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Stanford University Libraries
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Die „Biblivfhek der Anterhaltung und des
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nen, reich illuſtrierten Bänden mit Goldrücken
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A
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prachtvolles Olfarbendruckbild
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herſtellen laſſen und liefern dasſelbe allen Kunſtfreunden zum Subſkriptions⸗
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Bildgröße: 70 cm breit, 50 em hoch; Papiergröße 80 cm breit, 62 em hoch.
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Nachbildung ſiehe vorſtehend) würde im Kunſthandel weit mehr koſten.
Eine Beſprechung des Bildes befindet ſich auf Seite 239 des gegenwärtigen
Bandes. Auf die früher erſchienenen, auf beiliegendem Beſtellzettel ver⸗
zeichneten Kunſtblätter machen wir ebenfalls aufmerkſam.
2
Digitized by Google
-
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N un gung zum Preise von M. 1.— für die gespaltene Nonpareillezeile zum
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Art der Darſtellung hervorzuheben. Auch da wo rein faktiſches, trockenes Material
geboten wird, verſtehen es die Verfaſſer der einzelnen Abſchnitte, alles Langweilige und
Ermüdende zu vermeiden und den Leſer von der erſten bis zur letzten Seite in
Spannung zu halten. Das Buch kann daher nicht nur dem Techniker aufs
wärmſte empfohlen werden, jeder, der es in die Hand nimmt, wird auf
ſeine Koſten kommen pi auch für die fortgefägrittene Jugend dürfte es eine bore
nnch ich lehrreiche Lektüre abgeben. — Da das Werk auch ſehr gut ausgeſtattet
und mit vorzüglichen Abbildungen verſehen tft, fo wäre ihm nur zu wünſchen,
daß es ſich in der Bibliothek ſo manchen jungen Mannes vorfände (Frankfurter Ztg.)
die Geſundheil. 2 Ur Werden. =
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Ungarns, der Schweiz e von ar Dr. N. Roßmann n
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Ein reiches und inhaltſchweres Buch iſt hier geſchaffen. Die Namen erſter
Autoritäten finden ſich als Verfaſſer der 9 Kapitel und geben eine Gewähr dafür,
daß nur das Beſte gegeben wird. Gewiß wird der Laie aus dieſem Buche keine Medizin,
keine Heilkunde erlernen können. Das Buch ſoll und wird niemals den Arzt erſetzen,
aber es kann eine geſunde Grundlage geſchaffen werden für das Verſtändnis geſundheit⸗
licher Fragen, und damit kommen wir einem höchſt erwünſchten Ziele näher, nämlich
dem, daß auch die Laien lernen, hygieniſch zu denken und inſtinktiv hygieniſch zu han⸗
deln. Das iſt aber nur möglich, wenn die Kenntniſſe über die Gründe für ein der⸗
artiges Verhalten Gemeingut aller geworden ſind, und dafür zu wirken iſt auch dies
Werk e Es wäre wirklich dringend zu wünſchen, daß in jedem Hauſe ein
derartig groß angelegtes, in jeder Weiſe muſtergültig ausgeſtattetes
Werk eziſtierte und auch geleſen würde. (Der Tag.)
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Steckenpferd-
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Seife
vonBergmann& TC. RA DEREUL.
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0 örterbuch der deutschen Rechtschreibung. Bearbeitet von
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Bibliothek der
Unterhaltung
Ein —.—
Zu der Humoreske „Wie man heiratet“ von Friedrich Thieme.
(S. 87)
Originalzeichnung von Adolf Wald.
ibliothek der O
Unterhaltung
und des Willens
Mit Original- Beiträgen der
hervorragendſten Schriftſteller
S und Gelehrten
ſowie zahlreichen Zlluftrationen
Jahrgang 1910. Erſter Band
Union Deutſche Verlagsgeſellſchaft
:: Stuttgart, Berlin, Leipzig ::
Druck der
Union Deutfche
Verlagsgefellfchaft
in Stuttgart
Inhalts⸗Verzeichnis.
Seite
Willſt du dein Herz mir ſchenken — Roman
von Georg Hartwig (Emmy Koeppel ) 5
Wie man heiratet. Humoreske von Friedrich Thieme 66
Mit Bildern von Adolf Wald. N
Am engliſchen Königshofe. Von Alexander Eor-
Mane 192
Mit 11 Bildern. N
Die Hand der Barbara Uth. Novelle von F. C. Oberg 121
Hinter Gitterfenſtern. Von M. Elsner. . 171
Mit 11 Bildern.
Die unheimliche Braut. Humoreste von Hermann
Roemer „ Be ee, 8
Die Inhaberin der Weltmeiſterſchaft im Berg-
ſport. Von Rud. Hendrichs. 197
Mit 10 Bildern.
Mannigfaltiges:
Der Verlobungsring 214
Die Bedeutung des Errö tens. 216
Neue Erfindungen:
I. Der Handlöſcher „Alpha. . 219
Mit 2 Bildern.
II. Stopfapparat „Magie Weaver“. . 220
Mit Bild.
In der Zerſtreut heilt 222
Königin Viktoria von England als Klavierſchülerin 225
Entſtehende Sonnen . 224
Mit 2 Bildern.
Gerichtlich anerkanntes Geſpenſt. 227
Erdbeben auf Befehl! 228
4 Inhalts-Verzeichnis. 2
ET . — — — — —
Seite
Immer derſ elde 229
Ruſſiſche Bären jade 230
Mit Bild.
Schiffſpuren auf dem Meere . 2351
Eigenartige Wette . 233
Sprechende Kanarienvogel. 2234
Sprengung eines Schiffswrack. 254
Mit Bild.
Amtlich oder außeramtlic hh . 236
Moderne Amulette . 237
Die TafelprobktlMlud . 237
Diplomatenſchli cht 238
Wie die Völker lachenNmd‚ .. 239
Die Waldrre 32
Ein Haſe zum Kelbſttoſtenpreis ae fe ZA
Seren
OSTSEE
Willſt du dein Herz mir
ſchenken —
Roman von Georg Hartwig (Emmy Roeppel).
V (Nachdruck verboten.)
Erſtes Kapitel.
D e Jagd war zu Ende. Sechshundert Haſen
und etliches Raubzeug waren zur Strecke
gebracht.
— der Förſter und ſeine Gehilfen ſchritten,
die friſchgeſchoſſene Laſt ordnend, zwiſchen den Leiter-
wagen hin und her, während die herrſchaftlichen Equi-
pagen mit den geladenen Jagdteilnehmern in hurtigem
Trabe Buſch und Bruch verließen und auf glatten,
windgefegten Wegen dem gaſtfreien Hauſe zurollten,
deſſen Beſitzer unter all den plaudernden Inſaſſen der
vergnügteſte war.
Der Himmel hatte ein grauſchwärzliches Nopember-
kleid angelegt, und von Nordweſten her brandeten
ſcharfe Windſtöße an die Waldecken. Dünne Nebel-
ſchwaden dunſteten von Stamm zu Stamm und feuch—
teten den Boden.
„Fertig!“ rief der Förſter, ſich auf den letzten
Wagen ſchwingend. „Vorwärts!“
Die Wagen rumpelten davon. N
Quer durch den Hochwald ging ein natürlicher
Graben, ein breiter und tiefer Spalt, der ſich im Lauf
6 Willſt du dein Herz mir ſchenken — 2
der Jahre mit Haufen vermodernder Blätter halb
gefüllt hatte. Dichtes Buſchwerk wucherte zu beiden
Seiten zwiſchen den hohen Stämmen, deren Schutz
es feine üppige Entwicklung verdankte. Senfeits des
Grabens zeigte ſich in einer Lichtung ein ſchilfumſtande-
ner Waſſertümpel, zu dem das Wild früh und abends,
feinen Durſt zu ſtillen, aus dem Walde herauszutreten
pflegte. Deshalb eignete ſich dieſer Ort für den Jäger
vorzüglich zum Anſtand.
Gegen dieſes Buſchwerk zu kam, als die Dämmerung
Nacht ward, und der Nebel ſeine grauen Schleier
immer tiefer über Weg und Steg ſenkte, ein Menſch
dahergejagt wie ein gehetztes Tier. Keuchend ſtürzte
. er vorwärts, blieb ſtehen, horchte zurück — und jagte
beim leiſeſten Geräuſch wieder weiter. Sein fahles
Geſicht erſchien um ſo entſtellter unter dem buſchigen
Haupthaar, als es trotz des kalten Windes von Schweiß-
ſtrömen überflutet war, mit ſchmutzigem Schweiß, den
er zuweilen mit rauher Hand aus den Augen wiſchte.
Am Grabenrand angelangt, ging ihm der letzte
Reit Atemkraft verloren, die höchſtgeſpannten Muskeln
verſagten jäh, und im Fallen beide Arme von ſich
ſtreckend, ſtürzte er vornüber in den Graben hinein.
Im Herrenhaufe von Barnekow waren alle Fenſter
erleuchtet. Herr v. Warnulf, der Beſitzer und Jagd-
herr, hatte in gewagten Reimen und mit ſchallender
Stimme ſeine Gäſte willkommen geheißen und ein
Hoch auf den Jagdkönig ausgebracht.
Laut klangen die Gläſer gegeneinander, bis der
Gefeierte, ein ſchlanker Mann mit glänzend ſchwarzem
Haar und trotz der Tafelfreuden bleichem Antlitz, ſich
anſchickte, den Spruch des Gaſtgebers dankend zu er-
widern.
0 Roman von Georg Hartwig Emmy Roeppel), 7
Da ward’s ſtill. Graf Brankowan ſprach von der
erleſenen Gaſtfreundſchaft, die auch dem Fremden
und Ausländer die Tore des Hauſes weit geöffnet
habe. Von den landſchaftlichen Reizen einer Gegend
ſprach er, in die der Zufall ihn geführt auf Einladung
ſeines Reiſegefährten Lichtenberg, einer Gegend, die
ihm, dem unſteten Wanderer, der ſo viel geſehen,
aufrichtige Bewunderung abgenötigt habe, und die er
nur mit Bedauern in etlichen Tagen wieder verlaſſen
werde.
Die Rede klang in den Worten aus: „Ein Hoch
auf den Beſitzer von Barnekow! Herr v. Warnulf
lebe hoch — hoch — hoch!“
Jetzt war nichts mehr zu verſtehen vor Scharren
und Gläſerklingen. Saßen doch die Herren allein bei
Tiſch, denn die Hausfrau fehlte ſchon ſeit Jahren auf
Barnekow. So gab's keinen Zwang.
„Hör, Warnulf,“ ſagte der Nachbar des Hausherrn,
der Amtsgerichtsrat Müllbrich, eine mittelgroße Per-
ſönlichkeit, deſſen Züge Offenheit bekundeten, „tun
wir nicht des Guten ſchon zu viel?“
WVarnulf gab ihm einen ſcherzhaften Stoß in die
Seite. „So jung kommen wir ja doch nicht wieder
zuſammen! Haſt du denn heute einen ganzen Haſen
zur Strecke gebracht?“ ſetzte er mit gutmütigem Spott
hinzu.
„Zwei ſogar,“ ſagte der Rat, der, trotzdem er ein
richtiger Sonntagsjäger war, eine heftige Leidenſchaft
für das Weidwerk beſaß. „Und ich werde auch morgen
in aller Frühe auf den Anſtand gehen, um einen Rehbock
zu ſchießen.“
„Ich gebe dir den guten Rat,“ fiel Warnulf ein,
weinſelige Tränen über den Eifer ſeines Freundes
lachend, „leg dich lieber in die Klappe. Wenn du dir
8 Willſt du dein Herz mir ſchenken — 2
aber nach dieſer Sitzung durchaus die Beine in den
Leib ſtehen willſt, habe ich auch nichts dagegen. —
Hoffentlich,“ wandte er ſich nach ſeiner anderen Seite,
„haben wir Sie nächſtes Jahr wieder hier, Graf
Brankowan?“
„Höchſt wahrſcheinlich nicht, mein ſehr verehrter
Herr v. Warnulf. Ich bin Nomade, und wenn auch
mein Freund Lichtenberg jetzt von mir abfällt und ſich
hier anſäſſig macht, mich treibt's doch wieder weiter
durch die Welt.“
„Sagen Sie mal,“ rief der Rat intereſſiert, „wo
iſt denn eigentlich Ihr ruhender Pol?“
„Mein ruhender Pol,“ lächelte Brankowan, „waren
einſt unſere Beſitzungen in der Walachei, in der ſchönen,
ſchwermütigen Walachei. Zetzt iſt, wie Sie ſehen,
nicht Stadt noch Land vor mir ſicher.“
„Ja — ja!“ ſeufzte der Rat, der kurzen Fuß-
touren in feiner Jugend gedenkend und der wenigen
Badereiſen, für die er mühſam genug das nötige Klein-
geld zuſammengeſpart. „Na, ſchließlich iſt ſchon die
Sehnſucht allein etwas Schönes.“
„Du bleibſt doch,“ fragte ihn Warnulf, „noch morgen
wenigſtens zum Katerfrühſtück hier? Wirſt doch kein
Froſch ſein!“
„Tut mir ja ſelber leid,“ ſagte der Rat bedauernd,
„aber ich habe tatſächlich zu viel zu tun. Deshalb will
ich ja eben die paar Stunden in der friſchen Morgenluft
noch ausnützen. Die Treibjagd heute war gewiß eine
herrliche Sache, aber ſo ein Alleinſein auf Anſtand
iſt ür mich der höchſte Genuß. Witten in der er—
wachenden Natur, jede Sehne vor Erwartung geſpannt,
das iſt für einen Aktenmenſchen —“
„Hören Sie den Schwärmer, Graf Brankowan!“
rief Warnulf lachend. „Auf der Lichtung beim Waſſer—
1 Roman von Georg Hartwig (Emmy Koeppel). 9
loch, da kannſt du dir wenigſtens den Rheumatismus
holen, wenn auch ſonſt nichts anderes. — Na, denn
alſo geſegnete Mahlzeit, Herrſchaften!“
Das Zurückſchieben der Stühle verſchlang jedes
weitere Wort.
Im Nebenzimmer reichten die Diener Kaffee und
Liköre herum, während der Hausherr feinen Gäſten
mit gutem Beiſpiel voranging und ſich eine Zigarre an-
zündete.
Der Amtsgerichtsrat leerte ſeine Taſſe mit Behagen.
Er fühlte ſich außerordentlich wohl hier. Seit etlichen
Monaten war er in die Stadt verſetzt, in deren Nähe
das Gut ſeines Schulfreundes Warnulf lag, mit dem
er ſtets Verbindung unterhalten hatte. Die Folge
war, daß er nun, ohne ſelbſt eine teure Jagd pachten
zu müſſen, nach Erſtehung eines Jagdſcheins in den
prachtvollen Barnekower Forſten ſeiner Paſſion nach-
gehen konnte, ſo oft es ſeine Zeit geſtattete.
Während er in der angrenzenden Bibliothek die
Zeitungen zur Hand nahm, hörte er mit halbem Ohr
nebenan einen Vorſchlag fallen, dem ein lachender
Beifall entgegenkam.
„Müllbrich,“ rief Herr v. Warnulf in die Tür
tretend, „tuſt du mit? Wir wollen leichtſinnig ſein
und ein kleines Tempelchen bauen.“
„Danke, ich ſpiele nicht. Aber ein Weilchen werde
ich noch zuſehen.“
„Na, denn zwei Spiele Whiſtkarten, Fritz!“ befahl
Warnulf. — „Wer nimmt die Bank? — Na, Graf
Brankowan, wie wär's? Als junge Kraft —“
„Ich ſtehe ganz zu Befehl.“
Zu beiden Seiten des Bankhalters und um den Tiſch
herum zog ſich die dichte Gruppe der Spielteilnehmer
zu einem Halbkreis zuſammen. Das Zimmer war durch
10 Willſt du dein Herz mir ſchenken — 2
Petroleumlampen erleuchtet, deren gelbliches Licht in
den Rauchwolken zu verſchwimmen ſchien.
Und in dieſem vertrübten Schein ging der Amts-
gerichtsrat, die Hände auf dem Rücken, behaglich auf
und nieder, bisweilen kopfſchüttelnd ſtehen bleibend,
wenn die Höhe der Einſätze über das Ziel einer antegen-
den Unterhaltung weit hinausſchoß.
„Herr Amtsgerichtsrat,“ ſagte Graf Brankowan
lächelnd, als die Schritte hinter ihm immer wieder er-
klangen, „wenn Sie die Güte haben wollten, nicht
ganz ſo laut hinter meinem Stuhl zu ſein, wäre ich
Ihnen ſehr verbunden. Ich werde etwas nervös, wie
ich ſoeben merke.“
„Var in der Tat nicht meine Abſicht, Sie zu ſtören.“
„Iſt denn kein Stuhl da für meine Hulda?“ ſang
Herr v. Warnulf mit krächzender Stimme. — „Ihnen
iſt wohl die Kehle trocken geworden, Graf?“ fragte er
Brankowan, der den Kopf ſeitwärts nach einem
flaſchenbeſetzten Nebentiſch wandte. „Einen Augenblick
Geduld! Sie ſollen gleich haben!“ Er goß ſelber ein
Glas Wein ein, um es dem Grafen, der ſich halb erhob,
hinüberzureichen.
Brankowan zog, indem er ſich dankend wieder
ſetzte, ſein Taſchentuch aus der Bruſttaſche und betupfte
ſich damit leicht die Stirn.
Varnulf goß ſich ſelbſt ein Glas Wein ein und
winkte den anderen Herren einladend zu. „Na, Herr-
ſchaften, die Quelle fließt — bitte! — Müllbrich, alter
Zunge, komm an die Krippe!“
Der Rat, im Begriff, ſich zu nähern, ſtreifte bei
der Wendung die Rechte des Grafen, an deren kleinem
Finger ein Brillant wundervoll funkelte, als ſie das
weißſeidene Tuch in die Bruſttaſche zurückſchob. Plötz—
lich blieb er ſtehen, als hätte er ein Geſpenſt geſehen.
2 Roman von Georg Hartwig (Emmy Koeppel). 11
Sein Herz tat einen ſo gewaltigen Schlag, daß er kein
Wort der Erwiderung fand.
„Na, Alter,“ rief Herr v. Warnulf ungeduldig,
„wird's bald?“
„Ich danke,“ ſagte Wüllbrich haſtig abwinkend.
„Fang nur nicht wieder deinen Dauerlauf an.
Graf Brankowan hat bis jetzt reichlich Pech gehabt,
um nervös werden zu können, auch ohne dein Rennen.“
„Es pflegt ſich zu beſſern, wenn ich dazwiſchen
getrunken habe,“ meinte der Graf, den Inhalt ſeiner
Brieftaſche durchmuſternd. „Ich bitte die Herren, zu
ſetzen.“
Der Rat ſtand hinter ihm, ohne den Blick zu wen-
den. Er ſah, wie nach einigen Abzügen plötzlich ein
anderer Geiſt in die Karten zu fahren ſchien.
„Bube und Dame —“
Brankowan zog die auf dem Buben ſtehende Summe
gleichmütig ein. Die Karten ſchlugen bei hohen Ein-
ſätzen jetzt faſt dauernd zu ſeinen Gunſten um.
„Ich wußte es vorher,“ ſagte er ſcherzend. „Es
iſt mein Schickſal, zu gewinnen. Sonſt müßte ich längſt
daheim meinen Kohl bauen.“
Der Rat ging haſtig auf Warnulf zu. „Wir ſehen
uns morgen noch. Ich habe dann noch das Vergnügen,
Ihnen, Herr v. Lichtenberg, einige Worte zu ſagen.“
Er drückte ſeinem Freunde die Hand.
„Willſt du wirklich noch nach dem Waſſerloch
gehen?“ fragte Warnulf kopfſchüttelnd. „Na — wenn
du einen Rehbock ſiehſt, ſag, ich laſſ' ihn grüßen!“
Müllbrich trat aufatmend aus der ſchwülen Rauch-
luft des Spielzimmers. Der Diener ſchritt mit bren-
nender Kerze leuchtend vor ihm her den Gang hinauf
zu den Fremdengemächern.
„Heute haben ſie in der Stadt den Kerl erwiſcht,
12 Willſt du dein Herz mir ſchenken — 2
der in Warnow die Windmühle in Brand ſteckte, Herr
Amtsgerichtsrat,“ ſagte er, das Licht auf dem Nacht-
tiſch anzündend und Wüllbrich beiſtehend, ſich des
ſchwarzen Anzuges zu entledigen. „In einem ver-
rufenen Wirtshauſe haben fie ihn feſtgenommen. Er
ſoll ſich wütend gewehrt und einen Poliziſten mit dem
Meſſer ſchwer verwundet haben.“
„So — ſo!“ antwortete Müllbrich, zerſtreut nach
der Uhr ſehend. „Es iſt wirklich ſchon ein Uhr vorüber.
Das Niederlegen lohnt faſt nicht mehr.“
„Anfer Förſter hat ihm ſchon ein paarmal auf-
gelauert, denn er iſt ein ganz gefährlicher Wilddieb.
Aber er iſt ſo geriſſen, daß ihn keiner erwiſchen konnte.“
„Der Halunke!“ ſagte Müllbrich, ohne dem Wort-
ſchwall des Dieners Beachtung zu ſchenken.
„Die Hintertür bleibt auf. Herr Amtsgerichtsrat
haben vielleicht nachher die Güte, beim Vorbeigehen
ans Fenſter im Dienerzimmer zu klopfen. Ich komme
dann ſofort.“ 5
„Ich brauche Sie nicht mehr,“ ſagte Wüllbrich,
feinen warmen Fagdrock anziehend. „Haben Sie
vielleicht einen Briefumſchlag zur Hand? Sch möchte
ein paar Worte ſchreiben.“
„Hier im Schreibtiſch find welche. — Sch glaube
übrigens, die Herren brechen unten auch ſchon auf.“
Eilfertig verſchwand er.
Allein geblieben öffnete Müllbrich ſeine Brieftaſche,
ſchrieb haſtig mit dem Bleiſtift einige Zeilen, riß das
Blatt heraus, ſteckte es in einen Umſchlag, kleidete ſich
dann fertig an, warf die Flinte über die Schulter und
ging aus ſeinem Gemach bis ans Ende des Korridors.
Dort öffnete er die Tür eines der Gaſtzimmer, legte
den Brief auf den Nachttiſch neben den Leuchter und
ſchritt dann eilig, als habe er eine drückende Laſt ab-
2 Roman von Georg Hartwig (Emmy Koeppel). 13
geſchüttelt, die Steinſtufen der Hintertreppe hinab, die
in einen Seitenhof führte, von dem er direkt ins Freie
gelangte. |
Tief aufatmend verfolgte er den ſtillen Weg über
das Feld in den Wald hinein.
Die Nacht ſang der ſchlafenden Natur ein feierliches
Schlummerlied. In langgezogenen Orgeltönen ſtrich
es längs der Baumkronen hin, ſchwoll an und ver-
ſchwebte in ächzendem Seufzen. Bisweilen, wenn
das Käuzchen dazwiſchen ſchrie, klang es wie fernes
Weinen, von ſchrillem Lachen übertönt. Das Nacht-
getier huſchte durch Buſch und Moor. Der Nebel war
geſunken und verkroch ſich in dünnen Schwaden tief
am Boden. Wolken und Sterne ſtritten um die Herr-
ſchaft und kämpften, bis der Mond ſein ſilbernes Licht
ſieghaft dazwiſchen warf.
Müllbrichs Sinne nahmen die Reize dieſer Nacht-
einſamkeit mit wonnigem Behagen in ſich auf. Schöne
Bilder gingen durch ſeine Phantaſie, während er den
breiten Graben durchkletterte, um das Buſchwerk
jenſeits zu erreichen, vor welchem ſich die Lichtung
mit dem Waſſertümpel ausbreitete. Das Bild eines
blondhaarigen, hübſchen Frauenkopfes erſchien ihm.
Wie lange hatte er dieſes anmutige Antlitz ſchon im
Herzen getragen! Als er nichts hatte und nichts war,
liebte er's ſchon. Aber da war ein anderer gekommen,
ein reicher, herzenskalter Egoiſt, dem war ſie überliefert
worden und hatte ihm treulich angehört, bis ſie der Tod
wieder geſchieden hatte. Dann war ſie endlich ſein
geworden.
Und neben ſeiner blonden Frau tauchten die beiden
kindlichen Geſtalten vor ihm auf, die ſich an die Mutter
drängten, Harda, die braunlockige, die ihm dieſe mit
in die Ehe gebracht, und der er ein zweiter Vater war,
14 Willſt du dein Herz mir ſchenken — .
und Liska, die jüngere, blonde, fein eigenes viel-
geliebtes Kind. Wie leuchteten ſeine Augen im inner-
lichen Betrachten dieſes ſeine Seele ſo ganz erfüllenden
Bildes!
Doch jetzt hatte Müllbrich den Platz, auf dem er ſich
zum Anſtand aufſtellen wollte, erreicht. Ein dicker
Eichenſtamm nahm ihn in feinen Schatten. Geſpannten
Blicks, geſpannten Sinnes, die Büchſe ſchußfertig in
der Hand, horchte der Rat auf das Brechen jedes Aſtes.
Dabei überhörte er, wie hinter ihm, aus der Blätter-
fülle des Grabens, ſich eine Geſtalt langſam in die
Höhe richtete. Die bleierne Erſchöpfung, die den
Mann auf ſeiner Flucht wehrlos gemacht, war einem
grimmen Fröſteln gewichen, das ſeine Glieder erſchauern
ließ. Er lauſchte — kein Laut in weiter Runde!
So ſtieg er mühſam zum rückwärtigen Grabenrand
hinauf und ſchlich eine Strecke ſeitwärts durchs Unter—
holz, als ſei er in dieſem Revier mit Weg und Steg
wohlbekannt.
Die Mondſichel neigte ſich zum Untergang. Schon
lagerte hie und da ein Streifen helleren Lichtes über
der Waldblöße, als der Flüchtling ſich neben einem
Ameiſenhügel geräuſchlos auf die Kniee niederließ und
leiſe Moos und Zweige fortzuräumen begann. Ein
Gewehr kam zum Vorſchein. Er hob es ſorgfältig aus
dem Verſteck und befreite es von der ſchützenden Hülle.
Dann ſchlich er hinter Müllbrichs Rücken der Lichtung zu.
Der Nat, das Geräuſch eines knackenden Aſtes auf-
fangend, wandte ſich zur Seite.
Im ſelben Augenblicke fiel ein Schuß.
Der Pulverblitz hellte das Dunkel zwiſchen den
Stämmen flüchtig auf, und donnernd hallte der Knall,
von allen Seiten ein Echo weckend, durch den ſtillen
Wald.
2 Roman von Georg Hartwig (Emmy Roeppel). 15
Jetzt ein Schurren und Trappeln ringsum —
aufgeſcheucht huſchte das Wild erſchreckt davon. Ein
Flügelflattern in der Höhe — dann alles ſtill.
Die Turmuhr in Barnekow ſchlug die vierte Morgen-
ſtunde an, da wurde der Gutsinſpektor durch lautes
Pochen gegen ſeine Tür aus dem Schlafe gerüttelt.
Ein reitender Gendarm hielt auf der Straße draußen
und bearbeitete mit ſeinem Pallaſch die Haustür.
„Was iſt los?“ fragte der unliebſam Geſtörte durchs
Kammerfenſter. „Was gibt's denn?“
Er bekam aber einen Heidenſchreck, als er den Hüter
des Geſetzes im Zwielicht erkannte.
„Munter, munter, Herr Reichert!“ rief der Gendarm
hinauf. „Der Förſter und die ſämtlichen Taglöhner
müſſen ſofort alarmiert werden. Riedel iſt beim
Transport aus dem Zuge geſprungen. Wir ſind ihm
auf der Spur. Er kann ſich nur im Barnekower Forſt
verſteckt halten.“
„Das ſoll ihm übel bekommen,“ brummte der In-
ſpektor, verdroſſen das Fenſter zuſchlagend.
Der Förſter, der raſch auf den Füßen war, wußte
ſofort, wo der berüchtigte Wilddieb und Brandftifter
zu finden ſei, wenn er überhaupt im Forſt war. „Wenn
Riedel ſich im Wald verſteckt hat, iſt er beim großen
Graben zu finden.“
Und dann begann die Razzia nach dem Verfemten.
Der Morgenwind blies friſch über die Felder hin
bis ins Herz des Waldes hinein, und der letzte Nebelreſt
verwandelte ſich in weißen Reif, in den das junge
Saatengrün ſich fröſtelnd hüllte. Die Sterne blinkten
blaß am Himmel. Ein ungewiſſes Dämmern ſpann
ſich wie ein grauer Flor um Buſch und Baum, um Veg
und Steg.
16 Willſt du dein Herz mir ſchenken — 2
Mit möglichſt wenig Geräuſch vollzog ſich die Um-
zinglung des Waldreviers, in dem ſich der Geſuchte
längſt nicht mehr ſicher wähnte, das zu verlaſſen er
aber auch den Mut nicht gehabt hatte.
Er kniete, ſorgſam Umſchau haltend, am Boden,
als ihm ein Brechen der Zweige das erſte Zeichen der
nahen Verfolger zutrug. Flink wie der Hirſch, alle
Muskeln vom Selbſterhaltungstrieb geſtrafft, fuhr er
auf und ſtürzte nach dem Graben zurück.
Zu ſpät! Die Hunde des Förſters, von der Leine
gelaſſen, hatten ihn gewittert und folgten laut bellend
ſeiner Spur.
„Da iſt er — dort läuft er!“
Er hörte die Worte hinter ſich her ſchallen und
wechſelte die Richtung im Fliehen. Doch wie er auch
laufen mochte, der Lärm, die Zurufe, hinter ſeinem
Rücken und nun auch vor ihm, kamen immer näher.
Durch das Buſchwerk raſchelten die Hunde und waren
ihm ſo dicht auf den Ferſen, daß er ihren heißen Atem
zu verſpüren glaubte.
„Halt!“ ſchrie der Förſter. „Steh, oder ich ſchieße!“
Er wandte ſich noch einmal, um den Hund, welcher
ihn an der Hoſe gefaßt hatte, mit einem Kolbenſchlag
niederzuſtrecken. Es war ſein letztes Werk für lange
Zeit. i
Im nächſten Augenblick ſchon war ihm das Gewehr
entriſſen, Feſſeln klirrten an ſeinen Armen.
Des Schweißes ungeachtet, der ihm von der Stirn
rieſelte, ſah er auf die finſteren Geſichter um ſich her
mit verbiſſenem Trotz. „Ich denke, ihr ſeid mit mir
allein noch nicht fertig,“ ſagte er mit keuchendem Atem.
„Es gibt noch 'ne andere Überrafhung für euch.“
„Elender Kerl!“ rief der Förſter, ihm mit der Fauſt
drohend. „Möchteſt uns wohl auch den roten Hahn
2 Roman von Georg Hartwig (Emmy Koeppel). 17
aufs Dach ſetzen? Der arme Feldmann iſt wahrhaftig
faſt hin.“
Durch die ſcharfe Luft glitt ein unheimlich win-
ſelnder Laut. 5
„Merkt ihr was?“ fragte der Gefangene höhniſch.
„Das Vieh hat mehr Verſtand als ihr.“
Das Winſeln ließ nicht nach. Es wurde zum lang-
gezogenen Heulen.
„Was hat nur der Köter?“ rief der Inſpektor,
Riedel den ſicheren Händen des Gendarmen über-
laſſend und dem Förſter in der Richtung auf den
großen Graben nachgehend. „Hierher! Kuſch dich —
kuſch!“ 5
Das Heulen nahm kein Ende. 8
„Du Vieh!“ ſchrie Reichert, nach einem Stein ſich
bückend. „Willſt du wohl —“
Im ſelben Moment ſtieß der Forster einen lauten
Ruf aus. „Hierher — hierher um Gottes willen!“
Sie ſtanden, die Köpfe geneigt, fahl und ſprachlos
im erwachenden Frühlicht.
Da lag, neben einer ſtarken Wurzelknolle, die ihm
als hartes Kiſſen diente, der Amtsgerichtsrat — tot.
Aus der Seite war ein ſchmaler roter Streifen gefloſſen,
der erſtarrt war. Die Jagdmütze lag einige Schritte
entfernt neben dem abgeſchoſſenen Gewehr, deſſen
Laufmündung der Herzwunde zugekehrt war, als
ſei es dem Verſtorbenen aus der Hand geglitten.
Auf ſeiner kalten Stirn durchſpielte der Wind das
Haar und huſchte um die Schläfen, als wolle er ein
neues Leben wachpochen. |
„Erſchoſſen — von dem Kerl!“ flüfterte der In-
ſpektor, das traurige Bild mit gefalteten Händen be-
trachtend. „Was wird der Herr ſagen?“
„Verheiratet iſt er auch,“ murmelte der N
1010. I.
18 Willſt du dein Herz mir ſchenken — 2
den Goldreif an der erſtarrten Hand bemerkend. „Wir
müſſen ihn hier liegen laſſen.“
Es war noch dunkel, als Herr v. Warnulf aus tiefem
Schlaf durch ſeinen Diener geweckt ward.
„Nanu!“ rief er, ſich die Augen reibend. „Biſt du
verrückt, Fritz?“
„Gnädiger Herr,“ ſagte der Diener leiſe, indem er
das Licht anzündete, „es iſt ein furchtbares Unglück ge-
ſchehen.“ ö
Warnulf fuhr im Bett in die Höhe. „Menſch, wie
ſiehſt du denn aus!“
„Der Herr Amtsgerichtsrat liegt tot im Walde.“
Der Gutsherr ſprang mit beiden Füßen zugleich
auf den Boden.
„Der Förſter hat mich ſoeben herausgeklopft. Der
Gendarm iſt die ganze Nacht hier geweſen auf der
Suche nach dem entſprungenen Riedel. Zn unſerem
Forſt, am großen Graben, haben ſie ihn aufgeſpürt und
gefangen. Dabei haben ſie die Leiche vom Herrn
Amtsgerichtsrat gefunden.“
Warnulf antwortete nicht. Das Blut ſchoß ihm
ins Gehirn, daß er taumelte. Dazwiſchen, während
er ſich mit unſicheren Händen ankleidete, ſprudelten
ihm einzelne Sätze zwiſchen den Lippen hindurch.
„Er wollte nicht hören! — Armer, armer Menſch!
— 3 hätte es ihm nicht geftatten N — Die Frau,
die Frau — —“
„Ich glaube, die anderen Herren ſind auch ſchon
munter geworden durch den Lärm.“
„Pferde heraus! Angeſpannt!“ rief jetzt Warnulf
aus dem Zimmer ſtürzend. „Vorwärts! Zum Amts-
vorſteher! Zum Arzt! Eine Tragbahre! — Meine
Herren,“ rief er, den Gang zur Hintertür hinunter
0 Roman von Georg Hartwig (Emmy Koeppel). 19
eilend, wo ſich erſtaunte Geſichter zwiſchen den halb-
geöffneten Türen zeigten, „ich bin faſſungslos. Mein
guter, alter Freund Wüllbrich liegt erſchoſſen im
Walde —“
Fort ſtürzte er, von dem männlichen Hausperſonal
begleitet und gefolgt von ſeinen Gäſten. Eilig glitten
ihre Schatten im Frühlicht über das zerkniſternde Weiß
des Rauhreifs und verſchwanden im düſteren Dickicht
des Waldes.
Der Arzt, der Amtsvorſteher, alle, die gekommen
waren, das Ungeheure zu ſehen, umſtanden und um-
knieten die Stelle, wo ein braver Mann ein jähes
Ende gefunden. Herrn v. Warnulfs Augen floſſen
über. Er machte ſich die heftigſten Vorwürfe, ſeine
Einwilligung zu dieſem nächtlichen Gang gegeben zu
haben. Dazwiſchen bemächtigte ſich feiner eine grenzen
loſe Wut gegen den niederträchtigen Mordbuben, der
gefeſſelt zwiſchen dem Gendarmen und dem Förſter
an der Unglücksſtätte ſtand.
Mit finſterem Trotz blickte Riedel vor ſich nieder.
Ein hartes Lächeln grub ſich zuweilen in ſeine Mund-
winkel ein und verzerrte ſeine vor Erſchöpfung und
Hunger farbloſen Züge.
„Anfinn!“ ſtieß er haſtig hervor, als man ſich an-
ſchickte, den Toten vom Boden aufzuheben. „Glaubt's
oder glaubt es nicht. Wie der da liegt, ſo liegt keiner,
der von hinten oder von vorn feinen Denkzettel be-
kommen hat.“
„Mund halten!“ ſchrie ihn der Gendarm an.
„Einen Augenblick!“ ſagte der Amtsvorſteher, ſich
aufrichtend. „Was will der Menſch damit ſagen?“
„Daß ich dort ſtand! Da, hinter dem Stamm!“ ſtieß
Riedel rauh hervor. „Daß der hier — es iſt nur ein
Schuß gefallen.“ ;
20 Willſt du dein Herz mir ſchenken — u
„Das jagt der Wächter auch,“ fiel ein Diener ein.
„Er hat nur einen Schuß gehört von dieſer Gegend
her.“
„Und dieſer Schuß —“ rief Herr v. Warnulf, die
Hand des Toten in der ſeinen drückend. „Schafft
mir den Halunken aus den Augen, oder ich vergeſſe
mich.“
„Unſinn!“ ſagte Riedel wieder, „der da hat ſich —“
Er ſchwieg, und ſeine Stimme klang noch heiſerer denn
zuvor, als er langſam fortfuhr: „ganz allein aus der
Welt geſchafft. Es hätt's niemand beſſer machen
können, als er's ſelber gemacht hat.“
„Mund halten!“ ſchrie der Gendarm von neuem
ingrimmig.
„Was will der Kerl damit jagen?“ fiel der Amts-
vorſteher wieder ein.
„Daß der da mich gehört hat, als ich auf einen
dürren Aſt trat.“ Er räuſperte ſich ein paarmal. „Ge—
hört, will ich ſagen, und ſich danach umgeſehen hat.
Da, wo er liegt, iſt er dabei über die Wurzel geſtolpert,
und im Fallen hat ſich das Gewehr entladen. So
iſt's geweſen — was ich geſehen hab', kann mir nie-
mand abſtreiten.“
„Halt 's Maul!“ ſchrie der Gendarm entrüſtet.
„Vorwärts jetzt!“
„Na, es wird ſich ja finden,“ ſagte Riedel, ſeine
trüben Blicke noch einmal in die Runde ſchickend, als
wolle er Glauben oder Unglauben aus den Geſichtern
herausleſen. „Meinetwegen brauchte der hier nicht
zu liegen.“
„Sie werden dir ſchon auf die Sprünge helfen,
Bürſchchen!“ ſagte der Förſter mit drohender Fauſt.
„Wir kennen dich.“
„Vorwärts — marſch!“ kommandierte der Gendarm,
2 Roman von Georg Hartwig Emmy Koeppel). 21
gab Riedel einen Rippenſtoß und brachte ihn fo zum
Ausſchreiten. Gleich darauf verſchwanden ihre Ge—
ſtalten zwiſchen den Stämmen.
Das Haupt feines Zugendfreundes emporhebend,
befahl Warnulf, den Toten auf die Bahre zu legen
und ins Herrenhaus zu tragen. Dann folgte er dem
traurigen Zuge inmitten ſeiner Gäſte, die einen ſolchen
Abſchluß ihres fröhlichen Zuſammenſeins tief be-
klagten.
„Graf Brankowan,“ ſagte Warnulf, durch den
grauen Novembermorgen hinſchreitend, „ich bin voll-
ſtändig gebrochen. Es tut mir leid, Zhret- und aller
anderen wegen. So wird uns in alle Freuden ein
Wißklang vom Schickſal geworfen — kein Menſch ahnt,
was herauskommen wird. Sie ſehen auch miſerabel
aus — kein Wunder. Wenn es nur erſt der Frau
beigebracht wäre! Das ſchlägt mich vollends nieder.
Der gemeine Kerl verdiente, auf der Stelle aufgehängt
zu werden. Die arme Familie!“
„Es iſt mir verſagt, mich jetzt darüber zu äußern,“
erwiderte Brankowan, ſein Taſchentuch hervorziehend,
um ſich die Stirn zu betupfen. „Ich konnte meinen
Gefühlen nie Ausdruck geben.“
„Zah immer zu viel,“ ſagte Herr v. Warnulf melan-
choliſch. „Ich machte nie aus meinem Herzen eine
Mördergrube. Verzeihen Sie, lieber Graf — es iſt
ſo ein altes, dummes Wort, hat gar keinen Bezug auf
Ihre Kunſt der Selbſtbeherrſchung, die ich bewundere,
beneide. — Ach Gott, nein! Warum ſollte ich jetzt nicht
ſagen, daß ich mich völlig zerſchmettert fühle?“
„Der Verſtorbene ſtand Ihnen ja auch ſehr nahe,“
ſagte der Graf, ihm ſeinen Arm bietend.
„Danke, ich komme ſchon ſo nach Hauſe. — War
ſo ein guter, prächtiger Menſch! Immer fidel mit
22 Willſt du dein Herz mir ſchenken — 2
nichts in der Taſche. — Die Frau, die arme Frau! —
So ein hundsgemeiner Mordbube! — Sch werde nun
ſogleich zur Stadt fahren müſſen — ich kann der Frau
doch nicht die Leiche ohne weiteres ins Haus ſchicken.
Vielleicht hilft mir einer ſeiner Kollegen oder eine der
Damen dabei.“
„Sie geſtatten, daß ich mich ſogleich Ihnen empfehle,
Herr v. Warnulf,“ ſagte der Graf, „mit dem herz-
lichſten Dank für Ihre Gaſtfreundſchaft und dem innig-
ſten Bedauern, daß dieſelbe einen ſo beklagenswerten
Abſchluß fand.“
„Von Dank kann gar keine Rede ſein. Leben Sie
wohl, lieber Graf! — Wenn ich jetzt doch dieſe Fahrt
nicht zu machen brauchte! — sch möchte den anderen
Herren auch gleich Lebewohl ſagen — ich bin ſo ganz
außer Gaſtgeberſtimmung.“
Er drückte allen die Hände.
„Dort ſtehen die Wagen, meine Herren. Der
Kaffee wird fertig ſein. Lieber Graf, trinken Sie ein
paar Kognake hintereinander, Ihre Hände ſind ja
eiskalt. Adieu! Adieu, meine Herren!“
Er wandte ſich ab und ſchritt ſchneller aus, bis er
ſich allein hinter der Bahre ſeines Freundes befand
und keinen Zwang mehr nötig hatte, um die Tränen
zu verbergen, die ſich hin und wieder zwiſchen ſeinen
Wimpern hervorſtahlen.
Zweites Kapitel.
Blumen, Blumen — nichts als Blumen! Ein
Begräbnis ohnegleichen! Beinahe wie zu einem
Freudenfeſt war die geſamte Bevölkerung des Städt-
chens auf den Straßen, an den Fenſtern und auf dem
Friedhof verſammelt, den impoſanten Leichenzug zu
2 Roman von Georg Hartwig (Emmy Roeppel). 23
ſehen, der da endete, wo die Vergangenheit ſich auf-
tut — in ſechs Fuß Erdentiefe.
Die blaſſe Sonne hatte ein freundliches Lächeln
für dieſen letzten Pilgergang. Sie ſpendete es bis in
die Gruft hinein und erhellte ihr harrendes Dunkel.
Gehüllt in Licht und noch einmal umfangen vom
weichen Winde ſank der Sarg hinab — aus dem Sein
ins Vergangene, aus dem Schaffenden ins Ver-
nichtende.
Vier Perſonen ſtanden zunächſt dem Grabe, Erit-
berechtigte, um ein paar Hände voll Erde über die
dumpf erklingenden Bretterwände zu ſtreuen, ein hoch-
gewachſener, wohlbeleibter Herr in tadellojer Haltung
zwiſchen zwei Damen in hochmoderner Trauerkleidung,
an deren Seite ein vierzehnjähriges Mädchen ſichtlich
unbehaglich in ihrer ſchwarzen Gewandung und mit
geteilter Aufmerkſamkeit den Schlußworten des Geijt-
lichen lauſchte.
Als der Moment des Aufbruchs gekommen war,
verneigte ſich Herr Sebaldus Kniebel mit würdevollem
Dank gegen die Verſammlung, drückte dem Prediger
verbindlich die Hand, reichte ſeiner älteſten Schweſter
Eliſabeth den Arm und verließ mit ihr die Trauerſtätte,
mitten durch die gaffende Menge, deren beifälliges
Murmeln nicht ungehört an ſeinem Ohr verhallte.
Hinter ihnen, Hand in Hand, ſchritt Fräulein Ro-
ſalie Rniebel neben ihrer Nichte Harda, einem hübſchen
Backfiſch, deſſen braune Haarzöpfe ſich kaum bändigen
ließen.
Schon öffnete Sebaldus Kniebel den Vagenſchlag
für ſeine Begleiterinnen, als, im Sturmſchritt hinter-
drein eilend, Herr v. Warnulf ſeinen Namen rief.
„Einen Augenblick bitte zu warten, Herr Kniebel!“
Sein noch immer ſonnenverbranntes Antlitz war
24 Willſt du dein Herz mir ſchenken — 2
ſtark gerötet vor Erregung, und die Haſt, mit der er
ſprach, ſtand in ſchroffem Gegenſatz zu der abwarten-
den Ruhe des Angerufenen.
„Ich ſtehe zu Oienſten.“
„Ich wollte nur fragen, ob es auch jetzt noch un-
möglich iſt, Frau Müllbrich die Hand zu drücken. Sie
können ſich denken, daß es mir ein unabweisbares Be-
dürfnis iſt.“
„Ganz unmöglich!“ rief Fräulein Eliſabeth hinter
ihrem Kreppſchleier hervor. „Wir haben alle Mühe,
ſie überhaupt nur aufrecht zu erhalten.“
„Ach Gott — nur keine Tröſtungen!“ ſeufzte Fräu-
lein Roſa, abwehrend die Hand ausſtreckend.
„Sie hören ſelbſt!“ ſagte Herr Kniebel mit kühler
Verbindlichkeit. „Ich könnte es nicht verantworten,
den Willen meiner Schweſtern zu mißachten.“
Warnulf murmelte etwas vor ſich hin, während er
zurücktrat. „Dann bitte ich wenigſtens, mich Frau
Müllbrich empfehlen zu wollen,“ ſchloß er.
Herr Kniebel verneigte ſich und ſtieg feinen Damen
nach in den Wagen, der alsbald fortrollte.
„Gott ſei Dank,“ ſagte Fräulein Eliſabeth, „daß
dieſer Akt vorüber iſt. Wer weiß, was Mathilde in-
zwiſchen wieder angeſtellt haben wird! sch habe
nie eine ſolche Faſſungsloſigkeit, ein ſolches ſeeliſches
Darniederliegen erlebt.“
„Meine Nerven ſind geradezu auseinander,“ ſeufzte
Fräulein Roſa, ihre Nichte Harda an ſich drückend.
„Armes Kind — in deiner erſten Blüte ſolchen Sammer!“
„Wenn Mama ſo fortfährt,“ ſagte Harda, mit
geröteten Wangen aus dem Wagenfenſter blickend,
„werde ich elend.“
„Erbarme dich, Harda!“ rief Tante Eliſabeth mit
beſchwörender Stimme. „Das tuſt du uns nicht an!“
2 Roman von Georg Hartwig (Emmy Koeppeh). 25
„Wir werden Rat finden, liebe Lilla, und Ein-
ſpruch tun,“ ſagte Sebaldus Kniebel mit unantaſtbarer
Zuverſicht.
„Ja, Kind, hätteſt du jetzt deinen Onkel nicht!“
„Es iſt nur gut, daß ihr gleich gekommen ſeid, als
ich telegraphierte. Mama war wirklich geiſtesgeſtört,
und Liska benahm ſich wie eine Verrückte.“
„Dieſes ſchreckliche Mädchen!“ wiſperte Tante Roſa
unhörbar in ihr Taſchentuch.
Der Wagen rollte weiter und hielt endlich vor dem
Trauerhauſe, kenntlich durch das zertretene und ver-
ſchrumpfte Grün, über welches der Sarg hinweg-
getragen worden war.
Alle vier ſtiegen ſchweigend die Stufen hinauf zu
einer Korridortür, die ſich wie von ſelbſt öffnete.
„Na?“ ſagte Fräulein Lilla, als erſte eintretend,
zu einem kleinen, blondlockigen Mädchen. „Wie ſteht's?“
Die Kleine antwortete nicht, ſie ſchluchzte nur.
„Dieſelbe Geſchichte!“ ſeufzte Tante Roſa, ihren
Kreppſchleier abnehmend. „Aber Liska! Wir müſſen
uns doch fügen. Sollen wir denn murren? Lernſt
du das in der Schule, Kind? In der Religionsſtunde,
Liska?“
Da abermals keine Antwort erfolgte, öffnete Fräu-
lein Lilla die Tür zum Wohnzimmer.
Drinnen ſchienen die letzten Sonnenſtrahlen durch
zugezogene Vorhänge gleich freundlichen Grüßen vom
friſch geſchaufelten Grabe her. Ein paar Roſen, die
Frau Wüllbrich dem Toten aus den Händen genommen
und zum Andenken behalten, durchdufteten das Zimmer.
In dieſem ſchwermütigen Dufte ſchritt die hübſche
blonde Frau ruhelos auf und nieder. Liska eilte
ſtürmiſch an ihre Seite zurück und ſtreichelte die herab-
hängende Rechte.
26 Willſt du dein Herz mir ſchenken — 2
„Nun, meine liebe Mathilde,“ ſagte Herr Sebaldus
Kniebel, in korrekteſter Haltung auf ſie zugehend und
ihr beide Hände mehr mahnend als tröſtend entgegen-
ſtreckend, „haben wir dich und die Kinder ins Auge
zu faſſen. Wir haben uns ſchon einmal jo gegenüber-
geſtanden,“ fuhr er bedeutſam fort, „damals, als dein
erſter Gatte, mein lieber Bruder Artur, geſtorben
war. Ich dachte nicht, daß es ein zweites Mal ge-
ſchehen würde.“
Frau Müllbrich zuckte zuſammen.
„Gott weiß es!“ ſeufzte Fräulein Roſa.
„Was der Menſch ſich ſelbſt erwählt hat,“ fagte
Fräulein Lilla nachdrücklich, „muß er auch zu ertragen
wiſſen. Es wird dir wohler werden, liebe Thilde,
wenn fie dem Mörder erſt den Kopf vor die Füße
gelegt haben.“
„O nein — nein!“ rief die Rätin. „Was kann uns
ſein Tod nützen!“
„Gerechtigkeit iſt nicht Sentimentalität,“ ſagte
Herr Kniebel mit unanfechtbarer Beſtimmtheit. „Die
Hauptſache iſt, daß du dich darein findeſt, dein Kreuz
mit Ruhe und Würde zu tragen und ſo deinen Kindern
gegenüber vorbildlich zu wirken.“
„Harda iſt ruhig,“ flüſterte die Rätin. „Es war
ja auch nicht ihr Vater. Aber Liska —“
„Ich denke, wir ſprechen Liska demnächſt ins Ge-
wiſſen,“ ſagte Tante Lilla mit verſchärfter Stimme.
„Kinder haben die Pflicht, ihre Eltern zu erheitern,
aber nicht die Aufgabe, ſie zu quälen.“
„O, ſie quält mich nicht!“ rief Frau Müllbrich, das
blondlockige Kind an ſich ziehend. „Sie teilt meinen
Schmerz, wenn ſie auch nicht faſſen kann, was ſie
in ihrem Vater verlor.“
„Und was mußte vor Jahren Harda?“ fragte Herr
2 Roman von Georg Hartwig (Emmy Koeppel). 27
Sebaldus mit ſtrengem Nachdruck. „Mußte ſie nicht
damals dasſelbe erfahren und tragen? Stand ſie
anders da in jenen Tagen, als ihr Vater, mein lieber
Bruder, das Sterbliche von ſich tat? Hat ſie nicht mit
beiſpielloſer Selbſtbeherrſchung bis auf dieſen Tag und
dieſe Stunde den Verluſt ſtill in ſich getragen, ohne
irgend jemand mit Tränen und Jammer zu beſtürmen?“
„Sie hat euren Charakter,“ flüſterte die Rätin,
während dieſes liebevollen Zuſpruchs ihre Tränen
tunlichſt verſchlucftend. „Sie hat nichts, gar nichts
von Leopolds Weſen, während Liska —“ f
„Jetzt weiß ich wirklich nicht, meine liebe Thilde,“
fiel Tante Lilla mit ſtaunendem Kopfſchütteln ein,
„wie Harda Kniebel zu Leopold Müllbrichs Charakter-
eigenſchaften kommen ſollte! Sie iſt eine Kniebel
und keine Müllbrich. Wenn es ſchon traurig genug iſt
für ein ſtarkgeiſtiges Kind, einen Fremden in die Rechte
ſeines Vaters eingeſetzt zu ſehen, ſo darf es ihm doch
nicht zum Vorwurf gemacht werden, die angeſtammten
Anlagen ihrer eigenen Familie in ſich aufgenommen
zu haben.“
Die trauernde Frau, wenig auf dieſe wohltuende
Tröſtung hörend, barg wieder ihr Geſicht in beide
Hände und ſchluchzte laut. „Wie ſoll ich's nur ertragen?
Wie ertragen?“ |
„Du biſt ſchon einmal im gleichen Fall geweſen,“
ſagte Fräulein Lilla, dieſe erquickende Tatſache ſcharf
betonend, um ja keinen Zweifel daran aufkommen zu
laſſen, „ſchon einmal, meine liebe Thilde, und haſt es
überlebt und ertragen. Nicht ein graues Haar iſt dir
darüber gewachſen. Weshalb wollteſt du jetzt ver-
zweifeln? Zetzt, da du zwei Töchter ſtatt der einen
haſt?“
Dieſer rückſichtsvolle Hinweis auf das, was fie
28 Willſt du dein Herz mir ſchenken — 2
glücklich gemacht, ließ die Rätin abermals zuſammen-
zucken und in tiefſter Seele nach dem verlorenen Mann
und Beſchützer aufſchreien. Aber ſie faßte ſich, trocknete
ihre Tränen in den blonden Locken ihrer Züngſten
und flüſterte ihr mit zitternden Lippen zu: „Lauf,
Liska! Sag Harda, daß der Kaffee kommen ſoll!“
„Wir haben,“ begann Sebaldus Kniebel, als die
Tür ſich ſchloß, „dir den Mann, der ſich Müllbrichs
Freund nannte und auf deſſen Grund und Boden das
Unglück geſchah, mit aller Energie ferngehalten. Die
Umftände waren nicht dazu angetan, Sympathie für ihn
zu erwecken. Nach einem wüſten Feſt iſt der Deritor-
bene —“
„Nein, o nein!“ rief die verwitwete Frau mit
ſchmerzlichſter Abwehr. „Leopold war ſo mäßig, ſo
durchaus mäßig.“
„Jedenfalls hat dieſer Herr v. Warnulf deinen
Mann auf dem Gewiſſen,“ fuhr Sebaldus Kniebel
unter dem zuſtimmenden Nicken ſeiner Schweſtern
fort — „durch Schlemmerei und Völlerei. Ob nun
Mord oder Unfall vorliegt, ich würde es für unchriſtlich
halten müſſen, wollteſt du dieſem Herrn Zutritt zu
dir geſtatten.“
„Wenn du glaubſt,“ ſagte die Rätin erſchüttert,
„dann gewiß nie. Aber Leopold hing an ihm, hing
ſehr an ihm. And er war ſo glücklich —“
„Na ja, wir haben geſehen, wohin dieſes Glück
führte,“ entgegnete Fräulein Lilla, ihrem Bruder zu—
nickend. „Wir tragen noch alle reichlich daran.“
Auf allen Punkten geſchlagen, drückte Frau Müll-
brich ihr tränenfeuchtes Tuch wieder gegen die Augen.
„Ich möchte ſein Grab aufreißen laſſen und mich mit
hineinlegen,“ flüſterte ſie halb erſtickt von Angſt und
Schmerz.
