nur durch Steinfälle oder durch das Reißen des Seiles.
Erſtere kommen ziemlich häufig vor und verurſachen zuweilen
Unglücksfälle mit tödlichem Ausgange; letzteres dagegen er⸗
eignet ſich ſelten, weil zu dieſer gefährlichen Kletterei natürlich
nur ſtarke Seile verwendet werden. Früher wurden dieſe
gewöhnlich aus rohen, zu Riemen zerſchnittenen Kuhhäuten
hergeſtellt, und ſie ſollen ſo dauerhaft geweſen ſein, daß ſie
zwei Generationen aushielten und als wertvoller Familien:
beſitz vom Vater auf den Sohn vererbt wurden. Jetzt werden
gewöhnlich ſtarke Hanfſeile gebraucht, die im allgemeinen
für ganz ſicher gelten können. Daß ſie aber nicht jede
Gefahr ausſchließen, zeigt folgender Vorfall, der ſich erſt
kürzlich auf der ſchottiſchen Inſel St. Kilda ereignet hat.
Das Tragſeil war durch einen in der Seemannsſprache
unter dem Namen „Trompetenſtich“ bekannten, auf dem
Bilde S. 174 dargeſtellten Knoten verkürzt worden, deſſen
Eigentümlichkeit darin beſteht, daß er die größte Spannung
aushalten und doch durch einen beſonderen Zug mit Leid:
tigkeit gelöſt werden kann. Während das Seil über die
hohe Felswand hinuntergelaſſen wurde, blieb der Knoten
an einem Vorſprung hängen und löſte ſich, wodurch der
Kletterer plötzlich etwa zehn Meter in die Tiefe ſtürzte.
Schon glaubte er ſich verloren, da er vermutete, daß das
Seil geriſſen ſei, als er auf einmal durch einen jähen Ruck
‚ aufgehalten wurde, der ihm auf einen Augenblick die Be:
ſinnung raubte. Als er wieder zu ſich kam, bemerkte er
Pendelnder Eiersammler.
12
III.
1900.
178 Wie Seevogeleier gefammelt werden.
zu feinem Entſetzen, daß eine ſcharfe Felskante das Seil
beinahe entzwei geſchnitten hatte, und daß er nur noch an
einer Litze hing. Unterdeſſen zogen ihn ſeine Genoſſen,
die nicht ſehen konnten, was vorgegangen war, wieder
hinauf. Jeden Augenblick konnte die Litze reißen; dann
wäre er rettungslos verloren geweſen. Als einzige Hoffnung
blieb ihm nur noch das in feiner Nähe hangende Leitſeil,
das ihm bei dem Sturz entfahren war und das er mit den
Händen nicht mehr erreichen konnte. Er begann deshalb
ſich ganz ſachte hin und her zu ſchwingen, bis es ihm endlich
nach wiederholten vergeblichen Verſuchen gelang, das Leitſeil
gerade in dem Augenblick zu erfaſſen, als das Tragſeil riß.
Nun kletterte er behend hinauf zu ſeinen Gefährten, die
voll banger Sorge um ihn waren und ſchon geglaubt hatten,
er ſei mit dem abgeriſſenen Seil in die Tiefe geſtürzt.
An der ſchottiſchen Küſte kommt es auch vor, daß. ver:
wegene Kletterer ganz allein auf die Eierſuche gehen und
das Seil, an welchem ſie hinabſteigen, oben vorher ſelbſt
befeſtigen. Einem ſolchen Waghals entglitt einſt, als er
auf dem Geſims einer überhangenden Felswand ſtand, das
Seil, ſo daß er es nicht mehr erfaſſen konnte. In ſeiner
gefährlichen Lage blieb ihm nichts anderes übrig, als einen
verzweifelten Luftſprung nach dem herunterhangenden Seil
zu wagen, der ihm glücklicherweiſe auch gelang und ſeine
Rettung ermöglichte.
Da, wo die Felſen zugänglich ſind, werden ſie auch
von unten herauf von Vogelfängern und Eierſammlern er—
klettert, die zu dieſem Zwecke mit Stangen und Netzen
verſehen ſind. Durch dieſe Nachſtellungen wird die Zahl
der jungen Vögel zwar beträchtlich vermindert, aber ihre
Menge iſt ſo außerordentlich groß, daß trotzdem noch keine
Abnahme bemerkt worden iſt.
wf
BEEBREBEEEERESR
Das modernste
Verkebrsmittel.
Skizze aus dem Leben der Gegenwart.
Uon Ulr. Myers.
¢ (Nachdruck verboten.)
Ke begegnete ich einem alten Bekannten, einem
Ingenieur, von dem ich wußte, daß er ſich beſonders
für Luftſchiffahrt intereſſierte.
„Nun was giebt es Neues aus Ihren luftigen Regio⸗
nen?“ fragte ich ihn.
„Nächſtens wohl gar nichts mehr,“ antwortete er zu
meinem Erſtaunen. „Der ganzen Luftſchiffahrt droht eine
große Gefahr. Das Intereſſe geht nämlich für uns ver⸗
loren, und es bleibt nur noch die blaſſe Theorie übrig. Um
die Praxis der Luftſchiffahrt wird man ſich in abſehbarer
Zeit durchaus nicht mehr kümmern. Viel wichtiger ſind die
Motorfahrzeuge oder Automobilen, wie die internatio⸗
nale Benennung dieſes modernſten Verkehrsmittels lautet.
— Sehen Sie mich nicht ſo erſtaunt an. Die Automobile hat
eine rieſenhafte Zukunft und ſie wird einen noch größeren
Einfluß ausüben, ſie wird noch weit mehr alle unſere Ver⸗
kehrs⸗, ja unſere ſozialen Verhältniſſe umgeſtalten als
das Zweirad. Ich weiß genau, was ich mit dieſer Be—
hauptung ſage. Der Einfluß, den das Zweirad auf alle
Verhältniſſe des öffentlichen Lebens gewonnen hat, iſt ein
180 Das modernſte Verkehrsmittel.
ungeheurer. Er wird, ich erkläre es noch einmal, von der
Automobile weit übertroffen werden, und wir in Deutfd:
land haben nur noch nicht das richtige Verſtändnis für die
Zukunft der Automobile, weil wir auf dieſem Gebiete hinter
Frankreich und England weit zurückſtehen. In den beiden
genannten Ländern iſt man in der Konſtruktion von Auto⸗
mobilen, noch mehr aber in der Benutzung dieſes neuen
Verkehrsmittels viel weiter als bei uns. Indes regt ſich
auch in Deutſchland das Intereſſe für die Automobile, und
es iſt nur eine Frage kurzer Zeit, daß auch bei uns die
praktiſchen Einrichtungen getroffen werden, die ſich durch ſie
ſchaffen laſſen.“
„Sie glauben alſo im Ernſte, daß eine Zeit kommen
wird, in der wir die Pferde nicht mehr brauchen?“
„Es giebt wichtigere Geſichtspunkte bei der Beurteilung
der Automobile als den, an die Ueberflüſſigkeit des Pferdes
zu denken. Laſſen Sie mich etwas weiter ausholen. Raum
und Zeit ſind die beiden großen Faktoren, mit denen die
Menſchheit rechnen muß. Ihre Ueberwindung hat ſie ſeit
Jahrtauſenden beſchäftigt, und unabläſſig ſind Fortſchritte
gemacht worden. Um ſchnell große Strecken zurückzulegen,
benutzte man ſchon im grauen Altertum das Pferd, ſei es
zum Reiten, zum Fahren, und unſer Jahrhundert brachte
den denkbar größten Fortſchritt, nämlich die Eiſenbahn.
Damit war viel für die Ueberwindung von Raum und Zeit
geſchehen. Aber die Eiſenbahn iſt doch nur an einzelnen
Stellen verwendbar, man kann mit der Eiſenbahn nicht
überall hin, zum Betriebe der Bahnen gehört vor allen
Dingen ein ſehr koſtſpieliger Unterbau, auf dem die Schienen
liegen, und man muß ſich bei der Herſtellung dieſes Unter⸗
baues nach dem Gelände richten, man kann nicht ohne wei⸗
teres Geleiſe legen, wo man will. Flüſſe, Berge, ja ſelbſt
ſchon ſtarke Hügel bilden Hinderniſſe, die fih wohl über:
winden laſſen, aber nur mit außerordentlichen Koſten. Des—
Don Ur. Myers. | 181
halb hielt man bisher die Luftſchiffahrt für die Löſung der
großen Frage: „Wie komme ich raſch nach jedem beliebigen
Orte, ohne von den Schwierigkeiten des Geländes abhängig
zu ſein?“ Seit hundert Jahren arbeitet man jetzt an der
Vervollkommnung der Luftſchiffahrt; aber die Fortſchritte,
die man gemacht hat, ſind äußerſt gering. Selbſt wenn die
Lenkbarkeit des Luftſchiffes wirklich erfunden würde, ſo wäre
die Praxis der Luftſchiffahrt noch immer nicht fertig. Man
wird ſelbſt mit dem lenkbaren Luftſchiff gegen ſtarken Wind
nicht fahren können oder nur ſehr langſam. Das, was man
aber von dem modernen Verkehr verlangt, iſt Schnelligkeit.
Unſicher wird die Luftſchiffahrt auch immer bleiben, und die
zweite Forderung des modernen Verkehrs, die Sicherheit
neben der Schnelligkeit, dürfte ſich mit ihr ſchwerlich erreichen
laſſen. Da kommt nun die Automobile und überwindet den
größten Teil aller Schwierigkeiten, die ſich bisher uns in
den Weg ſtellten, wenn wir ſchnell und ſicher nach jedem
beliebigen Orte gelangen wollten. Die automobilen Fahr⸗
zeuge machen jetzt ſchon 50 Kilometer in der Stunde, und
zwar nicht nur ſolche, die mit Perſonen beſetzt, ſondern auch
mit ſchweren Ballen, mit Kiſten u. ſ. w. beladene. Steigungen
überwindet die Automobile ſpielend. Da, wo man für die
Eiſenbahnen mindeſtens eine Zahnſtange anbringen muß,
um Abhänge hinaufzuklettern, gelangt die Automobile ſelbſt
mit ſchwerer Beladung ohne weiteres hinauf. Auch die
anderen Geländehinderniſſe verſchwinden. Will man einen
Eiſenbahnzug über einen Fluß bringen, fo muß man grop:
artige und koſtſpielige Brückenbauten herſtellen. Die Brücken
müſſen nicht nur meiſt eine weite Spannung haben, ſondern
auch ganz beſonders maſſiv und feſt ſein. Die Automobile
kann man wie jeden gewöhnlichen Wagen auf eine Fähre
ſetzen und über den Fluß bringen, und ſobald ſie wieder
auf feſtem Boden iſt, jagt ſie ohne Rückſicht darauf, ob es
bergauf oder bergab geht, davon. Man braucht für den
182 Das modernfte Derfehrsmittel.
Automobilbetrieb keine Tunnels, man braucht keine koſt⸗
ſpieligen Geleisanlagen, keine Weichenanlagen und Bahn⸗
hofseinrichtungen. Kurzum, der Automobilomnibus oder
der Automobillaſtwagen bietet mehr Vorteile als die heutige
Eiſenbahn und iſt viel billiger und einfacher.“
„Sie wollen damit ſagen, daß dieſer Automobil⸗
omnibus die Exiſtenz der Eiſenbahnen bedroht und gewiſſer⸗
maßen die Ablöſung für den bisherigen ſo koſtſpieligen Eiſen⸗
bahnbetrieb bilden wird?“
„Das zu behaupten liegt keineswegs in meiner Abſicht,
ſondern die Automobile wird vielmehr ein Helfer der
Eiſenbahn werden. Für den Maſſentransport von Menſchen
und Gütern, auch für außerordentliche Geſchwindigkeit
werden wir die Eiſenbahn immer brauchen. Die Auto⸗
mobile aber wird höchſt wahrſcheinlich an die Stelle der Klein:
bahnen und Sekundärbahnen treten, die ſich von den Haupt⸗
eiſenbahnſtrecken abzweigen. Auch dieſe verhältnismäßig
koſtſpieligen Kleinbahnen konnte man bisher nur dort an⸗
legen, wo keine Geländehinderniſſe vorlagen. Ueber Berge
und Flüſſe, in durchſchnittenem Gelände war die Anlage
einer Kleinbahn ſo koſtſpielig, daß man oft auf ſie verzichten
mußte. Die Automobile wird jetzt mit Leichtigkeit alle dieſe
Hinderniſſe überwinden und ſo von rechts und links der
Eiſenbahnhauptſtrecke Perſonen und Laſten zuführen, die
dieſe benutzen. Ebenſo wird die Automobile Perſonen und
Laſten, die mit der Eiſenbahn gekommen ſind, nach rechts und
links in das Land weiter befördern, und zwar nach jedem
beliebigen Ort. Sehen Sie, das iſt der Kernpunkt: nach
jedem beliebigen Ort hat man dann eine Verbin—
dung von der Eiſenbahn. Ortſchaften, die weitab vom
Verkehr lagen, ſind mit einemmal in gewiſſem Sinne an die
Hauptverkehrsadern herangerückt. Ein Ort, der 10 Meilen
von einer Eiſenbahn entfernt war, lag heute außerhalb der
Welt. Wollte man mit Pferden eine Verbindung zwiſchen der
Don Ulr. Myers. 183
Eiſenbahn und dieſem entlegenen Ort herſtellen, fo brauchte
man beinahe zwei Tage, um Laſten hin und her zu beför:
dern, während man mit der Automobile, ſelbſt wenn ſie ſchwer
beladen iſt und in ungünſtigem Gelände, nicht mehr als
einige Stunden brauchen wird. Was es aber bedeutet, wenn
zahlreiche Ortſchaften und deren Bewohner, die bis her weitab
vom Weltverkehr lagen, gewiſſermaßen unmittelbar an die
Hauptverkehrsadern der Welt und des Weltverkehrs heran⸗
gebracht werden, können Sie ſich ſelbſt ſagen. Was ſind
dagegen die Veränderungen, die das Zweirad gebracht hat?
Es dient doch immer nur zur Beförderung einer Perſon
(abgeſehen von den ſogenannten „Tandems“, die an dem
Geſamturteil jedoch nichts ändern); der Transport von be:
trächtlichen Laſten war auf dem Zweirad vollſtändig aus⸗
geſchloſſen. Und was war der verwickelte, koſtſpielige und
ſchwerfällige Apparat der Pferdebeförderung bisher gegen
die Verhältniſſe, die nun die Automobile ſchaffen wird?
Sie fährt außerordentlich raſch, viel ſchneller als Pferde
laufen können. Die Unterhaltungskoſten einer Automobile
betragen nicht den zehnten Teil der Unterhaltungskoſten
für ein paar Pferde, und eine Strecke, die man mit ein
paar Pferden bisher in einem Tage zurücklegen konnte,
macht man mit der Automobile jetzt drei⸗, viermal hin und
zurück. Das Fahren mit der Automobile iſt ſicherer als
mit Pferden, ja als mit der Eiſenbahn. Sie wird nicht
ſcheu, fie geht nicht durch, fie entgleiſt nicht, fie läßt ſich
leicht anhalten und ebenſo raſch wieder in Bewegung ſetzen,
kurzum, ſie hat unberechenbare Vorteile, und deshalb wird
ſie ſich in verhältnismäßig kurzer Zeit auch bei uns in
Deutſchland einbürgern und eine vollkommene Umgeſtaltung
unſerer Verkehrs⸗ und ſozialen Verhältniſſe herbeiführen.
Bisher hat man in Deutſchland die Automobile für eine
Art Spielzeug gehalten, trotzdem in einzelnen Städten die
Automobilen ſchon vollſtändig am Droſchkenverkehr, ja auch
184 Das modernfte Derfehrsmittel.
am Laſtwagenverkehr teilnehmen. Die Bedeutung dieſer
neuen Erfindung aber iſt, wie geſagt, eine viel größere.
Ihre Vorzüge für das flache Land wurden bereits erwähnt.
Aber auch im Umkreiſe der großen Städte wird ſie bedeu⸗
tende Veränderungen bringen. Die Einwohner der großen
Städte beziehungsweiſe die Leute, die in den großen Städten
arbeiten, werden ihre Wohnſitze jetzt noch weiter hinaus⸗
verlegen können als bisher. Die bisherigen Verkehrsver⸗
hältniſſe ſteckten dem Draußenwohnen der Großſtädter be:
ſtimmte Grenzen. Wenn der Großſtädter in der glück⸗
lichen Lage war, ſich eine Equipage zu halten, ſo mußte er
ſeine Villa doch ſo nahe an der Großſtadt bauen, daß er
ſeinen Pferden nicht eine allzu große Arbeit zumutete, wenn
er täglich nur einmal in die Stadt gelangen wollte. Man
kann annehmen, daß diefe Grenze durchſchnittlich 10 Kilo:
meter von dem Zentrum der Großſtadt fich befand. Nach
Einführung der Automobile rückt dieſe Grenze bis auf
50 Kilometer hinaus, denn dieſe fährt man bequem in
einer Stunde. Für die Vororte der Großſtädte war bisher
der Eiſenbahnverkehr von außerordentlicher Wichtigkeit. Aber
auch für dieſen Verkehr gab es gewiſſe Grenzen. Die Züge
konnten nicht mit der Schnelligkeit fahren, welche die großen,
durchgehenden Eilzüge haben, denn ſie mußten unterwegs
zu oft anhalten, und das Material, aus dem dieſe Züge
beſtanden, ihre Lokomotiven und Wagen, waren eben nicht
Fahrzeuge, wie man ſie in den Schnellzügen benutzt. Dann
aber konnte man mit Rückſicht auf die Koſtſpieligkeit eines
Eiſenbahnzuges nicht ſo viele Züge verkehren laſſen, als
notwendig geweſen wäre. Zwanzigmal hin und zwanzigmal
zurück galt als Verbindung zwiſchen einem Vorort und einer
Großſtadt ſchon für etwas ganz beſonders Großartiges. Die
Grenze für den Eiſenbahnvorortverkehr lag ungefähr 30 Kilo—
meter von der Großſtadt entfernt. Sie wird jetzt zum min—
deſten um 20 Kilometer weiter vorgerückt; denn auch der auto:
Don Ulr. Myers. 185
mobile Omnibus kann ebenfo wie das Privatautomobile in
einer Stunde 50 Kilometer fahren, und zwar unvergleichlich
viel billiger als die Eiſenbahn. Während ſelbſt im ſtärkſten
Vorortverkehr die Eiſenbahn höchſtens alle 15 Minuten
fährt, kann man bei genügendem Vorrat von Automobil⸗
wagen alle 5 Minuten, ja, wenn es ſein muß, alle 2 Minuten
einen Wagen abgehen laſſen. Sobald der Wagen voll iſt,
fährt er eben ab, und iſt 2 Minuten ſpäter ein anderer
Wagen beſetzt, ſo fährt auch dieſer davon. Die Vorteile
für den Großſtädter oder für den Umwohner, der in der
Großſtadt zu thun hat, liegen auf der Hand. Je weiter
von der Großſtadt, deſto beſſer iſt die Luft, deſto günſtiger
ſind die Wohnungsverhältniſſe, denn die Gelände ſind um
ſo billiger, je weiter entfernt ſie von der Großſtadt liegen,
und welch gewaltige Flächen werden jetzt für die Zwecke
der Großſtädter erſchloſſen! Bedenken Sie, welch ein Unter:
ſchied in der Fläche zwiſchen einem Kreiſe mit einem Radius
von 30 Kilometer und einem von 50 Kilometer beſteht.
