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Full text of "Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens 1913, Band 1"

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Über dieses Buch 


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An unſere Leſer. 


Mi dem vorliegenden Bande beginnt die 
„Bibliothek der Unterhaltung und des 
Wiſſens“ ihren ſiebenunddreißigſten Jahrgang. 


In vielen Millionen 


von Bänden verbreitet 
erfüllt ſie ihr Programm: 


jedem Bücherliebhaber Gelegenheit zu 
geben zur Anlegung einer wirklich 
gediegenen, ſpannendſte Unterhal—- 
tung und eine unerſchöpfliche Fund— 
grube des Wiſſens zugleich bietenden 


Privatbibliothek 


aufs allerbeſte. 


Die „Bibliothek der Unterhaltung und des 
Wiſſens“ erſcheint vollſtändig in 15 vierwöchent- 
lichen, elegant in engliſche Leinwand gebundenen, 
reich illuſtrierten Bänden in Goldrücken und 
Deckelpreſſung. 

Um die Anſchaffung auch weniger Bemittelten 
zu ermöglichen, beträgt der Abonnementspreis 


nur 75 Pfennig für den Band, 


ein Preis, zu welchem der Buchbinder im ein- 
zelnen noch nicht einmal den bloßen Einband zu 
liefern imſtande wäre. 

Stuttgart. Die Redaktion 


und Verlagsbuchhandlung. 


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ie in früheren fahren, jo waren wir auch bei Beginn des neuen Falır- 
gangs wieder darauf bedacht, unferen Lefern ein ſchönes Kunſt— 
blatt zu einem außerordentlich billigen Preiſe offerieren zu kön— 


e prachtvolles Glfarbendruckbild, 


betitelt: 
nach einem Semülde von 


Frerzensklünge + C. Zewy + 


herftellen laſſen und liefern dasſelbe allen Kunftfreunden zum Subfkrip— 
tionspreiſe von nur J Mark 50 Pfennig für das Exemplar. 


Bildgröße: 50 cm breit, 37 em hoch; Papiergröße: 60 cm breit, 49 cm hoch. 


Dorftehend geben wir eine, allerdings bedeutend verkleinerte, Nachbildung 
des Kunftblattes „Herzensklänge“. Auf die früher erſchienenen, auf beiliegen— 
dem Beftellzettel verzeichneten Kunftblätter machen wir ebenfalls aufmerkſam. 


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J nſerate der, sibliether der unterhaltung und des wiſſens“ haben infolge 

— ſachgemäßer Verbreitung in allen Schichten der Bevölkerung dauernde 
Wirkungskraft. Wegen der Inſertionspreiſe, insbeſondere der Preiſe für vorzugsſeiten, 
wende man ſich an die Anzeigengeſchäftsſtelle der „Bibliothek der Unterhaltung und des 
Wiſſens“ in Berlin SW 61, Blücherſtraße 31. HH 


2 ——— — ec) 


Infantina. 


(Dr. Theinhardt’s 
1ösl. Kindernahrung.) 


Zuverläfiigiter Zuſafz zur verdünnten Kahmildı für die Ernährung I 
der Säuglinge in geſunden und kranken Tagen. In vielen Ärzte- 
1 familien, Säuglingsmildkücden, Krankenhäuiern ufw. ſeit über 
23 Jahren ſtandig im Gebraud. u 
Preis der / 1 Bücdlie M. 1.90. 


nB. She eine Mufter zur künfflichen Ernährung übergeht, leſe fie die von der 
Dr. Theinhardt’s Nährmittel-Geiellichaft m. b. B. Stuttgart-Cannitatt herausgegebene 1 
und in den Verkauisitellen gratis erhältliche Brolchüre: „Der jungen IIlutter 
gewidmet“, welche viele praktiice Winke für die rationelle Pflege und Ernäh- 
rung Ihres Be enthält. 


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7 Altbewährtes Stärkungsmittel. 
Wohlſchmeckend. — Lkeictverdaulidı. — Billig. 


Beltgeeignetes Frühltücks- und Abend- 
getränk für Selunde und Kranke jeden Alters. Von eriten 
Ärzten ſeit über 23 Fahren als vorzügliche Bereicherung der Kranken« 
koit geichätzt und vorzugswelſe verordnet. 


Preis der / Büdie M. 2.50. 


Hygiama-Tabletten. 


Gebrauchsfertige Kraftnahrung. 


Für Sporttreibende, Theaterbefiucder und alle diejenigen, welche 
nicht regelmäßig zu ihren üblichen Mahlzeiten kommen, von ganz 
beionderem Wert. 


— 5 — 


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Preis einer Schachtel III. 1.—. 


B. Man verlange die von Dr. Theinhardt’s Idhrmlttel-Seſelllchaft m. b. 5. 
Stuttgart- Cannltatt herausgegebenen und in Apotheken und Drogerien gratis 
erhältlichen Broichüren 


„Ratgeber für die Ernährung in geiunden und kranken Tagen“ 
und „Sygiama-Tabletten und ihre Verwendung“. 

— Vorrätig in den meilten Apotheken und Drogerien. = 
— —— . — — 


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Anion Deutſche Verlagsgeſellſchaft in Stuttgart, Berlin, Leipzig. 


itustrierte Taschenbücher für dle Jugend. 


. 


Bd. 1. Berufswahl: Armee und Marine. 

75 Mit 54 Abbildungen. 11. Tauſend. 

„ 2. Aquarium und Terrarium. Mit 
10 Tafeln und 76 Abbildungen. 17. bis 
21. Tauſend. 

„ 3. Liebhaber: Photographie. Mit 60 Ab⸗ 
bildungen. 21.— 25. Tauſend. 

„ 4. Der junge Elektrotechniker. Mit 
144 Abbildungen. 43.—47. Tauſend. 

„ 5. Kleine Sterukunde. Mit 68 Abbild., 
— — 1 Mond⸗ u. 1 Sternkarte. 14.-16. Tauſend. 

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Bd. 7. Der Schmetterlingſammler. Mit 98 Abbildungen. 11. Tauſend. 
„ 8. An der Hobel» und Drehbank. Mit 121 Abbildungen. 11. en 
„ 9. Berufswahl: Die 4 Fakultäten. Mit 16 Abbildungen. 8. Tauſend. 

„10. Radfahren. Mit 67 Abbildungen. 13. Tauſend. 

„ 11. Der Briefmarkenſammler. Mit 193 Abbildungen. 12. Tauſend. 

„12. Der auge Schiffbauer. Mit 10 Tafeln u. 29 Abbild. 16.—18,. Tauſend. 

„18. Schuſters Luſtige Rechenkunſt. Mit 40 Abbildungen. 10. Tauſend. 

„14. Berufswahl: Das techniſche Studinm. Mit 16 Abbild. 5. Tauſend. 

„15. Die Pflege der Hanstiere. Mit 63 Abbildungen u. 9 Tafeln. 5. Tauſend. 

‚16. Das Zauberbuch. Mit 66 Abbildungen. 12. Tauſend. 

17. Der Münzenſammler. Mit 66 Abbildungen. 9. Tauſend. 

„18. Das Mikroſkop. Mit 90 Abbildungen. 7. Tauſend. 

„19. Lawn Tennis und andere Spiele. Mit 88 Abbildungen. 9. Tauſend. 

„20. Der junge Chemiker. Mit 78 Abbildungen. 14. Tauſend. 

„21. Berufswahl: Der Staatsdienſt. Mit 12 Abbildungen. 5. Tauſend. 

„22. Der Käferſammler. Mit 188 Abbildungen. 9. Tauſend. 

„23. Zimmerturnen. Mit 105 Abbildungen und 263 Übungsbeiſpielen. 5. Tſd. 

„24. Der junge Pappkünſtler. Mit 115 Abbildungen. 9. Tauſend. 

„25. Chemiſches Experimentierbuch. Mit 42 Abbild. 11.— 13. Tauſend. 

„26. Arbeiten aus Zigarrenkiſten. Mit 190 Abbildungen. 11. Tauſend. 

„27. . Schnitzkunſt. Mit 100 Abbildungen. 5. Tauſend. 

„28. Der Mineralienſammler. Mit 71 Abbildungen. 5. Tauſend. 

„29. Galvaniſche Elemente u. Akkumulatoren. Mit 57 Abbildung. 10. Tſd. 

„30. Der junge Phyſiker. Mit 70 Abbildungen. 5. Tauſend. ö 

„31. Der Pflanzenſammler. Mit 89 Abbildungen. 5. Tauſend. 

„32. Der junge Aviatiker. Mit 136 Abbildungen. 11. Tauſend. 


Weitere Bände befinden ſich in Vorbereitung. 
Preis jedes elegant gebundenen Bandes 1 Mark. 


Phyſikaliſches Experimentierbuch für Knaben. nag aur 


Ausführung phyſikaliſcher „ und zur Selbſtanfertigung der 
hierzu nötigen Apparate. Von Richard Beißwanger. Mit 216 Ab⸗ 
bildungen. Elegant gebunden 4 Mark. . 


Elektrotechniſches Experimentierbuch für Knaben. Si: 


leitung zur Ausführung elektrotechniſcher Experimente unter Verwendung 
einfachſter, meiſt ſelbſt herzuſtellender Hilfsmittel. Von Eberhard 
Schnetzler. 19. Auflage. Mit 250 Abbildungen. Elegant gebunden 4 Mark. 


Selbſt iſt der Mann Ein neues Beſchäftigungsbuch bei Sonnenſchein 

5 e und Regenwetter. Von Maximilian Kern. 

Mit 441 Abbildungen und 4 mehrfarbigen Beilagen. 9. bis 11. Auflage. 
In elegantem Geſchenkband 5 Mark. 


Kt 
8 > 


Zu haben in allen Buchhandlungen. 


Union Deutſche Verlagsgeſellſchaft in Stuttgart, Berlin, Leipzig. 


1813-1815. 
Illuſtrierte Geſchichte 
der Befreiungskriege. 


Ein Jubiläumswerk zur Erinnerung 
an die große Zeit vor 100 Jahren. 


Von Profeſſor Dr. J. v. Pflugk-Harttung. 
400 Seiten Text mit etwa 300 Abbildungen und 40 Kunft- 
beilagen. Vollſtändig in 40 Lieferungen zu je 40 Pfennig. 


Die hundertjährige Wiederkehr von Deutſchlands Erhebung weckt große 
Erinnerungen, die in unſerer lauen Gegenwart heilſam wirken mögen. 
Es war die Zeit der harten Bedrängnis; aber aus Erniedrigung und Schmach 
wuchs empor die Erſtarkung und Befreiung. Die Not ſchmiedete Menſchen 
und Völker zuſammen, ſie weckte und ſtählte den deutſchen Sinn. Zur 
rechten Stunde entſtanden dem gedemütigten Vaterlande Männer, deren 
Vorbild die Zeitgenoſſen entflammte zu freudiger Hingabe von Gut und 
Blut, deren Tatkraft und Mut ſie zum Sieg führte in dem gewaltigen, die 
Geſchicke ganz Europas entſcheidenden Völkerkampfe. Dieſe Erinnerungen 
dem deutſchen Hauſe in feſſelnder Erzählung und künſtleriſchen Bildern 
lebendig vorzuführen und bleibend feſt⸗ 
zuhalten, iſt der Zweck dieſes vater⸗ 
ländiſchen Hausbuches, das eine Statt 
finden wird überall, wo die deutſche 
Zunge klingt. — Das Werk enthält 
nicht eine trockene Aneinanderreihung von 
Tatſachen. Es erzählt lebendig und er— 
weckt vor dem geiſtigen Auge Zeiten und 
Perſönlichkeiten, Stimmungen und Er— 
eigniſſe, es erhebt und begeiſtert. Das 
jeffelnde Wort wird unterſtützt durch einen 
ausgeſucht ſchönen und reichen Bilder— 
ſchmuck. Und wie in der Erzählung da⸗ 
nach geſtrebt wurde, die Dinge im rechten 
Licht erſcheinen zu laſſen, ſo iſt bei den 
Abbildungen beſonderer Wert gelegt auf 
geſchichtliche Treue und künſtleriſch⸗voll⸗ 
endete Darſtellung. Die vierzig Extra⸗ 
Kunſtblätter bilden eine beſondere Be— 
reicherung des Inhalts. 


Abonnements und Probelieferungen in allen Buchhandlungen. 


Anion Oeutſche Verlagsgeſellſchaft in Stuttgartz Berlin, Leipzig. 


Phot. von C. C. Pierre & Co. 
Die Katakomben von Guanajuato (Mexiko). 


Die heiße, trockene Luft dieſer Gegend läßt die Körper nicht verweſen, ſondern vertrocknen 
und zuſammenſchrumpfen. Dadurch wird dieſe eigenartige Beſtattungsform möglich. 


Soeben beginnt in unſerem verlage zu erſcheinen: 


Die Wunder der Welt. 


Großartige Naturſchöpfungen und ſtaunenswerte 
Menſchenwerke aller Zeiten in Wort und Bild. 


Meiſt nach eigener Anſchauung gefhildert von 


Ernſt von heſſe⸗Wartegg. 


952 Seiten Text mit über 1000 Abbildungen und 39 mehrfarbigen 
Kunſtbeilagen. 
vollſtändig in 34 Lieferungen zu je 60 Pfennig. 


Was in allen Zeiten die Naturkräfte an Merkwürdigem hervorbrachten 
in plötzlicher, gigantiſcher Umwälzung oder in unabläſſiger Arbeit von Jahr— 
millionen, was Menſchengeiſt Großartiges erſann und unter Menſchenhänden 
erſtehen ließ, der ſtaunenden Nachwelt zur Bewunderung, was fremde Kultur 
und Sitte an Abſonderlichkeiten ſchuf — das alles iſt in dem Werke „Die Wunder 
der Welt“ zu einem umfaſſenden Ganzen zuſammengetragen ein feſſelndes 
Anſchauungs- und Bildungsmaterial für alt und jung, für Haus und Schule, 
für Gelehrte und Laien, ein Bilderſaal der Weltwunder für jedermann. 


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Abonnements und Probelieferungen in allen Buchhandlungen. 


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Bibliothel 
der Unterhaltung 
und des Wiſſens 


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Zu der Humoreske „Inhalt: Eine Million Mark“ 
von Peter Nobinſon. (S. 10) 


Originalzeichnung von Max Vogel. 


ibliothek 
der Unterhaltung 
und des Wiſſens 


Mit 
Original beiträgen 
der hervorragenöften 
Schriſtſteller und Gelehrten 
ſowie zahlreichen 
Auſtra tionen 
9 


Jahrgang 1913 + Erſter Band 


Union Deutſche verlagsgeſellſchaſt 
Stuttgart + Berlin Leipzig 


Mit Bildern von 


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Bildern 


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ei der Arbeit. 
Mit 12 Bildern . 


ausſehen. 
noch Bär. 


rbelebungscppara! . 
Bild. 


Rechenkunſtſtücken. 


orſchungsreiſende 


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Druck der 

Anion deutſche 
verlagsgeſellſchaſt 
in Stuttgart 


. 


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Inhalts - verzeichnis. 
Inhalt: Eine Million Mark. 


Humoreske von Peter Robinſon. Mit Bildern von 
Mo, Boge 
„Ave, cariſſimal“ | 
Roman von E. v. Adlersfeld-Balleftrem . . . . » 


Anſere Blaujaden am Lande. 
Von C. Lund. Mit 8 Bildern 


Das Geſchenk des Inders. 
Novelle von F. C. Oberer g 
Mutter und Kind. 


Von Alex. Cormans. Mit 10 Bilden 
Die Spaziergehkur. 


Humores de von Carl Schült un 
Der Geheimpoliziſt bei der Arbeit. 

Von R. F. Hermann. Mit 12 Bildern 
Mannigfaltiges: 

Wie die Geiſter ausſehe nk... 

Weder Ochs noch Barr 


Ein Wiederbelebungsacppar aaa 
Mit Bild. 


Drei intereſſante Rechenkunſtſtüc kee. 
Der ſter bende Königs 
Soldatenweiwd eee 
Aufgaben für Forſchungsreiſende 


D 
208 . 


Seite 


177 


191 


200 


217 
221 
222 


225 
227 
227 
223 


— — — 


4 Inhalts- Verzeichnis d 
Seite 

Das neue Rieſenunterſeeboot England.. 229 
Mit Bild. . 
Wie viel Zeit verbringt eine Frau vor dem Spiegel? 231 
Die Ehrung eines Helden 232 
Die Erdbaae??????ssssss 2233 
Das rote gaaaa rr 233 


Hygieniſcher Tafelaufſatt zzz .. 255 
Mit Bild. 


König Georg II. von England . . 237 
Das Weich bilde. 238 
Unfer Zylinderggull k. 239 
Eine grauſame Hinrichtung . 239 
Umgangene Gardinen predigt. 240 


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2 


Inhalt: Eine Million Mark. 


humoreske von Peter Robinfon. 


Mit Sildern 1 
von Max vogel. (Nahöru verboten.) 
duard Greglinger ſaß mit feinem Freunde Franz 
Karſch beim Frühſchoppen. Es war an einem 
Sonntag, denn in der Woche wäre das nicht gegangen, 
da waren ſie beide im Geſchäft. Umgekehrt wäre es 
ihnen jedenfalls lieber geweſen. Dieſe Schoppen 
waren eine regelmäßige Einrichtung ihrer Sonntag- 
vormittage, und auch der heutige hätte keiner bejon- 
deren Veranlaſſung bedurft. Aber es war doch eine 
da. Greglinger hatte fünfzig Mark Gehaltszulage be- 
kommen, und das war ein genügender Grund, dies- 
mal nicht, wie ſonſt, gewöhnliches Bier zu genießen, 
das das Fleiſch müde macht und den Geiſt einlullt, 
ſondern einen ordentlichen Rheinweinſchoppen, der die 
Phantaſie weckt und zu ſchönen Taten und großen 
Unternehmungen begeiſtert. 

In der kleinen Weinkneipe boten ſich leider der 
Unternehmungsluſt der beiden Freunde keine beſon⸗ 
deren Objekte dar. Daß Franz Karſch den ſurrenden 
Ventilator mit ſeinem Spazierſtock anhalten wollte, 
was dem Stock das Leben koſtete, war eine mäßige 
HZerſtreuung, die nur gewürzt wurde durch eine ſich 
daran anſchließende Debatte über die nunmehr für 
Herrn Greglinger beſtehende Ehrenpflicht, ſeinem 


6 Inhalt: Eine Million Mark. a) 


Freunde Rari einen neuen Stock zu kaufen. Denn 
erſtens war er heute der Spender des Weins, zweitens 
hatte er fünfzig Mark Zulage erhalten, und drittens 
würde er bald heiraten und eine Mitgift bekommen, 
auf die ſich das Wörtchen „klein aber mein“ ganz gut 
anwenden ließ. 

Karſch war ſogar der Meinung, der neue Stock 
müſſe mindeſtens eine goldene Krücke haben. Be— 
gründung: Dadurch, daß Greglinger heiraten würde, 
käme er überhaupt, von der kleinen Mitgift ganz ab- 
geſehen, in eine beſſere wirtſchaftliche Lage, weil be- 
kanntlich zwei Menſchen in einem Haushalt billiger 
leben als ein einzelner Junggeſelle. 

Das iſt eine von den Erfahrungen, die viele junge 
Leute vor der Ehe zu machen glauben; über ihre 
nachträgliche Beſtätigung ſchweigen ſie aber ge 
wöhnlich. 

Nachdem der Verſuch, den Ventilator aufzuhalten 
als geſcheitert zu betrachten war, wandte man ſich dem 
im Lokal aufgeſtellten Automaten zu. Karſch hielt 
einen Vortrag über die eminente Nützlichkeit dieſer 
Maſchinen und die Möglichkeit, den Menſchen durch 
Automaten zu erſetzen. Seine Ausführungen gipfelten 
in dem Wunſch, man müßte eigentlich auch einen Auto- 
maten heiraten können, denn ein Automat habe den 
Vorzug, für Geld immer etwas herzugeben oder wenig- 
ſtens das Geld zurück, wenn aber der Mann ſeiner 
Frau Geld gäbe, kriege er nicht immer etwas dafür, 
und dieſes ſei ein bemerkenswerter Unterſchied. 

Beinahe hätte es da einen Zwiſt gegeben, denn 
Greglinger opponierte natürlich und wollte, wenn auch 
nicht alle Frauen, ſo doch zum mindeſten ſeine Braut 
gegen die Konkurrenz des Automaten in Schutz nehmen. 
Das augenblicklich wichtigere Problem, was mit den aus 


u Humoreske von Peter Robinfon. 7 


dem Automaten gekauften Varen zu geſchehen habe, 
ſtellte aber den Frieden bald wieder her. 

Zwei Zigarren, das Stück zu fünf Pfennig, wur- 

den dem Kellner verehrt, der ſie beiſeite legte in der 
Hoffnung, die angeheiterten Herren würden vielleicht 
nachher bei ihm Importen beſtellen. Der Inhalt eines 
Pro befläſchchens Eau de Cologne wurde erfolglos be- 
nützt, die heißen Stirnen zu kühlen. Die in einem 
Paketchen mit der Aufſchrift „Allerlei Nützliches“ vor- 
gefundenen Stecknadeln ließen ſich gut in das Rohr- 
geflecht einiger Stühle ſtecken, mit der Spitze nach 
oben natürlich. Ein halbes Dutzend Schachteln mit 
Süßigkeiten wollte Karſch in die Küche tragen, um ſie 
dort unter das weibliche Perſonal zu verteilen. In 
der Hoffnung auf Gegengeſchenke aß er aber zunächſt 
eine ganze Schachtel mit Pfefferminzplätzchen leer. 
Weil er nämlich einmal gehört hatte, daß routinierte 
Weinkenner ſich durch Eſſen von Käſe für den Wohl- 
geſchmack des Weins empfänglicher zu machen pflegen, 
hatte er heute auch Käſe gegeſſen, und der Geruchs- 
miſchung von Wein und Käſe ſollten die Pfefferminz- 
plätzchen ein Gegengewicht ſein. 
Er kam aber nicht bis in die Küche, denn der Speifen- 
dunſt auf dem Korridor fiel ihm auf den wohl ohnehin 
geſchwächten Magen. Er kehrte um und erklärte, ihm 
ſei übel. Darauf mußte natürlich ein Kognak ge— 
trunken werden, und ſelbſtverſtändlich genoß Greglinger 
zur Geſellſchaft gleichfalls einen. 

Wäre dieſer Kognak nicht geweſen, hätte ſich das 
folgende vielleicht nicht ereignet. Aber er ſpornte die 
Geiſter zu ungeheuren Leiſtungen an. 

Mit dem letzten an Kleingeld vorhandenen Zehn- 
pfennigſtück war eine Tafel Schokolade aus dem Auto- 
maten gezogen worden. Die Verpackung war ſehr 


8 Inhalt: Eine Million Mart. 8 8) 


a — 


hübſch; einige bunt 
angezogene Engel— 
chen führten darauf 
einen Reigen auf. 
„Die ſchicke ich 
meiner Braut!“ er- 
klärte Greglinger. 
Karſch winkte 
dem Kellner und be- 
ſtellte einen Brief— 
umjchlag bei ihm, 
einen ſtar- 
ken, ſoliden 
Briefum— 
ſchlag. „Es 


muß natürlich ein Wertbrief werden,“ meinte er. 6 
Damit war Greglinger ganz einverſtanden; er ſchicke 

ſeiner Braut überhaupt nur wertvolle Gegenſtände, und 

zum mindeſten läge diesmal bei der Gabe in der Ge— 


2 Humoreske von Peter Robinſon. 9 


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ſinnung des Gebers ein ungeheurer, gar nicht hoch 
genug zu veranſchlagender Wert. 

Die Tafel Schokolade wurde verpackt, als wäre ſie 
die einzige auf dem Weltmarkt. Die Verſchlußklappen 
des Umſchlages bekamen fünf große Siegel; der Kellner 
hatte alles Nötige gebracht, der Pikkolo gab einen Siegel- 
ring her, der zur Größe des Beſitzers in umgekehrtem 
Verhältnis ſtand. Dann ſchrieb Karſch die Adreſſe, 
denn er verſtand ſich auf tadelloſe Rundſchrift. 

„Was ſoll ich ſchreiben? — Tauſend Mark?“ fragte er. 

Greglinger warf ſich in die Bruſt. „Was von mir 
kommt, iſt meiner Braut mindeſtens eine Million 
wert.“ 

„Schön!“ ſagte Karſch und ſchrieb: „Inhalt: Eine 
Million Mark.“ — „Du, natürlich ſchicken wir's un- 
frankiert!“ 

V„vbLcSelbſtverſtändlich! Oeſto beſſer iſt doch der Alk! — 
Schreib aber meine Adreſſe als Abſender darauf, ſonſt 
nimmt ſie's nicht an.“ 

„Unſinn — eine Million nicht annehmen!“ meinte 
Karſch, ſchrieb aber doch auf die Rüdfeite: ‚Abfender 
Eduard Greglinger, Tobiasſtraße 15, drei Treppen 
links. 

Greglinger zahlte die Zeche. Jeder nahm noch 
eine Zigarre mit auf den Weg — das Stück zu zwanzig 
Pfennig. Des Kellners Hoffnung auf eine Beſtellung 
von Importen hatte ſich alſo nicht erfüllt, aber immer- 
hin war er ganz zufrieden. 

Ein kleines Poſtamt lag in der Nähe. Nur ein 
einziger Schalter war zu kurzem Sonntagsdienſt ge- 
öffnet. 

Karſch hatte die Erledigung der Angelegenheit 
übernommen. Am Schalter kaufte gerade ein Herr 
vier Zehnpfennigmarken; er warf einen Blick auf den 


10 Inhalt: Eine Million Mark. 0 


Brief, den Karſch großartig hingelegt hatte, erblaßte 
erſchüttert und entfernte ſich nur zögernd. 

Karſch zog an ſeiner Zigarre; ſie war ausgegangen. 
Den Schalterbeamten, der des Sonntagsdienſtes wegen 
wohl nicht gerade in beſter Laune war, hinderte das 
aber nicht, in ſtrengem Ton darauf hinzuweiſen, daß 
Rauchen in den Räumen des kaiſerlichen eee 
jedermann unterſagt ſei. 

„Nanu!“ ſagte Karſch. 

Der Beamte wollte auf dieſe unziemliche Inter- 
jektion hin gerade eine entſprechende Entgegnung zur 
Wahrung ſeiner Würde ſuchen, aber er fand ſie nicht, 
denn inzwiſchen hatte er den Brief an ſich genommen 
und die Aufſchrift geleſen. Er fuhr eiligſt in die Hojen- 
taſche und holte eine Schachtel Streichhölzer heraus, 
die er wortlos zum Schalter hinausſchob “). Der Herr 
möge ſich nur bedienen und rauchen, ſo viel er wolle, 
er würde es ihm nicht noch einmal unterſagen. 

Mit großen runden Augen las er noch einmal die 
Aufſchrift des Briefes; mit zitternden Händen wog er 
ihn, notierte das Gewicht, wog noch einmal und kramte 
dann in feinen Schreibutenſilien herum. Dann blät- 
terte er in ſeinem Buch. 

Karſch trommelte mit den Fingern auf dem Schalter- 
brett. 

Der Beamte erſchrak. „Wollen der Herr die Güte 
haben, einen Augenblick zu entſchuldigen. Ich muß 
erſt nachſehen, was es koſtet.“ 5 

„Unfrankiert!“ ſagte Karſch. 

Der Beamte nickte. Ja, das war eigentlich ſelbſt— 
verſtändlich. Wenn jemand eine Million bekommt — 
na, das wäre ja noch ſchöner, wenn er da nicht das 


*) Siehe das Titelbild. 


D Humoreske von Peter Robinfon. 11 
Porto tragen wollte. Und ſchnell ſchrieb er den Emp- 
fangſchein aus. 

Auf der Straße meinte Karſch: „Setzt überlegt er 
vielleicht, ob er nicht mit dem Brief durchgehen ſoll.“ 

Greglinger bekam einen Schreck. „Um Himmels 
willen, Menſch! Wir kehren um und ſagen ihm, was 
in dem Brief iſt.“ 

Karſch aber hatte keine Luft, feine großartige Mil- 
lionärspoſe dem Poſtbeamten gegenüber zu zerſtören. 

Der Herr, der vorhin die Zehnpfennigmarken ge- 
kauft hatte und erſchüttert erblaßt war, ſtand noch vor 
dem Poſtamt; er konnte ſich anſcheinend an Karſch 
nicht ſattſehen, und nur langſam und mit häufigem 
Kopfwenden ging er endlich ſeines Weges. 

Neben dem Poſtamt befand ſich ein Cafe. Da man 
nichts anderes zu tun hatte, ging man hinein. Viele 
Kaffeehäuſer kommen auf dieſe Weiſe zu Gäſten. Karſch 
beſtellte Mokka — Doppelmokka vielmehr! Der klärte 
die Geiſter wieder etwas auf. 

Auf einmal lachte Karſch. „Du, das Geſicht von 
deiner Braut möcht' ich ſehen, wenn ſie den Brief 
kriegt.“ 5 

„Venn nur ihr Alter nicht gerade dabei iſt,“ meinte 
Greglinger. Ihm kamen Bedenken. Sein zukünftiger 
Schwiegervater liebte Scherze kaum, höchſtens dann, 
wenn fie nichts koſteten. Und beſondere Sympathien für 
den Bräutigam ſeiner Tochter hatte er ohnehin nicht. 

„Wenn er einen Taler dafür ausgeben muß, zieht 
er ihn dir ſicherlich von der Mitgift ab,“ ſagte Karſch. 

„Meinſt du, daß der Brief ſo viel koſten kann?“ 

„Das kann ich ja gleich nachrechnen.“ Karſch zog 
ſein Notizbuch hervor; darin ſtanden die Portotaxen. 
Aha, da kam es! Wertbriefe — ohne Unterſchied 
des Gewichts — frankiert 40 Pfennig, unfrankiert 


12 | Inhalt: Eine Million Mark. u 


50 Pfennig; Verſicherungsgebühr für je 300 Mark 
5 Pfennig, mindeſtens 10 Pfennig. „Du, Menſch, 
das iſt ja gar nicht viel, 5 Pfennig bloß!“ 

Aber Greglinger war plötzlich nüchtern geworden 
und hatte ſchon begriffen, was dem noch weinſeligen 
Karſch vorläufig nicht dämmerte. Er rechnete auf der 
Tiſchplatte nach. Eine Million durch dreihundert mal 
fünf — Himmel, das machte ja 166 Mark 70 Pfennig! 
Und 50 Pfennig Porto dazu — alſo genau 167 Mark 
20 Pfennig! — 

Eine Minute ſpäter ftanden fie wieder vor dem 
Poſtamt. Aber das war jetzt geſchloſſen. 

Greglinger bekam einen kleinen Tobſuchtsanfall. 
„Solch eine blödſinnige Idee haft auch bloß du haben 
können!“ 

Karſch widerſprach energiſch. „Ich? Erlaube mal 
— ich ſagte tauſend Mark. Da hätte es bloß zwanzig 
Pfennig gekoſtet. Du aber haft durchaus eine Million 
haben wollen. Mit deinen fünfzig Mark Zulage kann's 
dir ja jetzt nicht großartig genug hergehen.“ 

„Aber du haft zuerſt Wertbrief geſagt! gch ſage 
dir: wenn meine Verlobung auseinandergeht, mache 
ich dich ſchadenerſatzpflichtig. Darauf kannſt du Gift 
nehmen.“ 

„Danke, ich habe heute ſchon genug getrunken — 
Aber reden wir lieber davon, was wir jetzt machen. 
Nachlaufen können wir dem Brief nicht mehr.“ 

„Morgen vormittag wird er in Neuſtadt ausge- 
tragen.“ 

„Gut, daß es ein Wertbrief iſt und keine Poſt— 
anweiſung. Eine Million dürfte das Poſtamt in Neu- 
ſtadt nicht zur Verfügung haben.“ 

„Mach jetzt keine Witze! Das beſte iſt, ich fahre 
heute hin und ſage meiner Braut Beſcheid. Denn 


2 Humoreske von Peter Robinfon. 13 
wenn der Alte die Geſchichte erfährt, daß wir 167 Mark 
und 20 Pfennig verjuxt — keinen Pfennig Mitgift 
rückt er heraus.“ | 

Karſch wußte einen Ausweg. „Hinfahren geht 
jetzt nicht. Du mußt morgen im Geſchäft ſein. Eben 
Zulage bekommen und dann gleich fehlen, das paßt 
ſich nicht. Aber du ſchreibſt einfach an das Poſtamt 
in Neuftadt, der Brief ſolle zurückgehen. Oder noch 
beſſer, du telegraphierſt.“ 

„Na, und dann?“ 

„Dann kommt der Brief zurück, und die Sache iſt 
erledigt. Es ſteht ja deine Adreſſe drauf.“ 

„Und das Porto?“ 

Karſch war ratlos. 
| Greglinger jammerte: „Wenn ich nicht bezahle, 

verklagt mich die Poſt natürlich, beſchlagnahmt mein 
Gehalt, und der Chef erfährt von dem Blödſinn. Da 
kann ich mir gratulieren.“ 

„Deine Wirtin legt's aus. Wenn ein Brief mit einer 
Million ankommt, kann die Frau das wahrhaftig tun.“ 

„Und der Brief und die Kneiperei heute — das 
macht die Zulage von vier Monaten.“ 

„Man muß ſich immer freuen, wenn eine Dumm 
heit wenigſtens wieder gutzumachen iſt,“ entſchied 
Karſch philoſophiſch. „Nun komm! Das Telegramm 
werde ich bezahlen.“ 

Es koſtete zwei Mark und zehn Pfennig, denn es 
war ein klares und deutliches Telegramm. Der Tele- 
graphenbeamte nahm es mit jener Demut an, die der 
im Text vorkommenden Million gebührte. 

Der Reit des Sonntags verlief ohne weitere Feier- 
lichkeiten. j 


14 Inhalt: Eine Million Mark. . 


In der Woche war Eduard Greglinger, wie er— 
wähnt, im Geſchäft; er ging morgens fort und kam 
abends wieder, manchmal ſogar recht ſpät. 

Am Dienstagvormittag klingelte es bei ſeiner 
Zimmerwirtin, der Witwe Kimme, Tobiasſtraße 13, 
drei Treppen links. Es war der Geldbriefträger. 

Er kam aber nicht allein, ſondern hatte einen Kol- 
legen als Schutz und Wache mit. Der Poſtamtsvor- 
ſtand hatte das für notwendig gehalten. Wenn der 
Poſtfiskus eine Million hätte erſetzen müſſen! Eine 
runde Million auf der Ausgabeſeite mehr im Poſt—- 
budget! Die Sache wäre ja im Reichstage zur Sprache 
gekommen. 

Alſo, der Geldbriefträger fragte nach Herrn Greg- 
linger. Er war ſehr enttäuſcht, von Frau Kimme zu 
hören, daß dieſer nicht zu Hauſe ſei. Abgeſehen vom 
dienſtlichen ſchien auch ein rein privates FIntereſſe bei 
ihm vorhanden zu ſein, den Herrn zu Geſicht zu be— 
kommen. Wann er denn ſicher zu Hauſe ſei? In 
der Woche wohl kaum während des Tages? Nun, 
er würde morgen vormittag wiederkommen, Herr 
Greglinger möchte doch ſo lange zu Hauſe bleiben, 
der Brief mit der Million ſei nämlich da! 

Dann ging er mit feiner Begleitungsmannſchaft ab. 
Der Herr Poſtamtsvorſtand aber ſah eine ſchlafloſe 
Nacht vor ſich. 

Genau 14 Minuten 43 Sekunden nach dem Fort- 
gehen des Geldbriefträgers wußte das ganze Haus 
Tobiasſtraße 15 — und es war ein großes Miets- 
gebäude —, daß für Herrn Eduard Greglinger eine 
Million angekommen war. Zeden Augenblick, wenn 
er wolle, könne er ſie haben; er brauche nur aufs 
Poſtamt zu gehen, ſich genügend zu legitimieren und 
das Geld abzuholen. Wenn er aber bis zum nächſten 


— — ut . 


D Humoreske von Peter Robinfon. 15 


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— 


Morgen wartete, trug man es ihm ſogar ins Haus; 
er brauchte ſich gar nicht einmal darum zu bemühen. 
Nein, dieſer junge Herr Greglinger! 
Aber wie kam er nur zu einer Million? Hatte er 


14 Inhalt: Eine Million Mark. U 


In der Woche war Eduard Greglinger, wie er— 
wähnt, im Geſchäft; er ging morgens fort und kam 
abends wieder, manchmal ſogar recht ſpät. 

Am Dienstagvormittag klingelte es bei ſeiner 
Zimmerwirtin, der Witwe Kimme, Tobiasſtraße 13, 
drei Treppen links. Es war der Geldbriefträger. 

Er kam aber nicht allein, ſondern hatte einen Kol- 
legen als Schutz und Wache mit. Der Poſtamtsvor- 
ſtand hatte das für notwendig gehalten. Wenn der 
Poſtfiskus eine Million hätte erſetzen müſſen! Eine 
runde Million auf der Ausgabeſeite mehr im Poſt— 
budget! Die Sache wäre ja im Reichstage zur Sprache 
gekommen. . 

Alſo, der Geldbriefträger fragte nach Herrn Greg— 
linger. Er war ſehr enttäuſcht, von Frau Kimme zu 
hören, daß dieſer nicht zu Hauſe ſei. Abgeſehen vom 
dienſtlichen ſchien auch ein rein privates Intereſſe bei 
ihm vorhanden zu ſein, den Herrn zu Geſicht zu be— 
kommen. Wann er denn ſicher zu Hauſe ſei? In 
der Woche wohl kaum während des Tages? Nun, 
er würde morgen vormittag wiederkommen, Herr 
Greglinger möchte doch ſo lange zu Hauſe bleiben, 
der Brief mit der Willion ſei nämlich da! 

Dann ging er mit ſeiner Begleitungsmannſchaft ab. 
Der Herr Poſtamtsvorſtand aber ſah eine ſchlafloſe 
Nacht vor ſich. | 

Genau 14 Minuten 45 Sekunden nach dem Fort- 
gehen des Geldbriefträgers wußte das ganze Haus 
Tobiasſtraße 15 — und es war ein großes Miets- 
gebäude —, daß für Herrn Eduard Greglinger eine 
Million angekommen war. Zeden Augenblick, wenn 
er wolle, könne er fie haben; er brauche nur auf 
Poſtamt zu gehen, ſich genügend zu legitimieren 
das Geld abzuholen. Wenn er aber bis zum m 


2 Humoreske von Peter Robinſon. 15 


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ar ins Haus; 
zu bemüben. 


lion? Hatte ct 


15 Snhalt: Eine Million Mark, 0 
ſie geerbt? Schwerlich. Wenn man die Ausſicht hat, 
eine Million zu erben, iſt man nicht junger Mann bei 
Sachſenheimer & Komp. Wahrſcheinlich hatte er ſie 
in der Lotterie gewonnen. Aber in welcher? In 
der preußiſchen? Da iſt der höchſte Gewinn ja nur 
eine halbe Million, eine armſelige halbe Million! In 
der Hamburger? Auch da kann man im günſtigſten 
Fall nur ſechsmalhunderttauſend Mark gewinnen. Aber 
man weiß ja, was das heißt: im günſtigſten Falle! 
Erdbeben in der Lüneburger Heide ſind eine alltägliche 
Erſcheinung gegenüber ſolchen günſtigſten Fällen. Und 
außerdem: es ſtand ja feſt, daß der Wertbrief eine 
ganze Million Mark enthielt. Nun, es gibt ja auch 
ausländiſche Lotterien, merkwürdige Prämienloſe exo- 
tiſchen Charakters mit ganz ungeheuren Gewinnen. 

Um zwölf Uhr mittags war aus vagen Hypotheſen 
die feſte Theorie geworden: Herr Greglinger hatte 
auf ein ausländiſches Prämienlos, wahrſcheinlich auf 
ein uruguayſches — über dies Wort ftolperten die 
meiſten Zungen — eine Million Mark gewonnen. Za, 
da ſah man es wieder: ſolche ausländiſchen Sachen 
waren doch beſſer als die einheimiſchen. Die alte deutſche 
Gewohnheit, auf das Ausland als auf ein Paradies 
zu blicken, erfuhr im Hauſe Tobiasſtraße 15 an dieſem 
Tage weſentliche Stärkung. 

Am Nachmittag wußte ſchon die ganze Nachbar- 
ſchaft Beſcheid, und die Ladeninhaber waren ungemein 
beſchäftigt, Empfehlungen und Anerbietungen zu 
ſchreiben, alle an die Adreſſe des neuen Millionärs 
gerichtet. 

Am Mittwochmorgen wurde Herr Greglinger durch 
die erſte Poſt mit dieſen Offerten überſchüttet. Er 
blieb zu Haufe und wartete auf den Geldbriefträger, 
denn die Geſchichte mußte erledigt werden. Frau 


o Humoreske von Peter Robinfon. 17 


Kimme hatte er durch ein kühles „Es iſt gut! Ich 
weiß ſchon“ in Staunen geſetzt. 

Sie hatte ihm übrigens ein anderes Frühſtück als 
gewöhnlich gebracht. Sonſt bekam er Malzkaffee, zwei 
Waſſerſemmeln und ein wenig Kochbutter. Heute gab 
es richtigen Kaffee, echte Butter, Milchſemmeln, Honig, 
zwei weiche Eier und ein halbes Viertelpfund Schinken. 
Das war das mindeſte, was Frau Kimme einem Mil- 
lionär vorſetzen zu müſſen glaubte. 

Greglinger dachte mit Schrecken, wie ſich ſeine 
Monatsrechnung entwickeln müßte, wenn das ſo weiter- 
gehen würde, und verbat ſich ein ſolches Frühſtüͤck; ſein 
Magen vertrüge jo ſchwere Sachen in der Frühe nicht. 

Frau Kimme vernahm das mit tiefem Mitgefühl. 
Das war die alte Sache: wenn einer Geld hatte und 
ſein Leben genießen konnte, dann erlaubte ihm das 
irgend ein körperlicher Zuſtand nicht, der Magen, die 
Leber, die Nieren, die Arterien oder ſonſt etwas. Das 
war eben die ausgleichende Gerechtigkeit den Minder- 
bemittelten gegenüber. Frau Kimme entſann ſich, 
einmal irgendwann und irgendwo geleſen zu haben, 
daß Rockefeller, der reichſte Mann der Erde, nur von 
rohen Mohrrüben lebe, weil er etwas anderes nicht 
genießen darf. Solche Notizen, die in ſozialer Hinſicht 
ungemein verſöhnlich wirken, findet man oft in den 
Zeitungen. 

Endlich kam der Geldbriefträger mit ſeiner Be⸗ 
gleitung. Greglinger nahm ihm den Brief ab und 
bezahlte 168 Mark. Die hatte er ſich von Kollegen 
zuſammengeliehen; es wäre ihm doch peinlich ge— 
weſen, Frau Kimme darum zu bitten, die ja nicht ohne 
Berechtigung wohl auch auf umgehende Rückgabe des 
Geldes gerechnet hätte. Herausgeben ließ er ſich von 
dem Briefträger nichts. | == 

1913. I. | 2 


18 | Inhalt: Eine Million Mark. u 


Es läßt ſich nicht verhehlen, daß dieſer und die Wach- 
mannſchaft ſich recht enttäuſcht entfernten. Sie hatten 
auf reicheren Lohn gehofft, und der Geldbriefträger 
hatte ſeiner Frau ſchon einen neuen Sommerhut ver- 
ſprochen. 

Aber ſo ſind die Reichen! Und auch der Geldbrief— 
träger wußte eine zu trefflichem Vergleich dienende 
Geſchichte von Herrn Rockefeller, der manchmal auch 
durch die fabelhafte Geringfügigkeit ſeiner Geſchenke 
trotz ſeiner ſonſtigen großen Stiftungen in Erſtaunen 
zu ſetzen pflegt. 

Greglinger ging ins Geſchäft. Die Tafel Schoko- 
lade trug er bei ſich; fie war auf ihrer Reife zerbrochen. 
Mechaniſch knabberte er die einzelnen Stückchen unter- 
wegs auf. So teure Schokolade hatte er noch niemals 
gegeſſen, aber ſchon beſſere. | 

Für Frau Kimme aber ſtand es feſt, daß ihr Mieter 
jetzt zur Bank gegangen war, um ſeine Dispoſitionen 
zu treffen. Leider würde er natürlich jetzt nicht mehr 
bei ihr wohnen bleiben wollen, das Logis würde ihm 
zu beſcheiden ſein. 

Karſch fand die Sache eigentlich recht ſpaßhaft. 
Als Greglinger ihm die vielen eingelaufenen Offerten 
zeigte, ſah er ſogar einen ganz erfreulichen Hintergrund 
dabei. „Menſch, was kannſt du dir jetzt nicht alles kau— 
fen! Mit dem Bezahlen hat es lange Zeit. Die Leute 
werden froh ſein, dir liefern zu dürfen.“ 

Aber Greglinger hatte keine Luſt, ſich auf ſolche 
unſicheren Unternehmungen einzulaſſen. — 

Am nächſten Sonntagvormittag beſuchten ihn ſchon 
ganz früh allerlei Leute, die viele und gute Dinge zu 
verkaufen hatten. Drei Schneider kamen, von denen 
jeder ein Dutzend Anzüge in wenigen Tagen auf das 
eleganteſte herſtellen wollte, zwei Schuhmacher, die 


oO Humoreske von Peter Robinfon. 19 


nichts als feinſte Lackſtiefel als für ihn paſſend an- 
prieſen, vier Zigarrenhändler, die ſo viel Gratisproben 
mitbrachten und unter keinen Umſtänden wieder mit- 
nehmen wollten, daß Greglingers Rauchbedarf minde— 
ſtens auf ein halbes Fahr gedeckt war, ein Wein- 
händler — der g 
brachte nur 
ſein eigenes 
Geſicht als 
Hinweis auf 
die Güte ſei— 


e 
et 


“ 


. 
2 
Ju 


ner Marken mit, ein Juwelier und verſchiedene an- 
dere, teilweiſe recht aufdringliche Menſchen. 

Schließlich machte auch Herr Schimanski, der Be— 
ſitzer des Hauſes Tobiasſtraße 13, feine Aufwartung. 
Ob Herr Greglinger nicht die erſte Etage des Hauſes 
oder wenigſtens die Hälfte mieten wollte, ſie würde 
zum Oktober frei. 


20 Inhalt: Eine Million Mark. u 


Greglinger bedauerte ſehr; die Gegend wäre ihm 
nicht frei genug, er wollte lieber in ein Villenviertel 
ziehen. Tatſache war, daß er ſich entſchloſſen hatte, 
Frau Kimme zu kündigen und ſich in das entfernteſte 
Stadtviertel zu flüchten, da er den Anforderungen 
feines ſteigenden Millionärrufes hier nicht mehr ge- 
wachſen zu ſein glaubte. 

Herr Schimanski hatte aber noch ein anderes An- 
gebot. Der große Eckladen im Hauſe, der umgebaut 
worden war — wie wäre es damit? Falls Herr Greg- 
linger die Abſicht hätte, ſich jetzt zu etablieren — mein 
Gott, ein junger Mann wie er braucht doch Tätigkeit! 
— ließe ſich ein ausgezeichneteres Lokal wirklich nicht 
finden. Fünf Schaufenſter, ſoundſoviel Quadratmeter 
Raum, elektriſches Licht, alle Errungenſchaften der 
Neuzeit! Und beliebig vergrößern ließe ſich das Lokal 
jederzeit. Erſt könnte man die anderen Läden hin— 
zunehmen, dann die erſte, dann die zweite Etage, 
ſchließlich das ganze Haus umbauen. Warum denn 
auch nicht? Ein Warenhaus fehlte noch in der Gegend. 
Herr Schimanski ſah ungeheure Pexſpeltipen vor ſich 
und berechnete ſchon die Wertzuwachsſteuer, die 3 
Grundſtück einmal abwerfen würde. 

Greglinger ſagte nein. Herr Schimanski ſchüttelte 
den Kopf und bat ihn, ſich die Sache zu überlegen. 
Das verſprach Greglinger. 

Am Nachmittag erzählte er ſeinem Freunde Karſch 
von der Offerte. Der war begeiſtert. „Menſch, miete 
ſofort den Laden! Heirate, laß dir deine Mitgift 
geben und etabliere dich, du haſt eine große Zukunft 
vor dir!“ 

Er redete ſo lange, bis Greglinger ſich une die e 
ſetzte und nach Neuſtadt fuhr. 

Aber fein zukünftiger Schwiegervater war ein vor— 


u Humoreske von Peter Robinſon. 21 


ſichtiger Mann. Mit ſeinem guten Gelde ein Geſchäft 
in der unſoliden Großſtadt anfangen? Welch ein 
Riſiko! Ja, wenn Greglinger ſich bei einem zweifellos 
ſoliden Unternehmen beteiligen könnte, dann könnte 
die Heirat ſeinetwegen ſtattfinden, denn einmal müßte 
es ja doch ſein. 

Greglinger war nicht beſonders befriedigt. Er ſah 
ſich noch das Poſtamt in Neuftadt an, das feine teure 
Schokolade beherbergt hatte, und fuhr dann zurück. 

Darauf nahm Karſch die Angelegenheit in die Hände. 
Er ſetzte ſich ſeinen Zylinder auf und ging zu Herrn 
Schimanski. Er habe gehört, daß der Edladen zu ver- 
mieten ſei. Nun gut: hier ſei er, ein ſtrebſamer 
junger Kaufmann, der ſich etablieren wolle. Ob Herr 
Schimanski ihm den Laden überlaſſen und die erſte 
Sahresmiete kreditieren wolle, gegen Gewinnbetei- 
ligung natürlich. Er ſprach von herrlichen Ausſichten 
und entwickelte großartige Pläne. 

Schimanski hatte Bedenken. Das wäre ja alles 
ſchön und gut, aber wenn Herr Karſch gar kein Kapital 
hätte, nicht einmal jemand, der ſich für ihn verbürgte — 

Oh, wenn es nur daran läge, erwiderte Karſch ſo-⸗ 
fort, dann ſeien gar keine Schwierigkeiten vorhanden; 
Herr Greglinger, der ja hier im Hauſe wohne, ſein 
beſter Freund, würde ſich mit Vergnügen für ihn ver- 
bürgen. 

Das ſei freilich etwas anderes, meinte Herr 
Schimanski, dann ließe ſich die Sache ſchon ins Auge 
faſſen. 8 

Und Herr Greglinger verbürgte ſich, und Herr Karſch 
bekam den Laden. 

Darauf ſchrieb Greglinger nach Neuſtadt, er habe 
einen Teilhaber gefunden, der im Hauſe Tobiasſtraße 13 
ein Geſchäft eröffnen würde; die Teilhaberſchaft böte 


22 Inhalt: Eine Million Mark. u 
— e 2 


glänzende Ausſichten. Herr Schimanski, der Beſitzer 
des Hauſes, würde gern Auskunft über Herrn Karſch 
geben. ö 
Auf eine Anfrage des alten Herrn aus Neuſtadt, 
was für ein Menſch ein gewiſſer Herr Karſch ſei, 
antwortete Schimanski, das ſei ein ſehr tüchtiger, 
äußerft ſtrebſamer junger Kaufmann, der über aus- 
gezeichnete Beziehungen verfüge und einen ungemein 
ſolventen Geldgeber habe. 

Daraufhin durfte Greglinger ſeiner Braut und ſeine 
eigenen Papiere beim Standesamt einreichen, und ſein 
Schwiegervater ſchickte ſich an, die Mitgift flüſſig zu 
machen. 

Wenn ſich nun die neue Firma Karſch & Komp. 
eigentlich nur auf einer Tafel Schokolade zu zehn 
Pfennig aufbaute, was ſchadete das? | 

Auf noch weit unſoliderer Baſis find oft genug 
große Geſchäfte doch zum Blühen und Gedeihen ge— 
bracht worden. 

Und Greglinger hatte ja eine Million! 


59 
+ 


EIEIEIEIEIES 


„Ave, cariffima!’ 
Roman von E. v. Adlersfeld-Balleftrem. 


* [nachoͤruck verboten.) 
Erſtes Buch. 
Im Palazzo Domiziani. 


m Herzen Roms, von drei engen Gaſſen einge- 
ſchloſſen, liegt der Palazzo Domiziani. Auf der 
vierten, der Frontſeite, öffnet ſich nach Südweſten die 
Gaſſe halbwegs zu einem kleinen Platz mit einem kleinen 
ſteinernen Brunnenbaſſin, auf dem ein moosbewachſe— 
ner Neptun das Waſſer aus feinem Dreizad rieſeln läßt, 
das gute, reine, kriſtallhelle Waſſer Roms aus der Aqua 
Vergine. Auf der anderen Seite dieſes kleinen Plätzchens 
ſteht der „Palazzino“, der Witwenſitz des großen Hauſes. 
Der Palazzo Domiziani iſt einer der größten Roms, 
denn er enthält gegen vierhundert Wohnräume und um- 
ſchließt zwei große Innenhöfe, von denen der eine, in 
dem dem Platze zugekehrten Teile, eigentlich ein Garten 
iſt, loggienumgürtet und geteilt durch eine fäulen- 
getragene offene Kolonnade, deren Dach eine Verbin- 
dungsbrüde zwiſchen den zwei Flügeln bildet. Statuen 
römiſcher Cäſaren und Kaiſerinnen ſtehen auf den 
durch elegante Marmorbaluſtraden verbundenen Poſta— 
menten und geben der reizenden, luftigen Brücken— 
kolonnade eine prächtige Krönung. Zu beiden Seiten 
ſpenden Fontänen immerrieſelnde Waſſerſtrahlen, Bal- 


24 „Ave, cariſſima!“ 2 


men, Lorbeerbüſche, Rhododendren, Mimoſen und Ka- 
melienbäume machen dieſen zweiteiligen Hof zu einem 
wonnigen Tuskulum, in das der Vorübergehende durch 
das meiſt offene ſäulengetragene Portal einen Blick 
werfen kann. Und wenn die Herrſchaft abweſend iſt, 
dann erlaubt wohl auch der rieſenhafte Portier in ſeiner 
purpurnen Livree gegen ein kleines Trinkgeld, näher 
zu treten, um den Hof in ſeiner ganzen Ausdehnung 
und reizvollen Pracht überblicken zu können, indem er 
gnädigſt erklärt, daß die Wohnräume der Herrſchaft 
hier heraus liegen, während die Staats- und Emp- 
fangsgemächer nach dem Platze und den Straßen gehen. 
Der Großmächtige läßt auch mit ſich reden, die Staats- 
gemächer zu öffnen, falls die Herrſchaft verreiſt oder 
in der Campagna iſt; er ruft dann einen Diener, dem 
neugierigen Fremden die von Pietro da Cortona, Giulio 
Romano und Pozzo gemalten Dedenfresten der drei 
mächtigen Säle zu zeigen und von den Kunſtgegen- 
ſtänden die beiden wundervollen Büſten des Konſuls 
Domitius Ahenobarbus und feiner Gemahlin Agrippina, 
der Urenkelin des Kaiſers Auguſtus, der Mutter Neros, 
die in zweiter Ehe des Kaiſers Claudius letzte Gemahlin 
wurde. | 

Denn von dieſem erlauchten Paare leiten die Do- 
miziani ihre Abſtammung her. 

„Wie können Sie dergleichen behaupten?“ hatte 
Napoleon I. in feiner brüsken Weiſe den damaligen 
Chef des Hauſes angefahren. 

„Sire,“ hatte dieſer mit feinem Lächeln geant- 
wortet, „ich kann es leider nicht beweiſen, aber meine 
Familie behauptet es feit mehr als zweitauſend Jahren.“ 

Die beiden Büſten ſind auf alle Fälle zeitgenöſſiſche 
Neiſterwerke, denn noch kein Archäologe hat ſie als 
ſolche beſtritten, wenigſtens nicht die der Kaiſerin Agrip— 


D Roman von E. v. Adlersfeld-Balleſtrem. 25 


pina der Jüngeren, deren ſchöne Zulierrafjezüge aus 
den Muſeen Roms allzu bekannt ſind, um angefochten 
werden zu können. Womit natürlich nicht geſagt ſein 
ſoll, daß es nicht doch noch geſchieht durch einen Kunſt- 
ſchriftſteller, der, um nicht immer das Alte zu wieder- 
holen, Neues behaupten muß, ſchon um zu beweiſen, 
daß er es beſſer weiß als ſeine Vorgänger. 

Der zweite Innenhof des Palaſtes Domiziani iſt 
kein rechteckiges Quadrat, ſondern er verjüngt ſich nach 
Oſten. An feiner ſchmalſten Seite lehnt ſich ein monu- 
mentaler Brunnen an die hohe, faſt fenſterloſe Mauer 
des älteſten Teils des Palaſtes, der noch aus dem 
Mittelalter ſtammt und an den das Quadrat mit den 
Kolonnaden im Cinquecentoſtil angebaut wurde, als 
der Glanz des Hauſes zu ſeiner höchſten Höhe dadurch 
geſtiegen war, daß ein Papſt aus ihm hervorging, der 
ſein Wappen, eine gekrönte grüne Schlange auf goldenem 
Schilde, von der Tiara überragt, auf den gekreuzten 
Petersſchlüſſeln über dem großen Portal anbringen ließ. 

Die Domiziani, Fürſten von Rocca de’ Serpi, ge- 
hörten zu den mächtigſten Baronialgeſchlechtern Roms, 
zu den feudalſten der feudalen ehemaligen Souveräne, 
mit denen ſogar ein Ceſare Borgia nicht fertig wurde, 
die ſich in den blutigen Tagen des Mittelalters gegen- 
ſeitig ohne Unterlaß befehdeten, Krieg mit den Päp- 
ſten führten und unerhörte Gewalttaten verübten. 
Sie überſtanden die ſchwerſten Kriſen, ſogar aus dem 
„Sacco“, der Plünderung Roms 1527 durch den Conne- 
table von Bourbon, mit dem heute noch in einem alten 
Liede die Mütter in Borgo ihre widerſpenſtigen Kinder 
ſchrecken, gingen die Domiziani ſiegreich hervor, und 
erſt in dem großen Bauſchwindel der ſiebziger Jahre 
des vergangenen Jahrhunderts erhielt auch dieſes große 
Haus einen finanziellen Stoß, von dem es zwar nicht 


26 MAve, cariffima !“ u 


umgeworfen, aber doch inſoweit erſchüttert wurde, daß 
es im Verein mit der Mißwirtſchaft und den noblen 
Paſſionen des letzten Fürſten etwas zu kränkeln be- 
gann. | 

Viele der anderen großen Nobili Roms haben jeit- 
dem nicht verſchmäht, die Erdgeſchoſſe ihrer Paläſte 
als Kaufläden zu vermieten oder ſie, zu Magazinen um- 
geſtaltet, gleichfalls mietweiſe abzugeben; auch große 
Partien der überreichen Räumlichkeiten ſind in vielen 
Paläſten zu Verwaltungszwecken abgetreten worden, 
ohne den Komfort der Familie zu beeinträchtigen, 
denn wer ſie nicht geſehen, kann ſich von der Aus- 
dehnung eines römiſchen Feudalhauſes keinen an— 
nähernden Begriff machen. Die Domiziani hatten 
ſich aber inſoweit halten können, als der Handel in 
ihren Palaſt nicht einzog. Seine Lage hätte ohnehin 
die Anbringung von Kaufläden ausgeſchloſſen, denn 
wer kam von kaufluſtigen Fremden hier vorbei? Die 
meiſten wiſſen gar nicht, wo der Palaſt verſteckt liegt, 
und fährt eine Oroſchke ſie einmal daran vorüber, dann 
ſagen ihnen die hohen, altersgrauen Mauern nichts von 
der verbleichenden Pracht dahinter, und ſelbſt wenn ſie 
einen Blick durch das offene Portal in den köſtlichen 
Hof mit der offenen Säulenkolonnade werfen, ſo iſt 
dieſer Blick ein ſo flüchtiger, daß ſein Eindruck an der 
nächſten Ecke ſchon vergeſſen iſt. Nur wer Rom zu Fuß 
durchwandert, wird vor dem Palazzo Domiziani halt 
machen, nur wer ſuchend ins Herz von Rom dringt, 
wird fragend vor ihm ſtehen bleiben. 

Alſo, weder Kaufläden noch Magazine waren in 
das edle Ruſtikaerdgeſchoß eingezogen. Die Domi— 
ziani hatten ſich durch den Verkauf von ein paar Villen 
in der Campagna vor der Berührung des Handels zu 
ſchützen gewußt und ihre Einkünfte durch Vermietung 


1 Roman von E. v. Adlersfeld-Balleftrem. 27 


einiger der immer leer geſtandenen überflüſſigen Wohn- 
zimmerfluchten verbeſſert. Ein Kardinal hatte eine 
ſolche Flucht bezogen; ein Advokat eine andere im 
Erdgeſchoß nach der engen, dunklen Via della Lupa 
hinaus zu ſeinen Bureaus gemacht; ein einſamer alter 
Gelehrter bewohnte ein paar andere Zimmer des 
Mezzanin nach der Via del Lauro; darüber die Zimmer- 
flucht eine fremde junge Witwe, die ſich in Rom amü- 
ſieren wollte. 

Alle dieſe Wohnungen hatten ihre beſonderen Ein- 
gänge von der Straße und ſahen innen auf den 
Hof mit dem Monumentalbrunnen und den ſchönen 
Orangenbäumen hinaus — ſie waren praktiſch von den 
Beſitzern ſo getrennt und abgeſchloſſen, als ob ſie gar 
nicht zum Palazzo gehörten. | 

Das Haus Domiziani beitand zur Zeit, da dieſe 
Geſchichte beginnt, eigentlich nur aus zwei Perſonen, 
die ſich in den ungeheuren Räumen faſt verloren — 
es waren dies der derzeitige Chef des Hauſes, der un- 
verheiratete Don Cornelio Domiziani, Fürſt von Rocca 
de’ Serpi, und feine Tante, Donna Lucrezia Domi- 
ziani, ſeines Vaters älteſte und unvermählte Schweſter. 
Da beide Eltern des noch jungen Fürſten tot waren, 
ſo ſtand auch der Palazzino, der Witwenſitz der Für- 
ſtinnen von Rocca de' Serpi, leer und konnte nach 
Herzensluſt vermodern. Die beiden Schweſtern des 
Fürſten waren verheiratet, die eine in Florenz, die 
andere in Neapel, und falls ſie nach Rom kamen, ſo 
ſtanden ihnen im Vaterhauſe ſelbſtverſtändlich Ab- 
ſteigequartiere zur Verfügung; aber fie kamen ſelten 
genug nach Rom, denn die Marcheja de' Bardi und 
die Ducheſſa Carovita machten ſelbſt große Häuſer, 
ſie hatten ihre eigenen Landſitze und — die Schwäger 
hatten gegenſeitig nicht allzuviel füreinander übrig. 