2 Roman von Georg Hartwig (Emmy Roeppel). 29
„Unſere Abſicht war, verſtändig mit dir zu ſprechen,“
ſagte Herr Kniebel mit dem Bruſtton gekränkter Würde,
„ohne in ſündhafte Ungeheuerlichkeiten zu geraten,
die auch den beiten Willen ermüden müſſen.“
„Sprich, bitte!“ ſagte die Rätin, die naſſen Wimpern
trocknend. „Ich will mich gewiß zuſammennehmen,
ſolange ich kann.“
„In dieſem Falle alſo,“ fuhr Sebaldus Kniebel
fort, ſie korrekt zum Sofa führend und an ihrer Seite
Platz nehmend, „darf ich dir ſagen, daß nach unſerer
Anſicht deines Bleibens hier nicht ſein kann.“
„Nicht hier?“ rief Frau Müllbrich aufſpringend.
„Nicht bei ſeinem Grabe? Wo denn?“
„Gib's auf, Bruder,“ mahnte Fräulein Lilla mit
betrübtem Kopfſchütteln und entſagendem Lächeln.
„Gib's auf!“
„O, habt doch Geduld!“ bat die zitternde Frau.
„Denkt doch, was ich verloren habe. Ich will ja euch
und eurem Rat folgen, ſo unſelbſtändig wie ich mich
fühle, ſo haltlos —“
„Deshalb eben,“ fiel Herr Kniebel zuſtimmend ein,
ſeine wohlgepflegte Hand ausſtreckend, als wolle er
damit jede weitere Unterbrechung abſchneiden, „des-
halb eben halten wir für nötig und im Hinblick auf
deine Menſchenunkenntnis geradezu für geboten, dich
mit den Kindern in unſerer Nähe zu haben.“
„Nach Berlin ſoll ich ziehen?“ rief Frau Müllbrich
ſtarr vor Überrafchung.
„In unſeren Schutz.“
„Lieber Sebaldus,“ fiel Fräulein Lilla ein, „du
biſt zwar Hardas Vormund und von ihrem Vater
zum Verwalter ihres Vermögens beſtimmt, aber wir
können doch nicht daran denken, Mathilde uns und
unſeren Schutz aufzunötigen. Wenn fie glaubt, allein
30 Willſt du dein Herz mir ſchenken — 2
beſſer fertig werden zu können, oder Gründe hat,
die letzten Beziehungen zu unſerer Familie abzu—
ſtreifen —“
„Aber Eliſabeth,“ fiel die Rätin erſchreckt ein, „wie
darfſt du ſo etwas denken und ſagen!“
„Ich hatte die Abſicht,“ fuhr Herr Kniebel fort,
ſich vorbeugend, um ſeiner Befriedigung über dieſen
Ausruf ſeiner Schwägerin noch mehr Nachdruck zu
geben, „mich auch als Vormund für deine Tochter Liska
anzubieten. Wir haben dann beide allein die Ver-
antwortung für ſie in Händen wie die Sorge um ihre
Zukunft.“
„Nun, Thilde!“ rief Fräulein Roſa, mit dieſem Ton
vorwurfsvoller Güte das überraſchte Schweigen der
Rätin als undankbar kennzeichnend. „Was ſagſt du
dazu?“
„Ich danke dir, Sebaldus,“ ſagte Frau Müllbrich
haſtig, unwillkürlich einen Blick voller Beſorgnis nach
der Tür werfend, wo Liska mit Kuchenteller und
Zuckerdoſe und Harda mit dem Kaffee erſchienen.
„Es iſt ſo ſehr gütig —“
„Wenn du die Kinder noch etwas draußen be-
ſchäftigen könnteſt, liebe Mathilde,“ bemerkte Herr Se-
baldus und ſchenkte ſich eine Taſſe Kaffee ein, „ſo
würde ich noch einen letzten Punkt mit dir erörtern.“
„Harda, nimm Liska mit dir,“ ſagte die Rätin er-
geben, während Eliſabeth und Roſa Kniebel den be-
trübten Widerſtand der Kleinen mit ſcharfem Räuſpern
als angeborene Widerſpenſtigkeit kennzeichneten. „Geh,
Liebling — geh! — Schließt die Tür.“
„Im Laufe der Fahre,“ begann Sebaldus unter
dem beifälligen Nicken ſeiner Schweſtern, „iſt uns die
Überzeugung geworden, daß Harda durch dich —
„WMüllbrichs gedenken wir in dieſer Beziehung nun
u Roman von Georg Hartwig (Emmy Roeppel). 31
nicht mehr — die richtige Wertſchätzung nicht erfährt,
welche Arturs Tochter für ſich in Anſpruch nehmen
darf, um nicht zu ſagen, liebe Mathilde, welche wir
Geſchwiſter für unſere Nichte beanſpruchen dürfen.
Hardas glänzende Vermögenslage von väterlicher
Seite her kann beanſpruchen, daß ihre Erziehung auf
die höchſte Stufe der Vollkommenheit gehoben wird,
und daß man ſich die Mühe gibt, ihre Charaktereigen-
ſchaften parteilos zu entwickeln, was —“ hier ſchnitt
er einen mütterlichen Einwand rettungslos ab — „bei
deiner Vorliebe und Schwäche für Liska nicht wohl
geſchehen kann. Deshalb ſchlage ich als Hardas Vor-
mund vor, daß ſie zu Oſtern, bevor du nach Berlin
ziehſt, in eine erſtklaſſige Penſion für junge Mädchen
eintritt und dort drei bis vier Jahre verbleibt.“
„Leopold würde nie darein gewilligt haben,“
flüſterte die Rätin, während ihre Tränen vor Über-
raſchung und Schreck verſiegten. „Er ſagte, die Mutter
ſei die beſte, die einzig gute Erzieherin der Töchter.“
„Es iſt uns ja ſehr intereſſant und nicht minder be-
lehrend,“ erwiderte Fräulein Lilla mit hochgezogenen
Brauen, „dieſen Ausſpruch zu vernehmen. Indeſſen auf
Arturs Tochter möchten wir doch lieber unſere eigenen
Grundſätze angewendet ſehen — ſelbſtverſtändlich mit
deiner Zuſtimmung. Wenn du aber nicht der Über-
zeugung fein kannſt, meine liebe Thilde, daß alles,
was wir tun und vorſchlagen, zu eurer aller Beſten
gedacht iſt, ja, wenn du ſo weit gehen willſt zu glauben,
wir wollten Zank und Unfrieden zu euch tragen ſtatt
Erleichterung und Wohlbefinden — wenn du noch
weiter gehen ſollteſt, unſere herzlichen Abſichten zu
beargwöhnen oder zu bezweifeln, dann tun wir beſſer,
aufzubrechen und dich deinem Schickſal zu überlaſſen.“
Fräulein Lilla ergriff, zum Zeichen des bevorſtehen⸗
32 Willſt du dein Herz mir ſchenken — 2
den Aufbruchs, energiſch ihre ſchwarzen Glacéhand-
ſchuhe, als die Rätin ihre bebende Hand reuig auf die
Rechte ihrer Schwägerin drückte. „Laß, Eliſabeth —
ich bitte dich! — Sprich weiter, Sebaldus!“
„Ich habe nichts weiter hinzuzufügen, liebe Ma—
thilde,“ ſagte Herr Kniebel mit verzeihender Nachſicht,
„als daß du die Güte haſt, dich mit meiner Wahl ein-
verſtanden oder uneinverſtanden zu erklären.“
„Es wird mir ſehr, ſehr ſchwer werden,“ flüſterte die
Rätin, ihre heißen Wangen in den Händen verbergend,
„gerade jetzt. Aber ich will mich an den Gedanken ge—
wöhnen, mein Kind —“
„Harda, davon bin ich überzeugt,“ fiel Fräulein
Lilla erhobenen Hauptes ein, „wird nichts unterlaſſen,
dir die Trennung zu erleichtern. Wenn du es wün-
ſcheſt, bereiten wir ſie darauf vor.“
„Tut es!“ ſeufzte Frau Müllbrich erſchöpft. „Nun
aber bin ich mit meiner Kraft zu Ende — und muß
allein ſein.“
Sie ſtand auf und ging langſam aus dem Zimmer
in ihr Schlafgemach, wo neben dem ihrigen des Ver-
ſtorbenen Bett ſtand, dem er an jenem Unglückstage ſo
froh und rüſtig entſtiegen war und in dem er nie
wieder Schlaf und Erholung finden ſollte. Sie ſetzte
ſich auf den Bettrand nieder, die Hände im Schoß
faltend und das blonde Haupt tief darüber neigend.
Die Dämmerung war weit genug vorgeſchritten,
alles im Zimmer mit ſchwärzlichem Grau zu um-
ſpinnen, es in anſcheinende Ferne zu entrücken und ſeine
Formen aufzulöſen. Ringsum verlor ſich jedes Ge-
räuſch. Der Wind allein rauſchte in den Zweigen der
Gartenbäume. |
Und in dieſem Dämmern, in dieſer Stille ging
die Rätin ihren Lebensweg zurück, weithin bis in die
2 Roman von Georg Hartwig (Emmy Koeppel). 33
Kinderjahre, wo ihr Vater, mehr Tyrann als Haus-
herr, jedwede Selbſtändigkeit als Ungehorſam und
Auflehnung gegen feinen ſelbſtherrlichen Willen ver-
pönte.
Damals nahm ihre ſanfte Schüchternheit als ſelbſt⸗
verſtändlich hin, was in Wahrheit alle jungen Seelen
triebe knebelte und band. Das große entſcheidende
Ja und Nein, welches über allem hing und waltete,
führte auch die Stunde herbei, welche ihren ſchlum-
mernden Hoffnungen eine unerwünſchte Überrafchung
bereitete. Der reichſte Mann der Stadt, Beſitzer einer
Tuchfabrik, Sohn eines Großinduſtriellen, warb um die
Hand des hübſchen, aber armen Mädchens.
Ein ſtattlicher Mann war Artur Kniebel. Doch
ſchon die erſten Stunden im Kreiſe der Kniebelſchen
Familie gaben ihr die Überzeugung, daß unter dem
Übermaß Kniebelſcher Unfehlbarkeit nur noch die Ein-
ſicht des eigenen Unwerts gedeihen konnte. Höchſt
unzufrieden mit ihres Bruders Wahl, ließ das Ge-
ſchwiſterkleeblatt nicht nach, ſich der Unerfahrenheit
ſeiner Braut als Lehrmeiſter aufzunötigen, bis auch
der leiſeſte Verſuch, das Joch abzuſchütteln, unter-
drückt war. So trat ſie in die Ehe ein mit einem
Mann, der aus der zärtlichen Gefügigkeit feines
Weibes nichts anderes ſchöpfte als verſtärktes Wohl-
befinden. Von früh bis ſpät im Geſchäft, verabſcheute
er daheim jedwede Störung, jeden Anſpruch auf
Stimmung und Laune, ſo daß die junge Frau, auch
nachdem ſie ihm Harda geboren, in Angſt ſich dieſem
Zwang unterwarf und nie mit einer Klage, nie mit
eigenen Wünſchen, nie mit ihrem Innenleben ſich her—
vorwagte. Dann trat die Kataſtrophe ein. Kaum
war die Fabrik infolge eines ſchweren Leidens ihres
Beſitzers in ein Aktienunternehmen verwandelt, als
1910. J. 3
54 Willſt du dein Herz mir ſchenken — 2
Artur Kniebel für immer die Augen ſchloß, jedoch nicht
ohne zuvor mit den Geſchwiſtern in Abweſenheit ſeiner
Frau ſein Teſtament aufzuſetzen. In dieſem war ſeine
Tochter Harda zur Univerſalerbin des eine halbe Million
betragenden Vermögens unter der Vormundſchaft des
Onkels Sebaldus eingeſetzt, der Witwe aber nur der
Pflichtteil hinterlaſſen .
Die Dämmerung war Nacht geworden. Noch
immer ſaß Frau MWüllbrich mit gefalteten Händen auf
dem Bettrand und ſtarrte vor ſich nieder.
Es ging ein Stern in ihrem Leben auf: die Liebe
eines anderen Mannes, eines Mannes, den ihre ganze
Seele mit ſeligem Glück umſpannte, der es verſtand
und verſtehen wollte, ihr Tun und Denken ſelbſtändig
wiederherzuſtellen, eines Mannes, dem es aber nicht
gelungen war, ſich feiner Stieftochter Herz zu ge-
winnen, noch die Familie Kniebel mit ſich und
ſeiner Ehe zu verſöhnen, der ſein eigenes Töchterchen
Liska vergötterte — und als ein Bankzuſammenbruch
das Vermögen feiner Gattin verſchlang, es ſich an-
gelegen ſein ließ, ſie mit ſeiner Liebe über den Verluſt
hinwegzutragen.
Heiße, heiße Tränen entrollten den Augen der
Trauernden.
Wenn in jenen glücklichen Tagen noch etwas in
ihr nachſchmerzte, ſo war es das Bewußtſein, durch
ihre zweite Ehe den Kniebelſchen Zorn auf ſich gelenkt
zu haben, der niemals aufhörte, dieſen Schritt als
Verirrung zu betrachten, als unmütterlichen Verſtoß
gegen die Tochterrechte Hardas.
Ein heller Lichtſtrahl fiel ins Zimmerdunkel. Harda
ſtand in der halbgeöffneten Tür, die brennende Kerze
in der Hand.
„Warum kamſt du nicht, Mama, den Verwandten
2 Roman von Georg Hartwig (Emmy Koeppel). 35
Lebewohl zu ſagen?“ fragte ſie mit gedämpfter
Stimme, aus deren Unterton verſteckte Mißbilligung
durchklang.
Die Rätin fuhr erſchreckt auf. „Sind fie fort?“
„Ja. Wir haben lange gewartet.“
Wie fie jetzt näher ſchritt, die hagere Backfiſchfigur
ſteif aufgerichtet, das Geſicht mit den dunklen Augen
und der ſcharf hervortretenden Naſe grell beleuchtet
vom Flackerſchein, ging ein Wehgefühl durch Frau
Müllbrichs Seele.
„Komm her, mein Kind! Haben ſie dir's geſagt?“
fragte ſie leiſe, die Hand ausſtreckend und Harda an
ihre Seite ziehend.
„Ja!“
„Und du?“ fragte die Rätin noch leiſer. „Du willſt.
fort von uns?“
„Ich will nicht fort von euch, Mama,“ ſagte ſie,
ruhig in das verweinte Antlitz blickend, „ich will nur
tun, was für mich am beſten ſein ſoll.“
„Wird dir dein Herz denn nicht ſchwer, gerade
jetzt, wo du uns ſo ſehr, ſehr traurig weißt?“ fragte die
Rätin, die dieſe Verſtändnisloſigkeit bitterſchwer auf
ſich laſten fühlte. „Es wäre doch natürlicher, wir
ſchlöſſen uns nun eng zuſammen und blieben in Liebe
beieinander.“
„Du behältſt ja Liska, Mama. Das iſt, wie Tante
Lilla ſagt, ein vollgültiger Erſatz.“
Da war's der Rätin, als müſſe fie die Finger ihrer
Tochter umfaſſen und aus tiefſter Seele rufen: „Ver-
gebt mir doch mein kurzes Glück —“ aber fie ſtrich nur
ſanft über Hardas Wangen. „Das ſollteſt du nicht
denken, daß jemand imſtande ſei, der Mutter ein Kind
zu erſetzen. Was mich allein tröſten könnte, iſt der
Gedanke, daß ich dein Beſtes wollte, als ich nachgab.
36 Willſt du dein Herz mir ſchenken — u
ich ſelbſt werde nur ungern mit Liska nach Berlin
gehen, denn hier habe ich doch das Grab —“
„Meines Vaters Grab liegt ja auch allein,“ unter-
brach fie Harda raſch, und ihre junge Stimme durch-
klang der nie verblaßte Vorwurf. |
Als habe fie einen Stich ins Herz erhalten, ließ
Frau Müllbrich ihre Hand herabgleiten.
Nicht lange dauerte es, da kam die Nachricht, daß
Onkel Sebaldus ein erſtklaſſiges Penſionat in Brüſſel
als ſchicklich und den Verhältniſſen entſprechend in
Ausſicht genommen habe, und er knüpfte zugleich die
Bitte daran, bei Hardas Eintritt daſelbſt von fernerer
Trauerkleidung abzuſehen.
And dann traf die Ausſtattung ein, eine Unzahl
duftiger, aufs vornehmſte gearbeiteter Toiletten, dar-
unter allein ſechs weiße Tanzſtundenkleider mit Lack-
ſchuhen, Fächern, Schärpen und Fichus. Dazu kamen
franzöſiſche Seifen von wunderſamem Duft, des-
gleichen Parfüms für Taſchentücher, ſelbſtverſtändlich
von Roger & Gallet in Paris, für Leibwäſche, ſelbſt
für die Hutkoffer, die Hardas Zimmer durchhauchten
und ſie immer mehr in die Sphäre einer höheren
Lebensberechtigung entrückten.
Einige Tage ſpäter erſchien Tante Lilla als Reife-
begleiterin Hardas, deren Aufbruch nun unmittelbar
bevorſtand.
Als fie am Teetiſch ſaßen, die Rätin voll Kummer
und Trennungsweh, voller Sorge um das trauliche
Band, welches fremde Hände gegen ihren Willen nun
zwiſchen Mutter und Tochter löſen würden, zerteilte
Fräulein Kniebel die allgemeine Spannung, indem
fie vorſchlug, mit den Taſſen auf eine glückliche Reife
und auf einen glücklichen Umzug anzuſtoßen.
. Roman von Georg Hartwig (Emmy Koeppel). 37
„Was die Reiſe anbelangt, liebe Thilde,“ ſagte ſie,
„ſo habe ich dir die Mühe und die Koſten der Beglei-
tung gern abgenommen. Auch erbieten wir uns, dir
in Berlin eine Wohnung auszuſuchen.“
„Ach, laßt es mich lieber allein beſorgen.“
„Selbſtverſtändlich, liebe Thilde,“ erwiderte Fräulein
Kniebel, ihren Hals reckend, um den Kopf abweiſend
gegen die Seſſellehne drücken zu können, „überlaſſen
wir dir die Mühe gern. Du braucht nicht zu fürchten,
daß wir dir läſtig fallen mit unſerer Fürſorge.“
„O Lilla!“ ſeufzte die Rätin. „Ja gewiß — ich
danke euch.“
Fräulein Kniebel beantwortete die Dankſagung
mit einem gnädigen Nicken. „Aber,“ ſprang ſie auf
ein anderes Thema über, „was ſagſt du dazu, daß dieſem
Schurken Riedel nicht der Kopf vor die Füße gelegt
worden iſt? Er hat ſich reingewaſchen, der Lump.“
„Ich weiß, ich weiß —“ flüſterte Frau Müllbrich
abwehrend.
„Wir hatten ſicher auf eine Anklage wegen Mords
gerechnet,“ fuhr Fräulein Lilla nachdrücklich fort, ver-
mutlich um die Charakterfeſtigkeit der Witwe zu ſtählen.
„Wir haben alles in den Zeitungen Punkt für Punkt
verfolgt. Und da rückt dieſes Ungeheuer in der Vor-
unterſuchung mit ſeiner unabgeſchoſſenen Flinte heran,
pflanzt ſich vor dem Unterſuchungsrichter auf und ſagt:
‚Mit dem Finger ſchießt man keinen tot!“ Und fo
konnten ſie ihm wegen dieſer Sache nichts an-
haben.“
„O Lilla, warum erzählſt du mir das alles?“ ſagte
die Rätin, ihre Serviette gegen die Augen drückend.
„Ich bitte dich! Es iſt ja troſtvoll, daß der Menſch nicht
ſo frevelhaft war, troſtvoll, daß Leopold durch einen
unglückſeligen Zufall ums Leben kam. So iſt es eben
38 Willſt du dein Herz mir ſchenken — 2
ſein Schickſal geweſen, als die Stunde für ihn ſchlug,
die ja für uns alle kommt.“
„Du geſtatteſt, meine liebe Thilde,“ warf Fräulein
Kniebel mit ſanftem Tadel ein, „zu bemerken, daß auch
wir nicht daran denken, ewig zu leben. Was uns in
deinem Intereſſe aber nicht abhält, abhielt und abhalten
wird, zu beklagen, daß man dieſem Geſellen nur ſechs
Jahre Zuchthaus wegen Brandſtiftung aufgebrummt
hat. Wenn du dir die Mühe geben willſt, darüber
nachzudenken, daß es nach Verlauf dieſer Zeit noch
viele Häuſer zum Anſtecken geben wird, fo kannſt du
dir vorſtellen, was die Richter für ein Kunſtſtück fertig-
gebracht haben.“
„Das ſteht in der Zukunft,“ ſagte die Rätin, ſich
erhebend, um aus dem Bereich dieſer prophetiſchen
Stimme zu kommen. „Ich möchte dieſe letzte Abend-
ſtunde noch mit Harda allein zubringen. Wir iſt,
als gäbe ich ſie für immer fort.“
Drittes Kapitel.
Die große Weide am Tiergarteneingang verſtreute
ihr Laub. Die Sommerluſt klang in die müde Herbft-
färbung aus.
Was ſich da rot und goldigbraun am Uferrand
im blauen See widerſpiegelte, was ſeine bunten Blätter
ins Gras ſtreute und flatternd im Winde flog, das
glitzerte, vom Nachtreif angehaucht, ſilberſatt auf Weg
und Steg, bis des Winters rauher Pinſel darüber
hinfuhr und jede letzte Unterſchiedlichkeit weiß über-
tünchte.
Fünf Fahre waren raſch dahingefloſſen, kaum
Atome im Begriffe Zeit, da kehrte Harda Kniebel
als ſtändiges Mitglied der Familie in ihr mütterliches
2 Roman von Georg Hartwig (Emmy Koeppel). 39
Heim in Berlin W zurück, darin fie ihre eigenen,
modern eingerichteten Zimmer bewohnte.
Die nunmehr Neunzehnjährige beſaß trotz aller
Schlankheit weiche, ſchmiegſame Glieder. Sebaldus
Kniebel und ſeine Schweſtern hatten darauf gedrungen,
daß ſie nach dem Verlaſſen des Brüſſeler Penſionats
noch ein Fahr in Montreux zubrachte, und dieſer Auf-
enthalt in der reinen Luft des Genferſees hatte ihre
zarte Geſundheit gefeſtigt und geſtählt. Tadellos in
ihrer Haltung, war das Charakteriſtiſche an ihr die
Kopfbewegung. Es mochte nicht leicht ein junges
Mädchen geben, das ſo viel Selbſtbewußtſein und hohe
Selbſteinſchätzung mit jeder Bewegung ihres Hauptes
zur Geltung brachte, als Artur Kniebels Tochter.
Das Brüſſeler Penſionat der Damen Levaſſeur wurde
vorwiegend von Töchtern des engliſchen und belgiſchen
Adels beſucht, zu denen ſich dann noch junge Mädchen
alter deutſcher Geſchlechter, ſowie der Berliner Hoch-
finanz geſellten. Hatte auch Hardas Familiendünkel
dadurch anfänglich eine merkliche Abkühlung erfahren,
ſo hatte ſich doch ſpäter ihr Selbſtgefühl wieder deſto
höher emporgereckt, als ſie ihr wachſendes Verſtändnis
lehrte, daß ſie in ihrem Reichtum hinter keiner ihrer
Mitpenſionärinnen zurückſtand.
Noch immer war ihr Teint von mattem Weiß,
aber dieſes Weiß war jetzt ſchmelzend zart — es er-
innerte an ein Lilienblatt. Die etwas volleren Wangen
benahmen der einſtmals ſcharf hervorſpringenden Naſe
das ſtörende Zuviel. Es lag Charakter in dieſem
kühnen Bogen unter ſchwarz gezeichneten Brauen, wie
auch der Mund mit ſeinen ſchmalen Lippen und das
feſtgeformte Kinn viel Willenskraft und Unnachgiebig-
keit verrieten.
Wirklich ſchön in dieſem Antlitz wären die dunklen
40 Willſt du dein Herz mir ſchenken — oa
Augen geweſen, fofern fie etwas Wärme aus fich
herausgeſtrahlt hätten, etwas von jener Herzensglut,
die da weint und lacht, nur weil ſie jung und töricht
iſt. Und doch beſaßen fie viel Ausdruck. Sie ſprachen
ihre eigenſte Sprache, die oft ſchärfer und ablehnender
klang als Worte. Nur ganz zuweilen verſchleierte ſich
ihr tiefes Braun, als glitte eine Frage darüber hin,
die ohne Antwort blieb und — verſchwand.
Das eine aber, was unzertrennlich an Hardas Er-
ſcheinung haftete und die Tanten zur Bewunderung
hinriß, war jene weltgewandte, vornehme Sicherheit,
für die es weder Hinderniſſe noch Zweifel gibt.
Mit ihrer Heimkehr begannen die Tanten ſofort,
ſie an ſich zu feſſeln. Sie gaben in ihrer prunkhaften
Wohnung in der Tauentzienſtraße Feſte über Feſte,
um den Stern der Familie darin glänzen zu laſſen
und Bewunderung für ihn einzuheimſen. Aber es
blieb ihnen verborgen, daß ihre Kreiſe, dieſe gut
bürgerlichen Kreiſe, die nach äußeren Ehren Dürſtende
viel mehr abſtießen, als anzogen. Harda nahm, ſoweit
es ſich tun ließ, den Umgang mit Bekanntſchaften, die
fie in ihrem Penſionat angeknüpft hatte, auf, vornehm-
lich den Umgang mit jungen adeligen Damen. Denn
dort allein konnte ſie finden, was ſie mit Eifer ſuchte.
Die elektriſche Straßenbahn hielt an der vorge-
ſchriebenen Halteſtelle vor dem Kaufhaus des Weſtens.
Ein halbes Dutzend Harrender, die ſich die Füße im
zerfließenden Schnee kalt geſtanden hatten, drängten
ſich auf die Plattform und, ſoweit Platz vorhanden
war, in den feucht durchdunſteten Wagen hinein. Als
letzter ſtieg ein junger Mann die Stufen hinauf, als
plötzlich, während der Schaffner bereits die Leine zog,
um das Abfahrtſignal zu geben, über den ſchlüpfrigen
D Roman von Georg Hartwig (Emmy Koeppel). 41
Aſphalt eine weibliche Geſtalt dahergejagt kam, das
Pelzbarett weit aus der Stirn geſchoben, und ſich mit
unvorſichtiger Haſt und mit einem kühnen Satz auf den
in Bewegung geſetzten Wagen hinaufzuſchwingen
verſuchte. | |
„Ich muß mit —
Über den Arm des ala ſtreckte fich in dieſem
kritiſchen Moment die Hand des jungen Mannes
energiſch aus. Ein Griff, ein Sprung, da war die
Gefahr beſeitigt, die doppelt beſtand, da im ſelben
Augenblick ein Automobil mit Schnellzugsgeſchwindig⸗
keit unmittelbar neben der Straßenbahn vorüber
ſauſte.
„War das unvorſichtig! Wie kann man nur —“
Er ſagte es unwillkürlich laut und mißbilligend.
Liska errötete noch tiefer, als ihre Eile es ſchon zu-
wege gebracht. Sie ſtrich ſich die Haare aus der Stirn,
ſchob das Barett an ſeine richtige Stelle und ſah halb
verlegen, halb befriedigt auf ihre Notenmappe. „Ich
mußte unbedingt mit.“
„Aber doch nicht mit Gefahr des Lebens!“ ſagte
der junge Mann noch immer tadelnd, ohne ſich deshalb
von einer Muſterung des jungen Mädchens abhalten
zu laſſen.
Einen reizenderen Backfiſch hatte er nie geſehen.
Wie allerliebſt ihr die ſchweren blonden Zöpfe über
die Schulter fielen, indes ein Kranz natürlicher Löd-
chen die Stirn umrahmte. Darunter leuchteten zwei
tiefblaue Augen, von dunklen Wimpern ausdrucksvoll
beſchattet. In feingebogenen Linien zogen ſich die
Brauen darüber hin, wie gemalt auf der roſigen
Haut des Geſichtchens. Nichts Hübſcheres als das
Lippenpaar mit ſeinem Zahnſchmuck dahinter, der
gar nicht anders konnte, als glänzen. Dazu ein
42 Willſt du dein Herz mir ſchenken — 2
zierliches Näschen mit etwas keck geſchweiften Flügeln,
ein liebliches Oval und ganz beſonders kleine Ohren,
die ſich der Form des Kopfes wahrhaft kokett an-
ſchmiegten.
„Ich ſagte ja ſchon, daß ich nicht zu ſpät kommen
darf,“ erwiderte fie, als der Schaffner aus dem Wagen-
innern wieder auf die Plattform trat, um auch von
ihr den Fahrgroſchen zu erheben. „Ich darf wirklich
nicht.“ |
„Etwas früher fortgehen,“ ſagte er unvermindert
ernſt. „Oder etwas länger warten.“
„Das ſtimmt!“ Liska nickte beipflichtend, während
ſie in die Taſche griff, ihr Geldtäſchchen hervorzuholen.
Irgendwo mußte es feſtſitzen. Alſo riß ſie haſtig den
Handſchuh von der Hand und fuhr von neuem überaus
kräftig in die Taſche. Plötzlich deckte eine tiefe Schar-
lachröte ihr Geſicht. „Ich hab's beim Laufen ver-
loren oder zu Hauſe vergeſſen. Bitte, laſſen Sie mich
abſteigen,“ flüſterte ſie verlegen.
Ohne ein Wort zu verlieren, zog der junge Mann
einen Zehner aus ſeiner Taſche und gab ihn dem
Schaffner. „Sie geſtatten, mein Fräulein,“ ſagte er,
ihr den Fahrſchein überreichend. „Bitte!“
„Aber das geht doch nicht,“ flüſterte Liska über
die Maßen beſchämt.
„Was geht nicht?“ fragte er lächelnd, ihre heiße
Nöte wiederum höchſt allerliebſt findend. „Wollen
Sie den weiten Weg zu Fuß laufen? Ich denke, Sie
dürfen nicht zu ſpät kommen?“
Sie nickte eifrig. Ach, du lieber Himmel, wenn das
Harda erfuhr! Und die Tanten! Onkel Sebaldus war
auch nicht zu verachten. Gegen ſolches Quartett kam
ja keine andere Stimme auf. „Sch weiß bloß nicht —“
ſtammelte ſie ganz gegen ihre Gewohnheit ſcheu.
1 Roman von Georg Hartwig (Emmy Roeppel). 43
„Vielleicht treffen wir uns noch einmal im Leben,“
ſagte er beruhigend. „Oder Sie geben den Groſchen
einem Armen.“
„Ja, das geht!“ Sie ſah ihn mit ihren leuchtenden
Augen ſchon halb und halb getröſtet an.
Der Wagen hielt plötzlich, nachdem er ſchon einige
Zeit zuvor nur ruckweiſe vorwärts gekommen war.
„Was gibt's denn da, Schaffner?“ rief der junge
Mann ungeduldig.
„Auf dem Lützowplatz iſt ein Vagen entgleiſt.“
„Wie lange wird's dauern?“
„Eine Viertelſtunde mindeſtens.“
„Dann gehe ich,“ ſagte Liska, kurzerhand ab-
ſpringend. „Bis in die Lützowſtraße komme ich ſchon.“
„So haben wir einen Weg.“
Es war ganz natürlich, daß ſie beide zuſammen
auf dem Pflaſter ſtanden und auch zuſammen über die
Straße nach dem Trottoir ſchritten. Ob es aber auch
natürlich und ſtatthaft war, daß fie ſelbander weiter-
gingen? Liska legte ſich plötzlich dieſe Frage mit
beunruhigendem Herzklopfen vor, indem ſie ihren
Begleiter zweifelnd anſah.
„Studieren Sie Muſik?“
Auf eine ſolche Frage konnte ſie doch nicht ohne
Antwort davonrennen. Aber die Tanten! Wenn ſie
jetzt hier vorbeikamen und dieſe Begleitung ſahen!
„Ich klimpere etwas,“ erwiderte Liska, im ge-
heimen Umſchau haltend.
„Suchen Sie etwas?“ fragte er ſtehen bleibend.
„Nein. — Sch habe nämlich Verwandte, die plagen
mich mit Muſikſtunden,“ ſagte fie haſtig, und ein aller-
liebſter Schelm ſpielte um die roten Lippen. „Sonſt,
na —
Er betrachtete ihre zierliche Geſtalt, die wie eine
44 Willſt du dein Herz mir ſchenken — 2
Bachſtelze elaſtiſch dahinſchritt. „Verzeihung — be-
ſuchen Sie noch die Schule?“
„Die Oberklaſſe,“ verbeſſerte ſie, lachend zu ihm
aufſehend. „Ich bin jetzt in der erſten, aber nicht die
Erſte. Kennen Sie vielleicht den Nürnberger Trichter?“
„Leider nicht. Aber mir wäre er auch ganz zu—
träglich.“ |
Nun lachten beide.
Sie hätte gern etwas Näheres über den Fremden
erfahren, aber da ſie in dieſem Augenblick vor ihrem
Ziele angelangt war, blieb ſie ſtehen. „So, hier geht's
los mit Pauken und Trompeten.“
„Na, da wünſche ich viel Vergnügen,“ entgegnete
er, noch einmal das reizende Geſicht betrachtend. „Ich
gehe nun auch ins Bureau.“
Sie ſpitzte die Ohren.
Aber er ſagte nur noch: „Auf Wiederfehen —
hoffentlich!“ |
Das war ſehr wunderbar. Noch wunderbarer war
es, wie er dazu kam, ihr die Hand zu reichen. Aber
da es nun einmal geſchah, und er ihr doch den Groſchen
gegeben und ihr aus einer großen Verlegenheit ge-
holfen hatte, hielt Liska ſich für verpflichtet, ihre
Rechte tapfer hineinzulegen.
„Auf Wiederſehen! Und vielen Dank!“
Er grüßte lächelnd und ging ſeines Weges. —
Ebenſo luſtig, wie ſie die Stufen hinaufſprang,
hüpfte ſie anderthalb Stunden ſpäter die Treppe
zum Hochparterre empor, wo die Rätin für ſich und die
beiden Töchter eine geräumige Wohnung innehatte.
Der Ruck, mit welchem Liska die Glocke zog, war
kräftig genug, einen Aufſchrei im Wohnzimmer hervor
zurufen. Im Nu ging die Tür auf, und Fräulein
Lilla Kniebel, die mit ihrer Schweſter Roſa der Rätin
D Roman von Georg Hartwig (Emmy Koeppel). 45
einen Beſuch abſtattete, beförderte die Nichte in den
Flur.
„Wer anders als die liebenswürdige Lis ka hätte 11
der guten Tante Roſa einen ſolchen Todesſchreck einjagen
können! — Die Füße trittſt du dir wohl nie ab?“
„Nein! Ich bin keine Watſchelente,“ lachte Liska,
an ihr vorüberſtürzend mitten ins Zimmer hinein,
wo die Rätin neben Fräulein Noſa auf dem Sofa ſaß,
während Harda auf dem efeuumrankten Fenſterſitz im
grünen Schatten lehnte und auf die Straße hinabſah.
„Mutterchen — Harda — Tante! Was ich erlebt
habe!“
Ohne ſich Zeit zu gönnen, das Barett vom Kopf
zu nehmen, die Mappe lebhaft hin und her ſchwenkend,
berichtete Liska ihre Lebensrettung und die Groſchen-
geſchichte. Eine Erzählung, in deren Verlauf Harda
entrüſtet aufſtand, und Fräulein Lilla zum Zeichen
ihres Entſetzens ihr Armband abnahm und nahdrüd-
lich auf den Tiſch legte.
„Mathilde, ich bin baff! Einfach baff!“
„O Lilla,“ ſagte die RNätin mit weicher Innigkeit,
„ich bin glücklich, daß Liska geſund vor uns ſteht!“
„Mädchen — Mädchen,“ ſeufzte Tante Nofa, „was
wird man an dir noch erleben!“
„Was iſt denn nur los?“ fragte Liska mit hellem
Lachen. „Alle Tage kommt's nicht vor, daß einem ſo
aus der Patſche geholfen wird.“
Harda legte ihre Hand um Liskas Arm. „Einen
ſchönen Begriff wird er von dir bekommen haben —
dieſer Menſch!“
„Er iſt kein Menſch,“ fiel ſie glühend ein.
„Nicht? Was iſt er denn? Ein Pferd?“
„Ganz ehrlich, Thilde,“ ſagte Tante Lilla, indem
ſie ihr Armband energiſch wieder an der gehörigen
46 Willſt du dein Herz mir ſchenken — 1
Stelle befeſtigte, „alles, was recht iſt! Der Höhepunkt
iſt erreicht. Ich denke, wir übergeben nun das weitere
an Sebaldus.“
Über Liskas Wangen rannen plötzlich Tränen.
Sie ſtürzte zur Nätin und drückte ſich, ohne Tante
Roſas Sitzanrecht zu beachten, neben Frau Müllbrich
in die Sofaede und umſchlang ihren Hals. „Mutter,
du ſchiltſt nicht. Dir bin ich ebenſo lieb wie Harda —
nicht wahr, mein gutes Mutterchen?“
„Aber gewiß doch! Du biſt nur noch ein rechtes
Dummerchen. Der Groſchen braucht dir aber keine
Sorge zu machen.“ Sie ſtreichelte liebevoll die feuchten
Wangen.
„Ich will ihn lieber gleich an die Ecke tragen, wo
die alte Frau mit den Streichhölzern immer ſitzt. —
Übrigens, Mutterchen,“ bat fie dann ſchmeichelnd,
„nimmſt du mich heute abend mit zu Kroll in die
Wohltätigkeitsvorſtellung? Bitte — bitte!“
„Du haſt ja nichts anzuziehen, Herzchen,“ ſagte die
Rätin ſchwankend.
„Harda ſchenkt mir ihr kurzes weißes Wullkleid.
Das machſt du mir noch ſchnell zurecht. — Nicht wahr,
Harda, du gibſt es mir?“ |
„Meinetwegen,“ ſagte Harda achſelzuckend.
„Denn ſiehſt du,“ fuhr Liska erregt fort, „es iſt
gar kein Vergnügen, immer allein zu Hauſe zu bleiben.
Meine Freundinnen werden auch mitgenommen. —
Bloß zum Konzert, Mutter. Nachher holt die Guſte
mich ab.“
„du wirſt doch nicht fo ſchwach fein, Thilde,“ ſagte
Tante Lilla kopfſchüttelnd, „das Kind, deſſen Zukunft
ganz von ſeiner Ausbildung abhängt, ſo nutzlos zu
zerſtreuen. Ich bitte dich, was wird Sebaldus dazu
ſagen!“ |
2 Roman von Georg Hartwig (Emmy Koeppel). 47
„Die paar Stunden!“ fiel die Nätin überredend
ein. „Morgen wird ſie deſto fleißiger ſein.“
„Mit verſchlafenem Kopfe!“
„Mit meinem Kopfe werde ich ſchon kurzen Prozeß
machen, Tante,“ rief Liska, aus der Stube ſtürmend.
„Jetzt wird gebüffelt wie toll!“
Als die Tanten ſich mit Harda zurückzogen, ſaß
Frau Müllbrich in Gedanken verſunken ein Weilchen
still. Dann ftand fie auf und ging in das Neben-
zimmer, wo Liska mit einem Buch in der Hand laut
lernend um den Tiſch rannte.
„Ich möchte etwas Ernſtes mit dir beſprechen,
ganz allein,“ ſagte die Rätin, ſich in die Fenſterecke
ſetzend. „Komm, Kind!“
Liska ſchleuderte das Buch beiſeite und ließ ſich vor
Frau Müllbrich auf die Kniee nieder, ihren Blondkopf
in den mütterlichen Schoß ſchmiegend. „Das iſt ſchön,
Mutterchen. Die anderen reden immer ſo viel da-
zwiſchen.“
„Sieh, Kind,“ begann die Rätin leiſe, die weichen
Wangen liebevoll ſtreichelnd, „du wirſt ſchon bemerkt
haben, daß zwiſchen dir und Harda ein gewiſſer Unter-
ſchied beſteht.“
„Natürlich,“ ſagte Liska beifällig. „Sie iſt ja
ſchon eine Balldame.“
„Nun, die Sache liegt noch anders,“ fuhr die Rätin
bewegt fort. „Hardas Vater war ein reicher Mann,
während dein guter Vater nichts beſaß als ſein Gehalt.
Demgemäß befand ſich Harda als reiche Erbin immer
in einer glänzenderen Lage als du. Das Vermögen,
weelches ich von Hardas Vater erbte, ging durch fremde
Schuld verloren. Sch habe wenig, ſehr wenig mehr
als meine Witwenpenſion. Wenn Harda heiratet und
die Penſion, welche Onkel Sebaldus jetzt für ſie zahlt,
48 Willſt du dein Herz mir ſchenken — D
mir verloren geht, dann heißt es für uns beide, von
meinem Einkommen leben. Das ginge ja auch ganz
gut, wenn —“
„Sehr gut wird's ehe Mutterchen,“ e
Liska eifrig bei.
Frau Müllbrichs Hand liebkoſte das blühende Ge-
ſichtchen immer zärtlicher. „Solange ich lebe — ſchon.
Aber ſieh,“ fuhr fie fort, „Harda kann ſich jeden Tag
verloben und heiraten. Sie iſt reich — du biſt arm.
Deshalb wollen wir — ich meine Onkel Sebaldus und
die Tanten — dich für alle Fälle auf eigene Füße
ſtellen.“
Liska blinzelte zaghaft unter den dunklen Wimpern
aufwärts. „Mutterchen, du glaubſt alſo nicht, daß für
mich auch einmal eine Verlobung abfällt?“
„Nein, Kindchen, das glaube ich nicht,“ ſagte die
Rätin lächelnd. „Ich könnte dir höchſtens ein Dutzend
Taſchentücher mitgeben.“
„Na. dann laß es eben laufen, wie es laufen will.“
Die Rätin küßte die Stirn ihrer Füngſten und ging
befriedigt und erleichtert aus dem Zimmer. Ach, wenn
dieſes erwärmende Gefühl, dieſe glückliche, belebende
Mutterfreude ihr doch auch in Hardas Nähe gegeben
wäre! Sie konnte nicht anders, trotz allen Ringens,
als in Artur Kniebels Tochter etwas ihr ferner Stehen-
des zu ſehen als in Leopold Müllbrichs Kind. Tauſend-
mal hatte ſie ſich ſelbſt und ganz allein die Schuld
daran zugeſchrieben und danach immer wieder verſucht,
durch noch mehr ZInnigkeit und Fürſorge dieſes läh-
mende Gefühl zu zerſtören und ſich tiefer in Hardas
Gedankengang zu verſenken. Aber wenn ſie ihrer
Betrübnis ganz ehrlich nachging, dann mußte ſie ſich
mit der Wahrheit abfinden, daß niemals ein kindliches
Anhänglichkeitsſehnen, nie ein harmloſes Sichanſchließen
*
2 Roman von Georg Hartwig (Emmy Roeppel). 49
die einſtmalige Kleine von der jetzt Erwachſenen unter-
ſchied.
„Meine liebe Harda,“ ſagte ſie, in deren elegant
eingerichtetes Wohnzimmer tretend, „wenn du mir
jetzt das Kleid für Liska geben willſt —“ ä
Das junge Mädchen ſtand vom Schreibtiſch auf.
„Du haſt zu wählen, Mama.“ Aber ihre Gedanken
waren nicht bei der Sache, und ihre Stimme verriet
kein Intereſſe.
„Du glaubſt doch nicht,“ fragte die Nätin, „daß die
Tanten es im Ernſt übelnehmen werden, wenn ich
Liska ins Konzert mitnehme?“
„Sicher, Mama — ſehr übel. — - Willſt du keine
Schärpe?“
„Gewiß. Ich habe es ihr doch nun einmal ver-
ſprochen, Harda,“ verſetzte die Rätin, in ihre altge-
wohnte Zaghaftigkeit verfallend. „Ich ſtehe immer
zwiſchen zwei Feuern —“
Es klingelte an der Flurtür, ſanft, aber nach-
drücklich.
„Ich kann dir wirklich nicht helfen, Mama — am
wenigſten deinen Standpunkt begreifen.“
Herr Sebaldus Kniebel war ins Wohnzimmer ein-
getreten. Frau Wüllbrich, trüber Ahnung voll, be-
mühte ſich, ihn zuvorkommend zu empfangen. Er
hatte ja feine bisherigen Verſprechungen tadellos ge-
halten, indem er Liska auf ſeine Koſten die Schule
beſuchen und ihr ſehr teure Muſikſtunden geben ließ,
damit freilich auch zugleich ſeine Vormundſchaft wie
ein Siegel auf die Unmündigkeit der Heranwachſenden
drückend.
„Liebe Schwägerin, um dir eine weitere Mühe zu
erſparen,“ begann er, der Rätin Hand ergreifend,
„möchte ich einige Worte mit Liska ſprechen.“
4
1910. I.
50 Willſt du dein Herz mir ſchenken — 2
„Liska!“ rief die Rätin, beſorgt nach der Tür
eilend.
„Was iſt denn los?“ antwortete die helle Stimme
nebenan. — „Ah, guten Tag, Onkel Sebaldus! Haſt
wohl ſchon gehört, was ich heute verbrochen habe? Na,
Schwamm drüber!“
Die korrekte Haltung des Herrn Kniebel verlor
nichts an Würde, als er Liskas Finger ſozuſagen
erziehend in ſeiner Rechten feſthielt.
„Ich habe alles gehört, mein Kind, und ſcheue den
Weg nicht —“
Die Rätin raſchelte wie unverſehens mit dem
Schlüſſelkorb, für Liska ein Zeichen, ſich angemeſſen
zu verhalten. |
„Das iſt wirklich hübſch von dir, Onkel,“ fagte fie
beſcheiden.
cch denke wohl. Mein Kommen hat zunächſt den
Zweck, dir ein ſolches unüberlegtes Gebaren, wie
du dir heute haſt zuſchulden kommen laſſen, ein für
allemal ſtrengſtens zu unterſagen. Es könnte ſonſt
leicht geſchehen, daß ich dir die Beihilfen, die du
von mir zu genießen das Glück hatteſt, entziehen
müßte.“
„Nanu! War denn das ſo ſchlimm?“ ſchlüpfte es
Liska erſchrocken über die Lippen.
Die Rätin raſchelte wieder bedeutſam.
„Deine Mutter wird mir beipflichten,“ fuhr Herr
Kniebel mit peinlicher Güte fort, der Rätin ermunternd
zunickend, „wenn ich ſie auf eine gewiſſe Anlage zur
Leichtfertigkeit in deinem Weſen hinweiſe.“
„O, lieber Schwager — bei ihrer Jugend!“ warf
Frau Müllbrich dazwiſchen.
Herr Sebaldus räuſperte ſich vielſagend. „Ich bin
gern bereit, meine Vormundſchaftsrechte einem anderen
OD Roman von Georg Hartwig (Emmy Roeppel). 51
abzutreten, ſofern ich mit meinen Anſchauungen läftig
falle.“
„Niemals — niemals!“ rief die Nätin völlig ein-
geſchüchtert. „Wie kannſt du nur daran denken!“
„Gut,“ ſagte er, und die ihm eigene ſalbungsvolle
Milde tränkte ſeine Worte reichlicher. „Dann will ich
zu dem zweiten Grund meines Kommens übergehen.
Ich erachte es für angebracht, endlich einmal zu dir
ſelbſt über deine weitere Erziehung ernſtlich zu ſprechen.
— Sie haben, liebe Schwägerin, Liska wohl noch nicht
in unſere Pläne für ihre Zukunft eingeweiht?“
„Nur angedeutet,“ erwiderte die Rätin, ſich ge-
troffen fühlend, „nur im allgemeinen.“
„Nun alſo. Unſere Erziehungspläne, liebe —“
„Sage bloß, Mutter,“ rief Liska, einen roten Kopf
bekommend, „wie viele Leute erziehen mich eigentlich?
Ich dachte immer, du wärſt's allein.“
Der Schlüſſelkorb raſchelte wieder.
„Keine Sorge, liebe Schwägerin,“ ſagte Herr
Kniebel abwehrend, „ich will nichts gehört haben.
Anſer Plan geht dahin, mein Kind, dich einer ver-
mögensloſen Unficherheit zu entreißen und ſelbſtändig
als ein nützliches Mitglied der menſchlichen Geſellſchaft
hinzuſtellen. Zu dieſem Zweck ſollſt du bis zu deinem
neunzehnten Fahre — wenn du recht fleißig biſt,
könnte das Ziel auch eher erreicht werden — das
Seminar beſuchen, um das Lehrerinnenexamen zu
machen. Ich werde dafür ſorgen, daß du dann ſo bald
als möglich eine Anſtellung erhältſt und durch weiſe
Sparſamkeit allmählich ſo viel zurücklegſt, dich für
deinen Lebensabend in ein friedliches Damenſtift oder
Feierabendhaus zurückziehen zu können.“
Liska war dieſer Auseinanderſetzung mit immer
größer werdenden Augen gefolgt. Das Raſcheln büßte
52 Willſt du dein Herz mir ſchenken — 2
dabei ſeine Wirkſamkeit vollſtändig ein. Ihre ganze
zierliche Geſtalt geriet in Aufruhr, und wie aus der
Piſtole geſchoſſen fuhr es ihr über die Lippen: „Mit
Altjungfernſtift und Feierabendhaus ſoll mir niemand
kommen, wo ich noch nicht einmal die Weisheitszähne
habe! — Mutterchen, willſt du mich denn durchaus
los ſein?“
„O, Liska — Herz!“ bat Frau Wüllbrich, die
Schluchzende in ihre Arme nehmend. „Mein Leben
dauert ja nicht ewig.“
„Aber ſolange es dauert, bleibe ich bei dir!“ rief
Liska mit zitternden Lippen, die ſie immer wieder
auf der Rätin Wangen drückte. „Vielleicht ſterben wir
raſch zuſammen. Schick mich nicht weg, Mutter! Was
die anderen wollen, iſt mir ganz egal, ich höre nur auf
dich und will alles tun, was du willſt. Meinetwegen
kann ich ja bis zu Methuſalems Alter weiter büffeln,
aber von dir gehe ich nicht fort. Denke nur, was der
gute Vater dazu ſagen würde!“
Herr Kniebel räuſperte ſich kurz und energiſch.
„Wenn das der Anfang iſt —“
„Lieber Schwager,“ fagte die Rätin, von dieſer
Berufung bis zu Tränen gerührt, „Liska wird deinen
Anordnungen Folge leiſten. Laß ihr nur erſt Zeit,
ſich damit abzufinden. Heute m wird fie jedenfalls
zu Haufe bleiben.“
Sie nahm ihre Tochter und führte ſie aus dem
Zimmer. —
Als es Abend wurde, und das elektriſche Licht in
Hardas Gemächern aufflammte, trat Frau Wüllbrich
in ihrem ſchlichten Geſellſchaftskleide ein, um ihrer
Tochter beim Ankleiden behilflich zu ſein. Es war das
erſte Mal, daß ſie mit Harda in eine große Geſellſchaft
ging, aus Pflichtgefühl, obwohl die Tanten, denen es
2 Roman von Georg Hartwig (Emmy Koeppel). 53
weiter keine Schwierigkeiten machte, die teuren Ein-
trittskarten zu erſtehen, ſich heute gleichfalls zu dem
Wohltätigkeitsfeſt einfinden wollten.
Eine reizende Toilette aus roſa Libertyſeide glänzte
ausgebreitet auf den Seſſeln. Daneben lag ein koſt⸗
barer Fächer, ein weißer Abendmantel, eine Berler-
kette und andere Schmuckfachen.
„Ich wollte dir helfen,“ ſagte die Rätin erſtaunt.
„Ich ſehe, du biſt noch weit zurück.“
Harda warf einen Blick auf ihre Uhr. „In der Tat!“
Sie war bleicher als fonft und der ſprechende Zug um
ihre Lippen merkbarer.
„Wie haben ſich die Zeiten geändert!“ ſagte die
Rätin kopfſchüttelnd. „Wenn ich daran denke, wie
ſelig mir vor einem ſolchen Vergnügen zumute war.
And wie beſcheiden war alles gegen jetzt. Mein erſtes
Tarlatanballkleid koſtete keine zehn Mark.“
„Ich bitte dich, Mama,“ entgegnete Harda unge-
duldig, „nicht gerade jetzt unmögliche Vergleiche an—
zuſtellen. Es tut mir leid, daß wir überhaupt zu dieſer
Borſtellung gehen — ja, ſehr leid!“
„Weshalb denn?“ fragte die Rätin ſtaunend. „Wir
bleiben ja doch auch zum Ball dort.“
„Zum Ball!“ ſagte Harda achſelzuckend. „Sehr
gut! Wir bezahlen eben alles.“
„Du willſt es doch nicht geſchenkt haben?“ fragte
die Rätin noch erſtaunter.
Harda klappte den koſtbaren Fächer einige Male
nervös auf und zu. „Nein, allerdings nicht. Zuſehen
darf ich, aber mitzuwirken im Konzert oder bei den
lebenden Bildern — dazu hat mich niemand auf-
gefordert, obwohl Anne Grottfuß in meiner Gegen-
wart förmlich dazu gepreßt wurde, und die Exzellenz,
die aufforderte, aus meinen Bemerkungen heraus-
54 Willſt du dein Herz mir ſchenken — 2
gehört haben mußte, daß ich ſofort bereit geweſen
wäre —“
„Aber Kind,“ fiel Frau Müllbrich beſänftigend ein,
„Geheimer Kommerzienrat v. Grottfuß! Das iſt doch
etwas anderes. Die Familie iſt übrigens immer
liebenswürdig zu dir.“
„Ich will gar keine Liebenswürdigkeit,“ ſagte
Harda, die Perlenſchnur umlegend, „die nach Herab-
laſſung ſchmeckt. Ich habe ſelbſt Vermögen genug.
Nur adelig müßte ich ſein, dann hätte die Exzellenz
ſchon Augen und Ohren für mich gehabt.“
„Adelig!“ ſagte die Rätin beinahe ſprachlos vor
Erſtaunen. „Das iſt ja unmöglich!“
„Warum? Mein Vater hätte ſich ebenſogut den
Adel beſorgen können wie dieſer Grottfuß,“ warf Harda
mit ſchroffer Beſtimmtheit ein. „Hoffentlich zweifelſt
du nicht daran. Meinſt du nicht, daß ich das ſimple
Fräulein Kniebel herausfühle, wenn ich bei Lilli v. Ek-
hoff, der Baroneſſe Erlach oder der Komteſſe Bentheim
bin, die mit mir im Penfionat Levaſſeur waren? Nur
die reiche Penſionsfreundin bin ich für ſie, zu ihnen
ſelbſt gehöre ich nicht.“
„Dann würde ich den Umgang mit den Baroneſſen
und den anderen jungen Damen lieber aufgeben,“
ſagte die Rätin.
Harda erwiderte nichts. Ihre Toilette war beendet,
ihre Erſcheinung tadellos.
„Das Kleid ſteht dir jo gut!“ bemerkte die Nätin
bewundernd.
Die ſchlanke Figur hob ſich reizvoll aus der matt-
farbigen Faſſung, die auch der blaſſen Hautfarbe einen
roſigen Schimmer verlieh. Das reiche dunkle Haar,
einfach geordnet, rahmte das ſchmale Geſicht wir-
kungsvoll ein.
2 Roman von Georg Hartwig (Emmy Koeppel). 55
Die Rätin, dieſes Geſamtbild voll mütterlichen
Stolzes betrachtend, legte ſanft die Rechte um Hardas
Schulter. „Ich möchte dich ſo gern froh und glücklich
ſehen, aber ich weiß nicht, wie dein Glück ausſchauen
müßte. Mir iſt manchmal bange darum, ob du das
Richtige finden und treffen wirſt.“
„Ich hoffe es, Mama, aber ich gebe mir in dieſem
Augenblick keine Rechenſchaft darüber.“
Wie ſie daſtand, das Haupt ſelbſtbewußt erhoben,
die Augen ruhig in die Ferne richtend, erfaßte die
Rätin eine unbeſtimmte Angſt. „Wenn ich nur
wüßte, ob du dir ſelbſt gegenüber offen und ehrlich
biſt.“
„Mehr als zuviel,“ ſagte Harda lächelnd. „Sch
meine immer, du habeſt nie Grund gehabt, dich über
Anaufrichtigkeit zu beklagen.“
„Aber es gibt innere Vorgänge, es gibt Hoffnungen
und Wünſche, die zur Selbſttäuſchung verleiten, die
man für Glück anſieht und zu ſpät als das Gegenteil
erkennt.“
„Beunruhige dich nicht, Mama,“ fiel Harda un-
geduldig ein. „Ich gehe meinen Weg, einen ganz
beſtimmten Weg.“
„Wenn ich nur wüßte, daß er dich nicht zu Außen-
dingen führte.“
„Was nennſt du Außendinge?“ fragte ſie raſch.