Ich verſichere Sie, es vergehen keine zehn Jahre, und alles
das, was ich Ihnen hier erzählt habe, werden Sie ver⸗
wirklicht, ja ſelbſt die kühnſten Erwartungen, die man heute
an die Automobile knüpft, werden wir wahrſcheinlich in
dieſer Zeit übertroffen ſehen. Vergeſſen Sie nicht: die
Automobile iſt noch in der Entwickelung begriffen. Noch
find uns die Techniker und Ingenieure eine Menge Er:
findungen ſchuldig, die unzweifelhaft aber ſchon in aller:
nächſter Zeit gemacht werden, und die den Automobil⸗
verkehr immer ſicherer, billiger, bequemer und einfacher ge:
ſtalten werden. Wir fahren ja meiſt noch mit Automobilen,
die nicht elektriſch betrieben ſind.“
„Allerdings hat ſich bei der Automobile eine eigentüm—
liche Entwickelung gezeigt. Während ſonſt überall die Clef-
tricität heute als Bewegungskraft verwendet wird, ſpielt ſie
bei der Automobile erſt eine verhältnismäßig kleine Rolle.“
186 Das modernſte Verkehrsmittel.
„Man wird ſie auch noch mit Elektricität betreiben.
Schon hat man Accumulatoren konſtruiert, die ſo leicht
ſind, daß ſich Betriebskraft für mehrere Stunden bequem
an jedem kleinen Wagen mitführen läßt.“
„Hier liegt doch aber eine Grenze für den Automobil⸗
verkehr. Was geſchieht, wenn eine Automobile eine weite
Fahrt über Land machen ſoll und ihr plötzlich die elektriſche
Betriebskraft ausgeht? Die Benzinfeuerung iſt dann doch
beſſer. Benzin kann man immer mit ſich führen, um neu
aufzugießen; man erhält Benzin ſelbſt in einem kleinen
Orte käuflich.“
„Sehr richtig. Aber auch Elektricität wird man bald
käuflich ſelbſt in kleineren Orten erhalten. Denken Sie an
die elektriſchen Kraftſtationen. Unzählige Fabriken haben
heute eigene elektriſche Beleuchtung, ſelbſt auf größeren Gü⸗
tern finden Sie ſchon elektriſche Kraftſtationen. Viele ganz
kleine Orte haben elektriſche Beleuchtung. An allen dieſen
Stellen wird man gegen Bezahlung die Accumulatoren des
Wagens neu laden können, oder man wird die Accumulatoren
direkt austauſchen können, was allerdings noch weniger Beit:
verluſt verurſachen würde. Wo ein Bedürfnis iſt, da findet ſich
aber auch die Befriedigung dieſes Bedürfniſſes. Auf der
Straße zwiſchen Paris und Brüſſel liegen heute ſchon an
ſo und ſo viel Stellen elektriſche Ladeſtationen, die einfach
dadurch entſtanden ſind, daß die Automobilfahrer von
Paris und Brüſſel, die auf dieſer Strecke fortwährend unter⸗
wegs ſind, eben an gewiſſen Stellen eine Erneuerung ihrer
elektriſchen Kraft brauchen. Solche Ladeſtationen wird man
anlegen, ſo wie man in früheren Zeiten Wirtshäuſer baute,
wo die Fuhrleute Halt machen und ausſpannen konnten.
Es wird eben im Intereſſe jedes Gaſtwirts an der Qand:
ſtraße liegen, eine kleine elektriſche Kraftanlage aufzuſtellen,
denn die Automobilen, die bei ihm vorüberkommen und ihre
Accumulatoren friſch laden laſſen, haben Inſaſſen, die bei
Don Ulr. Myers. 187
ihm etwas verzehren. Wie ſchon jetzt viele Gaſtwirte an
der Landſtraße von den Radfahrern Vorteile haben, wird
das in noch höherem Maße durch die Motorfahrzeuge der
Fall ſein.“
„Und meinen Sie, daß die Automobilen weniger von
Privaten angeſchafft werden, als daß vielmehr überall ein
Automobilomnibusdienſt entſteht?“
„Natürlich wird derjenige im Vorteil ſein, der ſelbſt
eine Automobile beſitzt. Noch iſt der Preis dieſer Motor⸗
wagen ja ein ziemlich hoher, aber es iſt nur eine Frage
der Zeit, bis eine Verbilligung eintritt. Denken Sie doch
an die Zweiräder. Die erſten guten Fabrikate koſteten bis
500 Mark pro Stück. Heute kaufen Sie für 150 bis
200 Mark ein ſehr gutes Rad. Gegenwärtig koſtet ein
Automobilwagen 3000 bis 5000 Mark, aber es wird nicht
lange dauern, und man wird wahrſcheinlich für 1000 bis
1500 Mark einen ſolchen herſtellen. Dieſe 1000 Mark
bilden ja ein Anlagekapital, das bedeutend größer iſt als
bei einem Zweirad; aber die Automobile erfordert auch lange
nicht ſo viel Reparaturen als das Zweirad, denn ſie iſt feſter
und haltbarer gebaut. Man fährt auf der Automobile ohne
Anſtrengung, und es können, je nach der Konſtruktion, bis
zu vier Perſonen mit einem ſolchen Fahrzeug befördert
werden. Wenn heutzutage eine Familie von vier Perſonen
ſich vier Räder anſchaffte, von denen das Stück 250 Mark
koſtete, ſo würden auch eben 1000 Mark verauslagt, und
die Familie könnte dann nur mit körperlicher Anſtrengung
fahren, während ſie in einem Motorwagen leicht, raſch und
bequem dahinrollt, denn die Räder der Automobile haben
koloſſale Pneumatiks von einer Dicke und Stärke, welche
dieſe Gummireifen faſt unzerreißbar machen. Es kommt eben
auf ein paar Kilogramm Gewicht mehr bei der Automobile
nicht an, ja, ein Belaſtungsunterſchied von ein bis zwei
Zentnern macht gar nichts aus. Iſt die Konſtruktion nur
—— — —
188 Das modernſte Verkehrsmittel.
eine geſchickte, iſt die Betriebskraft gehörig ausgenutzt, ſo
fährt die Automobile auch mit der Mehrbelaſtung ſelbſt
im durchſchnittenen Gelände und ziemlich ſteil bergauf mit
unverminderter Geſchwindigkeit.“
„So liegt alſo nach Ihrer Anſicht die Zukunft der
Automobile nicht in der Großſtadt, ſondern außerhalb der
großen Städte?“
„Ganz gewiß. Die Zukunft der Automobile liegt auf
dem flachen Lande. Die Verbindung der Großſtadt mit
weit entfernten Vororten, die Verbindung der Orte des
Flachlandes mit der weit entfernten Eiſenbahn, die Ver⸗
bindung der Provinzorte untereinander, das ſind die
Zukunftsaufgaben der Automobile, und die Löſung
dieſer Aufgaben wird nicht nur einen immenſen Aufſchwung
des Verkehrs, ſondern auch eine Veränderung auf ſozialem,
auf induſtriellem Gebiete bringen, wie wir das im kleinen ja
zu unſerer eigenen Ueberraſchung ſchon mit dem Zweirad erlebt
haben. Letzteres wird jedoch durch die Automobile keineswegs
beſeitigt werden. Seine Benutzung wird ſich vielleicht vermin⸗
dern, aber „totgemacht“ wird es nicht durch die Automobile.
Ebenſowenig wird dieſe die Eiſenbahn ſchädigen. Sie wird
im Gegenteil den Eiſenbahnverkehr für Perſonen und Güter
vermehren, wenn auch nur indirekt. Die einzige ſchwere
Konkurrenz werden wohl nur die elektriſchen Straßenbahnen
erfahren, die zur Verbindung ziemlich weit voneinander
entfernter Orte dienten. Auch die elektriſche Bahn erfordert
eben Geleiſeanlagen, an manchen Stellen koſtſpielige Ueber⸗
brückungen, Geländeveränderungen und eine immerwährende
Zuleitung durch ein Syſtem von Drähten, deren Anlage
und Montierung ebenfalls große Koſten verurſacht. Die
Automobile iſt von allen dieſen Dingen unabhängig. Sie
fährt auf jeder nur einigermaßen fahrbaren Straße; ſie
fährt im Sommer und im Winter, bei ſchönem Wetter und
bei Regen. Selbſt ein Schneetreiben macht für die Auto⸗
Don Ulr. Myers. 189
mobile nichts aus. Ihre Fahrt wird dadurch vielleicht
verlangſamt, aber der Winter hat keine Schrecken für ſie.
Die Automobile läuft eben nicht auf Schienen, ſie kommt
ſelbſt durch dicke Schneehaufen, die der Wind auf der Straße
vielleicht zuſammengetrieben hat, ſpielend hindurch, und ſo
iſt ſie ein Gefährt, das ſelbſt im Winter den Verkehr ſicher
vermittelt, wenn alle anderen Gefährte den Dienſt verſagen,
wenn ſelbſt das alte Syſtem des Pferdebetriebes keine An⸗
wendung mehr finden kann, weil die Pferde infolge von
Glätte ſtürzen oder wegen Kälte und Wind nicht mehr
weiter können.“
Wie die jüngſte Automobilausſtellung in Paris gezeigt,
hat die Konſtruktion der Motorfahrzeuge, um die ſich die
beiden deutſchen Mechaniker Daimler und Benz die weſent⸗
lichſten Verdienſte erworben, ſchon ſo gewaltige Fortſchritte
gemacht, und zwar gerade bezüglich der Elektromobile, daß
die vorſtehend gemachten Ausführungen über ihre a
vollkommen gerechtfertigt erſcheinen.
=
stab abatatotat at
Die Brillenschlange.
Cropische Bilder von €. Appenzeller.
8
mit s Illustrationen. Machdruck verboten.)
u den furchtbarſten Plagen der Bevölkerung heißer
Länder, beſonders Indiens, gehören die Giftſchlangen,
denen jährlich viele Tauſende von Menſchenleben zum Opfer
fallen. So iſt für Indien von dem engliſchen Arzte Fayrer
nachgewieſen worden, daß auf einem Gebiete mit etwa hun⸗
dertzwanzig Millionen Einwohnern jährlich zwölftauſend bis
zwanzigtauſend Menſchen durch Schlangen ihr Leben ver⸗
lieren, alſo vielleicht hundertmal ſo viel wie durch Löwen,
Tiger, Panther, Leoparden und andere wilde Tiere zu⸗
ſammen. Unter dieſen Giftſchlangen iſt die gefährlichſte die
zu der Gattung der Nattern gehörige Brillenſchlange, von
den Portugieſen Cobra de Capello oder Hutſchlange ge⸗
nannt. Erſtere Bezeichnung rührt von einer im Nacken
befindlichen Zeichnung her, welche mit einer Brille Aehn⸗
lichkeit hat, letztere von der Eigentümlichkeit, daß dieſe
Schlange die Rippen des Halſes ſeitlich richten und dadurch
den Hals ſcheibenförmig ausbreiten kann, ſo daß er, von
hinten betrachtet, einem breitkrempigen Hute gleicht. Von
vorne geſehen macht dieſe Halsſcheibe eher den Eindruck
eines Schildes, was zu der weiteren Bezeichnung „Schild—
otter“ Anlaß gegeben hat.
„Wer ein einziges Mal eine Schildotter geſehen hat,“
Don E. Appenzeller. | 191
jagt Brehm in feinem „Tierleben“, „wenn fie durch den
Anblick eines Gegners, insbeſondere eines Menſchen, er⸗
ſchreckt und gereizt, ſich erhoben, das vordere Dritteil ihres
Leibes emporgereckt, den Schild ausgebreitet hat und nun
langſamer oder ſchneller in dieſer majeſtätiſchen Haltung,
zum Angriffe oder mindeſtens zur Abwehr gerüſtet, ſich
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Brillenschlange saugt am Euter einer Kuh.
auf den Gegenſtand ihres Bornes zu ſchlängelt, vorn un:
beweglich wie eine Bildſäule fih haltend, hinten jeden ein:
zelnen Muskel anſtrengend, und wer da weiß, daß ihr Biß
ebenſo tödlich wirkt wie der der Lanzen⸗ oder Klapper-
ſchlange, begreift, daß ſie von jeher die Aufmerkſamkeit des
Menſchen erregen mußte.“
Die Brillenſchlange erreicht eine Länge von 1,4 bis
ls Meter und einen Umfang von 15 bis 18 Centimeter;
auf dem Rücken iſt ſie von lohgelber, dunkel getüpfelter,
am Bauche von ſchmutzigweißer Färbung. Je nach der
192 Die Brillenſchlange.
Farbe, den Flecken und der Brillenzeichnung werden ver⸗
ſchiedene Spielarten unterſchieden. Wie alle Giftſchlangen
hat ſie im Oberkiefer auf beiden Seiten je einen aus⸗
gebildeten Giftzahn und dahinter noch mehrere in der Ent⸗
wickelung begriffene Zähne, die dazu beſtimmt ſind, ab⸗
gebrochene oder ausgeriſſene Gifthaken zu erſetzen. Die
Giftzähne zeichnen ſich außer durch ihre Größe und pfriemen⸗
förmige Geſtalt namentlich dadurch aus, daß ſie auf der
Vorderſeite eine der Länge nach verlaufende Röhre beſitzen,
durch welche das Gift aus der dahinterliegenden Giftdrüſe
in die durch die Zähne en, 8 Wunden
geleitet wird. ö
„Wenn ein Giftzahn ausgebrochen wiih, “ jagt Brehm,
„jo tritt oft ſchon nach drei Tagen, ſpäteſtens aber nach
ſechs Wochen ein Erſatzzahn an ſeine Stelle, und nur wenn
man, wie Schlangenbeſchwörer zu thun pflegen, auch die
Schleimhautfalte, in welcher die Gifthaken eingebettet liegen,
ausſchneidet oder einen Teil der Kinnlade verletzt, alſo alle
Zahnkeime zerſtört, erſetzt ſich derſelbe nicht wieder.“
Wünſcht die Schlange von ihrer todbringenden Gift⸗
waffe Gebrauch zu machen, ſei es um Beute zu erhaſchen
und zu erlegen, ſei es, um ſich ihrer Feinde zu erwehren,
ſo richtet ſie das vordere Dritteil ihres Leibes in die Höhe,
während der übrige Teil ſpiralförmig zuſammengerollt auf
dem Boden bleibt und den nötigen Halt für die bevor⸗
ſtehende Kraftentwickelung bietet. Der Kopf iſt aufgeblaſen,
der Schild weit ausgebreitet, furchtbar droht ihr ſtarrer
Blick, während ſie beſtändig lebhaft züngelt und ziſcht.
Plötzlich wirft ſie ihren Kopf zurück, ſchnappt dann blitz⸗
ſchnell vorwärts und erfaßt mit weitgeöffnetem Rachen ihre
Beute, in deren Fleiſch die beiden ſcharfen Giftzähne tief
eindringen, und durch dieſe auch das aus den Drüſen
fließende Gift, welches in kürzeſter Zeit, bei kleinen Tieren
ſchon nach wenigen Minuten, den Tod durch Blutzerſetzung
Don E. Appenzeller. 193
herbeiführt. Der Giftvorrat reicht gewöhnlich für mehr
als einen Biß aus, ſo daß eine Brillenſchlange im ſtande
ift, zwei oder fo-
gar drei Opfer
nacheinander zu
töten. Um zu
wirken, muß das
Gift in das Blut
gelangen; wenn
alſo eine Schlange
ihre Zähne aus
den Wunden
zieht, ehe das
Gift Zeit gehabt
hat, in letztere
einzudringen,
oder wenn Dag:
ſelbe durch ir-
gend etwas, zum
Beiſpiel durch
Kleider, aufge⸗
fangen und auf⸗
geſaugt wird, ſo
iſt keine Gefahr
vorhanden; um⸗
gekehrt wirkt das
Gift natürlich auch
ohne Schlangen:
biß, wenn es auf
* N \ i 14
. . < n SM if $ ;
irgend etne an: S O N
dere Weife, zum
Beiſpiel durch eine ſchon vorhandene Wunde, mit dem
Blute in Berührung kommt.
Der Verlauf der Vergiftung wird von Brehm folgender—
1900. III. 13
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Digitized by NI Ole
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Der Schlangenbeschwörer in Lebensgefahr,
194 Die Brillenſchlange.
maßen geſchildert: „Unmittelbar nach dem Biſſe, welcher
zwei nebeneinander ſtehende kleine Stichwunden — wenn nur
ein Gifthaken traf, auch bloß eine ſolche — hinterläßt und
oft nicht einmal blutet, fühlt das Opfer gewöhnlich einen
heftigen, mit nichts zu vergleichenden Schmerz, welcher wie
ein elektriſcher Schlag durch den Körper geht; in vielen
Fällen aber findet auch das Gegenteil inſofern ſtatt, als
der Gebiſſene glaubt, eben nur von einem Dorn geritzt
worden zu fein, den Schmerz alſo durchaus nicht für erheb:
lich achtet. Unmittelbar darauffolgende Ermüdung des
ganzen Körpers, überaus raſches Sinken aller Kräfte,
Schwindelanfälle und wiederholte Ohnmachten ſind die erſten
untrüglichen Zeichen der beginnenden Veränderung des
Blutes; ſehr häufig ſtellt ſich Erbrechen, oft auch Blut⸗
brechen ein, faſt ebenſo oft Durchfall, zuweilen Blutungen
aus Mund, Naſe und Ohren. Die Entkräftung bekundet
ſich ferner in kaum zu bewältigender Schläfrigkeit und er⸗
ſichtlicher Abnahme der Gehirnthätigkeit, namentlich wird
die Wirkſamkeit der Sinne im höchſten Grade beeinträchtigt,
ſo daß zum Beiſpiel vollſtändige Blindheit oder Taubheit
eintreten kann. Mit zunehmender Schwäche nimmt das
Gefühl des Schmerzes ab, und wenn das Ende des Ber:
gifteten herannaht, ſcheint derſelbe keine Schmerzen mehr
zu fühlen, ſondern in dumpfer Bewußtloſigkeit allmählich
zu verenden.“
Die Brillenſchlange kommt in ganz Südaſien, mit Aus⸗
nahme einiger Inſeln, vor, und zwar ſowohl in den Ebenen,
als auch in den Gebirgsgegenden bis zu einer Höhe von
2400 Meter. In den kühlen Monaten November bis
Februar hält ſie ſich gewöhnlich verſteckt; in der heißen
Jahreszeit dagegen kommt ſie zum Vorſchein und bildet
für Menſchen und Tiere eine beſtändige Gefahr, die ſich
während der Regenzeit, vom Juni bis September, noch
ſteigert, weil die Schlangen durch die Waſſermaſſen aus
Don E. Appenzeller. 195
ihren Schlupfwinkeln herausgetrieben und gezwungen wer—
den, höher gelegene, oft in der Nähe menſchlicher Woh⸗
nungen befindliche Stellen aufzuſuchen. Dieſe unangenehme
und gefährliche Nachbarſchaft führt oft zu ſehr aufregenden
Vorfällen, von denen wir unſeren Leſern einige vorführen
Eine seltsame Zuhörerin.
wollen, die wir den ſpannenden Schilderungen des Indiers
A. Sarathkumar Ghoſh entnehmen.
Die Nahrung der Cobra beſteht vorzugsweiſe aus kleinen
Tieren, Eidechſen, Fröſchen, Kröten, Fiſchen, Mäuſen, Ratten
und Hühnern; auch Eier frißt ſie gerne, weshalb ſie oft
Hühnerſtälle, Taubenſchläge und Vogelneſter plündert; ſie
196 Die Brillenſchlange.
kann wochen⸗ und monatelang ohne Schaden Durſt leiden,
trinkt jedoch im allgemeinen viel und hat eine beſondere
Vorliebe für Milch, wie die folgenden zwei Beiſpiele zeigen.