28 „Ave, cariſſima!“ u 


Die Schuld daran lag ausſchließlich auf römiſcher 
Seite und dieſer gewiſſermaßen im Blute — „das 


Erbteil des Domitius Ahenobarbus und der jüngeren 


Agrippina“, wie Donna Lucrezia bitter zu bemerken 


pflegte, wenn ihre Nichten ſich bei ihr über den Bruder 
beklagten. Sie, die in faſt klöſterlicher Abgeſchieden⸗ 
heit lebte und in Werken der Barmherzigkeit ihre Be- 
friedigung fand, hatte viel nachgedacht über die Chronik 
ihres Hauſes und charakteriſierte deſſen männliche 
Sproſſen als „überſtrenge, harte Väter, unbotmäßige 
Söhne, mittelmäßige Brüder, zärtliche Neffen, treu- 
loſe, grauſame Gatten“. Sie hätte dieſer häuslichen 
Charakteriſtik noch hinzufügen können, daß man die 
Domiziani als glänzende, ſchneidige Soldaten, große 
Diplomaten und Gelehrte, gefährliche Feinde und 
verräteriſche Freunde, herzloſe Liebhaber und un- 
ſichere Verbündete kennen gelernt hatte. 

Glänzend faſt durchweg begabt, hatten ſich viele 
von ihnen zu Genies emporgeſchwungen. Liebens- 
würdig von dem Genre „Gaſſenengel — Hausteufel“ 
waren ſie durchweg, Häßliche hatte es wenige nur 
unter ihnen gegeben, mutig bis zur Waghalſigkeit 
waren ſie alle, hinreißend konnten ſie ſein, wo ſie es 
wollten, und freigebig dazu. Aber es gab auch kein 
Laſter, dem ſie nicht nahe geſtanden. 

Don Cornelio, kurzweg Nelio in der Familie ge- 
nannt, ſchien bisher alle dieſe Eigenſchaften ſeiner 
Raſſe nur in dem verfeinerten, kultivierten Grade 
eines Gentlemans des zwanzigſten Jahrhunderts zu be- 
ſitzen. Jetzt dreißig Jahre alt, war er vor zwei Jahren 
in den Beſitz des Titels eines Fürſten von Rocca de' 
Serpi gelangt und hatte bis dahin als Kapitän einem 
der vornehmſten Reiterregimenter angehört und ſich 
darin zweifellos durch Pflichttreue und ſchneidige 


3 —ů— —— ee EHRGEEE EEE res Ye 


0 Roman von E. v. Adlersfeld-Balleftrem. 29 


Reiterkunſt ausgezeichnet. In dem Beſitz der Würde 
eines Chefs feines Hauſes hatte er die Uniform aus- 
gezogen und das maleriſche Gewand eines Kämme— 
rers im Vatikan angelegt, die Wandlung aber mit 
jener kühlen, ſelbſtverſtändlichen Überlegenheit voll- 
zogen, die auch ein Charakteriſtikum ſeines Hauſes 
war. Der alte Fürſt, ſein Vater, war zwar ſelbſt eine 
der Säulen des ſogenannten ſchwarzen Roms ge- 
blieben, aber nach dem domizianiſchen Grundſatz, daß 
man immer ſehr höflich gegen Gott ſein kann, ohne 
darum den Teufel zu beleidigen, hatte er es zugelaſſen, 
daß fein Sohn unter die Fahne des geeinten Staliens 
trat und einer der glänzendſten Kavaliere des Hofes 
im Quirinal wurde. Mit der ausgezogenen Uniform 
wurde Don Nelio aber der Chef eines Hauſes, das 
ſeine Pflichten gegen den Vatikan kannte, und ohne 
weiteres übernahm er fie als etwas ganz Selbſtver⸗ 
ſtändliches. 

Vermöge der eigentümlichen Zärtlichkeit, die allen 
Domiziani gegen ihre Tanten und Oheime innewohnte, 
vermochte er dann auch Donna Lucrezia, die ihrem 
verſtorbenen Bruder die längſt ſchon am gebrochenen 
Herzen dahingeſchiedene Hausfrau und Mutter ſeiner 
Kinder erſetzt hatte, bei ihm zu bleiben. Seine Liebe 
zu dieſer verehrungswürdigen Dame war denn auch 
ſeine erlöſende Eigenſchaft, die jenes Engels, der die 
Taten der Menſchen aufzeichnet, vielleicht mit unaus- 
löſchlichen Zügen in ſchwerwiegenden Lettern zu jei- 
nen Gunſten für die große Abrechnung am Züngſten 
Tage in fein Buch eingetragen hat. 

So ſteht's wenigſtens zu hoffen. 

Donna Lucrezia hatte es von ihrer freudloſen 
Jugend an eigentlich in die ſtillen Kloſtermauern ge— 
zogen, aber ihr vom edelſten Pflichteifer erfülltes Herz 


30 „Ave, cariſſima!“ n 


hatte fie erſt als Pflegerin einer Schweſter, dann als 
Helferin zu ihrem Bruder getrieben, und nur zu gern 
folgte ſie der Bitte ihres Neffen, bei ihm zu bleiben 
und ſeinem Hauſe vorzuſtehen, bis er ſich vermählt 
haben würde. Die große Repräſentation machte er 
ihr leicht genug, denn er ſah für gewöhnlich nur Herren 
bei ſich; wenn er aber die Feſträume zweimal in jedem 
Winter der römiſchen großen Welt öffnete, dann ſtand 
Donna Lucrezia, eine wahrhaft klaſſiſche Geſtalt im 
ſchneeweißen Haar, juwelenfunkelnd, in ſchwarzem 
Samt im Empfangſaal und hatte nach alter guter Art 
für jeden und jede einen freundlichen Gruß und ein 
gütiges Wort. 

Aber ſie fürchtete dieſe langen, anſtrengenden 
Nächte, die ſie an der Stelle der noch fehlenden Fürſtin 
von Rocca de' Serpi der Repräfentation ihres großen 
Namens opfern mußte, und immer war noch keine 
Ausſicht, daß Nelio ſeinem Hauſe die erſehnte Herrin 
zu bringen gedachte. 

Donna Lucrezia, uneigennützig wie ſie war, konnte 
ſich der Erkenntnis, daß ihr Neffe darauf ſehen mußte, 
eine reiche Frau zu wählen, nicht verſchließen, aber 
ſie bedauerte dieſe Notwendigkeit und fürchtete ſich vor 
einer Dollarprinzeſſin, wenn ſchon der Nebengedanke, 
daß eine ſolche vielleicht eher den domizianiſchen 
Charaktereigentümlichkeiten gewachſen ſein würde, ihr 
Hoffnung für ein beſſeres Schickſal der künftigen Fürſtin 
von Rocca de' Serpi einflößte. Denn das Schickſal 
der früheren war faſt ausnahmslos ein eheliches Elend 
geweſen — nichts mehr und nichts weniger. 

Es lag nun einmal nicht in dem Blute der Domi— 
ziani, gute Gatten zu ſein, und darum wäre es vielleicht 
beſſer geweſen, Nelio heiratete überhaupt nicht. Aber 
wenn er keine Erben hatte, dann kam die jüngere 


u Roman von E. v. Adlersfeld-Balleſtrem. 31 


Linie in den Beſitz des Seniorates, Leute, die die Be- 
deutung des großen Namens vergeſſen zu haben ſchienen, 
denn fie waren nach Amerika ausgewandert und mach- 
ten dort Geld wie jeder Schweinemetzger oder Bier- 
brauer von Chicago. Wenigſtens ging das Gerücht, 
daß der Chef der jüngeren Linie, ein Vetter des ver- 
ſtorbenen Fürſten, Leder fabrizierte — Leder! 

Donna Lucrezia überlief es immer kalt, wenn ſie 
daran dachte, denn der Geiſt der Neuzeit war ganz 
unbemerkt an ihrer Zimmertür vorbeigegangen, und 
nur mit Entſetzen ſah ſie, daß in ihrem Kreiſe ſich viele 
der edelſten Namen an induſtriellen Unternehmungen 
beteiligten. 

Und Nelio gefiel ſich geradezu darin, zu behaupten, 
daß dieſer Domiziani ein kluger Kopf ſei und man beſſer 
täte, ſich freundſchaftlich mit ihm zu ſtellen. So hatte 
er den Lederonkel tatſächlich nach Rom, in den Palazzo 
Domiziani eingeladen! Sie, Donna Lucrezia, hatte 
den Brief geſehen, denn Nelio hatte ihn ihr gezeigt 
und auch die Antwort aus Boſton mit dem kühlen 
Dante und dem Schreckenswort „vielleicht ſpäter ein- 
mal“. Der Vetter aus Amerika war ſeitdem zum Alp 
ihrer Träume geworden, denn ſie hatte einmal in der 
Campagna eine Gerberei geſehen und ſtellte ſich dieſen 
entarteten Domiziani immer im Koſtüm der Gerber- 


geſellen vor mitſamt dem eigenartigen und ihr ſo 


widerlichen Geruch des Betriebes. 

Donna Lucrezia Domiziani war aber durchaus 
keine lächerliche, verſchrobene alte Schachtel, ſie war 
nur etwas hinter der Zeit zurückgeblieben, die bekannt- 
lich auf jene Nachzügler zu warten keine Zeit hat, die 
in allen Ständen zu finden ſind. Sie hatte dafür aber 
ſehr hohe moraliſche Begriffe, zu denen auch der ſelten 
gewordene gehörte, keine Ehe, beſonders keine des 


32 „Ave, cariſſima!“ o 


Geldes wegen, zu ftiften. Und an dieſem Grundſatz 
hatte ſie feſtgehalten, ſie hatte keinen Finger gerührt, 
um Nelio eine reiche Partie zu verſchaffen, und nie 
darauf reagiert, wenn jemand, der ſie zu beſuchen 
kam, was faſt alle Tage geſchah, ihr erzählte, dieſe 
oder jene Erbin mache gegenwärtig in römiſchen Krei⸗- 
ſen Aufſehen. 

Und von ſolch einem Beſucher hörte Donna Lucrezia 
zum erſten Male, daß das Appartamento Medici 
im Palazzo Domiziani an eine reiche junge Witwe 
vermietet ſei. 

Natürlich wußte ſie, daß der Kardinal im Palaſte 
wohnte und der Advokat; des erſteren Zimmerflucht 
war immer von einem Kardinal aus dem Haufe Domi- 
ziani bewohnt geweſen und erſt in Ermanglung eines 
Kirchenfürſten aus der Familie an einen anderen Pur- 
purträger abgegeben worden — aus finanziellen Rück- 
ſichten. In dem Appartamento Medici waren die in 
Rom weilenden Mitglieder des großen Florentiner 
Geſchlechtes abgeſtiegen, die jugendliche verwaiſte Ka- 
tharina Medici war vor ihrer Vermählung mit König 
Heinrich II. von Frankreich oft ein Gaſt der Domiziani 
geweſen, obſchon ſie die Villa Medici auf dem Pincio 
bewohnte. Hundert Jahre früher hatte ein Medici 
eine Domiziani geheiratet — ohne Mitgift im Hinblick 
auf den großen Namen, durch den ſie dem aufſtrebenden 
Geſchlechte „die Ebenbürtigkeit anerkannten“ — eine 
Klauſel, die noch im Heiratskontrakt des Großherzogs 
Coſimo I. mit Eleonore di Toledo wiederkehrt. 

Alſo im Appartamento Medici wohnte eine reiche 
junge Witwe. Die Dienerſchaft Donna Lucrezias 
durfte ihr keinen häuslichen Tratſch und Klatſch zu— 
tragen, und weil auch der Principe vergeſſen hatte, 
es zu erwähnen, fo erfuhr Donna Lucrezia die Tat- 


a Roman von E. v. Adlersfeld-Balleſtrem. 33 


— — — — ³ Hlkᷓ— k k(— — 


ſache von Fremden erſt eine Woche nach dem Einzug 
der Mieterin. 

„Steht es ſo ſchlecht mit dir, Nelio, daß du das 
Appartamento Medici vermieten mußteſt?“ fragte ſie 
noch am nämlichen Tage ihren Neffen. 

„Oh — es iſt kein Grund zur Beſorgnis vorhanden,“ 
erwiderte er nach einer kleinen Pauſe leicht. „Mein 
Verwalter hat mir längſt ſchon ſehr überzeugend vor- 
geſtellt, welch eine Menge von Raum hier im Hauſe 
verſchwendet wird, und da habe ich ihm dann die Er- 
laubnis gegeben, das Appartamento Medici zur Ver- 
mietung zu bringen. Natürlich nur gegen einen etwas 
übertriebenen Preis, damit nicht etwa eine Rotte 
Korah einziehen und alles ruinieren konnte.“ 

„Und es hat ſich alſo eine reiche junge Witwe für 
dieſen übertriebenen Preis gefunden!“ bemerkte Donna 
Lucrezia trocken. „Wer iſt ſie? Woher kommt ſie?“ 

Der Fürſt zuckte die Achſeln. „Der Verwalter 
weiß das alles,“ erklärte er. „Natürlich hat fie Re- 
ferenzen vorzeigen, ſich ausweiſen müſſen. Es iſt 
alles in Ordnung, ſagt er, und ſie hat vorausbezahlt. 
Ich habe fie noch nicht geſehen. Die Witwe eines 
holländiſchen oder deutſchen Großinduſtriellen mit 
einem unausſprechlichen, barbariſchen Namen. Was 
weiß ich!“ 

„Hoffentlich hält ſie es nicht für ihre Pflicht, mir 
einen Beſuch zu machen,“ meinte Donna Lucrezia er- 
leichtert, denn wenn Nelio dieſe Fremde überhaupt 
noch nicht geſehen hatte, ſo konnte er ſie auch nicht 
in den Palaſt gebracht haben. 

Nelio von Rocca de' Serpi pflegte ſeine Tante nicht 
zu belügen, und er hatte es auch in dieſem Falle nicht 
getan — weder in dem einen noch in dem anderen 
Sinne. Natürlich konnte die gute alte Dame nicht ET 

1913. J. 8 


34 „Ave, cariſſima!“ 2 


daß die Fremde hingegen ihren Neffen geſehen und 
nicht ganz zufällig den Palazzo Domiziani bezogen 
hatte, denn Frau Eva van Bergen op Zoom war mit 
der ganz feſten Abſicht nach Rom gekommen, dort ihren 
Witwenſtand abzulegen und womöglich einen römiſchen 
Magnaten zu heiraten. 

Als einziges Kind eines penſionierten Majors von 
uraltem Adel, arm wie eine Kirchenmaus, war es von 
ihrer Familie und ihr ſelbſt als ein geradezu ſchwindeln⸗ 
des Glück angeſehen worden, als der ſchon ältliche 
Hinrich van Bergen, der ſteinreiche, vielumworbene 
Hüttenbeſitzer vom Niederrhein, wie ein ſchüchterner 
Bub um die Sechzehnjährige warb und fie ohne Schwie- 
rigkeit heimführte. 

An der Freiin v. Ammerſee war die bittere Armut 
ihres Vaterhauſes nicht ſpurlos vorübergegangen, das 
Verlangen nach unerreichbar ſcheinenden Früchten hatte 
ſich in ihrer Seele zu einem Hunger ausgewachſen, 
der ſie ſcharf und bitter gemacht hatte, ehe ſie von 
dem Leben, das ihr verſagt ſchien, auch nur von ferne 
einen Schimmer ſehen konnte. Ihre Mutter hatte 
ſchöne Zugendtage in Rom als Tochter eines Diplo- 
maten verlebt und ihrer Tochter fo viel von den römi- 
ſchen Paläſten erzählt, daß Evas Luftſchlöſſer ſich dort 
aufbauten und fie ſich als Herrin eines dieſer Feudal- 
paläſte ſah — ja, im Hinblick auf dieſes unmögliche 
Ziel lernte ſie mit wahrem Feuereifer Stalieniſch. Sie, 
die für alles andere träg und gleichgültig war, konnte 
ſich nicht genug tun im Ausfeilen der Sprache Petrar- 
cas und im Studium römiſcher Geſchichte. Wer weiß, 
wie alles noch kam, und ein Blick in den Spiegel ver- 
ſicherte dem eitlen jungen Geſchöpf, daß ihre Perſön— 
lichkeit kein Hindernis gebildet hätte für den Prinzen 
aus Rom, der nicht kam. Sie war ſehr hübſch, auf- 


2 Roman von E. v. Adlersfeld-Balleftrem. 35 


fallend hübſch ſogar mit ihrem kaſtanienbraunen Haar, 
ihren feurigen dunklen Augen, ihrer alabaſterweißen 
Haut. Aber die Unzufriedenheit mit ihrem Schickſal, 
die ewige Sorge um die Miete, die Kohlen, die elenden 
Fähnchen hatten um ihren vollen, roten Mund Linien 
gezogen, die nicht angenehm waren. 

Dieſe Linien verwiſchte annähernd, doch nicht ganz 
der Mammon des braven, linkiſchen Hinrich van Bergen, 
der, aus ſehr beſcheidenen Verhältniſſen entſproſſen, 
im wahren und beiten Sinne des Wortes ein Self- 
mademan war, ſehr feſt und zielbewußt in ſeinem Beruf, 
ein Genie, aber in der Geſellſchaft, in die er nun ver- 
möge ſeiner Stellung gehörte, unbeholfen, ſchüchtern 
und unſicher. Er war ein tadelloſer Charakter mit den 
vornehmſten Geſinnungen, voll kindlicher Frömmigkeit 
und Schlichtheit, ein liebenswerter Menſch. Seine 
Ehe mit Eva v. Ammerſee war keine unglückliche in 
dem buchſtäblichen Sinne des Wortes geweſen. Er 
war ein ſeine junge Frau unveränderlich anbetender 
und verehrender Gatte, zartfühlend und liebreich, ſie 
ihm eine ganz leidlich ergebene Frau, die feinem Na- 
men keinen Flecken beifügte, ihm innerlich aber fremd 
blieb. Was ſie an ihm altmodiſch, lächerlich, ja ſogar 
untergeordnet vor ihrem törichten, mit überſpannten 
Begriffen verſchrobenen Sinne fand, das glich auf der 
anderen Seite ſein Reichtum annähernd bei ihr aus. 
Er verſagte ihr keinen Wunſch — nur vor dem, ſich 
adeln zu laſſen, blieb er unbeugſam ablehnend, teils 
aus Beſcheidenheit, teils aus Selbſtbewußtſein, und 
ſie fand ſich ſchließlich darein, umſomehr als das ganz 
nichtsſagende und in Holland wie am Niederrhein ſo 
gebräuchliche „van“ von den meiſten für das erſehnte 
„bon“ gehalten und fo ausgeſprochen wurde. „Van 
Bergen op Zoom“ klang ganz feudal für fremde Ohren 


36 „Ave, cariſſima!“ 2 
und hatte Gewicht genug, um damit Türen aufzu- 
drücken, die ſich ſonſt nicht leicht öffnen ließen, mit 
Ausnahme von jenen der Neſidenzſchlöſſer, durch die 
eine Freiin v. Ammerſee Zugang gehabt hätte. Es 
blieb eben überall und immer etwas zu wünfchen übrig. 

Eva van Bergen liebte ihren Gatten natürlich nicht 
mit jener Liebe, von der die Dichter fingen, aber ſie 
reſpektierte ihn; ſie entdeckte ihr Herz auch nicht wäh- 
rend der Zeit ihrer Ehe nach einer anderen Richtung 
hin, weil ſie überhaupt nicht viel Herz hatte und viel 
zu klug war, um ſich zu kompromittieren. Nach ſechzehn⸗ 
jähriger Ehe frei geworden durch den unerwarteten Tod 
ihres Gatten, benahm ſie ſich außerordentlich korrekt, 
trauerte nach außen hin, ſo viel die Menſchen von ihr 
verlangten, ſchickte dann ihr einziges Kind, eine Tochter, 
in ihr Erziehungsinſtitut zurück und ging auf Reiſen — 
nach Rom, wo alle Luftſchlöſſer ihrer kurzen Mädchen- 
tage wieder erſtanden. 

Ein Winter in der Ewigen Stadt genügte ihr, das 
Terrain zu ſondieren, Verbindungen anzuknüpfen. Das 
fiel der reichen jungen Witwe Hinrich van Bergens 
nicht ſchwer, beſonders da ſie ja dieſen Namen mit 
ihrem eigenen, alten unterſtreichen konnte, der durch 
ihren mütterlichen Großvater in der Diplomatie Roms 
vertreten geweſen und auch zufällig wieder durch einen 
Ammerſee vertreten war, der freilich einem begüterten 
und ihr nur entfernt verwandten Aſt angehörte und 
als Attaché dem diplomatiſchen Korps angehörte. Er 
wurde ihr auf einem offiziellen Feſte der deutſchen 
Botſchaft vorgeſtellt, forderte ſich gleich ſehr nett den 
Vetterntitel ein, ſtellte ſeine hübſche junge Frau vor 
und erwies ſich für Eva van Bergen als ein unjchäß- 
barer Helfer für ihre geheimen Pläne, die fie ſehr ziel- 
bewußt verfolgte. 


2 Roman von E. v. Adlersfeld-Balleftrem. 317 


Bei dem großen Frühjahrsrennen zeigten ihr die 
Ammerſees auch den Fürſten von Rocca de' Serpi, 
aber es kam damals zu keiner Vorſtellung. 

Nachdem Eva van Bergen in Rom ſich eingelebt, war 
ihr Bleiben im nächſten Winter für ſie beſchloſſene Sache. 
Zwar waren die Ammerſees inzwiſchen verſetzt worden, 
aber ſie bedurfte ihrer nicht mehr und vermißte ſie 
daher leicht. Das war einer ihrer Charakterzüge, eine 
ganz logiſche Folge ihres Mangels an Herz. Aber in 
ihre wohlvorbereitete Abreiſe mit der halben Waggon 
ladung von haushohen Koffern trat ganz unerwartet 
ein unberechnetes Hindernis — ihre Tochter. 

Ihre Liebe für dieſes einzige Kind war nicht hoch 
entwickelt und tief angelegt, ſchon weil ſie dazu nicht 
befähigt und viel zu egoiſtiſch war, aber auch die inſtink- 
tive Mutterliebe, die doch auch die Tigerin für ihr 
Junges hat, ruhte entweder noch ungeweckt in ihr oder 
war ihr überhaupt verſagt. Sie haßte das Kind darum 
zwar nicht, ſie machte ſich einfach nichts aus ihm, 
es war ihr läſtig, unbequem. Aber Hinrich van Bergen 
hatte das Mädchen mit einer Zärtlichkeit und Hingabe 
geliebt, die ihn wie eine Krone ſchmückte, er hatte ihr 
den Namen ihrer Mutter, den jene ihr nicht geben 
wollte, umgekehrt in Ave gegeben, denn er konnte ſehr 
ſinnig ſein, und weil das auch eigenartig klang, ſo hatte 
Eva nichts dagegen. Es ſchmeichelte ihr ſogar. Als 
das Kind aber heranwuchs, ſorgte ſie dafür, daß es 
in ein Inſtitut kam, und hiergegen hatte ihr Gatte nichts 
einzuwenden, weil er in ſeiner Liebe erkannte, daß das 
Mädchen ohne Geſchwiſter zu einſam war; er hoffte, 
daß ſie im Kreiſe von Altersgenoſſinnen dem Schickſal 
einziger Kinder daheim, keine Jugend zu haben, ent- 
gehen würde. 

Und nun kam dieſes Mädchen am Vorabend der 


58 „Ave, cariſſima!“ co 


Abreiſe unerwartet und ungerufen an und erklärte 
lachend und mit ihres Vaters freundlicher Unerfchütter- 
lichkeit, daß ſie nun zu alt für das Inſtitut geworden 
ſei, nachdem fie die Selekta ſchon zweimal durch- 
gemacht; ſie könne doch das Penſum nicht zum dritten 
Wale wiederkäuen. Die anderen Mädchen lachten ja 
ſo ſchon über dieſe merkwürdige Paſſion. Der Schums 
habe ihr geſchrieben, Mama ſei im Begriff, nach 
Rom zu gehen, und da fei fie nur ſchleunigſt ge- 
kommen, um ſich mitnehmen zu laſſen. | 

Frau van Bergen leiſtete ſich zunächſt eine ſogenannte 
mütterliche Standpauke, die ſich gewaſchen hatte, aber 
Ave hatte das erwartet und ließ den Sturm über ſich 
dahinbrauſen, bis die endliche Ermattung eintrat, nach 
der ihre Mutter das Argument ins Feld führte, 
ſie gedächte in Rom geſellig zu leben, habe aber ihrem 
Gatten verſprochen, die Tochter nicht vor dem zwanzig⸗ 
ſten Jahre in die altmachende Treibhausluft der Ball- 
ſäle einzuführen. Was übrigens buchſtäblich wahr war. 
Ave wußte das und war ganz damit einverſtanden, 
denn ſie war nach ihrem Vater geartet und hatte nicht 
eine einzige frivole Ader von ihrer Mutter geerbt. 
Sie erklärte, ſich gern im Hintergrunde zu halten und 
ganz zufrieden mit den Muſeen und hiſtoriſchen Stätten 
Roms ſein zu wollen. 

Frau van Bergen atmete auf. Der Gedanke, mit 
einer erwachſenen Tochter in Rom aufzutreten, hatte 
ſie faſt weinen gemacht. Kritiſch betrachtete ſie die 
Tochter in der unkleidſamen, ungeſchickt gearbeiteten 
Inſtitutsuniform, die jo ausgeſucht geſchmacklos er- 
dacht war, wie dieſe Gewänder es zumeiſt ſind — ſie 
ſelbſt hatte auch nie beſondere Schönheiten an ihrer 
Tochter entdecken können — es konnte alſo am Ende 
gewagt werden und mußte es auch ſchließlich der böſen 


2 Roman von E. v. Adlersfeld-Balleftrem. 39 


Zungen wegen und weil Ave ſchließlich die Haupt- 
erbin ihres Vaters war. 

Noch ein Einwand blieb ihr aber. „Ich kann nicht 
den ganzen Tag mit dir in den Galerien herumrennen, 
und allein iſt das unmöglich in Rom. Alſo —“ 

„Alſo muß der Schums mitkommen! Hurra — 
das wird fein!“ fiel Ave jubelnd ein und ſauſte davon, 
um „den Schums“ zu überreden, was auch ohne Schwie- 
rigkeit gelang, denn der Schums wußte ſehr genau, 
wie der Haſe lief, bedauerte jeden Tag das „arme Kind“ 
wegen ſeinem „eitlen Geſteck von einer Mutter“ und 
liebte das Kind mit der ganzen überſchüſſigen Liebe 
eines unbegehrt gebliebenen Herzens. 

Der Schums war aber weiblichen Geſchlechtes und 
hieß mit ſeinem bürgerlichen Namen Müller — Schola- 
ſtika Müller, aus welchem altberühmten Vornamen 
durch Aves kindliche Lippen Schums entſtanden war, 
und zwar „der“ Schums — vielleicht durch den männ- 
lichen Charakter der Inhaberin. 

Dieſe war jetzt ein altes Fräulein von ebenſo charak- 
teriſtiſcher wie merkwürdiger Häßlichkeit und hatte in 
ihren jüngeren Jahren, in denen ſie übrigens nicht 
weſentlich ſchöner geweſen fein ſoll, in ihrem Lebens- 
berufe als Lehrerin dem aufſtrebenden Hinrich van 
Bergen Unterricht in der franzöſiſchen und engliſchen 
Sprache gegeben, die ſie ſamt noch einigen anderen 
wie ihre eigene Mutterſprache beherrſchte. Daraus 
war eine treue Freundſchaft zwiſchen Schüler und Leh- 
rerin entſtanden, und Fräulein Müller hatte dann auch 
der kleinen Ave das erſte Abe beigebracht, aus dem 
eine gegenſeitige enthuſiaſtiſche Liebe entſtand, die 
keine Trennung lau zu machen vermochte. 

Während Ave ihre Kinderſchuhe austrat, hatte 
Fräulein Müller eine kleine Erbſchaft gemacht und 


40 „Ave, cariſſima!“ 2 


ſich damit zur Ruhe geſetzt, wenn man beſtändiges 
Reiſen ſo nennen darf. Jedenfalls war ſie durch ihren 
Beruf nicht mehr an die Scholle gebunden und immer 
unterwegs — das heißt, wenn Ave zu den Ferien heim- 
kam, dann war ſie ſicher auch daheim und ging erſt 
wieder fort, wenn Ave ihr zum letzten Abſchied vor 
Wehmut den Hut vom Kopfe geriſſen hatte. Daß ſie 
jetzt gerade anweſend war, als Ave ſo unerwartet auf 
dem Schauplatz erſchien, war nur ein ſogenannter Zu- 
fall infolge einer unpünktlichen Schneiderin — ſie 
nannte es, als „das Kind“ ihr feine Wünſche vorge- 
ſprudelt hatte, einfach ein Werk der Vorſehung. 

„Und ich dumme Gans habe noch über die Ver- 
zögerung wie ein Rohrſpatz geſchimpft!“ dachte fie, 
als ſie ſich die Sache noch einmal überlegte. Dann 
ſchnitt ſie ein Geſicht, wie es ſo erſtaunlich unglaublich 
nur Fräulein Scholaſtika Müller zuwege bringen konnte, 
und zwar ſchnitt ſie es nach der Richtung der Villa 
Bergen hin, die ſie von ihrem Fenſter aus auf dem 
Hügel über der Stadt liegen ſehen konnte. „Heiraten 
will ſie, die eitle Pute, die nicht wert war, meinem 
braven Hinrich die Schuhriemen zu löſen! Hat wahr- 
ſcheinlich ſchon einen auf dem Kieker! Wohl bekomm's 
— meinetwegen mag ſie den Popelmann heiraten! 
Natürlich muß das Kind dazu in der Kinderſtube blei- 
ben! Sit auch viel beſſer fo! Aber wenn fie denkt, 
daß ich das Kind in dem Inſtitutsgelump laufen laſſen 
werde, dann irrt ſie ſich, die holde Frau Eva, die mir 
gerade die letzte wäre, um in den Muſeen mit ihr 
herumzuziehen!“ 

Übrigens kam alsbald ein Vergleich zuſtande: Frau 
van Bergen reiſte voraus, um erſt eine möblierte 
Wohnung zu mieten, während Ave unter Fräulein 
Müllers Schutz noch zurückblieb. 


2 Roman von E. v. Adlersfeld-Balleſtrem. 41 


Sie hatten nicht lange zu warten, denn der Agent, 
dem Frau van Bergen ſich anvertraute, nannte ihr 
auch das Appartamento im Palazzo Domiziani mit- 
ſamt dem geforderten Phantaſiemietpreiſe, bei deſſen 
Summe der jungen Witwe allerdings für den Augen- 
blick der Atem verging. Aber ſie ſah ſich die Wohnung 
doch an und fand, daß eigentlich im Grunde genommen 
der Preis wohl hoch, aber nicht übertrieben war für 
eine ineinandergehende Reihe von zwanzig Zimmern, 
von denen drei den Namen „Säle“ im weiteſten Sinne 
verdienten. Die Einrichtung aller dieſer Zimmer war 
koſtbar, in den Stoffen der Überzüge und Vorhänge 
zwar etwas verblichen, auch wohl hie und da ver- 
ſchliſſen, aber der Wert der Stoffe wog dieſes in italie- 
niſchen Augen vollkommen auf. Die Zimmer waren 
nicht vollgeſtopft wie ein Möbelmagazin, aber nach 
italieniſchen Begriffen ausreichend möbliert. Den 
Anforderungen ausländiſcher Mieter war der Agent 
durch Anſchaffung umfangreicher Waſchgefäße ent- 
gegengekommen ſowie durch eiſerne Bettſtellen mit 
Sprungfedermatratzen, falls jemand die alten, fata- 
falkähnlichen Bettgeſtelle unter thronhimmelartigen 
Baldachinen beanſtanden wollte. An den mit Seiden 
oder ſchönen alten Ledertapeten beſpannten Wänden 
hingen tief nachgedunkelte, oft zu rieſigen Dimenſionen 
ſich erſtreckende Olbilder — meiſt Porträte in halb— 
erblindeten Goldrahmen, die Marmorflieſen der Wohn- 
und Schlafräume wieſen Teppiche auf, deren orienta- 
liſchen Urſprung der Agent nicht vergaß zu betonen, 
denn wenn auch die Unverwüſtlichkeit dieſer Erzeugniſſe 
aſiatiſcher Hausinduſtrie eine große Abnützung nicht 
vorausſehen ließ, ſo waren die meiſten dieſer alten 
Stücke doch koſtbar genug, um ſie der Schonung be— 
ſenders anzuempfehlen. 


42 AVAuAve, cariſſima!“ 2 


Alles in allem — das „Appartamento Medici“ 
war typiſch für einen italieniſchen Palaſt mit großer 
Vergangenheit und dekadenter oder doch dazu neigen 
der Gegenwart: vornehmſte alte Pracht, an der der 
Zahn der Zeit langſam, aber ſicher zu nagen begonnen 
hatte; Gemächer, durch die ein leiſer Moderduft ſchwebte, 
in denen die Geiſter der Vergangenheit wandelten und 
Platz genommen zu haben ſchienen auf den breiten, 
tiefen Rokokoſofas in den Sälen, auf den Empite- 
kanapees der einen und in den gradlehnigen, thron- 
artigen Seſſeln der anderen Räume, auf den Parade- 
betten und den polſterloſen Sitzen in den tiefen Fenſter- 
niſchen. Die offene Loggia, die dieſe Zimmerflucht 
an zwei Seiten nach dem Hofe mit dem Monumental- 
brunnen begrenzte gleich einem rieſigen gedeckten 
Balkon, war nicht zum wenigſten reizvoll, wenn ſchon 
fie ganz leer war. Aber der Agent ſchlug vor, Korb- 
möbel zu mieten und japaniſche Matten für den Boden, 
denn die nach Süden gelegene Loggia ſei ſelbſt in den 
Wintermonaten ſonnig und warm. 

Frau van Bergen überlegte nicht ſehr lange; ſie 
hatte vor, in Rom ein Haus zu machen, und brauchte 
dazu entſprechende Räume; ſchließlich muß man auch 
hoch ſetzen, wenn man viel gewinnen will, und dieſe Ge- 
legenheit ſchien ja einfach vom Schickſal ihr in den Weg 
geſtellt worden zu ſein. Nachdem ſie ſich noch davon 
überzeugt hatte, daß in allen Räumen elektriſches Licht 
vorhanden und die Küche auch mit dem wappengezeich- 
neten kupfernen Kochgeſchirr des Hauſes eingerichtet 
war, unterſchrieb fie den Mietkontrakt auf ſechs Mo- 
nate, zahlte ſofort die volle Summe durch Anweiſung 
auf ihr Bankhaus, mietete noch Tafelgeſchirr, Leinen 
zeug, Silber, Teppiche, Läufer für die Treppe zu ihrer 
Etage und die notwendige Ergänzung der Diener- 


— Roman von E. v. Adlersfeld-Balleſtrem. 43 


ſchaft — Jungfer und Kammerdiener hatte ſie ſchon 
mitgebracht — und zog dann, nachdem ſie ſich noch 
ein elegantes kleines Automobil mit erſtklaſſigem Chauf- 
feur angeſchafft, in den Palazzo Domiziani ein. 

Daß fie nicht falſch gerechnet hatte, was ihre Stel- 
lung in der Geſellſchaft anbelangte, wußte ſie ſehr 
bald. Die Adreſſe auf ihren Viſitenkarten zog, wie 
man zu ſagen pflegt, ganz nach Wunſch. Die Leute, 
mit denen ſie im Vorjahre bekannt geworden war 
und die ſie längſt vergeſſen hatten, erinnerten ſich ihrer 
wieder ganz angenehm; keine Zimmerflucht, von ihr 
im Grand Hotel oder einer der anderen eleganten 
Karawanſeraien bezogen, hätte die magiſche Wirkung 
des Palazzo Domiziani auch nur annähernd ausüben 
können. Erſtens hatte man natürlich längſt darüber 
ein langes und breites verhandelt, daß Nelio Rocca 
de' Serpi ſich nun doch noch hatte entſchließen müſſen, 
zu vermieten. Der Kardinal wohnte zwar ſchon ſeit 
ein paar Jahren im Palazzo Domiziani, aber der 
zählte eigentlich nicht, denn er war ein entfernter Ver- 
wandter. Und der Advokat — einer der feudalſten 
Roms — gewiſſermaßen auch. Sie beide zahlten ihren 
Mietzins — gewiß, aber fie waren doch nicht gewöhn- 
liche Mieter von Gott weiß woher! Und nun nahm 
dieſe junge, lebensluſtige Witwe, die es felbitveritänd- 
lich nicht bleiben wollte, das Appartamento Medici 
im Palazzo Domiziani, das kaum ein Fürſt bezahlen 
konnte! | 

Der von feinen Kreiſen aufgezogene Fürſt Rocca 
de' Serpi verſicherte ohne beſonderen Erfolg, daß er 
ſeine Mieterin überhaupt noch niemals geſehen; ſeine 
Mieterin erzählte überall lachend, daß fie ihren Haus- 
herrn gar nicht kenne — — Nun, alle Welt ſah das 
Ende vom Liede voraus. Und warum auch nicht? 


44 „Ave, cariſſima!“ a 


— ———— ——— nn un — 


Die junge Witwe war von gutem alten deutſchen Adel, 
ſie war ſehr hübſch, ſehr elegant, ſehr reich und ſicherlich 
nicht älter als dieſer liebe Nelio — alſo! 

Eva van Bergen erfuhr nicht, was man über ihren 
Einzug im Palazzo Domiziani zuſammenkombinierte, 
denn dazu hatte ſie noch keine hinreichend intimen 
Freundinnen; ſie war auch nicht gewitzigt genug, um 
hinter ein paar hingeworfenen Fragen, die ſie nur 
halb begriff, eine Sonde zu vermuten. Sie hätte ſich 
aber wahrſcheinlich geſchmeichelt gefühlt, hätte fie ver- 
ſtanden, worauf dieſe Fragen zielten. Alſo war's 
eigentlich verlorene Liebesmühe, durch die Blume zu 
ihr zu reden. 

Es verging mehr als ein Monat, ſeitdem ſie im 
Palazzo eingezogen war, ehe ſie ihren Hausherrn 
kennen lernte. In ihrer glänzenden Ahnungsloſigkeit 
über die Größe und Ausdehnung des Hauſes, das fie 
bewohnte, hatte ſie ſich ſchon oft gewundert, daß ſie 
ihm nie begegnet war, denn ſie vermutete, daß er 
irgendwo „oben“ wohnen müßte. Sie hatte wohl ge— 
hört, daß er mit einer alten Tante zuſammen lebte, 
aber es fiel ihr weder ein, dieſer einen Beſuch zu machen, 
noch auch ſich zu erkundigen, ob dieſe Höflichkeit von 
ihr erwartet wurde. Sie bildete ſich ein, den Palazzo 
Domiziani zu bewohnen, und es kam ihr gar nicht in 
den Sinn, daß das ſäulengetragene Portal unter das 
gleiche Dach gehörte, unter dem ſie wohnte. Sie hielt 
das andere Tor in der gleichen Straße als einem Nach- 
barpalaſt gehörig, und wer deſſen Eigentümer war, 
darum bekümmerte ſie ſich nicht. 

Dieſer kleine Irrtum ſollte der große ihres Lebens 
werden. 

Bei einem Feſteſſen in Diplomatenkreiſen, in die 
Frau van Bergen durch ihren Namensvetter gekommen 


ana — —— ou — — —— — 


2 Roman von E. v. Adlersfeld-Balleſtrem. 45 


und wieder freundlich aufgenommen war, wurde ihr 
endlich Fürſt Rocca de' Serpi vorgeſtellt, ja ſie wurde 
ſogar von ihm zu Tiſch geführt. Sie war ſich's bewußt, 
an dieſem Tage ganz bejonders gut und jung auszu- 
ſehen, wie ihr denn überhaupt niemand die fiebenund- 
dreißig Jahre ihres Alters anſah, denn fie wurde meiſt 
auf zehn Jahre weniger geſchätzt dank des verhältnis- 
mäßig ſehr ruhigen Lebens während ihrer Ehe — 
trotzdem oder vielleicht auch weil ſie etwas zu der Fülle 
neigte, die ihrer törichten Eitelkeit insgeheim ſchwere 
Sorgen bereitete, denn die Mode bevorzugte doch 
gerade die Überfchlanten. Sie hatte aber wenigſtens 
den guten Geſchmack, die Mode ſich dienſtbar zu machen, 
und da ſie ja eigentlich keine andere Beſchäftigung als 
ihre Toilette hatte, ſo war das Reſultat entſchieden 
vorteilhaft für ſie. 

Sie las das auch in dem raſch und kühl prüfenden 
Blicke, mit dem der Fürſt Rocca de' Serpi ſie bei der 
Vorſtellung muſterte, aber fie verdarb den guten Ein- 
druck dadurch, daß ſie nicht harmlos vor ihm war, was 
ihrem Benehmen etwas Gekünſteltes, Unfreies gab, 
das ihr nicht ſtand, und das vage Bewußtſein dieſes 
Nachteils machte ſie nicht natürlicher. 

Darum wurde der Bock, den ſie an dieſem Abend 
ſchoß, zum großen Irrtum ihres Lebens. 

„Ich fühle mich eigentlich recht ſchuldbewußt vor 
Ihnen, Durchlaucht,“ ſagte ſie, als ſie an ſeinem Arm 
in den etwas entlegenen Speiſeſaal ſchritt, mit einem 
Lächeln, das ihr Schuldbewußtſein Lügen ſtrafte. „Ich 
habe Sie aus Ihrer Wohnung verdrängt!“ 

Er ſah ſie mit vollkommen ehrlichem Erſtaunen an. 
„Verzeihung, gnädige Frau, das verſtehe ich nicht,“ 
meinte er ſteif. 

„Aber ich bin es ja, die den Palazzo Domiziani be— 


A6 „Ave, cariſſima!“ 2 
wohnt!“ rief fie, die Warnung vollkommen mißver— 
ſtehend. | 

„Nochmals Verzeihung, gnädige Frau, aber ich 
muß Sie dahin berichtigen, daß Sie in meinem Haufe 
nur eine Wohnung bezogen haben, die mein Ver- 
walter für richtig hielt, durch den Gebrauch dem Ver- 
fall zu entziehen. Mein eigenes Heim wird durch dieſe 
Vermietung in keiner Weiſe beſchränkt. Wenn Sie Ihre 
Karte bei meiner Tante und Repräſentantin, Donna 
Lucrezia Domiziani, abzugeben die Güte haben wollen, 
ſo wird ſie Ihnen ſicher mit der ihrigen die Einladung 
zu unſerem nächſten Ball übermitteln laſſen, wobei 
Sie ſich zur Beruhigung Ihres jo ungemein zarten 
Gewiſſens werden überzeugen können, daß Sie uns 
keinen nennenswerten Raum entzogen haben.“ 

Fürſt Rocca de' Serpi hatte dieſe Worte mit dem 
gedämpften und verbindlichen Tonfall des gebildeten 
Mannes und Kavaliers geſprochen, und doch wirkte 
jedes ſeiner Worte auf Eva van Bergen wie ein kalter 
Waſſerſtrahl, und fie fühlte mehr, als fie ſich's ſofort 
llar wurde, daß ſie durch ihre Unwiſſenheit und ihr 
gänzliches Mißverſtehen der Lage den Stolz dieſes 
römiſchen Granden verletzt hatte — vielleicht unheilbar. 

„Mein Gott, das habe ich ja aber gar nicht gewußt, 
nicht ahnen können,“ ſtotterte ſie, blutrot vor Arger über 
ſich ſelbſt. „Ich bewohne ja zwanzig Zimmer, und ich 
dachte — ich dachte —“ 

„Daß der arme Teufel von einem ruinierten ita- 
lieniſchen Patrizier in den Manſarden wohnen muß,“ 
vollendete er mit etwas gezwungenem Lachen. „Ja, 
das iſt leider ſchon öfter vorgekommen, aber nicht ab- 
ſolut notwendig, ſelbſt wenn man vermietet, was man 
nicht brauchen kann. Leute zum Beiſpiel, die ſo glücklich 
ſind, Kohlenminen zu beſitzen, verkaufen ja auch die 


2 Roman von E. v. Adlersfeld-Balleſtrem. 47 


— — — — — 


Kohlen, die fie ſelbſt beim beſten Willen nicht verbren- 
nen können — auch wenn ſie zur höchſten Ariſtokratie 
gehören!“ 

„Ja natürlich — natürlich!“ murmelte Frau van 
Bergen ganz niedergeſchmettert. „Ich ſelbſt — das 
heißt mein Mann war ja auch Hüttenbeſitzer, aber,“ 
ſetzte ſie mit ihrem berühmt gewordenen wirkungs- 
vollen Augenaufſchlag und ihrem reizenden, wenn ſchon 
ſehr ſtereotypen Lächeln hinzu, „aber ich ſage kein Wort 
weiter, Durchlaucht, denn die Sache iſt doch eigentlich 
nichts anderes als ein kleines Mißverſtändnis, wie ich 
eben merke. Man drückt ſich in einer fremden Sprache 
jo leicht falſch aus — nicht wahr? Was ich meinte, war, 
daß ich Sie hoffentlich in nichts ſtöre und durch meine 
Gegenwart in Ihrem Hauſe beläſtige.“ 

Es war ganz geſchickt gewendet, und Principe Rocca 
de' Serpi mußte es als höflicher Menſch natürlich in 
dieſem Sinne annehmen, aber er glaubte nicht daran, 
weil er nicht den Eindruck gewonnen hatte, daß Frau 
van Bergen die italieniſche Sprache ſo mangelhaft be- 
herrſchte, um etwas anderes zu ſagen, als ſie meinte. 
Fürſt Nelio war durchaus kein beſchränkter Menſch, 
aber er beſaß den ungezähmten Stolz ſeines Hauſes, 
der ſein Geſchlecht ſchon zu mancher verhängnisvollen 
Tat getrieben hatte. „Stolz wie ein Domiziani“ — 
das war ſprichwörtlich in Rom und in der Campagna. 
Dieſer Stolz, durch die Mediatiſierung des alten fou- 
veränen Geſchlechtes in gewiſſe Grenzen gebannt, 
lebte innerhalb ſeiner vier Mauern ungebrochen weiter; 
die unvorſichtigen und des Taktes ermangelnden Worte 
ſeiner Mieterin hatten alſo gerade die ſehr ſterbliche 
Stelle in dem Manne berührt, den fie mit ihrer Be- 
merkung hatte anziehen wollen. 

Er beantwortete ihre Wendung mit einem fo ver- 


48 „Ave, cariſſima!“ 2 
bindlichen Lächeln, daß ſie ſich ſofort ſchmeichelte, ihr 
Verſehen wieder gutgemacht zu haben; der Fürſt von. 
Rocca de' Serpi war eben ein vollendeter Kavalier, es 
lag jedoch nicht in ſeinem Blute, zu vergeben oder zu 
vergeſſen, und wenn er jetzt lächeln konnte, ſo tat er es 
im Hinblick auf den Tag der Abrechnung. 

„Ich hoffe, Sie haben ſich gut eingerichtet, gnädige 
Frau,“ ſagte er verbindlich, als er neben ihr an der 
Tafel Platz genommen. 

„Ich danke — ſehr gut,“ verſicherte ſie eindringlich. 
„Ich hatte ja gar nicht gehofft, ſo ſchöne Räume in 
Rom finden zu können. Schade nur, daß der Palaſt 
ſo eingeengt iſt in den ſchmalen Gaſſen. Die ſo nahe 
gerückten Häuſer nehmen viel Licht und Luft fort.“ 

„Daraus ſpricht die Deutſche in Ihnen, gnädige 
Frau. Wir Römer ſind dafür wenig oder gar nicht 
empfindlich,“ erwiderte Fürſt Nelio. „Wir ſind es 
eben hier nicht anders gewöhnt. Licht und Luft haben 
wir in der Campagna, wo ich einige Beſitzungen habe. 
Auf alle Fälle werden Sie aber Platz haben in der 
Wohnung, die für eine einzelne Perſon ja reichlich 
Raum bietet. Doch ich höre, Sie wollen hier ein Haus 
machen —“ 

„Nun ja, ich hoffe, öfter Menſchen bei mir zu ſehen, 
denn ich liebe den Verkehr und die Geſelligkeit,“ er- 
klärte Frau van Bergen lachend. „Übrigens herrſche 
ich nicht allein in meinen zwanzig Räumen, denn ich 
habe ja natürlich mein kleines Töchterchen bei mir. — 
Sie werden begreifen, Durchlaucht, daß ich mich von 
dem Kinde auf ſo lange Zeit nicht trennen mochte,“ 
ſchloß ſie mit ſtrahlenden Augen. 

Fürſt Rocca de' Serpi murmelte ein höfliches 
„Natürlich“ zu dieſer Mitteilung, die eine fo ungemein 
freie Paraphraſe der Tatſachen war, daß ſelbſt Fräulein 


E Roman von E. v. Adlersfeld-Balleſtrem. 49 


Scholaſtika Müller baff davon geweſen wäre. Und 
die traute doch Frau van Bergen mehr Phantaſie zu, 
als ſich mit ihrer eigenen, die Grenzen der Grobheit 
oft hart ſtreifenden Wahrheitsliebe zu einem Kom- 
promiß zwingen laſſen konnte. 

Und doch war die Anerkennung und Unterſtreichung 
der Exiſtenz ihres „kleinen Töchterchens“ die Baſis, 
auf der Frau van Bergen ihr Luftſchloß aufgebaut 
hatte. Sie kannte einen Fall, in dem das zu ſpäte Be- 
kenntnis des Vorhandenſeins eines Kindes zum Bruche 
des Verlöbniſſes geführt hatte, und wollte nicht den- 
ſelben Fehler begehen, ſondern von vornherein die 
Lage klarſtellen. 

Mit der Bezeichnung „mein kleines Töchterchen“ 
tat ſie das freilich teils bewußt, teils unbewußt in ſehr 
unvollkommenem Maße. Der warme Ton, den ſie 
in die Bezeichnung legte, war an ſich ſchon eine Fäl- 
ſchung, denn ihre mütterlichen Inſtinkte waren nur 
ſehr ſchwach entwickelt; das Kind war ihr nie bequem 
geweſen und jetzt am allerwenigſten. Dies „klein“ 
war aber eine ganz bewußte Lüge, denn Ave war 
achtzehn Jahre alt und einen halben Kopf größer als 
ihre Mutter. Bis zu ihrer Abreiſe nach Rom hatte 
dieſe ihre Tochter immer nur in der garſtigen und 
unkleidſamen Inſtitutsuniform gekannt und daher gar 
nicht gemerkt, daß ſie eigentlich kein Kind mehr war; 
in dieſem lieblichen Gewande konnte Ave in Rom un- 
bemerkt und unbeachtet mit dem „guten“ Schums 
herumlaufen nach Herzensluſt. 

Die „gute“ Scholaſtika Müller aber war — was 
Frau van Bergen nie zum Bewußtſein kam, weil ſie 
nur an ſich dachte — nicht von heute und geſtern; in 
der Zeit, ehe fie mit Ave nach Rom nachreiſte, ver- 
anlaßte ſie die Entpuppung des Schmetterlings — 

1913. 1. 4 


50 „Ave, cariſſima!“ 2 


fie, die durchaus unelegant daherſchritt, wußte ganz 
genau, was bei anderen Leuten gut ausſah. Die 
Inſtitutsuniform wurde penſioniert, und eine ſchick ge- 
kleidete junge Dame trat ihrer Mutter zu deren Ent- 
ſetzen ſtatt des unſcheinbaren Backfiſches entgegen. 

Das war eine ſüße Stunde des Triumphs für Schola- 
ſtika Müller, die Frau van Bergen ſo gut durchſchaute 
und ihr den heilſamen Schrecken gönnte. Und da die 
„Gute“ auch Sorge getragen hatte, daß Ave daheim 
ihre Inſtitutspracht verſchenkt hatte, ehe ſie abreiſte, 
ſo war es auch nichts damit, ſie nachkommen zu laſſen, 
um das „Kind“ wieder zum Backfiſch zurückzumodeln. 

Auch der Verſuch, durch die aufgelöſten Haare oder 
durch einen herabhängenden Zopf den Backfiſchſtand 
zu betonen, mißlang durch Fräulein Müllers ſchaden- 
frohe Bemerkung: „Ei ja, ſo iſt's hübſch! Nun wird 
ſich jeder zweimal nach dem Mädel umdrehen!“ — 
Es blieb Frau van Bergen alſo nichts übrig, als ſtrenge 
Kinderſtubenklauſur über ihre Tochter zu verhängen. 
Sie durfte natürlich mit ihrem „Schums“ ausgehen, 
ſo viel ſie wollte, alle Muſeen beſuchen, auch Fahrten 
in die Campagna machen, aber ſie durfte ſich nie im 
Salon zeigen, wenn Beſuch da war. Dieſes Verbot 
wurde auf den „letzten Wunſch“ des ſeligen Hinrich 
van Bergen geſtützt und mit ihm begründet — er war 
ja nicht mehr da, um zu erklären, daß er nur die Ball- 
ſäle gemeint hatte, in denen die Jugend ſeines einzigen 
Kindes nicht ſchon in der Knoſpe verwelken ſollte. 
Übrigens ein ganz überflüſſiger Wunſch, denn Eva 
van Bergen hatte nicht die entfernteſte Abſicht, ihre 
eigene Zugend unter den Scheffel zu ſtellen und durch 
die ihrer Tochter verdunkeln zu laſſen. 

Dieſe hatte nichts gegen eine Verbannung, gegen 
die ihre meiſten Altersgenoſſinnen ſich aufgelehnt hätten. 


2 Roman von E. v. Adlersfeld-Balleſtrem. 51 


Sie hatte ihren Vater ſchwärmeriſch geliebt, aber ſie 
hatte ſich nichts mit ihrer Mutter zu ſagen, ſie ſtand 
ihr fremd gegenüber, ſie hatte kein gemeinſames Inter- 
eſſe mit ihr, denn ihre Mutter hatte auch nie eines 
in ihr zu wecken verſtanden wie zum Beiſpiel Schola- 
ſtika Müller, die, zwiſchen Sechzig und Siebzig 
ſtehend, fo jung war wie Ave ſelbſt und die wunderbare 
Gabe beſaß, das Belehrende nicht belehrend vor- 
zutragen, ſondern gewiſſermaßen wie etwas Selbjt- 
erlebtes, das der Belehrte mit atemloſem Snterejje in 
ſich aufnahm. a 

Alſo, Eva van Bergen atmete auf, als fie den Für- 
ſten von Rocca de' Serpi von der Exiſtenz ihres „kleinen 
Töchterchens“ unterrichtet hatte. Sie wurde ſich aber 
nicht klar über den Eindruck, den ſie damit machte, und 
hätte, wäre fie einigermaßen Menſchenkennerin ge- 
weſen, daraus ſchließen können, daß der Hörer nicht 
gerade begeiſtert war. Im Gegenteil, er fühlte ſich 
ſogar unangenehm berührt, denn durch die Neckereien 
ſeiner Freunde aufmerkſam gemacht auf die junge 
reiche Witwe hatte er nicht umhin gekonnt, fie in Be- 
tracht zu ziehen, und wenn auch fein Stolz ihm ver- 
boten hatte, ſich ihr auf dem ganz harmloſen Wege als 
Hausbeſitzer zu nahen, ſo hatte er der erſten Begegnung 
mit ihr auf neutralem Boden doch mit einer gewiſſen 
Neugierde entgegengeſehen. 

Ihr Außeres mißfiel ihm nicht trotz ihrer etwas zu 
vollen Formen, aber es ließ ihn kühl, wenn ſchon er 
anerkennen mußte, daß Frau van Bergen entſchieden 
gut, jung und vornehm ausſah. Aber ihre törichte 
Bemerkung, daß fie ihn vertrieben — ihn, einen Domi—- 
ziani von Rocca de' Serpi, verdarb alles, den erſten 
guten Eindruck ſamt allen folgenden, ſamt dem guten 
Willen, die reiche Witwe angenehm und annehmbar 


52 „Ave, cariſſima!“ 8 


zu finden. Und wie Nelio Domiziani nun einmal ge- 
artet war, ſo blieb der verdorbene Eindruck von jener 
ſoliden Dauer, die feiner Raſſe bis übers Grab hinaus 
eigen war und in früheren Jahrhunderten der Be— 
weggrund unerhörter Gewalttaten war, die heute durch 
die vorgeſchrittene Kultur und durch die Geſetze in 
Schach gehalten wurden. 

Es hätte faſt töricht erſcheinen können, daß eine 
anſcheinend doch auf Unkenntnis und Gedantenlofig- 
keit beruhende Bemerkung eine ſolche entſcheidende 
und nachhaltige Wirkung auf einen Mann ausüben 
konnte, der den Beweis geliefert hatte, Verſtand zu 
beſitzen. Aber des Übels Wurzel lag tiefer. Nelio von 
Rocca de' Serpi allein wußte, in welch doppeltem Di- 
lemma er ſich befand, das ſeine Nerven zu einer un— 
erträglichen Reizbarkeit quälte, warum ein paar ge- 
dankenloſe Worte eine ſo tiefe Abneigung gegen eine 
Frau wachrufen konnten, die ihm das Schickſal in den 
Weg ſchob. 

Nelio hatte unter anderen Verwandten in Rom 
einen Vetter, den Marcheſe di Scarpadoro, der einen 
Palazzo in der Nähe der Domiziani hatte, von dem 
die boshafte Welt behauptete, es gehöre ihm kein Stein 
mehr davon. Zedenfalls waren ein Teil des alten 
koſtbaren Mobiliars, die wertvollſten der Bilder und 
viele der ſilbernen Schauſtücke daraus verſchwunden, 
kein Menſch wußte, wohin ſie gekommen waren, und 
vielleicht war die Zeit wirklich nicht mehr fern, daß 
der die Sünden ſeiner Väter büßende Nobile den 
Barockpalaſt verlaſſen mußte, in dem er ſich immer 
noch hielt, kein Menſch wußte, wie. 

Mit dieſem Vetter fuhr Rocca de’ Serpi an jenem 
Abend, der ihn mit Eva van Bergen bekannt gemacht, 
zuſammen heim, das heißt der Fürſt ſetzte feinen Ver— 


u Roman von E. v. Adlersfeld-Balleftrem. 53 


wandten an deſſen Tür ab. Scarpadoro hatte längſt 
die eigene Equipage aufgeben müſſen und bediente 
ſich gegebenenfalls eines einſpännigen, unnumerier- 
ten Mietwagens; es war nur ausnahmsweiſe, daß er 
die Gaſtfreundſchaft ſeines Vetters annahm. 

Als das Auto vor ſeinem unerleuchteten Portal 
hielt, zögerte er auszuſteigen. „Hätteft; du auf fünf 
Minuten Zeit, zu mir heraufzukommen, Nelio?“ fragte 
er ein wenig unficher. „Ich möchte dich etwas fragen.“ 

„Hat das nicht bis morgen Zeit, Marcanton?“ er- 
widerte Rocca de' Serpi gähnend. 

„Bis morgen iſt die Reiſe lang — heute iſt beſſer,“ 
ſagte Scarpadoro mit dem melancholiſchen Ernſt, der 
ihn charakteriſierte und wohl eine logiſche Folge ſeiner 
gedrückten Verhältniſſe war. 

„Alſo,“ machte Nelio und ſtieg aus. Im Grunde 
achtete er den älteren Mann zu ſehr, um ihm nicht 
eine kleine Gefälligkeit gern zu erweiſen, aber heute 
war er nervös, nicht er ſelbſt — er wußte ſchon, warum. 

Mißlaunig tappte er hinter feinem Vetter die dunkle 
Stiege hinauf, die nur das Wachsftreichholz des Voran- 
ſchreitenden ungenügend beleuchtete. Sie war eines 
Teppichs bar, dieſe Treppe von weißem Marmor, und 
bedurfte dringend der Reinigung, aber Marcantonio 
lebte als kinderloſer Witwer ganz allein in dem großen 
Hauſe, und ſein einziger Diener, Koch und Hausmeiſter 
in einer Perſon, konnte nicht alle Arbeit allein tun. 

Er trat den Herren jetzt mit einem Talglicht in der 
Hand entgegen, tadellos im vielgebürſteten Frack mit 
weißer Binde — eines jener Familieninventare, wie 
man fie noch ſehr oft in den großen italieniſchen Häuſern 
antrifft, die lieber mit ihrem angeſtammten Herrn 
hungern, aber dafür als Freund behandelt werden, 
als bei einem der „Neuen“ an den Fleiſchtöpfen Agyp- 


54 „Ave, cariſſima!“ a 2 


tens zu ſitzen, um dort nichts zu fein als Mietlinge, mit 
denen außerhalb ihres Dienſtes keines der Herrſchaft 
ein Wort redet. 

Freundlich von Rocca de' Serpi begrüßt, leuchtete 
der Alte den Herren in das Arbeitszimmer ſeines 
Herrn, einen rieſengroßen, wenig möblierten Raum, 
in deſſen Kamin ein kleines Feuerchen mehr ſchwelte 
als brannte, und zündete eine Petroleumlampe über 
dem großen Schreibtiſch in der Mitte an, auf dem 
Papiere mit langen mathematiſchen Formeln bedeckt 
lagen und allerhand Maſchinenmodelle ſtanden. 

„Immer noch mit der Verbeſſerung deiner Er— 
findung beſchäftigt, Marcanton?“ fragte Nelio, einen 
neugierigen Blick auf die Modelle werfend. 

„Immer noch,“ erwiderte der Marcheſe trocken, und 
mit einem Seufzer ſetzte er hinzu: „Aber was hilft's, 
daß ich das Ding da täglich verbeſſere? Das Geld fehlt 
eben, der eiſernen Galatee das Leben einzuhauchen!“ 

Rocca de' Serpi pfiff leiſe vor ſich hin. „Iſt's das? 
Wieviel willſt du?“ rief er ſchnell und ſchon halb wieder 
im Gehen. 

Ein feines Rot flog über die blaſſen, melancho— 
liſchen Züge ſeines Vetters. „Ich kann mich nicht er— 
innern, dich jemals angeborgt zu haben, Nelio,“ ſagte 
er ſteif. „Wenn du alſo gütigſt keine voreiligen Schlüſſe 
ziehen, ſondern abwarten wollteſt zu hören, was ich 
dir ſagen will, jo würde ich dir ſehr verbunden fein.“ 

„Du haſt recht — entſchuldige,“ erwiderte der Prin- 
cipe umkehrend und ſich ſetzend. „Aber ſelbſt wenn 
es wäre, wie ich angenommen — du weißt zwar 
wahrſcheinlich ſo gut wie ich ſelbſt, daß ich mich in einer 
Art von finanzieller Kriſis befinde — jedoch das, was 
ich habe, ſteht dir zur Verfügung.“ 

„Ich danke dir für dieſen Beweis verwandtſchaft— 


2 Roman von E. v. Adlersfeld-Balleftrem. 55 


licher Geſinnung, Nelio, und werde ihn dir nicht ver- 
geſſen,“ ſagte Scarpadoro mit echtem Gefühl. „Es 
macht mir meine Frage leichter, wenn ſchon fie mir 
immer noch ſchwer genug fällt. Alſo, um zur Sache 
zu kommen — gedenkſt du dich um die Hand der 
Fremden, dieſer Signora van Bergen, zu bewerben?“ 

gebt war es an Rocca de' Serpi, rot zu werden, 
aber der Zorn, der ihm das Blut in Stirn und Wangen 
trieb, war ein anderer, gefährlicherer als der ſeines 
Vetters. 