„Venn Außendinge den inneren Menſchen befriedigen
und die Baſis ſeiner Zufriedenheit ſind, dann ſind es
eben keine Außendinge mehr, ſondern Lebensbedin-
gungen. Und Lebensbedingungen falſch oder richtig
zu nennen, geht nicht wohl an, ſolange Charakter und
Geſchmacksrichtungen nicht über einen Kamm geſchoren
werden können. Das „Glück im Winkel“ iſt nicht mein
Fall, deſſen mußt du dich verſichert halten. Du haſt
56 Wulſt du dein Herz mir ſchenken — 2
die Welt nicht geſehen — die große, ſchöne Welt.
Darin etwas zu ſein, Mama, etwas, das nicht ſo leicht
überſehen wird, etwas, das für die Neugier, meinet-
halben auch für den Neid etwas bedeutet, das iſt —“
Sie brach haſtig ab und griff nach ihrem weißen
Abendmantel.
Die Rätin, dieſem Bekenntnis ratlos gegenüber-
ſtehend, lenkte ab. „So will ich mich von Liska verab-
ſchieden.“ Sie ging raſch ins Wohnzimmer zurück,
dem eine wahre Katzenmuſik entquoll.
Ihren erſten heißen Schmerz zu betäuben, verſetzte
Liska bei jedem falſchen Griff den Taſten einen voll-
gültigen Hieb, ſo daß ſie wie gepeinigt aufſchrillten.
„Was machſt du denn da, Herz?“
„Ich verwichfe jemand in Gedanken,“ ſagte ſie,
hurtig mit dem Zopf über die Augen fahrend. „O, wie
nett ſiehſt du aus, Mutterchen! Dein Staatskleid —
alle Wetter! Na, amüſiert euch gut!“ Sie küßte der
Rätin die Hand und legte fie geſchwind einmal über
ihre rebelliſchen Augen.
„Im Schränkchen,“ flüſterte Frau Müllbrich zärt-
lich, „ſtehen zwei Apfelkuchen für dich — diesmal mit
Schlagſahne.“
„O, Mutterchen!“
„Ja. Und in der Küche iſt ein Töpfchen Schoko-
lade für dich warmgeſtellt.“
„Biſt du eine ſüße Mutter!“ rief Liska begeiſtert.
„Gute Nacht! Recht viel Vergnügen, mein allerliebſtes
Mutterchen!“ —
Fort rollte die Drofchte über den glitſchigen Aſphalt.
Der Wind wehte zum Fenſter herein und vertrieb den
muffigen Geruch des Innern, welcher Harda diesmal
unerträglich auf die Nerven fiel.
Je näher ſie im Tiergarten der Querallee kamen,
2 Roman von Georg Hartwig (Emmy Koeppel). 57
und je tiefer ſie in dieſelbe einbogen, um endlich über
den Damm hinüber vor den Eingang zu gelangen,
deſto mehr verſtärkte ſich der Zufluß herrſchaftlicher
Automobile und Equipagen. In langen Reihen,
ſchrittweiſe vorrückend, ſtanden die Gefährte noch, als
Frau Müllbrich und Harda ſo glücklich waren, aus der
Garderobenbedrängnis in den Theaterſaal einzutreten,
wo bereits eine glänzende Verſammlung ſich ein-
gefunden hatte.
Frau Müllbrich, deren Platznummer ſich in einer
der mittleren Sitzreihen befand, hielt ängſtlich Umſchau
nach der Familie Kniebel, während Harda, obwohl
geſchmeichelt durch das ſichtliche Aufſehen, welches ihre
Erſcheinung in der nächſten Umgebung machte, voll
ungemilderter Bitterkeit nach dem Vorhang ſchaute,
hinter dem mittätig zu ſein der höchſte Wunſch ihres
Lebens war.
Wohin ſie hörte, gab's Exzellenzen, Gräfinnen
und Baroninnen. Aus den Logen nickte die Hof-
geſellſchaft Grüße herab. Durchlauchtige Namens-
träger und exotiſche Gäſte bewegten ſich in großer
Anzahl unter der Menge.
Wer dachte da an das Fräulein Kniebel trotz
ihrer halben Million! Auch die Tanten und Onkel
Sebaldus erſchienen ſoeben in großer Toilette an der
zugigen Tür — Herr Kniebel leider ohne jeglichen
Ordensſchmuck auf dem ſchwarzen Frack, während
ringsumher ganze Schwärme von Sternen nieder-
gefallen zu fein ſchienen. Was Harda aber aufs tiefſte
verletzte, war, daß die Exzellenz, welcher ſie kürzlich
von Anne v. Grottfuß in aller Form vorgeſtellt war,
von ihrem genau abgepaßten Gruße, der geſehen wer-
den mußte und ſollte, nicht die geringſte Notiz nahm,
ſondern geſchäftig als Vorſtandsdame einer hohen
58 Willſt du dein Herz mir ſchenken — 1
Perſönlichkeit entgegeneilte. Und wie hatte fie auf
dieſen Gegengruß gewartet und gerechnet!
Mochten die muſikaliſchen Vorführungen und die
lebenden Bilder auf der Bühne noch fo ſtürmiſch be-
klatſcht vorüberziehen, mochten die Mitwirkenden noch
jo ſtrahlend ihren Dank knickſen, Harda achtete faſt nicht
darauf. Eine neue Frage beſchäftigte ſie ausſchließlich:
Wo ſoll hier ein Tänzer für mich herkommen? Aus-
genommen einige junge Bankbeamte, die im Kniebel-
ſchen Haufe verkehrten und die reiche Erbin eifrig um-
ſchwärmten, kannte ſie niemand.
Ja, die Gardeoffiziere mit den tönenden Namen!
Anne v. Grottfuß tanzte ſchon mit einem feſchen Huſaren
lachend davon.
Wie ſie ſich zur Seite wandte, fiel ihr Blick auf eine
Männergeſtalt, die, in verbindlichſter Weiſe von den
älteren Damen begrüßt, ſich jetzt mit liebenswürdigem
Lächeln der jungen Welt zuwandte.
„Graf Brankowan —“ hörte fie eine Stimme neben
ſich ſagen.
Harda ſah ſchärfer hin, und ein ſeltſames Gefühl kam
über ſie beim Anſchauen dieſes Mannes, deſſen Außeres
aus der ihn umgebenden Menge wunderſam hervorſtach.
Das Deckenlicht milderte die gelbliche Färbung ſeines
Geſichts in ein wächſernes Weiß, von dem das tiefe
Schwarz des Bartes für den erſten Moment befrem-
dend abſtach. Die ſchmale, energiſch gewölbte Stirn
mit den eingedrückten Schläfen und der über ihre
Mitte fallenden Haarwelle konnte klaſſiſch genannt
werden. Nicht aber die ſcharfgebogene Naſe, die dem
Geſicht etwas Hartes und Grauſames verlieh, das
indes unter dem einnehmenden Glanz dunkler Augen
und der Wirkung geſchmeidiger Bewegungen wieder
verloren ging.
2 Roman von Georg Hartwig (Emmy Koeppel). 59
Harda ſchwankte noch, ob ſie dieſes Antlitz ſchön
oder häßlich finden ſollte, als ſie einen plötzlichen Ruck
ſpürte, der ſie unwillkürlich einen Schritt vorwärts
zog. Ein paar Tanzſporen hatten ſich beim Vorbei—
walzen in ihren Saumrüſchen gefangen und riſſen ſich
wieder los.
In der nächſten Minute ſchon ſtand ein Offizier
vor ihr, deſſen karmeſinrote Beinkleiderſtreifen ihn als
Generalſtäbler kennzeichneten.
„ich bitte tauſendmal um Entſchuldigung,“ fagte
er, die ſchlanke Mädchengeſtalt nicht ohne Bewunderung
überfliegend. „Es war eine bedauerliche Ungeſchick—
lichkeit meinerſeits. Gnädiges Fräulein geſtatten, daß
ich mich vorſtelle — Hauptmann Hartleben!“
Sie war freudig errötet. „O, bitte! Was macht
das weiter?“
„Dann dürfte ich vielleicht hoffen, daß mir durch
eine Extratour völlige Verzeihung wird?“ fragte er
lächelnd.
Sie nickte. Ein halbes Dutzend Ballkleider hätte
ſie für dieſen Moment hingegeben.
Er legte den Arm um ſie und hielt ihre Hand in der
ſeinen. So flogen fie hin, mitten in den Wirbel hinein.
Wie oft, wie oft gedachte fie ſpäter dieſer Stunde!
Hartleben ſchien's mit dem Tanzen nicht ſehr eilig
zu haben, als er Harda auf ihren Platz zurückgeführt
hatte. Nachdem er ſich Frau Wüllbrich vorgeſtellt,
blieb er im Geſpräch neben beiden ſtehen. Ob ſie
ſich gut unterhalte? Ob ſie fremd in Berlin ſeien?
Sie bejahte alles, und das befriedigte Lächeln,
welches zwei Reihen glänzender Zähne hervorſchimmern
ließ, gab ihren Zügen einen höheren Reiz.
„Für mich iſt es immer ein Genuß, wenn der Winter
mit allen ſeinen Vergnügungen abgetan iſt,“ ſagte er.
60 Willſt du dein Herz mir ſchenken — 2
„Man kommt fich jo überflüſſig vor. Für junge Damen
hingegen,“ fügte er verbindlich hinzu, „iſt dieſe bewegte
Zeit die Zeit der Herrſchaft.“
Nur nicht für eine ſchlichte Kniebel in dieſem Kreiſe,
dachte Harda, ihren Fächer bewegend. Laut ſagte ſie:
„Es kommt darauf an, ob man ausreichende Gelegen-
heit hat, dieſe Herrſchaft auszuüben.“
„Gnädiges Fräulein tauchen nicht oft in den Stru-
del unter?“ fragte er, ihrer Altſtimme mit Intereſſe
lauſchend,
„Selten. Wir find noch fremd hier. Ich muß mich
erſt an die Berliner Geſellſchaftsluft gewöhnen. Meine
Erfahrungen in dieſer Beziehung ſtammen aus ganz
anderen Gegenden.“
„Gnädiges Fräulein ſind viel gereiſt?“
„Das heißt, ich habe mich ſeit meinem vierzehnten
Lebensjahre im Ausland aufgehalten,“ ſagte ſie,
etwas wenn auch nur verſchleiert Hochfahrendes in
den leichten Unterhaltungston miſchend.
„Penſion wohl?“ fragte er ſcherzend.
Sie nickte.
„Ich habe auch ein bißchen in andere Länder hinein-
geguckt, weniger zu meinem Vergnügen, als um Nutzen
für meinen Beruf daraus zu ziehen. Zum Beiſpiel
war ich vier Monate in Rußland, um die ruſſiſche
Sprache zu erlernen, ebenſo in Frankreich und Stalien.
Zede Sprache, die man ſich aneignet, iſt ja ein Schatz.
Auf dieſe Weiſe,“ fügte er lächelnd hinzu, „kommt man
ſchließlich zu Reichtümern, die weder Motten noch Roſt
freſſen.“
„Was für Zinſen bringen dieſe Reichtümer?“
fragte Harda mit einem leiſen Unterton Kniebelſchen
Geldſtolzes.
„Ich hoffe, daß ſie mir neben der Anerkennung
D Roman von Georg Hartwig (Emmy Roeppel, 61
meiner Vorgeſetzten auch den Vorteil einer etwas
beſchleunigteren Beförderung einbringen werden. Aber
dieſe Dinge,“ fuhr er ſcherzend fort, „liegen Ihrem
Intereſſe ſo weit ab, daß es ſehr unbeſcheiden von mir
iſt, damit läſtig zu fallen. Funge Damen find immer
Vorgeſetzte.“
Sie lächelte geſchmeichelt. „Man muß uns doch
erſt fragen, ob wir das Kommando übernehmen
wollen.“
„Gnädiges Fräulein find ja erſchreckend unmili-
täriſch,“ ſagte er, die Hände im Scherz zuſammen—
ſchlagend. „Kommando ablehnen gibt's ja gar nicht.
And das wollen fie — ich meine die jungen Damen —
ja auch gar nicht,“ ſetzte er ein wenig leiſer hinzu, „ſonſt
hätten wir heute nicht ſo viel Schönheit und Anmut
hier zu bewundern.“
Unwillkürlich ſenkte ſie die Augen. Es wehte ihr
etwas Fremdes zu, das ſie für einen Moment in ſich
ſelbſt unſicher machte. „Ich kann ſo viel Schönheit
und Anmut hier nicht ſehen, wie Sie behaupten,“
erwiderte Harda, den Kopf zurücklehnend, um den
Blick langſam und hochfahrend im Saal umherſchweifen
zu laſſen. „Aber ich will es auf Treu und Glauben
annehmen.“
„Sehr gütig! Ich ſtütze mich in dieſem Fall auf
eine Tatſache.“
Das Wort „eine“, deſſen wärmere Betonung ihr aufs
neue jenes fremde Etwas zuwehte, ließ ſie abermals
die Augen ſenken.
„Wenn ich jetzt noch um einen Rundtanz bitten
dürfte?“
Sie erhob ſich. Willig oder nicht mußte ſie ſich
eingeſtehen, daß ſie verwirrt war, als Hartleben ihre
Hand abermals ergriff.
62 Willſt du dein Herz mir ſchenken — D
An ihnen vorüber glitt ein wirbelndes Paar.
„Kennen Sie dieſen Herrn?“ fragte Harda, der
Geſtalt des Tänzers nachſchauend.
„Graf Brankowan? O ja! Salonlöwe und Damen-
verzug!“ |
„Wunderbar!“ ſagte fie kopfſchüttelnd. „Man
ſollte es kaum glauben.“
„Doch ein ſehr intereſſanter Kopf! Und dann,“
ſetzte er ſcherzend hinzu, „Sie wiſſen ja, als Ausländer
wird man immer intereſſant gefunden.“
„Iſt er Ausländer?“
„Sehen Sie ihm das nicht an? Die Brankowan
find ein altes Grafengeſchlecht in Rumänien. — Zetzt
iſt aber Raum für uns. Raum für alle hat die Erde,
aber nicht dieſer vorweltliche Saal.“
Er legte den Arm um ſie, und feſt und ſicher führte
er ſie durch die ſich verſchlingenden und wieder löſenden
Paare. —
„Ein ſehr netter Mann, dieſer Hauptmann,“ ſagte
die Rätin, als das Feſt zu Ende war, und ſie mit den
Kniebels und Harda in der Garderobe ſtand. „Wie
nannte er ſich doch? Man verſteht Namen ſo ſchwer.“
„Hartleben.“
„Er hätte die Höflichkeit haben können, ſich uns
gleichfalls vorzuſtellen. Sebaldus erwartete es be-
ſtimmt,“ ſagte Fräulein Lilla ſehr ſpitz. „Es wäre
eigentlich deine Pflicht geweſen, dies zu veranlaſſen,
liebe Thilde.“
Harda wandte ſich ſchweigend ab. Das fehlte
noch, die ganze Familie Kniebel vorzuſtellen! Onkel
Sebaldus erſchien ihr in dieſem Augenblick im auf-
geſchlagenen Pelzkragen, die Mütze tief über die Ohren
gezogen, zur Vorſicht noch einen Reſpirator vor dem
Munde, ſo unpräſentabel wie möglich.
2 Roman von Georg Hartwig (Emmy Koeppel). 63
Die Treppe herab kam Hartleben, den grauen
Mantel um die Schultern gelegt, leichten Schrittes
neben Brankowan. Als er Harda erblickte, grüßte er
verbindlich. Dieſen Gruß bemerkend, wandte auch der
Graf den Kopf und, ohne zu wiſſen, wem der Gruß
galt, lüftete er gleichfalls den Hut.
„Wer iſt das?“ fragte Tante Lilla haſtig.
„Graf Brankowan,“ fagte Harda, und es tat ihr
wohl, es ſagen zu können.
„Haſt du dich auch ſo gut amüſiert?“ fragte Anne
v. Grottfuß, die am Ausgang mit ihren Eltern wartete,
bis der Diener das Automobil herbeigerufen.
„Ausgezeichnet!“
Selbſt wenn ſie ſich tödlich gelangweilt hätte, um
den Preis des Lebens hätte ſie es dieſem Stern des
Abends nicht eingeſtanden.
„Meine liebe, verehrte Frau Amtsgerichtsrat,“
ſagte Frau v. Grottfuß mit großer Freundlichkeit, „das
eine müſſen Sie mir verſprechen: wenn wir unſeren
Ball geben, kommen Sie mit Ihrer Fräulein Tochter
zuſammen.“
„Ich weiß doch nicht —“ ſagte die Rätin zaudernd.
„Wenn wir aber ſehr bitten —“
„Das tun wir in der Tat,“ fiel der Geheimrat ein,
der die ſanfte, liebenswürdige Frau gleichfalls ſchätzen
und um ihres traurigen Geſchickes halber achten ge-
lernt hatte.
„Sie ſind ſehr gütig, ſo an mich zu denken,“ ſagte
die Rätin, Frau v. Grottfuß dankend die Hand drückend.
„Dann darf ich allerdings nicht nein ſagen.“
Das Auto rollte davon. Da bemerkte Frau Müll-
brich erſt, daß der Platz, wo die Verwandten zuvor
geſtanden, leer war.
„Ich glaube,“ ſagte ſie erſchreckt, als Harda die
64 Willſt du dein Herz mir ſchenken — 2
Droſchkentür hinter ſich zuwarf und mit innerem Wider-
willen auf dem verſchoſſenen Kiſſen Platz nahm, „ich
glaube, Kind, Onkel Sebaldus und die Tanten haben
es wieder übelgenommen, daß ich ſie Geheimrats
nicht vorgeſtellt habe, und ſind deshalb ohne Abſchied
verſchwunden. Aber hier iſt doch wirklich nicht der
Ort dazu.“
„Feder muß ſehen, wie er fertig wird in der Welt,“
erwiderte Harda, den Pelzmantel feſter um ſich ziehend.
Was kümmerten ſie die Wünſche anderer! Sie ſchleppte
an den ihren ſchon ſchwer genug.
Der Nachtwind wehte ſcharf gegen das Verdeck des
Wagens, den der dampfende Droſchkengaul in eiligem
Trabe davonzog den weiten Weg zum großen Stern
hinunter. Mit einſetzender Kälte ging der Froſt über
die Bäume hin und färbte ihr Geäſt weiß. Ein pradt-
voller Rauhreif durchflirrte den Tiergarten in dieſer
mondhellen Nacht, die nur noch belebt wurde durch
das klappernde Geräuſch der Hufe und das Vorüber-
ſauſen der Gefährte, die ihre Inſaſſen nach dem Weiten
zurückbeförderten.
In dieſe magiſche Helle ſah Harda mit tiefem
Schweigen. Sie ſpiegelte ihr das verlaufene Feſt
wunderſam klar zurück. Und in dieſem bunten Bilde
tauchte eine ihr bis dahin fremd geweſene, jetzt ſeltſam
vertraute Geſtalt auf — ein Antlitz, das wie eine Frage
vor ihr ſchwebte, auf welche ſie keine der ihr geläufigen
Antworten zu geben wußte, und die deshalb unbeant-
wortet blieb. Wenn ſie ihn auch nie wiederſehen
ſollte, das Empfinden, welches er zweimal in ihr aus-
gelöſt hatte, würde fie nicht vergeſſen.
„Wenn in einigen Tagen gute Eisbahn iſt,“ ſagte
die Rätin, deren Gedanken bei ihrer Füngſten weilten,
„könnteſt du mit Liska nach dem Neuen See gehen.“
a) Roman von Georg Hartwig (Emmy Koeppel). 65
„Vielleicht, Mama.“
„Sie hat heute eine fo bittere Enttäuſchung ge-
habt.“
„Wer hat die nicht?“ —
Allein in ihrem Zimmer warf ſie Mantel und
Schleiertuch ab. Da gleißte die Ballpracht wieder auf.
Mit ſeltſamem Lächeln trat Harda vor den Spiegel,
prüfenden Blickes Muſterung über ſich ſelbſt zu halten.
Hartleben hatte ihre Perſönlichkeit aus der großen
Maſſe hervorgehoben, alſo war fie etwas Beſonderes.
And hinter dieſer Beſonderheit ſtand ihr Erbe und die
Hinterlaſſenſchaft der drei Geſchwiſter Kniebel.
Perſönlichkeit, Reichtum und — Rang. Das letztere
war's, was ihr fehlte. Nang, Namen — danach lechzte
ſie. Sie wollte dafür einſtehen, daß ſie ihren Platz
ausfüllte, gleich gut und noch beſſer als ihre hoch-
geborenen Freundinnen. Vielleicht kam doch eine
Stunde, wo auch ihre Schleppe über das Parkett des
Weißen Saales im Königlichen Schloß rauſchte.
Hardas Wangen röteten ſich. Sie ſah ſchön aus
in dieſem Moment phantaſtiſcher Erregung, ſchöner
noch, als Erich Hartleben fie zuvor geſehen.
Fortſetzung folgt.)
1910. I. 0
Wie man heiratet.
Humoreske von Friedrich Thieme.
Mit Bildern von oo
Adolf Wald. (Nachdruck verboten.)
1.
Mit achtzehn Jahren.
a aron Dagobert v. Weltſtetten reichte dem
B Freunde mit betrübter Miene die Hand.
„So ſchwermütig, Dago?“ ſpottete dieſer.
— — „Und aus welcher Urſache?“
„Ach, laß das!“
„Aufrichtig, alter Zunge — iſt der Wein oder die
Liebe daran ſchuld? Denn daß es ſich um eines von
beiden handelt, iſt ſelbſtverſtändlich.“
Dagobert verzog ſein friſches, hübſches Geſicht zu
einem düſteren Lächeln.
„Alſo die Liebe!“ fuhr ſein Freund lächelnd fort.
„Der Wein läßt einen gewiſſen Galgenhumor zurück,
ſolche Wolken auf der Stirn erzeugt allein die Liebe
— natürlich die unglückliche, verſchmähte, troſt; und
hoffnungsloſe. Du liebſt wirklich hoffnungslos?“
„Wer ſagt dir denn das?“ brauſte der Baron
heftig auf. N
Sein Freund, der Freiherr Alexander v. Bilſing,
klopfte ihm liebenswürdig auf die Schulter. „Weiß
ich nicht, daß du die kleine Sandow liebſt? Geſtern
liebteſt du ſie noch mit Hoffnung, heute womöglich
2 Humoreske von Friedrich Thieme. 67
ohne — folglich haft du ihr deine Liebe erklärt und biſt
abgeblitzt.“
„Du haſt recht, „murmelte Dagobert, indem er
dem Freiherrn einen veilchenduftenden Brief übergab.
„Lies dieſes Schreiben!“
Alexander las: „Hochgeehrter Herr Baron! Wohl
weiß ich die Ehre zu würdigen, die Sie mir erzeigen,
auch bietet mir Ihre Perſon die Gewähr für die
Erfüllung berechtigter Erwartungen, aber die hohe
Vorſtellung, welche mein Herz von den heiligen Emp-
findungen hegt, die Sie mir ſchriftlich zu Füßen
legen, beſtimmt mich doch, auch ferner dieſe Empfin-
dungen ungeteilt in dem Innern meines Herzens ver-
ſchloſſen zu halten. |
ghre ergebene
Gertrude v. Sandow.“
„Iſt das nicht teufliſch?“
Der Freiherr lachte laut auf.
„Was — du lachſt noch?“
„Ja, beſter Dago, haſt du denn etwas anderes
erwartet?“ fragte ſein Freund, ſich gleichmütig eine
Zigarette anſteckend.
„Etwas anderes erwartet?“ rief der Baron erſtaunt.
„Na — da hört denn aber doch verſchiedenes auf. Du
vor allen anderen weißt doch, was ich ſeit Monaten
für dieſe ſchlanke blonde Gertrude empfinde, daß ich
ohne ſie nicht leben kann, daß ich ſie anbete, bewundere,
gleich einer Heiligen verehre, daß ich der Meinung war,
auch ſie betrachte meine Werbung, die ſie kommen
ſehen mußte, nicht mit ungünſtigen Augen. Ich bin
doch ein ſchneidiger Burſche, vermögend, von Familie.
mit guten Ausſichten vor mir — ich könnte die Hand
nach einer Grafenkrone ausſtrecken —“
„Stimmt, ſtimmt, ſtimmt!“ beſtätigte Alexander.
68 Wie man heiratet. 2
„it es alſo nicht teufliſch?“
„Mindeſtens recht unangenehm.“
„Unangenehm? Hätte bald was geſagt!“ ee
der abgewieſene Freier unwirſch. „Ich habe einen
Korb erhalten, einen regelrechten, ganz gemeinen
Korb — und weiß nicht, warum. Zch hegte die zu-
verſichtliche Hoffnung auf Erwiderung meiner Liebe.“
„Mit vollem Recht,“ beſtätigte der Freiherr.
„Ja — was iſt dann aber in die ſchöne Gertrude
gefahren? Iſt mir ein anderer zuvorgekommen? Hat
plötzlich eine andere Leidenſchaft von ihrem Herzen
Beſitz ergriffen? Ich bin ſtarr — ratlos — außer mir.“
Alexander ſchwieg einige Augenblicke, dann las er
nochmals das parfümierte Schreiben, ſtarrte wieder
eine halbe Minute vor ſich hin, bis er plötzlich ſagte:
„Reg dich nicht auf, Dago — du wirft geliebt, du wirft
auch noch erhört.“
„Im Briefe ſteht das Gegenteil.“
„Im Briefe ſteht, was ich dir ſage. Du verſtehſt
ihn nur nicht zu deuten. Die Schuld, daß er nicht
anders ausgefallen iſt, trägſt du allein, denn du haſt
die Sache falſch angefangen.“
„Wieſo?“
„Erſtens haſt du ihr deine Liebe ſchriftlich erklärt.
Warum das?“
Der Baron errötete. „Du kannſt dir doch denken —
die Erregung, die Furcht vor einem ablehnenden Be—
ſcheid, die Verlegenheit —“ ſtammelte er.
„Verſtehe ſchon. Das war der erſte Fehler, aber
er war nicht der entſcheidende. Aus ihrer Antwort
klingt eine gewiſſe Gereiztheit heraus, eine Verletzung
ihrer Gefühle. Die Urſache dafür muß in der Art und
Weiſe des Antrags liegen. Haſt du vielleicht eine
Abſchrift deines Schreibens?“ n
1 Humoreske von Friedrich Thieme. 69
„Selbſtverſtändlich. 3% habe ſogar mehrere —‘
„Zeig her!“
Alexander überflog das Geſchriebene. „Dacht' ich's
doch!“ rief er. „Und ſo eine Stilübung wagſt du einem
jungen achtzehnjährigen Mädchen zu bieten? Das iſt
gemeinſte Proſa, Menſch, das iſt nüchterne Beweis-
führung, eines Juriften würdig, aber keine Romantik,
keine Poeſie!“
„Aber ich bitte dich —“
„Nein, ich bitte dich! Wie kann man einer Achtzehn-
jährigen gegenüber mit derartigen Redensarten an-
rücken? Allerdings iſt am Anfang von Bewunderung,
Liebe, Verehrung die Rede, aber nun kommt eine
ausführliche Darſtellung deines Charakters, deiner Ver-
mögensverhältniſſe, deiner Ausſichten. Das wirkt ja
wie Eis auf ein glühendes Mädchenherz. Wer ihr
ſo ſchreibt, kann ſie nicht lieben, iſt überhaupt einer
echten erhabenen Liebe nicht fähig. Was fragt fie
nach deinem Rang, deinem Vermögen, deinen Aus-
ſichten? Raum iſt ihr jetzt noch in der kleinſten Hütte
für ein glücklich liebend Paar‘. Wahrhaftig Dago,
das haſt du arg verfahren!“
„Du könnteſt recht haben, Alex.“
„Natürlich habe ich recht.“
„Schade nur, daß das Unglück nicht wieder gut—
zumachen iſt.“
„Warum ſollte es nicht wieder gutzumachen ſein?“
„Du meinſt wirklich?“
„Unter allen Umſtänden.“
„Soll ich ihr einen zweiten Brief ſchreiben?“
Alex winkte ungeduldig ab. „Um des Himmels
willen nicht wieder ſchreiben, mein Lieber! Dann
wäre alles aus für immer. Nein, nicht in Buchſtaben
mußt du deine Werbung wiederholen, ſondern in Worten
70 Wie man heiratet. | 8
und Taten. Gertrude iſt dir zugetan, das beweiſt ihre
Antwort. Sie iſt tief verletzt durch die anſcheinende
Kälte und Geſchäftsmäßigkeit, womit du eine ſo heilige
Sache behandelt haſt. Du haſt mit ihren innigſten
Empfindungen ihrer Meinung nach ein frevelhaftes
Spiel getrieben, ihr blutendes, glühendes Herzchen
zertreten. Auf die Kniee hätteſt du dich vor ihr werfen
müſſen!“
„Warum nicht gar!“
„Du ſiehſt das natürlich nicht ein, du Strohkopf,
der du biſt! Gertrude ſprüht noch in allen Flammen
unverfälſchter Romantik und Poeſie. Sie erblickt die
Männer im Glanze des Ritter- und Heldentums. Wie
gejagt: auf den Knieen hätteſt du ihr deine Liebe er-
klären müſſen, ein brennendes Gedicht von Heine oder
Geibel herbeten oder die Liebeserklärung Mortimers
an Maria Stuart —“
„Da hätte ſie mich einfach ausgelacht.“
„Wie wenig kennſt du die Frauen — und vor
allem die jungen Mädchen! Wit Selbſtmord mußteſt
du drohen, wenn du nicht erhört würdeſt! Was ift
ihr denn ein Mann. der ſie nicht ſo raſend liebt, daß
er lieber ſterben, als ohne ſie leben will?“
„Kann ſein — kann ſein,“ murmelte Dagobert
nachdenklich.
„Worin beſteht denn das Geheimnis der ſo—
genannten Don Zuans anders als in der Dorfpieg-
lung einer alle Begriffe überſteigenden, verzehrenden
Leidenſchaft? Einer ſolchen widerſteht ſelten ein ideal
veranlagtes weibliches Gemüt. Daher das ſeltſame,
anſcheinend ſo widerſpruchsvolle Naturſpiel, daß ein
an ſich völlig unſchöner Mann wunderbarerweiſe die
ſprödeſten Damen gewinnt.“
„Was rätſt du mir alſo zu tun?“
2 gumoreske von Friedrich Thieme. 71
„Ich rate dir, ihr zu zeigen, was du fühlſt. Du
fühlſt heiß und leidenſchaftlich — ich weiß es. Veg
alſo mit aller Befangenheit und Zurückhaltung! Schüch-
terne Liebhaber erreichen ſelten ihr Ziel, die Mädchen
ziehen die ſtürmiſchen und heißblütigen vor. — Setz
dich her — ich will dir mein ganzes Programm aus-
einanderſetzen.“
Die Freunde ſaßen wohl eine Stunde in angelegent-
licher Unterhaltung beiſammen. Als ſie ſich endlich
erhoben, lag auf Dagoberts Geſicht ein frohlockendes
Lächeln.
Gertrude v. Sandow weinte oft ſeit einigen Tagen.
Die Meteorologen des Herzens verſtehen ſich auf die
Tränen der jungen Mädchen vorzüglich. Sie wiſſen,
daß Sonnenſchein und Regenſchauer in keiner Jahres-
zeit des menſchlichen Lebens häufiger wechſeln als im
Frühling — Gertrude befand ſich in einer Regenperiode,
nur mit dem Unterſchiede gegen frühere ähnliche Er-
ſcheinungen in ihrem lichtvollen Knoſpendaſein, daß die
diesmalige Periode weit ſtärker und anhaltender ge-
nannt werden mußte. Beweis genug, daß die Zeit
der grundloſen Tränen vorüber war: jede dieſer kriſtal—
lenen, blitzenden Perlen beſaß einen Kern, unſichtbar
zwar, doch darum nicht weniger wirklich und bedeutſam.
Jede bildete den Ausdruck eines wehen Gefühls. Die
Kammerzofe ihrer Mutter behauptete ſogar in der Küche,
das Fräulein verſteige ſich zuweilen ſo weit, ihre wehen
Gefühle in Worte zu faſſen. Sie wollte abends, als
ſie an des Fräuleins Zimmer vorüberging — ſie ver—
ſchwieg, daß ſie dabei einige Augenblicke in gebeugter
Haltung am Schlüſſelloch ſtehen geblieben war — den
Stoßſeufzer vernommen haben: „Er hat mich eben nie
geliebt!“
\
12 Wie man heiratet. a
„Und das ſprach fie mit einer Stimme,“ fuhr die
Zofe mitfühlend fort, „mit einer Stimme — gerade
als wenn ein ſterbender Schwan ſeine letzten Emp-
findungen in eine ſchmelzende Melodie aushaucht.“
Marianne nannte ein gefühlvolles Herz ihr eigen
und tat ſich viel zugute auf ihre Bildung. Übrigens war
Marianne ſo neugierig, wie Gertrude reizend war.
Als ſie ihrer Herrin an einem der nächſten Morgen
das goldblonde Haar flocht, erkundigte ſie ſich in der
vertraulichen Art begünſtigter Dienerinnen, wer denn
der ſchöne junge Herr geweſen ſei, der das gnädige
Fräulein geſtern abend im Theater ſo unverwandt an-
geſtarrt habe.
„Angeſtarrt? — Mich? — Ein Herr?“ fragte Ger-
trude errötend.
„Haben das gnädige Fräulein es nicht bemerkt?“
„Nein,“ erwiderte Gertrude, aber ihre Verwirrung
bewies, daß ihr der Umſtand doch vielleicht nicht gäny-
lich entgangen war.
„Er ſaß in der rechten Seitenloge des erſten Ranges
— auf einem Eckplatze, beinahe Ihrem Platze gegen
über.“
„Und er ſtarrte mich an, ſagſt du?“
„Er verwandte kein Auge vom gnädigen Fräulein.
And fo bleich ſah er aus, als ob er ſich innerlich ver-
zehrte.“
„Was du immer phantaſierſt, Marianne! Wenn er
mich übrigens wirklich e hat, jo iſt es unver-
ſchämt genug von ihm.“
„Das ſage ich auch, gnädiges Fräulein. Es war
eine unverzeihliche Zudringlichkeit, eine Indiskretion!“
„Was weißt du von zndiskretion! Laß mich zu-
frieden mit deinem Geſchwätz!“
Marianne lächelte verſchmitzt in ſich hinein. Sie
2 Humoreske von Friedrich Thieme. 73
wußte, das Fräulein würde bald genug ſelber wieder
von der Sache anfangen, und ſtellte ſich ihrerſeits, als
ſei ihr die Sache ebenfalls völlig unintereſſant.
A
u
er ; * ET,
x )
Nicht eine Mi-
nute war ver—
gangen, ſo hub
die junge Dame
in gleichgültigem
Tone wieder an:
„Du haſt dich
ſicherlich geirrt, Marianne. Es kann gar nicht anders ſein!“
„Worin, gnädiges Fräulein?“ Marianne tat, als
verſtünde ſie nicht, was man von ihr wollte.
„Ach, tu doch nicht ſo! In deiner Beobachtung mit
—
74 Wie man heiratet. 1
dem Herrn, meine ich. Welcher Mann von Stand und Bil-
dung wird denn nein, jo etwas iſt gar nicht anzunehmen.“
„Gnädiges Fräulein haben recht — ich fürchte auch,
daß ich mich geirrt habe.“
„Er war blaß, ſagſt du?“
„Totenbleich wie eine Leiche. Und die Augen
hatten einen ſo düſteren, ſchwermütigen Ausdruck.“
„Totenbleich? Das iſt mir nicht auf—“ Beinahe
hatte ſie ſich verraten. „Nein, wahrhaftig, gar nicht
aufgefallen iſt er mir. Kannteſt du ihn denn?“
„Ich konnte ihn vom vierten Rang aus nicht deutlich
erkennen; aber wenn mich nicht alles trügt, war es
der Herr Baron v. Weltſtetten.“
„Warum ſollte denn der —“
„Gnädiges Fräulein haben ihn doch ſo grauſam
behandelt. Der Schlag ſcheint ihn bis ins Innerſte
getroffen zu haben.“
„Dazu halte ich ihn für viel zu alltäglich. Er —
er weiß ja gar nicht, was wahre Liebe iſt, er fühlt nicht
tiefer als ein — ein Elefant.“
„O — er tut mir wirklich leid, der arme Herr!“
„Ach was!“
„Immerhin war es eine Dreiftigkeit, Sie derart i ins
Auge zu fallen — und ſo in einem fort. Ein Benehmen —
eines jpvornehmen Herrn in der Tat nicht würdig. Ich —“
„Urteile nicht zu hart, Marianne!“ fiel ihr Gertrude
haſtig ins Wort. „Wenn ein Fremder ſich das erlaubt
hätte, möchteſt du recht haben, aber in ſeinem Falle
war es wohl mehr das unbewußte Tun eines verſtörten,
verletzten Gemüts. Er hat doch mehr Gefühl, als ich
glaubte. Das — das freut mich von ihm!“
Marianne lächelte. Sie hatte beabſichtigt, das Fräu-
lein auszuholen, und das war ihr glänzend gelungen.
Sie wußte jetzt, womit ſie ihrer jungen Herrin Ver—
u ——
2 Humoreste von Friedrich Thieme. 75
gnügen zu bereiten vermochte — und ſie würde das
nach Möglichkeit benutzen. —
Nach dem Frühſtück ging Gertrude wie alle Morgen
< 0 5 5
= ä
—
im Garien ſpazieren. Den ſchöngepflegten Garten
ſchloß ein elegantes Eiſengitter gegen das Nachbar-
grundſtück und gegen eine ſchmale Seitenſtraße ab, eine
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16 Wie man heiratet. 2
kunſtvoll gearbeitete Tür führte nach letzterer hinaus.
Dieſe Tür trug oben zur Verzierung zwei vaſenartige
Gefäße, und als Gertrude vorüberging, erblickte ſie
zu ihrem Erſtaunen in einer der Vaſen einen großen
koſtbaren Roſenſtrauß. Es war im April, und Noſen
zurzeit noch ein koſtſpieliger Artikel.
„Wie kommen die herrlichen Roſen hierher?“ fragte
ſich das junge Mädchen.
Im ſelben Augenblick überfloß Purpur ihre Wangen.
Für wen, wenn nicht für ſie, konnten ſie beſtimmt
ſein? So wertvolle Blumenſpenden ſchickt man keiner
Dienerin. |
Verlegen ſchaute fie ſich um, ob jemand ihr Be—
ginnen gewahre, dann ſprang ſie gewandt auf die
Stange der Wegeinfaſſung und erlöſte den Strauß
aus ſeiner einſamen Haft.
Wie köſtlich er duftete! Tief ſenkte fie ihr Näschen
in die wunderbaren Blumen.
Da ſah fie ein roſa Zettelchen verborgen darin
ſchimmern. Sie zog ſich haſtig hinter eine hohe Taxus—
wand zurück und entfaltete das zierliche Billett.
Verſe! Ihre Vergißmeinnichtaugen erglänzten
unwillkürlich, denn ſie liebte alles Poetiſche ſo
ſehr. Mit leiſer, aber trotzdem allen Empfindungen
der wenigen Zeilen Rechnung tragender Stimme
las ſie:
„Eine Liebe ſo groß,
So grenzenlos
Wie die meine, beut nie ſich dir dar.
And blickten die Engel auch noch ſo ſcheel,
Sie trennen doch nicht meine Seel’ von der Seel
Der Maid mit dem goldigen Haar.“
„Kein Zweifel — das bin ich!“ liſpelte die junge
Dame mit verklärtem Blicke. „O, wer mag es ſein,
2 Humoreske von Friedrich Thieme. 77
der mir dieſe fo poetiſche, zarte und romantiſche Huldi-
gung darbringt? Ich komme mir vor wie eine Prin-
zeſſin in einem verzauberten Schloſſe.“
Heimlich, ganz heimlich brachte ſie den Strauß auf
ihr Zimmer, wo ſie ihn einer zierlichen Porzellanvaſe
anvertraute, auf welcher Dornröschen im Zauberſchloſſe
gemalt war. |
„Sein Duft mag dich wecken, kleines Dornröschen!“
nickte ſie der ſchönen Schläferin zu. „O, wie berauſchend
er iſt — er dringt bis in die Seele!“
— ʒ— — — — — — ——— — — — — —
Die ſchöne Gertrude verwunderte ſich durchaus nicht,
als ſie am nächſten Morgen an derſelben Stelle wieder
einen Strauß fand. Sie hatte im ſtillen ſo etwas er-
wartet.
Natürlich ſteckte wieder ein roſa Blättchen darin.
Natürlich ſtand wieder ein Vers darauf. Sie küßte
den Zettel und las die Verſe:
„Aus verſchmähter Liebe Gründen,
Von des Herzens Gram bedrückt,
Könnt' ich doch die Rettung finden,
O wie fühlt' ich mich beglückt!
Dort ſchau' ich der Treue Spiegel,
Augen, die wie Veilchen blühn —
Hätt' ich Schwingen, hätt' ich Flügel,
Zu den Augen zög' ich hin!“
Wer nur der geheimnisvolle Spender der köſtlichen
Blumen, der herrlichen Verſe ſein mochte?
Am dritten Tage empfing ſie die Aufmerkſamkeit
bereits als etwas Selbſtverſtändliches, holte fie gewiſſer⸗
maßen als Zoll ein. Diesmal waren es weiße Roſen,
und in dem beiliegenden Begleitreim ſchwärmte der
78 Wie man heiratet. 2
romantiſche Geber ſogar davon, ſein höchſtes Glück ſei,
mit ihr nach einer einſamen Inſel zu fliehen und ganz
ausſchließlich ihrer Liebe zu leben.
| „Wer es nur iſt?“ ſprach fie erglühend zu ſich ſelbſt.
„Gewiß ein Künſtler — wohl gar ein Dichter! So
heilig, erhaben und flammend zugleich kann nur ein
Dichter empfinden.“ |
Tag und Nacht beſchäftigte fie die Frage nach der
Herkunft der geheimnisvollen Gaben, und der Spen-
der ermüdete nicht, ihre Aufmerkſamkeit rege zu er-
halten. N
Jeden Tag überraſchte fie irgend eine neue Huldi-
gung. In den Kahn, den ſie jede Woche ein paarmal
zu’ einer Ruderpartie zu benützen pflegte, ward vom
Ufer aus von unbekannter Hand ein Sträußchen ge-
ſchleudert, das in ſeinem Innern wiederum einen von
feuriger Anbetung zeugenden Spruch umſchloß. Selbſt
in einem Veilchenſtrauß, den Gertrude einer kleinen
Straßenverkäuferin abnahm, der ſie manchmal etwas
abkaufte, fand ſich eine poetiſche Erklärung an ſie.
Immer waren es dieſelben Schriftzüge, aber die junge
Dame kannte fie nicht, da die Handſchrift offenbar ver-
ſtellt war.
Bis in das Heiligtum ihres Mädchenſtübchens reichte
die magiſche Kraft des Unbekannten. Von ihrem Vor-
mittagsausgange zurückkehrend, erblickte fie den Strauß,
den ſie im Garten diesmal vergeblich geſucht, auf ihrem
Tiſche. Der bebarrliche Ritter mußte mit jemand von
der Dienerſchaft in Verbindung ſtehen. Was für Zeit,
Mühe und Geld er es ſich koſten ließ! Was hatte er
denn heute für ein Verschen gewählt?
Mit holdem Lächeln griff ſie nach der Einlage, doch
zu ihrem großen Befremden ſtieß ſie auf das ſeltſame
Zitat aus Bürgers Lenore:
2 Humoreske von Friedrich Thieme. 79
„Und außen, horch, ging's trapp, trapp, trapp,
Als wie von Roſſes Hufen
Und hurre, hurre, hopp, hopp, hopp
Ging's fort in faufendem Galopp...
Auf deine heißen Fragen
Will es dir Antwort ſagen!“
„Das wird ja immer rätſelhafter!“ murmelte Ger-
trude beglückt.
Da vernahm ſie plötzlich Pferdegetrappel auf der
Straße unter ihrem Fenſter. Welch merkwürdiges Zu-
ſammentreffen mit dem Text des heutigen Gedichts!
Sie eilte ans Fenſter, um hinunterzuſchauen, denn in
der ſtillen Straße bekam man ſelten einen Reiter zu
Geſicht. Wirklich: ein Kavalier ſtürmte auf feurigem -
Rappen daher, im Vorbeigaloppieren ſchwenkte er ehr-
erbietig den Hut.
Sie grüßte flüchtig. Der Reiter war der Baron
Dagobert. 20:
Da beugte er ſich noch einmal zurück, in halber
Körperwendung, ſo daß ſie ſeine Bruſt ſehen konnte.
Was leuchtete an der? Eine herrliche Roſe derſelben
Art, aus welcher der Strauß auf ihrem Tiſche beſtand.
Bis über die Stirn errötend, zog ſie ſich haſtig zurück.
Er war es — er! Dagobert v. Weltſtetten!
Ob ſie es nicht geahnt hatte!
Er war alſo doch nicht ohne Sinn für Poeſie. Und
ein Leben ohne Poeſie — niemals! Ein hohes Ideal
lebte in der jungfräulichen Bruſt. Sie lief ſogleich zu
ihren Roſen hin, drückte ſie an ihr Herz und an ihre
Lippen. Freilich tat es ihr leid, daß der Ritter von
den duftenden Nofen, wie fie ihn bei ſich getauft, fein
Viſier ſo raſch gelüftet hatte — das Geheimnis war
intereſſanter als die Enthüllung.
Mas würde er aber nun beginnen? Würde er nun
80 Wie man heiratet. 2
ſofort wiederkommen und noch einmal um ſie werben?
Das hoffte ſie nicht. Zwar ſeinen proſaiſchen Brief
hatte ſie bereits halb vergeben, aber ſo leicht war ſie
nicht zu gewinnen. Gertrude v. Sandow nicht! Da—
bei richtete ſie ſich ſtolz empor, und ihre Augen nahmen
den Ausdruck eines Ritterfräuleins aus ihrem Lieb-
lingsroman, Fouqués Zauberring, an. Eine Gertrude
v. Sandow wollte heiß umworben ſein!
Am liebſten hätte ſie das Zugeſtändnis ihrer Liebe
an einige heroiſche Bedingungen geknüpft, ihrem Be—
werber ſchwierige Aufgaben geſtellt, die er erſt erfüllen
mußte; aber ſo etwas war ja nicht mehr möglich in
unſerer troſtlos nüchternen Zeit.
Gertrude ftampfte ärgerlich mit dem kleinen
Fuße.
Als fie nachmittags mit ihrer Mutter im Park fpa-
zieren ging, erblickte ſie ihn nochmals auf demſelben
Rappen, mit derſelben Roſe an der Bruſt. Auf dem
Reitweg kam er daher, wieder grüßte er ehrerbietig und
mit einem unendlich traurigen Blicke, dann ſpornte er
ſein Roß zu einer Reihe von halsbrecheriſchen Kunſt—
ſtücken, bei deren Anblick Gertrude Hören und Sehen
verging. Was für ein Reiter er war! Jeden Augen-
blick fürchtete fie, er würde ſtürzen. Unwillig ſchüttelte
ſie, doch unmerklich für ihre Mutter und alle anderen,
den Kopf gegen ihn, daran erkannte er, daß er ver—
ſtanden worden ſei; er lächelte trübe und preßte ſchwer—
mütig die Hand aufs Herz, als wolle er ſagen: Was
tut's, wenn ich ſtürze? Dich, Grauſame, kümmert es
ja doch nicht!
Abends im Theater waren ſeine Augen wieder auf
ſie gerichtet — kurz überall, wohin ſie auch ihre Schritte
lenkte, trat ihr der Baron mit ſeinem blaſſen Geſicht,
feinem traurig vorwurfsvollen Blick in den Weg. Manch-
8 Humoreste von Friedrich Thieme. 81
mal erhaſchte ſie im Vorbeigehen ſogar einen ſeiner
ſtillen Seufzer.
Um dieſe Zeit war es, daß ihr Bruder Kurt einen
Freund vom Regiment mit nach Hauſe brachte, den
Rittmeiſter Leo v. Fröben. Ein ſchneidiger, ein ſchöner
Mann! Und obendrein hieß er Leo — ein Name, für
den ſie ſchwärmte. Trotzdem mochte ſie ihn nicht. Er
erſchien ihr zu geziert und blaſiert. Aber feinem Um-
gang konnte ſie ſich doch nicht entziehen. Die Ge—
ſchwiſter leiſteten dem Gaſte Geſellſchaft, unternahmen
mit ihm Ausflüge, auf einem Balle beim Geſandten
tanzte ſie mehrmals mit ihm. Natürlich überhäufte er
ſie mit Aufmerkſamkeiten.
Der arme Dagobert nahm mit umflorten Augen
von dieſen Vorkommniſſen Notiz. Immer düſterer
wurde ſein Blick, zuletzt drohend.
Nichts iſt leichter gefunden als eine Urſache zum
Streit, wenn einer dem anderen an den Kragen will.
Ein kleiner Wortwechſel, man fordert Entſchuldigung,
der gibt die Beſchuldigung zurück und weigert ſich, ein
Vort gibt das andere — bald genug iſt eine Beleidigung
aus irgend einem Munde gefallen und die Forderung
iſt fertig. —
Warum war wohl die ſonſt ſ0 heitere Marianne
heute ſo aufgeregt und beklommen, als ſie ihrer jungen
Herrin die goldenen Flechten ſtrählte?
„Wie ungeſchickt du heute biſt, Marianne!“ ſchalt
Gertrude empfindlich. „Dreimal haft du mich ſchon
gerauft! Was iſt nur mit dir? Haſt du N aus-
geſchlafen?“
„O gnädiges Fräulein!“ ee Marianne vor-
wurfsvoll.
Der klagende, dumpfe Ton, fait dem vergleichbar,
6
1810. I.
82 Wie man heiratet. 1
mit welchem manche Leute Geſpenſtergeſchichten vor-
leſen, veranlaßte das Fräulein, ſich nach der Zofe
herumzudrehen. Betroffen ſchaute ſie ihr ins Geſicht.
„Du biſt ſo bleich, Marianne! Was fehlt dir? Biſt
du krank?“ fragte ſie ſanfter.
„O, wenn es nur mich beträfe, gnädiges Fräulein!“
ächzte Marianne, plötzlich in Tränen ausbrechend.
„Wen ſollte es denn ſonſt betreffen?“
„Daß er ſterben ſoll — ſo jung und fo ſchön! Es
iſt ſchrecklich!“
„Ver ſoll denn ſterben? Dein Schatz?“
„Ach, wie werd' ich ſo ungebildet ſein und dem
gnädigen Fräulein von mir reden! Nein — von ihm
ſpreche ich! Wie entſetzlich wäre es, wenn der Herr
Rittmeiſter ihn im Duell tot ſchöſſe!“
Gertrude erblaßte. „Der Herr Rittmeiſter? Wen?
Doch nicht —
„Jawohl!“
Sie verſtanden ſich, ohne daß der Name ausge—
ſprochen wurde.
„Wie kommſt du auf dieſe Idee, Marianne?“
„O, unſereins hat ſeine Beziehungen, gnädiges
Fräulein,“ murmelte die Zofe ſelbſtbewußt. „Hat der
Herr Rittmeiſter denn nicht einen Burſchen, und macht
mir dieſer Burſche nicht den Hof? Hört ein Burſche
nicht manches, was eigentlich nicht für ſeine Ohren
beſtimmt iſt? Und die Vorbereitungen zu einem Zwei—
kampf, ſo geheim fie auch betrieben werden —“
„Mein Gott, wann ſoll denn das Duell ſtattfinden?“
„Morgen früh um halb fünf.“
Gertrude ſprang erregt von ihrem Toilettenſtuhl in
die Höhe. N — und bin ich — ich — die Ur-
ſache?“
„Sie ſagen zwar, eine Beleidigung wäre der Grund,
2 gaoumoreske von Friedrich Thieme. 83
aber niemand iſt im Zweifel, daß dieſer Grund nur
vorgeſpiegelt iſt.“
„Wer iſt der Herausforderer? Baron v. Welt-
ſtetten?“
„Der arme Herr Baron, der ſo freigebig — ja, er
— o wie leid er mir tut! Sein Gegner iſt doch Offizier
und muß wohl viel beſſer ſchießen können als er —
und er iſt ohnehin immer ſo traurig und ſchwermütig!
Sch fürchte, er legt es direkt darauf an, ſich totſchießen
zu laſſen — denn ſein Herz iſt gebrochen, weil die Welt
jo grauſam und ——
„Mit der Welt meinſt du natürlich mich?“
„Gnädiges Fräulein —“
„Schon gut, ich verſtehe deine Anteilnahme und
verſtehe noch manches andere, was mir bisher ge-
heimnisvoll erſchien. Geh jetzt — laß mich allein!“
Marianne entfernte ſich ſchmollend, aber doch im
ganzen von ihrem Erfolg befriedigt. Sie hatte dem
Fräulein ihr Geheimnis offenbart — mehr wollte ſie
ja gar nicht. —
Gertrude war in der Tat im höchſten Grade erregt.
Nicht ausſchließlich unangenehm, wiewohl ſie ſich das
Gegenteil kaum geſtehen mochte, und doch vermochte
ſie im letzten Grunde eine Art Triumphgefühl nicht zu
unterdrücken.
Ein Duell um ihretwillen! Shre Bruſt hob ſich
in wonnigen Atemzügen. Wie intereſſant, wie roman—
tiſch, wie poetiſch! Dazu ein Ritter, der um ihretwillen
den Tod ſuchte! Der lieber ſterben, als ohne ſie leben
wollte! |
Aber wenn er wirklich fiel? Oder auch der andere?
Jeder von beiden tat ihr leid, denn ein Mord um ihret-
willen — niemals! Ihr kleines Herz begann auf ein-
mal laut zu klopfen, und eine Stimme in ihr, mächtig
84 Wie man heiratet. Oo
und klar, rief mit immer ſteigendem Nachdruck: „Nie-
mals darf das geſchehen! Wie könnteſt du je wieder
innerlich ruhig werden? Armer Dagobert — er hat
ſich ſo treu, ſo echt ritterlich erwieſen! Er darf nicht
ſterben!“
Nein, er durfte nicht! Aber was ſollte ſie tun?
Der Tag verging in ratloſer Überlegung. Nachmittags
ging ſie in Begleitung Mariannes aus in der Hoffnung,
ihm irgendwo zu begegnen — umſonſt. Der Abend
kam näher und näher — bald war es zu ſpät.
Die Not löſte endlich einen ſchweren Entſchluß in
ihr aus, ſchwer, aber doch auch wieder äußerſt roman—
tiſch, und ſie kam ſich in ſeiner Ausführung unendlich
wichtig und intereſſant vor.
Mit fliegender Feder warf ſie folgenden Satz auf
ein Blatt: „Dagobert — kommen Sie heute abend um
neun Uhr nach dem alten Ahornbaum im Schloßpark.
Kommen Sie bei allem, was Ihnen heilig iſt! Sch
befehle es Ihnen! Ich bitte Sie darum!“
Wohl zehnmal las ſie ihre Beſchwörung, ſie ſchwelgte
in dem romantiſchen Inhalt. Marianne oder der Diener
hätten ohne jedes Bedenken das Briefchen an feine
Beſtimmung befördern können, auch würde niemand
etwas dagegen einzuwenden gehabt haben, wenn ſie
den Baron ſtatt in den Park in die Wohnung ihres
Vaters beſtellt hätte, aber das erſchien ihr der Wichtig-
keit und Beſonderheit der Lage nicht entſprechend. So
leichtfertig behandelt man in ihrem Alter Geheimniſſe
nicht. Nein, ein ihr unterwegs begegnender Junge
mußte gegen ein Trinkgeld den Boten abgeben, und
abends im Dunklen an geheimnisvoller Stätte mußte
die Unterredung ſtattfinden.