Ein indiſcher Bauer bemerkte an mehreren aufeinander
folgenden Tagen, daß der Milchertrag feiner Kuh viel ge:
ringer war als gewöhnlich. Um der Sache auf den Grund
zu kommen, legte er ſich eines Abends auf die Lauer, konnte
jedoch die ganze Nacht hindurch nichts Verdächtiges ent⸗
decken. In der Morgendämmerung ſah er von ſeinem
Verſteck aus, wie die von jähem Schrecken ergriffene Kuh
plötzlich an allen Gliedern zitternd zuſammenfuhr, während
ihre Augen einen gläſernen Ausdruck annahmen, und als⸗
dann bewegungslos, wie gelähmt, ſtehen blieb. Als er ſich
behutſam näherte, hörte er ein leiſes Saugen, und zugleich
bot ſich ihm ein überraſchender Anblick dar. Eine gewaltige
Brillenſchlange hatte ſich derart um die Hinterbeine des
Tieres geſchlungen, daß ſie mit dem Kopf das Euter er⸗
reichen und die Milch ausſaugen konnte. Aus Furcht, ſeine
wertvolle Kuh durch einen Biß der Giftſchlange zu ver⸗
lieren, hielt ſich der Bauer ganz ruhig, bis die Schlange
ſich geſättigt und in ihren unter dem Strohdach der Hütte
befindlichen Schlupfwinkel zurückgezogen hatte, wo er ſie
nachher erſchlug. ,
Noch bemerkenswerter ift der andere Vorfall: In einer
ärmlichen Hütte wohnten zwei Brüder, die als Schlangen⸗
beſchwörer neben anderen etwa ein halbes Dutzend Cobras
hielten, denen ſie die Giftzähne noch nicht ausgebrochen
hatten. Die Deckelkörbchen mit den Schlangen ſtanden im
Wohnzimmer, das zugleich auch als Schlafraum diente,
weshalb deſſen Fußboden mit einer einfachen Matte und
einem Leintuch belegt war. Eines Morgens ſtand der eine
Bruder früh auf und begab ſich in die anſtoßende Küche,
während der andere ruhig weiterſchlief. Bei ſeinem Er—
wachen bot ſich ihm ein entſetzlicher Anblick dar, denn rings
Don E. Appenzeller. 197
um ſein Lager ſtreckten ſechs aus ihren Körbchen gekrochene
Schlangen züngelnd und ziſchend und mit drohenden Blicken
K
22
Indische Mutter und Kind zerdrücken den Kopf einer Brillenschlange
mit den Füssen.
ihre aufgeblaſenen Köpfe in die Höhe. Ohne ſich zu rühren,
ſchloß er ſeine Augen wieder, da er wohl wußte, daß die
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198 Die Brillenſchlange.
geringſte Bewegung die Schlangen zum Beißen reizen und
dadurch ſeinen Tod herbeiführen könnte. Seine Lage war
verzweifelt. Gegen eine einzelne Schlange hätte er ſich wohl
mit Erfolg wehren können, aber gegen ſechs zugleich zu
kämpfen war hoffnungslos. Aber warum, dachte er bei
ſich, hatten ſie ihn nicht ſchon angegriffen? Warum hielten
ſie ſich beinahe regungslos, während ihre leuchtenden Augen
gierig auf ihn gerichtet waren? Er konnte die Löſung dieſes
Rätſels nur in dem Umſtande finden, daß der lehmige
Fußboden dunkel, ſein Lager dagegen hell war, und daß
die durch dieſen Gegenſatz überraſchten Schlangen ſich zögernd
zurückhielten. Wenn dieſe Vorausſetzung richtig war, ſo
durfte er hoffen, von ihren Angriffen ſicher zu ſein, ſolange
er ruhig liegen bliebe; aber wie lange konnte er dieſen
ſchrecklichen Zuſtand aushalten? Schon fühlte er die zu⸗
nehmende Abſpannung ſeiner Nerven. Vielleicht konnte ein
plötzlicher Sprung in das Nebenzimmer ihn retten? Doch
nein! Denn rings um ihn erhoben ſich ziſchend die gefähr>
lichen Reptilien. Schreckerfüllt ſchloß er die Augen wieder.
Auf einmal hörte er ein Geräuſch in der Küche, wo
ſein Bruder, an den er in ſeiner Angſt bis jetzt nicht ge⸗
dacht hatte, mit der Zubereitung des Frühſtücks beſchäftigt
war. Die Lippen kaum bewegend, flüſterte er deſſen Namen.
Dadurch aufmerkſam gemacht, näherte ſich der Angerufene
leiſe der Thür, warf einen flüchtigen Blick in das Zimmer
und erkannte die gefährliche Lage ſeines Bruders. Schnell
goß er die eben geſottene, dampfende Milch in einen großen
Napf und ſtellte ihn durch die halbgeöffnete Thür auf den
Boden des Zimmers. Durch ihr Lieblingsgetränk angelockt,
krochen die Schlangen auf den Napf zu und ſteckten ihre
Köpfe hinein. Dieſe günſtige Gelegenheit benutzend, rettete
ſich der Schlangenbeſchwörer durch einen Sprung ins Neben⸗
zimmer.
Die üblichſte Art des Schlangenfangs ift folgende: Der
Don E. Appenzeller. 199
eine von zwei ſogenannten Beſchwörern ſpielt auf einem
dudelſackähnlichen Inſtrument eine eintönige Melodie, durch
welche die für Muſik ſehr empfängliche Brillenſchlange aus
ihrem Verſteck hervorgelockt wird. Während ſie mit er⸗
hobenem Kopfe aufmerkſam lauſcht, ſchleicht ſich ſein Genoſſe
von hinten heran und wirft ihr Staub in die Augen. Die
Schlange fällt plötzlich der Länge nach auf den Boden, und
in demſelben Augenblicke erfaßt ſie der Mann mit Blitzes⸗
ſchnelle im Nacken. Wie ſehr ſie ſich nun auch winden und
krümmen und um ſeinen Arm ſchlingen mag, ſo ſind doch
alle ihre Anſtrengungen vergeblich, ſolange ſie nicht beißen
kann. Gewöhnlich werden ihr in dieſer hilfloſen Lage gleich
die Giftzähne mit einer Zange ausgebrochen, indem man ſie
durch einen Druck mit dem Daumen auf die Kehle zwingt,
den Rachen zu öffnen. Sollen ihr dagegen die Zähne ge⸗
laſſen werden, ſo windet der Dudelſackſpieler die Schlange,
deren Kopf natürlich immer noch feſtgehalten wird, vom
Arme des Fängers los und ſchiebt ſie in ein Körbchen,
worauf letzterer mit einer raſchen Handbewegung den Kopf
ebenfalls hineinſteckt und den Deckel zuſchlägt.
Ein geſchickter Fänger kann eine Giftſchlange auch ohne
Mithilfe eines Genoſſen auf folgende Weiſe fangen: Er
hält ſein Muſikinſtrument mit der einen Hand, wirft den
Staub mit der anderen und erfaßt dann blitzſchnell den
Hals der Schlange, welcher er ſofort die Giftzähne aus⸗
zieht. Wird letzteres nicht beabſichtigt, ſo hält er nun mit
der freien Hand den Kopf der um den Arm gewundenen
Schlange feſt, macht dann dieſen zur Hälfte von den Win⸗
dungen frei und zieht den vorderen Teil der Schlange durch
ſeine Hand, wodurch eine Muskelverſchiebung bewirkt wird,
welche das Krümmen und Winden des Leibes vorübergehend
verhindert. Darauf löſt er die hintere Hälfte von ſeinem
Arm und zieht fie ebenfalls durch die Hand, fo daß als:
dann die ganze Schlange wie ein Gummiſchlauch ſchlaff
200 Die Brillenſchlange.
herabhängt und mit Leichtigkeit in einen Korb gebracht
werden kann.
Wird eine Cobra am Schwanze erfaßt, ſo iſt ſie im
ſtande, ſich herumzuſchnellen und die ſie haltende Hand zu
beißen. Um dies zu verhindern, faßt man ſie möglichſt
raſch auch mit der anderen Hand, zieht ſie ſchnell durch,
bis man ſie im Nacken packen kann, und läßt dann den
Schwanz los, worauf ſie ſchlaff herunterhängt. Eine ähn⸗
liche Wirkung kann dadurch erzielt werden, daß man die
am Schwanze ergriffene Schlange peitſchenartig in der Luft
ſchwingt.
Der Schlangenfang bietet auch Gelegenheit zur Erlan⸗
gung des Schlangengiftes, das zu Experimenten und medi⸗
ziniſchen Zwecken verwendet wird. Während die Aufmerk⸗
ſamkeit einer Cobra durch Muſik gefeſſelt wird, ſetzt ſich
ein Mann gerade vor ſie hin, der einen mit einem großen
Krautblatte bedeckten Teller in der Hand hält. Auf ein
gegebenes Zeichen hört die Muſik auf; alsbald ſchnappt die
Schlange wütend nach dem vor ihr ſitzenden Manne. Dieſer
aber hält ihr blitzſchnell den Teller vor, welcher den Biß
auffängt und auf dem nachher ein eiweißähnlicher Gift⸗
tropfen liegen bleibt.
Die große Muſikliebe der Brillenſchlange kann für die
Hausbewohner ſehr unangenehm werden, wie folgender
Vorfall zeigt.
Eine in Indien wohnende Engländerin ſaß an einem
mondhellen Sommerabend auf der Veranda ihres Garten⸗
hauſes und vertrieb ſich die Zeit mit Violinſpiel. Plötzlich
bemerkte ſie zu ihrem Entſetzen in einer Entfernung von
kaum einem Meter eine große Cobra, welche, durch die
Klänge angelockt, auf die Veranda geklettert war und leb—
haft züngelnd ihre glühenden Blicke auf die Spielerin richtete.
Dieſe wollte zuerſt ihr Heil in der Flucht ſuchen; aber die
Schlange war zu nahe und hätte ſie erreichen können, in⸗
Don E. Appenzeller. 201
folgedeſſen fuhr ſie fort, zu ſpielen, während ſie gleichzeitig
leiſe immer weiter wegrückte. Nachdem ſie ſo der unmittel⸗
baren Gefahr entronnen war, faßte ſie den mutigen Ent⸗
ſchluß, die Wirkung der Muſik auf die Schlange noch weiter
zu verfolgen, und ſpielte nacheinander verſchiedenartige Me⸗
lodien. Dabei machte ſie die überraſchende Entdeckung, daß
mit dem Charakter der Muſik auch die entſprechende Hal⸗
tung der Cobra wechſelte. Bei luſtiger Tanzmuſik wiegte
ſie ihren Kopf lebhaft und mit zierlichen Bewegungen hin
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Mungoz im Kampie mit einer ene
und her, während ſie bei den feierlichen Klängen ernſter
Muſik ſofort ruhig wurde und in einen Zuſtand der Schlaf:
trunkenheit überzugehen ſchien. Je harmoniſcher die Muſik
war, um ſo größere Befriedigung zeigte die Schlange,
während ſie bei einigen abſichtlich geſpielten ſcharfen Miß⸗
klängen ihr Unbehagen durch zuckende Bewegungen erkennen
ließ. Während ihres Spiels hatte ſich die Dame langſam
der Thür genähert, durch welche ſie ſich in das Haus
rettete, worauf die Cobra fic) wieder in den Garten zu:
rückzog.
Natürlich finden die Schlangen auch ſonſt, ohne durch
Muſik angelockt zu werden, ihren Weg in die menſchlichen
202 Die Brillenſchlange.
Wohnungen, wodurch bisweilen ſchreckliche Auftritte herbei⸗
geführt werden. Eines Abends ſchritt ein junges, nach
indiſcher Sitte im Inneren des Hauſes barfuß gehendes
Mädchen durch ein dunkles Zimmer, vor deſſen Fenſter ein
Feigenbaum mit weit ausgebreiteten, bis an das Haus
reichenden Aeſten ſtand. Plötzlich blieb ſie ſprachlos vor
Schrecken und an allen Gliedern zitternd wie feſtgebannt
ſtehen. Endlich brachte ſie den jammernden Hilferuf: „Mut⸗
ter!“ über die Lippen. — „Was haſt du, mein liebes Kind?“
rief dieſe aus dem Nebenzimmer. — „Ich — ich bin einer
Schlange auf den Kopf getreten.“ — „Bleib ruhig ſtehen,“
antwortete die Mutter ſchnell gefaßt, „und drücke den Fuß
ſo kräftig auf, als du kannſt! Ich komme.“ Indem ſie
dieſe Worte ausrief, näherte ſie ſich vorſichtig mit einem
Lichte. Da ſah ſie ihr Kind, leichenblaß vor Entſetzen, mit
ſchreckerfüllten Blicken, unbeweglich daſtehen. Die Schlange
hatte ſich um den Fuß des Kindes gewickelt und gab ſich
alle Mühe, ihren Kopf frei zu machen; doch reichte ihre
Kraft dazu nicht aus. Die Mutter drückte ihren Fuß feſt
auf den ihrer Tochter und umſchlang ſie mit den Armen.
So ſtanden ſie lange voll banger Erwartung, ob es ihren
gemeinſamen Anſtrengungen gelingen werde, die Cobra zu
töten. Nach und nach wurden die Windungen des Schlangen⸗
leibes ſchlaffer, und endlich fielen ſie ganz zu Boden. Die
Giftſchlange war erſtickt, ihr Kopf zerdrückt, das beinahe
ohnmächtig gewordene Kind gerettet.
Gegen den Schlangenbiß giebt es zahlreiche Mittel, wie
Ausſchneiden und Brennen der Wunde, Auflegen von
„Schlangenſteinen“, zerſtoßenen Wurzeln und Blättern, Ein⸗
geben von Pflanzenſäften, Salmiakgeiſt, Chlor, Arſen und
anderen Giften; aber ein zuverläſſiges Heilmittel hat man
bis jetzt noch nicht entdeckt. Das wirkſamſte von allen
ſcheint der in irgend einer Form reichlich genoſſene Alkohol
zu ſein; wenigſtens hat man ſchon wiederholt die Beob—
Don E. Appenzeller. 203
achtung gemacht, daß ſchwer betrunkene oder auch durch
Opium berauſchte Menſchen von giftigen Schlangen ohne
nachteilige Folgen gebiſſen wurden. Falls ein Finger oder
eine Zehe durch einen Biß vergiftet worden iſt, ſo iſt das
ſicherſte, aber auch radikalſte Mittel das ſofortige Abſchneiden
dieſes Gliedes, in anderen Fällen kann das tiefe Aus⸗
ſchneiden und Ausbrennen der Wunde helfen. Allerdings
gehört zu einer ſolchen Operation viel Energie, und nicht
jeder würde es wohl jenem engliſchen Lokomotivführer in
Indien nachmachen, welcher, als er beim Kohlenfaſſen von
einer Cobra in die Hand gebiſſen worden war, den Arm
in den Feuerkaſten der Lokomotive ſtreckte, was ihm zwar
fürchterliche Schmerzen verurſachte und ihn zum Krüppel
machte, aber ihm das Leben rettete.
Unter den begreiflicherweiſe ſehr wenig zahlreichen Fein⸗
den der Brillenſchlange iſt der gefährlichſte der Mungos
oder die indiſche Manguſte, ein durch geſchmeidige, flinke
Bewegungen ausgezeichnetes kleines Raubtier von geſtrecktem
Körperbau mit niedrigen Beinen, ſtarrhaarigem Pelz und
langem Schwanz. Unſer Gewährsmann war einſt durch
einen günſtigen Zufall Augenzeuge eines zwiſchen einer
Brillenſchlange und einem Mungos entbrannten Kampfes,
von welchem er eine ausführliche Schilderung giebt, die wir
hier zuſammenfaſſend wiedergeben wollen.
Auf einem Spaziergange hatte er auf einem Stein⸗
haufen eine Cobra angetroffen, die ſich eben in das nahe
Gebüſch flüchten wollte, als plötzlich ein Mungos ihr den
Weg verſperrte. Sofort nahm erſtere ihre bekannte An⸗
griffsſtellung ein, während letzterer unbeweglich vor ihr
ſtand und ſeine glühenden Blicke auf ſie heftete. Nach
längeren Schwankungen ihres aufgerichteten Kopfes, der ſich
zuerſt ſeitwärts, dann vor⸗ und rückwärts wiegte, ſchnellte
die Schlange blitzartig auf ihren Feind los, der jedoch ebenſo
ſchnell zurückwich, fo daß ihr Bip ihn nicht erreichen konnte
204 Die Brillenſchlange.
und nur den harten Boden traf. Sofort nahm die Cobra
wieder ihre frühere Stellung ein, ebenſo der Mungos, der
es darauf abgeſehen zu haben ſchien, ſeine Gegnerin zu
ermüden. Ein zweiter Angriff hatte denſelben Mißerfolg.
Darauf änderte der Mungos ſeine Taktik und fing an, um
die Schlange herumzuhüpfen und ſie dadurch noch mehr zu
reizen und zu ermüden. Dann ſtellte er ſich wie eine von
einem Hunde bedrohte Katze wieder vor ſie hin, und als
ein neuer Angriff erfolgte, gelang es ihm, dem gefährlichen
Biß ſeitwärts auszuweichen und an dem Kopfe ſeiner
Feindin vorbeizuſchießen; aber ſofort drehte er ſich um und
packte ſie mit ſeinen ſcharfen Zähnen von hinten im Nacken.
Nun umſchlang die Cobra ſeinen Leib mit ihren fürchter⸗
lichen Windungen und ſuchte ihn zu erdrücken. Ihr Schwanz
bewegte ſich lebhaft hin und her und peitſchte die Seite
des Gegners, der jedoch ſeinen Halt nicht losließ. Nach
und nach hörte jede Bewegung der Schlange auf, und ihre
Windungen wurden ſchlaffer. Der Mungos richtete ſich
auf, erfaßte ihren Kopf mit ſeinen Vordertatzen, ſchüttelte
den Schlangenleib ab und verſchwand im Dickicht. Die
Cobra aber blieb tot liegen, denn die ſcharfen Krallen ihres
Feindes hatten ihr den Kopf zerriſſen.