„Denn, nämlich,“ fuhr dieſer nach einer kleinen 
Pauſe verlegen fort, „falls es deine Abſicht nicht iſt, 
jo würde ich ſelbſt mein Heil bei ihr verſuchen. Miß 
verſtehe mich nicht, Nelio — es liegt mir ganz fern, 
indiskret ſein zu wollen, ich will nur ein ehrliches 
Spiel ſpielen und nicht hinter deinem Rücken ver- 
ſuchen, ob eine Frau noch einmal imſtande iſt, mich um 
meiner ſelbſt willen zu nehmen.“ 

Nelio lachte kurz auf. „Klug wäre ſie, wenn ſie's 
täte,“ meinte er mit einem raſchen Blick über die vor- 
nehme, aber nicht gerade glänzende Erſcheinung ſeines 
Vetters. „Es tut mir leid, Marcantonio, aber ich kann 
dir heute keine Antwort geben. Ich will nicht leugnen, 
daß ich das törichte Geſchwätz, das meinen Namen 
mit dem jener Dame zuſammen getratſcht hat, nicht 
gehört hätte. Aber ich gebe dir mein Wort, daß ich 
ſie heute zum erſten Male geſehen und geſprochen habe 
und mir noch ganz im unklaren bin, ob ich mich den 
Freiern Penelopes zugeſellen ſoll oder nicht. Indeſſen 
würde dieſe Frage aber gleich zu entſcheiden ſein, wenn 
ich von dir höre, daß du Frau van Bergen liebſt. 
Denn in dieſem Falle ſcheide ich natürlich ſofort aus.“ 

Der Parcheſe ſchüttelte den Kopf und ſeufzte leiſe. 
„Ich habe meine verſtorbene Frau geliebt,“ erwiderte 


56 „Ave, cariſſima!“ 2 
er müde. „Viel zu tief und innig, als daß ich dieſelben 
Gefühle einer anderen zu geben imſtande wäre; ja 
es kommt mir faſt wie eine Treuloſigkeit vor, Tullias 
Platz wieder ausfüllen zu wollen. Aber es tut mir 
anderſeits weh, dieſes Haus in fremde Hände fallen 
zu ſehen, und es muß dies über kurz oder lang kommen, 
wenn nicht etwas geſchieht, das dieſes unabänderlich 
ſcheinende Geſchick abwendet. Eine reiche Frau könnte 
das Haus retten. Frau van Bergen iſt mir nicht un- 
ſympathiſch, und ſie iſt von ſehr guter Familie. Das 
fällt ins Gewicht bei einer Familie wie der meinigen, 
die nicht wie ihr Domiziani zum Uradel zählt und die 
Frau von ſelbſt nobilitiert, die ihr wählt.“ 

„Eines der vielen Privilegien, die mit unſerer Sou— 
veränität zum Teufel gegangen ſind,“ unterbrach Rocca 
de’ Serpi feinen Vetter. „Wenn ich mir heutzutage 
eine Frau aus dem Volke nehme und ſtelle ſie als 
durch mich ebenbürtig gemacht unſerer Geſellſchaft 
vor, dann riskiere ich, daß man mir ins Geſicht lacht 
und ihr den Rücken dreht, was noch vor hundert Jahren 
kein Menſch gewagt hätte. Bei einer amerikaniſchen 
Milliardärin, deren Vater ſein Geld in Schweinen ge- 
macht hat, iſt das natürlich eine andere Sache. Die 
iſt ohne weiteres hoffähig.“ 

„Vielleicht,“ gab der Marcheſe zu. „Wir iſt indes 
eine Frau aus guter Familie ſympathiſcher. Die 
Ammerſee ſind deutſcher Uradel und —“ 

„Und das van Bergenſche Geld iſt bürgerlich nieder— 
ländiſch,“ fiel Nelio Domiziani wieder ein. „Aber 
was tut's? Es riecht nicht!“ 

„Nein, es hat ſogar einen ganz guten Geruch von 
Intelligenz,“ verſetzte der Marcheſe prompt. „Die 
Quelle iſt rein und einwandfrei — ſelbſt für einen 
Fürſten von Rocca de’ Serpi.“ 


u Roman von E. v. Adlersfeld-Balleftrem. 57 


„alt fie aber auch ergiebig? Frau van Bergen hat 
Familie, wie ich höre.“ 

„Ja, eine Tochter, welche die alleinige Erbin des 
Bergwerks iſt. Frau van Bergen hat das Barver- 
mögen ihres Gatten geerbt, das ſich, wie mein Freund 
Ammerſee, der voriges Jahr hier bei der Botſchaft 
war, mir verſichert hat, auf ſechs Millionen belaufen 
ſoll. Natürlich iſt ſie damit gegen ihre Tochter dürftig 
bedacht zu nennen, deren jährliche Revenuen ſich auf 
mehrere Millionen belaufen. Aber immerhin — für 
mich wäre ein Sechſtel des Vermögens der Mutter 
neuer Glanz für mein Haus.“ 

Rocca de’ Serpi zuckte mit den Achſeln und ver- 
ſank in tiefes Schweigen, aus dem ihn eine Bewegung 
ſeines Vetters endlich herausriß. Er ſtand auf, ſtreckte 
ſich, zog ſeine Handſchuhe wieder an und ſagte dann 
leicht: „Va bene, Marcantonio — was hindert uns, 
beide gleichzeitig unſer Glück zu verſuchen?“ 

„Erſtens dein höherer Titel und der immer noch 
ſehr gute Zuſtand deiner Häuſer, zweitens meine 
altmodiſche Auffaſſung, die ein Wettrennen um die 
Hand einer Frau als unwürdig und unmoraliſch ver- 
wirft, und drittens die perſönliche Ungleichheit unſerer 
Ausſichten. Ich habe ein außerordentlich ſcharf aus- 
geprägtes Vorurteil dagegen, mich lächerlich oder zum 
Ritter von der traurigen Geſtalt zu machen.“ 

Der Marchefe hatte ſehr ruhig und fachlich, aber 
doch ſehr betont geſprochen. 

Sein Vetter machte eine zuſtimmende Bewegung. 
„Dagegen läßt ſich nichts einwenden,“ meinte er, 
„wenn ſchon du kaum in dieſe letztere Gefahr kommen 
kannſt. Ich gebe indes zu, daß ich einiges voraus habe, 
aber ich kann dir ehrlich heute wirklich noch nicht ſagen, 
ob ich mich um Frau van Bergens Hand bewerben 


58 „Ave, cariſſima!“ | 2 


werde oder nicht. Erſte Eindrücke können ſehr täuſchen 
— ich möchte die Dame doch noch öfters ſehen und 
ſprechen, ehe ich mich entſcheide. Denn ich muß ge— 
ſtehen: wenn's ſchon einmal fein muß, jo wäre mir 
eine Frau von guter Familie auch lieber als eine empor- 
gekommene. Man iſt doch ſeinem Namen immerhin 
etwas ſchuldig. Ich werde dir in einer Woche Ant— 
wort geben — iſt es dir recht ſo?“ 

„Gewiß. Da ich dieſe Angelegenheit überhaupt 
mit dir beſprochen habe, ſo war ich auch vorweg be— 
reit, auf deine Wünſche einzugehen. Sch erwarte alſo 
in acht Tagen deine Antwort und ſage dir ehrlich: 
Ich hoffe, fie lautet „nein“. Nicht aus eigenſüchtigen 
Gründen allein, ſondern auch der Dame wegen, die 
ich zwar nicht liebe, aber achte nach allem, was ich über 
fie hörte, und der ich ganz ſicherlich ein treuer und ritter- 
licher Gatte ſein würde. Wenigſtens würde ich mit 
dieſen Vorſätzen meine neue Ehe beginnen und ſie 
gewiſſenhaft zu erfüllen und zu befeſtigen ſuchen.“ 

„Alſo!“ machte Rocca de' Serpi, nickte feinem 
Vetter zu und war die finſtere Treppe hinab, ehe der 
alte Diener noch mit feinem trüben Lämpchen heraus- 
kam, um ihm zu leuchten. 

Als er aber in ſeinem eleganten Auto ſaß, da ſchien 
ihm die Woche Galgenfriſt, wie er es grimmig nannte, 
eine ſo lächerlich kurze Spanne Zeit, daß er am liebſten 
wieder umgekehrt wäre, um Marcantonio zu ſagen, 
daß er ſich in acht Tagen noch nicht entſcheiden könne; 
doch unterdrückte er den Gedanken, denn ehe er noch 
zu einem Entſchluſſe kam, hatte ihn ſein Chauffeur 
ſchon an feinen eigenen, dem Palazzo Scarpadoro ſo 
nahen Palaſt gebracht. 

In den Hof einfahrend, ſah er noch Licht in den 
Wohnräumen feiner Tante, und nach kurzer Überlegung 


0 Roman von E. v. Adlersfeld-Balleftrem. 59 


ſtieg er, ſtatt nach rechts zu ſeinen eigenen Räumen, 
nach links die Treppe nach dem zweiten Stockwerk 
hinauf. 

Sein Beſuch bei ſeiner Tante um dieſe ſpäte Stunde 
war nichts Ungewöhnliches, denn abgeſehen davon, daß 
man in Stalien ſpäte Stunden liebt, litt Donna Lu- 
crezia Domiziani an Schlafloſigkeit und wartete lieber 
im Seſſel die eintretende Müdigkeit ab als im Bett. 

Sie grüßte den eintretenden Neffen mit einem 
freundlichen Lächeln und erwiderte ſeinen zärtlichen 
Kuß, indem ſie ihm liebevoll über das kurzgeſchnittene, 
wellige, dunkle Haar mit ihrer ſchönen, alten, durch- 
ſichtig weißen Hand ſtreichelte. 

„Wie lieb von dir, mir noch gute Nacht zu ſagen!“ 
rief fie dankbar. „Haſt du dich heute abend gut unter- 
halten?“ 

„So ſo!“ machte er achſelzuckend. „Und weißt du, 
wen ich zu Tiſch geführt habe? Meine Mieterin drüben, 
die reiche junge Witwe!“ 

„Sie verkehrt alſo in unſeren Reifen?“ 11 Donna 
Lucrezia überraſcht. 

„Si, si! Du erinnerſt dich des Barons Ammerſee, 
Tante?“ 

„Im — o ja! Er hat eine fo nette kleine Frau —“ 

„Ganz recht. Die Signora van Bergen op Zoom 
iſt ſeine Baſe, iſt auch eine geborene Ammerſee.“ 

„In der Tat? Nun, und wie hat ſie dir gefallen?“ 

„Sie iſt eine ſehr hübſche Frau,“ meinte der Prin- 
cipe achſelzuckend. „Aber ſie iſt eine Gans,“ ſetzte er 
mit einem harten Lachen hinzu. 

„Die Arme!“ murmelte Donna Lucrezia mit einem 
Seufzer, denn ſie wußte mit dieſem Urteil das Schick— 
ſal der reichen jungen Witwe beſiegelt. 

„Sie hat mich ſozuſagen um Entſchuldigung ge— 


60 „Ave, cariſſima!“ 2 


beten, daß ſie mich aus meinem Hauſe verdrängt 
hätte,“ erläuterte er ſeine Behauptung. 

Bonna Lucrezia mußte lachen. „Nun, das iſt noch 
kein Beweis dafür, daß ſie eine Gans iſt,“ bemerkte ſie 
gutmütig. „Die Fremden haben ja keine Ahnung von 
der Größe unſerer Häuſer. Ecco! sch wundere mich 
nur, daß ſie mir noch keinen Beſuch gemacht hat.“ 
5a, ich wundere mich auch darüber,“ meinte Nelio. 
„Sch habe fie natürlich dazu aufgefordert. Wir müſſen 
ihr dann eine Einladung zu unſerem Ball ſchicken.“ 

„Ja, das wird das beſte ſein, denn eine Einladung, 
mich zum Tee zu beſuchen, würde für den Anfang 
wohl zu — zu entgegenkommend ausſehen,“ ſagte die 
alte Dame. „Sie muß erſt erfahren, daß das Erſcheinen 
in meinem Privatappartement eine Bevorzugung iſt, 
die ſie zu Schlüſſen führen könnte —“ 

„Sehr richtig!“ beſtätigte er. „And nun, liebe 
Tante, gute Nacht. Ich habe dich nur benachrichtigen 
wollen, denn ich muß morgen nach u del Serpe 
hinaus — in Geſchäften.“ 

„Wille du dich wieder einmal im Schießen auf 
die alten Bilder üben?“ ſagte Donna Lucrezia lächelnd. 

„Wenn ich Zeit finde — warum nicht! Sch 
übe mich gern in der langen Galerie an den alten 
Herren.“ 

„Alſo, gute Nacht, Nelio! Grüße mir den guten 
alten Orlandi und ſeine Tochter, mein Patenkind, 
wenn du nach Caſtello del Serpe kommſt — hörſt 
du? — Halt, noch eines! War Marcantonio heute abend 


auch da? Ich habe ihn eine Ewigkeit nicht mehr ge⸗ 


ſehen.“ 

„Ja, er war da. Ganz unter uns, Tante, Marcan- 
tonio ſcheint die reiche junge Witwe drüben recht an- 
ziehend zu finden.“ 


is Roman von E. v. Adlersfeld-Balleftrem. 61 


„Was du ſagſt! Armer Marcantonio!“ rief Donna 
Lucrezia. Und als fie allein war, murmelte fie: „Der 
Arme!“ Denn auf welcher Seite die beſſeren Ausfichten - 
lagen, darüber zweifelte ſie nicht einen Augenblick, und 
weil ſie ihren Neffen Scarpadoro ſehr ſchätzte, ſo tat 
er ihr auch aufrichtig leid, wenn er etwa wirklich ſolch 
ausſichtsloſe Wünſche hegen ſollte. 

Da ſie aber auch ſehr gerecht war, ſo konnte ſie 
nicht umhin, dem armen Marcantonio ganz unparteiiſch 
das Beſte zu wünſchen. „Wer weiß! Wer weiß!“ 
dachte ſie ſeufzend. „Bei Marcantonio wäre jede Frau 
gut aufgehoben. Aber anderſeits — — nun, man 
ſagt den Oeutſchen nach, daß fie wiſſen, was ſie wollen. 
Hoffentlich iſt dieſe junge Witwe doch keine ſolche Gans, 
als Nelio behauptet. Es wäre gut für ihn!“ 


* * 
% 


Eva van Bergen beeilte ſich natürlich ſchon am 
folgenden Nachmittage, den erhaltenen Wink benützend, 
ihr Verſehen gutzumachen und ſich bei Donna Lucre- 
zia Domiziani melden zu laſſen. Es verſetzte ihr doch 
ein klein wenig den Atem, als ſie mit ihrem eleganten 
kleinen Automobil vor dem Hauptportal des Palaſtes, 
den fie gar nicht als zu ihren Räumen zugehörig be- 
trachtet hatte, vorfuhr, einen Blick in den wundervollen 
Hof mit der Säulenloggia warf und der rieſige Portier 
in ſeiner Purpurlivree an ihren Wagenſchlag trat, 
denn nun wurde ſie ſich erſt voll des Bocks bewußt, 
den ſie geſchoſſen hatte. Und während ſie wartete, 
als ein von dem Purpurnen herbeigerufener, tadellos 
livrierter Diener mit ihrer Karte verſchwand, da ſank 
ihr das Herz bei dem Gedanken, daß ſie den Herrn 
dieſer fürſtlichen Pracht ja eigentlich unerhört beleidigt 
hatte. Kein Menſch hatte ihr geſagt, welch ein Grand- 


62 | „Ave, cariſſima!“ | 2 


ſeigneur der Mann war, bei dem ſie zur Miete wohnte, 
und ſie hatte ſich auch nicht beſonders erkundigt, weil 
fie ja ja,feft davon überzeugt war, daß er zu den vielen 
„reduzierten“ römiſchen Nobili gehörte, die gezwungen 
waren, Kapital aus ihren Paläſten zu fchlagen, ihre 
Staatsräume vermieteten und ſich ſelbſt irgendwo darin 
verkrochen. Er hatte ihr dieſe Vorausſetzung ja ſelbſt 
recht deutlich unter die Naſe gerieben. 

Das war bitter, und ſie fragte ſich mit klopfendem 
Herzen, ob ſie ihr Verſehen je wieder gutmachen konnte, 
denn der Mann, der dieſen Palaſt beſaß, brauchte ihrer 
Meinung nach ihre Millionen ſicher nicht. Aber gerade 
darum, gerade ausgerechnet darum ſchien er ihr jetzt 
noch viel begehrenswerter als geſtern abend, wo ſie 
feinem eleganten Äußeren rückhaltloſe Bewunderung 
gezollt und fein raſſiges Geſicht wundervoll anziehend 
gefunden hatte trotz der kalten, harten Augen, mit 
denen er ſie angeſehen. 

Dieſen Mann mit ſeinem Namen, ſeinem Titel, 
ſeiner ſozialen Stellung, ſeinem Palaſte und wer weiß 
was noch zu erobern, das war jetzt, nachdem ſie 
weiſe geworden war, kein Geſchäft mehr, ſondern ein 
Triumph. An ihre Tochter dachte ſie dabei mit keiner 
Silbe. Lieber Himmel, welche Ausſichten hätte das 
unreife Ding nicht, wenn ihre Mutter den ihr erreichbar 
höchſten Gipfel ſozialer Lebensſtellung erſtieg! 

Mit dieſem flüchtigen Gedanken hatte ſie geſtern 
abend ſchon die arme kleine Ave abgetan, als ſie ihre 
Exiſtenz bekannte. Ave hatte ja als Haupterbin ihres Va- 
ters ſo ſchon Chancen genug, darum brauchte ſich ihre 
Mutter keine Sorge zu machen. 

Der Diener kam endlich mit der Meldung zurück, daß 
Donna Lucrezia unpäßlich ſei und heute nicht empfinge, 
und Frau van Bergen holte nun eine Bekannte ab, 


0 Roman von E. v. Adlersfeld-Balleftrem. 63 


um mit ihr auf dem Pincio ſpazieren zu fahren. Ave 
war ſchon früh mit ihrem Schums, dieſer unſympa- 
thiſchen Perſon, zu einem Tagesausflug nach den 
Caſtelli Romani fortgefahren — und wenn ſie auch 
daheim geblieben wäre, ſie hätte das Kind doch nicht 
mitgenommen, wo alle Welt ſie ſah und ihr womöglich 
eingeredet hätte, daß ſie erwachſen ſei. Sich mit dem 
Mädchen öffentlich zu zeigen, das hatte Zeit, bis — — 

Im Verlaufe der Spazierfahrt, auf der fie ſchon 
von einer Menge vorbeifahrender oder Spalier ſtehender 
Leute zu ihrer Befriedigung gegrüßt wurde, erzählte 
Eva van Bergen beiläufig ihrer Bekannten, einer 
deutſchen, zeitweilig in Rom wohnenden Dame, daß 
ſie eben ihre Karte bei Donna Lucrezia Domiziani 
abgegeben hätte. 

„Wie? Erſt heute?“ fragte die Dame, die alle 
Welt kannte, erſtaunt. 

„Ja — mit Abſicht,“ flunkerte Frau Eva friſch 
darauflos, weil dieſe Frage ihr wiederum klarmachte, 
daß fie eine Unterlaſſungsſünde begangen hatte, welche 
die römiſche Geſellſchaft ihr wahrſcheinlich anrechnen 
würde. „Ich wollte überhaupt in keinen Verkehr mit 
den Domiziaui treten — es hat ſo etwas Peinliches 
für beide Teile durch das Verhältnis als zahlender 
Mieter. Aber der Principe, der mich geſtern abend 
bei den Lindenſtröms zu Tiſch führte, hat es mir ſo 
nahe gelegt, daß es unhöflich geweſen wäre, den Wink 
mit dem Zaunpfahl zu überſehen.“ 

„Om,“ machte die Dame, „ich weiß doch nicht — 
ich meine, es wäre beſſer geweſen, ſofort den Beſuch 
zu machen. Donna Lucrezia nimmt eine ſehr hervor- 
ragende Stellung in der römiſchen Geſellſchaft ein, 
wer von ihr empfangen wird, vor dem öffnen ſich die 
ſonſt recht feſt geſchloſſenen Türen der Nobili ganz 


64 „Ave, cariffimal“ u 


von ſelbſt. Ich weiß ja nicht, ob Sie das wollen, aber 
es iſt doch immerhin ſehr angenehm. Sie werden wohl 
nun den Ball im Palazzo Domiziani, der in vier Tagen 
ſtattfindet, mitmachen?“ 

„Wahrſcheinlich,“ meinte Frau van Bergen nach- 
läſſig. „Der Principe ſtellte mir drolligerweiſe die 
Einladung gleich in Ausſicht, als ob jem Ball etwas 
ganz Beſonderes wäre.“ 

„Das iſt er auch vom römiſchen Stad aus,“ 
verſicherte die Dame ernſthaft. „Die zwei großen 
Domizianibälle in jeder Winterſaiſon ſind Ereigniſſe. 
Man trifft dort nicht Krethi und Plethi. Dafür ſorgt 
Donna Lucrezia mit ihren zwar altmodiſchen, aber 
entſchieden den guten Ton erhaltenden Anſichten über 
die Zuläſſigkeit ihrer Gäſte. Sie werden dort alles 
finden, was in Rom Anſpruch macht auf den Adel der 
Geburt, des Geiſtes und des Genies. Schäbige Fräcke 
und zuſammengeſtoppelte Fähnchen bekommen, von 
Donna Lucrezia empfangen und doppelt freundlich be- 
grüßt, den Stempel der Zugehörigkeit, für den mancher 
ſchweres Geld zahlen würde, wenn er es damit er- 
reichen könnte. Vielleicht hat der Principe in dieſem 
Punkte fortgeſchrittenere Ideen und weitergehende 
Begriffe, aber er hat Donna Lucrezia zu feiner Re- 
präjentantin gemacht und fügt ſich den ihrigen be- 
dingungslos. Wobei er und das Renommee ſeines 
Hauſes aber ſehr gut fährt.“ 

Das hatte Frau van Bergen durch die gelegentliche 
Erwähnung ihres Beſuches wiſſen und erfahren wollen, 
und ſie machte ſich Vorwürfe, es nicht ſchon früher 
getan zu haben. Ob ſich das Verſäumte noch nach- 
holen, wieder gutmachen ließ? 

Zum Tee in ihr Heim zurückgekehrt, fand ſie die 
Karte von Donna Lucrezia und den großen, wappen— 


2 Roman von E. v. Adlersfeld-Balleftrem. 65 


geſchmückten Umfchlag von dickſtem Büttenpapier vor, 
der die Einladungskarte zum Ball im Palazzo Domi- 
ziani enthielt. Ihr Name war in das vorgedruckte 
Formular, wahrſcheinlich von Donna Lucrezia ſelbſt, 
in einer feinen, etwas zitterigen Handſchrift einge- 
tragen, und angeſichts dieſer umgehenden Beantwor- 
tung ihres Beſuches fand es Frau van Bergen paſſend, 
ſofort die Einladung anzunehmen, worauf ſie einen 
Kriegsrat mit ihrer Kammerfrau wegen der Toilette 
hielt, ohne daß ihr der Gedanke gekommen wäre, ſich 
zu erkundigen, ob ihre Tochter und Fräulein Müller 
zurückgekommen ſeien. Ave war ja bei ihrem Schums 
ſo gut aufgehoben! 


* * 
% 


Die Empfangsräume und das Treppenhaus des 
Palazzo Domiziani gewährten am Abend des Balles 
ſicherlich einen Eindruck, der nur einem großen italie- 
niſchen Patrizierhauſe eigen iſt; einfal durch die über- 
wältigende Raumverſchwendung in Höhe, Länge und 
Breite und dann nicht zum mindeſten durch die Eigen- 
art der ins Große gehenden Ausſchmückung der Räume. 
Gewiß, vergoldete Schnitzereien und Stuckdecken- 
gemälde, Statuen und Bilder findet man anderswo auch 
in den Häuſern der oberen Zehntauſend, aber in den 
italieniſchen Paläſten bekommt das alles eine andere 
Bedeutung, wo ſich an jeden Plafond der Name eines 
unſterblichen Genies knüpft, wo die Plaſtik auf die 
Zeiten der Cäſaren, den Meißel eines Praxiteles, 
der höchſten Blüte griechiſcher antiker Kunſt, zurück— 
führt und alle dieſe Statuen, Büſten, Reliefe, Frag- 
mente Erbſtücke find mitſamt den Meiſterwerken ita- 
lieniſcher Malerei, die bei uns ſelbſt ein Kröſus nur 
in den öffentlichen Galerien bewundern kann. 

1913. 1. | 5 


66 „Ave, cariſſima!“ a 


Der italieniihe Magnat denkt nicht daran, feine 
Wohn- und Empfangsräume zu einem Möbelmagazin 
zu machen. Gleichwie auch in unſeren Königſchlöſſern 
große, faſt monumentale Möbel die weiten Räume 
beleben, aber nicht füllen, ſo begnügt auch er ſich mit 
verhältnismäßig wenigen Stücken, die aber freilich 
meiſt den Neid jedes Kenners und Sammlers erregen 
können und ſich im Stil und der Epoche ihres Ent— 
ſtehens durchaus „frei bewegen“, wenn man das von 
Möbeln ſagen kann. Da ſteht vielleicht ein Florentiner 
eingelegter Zierſchrank aus dem fünfzehnten Jahrhundert 
friedlich neben einem Sofa oder Tiſch aus der Zeit 
des unnachahmlichen italieniſchen Rokoko, den gold- 
gepreßte Lederſeſſel aus dem vierzehnten Jahrhundert 
flankieren, während ein Deckengemälde aus dem ſieb— 
zehnten Jahrhundert in voller Farbenpracht darauf 
herabſchaut, und keiner der Götter und Heroen dort 
oben nimmt Anſtoß an dem wunderbar gearbeiteten 
Sekretär aus der Empirezeit, der dem Florentiner Zier 
ſchrank vielleicht gegenüberſteht. Ein Familienporträt 
von Tizian hängt ja oft auch einer Landſchaft von 
Pouſſin, dem römiſierten Franzoſen, gegenüber, ohne 
daß der eine den anderen verkleinert, und das elek- 
triſche Licht des zwanzigſten Jahrhunderts, das jo ſchön 
klar die Erzeugniſſe der verſchiedenſten Jahrhunderte, 
Gut und Böſe, Schön und Garſtig, heiter überſtrahlt, 
it nun gar ein Anachronismus, über den der ver- 
biſſenſte Stiliſt ſich nicht einmal wundert. Und noch 
dazu aus venezianiſchen Glaslüſtern, Jahrhunderte alt 
und doch jünger als der elektriſche Funke, aus bronzenen 
Reifenkronen der Lombardenkönigszeiten, aus den 
Deckenleuchtern der Renaiſſance, für die ein Cellini 
nicht verſchmähte, die Modelle zu entwerfen, ein Gian 
Bologna, ein Donatello. Sie hätten nichts dagegen 


0 Roman von E. v. Adlersfeld-Balleftrem. 67 


einzuwenden gehabt, daß aus den nachgeahmten Wachs- 
kerzen das Licht des Himmels in einer feinen Glasbirne 
glühte, aber fie hätten ſich gegen das Gaslicht geſträubt, 
das auch nie Eingang gefunden hat durch die Ver- 
mittlung der alten Beleuchtungskörper, denen der Lei— 
tungsdraht in feiner ſeidenen Hülle ſich jo leicht und 
natürlich anſchmeichelt, ohne das Urbild zu verändern 
und zu verderben. 

Die Einrichtung eines italieniſchen Palaſtes an- 
zugreifen, iſt meines Wiſſens ſelbſt dem größten Stil- 
fanatiker noch nicht eingefallen, der bei ſich ein Zimmer 
„gotiſch“ und eines „Renaiſſance“ einrichtet und bei- 
leibe nicht eine Fußbank darin ausgewechſelt ſehen 
möchte, damit es nur fo ſtilvoll-langweilig bleibt wie 
möglich. Und trotz dieſer Stilmiſchungen ſieht ſolch 
ein Empfangs- oder Wohnraum in dem italieniſchen 
Palaſt nichts weniger als „ſtillos“ aus — voraus- 
geſetzt, daß jemand imſtande iſt, ſich von ſeinen Stil- 
vorurteilen loszureißen —, wird er in einem Hauſe, wie 
es der Palazzo Domiziani war, die Miſchung der Stile, 
das heißt den Ausdruck der Zeit, in der dieſe Möbel 
‚entftanden, zu einem Ganzen verſchmolzen, maleriſch 
und elegant finden müſſen. Beſonders an dem Ball- 
abend, da alles in ſtrahlendes Licht getaucht war, in 
dem freilich Fehler ſuchende Augen auch manche Schä— 
den durch den Zahn der Zeit gefunden hätten, ſei es 
auf den koſtbaren, alten orientaliſchen Teppichen, die die 
Marmorböden bedeckten, ſei es an den unſchätzbaren 
Wandteppichen oder an den Überzügen der Polſter— 
möbel, an der gedämpften, verblichenen Vergoldung 
der Schnitzereien und Studverzierungen. Freilich be- 
denken die meiſten nicht, daß friſche, glänzende Ver— 
goldungen jeder haben kann, der dafür bezablt, daß 
dieſes verblichene, erloſchene Gold aber, verblichen und 


68 „Ave, cariſſima!“ 0 


erlofhen an Ort und Stelle, ein großer Zeuge iſt für 
eine große Vergangenheit. N 

Die berühmte, von Lorenzo Bernini entworfene 
Treppe des Palazzo Domiziani, oben und unten in 
impoſante Veſtibüle mündend, war heute mit dicken, 
purpurnen Teppichläufern belegt und in Licht getaucht, 
das die nachgedunkelten Wandgemälde, Heldentaten 
der Domiziani zu Waſſer und zu Land verherrlichend, 
in ihrer ganzen Größe hervortreten ließ zu Nutz und 
Frommen der Beſchauer. Um die Sockel antiker Götter 
bilder, die in den Ecken der Veſtibüle und des Abſatzes 
ſtanden, auf dem die breit beginnende Treppe ſich in 
zwei ellipſenförmige Arme teilte, waren blühende Topf- 
gewächſe und ſchlanke Palmen künſtleriſch gruppiert, 
rote Samtpolſter bedeckten die Baluſtraden über den 
vergoldeten ſchmiedeeiſernen Geländern. Und über 
die Treppe wogte aufwärts ein Meer von kniſternden 
ſeidenen und ſamtenen Schleppen, von weißem Chiffon 
und ſpitzeninkruſtierter, paillettenbeſtreuter, ſchimmern⸗ 
der Gaze, von weißen Schultern und Armen, von 
Diamanten und farbigen Edelſteinen, von weißen, 
ſchwarzen, braunen und blonden Köpfen, von Blumen, 
friſchen und künſtlichen, unverwelklichen, von Uniformen, 
ſchwarzen Fräcken, Ordensbändern und Sternen, als 
ob es nie ein Ende nehmen wollte. 

Auf dem Treppenabſatz ſtand der Herr des Hauſes, 
Don Cornelio Domiziani, Fürſt von Rocca de’ Serpi 
in ſchwarzem Frack und weißer Binde und begrüßte 
ſeine Gäſte mit der ganzen Liebenswürdigkeit, die ihm 
bei ſolcher Gelegenheit zu Gebote ſtand, und dann 
wogte das ſchimmernde und kniſternde Meer, ſich tei— 
lend, weiter hinan, wo an der Treppenmündung auf 
der balkonartigen Ausladung des Veſtibüls Donna 
Lucrezia vor einer Art von Thronſeſſel, einer ſamt— 


2 Roman von E. v. Adlersfeld-Balleftr em. 69 


bezogenen, goldbetreßten und vergoldeten „Poltrona“ 
ſtand und das Begrüßungswerk durch ihre unver- 
änderte und unermüdliche Freundlichkeit und Güte 
krönte und gewiſſermaßen unterſtrich, denn jede und 
jeder nahm ſeinen Weg zu den Sälen mit der feſten 
Überzeugung, daß er ganz befonders von der Allver- 
ehrten bevorzugt worden war, die in ihrer der Mode 
nur andeutungsweiſe huldigenden Robe von ſchwarzem 
Samt mit unſchätzbaren venezianiſchen alten, ver- 
gilbten Spitzen und der prächtigen Diamanttiara in 
den noch vollen, weißen, modern friſierten Haaren 
ausſah wie ein aus dem Rahmen geſtiegenes Bild von 
Van Oyck. 

Es war ſo ungefähr in der Mitte des Stromes der 
Ankommenden, als Eva van Bergen erſchien. Sie 
hatte das ſo berechnet, um nicht zu früh und nicht zu 
ſpät zu kommen. Der ſelige Hinrich hatte auch viel 
auf die goldene Mittelſtraße gehalten, aber es ſteht zu 
zweifeln, daß ſie bei deren Wahl an den ſeligen Hinrich 
gedacht hatte; es war ihr ſchon läſtig geweſen, daß 
Ave um ſie herumgetanzt war und Scholaſtika Müller 
ihre Kritik ungebeten abgegeben hatte — eine Kritik, 
die fie zu ihrem eigenen Ärger aufs Tüpfelchen befolgt 
hatte, indem fie das von dem alten, uneleganten 
„Schums“ beanftandete Zuviel an Schmuck entfernt 
hatte. Was dieſe Perſon, die wie eine Vogelſcheuche 
daher ging, bei anderen für einen exquiſiten Geſchmack 
hatte! | 5 

Frau Eva ſah heute wirklich ſo gut und ſo jung aus 
wie noch ſelten, ſie übertraf ſich ſelbſt und hätte die 
Gegenwart einer erwachſenen Tochter nicht zu ihrem 
Nachteil zu fürchten brauchen. Das mauvefarbene, 
mit Silber- und Paillettenſtickerei bedeckte Kleid von 
weichem, anſchmiegendem Erepe de Chine ftand ihr in 


70 | „Ave, cariſſima!“ u 


Schnitt und Farbenton vorzüglich. Die Riviere von 
haſelnußgroßen Diamanten und der breite Carmen- 
kamm. von den gleichen Steinen im Haar als einziger 
Schmuck gaben der Robe und ihrer Trägerin eine 
Diſtinktion, die ſie leider nur zu gern durch ein Zuviel 
ſelbſt zu zerſtören neigte. | 

Der Principe konnte, als er feine Mieterin auf der 
Treppe erſcheinen ſah, ein Lächeln des Wohlgefallens 
nicht unterdrücken: man konnte ſich ſchon mit dieſer 
jungen Witwe ſehen laſſen, und wenn ſie auch nicht 
gerade ſein Ideal für die künftige Fürſtin von Rocca 
de’ Serpi war, fo würde fie ſicherlich dieſe hohe Stellung, 
was das Äußere betraf, ausfüllen, trotzdem fie eine 
Gans war. 

So weit hatte er ſich mit dem Gedanken an Eva 
van Bergen ſchon befreundet, während er ſeine Fahrt 
nach Caſtello del Serpe gemacht hatte. Er hatte ſie 
ſeit dem erſten Abend nicht wiedergeſehen, denn als 
er ſeine Karte bei ihr abgab, war ſie ausgefahren, und 
eine elegante kleine Bonbonniere, die er zur Anknüp— 
fung ſeiner Bekanntſchaft mit „der Kleinen“ in ſeiner 
Würde als Hausherr in der Taſche hatte, wanderte 
wieder dahin zurück für ein anderes Mal. Denn ein 
gewiſſes Empfinden hatte ihn davon zurückgehalten, 
ſich das „Kind“ herausrufen zu laſſen. Er hatte in den 
folgenden Tagen vor dem Ball ſeinen Beſuch nicht 
wiederholt, wiewohl die Zeit feiner Entſcheidung gegen- 
über Marcantonio Scarpadoro drängte. Er hoffte 
heute, trotz feiner Wirtspflichten darin einen Fort- 
ſchritt zu machen, und danach blieben ihm ja noch 
drei volle Tage. 

Sein Auge alſo fand ein reſerviertes Wohlgefallen 
an Eva van Bergen und eine bedingte Zuſtimmung, 
als ſie die Treppe zum Palazzo Domiziani herauf— 


2 Roman von E. v. Adlersfeld-Balleftrem. 71 


ſchritt. Er trat lebhaft auf ſie zu und küßte ihr mit 
vollendeter Liebenswürdigkeit die Hand, wobei er ſich 
innerlich gelobte, ihr die Redensart von dem Ver— 
drängen aus ſeiner Wohnung mit Zinſen heimzuzahlen, 
denn bei den Zinſen war er ſchon angelangt, weil bei 
ſeinem Geſchlecht die Zeit nicht verwiſchte, ſondern 
verſchärfte und ſelbſt die wirkliche oder voraus- 
geſetzte Dummheit nicht als mildernder Umſtand in 
Betracht kam. 

„Ich bitte mir die Ehre eines Tanzes aus, Signora,“ 
fuhr er nach den Begrüßungsworten fort. „Haben Sie 
die — die zweite Frangaiſe noch frei? — Danke taufend- 
mal! Meine Tante empfängt oben im Veſtibül — 
Sie kennen doch Donna Lucrezia? — Noch nicht? 
Oh, dann werde ich Sie natürlich ſelbſt vorſtellen! 
Darf ich um hren Arm bitten?“ 

Und während die Nachfolgenden die Köpfe zuſam- 
menſteckten und ſich fragten: „Wer iſt denn dieſe Fremde, 
die er ſelbſt Donna Lucrezia vorſtellen will? Die junge 
Witwe aus dem Appartamento Medici?“ führte der 
Principe die von ihrem Empfange ganz entzückte und 
berauſchte Eva van Bergen die Treppe hinauf und vor 
ſeine Tante, die ihre Begrüßung einer Gruppe von 
Gäſten bei ſeinem Nahen unterbrach und die elegante 
Fremde mit dem neugierigen Intereſſe betrachtete, 
das die Italiener ſelbſt in den höchſten und allerhöchſten 
Kreiſen nicht verleugnen oder verbergen können. 

„Signora van Bergen op Zoom — meine Tante, 
Donna Lucrezia Domiziani,“ ſtellte der Principe mit 
einer etwas geſuchten Feierlichkeit vor, und Frau Eva 
machte unwillkürlich eine etwas tiefere Verbeugung, als 
ſie ſich's daheim einſtudiert, denn die wundervolle 
alte Dame imponierte ihr unbewußt mehr, als ſie ſich 
vorgeſtellt hatte. 


72 ' „Ave, cariſſima!“ 2 


„Es freut mich, Sie kennen zu lernen, Signora,“ 
ſagte Donna Lucrezia gütig. „Wie gefällt es Ihnen 
unter unſerem Dach? — Oh, und Sie haben mir in 
einem fo vorzüglichen Stalieniſch geſchrieben — ich 
war freudig überraſcht, zu finden, daß eine Ausländerin 
unſere Sprache ſo beherrſcht.“ 

„Ich habe ſie von Kindheit an gepflegt,“ erwiderte 
Frau van Bergen geſchmeichelt. „Meine Mutter hat 
als Tochter eines Diplomaten in Rom ihre Jugend 
verlebt und an dieſer Erinnerung ihr ganzes Leben 
gezehrt, kein Wunder alſo, daß ich ihre Vorliebe für 
Rom und die ſchönſte Sprache der Welt geerbt habe.“ 

„Wie ſchön! Ihre Mutter war eine geborene —“ 

„Eine geborene Gräfin Eichwald,“ erklärte Frau 
van Bergen bereitwillig. 

„Ah — etwa Ada Eichwald?“ rief Donna Lucrezia 
lebhaft. „Oh, dann habe ich ſie gekannt und viele 
frohe Stunden mit ihr verlebt. Seien Sie mir um 
ihretwillen noch einmal beſonders willkommen, Signora! 
Hätte ich das nur früher gewußt, daß Sie Ada Eich- 
walds Tochter find! Sie hatte einen Offizier ge- 
heiratet, aber ich habe im Laufe der Zeit ſeinen Namen 
vergeſſen. Nun, wir reden noch darüber — nicht wahr, 
wenn Sie bald zum Tee zu mir kommen? Zch höre, 
Sie haben Ihr Töchterchen bei ſich — ich muß das Kind 
natürlich ſehen, bald ſehen! Unterhalten Sie ſich heute 
abend recht, recht gut — hören Sie?“ 

Und mit einem freundlichen Kopfnicken wandte 
ſich Donna Lucrezia anderen Gäſten zu, und Frau van 
Bergen war entlaſſen, aber mit dem ſchönen Gefühl 
entlaſſen, daß ihr Triumph hier ein vollkommener 
war. Freilich wohl war ſie eine Fremde in dieſem 
Kreiſe, doch ehe ſie ſich noch zurecht legen konnte, was 
ſie nun mit ſich anfangen ſollte, kam der Principe ihr 


2 Roman von E. v. Adlersfeld-Balleftrem. 73 


zu Hilfe, der noch mehr wie fie ſelbſt die freundliche 
Begrüßung der jungen Witwe durch ſeine Tante zu 
würdigen wußte. 

„Ich muß zu meiner Pflicht als Gaſtgeber zurück— 
kehren, Signora,“ ſagte er, „aber Sie kennen ja meinen 
Vetter, den Marcheſe Scarpadoro, der es ſich zur Ehre 
rechnen wird, Ihr Kavalier zu ſein. — Marcantonio,“ 
wendete er ſich an den eben die Treppe Herauflommen- 
den, „ſei ſo gut und mache Frau van Bergen etwas 
bekannt und zeige ihr die Zimmer.! — Alſo bis zur 
zweiten Frangaiſe, Signora! Vergeſſen Sie's nicht!“ 

Und ehe Eva van Bergen noch recht wußte, wie ihr 
geſchah, betrat fie ſchon am Arme des Varcheſe die 
reichlich, aber nicht übermäßig gefüllte Flucht der 
Empfangsräume. Marcantonio Scarpadoro hatte 
nicht gezuckt, als ſein Vetter ihn mit der Einführung 
der jungen Witwe beauftragte, wenn ſchon er darin ein 
Zeichen ſehen wollte, als ob Nelio de’ Serpi damit eine 
vorläufige Aufgabe ſeiner Abſichten ausgedrückt hätte. 
Aber er war ein Mann, der durch viele Enttäuſchungen 
und unverſchuldete Leiden gegangen war, und in dieſer 
Schule hatte er gelernt, die Hoffnung als einen un- 
zuverläſſigen und unſicheren Gaſt zu betrachten. Er 
ſagte ſich im nächſten Augenblick auch ſchon ſelbſt, daß 
Nelio bei feiner Inanſpruchnahme als Gaſtgeber ganz 
natürlich ihn zum Kavalier der Fremden ernannt habe, 
da er gerade in der Nähe war und ihm daran zu liegen 
ſchien, Frau van Bergen nicht allein der ihr fremden 
Geſellſchaft zu überantworten. 

Frau Eva war ganz zufrieden damit, denn erſtens 
war ihre Scheu vor der unbekannten Geſellſchaft damit 
von ihr genommen, und dann gefiel ihr auch der große, 
vornehm ausſehende, melancholiſche Mann recht gut; 
ja, ſie war in ſeiner Geſellſchaft weniger befangen und 


74 „Ave, cariſſima!“ a 


ſicherer als unter dem harten, unergründlichen Blick 
des Fürſten, der ihr ein gewiſſes Unbehagen einflößte 
trotz ſeiner tadelloſen Höflichkeit. Sie ſchob das auf 
das fatale Verſehen, mit dem ſie die Bekanntſchaft 
mit ihm eingeleitet, und das fie ihm gegenüber jchuld- 
bewußt machte. Aber er ſchien die dumme Geſchichte 
ja vergeſſen zu wollen — Gott ſei Dank! 

Von ihrem gegenwärtigen Kavalier wußte ſie, daß 
er ein kinderloſer Witwer und gänzlich verarmt, daß er 
ein Gelehrter war und Erfindungen machte — was 
für welche, davon hatte ſie keine Ahnung, und es war 
ihr auch gleichgültig. Seine Mutter war eine Domi— 
ziani, das hatte ihr der Fürſt bei jenem Eſſen erzählt, 
ſeine verſtorbene Frau war aus einem großen, aber 
armen Hauſe geweſen, das hatten ihr andere berichtet. 
Er hatte natürlich einen Palaſt — das gehörte zur 
Sache, und feine Familie ſtammte von einem päpft- 
lichen Nepoten ab. Was das zu ſagen hatte, war ihr 
ſchleierhaft, aber ſie mußte es natürlich lernen, wenn ſie in 
Rom mitreden wollte. Fräulein Müller wußte alles 
über römiſche Verhältniſſe, ſie würde alſo den „Schums“ 
fragen, der ihr ſchon den guten Rat gegeben, heute ihre 
Smaragden daheim zu laſſen. Sie fühlte bei den ſie 
muſternden, bewundernden Blicken, daß der Rat in 
der Tat vortrefflich geweſen, was Frau Eva entſchieden 
zu Scholaſtika Müllers Gunſten ſtimmte, trotzdem der 
Rat mehr in draſtiſche als in höfliche Wendungen ge- 
kleidet worden war. 

Wenn Donna Lucrezia ihr ſchon imponiert hatte, 
fo tat es der Anblick der in ſchier endloſer Flucht ver- 
laufenden Empfangsräume des Palazzo Domiziani in 
erhöhtem Maße, denn Donna Lucrezia war doch ein 
Faktor, der ihrer Meinung nach verſchwand, ſobald — 
ſobald — — — 


2 Roman von E. v. Adlersfeld-Balleſtrem. 75 


Aber dieſe Räume blieben und verſtärkten, kaum 
betreten, in ihr das Verlangen, Herrin darin zu werden. 

„Ich hatte keine Ahnung, daß der Palaſt fo aus- 
gedehnt iſt,“ wandte ſie ſich ſtrahlend an ihren Kavalier. 

„Die meiſten Fremden können ſich keine Vorſtel— 
lung von der Größe unſerer Häuſer machen,“ erwiderte 
Scarpadoro ruhig. „Was Sie hier vor ſich ſehen 
können, iſt nur der Anfang der ganzen Flucht. Ich 
erfülle gern die angenehme Pflicht, Sie hindurchzu— 
geleiten. Und im Vorübergehen darf ich Sie dann 
wohl den Damen vorſtellen, die durch ihr Alter und 
ihren Rang in der erſten Reihe unſerer Kreiſe ſtehen, 
ebenſo dem Kardinal, der auch den Palazzo Domiziani 
bewohnt.“ N 

„Ich überlaſſe mich ganz Ihrer Güte und Ihrer 
Führung, Herr Marcheſe,“ ſagte Eva liebenswürdig, 
denn beſſer hätte ſie es ja gar nicht haben können. 

Es war ein langſames Vorwärtsſchreiten unter den 
Erklärungen und Vorſtellungen Scarpadoros, und ſchließ— 
lich ſank Eva zu einer tiefen Verbeugung vor dem 
Kardinal zuſammen, dem die purpurne Cappa zu dem 
alten, feinen, vergeiſtigten Geſicht mit dem fchnec- 
weißen krauſen Haar einem Van Dyck ein beneidens- 
wertes Modell gegeben hätte. Der Kirchenfürſt, dem 
auch für ſeinen Namen eine Fürſtenkrone zukam, 
redete Frau van Bergen in reinem, gewähltem Deutſch 
an, denn er war lange Nunzius in Wien geweſen, und 
fragte ſie — was fie an dieſem Abend ſchon hundert- 
mal hatte beantworten müſſen — wie es ihr in Rom 
gefalle. 

„Es iſt anerkennenswert, daß Sie auf die immer 
wiederkehrende Frage immer eine enthuſiaſtiſche Ant- 
wort haben, Signora,“ bemerkte Scarpadoro mit ſeinem 
melancholiſchen Lächeln, als fie weiterſchritten. „Ich 


76 „Ave, cariſſima!T“ D 


habe gut aufgepaßt: Ihre Begeiſterung für mein liebes 
Rom hat bis jetzt nichts von ihrer Spannkraft ver- 
loren.“ 

Nun war Eva van Bergens „Begeiſterung“ ſicher 
nicht die des Archäologen, des Kunſtfreundes oder des 
Naturenthuſiaſten, ſondern die einer eitlen Seele, die 
in der Ewigen Stadt eine raffinierte Befriedigung 
ihrer Vergnügungsſucht ſuchte und heute abend endlich 
auch nach Herzenswunſch gefunden hatte. Das, was 
andere Leute mit anderen Zielen in Rom ſuchen, war 
für ſie nur das fremdartige Beiwerk, reizvoll in ſich, 
aber für ſie nicht notwendig. Sie war darauf gefaßt 
geweſen, dieſelbe Frage ſtereotyp beantworten zu 
müſſen, und tat es mit einem gewiſſen Heroismus, 
weil fie wußte, daß fie damit den Stalienern ſchmeichelte. 
Aber ſie hatte es jetzt eigentlich ſatt, genau wie ſie im 
Grunde ihrer Seele die „ewigen“ Statuen und Büſten 
der Muſeen „über“ hatte, die ihr blutwenig ſagten, 
weil ihr Kunſtverſtändnis nur ſehr gering war. 

Sie lachte bei Scarpadoros Kompliment, das frei- 
lich aus ſeinem Munde wie eine Auszeichnung klang. 
„Es gefällt mir ausnehmend hier — ich bliebe am 
liebſten immer in Rom,“ erwiderte ſie wahrheitsgetreu. 
„Oh,“ ſetzte ſie lebhafter hinzu, „bitte, ſagen Sie mir, 
warum dieſe beiden Büſten dort fo feierlich aufge- 
ſtellt ſind!“ 

Damit deutete ſie auf einen Aufbau, auf dem unter 
einem Thronhimmel von Purpurſamt auf ſchlanken 
Säulen von durchſcheinendem grünen, zu Hochglanz 
poliertem Nephrit eine männliche und eine weib— 
liche Büſte ſtanden — die erſtere der ſtarke, etwas 
brutale Kopf eines Mannes mit ausgeſprochener, aber 
angenehmerer Ahnlichkeit des bekannten Nerotyps, 
die andere mit den ſchönen, verfeinerten, vornehmen 


2 Roman von E. v. Adlersfeld-Balleſtrem. 77 


Zügen einer jungen Frau, deren lieblicher Mund leiſe 
und ſinnig lächelte. 

„das find die Porträtbüſten der Urheber des Haufes 
Domiziani,“ erklärte Scarpadoro, ſeine Begleiterin vor 
die Büſten führend. „Sie ſtehen an der Stelle des 
Thronſeſſels, den das Geſchlecht hier ſtehen hatte, als 
es noch ſouberän war auf Rocca del Serpe. Domitius 
Ahenobarbus und feine Gemahlin Agrippina, des Kai- 
ſers Nero Mutter und des Kaiſers Claudius ſechſte 
und letzte Gemahlin.“ 

„Ah!“ rief Eva van Bergen unwillkürlich. Sie 
hatte keine Ahnung, wer Domitius Ahenobarbus ge- 
weſen, und von der Mutter Neros nur einen ſchwachen, 
ſehr ſchwachen Schimmer. „Richtig, eine ſitzende Statue 
der Agrippina iſt im Muſeum des Kapitols — ich er- 
innere mich.“ 

„Verzeihung, Signora, jene Statue ſtellt die ältere 
Agrippina vor, die Mutter der Kaiſerin,“ berichtigte 
Scarpadoro. 

„In der Tat — dieſe alten römiſchen Herrſchaften 
ſind jo verwirrend in ihren Verwandtſchaften,“ mur- 
molte Eva van Bergen mit dem Entſchluß, ſich von 
Scholaſtika Müller das Wichtigſte darüber erklären und 
eihpaufen zu laſſen, damit man ſich vor dieſen Römern 
nicht blamierte, die die Genealogien der Zulier und 
Flavier und wie ſie alle heißen mochten, auswendig 
zu wiſſen ſchienen. Sie wußten ſonſt oft blutwenig 
aus der Geſchichte, das aber wußten ſie alle. 

„Ja, das find fie,“ gab Scarpadoro mit leiſem 
Lächeln zu. „Es gibt viele Geſchichtsforſcher, nament- 
lich Oeutſche, die dem Kaiſer Nero die Exiſtenz feines 
Bruders Domitius Germanicus Agrippa, des Stifters 
des Hauſes Domiziani, mit Heftigkeit abſtreiten. Des- 
wegen hat er aber doch exiſtiert.“ 


78 „Ave, cariſſima!“ 2 


„Ja, glauben Sie denn wirklich daran?“ fragte 
Frau van Bergen naiv. 

„Wir alten römiſchen Geſchlechter glauben alle an 
unſere Traditionen, Signora,“ erwiderte der Marcheſe. 
„Wir ſind an ihnen erſtarkt und leben von ihnen. Es 
braucht nicht immer alles urkundlich verbrieft und ver- 
ſiegelt zu ſein zur Befriedigung der Profeſſoren. Ich 
glaube, Signora, wenn ich mir den unmaßgeblichen 
Rat erlauben darf, daß Sie beſſer tun, meinem Vetter 
de' Serpi Ihre etwaigen Zweifel an dem Urſprung 
ſeines Hauſes nicht auszuſprechen. Er iſt in dieſem 
Punkte ſehr empfindlich und hat ſich ſogar ſchon dafür 
geſchlagen. Doch dies nur im Vertrauen, Signora.“ 

Scarpadoros unerſchütterliche Gewiſſenhaftigkeit, 


die feine Verwandten und Freunde gut genug kann- 


ten, hatte ihn gegen fein Intereſſe dieſe freundliche 
Warnung ausſprechen laſſen, als ob er's geahnt hätte, 
daß in Frau Evas tätigem Gehirn das Vorhaben auf— 
geblitzt ſei, den Principe gründlich mit feiner Nero- 
niſchen Verwandtſchaft zu necken und ihre Ronverfa- 
tionsgabe dabei ſpielen zu laſſen. Das wäre der Schluß 
des kaum begonnenen Kapitels geweſen. Wenn er 
ſchwieg, dann hatte er gewonnen, aber feine Recht- 
lichkeit ſiegte über ſeine eigenen Intereſſen, und Eva 
van Bergen hatte trotz ihrer Oberflächlichkeit ein Emp- 
finden dafür. 


„Ich danke Ihnen für den Wink, Herr Marcheſe,“ ſagte 


ſie rot werdend, weil ſie ſich ertappt fühlte. „Es iſt immer 
gut zu wiſſen, wo jemandes Angriffspunkt ſich befindet. 
Sie ſcheinen Ihrem Vetter ſehr zugetan zu fein.“ 

„Wir find Blutsverwandte,“ erwiderte Scarpadoro 
einfach. „Meine Mutter war Donna Lucrezias Schwe— 
ſter. Der Familienſinn iſt bei uns Stalienern ſehr ſtark 
entwickelt.“ 


D. Roman von E. v. Adlersfeld-Balleftrem. 79 


„Eine ſchöne Tugend,“ meinte ſie zuſtimmend. 
„Bei uns find ‚die zärtlichen Verwandten“ ein eiſerner 
Beſtand für den Witz, und ich ſelbſt habe auch gefunden, 
daß die Blutsverwandtſchaft ein Privilegium ſein muß, 
um ſich gegenſeitig unangenehme Dinge fagen zu dür- 
fen, ſogenannte Wahrheiten, die aber, genau betrachtet, 
meiſt nichts wie Grobheiten ſind.“ 

„Nun, von dieſem Privilegium wird wohl gelegent- 
lich in allen Ländern Gebrauch gemacht,“ bemerkte 
der Marcheſe mit feinem melancholiſchen Lächeln. 
„Hier,“ fuhr er fort, mit ſeiner Begleiterin durch die 
nächſte Tür tretend, „hier ſind wir am Ende unſerer 
Wanderung angelangt. Die gegenüberliegende Tür 
iſt geſchloſſen; ſie führt in eine Flucht von Zimmern, 
die der jeweiligen Fürſtin von Rocca de' Serpi vor- 
behalten ſind. Sie ſtehen ſchon lange leer.“ 

Das Gemach, in dem ſie ſtanden, war ein langer, 
ſchmaler Saal, der zur Hälfte durch eine rotſeidene 
Schnur abgeteilt war. An der Längswand dahinter 
ſtand eine Reihe vergoldeter, mit Goldbrokat über- 
zogener Seſſel, die vorn am Sitz, wie Eva van Bergens 
ſcharfes Auge bemerkte, ſtark abgenützt waren. Ein 
thronartiger Seſſel in der Mitte war mit der Front 
der Wand zugekehrt. Die Wände dieſes Saales waren 
mit purpurrotem Damaſt beſpannt und mit koſtbaren 
Gemälden in ſchweren goldenen Rahmen behängt, 
auf reichgeſchnitzten und vergoldeten Gueridons ſtan— 
den bronzegefaßte Vaſen von Malachit und wunder- 
volle Gruppen von weißem, glaſiertem Porzellan von 
Capo di Monte. Den Boden bedeckte ein uralter per- 
ſiſcher Teppich. 

„Es ſieht wie ein Thronſaal aus,“ bemerkte Frau 
van Bergen ſchüchtern, da anſcheinend eine Bemerkung 
über dieſes Gemach von ihr erwartet wurde, das in 


80 „Ave, cariſſima!“ E 


ihren Augen ſtark einer Renovierung bedurfte und 
auch ſonſt keine Gäſte angelockt zu haben ſchien, denn 
ſie waren allein darin. 

„Es iſt der Papfſtſaal,“ beſtätigte der Marcheſe. 
„Wenn der Pontifex Maximus den Palazzo Domi— 
ziani beehrt, dann erteilt er in dieſem Raume den 
Bewohnern Audienz und nimmt dazu auf dem Thron- 
ſeſſel Platz. Pius IX. war der letzte Papſt, der in 
dieſem Raume weilte. Der Thronſeſſel bleibt ſo lange 
umgekehrt ſtehen, bis einer ſeiner Nachfolger wieder die 
Häufer ſeiner Getreuen aufſuchen wird,“ erklärte Scarpa- 
doro mit einem Seufzer. „Es iſt ein geheiligter Raum.“ 

„Gewiß, gewiß!“ beeilte ſich Frau van Bergen 
zuzuſtimmen. „Er hat etwas Feierliches, aber auch 
Totes, Verlaſſenes. Den Überzügen der Seſſel nach 
zu urteilen, muß er lange ſchon ſo eingerichtet ſein, wie 
er jetzt iſt,“ konnte ſie ſich nicht enthalten zuzufügen. 

„Ich ſollte es meinen! Lange für gewöhnliche Be— 
griffe — für die Domiziani und die Dauer dieſes Hauſes 
eine leicht berechenbare Spanne Zeit,“ erwiderte der 
Marcheſe mit ſichtlichem Stolz. „Sehen Sie dieſen 
Teppich, Signora! Er wurde vor fünfhundert Jahren 
einem Domiziani von einem perſiſchen Schah geſchenkt, 
an deſſen Hofe er als Geſandter des Heiligen Stuhles 
weilte. Sein Wert würde mit Geld kaum aufzuwiegen 
ſein. And der Bezug dieſer Seſſel iſt Genueſer Fabri— 
kat aus dem ſechzehnten Jahrhundert! Ein amerika— 
niſcher Milliardär und Sammler hat de' Roccas Por— 
tier, der ihm die Empfangsräume zeigte, eine Summe 
für das Stehlen des Überzugs einer dieſer Seſſel ge— 
boten, die den Mann zum Rentier gemacht hätte.“ 

„Und er hat der Verſuchung widerſtanden?“ fragte 
Eva van Bergen, die zerſchliſſenen Stoffe mit geteilten 
Gefühlen betrachtend. 


D Roman von E. v. Adlersfeld-Balleftrem. 81 


„Er hat von dem Amerikaner nicht einmal ein 
Trinkgeld angenommen in ſeiner Entrüſtung. Der 
Vater und der Großvater Attilios haben ſchon als 
Pförtner vor dem Portal des Palazzo Domiziani ge- 
ſtanden,“ war die mit größter Selbſtverſtändlichkeit 
gegebene Erklärung. „Die Leute, welche Erbpoſten 
in unſeren alten Familien bekleiden, würden mit ihrer 
Herrſchaft hungern, aber ſie würden weder ihre Herren 
verkaufen noch das, was dieſen gehört.“ 

Frau van Bergen ſtand hier vor einem unbegreif— 
lichen Rätſel, während ſie an die brennende deutſche 
Dienſtbotenfrage dachte. Eine wie aus weiter Ferne 
klingende Fanfare aus dem Ballſaal erlöſte fie aus den 
Unbehagen, das fie in dieſem ihr unverſtändlichen 
„Reliquienkaſten“ empfand. 

Der Marchhefe reichte ihr, aus feinen Gedanken 
aufſchreckend, ſofort wieder ſeinen Arm. „Der Ball 
beginnt — ich habe die Ehre, Signora zur Polonaiſe 
zu führen,“ ſagte er, und bald ſtand ſie mit ihm 
in den Reihen der ihnen ſchon entgegenkommenden 
Polonaiſe, nach der ſie aus einem Arm in den an— 
deren flog und ſich dabei überzeugte, daß es ſich 
auf dem ſpiegelblank gewichſten Marmoreſtrich des 
Ballſaals einfach ideal tanzen ließ, denn was ſie kaum 
zu hoffen gewagt, hatte ſich kaum eine Viertelſtunde 
nach ihrem Eintritt in die Empfangsräume vollzogen: 
ihre Tanzkarte war überzeichnet. Reiche junge Witwen 
brauchen ſich vor dem Sitzenbleiben nicht zu fürchten, 
weder in Rom noch ſonſtwo in der ganzen Welt. 

Den Fürſten de' Serpi ſah Eva van Bergen erſt 
wieder, als er fie zu der zweiten Frangçaiſe abholte. 

„Sie unterhalten ſich gut, Signora?“ fragte er, 
ſie mit ſeinem kalten Blick muſternd. 

„Wundervoll!“ verſicherte ſie weſentlich ſicherer als 

1913. 1. 6 


82 „Ave, cariſſima!“ 2 
zuvor. „Man iſt ſehr liebenswürdig gegen mich, die 
Fremde, und ich bin dankbar dafür.“ 

„Sie tanzen gern? — Doch das brauche ich nicht 
zu fragen. Scarpadoro hat hoffentlich ſeine Sache als 
Cicerone gut gemacht?“ 

„Ich wäre ohne den Marcheje verloren geweſen. 
3a, er hat mir alles gezeigt, mich überall vorgeſtellt. 
Welch wundervolle Räume Sie hier haben, Principe!“ 

„Und Sie haben ſich nun überzeugt, daß Sie mich 
durchaus nicht verdrängt oder beengt haben, Signora?“ 

Eva van Bergen bekam einen Schrecken. Alſo hatte er 
doch nicht vergeſſen, wenn ſchon er die Frage lachend tat. 
„Als ob ich es ſo gemeint hätte!“ zwang ſie ſich zu einem 
halben Schmollen, das ihr beſſer als ein Proteſt ſchien. 