Und ganz nach Art der Heldin eines Senſations-
romans verfuhr ſie bei der Zuſammenkunft. Marianne
1 | Humoreske von Friedrich Thieme. 85
allein wurde in das Vorhaben eingeweiht. Kopf—
ſchmerzen vorſchützend begab ſich Gertrude frühzeitig
auf ihr Zimmer. Dort warf ſie einen ſchwarzen Schleier
über, zog ihn tief über das Geſicht und beſtand ſchließ—
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lich darauf, daß Marianne, die fich mit Leib und Leben
an dem Abenteuer beteiligte, eine ähnliche Vermum—
mung anlegte. Dann verließen beide das Haus heim—
lich durch das Hinterpförtchen im Garten.
Schlag neun Uhr ſtand Gertrude an dem bewußten
86 Wie man heiratet. | u
Ahornbaum, Marianne wenige Schritte von ihr ent-
fernt im Gebüſch.
Baron Dagobert war natürlich ſehr pünktlich, er
wußte, wen er zu erwarten hatte.
Eine ſchwarze Geſtalt näherte ſich ihm, und eine
verſtellte, erregte Stimme begann halblaut: „Sind Sie
es, Baron?“
„Ich bin es.“
„Ich weiß alles, Baron Dagobert.“
„Alles?“
„Ihr Geheimnis ward mir enthüllt. Aber — bei
Fhrer Liebe zu mir — Sie werden ſich nicht
ſchießen!“
„Gnädiges Fräulein, was bleibt mir übrig? Meine
Ehre —“
„Wählen Sie zwiſchen Liebe und Ehre!“
„Fürchten Sie nichts für den Mann Ihres Herzens.
Er ſoll nicht ſterben. Ich ſuche nicht feinen Tod —“
„Sie ſuchen den Fhrigen, ich weiß es. Das eben
will ich verhindern.“
„Wie, gnädiges Fräulein, Sie nehmen Anteil an
einem Unglücklichen?“
„Um meinetwillen ſoll kein Mord geſchehen. Wollen
Sie mein Gewiſſen für immer mit einem Schatten
belaſten, der nie wieder weichen kann?“
„Vas ſoll mir ein Leben ohne Liebe?“
Einige Augenblicke ſchwieg Gertrude, dann hauchte
ſie mit Anſtrengung: „Wer ſagt Ihnen, daß ich — ihn
liebe?“
„Meine Augen —“
„Ihre Augen haben Sie betrogen. Er iſt der Freund
meines Bruders, kann ich anders als höflich und zuvor—
kommend gegen ihn ſein?“
„Sie — Sie lieben ihn nicht?“
2 Humoreske von Friedrich Thieme. 87
Te
„Nein.“
„Und auch — keinen ö
Keine Antwort.
„Keinen anderen, gnädiges Fräulein?“
„Schonen Sie mich!“ rief ſie leiſe.
Ein unterdrückter Zubelruf entfloh feinen Lippen.
ergriff entzückt ihre Hand.
„Gertrude — darf ich, darf ich Ihren Herrn Vater
um dieſe kleine Hand bitten?“
„Wenn Sie mir ſchwören, dieſen unglückſeligen
Zwiſt zu vermeiden.“
„Wie kann ich das, wenn mein Gegner —“
„Ich werde mit ihm reden. Das Duell darf nicht
ſtattfinden — oder wir wären für immer getrennt,
Dagobert. — Wollen Sie meine Bitte erfüllen?“
„O, was mich anlangt — von Herzen gern. Ih —
ich bin der ſchuldige Teil — ich werde den Rittmeiſter
um Entſchuldigung bitten, erklären, daß ich mich im
Irrtum befunden habe. Wenn Sie ihn vermögen
können —“
„Er wird Ihre r annehmen. Ich ver-
bürge mich dafür.“
„O, ſo iſt alles gut — ich —‘
„Schwören Sie — ich a feinen Augenblid zu
verlieren. Schwören Sie bei Fhrer Ehre als Kavalier
und Edelmann!“
Er kniete nieder, hob beteuernd ſeine rechte Hand
empor und ſagte feierlich: „Ich ſchwöre!““
Sie reichte ihm zum Abſchiede die Hand. Er ſtand
auf, drückte dieſe heftig, dann zog er mit raſcher Be-
wegung die ſchwarze Geſtalt an ſich und preßte einen
Kuß auf den Schleier.
E
8
*) Siehe das Titelbild.
88 Wie man heiratet. | 2
„Dagobert — laſſen Sie — ſprechen Sie mit meinem
Vater!“
Im nächſten Augenblick war fie verſchwunden.
Baron Dagobert gab am nächſten Morgen ſeinem
Gegner die verlangte Ehrenerklärung. Der Rittmeiſter,
ſchon vorbereitet, nahm fie gerne an. Er durfte es
ohne Bedenken, da das Ehrengericht, das nur mit
Überwindung ſeine Billigung zu einem Zweikampfe
aus ſo nichtigen Gründen ausgeſprochen, den Verſuch
einer gütlichen Beilegung zur Bedingung gemacht hatte.
Die Gegner ſchieden völlig verſöhnt.
Der Baron verließ mit ſeinem Sekundanten, ſeinem
Freunde Alexander v. Bilſing, zuletzt den Platz. „Ich
danke dir, Alexander,“ erklärte er, „dein Rat hat mich
glänzend zum Ziele geführt.“
„Das Duell war eigentlich nicht in dem Plan ein-
begriffen.“
„Was konnte es ſchaden? Wir hätten uns wahrlich
nicht die Hälſe gebrochen. Der Rittmeiſter iſt ein mife-
rabler Schütze, und ich — nun, ich hätte ganz beſtimmt
in die Luft geſchoſſen.“ —
Zwei Tage fpäter, am 6. Mai 1890, legte Gertrude
mit glückſeligem Herzen ihre Hand in die des Verlobten.
2.
Mit ſechsunddreißig Jahren.
Es war an einem herrlichen Sommertage im Jahre
1908.
Freiherr Alexander v. Bilſing blickte der ſtattlichen
Frau mit wohlgefälliger Miene nach.
„Wie ſchön ſie noch immer iſt!“ murmelte er vor
ſich hin. „Und wie gut und edel! Sie würde meinen
Kindern eine vorzügliche Mutter ſein!“
i Humoreske von Friedrich Thieme. 89
Nachdenklich ſchritt er die Promenade entlang.
Schon ſeit Monaten liebäugelte er mit der Idee, in
Frau v. Weltſtetten ſeinen Kindern eine zweite Mutter
zu geben. Gertrude war gleich ihm ſeit einigen Jahren
verwitwet, zwiſchen beiden beſtand eine herzliche, auf
langer Bekanntſchaft und gegenſeitiger Verehrung be-
gründete Freundſchaft. Auch war ſie ihm ſtets mit jener
Liebenswürdigkeit begegnet, die nicht bloß auf Achtung,
ſondern auch auf ein Wohlgefallen an der Perſönlich-
keit ſchließen läßt, und ſeine Kinder liebte ſie, die ſelbſt
kinderlos geblieben war, geradezu zärtlich.
„Freilich,“ wandte er ſich mit bedenklicher Miene
ein, „iſt ſie auch eine ſtolze und romantiſche Natur.
And ſchwer zu gewinnen. Aber iſt es durch meinen
guten Rat meinem armen Freund Oago feinerzeit ge-
lungen, ſie zu gewinnen, ſo hoffe ich für mich ſelbſt
nicht weniger glücklich zu ſein. Ich muß es nur ſo klug
anfangen wie damals Dagobert. Ich werde die Be—
lagerung beginnen.“
Der Freiherr begab ſich, ſtill vor ſich hin lächelnd,
nach Hauſe. Er entwarf ſeinen Feldzugsplan und war
damit zufrieden. Er wußte, Gertrude trank ihren Tee
jeden Morgen in der Jasminlaube ihres Gartens. Ent-
ſchloſſen trat er unterwegs in einen Blumenladen, in
dem er feine faſt lediglich auf die zeitweilige Aus-
ſchmückung ſeines Knopflochs abzielenden Bedürfniſſe
nach kunſtgärtneriſchen Erzeugniſſen zu befriedigen
pflegte. |
„Ich brauche morgen früh um ſechs Uhr einen
Noſenſtrauß, aber von den ſchönſten Roſen, die Sie
haben,“ wandte er ſich an die Verkäuferin. „Laſſen
Sie möglichſt alle edelſten Arten darin vertreten ſein.
Mein Diener wird ihn abholen.“
Daheim nahm er ſogleichſeinen treuen Joſeph beiſeite.
90 Wie man heiratet.
„Joſeph, wir find zwar mitſammen ein paar Phi—
liſter geworden,“ ſagte er zu dem ihn verdutzt an-
ſtarrenden Diener, „aber ein bißchen von der alten
Schneidigkeit iſt uns doch hoffentlich noch geblieben —
wie?“
„Wie Sie befehlen, gnädiger Herr.“
„Du weißt doch, wo Frau Baronin v. Weltſtetten
alle Morgen Tee trinkt?“
„Jawohl, gnädiger Herr.“
„In der Jasminlaube direkt am Zaun —“
„Weiß ſchon, gnädiger Herr.“
VE, Getrauſt du dich, ohne daß dich jemand ſieht, einen
Roſenſtrauß vom Zaun aus auf den Laubentiſch zu
legen?“ |
Joſeph machte ein äußerſt pfiffiges Geſicht. „Wenn's
weiter nichts iſt —“
„Es handelt ſich um einen Scherz, Joſeph — ver-
ſtehſt du?“
Joſeph machte ein noch pfiffigeres Geſicht.
„Du denkſt wohl gar was Arges — he?“ lachte der
Freiherr. „Was du für ein verdorbenes Gemüt haſt,
alter Knabe! Du gehſt alſo vor ſechs Uhr hier weg
und holſt den Strauß in dem Blumenladen ab, wo wir
immer hingehen, dann bringſt du ihn mir, ich werde
ein Briefchen darin verſtecken, dann beförderſt du ihn
nach der Laube. Vor ſieben Ahr kommt die Frau
Baronin nicht heraus, du haſt alſo Zeit.“
Der Freiherr lachte vergnügt in ſich hinein, wenn
er ſich die Überrafchung und das Entzücken der Baronin
ausmalte. Das Verschen, das er darin verbergen
wollte, verurſachte ihm freilich Kopfzerbrechen, denn
er war ſeit langen Jahren nicht mehr in Poeſie tätig
geweſen, wie er es nannte, aber er konnte ſich Zeit
nehmen, und unter Anlehnung an ein bekanntes Lied
2 Humoreske von Friedrich Thieme. 91
— ———— — — —— — F —
brachte er endlich folgende poetiſche Huldigung zu-
ſtande:
„Gertrude, meine Sonne, wie biſt du ſo ſchön,
Nie kann ohne Wonne deinen Reiz ich ſehn!
Schon in meiner Jugend ſah ich gern nach dir,
etzt iſt dieſe Tugend ſtärker noch in mir.
Und ich denk', ſeh' ich dich lieblich vor mir ſtehn,
Möcht'ſt du mir allein doch auf- und untergehn!“
„Das iſt etwas nach ihrem Geſchmack!“ lobte er ſich
ſelbſt, nachdem er das Gedicht wohl zwölfmal geleſen
hatte. Er konnte die Zeit gar nicht erwarten, bis er
den Strauß nebſt Inhalt in ihren Händen wußte.
Gegen neun Uhr ging er, entgegen feiner Gewohn-
heit, ſchon aus, denn es drängte ihn, zu ſehen, ob ſein
Geſchenk verſchwunden ſei.
Garten und Laube waren verlaffen, er konnte ruhig
bis dicht an den Zaun vordringen. O weh, der Strauß
lag noch da! Sollte Gertrude gar nicht herausgekommen
ſein, oder hatte ſie ihn verſchmäht?
Wehmütig betrachtete er das prachtvolle Gebinde
von Künſtlerhand, da fiel ihm auf, daß etwas wie ein
Zettel über die Roſen emporragte.
| „Was iſt das? Das iſt doch nicht mein Gedicht!“
brummte er voll Unruhe. „Es hat ſich alſo doch jemand
mit dem Ding zu ſchaffen gemacht!“
Vom Zaun aus konnte er mit einiger Anſtrengung
ganz gut hinüberlangen, denn der Strauß lag, als habe
man ihn abſichtlich für Verſuche wie den ſeinigen hin-
gelegt, ganz am Rande des Tiſches. Er griff jedoch
nicht nach der Spende, ſondern nur nach dem heraus—
guckenden Zettel. Den entfaltete er und las darauf
die flüchtig mit Bleiſtift geſchriebenen Worte:
„Fremdling, du mußt im Irrtum fein,
Ich habe ja gar kein Töchterlein!“
92 Wie man heiratet. D
„Wie beſcheiden, ſinnig und rührend!“ dachte der
Freiherr. „Sie glaubt nicht, daß die Huldigung für
ſie beſtimmt iſt! Sie erwartet, daß dies deutlich aus-
geſprochen wird. Nun, ihre Hoffnung ſoll ſie nicht
täuſchen.“ —
Das wahrhaft köſtliche Veilchenbukett, welches Joſeph
am anderen Morgen nach der Laube bringen mußte,
wäre in jeder Blumenausſtellung eines erſten Preiſes
für würdig erachtet worden. Weniger vielleicht der
gereimte Gruß, der inmitten der berauſchenden Düfte
ſich beſcheiden verbarg und der in der Form manches
zu wünſchen übrig ließ, obgleich der Freiherr der Anſicht
war, er mache ſich recht hübſch, wenn er nur mit der
nötigen Betonung vorgetragen würde.
Und er ſelber trug ihn mit dieſem innigen Ausdruck
ſeinem Spiegel wie folgt vor:
„Dieſe Veilchen bedeckt' ich mit Küſſen,
Aber die Küſſe gelten nicht ihr,
Nicht der Tochter, die nimmer geweſen,
Sondern der Einzigen, Gertrude, dir!
Dieſe Düfte find flammende Gluten,
Feurig lodernd im Herzen mir,
Und dieſe Gluten und dieſe Flammen
Brennen und glühen, Gertrude, nur — dir!“
Es verſteht ſich, daß er auch diesmal um die neunte
Stunde in höchſteigener Perſon an Ort und Stelle
erſchien, um ſich von der gnädigen Annahme ſeiner
wahrhaft koſtbaren Gabe zu überzeugen. Aber wieder
hatten die Lieblinge Florens ihren Platz behauptet —
und wieder lugte ein Zettel über die blauen Köpfchen,
und als er ſich deſſen bemächtigte und den Text las,
knirſchte er zornig mit den Zähnen. Dann zerknitterte
er den Zettel und ſchob ihn in die Taſche feiner blüten-
weißen Sommerweſte. Die Botſchaft aber, die er
1 gumoreske von Friedrich Thieme. 93
darauf gefunden, murmelte er auf dem Nachhauſewege
immer von neuem vor ſich hin:
„Der Affe ſehr poſſierlich iſt,
Zumal wenn er die Veilchen küßt.
Quäle nie ein Tier zum Scherz,
Pegaſus fühlt auch den Schmerz!
Zu löſchen deine innre Glut,
Borg dir die Feuerſpritze gut!“
„Hm,“ brummte er, „die Feuerſpritze möchte noch
gehen, aber der Affe — nein, nein, das iſt nicht Ger—
trudes Werk, da treibt ein infamer Spaßvogel fein Un-
weſen! Zch will es einmal auf andere Weiſe verſuchen.
— Was hat ihr damals vor allem imponiert? Die
feurigen Ritte Dagoberts an ihrem Fenſter vorüber.
Nun, ich bin ein vortrefflicher Reiter, ich werde die ganze
Romantik der Jugend vor den Augen ihrer Erinnerung
heraufbeſchwören.“
Der Freiherr ließ zeitig am nächſten Morgen ſeinen
Schimmel ſatteln und galoppierte um die Zeit, da er
Frau v. Weltſtetten im Garten wußte, mit Donner-
gepolter vorüber. Mit jugendlichem Schwunge
ſchwenkte er im Vorbeireiten den mit grünem Laub
geſchmückten Hut und gab ſich Mühe, ihr die Nofe zu
zeigen, die er auf der Bruſt trug. |
Gertrude ſchaute auf und erwiderte lächelnd feinen
Gruß, aber im ſelben Momente brauſte ein Automobil
daher, der Schimmel ſcheute, bäumte ſich, und Alexander,
der gerade die Zügel losgelaſſen und ſich im Steigbügel
emporgerichtet hatte, um zurückzuſehen, taumelte im
Sattel und hatte Mühe, ſich auf ſeinem Sitze zu be—
haupten.
Doch es gelang ihm dank feiner vortrefflichen Reit
94 Wie man heiratet. U
fertigkeit. Er ſchaute hinüber, um einen bewundernden
Blick von ihr einzuernten, aber er ſah nichts auf ihrem
Antlitz als innige Heiterkeit und leiſen Spott.
Argerlich ſprengte er nach Hauſe. Unterwegs aber
faßte er den Ent-
ſchluß, keinen Au-
genblick länger zu
warten, ſondern
ſeinen Wunſch
dem Papier an-
zuvertrauen. Das
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war geduldiger als ein Pferd und würde ſich nicht
bäumen, wenn er auch die wildeſten Federſprünge
auf ihm ausführte. Und er ſattelte wie dereinſt
Vater Wieland den Hippogryphen zum Ritt ins Land
der Romantik und ſtrömte eine Glut von Empfindungen
in die rötlich ſchimmernde Tinte, daß er ſelber ſchier
2 Humoreske von Friedrich Thieme. 095
im Tiefſten gerührt wurde und mit voller Überzeugung
des Erfolges die flammende Epiſtel ſeinem treuen
Diener zur perſönlichen Überlieferung an die Adreſſatin
übergab.
Ungeduldig harrte er des Erfolges. Er brauchte
auch gar nicht lange auf der Folter zu liegen, denn ſchon
am Nachmittag brachte ihm die Poſt ein elegantes
Briefchen, deſſen Text zu leſen kaum eine Minute
erforderlich war.
Die Baronin ſchrieb: „Mein lieber Freund! So ſehr
ich die Ehre Ihres Antrages zu würdigen weiß und in
Ihrer Perſönlichkeit alle Bürgſchaft für ein gedeihliches
Zuſammenleben erblicke, ſo fürchte ich doch, die Voraus-
ſetzungen, unter denen Sie mir Namen und Hand
bieten, nicht erfüllen zu können. Unſere Begriffe von
der Ehe und den Anſprüchen der Ehegatten aneinander
gehen offenbar zu weit auseinander, als daß wir uns
gegenſeitig eine Enttäuſchung bereiten ſollten, deren
Folgen nur ſchwer wieder von uns e werden
könnten.
In aller Freundſchaft und Wertſchätzung
Ihre ergebene
Gertrude v. Weltſtetten geb. v. Sandow.“
Schmerzlich enttäuſcht warf der Freiherr das Schrei—
ben vor ſich auf den Tiſch.
„Was ſoll das bedeuten?“ rief er ärgerlich. „Sie
gibt mir einen Korb!. Und ich glaubte mich ihrer fo
ſicher! Ihr ganzes Verhalten ermutigte mich zu dieſem
Schritte — und nun gegen alle Erwartung dieſe
ſchroffe Abweiſung! Was fällt ihr nur ein mit ihren
„Vorausſetzungen, die ſie nicht erfüllen kann“? Warum
ſollten denn unſere Begriffe von der Ehe ſo weit ausein—
andergehen? — Ach was!“ unterbrach er ſich haſtig.
„Am beſten iſt's, ich gehe ſelbſt zu ihr und frage ſie.
96 Wie man heiratet. 2
Wir ſind ja keine Kinder mehr — und Gertrude eine
offene, ehrliche Natur. Aus ihrem eigenen Munde will
ich erfahren, was ſie gegen mich einzuwenden hat.
Ihr Gatte, mein alter Freund, iſt ſeit ſechs Jahren
unter der Erde, Kinder beſitzt ſie nicht, auf welche ſie
Rückſichten zu nehmen hätte. Oder ſollten vielleicht
meine eigenen beiden Kinder das Hindernis bilden?
Scheut ſie die ernſten Pflichten der Mutter? Unmöglich,
denn niemand hat ſich ſehnlicher Kinder gewünſcht als
ſie, und ſie war ja auch meinen Kleinen von jeher die
zärtlichſte Freundin, die man ſich denken kann. Oder“ —
ein neuer Gedanke zog ihm durch den Sinn — „fie
will ſtürmiſcher gewonnen ſein? Warum nicht. Ich
will den Verſuch unternehmen.“ —
Gertrude ſaß in ihrem Lehnſtuhl am Fenſter und
blätterte in den neueſten Journalen, als ihr das Mädchen
den Freiherrn v. Bilſing meldete.
Die junge Witwe blickte verwundert auf. Doch ſagte
ſie mit ruhiger Miene und ohne jede Spur von Erregung
mit freundlicher Stimme: „Iſt willkommen,“ und in
der Tat begrüßte fie den Eintretenden ohne jedes An—
zeichen peinlichen Empfindens.
Gertrude war trotz ihrer ſechsunddreißig Jahre noch
immer eine ſchöne und reizvolle Frau, der Ausdruck
der blauen Augen ohne die ſchwärmeriſche Beimiſchung
der Jugend, die Formen üppiger geworden, das Haar
noch immer glänzend, wenn auch nicht mehr mit dem
blendenden Schimmer von ehemals.
„Nun, lieber Freund, was verſchafft mir das Ver-
gnügen?“
Ihre Liebenswürdigkeit beſtärkte ihn vollends in
ſeiner Meinung. Nachdem er ſich überzeugt, daß ſie
ganz ungeſtört waren, ließ er ſich zu ihrer Aberraſchung
plötzlich auf ſeine Kniee nieder.
2 Humoreske von Friedrich Thieme. 97
„Gertrude, heißgeliebtes, herrliches Weib!“ begann
er ſtammelnd.
Aber beſtürzt hielt er inne, denn er mußte ſehen,
—— — — m —
wie Gertrude plötzlich in ihren Stuhl zurüdfiel und in
ein lautes, herzliches Lachen ausbrach, in ein Lachen,
ſo anhaltend und überſtrömend, daß er voller Empörung
1810. I. 7
98 Wie man heiratet. DO
wieder auf feine Füße ſprang und in zornigem Tone,
ſich haſtig nach der Tür wendend, ausrief: „Nun wohl
— ich ſehe, daß ich nichts mehr zu ſagen habe, als: leben
Sie wohl, Frau Baronin!“
Das Lachen verſtummte. Sie erhob ſich ſchnell.
„Alexander,“ rief ſie, „warten Sie doch!“
Der liebe Klang beſtimmte ihn, ſich zögernd von
neuem nach ihr hinzuwenden. „Frau Baronin,“ ſagte
er gekränkt, „dieſer Empfang —“
„Aber beſter Freund,“ unterbrach ſie ihn lächelnd,
„was machen Sie auch für Geſchichten?“
„Geſchichten? Zit es jo lächerlich, wenn ein Mann
der Auserwählten feiner Seele feine heiligſten Emp-
findungen —“ |
Sie winkte ihm mit dem Finger Schweigen zu.
Dann ergriff fie lebhaft feinen Arm und führte ihn vor
den großen Stehſpiegel. Seite an Seite ſpiegelten
ſie ſich in der glänzenden Kriſtallfläche.
„Für wie alt halten Sie mich, Alexander?“ fragte
ſie ruhig.
„Für wie alt? O Gertrude, Ihre Schönheit —“
„Ohne Phraſe, Alexander! Sehe ich aus wie acht—
zehn oder wie ſechsunddreißig? Der Wahrheit die
Ehre! Und Sie ſelber, für wie alt halten Sie ſich?
Haben Sie nicht auch ſchon —“ fie tippte lächelnd auf
ſein bereits etwas dünn gewordenes Haar.
„Alſo ich bin Ihnen zu alt? Deshalb Ihre Zurüd-
weiſung?“ fuhr er auf. 5
Sie ſchüttelte den Kopf. „Deshalb nicht, Herr
v. Bilſing. Sie möchten für eine Frau von fehsund-
dreißig eher zu jung als zu alt fein. Ich habe Ihren
Antrag reiflich überlegt. Bitte, nehmen Sie Platz —
mir gegenüber, ſo — und ich mußte ihn, fo viel Sym-
pathie wir füreinander haben, abweiſen, um Ihnen
2 Humoreske von Friedrich Thieme. 99
und mir keine Enttäuſchung zu bereiten. So ſtürmiſche
Empfindungen, wie Sie für mich an den Tag legen,
kann ich nicht erwidern. Nehmen Sie es mir nicht
übel, aber Ihre Bukette, Ihre Verſe und nun gar
Ihr Kniefall — kann ich da etwas anderes tun, als
lachen?“
„Aber ich verſtehe Sie nicht, Frau Baronin. Gerade
mit ſolchen Huldigungen hat ſich doch Dagobert ſeinerzeit
Ihr Herz erobert. Deshalb habe ich dieſen Veg ja
gerade eingeſchlagen.“
Die Baronin lachte von neuem. „Beſter Alexander —
wiſſen Sie, daß ich damals achtzehn war? Und jetzt
bin ich ſechsunddreißig!“ fügte ſie mit freundlicher
Ruhe hinzu. „Man verheiratet ſich mit ſechsunddreißig
Jahren eben etwas anders als mit achtzehn. Gewiß —
damals hätte ich meinen lieben Dagobert auf der
Stelle erhört, wenn er in ſeinem Antrag Worte ge—
funden hätte wie Sie in dem Ihren, und heute hätte
ich ſicherlich Zöre Werbung angenommen, wenn die—
ſelbe in Ausführungen, wie er ſie mir zuerſt brieflich
unterbreitete, gekleidet geweſen wäre. Alles am rechten
Platze, mein Freund! Die Schwärmerei iſt ein Vor-
recht der Jugend. Ich ſage Ihnen ganz offen: ich habe
meinen Gemahl wahrhaft geliebt und aufrichtig be-
trauert, aber meine Ehe, hat mir die Mutterfreuden
verſagt, mein Sehnen ward nicht ganz erfüllt. Ich bin
alſo doppelt Witwe, und mein Herz verlangt nach einem
Wirkungskreis, nach Anſchluß und Liebe.“
„Das alles hätten Sie doch bei mir gefunden,
Gertrude!“ rief der Freiherr bewegt.
„Davon bin ich überzeugt, Alexander. Ich habe
Sie auch ſehr gern — und öhre Kinder ſo lieb wie
eine wirkliche Mutter. Ich weiß gewiß, das tägliche
Zuſammenſein und die Vertraulichkeit der Ehe würden
100 Wie man heiratet. 2
mit der Zeit meine Sympathie zu einer innigen Zu-
neigung verſtärken, aber Sie haben den falſchen Weg
eingeſchlagen. Mein Gemüt iſt nicht etwa oberfläch-
licher geworden, ſondern im Gegenteil erfahrener und
ernſter, aber die Leidenſchaft der Empfindung iſt einer
vertiefteren Betrachtung der Dinge gewichen, und der
kritiſche Verſtand macht feine Rechte in bezug auf die
Beurteilung des Lebens geltend. Ein Entſchluß wie
der, den Sie von mir fordern, iſt in meinem Alter das
Ergebnis einer eingehenden ernſtlichen Erwägung, einer
genauen Selbſtprüfung und aufmerkſamen Würdigung
des anderen Teils. Wären Sie zu mir gekommen,
um in dieſem Sinne mir Ihren Wunſch zu unterbreiten,
jo wäre wahrſcheinlich meine Antwort anders aus-
gefallen.“
Alexander erhob ſich freudig. „Dank für dies Wort,
Gertrude, denn ich bin ja durchaus der gleichen Anſicht.
Nur in der Form habe ich gefehlt, weil ich mir töricht
ſchmeichelte, ein feiner Kenner des weiblichen Herzens
zu fein. Aber glauben Sie mir, meine Liebe zu Ihnen
gründet ſich nicht auf einer romantiſchen Leidenſchaft,
nicht auf bloßem Wohlgefallen an Fhrer Perſon,
ſondern auf allen vernünftigen Erwägungen eines
gereiften Mannes und Vaters. Nicht eine Geliebte
begehre ich in Ihnen, ſondern eine treue Gefährtin,
eine Vorſteherin meines verwaiſten Hauſes, eine
liebevolle Mutter für meine Kinder —“
„Das find andere Worte, und jedes iſt zehn Sträuße,
zehn Kniefälle und zwanzig Paraderitte auf dem beſten
Renner Arabiens wert. Wenn Sie mir die Leidenſchaft
erlaſſen, die ich nicht fühlen kann, und mich ſelber
darüber beruhigen, daß Sie als gereifter Mann und
nicht als „Ritter von den duftenden Noſen“ um mich
werben, ſo bin ich über die Befriedigung, die ich
DD . HYumoreste von Friedrich Thieme. 101
meinerſeits in Ihrem Haufe und an Ihrer Seite finden
werde, völlig beruhigt. Wenn Sie alſo nach alledem
noch entſchloſſen find —“ |
In jubelnder Aufwallung ergriff er ihre Hand, die
ſie ihm nicht verweigerte. „Gertrude — Sie wollen
die Meine werden?“
„Sofern Sie meine Hand im vollen Bewußtſein
meiner ſechsunddreißig und Ihrer ſechsundvierzig Jahre
begehren —“
Er ſprach kein Wort, ſondern zog die ſich nicht mehr
Sträubende zu ſich heran, drückte ſie an ſeine Bruſt
und küßte ſie freudig bewegt auf die Stirn.
„Alſo doch mein!“ flüſterte er mit bebender Stimme.
Am engliſchen Königshofe.
Von Alexander Cormans.
—
Mit 11 Bildern. (Nachdruck verboten.)
E iſt bekannt, daß die verſtorbene Königin Viktoria
von England, die Mutter des jetzt regierenden Mon-
archen, durchaus keine Freundin fröhlicher und zwang-
loſer Geſelligkeit war. Nirgends in der Welt konnte es
ſteifer und langweiliger zugehen als bei den Empfängen
und Hoffeſten während ihrer langen Regierungszeit.
Die Beobachtung der teilweiſe recht altmodiſchen
Etikettevorſchriften war bei dieſen von der vornehmen
Geſellſchaft mehr gefürchteten als geſchätzten Veran—
ſtaltungen ſo peinlich gewiſſenhaft, wie es dem eigen—
artigen Weſen und dem ſtark ausgeprägten Majeſtäts-
bewußtſein der Königin entſprach. Außerdem waltete
bei allem durch eben dieſe Etikettegeſetze vorgeſchriebenen
äußeren Pomp namentlich in bezug auf die Bewirtung
eine ſo weitgetriebene hausfrauliche Sparſamkeit, daß
man gewöhnt war, einen Empfang der Königin oder
einen Hofball viel eher unter die unvermeidlichen
Ubel als unter die Annehmlichkeiten des geſellſchaft—
lichen Lebens zu zählen.
Charakteriſtiſch für die Anſchauungen der gekrönten
Dame iſt die Anekdote, wonach ſie einem jungen
Offizier, der an der Hoftafel beim Geſpräch mit ſeiner
Nachbarin ein leiſes Auflachen nicht unterdrücken konnte,
in verweiſendem Tone erklärte: „Man geht nicht zu
*
Nach dem großen Empfang: Der Koͤnig und die Koͤnigin.
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104 Am engliſchen Rönigshofe. 2
Hofe, mein Herr, um ſich zu amüſieren.“ Und wenn
dies Geſchichtchen auch vielleicht nur zu den gut er-
fundenen gehört, war es doch jedenfalls ſicher, daß
niemand, der mit einer Einladung zu Hofe beehrt
wurde, ſich Hoffnung auf irgendwelche angenehme
Unterhaltung zu machen hatte.
Von einer Beteiligung an dem geſelligen Leben
des Hochadels war ſeit dem Tode ihres Gemahls für
die Königin nicht mehr die Rede. Die Pflichten der
Repräfentation nach dieſer Richtung hin überließ fie
ganz und gar ihrem Sohne, dem damaligen Prinzen
von Wales, und man weiß, daß der äußerſt lebensluſtige
Thronerbe einen nicht geringen Teil ſeiner heutigen
Popularität der ſehr weitherzigen Auffaſſung dieſer
Pflichten zu verdanken hat. Ein Prinz aber iſt für den
engliſchen Ariſtokraten durchaus nicht dasſelbe wie ein
König oder eine regierende Königin. Wie herzlich
auch die Sympathien ſein mögen, die man ihm ent—
gegenbringt, und wie gern auch immer man ihn als
einen bevorzugten Gaſt in feinem Haufe willkommen
heißt, ſo hoch ſchätzt man ſeine ſoziale Stellung doch
nicht ein, daß man den ganzen Zuſchnitt des gefell-
ſchaftlichen Lebens durch ihn beſtimmen ließe. Der
Prinz von Wales mochte zu Lebzeiten ſeiner Mutter
tonangebend fein für die Mode in Hüten, Kra—
watten und dem Schnitt der Beinkleider, auf die
Geſtaltung der vornehmen Geſelligkeit aber konnte er
wenig oder gar keinen Einfluß gewinnen. Erſt dem
Augenblick ſeiner Thronbeſteigung war es vorbehalten,
durch die Schaffung eines glänzenden Mittelpunttes
wieder einen großen und einheitlichen Zug in dieſe
zerfahrene und zerſplitterte Geſelligkeit zu bringen.
Sobald die Schatten gewichen waren, die der Tod
der Königin und der unſelige Burenkrieg über das
0 Von Alexander Cormans. 105.
höfiſche Leben geworfen, gaben die engliſchen Majeſtäten
bekannt, daß ſie geſonnen ſeien, fortan auch feſtliche
Veranſtaltungen ihrer vornehmſten Untertanen mit
ihrer Gegenwart zu beehren. Damit war das Zauber—
Erſte Vorſtellung bei Hofe.
106 Am engliſchen Rönigsbofe, D
wort geſprochen, das die Tore zahlreicher Adelspaläſte,
die bis dahin nur den Angehörigen eines kleinen, ex-
kluſiven Kreiſes geöffnet geweſen waren, für eine
Geſelligkeit großen Stiles erſchloß. Die altengliſche
Gaſtlichkeit, die durch die Bildung zahlreicher, gegen-
einander ängſtlich abgeſchloſſener Zirkel faſt zu einem
Mythus geworden war, feierte eine glorreiche Auf—
erſtehung, und die ſagenhaften Feſte vergangener Tage,
von deren verſchwenderiſcher Uppigkeit man ſich allerlei
Wunderdinge zu erzählen wußte, erfuhren eine faſt
noch glanzvollere Wiederholung.
Der unermeßliche Reichtum der meiſten engliſchen
Adelsfamilien und die gewaltigen Vermögen, die durch
die Heiraten amerikaniſcher Milliardärstöchter mit
britiſchen Ariſtokraten in das Land gekommen waren,
geſtatteten dieſen Bevorzugten ja eine Luxusentfaltung,
wie ſie in anderen europäiſchen Ländern nur einigen
wenigen möglich geweſen wäre. Eine nicht geringe
Anzahl der unter Beteiligung des Königspaares ab—
gehaltenen Feſte, von denen die geſellſchaftliche Chronik
der letzten Jahre berichten kann, werden an Pracht
wohl kaum von einer Veranſtaltung vergangener Tage
übertroffen oder erreicht worden ſein.
Konnte das Königspaar den offiziellen Hoffeſtlich—
keiten aus mancherlei Gründen nicht dasſelbe üppige
Geprãge geben, ſo konnte es ihnen doch durch mancherlei
Neuerungen wenigſtens zum Teil den langweiligen
Charakter feierlich ernſthafter Staatsaktionen nehmen,
der ſie ſo lange zu einem wahren Schrecken namentlich
für die junge Welt gemacht hatte. |
Die erſten Verſuche zwar, die nach dieſer Richtung
hin gemacht wurden, erwieſen ſich nicht als ſonderlich
glücklich. Als dann aber auf Anordnung und unter
lebhafter Anteilnahme des Königs eine ganz neue
tach dem großen Empfang: Der Prinz und die Prinzeffin von Wales.
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108 Am engliſchen Königshofe. | ‚o
Ordnung für Empfänge und Hofbälle ausgearbeitet
wurde, nahmen auch die höfiſchen Feſte eine Geſtalt
Copyr. W. & D. Downey.
Prinzeſſin Alexandra und Prinzeſſin Maud,
Koͤnig Eduards Enkelinnen.
an, die das geflügelte Wort der Königin Viktoria von
dem Ausſchluß des „Amüſements“ auf eine für die Be—
teiligten recht erfreuliche Weiſe zuſchanden machte.
Von Alexander Cormans. 109
—
Die ehernen Schranken der Etikette freilich durften
nicht durchbrochen werden, und hinſichtlich der Zu—
laſſung zu den großen Empfängen, den ſogenannten
Copyr.
79 | zer W. & D. Downey.
Fark 2
Die Herzogin von Buccleuch, Oberhofmeiſterin der Königin.
„Drawing-rooms“, ſind ſie ſogar noch erheblich enger
gezogen worden.
Dieſe Empfänge dienen nämlich in der Hauptſache
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110 Am engliſchen Königshofe. D
der erſten Vorſtellung jener Damen, die nach ſtrenger
Prüfung als „hoffähig“ anerkannt worden ſind, und
die durch dieſe Vorſtellung einen Anſpruch auf Ein-
ladung zu den Hofbällen oder zu den Gartenfeſten des
Königspaares erlangen. Im Gegenſatz zu der ſonſtigen
Strenge ihrer Anſchauungen war die Königin Viktoria
in bezug auf die Zulaſſung zu dieſer Vorſtellung höchſt.
weitherzig. Es genügte, wenn die zu präſentierende
Dame eine der Hofgeſellſchaft angehörige „Patin“ ge-
funden hatte, die in einem an den Lord- Kammerherrn
gerichteten Briefe ihren Schützling empfahl und damit
die Bürgſchaft für feine Würdigkeit übernahm. Daes jeder
zu ſolcher Empfehlung überhaupt Berechtigten freiſtand,
ſo viele Damen bei Hofe einzuführen, als ihr beliebte,
ſoll es ſich ereignet haben, daß etliche ärmere Ariſto—
kratinnen aus der Übernahme derartiger „Patenſtellen“
ein recht gewinnreiches Geſchäft machten, zumal es in
London niemals an reichen Amerikanerinnen fehlt, denen
kein Opfer zu groß iſt für die unſchätzbare Ehre, ſich vor
einem gekrönten Haupte verbeugen zu dürfen und eines
huldvollen königlichen Lächelns gewürdigt zu werden.
Die neue Hofordnung hat durch weſentlich ver—
ſchärfte Beſtimmungen dieſen lohnenden Erwerbszweig
abgeſchnitten. Um den Reiz der Hoffeſtlichkeiten für die
Eingeladenen zu erhöhen, ſollte die Auswahl der Gäſte
fortan eine ſtrengere und ſorgfältigere ſein. Zu dieſem
Zweck wurde verfügt, daß jede „Patin“ einen von dem
Lord-Kammerherrn verabfolgten Fragebogen auszu-
füllen hat, der über Herkunft und perſönliche Verhält—
niſſe der Bewerberin allergenaueſte und erſchöpfendſte
Auskunft verlangt. Außerdem aber darf keine Dame
der Hofgeſellſchaft öfter als einmal die Rolle einer
Patin übernehmen, es ſei denn, daß es für ihre eigenen
Töchter oder Schwiegertöchter geſchähe.
2 Von Alexander Cormans. 111
Hat eine mit großer Gewiſſenhaftigkeit vorgenommene
Prüfung der auf dem Fragebogen enthaltenen Angaben
die Hofwürdigkeit der Aſpirantin ergeben, was neuer—
— A 8 Copyr. Lafayette.
Lady Londonderry, Hofdame der Koͤnigin.
dings durchaus nicht immer der Fall iſt, ſo werden der
Glücklichen zwei Karten zugeſtellt, von denen ſie am
Tage des Empfanges die eine am Fuß der Treppe
112 Am engliſchen Königshofe. 2
des Buckinghampalaſtes abzugeben und die andere dem
Lord-Kammerherrn einzuhändigen hat, damit er bei der
Vorſtellung vor den Majeſtäten ihren Namen ableſeir
kann. Mit der Zeremonie der Vorſtellung hat die
Dame alsdann das Recht erworben, ſich ohne befon-
dere Einladung zu jedem „Orawing- room“ einzufinden
und innerhalb einer Zeitſpanne von je drei Jahren
einmal die Einladung zu einem Hofball oder einer
„Gardenparty“ — Gartenfeſt — zu erwarten. Dieſe
Einladung erfolgt jedoch nur dann, wenn ſich die nach
Hofluft Dürſtende pünktlich am 1. Januar des von ihr
gewählten Jahres zur Vormerkung meldet. Ausnahmen
zugunſten bevorzugter Perſonen werden nur auf aus-
drücklichen Befehl des Königs gemacht.
Natürlich iſt für die Vorſtellung eine beſondere
Toilette vorgeſchrieben, und unter der Regierung der
Königin Viktoria ſoll es ſich gar nicht ſelten ereignet
haben, daß die eine oder die andere Bewerberin zu
ihrer tiefen Beſchämung vor Erreichung des heiß er—
ſehnten Zieles umkehren mußte, weil ihre Kleidung
vor dem ſtreng prüfenden Blick der Herzogin von
Buccleuch, der Oberhofmeiſterin der Königin, nicht
zu beſtehen vermochte, wäre es auch nur inſofern
geweſen, als der einzig hoffähige runde Taillen-
ausſchnitt nicht die unverbrüchlich vorgeſchriebene, für
magere Perſonen oft recht verhängnisvolle Tiefe hatte.
Zwar waltet die Herzogin noch immer als eine der
gefürchtetſten Perſönlichkeiten des Hofſtaates ihres
verantwortungsvollen Amtes, und fie gilt mit Recht
als eine unbeugſam ſtarre Vertreterin der „konſerva—
tiven“ Richtung, aber die geübte Praxis ſoll auf Wunſch
der Königin doch eine etwas mildere geworden ſein.
Während der Viktorigepoche des engliſchen Hof—
lebens war mit dem letzten Knicks der letzten Debü—
2 Von Alexander Cormans. | 113
tantin das von einem „Drawing-toom“ zu erwartende
Vergnügen völlig erſchöpft, und ein Anlaß zu irgend
welcher Bewirtung war nach der Meinung der hohen
* Lallie Charles.
Ae.
Herzogin von Sutherland.
Feſtgeberin um ſo weniger vorhanden, als ſie es liebte,
dieſe feierlichen Empfänge in den frühen Vormittags—
ſtunden abzuhalten. König Eduard aber hat ſie wieder
1910. I. 8
114 Am engliſchen Rönigshofe. am
auf den Abend verlegt, und er bietet den Erſchienenen
nach beendigter Zeremonie eine Fülle ausgeſuchter
leiblicher Erfriſchungen, die in drei Sälen des Palaſtes
ſerviert werden, und bei deren Einnahme es um ſo
heiterer und zwangloſer herzugehen pflegt, als die
Damen ſich dabei der Wiedervereinigung mit ihren
Vätern, Gatten oder ſonſtigen Kavalieren erfreuen
dürfen, denen bei einem „Drawing; room“ lediglich die
beſcheidene Rolle des Begleiters zufällt.
Das „große Ereignis“ der Londoner Geſellſchafts-
ſaiſon iſt in der Regel der erſte Hofball, der faſt immer
zu Ehren eines beſonders hohen Beſuchers veranſtaltet
wird. Sein Schauplatz iſt der große Feſtſaal im Buding-
hampalaſt, der im verfloſſenen Jahre vollſtändig neu
hergerichtet wurde, und der mit ſeinen weißen, nur
durch zwei Gobelins von nahezu unſchätzbarem Werte
geſchmückten Wänden, ſeinen Kriſtallkronleuchtern und
ſeinen vergoldeten Sitzmöbeln den denkbar vornehmſten
Rahmen für eine im größten Stile gehaltene Feitlich-
keit abgibt. An der einen Schmalwand befindet ſich
die Galerie für die königliche Muſikkapelle, und ihr
gegenüber erhebt ſich eine Eſtrade mit den rot ge-
polſterten Goldſeſſeln für die königliche Familie und
ihre erlauchten Beſucher. Nachdem ſich um elf Uhr
die geladenen Gäſte verſammelt haben, hält unter
Vorantritt eines Herolds das von dem großen Hofſtaat
gefolgte Königspaar ſeinen Einzug, um nach huldvoller
Begrüßung der Anweſenden auf der Eſtrade Platz zu
nehmen. Unmittelbar darauf wird der Ball mit einer
Quadrille eröffnet, an der nur die vornehmſten von
den erſchienenen Ballgäſten teilnehmen — außer der
königlichen Familie und ihren Beſuchern in der Regel
nur die am britiſchen Hofe beglaubigten Botſchafter
und Geſandten mit ihren Damen und die öIntimen
A Von Alexander Cormans, 115
des Königspaares, als die zurzeit etwa die Herzoginnen
von Sutherland, Portland und Weſtminſter, ſowie die
Ladies Londonderry, de Grey und Londesborough zu
nennen ſein würden. Auch bei einer ſo hochoffiziellen
und feierlichen Ak- |
tion, wie es dieſe
Staatsquadrille iſt,
ſollen ſich zuweilen
kleine Menſchlichkei-
ten ereignen, wie
zum Beiſpiel vor
gar nicht langer Zeit
bei dem Beſuche des
franzöſiſchen Präfi-
denten Fallieres,
dem die hohe Ehre
zugedacht war, mit
der Königin zu tan-
zen, und der in eini-
ger Verlegenheit auf
die Annahme die—
ſer Gunſt verzichten
mußte, weil er, wie
er ſagte, noch nie
in feinem Leben ge-
tanzt habe und ſicher⸗
lich nur aller Welt im Wege fein würde. — Mit der
Beendigung der erſten Quadrille iſt der Tanz ohne
jede Einſchränkung allen Anweſenden freigegeben. Die
Damen der königlichen Familie werden natürlich,
ebenſo wie an anderen Höfen, nicht aufgefordert,
ſondern wählen ihre Tänzer ſelbſt und laſſen ſie
durch Hofbeamte von der ihnen zugedachten Aus—
zeichnung in Kenntnis ſetzen.
.
Copyr. Lafayette.
Herzogin Marlborough.
116 Am engliſchen Königshofe. 2
Von dem beſtrickenden Glanz des Bildes, das die
auf einem ſolchen Londoner Hofball vereinigte Gefell-
ſchaft darbietet, kann man ſich unter bloßer Zuhilfe—
nahme der Phantaſie nur ſchwer eine Vorſtellung
machen. Die von den Damen des engliſchen Hoch-
adels zur Schau getragenen Juwelen repräſentieren
an ſolchen Abenden ein Kapital, das jeder Schätzung
ſpottet. Verfügt
doch manche Her-
zogin oder Gräfin
aus altem Ge-
ſchlecht über
einodien, die
in jedem Kron-
e ihre Stelle
Wh finden könnten.
5 Schon der. bril-
lantenfunkelnde
kronenartige
Kopfſchmuck, den
; — je nach ihrem
5 | en 3 Copyr. Lafayette. Range verſchie—
ady de Grey, Ks
eine 181 5 der Konten, 6
ſtokratinnen bei derartigen Gelegenheiten tragen, ge—
währt im Lichte der zahlloſen elektriſchen Lampen
einen geradezu märchenhaften Anblick.
Auch dieſe elektriſche Beleuchtung ftellt übrigens
eine Neuerung dar, zu der ſich die Königin Viktoria
ſchwerlich jemals entſchloſſen haben würde. Zu ihrer
Zeit gab es im Ballſaal des Buckinghampalaſtes nichts
als Wachskerzen, deren warm goldiger Schein auf ein
künſtleriſch geſchultes Auge wohl vornehmer und er—
freulicher wirken mochte als die blendende Helligkeit
2 Von Alexander Cormans. 117
von heute, die aber in dem ſchlecht gelüfteten Saale,
namentlich bei Feſten, die noch in die mildere Jahres-
zeit fielen, ſchon im Verlauf der erſten Stunde eine
kaum erträgliche Hitze und
Luftverderbnis zu erzeugen
pflegten.
Übrigens muß zugeftan-
den werden, daß auch die
Herren der Schöpfung viel
zu der maleriſchen Gejamt-
wirkung des lebendigen Ge-
mäldes beitragen. Nicht
nur die goldſtrotzenden,
ordengeſchmückten Unifor-
men der Diplomaten und
Offiziere ſind es, die ſtarke
und kräftige Töne in das
farbenreiche, glitzernde Ge-
woge bringen, ſondern auch
die maleriſchen National-
trachten, denen man ähnlich
bei den Feſtlichkeiten ande-
rer Höfe nur ſelten begeg-
net. Einige indiſche Fürſten
in fabelhaftem Zuwelen-
ſchmuck machen ſich beinahe
jedesmal durch ihre auf-
fallende Erſcheinung be—
merklich, wenn ſie ſich auch
zumeiſt in der Rolle würde-
voll zurückhaltender Zu-
ww
Copyr. H. Walter Barnette.
Lord Archibald Campbell.
ſchauer gefallen und am Tanze nicht teilnehmen. Eine
Ausnahme macht der bei
den jungen Damen der
engliſchen Ariſtokratie in hoher Gunſt ſtehende, glut-
118 Am englischen Königshofe. 2
äugige Maharadſcha von Katſch-Bihar, der ſogar den
ehrenvollen Ruf des beſten Walzertänzers bei Hofe
genießt. Etliche Herren des ſchottiſchen Adels, wie
Lord Archibald Campbell, Lord Kinnoull, der Herzog
von Atholl und andere, lieben es, in ſchottiſcher Hoch-
landtracht zu den Hoffeſtlichkeiten zu erſcheinen; und
wo immer die Etikette es ihm geſtattet, legt König
Eduard ſelbſt die Oberſtenuniform feines Hochländer-
regiments an, die ihn vortrefflich kleidet.
In weniger prunkendem, aber deſto reizvollerem
natürlichen Rahmen entfalten ſich die von dem Königs-
paar in Windſor gegebenen Gartenfeſte, von deren
lebhaftem Treiben man ſich einen Begriff machen
mag, wenn man erfährt, daß mitunter fieben- bis
achttauſend Perſonen dazu „befohlen“ werden.
Der von hervorragenden Mitgliedern der Geſell—
ſchaft veranſtalteten Feſte, auf denen der König und
die Königin als Gäſte erſcheinen, iſt ſchon oben Er—
wähnung geſchehen. Hier feiert freigebige und liebens-
würdige Gaſtfreundſchaft ihre höchſten Triumphe. Der
in Marlborough-Houſe reſidierende jetzige Prinz von
Wales freilich hat es bisher nicht verſtanden, ſich im
geſellſchaftlichen Leben die Rolle zu ſichern, die einſt
ſein Vater in demſelben ſpielte, wie überhaupt der
jetzige Thronerbe an Beliebtheit hinter dem einſtigen
weit zurückſteht. Auch die Damen der königlichen
Familie treten, mit Ausnahme der Königin ſelbſt,
wenig hervor. Von den Enkelinnen des Königspaares
würde Prinzeſſin Alexandra, die älteſte Tochter des
Herzogs von Fife, in dieſem Jahre das große Ereignis
ihres Eintritts in das geſellſchaftliche Leben zu ver—
zeichnen haben, aber ſie iſt von ſo zarter Geſundheit,
daß ſie vorerſt wahrſcheinlich nur in den kleinen, intimen
Zirkeln befreundeter Familien anzutreffen ſein wird.
5) Von Alexander Cormans. 119
Für eines der gaſtlichſten Häuſer gilt das der
ſchönen Herzogin von Sutherland, deren bezaubernde
Anmut und Liebenswürdigkeit eine Einladung zu ihren
Feſten für jeden damit Beehrten zu einem ganz be-
Copyr. W. & D. Downey.
Der Maharadſcha von Katſch-Bihar.
ſonderen Vergnügen machen. Hier findet ſich wohl
auch der König am häufigſten und liebſten ein, während
die Königin eine erklärte Vorliebe für die einfacheren
Veranſtaltungen im Hauſe der Lady de Grey, ihrer
vertraͤuteſten perſönlichen Freundin, hat. Eine Be—
ſonderheit der großen Soireen und Bälle im Palaſt
120 Am engliſchen Königshofe. 2
der Herzogin von Sutherland iſt es übrigens, daß die
Herren, den König inbegriffen, dort eee, nur
im Frack erſcheinen. i
Das größte Wohlgefallen an dieſer neu eingeführten
Sitte hat vermutlich der Botſchafter der Vereinigten
Staaten von Nordamerika, der in ſeinem ſchlichten
und republikaniſch ordensloſen Geſellſchaftsanzuge bei
allen anderen Feſtlichkeiten unter den goldbetreßten
und beſternten Uniformen eine durch ihre Einfachheit
auffallende Figur macht. Bei Hofbällen ſtatt der
langen Beinkleider Kniehoſen, ſchwarzſeidene Strümpfe
und Schnallenſchuhe anzulegen, hat allerdings auch
dieſer „Sohn eines freien Landes“ bereits über ſich
gewonnen.
Die Hand der Barbara Ath.
Novelle von F. C. Oberg.
>
(Nachdruck verboten.)
ir ſaßen in der großen Veranda mit den
bequemen Korbmöbeln.
Aus der Tiefe des benachbarten Zim-
i mers, von der Dede herab, aus den Wand-
niſchen heraus ſpann ſich das Dunkel und wob feine
wallende Schleier um uns.
Die großen Verandafenſter ſtanden wie dunkel-
blaue, durch das Dämmern mit mattem Leuchten
ſchimmernde Vierecke in der weichen, ſtumpfen, ebenen
Dunkelheit der Wände.
Die Umriſſe unſerer Geſtalten waren kaum er—
kennbar, nur die Kleider der jungen Mädchen und die
zarte helle Geſtalt der jungen Frau vom Haufe leuch-
teten ganz matt.
Wir hatten von allerlei geheimnisvollen Geſchichten,
aufgeklärten und ungelöſten, geſprochen. Eingeſponnen
vom Reiz des Übernatürlihen und vom Zauber der
Dämmerung ſaßen wir nun ſchweigend und nachdenklich
beieinander.
Wie um den Bann zu brechen, hob die Hausfrau
die Hand zum Lichthebel.
Da hielt eines der jungen Mädchen den erhobenen
Arm zurück und ſagte bittend: „Liebe gnädige Frau —
noch kein Licht! Es iſt ſo reizvoll ſo, und ich möchte
122 Die Hand der Barbara Uth. 2
ſo gern, daß noch mehr Geſpenſtergeſchichten erzählt
würden.“
Einen Augenblick lang antwortete niemand, dann
ſagte Fräulein v. Caub, eine Dame in der Mitte der
Vierzig etwa, eine ſympathiſche Erſcheinung, deren
kluges, lebhaftes Geſicht und deren beſonders klangvolle
und weiche Altſtimme für mich von vornherein von
Intereſſe geweſen war: „Geſpenſtergeſchichten! Das
iſt ein Ausdruck, den ich gar nicht mag. Es liegt Gering-
ſchätzung und Unglaube darin, und doch meint man
Dinge damit, die meiſt bitter ernfthaft find.“
„Heißt das, liebes Fräulein v. Caub,“ nahm die
Hausfrau das Wort, „daß Sie an ſolche Geſchichten
glauben? Sind Sie etwa eine Anhängerin des Ok-
kultismus?“
Fräulein v. Caub antwortete nicht direkt. „Vielleicht
haben Sie gemerkt,“ ſagte ſie, „daß ich mich vorhin
gar nicht an Ihrem allſeitigen Gedankenaustauſch
beteiligt habe. Ich konnte es nicht. Heute morgen
bekam ich einen Brief, der mich aufs tiefſte erſchüttert
hat. Sch ſtehe den ganzen Tag unter dem Eindruck
dieſer Nachricht, die endlich, nach mehr als zwanzig
Fahren ein Geheimnis gelichtet hat, deſſen Löſung ich
in gewiſſer Weiſe zwar ahnen, aber doch nie wirklich
erraten konnte. — Sie fragen mich, ob ich an Erjchei-
nungen oder — um Fhren Ausdruck zu gebrauchen —
an „Geſpenſtergeſchichten“ glaube? Die Antwort iſt
einfach — ich habe ſie erlebt!“
Sie hatte mit ſteigender Wärme geſprochen, und
wenn jene verhaltene Erregtheit ihre ſchöne Stimme
durchzitterte, bekam ihre Art zu ſprechen geradezu
etwas Hinreißendes.