*
SDAADDAAARAD
Ein Besuch bei dem
Pondokönig Umquikela.
Südafrikanische Skizze von Sred Morris.
Mit s Illustrationen. * Machdruck verboten.)
J. den zwanziger Jahren unſeres Jahrhunderts wurden
durch die Eroberungszüge des Zulukönigs Tſchaka ver:
ſchiedene große Kaffernſtämme zertrümmert und weiter ſüd⸗
lich gedrängt. Zu den letzteren gehörten die Fingus, dagegen
gelang es den Pondos, ihre alten Stammſitze wenigſtens
teilweiſe feſtzuhalten. Sie zählen etwa 60,000 Köpfe und
ſind heute im ſüdöſtlichen Teile des Kaffernlandes zuſammen⸗
gedrängt und ſeit 1884 unter britiſche Oberhoheit geſtellt.
Das Pondoland umfaßt 9324 Quadratkilometer zwiſchen
Tembuland, Oſtgriqualand, Natal und dem Indiſchen Ozean.
Es wird von den Flüſſen Umtata und Umtamvuna begrenzt
und vom St. John's River und zahlreichen Nebenflüſſen
durchzogen. Geradezu entzückend ſind nach der Schilderung
des deutſchen Reiſenden E. Nagel die Küſtengebiete von der
St. Johnsmündung bis zur Delagoabai. Sie haben zahl⸗
reiche Waldungen aufzuweiſen, während das Innere meiſt
freies Grasland bildet. Jene Waldungen ſind in der Breite
nicht ſehr ausgedehnt, ſondern ziehen ſich als ſchmaler Gürtel
längs der Flußufer hin. Die Flüſſe der Küſtengebiete er⸗
weitern ſich buchtartig ſchon mehrere Meilen vor ihrer
206 Ein Beſuch bei dem Pondokönig Umquikela.
Mündung, die nach dem Meere zu von einer Sandbarre
verſchloſſen zu ſein pflegt.
Eine charakteriſtiſche Eigenart der ſüdafrikaniſchen Land⸗
ſchaften bilden die ſogenannten Flußthore (Poorts), die
durch das Hervorbrechen der Flüſſe aus den Plateaurändern
entſtanden ſind, und ſich in ihrem Laufe mehrfach wieder⸗
holen können, wenn die Waſſerläufe mehrere Plateauränder
zu paſſieren haben, bevor ſie ſich durch das letzte, unterſte
„Thor“ ins Meer ergießen. Beſonders majeſtätiſch ijt das
Flußthor des St. Johnsfluſſes oder Umzimvubo, und hier
entfaltet ſich auf beiden Ufern eine ſolche reizvolle Scenerie,
in der ſchroffe Felsvorſprünge und blumige Ufer, düſtere
Baumgruppen und Bananenhaine miteinander abwechſeln,
daß man ſich nur ſchwer von dieſen lieblichen Bildern
trennen mag.
Der genannte Reiſende befand ſich in Durban, der
Hafenſtadt der britiſchen Kolonie Natal in Südoſtafrika,
an der gleichnamigen Bai, als er eine Einladung des
„Pondokönigs“ Umquikela erhielt, ihn in ſeiner „Reſidenz“
zu beſuchen. Er begab ſich längs der Küſte über Umkomanzi,
Umzinto, Umzimkulu und Marburg dorthin, und wir folgen
ihm auf ſeinem intereſſanten Streifzuge durch dies wenig
bekannte Gebiet. Wo der Weg nach dem Inneren des
Landes umbog, wurde die Landſchaft kahler und die Berge
höher und ſteiler. Die Waldungen verſchwanden mehr und
mehr, und nur noch vereinzelte Büſche und Bäume kamen
in tiefen Klüften und auf feuchten Abhängen zum Vor⸗
ſchein, während die wenigen Anſiedelungen ſchon von fern⸗
her durch die fie umgebenden ſchlanken auſtraliſchen Gummi:
bäume kenntlich gemacht wurden.
In einer der letzteren traf der Reiſende einen alten
Buren, der dort ſchon ſeit 24 Jahren ganz einſam mit ſeiner
guten, nie fehlenden Büchſe, einem treuen Hunde und einer
kleinen Herde Vieh hauſte, nur ſelten von einigen Ein⸗
N $3131 ‘Bunpunwsugof 18
208 Ein Beſuch bei dem Pondokönig Umquikela.
geborenen beſucht, von denen er Mais oder getrocknete
Häute eintauſchte. Dieſer Einſiedler war hoch erfreut über
den Beſuch, der bei ihm einige Stunden Raſt machte. Er
fragte ihn nach echter Burenart erſt gründlich über das
Woher, Wohin und Warum aus und begann dann Jagd:
geſchichten zu erzählen, bis Nagel ſich wieder reiſefertig
machte.
Dieſer traf weiterhin eine größere Karawane, die ſtatt der
ſonſt in Südafrika meiſt üblichen ſchweren Ochſenfuhrwerke
leichte, mit Pferden beſpannte Wagen hatte. Er ſchloß ſich
ihr aber nicht an, ſondern ſetzte ſeinen Weg zu Pferd allein
fort. Am Abend desſelben Tages erreichte er die Grenze
zwiſchen Natal und dem Pondolande an der Umtamvuna⸗
drift.
Bis dorthin hatte ihm Umquikela den Häuptling
Umhlangaſo (ſprich: Umſchlangaſo) nebſt fünfzig Pondo⸗
kriegern zu ſeinem Empfange entgegengeſandt. Da dieſem
das Warten aber zu lange währte, ſo war er mit ſeinen
Leuten wieder nach ihren heimatlichen Kralen zurückgeritten,
hatte aber einen Führer und einen Brief für den Reifen:
den mit der Bitte, ihm ungeſäumt zu folgen, zurückgelaſſen.
Wie Nagel von einem Engländer erfuhr, der an der Pondo—
grenze eine Schmuggelſtation errichtet hatte und recht gute
Geſchäfte zu machen ſchien, waren die Pondos erſt kurz
vor ſeinem Eintreffen wieder fortgeritten, ſo daß er wohl
hoffen durfte, ſie noch in derſelben Nacht einzuholen
Er raſtete, bis der Mond aufgegangen war, und ſetzte
dann ſeinen Weg auf einem von dem Engländer gemieteten
Klepper fort, da er ſeinem eigenen Pferde bis zur Rück—
reiſe Ruhe gönnen wollte. Mit dem Pondoburſchen, der den
Führer machte, konnte er keine Unterhaltung führen, da er
von deſſen eigentümlichem Dialekt nur wenig verſtand. So
ritten beide denn ſchweigend durch die ſtille Mondlandſchaft,
durch Klüfte, über Felſen und ſteile Abhänge. Endlich
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Karawane im Jnneren von Natal (Siidostafrika).
210 Ein Beſuch bei dem Pondokönig Umquikela.
wurde eine Hütte erreicht, deren lückenreiche Wände aus
Lehmwerk errichtet waren, während man das dem Ein⸗
ſtürzen nahe Dach aus alten Blechkiſten notdürftig zuſammen⸗
genagelt hatte. Im Inneren hatten zwei europäiſche Händler
ein kleines Warenlager von Bedarfsartikeln für die Ein⸗
geborenen eingerichtet. Sie boten dem ſpäten Ankömmling
bereitwillig ein Nachtquartier am Boden an, da dieſer aber
gleich beim Eintritt in die Hütte ein höchſt verdächtiges
Jucken an den Beinen verſpürte, ſo dankte er verbindlichſt
und beeilte ſich, ſeinen Weg fortzuſetzen. Es war eine
herrliche Nacht, deren Zauber der Reiſende tief empfand.
„In einem wilden, von der Natur großartig angelegten
Lande allein in die Nacht hineinzureiten, hat einen eigen⸗
tümlichen Reiz, der nicht wiederzugeben iſt. Es ſind dies
die Augenblicke, die nur der empfinden und verſtehen kann,
der ſie ſelbſt gekoſtet hat, beſonders wenn, wie hier, eine
überwältigende Natur die Größe des Augenblicks erhöht.“
Die Wälder in ihrer tropiſchen Fülle lehnten ſich an
maſſiv aufſteigende Felspartien, überragt von noch mad:
tigeren Steinkoloſſen, die im Schein des Mondes wie
Burgen ausſahen. Die nächtliche Stille wurde nur durch
den klagenden Ruf des Qualaquala, der Nachtigall des
Pondolandes, unterbrochen. Mitunter huſchte auch wohl
ein aufgeſcheuchtes Wild über den ſchmalen Pfad, um im
nächſten Augenblick wieder in dem Dickicht zu verſchwinden.
Die ſtolzen Wipfel der breitblätterigen Bananen wiegte ein
ſanftes Nachtlüftchen, ihnen leiſe ächzende Laute entlockend.
Zahlreiche kleine Schluchten wurden paſſiert, auf den
ſchmalen, durch die Urwaldungen führenden Wildpfaden
mußte man oft abſteigen und die Pferde am Zügel nad:
ziehen, dann wieder ging es auf beſchwerlichen Fußſteigen
ſteil an Klüften bergan. Die eingeborenen Pferde haben
aber einen außerordentlich ſicheren Schritt, und wenn ihnen
der Reiſende die Zügel ruhig überläßt, ſo tragen ſie ihn
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In Umquikelas Kral.
212 Ein Beſuch bei dem Pondokönig Umquikela.
über die gefährlichſten Saumpfade und an ſchwindelerregen⸗
den Abgründen vorbei, ohne nur ein einziges Mal zu
ſtolpern.
Gegen Morgen wurde der Kral Emaguſheni erreicht,
bei dem eine große Anzahl von Pferden weidete. Der
Reiſende vermutete ganz richtig, die Abgeſandten Umquikelas
bereits eingeholt zu haben, und kroch in die erſte beſte
Hütte, auf deren Fußboden bereits einige dunkle Geſtalten
ſchnarchten, um wenigſtens etwas von der verſäumten
Nachtruhe nachzuholen. Die Schläfer ließen ſich durch
ſeinen Eintritt nicht im mindeſten ſtören und entdeckten
ſeine Anweſenheit erſt im hellen Tageslichte.
Dann erſchien auch der Häuptling Umhlangaſo und
begrüßte den Weißen in herzlicher Weiſe. Nach eingenom⸗
menem Frühſtück, nach Kaffernart aus einem Maisbrei be⸗
ſtehend, wurden zunächſt die frei umherlaufenden Pferde
eingefangen und hierauf der Ritt gemeinſam fortgeſetzt.
Die kräftigen Pondos boten auf den kleinen eingeborenen
Pferden ein ungemein wildes, kriegeriſches Bild; jeder von
ihnen war im vollſtändigen Kriegsſchmuck, mit aus Ochſen⸗
haut geſchnittenen Streifen um Kopf, Hals, Lende und
Knie, und führte den Kriegsſchild nebſt mehreren Wurf⸗
ſpießen. So ging es in ſchärfſter Gangart, bergab und
bergauf, durch Bäche und über ſandige Ebenen nach Eſin⸗
ſhloyaneni, dem Kral des Häuptlings Umhlangaſo.
Die begleitenden Krieger blieben außerhalb des Krals und
machten ſich ſofort eifrig über das beliebte Kaffernbier Uty⸗
wala (ſprich: Utſchuala) her, das ihnen kredenzt wurde. Die
Eingeborenen kochen es aus einer Art Hirſe, die Amabeli
heißt, und trinken es nach der erſten Gärung in dickflüſſigem
Zuſtande. Sein Geſchmack iſt ein ſtark rauchiger, erinnert
aber etwas an junggekelterten Wein, der am Rhein als
„Federweißer“ bezeichnet wird.
Dem Fremdling trat auf der Kotla, dem kreisförmigen
Don Fred Morris. 213
Plage, wo die großen Verfammlungen abgehalten werden,
die erſte Frau des Häuptlings entgegen, um ihm den Will:
kommengruß darzubieten. Dann wurde im Innern der
Im Egosa- (Ekossj-) Busch.
Hütte, in der ſich noch fünf niedere Frauen Umhlangaſos
befanden, ein Imbiß eingenommen.
Der Königskral Umquikelas lag von dort noch dreißig
engliſche Meilen entfernt. Das Weiterreiſen geſchah in
gemäßigterem Tempo, und unterwegs ſchloſſen ſich noch
viele Pondos zu Fuß dem Trupp an. Gegen 9 Uhr
214 Ein Beſuch bei dem Pondokönig Umquikela.
abends wurde der Kral des Königs bei vollſtändiger Dunkel⸗
heit erreicht.
Seine Majeſtät waren bereits ſchlafen gegangen, ge—
ruhten aber doch, nachdem Umhlangaſo das Eintreffen des
Weißen gemeldet hatte, aus ihrer Hütte hervorzukriechen
und dieſen zu umarmen und zu küſſen, wobei ſich allerdings
ein verdächtiger Branntweinduft verbreitete. Umquikela iſt
ein Bruder des Häuptlings Umhlangaſo und gleich dieſem von
ſtattlichem Körpermaß, jedoch entnervt durch den übermäßigen
Genuß geiſtiger Getränke. Er überläßt deswegen ſeinem
Bruder, dem „Chief Councillor of Pondoland“, bereitwillig
alle Regierungsſorgen, ſoweit von ſolchen unter dem britiſchen
Protektorate überhaupt noch die Rede ſein kann.
Am anderen Morgen fand der Fremdling vor dem Ein—
gange feiner Hütte zu feiner angenehmen Ueberraſchung
Waſchwaſſer nebſt Seife und zwei Handtüchern bereitgeſtellt.
Nicht minder „ziviliſiert“ erwies ſich das ſpäter aufgetragene
Frühſtück, beſtehend aus Kaffee und gut zubereiteten Beef:
ſteaks nebſt Eiern.
Nachher ließ ihn Umquikela in ſeine Hütte bitten, die
an der Kotla lag, um Verhandlungen einzuleiten, die den
ganzen Tag über währten, da die Kaffern es lieben, der—
artige Geſchäfte möglichſt in die Länge zu ziehen. Als
Nagel gegen Sonnenuntergang die Hütte verließ, war er
glücklicher Beſitzer eines bedeutenden Areals, das ſich von
der St. Johnsmündung bis zum Übazifluſſe oſtwärts er:
ſtreckte und insbeſondere den herrlichen Egoſa- oder Cfoffi-
buſch einſchloß.
Er veranlaßte nun, daß noch in derſelben Nacht einige
Pondos mit allerlei Hausrat aus dem Kral des Königs
nach einer Stelle im Ekoſſibuſch, die Umhlangaſo ihnen
angegeben hatte, vorausgeſandt wurden. Dorthin verfügte
er ſich in Begleitung des Häuptlings am anderen Morgen;
es wurde ein Zelt aufgeſchlagen und mit einem Feldbett,
Cropisches Uegetationsbild aus dem Umzimvubo- (St. Johns-) Chale.
216 Ein Beſuch bet dem Pondokönig Umquikela.
—
einem gebrechlichen Tiſch, einigen Decken und dem not⸗
wendigſten Kochgeſchirr ausgeſtattet. Bevor der Häuptling
wieder fortritt, ließ er dem Fremdling einen alten Pondo
als Diener zurück. Der Mann hieß Ikanda, was „Ei“
bedeutet, ohne daß Nagel ergründen konnte, auf welche
Weiſe der Schwarze zu dieſem Namen gekommen war. Die
Kaffern geben nämlich mit Vorliebe jedem einzelnen einen
Namen, der ſich auf irgend eine Gewohnheit oder Eigentüm⸗
lichkeit des Betreffenden bezieht, wie zum Beiſpiel Utango⸗
fala (Einzäunungszerſtörer), Iſidhlova (der Heftige). Auch
bei Europäern thun ſie das; ſo nannten ſie beiſpielsweiſe
einen Reiſenden, der jeden Morgen nach heißem Waſſer
zum Raſieren ſchrie, Tyiſayo amanzi (Heißwaſſer), und einen
ſchwindſüchtigen Miſſionar, der entſetzlich an Huſtenanfällen
litt, Ipapu (Lunge).
Ueberaus reizvoll war die Scenerie des Ekoſſibuſches,
in deſſen Einſamkeit der Reiſende ſich nun eine Zeitlang
aufhielt. Im Oſten wurde der dichte tropiſche Urwald von
gigantiſchen Felspartien überragt; mehr nach dem Inneren
des Landes zu bauten ſich grasbewachſene Bergkegel, einer
hinter dem anderen, auf und ganz in der Ferne ſchloß der
tiefblaue Ozean dies herrliche Bild ab. In der Tiefe aber
ſtrömte der Umzimvubo oder St. Johnsfluß dem Meere zu,
der aus den Drakensgebirgen kommt.
Eine reiche tropiſche Vegetation erfüllt das ſonnige
Thal dieſes Fluſſes, in den Zweigen ſpielen unzählige
buntgefiederte Vögel, und hier wie im Ekoſſibuſch konnte
der Reiſende nun nach Herzensluſt Steine ſammeln, Pflan⸗
zen preſſen und der Jagd obliegen. Letzteres geſchah in:
deſſen nicht bloß zum Vergnügen, denn außer einer Kiſte
Biskuits und einer Flaſche Salz hatte er nichts bei ſich,
um ſeinen Hunger und den ſeines dunkelhäutigen Dieners
zu ſtillen. Es fehlte aber durchaus nicht an Auswahl für
die Küche: der Fluß lieferte Fiſche, Schildkröten und Krebſe,
Don Fred Morris. 217
der Wald Perlhühner und andere Vögel der verſchiedenſten
Arten, ſowie von Vierfüßlern die zierliche Ipitiantilope,
den Rietbock (eine kleine Antilope) und den größeren
Umkonka oder Buſchbock und andere, welche delikate Braten
abgaben.
Außerdem brachten an jedem Morgen Ikankas beide
Töchter aus ihrem nicht weit entfernten Kral gegen eine
kleine Vergütung nach dem Zelte ein großes Gefäß mit
friſcher Milch, das mittags durch ein neues erſetzt wurde.
Die beiden Kaffernmädchen zählten noch nicht fünfzehn Jahre
und waren wirklich hübſch mit ihren fröhlich und unbefan⸗
gen in die Welt blickenden Augen. Sie trugen einen Len⸗
denſchurz aus Perlen und außerdem noch einige meſſingene
oder eiſerne Armringe und jede ein Perlenhalsband. Ihr
Betragen war ein heiter⸗kindliches, dem jedoch eine gewiſſe
jungfräuliche Schüchternheit nicht fehlte. Die ältere hieß
Umnandi (zu deutſch: ſüß); der gewöhnliche Morgengruß
der Mädchen lautete: „Sa ku bona 'nkosi“ (Ich habe dich
geſehen, o Herr).
Für eine größere Treibjagd ließ ſich Nagel von einem
in der Nachbarſchaft wohnenden Inkoſi (Häuptling) die
erforderlichen acht bis zehn Treiber zum Abſuchen der.
Büſche geben. Dieſer hatte ein anſehnliches Dorf unter
ſich, das an den waldigen Hängen des Umfila, eines Neben⸗
fluſſes des St. John, lag und etwa zwei Stunden von
dem Standquartier des Weißen entfernt war. Der Weg
dorthin führte durch einen Hain mit mächtigen Aloen.