Er lachte wieder, aber ſie hatte Furcht vor dieſem 
Lachen. „Ich werde Sie ſchon noch manchmal damit 
necken,“ verſicherte er. „Ich — ich hoffe nämlich auf gute 
Nachbarſchaft. Die Tür am Ende Ihrer Loggia ſoll auf- 
geſchloſſen werden, damit Sie nicht erſt über die Straße 
müſſen, wenn Sie meine Tante beſuchen, und ich auch 
nicht, falls Sie mir geſtatten, mich zwanglos, als guter 
Hausherr, manchmal zu einer Taſſe Tee einzufinden.“ 

Frau van Bergen atmete wieder auf. „Das wäre 
reizend,“ erklärte fie ſtrahlend. „Dieſe verſchloſſene 
Tür hatte mich ſchon lebhaft intereſſiert, ehe ich ahnte, 
daß der Palazzo Domiziani eigentlich erſt hinter ihr 
beginnt. Verſchloſſene Türen haben mich immer ge— 
reizt. Als Blaubarts Frau hätte ich mit dieſer Neu- 
gierde ſicherlich ſeine Sammlung bereichert.“ 

„Vielleicht — wenn. Sie ein paar Jahrhunderte 
früher nach Rom gekommen wären, denn wir Domi— 
ziani haben auch einen richtigen, beglaubigten Blau— 
bart in unſerem Stammbaum,“ ſagte der Principe 
gutgelaunt. „Er hat es, wie Heinrich VIII. von Eng- 


D Roman von E. v. Adlersfeld-Balleftrem. 83 


land, auf ſechs Frauen gebracht und ſich ihrer auch im 
Namen feiner eigenen Jurisdiktion entledigt. Nur daß 
keine von ihnen ihn überlebt hat. Erſt als er die ſiebente 
heiraten wollte, haben deren Verwandte die Gefahr 
von ihr abgewendet, indem ſie ihn überfielen und — 
unſchädlich machten.“ 

„Wie entſetzlich!“ rief Frau van Bergen mit einem 
ſcheuen Blick auf den Nachkommen des römiſchen Blau— 
barts. „Haben Sie noch viele ſo liebe Leute in Ihrem 
Stammbaum, Principe?“ 

„Was wollen Sie, Signora?“ entgegnete er achjel- 
zuckend. „Die Zeiten und die Sitten waren damals 
eben andere.“ 

„Und das nennt man die gute alte Zeit. Ich danke!“ 
erklärte ſie energiſch. „Es hat doch wirklich viel für ſich, 
daß die großen Staaten den kleinen Souveränen das 
Regieren abgenommen haben!“ 

„Nominell nur, Signora! Ein mediatiſiertes 
großes Haus wird innerhalb ſeiner vier Pfähle ſeine 
durch die Jahrhunderte geheiligten Geſetze nicht ohne 
weiteres an den Nagel hängen.“ 

„Sie wollen doch damit nicht ſagen, daß ein — 
ein Blaubart heute noch aus eigener Machtvolltommen- 
heit ſeine Frauen und Untergebenen verurteilen und 
richten kann? Im zwanzigſten Jahrhundert? Die Ge- 
ſetze würden ihm das Handwerk bald legen!“ 

Der Fürſt lachte laut auf. „Ein nettes Ball- 
geſpräch!“ meinte er mit ſprühendem Blick. „Sie haben 
Geiſt, Signora, und nehmen ſich einer Hypotheſe mit 
einem Eifer an, als ob wir von einem Faktum ge— 
ſprochen hätten.“ — 

Dieſe zweite Frangaiſe wurde für Frau van Ber— 
gen zum Ereignis, und als ſie in ſpäter Stunde im 
Bette lag und den Ball im Palazzo Domiziani noch 


84 „Ave, cariſſima!“ 2 


einmal vor ihrem geiſtigen Auge Revue paſſieren ließ, 
da war ſie vollberechtigt anzunehmen, daß ſie einen 
Eindruck auf ihren Wirt gemacht hatte, der ihr ein 
Ziel greifbar zeigte, das die Erfüllung ihrer kühnſten 
Mädchenträume mit einem Male verhieß. 

Die Berechtigung ihrer Annahme war aber zu zwei 
Dritteln auf das Konto ihrer perſönlichen Eitelkeit 
zu buchen, was freilich nur menſchlich war. Der Reft 
aber blieb damit doch zweifellos, denn der Principe 
hatte fie im Laufe des Abends in einer Weiſe aus- 
gezeichnet, die auch anderen aufgefallen war. 

Er war ſo gut wie entſchloſſen zu dem entſcheidenden 
Schritt. Nicht, daß er wärmere Gefühle für ihre Perſon 
empfand — im Gegenteil, ſie ließ ihn ganz kalt. Aber 
ſie würde ſich machen, überlegte er, als er ihr beim 
Tanzen zuſah. Sie war ja vielleicht nicht viel jünger 
als er, aber ſie ſah gut aus, würde ſich bald in ihre 
große Nolle als Fürſtin Rocca de' Serpi hineinleben 
und in ihrem Kreiſe eine Nummer ſein, keine abſolute 
Null, weil ſie den Inſtinkt für dieſen Kreis hatte. Mehr 
war ja ſchließlich auch nicht nötig. 

Er hatte wiederholt geſehen, daß Scarpadoro ihr mit 
den Augen folgte, und dachte mit einem Achſelzucken: 
„Armer Marcantonio! Aber warum iſt er ſo dumm, 
mir den Vortritt zu laſſen, warum tritt er ſo in den 
Hintergrund? Er iſt immer ſentimental geweſen, aber 
bis zu dieſem Grade hätte ich's ihm nicht zugetraut. 
Freilich, wenn er ſeinen alten, kahlen, verrottenden 
Rattenkaſten von einem Palaſte gegen die Caſa Domi— 
ziani in die Wagſchale werfen will, ſo darf er ſich nicht 
wundern, wenn er damit in die Luft fliegt!“ 

(Fortſetzung ſolgt.) 


Se 
* 


> 


3 * — 


Anſere Slaujacken am Lande. 
von C. Lund. 


Mit s Bildern. N nachoͤruck verboten.) 


Jude Geſchwader, ja jedes einzelne in ausländiſchen 
Gewäſſern ſtationierte Schiff unſerer Kriegsflotte 
kann bei politiſchen Verwicklungen in die Lage kommen, 
Truppen landen zu müſſen, ſei es, um das Leben und 
Eigentum bedrohter Reichsangehöriger zu ſchützen oder 
auch bereits geſchehene Übergriffe halbziviliſierter Völ- 
ker beziehungsweiſe wilder Stämme durch Strafexpe- 
ditionen zu ahnden. Die Geſchichte unſerer jungen 
Marine iſt, wie allgemein bekannt fein dürfte, nicht 
gerade arm an Vorkommniſſen geweſen, die ein Vor- 
gehen unſerer Blaujacken zu Lande notwendig gemacht 
haben. 

Alle Landungsunternehmungen aber würden zweck- 
los ſein, wenn nicht die Truppen, bevor ſie auf die 
Auslandsſchiffe kommen, im Kriegsdienſt auf dem 
Lande ausgebildet wären. Dieſe Ausbildung kann 
nicht erſt von den Schiffen aus geſchehen; ſie wird 
vielmehr innerhalb der Matroſendiviſionen zu Kiel oder 
Wilhelmshaven, die die Depots für das geſamte ſee— 
männiſche Perſonal der Flotte bilden, durchgeführt und 
erſtreckt ſich außer auf Exerzieren und Gewehrſchießen 
auf den geſamten Feld- und Signaldienſt der Infan— 
terie, ſowie auf die Bedienung der Maſchinengewehre 
und Landungsgeſchütze, als welche Schnellfeuerkanonen 


86 Unſere Blaujacken am Lande. 2 


mit einem Kaliber von ſechs Zentimeter zur Ver- 
wendung kommen. 

Bei der Vielſeitigkeit des Schiffs- und Bootsdienſtes 
liegt es allerdings auf der Hand, daß für die infante- 
riſtiſche Ausbildung unſerer Mariner nicht allzuviel Zeit 
hergegeben werden kann, und daß es abgeſchmackt ſein 
würde, wenn man an ihre Leiſtungen im Gelände 
den Maßſtab legen wollte, den wir an unſere Infanterie 
zu legen gewohnt ſind. Wer indeſſen öfter Gelegenheit 
gehabt hat, ausgedehnteren Ubungen der Blaujacken 
am Lande beizuwohnen, wird ſchwerlich geneigt ſein, 
ihre Leiſtungen im Gelände und im Scharfſchießen allzu 
niedrig einſchätzen zu wollen. Auch haben ſeinerzeit die 
Erſtürmung der Takuforts (17. Zuni 1900) und der Marſch 
zum Entſatze der Geſandtſchaften in Peking gezeigt, daß 
die Mannſchaften unſerer Flotte denen anderer Natio- 
nen im Dienſt am Lande in keiner Weiſe nachſtehen. 

Für die Operationen am Lande erhalten die Ma- 
troſen eine beſondere Ausrüſtung, die nach der Jahres- 
zeit verſchieden iſt, für tropiſche Gegenden aber noch 
eine beſondere Ergänzung erfährt. Bei Landungs- 
manövern an unſeren heimiſchen Küſten tragen fie wäh- 
rend der kalten Jahreszeit die blaue, im Sommer da- 
gegen weiße Uniform nebſt entſprechender Mütze und 
ſtatt der Stiefel Schnürſchuhe, über die braune Segel- 
tuchgamaſchen angelegt werden. Innerhalb der Tropen 
tritt an die Stelle dieſer Anzüge die bekannte Kaki— 
uniform ſamt dem Tropenhelm und dem Nackenſchleier 
zum Schutze gegen die Wirkungen der Sonne. Außer- 
dem erhalten die zu einer Landung beſtimmten Truppen 
eine Feldflaſche, zwei gefüllte Patronentaſchen, eine 
Vorratstaſche mit Reſervemunition, einen aus imprä— 
gniertem Segeltuch gefertigten Ruckſack, der Unterzeug, 
Strümpfe, einen Reſerveanzug, eine Netzhängematte, 


2 Von C. Lund. 87 


Näh- und Waſchgerät, ein Moskitonetz, ſowie den vor- 
geſchriebenen „eiſernen“ Proviantbeſtand (Hartbrot, 
Cornedbeef, Dauerwurſt uſw.) enthält. Dieſen tragen 
die Mannſchaften auf dem Rücken. Eine gerollte wollene 
Decke, die von einer waſſerdichten Unterlage aus imprä— 
gniertem Segeltuch umgeben iſt, vervollſtändigt die Aus- 


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Marich ins Gelände. 


rüſtung. Bei bloßen Landungsmanövern, bei denen 
ein Übernachten im Gelände nicht in Frage kommt, 
können einzelne Stücke der Ausrüſtung auch in Fort— 
fall kommen. N 

Die Bewaffnung beſteht außer dem Seitengewehr 
aus dem Gewehr „Modell 88“. zndeſſen werden 
jeder Landungstruppe auch eine Anzahl Mafchinen- 
gewehre und Schnellfeuergeſchütze nebſt entſprechender 
Munition, die auf Karren verladen wird, beigegeben. 


88 Unfere Blaujacken am Lande. 2 


—5ði — 


Die Landungsgeſchütze müſſen im Gelände von den 
Bedienungsmannſchaften ſelbſt gezogen werden. Zu 
ihrer Verteidigung im Handgemenge find die Bedie- 
nungsmannſchaften außer mit dem Seitengewehr noch 
mit dem Armeerevolver ausgerüſtet. 

Jeder Landungstruppe gehören auch eine Anzahl 
„Pioniere“ an, die dem Heizer- und Handwerker- 
perſonal der Schiffe entnommen ſind und ihre ſpezielle 
Ausbildung als Pioniere in den Werftdivifionen er- 
halten haben. Ihre Aufgabe bei Landungsunterneh- 
mungen beſteht darin, Wege und Übergänge zu bahnen, 
Verſchanzungen und andere Oeckungen für die eigene 
Truppe herzuſtellen und feindliche Verhaue aus dem 
Wege zu räumen. Zu dem Zwecke find dieſe Mann- 
ſchaften mit Axten, Sägen, Spaten, Schaufeln, Spreng- 
patronen uſw. ausgerüſtet. 

Endlich wird jede Landungstruppe auch noch von 
einer Sanitätsabteilung begleitet, die ſich je nach der 
Stärke des Landungsdetachements aus einem oder 
mehreren Sanitätsoffizieren und dem Lazarettperſonal 
zuſammenſetzt, über Tragbahren, Verbandſtoffe, Arz- 
neien, Desinfektionsmittel und dergleichen verfügt und 
ebenfalls mit dem Armeerevolver bewaffnet iſt. 

Kommt ein Geſchwader in die Lage, an Küften- 
punkten, die vom Feinde beſetzt ſind, Truppen landen 
zu müſſen, ſo wird der Geſchwaderchef in der Regel 
zunächſt ſo nahe als möglich an die Küſte herandampfen, 
um die Siedlungen, die dem Gegner Rückhalt geben 
können, durch die Schiffsgeſchütze zu zerſtören, er wird 
aber auch gleichzeitig die Stellungen der Gegner ſelbſt 
unter Feuer nehmen. Halb- beziehungsweiſe unzivi— 
liſierte Gegner werden dieſem Feuer in der Regel 
um ſo weniger längere Zeit ſtandhalten, als ſie meiſtens 
nicht in der Lage ſind, dieſes wirkſam erwidern zu 


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90 Unfere Blaujaden am Lande. | 2 
ſämtliche Barkaſſen, Pinaſſen und ſonſtigen Boote der 
Schiffe zu Waſſer gebracht und mit Proviant, friſchem 
Waſſer, Brennmaterial und Kocheinrichtungen ver— 
ſehen. In die erſtgenannten Fahrzeuge, die ſogenannten 
ſchweren Boote, werden die Maſchinengewehre und 


Maſchinengewehre in Sefechtsſtellung. 


Landungsgeſchütze nebſt Zubehör verladen. Um aus 
den Landungsgeſchützen bereits während der Fahrt 
nach dem Strande feuern zu können, werden die Rohre 
von ihren Lafetten gehoben und auf beſonders für dieſen 
Zweck konſtruierte Bordlafetten gelegt. 

Der Befehl zur Einbootung der Mannſchaften er- 
folgt durch Horn- oder Trommelſignale, eventuell auch 
durch die Pfeifen der Bootsmannsmaate. Die Aus- 
führung geht raſch und ſicher vonſtatten, da jeder Rekrut 
genau weiß, zu welchem Boote und an welchen Platz 
er gehört. Die Fahrzeuge ſelbſt werden zu drei Treffen 
geordnet, von denen das erſte die „ſchweren“ Boote 
umfaßt, die gleichzeitig die des zweiten und dritten 


2 Von C. Lund. 91 


Treffens ins Schlepptau nehmen müſſen. Auf den 
leichteren Booten des zweiten Treffens befindet ſich 
die ſogenannte Avantgarde, der die Aufgabe zufällt, 
den Strand von etwaigen Feinden zu ſäubern, die 
ihn beherrſchenden Punkte am Ufer zu beſetzen und 
die Landung der beiden anderen Treffen zu decken. 

Sobald ſich die Schleppzüge dem Strande nähern 
und in ſeichtes Waſſer gelangen, werden die Boote des 
zweiten Treffens losgeworfen und gleiten nun durch 
die Ruderer getrieben zwiſchen den anderen hindurch 
weiter vor, bis die Inſaſſen watend den Strand er- 
reichen können. Muß die Landung erzwungen werden, 


— 
3 


Gefechtspauſe. 


ſo unterſtützen nicht nur die Beſatzungen der ſchweren 
Boote durch ihr Feuer das Vorgehen der Avantgarde, 
ſondern es greifen auch die ſämtlichen Schiffsgeſchütze 
in den Kampf ein, bis der Feind geworfen iſt und die 
weitere Ausbootung erfolgen kann. 


92 Unfere Blaujacken am Lande. o 


— — . — nn 


Bei letzterem werden die Rohre der Landungs- 
geſchütze wieder auf ihre eigentlichen Lafetten gelegt 
und über beſonders mitgeführte Laufſchwellen an den 
Strand gebracht. Den Beſchluß bilden die Boote des 
dritten Treffens, die Jollen mit dem Sanitätsperſonal 
und den Lazaretteinrichtungen. Nach der Ausbootung 
der geſamten Landungstruppe bleiben in jedem be- 
nützten Fahrzeug mindeſtens zwei Leute als Wache 
zurück. Sie haben für die Sicherheit der Boote aufzu— 
kommen, fie gegen feindliche Überfälle und vor Stran- 
dung zu bewahren und ſie für die Wiedereinbootung 
der Truppe bereitzuhalten. Ä 

Die Stärke der Truppe, die ein Geſchwader für 
Operationen am Lande abgeben kann, richtet ſich ein- 
mal nach der Zahl, dann aber auch nach dem Typ 
der dem Verbande angehörigen Schiffe. Im allge— 
meinen gilt als Regel, daß ein Schiff nicht mehr als 
höchſtens dreißig Prozent feiner Beſatzung für Lan- 
dungsunternehmungen entbehren kann, da es auch 
nach dieſer Abgabe unter allen Umftänden manöprier- 
und kampffähig bleiben muß. Das Landungsdetache- 
ment eines „kleinen“ Kreuzers mag ſich demnach auf 
etwa 80, das eines Panzerkreuzers vom Typ des 
„Blücher“ auf etwa 225, das eines modernen Dread- 
noughts auf 260 Köpfe ſtellen. Bei den älteren 
Schiffen unſerer Flotte ſind dieſe Ziffern entſprechend 
zu ermäßigen. 

Es liegt auf der Hand, daß die Landungsabteilung 
eines einzelnen Schiffes im Auslande wenig auszu- 
richten vermag, und ſelbſt die vereinigten Abteilungen 
kleinerer Geſchwader bilden numeriſch immer nur 
eine ſchwache Truppe, die ſich auf weitausgreifende 
Unternehmungen am Lande nicht einlaſſen kann, zumal 
ihr diejenigen Nöglichkeiten fehlen, die allein weiter— 


0 Von C. Lund. 93 


gehenden Operationen einen Erfolg ſichern können. 
Dahin rechnen wir nicht nur die dauernd aufrechtzu— 


Berittene Marineoffiziere bei der Kritik vor dem Prinzen Heinrich von Preußen. 


94 Unfere Blaujaden am Lande. D 


erhaltende Verbindung mit dem Geſchwader, fondern 
auch die unbedingt nötig werdenden Nachſchübe an 
Truppen und Kriegsmaterial aller Art, ohne die auch 
die beſtgeleitete Truppe nicht auskommen wird. 
Wenn es alſo auch richtig ſein mag, daß ſolchen 
Landungsunternehmungen durchweg etwas Handftreich- 


artiges anhaften muß, fo iſt unter gewiſſen Voraus- 
ſetzungen ihr Erfolg doch von nicht zu unterſchätzender 
Bedeutung, und ſie werden gerade halbziviliſierten 
Gegnern gegenüber um ſo nachhaltiger wirken, je 
raſcher und nachdrücklicher ſie zur Durchführung ge— 
langen. 

Jedenfalls werden Landungsmanöver und kriegs 
mäßige Ubungen am Lande, wie unſere Abbildungen 
ſie in verſchiedenen Lagen zeigen, in unſerer Marine 
auch ohne Rüdficht auf die Jahreszeit und Witterung 


— — 
— —— 


95 


Von C. Lund. 


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Die ausgedehnteſten fanden b 


im Anſchluß an die großen Herbſtmanöver unſerer 


fleißig geübt. 


96 Unſere Blaujacken am Lande. 2 


Schlachtflotte und dann meiſtens an der ſchleswig— 
holſteiniſchen oder mecklenburg-pommerſchen Küſte 
unter Mitwirkung von Teilen des Landheeres ftatt. 


Freund und Feind im gemeinſamen Biwak. 


Bei Landungsmanövern an der Kieler Föhrde wirken 
als Gegner nicht ſelten Kompanien des Seebataillons 
mit, und man kann das Vergnügen haben, nach ſolchen 
Gefechten am Lande Freund und Feind in Eintracht 
dasſelbe Lager beziehen zu ſehen. 


= 
* 


Das Geſchenk des Inders. 
Novelle von $. C. Oberg. 


1 


nachoͤruck verboten.) 
ls ich da vorhin, halb ohne daß ich's wollte, äußerte, 
heute ſei ein ſehr merkwürdiger Gedenktag für 
mich,“ ſagte Sir Henry Airnscraig, indem er ſich vom 
Klubdiener Feuer für ſeine Zigarette geben ließ, „da 
haben Sie am Ende erwartet, ich würde dieſe Be- 
merkung noch näher erklären. Ich bin auch wohl bereit 
dazu, wenn Sie Luſt haben, eine Geſchichte anzuhören. 
Zwar — ſie iſt lang, und ſie iſt ſehr — ſehr ſeltſam!“ 
Der ſonderbare Ausdruck, mit dem dies letzte, 
zögernd betonte Wort geſprochen worden war, hatte 
mit einem Schlage den ganzen Kreis auf Sir Henry 
aufmerkſam gemacht. Lebhafte Bitten kamen von 
verſchiedenen Seiten, denn wir alle kannten Airnscraig 
als einen vorzüglichen Erzähler, der uns ſchon oft aus 
feinem zum Teil in Indien verbrachten und an Aben- 
teuern reichen Leben hochintereſſante Dinge erzählt 
hatte. ö 
Tobias, der Klubdiener, war geräuſchlos hinaus- 
gegangen und hatte die ſchwere Tür des Rauchzimmers 
von außen ins Schloß gedrückt. Im Kamin kniſterte 
das Feuer, der Rauch unſerer Zigaretten umfing uns 
wohlig, hie und da knirſchte ganz leiſe das Leder, 
wenn einer der Herren ſich bequemer in ſeinem tiefen 
Seſſel zurecht ſetzte. 
1913. I, 7 


68 Das Geſchenk des Inders. 2 


„Erwarten Sie jedoch keine wilde Oſchangel- 
geſchichte,“ begann Sir Henry. „Was Sie heute hören 
werden, iſt etwas anderes, etwas ganz anderes —“ 
wieder lag derſelbe ſonderbare Tonfall auf den letzten 
Worten — „es iſt — Aber nein!“ unterbrach er ſich. 
„Wozu ſoll ich Sie vorher ſtutzig machen! Sie werden 
Ihre Europäerköpfe ſchon nachher genug ſchütteln. 
Hören Sie alſo!“ 

Als ich damals Indien verließ, ging es mir natürlich 
wie allen Leuten in der gleichen Lage: vor lauter Ab- 
ſchiedsfeiern kommt man kaum zum wirklichen Ab— 
ſchiednehmen. Das Regiment, der engliſche Klub, 
der deutſche Klub, die Konſulate — kurz, es waren 
tauſend offizielle und private Feiern, und ich war — 
faſt hätte ich geſagt deren unglückliches Opfer. Gewiß 
tut es wohl, zu fühlen, daß doch auch zuweilen wirk- 
liche Teilnahme ſich regt, und auch die Geſchenke, die 
mir bei meinem Scheiden wurden, waren mir teuer, 
nicht der Gaben, ſondern der Geber wegen; aber dennoch 
war ich recht erleichtert, als endlich der wirklich letzte 
Tag meines indiſchen Aufenthaltes gekommen war. 
ich hatte in der letzten Woche bereits in einem Hotel 
gewohnt und hatte die Grobarbeit des Einpackens 
meinem Perſonal und den beſtellten Packern über- 
laſſen. Jetzt am letzten Tage ging ich aber noch einmal 
in mein altes Haus, um ſtill und ganz für mich eine 
letzte Stunde dort zu verleben. Nun — es war jetzt 
ja alles fremd und ungewöhnlich dort, da jedes Stück 
und jedes Möbel ausgeräumt war. Es war eben ein 
Mietshaus des vornehmen Engländerviertels, wie tau- 
ſend andere auch, und mit merkwürdig brennender 
Deutlichkeit beſchlich mich das Gefühl, wie ſchnell 
unſere Spur doch hinter uns verlöſcht. Alles Menich- 
liche iſt Kommen und Gehen, und die Spur des ein- 


D Novelle von F. C. Oberg. 99 


zelnen iſt kaum nachhaltiger als der Fußabdruck im 
Dünenſande, den der Wind verweht. Wie ich fo ein- 
ſam durch das ſtille, leere Haus ging, war mir, als be- 
ſähe ich mein eigenes Grab. 

Ganz jäh ſchrak ich dann auf. In einer der Türen 
ſtand mir plötzlich eine hohe, weißgekleidete Geſtalt 
gegenüber. 

Zu meiner Verwunderung erkannte ich Vorhi, 
den meiner eingeborenen Diener, den ich mit wirk- 
lichem Bedauern entlaſſen hatte. Dieſe Inder ſind 
ja ein ſeltſames Volk, immer ſtill, immer zurückhaltend 
— und man weiß eigentlich nie, welcher Art der Menſch 
iſt, der einem vielleicht jahrelang täglich das Waſſer 
gebracht hat. Ich hatte bei Vorhi oft das Gefühl ge- 
habt, er hinge in Zuneigung und Treue an mir, aber 
zu einer ganz feſten Überzeugung davon war ich trotz 
allem nicht gelangt. Als Vorhi von meiner Abſicht, 
Indien zu verlaſſen, unterrichtet wurde, hatte er mehr 
Beſtürzung als Bedauern gezeigt, dann aber hatte er 
mich plötzlich leidenſchaftlich gebeten, ihn doch mit nach 
Europa zu nehmen. Zgch war auch ſchon halb entſchloſſen 
dazu, als der Plan durch ihn ſelbſt vereitelt wurde. 
Er erklärte mir nämlich eines Tages, er wolle heiraten. 
Nun ſagte ich ihm natürlich, daß ich nur einen unver- 
heirateten Diener mitnehmen könne, und daß er alſo 
zwiſchen ſeiner braunen Tanahita und mir zu wählen 
habe. Wie die Wahl ausfiel, iſt ja ſelbſtverſtändlich. 
Immerhin hatte ich aber doch bei ſeinem Abſchied von 
mir das Gefühl gehabt, daß ihm das Scheiden tief ans 
Herz gehe. Auch ich hatte mich, wie geſagt, von dieſem 
ſtillen, ſanften, ruhigen Menſchen mit wirklichem Be— 
dauern getrennt. 

etzt, als er mir wieder gegenüberſtand, war Vorhi 
in lebhafterer Weiſe, als es ſonſt ſeine Art war, auf 


100 Das Geſchenk des Inders. 2 


mich zugeſtürzt und hatte meine beiden Hände erfaßt — 
eine Vertraulichkeit, die mich befremdete, deren er, 
der ſtets jo Stille, Zurückhaltende, ſich jedoch merf- 
würdigerweiſe gar nicht bewußt zu werden ſchien. 

„Sahib — ich wußte, du würdeſt kommen und dem 
alten Hauſe lebewohl ſagen,“ begann er, „und ich 
habe hier jeden Tag auf dich gewartet!“ 

Dieſe Treue des braunen Burſchen rührte mich, 
und überhaupt hatte es etwas Ergreifendes für mich, 
gerade in den melancholiſchen Betrachtungen, denen 
ich mich hingegeben hatte, daran erinnert zu werden, 
daß hier ein Herz ſchlug, das meine Spur halten würde. 

„Mein guter Vorhi!“ ſagte ich dankbar. 

Vorhi hielt noch immer meine Hände in den ſeinen, 
und ſeine dunklen Augen hingen ſo unabläſſig an meinem 
Blick, als habe er ſie für immer dort verankert. Wie 
er ſo gar nicht aufhörte, mir in die Augen zu ſehen, 
beſchlich mich langſam ein leiſes Befremden. Dieſe 
Augen ſchienen zu wachſen, wurden größer und größer, 
ſie ſaugten ſich an mir feſt, ja, ſie begannen, mir die 
eigenen Augen förmlich aus dem Kopfe zu zerren. 

Die Stille und Einſamkeit des großen leeren Hauſes, 
in dem wir beide uns allein befanden, kam mir plötzlich 
zum Bewußtſein, und die Lage erſchien mir unklar, 
quälend, faſt drohend. 

„Sahib,“ ſagte da Vorhi mit leiſer Stimme und 
langſamem, feierlichem Tonfall, indem ſeine Augen 
fortfuhren, an den meinen zu hängen, „Sahib, du 
gehſt jetzt in dein Land, und alle geben dir Geſchenke. 
Vorhi iſt arm und kann dir nicht Elfenbein oder Silber 
geben. Aber er gibt dir etwas anderes — und es iſt 
mehr, als irgend jemand dir gegeben hat. Es iſt die 
Abſchiedsgabe Indiens. Nimm ſie hin!“ 

Dieſe zwei letzten Worte waren wie ein ziſchendes 


2 Novelle von F. C. Oberg. 101 


Flüſtern, bedrängend und eindringlich, und mit ihnen 
zugleich überkam mich ein ganz entſetzliches Gefühl — 
mir war, als ob meine Augen, der Gewalt des an 
ihnen zerrenden Blickes ganz plötzlich nachgebend, nun 
wirklich ihre Höhlen verließen, ſie floſſen von mir, und 
mir war, als würde damit mein ganzer Kopf zu- 
nichte — — ein Gefühl war es, das ſich einfach nicht 
wiedergeben läßt. 

mit einem Male aber preßte ſich etwas Heißes, 
Drängendes gegen meine Augen, etwas, das fie zurück- 
ſchob, das ſie in ihre Höhlen zurückdrückte. 

Maren es Vorhis Lippen, die meine Augen küßten? 

Ich wußte es nicht — und ich weiß es auch heute 
noch nicht. 

Mein Erinnern ſetzt bei dem Punkt wieder ein, 
als ich aus einer tiefen Ohnmacht erwachte. Ich lag 
auf dem Fußboden, Vorhi war um mich bemüht und 
hatte wieder das gleichmäßige, ruhige Weſen, das ich 
an ihm kannte. Seine Augen waren warm und voll 
dunkelleuchtenden Scheines wie immer, und nichts 
erinnerte an den dämoniſchen Blick von vorhin. 

Mir war ſchwach und müde zu Sinn, und ich nahm 
alles, was mit mir geſchah, wie durch einen Schleier 
hindurch wahr. 

Vorhi richtete mich auf, beſorgte mir einen Wagen 
und brachte mich in mein Hotel. Dort im Veſtibül 
verließ er mich — mit jenem ruhigen und ehrerbietigen 
Gruß, den ich von ihm gewohnt war. 

Als ich dann in meinem kühlen Hotelzimmer lag, 
verſuchte ich, mir die ſeltſamen Vorgänge ins Gedächt- 
nis zurückzurufen. Was hatte ich erlebt? War es nicht 
etwa nur ein Traum, daß Vorhi, mein ſtiller, wort- 
karger indiſcher Diener, ſo ſonderbare Dinge geſprochen 
und mir ſo wunderlich in die Augen geſchaut hatte, 


102 Das Geſchenk des Inders. 2 
bis mir darüber die Sinne ſchwanden? War der An- 
fall nicht eher eines jener Symptome, die mich bereits 
in verſchiedener Form heimgeſucht hatten, um dar— 
zutun, daß mein Geſundheitszuſtand allen Ernſtes 
das Verlaſſen des mir ſo lieb gewordenen Landes 
forderte? | 

Am Vorabend war ich bis in die Frühe des be- 
treffenden Tages auf dem Feſt bei Lady Landringham 
geweſen, und nach nur kurzer Ruhe hatte ich mich ſchon 
wieder auf den Weg nach meinem alten Hauſe ge- 
macht, um mich dort in düſtere Eindrücke zu verlieren, 
zu allem die Anſtrengungen der letzten Woche und 
mein nicht ſehr günſtiges Befinden hinzugerechnet — 
war das nicht genug, um einen derartigen Anfall zu 
erklären? Ich fühlte mich aber unfähig, feſtzuſtellen, 
ob meiner Ohnmacht wirklich jenes ſonderbare Erleb- 
nis vorangegangen war, oder ob meine unklar werden- 
den Sinne es mir nur vorgeſpiegelt hatten. 

ge mehr ich jedoch über die Sache nachdachte, deſto 
überzeugter neigte ich zu der Annahme, Vorhis jelt- 
ſames Benehmen ſei ein Traumbild geweſen; damit 
verlor ja auch der Vorgang jede Wichtigkeit, und ich 
vergaß ihn bald. 

Es hat lange gedauert, bis ich mich ſeiner wieder 
erinnerte. 

Ich war nach Europa zurückgekehrt. In der Schweiz 
hatte ich eine längere Kur durchgemacht, der ſich ein 
Aufenthalt in Wiesbaden anſchloß. Das große inter- 
nationale Badeleben dort brachte mir viele Anregung, 
und da ich auch ziemlich ſchnell allerlei ſympathiſchen 
Verkehr gefunden hatte, ſo war ich ſchon faſt auf dem 
Punkt, den Abſchied von Indien ein wenig zu ver— 
winden und mich in die europäiſchen Verhältniſſe zurück- 
zugewöhnen. 


a Novelle von F. C. Oberg. 103 


Eines Abends ſaß ich mit einigen Bekannten im 
Weinreſtaurant des Kurhauſes. Die Unterhaltung 
war angeregt und lebhaft, geriet aber nach einer Weile 
auf irgend einen Gegenſtand, der mich weniger inter- 
eſſierte. So kam es, daß ich meine Augen abſichtslos 
und halb meinen eigenen Gedanken nachhängend im 
Reſtaurant umherſchweifen ließ. Mein Blick blieb 
hängen, als ich in einiger Entfernung, mir gerade gegen- 
über, einen jungen Mann ſitzen ſah, den ich einmal 
irgendwo kennen gelernt haben mußte. Noch dabei, 
mich zu beſinnen, wer jener junge Menſch ſei und wo 
ich ihn getroffen habe, durchfuhr mich plötzlich eine 
ſonderbare Beſtürzung: Jener da drüben war über- 
haupt kein Bekannter von mir, denn den jungen Mann, 
an den ich dachte, hatte ich ja — gleich einigen anderen 
Herren — erſt heute abend kennen gelernt, und er ſaß 
hier mit mir am ſelben Tiſch, er war ein Neffe von 
einem der Herren, mit denen ich viel zuſammen zu ſein 
pflegte, und war mir als Leutnant v. Echtritz vor- 
geſtellt. 

In leiſer Betroffenheit ſah ich jetzt auf den jungen 
Offizier, der in meiner Nähe ſaß und den Fremden im 
Rücken hatte, und dann betrachtete ich wieder den 
anderen jungen Mann, der dort allein vor ſeinem Wein 
ſaß, und meine Beſtürzung wuchs mehr und mehr, 
denn die Ahnlichkeit dieſer zwei jungen Leute war ſo 
beiſpiellos, ſo Zug für Zug, daß es förmlich beängſtigend 
wirkte. 

Meine Nervoſität ſtieg immer mehr, während meine 
Augen vergleichend vom einen zum anderen gingen. 
Beide waren in dasſelbe elegante Zivil gekleidet, beide 
hatten dieſelbe Haltung, beide waren überhaupt ein- 
ander fo reſtlos gleich, wie es niemals von zwei Brü- 
dern, ſondern eigentlich nur von einem Menſchen und 


104 Das Geſchenk des Inders. u 


ſeinem Spiegelbild denkbar ſchien. Hier wie dort der 
gleiche Raſſekopf mit dem jungen, noch fait fnaben- 
haften Geſicht, dem die braune Hautfarbe ſo viel Reiz 
gab, hier wie dort der helle, von der Sonne nicht ge- 
bräunte Streif der Stirn, der ſich ſo wirkungsvoll 
gegen das dunkle Haar abſetzte, dieſelbe gutgefchnit- 
tene Naſe mit dem kurzgehaltenen Schnurrbart dar- 
unter. Nur lachte der Leutnant an unſerem Tiſch 
jetzt gerade über einen Witz, während der Fremde 
da drüben mit unbewegtem Geſicht vor ſich hinſah, 
in den Augen einen ſonderbaren Ausdruck tiefer, ernſter 
Entrücktheit. Vor ihm ſtand fein Rotweinglas halb- 
gefüllt, aber ich ſah nicht, daß er den Wein berührte. 
Seine braunen Finger lagen am Fuß des Glaſes und 
ſchoben den Kelch in gedankenloſer Spielerei hin und 
her. Leiſe ſchwankte der Wein darin, und die funkeln 
den Reflexe tanzten auf dem weißen Damaſt des 
Tiſchtuchs. 

Ich hatte die Empfindung, daß niemand an unje- 
rem Tiſche meine Beobachtung teilte, und ohne mir 
ſelbſt jagen zu können, weshalb, hatte dies etwas Be- 
friedigendes für mich. Irgend ein unklares Gefühl, 
über das ich mir im Augenblick gar keine Rechenſchaft 
gab, hielt mich ab, einen meiner Nachbarn auf dies 
ſonderbare Spiel des Zufalls aufmerkſam zu machen. 
Ich ſelbſt verlor bei dieſem Vorgang ganz das Gefühl 
für Zeit und weiß nicht, ob ich einige Minuten oder 
eine halbe Stunde damit zubrachte, dieſe beiden jungen 
Menſchen miteinander zu vergleichen. 

Plötzlich fuhr ich aus meinen Betrachtungen auf. 
Ein leiſes Klirren von Scherben hatte mein Ohr er- 
reicht, und zu dem Fremden hinüberblickend ſah ich, 
daß er fein Weinglas umgeſtoßen und zerbrochen hatte. 
Der rote Wein floß in grellem Strom über den Tifch 


u Novelle von F. C. Oberg. 105 


und tropfte von der Kante des Tiſches zu Boden. 
In Rinnfalen fo ſchmal wie Fäden ſickerte das feuchte 
Rot an dem weißen Leinen herab. 

Und plötzlich erinnerte mich dieſer rieſelnde Wein 
an Blut, wie ich es im Felde ſo oft über Haut und 
Hemd der Sterbenden hatte laufen ſehen. 

„Lieber Himmel —! Verzeihung! Es iſt fünf 
Minuten vor ein Uhr!“ 

Das war die Stimme des Leutnants v. Echtritz, 
die meine Aufmerkſamkeit wieder an unſeren Ciſch 
zurückrief. Der Leutnant war aufgeſtanden und ver- 
abſchiedete ſich voller Haſt. Er war von Köln nur auf 
einen Tag herübergekommen und mußte ſeinen Zug 
zur Rückfahrt unbedingt erreichen. 

Als er hinausgegangen war, fiel mir ein, wieder 
nach dem Doppelgänger zu ſehen. 

Auch er war fort, denn ſein Tiſch war leer und trug 
bereits wieder ein fleckenloſes Tiſchtuch. In der Zeit, 
in der mich der Aufbruch des Leutnants v. Echtritz ab- 
gelenkt hatte, mußte jener Fremde aufgebrochen ſein, 
und ein dienſteifriger Kellner hatte wohl ſofort den 
Schaden wieder ausgeglichen. 

Erſt als mich jemand aus unſerer Tafelrunde anrief, 
wurde ich mir bewußt, daß ich mehrere Minuten in 
Sinnen verloren auf jenen leeren weißen Tiſch ge- 

ſtarrt hatte, an dem der ſeltſame Doppelgänger ge— 
ſeſſen, und über deſſen hellen Damaſt das rote Wein- 
blut herabgetröpfelt war. — | 

Vier Tage nach dieſem Vorfall bekam ich im Lefe- 
ſaal des Kurhauſes die Kölniſche Zeitung in die Hand. 
Zufällig überlas ich die lokalen Notizen, als mir plöß- 
lich die Hand mit dem Zeitungsblatt zuckte. Dort ſtand 
in einem kurzen Abſatz in nüchternem Zeitungsſtil, daß 
ih in der letzten Nacht der Leutnant v. Echtritz er- 


106 Das Geſchenk des Inders. u 
ſchoſſen habe. Vorname und Regiment waren ange- 
geben, ſo daß ein Frrtum ausgeſchloſſen war — es 
war derſelbe junge Mann, den ich noch vor wenigen 
Tagen ſo heiter und lebensfroh hier in Wiesbaden ge- 
ſehen hatte. Als Anlaß zur Tat wurden Ehrenſchulden 
vermutet. Hinzugefügt war, daß die Kugel, die das 
Herz getroffen hatte, die Taſchenuhr des Erſchoſſenen 
ſichtlich zugleich mit ſeinem Herzen zum Stillſtand ge- 
bracht habe. Man hatte ſie bei der Leiche gefunden, 
und die Zeiger hatten auf fünf Minuten vor ein Uhr 
gezeigt. Die Tat war alſo wohl um dieſe Zeit ge- 
ſchehen. 

Fünf Minuten vor ein Uhr! 

Ganz plötzlich ſtand jene Situation im Weinreſtau- 
rant wieder vor mir. Gerade fünf Minuten vor ein 
Uhr war's geweſen, als jener rote Wein über das 
weiße Tiſchleinen rann und mich an Tod und Sterben 
gemahnte. Fünf Minuten vor ein Uhr hatte der Fremde, 
der eine ſo unbegreifliche Ahnlichkeit mit dem jungen 
Offizier hatte, ſein Glas zerbrochen, und dreimal vier 
undzwanzig Stunden ſpäter — 

Ein Schauer überlief mich. Dann aber ſtand ich 
auf und ging aus dem Leſeſaal hinaus in die Sonne. 
Ich wollte nicht mehr an all dies denken. Derlei Zu- 
fälligkeiten geſchehen, und nur Narren grübeln darüber. 
Ich ging durch die Anlagen, muſterte die herrlichen, 
ſprühenden Waſſer, das Leuchten der Blumen, das 
Prangen des Raſens, genoß den Säulenrhythmus am 
Portikus des Kurhauſes — kurz, ich tat alles, was 
man tut, wenn man an andere Dinge der Welt denken 
will, machte aber die Erfahrung, daß gerade dies die 
Methode iſt, um dem Gedanken, vor dem man flieht, 
die rechte Zähigkeit zu geben. 

Da ich Wiesbaden bald darauf verließ, war jene 


o Novelle von F. C. Oberg. 107 


Epiſode unter den neuen Eindrücken ſchließlich doch 
bald und völlig vergeſſen. 

Nach mehrwöchentlichem Herumreiſen auf dem 
Kontinent traf ich in England ein. Schottland iſt meine 
Heimat, aber ehe ich dort hinaufreiſte, hielten mich 
Verpflichtungen verſchiedener Art in London feſt. Es 
war reizvoll, alte Freunde und Kameraden des frühe- 
ren Regimentes wiederzutreffen, und Abend für Abend 
hatte ich in der Regel eine Verabredung, ſo daß mir 
die erſten vierzehn Tage meines Aufenthaltes in Lon- 
don wie im Fluge verſtrichen waren. Eines Abends 
hatte ich einige Freunde zu mir ins Hotel gebeten, 
und die Zeit vor dem Eſſen, das um acht Uhr angeſetzt 
war, verbrachten wir in der großen Halle des Hotels. 
Es war in dieſer Zeit, ſo zwiſchen ſieben und acht Uhr 
abends, gerade die unterhaltendſte Stunde der Halle, 
Reiſende kamen an, andere gingen; ein Teil der Hotel- 
gäſte fuhr zu Oper oder Konzert oder irgend ſonſt 
einer Abendveranſtaltung, und ein ziemlicher Teil von 
Leuten — wie in dieſem Fall auch wir — hielt ſich in 
behaglichem Nichtstun in der Halle auf. Wir befanden 
uns in ſehr angeregter Stimmung. 

Die große Halle bot ein hübſches Bild, alles war 
weiträumig, und die Leute verloren ſich im Raum wie 
in einer Kathedrale. Zur rechten Seite öffnete ſich 
die Halle in den Wintergarten des Hotels. Dort hing 
loſes, gedämpftes Licht über dem üppigen Grün der 
vielen prächtigen Palmen und Blattpflanzen. Vor 
uns hatten wir, um einige Stufen tiefer, das hell- 
erleuchtete Veſtibül des Hotels. Auf einer ſeitlichen 
Tribüne, in der Nähe des Wintergartens ſpielte ein 
Orcheſter in muſterhaft zurückhaltender und dennoch 
eindringlicher Weiſe irgend etwas Sentimentales. 

Setzt öffnete ſich unten im Veſtibül wiederum eine 


108 Das Geſchenk des Inders. u 


der Türen der Aufzüge, die faſt immer in Bewegung 
waren, und eine ſehr erleſen gekleidete Dame trat 
heraus. Ein entzückender, leichter Abendmantel aus 
ſchönem Stoff in Elfenbeinfarbe floß von den Schul— 
tern der Dame bis hinab auf den kirſchroten Teppich. 
Die weichen Falten und die ſchwere bronzefarbene 
Verbrämung des Mantels deuteten eine zwar zarte, 
aber wunderbar ſchlank und ebenmäßig gewachſene 
Geſtalt an. Das Haupt der Dame war unverhüllt, 
aber da fie uns den Rücken zuwandte, konnte man nur 
die Fülle herrlichen ſchwarzen Haares und den Anſatz 
des ſchmalen Nackens ſehen. 

Als die Dame eine Vierteldrehung machte, ſo daß 
ihr Profil uns ſichtbar wurde, preßte Lord Cheſtford, 
der neben mir ſaß, meinen Arm. 

„Sie iſt es!“ flüſterte er. 

„Welche, ſie“?“ fragte ich nicht ohne Fronie leiſe zurück. 

Lord Cheſtford ſah mich an, als bezweifle er mein 
klares Denken. „Ja, beſter Freund! Airnscraig — 
wiſſen Sie denn nicht?! Sie wohnen mit Kathleen 
Mavourneen unter einem Dach und kennen fie nicht?“ 

„Kathleen Mavourneen?“ wiederholte ich völlig 
verſtändnislos, indem ich mich erinnerte, daß dieſer 
klangvolle Mädchenname den Refrain eines alten 
ſchottiſchen Liebesliedes bildete. Was hatten das melan- 
choliſche Hochlandslied und dere elegante Weltdame 
miteinander zu tun? 

Lord Cheſtford fuhr fort: „Nicht einmal den Namen 
kennen Sie!“ ſagte er in einem Tonfall voll ſehr vieler 
Ausrufungszeichen. „Und dabei ſpricht ganz London 
ſeit Wochen von nichts anderem als von Kathleen 
Mavourneen, dem wundervollen neuen Star des 
großen Zirkus! Sie macht die tollſten und entzüdend- 
ſten Sachen auf ungeſatteltem Pferde!“ 


2 Novelle von F. C. Oberg. 109 

Ich konnte mich nicht enthalten leiſe zu lächeln. 
„Alſo eine Kunſtreiterin, und ich war mindeſtens auf 
eine Herzogin gefaßt!“ ſpöttelte ich, während mich 
unwillkürlich etwas wie ein leiſes Gefühl der Empörung 
überkam, daß dieſer zärtliche und holde Name aus 
einem alten Liebeslied zum Artiſtenpſeudonym ge- 
macht worden war. 

„Sie brauchen nicht ſo geringſchätzig zu ſprechen,“ 
bemerkte Lord Cheſtford überlegen. „Kathleen Ma- 
vourneen hat die höchſten Ariſtokraten der vereinigten 
Königreiche zu ihren kleinen Füßen. Jeden Tag könnte 
fie in Wales oder Schottland oder Irland Herzogin 
ſein, wenn ſie wollte.“ 

„Derartige Gerüchte pflegen die wirkſamſte Reklame 
ſolcher Damen zu fein,“ ſagte ich ungerührt, ſchwieg dann 
aber, da die Beſprochene in dieſem Augenblick die Stu- 
fen zur Halle heraufkam und an uns vorüberſchritt. 

Während unferes kurzen Geſpräches hatte die Rünft- 
lerin zuſammen mit einer älteren, ſehr vornehm aus- 
ſehenden Dame im Veſtibül geſtanden, offenbar auf 
ein Auto wartend. Dann war von den Damen einer 
der Hotelbedienſteten herbeigerufen worden, man hatte 
ſich kurz mit ihm verſtändigt, und während er dienft- 
eifrig in der Telephonzelle verſchwand, betraten die 
Damen die Halle. 

Die Anmut dieſes jungen Geſchöpfes war wunder- 
bar. Sie die Stufen hinaufſchreiten und dann Platz 
nehmen ſehen, war ein Anblick, von dem eine Königin, 
die ihren Thron beſteigt und auf dem Seſſel unter dem 
Purpur Platz nimmt, hätte lernen können. Das Ge— 
bietende in dieſer an ſich eher zarten als imponierenden 
Erſcheinung verlieh ihrer Schönheit ein Etwas, das 
jeder Geringſchätzung, ja ſchon dem leiſeſten unehr— 
erbietigen Gedanken die Schranke zog. 


110 Das Geſchenk des Inders. a 


Im Wintergarten begann das Orcheſter eben die 
Barkarole aus Hoffmanns Erzählungen. Dieſer unend- 
lich reizvolle Walzer, deſſen Zauber ſich ſo leicht niemand 
erwehren kann, ſchwebte leiſe durch den großen Raum. 
Es war einige Augenblicke lang eine traumhaft ſtille, 
hingegebene Stimmung. Überall mochte man das 
Erſcheinen der gefeierten Schönheit beobachtet haben, 
und überall war, wie auch bei uns, das Geſpräch unter- 
brochen worden. 

Als ich mich umſah, fiel mir auf, daß in der großen 
Halle zufällig Kathleen Mavourneen und ihre Be— 
gleiterin die einzigen Damen waren, und da die letztere 
dunkel gekleidet war, ſo trat die Geſtalt der Künſtlerin 
als die einzige lichte beſonders hervor. Sie ſaß da in 
vollendeter, ein wenig unnahbarer Haltung, den ſchönen 
Kopf erhoben und das herrliche Antlitz vom warmen 
Licht übergoſſen. Das Grün der großen Palmen, die 
in der Halle ſtanden, das tiefe Violett des Teppichs 
und der Vorhänge, das Braun der Möbel — alle Far- 
ben, alle Dinge ſchienen dunkel und ſchweigend, um 
nur Kathleen Mavourneen als das einzig Strahlende 
hervortreten zu laſſen. Der Walzer fang leiſe daher 
und ſchien wie die zu Muſik gewordenen Gedanken der 
Menſchen, die in der Halle waren — die ganze Situa- 
tion glich einer wortloſen Huldigung der Schönheit. 

Ganz zufällig hatte ich mich umgewandt und ge- 
dankenlos nach dem Wintergarten hinübergeſehen, und 
da bemerkte ich, daß Kathleen Mavourneen doch nicht 
die einzige helle Geſtalt im Raume war. Denn dort, 
am Eingang des Wintergartens, beſchattet von den 
Pflanzen und von dem gedämpfteren Licht umfloſſen, 
ſtand noch eine Dame. Sie trug einen Theatermantel, 
der genau dem der Artiſtin glich, elfenbeinfarben und 
bronzeverbrämt, um den fein geformten Kopf lag 


D Novelle von F. C. Oberg. 111 
dunkles Haar, deſſen Anſatz in einen ſchmalen, ſtolzen 
Nacken verlief. Das Geſicht war abgewandt, ich konnte 
es nicht erkennen. 

„Sie geht — wie ſchade!“ hörte ich Lord Cheſtford 
murmeln, und meinen Blick zurückwendend ſah ich, 
wie Kathleen Mavourneen die Stufen hinabſchritt 
und durch das Veſtibül dem Ausgang zuging. Der 
Pfiff einer Autohuppe klang gleich darauf ſchwach und 
verweht herein und zerſchnitt den letzten melancho- 
liſchen Hauch der Barkarole. 

Nun trat auch ein Kellner auf uns zu mit der Mel- 
dung, daß angerichtet ſei, und während wir aufſtanden, 
ſah ich zum Wintergarten hinüber. 

gene Dame, die dort geſtanden, war verſchwunden. 

Natürlich drehte ſich unſer Geſpräch bei Tiſch zu- 
nächſt um Kathleen Mavourneen. Alle Legenden, 
die ſich, ob auf berechtigtem Anhalt fußend, ob nicht, 
ſtets um eine ſolche Künſtlerin weben, wurden mir 
mitgeteilt, und ſchließlich endeten wir in dem Ent- 
ſchluß, morgen zuſammen in den Zirkus zu gehen. 
Als wir dann ſpäter aufſtanden, um bei Mokka und 
Importen den Abend abzuſchließen, ſah ich beim Be- 
treten der Halle wiederum abſichtslos zum Winter- 
garten hinüber, und nicht ohne Erſtaunen bemerkte 
ich dort genau wie vorhin dieſelbe Dame im hellen 
Mantel. Sie glich, was mir ſchon das erſte Mal auf- 
gefallen war, ganz außerordentlich der Erſcheinung von 
Kathleen Mavourneen. Zebt hob fie den Kopf, und 
eine merkwürdige Verwunderung ergriff mich — es 
war Kathleen Mavourneen ſelbſt, die dort ſtand. Ihre 
Geſtalt zeigte eine halb lauſchende, halb träumeriſche 
Haltung, ihr holdes Antlitz war von der der Künſtlerin 
eigenen Bläſſe, und die dunklen Augen ſahen mit einem 
Ausdruck ernſter, ſinnender Verlorenheit vor ſich hin. 


112 Das Geſchenk des Inders. 2 


Da ließ ein fern, wohl aus den Speiſeſälen herüber- 
klingendes Klirren von zerbrechenden Gläſern mich 
den Kopf wenden, und als ich wieder nach dem Winter- 
garten zurückſah, war Kathleen Mavourneen ver- 
ſchwunden. 

„Kathleen Mavourneen ging eben durch den Winter- 
garten,“ ſagte ich, während wir unſere alten Plätze 
einnahmen. 

Lord Cheſtford lachte. „Das iſt nicht gut möglich,“ 
ſagte er mit der Überlegenheit des beſſer Eingeweihten. 
Er zog feine Ahr. „Sie muß gerade jetzt erſt auftreten, 
denn um elf Uhr kommt ihre Nummer. Sie iſt faſt 
die letzte im Programm, weil nach ihrem Auftreten 
die meiſten Leute den Zirkus zu verlaſſen pflegen, 
auch nimmt ein großer Teil des Publikums, die beſſere 
Geſellſchaft wenigſtens, die Logen meiſtens nicht lange 
vor ihrem Auftreten ein. Man geht ja auch nicht in 
den Großen Zirkus, man geht, um Kathleen Mavour- 
neen zu ſehen.“ 

Ich hatte mit Befremden zugehört, und nun ant- 
wortete ich ruhig und ſicher: „Das mag richtig ſein, 
aber heute iſt Kathleen Mavourneen eben aus irgend 
einem Grunde früher oder überhaupt nicht aufgetreten. 
Wie ich Ihnen ſage, habe ich ſie eben ſelbſt geſehen. 
Dort am Eingang des Wintergartens ſtand ſie.“ 

„Wir werden ja ſehen!“ murmelte Lord Cheſtford 
hartnäckig. „In der Regel kommt Kathleen Mavour— 
neen nach ihrem Akt gleich aus dem Zirkus ins Hotel 
zurück, und dann muß ſie in etwa einer halben Stunde 
hier ſein.“ 

Es waren ungefähr zwanzig Minuten vergangen, 
als Lord Cheſtford, der die Außentür des Veſtibüls im 
Auge behalten hatte, mich aufmerkſam machte — in 
der Tat, dort kam Kathleen Mavourneen herein und 


u Novelle von F. C. Oberg. 113 


durchſchritt das Veſtibül bis zum Aufzug, in dem ſie 
verſchwand. 

Ehe ich noch etwas ſagen konnte, war ein Bekannter 
auf uns zugetreten, der meiner Einladung für heute 
abend erſt ſo ſpät hatte folgen können. Er erklärte, 
daß er ſich verpflichtet habe, eine Dame in den 
Zirkus zu begleiten. 

„Sie kommen eben aus dem Großen Zirkus?“ rief 
Lord Cheſtford lebhaft. „Da können Sie ja gleich eine 
Meinungsverſchiedenheit entſcheiden. Zt en 
Mavourneen heute abend aufgetreten?“ 

Der Gefragte lächelte. „Wozu wären wir dem 
ſonſt wohl im Zirkus geweſen?“ N 

„Und wann hat fie ihre Nummer ausgeführt?“ | 

„Wie immer um elf Uhr. Meine Begleiterin und 
ich verließen bald nach ihrem Auftreten den Zirkus, 
und mein Automobil, das mich hierher brachte, fuhr 
hinter dem von Kathleen Mavourneen her. Zch bin 
doch eben mit ihr zuſammen hier angekommen.“. 

„Nun?!“ Das kam ene von Lord cheſt 
nn zu mit, 

3h aber war ſchon mit einer gemurmelten Ent- 
ſchuldigung aufgeſprungen und hinausgegangen. Mir 
war, als ſtände mein Verſtand ſtill. Ich hätte in dieſer 
Sekunde kein Wort mehr über Kathleen Mavourneen 
ſprechen hören können. Ich wagte nicht, zu denken. 
Mir war, als könne ich das, was in meinem Bewußt 
fein aufgeblitzt war, mit aller Willenskraft noch nieder- 
drücken und es noch nicht Gedanke werden laſſen. 
Ich fühlte mein Herz wie einen Stein, der mir bis zu 
körperlichem Schmerz an meinem Fnnern riß. 

Als ich zu meinen Freunden zurückkehrte, wurde 
noch von Kathleen Mavourneen geſprochen. Wort- 
los hörte ich zu. Miſter Stanley Hope, der eben N 

1918. I. 


114 Das Geſchenk des Inders. 2 
kommene, erzählte, daß heute während des Auftretens 
von Kathleen Mavourneen irgend eine bekannte Per- 
ſönlichkeit der Finanzwelt das Orcheſter veranlaßt habe, 
in dem Augenblick, in dem Kathleen auf ihrem Hengſt 
ſtehend die Manege verlaſſen würde, das ſchottiſche 
Lied „Kathleen Mavourneen“ anzuſtimmen; und als 
das geſchehen war, habe eine große Zahl von Stimmen 
in der Hingeriſſenheit des Augenblickes den innigen 
und melancholiſchen Refrain Kathleen Mavourneen — 
Kathleen Mavourneen!“ mitgeſungen. — Zedoch, ſo 
ſchloß Miſter Stanley Hope jetzt, habe Kathleen Ma- 
vourneen ſich auch auf dieſen Ausdruck der Begeiſterung 
hin nicht noch einmal gezeigt. | 

„Können Sie ſich denken, Stanley,“ warf Lord 
Cheſtford ein, „daß man mehr als zwei Wochen in 
London geweſen fein kann, ohne Kathleen Mavour- 
neen geſehen zu haben?“ Dabei ſah er mich mit gut- 
mütigem Spott an. Aber ſchnell verſchwand dies 
Lächeln von ſeinem Geſicht, und beſtürzt rief er aus: 
„Aber was iſt Ihnen, Airnscraig? Sie find ja Be 
wie ein Tiſchtuch!“ 

„Es iſt nichts!“ ſagte ich mit einer Stimme, die mir 
ſelber fremd vorkam. — 

Als ich am nächſten Morgen, ſpäter als es meine 
Gewohnheit war, beim Frühſtück ſaß, bekam ich bereits 
Beſuch. 

Lord Cheſtford ſchwenkte mir einen ſchmalen kurzen 
Streifen farbigen Papiers entgegen. „Da ſitzen Sie 
und laſſen ſich die guten Dinge im Schlafe kommen!“ 
begann er, indem er ſich zu mir ſetzte und ſich eine 
ägyptiſche Zigarette anbrannte. „Ich war ſchon im 
Zirkus. Aber ich habe nur eine Loge für übermorgen — 
Donnerstag — bekommen können. Für heute und 
morgen war auch nicht ein Sitz mehr zu haben.“ 


u Novelle von F. C. Oberg. 115 


Damit ſchob er mir den farbigen Zettel zu. 

„Für übermorgen?“ Unwillkürlich hatte ich eine 
abwehrende Bewegung gemacht. 

„Meinen Sie, es geht nicht wegen des Diners 
bei Lord Aſhers? Dann laſſen Sie ſich erzählen, daß, 
ſeit Rathleen Mavourneen in London iſt, jede Tiſch⸗ 
geſellſchaft um zehn Uhr auseinandergeht, um ſich 
nachher in rührender Vollzähligkeit in den Logen des 
Großen Zirkus wiederzufinden.“ 

Er lachte dazu. 

Ich legte wortlos das rote Logenbillett in meine 
Brieftaſche. — 

In den nächſten Tagen war mein WVeſen dem 

eines Schlafwandelnden nicht unähnlich. Zch wich, 
ohne ſelbſt darüber zum Bewußtſein zu gelangen, jedem 
Gedanken an die Zirkusvorſtellung am Donnerstag aus. 
Es lag ein laſtender Druck auf mir, ohne daß ich wagte, 
ihm eine Deutung zu geben. 
Als der Donnerstag gekommen war, ſtreifte mich 
der Gedanke, lieber nicht in den Zirkus zu gehen. Aber 
ſofort verwarf ich ihn ſo ſchnell, als fürchte ich mich 
davor, für das Nichthingehen einen Grund angeben 
zu ſollen. Und auf der Geſellſchaft bei Lord Aſhers 
war mir, als trüge meine Stirn einen kalten eiſernen 
Reifen, der alle meine Gedanken lähmte. 

Und dann fand ich mich im Logeneingang des Großen 
Zirkus. Brennend ſchnitt mir das helle, gleißende Licht 
in die Augen. Wie heiß die Luft war, wie grell die 
Muſik! Was in der Manege vorging, ſah ich nicht. 
ich ſah und hörte, ohne doch irgend etwas wahrzu- 
nehmen. Zch ſaß, wie zur Marter angeſchraubt, auf 
meinem Samtſeſſel und focht wie ein Held gegen 
einen einzigen Gedanken, gegen den Gedanken, gegen 
den ich mich in dieſen letzten Tagen unbewußt immer- 


116 Das Geſchenk des Inders. Xu 


fort gewehrt hatte, und der jetzt dennoch wieder 
da war. 

Da fuhr ich auf. 

Ein ſchwarzes Pferd ſtob in die Manege. 

Das grellgelbe Feld, noch eben von Clownen erfüllt, 
war mit einem Schlage leer, nur das herrenloſe, un- 
gezäumte und ungeſattelte, prächtige ſchwarze Roß 
braufte wild durch das Rund. Die Muſik hatte einige 
Augenblicke lang ausgeſetzt — jetzt begann ſie plötzlich 
einen raſenden Czardas. Und in dieſem Augenblick 
erſchien drüben am Rand der Manege eine zarte, 
ſchwarze Geſtalt und trat in den Raum. 