„Erzählen Sie uns das doch!“ bat eines der jungen
Mädchen ſchüchtern.
2 Novelle von F. C. Oberg. 125
„Ich will es gern tun,“ ſagte Fräulein v. Caub,
„obgleich ich weiß, daß Sie mir vielleicht nicht glauben
werden. Aber gleichviel, ich bin weit davon entfernt,
Sie beeinfluſſen zu wollen. Ich war in meiner Jugend
ſo wie Sie von fröhlicher Zweifelſucht erfüllt, und ich
überlaſſe es Ihnen auch jetzt noch gern, das, was ich
Ihnen mitteile, zu glauben oder nicht. Was ich damals
erlebt habe, habe ich nie vergeſſen, dazu war es zu
gewaltig, aber ſeit jener Brief heute morgen mich
plötzlich über alle Zuſammenhänge, die zwiſchen einer
erſchütternden Tragödie eines längſt vergangenen
Jahrhunderts und meinen eigenen Erlebniſſen beſtehen,
aufgeklärt hat, iſt mir, als ſeien alle jene Ereigniſſe erſt
geſtern geweſen. Noch zittert die Erregung von heute
morgen in mir nach, und vielleicht iſt es mir ſelbſt
eine Wohltat, wenn ich Ihnen die Geſchichte erzähle.
Eine ganz kurze iſt es freilich nicht, und ich weiß nicht,
ob es Ihnen nicht vielleicht zu lange dauern wird —“
„Vir haben Zeit,“ gab die Hausfrau der allſeitigen
Meinung Ausdruck, „und ich will Beſcheid geben, daß
wir ungeſtört bleiben.“
Fräulein v. Caub ſchwieg, wie um ſich zu ſammeln.
Dann, als die Frau vom Hauſe zurückgekehrt war,
begann ſie. |
Sie erzählte durchaus nicht ungeftört, ſondern mit
manchen freiwilligen und unfreiwilligen Unterbrechun-
gen: Ausrufe, Fragen, Pauſen — all das verſteht ſich
bei einer Erzählung wie die des Fräuleins v. Caub von
ſelbſt; aber es würde nur den Zuſammenhang unnötig
zerreißen, ſollten alle dieſe Einzelheiten wiedergegeben
werden.
„Eine Zugendfreundin von mir, die wie ich einer
holſteiniſchen Familie entſtammte, hatte ſich nach Lübeck
verheiratet. Der einzige Sohn aus einem Patrizier—
124 Die Han) der Barbara Ath. 2
geſchlecht hatte fie vor etwa einem Jahr in das alte
Haus feiner Väter und Vorväter im Herzen der Stadt
heimgeführt. Ich war in der Zeit vor der Verlobung
und in der Brautzeit viel mit den beiden zuſammen
geweſen und hatte ehrliche Zuneigung zu dem liebens-
würdigen jungen Konſul Baering gefaßt. So ſchwer
die Trennung von Marig mir auch wurde — ich wußte,
daß ihr ganzes Glück an der Vereinigung mit Gerhard
Baering hing, denn es war eine echte Neigungsheirat —
ſo hatte ich mich in dies Scheiden eben finden müſſen.
Nachdem ich eine Zeitlang nichts von Maria gehört
hatte, bekam ich unerwartet einen Brief vom Konſul
Baering aus Holland, in dem er mich bat, ſeine Frau
in Lübeck auf längere Zeit zu beſuchen. Maria erwartete
ihr erſtes Kind. Es war dem Konſul ſehr ſchwer geworden,
ſie in dieſer Zeit allein zu laſſen, aber die Geſchäfts—
reiſe war unaufſchiebbar notwendig geweſen, und um
Maria, die fo wie jo zu Grübeleien neigte, nicht völlig
ihren Gedanken zu überlaſſen, bat er mich, zu ihr zu
reiſen. Maria, die früh verwaiſt bei Verwandten
aufgewachjen war, war eine verſchloſſene, ſtille Natur,
und Konſul Baering mochte wohl wiſſen, daß ihr
gerade in dieſer Zeit nur die Geſellſchaft eines ihr
wirklich vertrauten Menſchen nützen konnte.
Freilich, weder Maria noch irgend jemand ſonſt im
Haufe Baering wußte von meinem Kommen, weil
der Konſul vorausgeſetzt hatte, daß Maria in jener
mutloſen Müdigkeit, die mit ihrem Zuſtand zufammen-
hing, nichts von Gäſten — und ſeien es noch ſo nahe-
ſtehende — hätte wiſſen wollen.
So reiſte ich denn meiner vielleicht etwas fonder-
baren Aufgabe, der ich mich mit einer faſt ſchmerzlichen
Innigkeit hingeben wollte, entgegen.
Meine Ankunft in dem Baeringſchen Hauſe war
2 Novelle von F. C. Oberg. 125
zuerſt ganz fo, wie es fo oft mit klüglich ausgedachten
und falſch zuſtande gekommenen Überraſchungen zu
gehen pflegt.
Das alte Familienhaus ſtammte aus der Mitte
des ſiebzehnten Jahrhunderts, der prachtvolle, ſchlicht⸗
geſchweifte Giebel trug die Jahreszahl 1665. Trotz
mancher baulichen Anordnungen hatte das Haus ſeinen
urſprünglichen Charakter bewahrt. Durch die Haustür
und die gleich darauf folgende, mit großen Glasſcheiben
verſehene Zwiſchentür kam man auf eine rieſige, mit
großen Steinflieſen gepflaſterte Diele. Hier ſah es
bei meiner Ankunft ſchrecklich aus. In den beiden
großen Fremdenzimmern, die rechts und links vom
Eingang zu ebener Erde lagen, wurde der Fußboden
aufgeriſſen und neu gelegt, weil man Schwamm ent—
deckt hatte und dieſen natürlich ſofort beſeitigen mußte.
Das war erſt ſeit zwei Tagen im Gange, und ſo hatte
der ahnungsloſe Konſul ſelbſt keinen Begriff von der
Unruhe, die dieſe Entdeckung in das Haus getragen
hatte.
Die beiden Fremdenzimmer waren die einzigen
Wohnzimmer im Erdgeſchoß, das außer der großen
Diele nur noch die Küche, Vorratsräume und Mädchen-
kammern enthielt. Die Kontorräume des Konſuls
Baering lagen in einem Seitenflügel, der mit feinen
breitbogigen Fenſtern und ſeinen verwitterten Mauern
einer noch früheren Zeit entſtammte. Wie ich erfuhr,
war er als verwendbarer RNeſt eines früheren Stamm-
hauſes der Baerings — etwa von 1540 oder 1550 her —
bei der Errichtung des jetzigen ſtehen geblieben und
als Seitenflügel benützt worden. Jetzt brauchte man
nur das Erdgeſchoß zu Kontorzwecken; der erſte Stock
dieſes Flügels war völlig unbewohnt. Der vordere,
ſehr große Saal, den er, ſowie ein kleineres dahinter
126 Die Hand der Barbara Uth. N
liegendes und nur durch dieſen zu erreichendes Zimmer,
enthielt, war ſogar beſtändig verſchloſſen. Die Familie
Baering, die nie ſehr zahlreich geweſen war, fand ja
hinreichend Wohn- und Schlafzimmer in den übrigen
weiten Räumen des erſten Stockes, da man den zweiten
Stock des Haupthauſes ſowohl wie des Seitenflügels
ganz und gar zu Lagerzwecken benutzte..
Verzeihen Sie mir,“ unterbrach ſich die Erzählerin,
„daß ich Ihnen mit dieſen wohl etwas langen baulichen
Erörterungen komme. Aber es iſt nötig, daß Sie einen
ungefähren Begriff von den räumlichen Verhältniſſen
des Hauſes haben, aus deſſen Geſchichte ich Ihnen ein
ſo ſeltſames und ſo erſchütterndes Kapitel erzählen will.
Hören Sie weiter.
Marias anfängliche Beſtürzung über meine uner-
wartete Ankunft verwandelte ſich zu meiner Beruhigung
ſchnell in herzliche Freude.
Zwiſchen Lachen und Weinen hing ſie an meinem
Hals. ‚Daß du es biſt! Daß du es biſt!“ wiederholte
fie immer wieder. „Das macht mich ja fo glücklich!“
Gleich darauf rief ſie mit heller Stimme in den Flur
hinaus: „Valborg! Valborg!“
Die Gerufene, die ſchnell herbeikam, war eine
matronenhafte Frau, die vor vielen Jahren mit des
Konſuls Großvater aus Dänemark gekommen war und
nun ſchon ſeit Jahrzehnten den Baerings in treuer
Anhänglichkeit diente. Auch jetzt war ſie, ſozuſagen
als Verwalterin, der jungen Frau eine treue Stütze,
ja faſt eine mütterliche Vertraute.
Ich kannte dieſe Valborg aus Marias Briefen,
ſogar ſchon aus Gerhard Baerings. Erzählungen von
der Brautzeit her, und ſtets hatte man ſie mir als
Muſter aller menſchlichen Tugenden im allgemeinen
und aller weiblichen Vorzüge im beſonderen geſchildert.
2 Novelle von F. C. Oberg. 127
Zu meinem Bedauern wurde mir aber nun ein merklich
zurückhaltender Empfang von ihrer Seite zuteil. Sie
ſah mich mit ihren hellen Augen, die ſo ſonderbar
jung und klar in dem vollen, freundlichen, von vielen
Falten durchfurchten Geſicht ſtanden, ſehr prüfend an
und begnügte ſich mit einer knappen und ziemlich
undeutlichen Begrüßung, die in ſonderbarer Weiſe
die Mitte hielt zwiſchen Zurückhaltung und pflicht
ſchuldiger Freundlichkeit.
Maria ſah ſie einen Augenblick lang ganz betroffen
an, dann ſagte ſie lächelnd: Valborg, haſt du denn
Wirtſchaftsſorgen?“ Dann, zu mir gewandt, fuhr ſie
fort: „Schrecklich das mit dem Schwamm — nicht
wahr? Aber ſei ohne Sorge, auf die Straße brauchſt
du deshalb nicht, wenn ich dich auch leider nicht in
einem der Fremdenzimmer unterbringen kann. Da
iſt ja noch der Seitenflügel. Das Zimmer entſpricht
dem Hauptkontor unten, iſt alſo ſehr groß — das wird
ſich gut einrichten laſſen.“ Das letzte hatte wieder
Valborg, die mit einem ſonderbaren Ausdrucke von
Undurchdringlichkeit daſtand, gegolten. Nun wandte
Maria ſich mit einem halb verlegenen Ausdruck mir
wieder zu: ‚Es iſt ja komiſch, aber du mußt wiſſen,
Hedwig, daß ich das Zimmer ſelbſt auch noch nicht
kenne. Es iſt immer verſchloſſen; ich habe Gerhard
verſchiedentlich gebeten, es mir zu zeigen, das ſollte
auch immer mal ſein, aber, wie's zuweilen ſo geht,
weißt du, einmal war der Schlüſſel fort, dann waren
wir monatelang auf Reiſen, kurz und gut — aber,
Valborg, jetzt muß das Zimmer aufgeſchloſſen und
für Fräulein v. Caub zurechtgemacht werden.“
Valborg war auf Maria zugetreten und hatte mit
einem Ausdruck von zarter Mütterlichkeit den Arm um
ihre Geſtalt gelegt, und ſo die junge Frau halb wider
128 Die Hand der Barbara Ath. 1
Willen vom Vorflur ins Wohnzimmer zurückführend
ſagte ſie freundlich mit ihrer däniſchen Ausſprache, die
die S-Laute fo ſcharf, das A jo trübe, das R fo aus der
unterſten Tiefe der Kehle zu holen ſcheint: „Frau
Maria, ſeien Sie unbeſorgt! Es kommt alles in Ord-
nung. Überhaupt, es iſt ja unten alles bald wieder
zurecht, und für einige Tage nimmt Fräulein v. Caub
wohl fürlieb. Sie ſollen ſich jedenfalls nicht aufregen
und ruhig im Zimmer bleiben. Zch ſorge für alles.‘
gch erinnere mich noch heute des Befremdens,
mit dem mich die Szene erfüllte. Ein Zimmer, das
die Frau des Hauſes nicht kannte, obgleich ſie vor einem
vollen Jahr als Herrin hier eingezogen war? Ein
Zimmer, das, obgleich es bequem gelegen war, beſtändig
verſchloſſen, alſo nicht nur unbenützt, wie ich zuerſt
geglaubt, ſondern völlig kaltgeſtellt war? |
Da kam ſchon Valborg, die Tür ſogleich hinter ihrer
Herrin ſchließend, auf mich zu. „Ich habe Frau Maria
geſagt, ſie ſei jetzt zu erregt und müſſe Ruhe haben.
In einer Stunde oder einer halben können Fräulein
v. Caub mit ihr ſprechen.“ Dann, mir vorausſchreitend,
ſagte fie kurz, aber freundlich: , Kommen Sie mit, bitte. —
Hier wohne ich,‘ fuhr fie dann fort, vor einer Tür ſtehen
bleibend, ‚und hier“ — fie zeigte auf eine Tür, die der
Kontortür unten entſprach, alfo den Eingang zum Seiten-
flügel, den man rechts an die Rüdfront des Haupt-
hauſes hatte anſchließen laſſen, ausmachen mußte —
„hier iſt das Zimmer, in dem Fräulein v. Caub wohnen
wird.“
Einen Augenblick lang blickten ihre klaren Augen
wieder ernſt und forſchend in die meinen.
Dann fuhr fie in gewöhnlichem Ton fort: „Ich
werde alles zurechtmachen, aufſchließen und lüften,
und Fräulein v. Caub wird Beſcheid geben, daß das
2 Novelle von F. C. Oberg. 129
Gepäck heraufkommt — hierher, auf den Vorplatz.
Für das übrige ſorge ich.“
Ich wollte gehen. Da ſchien fie einem unſchlüſſigen
Schwanken ſchnell ein Ende zu machen, öffnete mit
großer Beſtimmtheit ihre Zimmertür und bat mich,
bei ihr einzutreten, was ich mit einigem Befremden
auch tat.
„Fräulein v. Caub,‘ ſagte Valborg ernſt, ‚es iſt nicht
gut, daß Sie gerade jetzt kommen, da niemand unten
wohnen kann, denn dort‘ — fie machte eine Bewegung
mit dem Kopf — kann auch niemand wohnen. Das
Zimmer hat eine Erſcheinung.“
Ich hätte beinahe aufgeſchrieen — nicht vor Schreck,
ſondern vor Freude. „Heißt das, daß es dort umgeht,
Valborg?“ fragte ich eifrig. O, dann muß ich entſchieden
dort wohnen! Was für ein Glück!“
Valborg unterbrach mich. „Sie glauben nicht daran?“
fragte ſie.
„Nein, ſicher nicht, Valborg!“ ſagte ich fröhlich.
„Venigſtens nicht eher, als bis ich die ſogenannte
Erſcheinung ſelbſt geſehen habe, und das kann lange
dauern, denn ich gehöre nicht zu den Leuten, die
befähigt ſind, Geſpenſter zu ſehen. Ich ſehe keine Dinge,
wo keine find.‘
„Ich auch nicht,“ erwiderte Valborg mit demſelben
ruhigen Ernſt. „Aber dort ſind wirklich Dinge, die man
ſieht, obwohl man ſie nicht greifen kann. Ich wollte
darum vorſchlagen, daß Fräulein v. Caub nur zum
Schein dort“ — wieder die Kopfbewegung — ‚wohnt,
und in Wirklichkeit hier bei mir. Es darf's aber niemand
wiſſen, außer uns beiden. Frau Maria weiß es nicht —
überhaupt niemand im Hauſe, daß jenes Zimmer die
Erſcheinung hat — das wiſſen nur Herr Gerhard und
ich. Darum iſt das Zimmer verſchloſſen, und Frau
1910. I. 9
130 Die Hand der Barbara Uth. | o
Maria darf es nicht ſehen — nie, niemals, am aller-
wenigſten jetzt. Wir müſſen ſehr, ſehr vorſichtig ſein,
daß ſie — ohne es zu merken — verhindert wird, in
Ihr Zimmer zu kommen.“
„Valborg,“ ſagte ich freundlich, wenn auch wohl ein
wenig von der Höhe meines aufgeklärten Stand-
punktes herab, „Maria darf in keiner Weiſe beunruhigt
werden, das iſt richtig. Darum will ich tun, was
Sie ſagen. Was aber mich ſelbſt anbetrifft — nun,
ich bin nicht ſo haſenfüßig und bin ſchrecklich begierig,
die Bekanntſchaft eines richtigen Geſpenſtes zu machen.“
Valborg wollte etwas entgegnen, aber ich fuhr, ohne
ſie zu Worte kommen zu laſſen, fort: „Ich will gar nicht
wiſſen, ob das Geſpenſt männlich oder weiblich iſt, ob
es lacht oder weint, ſondern ich will ganz einfach in
mein Geiſterzimmer einziehen, und ich bin höchſt ge-
ſpannt, ob ich etwas ſehe oder höre von einem Be—
ſuche aus dem Zenfeits.‘
Valborg ſchien mir nicht mehr zugehört zu haben.
Gedankenverloren ſah ſie vor ſich hin und murmelte:
„Gerade jetzt, gerade jetzt!“ und dabei rannen langſam
zwei helle Tränen über das alte Geſicht.
„Aber Valborg!“ ſagte ich betroffen.
Sie ſah mich aus den feuchten Augen ernſt an und
ſagte: „Gott ſei uns allen gnädig!“
Halb beſtürzt, halb ärgerlich über ſolche Geſpenſter—
furcht ging ich hinaus.
Maria war abgeſpannt und lag den ganzen Nach-
mittag auf ihrem Ruhebett. Ich war bemüht, ihr eine
fröhliche, unbefangene Geſellſchafterin zu ſein. Als
ich ihr endlich Gutenacht ſagte, wollte ſie mich durchaus
in mein Zimmer bringen, weil ſie doch ſehen müſſe,
wo ihr lieber Gaſt denn eigentlich ſchlafe.
„Lieber heute nicht, Maria,“ bat ich ſie. „Du weißt,
. Norelle von F. C. Oberg. 131
Valborg ſorgt für alles, und du ſollſt dich ruhig
verhalten.“
Maria fügte ſich denn auch, vielleicht, weil fie wirk-
lich müde war, vielleicht — weil alles ſo kommen mußte,
wie es kam. |
Am Eingang meines Zimmers wartete Valborg auf
mich. Ich empfand in dieſem Augenblick ihre beſtändige
Fürforge wie etwas Überflüffiges, faſt Anmaßendes.
„Es iſt alles in Ordnung,“ ſagte die alte Frau, und
der traurige Ausdruck ihres Geſichts rührte mich ſo,
daß meine Ungeduld wieder verflog.
„Alſo gute Nacht, Valborg, und Dank für alles!“ ſagte
ich herzlich, und mit der Wärme, in der zwei vertraute
Bundesgenoſſen verkehren, fuhr ich fort: Wenn mir
graulich wird, komme ich zu Ihnen.“
Mit einer Entſchloſſenheit, die gerade durch die
Art, in der ich fie betonte, wohl eine gewiſſe ängjtliche
Aufgeregtheit verraten mochte, klinkte ich die hohe
weiße Tür auf und ging hinein.
Das Zimmer war außerordentlich geräumig.
An der Längswand, links von der Tür, die etwa
die Mitte der vorderen Querwand einnahm, waren
zwei hohe, große, weitbogige Fenſter, die jetzt mit
prachtvollen, dunklen Vorhängen verhängt waren.
An derſelben Wand, tiefer im Zimmer und mit dem
einen Ende ſchon die hintere Querwand berührend,
ſtand das mächtige Bett. Ihm gegenüber, alſo an der
rechten Längswand, befand ſich ein Sofa mit einem
großen, ovalen, mit dunkelgrüner ſchwerer Decke
überhängten Tiſch, der zwei ſchöne Handleuchter trug,
deren brennende Kerzen den weiten Raum mit nicht
übermäßiger, aber lebendiger Helle füllten.
Seitlich von Tiſch und Sofa, an der rechten Längs-
wand — etwa dem einen Fenſter in ſchräger Richtung
132 Die Hand der Barbara Uth. 6
gegenüber — hing ein herrlicher alter venezianiſcher
Spiegel, wundervoll facettiert und mit reicher Glas-
rahmung. Ein ſchmales, ſchlankfüßiges Rokokotiſchchen
ſtand darunter.
Ich war nicht geſchult genug, um beurteilen zu
können, ob die einzelnen Teile der Einrichtung zu-
einander paßten; ich glaube eigentlich, daß die Erzeug-
niſſe verſchiedener Jahrhunderte hier zuſammengefügt
waren. Zedenfalls war der ſchöne Marmorwaſchtiſch,
der wieder rechts ſeitlich vom Spiegel ſtand, aus einer
ſpäteren Zeit wie das Tiſchchen unter dem Spiegel,
der ſeinerſeits wohl, wie etwa das Bett und die Leuchter,
das Vorrecht im Alter beanſpruchen konnte.
Die Ecke der rechten Längswand und der Querwand,
in der die Tür war, wurde breit und wuchtig durch einen
großen Kamin ausgefüllt, deſſen grüne Kacheln und
ſchönes Schmiedeeiſen wohl manches kunſtliebende
Auge hätten feſſeln mögen. Neben dem Tiſch, am Fenſter
und neben dem Koloſſalbett ſtanden einige hochlehnige,
breite Stühle.
Einen anderen Ausgang als den, durch den ich
hereingekommen war, ſchien das Zimmer nicht zu
beſitzen. Gab es aber dennoch eine Tür zu einem
weiter hinten liegenden Raum, ſo mochte ſie durch
Möbel verſtellt oder durch Wanddekorationen verdeckt
ſein. Ich habe das nie unterſucht, weil es gänzlich
ohne Bedeutung war.
Es iſt mir noch gut erinnerlich, daß die Wände
halbhohe, ſchlichte Panellierung beſaßen und oberhalb
dieſer mit einer ſtark gedunkelten lederartigen Tapete
bekleidet waren. Decke und Fußboden waren ſchlicht,
aber ſehr ſchön ausgelegt. N
Natürlich überſah ich all dieſes nicht ſofort, und wenn
mir jetzt der ganze Raum im Geſamteindruck ſowohl
1 Novelle von F. C. Oberg. 133
wie in den Einzelheiten ſo deutlich vor Augen ſteht,
iſt das wohl mehr der Summe vieler nach und nach
gewonnenen Eindrücke zu danken.
Das Zimmer war entſchieden aufs beſte gelüftet,
aber — war es nun die Höhe und Weite des Raumes,
die Geräumigkeit der Flächen, die ſelbſt durch die
großen, ſchweren Möbel ſo wenig beeinflußt wurde,
war es das mir ſo ungewohnte Bild der ganzen Ein-
richtung — ich glaubte, eine befremdliche, beklemmende
Luft zu atmen, ich fühlte mich unfrei und benommen
und ſuchte vergebens nach dem fröhlichen Mut, der
mich noch vor zwei Minuten erfüllt hatte.
So ſtand ich nun beklommen in der vorderen Hälfte
des Raumes und ſah mich mit ſcheuen Blicken um.
Wie, wenn ich Valborg doch erſt lieber nach näherer
Erklärung gefragt hätte? Dann aber beſann ich mich
eines Beſſeren. Das wäre ja ſo gut wie überzeugter
Glaube geweſen, wenn ich mich ſchon jetzt beſiegt gab.
Ich ertappte mich da auf einer ſchreienden Inkonſequenz,
und wenn ich jo weiter machte und mich in Furcht-
ſamkeit hineinredete, würde es mir wohl nicht ſchwer
fallen, wirklich Geſpenſterdinge zu ſehen und zu
hören.
ich lachte mich ſelbſt aus, nahm meine Beklommen⸗
heit von der komiſchen Seite und fühlte mich nun wieder
frei. Vergnügt und wie erleichtert, geradezu von einer
Art dankbarer Begeiſterung über die Romantik, in die
ich ſo unvermutet verſetzt worden war, erfüllt, begann
ich meinen Koffer auszupacken.
ich hing meine Kleider in einen großen Schrank,
der neben der ins Zimmer hineinſchlagenden Tür an
der vorderen Querwand ſtand — ein Schrank, ſo groß
wie ein Haus, aus prachtvollem Eichenholz und mit
wertvollen Schnitzereien und herrlicher Orechſlerarbeit
134 Die Hand der Barbara Uth. 2
geſchmückt. Die ſchweren Türen ließen ſich nicht ganz
leicht regieren und quietſchten in den Angeln.
Der große Teppich, der faſt den ganzen Boden
in der vorderen Zimmerhälfte bedeckte, machte hier
meine eigenen Schritte unhörbar.
Ich packte meine Gebrauchsgeräte zum Teil in die
tlefen Schubladen des Waſchtiſches, zum Teil in die
kleine Lade des Rokokotiſchchens. Dorthin wollte ich
auch jetzt meine Kämme legen, die ich gerade aus dem
Koffer genommen hatte; ich ſtand einige Schritte rechts
vom Spiegel und muſterte feine Rahmung mit Ent-
zücken, da — —
Im Spiegel ſah ich plötzlich eine ſchlanke ausge-
ſtreckte Hand, die mit einer Bewegung des Zeigens,
Hindeutens in die Tiefe des Zimmers gerichtet ſchien.
Wie ein glühender Schlag ging es über mich hin.
Ich wendete den Kopf und ſtarrte in das Zimmer
hinter mir — es war leer, kein Menſch war zu ſehen,
nichts als die leere Weite des großen Raumes.
Ich ſah zurück in den Spiegel — klar, glatt, eine
ſpiegelnde dunkle Fläche mit ſchimmernden Reflexen
in der Facettierung und im Rahmen — ſo hing er vor
mir. Von jener Hand, die ſich noch vor ein paar Herz-
ſchlägen dort gezeigt, war nichts mehr zu ſehen.
ich ſtand wie betäubt. Wie mit feurigen Wellen
zitterte die Erregung über mich hin, und dann überkam
mich ein kalter Schauder.
Eine Täuſchung war ausgeſchloſſen. Meine eigenen
Hände hielt ich noch jetzt ſo wie in dem Augenblick,
als ich die Hand im Spiegel ſah. Überdies trug ich
Armel, die bis aufs Handgelenk gingen, während jene
Hand im Spiegel ſich bis knapp vor dem Ellbogen aus
der rechtsſeitigen Rahmung herausgeſtreckt hatte und
völlig unbekleidet geweſen war.
1 Novelle von F. C. Oberg. 135
ch griff an meine Stirn, ſtrich mir über die Augen —
Und als ich den Blick wieder hob, ging es von neuem
wie ein elektriſcher Schlag über mich.
Schlank, weiß, den Zeigefinger leicht vorgeſtreckt —
ſo ſah ich wieder die Hand im Spiegel, unbeweglich,
aber klar und deutlich, ja von einer geradezu über-
ſtarken Plaſtik und Lebendigkeit ... Ich ſah die Finger-
ſeite, den Daumen alſo nur zwiſchen den leicht geboge-
nen anderen Fingern hindurch. Der Zeigefinger war
vorgeſtreckt, die letzten drei Finger zur Fläche geſchloſſen
und leicht in die Handhöhlung hineingebogen. In dem
ſchmalen, zarten Gelenk war die Hand etwas geſenkt,
während die Richtung des Armes anſteigend war.
Es war eine entzückend ſchöne Bewegung. Hätte
das Grauen nur irgendwelche Freude an der Schönheit
aufkommen laſſen. Zugleich lag es wie ein Befehl,
wie eine grauſig unerbittliche Forderung in dieſer
ſchönen Hand.
Mit jagendem Atem und fliegenden Pulſen ſtarrte
ich auf die Erſcheinung.
Was war das am Ringfinger? War es ein mit
einem dunkelroten Stein geſchmückter Reif?
Ich wollte die Art des tiefleuchtenden roten Flecks
am Ringfinger ergründen — da — mit einem Schlage
war die Erſcheinung fort.
Das Glas war wieder ganz gleichmäßig dunkel,
und die Hand war ſo urplötzlich verſchwunden, wie ſie
erſchien.
Mir war, als würge mich etwas im Halfe, die Tränen
maßloſer Erregung ſprangen mir in die Augen, und
ich glaube, ich wäre gefallen, wenn mich nicht zwei
Arme ſorglich umfaßt hätten. „Valborg!“ ſchrie ich faſt
ſchluchzend auf. Ohne daß ich es gemerkt hatte, war
ſie hereingekommen, gerade zeitig genug, um mich
136 Die Hand der Barbara Uth. u
vor dem Fallen zu behüten und mir über dieſe erſte
ſchreckliche Erregung fortzuhelfen.
„Armes Kind!“ ſagte die alte Frau gütig und führte
mich hinaus.
In Valborgs Zimmer, in einem großen Lehnſtuhl,
vor mir den kleinen gemütlichen Raum, vom Schein
einer Petroleumlampe mit weißer Kuppel traulich
übergoſſen, mir gegenüber der Alten mir plötzlich ſo
lieb vertrautes Geſicht — da verſuchte ich, wieder zu
mir ſelbſt zu kommen.
Während mich noch die Erregung in wilden Stößen
ſchüttelte, ſah ich, daß Valborg ganz ruhig ſchien, nur
der Ausdruck einer erſchütternden Traurigkeit lag auf
ihren Zügen.
„Sie haben ſie alſo geſehen, die Hand der Barbara
uth?‘
‚Die Hand der — Barbara Uth?“ wiederholte ich,
während mir ſelbſt auffiel, wie verändert, wie klanglos
meine Stimme war, ‚Erzählen Sie, Valborg,“ bat ich,
‚erzählen Sie alles, was Sie von der Hand wiſſen!“
Die Ruhe der alten Frau war wohl nur erzwungen
geweſen — jetzt weinte ſie leiſe vor ſich hin.
„Thomaſine, arme, liebe Thomaſine!“ klagte ſie
ſchluchzend.
Ich begriff nicht. Valborgs Art ſteigerte meine
Erregung aufs äußerſte. ,‚Valborg,“ ſagte ich, ſelbſt
faſt weinend, ‚um Gottes willen, fo erzählen Sie doch!
Wer war Barbara Uth, und wer war Thomaſine?“
Valborg zwang ſich wieder zur Ruhe. ‚Thomaſine
war Herrn Gerhards Mutter,“ fagte fie, ‚und ihr hat
die Hand der Barbara Uth das Leben gekoſtet. Barbara
Uths Hand erſcheint dort im Spiegel, an derſelben
Stelle und in derſelben Haltung, ſolange das Geſchlecht
der Baerings hier lebt, ſo lange wenigſtens, als die
1 Novelle von F. C. Oberg. 137
Aufzeichnungen der alten Familienurkunden, Hand-
ſchriften oder Chroniken, was weiß ich, zurückreichen —
„Van hat dieſe Urkunden noch?“ unterbrach ich ſie
lebhaft. „Wer hat ſie, und wo ſind ſie, kann ich ſie nicht
ſehen?“
Valborg ſchüttelte den Kopf. ‚Die Urkunden hat
Herr Gerhard in ſeinem Schreibtiſch eingeſchloſſen, die
kann niemand ſehen.“
„Und wenn ich ihm fchreibe?‘
„Das iſt unmöglich,“ ſagte Valborg mit großer Ent-
ſchiedenheit. „Herr Gerhard darf in dieſer Zeit nichts
wiſſen von allem, was hier vorgeht, von dem Schwamm
ſo wenig wie von den daraus entſtandenen Folgen,
nämlich daß ich das Zimmer, in dem die Hand erſcheint,
habe aufſchließen müſſen. Ich habe Frau Maria ſchon
unauffällig dahin gebracht, ihrem Mann die Schwamm-
geſchichte nicht mitzuteilen, wüßte der arme Herr
Konſul, wie hier die Dinge liegen, er würde in der
Ferne in Angſt und Sorge um Frau Marias Leben
vergehen. Denn — ich ſagte es ja ſchon — ſeine Mutter,
die arme Thomaſine, hat bei ſeiner Geburt ihr Leben
gelaffen, und das kam nur, weil fie ſo grenzenlos unter
der Hand der Barbara Uth gelitten hat.“
In mir erwachte ſchon wieder fo etwas wie Zweifel-
ſucht. ‚Valborg,“ ſagte ich, ‚kein Menſch kann doch
wiſſen, ob Herrn Gerhards Geburt glücklicher verlaufen
wäre, wenn ſeine Mutter gar nichts von der Hand der
Barbara Uth gewußt hätte.“
„Der Zuſammenhang iſt zu deutlich,“ antwortete
Valborg. „Herr Gerhard iſt wohl auch nicht der erſte
der Baerings, der wegen der Hand mutterlos aufwachſen
mußte, denn die Hand iſt immer erſchienen, wenn eine
junge Frau des Hauſes ihr erſtes Kind unter dem Herzen
trug. — Sie brauchen nicht zu bedauern, daß Sie die
138 Die Hand der Barbara Ath, 1
Arkunden, die etwas über die Hand der Barbara Uth
melden, nicht ſelbſt ſehen können. Ehe Herr Gerhard
heiratete, habe ich noch einmal alles mit ihm zuſammen
durchgeleſen und alles behalten. Es iſt ja auch nicht
viel. — Zuerſt meldet ein Gaſt der Familie Baering,
der in dem Zimmer mit dem venezianiſchen Spiegel
wohnte, die Erſcheinung der Hand. Das Schriftſtück
trug die Zahl 1704, und der Schreiber war ein Gaſt
des Herrn Auguſt Julius Baering geweſen. Auguſt
Julius Baering iſt ein kluger, aber ſehr ſtiller Mann
geweſen, der in feiner Jugend großes Leid durch den
Verluſt ſeiner erſten Frau nach kaum zehnmonatlicher
Ehe erlitten hat. Sein Vater, ein prachtliebender
Ratsherr, hat das erſte Familienhaus, von dem ja der
alte Seitenflügel ſtammt, bauen und einrichten laſſen —
von Auguſt Zulius’ etwaigen Ehrenämtern hört man
nichts, er ſoll ſeinen Studien, abgezogen von der Welt
und gleichgültig gegen ſeines Hauſes Wohlſtand, gelebt
haben. Sie wiſſen ja auch vielleicht, Fräulein v. Caub,“
ſchaltete Valborg ein, „daß die Baerings erſt ſeit etwa
hundert Jahren, alſo in der vierten Generation, Kaufleute
find. Die früheren Baerings waren meiſt Gelehrte.
Aber jo ein Wechfer hängt wohl mit dem Blut zuſammen,
und es iſt ja nun gut, daß Herrn Gerhards Vorväter
oft eine Frau von außerhalb hatten, ſonſt wäre das
Geſchlecht wohl kaum ſo lange lebensfähig geblieben.“
„Aber die Hand?“ warf ich ein, um auf das eigent-
liche Thema zurückzukommen.
„Von jener erſten Beſchreibung aus dem Jahre 1704
an fehlen in keinem der erhaltenen Berichte Nachrichten
über die Erſcheinung, wenn auch der nächſte — ſoweit
ich mich erinnere — erſt vom Zahre 1720 ſtammt.
Es iſt ja möglich, daß das Zimmer wenig oder gar nicht
gebraucht wurde, oder daß die Hand ſich nur ſelten
1 Novelle von F. C. Oberg. 139
zeigte — ich weiß es nicht; dieſer zweite Bericht jeden
falls ſtammt aus der Zeit nach dem Tode des Herrn
Auguſt Julius, und er belegt, wie auch alle anderen
Beſchreibungen, die Erſcheinung ſchon mit dem Namen
‚die Hand der Barbara Uth“. Von nun an folgen die
Aufzeichnungen in ununterbrochener Kette, und in
jeder ſpielt das Vorhandenſein der Familienerſcheinung
mehr oder minder eine Rolle. Die Art der Mitteilungen
bleibt ſich aber merkwürdig gleich — mit wenigen
Abweichungen ſchildern alle das gleiche.“
‚Wie aber erklärt ſich der Name?“ forſchte ich.
‚Das erzählt das Schriftſtück von 1720. Man be-
hauptet, die Hand im Spiegel als die der ſchönen,
ſtolzen Barbara Uth, der Tochter eines vornehmen
Hauſes unſerer Stadt, wiedererkannt zu haben. Barbara
Ath war bekannt wegen ihrer Schönheit, doch auch wegen
ihres unſagbaren Stolzes. Sie hat wunderbar ſchöne
Hände gehabt, um fo mehr iſt darum an ihrer —“
„Verzeihung, Valborg, aber vor allem: wann hat
Barbara Uth gelebt?‘
„Im Jahre 1702 foll fie geſtorben fein. Mit ihr
verlöſchte das Geſchlecht der Aths. Sie ſoll mit einem
angeſehenen und vermöglichen Ratsherrn unſerer Stadt,
dem Magiſter Chriſtoph Rochus Entling, vermählt
geweſen fein.‘
‚Entling — Entling, ſagen Sie, Valborg?“ rief ich
bebend vor Erregung, während ich fühlte, wie mir
alles Blut zum Herzen ſtrömte.
„Ja, Entling,“ wiederholte Valborg, verwundert
über meine Erregtheit. ‚Die Entlings ſind ſpäter,
noch vor Barbaras Tode, glaube ich, alſo etwa um die
Wende des ehen Jahrhunderts, ins Preußiſche
gezogen.“
‚Dort find fie unter König Friedrich I. von Preußen
140 Die Hand der Barbara Uth. 2
in den erblichen Adelſtand erhoben worden; ein Herr
Rochus v. Entling hat ſehr verdienſtvoll im ſpaniſchen
Erbfolgekriege gefochten. Jahrzehntelang haben die
Entlings glänzend gelebt, ſpäter im Verlauf des neun-
zehnten Jahrhunderts in einfacheren, aber guten und
geſicherten Verhältniſſen auf einem Landſitz in Holitein,
bis endlich der letzte Nachkomme der geraden Linie ein
Mädchen war und das Gut an eine Seitenlinie kam,
an das Geſchlecht der Edlen von und zu Ruttorp —“
Ein halblauter Aufſchrei Valborgs unterbrach
mich.
„Ja, Valborg,“ ſagte ich, ſelbſt meine Erregung nur
mühſam meiſternd, „Maria iſt nicht die Tochter, ſondern
die als ſolche adoptierte Nichte des Barons Ruttorp.
Sie iſt eine geborene v. Entling, ſie iſt alſo der letzte
Nachkomme der — Barbara Uth.“ Ich hatte immer
leiſer und leiſer geſprochen, das Aufregende dieſer
Entdeckung nahm mir faſt die Stimme.
Es dauerte eine ganze Zeit, ehe Valborg ſich gefaßt
hatte. Sie kämpfte beſtändig mit den Tränen, und wie
ſchon einmal an dieſem Tage ſagte ſie: „Gott ſei uns
allen gnädig — Gott ſei der Frau Maria gnädig!“
Ich nickte ſtumm.
Ruhiger geworden fuhr Valborg fort: „Herr Gerhard
wird das wiſſen, aber er hat mir nie ein Wort davon
gefagt.‘ |
‚Der Konſul,“ fiel ich ein, ‚wird es auch erſt erfahren
haben, als er bei dem Baron Ruttorp um Varia, die
allgemein als ſeine Tochter galt, warb. Auch ich habe
Marias eigentlichen Familiennamen, den ſie mit dem
der Ruttorps vertauſcht hatte, früher nur einmal durch
Zufall erfahren. Maria war eine WVaiſe von drei
Jahren, als ihr Onkel, der Erbe des Entlingſchen
Familiengutes, ſie an Kindesſtatt annahm. An dieſem
0 Novelle von F. C. Oberg. 141
Onkel hängt ſie mit großer Liebe, zu ſeiner Frau aber,
die bald nach Marias Verlobung ſtarb, hat ſie nie in
beſonders gutem Verhältnis geſtanden. — Als Maria
heiratete, war die Rede davon, daß die Vorfahren ihrer
Familie aus dem Lübeckſchen ſtammten.“
„Ich begreife jetzt noch mehr als früher Herrn Ger—
hards übergroße Sorge, daß Frau Maria etwas über
das Rätſel mit der Hand erfahren könne,“ ſagte Valborg.
‚Es gab jo vieles Aufſehen und Gerede bei feiner Ver-
heiratung, und jetzt ſcheint es faſt —“
Sie ſprach den Satz nicht aus.
ich kam auf die Erſcheinung zurück. ‚Sie haben noch
nicht alles von der Hand der Barbara Uth erzählt,
Valborg.“
‚Es iſt nicht viel mehr,“ antwortete fie. „Man hat
in der Erſcheinung nicht nur die Hand der Barbara Uth
an ihrer ſeltenen Schönheit, ſondern mit um ſo größerer
Sicherheit noch an einer eigenartig geformten Biß
narbe wiedererkannt, die an gleicher Stelle und in
gleicher Form die rechte Hand der Barbara Uth ver-
unziert hat. Freilich „verunziert“ ſei kaum der rechte
Ausdruck dafür, ſagt der Briefſchreiber von 1720; wenn
man von Barbara Uths ſchönen Händen geſprochen
habe und dieſer Narbe Erwähnung tat, ſo habe man
ſtets geſagt: ſie iſt nichts weiter als ein Zeichen mehr
von Schönheit, bringe ſie doch durch den Gegenſatz
das Edle der Formen und die Zartheit der Haut nur
um fo mehr zum Ausdruck. Der Briefſchreiber ſelbſt
verdankt dieſe Nachrichten mündlichen Überlieferungen
älterer Leute. Das Erkennen der Erſcheinung war um
ſo leichter möglich, und ein Irrtum war ausgeſchloſſen,
weil Barbara Uths Hände eine förmliche Berühmtheit
geweſen ſein ſollen. Sie ſelbſt ſoll ſehr ſtolz darauf
geweſen ſein, aber merkwürdigerweiſe hat ſie nie auch
142 Die Hand der Barbara Uth. 2
nur den einfachſten Schmuck, nicht einmal den Trauring
daran gelitten.‘
„Aber an ihrem vierten Finger —
Ich kam nicht zu Ende, denn Valborg fiel mir
ins Wort: ‚Das Sonderbare iſt, daß der Stein allgemein
auffällt und auch von allen Berichterſtattern erwähnt
wird. Aber der Ring — haben Sie den Ring ge-
ſehen?“
Ich war ganz betroffen. Wo ein Stein war, war
doch ſelbſtverſtändlich auch ein Ring. Aber den Ring
erinnerte ich mich nicht —
„Das iſt auch eine der Vnerklärlichkeiten,“ fuhr
Valborg fort. ‚Einige der von früher her überlieferten
Berichte ſprechen ganz deutlich von dem Ring mit dem
roten Stein, und das einzige iſt, daß ſie über die Art
des Edelſteines nicht recht klar ſind, während zwei
ſogar ſo weit gehen, von einem Granaten oder Rubin
zu ſprechen. Die Bedenkſameren unter den Beobachtern
geben zu, daß der Stein auffallend ſichtbar, der Reif
aber kaum bemerkbar ſei, es ‚fcheine‘ ein ſchmaler,
ſchlichter, blaßgoldener Ring zu fein. Ich ſelbſt — das
kann ich beſchwören — habe wohl den Stein, nie aber
den Ring geſehen und immer den Eindruck gehabt, als
hafte der Stein ohne alles weitere am Finger.“ Sie
ſchwieg einen Augenblick, dann ſetzte ſie zögernd hinzu:
‚Einer der Briefſchreiber oder Chroniſten nennt ihn
einen geronnenen Blutstropfen.“
ch ſchrak zuſammen bei dieſer Bezeichnung, vielleicht
weil fie gar jo zutreffend war. ‚Und verſucht niemand
der Chroniſten, den Zuſammenhang zu löſen?“ fragte ich.
‚Man weiß nichts, als daß es die Hand der Barbara
uth iſt, die dort im venezianiſchen Spiegel erſcheint.
Auch das wurde — wie gejagt — erit feſtgeſtellt, nach-
dem die Erſcheinung ſchon einmal vor faſt zwanzig
2 Novelle von F. C. Oberg. 143
Jahren beobachtet worden iſt, ohne aber richtig erkannt
zu werden — eben von jenem Gaſt, der wohl kein
Luübecker war und wohl ſchwerlich etwas von der damals
ſchon aus Lübeck fortgezogenen und nachher veritor-
benen Barbara Uth und ihren Händen wiſſen konnte.
Vielleicht hat er auch die Erſcheinung nicht oft geſehen,
denn — wie ich ſchon ſagte — fie zeigt ſich nur dann fo
häufig, wenn man im Hauſe das erſte Kind erwartet. Als
ich hierher kam mit Herrn Gerhards Großvater, und deſſen
Frau auf der Durchreiſe in Kopenhagen krank wurde,
da war Herrn Gerhards Vater — der ſpätere Senator —
noch unverheiratet. Damals iſt, wie überhaupt immer,
das Geheimnis ſorglich gehütet worden, und ich, die
ich ſchon oft in dem nicht ganz ſo vorſichtig wie jetzt
verſchloſſen gehaltenen Zimmer mit dem Spiegel
geweſen war, ſah die Hand der Barbara Uth zuerſt,
als des Senators junge Frau — Thomaſine — Mutter
werden ſollte. Je weiter die Zeit vorſchritt, deſto
häufiger zeigte ſich die Hand — o Gott, warum gelang
es uns damals nicht, es der jungen Frau zu verheim-
lichen! Sie erfuhr alles, ſie hat ſelbſt die Hand oft
geſehen und grenzenlos gelitten unter dieſem uner-
klärlichen Rätſel. Der Senator bat ſie, das Zimmer
zu meiden; er hielt es verſchloſſen, er unterſagte ihr
aufs ſtrengſte jeden Verſuch, dorthin zu gelangen, doch
wie mit Zaubergewalt zog es ſie — ihrem eigenen
Grauen zum Trotz — immer wieder dorthin. Sie
wußte ſich den Schlüſſel zu verſchaffen, ſie beſaß
ſchließlich einen Nachſchlüſſel, und mehrere Male, be-
ſonders in der Zeit kurz vor der Geburt, haben wir die
arme Frau in dem unſeligen Zimmer vor dem Spiegel
bewußtlos zuſammengebrochen gefunden —“
Valborg konnte vor Weinen nicht weiterreden.
Auch ich war tief erfchüttert von der düſteren Tragik,
144 Die Hand der Barbara Uth. 2
die in ſo unmerklicher Form auf dem IT der
Baerings laftete,
Endlich fuhr Valborg fort: ‚Die letzte Zeit vor der
Geburt war Frau Thomaſine zu elend, um ihr Schlaf-
zimmer verlaſſen zu können. Gleich nach der Geburt
iſt ſie geſtorben. Von da an iſt die Hand nur ſelten
wieder zu ſehen geweſen. Herr Gerhard, dem man
die traurige Geſchichte ſeiner Mutter ſpäter mitteilen
mußte, hat ſelbſt, halb aus gewiſſen Zweifeln und in
dem Glauben, ſeine Mutter könne an krankhaften
Vorſtellungen gelitten haben, halb aus dem erklär-
lichen Wunſch heraus, Licht in das Dunkel zu bringen,
monatelang in dem Zimmer mit dem Spiegel ge-
wohnt. Aber er hat die Hand in all der Zeit nur
dreimal, immer nach großen Zwiſchenräumen, ge-
ſehen.“
„Melden die Handſchriften auch ſchon von früheren
Frauen der Baerings das gleiche Schickſal wie das von
Gerhards unglücklicher Mutter?“
„Von einer im Beginn unſeres Jahrhunderts, der
Frau Magdalena Baering, die 1807 die Geburt ihres
Sohnes, des Großvaters des Herrn Gerhard, mit dem
Leben bezahlte. — Es iſt aber, als ſei von jeher ein
Unſtern über der Nachkommenſchaft der Baerings
geweſen, und es ſcheint wie ein Wunder, daß das
Geſchlecht noch lebt, hat es doch oft genug, wie auch
jetzt, nur auf zwei Augen geſtanden.“
Mir war es wie ein Troſt um Marias willen, an
Gerhard Baerings kraftvolle Fugend zu denken. Er
war ſicher nicht wie der letzte Sproſſe eines fluch-
beladenen Geſchlechts. Ich wollte und mochte nicht
anders denken, als daß ſeine und Marias Ehe eine gute
Zukunftsverheißung ſei.
Mit ſchwingendem Schlag zog vom Flur der Klang
2 Novelle von F. C. Oberg. 145
einer großen alten Standuhr durch die nächtliche Stille
des Hauſes.
Ich zählte die Schläge — nur zweimal durchklang
der ſonore Ton die Räume. Erſchrocken ſprang ich auf:
„Zwei Uhr ſchon?“
Valborg ſchüttelte den Kopf. ‚Die Standuhr hat
ein großes Schlagwerk und ſchlägt wie eine Kirchenuhr;
es bedeutet halb eins.
„Immerhin — es iſt ſpät,“ ſagte ich. „und wenn wir
wohl auch ſchwerlich Schlaf finden, ſo wollen wir
wenigſtens etwas Ruhe ſuchen — nicht wahr? Maria
ſoll morgen keine übernächtigen Geſichter ſehen.
Gute Nacht, liebe Valborg.“
Die alte Frau ſah mich betroffen an: „Sie
wollen — Sie wollen doch nicht in das Zimmer
zurück?“
„Ja, Valborg,“ antwortete ich feſt. Zwar — ehrlich
geſtanden, es hatte mich einen ernſtlichen Kampf
gekoſtet, zu dieſem Entſchluß zu kommen, aber ich hatte
mir mein Wort gegeben, nicht vor der Erſcheinung
davonzulaufen. Damit war mir's jetzt ebenſo ernſt
wie vorher: ich mußte die Hand der Barbara Uth
ertragen, ich wollte es wenigſtens verſuchen. Unklar
hegte ich auch ſo etwas wie eine Hoffnung, der Löſung
des Rätſels näher zu kommen.
Valborg hatte meine beiden Hände gefaßt. „Sie
müſſen ſelbſt wiſſen, was Sie tun, liebes Fräulein,“
ſagte fie ernſt. ‚Einmal erzählen die Handſchriften
von einem jungen Mädchen — es iſt, glaube ich, in
der Zeit der Magdalena Baering geweſen — das auch
dort im Zimmer ausgehalten hat.“
„Valborg, ans Leben kann einem die Hand der
Barbara Uth doch nicht greifen?“
„Nein. Aber die, von der ich ſprach, hat ihre nn
1910. I.
146 Die Hand der Barbara Ath. 2
TTVTPTPTVFVUVFP—————!.!.!... .. ne
keit mit etwas nicht minder Koſtbarem bezahlt — mit
ihrem Verſtand.“
Ich fühlte, wie ich zuſammenſchauderte, doch ich
faßte mich. „Ich bin ſtark und geſund, Valborg. Ich
danke Ihnen für Ihre treue Fürſorge, und ich verſpreche
Ihnen, mich ſelbſt in ſcharfe Kontrolle zu nehmen.
Wenn ich merke, daß es zu viel für mich wird, dann
gebe ich nach, ehe es zu ſpät iſt.“
Damit gingen wir auseinander.
Die Kerzen brannten auf dem Tiſch, der Raum
war groß und fremd, in der Luft lag ein feiner Duft
von Stearin — das war der Eindruck, den ich bei dem
Eintritt in mein Zimmer empfing.
Das Zimmer war genau wie in dem Augenblick,
als ich es zum erſten Male betrat. Und dennoch, mir
erſchien es ſo anders. Es beſaß eine Vertrautheit für
mich, die mir halb tröſtend, halb grauenvoll war.
gch zwang mich, den Spiegel mit meinen Blicken
zu meiden, und ſetzte mich in einen der großen Lehnſtühle,
die alle, wie ich jetzt mit einem gewiſſen Gefühl leichten
Gerührtſeins bemerkte, ſo geſtellt waren, daß man
von ihnen aus den Spiegel nicht ſehen konnte.
Ich wollte nicht ſofort ins Bett gehen. Ich haßte
es, mit ruheloſen Gedanken im Dunkeln und in der
weichen Wärme des Bettes zu liegen, ich wußte, man
verdarb ſich auf dieſe Weiſe den letzten Reſt der Ruhe.
Nein, ich wollte mich erſt zwingen, Klarheit in die
vielen aufregenden Eindrücke zu bringen, die in den
letzten Stunden auf mich eingeſtürmt waren. Erſt,
wenn ich ſelbſt in gewiſſer Weiſe klarer und ruhiger
dachte, würde ich Stellung nehmen können zu der
Erſcheinung, ich wollte mir ſozuſagen einen Standpunkt
erobern, von dem aus ich — wie etwa von einer
Feſtung — dem Überfinnlichen ſtark und kühl gegenüber-
2 Novelle von F. C. Oberg. 147
ſtehen konnte, ich wollte die Hand der Barbara Uth
nicht nur ſehen, ich wollte ſie genau betrachten
können.
Ich dachte an das, was ich je über überſinnliche
Erſcheinungen gehört hatte. Ein Wunſch, eine Schuld —
das iſt es, was die Seelen der Verſtorbenen zuweilen
nicht frei werden laſſen und ſie in eine Erſcheinungsform
bannen ſoll, die dann unſeren Sinnen von Zeit zu Zeit
wahrnehmbar wird. Ein Wunſch, der ſie im Tode ſo
beherrſcht, ſo ausſchließlich erfüllt hatte, daß er —
ſtärker als der Tod — weiterlebt, irrend, ſuchend, ſehnend
bis zur erſt vielleicht nach Jahrhunderten ſchlagenden
Stunde der Erfüllung. Oder eine Schuld, ſo grauſig,
ſo troſtlos ſchwer, daß ſelbſt im Sterben die Seele
nicht frei werden kann, ſondern ein ruheloſes Zwifchen-
leben führen muß, eine grauſame Oaſeinsloſigkeit, bis
endlich, endlich die Schuld geſühnt und der Fluch ge-
löſt wird. Was iſt alſo eine ſolche Erſcheinung? Ein
Vermächtnis einer längſt Verſtorbenen an die nach
ihr Lebenden, der Ausdruck für einen Wunſch, für eine
leidenſchaftliche Forderung vielleicht, ein Raum und
Zeit beſiegender Wille, der ſein Werkzeug ſuchen muß
unter denen, die noch in dem Leben ſtehen, aus dem
die heimatlos gewordene Seele gehen mußte, ohne
abgeſchloſſen zu haben. |
Fit ſo eine Erſcheinung nicht der Ausdruck für das
glühende Verlangen einer in eine troſtloſe Zwiſchen⸗
welt verbannten Seele, die nicht das ihr wie allen
Seelen beſtimmte Los erreichen kann, wie es der völlige
Tod oder ewiges Leben iſt? Wer kann das ent-
ſcheiden?
Ich ſaß mit geſenktem Kopf und gefalteten Händen
in meinem tiefen Stuhl und fühlte, wie mir das Blut
mit ſchwerem Schlag durch die Adern ging bei all
148 Die Hand der Barbara Uth. 2
dieſen Gedanken — Gedanken, die ich ſonſt in meiner
Vorſtellungswelt kaum geſtreift hatte. Jetzt taten
ſich mir Weiten auf, die ich nie geahnt hatte, und vor
denen ich zuſammenſchauderte, ſo ſehr es mich auch
ihnen nachzugehen drängte. Halb bedrückt, halb be-
freit, in einem merkwürdigen Zuſtand grübelte ich ſo,
während mich zuweilen ein Gefühl überkam, als brande
das Leben, das Leben mit ſeinem kleinlichen Alltag,
mit ſeinen täglichen Erbärmlichkeiten, tief, tief unten
unter mir, und als ſtünde ich auf einer Höhe, die mich
einen Ausblick gewinnen ließ weit über Leben und
Sterben. Da unten lag die Straße, auf der wir alle
wanderten, viel mehr, mitten in Staub und Lärm,
viel ärmer an Glanz und Licht, an Erkenntnis und an
Zielen, als uns in der Haſt des Wanderns bewußt ward.
Was mir ſonſt groß und ſchön erſchienen, wurde nun
nichtig und bedeutungslos, und was ich für klein an-
geſehen und kaum beachtet hatte, begann zu wachſen.