Der Kral oder Umuſi ſelbſt beſtand, wie die meiſten der⸗
artigen Niederlaſſungen der Eingeborenen, aus einer kreis⸗
förmigen Einfriedung aus Flechtwerk, etwa 100 Meter im
Durchmeſſer, in deren Innerem fic) 40 bis 50 Hütten er:
heben. Sie waren aus dünnen Zweigen geflochten und
mit langem Graſe überdeckt, im Aeußeren großen Bienen⸗
körben gleichend.
218 Ein Beſuch bei dem Pondokönig Umquikela.
Eine Meute kläffender Kaffernhunde meldete das Nahen
eines Fremden, dem dann ein Pondo mit den Worten ent—
gegentrat: „U funani na?“ (Was ſuchſt du?) Nachdem
ihm mitgeteilt worden war, daß der Weiße den Häuptling
zu ſprechen begehre, übertrug er die Wache einem Genoſſen
und entfernte ſich, um den Inkoſi zu benachrichtigen. Gleich
darauf erſchien ein alter Pondoneger mit einer zierlich ge:
flochtenen Grasdecke, die er, ohne ein Wort dabei zu reden,
vor dem Fremdling auf der Erde ausbreitete. Hierauf
kamen etwa 20 bis 30 hübſche, kräftig gebaute junge Neger
und zuletzt der Häuptling. Ihm folgte ſein Mundſchenk,
ein weißhaariger Greis, mit einem mächtigen Napfe voll
Kaffernbier zum Zwecke gaſtfreundlicher Bewirtung. Dieſer
Mundſchenk that zuerſt einen kräftigen Zug aus dem Bier⸗
gefäß und überreichte es dann ſeinem Gebieter, nach dem
es erſt der Fremde bekam. Nach dem bei den Pondos
herrſchenden „Komment“ müſſen nämlich zuvor der älteſte
Mann des betreffenden Krals und deſſen Herr dem Gaſte
Beſcheid gethan haben, ehe dieſer trinken darf.
Als der Reiſende ſich von Umquikela und Umhlangaſo
nach dieſem erſten Aufenthalte im Pondolande verabſchiedete,
gaben beide ihm ihre älteſten Söhne nach Deutſchland mit.
Er ritt mit dieſen Pondoprinzen nach Durban zurück, von
wo er die erſte Schiffsgelegenheit benutzte, um heimwärts
zu ſteuern.
W
Mannigfaltiges.
¢
Graf und Kaufmann. — In Rennes, derſelben franzöſiſchen
Stadt, auf die vor kurzem die Augen aller Welt gerichtet waren,
verſammelten ſich im Frühling des Jahres 1722 die Stände der
Bretagne, um, wie alljährlich, über die Angelegenheiten der Pro—
vinz zu beraten und zu beſchließen. Da erklärte am Schluſſe einer
Tagesſitzung der alte Adelsmarſchall, der junge Graf Raoul v. Ker—
briand ſei in einer beſonderen Veranlaſſung erſchienen. Er wünſche
nämlich kraft eines alten, im Herzogtum Bretagne zu Recht be—
ſtehenden Geſetzes ſeinen Adel und ſein altes Ahnenſchwert bei
den Ständen auf unbeſtimmte Zeit zu deponieren, da er ge—
ſonnen ſei, ſich nach der Inſel Martinique zu begeben, um dort
zu verſuchen, durch ein bürgerliches Gewerbe, nämlich als Handels—
mann, ſich Vermögen zu erwerben. Er ſei, wenn auch nicht
durch eigene Schuld, fo verarmt, daß er zu dieſem Schritte ge:
zwungen ſei.
Raoul v. Kerbriands Vater, Großvater und Urgroßvater
hatten ein Jahrhundert hindurch ſo arg darauf los gewirtſchaftet
und in Saus und Braus gelebt, daß eines ihrer Güter nach
dem anderen verloren gegangen war. Für den armen Raoul,
den letzten Sproß der gräflichen Familie, war nach dem Tode
ſeiner Eltern faſt gar nichts übrig geblieben. Das alſo brachte
ihn zu ſolchem Entſchluſſe.
Mit aller Förmlichkeit deponierte er bei den Ständen ſeinen
Adel durch Ueberreichung ſeiner Familienpapiere und des alten
220 Mannigfaltiges.
Ahnenſchwerts, mit dem ausdrücklichen Vorbehalt, ſeinen Adel
ſpäter wieder reklamieren zu dürfen. Ueber die Verhandlung
wurde ordnungsgemäß ein Protokoll aufgenommen, dann ließ
der ſolchermaßen zum Bürger gewordene junge Edelmann auf
Grund des Protokolls vom Magiſtrat der Stadt Rennes ſich
einen Paß ausſtellen, lautend auf den Namen Raoul Briand,
Stand: Kaufmann.
Indem er alles verkaufte, was er noch ſein nannte, brachte
er eine Summe Geldes zuſammen, die hinreichte zur Beſchaffung
eines kleinen Warenlagers von allerlei Pariſer Galanterie-,
Mode: und Luxusartikeln. Damit begab er ſich nach Nantes
und ſegelte mit feinen Waren nach Weſtindien, wo er wohl—
behalten anlangte und in St. Pierre, der Hauptſtadt der Inſel
Martinique, einen kleinen Laden mietete, in welchem er ſeine
Waren zur Schau und zum Verkauf ausſtellte.
Bald erlangte er gute Kundſchaft, beſonders ſeitens der
ſchönen und reichen Damen der Inſel. Denn es hatte ſich —
wahrſcheinlich durch den Kapitän des Schiffes, welches ihn her—
gebracht — die Kunde verbreitet, daß er in Wahrheit nicht der
einfache Kaufmann Briand, ſondern vielmehr der vornehme
bretagniſche Graf Kerbriand ſei. Das erregte ſo viel Intereſſe
für den auch ſonſt liebenswürdigen und hübſchen jungen Kauf:
mann, daß ſein Geſchäft derartig gut ging, daß er bald von
den Großhändlern in St. Pierre neue Vorräte beziehen mußte.
Bereitwillig gaben die Großkaufleute ihm Kredit. Solche an—
genehme Erfolge entflammten ſeinen ſpekulativen Geiſt zu den
kühnſten Hoffnungen und in ſeinen Träumen ſah er ſich ſchon
als zukünftigen großen Handelsherrn und Millionär.
Auch der Gouverneur der Inſel, Baron v. Breteuil, erhielt
Kunde von ihm. Dieſer, ein Landsmann, war einſt der ver-
traute Freund von Raouls Vater geweſen. Er ließ den jungen
Mann zu ſich bitten, empfing ihn mit ausgezeichneter Artig—
keit, bewirtete ihn und bot ihm ein Leutnantspatent an, falls er
ſeinen in Rennes deponierten Adel reklamieren und ſich nach—
ſchicken laſſen wolle. Andernfalls könne er eine gute Anſtellung
als Sekretär in einem Bureau des Gouvernements bekommen
mit ſicherer Ausſicht auf baldiges Avancement. Raoul lehnte
Manniafaltiges. 221
dankend beides ab und ſagte, er ſei ja nach Martinique gekom⸗
men, in der Hoffnung, ſich ein anſehnliches Vermögen zu er⸗
werben, und dies glaube er am beſten durch einträgliche Handels⸗
geſchäfte zu erzielen.
Es ſtand aber in den Sternen geſchrieben, daß der junge
Graf nicht lange mehr hinter dem Ladentiſche ſtehen ſolle. In
St. Pierre wohnte die millionenreiche Witwe des verſtorbenen
Zuckerplantagenbeſitzers Duponchel. Ihre einzige Tochter Loui⸗
ſon, ein reizendes Mädchen von achtzehn Jahren, verliebte ſich
ſterblich in den intereſſanten Raoul. Die jungen Herzen fanden
ſich, und bald kam es zu einer Erklärung.
Madame Duponchel, eine ſehr vernünftige Frau, ſagte zu
ihrer Tochter: „Wenn er wirklicher Graf iſt, habe ich durchaus
nichts gegen dieſe Verbindung; doch ſoll er natürlich die Krämerei
aufgeben. Profitiert er von unſeren Millionen, ſo wollen wir
von ſeiner Vornehmheit profitieren. Nicht Frau Briand ſollſt
du werden, ſondern Frau Gräfin Kerbriand. So ſoll's mir
recht ſein. Um aber volle Sicherheit zu erlangen, daß hier kein
Irrtum vorliegt, gehe ich zum Gouverneur und werde mit ihm
darüber ſprechen.“
Dieſer beſtätigte ihr auf ſein Wort, daß die Sache voll⸗
kommen in Richtigkeit ſei. Raoul könne jederzeit, wenn es ihm
beliebe, ſeinen in Rennes deponierten Grafentitel wieder an⸗
nehmen. Nicht ſeine Schuld ſei es, daß er ſo verarmt, ſondern
die ſeiner Vorfahren, und die Tugend der Sparſamkeit, welche
dieſen gefehlt hätte, ſcheine er zu beſitzen.
Sehr zufriedengeſtellt durch ſolches Zeugnis, ließ die reiche
Witwe den jungen Mann zu ſich bitten. Gerührt ſegnete ſie
den Liebesbund, machte jedoch zur Bedingung, daß Raoul die
Kaufmannſchaft aufgebe und wieder in ſeiner Heimat ein vor⸗
nehmer Graf werde. Sie ſelbſt wolle mit nach Frankreich, um
an ſolcher Vornehmheit teilzunehmen. Natürlich war ihm dies
ganz recht. Nun flogen ihm die Millionen nur ſo zu; er brauchte
ſie nicht erſt zu verdienen. Bald wurde die Hochzeit zu St. Pierre
mit großer Pracht gefeiert. Er verkaufte ſein kleines Geſchäft,
Frau Duponchel ihre großen Plantagen, und dann ſchiffte ſich
das glückliche Ehepaar nach Nantes ein.
222 Mannigfaltiges.
Nach gerade einjähriger Abweſenheit kam Raoul wieder in
der Heimat an. Er begab ſich nach Rennes, wo eben wieder
die Stände verſammelt waren, und reklamierte ſeinen deponier⸗
ten Adel. Er empfing auf feierliche Weiſe ſeine Familienpapiere
und ſein altes Ahnenſchwert. Der Adelsmarſchall und die vielen
anderen anweſenden Edelleute ſchüttelten ihm die Hände und
beglückwünſchten ihn, daß er in Weſtindien ſo raſch ſeinen Zweck
erreicht habe. Jetzt gehöre er, wie früher, wieder zu ihnen,
zum alten Adel des Landes.
Mit Hilfe der erheirateten Millionen kaufte Raoul, ſoweit es
ihm möglich, die Güter, welche ſeinen Vorfahren früher gehört
hatten, wieder an, und fortan lebte er in der Bretagne glücklich
und zufrieden mit ſeiner lieben Louiſon und ſeiner guten Schwieger⸗
mutter Frau Duponchel. F. L.
Neue Erfindungen: I. Elektriſche Taſchenlaterne.
— Obwohl unſere moderne Art, mit Sicherheitszündhölzern Licht
zu machen, der ehemaligen mittels Schwefelfaden, Stahl und
Schwamm oder Phosphorhölzern bedeutend überlegen iſt, kann
man doch nicht ſagen, daß ſie allen Anforderungen entſpricht.
Beſonders in zugigen Durchgängen oder dort, wo größte Schnellig—
keit erforderlich iſt, läßt ſie viel zu wünſchen übrig. Wer zum
Beiſpiel einen Dieb in ſeinem Hauſe oder in ſeinem Zimmer
vermutet, dem werden die beſten „ſchwediſchen“ und eine Kerze
ſehr wenig nützen. Das Verfahren iſt zu zeitraubend. Wer
nachts nach Hauſe kommt, und bei Sturm und Wetter ſein
Wachsſtreichholz in Brand ſetzen will, um ſich in ſeine Wohnung
hinaufzutappen, wird ebenfalls einigen Schwierigkeiten begegnen.
Dem hilft auf die einfachſte Weiſe eine kürzlich in den Handel
gelangte elektriſche Taſchenlaterne ab, die in verſchiedenen Größen
angefertigt wird. Es iſt ein Cylinder von 21 bis 34 Centimeter
Länge und gegen 4 Centimeter Dicke. Unſer Bild zeigt oben
rechts in der Ecke die äußere Geſtalt des Apparates, darunter
die praktiſche Anwendung. Man kann ihn bequem in der Rod:
taſche tragen, und ein einziger Druck auf den am Handgriff be—
findlichen Ring geſtattet es dem Beſitzer, entweder ein kurzes
Blitzlicht oder einen längere Zeit dauernden Lichtſtrahl aus
der an der Spitze des Cylinders befindlichen Glühlampe zu er:
Mannigfaltiges. 223
zeugen. Die nützliche Erfindung wird ſicherlich ſchnell Verbrei—
tung finden. | F. 3.
II. Caſtaings Doppelſcheiben zur immerwährenden
Lüftung. — Trotz der großen Fortſchritte in der Erkenntnis
richtiger hygieiniſcher Grundſätze und ihrer Verbreitung geſchieht
Eine elektrische Taschenlaterne.
vielfach noch immer zu wenig für Erneuerung der Luft in be:
wohnten Räumen. Wenn man weiß, daß jeder Menſch täglich
72 Kubikmeter reiner Luft verbraucht, und daß ferner durch die
ausgeatmete Luft, ſowie durch Heizung und Beleuchtung die in
den Zimmern vorhandene Luftmenge fortwährend verſchlechtert
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224 Mannigfaltiges.
wird, ſo kann man ſich nicht wundern, daß bei mangelnder
Lüftung üble Folgen entſtehen. Die natürliche Ventilation, das
heißt der Austauſch zwiſchen reiner und ſchlechter Luft durch
Wände, Fenſter⸗ und Thürritzen, genügt keineswegs und muß
durch gleichzeitiges Oeffnen der Fenſter, noch beſſer durch gleich⸗
zeitiges Oeffnen von
Thüren und Fenſtern,
ſo daß Gegen⸗ und
Durchzug entſteht, von
Zeit zu Zeit erhöht
werden. Es genügt
auch nicht, im Neben⸗
zimmer auf einige
Stunden einen Fen⸗
ſterflügel zu öffnen,
ſondern die Lufter⸗
neuerung muß in dem
Zimmer ſelbſt ge⸗
ſchehen. Bei der ängſt⸗
lichen Scheu, die viele
Perſonen nicht nur
vor der gefürchteten
Zugluft, ſondern auch
vor dem Eindringen
Fenster mit Doppelscheiben nach Dr. Castaing npon
zum Zweck immerwährender Lüftung. kälterer : Luft über:
haupt in bewohnte
Räume hegen, ſucht man die Lüftung vielfach durch Anbrin⸗
gung von Luftöffnungen oder Klappen an den oberen Fenſter⸗
ſcheiben zu bewirken, doch iſt auch dies keineswegs ausreichend.
Vortrefflich bewährt hat ſich dagegen ein Verfahren von dem
franzöſiſchen Generalarzt Dr. Caſtaing, dem die Pariſer Akademie
der Wiſſenſchaften für feine Methode der immerwährenden Lüj-
tung von Wohn: und Schlafräumen mittels Doppelſcheiben einen
Preis zuerkannt hat. Das Verfahren iſt einfach und praktiſch; es
findet keinerlei Zug oder plötzliches Zuſtrömen kalter Luft ſtatt,
ſondern der Ausgleich zwiſchen der inneren verdorbenen und der
äußeren guten Luft geht fortwährend und ganz unmerklich von
Mannigfaltiges. 225
ſtatten. Unſere Abbildung macht das Verfahren genügend an⸗
ſchaulich. Man läßt einfach bei einer ſchon vorhandenen Scheibe
die untere Partie etwa 4 Centimeter hoch wegſchneiden, ſo daß
alfo eine verkürzte Scheibe (EF G H) übrig bleibt. Hierauf wird
eine zweite Scheibe angebracht, die in derſelben Weiſe oben ab⸗
geſchnitten und dadurch verkürzt worden ift (A BDM). Die
Anbringung dieſer zweiten Scheibe iſt in allen Fenſterrahmen
leicht ausführbar, ſei es in der aus unſerem Bilde erſichtlichen
Art oder in ähnlicher Weiſe. Mit Rückſicht auf die Reinigung
der Fenſter wird es jedenfalls zu empfehlen ſein, die zweite
Scheibe nicht etwa in den Rahmen einzulaſſen und mittels Glaſer⸗
kitt feſt einzukitten. Auf dieſe Weiſe findet eine fortwährende
Zufuhr friſcher und guter Luft ftatt, die durch die Lücke G HD M
von außen zwiſchen die Scheiben tritt und durch den Zwiſchen⸗
raum EF AB nach dem Plafond des betreffenden Raumes hin:
ſtrömt und ſo einen ſtetigen Ausgleich bewirkt, der ſelbſt von em⸗
pfindlichen Perſonen nicht unangenehm empfunden wird. Dieſer
Ausgleich iſt um ſo kräftiger, da die innere Scheibe, die ſtets
wärmer iſt als die äußere, die zwiſchen den beiden befindliche
Luft gleichf alls erwärmt, wodurch ihr Emporſteigen beſchleunigt
wird. Die Anbringung von Dr. Caſtaings Doppelſcheiben em⸗
pfiehlt ſich nicht nur für Wohn⸗ und Schlafzimmer, ſondern auch
für Schulen, Reſtaurationen u. ſ. w. Fr. R.
Rettleräniſſe. — „Wohlzuthun und mitzuteilen“ ift gewiß
eine ſchöne Sitte, aber es wird dem Eingeweihten, namentlich
in der Großſtadt, oft recht ſchwer gemacht, das Mitgefühl mit
den Leiden und der Not ſeiner Mitmenſchen rege zu halten und
ſein Herz nicht verhärten zu laſſen, wenn er ſieht, wie Unver⸗
ſchämtheit, Laſter und Faulheit ſich breit machen und immer
neue Kniffe erfunden werden, die Bethätigung dieſes Mitge⸗
fühls und der Barmherzigkeit für ſich auszubeuten und die zu⸗
fließenden Gaben in ſorgloſem Nichtsthun zu verpraſſen. Dem
Bettlerunfug, wie er ſich thatſächlich in Berlin herausgebildet
hat, zu ſteuern, iſt natürlich Sache der Polizei, und jedes Revier
hat zwei Beamte, die ſogenannte Bettlerpatrouille, ausdrücklich
und ausſchließlich damit betraut. Und doch treibt dieſes Un⸗
kraut immer neue Blüten und nur zu oft wird der Menſchen⸗
1900. III. 15
226 Mannigfaltiges.
freund gewahr, daß er feine Hilfe einem durchaus Unwürdigen
hat zu teil werden laſſen.