Ein dichtes dunkles Wams umſpannte die fnaben- 
haft ſchlanke Geſtalt, die wie ein Schattenbild anmutete, 
jo nächtig abgehoben gegen den gelben Sand. Schwarze 
ſeidene Strümpfe und ſchwarze ſeidene Handſchuhe 
machten den ſilhouettenhaften Eindruck vollſtändig. 
Nur der ſchmale Kopf, noch verſchmälert durch das 
eng angelegte, glatt geſcheitelte Haar, das ſich in 
ornamental rahmenden Flechtenroſetten an die zarten 
Wangen ſchmiegte — nur dies ſeltſame und beinahe 
ſtreng wirkende Haupt verriet, daß dieſe kinderhafte, 
herbe Geſtalt ein junges Weib war. Weiß war das 
Geſicht, das kein Hauch von Schminke mit warmer 
Farbe übergoß. Von Haar und Hals bis zu Finger- 
ſpitzen und Sohlen war nichts als die gleiche tiefe 
Schwärze, aus der das blaſſe Geſicht leuchtete wie ein 
aus Ebenholz geſchnitztes Bild mit einem ſchimmernden 
Elfenbeingeſicht. 

Das war Kathleen Mavourneen! 

In tollkühnem Lauf flog ſie dem ſchwarzen Hengſt 
entgegen. Schon ſah es aus, als würde der prächtig 
daherbrauſende Nappe die zarte Geſtalt niederrennen — 
da ſchoſſen Roß und Weib haarſcharf aneinander vorüber. 


Oo Novelle von F. C. Oberg. 117 


Dann plötzlich durchquerte die ſchmale ſchwarze 
Geſtalt das Rund, und ehe man begriff, was geſchehen, 
brauſte der Rappe vorbei, und auf ſeinem Rücken ſtand 
aufrecht das ſchwarze Ebenholzbild — ruhig und ſtolz 
und hoch, von wunderbarer Schöne in jeder Linie. 

Ein Aufjubeln aus dem Publikum hatte den wilden 
Sprung belohnt, aber Kathleen Mavourneen überſah 
und überhörte jede Huldigung. Wie mit dem ſchwarzeén 
Pferd aus einem Guß ſtand fie ruhig und ohne An- 
teil an dem Jubel auf dem Rücken des immer noch in 
wilden Sätzen dahinſtürmenden Tieres. Es war faſt 
ein Wunder, wie dieſe feine, ranke Geſtalt ſich auf dem 
Pferde mit nichts als den Sohlen ihrer Füße halten 
konnte, und der Anblick von Hengſt und Menſch war 
dabei ſo ſchön, daß es kein Sattſchauen gab. 

Da ſprengte ein zweiter Rappe in die Manege, 
der dem erſten in mächtigen Sätzen entgegenkam. 
Man ſah kaum, daß ein Anſetzen zum Sprung Kathleen 
Mavourneens Geſtalt durchſtraffte — da war es auch 
ſchon geſchehen: ſie ſtand auf dem anderen Pferd und 
ließ ſich von ihm weitertragen. Wieder brauſte ein 
QZubel, wieder ließ Kathleen Mavourneen ihn teilnahm- 
los verklingen. 

„Das iſt immer ſo! Ein Satan und ein Engel iſt 
ſie!“ murmelte Lord Cheſtford neben mir. „Keines 
der Mätzchen, die ſonſt die Zirkusleute haben! — Paſſen 
Sie auf — jetzt kommt der große Salto. Sie wechſelt 
das Pferd wie eben und überſchlägt ſich dabei in der 
Luft.“ 

Die beiden dahinſtürmenden Pferde nahten ein- 
ander wieder. Diesmal ſah man, wie die ganze zarte 
Geſtalt zum Sprunge anhob. Wie von magiſcher 
Kraft emporgeſchnellt flog ſie dann empor, nn 
ſich in der Luft, und dann — — — 


118 Das Geſchenk des Inders. 2 


Ein wildes Aufgellen vieler Stimmen ſchrillte aus 
dem Zuſchauerraum. Was man ſah, waren zwei reiter- 
loſe, wild dahinſtürmende Pferde und — ein ſchmaler 
ſchwarzer Haufen im grellen gelben Sande der Manege. 

Kathleen Mavourneen war bei dem großen Salto 
geſtürzt! 

Mit einem jähen Mißlaut brach die Muſik mitten 
im Czardas ab. Stallknechte kamen und bemächtigten 
ſich nach kurzer Mühe mit kundigem Griff der beiden 
Pferde und führten ſie hinaus. 

Einige Herren brachen ſich durch die Zuſchauer 
Bahn und kletterten über die Brüſtung in die Manege. 
Die Stelle, an der Kathleen Mavourneen am Boden 
lag, war jetzt von Menſchen dicht umdrängt. Dazwiſchen 
ſah man die rotbefrackte Geſtalt des Zirkusdirektors 
auftauchen mit den Geſten der Faſſungsloſigkeit. 
Immer mehr Perſonen ſtanden und knieten an der 
einen Stelle, auf die alle Blicke gerichtet waren. Von 
der Geſtürzten aber war nichts zu ſehen. 

Eine furchtbare Lautloſigkeit laſtete im Raum. 
Jede Sekunde ſchien Ewigkeitsgewicht zu haben. Hie 
und da ertönte leiſes wimmerndes Weinen geängſteter 
Kinder oder faſſungsloſer Frauen, dann wieder brütete 
ein Schweigen über den vielen tauſend Menſchen, das 
fürchterlicher als jeder Schrei war. 

Endlich kam Bewegung in die Menſchengruppe, die 
die Geſtürzte umgab. Und dann ſah man, wie zwei 
Männer die ſchmale ſchwarze Geſtalt aufhoben und 
hinaustrugen. Das Haupt mit den ſchwarzen Flechten- 
roſetten an den ſchneeweißen Wangen hing tief hinten 
über. 

Lord Cheſtford ſtürzte auf einen der Arzte zu, der 
nahe bei unſerer Loge durch die Manege ſchritt. „Was 
— oh was? Um Gottes willen!“ ſtieß er hervor. 


1 Novelle von F. C. Oberg. 119 


„Bruch der Halswirbelſäule. Es iſt ein e 
loſer Tod geweſen,“ kam es leiſe zurück. 

„Tot — — tot!“ murmelte Lord Cheſtford er- 
ſchüttert. 

Ich konnte kein Wort hervorbringen. Ich brauchte 
alle Willenskraft, um meine bebenden Kiefer auf- 
einander zu preſſen, damit mich nicht ein nervöſes 
Krampfſchluchzen ſchüttle. In mir ſchrie ein einziger 
Name: Borhi — Vorhi! 

Wußte ich nun, welcher Art ſein Geſchenk war? 

Wie ich in mein Hotel kam, daran habe ich keine 
Erinnerung mehr. Ich weiß nur noch, daß ich die ganze 
Nacht an dem Schreibtiſch meines Hotelzimmers ſaß, 
die Arme aufgeſtützt und mit den Händen die Schläfen 
umklammernd mit einem Gefühl, als bedürfe es deſſen, 
damit die entſetzlichen Gedanken mir nicht den Kopf 
ſprengten. 

Alles, was ich in den letzten drei Tagen in das 
Unterbewußtſein zurückgedrängt hatte, lag nun ſcharf 
und bloß vor mir. Als ich an dem Abend vor drei 
Tagen erfuhr, daß jene Geſtalt, die ich am Eingang 
des Wintergartens hatte ſtehen ſehen, nicht Kathleen 
Mavourneen geweſen ſein konnte, die zu dieſer Zeit 
ihren Akt im Großen Zirkus ausgeführt hatte, da hatte 
mich ein erſtes jähes Ahnen durchblitzt, und jene ver- 
geſſene Wiesbadener Epiſode ſtand wieder vor mir 
und wollte einen Sinn gewinnen, den ich ihr nie ge- 
geben, und der mich entſetzte. Aber noch ehe ich dies 
alles hatte Gedanken werden laſſen, wies ich jeden 
Zuſammenhang von mir: ich wollte einfach nicht 
denken! Weder daran, wie die Bewandtnis mit dem 
Doppelgänger des armen kleinen Leutnants geweſen 
ſei, noch daran, welche Erſcheinung ich am Eingang 
des Wintergartens geſehen hatte. Und erſt in dem 


120 Das Geſchenk des Inders. 3) 


Augenblick, als ich an dieſem Abend die Zirkusloge 
betrat — da wußte ich plötzlich mit erbarmungsloſer 
Klarheit, daß ich die ganzen drei Tage hindurch dieſem 
Abend mit der einen, beſtimmten, furchtbaren Er- 
wartung entgegengelebt hatte — mit der Erwartung 
und dem Wiſſen deſſen, was kommen würde. Und 
als es dann gekommen war, da gewann dieſe Rata- 
ſtrophe, die an ſich ſo erſchütternd war, für mich eine 
Wucht, die an den Fugen meines ſeeliſchen Seins 
rüttelte. | : 

Jetzt wußte ich alſo, was mit mir geſchehen war 
in jener letzten Stunde in meinem alten Haufe in 
Bombay! 

Ich hatte Vorhis Geſchenk erkannt! 

Es war, als gewänne dieſer Gedanke, nun ihm 
Form und Richtung gegeben waren, unaufhaltſam an 
Furchtbarkeit. Stunden warteten auf mich, die ich 
kaum auszudenken vermochte, geſchweige würde er- 
tragen können. Einſt würde ich von Menſchen, die mir 
teuer waren, den Doppelgänger ſehen, der hinter ihnen 
ſtand, um das Glas zu zerbrechen und den Inhalt ihres 
Seins auszugießen! Und einmal — einmal zuletzt 
würde es kommen, daß ich mich umwenden und hinter 
mir meinen eigenen Doppelgänger ſehen würde! 

Als mich fo dieſe letzte Konſequenz des Ausgangs- 
gedankens überfiel, da war mir, als faſſe lähmende 
Kälte mich an allen Gliedern an, und während mir 
das Grauen jeden Muskel bannte, beherrſchte mich 
dennoch ein Empfinden, als riſſe ein dunkler Zwang 
meinen Kopf ſchon jetzt herum, als müſſe ich mit furcht- 
ſamen Augen in das Dämmer des Zimmers hinter 
mir ſchauen, um den bedeutungsvollen Doppelgänger 
zu ſuchen. 

War er nicht ſchon auf meiner Spur, jener rätfel- 


oO Novelle von F. C. Oberg. 121 


hafte, ſchreckliche Zweite des eigenen Ichs, der zu einer 
Stunde hinter mich treten und mir anzeigen würde, 
daß die Schale meines Seins in Scherben brechen 
jollte? 

Dann kehrten meine fiebernden Gedanken wieder 
zum Ausgang all dieſes Zermalmenden und Unſeligen 
zurück. Ich taſtete in meiner Erinnerung nach den 
Umriſſen jener Szene mit Vorhi. Aber fie waren 
verwiſcht, und meine Erinnerung ſchwankte im Geftalt- 
loſen. Nur das eine hieb wie mit brennenden, ſchmer- 
zenden Schlägen auf mich ein: Warum war dies Ent- 
ſetzliche mir gerade von dem Menſchen gekommen, an 
deſſen Treue und Ergebenheit ich ſo gern geglaubt 
hatte? Was hatte Vorhi veranlaßt, mir beim Scheiden 
ſo Grauſiges anzutun? Hatte er irgend etwas mit mir 
im Sinn gehabt, als die Nachricht von meiner Abreiſe 
aus Indien ihn damals ſo eigentümlich beſtürzt hatte? 
Var es mir nicht aufgefallen, daß feiner Betroffenheit, 
aus der im Grunde wenig Schmerz zu ſprechen ſchien, 
dann ſo ſchnell der leidenſchaftliche Wunſch gefolgt 
war, von mir nach Europa mitgenommen zu werden? 
Gab es hier irgend etwas, einen Haß oder eine Sehn— 
ſucht nach Rache, die vielleicht gar nicht einmal mir 
perſönlich, ſondern nur meiner Raffe und Nationalität 
galt, von der ich niemals geahnt und die mir, als 
andere Wege ihr durch meine Abreiſe genommen 
wurden, dann dies entſetzliche „Geſchenk“ aufgebürdet 
hatte? 

Aber während ich hierüber grübelte, war mir, als 
ſähen mich mit bildhafter Deutlichkeit Vorhis ſanfte, 
ſtrahlende Augen an mit jenem leuchtenden, geraden 
Blick, der ſo unfähig ſchien, ein Falſch zu verbergen. 

And ich fühlte mich ſchuldig an dieſen Augen ob 
meiner Gedanken. 


122 Das Geſchenk des Inders. 0 


Trotz allem unterlag es für mich nicht einen Augen- 
blick lang dem leiſeſten Zweifel, daß dieſe unfelige 
„Gabe“, den bedeutungsvollen Doppelgänger zu ſehen, 
mir wirklich in jener Abſchiedsſtunde von Vorhi ge- 
worden war. Man mag das unbegreiflich finden, ja für 
krankhafte Einbildung halten — ich muß ſolche Mei- 
nungen ohne viel Widerrede beſtehen laſſen und kann 
nur antworten: Man muß ſelbſt jahrelang in Indien 
gelebt, man muß mit den Eingeborenen jenes Landes 
eng verkehrt haben, um über vieles ſo denken zu lernen, 
wie es ein Menſch, der Europa nicht verließ, niemals 
verſtehen wird. 

Endlich machte ich mir klar, daß es vielleicht nach 
indiſcher Lebensauffaſſung, die ja in fo vielen Dingen 
urgründiger und weiſer als die unſere iſt, ein Segen 
und nicht ein Fluch fein mochte, wenn jemand im Be- 
ſitze der Fähigkeit war, zu wiſſen, wann ſeine eigenen 
Stunden und die anderer gezählt ſein würden. Wenn 
wir teure Menſchen mit einem Male anſehen müßten 
mit dem Gefühl, daß ſie uns ſchon nach wenigen Tagen 
entriſſen ſein werden, würden wir dann nicht ganz 
anders gegen ſie handeln als ohne dies Bewußtſein? 
Könnten wir dann nicht Liebestaten auf ſie häufen, 
während wir ſonſt vielleicht kalt, gleichgültig und nach- 
läſſig gegen ſie ſein würden? Und wenn wir von uns 
ſelbſt plötzlich wüßten, daß uns nur noch wenige Stun- 
den bleiben, um alles Irdiſche abzuſchließen, würden 
wir nicht vielleicht das eine oder andere wichtige Ge- 
ſchäft erledigen, was ſonſt vielleicht ungetan die Debet- 
ſeite unſeres ewigen Schuldbuches belaſten würde? 

Maren mir alſo von der Zukunft Dinge vorbehalten, 
die mich einmal in ſolchem Sinn Porhi für fein Ge- 
ſchenk danken lehren würden? 

Klarer als je wurde es mir, wie unſere ganze abend; 


a Novelle von F. C. Oberg. 123 


ländiſche Lebenskunſt auf das Trachten gerichtet iſt, 
den Tod immer und überall durch das Leben zu ver- 
geſſen, und wie es dagegen die erſte aller indiſchen 
Lehren iſt, das Leben nur als eine Vorbereitung auf 
den Tod aufzufaſſen. Hatte etwa Vorhi meinem inne- 
ren Leben eine andere Richtung geben wollen, als er 
mich ſo „beſchenkte“, wie er es getan? Schien ich ihm 
arm, leer, oberflächlich, lieblos, und wollte er neuen 
Reichtum, einen anderen und nach den Erkenntniſſen 
indiſcher Weisheit beſſeren Inhalt in mein Oaſein 
bringen, nun er mich in das Land, wo man das Leben 
dem Leben und nicht dem Tode lebt, ziehen laſſen 
mußte? 

Ich ſah ihn wieder vor mir, wie ich ihn oft, am 
häufigſten in der letzten Zeit vor meiner Abreiſe, ge- 
ſehen hatte: abends in meinem Garten unter einem 
Baum ſtehend, das braune Geſicht mit einem ſtillen, 
verinnerlichten Ausdruck aufgerichtet und in den Augen 
einen fo fernen, verſunkenen Blick, daß es mich jedes- 
mal mit einer Art Scheu erfüllt und mich abgehalten 
hatte, näher zu treten und ihn zu ſtören. Hatte er da 
den Dingen tiefer Weisheit und abſonderlichen Wiſſens, 
an denen ſein Volk ſo reich iſt, nachgedacht? Und war 
es dann in ihm Entſchluß geworden, mich an einer 
Fähigkeit teilhaben zu laſſen, die ihm vielleicht die 
erleſenſte aller Segnungen, mir aber, dem anders 
empfindenden Abendländer, ein Fluch erſchien? 

Wann würde ich jemals dieſem Rätſel auf den 
Grund ſehen? — 

Es war eine lange, lange Nacht, die ich ſo an meinem 
Hotelſchreibtiſch zubrachte. Als der Morgenſchein durch 
die Vorhänge graute, ſchrak ich auf, und ein plötzliches 
Gefühl grenzenloſer Müdigkeit befiel mich. 


— — — — — — — — — — — — — 


124 Das Geſchenk des Inders. * 


Das Bild des Hotels am nächſten Tage war rührend 
und unvergeßlich. Stündlich faſt kamen wahre Frachten 
von Blumen, denn ganz London trauerte um Kathleen. 
Mavourneen. Zu jeder Zeit ſah man auf den Treppen 
die Hotelbedienſteten ganze Arme voll Blumen und 
Kränzen nach dem Flügel des erſten Stocks tragen, wo 
die Zimmer, die die Artiſtin für ſich und ihre Begleiterin 
genommen hatte, lagen. Automobile mit den Wappen 
der erſten Adelsfamilien hielten vor dem Hoteleingang, 
Herzöge und Prinzen kamen, um die ſchöne Tote noch 
einmal zu ſehen. Und als in der Abenddämmerung der 
Zug, der die Leiche in die Kapelle überführte, aufbrach, 
da war es ein ſolcher Reichtum von Blumen, als habe 
man alle Gärten der Welt ausgeraubt, um den letzten 
Weg der holden Kathleen Mavourneen zu ſchmücken. 

Ich ſtand am Fenſter meines Zimmers und ſtarrte 
dem Zuge nach. 

Ein dumpfes Zukunftsfragen laſtete auf mir. — 

Es war ſelbſtverſtändlich, daß ich nach den Ereig- 
niſſen der letzten Tage London zu verlaſſen wünſchte, 
und zudem war meine Sehnſucht nach der ſchottiſchen 
Heimat lebhafter als zuvor. Ich ſchloß alſo, fo ſchnell 
es mir möglich war, die Londoner Beziehungen für 
diesmal ab, und ſchon wenige Tage nach Kathleen 
Mavourneens Tod fuhr ich nordwärts. Zch ſuchte 
zunächſt meine Schweſter auf, die mit ihrer Familie 
auf ihrem Sommergut Kirkintellan im ſüdlichen Schott 
land weilte. Nach dem unruhigen Wanderleben der 
letzten Monate tat mir die ſchöne Stille und heitere 
Geſchäftigkeit des Land- und Familienlebens wohl; 
das Zuſammenſein mit Menſchen, die mir blutsver⸗ 
wandt waren, hatte nach den ſeeliſch aufrüttelnden 
Ereigniſſen der Londoner Tage etwas Beſänftigendes, 
und zuletzt war anderſeits der Verkehr mit neuen 


u Novelle von F. C. Oberg. 125 


Menſchen, wie ihn die meiſt recht ausgedehnte Ge- 
ſelligkeit auf den Sommerſitzen mit ſich bringt, ein 
Mittel, mich vor zu vielen Grübeleien zu bewahren. 

Im Verlaufe meines Aufenthaltes in Kirkintellan 
kam dann noch ein ſehr einſchneidender Faktor, mich 
das Geweſene vergeſſen zu laſſen, hinzu. Aber darauf 
möchte ich jetzt noch nicht eingehen. 

So waren die Wochen zu Monaten geworden, faſt 
ohne daß ich es merkte. Mit den Kindern meiner 
Schweſter — ein reizendes dreizehnjähriges Mädchen 
und ein famoſer, ſtrammer Junge von fünfzehn Jahren 
— hatte mich ſehr ſchnell die herzlichſte Kameradſchaft 
verbunden. Evelyn, meine Nichte, hörte gar zu gern 
indiſche Märchen, und Hugh, mein Neffe, wollte jeden 
Tag ein neues Oſchangelabenteuer wiſſen. 

So ſaßen wir denn wieder einmal zuſammen auf 
der Terraſſe um die Dämmerzeit der jetzt im Auguſt 
ſchon früh ſcheidenden Tage, und Hugh und ich jagten 
einen Tiger. Es war natürlich ſehr aufregend, und 
wir beide waren voll bei der Sache. So hatten wir 
wenig darauf geachtet, daß Evelyn ſich ſtillſchweigend 
zu uns ſetzte. Sie ſaß gegen die Brüſtung der Terraſſe, 
und hinter ihr lag im weichen Halblicht der große 
Raſenplatz des Gartens, der ja ſtets wie ein eben- 
mäßig grüner Teppich vor die Front jedes echten 
britiſchen Gutshauſes gebreitet zu ſein pflegt. Der 
Mond ging auf, und unſere Oſchangelgeſchichte hatte 
nun natürlich erſt recht Reiz. Selbſt Evelyn rückte 
noch näher und hörte, wie Hugh, mit heißen Backen zu. 

Ich weiß nicht mehr, was mich aufſehen machte — 
jedenfalls ſtreifte mein Blick in den Garten hinaus. 

And dort ſah ich in dieſem Augenblick etwas, das 
mir das Wort auf den Lippen gefrieren ließ: dort, wo 
das Mondlicht hellgleißend über dem Naſen flimmerte, 


126 Das Geſchenk des Inders. u 


ſtand regungslos eine kindliche weiße Geſtalt in jener 
Haltung voll unbewußter Grazie, wie ich ſie ſchon ſo 
oft an Evelyn beobachtet hatte. Es war wenig einzelnes 
erkennbar; nur das Mondlicht weckte einen ſatten Silber- 
glanz in dem Haar, das dem Kinde da draußen loſe auf 
die noch zarten Schultern fiel. Es war dasſelbe Blond, 
das den engliſchen Frauen ſo ſeltſam gegeben iſt und 
auf das darum meine Schweſter bei Evelyn ſo ſtolz 
war. Ob ich in einem unwillkürlichen Schauder die 
Augen einen Herzſchlag geſchloſſen hatte, weiß ich nicht, 
aber als ich nun wieder auf die Erſcheinung im Mond- 
licht ſah, da war das Antlitz erhoben, und ich erkannte 
deutlich Evelyns liebreizende Züge. 

Eine warme Kinderhand berührte meine Finger 
in dieſem Augenblick, und Evelyns weiche Stimme 
fragte: „Onkel Henry — und was tateſt du alſo, als 
der Tiger —“ 

Ein Klirren von zerbrechenden Gläſern brach mitten 
in Evelyns Worte hinein. Wir alle drei ſprangen auf. 
In der Tür zur Terraſſe ſtand ein Mädchen, das uns 
Erfriſchungen hatte bringen ſollen, und ihr war das 
Tablett mit den Gläſern entglitten. 

Während die Kinder hinzuſprangen, um beim Auf- 
leſen der Scherben zu helfen, eilte ich die Treppe der 
Terraſſe hinab. Der Raſen war leer, und kaltes Mond- 
licht machte ſeine Fläche groß und grell. Wie gehetzt 
lief ich tief in den Park hinein. Endlich hielt ich inne 
und preßte mein Geſicht in die taufeuchte Rinde eines 
Baumes. Mir war ſo weh zu Sinn, ſo grenzenlos 
weh — — — 

Es war gut, daß ich in meinem an Abenteuern 
und Merkwürdigkeiten reichen Leben gelernt hatte, 
mich zu beherrſchen. Ich weiß nicht, wie ich ſonſt an 
dieſem Abend den Meinen hätte gegenübertreten 


a Novelle von F. C. Oberg. 127 


können. Am nächſten Morgen war Evelyn heiter und 
friſch wie eine Blume — ganz wie immer. 

„Evelyn,“ ſagte ich, „als ich neulich von dem Hals- 
band aus blauen, wie die Inder ſagen, heiligen Steinen 
ſprach, das mir einmal eine reiche, vornehme Inderin 
ſchickte, weil ich ihre kleine Tochter vor dem Ertrinken 
gerettet hatte — ſie meinte, ich hätte eine Frau und 
Kinder —, da dachte ich, daß ich es dir geben möchte, 
denn du biſt doch einmal beinahe meine kleine Tochter — 
nicht wahr? Ich habe nach London an die Bank ge- 
ſchrieben, die meine Wertſachen verwahrt. In ein 
paar Tagen iſt das Halsband hier, und dann kannſt 
du es immer tragen.“ 

„Onkel Henry!“ Ein unbeſchreiblich reizender Aus- 
druck von Überrafhung und Freude war während 
meiner Worte auf Evelyns Geſicht erſchienen, und 
nun umſchlangen mich zwei weiche Kinderarme ſtürmiſch. 

„Henry, du verwöhnſt mir Evelyn aber gar zu 
ſehr!“ ſagte Francis in mütterlich ſtrafendem Ton. 

Da biß ich auf meine Lippen und ging ſchnell hin- 
aus. Ein innerliches Schluchzen ſchüttelte mich. Oh, 
daß ich alles, was ein dreizehnjähriges Herz freude 
zittern macht, auf Evelyn hätte häufen können! 

Die Kinder waren an dieſem Tage zu einem Feſt 
in die Nachbarſchaft gebeten, und wir Erwachſenen 
fuhren zu einem Golfmatch. Ich habe nie jo jammer- 
voll Golf geſpielt. 

Meine Schweſter, die ſich durch mein Spiel in der 
Familienehre gekränkt zu fühlen ſchien, ſagte nach einem 
meiner gedankenlos ausgeführten Schläge: „Entweder, 
Henry, biſt du vecliebt, oder du haſt Zahnweh! Ein 
Spiel wie deines iſt eben nur durch derartige Gemüts- 
ſtörungen entſchuldbar!“ 

Da ſchrie der Jammer in mir wild auf, und ich 


128 Das Geſchenk des Inders. u 


hieb auf den Ball, der vor mir lag, ein, daß er in ſauſen- 
dem Bogen davonflog. 

Später, als wir erwartet hatten, fuhren wir zurück, 
und heimgekommen erfuhren wir, daß die Kinder ſchon 
zu Bett ſeien. Evelyn habe über Magenſchmerzen 
geklagt. 

3h bat meine Schweſter, doch ſofort einen Arzt 
holen zu laſſen. 

Francis ſah mich mit lachelndem Kopfſchutteln an. 
„Wie kurios ihr Zunggejellen doch mit Kindern ſeid!“ 
ſagte ſie. „Wenn man immer gleich zum Arzt ſchicken 
wollte, wenn in der Nachbarſchaft einmal zu viele und 
zu gute Torten gebacken worden ſind! — Und im 
ubrigen weiß die alte Lea in ſolchen Fällen bedeutend 
beſſer als ein Arzt, was zu tun iſt. Darauf verlaß dich!“ 

ich antwortete nichts und ging in die Bibliothek. 
ich hätte noch nicht zur Ruhe gehen können, ich mußte 
erſt mit mir ſelbſt zur Ruhe zu kommen verſuchen. 
Raſtlos ſchritt ich von einem Zimmer der Bibliothek in 
das andere. Ich überdachte, wie unſagbar die Qual 
dieſes einen Tages, an dem jedes Wort der Ahnungs- 
loſen um mich her in mir das ſchreckliche Wiſſen immer 
aufs neue grauſam hochgepeitſcht, mich hatte leiden 
laſſen. Ein wildes Aufbäumen gegen mein Verhängnis 
erfaßte mich. Wie einem Eingekerkerten war mir, der 
im Gefühl ſeiner Ohnmacht ſich lieber an ſeinen Ketten 
die Glieder wund reibt, als ſie ſtill en trägt. 

„Vorhi — Vorhi!“ ächzte ich. 

Als ich endlich meine Zimmer aufsuchen wollte, 
nahm ich den Weg über den Korridor, an dem die 
Zimmer der Kinder lagen. Ich ſah noch Licht und 
klopfte an. Lea öffnete mir, und ich erfuhr, daß Evelyns 
Schmerzen zunähmen. Ob man Lady Canter wecken 
jolle? 


2 Novelle von F. C. Oberg. 129 


Ich bejahte dies und ſetzte hinzu, daß ich ſelber 
unverzüglich aufbrechen wolle, um einen Arzt zu holen. 

Nach zwei Minuten war der Chauffeur geweckt, 
nach fünf Minuten raſte das Auto mit ihm und mir 
bereits die nächtliche Landſtraße entlang. Wir fuhren 
in einem Tempo, als gälte es ein Wettrennen mit dem 
Sturm, der vor uns herbrauſte. 

Dem warmen Tag war eine Nacht gefolgt, die ein 
Unwetter von ſeltener Wucht heraufzubringen ſchien. 

In der Hälfte der Zeit, die man ſonſt für den Weg 
rechnete, hatten wir den Ort erreicht, in dem der Arzt 
wohnte, und als ich nun, nachdem geſchellt worden 
war, in dem Auto wartete, deſſen angekurbelter Motor 
unruhig ratterte, als könne er das Zeichen zum Weiter- 
raſen nicht erwarten, da ſchienen mir Ewigkeiten zu 
vergehen, bis endlich ein Fenſter in die Höhe geſchoben 
wurde und der Kopf einer alten Frau ſich vorſichtig 
herausſtreckte. 

„Doktor Branſton ſoll ſofort kommen!“ verlangte ich 
kurz. 

Der Kopf unter dem emporgeſchobenen Fenſter 
machte eine ſchüttelnde Bewegung, und eine Stimme, 
die ſich ſehr anſtrengen mußte, um das Pfeifen des 
Sturmes und das Praſſeln des Regens zu übertönen, 
antwortete: „Der Doktor iſt zum Whiſt auf Kintory 
bei Sir Peter Macdenny. Er wird wohl den Heimweg 
verſchieben wegen des Unwetters.“ 

Ich wandte mich an Parker, den haufen „Der 
nächſte Arzt wohnt —?“ 

„Doktor Cresburne in Linn of gardie. Aber, Sir, 
es iſt weit bis Linn of Kardie, und Weg und Wetter ſind 
nicht gut. Nach Kintory fahren und Doktor Branſton 
von dort gleich mit nach Kirkintellan nehmen, wäre 
in der Hälfte der Zeit gemacht.“ 

1913. I N 9 


18 Das Geſchenk des Inders. 2 
„Alſo los!“ 
Und wieder ging's in das Wetter hinein, und ich 

ſtarrte gegen die Scheiben des Wagens, die der Regen 

von draußen mit wahren Wellen überſchüttete, als könne 
ich mit meinen Augen das Ziel näher ziehen. 

Endlich brauſten wir auf die Anfahrt von Kintory- 
Lodge. Man öffnete uns, es gab ein kurzes Hin und 
Her, und dann kam Doktor Branſton heraus. 

Noch fühle ich, wie ein lähmendes Entſetzen mich 
erfaßte, als ich dem Mann ins Geſicht ſah. Dunkelrot 
war's und mit einem unſicheren Strahlen des Blicks, 
das nur eine Deutung zuließ. 

„Hallo, Sir! Große Ehre! Ich komme — komme 
ſchon!“ ſchrie er. „Wollte mir nur gerade mit ein 
paar guten Schlücken über das Hundewetter hinweg- 
helfen —“ 

„Ich möchte Sie bei dieſem Wetter doch lieber 
nicht beläſtigen,“ ſagte ich, während ich fühlte, wie mir 
die Bläſſe des Zornes jeden Blutstropfen aus dem 
Geſicht zog. 

Der Schlag des Autos knallte. 

„Zu Doktor Cresburne in Linn of Kardie!“ ſchrie 
ich. „Fahren Sie wie der Teufel!“ 

Und dann glitten wir den Weg zurück, den wir ge- 
kommen waren. 

Vier Stunden — vier volle Stunden hatte ich ge- 
braucht vom Verlaſſen Kirkintellans bis zu dem Augen- 
blick, in dem Doktor Cresburne und ich die Stufen des 
Hauſes betraten. Auf dem letzten Ende unſeres 
Weges war ein Motordefekt eingetreten, und der Arzt 
und ich, Parker bei dem Fahrzeug zurücklaſſend, hatten 
den Reſt zu Fuß zurücklegen müſſen. Wir hatten etwa 
einen noch dreiviertelſtündigen Weg zu machen, und 
ſo furchtbar mir dies Mißgeſchick auch erſchien, ich mußte 


2 Novelle von F. C. Oberg. 131 


— on ae mr er — 


mir doch ſagen, daß alles unvergleichlich viel ſchlimmer 
geweſen wäre, wenn der Schaden an dem Auto ein- 
getreten wäre, bevor wir Doktor Cresburne erreicht 
hatten. 

Wir kämpften uns mühſam durch das Wetter hin- 
durch, der Regen ſtürzte noch immer wie aus Gieß- 
kannen herab, und der Sturm riß uns den Atem vom 
Munde. Aber dennoch fühlte ich von all dem wenig, 
ſo quälend erfüllte mich das Bewußtſein von dem 
ſchrecklichen Verluſt an koſtbarer Zeit, den mich die 
Schwierigkeiten dieſer Nacht koſteten. Es war der 
furchtbarſte Weg meines Lebens. 

Und dann kam der Augenblick, als Doktor Cresburne 
wieder aus dem Krankenzimmer heraustrat und mit 
einem undurchdringlichen Geſicht ſagte: „Es iſt der 
Blinddarm. Das Kind muß ſofort nach Glasgow ge- 
bracht werden, denn es iſt eine Operation nötig, die 
ich allein hier nicht ausführen kann!“ | 

Eine unbeſchreiblich ſchmerzlich durchwartete Stunde 
verſtrich, bis alles zum Transport fertig war. Als end- 
lich das Auto, von meinem Schwager gelenkt, davon- 
fuhr, zog hinter dem dunklen Wettergewölk ſchon die 
fahle Morgenhelle herauf. Ein letzter, verwehter Schrei 
der Autohuppe klang zu mir herauf. Es war mir wie 
ein letzter Gruß Evelyns, und die Tränen ſtürzten mir 
aus den Augen. 

Schlimme Nachrichten kamen am anderen Tage 
aus Glasgow. Die Operation hatte verſchoben werden 
müſſen, da bis zu dem Eintreffen der Kranken im 
Krankenhaus Komplikationen eingetreten waren, die 
zunächſt jeden operativen Eingriff verboten. 

Und endlich, am zweiten Abend, als groß und klar 
der Mond über Kirkintellan heraufſtieg, kam der letzte 
Beſcheid. 


152 Das Geſchenk des Inders. u 


Evelyn war von ihren Leiden erlöſt! — 

Ich kann nicht wiedergeben, wie furchtbar dies 
auf mich wirkte. Tagelang hatte ich das Gefühh ein 
Automat zu fein, der, einmal aufgezogen, alle äußer- 
lichen Dinge des Lebens nachmacht, innerlich aber 
leblos und tot iſt. Mir war, als habe dies Erlebnis 
meinem Weſen auf immer ſein Siegel aufgedrückt. 
Das Leben war mir eine Laſt, die Bürde jenes ver- 
hängnisvollen Geſchenks ſchien unentrinnbar und un- 
erträglich. Dazu kam, daß ich von der Nacht, als ich 
bei der Suche nach einem Arzt für Evelyn in leichten 
Kleidern dem Unwetter ſo lange ausgeſetzt geweſen 
war, einige an ſich geringe körperliche Übel zurück- 
behalten hatte, die ich anfangs nicht beachtete, die zu- 
letzt aber recht fühlbar wurden. So war ich körperlich 
und ſeeliſch ſtark herunter und hielt es für das beſte, 
ein Sanatorium aufzuſuchen. Da es ſowieſo mein 
Wunſch war, nach den letzten Geſchehniſſen den eng- 
liſchen Boden zu verlaſſen, fo wählte ich ein Sana- 
torium in der Nähe Berlins, deſſen Leiter mir bekannt 
und mir als tüchtiger Arzt empfohlen war. 

Das Sanatorium des Doktors v. Loßwitz glich nun 
zwar im Grunde mehr einem großen internationalen Hotel 
und einer amüſanten Fremdenpenſion als einer Heil- 
ſtätte. Aber vielleicht war dies für mich, der ich ja doch 
nicht ausgeſprochen krank war, gerade das Richtige. 
Wenn ich auch anfangs den Verkehr mit meinen Haus- 
genoſſen aus einer Sucht nach Zerſtreuung, die nichts 
als Selbſtflucht war, ſuchte, ſo wachte doch langſam, 
langſam wirkliches Intereſſe an einigen der Menſchen, 
mit denen ich zuſammen war, auf, und ich verwand all- 
mählich die Gemütsdepreſſion. 

Mit einem Gaſt des Sanatoriums hatte mich die 
gemeinſame Leidenſchaft für das Photographieren zu- 


u Novelle von F. C. Oberg. 133 


ſammengeführt. Herr van Staal war Holländer, und 
je mehr ich dieſen Menſchen kennen lernte, deſto inter- 
eſſanter und eigentümlicher erſchien er mir. Schon 
in ſeiner äußeren Erſcheinung war er nichts weniger 
als ein Durchſchnittstyp. Er war groß, von dem ſchwe⸗ 
ren und breiten Bau des Holländers, und auch ſeine 
Schädel und Geſichtsbildung hatte etwas durchaus 
Germaniſches: ein langer Kopf mit großer, imponie- 
render Stirn, mit langer Naſe und einem geradlinigen, 
feſten Mund. Aber ſeine Geſichtshaut war brünett, 
fein Haar und fein kurzgehaltener Schnurrbart waren 
von erdenklichſter Schwärze, und ebenſo verrieten ſeine 
ſüdlich dunklen Augen den ſtarken Einſchlag toma- 
niſchen Blutes. Auch in ſeinem Weſen zeigte van 
Staal jene eigentümlichen Widerſprüche des doppelten 
Blutes in ſich: ſeine meiſt ſehr ruhige Art, ſich zu geben, 
und feine auffallend gute geſellſchaftliche Erziehung ver- 
liehen ſeinem Auftreten etwas durchaus Ariſtokratiſches, 
wurde er aber einmal lebhaft, dann ſprühte plötzlich 
aus dieſem ſonſt ſo ruhigen und gehaltenen Mann ein 
Temperament hervor, das geradezu in Staunen ſetzte. 
Er war dann von blendendem Witz, von frappierender 
Verſtandesſchärfe und verlor trotzdem, ſelbſt in den 
Augenblicken der größten Lebhaftigkeit, niemals die 
ihm eigene Vornehmheit des Weſens. Kurz, er war 
eine ſo eigentümliche und feſſelnde Erſcheinung, daß 
ich zuletzt immer öfter mit ihm zuſammen war. 

Der Holländer hatte, ſeiner Neigung und Begabung 
folgend, Maſchinenbau ſtudiert, und da er von Haus 
aus ſehr wohlhabend war und nie an eine Brotkarriere 
hatte zu denken brauchen, fo hatte er ſich im Vechſel 
feiner Intereſſen den verſchiedenſten techniſchen Ge- 
bieten zugewandt. Zch hatte den Eindruck, daß er ſeine 
Studien mit großem Ernſt und erſtaunlicher Begabung 


134 Das Geſchenk des Inders. u 


betrieben habe, um ſo mehr überraſchte mich da eine 
ſehr ſeltſame Beobachtung, die ich eines Tages an ihm 
machte. ö 

Wir hatten einen gemeinſamen Spaziergang unter- 
nommen, und er erzählte mir, daß er ſich in dem Erfer- 
turm des Sanatoriums eine mechaniſche Werkſtatt ein- 
gerichtet habe. Er könne es eben nicht mehr aushalten 
ohne praktiſche Arbeit, und fo habe denn Doktor 
v. Loßwitz ihm erlaubt, ſich dort oben, wo er nie- 
manden ſtöre, eine Werkſtatt zu ſchaffen. 

Zebt fiel mir auch ein, daß ich den Holländer ſeit 
ungefähr vier oder fünf Tagen gar nicht — außer bei 
den Mahlzeiten — geſehen hatte. 

„Ich habe da nämlich ein neues Problem,“ fuhr 
van Staal fort, „das mich außerordentlich reizt. Es 
iſt das Ei des Kolumbus — lieber Himmel, alle guten 
techniſchen Erfindungen find ſchließlich das Ei des Ko- 
lumbus!“ 

Ich horchte erſtaunt auf. War er etwa ein Erfinder, 
dieſer eigentümliche, lebhafte Geiſt, deſſen Tätigkeits- 
richtung mir nie bisher ſo ganz klar geworden war? 

„Sprechen Sie ſchon davon?“ fragte ich vorſichtig. 

„Zu guten Freunden wohl,“ ſagte er mit einem 
ſonderbaren Ausdruck von verhaltener Erregtheit. „Aber 
Sie werden lächeln, wenn Sie es erfahren. Es iſt eine 
neue Schreibmaſchine!“ 

Bei dieſer Offenbarung konnte ich in der Tat ein 
Lächeln der Verblüffung nicht ganz unterdrücken. Ich 
hatte doch mindeſtens ſo etwas wie ein neues Syſtem 
für ein Flugzeug erwartet — und nun war es etwas 
jo Nüchternes, etwas fo Eingebürgertes und Alltäg- 
liches! 

„Sehen Sie!“ ſagte van Staal, ohne im geringſten 
verletzt zu ſein. „Nun lächeln Sie! Aber“ — ſein Ge— 


2 Novelle von F. C. Oberg. 135 


ſicht wurde plötzlich ſehr ernſt — „warten Sie nur, 
bis Sie meine Geſichtspunkte kennen!“ 

Vir hatten inzwiſchen das Haus erreicht, und van 
Staal forderte mich auf, mit ihm hinaufzukommen und 
ſeine Werkſtatt anzuſehen. Wir ſtiegen alſo die Treppen 
hinauf, gelangten an eine Tür, die van Staal mit 
einem Schlüſſel, den er aus der Taſche zog, aufſchloß, 
und dann traten wir ein. 

Es war ein ziemlich großer Raum, dem ſchon die 
Sechseckform, die ſich aus ſeiner Lage im Turm ergab, 
etwas Fremdartiges verlieh. Alle erdenkbaren Dinge 
erfüllten das Zimmer. Es war zum Teil Schlojjer- 
werkſtatt, zum Teil Ingenieurbureau. Ein großer 
Zeichentiſch mit Reißbrett, Schienen und Zirkeln, eine 
Lötbank, Feilvorrichtungen und die ſonderbarſten und 
fremdartigſten Dinge gab es, die ſich ſo ſchnell gar 
nicht alle überſehen ließen. 

Ich konnte es nicht unterlaſſen, mein Erſtaunen 
darüber auszuſprechen, wie van Staal dies alles nur 
ſo ſchnell beſchafft hatte. 

Er lachte. „Telegramme!“ ſagte er kurz. „Glauben 
Sie, ſo ein heiliges Feuer läßt einem ſelbſt oder anderen 
Ruhe, wenn es einmal angefacht iſt? Berlin iſt nahe, 
und in zwei Tagen hatte ich von den Bezugsquellen, 
mit denen ich früher ſchon oft verhandelte, ſo ziemlich 
alles zur Stelle, was ich brauche.“ 

Inzwiſchen war mir aufgefallen, daß ein Teil des 
Zimmers durch einen Vorhang abgetrennt war. 

Der Holländer mochte meinem Blick gefolgt ſein, denn 
nun deutete er mit der Hand auf jene Ecke und ſagte: 
„Das dort iſt das Allerheiligſte. Da hat niemand Zu- 
tritt außer mir allein. Das iſt der Winkel des Wer- 
denden.“ 

Er hatte feine Stimme zu einem faſt pathetiſchen 


136 Das Geſchenk des Inders. a 


Flüſtern gedämpft, und als ich, darüber betroffen, 
aufſah und ihn anſchaute, durchfuhr mich ein plötzliches 
Entſetzen. 

Der Mann neben mir war vollkommen verändert. 
Eine unnatürliche Geſpanntheit zerrte an ſeinen Zügen, 
ſein Mund ſchien groß und wie von Stahl, ſo feſt preßten 
ſich die Lippen aufeinander. Seine Augen traten 
förmlich hervor und hatten einen furchtbaren Ausdruck. 
Sie ſtarrten auf jenen Vorhang, und etwas wie eine 
ganz unerſättliche Gier lag darin, etwas Verzehrendes, 
fie ſchienen das, worauf fie gerichtet waren, fürm- 
lich zu verſchlingen, es in ſich hineinzufreſſen — es 
war unbeſchreiblich entſetzenerregend, dieſe Augen zu 
ſehen. 

Da aber hob van Staal plötzlich den Kopf, und wie 
mit einem Schwamm von ſeinen Zügen gewiſcht war 
jene Verzerrung gewichen, als wäre ſie nie dageweſen. 
Als er mich jetzt aus ruhigem Geſicht und mit dem 
mir bekannten, konzentrierten Ausdruck ſeiner Augen 
anſah, war mir, als hätte ich die häßliche Erſcheinung, 
die ich eben wahrgenommen, nur geträumt. 

„Was nun Erfindungen im allgemeinen betrifft,“ 
ſagte er mit vollkommen ruhiger, natürlicher Stimme, 
„ſo hat es damit ſeine eigene Bewandtnis. Natürlich 
haben Sie, als ich vorhin von meinem neuen Problem 
ſprach, erwartet, es ſei zum mindeſten ein neues Flug- 
zeug, an dem ich arbeite?“ 

Eine gewiſſe Betroffenheit erfaßte mich. Konnten 
dieſe dunklen Augen, in denen jetzt ein Feuer innerer 
Erregung zu ſtrahlen begann, durch die Stirnen der 
Menſchen hindurch die Gedanken leſen? 

„Ich habe offenbar das Richtige getroffen,“ be- 
ſtätigte van Staal ſich ſeine eigene Frage, da ich noch 
voller Beſtürzung ſchwieg. „Aber,“ fuhr er fort, „es 


0 Novelle von F. C. Oberg. 137 


iſt nicht des Schweißes der Edlen wert, in unſeren 
Tagen eine Flugmaſchine zu bauen —“ 

„Sondern eine — Schreibmaſchine?“ konnte ich 
mich nicht enthalten, dazwiſchen zu werfen. 

Er nickte heftig mit dem Kopf. „Das iſt ſo!“ 
ſagte er. „Eine neue Erfindung wird ſozuſagen 
vom All geboren und kommt unter die Menſchen, 
wenn dieſe dafür reif ſind. Man erfand die Buch- 
druckerkunſt, als die Zeit dafür gekommen war, und 
Johann Gutenberg war zufällig der Mann, in deſſen 
Hirn dieſe im All vorhandene Idee Form gewann. 
Es entſtanden Eiſenbahnen und Dampfſchiffe, es ent- 
ſtand alles, was unſere heutige Technik beſitzt, denn 
die Welt iſt reif geworden für die Mittel des Dampfes, 
der Gaſe, der Elektrizität. Alle Ideen ſind in der Luft 
wie die Bazillen, und es kommt nur darauf an, daß 
in den Köpfen die Hirne reif genug ſind, ſich infizieren 
zu laſſen. Oder wie kommt es ſonſt wohl, daß alle Er- 
findungen faſt ſtets zwei und dreifach zugleich gemacht 
werden? — Um auf das Nähere zu kommen: Sie wiſſen, 
daß keine neue Erfindung mit einem Schlage gemacht 
wird. Nein, ſie entſteht zunächſt in einer Form, die uns, 
die wir ihre ſpätere Geſtalt kennen, beinahe kindiſch 
vorkommt. Das iſt nur natürlich, werden Sie ein- 
wenden, und es iſt nichts Erſtaunliches daran. Zuerſt 
das Prinzip in einem rohen Gedanken, dann fein Aus- 
bau — nicht wahr? So wird es jeder Tertianer, der 
einen Aufſatz über die Dampfmaſchine macht, dar- 
ſtellen. Aber fo iſt es nicht!! — Ich habe mit einem 
wahren Bienenfleiß die geſamte Geſchichte der Er- 
findungen ſtudiert, ganz genau, in jeder Einzelheit, 
und jo bin ich endlich auf das große Geheimnis ge- 
kommen, das niemand bis jetzt erfaßt hat: daß auch 
das Erfinden ein von Geſetzen beſtimmter Vorgang iſt, 


138 Das Geſchenk des Anders. 2 


der ſich immer wieder, immer wieder auf die gleiche 
Weiſe wiederholt. Das liegt nicht grob auf der Hand, 
das ſieht der ahnungsloſe Beobachter nicht, ſondern 
das tut ſich nur dem auf, der tief eindringt und am 
Boden der Dinge nachſchürft. Es iſt ſo mit den Er- 
findungen: ein neues Prinzip taucht auf. Es wird ver- 
vollkommnet, ausgebaut. Dann aber — und dies iſt 
der Punkt, auf den es ankommt — iſt es endlich ſo 
weit, daß zum zweiten Male der große lebengebende 
Funke emporſpringen kann. Die anfängliche Idee 
begegnet im Oienſt desſelben Prinzips einem neuen, 
feindlichen Gedanken. Und dieſer iſt es, der endgültig 
die Erfindung hervorbringt. Nicht der erſte Gedanke 
ſchafft, ſondern dieſer zweite, der den erſten bekämpft. 
Nirgends in der Natur iſt eine in ihrer Richtung un- 
gehindert wirkende Kraft das Hervorbringende, erſt 
die Wechſelwirkung zweier Kräfte gibt das Geſtaltende. 
Wir haben den Blitz nur da, wo nicht die poſitive 
Elektrizität allein iſt, ſondern wo ihr die negative, die 
feindliche, entgegentritt. Krieg, Feindſchaft aller Kräfte 
— das iſt die Lebenswurzel der Dinge. Und ſo iſt es 
auch bei den Erfindungen. Anfänglich muß eine neue 
Idee zwar zunächſt Form gewinnen, aber erſt in dem 
Augenblick, da die feindliche, entgegenwirkende Idee 
ihr gegenübertritt, entſteht die letzte, eigentliche Geſtalt, 
iſt die Erfindung erſt wahrhaft gelungen und der Welt 
geſchenkt. Das erkennen, danach handeln — das 
iſt der goldene Schlüſſel zu den Erfindungen, das 
macht zum Meiſter. Unſere Zeit fiebert danach, Flug- 
zeuge zu ſchaffen; nach zwanzig oder dreißig Jahren 
werde ich anfangen, ein Flugzeug zu erfinden. Denn 
dann erſt iſt die Zeit da. Aber jetzt iſt die Zeit, daß 
der Welt endlich die Schreibmaſchine gegeben werde. 
Hier ein Schlitz, dort eine Schraube mehr, hier ein Hebel 


a Novelle von F. C. Oberg. 139 


weniger — das iſt alles, was in den verſchiedenen 
Syſtemen ſeit Fahren hervorgebracht wird, und 
das iſt das Zeichen: das Neue, Feindliche, Entfchei- 
dende kann kommen! Das Bezeichnende an den be- 
ſtehenden Schreibmaſchinen iſt, daß fie für acht Finger 
gebaut und mit zweien geſchrieben werden. Eine Ma- 
ſchine, die ein Brachliegen von drei Vierteln der zur 
Verfügung ſtehenden Kräfte möglich läßt, kann das 
Endgültige nicht ſein! Hier —“ und damit ſchob er 
ſeine Armel in die Höhe und hielt mir ſeine beiden 
nervigen Hände mit den geſpreizten zehn Fingern hin, 
„hier — dies iſt die halbe Schreibmaſchine! Und wenn 
man die andere Hälfte dazu baut, dann muß man das 
ſo tun, daß ein Auslaſſen der Kräfte undenkbar iſt. 
Solange es keine Schreibmaſchine gibt, deren Seele 
und innerſtes Leben alle zehn Finger ſamt den beiden 
Handgelenken — denn die ſind wichtig — ſind, ſo 
lange iſt die Erfindung der Schreibmaſchine überhaupt 
noch nicht gemacht!“ ; 

Er holte tief, tief Atem, und es gab eine kurze 
Stille. 

Mit wachſendem Befremden hatte ich dieſen langen 
und mit ſteigender Lebhaftigkeit vorgebrachten Ent- 
wicklungen zugehört, ohne den Sprecher, was mir 
wohl auch nur ſchwer möglich geweſen wäre, zu unter- 
brechen. War es wirklich derſelbe kluge Kopf und 
präziſe Verſtand, dem ich ſo oft mit Vergnügen ge— 
lauſcht, der nun dieſe krauſe Theorie vom Erfinden, 
die jo viele Ungenauigkeiten in der Auffaſſung der Be- 
griffe aufwies, mir eben entwickelt hatte? Zch hatte 
Mühe, mein Befremden nicht allzuſehr merken zu 
laſſen. 

Aber van Staal ſchien zu ſehr mit ſeinen eigenen 
Ideen beſchäftigt, als daß ihm mein Erſtaunen aufge- 


140 Das Geſchenk des Inders. ti 


fallen wäre. „Eines Tages,“ ſagte er, als ich mich ver- 
abſchiedete, „werde ich den Vorhang von dem Winkel 
des Werdenden zurückziehen, weil er dann ein Winkel des 
Gewordenen ſein wird — und dann ſollen Sie der erſte 
ſein, der die Maſchine ſieht!“ 

Während ich die Treppen von der Werkſtatt hinab- 
ſtieg, überkam mich ein Gefühl, als ſei der Mann, 
den ich dort oben zurückließ, ein völlig anderer als der, 
den ich bisher gekannt hatte. Am meiſten aber kehrten 
meine Gedanken zu der unerklärlichen Beobachtung zu- 
rück, die ich an dem Holländer wahrgenommen hatte, 
als er zum erſten Male von jenem ſonderbar geheimnis 
vollen „Winkel des Werdenden“ ſprach. Was — was 
war das geweſen? Mich überkam noch in der Erinne— 
rung daran das Entſetzen, und ich verſuchte, u wieder 
daran zu denken — 

Anden nächſten Tagen ſah ich wenig von van Staal. 
Er ſagte mir, wenn wir uns bei den Mahlzeiten trafen, 
daß er eifrig an feiner neuen Mafchine arbeite. 

„Sie wird!“ flüſterte er mir zu, und dabei leuchteten 
ſeine Augen voll einer jähen, zärtlichen Glut, als ſpräche 
er von einer Geliebten. 

Er erſchien mir immer merkwürdiger, aber wenn 
ich ihn dann für gewöhnlich wieder ſo ruhig und ſo ganz 
als den beſonnenen und intelligenten Mann ſah, als 
den ich ihn von Anfang an durch jo viele Wochen hin- 
durch gekannt hatte, dann wollten mir alle jene merk⸗ 
würdigen Beobachtungen vorkommen wie Übertrei- 
bungen meiner Bhantafie, und ſchließlich, als er längere 
Zeit nichts von ſeiner neuen Erfindung geſagt hatte, 
war ich wieder, wie zuerſt, von feinem Weſen einge- 
nommen und ſo harmlos wie am Anfang. — 

Da geſchah es eines Tages, daß van Staal bei 
einem Geſpräch über unſere gemeinſame Liebhaberei, 


oO Novelle von F. C. Oberg. 141 


das Photographieren, mich aufforderte, ihn in ſein 
Zimmer zu begleiten, um Aufnahmen anzuſehen, die 
er nach einem von ihm ſelbſt erdachten und aus- 
probierten Verfahren gemacht hatte. 

Während er noch nach den Bildern ſuchte, war 
ich an das Fenſter getreten. Von dort fiel mein Blick 
abſichtlos auf van Staals Schreibtiſch und blieb dann 
plötzlich wie gebannt an einer Photographie hängen, 
die dort in einem kleinen, ovalen Silberrahmen ſtand. 
Es war das Profilbild eines Antlitzes, das mich . 
Innerſten zuſammenſchrecken ließ. 

Nun muß ich mit ein paar Worten auf die 180 
erwähnten Ereigniſſe zurückgreifen, die in Kirkintellan 
an mich herangetreten waren. In meiner Jugend, 
bevor ich in den Oſten hinausging, habe ich einmal 
eine ſehr tiefe, ſehr herbe Enttäuſchung erlitten, und 
jenes Erlebnis hatte aus einem Mann, der die Frauen 
anbetete, mit einem Schlage einen kühlen Frauen- 
verächter gemacht. In Indien habe ich während der 
ganzen Jahre meines dortigen Aufenthaltes in der 
Geſellſchaft, wie ich wohl wußte, von Anfang bis zum 
Schluß den Spottnamen „der Mann mit dem Eifen- 
herzen“ gehabt, eine Bezeichnung, die ich ſelbſt für gar 
nicht ſo unzutreffend hielt; und eigentlich war ich ſogar 
recht ſtolz auf meinen Ruf als Eiſenherz, der mir zum 
Beiſpiel ſehr bald die Annehmlichkeit eingebracht hatte, 
bei allen geſelligen Veranſtaltungen in Bombay von 
der Partnerſchaft irgend einer verlobungsbereiten 
Dame dispenſiert zu ſein. Bei meinem Aufenthalt 
in Kirkintellan nun hatte ich einmal vor einer großen 
Mittaggeſellſchaft meine Schweſter ſcherzend nach der 
mir bevorſtehenden Tiſchdame ausgeforſcht, fühlte mich 
jedoch beruhigt, als der Beſcheid lautete, meine Dame 
ſei Miß Nora Marr, die Tochter des berühmten Natur- 


142 Das Geſchenk des Inders. 


forſchers Sir Donald Marr; ſie ſei achtundzwanzig 
Jahre alt, habe Mathematik und Naturwiſſenſchaften 
ſtudiert und ſei ſeit zwei Jahren die Aſſiſtentin ihres 
berühmten Vaters. Zch erwartete ein ältliches Weſen, 
gelehrt, bebrillt, auf großen Füßen wandelnd — und 
ich glaubte zuerſt an einen Irrtum, als mir eine ſchlanke, 
jugendlich ſchöne Geſtalt als Miß Nora Marr zuge- 
führt wurde. Aber dieſe Frau, die ſo groß und ſchlank 
gebaut war und deren Geſtalt von Jugendfriſche und 
Kraft federte, die ſo klare graue Augen und ſo erregend 
ſchönes aſchblondes Haar hatte, dies ſchöne, kühle Mäd- 
chen war wirklich jene gelehrte Tochter eines gelehrten 
Vaters. Und es dauerte nur wenige Tage, in denen 
ich ſie bei den mannigfachen Veranſtaltungen traf, 
da hatte dieſe ſeltene Frau, die ſo weich lachen konnte, 
ein unerwartetes Kunſtſtück der höheren Chemie voll- 
bracht: ſie hatte ein eiſernes Herz umgeſchmolzen in 
eines aus Fleiſch und Blut. 

Der Verkehr zwiſchen Miß Marr und mir wurde 
während der zwei Wochen, die Sir Donald und ſeine 
Tochter noch in Schottland weilten, nicht anders als 
er von Anfang an geweſen war — ein rein gejellichaft- 
licher; aber dennoch hatte das häufige Zuſammen- 
treffen uns Gelegenheit zu Geſprächen gegeben, aus 
denen eines vom anderen ein gutes Stück Weſen kennen 
lernte. Als wir ſchieden, geſchah es mit der Ausſicht 
auf ein nicht allzu fernes Wiederſehen in London, 
wohin ich damals noch zurückzugehen beabſichtigte. Ich 
hatte das Gefühl, daß Miß Marr nicht im Zweifel über 
meine Empfindungen für ſie geblieben ſein konnte — 
und das „Auf Wiederſehen!“, mit dem ſie von mir 
ging, ſchien mir ſo geklungen zu haben, als wenn ſie 
nicht ungern an jenen Zeitpunkt dächte. ö 

Dann aber hatte Epelyns Tod meine Pläne ver- 


0 Novelle von F. C. Oberg. 143 


ſchoben, und nun ſah ich hier in dem Sanatorium bei 
Berlin Nora Marrs Bild auf dem Schreibtiſch des 
Holländers ſtehen! 

Ob van Staal die Richtung meines Blickes wahr- 
genommen hatte? Jedenfalls fiel, als er nun zu mir 
trat, auch ſein Auge auf jene Photographie in dem 
ovalen ſilbernen Rahmen. Und da geſchah dasſelbe, 
was ich vor ungefähr vierzehn Tagen dort oben in 
ſeiner Werkſtatt voll Entſetzen an ihm beobachtet hatte: 
mit einem Schlage hatte ſich van Staals Geſicht 
jo verändert, daß es kaum mehr dasjelbe erſchien. 
Geſpannt und verzerrt war jeder ſeiner Züge, die hart 
aufeinandergepreßten Lippen wurden unter dieſem 
Druck faſt weiß, die Augen traten hervor und ſchienen 
jenes Mädchenporträt förmlich verſchlingen, in ſich 
hineinfreſſen zu wollen. 

Gleich darauf war alles ſo ſchnell ausgelöſcht, wie 
es gekommen war. 

„Dies ſind alſo die Aufnahmen,“ ſagte van Staal 
mit ruhiger, unveränderter Stimme, indem er mir einige 
Landſchaftsphotographien hinhielt. Dann begann er, 
in ſeiner gelaſſenen Weiſe das Verfahren zu erläutern. 

Zerſtreut hörte ich zu. Das Bild in dem ovalen 
Rahmen und der Blick aus den Augen des Holländers, 
der ihm gegolten, lagen mir fortwährend im Sinn. — 

„Wiſſen Sie's ſchon?“ ſagte Doktor v. Loßwitz zu mir, 
als ich an dieſem Abend im Begriff war, den Speije- 
ſaal zuſammen mit van Staal zu verlaſſen. „Morgen 
kommen Landsleute von Ihnen. Berühmte Lands- 
leute ſogar, deren Namen Sie ohne Zweifel kennen 
werden: Sir Donald Marr und ſeine Tochter.“ 

Da klappte eine Tür. 

Van Staal hatte ohne ein Wort das Zimmer ver- 
laſſen. — 


144 Das Geſchenk des Inders. 2 


Als ich am nächſten Mittag auf den Ruf des Gongs 
raſcher, als es meine Gewohnheit war, zum Eſſen hinab- 
ging, kam ich gerade zeitig genug, um zu ſehen, wie Dol- 
tor v. Loßwitz zwei hohe Geſtalten in den Saal führte, 
einen vornehm ausſehenden alten Herrn und eine 
junge Frauengeſtalt, die wie von einem inneren Rhyth- 
mus getragen daherſchritt. Es waren Sir Donald Marr 
und ſeine Tochter Nora. 

Ein Zufall — oder war es das nicht? — machte, 
daß Noras Blick ſogleich auf mich fiel. Ein helles 
Leuchten trat in ihre klaren Augen, indes ein ganz 
leiſes Rot ihr ins Geſicht ſtieg. Sie grüßte mich mit 
einem Neigen des Kopfes, und nachdem Doktor v. Loß- 
witz die Ankommenden mit den übrigen Gäſten bekannt 
gemacht hatte, trat ich auf ſie zu. 

„Es iſt hübſch, wenn man im fremden Lande gleich 
Bekannte aus der Heimat trifft,“ antwortete Nora 
Marr auf meine Begrüßung, und dann erzählte ſie, 
daß der Vater und ſie zu einem Kongreß in der deutſchen 
Hauptſtadt herübergereiſt ſeien und nun den für den 
alten Herrn ziemlich anſtrengenden Tagen eine Er- 
holungszeit hier in den märkiſchen Kieferwaldungen 
folgen laſſen wollten. 