Auffaſſungen ſtürzten zuſammen, und Probleme rich-
teten ſich auf, wurden größer, immer größer und ge-
wannen unendliche Bedeutung. Wie ein Wechſeln und
Wachſen, ein Zugrundegehen und Neuerſtehen, ein
Heranbrauſen und Fortrollen, ſo brandeten vor meiner
ſuchenden Seele die Wogen des Daſeins.
Und dann wieder verlor ſich völlig das Gefühl
des Aufderhöheſtehens, und mir war, als hätte mich
der Strudel des Lebens gepackt, als ſtände ich darin,
mitten darin, und müßte mich wehren und müßte
ringen, verzweifelt ringen, um nicht zu Boden geworfen
zu werden. Die Vorſtellungen verwiſchten ſich, die
Begriffe rannen ineinander, die Klarheit ward zur
Verwirrung —
Als ſchon der erſte fahle Tagesſchein durch die
hohen Fenſter, durch die Spalten der ſchweren dunklen
2 Novelle von F. C. Oberg. 149
Vorhänge fiel, da erwachte ich und erkannte, daß die
körperliche Müdigkeit mich übermannt hatte, daß mein
heroiſcher Verſuch, durch Überlegung zur Überlegen-
heit zu kommen, ſchmählich mit einem unbequemen,
unerquicklichen Schlaf in dem großen Stuhl geendet
hatte.
Verſtört ermunterte ich mich.
Graue Dämmerung ſchlich durch das Zimmer. Auf
dem Sofatiſch in den hohen Leuchtern ſchwelten noch
die niedergebrannten Kerzen. Alle Romantik war ver-
flogen in dieſem Trübgrau der Morgenfrühe. Die Luft
war ſchlecht, dunſtig, ſchal, widerwärtig. Ein Blick
ſtreifte den Spiegel — übergewaltig überkamen mich
die Erinnerungen an das Geſehene, Gehörte, Gedachte.
Die ſeeliſche Gedrücktheit wurde verſtärkt durch eine
große phyſiſche Ermattung, eine müde Troſtloſigkeit
und ein körperlicher Ekel faßten mich — in verzweifeltem
Aufſchluchzen brach ich zuſammen und grub den Kopf
in die Polſter des Stuhls.
Das rückhaltloſe Weinen tat gut. Es war wie eine
Befreiung, wie eine Wiedergewinnung meines alten
Selbſts, und meines gewöhnlichen geſunden Denkens.
Plötzlich war ich ſo wach, daß ich ſekundenlang ein
eigenartiges Zwiebewußtſein erlangte. Ich hörte mein
eigenes Weinen — und konnte zugleich über dieſes
Weinen lächeln.
Ich beſann mich. Valborgs Mahnungen und meine
Verſprechungen fielen mir wieder ein. So durfte es
nicht weitergehen.
Ich löſchte die Kerzen aus, zog die Fenſtervorhänge
zurück und ſtieß eines der Fenſter weit auf. Weiche
graue Nebel hingen in der Luft; es war noch Dämme
rung, und zu erkennen war nicht viel.
Taufeuchte, kühle Luft drang herein.
150 Die Hand der Barbara Uth. 2
Ich ging zum Waſchtiſch und kühlte mein brennendes
Geſicht durch kaltes Waſſer.
Dann ſtieg ich ſchnell, ohne mir Zeit für Sehen
oder Beſinnen zu laſſen, aus den Kleidern und kroch
in das große, weiche Bett.
Müde, erſchöpft, doch frei und in einem Zuſtand
matter, glückſeliger Geborgenheit ſchmiegte ich mich in
die Kiſſen — das Gebet meiner Kindertage auf den
Lippen.
ach ſchlief einige Stunden den köſtlichſten, erquiden-
den traumloſen Morgenſchlaf.
Als ich erwachte, war es voller Tag, ein trüber,
melancholiſcher Herbſttag.
Die monotone Melodie des Tropfenfalls, die ich
im letzten leiſen Schlaf ſchon vernommen hatte, ſetzte
ſich fort, unaufhörlich ſchlugen die Tropfen auf und
zerſprangen praſſelnd auf dem Geſims der Fenſter —
es goß troſtlos.
ch beſann mich auf alles Vorgefallene erſt allmählich.
Was mir da meine Erinnerung vormachen wollte,
ſchien mir ungeheuerlich, wie ein unklarer, wüſter
Traum lag alles hinter mir.
Erſt das Bewußtſein meiner Umgebung, der Anblick
des Spiegels belehrte mich, daß ich erlebt hatte, was
ich viel lieber für einen Traum angeſehen hätte.
In dieſem Augenblick vernahm ich die Schläge der
alten Standuhr, und ſonderbar war es, wie dieſer
Klang mir mit einem Male meine nächtliche Unter-
redung mit Valborg in allen Einzelheiten urplötzlich
ins Gedächtnis zurückrief. Ich zählte die Schläge
der Uhr.
Neun!
Da ſchlug die Scham über ein ſo langes Schlafen
2 Novelle von F. C. Oberg. 151
—
alle Bedenken, alle Betrachtungen zu Boden. Wie
der Wind war ich aus dem Bett und begann mich an-
zukleiden.
Mit einem faſt kindlichen Eifer und in ſtürzender
Eile lief ich im Zimmer herum, um möglichſt raſch
fertig zu werden. Ich vergaß die Eigentümlichkeit
meiner Umgebung; ich war weit entfernt auch nur von
der Idee, Beobachtungen anzuſtellen — ich war ganz
einfach weiter nichts als ein zwanzigjähriges Mädchen,
das bis zur Atemloſigkeit haſtete, in die Kleider zu
kommen.
Eben wollte ich mein Haar ordnen, ich hatte es
ſchon gelöſt und hielt den Kamm in der Hand, als
mein Fuß ſtockte. Es gab nur einen einzigen Spiegel
im Zimmer, und ohne Spiegel ging es bei mir nicht ab.
Dies war die erſte Gelegenheit, um zu erproben,
ob mein Heldenmut, der in der Nacht ſo ſchmachvoll
zu Träumen und Tränen geworden war, jetzt bei
Tageslicht und nach dem erfriſchenden Ausſchlafen
beſſer vorhielt.
Ich wollte tapfer fein, und ich ſtellte mich mitten
vor den Spiegel.
Wieder ein dumpfer Schlag.
Die Uhr draußen zeigte ein Viertel nach neun an.
Das Gefühl meines verſpäteten Aufſtehens be-
täubte jetzt alle Gedanken an die Erſcheinung, flink und
fleißig friſierte ich an meinem braunen Schopf herum.
Ich war faft fertig und einige Schritte vom Spiegel
zurückgetreten, da war's mir wieder, als ſetze mein
Herzſchlag aus. Die Hand der Barbara Uth zeigte ſich
deutlich im Spiegel.
Leuchtend, ſchlank, fein. So körperhaft und plaſtiſch
wie nur möglich.
Ich ſtand mit ſtockendem Atem.
152 Die Hand der Barbara Uth. 0
Aber ich zwang mich zu dem, was ich mir vorge-
nommen hatte. Sch betrachtete die Hand. Es war
dieſelbe Haltung, und die Hand erſchien auch an der
gewohnten Stelle des Spiegels.
Valborg hatte von der rechten Hand der Barbara
Ath geſprochen. Ich zwang mich zu ſcharfem Über-
legen. Abgeſehen von der Bißnarbe, die ich jetzt auch
bemerkte, gab es keinen zwingenden Beweis dafür, daß
dies eine rechte menſchliche Hand ſei. Denn — und
als mir dies klar wurde, fühlte ich das Grauſen wie einen
körperlichen Kälteſchauer mir den Rücken entlang
rinnen — wer konnte ſagen, ob das, was ich ſah, das
Bild einer Hand oder nur die Spiegelung einer Er-
ſcheinung, die ich unmittelbar nicht zu ſehen vermochte,
war? Entweder es war das Bild ſelbſt, und dann mußte
es eine linke Hand ſein, oder es war ein Spiegelbild
im gewöhnlichen Sinn, und dann zeigte es die rechte
Hand eines Menſchen, der mir parallel ſtand.
ich fühlte, wie mir ſchon wieder vor Erregtheit
das Waſſer in die Augen ſprang.
Da — mit einem Schlage war die Erſcheinung
verſchwunden, und ich konnte mich ſammeln, um auf
meine Erwägungen zurückzukommen.
Aber irgend ein geringfügiger, vom Hausflur her
mein Ohr treffender Laut erinnerte mich an meine
nächſtliegende Pflicht als Gaſt, und ſo beeilte ich mich,
ſo ſchwer dieſer Zwang auch wurde, völlig fertig zu
werden.
Mein Verſchlafen war nicht ſo ſchlimm, wie es mir
ſelbſt erſchienen war, weil Maria in dieſer Zeit auch
oft erſt ſpät zum Frühſtück kam.
Heute war ſie erſt wenige Minuten vorher ins
Eßzimmer gekommen.
Sie ſaß in einem großen bequemen Stuhl und ſtreckte
2 Novelle von F. C. Oberg. 153
mir mit etwas müder Freundlichkeit die Hand ent-
gegen.
Jch ſchrak beim Anblick dieſer ſchlanken weißen Hand
zuſammen. Es war wohl eine begreifliche Nervoſität,
aber ſelbſt heute noch, nun alle jene Ereigniſſe ſchon
ſo weit zurückliegen, kann ich beim Anblick ſchöner
zarter Hände, die mich an die Hand der Barbara Uth
erinnern, eine momentane Erregtheit nicht unter-
drücken. Marias zarte ſchlanke Rechte erinnerte aber
auch ganz auffallend an die — ihrer Urahne.
Maria hatte mein Zuſammenzucken bemerkt und
ſah mich halb verwundert, halb beſorgt an, was mir
wiederum ein helles Rot ins Geſicht trieb.
„Verzeihe, liebſte Maria,“ ſagte ich, um meine Ver-
legenheit zu überwinden, ‚ich ſchäme mich jo, mich
verſpätet zu haben.“
Wie du ſiehſt, ſchadet es gar nichts,“ antwortete
Maria. „Ich hoffe, es iſt ein Zeichen, daß du gut
geſchlafen haſt. Haſt du behalten, was dir träumte?
Hoffentlich etwas Angenehmes! Nur darfſt du dann
nicht darüber ſprechen, ſonſt erfüllt es ſich nicht.“
Ich antwortete irgend etwas Belangloſes, während
mir mit Schrecken bewußt wurde, was für Tage ich
vor mir hatte. Ich würde Lügen und Liſten ohne
Unterlaß erſinnen müſſen und durfte mich doch bei
keiner ertappen laſſen.
So wurde es auch. Faſt kann ich ſagen: glücklicher
weiſe war Varia ziemlich leidend. Sie war ſelbſt
ſchweigſam und liebte ſchweigſame Geſellſchaft. Wenn
fie ſprach, hatte es immer etwas Müdes und Müh-
ſames.
Wir hatten unſer Frühſtück gemeinſam, faſt wort-
los verzehrt; Maria ſtützte den Kopf in die Hand
und ſah traurig und träumeriſch vor ſich hin.
154 Die Hand der Barbara Uth. U
„Ich habe immer ſo dumme Träume,“ klagte ſie,
endlich das Schweigen brechend. „Ich weiß gar nicht,
was es iſt. Ich muß immer ſuchen und ſuchen, ohne
daß ich ſelbſt weiß was. Oft iſt's mir, als ſollte ich
irgend etwas tun, aber ich habe nichts als dieſen
quälenden Drang. Was er bedeuten ſoll, wozu ich
kommen ſoll, weiß ich nicht. Es ſind ja nur Träume,
nichts als Träume, aber oft, wenn ich aufwache, ſtehe
ich noch ſo unter dieſem Eindruck, daß ich gar nicht
davon loskommen kann und mich erſt beſinnen muß,
daß ich nur geträumt habe, und in Wirklichkeit nichts
verſäume, wenn ich ſtill und vernünftig lebe. — Ich
habe ſeit Wochen nicht mehr gut und erfriſchend ge-
ſchlafen,“ fuhr ſie fort. „Immer wache ich ſo gequält
und verhetzt auf und bin womöglich müder als am
Abend.“ Sie weinte leiſe. „Ich weiß gar nicht, wie
es werden ſoll,“ ſchluchzte ſie, ich muß es doch noch
eine Zeitlang aushalten, und oft iſt mir, als wäre ich
ſchon gang am Ende meiner Kraft. Sch liebe das
Leben ſo ſehr, wenngleich ich faſt zum Sterben müde
bin. Ich mag, o Gott — nein, ich kann noch nicht
ſterben! — Gerhard, Gerhard! — —“ Sie weinte
troſtlos.
Ich verſuchte ſie zu tröſten, ihr Mut einzureden,
ſie auf andere Gedanken zu bringen; aber mir war
ſelbſt ſo verzagt, ſo haltlos zu Sinn, meine Gedanken
wanderten beſtändig denſelben Kreis, an dem kein
Anfang und kein Ende, kein Ausweg und keine Hilfe
zu finden war.
Als ich Valborg ſah, erſchrak ich. Sie ſah über-
nächtig, ja faſt verändert und wie um Fahre gealtert
aus.
Von draußen klang melancholiſch das Fallen des
Regens, das Licht war grau und trübe.
2 Novelle von F. C. Oberg. 155
Maria weinte immer noch. Sie war zu müde,
um ſich beherrſchen zu können.
Mir war, als ſeien wir alle eingeſponnen in einen
dunklen, traurigen, unentrinnbaren Zauber. Ein namen-
loſer Groll packte mich gegen die Hand der Barbara
Uth, Mir war, als ſei auch fie ſchuld an Marias Müdig-
keit — ich glaube, ich habe mich nicht geirrt. So ſinnlos
es war — ich wollte, ich mußte gegen dieſe dunkle
Gewalt vorgehen! |
Sobald Maria ruhiger geworden war, verließ ich
fie und ging in mein Zimmer. Ich trat dicht vor den
Spiegel.
Dort ſtand ich ſtill und ſchaute erwartungsvoll in
die dunkle glatte Fläche des Glaſes. So oft ich die
Hand geſehen hatte, war es von dieſer Stelle aus, ein
wenig rechts vom Spiegel — ſo daß ich mein eigenes
Bild nicht ſah — geweſen.
Nun unterſuchte ich, was ſich von hier aus von der
Einrichtung des Zimmers im Spiegel zeigte. Ohne
ſelbſt zu wiſſen weshalb, überkam mich eine jähe Be-
troffenheit: ich ſah gerade die Ecke mit dem großen
Bett.
In dieſem Augenblick ſchrak ich aufs neue zuſammen.
Ich ſah die Hand der Barbara Ath klar und ſcharf
vor dem Dunkel des Spiegels.
Mir war, als ſei mir das Fordernde in der Bewegung
der Hand noch nie fo zum Bewußtſein gekommen als
jetzt — und urplötzlich erkannte ich es: Barbara Uths
Hand zeigte auf das Bett.
Zugleich aber machte ich eine ſeltſame Entdeckung.
Wenn ſich die Hand im Spiegel zeigte, verlor die ganze
übrige Spiegelung an Deutlichkeit. Es war nicht nur,
wie es mir nach den erſten unkontrollierten Eindrücken
vorgekommen war, das erregte Sehen auf dieſe rätjel-
156 Die Hand der Barbara Uth. 2
hafte Erſcheinung, neben dem man alles übrige überſah
oder einfach vergaß, ſondern jetzt, nun ich mich zu
kühlem Beobachten, zu objektivem Betrachten zwang,
bemerkte ich deutlich, daß alles übrige im Spiegel
unklar und verſchwommen und gar nicht erkennbar
erſchien. Ich machte einige Schritte nach links, ſo daß
ich unter normalen Umſtänden mein eigenes Spiegel-
bild hätte ſehen müſſen: nur ein matter, ovaler, heller
Fleck ließ mich ahnen, daß er etwa die Spiegelung
meines Geſichts hätte ſein können; die Umriſſe meiner
dunkel gekleideten Geſtalt zerrannen, ſobald ich mir
Mühe gab, ſie zu erkennen.
Die Hand der Barbara Uth aber ſtand, durch meinen
veränderten Standpunkt unbeeinflußt und auch von
hier das gleiche Bild bietend, hellleuchtend vor meinen
Blicken. Nur als ich noch ſchärfer achtgab, erſchien
es mir, als ſei die Richtung, in die ſie deutete, in die
Ecke mit dem Bett, ſtets — einerlei, von wo man die
Erſcheinung betrachtete — die gleiche.
Es war wenig Schatten auf den hellen, lebenswarm,
aber weißlich getönten Flächen der Hand und des
Armes — die Richtung einer direkten Lichtquelle ließ
ſich nicht angeben; ſie war voll beleuchtet, und die
leichten Schattentöne ergaben mehr eine weiche Model-
lierung als eine ſcharfe Zeichnung.
3h mußte wieder denken, was ich ſchon beim
erſten Sehen empfunden hatte: Barbara Uths Hand
war von ſeltener Schönheit, aber dennoch grauenvoll.
Mir wurde bewußt, daß ſie — trotz aller Ahnlichkeit —
ſo ganz anders wie Marias geliebte Hand ſei. Dieſe
Hand — oder richtiger, eine lebende Hand wie dieſe —
würde man nie lieben können, denn dieſe Hand war
grauſam, unbeſchreiblich grauſam.
Und — ſtärker als mein Grauen vor dem Uner-
2 Novelle von F. C. Oberg. 157
klärbaren — loderte jetzt plötzlich der Haß gegen dieſe
Hand, die fo viel Leid verſchuldet hatte und noch ver-
ſchuldete, ja die vielleicht in jenem rätſelhaften roten
Fleck das Kainszeichen einer ſchrecklichen Schuld trug,
in mir auf.
In dieſem Augenblick war die Erſcheinung ver-
ſchwunden — fo ſchnell, fo jäh, daß mich dies Ver-
ſchwinden faſt ſo erregte wie ihr plötzliches Erſcheinen.
Aus dem wieder deutlich ſpiegelnden Glas ſah mir
mein eigenes Geſicht entgegen — totenblaß, farblos
der halbgeöffnete verzerrte Mund und in den Augen
ein Ausdruck von Haß und Angſt, der mich vor mir
ſelbſt erbeben machte.
Erregt und erſchöpft ſetzte ich mich in den Stuhl
am Fenſter.
Rieſelnd rann der Regen.
Melancholiſch, dumpf, gleichmäßig klang der Tropfen
fall. Durch das aufgeſtoßene Fenſter herein zog die
kühlfeuchte Regenluft, den Duft von moderndem Laub
mit ſich bringend. Mir war, als könne ich faſt körperlich
empfinden, wie der Niederſchlag der Luft feucht und
froſtig an den Vorhängen hing.
Ich hatte den Ellbogen auf die Armlehne, den Kopf
in die Hand geſtützt, und mein Blick fiel unbewußt auf
meine mir im Schoße liegende Rechte.
Ih fuhr zuſammen.
Meine nervöſe Überreiztheit war fo groß, daß ſchon
der Anblick irgend einer weißen Frauenhand mich erregte.
Der Anblick meiner eigenen Hand quälte mich. Sch
zog fie fort, mit einer Art machtloſer Bitterkeit feit-
ſtellend, daß es zwecklos ſei, im Augenblick gegen meine
über die Maßen empfindlichen Nerven anzukämpfen.
In meinem Kopf begannen ſchon wieder die ſelt⸗
ſamen, am Unerklätlichen rätſelnden Gedanken zu
158 Die Hand der Barbara Ath. 0
kreiſen. Vorſtellungen und Sdeenverbindungen er-
wachten von neuem, die mir die Sinne taumeln zu
machen drohten.
Da fiel mir wieder Valborgs Mahnung und mein
Verſprechen ein.
Kurz entſchloſſen ſtand ich auf, ging aus dem Zimmer
und ſuchte Beſchäftigung. Sch wollte mich meinen
Gedanken nur hingeben, wenn ich mich ſtark genug
fühlte, ſie kontrollieren zu können. —
ich habe in jener Zeit mit Aufwand all meiner
Energie meine Nerven ‚trainiert‘. Und das war nötig.
Aus der perſönlichen Erregtheit kam ich kaum
heraus, und die ganze Stimmung im Hauſe war derart,
daß fie wie ein dumpfer Druck auf uns allen laſtete.
Und doch ſollte ich Maria weder eine erregte noch eine
niedergedrückte, ſondern ja gerade eine heitere, fröhliche
Genoſſin ſein. Da war es nötig, daß ich mich beherrſchen
und zuſammennehmen lernte. Zumal da ich immer
mehr ſah, wie Marias körperliches Befinden ſowohl
wie ihr Gemütszuſtand mit jedem Tage beſorgnis-
erregender wurden, und da der Kummer, die Aufregung
und Angſt auch Valborg förmlich krank machten.
Es waren ernſte Tage für uns alle, einer fo düſter
wie der andere, alle eingehüllt in das farbloſe Trübgrau
regenſchwerer Novemberſtimmung; und vom Morgen
bis zum Abend erklang jeden Tag immer die gleiche
troftlofe Melodie vom Rauſchen und Rieſeln des
ruhelos rinnenden Regens.
Nur in einer Hinſicht war es ja ganz gut, daß Maria
ſo matt und intereſſelos war: den Wunſch, mein
Zimmer zu ſehen, ſchien ſie ganz aufgegeben zu haben.
Im übrigen wachte Valborg, daß niemand als ich und
ſie das Zimmer betraten.
— —— — — . —— — l — —ꝓẽ — l —̃—— — —
2 Novelle von F. C. Oberg. 159
Die Hand ſah ich oft. Zu allen Tageszeiten. Bei
Kerzenlicht, wie bei Tageslicht und in der unheimlichen
Unklarheit und Halbheit der Dämmerung. Einmal
auch, als ich ſpäter als ſonſt zum Schlafen ging, ſogar
im matten Licht des Mondes. Das war dann wieder
ſo einer von den Momenten, in denen meine Nerven
mich ſchmählich im Stich ließen.
Gegen Abend hatte der Regen nachgelaſſen, es war
Wind aufgekommen, der mit wilden Lauten um das
Gemäuer des Seitenflügels herumfegte. Große dunkle
Wolkenfetzen jagte er über den Nachthimmel, und als
ich mein Fenſter ſchließen wollte, riß er mir's faſt aus
der Hand. Ich weiß nicht warum — ich wandte mich
um und blickte in das noch nicht erleuchtete Zimmer
hinter mir. Mein Blick traf den Spiegel — in ihm
zeigte ſich die Hand, grauſiger und fremder als je in
dieſem ungewiſſen ſilbrigen Licht.
Mit bebenden Fingern riß ich die Fenſtervorhänge
zu. Ich verzichtete darauf, erſt Licht zu machen, ſondern
wie gehetzt und mehr ſeeliſch als körperlich erſchöpft
kroch Ei in müder ZN ins Bett.
gch habe ellen gehört, daß h häufig von on derſelben
Perſon und unter ähnlichen Umftänden wahrgenommene
Erſcheinungen nach und nach für den Beſchauer das
Grauenvolle eingebüßt haben und ihm in gewiſſer
Veiſe vertraut wurden.
Das habe ich nicht empfunden. Die Hand der Barbara
Ath war mir ja bekannt, bekannt in jeder Umrißlinie,
aber fie iſt mir immer wieder grauſig erſchienen. Ze
öfter ich ſie ſah, deſto dringender, ja quälender empfand
ich das Fordernde in der Bewegung. Abgeſehen davon,
daß das Unfaßbare, Unerklärbare in der Erſcheinung
mich immer wieder bis zum Übermaß erregte, begann
160 Die Hand der Barbara Uth. c
der Befehl, dieſe wortloſe, mir unverſtändliche For-
derung in der Bewegung der Hand mich grenzenlos
zu peinigen.
Es war für mich auch ſo ſchrecklich, daß ich ſo viel
wie nichts über Barbara Uth wußte. Ein paar armſelige
Daten und Namen und die Nachricht, daß ſie ſo ſchön
und ſo ſtolz geweſen ſei — das war alles. Ihr Ausſehen,
ihr Charakter, ihres Lebens Erlebniſſe — alles waren
Dinge, die ich trotz allen Grübelns nie wiſſen, erkennen
und ſehen würde. In welcher Beziehung ſtand ſie zu
dieſem Hauſe? Welcher Wunſch, welche Schuld ketteten
ſie an dies Zimmer? Hatte ſie gelebt in dem Bewußtſein
einer Schuld, das um ſo grauenvoller, wuchtiger und
lebensgewaltiger wurde, je näher der Tod ihr kam?
ich zergrübelte mir faſt den Kopf und fand doch
nirgends Aufſchluß.
Nach meinem Sinn wäre es geweſen, das Zimmer,
ja das ganze Haus von oben bis unten aufs gründ-
lichſte nach einem Anhalt zu unterſuchen, der ſich ja
doch unbedingt finden laſſen mußte. Aber natürlich
ſtieß ich mit ſolchen Plänen auf harten und unter
den gegebenen Umſtänden auch berechtigten Wider-
ſtand bei Valborg.
Ich beharrte aber eigenſinnig darauf, ich begriffe
nicht, warum man denn ſolche Unterſuchung nicht
früher, etwa vor Gerhard Baerings Verheiratung,
vorgenommen habe.
Valborg zuckte die Achſeln; ſie ſagte, daß man wohl
lieber darauf verzichtet habe, um nicht in die Gefahr
zu kommen, auf dieſe Weiſe das Geheimnis einmal
unvermutet preisgegeben zu ſehen.
So ſind die Menſchen! dachte ich erbittert. Sie
gehen den Dingen feige aus dem Weg, ſtatt ſich gegen
ſie zu wehren, und ſchließlich iſt es ihre Schuld, wenn
2 Novelle von F. C. Oberg. 161
die Sache bleibt, wie ſie war, und fortgeſetzt Unheil
bringt.
Valborg erzählte mir, daß Gerhard mit Marja, ſeit
er wußte, daß ſie Mutter werden würde, auf Reiſen
habe gehen wollen — weit fort und für lange. Aber
Maria habe ſich energiſch gegen den Gedanken gewehrt,
und ſo ſei alles beim alten geblieben, und man habe
in all der Zeit auf nichts weiter ängſtlich achtgehabt,
als daß der Zugang zu dem Seitenflügel dauernd feſt
verſchloſſen ſei.
VAls ob das Unheil Türen brauchte!“ ſtieß ich bebend
vor Unwillen und Erregung heraus. „Was denken
Sie denn von Marias Zuſtand, Valborg? Wenn alles
normal zugänge, dann wäre Marias Gemütsverfaſſung
und demzufolge ihr körperliches Befinden ſicher nicht
ſo arg herunter. Was Maria durchmacht, iſt doch keine
Krankheit — es iſt doch im Gegenteil die Höhe des
Lebens, das Wundervollſte, was eine geſunde Frau
erleben kann. Wenn ſie auch in der letzten Zeit körperlich
zu leiden hat, ſo könnte das nie und nimmer ihr Gemüt
ſo furchtbar beeinfluſſen und fo völlig jedes doch wahrlich
allzu natürliche Glücksgefühl töten. Zch kenne doch
meine Maria und weiß, was ihrer Gemütsveranlagung
nach am natürlichſten wäre. Die Maria, die ich hier
gefunden habe, iſt mir oft wie eine Fremde. Etwas
Weſenloſes, Ungreifbares quält fie, eine gegenſtandsloſe
Angſt hetzt ſie von Tag zu Tag und macht ihr die Nacht
noch qualvoller als die Tage.“
Mit wachſendem Erſchrecken hatte Valborg meinen
erregt hervorgeſprudelten Worten zugehört. Jetzt
ſtürzten die Tränen unaufhaltſam über ihr altes Ge—
ſicht, und mir ward plötzlich klar, daß es unbedacht und
rückſichtslos von mir geweſen war, der guten Frau
all meine Vermutungen mitzuteilen.
1010. 1. 11
162 Die Hand der Barbara Uth. a
„Ich fürchte, ich fange an, Zuſammenhänge zu
erraten, die ich bisher nicht ahnte,“ ſagte Valborg
unter Tränen. „Vielleicht iſt Frau Marias feſtes
Beſtehen auf dem Hierbleiben, das ſie allen — ihrem
Mann und dem Arzt — zum Trotz durchzuſetzen wußte,
noch mehr als ein freilich begreiflicher Wunſch —
Sie hielt zögernd und in trauriges Grübeln ver-
loren inne.
„Vermutungen — nichts als Vermutungen!“ ſagte
ich bitter vor mich hin. Ich hatte das Gefühl, daß die
Rätfel, ftatt ſich zu löſen, uns nur immer feſter um—
ſpannten.
Dieſe Unterredung war am fünften Tage nach
meiner Ankunft.
Unten im Erdgeſchoß wurde eifrig gearbeitet, aber
immerhin war doch keine Ausſicht, daß eines der beiden
großen Fremdenzimmer vor Ablauf einer Woche wieder
bewohnbar ſein würde. So lebte ich denn ganz im
erſten Stock und fo viel wie möglich in Marias Gefell-
ſchaft.
Maria ſaß oder lag viel am Fenſter ihres kleinen,
nach hinten und neben dem Schlafzimmer gelegenen
Zimmers. |
Die großen vorderen Räume waren ihr in ihrer
müden Ruheloſigkeit zu weit.
Von dieſem Fenſter aus ſah man in den kleinen,
altınodifh angelegten Grasgarten, der aber jetzt in
der trüben, regenſchweren Spätherbſtſtimmung wenig
Anziehendes beſaß.
Die Schwere der Naturſtimmung und der Stimmung
im Hauſe laſtete auf uns allen, und ich ertappte mich
zuweilen auf einem Gefühl, das faſt ſo etwas wie die
Sehnſucht nach einer erlöſenden Kataſtrophe war.
Ich wußte nicht, wie bald alles ſich ändern ſollte.
11 Novelle von F. C. Oberg. 165
An dieſem Abend wollte Maria früh zur Ruhe
gehen. Wir hatten zuſammen an dem auch bei der
Lampe ſehr gemütlich hergerichteten Fenſterplatz ge-
ſeſſen, und es war mir endlich gelungen, Maria etwas
heiterer zu ſtimmen.
Sie behauptete nun faſt fröhlich, tatſächlich einmal
in geſunder Weiſe rechtſchaffen müde zu ſein, und wollte
dieſe Chance benützen, um ſich, wie ſie ſich ausdrückte,
etwas ordentlichen Schlaf zu ſtehlen.
Sie ſtand aufgerichtet; ihr liebes Geſicht, das in
feiner zarten Bläſſe nur noch holder war und die Schön-
heit ihrer großen dunklen Augen zu heben ſchien, war
vom gedämpften Licht der Lampe matt übergoſſen
und erſchien mir — zum erſten Male mit einem Aus-
druck von ſtillem Glückshoffen — hinreißend, rührend
ſchön.
Mit Innigkeit küßte ich ſie. Sie ſchlang ihre beiden
Arme um mich, ſo feſt, als wolle ſie mich gar nicht
laſſen. Ich hatte das Gefühl, daß ſie mir etwas ſagen
wolle.
Aber ſie ſchwieg, und ich ging von ihr, ſchon wieder
ganz in Sinnen und Sorgen eingeſponnen.
Mechaniſch zündete ich in meinem Zimmer die
Kerzen an. |
| Ich fette mich grübelnd in einen der großen Stühle.
Ich war nicht müde genug, um ſogleich zu Bett zu
gehen, und wieder zu müde, um noch etwas Beſtimmtes
vornehmen zu mögen.
Wie lange ich fo geſeſſen habe, weiß ich nicht — es
mögen Stunden verronnen ſein.
ch mied den Spiegel, ich ſaß, ihm den
Rücken kehrend, und meine Gedanken 1 und
kreiſten.
Plötzlich ſchrak ich namenlos zuſammen.
164 Die Hand der Barbara Uth. 2
Ohne daß ich den geringſten Laut gehört hatte,
ſchob ſich plötzlich eine ſchlanke weiße Hand von hinten
her über meine Schulter.
Sh fuhr herum, und der Schrecken, den ich nun
empfand, war womöglich noch tiefer. Hinter mir ſtand
Maria in ihrem weißen Nachtkleid, das ſchwere dunkle
Haar niederhängend, das blaſſe Geſicht erhoben —
faſt wie eine Erſcheinung.
„Maria!“ ſtieß ich in grenzenloſer Beſtürzung heraus,
während mir voll Angſt bewußt wurde, daß ich an dieſem
Abend vergeſſen haben mußte, meine Tür zu ver—
ſchließen. i
„Verzeihe mir, wenn ich dich erſchreckt habe,“ ſagte
Marias liebe Stimme, die ſo ſeltſam traurig, haſtig und
verhetzt klang. „Aber heute wußte ich mir wirklich nicht
mehr zu helfen. Ob ich geſchlafen habe, weiß ich nicht —
die Angſt, dieſe grauenvolle Angſt, daß ich etwas ver-
ſäume, und ich weiß doch nicht was, hat mich bis zur
Sinnloſigkeit gemartert. Zch verliere den Verſtand,
wenn das jo weiter geht —‘
„Maria,“ ſagte ich ſanft, doch ſehr beſtimmt, indem
ich meinen Arm um fie ſchlang, „komm, wir wollen in
dein Zimmer gehen.“
Aber Maria wehrte ſich mit befremdlicher Energie.
„Nein, nein! Sch halte es nicht mehr aus, ich halte es
nicht mehr aus!“ ſagte ſie faſt weinend und einige
Schritte ins Zimmer hinein machend.
„Maria!“ ſchrie ich auf.
Sie ſtand gerade eben rechts vor dem Spiegel,
das Geſicht ihm zugewandt, und ich fühlte, wie die Angſt
in glühenden Stößen über mich herjagte.
Es war zu ſpät.
Die Hand der Barbara Uth erſchien im Spiegel,
weiß, deutlich, fordernd und grauſam.
2 Novelle von F. C. Oberg. 165
Marias Kopf fuhr herum, ihre überweit geöffneten
Augen ſuchten nach dem Original der Hand im Spiegel,
und als ſie es nicht fand, ſtarrte ſie in ſtummem Entſetzen
von neuem auf die Erſcheinung.
Ich war ſekundenlang wie gelähmt. Ohne eingreifen
zu können, ſah ich Marias blutloſes Geſicht von der
Seite mit dem Ausdruck namenloſen Grauens.
Da ſchrie ſie auf, oder eigentlich war es nur mehr
ein Stöhnen, ein Laut, der Unendliches an Angſt und
übergroßer Not auszudrücken ſchien und den ich nie
werde vergeſſen können. Marias Geſtalt wankte, ſie
ſchien zu fallen. |
Da kam endlich wieder Leben in mich. Zch ſprang
zu und fing Maria auf. Sie war ohnmächtig. An das,
was nun kam, habe ich keine klare Erinnerung mehr.
Ich bin wohl ſelbſt halb bewußtlos geweſen.
Was ich weiß, iſt, daß zuerſt Valborg kam, daß ſich
dann das Zimmer ſchnell mit Menſchen füllte. Der Arzt
kam auch. Alle waren mit oder für Maria beſchäftigt,
die man in mein Bett hatte bringen müſſen.
Nie iſt ſo viel Angſt, Sorge und Erregung bei der
Geburt eines Kindes geweſen, als nun, da Maria um
das Leben ihres erſten Sohnes litt.
Ich ſelbſt lehnte in halber Betäubung an einem
der Fenſter. Eine begreifliche Scheu und das Gefühl,
gar nicht von Nutzen und darum nur überflüſſig und
hindernd zu ſein, hielt mich von Maria fern. Niemand
hatte acht auf mich, ſelbſt Valborg nicht, die blaß und
wortkarg, bei all ihrer niedergezwungenen Erregtheit
aber mit Sicherheit und Entſchloſſenheit dem Arzt zur
Hand ging und von den Mädchen das Nötige in ruhiger
Weiſe forderte.
Aber ich hatte auch eine Aufgabe, das fühlte ich
deutlich, und ich war dankbar, ſie ſo ohne Aufſehen
166 Die Hand der Barbara Uth. 2
erfüllen zu können. Mein Platz war dem Spiegel
ſchräg gegenüber, und ich beobachtete ihn ſcharf. Ich
hatte das inſtinktive und untrügliche Gefühl, daß alle
dieſe Vorgänge kein Spiel des Zufalls ſein konnten —
es war das Ende einer langen Kette, einer Kataſtrophe,
vielleicht einer befreienden.
And was ich dann ſah, war nicht ein Spiel meiner er-
regten Nerven, nicht ein aus unklaren und unzufammen-.
hängenden Erinnerungenzuſammengedichtetes Märchen.
Denn ſobald die Hand — wie ich es erwartete —
im Spiegel erſchien, fühlte ich eine Art Verantwort—
lichkeit auf mir laſten, die mir meine Ruhe und Beobach-
tungsfähigkeit wieder ganz zurückgab.
Immer wieder erſchien die Hand, länger als ſonſt
und ſo klar wie möglich, aber ich war die einzige, die
es ſah. Alle anderen waren zu eifrig beſchäftigt.
Mit einem Male empfand ich es wie etwas Selbſt—
verſtändliches, daß die Hand dorthin zeigte, wo der
Arzt und Valborg in heißer Sorge um zwei Leben
an Marias Bett ſtanden.
Dreimal kam und ging die Erſcheinung in gewohnter
Meife, das heißt — ſie erſchien jo urplötzlich, wie fie
verſchwand. Nur daß ſie länger ſichtbar war als ſonſt
und ſich zugleich ſo ſchnell von neuem zeigte, war
ungewohnt und ſeltſam.
Jetzt erſchien ſie zum vierten Male, wie immer
ſchlank, ſchön, grauſig.
Meine Augen folgten ihren Linien, den mir ſo
wohlbekannten Formen, den ſchlanken, leicht gebogenen
Fingern mit den roſigen, gewölbten Nägeln. Am
vierten Finger leuchtete der rätſelhafte ‚geronnene
Blutstropfen“, deſſen Faſſung und Reif auch ich nie
hatte ſehen können. Was aber war mit dieſem
roten Stein? Ließ er plötzlich ab, in ſeinem tief—
2 Novelle von F. C. Oberg. 167
dunklen ſatten Rot zu leuchten? Ich trat näher hin-
zu. Wahrhaftig — das rote Mal wurde zuſehends
matter, es war kaum mehr ſichtbar. Der letzte rote
Schein verlöſchte vor meinen Augen.
Wenige Sekunden ſpäter ſah ich die mir jo wohl-
bekannte Hand der Barbara Uth gänzlich ohne jenes
ſeltſame Merkmal am vierten Finger. Das war vor
meinen Augen langſam zerronnen, und der vierte
Finger unterſchied ſich durch nichts von den übrigen
ſchlanken weißen Gliedern der Hand.
Einige Herzſchläge lang ſah ich die Hand fo feſt und
klar wie je — nur ohne jenes rote Zeichen. Dann
ſchien mir auch die Hand ſelbſt nicht mehr ſo deutlich.
Erregt ging ich einige Schritte näher, und von neuem
faßte mich unheimliches Staunen. Die Hand, deren
Lebendigkeit und Plaſtik mich ſo oft gepackt hatte, ſah
ich jetzt nur wie durch einen zarten Schleier, im ganzen
wohl erkennbar, doch im einzelnen leiſe verwiſcht.
Bebend vor Spannung ging ich noch näher. Immer
undeutlicher ſah ich die Hand. Zuletzt hing's ſekunden-
lang noch wie ein zarter Hauch über dem Glas des
Spiegels. Matt, ganz matt in ihrer charakteriſtiſchen
Form erkennbar, aber verrinnend, verblaſſend ſah ich
die Hand. Sie war kaum wahrnehmbar. Doch — ich
vermochte ſie noch zu ſehen. Nein, nun nicht mehr —
alles war verlöſcht, verſchwunden, der Spiegel ſelbſt
hing wie immer glatt, hell, mit gleißenden, blitzenden,
durch die Kerzenflammen geweckten Lichtern in der
Facettierung und im Rahmen vor mir.
In dieſem Augenblick wurden meine beiden Hände
gepackt. Valborg ftand vor mir und ſagte mit einer
Stimme, die vor Bewegung ſchwankte: ‚Es iſt ein
Sohn! Es iſt ein Sohn! Und für Mutter und Kind
iſt alles aufs beſte verlaufen!“
168 Die Hand der Barbara Uth. 2
War ich nicht mehr aufnahmefähig oder erſchien
mir dieſe Glücksbotſchaft nun mit einem Male ganz
natürlich — ich war ganz ſtill, ruhig und glücklich.
„Barbara Uths Hand iſt verlöſcht,“ ſagte ich nur.
Valborg ſtarrte betroffen in den Spiegel. Der
ſpiegelte unbefangen und getreu wie jedes andere
harmloſe Spiegelglas, was vor ihm war, und zeigte
uns beiden jetzt zwei Geſichter, ein altes und ein junges,
beide blaß, aber beide glücklich.
‚Die Hand der Barbara Uth wird man wohl nie
wiederſehen,“ ſagte ich ernſt und beſtimmt.
Und ich habe recht behalten.
Maria genas ſchnell. Das Kind war, obgleich etwas
zu früh geboren, kräftig und geſund, und es war,
als ſei nie ein dunkles Geheimnis über dem alten Hauſe
geweſen, ſo völlig war der Bann gebrochen.
Die Hand hat kein Menſch mehr geſehen, und das
Zimmer mit dem Spiegel hat nicht mehr verſchloſſen
werden müſſen, um ein düſteres Rätſel zu hüten.
Das Geſchlecht der Baerings ſteht jetzt nicht mehr
nur auf zwei, ſondern auf acht jungen hellen Augen,
und all dies junge Leben iſt wohl mehr als ſonſt etwas
danach angetan geweſen, alte düſtere Geſchichten ver-
geſſen zu machen.
Julius, Gerhard Baerings älteſter Sohn, iſt jetzt
ſchon zweiundzwanzig Jahre alt. Von ihm, der die
Geſchichte ſeiner Geburt natürlich längſt kennt, iſt der
Brief, den ich heute morgen erhielt und der mit einem
Schlage Licht in das letzte Dunkel wirft.
Er iſt knapp gehalten und teilt nur Hauptſachen,
keine Einzelheiten mit. Darum kann ich Ihnen auch
des Nätjels Löſung nur in großen Zügen geben. Auf
dem Grundſtück neben dem Baeringſchen Hauſe wird
gebaut, und durch die Rammarbeiten hat ſich der alte
4 Novelle von F. C. Oberg. | 169
Seitenflügel geſenkt, ſo daß man ihn hat niederreißen
müſſen. Beim Abbruch nun hat man in einer vielleicht
ſeit Jahrhunderten unentdeckt gebliebenen Wandniſche
auf dem Boden eine Anzahl alter Bücher aus der letzten
Hälfte des ſiebzehnten und aus dem Beginn des
achtzehnten Jahrhunderts gefunden, unter anderen
eine Bibel, die aus weit wichtigeren Gründen als wegen
ihres Alters das Intereſſe der Baerings feſſelte. Sie
trägt die Jahreszahl 1702 und war der Inſchrift nach
Eigentum des Herrn Auguſt Julius Baering, ihm
geſchenkt nach letztwilliger Beſtimmung aus dem Nach-
laſſe der im Preußiſchen verſtorbenen Barbara Entling,
der geborenen Uth.
Alle Bücher ſind arg verſtaubt und mit Schimmel
überzogen geweſen, und als man ſie — die Bibel
natürlich zuerſt — zu reinigen begann, hat ſich deren
Einbanddecke gelöſt, und man hat darin ein langes
Handſchreiben von Barbara Ath an Auguſt Julius
Baering gefunden, deſſen Inhalt in erſchütternder
Weiſe alle Lücken in den Zuſammenhängen ausfüllt.
Der Brief iſt in leidenſchaftlichen, packenden Aus-
drücken ein Schuld- und Liebesbekenntnis Barbara
Aths. Sie hat Auguſt Julius Baering namenlos ge- -
liebt — ohne Erwiderung zu finden, und für ihren
Stolz iſt es ein tödlicher Schlag geweſen, als Auguſt
Julius, obgleich Barbara ihn nun ihre Liebe zu ihın
hatte wiſſen laſſen, ſich mit einem holden Mädchen, das
er liebte, verheiratete. Dieſe Eliſabeth Baering iſt
plötzlich nach ſcheinbar gutem Befinden kurz vor der
Geburt ihres erſten Kindes geſtorben. Erſt Jahre
darauf hat Barbara Ath mit ihrem Manne, dem
Magiſter Chriſtoph Rochus Entling, die Heimat für
immer verlaſſen — unter dem Bewußtſein einer
entſetzlichen Doppelſchuld. Sie hat Eliſabeth Baering
170 Die Hand der Barbara Uth. D
ermordet — vergiftet wohl, da bei der Todesurſache
niemals an ein Verbrechen gedacht worden iſt. Barbara
Uth hat ſtolz und aufrecht gelebt, in Kraft und Schön-
heit, und ſie iſt geſtorben, ohne je irgend jemand anders
als dieſem ſo ſorgſam verborgenen Briefe ihre Schuld
zu verraten. Ihr heißeſter Wunſch aber iſt geweſen —
jo meldete der Brief — daß einſt ein Weib aus ihrein
Geſchlecht den Platz einnehmen möge, um den ſie in
ſo große Sünde geriet. Wenn dieſe dann ihrem Manne
das erſte Kind an jener Stelle ſchenken werde, an der
Barbara Uth Eliſabeth Baerings Leben und das ihres
Kindes vernichtete — dann werde das eine Sühne für
Barbaras Schuld fein.“
Fräulein v. Caub ſchwieg erſchöpft. Es war ganz,
ganz ſtill in dem ſchon lange völlig dunklen Raum.
Durch die großen Verandafenſter ſah man die Baum-
wipfel aus dem Garten wie regungsloſe tiefdunkle
Silhouetten gegen den metalliſch glänzenden Abend—
himmel ragen. Einzelne Sterne zogen ihre ſtille
Straße.
„Haben Sie Dank, vielen Dank, liebes Fräulein
v. Caub,“ ſagte die Hausfrau gepreßt.
Dann ließ ſie kurz entſchloſſen das elektriſche Licht
aufflammen.
Wir ſaßen alle und zwinkerten mit den Augen.
„Vir müſſen uns erſt wieder an das Helle gewöhnen,“
ſagte irgend jemand.
Hinter Gitterfenſtern.
Von M. Elsner.
—2
Mit 11 Bildern. Nachdruck verboten.)
Di! Freiheitsentziehung als Strafmittel für be-
gangene Verbrechen oder Vergehen iſt eine Ein-
richtung, die weder das Altertum noch das Mittel-
alter kannten. Unterſuchungs- und Schuldgefängniſſe
freilich gab es auch ſchon bei den Alten; der überführte
Verbrecher aber, ſofern er nicht in mehr oder weniger
barbariſcher Weiſe an Leib und Leben geſtraft wurde,
ſühnte ſeine Schuld zumeiſt durch Sklaverei, Geld oder
Verbannung. Auch die drakoniſche Juſtiz des Mittel-
alters konnte meiſt der Strafgefängniſſe entraten. Auf
die Mehrzahl der Verbrechen gegen Perſon und Eigen-
tum des Nächſten ſtand der Tod, und Vergehungen von
minderer Schwere wurden in der Regel durch körper-
liche Züchtigung geahndet. In ſüdlichen Ländern gab
es daneben auch die Galeerenſtrafe, das heißt die
Verwendung von Verbrechern für das Rudern von
Schiffen. Eine Nachahmung dieſer Strafart war es,
als man im nördlichen Europa für nicht todeswürdige
Verfehlungen die, Ketten- und Karrenſtrafe einführte,
indem man die gefeſſelten Miſſetäter zur Arbeit an
Feſtungs- und Wegebauten zwang. Hierin und in
der Einrichtung von Zucht- oder Beſſerungshäuſern
für Landſtreicher, Bettler und anderes fahrendes Volk
ſind die Anfänge des modernen Gefängnisweſens zu
172 Hinter Gitterfenſtern. 2
ſuchen, deſſen von vielen Seiten begehrte Umgeltaltung
gerade jetzt wieder eine ſehr lebhaft umſtrittene Frage
bildet.
Noch in den letzten Jahrzehnten des achtzehnten
Jahrhunderts war in faſt allen europäiſchen Ländern
Photo: Bulbeck.
Ein Gefaͤngniskorridor.
die Beſchaffenheit der Strafgefängniſſe und die Be-
handlung der unglücklichen Gefangenen eine allen
Geboten der Menſchlichkeit hohnſprechende. Schriften
wie die des Engländers Howard entwerfen wahrhaft
erſchütternde Bilder von Roheit und Unverſtand auf
der einen wie von entſetzlichem Elend und namenloſem
Sammer auf der anderen Seite, und es iſt nicht daran
zu zweifeln, daß überdies die ſchlimmſten der hinter
verſchwiegenen Kerkermauern verübten Greuel der
2 Von M. Elsner. 173
Offentlichkeit verborgen blieben. Zu den kulturellen
Errungenſchaften des neunzehnten Jahrhunderts iſt
alſo auch die Reform des Gefängnisweſens zu zählen,
die allerdings nicht mit einem Schlage, ſondern nur
Schritt für Schritt unter dem ſtarken Oruck der öffent-
lichen Meinung erfolgte, und die ſelbſt bis zum heutigen
Tage noch nicht mit allen Übelftänden hat aufräumen
können. n
Die Entziehung der Freiheit auf kürzere oder längere
Dauer iſt heute in allen Kulturſtaaten das Hauptitraf-
mittel, welches das Kriminalrecht kennt, und die für
die Bemeſſung dieſer Strafe je nach der Schwere und
Gemeingefährlichkeit der Verfehlung geltenden Grund-
Photo: Bulbeck.
Das Scheren neu eingelieferter Straͤflinge.
ſätze weichen bei den einzelnen Völkern nur wenig
voneinander ab. Viel größer aber find die Verſchieden⸗
heiten im Vollzuge der erkannten Freiheitsſtrafen,
denn von den mancherlei Syſtemen, die ſich namentlich
im Lauf der letzten Jahrzehnte auf dem Gebiete des
174 Hinter Gitterfenſtern. | 2
Gefängnisweſens herausgebildet haben, konnte bisher
kein einziges den einmütigen Beifall der Kriminaliſten,
der Gefängnisſachverſtändigen und der Philanthropen
gewinnen.
Das deutſche Strafgeſetzbuch unterſcheidet bekannt—
8
*
AR
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1%
#79
i
42
N bote: Bulbed. |
Feſtſtellung des Koͤrpergewichts bei der Aufnahme.
lich vier verſchiedene Arten von Freiheitsſtrafen, die
Zuchthausſtrafe für ſchwere und ſchwerſte Vergehungen,
die Gefängnisſtrafe, die Feſtungshaft und für Über-
tretungen leichteſter Art die einfache Haft, bei der die
bloße Freiheitsentziehung ohne alle erſchwerenden
Zutaten den ganzen Inbegriff der Strafe ausmacht.
\
—̃
0 Von M. Elsner. 175
Die Verurteilung zum Zuchthauſe kann auf Lebens-
dauer oder auf beſchränkte Zeit erfolgen. Die Strafe
iſt mit Arbeitszwang verbunden, und die Sträflinge
können nach dem Ermeſſen der Verwaltung, unab—
hängig von ihrem eigenen Willen, ſowohl innerhalb
wie außerhalb der Anſtalt beſchäftigt werden.
Die Dauer der Gefängnisſtrafe, die über einen
Schuldigbefundenen verhängt werden kann, wechſelt
Photo: Bulbecd.
Neu eingelieferten Straͤflingen wird die Hausordnung
vorgeleſen.
nach den Beſtimmungen des Reichsſtrafgeſetzbuches
zwiſchen eintägiger bis fünfjähriger Dauer. Die Ver—
urteilten können nach dem Ermeſſen der vollitreden-
den Behörde und müſſen auf ihr Verlangen in einer
ihren Fähigkeiten entſprechenden Weiſe beſchäftigt
werden. Eine Verwendung außerhalb der Anſtalt
darf jedoch nur mit ihrer ausdrücklichen Zuſtimmung
erfolgen. |
176 Hinter Gitterfenftern. 1
Die Feſtungshaft beſteht in Freiheitsentziehung mit
Beaufſichtigung der Beſchäftigung und der Lebens-
weiſe des Verurteilten. Ihre Verbüßung braucht aber
nicht notwendig in Feſtungen zu geſchehen, ſondern
kann auch in Gefängniſſen oder anderen von der Voll-
ſtreckungsbehörde beſtimmten Ortlichkeit erfolgen.
Am meiften umſtritten iſt aus naheliegenden Grün-
den das zweckmäßigſte Syſtem für den Vollzug der
Zuchthausſtrafen, denn abgeſehen davon, daß es ſich
hier um die Behandlung von Leuten handelt, die nach
der Art ihrer Verfehlungen mit verhältnismäßig we-
nigen Ausnahmen als beſonders gefährliche Feinde der
geſellſchaftlichen Ordnung angeſehen werden müſſen,
zwingt auch ſchon der Umſtand, daß die meiſten einen
Lebensabſchnitt von beträchtlicher Dauer hinter den
Mauern des Zuchthauſes zuzubringen haben, zu
ernſteſter Erwägung der Frage, wie einer vom Straf-
geſetz ſelbſtverſtändlich nicht beabſichtigten gejundheit-
lichen oder moraliſchen Schädigung der Sträflinge vor-
zubeugen iſt.
Eine einheitliche, von allen oder den meiſten
Staaten anerkannte Norm hat dafür, wie ſchon er-
wähnt, bisher nicht gefunden werden können. Von der
urſprünglichen Gepflogenheit, alle Verbrecher ohne
Anterſchied zuſammenzuſperren, iſt man freilich längſt
abgekommen, aber die Frage, ob dem nach beſtimmten
Geſichtspunkten geregelten Gemeinſchafts- oder dem
Iſolierſyſtem der Vorzug zu geben ſei, iſt noch ungelöſt.
Beide Arten der Strafvollſtreckung haben unzweifel-
haft ihre Vorzüge und ihre Nachteile. Die in einigen
deutſchen Zuchthäuſern ſtreng durchgeführte Iſolierhaft,
bei der kein Gefangener den anderen ſehen darf, kann
inſofern von günſtiger Wirkung fein, als die Einfam-
keit den Verbrecher leichter zu reuiger Einkehr bewegt,
7
pmsmBuppg 10 uS
178 Hinter Gitterfenftern. 2
und der ausſchließliche, ungeſtörte Umgang mit dem
Beamtenperſonal und dem Seelſorger bei angemeſſener
Behandlung beſſere und fruchtbringendere Eindrücke
hinterläßt als die Geſellſchaft von in der Mehrheit
moraliſch ſehr tief ſtehenden Genoſſen. Anderſeits
ſind der Anwendung des gſolierſyſtems gewiſſe Schran-
ken gezogen durch den Umſtand, daß fie von jugend-
lichen, kränklichen und nervös reizbaren Perſonen nur
unter ſchweren Nachteilen für ihre geiſtige und körper-
Photo: Bulbeck.
In der Backſtube.
liche Geſundheit ertragen wird, und daß ſelbſt wider-
ſtandsfähige Naturen, auch wenn ſie im Anfang mit
ihrer Abſonderung durchaus einverſtanden waren, nach
Ablauf einer längeren Zeit unter der bis an die äußerſte
Grenze des Möglichen durchgeführten Iſolierung ſchwer
zu leiden pflegen.
Das Königreich Belgien dürfte denn auch der ein-
zige Staat in Europa ſein, der ganz allgemein und
für alle Strafarten von dem Zellenſyſtem Gebrauch
macht, mit der einzigen Einſchränkung, daß die Sfolie-
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180 Hinter Gitterfenftern. 2
rung einen Zeitraum von zehn Fahren nicht über-
ſchreiten darf.
Viel mehr Fürſprecher findet im allgemeinen das mit
dem Schweigegebot verbundene Gemeinſchaftsſyſtem,
deſſen erſte Vorausſetzung allerdings eine ſorgfältige
Verteilung der Gefangenen nach Geſchlecht und Alter,
Art des Verbrechens, Bildung, körperlicher Leiſtungs-
fähigkeit und ſo weiter bildet. In der Schwierigkeit
einer ſolchen Verteilung liegen die hauptſächlichſten
Nachteile dieſes Syſtems. Auch iſt das Sprechverbot
bei gemeinſamer Beſchäftigung an und für ſich etwas
jo Unnatürliches, daß es ſtändige Zuwiderhandlungen
und damit eine übergroße Zahl von Diſziplinarſtrafen
notwendig immer im Gefolge haben muß.