So hatte ſeit Jahren ein älterer Mann an der Ecke der
Potsdamerſtraße in Berlin, da wo dieſelbe auf den gleichnamigen
Platz mündet, ſeinen Standort inne und verkaufte Streichhölzer,
die in einem an einem Bande vom Hals herabhängenden Kaſten
geborgen waren. Seine linke Hand war verkrüppelt, ſein linkes
Bein war unter dem Knie von einem Stelzfuß geſtützt, während
der Unterſchenkel in einem formloſen Klumpen nach hinten ragte,
ſeine Rechte ſtützte ſich ſchwer auf einen Knotenſtock. Da der
Mann eine Militärmütze trug und ſeine Bruſt die Ehrenzeichen
der Kriegsjahre 1864, 1866 und 1870/71 ſchmückten, fo hatte
man augenſcheinlich einen jener Tapferen vor ſich, die im Dienſte
des Vaterlandes ihre geſunden Gliedmaßen geopfert. Der In⸗
valide, der beſcheiden und ruhig, ohne aufdringlich zu ſein, auf
ſeinem Standorte auf und ab humpelte, hatte ſich eine regelmäßige
ſichere Kundſchaft geſchaffen in den zahlreichen Offizieren, die
nach drei Uhr nachmittags vom Generalſtabsgebäude oder vom
Kriegsminiſterium her ihren im Weſten gelegenen Wohnungen
regelmäßig zuſtreben, in zahlreichen Paſſanten, die dies ſahen
und nun ein Gleiches thaten, und in den Bewohnern der um:
liegenden Paläſte und Häuſer, welche ihren Bedarf, und über dieſen
hinaus, von ihm entnahmen. Da wurde der Mann eines Mittags
von einem Betrunkenen angerannt und zu Boden geriſſen, ſo daß
er mit dem Hinterkopf auf die Bordſchwelle des Bürgerſteiges ſchlug.
Den Blutenden, der ſich aufzurichten ſuchte, brachte, während
der Trunkenbold von einem Schutzmann ſiſtiert wurde, trotz ſei⸗
nes energiſchen Sträubens ein mitleidiger Generalſtabsoffizier
in einer Droſchke zur nächſten Sanitätswache, wo man ihm
eine klaffende Wunde am Hinterkopfe zunähte. Bei dieſer Ge⸗
legenheit beſah ſich der Arzt die verſtümmelte Hand. Aber, was
war das — die Hand war ja gar nicht verſtümmelt, ſondern die
beiden Mittelfinger nur künſtlich gegen die Handfläche, und die
Hand gegen den Unterarm zurückgebogen. Das linke, von dem
Stelzfuß und ſeiner Hülle ſchnell befreite Bein völlig geſund —
der Kerl war, wie dann die Polizei ſehr bald feſtſtellte, nie
Soldat geweſen, ſondern nur ein nichtswürdiger Betrüger, der
Manniafaltiges. 227
am Abend und die Nacht hindurch in einer Kneipe im Norden
Berlins das große Wort führte und ſpielte und trank, und
trotzdem im Laufe der Jahre ſich mehr als tauſend Mark er—
ſpart hatte. Man überwies ihn auf ein Jahr der Landespolizei—
behörde und dieſe ſteckte ihn in ein Arbeitshaus. —
Unter den Linden ſtrömten gegen Mittag die dort flanierenden
Herrſchaften plötzlich nach einem Punkte zuſammen. Ein armes
altes Mütterchen iſt ohnmächtig zuſammengeſunken. Hilfreiche
Hände tragen ſie in einen Hausflur, man netzt ihr die Stirn
mit Waſſer, ein Herr holt aus einer benachbarten Reſtauration
ein Glas Portwein, das die Aermſte gierig ausſaugt — dann
ſinkt ſie wieder zuſammen, und nur das eine, entſetzliche Wort:
„Hunger“ haucht ihr halbgeöffneter Mund. Schreckensbleich ſehen
die Umſtehenden ſich an — da nimmt ein Herr ſeinen Hut ab,
wirft ein Zweimarkſtück hinein, und flugs öffnen ſich die Herzen
und die Geldtaſchen der anderen und alles drängt ſich, fith an
dem Liebeswerke zu beteiligen. Die Silberſtücke fliegen in den
Hut des Barmherzigen, der die Situation ſo richtig erfaßt, und
im Nu iſt eine erkleckliche Summe beiſammen. Aber der Herr
thut fein Liebeswerk nicht bloß halb; er winkt einer Drojchle
und bringt die Aermſte, die nur blöde um ſich ſchaut und kaum
im ſtande iſt, ihre ferne Wohnung anzugeben, und ſtumpfſinnig
auf den ihr in die Schürze geknüpften Schatz niederſchaut, in
das nächſte Krankenhaus — das heißt, er fährt mit ihr außer
Sichtweite des weiterflutenden hilfreichen Publikums, läßt halten
und im nächſten Hausflur nimmt der erfindungsreiche Sohn mit
cyniſchem Lachen der wieder munter gewordenen Alten den Raub
ab, ihr einen Thaler überlaſſend, und wandelt erhobenen Haup⸗
tes in eine Weinkneipe, um dort zu dinieren. —
Ein kleines, ſauber gekleidetes Mädchen läuft, bitterlich
ſchluchzend und ſuchend, einen Teil der Friedrichſtraße auf und
ab. Einzelne werden aufmerkſam, endlich fragt eine Dame,
was ihr fehle oder was ſie ſuche. Sie ſollte dem Hauswirt,
der in der K.⸗Straße wohne und der die kranke Mutter exmit⸗
tieren laſſen wolle, einen Teil des ſchuldigen Mietszinſes,
zwanzig Mark, bringen. Die Mutter habe das Letzte, was ſie
noch vom Vater von früher her gehabt, die goldene Uhr des
228 Manniafaltiges.
Verſtorbenen, verſetzt, und nun habe fie das Geld verloren. Auch
hier bleiben Spaziergänger und geſchäftig Dahineilende ſtehen.
Die Dame greift in ihr Portemonnaie und giebt der Kleinen mit⸗
leidig einen Thaler; ſie erzählt das eben Vernommene den
Umſtehenden; die eben noch nur Neugierigen beteiligen ſich in
ſpontaner Aufwallung an der freundlichen Spende, und in kurzer
Zeit hält die Kleine, deren Thränen immer noch reichlich fließen,
in der krampfhaft geſchloſſenen Hand den gleichen Betrag in
Silber, den ſie ſoeben in Gold verloren, und noch etwas mehr,
und eilt nach haſtig geſtammelten Dankesworten von dannen, den
Hartherzigen zu befriedigen — d. h. in einer der nächſten Straßen
wartet ihrer „die kranke Mutter“, entreißt ihr mit höhniſchem
Grinſen das Geld und ſendet das Kind, ihm mit Schlägen
drohend, wenn es ſich dumm benehme, nach dem Süden oder
Norden der Stadt, um hier die gleiche Komödie aufzuführen.
Auch dieſer Krug geht zu Waſſer, bis er bricht — aber welch ein
Keim wird in ſolch eine junge Menſchenſeele von der eigenen
Mutter hineingelegt! —
Iſt das Wetter ſchön, ſo gelingt es den oben erwähnten
Bettlerpatrouillen nur ſelten, eines „Hausbettlers“ habhaft zu
werden, und gerade dieſe ſind häufig eine Plage und eine große
Gefahr namentlich der im Parterre wohnenden Familien. Nicht
allein, daß ſie häufig frech werden, wenn das ihnen gereichte
Almoſen nach ihrer Anſicht zu ſpärlich ausfällt, ſie baldowern
auch oftmals bei ihren Rundgängen günſtige Gelegenheit zu
Diebſtählen und Einbrüchen, ja Ueberfällen aus. Bei öfteren
Gängen erfahren ſie leicht, wann der Hausherr ausgegangen
und die Hausfrau oder die Kinder allein, oder gar niemand zu
Hauſe iſt. Weht dagegen ein eiſiger Wind über das unendliche
Häuſermeer, oder öffnet der Himmel ohne Aufhören ſeine Schleuſen,
dann fallen bei jedem Rundgang den Patrouillen zahlreiche Bettler
in die Hände. Der Grund iſt ein ſehr einfacher: bei ſchönem
Wetter nächtigt es ſich herrlich bei „Mutter Grün“, in den
Schauern der Regenböen iſt dies Vergnügen aber ein zweifel⸗
haftes. Bei ſeiner Siſtierung in letzterem Falle giebt der er⸗
tappte Bettler dem Beamten und auf der Wache einen falſchen
Namen an; natürlich muß er, da dies ſehr bald feſtgeſtellt wird,
Manniafaltiges. 229
eingeliefert werden. Vor dem Unterſuchungsrichter ftreitet der
Menſch zuerft, überhaupt gebettelt zu haben, dann erklärt er,
direkt aus Oſtpreußen oder Polen zugewandert zu ſein. Bis nun
von dort die Nachricht eintrifft, daß der Kerl gelogen, muß er in
Unterſuchungshaft bleiben. Dies bedeutet aber für ihn: bei ſeiner
Einlieferung ein warmes Bad und Säuberung ſeiner Kleidungs⸗
ſtücke durch Dampf, warmes Eſſen und warmes Lager, und keine
Arbeit! Sowie dann die Sonne wieder in ſein vergittertes
Fenſterchen hineinlacht und die Schwalben luſtig zwitſchernd
vorüberziehen, läßt er ſich ſofort dem Unterſuchungsrichter vor⸗
führen und erklärt, nunmehr die Wahrheit ſagen zu wollen.
Da er ſie nun bei dem köſtlichen warmen Wetter auch wirklich
ſagt, ſo muß man ihn ſofort entlaſſen, denn die durch ſeine
Bettelei und Schwindelei verwirkte geringe Strafe muß ihm
auf die Unterſuchungshaft angerechnet werden.
Zum Schluſſe ſei noch kurz bemerkt, daß auch die Bettler eine
ſtändige Börſe haben. Hier ſind auf Stunden, Tage und Wochen
unglückliche, mit allerhand Gebrechen behaftete oder verkrüppelte
Kinder zu vermieten. Je erbärmlicher ein ſo bejammernswertes
Geſchöpfchen ausſieht, je kläglicher es wimmert — deſto mehr
wird es begehrt, deſto höher ſteigt ſein Wert bei den vertierten
Eltern, die, das Kind mit ſeiner neuen Pflegemutter allen Un⸗
bilden der Witterung ausſetzend, den Sündenlohn auf der Börſe
oder in einer anderen Kneipe verjubeln. Hiergegen iſt die Polizei
faſt machtlos, aber gottlob hat die Aufmerkſamkeit der Berliner
Behörde es abſolut verhindert, daß auf dieſer Börſe, wie in an⸗
deren Weltſtädten, Krüppel zum Zweck der Vermietung erſt her⸗
geſtellt werden.
Ein ingeniöſer Kopf, der im Begriff iſt, ſich ein Vermögen
zu erwerben, iſt auf den Gedanken gekommen, ein „Bettler:
adreßbuch“ herzuſtellen und die Durchſicht der einzelnen Abtei⸗
lungen desſelben — es ſind etwa fünfzig — auf je fünf Minuten
zu vermieten. Die Preiſe der einzelnen Abteilungen variieren
zwiſchen fünf und fünfzig Pfennig pro fünf Minuten. Ich habe
ſeiner Zeit in dieſes Adreßbuch durch die Liebenswürdigkeit
eines „alten Freundes“, eines Zuchthäuslers, der in ſeinen
Mußeſtunden auch gebettelt und dabei, wie ich vorhin erwähnt,
230 Manniafaltiges.
alles nur mögliche ausbaldowert hat, Einblick nehmen können.
Es iſt ſehr ſinnreich hergeſtellt, nach Straßenzügen, und auf den
einzelnen Blättern genau fixiert, ob, was und wieviel in ein⸗
zelnen Familien verabreicht wird. Ob Geld, ob nur „Stullen“,
wer am meiſten giebt, der Mann oder die Frau, wann erſterer
zu Haus iſt und zu welcher Zeit er die beſte Laune hat. So
ſtand hinter dem Namen eines meiner Bekannten: „jiebt nach⸗
mittags bis fufzig Pfennig, läßt aber davor acht Paar Stiebeln
und Schuhe putzen.“ Hinter meinem Namen war angeführt: „am
beſten, wenn er jejeſſen hat un noch nicht ſchlafen duht, um fünfe;
jtebt immer zehn Pfennige un Eſſen; die Frau keen Geld und
bloß eene jeſchmierte Stulle!“ Je nachdem nun der Fechtbruder
zahlt, erhält er eine Abteilung, ſchreibt ſich aus dieſer ſo viel
Namen und Wohnungen ab, als er in der kurzen Zeit vermag,
und begiebt ſich dann auf die Wanderung. Aus dem Buche geht
hervor, daß es nicht immer die vornehmſten Viertel und Häuſer
ſind, in denen am meiſten gegeben wird. Th. Gandert.
Eine wertvolle Bibliothek. — Bevor Napoleon I. nach Ruß:
land zog, beſchied er den Generalpoſtmeiſter Lavalette, einen
Mann, zu dem er unbedingtes Vertrauen hatte, zu ſich und über—
gab ihm eine Anweiſung auf 1,600,000 Franken mit dem Be⸗
fehle, dieſen Betrag zu beheben und betreffs deſſen Verwendung
weitere Ordre abzuwarten. Anfangs war es nicht ſchwer, dieſem
Befehle zu entſprechen, ſpäter aber, als ſich infolge der Nach—
richten über das große Unglück, das die franzöſiſche Armee in
Rußland getroffen, in Paris eine höchſt bedenkliche Stimmung
gegen den auf dem Rückzuge aus Moskau befindlichen Kaiſer
bemerkbar machte, mußte Lavalette beſorgen, der ihm anver—
trauten Summe, die er als perſönliches Eigentum Napoleons
betrachtete, irgendwie verluſtig zu werden. Der Beſitz des Geldes
bereitete dem gewiſſenhaften Manne daher manche ſchlafloſe Nacht.
Er fürchtete namentlich den Finanzminiſter, der das Geld nahm,
wo er's eben fand, und ſann, wie er den Schatz des Kaiſers
möglichſt ſicher verwahren könnte. Endlich verfiel er auf den
Gedanken, ſich Holzkäſtchen machen und dieſelben ſo ausſtatten
zu laſſen, daß ſie vollkommen jenen Quartbänden glichen, aus
denen ſeine Amtsbibliothek beſtand. In jedem dieſer Käſtchen —
Manniafaltiges. 231
es waren deren im ganzen 54 — brachte er 30,000 Franken
unter und miſchte dieſe „Bücher“ unter die anderen auf den
Regalen befindlichen Bände. Niemand hatte eine Ahnung von
der Koſtbarkeit dieſer Bibliothek, und Lavalette konnte dem Kaiſer
nach deſſen Rückkehr melden, daß ſein Eigentum unangetaſtet ge⸗
blieben ſei.
„Ich habe nichts anderes erwartet,“ entgegnete Napoleon.
„In Ihrer Hand iſt alles ſicher und deshalb bitte ich Sie, auch
ferner der Hüter meines Schatzes zu ſein. Die Zeiten ſind un⸗
ruhig, ich muß wieder fort, und wer weiß, wann ich wiederkehre.
Indes — ich wiederhole es — das Geld bleibt in Ihrer Ver⸗
wahrung.“ |
Dagegen war nichts zu machen. Lavalette mußte fih be:
quemen, Napoleons Eigentum auch ferner zu hüten, und er
that's während der Wirren und Stürme der Jahre 1813 und
1814, er that's auch nach der Abdankung des Korſen, und war
ſo glücklich, demſelben nach deſſen Rückkehr von Elba (1815)
die 54 Bände mit je 30,000 Franken Inhalt unverſehrt über⸗
geben zu können. Napoleon war außerordentlich erfreut und
hat mit Hilfe der koſtbaren Bibliothek Lavalettes, reſpektive der
darin ſteckenden 1,600,000 Franken, ſeine Herrſchaft noch einmal,
allerdings nur für kurze Zeit, befeſtigt. N. M.
Das größte Geweih der Erde. — In den Geweihſamm⸗
lungen der fürſtlichen Jagdſchlöſſer Europas befindet ſich manch
ſeltenes und gewaltiges Stück, aber das größte Geweih der Erde
iſt gegenwärtig im Beſitz eines Amerikaners — die ja bekanntlich
von allem ſtets das Größte haben müſſen —, und zwar wurde
es erſt in jüngſter Zeit erbeutet, nämlich im Oktober 1897. Es
iſt das Geweih eines kanadiſchen Elentieres oder Elches. Dieſer
gewaltigſte Vertreter aus der Familie der Hirſche, der einſt auch
in ganz Nord⸗ und Mitteleuropa vorkam, findet ſich noch zahl⸗
reich im Nordweſten Kanadas. Er erreicht eine Länge von
2,9 Meter, eine Höhe von 1,9 Meter und wird bis 300 Kilo⸗
gramm ſchwer. Das Geweih beſteht aus einer großen, ſehr aus⸗
gebreiteten, dreieckigen, glatten Krone, die am Rande mit zahl⸗
reichen Zacken beſetzt iſt und auf kurzen, dicken, gerundeten
Stangen getragen wird. Das ungeheure Geweih jenes Elen⸗
232 Manniafaltiges.
Geweih eines kanadischen Elentieres, das grösste der Erde.
Nad einer Photographie.
tieres, das unſere Abbildung zeigt, hat eine beſondere Geſchichte.
Bereits ſeit mehreren Jahren erzählten die Indianer um Fort
Manniafaltiges. 233
Selkirk an der Mündung des Stewartfluſſes von einem Rieſen⸗
elch, der allen Nachſtellungen der Jäger trotzte, weshalb ſie ihn
für ein Zaubertier hielten, das von dem Geiſte eines verſtorbenen
tapferen Kriegers bewohnt werde. Sie gaben daher in aber⸗
gläubiſcher Furcht alle Verfolgungen des Tieres auf. Ein Halb⸗
blutindianer, der der Pelzgeſellſchaft als Trapper diente, erlegte
es endlich, nachdem er es vier Tage verfolgt hatte. Das un⸗
geheure Geweih, deffen Durchmeſſer 6 Fuß 6 ½ Zoll engliſch,
alſo etwas über 2 Meter beträgt, hat vierzig Zacken oder Enden,
wie der Jäger jagt. Es wurde im Sommer 1898 den Pukon⸗
fluß hinab nach Tacoma im amerikaniſchen Territorium Waſhing⸗
ton geſandt, woſelbſt es der Pelzhändler W. F. Sheard kaufte,
in deſſen Händen ſich dieſe einzigartige und herrliche Jagd⸗
trophäe noch gegenwärtig befindet. F. 3.
Der Konſul und ſein Pfeifer. — Gajus Duilius erfocht
als Konſul im erſten Puniſchen Krieg (264—241 v. Chr.) mit
der erſten römiſchen Kriegsflotte den großen Seeſieg der Römer
bei Mylä an der Nordküſte von Sizilien über die Karthager.
Duilius hatte eine Kriegsmaſchine erfunden, die ſich auf das
vortrefflichſte bewährt und nicht zum wenigſten dazu beigetragen
hatte, einen ſo glänzenden Sieg zu erringen. Bei ſeiner Rück⸗
kehr erwartete ihn ganz Rom vor den Thoren und führte ihn
im Triumph zum Kapitol, wo der Senat ſeiner harrte.
Als er dort erſchien, verkündete ihm der Senat, daß er ihm
zur Belohnung ſeines Sieges eine Auszeichnung zugedacht habe,
die ſeinem Stolze ungemein ſchmeicheln würde; er ſolle nämlich
niemals ſeine Wohnung verlaſſen, ohne daß ihm ein Muſiker
voranginge, der unter Pfeifenklang der Menge verkündete, daß
derjenige, welcher ihm folge, „der berühmte Duilius, der Be⸗
ſieger der Karthager“ ſei.