Während ich neben Nora ſtand und ganz von dem 
Glück erfüllt war, ſie mir nahe zu haben, in ihre klaren 
Augen, auf ihr ſchimmerndes Haar ſehen zu können, 
fo daß mir meine weitere Umgebung fo gut wie ver- 
ſunken war, überkam mich plötzlich ein Gefühl, daß 
ein ſtechender Blick über Nora und mich hinſchnitte. 
Aufblickend ſah ich, daß van Staal eben eingetreten 
war. Aber er kam mit völlig ruhigem Geſicht und in 
ſeiner ſtets ſo angenehm wirkenden guten Haltung auf 
uns zu. Zch trat mit einem leichten „Alſo auf Wieder- 
ſehen nachher“ zurück und hörte noch die erſten der 


2 Novelle von F. C. Oberg. 145 


Vorte, die van Staal in ziemlich offiziellem Ton an 
Sir Donald und Miß Marr richtete. | 

Über Nora Warrs ſchönes, ſtolzes Geſicht war eine 
jähe Bläſſe geglitten, als van Staal ſo plötzlich vor 
ſie hintrat, und während er dann mit ihr ſprach, ſahen 
Noras klare Augen, von Erregung verdunkelt und mit 
einem merkwürdigen, nicht enträtſelbaren Ausdruck, 
der mir faſt Furcht zu enthalten ſchien, geradeaus, 
über alle Dinge hinweg in ein Weſenloſes hinein. 
Sie war in nichts mehr jene lächelnde, gewandte Dame, 
die einen guten, unerwartet getroffenen Bekannten 
mit einigen leichten Worten begrüßt, als die ſie mir 
vorhin gegenübergeſtanden hatte, ſondern ſie war 
ganz und gar und in jeder Linie ein Menſch, der eine 
jähe, tiefe Erregung nur mit Mühe hinter äußerer 
Haltung verbirgt. 

Da biß ich meine gähne aufeinander, daß fie nirfh- 
ten. Dann wandte ich mich ab und war während der 
Mahlzeit gegen meine Nachbarin, die kleine franzö— 
ſiſche Baronin, von einer Aufmerkſamkeit, wie dieſe 
Dame ſie nie bisher von mir gewohnt geweſen war. — 

Ohne daß ich meinerſeits viel dazu zu tun brauchte, 
ergab es ſich in den folgenden Tagen von ſelbſt, daß 
Sir Donald Narr, feine Tochter und ich viel zuſammen 
waren, wie das von Landsleuten in einem ſo inter- 
nationalen Kreiſe und noch dazu von früheren Be— 
kannten ganz natürlich war. van Staal, der — wie 
ich geſprächsweiſe erfuhr — die Marrs vor zwei Jahren 
in Paris kennen gelernt hatte, ſah man ſelten in der 
Geſellſchaft der berühmten Schotten; ob das an ihm 
lag, der jetzt wieder ſehr eifrig in ſeiner Werkſtatt 
arbeitete, oder an den Marrs, war nicht erſichtlich. 
War er aber dennoch bei der einen oder anderen Ge— 
legenheit mit Nora zuſammen, ſo wartete ich vergeblich 

1913. 1. 10 


146 Das Geſchenk des Inders. 0 


auf irgend ein Anzeichen, das mir das Weſen ihrer 
Beziehungen und die Tatſache, daß Noras Bild in 
einem Silberrahmen auf des Holländers Schreibtiſch 
ſtand, hätte erklären können. Miß Marr war von un- 
durchdringlicher Zurückhaltung. Auch gegen mich. 
Ganz ſelten einmal, wenn wir allein waren, ſchien 
die Wärme, die ihr Weſen mir in Schottland gezeigt 
hatte, wieder aufleben zu wollen, aber das geſchah 
viel zu ſelten, als daß ich nicht, zwiſchen Hoffen und 
Zweifeln ſchwankend, den letzteren weit mehr als dem 
erſteren ausgeliefert war. 

Ich war entſchloſſen, eine Ausſprache herbeizu- 
führen, ſobald ſich dazu Gelegenheit gab, denn es 
erſchien mir beſſer, die niederſchmetterndſte Gewißheit 
als dieſe Unficherheit zu ertragen. 

Es war in dieſen Tagen — unerwartet früh, denn 
man ſchrieb noch Anfang November — der erſte ſtarke 
Schneefall geweſen, und das ſollte nun in einer großen, 
von der Mehrzahl der Sanatoriumsgäſte unternom- 
menen Schlittenfahrt gefeiert werden. Da alſo hatte 
ich die erſehnte Gelegenheit zu einer Ausſprache, denn 
gewährte Miß Marr mir den Vorzug ihrer Geſellſchaft, 
ſo konnte dieſe Fahrt zu zweien — Sir Donald würde 
ſich ohne Zweifel nicht beteiligen — mir endlich die 
Gewißheit über mein Schickſal bringen. Nora mußte 
ſelbſt das Gefühl haben, was ich bei der Bitte um ihre 
Geſellſchaft für die Partie ausſprach. Gewährte ſie 
fie mir, ſo war ſchon das eine Glücksbotſchaft. 

Als ſich am Abend, wie meiſtens, die Sanatoriums- 
gäſte im Salon zuſammenfanden, trat ich zu Miß Marr, 
die in einigen Noten blätternd gerade allein am Klavier 
ſtand, und brachte meine Bitte vor. 8 

Nora ſah auf, und in ihren klaren Augen lag ein 
weiches Licht, indes ein leiſes Rot in ihr feines Geſicht 


2 Novelle von F. C. Oberg. 147 


ſtieg. „Ich danke Ihnen, Sir Henry — ich fahre gern 
mit Ihnen!“ 

Ein Ton hatte ihre Stimme durchzittert, der mir 
das Herz erbeben ließ. Ich wußte, fie hatte mich ver- 
ſtanden, und wortlos in der Erſchütterung meines 
Glückes beugte ich mich zum Kuß auf Noras Hand. 

Nun war es kein Wunder, daß ich die Stunden bis 
zum Aufbruch zur Schlittenpartie, die für den über- 
nächſten Tag, einen Freitag, feſtgeſetzt war, als ein 
vor Erwartung Fiebernder verbrachte, um ſo mehr, 
als ich Nora inzwiſchen gar nicht ſah. Ihr Vater hatte 
ſich eine leichte Erkältung zugezogen, die ihn in ſein 
Zimmer bannte, wo Nora ihm Geſellſchaft leiſtete. 

Endlich war der Freitag da, und die Teilnehmer 
der Partie verſammelten ſich unmittelbar vor dem Auf- 
bruch zu einem Frühſtück. Die Damen erſchienen be— 
reits in Pelzmützen und Kopfſchleiern, von draußen 
klang lockend das Geläut der anfahrenden Schlitten, 
und es herrſchte bei Tiſch eine faſt übermütige Fröh- 
lichkeit. Nur ich fand mich nicht in dieſen Ton des 
Frohſinns hinein, denn noch fehlte Nora Marr unter 
den Verſammelten, und eine große Furcht, ſie möchte 
etwa ihres Vaters wegen noch abſagen, beſchlich mich. 

Da aber trat ſie ein, heiter, mann und ſchöner 
als je. 

Sie nahm den ihr freigelaſſenen Platz mir gegen- 
über ein, und mir ſchien aus dem Aufleuchten ihrer 
Augen bei ihrem Gruß an mich ein ganzer Frühling 
von Verheißungen zu erblühen. Ich konnte mich faſt 
nicht losreißen von dem klaren, ſchönen Mädchengeſicht 
unter dem Barett von weißem ſibiriſchen Fuchs. 

„Wie iſt das?“ hörte ich plötzlich die Stimme des 
Doktors v. Loßwitz das fröhliche Gewirr der Unter— 
haltung durchdringen. „Herr van Staal hat noch keinen 


143 Das Geſchenk des Inders. 2 


Schlittenplatz? Aber haben die Herrſchaften denn 
das nicht arrangiert?“ 

Jetzt ſprach van Staal von Wißverſtändniſſen, die 
ſich leider erſt jetzt herausſtellten. Ich hörte nicht hin. 
Mir war nichts in der Welt ſo gleichgültig als die 
Mißverſtändniſſe, die Herrn van Staal betrafen. gch 
bedauerte nur, wenn dieſe Sache unſeren Aufbruch 
auch nur um eine Minute verzögern würde. 

Nora Marr hatte aufmerkſam den Kopf erhoben, 
und als ich jetzt zu ihr hinüberſah, erſchien mir plötzlich 
ihr Geſicht ſo weiß wie der leuchtende ſibiriſche Fuchs 
über ihrer Stirn. Ihre Augen ſchienen dunkel und 
vergrößert, ihre Züge trugen ein höfliches Lächeln, 
das nur mir, der ich fie fo genau kannte, ſo fremd vor- 
kommen mochte. 

Sie ſah van Staal mit freundlichem Ausdruck an. 
„In dem Schlitten, in dem Sir Henry Airnscraig und 
ich fahren werden, hat, da mein Vater nicht mitkommt, 
gut noch eine andere Perſon Platz. Wenn Sie alſo 
Luſt haben, Herr van Staal —“ 

Was in dieſem Augenblick in mir vorging, läßt ſich 
nicht beſchreiben. Eine Welt ſtürzte mir zuſammen, 
etwas Furchtbares war geſchehen, und doch hatte ich 
ein ſcharfes Bewußtſein von dem Lächeln, mit dem 
ich mich jetzt van Staal zuwandte, und von jedem 
meiner Worte, in denen ich etwas von günſtigem Zu— 
ſammentreffen ſagte. 

Van Staal antwortete da ede 

Alles, was dann weiter kam, ging über mich her 
wie ein dunkler, drückender Traum. Menſchen und 
Vorgänge waren verzerrt und fraßenbaft, ich ſelbſt 
ſpielte den heiteren Ausflügler, während mir das Herz 
in der Bruſt ſchier verbrennen wollte. Nichts von den 
Einzelheiten der Partie kann ich angeben, nichts von 


2 Novelle von F. C. Oberg. 149 


der luſtigen Kaffeetafel in dem Waldwirtshaus, in dem 
Raſt gemacht wurde, nichts von der Rückfahrt durch 
den verdämmernden Tag, deſſen Glanz in einer wunder- 
baren Nacht verblaute. Ich wußte nur das eine, das 
ich dennoch nicht faſſen konnte: daß Nora Marr mir 
verloren war, daß fie mir auf das noch nicht Ausge- 
ſprochene eine Antwort gegeben, fo bitter und fo krän— 
kend, daß ſie wohl mit einem Schlage mein ſo heiß 
erwachtes Herz wieder zu Eis erſtarren laſſen mochte. 
Sofort nach der Rückkehr von der Schlittenpartie 
zog ich mich auf mein Zimmer zurück, während der 
größte Teil der Geſellſchaft noch für den Reſt des 
Abends zuſammenblieb. Ich befand mich in einer 
unſagbaren Gemütsverfaſſung. Troſtlos dürr ſchien 
mir alles Geſchehene, mir war, als ſei das ganze Leben 
mir bisher verkleidet erſchienen und habe nun alle 
Wärme und allen Glanz abgeſtreift, und der kalte grau- 
ſame Hohn der Wahrheit fröſtelte mich an. Mein 
erſter Gedanke war, am nächſten Morgen das Sana— 
torium zu verlaſſen, aber dann verlangte mein Stolz 
wieder von mir, noch einige Tage auszuharren und 
erſt dann unter irgend einem Vorwand abzureiſen. 
Und während ich mir fo das typifche Verhalten 
des abgeblitzten Freiers vornahm, fiel mir mit einem 
Wale der Kopf auf die Hände, und ich biß mit meinen 
Zähnen in meinen Armel, um nicht in ein wildweinen- 
des Lachen der bitterſten Verzweiflung auszubrechen. — 
Am nächſten Tage brach ich gleich nach dem Früh- 
ſtück auf, weil ich in Berlin Einkäufe machen zu wollen 
vorgab. Während ich der nicht allzu entfernten Bahn- 
ſtation zuſchritt, ſah ich auf dem verſchneiten Weg eine 
Frauengeſtalt auf mich zukommen, die mich befremd— 
licherweiſe an Nora Marr erinnerte. Und als ſie nun 
ganz nahe war, fah ich, daß es wirklich Nora war. 
4140 ö 


150 Das Geſchenk des Inders. a 


Ein Ausweichen gab es nicht mehr, und fo zwang ich 
mich denn zu äußerlicher Faſſung und ſchickte mich an, 
mit einem ruhigen Gruß an ihr vorüberzugehen. 

Da fühlte ich plötzlich meine Hand ergriffen, Nora 
ſtand tiefatmend vor mir, und als ich ihr nun ins Ge— 
ſicht ſah, erſchrak ich. Es war blaß, und unter den 
Augen lagen tiefe Schatten, die von Weinen und 
Schlafloſigkeit ſprachen. 

Nora ſetzte zum Sprechen an, aber ihre blaſſen 
Lippen zitterten ſo, daß ſie nicht gleich ein Wort formen 
konnten. Unwillkürlich legte ich meine Hände um ihre 
Schultern, denn fie wäre gefallen, wenn ich fie nicht ge- 
halten hätte. 

„Ich mußte Sie ſprechen,“ murmelte ſie jetzt. 
„Was ich geſtern tat, tat ich nicht freiwillig. Fragen 
Sie mich nicht — nicht jetzt wenigſtens. Ich darf jetzt 
nicht anders handeln, als ich es tue. Wenn Sie trotzdem 
an mich glauben, dann ſuchen Sie mich ſpäter zu treffen 
— drüben in der Heimat — ſpäter, ſpäter — —“ 

Mir taumelten die Sinne. „Nora —!“ Jch hielt 
ſie feſt. „Ich will alles glauben und nichts fragen,“ 
ſtieß ich außer mir heraus, „nur über das eine gib mir 
Gewißheit: Nora, liebſt du mich?“ | 

ich hatte meinen Kopf niedergebeugt, um ihr in 
die Augen ſchauen zu können, und als ſie jetzt den Blick 
hob, brauchte ich keine Antwort mehr. Feſt, feſt um- 
ſchlang ich ſie, und unſere Lippen brannten aufeinander. 

Aber ſchnell löſte ſie ſich, und mit einer Stimme, 
die in ihrem Bemühen, Feſtigkeit zu gewinnen, un— 
beſchreiblich rührend war, wiederholte ſie: „Glaube an 
mich, Henry!“ Dabei wandte ſie ſich zum Gehen, 
und es lag ſo viel leidvolle Feſtigkeit in dieſer Be— 
wegung, daß ich ſie nicht zurückhielt. 

„Handle ſo, wie du handeln würdeſt, wenn alles 


D Novelle von F. C. Oberg. 151 


das von geſtern ſo wäre, wie es ſchien,“ ſagte ſie, ſich 
noch einmal zurückwendend, während ein wehglüd- 
liches Lächeln über ihr blaſſes Geſicht glitt. Dann 
aber leuchtete es noch einmal heiß in ihrem Blick auf: 
„Später!“ ſagte ſie leiſe. 

Und dann ging ſie mit faſt laufenden Schritten 
davon. Ich ſah ihr nach, ſolange ich fie ſehen konnte. 
Erſt als eine Wegbiegung ſie mir ziemlich bald entzog, 
kam langſam ein Beſinnen über mich. 

Während ich nachdenklich weiterſchritt und ver— 
ſuchte, das wunderbar Schöne aber auch wunderbar 
RNätſelhafte, das mir geſchehen war, zu begreifen, über- 
kam mich ſchnell ein Gefühl von Verpflichtung: meine 
Liebe und meine Ritterpflicht verboten es mir, auch 
nur mit Vermutungen in ein Geheimnis hineinzu— 
taſten, das Nora jetzt noch nicht mit mir teilen konnte. 
Damit ſchnitt ich mir ſelber die Grübeleien über ihre 
Handlungsweiſe ab. Sie, die ich ſo heiß liebte, war 
mein! Das — das mußte mir genügen, und während 
mich die Seligkeit jener Minuten, als ich Nora in den 
Armen gehalten und ihren Mund geküßt hatte, wieder 
und wieder durchbebte, ſchritt ich in den Wintertag 
hinaus mit einem Gefühl, als habe dieſer Morgen mir 
alle Herrlichkeit der Welt zu eigen gegeben. — — 

Es war am frühen Nachmittag dieſes Tages, als 
ich in Berlin im Vorbeigehen in das Wertheimſche 
Warenhaus in der Leipziger Straße eintrat. Man 
begann dort ſchon jetzt allerlei Ausſtellungen für die 
herannahende Weihnachtszeit zu machen, und das wahr- 
haft weltſtädtiſche Bild dieſes Kaufpalaſtes lockte mich. 
Mit der haſtloſen Art eines Menſchen, der nichts zu 
verſäumen hat, bummelte ich durch das bunte Ge— 
triebe. Zuletzt ein wenig des Wirrwarrs müde, war 
ich in einen Seitenkorridor des erſten Stocks einge- 


152 Das Geſchenk des Inders. Oo 


bogen, wo das Gedränge nachließ. Es war die Ab- 
teilung für Kunſtgewerbe. 

Intereſſiert ſchritt ich von Stand zu Stand. Ge— 
rade hatte ich ein paar Kopenhagener Porzellane be- 
wundert, als irgend etwas mich veranlaßte, mich ſchnell 
umzuwenden. 

Und da nagelte mich ein eiskaltes Entſetzen an den 
Boden. Hinter mir, an dem Tiih der Karlsruher 
Töpfereien, ſtand ein großer Herr in offenbar eng- 
liſcher Kleidung, mit markantem Kopf und dunklem 
Geſicht, aus dem die Augen blicklos ins Leere ſchauten. 

Niemals habe ich mich meinem Spiegelbild ſo gleich 
gewußt als dieſem Mann, den ich hinter mir ſah. 

Ich ſtarrte auf den regungsloſen Mann, der meine 
Züge, meine Kleidung trug, und das Grauen klopfte 
mir in jedem Blutstropfen. Ich fühlte, wie eine Kälte 
ohnegleichen über alle meine Glieder kroch, wie meine 
Kehle nach Atem rang. 

Mein Doppelgänger war da! Der Bote meiner 
letzten Stunde ſtand hinter mir! 

Ich war wie gelähmt, ich hatte meine Füße nicht 
gerührt und hielt noch — wie in dem Augenblick, als 
ich den Doppelgänger erblickt hatte — meinen Kopf 
weit über die Schulter nach rückwärts gewandt, die 
Augen willenlos an dem ſtummen Gaſt verankernd, 
der mir im Rücken ſtand. Den Kopf vorbeugend, wie 
auf etwas Herannahendes lauſchend, ſo ſtand der 
Doppelgänger unbeweglich in der Entfernung von nur 
einigen Schritten hinter mir. Sein Geſicht rührte ſich 
nicht, ſeine Augen wurzelten mit fernem Blick in einem 
Veſenloſen, das jenſeits des Sichtbaren lag. 

Da — ein wildes Klirren von Scherben ſchmetterte 
neben mir. Jäh, als habe ein Fauſtſchlag mich geweckt, 
fuhr ich auf wie aus tiefem Traum. Ach ſah, daß 


2 Novelle von F. C. Oberg. 153 


zu meinen Füßen die Splitter einer großen Vaſe 
lagen. 

Dann riß ich den Kopf wieder nach rückwärts herum. 
Der große lange Korridor hinter mir war leer. 

Zwei Verkäuferinnen waren auf mich zugetreten, 
und während das, was ſie ſprachen, nur mühe— 
voll in mein Bewußtſein eindrang, begriff ich, daß 
ich ſelbſt die VBaſe mit einer unbewußten Bewegung 
herabgeſtoßen hatte. Wie ein Taumelnder folgte ich 
den Verkäuferinnen zur Kaſſe, gab eine Unterſchrift, 
die man verlangte, bezahlte irgend eine größere Geld- 
ſumme, und immer noch wie ein Taumelnder ging 
ich ſo lange durch Korridore und über Treppen, bis 
ich einen Ausgang erreichte. 

Ich habe eine undeutliche Erinnerung daran, daß 
ich durch grell erleuchtete Straßen ging, in denen viele 
Menſchen ſich drängten. Leiſe flockte Schnee her- 
nieder und glitzerte fallend im Licht der Bogenlampen. 
Dann kamen dunkle, baumbeſtandene Straßen, in denen 
Automobile, Geſpenſtern gleich, lautlos dahinſurrten, 
und in denen feuchter Schnee glanzlos durch das Däm- 
merlicht tropfte. Ob ich einen Wagen nahm, um auf 
den Bahnhof zu gelangen, wie ich den rechten Zug 
erreichte und ihn an der rechten Station verließ, wo 
ich das Automobil des Sanatoriums wartend vor- 
fand — wie alles dies mit mir vorging, weiß ich nicht. 
ich habe in einer Starre des Denkens gehandelt, in 
der ich automatiſch das Rechte tat, ohne mir meiner 

ſelbſt oder meiner Umgebung bewußt zu fein. Ic 
erinnere mich, daß ich wie in einem Traum wahrnahm, 
daß im Veſtibül jemand zu mir ſagte, man halte Abend- 
eſſen für mich bereit und werde mir ſervieren, und daß ich 
— ebenfalls wie im Traum — einen Dank und eine Ab- 
lehnung hervorbrachte und in mein Zimmer hinaufging. 


154 Das Geſchenk des anders. 2 


Und erſt hier, in der vertrauten Umgebung ſprang 
ganz plötzlich dieſe ſonderbare Starrheit, die mein Be- 
wußtſein gelähmt und gefangen gehalten hatte, von 
mir ab. Zäh und mit furchtbarer Deutlichkeit befiel 
mich das Wiſſen von dem, was geſchehen war: ich 
hatte nur noch dreimal vierundzwanzig Stunden zu 
leben! 

Was ich ahnend vorausgeſehen hatte in jener Nacht 
nach Kathleen Mavourneens Tode war eingetreten: 
mein Doppelgänger hatte ſich hinter mich geſtellt als 
der ſtumme Bote meiner letzten Stunde! 

Und wieder kam eine lange, ſchlaflos am Schreib— 
tiſch vergrübelte Nacht, wie damals nach dem Tode 
der ſchönen, jungen Kunſtreiterin, als ich zum erſten 
Male das Weſen jenes Doppelgängers begriffen hatte. 
Wie eine Kette, Glied in Glied unlösbar gefügt, ſo 
ſtanden nun die Zuſammenhänge vor mir: zuerſt die 
Begegnung mit Vorhi in meinem alten Haus in Bom- 
bay, dann der Abend in Wiesbaden, dann jenes Lon— 
doner Ereignis und zuletzt voll der brennendſten Deut— 
lichkeit die Geſchehniſſe in Kirkintellan. Es war erſt 
wenig über ein Jahr, ſeit ich Indien verlaſſen hatte — 
und ſchon hatte jenes entſetzliche „Geſchenk“ eine la- 
ſtende Kette von Ereigniſſen in meine Tage gebracht, 
ſchon jetzt lag das letzte Glied dieſer Kette vor mir! 

Heute morgen war mir das, was mir das Leben 
als höchſten Preis zu geben hatte, geworden, heute 
morgen hatte ich die geliebte Frau in meinen Armen 
gehalten und von ihren Lippen die Gewißheit ihrer 
Liebe geküßt — und jetzt ſollte ich die Gewißheit auf 
mich nehmen, daß ich ein Verlorener war! 

Da packte mich der Ingrimm. Ich ſprang auf und 
ballte meine Hände, daß ich mein eigenes Blut fühlte. 
Leben wollte ich — leben, leben!! 


2 Novelle von F. C. Oberg. 155 


Nora Marr ſollte mein eigen werden! Ich konnte, 
konnte nicht jetzt ſterben! Wieviele Male hatte ich im 
Felde den Tod neben mir, vor mir, hinter mir gewußt 
und entſchloſſen meine Pflicht getan, bis der Augen- 
blick kommen würde, in dem ich aufgehört haben würde 
zu ſein. Und dieſer Augenblick war nicht gekommen. 
War ich dem Tode aufgeſpart worden bis zu einer 
Stunde, da ich mich wild und zornig gegen ihn auf- 
bäumen würde? 

And wie ich ſo daſtand in meiner wilden Aufleh- 
nung gegen das Verhängnis, durchfiebert von einer 
Raferei des Lebenwollens, da ſtach plötzlich ein Ge— 
danke in mich hinein. | Ä 

Ein Gedanke, der mich beinahe'fchreien ließ. 

Ich fiel auf meinen Stuhl und packte meinen Kopf 
mit meinen beiden Händen und kämpfte gegen die 
Brandung von Gedanken, die mit dieſem einzigen plöß- 
lichen Blitz der Erkenntnis heraufſchwoll. 

Es hat lange, lange gedauert, bis ich endlich ge- 
ordnet denken konnte. Als ich es aber vermochte, da 
legte ich zum Schluß das Ganze Zug um Zug noch 
einmal nachprüfend vor mich hin. Was in jener Ab- 
ſchiedsſtunde an mir durch Vorhi geſchehen war, hatte 
ich noch nicht erkennen können, als ſich in Wiesbaden 
Dinge ereigneten, die wie ein grauſiger Zufall er— 
ſchienen. In London begriff ich dann plötzlich. In 
Kirkintellan wußte ich bereits von dem Augenblick an, 
als ich Evelyns Doppelgängerin auf dem Naſen im 
Mondlicht hatte ſtehen ſehen, was kommen würde. 

Und es kam. Es kam auch hier, wie es mit Kathleen 
Mavourneen gekommen war, wie es den jungen Leut- 
nant v. Echtritz ereilt hatte. Aber — hatte nicht bei 
Evelyns Tode das Geſchehene ſcheinbar in einer Reihe 
elender Zufälligkeiten gewurzelt? Wenn ich den Doktor 


156 Das Geſchenk des Inders. 2 


ſofort, nachdem ich von Evelyns Schmerzen gehört 
hatte, aufgeſucht hätte? Er wäre dann noch nicht zu 
dem Whiſtabend aufgebrochen geweſen. Wenn ich 
wenigſtens einige Stunden eher, als ich es tat, abge- 
fahren wäre, ſo hätte der Arzt noch nicht ſo tief 
Sir Peters gute Flaſchen ergründen können, und ich 
hätte ihn mit nach Kirkintellan genommen — Evelyn 
wäre um mehrere Stunden früher nach Glasgow ge- 
kommen, bevor die Operation e geworden 
wäre und vielleicht — 

Oh, dieſes Vielleicht!! 

Ferner: bei Kathleen Mavourneens Tode war eine 
Notiz durch die Zeitungen gegangen, daß die Rünlt-. 
lerin ihr Auftreten gerade für den Abend, der ihr letzter 
wurde, abgeſagt hatte. Erſt auf das dringende Bitten 
des Direktors und auf die Nachricht hin, daß ſich für 
dieſe Vorſtellung eine beſonders hochſtehende Perſön— 
lichkeit der Londoner Geſellſchaft angemeldet habe, 
hatte ſie ihre Abſage zurückgezogen. 

Der junge Leutnant v. Echtritz hatte — ſo erfuhr 
ich ſpäter — in der Not ſeiner letzten Nacht lange ge— 
kämpft und gezögert, ob er eine einflußreiche Perſön— 
lichkeit, von der ihm möglicherweiſe hätte Hilfe werden 
können, aufſuchen ſolle. Als er ſich endlich dazu ent- 
ſchloſſen hatte, hatte er gefunden, daß dieſer Mann 
Köln vor weniger als einer Stunde verlaſſen hatte. 
Da war ihm der letzte Ausweg genommen, und das 
Ende war die Kugel. 

Wäre in allen dieſen Fällen wirklich immer das 
eingetreten, was geſchehen war, wenn in dem jungen 
Leutnant, wenn in Kathleen Mavourneen, wenn in 
Evelyn und uns anderen das Bewußtſein wach ge— 
weſen wäre, daß es gälte, einem Verhängnis zu be- 
gegnen?! Wenn ich damals, als Evelyns Doppel- 


u Novelle von F. C. Oberg. 157 


gängerin mir ihre Botſchaft gebracht hatte, einen und 
nur den leiſeſten Zweifel daran gehegt hätte, daß dieſe 
Botſchaft unweigerlich den Tod bedeutete?! 

War jener Doppelgänger vielleicht nicht der, für 
den ich ihn genommen hatte, der Verkünder des Un- 
abwendbaren, ſondern ein ganz anderer — ein Warner? 

War es das, was Vorhi mir als en mit- 
gegeben hatte? 

Da brannten mir die Augen ı von heißen Tränen, 
und ohne daß ich es wußte, legte ich mein Geſicht in 
meine Hände, und meine Lippen murmelten: „Dank, 
Vorhi, Dank, du Treuer!“ 

Als ich aufſah, graute bereits der ſpäte Winter- 
morgen durch die Vorhänge. Ich erhob mich und machte 
die Fenſter weit auf. Schweigende MWaldespracht im 
dämmerungsgrauen Schneelicht grüßte erhaben herein. 
Da war mir mit einem Male, als dürfe ich nicht 
mehr zweifeln an der wunderbaren Erkenntnis, die 
mir in bezug auf Vorhis Geſchenk gekommen war — 
ich fühlte, wie mir die Augen vor Mut blitzten, wie 
mein Blut voller Kraft und Freude durch meine Adern 
ſtrömte. Beſonnen und wachſam und tapfer wollte 
ich ſein! Und ſiegen wollte ich! 

Dann ging ich ſchlafen und ſchlief viele Stunden, 
traumlos und tief, wie ein vor aller Sorge behütetes 
Kind. 

Als ich wunderbar geſtärkt erwachte, war die Mitte 
des Tages ſchon überſchritten. Merkwürdig klar ſtand 
ſogleich alles wieder vor mir, was am geſtrigen Tage 
geſchehen, was mir in der Nacht durch Kopf und Herz 
gegangen war. In dieſen drei Tagen alſo ſchlich der 
Tod lautlos wie ein lauernder Feind auf meiner Spur! 
Ich konnte nicht ahnen, ob eine Krankheit oder ein 
Anfall ſich in meinen Weg ſchieben würde — das ein- 


158 Das Geſchenk des Inders. * 


zige, was ich wußte, war, daß das Bedrohende nahe 
war. Und das war genug. Parieren kann man nur 
Schläge, denen man nicht auszuweichen ſucht. 

Der erſte dieſer drei Tage verlief ohne die geringſte 
Eigentümlichkeit. Das prächtige Schneewetter war in 
ſchmutzigen Tauregen umgeſchlagen, und die Gäſte des 
Sanatoriums verſuchten ſich gegenſeitig über dieſe echte 
Novembermelancholie hinwegzuhelfen. Ich war ohne 
die Geſellſchaft meiner nächſten Bekannten. Sir Do- 
nald Marr war noch immer in der Haft ſeines Zimmers, 
die Nora mit ihm teilte, und van Staal erzählte mir, 
als er ſich nach dem Abendeſſen ſofort verabſchiedete, 
daß er jetzt unabläſſig an der neuen Schreibmaſchine 
arbeite. Alles ſchiene über Erwarten zu glücken. Für 
morgen erwarte er zum letzten Male den Mechaniker 
aus Berlin, der ihm bei den Vorarbeiten geholfen habe 
und nun bei der endgültigen Zuſammenſetzung der 
Maſchine behilflich ſein ſolle. 

Mit wahrem Fieber ſchien er den Augenblick zu 
erwarten, in dem die Maſchine fertig ſein würde. 

„Sie ſollen ſehen,“ ſchloß er, indem er mir die 
Hand ſchüttelte. „Die Welt wird von dieſem Tage an 
vergeſſen, daß ſie die Schreibmaſchine ſchon zu be- 
ſitzen glaubte!“ 

Damit ſtürzte er hinaus, während ich mit leiſem 
RNopfſchütteln in den Salon ging, um mit einem der 
Amerikaner eine Partie Schach zu ſpielen. 

Auch in dieſer Nacht ſchlief ich ruhig und feſt. 

Aber am Morgen wollte mich doch etwas wie Un- 
ruhe packen. Ich begann, Beſtimmungen aufzuſchreiben, 
die für den Fall meines plötzlichen Todes zu gelten hat— 
ten. Das war eine Beſchäftigung, die mich faſt den gan- 
zen Tag über in meinem Zimmer hielt. Ich war er— 
ſchreckt, eine wie große Menge von Dingen bedacht 


2 Novelle von F. C. Oberg. | 159 
a . ü —————858r85r55r2222——— 


ſein wollte, und ich war ſtark verſucht, als ich nach dem 
Abendeſſen in mein Zimmer zurückgekehrt war, meine 
Arbeit während der Nacht fortzuſetzen. Aber ich be- 
zwang mich und faßte den Entſchluß, bei guter Zeit auf- 
zuhören und zur Ruhe zu gehen. Als ich, wie das ſo 
meine Gewohnheit war, nach dem Löſchen des Lichtes 
die Vorhänge von meinen Fenſtern zog und das eine 
der Fenſter weit aufſtieß, ſtrömte die herbe Nachtluft, 
erfüllt von dem eigentümlichen Duft regenfeuchter 
Kiefern, erfriſchend herein. Ich atmete in großen 
Zügen. Ein unbeſchreibliches Lebensbehagen durch- 
ſtrömte mich. Mir erſchien es mit einem Male wie 
ein wirrer Traum, daß ich vom Tod umlauert ſein 
ſollte. 

| Der Himmel war am Abend klar geworden, die 
Sterne hingen blaßſcheinend in der vom Mondlicht 
ſtrahlend erfüllten Nachtbläue des Firmaments. Mir 
war, als hätte nie eine feierlichere Nacht über der Welt 
geſtanden. | 

Sollte — follte fie meine letzte ſein? 

Da überkam mich ein Fröſteln, an dem nicht die 
Nachtluft ſchuld war. 

Doch ehe ich vom Fenſter zurüdtrat, trieb mich 
ein inſtinktives Verlangen, noch einmal den Körper, 
jo weit es mir möglich war, in die Luft hinauszu— 
beugen. Dabei ſtreifte mein Blick den Teil des Hauſes, 
den ich von hier überſehen konnte. Oben, in dem Erfer- 
turm glühten erleuchtete Fenſter. Dort ſaß alſo van 
Staal noch bei der Arbeit. Ich konnte nicht hindern, 
daß mich ein mitleidiges Lächeln beſchlich, als ich des 
Eifers gedachte, mit dem dieſer ſonſt ſo klare Kopf ſeine 
wunderlichen Ideen verfolgte. Armer, glücklicher Narr! 

Dann trat ich in das Zimmer zurück. Ich unter- 
ſuchte noch einmal, ob das elektriſche Licht bei meinem 


160 Das Geſchenk des Znders. a 


Bett in Ordnung fei, prüfte meine Biftole, die auf dem 
Tiſch zu meiner Rechten lag, und verſuchte zu ſchlafen. 
Bald überkam mich auch wirklich Müdigkeit, und ich 
ſchlief ein. 

gch erwachte ganz plötzlich mit einem Gefühl, als ſei 
ich geweckt worden. Es war noch ſtockdunkel, und ich hatte 
keinen Begriff von der Zeit. Einen Augenblick lang 
befiel mich eine Empfindung, daß ich nicht allein im 
Zimmer ſei. Ich meinte die Gegenwart eines Menſchen 
zu ſpüren, meinte Atemzüge zu hören. Ein raſcher 
Griff — meine Piſtole war ſchußfertig in meiner Hand. 

Dann flammte das Licht, und Helle Ae den 
Raum. 

Er war traulich und wohnlich und unverändert. 
Ich hörte jetzt ganz deutlich, daß das vermeintliche 
Atmen das ferne Rauſchen des Nachtwindes in den 
Kiefernkronen war. 

Mit einem leiſen Gefühl der Beſchämung über 
meine Nervpoſität legte ich meine Piſtole zurück. Die 
Ahr zeigte kurz nach vier. 

Die Hitze in meinem Kopf ſchien mir unerträglich. 
Ich ſtand auf und kühlte mein Geſicht mit kaltem 
Waſſer. Da wurde mir klarer zu Sinn. Ich belächelte 
jetzt meine eben vorher erwogene Befürchtung, ich 
möchte krank werden. Mir war pudelwohl, und was 
mir fehlte, war höchſtens, daß ich den Tag zuvor un- 
unterbrochen geſeſſen und mir keine Bewegung gemacht 
hatte. Ich nahm mir für den kommenden Vormittag 
einen langen Spaziergang vor. 

Ich war ſo wach geworden, daß ich an das Fenſter 
trat. Der Himmel war dicht bedeckt und dunkel; aller 
Glanz des herrlichen Abends ſchien wie verſunken in 
dieſer lichtloſen Schwärze. Das Haus hob ſich kaum 
dunkler vom Himmel ab. | 


D Novelle von F. C. Oberg. 151 


Aber — was war das? Dort oben im Erkerturm 
brannte noch immer das Licht, glühten wie nimmer- 
müde, wache Augen immer noch die Fenſter von van 
Staals Werkſtatt. 

Ich ſchüttelte unwillkürlich den Kopf. Dafür ging 
alſo dieſer Mann in ein Sanatorium, um die Nächte 
durchzuarbeiten! Mir fiel ein, wie elend und abge- 
ſpannt, ja förmlich verfallen er geſtern abend beim 
Abendeſſen ausgeſehen hatte. 

Tor, der er war! Sch beſchloß, ihm, ſobald ich ihn 
ſehen würde, ins Gewiſſen zu reden. — 

Am nächſten Tage brach ich gleich nach dem Frühſtück 
zu dem beabſichtigten langen Spaziergang auf. Ein 
friſcher Wind ſtrich von Weſten; der Himmel war mit 
dicken Wolkenballen vollgeladen wie ein Baumwollſchiff 
mit Warenballen. Es ſchien wieder Schnee geben zu 
wollen. Es war ein köſtlicher Vormittag, und ich lief 
mich von Herzen aus. Die Wege waren von halb- 
geſchmolzenem Schnee und aufgeweichtem Erdreich 
verſchlammt, aber das konnte mir in meinem Knie— 
hoſendreß und bei meinen zolldicken Stiefelſohlen 
gleichgültig ſein. 

In meiner Luſt am Wandern war ich in ein Gebiet 
geraten, das mir fremd erſchien. In dieſem Teil der 
das Sanatorium umgebenden Wälder mußte ich noch 
nicht geweſen fein. Zch orientierte mich mit Hilfe 
meiner Karte und ſah, daß ich es nicht mehr ſehr weit 
zum Sanatorium hatte, wenn ich einen gewiſſen Weg 
innehielt. Nach einer Viertelſtunde ſchnellen Aus- 
ſchreitens hatte ich den Weg erreicht, und nach einer 
abermaligen Viertelſtunde hatte ich eine kleine Brücke 
vor mir. Sie war höchſt primitiv aus einigen loſen 
Brettern hergeſtellt, die über ein Flüßchen führten. In 
weniger feuchten Zeiten mochte das e nicht 

1918. I. 


162 Das Geſchenk des Inders. 2 


mehr als ein Graben ſein; jetzt war es infolge der ſtarken 
Schneeſchmelze zu ziemlicher Breite angeſchwollen. 

Ganz plötzlich erfaßte mich die Idee, daß dieſe kleine, 
von Schlamm bedeckte Brücke ein recht kümmerliches Aus- 
ſehen habe. Ich nahm einen großen Stein, zielte und 
traf die Mitte der zwei Bretter. Ein Krach, ein Spritzen, 
Plumpſen, Klatſchen — — und die Brücke war nichts 
mehr als die Splitter von einigen Brettern, die das 
ziemlich raſch dahinfließende Waſſer mit ſich davontrug. 

Gedankenvoll blieb ich ſtehen. Mit dieſer Brücke 
einzubrechen — wäre das ein ernſtlicher Unfall ge- 
weſen? Es hätte nichts als ein lächerliches Mißgeſchick 
zu werden brauchen. Hätte nicht aber auch eines der 
krachenden Bretter meine Schläfe mit tödlichem Schlag 
treffen können? Es war eine verlaſſene, einſame 
Gegend hier, und Rufen hätte nichts genützt. Es war 
ſo recht ein Platz, an dem man hilflos verbluten konnte. 

And während mich die Frage verfolgte, ob ich dem 
Feind, der in dieſen Tagen an meinen Sohlen hing, 
jetzt begegnet war, ob nicht, ſchlug ich ſinnend den 
Rückweg ein. gebt war es mit der Abkürzung freilich 
aus, und mit einer ſehr beträchtlichen Verſpätung 
langte ich im Sanatorium an. Das Mittageffen war 
bereits vorüber, und ich mußte nacheſſen. 

Als ich mich mit meinem Kaffee in die Bibliothek 
zurückgezogen hatte, trat plötzlich van Staal ein. 

„Da ſind Sie alſo, Sie Ausreißer!“ ſagte er leiſe 
in herzlichem und ein wenig zürnendem Ton. „Sch 
habe den ganzen Vormittag nach Ihnen geſucht. Meine 
Maſchine iſt fertig!“ 

Ich wollte etwas jagen von der Nachtarbeit, aber 
es erſchien mir kleinlich und ſchulmeiſterlich, mit einer 
ſolchen Bemerkung ſogleich in dieſe erſte Freude van 
Staals hineinzufahren. 


u Novelle von F. C. Oberg. 163 


„Kommen Sie — bitte, kommen Sie gleich!“ fuhr 
van Staal fort, indem er meine Hand nahm und mich 
förmlich vom Stuhl emporzog. 

„Aber —“ verſuchte ich zu widerſtreben, denn ich 
war nach meinem langen Marſch wirklich müde. 

Van Staal ſchnitt mir das Wort ab. „Sie müſſen 
mitkommen! Jetzt gleich! Sie dürfen es mir jetzt nicht 
abſchlagen, nachdem ich den ganzen Morgen auf Sie 
gewartet habe!“ 

Mit einem unterdrückten Seufzer erhob ich mich 
und folgte van Staal, der mir eilig voranſchritt. Nach- 
dem wir die Treppen beinahe im Laufſchritt genommen 
hatten, ſtanden wir oben, und van Staal ſchloß auf. 
Er ſtieß die Tür zurück, und wir traten ein. Hinter mir 
ſteckte van Staal den Schlüſſel wieder ins Loch, ſchloß 
zu, zog den Schlüſſel ab und ſteckte ihn in ſeine Taſche. 
Ich erinnerte mich, daß er, als ich das erſtemal hier 
oben geweſen war, auch abgeſchloſſen hatte, nur war 
mir damals nicht aufgefallen, daß er den Schlüſſel zu 
ſich ſteckte. Dieſe knabenhafte Wichtigkeit im Weſen 
des Holländers machte mich leiſe lächeln. 

Zufällig fiel mein Blick im Eintreten auf eine Uhr, 
die auf dem Zeichentiſche ſtand. Ihre Zeiger wieſen 
die fünfte Stunde. Und — ganz plötzlich wußte ich: 
dies ſelbe Zeigerbild hatte ich von der Uhr im Wert- 
heimſchen Warenhauſe abgeleſen, als ich in den Rorri- 
dor des Kunſtgewerbes eingebogen war. 

Dies war — dies war die Stunde! Vor dreimal vier- 
undzwanzig Stunden hatte der Doppelgänger hinter mir 
geſtanden, hatten die zerſchmetterten Scherben geklirrt! 

So plötzlich, ſo ungeheuerlich überkam mich dies 
Bewußtſein, daß mir einen Augenblick lang alles 
Denken zu verſagen ſchien. Und dann war das erſte — 
halb Gedanke, halb Gefühl — ein großes Staunen. 


164 Das Geſchenk des Inders. 2 
Wie ſollte ich hier eine Gefahr vermuten? So unſinnig 
erſchien mir dies, daß ich mit einem Male wieder ganz 
dem Gedanken geneigt war, der mich ſo viel beſchäftigt 
hatte: daß dennoch dieſe kleine, von mir heute morgen 
zertrümmerte Brücke das drohende Unheil geweſen 
war. In dem Bruchteil eines Herzſchlages waren 
dieſe Überlegungen mir durch den Sinn gegangen. 
Dann aber erfüllte mich eine klare, kalte Schärfe der 
Beobachtung. Ich mußte mit allen Sinnen wach und 
immer im gegenwärtigen Augenblick ſein! 

Van Staal war auf jenen „Winkel des Werden- 
den“ zugetreten und zog den Vorhang zurück. Er wandte 
mir den Rücken zu, und als ich jetzt einen Schritt machte, 
der mich! die Profilanſicht feines Geſichtes gewinnen 
ließ, erfaßte mich ein plötzliches Entſetzen. Wieder 
war jene ſchreckliche Veränderung in den Zügen des 
Holländers vor ſich gegangen, wieder ſtrafften ſich ſeine 
Geſichtsmuskeln bis zur Verzerrung, preßten die Lippen 
ſich mit dem Ausdruck einer Überfpannung an Willens- 
kraft aufeinander, ſo daß ſie alle Farbe verloren, und 
die Augen — dieſe grauſigen Augen! — ſchienen vor 
Gier förmlich hervorſtürzen zu wollen wie ein Raub- 
tier auf ſeine Beute — es war ein Blick von einer ganz 
namenloſen Unerſättlichkeit. | 

Und dann mit einem Male wandte van Staal 
ſich um, und alles war wie ausgelöſcht. Sein Geſicht 
war ruhig, ſeine Stimme beherrſcht und unverändert. 

Mit mir war während der Sekunden, in denen 
ich dies an dem Holländer beobachtete, etwas Sonder- 
bares vorgegangen. Blitzſchnell ſchloſſen ſich alle frühe 
ren Beobachtungen mit einem Schlage aneinander 
an, wie ich ſie nie vorher zuſammengereiht hatte: der 
Blick des Holländers auf Nora Marrs Bild auf ſeinem 
Schreibtiſch, damals vor Wochen, der dieſe gleiche 


2 Novelle von F. C. Oberg. 165 


wahnſinnige Gier gezeigt hatte, die Vorgänge vor der 
Schlittenpartie und Noras ſonderbares Verhalten bei 
der Begegnung auf der Landſtraße — — und ganz 
jäh erfaßte mich eine unbeſchreiblich beſtürzende Ge— 
wißheit, von der mich bisher nicht der Schatten einer 
Ahnung berührt. Irgend etwas gab es zwiſchen 
Nora und van Staal, das mir den Holländer zum 
Todfeind machen konnte oder — ſchon gemacht hatte. 

„Kommen Sie, Sir Henry,“ ſagte van Staal in 
ruhiger, beinahe etwas feierlicher Weiſe. „Der Vor— 
hang vom ‚Winkel des Werdenden“ iſt gehoben. Sie 
ſollen die Schreibmaſchine ſehen.“ 

ich verſenkte die rechte Hand in die Hoſentaſche, 
wo ich meinen Revolver trug. Dann trat ich näher. 

Ein niedriges Tiſchchen, vor dem ein Stuhl ſtand, 
trug einen flachen, eigentümlichen Apparat, der nur 
ſchwer als eine Schreibmaſchine zu erkennen war. 

Var Staal ſetzte ſich auf den Stuhl und begann 
zu erklären. Die Hauptſache in ſeiner Darſtellung, 
die er zu den erläuternden Griffen knapp und klar vor- 
brachte, war, daß die Maſchine mit allen zehn Fingern 
und den beiden Handwurzeln bedient werden mußte. 
Danach war die Taſtatur eingerichtet, die natürlich 
ſehr breit und flach war. Die auf einer Kugel ange- 
ordneten Typen wirkten ſehr befremdlich, und mich 
ergriff ein Staunen, als van Staal auf dieſer felt- 
ſamen Maſchine mit ſonderbar geſpreizten Händen zu 
ſchreiben anfing und ſich wirklich eine klare, ſichtbar 
entſtehende Schrift ergab. 

„Sie haben verſtanden — nicht wahr?“ ſagte van 
Staal und ſtand auf. „Sit es nicht etwas völlig Neues 
und dabei ebenſo einfach wie originell?“ 

Sein Ton war ſo rührend freudig, daß ich irgend 
etwas Freundliches ſagte. 


166 Das Geſchenk des Inders. 8) 


„Nun verſuchen Sie alſo einmal, darauf zu ſchrei⸗ 
ben!“ forderte mich van Staal auf, indem er mir den 
Stuhl hinſchob. 

Ich blieb ſtehen. „Nein — ich habe nicht alles 
verſtanden. Bitte, wie war es mit dem Hebel, den 
man mit der Handwurzel niederdrücken muß?“ 

Van Staals Geſicht zuckte ungeduldig. Aber gleich 
darauf hatte er ſich wieder in der Gewalt. „Man drückt 
ihn einfach mit beiden Anſätzen der Hand kräftig nieder, 
indem man die Handfläche und die Finger hebt,“ ſagte 
er mit auffallender Ruhe. „Es iſt die einfachſte Be- 
wegung an der ganzen Maſchine. Dieſe breite Taſte iſt 
dafür da. Man bewirkt durch dieſe Bewegung, daß die 
Typenkugel eine halbe Drehung macht, ſo daß die Seite 
mit den großen Buchſtaben nach oben liegt. — Alſo bitte!“ 

Ich blieb ſtehen. „Machen Sie es mir noch ein- 
mal vor!“ 

Van Staal ſtieß einen Laut des Argers aus. Der 
Zorn ließ ein böſes Licht in ſeinen Augen aufflammen. 
Aber dann nahm er ſich ſichtbar zuſammen, ſetzte ſich 
ruhig und geduldig wieder hin und ſchaltete etwas an 
der Seite der Maſchine um. Dann machte er die be- 
ſchriebene Bewegung. Ehe er wieder aufſtand, ſchaltete 
er denſelben Griff an der Seite der Maſchine ein. 

„Was für ein Griff war dies eben?“ fragte ich. 

Van Staals Kopf zuckte empor. „Lieber Himmel, 
man kann nicht die Griffe alle verſtehen, ehe man keinen 
einzigen an der Maſchine ſelbſt probiert hat!“ ſtieß er grob 
heraus. Dann ſetzte er, ſchnell wieder geduldig wer- 
dend, hinzu: „Warum zögern Sie? Schreiben Sie erſt 
einmal mit den kleinen Buchſtaben, dann drücken Sie mit 
den Handwurzeln kräftig auf die breite Umſchalttaſte!“ 

Er verſuchte, mich auf den Stuhl zu drängen. Aber 
ich blieb immer noch ſtehen, ja ich reckte mich hoch auf. 


1 Novelle von F. C. Oberg. 167 
z 

„Ich ſage, Sie ſollen es verſuchen!“ Van Staals 
Stimme hatte etwas Schrilles. „So ſchreiben Sie doch! 
Warum ſchreiben Sie nicht?“ ſtieß er heiſer heraus. 
Seine Augen weiteten ſich, traten hervor — mich 
packte ein Schauder. 

Ich richtete plötzlich meine Augen feſt und ſcharf 
in den Blick aus dem ſich langſam verzerrenden Antlitz 
des Holländers. „Warum ſoll ich durchaus auf dieſer 
Maſchine ſchreiben, Herr van Staal?“ 

Das kam langſam, jedes Wort hart wie Holz. 

„Schreiben ſollen Sie — nicht fragen!“ keuchte er. 

Ich ſtand ganz kalt und ruhig. „Ich rühre dieſe 
Maſchine niemals an, Herr van Staal!“ 

Ein Aufheulen, ſo furchtbar, daß es nicht von einer 
menſchlichen Stimme zu kommen ſchien, erklang. Mein. 
Hals wurde von zwei würgenden Händen umklammert, 
und. mit einer fo fürchterlichen Fähheit war dies ge- 
ſchehen, eine ſo wahnſinnige Kraft ſchnürte mir den 
Hals zu, daß ich einige Sekunden lang faſt beſinnungs- 
los war. Dann brachte ich den Arm mit der Waffe 
hoch und ſchoß, nicht ahnend, wohin ich traf. 

Ein wilder Schrei — ich fühlte, wie die entſetz⸗ 
lichen Klammern an meinem Halſe nachließen. Mit 
beiden Armen ſtieß ich gegen den Körper des Hollän- 
ders — — und dann war ich frei. 

Van Staal, aus dem linken Arm blutend, war zu— 
rückgeſunken; er lag auf dem Boden, und nie vergeſſe 
ich dieſen grauſigen Anblick. Schaum geiferte aus ſeinem 
Munde, Lallen und Gurgeln drängte über die beſudelten 
Lippen, feine Augen loderten im hellen Frrſinn. Es war 
ein Wahnſinniger, ein Todkranker, der auf dem Boden lag. 

Mit zwei Schritten war ich am Fenſter und feuerte 
einige Schüſſe hinaus. 

Da packte mich's an den Knien. Der Holländer 


168 Das Geſchenk des Znders. D 


umklammerte mich mit dem einen Arm, er big mit 
den Zähnen in den Stoff, und als ich mich nieder- 
beugte, um ihn abzuwehren, verſuchte er, meinen Hals 
aufs neue zu faſſen. 

Gerade als ich ihn zurückwarf, dröhnten von draußen 
Schläge gegen die Tür. 

„Aufbrechen!“ rief ich mit lauter Stimme. 

Von neuem heulte der Wahnſinnige auf und warf 
ſich mit ſeinem ganzen Körper gegen die Tür. Mich 
ſchien er vergeſſen zu haben. Im vollen Ausbruch 
der Tobſucht arbeitete er gegen die Eindringenden. 

Als man jetzt von draußen das Schloß ſprengte und 
die Tür aufſchlug, fiel van Staal nieder. Ehe er ſich 
wieder emporrichten konnte, hatten wir ihn gefeſſelt. 

Ich gab den Hereingekommenen mit ein paar Wor- 
ten die notwendigſten Erklärungen, fügte hinzu, daß 
niemand die Apparate in der Werkſtatt anrühren dürfe, 
— und dann eilte ich in mein Zimmer. 

Als ich eintrat, zeigte die kleine Standuhr auf 
meinem Schreibtiſch die ſechſte Stunde, und wie ein 
plötzliches Aufjauchzen durchſtrömte mich ein einziges 
Gefühl: ich lebte — ich lebte!! 

Etwa eine Stunde ſpäter ſaß ich in dem Wohn- 
zimmer der Marrs. Die Erregung der erſten Ber- 
ſtändigung über das Geſchehene war etwas gewichen, 
und nun lauſchte ich dem, was Nora mir erzählte. 

„Vor zwei Fahren, als ich meiner Studien wegen 
in Paris war, habe ich, wie du weißt, van Staal 
kennen gelernt, und ſchon am erſten Tage empfand ich, 
daß ich ihm nicht gleichgültig war. Obgleich ich von 
unerſchütterlicher Zurückhaltung blieb, trug er mir doch 
ſeine Neigung immer offener entgegen. Es kam ſo 
weit, daß jedes ſeiner Worte eine offene oder verſteckte 


2 Novelle von F. C. Oberg. | 169 


Huldigung wurde, fein ganzes Weſen war ein fort- 
geſetztes Werben. Ich weiß nicht, ob es die Gewalt 
dieſer ſo ſtürmiſch dargebrachten Leidenſchaft war, 
die auch mich entzündete, ob van Staals fremd— 
artige Erſcheinung, ſein geiſtvolles und liebenswürdiges 
Weſen mich blendeten — jedenfalls glaubte auch ich, 
in dieſem Menſchen mein Schickſal gefunden zu haben. 
So verlobten wir uns. Ich bat aber van Staal, zu— 
nächſt unſer Verlöbnis kurze Zeit noch geheimzuhalten, 
denn ich wußte, daß ich meinem Vater, der inzwiſchen 
auch in Paris eingetroffen war, eine ſchwere Ent— 
täuſchung bereitete, wenn ich ihm meine Mitarbeit 
entzog, und ich wollte ihn ſich ſelbſt lieber langſam 
aus dem Anſchauen der Dinge vorbereiten laſſen, als 
ihm eine plötzliche Erklärung geben. Aber wie ſchnell 
erkannte ich, daß eine kurze, meinem Weſen jo un- 
gewohnte Leidenſchaft mich einem Irrtum ausgeliefert 
hatte: van Staal war mir weſensfremd und würde 
es immer bleiben. Eines Tages erbat ich von ihm 
mein Wort zurück. Es gab eine unendlich peinigende 
Szene, denn er wollte mich nicht freigeben. Meinen 
Verſicherungen, daß ich meine Freiheit für mich ſelbſt, 
für die Arbeit mit meinem Vater zurückwollte, glaubte 
er nicht; er war nicht von dem Verdacht zu befreien, 
daß ein anderer Mann ihn beraube. Endlich gab ich 
ihm einen Eid, daß ich nur um meiner ſelbſt willen 
das Verlöbnis löſe, und — ſelbſt tief erſchüttert durch 
dieſen Herzensirrtum — ſetzte ich hinzu, ich würde mich 
nie entſchließen können, zu heiraten, und wolle für 
immer nur meiner Arbeit gehören. „Dich an deine 
Wiſſenſchaft verlieren, Nora, das iſt etwas, was ich 
zu ertragen verſuchen will,“ antwortete er mir. „Wenn 
ich aber je erfahre, daß du dich einem anderen Mann 
gibſt — dann wiſſe, daß ich ihn haſſen werde wie nichts 


170 Das Geſchenk des Inders. 1 


auf der Welt! Und — ich bin der Mann, nach meinem 
Haß zu handeln!“ Das war ſein letztes Wort. Es ließ 
mich niemals los. — Als ich dann dich, Henry, in dieſem 
Sommer kennen lernte und bald wußte, daß ich dir 
mein Herz geben mußte, da ſtand jenes Abſchiedswort 
van Staals ängſtigend vor mir. Ich war grenzenlos 
glücklich, als ich dich ſo unerwartet hier wiedertraf, 
aber ich brauche dir jetzt nicht mehr zu erklären, welch 
ein Erſchrecken mich erfaßte, als ich zugleich die Ent- 
deckung von van Staals Hierſein machte. Zch hoffte 
zuerſt, er werde abreiſen, aber als er mir korrekt wie 
einer Bekannten, mit der ihn nichts von Belang ver- 
knüpfte, begegnete, konnte ich das zwar nicht mehr er- 
warten, aber ich konnte dafür auch hoffen, daß er 
wirklich das zwiſchen uns Geweſene überwunden habe. 
Ganz ließ mich aber die Furcht nicht los, und was ich 
ſonſt erſehnt hätte, fürchtete ich nun. Deshalb war ich 
von fo undurchdringlicher Zurückhaltung. Ich wünſchte 
ſehr, unſeren Aufenthalt hier abzubrechen, aber ich 
zögerte, meinem Vater, der vom früheren ſo wenig wie 
vom jetzigen Stand der Dinge etwas ahnte, alles zu er- 
zählen. Dann kam ſeine Erkrankung, und damit mußte 
ich ja alle Reiſepläne zunächſt aufgeben. Ich konnte 
mich nun zwar völlig von dir und van Staal zurückziehen, 
aber ich wußte, wie ſehr du nach Entſcheidung drängteſt, 
und auch ich ſehnte mich grenzenlos danach, dich zu 
verſtändigen. Ich hörte, daß van Staal, der ja über- 
haupt in jener Zeit viel für ſich war, die Schlittenpartie 
nicht mitzumachen beabſichtigte, und ſo gab ich dir meine 
Zuſage, hoffend, daß ich dich dann endlich über alles 
würde aufklären können. Als ich beim Frühſtück dann 
plötzlich ſah, daß van Staal doch mitkommen würde, 
machte mich die Angſt, van Staal könne die Lage der 


Dinge zwiſchen uns erraten, faſt beſinnungslos.“ 


2 Novelle von F. C. Oberg. 171 


Sie hielt, von der Erinnerung gepackt, inne. 

Ich küßte ihr die Hände. „Nora, Geliebteſte — 
ich will mein ganzes Leben lang daran abtragen, was 
meine Gedanken an jenem Tage auf dich luden!“ 

„Ich wußte, was mein Verhalten für dich ſein würde, 
und ich litt unſagbar,“ fuhr ſie fort. „Ich war faſt in 
Verzweiflung, wie ich eine Verſtändigung herſtellen 
ſollte. Darum lief ich, als ich am nächſten Morgen 
- beim Herunterkommen hörte, du wollteſt nach Berlin, 
und glaubte, du werdeſt abreiſen, ohne daß ich je er- 
führe, wohin, einfach auf die Straße, um dich zu ſpre— 
chen. — Als ich dich kaum verlaſſen hatte, ſah ich in 
einem Seitenweg die Geſtalt eines Mannes, und mir 
war, als ſei es van Staal. Dann aber ſchalt ich mich, 
daß meine Furcht um dich mich überall Geſpenſter 
ſehen laſſe, jetzt jedoch weiß ich, daß er es war, daß 
er ſah, was zwiſchen uns vorging, und daß er jenes 
Abſchiedswortes an mich eingedenk war.“ 

In der wieder neu ſich emporringenden Erregung 
über all das eben Geſchehene ſtiegen die klaren Schatten 
zweier Tränen in Noras Augen auf. 

Da beugte ich mich über ſie und küßte ihr die N 
fen von den Wimpern, 

Van Staal war noch an demſelben Abend in eine 
Srrenanftalt eingeliefert worden, und für den nächſten 
Tag ſtand eine Unterſuchung bevor, der ich mit Span- 
nung entgegenſah. Nach gemeinſamer Überlegung 
hatten Doktor v. Loßwitz und ich es für das beſte gehalten, 
daß man denſelben Mechaniker, mit dem van Staal 
an der Schreibmaſchine gearbeitet hatte, aus Berlin 
kommen laſſe, um feſtzuſtellen, ob an der Maſchine 
wirklich — wie dies meine feſte Überzeugung war — 
irgend ein Mechanismus war, der mir hätte verhängnis- 


172 Das Geſchenk des Inders. 2 


voll werden können. Ich merkte ſehr wohl, daß Loß— 
witz ſtark an irgend einer ſolchen Möglichkeit zweifelte 
und der Meinung war, der Ausbruch der Krankheit 
habe eben überhaupt bevorgeſtanden und ſei dann 
nur durch meine Weigerung, auf die fixe Idee des 
Kranken einzugehen, veranlaßt worden. Ich dagegen 
wollte mit den Erklärungen, die ich noch zu geben hatte, 
warten, bis die Unterſuchung der Maſchine erfolgt war. 

Als wir mit dem Mechaniker in die Werkſtatt hinauf⸗ 
ſtiegen, erzählte der Mann, daß der Holländer ein zwar 
zeitweilig aufgeregtes und reizbares Weſen beim Ar- 
beiten gezeigt habe, aber das ſei bei Leuten, die an 
einer Erfindung arbeiteten, keine Seltenheit. Er, der 
Mechaniker, habe den Eindruck gehabt, als wolle van 
Staal ein wichtiges Geheimnis der Konſtruktion für 
ſich behalten, denn es ſeien ihm verſchiedene Einzel- 
heiten an der Maſchine aufgefallen, für die er keine 
Deutung gehabt und für die er auch keine Erklärung 
bekommen habe. Er werde alſo ſeine Unterſuchung 
gleich einmal an dieſen Punkten anſetzen. 

Der Mann hatte noch keine Viertelſtunde an der 
Maſchine gearbeitet, als er den Doktor und mich herbeirief. 

Wir erſchraken förmlich vor dem entſetzten Ausdruck 
ſeines Geſichtes. 