Immerhin ſind es heutzutage noch die meiſten
Strafanſtalten, die ſich dieſes Syſtems bedienen, und
die große Verſchiedenheit der erzielten Refultate erklärt
ſich wohl vornehmlich aus der größeren oder geringeren
Eignung der leitenden Perſönlichkeiten für die An—
forderungen ihres ſo überaus ſchwierigen und verant—
wortungsvollen Amtes.
Als eines der beſten Zuchthäuſer gilt das von
Wormwood-Scrubbs im Nordweſten Londons, und an
der Hand einer Anzahl von wohlgelungenen Auf—
nahmen gewähren wir darum unſeren Leſern einen
Einblick in das dem Auge der Öffentlichkeit ſonſt ent-
zogene Innenleben dieſer Strafanſtalt.
Eine mit der unerläßlichen Strenge ſehr wohl ver-
einbare Humanität iſt der oberſte Grundſatz für die Be-
handlung der Sträflinge von Wormwood - Scrubbs. Sie
widmet dem leiblichen Wohlbefinden der Gefangenen
eine beſondere Sorgfalt. Jeder von ihnen wird bei
der Einlieferung, nachdem er von anderen Sträflingen
geſchoren und rafiert und mit der Gefängniskleidung
upper 30 pi 29
182 Hinter Gitterfenſtern. 2
verſehen iſt, einer ſorgfältigen ärztlichen Unterfuchung
unterzogen. Auch ſein Körpergewicht wird feſtgeſtellt,
um in gewiſſen Zwiſchenräumen durch erneute Wä-
gungen nachgeprüft zu werden. Da ergibt ſich denn
allerdings faſt ausnahmslos eine ſehr beträchtliche Ab-
nahme, der vorzubeugen bisher nicht gelungen iſt,
obwohl die Ernährung — abgeſehen von dem ſehr
empfindlichen Mangel an grünen Gemüſen — eine
unzulängliche kaum genannt werden kann.
Die Gefangenen erhalten morgens einen Napf
voll Haferſchleim und ein ausgiebiges Stück guten
Brotes, Mittags Fleiſch, Kartoffeln und Brot und
abends Brot und Kakao, ſind alſo beſſer verſorgt, als
ſich's in London eine große Anzahl freier Arbeiter zu
leiſten vermag.
Die hellen und luftigen Zellen, in denen die Sträf-
linge während der Nacht iſoliert werden, liegen an
langen Korridoren, die ſo in den Stockwerken verteilt
ſind, daß von einem Punkte aus die Zellentüren
ſämtlicher Stockwerke gleichzeitig überſehen und beob-
achtet werden können. Den Zugang vermitteln eiſerne
Galerien, die vor den Zellentüren hinlaufen. Da in
Strafanſtalten von dieſer Bauart die Gefangenen ſehr
geneigt ſind, Selbſtmordverſuche durch Hinabſtürzen
in die Tiefe zu unternehmen, wenn ſie über dieſe
Galerien geführt werden, hat man in der Höhe der
einzelnen Stockwerke Drahtnetze ausgeſpannt, die Ver-
letzungen ernſterer Natur bei einem Herabſtürzen faſt
unmöglich machen.
Wie in allen Strafanſtalten, werden die Häftlinge
auch hier zu ſtändiger Arbeit angehalten, und es ſind
je nach ihrer Leiſtungsfähigkeit und Vorbildung die
verſchiedenartigſten Beſchäftigungen, denen ſie ſich
unterziehen müſſen. Einer beſonderen Beliebtheit bei
2 Von M. Eisner. 183
den Gefangenen erfreut ſich die Schneiderei, einmal,
weil ſie an den Körper keine zu hohen Anforderungen
ſtellt, vornehmlich aber, weil ſie nach der Verſicherung
der Sträflinge beſſer als jede andere Tätigkeit geeignet
iſt, die Gedanken zu beſchäftigen und von unerfreu-
lichen Betrachtungen abzulenken.
Photo: Bulbeck.
Straͤflinge in der Kirche.
Geradezu als eine Vergünſtigung jedoch wird die
Beſchäftigung in der Backſtube oder in der Küche an—
geſehen, ſchon deshalb, weil das Schweigegebot hier
nicht mit derſelben Strenge durchgeführt wird wie in
den Werkſtätten. Ein beſtimmtes tägliches Arbeits-
penſum iſt überall für den einzelnen vorgeſehen. Von
dem, was er über dieſes — allerdings nicht ſehr knapp
bemeſſene — Penſum hinaus leiſtet, fließt ihm ein
184 Hinter Gitterfenſtern. 2
Verdienſtanteil zu, der ihm bei der Entlaſſung aus-
gehändigt wird, den er aber teilweiſe auch zur Ver-
beſſerung ſeiner Koſt durch allerlei außergewöhnliche
Zutaten, ſowie zur Beſchaffung von Schnupftabak
verwenden darf. f
Die Beſtimmungen der Hausordnung, die allen
neu eingelieferten Sträflingen vorgeleſen wird, wobei
ſie behufs beſſeren Aufmerkens ihr Geſicht nicht dem
vorleſenden Beamten, ſondern der Wand zukehren
müſſen, ſind naturgemäß ſehr ſtreng und mit einer
nicht geringen Zahl von Strafandrohungen geſpickt.
Die Diſziplinarmittel beſtehen ebenſo wie in den feit-
ländiſchen Zuchthäuſern in Dunkelarreſt und zeit-
weiliger Herabſetzung der Beköſtigung auf Waſſer und
Brot. Grobe Widerſetzlichkeit und andere ſchwere
Verfehlungen gegen die Anſtaltsdiſziplin aber werden
noch immer mit Prügelſtrafe geahndet. Der „Triangel“,
ein Gerüſt, das eine gewiſſe fatale Ahnlichkeit mit
einer Guillotine aufweiſt, iſt die von jedem Sträfling
weidlich gefürchtete Vorrichtung für den Vollzug der
körperlichen Züchtigung. Eine Abſtufung gibt es
auch hier noch inſofern, als leichtere VBergehungen mit
der Rute, ſchwerere aber mit der — auch auf unſerer
Abbildung ſichtbaren — „neunſchwänzigen Katze“ ge-
ſtraft werden, die bis in die jüngſte Vergangenheit
hinein auch den engliſchen Rekruten und Matroſen gar
wohl bekannt war.
Zu den „Vergnügungen“ in Wormwood Scrubbs
gehören der tägliche Spaziergang, den die Sträflinge
in genau vorgeſchriebenen Abſtänden auf einer afphal-
tierten Gehbahn des Gefängnishofes abzumachen
haben, die Sonntagslektüre, der Schulunterricht, der
ſich naturgemäß auf die Elementarfächer beſchränkt,
und der regelmäßige Kirchenbeſuch.
186 Hinter Gitterfenſtern. 2
Sowohl für den Spaziergang, wie für die Schule
und die Kirche iſt das Gemeinſchaftsſyſtem beibehalten,
1
f 1
ER
RE
Photo: Bulbeck.
Vorrichtung zum Vollzug der Pruͤgelſtrafe.
das heißt die Gefangenen brauchen weder eine Ge—
ſichtsmaske zu tragen, noch in kleinen, käfigartigen
Einzelverſchlägen zu ſitzen, die, wie in vielen deutſchen
1 Von M. Elsner. | 137
Zuchthäuſern, jedem von ihnen nur geftatten, den
Lehrer oder den Geiſtlichen zu ſehen, während der
Anblick ihrer Mitgefangenen ihnen auch in der Schule
und in der Kirche entzogen bleibt. |
Es mag eine offene Frage fein, inwiefern die eng-
liſchen Einrichtungen des Strafvollzuges vor den
unſerigen den Vorzug verdienen und in welchen
Punkten ſie hinter ihnen zurückſtehen. Eine britiſche
Einrichtung aber, die bei uns unbekannt iſt, wäre unter
allen Umftänden der Nachahmung wert, die Beſtellung
eines Generalinſpektors nämlich, dem die Kontrolle
über die einzelnen Strafanſtalten obliegt, und dem
das geſamte Gefängnisperſonal, vom Direktor bis zum
letzten Wärter, unterſtellt iſt. Allen Übergriffen und
Pflichtwidrigkeiten einzelner Anſtaltsleiter, wie ſie in
anderen Ländern bei der faſt unumſchränkten Gewalt
dieſer nicht immer von dem rechten Geiſte erfüllten
Herren des öftern vorkommen, kann dadurch in wirk-
ſamer Weiſe vorgebeugt werden.
Die unheimliche Braut.
Humoreske von Hermann Roemer.
—
(Nachdruck verboten.)
. klapperte meine Papiermühle am raufchen-
den, erlenumſäumten Bach, anmutig breiteten
ſich die zaubergrünen Wieſen in dem von felſigen
Höhen begrenzten Tale aus. Droben auf den Hügeln
rauſchten im leiſen Abendwind die dunklen Tannen,
und zwiſchen ihnen ſchaute die Abendröte mit glühenden
Augen herein in den ſchattigen Grund.
So lieblich alles, ſo idylliſch! — Und doch blickte ich,
als ich unter einer Linde vor meinem Hauſe lag, recht
wehmütig in die Abendglut. Was half mir das reiz-
volle Bild ringsumher, der Anblick der grünen Flächen,
der rauſchenden Tannen, der Beſitz der klappernden
Mühle, wenn mir wie das Schwert des Damokles
die Gewißheit über dem Haupte hing, daß alles mir
entriſſen werden würde, ehe drei Monate ins Land
gingen? Die Mühle war ſchon vom Urgroßvater her
Eigentum meiner Familie. Ich hatte ſie erſt vor zwei
Fahren vom Vater geerbt, aber durch Auszahlung
mehrerer Geſchwiſter und zwei kurz aufeinander folgende
Bankerotte großer Abſatzfirmen ward ich der Mittel
zum rationellen Weiterbetriebe beraubt und ſah mich
bald in der ärgſten Klemme. Was nun anfangen?
Nicht wahr, das fängt keineswegs wie eine Hu-
moreske an? Aber der Humor kommt ſchon noch, das
heißt er kam an jenem Abend ſchon in der Perſon
2 | Humoreske von H. Noemer. 189
eines alten Bekannten, des Förſters Brunner, der,
behaglich ſeine Pfeife ſchmauchend, gerade vorbei-
ging.
„Na, lieber Roemer, ſchon wieder ſo griesgrämig?“
redete er mich gemütlich an.
Er hatte gut gemütlich ſein mit ſeinem behaglichen
Dienſt, ſeinem feſten Gehalt und ſeiner Penſion.
„Muß wohl, Herr Förſter,“ gab ich ihm zur Ant-
wort. „Die Zuſtände ſind danach.“
Er blieb ſtehen, tat einige beſonders mächtige Züge
und meinte dann: „Müffen’s doch nicht fo tragiſch
nehmen! Donnerlüttchen, Mann, Sie ſind doch jung
und ein ſchneidiger, kräftiger, adretter Kerl! Werden
ſchon anderswo was finden!“
„Leicht geſagt, Herr Förſter! Es iſt das Erbteil
meiner Väter, die Papiermühle — mir bricht das Herz,
wenn ich mich von ihr trennen muß!“
„Die Mühle kommt alſo wirklich unter den Hammer?“
„Kann's nicht verhindern. Vollte ich's abwenden,
jo müßte ich wenigſtens fünfzigtaufend Mark haben.
Woher die nehmen und nicht ſtehlen?“
„Hm — hm.“ Er qualmte eine volle Minute wie
ein Fabrikſchornſtein. „Warum heiraten Sie nicht?“
fragte er dann plötzlich.
„Heiraten?“
„Na ja — Frau mit Geld — hilft ſich mancher
damit.“
Ich lächelte ſpöttiſch und erwiderte: „Die Frauen
mit Geld ſind nicht ſo häufig wie Ihre Bucheckern,
lieber Förſter, und auch nicht ſo verſeſſen auf ruinierte
Fabrikanten und Kaufleute. Wenn ich Ihren guten
Rat auch wirklich befolgen wollte, wo ſollte ich eine
reiche Frau hernehmen?“
Er qualmte wieder geraume Zeit, bevor er mit ſeiner
190 Die unheimliche Braut. | 2
billigen Weisheit herausrückte: „Setzen Sie doch ein
reelles Heiratsgeſuch in die Zeitung. Frau mit Kapital,
häuslich und gut erzogen und ſo weiter — geſchieht ja
ſo oft, und wer weiß, vielleicht beißt doch was an.“
Wir ſprachen noch mancherlei, ehe Brunner weiter-
ging, ſein Vorſchlag aber hatte in meinem verzweifelten
Herzen Wurzel geſchlagen. Ich hatte mich bisher wenig
um das ewig Weibliche bekümmert, nur einmal als
Einjähriger einen leider ziemlich unglücklich ausgehenden
Liebeshandel gehabt. Mein Herz war frei, die Ver-
ſuchung groß. f
Schon zwei Tage ſpäter ſandte ich das Inſerat
unter Beobachtung aller möglichen Vorſichtsmaßregeln
an die Expedition einer der größten Zeitungen der
Hauptſtadt.
„Wird wohl niemand ſo dumm fein, darauf herein
zufallen!“ dachte ich bei mir.
Aber ſchon wenige Tage danach hielt ich fünf Offerten
in den erwartungsvollen Händen. Drei davon konnte
ich allerdings gleich zerreißen, die vierte legte ich vor-
läufig zurück und wandte meine Aufmerkſamkeit ernſtlich
der fünften zu.
„Sehr geehrter Herr! Auf Ihr hoffentlich ehrlich
gemeintes Inſerat hin wäre ich nicht abgeneigt, mit
Ihnen zu gedachtem Zwecke in Verbindung zu treten.
Ich bin dreiundzwanzig Jahre alt, völlig unabhängig,
beſitze zweihunderttauſend Mark Vermögen und glaube
auch ſonſt ſo übel nicht zu ſein. Erbitte Antwort unter
E. S. 100 an die Expedition.“
Das war kurz und erbaulich. Wahrhaftig e
Zweihunderttauſend Mark Vermögen — und erſt
dreiundzwanzig Jahre alt!
War das menſchenmöglich?
Wenn es umgekehrt geweſen wäre — zweihundert⸗
2 Humoreske von H. Roemer. 191
tauſend Jahre alt und dreiundzwanzig Mark Vermögen,
ja dann — aber ſo!
Es war Anſinn, konnte ja gar nicht fein! Ein
junges Mädchen mit zweihunderttauſend Mark braucht
keine Heiratsgeſuche zu beantworten. Sicherlich waren
hier ein paar Schreibfehler untergelaufen.
Oder es erlaubte ſich jemand einen Alk mit mir.
Letzteres war das wahrſcheinlichſte. Kein Zweifel
— ein fauler Witz!
Aber die zweihunderttauſend lockten und blendeten,
Wenn doch vielleicht! Hm — wenn ſchon, denn
ſchon! Iſt's ein Alk, ſo läßt ſich's eben nicht ändern,
koſtet ja nur einen Brief.
Hingeſetzt, geſchrieben! Nicht abgeneigt — bitte
um Photographie oder perſönliche Zuſammenkunft —
ſtrengſte Diskretion Ehrenſache und ſo weiter.
Die Antwort kam umgehend.
„Freitag in der Abendkühle,
Wenn die Glocke ſieben ſchlägt,
Werd’ ich bei der Weidenmühle,
Wo die Linde Beeren trägt,
Eine weiße Roſe an der Bruſt,
Zangfam wandeln, Ihrer Näh' bewußt.“
Dies Verschen beſtärkte mich zwar in meiner Über-
zeugung, daß man mir eine Falle ſtellen wollte, ich
beſchloß aber trotzdem, das Abenteuer zu beſtehen.
Der Ort der Zuſammenkunft war nur eine Stunde
entfernt, und die bezeichnete alte Linde kannte ich ganz
genau. Der Blitz hatte vor langen Jahren den mäch-
tigen Stamm zerſplittert und einen gewaltigen Aſt
abgeſchlagen. In dem ſo entſtandenen Hohlraum
hatte ſich Erde angeſammelt, und darauf grünte kreuz-
fidel ein Stachelbeerſtrauch, der ſogar Beeren trug.
Die Schreiberin kannte die Linde und die Weidenmühle
192 Die unheimliche Braut. 2
aber auch — und das ſtimmte mich wieder etwas nach-
denklich. Aber die e ſchlugen alle
Bedenken zu Boden.
Freitag abend dreiviertel ſieben ſtand ich bei der
Stachelbeerlinde, aufmerkſam die Allee rechts und links
hinabſehend.
„Dreiundzwanzig Jahre — zweihunderttauſend
Mark,“ murmelte ich. „Wenn's kein Schabernack iſt,
wird's wohl ein Muſter von Häßlichkeit ſein, einen
Buckel haben oder einen Klumpfuß — oder ſie wird
einäugig ſein, oder — o weh, o weh!“
Niemand kam, und ich ſetzte mich auf die Bank
unter der Linde, um den äußerſten Termin wahr—
zunehmen.
Da vernahm ich plötzlich ein helles Lachen hinter
mir, eine melodiſche Stimme ſagte: „Guten Abend,“
und ich erblickte, mich umwendend — nein, ich erblickte
eigentlich nichts mehr, ich ſchwamm in einem Ozean
von Wonne und Trunkenheit!
Vor mir ſtand ein reizendes junges Mädchen im
weißen Sommergewand, blauäugig, mit vollem lichten
Blondhaar, ſchlank und hochgewachſen, mit einem Worte
ein wahrer Engel in Menſchen- oder beſſer in Mädchen-
geſtalt, denn mit Männern ſind meines Wiſſens Engel
bisher nicht verglichen worden.
Daß ſie es war, daran ließ die duftig weiße Roſe an
der Bruſt keinen Zweifel.
Und verkrüppelt war fie auch nicht, weder budelig
noch klumpfüßig noch einäugig!
Um fo auffälliger war es. Denn wenn fie es auf-
richtig meinte, wirklich aufrichtig, ſo — ſo mußte dann
ein anderes Etwas im Staate Dänemark faul ſein.
Gewiß trat dann der gefürchtete Schreibfehler in Kraft.
Zweihunderttauſend — vielleicht eine Null oder gar zwei
2 Humoreske von H. Roemer. 195
Nullen zu viel waren ihr aus der Feder gerutſcht. Doch
dann war ſie eine Betrügerin — und ſo ſah ſie nicht
aus. Sie blickte ſo lieb, ſo aufrichtig, ſo vornehm —
ſonderbar! Ein Mädchen wie ſie hätte mit keinem
Pfennig Vermögen ſicher keines Heiratsgeſuchs be—
durft. Die Sache mußte doch einen Haken haben!
Allerdings war jetzt keine Zeit, ihn zu ſuchen. Ich
befand mich auch gar nicht in der Stimmung dazu. Ich
war wie berauſcht von dem ſüßen Geſchöpf, mit dem
ich bald in ein anziehendes Geplauder vertieft war.
ich ſchilderte ihr offen meine Verhältniſſe. Sie
nickte nur lächelnd und ſagte: „Wenn Sie mich lieben
können, jo iſt Ihrem Unglück ja bald abzuhelfen. Ich
bin reich und ſelbſtändig — nur wünſche ich nicht, daß
Sie mich allein um des Geldes willen heiraten.“
Ich beteuerte ihr, nachdem ich fie geſehen, hätte ich
der Bedingung des Geſuchs ganz vergeſſen, ſofern mich
nicht meine Wahrheitsliebe zur Darſtellung der Sach-
lage gezwungen hätte.
Das ſchien ihr zu gefallen, und — kurz und gut,
wir wurden noch am ſelben Abend einig. Eliſe Selzer
gab mir einen Kuß und ihre Adreſſe, ich begleitete ſie
auf den Bahnhof und wankte dann wie ein Trunkener
überſelig nach Hauſe. —
Am nächſten Morgen kehrten meine Bedenken mit
verdoppelter Wucht zurück. |
Ein ſo herrliches Mädchen, ſo reich — denn die
Beſtätigung hatte ich ja nun aus ihrem eigenen Munde
— und ſie antwortet auf Heiratsgeſuche, wirft ſich dem
erſten beſten an den Hals!
„Venn ich auch nicht der erſte beſte bin,“ ſagte ich
zu mir, „ſo doch immerhin ein armer Teufel in kritiſcher
Lage. Die Sache muß einen Haken haben!“
Aber was für einen? Das liebliche Geſchöpf
1910. I. 13
194 Die unheimliche Braut. 2
ward mir unheimlich. Häßlich war ſie nicht, alt nicht,
dumm nicht, ſie beſaß kein Gebrechen, war vielmehr
die Anmut und Klugheit ſelber, und auch gutherzig
offenbar — da mußte der Haſe alſo wo anders im
Pfeffer liegen.
So ſehr ſie es mir angetan, gedachte ich doch nicht
ganz blind ins Unglück zu rennen. Sch fuhr nach der
Hauptſtadt und zog Erkundigungen ein.
Ein Kunde von mir kannte ſie genau. Er ahnte
übrigens den Zweck meiner Nachforſchung nicht.
„Wohl ein überſpanntes Ding?“ fragte ich. „Auf-
geblaſen, eitel, gefallſüchtig?“
„Ganz und gar nicht. Ein reizendes, durchaus
verſtändiges Mädchen!“
„Aber wohl mit etwas — nun mit Vergangenheit?“
„Ich bitte Sie — hochgeachtete Familie vom beſten
Rufe!“
Die Braut ward mir immer unheimlicher.
„Wohl: viele Freier gehabt? Sfters verlobt ge—
weſen?“ |
„An Bewunderern und Bewerbern kann es einem
ſolchen Mädchen ja nicht fehlen, aber verlobt war ſie
noch nicht. Sie ſcheint wähleriſch zu ſein.“
„Vielleicht unglückliche Liebe gehabt? Racheſchwur
getan, den erſten beſten zu heiraten?“
„Wie kommen Sie nur auf fo ſchnuͤrrige Ideen?
Ihre beſte Freundin verkehrt bei uns, daher ſind wir
ganz genau unterrichtet. Keine Ahnung von ſo
etwas!“
Immer unheimlicher wurde mir zumute. Ich ſtellte
weitere Nachforſchungen an. Umſonſt! Es war kein
Verbrechen in ihrer Familie vorgekommen, kein be-
ſonderes Ereignis, nichts Geheimnisvolles.
Ich liebte ſie immer toller, je länger unſer Verkehr
2 Humoreste von H. Roemer. 195
dauerte, aber das Gefühl ihrer Unheimlichkeit ward
immer größer in mir.
Zuletzt forſchte ich ſogar ihren Hausarzt aus. Ich
ſagte ihm die Wahrheit und verſicherte mich ſeiner
Verſchwiegenheit. „Sind in der Familie etwa gefähr-
liche Krankheiten vorgekommen?“
„Niemals. Eltern, Großeltern kerngeſund.“
„Und Fräulein Eliſe iſt nicht etwa belaſtet mit
Wahnſinn oder dergleichen?“
„Mit nichts als einem gewichtigen Geldſack,“
ſcherzte der Doktor. a
ich lachte und ging, aber meine Braut war mir von
Stund an unheimlicher als je.
So war ich endlich glücklich — und doch auch
unendlich unglücklich! Der Haken ſtörte mich immer
mehr.
Ich fragte fie ſchließlich ſelber, wie fie auf die Idee
gekommen ſei, mein Geſuch zu beantworten, da ſie
doch Männer in Hülle und Fülle hätte haben können,
aber fie lachte nur, ſagte: „Das erfährſt du erſt nach der
Hochzeit,“ und ſchloß mir mit einem Kuß den Mund.
Zwei Monate ſpäter ſtanden wir vor dem Altar.
So reich, ſo wunderbar ſchön, ſo gut und edel — und
durch ein Heiratsgeſuch meine Frau!
„Der Haken, der ſchreckliche Haken!“ dachte ich.
„Vielleicht iſt er jo groß, daß du dich gleich daran auf-
hängen kannſt!“ —
Als wir uns allein befanden, war meine erſte Frage
an ſie: „Nun, Eliſe, nun ſtille endlich meine Neugier.
Warum haft du gerade mein Geſuch beantwortet? Oder
war es nicht das einzige?“
Sie lachte errötend und erwiderte, ihren Kopf an
meiner Bruſt bergend: „Natürlich war es das einzige,
du törichter Mann! And mit voller Abſicht gerade
196 Die unheimliche Braut. 2
wählte ich deines aus, eben weil es — das deine
war!“ |
„Aber du kannteſt mich ja gar nicht?“
„Meinſt du? War ich nicht während des vorigen
Sommers zwei Monate bei Förſter Brunner in der
Sommerfriſche? Da hab' ich dich oft geſehen und
beobachtet. Du warſt fo fleißig und doch fo ſorgenvoll,
und ein ſo ſchöner Mann! Walter — ich liebte dich
ſchon damals und konnte dich nicht wieder vergeſſen.
Aber ich konnte mich dir doch nicht antragen, wußte
ja auch gar nicht, ob du nicht längſt gebunden warſt.
Da kam vor einigen Monaten der Förſter mit ſeiner
Frau auf Beſuch in die Stadt. Die Rede kam auch
auf dich. Da erzählte er von deiner Drangſal und daß
er dir ein Heiratsgeſuch angeraten hätte. ‚Und denken
Sie, Fräulein,“ rief er und lachte gerade heraus, ‚heut
abend ſteht's wirklich in der Zeitung! Leſen Sie nur —
es kann niemand anders fein als er!“ — sch las, und
die ganze Nacht ſchloß ich kein Auge. Und am anderen
Tag ſchrieb ich. Zürnſt du mir deshalb?“
Ich gab meinem Zorne mit einem Dutzend Küſſen
gebührenden Ausdruck.
Von dem Augenblicke an war mir meine liebe,
ſüße Eliſe nicht mehr unheimlich.
E E
2
Die Inhaberin der
Weltmeiſterſchaft im Bergſport.
Von Rud. Hendrichs.
—
Mit 10 Bildern. Nachdruck verboten.)
Vor wenigen Monaten noch konnte es als unbeſtrit-
ten gelten, daß der in Chile gelegene Akonkagua
mit 6970 Meter Meereshöhe die bedeutendſte Er-
hebung der ſüdamerikaniſchen Kordilleren ſei; einer
unternehmenden und unerſchrockenen jungen Dame,
der Amerikanerin Annie S. Peck, war es vorbehalten,
ihm dieſen Rang zugunſten des Nevado de Huaskan
oder Huaskaran in Peru ſtreitig zu machen und gleich-
zeitig für ſich ſelber einen Weltrekord auf dem Gebiete
des Bergſports aufzuſtellen, denn wenn es zutrifft,
daß der Huaskaran nicht, wie die bisherige Schätzung
lautete, 6721 Meter, ſondern ungefähr 7300 Meter
hoch iſt, jo darf Fräulein Peck, die als das erſte menſch—
liche Weſen ſeinen nördlichen Gipfel erſtieg, den Ruhm
in Anſpruch nehmen, eine bisher noch von keinem an-
deren erklommene Bergeshöhe erreicht zu haben.
Der Inhaber der Bergfexenweltmeiſterſchaft war
bis dahin ein Herr W. W. Graham geweſen, der es im
Himalaja bis auf ungefähr 7200 Meter gebracht hatte,
und wenn auch die Differenz, wie man ſieht, keine ſehr
beträchtliche, die von Fräulein Peck ermittelte Höhe
des Huaskaran überdies noch keine mit wiſſenſchaft—
licher Unanfechtbarteit feſtgeſtellte iſt, jo darf doch der
198 Die Inhaberin der Weltmeifterfchaft im Bergſport. m
kühnen Bergſteigerin um der von ihr bewieſenen und
bei einem weiblichen Weſen doppelt bewunderungs-
würdigen Tapferkeit, Energie und Ausdauer willen
der nachdrücklich beanſpruchte Lorbeer von Herzen ver-
Der Doppelgipfel des Huaskaran.
gönnt werden. Ein vergnüglicher Spaziergang näm—
lich war die von ihr durchgeführte Hochtour ſicherlich
nicht zu nennen, und ihre anſchauliche Schilderung der
ausgeſtandenen Mühſeligkeiten und Gefahren läßt es
begreiflich erſcheinen, daß ſie von einer früher unter—
nommenen Beſteigung des Akonkagua mit einer ge-
— —— —T— ½——————— —
2 Von Rud, Hendrichs. 199
wiſſen Geringſchätzung als von einer gemächlichen
Promenade ſpricht.
Nicht im erſten verwegenen Anſturm ließ ſich der
bis dahin unbezwungene doppelköpfige Bergrieſe von
der kecken Amerikanerin nehmen. Bis zum Jahre 1904
hatte Fräulein Peck nach ihrem eigenen Geſtändnis
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Indianerhuͤtte bei Matarao.
überhaupt nichts von der Exiſtenz des Huaskaran
geahnt. Sobald ſie aber gehört hatte, daß er dem
Akonkagua wahrſcheinlich ebenbürtig, wenn nicht viel-
leicht ſogar überlegen ſei, ließ es ihr keine Ruhe mehr,
bis ſie ihn mit eigenen Augen geſehen.
Von dem Städtchen Vungay aus, das 2800 Meter
über dem Meere maleriſch im Huailastale gelegen iſt,
200 Die Inhaberin der Weltmeiſterſchaft im Bergſport. .
genoß fie zum erſten Male den Anblick der beiden maje-
ſtätiſchen Gipfel, die von den Geologen für die giganti-
ſchen Kegel eines vor langen Zeiten erloſchenen Swil-
lingsvulkans gehalten werden. Aber ihre mitgebrachte
Zuverſicht, als erſtes menſchliches Weſen einen von
ihnen zu erſteigen, kam bei dieſem Anblick bedenklich
ins Wanken. Was ſich da ſchon mit bloßem Auge, noch
erſchreckender aber durch das Fernglas an ſchroffen
Felswänden und, höher hinauf, an ſenkrechten Eis-
hängen, Schründen und von zahlloſen Spalten zer-
riſſenen Gletſchern erkennen ließ, war wohl danach
angetan, auch einen erfahrenen und erprobten Hoch-
touriſten zu entmutigen, zumal auch die Vorausſetzungen
und äußeren Umſtände, die für die Ausführbarkeit
eines ſolchen Unternehmens in Betracht kommen,
hier keineswegs ſo günſtig waren wie etwa in den
europäiſchen Alpen oder ſelbſt in den Felſengebirgen
Nordamerikas.
Darüber, daß fie eine Hochtour, die ſich voraus-
ſichtlich über eine beträchtliche Reihe von Tagen aus-
dehnen würde, nicht ohne zuverläſſigſte Begleitung
unternehmen dürfe, war Fräulein Peck ſelbſtverſtändlich
nicht im ungewiſſen, aber die eingeborenen Indianer,
die allein als ſolche Begleiter zur Verwendung kommen
konnten, vermochten ihr nur wenig Vertrauen einzu-
flößen. Nicht daß es ihnen an redlichem Willen und
an fonftigen guten Eigenſchaften des Charakters ge-
fehlt hätte, ſie erwieſen ſich vielmehr durchweg als gut—
mütige, willige und anhängliche Burſchen, aber noch
keiner von ihnen war je bis in die Region des ewigen
Schnees emporgedrungen, und ihre körperliche Lei—
ſtungsfähigkeit ſchien ebenſo zweifelhaft als ihre Geiſtes-
gegenwart und Zuverläſſigkeit in N Augen-
bliden,
0 Von Rud. Hendrichs. 201
Trotzdem ließ Fräulein Peck ſich's nicht verdrießen,
einige ernſthafte Proben mit ihnen anzuſtellen. Sie
ſorgte für eine bergmäßige Ausrüſtung der ſchlecht
gekleideten Leute und bemühte ſich, die kräftigſten von
ihnen durch kleinere Abſtecher für die große Aufgabe zu
trainieren, die fie ihnen zugedacht hatte. Im Fahre 1906
Aufbruch der kuͤhnen Bergſteigerin von Matarao.
glaubte ſie mit indianiſchen Trägern die Beſteigung
verſuchen zu dürfen; aber der Verſuch endete mit einem
kläglichen Mißerfolg und nahm der jungen Ameri—
kanerin auch den letzten Zweifel an der Richtigkeit
ihrer ſchon früher gehegten Vermutung, daß die Be—
zwingung bes Huaskaran nur unter dem Beiſtande von
erprobten europäiſchen Bergführern möglich fein würde.
202 Die Inhaberin der Weltmeiſterſchaft im Bergſport. DO
Zwei Jahre ſpäter, im Juni 1908, verließ fie denn
auch New Vork in Begleitung zweier aus den Alpen
verſchriebenen Führer, die fie in ihrem Bericht merf-
würdigerweiſe nur mit ihren Vornamen Gabriel und
Rudolf bezeichnet. Am 25. Juli landete fie in dem
kleinen Hafen von Samanco an der Küſte von Peru,
und nachdem fie in zehntägigem Ritt die Küſten-
kordilleren überſchritten, erreichte ſie am 3. Auguſt das
wohlbekannte Tal von Huailas mit dem reizend ge-
legenen Yungay, wo nach kurzer Raſt die letzten Vor-
bereitungen für die geplante Beſteigung getroffen
wurden. Unter den ihr bereits bekannten Indianern
wurden alle, die ſich halbwegs bewährt hatten, als
Träger angeworben, und am 6. Auguſt begann der
Anſtieg mit einem Ritt nach Matarao, einer Goldmine,
die ungefähr 600 Meter höher liegt als Vungay.
Ihre beiden Führer gaben Fräulein Peck von
vornherein mancherlei Anlaß zur Unzufriedenheit, be-
ſonders dadurch, daß ſie trotz des ihnen völlig unbe—
kannten Gebiets ihre Anſichten und Erfahrungen immer
über die der Amerikanerin ſtellten und hartnäckig ihren
männlichen Willen auch da durchſetzten, wo einige
galante Nachgiebigkeit gegen die Vorſchläge der jungen
Dame dem Unternehmen zu weſentlichem Vorteil
gereicht haben würde. Fräulein Peck ſetzt den unbe-
friedigenden Ausgang des erſten Verſuches haupt—
ſächlich auf Rechnung dieſes ſtarrköpfigen Beſſerwiſſens,
und die Gründe, die ſie anführt, ſprechen dafür, daß
ihre Auffaſſung in der Tat keine ganz unberechtigte iſt.
gedenfalls aber ſchien das Unternehmen von Anfang
an nicht ſonderlich vom Glück begünſtigt. Der Trans-
port des für einen vieltägigen Aufenthalt in den denkbar
unwirtlichſten Regionen berechneten Gepäcks bereitete
gewaltige Schwierigkeiten; während der erſten Nächte
0 Von Rud. Hendrichs. 203
hatte die kleine Geſellſchaft ſehr empfindlich unter dem
eiſigen Sturmwind zu leiden, und nach zwei Tage—
märſchen mußte Fräulein Peck überdies die unliebſame
Entdeckung machen, daß ſie für ihren photographiſchen
Apparat verſehentlich Films von einem falſchen Format
mitgenommen hatte. Da ſie auf die photographiſchen
Aufnahmen, die gewiſſermaßen den dokumentariſchen
— —— —̃ͤ— m Sg
“|
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Führer und indianiſche Träger.
Beleg für ihre mit Sicherheit erhofften Erfolge bilden
ſollten, unter keinen Umſtänden verzichten wollte,
wurde einer der Indianer nach Vungay zurückgeſchickt,
um die richtigen Films zu holen, und die Fortſetzung
der Tour erfuhr durch das Warten auf feine Rückkehr
einen erheblichen Aufſchub.
Die außerordentlich dünne Luft der bereits erreichten
Höhe begann während der unfreiwilligen Raſt bald ihre
204 Die Inhaberin der Weltmeifterfhaft im Bergſport. u
nachteilige Wirkung zu äußern. Fräulein Peck ſelbſt
zwar hatte das unausbleibliche Unwohlſein ſchon am
erſten Tage ſiegreich überwunden, der ältere der beiden
Führer aber klagte mehr und mehr über unerträgliche
Kopfſchmerzen, die den mitgebrachten Arzneimitteln
ſo beharrlich Trotz boten, daß er ſich nach Verlauf eines
F Fi es.
Lagerplatz vor dem Betreten der Schneeregion.
weiteren Tages außerſtande erklärte, das begonnene
Unternehmen fortzuſetzen. Fräulein Peck mußte ihn
nach Vungay zurückkehren laſſen und ihre Hoffnungen
> T
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9 ) fe)
—
1 Von Rud. Hendrichs. 205
auf die größere Widerſtandsfähigkeit ſeines jüngeren
Gefährten ſetzen, der ſich in ehrgeizigem Selbſtver—
Auf der halben Hoͤhe bis zum Sattel.
trauen bereit erklärt hatte, das Wagnis allein auf ſich
zu nehmen.
Langſam rückte man etwas höher hinauf, bis der
nach den Films ausgeſandte Indianer endlich wieder
erſchien, mit erſchöpften Kräften, aber ſtrahlend vor
Stolz auf die muſterhafte Ausführung feines Auf-
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206 Die Inhaberin der Weltmeiſterſchaft im Bergſport. oı
trages. Die Films, die er brachte, hatten denn auch
das richtige Format, und ihrer Benützung ſtellte ſich
lediglich der dem wackeren Indianer unbekannt ge-
bliebene Umſtand entgegen, daß fie ſämtlich bereits zu
photographiſchen Aufnahmen gedient hatten. Er hatte
trotz der ausführlichſten Beſchreibung ein falſches Päd-
chen erwiſcht, und da an ſeine nochmalige Entſendung
nicht mehr zu denken war, mußte Fräulein Peck, wenn
auch ſchweren Herzens, für diesmal wohl oder übel
auf die bildlichen Belege ihres ſpäteren Reiſeberichts
verzichten.
Mit größerer Energie als bisher wurde der Aufſtieg
fortgeſetzt. Auf der halben Höhe bis zu der Einfatt-
lung zwiſchen den beiden Gipfeln ſtürzte ein mit Fräu-
lein Peck und dem Führer Gabriel durch das Seil
verbundener indianiſcher Träger in eine Gletfcher-
ſpalte, und als man ihn nach vielen Bemühungen
unverſehrt wieder zutage gefördert hatte, erwies ſich,
daß ſein Packen mit dem durchaus unentbehrlichen
Kochapparat auf dem Boden der Spalte zurückgeblieben
war. Es blieb alſo nichts anderes übrig, als den Führer
Gabriel hinabzulaſſen, und man mußte es als ein
großes Glück betrachten, daß ihm die Rettung des wich-
tigen Gepäckſtücks gelang, da man ſich ohne dasſelbe
in einer höchſt kritiſchen Lage befunden haben würde.
Diente doch der erwähnte Apparat hauptſächlich zur
Gewinnung des nötigen Trinkwaſſers aus geſchmolze-
nem Schnee.
Ze mehr man ſich nun der Einfattlung näherte,
deſto empfindlicher hatte auch der Führer von der
dünnen Luft zu leiden, und weil ihr naturgemäß ſehr
viel daran liegen mußte, ſeine Kräfte zu ſchonen, belud
ſich die unermüdliche Amerikanerin auch noch mit
einem guten Teil des ihm zugefallenen Gepäcks, eine
D
Von Rud, Hendrichs. 207
Menſchenfreundlichkeit, die ihr nach ihrer Verſicherung
durch allerlei verdrießliche Bemerkungen über ihr lang-
ſames Vorwärtskommen gelohnt wurde.
„Aber ich konnte leider nicht ſchneller,“ fügt ſie
der betreffenden
Stelleihrer Schil-
derung mit rüh-
render Beſchei-
denheit hinzu.
Die Zahl der
erſchreckend ſtei-
len Hänge, die
nach mühſeligem
Stufenſchlagen
erklommen, der
breiten und tie-
fen Spalten, die
auf meiſt ſehr
unzuverläſſigen
Schneebrüden
überſchritten
werden mußten,
war nach dem
Empfinden der
kühnen Amerifa-
nerin eine ſchier
unendliche. Hie
und da wollte an-
geſichts der im-
Der Punkt der Umkehr beim erſten
Verſuch.
mer neuen Hinderniſſe, die ſich drohend einem Weiter-
kommen entgegenſtellten, ſelbſt ihr unbeugſamer Mut
ein wenig ins Wanken geraten.
Viele der in Winkeln von 60 bis 80 Grad geneigten
Hänge konnten nur durch Aufſteigen in Zickzacklinien
208 Die Inhaberin der Weltmeiſterſchaft im Bergſport. m
überwunden werden, und die Stufen waren oft fo
weit voneinander entfernt, daß nach Fräulein Pecks
Angabe ihre beiden Beine dabei nicht ſelten eine bei-
nahe horizontale Linie bildeten. Namentlich ein letzter,
nahezu ſenkrechter Hang unterhalb des Sattels bereitete
den Aufſteigenden die entſetzlichſten Schwierigkeiten,
und man mag ſich unſchwer vorſtellen, wie erleichtert
die kühne Dame aufatmete, als es trotz alledem glüd-
lich gelungen war, den Sattel zu erreichen, wo für
eine kurze Raſt zum letzten Male das mitgeführte Zelt
aufgeſtellt wurde.
Da der ſüdliche Gipfel nach der beſtimmten Erklä—
rung des Führers abſolut unerſteiglich ſchien, mußte
man ſich für eine Bezwingung des nördlichen entfchei-
den. Die indianiſchen Träger, die ſich unter der ſach—
verſtändigen Leitung des Führers bis dahin äußerſt
wacker gehalten hatten, wurden auf dem Sattel
zurückgelaſſen, und Fräulein Peck machte ſich dann
allein mit dem Führer an die Überwindung des letzten
und bei weitem ſchwierigſten Teils ihrer denkwürdigen
Hochtour.
Ein paar Stunden lang leiſteten beide das Men-
ſchenmögliche, dann aber begannen die Kräfte des
Führers zuſehends zu ſchwinden. Nachdem er auf eine
Frage ſeiner Begleiterin erklärt hatte, daß ſie noch
mindeſtens zwei Stunden brauchen würden, um den
Gipfel zu erreichen, fügte er hinzu, daß er für die Mög-
lichkeit eines glücklichen Abſtiegs nach dieſer noch vor
ihnen liegenden Strapaze keine Verantwortung mehr
übernehmen könne. Sein Ausſehen ſprach noch deut-
licher als ſeine Worte für den körperlichen Zuſtand,
in dem er ſich befand, und da ſich Fräulein Peck ver-
nünftigerweiſe ſagte, daß ſelbſt die Aufſtellung eines
Weltrekords im Bergſteigen mit dem Opfer ihres eige—
2 Von Rud. Hendrichs. 209
nen oder eines anderen Menſchenlebens etwas zu teuer
bezahlt ſein würde, erklärte ſie nach kurzem, ſchwerem
Kampfe, daß ſie unter ſolchen Umſtänden bereit ſei, in
EN —
——— —
III
beim Überſchreiten eines faft
ſenkrechten Eishanges.
die Umkehr ſo kurz vor erreichtem Ziele zu willigen. In
der Stille ihres Herzens hegte ſie dabei freilich noch eine
ſchwache Hoffnung, daß längere Erholung in dem
1910. 1. 11
210 Die Inhaberin der Weltmeiſterſchaft im Bergſport. 1
auf dem Sattel wartenden Schlafzelte den ſchlapp
gewordenen Führer befähigen würde, den Gipfel-
aufſtieg noch einmal mit beſſerem Erfolge zu verſuchen.
Aber dieſe Hoffnung ſollte ſich nicht erfüllen. Die
furchtbaren ſeeliſchen und körperlichen Anſtrengungen
des Weges, der bis zur Wiedererreichung des Sattels
in beſtändiger höchſter Lebensgefahr zurückgelegt wer-
den mußte, brachten ihn der völligen Erſchöpfung ſo
nahe, daß er auch nach vielſtündigem Schlafe einer
Aufforderung zu nochmaligem Aufſtieg die entſchiedenſte
Weigerung entgegenſetzte. Außerdem waren die mit-
geführten Nahrungsmittel beinahe erſchöpft, und es
blieb deshalb nichts anderes übrig, als ſich endgültig
zur Umkehr zu entſchließen, nachdem man nicht
weniger als neun Tage und Nächte auf dem Berge
zugebracht hatte. |
In Vungay hatte man die allzu verwegene Berg-
ſteigerin bereits verloren gegeben, da es nicht mehr
möglich geweſen war, ihre Bewegungen mit dem Fern—
glaſe zu verfolgen. Eine Rettungserpedition unter dem
gleich im Anfang zurückgelaſſenen Führer kam ihnen
auf dem letzten Viertel ihres Abſtiegs entgegen, und
in dem freundlichen Städtchen herrſchte eitel Jubel
über die glückliche Abwendung einer ſchon als ſicher
angenommenen Kataſtrophe, die ſogar in Form einer
feſtſtehenden Tatſache bereits in alle Welt hinaus—
telegraphiert worden war.
Unter hundert Sterblichen würden ſicherlich min-
deſtens neunundneunzig nach ſolchen Erfahrungen die
Bezwingung des Huaskaran wenigſtens fürs erſte als
ein ausſichtsloſes Unternehmen aufgegeben haben.
Fräulein Peck aber war von vornherein feſt entſchloſſen,
ſich nicht mehr als die allernotwendigſte Erholung bis
zum Beginn eines neuen Verſuches zu gönnen, und
2 Von Rud. Hendrichs. 211
da ſie ſie bei ihrer Führerehre zu faſſen wußte, gelang
es ihr, auch die beiden etwas beſchämten Führer mit
ihrer Unternehmungsluſt anzuſtecken. Genau zehn
Tage, nachdem fie wieder in Vungay angekommen
war, machte ſie ſich mit einer inzwiſchen beſchafften
Das letzte Zeltlager auf dem Sattel unterhalb des Gipfels
(6000 Meter).
neuen Ausrüſtung und einer vermehrten Träger—
begleitung abermals auf den Weg.
Das Vorwärtskommen wurde ein wenig dadurch
erleichtert, daß die beim erſten Aufſtieg geſchlagenen
Stufen zum großen Teil wieder benützt werden konnten.
Dafür aber gab es eine nicht geringe Anzahl neuer
Zwiſchenfälle, die mehr als einmal das Gelingen des
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212 Die Inhaberin der Weltmeiſterſchaft im Bergſport. 1
waghalſigen Unternehmens ernſtlichſt in Frage ſtell—
ten. Die eiſerne Energie der Amerikanerin aber
half über alle Schwierigkeiten hinweg, und die bei—
den Führer wußten glänzend die Scharte des erſten
Mißerfolgs auszuwetzen. In erheblich kürzerer Zeit als
—— — —
Der Nordgipfel des Huaskaran.
bei dem erſten, fehlgeſchlagenen Verſuche wurde die
Einſattlung und von ihr aus bei heftigſtem Sturm und
wildem Schneetreiben auch die Spitze des nördlichen
Gipfels erreicht.
Über die Maßen ſchmerzlich aber war es für Fräu—
lein Peck, daß auf der Höhe trotz der mitgeführten vor—
trefflichen Apparate genaue Meſſungen durch die
Ungunſt der Witterung unmöglich gemacht wurden.
Die Amerikanerin mußte ſich damit begnügen, feſtzu—
le
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1 Von Rud. Hendrichs. 213
ſtellen, daß der Boden der Einſattlung 6100 Meter
über dem Meere liegt und daß die ziemlich ſichere
Schätzung der Gipfelerhebung über dem Sattel für
den Huaskaran eine Geſamthöhe von 7200 bis 7300 Meter
ergibt, wobei ſie geneigt iſt, der letzteren Zahl als der
wahrſcheinlich richtigen den Vorzug zu geben.
Auf dem Abſtieg vom Gipfel gab es den kritiſchſten
Augenblick der ganzen Tour. Aus Furcht vor einem
Erfrieren der Füße hatte man ſich nicht mit Klettereiſen
ausgerüſtet, und es konnte darum geſchehen, daß der
an der Spitze gehende Führer Gabriel ausglitt und die
ihm folgende Amerikanerin über ein ſteil abfallendes
Schneefeld mit ſich riß, bis das lockere Seil ſich in jähem
Ruck ſtraffte. Dieſen Ruck hatte der den Beſchluß
bildende Führer Rudolf allein auszuhalten. Aber wenn
es ihm auch gelungen war, das Seil um den raſch in
den Schnee geſtoßenen Eispickel zu ſchlingen, ſo hatte
er doch das Unglück gehabt, zwei Finger in eine Seil-
ſchlinge zu bringen, die ihm nun auf die ſchmerzhafteſte
Weife gequetſcht wurden. Trotzdem hielt er aus, bis
es dem erſten Führer möglich geworden war, wieder
feſten Fuß zu faſſen, und feiner kaltblütigen Stand-
haftigkeit allein hatten die beiden San ihr Leben
zu danken.
Fräulein Peck ſpricht von dieſem Abſtieg wie von
einem grauenhaften Traum, aus dem fie nie mehr
zu einer glücklichen Wirklichkeit zu erwachen gehofft
habe. Die Gunſt des Schickſals aber blieb ihr treu.
Sämtliche Teilnehmer langten glücklich wieder im Tale
an, und einzig der Führer Rudolf hatte das abenteuer-
liche Unternehmen mit einigen erfrorenen Fingern
und Zehen zu bezahlen, die ihm trotz der ſorgfältigſten
ärztlichen Behandlung nicht erhalten werden konnten.
EA EA
Mannigfaltiges.
(Nachdruck verboten)
Der Verlobungsring. — Der 1830 aus Braunſchweig
vertriebene Herzog Karl war nicht allein der Beſitzer einer
großen Diamantenſammlung, er hatte auch den Ruf, ein aus-
gezeichneter Kenner dieſer edlen Steine zu ſein. Eines Tages
traf der Herzog im Kurhauſe zu Baden- Baden mit einem Herrn
zuſammen, an deſſen Hand er einen Ring ſah, der ſeine ganze
Aufmerkſamkeit erregte, weshalb er ihn bat, den Diamanten
an ſeinem Finger näher prüfen zu dürfen.
„Sie belieben zu ſcherzen,“ ſagte der Herr, „ich bin nicht
in der Lage, echte Diamanten tragen zu können.“
„Ich verſichere Sie, daß ich Sie nicht beleidigen wollte,
und Sie können mir glauben, der Ring, den Sie da tragen, iſt
ein Brillant vom reinſten Waſſer.“
Der Herr zog den Ring vom Finger und ſagte, ihn dem
Herzog reichend: „Überzeugen Sie ſich ſelbſt, mein Herr!
Es iſt nur eine der täuſchenden Nachahmungen zum Bühnen-
gebrauch und wurde mir von einer Kollegin, die hoffentlich
bald meine Frau ſein wird, als Verlobungsring geſchenkt.
Er koſtet zehn Franken, Herr. Ich ging ſelbſt mit ihr, um ihn
zu kaufen, und wählte ihn aus hundert anderen ebenſo glän-
zenden Ringen aus.“
Der Herzog hielt den Ring ans Licht, beſchattete ihn dann
mit der Hand, unterwarf ihn allen gewöhnlich von Kennern
angeſtellten Proben und ſagte: „Meine Meinung bleibt unver—
ändert, und ich gehe für jede Summe eine Wette ein, daß ich
recht habe. Dieſer Diamant iſt von großem Wert.“
„Mein Herr,“ erwiderte der andere, „ich bin nur ein unter—
geordneter Schauſpieler und kann keine Wette bezahlen, wenn
ich ſie verliere; aber ich will beweiſen, was ich Ihnen geſagt
2 Mannigfaltiges. 5 215
habe. Sie ſind mir unbekannt. Mein Ring, ſagen Sie, iſt
von hohem Wert. Nehmen Sie ihn mit, unterwerfen Sie ihn
Schätzungen anderer Kenner, und wenn Sie gefunden haben,
daß mein Zehnfrankenring nur Glas iſt, ſo geben Sie ihn mir
morgen um dieſe Zeit wieder, um meiner kleinen Quftine,
meiner Verlobten, willen.“
Damit übergab er dem NER den Ring, machte eine
kurze Verbeugung und entfernte fich.
Der Herzog hatte ſich aber nicht getäuſcht. Auch Louis
Emanuel, der bekannte Diamantenhändler aus Hamburg, der
ſich gerade in Baden-Baden befand, erklärte den Stein für
mindeſtens zehntauſend Franken wert.
Der arme Schauſpieler erblaßte, als ihm der Herzog das
Reſultat ſeiner Forſchungen mitteilte und ihn bat, ihm den
Ring für zehntauſend Franken zu überlaſſen.
„Sie find ſehr gütig, mein Herr,“ erwiderte der Schau-
ſpieler, „und werden ſich vielleicht eine ſchlechte Meinung von
meinem Verſtande bilden, wenn ich zögere, Ihr Gebot an—
zunehmen und zwar aus folgendem Grunde. Zch ſagte Ihnen,
der Ring ſei das Geſchenk meiner Braut Fuſtine. Sie könnte
mich tadeln, wenn ich mich ohne ihre Zuſtimmung von ihrem
Geſchenk trenne. Wenn Sie mir erlauben wollen, an fie nach
Paris zu ſchreiben und ihre Antwort abzuwarten, ſo ſoll der
Ring, falls fie einwilligt, Ihnen gehören. Inzwiſchen heben
Sie ihn auf und prüfen Sie, wenn möglich, Ihre Meinung,
denn ich kann noch immer nicht an mein Glück glauben.“
Der Herzog willigte ein, Bewahrer des Ringes zu bleiben,
nachdem er dem Beſitzer einen ſchriftlichen Empfangsſchein
ausgeſtellt hatte.
Als dieſer des Herzogs Unterſchrift ſah, wurde der arme
Menſch ganz überwältigt von der Ehre, die ihm zuteil geworden
ſei, und ſtammelte eine Menge von Entſchuldigungen für die
Freiheiten, die er ſich im Geſpräche herausgenommen habe.
Der Herzog entließ ihn ſehr gnädig, und der Schauſpieler
verſprach, ſofort an feine vielgeliebte Juſtine zu ſchreiben.
In wenigen Tagen erhielt er bereits ihre Antwort, aber
nicht durch die Poſt, ſondern durch die Vermittlung ihres
216 Mannigfaltiges. a
Großvaters, der ſelbſt von Paris nach Baden-Baden gereift
war, um die Einwilligung zum Verkauf des Ringes zu über-
bringen.
Noch an demſelben Tage klimperten fünfhundert gewichtige
Louisdor in des Schauſpielers Taſche zum Austauſch für
den Zehnfrankenring der kleinen Zuftine,
„Hier iſt auch noch das Etui, welches man uns mit dem
Ring gab,“ ſagte der bisherige Beſitzer, indem er den Ring voin
Tiſch nahm, ihn zärtlich an ſeine Lippen preßte und dann in
das kleine Etui legte, welches er dem Herzog zurückgab.
Der Herzog klappte es zu und ſteckte es in die Taſche, in-
dem er den Schauſpieler gnädig verabſchiedete.
Am nächſten Morgen lud der Herzog die Prinzeſſin A., die
Komteſſe v. L. und den Marquis M. ein, feinen neuen Dia-
manten zu begutachten. Als dieſer zum Vorſchein kam, ver-
mochte der Herzog kaum ſeinen Augen zu trauen: der Ring war
derſelbe in Größe und Faſſung, aber der Stein war Glas,
reines Glas.
Der Herzog ſchickte ſofort nach dem Schauſpieler, aber dieſer
war mit den fünfhundert Goldfüchſen des Herzogs jpur-
los verſchwunden, begleitet von Juſtines ehrwürdigem Groß-
papa.
Der Schwindel war klar genug. Der angebliche Schau—
ſpieler und ſein Spießgeſelle hatten von der Leidenſchaft des
Herzogs für Diamanten gehört und zuſammengelegt, um
einen Stein von hoher Schönheit zu kaufen. Dieſen unter-
ſuchte und kaufte der Herzog. Aber „Zuftines ehrwürdiger
Großvater“ war mit einer genauen Nachahmung des nämlichen
Diamanten zu Hilfe gekommen, und der angebliche Bräutigam
tauſchte ihn bei dem zärtlichen Kuß, den er darauf drückte,
gegen den echten aus. E. T.