Duilius war über dieſe Ehre ungemein glücklich. Er kehrte
in ſeine Behauſung zurück, begleitet von dem Pfeifer, welcher
mit lauter Stimme verkündete, wer er ſei, und jubelnd ſchrie
das Volk: „Es lebe Duilius, der Befreier Roms!“ Der Konſul
war trunken vor Entzücken, und mehrmals verließ er ſeine
Wohnung, wenn er auch außerhalb derſelben nichts zu thun
hatte, nur um ſich der ruhmvollen Auszeichnung zu erfreuen.
234 Mannigfaltiges.
So ging alles vortrefflich bis zum Abend. Der Konſul
hatte nämlich eine Braut, die er anbetete und nach deren An⸗
blick ihn verlangte. Als ſeine Sanduhr die ſechſte Stunde ver⸗
kündete, ſchickte er ſich an, den Palaſt zu verlaſſen, um ſich
unbemerkt zu ſeiner Braut zu begeben. Er hatte aber die
Rechnung ohne ſeinen Pfeifer gemacht. Kaum hatte er die Straße
betreten, als auch ſein Pfeifer, der beſtändig in ſeinem Dienſt
war und ſein Hinaustreten aus der Pforte gewahrt hatte, ihm
voraneilte und unter hellem Pfeifenton mit lauter Stimme ver⸗
kündete: „Seht her, hier kommt der Konſul Duilius, der Be—
freier Roms!“ Wer noch auf den Straßen war, hemmte feine
Schritte und ſtarrte den Ruhmgekrönten an; alle Fenſter und
Hausthüren thaten ſich auf, kurz, die ganze Bevölkerung des
Stadtviertels kam auf die Beine und jubelte und ſchrie: „Es
lebe Duilius, der Befreier Roms!“
Das war nun ſehr ſchmeichelhaft für ihn, aber auch ſehr be—
läſtigend. Der Konſul gebot ſeinem Pfeifer, zu ſchweigen; dieſer
aber entgegnete, daß er viel zu ſtrengen Befehl von dem Senat
erhalten habe und daß er pfeifen und rufen würde, bis ihm
der Atem ausginge. Aus dem erwünſchten Stelldichein bei
der Geliebten konnte unter ſolchen Umſtänden natürlich nichts
werden. Verzweiflungsvoll kehrte der Gefeierte in ſeinen Palaſt
zurück.
Während der nächſten Abende wiederholte er ſeine Verſuche,
unauffällig zu ſeiner Braut zu gelangen, allein auch dieſe
ſchlugen fehl und er kam ganz auper fih, niemals fein Xn-
fognito bewahren zu können. Da begab er fih kurze Zeit dar:
auf wieder nach Sizilien, wo er ſeinen Zorn an den Karthagern
ausließ und ſie noch einmal ſchlug und zwar ſo tapfer, daß man
glaubte, es ſei mit den puniſchen Kriegen auf immer zu Ende.
Rom war vor Freude außer ſich, und man beſchloß, den Sieger
auf noch glänzendere Weiſe zu empfangen als das erſte Mal.
Der Senat verſammelte ſich und ſaß darüber gerade zu Rate,
als man plötzlich den durchdringenden Schall der Pfeife und
das Jubelgeſchrei des Volkes vernahm. Es war der Sieger, der
früher, als man erwartet hatte, heimkehrte. Vor den Senat
geführt, vermutete er den Grund der Beratung; raſch trat er
Mannigfaltiges. 235
vor und ſprach: „Ihr Väter Roms, nicht wahr, ihr beratſchlaget
miteinander, welche Ehren mir zu teil werden ſollen?“
„Wir möchten,“ lautete die Antwort, „dich gern zu dem
Glücklichſten der Sterblichen machen.“
„Wohlan,“ ſprach Duilius, „wollt ihr mir das gewähren,
was ich am meiſten wünſche?“
„Sprich, ſprich,“ rief der ganze Senat wie mit einer
Stimme, „beim Jupiter, was du verlangſt, es ſoll dir gewährt
werden!“ |
„Gut, ihr Väter Roms,“ entgegnete der Konful, „nehmt mir
zur Belohnung dieſes meines zweiten Sieges den verwünſchten
Pfeifer wieder ab, den ihr mir als Auszeichnung für den erſten
verliehen habt!“ E. T.
Sonderbare Münzennamen. — Die Verſchiedenheit der
Münzen in Deutſchland und den angrenzenden Ländern war,
ſowohl der Form wie dem Feingehalte nach, zur Zeit des Dreißig:
jährigen Krieges — es gab damals mehr als zweitauſend prä⸗
gende Münzherren — eine ſehr große.
Daher kam es auch, daß die Benennungen dieſer Münzen
oft ſehr ſonderbare waren und letztere Namen erhielten, die
ihnen häufig der Volkswitz beizulegen pflegte. So wurden
mehrere Scheidemünzen in Schleſien und Böhmen des ſchlecht
geprägten ſchleſiſchen Adlers wegen, und eine kleine ſächſiſche
Münze (Halle) des äußerſt undeutlich und ſonderbar geprägten
hl. Moritz halber „Fledermäuſe“ genannt.
Silbermünzen, welche am Rhein (in Jülich, Kleve u. ſ. w.)
im Verkehr ſtanden und auf der Kehrſeite einen Reiter mit zu⸗
rückgeſtrecktem Schwerte aufwieſen, hießen allgemein „Schnapp:
hähne“ (Raubritter).
„Knackkuchen“ nannte man in Oſtfriesland die rheiniſchen
Goldgulden, weil das Münzenbild einem oſtfrieſiſchen Backwerke
gleichen Namens ähnlich war.
„Seufzer“ wiederum hießen diejenigen Sechſer, welche
1709 mit den Stempeln von 1701 bis 1703 geprägt wurden,
zur Zeit, als der König von Schweden, Karl XII., Sachſen als
eroberte Provinz beſetzt hielt. Sie hatten ſo ſchlechtes Gepräge,
namentlich ſo geringen Feingehalt, daß gleichſam jedermann zu
236 Manniafaltiges.
feufzen pflegte, wenn er gezwungen war, diefe Münzen als Be:
zahlung anzunehmen, daher der Name.
Bei manchen dieſer Münzennamen iſt ihre Herleitung nicht
bekannt geworden, wie z. B. bei den „Stockfiſchgulden“, einer
braunſchweigiſchen Spott⸗ oder Stachelmünze des Herzogs Julius
vom Jahre 1612 und 1614, welche auf der Hauptſeite einen
Stockfiſch aufwies mit der Umſchrift „Non nisi contusus“, auf
der Rückſeite aber die Umſchrift: „Wan mans Stockfiſchs ge⸗
nießen ſol, muß man ihn zuvor klopfen wol. So findet man
viel fauler Leut, die nichts thun, wenn man ſie nicht blewt.“
Ebenſowenig bekannt iſt die Urſache, warum die kleinen
Silbermünzen im Kleveſchen und Kölniſchen „Fettmännchen“
oder „Fettmängel“ hießen.
Häufig ſind die Benennungen auf die Prägebilder der Münzen
zurückzuführen, wie bei den „Brillenthalern“ und den „Licht⸗
thalern“ auf die Brille beziehungsweiſe das Licht, welche der
„wilde Mann“ auf dem braunſchweigiſchen Wappen in den
Händen hält; ferner bei den verſchiedenen „Bettlerthalern“
auf das Bild des hl. Martin, welcher dem Bettler ein Stück
ſeines Mantels abgiebt; bei dem hamburgiſchen „Neidthaler“,
auf deſſen Hauptſeite die Darſtellung des vom Neide angefallenen
Glückes zu bemerken iſt. Hierher zählen auch die heſſiſchen
„Schweinsdukaten“, welche zu den Weidmann: oder Jagd⸗
thalern gehören, deren Reihen ebenſo ſchöne als ſeltene Stücke
aufweiſen; die genannten Goldmünzen mit dem Bilde eines
Wildſchweines auf der Rückſeite ließ Landgraf Ludwig VIII. um
das Jahr 1470 ausprägen; ſie dienten gleich den „Hirſch—
dukaten“ als Jagdprämien.
Weiter find in dieſem Cyklus zu bemerken die „Gluck⸗
hennenthaler“ der Stadt Baſel vom Jahre 1691 mit dem
Bilde einer Gluckhenne und ſechs Küchlein; die „Bremſen⸗
thaler“ der Stadt Lübeck vom Jahre 1537, welche eine Bremſe
aufwieſen; die böhmiſchen „Eulendukaten“ von 1712 bis
1715; die „Schafträger“ und „Schafe“, „Bockspfennige“ u. v. a. m.
Manche Münzen wiederum wurden nach der Umſchrift be⸗
nannt, wie der „Makelosthaler“ der Königin Chriſtine vom
Jahre 1665. Das Wort „makelos“ hielt man für griechiſch,
Manniafaltiges. 237
und feine Entzifferung hat anfangs viel Kopfzerbrechen gemacht,
bis man auf die nächſtliegende Deutung des deutſchen Wortes
„makellos“, rein, ohne Fehl und Tadel, kam.
Sehr zahlreich ſind die Prägungen, welche ihre merkwürdigen
Benennungen von beſonderen Ereigniſſen herleiten und häufig
gleichfalls auch darauf bezügliche Münzenbilder aufweiſen, wie
die „Heuſchreckenthaler“ vom Jahre 1693; die „Faßthaler“
vom Jahre 1664, auf den Bau des berühmten Heidelberger Faſſes
Bezug nehmend, deren es mehrere gab; auf jeder dieſer Prägungen
war aus der Umſchrift zu leſen, daß das genannte Faß 204 Fuder,
5 Ohm und 4 Viertel Wein halte. Ferner die „Kometen⸗
thaler“ der Stadt Straßburg vom Jahre 1681, durch welche
man den Verluſt der Reichsfreiheit beklagte und das Unglück
mit einem kurz vorher ſichtbar gewordenen Kometen in Verbin⸗
dung brachte.
Hierher zählen ferner die preußiſchen „Schiffthaler“ vom
Jahre 1750; die „Scharfrichterpfennige“, hamburgiſche
Denkmünzen, welche jährlich beim Rücktritte des älteſten Richters
von ſeinem Amte durch den Scharfrichter überreicht wurden; die
„Luftpumpenthaler“ von 1702, „Eheſtandsthaler“ von
1669, die verſchiedenen „Eintrachtsthaler“ u. a. m.
Zu erwähnen ſind endlich die verſchiedenen Münzen, welchen
der Aberglaube merkwürdige Namen beilegte, wie die „Sarg⸗
pfennige”, „Rabendukaten“, „Fraiſchlemspfennige“,
„Heckmünzen“ u. ſ. w. G. B.
Die Amgebung des Dauphins. — Sobald in Frankreich
früher ein Kronprinz geboren wurde, übergab man ihn den Frauen
des für ihn gebildeten Hauſes. An der Spitze dieſes Hauſes
ſtand die Gouvernante, eine Dame vom höchſten Range, der eine
oder mehrere Untergouvernanten beigegeben waren. Des Prinzen
Amme, dem Range nach eine Kammerfrau, hatte ihre eigene
Gouvernante, welche nicht nur die von der Amme zu genießen⸗
den Speiſen, ſondern überhaupt ihre ganze Lebensweiſe beauf: |
ſichtigte. Außerdem gehörten zu des Dauphins Hauſe acht oder
neun Kammerfrauen, zwei Kammerdiener, zwei Garcons de la
chambre, eine Wäſcherin, eine Küchenfrau, ein Arzt und ein
Silberdiener.
238 Mannigfaltiges.
Nach zurückgelegtem dritten oder vierten Jahre wurde dem
Prinzen ein Präzeptor beigegeben, der ihn im Leſen und in der
Religion zu unterrichten hatte. Mit ſieben Jahren wurde er der
Aufſicht der Frauen entnommen. Er erhielt einen Gouverneur,
der entweder ein Marſchall oder ein Herzog und Pair von
Frankreich war, zwei Untergouverneure, einen Präzeptor, zwei
Gentilhommes de la Manche, die jeden ſeiner Schritte begleiteten,
einen Beichtvater, drei oder vier Kammerdiener, drei Garcons
de la chambre, zwei Kammerportiers, einen Wundarzt, einen
Büchſenſpanner, einen Barbier, einen Tapezier, einen Kürſchner,
einen Maultierkapitän, vier Garderobediener, eine Wäſcherin,
Schreibe⸗, Zeichnen⸗, Fedt- und Tanzmeiſter u. f. w., fo daß der
Siebenjährige über ein ganzes Heer von Dienern zu gebieten
hatte. W. H.
Die Rofkehl-Anolis. — Zu den anmutigſten Eidechſen
gehören die in Nordamerika weit verbreiteten Rotkehl⸗Anolis,
etwa 25 Centimeter lange Tierchen, mit grüner Ober-, weißer
Unterſeite, roter Kehle und ſchwarz punktiertem, ſehr langem und
ſchlankem Schwanz. In der Erregung wechſelt ihre Farbe von
Grünlichgrau durch Dunkelgrau und Braun in allen Sdjattie-
rungen bis zum glänzendſten Grün. Da die Eidechſen höchſt
dreift und zutraulich find, und in Nord- und Südkarolina, wo
ſie am häufigſten vorkommen, ſogar in den Gärten auf der Jagd
nach Inſekten Stühle und Tiſche erklettern, ohne der Wnwefen:
heit der Menſchen zu achten, eignen ſie ſich auch vorzüglich als
Inſaſſen des Terrariums, und man hat dann in der Beobad):
tung ihres Thuns und Treibens ſeine wahre Freude an ihnen.
Eine engliſche Dame, Liebhaberphotographin, die ein Terrarium
mit einer ſolchen Rotkehl-Anoli beſitzt, hatte ſchon öfters bemerkt,
wie die muntere Eidechſe ſich in Momenten der Beſchaulichkeit
mit ſichtbarem Vergnügen an der Naſe kratzte oder kitzelte, wozu
ſie ihren langen Schwanz benutzte, und es gelang ihr kürzlich,
das Tierchen in dieſer ſonderbaren Stellung, in der unſer Bild
es zeigt, aufzunehmen. Wäre unſere Illuſtration nach einer
Zeichnung gemacht, ſo würde man dem Zeichner vielleicht vor⸗
werfen, daß er ſeiner Phantaſie zu ſtark habe die Zügel ſchießen
laſſen, aber die photographiſche Platte kann ein ſolcher Verdacht
Mannigfaltiges. 239
nicht treffen, und die Momentaufnahme bildet daher eines der
merkwürdigſten und zugleich komiſcheſten Beiträge zum Leben der
intelligenteren Tierwelt, dem wir, faſt ausſchließlich mit unſeren
Rotkehl-Hnoli, sich mit der Schwanzspitze die Dase kitzelnd.
eigenen Angelegenheiten beſchäftigt, noch immer nicht die Auf—
merkſamkeit ſchenken, die es in jeder Hinſicht verdient. F. 3.
Ein beherzter Diplomat. — In früherer Zeit, als die
türkiſchen Kaiſer oder Sultane noch mächtiger waren als heute,
verletzten ſie nicht ſelten die ſchuldige Achtung gegen die Ge—
240 Mannigfaltiges.
ſandten fremder Monarchen. Ein ſolcher Vorfall ſpielte ſich einſt
vor dem Sultan Soliman ab, der den Geſandten des deutſchen
Kaiſers Karl V. wohl empfing, ihn aber ganz unbeachtet ſtehen
ließ. Sobald der Geſandte die Ueberzeugung gewonnen hatte,
daß es nicht Vergeßlichkeit, ſondern ſtolze Abficht war, ihn zu
kränken, weil man ihm nicht, wie die Etikette es vorſchrieb, einen
der niedrigen Sitze hinlegte, um ſich, wie die anderen anweſen⸗
den Geſandten bereits gethan, darauf niederlaſſen zu können,
nahm er raſch entſchloſſen feinen koſtbaren Mantel ab, warf ihn
an den Boden und ſetzte fih darauf, als ob das ganz in Ord-
nung ſei. Nachdem er dann mit großer Geduld und Würde
ſich ſeines Auftrages entledigt hatte, empfahl er ſich, ohne jedoch
ſeinen koſtbaren Mantel mit fortzunehmen. Eilfertig erinnerte
man den Deutſchen an ſeinen Mantel, denn man glaubte, er
habe ihn vergeſſen, doch dieſer erwiderte kräftig und ſtolz: „Die
Geſandten des deutſchen Kaiſers, meines erhabenen Herrn, ſind
es nicht gewohnt, ihre Sitze wegzutragen!“ C. T.
Die Erbin. — Ein Advokat in Portsmouth erhielt aus
Amerika die Nachricht, daß ein Mann Namens Withers dort
geſtorben ſei und daß er ſeine in Portsmouth lebende einzige
Tochter Lucy Withers zur alleinigen Erbin ſeines mehrere hundert⸗
tauſend Dollars betragenden Vermögens eingeſetzt habe. Dieſe
Lucy Withers ausfindig zu machen, war der Auftrag des be⸗
treffenden Advokaten. Er nahm ſogleich die Hilfe der Polizei
in Anſpruch, ohne daß es jedoch gelungen wäre, durch ſie die
Erbin zu ermitteln. Durch ſeine ausgedehnte Praxis ſehr in
Anſpruch genommen, beauftragte er nun den Direktor eines
Detektivbureaus mit der Nachforſchung, und dieſer ſandte drei
ſeiner Leute ab, welche, jeder für ſich, nach der geſuchten Lucy
Withers forſchen ſollten.
Nach etwa drei Wochen erſchien der Direktor mit ſeinen drei
Agenten im Bureau des Advokaten. :
„Nun,“ fragte der letztere, „Sie haben wohl nichts aus⸗
gerichtet?“
„Im Gegenteil,“ erwiderte der Direktor, „meine Leute haben
nur zu viel gefunden. Jeder von ihnen hat eine Lucy Withers
ausfindig gemacht.“
Mannigfaltiges. 241
Der Advokat ſchüttelte erſtaunt den Kopf. „Haben die Agenten
ihre Findlinge denn nicht mitgebracht?“
„Nein, ſie haben ſie bei ſich zu Hauſe gelaſſen. Die prä⸗
ſumtiven Erbinnen ſind nämlich die Frauen meiner Agenten.“
„Welch unerhörter Zufall! Dieſe Frauen heißen doch nicht
alle Lucy Withers?“ |
„Allerdings heißen oder vielmehr hießen fie fo. Das Ratfel
erklärt ſich ganz einfach. Als meine Leute die Erbinnen gefunden
zu haben glaubten, heirateten ſie dieſelben auf der Stelle. Die
eine iſt Gouvernante auf einem Gute bei Portsmouth geweſen,
die zweite Köchin in einem Greenwicher Reſtaurant und die dritte
Nähterin in einem Hafenvorort — alle drei in Portsmouth ge⸗
bürtig.“
„Und doch keine die Rechte!“
Entſetzt ſchauten alle auf den Advokaten, der nun an ein
Sprachrohr trat und hineinrief: „Mr. Black ſoll kommen.“
Ein Mann mit einem langen ſchwarzen Bart trat ein.