„Das iſt etwas Furchtbares mit dieſer Maſchine!“ 
ſagte er noch ganz verſtört. „Sehen Sie hier — dieſe 
breite Taſtatur iſt doch gemacht, weil es die Idee des 
Erfinders war, man müſſe die beiden ganzen Hände 
in den Dienſt der Maſchine bringen. Hier, dieſe Um- 
ſchalttaſte ſollte durch ein Aufſchlagen mit den Hand- 
wurzeln niedergedrückt werden —“ 

„Ja,“ fiel ich ein, „und gerade dieſe Taſte war es, 
die ich durchaus anſchlagen ſollte.“ 
Der Mechaniker ſah mich groß an. „Danken Sie 


D Novelle von F. C. Oberg. 173 


Gott, Herr, daß Sie's nicht taten. In dem Augenblick, 
in dem Sie mit Ihren Handgelenken die Taſte nieder- 
geſchlagen hätten, wären zwei haarſcharfe Meſſer em- 
porgeſchnellt, die Ihnen unfehlbar die beiden Puls- 
adern hätten durchſchneiden müſſen!“ 

Und nun nahm der Mechaniker zwei dicke Leder- 
ſtreifen, die er ſich um die Handfeſſeln befeſtigte. Dann 
ſetzte er die Hände ſo an, wie van Staal es mir ge— 
zeigt hatte, und drückte die Taſte nieder, aber nicht 
ſchnell und kräftig, jo wie es die Vorſchrift war, jon- 
dern leiſe und behutſam. Und da ſchoben ſich heraus, 
ſchmal und blank und von einer haarſchmalen Schneide 
— zwei kleine geſtielte Meſſer, die gierig gegen den Leder- 
ſchutz am Arm des Mechanikers fuhren. Als er die Hände 
hob und uns das Leder ſehen ließ, waren trotz der vor- 
ſichtigen Bewegung zwei ſcharfe Schnitte entſtanden. 

Ein Ausruf des faſſungsloſen Entſetzens von ſeiten 
des Doktors antwortete. 

Ich war ganz ſtill. Ich ſah, ganz unmittelbar und 
ganz bildhaft, ein braunes Geſicht unter einem weißen 
Kopfſchal vor mir, aus dem mich zwei ſtrahlende braune 
Augen anblickten — und nichts als der eine Gedanke 
durchzitterte mich: Dank dir, Vorhi, Dank, du Treuer! 

„Aber,“ wandte ſich jetzt Doktor v. Loßwitz an den 
Mechaniker, „dieſe Taſte iſt alſo erſt eingefügt, nach- 
dem van Staal Sie entlaſſen hatte?“ 

„Natürlich,“ antwortete der Mann, während es 
mich durchzuckte, wie ahnungslos ich geweſen war, 
als ich van Staals Fenſter in der vorletzten Nacht 
erleuchtet geſehen hatte. 

„Und,“ forſchte der Doktor weiter, „hat van Staal 
ſelbſt denn dieſe Taſte gar nicht angeſchlagen?“ 

„Das konnte er ſehr gut,“ antwortete der Mecha— 
niker ſtatt meiner. „Hier an der Seite der Maſchine 


174 Das Geſchenk des Inders. 2 


iſt eine Schaltung, mit der man regulieren kann, ob 
die Meſſer in Tätigkeit treten ſollen oder nicht. Wenn 
man alſo hier abſtellt, kann man, ſo viel man will, auf 
die Taſte drücken, man iſt geſichert. Dann aber brauchte 
man wieder nur einen unauffälligen Griff an der Seite 
der Maſchine zu machen — und das entſetzliche Mord- 
werkzeug war bereit. Im Augenblick des Nieder- 
drückens, wobei ſich gerade der Puls ſenkt, wäre alles 
fo ſchnell geſchehen, ehe noch das Opfer ſelbſt es be- 
griffen haben würde.“ 

„Großer Gott — ein Mord, ein Mord!“ Das war 
es, was Doktor v. Loßwitz immer noch kopfſchüttelnd 
wiederholte, als wir den Mechaniker entlaſſen hatten. 
„Ich war als Menſch und Arzt tief erſchüttert durch 
den geiſtigen Zuſammenbruch eines Mannes, den ich 
nie unter mein Dach genommen hätte, wenn ich hätte 
ahnen können, was ſich in ihm vorbereitete,“ fuhr er 
fort, „dies aber — dies iſt zu furchtbar!“ 

Da begann ich, meine bisher zurückgehaltenen Er- 
klärungen zu geben. Und als ich nun von meinen Be- 
obachtungen an van Staal, von jenem unheimlichen 
Mechiel des Geſichtsausdruckes, von feiner ſonderbaren 
Theorie des Erfindens und zuletzt auch kurz von den 
Sufammenhängen mit Nora Marr berichtete, nickte 
der Arzt ein paarmal heftig. 

„Wie tppiſch das iſt!“ fagte er. „Daß dieſe krank- 
hafte Konzentration des Wünſchens, von der jener 
unheimliche Geſichtsausdruck Kunde gibt, und die ſich 
einerſeits auf Vollendung feiner Erfindung und ander- 
ſeits auf den Beſitz der immer noch geliebten Frau 
bezog, nun zuletzt gewiſſermaßen in einer einzigen 
Linie zuſammenfloß! Solange van Staal nichts 
von einem Nebenbuhler um den Beſitz der Geliebten 
wußte, ſo lange war es wirklich nur der Gedanke an 


2 Novelle von F. C. Oberg. 175 


die Maſchine, die ihn ſo völlig erfüllte. Als dann aber 
der jäh angefachte Haß gegen Sie nach einer Tat 
lechzte, da ſprangen ſozuſagen die zwei Ziele, die ſein 
Vollen kannte, in eines zuſammen: er mußte die Ma- 
ſchine bauen, aber er mußte auch zugleich aus ihr — 
und nur aus ihr — das Mordwerkzeug machen! Und 
jo gelangte er zu einer Zdee, die bizarr und ſeltſam iſt 
und doch nicht raffinierter hätte erdacht werden können. 
Es erſcheint wie ein Wunder, daß Sie, Sir Henry, der 
Sie doch noch ohne Wiſſen der Zuſammenhänge waren, 
dieſer ſo unſagbar heimtückiſchen Falle entgangen ſind.“ 

„Das ſcheint nicht nur ein Wunder, das iſt eines!“ 
ſagte ich, dann aber lenkte ich ſchnell ab. „Lieber 
Doktor, ſollte es wohl möglich fein, daß dieſe fonder- 
bare Schreibmaſchine, in der allerdings ein gutes 
Stück meiner Lebensgeſchichte aufgeſchrieben ſteht, ſpä— 
ter in meinen Beſitz kommt?“ 

„Das werde ich gern für Sie beſorgen,“ lautete 
die Antwort, und der Arzt trat, ehe wir hinausgingen, 
noch einmal an die Maſchine heran. „Wie ſein kranker 
Geiſt nur bis zu dem einen Punkt — und nicht über 
ihn hinaus — dachte,“ ſagte er, „bis zu dem Punkt, 
da er Sie mit blutigen Pulſen verenden, hilflos, grau- 
ſam langſam verenden ſehen wollte! Wie er danach 
gelechzt hat! Ohne ſich darum zu kümmern, was 
dann nachher für ihn hätte kommen müſſen. Möchte 
ſeine Krankheit ihn bald ganz dem Ende zuführen!“ — 

Doktor v. Loßwitz hat Wort gehalten. Die Schreib- 
maſchine ſteht jetzt ſchon ſeit Jahren in meinem Arbeits- 
zimmer, und auf jener breiten Taſte, deren Nieder- 
ſchlagen mein Verderben geweſen wäre, iſt in großen 
Lettern das Datum jenes Tages eingegraben. 

Es war elfter November — wie heute! 


— — — — — — — — — — — — —d 


176 Das Geſchenk des Inders. a 


Der Erzähler ſchwieg. Aber nach einer kurzen 
Pauſe begann er noch einmal. 

Als meine Braut und ich bald nach all dieſen Vor- 
gängen heirateten, machten wir unſere Hochzeitsreiſe 
nach Indien. Als wir in Bombay kaum eine Stunde in 
unſerem Hotel waren, meldete man mir, daß ein Ein- 
geborener dringlichſt verlange, zu mir gelaſſen zu werden. 

Eine Ahnung erfaßte mich, und ich ließ ihn ſofort 
eintreten. Es war wirklich Vorhi. 

„Sahib — du lebſt!“ ſagte er nur und mit einem 
ſo rührenden Ausdruck ſtill erlöſter n daß es 
mich tief ergriff. 

„Vorhi, dein Geſchenk — 

Aber er ſah mich aus nn ſtrahlenden Augen mit 
ſo ernſtem Ausdruck an, daß ich unwillkürlich innehielt. 

Er ſchüttelte leiſe den Kopf. Dann ſagte er nach 
einer Pauſe langſam und ernſt: „Ja, Sahib, du haſt 
mich verſtanden. — Daß der Tod auf deinem Wege 
wartete, das wußte ich lange, bevor du Indien ver- 
ließeſt. Ich war unabläſſig wachſam um dich, um das, 
von deſſen Kommen, nicht aber von deſſen Art ich 
wußte, von dir abzuwenden. Als du aber dann fort 
und in deine ferne Heimat gingſt, da konnte ich nicht 
mehr um dich ſein, und ich mußte ein anderes Mittel 
finden, dich zu ſchützen. Ich brachte es dir an deinem 
letzten Tage hier. — Aber du darfſt mich nicht fragen, 
Sahib! Dieſe Dinge tun wir wohl in unſerem Lande, 
aber wir ſprechen niemals über ſie.“ 

Sir Henry Airnscraig hielt inne. 

Auch von uns ſprach niemand. Es gab eine Pauſe. 

Aber einige waren unter uns, die — wie Sir Henry 
es vorausgeſagt hatte — die Köpfe ſchüttelten. 

Er ſah es und lächelte ſtill vor ſich hin. 


ANANAS NY NUR NY e 
ei eee 


Mutter und Rind. 


von Alex. Cormans. 


Mit 10 Sildern. | * lnachdruck verboten.) 


n dem ernſten und hochwichtigen Kapitel der ra- 
tionellen Säuglingspflege bedeutet die zweck— 
mäßigſte Art des Kindertragens freilich nur einen unter- 
geordneten Abſchnitt, aber auch die kleinſte Verſündigung 
gegen die Forderungen der Volkshygiene iſt bekämp- 
fenswert, wenn ſie ſich Tag für Tag millionenfach 
wiederholt. Das ehrwürdige Alter einer ſchlechten Ge— 
wohnheit iſt noch lange kein Grund, dieſe Gewohnheit 
als unabänderlich anzuſehen, und wenn wir die Art 
der Behandlung, die — wenigſtens bei dem intelligen- 
teren Teil der Bevölkerung — den allerjüngſten Er- 
denbürgern heutzutage zuteil wird, mit den vielfach 
geradezu unſinnigen und barbariſchen Gepflogenheiten 
früherer Jahrzehnte und Jahrhunderte vergleichen, ſo 
erhalten wir einen ſchlagenden Beweis für den langſam, 
aber ſicher wirkenden Einfluß der Aufklärung und der 
immer wiederholten eindringlichen Mahnung. ß 
Das in endloſe Wickelbänder grauſam eingeſchnürte, 
jeder Bewegungsmöglichkeit erbarmungslos beraubte 
Baby gehört heute bereits zu den ſeltenen Erjchei- 
nungen, denen man nur noch hie und da in jenen 
ländlichen Bezirken begegnet, die ſich durch eine un- 
gewöhnlich hohe Kinderſterblichkeit auszeichnen. Die 
ſchreckliche Breifütterung und die geſundheitswidrigen 
12 


1918. J. 


178 Mutter und Rind. 2 
— . — — — — — —e——0 1—ði5 —᷑̃ͤ 


Beruhigungsmittel ſind, dem Himmel ſei Dank, aus 
der Mehrzahl der Kinderſtuben verbannt. 

Man verſucht die kleinen Schreihälſe nicht mehr 
zum Schweigen zu bringen, indem man ſie bis zur 
Bewußtloſigkeit ſchaukelt, indem man ihnen abfcheu- 
liche, bakterienreiche „Schnuller“ in den Mund ſtopft 
oder — wie es ehedem namentlich im lieben Bayern- 
lande recht beliebt war — ihr zartes Gehirn wohl gar 
mit dem Bierkrug betäubt. Wir bringen unſeren jungen 
Nachwuchs nicht mehr unter einer Bergeslaſt von Bet— 
ten, Decken und Tüchern dem Erſtickungstode nahe und 
gewähren ihm an Luft und Licht, was der empfind- 
lichen Menſchenknoſpe zu ihrer gedeihlichen Entfaltung 
unentbehrlich iſt. Aber viele Hunderttauſende unter 
uns ſetzen ihre Kinder noch immer der Gefahr von 
Rückgratsverkrümmungen oder anderen Entwicklungs- 
ſtörungen aus, indem ſie den weichen, bildſamen, in 
ſeinen Gelenken und Bändern noch nicht hinlänglich 
gefeſtigten Körper beim Herumtragen täglich ftunden- 
lang in die zweckwidrigſten Stellungen zwingen. 

Die bei uns und bei faſt allen europäiſchen Nationen 
übliche Art, ein Kind auf dem Arm zu tragen, iſt in 
der Tat nicht nur die denkbar unbequemſte, ſondern 
auch die denkbar unvernünftigſte, und wenn man ſieht, 
wie unglücklich ſo ein armes Geſchöpfchen oft am Hals 
der Mutter oder Wärterin hängt, kann man das ge— 
dankenloſe Feſthalten an der alten Gepflogenheit kaum 
verſtehen. 

Sie wird zu einer noch ſchwereren und ſträflicheren 
Verſündigung, wenn dieſe Wärterin, wie es nur allzu— 
oft der Fall iſt, ſich ſelber noch im Alter der körper— 
lichen Entwicklung befindet. Die auch aus anderen 
Gründen höchſt verwerfliche Unſitte, ſich der Wohl- 
feilheit halber halbwüchſiger Mädchen zur Vartung 


— — 


u Bm — — — — 


u Von Alex. Cormans. 179 


und zum Spazierentragen ganz junger Kinder zu be- 
dienen, ſollte um des geſundheitlichen Schadens willen, 
der den erſteren wie den letzteren erwachſen kann, 
nachdrücklich bekämpft werden. Völlig verdammens- 
wert aber iſt die namentlich bei der ärmeren Bevöl- 
kerung herrſchende Gewohnheit, das Amt der Wärterin 
einer älteren Schweſter zu übertragen, die manchmal 


W .. yon 


Eine Pariſerin mit ihrem Kinde. 


das für ihre Kräfte viel zu ſchwere Baby nur mit 
äußerſter Anſtrengung zu ſchleppen vermag. Überall, 
auf dem Lande wie in den Städten, können wir ſolchen 
bedauernswerten Kindern begegnen, die mit ſeitwärts 
gekrümmter Wirbelſäule unter der Laſt eines Menfchen- 
bündelchens ſeufzen, und deren Anblick in jedem fühlen- 
den Herzen die Befürchtung wecken muß, daß ſie den 
Unverſtand anderer vielleicht mit einer dauernden 


180 Mutter und Kind. a 


und unheilbaren körperlichen Entſtellung zu bezahlen 
haben werden. 
Der Kinderwagen, der, wenn er zweckmäßig ge- 


Holländiſche Mutter aus Marken. 


baut iſt und dem kleinen Inſaſſen hinlänglichen Schutz 
gegen blendendes Sonnenlicht gewährt, als das bei 
weitem beſte Mittel paſſiver Bewegung für Säuglinge 


0 Von Alex. Cormans. 181 
. ˙ ——-ę-—ü ...,t.ĩr3—Ütiöri —— . — L— — 


angeſehen werden muß, iſt bei der ländlichen Bevöl- 
kerung noch immer nicht ſehr beliebt und im Verkehrs- 


Zigeunerin vor ihrem Zelt. 


gewühl der großen Städte nicht überall verwendbar. 
Man fährt alſo fort, die armen hilfloſen Kreaturen auf 


182 Mutter und Rind. 2 


eine Weiſe zu tragen, die ſich ein Hund oder eine Katze 
nur mit äußerſtem Widerſtreben gefallen laſſen würde. 

Und doch würde es gewiß nicht an Möglichkeiten 
fehlen, den ſchlechten Brauch durch einen beſſeren zu 
erſetzen. Mit dem lebhafteſten Vergnügen erinnere 


PR 


ER R 1 8 5 2 
8 BL F SER 9 ee 


Portugieſiſche Mutter. 


ich mich eines den gebildeten Ständen angehörigen 
jungen Ehepaares, dem ich vor Jahren Tag für Tag 
in der Nähe meiner Wohnung in vielbegangenen 
Berliner Straßen begegnete. Mit jenem fröhlichen 
und berechtigten Elternſtolz, der ſich blutwenig um 
das Geſpött etlicher Narren kümmert, trugen die bei— 


= Von Alex. Cormans. 183 


den ihren roſigen Sprößling zwiſchen ſich auf einer 
höchſt zweckmäßig konſtruierten kleinen Sänfte, ihm 
zum Behagen und ſich ſelbſt zu geringer Laſt. Es iſt 


2 . 


Agypterin. 


möglich, daß es unter den Vorübergehenden nicht ganz 
an den erwähnten ſpottluſtigen Narren fehlte; auf den 
Geſichtern der meiſten aber ſah ich nur den Ausdruck 


184 Mutter und Rind. 2 


ehrlichen Beifalls und der Genugtuung über die lobens- 
werte Beherztheit eines vernünftigen Menſchenpaares. 

Wie wenig anmutig wirkt neben der Vorſtellung 
dieſes kleinen Familienidylls, das ich leider nicht im 
Bilde feſtzuhalten vermochte, die Aufnahme der „ſchik— 


Japaniſche Mütter. 


ken“ Pariſerin (S. 179), die — wahrſcheinlich aus 
Rückſicht auf ihre Toilette — ihren kleinen Buben 
einfach unter den Arm nimmt und ihn ſo auf dieſelbe 
Weiſe weiterbefördert, wie ſie es mit jedem beliebigen 
Paket tun würde. 

Die Holländerin, die Mutter vom Stamme der 


2 Von Alex. Cormans. 185 


wandernden Zigeuner und die portugieſiſche Frau aus 
dem Volke, wie wir ſie auf unſeren nächſten Bildern 
ſehen, ſie alle huldigen der oben getadelten ſchlechten 
Gewohnheit, ihre Kinder auf eine vernunftwidrige 
Art zu tragen, und wir müſſen uns ſchon bis nach 
Agypten begeben, um an dem Beiſpiel eines Fellachen- 
weibes zu ſehen, daß es gar nicht ſo ſchwer iſt, eine 
Art zu finden, die den Gliedern des Kindes und ſeinen 
inneren Organen volle Freiheit läßt, fie in ihrer natür- 
lichen Lage erhält und ihnen den preſſenden Druck 
des mütterlichen Armes erſpart. Das Baby wird ritt- 
lings auf der Schulter getragen, und wenn es dazu 
auch einiger Übung und Geſchicklichkeit von ſeiten der 
Mutter bedürfen mag, jo beweiſt doch die leichte Sicher- 
heit, mit der ſich dieſe Agypterinnen unter ihrer ſüßen 
Bürde bewegen, daß ſolche Gewandtheit ſich unſchwer 
erwerben laſſen muß. 

And die munteren, ewig kichernden kleinen Japa— 
nerinnen, ſie denken gar nicht daran, ſich den zierlichen 
Wuchs ihrer Geſtalten nach dem Vorbilde europäiſcher 
Mütter zu verderben. Sie tragen ihre mit abgöttiſcher 
Zärtlichkeit geliebten Kinder auf dem Rüden, wo fie 
innerhalb der durch die Umſtände gezogenen Grenzen 
eine gewiſſe Bewegungsfreiheit genießen und über 
die Schulter der Mutter hinweg die Wunder der ſchönen 
Welt anftaunen können, ohne daß es dazu, wie bei 
unſeren auf dem Arm getragenen Kindern, der fchwie- 
rigſten Verrenkungen bedarf. 

Auf einem vernünftigen Gedanken beruhend, aber 
in der Ausführung freilich nicht ganz einwandfrei iſt 
die Methode der kaliforniſchen Indianerinnen, die 
übrigens auch die aller anderen nordamerikaniſchen 
Indianerſtämme iſt. Hier werden die Säuglinge bis 
an den Hals in eine wollene Dede gewickelt, auf ein 


186 Mutter und Rind. 2 


Brett gebunden und ſo auf dem Rücken der Mutter 
befeſtigt. Die Einſchnürung der Arme und der un- 
vermeidliche Druck der Stricke ſind das Bedenkliche 


Kaliforniſche Indianermutter. 


bei dieſem Verfahren. Ein augenfälliger Beweis liebe— 
voller und verſtändiger Fürſorge aber iſt die Anbringung 
des zur Abwehr von Regen und Sonnenſtrahlen be— 
ſtimmten kleinen Schutzdaches, deſſen die auf dem Rücken 


2 Von Alex. Cormans. 187 


getragenen Kinder der meiſten anderen Naturvölker ent- 
raten müſſen. 

Afrikaniſche Negerweiber zum Beiſpiel verrichten 
mit ihrem Kinde auf dem Rücken oft ſtundenlang im 


Mexikaniſche Indianerin. 


glühenden Sonnenbrand die Feldarbeit, für die ihre 
Männer zu faul ſind, und einzig der Güte der Natur 
iſt es zu danken, daß die Nachkommenſchaft durch 
dieſen Schmorprozeß keinerlei geſundheitlichen Schaden 
erleidet. 


188 Mutter und Kind. 2 


Eine Beſonderheit der Indianerinnen von Mexiko 
iſt es, eine mit primitiver Aufhängevorrichtung ver- 
ſehene, muldenförmige Wiege mit ſich zu führen, in 
der der Säugling jederzeit ſicher untergebracht werden 


Eine armeniſche Mutter. 


kann, wenn er ſeinen Platz auf dem Rücken der Mutter 
zeitweilig verlaſſen muß, weil er dieſe in ihren Arbeits 
verrichtungen zu ſehr behindern würde. 

Iſt die Wiege hier von einer Geſtalt, die ihre Mit- 


2 Von Alex. Cormans. 189 


führung für die Mutter nicht allzu ſchwierig macht, 
ſo verfährt die Armenierin auf unſerem nächſten Bilde 
ſchon um vieles umſtändlicher und unzweckmäßiger, 
indem fie ſich mit einem ziemlich ſchwerfälligen Möbel- 
ſtück von der Form der auch bei uns früher üblich ge 


weſenen Kinderwiegen belädt. Immerhin iſt auch 
ſie auf dieſe Art in die Lage verſetzt, ihrem Liebling 
jederzeit und überall die Ruhe und Erholung zu ver— 
ſchaffen, deren der kindliche Körper auch nach der von 
uns Erwachſenen viel zu gering eingeſchätzten An- 
ſtrengung des Getragenwerdens meiſt ſchon nach kurzer 
Zeit bedarf. 


190 Mutter und Kind. oO 


Schwerfällig mag auch die Tragewiege des Eskimo- 
babys erſcheinen, mit dem wir die Reihe unſerer Auf- 
nahmen beſchließen. Aber ſie iſt mit ihrer ausgiebigen 
Ausſtattung an Pelzwerk den klimatiſchen Verhält- 
niſſen angepaßt, unter denen der junge Eskimo heran- 
wachſen ſoll, und eine jo große Unbequemllichkeit fie 
für die Mutter bedeuten mag, ſo zweckmäßig iſt ſie 
ohne Zweifel für den kleinen Erdenbürger. 

Und dies eine — ob ſie nun bei der Pflege ihres 
teuerſten Beſitztums vernünftig oder unvernünftig zu 
Werke gehen mögen — iſt ja den Müttern in aller Welt 
gemeinſam, das eine, daß ſie der eigenen Mühſal und 
Beſchwerde nicht achten, wo es ſich um das Wohl- 
befinden ihres Kindchens handelt. Weil es ſo iſt und 
ſo ſein wird bis an das Ende aller Tage, dürfen wir auch 
getroſt hoffen, daß die Mütter der jetzigen wie der 
kommenden Generationen immer willig ſein werden, 
zu lernen und ſich von überkommenen Fehlern frei- 
zumachen, ſobald fie die Überzeugung gewonnen 
haben, daß es zum Heil derer iſt, denen ſie das Leben 
gegeben. 


na 


EIEIEIEIES 


Die Spaziergehkur. 
humoreske von Carl Schüler. 


* (nachoͤruck verboten.) 


Eines Morgens paſſierte der gnädigen Frau etwas 
ſehr Unangenehmes, etwas, das ſie in Schreck und 
Aufregung verſetzte. 

Sie ſah eine Spinne. 

Spinne am Morgen — Kummer und Sorgen! 
| Die gnädige Frau weiß, daß man eigentlich nicht 

abergläubiſch ſein ſoll. Aber man ſoll eigentlich vieles 
nicht ſein, und man iſt's doch. Die Manier der Männer, 
über den Glauben an ſolche Voranzeichen herannahender 
Unglücksfälle zu ſpotten, kennt man. Aber die Männer 
ſpotten eben über alles, was ſie nicht verſtehen. 

Und was verſtehen ſie denn? 

Es war nur eine ganz kleine Spinne, die die gnädige 
Frau zu ſehen bekam. An einem unendlich feinen Fäd- 
chen ließ ſich das Spinnchen von der Dede des Zimmers 
herab. Mitten über dem kleinen Frühſtückstiſch mit 
ſeinem zierlichen Porzellan und ſeiner altmodiſchen 
ſilbernen Zuckerdoſe, mit feinen Düften nach Schoko- 
lade, Honig und friſchem Gebäck, dicht vor den Augen 
der gnädigen Frau pendelte ſie in kurzen, zitternden 
Schwingungen hin und her. 

Mit neugierigen Blicken betrachtete dieſe kleine, 
dumme Spinne, die von der Welt noch nichts geſehen 


192 Die Spaziergehkur. 2 


hatte, die die Abneigung der Menſchen gegen ihr Ge- 
ſchlecht nicht kannte, das Stillleben auf dem Frühſtücks— 
tiſch und die hübſche, braunlockige Frau, die vor ihr, 
der kleinen Spinne, eine ſo entſetzliche Angſt hatte. 

Nicht lange konnte ſich das Spinnchen ungeſtört 
ſeines Vergnügens freuen. 

Auf die lauten Hilferufe der gnädigen Frau ſtürzten 
die Köchin und das Kammermädchen, mit Beſen und 
Ausklopfer bewaffnet, in das Zimmer. Dem erſten 
Anſturm dieſer beiden tapfern Weſen fiel eine große 
und koſtbare chineſiſche Vaſe zum Opfer. Das heißt, 
das war ein Irrtum der gnädigen Frau. In Wirk- 
lichkeit hatte weder die Köchin mit dem Beſenſtiel 
noch die Kammerzofe mit dem, Ausklopfer die Vaſe 
berührt. Sie war, die Vaſe natürlich, von ſelbſt her- 
untergefallen. Vielleicht auch aus Schreck vor der 
Spinne. Nachdem dies einwandfrei feſtgeſtellt worden 
war, gelang es der Köchin, das kleine Spinnchen mitſamt 
dem dünnen Spinnwebfädchen mit dem Beſen einzu- 
fangen. Im Triumph trug ſie ihre Beute nach der Küche. 

Der gnädigen Frau ging den ganzen Tag über 
der Gedanke an die Unglücksprophetin nicht aus dem 
Köpfchen. b 

Nachmittags um fünf Uhr trat denn auch das er- 
wartete Ereignis ein. Natürlich war eine Freundin 
ſeine Verkünderin. 

Dieſe Freundin war vier Wochen in Paris geweſen. 
Nun war ſie zurückgekommen und machte Beſuche. 
Sie hatte in den vier Wochen die deutſche Sprache 
faſt verlernt, denn fie gebrauchte unausgeſetzt fran 
zöſiſche Wendungen. Sie unterhielt ſich nur noch über 
Pariſer Moden und erklärte, daß die deutſchen Damen 
es nicht verſtänden, ſich richtig anzuziehen. 

Beim Anblick der gnädigen Frau ſchien ſie entſetzt. 


u Humoreske von Carl Schüler. 193 


Sie ſchlug beide Hände verzweifelt über dem Kopf 
zuſammen und rief: „Mais, mon Dieu, chère amie, 
was ſehe ich, Sie ſind ſtärker geworden und — dick 
iſt doch nicht modern!“ 

Die gnädige Frau dachte ſofort an die Spinne, die 
ſie am Morgen geſehen hatte. 

Nun war das Unglück da. 

Wenn die Figur der Frau zunimmt, ſagt ſie: Ich 
verliere meine Figur! Eine Frau kann ihr Porte 
monnaie verlieren, ihr Taſchentuch, ihren Schirm und 
noch viele andere Dinge — alles läßt ſich verſchmerzen, 
für alles läßt ſich Erſatz ſchaffen, aber das Verlieren 
der Figur iſt ein Unglück ernſterer Art. Keine Frau 
nimmt es leicht, wenn ſie ſchwerer wird. | 

Was kann man dagegen tun? 

I!v¼In den nächſten Wochen gab es für die gnädige 
Frau nur dieſe eine Frage. | 

Alle Freundinnen wurden zu Rate gezogen. 

Die erſte Freundin riet zu einem anderen Korſett, 
ſie müſſe ſich mehr ſchnüren. Die zweite Freundin 
ſagte: „Wenn Sie ſich mehr ſchnüren, werden Sie 
eine rote Naſe bekommen.“ Die dritte Freundin riet 
zu Karlsbader Waſſer. Die vierte Freundin ſagte: 
„Wenn Sie Karlsbader Waſſer trinken, wird Ihre 
Haut welk.“ Die fünfte Freundin riet zu einer Jo- 
ghurtkur. Die ſechſte Freundin ſagte: „Wenn Sie 
Joghurt trinken, werden Sie noch dicker.“ 

Die gnädige Frau war ratlos. 

Da traf ſie eines Tages eine ſiebente Freundin, 
die ſagte: „Um dünner zu werden, müſſen Sie mehr 
ſpazieren gehen, meine Liebe.“ | 

Kein anderer Vorſchlag leuchtete der gnädigen Frau 
ſo ein wie dieſer. Schnell beſchloß ſie, mit der Kur 
des Spazierengehens den Anfang zu machen. 

1918. I. 13 


194 Die Spaziergehkur. 2 


Sie ging ganz zielbewußt vor, praktiſch und mit 
Überlegung. | 

Zunächſt wollte fie ihr Gewicht feſtſtellen. Das 
kann man am billigſten in einem Warenhaus. Dort 
koſtet das Wiegen nichts. 

Es war Anfang Mai, und das Warenhaus hatte 
einen billigen Tag für wollene Winterſtrümpfe. Die 
gnädige Frau ließ ſich umſonſt wiegen und kaufte 
fünfzig Paar wollene Winterſtrümpfe, weil man doch 
die Gelegenheit benützen muß. 

Spazierengehen und Spazierengehen ſind nun 
zwei ganz verſchiedene Dinge. 

Die einen gehen ſpazieren, weil ſie nichts zu tun 
haben, den anderen iſt das Spazierengehen eine Pflicht. 

Die gnädige Frau gehörte zu den anderen, zu 
denen, denen das Spazierengehen eine Pflicht iſt. 
Sie hat es noch nie mit einer Pflicht fo ernſt genom- 
men wie mit dieſer. N 

Das Spazierengehen, um dünner zu werden, iſt 
eine ſehr koſtſpielige Kur. Das meint man zunächſt 
nicht. Man könnte im Gegenteil verſucht ſein, zu 
glauben, das Spazierengehen koſte außer durchgelau— 
fenen Schuhſohlen überhaupt nichts. Aber das iſt 
ein großer Irrtum. 

Wenn eine Dame zweimal täglich, und zwar vor- 
mittags und nachmittags, ſpazieren geht, kann ſie dies 
nicht in demſelben Kleid tun. Das iſt ausgeſchloſſen. 

Das würde auffallen, und auffallen will man doch 
nicht. 

Ebenſowenig kann man an den ſieben Tagen, 
die doch nun einmal die Woche hat, an jedem Vor- 
mittag oder an jedem Nachmittag dasſelbe Kleid tragen. 
Das geht nicht, weil die Leute ſonſt glauben, man 
habe nichts zum Wechſeln. Man muß alſo wechſeln 


u Humoreske von Carl Schüler. 195 


können, damit man den Leuten zeigt, daß man etwas 
zum Wechſeln hat. 

Wenn man das nicht kann, wird einem die Kur 
ſchnell über, und dann hat ſie keinen Zweck. Wenn eine 
Kur Erfolg haben ſoll, muß man fi ihr auch mit wirk- 
licher Freude und Hingabe unterziehen. Das kann man 
nur, wenn man auch danach angezogen iſt. 

Die Notwendigkeit von Neuanſchaffungen der Gar- 
derobe iſt alſo ſelbſtverſtändlich. Natürlich kann man 
zu den neuen Kleidern nicht alte Stiefel anziehen oder 
Hüte aufſetzen, die nicht zu den Kleidern paſſen. Es 
muß doch alles harmonieren. Ein einſichtsvoller Mann 
wird dagegen auch gar keine Einwendungen machen. 

Leider gibt es ſo wenig einſichtsvolle Männer. 
Der eigene Mann gehört nie zu ihnen. 

Die Vorbereitungen zu der Spaziergehkur koſten 
alſo Geld. Alles koſtet Geld. Das iſt nun einmal nicht 
anders. Aber man ſpart doch auch manchen Groſchen, 
den man ſonſt für die Fahrten mit der elektriſchen 
Straßenbahn ausgegeben hat, weil man jetzt alle Be— 
ſorgungen zu Fuß abmacht. 

Das muß man doch auch bedenken! 

Man muß eben heute mit jedem Groſchen rechnen. 

Aber welcher Mann tut das? — 

Wenn die Ausrüſtungsgegenſtände für die Kur an- 
geſchafft ſind, dann iſt noch eine Frage von Wichtigkeit 
zu erledigen, nämlich: Wie kann man ſich während des 
Spazierengehens eine für eine Dame paſſende Unter- 
haltung verſchaffen? 

Der Mann kommt dabei nicht in Betracht. Erſtens 
hat der Mann keine Zeit und dann — die wenigſten 
Männer ſind für die Oauer wirklich unterhaltend. 

Da greift man beſſer zum Hund oder vielmehr 
zum Hündchen. 1 


194 Die Spaziergehkur. 2 


Sie ging ganz zielbewußt vor, praktiſch und mit 
Überlegung. 

Zunächſt wollte fie ihr Gewicht feſtſtellen. Das 
kann man am billigſten in einem Warenhaus. Dort 
koſtet das Wiegen nichts. 

Es war Anfang Mai, und das Varenhaus hatte 
einen billigen Tag für wollene Winterſtrümpfe. Die 
gnädige Frau ließ ſich umſonſt wiegen und kaufte 
fünfzig Paar wollene Winterſtrümpfe, weil man doch 
die Gelegenheit benützen muß. 

Spazierengehen und Spazierengehen ſind nun 
zwei ganz verſchiedene Dinge. 

Die einen gehen ſpazieren, weil ſie nichts zu tun 
haben, den anderen iſt das Spazierengehen eine Pflicht, 

Die gnädige Frau gehörte zu den anderen, 
denen, denen das Spazierengehen eine Pflicht 
Sie hat es noch nie mit einer Pflicht jo ernſt gen 
men wie mit dieſer. 

Das Spazierengehen, um dünner zu werde 
eine ſehr koſtſpielige Kur. Das meint man 
nicht. Man könnte im Gegenteil eh feitt, 
glauben, das Spazierengehen ojte auf: 
fenen Schuhſohlen uberhaupt nicht 
ein großer Irrtum. 3 


D Humorese er az D. 197 


können, damit man der Sem: jene kleinen 
zum Vechſeln hat. en Gaſtfreund- 
Wenn man das um um olſtermöbeln in 
ſchnell über, und dann nr u fe- opfer lauern. 
Kur Erfolg haben il. . mr gnädigen Frau 
licher Freude und Amar. wen: ein Tummelplatz 
nur, wenn man aug an- 7: lid die Beſuche- 
Die Notwendigter ner Neu 5 ungebetenen Gäſte 
derobe iſt alſo 5 | 
zu den neuen Kleiderr nor : undchen, die ihr zum 
Hüte aufſetzen. duc u er, der in feiner Klein- 
muß „ =. t ganz den Wünſchen 
wird dagegen ang ag fen. 
Leider gi ee = re. in und gehörte der Raſſe 
Der eigene Nr cen - 5 ſtammte aus dem Nach- 
N Die Tiorheremmarr ‚en alten Dame, war alſo 
alſo Geld. Ales kor kind, deſſen man ſich an- 
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den man iomit für > ie gnädige Frau bezahlte dem 
Straßenbahn ab derten hohen Preis, einmal, 
ſorgungen zu Fur a pathiſch war, und dann, weil 
Das min zer. > gut zu ihrem Zobelmuff paßte. 
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Aber u = dunkle, ſeelenvolle Augen. Drollig 
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u gte. Irgendwo lag er immer. 
— n Tag tat die gnädige Frau alles, um 
ı Waifentind, den Aufenthalt im neuen 
wie möglich zu machen, ſeine Liebe 
u erringen. Sie war nachſichtig 
en — ſolche hatte er leider auch — 
it Kuchen und Konfekt, das er ihr 
das die gnädige Frau rührend fand. 


196 Die Spaziergehkur. 2 


Ein ſolches Tierchen iſt treu, anhänglich, folgſam und 
drollig. Ein ſolches Hündchen kann man an der Leine 
führen, man kann es auf dem Arm tragen, man kann es 
ſtrafen, wenn es doch einmal unfolgſam iſt, man kann 
es zur Reinlichkeit erziehen, es waſchen und bürſten — 
alles Dinge, die man mit einem Mann gar nicht oder 
doch nur in den wenigſten Fällen machen kann. 

Das Hündchen kann man aber auch in den Muff ſtek- 
ken, den man ja im Frühling noch ganz gut tragen kann. 

Dazu hat man ja den großen Muff, den man in der 
Garderobe nicht abgibt, ſondern immer bei ſich behält. 

Gibt es etwas Süßeres, als wenn aus dem Muff 
ſo ein kleines Hundeköpfchen hervorlugt? Das iſt be- 
geiſterungswürdig ſchön und fällt allen Leuten auf. 

Das macht mehr aus wie ein neuer Hut, oder doch 
gerade ſo viel. — 

Die gnädige Frau erließ in einer geleſenen Tages- 
zeitung eine Anzeige, um den paſſenden Begleiter 
für ihre Spaziergänge zu finden. Sie verlangte ein 
Hündchen von guter Erziehung und edlen Charakter- 
eigenſchaften zu einem mäßigen Preis. 

Am anderen Tag gaben ſich in der Wohnung der 
gnädigen Frau annähernd fünfzig Hundebeſitzer ein 
Stelldichein, von denen einige gleich mehrere N 
zur Beſichtigung mitbrachten. 

Nicht alle Hunde, die der gnädigen Frau im Laufe 
dieſes unruhigen Tages vorgeſtellt wurden, beſaßen 
jene Eigenſchaften, die die gnädige Frau von ihrem 
zukünftigen Begleiter und Mitbenützer ihres Muffes be- 
anſpruchte. Einige waren unverträglich und begannen 
ſich miteinander zu raufen wie ungezogene Straßen- 
jungen, andere ließen jene Reinlichkeit vermiſſen, 
die, wenn fie der Hund nicht beſitzt, die Politur der 
Tiſch- und Stuhlbeine ſchädigt, andere, und dieſe 


2 Humoreske von Carl Schüler. 197 


— — 


waren in der Mehrzahl, hinterließen jene kleinen 
munteren Springer, die ſo gern bei Hunden Gaftfreund- 
ſchaft ſuchen, die ſich aber auch in Polſtermöbeln in 
den Hinterhalt legen und dort auf Opfer lauern. 

Jedenfalls blieb der Salon der gnädigen Frau 
lange Zeit nach der Hundeſchau ein Tummelplatz 
dieſer braunen Geſellen, bis allmählich die Beſuche— 
rinnen ihrer Teeſtunde die kleinen ungebetenen Gäſte 
mit ſich entführten. 

Unter all den Hunden und Hündchen, die ihr zum 
Kauf angeboten wurden, war einer, der in feiner Klein- 
heit, in Farbe und Gemütsart ganz den Wünſchen 
der gnädigen Frau entſprach. 

Dies Hündchen hieß Delphin und gehörte der Raſſe 
der Zwergrehpintſcher an. Es ſtammte aus dem Nach- 
laß einer kürzlich verſtorbenen alten Dame, war alſo 
gewiſſermaßen ein Waiſenkind, deſſen man ſich an- 
nehmen mußte. Das Hündchen war ſehr verwöhnt, 
aber nicht billig. Doch die gnädige Frau bezahlte dem 
Händler gern den geforderten hohen Preis, einmal, 
weil ihr Delphin ſympathiſch war, und dann, weil 
er in ſeiner Farbe ſo gut zu ihrem Zobelmuff paßte. 

Delphin hatte zwar eine unangenehme, belfernde 
Stimme, aber zwei dunkle, ſeelenvolle Augen. Drollig 
war es, daß er ſich erſt dreimal um ſich ſelbſt drehte, 
ehe er ſich auf einem Seſſel oder auf einem Sofa zur 
Ruhe niederlegte. Irgendwo lag er immer. Ä 

Am erſten Tag tat die gnädige Frau alles, um 
Delphin, dem Vaiſenkind, den Aufenthalt im neuen 
Heim fo angenehm wie möglich zu machen, feine Liebe 
und ſein Vertrauen zu erringen. Sie war nachſichtig 
gegen ſeine Schwächen — ſolche hatte er leider auch — 
und fütterte ihn mit Kuchen und Konfekt, das er ihr 
willig abnahm, was die gnädige Frau rührend fand. 


198 Die Spaziergehkur. a 


Am anderen Tag begann die Spaziergehkur. 
Die gnädige Frau nahm Delphin an die dünne 
Leine, die ſie nebſt einem ſchönen Halsband ihrem 
Liebling ſchon am frühen Morgen zum Geſchenk ge- 
macht hatte. Nun ſollte der erſte Ausgang zu einem 
Schneider führen, damit dieſer Delphin für ein Ded- 
chen oder, wie es die gnädige Frau nannte, für einen 
Paletot das Maß nehmen konnte. 

Aber an der Haustür paſſierte etwas Merkwürdiges. 
Delphin ſträubte ſich lebhaft, auf die Straße hinaus- 
zugehen. Mit feinen vier kleinen Beinchen ſtemmte 
er ſich gegen den Boden, kein Zureden half — er 
wollte nicht. Die gnädige Frau zog an der Leine, und 
da ſie ſtärker als Delphin war, ſchleifte ſie den Armen 
hinter ſich her. Das ſah nicht gut aus. eee 
bedauerten das arme Hündchen. 

Nun nahm die gnädige Frau den ungezogenen 
Delphin, trotz ſeiner ſchmutzigen Pfötchen, in den Muff. 

Das ſah zwar allerliebſt aus, aber es ſah nur ſo aus, 
es war es nicht — weder für den Muff noch für das 
Kleid der gnädigen Frau. Der Muff war nämlich 
nicht waſſerdicht, und die Feuchtigkeit, die auf das Kleid 
tropfte, ſtammte von Delphin, 

Die gnädige Frau nahm, als ſie das merkte, ſofort 
ein Auto und fuhr, ſo ſchnell es ging, nach Hauſe. 

„Schon zurück?“ fragte der Mann der gnädigen 
Frau erſtaunt. 

„Da,“ antwortete die gnädige Frau und reichte 
ihm den Muff. 

„Nun weiß ich wenigſtens, warum der Hund Del- 
phin heißt,“ bemerkte in ſeiner gefühlloſen Art lachend 
der Mann der gnädigen Frau und zog das Tierchen 
aus ſeinem feuchten Element. 

Die gnädige Frau ſchickte zum Tierarzt. Das Be— 


2 Humoreske von Carl Schüler. 199 


nehmen Oelphins erſchien ihr krankhaft. Der Tierarzt 
und Delphin kannten ſich. Er, der Tierarzt, war ſchon 
früher Delphins Hausarzt geweſen. 

„Welch ein glückliches Zuſammentreffen!“ jubelte 
die gnädige Frau, als ſie dies erfuhr. „So kennen Sie 
alſo Delphins Konſtitution?“ 

„Sehr gut, gnädige Frau,“ beſtätigte der Tierarzt. 
„Der Hund iſt nämlich ſtraßenſcheu. Auf die Straße 
können Sie ihn nicht nehmen. Da bekommt er eine ſolche 
Angſt — na, Sie haben's ja erlebt. Seine frühere 
Herrin war gelähmt und hat ihn ganz fürs Haus er- 
zogen.“ 

„Aber ich hatte ihn mir doch gerade für meine 
Spaziergehkur angeſchafft!“ 

„Was iſt denn das — Spaziergehkur?“ fragte der 
Tierarzt. 

Die gnädige Frau lächelte etwas verlegen. „Ich weiß 
nicht, Herr Doktor, ob Sie ſich auch auf menſchliche Lei- 
den verſtehen?“ fragte die gnädige Frau etwas zögernd. 

„Ein bißchen ſchon,“ meinte der Tierarzt. „Fehlt 
Ihnen denn etwas? Sie ſehen ſehr geſund aus.“ 

Die gnädige Frau, die immer ſehr praktiſch iſt, 
dachte eine ärztliche Konſultation zu ſparen. Vielleicht 
konnte ihr der Tierarzt ein gutes Mittel geben. „Ja, 
denken Sie, Herr Doktor,“ ſagte ſie mit einem tiefen 
Seufzer, „ich werde dicker. Meine Kleider werden 
mir ſämtlich zu eng. Was iſt da zu tun?“ 

Da ſagte der Tierarzt mit breitem Schmunzeln: 
„Dann wird es das beſte ſein, Sie laſſen ſich Ihre 
Kleider etwas weiter machen, gnädige Frau.“ 

Nur ein Mann kann ſo roh ſein. 

Aber trotzdem befolgte die gnädige Frau den Rat. 


= 
2 


Der Seheimpoliziſt bei der Arbeit. 


von N. F. hermann. 


mit 12 Bildern. * nachoruck verboten.) 


Zeieie beklagenswerte Vorkommniſſe gerade der 
jüngſten Vergangenheit haben es auch dem großen 
Publikum recht eindringlich zum Bewußtſein gebracht, 
ein wie aufregender und gefährlicher Beruf der des 
Geheimpoliziſten in einer Großſtadt iſt. Das gewerbs- 
mäßige Verbrechertum von ehedem will uns ja bei— 
nahe harmlos erſcheinen gegenüber jenem Verbrecher⸗ 
typus, der ſich neuerdings in den Weltſtädten heraus- 
gebildet hat. Wie der Einbrecher und Dieb, der Fäl- 
ſcher und Hochſtapler alle neuen Errungenſchaften der 
Technik und der Wiſſenſchaft für ſeine Zwecke zu nützen 
weiß, ſo hat er auch gelernt, ſich im Kampfe um ſeine 
Freiheit der raffinierteſten und der rückſichtsloſeſten 
Mittel zu bedienen. Er hat längſt aufgehört, in ſeinem 
beſtgehaßten Feinde, der Polizei, einen übermächtigen 
und unbeſiegbaren Gegner zu erblicken, vor dem es 
keine andere Rettung gibt als Überliftung oder recht- 
zeitige Flucht. Er läßt es im Gegenteil ſehr oft auch 
ohne zwingende Notwendigkeit auf den offenen Kampf 
ankommen, aus dem die Hüter der Ordnung nicht im- 
mer als Sieger hervorgehen. Revolver und Browning 
ſpielen jetzt ſchon nahezu bei jeder Diebesjagd ihre 
verhängnisvolle Rolle, und es iſt kaum noch unter die 
außergewöhnlichen Ereigniſſe zu rechnen, daß man 


2 | Von R. F. Hermann. 201 


Die „Toilette“ des Detektivs. 


genötigt iſt, den Schlupfwinkel von zwei oder drei 
ſtrupelloſen Verbrechern mit einem gewaltigen Auf- 


202 Der Geheimpoliziſt bei der Arbeit. u 


gebot von Polizei und Militär in aller Form ſtunden- 
oder tagelang zu belagern. | 

Die Pariſer Apachen und Automobilbanditen find 
keine vereinzelten und keine ſpezifiſch franzöſiſchen Er- 
ſcheinungen. In New Vork, in London und in Berlin 
gibt es leider nur allzuviele vom gleichen Schlag, und 
mit der ſtändig wachſenden Gefahr für das Eigentum 
und die perſönliche Sicherheit des ruhigen Bürgers 
wächſt ſelbſtverſtändlich auch die Verantwortlichkeit und 
die Arbeitsmühſal der Kriminalpolizei. Von dem Ge— 
heimpoliziſten, der unter den jetzigen ſchwierigen Ver— 
hältniſſen ſeiner Aufgabe noch vollkommen gewachſen 
fein ſoll, muß man nicht nur eindringende Menfchen- 
kenntnis, Geiſtesgegenwart und raſche Entſchlußfähig- 
keit, ſondern auch einen bis zur Aufopferung geſteiger— 
ten perſönlichen Mut verlangen. 

Immer länger wird die Liſte der Braven, die im 
pflichtgemäßen Kampfe gegen das Verbrechertum 
Geſundheit und Leben darangeben mußten, und um 
jo aufrichtiger ſollte darum die Achtung und Wert- 
ſchätzung ſein, die wir den beſten, geſchickteſten und 
beherzteſten unter unſeren Polizeidetektiven entgegen- 
bringen. Kein ſchwereres Unrecht könnte man dieſen 
wackeren Männern zufügen, als wenn man ſie etwa 
auf eine Stufe ſtellen wollte mit jenen Privatſpionen, 
die lediglich im Intereſſe von Privatleuten das Tun 
und Treiben anderer ausſpionieren, ſelbſt wenn dieſe 
den übelſten und unlauterſten Zwecken dienen. 
Sicherlich gibt es ja auch unter den Privatdetektiven 
anſtändige Leute, die ſich nur mit einwandfreien 
Aufgaben betrauen laſſen; im großen und ganzen aber 
kann von einer Vergleichung mit dem Beruf des Ge— 
heimpoliziſten, der ſeine Perſon im Kampfe gegen das 
Verbrechertum einſetzt, niemals die Rede ſein. 


1 


0 Von RN. F. Hermann. 203 


Daß die untergeordneten und teilweiſe wohl auch 
die höheren Beamtenpoſten bei der Kriminalpolizei 
nicht durchweg mit hervorragend tüchtigen und ge— 
wandten Leuten beſetzt werden können, liegt auf der 
Hand. Die Talente oder gar die Genies ſind auch auf 
dieſem Gebiete menſchlicher Betätigung ſpärlich geſät, 
und man kann unmöglich verlangen, daß jeder Polizei- 


Der Detektiv als Privatmann. 


detektiv ein Sherlock Holmes ſei, über deſſen nach einer 
ziemlich wohlfeilen Methode am Schreibtiſch kon— 
ſtruierte Findigkeit übrigens nur ſehr naive Gemüter 
in bewunderndes Erſtaunen geraten können. 

Im wirklichen Leben ſpielen ſich die Dinge zumelſ 
ganz anders ab als in der Phantaſie des Novelliſten, 
und die Handlungen des Geheimpoliziſten werden lei— 
der nur von ſeinem eigenen Verſtande, nicht aber von 
der Allwiſſenheit einer unſichtbaren Macht gelenkt, 


204 Der Geheimpoliziſt bei der Arbeit. D 


die gleich dem Autor einer Kriminalgeſchichte von 
vornherein den Schlüſſel zu allen Geheimniſſen 
beſitzt. 

An und für ſich iſt der verfolgte oder geſuchte Ver— 
brecher, der ſeine Taktik nach Belieben in jedem Augen- 
blick ändern kann, ja immer im Vorteil, und wo nicht 
der Zufall gnädig ſeine Hilfe leiht, bedarf es beinahe 


Dem Detektiv iſt plötzlich ein Bart gewachſen. 


immer eines großen Aufwandes an Scharfſinn, Ge— 
duld und Ausdauer, um ihm hinter ſeine Schliche zu 
kommen. Sehr erſchwert wird die Tätigkeit des Ge— 
heimpoliziſten namentlich dem Gewohnheitsverbrecher 
gegenüber oft ſchon dadurch, daß er ſeinem Ausſehen 
nach dem Geſuchten wohlbekannt iſt. Spielt das Hilfs- 
mittel der Verkleidung für den Detektiv in der Praxis 
auch vielleicht nicht die ausſchlaggebende Rolle, die 
ihm in der Mehrzahl der Kriminalromane zugewieſen 


2 | Von R. F. Hermann. 205 


wird, jo wird es doch immer zum unentbehrlichen 
Rüſtzeug des Geheimpoliziſten gehören, und mancher 
von ihnen verdankt ſeine bedeutendſten Erfolge vor 
allem der ſchauſpieleriſchen Geſchicklichkeit, mit der er 
bei Ausübung ſeines Berufes ſeinen wahren Cha— 
rakter hinter allerlei Maskierungen zu verbergen weiß. 

Schminktofff 
und Kohleſtift, 
Perücke und fal! 
ſcher Bart dürfen 
zuweilen bei der 
„Toilette“ des 
Detektivs eben- 
ſowenig fehlen 
wie in der Gar- 
derobe des Ko— 
mödianten, und 
unſere Abbildun— 
gen auf Seite 
203 und 204 be- 
weiſen, daß es 
manchmal nur 
einer diskreten 
Anwendung die— 
ſer Requiſite n 
bedarf, um der Der lauſchende Chauffeur. 

menſchlichen 

Phyſiognomie ein völlig verändertes Gepräge zu ver— 
leihen. | 

Beinahe noch wirkſamer iſt eine gut gewählte Ver— 
kleidung, da die alte Wahrheit: „Kleider machen Leute“ 
ſich immer aufs neue als richtig erweiſt. Der gleich— 
gültig dreinſchauende Chauffeur auf unſerem Bilde, 
deſſen Aufmerkſamkeit ganz von irgend einem Vor— 


— — — — 


206 Der Geheimpoliziſt bei der Arbeit. 2 


gang in ſeiner Nähe in Anſpruch genommen ſcheint, 
wird ſelbſt in einem Mißtrauiſchen kaum die Vermutung 
aufkommen laſſen, daß es ſich um einen maskierten 
Geheimpoliziſten handelt, der ſeine Sinne aufs äußerſte 
anſtrengt, um kein Wort von der halblaut geführten 
Unterhaltung der verdächtigen Menſchengruppe zu ver- 
lieren, neben der 
er ſcheinbar zu- 
fällig Aufſtellung 
genommen hat. 
Und kann es et- 
was Unverfäng- 
licheres geben als 
die Geſtalt des 
Zeitungsverkäu- 
fers, deſſen äu- 
ßere Erſcheinung 
ſich in nichts von 
dem gewöhn— 
lichen Ausſehen 
ſeiner Berufs- 
genoſſen unter- 
ſcheidet? Daß er 
an der Eingangs- 
se ER für eines viel 

Der harmloſe Zeitungsverkäufer. frequentierten 

| Bankgeſchäfts 
Poſto gefaßt hat, iſt ſicherlich nicht auffällig, und der er- 
fahrene, mit allen Waſſern gewaſchene Verbrecher, der 
das betreffende Geſchäftslokal gewiß nicht betreten würde, 
wenn er irgend etwas wahrnehmen würde, das ſich als 
eine polizeiliche Beobachtung deuten ließe — er wird 
aller Wahrſcheinlichkeit nach unbeſorgt an dieſem gedrückt 
und ſtumpfſinnig ausſehenden Zeitungshändler vor- 


— — — 


u Von N. F. Hermann. 207 


übergehen, 
in dem er $ 
alles an- 
dere eher 
vermutet 
als den ge- 
fährlichſten 
ſeiner 
Feinde. 
Man 
weiß, daß 
es eine 
Spezialität 
von Hotel- 
dieben und 
-diebinnen 
gibt, Die 
zuweilen 
das näm- 
liche Haus 
tage- oder 
wochen- 
lang un- 
ſicher ma- 
chen, ohne 
daß es ge- 
lingt, ihnen 
auf die 
Spur zu 
kommen. 
Ihr Trick 
beſteht dar- 
in, daß ſie 
als Gäſte 


Das Hotelgeſpenſt. 


208 Der Geheimpoliziſt bei der Arbeit. u 


in dem fraglichen Hotel Wohnung nehmen, möglichſt 
elegant und mit dem ſicheren Auftreten vornehmer 
Leute. Binnen kürzeſter Zeit pflegen fie mit den Ver— 
mögensverhältniſſen und den Gepflogenheiten der 


In der Maske des Hotelkellners. 


übrigen Hotelbewohner hinlänglich vertraut zu ſein, 
um zu wiſſen, in welchem Zimmer mit einiger Sicher— 
heit auf ergiebige Beute zu rechnen iſt, und in vor— 
gerückter Nachtſtunde, wenn alles in tiefſtem Schlafe 
liegt, unternehmen fie ihren Raubzug in einem eigens 


2 Bon RN. F. Hermann. | 209 


zu dieſem Zweck erfundenen Koſtüm, deſſen unheim- 
liches Ausſehen ihnen den Namen der „Hotelgeſpenſter“ 
eingetragen hat. 

Mit einziger Ausnahme des Geſichtes ſind ſie näm- 
lich vom Kopf bis zu den Füßen in ſchwarze Trikots 
und knapp anſchließende Gewänder von gleicher Farbe 
gehüllt, die ihre Geſtalt in der Dunkelheit beinahe un- 
ſichtbar machen. Auf Strümpfen, alſo vollkommen 
lautlos, huſchen ſie in dieſer Verkleidung über Treppen 
und Korridore bis zu dem ins Auge gefaßten Zimmer, 
immer bereit, ſich bei dem erſten verdächtigen Geräuſch 
in irgend einem Winkel zu verbergen. Wenn ihnen 
nicht — wie es oft genug der Fall iſt — die leichtſinnige 
Gewohnheit mancher Reiſenden, bei unverſchloſſenen 
Türen zu ſchlafen, zuſtatten kommt, bedienen ſie ſich 
eines gut gearbeiteten Diebswerkzeugs, um ſich Ein- 
tritt zu verſchaffen, und fie wiſſen faſt immer ſo ge- 
ſchickt zu hantieren, daß Brieftaſche, Börſe und Schmuck- 
gegenſtände des Schlummernden in ihren Beſitz ge- 
langen, ohne daß der Beſtohlene darüber aus ſeinem 
ſüßen Schlafe geweckt worden wäre. 

Unbemerkt, wie es gekommen iſt, huſcht das männ- 
liche oder weibliche Hotelgeſpenſt dann wieder davon, 
um am nächſten Tage mit unbefangener Miene als 
höflich und ehrerbietig behandelter Hotelgaſt an der 
Tafel zu erſcheinen. 

Folgen in einem Gaſthofe derartige anſcheinend un- 
erklärliche Diebſtähle raſch aufeinander, ſo liegt immer 
die Wahrſcheinlichkeit vor, daß ſich ein „Hotelgeſpenſt“ 
unter den Logiergäſten befindet, und der mit den 
Nachforſchungen betraute Geheimpoliziſt wird dann 
vermutlich immer auf ähnliche Weiſe zu Werke gehen 
wie unſer Detektiv auf Seite 208. In der Verkleidung 
eines Kellners oder Aufwärters findet er die beſte Ge- 

1913. I. 14 


210 Der Geheimpoliziſt bei der Arbeit. Ä 2 


legenheit, ſeine Beobachtungen anzuſtellen, und ſelbſt 
wenn er einmal vor einem Schlüſſelloch überraſcht 
werden ſollte, wird man in ſeinem Verhalten kaum 
ct. vas anderes erblicken als die tadelnswerte, aber nicht 


n 


ur 


N a 


Auf Beobachtungspoſten in einem Café. 


eben ſeltene Indiskretion eines neugierigen Bedien- 
ſteten. 

Die letzten fünf Bilder, die wir unſerer Skizze bei- 
geben, erzählen in anſchaulichſter Kürze die ganze Ge— 
ſchichte einer erfolggekrönten Verbrecherjagd. Wir 


0 Von R. F. Hermann. 211 


— FR 
N. 


Ss 


9 


— 


* 


Ein ſchwieriger Lauſcherpoſten 


ſehen den auf der Spur des Verdächtigen befindlichen 
Geheimpoliziſten zunächſt in einem Kaffeehauſe, wo 


212 Der Geheimpoliziſt bei der Arbeit. . 


er anſcheinend ein harmloſes Spielchen mit einem 
Kollegen macht, in Wirklichkeit aber durch den Spalt 
zwiſchen den Fenſtervorhängen unabläſſig ein gegen- 
überliegendes Haus beobachtet, aus dem die verdächtige, 
aber noch nicht hinlänglich überführte Perſönlichkeit 
ſeiner Vermutung nach herauskommen wird. Als 
dieſe Erwartung ſich dann wirklich erfüllt, eilt unſer 
Detektiv auf die Straße hinaus und folgt dem Bearg- 
wöhnten bis zum nächſten Oroſchkenſtandplatz, wo der 
vermutliche Verbrecher eines der Gefährte beſteigt. 
Um das Ziel der Fahrt kennenzulernen, ohne von 
ſeinem Opfer bemerkt zu werden, verbirgt ſich der 
Poliziſt hinter dem Wägen, bis er die dem Kutſcher 
erteilte Weiſung erlauſcht hat. Er weiß jetzt, daß ſein 
Mann zu einem beſtimmten Bahnhof gefahren ſein 
will, und während er ſelbſt ſich auf ſchnellſtem Wege 
ebendahin begibt, betraut er ſeinen Kollegen mit der 
Aufgabe, in einem Auto der Droſchke zu folgen, ſich 
zugleich mit dem Verdächtigen an den Fahrkarten 
ſchalter zu drängen, das angegebene Reiſeziel zu er— 
lauſchen und eine auf dies Ziel lautende Fahrkarte 
zu löfen. Daß er das alles nicht ſelbſt tut, erklärt ſich 
einleuchtend aus dem Wunſche, dem Verfolgten nicht 
aufzufallen. 

An einer verabredeten, abgelegenen Stelle des 
Bahnhofes nimmt er die für ihn gekaufte Fahrkarte 
in Empfang und benützt nun ſelbſtverſtändlich den— 
ſelben Zug wie der Verdächtige. Als ſie an ihrem 
gemeinſamen Ziele ankommen, iſt die Dunkelheit be- 
reits hereingebrochen, und unter ihrem Schutze kann 
der Detektiv unſchwer dem Verbrecher bis zu der 
gartenumgebenen Villa folgen, in deren Innerem der 
andere vorläufig ſeinen Blicken entſchwindet. Da alles 
darauf ankommt, feſtzuſtellen, was der Verdächtige 


Von N. F. Hermann. 213 


drinnen 
treibt, wirft 
der Poliziſt 
raſch den 
hinder- 
lichen Pa— 
letot ab 
und erklet- 
tert mit der 
turneri— 
ſchen Ge— 
wandtheit, 
die ſein Be- 
ruf von ihm 
verlangt, 
die ziem- 
lich hohe 
Garten- 
mauer, de- 
ren Anlage 
ihm glück- 
licherweiſe 
geſtattet, 
alles zu be- 
obachten, 
was hinter 
dem ein- 
zigen er— 


leuchteten 


Fenſter der 
Villa ge— 
ſchieht. 
Das Re— 
ſultat die- 


. 3 5 
nnd rt a r 


Am Fahrkartenſchalter. 