Die Bedeutung des Errötens. —
„Mit züchtigen, verſchämten Wangen
Sieht er die Jungfrau vor ſich ſtehn.
Errötend folgt er ihren Spuren
Und iſt von ihrem Gruß beglückt.“
2 Mannigfaltiges. 217
So preiſt Schiller im „Lied von der Glocke“ die unſchuldsvolle
Schamröte der Jungfrau und des Zünglings in den Entwick-
lungsjahren. Es iſt dies eine ganz natürliche Erſcheinung,
deren Fehlen ſogar meiſt als ein ſchlechtes Zeichen der mora-
liſchen Eigenſchaften angeſehen wird.
Das Erröten beruht auf einer plötzlichen Wallung des
Blutes nach den Hautgefäßen. Erregungen des Gehirns durch
Scham, Zorn, Schuldbewußtſein lähmen die Nerven, welche
in der Wandung der kleinen Gefäße endigen, wodurch die
Muskelfaſern dieſer Gefäße erſchlaffen, die dann infolge des
Blutdruckes ſich ausdehnen und reich mit Blut füllen. Ver-
bunden damit iſt meiſt Hitzegefühl im Geſicht, Herzklopfen
und ſchnellerer Pulsſchlag. Auch künſtlich kann man die holde
Schamröte hervorzaubern durch Einatmen von Amylnitrit oder
ſalpetrigſaurem Amyloxyd, welches ſchon in geringen Mengen
faft unmittelbar nach dem Einatmen durch Erweiterung der
Blutgefäße ſtarke Rötung und Hitzegefühl verurſacht. Jedoch
ſei vor dieſem Mittel gewarnt, da bei öfterem Gebrauch leicht
Ohnmachten ſich melden.
In ſpäteren Jahren, wenn eine geringere Erregung des
Nervenſyſtems und größere Ruhe gegenüber den Ereigniſſen
des täglichen Lebens ſich einſtellen, pflegt Erröten nur ſelten
einzutreten. Wenigſtens beim Manne bildet es dann ein
Zeichen von Schwäche, Schüchternheit, Weichlichkeit. Man
findet es beſonders bei Tuberkulöſen und Nervöſen.
Aber auch durch das ganze Leben hindurch kommt bei
manchen Perſonen in krankhafter Weiſe aus nichtigen Gründen
Erröten vor. Der bekannte Kriminaliſt Doktor Groß ſagt von
ſich: „Ich ſelbſt gehörte nicht bloß als Kind, ſondern weit über
die Studentenjahre hinaus zu den Unglücklichen, die auch
ſchuldlos glührot werden konnten; ich durfte nur von irgend
einer Schandtat hören, von Stehlen, Rauben, Morden, fo
meinte ich, ein Anweſender könnte glauben, daß auch ich einem
derartigen Laſter fröne, und ich wurde blutrot.“
Solche Leute ſind im Leben ſehr übel daran. Es geht dies
am beſten aus folgender ärztlichen Schilderung hervor. Ein
Herr empfand ſchon in ſeiner Jugend Furcht vor Erröten,
218 Mannigfaltiges. 2
wich jeder Geſellſchaft aus und ging allen Bekannten möglichſt
aus dem Wege. Später ſtellte ſich das Leiden in verſtärktem
Maße ein. Wenn er eine bekannte Perſon auf der Straße
kommen ſah, bemächtigte ſich ſeiner ein eigentümliches Gefühl
von Schüchternheit und Furcht, er könne bei der Begegnung
rot werden. Deshalb blickte er ſeitwärts in ein Schaufenſter
oder betrachtete irgend ein Gebäude. Aber es kam ihm vor,
als ob die ſich nähernde Perſon ihn fixieren würde. Dann
fühlte er um ſo größere Unruhe und wurde glühendrot. Deſſen
war er ſich ſtets bewußt, aber trotzdem konnte er ſich der un-
begründeten Furcht vor dem Erröten nicht erwehren. In der
Anterhaltung fürchtete er ſtets, etwas Törichtes zu ſagen und
ſich lächerlich zu machen.
Solche Perſonen grübeln dann über ihren Zuſtand nach,
ärgern und ſchämen ſich und verfallen in melancholiſche Stim-
mung. Oft nehmen ſie ihre Zuflucht zum Alkohol, der ihnen
Mut verſchaffen ſoll. Weichliche Gemüter werden durch die
unaufhörliche Wiederkehr des Anfalles förmlich zur Ver-
zweiflung getrieben, ziehen ſich von aller Geſellſchaft zurück
und denken ſchließlich ſogar an Selbſtmord.
In allen dieſen Fällen handelt es ſich um eine krankhafte
Reizbarkeit des Nervenſyſtems, die durch unglückliche Lebens-
verhältniſſe oder ſchlechte Lebensführung entſtanden iſt, aber
auch durch Vererbung erworben ſein kann. So iſt ein Fall
bekannt, wo dieſe „Errötungsfurcht“ ſich mit einer einzigen
Ausnahme auf ſämtliche Kinder in einer Familie, ſowie auf
den Vater und ſeine Schweſtern erſtreckte.
Man darf alſo im täglichen Leben dem Erröten nicht ſo viel
moraliſche Bedeutung beimeſſen. So manches ganz unſchuldige
Kind wird rot bei dem ſtrengen Verhör des Lehrers vor der
ganzen Klaſſe oder bei den drohenden Worten des Vaters.
Zu leicht heißt es dann zu dem eingeſchüchterten Kinde: „Du
wirſt rot, dein Schuldbewußtſein verrät dich!“ Vor dieſem
Trugſchluſſe müſſen ſich alle Erzieher hüten, denn er bildet eine
pädagogiſche Verſündigung und ruft beim Kinde Trotz und
Verſtocktheit hervor. Ebenſo verhält es ſich mit dem Erröten
einer vor Gericht vernommenen Perſon. Namentlich Leute,
2 Mannigfaltiges. 219
die zum erſten Male vor Gericht kommen, erröten und erblaffen
viel leichter als ſolche, die dies gewöhnt ſind.
Erzieher, Richter und — Verliebte mögen dem Erröten
alſo nie zu große Bedeutung beimeſſen! Dr. G. Th.
Neue Erfindungen. Der Handlöſcher „Alpha“.
— Auf dem Gebiet des Feuerlöſchweſens werden täglich neue
Apparate aller Art konſtruiert, um a
nicht nur den Herd des ausbredhen-
den Feuers einzudämmen, fon-
dern auch letzteres endgültig zu
löſchen. Als eine hervorragende
Neuheit bringt die Alpba-Appa-
ratebau- und Vertriebsgeſellſchaft
m. b. H. in Hamburg, Rathaus-
ſtraße 2, einen Handfeuerlöfchap-
parat in den Handel, der außer-
ordentlich vereinfacht iſt. Viele alten
Syſteme, welche auf Säureent⸗
wicklung beruhen, werden durch
dieſen neuen Apparat weit in den
Schatten geſtellt. Ein trockenes
Löſchpulver, welches in Waſſer auf-
gelöft wird, wird durch eine Kohlen-
ſäurepatrone aus der Kapſel hervor-
getrieben und genügt, einen großen
Brand zu löſchen. Die Entla— , 5
dung iſt außerordentlich einfach Der Handloſcher
und praktiſch, fo daß jeder Laie, „Alpha“.
ſelbſt ein Kind imftande iſt, den Apparat zu entladen. Jeder
Apparat iſt mit einem Metall- oder Gummiſchlauch verſehen,
womit jede Höhe erreicht werden kann. Der Apparat iſt ſehr
zuverläſſig und für jede Perſon ungefährlich.
Außer dieſem Alpha-Handlöſcher wird noch eine beſondere
Spezialtype für Schulen, Erziehungsanſtalten uſw. hergeſtellt.
Dieſe zeichnet ſich durch beſonders einfache Handhabung aus
und enthält, um jede Unklarheit bei dem Gebrauch des Apparates
von vornherein zu beſeitigen, in deutſcher Schrift ausgeführte
220 Mannigfaltiges. 2
Anweiſungen, die ſo kurz und trotzdem ſo klar abgefaßt ſind, daß
jeder Menſch ſofort begreifen kann, wie der Apparat zu be—
nützen iſt.
II. Stopfapparat „Magic Weaver“. — Ver-
zweifelt ſehen die vielgeplagten Hausfrauen auf den vollen
Stopfkorb nieder, denn die mühſeligen, langweiligen und
Der Handlöfher im Gebrauch.
2 Mannigfaltiges. 221
. ſ......ñ?;?—— — — — — — — —ʃ — — — — — ——
zeitraubenden Stopfarbeiten wollen kein Ende nehmen. Hier ſchafft
ein neuer Apparat die längſt erſehnte Abhilfe, da „Magie Weaver“
(Wunderweber), durch die Firma Richard Ackermann in Gößnitz
S.-Altenb. in den Handel gebracht, für Mädchen wie Frauen
von großem Vorteil und praktiſcher Verwendbarkeit iſt, ein höchſt
rielſeitiger Heiner Apparat, mit welchem Strümpfe, Leinen
zeug uſw. ganz ſelbſtändig, ſchnell und wunderſchön gleichmäßig
wie neu gewebt wiederhergeſtellt werden können. Der zu
ſtopfende Gegenſtand wird auf der flachen Seite des Stopf-
holzes mittels des Ringes
fo eingeſpannt, daß die be-
ſchädigte Stelle die Mitte
einnimmt. Die Appa-
ratenteile werden ſodann,
die Nadel ſeitwärts ge-
nommen, je nach Bedarf
der Größe der ſchadhaften
Stelle in die Filzdecke des
Stopfholzes einander ge-
genübergeſteckt, und zwar 15
der mit B bezeichnete F
Teil, „Webehaten“ ge- S
nannt, nach oben, der AJ S
zweite Teil C, „Rontra- n
haken“ genannt, etwas Stopfapparat „Magic Weaver“.
unter der ſchadhaften
Stelle. Wie webt man nun damit? Man drückt mit dem Daumen
die Webehaken etwas in die Höhe und ſchiebt bzw. zieht die Nadel
verkehrt genommen, damit ſich die Wolle nicht ſpalte, ſtets oben
an den Webehäkchen zwiſchen die Kettenfäden durch, die
Nadel gleichzeitig, bevor dieſe hinausgezogen wird, an den
unteren Rontrahaten feſt anſchiebend, wodurch das Gewebe
dicht wird; man befeſtigt den Faden mit einem kleinen Stiche
an der Seite, wendet die Webehäkchen und fährt ſo fort, indem
man nach jeder Fadeneinlage abwechſelnd die Häkchen umdreht,
bis der Gegenſtand vollſtändig ausgefüllt iſt. Nachdem die
Teile ausgehakt ſind, werden die Endteile in gewöhnlicher Weiſe,
N N
r
= e
— 1. 1
HUN
222 Mannigfaltiges. 0
am beiten überwendlich, vernäht. Man erreicht mit dieſem
„Magic Weaver“ -Stopfapparat Augenſchonung, Zeiterſparnis,
Haltbarkeit, Schönheit und Gleichmäßigkeit der Arbeit in auf-
fallender Weiſe.
In der Zerſtreutheit. — Einer der Statthalter von Pa-
läftina zur Zeit des römiſchen Kaiſerreichs war Salvius Flagellus,
ebenſo bekannt durch ſeine Freude an den Wiſſenſchaften als
durch ſeine Zerſtreutheit. Als einmal eine größere Anzahl
Kriegsgefangene hingerichtet werden ſollten, ließ Salvius
Flagellus dieſe auf dem Markte von Zerufalem in langer Reihe
aufſtellen. Sie ſollten als abſchreckendes Beiſpiel durch eine Ab-
teilung römiſcher Bogenſchützen erſchoſſen werden, doch hatte
Flagellus vorher den Offizier, der die Bogenſchützen befehligte,
verſtändigt, daß man auf ein Zeichen von ihm mit der Exekution
aufhören und dem Refte der Gefangenen das Leben ſchenken ſolle.
Zum Unglück der Gefangenen erregte die Sonne, die ſich in einem
auf der Erde liegenden Glasſplitter mit ihren Strahlen brach
und ein beſonderes Farbenſpiel abgab, die Aufmerkſamkeit
des Statthalters, der der Hinrichtung beiwohnte. Er vertiefte
ſich in Gedanken über die wunderbare Erſcheinung der Brechung
des Lichtes und vergaß darüber feine Umgebung fo vollkommen,
daß er es unterließ, dem Offizier das Zeichen zur Beendigung
der Exekution zu geben. Erſt als ihm dieſer meldete, daß
ſämtliche Gefangene tot ſeien, fand er ſich in die Wirklich-
keit zurück und verließ nach einem zerſtreuten Blick au die
Reihe der Leichen den Marktplatz.
Von dem franzöſiſchen Dichter Voltaire, dem Freunde
Friedrichs des Großen, wird eine Geſchichte erzählt, die ebenfalls
von der zeitweiſen Geiſtesabweſenheit des großen Franzoſen,
aber ebenſo auch von deſſen berüchtigter Anmaßung ſpricht.
Voltaire hatte die Angewohnheit, ſeine Gedanken, gleichviel
wo er ſich befand, zu Papier zu bringen. Zu dieſem Zwecke
trug er ſtets ein Büchlein bei ſich, in dem er beſonders klangvolle
Reime und geiſtreiche Einfälle vermerkte. Bei einem Hoffeſte
im königlichen Schloſſe in Berlin ſaß bei der Tafel rechts
von Voltaire die durch ihre Schönheit und Anmut bekannte
Fürſtin R., während zur Linken des Dichters der General
2 Mannigfaltiges. 223
v. Seydliß feinen Platz hatte. Voltaire, der ſich bis dahin ſehr
lebhaft nach beiden Seiten unterhalten hatte, verſtummte
plötzlich, zog ſein Büchlein hervor und begann zu ſchreiben.
Minuten vergingen, und die neben ihm Sitzenden verhielten
ſich aus Reſpekt vor dem berühmten Manne vollkommen ruhig,
um ihn nicht zu ſtören. Schließlich dauerte dieſe Pauſe der
lebhaften Fürſtin R. aber doch zu lange, und ſie wandte ſich
wiederholt mit der Frage an Voltaire, was er ſich denn da
aufſchreibe. Dieſer war aber ſo ſehr in ſeine Arbeit vertieft,
daß er nichts hörte.
Da fühlte ſich Seydlitz verpflichtet, ihn aufmerkſam zu
machen. Er ſtieß den Oichter leiſe an und flüſterte ihm zu:
„Geben Sie acht, die Fürſtin ſpricht zu Ihnen.“
Voltaire ſchaute den General zerſtreut an und erwiderte
laut: „Aber was geht das mich an!“
Erſt das ſchallende Gelächter der Umſitzenden zeigte ihm,
wie ungalant er geweſen war.
Der Phyſiker Zſaak Newton ſaß an einem ſehr kalten
Winterabend leſend in feinem Zimmer und fror ſtark. Er be-
fahl daher zu heizen und rückte ſeinen Seſſel dicht an den Kamin,
in dem eine Menge Holz aufgeſchichtet lag. Als ſich das Feuer
allmählich immer mehr entfacht hatte und die Hitze den Ge-
lehrten arg zu beläftigen begann, rief er nach feinem Diener,
der aber erſt nach einer Weile erſchien. Newton war beinahe
geröſtet. „Nimm den Kamin fort, du Faulpelz!“ rief er mit unge-
wöhnlicher Gereiztheit und ſtampfte ärgerlich mit dem Fuße auf.
„Aber Herr,“ entgegnete der Diener mit leiſem Lächeln,
„könnten Sie nicht eher Ihren Stuhl zurückziehen?“
„Auf mein Wort,“ ſagte Newton, jetzt erſt völlig zur Beſinnung
kommend, und nickte dabei dem Diener freundlich zu, „daran
habe ich wirklich nicht gedacht.“ W. K.
Königin Viktoria von England als Klavierſchülerin. —
Die Großmutter unſeres Kaiſers war eine begeiſterte Verehrerin
der Muſik und ſelbſt ausübende Künſtlerin. Der berühmte
Lablache war ihr Geſangslehrer und hat auch mit der Königin
zuſammen verſchiedene Duette im engſten Geſellſchaftskreiſe
geſungen. Alle bedeutenden Künſtler erhielten von der Königin
224 Mannigfaltiges. 0
Einladungen zu den Konzerten auf den Schlöſſern Windſor und
Balmoral. Über alle Neuerſcheinungen auf dem Gebiet der
Muſik war die Königin Viktoria genau unterrichtet, auch der
Muſik Richard Wagners hat fie großes Intereſſe entgegen-
gebracht. Bei einem Hofkonzert begleitete ſie ſogar bei einem
Liede die berühmte Jenny Lind am Klavier.
Reizend iſt eine Jugendepiſode aus dem Leben der Königin,
die in ihren Kinderjahren dem Üben am Klavier wenig Neigung
entgegenbrachte. Als eines Tages die Prinzeſſin ihre Ton-
leiter üben ſollte, konnte die Muſiklehrerin den Schlüſſel zum
„Inſtrument nicht finden. Alles Suchen war vergeblich. End-
lich fragte die Lehrerin ihre Schülerin nach dem Verbleib des
Schlüſſels.
O,“ ſagte die Prinzeſſin, „der Schlüſſel iſt in meiner
Taſche. Ich werde ihn aber auf keinen Fall herausgeben,
denn ich habe jetzt keine Luſt, langweilige Tonleitern zu
ſpielen.“
In ernſtem Tone erklärte die Lehrerin: „Prinzeſſin, Sie
haben den Schlüſſel ſofort herauszugeben!“
„Fällt mir gar nicht ein! Einſt werde ich die Königin von
England ſein, und darum werde ich tun und laſſen, was ich will.“
Die Lehrerin erklärte nun der Prinzeſſin, wie falſch ihre
Anſicht ſei. Jeder Menſch habe die Pflichten zu erfüllen, die
das Leben an ihn ſtellt, und je höhergeſtellt ein Menſchenkind
ſei, um ſo größer ſeien auch die Pflichten, die es zu erfüllen hätte.
Da trat die Prinzeſſin an das Klavier heran, ſchloß es auf,
klappte aber den Deckel des Inſtrumentes ſofort wieder zu und
ſagte: „So, nun habe ich meine Pflicht erfüllt. Wenn ich aber
einmal Königin bin, werde ich mich auch einer Pflicht erinnern,
und zwar der, mein armes Volk nicht mit Klavierſpielen zu
plagen. Davor werde ich es zu ſchützen wiſſen!“
Damit ließ fie die Muſiklehrerin ſtehen und ſprang da—
von. A. M.
Entſtehende Sonnen. — Nach der Theorie von Laplace
ſind unſere Erde und die übrigen Planeten durch die Abkühlung
und Verdichtung feuerflüſſiger Gasmaſſen entſtanden, nachdem
dieſe von der Sonne ausgeſtoßen worden waren. Laplace
0 Mannigfaltiges. 225
ſtützte ſeine Theorie auf den gegenwärtigen Zuſtand unſerer
Sonne, die, wie wir jetzt durch die Spektralanalyſe wiſſen, ja
im weſentlichen aus ſolchen Maſſen beſteht, und er wies ferner-
hin auf die Beſchaffenheit unſerer Planeten hin, von denen
noch heute verſchiedene glühende Körper darſtellen.
Eine gewichtige Beſtätigung hat dieſe Auffaſſung durch die
Der Spiralnebel in den Jagdhunden.
erſt in neuerer Zeit verfeinerte Erforſchung der Nebelflecke ge-
funden, die uns einen weiteren wichtigen Schritt in unſerer
Erkenntnis über die Entſtehung des Weltalls tun laſſen. Denn
dieſe ſchimmernden, wolkenartigen Gebilde geben uns eine
Vorſtellung, welchen Entwicklungsgang unſere Sonne einſt vor
unzähligen Millionen von Jahren durchlaufen hat. Nach dem
neuen Generalkatalog von Dreyer und feiner Ergänzung wer-
den jetzt 9569 Nebelflecke gezählt.
1910. I. 15
226 Mannigfaltiges. a]
Diefe Bereicherung unſeres Wiſſens über die Zahl der
Nebelflecke verdanken wir der Photographie, durch die eine
lange Reihe von Nebelflecken entdeckt wurde, die durch das
Teleſkop überhaupt nicht oder doch nur unſicher wahrzunehmen
ſind. Zugleich aber hat uns auch die Photographie über die
Geſtalt und Bewegung der Nebelflecke nähere Auskunft gegeben.
Der Spiralnebel im Großen Bär.
Über ihre Zuſammenſetzung dagegen belehrt uns das Spektro—
ſkop, das zeigt, daß ſie aus rieſengroßen, glühenden Gasmaſſen
gebildet werden.
Im Gegenſatz zu den Sternen, die ſich in der Nähe der
Milchſtraße beſonders dicht zuſammendrängen, find die Nebel-
flecke dort ſelten. Am häufigſten vertreten ſind ſie auf der
nördlichen Halbkugel im Sternbild der Jungfrau, während
a Mannigfaltiges. 227
fie auf der ſüdlichen Halbkugel eine dichte Maſſe in den foge-
nannten Magellaniſchen oder Kapwolken bilden. n
Man unterſcheidet verſchiedene Formen von Nebelflecken.
Die intereſſanteſten von ihnen ſind die Spiralnebel, die uns
erkennen laſſen, daß ihre glühenden Gasmaſſen mit einer Aus-
dehnung von Billionen von Kubikkilo metern in einer ſpiraligen
Umdrehung begriffen find. Unter den Spiralnebeln iſt bejon-
ders merkwürdig der in den Jagdhunden. Dr. Roſſe beſchrieb
ihn nach dem Befund in ſeinem Spiegelteleſkop als ein leuch-
tendes, ſchneckenartig gewundenes Tau, deſſen unebene Win-
dungen im Mittelpunkt und nach außen hin von körnigen
Knoten durchſetzt find. Die neueſten photographiſchen Auf-
nahmen zeigen, daß die Spirale aus zwei Zweigen gebildet
wird, von denen der eine weit nach Süden ausſchwingt und
ſich an ſeinem Ende kugelartig zuſammenballt. Wir erkennen
alſo ſchon an dieſem Spiralnebel an einigen Punkten das
Beſtreben nach Verdichtung.
Eine weitere Stufe in dieſem Entwicklungsprozeß führt
uns der Spiralnebel im Großen Bär vor. Auch dieſer Spiral
nebel beſitzt noch zwei Zweige, aber der Mittelpunkt, um den
ſich die Zweige drehen, iſt ſchon bei weitem dichter und ab-
geſchloſſener. Wie ſich dann dieſer Entwicklungsgang fernerhin
fortſetzt, darüber belehren uns die ſogenannten planetariſchen
Nebelflecke. Sie erſcheinen im Fernrohr als matte Scheiben
von geringem Durchmeſſer, die noch von einem feinen Nebel-
ſchleier umgeben ſind. Dieſe letzteren Nebelflecke ſind demnach
dem Zuſtand ganz nahe, in dem ſich unſere Sonne heute
befindet, und fie bilden damit das Übergangsglied zu den Fix-
ſternen, die bekanntlich nichts anderes ſind als unendlich weit
von uns entfernte Sonnen. Th. S.
Gerichtlich anerkanntes Geſpenſt. — Im Zahre 1688 be-
langte eine Frau Booty einen Schiffskapitän Barnaby wegen
Verleumdung ihres verſtorbenen Gatten. Der Kapitän war
auf ſeiner letzten Fahrt mit mehreren Freunden auf der ita—
lieniſchen Inſel Stromboli an Land gegangen, um Kaninchen
zu ſchießen. Am Nachmittag ſah er zwei Geſtalten zu dem
Vulkan der Inſel laufen und in Rauch und Flammen ver-
228 Mannigfaltiges. a
ſchwinden. Barnaby rief aus: „Gott ſchütze uns, der erſte
„Läufer war der alte Booty, mein nächſter Nachbar daheim!“
Bei ſeiner Rückkehr nach England erfuhr der Kapitän, daß
Booty genau zu der Stunde geſtorben ſei, als er die beiden
ſeltſamen Geſtalten auf Stromboli zum Vulkan laufen ſah, und
ſtellte die Vermutung auf, es ſei der Geiſt Bootys geweſen, der
vom Teufel zum hölliſchen Feuer gebracht worden ſei. Dafür
begehrte Bootys Witwe eine Buße von tauſend Pfund Sterling.
Bei der Verhandlung wurden Bootys zuletzt getragene
Kleider auf den Gerichts tiſch gelegt, und die Freunde Barnabys
beſchworen ohne Zaudern, daß ſie ganz genau, ſogar in der
eigentümlichen Form der Knöpfe, mit den Kleidern des Mannes
auf Stromboli übereinſtimmten. Auf den Richter machten
dieſe Ausſagen ſolchen Eindruck, daß er die Klage der Witwe ab-
wies und dadurch mittelbar zugab, daß der Teufel den verftor-
benen Booty zum Höllenſchlunde getrieben habe. O. v. B.
Erdbeben auf Befehl. — Daß es auch Erdbeben auf Be-
ſtellung gibt, beweiſt folgendes Geſchichtchen, das der Geiftes-
gegenwart der japaniſchen Diplomaten ein glänzendes Zeugnis
ausſtellt. Vor einigen Jahren weilte der Herzog von Connaught
in Japan und wurde dort von den Behörden und vom Hofe
in prunkvollſter Weiſe aufgenommen. Als er eines Tages bei
einem japaniſchen Diplomaten zu Gaſte weilte, wollte er
feinem Wirt ein Kompliment machen und ſagte: „Das Pro-
gramm, das Eure Exzellenz für meinen Empfang vorbereitet
haben, iſt ſo großartig und umfangreich, auch ſo geeignet,
mir alle Eigentümlichkeiten Ihres Landes vor Augen zu führen,
daß ich ganz überwältigt bin! — Eines natürlich,“ fügte der
Herzog lachend hinzu, „ſtand nicht in Ihrer Macht in das Pro-
gramm aufzunehmen, was ich aber gern der Wiſſenſchaft
halber miterlebt hätte, nämlich ein japaniſches Erdbeben, die
ja jo häufig fein follen.“
In demſelben Augenblick fing die Erde zu zittern und zu
dröhnen an, ein dumpfes Donnergeräuſch wurde hörbar, und
die Gläſer klirrten auf dem Tiſch.
Der Diplomat ſprang auf und ſich in devoter Haltung an
den Herzog wendend, der ebenfalls erſchrocken vom Stuhle auf-
n Mannigfaltiges. 229
geſtanden war, ſagte er, ſeinen Vorteil raſch erfaſſend und
zugleich eine Schmeichelei ausdrüdend: „Das von Eurer Rönig-
lichen Hoheit befohlene Erdbeben!“ O. v. B.
Immer derſelbe. — Im Jahre 1775 lebte zu Nantes in
Frankreich der frühere Advokat Delorme, der ebenſo reich
wie geizig war. Kein einziger Diener hielt bei ihm aus; denn
er forderte nicht nur Arbeit von früh bis ſpät, ſondern auch
die ſeltene Gabe, hungern zu können. Hingegen verſprach er,
in ſeinem Teſtamente ausreichende Entſchädigung zu gewähren.
Aber ein Diener nach dem anderen ging ebenſo ſchnell wieder
davon, denn ſie konnten die mehr als ſchmale Koſt eben nicht
aushalten.
Der Geizhals begriff endlich, daß er ſich ſelbſt werde bedienen
müſſen, wenn er nicht die Beſtimmungen ſeines Teſtamentes
bekannt gäbe. Er verſprach daher dem nächſten Diener, der
ſich bei ihm meldete, daß er dem, der ihm die Augen zu-
drücken würde, nicht allein eine Summe von tauſend Franken
baren Geldes, ſondern außerdem noch ein Landgut vermachen
werde. Auf Grund dieſes Verſprechens, das teſtamentariſch
feſtgelegt wurde, blieb der Diener in der Hoffnung auf eine
beſſere Zukunft und ertrug Hunger und Durſt heldenmütig.
Ob er es lange würde ausgehalten haben, iſt zu bezweifeln,
da ſtarb zu ſeinem Glücke ſchon nach ſechs Monaten der alte
Advokat. N
Die Erben eilten ſofort herbei, denn die Erbſchaft war
groß. Dennoch fanden ſie es ſehr ärgerlich, daß dem Diener
ein ſo anſehnliches Legat hinterlaſſen worden war. Einer
der Vettern wollte das Teſtament ſehen. Es wurde ihm über—
reicht, und als er die Worte las: „Ich ſchenke und vermache
demjenigen Diener, der mir die Augen zudrücken wird —“ rief
er plötzlich ſchadenfroh: „Die Schenkung iſt null und nichtig!“
„Wie, mein Herr?“ ſtammelte der erſchrockene Diener.
„Null und nichtig!“ wiederholte jener. „Mein Oheim war
einäugig, folglich habt Ihr ihm nur ein Auge, nicht die Augen,
zudrücken können.“
Vergebens ſtellte der Diener vor, der Verſtorbene habe
unter dieſem Ausdruck ſicherlich nichts anderes verſtanden, als
250 Mannigfaltiges. 2
ſeinen Tod, folglich das Legat dem zugedacht, der bis an ſeinen
Tod bei ihm bleiben würde. Der Vetter behauptete, der
Erblaſſer habe ſehr gut gewußt, daß er einäugig ſei, und ſich
folglich bloß einen Spaß gemacht, indem er das Legat an eine
unmöglich zu erfüllende Bedingung gebunden habe.
Der Diener machte die Sache bei den Gerichten anhängig,
und ganz Frankreich intereſſierte ſich für den armen Diener,
der ſchließlich auch den Prozeß gewann. W. B.
Ruſſiſche Bärenjagd. — In den ausgedehnten und nur
ſchwer zugänglichen Waldungen Rußlands ſind die gemeinen
braunen Bären noch ziemlich zahlreich vertreten. Die Zäger
1 Mannigfaltiges. 231
ſuchen fie in Rußland gewöhnlich im Winterlager auf. Zit das
Winterlager eines Bären entdeckt worden, ſo wird das Dickicht,
in dem der Bär ſchläft, auf drei Seiten von Treibern umſtellt,
während die vierte Seite von den Jägern beſetzt wird. Einer
der Jäger ſchreitet darauf mit mehreren Hunden auf das Lager
zu, um den Schläfer aufzuſcheuchen. Beim Nahen der Hunde
verläßt er zumeiſt ſogleich das Lager, zieht ſich in das Dickicht
zurück und ſucht dort durchzubrechen. Bietet ſich ihm hier
kein Ausweg, ſondern wird er durch das Geſchrei der Treiber
zurückgejagt, jo richtet er ſich auf, hält einige Augenblicke Am-
ſchau und geht nun wackelnden Ganges auf den Angreifer
los, um ihn durch Umarmen zu erdrücken oder mit den Tatzen
niederzuſchlagen. nz
Ruhiges Blut und eine fihere Hand find unerläßliche Er-
forderniſſe für einen Bärenjäger. Denn Meiſter Petz muß durch
einen einzigen wohlgezielten, unbedingt tödlichen Schuß erlegt
werden, da er, wenn er den Jäger einmal angenommen hat,
auch durch die mutigſten und biſſigſten Hunde nicht in die Flucht
getrieben wird. Unter dieſen Umftänden iſt, ſobald der Schuß
nicht ſitzt, das Weidmeſſer die einzige Rettung für den Zäger.
Der Sicherheit wegen nimmt denn auch ein einzelner
Jäger nur felten den Kampf mit dem Bären auf. Hat er Jagd-
genoſſen in der Nähe, ſo iſt der eine oder andere gewöhnlich in
der Lage, den verwundeten Bären, noch ehe er den erſten
Schützen anfallen kann, durch einen zweiten Schuß niederzu-
ſtrecken. Aber auch bei einer größeren Jagdgeſellſchaft ſind
Unglücksfälle nicht durchaus ausgeſchloſſen. Wie zahlreich die
Beute bei einer in einem ausgedehnten Waldrevier abgehaltenen
Treibjagd ſein kann, zeigt unſer Bild. Auf dieſer Jagd, die in
den kaiſerlichen Forſten ſtattfand, wurden nicht weniger wie
ſieben Bären zur Strecke gebracht. Th. v. W.
Schiffſpuren anf dem Meere. — Ein Dampfer verläßt
den Hafen und gleitet hinaus in die See. Die Wogen heben
und ſenken ſeinen ſchwarzen Körper ziemlich heftig, denn es
weht eine ganz nette Briſe. Doch hinter ſich läßt er eine glatte,
glänzende Bahn. Sogar wenn von ihm nur noch ein ſchwacher
Rauchſtreifen am Horizont zu ſehen iſt, kann man doch immer
232 Mannigfaltiges. 2
noch gewiſſermaßen feine Spur auf der weiten Vaſſerbahn
verfolgen. Die Sonne ſpiegelt ſich in dieſer Spur noch einmal
ſo hell, und ſie zeichnet ſich wie ein langer, erſt breiterer und
dann immer ſchmaler werdender Streifen, der am Horizont
zuletzt nur noch eine dünne gleißende Linie iſt, auf dem Waſſer
ab. Stundenlang iſt dieſe Spur noch zu ſehen, dann erſt
verſchwindet ſie langſam.
Hinterläßt ein jedes Schiff ſolche Spur? Nein, nur ein
Dampfer, niemals ein Segelſchiff! Oft ſchon iſt dieſes maleriſch
wirkende Phänomen dichteriſch verwertet worden, aber wohl
nur wenige Leſer werden wiſſen, welche im Grunde ſehr
einfache Erklärung dieſer als dichteriſches und maleriſches
Stimmungsmittel ſo viel benützten Erſcheinung zugrunde
liegt.
Sie ergibt ſich aus der Beobachtung, daß eben nur Dampfer
dieſe Spur hinterlaſſen, und iſt recht unpoetiſch. Die glän-
zenden Streifen find nämlich nichts als — Olflecke, die der
Oampfer hinterläßt, und die Spur dauert ſo lange an, weil
trotz der geringen Olmengen, um die es ſich handelt, das Ol
eben nur ſehr langſam vom Waſſer verdrängt wird.
Wo aber kommt dieſe Ölfpur her? „Aha!“ wird da mancher
in dunkler Erinnerung an ein oft gebrauchtes Seemannshilfs-
mittel rufen: „Das Ol goß der Dampfer aus, um die Wellen
zu beruhigen!“ — Das ſtimmt nun nicht ganz, denn eine ſolche
Olſpur hinterläßt jeder Dampfer, ganz gleich, ob die See unruhig
iſt oder nicht, und es fällt keinem Kapitän ein, Ol auf das Meer
auszugießen, wenn ihn nicht ganz beſonders zwingende Gründe
dazu treiben; denn das wäre ein ſehr teurer Spaß. Nein, dieſes
Ol kommt aus der Maſchine. Der Dampf reißt naturgemäß
bei ſeiner Entwicklung erhebliche Mengen Schmieröl aus dem
Zylinder mit. Dieſes Ol wird im Kondenskeſſel mit nieder-
geſchlagen und ſtrömt durch die Kondenswaſſerabflußröhren
mit ab, verbreitet ſich nun ſehr raſch auf der WVaſſeroberfläche
und bildet eine dünne Schicht. Große Wellen kann dieſe
ſchwache Olſchicht freilich nicht glätten, denn dieſe haben zu
große Kraft, als daß eine ſo ſchwache Oberflächenſpannung,
wie fie die Olſchicht darbietet, fie beeinfluſſen könnte; aber die
2 Mannigfaltiges. 233
kleineren Wellchen, die ſogenannten Kräuſelwellen, werden
plattgedrückt, weil die Olfläche nicht elaſtiſch iſt und ſich deshalb
mit Erfolg ihrem Anſturm widerſetzen kann. Daher die glän-
zende Glätte einer Dampferſpur. Weil nun aber in den
großen Waſſermaſſen des Meeres nach und nach die kleine
Olmenge nach unten geriſſen und verteilt wird, verſchwindet
die glänzende Spur nach einiger Zeit. O. Th. St.
Eigenartige Wette. — Auber, der Komponiſt der geift-
vollen komiſchen Opern Fra Diavolo, Maurer und Schloſſer
und ſo weiter, war wegen ſeiner witzigen und ſchlagfertigen
Antworten in Künſtlerkreiſen bekannt. Da er durch ſeine Opern
bedeutende Einnahmen hatte, ſo hatte Auber ſelbſt im hohen
Alter noch den Wunſch, recht lange und recht vergnügt leben
zu können. So manchen ſeiner Freunde ſah er ins Grab ſinken,
er ſelbſt wollte nicht an ein baldiges Ende glauben.
Als man den Komponiſten Meyerbeer zur letzten Ruhe
gebettet hatte, fuhr Auber mit dem ihm befreundeten Roſſini
vom Kirchhof nach Hauſe zurück. Ernſt ſaßen ſich die beiden
großen Komponiſten im Wagen gegenüber, und lange ſah der
zweiundſiebzigjährige Roſſini den bereits über achtzig Jahre
alten Auber an, um dann plötzlich zu ſagen: „Drei wirkliche
Komponiſten lebten in Paris. Meyerbeer, Auber und ich.
Nun iſt der erſte davon für immer von uns gegangen. Wen
mag das Schickſal an zweiter Stelle abberufen?“
Lachend entgegnete ihm Auber: „Der zweite, den das
Schickſal abruft, ſind Sie, mein lieber Freund Roſſini, ſo leid
es mir auch tut, Ihnen dies ſagen zu müſſen!“
„Woher wollen Sie das wiſſen?“
„Ich weiß es eben und bin gerne bereit, mit Ihnen zu wetten,
obgleich ich faſt zehn Jahre älter bin als Sie. Wollen wir alſo um
tauſend Franken wetten? Zeder vermacht fie dem Überlebenden
in ſeinem Teſtament mit der Bedingung, dafür ſeine Bekannten
zu einem feinen Souper einzuladen! Sch werde Faſanen dazu
beſtellen, denn die eſſe ich für mein Leben gern.“
Die Wette wurde abgeſchloſſen, und richtig konnte Auber
ſeine geliebten Faſanen im Kreiſe der eingeladenen Freunde
verzehren, denn Roſſini ſtarb 1868, während Auber ſelbſt noch
254 Mannigfaltiges. 2
die ganze Belagerung von Paris miterlebte. Er ſtarb am
15. Mai 1871 im Alter von neunundachtzig Fahren. A. M.
Sprechende Kanarienvögel. — Seit einiger Zeit iſt der Rana-
rienvogel in einer ganz beſonderen Eigenſchaft den Liebhabern ent-
gegengetreten und zwar in einer Begabung, die man bei ihm ei-
gentlich wohl am wenigſten erwartet hätte — als Sprecher nämlich.
Die Fähigkeit, menſchliche Worte nachzuahmen, iſt bisher
nur bei Papageien, Krähen oder Raben und Staren zu finden
geweſen, bis ſie nun alſo auch beim Kanarienvogel feſtgeſtellt
worden iſt. So erzählte die „Times“, daß zu Scraps-gate bei
Sheerneß ein Schafhirte namens Mungeam einen Ranarien-
vogel habe, der Worte und ganze Sätze deutlich ſpreche. Manch-
mal ſchalte er einige Worte in den Geſang ein, dieſelben ſeien
aber deutlicher, wenn er ſpreche, ohne zu ſingen.
Man iſt nicht darauf ausgegangen, den Kanarienvögeln
das Sprechen anzulernen, vielmehr nur durch Zufall iſt man
zu der Überzeugung gekommen, daß auch er ſprachbegabt iſt.
So kannte ich eine Dame, die einen jüngeren Kanarienvogel
gekauft hatte, der nach einer ſchlecht überſtandenen Mauſer
für immer verſtummt ſchien. Die Beſitzerin des Vogels rief
nun dem Vogel öfters zu: „Sing doch, mein Mätzchen! Wie
ſingſt du? Widewidewit!“ Man kann ſich wohl die Uberraſchung
denken, als eines Tages der Vogel die ihm vorgeſprochenen
Worte nachplauderte. Sobald die Dame auf den Vogel ein-
ſpricht, fängt er nun auch wieder zu ſingen an, und mitten in
ſeinem Geſange ertönt es dann: „Widewidewit — wie ſingſt
du, mein Mätzchen?“ Immer und immer wiederholt er, und
deutlich und klar kann man die Worte verſtehen. Er ſpricht
übrigens nur zu ſeiner Herrin und iſt keineswegs zahm, ſondern
im Gegenteil gegen jeden anderen recht ſcheu.
Natürlich bringt der Kanarienvogel dieſe Worte nicht mit
menſchlichem Ton hervor, ſondern er webt ſie mitten in den
Geſang hinein. So klingt ſein „widewidewit“ ganz harmoniſch
und man hört und unterſcheidet es mit voller Beſtimmt-
heit. K. A. Sch.
Sprengung eines Schiffwracks. — gſt ein geſcheitertes
Seeſchiff in der Nähe eines Hafens an ſeichter Stelle unter-
A. Renard in Kiel phot.
ffwracks.
i
Sprengung eines Sch
256 Mannigfaltiges. a]
gegangen, ſo daß ein Zeil desſelben noch aus der Flut her—
vorragt, oder treibt ein herrenloſes Schiff halbzerſtört, das
nicht mehr das Fortgeſchlepptwerden mittels eines Dampfers
lohnt, auf den Wellen, ſo bildet ein ſolches Wräck eine große
Gefahr für die Schiffahrt. Ein ſolches Verkehrshindernis
muß beſeitigt werden. Es geſchieht am beſten durch Sprengen
mittels Dynamit oder anderer Sprengſtoffe. Unſer Bild zeigt
einen ſolchen, oft recht impoſanten Vorgang. Es zeigt den
Augenblick der Exploſion, welche die Luft mit himmelwärts
geſchleuderten Balken und Brettern erfüllt. Auf der fpiegel-
glatten See tritt die furchtbare Gewalt des Vernichtungs-
werks beſonders ſcharf hervor. g. P.
Amtlich oder außeramtlich? — Als der ungariſche General
Graf L. im Jahre 18 19 zum Chef der Exekutivkommiſſion ernannt
worden war, hatte man ihm eine fo unbegrenzte Macht ver-
liehen, daß, wie er ſelbſt ſagte, er im Grunde der Dinge Vize-
kaiſer war. Einmal entdeckte er in Verfolgung einer gewiſſen
Spur, daß einer der geſuchten Flüchtlinge von Zeit zu Zeit
dem berühmten Schriftſteller und Philoſophen G. einen Be-
ſuch abſtattete. Gleich darauf machte ſich L. in eigener Per-
ſon auf und ſuchte G. in ſeinem Landhauſe heim, aber noch
ehe er Zeit gehabt hatte, ſich e hatte der Schrift-
ſteller ihn erkannt.
unvermittelt redete er ihn an: „Ich weiß, Sie find
Graf L. Kommen Sie in amtlicher Eigenſchaft zu mir heraus
oder als Privatmann? Falls amtlich, ſo ſtelle ich Ihnen
hier meine Schlüſſel zur Verfügung. Suchen Sie durch, was
Sie wollen, öffnen Sie jeden Raum, jeden Behälter, der Ihnen
verdächtig erſcheint. Es ſteht Ihnen alles frei.“
„Ich komme nicht amtlich, ſondern außeramtlich,“ erklärte
ſein Beſucher.
„Ah ſo,“ war alles, was G. erwiderte. Nachdem er ſich aber
einen beſonders handfeſten Knecht herbeigewinkt hatte, befahl
er dieſem barſch: „Wirf einmal den Mann hier aus dem Hauſe!“
Der Bedienſtete führte den Befehl mit Kraft und Be—
geiſterung buchſtäblich aus, ſo daß dem gefürchteten Chef der
Exekutivkommiſſion weder Zeit noch Gelegenheit geworden
2 Mannigfaltiges. 237
war, etwas über ſeinen Zweck auszukundſchaften. Er hütete
fi aber wohl, den greifen Schriftſteller deswegen zur Rechen-
ſchaft zu ziehen, ſondern ſteckte die ihm widerfahrene Behandlung
ruhig ein und machte, daß er ſortkam. C. D.
Moderne Amulette. — Der New Yorker Schönen hat
ſich wieder einmal eine neue Manie bemächtigt. Sie ſind zu
der Überzeugung gelangt, daß es unmöglich fei, ſich den Ge-
fahren des Großſtadtverkehrs anzuvertrauen, ohne einen Talis
man bei ſich zu tragen. Ihre Wahl fiel auf die glückbringende
Kraft allerliebſter Miniaturelefanten aus zart roſig getöntem
Elfenbein; ferner auf fein gearbeitete goldene Statuettchen
des Buddha und ſchließlich noch auf Steine, die von den my-
ſtiſchen Waſſern des Nils ans Ufer geſpült wurden. Einen
dieſer drei modernſten Glückſpender muß man unbedingt ſein
eigen nennen. Aber aus Japan, Indien oder Agypten müſſen
dieſe Artikel unbedingt bezogen ſein, wenn ſie wirklich Glück
bringen ſollen. Außerdem muß der Talisman als Geſchenk
von einer befreundeten Perſon kommen.
Die Miniaturelefanten als Amulette zu tragen, haben
einige in New York lebende Japanerinnen eingeführt. Zede
der ſchlitzäugigen Schönen iſt im Beſitz des bewußten Ele-
fanten. Man trägt die zierlichen Dinger an feinem Gold-
kettchen um den Hals.
Die Goldbuddhas aufzutreiben, ſoll ziemlich ſchwer halten.
Die begehrteſten kommen, einzeln in winzige Sandelholz—
käſtchen verpackt, direkt aus dem Märchenlande am Ganges.
Man muß das duftende Etui eigenhändig ohne Zeugen öffnen,
und das Statuettchen fofort um den Hals hängen. Kein pro-
faner Blick darf es treffen.
Das koſtbarſte Amulett, an deſſen Wirkſamkeit die Aer
niſchen Modedamen zuverſichtlich glauben, iſt jener unfchein-
bare, leicht zerbröckelnde Stein, wie er dann und wann am
Nilufer zu finden iſt. Ein Nilſteinamulett zu beſitzen, darin
gipfelt die Sehnſucht aller vom Aberglauben umfangenen
Damen New Ports. O. v. B.
Die Tafelprobe. — Der Erztanzler Napoleons I., Cam-
baceres, war wegen feines Geizes in ganz Paris berüchtigt.
238 Mannigfaltiges. 8 u
Eines Tages lieferte ihm ein Möbelfabrikant eine beſtellte
Tafel für ſechzig Perſonen ab. Der Kanzler befahl, ſie im
Speiſeſaale aufzuſtellen, und als dies geſchehen war, ſagte er
dem Zifchler, fie ſei entſchieden zu klein ausgefallen. Er hoffte
durch dieſe Bemängelung den Preis etwas herabzudrücken.
Nach langem Streiten kam man überein, eine entſcheidende
Probe zu machen. Sechzig Waurergeſellen wurden berbei-
gerufen, die gerade auf dem Karuſſelplatz arbeiteten. Dieſe
wuſchen ſich ſchnell Geſicht und Hände und eilten in den Palaſt.
Hier wurden ſie in den Speiſeſaal geführt und um die Tafel
geſetzt. Vor jedem Platz waren Teller, Meſſer, Gabel und
Trinkglas, ſo daß die Leute annehmen konnten, ſie würden
von dem Erzkanzler bewirtet werden. Alle warteten daher
freudig der Dinge, die da kommen ſollten.
Allein ſtatt deſſen kommandierte Cambacöres plötzlich:
„Stellt euch, als ob ihr trinken wolltet! Tut, als ob ihr etwas
auf dem Teller zerſchnittet!“
Die Leute taten wie befohlen, und der geizige Kanzler
überzeugte ſich, daß die Tafel völlig ausreichend für ſechzig
Perſonen war. Darauf wurden die Maurergeſellen wieder
fortgeſchickt, ohne daß ſie auch nur ein Trinkgeld erhielten.
Für Cambaceres kam jedoch das dicke Ende noch nach.
Napoleon hörte von dieſer Tafelprobe und, da er ſich ſchon
lange über den unanſtändigen Geiz des Kanzlers geärgert
hatte, befahl er dieſem, die ſechzig Maurergeſellen an derſelben
Tafel in aller Form auf das beſte zu bewirten. Und da der
Kaiſer ſich das Gaſtmahl ſelbſt anſah, ſoll es Cambaceres ein
ſchönes Stück Geld gekoſtet haben. W. K.
Diplomatenſchliche. — Unter der Regierung des alt-
chineſiſchen Kaiſers Shindſung war ein gewiſſer Wang-
kuni lange Jahre hindurch erſter Miniſter. Er galt zu ſeiner
Zeit für einen großen Diplomaten und erhielt nach ſeinem
Tode den Beinamen „der Miniſter von drei Willen“, weil
er nämlich ſtets ſowohl auf den vergangenen, als auf den
gegenwärtigen und endlich ſogar auf den zukünftigen, noch
gar nicht vorhandenen Willen ſeines Gebieters ſich berief.
Dieſe geſchichtliche Tatſache erinnert an den engliſchen
2 Mannigfaltiges. 239
Staatsmann Pitt den Züngeren, der über jeden Gegenſtand
drei Meinungen beſaß. „Dieſes,“ ſagte er gewöhnlich, „iſt
meine Privatmeinung, dieſes meine offizielle und dieſes
meine öffentliche Meinung.“ M. L.
Wie die Völker lachen. Darüber macht eine Pariſer Zeitung
die folgenden Bemerkungen. Wo man am meiſten lacht? In
Brüſſel. Am ſeltenſten? In Madrid. Am ſchönſten aber lacht
man in Paris. Kein Wunder, hat es in der Seineſtadt doch
früher ſogenannte Lachmeiſter gegeben, die nicht nur in der
gefälligen Unterhaltung Unterricht gaben, ſondern ihren
Schülern und Schülerinnen beibrachten, daß ein meckerndes,
wieherndes oder ſonſtwie unangenehm tönendes Lachen ge-
radezu beleidigend ſei. Der Franzoſe von heute lacht weniger
als früher, manche führen das auf das Häßlicherwerden der
Zähne zurück. Er lacht freundſchaftlich ohne Nachgedanken.
Ahnlich auch der Oſterreicher. Sein Lachen iſt friſch und zeugt von
Mitteilſamkeit. Ganz beſonders entzückend iſt das geiſtreiche
Lachen der Wienerin mit den kleinen weißen Zähnen. Ganz
anders der Engländer! Er lacht kurz, hart, trocken, gerade ſo,
als ob er ſich durch dieſe Gefühlsäußerung zu feiner Umgebung
herabließe. Mitglieder der vornehmen engliſchen Ariſtokratie
lachen überhaupt faſt nie. Der Brüſſeler dagegen lacht unbändig
laut. Die Brüſſeler Damen lachen in den höchſten Tönen, und
einige waren ihres Lachens wegen geradezu berühmt, ſo Frau
Bianka Duchanel und Mariette Sully. Das Lachen in
ſeiner natürlichſten, reinſten und friſcheſten Form ſoll man bei
dem Amerikaner finden. Sein Lachausbruch iſt urwüchſig,
ungekünſtelt und darum fortreißend. O. v. B.
Die Waldfee. — Den beſtrickenden Zauber des Waldes, wie
er vom Frührot übergoſſen wird, wie um die Mittagszeit ein
geheimnisvolles Schweigen durch die träumenden Stämme
ſchreitet oder wie das ſilberne Mondlicht Buſch und Schlucht
erfüllt, zu ſchildern, werden unſere Dichter und Maler niemals
müde. Immer wieder regen ſie die keuſchen Reize des Waldes
zu neuen Schöpfungen an. Einem ſolchen künſtleriſchen Emp-
finden iſt auch das Gemälde von W. Ebbinghaus „Die Waldfee“
entſprungen, das wir unſeren Leſern und Freunden in dieſem
240 Mannigfaltiges. 2
Fahre als Olfarbendruckbild darbieten. Auf ihm iſt die Poeſie
des mondlichtdurchfluteten Forſtes in der jungfräulichen Waldfee
verkörpert, die, in wallende, weiße Gewänder gehüllt, auf
ſchneeigem Zelter dahinreitet. Ihr hat der Künſtler zur Ver-
ſinnbildlichung der dichteriſchen Gefühle, die die Schönheit des
Waldes in uns auslöſt, einen fahrenden Minneſänger gegenüber-
geſtellt. Von der überirdiſchen Anmut der lichtumglänzten
Erſcheinung entzückt, iſt der Sänger in das Knie geſunken und
blickt verehrungsvoll zu ihr auf. Ihre Haltung verrät, daß ſie
ihn mahnt, die Herrlichkeit des Waldes in Kun Liedern zu
beſingen und zu preiſen.
Unſer ſtimmungsvolles Olfarbendruckbild, von dem wir eine
verkleinerte Wiedergabe auf der erſten Vorſatzſeite bringen, iſt
in fünfzehn Farbenplatten ausgeführt und wird zu dem äußerſt
wohlfeilen Preiſe von 1 Mark 50 Pfennig geliefert. Mit
ihm wird in ein jedes Heim ein Hauch märchenhaften Wald-
zaubers einziehen. Th. S.
Ein Haſe zum Selbſtkoſtenpreis. — Ein bekannter rheiniſcher
Großinduſtrieller hatte auch eine Jagd gepachtet und wurde
von einer verwandten Dame gebeten, ihr doch auch einmal
einen Haſen abzulaſſen. „Und nicht wahr, lieber Alfred, zum
Selbſtkoſtenpreis!“ fügte ſie bei.
Einige Tage ſpäter bekommt ſie den Haſen zugeſchickt und
dazu folgende Abrechnung:
gagdp acht. . Mark 600.—
Zagdaufſ eher „ 100.—
Wildſchaden ; 3 50.—
Patronen „ 60.—
Schmerzensgeldee . „ 450.—
I Mark 1260.
Erlegt wurden 23 Hafen. Ich darf dich alſo wohl um den
Selbſtkoſtenpreis von Mark 54.78 für das beifolgende Exemplar
bitten. Weitere ſtehen zu dem gleichen Preiſe gerne zur Ver-
fügung. Dein Alfred.“ C. T.
Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von
Theodor Freund in Stuttgart,
in Oſterreich⸗Ungarn verantwortlich Dr. Ernſt Perles in Wien.
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PN Dr. Aibredjt Wirth.
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Mit dieſem Werk bieten wir
dem deutſchen Volke eine ge—
diegene Weltgeſchichte, wie ſie
in dieſer Art der Ausſtattung
und zu ſo billigem Preiſe noch
nicht exiſtiert. In lückenloſem
Zuſammenhang werden alle ge—
ſchichtlich wiſſenswerten Ereig—
niſſe für jedermann verſtändlich
und feſſelnd erzählt. Ein ſolches
Werk zu beſitzen iſt ein Bedürf—
nis für alt und jung. Allen
0 i denen, die ihre Mußeſtunden in
würdiger Weiſe durch Pflege von Kunſt und Wiſſenſchaft verſchönern und
wertvoll machen wollen, wird es eine reiche Quelle der Unterhaltung und
des Genuſſes ſein, ſowohl wegen des von Dr. Albrecht Wirth, einem
Hiſtoriker von Fach, geſchriebenen Textes, wie auch wegen ſeines groß:
artigen Bilderſchmucks. g
. . . Der Verfaſſer dieſes groß angelegten Werkes verbindet Sachlichkeit und
Kürze mit erſchöpfender Darſtellung, er verliert ſich nicht in Einzelfragen und weiß
den Leſer immer zu packen. Den Text begleitet ein künſtleriſch vollendeter, ungemein
reicher Bilderſchmuck, ſo daß dies Werk in der Tat als eine hochintereſſante, dabei
ſehr billige Weligeſchichte für jedermann zu bezeichnen iſt — ein Werk, wie es bisher
auf dem deutſchen Büchermarkt gefehlt hat. (Hamburger Nachrichten.)
Wenn man beim erſten Heft leicht annehmen konnte, es ſei beſonders reich auß«
geſtattet, um ſo gewiſſermaßen als Verlagsproſpekt zu dienen, ſo belehren einen die
nunmehr vorliegenden Lieferungen, daß die Fülle und Schönheit der Illu⸗
e Regel iſt. Wir finden neben doppelſeitigen Bildern zahlreiche Text-
lluſtrationen — alles in höchſter techniſcher Vollendung. Der Text wird
mit der Bezeichnung plaſtiſch am beſten charakteriſiert. (Württemberger Zeitung.)
Zu haben in allen Buch- und Kolportagehandlungen.
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