„Die richtige Lucy Withers,“ erklärte der Advokat, „hat ſich
infolge eines Aufrufes in den Zeitungen inzwiſchen freiwillig
gemeldet. Hier ſteht fie.”
„Wie? Dieſer Mann hier? Das ſoll wohl nur ein Scherz ſein?“
„Nein, Herr Direktor, dieſer Mann iſt der Sohn der rich—
tigen Erbin, der im Alter von fünfzig Jahren verſtorbenen
Lucy Withers, die einen gewiſſen, ebenfalls nicht mehr lebenden
Mr. Black geheiratet hatte.“
Der Advokat konnte die Richtigkeit ſeiner Behauptungen mit
Schriftſtücken belegen, und die Agenten zogen mit dem nieder:
ſchmetternden Bewußtſein ab, durchaus keine reichen Erbinnen
geheiratet zu haben. M. Hd.
Die Belagerung von Gibraltar. — Eine Beſatzung von
nur drei Bataillonen Soldaten verteidigte die Feſtung Gibraltar,
als dieſe im Jahre 1782 von den ſpaniſchen und franzöſiſchen
Truppen zu Waſſer und zu Lande eingeſchloſſen, und der Stadt
und der Feſtung alle Zufuhr abgeſchnitten wurde. In einem Zeit—
raum von mehr als drei Jahren hatte man die umfaſſendſten An:
ſtalten zur Belagerung getroffen, die in den Annalen der Kriegs—
geſchichte immer eine der merkwürdigſten bleiben wird.
1900. III. 16
242 Mannigfaltiges.
Im Juni des Jahres 1782 kam der Herzog von Crillon,
oberſter Befehlshaber der ſpaniſchen Armeen, der eben die Inſel
Minorka von den Engländern erobert hatte, mit ſeinen Truppen
zur Verſtärkung vor Gibraltar an. Eine Armee von 30,000 Mann
ſtand am Fuße des Berges. Schwimmende Batterien, eine Er:
findung d'Arçons, ſollten die Eroberung vollenden. Sie waren
mit zwei Dächern ſo verwahrt, daß ihnen die Kugeln und Bomben
keinen Schaden zufügen konnten; es waren deren zehn, die zu—
ſammen 147 bronzene und 150 eiſerne Kanonen führten; zur
Bedienung jeder Kanone waren 36 Mann gerechnet.
Am 13. September 1782, morgens um 8 Uhr, näherten ſich
die ſchwimmenden Batterien der Feſtung, und die auf ihnen be—
findlichen Mannſchaften (aus Soldaten verſchiedener Art be—
ſtehend, denen man, wenn ſie ihre Schuldigkeit thun würden,
eine Penſion von je 200 Livres verſprochen hatte) fingen an
zu feuern. Der Kommandant Elliot, der ſchon längſt von dieſem
fürchterlichen Angriff wußte, war darauf bedacht geweſen, ihm
eine ebenſo fürchterliche Verteidigung entgegenzuſetzen; nur wußte
er anfangs kein Mittel, wie er die glühenden Kugeln, mit denen
er die Batterien nämlich zu begrüßen gedachte, in großer An—
zahl zubereiten laſſen ſollte. Allein ein deutſcher Nagelſchmied,
Schwänkendiek mit Namen, der ſich in der Feſtung befand, half
ihm aus der Verlegenheit, indem er einen Ofen erbaute, in
welchem die Kugeln glühend gemacht wurden.
Ueber 4000 derartig glühende Geſchoſſe regneten nun auf
die feindlichen Batterien und richteten die ſchrecklichſten Ber-
wüſtungen an. Schon am Nachmittag ſtieg der Rauch aus der
Hauptbatterie und zwei ſchwimmenden Fahrzeugen auf. Vergebens
gab die Mannſchaft auf denſelben der ſpaniſchen Flotte durch
Raketen Signale. Man konnte bei dem immer ſtärker werden—
den Kugelregen den Batterien nicht zu Hilfe kommen, und man
verſuchte deshalb nur die Mannſchaft zu retten.
Allein zwölf Kanonenboote, die aus der Feſtung unter dem
Kommando eines Kapitäns ausliefen, verhinderten die Boote
der Belagerer, zu den Ihrigen heranzukommen. Sie veranftalteten
zugleich ein vernichtendes Feuer auf die ſchwimmenden Batterien.
Bei Tagesanbruch ſah man, welchen unermeßlichen Schaden die
Mannigfaltiges. 243
Belagerten ihren Feinden zugefügt hatten, indem die Mann⸗
ſchaften der ſchwimmenden Batterien zum Teil auf Holzſtücken
in der See herumtrieben, zum Teil auf den brennenden Batterien
fürchterlich um Hilfe ſchrieen. l
Jetzt eilten die Belagerten ſelbſt, fo gefahrvoll dies auch war,
den unglücklichen Mannſchaften zu Hilfe, und Kapitän Curtis
rettete mit eigener und ſeiner Leute Lebensgefahr 13 Offiziere
und 344 Gemeine. | i
Noch blieb den Belagerern ein Hauptangriff von der Land:
ſeite übrig; allein auch dieſen vereitelte Gouverneur Elliot, und
da überdies ein Orkan großen Schaden an der ſpaniſchen Flotte
anrichtete, jo verwandelte ſich ſeit Mitte November 1782 die
Belagerung in eine bloße Einſchließung, welcher der am 20. Januar
1783 zu Verſailles unterzeichnete Friede ein Ende machte.
Für dieſe tapfere Verteidigung erhielt der Gouverneur Elliot
von ſeinem König den Bathorden und wurde zugleich zum Lord
Heathfield ernannt. Die drei Bataillone erhielten je eine Fahne
mit der Deviſe: „Mit Elliot Ruhm und Sieg!“, während jeder
Soldat eine ſilberne Medaille bekam, die Elliot mit Bewilligung
des Königs ſchlagen ließ. W. Stelljes.
Eine elektriſche Schreibmaſchine. — Auch die Schreib—
maſchine, die ſich bereits in allen größeren Comptoiren, Bureaus,
Agenturen u. ſ. w. einen Platz erobert hat, wird binnen kurzem
elektriſch betrieben werden können. Und zwar iſt es die rühm⸗
lichſt bekannte Blickensderfer Schreibmaſchine, welche als erſte
für elektriſchen Betrieb eingerichtet worden iſt; das Modell arbeitet
bereits in tadelloſer Vollkommenheit und ganz erſtaunlicher
Schnelligkeit. Wir wollen daher unſere Lefer mit der Blickens⸗
derfer Schreibmaſchine, die ſich durch Einfachheit, Bequemlichkeit
der Handhabung und Billigkeit auszeichnet, bekannt machen.
Das kleine Griffbrett dieſer Schreibmaſchine enthält 28 Taſten,
mittels deren man 84 Buchſtaben, Zahlen und Zeichen zu ſchreiben
vermag, die, galvanoplaſtiſch geformt, fich auf dem leicht aus-
wechſelbaren Typenrade befinden. Trotz ihrer Leichtigkeit ſind
dieſe Typenräder ſehr dauerhaft; man kann ſie ohne Zeitverluſt
gegen ſolche mit anderer Schriftart oder fremden Sprachen aug:
wechſeln. Die Taſten mit den Buchſtaben find entſprechend der
244 Mannigfaltiges.
Häufigkeit ihres Vorkommens in deutſcher Sprache derart an—
geordnet, daß die Bewegung der Hände auf das geringſte Maß
beſchränkt iſt und etwa 70 Prozent aller Schrift durch die unterſte
Taſtenreihe ausgeführt wird.
Die Schrift iſt ohne weiteres ſichtbar. Das Einfärben der
Typen geſchieht weder durch Farbband noch Farbkiſſen, ſondern
=A
u
a =
—
|
Elektrische Schreibmaschine,
wird jedesmal im Moment des Abdruckes durch eine kleine Farb:
rolle beſorgt, die bei Bedarf ſtets wieder friſch mit Farbe ge—
tränkt werden kann. Dadurch wird nicht allein eine ſchöne,
gleichmäßige Schrift erzielt, ſondern es vermindern ſich auch die
Unterhaltungskoſten. Die Herſtellung der Wortzwiſchenräume
erfolgt automatiſch, das heißt gleichzeitig mit dem Schreiben des
Endbuchſtabens der Wörter.
Der Tabulator, eine äußerſt ſinnreiche mechaniſche Vorrich—
tung, ermöglicht das müheloſe Schreiben von Zahlenkolonnen,
Tabellen und dergleichen Arbeiten. Stahlrollenlager verbürgen
einen beſonders leichten Gang des Papierwagens und tragen zur
Erhöhung der Schreibgeſchwindigkeit weſentlich bei. Durch eine
automatiſche Zeileneinſtellvorrichtung iſt ein Abbrechen vermieden,
Mannigfaltiges. 245
da es nur eines einfachen Zurückſchiebens des Wagens bedarf,
um ſofort mit dem Schreiben in der neuen Zeile fortfahren zu
können. Da das Typenrad ſelbſt ſchlägt (der Abdruck alſo nicht,
wie bei anderen Syſtemen, durch einen beſonderen Hammer
erzeugt wird), können auf der Blickensderfer auch Durchſchlag⸗
kopien in größerer Anzahl angefertigt werden. Endlich hat die
Maſchine an beiden Seiten Vorrichtungen zum Einſtellen der
Randbreite, ſo daß wohl links wie auch rechts der Rand beliebig
bemeſſen und verſtellt werden kann. Die Schriftſtücke laſſen ſich,
außer durch Durchdruck, auch mittels des Mimeographen, Cyklo⸗
ſtyle und ähnlicher Apparate vervielfältigen.
i Die Schreibmaſchinen gehören zu den ſinnreichſten und
nützlichſten Erfindungen der jüngſten Zeit. Ihr einziger Nach⸗
teil, der ziemlich ſtarke Druck, den ſie bisher im Handbetrieb
mit Fingerſpitze oder Ballen erforderten, wird durch die Cin:
führung des elektriſchen Betriebs beſeitigt. Es iſt dann nur
noch ein leichtes Berühren der Taſten erforderlich und damit
der Sieg der Schreibmaſchine im Geſchäftsbetrieb über die bis—
her übliche Kurſivſchrift endgültig entſchieden, wodurch auch
der ſo ſehr gefürchtete Schreibkrampf hinfort gänzlich verſchwin⸗
den wird. F. 3.
Mediziniſche TrinkGeder. — Im 17. und 18. Jahrhundert
kam das metalliſche Antimon zur medizinischen Anwendung. Be:
achtenswert für die jetzigen Ankämpfer gegen die Trunkſucht
dürften die damals aus dieſem Metall hergeſtellten Trinkbecher
ſein. Dieſelben wurden dazu benutzt, um Perſonen, welche dem
Becher zu ſehr ergeben waren, den Geſchmack am edlen Reben:
blut zu verleiden. Ihnen wurde der Wein in ſolchen Bechern
gereicht; ſtand derſelbe mit dem Antimonmetall eine Zeitlang
in Berührung, ſo löſte die natürliche Säure des Weins etwas
vom Antimon auf, und es entſtand ein Brechwein, welcher in
dem Trinker Uebelkeit und Widerwillen gegen jegliches Trinken
erzeugte. Probatum est! — C. T.
Friedrich der Große in Paris. — Vor der erſten franzö—
ſiſchen Revolution wurde das Stück eines unbekannten Verfaſſers
„Die beiden Pagen“ oft am Théâtre Francais zu Paris auf-
geführt. Darin glänzte der Schauſpieler Fleury in der Rolle
ei — —
- — —
EE ii
246 Mannigfaltiges.
Friedrichs des Großen. Die Aehnlichkeit war eine ſo täuſchende,
daß Perſonen, die den König in ſeinen letzten Jahren geſehen
hatten, erklärten, Gang, Sprache, Blick, alle Eigentümlichkeiten
Friedrichs fänden in Fleury den täuſchendſten Nachahmer. Als
Prinz Heinrich, Friedrichs Bruder, nach Paris kam, war er bis
zu Thränen gerührt, als er auf der Bühne den Verſtorbenen,
wie er leibte und lebte, auftreten ſah. |
Diefe Maske Fleurys war berühmt. In der Schreckenszeit
der Revolution wurde er und die übrigen Mitglieder des ge-
nannten Schauſpielhauſes ins Gefängnis geworfen. Wenn er
dort auf dem ſchmutzigen Korridor den gleichfalls gefangenen
Herrn v. Perigord traf, fragte dieſer immer reſpektvoll: „Wie
befinden ſich Eure Majeſtät?“ Sofort nahm Fleury ganz das
Aeußere Friedrichs des Großen an und antwortete ganz in deſſen
Weiſe. 5 D.
Dreizehn zu Tiſche! — Das allgemeine Vorurteil, das gegen
dreizehn Perſonen bei Tiſche herrſcht, weil eine derſelben binnen
Jahresfriſt ſterben müſſe, iſt bekanntlich ſo allgemein verbreitet,
daß es nicht nur in Deutſchland, ſondern auch in Frankreich,
England, Amerika u. ſ. w. als Sitte beziehungsweiſe Unſitte
ſich vorfindet. Geht dieſes Vorurteil doch fo. weit, daß bei auf⸗
merkſamen Gaſtgebern ſtets und überall die „Sitte“ es als
Pflicht gebeut, dafür zu ſorgen, daß die fatale, mißbeliebte Zahl
vom Tiſche fernbleibt, um nicht bei irgend jemand Anſtoß zu
erregen oder eine unangenehme Empfindung zu erwecken, von
welcher ſelbſt der ſonſt Vorurteilsloſeſte ſich nicht immer ganz
frei fühlt. : |
Die aufmerkſamen Franzoſen haben deshalb in Paris vor.
etwa zwanzig Jahren ein eigenes Inſtitut der „Vierzehnten“ ge—
gründet, durch das man ſchnell, im letzten Augenblicke noch, nach
der erſchreckenden Entdeckung: „Dreizehn bei Tiſche!“ einen „Vier⸗
zehnten“ herbeiſchaffen kann. Selbſtverſtändlich muß „Monsieur
le Quatorze“, dieſer Vierzehnte alſo, ein guter Geſellſchafter,
ein Mann von Erziehung und feinen Manieren ſein. |
Praktiſcher zieht der freie Amerikaner gegen dieſes merk:
würdige Vorurteil zu Felde. Er thut dies teils durch einen
„Dreizehnerklub“, in welchem nur zu dreizehn geſpeiſt wird,
Mannigfaltiges, 247
teils auf arithmetiſchem Wege, den Miſter Harvey in Miſſouri,
ein Verſicherungsbeamter, einſchlug, indem er auf Grund der
Erfahrungen der Lebensverſicherung nachwies, daß die Mitglieder
einer aus dreizehn Perſonen beſtehenden Geſellſchaft ſämtlich
ſchon das ſiebzigſte Jahr hinter ſich haben müßten, um es wahr⸗
ſcheinlich zu machen, daß von dieſen dreizehn einer innerhalb
eines Jahres ſterben werde. Durch diefe auf Zahlen geſtützte
Annahme, die ferner lehrt, daß, ein Durchſchnittsalter von vierzig
Jahren angenommen, hundert Gäſte vorhanden ſein müßten, um
einen Todesfall pro Jahr mutmaßen zu laſſen, wird Harvey viel
dazu beigetragen haben, um den uralten Aberglauben gegen
die böſe Zahl dreizehn wirkſam auszurotten. | |
Wie lange derſelbe ſchon zurückdatiert und wo er eigentlich
herſtammt, darüber ſind ſelbſt die gelehrteſten Anſichten ver⸗
ſchieden. Schon die nordiſche Mythe erzählt, daß von den drei⸗
zehn Göttern in Walhall der eine, Baldur, ſterben mußte, und
eine ſehr natürliche Deutung erklärt, daß die auf eine ſo oft
und leicht teilbare Zahl wie zwölf folgende, unteilbare, un:
harmoniſche dreizehn ſehr unglücklich erſcheint, und daß man
nur durch Entfernung einer Einheit ihr wieder zur erwünſchten
Harmonie verhelfen könne. | K. R.
Die Teufelsſonate ift unter den gleichartigen Kompoſitionen
Giuſeppe Tartinis (1692— 1770) die berühmteſte. Warum ſie
dieſen Namen führt, und wie es kam, daß ſie eines ſeiner vor⸗
züglichſten Werke geworden iſt, darüber giebt uns der Meiſter
ſelbſt folgenden höchſt intereſſanten Aufſchluß: „Im Jahre 1713
träumte mir des Nachts einmal, ich habe einen Pakt mit dem
Teufel gemacht, der ganz zu meinem Gebote ſtand. Alles ging
mir nach Herzensluſt; meine Wünſche wurden mir von dem neu
angeſtellten Diener ſtets erfüllt, ja noch übertroffen. Es fiel
mir bei, ihm eine Violine in die Hand zu geben, um zu ſehen,
ob es ihm gelänge, hübſche Sonaten zu ſpielen. In welch Er—
ſtaunen geriet ich nun, als ich eine in ihrer Art fo unübertreff:
lich ſchöne Sonate zu hören bekam, daß ſich nichts damit ver:
gleichen ließ! Ich war ſo überraſcht und hingeriſſen, daß ich
faſt den Atem verlor. Die gewaltige Erſchütterung weckte mich,
gleich ergriff ich meine Violine und hoffte wenigſtens einen Teil
248 Ä Mannigfaltiges.
des ſoeben Gehörten wiederzufinden. Aber umſonſt — die So:
nate, welche ich damals komponierte, iſt zwar die beſte von
allen, und ich nenne ſie immer noch die Teufelsſonate, allein ſie
ſteht ſo weit unter demjenigen, was mich im Traum ergriffen
hatte, daß ich meine Geige entzwei geſchlagen und alle Muſik
für immer aufgegeben haben würde, wenn ich ohne ſie leben
könnte.“ J. D.
Eine angenehme Verwandlung. — Ein Unteroffizier von
der Garde Friedrich Wilhelms III., der ſchon mannigfache Proben
ſeiner Tapferkeit abgelegt, aber auch die Schwäche hatte, ſehr
eitel zu ſein, trug eine Uhrkette, an welcher in Ermangelung
einer Uhr eine Flintenkugel befeſtigt war. Der König erfuhr
dies und redete ihn eines Tages auf der Parade an: „Er muß
ſehr ſparſam ſein, daß Er ſich eine Uhr anſchaffen konnte. Wie
ſpät iſt's nach der Seinigen?“
„Majeſtät,“ erwiderte der Korporal und zog die Kugel ber:
vor, „die meine zeigt keine Zeit an, aber ſie ſagt mir, daß ich
jeden Augenblick bereit ſein ſoll, für Eure Majeſtät zu ſterben.“
Sofort zog der König ſeine eigene goldene, mit Edelſteinen
verzierte Uhr hervor und reichte ſie dem wackeren Krieger. „Da
nehme Er dieſe Uhr,“ ſagte er, „aber hebe Er ſich auch die
Flintenkugel auf, die ſo gute Geſinnungen gegen mich hervor—
gerufen hat.“ D. C.
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UNIV. SF MICHIGAN,
JUL 15 1912
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