214 Der Geheimpoliziſt bei der Arbeit. . 


ſer Beobachtung iſt die volle Gewißheit, daß der bis 
jetzt nur Beargwöhnte in der Tat der geſuchte Kapital- 
verbrecher 
iſt. Gegen 
feine ſofor- 
tige Ver- 
haftung 
liegen jetzt 
keine Be- 
denken 
mehr vor, 
und es gilt 
nur noch, 
den Vogel 
nicht etwa 
im letzten 
Augen- 
blick ent- 
wiſchen zu 
laſſen. Da 
er offenbar 
die Abſicht 
hat, die 
Villa als- 
bald wie- 
der zu ver- 
laſſen und 
ſeine Flucht 
2 5 fortzu- 
— ſetzen, darf 
Nächtliche Beobachtung. keine Zeit 
mehr mit der Herbeiholung weiteren polizeilichen Bei— 
ſtandes verloren werden, und der Detektiv ſieht ſich 
für die Feſtnahme des ohne Zweifel ſehr gefährlichen 


ek 


D 


Burſchen 


ganz auf ſeine 
eigene Kraft 
und Ent- 
ſchloſſenheit 


angewieſen. 


Da er die 
Haustür ver- 
ſchloſſen fin- 
det, verſchafft 5 
er ſich durch = 
ein einge- 
drücktes Fen- 


Von N. F. Hermann. | 21 


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in die Villa, 
die zurzeit 


offenbar 
keinen ande— 


ren Bewoh- 


ner als ihren 2 


geheimnis- 


vollen nächt- | 
liben Befu- | 


cher hat. Auf 


der Diele, die 
der andere 


notwendig 
paſſieren 


muß, um ins a 


Freie zu ge- 
langen, ſtellt 
ſich der Be- 
amte auf, die 


ſchußfertige 


Der entſcheidende Augenblick. 


216 Der Geheimpoliziſt bei der Arbeit. 


0 


Browningpiſtole in der Linken, und in dem Augenblick, 
da der Miſſetäter vorſichtig die Zimmertür öffnet, um 
ſich nach Verbrecherart zu vergewiſſern, daß die Luft 
rein ſei, hält er ihm die Waffe vor das Geſicht mit der 
Aufforderung, ſich der polizeilichen Gewalt ohne Wider- 
ſtand zu ergeben. So vollſtändig iſt ihm die Über- 
rumpelung gelungen, daß der Beſtürzte, der noch eine 
Minute zuvor feſt entſchloſſen war, ſeine Freiheit mit 
den äußerſten Gewaltmitteln zu verteidigen, in der 
Tat nicht mehr an Widerſetzlichkeit denkt und ſich zähne 


knirſchend die Handſchellen anlegen läßt, die dem Poli- 


ziſten ohne Gefahr die Abführung des Arreſtanten in 
ſicheren Gewahrſam ermöglichen. 

Aber ſo glatt und einfach geht es in. ſolchen Fällen 
leider nicht immer ab, und die Umſicht, Geiftesgegen- 
wart und Tapferkeit unſerer wackeren Kriminalpoliziſten 
werden gar manchmal auf ungleich härtere Proben 
geſtellt als bei dieſem kleinen, aus zahlloſen anderen 
herausgegriffenen Beiſpiel ihrer mühevollen und ver- 
antwortungsreichen Arbeitsweiſe. 


= 
* 


EIEJEIKIEIEN 


Mannigfaltiges. 


* 


[nachoͤruck verboten.) 

Wie die Geiſter ausſehen. — Bekanntlich behaupten die 
Spiritiſten, mit den Geiſtern Verſtorbener in Verbindung 
zu ſtehen, und ſie ſind ferner der Anſicht, daß ſie ſich aus den 
Mitteilungen, die von den Medien in Trance oder im hypno- 
tiſchen Schlafzuſtand gegeben werden, ſowie aus den Klopf 
tönen, mit denen die Geiſter ihrer Meinung nach geſtellte 
Fragen beantworten, ſodann aus den angeblichen Geiſter— 
erſcheinungen ſelbſt und endlich durch photographiſche Auf- 
nahmen dieſer Erſcheinungen eine ausreichende Vorſtellung 
über die Natur der Geiſter bilden können. Wie beſchaffen nun 
dieſe vermeintlichen Geiſter ſein, welche Fähigkeiten ſie beſitzen, 
und wie fie ſich der irdiſchen Welt gegenüber verhalten ſollen, 
ſei im nachfolgenden geſchildert. Unſere Leſer, die von ſpiri- 
tiſtiſcher Befangenheit frei find, werden allerdings über der- 
artig un vollkommene „Geiſter“ ſicherlich den Kopf ſchütteln. 
Nach der Auffaſſung des Spiritiſten Lodge beſitzen die 
Geiſter einen ätheriſchen, ſtrahlenden Körper, können ſich aber 
für eine gewiſſe Zeit irdiſche Stoffe nutzbar machen, um daraus 
ein ſtoffliches Gefüge herzuſtellen, das den menſchlichen Sinnen 
wahrnehmbar wird. Dieſer ätheriſche Körper eines Geiſtes 
oder, wie man es auch nennt, das Fluidum — der flüſſig- 
gasartige Stoff — ſoll nun in ein Medium hineingehen, um 
ſich desſelben als Werkzeug zu bedienen, oder er ſoll ſich auch 
mit Hilfe des jenigen Fluidums, das auch der Seele des Me- 
diums eigen iſt, verdichten und ſich ſo als Geiſtererſcheinung, als 
Phantasma, offenbaren können. Das Medium d'Eſpérance 
ſchilderte die Lostrennung eines Geiſtes, der als Phantasma 


218 Mannigfaltiges. | 0 
POS EEE EN EEE EE EEE BEREEEEEEEBENI 22 BIENEN NEN EIERN EENHEEEER 
erſcheinen will, folgendermaßen: „Es ift mir, als werde ich 
mit Spinnengewebe bedeckt. Dann fühle ich, wie ſich die Luft 
mit einer weißen dampfartigen Maſſe anfüllt, die eine faſt 
leuchtende Helligkeit beſitzt. Dieſe Maſſe bewegt ſich minuten- 
lang und zuweilen eine halbe Stunde lang hin und her. Dann 
kommt fie plötzlich zur Ruhe, und neben mir ſteht ein Weſen.“ 

Nach den Ausſagen von Spiritiſten, die einer Geifter- 
erſcheinung beiwohnten, wird zuerſt ein leuchtender Nebel 
an der Perſon des in Trance befindlichen Mediums wahrge- 
nommen. Der Nebel wird allmählich dichter und erhält zuletzt 
menſchliche Körperformen. Staſia, der Geiſt eines kleinen 
Mädchens, der angeblich photographiert wurde, ſagte von ſich 
aus, ſein Geſicht beſtände aus Dampf, der in leuchtenden 
Kügelchen angehäuft ſei. Bekleidet ſind die Geiſter bei der 
Materialiſation, wie die Verdichtung genannt wird, mit einem 
ſehr feinen weißen Gewebe, das nach den Außerungen der 
Geiſter aus den Kleidern des Mediums entſteht. 

Hinſichtlich ihrer körperlichen Geſtalt gleichen während der 
Materialiſation die Geiſter zumeiſt den Verſtorbenen, alſo 
ihrem leiblichen Ich, ſolange ſie auf Erden lebten. Sie haben 
die Farbe ihres Kopfhaares oder ihrer Haut, ihre beſonderen 
Merkmale, ihre Hände und Füße. Der Spiritiſt Denton 
konnte, wie er behauptete, ſogar Abdrücke von den Füßen 
und Händen eines Geiſtes in Paraffin erzielen, wobei das 
Medium Hardy, das den Geiſt erſcheinen ließ, zwei Fuß von 
dem Paraffin entfernt war. Bei einem zweiten Verſuch war 
das Paraffin in einen Kaſten verſchloſſen, der mit einem 
dreifachen Drahtnetz umwickelt und verſiegelt war. Nach der 
Offnung des Kaſtens ſoll das Paraffin den Abdruck einer 
größeren Hand gezeigt haben. Männer erſcheinen als Männer, 
Frauen als Frauen und Kinder als Kinder. Die Handſchrift 
der Geiſter iſt die, wie fie fie zu Lebzeiten beſaßen. 

Auch treten ſie oft in der Kleidung auf, die ſie auf Erden 
trugen. So erſchien das Phantasma Bien-Boa dem Sptritiſten 
Richet während der zwanzig Sitzungen, die beim General 
Neel in Alger veranſtaltet wurden, mit Helm und Turban. 
An dieſem Geiſt konnte Richet ſogar die Atmung feſtſtellen. 


D | Mannigfaltiges. 219 


Richet ftellte ein Gefäß mit klarem Barytwaſſer auf, in das 
die ausgeatmete Luft durch eine Röhre geleitet wurde. Bien- 
Boa empfing nun die Röhre von dem General N.El und blies 
in ſie hinein. Nach einiger Zeit erhielt das Barytwaſſer eine 
weißliche Trübung, wie ſie ſich infolge der Kohlenſäure bildet, 
die der Menſch bei der Ausatmung mit der Luft von ſich gibt. 
Selbſt dieſer unfaßliche Vorgang wird von den Spiritiſten 
gutgläubig hingenommen. 

Die Geiſter intereſſieren ſich für den Zuſtand auf Erden 
und ihre noch lebenden Angehörigen. Allwiſſend ſind ſie leider 
nicht, ja ſie irren ſich ſogar in Angelegenheiten, die auf ihr 
ehemaliges irdiſches Leben Bezug haben. So fragte der Spi- 
ritiſt Lodge den Geiſt ſeines Onkels Ferry nach einem früher 
paſſierten Unfall. Der Geiſt antwortete: „Wir waren in einem 
Kahn. Dieſer ſchlug um, ſo daß wir nach dem Ufer ſchwimmen 
mußten. Fragt meinen Bruder Robert.“ Dieſer Bruder 
Robert erinnerte ſich auch noch des Unfalls, doch berichtete 
er, das Boot ſei nicht umgeſchlagen, ſondern er und ſein Bruder 
hätten am Ufer gerungen, wobei fie ins Waſſer gefallen feien. 
Derartige Irrtümer kommen mehrfach vor. Der Geiſt Pelham 
gab für dieſe irrtümlichen Bekundungen klugerweiſe folgende 
Erklärung ab: „Wenn wir Geiſter uns euch offenbaren wollen, 
ſo müſſen wir uns in eine Sphäre begeben, die uns wenig 
behagt. Ich habe meinen Verſtand wie früher beiſammen, 
aber es bereitet mir doch Schwierigkeiten, mit euch zu ſprechen. 
Denn, um mit euch zu reden, muß ich mich in einen Körper 
begeben und darin träumen. Ihr müßt deshalb Irrtümer 
und Unterbrechungen verzeihen.“ 

Sind die Geiſter nicht allwiſſend, fo wiſſen fie doch, wenig- 
ſtens nach ſpiritiſtiſcher Behauptung, die Zukunft voraus. Der 
Spiritiſt Stead machte ſeine Studien an einer Frau E. M., 
die etwas unruhiger Natur war. Eines Tages ſagte ihm der 
Geiſt Julia, der mit der E. M. befreundet geweſen war: 
„Sei geduldig mit ihr, in einem Jahr wird ſie bei mir ſein.“ 
Mehrere Monate ſpäter verſchluckte die E. M. aus Verſehen 
einen Nagel, ſo daß die Arzte glaubten, ſie würde ſterben. 
Der Geiſt Julia aber verkündigte: „Nein, ſie wird geſund 


220 Mannigfaltiges. | u 


— . ——. . — . — ͤ ͤ ſ———.9 


werden und erſt am Ende dieſes Jahres ſterben.“ In der Tat 
wurde die Frau geſund. Später erkrankte ſie an Influenza, 
und man befürchtete wiederum ihren Tod. Aber der Geiſt er- 
klärte: „Sie wird erſt am Ende des Jahres eines unnatür- 
lichen Todes ſterben.“ Endlich teilte der Geiſt Stead mit: 
„Beſucht morgen die E. M. und ſagt ihr lebewohl. Ihr 
werdet ſie nicht mehr auf Erden ſehen.“ Stead ſtattete auch 
der E. M. einen Beſuch ab. Sie hatte Fieber und Huften. 
Zwei Tage ſpäter ſoll ihm durch ein Telegramm gemeldet 
worden ſein, die Frau E. M. habe ſich im Oelirium aus 
dem Fenſter geſtürzt und ſei ſofort verſtorben. 

Im Zenfeits behalten die Geiſter komiſcherweiſe den Cha- 
rakter bei, der ihnen auf Erden eigen war. Es gibt daher gute 
und böſe Geiſter. Die letzteren ſuchen die Menſchen zu ver— 
führen, was aber die guten Geiſter zu verhindern trachten. 
Wie ſehr die Geiſter an ihrem früheren Charakter feſthalten, 
ſoll nach ſpiritiſtiſcher Auffaſſung folgender Bericht des Doktors 
Imoda in Turin beweiſen, der feine Sitzungen mit dem Medium 
Lina abhielt. Ein Geiſt, der ſich als Leutnant ausgab, war 
brutal und heftig. Er wollte ſtets, daß mit ihm nur im Oialekt 
von Piemont geſprochen werde. Seinen Namen nannte er 
nicht, verriet dann aber, daß er vor dreizehn Jahren in einem 
Duell gegen einen Zournaliſten in Savigliano gefallen ſei. 
Nun ftellte man in dieſem Orte Nachforſchungen an und er- 
fuhr von den Offizieren, daß ſich hier der Kavallerieoffizier 
Demos wegen eines öffentlichen Skandals mit einem Zour- 
naliſten geſchlagen habe und tödlich verwundet worden ſei. 
Der Verſtorbene ſei allgemein als brutal und ſtreitſüchtig be- 
kannt geweſen. Nun war es dem Doktor Zmoda völlig klar, 
daß ſein Geiſt der ehemalige Leutnant Demos war! 

Da die Geiſter einen Körper beſitzen, ſo können ſie auch 
immer nur an einem einzigen Ort ſein. Zedoch bewegen ſie 
ſich mit bedeutender Schnelligkeit fort. Derſelbe Geiſt, der 
einem Spiritiſten erſchienen war, erſchien wenige Minuten 
ſpäter einem zweiten Spiritiſten, obgleich er mehrere hundert 
Kilometer von dem erſten entfernt war. 

Schließlich ſei noch erwähnt, wie die Geiſter über den Tod 


2 Mannigfaltiges. 221 


und über ihren Aufenthalt im Senfeits urteilen. Als der ita- 
lieniſche Dichter Carducci geſtorben war, bezeichnete ein Geiſt 
deſſen Tod als ein freudiges Feſt. Ein anderer bekundete, 
daß er glücklich ſei, die Kümmerniſſe des Lebens überwunden 
zu haben, und ein dritter zeigte über ſeinen Tod eine ſtrahlende 
Glückſeligkeit. Th. S. 

Weder Ochs noch Bär. — Es iſt wohl wenig bekannt, daß 
die landläufige Redensart: 

ö Die Eiſenbahn in ihrem Lauf 

Hält weder Ochs noch Eſel auf 
einen tatſächlichen hiſtoriſchen Urſprung hat. 

Als die kurheſſiſche Regierung, dem ſchon öfters geäußerten 
dringenden Verlangen der Bevölkerung des Kurſtaates, daß 
auch dieſer dem Eiſenbahnverkehr angeſchloſſen werden möge, 
endlich nachgebend, im Jahre 1843, nach vorherigen Verhand- 
lungen mit Preußen und Sachſen- Weimar, den Bau einer Bahn 
von Kaſſel nach Eiſenach beſchloſſen hatte und zu deſſen Vor- 
bereitung dem Landtage ein entſprechendes Erpropriations- 
geſetz vorlegte, wurde dieſe Vorlage wider Erwarten von einem 
Teile der Landſtände heftig bekämpft. Dabei taten ſich als 
beſonders eifrige Gegner des projektierten Bahnbaues der 
Oberſt im kurheſſiſchen Generalſtabe Karl v. Ochs und der 
Lehrer an der Kadettenſchule zu Kaſſel Wilhelm Bähr, die 
beide als Abgeordnete dem Landtag angehörten, hervor. Sie 
erhoben gegen die Einführung des neuen Verkehrsmittels 
entſchiedenen Widerſpruch, und zwar Ochs aus militäriſchen, 
Bähr aus geographiſchen Gründen, in Wirklichkeit jedoch, 
weil ſie von jenem ein raſches Eindringen revolutionärer 
Tendenzen in die Bevölkerung des Kurſtaates befürchteten. 

Durch ihre heftige und doch erfolgloſe Gegnerſchaft gegen 
das neue Verkehrsmittel hatten die beiden Offiziere das Miß— 
fallen und den Spott der die neue Bahnlinie ſehnlichſt wün— 
ſchenden Bevölkerung, beſonders auch in der Nefidenz Kaſſel, 
hervorgerufen, und den dortigen Malern bot ſich hierbei eine 
günftige Gelegenheit, ihrer Spottluſt gegen die beiden ver- 
haßten Reaktionäre durch ſatiriſche Bilder und Zeichnungen 
Luft zu machen. Von dieſen, deren Zahl damals recht groß 


222 Mannigfaltiges. 1 
geweſen ſein ſoll, haben ſich noch einige im Privatbeſitz erhalten 
und ſtellen einen Eiſenbahnzug dar, gegen deſſen Lokomotive 
ein wutentbrannter Ochſe mit vorgeſtreckten Hörnern anrennt, 
während ein gewaltiger Bär durch Umklammern eines der 
Räder den Zug zum Stehen zu bringen ſucht. Unter dem lebens- 
voll entworfenen und ſorgfältig ausgeführten Bilde lieſt man 
den Vers: 


Die Eiſenbahn in ihrem Lauf 
Hält weder Ochs noch Bär mehr auf. 
Dieſe urſprüngliche Faſſung hat nun im Laufe der Zeit der 
eingangs erwähnten gemeinverſtändlicheren und geläufigeren 
weichen müſſen. R. v. B. 
Ein Wiederbelebungsapparat. — In den Fällen, wo das 
Leben im Entfliehen begriffen iſt, wie bei Perſonen, die dem 


An des Wiederbele 


DES 


arates. 


2 


legung bungsapp 


Ertrinken nahe waren, durch die Einatmung von Rauch und 
giftigen Gafen mit dem Tod ringen oder von ſtarken elek— 


2 Mannigfaltiges. 225 


triſchen Strömen getroffen worden ſind, iſt die Einleitung 
der künſtlichen Atmung von höchſter Wichtigkeit. Man nimmt 
fie meiſt in der Weiſe vor, daß der eine der Hilfeleiſtenden die 
Zunge des Beſinnungsloſen herauszieht, während ein anderer 
die Arme ſo weit nach rückwärts hebt, bis die Ellbogen den 
Kopf berühren. Dann werden die Arme wieder nach vorn 
bis zu den Seiten geführt. Man wiederholt dieſe Bewegungen 
in einem ſolchen Tempo, daß auf die Minute fünfzehn Atem- 
züge entfallen. 

Da dieſe künſtliche Atmung längere Zeit fortgeſetzt werden 
muß, ſo wirkt ſie recht anſtrengend. Daher hat Doktor 
K. A. Fries jetzt einen Wiederbelebungsapparat konſtruiert, 
mit dem die künſtliche Atmung von einer einzigen Perſon 
beliebig lange Zeit ausgeübt werden kann. Der Apparat iſt 
ziemlich einfach, wiegt nur wenige Pfund und hat ſich be- 
reits in einer Anzahl von Fällen als außerordentlich brauch- 
bar erwieſen. Th. S. 

Drei intereſſante Rechenkunſtſtücke. — In einer Geſellſchaft 
wollte die Unterhaltung nicht recht in Fluß kommen. Das 
Geſpräch ſchleppte ſich nur mühſelig hin, trotzdem die Gaſt— 
geber krampfhafte Anſtrengungen machten, die Langeweile 
durch allerlei Mittel zu verſcheuchen. Da fand ſich ein rettender 
Engel in Geſtalt eines Herrn A., der nach beſcheidener Anfrage, 
ob er den Herrſchaften vielleicht einige verblüffende Rechen- 
kunſtſtücke zeigen dürfe, was allſeitig freudig bejaht wurde, 
Bleiſtift und Papier zur Hand nahm und dann zunächſt einen 
der Gäſte bat, eine beliebige vierſtellige Zahl aufzuſchreiben. 

Herr B. ſchrieb 4321. 

„Ich werde jetzt auf dieſes Stückchen Papier,“ ſagte 
A. darauf, „das Nefultat ſchreiben, das bei der Ad— 
dition herauskommen wird, wenn zwei andere Herren 
noch zwei vierſtellige beliebige Zahlen unter die erſte 
ſetzen und ich ebenfalls zwei beliebige vierſtellige Zahlen 
hinzufüge.“ 

Er ſchrieb die Summe auf und legte den Zettel verdeckt 
in die Mitte des Tiſches. Kein Wunder, daß man äubßerſt 
geſpannt war, ob das Experiment glücken würde. 


224 Mannigfaltiges. 2 


— — — — — — — — — 


B. hatte geſchrieben 4321 
Herr C. ſchrieb 5829 
Jetzt ſchrieb A. ſelbſt 4170 
- Darauf Herr D. 3256 
Nun wieder A. ſelbſt 6743 
was zuſammen 24,519 ergibt. 


„So, meine Herrſchaften,“ meinte A., „nun vergleichen 
Sie das von mir vorher aufgeſchriebene Reſultat mit dem 
jetzigen.“ 

Man faltete den in der Mitte des Tiſches liegenden Zettel 
auseinander. Oarauf ſtand wirklich genau dieſelbe Zahl — 
24,519. 

Wie hatte nun A. das Refultat vorherwiſſen können? 

Sehr einfach. Als B. die erſte Zahl 4521 aufgeſchrieben 
hatte, zog A. von dieſer ſchnell 2 ab und ſtellte dieſe Zahl vor 
das Neſultat der Subtraktion. Alſo: 

4321 — 2 4,319 
2 vorgeſtellt = 24,319. 

Herr C. ſchrieb bekanntlich unter die erſte Zahl 4321 
die Zahl 5829. 

A. tat nun ſo, als ob er hierunter ebenfalls eine „beliebige“ 
vierſtellige Zahl ſetzte. In Wirklichkeit ſchrieb er unter die 
5829 eine Zahl, deren einzelne Ziffern ſich mit denen der 
vorſtehenden ſämtlich zu neun ergänzten. 


Alſo C. 3829 
A. 4170 
9999. 


Darauf hatte Herr D. den bisherigen drei Zahlen 3256 
hinzugefügt. Wieder ſchrieb A. unter dieſe Zahl nur ſcheinbar 
beliebige vier Ziffern. Tatſächlich ſah er zu, daß ſeine Ziffern 
und die vorſtehenden des D. ſich wieder ſämtlich zu neun 
ergänzten. 

Alſo D. ſchrieb 3256 
A. ſchrieb 6743 
9999. 
Dieſe fünf Zahlen zuſammen ergaben dann 24,319. 
Verfährt man wie Herr A., ſo wird man ſich überall als 


2 Mannigfaltiges. 225 


Rechenkünſtler aufſpielen können. Man hat nur ftets 2 von 
der erſten vierſtelligen Zahl abzuziehen und dieſe 2 vor das 
Reſultat dieſer Subtraktion zu ſetzen, fo beſitzt man ſchon das 
Reſultat, wenn man nur nachher die zweite und vierte Zahl 
durch die daruntergeſetzte dritie und fünfte Zahl zu neun cr- 
gänzt. Das Kunſtſtück muß dann immer gelingen und wird 
bei einigem Geſchick in der Ausführung überall höchſt ver- 
blüffend wirken. — 

Herr A. machte hierauf folgendes Kunſtſtück: „Ich werde,“ 
ſagte er, „jetzt den Tag und den Monat der Geburt unſeres 
verehrten Hausherrn erraten, deſſen Geburtsdatum mir bisher 
nicht bekannt iſt. — Wollen Sie,“ wandte er ſich an den Gaft- 
geber, „den Tag Ihrer Geburt zunächſt mit 2 multiplizieren, 
mir das Refultat aber nicht nennen. Zählen Sie nun zu dieſem 
Refultat im ſtillen 5 zu, multiplizieren Sie das neue Refultat 
mit 5 und zählen Sie hierzu wieder die Monatszahl Ihres 
Geburtsdatums hinzu, und dieſe Zahl nennen Sie mir jetzt.“ 

Nach einer kurzen Pauſe ſagte der Hausherr: „48.“ 

„Haben Sie in den erſten neun oder den letzten drei Monaten 
des Jahres Geburtstag?“ fragte A. weiter. 

„In den erſten neun Monaten.“ 

„So, dann ſind Sie alſo am 2. März geboren.“ 

Es ſtimmte. 

Wie brachte A. nun dieſes Kunſtſtück fertig, wo ihm doch 
nur die Zahl 48 und die Tatſache bekannt war, daß der Gaft- 
geber in den erſten neun Monaten Geburtstag hatte? 

Die Sache iſt hier etwas komplizierter wie bei dem erſten 
Zahlenſcherz. A. hat von der Zahl 48, die ihm genannt wird, 
25 abzuziehen, wenn der Betreffende in den erſten neun 
Monaten geboren iſt, was (48 — 25) 23 ergibt, wovon 2 der 
Tag der Geburt und 3 der Monat (2. März) iſt. Hätte der 
Hausherr ſtatt der 48 eine andere Zahl herausgerechnet und 
dann geſagt, daß er in den letzten drei Monaten geboren ſei, 
ſo hätte A. 34 von dieſer Zahl abziehen müſſen, was man ſich 
genau merken muß. 

Zum leichteren Behalten des hübſchen Zahlenſpiels die 
Ausrechnung: 

1913. L R 15 


226 Mannigfaltiges. 0 


Der Hausherr war geboren am 2. März. 
Geburtsdatum x 2=2x2=4 
Hierzu 5 addiert = 9. 
Dieſes 5 = 45. 
Hierzu die Monatszahl 3 = 48. 

Dieſe Zahl erſt läßt der Rechenkünſtler ſich nennen und fragt 
dann: „Geboren in den erſten neun oder den letzten drei Mo- 
naten?“ — Wenn in den erſten neun, dann ziehe man 25, 
wenn in den letzten drei, 34 ab. Das Reſultat ſtimmt immer. 
Alſo zum Beiſpiel, jemand iſt am 12. Dezember geboren. Dann 
lautet die Rechnung: 2x 12 = 24, 24 + 5 = 29, 29 4 5 
—= 145, 145 + 12 = 157. 

Von 157 wird, da in den letzten drei Monaten geboren, 
34 abgezogen = 123, alſo am 12. und zwar am dritten der 
drei letzten Monate, das iſt Dezember. — 

Auch dieſes Kunſtſtück fand vielen Beifall. „Nun will ich Ihnen 
zum Schluß noch etwas ganz Intereſſantes zeigen,“ ſagte A. 
„Ich ſchreibe hier die Zahlenreihe 12,345,679 auf. Bitte, 
wollen Sie, Herr B., dieſe Zahl mit — ſagen wir mit 18 multi- 
plizieren. Ich kann das Exempel im Kopf löſen und ſchreibe 
hier ſchon das Reſultat auf.“ Er ſchrieb 222,222,222. 

Als B. mit ſeiner Rechnung nach einer Weile fertig war, 
hatte er ebenfalls 222,222,222 herausgerechnet. 

„Das Reſultat wußten Sie eben ſchon vorher, Herr A.,“ 
meinten einige Zweifler. 

„Gut. Machen wir alſo noch eine Probe, zum Beiſpiel 
mit 36, was doch noch ſchwieriger ſein dürfte,“ ſagte A. 

Als B. 12,345, 679 mit 36 multipliziert hatte, war A. längſt 
mit der Rechnung im Kopf fertig geworden. Sein Reſultat 
ſtimmte genau mit dem des B. überein. Es war 444, 444, 444. 

Wie konnte A. dies ſo ſchnell im Kopf ausrechnen? — Nun, 
er wußte eben, daß die Zahlenreihe 12,345, 679 (alſo ohne die 8) 
mit 9 multipliziert neun Einer, mit dem Doppelten von 9 
(= 18) dagegen neun Zweier, mit dem Doppelten von 18 (= 56) 
neun Vierer und fo weiter ergibt, und brauchte daher fein Er- 
periment nur mit dieſen Zahlen (9, 18, 36, 72 und fo weiter) 
vorführen zu laſſen, dann blieb er ſtets Sieger. W. Kabel. 


e Mannigfaltiges. 227 


— — —— — —— 2 — — ͤ üä6—ͤU 


Der ſterbende König. — Der engliſche Schauſpieler Mac- 
ready, deſſen Hamlet ſich ebenſo großer Berühmtheit in 
England erfreute wie der des unlängſt verſtorbenen Zofeph 
Kainz in Deutſchland, gaſtierte einmal an dem Theater in 
Liverpool. Natürlich eröffnete er ſein Gaſtſpiel mit ſeiner 
Glanzrolle. Am Vormittag wurden einige Szenen noch ſchnell 
durchgeprobt. Dabei gab Macready beſonders feinen beiden 
Kollegen, die den König und den Laertes ſpielen ſollten, 
genaue Anweiſungen darüber, daß er unmittelbar an der 
Rampe links neben dem Souffleurkaſten einen freien Platz 
brauche, damit er in würdiger Weiſe ſeinen letzten Seufzer 
aushauchen könne. | 

„Ich fpiele den Hamlet heute zum achtundneunzigſten 
Male, und ſtets ftärb ich an der genannten Stelle. Alſo richten 
Sie ſich danach!“ fügte er etwas anmaßend hinzu. 

Die beiden Kollegen ärgerte dieſer überhebende Ton nicht 
wenig. Der Darſteller des Königs dachte am Abend bei der 
Aufführung daher auch nicht im geringften daran, Macreadys 
Wunſch nachzukommen, ſondern ſtarb gerade an dem Platze, 
den ſich der große Mime für ſeinen eigenen Tod vorbehalten 
hatte. 

Als der ſterbende König zu Boden geſunken war, flüſterte 
Macready: „Sie ſollen doch weiter hinten ſterben!“ 

Der König aber antwortete nicht, ſondern ſtarb, wo er 
gerade lag. | 

„Können Sie nicht hören!“ flüſterte Macready erboft. 
„Herr! Sie ſollen weiter hinten ſterben!“ 

Da hob die königliche Leiche den Kopf ein wenig und ſagte 
kaltblütig mit vernehmlicher Stimme: „Stören Sie mich nicht! 
Noch bin ich hier König und kann ſterben, wo es mir paßt!“ 

Dieſe merkwürdige Zurechtweiſung löſte im Zuſchauer- 
raum ſchallende Heiterkeit aus, und erſt als dieſe ſich gelegt 
hatte, konnte der vor Wut zitternde Hamlet ſein Spiel fortſetzen 
und dort ſterben, wo er gerade ein Plätzchen fand. W. K. 

Soldatenweiber. — Zu welchen für unſer Empfinden 
abſtoßenden Strafmitteln man noch gegen das Ende des 
17. Jahrhunderts griff, zeigt folgender Bericht aus dem 


228 Mannigfaltiges. 2 


Jahre 1687: „Vergangenen Mittwoch hatten wir eine artige 
Exekution wider eine Weibsperſon, die ſich gegen das öfters 
geſchehene Verbot heimlich mit einem Soldaten hatte trauen 
laſſen. Sie wurde durch den Steckenknecht auf öffent- 
lichem Markt an den Eſel geſchloſſen und nachgehends von 
ſelbigem alle halbe Stunden mit ſechs Eimer Waſſer begoſſen. 
Dieſe Strafe währte von morgens acht bis elf Uhr. Es fehlte 
dabei nicht an einer großen Menge Volks, die ihr bei jedem 
Guß gratulierte. Wie ſie endlich losgelaſſen war, wurde ſie 
mit großem Geſchrei zum Tor hinausbegleitet. Der Soldat 
ſitzt noch in ſchwerer Haft, weil er ohne dieſes Weib noch eine 
andere Frau hat, wobei noch beſonders bemerkenswert iſt, 
daß dieſe, des Kerls erſte Frau, ebenfalls zwei Männer hat. Der 
Delinquent wird ſeine doppelte Heirat wohl mit dem Leben 
bezahlen müſſen, es wäre denn, daß ihm der ſonderliche Kaſus 
mit ſeiner erſten Frau etwas zuſtatten käme.“ Th. S. 

Aufgaben für Forſchungsreiſende. — Es iſt ein Irrtum, 
zu glauben, daß die Oberfläche der Erde nunmehr erforſcht iſt, 
den Forſchungsreiſenden bietet ſich vielmehr immer noch ein 
weites Feld ihrer Tätigkeit. So in Afrika die Hochlande von 
Tibeſti und Ahaggar, das Land Wadai und das Sobatgebiet. 
Wuadai iſt bisher nur von ſehr wenigen Forſchern bereiſt 
worden, und wenn ſich ja auch dem Eindringen in das Land 
ſelbſt ungeheure Schwierigkeiten entgegenſtellen, ſo glaubt 
man doch, daß in den angrenzenden Gebieten, die von dem 
oberen Benue oder dem Ubangi-Uelle aus zugänglich ſind, 
gute Reſultate erzielt werden könnten. 

Auch Aſien weiſt unerforſchte Gebiete nach verſchiedenen 
Richtungen hin auf. Trotz der in den jüngſten Jahren erfolgten 
Reiſen im Oman und im Hadramaut gibt es in Arabien immer 
noch ein weites, gänzlich unbekanntes Gebiet. In Perſien 
ſind große Teile von Luriſtan und das Land der perſiſchen 
Kurden noch zu bereiſen. Weiter öſtlich haben Sven Hedin 
und andere, fo ausgedehnt ihre Reiſen auch waren, für den 
zukünftigen Entdecker noch viel übrig gelaſſen. Die Päſſe, 
die von Tibet nach Nepal führen, die mächtige Gebirgskette, 
die das Djangpotal im Norden begrenzt, und weite Gebiete 


2 Mannigfaltiges. 229 


des nördlichen Hochplateaus harren noch der wiſſenſchaftlichen 
Erforſchung. 

Der große Fluß Oſangpo, der vom vierundneunzigſten Meri- 
dian bis zu ſeinem Eintritt in das Tal von Aſſam den Namen 
Dihong führt, iſt ſo gut wie vollſtändig unbekannt. Auch die 
Gegend, die das komplizierte Gebirgs- und Flußſyſtem zwiſchen 
Indien und China umſchließt, verſpricht dem kühnen Entdecker 
reichen Lohn, da wir darüber noch ſehr viel zu erfahren haben. 

Auch viele Inſeln, die dem Süden Aſiens vorgelagert ſind, 
laſſen den Forſchungsreiſenden auf gute Ausbeute hoffen, 
namentlich die im Archipel von Neuguinea. Einige dieſer 
Inſeln öſtlich von Neuguinea ſind noch von keines Europäers 
Fuß betreten worden. g 

Nordamerika iſt genügend durchforſcht, indeſſen gibt es doch 
in Kanada noch große Strecken unbekannten Landes, die den 
Beſuch des Forſchungsreiſenden erwarten. Das Land aber, 
in dem der wiſſenſchaftliche Reiſende noch beſonders große 
Aufgaben zu löſen hat und in dem noch ausgedehnte Gebiete 
gar nicht bekannt find, iſt Südamerika. Obgleich dieſer Ron- 
tinent viel reicher als Afrika iſt, und obwohl er ſchon die 
kühnſten Forſchungsreiſenden in ſeine Urwälder zog, hat man 
ihm dennoch bei weitem nicht ſo viel Beachtung geſchenkt wie 
„dem dunklen Erdteil“. 

Noch viele Teile der kolumbiſchen Kordilleren find zu er- 
forſchen, ebenſo auch das Quellgebiet mehrerer nördlicher Neben 
flüſſe des Amazonenſtromes; auch im Oſten dehnen ſich kolof- 
ſale Länderſtrecken aus, von denen wir noch ſo gut wie nichts 
wiſſen. Es iſt das jene wilde, mit Urwäldern bedeckte Gegend, 
in der die Abenteurer des 16. Jahrhunderts nach dem 
Dorado ſuchten. Südlich davon iſt auch noch viel zu entdecken. 
Großes Sntereffe bieten viele unbekannte Teile der peruaniſchen 
Anden, beſonders die wenig erforſchte Gegend um den Parina— 
cochasſee. Die Berggipfel des ſich über Tarapaca hinziehenden 
Zuges ſind noch von niemand beſtiegen und einige von ihnen 
noch nicht einmal gemeſſen worden. g. C. 

Das neue Rieſenunterſeeboot Englands. — Wie bei den 
Panzerſchiffen macht ſich auch bei den Unterſeebooten das Be- 


250 


ſtreben geltend, ihnen 
immer rieſigere 
Größenverhältniſſe zu 
verleihen. Man be- 
zweckt damit bei den 
Anterſeebooten, daß 
ſie infolge der Ver— 
mehrung der Mafchi- 
nenkräfte und des 
Heizmaterials im- 
ſtande ſind, mit der 
gleichen Geſchwindig— 
keit wie die Linien- 
ſchiffe auf die hohe 
See hinauszugehen 
und ſo in einer See— 
ſchlacht gegen die 
feindliche Flotte ver- 
wendet werden zu 
können. Für Rußland 
werden jetzt beijpiels- 
weiſe gepanzerte 
Unterſeeboote von 
26 Seemeilen Ge— 
ſchwindigkeit gebaut, 
die eine Höhe von 
7,6 Meter und unter- 
getaucht eine Waſſer— 
verdrängung von 
4500 Tonnen erhalten 
ſollen. Außer mit 
36 Torpedorohren 
werden fie mit fünf 12“ 
Zentimeter-Schnell— 
ladekanonen und über- 
dies noch mit See— 
minen ausgerüſtetſein. 


Mannigfaltiges. 
— 3 


Das Rieſenunterſeeboot 77 vor dem Untertauchen, 


* 


2 Mannigfaltiges. 231 
In der gleichen Richtung ſchreitet die engliſche Marine fort. 
Ihr neueſter Typ iſt das Rieſenunterſeeboot „D 7“, das die 
Flottennummer 77 führt und im Kriegshafen von Ports 
mouth ſtationiert worden iſt. Dieſer Unterſeekreuzer, wie 
man das Fahrzeug wegen feiner Größe bezeichnen kann, ver- 
mag 48 Stunden unter Waſſer zu bleiben und hat einen Aktions- 
radius von 4000 Seemeilen, wenn er das volle Heizmaterial 
an Bord genommen hat. Als Heizmaterial dient Petroleum, 
deſſen Dämpfe die Beſatzung in keiner Weiſe beläſtigen, wie 
es früher oft der Fall war. Die Maſchinen ſind Dieſelmotoren 
von 1200 Pferdeſtärken. Ein kleiner Panzerturm iſt mit zwei 
Geſchützen ausgerüſtet. Eine ſenkrecht geſtellte Floſſe auf 
dem Heck findet Verwendung bei der Steuerung unter 
Waſſer. Th. S. 

Wie viel Zeit verbringt eine Frau vor dem Spiegel? — 
Ein Frauenkenner, der als Sohn, Bruder, Enkel, Bräutigam, 
Neffe, Vater und Großvater ſeine Beobachtungen anſtellte, 
hat eine wichtige Lücke in der ſtatiſtiſchen Wiſſenſchaft aus- 
gefüllt. Er iſt nämlich dahin gelangt, die gewiß wichtige Frage, 
die an der Spitze dieſer Zeilen ſteht, zu beantworten. Es wird 
dabei der Zeitraum vom 6. bis zum 70. Lebensjahre ange- 
nommen. 

Das kleine Mädchen vom 6. bis zum 10. Lebensjahre 
verbringt täglich 7 Minuten vor dem Spiegel, vom 10. bis 
zum 15. Jahre verfolgt die Heranwachſende ihre erblühende 
Schönheit 16 Minuten lang, vom 15. bis 20. erfreut ſie 
ſich täglich 20 Minuten lang der Herrlichkeit. In den nun 
folgenden Jahren vom 20. bis 25. werden 22 Minuten not- 
wendig, vom 25. bis 30. ſteigert ſich der Zeitaufwand bis 
zu 28 Minuten. Sodann geht die Linie wieder abwärts, 
denn vom 30. bis 35. Lenz werden 4 Minuten weniger not- 
wendig, in der Periode vom 35. bis 40. Jahre ſinkt die Quote 
auf 18 Minuten, vom 40. bis 50. auf 12 Minuten und vom 
50. bis 60. Jahre auf 7 Minuten. In dem Jahrzehnt vom 
60. bis 70. begnügt ſich die Frau mit der Kleinigkeit von 
6 Minuten. d 

Es ergibt ſich alles in allem die reſpektable Geſamtſumme 


252 Mannigfaltiges. 2 


von 349,575 Minuten, das ſind 5826 Stunden oder etwas 
mehr als 242 Tage. Die wichtige Frage: „Wie viel 
Zeit verbringt die Frau vor dem Spiegel?“ läßt ſich 
daher ziemlich präzis dahin beantworten: Rund acht 
Monate. 

Dies iſt aber nur für Frauen mit einer normalen Tätigkeit 
richtig, denn eine Mode- und Geſellſchaftsdame muß in dieſer 
Frage bedeutend höher eingeſchätzt werden. A. Sch. 

Die Ehrung eines Helden. — Eine ſeltene Ehrung hat 
kürzlich der Zar von Rußland vollzogen. Auf Allerhöchſten 
Befehl iſt der Bombardier Agaſon Nikitin „auf ewige Zeiten“ 
den Liſten der ſechſten Batterie der 21. Artilleriebrigade 
einverleibt worden. | 

Dieſer ſchlichte Soldat ift ein echter Held geweſen. Als die 
Feſtung Gök-Tepe 1881 belagert wurde, nahmen die Te— 
kinzen während eines nächtlichen Ausfalles den Bombardier 
Agaſon Nikitin gefangen. Sie führten ihn zu einer Kanone, 
die ſie kurz vorher von den Ruſſen erbeutet hatten, und 
wollten ihn, da ſie ſelbſt nicht verſtanden, das Geſchütz zu 
bedienen, veranlaſſen, auf die Ruſſen zu ſchießen. Aber 
weder Verſprechungen noch Drohungen halfen — der Sol- 
dat blieb unerſchütterlich bei ſeiner Weigerung. Die Tekinzen 
wurden ſchließlich wütend und fingen an, ihn auf barbariſche 
Weiſe zu martern. Sie ſchnitten ihm die Ohren und die Naſe 
ab, ſchnitten große Stücke Fleiſch aus ſeinem Rücken — ſie 
röſteten den Unglücklichen an einem Feuer, aber nichts ver- 
mochte ihn dahin zu bringen, ſeinem Fahneneid untreu zu 
werden. Er ſtarb den grauſamſten, qualvollſten Tod für ſeine 
Soldatenehre. 

Dieſem Helden iſt nun auf dem Wall von Gök Tepe, 
gegenüber der Kaſerne der ſechſten Batterie der 21. Artillerie- 
brigade, ein Denkmal geſetzt worden, und auf Allerhöchſten 
Befehl des Zaren wurde angeordnet, daß täglich beim Abend- 
appell als erſter Agaſon Nikitin aufgerufen wird. Dann 
antwortet der Flügelmann mit lauter Stimme: „Gefallen 
zum Ruhme der ruſſiſchen Armee im Feldzuge gegen die 
Achal-Tekinzen.“ O. v. B. 


2 Mannigfaltiges. 233 


— — . ne 


Die Erdbahn. — Die Erde war am letzten Neujahrstage 
ungefähr 650 Millionen Kilometer von dem Orte entfernt, 
wo ſie genau ein Fahr früher auf ihrer Bahn um die Sonne 
vorbeikam. Die Erdbahn kann ſomit nicht eine geſchloſſene 
Ellipſe ſein, wie wir in der Schule gelernt haben, und die 
aſtronomiſchen Forſchungen der letzten Jahre haben in der 
Tat die alte Vermutung beſtätigt, daß die Sonne durchaus 
nicht ſtillſteht. Herſchel war der erſte, der dies ausſprach, 
dann haben Struwe und Mädler dieſe Annahme unterſucht, 
und ſchließlich ſind die jetzigen Aſtronomen einwandfrei zu dem 
Ergebniſſe gelangt, daß die Sonne ſich mit ſehr großer Ge— 
ſchwindigkeit und geradlinig durch den Himmelsraum in der 
Richtung auf das Sternbild Herkules zu bewegt. Auf dieſe 
Weiſe wird aus der anſcheinend elliptiſchen Bahn der Erde 
eine Art Spirallinie um den geradlinigen Sonnenweg herum. 

Die Sonnengeſchwindigkeit beträgt rund 19 Kilometer 
in der Sekunde, das iſt etwa zweiundvierzigmal ſo ſchnell 
wie die Anfangsgeſchwindigkeit einer Kanonenkugel, und ein 
Geſchoß, das mit ſolcher Geſchwindigkeit abgefeuert würde, 
wäre imſtande, eine 500 Meter dicke Stahlplatte zu durch- 
ſchlagen, wenn es die genügende Feſtigkeit beſäße und nicht 
durch die beim Anprall erzeugte Wärme ſchmelzen würde. 
An dieſer Sonnenreiſe, die im Vergleiche zu der bis 300 Se- 
kundenkilometer ſchnellen Fortbewegung anderer Sonnen 
eigentlich langſam geſchieht, nimmt unſere Erde teil. 

Die naheliegende Frage, ob die Sonne oder einer ihrer 
Planeten bei der Fortbewegung mit einem anderen Himmels- 
körper zuſammenſtoßen könnte, iſt nicht ſehr wahrſcheinlich 
zu nennen. Der nächſte Fixſtern in unſeren Breiten liegt im 
Sternbilde des Schwans. Die Sonne würde mit ihrer Jahres- 
geſchwindigkeit von 650 Millionen Kilometer etwa 100,000 
Jahre brauchen, um dieſen Stern zu erreichen; in ungefähr 
500,000 Jahren würde die Sonne mit ihren Planeten bei der 
Wage angelangt ſein, wenn dieſe nicht inzwiſchen ſelbſt längſt 
weitergewandert wäre. A. E. 

Das rote Haar. — In Japan ſind rote Haare verpönt, 
weshalb jede Japanerin, der die Natur ſolch leuchtendes Haar 


234 Mannigfaltiges. 2 


verliehen hat, beſtrebt ift, dieſes ſchwarz zu färben. Die 
Pflege der Schönheit, beſonders des Haares, iſt den Damen 
Japans ein heiliges Geſetz, ſie wird ſogar von den Prieſtern 
befohlen, denn „das Weib iſt da, um zu gefallen“. Nur ſchwarzes 
Haar mit bläulichem Glanz gilt für ſchön. Jede andere Farbe 
iſt verachtet. 6 | 

Eine japaniſche Sage erzählt über die Gewinnung des 
jetzt noch gebrauchten Haarfärbemittels folgende Sage. Einſt 
lebte eine junge, reizende Frau, die volles, ſchönes Haar hatte, 
das ihr bis zum Gürtel reichte, aber es war nicht ſchwarz, es 
hatte die verhaßte rote Farbe. Die junge Frau grämte ſich 
darüber fo, daß fie faſt krank wurde, kein Mittel ließ fie unver- 
ſucht, ſie färbte ihr Haar ſchließlich auch mit dem Safte der 
grünen Nüſſe, doch bekam es nur eine braune Farbe — und 
ſie wünſchte doch ſo ſehr, ſchwarzes Haar zu beſitzen. Endlich 
hörte Mijajima, daß es in einem See auf Hondo eine Infel 
gäbe, die auch Mijajima heiße, dort lebe Ko- ai, ein heiliger 
Schintoprieſter, der wüßte Nat für jedes Leid. 

Da machte ſich die kleine Dame reiſefertig, verſchloß ihr 
kleines Häuschen, das in einem freundlichen Gärtchen ſtand, 
und pilgerte wochenlang, bis fie endlich von ferne die Inſel 
Mijajima im Binnenſee erblickte. Ein Pilgerſchiff nahm fie 
auf, und endlich ſah ſie das Heiligtum blinken. Mächtige, 
glänzende Zedernbalken bilden das Wahrzeichen jedes Schinto- 
torbogens, mit heiligem Erſchauern eilte das Frauchen durch 
das Tor und ſtrebte in das Innere des Tempels. Aber Ro-ai 
war nicht da. Er lebe als Einſiedler im Gebirge, erklärten ihr 
die Prieſter, und wieder nahm ſie ihre Wanderung auf. Endlich 
nach vielen Tagen, nachdem ſie ihre kleinen Füße müde und 
blutig gelaufen hatte, fand fie Ro-ai, wie er vor feiner Zelfen- 
höhle ſaß. 

Gütig hörte er die Bitte der Pilgerin an, ihrem Haare doch 
eine ſchöne ſchwarzblaue Farbe zu geben. Der Heilige war 
nicht böſe über dieſe ſonderbare Bitte, denn eine Frau hat die 
Pflicht, ſo ſchön zu ſein, als es ihr nur möglich iſt. Er dachte 
lange und angeſtrengt nach. Dann ſprach er: „Meine Tochter, 
es iſt nicht leicht, dich noch ſchöner zu machen, als du biſt. Doch 


2 Mannigfaltiges. 235 


ſuche die Blume, die nicht am Himmel wächſt, noch auf der 
Erde, zerreibe ihre Wurzel und färbe mit dem Safte deine 
Haare — ſie werden davon die gewuͤnſchte Farbe bekommen. 
Lebe wohl!“ 

Traurig machte ſich die kleine Frau auf den Heeg 
Wo ſollte ſie eine Blume hernehmen, die nicht am Himmel 
wuchs noch auf der Erde? 

Endlich langte ſie bei ihrem kleinen Häuschen wieder an. 
Aber da ſtieß ſie einen lauten Schrei der Freude und des 
Entzückens aus. Der Frühling war inzwiſchen ins Land ge- 
zogen und hatte ein liebliches Wunder vollbracht: in dunkel- 
blauem Blütenſchmucke prangte das Strohdach der niedrigen 
Hütte. Schwertlilien waren zu Hunderten auf dem Dache 
erblüht. Da hatte Mijajima nun, was ſie ſuchte: die Blume, 
die nicht am Himmel wuchs noch auf der Erde. Kaum hatte 
ſie ihren Pilgerſtab in die Ecke gelehnt, ſo eilte ſie ſchon auf 
das Dach und ſammelte die wohlriechenden Friswurzeln, 
und dieſe gaben ihrem Haar die lang erſehnte ſchwarzblaue 
Farbe. 

Seit jener Zeit zählt in Japan die Schwertlilie zu den 
gepflegteſten Kulturpflanzen, und es werden von ihr ganze 
Felder angebaut. Man ſieht ſie dort in allen Farben und Größen. 
Die Japanerinnen gewinnen daraus den begehrten Farb- 
ſtoff, der rotes und braunes Haar in tief ſchwarzblaues um- 
wandelt. C. T. 

Hygieniſcher Tafelaufſatz. — Wer gezwungen iſt, oft im 
Reſtaurant zu eſſen, wird häufig die Beobachtung machen, 
daß die Gäſte, die die Toiletten beſuchen, meiſt beim Ver- 
laſſen dieſer Anſtalten ſich die Hände nicht waſchen, ſich dann 
aber an den Tiſch ſetzen, das Schwarzbrot in die Hand nehmen, 
um ſich ein Stück abzuſchneiden, oder ein Weißbrötchen wählen, 
nachdem die anderen im Korbe auf ihre Härte hin geprüft 
wurden. Wer dieſe Beobachtung macht, verzichtet lieber 
auf den Genuß des Brotes. 

Diefem Übeljtande hilft der hygieniſche Tafelaufſatz ab. 
Er ermöglicht es, eine Scheibe Brot (ſtark, mittelſtark und 
ſchwach) abzuſchneiden und zu überreichen, ohne das Brot 


256 Mannigfaltiges. 2 


zu berühren, und läßt ein Auswählen zwiſchen den Weiß- 
brötchen nicht zu. Durch eine ſehr geſchickt angebrachte Ein— 


N 


Spsleniier Tafelaufſatz. 


richtung find Salz, Ol, Pfeffer, Eſſig, Moſtrich und Zahn— 
ſtocher vor dem Verſtauben geſchützt. Der Apparat vereinigt 


AR 2 VG 1 > 
Digitized by 008 C 


9 Mannigfaltiges. 257 


in ſich Brotſchachtel, Brotſchneidemaſchine, Brotkorb für 
Schwarzbrot, Brotkorb für Weißbrot, Menage und hat an den 
Außenſeiten Reklameflächen. Vornehme Etabliſſements, die 
keine Reklame am Apparat wünſchen, können an dieſer Stelle 
Speife- und Weinkarten anbringen oder Bekanntmachungen, 
die das eigene Lokal betreffen. A. M. 

König Georg 11. von England war bei allem, was feine 
Perſon betraf, bis zum Eigenſinn genau und pünktlich. Alle 
ſeine Hemden und Kragen waren ſehr ſorgfältig gezeichnet, 
und, um ihn ganz wütend zu machen, brauchte man ihm nur 
eines von den Stücken zu geben, deren Zahl nicht genau mit 
den anderen übereinſtimmte. Dieſe Pünktlichkeit ging faſt 
ins Unglaubliche. Eines Tages trug ein Page einen Geldſack 
hinter ihm her, der in eine eiſerne Schatulle im Schlafzimmer 
des Königs gelegt werden ſollte. Der Sack zerriß, die Geld- 
ſtücke fielen zu Boden, und eines rollte unter einen großen 
Haufen Reiſigbündel. Der Page ſammelte die Gelditüde 
ſofort auf, und der König fragte: „Haft du alles zuſammen— 
geſucht?“ 

„Alles, Majeſtät, nur eine Guinee noch nicht, die unter 
die Holzbündel gerollt iſt. Die will ich nachher ſuchen.“ 

„Nein, nein — nicht nachher,“ erwiderte der König. „Wir 
wollen ſie ſogleich ſuchen. Setze den Sack nur hin und hilf mir 
die Holzbündel wegnehmen.“ | 

Der Page gehorchte, und beide gingen nun ans Werk, und 
nach einer guten Stunde fand man die Guinee. 

„Bravo!“ rief der über den Fund erfreute König. „Ich 
denke, wir haben uns viele Mühe um dieſe Guinee gemacht. 
Da du aber am meiſten dabei getan haſt, ſo behalte ſie für dich. 
Ich wollte bloß, daß nichts verloren gehen ſollte.“ — 

Ein Profeſſor, ein ſchon älterer Mann, ging einmal ins 
Schloß, um einen ſeiner Verwandten zu beſuchen, der dort 
Page war. Nachdem er mit ihm Tee getrunken hatte, 
ging er wieder zurück, und als er eine ſehr ſchmale Treppe 
hinunterſteigen wollte, glitt er aus, fiel die Stufen hinunter 
und ſtieß bei dem Falle die Tür eines Kabinetts ein. 

Als er wieder zum Bewußtſein kam, fand er ſich ſitzend 


238 Mannigfaltiges. 2 


auf der Erde in einem kleinen Zimmer, ſorgfältig gepflegt 
von einem kleinen Alten, der ihm den Kopf mit einem Tuche 
abwuſch und auf die durch den Fall verurſachten Wunden 
Pflaſter legte. 

Als er ſah, daß ſein liebreicher Wundarzt ſeine Operation 
beendigt hatte und ſeinem beſchädigten Kopfe die Perücke 
wieder aufſetzte, erhob er ſich vom Boden und wollte ſeinem 
Wohltäter ein gutes Trinkgeld reichen. Allein ein düſterer 
Blick des kleinen Alten und ein heftiges Winken desſelben mit 
der Hand geboten ihm Schweigen. Er entfernte ſich mit Ver— 
wunderung darüber, daß fo viele Menſchlichkeit mit fo viel Un- 
freundlichkeit gepaart ſein könne. Allein wie groß war ſein 
Erſtaunen, als er erfuhr, daß fein Wundarzt niemand anders 
geweſen ſei als der König Georg II. ſelbſt. C. T. 

Das Weichbild. — Eine häufig gebrauchte Bezeichnung 
für das Gebiet oder die Markung, die zu einer Stadt gehört, 
iſt Weichbild. Dieſes Wort läßt ſich auf den erſten Blick gar 
nicht erklären, ſondern es wird erſt verſtändlich, wenn man 
feine Ableitung kennt. Im 12. Jahrhundert und noch 
ſpäter beſaß eine jede größere Stadt ihr eigenes Stadtrecht, 
das dem Landrecht und gemeinen Recht gegenüberſtand. 
Dieſes Stadtrecht bezeichnete man namentlich in Nord- 
deutſchland als wicbilede oder wiebilde. Der erſte Teil 
dieſes Wortes hängt mit Wik zuſammen, das den Sinn von 
Haus und Anſiedlung hat. Es hat ſich noch in einer Reihe 
von Ortsnamen erhalten wie in Wiek auf Rügen, Oſter- 
wieck in Weſtfalen, Wik am Kieler Hafen und Wyk auf der 
Inſel Föhr. 

Der zweite Teil des Wortes geht auf das althochdeutſche 
bilidi und das altſächſiſche bibithi zurück. Es bedeutete Vorbild 
und zugleich auch Recht, inſofern das Recht ja zum Vorbild 
des Tuns und Laſſens dienen ſoll. Es klingt noch in unſerer 
Redensart „Unbill erleiden“ wider, mit der wir fagen wollen, 
daß man uns unrecht tut. 

In dem älteſten ſchriftlichen Zeugnis über das Wort wie— 
bilede, der Gründungsurkunde der Stadt Leipzig aus dem 
Fahre 1156, heißt es denn auch, daß der neue Ort unter Halli- 


11 ä Mannigfaltiges. 239 


ſchem und Magdeburgiſchem Recht ſtehen „und als Sinnbild 
feines Rechts, das man wichilede nennt, vier Stadtkreuze 
erhalten ſoll“. 

Später erweiterte ſich die Bedeutung des Wortes wichilede. 
Es bedeutete nun den Bezirk, für den das Stadtrecht Geſetzes- 
kraft hatte, alſo für die einer Stadt gehörigen Ländereien und 
Dörfer, und erhielt ſchließlich damit den Sinn von Stadt- 
gebiet. | Th. S. 

Unſer Zylinderhut. — Was bei unſeren Abeeeſchützen 
die Eſelsmütze iſt, iſt bei den orientaliſchen Völkern unſer 
Zylinderhut. Er übt auf fie eine derartig lächerliche Wir- 
kung aus, daß ſich ſogar in manchen Schulen ein alter 
Zylinderhut vorfindet, der unfolgſamen oder faulen Kindern 
zur Strafe und Abſchreckung vor weiteren Sünden aufgeſetzt 
wird. | A. Sch. 

Eine grauſame Hinrichtung. — Auf ſeinen afrikaniſchen 
Reifen hat der franzöſiſche Forſcher George Remond in Abeſſi- 
nien einer grauenvollen Hinrichtung beigewohnt. Zwei Brüder 
des Emirs der Stadt Harrar waren in Feindſchaft wegen eines 
Gartens geraten, der eine lauerte dem anderen auf und er- 
mordete ihn in gräßlicher Weiſe. Um die Qualen ſeines Opfers 
zu verlängern, verſetzte er ihm alle Viertelſtunde einen Lanzen 
ſtich, bis endlich der Tod eintrat. | 

Der Mörder wurde verhaftet, zum Tode verurteilt, und zwar 
zur gleichen Todesart. Der nächſte Verwandte des Ermordeten 
ſollte der Henker ſein. Das war der ſiebenjährige kleine 
Sohn des Ermordeten. Mit einer Lanze in der Hand mußte 
das Kind auf den gebundenen Onkel losgehen. Aber nach 
dem erſten Stiche ſchon verfiel es in Krämpfe, und der Scharf- 
richter übernahm ſein ſchreckliches Amt. 

Was ſich nun abſpielte, war grauenvoll. Von Viertelſtunde 
zu Viertelſtunde ſchleuderte der Scharfrichter die Lanze gegen 
ſein Opfer, abe: er zielte fo, daß keine Wunde tödlich war. 
Der unglückliche Delinquent hing in Krämpfen, Schaum auf 
den Lippen und vor Schmerz halb ohnmächtig an ſeinen 
Seilen. Endlich miſchte ſich ein Mönch ein und erwirkte für 
den Unglücklichen den Gnadenſtoß: die Lanze wurde nun 


240 Mannigfaltiges. 2 


mitten ins Geſicht des Opfers geſchleudert, ſo daß ſie den 
Schädel ſprengte und der unmenſchlichen Marter ein Ende 
machte. O. v. B. 

Umgangene Gardinenpredigt. — Philipp May, ein ſehr 
geſchätzter engliſcher Zeichner und Journaliſt, war im 
Auftrage ſeines Blattes zur Teilnahme an der Eröffnung 
des Suezkanals nach Agypten geſchickt worden und hatte 
feine junge Gattin mitgenommen. Natürlich nahm die Be⸗ 
richterſtattung und ihre Illuſtrierung nicht feine ganze Zeit in 
Anſpruch, er fand vielmehr noch Muße, ſich auch an dieſer 
und jener Kneiperei und geſelligen Veranſtaltung zu betei— 
ligen, wohin er nicht immer ſeine Frau mitnehmen konnte 
oder wollte. 

Eines Tages hatte ſich das Zuſammenſein mit guten Freunden 
ſogar ſo ſehr in die Länge gezogen, daß er erſt um ſechs Uhr 
morgens in ſeine Hotelwohnung zurückkehrte. 

Einer der Freunde und Kneipgenoſſen, der mit dem Jour- 
naliſten im gleichen Hotel wohnte und mit ihm zuſammen 
nach durchſchwärmter Nacht heimgekommen war, ſtellte ſich 
um acht Uhr an der Frühſtückstafel ein und war nicht wenig 
überraſcht, May ſchon im Nebenzimmer am Schreibtiſch 
ſitzen zu ſehen. 

„Was? Sie ſitzen ſchon bei der Arbeit?“ redete er ihn an. 
„Ich glaubte, Sie würden bis Mittag ſchlafen.“ 

„Das hätte ich auch für mein Leben gern getan,“ geſtand 
der Künſtler in kläglichem Tone, „wenn nicht meine Frau 
munter geworden wäre, als ich erſt halb entkleidet war. „Was 
iſt dir, Phil?“ erkundigte ſie ſich beſorgt. Hätte ich nun zu— 
gegeben, daß ich ſoeben erſt nach Hauſe gekommen war, 
jo hätte es eine kräftige Gardinenpredigt geſetzt. Um die 
zu vermeiden, log ich ihr vor, ich müſſe notwendigerweiſe 
fo früh aufſtehen, um für mein Blatt den Bericht abzu- 
fertigen. Das iſt der Grund, weswegen ich hier bei der 
Arbeit ſitze!“ C. D. 


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Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von 
| Theodor Freund in Stuttgart, 
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